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in den
letzten Jahren ſeines Lebens.
F. A. Brockhaus.
1836.
[][]
Ihro Kaiſerlichen Hoheit
der regierenden Frau Großherzogin zu
Sachſen-Weimar und Eiſenach,
Maria Paulowna,
Großfuͤrſtin von Rußland,
dankbar unterthaͤnigſt zugeeignet.
[[VI]][[VII]]
Vorrede.
Dieſe Sammlung von Unterhaltungen und Ge¬
ſpraͤchen mit Goethe iſt groͤßtentheils aus dem
mir inwohnenden Naturtriebe entſtanden, irgend
ein Erlebtes, das mir werth oder merkwuͤrdig
erſcheint, durch ſchriftliche Auffaſſung mir anzu¬
eignen.
Zudem war ich immerfort der Belehrung be¬
duͤrftig, ſowohl als ich zuerſt mit jenem außer¬
ordentlichen Manne zuſammentraf, als auch nach¬
dem ich bereits Jahre lang mit ihm gelebt hatte,
und ich ergriff gerne den Inhalt ſeiner Worte
und notirte ihn mir, um ihn fuͤr mein ferneres
Leben zu beſitzen.
[VIII]
Wenn ich aber die reiche Fuͤlle ſeiner Äuße¬
rungen bedenke, die waͤhrend eines Zeitraumes von
neun Jahren mich begluͤckten, und nun das We¬
nige betrachte, das mir davon ſchriftlich aufzufaſſen
gelungen iſt, ſo komme ich mir vor wie ein Kind,
das den erquicklichen Fruͤhlingsregen in offenen
Haͤnden aufzufangen bemuͤht iſt, dem aber das
Meiſte durch die Finger laͤuft.
Doch wie man zu ſagen pflegt, daß Buͤcher
ihre Schickſale haben, und wie dieſes Wort eben
ſowohl auf ihr Entſtehen als auf ihr ſpaͤteres
Hinaustreten in die weite und breite Welt anzu¬
wenden iſt, ſo duͤrfte es auch von der Entſtehung
des gegenwaͤrtigen Buches gelten. Monate ver¬
gingen oft wo die Geſtirne unguͤnſtig ſtanden,
und wo Unbefinden, Geſchaͤfte und mancherley Be¬
muͤhungen um die taͤgliche Exiſtenz keine Zeile
aufkommen ließen; dann aber traten wieder guͤn¬
ſtige Sterne ein und es vereinigten ſich Wohlſeyn,
Muße und Luſt zu ſchreiben, um wieder einen er¬
freulichen Schritt vorwaͤrts zu thun. Und dann,
wo tritt bey einem laͤngeren Zuſammenleben nicht
[IX] mitunter einige Gleichguͤltigkeit ein, und wo waͤre
derjenige, der die Gegenwart immer ſo zu ſchaͤtzen
wuͤßte, wie ſie es verdiente! —
Dieſes alles erwaͤhne ich beſonders aus dem
Grunde, um die manchen bedeutenden Luͤcken zu
entſchuldigen, die der Leſer finden wird, im Fall
er etwa ſo geneigt ſeyn ſollte, das Datum zu ver¬
folgen. In ſolche Luͤcken faͤllt manches unterlaſſene
Gute, ſo wie beſonders manches guͤnſtige Wort,
was Goethe uͤber ſeine weitverbreiteten Freunde,
ſo wie uͤber die Werke dieſes oder jenes lebenden
deutſchen Autors geſagt hat, waͤhrend ſich Anderes
aͤhnlicher Art notirt findet. Doch wie geſagt:
Buͤcher haben ihre Schickſale ſchon waͤhrend ſie
entſtehen.
Übrigens erkenne ich dasjenige, was in dieſen
Baͤnden mir gelungen iſt zu meinem Eigenthum zu
machen und was ich gewiſſermaßen als den Schmuck
meines Lebens zu betrachten habe, mit innigem
Dank gegen eine hoͤhere Fuͤgung; ja ich habe ſo¬
gar eine gewiſſe Zuverſicht, daß auch die Welt
mir dieſe Mittheilung danken werde.
[X]
Ich halte dafuͤr, daß dieſe Geſpraͤche fuͤr Le¬
ben, Kunſt und Wiſſenſchaft nicht allein manche
Aufklaͤrung und manche unſchaͤtzbare Lehre enthal¬
ten, ſondern daß dieſe unmittelbaren Skizzen nach
dem Leben auch ganz beſonders dazu beytragen
werden, das Bild zu vollenden, was man von
Goethe aus ſeinen mannigfaltigen Werken bereits
in ſich tragen mag.
Weit entfernt aber bin ich auch wiederum, zu
glauben, daß hiemit nun der ganze innere Goethe
gezeichnet ſey. Man kann dieſen außerordentlichen
Geiſt und Menſchen mit Recht einem vielſeitigen
Diamanten vergleichen, der nach jeder Richtung
hin eine andere Farbe ſpiegelt. Und wie er nun
in verſchiedenen Verhaͤltniſſen und zu verſchiedenen
Perſonen ein Anderer war, ſo kann ich auch in
meinem Falle nur in ganz beſcheidenem Sinne
ſagen: dieß iſt mein Goethe.
Und dieſes Wort duͤrfte nicht bloß davon gel¬
ten, wie er ſich mir darbot, ſondern beſonders
auch davon, wie ich ihn aufzufaſſen und wieder¬
zugeben faͤhig war. Es geht in ſolchen Faͤllen
eine Spiegelung vor und es iſt ſehr ſelten, daß
[Xl] bey dem Durchgange durch ein anderes Individuum
nichts Eigenthuͤmliches verloren gehe und nichts
Fremdartiges ſich beymiſche. Die koͤrperlichen Bild¬
niſſe Goethe's von Rauch, Dawe, Stieler
und David ſind alle in hohem Grade wahr, und
doch tragen ſie alle mehr oder weniger das Ge¬
praͤge der Individualitaͤt, die ſie hervorbrachte.
Und wie nun ein Solches ſchon von koͤrperlichen
Dingen zu ſagen iſt, um wie viel mehr wird es
von fluͤchtigen, untaſtbaren Dingen des Geiſtes
gelten! — Wie dem nun aber in meinem Falle
auch ſey, ſo werden alle diejenigen, denen aus
geiſtiger Macht oder aus perſoͤnlichem Umgange
mit Goethe ein Urtheil dieſes Gegenſtandes zu¬
ſteht, mein Streben nach moͤglichſter Treue hof¬
fentlich nicht verkennen.
Nach dieſen groͤßtentheils die Auffaſſung des
Gegenſtandes betreffenden Andeutungen bleibt mir
uͤber des Werkes Inhalt ſelber noch Folgendes zu
ſagen.
Dasjenige, was man das Wahre nennt,
ſelbſt in Betreff eines einzigen Gegenſtandes, iſt
[XII] keineswegs etwas Kleines, Enges, Beſchraͤnktes;
vielmehr iſt es, wenn auch etwas Einfaches, doch
zugleich etwas Umfangreiches, das, gleich den
mannigfaltigen Offenbarungen eines weit und tief
greifenden Naturgeſetzes, nicht ſo leicht zu ſagen
iſt. Es iſt nicht abzuthun durch Spruch, auch
nicht durch Spruch und Spruch, auch nicht durch
Spruch und Widerſpruch, ſondern man gelangt
durch alles dieſes zuſammen erſt zu Aproximationen,
geſchweige zum Ziele ſelber.
So, um nur ein Beiſpiel anzufuͤhren, tragen
Goethe's einzelne Äußerungen uͤber Poeſie oft den
Schein der Einſeitigkeit und oft ſogar den Schein
offenbarer Widerſpruͤche. Bald legt er alles Ge¬
wicht auf den Stoff, welchen die Welt giebt,
bald alles auf das Innere des Dichters; bald
ſoll alles Heil im Gegenſtande liegen, bald alles
in der Behandlung: bald ſoll es von einer voll¬
endeten Form kommen, bald, mit Vernachlaͤſſigung
aller Form, alles vom Geiſte.
Alle dieſe Aus- und Widerſpruͤche aber ſind
ſaͤmmtlich einzelne Seiten des Wahren und bezeich¬
[XIII] nen zuſammen das Weſen und fuͤhren zur Annaͤ¬
herung der Wahrheit ſelber, und ich habe mich
daher ſowohl in dieſen als aͤhnlichen Faͤllen wohl
gehuͤtet, dergleichen ſcheinbare Widerſpruͤche, wie
ſie durch verſchiedenartige Anlaͤſſe und den Verlauf
ungleicher Jahre und Stunden hervorgerufen worden,
bey dieſer Herausgabe zu unterdruͤcken. Ich vertraue
dabey auf die Einſicht und Überſicht des gebildeten
Leſers, der ſich durch etwas Einzelnes nicht irren
laſſen, ſondern das Ganze im Auge halten und
alles gehoͤrig zurechtlegen und vereinigen werde.
Ebenſo wird man vielleicht auf Manches ſto¬
ßen, was beym erſten Anblick den Schein des
Unbedeutenden hat. Sollte man aber tiefer bli¬
ckend bemerken, daß ſolche unbedeutende Anlaͤſſe
oft Traͤger von etwas Bedeutendem ſind, auch
oft etwas Spaͤtervorkommendes begruͤnden, oder
auch dazu beytragen, irgend einen kleinen Zug
zur Characterzeichnung hinzuzuthun, ſo duͤrften
ſie, als eine Art von Nothwendigkeit, wo nicht
geheiliget, doch entſchuldiget werden.
Und ſomit ſage ich nun dieſem lange geheg¬
[XIV] ten Buche zu ſeinem Hinaustrit in die Welt das
beſte Lebewohl, und wuͤnſche ihm das Gluͤck an¬
genehm zu ſeyn und mancherley Gutes anzuregen
und zu verbreiten.
Weimar, den 31. October 1835.
Einleitung.
I. 1[[2]][[3]]Einleitung.
Der Autor giebt Nachricht uͤber ſeine Perſon und Herkunft und
die Entſtehung ſeines Verhaͤltniſſes zu Goethe.
Zu Winſen an der Luhe, einem Staͤdtchen zwiſchen Luͤ¬
neburg und Hamburg, auf der Graͤnze des Marſch- und
Haidelandes, bin ich zu Anfang der neunziger Jahre
geboren, und zwar in einer Huͤtte, wie man wohl ein
Haͤuschen nennen kann, das nur einen heizbaren Aufent¬
halt und keine Treppe hatte, ſondern wo man auf einer
gleich an der Hausthuͤr ſtehenden Leiter unmittelbar auf
den Heuboden ſtieg.
Als der Zuletztgeborne einer zweyten Ehe, habe ich
meine Eltern eigentlich nur gekannt wie ſie ſchon im vor¬
geruͤckten Alter ſtanden, und bin zwiſchen beyden gewiſſer¬
maßen einſam aufgewachſen. Aus meines Vaters erſter
Ehe lebten zwey Soͤhne, wovon der eine, nach verſchie¬
denen Seereiſen als Matroſe, in fernen Welttheilen in
Gefangenſchaft gerathen und verſchollen war, der andere
aber, nach mehrmaligem Aufenthalt zum Walfiſch- und
Seehunde-Fang in Groͤnland, nach Hamburg zuruͤckgekehrt
1*[4] war und dort in maͤßigen Umſtaͤnden lebte. Aus meines
Vaters zweyter Ehe waren vor mir zwey Schweſtern
aufgewachſen, die, als ich mein zwoͤlftes Jahr erreicht,
bereits das vaͤterliche Haus verlaſſen hatten und theils
im Orte theils in Hamburg dienten.
Die Hauptquelle des Unterhaltes unſerer kleinen Fa¬
milie war eine Kuh, die uns nicht allein zu unſerm taͤg¬
lichen Bedarf mit Milch verſah, ſondern von der wir
auch jaͤhrlich ein Kalb maͤſten und außerdem zu gewiſſen
Zeiten fuͤr einige Groſchen Milch verkaufen konnten. Fer¬
ner beſaßen wir einen Acker Land, der uns die noͤthigen
Gemuͤſearten fuͤr das Beduͤrfniß des Jahres gewinnen
ließ. Korn zu Brod indeß und Mehl fuͤr die Kuͤche mu߬
ten wir kaufen.
Meine Mutter hatte eine beſondere Geſchicklichkeit im
Wollſpinnen; auch ſchnitt und naͤhete ſie die buͤrgerlichen
Muͤtzen der Frauenzimmer zu beſonderer Zufriedenheit,
welches ihr denn beydes zur Quelle einiges Erwerbes
gereichte.
Meines Vaters eigentliches Geſchaͤft dagegen war der
Betrieb eines kleinen Handels, der nach den verſchiedenen
Jahreszeiten variirte und ihn veranlaßte haͤufig von Haus
abweſend zu ſeyn und in der Umgegend viel zu Fuße
umherzuſchweifen. Im Sommer ſah man ihn, mit einem
leichten hoͤlzernen Schraͤnkchen auf dem Ruͤcken, in der
Haidegegend von Dorf zu Dorf wandern und mit Band,
Zwirn und Seide hauſiren gehen. Zugleich kaufte er hier
[5] wollene Struͤmpfe und Beyderwand (ein aus der brau¬
nen Wolle der Haideſchnucken und leinenem Garn geweb¬
tes Zeug), das er denn auf dem jenſeitigen Elbufer, in
den Vierlanden, gleichfalls hauſirend, wieder abſetzte. Im
Winter trieb er einen Handel mit rohen Schreibfedern und
ungebleichter Leinewand, die er in den Doͤrfern der Haide-
und Marſchgegend aufkaufte und mit Schiffsgelegenheit
nach Hamburg brachte. In allen Faͤllen jedoch mußte ſein
Gewinn ſehr gering ſeyn, denn wir lebten immer in einiger
Armuth.
Soll ich nun von meiner kindlichen Thaͤtigkeit
reden, ſo war ſie gleichfalls nach den Jahreszeiten ver¬
ſchieden. Mit dem anbrechenden Fruͤhling, und ſo wie die
Gewaͤſſer der gewoͤhnlichen Elb-Überſchwemmungen ver¬
laufen waren, ging ich taͤglich, um das an den Binnen¬
deichen und ſonſtigen Erhoͤhungen angeſpuͤlte Schilf zu
ſammeln und als eine beliebte Streu fuͤr unſere Kuh an¬
zuhaͤufen. Wenn ſodann auf der weitausgedehnten Weide¬
flaͤche das erſte Gruͤn hervorkeimte, verlebte ich in Ge¬
meinſchaft mit anderen Knaben lange Tage im Huͤten der
Kuͤhe. Waͤhrend des Sommers war ich thaͤtig in Be¬
ſtellung unſeres Ackers, auch ſchleppte ich fuͤr das Beduͤrf¬
niß des Herdes das ganze Jahr hindurch aus der kaum
eine Stunde entfernten Waldung trockenes Holz herbey.
Zur Zeit der Korn-Ernte ſah man mich wochenlang in
den Feldern mit Ährenleſen beſchaͤftigt, und ſpaͤter, wenn
die Herbſtwinde die Baͤume ſchuͤttelten, ſammlete ich Ei¬
[6] cheln, die ich metzenweiſe an wohlhabendere Einwohner,
um ihre Gaͤnſe damit zu fuͤttern, verkaufte. So wie ich
aber genugſam herangewachſen war, begleitete ich meinen
Vater auf ſeinen Wanderungen von Dorf zu Dorf und
half einen Buͤndel tragen. Dieſe Zeit gehoͤrt zu den lieb¬
ſten Erinnerungen meiner Jugend.
Unter ſolchen Zuſtaͤnden und Beſchaͤftigungen, waͤh¬
rend welcher ich auch periodenweiſe die Schule beſuchte
und nothduͤrftig leſen und ſchreiben lernte, erreichte ich
mein vierzehntes Jahr, und man wird geſtehen, daß von
hier bis zu einem vertrauten Verhaͤltniß mit Goethe ein
großer Schritt und uͤberall wenig Anſchein war. Auch
wußte ich nicht, daß es in der Welt Dinge gebe wie
Poeſie und ſchoͤne Kuͤnſte, und konnte alſo auch ein dun¬
keles Verlangen und Streben nach ſolchen Dingen gluͤck¬
licherweiſe in mir nicht Statt finden.
Man hat geſagt, die Thiere werden durch ihre Or¬
gane belehrt, und ſo moͤchte man vom Menſchen ſagen,
daß er oft durch etwas was er ganz zufaͤllig thut, uͤber
das belehrt werde was etwa Hoͤheres in ihm ſchlummert.
Ein ſolches ereignete ſich mit mir, und da es, obgleich
an ſich unbedeutend, meinem ganzen Leben eine andere
Wendung gab, ſo hat es ſich mir als etwas Unverge߬
liches eingepraͤgt.
Ich ſaß eines Abends bei angezuͤndeter Lampe mit
beyden Eltern am Tiſche. Mein Vater war von Ham¬
burg zuruͤckgekommen und erzaͤhlte von dem Verlauf und
[7] Fortgang ſeines Handels. Da er gern rauchte, ſo hatte
er ſich ein Paket Taback mitgebracht, das vor mir auf
dem Tiſche lag und als Wappen ein Pferd hatte. Dieſes
Pferd erſchien mir als ein ſehr gutes Bild, und da ich
zugleich Feder und Tinte und ein Stuͤckchen Papier zur
Hand hatte, ſo bemaͤchtigte ſich meiner ein unwiderſteh¬
licher Trieb es nachzuzeichnen. Mein Vater fuhr fort von
Hamburg zu erzaͤhlen, waͤhrend ich, von den Eltern un¬
bemerkt, mich ganz vertiefte im Zeichnen des Pferdes. Als
ich fertig war, kam es mir vor, als ſey meine Nachbil¬
dung dem Vorbilde vollkommen aͤhnlich und ich genoß ein
mir bisher unbekanntes Gluͤck. Ich zeigte meinen Eltern
was ich gemacht hatte, die nicht umhin konnten mich
zu ruͤhmen und ſich daruͤber zu wundern. Die Nacht ver¬
brachte ich in freudiger Aufregung halb ſchlaflos, ich dachte
beſtaͤndig an mein gezeichnetes Pferd und erwartete mit
Ungeduld den Morgen, um es wieder vor Augen zu neh¬
men und mich wieder daran zu erfreuen.
Von dieſer Zeit an verließ mich der einmal erwachte
Trieb der ſinnlichen Nachbildung nicht wieder. Da es
aber in meinem Orte an aller weiteren Huͤlfe in ſolchen
Dingen fehlte, ſo war ich ſchon ſehr gluͤcklich, als unſer
Nachbar, ein Toͤpfer, mir ein Paar Hefte mit Contouren
gab, welche ihm bey Bemalung ſeiner Teller und Schuͤſ¬
ſeln als Vorbild dienten.
Dieſe Umriſſe zeichnete ich mit Feder und Tinte auf
das ſorgfaͤltigſte nach, und ſo entſtanden zwey Hefte,
[8] die bald von Hand zu Hand gingen und auch an die
erſte Perſon des Ortes, an den Oberamtmann Meyer,
gelangten. Er ließ mich rufen, beſchenkte mich, und
lobte mich auf die liebevollſte Weiſe. Er fragte mich,
ob ich Luſt habe ein Maler zu werden; er wolle mich in
ſolchem Fall, wenn ich confirmirt ſey, zu einem geſchick¬
ten Meiſter nach Hamburg ſenden. Ich ſagte, daß ich
wohl Luſt habe und daß ich es mit meinen Eltern uͤber¬
legen wolle.
Dieſe aber, beyde aus dem Bauernſtande, und in
einem Orte lebend, wo groͤßtentheils nichts Anderes als
Ackerbau und Viehzucht getrieben wurde, dachten ſich
unter einem Maler nichts weiter als einen Thuͤren-
und Haͤuſer-Anſtreicher. Sie widerriethen es mir daher
auf das ſorglichſte, indem ſie anfuͤhrten, daß es nicht
allein ein ſehr ſchmutziges, ſondern zugleich ein ſehr
gefaͤhrliches Handwerk ſey, wobey man Hals und Beine
brechen koͤnne, welches ſich, zumal in Hamburg bey
den ſieben Stockwerk hohen Haͤuſern, ſehr oft ereigne.
Da nun meine eigenen Begriffe von einem Maler
gleichfalls nicht hoͤherer Art waren, ſo verging mir die
Luſt zu dieſem Metier und ich ſchlug das Anerbieten
des guten Oberamtmannes aus dem Sinne.
Indeſſen war nun einmal die Aufmerkſamkeit hoͤhe¬
rer Perſonen auf mich gefallen; man behielt mich im
Auge und ſuchte mich auf manche Weiſe zu heben.
Man ließ mich an dem Privatunterricht der wenigen
[9] vornehmen Kinder Theil nehmen, ich lernte franzoͤſiſch
und etwas Latein und Muſik; zugleich verſah man mich
mit beſſerer Kleidung, und der wuͤrdige Superintendent
Pariſius hielt es nicht zu gering, mir einen Platz an
ſeinem eigenen Tiſche zu geben.
Von nun an war mir die Schule lieb geworden;
ich ſuchte ſo guͤnſtige Umſtaͤnde ſo lange fortzuſetzen als
moͤglich, und meine Eltern gaben es daher auch gern
zu, daß ich erſt in meinem ſechzehnten Jahre confirmirt
wurde.
Nun aber entſtand die Frage, was aus mir werden
ſolle. Waͤre es nach meinen Wuͤnſchen gegangen, ſo
haͤtte man mich zur Verfolgung wiſſenſchaftlicher Stu¬
dien auf ein Gymnaſium geſchickt; allein hieran war
nicht zu denken, denn es fehlte dazu nicht allein an
allen Mitteln, ſondern die gebieteriſche Noth meiner
Umſtaͤnde verlangte auch, mich ſehr bald in einer Lage
zu ſehen, wo ich nicht allein fuͤr mich ſelber zu ſorgen,
ſondern auch meinen duͤrftigen alten Eltern einigermaßen
zu Huͤlfe zu kommen im Stande waͤre.
Eine ſolche Lage eroͤffnete ſich mir gleich nach
meiner Confirmation, indem ein dortiger Juſtizbeamter
mir das Anerbieten machte, mich zum Schreiben und
anderen kleinen Dienſtverrichtungen zu ſich zu nehmen,
worein ich mit Freuden willigte. Ich hatte waͤhrend
der letzten anderthalb Jahre meines fleißigen Schul¬
beſuchs es dahin gebracht, nicht allein eine gute Hand
[10] zu erlangen, ſondern mich auch in Abfaſſung ſchrift¬
licher Aufſaͤtze vielfaͤltig zu uͤben, ſo daß ich mich denn
fuͤr eine ſolche Stelle ſehr wohl qualificirt halten
konnte. Dieſes Verhaͤltniß, wobey ich auch kleine
Advocaturgeſchaͤfte trieb, und nicht ſelten in den Fall
kam, nach hergebrachten Formen beydes, Klageſchrift
und Urtheil, abzufaſſen, dauerte zwey Jahre, naͤmlich
bis 1810, wo das hannoͤveriſche Amt Winſen an der
Luhe aufgeloͤſt und, im Departement der Nieder-Elbe
begriffen, dem franzoͤſiſchen Kaiſerreiche einverleibt wurde.
Ich erhielt nun eine Anſtellung im Buͤreau der
Direction der directen Steuern zu Luͤneburg, und als
dieſe im naͤchſten Jahre gleichfalls aufgeloͤſt wurde, kam
ich in das Buͤreau der Unterpraͤfectur zu Ülzen. Hier
arbeitete ich bis gegen Ende des Jahres 1812, wo
der Praͤfect, Herr von Duͤring, mich befoͤrderte und
als Mairie-Secretair zu Bevenſen anſtellte. Dieſen Po¬
ſten bekleidete ich bis zum Fruͤhling des Jahres 1813,
wo die herannahenden Koſaken uns zur Befreiung von
der franzoͤſiſchen Herrſchaft Hoffnung machten.
Ich nahm meinen Abſchied und ging in meine Hei¬
math mit keinem anderen Plan und Gedanken, als
mich ſobald wie moͤglich den Reihen der vaterlaͤndiſchen
Krieger anzuſchließen, die ſich im Stillen hier und dort
anfingen zu bilden. Dieſes vollfuͤhrte ich und trat
gegen Ende des Sommers mit Buͤchſe und Holſter als
Freywilliger in das Kielmannsegge'ſche Jaͤger-Corps und
[11] machte mit dieſem in der Compagnie des Capitain
Knop den Feldzug des Winters 1813 und 1814 durch
Mecklenburg, Holſtein und vor Hamburg gegen den
Marſchall Davouſt. Darauf marſchirten wir uͤber den
Rhein gegen den General Maiſon und zogen im Som¬
mer viel hin und her in dem fruchtbaren Flandern und
Brabant.
Hier, vor den großen Gemaͤlden der Niederlaͤnder,
ging mir eine neue Welt auf; ich verbrachte ganze
Tage in Kirchen und Muſeen. Es waren im Grunde
die erſten Gemaͤlde die mir in meinem Leben vor
Augen gekommen waren, ich ſah nun was es heißen
wolle ein Maler zu ſeyn; ich ſah die gekroͤnten, gluͤck¬
lichen Fortſchritte der Schuͤler, und ich haͤtte weinen
moͤgen, daß es mir verſagt worden eine aͤhnliche Bahn
zu gehen. Doch entſchloß ich mich auf der Stelle; ich
machte in Tournay die Bekanntſchaft eines jungen
Kuͤnſtlers, ich verſchaffte mir ſchwarze Kreide und einen
Bogen Zeichenpapier vom groͤßten Format und ſetzte
mich ſogleich vor ein Bild um es zu copiren. Große
Begierde zur Sache erſetzte hiebey was mir an Übung
und Anleitung fehlte, und ſo brachte ich die Contoure
der Figuren gluͤcklich zu Stande; ich fing auch an, von
der linken Seite herein das Ganze auszuſchattiren, als
eine Marſchordre eine ſo gluͤckliche Beſchaͤftigung unter¬
brach. Ich eilte, die Abſtufung von Schatten und
Licht in dem nicht ausgefuͤhrten Theile mit einzelnen
[12] Buchſtaben anzudeuten, in Hoffnung daß es mir in
ruhigen Stunden gelingen wuͤrde es auf dieſe Weiſe zu
vollenden. Ich rollte mein Bild zuſammen und that es
in einen Koͤcher, den ich, neben meiner Buͤchſe auf dem
Ruͤcken haͤngend, den langen Marſch von Tournay nach
Hameln trug.
Hier ward das Jaͤger-Corps im Herbſt des Jahres
1814 aufgeloͤſt. Ich ging in meine Heimath; mein
Vater war todt, meine Mutter noch am Leben und
bey meiner aͤlteſten Schweſter wohnend, die ſich indeß
verheirathet und das elterliche Haus angenommen hatte.
Ich fing nun ſogleich an mein Zeichnen fortzuſetzen;
ich vollendete zunaͤchſt jenes aus Brabant mitgebrachte
Bild, und als es mir darauf ferner an paſſenden
Muſtern fehlte, ſo hielt ich mich an die kleinen Ram¬
bergiſchen Kupfer, die ich mit ſchwarzer Kreide ins
Große ausfuͤhrte. Hiebey merkte ich jedoch ſehr bald
den Mangel gehoͤriger Vorſtudien und Kenntniſſe; ich
hatte ſo wenig Begriffe von der Anatomie des Menſchen
wie der Thiere; nicht mehr wußte ich von Behandlung
der verſchiedenen Baumarten und Gruͤnde, und es
koſtete mich daher unſaͤgliche Muͤhe, ehe ich auf meine
Weiſe etwas herausbrachte das ungefaͤhr ſo ausſah.
Ich begriff daher ſehr bald, daß, wenn ich ein
Kuͤnſtler werden wolle, ich es ein wenig anders anzu¬
fangen haͤtte, und daß das fernere Suchen und Taſten
auf eigenem Wege ein durchaus verlorenes Bemuͤhen
[13] ſey. Zu einem tuͤchtigen Meiſter zu gehen und ganz
von vorne anzufangen, das war mein Plan.
Was nun den Meiſter betraf, ſo lag in meinen
Gedanken kein anderer als Ramberg in Hannover;
auch dachte ich in dieſer Stadt mich um ſo eher hal¬
ten zu koͤnnen, als ein geliebter Jugendfreund dort in
gluͤcklichen Umſtaͤnden lebte, von deſſen Treue ich mir
jede Stuͤtze verſprechen durfte, und deſſen Einladungen
ſich wiederholten.
Ich ſaͤumte daher auch nicht lange und ſchnuͤrte
meinen Buͤndel und machte mitten im Winter 1815
den faſt vierzigſtuͤndigen Weg durch die oͤde Haide bey
tiefem Schnee einſam zu Fuß, und erreichte in einigen
Tagen gluͤcklich Hannover.
Ich verfehlte nicht alſobald zu Ramberg zu gehen
und ihm meine Wuͤnſche vorzutragen. Nach den vor¬
gelegten Proben ſchien er an meinem Talent nicht zu
zweifeln, doch machte er mir bemerklich, daß die Kunſt
nach Brod gehe, daß die Überwindung des Techniſchen
viel Zeit verlange, und daß die Ausſicht, der Kunſt
zugleich die aͤußere Exiſtenz zu verdanken, ſehr ferne
ſey. Indeſſen zeigte er ſich ſehr bereit, mir ſeinerſeits
alle Huͤlfe zu ſchenken; er ſuchte ſogleich aus der Maſſe
ſeiner Zeichnungen einige paſſende Blaͤtter mit Theilen
des menſchlichen Koͤrpers hervor, die er mir zum Nach¬
zeichnen mitgab.
So wohnte ich denn bey meinem Freunde und zeich¬
[14] nete nach Rambergiſchen Originalen. Ich machte Fort¬
ſchritte, denn die Blaͤtter die er mir gab wurden immer
bedeutender. Die ganze Anatomie des menſchlichen Koͤr¬
pers zeichnete ich durch, und ward nicht muͤde die
ſchwierigen Haͤnde und Fuͤße immer zu wiederholen. So
vergingen einige gluͤckliche Monate. Wir kamen indeß
in den May und ich fing an zu kraͤnkeln; der Juny
ruͤckte heran und ich war nicht mehr im Stande den
Griffel zu fuͤhren, ſo zitterten meine Haͤnde.
Wir nahmen unſere Zuflucht zu einem geſchickten
Arzt. Er fand meinen Zuſtand gefaͤhrlich. Er erklaͤrte,
daß in Folge des Feldzuges alle Hautausduͤnſtung
unterdruͤckt ſey, daß eine verzehrende Glut ſich auf die
inneren Theile geworfen, und daß, wenn ich mich noch
vierzehn Tage ſo fortgeſchleppt haͤtte, ich unfehlbar ein
Kind des Todes geweſen ſeyn wuͤrde. Er verordnete
ſogleich warme Baͤder und aͤhnliche wirkſame Mittel
um die Thaͤtigkeit der Haut wieder herzuſtellen; es
zeigten ſich auch ſehr bald erfreuliche Spuren der Beſſe¬
rung, doch an Fortſetzung meiner kuͤnſtleriſchen Studien
war nicht mehr zu denken.
Ich hatte bisher bey meinem Freunde die liebevollſte
Behandlung und Pflege genoſſen; daß ich ihm laͤſtig
ſey, oder in der Folge laͤſtig werden koͤnnte, daran war
ſeinerſeits kein Gedanke und nicht die leiſeſte Andeutung.
Ich aber dachte daran, und wie dieſe ſchon laͤnger ge¬
hegte heimliche Sorge wahrſcheinlich dazu beygetragen
[15] hatte den Ausbruch der in mir ſchlummernden Krank¬
heit zu beſchleunigen, ſo trat ſie jetzt, da ich wegen
meiner Wiederherſtellung bedeutende Ausgaben vor mir
ſah, mit ihrer ganzen Gewalt hervor.
In ſolcher Zeit aͤußerer und innerer Bedraͤngniß
eroͤffnete ſich mir die Ausſicht zu einer Anſtellung bey
einer mit der Kriegs-Canzley in Verbindung ſtehenden
Commiſſion, die das Montirungsweſen der hannoͤveri¬
ſchen Armee zum Gegenſtand ihrer Geſchaͤfte hatte, und
es war daher wohl nicht zu verwundern, daß ich dem
Drange der Umſtaͤnde nachgab und, auf die kuͤnſtle¬
riſche Bahn Verzicht leiſtend, mich um die Stelle be¬
warb und ſie mit Freuden annahm.
Meine Geneſung erfolgte raſch und es kehrte ein
Wohlbefinden und eine Heiterkeit zuruͤck, wie ich ſie
lange nicht genoſſen. Ich ſah mich in dem Fall, mei¬
nem Freunde einigermaßen wieder zu verguͤten was
er ſo großmuͤthig an mir gethan. Die Neuheit des
Dienſtes, in welchen ich mich einzuarbeiten hatte, gab
meinem Geiſte Beſchaͤftigung. Meine Obern erſchienen
mir als Maͤnner von der edelſten Denkungsart, und
mit meinen Collegen, von denen einige mit mir in dem¬
ſelbigen Corps den Feldzug gemacht, ſtand ich ſehr
bald auf dem Fuß eines innigen Vertrauens.
In dieſer geſicherten Lage fing ich nun erſt an, in
der manches Gute enthaltenden Reſidenz mit einiger
Freyheit umherzublicken, ſo wie ich auch in Stunden
[16] der Muße nicht muͤde ward, die reizenden Umgebungen
immer von neuem zu durchſtreifen. Mit einem Schuͤler
Rambergs, einem hoffnungsvollen jungen Kuͤnſtler,
hatte ich eine innige Freundſchaft geſchloſſen; er war
auf meinen Wanderungen mein beſtaͤndiger Begleiter.
Und da ich nun auf ein practiſches Fortſchreiten in der
Kunſt wegen meiner Geſundheit und ſonſtigen Umſtaͤnde
fernerhin Verzicht leiſten mußte, ſo war es mir ein gro¬
ßer Troſt, mich mit ihm uͤber unſere gemeinſame Freun¬
dinn wenigſtens taͤglich zu unterhalten. Ich nahm Theil
an ſeinen Compoſitionen, die er mir haͤufig in der Skizze
zeigte und die wir mit einander durchſprachen. Ich ward
durch ihn auf manche belehrende Schrift gefuͤhrt, ich
las Winckelmann, ich las Mengs; allein da mir die
Anſchauung der Sachen fehlte, von denen dieſe Maͤnner
handeln, ſo konnte ich mir auch aus ſolcher Lectuͤre nur
das Allgemeinſte aneignen und ich hatte davon im Grunde
wenig Nutzen.
In der Reſidenz geboren und aufgewachſen, war
mein Freund in geiſtiger Bildung mir in jeder Hinſicht
voran, auch hatte er eine recht huͤbſche Kenntniß der
ſchoͤnen Literatur, die mir durchaus fehlte. In dieſer
Zeit war Theodor Koͤrner der gefeierte Held des
Tages; er brachte mir deſſen Gedichte Leyer und
Schwerdt, die denn nicht verfehlten, auch auf mich
einen großen Eindruck zu machen und auch mich zur
Bewunderung hinzureißen.
[17]
Man hat viel von der kuͤnſtleriſchen Wirkung
eines Gedichtes geſprochen und ſie ſehr hoch geſtellt;
mir aber will erſcheinen, daß die ſtoffartige die
eigentlich maͤchtige ſey, worauf alles ankomme. Ohne
es zu wiſſen machte ich dieſe Erfahrung an dem Buͤch¬
lein Leyer und Schwerdt. Denn, daß ich gleich
Koͤrner den Haß gegen unſere vieljaͤhrigen Bedruͤcker
im Buſen getragen, daß ich gleich ihm den Befreyungs¬
krieg mitgemacht, und gleich ihm alle Zuſtaͤnde von
beſchwerlichen Maͤrſchen, naͤchtlichen Bivouacs, Vor¬
poſtendienſt und Gefechten erlebt und dabey aͤhnliche
Gedanken und Empfindungen gehegt hatte, das ver¬
ſchaffte dieſen Gedichten in meinem Innern einen ſo
tiefen und maͤchtigen Anklang.
Wie nun aber auf mich nicht leicht etwas Bedeu¬
tendes wirken konnte, ohne mich tief anzuregen und
productiv zu machen, ſo ging es mir auch mit dieſen
Gedichten von Theodor Koͤrner. Ich erinnerte mich
aus meiner Kindheit und den folgenden Jahren, daß
ich ſelber hin und wieder kleine Gedichte geſchrieben,
aber nicht weiter beachtet hatte, weil ich auf dergleichen
leicht entſtehende Dinge damals keinen großen Werth
legte und weil uͤberall zur Schaͤtzung des poetiſchen Ta¬
lents immer einige geiſtige Reife erforderlich iſt. Nun
aber erſchien mir dieſe Gabe in Theodor Koͤrner als
etwas durchaus Ruͤhmliches und Beneidenswuͤrdiges und
I. 2[18] es erwachte in mir ein maͤchtiger Trieb, zu verſuchen,
ob es mir nicht gelingen wolle es ihm einigermaßen
nachzuthun.
Die Ruͤckkehr unſerer vaterlaͤndiſchen Krieger aus
Frankreich gab mir eine erwuͤnſchte Gelegenheit. Und
wie mir in friſcher Erinnerung lebte, welchen unſaͤgli¬
chen Muͤhſeligkeiten der Soldat im Felde ſich zu unter¬
ziehen hat, waͤhrend dem gemaͤchlichen Buͤrger zu Hauſe
oft keine Art von Bequemlichkeit mangelt, ſo dachte ich,
daß es gut ſeyn moͤchte dergleichen Verhaͤltniſſe in einem
Gedicht zur Sprache zu bringen und dadurch, auf die
Gemuͤther wirkend, den zuruͤckkehrenden Truppen einen
deſto herzlicheren Empfang vorzubereiten.
Ich ließ von dem Gedicht einige hundert Exemplare
auf eigene Koſten drucken und in der Stadt vertheilen.
Die Wirkung die es that war guͤnſtig uͤber meine
Erwartung. Es verſchaffte mir den Zudrang einer
Menge ſehr erfreulicher Bekanntſchaften, man theilte
meine ausgeſprochenen Empfindungen und Anſichten,
man ermunterte mich zu aͤhnlichen Verſuchen und war
uͤberhaupt der Meinung, daß ich die Probe eines Ta¬
lentes an den Tag gelegt habe, welches der Muͤhe
werth ſey weiter zu cultiviren. Man theilte das Ge¬
dicht in Zeitſchriften mit, es ward an verſchiedenen
Orten nachgedruckt und einzeln verkauft, und uͤberdieß
erlebte ich daran die Freude, es von einem ſehr belieb¬
ten Componiſten in Muſik geſetzt zu ſehen, ſo wenig
[19] es ſich auch im Grunde, wegen ſeiner Laͤnge und ganz
rhetoriſchen Art, zum Geſang eignete.
Es verging von nun an keine Woche wo ich nicht
durch die Entſtehung irgend eines weiteren Gedichts
waͤre begluͤckt worden. Ich war jetzt in meinem vier
und zwanzigſten Jahre; es lebte in mir eine Welt von
Gefuͤhlen, Drang und gutem Willen; allein ich war
ganz ohne alle geiſtige Cultur und Kenntniſſe. Man
empfahl mir das Studium unſerer großen Dichter und
fuͤhrte mich beſonders auf Schiller und Klopſtock.
Ich verſchaffte mir ihre Werke, ich las, ich bewunderte
ſie, allein ich fand mich durch ſie wenig gefoͤrdert; die
Bahn dieſer Talente lag, ohne daß ich es damals ge¬
wußt haͤtte, von der Richtung meiner eigenen Natur
zu weit abwaͤrts.
In dieſer Zeit hoͤrte ich zuerſt den Namen Goethe
und erlangte zuerſt einen Band ſeiner Gedichte. Ich
las ſeine Lieder und las ſie immer von neuem und
genoß dabey ein Gluͤck, das keine Worte ſchildern. Es
war mir, als fange ich erſt an aufzuwachen und zum
eigentlichen Bewußtſeyn zu gelangen; es kam mir vor
als werde mir in dieſen Liedern mein eigenes mir bis¬
her unbekanntes Innere zuruͤckgeſpiegelt. Auch ſtieß ich
nirgends auf etwas Fremdartiges und Gelehrtes wozu
mein bloß menſchliches Denken und Empfinden nicht
ausgereicht haͤtte, nirgends auf Namen auslaͤndiſcher
und veralteter Gottheiten, wobey ich mir nichts zu den¬
2 *[20] ken wußte; vielmehr fand ich das menſchliche Herz in
allen ſeinem Verlangen, Gluͤck und Leiden, ich fand
eine deutſche Natur wie der gegenwaͤrtige helle Tag, eine
reine Wirklichkeit in dem Lichte milder Verklaͤrung.
Ich lebte in dieſen Liedern ganze Wochen und Mo¬
nate. Dann gelang es mir den Wilhelm Meiſter zu be¬
kommen, dann ſein Leben, dann ſeine dramatiſchen Werke.
Den Fauſt, vor deſſen Abgruͤnden menſchlicher Natur und
Verderbniß ich anfaͤnglich zuruͤckſchauderte, deſſen bedeu¬
tend-raͤthſelhaftes Weſen mich aber immer wieder anzog,
las ich alle Feſttage. Bewunderung und Liebe nahm
taͤglich zu, ich lebte und webte Jahr und Tag in dieſen
Werken und dachte und ſprach nichts als von Goethe.
Der Nutzen, den wir aus dem Studium der Werke
eines großen Schriftſtellers ziehen, kann mannigfaltiger
Art ſeyn; ein Hauptgewinn aber moͤchte darin beſtehen,
daß wir uns nicht allein unſeres eigenen Innern, ſon¬
dern auch der mannigfaltigen Welt außer uns deutlicher
bewußt werden. Eine ſolche Wirkung hatten auf mich
die Werke Goethe's. Auch ward ich durch ſie zur beſ¬
ſeren Beobachtung und Auffaſſung der ſinnlichen Gegen¬
ſtaͤnde und Charactere getrieben; ich kam nach und
nach zu dem Begriff der Einheit oder der innerlichſten
Harmonie eines Individuums mit ſich ſelber, und
ſomit ward mir denn das Raͤthſel der großen Mannig¬
faltigkeit ſowohl natuͤrlicher als kuͤnſtleriſcher Erſcheinun¬
gen immer mehr aufgeſchloſſen.
[21]
Nachdem ich mich einigermaßen in Goethe's Schrif¬
ten befeſtiget und mich nebenbey in der Poeſie practiſch
auf manche Weiſe verſucht hatte, wendete ich mich zu
einigen der groͤßten Dichter des Auslandes und fruͤhe¬
rer Zeiten, und las in den beſten Überſetzungen nicht
allein die vorzuͤglichſten Stuͤcke von Shakſpeare, ſondern
auch den Sophocles und Homer.
Hiebey merkte ich jedoch ſehr bald, daß von dieſen
hohen Werken nur das Allgemein-Menſchliche in mich
eingehen wolle, daß aber das Verſtaͤndniß des Beſon¬
deren, ſowohl in ſprachlicher als hiſtoriſcher Hinſicht,
wiſſenſchaftliche Kenntniſſe und uͤberhaupt eine Bildung
vorausſetze, wie ſie gewoͤhnlich nur auf Schulen und
Univerſitaͤten erlangt wird.
Uberdieß machte man mir von manchen Seiten be¬
merklich, daß ich mich auf eigenem Wege vergebens
abmuͤhe und daß, ohne eine ſogenannte claſſiſche Bil¬
dung, nie ein Dichter dahin gelangen werde ſowohl
ſeine eigene Sprache mit Geſchick und Nachdruck zu
gebrauchen, als auch uͤberhaupt, dem Gehalt und Geiſte
nach, etwas Vorzuͤgliches zu leiſten.
Da ich nun auch zu dieſer Zeit viele Biographien
bedeutender Maͤnner las, um zu ſehen, welche Bildungs¬
wege ſie eingeſchlagen um zu etwas Tuͤchtigem zu ge¬
langen, und ich bey ihnen uͤberall den Gang durch
Schulen und Univerſitaͤten wahrzunehmen hatte, ſo faßte
ich, obgleich bey ſo vorgeruͤcktem Alter und unter ſo wi¬
[22] derſtrebenden Umſtaͤnden den Entſchluß, ein Gleiches, aus¬
zufuͤhren.
Ich wendete mich alſobald an einen als Lehrer beym
Gymnaſium zu Hannover angeſtellten vorzuͤglichen Phi¬
lologen und nahm bey ihm Privat-Unterricht, nicht al¬
lein in der lateiniſchen, ſondern auch in der griechiſchen
Sprache, und verwendete auf dieſe Studien alle Muße
die meine, wenigſtens ſechs Stunden taͤglich, in Anſpruch
nehmenden Berufsgeſchaͤfte mir gewaͤhren wollten.
Dieſes trieb ich ein Jahr. Ich machte gute Fort¬
ſchritte; allein bey meinem unausſprechlichen Drange
vorwaͤrts, kam es mir vor als gehe es zu langſam
und als muͤſſe ich auf andere Mittel denken. Es wollte
mir erſcheinen, daß, wenn ich erlangen koͤnne taͤglich
vier bis fuͤnf Stunden das Gymnaſium zu beſuchen und
auf ſolche Weiſe ganz und gar in dem gelehrten Elemente
zu leben, ich ganz andere Fortſchritte machen und un¬
gleich ſchneller zum Ziele gelangen wuͤrde.
In dieſer Meinung ward ich durch den Rath ſach¬
kundiger Perſonen beſtaͤtigt; ich faßte daher den Ent¬
ſchluß ſo zu thun, und erhielt dazu auch ſehr leicht
die Genehmigung meiner Obern, indem die Stunden
des Gymnaſiums groͤßtentheils auf eine ſolche Tageszeit
fielen wo ich vom Dienſte frey war.
Ich meldete mich daher zur Aufnahme und ging in
Begleitung meines Lehrers an einem Sonntag-Vor¬
mittag zu dem wuͤrdigen Director um die erforderliche
[23] Pruͤfung zu beſtehen. Er examinirte mich mit aller
moͤglichen Milde, allein da ich fuͤr die hergebrachten
Schulfragen kein praͤparirter Kopf war und es mir
trotz allem Fleiß an eigentlicher Routine fehlte, ſo be¬
ſtand ich nicht ſo gut als ich im Grunde haͤtte ſollen.
Doch auf die Verſicherung meines Lehrers, daß ich mehr
wiſſe als es nach dieſer Pruͤfung den Anſchein haben
moͤge, und in Erwaͤgung meines ungewoͤhnlichen Stre¬
bens, ſetzte er mich nach Secunda.
Ich brauche wohl kaum zu ſagen, daß ich, als
ein faſt Fuͤnfundzwanzigjaͤhriger und als einer der
bereits in koͤniglichen Dienſten ſtand, unter dieſen
groͤßtentheils noch ſehr knabenhaften Juͤnglingen eine
wunderliche Figur machte, ſo daß dieſe neue Situation
mir anfaͤnglich ſelber ein wenig unbequem und ſeltſam
vorkommen wollte; doch mein großer Durſt nach den
Wiſſenſchaften ließ mich alles uͤberſehen und ertragen.
Auch hatte ich mich im Ganzen nicht zu beſchweren.
Die Lehrer achteten mich, die aͤlteren und beſſeren
Schuͤler der Klaſſe kamen mir auf das freundlichſte
entgegen und ſelbſt einige Ausbunde von Übermuth hat¬
ten Ruͤckſicht genug, an mir ihre frevelhaften Anwand¬
lungen nicht auszulaſſen.
Ich war daher wegen meiner erreichten Wuͤnſche im
Ganzen genommen ſehr gluͤcklich und ſchritt auf dieſer
neuen Bahn mit großem Eifer vorwaͤrts. Des Mor¬
gens fuͤnf Uhr war ich wach und bald darauf an
[24] meinen Praͤparationen. Gegen acht ging es in die
Schule bis zehn Uhr. Von dort eilte ich auf mein
Buͤreau zu den Dienſtgeſchaͤften, die meine Gegenwart
bis gegen ein Uhr verlangten. Im Fluge ging es
ſodann nach Haus; ich verſchluckte ein wenig Mittags¬
eſſen und war gleich nach ein Uhr wieder in der
Schule. Die Stunden dauerten bis vier Uhr, worauf
ich denn wieder bis nach ſieben Uhr in meinem Be¬
ruf beſchaͤftiget war und den ferneren Abend zu Praͤ¬
parationen und Privatunterricht verwendete.
Dieſes Leben und Treiben verfuͤhrte ich einige
Monate; allein meine Kraͤfte waren einer ſolchen An¬
ſtrengung nicht gewachſen, und es beſtaͤtigte ſich die
alte Wahrheit: daß niemand zween Herren dienen koͤnne.
Der Mangel an freyer Luft und Bewegung, ſo wie
die fehlende Zeit und Ruhe zum Eſſen, Trinken und
Schlaf, erzeugten nach und nach einen krankhaften
Zuſtand; ich fuͤhlte mich abgeſtumpft an Leib und
Seele und ſah mich zuletzt in der dringenden Noth¬
wendigkeit, entweder die Schule aufzugeben oder meine
Stelle. Da aber das letztere meiner Exiſtenz wegen
nicht anging, ſo blieb kein anderer Ausweg als das
erſtere zu thun und ich trat mit dem beginnenden
Fruͤhling 1817 wieder aus. Es ſchien zu dem beſondern
Geſchick meines Lebens zu gehoͤren Mancherley zu
probiren, und ſo gereute es mich denn keineswegs auch
eine gelehrte Schule eine Zeitlang probirt zu haben.
[25]
Ich hatte indeß einen guten Schritt vorwaͤrts
gethan, und da ich die Univerſitaͤt nach wie vor im
Auge behielt, ſo blieb nun weiter nichts uͤbrig, als den
Privatunterricht fortzuſetzen, welches denn auch mit aller
Luſt und Liebe geſchah.
Nach der uͤberſtandenen Laſt des Winters verlebte
ich einen deſto heiteren Fruͤhling und Sommer; ich
war viel in der freyen Natur, die dieſes Jahr mit
beſonderer Innigkeit zu meinem Herzen ſprach, und es
entſtanden viele Gedichte, wobey beſonders die jugend¬
lichen Lieder von Goethe mir als hohe Muſter vor
Augen ſchwebten.
Mit eintretendem Winter fing ich an ernſtlich darauf
zu denken, wie ich es moͤglich mache wenigſtens binnen
Jahresfriſt die Univerſitaͤt zu beziehen. In der lateini¬
ſchen Sprache war ich ſo weit vorgeſchritten, daß es
mir gelang von den Oden des Horaz, von den Hirten¬
gedichten des Virgil, ſo wie von den Metamorphoſen
des Ovid einige mich beſonders anſprechende Stuͤcke me¬
triſch zu uͤberſetzen, ſo wie die Reden des Cicero und
die Kriegesgeſchichten des Julius Caͤſar mit einiger Leich¬
tigkeit zu leſen. Hiemit konnte ich mich zwar noch kei¬
neswegs als fuͤr academiſche Studien gehoͤrig vorbereitet
betrachten, allein ich dachte innerhalb eines Jahres noch
ſehr weit zu kommen und ſodann das Fehlende auf der
Univerſitaͤt ſelber nachzuholen.
Unter den hoͤheren Perſonen der Reſidenz hatte ich
[26] mir manchen Goͤnner erworben; ſie verſprachen mir
ihre Mitwirkung, jedoch unter der Bedingung, daß ich
mich entſchließen wolle ein ſogenanntes Brodſtudium
zu waͤhlen. Da aber dergleichen nicht in der Richtung
meiner Natur lag und da ich in der feſten Überzeugung
lebte, daß der Menſch nur dasjenige cultiviren muͤſſe
wohin ein unausgeſetzter Drang ſeines Innern gehe,
ſo blieb ich bey meinem Sinn und jene verſagten mir
ihre Huͤlfe, indem endlich nichts weiter erfolgen ſollte
als ein Freytiſch.
Es blieb nun nichts uͤbrig als meinen Plan durch
eigene Kraͤfte durchzuſetzen und mich zu einer literariſchen
Production von einiger Bedeutung zuſammenzunehmen.
Muͤllners Schuld und Grillparzers Ahnfrau wa¬
ren zu dieſer Zeit an der Tagesordnung und machten
viel Aufſehen. Meinem Naturgefuͤhl waren dieſe kuͤnſt¬
lichen Werke zuwider, noch weniger konnte ich mich
mit ihren Schickſalsideen befreunden, von denen ich der
Meinung war, daß daraus eine unſittliche Wirkung auf
das Volk hervorgehe. Ich faßte daher den Entſchluß
gegen ſie aufzutreten und darzuthun, daß das Schickſal
in den Characteren ruhe. Aber ich wollte nicht mit
Worten gegen ſie ſtreiten ſondern mit der That. Ein
Stuͤck ſollte erſcheinen welches die Wahrheit ausſpreche,
daß der Menſch in der Gegenwart Samen ſtreue der
in der Zukunft aufgehe und Fruͤchte bringe, gute oder
boͤſe, je nachdem er geſaͤet habe. Mit der Weltgeſchichte
[27] unbekannt, blieb mir weiter nichts uͤbrig, als die Charac¬
tere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich
trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir
die einzelnen Scenen und Acte bis ins Einzelne aus und
ſchrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgen¬
ſtunden einiger Wochen. Ich genoß dabey das hoͤchſte
Gluͤck, denn ich ſah daß alles ſehr leicht und natuͤrlich
zu Tage kam. Allein im Gegenſatz mit jenen genann¬
ten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe
treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher
ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situa¬
tionen, als eine geſpannte raſch fortſchreitende Handlung,
und auch nur poetiſch und rhythmiſch, wenn Charactere
und Situationen es erforderten. Nebenperſonen gewan¬
nen zu viel Raum, das ganze Stuͤck zu viel Breite.
Ich theilte es den naͤchſten Freunden und Bekannten
mit, ward aber nicht verſtanden wie ich es wuͤnſchte;
man warf mir vor: einige Scenen gehoͤren ins Luſt¬
ſpiel, man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig
geleſen. Ich, eine beſſere Aufnahme erwartend, war
anfaͤnglich im Stillen beleidigt; doch nach und nach
kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht
ſo ganz unrecht haͤtten und daß mein Stuͤck, wenn auch
die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl
durchdacht und mit einer gewiſſen Beſonnenheit und Fa¬
cilitaͤt ſo zur Erſcheinung gekommen, wie es in mir ge¬
legen, doch, dem darin entwickelten Leben nach, auf einer
[28] viel zu niedern Stufe ſtehe, als daß es ſich geeignet
haͤtte damit oͤffentlich aufzutreten.
Und dieſes war in Erwaͤgung meines Herkommens
und meiner wenigen Studien nicht zu verwundern.
Ich nahm mir vor, das Stuͤck umzuarbeiten und fuͤr
das Theater einzurichten, vorher aber in meiner Bil¬
dung vorzuſchreiten, damit ich faͤhig ſey alles hoͤher zu
ſtellen. Der Drang nach der Univerſitaͤt, wo ich alles
zu erlangen hoffte was mir fehlte und wodurch ich
auch in hoͤhere Lebensverhaͤltniſſe zu kommen gedachte,
ward nun zur Leidenſchaft. Ich faßte den Entſchluß
meine Gedichte herauszugeben, um es dadurch vielleicht
zu bewirken. Und da es mir nun an Namen fehlte
um von einem Verleger ein anſehnliches Honorar er¬
warten zu koͤnnen, ſo waͤhlte ich den fuͤr meine Lage
vortheilhafteren Weg der Subſcription.
Dieſe ward von Freunden eingeleitet und nahm den
erwuͤnſchteſten Fortgang. Ich trat jetzt bey meinen
Obern mit meiner Abſicht auf Goͤttingen wieder hervor
und bat um meine Entlaſſung; und da dieſe nun die
Überzeugung gewannen, daß es mein tiefer Ernſt ſey
und daß ich nicht nachgebe, ſo beguͤnſtigten ſie meine
Zwecke. Auf Vorſtellung meines Chefs, des damaligen
Obriſten von Berger, gewaͤhrte die Kriegs-Canzley
mir den erbetenen Abſchied und ließ mir jaͤhrlich 150
Thaler von meinem Gehalt zum Behuf meiner Studien
auf zwey Jahre.
[29]
Ich war nun gluͤcklich in dem Gelingen der jahre¬
lang gehegten Plaͤne. Die Gedichte ließ ich auf das
ſchnellſte drucken und verſenden, aus deren Ertrag ich
nach Abzug aller Koſten einen reinen Gewinn von
150 Thaler behielt. Ich ging darauf im May 1821
nach Goͤttingen, eine theure Geliebte zuruͤcklaſſend.
Mein erſter Verſuch, nach der Univerſitaͤt zu gelan¬
gen, war daran geſcheitert, daß ich hartnaͤckig jedes ſo¬
genannte Brodſtudium abgelehnt hatte. Jetzt aber,
durch die Erfahrung gewitzigt, und der unſaͤglichen
Kaͤmpfe mir noch zu gut bewußt, die ich damals ſo¬
wohl gegen meine naͤchſte Umgebung als gegen einflu߬
reiche hoͤhere Perſonen zu beſtehen hatte, war ich klug
genug geweſen, mich den Anſichten einer uͤbermaͤchtigen
Welt zu bequemen und ſogleich zu erklaͤren, daß ich
ein Brodſtudium waͤhlen und mich der Rechtswiſſenſchaft
widmen wolle.
Dieſes hatten ſowohl meine maͤchtigen Goͤnner als
alle anderen, denen mein irdiſches Fortkommen am Her¬
zen lag und die ſich von der Gewalt meiner geiſtigen
Beduͤrfniſſe keine Vorſtellung machten, ſehr vernuͤnftig
gefunden. Aller Widerſpruch war mit einem Mal ab¬
gethan, ich fand uͤberall ein freundliches Entgegen¬
kommen und ein bereitwilliges Befoͤrdern meiner Zwecke.
Zugleich unterließ man nicht zu meiner Beſtaͤtigung
in ſo guten Vorſaͤtzen anzufuͤhren, daß das juriſtiſche
Studium keineswegs der Art ſey, daß es nicht dem
[30] Geiſte einen hoͤheren Gewinn gebe. Ich wuͤrde, ſagte
man, dadurch Blicke in buͤrgerliche und weltliche Ver¬
haͤltniſſe thun wie ich auf keine andere Weiſe erreichen
koͤnne. Auch waͤre dieſes Studium keineswegs von ſol¬
chem Umfang, daß ſich nicht ſehr viele ſogenannte hoͤhere
Dinge nebenbey treiben laſſen. Man nannte mir ver¬
ſchiedene Namen beruͤhmter Perſonen, die alle Jura
ſtudirt haͤtten und doch zugleich zu den hoͤchſten Kennt¬
niſſen anderer Art gelangt waͤren.
Hiebey jedoch wurde ſowohl von meinen Freunden
als von mir uͤberſehen, daß jene Maͤnner nicht allein
mit tuͤchtigen Schulkenntniſſen ausgeſtattet zur Univer¬
ſitaͤt kamen, ſondern auch eine ungleich laͤngere Zeit,
als die gebieteriſche Noth meiner beſonderen Umſtaͤnde
es mir erlauben wollte, auf ihre Studien verwenden
konnten.
Genug aber, ſo wie ich andere getaͤuſcht hatte, taͤuſchte
ich mich nach und nach ſelber und bildete mir zuletzt
wirklich ein, ich koͤnne in allem Ernſt Jura ſtudiren
und doch zugleich meine eigentlichen Zwecke erreichen.
In dieſem Wahn, etwas zu ſuchen was ich gar
nicht zu beſitzen und anzuwenden wuͤnſchte, fing ich
ſogleich nach meiner Ankunft auf der Univerſitaͤt mit
dem Juriſtiſchen an. Auch fand ich dieſe Wiſſenſchaft
keineswegs der Art daß ſie mir widerſtanden haͤtte,
vielmehr haͤtte ich, wenn mein Kopf nicht von anderen
Vorſaͤtzen und Beſtrebungen waͤre zu voll geweſen,
[31] mich ihr recht gerne ergeben moͤgen. So aber erging
es mir wie einem Maͤdchen, das gegen eine vorgeſchla¬
gene Heirathspartie bloß deßwegen allerley zu erinnern
findet, weil ihr ungluͤcklicher Weiſe ein heimlich Gelieb¬
ter im Herzen liegt.
In den Vorleſungen der Inſtitutionen und Pan¬
dekten ſitzend, vergaß ich mich oft im Ausbilden dra¬
matiſcher Scenen und Acte. Ich gab mir alle Muͤhe
meinen Sinn auf das Vorgetragene zu wenden, allein
er lenkte gewaltſam immer abwaͤrts. Es lag mir fort¬
waͤhrend nichts in Gedanken, als Poeſie und Kunſt und
meine hoͤhere menſchliche Entwickelung, warum ich ja
uͤberall ſeit Jahren mit Leidenſchaft nach der Univerſitaͤt
geſtrebt hatte.
Wer mich nun das erſte Jahr in meinen naͤchſten
Zwecken bedeutend foͤrderte, war Heeren. Seine Eth¬
nographie und Geſchichte legte in mir fuͤr fernere Stu¬
dien dieſer Art den beſten Grund, ſo wie die Klarheit
und Gediegenheit ſeines Vortrages auch in anderer
Hinſicht fuͤr mich von bedeutendem Nutzen war. Ich
beſuchte jede Stunde mit Liebe und verließ keine, ohne
von groͤßerer Hochachtung und Neigung fuͤr den vor¬
zuͤglichen Mann durchdrungen zu ſeyn.
Das zweyte academiſche Jahr begann ich vernuͤnf¬
tiger Weiſe mit gaͤnzlicher Beſeitigung des juriſtiſchen
Studiums, das in der That viel zu bedeutend war,
als daß ich es als Nebenſache haͤtte mitgewinnen koͤn¬
[32] nen, und das mir in der Hauptſache als ein zu großes
Hinderniß anhing. Ich ſchloß mich an die Philologie.
Und wie ich im erſten Jahre Heeren ſehr viel ſchuldig
geworden, ſo ward ich es nun Diſſen. Denn nicht al¬
lein, daß ſeine Vorleſungen meinen Studien die eigentlich
geſuchte und erſehnte Nahrung gaben, ich mich taͤglich
mehr gefoͤrdert und aufgeklaͤrt ſah, und nach ſeinen An¬
deutungen ſichere Richtungen fuͤr kuͤnftige Productionen
nahm, ſondern ich hatte auch das Gluͤck, dem werthen
Manne perſoͤnlich bekannt zu werden und mich von ihm
in meinen Studien geleitet, beſtaͤrkt und ermuntert zu
ſehen.
Überdieß war der taͤgliche Umgang mit ganz vor¬
zuͤglichen Koͤpfen unter den Studirenden und das un¬
aufhoͤrliche Beſprechen der hoͤchſten Gegenſtaͤnde, auf
Spaziergaͤngen und oft bis tief in die Nacht hinein, fuͤr
mich ganz unſchaͤtzbar und auf meine immer freiere
Entwickelung vom guͤnſtigſten Einfluß.
Indeſſen war das Ende meiner pecuniaͤren Huͤlfs¬
mittel nicht mehr ferne. Dagegen hatte ich ſeit andert¬
halb Jahren taͤglich neue Schaͤtze des Wiſſens in mich
aufgenommen; ein ferneres Anhaͤufen, ohne ein practi¬
ſches Verwenden, war meiner Natur und meinem Lebens¬
gange nicht gemaͤß, und es herrſchte daher in mir ein
leidenſchaftlicher Trieb, mich durch einige ſchriftſtelleriſche
Productionen wieder frey und nach ferneren Studien
wieder begehrlich zu machen.
[33]
Sowohl meine dramatiſche Arbeit, woran ich dem
Stoffe nach das Intereſſe nicht verloren hatte, die aber
der Form und dem Gehalte nach bedeutender erſcheinen
ſollte; als auch Ideen in Bezug auf Grundſaͤtze der
Poeſie, die ſich beſonders als Widerſpruch gegen damals
herrſchende Anſichten entwickelt hatten, gedachte ich hinter¬
einander auszuſprechen und zu vollenden.
Ich verließ daher im Herbſt 1822 die Univerſitaͤt
und bezog eine laͤndliche Wohnung in der Naͤhe von
Hannover. Ich ſchrieb zunaͤchſt jene theoretiſchen Auf¬
ſaͤtze, von denen ich hoffte, daß ſie beſonders bey jungen
Talenten nicht allein zur Hervorbringung, ſondern auch
zur Beurtheilung dichteriſcher Werke beytragen wuͤrden,
und gab ihnen den Titel Beytraͤge zur Poeſie.
Im May 1823 war ich mit dieſer Arbeit zu Stande.
Es kam mir nun in meiner Lage nicht allein darauf
an, einen guten Verleger, ſondern auch ein gutes Ho¬
norar zu erhalten, und ſo entſchloß ich mich kurz, und
ſchickte das Manuſcript an Goethe, und bat ihn um
einige empfehlende Worte an Herrn von Cotta.
Goethe war nach wie vor derjenige unter den Dich¬
tern, zu dem ich taͤglich als meinem untruͤglichen Leit¬
ſtern hinaufblickte, deſſen Ausſpruͤche mit meiner Den¬
kungsweiſe in Harmonie ſtanden und mich auf einen
immer hoͤheren Punkt der Anſicht ſtellten, deſſen hohe
Kunſt in Behandlung der verſchiedenſten Gegenſtaͤnde
ich immer mehr zu ergruͤnden und ihr nachzuſtreben
I. 3[34] ſuchte, und gegen den meine innige Liebe und Vereh¬
rung faſt leidenſchaftlicher Natur war.
Bald nach meiner Ankunft in Goͤttingen hatte ich
ihm, neben einer kleinen Skizze meines Lebens- und
Bildungsganges, ein Exemplar meiner Gedichte zuge¬
ſendet, worauf ich denn die große Freude erlebte, nicht
allein von ihm einige ſchriftliche Worte zu erhalten,
ſondern auch von Reiſenden zu hoͤren, daß er von mir
eine gute Meinung habe und in den Heften von Kunſt
und Alterthum meiner gedenken wolle.
Dieſes zu wiſſen, war fuͤr mich in meiner damaligen
Lage von großer Bedeutung, ſo wie es mir auch jetzt
den Muth gab das ſo eben vollendete Manuſcript ver¬
trauensvoll an ihn zu ſenden.
Es lebte nun in mir kein anderer Trieb, als ihm
einmal einige Augenblicke perſoͤnlich nahe zu ſeyn; und
ſo machte ich mich denn zur Erreichung dieſes Wun¬
ſches gegen Ende des Monates May auf, und wanderte
zu Fuß uͤber Goͤttingen und das Werrathal nach Weimar.
Auf dieſem wegen großer Hitze oft muͤhſamen Wege
hatte ich in meinem Innern wiederholt den troͤſtlichen
Eindruck, als ſtehe ich unter der beſonderen Leitung
guͤtiger Weſen, und als moͤchte dieſer Gang fuͤr mein
ferneres Leben von wichtigen Folgen ſeyn.
1823.
3*[][]Vor wenigen Tagen bin ich hier angekommen, heute
war ich zuerſt bey Goethe. Der Empfang ſeiner Seits
war uͤberaus herzlich und der Eindruck ſeiner Perſon
auf mich der Art, daß ich dieſen Tag zu den gluͤcklich¬
ſten meines Lebens rechne.
Er hatte mir geſtern, als ich anfragen ließ, dieſen
Mittag zwoͤlf Uhr als die Zeit beſtimmt, wo ich ihm
willkommen [ſeyn] wuͤrde. Ich ging alſo zur gedachten
Stunde hin und fand den Bedienten auch bereits meiner
wartend und ſich anſchickend mich hinaufzufuͤhren.
Das Innere des Hauſes machte auf mich einen ſehr
angenehmen Eindruck; ohne glaͤnzend zu ſeyn war al¬
les hoͤchſt edel und einfach; auch deuteten verſchiedene
an der Treppe ſtehende Abguͤſſe antiker Statuen auf
Goethe's beſondere Neigung zur bildenden Kunſt und
dem griechiſchen Alterthum. Ich ſah verſchiedene Frauen¬
zimmer, die unten im Hauſe geſchaͤftig hin und wieder
gingen; auch einen der ſchoͤnen Knaben Ottiliens, der
[38] zutraulich zu mir herankam und mich mit großen Augen
anblickte.
Nachdem ich mich ein wenig umgeſehen, ging ich ſo¬
dann mit dem ſehr geſpraͤchigen Bedienten die Treppe
hinauf zur erſten Etage. Er oͤffnete ein Zimmer, vor
deſſen Schwelle man die Zeichen SALVE als gute
Vorbedeutung eines freundlichen Willkommenſeyns uͤber¬
ſchritt. Er fuͤhrte mich durch dieſes Zimmer hindurch
und oͤffnete ein zweytes, etwas geraͤumigeres, wo er
mich zu verweilen bat, indem er ging mich ſeinem
Herrn zu melden. Hier war die kuͤhlſte erquicklichſte
Luft, auf dem Boden lag ein Teppich gebreitet, auch
war es durch ein rothes Kanapee und Stuͤhle von glei¬
cher Farbe uͤberaus heiter meublirt; gleich zur Seite ſtand
ein Fluͤgel, und an den Waͤnden ſah man Handzeich¬
nungen und Gemaͤlde verſchiedener Art und Groͤße.
Durch eine offene Thuͤr gegenuͤber blickte man ſodann
in ein ferneres Zimmer, gleichfalls mit Gemaͤlden ver¬
ziert, durch welches der Bediente gegangen war mich
zu melden.
Es waͤhrte nicht lange ſo kam Goethe, in einem
blauen Oberrock und in Schuhen; eine erhabene Ge¬
ſtalt! Der Eindruck war uͤberraſchend. Doch verſcheuchte
er ſogleich jede Befangenheit durch die freundlichſten
Worte. Wir ſetzten uns auf das Sopha. Ich war
gluͤcklich verwirrt in ſeinem Anblick und ſeiner Naͤhe,
ich wußte ihm wenig oder nichts zu ſagen.
[39]
Er fing ſogleich an von meinem Manuſcript zu
reden. „Ich komme eben von Ihnen her, ſagte er;
ich habe den ganzen Morgen in Ihrer Schrift geleſen;
ſie bedarf keiner Empfehlung, ſie empfiehlt ſich ſelber.“
Er lobte darauf die Klarheit der Darſtellung und den
Fluß der Gedanken und daß alles auf gutem Fundament
ruhe und wohl durchdacht ſey. „Ich will es ſchnell
befoͤrdern, fuͤgte er hinzu, heute noch ſchreibe ich an
Cotta mit der reitenden Poſt, und morgen ſchicke ich
das Paket mit der fahrenden nach.“ Ich dankte ihm
dafuͤr mit Worten und Blicken.
Wir ſprachen darauf uͤber meine fernere Reiſe. Ich
ſagte ihm daß mein eigentliches Ziel die Rheingegend
ſey, wo ich an einem paſſenden Ort zu verweilen und
etwas Neues zu ſchreiben gedenke. Zunaͤchſt jedoch
wolle ich von hier nach Jena gehen, um dort die
Antwort des Herrn von Cotta zu erwarten.
Goethe fragte mich, ob ich in Jena ſchon Bekannte
habe; ich erwiederte daß ich mit Herrn von Knebel
in Beruͤhrung zu kommen hoffe, worauf er verſprach
mir einen Brief mitzugeben, damit ich einer deſto beſ¬
ſern Aufnahme gewiß ſey.
„Nun, nun! ſagte er dann, wenn Sie in Jena
ſind, ſo ſind wir ja nahe bey einander und koͤnnen zu
einander und koͤnnen uns ſchreiben wenn etwas vorfaͤllt.“
Wir ſaßen lange beyſammen, in ruhiger liebevoller
Stimmung. Ich druͤckte ſeine Kniee, ich vergaß das
[40] Reden uͤber ſeinem Anblick, ich konnte mich an ihm
nicht ſatt ſehen. Das Geſicht ſo kraͤftig und braun
und voller Falten und jede Falte voller Ausdruck. Und
in Allem ſolche Biederkeit und Feſtigkeit und ſolche
Ruhe und Groͤße! Er ſprach langſam und bequem, ſo
wie man ſich wohl einen bejahrten Monarchen denkt
wenn er redet. Man ſah ihm an, daß er in ſich ſelber
ruhet und uͤber Lob und Tadel erhaben iſt. Es war
mir bey ihm unbeſchreiblich wohl; ich fuͤhlte mich be¬
ruhigt, ſo wie es jemandem ſeyn mag, der nach vieler
Muͤhe und langem Hoffen endlich ſeine liebſten Wuͤnſche
befriedigt ſieht.
Er kam ſodann auf meinen Brief und daß ich
Recht habe, daß, wenn man eine Sache mit Klarheit zu
behandeln vermoͤge, man auch zu vielen anderen Dingen
tauglich ſey.
„Man kann nicht wiſſen wie ſich das drehet und wen¬
det, ſagte er dann; ich habe manchen huͤbſchen Freund
in Berlin, da habe ich denn dieſer Tage Ihrer gedacht.“
Dabey laͤchelte er liebevoll in ſich. Er machte mich
ſodann aufmerkſam, was ich in dieſen Tagen in Weimar
alles noch ſehen muͤſſe, und daß er den Herrn Secre¬
tair Kraͤuter bitten wolle mich herumzufuͤhren. Vor
allen aber ſolle ich ja nicht verſaͤumen das Theater zu
beſuchen. Er fragte mich darauf wo ich logire und
ſagte, daß er mich noch einmal zu ſehen wuͤnſche und
zu einer paſſenden Stunde ſenden wolle.
[41]
Mit Liebe ſchieden wir auseinander; ich im hohen
Grade gluͤcklich, denn aus jedem ſeiner Worte ſprach
Wohlwollen und ich fuͤhlte daß er es uͤberaus gut mit
mir im Sinne habe.
Dieſen Morgen erhielt ich abermals eine Einladung
zu Goethe, und zwar mittelſt einer von ihm beſchriebenen
Charte. Ich war darauf wieder ein Stuͤndchen bey ihm.
Er erſchien mir heute ganz ein anderer als geſtern, er
zeigte ſich in allen Dingen raſch und entſchieden wie
ein Juͤngling.
Er brachte zwey dicke Buͤcher als er zu mir herein¬
trat. „Es iſt nicht gut, ſagte er, daß Sie ſo raſch vor¬
uͤbergehen, vielmehr wird es beſſer ſeyn daß wir ein¬
ander etwas naͤher kommen. Ich wuͤnſche Sie mehr zu
ſehen und zu ſprechen. Da aber das Allgemeine ſo groß
iſt, ſo habe ich ſogleich auf etwas Beſonderes gedacht,
das als ein Tertium einen Verbindungs- und Beſpre¬
chungs-Punkt abgebe. Sie finden in dieſen beyden
Baͤnden die Frankfurter gelehrten Anzeigen der Jahre
1772 und 1773, und zwar ſind auch darin faſt alle
meine damals geſchriebenen kleinen Recenſionen. Dieſe
ſind nicht gezeichnet; doch da Sie meine Art und Den¬
kungsweiſe kennen, ſo werden Sie ſie ſchon aus den
uͤbrigen herausfinden. Ich moͤchte nun, daß Sie dieſe
[42] Jugendarbeiten etwas naͤher betrachteten und mir ſagten
was Sie davon denken. Ich moͤchte wiſſen, ob ſie
werth ſind in eine kuͤnftige Ausgabe meiner Werke auf¬
genommen zu werden. Mir ſelber ſtehen dieſe Sachen
viel zu weit ab, ich habe daruͤber kein Urtheil. Ihr
Juͤngeren aber muͤßt wiſſen, ob ſie fuͤr euch Werth ha¬
ben und in wiefern ſie bey dem jetzigen Standpunkte
der Literatur noch zu gebrauchen. Ich habe bereits Ab¬
ſchriften nehmen laſſen, die Sie dann ſpaͤter haben ſol¬
len um ſie mit dem Original zu vergleichen. Demnaͤchſt,
bey einer ſorgfaͤltigen Redaction, wuͤrde ſich denn auch
finden, ob man nicht gut thue hie und da eine Klei¬
nigkeit auszulaſſen, oder nachzuhelfen, ohne im Ganzen
dem Character zu ſchaden.“
Ich antwortete ihm, daß ich ſehr gerne mich an
dieſen Gegenſtaͤnden verſuchen wolle, und daß ich dabey
weiter nichts wuͤnſche, als daß es mir gelingen moͤge
ganz in ſeinem Sinne zu handeln.
„So wie Sie hineinkommen, erwiederte er, werden
Sie finden daß Sie der Sache vollkommen gewachſen
ſind; es wird Ihnen von der Hand gehen.“
Er eroͤffnete mir darauf, daß er in etwa acht Tagen
nach Marienbad abzureiſen gedenke und daß es ihm lieb
ſeyn wuͤrde wenn ich bis dahin noch in Weimar bliebe,
damit wir uns waͤhrend der Zeit mitunter ſehen und
ſprechen und perſoͤnlich naͤher kommen moͤchten.
„Auch wuͤnſchte ich, fuͤgte er hinzu, daß Sie in Jena
[43] nicht bloß wenige Tage oder Wochen verweilten, ſon¬
dern daß Sie ſich fuͤr den ganzen Sommer dort haͤus¬
lich einrichteten, bis ich gegen den Herbſt von Marien¬
bad zuruͤckkomme. Ich habe bereits geſtern wegen einer
Wohnung und dergleichen geſchrieben, damit Ihnen al¬
les bequem und angenehm werde.“
„Sie finden dort die verſchiedenartigſten Quellen und
Huͤlfsmittel fuͤr weitere Studien; auch einen ſehr gebil¬
deten geſelligen Umgang, und uͤberdieß iſt die Gegend
ſo mannigfaltig, daß Sie wohl funfzig verſchiedene Spa¬
ziergaͤnge machen koͤnnen, die alle angenehm und faſt alle
zu ungeſtoͤrtem Nachdenken geeignet ſind. Sie werden
Muße und Gelegenheit finden in der Zeit fuͤr ſich ſelbſt
manches Neue zu ſchreiben und nebenbey auch meine
Zwecke zu foͤrdern.“
Ich fand gegen ſo gute Vorſchlaͤge nichts zu erin¬
nern und willigte in alles mit Freuden. Als ich ging
war er beſonders liebevoll; auch beſtimmte er auf uͤber¬
morgen eine abermalige Stunde zu einer ferneren Unter¬
redung.
Ich war in dieſen Tagen wiederholt bey Goethe.
Heute ſprachen wir groͤßtentheils von Geſchaͤften. Ich
aͤußerte mich auch uͤber ſeine Frankfurter Recenſionen,
die ich Nachklaͤnge ſeiner academiſchen Jahre nannte,
[44] welcher Ausſpruch ihm zu gefallen ſchien, indem er den
Stand-Punct bezeichne, aus welchem man jene jugend¬
lichen Arbeiten zu betrachten habe.
Er gab mir ſodann die erſten eilf Hefte von Kunſt
und Alterthum, damit ich ſie neben den Frankfurter Re¬
cenſionen als eine zweyte Arbeit nach Jena mit hinuͤber
nehme.
„Ich wuͤnſche naͤmlich, ſagte er, daß Sie dieſe Hefte
gut ſtudirten und nicht allein ein allgemeines Inhalts¬
verzeichniß daruͤber machten, ſondern auch aufſetzten,
welche Gegenſtaͤnde nicht als abgeſchloſſen zu betrachten
ſind, damit es mir vor die Augen trete, welche Faͤden
ich wieder aufzunehmen und weiter fortzuſpinnen habe.
Es wird mir dieſes eine große Erleichterung ſeyn und
Sie ſelber werden davon den Gewinn haben, daß Sie
auf dieſem practiſchen Wege den Inhalt aller einzelnen
Aufſaͤtze weit ſchaͤrfer anſehen und in ſich aufnehmen, als
es bey einem gewoͤhnlichen Leſen nach perſoͤnlicher Nei¬
gung zu geſchehen pflegt.“
Ich fand dieſes alles gut und richtig und ſagte daß
ich auch dieſe Arbeit gern uͤbernehmen wolle.
Ich wollte heute eigentlich ſchon in Jena ſeyn,
Goethe ſagte aber geſtern wuͤnſchend und bittend, daß ich
doch noch bis Sonntag bleiben und dann mit der Poſt
[45] fahren moͤchte. Er gab mir geſtern die Empfehlungs¬
briefe und auch einen fuͤr die Familie Frommann.
„Es wird Ihnen in dieſem Kreiſe gefallen, ſagte er,
ich habe dort ſchoͤne Abende verlebt. Auch Jean Paul,
Tieck, die Schlegel und was in Deutſchland ſonſt
Namen hat iſt dort geweſen und hat dort gerne verkehrt
und noch jetzt iſt es der Vereinigungs-Punkt vieler Ge¬
lehrten und Kuͤnſtler und ſonſt angeſehener Perſonen.
In einigen Wochen ſchreiben Sie mir nach Marien¬
bad, damit ich erfahre wie es Ihnen geht und wie es
Ihnen in Jena gefaͤllt. Auch habe ich meinem Sohn
geſagt, daß er Sie waͤhrend meiner Abweſenheit druͤben
einmal beſuche.“
Ich fuͤhlte mich Goethen fuͤr ſo viele Sorgfalt ſehr
dankbar, und es that mir wohl aus allem zu ſehen, daß
er mich zu den Seinigen zaͤhlt und mich als ſolchen
will gehalten haben.
Sonnabend den 21. Juny nahm ich ſodann von
Goethe Abſchied und fuhr des andern Tages nach Jena
hinuͤber und richtete mich in einer Gartenwohnung ein
bey ſehr guten redlichen Leuten. In den Familien des
Herrn von Knebel und Frommann fand ich auf Goethe's
Empfehlung eine freundliche Aufnahme und einen ſehr
belehrenden Umgang. In den mitgenommenen Arbeiten
ſchritt ich auf das Beſte vor, und uͤberdieß hatte ich bald
[46] die Freude, einen Brief von Herrn von Cotta zu er¬
halten, worin er ſich nicht allein zum Verlage meines
ihm zugegangenen Manuſcriptes ſehr bereit erklaͤrte, ſon¬
dern mir auch ein anſehnliches Honorar zuſicherte und
den Druck in Jena unter meinen Augen geſchehen ließ.
So war nun meine Exiſtenz wenigſtens auf ein Jahr
gedeckt, und ich fuͤhlte den lebhafteſten Trieb, in dieſer
Zeit etwas Neues hervorzubringen und dadurch mein
ferneres Gluͤck als Autor zu begruͤnden. Die theoretiſche
und kritiſche Richtung hoffte ich durch die Aufſaͤtze mei¬
ner Beytraͤge zur Poeſie ein fuͤr allemal hinter
mir zu haben; ich hatte mich dadurch uͤber die vorzuͤg¬
lichſten Geſetze aufzuklaͤren geſucht, und meine ganze in¬
nere Natur draͤngte mich nun zur practiſchen Ausuͤbung.
Ich hatte Plaͤne zu unzaͤhligen Gedichten, groͤßeren und
kleineren, auch zu dramatiſchen Gegenſtaͤnden verſchiede¬
ner Art, und es handelte ſich nach meinem Gefuͤhl jetzt
bloß darum, wohin ich mich wenden ſollte um mit einigem
Behagen eins nach dem andern ruhig ans Licht zu bringen.
In Jena gefiel es mir auf die Laͤnge nicht, es war
mir zu ſtille und einfoͤrmig. Ich verlangte nach einer
großen Stadt, die nicht allein ein vorzuͤgliches Theater
beſitze, ſondern wo ſich auch ein freyes großes Volks¬
leben entwickele, damit ich bedeutende Lebenselemente in
mich aufzunehmen und meine innere Cultur auf das
raſcheſte zu ſteigern vermoͤge. In einer ſolchen Stadt
hoffte ich zugleich ganz unbemerkt leben und mich zu
[47] jeder Zeit zu einer ganz ungeſtoͤrten Production iſoliren
zu koͤnnen.
Ich hatte indeſſen das von Goethe gewuͤnſchte In¬
haltsverzeichniß der erſten vier Baͤnde von Kunſt und
Alterthum entworfen und ſendete es ihm mit einem
Brief nach Marienbad, worin ich meine Wuͤnſche und
Plaͤne ganz offen ausſprach. Ich erhielt darauf alſobald
die folgenden Zeilen.
„Das Inhaltsverzeichniß iſt mir zur rechten Zeit
gekommen und entſpricht ganz meinen Wuͤnſchen und
Zwecken. Laſſen Sie mich die Frankfurter Recen¬
ſionen bev meiner Ruͤckkehr auf gleiche Weiſe redigirt
finden, ſo zolle den beſten Dank, welchen ich vorlaͤufig
ſchon im Stillen entrichte, indem ich Ihre Geſinnungen,
Zuſtaͤnde, Wuͤnſche, Zwecke und Plaͤne mit mir theil¬
nehmend herumtrage um bey meiner Ruͤckkunft mich
uͤber Ihr Wohl deſto gruͤndlicher beſprechen zu koͤnnen.
Mehr ſag' ich heute nicht. Der Abſchied von Marien¬
bad giebt mancherley zu denken und zu thun, waͤhrend
man ein allzukurzes Verweilen mit vorzuͤglichen Men¬
ſchen gar ſchmerzlich empfindet.“
„Moͤge ich Sie in ſtiller Thaͤtigkeit antreffen, aus
der denn doch zuletzt am ſicherſten und reinſten Welt¬
umſicht und Erfahrung hervorgeht. Leben Sie wohl;
freue mich auf ein laͤngeres und engeres Zuſammenſeyn.“
Marienbad, den 14. Auguſt 1823.
„Goethe.“
[48]
Durch ſolche Zeilen Goethe's, deren Empfang mich
im hohen Grade begluͤckte, fuͤhlte ich mich nun vorlaͤu¬
fig wieder beruhigt. Ich ward dadurch entſchieden, kei¬
nen eigenmaͤchtigen Schritt zu thun, ſondern mich ganz
ſeinem Rath und Willen zu uͤberlaſſen. Ich ſchrieb
indeß einige kleine Gedichte, beendigte die Redaction der
Frankfurter Recenſionen und ſprach meine Anſicht dar¬
uͤber in einer kurzen Abhandlung aus, die ich fuͤr Goethe
beſtimmte. Seiner Zuruͤckkunft aus Marienbad ſah ich
mit Sehnſucht entgegen, indem auch der Druck meiner
Beytraͤge zur Poeſie ſich zu Ende neigte, und ich auf
alle Faͤlle zu einiger Erfriſchung noch dieſen Herbſt eine
kurze Ausflucht von wenigen Wochen an den Rhein zu
machen wuͤnſchte.
Goethe iſt von Marienbad gluͤcklich zuruͤckgekommen,
wird aber, da ſeine hieſige Gartenwohnung nicht die er¬
forderliche Bequemlichkeit darbietet, hier nur wenige Tage
verweilen. Er iſt wohl und ruͤſtig, ſo daß er einen
Weg von mehreren Stunden zu Fuß machen kann und
es eine wahre Freude iſt ihn anzuſehen.
Nach einem beyderſeitigen froͤhlichen Begruͤßen fing
Goethe ſogleich an uͤber meine Angelegenheit zu reden.
„Ich muß grade herausſagen, begann er, ich wuͤn¬
ſche daß Sie dieſen Winter bey mir in Weimar bleiben“.
[49] Dieß waren ſeine erſten Worte, dann ging er naͤher ein
und fuhr fort: „In der Poeſie und Critik ſteht es mit
Ihnen aufs Beſte, Sie haben darin ein natuͤrliches
Fundament; das iſt Ihr Metier woran Sie ſich zu
halten haben, und welches Ihnen auch ſehr bald eine
tuͤchtige Exiſtenz zu Wege bringen wird. Nun iſt aber
noch Manches, was nicht eigentlich zum Fache gehoͤrt,
und was Sie doch auch wiſſen muͤſſen. Es kommt
aber darauf an, daß Sie hiebey nicht lange Zeit ver¬
lieren, ſondern ſchnell daruͤber hinwegkommen. Das
ſollen Sie nun dieſen Winter bey uns in Weimar, und
Sie ſollen ſich wundern wie weit Sie Oſtern ſeyn wer¬
den. Sie ſollen von Allem das Beſte haben, weil die
beſten Huͤlfsmittel in meinen Haͤnden ſind. Dann ſte¬
hen Sie fuͤrs Leben feſt und kommen zum Behagen und
koͤnnen uͤberall mit Zuverſicht auftreten.“
Ich freute mich dieſer Vorſchlaͤge und ſagte, daß ich
mich ganz ſeinen Anſichten und Wuͤnſchen uͤberlaſſen
wolle.
„Fuͤr eine Wohnung in meiner Naͤhe, fuhr Goethe
fort, werde ich ſorgen; Sie ſollen den ganzen Winter
keinen unbedeutenden Moment haben. Es iſt in Wei¬
mar noch viel Gutes beyſammen und Sie werden nach
und nach in den hoͤhren Kreiſen eine Geſellſchaft finden,
die den beſten aller großen Staͤdte gleich kommt. Auch
ſind mit mir perſoͤnlich ganz vorzuͤgliche Maͤnner ver¬
bunden, deren Bekanntſchaft Sie nach und nach machen
I. 4[50] werden und deren Umgang Ihnen im hohen Grade
lehrreich und nuͤtzlich ſeyn wird.“
Goethe nannte mir verſchiedene angeſehene Namen
und bezeichnete mit wenigen Worten die beſonderen Ver¬
dienſte jedes Einzelnen.
„Wo finden Sie, fuhr er fort, auf einem ſo engen
Fleck noch ſo viel Gutes! Auch beſitzen wir eine aus¬
geſuchte Bibliothek und ein Theater, was den beſten an¬
derer deutſchen Staͤdte in den Hauptſachen keinesweges
nachſteht. Ich wiederhole daher: bleiben Sie bey uns,
und nicht bloß dieſen Winter, waͤhlen Sie Weimar zu
Ihrem Wohnort. Es gehen von dort die Thore [und]
Straßen nach allen Enden der Welt. Im Sommer
machen Sie Reiſen, und ſehen nach und nach, was Sie
zu ſehen wuͤnſchen. Ich bin ſeit funfzig Jahren dort,
und wo bin ich nicht uͤberall geweſen! — Aber ich bin
immer gerne nach Weimar zuruͤckgekehrt.“
Ich war begluͤckt, Goethen wieder nahe zu ſeyn nnd
ihn wieder reden zu hoͤren, und ich fuͤhlte mich ihm
mit meinem ganzen Innern hingegeben. Wenn ich nur
dich habe und haben kann, dachte ich, ſo wird mir
alles Übrige recht ſeyn. Ich wiederholte ihm daher, daß
ich bereit ſey, alles zu thun was er in Erwaͤgung mei¬
ner beſonderen Lage nur irgend fuͤr gut halte.
Geſtern morgen, vor Goethe's Abreiſe nach Weimar,
war ich ſo gluͤcklich wieder ein Stuͤndchen bey ihm zu
ſeyn. Und da fuͤhrte er ein hoͤchſt bedeutendes Geſpraͤch,
was fuͤr mich ganz unſchaͤtzbar iſt und mir auf mein
ganzes Leben wohl thut. Alle jungen Dichter in Deutſch¬
land muͤßten es wiſſen, es koͤnnte ihnen helfen.
Er leitete das Geſpraͤch ein indem er mich fragte, ob
ich dieſen Sommer keine Gedichte gemacht. Ich ant¬
wortete ihm, daß ich zwar einige gemacht, daß es mir
aber im Ganzen dazu an Behagen gefehlt. „Nehmen
Sie ſich in Acht, ſagte er darauf, vor einer großen
Arbeit. Das iſt's eben, woran unſere Beſten leiden,
gerade diejenigen, in denen das meiſte Talent und das
tuͤchtigſte Streben vorhanden. Ich habe auch daran ge¬
litten und weiß was es mir geſchadet hat. — Was iſt
da nicht alles in den Brunnen gefallen! — Wenn ich
alles gemacht haͤtte, was ich recht gut haͤtte machen koͤn¬
nen, es wuͤrden keine hundert Baͤnde reichen.“
„Die Gegenwart will ihre Rechte; was ſich taͤglich
im Dichter von Gedanken und Empfindungen aufdraͤngt,
das will und ſoll ausgeſprochen ſeyn. Hat man aber
ein groͤßeres Werk im Kopfe, ſo kann nichts daneben
aufkommen, ſo werden alle Gedanken zuruͤckgewieſen und
man iſt fuͤr die Behaglichkeit des Lebens ſelbſt ſo lange
verloren. Welche Anſtrengung und Verwendung von
Geiſteskraft gehoͤrt nicht dazu, um nur ein großes Gan¬
4*[52] zes in ſich zu ordnen und abzurunden, und welche Kraͤfte
und welche ruhige ungeſtoͤrte Lage im Leben, um es dann
in einem Fluß gehoͤrig auszuſprechen. Hat man ſich nun
im Ganzen vergriffen, ſo iſt alle Muͤhe verloren; iſt man
ferner, bey einem ſo umfangreichen Gegenſtande, in ein¬
zelnen Theilen nicht voͤllig Herr ſeines Stoffes, ſo wird
das Ganze ſtellenweiſe mangelhaft werden und man wird
geſcholten; und aus allem entſpringt fuͤr den Dichter,
ſtatt Belohnung und Freude fuͤr ſo viele Muͤhe und
Aufopferung, nichts als Unbehagen und Laͤhmung der
Kraͤfte. Faßt dagegen der Dichter taͤglich die Gegenwart
auf, und behandelt er immer gleich in friſcher Stimmung
was ſich ihm darbietet, ſo macht er ſicher immer etwas
Gutes, und gelingt ihm auch einmal etwas nicht, ſo iſt
nichts daran verloren.“
„Da iſt der Auguſt Hagen in Koͤnigsberg, ein
herrliches Talent; haben Sie ſeine Olfried und Li¬
ſena geleſen? Da ſind Stellen darin, wie ſie nicht beſ¬
ſer ſeyn koͤnnen; die Zuſtaͤnde an der Oſtſee und was
ſonſt in dortige Localitaͤt hineinſchlaͤgt, alles meiſterhaft.
Aber es ſind nur ſchoͤne Stellen, als Ganzes will es nie¬
manden behagen. Und welche Muͤhe und welche Kraͤfte
hat er daran verwendet! ja er hat ſich faſt daran er¬
ſchoͤpft. Jetzt hat er ein Trauerſpiel gemacht!“ Dabey
laͤchelte Goethe und hielt einen Augenblick inne. Ich
nahm das Wort und ſagte, daß, wenn ich nicht irre,
er Hagen in Kunſt und Alterthum gerathen, nur kleine
[53] Gegenſtaͤnde zu behandeln. „Freilich habe ich das, er¬
wiederte Goethe; aber thut man denn, was wir Alten
ſagen? Jeder glaubt, er muͤſſe es doch ſelber am beſten
wiſſen, und dabey geht mancher verloren und mancher
hat lange daran zu irren. Es iſt aber jetzt keine Zeit
mehr zum Irren, dazu ſind wir Alten geweſen, und
was haͤtte uns alle unſer Suchen und Irren geholfen,
wenn Ihr juͤngeren Leute wieder dieſelbigen Wege lau¬
fen wolltet. Da kaͤmen wir ja nie weiter! Uns Alten
rechnet man den Irrthum zu Gute, weil wir die Wege
nicht gebahnt fanden; wer aber ſpaͤter in die Welt ein¬
tritt, von dem verlangt man mehr, der ſoll nicht aber¬
mals irren und ſuchen, ſondern er ſoll den Rath der
Alten nutzen und gleich auf gutem Wege fortſchreiten.
Es ſoll nicht genuͤgen, daß man Schritte thue, die einſt
zum Ziele fuͤhren, ſondern jeder Schritt ſoll Ziel ſeyn
und als Schritt gelten.“
„Tragen Sie dieſe Worte bey ſich herum und ſehen
Sie zu, was Sie davon mit ſich vereinigen koͤnnen. Es
iſt mir eigentlich um Sie nicht bange, aber ich helfe
Sie durch mein Zureden vielleicht ſchnell uͤber eine Pe¬
riode hinweg, die Ihrer jetzigen Lage nicht gemaͤß iſt.
Machen Sie vor der Hand, wie geſagt, immer nur
kleine Gegenſtaͤnde, immer alles friſch weg was ſich
Ihnen taͤglich darbietet, ſo werden Sie in der Regel
immer etwas Gutes leiſten und jeder Tag wird Ihnen
Freude bringen. Geben Sie es zunaͤchſt in die Taſchen¬
[54] buͤcher, in die Zeitſchriften; aber fuͤgen Sie ſich nie frem¬
den Anforderungen, ſondern machen Sie es immer nach
Ihrem eigenen Sinn.“
„Die Welt iſt ſo groß und reich und das Leben ſo
mannigfaltig, daß es an Anlaͤſſen zu Gedichten nie feh¬
len wird. Aber es muͤſſen alles Gelegenheitsgedichte
ſeyn, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlaſſung
und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetiſch
wird ein ſpecieller Fall eben dadurch, daß ihn der
Dichter behandelt. Alle meine Gedichte ſind Gelegen¬
heitsgedichte, ſie ſind durch die Wirklichkeit angeregt und
haben darin Grund und Boden. Von Gedichten, aus
der Luft gegriffen, halte ich nichts.“
„Man ſage nicht, daß es der Wirklichkeit an poeti¬
ſchem Intereſſe fehle; denn eben darin bewaͤhrt ſich ja
der Dichter, daß er geiſtreich genug ſey, einem gewoͤhn¬
lichen Gegenſtande eine intereſſante Seite abzugewinnen.
Die Wirklichkeit ſoll die Motive hergeben, die auszu¬
ſprechenden Puncte, den eigentlichen Kern; aber ein
ſchoͤnes belebtes Ganzes daraus zu bilden iſt Sache des
Dichters. Sie kennen den Fuͤrnſtein, den ſoge¬
nannten Naturdichter, er hat ein Gedicht gemacht uͤber
den Hopfenbau, es laͤßt ſich nicht artiger machen. Jetzt
habe ich ihm Handwerkslieder aufgegeben, beſonders
ein Weberlied, und ich bin gewiß, daß es ihm gelingen
wird; denn er hat von Jugend auf unter ſolchen Leuten
gelebt, er kennt den Gegenſtand durch und durch, er wird
[55] Herr ſeines Stoffes ſeyn. Und das iſt eben der Vortheil
bey kleinen Sachen, daß man nur ſolche Gegenſtaͤnde zu
waͤhlen braucht und waͤhlen wird, die man kennet, von
denen man Herr iſt. Bey einem großen dichteriſchen
Werk geht das aber nicht, da laͤßt ſich nicht ausweichen,
alles was zur Verknuͤpfung des Ganzen gehoͤrt und in
den Plan hinein mit verflochten iſt, muß dargeſtellt wer¬
den und zwar mit getroffener Wahrheit. Bey der Ju¬
gend aber iſt die Kenntniß der Dinge noch einſeitig;
ein großes Werk aber erfordert Vielſeitigkeit, und daran
ſcheitert man.“
Ich ſagte Goethen, daß ich im Willen gehabt, ein
großes Gedicht uͤber die Jahreszeiten zu machen und die
Beſchaͤftigungen und Beluſtigungen aller Staͤnde hinein
zu verflechten. „Hier iſt derſelbige Fall, ſagte Goethe
darauf, es kann Ihnen Vieles daran gelingen, aber
Manches, was Sie vielleicht noch nicht gehoͤrig durch¬
forſcht haben und kennen, gelingt Ihnen nicht. Es
gelingt Ihnen vielleicht der Fiſcher, aber der Jaͤger viel¬
leicht nicht. Geraͤth aber am Ganzen etwas nicht, ſo
iſt es als Ganzes mangelhaft, ſo gut einzelne Partien
auch ſeyn moͤgen, und Sie haben nichts Vollendetes
geleiſtet. Stellen Sie aber bloß die einzelnen Partien
fuͤr ſich, ſelbſtſtaͤndig dar, denen Sie gewachſen ſind,
ſo machen Sie ſicher etwas Gutes.“
„Beſonders warne ich vor eigenen großen Erfin¬
dungen; denn da will man eine Anſicht der Dinge geben
[56] und die iſt in der Jugend ſelten reif. Ferner: Charac¬
tere und Anſichten loͤſen ſich als Seiten des Dichters
von ihm ab und berauben ihn fuͤr fernere Productionen
der Fuͤlle. Und endlich: welche Zeit geht nicht an der
Erfindung und inneren Anordnung und Verknuͤpfung
verloren, worauf uns niemand etwas zu gute thut, vor¬
ausgeſetzt daß wir uͤberall mit unſerer Arbeit zu Stande
kommen.“
„Bey einem gegebenen Stoff hingegen iſt alles
anders und leichter. Da werden Facta und Charactere
uͤberliefert und der Dichter hat nur die Belebung des
Ganzen. Auch bewahrt er dabey ſeine eigene Fuͤlle,
denn er braucht nur wenig von dem Seinigen hinzuzu¬
thun; auch iſt der Verluſt von Zeit und Kraͤften bey
weitem geringer, denn er hat nur die Muͤhe der Aus¬
fuͤhrung. Ja ich rathe ſogar zu ſchon bearbeiteten Ge¬
genſtaͤnden. Wie oft iſt nicht die Iphigenie gemacht,
und doch ſind alle verſchieden; denn jeder ſieht und ſtellt
die Sachen anders, eben nach ſeiner Weiſe.“
„Aber laſſen Sie vor der Hand alles Große zur
Seite. Sie haben lange genug geſtrebt, es iſt Zeit, daß
Sie zur Heiterkeit des Lebens gelangen, und dazu eben
iſt die Bearbeitung kleiner Gegenſtaͤnde das beſte Mittel.“
Wir waren bey dieſem Geſpraͤch in ſeiner Stube auf
und ab gegangen; ich konnte immer nur zuſtimmen, denn
ich fuͤhlte die Wahrheit eines jeden Wortes in meinem
ganzen Weſen. Bey jedem Schritt ward es mir leich¬
[57] ter und gluͤcklicher, denn ich will nur geſtehen, daß ver¬
ſchiedene groͤßere Plaͤne, womit ich bis jetzt nicht recht
ins Klare kommen konnte, mir keine geringe Laſt ge¬
weſen ſind. Jetzt habe ich ſie von mir geworfen und
ſie moͤgen nun ruhen, bis ich einmal einen Gegenſtand
und eine Partie nach der andern mit Heiterkeit wieder
aufnehme und hinzeichne, ſo wie ich nach und nach durch
Erforſchung der Welt von den einzelnen Theilen des
Stoffes Meiſter werde.
Ich fuͤhle mich nun durch Goethe's Worte um ein
paar Jahre kluͤger und fortgeruͤckt und weiß in meiner
tiefſten Seele das Gluͤck zu erkennen, was es ſagen will,
wenn man einmal mit einem rechten Meiſter zuſammen¬
trifft. Der Vortheil iſt gar nicht zu berechnen.
Was werde ich nun dieſen Winter nicht noch bey
ihm lernen, und was werde ich nicht durch den bloßen
Umgang mit ihm gewinnen, auch in Stunden, wenn er
eben nicht grade etwas Bedeutendes ſpricht! — Seine
Perſon, ſeine bloße Naͤhe ſcheint mir bildend zu ſeyn,
ſelbſt wenn er kein Wort ſagte.
Bey ſehr freundlichem Wetter bin ich geſtern von
Jena heruͤbergefahren. Gleich nach meiner Ankunft ſen¬
dete mir Goethe, zum Willkommen in Weimar, ein
[58] Abonnement ins Theater. Ich benutzte den geſtrigen
Tag zu meiner haͤuslichen Einrichtung, da ohnehin im
Goethe'ſchen Hauſe viel Bewegung war, indem der fran¬
zoͤſiſche Geſandte, Graf Reinhard aus Frankfurt, und
der preußiſche Staatsrath Schultz aus Berlin gekom¬
men waren, ihn zu beſuchen.
Dieſen Vormittag war ich dann bey Goethe. Er
freute ſich uͤber meine Ankunft und war uͤberaus gut
und liebenswuͤrdig. Als ich gehen wollte, ſagte er, daß
er mich doch zuvor mit dem Staatsrath Schultz bekannt
machen wolle. Er fuͤhrte mich in das angrenzende Zim¬
mer, wo ich den gedachten Herrn mit Betrachtung von
Kunſtwerken beſchaͤftigt fand und wo er mich ihm vor¬
ſtellte und uns dann zu weiterem Geſpraͤch allein ließ.
„Es iſt ſehr erfreulich, ſagte Schultz darauf, daß
Sie in Weimar bleiben und Goethe bey der Redaction
ſeiner bisher ungedruckten Schriften unterſtuͤtzen wollen.
Er hat mir ſchon geſagt, welchen Gewinn er ſich von
Ihrer Mitwirkung verſpricht, und daß er nun auch noch
manches Neue zu vollenden hofft.“
Ich antwortete ihm, daß ich keinen andern Lebens¬
zweck habe als der deutſchen Literatur nuͤtzlich zu ſeyn,
und daß ich, in der Hoffnung hier wohlthaͤtig einzu¬
wirken, gerne meine eigenen literariſchen Vorſaͤtze vor¬
laͤufig zuruͤckſtehen laſſen wolle. Auch wuͤrde, fuͤgte ich
hinzu, ein practiſcher Verkehr mit Goethe hoͤchſt wohl¬
thaͤtig auf meine fernere Ausbildung wirken, ich hoffe
[59] dadurch nach einigen Jahren eine gewiſſe Reife zu erlan¬
gen, und ſodann weit beſſer zu vollbringen, was ich jetzt
nur in geringerem Grade zu thun im Stande waͤre.
„Gewiß, ſagte Schultz, iſt die perſoͤnliche Einwir¬
kung eines ſo außerordentlichen Menſchen und Meiſters
wie Goethe ganz unſchaͤtzbar. Ich bin auch heruͤber¬
gekommen, um mich an dieſem großen Geiſte einmal
wieder zu erquicken.“
Er erkundigte ſich ſodann nach dem Druck meines
Buches, wovon Goethe ihm ſchon im vorigen Sommer
geſchrieben. Ich ſagte ihm, daß ich in einigen Tagen
die erſten Exemplare von Jena zu bekommen hoffe und
daß ich nicht verfehlen wuͤrde, ihm eins zu verehren und
nach Berlin zu ſchicken, im Fall er nicht mehr hier ſeyn
ſollte.
Wir ſchieden darauf unter herzlichem Haͤndedruͤcken.
Dieſen Abend war ich bey Goethe das erſte Mal
zu einem großen Thee. Ich war der erſte am Platz
und freute mich uͤber die hellerleuchteten Zimmer, die bey
offenen Thuͤren eins ins andere fuͤhrten. In einem der
letzten fand ich Goethe, der mir ſehr heiter entgegen kam.
Er trug auf ſchwarzem Anzug ſeinen Stern, welches ihn
ſo wohl kleidete. Wir waren noch eine Weile allein
und gingen in das ſogenannte Deckenzimmer, wo das
[60] uͤber einem rothen Kanapee haͤngende Gemaͤlde der al¬
dobrandiniſchen Hochzeit mich beſonders anzog. Das
Bild war, bey zur Seite geſchobenen gruͤnen Vorhaͤngen,
in voller Beleuchtung mir vor Augen und ich freute
mich, es in Ruhe zu betrachten.
„Ja, ſagte Goethe, die Alten hatten nicht allein
große Intentionen, ſondern es kam, bey ihnen auch zur
Erſcheinung. Dagegen haben wir Neueren auch wohl
große Intentionen, allein wir ſind ſelten faͤhig, es ſo kraͤftig
und lebensfriſch hervorzubringen als wir es uns dachten.“
Nun kam auch Riemer und Meyer, auch der
Canzler v. Muͤller und mehrere andere angeſehene
Herren und Damen von Hofe. Auch Goethe's Sohn
trat herein und Frau von Goethe, deren Bekanntſchaft
ich hier zuerſt machte. Die Zimmer fuͤllten ſich nach
und nach und es ward in allen ſehr munter und leben¬
dig. Auch einige huͤbſche junge Auslaͤnder waren gegen¬
waͤrtig mit denen Goethe franzoͤſiſch ſprach.
Die Geſellſchaft gefiel mir, es war alles ſo frey
und ungezwungen, man ſtand, man ſaß, man ſcherzte,
man lachte und ſprach mit dieſem und jenem, alles
nach freyer Neigung. Ich ſprach mit dem jungen Goethe
ſehr lebendig uͤber das Bild von Houwald, welches
vor einigen Tagen gegeben worden. Wir waren uͤber
das Stuͤck einer Meinung und ich freute mich, wie der
junge Goethe die Verhaͤltniſſe mit ſo vielem Geiſt und
Feuer auseinander zu ſetzen wußte.
[61]
Goethe ſelbſt erſchien in der Geſellſchaft ſehr liebens¬
wuͤrdig. Er ging bald zu dieſem und zu jenem und
ſchien immer lieber zu hoͤren und ſeine Gaͤſte reden zu
laſſen als ſelber viel zu reden. Frau v. Goethe kam
oft und haͤngte und ſchmiegte ſich an ihn und kuͤßte ihn.
Ich hatte ihm vor Kurzem geſagt, daß mir das Theater
ſo große Freude mache und daß es mich ſehr aufheitere,
indem ich mich bloß dem Eindruck der Stuͤcke hingebe
ohne daruͤber viel zu denken. Dieß ſchien ihm recht und
fuͤr meinen gegenwaͤrtigen Zuſtand paſſend zu ſeyn.
Er trat mit Frau v. Goethe zu mir heran. „Das
iſt meine Schwiegertochter, ſagte er; kennt Ihr beyden
Euch ſchon?“ Wir ſagten ihm, daß wir ſo eben unſere
Bekanntſchaft gemacht. „Das iſt auch ſo ein Theater¬
kind wie Du, Ottilie, ſagte er dann, und wir freuten uns
miteinander uͤber unſere beyderſeitige Neigung. „Meine
Tochter, fuͤgte er hinzu, verſaͤumt keinen Abend.“ So
lange gute heitere Stuͤcke gegeben werden, erwiederte
ich, laſſe ich es gelten, allein bey ſchlechten Stuͤcken
muß man auch etwas aushalten. „Das iſt eben recht,
erwiederte Goethe, daß man nicht fort kann und ge¬
zwungen iſt auch das Schlechte zu hoͤren und zu ſehen.
Da wird man recht von Haß gegen das Schlechte durch¬
drungen und kommt dadurch zu einer deſto beſſeren Ein¬
ſicht des Guten. Beym Leſen iſt das nicht ſo, da wirft
man das Buch aus den Haͤnden, wenn es einem nicht
gefaͤllt, aber im Theater muß man aushalten.“ Ich
[62] gab ihm Recht und dachte, der Alte ſagt doch gelegentlich
immer etwas Gutes.
Wir trennten uns und miſchten uns unter die Übri¬
gen, die ſich um uns herum und in dieſem und je¬
nem Zimmer laut und luſtig unterhielten. Goethe be¬
gab ſich zu den Damen; ich geſellte mich zu Riemer und
Meyer, die uns viel von Italien erzaͤhlten.
Regierungsrath Schmidt ſetzte ſich ſpaͤter zum Fluͤ¬
gel und trug Beethovenſche Sachen vor, welche die An¬
weſenden mit innigem Antheil aufzunehmen ſchienen.
Eine geiſtreiche Dame erzaͤhlte darauf viel Intereſſantes
von Beethovens Perſoͤnlichkeit. Und ſo ward es nach
und nach zehn Uhr, und es war mir der Abend im ho¬
hen Grade angenehm vergangen.
Dieſen Mittag war ich das erſte Mal bey Goethe
zu Tiſch. Es waren außer ihm nur Frau von Goethe,
Fraͤulein Ulrike und der kleine Walter gegenwaͤrtig und
wir waren alſo bequem unter uns. Goethe zeigte ſich
ganz als Familienvater, er legte alle Gerichte vor, tran¬
chirte gebratenes Gefluͤgel und zwar mit beſonderem
Geſchick, und verfehlte auch nicht, mitunter einzuſchenken.
Wir anderen ſchwatzten munteres Zeug uͤber Theater,
junge Englaͤnder und andere Vorkommniſſe des Tages;
beſonders war Fraͤulein Ulrike ſehr heiter und im hohen
[63] Grade unterhaltend. Goethe war im Ganzen ſtill, in¬
dem er nur von Zeit zu Zeit als Zwiſchenbemerkung
mit etwas Bedeutendem hervorkam. Dabey blickte er
hin und wieder in die Zeitungen und theilte uns einige
Stellen mit, beſonders uͤber die Fortſchritte der Griechen.
Es kam dann zur Sprache, daß ich noch Engliſch
lernen muͤſſe, wozu Goethe dringend rieth, beſonders
des Lord Byron wegen, deſſen Perſoͤnlichkeit von ſolcher
Eminenz, wie ſie nicht dageweſen und wohl ſchwerlich
wieder kommen werde. Man ging die hieſigen Lehrer
durch, fand aber keinen von einer durchaus guten Aus¬
ſprache, weßhalb man es fuͤr beſſer hielt, ſich an junge
Englaͤnder zu halten.
Nach Tiſch zeigte Goethe mir einige Experimente in
Bezug auf die Farbenlehre. Der Gegenſtand war mir
jedoch durchaus fremd, ich verſtand ſo wenig das Phaͤ¬
nomen als das, was er daruͤber ſagte; doch hoffte ich,
daß die Zukunft mir Muße und Gelegenheit geben wuͤrde,
in dieſer Wiſſenſchaft einigermaßen einheimiſch zu werden.
Ich war dieſen Abend bey Goethe. Wir ſprachen
uͤber die Pandora. Ich fragte ihn, ob man dieſe
Dichtung wohl als ein Ganzes anſehen koͤnne, oder
ob noch etwas Weiteres davon exiſtire. Er ſagte, es
ſey weiter nichts vorhanden, er habe es nicht weiter
[64] gemacht, und zwar deßwegen nicht, weil der Zuſchnitt
des erſten Theiles ſo groß geworden, daß er ſpaͤter einen
zweyten nicht habe durchfuͤhren koͤnnen. Auch waͤre das
Geſchriebene recht gut als ein Ganzes zu betrachten,
weßhalb er ſich auch dabey beruhiget habe.
Ich ſagte ihm, daß ich bey dieſer ſchweren Dichtung
erſt nach und nach zum Verſtaͤndniß durchgedrungen, nach¬
dem ich ſie ſo oft geleſen, daß ich ſie nun faſt aus¬
wendig wiſſe. Daruͤber laͤchelte Goethe. „Das glaube
ich wohl, ſagte er, es iſt alles als wie in einander
gekeilt.“
Ich ſagte ihm, daß ich wegen dieſes Gedichts nicht
ganz mit Schubarth zufrieden, der darin alles das
vereinigt finden wolle, was im Werther, Wilhelm Mei¬
ſter, Fauſt und Wahlverwandtſchaften einzeln ausgeſpro¬
chen ſey, wodurch doch die Sache ſehr unfaßlich und
ſchwer werde.
„Schubarth, ſagte Goethe, geht oft ein wenig tief;
doch iſt er ſehr tuͤchtig, es iſt bey ihm alles praͤgnant.“
Wir ſprachen uͤber Uhland. „Wo ich große Wir¬
kungen ſehe, ſagte Goethe, pflege ich auch große Ur¬
ſachen vorauszuſetzen, und bey der ſo ſehr verbreiteten
Popularitaͤt, die Uhland genießt, muß alſo wohl etwas
Vorzuͤgliches an ihm ſeyn. Übrigens habe ich uͤber ſeine
Gedichte kaum ein Urtheil. Ich nahm den Band mit
der beſten Abſicht zu Haͤnden, allein ich ſtieß von vorne
herein gleich auf ſo viele ſchwache und truͤbſelige Ge¬
[65] dichte, daß mir das Weiterleſen verleidet wurde. Ich
griff dann nach ſeinen Balladen, wo ich denn freylich
ein vorzuͤgliches Talent gewahr wurde und recht gut
ſah, daß ſein Ruhm einigen Grund hat.“
Ich fragte darauf Goethe um ſeine Meinung hin¬
ſichtlich der Verſe zur deutſchen Tragoͤdie. „Man wird
ſich in Deutſchland, antwortete er, ſchwerlich daruͤber
vereinigen. Jeder machts wie er eben will und wie es
dem Gegenſtande einigermaßen gemaͤß iſt. Der ſechs¬
fuͤßige Jambus waͤre freylich am wuͤrdigſten, allein er
iſt fuͤr uns Deutſche zu lang, wir ſind, wegen der
mangelnden Beywoͤrter, gewoͤhnlich ſchon mit fuͤnf Fuͤßen
fertig. Die Englaͤnder reichen wegen ihrer vielen ein¬
ſylbigen Woͤrter noch weniger.“
Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und
ſprach dann uͤber die altdeutſche Baukunſt und daß er
mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.
„Man ſieht in den Werken der altdeutſchen Baukunſt,
ſagte er, die Bluͤthe eines außerordentlichen Zuſtandes.
Wem eine ſolche Bluͤthe unmittelbar entgegentritt, der
kann nichts als anſtaunen; wer aber in das geheime
innere Leben der Pflanze hineinſieht, in das Regen der
Kraͤfte und wie ſich die Bluͤthe nach und nach entwik¬
kelt, der ſieht die Sache mit ganz anderen Augen, der
weiß was er ſieht.“
„Ich will dafuͤr ſorgen, daß Sie im Lauf dieſes
Winters in dieſem wichtigen Gegenſtande einige Einſicht
I. 5[66] erlangen, damit, wenn Sie naͤchſten Sommer an den
Rhein gehen, es Ihnen beym Straßburger Muͤnſter
und Coͤlner Dom zu Gute komme.“
Ich freute mich dazu und fuͤhlte mich ihm dankbar.
In der Daͤmmerung war ich ein halbes Stuͤndchen
bey Goethe. Er ſaß auf einem hoͤlzernen Lehnſtuhl
vor ſeinem Arbeitstiſche; ich fand ihn in einer wunder¬
bar ſanften Stimmung, wie einer der von himmliſchem
Frieden ganz erfuͤllt iſt, oder wie einer der an ein ſuͤßes
Gluͤck denkt, das er genoſſen hat und das ihm wieder
in aller Fuͤlle vor der Seele ſchwebt. Stadelmann mußte
mir einen Stuhl in ſeine Naͤhe ſetzen.
Wir ſprachen ſodann vom Theater, welches zu mei¬
nen Hauptintereſſen dieſes Winters gehoͤrt. Raupachs
Erdennacht war das letzte geweſen, was ich geſehen.
Ich gab mein Urtheil daruͤber: daß das Stuͤck nicht
zur Erſcheinung gekommen, wie es im Geiſte des Dich¬
ters gelegen, daß mehr die Idee vorherrſche als das
Leben, daß es mehr lyriſch als dramatiſch ſey, daß das¬
jenige, was durch fuͤnf Acte hindurch geſponnen und
hindurch gezogen wird, weit beſſer in zweyen oder
dreyen waͤre zu geben geweſen. Goethe fuͤgte hinzu,
daß die Idee des Ganzen ſich um Ariſtokratie und De¬
[67] mokratie drehe und daß dieſes kein allgemein menſchliches
Intereſſe habe.
Ich lobte dagegen, was ich von Kotzebue geſehen,
naͤmlich ſeine Verwandtſchaften und die Verſoͤh¬
nung. Ich lobte daran den friſchen Blick ins wirkliche
Leben, den gluͤcklichen Griff fuͤr die intereſſanten Seiten
deſſelben und die mitunter ſehr kernige wahre Darſtellung.
Goethe ſtimmte mir bey. „Was zwanzig Jahre ſich
erhaͤlt, ſagte er, und die Neigung des Volkes hat, das
muß ſchon etwas ſeyn. Wenn er in ſeinem Kreiſe blieb
und nicht uͤber ſein Vermoͤgen hinausging, ſo machte
Kotzebue in der Regel etwas Gutes. Es ging ihm wie
Chodowiecky; die buͤrgerlichen Scenen gelangen auch
dieſem vollkommen, wollte er aber roͤmiſche oder grie¬
chiſche Helden zeichnen, ſo ward es nichts.“
Goethe nannte mir noch einige gute Stuͤcke von
Kotzebue, beſonders die beyden Klingsberge. „Es
iſt nicht zu laͤugnen, fuͤgte er hinzu, er hat ſich im
Leben umgethan und die Augen offen gehabt.“
„Geiſt und irgend Poeſie, fuhr Goethe fort, kann
man den neueren tragiſchen Dichtern nicht abſprechen;
allein den meiſten fehlt das Vermoͤgen der leichten le¬
bendigen Darſtellung; ſie ſtreben nach etwas, das uͤber
ihre Kraͤfte hinausgeht, und ich moͤchte ſie in dieſer Hin¬
ſicht forcirte Talente nennen.“
Ich zweifle, ſagte ich, daß ſolche Dichter ein Stuͤck
in Proſa ſchreiben koͤnnen, und bin der Meinung, daß
5*[68] dieß der wahre Probierſtein ihres Talentes ſeyn wuͤrde.
Goethe ſtimmte mir bey und fuͤgte hinzu, daß die Verſe
den poetiſchen Sinn ſteigerten oder wohl gar hervor¬
lockten.
Wir ſprachen darauf dieß und jenes uͤber vorhabende
Arbeiten. Es war die Rede von ſeiner Reiſe uͤber Frank¬
furt und Stuttgart nach der Schweiz, die er in drey
Heften liegen hat und die er mir zuſenden will, damit
ich die Einzelnheiten leſe und Vorſchlaͤge thue, wie dar¬
aus ein Ganzes zu machen. „Sie werden ſehen, ſagte
er, es iſt alles nur ſo hingeſchrieben, wie es der Augen¬
blick gab; an einen Plan und eine kuͤnſtleriſche Ruͤndung
iſt dabey gar nicht gedacht, es iſt als wenn man
einen Eimer Waſſer ausgießt.“
Ichfreute mich dieſes Gleichniſſes, welches mir
ſehr geeignet ſchien, um etwas durchaus Planloſes zu
bezeichnen.
Heute fruͤh wurde ich bey Goethe auf dieſen Abend
zum Thee und Conzert eingeladen. Der Bediente zeigte
mir die Liſte der zu invitirenden Perſonen, woraus ich
ſah, daß die Geſellſchaft ſehr zahlreich und glaͤnzend
ſeyn wuͤrde. Er ſagte, es ſey eine junge Polin ange¬
kommen, die etwas auf dem Fluͤgel ſpielen werde. Ich
nahm die Einladung mit Freuden an.
[69]
Nachher wurde der Theaterzettel gebracht, die Schach¬
maſchine ſollte gegeben werden. Das Stuͤck war mir
unbekannt, meine Wirthin aber ergoß ſich daruͤber in
ein ſolches Lob, daß ein großes Verlangen ſich meiner
bemaͤchtigte es zu ſehen. Überdieß befand ich mich den
Tag uͤber nicht zum beſten, und es ward mir immer
mehr, als paſſe ich beſſer in eine luſtige Comoͤdie als
in eine ſo gute Geſellſchaft.
Gegen Abend eine Stunde vor dem Theater ging
ich zu Goethe. Es war im Hauſe ſchon alles lebendig;
ich hoͤrte im Vorbeygehen in dem groͤßeren Zimmer den
Fluͤgel ſtimmen, als Vorbereitung zu der muſikaliſchen
Unterhaltung.
Ich traf Goethe in ſeinem Zimmer allein, er war
bereits feſtlich angezogen, ich ſchien ihm gelegen. „Nun
bleiben Sie gleich hier, ſagte er, wir wollen uns ſo
lange unterhalten, bis die Übrigen auch kommen.“ Ich
dachte, da kommſt du doch nicht los, da wirſt du doch
bleiben muͤſſen; es iſt dir zwar jetzt mit Goethen allein
ſehr angenehm, doch wenn erſt die vielen fremden Her¬
ren und Damen erſcheinen, da wirſt du dich nicht in
deinem Elemente fuͤhlen.
Ich ging mit Goethe im Zimmer auf und ab. Es
dauerte nicht lange, ſo war das Theater der Gegenſtand
unſeres Geſpraͤchs und ich hatte Gelegenheit zu wieder¬
holen, daß es mir die Quelle eines immer neuen Ver¬
gnuͤgens ſey, zumal da ich in fruͤherer Zeit ſo gut wie
[70] gar nichts geſehen, und jetzt faſt alle Stuͤcke auf mich
eine ganz friſche Wirkung ausuͤbten. Ja, fuͤgte ich
hinzu, es iſt mit mir ſo arg, daß es mich heute ſogar
in Unruhe und Zwieſpalt gebracht hat, obgleich mir bey
Ihnen eine ſo bedeutende, Abendunterhaltung bevorſteht.
„Wiſſen Sie was? ſagte Goethe darauf, indem er
ſtille ſtand und mich groß und freundlich anſah, gehen
Sie hin! geniren Sie ſich nicht! iſt Ihnen das heitere
Stuͤck dieſen Abend vielleicht bequemer, Ihren Zuſtaͤnden
angemeſſener, ſo gehen Sie hin. Bey mir haben Sie
Muſik, das werden Sie noch oͤfter haben.“ Ja, ſagte
ich, ſo will ich hingehen, es wird mir uͤberdieß vielleicht
beſſer ſeyn, daß ich lache. „Nun, ſagte Goethe, ſo
bleiben Sie bis gegen ſechs Uhr bey mir, da koͤnnen wir
noch ein Woͤrtchen reden.“
Stadelmann brachte zwey Wachslichter, die er auf
Goethes Arbeitstiſch ſtellte. Goethe erſuchte mich, vor
den Lichtern Platz zu nehmen, er wolle mir etwas zu
leſen geben. Und was legte er mir vor? Sein neueſtes,
liebſtes Gedicht, ſeine Elegie von Marienbad.
Ich muß hier in Bezug auf den Inhalt dieſes Ge¬
dichts Einiges nachholen. Gleich nach Goethe's die߬
maliger Zuruͤckkunft aus genanntem Badeort verbreitete
ſich hier die Sage, er habe dort die Bekanntſchaft einer
an Koͤrper und Geiſt gleich liebenswuͤrdigen jungen
Dame gemacht und zu ihr eine leidenſchaftliche Neigung
gefaßt. Wenn er in der Brunnen-Allee ihre Stimme ge¬
[71] hoͤrt, habe er immer raſch ſeinen Hut genommen und ſey
zu ihr hinunter geeilt. Er habe keine Stunde verſaͤumt
bey ihr zu ſeyn, er habe gluͤckliche Tage gelebt; ſodann
die Trennung ſey ihm ſehr ſchwer geworden und er habe
in ſolchem leidenſchaftlichen Zuſtande ein uͤberaus ſchoͤnes
Gedicht gemacht, das er jedoch wie eine Art Heiligthum
anſehe und geheim halte.
Ich glaubte dieſer Sage, weil ſie nicht allein ſeiner
koͤrperlichen Ruͤſtigkeit, ſondern auch der productiven
Kraft ſeines Geiſtes und der geſunden Friſche ſeines
Herzens vollkommen entſprach. Nach dem Gedicht ſelbſt
hatte ich laͤngſt ein großes Verlangen getragen, doch
mit Recht Anſtand genommen Goethe darum zu bitten.
Ich hatte daher die Gunſt des Augenblickes zu preiſen,
wodurch es mir nun vor Augen lag.
Er hatte die Verſe eigenhaͤndig mit lateiniſchen Let¬
tern auf ſtarkes Velinpapier geſchrieben und mit einer
ſeidenen Schnur in einer Decke von rothem Maroquin
befeſtigt, und es trug alſo ſchon im Äußern, daß er
dieſes Manuſcript vor allen ſeinen uͤbrigen beſonders
werth halte.
Ich las den Inhalt mit hoher Freude und fand in
jeder Zeile die Beſtaͤtigung der allgemeinen Sage. Doch
deuteten gleich die erſten Verſe darauf, daß die Be¬
kanntſchaft nicht dieſesmal erſt gemacht, ſondern er¬
neuert worden. Das Gedicht waͤlzte ſich ſtets um
ſeine eigene Axe und ſchien immer dahin zuruͤckzukehren
[72] woher es ausgegangen. Der Schluß, wunderbar abge¬
riſſen, wirkte durchaus ungewohnt und tief ergreifend.
Als ich ausgeleſen, trat Goethe wieder zu mir heran.
„Gelt! ſagte er, da habe ich Euch etwas Gutes gezeigt.
In einigen Tagen ſollen Sie mir daruͤber weiſſagen.“
Es war mir ſehr lieb, daß Goethe durch dieſe Worte ein
augenblickliches Urtheil meinerſeits ablehnte, denn ohne¬
hin war der Eindruck zu neu und zu ſchnell voruͤber¬
gehend, als daß ich etwas Gehoͤriges daruͤber haͤtte ſa¬
gen koͤnnen.
Goethe verſprach, bey ruhiger Stunde es mir aber¬
mals vorzulegen. Es war indeß die Zeit des Theaters
herangekommen und ich ſchied unter herzlichem Haͤnde¬
druͤcken.
Die Schachmaſchine mochte ein ſehr gutes Stuͤck
ſeyn und auch eben ſo gut geſpielt werden, allein ich
war nicht dabey, meine Gedanken waren bey Goethe.
Nach dem Theater ging ich an ſeinem Hauſe vor¬
uͤber, es glaͤnzte alles von Lichtern, ich hoͤrte, daß ge¬
ſpielt wurde und bereute, daß ich nicht dort geblieben.
Am andern Tag erzaͤhlte man mir, daß die junge
polniſche Dame, Madame Szymanowska, der zu
Ehren der feſtliche Abend veranſtaltet worden, den Fluͤ¬
gel ganz meiſterhaft geſpielt habe, zum Entzuͤcken der
ganzen Geſellſchaft. Ich erfuhr auch, daß Goethe ſie
[73] dieſen Sommer in Marienbad kennen gelernt und daß
ſie nun gekommen, ihn zu beſuchen.
Mittags communicirte mir Goethe ein kleines Manu¬
ſcript: Studien von Zauper, worin ich ſehr treffende
Bemerkungen fand. Ich ſendete ihm dagegen einige Ge¬
dichte, die ich dieſen Sommer in Jena gemacht und
wovon ich ihm geſagt hatte.
Dieſen Abend zur Zeit des Lichtanzuͤndens ging ich
zu Goethe. Ich fand ihn ſehr friſchen aufgeweckten
Geiſtes, ſeine Augen funkelten im Wiederſchein des
Lichtes, ſein ganzer Ausdruck war Heiterkeit, Kraft und
Jugend.
Er fing ſogleich von den Gedichten, die ich ihm
geſtern zugeſchickt, zu reden an, indem er mit mir in
ſeinem Zimmer auf und ab ging.
„Ich begreife jetzt, begann er, wie Sie in Jena
gegen mich aͤußern konnten, Sie wollten ein Gedicht
uͤber die Jahreszeiten machen. Ich rathe jetzt dazu;
fangen Sie gleich mit dem Winter an. Sie ſcheinen
fuͤr natuͤrliche Gegenſtaͤnde beſondern Sinn und Blick
zu haben.“
„Nur zwey Worte will ich Ihnen uͤber die Gedichte
ſagen. Sie ſtehen jetzt auf dem Punkt, wo Sie noth¬
[74] wendig zum eigentlich Hohen und Schweren der Kunſt
durchbrechen muͤſſen, zur Auffaſſung des Individuellen.
Sie muͤſſen mit Gewalt, damit Sie aus der Idee her¬
auskommen; Sie haben das Talent und ſind ſo weit
vorgeſchritten, jetzt muͤſſen Sie. Sie ſind dieſer Tage
in Tiefurt geweſen, das moͤchte ich Ihnen zunaͤchſt zu
einer ſolchen Aufgabe machen. Sie koͤnnen vielleicht
noch drey bis viermal hingehen und Tiefurt betrachten,
ehe Sie ihm die characteriſtiſche Seite abgewinnen und
alle Motive beyſammen haben; doch ſcheuen Sie die
Muͤhe nicht, ſtudiren Sie alles wohl und ſtellen Sie es
dar; der Gegenſtand verdient es. Ich ſelbſt haͤtte es
laͤngſt gemacht, allein ich kann es nicht, ich habe jene
bedeutenden Zuſtaͤnde ſelbſt mit durchlebt, ich bin zu
ſehr darin befangen, ſo daß die Einzelnheiten ſich mir
in zu großer Fuͤlle aufdraͤngen. Sie aber kommen als
Fremder, und laſſen ſich vom Caſtellan das Vergangene
erzaͤhlen und ſehen nur das Gegenwaͤrtige, Hervorſte¬
chende, Bedeutende.“
Ich verſprach, mich daran zu verſuchen, obgleich ich
nicht laͤugnen koͤnne, daß es eine Aufgabe ſey, die mir
ſehr fern ſtehe und die ich fuͤr ſehr ſchwierig halte.
„Ich weiß wohl, ſagte Goethe, daß es ſchwer iſt,
aber die Auffaſſung und Darſtellung des Beſonderen iſt
auch das eigentliche Leben der Kunſt.“
„Und dann: ſo lange man ſich im Allgemeinen haͤlt,
kann es uns jeder nachmachen; aber das Beſondere macht
[75] uns niemand nach, warum? weil es die Anderen nicht
erlebt haben.“
„Auch braucht man nicht zu fuͤrchten, daß das Be¬
ſondere keinen Anklang finde. Jeder Character, ſo eigen¬
thuͤmlich er ſeyn moͤge, und jedes Darzuſtellende, vom
Stein herauf bis zum Menſchen, hat Allgemeinheit;
denn alles wiederholt ſich, und es giebt kein Ding in
der Welt, das nur ein Mal da waͤre.“
„Auf dieſer Stufe der individuellen Darſtellung,
fuhr Goethe fort, beginnet dann zugleich dasjenige, was
man Compoſition nennet.“
Dieſes war mir nicht ſogleich klar, doch enthielt ich
mich danach zu fragen. Vielleicht, dachte ich, meint er
damit die kuͤnſtleriſche Verſchmelzung des Idealen mit
dem Realen, die Vereinigung von dem, was außer uns
befindlich, mit dem, was innerlich uns angeboren. Doch
vielleicht meint er auch etwas anderes. Goethe fuhr
fort:
„Und dann ſetzen Sie unter jedes Gedicht immer
das Datum wann Sie es gemacht haben.“ Ich ſah
ihn fragend an, warum das ſo wichtig? „Es gilt dann,
fuͤgte er hinzu, zugleich als Tagebuch Ihrer Zuſtaͤnde.
Und das iſt nichts Geringes. Ich habe es ſeit Jahren
gethan und ſehe ein, was das heißen will.“
Es war indeß die Zeit des Theaters herangekommen
und ich verließ Goethe. „Sie gehen nun nach Finn¬
land!“ rief er mir ſcherzend nach. Es ward naͤmlich
[76] gegeben: Johann von Finnland von der Frau
von Weißenthurn.
Es fehlte dem Stuͤck nicht an wirkſamen Situatio¬
nen, doch war es mit Ruͤhrendem ſo uͤberladen, und ich
ſah uͤberall ſo viel Abſicht, daß es im Ganzen auf mich
keinen guten Eindruck machte. Der letzte Act indeß ge¬
fiel mir ſehr wohl und ſoͤhnte mich wieder aus.
In Folge dieſes Stuͤckes machte ich nachſtehende
Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmaͤßig ge¬
zeichnete Charactere werden bey der Theater-Darſtellung
gewinnen, weil die Schauſpieler, als lebendige Men¬
ſchen, ſie zu lebendigen Weſen machen und ihnen zu
irgend einer Art von Individualitaͤt verhelfen. Von
einem großen Dichter meiſterhaft gezeichnete Charactere
dagegen, die ſchon alle mit einer durchaus ſcharfen Indi¬
vidualitaͤt daſtehen, muͤſſen bey der Darſtellung noth¬
wendig verlieren, weil die Schauſpieler in der Regel
nicht durchaus paſſen und die Wenigſten ihre eigene
Individualitaͤt ſo ſehr verlaͤugnen koͤnnen. Findet ſich
beym Schauſpieler nicht ganz das Gleiche, oder beſitzt
er nicht die Gabe einer gaͤnzlichen Ablegung ſeiner ei¬
genen Perſoͤnlichkeit, ſo entſteht ein Gemiſch und der
Character verliert ſeine Reinheit. Daher kommt es denn,
daß ein Stuͤck eines wirklich großen Dichters immer
nur in einzelnen Figuren ſo zur Erſcheinung kommt,
wie es die urſpruͤngliche Intention war.
[77]
Ich ging gegen fuͤnf zu Goethe. Als ich hinaufkam,
hoͤrte ich in dem groͤßeren Zimmer ſehr laut und munter
reden und ſcherzen. Der Bediente ſagte mir, die junge
polniſche Dame ſey dort zu Tiſch geweſen und die Ge¬
ſellſchaft noch beyſammen. Ich wollte wieder gehen,
allein er ſagte, er habe den Befehl mich zu melden;
auch waͤre es ſeinem Herrn vielleicht lieb, weil es ſchon
ſpaͤt ſey. Ich ließ ihn daher gewaͤhren und wartete
ein Weilchen, wo denn Goethe ſehr heiter herauskam
und mit mir gegenuͤber in ſein Zimmer ging. Mein
Beſuch ſchien ihm angenehm zu ſeyn. Er ließ ſogleich
eine Flaſche Wein bringen, wovon er mir einſchenkte
und auch ſich ſelber gelegentlich.
„Ehe ich es vergeſſe, ſagte er dann, indem er auf
dem Tiſch etwas ſuchte, hier haben Sie ein Billet ins
Concert. Madame Szymanowska wird morgen Abend
im Saale des Stadthauſes ein oͤffentliches Concert geben,
das duͤrfen Sie ja nicht verſaͤumen.“ Ich ſagte ihm,
daß ich meine Thorheit von neulich nicht zum zweyten¬
mal begehen wuͤrde. Sie ſoll ſehr gut geſpielt haben,
fuͤgte ich hinzu. „Ganz vortrefflich!“ ſagte Goethe.
Wohl ſo gut wie Hummel? fragte ich. „Sie muͤſſen
bedenken, ſagte Goethe, daß ſie nicht allein eine große
Virtuoſin, ſondern zugleich ein ſchoͤnes Weib iſt; da
kommt es uns denn vor, als ob alles anmuthiger waͤre;
ſie hat eine meiſterhafte Fertigkeit, man muß erſtaunen!“
[78] Aber auch in der Kraft groß? fragte ich. „Ja auch in
der Kraft, ſagte Goethe, und das iſt eben das Merk¬
wuͤrdigſte an ihr, weil man das ſonſt bey Frauenzim¬
mern gewoͤhnlich nicht findet.“ Ich ſagte, daß ich mich
ſehr freue, ſie nun doch noch zu hoͤren.
Secretair Kraͤuter trat herein und referirte in Bi¬
bliotheksangelegenheiten. Als er gegangen war, lobte
Goethe ſeine große Tuͤchtigkeit und Zuverlaͤſſigkeit in
Geſchaͤften.
Ich brachte ſodann das Geſpraͤch auf die im Jahre
1797 uͤber Frankfurt und Stuttgart gemachte Reiſe in
die Schweiz, wovon er mir die Manuſcripte in drey
Heften dieſer Tage mitgetheilt und die ich bereits fleißig
ſtudirt hatte. Ich erwaͤhnte, wie er damals mit Meyer
ſoviel uͤber die Gegenſtaͤnde der bildenden Kunſt
nachgedacht.
„Ja, ſagte Goethe, was iſt auch wichtiger als die
Gegenſtaͤnde, und was iſt die ganze Kunſtlehre ohne ſie.
Alles Talent iſt verſchwendet, wenn der Gegenſtand nichts
taugt. Und eben weil dem neuern Kuͤnſtler die wuͤr¬
digen Gegenſtaͤnde fehlen, ſo hapert es auch ſo mit aller
Kunſt der neuern Zeit. Darunter leiden wir alle; ich
habe auch meine Modernitaͤt nicht verlaͤugnen koͤnnen.“
„Die wenigſten Kuͤnſtler, fuhr er fort, ſind uͤber
dieſen Punkt im Klaren und wiſſen was zu ihrem
Frieden dient. Da malen ſie z. B. meinen Fiſcher
und bedenken nicht, daß ſich das gar nicht malen laſſe.
[79] Es iſt ja in dieſer Ballade bloß das Gefuͤhl des Waſ¬
ſers ausgedruͤckt, das Anmuthige, was uns im Sommer
lockt, uns zu baden; weiter liegt nichts darin, und wie
laͤßt ſich das malen!“
Ich erwaͤhnte ferner, daß ich mich freue, wie er auf
jener Reiſe an Allem Intereſſe genommen und Alles
aufgefaßt habe: Geſtalt und Lage der Gebirge und ihre
Steinarten; Boden, Fluͤſſe, Wolken, Luft, Wind und
Wetter; dann Staͤdte und ihre Entſtehung und ſucceſſive
Bildung; Baukunſt, Malerey, Theater; Staͤdtiſche Ein¬
richtung und Verwaltung; Gewerbe, Oeconomie, Stra¬
ßenbau; Menſchenraçe, Lebensart, Eigenheiten; dann
wieder Politik und Kriegsangelegenheiten, und ſo noch
hundert andere Dinge.
Goethe antwortete: „Aber Sie finden kein Wort
uͤber Muſik, und zwar deßwegen nicht, weil das nicht
in meinem Kreiſe lag. Jeder muß wiſſen, worauf er
bey einer Reiſe zu ſehen hat und was ſeine Sache iſt.“
Der Herr Canzler trat herein. Er ſprach Einiges
mit Goethe und aͤußerte ſich dann gegen mich ſehr wohl¬
wollend und mit vieler Einſicht uͤber eine kleine Schrift,
die er in dieſen Tagen geleſen. Er ging dann bald
wieder zu den Damen hinuͤber, wo, wie ich hoͤrte, der
Fluͤgel geſpielt wurde.
Als er gegangen war, ſprach Goethe ſehr gut uͤber
ihn und ſagte dann: „Alle dieſe vortrefflichen Menſchen,
zu denen Sie nun ein angenehmes Verhaͤltniß haben,
[80] das iſt es, was ich eine Heimath nenne, zu der man
immer gerne wieder zuruͤckkehrt.“
Ich erwiederte ihm, daß ich bereits den wohlthaͤtigen
Einfluß meines hieſigen Aufenthaltes zu ſpuͤren beginne,
daß ich aus meinen bisherigen ideellen und theoretiſchen
Richtungen nach und nach herauskomme und immer
mehr den Werth des augenblicklichen Zuſtandes zu ſchaͤz¬
zen wiſſe.
„Das muͤßte ſchlimm ſeyn, ſagte Goethe, wenn
Sie das nicht ſollten. Beharren Sie nur dabey und
halten Sie immer an der Gegenwart feſt. Jeder Zu¬
ſtand, ja jeder Augenblick iſt von unendlichem Werth,
denn er iſt der Repraͤſentant einer ganzen Ewigkeit.“
Es trat eine kleine Pauſe ein, dann brachte ich das
Geſpraͤch auf Tiefurt und in welcher Art es etwa
darzuſtellen. Es iſt ein mannigfaltiger Gegenſtand, ſagte
ich, und ſchwer, ihm eine durchgreifende Form zu geben.
Am Bequemſten waͤre es mir, ihn in Proſa zu be¬
handeln.
„Dazu, ſagte Goethe, iſt der Gegenſtand nicht be¬
deutend genug. Die ſogenannte didactiſch-beſchreibende
Form wuͤrde zwar im Ganzen die zu waͤhlende ſeyn,
allein auch ſie iſt nicht durchgreifend paſſend. Am beſten
iſt es, Sie ſtellen den Gegenſtand in zehn bis zwoͤlf
kleinen einzelnen Gedichten dar, in Reimen, aber in
mannigfaltigen Versarten und Formen, ſo wie es die
verſchiedenen Seiten und Anſichten verlangen, wodurch
[81] denn das Ganze wird umſchrieben und beleuchtet ſeyn.“
Dieſen Rath ergriff ich als zweckmaͤßig. „Ja, was
hindert Sie, dabey auch einmal dramatiſch zu verfahren
und ein Geſpraͤch etwa mit dem Gaͤrtner fuͤhren zu
laſſen? — Und durch dieſe Zerſtuͤckelung macht man es
ſich leicht und kann beſſer das Characteriſtiſche der ver¬
ſchiedenen Seiten des Gegenſtandes ausdruͤcken. Ein
umfaſſendes groͤßeres Ganze dagegen iſt immer ſchwierig
und man bringt ſelten etwas Vollendetes zu Stande.“
Goethe befindet ſich ſeit einigen Tagen nicht zum
beſten; eine heftige Erkaͤltung ſcheint in ihm zu ſtecken.
Er huſtet viel, obgleich laut und kraͤftig; doch ſcheint
der Huſten ſchmerzlich zu ſeyn, denn er faßt dabey ge¬
woͤhnlich mit der Hand nach der Seite des Herzens.
Ich war dieſen Abend vor dem Theater ein halbes
Stuͤndchen bey ihm. Er ſaß in einem Lehnſtuhl, mit
dem Ruͤcken in ein Kiſſen geſenkt; das Reden ſchien ihm
ſchwer zu werden.
Nachdem wir Einiges geſprochen, wuͤnſchte er, daß
ich ein Gedicht leſen moͤchte, womit er ein neues jetzt
im Werke begriffenes Heft von Kunſt und Alterthum
eroͤffnet. Er blieb in ſeinem Stuhle ſitzen und be¬
zeichnete mir den Ort, wo es lag. Ich nahm ein
I. 6[82] Licht und ſetzte mich ein wenig entfernt von ihm an
ſeinen Schreibtiſch, um es zu leſen.
Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, ſo
daß ich mich nach einmaligem Leſen, ohne es jedoch
ganz zu verſtehen, davon eigenartig beruͤhrt und ergrif¬
fen fuͤhlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria
zum Gegenſtande und war als Trilogie behandelt. Der
darin herrſchende Ton war mir wie aus einer fremden
Welt heruͤber, und die Darſtellung der Art, daß mir
die Belebung des Gegenſtandes ſehr ſchwer ward. Auch
war Goethe's perſoͤnliche Naͤhe einer reinen Vertiefung
hinderlich; bald hoͤrte ich ihn huſten, bald hoͤrte ich ihn
ſeufzen, und ſo war mein Weſen getheilt, meine eine
Haͤlfte las und die andere war im Gefuͤhl ſeiner Gegen¬
wart. Ich mußte das Gedicht daher leſen und wieder
leſen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr
ich aber eindrang, von deſto bedeutenderem Character
und auf einer deſto hoͤheren Stufe der Kunſt wollte es
mir erſcheinen.
Ich ſprach darauf mit Goethe ſowohl uͤber den Ge¬
genſtand als die Behandlung, wo mir denn durch einige
ſeiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.
„Freylich, ſagte er darauf, die Behandlung iſt ſehr
knapp und man muß gut eindringen, wenn man es
recht beſitzen will. Es kommt mir ſelber vor wie eine
aus Stahldraͤthen geſchmiedete Damascenerklinge. Ich
habe aber auch den Gegenſtand vierzig Jahre mit mir
[83] herumgetragen, ſo daß er denn freylich Zeit hatte, ſich
von allem Ungehoͤrigen zu laͤutern.“
Es wird Wirkung thun, ſagte ich, wenn es beym
Publicum hervortritt.
„Ach, das Publicum!“ — ſeufzete Goethe.
Sollte es nicht gut ſeyn, ſagte ich, wenn man dem
Verſtaͤndniß zu Huͤlfe kaͤme und es machte, wie bey der
Erklaͤrung eines Gemaͤldes, wo man durch Vorfuͤhrung
der vorhergegangenen Momente das wirklich Gegenwaͤr¬
tige zu beleben ſucht?
„Ich bin nicht der Meinung, ſagte Goethe. Mit Ge¬
maͤlden iſt es ein anderes; weil aber ein Gedicht gleich¬
falls aus Worten beſteht, ſo hebt ein Wort das an¬
dere auf.“
Goethe ſcheint mir hierdurch ſehr treffend die Klippe
angedeutet zu haben, woran Ausleger von Gedichten
gewoͤhnlich ſcheitern. Es fraͤgt ſich aber, ob es nicht
moͤglich ſey, eine ſolche Klippe zu vermeiden und einem
Gedichte dennoch durch Worte zu Huͤlfe zu kommen,
ohne das Zarte ſeines innern Lebens im mindeſten zu
verletzen.
Als ich ging, wuͤnſchte er, daß ich die Bogen von
Kunſt und Alterthum mit nach Hauſe nehme, um das
Gedicht ferner zu betrachten; deßgleichen die oͤſtlichen
Roſen von Ruͤckert, von welchem Dichter er viel
zu halten und die beſten Erwartungen zu hegen ſcheint.
6*[84]
Ich ging gegen Abend, um Goethe zu beſuchen, hoͤrte
aber unten im Hauſe, der preußiſche Staatsminiſter
von Humboldt ſey bey ihm, welches mir lieb war,
in der Überzeugung, daß dieſer Beſuch eines alten
Freundes ihm die wohlthaͤtigſte Aufheiterung gewaͤhren
wuͤrde.
Ich ging darauf ins Theater, wo die Schweſtern
von Prag, bey ganz vollkommener Beſetzung, muſter¬
haft gegeben wurden, ſo daß man das ganze Stuͤck
hindurch nicht aus dem Lachen kam.
Vor einigen Tagen, als ich Nachmittags bey ſchoͤnem
Wetter die Straße nach Erfurt hinausging, geſellte ſich
ein bejahrter Mann zu mir, den ich ſeinem Äußeren nach
fuͤr einen wohlhabenden Buͤrger hielt. Wir hatten nicht
lange geredet, als das Geſpraͤch auf Goethe kam. Ich
fragte ihn, ob er Goethe perſoͤnlich kenne. „Ob ich ihn
kenne! antwortete er mit einigem Behagen, ich bin gegen
zwanzig Jahre ſein Kammerdiener geweſen!“ Und nun
ergoß er ſich in Lobſpruͤche uͤber ſeinen fruͤheren Herrn.
Ich erſuchte ihn, mir etwas aus Goethe's Jugendzeit
zu erzaͤhlen, worein er mit Freuden willigte.
„Als ich bey ihn kam, ſagte er, mochte er etwa
[85] 27 Jahre alt ſeyn; er war ſehr mager, behende und
zierlich, ich haͤtte ihn leicht tragen koͤnnen.“
Ich fragte ihn, ob Goethe in jener erſten Zeit ſeines
Hierſeyns auch ſehr luſtig geweſen? „Allerdings, antwor¬
tete er, ſey er mit den Froͤhlichen froͤhlich geweſen, jedoch
nie uͤber die Grenze; in ſolchen Faͤllen ſey er gewoͤhn¬
lich ernſt geworden. Immer gearbeitet und geforſcht und
ſeinen Sinn auf Kunſt und Wiſſenſchaft gerichtet, das
ſey im Allgemeinen ſeines Herrn fortwaͤhrende Richtung
geweſen. Abends habe ihn der Herzog haͤufig beſucht
und da haͤtten ſie oft bis tief in die Nacht hinein uͤber
gelehrte Gegenſtaͤnde geſprochen, ſo daß ihm oft Zeit
und Weile lang geworden und er oft gedacht habe, ob
denn der Herzog noch nicht gehen wolle. Und die Na¬
turforſchung, fuͤgte er hinzu, war ſchon damals ſeine
Sache.“
„Einſt klingelte er mitten in der Nacht, und als
ich zu ihm in die Kammer trete, hat er ſein eiſernes
Rollbette vom unterſten Ende der Kammer herauf bis
ans Fenſter gerollt und liegt und beobachtet den Him¬
mel. „Haſt Du nichts am Himmel geſehen?“ fragte
er mich, und als ich dieß verneinte: „ſo laufe einmal
nach der Wache und frage den Poſten, ob der nichts
geſehen.“ Ich lief hin, der Poſten hatte aber nichts
geſehen, welches ich meinem Herrn meldete, der noch
eben ſo lag und den Himmel unverwandt beobachtete.
„Hoͤre, ſagte er dann zu mir, wir ſind in einem be¬
[86] deutenden Moment, entweder wir haben in dieſem
Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins.“
Und nun mußte ich mich zu ihm aufs Bette ſetzen und
er demonſtrirte mir, aus welchen Merkmalen er das
abnehme.“
Ich fragte den guten Alten, was es fuͤr Wetter
geweſen.
„Es war ſehr wolkig, ſagte er, und dabey regte
ſich kein Luͤftchen, es war ſehr ſtill und ſchwuͤl.“
Ich fragte ihn, ob er denn Goethen jenen Ausſpruch
ſogleich aufs Wort geglaubt habe.
„Ja, ſagte er, ich glaubte ihm aufs Wort, denn
was er vorherſagte, war immer richtig. Am naͤchſten
Tage, fuhr er fort, erzaͤhlte mein Herr ſeine Beobach¬
tungen bey Hofe, wobey eine Dame ihrer Nachbarin
ins Ohr fliſterte: „Hoͤre! Goethe ſchwaͤrmt!“ Der Her¬
zog aber und die uͤbrigen Maͤnner glaubten an Goethe,
und es wies ſich auch bald aus, daß er recht geſehen;
denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in
derſelbigen Nacht ein Theil von Meſſina durch ein Erd¬
beben zerſtoͤrt worden.“
Gegen Abend ſendete Goethe mir eine Einladung,
ihn zu beſuchen. Humboldt ſey an Hof und ich wuͤrde
[87] ihm daher um ſo willkommener ſeyn. Ich fand ihn
noch wie vor einigen Tagen in ſeinem Lehnſtuhl ſitzend;
er reichte mir freundlich die Hand, indem er mit himmli¬
ſcher Sanftmuth einige Worte ſprach. Ein großer Ofen¬
ſchirm ſtand ihm zur Seite und gab ihm zugleich Schat¬
ten vor den Lichtern, die weiterhin auf dem Tiſch ſtan¬
den. Auch der Herr Canzler trat herein und geſellte
ſich zu uns. Wir ſetzten uns in Goethe's Naͤhe und
fuͤhrten leichte Geſpraͤche, damit er ſich nur zuhoͤrend
verhalten koͤnnte. Bald kam auch der Arzt, Hofrath
Rehbein. Er fand Goethe's Puls, wie er ſich aus¬
druͤckte, ganz munter und leichtfertig, woruͤber wir uns
freuten und Goethe einige Scherze machte. „Wenn nur
der Schmerz von der Seite des Herzens weg waͤre!“
klagte er dann. Rehbein ſchlug vor, ihm ein Pflaſter
dahin zu legen; wir ſprachen uͤber die guten Wirkungen
eines ſolchen Mittels, und Goethe ließ ſich dazu geneigt
finden. Rehbein brachte das Geſpraͤch auf Marienbad,
wodurch bey Goethe angenehme Erinnerungen erweckt
zu werden ſchienen. Man machte Plaͤne, naͤchſten Som¬
mer wieder hinzugehen und bemerkte, daß auch der
Großherzog nicht fehlen wuͤrde, durch welche Ausſichten
Goethe in die heiterſte Stimmung verſetzt wurde. Auch
ſprach man uͤber Madame Szymanowska und ge¬
dachte der Tage, wo ſie hier war und die Maͤnner
ſich um ihre Gunſt bewarben.
Als Rehbein gegangen war, las der Canzler die
[88] indiſchen Gedichte. Goethe ſprach derweile mit mir
uͤber ſeine Elegie von Marienbad.
Um acht Uhr ging der Canzler; ich wollte auch ge¬
hen, Goethe bat mich aber, noch ein wenig zu bleiben.
Ich ſetzte mich wieder. Das Geſpraͤch kam auf das
Theater und daß morgen der Wallenſtein wuͤrde ge¬
geben werden. Dieß gab Gelegenheit, uͤber Schiller
zu reden.
Es geht mir mit Schiller eigen, ſagte ich; einige
Scenen ſeiner großen Theater-Stuͤcke leſe ich mit wah¬
rer Liebe und Bewunderung, dann aber komme ich auf
Verſtoͤße gegen die Wahrheit der Natur, und ich kann
nicht weiter. Selbſt mit dem Wallenſtein geht es mir
nicht anders. Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß
Schillers philoſophiſche Richtung ſeiner Poeſie geſchadet
hat; denn durch ſie kam er dahin, die Idee hoͤher zu
halten als alle Natur, ja die Natur dadurch zu ver¬
nichten. Was er ſich denken konnte, mußte geſchehen,
es mochte nun der Natur gemaͤß oder ihr zuwider ſeyn.
„Es iſt betruͤbend, ſagte Goethe, wenn man ſieht,
wie ein ſo außerordentlich begabter Menſch ſich mit phi¬
loſophiſchen Denkweiſen herumquaͤlte, die ihm nichts
helfen konnten. Humboldt hat mir Briefe mitgebracht,
die Schiller in der unſeligen Zeit jener Speculationen
an ihn geſchrieben. Man ſieht daraus, wie er ſich da¬
mals mit der Intention plagte, die ſentimentale Poeſie
von der naiven ganz frey zu machen. Aber nun konnte er
[89] fuͤr jene Dichtart keinen Boden finden, und dieß brachte
ihn in unſaͤgliche Verwirrung. Und als ob, fuͤgte Goethe
laͤchelnd hinzu, die ſentimentale Poeſie ohne einen naiven
Grund, aus welchem ſie gleichſam hervorwaͤchſt, nur
irgend beſtehen koͤnnte!“
„Es war nicht Schillers Sache, fuhr Goethe fort,
mit einer gewiſſen Bewußtloſigkeit und gleichſam inſtinkt¬
maͤßig zu verfahren, vielmehr mußte er uͤber jedes, was
er that, reflectiren; woher es auch kam, daß er uͤber
ſeine poetiſchen Vorſaͤtze nicht unterlaſſen konnte, ſehr
viel hin und her zu reden, ſo daß er alle ſeine ſpaͤteren
Stuͤcke Scene fuͤr Scene mit mir durchgeſprochen hat.“
„Dagegen war es ganz gegen meine Natur, uͤber
das, was ich von poetiſchen Plaͤnen vorhatte, mit irgend
jemanden zu reden, ſelbſt nicht mit Schiller. Ich trug
Alles ſtill mit mir herum und niemand erfuhr in der
Regel etwas als bis es vollendet war. Als ich Schil¬
lern meinen Hermann und Dorothea fertig vorlegte,
war er verwundert, denn ich hatte ihm vorher mit
keiner Sylbe geſagt, daß ich dergleichen vorhatte.“
„Aber ich bin neugierig, was Sie morgen zum
Wallenſtein ſagen werden! Sie werden große Geſtalten
ſehen und das Stuͤck wird auf Sie einen Eindruck ma¬
chen, wie Sie es ſich wahrſcheinlich nicht vermuthen.“
[90]
Abends war ich im Theater, wo ich zum erſten Mal
den Wallenſtein ſah. Goethe hatte nicht zuviel ge¬
ſagt; der Eindruck war groß und mein tiefſtes Innere
aufregend. Die Schauſpieler, groͤßtentheils noch aus
der Zeit, wo Schiller und Goethe perſoͤnlich auf ſie
einwirkten, brachten mir ein Enſemble bedeutender Per¬
ſonen vor Augen, wie ſie, beym Leſen, meiner Einbil¬
dungskraft nicht mit der Individualitaͤt erſchienen waren,
weßhalb denn das Stuͤck mit außerordentlicher Kraft an
mir voruͤberging und ich es ſogar waͤhrend der Nacht
nicht aus dem Sinn brachte.
Abends bey Goethe. Er ſaß noch in ſeinem Lehn¬
ſtuhl und ſchien ein wenig ſchwach. Seine erſte Frage
war nach dem Wallenſtein. Ich gab ihm Rechen¬
ſchaft von dem Eindruck, den das Stuͤck von der Buͤhne
herunter auf mich gemacht; er hoͤrte es mit ſichtbarer
Freude.
Herr Soret kam, von Frau von Goethe hereinge¬
fuͤhrt, und blieb ein Stuͤndchen, indem er im Auftrag
des Großherzogs goldene Medaillen brachte, deren Vor¬
zeigung und Beſprechung Goethen eine angenehme Un¬
terhaltung zu gewaͤhren ſchien.
[91]
Frau von Goethe und Herr Soret gingen an Hof,
und ſo war ich mit Goethe wieder alleine gelaſſen.
Eingedenk des Verſprechens, mir ſeine Elegie von
Marienbad zu einer paſſenden Stunde abermals zu zei¬
gen, ſtand Goethe auf, ſtellte ein Licht auf ſeinen
Schreibtiſch und gab mir das Gedicht. Ich war gluͤck¬
lich, es abermals vor Augen zu haben. Goethe ſetzte
ſich wieder in Ruhe und uͤberließ mich einer ungeſtoͤrten
Betrachtung.
Nachdem ich eine Weile geleſen, wollte ich ihm et¬
was daruͤber ſagen, es kam mir aber vor, als ob er
ſchlief. Ich benutzte daher den guͤnſtigen Augenblick
und las es aber- und abermals und hatte dabey einen
ſeltenen Genuß. Die jugendlichſte Glut der Liebe, ge¬
mildert durch die ſittliche Hoͤhe des Geiſtes, das erſchien
mir im Allgemeinen als des Gedichtes durchgreifender
Character. Übrigens kam es mir vor, als ſeyen die
ausgeſprochenen Gefuͤhle ſtaͤrker, als wir ſie in anderen
Gedichten Goethe's anzutreffen gewohnt ſind, und ich
ſchloß daraus auf einen Einfluß von Byron, welches
Goethe auch nicht ablehnte.
„Sie ſehen das Product eines hoͤchſt leidenſchaftlichen
Zuſtandes, fuͤgte er hinzu; als ich darin befangen war,
haͤtte ich ihn um alles in der Welt nicht entbehren
moͤgen, und jetzt moͤchte ich um keinen Preis wieder
hineingerathen.“
„Ich ſchrieb das Gedicht, unmittelbar als ich von
[92] Marienbad abreiſ'te und ich mich noch im vollen friſchen
Gefuͤhle des Erlebten befand. Morgens acht Uhr auf
der erſten Station ſchrieb ich die erſte Strophe und ſo
dichtete ich im Wagen fort und ſchrieb von Station zu
Station das im Gedaͤchtniß Gefaßte nieder, ſo daß es
Abends fertig auf dem Papiere ſtand. Es hat daher
eine gewiſſe Unmittelbarkeit und iſt wie aus einem Guſſe,
welches dem Ganzen zu Gute kommen mag.“
Zugleich, ſagte ich, hat es in ſeiner ganzen Art viel
Eigenthuͤmliches, ſo daß es an keins Ihrer anderen
Gedichte erinnert.
„Das mag daher kommen, ſagte Goethe. Ich ſetzte
auf die Gegenwart, ſo wie man eine bedeutende Summe
auf eine Karte ſetzt, und ſuchte ſie ohne Übertreibung
ſo hoch zu ſteigern als moͤglich.“
Dieſe Äußerung erſchien mir ſehr wichtig, indem
ſie Goethe's Verfahren ans Licht ſetzet und uns ſeine
allgemein bewunderte Mannigfaltigkeit erkaͤrlich macht.
Es war indeß gegen neun Uhr geworden; Goethe
bat mich, ſeinen Bedienten Stadelmann zu rufen, wel¬
ches ich that.
Er ließ ſich darauf von dieſem das verordnete Pfla¬
ſter auf die Bruſt zur Seite des Herzens legen. Ich
ſtellte mich derweil ans Fenſter. Hinter meinem Ruͤcken
hoͤrte ich nun, wie er gegen Stadelmann klagte, daß
ſein Übel ſich gar nicht beſſern wolle und daß es einen
bleibenden Character annehme. Als die Operation vor¬
[93] bey war, ſetzte ich mich noch ein wenig zu ihm. Er
klagte nun auch gegen mich, daß er ſeit einigen Naͤch¬
ten gar nicht geſchlafen habe und daß auch zum Eſſen
gar keine Neigung vorhanden. „Der Winter geht nun
ſo hin, ſagte er, ich kann nichts thun, ich kann nichts
zuſammenbringen, der Geiſt hat gar keine Kraft.“ Ich
ſuchte ihn zu beruhigen, indem ich ihn bat, nur nicht
ſo viel an ſeine Arbeiten zu denken und daß ja dieſer
Zuſtand hoffentlich bald voruͤber gehen werde. „Ach,
ſagte er darauf, ungeduldig bin ich auch nicht, ich habe
ſchon zu viel ſolcher Zuſtaͤnde durchlebt und habe ſchon
gelernt zu leiden und zu dulden.“ Er ſaß in einem
Schlafrock von weißem Flanell, uͤber ſeine Kniee und
Fuͤße eine wollene Decke gelegt und gewickelt. „Ich
werde gar nicht zu Bette gehen, ſagte er, ich werde ſo
auf meinem Stuhl die Nacht ſitzen bleiben, denn zum
rechten Schlaf komme ich doch nicht.“
Es war indeß Zeit geworden, er reichte mir ſeine
liebe Hand und ich ging.
Als ich unten in das Bedientenzimmer trat, um
meinen Mantel zu nehmen, fand ich Stadelmann ſehr
beſtuͤrzt. Er ſagte, er habe ſich uͤber ſeinen Herrn er¬
ſchrocken; wenn er klage, ſo ſey das ein ſchlimmes
Zeichen. Auch waͤren die Fuͤße ploͤtzlich ganz duͤnne ge¬
worden, die bisher ein wenig geſchwollen geweſen. Er
wolle morgen in aller Fruͤhe zum Arzt gehen, um ihm
die ſchlimmen Zeichen zu melden. Ich ſuchte ihn zu
[94] beruhigen, allein er ließ ſich ſeine Furcht nicht aus¬
reden.
Als ich dieſen Abend ins Theater kam, draͤngten
viele Perſonen ſich mir entgegen und erkundigten ſich
ſehr aͤngſtlich nach Goethe's Befinden. Sein Zuſtand
mußte ſich in der Stadt ſchnell verbreitet haben und viel¬
leicht aͤrger gemacht worden ſeyn, als er wirklich war.
Einige ſagten mir, er habe die Bruſtwaſſerſucht. Ich
war betruͤbt den ganzen Abend.
Geſtern ging ich in Sorgen umher. Es ward außer
ſeiner Familie niemand zu ihm gelaſſen.
Heute gegen Abend ging ich hin und wurde auch
angenommen. Ich fand ihn noch in ſeinem Lehnſtuhl
ſitzen, er ſchien dem Äußern nach noch ganz wie ich ihn
am Sonntag verlaſſen, doch war er heiteren Geiſtes.
Wir ſprachen beſonders uͤber Zauper und die ſehr
ungleichen Wirkungen, die aus dem Studium der Lite¬
ratur der Alten hervorgehen.
[95]
Goethe ließ mich rufen. Ich fand ihn zu meiner
großen Freude wieder auf und in ſeinem Zimmer umher¬
gehen. Er gab mir ein kleines Buch: Ghaſelen des
Grafen Platen. „Ich hatte mir vorgenommen, ſagte
er, in Kunſt und Alterthum etwas daruͤber zu ſagen,
denn die Gedichte verdienen es. Mein Zuſtand laͤßt
mich aber zu nichts kommen. Sehen Sie doch zu, ob
es Ihnen gelingen will einzudringen und den Gedichten
etwas abzugewinnen.“
Ich verſprach, mich daran zu verſuchen.
„Es iſt bey den Ghaſelen das Eigenthuͤmliche, fuhr
Goethe fort, daß ſie eine große Fuͤlle von Gehalt ver¬
langen; der ſtets wiederkehrende gleiche Reim will immer
einen Vorrath aͤhnlicher Gedanken bereit finden. De߬
halb gelingen ſie nicht Jedem; dieſe aber werden Ihnen
gefallen.“ Der Arzt trat herein und ich ging.
Sonnabend und Sonntag ſtudirte ich die Gedichte.
Dieſen Morgen ſchrieb ich meine Anſicht daruͤber und
ſchickte ſie Goethen zu, denn ich hatte erfahren, daß er
ſeit einigen Tagen niemanden vor ſich laſſe, indem der
Arzt ihm alles Reden verboten.
Heute gegen Abend ließ er mich dennoch rufen.
[96] Als ich zu ihm hineintrat, fand ich einen Stuhl bereits in
ſeine Naͤhe geſetzt; er reichte mir ſeine Hand entgegen und
war aͤußerſt liebevoll und gut. Er fing ſogleich an,
uͤber meine kleine Recenſion zu reden. „Ich habe mich
ſehr daruͤber gefreut, ſagte er, Sie haben eine ſchoͤne
Gabe. Ich will Ihnen etwas ſagen, fuhr er dann fort,
wenn Ihnen vielleicht von andern Orten her literariſche
Antraͤge gemacht werden ſollten, ſo lehnen Sie ſolche
ab oder ſagen es mir wenigſtens zuvor; denn da Sie
einmal mit mir verbunden ſind, ſo moͤchte ich nicht
gerne, daß Sie auch zu Anderen ein Verhaͤltniß haͤtten.“
Ich antwortete, daß ich mich bloß zu ihm halten
wolle und daß es mir auch vor der Hand um ander¬
weitige Verbindungen durchaus nicht zu thun ſey.
Das war ihm lieb, und er ſagte darauf, daß wir
dieſen Winter noch manche huͤbſche Arbeit mit einander
machen wollten.
Wir kamen dann auf die Ghaſelen ſelbſt zu ſprechen
und Goethe freute ſich uͤber die Vollendung dieſer Ge¬
dichte, und daß unſere neueſte Literatur doch manches
Tuͤchtige hervorbringe.
„Ihnen, fuhr er dann fort, moͤchte ich unſere neue¬
ſten Talente zu einem beſonderen Studium und Augen¬
merk empfehlen. Ich moͤchte, daß Sie ſich von allem, was
in unſerer Literatur Bedeutendes hervortritt, in Kenntniß
ſetzten und mir das Verdienſtliche vor Augen braͤchten, da¬
mit wir in den Heften von Kunſt und Alterthum daruͤber
[97] reden und das Gute, Edle und Tuͤchtige mit Anerken¬
nung erwaͤhnen koͤnnten. Denn mit dem beſten Willen
komme ich bey meinem hohen Alter und bey meinen tauſend¬
fachen Obliegenheiten ohne anderweitige Huͤlfe nicht dazu.“
Ich verſprach dieſes zu thun, indem ich mich zu¬
gleich freute zu ſehen, daß unſere neueſten Schriftſteller
und Dichter Goethen mehr am Herzen liegen als ich
mir gedacht hatte.
Die Tage darauf[ ]ſendete Goethe mir die neueſten lite¬
rariſchen Tagesblaͤtter zu dem beſprochenen Zwecke. Ich
ging einige Tage nicht zu ihm und ward auch nicht
gerufen. Ich hoͤrte, ſein Freund Zelter ſey gekommen
ihn zu beſuchen.
Heute ward ich bey Goethe zu Tiſch geladen. Ich
fand Zelter bey ihm ſitzen, als ich hereintrat. Sie
kamen mir einige Schritte entgegen und gaben mir die
Haͤnde. „Hier, ſagte Goethe, haben wir meinen Freund
Zelter. Sie machen an ihm eine gute Bekanntſchaft;
ich werde Sie bald einmal nach Berlin ſchicken, da ſol¬
len Sie denn von ihm auf das Beſte gepflegt werden.“
In Berlin mag es gut ſeyn, ſagte ich. „Ja, ſagte
I. 7[98] Zelter lachend, es laͤßt ſich darin viel lernen und ver¬
lernen.“
Wir ſetzten uns und fuͤhrten allerley Geſpraͤche. Ich
fragte nach Schubarth. „Er beſucht mich wenigſtens
alle acht Tage, ſagte Zelter. Er hat ſich verheirathet,
iſt aber ohne Anſtellung, weil er es in Berlin mit den
Philologen verdorben.“
Zelter fragte mich darauf, ob ich Immermann
kenne. Seinen Namen, ſagte ich, habe ich bereits ſehr
oft nennen hoͤren, doch von ſeinen Schriften kenne ich
bis jetzt nichts. „Ich habe ſeine Bekanntſchaft zu
Muͤnſter gemacht, ſagte Zelter; es iſt ein ſehr hoff¬
nungsvoller junger Mann und es waͤre ihm zu wuͤnſchen,
daß ſeine Anſtellung ihm fuͤr ſeine Kunſt mehr Zeit
ließe.“ Goethe lobte gleichfalls ſein Talent. „Wir
wollen ſehen, ſagte er, wie er ſich entwickelt; ob er ſich
bequemen mag, ſeinen Geſchmack zu reinigen und hin¬
ſichtlich der Form die anerkannt beſten Muſter zur
Richtſchnur zu nehmen. Sein originelles Streben hat
zwar ſein Gutes, allein es fuͤhrt gar zu leicht in die
Irre.“
Der kleine Walter kam geſprungen und machte
ſich an Zelter und ſeinen Großpapa mit vielen Fragen.
„Wenn Du kommſt, unruhiger Geiſt, ſagte Goethe,
ſo verdirbſt Du gleich jedes Geſpraͤch.“ Übrigens liebte
er den Knaben und war unermuͤdet ihm alles zu Willen
zu thun.
[99]
Frau v. Goethe und Fraͤulein Ulrike traten herein;
auch der junge Goethe in Uniform und Degen, um an
Hof zu gehen. Wir ſetzten uns zu Tiſch. Fraͤulein
Ulrike und Zelter waren beſonders munter und neckten
ſich auf die anmuthigſte Weiſe waͤhrend der ganzen
Tafel. Zelters Perſon und Gegenwart that mir ſehr
wohl. Er war als ein gluͤcklicher geſunder Menſch im¬
mer ganz dem Augenblick hingegeben und es fehlte ihm
nie am rechten Wort. Dabey war er voller Gutmuͤ¬
thigkeit und Behagen und ſo ungenirt, daß er alles
herausſagen mochte und mitunter ſogar ſehr Derbes.
Seine eigene geiſtige Freyheit theilte ſich mit, ſo daß
alle beengende Ruͤckſicht in ſeiner Naͤhe ſehr bald weg¬
fiel. Ich that im Stillen den Wunſch, eine Zeitlang
mit ihm zu leben, und bin gewiß, es wuͤrde mir gut
thun.
Bald nach Tiſch ging Zelter. Auf den Abend war
er zur Großfuͤrſtinn gebeten.
Dieſen Morgen brachte mir Secretair Kraͤuter
eine Einladung bey Goethe zu Tiſch. Dabey gab er
mir von Goethe den Wink, Zeltern doch ein Exemplar
meiner Beytraͤge zur Poeſie zu verehren. Ich that ſo
und brachte es ihm ins Wirthshaus. Zelter gab mir
7 *[100] dagegen die Gedichte von Immermann. „Ich ſchenkte
das Exemplar Ihnen gerne, ſagte er, allein Sie ſehen,
der Verfaſſer hat es mir zugeſchrieben, und ſo iſt es
mir ein werthes Andenken, das ich behalten muß.“
Ich machte darauf mit Zelter vor Tiſch einen Spa¬
ziergang durch den Park nach Oberweimar. Bey man¬
chen Stellen erinnerte er ſich fruͤherer Zeiten und er¬
zaͤhlte mir dabey viel von Schiller, Wieland und Her¬
der, mit denen er ſehr befreundet geweſen, was er als
einen hohen Gewinn ſeines Lebens ſchaͤtzte.
Er ſprach darauf viel uͤber Compoſition und reci¬
tirte dabey mehrere Lieder von Goethe. „Wenn ich ein
Gedicht componiren will, ſagte er, ſo ſuche ich zuvor
in den Wortverſtand einzudringen und mir die Situa¬
tion lebendig zu machen. Ich leſe es mir dann laut vor,
bis ich es auswendig weiß, und ſo, indem ich es mir
immer einmal wieder recitire, kommt die Melodie von
ſelber.“
Wind und Regen noͤthigten uns, fruͤher zuruͤck¬
zugehen, als wir gerne wollten. Ich begleitete ihn
bis vor Goethe's Haus, wo er zu Frau von Goethe
hinauf ging, um mit ihr vor Tiſch noch Einiges zu
ſingen.
Darauf um zwey Uhr kam ich zu Tiſch. Ich fand
Zelter bereits bey Goethe ſitzen und Kupferſtiche italie¬
niſcher Gegenden betrachten. Frau von Goethe trat
herein und wir gingen zu Tiſch. Fraͤulein Ulrike war
[101] heute abweſend, deßgleichen der junge Goethe, welcher
bloß herein kam, um guten Tag zu ſagen und dann
wieder an Hof ging.
Die Tiſchgeſpraͤche waren heute beſonders mannigfal¬
tig. Sehr viel originelle Anekdoten wurden erzaͤhlt, ſowohl
von Zelter als Goethe, welche alle dahin gingen, die
Eigenſchaften ihres gemeinſchaftlichen Freundes Fried¬
rich Auguſt Wolf zu Berlin ins Licht zu ſetzen.
Dann ward uͤber die Nibelungen viel geſprochen, dann
uͤber Lord Byron und ſeinen zu hoffenden Beſuch in
Weimar, woran Frau v. Goethe beſonders Theil nahm.
Das Rochusfeſt zu Bingen war ferner ein ſehr heiterer
Gegenſtand, wobey Zelter ſich beſonders zwey ſchoͤner
Maͤdchen erinnerte, deren Liebenswuͤrdigkeit ſich ihm
tief eingepraͤgt hatte und deren Andenken ihn noch heute
zu begluͤcken ſchien. Das geſellige Lied Kriegsgluͤck
von Goethe, ward darauf ſehr heiter beſprochen. Zel¬
ter war unerſchoͤpflich in Anekdoten von bleſſirten Sol¬
daten und ſchoͤnen Frauen, welche alle dahin gingen,
um die Wahrheit des Gedichts zu beweiſen. Goethe
ſelber ſagte, er habe nach ſolchen Realitaͤten nicht weit zu
gehen brauchen, er habe alles in Weimar perſoͤnlich er¬
lebt. Frau v. Goethe aber hielt immerwaͤhrend ein heite¬
res Widerſpiel, indem ſie nicht zugeben wollte, daß die
Frauen ſo waͤren, als das „garſtige“ Gedicht ſie ſchildere.
Und ſo vergingen denn auch heute die Stunden bey
Tiſch ſehr angenehm.
[102]
Als ich darauf ſpaͤter mit Goethe allein war, fragte
er mich uͤber Zelter. „Nun, ſagte er, wie gefaͤllt er
Ihnen?“ Ich ſprach uͤber das durchaus Wohlthaͤtige
ſeiner Perſoͤnlichkeit. „Er kann, fuͤgte Goethe hinzu,
bey der erſten Bekanntſchaft etwas ſehr derbe, ja mit¬
unter ſogar etwas roh erſcheinen. Allein das iſt nur
aͤußerlich. Ich kenne kaum jemanden, der zugleich ſo
zart waͤre wie Zelter. Und dabey muß man nicht ver¬
geſſen, daß er uͤber ein halbes Jahrhundert in Berlin
zugebracht hat. Es lebt aber, wie ich an allem merke,
dort ein ſo verwegener Menſchenſchlag beyſammen, daß
man mit der Delicateſſe nicht weit reicht, ſondern daß
man Haare auf den Zaͤhnen haben und mitunter etwas
grob ſeyn muß, um ſich uͤber Waſſer zu halten.“
1824.
[[104]][[105]]Goethe ſprach mit mir uͤber die Fortſetzung ſeiner Le¬
bensgeſchichte, mit deren Ausarbeitung er ſich gegen¬
waͤrtig beſchaͤftigt. Es kam zur Erwaͤhnung, daß dieſe
Epoche ſeines ſpaͤtern Lebens nicht die Ausfuͤhrlichkeit
des Details haben koͤnne, wie die Jugendepoche von
Wahrheit und Dichtung.
„Ich muß, ſagte Goethe, dieſe ſpaͤteren Jahre mehr
als Annalen behandeln; es kann darin weniger mein
Leben als meine Thaͤtigkeit zur Erſcheinung kommen.
Überhaupt iſt die bedeutendſte Epoche eines Individuums
die der Entwickelung, welche ſich in meinem Fall mit
den ausfuͤhrlichen Baͤnden von Wahrheit und Dichtung
abſchließt. Spaͤter beginnt der Conflict mit der Welt,
und dieſer hat nur inſofern Intereſſe als etwas dabey
herauskommt.“
„Und dann, das Leben eines deutſchen Gelehrten,
was iſt es? Was in meinem Fall daran etwa Gutes
ſeyn moͤchte, iſt nicht mitzutheilen, und das Mittheil¬
[106] bare iſt nicht der Muͤhe werth. Und wo ſind denn die
Zuhoͤrer, denen man mit einigem Behagen erzaͤhlen
moͤchte?“
„Wenn ich auf mein fruͤheres und mittleres Leben
zuruͤckblicke und nun in meinem Alter bedenke, wie
Wenige noch von denen uͤbrig ſind, die mit mir jung
waren, ſo faͤllt mir immer der Sommeraufenthalt in
einem Bade ein. So wie man ankommt, ſchließt man
Bekanntſchaften und Freundſchaften mit ſolchen, die
ſchon eine Zeitlang dort waren und die in den naͤchſten
Wochen wieder abgehen. Der Verluſt iſt ſchmerzlich.
Nun haͤlt man ſich an die zweyte Generation, mit der
man eine gute Weile fortlebt und ſich auf das Innigſte
verbindet. Aber auch dieſe geht und laͤßt uns einſam
mit der dritten, die nahe vor unſerer Abreiſe ankommt
und mit der man auch gar nichts zu thun hat.“
„Man hat mich immer als einen vom Gluͤck beſon¬
ders Beguͤnſtigten geprieſen; auch will ich mich nicht
beklagen und den Gang meines Lebens nicht ſchelten.
Allein im Grunde iſt es nichts als Muͤhe und Arbeit
geweſen, und ich kann wohl ſagen, daß ich in meinen
fuͤnf und ſiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches
Behagen gehabt. Es war das ewige Waͤlzen eines
Steines, der immer von neuem gehoben ſeyn wollte.
Meine Annalen werden es deutlich machen, was hiemit
geſagt iſt. Der Anſpruͤche an meine Thaͤtigkeit, ſowohl
von Außen als Innen, waren zu viele.“
„Mein eigentliches Gluͤck war mein poetiſches Sinnen
und Schaffen. Allein wie ſehr war dieſes durch meine
aͤußere Stellung geſtoͤrt, beſchraͤnkt und gehindert. Haͤtte
ich mich mehr vom oͤffentlichen und geſchaͤftlichen Wir¬
ken und Treiben zuruͤckhalten und mehr in der Einſam¬
keit leben koͤnnen, ich waͤre gluͤcklicher geweſen und
wuͤrde als Dichter weit mehr gemacht haben. So aber
ſollte ſich bald nach meinem Goͤtz und Werther an mir
das Wort eines Weiſen bewaͤhren, welcher ſagte: wenn
man der Welt etwas zu Liebe gethan habe, ſo wiſſe
ſie dafuͤr zu ſorgen, daß man es nicht zum zweyten
Male thue.“
„Ein weit verbreiteter Name, eine hohe Stellung
im Leben ſind gute Dinge. Allein mit all meinem
Namen und Stande habe ich es nicht weiter gebracht,
als daß ich, um nicht zu verletzen, zu der Meinung
Anderer ſchweige. Dieſes wuͤrde nun in der That ein
ſehr ſchlechter Spaß ſeyn, wenn ich dabey nicht den
Vortheil haͤtte, daß ich erfahre, wie die Anderen denken,
aber ſie nicht wie ich.“
Heute vor Tiſch hatte Goethe mich zu einer Spa¬
zierfahrt einladen laſſen. Ich fand ihn fruͤhſtuͤckend, als
[108] ich zu ihm ins Zimmer trat; er ſchien ſehr heiterer
Stimmung.
„Ich habe einen angenehmen Beſuch gehabt, ſagte
er mir freudig entgegen, ein ſehr hoffnungsvoller junger
Mann, Meyer aus Weſtphalen, iſt vorhin bey mir
geweſen. Er hat Gedichte gemacht, die ſehr viel er¬
warten laſſen. Er iſt erſt achtzehn Jahre alt und ſchon
unglaublich weit.“
„Ich freue mich, ſagte Goethe darauf lachend, daß
ich jetzt nicht achtzehn Jahre alt bin. Als ich achtzehn
war, war Deutſchland auch erſt achtzehn, da ließ ſich
noch etwas machen; aber jetzt wird unglaublich viel
gefordert und es ſind alle Wege verrannt.“
„Deutſchland ſelbſt ſteht in allen Faͤchern ſo hoch,
daß wir kaum alles uͤberſehen koͤnnen, und nun ſollen
wir noch Griechen und Lateiner ſeyn, und Englaͤnder
und Franzoſen dazu! Ja obendrein hat man die Ver¬
ruͤcktheit, auch nach dem Orient zu weiſen und da muß
denn ein junger Menſch ganz confus werden.“
„Ich habe ihm zum Troſt meine coloſſale Juno
gezeigt, als ein Symbol, daß er bey den Griechen ver¬
harren und dort Beruhigung finden moͤge. Er iſt ein
praͤchtiger junger Menſch! Wenn er ſich vor Zerſplitte¬
rung in Acht nimmt, ſo kann etwas aus ihm werden.“
„Aber, wie geſagt, ich danke dem Himmel, daß ich
jetzt, in dieſer durchaus gemachten Zeit, nicht jung bin.
Ich wuͤrde nicht zu bleiben wiſſen. Ja ſelbſt wenn
[109] ich nach Amerika fluͤchten wollte, ich kaͤme zu ſpaͤt, denn
auch dort waͤre es ſchon zu helle.“
Zu Tiſch mit Goethe und ſeinem Sohn, welcher
letztere uns manches heitere Geſchichtchen aus ſeiner Stu¬
dentenzeit, namentlich aus ſeinem Aufenthalt in Heidel¬
berg erzaͤhlte. Er hatte mit ſeinen Freunden in den
Ferien manchen Ausflug am Rhein gemacht, wo ihm
beſonders ein Wirth in gutem Andenken geblieben war,
bey dem er einſt mit zehn andern Studenten uͤbernach¬
tet und welcher unentgeltlich den Wein hergegeben,
bloß damit er einmal ſeine Freude an einem ſo genann¬
ten Kommerſch haben moͤge.
Nach Tiſch legte Goethe uns colorirte Zeichnungen
italieniſcher Gegenden vor, beſonders des noͤrdlichen
Italiens mit den Gebirgen der angrenzenden Schweiz
und dem Lago maggiore. Die Borromaͤiſchen Inſeln
ſpiegelten ſich im Waſſer, man ſah am Ufer Fahrzeuge
und Fiſchergeraͤth, wobey Goethe bemerklich machte, daß
dieß der See aus ſeinen Wanderjahren ſey. Nordweſt¬
lich, in der Richtung nach dem monte rosa ſtand das
den See begrenzende Vorgebirge in dunkelen blauſchwar¬
zen Maſſen, ſo wie es kurz nach Sonnenuntergange zu
ſeyn pflegt.
[110]
Ich machte die Bemerkung, daß mir, als einem in
der Ebene Geborenen, die duͤſtere Erhabenheit ſolcher
Maſſen ein unheimliches Gefuͤhl errege und daß ich
keineswegs Luſt verſpuͤre, in ſolchen Schluchten zu
wandern.
„Dieſes Gefuͤhl, ſagte Goethe, iſt in der Ordnung.
Denn im Grunde iſt dem Menſchen nur der Zuſtand
gemaͤß, worin und wofuͤr er geboren worden. Wen
nicht große Zwecke in die Fremde treiben, der bleibt
weit gluͤcklicher zu Hauſe. Die Schweiz machte anfaͤng¬
lich auf mich ſo großen Eindruck, daß ich dadurch ver¬
wirrt und beunruhigt wurde; erſt bey wiederholtem
Aufenthalt, erſt in ſpaͤteren Jahren, wo ich die Gebirge
bloß in mineralogiſcher Hinſicht betrachtete, konnte ich
mich ruhig mit ihnen befaſſen.“
Wir beſahen darauf eine große Folge von Kupfer¬
ſtichen nach Gemaͤlden neuer Kuͤnſtler aus einer fran¬
zoͤſiſchen Gallerie. Die Erfindung in dieſen Bildern
war faſt durchgehends ſchwach, ſo daß wir unter vier¬
zig Stuͤcken kaum vier bis fuͤnf gute fanden. Dieſe gu¬
ten waren: ein Maͤdchen, das ſich einen Liebesbrief
ſchreiben laͤßt; eine Frau in einem maison à vendre,
das niemand kaufen will; ein Fiſchfang; Muſikanten
vor einem Muttergottesbilde. Auch eine Landſchaft in
Pouſſin's Manier war nicht uͤbel, wobey Goethe ſich
folgendermaßen aͤußerte: „Solche Kuͤnſtler, ſagte er,
haben den allgemeinen Begriff von Pouſſin's Land¬
[111] ſchaften aufgefaßt und mit dieſem Begriff wirken ſie
fort. Man kann ihre Bilder nicht gut und nicht ſchlecht
nennen. Sie ſind nicht ſchlecht, weil uͤberall ein tuͤch¬
tiges Muſter hindurchblickt. Aber man kann ſie nicht
gut heißen, weil den Kuͤnſtlern gewoͤhnlich Pouſſin's
große Perſoͤnlichkeit fehlt. Es iſt unter den Poeten
nicht anders, und es giebt deren, die ſich z. B. in
Shakſpeare's großer Manier ſehr unzulaͤnglich ausnehmen
wuͤrden.“
Zum Schluß Rauch's Modell zu Goethe's Sta¬
tue, fuͤr Frankfurt beſtimmt, lange betrachtet und be¬
ſprochen.
Heute um ein Uhr zu Goethe. Er legte mir Ma¬
nuſcripte vor, die er fuͤr das erſte Heft des fuͤnften
Bandes von Kunſt und Alterthum dictirt hatte.
Zu meiner Beurtheilung des deutſchen Paria fand ich
von ihm einen Anhang gemacht, ſowohl in Bezug auf
das franzoͤſiſche Trauerſpiel, als ſeine eigene lyriſche
Trilogie, wodurch denn dieſer Gegenſtand gewiſſermaßen
in ſich geſchloſſen war.
„Es iſt gut, ſagte Goethe, daß Sie bey Gelegen¬
heit Ihrer Recenſion ſich die indiſchen Zuſtaͤnde zu eigen
gemacht haben; denn wir behalten von unſern Studien
am Ende doch nur das, was wir practiſch anwenden.“
Ich gab ihm Recht und ſagte, daß ich bey meinem
Aufenthalt auf der Academie dieſe Erfahrung gemacht,
indem ich von den Vortraͤgen der Lehrer nur das be¬
halten, zu deſſen Anwendung eine practiſche Richtung
in mir gelegen; dagegen haͤtte ich alles, was nicht ſpaͤ¬
ter bey mir zur Ausuͤbung gekommen, durchaus ver¬
geſſen. Ich habe, ſagte ich, bey Heeren alte und
neue Geſchichte gehoͤrt, aber ich weiß davon kein Wort
mehr. Wuͤrde ich aber jetzt einen Punkt der Geſchichte
in der Abſicht ſtudiren, um ihn etwa dramatiſch darzu¬
ſtellen, ſo wuͤrde ich ſolche Studien mir ſicher fuͤr immer
zu eigen machen.
„Überall, ſagte Goethe, treibt man auf Academien
viel zu viel, und gar zu viel Unnuͤtzes. Auch dehnen
die einzelnen Lehrer ihre Faͤcher zu weit aus, bey wei¬
tem uͤber die Beduͤrfniſſe der Hoͤrer. In fruͤherer Zeit
wurde Chemie und Botanik, als zur Arzneikunde ge¬
hoͤrig, vorgetragen und der Mediciner hatte daran genug.
Jetzt aber ſind Chemie und Botanik eigene unuͤberſeh¬
bare Wiſſenſchaften geworden, deren jede ein ganzes
Menſchenleben erfordert, und man will ſie dem Medi¬
ciner mit zumuthen! Daraus aber kann nichts werden;
das Eine wird uͤber das Andere unterlaſſen und ver¬
geſſen. Wer klug iſt, lehnet daher alle zerſtreuende An¬
forderungen ab und beſchraͤnkt ſich auf ein Fach und
wird tuͤchtig in Einem.“
Darauf zeigte mir Goethe eine kurze Critik, die er
[113] uͤber Byrons Cain geſchrieben und die ich mit großem
Intereſſe las.
„Man ſieht, ſagte er, wie einem freyen Geiſte wie
Byron die Unzulaͤnglichkeit der kirchlichen Dogmen zu
ſchaffen gemacht und wie er ſich durch ein ſolches Stuͤck
von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreyen geſucht.
Die engliſche Geiſtlichkeit wird es ihm freylich nicht
Dank wiſſen; mich ſoll aber wundern, ob er nicht in
Darſtellung nachbarlicher bibliſcher Gegenſtaͤnde fort¬
ſchreiten wird, und ob er ſich ein Suͤjet, wie den Un¬
tergang von Sodom und Gomorra, wird entgehen
laſſen.“
Nach dieſen literariſchen Betrachtungen lenkte Goethe
mein Intereſſe auf die bildende Kunſt, indem er mir
einen antiken geſchnittenen Stein zeigte, von welchem
er ſchon Tags vorher mit Bewunderung geſprochen.
Ich war entzuͤckt bey der Betrachtung der Naivitaͤt des
dargeſtellten Gegenſtandes. Ich ſah einen Mann, der
ein ſchweres Gefaͤß von der Schulter genommen, um
einen Knaben daraus trinken zu laſſen. Dieſem aber
iſt es noch nicht bequem, noch nicht mundrecht genug,
das Getraͤnk will nicht fließen, und, indem er ſeine
beyden Haͤndchen an das Gefaͤß legt, blickt er zu dem
Manne hinauf und ſcheint ihn zu bitten, es noch ein
wenig zu neigen.
„Nun, wie gefaͤllt Ihnen das? ſagte Goethe. Wir
Neueren, fuhr er fort, fuͤhlen wohl die große Schoͤn¬
I. 8[114] heit eines ſolchen rein natuͤrlichen, rein naiven Motivs,
wir haben auch wohl die Kenntniß und den Begriff
wie es zu machen waͤre, allein wir machen es nicht,
der Verſtand herrſchet vor und es fehlet immer dieſe
entzuͤckende Anmuth.“
Wir betrachteten darauf eine Medaille von Brandt
in Berlin, den jungen Theſeus darſtellend, wie er die
Waffen ſeines Vaters unter dem Stein hervornimmt.
Die Stellung der Figur hatte viel Loͤbliches, jedoch ver¬
mißten wir eine genugſame Anſtrengung der Glieder ge¬
gen die Laſt des Steines. Auch erſchien es keineswegs
gut gedacht, daß der Juͤngling ſchon in der einen Hand
die Waffen haͤlt, waͤhrend er noch mit der andern den
Stein hebt; denn nach der Natur der Sache wird er
zuerſt den ſchweren Stein zur Seite werfen und dann
die Waffen aufnehmen. „Dagegen, ſagte Goethe, will
ich Ihnen eine antike Gemme zeigen, worauf derſelbe
Gegenſtand von einem Alten behandelt iſt.“
Er ließ von Stadelmann einen Kaſten herbeyholen,
worin ſich einige hundert Abdruͤcke antiker Gemmen fan¬
den, die er bey Gelegenheit ſeiner italieniſchen Reiſe
ſich aus Rom mitgebracht. Da ſah ich nun denſelbigen
Gegenſtand von einem alten Griechen behandelt, und
zwar wie anders! Der Juͤngling ſtemmt ſich mit aller
Anſtrengung gegen den Stein, auch iſt er einer ſolchen
Laſt gewachſen, denn man ſieht das Gewicht ſchon uͤber¬
wunden und den Stein bereits zu dem Punkt gehoben,
[115] um ſehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine
ganze Koͤrperkraft wendet der junge Held gegen die
ſchwere Maſſe und nur ſeine Blicke richtet er nieder¬
waͤrts auf die unten vor ihm liegenden Waffen.
Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieſer
Behandlung.
„Meyer pflegt immer zu ſagen, fiel Goethe lachend
ein, wenn nur das Denken nicht ſo ſchwer
waͤre! — Das Schlimme aber iſt, fuhr er heiter fort,
daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß
von Natur richtig ſeyn, ſo daß die guten Einfaͤlle im¬
mer wie freye Kinder Gottes vor uns daſtehen und uns
zurufen: da ſind wir! —“
Goethe zeigte mir heute zwey hoͤchſt merkwuͤrdige
Gedichte, beyde in hohem Grade ſittlich in ihrer Ten¬
denz, in einzelnen Motiven jedoch ſo ohne allen Ruͤck¬
halt natuͤrlich und wahr, daß die Welt dergleichen un¬
ſittlich zu nennen pflegt, weßhalb er ſie denn auch
geheim hielt und an eine oͤffentliche Mittheilung nicht
dachte.
„Koͤnnten Geiſt und hoͤhere Bildung, ſagte er, ein
Gemeingut werden, ſo haͤtte der Dichter ein gutes Spiel;
er koͤnnte immer durchaus wahr ſeyn und brauchte ſich
8 *[116] nicht zu ſcheuen, das Beſte zu ſagen. So aber muß
er ſich immer in einem gewiſſen Niveau halten; er hat
zu bedenken, daß ſeine Werke in die Haͤnde einer ge¬
miſchten Welt kommen und er hat daher Urſache ſich
in Acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Men¬
ſchen durch eine zu große Offenheit kein Ärgerniß gebe.
Und dann iſt die Zeit ein wunderlich Ding. Sie iſt
ein Tyrann, der ſeine Launen hat, und der zu dem,
was einer ſagt und thut, in jedem Jahrhundert ein
ander Geſicht macht. Was den alten Griechen zu ſagen
erlaubt war, will uns zu ſagen nicht mehr anſtehen,
und was Shakſpear's kraͤftigen Mitmenſchen durchaus
anmuthete, kann der Englaͤnder von 1820 nicht mehr
ertragen, ſo daß in der neueſten Zeit ein Family-Shak¬
speare ein gefuͤhltes Beduͤrfniß wird.“
Auch liegt ſehr vieles in der Form, fuͤgte ich hinzu.
Das eine jener beyden Gedichte, in dem Ton und
Versmaß der Alten, hat weit weniger Zuruͤckſtoßendes.
Einzelne Motive ſind allerdings an ſich widerwaͤrtig,
allein die Behandlung wirft uͤber das Ganze ſo viel
Großheit und Wuͤrde, daß es uns wird, als hoͤrten
wir einen kraͤftigen Alten und als waͤren wir in die
Zeit griechiſcher Heroen zuruͤckverſetzt. Das andere Ge¬
dicht dagegen, in dem Ton und der Versart von Meiſter
Arioſt iſt, weit verfaͤnglicher. Es behandelt ein Aben¬
teuer von heute, in der Sprache von heute, und, indem
es dadurch ohne alle Umhuͤllung ganz in unſere Gegen¬
[117] wart hereintritt, erſcheinen die einzelnen Kuͤhnheiten bey
weitem verwegener.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, es liegen in den ver¬
ſchiedenen poetiſchen Formen geheimnißvolle große Wir¬
kungen. Wenn man den Inhalt meiner Roͤmiſchen
Elegieen in den Ton und die Versart von Byrons Don
Juan uͤbertragen wollte, ſo muͤßte ſich das Geſagte ganz
verrucht ausnehmen.“
Die franzoͤſiſchen Zeitungen wurden gebracht. Der
beendigte Feldzug der Franzoſen in Spanien unter dem
Herzog von Angoulême hatte fuͤr Goethe großes In¬
tereſſe. „Ich muß die Bourbons wegen dieſes Schrit¬
tes durchaus loben, ſagte er, denn erſt hiedurch gewin¬
nen ſie ihren Thron, indem ſie die Armee gewinnen.
Und das iſt erreicht. Der Soldat kehret mit Treue fuͤr
ſeinen Koͤnig zuruͤck, denn er hat aus ſeinen eigenen
Siegen, ſo wie aus den Niederlagen der vielkoͤpfig be¬
fehligten Spanier die Überzeugung gewonnen, was fuͤr
ein Unterſchied es ſey, einem Einzelnen gehorchen oder
Vielen. Die Armee hat den alten Ruhm behauptet und
an den Tag gelegt, daß ſie fortwaͤhrend in ſich ſelber
brav ſey und daß ſie auch ohne Napoleon zu ſiegen
vermoͤge.“
Goethe wendete darauf ſeine Gedanken in der Ge¬
ſchichte ruͤckwaͤrts und ſprach ſehr viel uͤber die preußiſche
Armee im ſiebenjaͤhrigen Kriege, die durch Friedrich den
Großen an ein beſtaͤndiges Siegen gewoͤhnt und dadurch
[118] verwoͤhnt worden, ſo daß ſie in ſpaͤterer Zeit, aus zu
großem Selbſtvertrauen, ſo viele Schlachten verloren.
Alle einzelnen Details waren ihm gegenwaͤrtig und ich
hatte ſein gluͤckliches Gedaͤchtniß zu bewundern.
„Ich habe den großen Vortheil, fuhr er fort, daß
ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die groͤßten Welt¬
begebenheiten an die Tagesordnung kamen und ſich durch
mein langes Leben fortſetzten, ſo daß ich vom ſieben¬
jaͤhrigen Krieg, ſodann von der Trennung Amerika's
von England, ferner von der franzoͤſiſchen Revolution,
und endlich von der ganzen Napoleoniſchen Zeit bis zum
Untergange des Helden und den folgenden Ereigniſſen
lebendiger Zeuge war. Hiedurch bin ich zu ganz ande¬
ren Reſultaten und Einſichten gekommen, als allen de¬
nen moͤglich ſeyn wird, die jetzt geboren werden und
die ſich jene großen Begebenheiten durch Buͤcher aneig¬
nen muͤſſen, die ſie nicht verſtehen.“
„Was uns die naͤchſten Jahre bringen werden, iſt
durchaus nicht vorherzuſagen; doch ich fuͤrchte, wir
kommen ſo bald nicht zur Ruhe. Es iſt der Welt
nicht gegeben, ſich zu beſcheiden; den Großen nicht,
daß kein Mißbrauch der Gewalt Statt finde, und der
Maſſe nicht, daß ſie in Erwartung allmaͤhlicher Verbeſ¬
ſerungen mit einem maͤßigen Zuſtande ſich begnuͤge.
Koͤnnte man die Menſchheit vollkommen machen, ſo
waͤre auch ein vollkommener Zuſtand denkbar; ſo aber
wird es ewig heruͤber und hinuͤber ſchwanken, der eine
[119] Theil wird leiden, waͤhrend der andere ſich wohl befin¬
det, Egoismus und Neid werden als boͤſe Daͤmonen
immer ihr Spiel treiben und der Kampf der Parteyen
wird kein Ende haben.“
„Das Vernuͤnftigſte iſt immer, daß jeder ſein Me¬
tier treibe, wozu er geboren iſt und was er gelernt
hat, und daß er den Andern nicht hindere, das Seinige
zu thun. Der Schuſter bleibe bey ſeinem Leiſten, der
Bauer hinter dem Pflug und der Fuͤrſt wiſſe zu regie¬
ren. Denn dieß iſt auch ein Metier, das gelernt ſeyn
will, und das ſich niemand anmaßen ſoll, der es nicht
verſteht.“
Goethe kam darauf wieder auf die franzoͤſiſchen
Zeitungen. „Die Liberalen, ſagte er, moͤgen reden;
denn wenn ſie vernuͤnftig ſind, hoͤrt man ihnen gerne
zu; allein den Royaliſten, in deren Haͤnden die aus¬
uͤbende Gewalt iſt, ſteht das Reden ſchlecht, ſie muͤſſen
handeln. Moͤgen ſie Truppen marſchiren laſſen und
koͤpfen und haͤngen, das iſt recht; allein in oͤffentlichen
Blaͤttern Meinungen bekaͤmpfen und ihre Maßregeln
rechtfertigen, das will ihnen nicht kleiden. Gaͤbe es ein
Publicum von Koͤnigen, da moͤchten ſie reden.“
„In dem, was ich ſelber zu thun und zu treiben
hatte, fuhr Goethe fort, habe ich mich immer als Roya¬
liſt behauptet. Die Anderen habe ich ſchwatzen laſſen
und ich habe gethan, was ich fuͤr gut fand. Ich uͤber¬
ſah meine Sache und wußte wohin ich wollte. Hatte
[120] ich als Einzelner einen Fehler begangen, ſo konnte ich
ihn wieder gut machen; haͤtte ich ihn aber zu dreyen
und mehreren begangen, ſo waͤre ein Gutmachen un¬
moͤglich geweſen, denn unter Vielen iſt zu vielerley
Meinung.“
Darauf bey Tiſch war Goethe von der heiterſten
Laune. Er zeigte mir das Stammbuch der Frau von
Spiegel, worin er ſehr ſchoͤne Verſe geſchrieben. Es
war ein Platz fuͤr ihn zwey Jahre lang offen gelaſſen
und er war nun froh, daß es ihm gelungen, ein altes
Verſprechen endlich zu erfuͤllen. Nachdem ich das Ge¬
dicht an Frau von Spiegel geleſen, blaͤtterte ich in dem
Buche weiter, wobey ich auf manchen bedeutenden
Namen ſtieß. Gleich auf der naͤchſten Seite ſtand ein
Gedicht von Tiedge, ganz in der Geſinnung und dem
Tone ſeiner Urania geſchrieben. „In einer Anwandlung
von Verwegenheit, ſagte Goethe, war ich im Begriff
einige Verſe darunter zu ſetzen; es freut mich aber, daß
ich es unterlaſſen, denn es iſt nicht das erſte Mal, daß
ich durch ruͤckhaltloſe Äußerungen gute Menſchen zuruͤck¬
geſtoßen und die Wirkung meiner beſten Sachen verdor¬
ben habe.“
„Indeſſen, fuhr Goethe fort, habe ich von Tiedge's
Urania nicht wenig auszuſtehen gehabt; denn es gab
eine Zeit, wo nichts geſungen und nichts declamirt
wurde als die Urania. Wo man hinkam, fand man
die Urania auf allen Tiſchen; die Urania und die Un¬
[121] ſterblichkeit war der Gegenſtand jeder Unterhaltung. Ich
moͤchte keineswegs das Gluͤck entbehren an eine kuͤnftige
Fortdauer zu glauben; ja ich moͤchte mit Lorenzo von
Medici ſagen, daß alle diejenigen auch fuͤr dieſes Le¬
ben todt ſind, die kein anderes hoffen; allein ſolche
unbegreifliche Dinge liegen zu fern, um ein Gegen¬
ſtand taͤglicher Betrachtung und gedankenzerſtoͤrender
Speculation zu ſeyn. Und ferner: wer eine Fortdauer
glaubt, der ſey gluͤcklich im Stillen, aber er hat nicht
Urſache ſich darauf etwas einzubilden. Bey Gelegenheit
von Tiedge's Urania indeß machte ich die Bemerkung,
daß, eben wie der Adel, ſo auch die Frommen eine
gewiſſe Ariſtokratie bilden. Ich fand dumme Weiber,
die ſtolz waren weil ſie mit Tiedge an Unſterblichkeit
glaubten, und ich mußte es leiden, daß manche mich
uͤber dieſen Punkt auf eine ſehr duͤnkelhafte Weiſe exa¬
minirte. Ich aͤrgerte ſie aber, indem ich ſagte: es koͤnne
mir ganz recht ſeyn, wenn nach Ablauf dieſes Lebens
uns ein abermaliges begluͤcke; allein ich wolle mir aus¬
bitten, daß mir druͤben niemand von denen begegne,
die hier daran geglaubt haͤtten. Denn ſonſt wuͤrde
meine Plage erſt recht angehen! Die Frommen wuͤrden
um mich herumkommen und ſagen: haben wir nicht
Recht gehabt? haben wir es nicht vorhergeſagt? iſt es
nicht eingetroffen? Und damit wuͤrde denn auch druͤben
der Langenweile kein Ende ſeyn.“
„Die Beſchaͤftigung mit Unſterblichkeits-Ideen, fuhr
[122] Goethe fort, iſt fuͤr vornehme Staͤnde und beſonders
fuͤr Frauenzimmrr, die nichts zu thun haben. Ein tuͤch¬
tiger Menſch aber, der ſchon hier etwas Ordentliches
zu ſeyn gedenkt und der daher taͤglich zu ſtreben, zu
kaͤmpfen und zu wirken hat, laͤßt die kuͤnftige Welt
auf ſich beruhen, und iſt thaͤtig und nuͤtzlich in dieſer.
Ferner ſind Unſterblichkeits-Gedanken fuͤr ſolche, die in
Hinſicht auf Gluͤck hier nicht zum Beſten weggekommen
ſind, und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein
beſſeres Geſchick haͤtte, ſo haͤtte er auch beſſere Ge¬
danken.“
Mit Goethe zu Tiſch. — Nachdem gegeſſen und
abgeraͤumt war, ließ er durch Stadelmann große Porte¬
feuille's mit Kupferſtichen herbeyſchleppen. Auf den
Mappen hatte ſich einiger Staub geſammelt, und da
keine paſſende Tuͤcher zum Abwiſchen in der Naͤhe wa¬
ren, ſo ward Goethe unwillig und ſchalt ſeinen Diener.
„Ich erinnere Dich zum letzten Mal, ſagte er, denn
gehſt Du nicht noch heute, die oft verlangten Tuͤcher
zu kaufen, ſo gehe ich morgen ſelbſt, und Du ſollſt
ſehen, daß ich Wort halte.“ Stadelmann ging.
„Ich hatte einmal einen aͤhnlichen Fall mit dem
Schauſpieler Becker, fuhr Goethe gegen mich heiter fort,
[123] der ſich weigerte, einen Reiter im Wallenſtein zu ſpielen.
Ich ließ ihm aber ſagen, wenn er die Rolle nicht ſpie¬
len wolle, ſo wuͤrde ich ſie ſelber ſpielen. Das wirkte.
Denn ſie kannten mich beym Theater und wußten, daß
ich in ſolchen Dingen keinen Spaß verſtand, und daß
ich verruͤckt genug war, mein Wort zu halten und das
Tollſte zu thun.“
Und wuͤrden Sie im Ernſt die Rolle geſpielt haben?
fragte ich.
„Ja, ſagte Goethe, ich haͤtte ſie geſpielt und wuͤrde
den Herrn Becker herunter geſpielt haben, denn ich
kannte die Rolle beſſer als er.“
Wir oͤffneten darauf die Mappen und ſchritten zur
Betrachtung der Kupfer und Zeichnungen. Goethe ver¬
faͤhrt hiebey in Bezug auf mich ſehr ſorgfaͤltig, und ich
fuͤhle, daß es ſeine Abſicht iſt, mich in der Kunſtbe¬
trachtung auf eine hoͤhere Stufe der Einſicht zu bringen.
Nur das in ſeiner Art durchaus Vollendete zeigt er
mir und macht mir des Kuͤnſtlers Intention und Ver¬
dienſt deutlich, damit ich erreichen moͤge, die Gedanken
der Beſten nachzudenken und den Beſten gleich zu em¬
pfinden. „Dadurch, ſagte er heute, bildet ſich das,
was wir Geſchmack nennen. Denn den Geſchmack kann
man nicht am Mittelgut bilden, ſondern nur am Aller¬
vorzuͤglichſten. Ich zeige Ihnen daher nur das Beſte;
und wenn Sie ſich darin befeſtigen, ſo haben Sie einen
Maßſtab fuͤr das Übrige, das Sie nicht uͤberſchaͤtzen,
[124] aber doch ſchaͤtzen werden. Und ich zeige Ihnen das
Beſte in jeder Gattung, damit Sie ſehen, daß keine
Gattung gering zu achten, ſondern daß jede erfreulich
iſt, ſobald ein großes Talent darin den Gipfel erreichte.
Dieſes Bild eines franzoͤſiſchen Kuͤnſtlers z. B. iſt galant
wie kein anderes und daher ein Muſterſtuͤck ſeiner Art.“
Goethe reichte mir das Blatt und ich ſah es mit
Freuden. In einem reizenden Zimmer eines Sommer¬
palais, wo man durch offene Fenſter und Thuͤren die
Ausſicht in den Garten hat, ſieht man eine Gruppe
der anmuthigſten Perſonen. Eine ſitzende ſchoͤne Frau
von etwa dreyßig Jahren haͤlt ein Notenbuch, woraus
ſie ſo eben geſungen zu haben ſcheint. Etwas tiefer,
an ihrer Seite ſitzend, lehnt ſich ein junges Maͤdchen
von etwa fuͤnfzehn. Ruͤckwaͤrts am offenen Fenſter ſteht
eine andere junge Dame; ſie haͤlt eine Laute und ſcheint
noch Toͤne zu greifen. In dieſem Augenblick iſt ein
junger Herr hereingetreten, auf den die Blicke der Frauen
ſich richten; er ſcheint die muſikaliſche Unterhaltung unter¬
brochen zu haben, und, indem er mit einer leichten
Verbeugung vor ihnen ſteht, macht er den Eindruck,
als ſagte er entſchuldigende Worte, die von den Frauen
mit Wohlgefallen gehoͤrt werden.
„Das, daͤchte ich, ſagte Goethe, waͤre ſo galant,
wie irgend ein Stuͤck von Calderon, und Sie haben
nun in dieſer Art das Vorzuͤglichſte geſehen. Was
aber ſagen Sie hiezu?“
Mit dieſen Worten reichte er mir einige radirte
Blaͤtter des beruͤhmten Thiermalers Roos; lauter
Schafe, und dieſe Thiere in allen ihren Lagen und Zu¬
ſtaͤnden. Das Einfaͤltige der Phyſiognomieen, das Haͤ߬
liche, Struppige der Haare, alles mit der aͤußerſten
Wahrheit, als waͤre es die Natur ſelber.
„Mir wird immer bange, ſagte Goethe, wenn ich
dieſe Thiere anſehe. Das Beſchraͤnkte, Dumpfe, Traͤu¬
mende, Gaͤhnende ihres Zuſtandes zieht mich in das
Mitgefuͤhl deſſelben hinein; man fuͤrchtet zum Thier zu
werden, und moͤchte faſt glauben, der Kuͤnſtler ſey ſel¬
ber eins geweſen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen
Grade erſtaunenswuͤrdig, wie er ſich in die Seelen dieſer
Geſchoͤpfe hat hineindenken und hineinempfinden koͤnnen,
um den innern Character in der aͤußern Huͤlle mit ſol¬
cher Wahrheit durchblicken zu laſſen. Man ſieht aber,
was ein großes Talent machen kann, wenn es bey
Gegenſtaͤnden bleibt, die ſeiner Natur analog ſind.“
Hat denn dieſer Kuͤnſtler, ſagte ich, nicht auch
Hunde, Katzen und Raubthiere mit einer aͤhnlichen
Wahrheit gebildet? ja hat er, bey der großen Gabe
ſich in einen fremden Zuſtand hineinzufuͤhlen, nicht
auch menſchliche Charactere mit einer gleichen Treue
behandelt?
„Nein, ſagte Goethe, alles das lag außer ſeinem
Kreiſe; dagegen die frommen, grasfreſſenden Thiere, wie
Schafe, Ziegen, Kuͤhe und dergleichen, ward er nicht
[126] muͤde ewig zu wiederholen; dieß war ſeines Talentes
eigentliche Region, aus der er auch zeitlebens nicht her¬
ausging. Und daran that er wohl! Das Mitgefuͤhl
der Zuſtaͤnde dieſer Thiere war ihm angeboren, die
Kenntniß ihres Pſychologiſchen war ihm gegeben, und
ſo hatte er denn auch fuͤr deren Koͤrperliches ein ſo
gluͤckliches Auge. Andere Geſchoͤpfe dagegen waren ihm
vielleicht nicht ſo durchſichtig und es fehlte ihm daher
zu ihrer Darſtellung ſowohl Beruf als Trieb.“
Durch dieſe Äußerung Goethe's ward manches Ana¬
loge in mir aufgeregt, das mir wieder lebhaft vor die
Seele trat. So hatte er mir vor einiger Zeit geſagt,
daß dem echten Dichter die Kenntniß der Welt ange¬
boren ſey und daß er zu ihrer Darſtellung keineswegs
vieler Erfahrung und einer großen Empirie beduͤrfe.
„Ich ſchrieb meinen Goͤtz von Berlichingen, ſagte er,
als junger Menſch von zwey und zwanzig, und erſtaunte
zehn Jahre ſpaͤter uͤber die Wahrheit meiner Darſtellung.
Erlebt und geſehen hatte ich bekanntlich dergleichen nicht
und ich mußte alſo die Kenntniß mannigfaltiger menſch¬
licher Zuſtaͤnde durch Anticipation beſitzen.“
„Überhaupt hatte ich nur Freude an der Darſtellung
meiner innern Welt, ehe ich die aͤußere kannte. Als
ich nachher in der Wirklichkeit fand, daß die Welt ſo
war, wie ich ſie mir gedacht hatte, war ſie mir ver¬
drießlich und ich hatte keine Luſt mehr ſie darzuſtellen.
Ja ich moͤchte ſagen: haͤtte ich mit Darſtellung der
[127] Welt ſo lange gewartet, bis ich ſie kannte ſo waͤre
meine Darſtellung Perſiflage geworden.“
„Es liegt in den Characteren, ſagte er ein ander
Mal, eine gewiſſe Nothwendigkeit, eine gewiſſe Conſequenz,
vermoͤge welcher bey dieſem oder jenem Grundzuge eines
Characters gewiſſe ſecundaͤre Zuͤge Statt finden. Dieſes
lehrt die Empirie genugſam, es kann aber auch einzelnen
Individuen die Kenntniß davon angeboren ſeyn. Ob
bey mir Angeborenes und Erfahrung ſich vereinige, will
ich nicht unterſuchen; aber ſo viel weiß ich: wenn ich
jemanden eine Viertelſtunde geſprochen habe, ſo will ich
ihn zwey Stunden reden laſſen.“
So hatte Goethe von Lord Byron geſagt, daß ihm
die Welt durchſichtig ſey und daß ihm ihre Darſtellung
durch Anticipation moͤglich. Ich aͤußerte darauf einige
Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen moͤchte, eine
untergeordnete thieriſche Natur darzuſtellen, indem ſeine
Individualitaͤt mir zu gewaltſam erſcheine, um ſich ſol¬
chen Gegenſtaͤnden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab
dieſes zu und erwiederte, daß die Anticipation ſich uͤber¬
all nur ſoweit erſtrecke, als die Gegenſtaͤnde dem Talent
analog ſeyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬
haͤltniß, wie die Anticipation beſchraͤnkt oder umfaſſend
ſey, das darſtellende Talent ſelbſt von groͤßerem oder
geringerem Umfange befunden werde.
Wenn Eure Excellenz behaupten, ſagte ich darauf,
daß dem Dichter die Welt angeboren ſey, ſo haben Sie
[128] wohl nur die Welt des Innern dabey im Sinne, aber
nicht die empiriſche Welt der Erſcheinung und Convenienz;
und wenn alſo dem Dichter eine wahre Darſtellung
derſelben gelingen ſoll, ſo muß doch wohl die Erforſchung
des Wirklichen hinzukommen?
„Allerdings, erwiederte Goethe, es iſt ſo. — Die
Region der Liebe, des Haſſes, der Hoffnung, der
Verzweiflung und wie die Zuſtaͤnde und Leidenſchaften
der Seele heißen, iſt dem Dichter angeboren und ihre
Darſtellung gelingt ihm. Es iſt aber nicht angeboren:
wie man Gericht haͤlt, oder wie man im Parlament
oder bey einer Kaiſerkroͤnung verfaͤhrt, und um nicht
gegen die Wahrheit ſolcher Dinge zu verſtoßen, muß
der Dichter ſie aus Erfahrung oder Überlieferung ſich
aneignen. So konnte ich im Fauſt den duͤſtern Zuſtand
des Lebensuͤberdruſſes im Helden, ſo wie die Liebes¬
empfindungen Gretchens recht gut durch Anticipation in
meiner Macht haben; allein um z. B. zu ſagen:
Des ſpaͤten Monds mit feuchter Glut heran,’
bedurfte es einiger Beobachtung der Natur.“
Es iſt aber, ſagte ich, im ganzen Fauſt keine Zeile,
die nicht von ſorgfaͤltiger Durchforſchung der Welt und
des Lebens unverkennbare Spuren truͤge, und man
wird keineswegs erinnert, als ſey Ihnen das alles, ohne
die reichſte Erfahrung, nur ſo geſchenkt worden.
[129]
„Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht
die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich
waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬
forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein
ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da
und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein
Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden
wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“
„Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die
nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬
moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬
maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen.
Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man
ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht,
allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.“
Ich brachte das Geſpraͤch auf Ramberg. „Das
iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe,
ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬
ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte
einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm
den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath
zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm
unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬
I. 9[130] ten. Sie werden zugeben, daß dieß ein Gegenſtand
der allerſchwierigſten Sorte iſt, der bey einem ande¬
ren Kuͤnſtler die reiflichſte Überlegung wuͤrde erfordert
haben. Ich hatte aber kaum das Wort ausgeſprochen,
als Ramberg ſchon an zu zeichnen fing, und zwar
mußte ich bewundern, wie er den Gegenſtand ſogleich
richtig auffaßte. Ich kann nicht laͤugnen, ich moͤchte
einige Blaͤtter von Rambergs Hand beſitzen.“
Wir ſprachen ſodann uͤber andere Kuͤnſtler, die in
ihren Werken leichtſinnig verfahren und zuletzt in Ma¬
nier zu Grunde gehen.
„Die Manier, ſagte Goethe, will immer fertig ſeyn
und hat keinen Genuß an der Arbeit. Das echte, wahr¬
haft große Talent aber findet ſein hoͤchſtes Gluͤck in der
Ausfuͤhrung. Roos iſt unermuͤdlich in emſiger Zeich¬
nung der Haare und Wolle ſeiner Ziegen und Schafe,
und man ſieht an dem unendlichen Detail, daß er
waͤhrend der Arbeit die reinſte Seligkeit genoß und
nicht daran dachte fertig zu werden.“
„Geringeren Talenten genuͤgt nicht die Kunſt als
ſolche; ſie haben waͤhrend der Ausfuͤhrung immer nur
den Gewinn vor Augen, den ſie durch ein fertiges
Werk zu erreichen hoffen. Bey ſo weltlichen Zwecken
und Richtungen aber kann nichts Großes zu Stande
kommen.“
[131]
Ich ging um zwoͤlf Uhr zu Goethe, der mich vor
Tiſch zu einer Spazierfahrt hatte einladen laſſen. Ich
fand ihn fruͤhſtuͤckend als ich zu ihm hereintrat, und
ſetzte mich ihm gegenuͤber, indem ich das Geſpraͤch auf
die Arbeiten brachte, die uns gemeinſchaftlich in Bezug
auf die neue Ausgabe ſeiner Werke beſchaͤftigen. Ich
redete ihm zu, ſowohl ſeine Goͤtter, Helden und
Wieland als auch ſeine Briefe des Paſtors in
dieſe neue Edition mit aufzunehmen.
„Ich habe, ſagte Goethe, auf meinem jetzigen Stand¬
punct uͤber jene jugendlichen Productionen eigentlich kein
Urtheil. Da moͤgt Ihr Juͤngeren entſcheiden. Ich will
indeß jene Anfaͤnge nicht ſchelten; ich war freylich noch
dunkel und ſtrebte in bewußtloſem Drange vor mir hin,
aber ich hatte ein Gefuͤhl des Rechten, eine Wuͤnſchel¬
ruthe, die mir anzeigte wo Gold war.“
Ich machte bemerklich, daß dieſes bey jedem großen
Talent der Fall ſeyn muͤſſe, indem es ſonſt bey ſeinem
Erwachen in der gemiſchten Welt, nicht das Rechte er¬
greifen und das Verkehrte vermeiden wuͤrde.
Es war indeß angeſpannt und wir fuhren den Weg
nach Jena hinaus. Wir ſprachen verſchiedene Dinge,
Goethe erwaͤhnte die neuen franzoͤſiſchen Zeitungen.
„Die Conſtitution in Frankreich, ſagte er, bey einem
9 *[132] Volke, das ſo viele verdorbene Elemente in ſich hat,
ruht auf ganz anderem Fundament als die in England.
Es iſt in Frankreich alles durch Beſtechungen zu errei¬
chen; ja die ganze franzoͤſiſche Revolution iſt durch Be¬
ſtechungen geleitet worden.“
Darauf erzaͤhlte mir Goethe die Nachricht von dem
Tode Eugen Napoleons (Herzog von Leuchtenberg),
die dieſen Morgen eingegangen, welcher Fall ihn tief zu
betruͤben ſchien. „Er war einer von den großen Cha¬
racteren, ſagte Goethe, die immer ſeltener werden, und
die Welt iſt abermals um einen bedeutenden Menſchen
aͤrmer. Ich kannte ihn perſoͤnlich; noch vorigen Sommer
war ich mit ihm in Marienbad zuſammen. Er war ein
ſchoͤner Mann von etwa zwey und vierzig Jahren, aber
er ſchien aͤlter zu ſeyn, und das war kein Wunder,
wenn man bedenkt, was er ausgeſtanden und wie in
ſeinem Leben ſich ein Feldzug und eine große That
auf die andere draͤngte. Er theilte mir in Marienbad
einen Plan mit, uͤber deſſen Ausfuͤhrung er viel mit
mir verhandelte. Er ging naͤmlich damit um, den Rhein
mit der Donau durch einen Canal zu vereinigen. Ein
rieſenhaftes Unternehmen! wenn man die widerſtrebende
Localitaͤt bedenkt. Aber jemandem, der unter Napoleon
gedient und mit ihm die Welt erſchuͤttert hat, erſcheint
nichts unmoͤglich. Carl der Große hatte ſchon denſel¬
bigen Plan und ließ auch mit der Arbeit anfangen,
allein das Unternehmen gerieth bald in Stocken: der
[133] Sand wollte nicht Stich halten, die Erdmaſſen fielen
von beyden Seiten immer wieder zuſammen.“
Mit Goethe vor Tiſch nach ſeinem Garten gefahren.
Die Lage dieſes Gartens, jenſeits der Ilm, in der
Naͤhe des Parks, an dem weſtlichen Abhange eines
Huͤgelzuges, hat etwas ſehr Trauliches. Vor Nord-
und Oſtwinden geſchuͤtzt, iſt er den erwaͤrmenden und
belebenden Einwirkungen des ſuͤdlichen und weſtlichen
Himmels offen, welches ihn, beſonders im Herbſt und
Fruͤhling, zu einem hoͤchſt angenehmen Aufenthalte macht.
Der in nordweſtlicher Richtung liegenden Stadt iſt
man ſo nahe, daß man in wenigen Minuten dort ſeyn
kann, und doch, wenn man umherblickt, ſieht man nir¬
gend ein Gebaͤude oder eine Thurmſpitze ragen, die an
eine ſolche ſtaͤdtiſche Naͤhe erinnern koͤnnte; die hohen
dichten Baͤume des Parks verhuͤllen alle Ausſicht nach
jener Seite. Sie ziehen ſich links, nach Norden zu, unter
dem Namen des Sternes, ganz nahe an den Fahrweg
heran, der unmittelbar vor dem Garten voruͤberfuͤhrt.
Gegen Weſten und Suͤdweſten blickt man frey uͤber
eine geraͤumige Wieſe hin, durch welche, in der Ent¬
fernung eines guten Pfeilſchuſſes, die Ilm in ſtillen
Windungen vorbeygeht. Jenſeits des Fluſſes erhebt ſich
[134] das Ufer gleichfalls huͤgelartig, an deſſen Abhaͤngen und
auf deſſen Hoͤhe, in den mannigfaltigen Laub-Schatti¬
rungen hoher Erlen, Eſchen, Pappelweiden und Birken,
der ſich breit hinziehende Park gruͤnet, indem er den
Horizont gegen Mittag und Abend in erfreulicher Ent¬
fernung begrenzet.
Dieſe Anſicht des Parkes uͤber die Wieſe hin, be¬
ſonders im Sommer, gewaͤhrt den Eindruck, als ſey
man in der Naͤhe eines Waldes, der ſich Stundenweit
ausdehnt. Man denkt, es muͤſſe jeden Augenblick ein
Hirſch, ein Reh auf die Wieſenflaͤche hervorkommen.
Man fuͤhlt ſich in den Frieden tiefer Natureinſamkeit
verſetzt, denn die große Stille iſt oft durch nichts unter¬
brochen, als durch die einſamen Toͤne der Amſel oder
durch den pauſenweiſe abwechſelnden Geſang einer Wald¬
droſſel.
Aus ſolchen Traͤumen gaͤnzlicher Abgeſchiedenheit er¬
wecket uns jedoch das gelegentliche Schlagen der Thurm¬
uhr, das Geſchrey der Pfauen von der Hoͤhe des Parks
heruͤber, oder das Trommeln und Hoͤrnerblaſen des
Militairs der Caſerne. Und zwar nicht unangenehm;
denn es erwacht mit ſolchen Toͤnen das behagliche Naͤhe¬
gefuͤhl der heimatlichen Stadt, von der man ſich meilen¬
weit verſetzt glaubte.
Zu gewiſſen Tages- und Jahres-Zeiten ſind dieſe
Wieſenflaͤchen nichts weniger als einſam. Bald ſieht
man Landleute, die nach Weimar zu Markt oder in
[135] Arbeit gehen und von dort zuruͤckkommen; bald Spa¬
ziergaͤnger aller Art laͤngs den Kruͤmmungen der Ilm,
beſonders in der Richtung nach Oberweimar, das zu ge¬
wiſſen Tagen ein ſehr beſuchter Ort iſt. Sodann die
Zeit der Heuerndte belebt dieſe Raͤume auf das Heiterſte.
Hinterdrein ſieht man weidende Schafherden, auch wohl
die ſtattlichen Schweizerkuͤhe der nahen Oeconomie.
Heute jedoch war von allen dieſen die Sinne er¬
quickenden Sommer-Erſcheinungen noch keine Spur.
Auf den Wieſen waren kaum einige gruͤnende Stellen
ſichtbar, die Baͤume des Parks ſtanden noch in braunen
Zweigen und Knospen; doch verkuͤndigte der Schlag der
Finken, ſo wie der hin und wieder vernehmbare Geſang
der Amſel und Droſſel das Herannahen des Fruͤhlings.
Die Luft war ſommerartig, angenehm; es wehte
ein ſehr linder Suͤdweſtwind. Einzelne kleine Gewitter¬
wolken zogen am heitern Himmel heruͤber; ſehr hoch
bemerkte man ſich aufloͤſende Cirrus-Streifen. Wir be¬
trachteten die Wolken genau und ſahen, daß ſich die
ziehenden geballten der untern Region gleichfalls auf¬
loͤſten, woraus Goethe ſchloß, daß das Barometer im
Steigen begriffen ſeyn muͤſſe.
Goethe ſprach darauf ſehr viel uͤber das Steigen
und Fallen des Barometers, welches er die Waſſerbe¬
jahung und Waſſerverneinung nannte. Er ſprach uͤber
das Ein- und Ausathmen der Erde nach ewigen Ge¬
ſetzen; uͤber eine moͤgliche Suͤndfluth bey fortwaͤhrender
[136] Waſſerbejahung. Ferner: daß jeder Ort ſeine eigene
Atmoſphaͤre habe, daß jedoch in den Barometerſtaͤnden
von Europa eine große Gleichheit Statt finde. Die
Natur ſey incommenſurabel, und bey den großen Irre¬
gularitaͤten ſey es ſehr ſchwer das Geſetzliche zu finden.
Waͤhrend er mich ſo uͤber hoͤhere Dinge belehrte,
gingen wir in dem breiten Sandwege des Gartens auf
und ab. Wir traten in die Naͤhe des Hauſes, das er
ſeinem Diener aufzuſchließen befahl, um mir ſpaͤter das
Innere zu zeigen. Die weißabgetuͤnchten Außenſeiten
ſah ich ganz mit Roſenſtoͤcken umgeben, die, von Spa¬
lieren gehalten, ſich bis zum Dach hinaufgerankt hatten.
Ich ging um das Haus herum und bemerkte zu meinem
beſonderen Intereſſe an den Waͤnden in den Zweigen
des Roſengebuͤſches eine große Zahl mannigfaltiger Vogel¬
neſter, die ſich von vorigem Sommer her erhalten hat¬
ten und jetzt bey mangelndem Laube den Blicken frey
ſtanden. Beſonders Neſter der Haͤnflinge und verſchie¬
dener Art Graſemuͤcken, wie ſie hoͤher oder niedriger
zu bauen Neigung haben.
Goethe fuͤhrte mich darauf in das Innere des Hau¬
ſes, das ich vorigen Sommer zu ſehen verſaͤumt hatte.
Unten fand ich nur ein wohnbares Zimmer, an deſſen
Waͤnden einige Karten und Kupferſtiche hingen; de߬
gleichen ein farbiges Portrait Goethe's in Lebensgroͤße
und zwar von Meyer gemalt bald nach der Zuruͤck¬
kunft beyder Freunde aus Italien. Goethe erſcheint hier
[137] im kraͤftigen mittleren Mannesalter, ſehr braun und
etwas ſtark. Der Ausdruck des wenig belebten Geſich¬
tes iſt ſehr ernſt; man glaubt einen Mann zu ſehen,
dem die Laſt kuͤnftiger Thaten auf der Seele liegt.
Wir gingen die Treppe hinauf in die oberen Zim¬
mer; ich fand deren drey und ein Cabinetchen, aber alle
ſehr klein und ohne eigentliche Bequemlichkeit. Goethe
ſagte, daß er in fruͤheren Jahren hier eine ganze Zeit
mit Freuden gewohnt und ſehr ruhig gearbeitet habe.
Die Temperatur dieſer Zimmer war etwas kuͤhl
und wir trachteten wieder nach der milden Waͤrme im
Freyen. In dem Hauptwege in der Mittagsſonne auf-
und abgehend, kam das Geſpraͤch auf die neueſte Lite¬
ratur, auf Schelling, und unter andern auch auf einige
neue Schauſpiele von Platen.
Bald jedoch kehrte unſere Aufmerkſamkeit auf die
uns umgebende naͤchſte Natur zuruͤck. Die Kaiſerkronen
und Lilien ſproßten ſchon maͤchtig, auch kamen die Mal¬
ven zu beyden Seiten des Weges ſchon gruͤnend hervor.
Der obere Theil des Gartens, am Abhange des
Huͤgels, liegt als Wieſe mit einzelnen zerſtreut ſtehenden
Obſtbaͤumen. Wege ſchlaͤngeln ſich hinauf, laͤngs der
Hoͤhe hin und wieder herunter, welches einige Neigung
in mir erregte mich oben umzuſehen. Goethe ſchritt,
dieſe Wege hinanſteigend, mir raſch voran und ich freute
mich uͤber ſeine Ruͤſtigkeit.
Oben an der Hecke fanden wir eine Pfauhenne, die
[138] vom fuͤrſtlichen Park heruͤbergekommen zu ſeyn ſchien;
wobey Goethe mir ſagte, daß er in Sommertagen die
Pfauen durch ein beliebtes Futter heruͤberzulocken und
herzugewoͤhnen pflege.
An der anderen Seite den ſich ſchlaͤngelnden Weg
herabkommend, fand ich von Gebuͤſch umgeben einen
Stein mit den eingehauenen Verſen des bekannten
Gedichtes:
und ich hatte das Gefuͤhl, daß ich mich an einer claſſi¬
ſchen Stelle befinde.
Ganz nahe dabey kamen wir auf eine Baumgruppe
halbwuͤchſiger Eichen, Tannen, Birken und Buchen.
Unter den Tannen fand ich ein herabgeworfenes Gewoͤlle
eines Raubvogels; ich zeigte es Goethen, der mir er¬
wiederte, daß er dergleichen an dieſer Stelle haͤufig ge¬
funden, woraus ich ſchloß, daß dieſe Tannen ein be¬
liebter Aufenthalt einiger Eulen ſeyn moͤgen, die in
dieſer Gegend haͤufig gefunden werden.
Wir traten um die Baumgruppe herum und befan¬
den uns wieder an dem Hauptwege in der Naͤhe des
Hauſes. Die ſo eben umſchrittenen Eichen, Tannen,
Birken und Buchen, wie ſie untermiſcht ſtehen, bilden
hier einen Halbkreis, den innern Raum grottenartig
uͤberwoͤlbend, worin wir uns auf kleinen Stuͤhlen ſetzten
die einen runden Tiſch umgaben. Die Sonne war ſo
maͤchtig, daß der geringe Schatten dieſer blaͤtterloſen
[139] Baͤume bereits als eine Wohlthat empfunden ward
„Bey großer Sommerhitze, ſagte Goethe, weiß ich keine
beſſere Zuflucht als dieſe Stelle. Ich habe die Baͤume
vor vierzig Jahren alle eigenhaͤndig gepflanzt, ich habe
die Freude gehabt, ſie heranwachſen zu ſehen und ge¬
nieße nun ſchon ſeit geraumer Zeit die Erquickung ihres
Schattens. Das Laub dieſer Eichen und Buchen iſt
der maͤchtigſten Sonne undurchdringlich; ich ſitze hier
gerne an warmen Sommertagen nach Tiſche, wo denn
auf dieſen Wieſen und auf dem ganzen Park umher oft
eine Stille herrſcht, von der die Alten ſagen wuͤrden:
daß der Pan ſchlafe.“
Indeſſen hoͤrten wir es in der Stadt zwey Uhr
ſchlagen und fuhren zuruͤck.
Abends bey Goethe. — Ich war alleine mit ihm,
wir ſprachen vielerley und tranken eine Flaſche Wein
dazu. Wir ſprachen uͤber das franzoͤſiſche Theater im
Gegenſatz zum deutſchen.
„Es wird ſchwer halten, ſagte Goethe, daß das
deutſche Publicum zu einer Art von reinem Urtheil
komme, wie man es etwa in Italien und Frankreich
findet. Und zwar iſt uns beſonders hinderlich, daß auf
unſeren Buͤhnen alles durch einander gegeben wird. An
[140] derſelbigen Stelle, wo wir geſtern den Hamlet ſahen,
ſehen wir heute den Staberle, und wo uns morgen
die Zauberfloͤte entzuͤckt, ſollen wir uͤbermorgen an den
Spaͤßen des neuen Sonntagskindes Gefallen finden.
Dadurch entſteht beym Publicum eine Confuſion im
Urtheil, eine Vermengung der verſchiedenen Gattungen,
die es nie gehoͤrig ſchaͤtzen und begreifen lernt. Und
dann hat Jeder ſeine individuellen Forderungen und
ſeine perſoͤnlichen Wuͤnſche, mit denen er ſich wieder
nach der Stelle wendet, wo er ſie realiſirt fand. An
demſelbigen Baum, wo er heute Feigen gepfluͤckt, will
er ſie morgen wieder pfluͤcken, und er wuͤrde ein ſehr
verdrießliches Geſicht machen, wenn etwa uͤber Nacht
Schlehen gewachſen waͤren. Iſt aber jemand Freund
von Schlehen, der wendet ſich an die Dornen.“
„Schiller hatte den guten Gedanken, ein eigenes
Haus fuͤr die Tragoͤdie zu bauen, auch jede Woche ein
Stuͤck bloß fuͤr Maͤnner zu geben. Allein dieß ſetzte
eine ſehr große Reſidenz voraus und war in unſern
kleinen Verhaͤltniſſen nicht zu realiſiren.“
Wir ſprachen uͤber die Stuͤcke von Iffland und
Kotzebue, die Goethe in ihrer Art ſehr hoch ſchaͤtzte.
„Eben aus dem gedachten Fehler, ſagte er, daß niemand
die Gattungen gehoͤrig unterſcheidet, ſind die Stuͤcke
jener Maͤnner oft ſehr ungerechter Weiſe getadelt wor¬
den. Man kann aber lange warten, ehe ein paar ſo
populare Talente wieder kommen.“
Ich lobte Ifflands Hageſtolzen, die mir von der
Buͤhne herunter ſehr wohl gefallen hatten. „Es iſt
ohne Frage Ifflands beſtes Stuͤck, ſagte Goethe; es iſt
das einzige, wo er aus der Proſa ins Ideelle geht.“
Er erzaͤhlte mir darauf von einem Stuͤck, welches
er mit Schiller als Fortſetzung der Hageſtolzen gemacht,
aber nicht geſchrieben, ſondern bloß geſpraͤchsweiſe ge¬
macht. Goethe entwickelte mir die Handlung Scene fuͤr
Scene; es war ſehr artig und heiter und ich hatte da¬
ran große Freude.
Goethe ſprach darauf uͤber einige neue Schauſpiele
von Platen. „Man ſieht, ſagte er, an dieſen Stuͤk¬
ken die Einwirkung Calderons. Sie ſind durchaus geiſt¬
reich und in gewiſſer Hinſicht vollendet, allein es fehlt
ihnen ein ſpecifiſches Gewicht, eine gewiſſe Schwere
des Gehalts. Sie ſind nicht der Art, um im Gemuͤth
des Leſers ein tiefes und nachwirkendes Intereſſe zu
erregen, vielmehr beruͤhren ſie die Saiten unſeres In¬
nern nur leicht und voruͤbereilend. Sie gleichen dem
Kork, der, auf dem Waſſer ſchwimmend, keinen Ein¬
druck macht, ſondern von der Oberflaͤche ſehr leicht ge¬
tragen wird.“
„Der Deutſche verlangt einen gewiſſen Ernſt, eine
gewiſſe Groͤße der Geſinnung, eine gewiſſe Fuͤlle des
Innern, weßhalb denn auch Schiller von allen ſo hoch
gehalten wird. Ich zweifle nun keineswegs an Platens
ſehr tuͤchtigem Character, allein das kommt, wahrſchein¬
[142] lich aus einer abweichenden Kunſtanſicht, hier nicht zur
Erſcheinung. Er entwickelt eine reiche Bildung, Geiſt,
treffenden Witz, und ſehr viele kuͤnſtleriſche Vollendung,
allein damit iſt es, beſonders bey uns Deutſchen, nicht
gethan.“
„Überhaupt: der perſoͤnliche Character des Schrift¬
ſtellers bringt ſeine Bedeutung beym Publicum hervor,
nicht die Kuͤnſte ſeines Talents. Napoleon ſagte von
Corneille: S'il vivait, je le ferais Prince! — Und er
las ihn nicht. Den Racine las er, aber von dieſem
ſagte er es nicht. Deßhalb ſteht auch der Lafontaine
bey den Franzoſen in ſo hoher Achtung, nicht ſeines
poetiſchen Verdienſtes wegen, ſondern wegen der Gro߬
heit ſeines Characters, der aus ſeinen Schriften her¬
vorgeht.“
Wir kamen ſodann auf die Wahlverwandtſchaften zu
reden, und Goethe erzaͤhlte mir von einem durchreiſenden
Englaͤnder, der ſich ſcheiden laſſen wolle, wenn er nach
England zuruͤckkaͤme. Er lachte uͤber ſolche Thorheit
und erwaͤhnte mehrerer Beyſpiele von Geſchiedenen, die
nachher doch nicht haͤtten von einander laſſen koͤnnen.
„Der ſelige Reinhard in Dresden, ſagte er, wun¬
derte ſich oft uͤber mich, daß ich in Bezug auf die Ehe
ſo ſtrenge Grundſaͤtze habe, waͤhrend ich doch in allen
uͤbrigen Dingen ſo laͤßlich denke.“
Dieſe Äußerung Goethe's war mir aus dem Grunde
merkwuͤrdig, weil ſie ganz entſchieden an den Tag legt,
[143] wie er es mit jenem ſo oft gemißdeuteten Romane
eigentlich gemeint hat.
Wir ſprachen darauf uͤber Tieck und deſſen perſoͤn¬
liche Stellung zu Goethe.
„Ich bin Tiecken herzlich gut, ſagte Goethe, und
er iſt auch im Ganzen ſehr gut gegen mich geſinnt;
allein es iſt in ſeinem Verhaͤltniß zu mir doch etwas,
wie es nicht ſeyn ſollte. Und zwar bin ich daran nicht
Schuld, und er iſt es auch nicht, ſondern es hat ſeine
Urſachen anderer Art.“
„Als naͤmlich die Schlegel anfingen bedeutend zu
werden, war ich ihnen zu maͤchtig, und um mich zu
balanciren, mußten ſie ſich nach einem Talent umſehen,
das ſie mir entgegenſtellten. Ein ſolches fanden ſie in
Tieck, und damit er mir gegenuͤber in den Augen des
Publicums genugſam bedeutend erſcheine, ſo mußten ſie
mehr aus ihm machen, als er war. Dieſes ſchadete
unſerm Verhaͤltniß; denn Tieck kam dadurch zu mir,
ohne es ſich eigentlich bewußt zu werden, in eine ſchiefe
Stellung.“
„Tieck iſt ein Talent von hoher Bedeutung und es
kann ſeine außerordentlichen Verdienſte niemand beſſer
erkennen als ich ſelber; allein wenn man ihn uͤber ihn
ſelbſt erheben und mir gleichſtellen will, ſo iſt man im
Irrthum. Ich kann dieſes gerade herausſagen, denn
was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es
waͤre eben ſo, wenn ich mich mit Shakſpeare verglei¬
[144] chen wollte, der ſich auch nicht gemacht hat, und der doch
ein Weſen hoͤherer Art iſt, zu dem ich hinaufblicke und
das ich zu verehren habe.“
Goethe war dieſen Abend beſonders kraͤftig, heiter
und aufgelegt. Er holte ein Manuſcript ungedruckter
Gedichte herbey, woraus er mir vorlas. Es war ein
Genuß ganz einziger Art ihm zuzuhoͤren, denn nicht
allein daß die originelle Kraft und Friſche der Gedichte
mich in hohem Grade anregte, ſondern Goethe zeigte
ſich auch beym Vorleſen von einer mir bisher unbe¬
kannten hoͤchſt bedeutenden Seite. Welche Mannigfal¬
tigkeit und Kraft der Stimme! welcher Ausdruck und
welches Leben des großen Geſichtes voller Falten! und
welche Augen! —
Um ein Uhr mit Goethe ſpazieren gefahren. Wir
ſprachen uͤber den Styl verſchiedener Schriftſteller.
„Den Deutſchen, ſagte Goethe, iſt im Ganzen die
philoſophiſche Speculation hinderlich, die in ihren Styl
oft ein unſinnliches, unfaßliches, breites und aufdroͤ¬
ſelndes Weſen hineinbringt. Je naͤher ſie ſich gewiſſen
philoſophiſchen Schulen hingegeben, deſto ſchlechter ſchrei¬
ben ſie. Diejenigen Deutſchen aber, die als Geſchaͤfts-
und Lebemenſchen bloß aufs Praktiſche gehen, ſchreiben
[145] am beſten. So iſt Schillers Styl am praͤchtigſten und
wirkſamſten, ſobald er nicht philoſophirt, wie ich noch
heute an ſeinen hoͤchſt bedeutenden Briefen geſehen, mit
denen ich mich grade beſchaͤftige.“
„Gleicherweiſe giebt es unter deutſchen Frauen¬
zimmern geniale Weſen, die einen ganz vortrefflichen
Styl ſchreiben, ſo daß ſie ſogar manche unſerer geprie¬
ſenen Schriftſteller darin uͤbertreffen.“
„Die Englaͤnder ſchreiben in der Regel alle gut,
als geborene Redner und als practiſche auf das Reale
gerichtete Menſchen.“
„Die Franzoſen verlaͤugnen ihren allgemeinen
Character auch in ihrem Styl nicht. Sie ſind geſelliger
Natur und vergeſſen als ſolche nie das Publicum zu
dem ſie reden; ſie bemuͤhen ſich klar zu ſeyn, um ihren
Leſer zu uͤberzeugen, und anmuthig, um ihm zu gefallen.“
„Im Ganzen iſt der Styl eines Schriftſtellers ein
treuer Abdruck ſeines Innern; will jemand einen kla¬
ren Styl ſchreiben, ſo ſey es ihm zuvor klar in ſeiner
Seele, und will jemand einen großartigen Styl
ſchreiben, ſo habe er einen großartigen Character.“
Goethe ſprach darauf uͤber ſeine Gegner und daß
dieſes Geſchlecht nie ausſterbe. „Ihre Zahl iſt Legion,
ſagte er, doch iſt es nicht unmoͤglich, ſie einigermaßen
zu claſſificiren.“
„Zuerſt nenne ich meine Gegner aus Dumm¬
heit; es ſind ſolche, die mich nicht verſtanden, und die
I. 10[146] mich tadelten, ohne mich zu kennen. Dieſe anſehnliche
Maſſe hat mir in meinem Leben viele Langeweile ge¬
macht; doch es ſoll ihnen verziehen ſeyn, denn ſie wu߬
ten nicht was ſie thaten.“
„Eine zweyte große Menge bilden ſodann meine
Neider. Dieſe Leute goͤnnen mir das Gluͤck und die
ehrenvolle Stellung nicht, die ich, durch mein Talent
mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und haͤt¬
ten mich gerne vernichtet. Waͤre ich ungluͤcklich und
elend, ſo wuͤrden ſie aufhoͤren.“
„Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus
Mangel an eigenem Succeß meine Gegner gewor¬
den. Es ſind begabte Talente darunter, allein ſie koͤn¬
nen mir nicht verzeihen, daß ich ſie verdunkele.“
„Viertens nenne ich meine Gegner aus Gruͤnden.
Denn da ich ein Menſch bin und als ſolcher menſch¬
liche Fehler und Schwaͤchen habe, ſo koͤnnen auch meine
Schriften davon nicht frey ſeyn. Da es mir aber mit
meiner Bildung ernſt war und ich an meiner Veredelung
unablaͤſſig arbeitete, ſo war ich im beſtaͤndigen Fort¬
ſtreben begriffen, und es ereignete ſich oft, daß ſie
mich wegen eines Fehlers tadelten, den ich laͤngſt abge¬
legt hatte. Dieſe Guten haben mich am wenigſten ver¬
letzt; ſie ſchoſſen nach mir, wenn ich ſchon meilenweit
von ihnen entfernt war. Überhaupt war ein abgemach¬
tes Werk mir ziemlich gleichguͤltig; ich befaßte mich
nicht weiter damit und dachte ſogleich an etwas Neues.
[147]
„Eine fernere große Maſſe zeigt ſich als meine
Gegner aus abweichender Denkungsweiſe und
verſchiedenen Anſichten. Man ſagt von den Blaͤt¬
tern eines Baumes, daß deren kaum zwey vollkommen
gleich befunden werden, und ſo moͤchten ſich auch unter
tauſend Menſchen kaum zwey finden, die in ihrer Ge¬
ſinnungs- und Denkungsweiſe vollkommen harmoniren.
Setze ich dieſes voraus, ſo ſollte ich mich billig weniger
daruͤber wundern, daß die Zahl meiner Widerſacher
ſo groß iſt, als vielmehr daruͤber, daß ich noch ſo viele
Freunde und Anhaͤnger habe. Meine ganze Zeit wich
vor mir ab, denn ſie war ganz in ſubjectiver Richtung
begriffen, waͤhrend ich in meinem objectiven Beſtreben
im Nachtheile und voͤllig allein ſtand.“
„Schiller hatte in dieſer Hinſicht vor mir große
Avantagen. Ein wohlmeinender General gab mir daher
einſt nicht undeutlich zu verſtehen, ich moͤchte es doch
machen, wie Schiller. Darauf ſetzte ich ihm Schillers
Verdienſte erſt recht auseinander, denn ich kannte ſie
doch beſſer als er. Ich ging auf meinem Wege ruhig
fort, ohne mich um den Succeß weiter zu bekuͤmmern,
und von allen meinen Gegnern nahm ich ſo wenige
Notiz als moͤglich.“
Wir fuhren zuruͤck und waren darauf bey Tiſche
ſehr heiter. Frau von Goethe erzaͤhlte viel von Berlin,
woher ſie vor Kurzem gekommen; ſie ſprach mit beſon¬
derer Waͤrme von der Herzogin von Cumberland, die
10*[148] ihr viel Freundliches erwieſen. Goethe erinnerte ſich
dieſer Fuͤrſtin, die als ſehr junge Prinzeß eine Zeitlang
bey ſeiner Mutter gewohnt, mit beſonderer Neigung.
Abends hatte ich bey Goethe einen muſikaliſchen
Kunſtgenuß bedeutender Art, indem ich den Meſſias von
Haͤndel theilweiſe vortragen hoͤrte, wozu einige treffliche
Saͤnger ſich unter Eberweins Leitung vereinigt hatten.
Auch Graͤfin Caroline von Egloffſtein, Fraͤulein von
Froriep, ſo wie Frau v. Pogwiſch und Frau v. Goethe
hatten ſich den Saͤngerinnen angeſchloſſen und wirkten
dadurch zur Erfuͤllung eines lange gehegten Wunſches
von Goethe auf das Freundlichſte mit.
Goethe, in einiger Ferne ſitzend, im Zuhoͤren ver¬
tieft, verlebte einen gluͤcklichen Abend, voll Bewunderung
des großartigen Werkes.
Der groͤßte Philologe unſerer Zeit, Friedrich Au¬
guſt Wolf aus Berlin, iſt hier, auf ſeiner Durchreiſe
nach dem ſuͤdlichen Frankreich begriffen. Goethe gab ihm
zu Ehren heute ein Diner, wobey von Weimariſchen Freun¬
den: General-Superintendent Roͤhr, Canzler v. Muͤller,
Oberbaudirector Coudray, Profeſſor Riemer und Hofrath
Rehbein außer mir anweſend waren. Über Tiſch ging es
aͤußerſt heiter zu; Wolf gab manchen geiſtreichen Ein¬
[149] fall zum Beſten; Goethe, in der anmuthigſten Laune,
ſpielte immer den Gegner. „Ich kann mit Wolf nicht
anders auskommen, ſagte Goethe mir ſpaͤter, als daß
ich immer als Mephiſtopheles gegen ihn agire. Auch
geht er ſonſt mit ſeinen inneren Schaͤtzen nicht hervor.“
Die geiſtreichen Scherze uͤber Tiſch waren zu fluͤchtig
und zu ſehr die Frucht des Augenblicks, als daß man
ſich ihrer haͤtte bemaͤchtigen koͤnnen. Wolf war in witzi¬
gen und ſchlagenden Antworten und Wendungen ſehr
groß, doch kam es mir vor, als ob Goethe dennoch eine
gewiſſe Superioritaͤt uͤber ihn behauptet haͤtte.
Die Stunden bey Tiſch entſchwanden wie mit Fluͤ¬
geln und es war ſechs Uhr geworden, ehe man es ſich
verſah. Ich ging mit dem jungen Goethe ins Theater,
wo man die Zauberfloͤte gab. Spaͤter ſah ich auch
Wolf in der Loge mit dem Großherzog Carl Auguſt.
Wolf blieb bis zum 25. in Weimar, wo er in das
ſuͤdliche Frankreich abreiſte. Der Zuſtand ſeiner Geſund¬
heit war der Art, daß Goethe die innigſte Beſorgniß
uͤber ihn nicht verhehlte.
[150]
Goethe machte mir Vorwuͤrfe, daß ich eine hieſige
angeſehene Familie nicht beſucht. „Sie haͤtten, ſagte
er, im Laufe des Winters dort manchen genußreichen
Abend verleben, auch die Bekanntſchaft manches bedeu¬
tenden Fremden dort machen koͤnnen; das iſt Ihnen
nun, Gott weiß durch welche Grille, alles verloren
gegangen.“
Bey meiner erregbaren Natur, antwortete ich, und
bey meiner Dispoſition vielſeitig Intereſſe zu nehmen
und in fremde Zuſtaͤnde einzugehen, haͤtte mir nichts
laͤſtiger und verderblicher ſeyn koͤnnen, als eine zu große
Fuͤlle neuer Eindruͤcke. Ich bin nicht zu Geſellſchaften
erzogen und nicht darin hergekommen. Meine fruͤhe¬
ren Lebenszuſtaͤnde waren der Art, daß es mir iſt, als
haͤtte ich erſt ſeit der kurzen Zeit zu leben angefangen,
die ich in Ihrer Naͤhe bin. Nun iſt mir alles neu.
Jeder Theaterabend, jede Unterredung mit Ihnen macht
in meinem Innern Epoche. Was an anders cultivirten
und anders gewoͤhnten Perſonen gleichguͤltig voruͤbergeht,
iſt bey mir im hoͤchſten Grade wirkſam; und da die
Begier mich zu belehren groß iſt, ſo ergreift meine
Seele Alles mit einer gewiſſen Energie und ſaugt daraus
ſo viele Nahrung als moͤglich. Bey ſolcher Lage mei¬
nes Innern hatte ich daher im Laufe des letzten Win¬
ters am Theater und dem Verkehr mit Ihnen vollkom¬
[151] men genug, und ich haͤtte mich nicht neuen Bekannt¬
ſchaften und anderem Umgange hingeben koͤnnen, ohne
mich im Innerſten zu zerſtoͤren.
„Ihr ſeyd ein wunderlicher Chriſt, ſagte Goethe
lachend; thut, was Ihr wollt, ich will Euch gewaͤhren
laſſen.“
Und dann, fuhr ich fort, trage ich in die Geſell¬
ſchaft gewoͤhnlich meine perſoͤnlichen Neigungen und
Abneigungen, und ein gewiſſes Beduͤrfniß zu lieben und
geliebt zu werden. Ich ſuche eine Perſoͤnlichkeit, die
meiner eigenen Natur gemaͤß ſey; dieſer moͤchte ich mich
gerne hingeben und mit den Andern nichts zu thun
haben.
„Dieſe Ihre Natur-Tendenz, erwiederte Goethe, iſt
freylich nicht geſelliger Art; allein was waͤre alle Bil¬
dung, wenn wir unſere natuͤrlichen Richtungen nicht
wollten zu uͤberwinden ſuchen. Es iſt eine große Thor¬
heit, zu verlangen, daß die Menſchen zu uns harmo¬
niren ſollen. Ich habe es nie gethan. Ich habe einen
Menſchen immer nur als ein fuͤr ſich beſtehendes Indi¬
viduum angeſehen, das ich zu erforſchen und das ich in
ſeiner Eigenthuͤmlichkeit kennen zu lernen trachtete, wo¬
von ich aber durchaus keine weitere Sympathie ver¬
langte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit
jedem Menſchen umgehen zu koͤnnen, und dadurch allein
entſteht die Kenntniß mannigfaltiger Charactere, ſo wie
die noͤthige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bey
[152] widerſtrebenden Naturen muß man ſich zuſammennehmen,
um mit ihnen durchzukommen, und dadurch werden alle
die verſchiedenen Seiten in uns angeregt und zur Ent¬
wickelung und Ausbildung gebracht, ſo daß man ſich
denn bald jedem Vis-à-vis gewachſen fuͤhlt. So ſol¬
len Sie es auch machen. Sie haben dazu mehr An¬
lage als Sie ſelber glauben; und das hilft nun einmal
nichts, Sie muͤſſen in die große Welt hinein, Sie
moͤgen ſich ſtellen wie Sie wollen.“
Ich merkte mir dieſe guten Worte und nahm mir
vor, ſo viel wie moͤglich danach zu handeln.
Gegen Abend hatte Goethe mich zu einer Spazier¬
fahrt einladen laſſen. Unſer Weg ging durch Ober¬
weimar uͤber die Huͤgel, wo man gegen Weſten die
Anſicht des Parkes hat. Die Baͤume bluͤhten, die Bir¬
ken waren ſchon belaubt und die Wieſen durchaus ein
gruͤner Teppich, uͤber welche die ſinkende Sonne herſtreifte.
Wir ſuchten maleriſche Gruppen und konnten die Augen
nicht genug aufthun. Es ward bemerkt, daß weißbluͤhende
Baͤume nicht zu malen, weil ſie kein Bild machen; ſo
wie daß gruͤnende Birken nicht im Vordergrunde eines
Bildes zu gebrauchen, indem das ſchwache Laub dem
weißen Stamme nicht das Gleichgewicht zu halten ver¬
moͤge; es bilde keine große Partieen, die man durch maͤchtige
Licht- und Schatten-Maſſen herausheben koͤnne. „Ruys¬
dael, ſagte Goethe, hat daher nie belaubte Birken in den
Vordergrund geſtellt, ſondern bloße Birken-Staͤmme,
[153] abgebrochene, die kein Laub haben. Ein ſolcher Stamm
paßt vortrefflich in den Vordergrund, denn ſeine helle
Geſtalt tritt auf das maͤchtigſte heraus.“
Wir ſprachen ſodann nach fluͤchtiger Beruͤhrung an¬
derer Gegenſtaͤnde, uͤber die falſche Tendenz ſolcher Kuͤnſt¬
ler, welche die Religion zur Kunſt machen wollen,
waͤhrend ihnen die Kunſt Religion ſeyn ſollte. „Die
Religion, ſagte Goethe, ſteht in demſelbigen Verhaͤltniß
zur Kunſt, wie jedes andere hoͤhere Lebensintereſſe auch.
Sie iſt bloß als Stoff zu betrachten, der mit allen
uͤbrigen Lebens-Stoffen gleiche Rechte hat. Auch ſind
Glaube und Unglaube durchaus nicht diejenigen Organe,
mit welchen ein Kunſtwerk aufzufaſſen iſt, vielmehr ge¬
hoͤren dazu ganz andere menſchliche Kraͤfte und Faͤhig¬
keiten. Die Kunſt aber ſoll fuͤr diejenigen Organe bil¬
den, mit denen wir ſie auffaſſen; thut ſie das nicht,
ſo verfehlt ſie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche
Wirkung an uns voruͤber. Ein religioͤſer Stoff kann
indeß gleichfalls ein guter Gegenſtand fuͤr die Kunſt
ſeyn, jedoch nur in dem Fall, wenn er allgemein menſch¬
lich iſt. Deßhalb iſt eine Jungfrau mit dem Kinde ein
durchaus guter Gegenſtand, der hundertmal behandelt
worden und immer gern wieder geſehen wird.“
Wir waren indeß um das Gehoͤlz, das Webicht,
gefahren und bogen in der Naͤhe von Tiefurt in den
Weg nach Weimar zuruͤck, wo wir die untergehende
Sonne im Anblick hatten. Goethe war eine Weile in
[154] Gedanken verloren, dann ſprach er zu mir die Worte
eines Alten:
„Wenn einer fuͤnf und ſiebzig Jahre alt iſt, fuhr
er darauf mit großer Heiterkeit fort, kann es nicht feh¬
len, daß er mitunter an den Tod denke. Mich laͤßt
dieſer Gedanke in voͤlliger Ruhe, denn ich habe die feſte
Überzeugung, daß unſer Geiſt ein Weſen iſt ganz un¬
zerſtoͤrbarer Natur; es iſt ein fortwirkendes von Ewigkeit
zu Ewigkeit. Es iſt der Sonne aͤhnlich, die bloß un¬
ſern irdiſchen Augen unterzugehen ſcheint, die aber eigent¬
lich nie untergeht, ſondern unaufhoͤrlich fortleuchtet.“
Die Sonne war indeß hinter dem Ettersberge hinab¬
gegangen; wir ſpuͤrten in dem Gehoͤlz einige Abendkuͤhle
und fuhren deſto raſcher in Weimar hinein und an ſeinem
Hauſe vor. Goethe bat mich, noch ein wenig mit
hinauf zu kommen, welches ich that. Er war in aͤußerſt
guter, liebenswuͤrdiger Stimmung. Er ſprach darauf
beſonders viel uͤber die Farbenlehre, uͤber ſeine verſtockten
Gegner, und daß er das Bewußtſeyn habe, in dieſer
Wiſſenſchaft etwas geleiſtet zu haben.
‚Um Epoche in der Welt zu machen, ſagte er bey
dieſer Gelegenheit, dazu gehoͤren bekanntlich zwey Dinge;
erſtens, daß man ein guter Kopf ſey, und zweytens,
daß man eine große Erbſchaft thue. Napoleon erbte
die franzoͤſiſche Revolution, Friedrich der Große den
ſchleſiſchen Krieg, Luther die Finſterniß der Pfaffen,
[155] und mir iſt der Irrthum der Newtoniſchen Lehre zu
Theil geworden. Die gegenwaͤrtige Generation hat zwar
keine Ahnung, was hierin von mir geleiſtet worden;
doch kuͤnftige Zeiten werden geſtehen, daß mir keineswegs
eine ſchlechte Erbſchaft zugefallen.“
Goethe hatte mir heute fruͤh ein Convolut Papiere
in Bezug auf das Theater zugeſendet; beſonders fand
ich darin zerſtreute einzelne Bemerkungen, die Regeln
und Studien enthaltend, die er mit Wolff und Gruͤ¬
ner durchgemacht, um ſie zu tuͤchtigen Schauſpielern
zu bilden. Ich fand dieſe Einzelnheiten von Bedeutung
und fuͤr junge Schauſpieler in hohem Grade lehrreich,
weßhalb ich mir vornahm, ſie zuſammen zu ſtellen und
daraus eine Art von Theater-Catechismus zu bilden.
Goethe billigte dieſes Vorhaben und wir ſprachen die
Angelegenheit weiter durch. Dieß gab Veranlaſſung,
einiger bedeutender Schauſpieler zu gedenken, die aus
ſeiner Schule hervorgegangen, und ich fragte bey dieſer
Gelegenheit unter andern auch nach der Frau von Hei¬
gendorf. „Ich mag auf ſie gewirkt haben, ſagte Goethe,
allein meine eigentliche Schuͤlerin iſt ſie nicht. Sie war
auf den Brettern wie geboren und gleich in allem
ſicher und entſchieden gewandt und fertig wie die Ente
auf dem Waſſer. Sie bedurfte meiner Lehre nicht, ſie
that inſtinktmaͤßig das Rechte, vielleicht ohne es ſelber
zu wiſſen.“
Wir ſprachen darauf uͤber die manchen Jahre ſeiner
[156] Theaterleitung, und welche unendliche Zeit er damit
fuͤr ſein ſchriftſtelleriſches Wirken verloren. „Freylich,
ſagte Goethe, ich haͤtte indeß manches gute Stuͤck ſchrei¬
ben koͤnnen, doch wenn ich es recht bedenke, gereut es
mich nicht. Ich habe all mein Wirken und Leiſten
immer nur ſymboliſch angeſehen, und es iſt mir im
Grunde ziemlich gleichguͤltig geweſen, ob ich Toͤpfe machte
oder Schuͤſſeln.“
Als ich im vorigen Sommer nach Weimar kam,
war es, wie geſagt, nicht meine Abſicht, hier zu bleiben,
ich wollte vielmehr bloß Goethe's perſoͤnliche Bekannt¬
ſchaft machen und dann an den Rhein gehen, wo ich
an einem paſſenden Ort laͤngere Zeit zu verweilen ge¬
dachte.
Gleichwohl ward ich in Weimar durch Goethe's be¬
ſonderes Wohlwollen gefeſſelt, auch geſtaltete ſich mein
Verhaͤltniß zu ihm immer mehr zu einem practiſchen,
indem er mich immer tiefer in ſein Intereſſe zog und
mir, als Vorbereitung einer vollſtaͤndigen Ausgabe ſeiner
Werke, manche nicht unwichtige Arbeit uͤbertrug.
So ſtellte ich im Laufe dieſes Winters unter andern
verſchiedene Abtheilungen zahmer Xenien aus den con¬
fuſeſten Convoluten zuſammen, redigirte einen Band
[157] neuer Gedichte, ſo wie den erwaͤhnten Theater-Catechis¬
mus und eine ſkizzirte Abhandlung uͤber den Dilettan¬
tismus in den verſchiedenen Kuͤnſten.
Jener Vorſatz, den Rhein zu ſehen, war indeß in
mir beſtaͤndig wach geblieben, und damit ich nicht fer¬
ner den Stachel einer unbefriedigten Sehnſucht in mir
tragen moͤchte, ſo rieth Goethe ſelber dazu, einige Mo¬
nate dieſes Sommers auf einen Beſuch jener Gegenden
zu verwenden.
Es war jedoch ſein ganz entſchiedener Wunſch, daß
ich nach Weimar zuruͤckkehren moͤchte. Er fuͤhrte an,
daß es nicht gut ſey, kaum geknuͤpfte Verhaͤltniſſe wie¬
der zu zerreißen, und daß alles im Leben, wenn es
gedeihen wolle, eine Folge haben muͤſſe. Er ließ dabey
nicht undeutlich merken, daß er mich in Verbindung
mit Riemer dazu auserſehen, ihn nicht allein bey der
bevorſtehenden neuen Ausgabe ſeiner Werke thaͤtigſt zu
unterſtuͤtzen, ſondern auch jenes Geſchaͤft mit gedachtem
Freunde allein zu uͤbernehmen, im Fall er bey ſeinem
hohen Alter abgerufen werden ſollte.
Er zeigte mir dieſen Morgen große Convolute ſeiner
Correſpondenz, die er im ſogenannten Buͤſten-Zimmer
hatte auseinander legen laſſen. „Es ſind dieß alle
Briefe, ſagte er, die ſeit Anno 1780 von den bedeu¬
tendſten Maͤnnern der Nation an mich eingegangen; es
ſteckt darin ein wahrer Schatz von Ideen, und es ſoll
ihre oͤffentliche Mittheilung Euch kuͤnftig vorbehalten
[158] ſeyn. Ich laſſe jetzt einen Schrank machen, wohinein
dieſe Briefe nebſt meinem uͤbrigen literariſchen Nachlaſſe
gelegt werden. Das ſollen Sie erſt alles in Ordnung
und bey einander ſehen, bevor Sie Ihre Reiſe antreten,
damit ich ruhig ſey und eine Sorge weniger habe.“
Er eroͤffnete mir ſodann, daß er dieſen Sommer
Marienbad abermals zu beſuchen gedenke, daß er jedoch
erſt Ende July gehen koͤnne, wovon er mir alle Gruͤnde
zutraulich entdeckte. Er aͤußerte den Wunſch, daß ich
noch vor ſeiner Abreiſe zuruͤck ſeyn moͤchte, um mich
vorher noch zu ſprechen.
Ich beſuchte darauf nach einigen Wochen meine
Lieben zu Hannover, verweilte dann waͤhrend der Mo¬
nate Juny und July am Rhein, wo ich, beſonders zu
Frankfurt, Heidelberg und Bonn, unter Goethe's Freun¬
den manche werthe Bekanntſchaft machte.
Seit etwa acht Tagen bin ich von meiner Rhein¬
reiſe zuruͤck. Goethe aͤußerte bey meiner Ankunft eine
lebhafte Freude, und ich meinerſeits war nicht weniger
gluͤcklich, wieder bey ihm zu ſeyn. Er hatte ſehr viel
zu reden und mitzutheilen, ſo daß ich die erſten Tage
[159] wenig von ſeiner Seite kam. Seine fruͤhere Abſicht,
nach Marienbad zu gehen, hat er aufgegeben, er will
dieſen Sommer gar keine Reiſe machen. „Nun, da
Sie wieder hier ſind, ſagte er geſtern, kann es noch
einen recht huͤbſchen Auguſt fuͤr mich geben.“
Vor einigen Tagen communicirte er mir die Anfaͤnge
einer Fortſetzung von Wahrheit und Dichtung, ein auf
Quartblaͤttern geſchriebenes Heft, kaum von der Staͤrke
eines Fingers. Einiges iſt ausgefuͤhrt, das Meiſte jedoch
nur in Andeutungen enthalten. Doch iſt bereits eine
Abtheilung in fuͤnf Buͤcher gemacht und die ſchematiſirten
Blaͤtter ſind ſo zuſammengelegt, daß man bey einigem
Studium den Inhalt des Ganzen wohl uͤberſehen kann.
Das bereits Ausgefuͤhrte erſcheint mir nun ſo vor¬
trefflich und der Inhalt des Schematiſirten von ſolcher
Bedeutung, daß ich auf das Lebhafteſte bedaure, eine
ſo viel Belehrung und Genuß verſprechende Arbeit in
Stocken gerathen zu ſehen und daß ich Goethe auf alle
Weiſe zu einer baldigen Fortſetzung und Vollendung
treiben werde.
Die Anlage des Ganzen hat ſehr viel vom Roman.
Zartes, anmuthiges, leidenſchaftliches Liebesverhaͤltniß,
heiter im Entſtehen, idylliſch im Fortgange, tragiſch am
Ende durch ein ſtillſchweigendes gegenſeitiges Entſagen,
ſchlingt ſich durch vier Buͤcher hindurch und verbindet
dieſe zu einem wohlgeordneten Ganzen. Der Zauber
von Lili's Weſen, im Detail geſchildert, iſt geeignet
[160] jeden Leſer zu feſſeln, ſo wie er den Liebenden ſelbſt
dergeſtalt in Banden hielt, daß er ſich nur durch eine
wiederholte Flucht zu retten im Stande war.
Die dargeſtellte Lebensepoche iſt gleichfalls hoͤchſt
romantiſcher Natur, oder ſie wird es, indem ſie ſich an
dem Hauptcharacter entwickelt. Von ganz beſonderer
Bedeutung und Wichtigkeit aber iſt ſie dadurch, daß ſie,
als Vor-Epoche der Weimariſchen Verhaͤltniſſe, fuͤr das
ganze Leben entſcheidet. Wenn alſo irgend ein Abſchnitt
aus Goethe's Leben Intereſſe hat und den Wunſch einer
detaillirten Darſtellung rege macht, ſo iſt es dieſer.
Um nun bey Goethe fuͤr die unterbrochene und ſeit
Jahren ruhende Arbeit neue Luſt und Liebe zu erregen,
habe ich dieſe Angelegenheit nicht allein ſogleich muͤnd¬
lich mit ihm beſprochen, ſondern ich habe ihm auch
heute folgende Notizen zugehen laſſen, damit es ihm
vor die Augen trete, was vollendet iſt und welche
Stellen noch einer Ausfuͤhrung und anderweiten Anord¬
nung beduͤrfen.
Erſtes Buch.
Dieſes Buch, welches der anfaͤnglichen Abſicht ge¬
maͤß als fertig anzuſehen iſt, enthaͤlt eine Art von Ex¬
poſition, indem namentlich darin der Wunſch nach Theil¬
nahme an Weltgeſchaͤften ausgeſprochen wird, auf deſſen
Erfuͤllung das Ende der ganzen Epoche durch die Be¬
rufung nach Weimar ablaͤuft. Damit es ſich aber dem
[161] Ganzen noch inniger anſchließen moͤge, ſo rathe ich,
das durch die folgenden vier Buͤcher gehende Verhaͤltniß
zu Lili ſchon in dieſem erſten Buche anzuknuͤpfen und
fortzufuͤhren bis zu der Ausflucht nach Offenbach. Da¬
durch wuͤrde auch dieſes erſte Buch an Umfang und
Bedeutung gewinnen und ein allzuſtarkes Anwachſen des
zweyten verhuͤtet werden.
Zweytes Buch.
Das idylliſche Leben zu Offenbach eroͤffnete ſodann
dieſes zweyte Buch und fuͤhrte das gluͤckliche Liebes¬
verhaͤltniß durch, bis es zuletzt einen bedenklichen, ern¬
ſten, ja tragiſchen Character anzunehmen beginnt. Hier
iſt nun die Betrachtung ernſter Dinge, wie ſie das
Schema in Bezug auf Stilling verſpricht, wohl am
Platze, und es laͤßt ſich aus den nur mit wenigen Wor¬
ten angedeuteten Intentionen auf viel Belehrendes von
hoher Bedeutung ſchließen.
Drittes Buch.
Das dritte Buch, welches den Plan zu einer Fort¬
ſetzung des Fauſt u. ſ. w. enthaͤlt, iſt als Epiſode zu
betrachten, welche ſich, durch den noch auszufuͤhrenden
Verſuch der Trennung von Lili, den uͤbrigen
Buͤchern gleichfalls anſchließt.
I. 11[162]
Ob nun dieſer Plan zu Fauſt mitzutheilen oder
zuruͤckzuhalten ſeyn wird, dieſer Zweifel duͤrfte ſich dann
beſeitigen laſſen, wenn man die bereits fertigen Bruch¬
ſtuͤcke zur Pruͤfung vor Augen hat, und erſt daruͤber
klar iſt, ob man uͤberall die Hoffnung einer Fortſetzung
des Fauſt aufgeben muß oder nicht.
Viertes Buch.
Das dritte Buch ſchloͤſſe mit dem Verſuch einer
Trennung von Lili. Dieſes vierte beginnet daher ſehr
paſſend mit der Ankunft der Stolberge und Haug¬
witzens, wodurch die Schweizerreiſe und mithin die erſte
Flucht von Lili motivirt wird. Das uͤber dieſes Buch
vorhandene ausfuͤhrliche Schema verſpricht uns die in¬
tereſſanteſten Dinge und erregt den Wunſch nach moͤg¬
lichſt detaillirter Ausfuͤhrung auf das Lebendigſte. Die
immer wieder hervorbrechende nicht zu unterdruͤckende
Leidenſchaft zu Lili durchwaͤrmt auch dieſes Buch mit
der Glut jugendlicher Liebe und wirft auf den Zuſtand
des Reiſenden eine hoͤchſt eigene, angenehme, zauberiſche
Beleuchtung.
Fuͤnftes Buch.
Dieſes ſchoͤne Buch iſt gleichfalls beynahe vollendet.
Fortgang und Ende, welche an das unerforſchliche hoͤchſte
Schickſalsweſen hinanſtreifen, ja es ausſprechen, ſind
[163] wenigſtens als durchaus fertig anzuſehen, und es bedarf
nur noch mit Wenigem der Einleitung, woruͤber ja
auch bereits ein ſehr klares Schema vorliegt. Die Aus¬
fuͤhrung dieſes iſt aber um ſo nothwendiger und wuͤn¬
ſchenswerther, als dadurch die Weimariſchen Verhaͤltniſſe
zuerſt zur Sprache kommen und das Intereſſe fuͤr ſie
zuerſt rege gemacht wird.
Der Verkehr mit Goethe war in dieſen Tagen ſehr
reichhaltig, ich jedoch mit anderen Dingen zu beſchaͤftigt,
als daß es mir moͤglich geweſen, etwas Bedeutendes
aus der Fuͤlle ſeiner Geſpraͤche niederzuſchreiben.
Nur folgende Einzelnheiten finden ſich in meinem
Tagebuche notirt, wovon ich die Verbindung und die
Anlaͤſſe vergeſſen, aus denen ſie hervorgegangen.
„Menſchen ſind ſchwimmende Toͤpfe, die ſich an
einander ſtoßen.“
„Am Morgen ſind wir am kluͤgſten, aber auch am
ſorglichſten; denn auch die Sorge iſt eine Klugheit,
11 *[164] wiewohl nur eine paſſive. Die Dummheit weiß von
keiner Sorge.“
„Man muß keine Jugendfehler ins Alter hinein¬
nehmen; denn das Alter fuͤhrt ſeine eigenen Maͤngel
mit ſich.“
„Das Hofleben gleicht einer Muſik, wo jeder ſeine
Takte und Pauſen halten muß.“
„Die Hofleute muͤßten vor Langerweile umkommen,
wenn ſie ihre Zeit nicht durch Ceremonie auszufuͤllen
wuͤßten.“
„Es iſt nicht gut einem Fuͤrſten zu rathen, auch in
der geringfuͤgigſten Sache abzudanken.“
„Wer Schauſpieler bilden will, muß unendliche
Geduld haben.“
[165]
Abends bey Goethe. Wir ſprachen uͤber Klopſtock
und Herder, und ich hoͤrte ihm gerne zu, wie er die
großen Verdienſte dieſer Maͤnner gegen mich auseinan¬
derſetzte.
„Unſere Literatur, ſagte er, waͤre ohne dieſe gewal¬
tigen Vorgaͤnger das nicht geworden, was ſie jetzt iſt.
Mit ihrem Auftreten waren ſie der Zeit voran und
haben ſie gleichſam nach ſich geriſſen; jetzt aber iſt die
Zeit ihnen vorangeeilt, und ſie, die einſt ſo nothwen¬
dig und wichtig waren, haben jetzt aufgehoͤrt Mittel
zu ſeyn. Ein junger Menſch, der heut zu Tage ſeine
Cultur aus Klopſtock und Herder ziehen wollte, wuͤrde
ſehr zuruͤckbleiben.“
Wir ſprachen uͤber Klopſtock's Meſſias und ſeine
Oden und gedachten ihrer Verdienſte und Maͤngel. Wir
waren einig, daß Klopſtock zur Anſchauung und Auf¬
faſſung der ſinnlichen Welt und Zeichnung von Cha¬
racteren keine Richtung und Anlage gehabt und daß
ihm alſo das Weſentlichſte zu einem epiſchen und dra¬
matiſchen Dichter, ja man koͤnnte ſagen, zu einem
Dichter uͤberhaupt, gefehlt habe.
„Mir faͤllt hier jene Ode ein, ſagte Goethe, wo er
die deutſche Muſe mit der brittiſchen einen Wettlauf
machen laͤßt, und in der That, wenn man bedenkt,
[166] was es fuͤr ein Bild giebt, wenn die beyden Maͤdchen
mit einander laufen und die Beine werfen und den
Staub mit ihren Fuͤßen erregen, ſo muß man wohl
annehmen, der gute Klopſtock habe nicht lebendig vor
Augen gehabt, und ſich nicht ſinnlich ausgebildet, was
er machte, denn ſonſt haͤtte er ſich unmoͤglich ſo ver¬
greifen koͤnnen.“
Ich fragte Goethe, wie er in der Jugend zu Klop¬
ſtock geſtanden und wie er ihn in jener Zeit angeſehen.
„Ich verehrte ihn, ſagte Goethe, mit der Pietaͤt,
die mir eigen war; ich betrachtete ihn wie meinen Oheim.
Ich hatte Ehrfurcht vor dem was er machte, und es
fiel mir nicht ein, daruͤber denken und daran etwas
ausſetzen zu wollen. Sein Vortreffliches ließ ich auf
mich wirken und ging uͤbrigens meinen eigenen Weg.“
Wir kamen auf Herder zuruͤck und ich fragte Goethe,
was er fuͤr das Beſte ſeiner Werke halte. „Seine
Ideen zur Geſchichte der Menſchheit, antwortete Goethe,
ſind unſtreitig das vorzuͤglichſte. Spaͤter warf er ſich
auf die negative Seite und da war er nicht erfreulich.“
Bey der großen Bedeutung Herders, verſetzte ich,
kann ich nicht mit ihm vereinigen, wie er in gewiſſen
Dingen ſo wenig Urtheil zu haben ſchien. Ich kann
ihm z. B. nicht vergeben, daß er, zumal bey dem da¬
maligen Stande der deutſchen Literatur, das Manuſcript
des Goͤtz von Berlichingen, ohne Wuͤrdigung ſeines
Guten, mit ſpoͤttelnden Anmerkungen zuruͤckſandte. Es
[167] mußte ihm doch fuͤr gewiſſe Gegenſtaͤnde an allen Or¬
ganen fehlen.
„In dieſer Hinſicht war es arg mit Herder, erwie¬
derte Goethe; ja wenn er als Geiſt in dieſem Augenblick
hier gegenwaͤrtig waͤre, fuͤgte er lebhaft hinzu, er wuͤrde
uns nicht verſtehen.“
Dagegen muß ich den Merk loben, ſagte ich, daß
er Sie trieb den Goͤtz drucken zu laſſen.
„Das war freylich ein wunderlicher bedeutender
Menſch, erwiederte Goethe. „„Laß das Zeug drucken!
ſagte er; es taugt zwar nichts, aber laß es nur druk¬
ken!““ Er war nicht fuͤr das Umarbeiten und er hatte
Recht; denn es waͤre wohl anders geworden, aber nicht
beſſer.“
Ich beſuchte Goethe Abends vor dem Theater und
fand ihn ſehr wohl und heiter. Er erkundigte ſich nach
den hier anweſenden jungen Englaͤndern, und ich ſagte
ihm, daß ich die Abſicht habe, mit Herrn Doolan
eine deutſche Überſetzung des Plutarch zu leſen. Dieß
fuͤhrte das Geſpraͤch auf die roͤmiſche und griechiſche
Geſchichte und Goethe aͤußerte ſich daruͤber folgender¬
maßen:
„Die roͤmiſche Geſchichte, ſagte er, iſt fuͤr uns
[168] eigentlich nicht mehr an der Zeit. Wir ſind zu human
geworden, als daß uns die Triumphe des Caͤſar nicht
widerſtehen ſollten. So auch die griechiſche Geſchichte
bietet wenig Erfreuliches. Wo ſich dieſes Volk gegen
aͤußere Feinde wendet, iſt es zwar groß und glaͤnzend,
allein die Zerſtuͤckelung der Staaten und der ewige Krieg
im Innern, wo der eine Grieche die Waffen gegen den
andern kehrt, iſt auch deſto unertraͤglicher. Zudem iſt
die Geſchichte unſerer eigenen Tage durchaus groß und
bedeutend; die Schlachten von Leipzig und Waterloo
ragen ſo gewaltig hervor, daß jene von Marathon und
aͤhnliche andere nachgerade verdunkelt werden. Auch ſind
unſere einzelnen Helden nicht zuruͤckgeblieben: die fran¬
zoͤſiſchen Marſchaͤlle und Bluͤcher und Wellington ſind
denen des Alterthums voͤllig an die Seite zu ſetzen.“
Das Geſpraͤch wendete ſich auf die neueſte franzoͤ¬
ſiſche Literatur und der Franzoſen taͤglich zunehmendes
Intereſſe an deutſchen Werken.
„Die Franzoſen, ſagte Goethe, thun ſehr wohl, daß
ſie anfangen unſere Schriftſteller zu ſtudiren und zu uͤber¬
ſetzen; denn beſchraͤnkt in der Form und beſchraͤnkt in
den Motiven, wie ſie ſind, bleibt ihnen kein anderes,
Mittel als ſich nach außen zu wenden. Mag man uns
Deutſchen eine gewiſſe Formloſigkeit vorwerfen, allein
wir ſind ihnen doch an Stoff uͤberlegen. Die Theater-
Stuͤcke von Kotzebue und Iffland ſind ſo reich an Mo¬
tiven, daß ſie ſehr lange daran werden zu pfluͤcken ha¬
[169] ben, bis alles verbraucht ſeyn wird. Beſonders aber
iſt ihnen unſere philoſophiſche Idealitaͤt willkommen;
denn jedes Ideelle iſt dienlich zu revolutionaͤren Zwecken.“
„Die Franzoſen, fuhr Goethe fort, haben Verſtand
und Geiſt, aber kein Fundament und keine Pietaͤt.
Was ihnen im Augenblick dient, was ihrer Partey zu
Gute kommen kann, iſt ihnen das Rechte. Sie loben
uns daher auch nie aus Anerkennung unſerer Verdienſte,
ſondern nur wenn ſie durch unſere Anſichten ihre Partey
verſtaͤrken koͤnnen.“
Wir ſprachen darauf uͤber unſere eigene Literatur
und was einigen unſerer neueſten jungen Dichter hin¬
derlich.
„Der Mehrzahl unſerer jungen Poeten, ſagte Goethe,
fehlt weiter nichts, als daß ihre Subjectivitaͤt nicht be¬
deutend iſt und daß ſie im Objectiven den Stoff nicht
zu finden wiſſen. Im hoͤchſten Falle finden ſie einen
Stoff, der ihnen aͤhnlich iſt, der ihrem Subjecte zuſagt;
den Stoff aber um ſein ſelbſt willen, weil er ein poeti¬
ſcher iſt, auch dann zu ergreifen, wenn er dem Subject
widerwaͤrtig waͤre, daran iſt nicht zu denken.“
„Aber, wie geſagt, waͤren es nur bedeutende Per¬
ſonagen, die durch große Studien und Lebensverhaͤltniſſe
gebildet wuͤrden, ſo moͤchte es, wenigſtens um unſere
jungen Dichter lyriſcher Art, dennoch ſehr gut ſtehen.“
[170]
Es war mir in dieſen Tagen ein Antrag zugekom¬
men, fuͤr ein engliſches Journal unter ſehr vortheilhaften
Bedingungen monatliche Berichte uͤber die neueſten Er¬
zeugniſſe deutſcher Literatur einzuſenden. Ich war ſehr
geneigt, das Anerbieten anzunehmen, doch dachte ich, es
waͤre vielleicht gut, die Angelegenheit zuvor mit Goethe
zu bereden.
Ich ging deßhalb dieſen Abend zur Zeit des Licht¬
anzuͤndens zu ihm. Er ſaß bey herabgelaſſenen Rouleaux
vor einem großen Tiſch, auf welchem geſpeiſ't worden
und wo zwey Lichter brannten, die zugleich ſein Geſicht
und eine coloſſale Buͤſte beleuchteten, die vor ihm auf
dem Tiſche ſtand und mit deren Betrachtung er ſich
beſchaͤftigte. „Nun? ſagte Goethe, nachdem er mich
freundlich begruͤßt, auf die Buͤſte deutend, wer iſt das?“
Ein Poet, und zwar ein Italiener ſcheint es zu ſeyn,
ſagte ich. „Es iſt Dante, ſagte Goethe. Er iſt gut
gemacht, es iſt ein ſchoͤner Kopf, aber er iſt doch nicht
ganz erfreulich. Er iſt ſchon alt, gebeugt, verdrießlich,
die Zuͤge ſchlaff und herabgezogen, als wenn er eben
aus der Hoͤlle kaͤme. Ich beſitze eine Medaille, die bey
ſeinen Lebzeiten gemacht worden, da iſt alles bey weitem
ſchoͤner.“ Goethe ſtand auf und holte die Medaille.
„Sehen Sie, was hier die Naſe fuͤr Kraft hat, wie
[171] die Oberlippe ſo kraͤftig aufſchwillet und das Kinn ſo
ſtrebend iſt und mit den Knochen der Kinnlade ſo ſchoͤn
zuſammenfließt! — Die Partie um die Augen, die
Stirn, iſt in dieſem coloſſalen Bilde faſt dieſelbige ge¬
blieben, alles Übrige iſt ſchwaͤcher und aͤlter. Doch
damit will ich das neue Werk nicht ſchelten, das im
Ganzen ſehr verdienſtlich und ſehr zu loben iſt.
Goethe erkundigte ſich ſodann, wie ich in dieſen
Tagen gelebt und was ich gedacht und getrieben. Ich
ſagte ihm, daß mir eine Aufforderung zugekommen,
unter ſehr vortheilhaften Bedingungen fuͤr ein engliſches
Journal monatliche Berichte uͤber die neueſten Erzeug¬
niſſe deutſcher ſchoͤner Proſa einzureichen, und daß ich
ſehr geneigt ſey, das Anerbieten anzunehmen.
Goethe's Geſicht, das bisher ſo freundlich geweſen,
zog ſich bey dieſen Worten ganz verdrießlich, und ich
konnte in jeder ſeiner Mienen die Mißbilligung meines
Vorhabens leſen.
„Ich wollte, ſagte er, Ihre Freunde haͤtten Sie in
Ruhe gelaſſen. Was wollen Sie ſich mit Dingen be¬
faſſen, die nicht in Ihrem Wege liegen und die den
Richtungen Ihrer Natur ganz zuwider ſind? Wir haben
Gold, Silber und Papiergeld, und jedes hat ſeinen
Werth und ſeinen Cours, aber um jedes zu wuͤrdigen,
muß man den Cours kennen. Mit der Literatur iſt es
nicht anders. Sie wiſſen wohl die Metalle zu ſchaͤtzen,
aber nicht das Papiergeld, Sie ſind darin nicht herge¬
[172] kommen, und da wird Ihre Critik ungerecht ſeyn und
Sie werden die Sachen vernichten. Wollen Sie aber
gerecht ſeyn, und Jedes in ſeiner Art anerkennen und
gelten laſſen, ſo muͤſſen Sie ſich zuvor mit unſerer
mittleren Literatur ins Gleichgewicht ſetzen und ſich zu
keinen geringen Studien bequemen. Sie muͤſſen zuruͤck¬
gehen und ſehen, was die Schlegel gewollt und geleiſtet,
und dann alle neueſten Autoren, Franz Horn, Hoff¬
mann, Clauren u. ſ. w., alle muͤſſen Sie leſen. Und
das iſt nicht genug. Auch alle Zeitſchriften, vom Mor¬
genblatt bis zur Abendzeitung muͤſſen Sie halten, damit
Sie von allem Neuhervortretenden ſogleich in Kenntniß
ſind, und damit verderben Sie Ihre ſchoͤnſten Stunden
und Tage. Und dann alle neuen Buͤcher, die Sie
einigermaßen gruͤndlich anzeigen wollen, muͤſſen Sie
doch auch nicht bloß durchblaͤttern, ſondern ſogar ſtu¬
diren. Wie wuͤrde Ihnen das munden! — Und endlich,
wenn Sie das Schlechte ſchlecht finden, duͤrfen Sie es
nicht einmal ſagen, wenn Sie ſich nicht der Gefahr
ausſetzen wollen, mit aller Welt in Krieg zu gerathen.“
„Nein, wie geſagt, ſchreiben Sie das Anerbieten
ab, es liegt nicht in Ihrem Wege. Überhaupt huͤten
Sie ſich vor Zerſplitterung und halten Sie Ihre Kraͤfte
zuſammen. — Waͤre ich vor dreyßig Jahren ſo klug
geweſen, ich wuͤrde ganz andere Dinge gemacht haben.
Was habe ich mit Schiller an den Horen nnd Muſen¬
almanachen nicht fuͤr Zeit verſchwendet! — Grade in
[173] dieſen Tagen, bey Durchſicht unſerer Briefe, iſt mir al¬
les recht lebendig geworden, und ich kann nicht ohne
Verdruß an jene Unternehmungen zuruͤckdenken, wobey
die Welt uns mißbrauchte und die fuͤr uns ſelbſt ganz
ohne Folge waren. Das Talent glaubt freylich, es
koͤnne das auch, was es andere Leute thun ſieht, allein
es iſt nicht ſo und es wird ſeine Faux-frais bereuen.
Was haben wir davon, wenn unſere Haare auf eine
Nacht gewickelt ſind? — Wir haben Papier in den
Haaren, das iſt alles, und am andern Abend ſind ſie
doch wieder ſchlicht.“
„Es kommt darauf an, fuhr Goethe fort, daß Sie
ſich ein Capital bilden, das nie ausgeht. Dieſes wer¬
den Sie erlangen in dem begonnenen Studium der
engliſchen Sprache und Literatur. Halten Sie ſich dazu
und benutzen Sie die treffliche Gelegenheit der jungen
Englaͤnder zu jeder Stunde. Die alten Sprachen ſind
Ihnen in der Jugend groͤßtentheils entgangen, deßhalb
ſuchen Sie in der Literatur einer ſo tuͤchtigen Nation
wie die Englaͤnder einen Halt. Zudem iſt ja unſere
eigene Literatur groͤßtentheils aus der ihrigen hergekom¬
men. Unſere Romane, unſere Trauerſpiele, woher ha¬
ben wir ſie denn als von Goldſmith, Fielding und
Shakſpeare? Und noch heut zu Tage, wo wollen Sie
denn in Deutſchland drey literariſche Helden finden, die
dem Lord Byron, Moore und Walter Scott an die
Seite zu ſetzen waͤren? — Alſo noch einmal, befeſtigen
[174] Sie ſich im Engliſchen, halten Sie Ihre Kraͤfte zu
etwas Tuͤchtigem zuſammen, und laſſen Sie alles fah¬
ren, was fuͤr Sie keine Folge hat und Ihnen nicht
gemaͤß iſt.“
Ich freute mich, daß ich Goethe zu reden gebracht
und war in meinem Innern vollkommen beruhigt und
entſchloſſen, nach ſeinem Rath in alle Wege zu handeln.
Herr Canzler von Muͤller ließ ſich melden und ſetzte
ſich zu uns. Und ſo kam das Geſpraͤch wieder auf die
vor uns ſtehende Buͤſte des Dante und deſſen Leben
und Werke. Beſonders ward der Dunkelheit jener Dich¬
tungen gedacht, wie ſeine eigenen Landsleute ihn nie
verſtanden, und daß es einem Auslaͤnder umſomehr un¬
moͤglich ſey, ſolche Finſterniſſe zu durchdringen. „Ihnen,
wendete ſich Goethe freundlich zu mir, ſoll das Studium
dieſes Dichters von Ihrem Beichtvater hiemit durchaus
verboten ſeyn.“
Goethe bemerkte ferner, daß der ſchwere Reim an
jener Unverſtaͤndlichkeit vorzuͤglich mit Schuld ſey. Übri¬
gens ſprach Goethe von Dante mit aller Ehrfurcht,
wobey es mir merkwuͤrdig war, daß ihm das Wort
Talent nicht genuͤgte, ſondern daß er ihn eine Natur
nannte, als womit er ein Umfaſſenderes, Ahndungs¬
volleres, tiefer und weiter um ſich Blickendes ausdruͤcken
zu wollen ſchien.
[175]
Ich ging gegen Abend zu Goethe. Er reichte mir
freundlich die Hand entgegen und begruͤßte mich mit
dem Lobe meines Gedichtes zu Schellhorn's Jubilaͤum.
Ich brachte ihm dagegen die Nachricht, daß ich geſchrie¬
ben und das engliſche Anerbieten abgelehnt habe.
„Gottlob, ſagte er, daß Sie wieder frey und in
Ruhe ſind. Nun will ich Sie gleich noch vor etwas
warnen. Es werden die Componiſten kommen und eine
Oper haben wollen; aber da ſeyn Sie gleichfalls nur
ſtandhaft und lehnen Sie ab, denn das iſt auch eine
Sache, die zu nichts fuͤhrt und womit man ſeine Zeit
verdirbt.“
Goethe erzaͤhlte mir darauf, daß er dem Verfaſſer
des Paria durch Nees von Eſenbeck den Comoͤdienzettel
nach Bonn geſchickt habe, woraus der Dichter ſehen
moͤge, daß ſein Stuͤck hier gegeben worden. „Das
Leben iſt kurz, fuͤgte er hinzu, man muß ſich einander
einen Spaß zu machen ſuchen.“
Die Berliner Zeitungen lagen vor ihm und er er¬
zaͤhlte mir von der großen Waſſerfluth in Petersburg. Er
gab mir das Blatt, daß ich es leſen moͤchte. Er ſprach
dann uͤber die ſchlechte Lage von Petersburg und lachte
beyfaͤllig uͤber eine Äußerung Rouſſeau's, welcher geſagt
habe, daß man ein Erdbeben dadurch nicht verhindern
[176] koͤnne, daß man in die Naͤhe eines feuerſpeienden Ber¬
ges eine Stadt baue. „Die Natur geht ihren Gang,
ſagte er, und dasjenige, was uns als Ausnahme er¬
ſcheint, iſt in der Regel.“
Wir gedachten darauf der großen Stuͤrme, die an
allen Kuͤſten gewuͤthet, ſo wie der uͤbrigen gewaltſamen
Naturaͤußerungen, welche die Zeitungen gemeldet, und
ich fragte Goethe, ob man wohl wiſſe, wie dergleichen
zuſammenhaͤnge. „Das weiß niemand, antwortete
Goethe, man hat kaum bey ſich von ſolchen geheimen
Dingen eine Ahndung, vielweniger koͤnnte man es aus¬
ſprechen.“
Oberbaudirector Coudray ließ ſich melden, deßgleichen
Profeſſor Riemer; beyde geſellten ſich zu uns und ſo
wurde denn die Waſſersnoth von Petersburg abermals
durchgeſprochen, wobey Coudray uns durch Zeichnung
des Planes jener Stadt die Einwirkungen der Newa
und uͤbrige Localitaͤt deutlich machte.
1825.
I. 12[[178]][[179]]Bey ſeinem großen Intereſſe fuͤr die engliſche Nation
hatte Goethe mich erſucht, die hier anweſenden jungen
Englaͤnder ihm nach und nach vorzuſtellen. Heute um
fuͤnf Uhr erwartete er mich mit dem engliſchen Ingenieur-
Officier, Herrn H., von welchem ich ihm vorlaͤufig
viel Gutes hatte ſagen koͤnnen. Wir gingen alſo zur
beſtimmten Stunde hin und wurden durch den Bedien¬
ten in ein angenehm erwaͤrmtes Zimmer gefuͤhrt, wo
Goethe in der Regel Nachmittags und Abends zu ſeyn
pflegt. Drey Lichter brannten auf dem Tiſch; aber
Goethe war nicht darin, wir hoͤrten ihn in dem an¬
ſtoßenden Saale ſprechen.
Herr H. ſah ſich derweile um und bemerkte, außer
den Gemaͤlden und einer großen Gebirgscharte an den
Waͤnden, ein Repoſitorium mit vielen Mappen, von
welchen ich ihm ſagte, daß ſie viele Handzeichnungen
beruͤhmter Meiſter und Kupferſtiche nach den beſten Ge¬
maͤlden aller Schulen enthielten, die Goethe im Leben
12*[180] nach und nach geſammelt habe und deren wiederholte
Betrachtung ihm Unterhaltung gewaͤhre.
Nachdem wir einige Minuten gewartet hatten, trat
Goethe zu uns herein und begruͤßte uns freundlich.
„Ich darf Sie gradezu in deutſcher Sprache anreden,
wendete er ſich an Herrn H., denn ich hoͤre, Sie ſind
im Deutſchen ſchon recht bewandert.“ Dieſer erwiederte
hierauf mit Wenigem freundlich, und Goethe bat uns
darauf, Platz zu nehmen.
Die Perſoͤnlichkeit des Herrn H. mußte auf Goethe
einen guten Eindruck machen, denn ſeine große Liebens¬
wuͤrdigkeit und heitere Milde zeigte ſich dem Fremden
gegenuͤber heute in ihrer wahren Schoͤnheit. „Sie ha¬
ben wohl gethan, ſagte er, daß Sie, um deutſch zu
lernen, zu uns heruͤber gekommen ſind, wo Sie nicht
allein die Sprache leicht und ſchnell gewinnen, ſondern
auch die Elemente, worauf ſie ruhet, unſern Boden,
Clima, Lebensart, Sitten, geſellſchaftlichen Verkehr,
Verfaſſung und dergleichen mit nach England im Geiſte
hinuͤber nehmen.“
Das Intereſſe fuͤr die deutſche Sprache, erwiederte
Herr H., iſt jetzt in England groß und wird taͤglich
allgemeiner, ſo daß jetzt faſt kein junger Englaͤnder von
guter Familie iſt, der nicht deutſch lernte.
„Wir Deutſchen, verſetzte Goethe freundlich, haben
es jedoch Ihrer Nation in dieſer Hinſicht um ein halbes
Jahrhundert zuvorgethan. Ich beſchaͤftige mich ſeit
[181] fuͤnfzig Jahren mit der engliſchen Sprache und Lite¬
ratur, ſo daß ich Ihre Schriftſteller und das Leben
und die Einrichtung Ihres Landes ſehr gut kenne.
Kaͤme ich nach England hinuͤber, ich wuͤrde kein Frem¬
der ſeyn.“
„Aber, wie geſagt, Ihre jungen Landsleute thun
wohl, daß ſie jetzt zu uns kommen und auch unſere
Sprache lernen. Denn nicht allein, daß unſere eigene
Literatur es an ſich verdient, ſondern es iſt auch nicht
zu laͤugnen, daß, wenn einer jetzt das Deutſche gut ver¬
ſteht, er viele andere Sprachen entbehren kann. Von
der franzoͤſiſchen rede ich nicht, ſie iſt die Sprache des
Umgangs und ganz beſonders auf Reiſen unentbehrlich,
weil ſie jeder verſteht und man ſich in allen Laͤndern
mit ihr, ſtatt eines guten Dolmetſchers aushelfen kann.
Was aber das Griechiſche, Lateiniſche, Italieniſche und Spa¬
niſche betrifft, ſo koͤnnen wir die vorzuͤglichſten Werke
dieſer Nationen in ſo guten deutſchen Überſetzungen leſen,
daß wir, ohne ganz beſondere Zwecke nicht Urſache ha¬
ben, auf die muͤhſame Erlernung jener Sprachen viele
Zeit zu verwenden. Es liegt in der deutſchen Natur,
alles Auslaͤndiſche in ſeiner Art zu wuͤrdigen und ſich
fremder Eigenthuͤmlichkeit zu bequemen. Dieſes, und
die große Fuͤgſamkeit unſerer Sprache macht denn die
deutſchen Überſetzungen durchaus treu und vollkommen.“
„Und dann iſt wohl nicht zu laͤugnen, daß man
im Allgemeinen mit einer guten Überſetzung ſehr weit
[182] kommt. Friedrich der Große konnte kein Latein, aber
er las ſeinen Cicero in der franzoͤſiſchen Überſetzung eben
ſo gut als wir andern in der Urſprache.“
Dann das Geſpraͤch auf das Theater wendend fragte
Goethe Herrn H., ob er es viel beſuche. Ich beſuche das
Theater jeden Abend, antwortete dieſer, und ich finde,
daß der Gewinn fuͤr das Verſtehen der Sprache ſehr
groß iſt. „Es iſt merkwuͤrdig, erwiederte Goethe, daß
das Ohr, und uͤberall das Vermoͤgen des Verſtehens
dem des Sprechens voraufeilt, ſo daß einer bald ſehr
gut alles verſtehen, aber keinesweges alles ausdruͤcken
kann.“ Ich finde taͤglich, entgegnete Herr H., daß
dieſe Bemerkung ſehr wahr iſt; denn ich verſtehe ſehr
gut alles was geſprochen wird, auch ſehr gut alles
was ich leſe, ja ich fuͤhle ſogar, wenn einer im Deut¬
ſchen ſich nicht richtig ausdruͤcket. Allein wenn ich
ſpreche, ſo ſtockt es und ich weiß nicht recht zu ſagen
was ich moͤchte. Eine leichte Converſation bey Hofe,
ein Spaß mit den Damen, eine Unterhaltung beym
Tanz und dergleichen gelingt mir ſchon. Will ich aber
im Deutſchen uͤber einen hoͤheren Gegenſtand meine
Meinung hervorbringen, will ich etwas Eigenthuͤmliches
und Geiſtreiches ſagen, ſo ſtockt es und ich kann nicht
fort. „Da troͤſten und beruhigen Sie ſich nur, erwie¬
derte Goethe, denn dergleichen Ungewoͤhnliches auszu¬
druͤcken wird uns wohl in unſerer eigenen Mutterſprache
ſchwer.“
Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deut¬
ſcher Literatur geleſen habe. Ich habe den Egmont ge¬
leſen, antwortete dieſer, und habe an dem Buche ſo
viele Freude gehabt, daß ich dreymal zu ihm zuruͤck¬
gekehrt bin. So auch hat Torquato Taſſo mir vielen
Genuß gewaͤhrt. Jetzt leſe ich den Fauſt, ich finde
aber, daß er ein wenig ſchwer iſt. Goethe lachte bey
dieſen letzten Worten. „Freylich, ſagte er, wuͤrde ich
Ihnen zum Fauſt noch nicht gerathen haben. Es iſt tol¬
les Zeug und geht uͤber alle gewoͤhnlichen Empfindungen
hinaus. Aber da Sie es von ſelbſt gethan haben, ohne
mich zu fragen, ſo moͤgen Sie ſehen wie Sie durchkom¬
men. Fauſt iſt ein ſo ſeltſames Individuum, daß nur
wenige Menſchen ſeine inneren Zuſtaͤnde nachempfinden
koͤnnen. So der Character des Mephiſtopheles iſt durch
die Ironie und als lebendiges Reſultat einer großen
Weltbetrachtung wieder etwas ſehr Schweres. Doch ſehen
Sie zu, was fuͤr Lichter ſich Ihnen dabey aufthun. Der
Taſſo dagegen ſteht dem allgemeinen Menſchengefuͤhl
bey weitem naͤher, auch iſt das Ausfuͤhrliche ſeiner Form
einem leichteren Verſtaͤndniß guͤnſtig.“ Dennoch, er¬
wiederte Herr H., haͤlt man in Deutſchland den Taſſo
fuͤr ſchwer, ſo daß man ſich wunderte, als ich ſagte,
daß ich ihn leſe. „Die Hauptſache beym Taſſo, ſagte
Goethe, iſt die, daß man kein Kind mehr ſey und gute
Geſellſchaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von
guter Familie mit hinreichendem Geiſt und Zartſinn
[184] und genugſamer aͤußeren Bildung, wie ſie aus dem
Umgange mit vollendeten Menſchen der hoͤheren und
hoͤchſten Staͤnde hervorgeht, wird den Taſſo nicht ſchwer
finden.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf den Egmont, und
Goethe ſagte daruͤber Folgendes: „Ich ſchrieb den Eg¬
mont im Jahre 1775, alſo vor funfzig Jahren. Ich
hielt mich ſehr treu an die Geſchichte und ſtrebte nach
moͤglichſter Wahrheit. Als ich darauf zehn Jahre ſpaͤter
in Rom war, las ich in den Zeitungen, daß die ge¬
ſchilderten revolutionaͤren Scenen in den Niederlanden
ſich buchſtaͤblich wiederholten. Ich ſah daraus, daß die
Welt immer dieſelbige bleibt und daß meine Darſtellung
einiges Leben haben mußte.“
Unter dieſen und aͤhnlichen Geſpraͤchen war die Zeit
des Theaters herangekommen und wir ſtanden auf und
wurden von Goethe freundlich entlaſſen.
Im Nachhauſegehen fragte ich Herrn H., wie ihm
Goethe gefallen. Ich habe nie einen Mann geſehen,
antwortete dieſer, der bey aller liebevollen Milde ſo viel
angeborene Wuͤrde beſaͤße. Er iſt immer groß, er mag
ſich ſtellen und ſich herablaſſen wie er wolle.
[185]
Ich ging heute um fuͤnf Uhr zu Goethe, den ich in
einigen Tagen nicht geſehen hatte, und verlebte mit ihm
einen ſchoͤnen Abend. Ich fand ihn in ſeiner Arbeits¬
ſtube in der Daͤmmerung ſitzend in Geſpraͤchen mit ſei¬
nem Sohn und dem Hofrath Rehbein, ſeinem Arzt.
Ich ſetzte mich zu ihnen an den Tiſch. Wir ſprachen
noch eine Weile in der Daͤmmerung, dann ward Licht
gebracht und ich hatte die Freude, Goethe vollkommen
friſch und heiter vor mir zu ſehen.
Er erkundigte ſich, wie gewoͤhnlich, theilnehmend
nach dem, was mir in dieſen Tagen Neues begegnet,
und ich erzaͤhlte ihm, daß ich die Bekanntſchaft einer
Dichterin gemacht habe. Ich konnte zugleich ihr nicht
gewoͤhnliches Talent ruͤhmen, und Goethe, der einige
ihrer Producte gleichfalls kannte, ſtimmte in dieſes Lob
mit ein. „Eins von ihren Gedichten, ſagte er, wo ſie
eine Gegend ihrer Heimath beſchreibt, iſt von einem
hoͤchſt eigenthuͤmlichen Character. Sie hat eine gute
Richtung auf aͤußere Gegenſtaͤnde, auch fehlt es ihr
nicht an guten inneren Eigenſchaften. Freylich waͤre
auch manches an ihr auszuſetzen, wir wollen ſie jedoch
gehen laſſen und ſie auf dem Wege nicht irren, den das
Talent ihr zeigen wird.“
Das Geſpraͤch kam nun auf die Dichterinnen im
[186] Allgemeinen und der Hofrath Rehbein bemerkte, daß
das poetiſche Talent der Frauenzimmer ihm oft als eine
Art von geiſtigem Geſchlechtstrieb vorkomme. „Da hoͤ¬
ren Sie nur, ſagte Goethe lachend, indem er mich an¬
ſah, geiſtigen Geſchlechtstrieb! — wie der Arzt
das zurechtlegt! —“ Ich weiß nicht, ob ich mich recht
ausdruͤcke, fuhr dieſer fort, aber es iſt ſo etwas. Ge¬
woͤhnlich haben dieſe Weſen das Gluͤck der Liebe nicht
genoſſen und ſie ſuchen nun in geiſtigen Richtungen
Erſatz. Waͤren ſie zu rechter Zeit verheirathet und haͤt¬
ten ſie Kinder geboren, ſie wuͤrden an poetiſche Pro¬
ductionen nicht gedacht haben.
„Ich will nicht unterſuchen, ſagte Goethe, in wie¬
fern Sie in dieſem Falle Recht haben; aber bey Frauen¬
zimmer-Talenten anderer Art habe ich immer gefunden,
daß ſie mit der Ehe aufhoͤrten. Ich habe Maͤdchen
gekannt, die vortrefflich zeichneten, aber ſobald ſie Frauen
und Muͤtter wurden, war es aus; ſie hatten mit den
Kindern zu thun und nahmen keinen Griffel mehr in
die Hand.“
„Doch unſere Dichterinnen, fuhr er ſehr lebhaft
fort, moͤchten immer dichten und ſchreiben, ſoviel ſie
wollten, wenn nur unſere Maͤnner nicht wie die Weiber
ſchrieben! Aber das iſt es, was mir nicht gefaͤllt. Man
ſehe doch nur unſere Zeitſchriften und Taſchenbuͤcher, wie
das alles ſo ſchwach iſt und immer ſchwaͤcher wird! —
Wenn man jetzt ein Capitel des Cellini im Mor¬
[187] genblatt abdrucken ließe, wie wuͤrde ſich das aus¬
nehmen! —“
„Unterdeſſen, fuhr er heiter fort, wollen wir es gut
ſeyn laſſen und uns unſeres kraͤftigen Maͤdchens in
Halle freuen, die uns mit maͤnnlichem Geiſte in die
ſerbiſche Welt einfuͤhrt. Die Gedichte ſind vortrefflich!
es ſind einige darunter, die ſich dem hohen Liede an
die Seite ſetzen laſſen, und das will etwas heißen. Ich
habe den Aufſatz uͤber dieſe Gedichte beendigt und er iſt
auch bereits abgedruckt.“ Mit dieſen Worten reichte er
mir die erſten vier Aushaͤngebogen eines neuen Heftes
von Kunſt und Alterthum zu, wo ich dieſen Aufſatz
fand. „Ich habe die einzelnen Gedichte ihrem Haupt¬
inhalte nach mit kurzen Worten characteriſirt und Sie
werden ſich uͤber die koͤſtlichen Motive freuen. Rehbein
iſt ja auch der Poeſie nicht unkundig, wenigſtens was
den Gehalt und Stoff betrifft, und er hoͤrt vielleicht
gerne mit zu, wenn Sie dieſe Stelle vorleſen.“
Ich las den Inhalt der einzelnen Gedichte langſam.
Die angedeuteten Situationen waren ſo ſprechend und
ſo zeichnend, daß mir bey einem jeden Wort ein ganzes
Gedicht ſich vor den Augen aufbildete. Beſonders an¬
muthig wollten mir die folgenden erſcheinen.
1.
Sittſamkeit eines ſerbiſchen Maͤdchens, welches die
ſchoͤnen Augenwimpern niemals aufſchlaͤgt.
2.
Innerer Streit des Liebenden, der als Brautfuͤhrer
ſeine Geliebte einem Dritten zufuͤhren ſoll.
3.
Beſorgt um den Geliebten, will das Maͤdchen nicht
ſingen, um nicht froh zu ſcheinen.
4.
Klage uͤber Umkehrung der Sitten, daß der Juͤng¬
ling die Wittwe freye, der Alte die Jungfrau.
5.
Klage eines Juͤnglings, daß die Mutter der Tochter
zu viel Freyheit gebe.
6.
Vertraulich-frohes Geſpraͤch des Maͤdchens mit dem
Pferde, das ihr ſeines Herrn Neigung und Abſichten
verraͤth.
7.
Maͤdchen will den Ungeliebten nicht.
8.
Die ſchoͤne Kellnerin; ihr Geliebter iſt nicht mit
unter den Gaͤſten.
9.
Finden und zartes Aufwecken der Geliebten.
10.
Welches Gewerbes wird der Gatte ſeyn?
11.
Liebesfreuden verſchwatzt.
[189]12.
Der Liebende kommt aus der Fremde, beobachtet ſie
am Tage, uͤberraſcht ſie zu Nacht.
Ich bemerkte, daß dieſe bloßen Motive ſo viel Leben
in mir anregten, als laͤſe ich die Gedichte ſelbſt, und daß
ich daher nach dem Ausgefuͤhrten gar kein Verlangen trage.
„Sie haben ganz Recht, ſagte Goethe, es iſt ſo.
Aber Sie ſehen daraus die große Wichtigkeit der Mo¬
tive, die niemand begreifen will. Unſere Frauenzimmer
haben davon nun vollends keine Ahndung. Dieß Ge¬
dicht iſt ſchoͤn, ſagen ſie, und denken dabey bloß an
die Empfindungen, an die Worte, an die Verſe. Daß
aber die wahre Kraft und Wirkung eines Gedichts in
der Situation, in den Motiven beſteht, daran denkt
niemand. Und aus dieſem Grunde werden denn auch
Tauſende von Gedichten gemacht, wo das Motiv durch¬
aus null iſt, und die bloß durch Empfindungen und klin¬
gende Verſe eine Art von Exiſtenz vorſpiegeln. Über¬
haupt haben die Dilettanten und beſonders die Frauen
von der Poeſie ſehr ſchwache Begriffe. Sie glauben
gewoͤhnlich, wenn ſie nur das Techniſche loshaͤtten, ſo
haͤtten ſie das Weſen und waͤren gemachte Leute; allein
ſie ſind ſehr in der Irre.“
Profeſſor Riemer ließ ſich melden; Hofrath Rehbein
empfahl ſich. Riemer ſetzte ſich zu uns. Das Geſpraͤch
uͤber die Motive der ſerbiſchen Liebesgedichte ging fort.
[190] Riemer kannte ſchon, wovon die Rede war, und er machte
die Bemerkung, daß man nach den obigen Inhalts-An¬
deutungen nicht allein Gedichte machen koͤnne, ſondern daß
auch jene Motive, ohne ſie aus dem Serbiſchen gekannt
zu haben, von deutſcher Seite ſchon waͤren gebraucht
und gebildet worden. Er gedachte hierauf einiger Ge¬
dichte von ſich ſelber, ſo wie mir waͤhrend dem Leſen
ſchon einige Gedichte von Goethe eingefallen waren, die
ich erwaͤhnte.
„Die Welt bleibt immer dieſelbe, ſagte Goethe, die
Zuſtaͤnde wiederholen ſich, das eine Volk lebt, liebt
und empfindet wie das andere, warum ſollte denn der
eine Poet nicht wie der andere dichten? Die Situationen
des Lebens ſind ſich gleich, warum ſollten denn die
Situationen der Gedichte ſich nicht gleich ſeyn?“
Und eben dieſe Gleichheit des Lebens und der Em¬
pfindungen, ſagte Riemer, macht es ja, daß wir im
Stande ſind, die Poeſie anderer Voͤlker zu verſtehen.
Waͤre dieſes nicht, ſo wuͤrden wir ja bey auslaͤndiſchen
Gedichten nie wiſſen, wovon die Rede iſt.
Mir ſind daher, nahm ich das Wort, immer die
Gelehrten hoͤchſt ſeltſam vorgekommen, welche die Mei¬
nung zu haben ſcheinen, das Dichten geſchehe nicht
vom Leben zum Gedicht, ſondern vom Buche zum Ge¬
dicht. Sie ſagen immer: das hat er dort her und das
dort! — Finden ſie z. B. beym Shakſpeare Stellen,
die bey den Alten auch vorkommen, ſo ſoll er es auch
[191] von den Alten haben! So giebt es unter andern beym
Shakſpeare eine Situation, wo man beym Anblick eines
ſchoͤnen Maͤdchens die Eltern gluͤcklich preiſet, die ſie
Tochter nennen, und den Juͤngling gluͤcklich, der ſie als
Braut heimfuͤhren wird. Und weil nun beym Homer
daſſelbige vorkommt, ſo ſoll es der Sheakſpeare auch
vom Homer haben! — Wie wunderlich! Als ob man
nach ſolchen Dingen ſo weit zu gehen brauchte, und
als ob man dergleichen nicht taͤglich vor Augen haͤtte
und empfaͤnde und ausſpraͤche!
„Ach ja, ſagte Goethe, das iſt hoͤchſt laͤcherlich!“
So auch, fuhr ich fort, zeigt ſelbſt Lord Byron
ſich nicht kluͤger, wenn er Ihren Fauſt zerſtuͤckelt und
der Meinung iſt, als haͤtten Sie dieſes hier her und
jenes dort.
„Ich habe, ſagte Goethe, alle jene von Lord Byron
angefuͤhrten Herrlichkeiten groͤßtentheils nicht einmal ge¬
leſen, viel weniger habe ich daran gedacht, als ich den
Fauſt machte. Aber Lord Byron iſt nur groß wenn
er dichtet, ſobald er reflectirt, iſt er ein Kind. So
weiß er ſich auch gegen dergleichen ihn ſelbſt betref¬
fende unverſtaͤndige Angriffe ſeiner eigenen Nation nicht
zu helfen; er haͤtte ſich ſtaͤrker dagegen ausdruͤcken ſol¬
len. Was da iſt, das iſt mein! haͤtte er ſagen ſollen,
und ob ich es aus dem Leben oder aus dem Buche
genommen, das iſt gleichviel, es kam bloß darauf an,
daß ich es recht gebrauchte! Walter Scott benutzte eine
[192] Scene meines Egmonts [und] er hatte ein Recht dazu, und
weil es mit Verſtand geſchah, ſo iſt er zu loben. So
auch hat er den Character meiner Mignon in einem
ſeiner Romane nachgebildet; ob aber mit eben ſo viel
Weisheit? iſt eine andere Frage. Lord Byrons ver¬
wandelter Teufel iſt ein fortgeſetzter Mephiſtopheles, und
das iſt recht! haͤtte er aus origineller Grille ausweichen
wollen, er haͤtte es ſchlechter machen muͤſſen. So ſingt
mein Mephiſtopheles ein Lied von Shakſpeare, und
warum ſollte er das nicht? warum ſollte ich mir die
Muͤhe geben, ein eigenes zu erfinden, wenn das von
Shakſpeare eben recht war und eben das ſagte, was es
ſollte? Hat daher auch die Expoſition meines Fauſt
mit der des Hiob einige Ähnlichkeit, ſo iſt das wie¬
derum ganz recht und ich bin deßwegen eher zu loben
als zu tadeln.“
Goethe war in der beſten Laune. Er ließ eine
Flaſche Wein kommen, wovon er Riemern und mir
einſchenkte; er ſelbſt trank Marienbader Waſſer. Der
Abend ſchien beſtimmt zu ſeyn, mit Riemern das Ma¬
nuſcript ſeiner fortgeſetzten Selbſtbiographie durchzugehen,
um vielleicht hinſichtlich des Ausdruckes hin und wieder
noch Einiges zu verbeſſern. „Eckermann bleibt wohl
bey uns und hoͤrt mit zu,“ ſagte Goethe, welches mir
ſehr lieb war zu vernehmen, und ſo legte er denn Rie¬
mern das Manuſcript vor, der mit dem Jahre 1795
zu leſen anfing.
[193]
Ich hatte ſchon im Laufe des Sommers die Freude
gehabt, alle dieſe noch ungedruckten Lebensjahre bis auf
die neueſte Zeit herauf wiederholt zu leſen und zu be¬
trachten. Aber jetzt in Goethe's Gegenwart ſie laut vor¬
leſen zu hoͤren, gewaͤhrte mir einen ganz neuen Genuß. —
Riemer war auf den Ausdruck gerichtet und ich hatte Ge¬
legenheit ſeine große Gewandtheit und ſeinen Reichthum
an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen
aber war die geſchilderte Lebensepoche rege, er ſchwelgte
in Erinnerungen und ergaͤnzte bey Erwaͤhnung einzelner
Perſonen und Vorfaͤlle das Geſchriebene durch detaillirte
muͤndliche Erzaͤhlung. — Es war ein koͤſtlicher Abend!
der bedeutendſten mitlebenden Maͤnner ward wiederholt
gedacht; zu Schillern jedoch, der dieſer Epoche von
1795 bis 1800 am engſten verflochten war, kehrte das
Geſpraͤch immer von neuem zuruͤck. Das Theater war
ein Gegenſtand ihres gemeinſamen Wirkens geweſen,
ſo auch fallen Goethe's vorzuͤglichſte Werke in jene Zeit.
Der Wilhelm Meiſter wird beendigt, Hermann und
Dorothea gleich hinterher entworfen und geſchrieben,
Cellini uͤberſetzt fuͤr die Horen, die Xenien gemeinſchaft¬
lich gedichtet fuͤr Schillers Muſenalmanach, an taͤglichen
Beruͤhrungspuncten war kein Mangel. Dieſes alles
kam nun dieſen Abend zur Sprache und es fehlte Goe¬
then nicht an Anlaß zu den intereſſanteſten Äußerungen.
„Hermann und Dorothea, ſagte er unter andern,
iſt faſt das einzige meiner groͤßeren Gedichte, das mir
I. 13[194] noch Freude macht; ich kann es nie ohne innigen
Antheil leſen. Beſonders lieb iſt es mir in der latei¬
niſchen Überſetzung; es kommt mir da vornehmer vor,
als waͤre, es der Form nach, zu ſeinem Urſprunge zuruͤck¬
gekehrt.“
Auch vom Wilhelm Meiſter war wiederholt die Rede.
„Schiller, ſagte er, tadelte die Einflechtung des Tragi¬
ſchen, als welches nicht in den Roman gehoͤre. Er
hatte jedoch Unrecht, wie wir alle wiſſen. In ſeinen
Briefen an mich ſind uͤber den Wilhelm Meiſter die
bedeutendſten Anſichten und Äußerungen. Es gehoͤrt
dieſes Werk uͤbrigens zu den incalculabelſten Productio¬
nen, wozu mir faſt ſelbſt der Schluͤſſel fehlt. Man ſucht
einen Mittelpunct, und das iſt ſchwer und nicht einmal
gut. Ich ſollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Le¬
ben, das unſern Augen voruͤbergeht, waͤre auch an ſich
etwas ohne ausgeſprochene Tendenz, die doch bloß fuͤr
den Begriff iſt. Will man aber dergleichen durchaus,
ſo halte man ſich an die Worte Friedrichs, die er am
Ende an unſern Helden richtet, indem er ſagt: Du
kommſt mir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging,
ſeines Vaters Eſelinnen zu ſuchen und ein Koͤnigreich
fand. Hieran halte man ſich. Denn im Grunde ſcheint
doch das Ganze nichts anderes ſagen zu wollen, als
daß der Menſch, trotz aller Dummheiten und Ver¬
wirrungen, von einer hoͤheren Hand geleitet, doch zum
gluͤcklichen Ziele gelange.“
Der großen Cultur der mittleren Staͤnde ward dar¬
auf gedacht, die ſich ſeit den letzten funfzig Jahren uͤber
Deutſchland verbreitet, und Goethe ſchrieb die Verdienſte
hierum weniger Leſſingen zu, als Herdern und Wieland.
„Leſſing, ſagte er, war der hoͤchſte Verſtand, und nur
ein eben ſo großer konnte von ihm wahrhaft lernen.
Dem Halbvermoͤgen war er gefaͤhrlich“ Er nannte
einen Journaliſten, der ſich nach Leſſing gebildet und
am Ende des vorigen Jahrhunderts eine Rolle, aber
keine edle geſpielt habe, weil er ſeinem großen Vor¬
gaͤnger ſo weit nachgeſtanden.
„Wielanden, ſagte Goethe, verdankt das ganze obere
Deutſchland ſeinen Styl. Es hat viel von ihm gelernt
und die Faͤhigkeit ſich gehoͤrig auszudruͤcken iſt nicht das
geringſte.“
Bey Erwaͤhnung der Xenien ruͤhmte Goethe be¬
ſonders die von Schiller, die er ſcharf und ſchlagend
nannte, dagegen ſeine eigenen unſchuldig und geringe.
„Den Thierkreis, ſagte er, welcher von Schiller iſt,
leſe ich ſtets mit Bewunderung. Die guten Wirkungen,
die ſie zu ihrer Zeit auf die deutſche Literatur ausuͤbten,
ſind gar nicht zu berechnen.“ Viele Perſonen wurden
bey dieſer Gelegenheit genannt, gegen welche die Xenien
gerichtet waren; ihre Namen ſind jedoch meinem Ge¬
daͤchtniß entgangen.
Nachdem nun ſo, von dieſen und hundert andern
intereſſanten Äußerungen und Einflechtungen Goethe's
13 *[196] unterbrochen, das gedachte Manuſcript bis zu Ende des
Jahres 1800 vorgeleſen und beſprochen war, legte
Goethe die Papiere an die Seite und ließ an einem
Ende des großen Tiſches, an dem wir ſaßen, decken
und ein kleines Abendeſſen bringen. Wir ließen es uns
wohl ſeyn; Goethe ſelbſt ruͤhrte aber keinen Biſſen an,
wie ich ihn denn nie Abends habe eſſen ſehen. Er ſaß
bey uns, ſchenkte uns ein, putzte die Lichter und er¬
quickte uns uͤberdieß geiſtig mit den herrlichſten Worten.
Das Andenken Schillers war in ihm ſo lebendig, daß
die Geſpraͤche dieſer letzten Haͤlfte des Abends nur ihm
gewidmet waren.
Riemer erinnerte an Schillers Perſoͤnlichkeit. Der
Bau ſeiner Glieder, ſein Gang auf der Straße, jede
ſeiner Bewegungen, ſagte er, war ſtolz, nur die Augen
waren ſanft. „Ja, ſagte Goethe, alles Übrige an ihm
war ſtolz und großartig, aber ſeine Augen waren ſanft.
Und wie ſein Koͤrper war ſein Talent. Er griff in
einen großen Gegenſtand kuͤhn hinein und betrachtete
und wendete ihn hin und her und ſah ihn ſo an und
ſo, und handhabte ihn ſo und ſo. Er ſah ſeinen Ge¬
genſtand gleichſam nur von Außen an, eine ſtille Ent¬
wickelung aus dem Innern war nicht ſeine Sache. Sein
Talent war mehr deſultoriſch. Deßhalb war er auch
nie entſchieden und konnte nie fertig werden. Er wech¬
ſelte oft noch eine Rolle kurz vor der Probe.“
„Und wie er uͤberall kuͤhn zu Werke ging, ſo war
[197] er auch nicht fuͤr vieles Motiviren. Ich weiß, was ich
mit ihm beym Tell fuͤr Noth hatte, wo er geradezu den
Geßler einen Apfel vom Baum brechen und vom Kopf
des Knaben ſchießen laſſen wollte. Dieß war nun ganz
gegen meine Natur, und ich uͤberredete ihn, dieſe Grau¬
ſamkeit doch wenigſtens dadurch zu motiviren, daß er
Tells Knaben mit der Geſchicklichkeit ſeines Vaters
gegen den Landvogt groß thun laſſe, indem er ſagt,
daß er wohl auf hundert Schritte ein Apfel vom Baum
ſchieße. Schiller wollte anfaͤnglich nicht daran, aber er
gab doch endlich meinen Vorſtellungen und Bitten nach
und machte es ſo wie ich ihm gerathen.“
„Daß ich dagegen oft zu viel motivirte, entfernte
meine Stuͤcke vom Theater. Meine Eugenie iſt eine
Kette von lauter Motiven und dieß kann auf der Buͤhne
kein Gluͤck machen.“
„Schillers Talent war recht fuͤrs Theater geſchaffen.
Mit jedem Stuͤck ſchritt er vor und ward er vollen¬
deter; doch war es wunderlich, daß ihm noch von
den Raͤubern her ein gewiſſer Sinn fuͤr das Grauſame
anklebte, der ſelbſt in ſeiner ſchoͤnſten Zeit ihn nie ganz
verlaſſen wollte. So erinnere ich mich noch recht wohl,
daß er im Egmont in der Gefaͤngnißſcene, wo dieſem
das Urtheil vorgeleſen wird, den Alba in einer Maske
und in einen Mantel gehuͤllt im Hintergrunde erſcheinen
ließ, um ſich an dem Effect zu weiden, den das Todes-
Urtheil auf Egmont haben wuͤrde. Hiedurch ſollte ſich
[198] der Alba als unerſaͤttlich in Rache und Schadenfreude
darſtellen. Ich proteſtirte jedoch und die Figur blieb
weg. Er war ein wunderlicher großer Menſch.“
„Alle acht Tage war er ein Anderer und ein Voll¬
endeterer; jedesmal wenn ich ihn wiederſah, erſchien er
mir vorgeſchritten in Beleſenheit, Gelehrſamkeit und
Urtheil. Seine Briefe ſind das ſchoͤnſte Andenken, das
ich von ihm beſitze, und ſie gehoͤren mit zu dem Vor¬
trefflichſten, was er geſchrieben. Seinen letzten Brief
bewahre ich als ein Heiligthum unter meinen Schaͤtzen.“
Goethe ſtand auf und holte ihn. „Da ſehen und leſen
Sie“, ſagte er, indem er mir ihn zureichte.
Der Brief war ſchoͤn und mit kuͤhner Hand ge¬
ſchrieben. Er enthielt ein Urtheil uͤber Goethe's Anmer¬
kungen zu Rameau's Neffen, welche die franzoͤſiſche Li¬
teratur jener Zeit darſtellen, und die er Schillern in
Manuſcript zur Anſicht mitgetheilt hatte. Ich las den
Brief Riemern vor. „Sie ſehen, ſagte Goethe, wie
ſein Urtheil treffend und beyſammen iſt, und wie die
Handſchrift durchaus keine Spur irgend einer Schwaͤche
verraͤth. — Er war ein praͤchtiger Menſch und bey
voͤlligen Kraͤften iſt er von uns gegangen. Dieſer
Brief iſt vom 24. April 1805. — Schiller ſtarb am
9. May.“
Wir betrachteten den Brief wechſelsweiſe und freu¬
ten uns des klaren Ausdrucks wie der ſchoͤnen Hand¬
ſchrift, und Goethe widmete ſeinem Freunde noch man¬
[199] ches Wort eines liebevollen Andenkens, bis es ſpaͤt gegen
eilf Uhr geworden war und wir gingen.
„Waͤre es meine Sache noch, dem Theater vorzu¬
ſtehen, ſagte Goethe dieſen Abend, ich wuͤrde Byrons
Dogen von Venedig auf die Buͤhne bringen. Freylich
iſt das Stuͤck zu lang und es muͤßte gekuͤrzt werden;
aber man muͤßte nichts daran ſchneiden und ſtreichen,
ſondern es ſo machen: Man muͤßte den Inhalt jeder
Scene in ſich aufnehmen und ihn bloß kuͤrzer wiedergeben.
Dadurch wuͤrde das Stuͤck zuſammengehen, ohne daß
man ihm durch Änderungen ſchadete und es wuͤrde an
kraͤftiger Wirkung durchaus gewinnen, ohne im Weſent¬
lichen von ſeinem Schoͤnen etwas einzubuͤßen.“
Dieſe Äußerung Goethe's gab mir eine neue Anſicht,
wie man beym Theater in hundert aͤhnlichen Faͤllen zu
verfahren habe, und ich war uͤber dieſe Maxime, die
freylich einen guten Kopf, ja einen Poeten vorausſetzt
der ſeine Sache verſteht, hoͤchſt erfreut.
Wir ſprachen uͤber Lord Byron weiter und ich er¬
waͤhnte, wie er in ſeinen Converſationen mit Medwin
es als etwas hoͤchſt Schwieriges und Undankbares aus¬
geſprochen habe, fuͤr das Theater zu ſchreiben. „Es
kommt darauf an, ſagte Goethe, daß der Dichter die
[200] Bahn zu treffen wiſſe, die der Geſchmack und das In¬
tereſſe des Publicums genommen hat. Faͤllt die Rich¬
tung des Talents mit der des Publicums zuſammen,
ſo iſt alles gewonnen. Dieſe Bahn hat Houwald mit
ſeinem Bilde getroffen, daher der allgemeine Beyfall.
Lord Byron waͤre vielleicht nicht ſo gluͤcklich geweſen,
inſofern ſeine Richtungen von der des Publicums ab¬
wichen. Denn es fragt ſich hiebey keineswegs, wie
groß der Poet ſey, vielmehr kann ein ſolcher, der mit
ſeiner Perſoͤnlichkeit aus dem allgemeinen Publicum we¬
nig hervorragt, oft eben dadurch die allgemeinſte Gunſt
gewinnen.“
Wir ſetzten das Geſpraͤch uͤber Lord Byron fort
und Goethe bewunderte ſein außerordentliches Talent.
„Dasjenige, was ich die Erfindung nenne, ſagte er,
iſt mir bey keinem Menſchen in der Welt groͤßer vor¬
gekommen als bey ihm. Die Art und Weiſe, wie er
einen dramatiſchen Knoten loͤſet, iſt ſtets uͤber alle Er¬
wartung und immer beſſer, als man es ſich dachte.“
Mir geht es mit Shakſpeare ſo, erwiederte ich, nament¬
lich mit dem Falſtaff, wenn er ſich feſtgelogen hat und
ich mich frage, was ich ihn thun laſſen wuͤrde, um
ſich wieder loszuhelfen, wo denn freylich Shakſpeare
alle meine Gedanken bey weitem uͤbertrifft. Daß aber
Sie ein Gleiches von Lord Byron ſagen, iſt wohl das
hoͤchſte Lob, das dieſem zu Theil werden kann. Jedoch,
fuͤgte ich hinzu, ſteht der Poet, der Anfang und Ende
[201] klar uͤberſieht, gegen den befangenen Leſer bey weitem
im Vortheil.
Goethe gab mir Recht und lachte dann uͤber Lord
Byron, daß Er, der ſich im Leben nie gefuͤgt und der
nie nach einem Geſetz gefragt, ſich endlich dem duͤmm¬
ſten Geſetz der drey Einheiten unterworfen habe.
„Er hat den Grund dieſes Geſetzes ſo wenig verſtanden,
ſagte er, als die uͤbrige Welt. Das Faßliche iſt der
Grund, und die drey Einheiten ſind nur in ſo fern gut,
als dieſes durch ſie erreicht wird. Sind ſie aber dem
Faßlichen hinderlich, ſo iſt es immer unverſtaͤndig ſie
als Geſetz betrachten und befolgen zu wollen. Selbſt
die Griechen, von denen dieſe Regel ausging, haben ſie
nicht immer befolgt; im Phaëthon des Euripides und
in andern Stuͤcken wechſelt der Ort, und man ſieht
alſo, daß die gute Darſtellung ihres Gegenſtandes ihnen
mehr galt als der blinde Reſpect vor einem Geſetz, das
an ſich nie viel zu bedeuten hatte. Die Shakſpear'ſchen
Stuͤcke gehen uͤber die Einheit der Zeit und des Orts
ſo weit hinaus als nur moͤglich; aber ſie ſind faßlich,
es iſt nichts faßlicher als ſie, und deßhalb wuͤrden auch
die Griechen ſie untadelig finden. Die franzoͤſiſchen
Dichter haben dem Geſetz der drey Einheiten am ſtreng¬
ſten Folge zu leiſten geſucht, aber ſie ſuͤndigen gegen
das Faßliche, indem ſie ein dramatiſches Geſetz nicht
dramatiſch loͤſen, ſondern durch Erzaͤhlung.“
Ich dachte hiebey an die Feinde von Houwald,
[202] bey welchem Drama der Verfaſſer ſich auch ſehr im
Lichte ſtand, indem er, um die Einheit des Orts zu
bewahren, im erſten Act dem Faßlichen ſchadete und
uͤberhaupt eine moͤgliche groͤßere Wirkung ſeines Stuͤckes
einer Grille opferte, die ihm niemand Dank weiß. Da¬
gegen dachte ich auch an den Goͤtz von Berlichingen,
welches Stuͤck uͤber die Einheit der Zeit und des Orts
ſo weit hinausgeht als nur immer moͤglich; aber auch
ſo in der Gegenwart ſich entwickelnd, alles vor die un¬
mittelbare Anſchauung bringend, und daher ſo echt dra¬
matiſch und faßlich iſt als nur irgend ein Stuͤck in der
Welt. Auch dachte ich, daß die Einheit der Zeit und
des Orts dann natuͤrlich und im Sinne der Griechen
waͤre, wenn ein Factum ſo wenig Umfang habe, daß
es ſich in gehoͤriger Zeit vor unſern Augen im Detail
entwickeln koͤnne; daß aber bey einer großen, durch ver¬
ſchiedene Orte ſich machenden Handlung kein Grund ſey,
ſolche auf einen Ort beſchraͤnken zu wollen, um ſo¬
weniger als bey unſeren jetzigen Buͤhnen zu beliebiger
Verwandlung der Scene durchaus kein Hinderniß im
Wege ſtehe.
Goethe fuhr uͤber Lord Byron zu reden fort: „Sei¬
nem ſtets ins Unbegrenzte ſtrebenden Naturell, ſagte er,
ſteht jedoch die Einſchraͤnkung, die er ſich durch Beob¬
achtung der drey Einheiten auflegte, ſehr wohl. Haͤtte
er ſich doch auch im Sittlichen ſo zu begrenzen gewußt!
Daß er dieſes nicht konnte, war ſein Verderben, und es
[203] laͤßt ſich ſehr wohl ſagen, baß er an ſeiner Zuͤgelloſigkeit
zu Grunde gegangen iſt.“
„Er war gar zu dunkel uͤber ſich ſelbſt. Er lebte im¬
mer leidenſchaftlich in den Tag hin und wußte und be¬
dachte nicht, was er that. Sich ſelber alles erlaubend und
an Andern nichts billigend, mußte er es mit ſich ſelbſt
verderben und die Welt gegen ſich aufregen. Mit ſeinen
English Bards and Scotch Reviewers verletzte er gleich
anfaͤnglich die vorzuͤglichſten Literatoren. Um nachher nur
zu leben, mußte er einen Schritt zuruͤcktreten. In ſeinen
folgenden Werken ging er in Oppoſition und Mißbilligung
fort; Staat und Kirche blieben nicht unangetaſtet. Die¬
ſes ruͤckſichtsloſe Hinwirken trieb ihn aus England und
haͤtte ihn mit der Zeit auch aus Europa getrieben. Es
war ihm uͤberall zu enge, und bey der graͤnzenloſeſten
perſoͤnlichen Freyheit fuͤhlte er ſich beklommen; die Welt
war ihm wie ein Gefaͤngniß. Sein Gehen nach Grie¬
chenland war kein freiwilliger Entſchluß, ſein Mißver¬
haͤltniß mit der Welt trieb ihn dazu.“
„Daß er ſich vom Herkoͤmmlichen, Patriotiſchen,
losſagte, hat nicht allein einen ſo vorzuͤglichen Menſchen
perſoͤnlich zu Grunde gerichtet, ſondern ſein revolutio¬
naͤrer Sinn und die damit verbundene beſtaͤndige Agi¬
tation des Gemuͤths hat auch ſein Talent nicht zur ge¬
hoͤrigen Entwickelung kommen laſſen. Auch iſt die ewige
Oppoſition und Mißbilligung ſeinen vortrefflichen Wer¬
ken ſelbſt, ſo wie ſie daliegen, hoͤchſt ſchaͤdlich. Denn
[204] nicht allein, daß das Unbehagen des Dichters ſich dem
Leſer mittheilt, ſondern auch alles opponirende Wirken
geht auf das Negative hinaus, und das Negative iſt
nichts. Wenn ich das Schlechte ſchlecht nenne, was iſt
da viel gewonnen? Nenne ich aber gar das Gute ſchlecht,
ſo iſt viel geſchadet. Wer recht wirken will, muß nie
ſchelten, ſich um das Verkehrte gar nicht bekuͤmmern,
ſondern nur immer das Gute thun. Denn es kommt
nicht darauf an, daß eingeriſſen, ſondern daß etwas
aufgebaut werde, woran die Menſchheit reine Freude
empfinde.“
Ich erquickte mich an dieſen herrlichen Worten und
freute mich der koͤſtlichen Maxime.
„Lord Byron, fuhr Goethe fort, iſt zu betrachten:
als Menſch, als Englaͤnder und als großes Talent. Seine
guten Eigenſchaften ſind vorzuͤglich vom Menſchen herzu¬
leiten; ſeine ſchlimmen, daß er ein Englaͤnder und ein Paͤr
von England war; und ſein Talent iſt incommenſurabel.“
„Alle Englaͤnder ſind als ſolche ohne eigentliche Re¬
flexion; die Zerſtreuung und der Parteygeiſt laſſen ſie
zu keiner ruhigen Ausbildung kommen. Aber ſie ſind
groß als praktiſche Menſchen.“
„So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken uͤber
ſich ſelbſt gelangen; deßwegen auch ſeine Reflexionen
uͤberhaupt ihm nicht gelingen wollen, wie ſein Sym¬
bolum: viel Geld und keine Obrigkeit! beweiſet,
weil durchaus vieles Geld die Obrigkeit paralyſirt.“
„Aber alles, was er produciren mag, gelingt ihm,
und man kann wirklich ſagen, daß ſich bey ihm die
Inſpiration an die Stelle der Reflexion ſetzt. Er mußte
immer dichten! und da war denn alles, was vom
Menſchen, beſonders vom Herzen ausging, vortrefflich.
Zu ſeinen Sachen kam er, wie die Weiber zu ſchoͤnen
Kindern; ſie denken nicht daran und wiſſen nicht wie.“
„Er iſt ein großes Talent, ein geborenes, und
die eigentlich poetiſche Kraft iſt mir bey niemanden
groͤßer vorgekommen als bey ihm. In Auffaſſung des
Äußern und klarem Durchblick vergangener Zuſtaͤnde iſt
er eben ſo groß als Shakſpeare. Aber Shakſpeare iſt als
reines Individuum uͤberwiegend. Dieſes fuͤhlte Byron
ſehr wohl, deßhalb ſpricht er vom Shakſpeare nicht
viel, obgleich er ganze Stellen von ihm auswendig weiß.
Er haͤtte ihn gern verlaͤugnet, denn Shakſpeare's Hei¬
terkeit iſt ihm im Wege; er fuͤhlt, daß er nicht dagegen
aufkann. Pope verlaͤugnet er nicht, weil er ihn nicht
zu fuͤrchten hatte. Er nennt und achtet ihn vielmehr
wo er kann, denn er weiß ſehr wohl, daß Pope nur
eine Wand gegen ihn iſt.“
Goethe ſchien uͤber Byron unerſchoͤpflich, und ich
konnte nicht ſatt werden, ihm zuzuhoͤren. Nach einigen
kleinen Zwiſchengeſpraͤchen fuhr er fort:
„Der hohe Stand als engliſcher Paͤr war Byron
ſehr nachtheilig; denn jedes Talent iſt durch die Außen¬
welt genirt, geſchweige eins bey ſo hoher Geburt und
[206] ſo großem Vermoͤgen. Ein gewiſſer mittler Zuſtand iſt
dem Talent bey weitem zutraͤglicher; weßhalb wir denn
auch alle große Kuͤnſtler und Poeten in den mittleren
Staͤnden finden. Byrons Hang zum Unbegrenzten
haͤtte ihm bey einer geringeren Geburt und niederem
Vermoͤgen bey weitem nicht ſo gefaͤhrlich werden koͤn¬
nen. So aber ſtand es in ſeiner Macht, jede Anwand¬
lung in Ausfuͤhrung zu bringen und das verſtrickte ihn
in unzaͤhlige Haͤndel. Und wie ſollte ferner dem, der
ſelbſt aus ſo hohem Stande war, irgend ein Stand
imponiren und Ruͤckſicht einfloͤßen? Er ſprach aus, was
ſich in ihm regte und das brachte ihn mit der Welt in
einen unaufloͤslichen Conflict.“
„Man bemerkt mit Verwunderung, fuhr Goethe
fort, welcher große Theil des Lebens eines vornehmen
reichen Englaͤnders in Entfuͤhrungen und Duellen zuge¬
bracht wird. Lord Byron erzaͤhlt ſelbſt, daß ſein Vater
drey Frauen entfuͤhrt habe. Da ſey einer einmal ein
vernuͤnftiger Sohn!“
„Er lebte eigentlich immer im Naturzuſtande, und
bey ſeiner Art zu ſeyn, mußte ihm taͤglich das Beduͤrf¬
niß der Nothwehr vorſchweben. Deßwegen ſein ewiges
Piſtolenſchießen. Er mußte jeden Augenblick erwarten
herausgefordert zu werden.“
„Er konnte nicht allein leben. Deßwegen war er
trotz aller ſeiner Wunderlichkeiten gegen ſeine Geſellſchaft
hoͤchſt nachſichtig. Er las das herrliche Gedicht uͤber
[207] den Tod des General Moore einen Abend vor, und
ſeine edlen Freunde wiſſen nicht, was ſie daraus machen
ſollen. Das ruͤhrt ihn nicht und er ſteckt es wieder
ein. Als Poet beweiſt er ſich wirklich wie ein Lamm.
Ein Anderer haͤtte ſie dem Teufel uͤbergeben!“
Goethe zeigte mir dieſen Abend einen Brief eines
jungen Studirenden, der ihn um den Plan zum zwey¬
ten Theile des Fauſt bittet, indem er den Vorſatz habe,
dieſes Werk ſeinerſeits zu vollenden. — Trocken, gut¬
muͤthig und aufrichtig geht er mit ſeinen Wuͤnſchen und
Abſichten frey heraus, und aͤußert zuletzt ganz unver¬
hohlen, daß es zwar mit allen uͤbrigen neueſten litera¬
riſchen Beſtrebungen nichts ſey, daß aber in ihm eine
neue Literatur friſch erbluͤhen ſolle.
Wenn ich im Leben auf einen jungen Menſchen ſtieße,
der Napoleons Welteroberungen fortzuſetzen ſich ruͤſtete,
oder auf einen jungen Bau-Dilettanten, der den Coͤl¬
ner Dom zu vollenden ſich anſchickte, ſo wuͤrde ich mich
uͤber dieſe nicht mehr verwundern und ſie nicht verruͤck¬
ter und laͤcherlicher finden, als eben dieſen jungen Lieb¬
haber der Poeſie, der Wahn genug beſitzt, aus bloßer
Neigung den zweyten Theil des Fauſt machen zu koͤnnen.
Ja ich halte es fuͤr moͤglicher, den Coͤlner Dom
[208] auszubauen, als in Goethe's Sinne den Fauſt fortzu¬
ſetzen! Denn jenem ließe ſich doch allenfalls mathematiſch
beykommen, er ſteht uns doch ſinnlich vor Augen und
laͤßt ſich mit Haͤnden greifen. Mit welchen Schnuͤren
und Maaßen aber wollte man zu einem unſichtbaren
geiſtigen Werk reichen, das durchaus auf dem Subject
beruht, bey welchem alles auf das Aperçu ankommt,
das zum Material ein großes ſelbſt durchlebtes Leben
und zur Ausfuͤhrung eine jahrelang geuͤbte zur Meiſter¬
ſchaft geſteigerte Technik erfordert?
Wer ein ſolches Unternehmen fuͤr leicht, ja nur fuͤr
moͤglich haͤlt, hat ſicher nur ein ſehr geringes Talent,
eben weil er keine Ahndung vom Hohen und Schwie¬
rigen beſitzt; und es ließe ſich ſehr wohl behaupten, daß,
wenn Goethe ſeinen Fauſt bis auf eine Luͤcke von we¬
nigen Verſen ſelbſt vollenden wollte, ein ſolcher Juͤng¬
ling nicht faͤhig ſeyn wuͤrde, nur dieſe wenigen Verſe
ſchicklich hineinzubringen.
Ich will nicht unterſuchen, woher unſerer jetzigen
Jugend die Einbildung gekommen, daß ſie dasjenige
als etwas Angeborenes bereits mit ſich bringe, was man
bisher nur auf dem Wege vieljaͤhriger Studien und
Erfahrungen erlangen konnte, aber ſoviel glaube ich
ſagen zu koͤnnen, daß die in Deutſchland jetzt ſo haͤufig
vorkommenden Äußerungen eines alle Stufen allmaͤh¬
licher Entwickelung keck uͤberſchreitenden Sinnes zu kuͤnf¬
tigen Meiſterwerken wenige Hoffnung machen.
[209]
„Das Ungluͤck iſt, ſagte Goethe, im Staat, daß
niemand leben und genießen, ſondern jeder regieren, und
in der Kunſt, daß niemand ſich des Hervorgebrachten
freuen, ſondern jeder ſeinerſeits ſelbſt wieder produciren
will.“
„Auch denkt niemand daran, ſich von einem Werk
der Poeſie auf ſeinem eigenen Wege foͤrdern zu laſſen,
ſondern jeder will ſogleich wieder daſſelbige machen.“
„Es iſt ferner kein Ernſt da, der ins Ganze geht,
kein Sinn dem Ganzen etwas zu Liebe zu thun, ſon¬
dern man trachtet nur, wie man ſein eigenes Selbſt
bemerklich mache und es vor der Welt zu moͤglichſter
Evidenz bringe. — Dieſes falſche Beſtreben zeigt ſich
uͤberall, und man thut es den neueſten Virtuoſen nach,
die nicht ſowohl ſolche Stuͤcke zu ihrem Vortrage waͤh¬
len, woran die Zuhoͤrer reinen muſikaliſchen Genuß ha¬
ben, als vielmehr ſolche, worin der Spielende ſeine er¬
langte Fertigkeit koͤnne bewundern laſſen. Überall iſt
es das Individuum, das ſich herrlich zeigen will, und
nirgends trifft man auf ein redliches Streben, das dem
Ganzen und der Sache zu Liebe ſein eigenes Selbſt
zuruͤckſetzte.“
„Hiezu kommt ſodann, daß die Menſchen in ein
pfuſcherhaftes Produciren hineinkommen, ohne es ſelbſt
zu wiſſen. Die Kinder machen ſchon Verſe und gehen
ſo fort und meinen als Juͤnglinge, ſie koͤnnten was,
bis ſie zuletzt als Maͤnner zur Einſicht des Vortrefflichen
I. 14[210] gelangen was da iſt und uͤber die Jahre erſchrecken,
die ſie in einer falſchen hoͤchſt unzulaͤnglichen Beſtrebung
verloren haben.“
„Ja, Viele kommen zur Erkenntniß des Vollendeten
und ihrer eigenen Unzulaͤnglichkeit nie und produciren
Halbheiten bis an ihr Ende.“
„Gewiß iſt es, daß wenn jeder fruͤh genug zum
Bewußtſeyn zu bringen waͤre, wie die Welt von dem
Vortrefflichſten ſo voll iſt und was dazu gehoͤrt, dieſen
Werken etwas Gleiches an die Seite zu ſetzen, daß ſo¬
dann von jetzigen hundert dichtenden Juͤnglingen kaum
ein Einziger Beharren und Talent und Muth genug in
ſich fuͤhlen wuͤrde, zu Erreichung einer aͤhnlichen Mei¬
ſterſchaft ruhig fortzugehen.“
„Viele junge Maler wuͤrden nie einen Pinſel in die
Hand genommen haben, wenn ſie fruͤh genug gewußt
und begriffen haͤtten, was denn eigentlich ein Meiſter
wie Raphael gemacht hat.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die falſchen Tendenzen
im Allgemeinen [und] Goethe fuhr fort:
„So war meine practiſche Tendenz zur bildenden
Kunſt eigentlich eine falſche, denn ich hatte keine Natur-
Anlage dazu und konnte ſich alſo dergleichen nicht aus
mir entwickeln. Ein gewiſſe Zaͤrtlichkeit gegen die land¬
ſchaftlichen Umgebungen war mir eigen und daher meine
erſten Anfaͤnge eigentlich hoffnungsvoll. Die Reiſe nach
Italien zerſtoͤrte dieſes practiſche Behagen; eine weite
[211] Ausſicht trat an die Stelle, aber die liebevolle Faͤhigkeit
ging verloren, und da ſich ein kuͤnſtleriſches Talent
weder techniſch noch aͤſthetiſch entwickeln konnte, ſo zer¬
floß mein Beſtreben zu nichts.“
„Man ſagt mit Recht, fuhr Goethe fort, daß die
gemeinſame Ausbildung menſchlicher Kraͤfte zu wuͤnſchen
und auch das Vorzuͤglichſte ſey. Der Menſch aber iſt
dazu nicht geboren, jeder muß ſich eigentlich als ein
beſonderes Weſen bilden, aber den Begriff zu erlangen
ſuchen, was alle zuſammen ſind.“
Ich dachte hiebey an den Wilhelm Meiſter, wo
gleichfalls ausgeſprochen iſt, daß nur alle Menſchen
zuſammengenommen die Menſchheit ausmachen und wir
nur in ſofern zu achten ſind, als wir zu ſchaͤtzen wiſſen.
So auch dachte ich an die Wanderjahre, wo Jarmo
immer nur zu Einem Handwerk raͤth und dabey aus¬
ſpricht, daß jetzt die Zeit der Einſeitigkeiten ſey und
man den gluͤcklich zu preiſen habe, der dieſes begreife
und fuͤr ſich und Andere in ſolchem Sinne wirke.
Nun aber fragt es ſich, was jemand fuͤr ein Hand¬
werk habe, damit er die Grenzen nicht uͤberſchreite, aber
auch nicht zu wenig thue.
Weſſen Sache es ſeyn wird, viele Faͤcher zu uͤber¬
ſehen, zu beurtheilen, zu leiten, der ſoll auch eine
moͤglichſte Einſicht in viele Faͤcher zu erlangen ſuchen.
So kann ein Fuͤrſt, ein kuͤnftiger Staatsmann, ſich
14*[212] nicht vielſeitig genug ausbilden, denn die Vielſeitigkeit
gehoͤrt zu ſeinem Handwerk.
Gleicherweiſe ſoll der Poet nach mannigfaltiger Kennt¬
niß ſtreben; denn die ganze Welt iſt ſein Stoff, den
er zu handhaben und auszuſprechen verſtehen muß.
Aber der Dichter ſoll kein Maler ſeyn wollen, ſon¬
dern ſich begnuͤgen, die Welt durch das Wort wieder¬
zugeben; ſo wie er dem Schauſpieler uͤberlaͤßt, ſie durch
perſoͤnliche Darſtellung uns vor die Augen zu bringen.
Denn Einſicht und Lebensthaͤtigkeit ſollen
wohl unterſchieden werden und man ſoll bedenken, daß
jede Kunſt, ſobald es auf die Ausuͤbung ankommt,
etwas ſehr Schwieriges und Großes iſt, worin es zur
Meiſterſchaft zu bringen ein eigenes Leben verlangt wird.
So hat Goethe nach vielſeitigſter Einſicht geſtrebt,
aber in ſeiner Lebensthaͤtigkeit hat er ſich nur auf Eins
beſchraͤnkt. Nur eine einzige Kunſt hat er geuͤbt und
zwar meiſterhaft geuͤbt, naͤmlich die: Deutſch zu
ſchreiben. Daß der Stoff, den er ausſprach, viel¬
ſeitiger Natur war, iſt eine andere Sache.
Gleicherweiſe ſoll man Ausbildung von Lebens¬
thaͤtigkeit wohl unterſcheiden.
So gehoͤrt zur Ausbildung des Dichters, daß ſein
Auge zur Auffaſſung der aͤußeren Gegenſtaͤnde auf alle
Weiſe geuͤbt werde. Und wenn Goethe ſeine practiſche
Tendenz zur bildenden Kunſt, inſofern er ſie zu ſeiner
Lebensthaͤtigkeit haͤtte machen wollen, eine falſche nennt,
[213] ſo war ſie wiederum ganz am Orte, inſofern es ſeine
Ausbildung als Dichter galt.
„Die Gegenſtaͤndlichkeit meiner Poeſie, ſagte Goethe,
bin ich denn doch jener großen Aufmerkſamkeit und Übung
des Auges ſchuldig geworden; ſo wie ich auch die daraus
gewonnene Kenntniß hoch anzuſchlagen habe.“
Huͤten aber ſoll man ſich, die Grenzen ſeiner Aus¬
bildung zu weit zu ſtecken.
„Die Naturforſcher, ſagte Goethe, werden am erſten
dazu verfuͤhrt, weil zur Betrachtung der Natur wirklich
eine ſehr harmoniſche allgemeine Ausbildung erfordert
wird.“
Dagegen aber ſoll ſich jeder, ſobald es die Kennt¬
niſſe betrifft, die zu ſeinem Fache unerlaͤßlich gehoͤ¬
ren, vor Beſchraͤnkung und Einſeitigkeit zu bewahren
ſuchen.
Ein Dichter, der fuͤr das Theater ſchreiben will, ſoll
Kenntniß der Buͤhne haben, damit er die Mittel er¬
waͤge, die ihm zu Gebote ſtehen und er uͤberhaupt wiſſe,
was zu thun und zu laſſen ſey; ſo wie es dem Opern-
Componiſten nicht an Einſicht der Poeſie fehlen darf,
damit er das Schlechte vom Guten unterſcheiden koͤnne
und ſeine Kunſt nicht an etwas Unzulaͤnglichem ver¬
ſchwendet werde.
„Carl Maria von Weber, ſagte Goethe, mußte die
Euryanthe nicht componiren; er mußte gleich ſehen, daß
dieß ein ſchlechter Stoff ſey, woraus ſich nichts machen
[214] laſſe. Dieſe Einſicht duͤrfen wir bey jedem Componiſten,
als zu ſeiner Kunſt gehoͤrig, vorausſetzen.“
So ſoll der Maler Kenntniß in Unterſcheidung der
Gegenſtaͤnde haben; denn es gehoͤrt zu ſeinem Fache,
daß er wiſſe, was er zu malen habe und was nicht.
„Im Übrigen aber, ſagte Goethe, iſt es zuletzt die
groͤßte Kunſt, ſich zu beſchraͤnken und zu iſoliren.“
So hat er die ganze Zeit, die ich in ſeiner Naͤhe
bin, mich ſtets vor allen ableitenden Richtungen zu be¬
wahren und mich immer auf ein einziges Fach zu con¬
centriren geſucht. Zeigte ich etwa Neigung, mich in
Naturwiſſenſchaften umzuthun, ſo war immer ſein Rath,
es zu unterlaſſen und mich fuͤr jetzt bloß an die Poeſie
zu halten. Wollte ich ein Buch leſen, wovon er wußte,
daß es mich auf meinem jetzigen Wege nicht weiter
braͤchte, ſo widerrieth er es mir ſtets, indem er ſagte,
es ſey fuͤr mich von keinem practiſchen Nutzen.
„Ich habe gar zu viele Zeit auf Dinge verwendet,
ſagte er eines Tages, die nicht zu meinem eigentlichen
Fache gehoͤrten. Wenn ich bedenke, was Lopez de Vega
gemacht hat, ſo kommt mir die Zahl meiner poetiſchen
Werke ſehr klein vor. Ich haͤtte mich mehr an mein
eigentliches Metier halten ſollen.“
„Haͤtte ich mich nicht ſo viel mit Steinen beſchaͤf¬
tiget, ſagte er ein andermal, und meine Zeit zu etwas
Beſſerem verwendet, ich koͤnnte den ſchoͤnſten Schmuck
von Diamanten haben.“
Aus gleicher Urſache ſchaͤtzt und ruͤhmt er an ſeinem
Freunde Meyer, daß dieſer ausſchließlich auf das
Studium der Kunſt ſein ganzes Leben verwendet habe,
wodurch man ihm denn die hoͤchſte Einſicht in dieſem
Fache zugeſtehen muͤſſe.
„Ich bin auch in ſolcher Richtung fruͤhzeitig her¬
gekommen, ſagte Goethe, und habe auch faſt ein halbes
Leben an Betrachtung und Studium von Kunſtwerken
gewendet, aber Meyern kann ich es denn doch in ge¬
wiſſer Hinſicht nicht gleich thun. Ich huͤte mich daher
auch wohl, ein neues Gemaͤlde dieſem Freunde ſogleich
zu zeigen, ſondern ich ſehe zuvor zu, wieweit ich ihm
meinerſeits beykommen kann. Glaube ich nun, uͤber
das Gelungene und Mangelhafte voͤllig im Klaren zu
ſeyn, ſo zeige ich es Meyern, der denn freylich weit
ſchaͤrfer ſieht, und dem in manchem Betracht noch ganz
andere Lichter dabey aufgehen. Und ſo ſehe ich immer
von neuem, was es ſagen will und was dazu gehoͤrt,
um in einer Sache durchaus groß zu ſeyn. In
Meyern liegt eine Kunſt-Einſicht von ganzen Jahr¬
tauſenden.“
Nun aber koͤnnte man fragen, warum denn Goethe,
wenn er ſo lebhaft durchdrungen ſey, daß der Menſch
nur ein Einziges thun ſolle, warum denn gerade er
ſelbſt ſein Leben an ſo hoͤchſt vielſeitige Richtungen ver¬
wendet habe?
Hierauf antworte ich, daß, wenn Goethe jetzt in
[216] die Welt kaͤme und er die poetiſchen und wiſſenſchaft¬
lichen Beſtrebungen ſeiner Nation bereits auf der Hoͤhe
vorfaͤnde, auf welche ſie jetzt, und zwar groͤßtentheils
durch ihn, gebracht ſind, er ſodann ſicher zu ſo mannig¬
faltigen Richtungen keine Veranlaſſung finden und ſich
gewiß auf ein einziges Fach beſchraͤnken wuͤrde.
So aber lag es nicht allein in ſeiner Natur, nach
allen Seiten hin zu forſchen und ſich uͤber die irdiſchen
Dinge klar zu machen; ſondern es lag auch im Be¬
duͤrfniß der Zeit, das Wahrgenommene auszuſprechen.
Er that bey ſeinem Erſcheinen zwey große Erb¬
ſchaften: der Irrthum und die Unzulaͤnglichkeit
fielen ihm zu daß er ſie hinwegraͤume, und verlangten
ſeine lebenslaͤnglichen Bemuͤhungen nach vielen Seiten.
Waͤre die Newtoniſche Theorie Goethen nicht als
ein großer dem menſchlichen Geiſte hoͤchſt ſchaͤdlicher
Irrthum erſchienen, glaubt man denn, daß es ihm je
eingefallen ſeyn wuͤrde, eine Farbenlehre zu ſchreiben und
vieljaͤhrige Bemuͤhungen einer ſolchen Nebenrichtung zu
widmen? Keineswegs! Sondern ſein Wahrheitsgefuͤhl
im Conflict mit dem Irrthum war es, das ihn bewog,
ſein reines Licht auch in dieſe Dunkelheiten leuchten zu
laſſen.
Ein Gleiches iſt von ſeiner Metamorphoſenlehre zu
ſagen, worin wir ihm jetzt ein Muſter wiſſenſchaftlicher
Behandlung verdanken; welches Werk zu ſchreiben Goe¬
then aber gewiß nie eingefallen ſeyn wuͤrde, wenn er
[217] ſeine Zeitgenoſſen bereits auf dem Wege zu einem ſol¬
chem Ziele erblickt haͤtte.
Ja ſogar von ſeinen vielſeitigen poetiſchen Beſtre¬
bungen moͤchte ſolches gelten! — Denn es iſt ſehr die
Frage, ob Goethe je einen Roman wuͤrde geſchrieben
haben, wenn ein Werk wie der Wilhelm Meiſter bey
ſeiner Nation bereits waͤre vorhanden geweſen? Und
ſehr die Frage, ob er in ſolchem Fall ſich nicht vielleicht
ganz ausſchließlich der dramatiſchen Poeſie gewidmet
haͤtte? —
Was er in ſolchem Fall einer einſeitigen Richtung
alles hervorgebracht und gewirkt haben wuͤrde, iſt gar
nicht abzuſehen; ſo viel iſt jedoch gewiß, daß, ſobald
man aufs Ganze ſieht, kein Verſtaͤndiger wuͤnſchen wird,
daß Goethe eben nicht alles dasjenige moͤchte hervorge¬
bracht haben, wozu ihn zu treiben nun einmal ſeinem
Schoͤpfer gefallen hat.
Goethe ſprach mit hoher Begeiſterung uͤber Me¬
nander. „Naͤchſt dem Sophocles, ſagte er, kenne
ich keinen, der mir ſo lieb waͤre. Er iſt durchaus rein,
edel, groß und heiter, ſeine Anmuth iſt unerreichbar.
Daß wir ſo wenig von ihm beſitzen, iſt allerdings zu
[218] bedauern, allein auch das Wenige iſt unſchaͤtzbar und
fuͤr begabte Menſchen viel daraus zu lernen.“
„Es kommt nur immer darauf an, fuhr Goethe
fort, daß derjenige, von dem wir lernen wollen, unſe¬
rer Natur gemaͤß ſey. So hat z. B. Calderon, ſo
groß er iſt und ſo ſehr ich ihn bewundere, auf mich
gar keinen Einfluß gehabt, weder im Guten noch im
Schlimmen. Schillern aber waͤre er gefaͤhrlich geweſen,
er waͤre an ihm irre geworden, und es iſt daher ein
Gluͤck, daß Calderon erſt nach ſeinem Tode in Deutſch¬
land in allgemeine Aufnahme gekommen. Calderon iſt
unendlich groß im Techniſchen und Theatraliſchen; Schil¬
ler dagegen weit tuͤchtiger, ernſter und groͤßer im Wol¬
len und es waͤre daher Schade geweſen, von ſolchen
Tugenden vielleicht etwas einzubuͤßen, ohne doch die
Groͤße Calderons in anderer Hinſicht zu erreichen.“
Wir kamen auf Molière. „Molière, ſagte Goethe,
iſt ſo groß, daß man immer von neuem erſtaunt, wenn
man ihn wiederlieſ't. Er iſt ein Mann fuͤr ſich, ſeine
Stuͤcke grenzen ans Tragiſche, ſie ſind apprehenſiv und
niemand hat den Muth es ihm nachzuthun. Sein
Geiziger, wo das Laſter zwiſchen Vater und Sohn alle
Pietaͤt aufhebt, iſt beſonders groß und im hohen Sinne
tragiſch. Wenn man aber in einer deutſchen Bear¬
beitung aus dem Sohn einen Verwandten macht, ſo
wird es ſchwach und will nicht viel mehr heißen. Man
fuͤrchtet, das Laſter in ſeiner wahren Natur erſcheinen
[219] zu ſehen, allein was wird es da und was iſt denn
uͤberall tragiſch wirkſam als das Unertraͤgliche. —“
„Ich leſe von Molière alle Jahr einige Stuͤcke, ſo
wie ich auch von Zeit zu Zeit die Kupfer nach den großen
italieniſchen Meiſtern betrachte. Denn wir kleinen Men¬
ſchen ſind nicht faͤhig, die Groͤße ſolcher Dinge in uns
zu bewahren, und wir muͤſſen daher von Zeit zu Zeit
immer dahin zuruͤckkehren, um ſolche Eindruͤcke in uns
anzufriſchen.“
„Man ſpricht immer von Originalitaͤt, allein was
was will das ſagen! So wie wir geboren werden, faͤngt
die Welt an, auf uns zu wirken und das geht ſo fort
bis ans Ende. Und uͤberall! was koͤnnen wir denn
unſer Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das
Wollen! — Wenn ich ſagen koͤnnte, was ich alles
großen Vorgaͤngern und Mitlebenden ſchuldig geworden
bin, ſo bliebe nicht viel uͤbrig.“
„Hiebey aber iſt es keineswegs gleichguͤltig, in wel¬
cher Epoche unſeres Lebens der Einfluß einer fremden
bedeutenden Perſoͤnlichkeit Statt findet.“
„Daß Leſſing, Winckelmann und Kant aͤlter waren
als ich, und die beyden erſteren auf meine Jugend, der
letztere auf mein Alter wirkte, war fuͤr mich von großer
Bedeutung.“
„Ferner: daß Schiller ſo viel juͤnger war und im
friſcheſten Streben begriffen, da ich an der Welt muͤde
zu werden begann; ingleichen daß die Gebruͤder von
[220] Humboldt und Schlegel unter meinen Augen aufzu¬
treten anfingen, war von der groͤßten Wichtigkeit. Es
ſind mir daher unnennbare Vortheile entſtanden.“
Nach ſolchen Äußerungen uͤber die Einfluͤſſe bedeu¬
tender Perſonen auf ihn kam das Geſpraͤch auf die
Wirkungen, die er auf Andere gehabt, und ich erwaͤhnte
Buͤrger, bey welchem es mir problematiſch erſcheine,
daß bey ihm, als einem reinen Naturtalent, gar keine
Spur einer Einwirkung von Goethe's Seite wahrzu¬
nehmen.
„Buͤrger, ſagte Goethe, hatte zu mir wohl eine
Verwandtſchaft als Talent, allein der Baum ſeiner ſitt¬
lichen Cultur wurzelte in einem ganz anderen Boden
und hatte eine ganz andere Richtung. Und jeder geht
in der aufſteigenden Linie ſeiner Ausbildung fort, ſo
wie er angefangen. Ein Mann aber, der in ſeinem
dreyßigſten Jahre ein Gedicht wie die Frau Schnips
ſchreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die
von der meinigen ein wenig ablag. Auch hatte er durch
ſein bedeutendes Talent ſich ein Publicum gewonnen,
dem er voͤllig genuͤgte, und er hatte daher keine Urſache,
ſich nach den Eigenſchaften eines Mitſtrebenden umzu¬
thun, der ihn weiter nichts anging.“
„Überall, fuhr Goethe fort, lernt man nur von dem,
den man liebt. — Solche Geſinnungen finden ſich nun
wohl gegen mich bey jetzt heranwachſenden jungen Ta¬
lenten, allein ich fand ſie ſehr ſpaͤrlich unter Gleich¬
[221] zeitigen. Ja ich wuͤßte kaum einen einzigen Mann von
Bedeutung zu nennen, dem ich durchaus recht geweſen
waͤre. Gleich an meinem Werther tadelten ſie ſoviel,
daß, wenn ich jede geſcholtene Stelle haͤtte tilgen wollen,
von dem ganzen Buche keine Zeile geblieben waͤre.
Allein aller Tadel ſchadete mir nichts, denn ſolche ſub¬
jective Urtheile einzelner obgleich bedeutender Maͤnner
ſtellten ſich durch die Maſſe wieder ins Gleiche. Wer
aber nicht eine Million Leſer erwartet, ſollte keine Zeile
ſchreiben.“
„Nun ſtreitet ſich das Publicum ſeit zwanzig Jah¬
ren, wer groͤßer ſey: Schiller oder ich, und ſie ſollten
ſich freuen, daß uͤberall ein paar Kerle da ſind, woruͤber
ſie ſtreiten koͤnnen.“
Goethe ſprach heute bey Tiſch ſehr viel von dem
Buche des Major Parry uͤber Lord Byron. Er lobte
es durchaus und bemerkte, daß Lord Byron in dieſer
Darſtellung weit vollkommener und weit klarer uͤber ſich
und ſeine Vorſaͤtze erſcheine, als in allem, was bisher
uͤber ihn geſchrieben worden.
„Der Major Parry, fuhr Goethe fort, muß gleich¬
falls ein ſehr bedeutender, ja ein hoher Menſch ſeyn,
daß er ſeinen Freund ſo rein hat auffaſſen und ſo voll¬
[222] kommen hat darſtellen koͤnnen. Eine Äußerung ſeines
Buches iſt mir beſonders lieb und erwuͤnſcht geweſen,
ſie iſt eines alten Griechen, eines Plutarch wuͤrdig.“
Dem edlen Lord, ſagt Parry, fehlten alle jene Tu¬
genden, die den Buͤrgerſtand zieren, und welche ſich
anzueignen er durch Geburt, durch Erziehung und Le¬
bensweiſe gehindert war. Nun ſind aber ſeine unguͤn¬
ſtigen Beurtheiler ſaͤmmtlich aus der Mittelclaſſe, die
denn freylich tadelnd bedauern, dasjenige an ihm zu
vermiſſen, was ſie an ſich ſelber zu ſchaͤtzen Urſache
haben. Die wackern Leute bedenken nicht, daß er an
ſeiner hohen Stelle Verdienſte beſaß, von denen ſie ſich
keinen Begriff machen koͤnnen. „Nun, wie gefaͤllt Ih¬
nen das? ſagte Goethe, nicht wahr, ſo etwas hoͤrt man
nicht alle Tage?“
Ich freue mich, ſagte ich, eine Anſicht oͤffentlich
ausgeſprochen zu wiſſen, wodurch alle kleinlichen Tadler
und Herunterzieher eines hoͤher ſtehenden Menſchen ein
fuͤr allemal durchaus gelaͤhmt und geſchlagen worden.
Wir ſprachen darauf uͤber welthiſtoriſche Gegenſtaͤnde
in Bezug auf die Poeſie und zwar in wiefern die Ge¬
ſchichte des einen Volkes fuͤr den Dichter guͤnſtiger ſeyn
koͤnne als die eines andern.
„Der Poet, ſagte Goethe, ſoll das Beſondere er¬
greifen, und er wird, wenn dieſes nur etwas Geſundes
iſt, darin ein Allgemeines darſtellen. Die engliſche Ge¬
ſchichte iſt vortrefflich zu poetiſcher Darſtellung, weil ſie
[223] etwas Tuͤchtiges, Geſundes und daher Allgemeines iſt,
das ſich wiederholt. Die franzoͤſiſche Geſchichte dagegen
iſt nicht fuͤr die Poeſie, denn ſie ſtellt eine Lebens-Epoche
dar, die nicht wiederkommt. Die Literatur dieſes Volkes,
inſofern ſie auf jener Epoche gegruͤndet iſt, ſteht daher
als ein Beſonderes da, das mit der Zeit veralten wird.“
„Die jetzige Epoche der franzoͤſiſchen Literatur, ſagte
Goethe ſpaͤter, iſt gar nicht zu beurtheilen. Das ein¬
dringende Deutſche bringt darin eine große Gaͤhrung
hervor und erſt nach zwanzig Jahren wird man ſehen,
was dieß fuͤr ein Reſultat giebt.“
Wir ſprachen darauf uͤber Äſthetiker, welche das
Weſen der Poeſie und des Dichters durch abſtracte De¬
finitionen auszudruͤcken ſich abmuͤhen, ohne jedoch zu
einem klaren Reſultat zu kommen.
„Was iſt da viel zu definiren, ſagte Goethe. Le¬
bendiges Gefuͤhl der Zuſtaͤnde und Faͤhigkeit es auszu¬
druͤcken macht den Poeten. —“
Ich fand Goethe dieſen Abend in beſonders hoher
Stimmung und hatte die Freude, aus ſeinem Munde
abermals manches Bedeutende zu hoͤren. Wir ſprachen
uͤber den Zuſtand der neueſten Literatur, wo denn Goethe
ſich folgendermaßen aͤußerte.
[224]
„Mangel an Character der einzelnen forſchenden und
ſchreibenden Individuen, ſagte er, iſt die Quelle alles
Übels unſerer neueſten Literatur.“
„Beſonders in der Critik zeigt dieſer Mangel ſich
zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬
ſches fuͤr Wahres verbreitet, oder durch ein aͤrmliches
Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns beſſer
waͤre.“
„Bisher glaubte die Welt an den Heldenſinn einer
Lucretia, eines Mucius Scaͤvola und ließ ſich dadurch
erwaͤrmen und begeiſtern. Jetzt aber kommt die hiſto¬
riſche Critik und ſagt, daß jene Perſonen nie gelebt
haben, ſondern als Fictionen und Fabeln anzuſehen ſind,
die der große Sinn der Roͤmer erdichtete. Was ſollen
wir aber mit einer ſo aͤrmlichen Wahrheit! und wenn
die Roͤmer groß genug waren, ſo etwas zu erdichten,
ſo ſollten wir wenigſtens groß genug ſeyn, daran zu
glauben.“
„So hatte ich bisher immer meine Freude an einem
großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬
ſer Friedrich der zweyte mit dem Pabſte zu thun hatte
und das noͤrdliche Deutſchland allen feindlichen Einfaͤllen
offen ſtand. Aſiatiſche Horden kamen auch wirklich
herein und waren ſchon bis Schleſien vorgedrungen;
aber der Herzog von Liegnitz ſetzte ſie durch eine große
Niederlage in Schrecken. Dann wendeten ſie ſich nach
Maͤhren, aber hier wurden ſie vom Grafen Sternberg
[225] geſchlagen. Dieſe Tapfern lebten daher bis jetzt immer
in mir als große Retter der deutſchen Nation. Nun
aber kommt die hiſtoriſche Critik und ſagt, daß jene
Helden ſich ganz unnuͤtz aufgeopfert haͤtten, indem das
aſiatiſche Heer bereits zuruͤckgerufen geweſen und von
ſelbſt zuruͤckgegangen ſeyn wuͤrde. Dadurch iſt nun ein
großes vaterlaͤndiſches Factum gelaͤhmt und zernichtet,
und es wird einem ganz abſcheulich zu Muthe.“
Nach dieſen Äußerungen uͤber hiſtoriſche Critiker
ſprach Goethe uͤber Forſcher und Literatoren anderer
Art.
„Ich haͤtte die Erbaͤrmlichkeit der Menſchen und
wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu thun
iſt, nie ſo kennen gelernt, ſagte er, wenn ich mich
nicht durch meine naturwiſſenſchaftlichen Beſtrebungen
an ihnen verſucht haͤtte. Da aber ſah ich, daß den
Meiſten die Wiſſenſchaft nur etwas iſt, inſofern ſie
davon leben, und daß ſie ſogar den Irrthum vergoͤttern,
wenn ſie davon ihre Exiſtenz haben.“
„Und in der ſchoͤnen Literatur iſt es nicht beſſer. Auch
dort ſind große Zwecke und echter Sinn fuͤr das Wahre
und Tuͤchtige und deſſen Verbreitung ſehr ſeltene Er¬
ſcheinungen. Einer hegt und traͤgt den Andern, weil
er von ihm wieder gehegt und getragen wird, und das
wahrhaft Große iſt ihnen widerwaͤrtig und ſie moͤchten
es gerne aus der Welt ſchaffen, damit ſie ſelber nur
I. 15[226] etwas zu bedeuten haͤtten. So iſt die Maſſe, und ein¬
zelne Hervorragende ſind nicht viel beſſer.“
„*** haͤtte bey ſeinem großen Talent, bey ſeiner
weltumfaſſenden Gelehrſamkeit der Nation viel ſeyn
koͤnnen. Aber ſo hat ſeine Characterloſigkeit die Nation
um außerordentliche Wirkungen und ihn ſelbſt um die
Achtung der Nation gebracht.“
„Ein Mann wie Leſſing thaͤte uns noth. Denn
wodurch iſt dieſer ſo groß als durch ſeinen Character,
durch ſein Feſthalten! — So kluge, ſo gebildete Men¬
ſchen giebt es viele, aber wo iſt ein ſolcher Character! —“
„Viele ſind geiſtreich genug und voller Kenntniſſe,
allein ſie ſind zugleich voller Eitelkeit, und um ſich von
der kurzſichtigen Maſſe als witzige Koͤpfe bewundern zu
laſſen, haben ſie keine Scham und Scheu und iſt ihnen
nichts heilig.“
„Die Frau von Genlis hat daher vollkommen Recht,
wenn ſie ſich gegen die Freyheiten und Frechheiten von
Voltaire auflegte. Denn im Grunde, ſo geiſtreich alles
ſeyn mag, iſt der Welt doch nichts damit gedient; es
laͤßt ſich nichts darauf gruͤnden. Ja es kann ſogar
von der groͤßten Schaͤdlichkeit ſeyn, indem es die Men¬
ſchen verwirrt und ihnen den noͤthigen Halt nimmt.“
„Und dann! was wiſſen wir denn, und wie weit
reichen wir denn mit all unſerm Witze!“
„Der Menſch iſt nicht geboren, die Probleme der
Welt zu loͤſen, wohl aber zu ſuchen, wo das Problem
[227] angeht und ſich ſodann in der Grenze des Begreiflichen
zu halten.“
„Die Handlungen des Univerſums zu meſſen, rei¬
chen ſeine Faͤhigkeiten nicht hin, und in das Weltall
Vernunft bringen zu wollen, iſt bey ſeinem kleinen
Standpunct ein ſehr vergebliches Beſtreben. Die Ver¬
nunft des Menſchen und die Vernunft der Gottheit ſind
zwey ſehr verſchiedene Dinge.“
„Sobald wir dem Menſchen die Freyheit zugeſtehen,
iſt es um die Allwiſſenheit Gottes gethan; denn ſobald
die Gottheit weiß, was ich thun werde, bin ich ge¬
zwungen zu handeln, wie ſie es weiß.“
„Dieſes fuͤhre ich nur an als ein Zeichen, wie we¬
nig wir wiſſen, und daß an goͤttlichen Geheimniſſen
nicht gut zu ruͤhren iſt.“
„Auch ſollen wir hoͤhere Maximen nur ausſprechen,
inſofern ſie der Welt zu gute kommen. Andere ſollen
wir bey uns behalten, aber ſie moͤgen und werden auf
das, was wir thun, wie der milde Schein einer ver¬
borgenen Sonne ihren Glanz breiten.“
15 *[228]
Ich ging dieſen Abend um 6 Uhr zu Goethe, den
ich alleine fand und mit dem ich einige ſchoͤne Stunden
verlebte.
„Mein Gemuͤth, ſagte er, war dieſe Zeit her durch
Vieles belaͤſtiget; es war mir von allen Seiten her ſo
viel Gutes geſchehen, daß ich vor lauter Dankſagungen
nicht zum eigentlichen Leben kommen konnte. Die Pri¬
vilegien wegen des Verlags meiner Werke gingen nach
und nach von den Hoͤfen ein, und weil die Verhaͤltniſſe
bey jedem anders waren, ſo verlangte auch jeder Fall
eine eigene Erwiederung. Nun kamen die Antraͤge un¬
zaͤhliger Buchhaͤndler, die auch bedacht, behandelt und
beantwortet ſeyn wollten. Dann, mein Jubilaͤum brachte
mir ſo tauſendfaͤltiges Gute, daß ich mit den Dank¬
ſagungsbriefen noch jetzt nicht fertig bin. Man will
doch nicht hohl und allgemein ſeyn, ſondern Jedem doch
gerne etwas Schickliches und Gehoͤriges ſagen. Jetzt
aber werde ich nach und nach frey und ich fuͤhle mich
wieder zu Unterhaltungen aufgelegt.“
„Ich habe in dieſen Tagen eine Bemerkung gemacht,
die ich Ihnen doch mittheilen will.“
„Alles, was wir thun, hat eine Folge. Aber das
Kluge und Rechte bringt nicht immer etwas Guͤnſtiges,
und das Verkehrte nicht immer etwas Unguͤnſtiges her¬
vor, vielmehr wirkt es oftmals ganz im Gegentheil.“
„Ich machte vor einiger Zeit, eben bey jenen Unter¬
handlungen mit Buchhaͤndlern, einen Fehler und es
that mir leid, daß ich ihn gemacht hatte. Jetzt aber
haben ſich die Umſtaͤnde ſo geaͤndert, daß ich einen
großen Fehler begangen haben wuͤrde, wenn ich jenen
nicht gemacht haͤtte. Dergleichen wiederholt ſich im
Leben haͤufig, und Weltmenſchen, welche dieſes wiſſen,
ſieht man daher mit einer großen Frechheit und Drei¬
ſtigkeit zu Werke gehen.“
Ich merkte mir dieſe Beobachtung, die mir neu
war. Ich brachte ſodann das Geſpraͤch auf einige ſei¬
ner Werke und wir kamen auch auf die Elegie Alexis
und Dora.
„An dieſem Gedicht, ſagte Goethe, tadelten die
Menſchen den ſtarken leidenſchaftlichen Schluß und ver¬
langten, daß die Elegie ſanft und ruhig ausgehen ſolle,
ohne jene eiferſuͤchtige Aufwallung; allein ich konnte
nicht einſehen, daß jene Menſchen Recht haͤtten. Die
Eiferſucht liegt hier ſo nahe und iſt ſo in der Sache,
daß dem Gedicht etwas fehlen wuͤrde, wenn ſie nicht
dawaͤre. Ich habe ſelbſt einen jungen Menſchen gekannt,
der in leidenſchaftlicher Liebe zu einem ſchnell gewonne¬
nen Maͤdchen ausrief: aber wird ſie es nicht einem an¬
dern eben ſo machen wie mir?“
Ich ſtimmte Goethen vollkommen bey und erwaͤhnte
ſodann der eigenthuͤmlichen Zuſtaͤnde dieſer Elegie, wo
in ſo kleinem Raum mit wenig Zuͤgen alles ſo wohl
[230] gezeichnet ſey, daß man die haͤusliche Umgebung und
das ganze Leben der handelnden Perſonen darin zu er¬
blicken glaube. Das Dargeſtellte erſcheint ſo wahr,
ſagte ich, als ob Sie nach einem wirklich Erlebten
gearbeitet haͤtten.
„Es iſt mir lieb, antwortete Goethe, wenn es Ihnen
ſo erſcheint. Es giebt indeß wenige Menſchen, die eine
Phantaſie fuͤr die Wahrheit des Realen beſitzen, viel¬
mehr ergehen ſie ſich gerne in ſeltſamen Laͤndern und
Zuſtaͤnden, wovon ſie gar keine Begriffe haben und die
ihre Phantaſie ihnen wunderlich genug ausbilden mag.“
„Und dann giebt es wieder andere, die durchaus
am Realen kleben, und, weil es ihnen an aller Poeſie
fehlt, daran gar zu enge Forderungen machen. So
verlangten z. B. Einige bey dieſer Elegie, daß ich dem
Alexis haͤtte einen Bedienten beygeben ſollen, um ſein
Buͤndelchen zu tragen; die Menſchen bedenken aber nicht,
daß alles Poetiſche und Idylliſche jenes Zuſtandes dadurch
waͤre geſtoͤrt worden.“
Von Alexis und Dora lenkte ſich ſich das Geſpraͤch
aus den Wilhelm Meiſter.
„Es giebt wunderliche Critiker, fuhr Goethe fort.
An dieſem Roman tadelten ſie, daß der Held ſich zu
viel in ſchlechter Geſellſchaft befinde. Dadurch aber,
daß ich die ſogenannte ſchlechte Geſellſchaft als Gefaͤß
betr achtete, um das, was ich vonder guten zu ſagen
hatte, darin niederzulegen, gewann ich einen poetiſchen
[231] Koͤrper und einen mannigfaltigen dazu. Haͤtte ich aber
die gute Geſellſchaft wieder durch ſogenannte gute Ge¬
ſellſchaft zeichnen wollen, ſo haͤtte niemand das Buch
leſen moͤgen.“
„Den anſcheinenden Geringfuͤgigkeiten des Wilhelm
Meiſter liegt immer etwas Hoͤheres zum Grunde, und
es kommt bloß darauf an, daß man Augen, Weltkennt¬
niß und Überſicht genug beſitze, um im Kleinen das
Groͤßere wahrzunehmen. Andern mag das gezeichnete
Leben als Leben genuͤgen.“
Goethe zeigte mir darauf ein hoͤchſt bedeutendes eng¬
liſches Werk, welches in Kupfern den ganzen Shak¬
ſpeare darſtellte. Jede Seite umfaßte in ſechs kleinen
Bildern ein beſonderes Stuͤck mit einigen untergeſchrie¬
benen Verſen, ſo daß der Hauptbegriff und die bedeu¬
tendſten Situationen des jedesmaligen Werkes dadurch
vor die Augen traten. Alle die unſterblichen Trauerſpiele
und Luſtſpiele gingen auf ſolche Weiſe, gleich Masken¬
zuͤgen, dem Geiſte voruͤber.
„Man erſchrickt, ſagte Goethe, wenn man dieſe
Bilderchen durchſieht! Da wird man erſt gewahr, wie
unendlich reich und groß Shakſpeare iſt! Da iſt doch
kein Motiv des Menſchenlebens, das er nicht dargeſtellt
und ausgeſprochen haͤtte! Und alles mit welcher Leich¬
tigkeit und Freyheit! —“
„Man kann uͤber Shakſpeare gar nicht reden, es
iſt alles unzulaͤnglich. Ich habe in meinem Wihelm
[232] Meiſter an ihm herumgetupft, allein das will nicht viel
heißen. Er iſt kein Theaterdichter, an die Buͤhne hat
er nie gedacht, ſie war ſeinem großen Geiſte viel zu
enge; ja ſelbſt die ganze ſichtbare Welt war ihm zu
enge.“
„Er iſt gar zu reich und zu gewaltig. Eine pro¬
ductive Natur darf alle Jahr nur ein Stuͤck von ihm
leſen, wenn ſie nicht an ihm zu Grunde gehen will.
Ich that wohl, daß ich durch meinen Goͤtz von Ber¬
lichingen und Egmont ihn mir vom Halſe ſchaffte, und
Byron that ſehr wohl, daß er vor ihm nicht zu großen
Reſpect hatte und ſeine eigenen Wege ging. Wie viel
treffliche Deutſche ſind nicht an ihm zu Grunde gegan¬
gen, an ihm und Calderon!“
„Shakſpeare, fuhr Goethe fort, giebt uns in ſil¬
bernen Schalen goldene Äpfel. Wir bekommen nun
wohl durch das Studium ſeiner Stuͤcke die ſilberne
Schale, allein wir haben nur Kartoffeln hineinzuthun,
das iſt das Schlimme!“
Ich lachte und freute mich des herrlichen Gleich¬
niſſes.
Goethe las mir darauf einen Brief von Zelter uͤber
eine Darſtellung des Macbeth in Berlin, wo die Muſik
mit dem großen Geiſte und Character des Stuͤckes nicht
hatte Schritt halten koͤnnen und woruͤber nun Zelter
ſich in verſchiedenen Andeutungen auslaͤſſet. Durch
Goethe's Vorleſen gewann der Brief ſein volles Leben
[233] wieder und Goethe hielt oft inne, um ſich mit mir
uͤber das Treffende einzelner Stellen zu freuen.
„Macbeth, ſagte Goethe bey dieſer Gelegenheit,
halte ich fuͤr Shakſpeare's beſtes Theaterſtuͤck, es iſt
darin der meiſte Verſtand in Bezug auf die Buͤhne.
Wollen Sie aber ſeinen freyen Geiſt erkennen, ſo leſen
Sie Troilus und Creſſida, wo er den Stoff der Ilias
auf ſeine Weiſe behandelt.“
Das Geſpraͤch wendete ſich auf Byron, und zwar
wie er gegen Shakſpeare's unſchuldige Heiterkeit im
Nachtheil ſtehe, und wie er durch ſein vielfaͤltig nega¬
tives Wirken ſich ſo haͤufigen und meiſtentheils nicht
ungerechten Tadel zugezogen habe. „Haͤtte Byron Ge¬
legenheit gehabt, ſagte Goethe, ſich alles deſſen, was
von Oppoſition in ihm war, durch wiederholte derbe
Äußerungen im Parlament zu entledigen, ſo wuͤrde er
als Poet weit reiner daſtehen. So aber, da er im Parla¬
ment kaum zum Reden gekommen iſt, hat er alles, was er
gegen ſeine Nation auf dem Herzen hatte, bey ſich behal¬
ten, und es iſt ihm, um ſich davon zu befreyen, kein an¬
deres Mittel geblieben, als es poetiſch zu verarbeiten und
auszuſprechen. Einen großen Theil der negativen Wir¬
kungen Byrons moͤchte ich daher verhaltene Par¬
lamentsreden nennen, und ich glaube ſie dadurch
nicht unpaſſend bezeichnet zu haben.“
Es kam darauf einer unſerer neueſten deutſchen
Dichter zur Erwaͤhnung, der ſich in kurzer Zeit einen
[234] bedeutenden Namen gemacht, deſſen negative Richtung
jedoch gleichfalls nicht gebilliget wurde. „Es iſt nicht
zu laͤugnen, ſagte Goethe, er beſitzt manche glaͤnzende
Eigenſchaften; allein ihm fehlt — die Liebe. — Er
liebt ſo wenig ſeine Leſer und ſeine Mit-Poeten als
ſich ſelber, und ſo kommt man in den Fall, auch auf
ihn den Spruch des Apoſtels anzuwenden: Und wenn
ich mit Menſchen- und mit Engel-Zungen redete, und
haͤtte der Liebe nicht, ſo waͤre ich ein toͤnendes Erz,
oder eine klingende Schelle. Noch in dieſen Tagen habe
ich Gedichte von *** geleſen und ſein reiches Talent
nicht verkennen koͤnnen. Allein, wie geſagt, die Liebe
fehlt ihm, und ſo wird er auch nie ſo wirken als er
haͤtte muͤſſen. Man wird ihn fuͤrchten, und er wird
der Gott derer ſeyn, die gern wie er negativ waͤren,
aber nicht wie er das Talent haben.“
1826.
[[236]][[237]]Der erſte deutſche Improviſator, Doctor Wolff aus
Hamburg, iſt ſeit mehreren Tagen hier und hat auch
bereits oͤffentlich Proben ſeines ſeltenen Talentes abge¬
legt. Freytag Abend gab er ein glaͤnzendes Improvi¬
ſatorium vor ſehr zahlreichen Zuhoͤrern und in Gegen¬
wart des Weimariſchen Hofes. Noch an ſelbigem Abend
erhielt er eine Einladung zu Goethe auf naͤchſten Mittag.
Ich ſprach Doctor Wolff geſtern Abend, nachdem
er Mittags vor Goethe improviſirt hatte. Er war ſehr
begluͤckt und aͤußerte, daß dieſe Stunde in ſeinem Leben
Epoche machen wuͤrde, indem Goethe ihn mit wenigen
Worten auf eine ganz neue Bahn gebracht und in dem,
was er an ihm getadelt, den Nagel auf den Kopf ge¬
troffen haͤtte.
Dieſen Abend nun, als ich bey Goethe war, kam das
Geſpraͤch ſogleich auf Wolff. Dr. Wolff iſt ſehr gluͤck¬
lich, ſagte ich, daß Ew. Excellenz ihm einen guten
Rath gegeben.
[238]
„Ich bin aufrichtig gegen ihn geweſen, ſagte Goethe,
und wenn meine Worte auf ihn gewirkt und ihn an¬
geregt haben, ſo iſt das ein ſehr gutes Zeichen. Er iſt
ein entſchiedenes Talent, daran iſt kein Zweifel, allein
er leidet an der allgemeinen Krankheit der jetzigen Zeit,
an der Subjectivitaͤt, und davon moͤchte ich ihn heilen.
Ich gab ihm eine Aufgabe, um ihn zu verſuchen.
Schildern Sie mir, ſagte ich, Ihre Ruͤckkehr nach
Hamburg. Dazu war er nun ſogleich bereit, und fing
auf der Stelle in wohlklingenden Verſen zu ſprechen
an. Ich mußte ihn bewundern, allein ich konnte ihn
nicht loben. Nicht die Ruͤckkehr nach Hamburg ſchil¬
derte er mir, ſondern nur die Empfindungen der Ruͤck¬
kehr eines Sohnes zu Eltern, Anverwandten und Freun¬
den, und ſein Gedicht konnte eben ſo gut fuͤr eine Ruͤck¬
kehr nach Merſeburg und Jena als fuͤr eine Ruͤckkehr
nach Hamburg gelten. Was iſt aber Hamburg fuͤr eine
ausgezeichnete, eigenartige Stadt, und welch ein reiches
Feld fuͤr die ſpecielleſten Schilderungen bot ſich ihm dar,
wenn er das Object gehoͤrig zu ergreifen gewußt und
gewagt haͤtte!“
Ich bemerkte, daß das Publicum an ſolcher ſubjec¬
tiven Richtung Schuld ſey, indem es allen Gefuͤhls¬
ſachen einen entſchiedenen Beyfall ſchenke.
„Mag ſeyn, ſagte Goethe, allein wenn man dem
Publicum das Beſſere giebt, ſo iſt es noch zufriedener.
Ich bin gewiß, wenn es einem improviſirenden Talent,
[239] wie Wolff gelaͤnge, das Leben großer Staͤdte, wie Rom,
Neapel, Wien, Hamburg und London mit aller treffen¬
den Wahrheit zu ſchildern und ſo lebendig, daß ſie
glaubten, es mit eigenen Augen zu ſehen, er wuͤrde alles
entzuͤcken und hinreißen. Wenn er zum Objectiven durch¬
bricht, ſo iſt er geborgen, es liegt in ihm, denn er iſt
nicht ohne Phantaſie. Nur muß er ſich ſchnell ent¬
ſchließen und es zu ergreifen wagen.“
Ich fuͤrchte, ſagte ich, daß dieſes ſchwerer iſt als
man glaubt, denn es erfordert eine Umwandlung der
ganzen Denkweiſe. Gelingt es ihm, ſo wird auf jeden
Fall ein augenblicklicher Stillſtand in der Production
eintreten und es wird eine lange Übung erfordern, bis
ihm auch das Objective gelaͤufig und zur zweyten Natur
werde.
„Freylich, erwiederte Goethe, iſt dieſer Überſchritt
ungeheuer; aber er muß nur Muth haben und ſich
ſchnell entſchließen. Es iſt damit wie beym Baden die
Scheu vor dem Waſſer, man muß nur raſch hinein¬
ſpringen und das Element wird unſer ſeyn.“
„Wenn einer ſingen lernen will, fuhr Goethe fort,
ſind ihm alle diejenigen Toͤne, die in ſeiner Kehle liegen,
natuͤrlich und leicht; die andern aber, die nicht in ſeiner
Kehle liegen, ſind ihm anfaͤnglich aͤußerſt ſchwer. Um
aber ein Saͤnger zu werden, muß er ſie uͤberwinden,
denn ſie muͤſſen ihm alle zu Gebote ſtehen. Ebenſo
iſt es mit einem Dichter. Solange er bloß ſeine weni¬
[240] gen ſubjectiven Empfindungen ausſpricht, iſt er noch
keiner zu nennen; aber ſobald er die Welt ſich anzu¬
eignen und auszuſprechen weiß, iſt er ein Poet. Und
dann iſt er unerſchoͤpflich und kann immer neu ſeyn,
wogegen aber eine ſubjective Natur ihr Bischen Inne¬
res bald ausgeſprochen hat und zuletzt in Manier zu
Grunde geht.“
„Man ſpricht immer vom Studium der Alten; allein
was will das anders ſagen, als: richte dich auf die
wirkliche Welt und ſuche ſie auszuſprechen; denn das
thaten die Alten auch, da ſie lebten.“
Goethe ſtand auf und ging im Zimmer auf und ab,
waͤhrend ich, wie er es gerne hat, auf meinem Stuhle
am Tiſche ſitzen blieb. Er ſtand einen Augenblick am
Ofen, dann aber, wie einer, der etwas bedacht hat,
trat er zu mir heran und den Finger an den Mund
gelegt, ſagte er Folgendes:
„Ich will Ihnen etwas entdecken und Sie werden
es in Ihrem Leben vielfach beſtaͤtiget finden. Alle im
Ruͤckſchreiten und in der Aufloͤſung begriffenen Epochen
ſind ſubjectiv, dagegen aber haben alle vorſchreitenden
Epochen eine objective Richtung. Unſere ganze jetzige
Zeit iſt eine ruͤckſchreitende, denn ſie iſt eine ſubjektive.
Dieſes ſehen Sie nicht bloß an der Poeſie, ſondern
auch an der Malerey und vielem anderen. Jedes tuͤchtige
Beſtreben dagegen wendet ſich aus dem Inneren hinaus
auf die Welt, wie Sie an allen großen Epochen ſehen,
[241] die wirklich im Streben und Vorſchreiten begriffen und
alle objectiver Natur waren.“
Die ausgeſprochenen Worte gaben Anlaß zu der
geiſtreichſten Unterhaltung, wobey beſonders der großen
Zeit des funfzehnten und ſechzehnten Jahrhunderts ge¬
dacht wurde.
Das Geſpraͤch lenkte ſich ſodann auf das Theater
und das Schwache, Empfindſame und Truͤbſelige der
neueren Erſcheinungen. Ich troͤſte und ſtaͤrke mich jetzt
an Molière, ſagte ich. Seinen Geizigen habe ich
uͤberſetzt nnd beſchaͤftige mich nun mit ſeinem Arzt wider
Willen. Was iſt doch Molière fuͤr ein großer, reiner
Menſch! — „Ja, ſagte Goethe, reiner Menſch, das
iſt das eigentliche Wort, was man von ihm ſagen kann;
es iſt an ihm nichts verbogen und verbildet. Und nun
dieſe Großheit! Er beherrſchte die Sitten ſeiner Zeit;
wogegen aber unſere Iffland und Kotzebue ſich von den
Sitten der ihrigen beherrſchen ließen und darin beſchraͤnkt
und befangen waren. Molière zuͤchtigte die Menſchen,
indem er ſie in ihrer Wahrheit zeichnete.“
Ich moͤchte etwas darum geben, ſagte ich, wenn
ich die Molièriſchen Stuͤcke in ihrer ganzen Reinheit
auf der Buͤhne ſehen koͤnnte; allein dem Publicum, wie
ich es kenne, muß dergleichen viel zu ſtark und natuͤr¬
lich ſeyn. Sollte dieſe Über-Verfeinerung nicht von
der ſogenannten idealen Literatur gewiſſer Autoren her¬
ruͤhren?
I. 16[242]
„Nein, ſagte Goethe, ſie kommt aus der Geſellſchaft
ſelbſt. Und dann, was thun unſere jungen Maͤdchen
im Theater? ſie gehoͤren gar nicht hinein, ſie gehoͤren
ins Kloſter und das Theater iſt bloß fuͤr Maͤnner und
Frauen, die mit menſchlichen Dingen bekannt ſind. Als
Molière ſchrieb, waren die Maͤdchen im Kloſter
und er hatte auf ſie gar keine Ruͤckſicht zu nehmen.“
„Da wir nun aber unſere jungen Maͤdchen ſchwer¬
lich hinausbringen und man nicht aufhoͤren wird Stuͤcke zu
geben, die ſchwach und eben darum dieſen recht ſind, ſo
ſeyd klug, und macht es wie ich und geht nicht hinein.“
„Ich habe am Theater nur ſo lange ein wahrhaftes
Intereſſe gehabt, als ich dabey practiſch einwirken konnte.
Es war meine Freude, die Anſtalt auf eine hoͤhere
Stufe zu bringen und ich nahm bey den Vorſtellungen
weniger Antheil an den Stuͤcken, als daß ich darauf
ſah, ob die Schauſpieler ihre Sachen recht machten oder
nicht. Was ich zu tadeln hatte, ſchickte ich am andern
Morgen dem Regiſſeur auf einem Zettel, und ich konnte
gewiß ſeyn, bey der naͤchſten Vorſtellung die Fehler
vermieden zu ſehen. Nun aber, wo ich beim Theater
nicht mehr practiſch einwirken kann, habe ich auch kei¬
nen Beruf mehr hineinzugehen. Ich muͤßte das Man¬
gelhafte geſchehen laſſen, ohne es verbeſſern zu koͤnnen,
und das iſt nicht meine Sache.“
„Mit dem Leſen von Stuͤcken geht es mir nicht
beſſer. Die jungen deutſchen Dichter ſchicken mir im¬
[243] merfort Trauerſpiele, allein was ſoll ich damit? Ich habe
die deutſchen Stuͤcke immer nur in der Abſicht geleſen,
ob ich ſie koͤnnte ſpielen laſſen, uͤbrigens waren ſie mir
gleichguͤltig. Und was ſoll ich nun in meiner jetzigen
Lage mit den Stuͤcken dieſer jungen Leute? Fuͤr mich
ſelbſt gewinne ich nichts, indem ich leſe, wie man es
nicht haͤtte machen ſollen, und den jungen Dichtern
kann ich nicht nuͤtzen bey einer Sache, die ſchon gethan
iſt. Schickten ſie mir ſtatt ihrer gedruckten Stuͤcke den
Plan zu einem Stuͤck, ſo koͤnnte ich wenigſtens ſagen,
mache es, oder mache es nicht, oder mache es ſo, oder
mache es anders, und dabey waͤre doch einiger Sinn
und Nutzen.“
„Das ganze Unheil entſteht daher, daß die poetiſche
Cultur in Deutſchland ſich ſo ſehr verbreitet hat, daß
niemand mehr einen ſchlechten Vers macht. Die jungen
Dichter, die mir ihre Werke ſenden, ſind nicht geringer
als ihre Vorgaͤnger, und da ſie nun jene ſo hoch ge¬
prieſen ſehen, ſo begreifen ſie nicht, warum man ſie
nicht auch preiſet. Und doch darf man zu ihrer Auf¬
munterung nichts thun, eben weil es ſolcher Talente
jetzt zu Hunderten giebt, und man das [Ü]berfluͤſſige nicht
befoͤrdern ſoll, waͤhrend noch ſo viel Nuͤtzliches zu thun
iſt. Waͤre ein Einzelner, der uͤber alle hervorragte, ſo
waͤre es gut, denn der Welt kann nur mit dem Außer¬
ordentlichen gedient ſeyn.“
16*[244]
Ich ging dieſen Abend um ſieben Uhr zu Goethe,
den ich in ſeinem Zimmer alleine fand. Ich ſetzte mich
zu ihm an den Tiſch, indem ich ihm die Nachricht
brachte, daß ich geſtern, bey ſeiner Durchreiſe nach
Petersburg, den Herzog von Wellington im Gaſt¬
hofe geſehen.
„Nun, ſagte Goethe belebt, wie war er? Erzaͤhlen
Sie mir von ihm. Sieht er aus wie ſein Portrait?“
Ja, ſagte ich, aber beſſer! beſonderer! Wenn man
einen Blick in ſein Geſicht gethan hat, ſo ſind alle
ſeine Portraits vernichtet. Und man braucht ihn nur
ein einziges Mal anzuſehen, um ihn nie wieder zu ver¬
geſſen, ein ſolcher Eindruck geht von ihm aus. Sein
Auge iſt braun und vom heiterſten Glanze, man fuͤhlt
die Wirkung ſeines Blickes. Sein Mund iſt ſprechend,
auch wenn er geſchloſſen iſt. Er ſieht aus wie einer,
der Vieles gedacht und das Groͤßte gelebt hat, und der
nun die Welt mit großer Heiterkeit und Ruhe behandelt
und den nichts mehr anficht. Hart und zaͤh erſchien
er mir wie eine damascener Klinge.
Er iſt, ſeinem Ausſehen nach, hoch in den Funf¬
zigen, von grader Haltung, ſchlank, nicht ſehr groß
und eher etwas mager als ſtark. Ich ſah ihn, wie er
in den Wagen ſteigen und wieder abfahren wollte.
[245] Sein Gruß, wie er durch die Reihen der Menſchen
ging und mit ſehr weniger Verneigung den Finger an
den Hut legte, hatte etwas ungemein Freundliches.
Goethe hoͤrte meiner Beſchreibung mit ſichtbarem
Intereſſe zu. „Da haben Sie einen Helden mehr ge¬
ſehen, ſagte er, und das will immer etwas heißen.“
Wir kamen auf Napoleon und ich bedauerte, daß
ich den nicht geſehen. „Freylich, ſagte Goethe, das
war auch der Muͤhe werth. — Dieſes Compendium
der Welt! —“ Er ſah wohl nach etwas aus? fragte
ich. „Er war es, antwortete Goethe, und man ſah
ihm an, daß er es war; das war alles.“
Ich hatte fuͤr Goethe ein ſehr merkwuͤrdiges Gedicht
mitgebracht, wovon ich ihm einige Abende vorher ſchon
erzaͤhlt hatte; ein Gedicht von ihm ſelbſt, deſſen er ſich
jedoch nicht mehr erinnerte, ſo tief lag es in der Zeit
zuruͤck. Zu Anfange des Jahres 1766 in den Sicht¬
baren, einer damals in Frankfurt erſchienenen Zeitſchrift,
abgedruckt, war es durch einen alten Diener Goethe's
mit nach Weimar gebracht worden, durch deſſen Nach¬
kommen es in meine Haͤnde gelangt war. Ohne Zwei¬
fel das aͤlteſte aller von Goethe bekannten Gedichte. Es
hatte die Hoͤllenfahrt Chriſti zum Gegenſtand,
wobey es mir merkwuͤrdig war, wie dem ſehr jungen
Verfaſſer die religioͤſen Vorſtellungsarten ſo gelaͤufig ge¬
weſen. Der Geſinnung nach konnte das Gedicht von
Klopſtock herkommen, allein in der Ausfuͤhrung war es
[246] ganz anderer Natur; es war ſtaͤrker, freyer und leichter
und hatte eine groͤßere Energie, einen beſſeren Zug.
Außerordentliche Glut erinnerte an eine kraͤftig brauſende
Jugend. Beym Mangel an Stoff drehte es ſich in
ſich ſelbſt herum und war laͤnger geworden als billig.
Ich legte Goethen das ganz vergilbte, kaum noch
zuſammenhaͤngende Zeitungsblatt vor, und da er es mit
Augen ſah, erinnerte er ſich des Gedichts wieder. „Es
iſt moͤglich, ſagte er, daß das Fraͤulein von Klettenberg
mich dazu veranlaßt hat; es ſteht in der Überſchrift:
auf Verlangen entworfen, und ich wuͤßte nicht, wer
von meinen Freunden einen ſolchen Gegenſtand anders
haͤtte verlangen koͤnnen. Es fehlte mir damals an Stoff und
ich war gluͤcklich, wenn ich nur etwas hatte, das ich beſingen
konnte. Noch dieſer Tage fiel mir ein Gedicht aus jener
Zeit in die Haͤnde, das ich in engliſcher Sprache geſchrieben
und worin ich mich uͤber den Mangel an poetiſchen
Gegenſtaͤnden beklage. Wir Deutſchen ſind auch wirk¬
lich ſchlimm daran: unſere Ur-Geſchichte liegt zu ſehr
im Dunkel und die ſpaͤtere hat aus Mangel eines ein¬
zigen Regentenhauſes kein allgemeines nationales In¬
tereſſe. Klopſtock verſuchte ſich am Hermann, allein
der Gegenſtand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein
Verhaͤltniß, niemand weiß, was er damit machen ſoll
und ſeine Darſtellung iſt daher ohne Wirkung und Po¬
pularitaͤt geblieben. Ich that einen gluͤcklichen Griff
mit meinem Goͤtz von Berlichingen; das war doch Bein
[247] von meinem Bein und Fleiſch von meinem Fleiſch, und
es war ſchon etwas damit zu machen.“
„Beym Werther und Fauſt mußte ich dagegen
wieder in meinen eigenen Buſen greifen, denn das
Überlieferte war nicht weit her. Das Teufels- und
Hexen-Weſen machte ich nur einmal; ich war froh,
mein nordiſches Erbtheil verzehrt zu haben und wandte
mich zu den Tiſchen der Griechen. Haͤtte ich aber ſo
deutlich wie jetzt gewußt, wie viel Vortreffliches ſeit
Jahrhunderten und Jahrtauſenden da iſt, ich haͤtte keine
Zeile geſchrieben, ſondern etwas anderes gethan.“
Goethe war heute bey Tiſch in der heiterſten, herz¬
lichſten Stimmung. Ein ihm ſehr werthes Blatt war
ihm heute zugekommen, naͤmlich Lord Byrons Hand¬
ſchrift der Dedication ſeines Sardanapal. Er zeigte ſie
uns zum Nachtiſch, indem er zugleich ſeine Tochter
quaͤlte, ihm Byrons Brief aus Genua wieder zu geben.
„Du ſiehſt, liebes Kind, ſagte er, ich habe jetzt alles
beyſammen, was auf mein Verhaͤltniß zu Byron Bezug
hat, ſelbſt dieſes merkwuͤrdige Blatt gelangt heute wun¬
derbarer Weiſe zu mir und es fehlt mir nun weiter
nichts als jener[ ]Brief.“
Die liebenswuͤrdige Verehrerin von Byron wollte
[248] aber den Brief nicht wieder entbehren. „Sie haben
ihn mir einmal geſchenkt, lieber Vater, ſagte ſie, und ich
gebe ihn nicht zuruͤck; und wenn Sie denn einmal wol¬
len, daß das Gleiche zum Gleichen ſoll, ſo geben Sie
mir lieber dieſes koͤſtliche Blatt von heute noch dazu
und ich verwahre ſodann alles miteinander.“ Das
wollte Goethe noch weniger und der anmuthige Streit
ging noch eine Weile fort bis er ſich in ein allgemeines
munteres Geſpraͤch aufloͤste.
Nachdem wir vom Tiſch aufgeſtanden und die Frauen
hinaufgangen waren, blieb ich mit Goethe allein. Er
holte aus ſeiner Arbeitsſtube ein rothes Portefeuille,
womit er mit mir ans Fenſter trat und es auseinander
legte. „Sehen Sie, ſagte er, hier habe ich alles bey¬
ſammen, was auf mein Verhaͤltniß zu Lord Byron
Bezug hat. Hier iſt ſein Brief aus Livorno, dieß iſt
ein Abdruck ſeiner Dedication, dieß mein Gedicht, hier
das, was ich zu Medwins Converſationen geſchrieben;
nun fehlt mir bloß ſein Brief aus Genua, aber ſie will
ihn nicht hergeben.“
Goethe ſagte mir ſodann von einer freundlichen
Aufforderung, die in Bezug auf Lord Byron heute
aus England an ihn ergangen und die ihn ſehr ange¬
nehm beruͤhrt habe. Sein Geiſt war bey dieſer Gele¬
genheit ganz von Byron voll und er ergoß ſich uͤber
ihn, ſeine Werke und ſein Talent in tauſend intereſ¬
ſanten Äußerungen.
[249]
„Die Englaͤnder, ſagte er unter anderm, moͤgen auch
von Byron halten, was ſie wollen, ſo iſt doch ſo viel
gewiß, daß ſie keinen Poeten aufzuweiſen haben, der
ihm zu vergleichen waͤre. Er iſt anders als alle Übri¬
gen und meiſtentheils groͤßer.“
Ich ſprach mit Goethe uͤber St. Schuͤtze, uͤber den
er ſich ſehr wohlwollend aͤußerte.
„In den Tagen meines krankhaften Zuſtandes von
voriger Woche, ſagte er, habe ich ſeine heiteren
Stunden geleſen. Ich habe an dem Buche große
Freude gehabt. Haͤtte Schuͤtze in England gelebt, er
wuͤrde Epoche gemacht haben; denn ihm fehlte bey
ſeiner Gabe der Beobachtung und Darſtellung weiter
nichts als der Anblick eines bedeutenden Lebens.“
Goethe ſprach uͤber den Globe. „Die Mitarbeiter,
ſagte er, ſind Leute von Welt, heiter, klar, kuͤhn bis
zum aͤußerſten Grade. In ihrem Tadel ſind ſie fein
und galant, wogegen aber die deutſchen Gelehrten im¬
[250] mer glauben, daß ſie den ſogleich haſſen muͤſſen, der
nicht ſo denkt wie ſie. Ich zaͤhle den Globe zu den in¬
tereſſanteſten Zeitſchriften und koͤnnte ihn nicht entbehren.“
Dieſen Abend hatte ich das Gluͤck, von Goethe
manche Äußerung uͤber das Theater zu hoͤren.
Ich erzaͤhlte ihm, daß einer meiner Freunde die
Abſicht habe, Byrons Two Foscari fuͤr die Buͤhne ein¬
zurichten. Goethe zweifelte am Gelingen.
„Es iſt freylich eine verfuͤhreriſche Sache, ſagte er.
Wenn ein Stuͤck im Leſen auf uns große Wirkung
macht, ſo denken wir, es muͤßte auch von der Buͤhne
herunter ſo thun, und wir bilden uns ein, wir koͤnnten
mit weniger Muͤhe dazu gelangen. Allein es iſt ein
eigenes Ding. Ein Stuͤck, das nicht urſpruͤnglich mit
Abſicht und Geſchick des Dichters fuͤr die Bretter ge¬
ſchrieben iſt, geht auch nicht hinauf, und wie man auch
damit verfaͤhrt, es wird immer etwas Ungehoͤriges und
Widerſtrebendes behalten. Welche Muͤhe habe ich mir
nicht mit meinem Goͤtz von Berlichingen gegeben! aber
doch will es als Theaterſtuͤck nicht recht gehen. Es iſt
zu groß und ich habe es zu zwey Theilen einrichten
muͤſſen, wovon der letzte zwar theatraliſch wirkſam, der
erſte aber nur als Expoſitionsſtuͤck anzuſehen iſt. Wollte
[251] man den erſten Theil, des Hergangs der Sache willen,
bloß einmal geben, und ſodann bloß den zweyten Theil
wiederholt fortſpielen, ſo moͤchte es gehen. Ein aͤhnliches
Verhaͤltniß hat es mit dem Wallenſtein; die Piccolomini
werden nicht wiederholt, aber Wallenſteins Tod wird
immerfort gern geſehen.“
Ich fragte, wie ein Stuͤck beſchaffen ſeyn muͤſſe, um
theatraliſch zu ſeyn.
„Es muß ſymboliſch ſeyn, antwortete Goethe. Das
heißt: jede Handlung muß an ſich bedeutend ſeyn und
auf eine noch wichtigere hinzielen. Der Tartuͤffe von
Molière iſt in dieſer Hinſicht ein großes Muſter. Den¬
ken Sie nur an die erſte Scene, was das fuͤr eine
Expoſition iſt! Alles iſt ſogleich vom Anfange herein
hoͤchſt bedeutend und laͤßt auf etwas noch Wichtigeres
ſchließen, was kommen wird. Die Expoſition von
Leſſings Minna von Barnhelm iſt auch vortrefflich,
allein dieſe des Tartuͤffe iſt nur einmal in der Welt da; ſie
iſt das Groͤßte und Beſte, was in dieſer Art vor¬
handen.“
Wir kamen auf die Calderon'ſchen Stuͤcke.
„Bey Calderon, ſagte Goethe, finden Sie dieſelbe
theatraliſche Vollkommenheit. Seine Stuͤcke ſind durch¬
aus bretterrecht, es iſt in ihnen kein Zug, der nicht fuͤr
die beabſichtigte Wirkung calculirt waͤre. Calderon iſt
dasjenige Genie, was zugleich den groͤßten Verſtand
hatte.“
Es iſt wunderlich, ſagte ich, daß die Shakſpeariſchen
Stuͤcke keine eigentlichen Theater-Stuͤcke ſind, da Shak¬
ſpeare ſie doch alle fuͤr ſein Theater geſchrieben hat.
„Shakſpeare, erwiederte Goethe, ſchrieb dieſe Stuͤcke
aus ſeiner Natur heraus, und dann machte ſeine Zeit
und die Einrichtung der damaligen Buͤhne an ihn keine
Anforderungen; man ließ ſich gefallen, wie Shakſpeare
es brachte. Haͤtte aber Shakſpeare fuͤr den Hof zu
Madrid, oder fuͤr das Theater Ludwigs des vierzehnten
geſchrieben, er haͤtte ſich auch wahrſcheinlich einer ſtren¬
geren Theater-Form gefuͤgt. Doch dieß iſt keineswegs
zu beklagen; denn was Shakſpeare als Theater-Dichter
fuͤr uns verloren hat, das hat er als Dichter im All¬
gemeinen gewonnen. Shakſpeare iſt ein großer Pſycho¬
loge und man lernt aus ſeinen Stuͤcken wie den Men¬
ſchen zu Muthe iſt.“
Wir ſprachen uͤber die Schwierigkeit einer guten
Theater-Leitung.
„Das Schwere dabey iſt, ſagte Goethe, daß man
das Zufaͤllige zu uͤbertragen wiſſe und ſich dadurch von
ſeinen hoͤheren Maximen nicht ableiten laſſe. Dieſe
hoͤheren Maximen ſind: ein gutes Repertoir trefflicher
Tragoͤdien, Opern und Luſtſpiele, worauf man halten
und die man als das Feſtſtehende anſehen muß. Zu
dem Zufaͤlligen aber rechne ich: ein neues Stuͤck, das
man ſehen will, eine Gaſtrolle, und dergleichen mehr.
Von dieſen Dingen muß man ſich nicht irre leiten
[253] laſſen, ſondern immer wieder zu ſeinem Repertoir zuruͤck¬
kehren. Unſere Zeit iſt nun an wahrhaft guten Stuͤcken
ſo reich, daß einem Kenner nichts leichteres iſt, als ein
gutes Repertoir zu bilden. Allein es iſt nichts ſchwie¬
riger als es zu halten.“
„Als ich mit Schillern dem Theater vorſtand, hat¬
ten wir den Vortheil, daß wir den Sommer uͤber in
Lauchſtedt ſpielten. Hier hatten wir ein auserleſenes
Publicum, das nichts als vortreffliche Sachen wollte,
und ſo kamen wir denn jedesmal eingeuͤbt in den beſten
Stuͤcken nach Weimar zuruͤck und konnten hier den
Winter uͤber alle Sommer-Vorſtellungen wiederholen.
Dazu hatte das Weimariſche Publicum auf unſere Lei¬
tung Vertrauen und war immer, auch bey Dingen,
denen es nichts abgewinnen konnte, uͤberzeugt, daß un¬
ſerm Thun und Laſſen eine hoͤhere Abſicht zum Grunde
liege.“
„In den neunziger Jahren, fuhr Goethe fort, war
die eigentliche Zeit meines Theater-Intereſſes ſchon
voruͤber und ich ſchrieb nichts mehr fuͤr die Buͤhne, ich
wollte mich ganz zum Epiſchen wenden. Schiller er¬
weckte das ſchon erloſchene Intereſſe, und ihm und ſei¬
nen Sachen zu Liebe nahm ich am Theater wieder An¬
theil. In der Zeit meines Clavigo waͤre es mir ein
Leichtes geweſen, ein Dutzend Theaterſtuͤcke zu ſchreiben;
an Gegenſtaͤnden fehlte es nicht und die Production
ward mir leicht; ich haͤtte immer in acht Tagen ein
[254] Stuͤck machen koͤnnen und es aͤrgert mich noch, daß ich
es nicht gethan habe.“
Goethe ſprach heute abermals mit Bewunderung
uͤber Lord Byron. „Ich habe, ſagte er, ſeinen Defor¬
med Transformed wieder geleſen und muß ſagen, daß
ſein Talent mir immer groͤßer vorkommt. Sein Teufel
iſt aus meinem Mephiſtopheles hervorgegangen, aber es
iſt keine Nachahmung, es iſt alles durchaus originell
und neu, und alles knapp, tuͤchtig und geiſtreich. Es
iſt keine Stelle darin, die ſchwach waͤre, nicht ſo viel
Platz, um den Knopf einer Nadel hinzuſetzen, wo man
nicht auf Erfindung und Geiſt traͤfe. Ihm iſt nichts
im Wege als das Hypochondriſche und Negative und
er waͤre ſo groß wie Shakſpeare und die Alten.“ Ich
wunderte mich. „Ja, ſagte Goethe, Sie koͤnnen es
mir glauben, ich habe ihn von neuem ſtudirt und muß
ihm dieß immer mehr zugeſtehen.“
In einem fruͤheren Geſpraͤche aͤußerte Goethe: „Lord
Byron habe zu viel Empirie.“ Ich verſtand nicht
recht, was er damit ſagen wollte, doch enthielt ich mich
ihn zu fragen und dachte der Sache im Stillen nach.
Es war aber durch Nachdenken nichts zu gewinnen und
ich mußte warten, bis meine vorſchreitende Cultur oder
[255] ein gluͤcklicher Umſtand mir das Geheimniß aufſchließen
moͤchte. Ein ſolcher fuͤhrte ſich dadurch herbey, daß
Abends im Theater eine treffliche Vorſtellung des Mac¬
beth auf mich wirkte, und ich Tags darauf die Werke
des Lord Byron in die Haͤnde nahm, um ſeinen Beppo
zu leſen. Nun wollte dieſes Gedicht auf den Macbeth
mir nicht munden, und je weiter ich las, je mehr ging
es mir auf, was Goethe bey jener Äußerung ſich mochte
gedacht haben.
Im Macbeth hatte ein Geiſt auf mich gewirkt, der,
groß, gewaltig und erhaben wie er war, von niemanden
hatte ausgehen koͤnnen als von Shakſpeare ſelbſt. Es war das
Angeborene einer hoͤher und tiefer begabten Natur, welche
eben das Individuum, das ſie beſaß, vor allen aus¬
zeichnete und dadurch zum großen Dichter machte. Das¬
jenige, was zu dieſem Stuͤck die Welt und Erfahrung
gegeben, war dem poetiſchen Geiſte untergeordnet und
diente nur, um dieſen reden und vorwalten zu laſſen.
Der große Dichter herrſchte und hob uns an ſeine Seite
hinauf zu der Hoͤhe ſeiner Anſicht.
Beym Leſen des Beppo dagegen empfand ich das
Vorherrſchen einer verruchten empiriſchen Welt, der ſich
der Geiſt, der ſie uns vor die Sinne fuͤhrt, gewiſſer¬
maßen aſſociirt hatte. Nicht mehr der angeborene groͤ¬
ßere und reinere Sinn eines hochbegabten Dichters be¬
gegnete mir, ſondern des Dichters Denkungsweiſe ſchien
durch ein haͤufiges Leben mit der Welt von gleichem
[256] Schlage geworden zu ſeyn. Er erſchien in gleichem
Niveau mit allen vornehmen geiſtreichen Weltleuten,
von denen er ſich durch nichts auszeichnete als durch
ſein großes Talent der Darſtellung, ſo daß er denn auch
als ihr redendes Organ betrachtet werden konnte.
Und ſo empfand ich denn beym Leſen des Beppo:
Lord Byron habe zu viel Empirie, und zwar nicht,
weil er zu viel wirkliches Leben uns vor die Augen
fuͤhrte, ſondern weil ſeine hoͤhere poetiſche Natur zu
ſchweigen, ja von einer empiriſchen Denkungsweiſe aus¬
getrieben zu ſeyn ſchien.
Lord Byrons Deformed Transformed hatte ich
nun auch geleſen und ſprach mit Goethe daruͤber nach
Tiſch.
„Nicht wahr? ſagte er, die erſten Scenen ſind groß
und zwar poetiſch groß. Das Übrige, wo es ausein¬
ander und zur Belagerung Rom's geht, will ich nicht
als poetiſch ruͤhmen, allein man muß geſtehen, daß es
geiſtreich iſt.“
Im hoͤchſten Grade, ſagte ich; aber es iſt keine
Kunſt geiſtreich zu ſeyn, wenn man vor nichts Reſpect
hat.
Goethe lachte. „Sie haben nicht ganz Unrecht,
[257] ſagte er; man muß freilich zugeben, daß der Poet mehr
ſagt als man moͤchte; er ſagt die Wahrheit, allein es
wird einem nicht wohl dabey und man ſaͤhe lieber, daß
er den Mund hielt. Es giebt Dinge in der Welt, die
der Dichter beſſer uͤberhuͤllet als aufdeckt; doch dieß iſt
eben Byrons Character und man wuͤrde ihn vernichten,
wenn man ihn anders wollte.“
Ja, ſagte ich, im hoͤchſten Grade geiſtreich iſt er.
Wie trefflich iſt z. B. dieſe Stelle:
The Devil speaks truth much oftener than he's deemed,
He hath an ignorant audience.
„Das iſt freylich eben ſo groß und frey als mein
Mephiſtopheles irgend etwas geſagt hat.“
„Da wir vom Mephiſtopheles reden, fuhr Goethe
fort, ſo will ich Ihnen doch etwas zeigen, was Cou¬
dray von Paris mitgebracht hat. Was ſagen Sie
dazu?“
Er legte mir einen Steindruck vor, die Scenen dar¬
ſtellend, wo Fauſt und Mephiſtopheles, um Gretchen
aus dem Kerker zu befreyen, in der Nacht auf zwey
Pferden an einem Hochgerichte vorbeyſauſen. Fauſt rei¬
tet ein ſchwarzes, das im geſtreckteſten Galopp aus¬
greift und ſich, ſo wie ſein Reiter, vor den Geſpenſtern
unter dem Galgen zu fuͤrchten ſcheint. Sie reiten ſo
ſchnell, daß Fauſt Muͤhe hat ſich zu halten; die ſtark
entgegen wirkende Luft hat ſeine Muͤtze entfuͤhrt, die,
I. 17[258] von dem Sturmriemen am Halſe gehalten, weit hinter
ihm herfliegt. Er hat ſein furchtſam fragendes Geſicht
dem Mephiſtopheles zugewendet und lauſcht auf deſſen
Worte. Dieſer ſitzt ruhig, unangefochten, wie ein hoͤhe¬
res Weſen. Er reitet kein lebendiges Pferd, denn er
liebt nicht das Lebendige. Auch hat er es nicht von¬
noͤthen, denn ſchon ſein Wollen bewegt ihn in der ge¬
wuͤnſchteſten Schnelle. Er hat bloß ein Pferd, weil er
einmal reitend gedacht werden muß; und da genuͤgte es
ihm, ein bloß noch in der Haut zuſammenhaͤngendes Ge¬
rippe vom erſten beſten Anger aufzuraffen. Es iſt heller
Farbe und ſcheint in der Dunkelheit der Nacht zu phos¬
phoresciren. Es iſt weder gezuͤgelt noch geſattelt, es
geht ohne das. Der uͤberirdiſche Reiter ſitzt leicht und
nachlaͤſſig im Geſpraͤch zu Fauſt gewendet; das entgegen¬
wirkende Element der Luft iſt fuͤr ihn nicht da, er wie
ſein Pferd empfinden nichts, es wird ihnen kein Haar
bewegt.
Wir hatten an dieſer geiſtreichen Compoſition große
Freude. „Da muß man doch geſtehen, ſagte Goethe,
daß man es ſich ſelbſt nicht ſo vollkommen gedacht hat.
Hier haben Sie ein anderes Blatt, was ſagen Sie zu
dieſem! —“
Die wilde Trink-Scene in Auerbachs Keller ſah
ich dargeſtellt, und zwar, als Quinteſſenz des Ganzen,
den bedeutendſten Moment, wo der verſchuͤttete Wein
als Flamme auflodert und die Beſtialitaͤt der Trinken¬
[259] den ſich auf die verſchiedenſte Weiſe kund giebt. Alles
iſt Leidenſchaft und Bewegung und nur Mephiſtopheles
bleibt in der gewohnten heiteren Ruhe. Das wilde
Fluchen und Schreien und das gezuckte Meſſer des
ihm zunaͤchſt Stehenden ſind ihm nichts. Er hat ſich
auf eine Tiſchecke geſetzt und baumelt mit den Beinen;
ſein aufgehobener Finger iſt genug, um Flamme und
Leidenſchaft zu daͤmpfen.
Jemehr man dieſes treffliche Bild betrachtete, deſto¬
mehr fand man den großen Verſtand des Kuͤnſtlers,
der keine Figur der andern gleich machte und in jeder
eine andere Stufe der Handlung darſtellte.
„Herr Delacroir, ſagte Goethe, iſt ein großes Ta¬
lent, das gerade am Fauſt die rechte Nahrung gefunden
hat. Die Franzoſen tadeln an ihm ſeine Wildheit, al¬
lein hier kommt ſie ihm recht zu Statten. Er wird,
wie man hofft, den ganzen Fauſt durchfuͤhren, und ich
freue mich beſonders auf die Hexenkuͤche und die Brocken¬
ſcenen. Man ſieht ihm an, daß er das Leben recht
durchgemacht hat, wozu ihm denn eine Stadt wie Pa¬
ris die beſte Gelegenheit geboten.“
Ich machte bemerklich, daß ſolche Bilder zum beſ¬
ſeren Verſtehen des Gedichts ſehr viel beytruͤgen. „Das
iſt keine Frage, ſagte Goethe, denn die vollkommnere
Einbildungskraft eines ſolchen Kuͤnſtlers zwingt uns,
die Situationen ſo gut zu denken, wie er ſie ſelber
gedacht hat. Und wenn ich nun geſtehen muß, daß
17*[260] Herr Delacroix meine eigene Vorſtellung bey Scenen
uͤbertroffen hat, die ich ſelber gemacht habe, um wie
viel mehr werden nicht die Leſer alles lebendig und
uͤber ihre Imagination hinausgehend finden!“
Ich fand Goethe in einer ſehr heiter aufgeregten
Stimmung. „Alexander von Humboldt iſt dieſen
Morgen einige Stunden bey mir geweſen, ſagte er mir
ſehr belebt entgegen. Was iſt das fuͤr ein Mann! —
Ich kenne ihn ſo lange und doch bin ich von neuem
uͤber ihn in Erſtaunen. Man kann ſagen, er hat an
Kenntniſſen und lebendigem Wiſſen nicht ſeines Gleichen.
Und eine Vielſeitigkeit, wie ſie mir gleichfalls noch nicht
vorgekommen iſt! Wohin man ruͤhrt, er iſt uͤberall zu
Hauſe und uͤberſchuͤttet uns mit geiſtigen Schaͤtzen. Er
gleicht einem Brunnen mit vielen Roͤhren, wo man
uͤberall nur Gefaͤße unterzuhalten braucht und wo es
uns immer erquicklich und unerſchoͤpflich entgegenſtroͤmt.
Er wird einige Tage hier bleiben und ich fuͤhle ſchon,
es wird mir ſeyn, als haͤtte ich Jahre verlebt.“
[261]
Über Tiſch lobten die Frauen ein Portrait eines
jungen Malers. Und was bewundernswuͤrdig iſt, fuͤg¬
ten ſie hinzu, er hat alles von ſelbſt gelernt. Dieſes
merkte man denn auch beſonders an den Haͤnden, die
nicht richtig und kunſtmaͤßig gezeichnet waren.
„Man ſieht, ſagte Goethe, der junge Mann hat
Talent; allein daß er alles von ſelbſt gelernt hat, de߬
wegen ſoll man ihn nicht loben, ſondern ſchelten. Ein
Talent wird nicht geboren, um ſich ſelbſt uͤberlaſſen zu
bleiben, ſondern ſich zur Kunſt und guten Meiſtern zu
wenden, die denn etwas aus ihm machen. Ich habe
dieſer Tage einen Brief von Mozart geleſen, wo er
einem Baron, der ihm Compoſitionen zugeſendet hatte,
etwa Folgendes ſchreibt: „Euch Dilettanten muß man
ſchelten, denn es finden bey Euch gewoͤhnlich zwey
Dinge Statt: entweder Ihr habt keine eigene Gedan¬
ken und da nehmet Ihr fremde; oder wenn Ihr eigene
Gedanken habt, ſo wißt Ihr nicht damit umzugehen.“
Iſt das nicht himmliſch? und gilt dieſes große Wort,
was Mozart von der Muſik ſagt, nicht von allen uͤbrigen
Kuͤnſten?“
Goethe fuhr fort: „Lenardo da Vinci ſagt: Wenn
in euerm Sohn nicht der Sinn ſteckt, dasjenige, was
[262] er zeichnet durch kraͤftige Schattirung ſo herauszuhe¬
ben, daß man es mit Haͤnden greifen moͤchte, ſo hat
er kein Talent.“
„Und ferner ſagt Lenardo da Vinci: Wenn euer
Sohn Perſpective und Anatomie voͤllig inne hat, ſo
thut ihn zu einem guten Meiſter.“
„Und jetzt, ſagte Goethe, verſtehen unſere jungen
Kuͤnſtler beydes kaum, wenn ſie ihre Meiſter verlaſſen.
So ſehr haben ſich die Zeiten geaͤndert.“
„Unſern jungen Malern, fuhr Goethe fort, fehlt
es an Gemuͤth und Geiſt; ihre Erfindungen ſagen nichts
und wirken nichts; ſie malen Schwerdter, die nicht hauen
und Pfeile, die nicht treffen, und es dringt ſich mir oft
auf, als waͤre aller Geiſt aus der Welt verſchwunden.“
Und doch, verſetzte ich, ſollte man glauben, daß die
großen kriegeriſchen Ereigniſſe der letzten Jahre den
Geiſt aufgeregt haͤtten.
„Mehr Wollen, ſagte Goethe, haben ſie aufgeregt
als Geiſt, und mehr politiſchen Geiſt als kuͤnſtleriſchen,
und alle Naivetaͤt und Sinnlichkeit iſt dagegen gaͤnzlich
verloren gegangen. Wie will aber ein Maler ohne dieſe
beyden großen Erforderniſſe etwas machen, woran man
Freude haben koͤnnte.“
Ich ſagte, daß ich dieſer Tage in ſeiner Italieniſchen
Reiſe von einem Bilde Correggio's geleſen, welches eine
Entwoͤhnung darſtellt, wo das Kind Chriſtus auf dem
Schooße der Maria zwiſchen der Mutterbruſt und einer
[263] hingereichten Birne in Zweifel kommt und nicht weiß,
welches von beyden es waͤhlen ſoll.
„Ja, ſagte Goethe, das iſt ein Bildchen! da iſt
Geiſt, Naivetaͤt, Sinnlichkeit, alles bey einander. Und
der heilige Gegenſtand iſt allgemein menſchlich geworden
und gilt als Symbol fuͤr eine Lebensſtufe, die wir alle
durchmachen. Ein ſolches Bild iſt ewig, weil es in
die fruͤheſten Zeiten der Menſchheit zuruͤck- und in die
kuͤnftigſten vorwaͤrts greift. Wollte man dagegen den
Chriſtus malen, wie er die Kindlein zu ſich kommen
laͤßt, ſo waͤre das ein Bild, welches gar nichts zu ſa¬
gen haͤtte, wenigſtens nichts von Bedeutung.“
„Ich habe nun, fuhr Goethe fort, der deutſchen
Malerey uͤber funfzig Jahre zugeſehen, ja nicht bloß
zugeſehen, ſondern auch von meiner Seite einzuwirken
geſucht, und kann jetzt ſo viel ſagen, daß, ſo wie alles
jetzt ſteht, wenig zu erwarten iſt. Es muß ein großes
Talent kommen, welches ſich alles Gute der Zeit ſogleich
aneignet und dadurch alles uͤbertrifft. Die Mittel ſind
alle da, und die Wege gezeigt und gebahnt. Haben
wir doch jetzt ſogar auch die Phidiaſſe vor Augen, wor¬
an in unſerer Jugend nicht zu denken war. Es fehlt
jetzt, wie geſagt, weiter nichts als ein großes Talent,
und dieſes, hoffe ich, wird kommen; es liegt vielleicht
ſchon in der Wiege und Sie koͤnnen ſeinen Glanz noch
erleben.“
[264]
Ich erzaͤhlte Goethen nach Tiſch, daß ich eine Ent¬
deckung gemacht, die mir viele Freude gewaͤhre. Ich
haͤtte naͤmlich an einer brennenden Wachskerze bemerkt,
daß der durchſichtige untere Theil der Flamme daſſelbe
Phaͤnomen zeige, als wodurch der blaue Himmel ent¬
ſtehe, indem naͤmlich die Finſterniß durch ein erleuchte¬
tes Truͤbe geſehen werde.
Ich fragte Goethe, ob er dieſes Phaͤnomen der Kerze
kenne und in ſeiner Farbenlehre aufgenommen habe.
„Ohne Zweifel“, ſagte er. Er nahm einen Band der
Farbenlehre herunter und las mir die Paragraphen, wo
ich denn alles beſchrieben fand, wie ich es geſehen.
„Es iſt mir ſehr lieb, ſagte er, daß Ihnen dieſes Phaͤ¬
nomen aufgegangen iſt, ohne es aus meiner Farbenlehre
zu kennen; denn nun haben Sie es begriffen und koͤn¬
nen ſagen, daß Sie es beſitzen. Auch haben Sie da¬
durch einen Standpunct gefaßt, von welchem aus Sie
zu den uͤbrigen Phaͤnomenen weiter gehen werden. Ich
will Ihnen jetzt ſogleich ein neues zeigen.“
Es mochte etwa vier Uhr ſeyn; es war ein bedeckter
Himmel und im erſten Anfangen der Daͤmmerung.
Goethe zuͤndete ein Licht an und ging damit in die
Naͤhe des Fenſters zu einem Tiſche. Er ſetzte das Licht
auf einen weißen Bogen Papier und ſtellte ein Staͤb¬
[265] chen darauf, ſo daß der Schein des Kerzenlichtes vom
Staͤbchen aus einen Schatten warf nach dem Lichte
des Tages zu. „Nun, ſagte Goethe, was ſagen Sie
zu dieſem Schatten?“ Der Schatten iſt blau, antwor¬
tete ich. „Da haͤtten Sie alſo das Blaue wieder,
ſagte Goethe, aber auf dieſer andern Seite des Staͤb¬
chens nach der Kerze zu, was ſehen Sie da?“ Auch
einen Schatten. „Aber von welcher Farbe?“ Der
Schatten iſt ein roͤthliches Gelb, antwortete ich; doch
wie entſteht dieſes doppelte Phaͤnomen? „Das iſt nun
Ihre Sache; ſagte Goethe; ſehen Sie zu, daß Sie es
herausbringen. Zu finden iſt es, aber es iſt ſchwer.
Sehen Sie nicht fruͤher in meiner Farbenlehre nach, als
bis Sie die Hoffnung aufgegeben haben, es ſelber her¬
auszubringen.“ Ich verſprach dieſes mit vieler Freude.
„Das Phaͤnomen am untern Theile der Kerze, fuhr
Goethe fort, wo ein durchſichtiges Helle vor die Fin¬
ſterniß tritt und die blaue Farbe hervorbringt, will ich
Ihnen jetzt in vergroͤßertem Maße zeigen.“ Er nahm
einen Loͤffel, goß Spiritus hinein und zuͤndete ihn an.
Da entſtand denn wieder ein durchſichtiges Helle, wo¬
durch die Finſterniß blau erſchien. Wendete ich den
brennenden Spiritus vor die Dunkelheit der Nacht, ſo
nahm die Blaͤue an Kraͤftigkeit zu; hielt ich ihn ge¬
gen das Helle, ſo ſchwaͤchte ſie ſich, oder verſchwand
gaͤnzlich.
Ich hatte meine Freude an dem Phaͤnomen. „Ja,
[266] ſagte Goethe, daß iſt eben das Große bey der Natur,
daß ſie ſo einfach iſt, und daß ſie ihre groͤßten Erſchei¬
nungen immer im Kleinen wiederholt. Daſſelbe Geſetz,
wodurch der Himmel blau iſt, ſieht man ebenfalls an
dem untern Theil einer brennenden Kerze, am bren¬
nenden Spiritus, ſo wie an dem erleuchteten Rauch, der
von einem Dorfe aufſteigt, hinter welchem ein dunkles
Gebirge liegt.“
Aber wie erklaͤren die Schuͤler von Newton dieſes
hoͤchſt einfache Phaͤnomen? fragte ich.
„Das muͤſſen Sie gar nicht wiſſen, antwortete
Goethe. Es iſt gar zu dumm, und man glaubt nicht,
welchen Schaden es einem guten Kopfe thut, wenn er
ſich mit etwas Dummen befaßt. Bekuͤmmern Sie ſich
gar nicht um die Newtonianer, laſſen Sie ſich die reine
Lehre genuͤgen, und Sie werden ſich gut dabey ſtehen.“
Die Beſchaͤftigung mit dem Verkehrten, ſagte ich,
iſt vielleicht in dieſem Fall eben ſo unangenehm und
ſchaͤdlich, als wenn man ein ſchlechtes Trauerſpiel in
ſich aufnehmen ſollte, um es nach allen ſeinen Theilen
zu beleuchten und in ſeiner Bloͤße darzuſtellen.
„Es iſt ganz daſſelbe, ſagte Goethe, und man ſoll
ſich ohne Noth nicht damit befaſſen. Ich ehre die Ma¬
thematik als die erhabenſte und nuͤtzlichſte Wiſſenſchaft,
ſo lange man ſie da anwendet, wo ſie am Platze iſt;
allein ich kann nicht loben, daß man ſie bey Dingen
mißbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereich liegen,
[267] und wo die edle Wiſſenſchaft ſogleich als Unſinn er¬
ſcheint. Und als ob alles nur dann exiſtirte, wenn es
ſich mathematiſch beweiſen laͤßt. Es waͤre doch thoͤ¬
richt, wenn jemand nicht an die Liebe ſeines Maͤdchens
glauben wollte, weil ſie ihm ſolche nicht mathematiſch
beweiſen kann! Ihre Mitgift kann ſie ihm mathema¬
tiſch beweiſen, aber nicht ihre Liebe. Haben doch auch
die Mathematiker nicht die Metamorphoſe der Pflanze
erfunden! Ich habe dieſes ohne die Mathematik voll¬
bracht und die Mathematiker haben es muͤſſen gelten
laſſen. Um die Phaͤnomene der Farbenlehre zu begreifen
gehoͤrt weiter nichts als ein reines Anſchauen und ein
geſunder Kopf; allein beydes iſt freilich ſeltener als
man glauben ſollte.“
Wie ſtehen denn die jetzigen Franzoſen und Eng¬
laͤnder zur Farbenlehre? fragte ich.
„Beyde Nationen, antwortete Goethe, haben ihre
Avantagen und ihre Nachtheile. Bey den Englaͤndern
iſt es gut, daß ſie alles practiſch machen; aber ſie ſind
Pedanten. Die Franzoſen ſind gute Koͤpfe, aber es ſoll
bey ihnen alles poſitiv ſeyn, und wenn es nicht ſo iſt,
ſo machen ſie es ſo. Doch ſie ſind in der Farbenlehre
auf gutem Wege und Einer ihrer Beſten kommt nahe
heran. Er ſagt: die Farbe ſey den Dingen angeſchaf¬
fen. Denn wie es in der Natur ein Saͤurendes gebe,
ſo gebe es auch ein Faͤrbendes. Damit ſind nun freylich
die Phaͤnomene nicht erklaͤrt; allein er ſpielt doch den
[268] Gegenſtand in die Natur hinein, und befreit ihn von
der Einſchraͤnkung der Mathematik.“
Die Berliner Zeitungen wurden gebracht und Goethe
ſetzte ſich, ſie zu leſen. Er reichte auch mir ein Blatt,
und ich fand in den Theaternachrichten: daß man dort
im Opernhauſe und Koͤniglichen Theater eben ſo ſchlechte
Stuͤcke gebe als hier.
„Wie ſoll dieß auch anders ſeyn, ſagte Goethe.
Es iſt freylich keine Frage, daß man nicht mit Huͤlfe
der guten engliſchen, franzoͤſiſchen und ſpaniſchen Stuͤcke
ein ſo gutes Repertoir zuſammen bringen ſollte, um
jeden Abend ein gutes Stuͤck geben zu koͤnnen. Allein
wo iſt das Beduͤrfniß in der Nation, immer ein gutes
Stuͤck zu ſehen? Die Zeit in welcher Aeſchylus, So¬
phocles und Euripides ſchrieben, war freilich eine ganz
andere: ſie hatte den Geiſt hinter ſich und wollte nur
immer das wirklich Groͤßte und Beſte. Aber in un¬
ſerer ſchlechten Zeit, wo iſt denn da das Beduͤrfniß
fuͤr das Beſte? Wo ſind die Organe es aufzuneh¬
men?“
„Und dann, fuhr Goethe fort, man will etwas
Neues! In Berlin wie in Paris, das Publicum iſt
uͤberall daſſelbe. Eine Unzahl neuer Stuͤcke wird jede
Woche in Paris geſchrieben und auf die Theater ge¬
bracht, und man muß immer fuͤnf bis ſechs durchaus
ſchlechte aushalten, ehe man durch ein gutes entſchaͤ¬
diget wird.“
„Das einzige Mittel, um jetzt ein deutſches Thea¬
ter oben zu halten, ſind Gaſtrollen. Haͤtte ich jetzt
noch die Leitung, ſo ſollte der ganze Winter mit treff¬
lichen Gaſtſpielern beſetzt ſeyn. Dadurch wuͤrden nicht
allein alle gute Stuͤcke immer wieder zum Vorſchein
kommen, ſondern das Intereſſe wuͤrde auch mehr von
den Stuͤcken ab auf das Spiel gelenkt; man koͤnnte
vergleich und urtheilen, das Publicum gewoͤnne an
Einſichten, und unſere eigenen Schauſpieler wuͤrden
durch das bedeutende Spiel eines ausgezeichneten Ga¬
ſtes immer in Anregung und Nacheiferung erhalten.
Wie geſagt: Gaſtrollen und immer Gaſtrollen, und ihr
ſolltet uͤber den Nutzen erſtaunen, der daraus fuͤr Thea¬
ter und Publicum hervorgehen wuͤrde.“
„Ich ſehe die Zeit kommen, wo ein geſcheidter, der
Sache gewachſener Kopf vier Theater zugleich uͤber¬
nehmen und ſie hin und her mit Gaſtrollen verſehen
wird, und ich bin gewiß, daß er ſich beſſer bey dieſen
vieren ſtehen wird, als wenn er nur ein einziges haͤtte.“
Dem Phaͤnomen des blauen und gelben Schattens
hatte ich nun zu Hauſe fleißig nachgedacht, und wie¬
wohl es mir lange ein Raͤthſel blieb, ſo ging mir doch
bey fortgeſetztem Beobachten ein Licht auf und ich ward
[270] nach und nach uͤberzeugt, das Phaͤnomen begriffen zu
haben.
Heute bey Tiſch ſagte ich Goethen, daß ich das
Raͤthſel geloͤſt. „Es waͤre viel, ſagte Goethe; nach Tiſch
ſollen Sie es mir machen.“ Ich will es lieber ſchreiben,
ſagte ich, denn zu einer muͤndlichen Auseinanderſetzung
fehlen mir leicht die richtigen Worte. „Sie moͤgen es
ſpaͤter ſchreiben, ſagte Goethe, aber heute ſollen Sie es
mir erſt vor meinen Augen machen und mir muͤndlich
demonſtriren, damit ich ſehe, ob Sie im Rechten ſind,“
Nach Tiſch, wo es voͤllig helle war, fragte Goethe:
„Koͤnnen Sie jetzt das Experiment machen?“ Nein,
ſagte ich. „Warum nicht?“ fragte Goethe. Es iſt
noch zu helle, antwortete ich; es muß erſt ein wenig
Daͤmmerung eintreten, damit das Kerzenlicht einen ent¬
ſchiedenen Schatten werfe; doch muß es noch helle ge¬
nug ſeyn, damit das Tageslicht dieſen erleuchten koͤnne.
„Hm! ſagte Goethe, das iſt nicht unrecht.“
Der Anfang der Abenddaͤmmerung trat endlich ein
und ich ſagte Goethen, daß es jetzt Zeit ſey. Er zuͤn¬
dete die Wachskerze an und gab mir ein Blatt weißes
Papier und ein Staͤbchen. „Nun experimentiren und
dociren Sie,“ ſagte er.
Ich ſtellte das Licht auf den Tiſch in die Naͤhe
des Fenſters, legte das Blatt Papier in die Naͤhe des
Lichtes, und als ich das Staͤbchen auf die Mitte des
Papiers zwiſchen Tages- und Kerzen-Licht ſetzte, war
[271] das Phaͤnomen in vollkommener Schoͤnheit da. Der
Schatten nach dem Lichte zu zeigte ſich entſchieden gelb,
der andere, nach dem Fenſter zu, vollkommen blau.
„Nun, ſagte Goͤthe, wie entſteht zunaͤchſt der blaue
Schatten?“ Ehe ich dieſes erklaͤre, ſagte ich, will ich das
Grundgeſetz ausſprechen, aus dem ich beyde Erſcheinun¬
gen ableite.
Licht und Finſterniß, ſagte ich, ſind keine Farben,
ſondern ſie ſind zwey Extreme, in deren Mitte die Far¬
ben liegen und entſtehen, und zwar durch eine Modi¬
fication von beyden.
Den Extremen Licht und Finſterniß zunaͤchſt entſte¬
hen die beyden Farben gelb und blau. Die gelbe an
der Grenze des Lichtes, indem ich dieſes durch ein Ge¬
truͤbtes, die blaue an der Grenze der Finſterniß, indem
ich dieſe durch ein erleuchtetes Durchſichtige betrachte.
Kommen wir nun, fuhr ich fort, zu unſerm Phaͤ¬
nomen, ſo ſehen wir, daß das Staͤbchen vermoͤge der
Gewalt des Kerzenlichtes einen entſchiedenen Schatten
wirft. Dieſer Schatten wuͤrde als ſchwarze Finſterniß
erſcheinen, wenn ich die Laͤden ſchloͤſſe und das Tages¬
licht abſperrte. Nun aber dringt durch die offenen Fen¬
ſter das Tageslicht frey herein und bildet ein erhelltes
Medium, durch welches ich die Finſterniß des Schattens
ſehe, und ſo entſteht denn, dem Geſetze gemaͤß, die
blaue Farbe. Goethe lachte. „Das waͤre der blaue,
ſagte er; wie aber erklaͤren Sie den gelben Schatten?“
Aus dem Geſetz des getruͤbten Lichtes, antwortete
ich. Die brennende Kerze wirft auf das weiße Papier
ein Licht, das ſchon einen leiſen Hauch vom Gelblichen
hat. Der einwirkende Tag aber hat ſo viele Gewalt,
um vom Staͤbchen aus nach dem Kerzenlichte zu einen
ſchwachen Schatten zu werfen, der, ſo weit er reicht,
das Licht truͤbt, und ſo entſteht, dem Geſetze gemaͤß,
die gelbe Farbe. Schwaͤche ich die Truͤbe, indem ich
den Schatten dem Lichte moͤglichſt nahe bringe, ſo zeigt
ſich ein reines Hellgelb; verſtaͤrke ich aber die Truͤbe,
indem ich den Schatten moͤglichſt vom Licht entferne, ſo
verdunkelt ſich das Gelbe bis zum Roͤthlichen, ja Rothen.
Goethe lachte wieder, und zwar ſehr geheimnißvoll.
Nun? ſagte ich, habe ich Recht? „Sie haben das Phaͤ¬
nomen recht gut geſehen und recht huͤbſch ausgeſprochen,
antwortete Goethe, aber Sie haben es nicht erklaͤrt.
Ihre Erklaͤrung iſt geſcheidt, ja ſogar geiſtreich, aber
ſie iſt nicht die richtige.“
Nun ſo helfen Sie mir, ſagte ich, und loͤſen Sie
mir das Raͤthſel, denn ich bin nun im hoͤchſten Grade
ungeduldig. „Sie ſollen es erfahren, ſagte Goethe, aber
nicht heute, und nicht auf dieſem Wege. Ich will Ih¬
nen naͤchſtens ein anderes Phaͤnomen zeigen, durch wel¬
ches Ihnen das Geſetz augenſcheinlich werden ſoll. Sie
ſind nahe heran, und weiter iſt in dieſer Richtung
nicht zu gelangen. Haben Sie aber das neue Geſetz
begriffen, ſo ſind Sie in eine ganz andere Region ein¬
[273] gefuͤhrt und uͤber ſehr vieles hinaus. Kommen Sie
einmal am Mittage bey heiterem Himmel ein Stuͤnd¬
chen fruͤher zu Tiſch, ſo will ich Ihnen ein deutlicher
Phaͤnomen zeigen, durch welches Sie daſſelbe Geſetz,
welches dieſem zum Grunde liegt, ſogleich begreifen
ſollen.“
„Es iſt mir ſehr lieb, fuhr er fort, daß Sie fuͤr
die Farbe dieſes Intereſſe haben; es wird Ihnen eine
Quelle von unbeſchreiblichen Freuden werden.“
Nachdem ich Goethe am Abend verlaſſen, konnte
ich den Gedanken an das Phaͤnomen nicht aus dem
Kopfe bringen, ſo daß ich ſogar im Traume damit zu
thun hatte. Aber auch in dieſem Zuſtande ſah ich
nicht klarer und kam der Loͤſung des Raͤthſels um kei¬
nen Schritt naͤher.
„Mit meinen naturwiſſenſchaftlichen Heften, ſagte
Goethe vor einiger Zeit, gehe ich auch langſam fort.
Nicht weil ich glaube, die Wiſſenſchaft noch jetzt be¬
deutend foͤrdern zu koͤnnen; ſondern der vielen angeneh¬
men Verbindungen wegen, die ich dadurch unterhalte.
Die Beſchaͤftigung mit der Natur iſt die unſchuldigſte.
In aͤſthetiſcher Hinſicht iſt jetzt an gar keine Verbin¬
dung und Correspondenz zu denken. Da wollen ſie
I. 18[274] wiſſen, welche Stadt am Rhein bey meinem Hermann
und Dorothea gemeint ſey! — Als ob es nicht beſſer
waͤre, ſich jede beliebige zu denken! — Man will Wahr¬
heit, man will Wirklichkeit und verdirbt dadurch die
Poeſie.“
1827.
18*[[276]][[277]]Heute bey Tiſch ſprachen wir uͤber Cannings treffliche
Rede fuͤr Portugal.
„Es gibt Leute, ſagte Goethe, die dieſe Rede grob
nennen; aber dieſe Leute wiſſen nicht, was ſie wollen,
es liegt in ihnen eine Sucht, alles Große zu frondiren.
Es iſt keine Oppoſition, ſondern eine bloße Frondation.
Sie muͤſſen etwas Großes haben, das ſie haſſen koͤn¬
nen. Als Napoleon noch in der Welt war, haßten ſie
den, und ſie hatten an ihm eine gute Ableitung. So¬
dann als es mit dieſem aus war, frondirten ſie die
heilige Allianz, und doch iſt nie etwas Groͤßeres und
fuͤr die Menſchheit Wohlthaͤtigeres erfunden worden.
Jetzt kommt die Reihe an Canning. Seine Rede fuͤr
Portugal iſt das Product eines großen Bewußtſeyns.
Er fuͤhlt ſehr gut den Umfang ſeiner Gewalt und die
Groͤße ſeiner Stellung und er hat Recht, daß er ſpricht,
wie er ſich empfindet. Aber das koͤnnen dieſe Sans¬
cuͤlotten nicht begreifen und was uns andern groß er¬
[278] cheint, erſcheint ihnen grob. Das Große iſt ihnen
unbequem, ſie haben keine Ader es zu verehren, ſie
koͤnnen es nicht dulden.“
Goethe lobte ſehr die Gedichte von Victor Hugo.
„Er iſt ein entſchiedenes Talent, ſagte er, auf den die
deutſche Literatur Einfluß gehabt. Seine poetiſche Ju¬
gend iſt ihm leider durch die Pedanterie der claſſiſchen
Partey verkuͤmmert; doch jetzt hat er den Globe auf
ſeiner Seite und ſo hat er gewonnen Spiel. Ich moͤchte
ihn mit Manzoni vergleichen. Er hat viel Objectives
und erſcheint mir vollkommen ſo bedeutend als die Her¬
ren De Lamartine und Delavigne. Wenn ich ihn recht
betrachte, ſo ſehe ich wohl, wo er und andere friſche
Talente ſeines Gleichen herkommen. Von Chateau¬
briand kommen ſie her, der freylich ein ſehr bedeuten¬
des rhetoriſch-poetiſches Talent iſt. Damit Sie nun
aber ſehen, in welcher Art Victor Hugo ſchreibt, ſo
leſen Sie nur dieß Gedicht uͤber Napoleon: Les deux
îsles.“
Goethe legte mir das Buch vor und ſtellte ſich an den
Ofen. Ich las. „Hat er nicht treffliche Bilder? ſagte
Goethe, und hat er ſeinen Gegenſtand nicht mit ſehr
freyem Geiſte behandelt?“ Er trat wieder zu mir.
[279] „Sehen Sie nur dieſe Stelle, wie ſchoͤn ſie iſt!“ Er
las die Stelle von der Wetterwolke, aus der den Hel¬
den der Blitz von unten hinauf trifft. „Das iſt ſchoͤn!
Denn das Bild iſt wahr, welches man in Gebirgen
finden wird, wo man oft die Gewitter unter ſich hat
und wo die Blitze von unten nach oben ſchlagen.“
Ich lobe an den Franzoſen, ſagte ich, daß ihre
Poeſie nie den feſten Boden der Realitaͤt verlaͤßt. Man
kann die Gedichte in Proſa uͤberſetzen und ihr Weſent¬
liches wird bleiben.
„Das kommt daher, ſagte Goethe, die franzoͤſiſchen
Dichter haben Kenntniſſe; dagegen denken die deutſchen
Narren, ſie verloͤren ihr Talent, wenn ſie ſich um
Kenntniſſe bemuͤhten, obgleich jedes Talent ſich durch
Kenntniſſe naͤhren muß und nur dadurch erſt zum Ge¬
brauch ſeiner Kraͤfte gelangt. Doch wir wollen ſie
gehen laſſen, man hilft ihnen doch nicht, und das
wahrhafte Talent findet ſchon ſeinen Weg. Die vielen
jungen Dichter, die jetzt ihr Weſen treiben, ſind gar
keine rechten Talente; ſie beurkunden weiter nichts als
ein Unvermoͤgen, das durch die Hoͤhe der deutſchen Li¬
teratur zur Productivitaͤt angereizt worden.“
„Daß die Franzoſen, fuhr Goethe fort, aus der
Pedanterie zu einer freyeren Art in der Poeſie hervor¬
gehen, iſt nicht zu verwundern. Diderot und ihm aͤhn¬
liche Geiſter haben ſchon vor der Revolution dieſe Bahn
zu brechen geſucht. Die Revolution ſelbſt ſodann, ſo¬
[280] wie die Zeit unter Napoleon ſind der Sache guͤnſtig
geweſen. Denn wenn auch die kriegeriſchen Jahre kein
eigentlich poetiſches Intereſſe aufkommen ließen und
alſo fuͤr den Augenblick den Muſen zuwider waren, ſo
haben ſich doch in dieſer Zeit eine Menge freyer Geiſter
gebildet, die nun im Frieden zur Beſinnung kommen
und als bedeutende Talente hervortreten.“
Ich fragte Goethe, ob die Partey der Claſſiker auch
dem trefflichen Béranger entgegen geweſen? „Das
Genre, worin Béranger dichtet, ſagte Goethe, iſt ein
aͤlteres, herkoͤmmliches, woran man gewoͤhnt war; doch
hat auch er ſich in manchen Dingen freyer bewegt als
ſeine Vorgaͤnger und iſt deßhalb von der pedantiſchen
Partey angefeindet worden.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die Malerey und auf
den Schaden der alterthuͤmelnden Schule. „Sie praͤten¬
diren kein Kenner zu ſeyn, ſagte Goethe, und doch will
ich Ihnen ein Bild vorlegen, an welchem Ihnen, obgleich
es von einem unſerer beſten jetzt lebenden deutſchen Maler
gemacht worden, dennoch die bedeutendſten Verſtoͤße gegen
die erſten Geſetze der Kunſt ſogleich in die Augen fallen
ſollen. Sie werden ſehen, das Einzelne iſt huͤbſch ge¬
macht, aber es wird Ihnen bey dem Ganzen nicht
wohl werden, und Sie werden nicht wiſſen, was Sie
daraus machen ſollen. Und zwar dieſes nicht, weil der
Meiſter des Bildes kein hinreichendes Talent iſt, ſondern
weil ſein Geiſt, der das Talent leiten ſoll, eben ſo ver¬
[281] finſtert iſt wie die Koͤpfe der uͤbrigen alterthuͤmelnden
Maler, ſo daß er die vollkommenen Meiſter ignorirt
und zu den unvollkommenen Vorgaͤngern zuruͤckgeht und
dieſe zum Muſter nimmt.“
„Raphael und ſeine Zeitgenoſſen waren aus einer
beſchraͤnkten Manier zur Natur und Freyheit durchge¬
brochen. Und ſtatt daß jetzige Kuͤnſtler Gott danken
und dieſe Avantagen benutzen und auf dem trefflichen
Wege fortgehen ſollten, kehren ſie wieder zur Beſchraͤnkt¬
heit zuruͤck. Es iſt zu arg und man kann dieſe Verfin¬
ſterung der Koͤpfe kaum begreifen. Und weil ſie nun auf
dieſem Wege in der Kunſt ſelbſt keine Stuͤtze haben, ſo
ſuchen ſie ſolche in der Religion und Partey; denn ohne
beydes wuͤrden ſie in ihrer Schwaͤche gar nicht beſtehen
koͤnnen.“
„Es geht, fuhr Goethe fort, durch die ganze Kunſt
eine Filiation. Sieht man einen großen Meiſter, ſo
findet man immer, daß er das Gute ſeiner Vorgaͤnger
benutzte und daß eben dieſes ihn groß machte. Maͤnner
wie Raphael wachſen nicht aus dem Boden. Sie fu߬
ten auf der Antike und dem Beſten was vor ihnen
gemacht worden. Haͤtten ſie die Avantagen ihrer Zeit
nicht benutzt, ſo wuͤrde wenig von ihnen zu ſagen
ſeyn.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf die altdeutſche Poeſie;
ich erinnerte an Flemming. „Flemming, ſagt Goethe,
iſt ein recht huͤbſches Talent, ein wenig proſaiſch, buͤr¬
[282] gerlich; er kann jetzt nichts mehr helfen. Es iſt eigen,
fuhr er fort, ich habe doch ſo mancherley gemacht und
doch iſt keins von allen meinen Gedichten, das im lu¬
theriſchen Geſangbuch ſtehen koͤnnte.“ Ich lachte und
gab ihm Recht, indem ich mir ſagte, daß in dieſer
wunderlichen Äußerung mehr liege als es den Anſchein
habe.
Ich fand eine muſikaliſche Abendunterhaltung bey
Goethe, die ihm von der Familie Eberwein, nebſt eini¬
gen Mitgliedern des Orcheſters gewaͤhrt wurde. Unter
den wenigen Zuhoͤrern waren: der General-Superinten¬
dent Roͤhr, Hofrath Vogel und einige Damen. Goethe
hatte gewuͤnſcht, das Quartett eines beruͤhmten jungen
Componiſten zu hoͤren, welches man zunaͤchſt ausfuͤhrte.
Der zwoͤlfjaͤhrige Carl Eberwein ſpielte den Fluͤgel zu
Goethe's großer Zufriedenheit und in der That trefflich,
ſo daß denn das Quartett in jeder Hinſicht gut execu¬
tirt voruͤberging.
„Es iſt wunderlich, ſagte Goethe, wohin die aufs
hoͤchſte geſteigerte Technik und Mechanik die neueſten
Componiſten fuͤhrt; ihre Arbeiten bleiben keine Muſik
mehr, ſie gehen uͤber das Niveau der menſchlichen Em¬
pfindungen hinaus und man kann ſolchen Sachen aus
[283] eigenem Geiſt und Herzen nichts mehr unterlegen. Wie
iſt es Ihnen? mir bleibt alles in den Ohren haͤngen.“
Ich ſagte, daß es mir in dieſem Falle nicht beſſer gehe.
„Doch das Allegro, fuhr Goethe fort, hatte Character.
Dieſes ewige Wirbeln und Drehen fuͤhrte mir die
Hexentaͤnze des Blocksbergs vor Augen und ich fand
alſo doch eine Anſchauung, die ich der wunderlichen
Muſik ſupponiren konnte.“
Nach einer Pauſe, waͤhrend welcher man ſich unter¬
hielt und einige Erfriſchungen nahm, erſuchte Goethe
Madame Eberwein um den Vortrag einiger Lieder.
Sie ſang zunaͤchſt nach Zelters Compoſition das ſchoͤne
Lied: Um Mitternacht, welches den tiefſten Ein¬
druck machte. „Das Lied bleibt ſchoͤn, ſagte Goethe,
ſo oft man es auch hoͤrt. Es hat in der Melodie etwas
Ewiges, Unverwuͤſtliches.“ Hierauf folgten einige Lie¬
der aus der Fiſcherin, von Max Eberwein componirt.
Der Erlkoͤnig erhielt entſchiedenen Beyfall; ſodann
die Arie: Ich hab's geſagt der guten Mutter
erregte die allgemeine Äußerung: dieſe Compoſition er¬
ſcheine ſo gut getroffen, daß niemand ſie ſich anders
denken koͤnne. Goethe ſelbſt war im hohen Grade be¬
friedigt.
Zum Schluß des ſchoͤnen Abends ſang Madame Eber¬
wein auf Goethe's Wunſch einige Lieder des Divans,
nach den bekannten Compoſitionen ihres Gatten. Die
Stelle: Juſſufs Reize moͤcht' ich borgen gefiel
[284] Goethen ganz beſonders. „Eberwein, ſagte er zu mir,
uͤbertrifft ſich mitunter ſelber.“ Er bat ſodann noch
um das Lied: Ach um deine feuchten Schwin¬
gen, welches gleichfalls die tiefſten Empfindungen an¬
zuregen geeignet war.
Nachdem die Geſellſchaft gegangen, blieb ich noch
einige Augenblicke mit Goethe allein. „Ich habe, ſagte
er, dieſen Abend die Bemerkung gemacht, daß dieſe
Lieder des Divans gar kein Verhaͤltniß mehr zu mir
haben. Sowohl was darin orientaliſch als was darin
leidenſchaftlich iſt, hat aufgehoͤrt in mir fortzuleben; es
iſt wie eine abgeſtreifte Schlangenhaut am Wege liegen
geblieben. Dagegen das Lied: Um Mitternacht
hat ſein Verhaͤltniß zu mir nicht verloren, es iſt von
mir noch ein lebendiger Theil und lebt mit mir fort.“
„Es geht mir uͤbrigens oͤfter mit meinen Sachen
ſo, daß ſie mir gaͤnzlich fremd werden. Ich las dieſer
Tage etwas Franzoͤſiſches und dachte im Leſen: der
Mann ſpricht geſcheidt genug, du wuͤrdeſt es ſelbſt nicht
anders ſagen. Und als ich es genau beſehe, iſt es eine
uͤberſetzte Stelle aus meinen eigenen Schriften.“
Nach Vollendung der Helena hatte Goethe ſich im
vergangenen Sommer zur Fortſetzung der Wanderjahre
[285] gewendet. Von dem Vorruͤcken dieſer Arbeit erzaͤhlte
er mir oft. „Um den vorhandenen Stoff beſſer zu be¬
nutzen, ſagte er mir eines Tags, habe ich den erſten
Theil ganz aufgeloͤſet und werde nun ſo durch Ver¬
miſchung des Alten und Neuen, zwey Theile bilden.
Ich laſſe nun das Gedruckte ganz abſchreiben; die Stel¬
len, wo ich Neues auszufuͤhren habe, ſind angemerkt,
und wenn der Schreibende an ein ſolches Zeichen kommt,
ſo dictire ich weiter und bin auf dieſe Weiſe genoͤthigt,
die Arbeit nicht in Stocken gerathen zu laſſen.“
Eines anderen Tages ſagte er mir ſo: „Das Ge¬
druckte der Wanderjahre iſt nun ganz abgeſchrieben; die
Stellen, die ich noch neu zu machen habe, ſind mit
blauem Papier ausgefuͤllt, ſo daß ich ſinnlich vor Augen
habe, was noch zu thun iſt. So wie ich nun vorruͤcke,
verſchwinden die blauen Stellen immer mehr, und ich
habe daran meine Freude.“
Vor mehreren Wochen hoͤrte ich nun von ſeinem
Secretair, daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich
hielt mich daher Abends von Beſuchen zuruͤck und be¬
gnuͤgte mich, ihn bloß alle acht Tage bey Tiſch zu
ſehen.
Dieſe Novelle war nun ſeit einiger Zeit vollendet
und er legte mir dieſen Abend die erſten Bogen zur
Anſicht vor.
Ich war begluͤckt und las bis zu der bedeutenden
Stelle, wo Alle um den todten Tiger herumſtehen und
[286] der Waͤrtel die Nachricht bringt, daß der Loͤwe oben an
der Ruine ſich in die Sonne gelegt habe.
Waͤhrend des Leſens hatte ich die außerordentliche
Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenſtaͤnde bis
auf die kleinſte Localitaͤt vor die Augen gebracht waren.
Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten
Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine,
alles trat entſchieden vor die Anſchauung, ſo daß man
genoͤthiget war, ſich das Dargeſtellte gerade ſo zu den[-]
ken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war
alles mit einer ſolchen Sicherheit, Beſonnenheit und
Herrſchaft geſchrieben, daß man vom Kuͤnftigen nichts
vorausahnen und keine Zeile weiter blicken konnte als
man las.
Eure Excellenz, ſagte ich, muͤſſen nach einem ſehr
beſtimmten Schema gearbeitet haben.
„Allerdings habe ich das, antwortete Goethe; ich
wollte das Suͤjet ſchon vor dreyßig Jahren ausfuͤhren
und ſeit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es
mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach
Hermann und Dorothea, wollte ich den Gegenſtand in
epiſcher Form und Hexametern behandeln und hatte
auch zu dieſem Zweck ein ausfuͤhrliches Schema ent¬
worfen. Als ich nun jetzt das Suͤjet wieder vornehme,
um es zu ſchreiben, kann ich jenes alte Schema nicht
finden und bin alſo genoͤthigt, ein neues zu machen
und zwar ganz gemaͤß der veraͤnderten Form, die ich
[287] jetzt dem Gegenſtande zu geben Willens war. Nun
aber nach vollendeter Arbeit findet ſich jenes aͤltere
Schema wieder und ich freue mich nun, daß ich es
nicht fruͤher in Haͤnden gehabt, denn es wuͤrde mich
nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der
Entwickelung war zwar unveraͤndert, allein im Detail
war es doch ein ganz anderes; es war ganz fuͤr eine
epiſche Behandlung in Hexametern gedacht und wuͤrde
alſo fuͤr dieſe proſaiſche Darſtellung gar nicht anwendbar
geweſen ſeyn.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf den Inhalt. Eine
ſchoͤne Situation, ſagte ich, iſt die, wo Honorio, der
Fuͤrſtinn gegenuͤber, am todt ausgeſtreckten Tiger ſteht,
die klagende weinende Frau mit dem Knaben herzuge¬
kommen iſt, und auch der Fuͤrſt mit dem Jagdgefolge
zu der ſeltſamen Gruppe ſo eben herbeyeilt. Das
muͤßte ein treffliches Bild machen, und ich moͤchte es
gemalt ſehen.
„Gewiß, ſagte Goethe, das waͤre ein ſchoͤnes Bild;
— doch, fuhr er nach einigem Bedenken fort, der
Gegenſtand waͤre faſt zu reich und der Figuren zu viele,
ſo daß die Gruppirung und Vertheilung von Licht und
Schatten dem Kuͤnſtler ſehr ſchwer werden wuͤrde. Al¬
lein den fruͤheren Moment, wo Honorio auf dem Tiger
kniet und die Fuͤrſtinn am Pferde gegenuͤber ſteht, habe
ich mir wohl als Bild gedacht; und das waͤre zu ma¬
chen.“ Ich empfand, daß Goethe Recht hatte und
[288] fuͤgte hinzu, daß ja dieſer Moment auch eigentlich der
Kern der ganzen Situation ſey, worauf alles ankomme.
Noch hatte ich an dem Geleſenen zu bemerken, daß
dieſe Novelle von allen uͤbrigen der Wanderjahre einen
ganz verſchiedenen Character trage, indem darin Alles
Darſtellung des Äußern, Alles real ſey, „Sie haben
Recht, ſagte Goethe, Innerliches finden Sie in dem
Geleſenen faſt gar nicht und in meinen uͤbrigen Sachen
iſt davon faſt zuviel.“
Nun bin ich neugierig zu erfahren, ſagte ich, wie
man ſich des Loͤwen bemeiſtern wird; daß dieſes auf
eine ganz andere Weiſe geſchehen werde, ahne ich faſt,
doch das Wie iſt mir gaͤnzlich verborgen. „Es waͤre
auch nicht gut, wenn Sie es ahneten, ſagte Goethe,
und ich will es Ihnen heute nicht verrathen. Donners¬
tag Abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt
der Loͤwe in der Sonne.“
Ich brachte das Geſpraͤch auf den zweyten Theil des
Fauſt, insbeſondere auf die claſſiſche Walpurgisnacht, die
nur noch in der Skizze dalag, und wovon Goethe mir
vor einiger Zeit geſagt hatte, daß er ſie als Skizze wolle
drucken laſſen. Nun hatte ich mir vorgenommen, Goe¬
then zu rathen, dieſes nicht zu thun, denn ich fuͤrchtete,
ſie moͤchte, einmal gedruckt, fuͤr immer unausgefuͤhrt
bleiben. Goethe mußte in der Zwiſchenzeit das bedacht
haben, denn er kam mir ſogleich entgegen, indem er
ſagte, daß er entſchloſſen ſey, jene Skizze nicht drucken
[289] zu laſſen. Das iſt mir ſehr lieb, ſagte ich, denn nun
habe ich doch die Hoffnung, daß Sie ſie ausfuͤhren
werden. „In einem Vierteljahre, ſagte er, waͤre es
gethan, allein woher will die Ruhe kommen! Der Tag
macht gar zu viele Anſpruͤche an mich; es haͤlt ſchwer,
mich ſo ſehr abzuſondern und zu iſoliren. Dieſen Mor¬
gen war der Erbgroßherzog bey mir, auf morgen Mit¬
tag hat ſich die Großherzogin melden laſſen. Ich habe
ſolche Beſuche als eine hohe Gnade zu ſchaͤtzen, ſie ver¬
ſchoͤnern mein Leben; allein ſie nehmen doch mein In¬
neres in Anſpruch, ich muß doch bedenken, was ich
dieſen hohen Perſonen immer Neues vorlegen und wie
ich ſie wuͤrdig unterhalten will.“
Und doch, ſagte ich, haben Sie vorigen Winter die
Helena vollendet, und Sie waren doch nicht weniger
geſtoͤrt als jetzt. „Freylich, ſagte Goethe, es geht auch,
und muß auch gehen, allein es iſt ſchwer.“ Es iſt nur
gut, ſagte ich, daß Sie ein ſo ausfuͤhrliches Schema
haben. „Das Schema iſt wohl da, ſagte Goethe, allein
das Schwierigſte iſt noch zu thun; und bey der Aus¬
fuͤhrung haͤngt doch Alles gar zu ſehr vom Gluͤck ab.
Die claſſiſche Walpurgisnacht muß in Reimen geſchrie¬
ben werden und doch muß alles einen antiken Character
tragen. Eine ſolche Versart zu finden iſt nicht leicht.
Und nun den Dialog!“ — Iſt denn der nicht im
Schema mit erfunden? ſagte ich. „Wohl das Was,
antwortete Goethe, aber nicht das Wie. Und dann
I. 19[290] bedenken Sie nur, was alles in jener tollen Nacht zur
Sprache kommt! Fauſts Rede an die Proſerpina, um
dieſe zu bewegen, daß ſie die Helena herausgiebt, was
muß das nicht fuͤr eine Rede ſeyn, da die Proſerpina
ſelbſt zu Thraͤnen davon geruͤhrt wird! — Dieſes alles
iſt nicht leicht zu machen und haͤngt ſehr viel vom
Gluͤck ab, ja faſt ganz von der Stimmung und Kraft
des Augenblicks.“
In der letzten Zeit, wo Goethe ſich mitunter nicht
ganz wohl befand, hatten wir in ſeiner nach dem Gar¬
ten gehenden Arbeitsſtube gegeſſen. Heute war wieder
in dem ſogenannten Urbino-Zimmer gedeckt, welches ich
als ein gutes Zeichen nahm. Als ich hereintrat, fand
ich Goethe und ſeinen Sohn; beyde bewillkommten mich
freundlich in ihrer naiven liebevollen Art; Goethe ſelbſt
ſchien in der heiterſten Stimmung, wie dieſes an ſeinem
hoͤchſt belebten Geſicht zu bemerken war. Durch die
offene Thuͤr des angrenzenden ſogenannten Decken-Zim¬
mers ſah ich, uͤber einen großen Kupferſtich gebogen,
den Herrn Canzler von Muͤller; er trat bald zu uns
herein und ich freute mich, ihn als angenehme Tiſch¬
geſellſchaft zu begruͤßen. Frau von Goethe wurde noch
erwartet, doch ſetzten wir uns vorlaͤufig zu Tiſch. Es
[291] ward mit Bewunderung von dem Kupferſtich geſprochen
und Goethe erzaͤhlte mir, es ſey ein Werk des beruͤhm¬
ten Gérard in Paris, womit dieſer ihm in den letzten
Tagen ein Geſchenk gemacht. „Gehen Sie geſchwind
hin, fuͤgte er hinzu, und nehmen Sie noch ein paar
Augenvoll, ehe die Suppe kommt.“
Ich that nach ſeinem Wunſch und meiner Neigung;
ich freute mich an dem Anblick des bewundernswuͤrdigen
Werkes, nicht weniger an der Unterſchrift des Malers,
wodurch er es Goethen als einen Beweis ſeiner Achtung
zueignet. Ich konnte jedoch nicht lange betrachten, Frau
v. Goethe trat herein und ich eilte nach meinem Platz
zuruͤck. „Nicht wahr? ſagte Goethe, das iſt etwas
Großes! Man kann es Tage- und Wochenlang ſtudiren,
ehe man die reichen Gedanken und Vollkommenheiten alle
herausfindet. Dieſes, ſagte er, ſoll Ihnen auf andere
Tage vorbehalten bleiben.“
Wir waren bey Tiſch ſehr heiter. Der Canzler
theilte einen Brief eines bedeutenden Mannes aus Paris
mit, der zur Zeit der franzoͤſiſchen Occupation als Ge¬
ſandter hier einen ſchweren Poſten behauptet und von
jener Zeit her mit Weimar ein freundliches Verhaͤltniß
fortgeſetzt hatte. Er gedachte des Großherzogs und
Goethe's und pries Weimar gluͤcklich, wo das Genie
mit der hoͤchſten Gewalt ein ſo vertrautes Verhaͤltniß
haben koͤnne.
Frau von Goethe brachte in die Unterhaltung große
19*[292] Anmuth. Es war von einigen Anſchaffungen die Rede,
womit ſie den jungen Goethe neckte und wozu dieſer
ſich nicht verſtehen wollte. „Man muß den ſchoͤnen
Frauen nicht gar zu viel angewoͤhnen, ſagte Goethe,
denn ſie gehen leicht ins Grenzenloſe. Napoleon erhielt
noch auf Elba Rechnungen von Putzmacherinnen, die
er bezahlen ſollte. Doch mochte er in ſolchen Dingen
leicht zu wenig thun als zu viel. Fruͤher in den Tui¬
lerien wurden einſt in ſeinem Beyſeyn ſeiner Gemahlin
von einem Modehaͤndler koſtbare Sachen praͤſentirt. Als
Napoleon aber keine Miene machte, etwas zu kaufen,
gab ihm der Mann zu verſtehen, daß er doch wenig
in dieſer Hinſicht fuͤr ſeine Gemahlin thue. Hierauf
ſagte Napoleon kein Wort, aber er ſah ihn mit einem
ſolchen Blick an, daß der Mann ſeine Sachen ſogleich
zuſammenpackte und ſich nie wieder ſehen ließ.“ —
That er dieſes als Conſul? fragte Frau von Goethe.
„Wahrſcheinlich als Kaiſer, antwortete Goethe, denn
ſonſt waͤre ſein Blick wohl nicht ſo furchtbar geweſen.
Aber ich muß uͤber den Mann lachen, dem der Blick
in die Glieder fuhr und der ſich wahrſcheinlich ſchon
gekoͤpft oder erſchoſſen ſah.“
Wir waren in der heiterſten Laune und ſprachen
uͤber Napoleon weiter fort. Ich moͤchte, ſagte der junge
Goethe, alle ſeine Thaten in trefflichen Gemaͤlden oder
Kupferſtichen beſitzen und damit ein großes Zimmer de¬
coriren. „Das muͤßte ſehr groß ſeyn, erwiederte Goethe,
[293] und doch wuͤrden die Bilder nicht hineingehen, ſo groß
ſind ſeine Thaten.“
Der Canzler brachte Ludens Geſchichte der Deutſchen
ins Geſpraͤch, und ich hatte zu bewundern, mit welcher
Gewandtheit und Eindringlichkeit der junge Goethe
dasjenige, was oͤffentliche Blaͤtter an dem Buche zu
tadeln gefunden, aus der Zeit, in der es geſchrieben,
und den nationalen Empfindungen und Ruͤckſichten die
dabey in dem Verfaſſer gelebt, herzuleiten wußte. Es
ergab ſich, daß Napoleons Kriege erſt jene des Caͤſars
aufgeſchloſſen. „Fruͤher, ſagte Goethe, war Caͤſars
Buch freylich nicht viel mehr als ein bloßes Exercitium
gelehrter Schulen.“
Von der altdeutſchen Zeit kam das Geſpraͤch auf
die gothiſche. Es war von einem Buͤcherſchranke die
Rede, der einen gothiſchen Character habe; ſodann kam
man auf den neueſten Geſchmack, ganze Zimmer in
altdeutſcher und gothiſcher Art einzurichten und in einer
ſolchen Umgebung einer veralteten Zeit zu wohnen.
„In einem Hauſe, ſagte Goethe, wo ſo viele Zim¬
mer ſind, daß man einige derſelben leer ſtehen laͤßt
und im ganzen Jahr vielleicht nur drey, vier Mal hinein¬
kommt, mag eine ſolche Liebhaberey hingehen und man
mag auch ein gothiſches Zimmer haben, ſo wie ich es
ganz huͤbſch finde, daß Madame Panckoucke in Paris ein
chineſiſches hat. Allein ſein Wohnzimmer mit ſo frem¬
der und veralteter Umgebung auszuſtaffiren, kann ich
[294] gar nicht loben. Es iſt immer eine Art von Maskerade,
die auf die Laͤnge in keiner Hinſicht wohl thun kann,
vielmehr auf den Menſchen, der ſich damit befaßt, einen
nachtheiligen Einfluß haben muß. Denn ſo etwas
ſteht im Widerſpruch mit dem lebendigen Tage, in
welchen wir geſetzt ſind, und wie es aus einer leeren
und hohlen Geſinnungs- und Denkungsweiſe hervorgeht,
ſo wird es darin beſtaͤrken. Es mag wohl einer an
einem luſtigen Winterabend als Tuͤrke zur Maskerade
gehen, allein was wuͤrden wir von einem Menſchen
halten, der ein ganzes Jahr ſich in einer ſolchen Maske
zeigen wollte? Wir wuͤrden von ihm denken, daß er
entweder ſchon verruͤckt ſey, oder daß er doch die groͤßte
Anlage habe, es ſehr bald zu werden.“
Wir fanden Goethe's Worte uͤber einen ſo ſehr ins
Leben eingreifenden Gegenſtand durchaus uͤberzeugend,
und da keiner der Anweſenden etwas davon als leiſen
Vorwurf auf ſich ſelbſt beziehen konnte, ſo fuͤhlten wir
ihre Wahrheit in der heiterſten Stimmung.
Das Geſpraͤch lenkte ſich auf das Theater und
Goethe neckte mich, daß ich am letzten Montag Abend
es ihm geopfert. „Er iſt nun drey Jahre hier, ſagte
er zu den Übrigen gewendet, und dieß iſt der erſte
Abend, wo er mir zu Liebe im Theater gefehlt hat;
ich muß ihm das hoch anrechnen. Ich hatte ihn ein¬
geladen und er hatte verſprochen zu kommen, aber doch
zweifelte ich, daß er Wort halten wuͤrde, beſonders als
[295] es halb ſieben ſchlug und er noch nicht da war. Ja
ich haͤtte mich ſogar gefreut, wenn er nicht gekommen
waͤre; ich haͤtte doch ſagen koͤnnen: da iſt ein ganz ver¬
ruͤckter Menſch, dem das Theater uͤber ſeine liebſten
Freunde geht und der ſich durch nichts von ſeiner hart¬
naͤckigen Neigung abwenden laͤßt. Aber ich habe Sie
auch entſchaͤdigt! Nicht wahr? Habe ich Ihnen nicht
ſchoͤne Sachen vorgelegt?“ Goethe zielte mit dieſen
Worten auf die neue Novelle.
Wir ſprachen ſodann uͤber Schillers Fiesko, der am
letzten Sonnabend war gegeben worden. Ich habe das
Stuͤck zum erſten Male geſehen, ſagte ich, und es hat
mich nun ſehr beſchaͤftigt ob man nicht die ganz rohen
Scenen mildern koͤnnte; allein ich finde, daß ſich wenig
daran thun laͤßt, ohne den Character des Ganzen zu
verletzen.
„Sie haben ganz Recht, es geht nicht, erwiederte
Goethe, Schiller hat ſehr oft mit mir daruͤber geſpro¬
chen, denn er ſelbſt konnte ſeine erſten Stuͤcke nicht
leiden und er ließ ſie, waͤhrend wir am Theater waren,
nie ſpielen. Nun fehlte es uns aber an Stuͤcken, und
wir haͤtten gerne jene drey gewaltſamen Erſtlinge dem
Repertoir gewonnen. Es wollte aber nicht gehen, es
war alles zu ſehr mit einander verwachſen, ſo daß
Schiller ſelbſt an dem Unternehmen verzweifelte und ſich
genoͤthigt ſah, ſeinen Vorſatz aufzugeben und die Stuͤcke
zu laſſen wie ſie waren.“
Es iſt Schade darum, ſagte ich, denn trotz aller
Rohheiten ſind ſie mir doch tauſendmal lieber, als die
ſchwachen, weichen, forcirten und unnatuͤrlichen Stuͤcke
einiger unſerer neueſten Tragiker. Bey Schiller ſpricht
doch immer ein grandioſer Geiſt und Character.
„Das wollte ich meinen, ſagte Goethe. Schiller
mochte ſich ſtellen, wie er wollte, er konnte gar nichts
machen, was nicht immer bey weitem groͤßer herauskam
als das Beſte dieſer Neueren; ja wenn Schiller ſich
die Naͤgel beſchnitt, war er groͤßer als dieſe Herren.“
Wir lachten und freuten uns des gewaltigen Gleich¬
niſſes.
„Aber ich habe doch Perſonen gekannt, fuhr Goethe
fort, die ſich uͤber die erſten Stuͤcke Schillers gar nicht
zufrieden geben konnten. Eines Sommers in einem
Bade, ging ich durch einen eingeſchloſſenen ſehr ſchma¬
len Weg der zu einer Muͤhle fuͤhrte. Es begegnete mir
der Fuͤrſt *** und da in demſelben Augenblick einige
mit Mehlſaͤcken beladene Maulthiere auf uns zukamen,
ſo mußten wir ausweichen und in ein kleines Haus
treten. Hier, in einem engen Stuͤbchen, geriethen wir
nach Art dieſes Fuͤrſten ſogleich in tiefe Geſpraͤche uͤber
goͤttliche und menſchliche Dinge; wir kamen auch auf
Schillers Raͤuber und der Fuͤrſt aͤußerte ſich folgender¬
maßen: „Waͤre ich Gott geweſen, ſagte er, im Begriff
die Welt zu erſchaffen, und ich haͤtte in dem Augenblick
vorausgeſehen, daß Schillers Raͤuber darin wuͤrden ge¬
[297] ſchrieben werden, ich haͤtte die Welt nicht erſchaffen.“
Wir mußten lachen. „Was ſagen Sie dazu, ſagte
Goethe, das war doch eine Abneigung, die ein wenig
weit ging, und die man ſich kaum erklaͤren konnte.“
Von dieſer Abneigung, verſetzte ich, haben dagegen
unſere jungen Leute, beſonders unſere Studenten, gar
nichts. Die trefflichſten, reifſten Stuͤcke von Schiller
und Anderen koͤnnen gegeben werden und man ſieht von
jungen Leuten und Studirenden wenige oder gar keine
im Theater; aber man gebe Schillers Raͤuber oder
Schillers Fiesko und das Haus iſt faſt allein von Stu¬
denten gefuͤllt. „Das war, verſetzte Goethe, vor funfzig
Jahren wie jetzt und wird auch wahrſcheinlich nach funf¬
zig Jahren nicht anders ſeyn. Was ein junger Menſch
geſchrieben hat, wird auch wieder am beſten von jungen
Leuten genoſſen werden. Und dann denke man nicht,
daß die Welt ſo ſehr in der Cultur und gutem Geſchmack
vorſchritte, daß ſelbſt die Jugend ſchon uͤber eine ſolche
rohere Epoche hinaus waͤre! Wenn auch die Welt im
Ganzen vorſchreitet, die Jugend muß doch immer wieder
von vorne anfangen und als Individuum die Epochen
der Welt-Cultur durchmachen. Mich irritirt das nicht
mehr und ich habe laͤngſt einen Vers darauf gemacht,
der ſo lautet:
Ich brauche nur zum Fenſter hinauszuſehen, um in
ſtraßenkehrenden Beſen und herumlaufenden Kindern
die Symbole der ſich ewig abnutzenden und immer ſich
verjuͤngenden Welt beſtaͤndig vor Augen zu haben.
Kinderſpiele und Jugend-Vergnuͤgungen erhalten ſich
daher und pflanzen ſich von Jahrhundert zu Jahrhun¬
dert fort; denn ſo abſurd ſie auch einem reiferen Alter
erſcheinen moͤgen, Kinder bleiben doch immer Kinder
und ſind ſich zu allen Zeiten aͤhnlich. Deßhalb ſoll
man auch die Johannisfeuer nicht verbieten und den
lieben Kindern die Freude daran nicht verderben.“
Unter ſolchen und aͤhnlichen heiteren Unterhaltungen
gingen die Stunden des Tiſches ſchnell voruͤber. Wir
juͤngeren Leute gingen ſodann hinauf in die obern Zim¬
mer, waͤhrend der Canzler bey Goethe blieb.
Auf dieſen Abend hatte Goethe mir den Schluß der
Novelle verſprochen. Ich ging halb ſieben Uhr zu ihm
und fand ihn in ſeiner traulichen Arbeitsſtube allein.
Ich ſetzte mich zu ihm an den Tiſch und nachdem wir die
naͤchſten Tagesereigniſſe beſprochen hatten, ſtand Goethe
auf und gab mir die erwuͤnſchten letzten Bogen. „Da
leſen Sie den Schluß“, ſagte er. Ich begann. Goethe
ging derweile im Zimmer auf und ab und[] ſtand
[299] abwechſelnd am Ofen. Ich las wie gewoͤhnlich leiſe
fuͤr mich.
Die Bogen des letzten Abends hatten damit geſchloſ¬
ſen, daß der Loͤwe außerhalb der Ringmauer der alten
Ruine am Fuße einer hundertjaͤhrigen Buche in der
Sonne liege und daß man Anſtalten mache, ſich ſeiner
zu bemaͤchtigen. Der Fuͤrſt will die Jaͤger nach ihm
ausſenden, der Fremdling aber bittet ſeines Loͤwen zu
ſchonen, indem er gewiß ſey, ihn durch ſanftere Mittel
in den eiſernen Kaͤfich zuruͤckzuſchaffen. Dieſes Kind,
ſagt er, wird durch liebliche Lieder und den Ton ſeiner
ſuͤßen Floͤte das Werk vollbringen. Der Fuͤrſt giebt es
zu und nachdem er die noͤthigen Vorſichtsmaßregeln
angeordnet, reitet er mit den Seinigen in die Stadt
zuruͤck. Honorio mit einer Anzahl Jaͤger beſetzt den
Hohlweg, um den Loͤwen, im Fall er herabkaͤme, durch
ein anzuzuͤndendes Feuer zuruͤckzuſcheuchen. Mutter und
Kind, vom Schloßwaͤrtel gefuͤhrt, ſteigen die Ruine
hinan, an deren anderen Seite, an der Ringmauer, der
Loͤwe liegt.
Das gewaltige Thier in den geraͤumigen Schloßhof
hereinzulocken iſt die Abſicht. Mutter und Waͤrtel ver¬
bergen ſich oben in dem halbverfallenen Ritterſaale, das
Kind allein geht durch die dunkele Maueroͤffnung des
Hofes zum Loͤwen hinaus. Eine erwartungsvolle Pauſe
tritt ein, man weiß nicht, was aus dem Kinde wird,
die Toͤne ſeiner Floͤte verſtummen. Der Waͤrtel macht
[300] ſich Vorwuͤrfe, daß er nicht mitgegangen; die Mutter
iſt ruhig.
Endlich hoͤrt man die Toͤne der Floͤte wieder; man
hoͤrt ſie naͤher und naͤher, das Kind tritt durch die
Maueroͤffnung wieder in den Schloßhof herein, der Loͤwe
folgſam mit ſchwerem Gange geht hinter ihm her. Sie
ziehen einmal im Hofe herum, dann ſetzt ſich das Kind
in eine ſonnige Stelle, der Loͤwe laͤßt ſich friedlich bey
ihm nieder und legt die eine ſeiner ſchweren Tatzen dem
Kinde auf den Schooß. Ein Dorn hat ſich hineinge¬
treten, der Knabe zieht ihn heraus und nimmt ſein
ſeidenes Tuͤchlein vom Halſe und verbindet damit die
Tatze.
Mutter und Waͤrtel, welche der ganzen Scene von
oben aus dem Ritterſaale zuſehen, ſind aufs hoͤchſte
begluͤckt. Der Loͤwe iſt in Sicherheit und gezaͤhmt,
und wie das Kind, abwechſelnd mit ſeinen Toͤnen der
Floͤte, zur Beſchwichtigung des Unthieres hin und wieder
liebliche fromme Lieder hat hoͤren laſſen, ſo beſchließt
auch das Kind ſingend mit folgenden Verſen die No¬
velle:
Nicht ohne Ruͤhrung hatte ich die Handlung des
Schluſſes leſen koͤnnen. Doch wußte ich nicht, was ich
ſagen ſollte, ich war uͤberraſcht aber nicht befriedigt.
Es war mir, als waͤre der Ausgang zu einſam, zu ideal,
zu lyriſch und als haͤtten wenigſtens Einige der uͤbrigen
Figuren wieder hervortreten und, das Ganze abſchließend,
dem Ende mehr Breite geben ſollen.
Goethe merkte, daß ich einen Zweifel im Herzen
hatte und ſuchte mich ins Gleiche zu bringen. „Haͤtte
ich, ſagte er, einige der uͤbrigen Figuren am Ende
wieder hervortreten laſſen, ſo waͤre der Schluß proſaiſch
geworden. Und was ſollten ſie handeln und ſagen, da
Alles abgethan war? Der Fuͤrſt mit den Seinigen iſt
in die Stadt geritten, wo ſeine Huͤlfe noͤthig ſeyn wird;
Honorio, ſobald er hoͤrt, daß der Loͤwe oben in Sicher¬
heit iſt, wird mit ſeinen Jaͤgern folgen; der Mann aber
wird ſehr bald mit dem eiſernen Kaͤfich aus der Stadt
da ſeyn und den Loͤwen darin zuruͤckfuͤhren. Dieſes
ſind alles Dinge, die man voraus ſieht und die deßhalb
nicht geſagt und ausgefuͤhrt werden muͤſſen. Thaͤte man
es, ſo wuͤrde man proſaiſch werden.“
„Aber ein ideeller, ja lyriſcher Schluß war noͤthig
und mußte folgen; denn nach der pathetiſchen Rede des
Mannes, die ſchon poetiſche Proſa iſt, mußte eine
Steigerung kommen, ich mußte zur lyriſchen Poeſie,
ja zum Liede ſelbſt uͤbergehen.“
„Um fuͤr den Gang dieſer Novelle ein Gleichniß zu
[302] haben, fuhr Goethe fort, ſo denken Sie ſich aus der
Wurzel hervorſchießend ein gruͤnes Gewaͤchs, das eine
Weile aus einem ſtarken Stengel kraͤftige gruͤne Blaͤtter
nach den Seiten austreibt und zuletzt mit einer Blume
endet. — Die Blume war unerwartet, uͤberraſchend,
aber ſie mußte kommen; ja das gruͤne Blaͤtterwerk war
nur fuͤr ſie da und waͤre ohne ſie nicht der Muͤhe werth
geweſen.“
Bey dieſen Worten athmete ich leicht auf, es fiel
mir wie Schuppen vom Auge, und eine Ahndung von
der Trefflichkeit dieſer wunderbaren Compoſition fing an
ſich in mir zu regen.
Goethe fuhr fort. „Zu zeigen, wie das Unbaͤndige,
Unuͤberwindliche oft beſſer durch Liebe und Froͤmmigkeit
als durch Gewalt bezwungen werde, war die Aufgabe
dieſer Novelle, und dieſes ſchoͤne Ziel, welches ſich im
Kinde und Loͤwen darſtellt, reizte mich zur Ausfuͤhrung.
Dieß iſt das Ideelle, dieß die Blume. Und das gruͤne
Blaͤtterwerk der durchaus realen Expoſition iſt nur
dieſerwegen da und nur dieſerwegen etwas werth. Denn
was ſoll das Reale an ſich? Wir haben Freude daran,
wenn es mit Wahrheit dargeſtellt iſt, ja es kann uns
auch von gewiſſen Dingen eine deutlichere Erkenntniß
geben; aber der eigentliche Gewinn fuͤr unſere hoͤhere
Natur liegt doch allein im Idealen, das aus dem Her¬
zen des Dichters hervorging.“
Wie ſehr Goethe Recht hatte, empfand ich lebhaft,
[303] da der Schluß ſeiner Novelle noch in mir fortwirkte
und eine Stimmung von Froͤmmigkeit in mir hervor¬
gebracht hatte, wie ich ſie lange nicht in dem Grade
empfunden. Wie rein und innig, dachte ich bey mir
ſelbſt, muͤſſen doch in einem ſo hohen Alter noch die
Gefuͤhle des Dichters ſeyn, daß er etwas ſo Schoͤnes
hat machen koͤnnen! Ich enthielt mich nicht, mich dar¬
uͤber gegen Goethe auszuſprechen, ſo wie uͤberhaupt mich
zu freuen, daß dieſe in ihrer Art einzige Production
doch nun exiſtire.
„Es iſt mir lieb, ſagte Goethe, wenn Sie zufrieden
ſind, und ich freue mich nun ſelbſt, daß ich einen Ge¬
genſtand, den ich ſeit dreyßig Jahren in mir herum¬
getragen, nun endlich los bin. Schiller und Humboldt,
denen ich damals mein Vorhaben mittheilte, riethen
mir ab, weil ſie nicht wiſſen konnten, was in der Sache
lag, und weil nur der Dichter allein weiß, welche
Reize er ſeinem Gegenſtande zu geben faͤhig iſt. Man
ſoll daher nie jemanden fragen, wenn man etwas ſchrei¬
ben will. Haͤtte Schiller mich vor ſeinem Wallenſtein
gefragt, ob er ihn ſchreiben ſolle, ich haͤtte ihm ſicherlich
abgerathen, denn ich haͤtte nie denken koͤnnen, daß aus
ſolchem Gegenſtande uͤberall ein ſo treffliches Theater¬
ſtuͤck waͤre zu machen geweſen. Schiller war gegen eine
Behandlung meines Gegenſtandes in Hexametern, wie
ich es damals gleich nach Hermann und Dorothea
willens war; er rieth zu den achtzeiligen Stanzen. Sie
[304] ſehen aber wohl, daß ich mit der Proſa jetzt am beſten
gefahren bin. Denn es kam ſehr auf genaue Zeichnung
der Localitaͤt an, wobey man doch in ſolchen Reimen
waͤre genirt geweſen. Und dann ließ ſich auch der
anfaͤnglich ganz reale und am Schluß ganz ideelle Cha¬
racter der Novelle in Proſa am beſten geben, ſo wie
ſich auch die Liederchen jetzt gar huͤbſch ausnehmen,
welches doch ſo wenig in Hexametern, als in den acht¬
zeiligen Reimen moͤglich geweſen waͤre.“
Die uͤbrigen einzelnen Erzaͤhlungen und Novellen
der Wanderjahre kamen zur Sprache und es ward be¬
merkt, daß jede ſich von der andern durch einen beſon¬
deren Character und Ton unterſcheide.
„Woher dieſes entſtanden, ſagte Goethe, will ich
Ihnen erklaͤren. Ich ging dabey zu Werke wie ein
Maler, der bey gewiſſen Gegenſtaͤnden gewiſſe Farben
vermeidet und gewiſſe andere dagegen vorwalten laͤßt.
Er wird z. B. bey einer Morgenlandſchaft viel Blau
auf ſeine Palette ſetzen, aber wenig Gelb. Malt er
dagegen einen Abend, ſo wird er viel Gelb nehmen und
die blaue Farbe faſt ganz fehlen laſſen. Auf eine aͤhn¬
liche Weiſe verfuhr ich bey meinen verſchiedenartigen
ſchriftſtelleriſchen Productionen und wenn man ihnen
einen verſchiedenen Character zugeſteht, ſo mag es daher
ruͤhren.“
Ich dachte bey mir, daß dieß eine hoͤchſt kluge Ma¬
xime ſey und freute mich, daß Goethe ſie ausgeſprochen.
[305]
Sodann hatte ich, vorzuͤglich bey dieſer letzten No¬
velle, noch das Detail zu bewundern, womit beſonders
das Landſchaftliche dargeſtellt war.
„Ich habe, ſagte Goethe, niemals die Natur poe¬
tiſcher Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein fruͤhe¬
res Landſchaftszeichnen und dann mein ſpaͤteres Natur¬
forſchen mich zu einem beſtaͤndigen genauen Anſehen
der natuͤrlichen Gegenſtaͤnde trieb, ſo habe ich die Na¬
tur bis in ihre kleinſten Details nach und nach aus¬
wendig gelernt, dergeſtalt, daß, wenn ich als Poet etwas
brauche, es mir zu Gebote ſteht und ich nicht leicht
gegen die Wahrheit fehle. In Schillern lag dieſes
Naturbetrachten nicht. Was in ſeinem Tell von Schwei¬
zerlocalitaͤt iſt, habe ich ihm alles erzaͤhlt; aber er war
ein ſo bewundernswuͤrdiger Geiſt, daß er ſelbſt nach
ſolchen Erzaͤhlungen etwas machen konnte, das Realitaͤt
hatte.“
Das Geſpraͤch lenkte ſich nun ganz auf Schiller,
und Goethe fuhr folgendermaßen fort:
„Schillers eigentliche Productivitaͤt lag im Idealen,
und es laͤßt ſich ſagen, daß er ſo wenig in der deut¬
ſchen als einer andern Literatur ſeines Gleichen hat.
Von Lord Byron hat er noch das Meiſte; doch dieſer
iſt ihm an Welt uͤberlegen. Ich haͤtte gerne geſehen, daß
Schiller den Lord Byron erlebt haͤtte, und da haͤtt' es
mich wundern ſollen, was er zu einem ſo verwandten
I. 20[306] Geiſte wuͤrde geſagt haben. Ob wohl Byron bey Schil¬
lers Leben ſchon etwas publicirt hat?“
Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewißheit
ſagen. Goethe nahm daher das Converſations-Lexicon
und las den Artikel uͤber Byron vor, wobey er nicht
fehlen ließ, manche fluͤchtige Bemerkung einzuſchalten.
Es fand ſich, daß Lord Byron vor 1807 nichts hatte
drucken laſſen und daß alſo Schiller nichts von ihm
geſehen.
„Durch Schillers alle Werke, fuhr Goethe fort,
geht die Idee von Freyheit, und dieſe Idee nahm eine
andere Geſtalt an, ſo wie Schiller in ſeiner Cultur
weiter ging und ſelbſt ein Anderer wurde. In ſeiner
Jugend war es die phyſiſche Freyheit, die ihm zu ſchaf¬
fen machte und die in ſeine Dichtungen uͤberging; in
ſeinem ſpaͤtern Leben die ideelle.“
„Es iſt mit der Freyheit ein wunderlich Ding und
jeder hat leicht genug, wenn er ſich nur zu begnuͤgen
und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluß
von Freyheit, die wir nicht gebrauchen koͤnnen! Sehen
Sie dieſes Zimmer und dieſe angrenzende Kammer, in
der Sie durch die offene Thuͤr mein Bette ſehen, beyde
ſind nicht groß, ſie ſind ohnedieß durch vielerley Be¬
darf, Buͤcher, Manuſcripte und Kunſtſachen eingeengt,
aber ſie ſind mir genug, ich habe den ganzen Winter
darin gewohnt und meine vorderen Zimmer faſt nicht
betreten. Was habe ich nun von meinem geraͤumigen
[307] Hauſe gehabt und von der Freyheit von einem Zimmer
ins andere zu gehen, da ich nicht das Beduͤrfniß hatte,
ſie zu benutzen!“
„Hat einer nur ſo viel Freyheit, um geſund zu
leben und ſein Gewerbe zu treiben, ſo hat er genug,
und ſo viel hat leicht ein jeder. Und dann ſind wir
alle nur frey unter gewiſſen Bedingungen, die wir er¬
fuͤllen muͤſſen. Der Buͤrger iſt ſo frey wie der Adeliche,
ſobald er ſich in den Grenzen haͤlt, die ihm von Gott
durch ſeinen Stand, worin er geboren, angewieſen.
Der Adeliche iſt ſo frey wie der Fuͤrſt; denn wenn er bey
Hofe nur das wenige Ceremoniel beobachtet, ſo darf er
ſich als ſeines Gleichen fuͤhlen. Nicht das macht frey,
daß wir nichts uͤber uns anerkennen wollen, ſondern
eben daß wir etwas verehren, das uͤber uns iſt. Denn
indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf
und legen durch unſere Anerkennung an den Tag, daß
wir ſelber das Hoͤhere in uns tragen und werth ſind
ſeines Gleichen zu ſeyn. Ich bin bey meinen Reiſen oft
auf norddeutſche Kaufleute geſtoßen, welche glaubten
meines Gleichen zu ſeyn, wenn ſie ſich roh zu mir an
den Tiſch ſetzten. Dadurch waren ſie es nicht, allein
ſie waͤren es geweſen, wenn ſie mich haͤtten zu ſchaͤtzen
und zu behandeln gewußt.“
„Daß nun dieſe phyſiſche Freyheit Schillern in ſei¬
ner Jugend ſo viel zu ſchaffen machte, lag zwar theils
in der Natur ſeines Geiſtes, groͤßern Theils aber ſchrieb
20*[308] es ſich von dem Drucke her, den er in der Militair¬
ſchule hatte leiden muͤſſen.“
„Dann aber in ſeinem reiferen Leben, wo er der
phyſiſchen Freyheit genug hatte, ging er zur ideellen
uͤber, und ich moͤchte faſt ſagen, daß dieſe Idee ihn
getoͤdtet hat; denn er machte dadurch Anforderungen
an ſeine phyſiſche Natur, die fuͤr ſeine Kraͤfte zu ge¬
waltſam waren.“
„Der Großherzog beſtimmte Schillern bey ſeiner
Hieherkunft einen Gehalt von jaͤhrlich tauſend Tha¬
lern und erbot ſich, ihm das Doppelte zu geben, im
Fall er durch Krankheit verhindert ſeyn ſollte zu arbei¬
ten. Schiller lehnte dieſes letzte Anerbieten ab und
machte nie davon Gebrauch. „Ich habe das Talent,
ſagte er, und muß mir ſelber helfen koͤnnen.“ Nun
aber, bey ſeiner vergroͤßerten Familie in den letzten Jah¬
ren, mußte er der Exiſtenz wegen jaͤhrlich zwey Stuͤcke
ſchreiben, und um dieſes zu vollbringen trieb er ſich,
auch an ſolchen Tagen und Wochen zu arbeiten, in
denen er nicht wohl war; ſein Talent ſollte ihm zu je¬
der Stunde gehorchen und zu Gebote ſtehen.“
„Schiller hat nie viel getrunken, er war ſehr maͤßig;
aber in ſolchen Augenblicken koͤrperlicher Schwaͤche ſuchte
er ſeine Kraͤfte durch etwas Liqueur oder aͤhnliches Spi¬
rituoſes zu ſteigern. Dieß aber zehrte an ſeiner Ge¬
ſundheit und war auch den Productionen ſelbſt ſchaͤdlich.“
„Denn was geſcheidte Koͤpfe an ſeinen Sachen aus¬
[309] ſetzen, leite ich aus dieſer Quelle her. Alle ſolche Stel¬
len, von denen ſie ſagen, daß ſie nicht juſt ſind, moͤchte
ich pathologiſche Stellen nennen, indem er ſie naͤmlich
an ſolchen Tagen geſchrieben hat, wo es ihm an Kraͤf¬
ten fehlte, um die rechten und wahren Motive zu fin¬
den. Ich habe vor dem categoriſchen Imperativ allen
Reſpect, ich weiß, wie viel Gutes aus ihm hervorge¬
hen kann, allein man muß es damit nicht zu weit trei¬
ben, denn ſonſt fuͤhret dieſe Idee der ideellen Freyheit
ſicher zu nichts Gutem.“
Unter dieſen intereſſanten Äußerungen und aͤhnlichen
Geſpraͤchen uͤber Lord Byron und beruͤhmte deutſche
Literatoren, von denen Schiller geſagt, daß Kotzebue
ihm lieber, weil er doch etwas hervorbringe, waren die
Abendſtunden ſchnell voruͤbergegangen, und Goethe gab
mir die Novelle mit, um ſie fuͤr mich zu Hauſe noch¬
mals in der Stille zu betrachten.
Ich ging dieſen Abend halb achte zu Goethe und
blieb ein Stuͤndchen bey ihm. Er zeigte mir einen
Band neuer franzoͤſiſcher Gedichte der Demoiſelle Gay,
und ſprach daruͤber mit großem Lobe. „Die Franzoſen,
ſagte er, machen ſich heraus und es iſt der Muͤhe werth,
daß man ſich nach ihnen umſieht. Ich bin mit Fleiß
[310] daruͤber her, mir von dem Stande der neueſten franzoͤ¬
ſiſchen Literatur einen Begriff zu machen und wenn es
gluͤckt mich auch daruͤber auszuſprechen. Es iſt mir hoͤchſt
intereſſant zu ſehen, daß diejenigen Elemente bey ihnen
erſt anfangen zu wirken, die bey uns laͤngſt durchge¬
gangen ſind. Das mittlere Talent iſt freylich immer
in der Zeit befangen und muß ſich aus denjenigen
Elementen naͤhren, die in ihr liegen. Es iſt bey ihnen
bis auf die neueſte Froͤmmigkeit alles daſſelbige wie bey
uns, nur daß es bey ihnen ein wenig galanter und
geiſtreicher zum Vorſchein kommt.“
Was ſagen aber Eure Excellenz zu Béranger und
dem Verfaſſer der Stuͤcke der Clara Gazul?
„Dieſe nehme ich aus, ſagte Goethe, das ſind große
Talente, die ein Fundament in ſich ſelber haben und ſich
von der Geſinnungsweiſe des Tages frey erhalten.“
Dieſes zu hoͤren iſt mir ſehr lieb, ſagte ich, denn ich
hatte uͤber dieſe beyden ungefaͤhr dieſelbige Empfindung.
Das Geſpraͤch wendete ſich von der franzoͤſiſchen
Literatur auf die deutſche. „Da will ich Ihnen doch
etwas zeigen, ſagte Goethe, das fuͤr Sie Intereſſe haben
wird. Reichen Sie mir doch einen der beyden Baͤnde
die vor Ihnen liegen. Solger iſt Ihnen bekannt.“
Allerdings, ſagte ich, ich habe ihn ſogar lieb. Ich be¬
ſitze ſeine Überſetzung des Sophocles und ſowohl dieſe
als die Vorrede dazu gaben mir laͤngſt von ihm eine
hohe Meinung. „Sie wiſſen, er iſt vor mehreren Jahren
[311] geſtorben, ſagte Goethe, und man hat jetzt eine Samm¬
lung ſeiner nachgelaſſenen Schriften und Briefe heraus¬
gegeben. In ſeinen philoſophiſchen Unterſuchungen, die
er in der Form der platoniſchen Dialoge giebt, iſt er
nicht ſo gluͤcklich; aber ſeine Briefe ſind vortrefflich.
In einem derſelben ſchreibt er an Tieck uͤber die Wahl¬
verwandtſchaften, und dieſen muß ich Ihnen vorleſen,
denn es iſt nicht leicht etwas Beſſeres uͤber jenen Roman
geſagt worden.“
Goethe las mir die treffliche Abhandlung vor und
wir beſprachen ſie punctweiſe, indem wir die von
einem großen Character zeugenden Anſichten und die
Conſequenz ſeiner Ableitungen und Folgerungen bewun¬
derten. Obgleich Solger zugeſtand, daß das Factum
in den Wahlverwandtſchaften aus der Natur aller Cha¬
ractere hervorgehe, ſo tadelte er doch den Character des
Eduard.
„Ich kann ihm nicht verdenken, ſagte Goethe, daß
er den Eduard nicht leiden mag, ich mag ihn ſelber
nicht leiden, aber ich mußte ihn ſo machen, um das
Factum hervorzubringen. Er hat uͤbrigens viele Wahr¬
heit, denn man findet in den hoͤheren Staͤnden Leute
genug, bey denen, ganz wie bey ihm, der Eigenſinn
an die Stelle des Characters tritt.“
Hoch vor allen ſtellte Solger den Architekten,
denn wenn alle uͤbrigen Perſonen des Romans ſich lie¬
bend und ſchwach zeigten, ſo ſey er der Einzige, der
[312] ſich ſtark und frey erhalte. Und eben das Schoͤne an
ſeiner Natur ſey nicht ſowohl dieſes, daß er in die
Verirrungen der uͤbrigen Charactere nicht hineingerathe,
ſondern daß der Dichter ihn ſo groß gemacht, daß er
nicht hineingerathen koͤnne.
Wir freuten uns uͤber dieſes Wort. „Das iſt frey¬
lich ſehr ſchoͤn“, ſagte Goethe. Ich habe, ſagte ich,
den Character des Architekten auch immer ſehr bedeutend
und liebenswuͤrdig gefunden, allein daß er eben deßwegen
ſo vortrefflich ſey, daß er vermoͤge ſeiner Natur in jene
Verwickelungen der Liebe nicht hineingerathen koͤnne,
daran habe ich freylich nicht gedacht. „Wundern Sie ſich
daruͤber nicht, ſagte Goethe, denn ich habe ſelber nicht
daran gedacht, als ich ihn machte. Aber Solger hat
Recht, es liegt allerdings in ihm.“
„Dieſer Aufſatz, fuhr Goethe fort, iſt ſchon im
Jahre 1809 geſchrieben und es haͤtte mich damals freuen
koͤnnen, ein ſo gutes Wort uͤber die Wahlverwandtſchaften
zu hoͤren, waͤhrend man in jener Zeit und ſpaͤter mir
eben nicht viel Angenehmes uͤber jenen Roman erzeigte.“
„Solger hat, wie ich aus dieſen Briefen ſehe, viel
Liebe zu mir gehabt; er beklagt ſich in einem derſelben,
daß ich ihm auf den Sophocles, den er mir zugeſendet,
nicht einmal geantwortet. Lieber Gott! — Aber wie
das bey mir geht! Es iſt nicht zu verwundern. Ich
habe große Herren gekannt, denen man viel zuſendete.
Dieſe machten ſich gewiſſe Formulare und Redensarten,
[313] womit ſie Jedes erwiederten, und ſo ſchrieben ſie Briefe
zu hunderten, die ſich alle gleich und alle Phraſe wa¬
ren. In mir aber lag dieſes nie. Wenn ich nicht
Jemanden etwas Beſonderes und Gehoͤriges ſagen konn¬
te, wie es in der jedesmaligen Sache lag, ſo ſchrieb
ich lieber gar nicht. Oberflaͤchliche Redensarten hielt
ich fuͤr unwuͤrdig, und ſo iſt es denn gekommen, daß
ich manchem wackern Manne, dem ich gerne geſchrieben
haͤtte, nicht antworten konnte. Sie ſehen ja ſelbſt, wie
das bey mir geht und welche Zuſendungen von allen
Ecken und Enden taͤglich bey mir einlaufen, und muͤſ¬
ſen geſtehen, daß dazu mehr als ein Menſchenleben
gehoͤren wuͤrde, wenn man alles nur fluͤchtig erwiedern
wollte. Aber um Solger thut es mir leid, er iſt gar
zu vortrefflich und haͤtte vor vielen andern etwas Freund¬
liches verdient.“
Ich brachte das Geſpraͤch auf die Novelle, die ich
nun zu Hauſe wiederholt geleſen und betrachtet hatte.
Der ganze Anfang, ſagte ich, iſt nichts als Expoſition,
aber es iſt darin nichts vorgefuͤhrt als das Nothwendige,
und das Nothwendige mit Anmuth, ſo daß man nicht
glaubt, es ſey eines andern wegen da, ſondern es wolle
bloß fuͤr ſich ſelber ſeyn und fuͤr ſich ſelber gelten.
„Es iſt mir lieb, ſagte Goethe, wenn Sie dieſes
ſo finden. Doch Eins muß ich noch thun. Nach den
Geſetzen einer guten Expoſition naͤmlich muß ich die
Beſitzer der Thiere ſchon vorne auftreten laſſen. Wenn
[314] die Fuͤrſtin und der Oheim an der Bude vorbeyreiten,
muͤſſen die Leute heraustreten und die Fuͤrſtin bitten,
auch ihre Bude mit einem Beſuch zu begluͤcken.“ Ge¬
wiß, ſagte ich, Sie haben Recht; denn da alles Übrige
in der Expoſition angedeutet iſt, ſo muͤſſen es auch dieſe
Leute werden, und es liegt ganz in der Sache, da ſie
ſich gewoͤhnlich an der Caſſe aufhalten, daß ſie die
Fuͤrſtin nicht ſo unangefochten werden vorbeyreiten laſ¬
ſen. „Sie ſehen, ſagte Goethe, daß man an einer
ſolchen Arbeit, wenn ſie auch ſchon im Ganzen fertig
daliegt, im Einzelnen noch immer zu thun hat.“
Goethe erzaͤhlte mir ſodann von einem Auslaͤnder,
der in dieſer Zeit ihn hin und wieder beſucht und davon
geſprochen, wie er dieſes und jenes von ſeinen Werken
uͤberſetzen wolle. „Er iſt ein guter Menſch, ſagte Goethe,
doch in literariſcher Hinſicht bezeigt er ſich als ein wahrer
Dilettant. Denn er kann noch kein deutſch und ſpricht
ſchon von Überſetzungen, die er machen, und von Por¬
traiten, die er ihnen will vordrucken laſſen. Das iſt
aber eben das Weſen der Dilettanten, daß ſie die
Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen,
und daß ſie immer etwas unternehmen wollen, wozu
ſie keine Kraͤfte haben.“
[315]
Begleitet von dem Manuſcript der Novelle und
einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen ſieben Uhr
zu Goethe. Ich fand Herrn Soret bey ihm in Ge¬
ſpraͤchen uͤber die neue franzoͤſiſche Literatur. Ich hoͤrte
mit Intereſſe zu und es kam zur Sprache, daß die
neueſten Talente hinſichtlich guter Verſe ſehr viel von
Delille gelernt. Da Herrn Soret, als einem geborenen
Genfer, das Deutſche nicht ganz gelaͤufig war, Goethe
aber im Franzoͤſiſchen ſich ziemlich bequem ausdruͤckt,
ſo ging die Unterhaltung franzoͤſiſch und nur an ſolchen
Stellen deutſch, wo ich mich in das Geſpraͤch miſchte.
Ich zog den Béranger aus der Taſche und uͤberreichte
ihn Goethe, der dieſe trefflichen Lieder von neuem zu
leſen wuͤnſchte. Das den Gedichten vorſtehende Por¬
trait fand Herr Soret nicht aͤhnlich. Goethe freute ſich
die zierliche Ausgabe in Haͤnden zu halten. „Dieſe
Lieder, ſagte er, ſind vollkommen und als das Beſte in
ihrer Art anzuſehen, beſonders wenn man ſich das Ge¬
jodel des Refrains hinzudenkt, denn ſonſt ſind ſie als
Lieder faſt zu ernſt, zu geiſtreich, zu epigrammatiſch. Ich
werde durch Béranger immer an den Horaz und Hafis
erinnert, die beyde auch uͤber ihrer Zeit ſtanden und die
Sittenverderbniß ſpottend und ſpielend zur Sprache brach¬
ten. Béranger hat zu ſeiner Umgebung dieſelbige Stellung¬
[316] Weil er aber aus niederem Stande heraufgekommen, ſo
iſt ihm das Liederliche und Gemeine nicht allzu verhaßt,
und er behandelt es noch mit einer gewiſſen Neigung.“
Viel [Ä]hnliches ward noch uͤber Béranger und an¬
dere neuern Franzoſen hin und her geſprochen, bis Herr
Soret an den Hof ging und ich mit Goethe alleine
blieb.
Ein verſiegeltes Paket lag auf dem Tiſch. Goethe
legte ſeine Hand darauf. „Was iſt das? ſagte er. Es
iſt die Helena, die an Cotta zum Druck abgeht.“
Ich empfand bey dieſen Worten mehr als ich ſagen
konnte, ich fuͤhlte die Bedeutung des Augenblickes.
Denn wie bey einem neuerbauten Schiff, das zuerſt
in die See geht und wovon man nicht weiß, welche
Schickſale es erleben wird, ſo iſt es auch mit dem Ge¬
dankenwerk eines großen Meiſters, das zuerſt in die
Welt hinaustritt, um fuͤr viele Zeiten zu wirken und
mannigfaltige Schickſale zu erzeugen und zu erleben.
„Ich habe, ſagte Goethe, bis jetzt immer noch Kleinig¬
keiten daran zu thun und nachzuhelfen gefunden. Endlich
aber muß es genug ſeyn und ich bin nun froh, daß es
zur Poſt geht und ich mich mit befreyter Seele zu etwas
Anderem wenden kann. Es mag nun ſeine Schickſale
erleben! — Was mich troͤſtet iſt, daß die Cultur in
Deutſchland doch jetzt unglaublich hoch ſteht und man
alſo nicht zu fuͤrchten hat, daß eine ſolche Production
lange unverſtanden und ohne Wirkung bleiben werde.“
Es ſteckt ein ganzes Alterthum darin, ſagte ich.
„Ja, ſagte Goethe, die Philologen werden daran zu
thun finden.“ — Fuͤr den antiken Theil, ſagte ich,
fuͤrchte ich nicht, denn es iſt da das große Detail, die
gruͤndlichſte Entfaltung des Einzelnen, wo Jedes ge¬
radezu das ſagt, was es ſagen ſoll. Allein der mo¬
derne, romantiſche Theil iſt ſehr ſchwer, denn eine halbe
Weltgeſchichte ſteckt dahinter, die Behandlung iſt bey
ſo großem Stoff nur andeutend und macht ſehr große
Anſpruͤche an den Leſer. „Aber doch, ſagte Goethe,
iſt alles ſinnlich, und wird, auf dem Theater gedacht,
jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich
nicht gewollt. Wenn es nur ſo iſt, daß die Menge
der Zuſchauer Freude an der Erſcheinung hat; dem
Eingeweihten wird zugleich der hoͤhere Sinn nicht ent¬
gehen, wie es ja auch bey der Zauberfloͤte und andern
Dingen der Fall iſt.“
Es wird, ſagte ich, auf der Buͤhne einen unge¬
wohnten Eindruck machen, daß ein Stuͤck als Tragoͤdie
anfaͤngt und als Oper endigt. Doch es gehoͤrt etwas
dazu, die Großheit dieſer Perſonen darzuſtellen und die
erhabenen Reden und Verſe zu ſprechen. „Der erſte
Theil, ſagte Goethe, erfordert die erſten Kuͤnſtler der
Tragoͤdie, ſo wie nachher im Theile der Oper die Rollen
mit den erſten Saͤngern und Saͤngerinnen beſetzt werden
muͤſſen. Die Rolle der Helena kann nicht von einer ſon¬
dern ſie muß von zwey großen Kuͤnſtlerinnen geſpielt wer¬
[318] den; denn es iſt ein ſeltener Fall, daß eine Saͤngerin
zugleich als tragiſche Kuͤnſtlerin von hinlaͤnglicher Be¬
deutung iſt.“
Das Ganze, ſagte ich, wird zu großer Pracht und
Mannigfaltigkeit in Decorationen und Garderobe Anlaß
geben, und ich kann nicht laͤugnen, ich freue mich dar¬
auf, es auf der Buͤhne zu ſehen. Wenn nur ein recht
großer Componiſt ſich daran machte! — „Es muͤßte
einer ſeyn, ſagte Goethe, der wie Meyerbeer lange in
Italien gelebt hat, ſo daß er ſeine deutſche Natur mit
der italieniſchen Art und Weiſe verbaͤnde. Doch das
wird ſich ſchon finden und ich habe keinen Zweifel; ich
freue mich nur, daß ich es los bin. Auf den Gedanken,
daß der Chor nicht wieder in die Unterwelt hinab will,
ſondern auf der heiteren Oberflaͤche der Erde ſich den
Elementen zuwirft, thue ich mir wirklich etwas zu
gute.“ Es iſt eine neue Art von Unſterblichkeit, ſag¬
te ich.
„Nun, fuhr Goethe fort, wie ſteht es mit der
Novelle?“ Ich habe ſie mitgebracht, ſagte ich. Nach¬
dem ich ſie nochmals geleſen, finde ich, daß Eure Ex¬
cellenz die intendirte Änderung nicht machen duͤrfen.
Es thut gar gute Wirkung, wenn die Leute beym ge¬
toͤdteten Tiger zuerſt als durchaus fremde neue Weſen
mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und
Manieren hervortreten und ſich als Beſitzer der Thiere
ankuͤndigen. Braͤchten Sie ſie aber ſchon fruͤher in der
[319] Expoſition, ſo wuͤrde dieſe Wirkung gaͤnzlich geſchwaͤcht,
ja vernichtet werden.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, ich muß es laſ¬
ſen, wie es iſt. Ohne Frage, Sie haben ganz Recht.
Es muß auch beym erſten Entwurf in mir gelegen ha¬
ben, die Leute nicht fruͤher zu bringen, eben weil ich
ſie ausgelaſſen. Dieſe intendirte Änderung war eine
Forderung des Verſtandes und ich waͤre dadurch bald
zu einem Fehler verleitet worden. Es iſt aber dieſes
ein merkwuͤrdiger aͤſthetiſcher Fall, daß man von einer
Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.“
Es kam ſodann zur Sprache, welchen Titel man
der Novelle geben ſolle; wir thaten manche Vorſchlaͤge,
einige waren gut fuͤr den Anfang, andere gut fuͤr das
Ende, doch fand ſich keiner, der fuͤr das Ganze paſſend
und alſo der rechte geweſen waͤre. „Wiſſen Sie was,
ſagte Goethe, wir wollen es die Novelle nennen;
denn was iſt eine Novelle anders als eine ſich ereignete
unerhoͤrte Begebenheit. Dieß iſt der eigentliche Begriff,
und ſo Vieles, was in Deutſchland unter dem Titel
Novelle geht, iſt gar keine Novelle, ſondern bloß Er¬
zaͤhlung oder was Sie ſonſt wollen. In jenem ur¬
ſpruͤnglichen Sinne einer unerhoͤrten Begebenheit kommt
auch die Novelle in den Wahlverwandtſchaften vor.“
Wenn man es recht bedenkt, ſagte ich, ſo entſteht
doch ein Gedicht immer ohne Titel und iſt ohne Titel
das, was es iſt, ſo daß man alſo glauben ſollte, der
[320] Titel gehoͤre gar nicht zur Sache. „Er gehoͤrt auch
nicht dazu, ſagte Goethe; die alten Gedichte hatten gar
keine Titel, es iſt dieß ein Gebrauch der Neuern, von
denen auch die Gedichte der Alten erſt in einer ſpaͤteren
Zeit Titel erhalten haben. Doch dieſer Gebrauch iſt
von der Nothwendigkeit herbeygefuͤhrt, bey einer aus¬
gebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von
einander zu unterſcheiden.“
„Hier, ſagte Goethe, haben Sie etwas Neues; leſen
Sie.“ Mit dieſen Worten reichte er mir eine Über¬
ſetzung eines ſerbiſchen Gedichtes von Herrn Gerhard.
Ich las mit großem Vergnuͤgen, denn das Gedicht war
ſehr ſchoͤn und die Überſetzung ſo einfach und klar, daß
man im Anſchauen des Gegenſtandes nie geſtoͤrt wurde.
Das Gedicht fuͤhrte den Titel: die Gefaͤngnißſchluͤſſel.
Ich ſage hier nichts von dem Gang der Handlung;
der Schluß indeß kam mir abgeriſſen und ein wenig
unbefriedigend vor.
„Das iſt, ſagte Goethe, eben das Schoͤne; denn
dadurch laͤßt es einen Stachel im Herzen zuruͤck und
die Phantaſie des Leſers iſt angeregt, ſich ſelbſt alle
Moͤglichkeiten auszubilden, die nun folgen koͤnnen. Der
Schluß hinterlaͤßt den Stoff zu einem ganzen Trauer¬
ſpiele, allein er iſt von der Art, wie ſchon Vieles da¬
geweſen iſt. Dagegen das im Gedicht Dargeſtellte iſt
das eigentlich Neue und Schoͤne, und der Dichter ver¬
fuhr ſehr weiſe, daß er nur dieſes ausbildete und das
[321] andere dem Leſer uͤberließ. Ich theilte das Gedicht
gerne in Kunſt und Alterthum mit, allein es iſt zu
lang; dagegen habe ich mir dieſe drey gereimten von
Gerhard ausgebeten, die ich im naͤchſten Heft werde
abdrucken laſſen. Was ſagen Sie zu dieſem; hoͤren
Sie.“
Goethe las nun zuerſt das Lied vom Alten, der ein
junges Maͤdchen liebt, ſodann das Trinklied der Wei¬
ber, und zuletzt das energiſche: Tanz uns vor, Theo¬
dor. Jedes las er in einem anderen Tone und andern
Schwunge, vortrefflich, ſo daß man nicht leicht etwas
Vollkommneres hoͤren konnte.
Wir mußten Herrn Gerhard loben, daß er die
jedesmaligen Versarten und Refrains durchaus gluͤcklich
und im Character gewaͤhlt und alles leicht und voll¬
kommen ausgefuͤhrt hatte, ſo daß man nicht wußte, wie
er es haͤtte beſſer machen ſollen. „Da ſieht man, ſagte
Goethe, was bey einem ſolchen Talent wie Gerhard
die große techniſche Übung thut. Und dann kommt
ihm zu gute, daß er kein eigentlich gelehrtes Metier,
ſondern ein ſolches treibt, das ihn taͤglich aufs practi¬
ſche Leben weiſet. Auch hat er die vielen Reiſen in
England und andern Laͤndern gemacht, wodurch er denn
bey ſeinem auf das Reale gehenden Sinn uͤber unſere
gelehrten jungen Dichter manche Avantagen hat. Wenn
er ſich immer an gute Überlieferungen haͤlt und nur
dieſe bearbeitet, ſo wird er nicht leicht etwas Schlech¬
I. 21[322] tes machen. Alle eigenen Erfindungen dagegen erfor¬
dern ſehr viel und ſind eine ſchwere Sache.“
Hieran knuͤpften ſich manche Betrachtungen uͤber
die Productionen unſerer neueſten jungen Dichter und
es ward bemerkt, daß faſt keiner von ihnen mit einer
guten Proſa aufgetreten.
„Die Sache iſt ſehr einfach, ſagte Goethe. Um
Proſa zu ſchreiben, muß man etwas zu ſagen haben;
wer aber nichts zu ſagen hat, der kann doch Verſe und
Reime machen, wo denn ein Wort das andere giebt
und zuletzt etwas herauskommt, das zwar nichts iſt
aber doch ausſieht, als waͤre es was.“
Bey Goethe zu Tiſch. „In dieſen Tagen, ſeit ich
Sie nicht geſehen, ſagte er, habe ich vieles und man¬
cherley geleſen, beſonders auch einen chineſiſchen Roman,
der mich noch beſchaͤftiget und der mir im hohen Grade
merkwuͤrdig erſcheint.“ Chineſiſchen Roman? ſagte ich,
der muß wohl ſehr fremdartig ausſehen. „Nicht ſo
ſehr als man glauben ſollte, ſagte Goethe. Die Men¬
ſchen denken handeln und empfinden faſt eben ſo wie
wir und man fuͤhlt ſich ſehr bald als ihres Gleichen
nur daß bey ihnen alles klarer, reinlicher und ſittlicher
zugeht. Es iſt bey ihnen alles verſtaͤndig, buͤrgerlich,
[323] ohne große Leidenſchaft und poetiſchen Schwung und
hat dadurch viele Ähnlichkeit mit meinem Hermann und
Dorothea, ſo wie mit den engliſchen Romanen des
Richardſon. Es unterſcheidet ſich aber wieder dadurch
daß bey ihnen die aͤußere Natur neben den menſchlichen
Figuren immer mitlebt. Die Goldfiſche in den Teichen
hoͤrt man immer plaͤtſchern, die Voͤgel auf den Zweigen
ſingen immerfort, der Tag iſt immer heiter und ſonnig,
die Nacht immer klar; vom Mond iſt viel die Rede,
allein er veraͤndert die Landſchaft nicht, ſein Schein
iſt ſo helle gedacht wie der Tag ſelber. Und das In¬
nere der Haͤuſer ſo nett und zierlich wie ihre Bilder.
Z. B. „Ich hoͤrte die lieblichen Maͤdchen lachen, und
als ich ſie zu Geſichte bekam, ſaßen ſie auf feinen
Rohrſtuͤhlen.“ Da haben Sie gleich die allerliebſte
Situation, denn Rohrſtuͤhle kann man ſich gar nicht
ohne die groͤßte Leichtigkeit und Zierlichkeit denken. Und
nun eine Unzahl von Legenden, die immer in der Er¬
zaͤhlung nebenher gehen und gleichſam ſprichwoͤrtlich
angewendet werden. Z. B. von einem Maͤdchen, das
ſo leicht und zierlich von Fuͤßen war, daß ſie auf einer
Blume balanciren konnte, ohne die Blume zu knicken.
Und von einem jungen Manne, der ſich ſo ſittlich und
brav hielt, daß er in ſeinem dreyßigſten Jahre die Ehre
hatte, mit dem Kaiſer zu reden. Und ferner von Liebes¬
paaren, die in einem langen Umgange ſich ſo enthaltſam
bewieſen, daß, als ſie einſt genoͤthigt waren, eine Nacht
21*[324] in einem Zimmer mit einander zuzubringen, ſie in Ge¬
ſpraͤchen die Stunden durchwachten ohne ſich zu beruͤh¬
ren. Und ſo unzaͤhlige von Legenden, die alle auf das
Sittliche und Schickliche gehen. Aber eben durch dieſe
ſtrenge Maͤßigung in allem hat ſich denn auch das chi¬
neſiſche Reich ſeit Jahrtauſenden erhalten und wird da¬
durch ferner beſtehen.“
„Einen hoͤchſt merkwuͤrdigen Gegenſatz zu dieſem
chineſiſchen Roman, fuhr Goethe fort, habe ich an den
Liedern von Béranger, denen faſt allen ein unſittlicher,
liederlicher Stoff zum Grunde liegt und die mir im
hohen Grade zuwider ſeyn wuͤrden, wenn nicht ein ſo
großes Talent wie Béranger die Gegenſtaͤnde behandelt
haͤtte, wodurch ſie denn ertraͤglich, ja ſogar anmuthig
werden. Aber ſagen Sie ſelbſt, iſt es nicht hoͤchſt
merkwuͤrdig, daß die Stoffe des chineſiſchen Dichters
ſo durchaus ſittlich und diejenigen des jetzigen erſten
Dichters von Frankreich ganz das Gegentheil ſind?“
Ein ſolches Talent wie Béranger, ſagte ich, wuͤrde
an ſittlichen Stoffen nichts zu thun finden. „Sie ha¬
ben Recht, ſagte Goethe, eben an den Verkehrtheiten
der Zeit offenbart und entwickelt Béranger ſeine beſſere
Natur.“ Aber, ſagte ich, iſt denn dieſer chineſiſche
Roman vielleicht einer ihrer vorzuͤglichſten? „Keineswegs,
ſagte Goethe, die Chineſen haben deren zu Tauſenden
und hatten ihrer ſchon, als unſere Vorfahren noch in
den Waͤldern lebten.“
„Ich ſehe immer mehr, fuhr Goethe fort, daß die
Poeſie ein Gemeingut der Menſchheit iſt, und daß ſie
uͤberall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hun¬
derten von Menſchen hervortritt. Einer macht es ein
wenig beſſer als der andere und ſchwimmt ein wenig
laͤnger oben als der andere, das iſt alles. Der Herr
v. Matthiſſon muß daher nicht denken, er waͤre es, und
ich muß nicht denken, ich waͤre es, ſondern jeder muß
ſich eben ſagen, daß es mit der poetiſchen Gabe keine
ſo ſeltene Sache ſey, und daß niemand eben beſondere
Urſache habe, ſich viel darauf einzubilden, wenn er ein
gutes Gedicht macht. Aber freylich wenn wir Deutſchen
nicht aus dem engen Kreiſe unſerer eigenen Umgebung
hinausblicken, ſo kommen wir gar zu leicht in dieſen pe¬
dantiſchen Duͤnkel. Ich ſehe mich daher gerne bey fremden
Nationen um und rathe jedem, es auch ſeinerſeits zu
thun. National-Literatur will jetzt nicht viel ſagen,
die Epoche der Welt-Literatur iſt an der Zeit und jeder
muß jetzt dazu wirken, dieſe Epoche zu beſchleunigen.
Aber auch bey ſolcher Schaͤtzung des Auslaͤndiſchen duͤr¬
fen wir nicht bey etwas Beſonderem haften bleiben und
dieſes fuͤr muſterhaft anſehen wollen. Wir muͤſſen nicht
denken, das Chineſiſche waͤre es, oder das Serbiſche,
oder Calderon, oder die Nibelungen; ſondern im Be¬
duͤrfniß von etwas Muſterhaftem muͤſſen wir immer zu
den alten Griechen zuruͤckgehen, in deren Werken ſtets
der ſchoͤne Menſch dargeſtellt iſt. Alles uͤbrige muͤſſen
[326] wir nur hiſtoriſch betrachten und das Gute, ſo weit es
gehen will, uns daraus aneignen.“
Ich freute mich, Goethe in einer Folge uͤber einen
ſo wichtigen Gegenſtand reden zu hoͤren. Das Geklin¬
gel vorbeyfahrender Schlitten lockte uns zum Fenſter,
denn wir erwarteten, daß der große Zug, der dieſen
Morgen nach Belvedere vorbey ging, wieder zuruͤckkom¬
men wuͤrde. Goethe ſetzte indeß ſeine lehrreichen Äuße¬
rungen fort. Von Alexander Manzoni war die Rede
und er erzaͤhlte mir, daß Graf Reinhard Herrn Man¬
zoni vor nicht langer Zeit in Paris geſehen, wo er als
ein junger Autor von Namen in der Geſellſchaft wohl
aufgenommen geweſen ſey und daß er jetzt wieder in
der Naͤhe von Mailand auf ſeinem Landgute mit einer
jungen Familie und ſeiner Mutter gluͤcklich lebe.
„Manzoni, fuhr Goethe fort, fehlt weiter nichts,
als daß er ſelbſt nicht weiß, welch ein guter Poet er
iſt, und welche Rechte ihm als ſolchem zuſtehen. Er
hat gar zu viel Reſpect vor der Geſchichte und fuͤgt
aus dieſem Grunde ſeinen Stuͤcken immer gern einige
Auseinanderſetzungen hinzu, in denen er nachweiſet, wie
treu er den Einzelnheiten der Geſchichte geblieben. Nun
moͤgen ſeine Facta hiſtoriſch ſeyn, aber ſeine Charactere
ſind es doch nicht, ſo wenig es mein Thoas und meine
Iphigenia ſind. Kein Dichter hat je die hiſtoriſchen
Charactere gekannt, die er darſtellte, haͤtte er ſie aber
gekannt, ſo haͤtte er ſie ſchwerlich ſo gebrauchen koͤnnen.
[327] Der Dichter muß wiſſen, welche Wirkungen er hervor¬
bringen will und danach die Natur ſeiner Charactere
einrichten. Haͤtte ich den Egmont ſo machen wollen,
wie ihn die Geſchichte meldet, als Vater von einem
Dutzend Kindern, ſo wuͤrde ſein leichtſinniges Handeln
ſehr abſurd erſchienen ſeyn. Ich mußte alſo einen an¬
dern Egmont haben, wie er beſſer mit ſeinen Handlungen
und meinen dichteriſchen Abſichten in Harmonie ſtaͤnde;
und dieß iſt, wie Claͤrchen ſagt, mein Egmont.“
„Und wozu waͤren denn die Poeten, wenn ſie bloß
die Geſchichte eines Hiſtorikers wiederholen wollten!
Der Dichter muß weiter gehen und uns wo moͤglich
etwas Hoͤheres und Beſſeres geben. Die Charactere
des Sophocles tragen alle etwas von der hohen Seele
des großen Dichters, ſo wie Charactere des Shakſpeare
von der ſeinigen. Und ſo iſt es recht und ſo ſoll man
es machen. Ja Shakſpeare geht noch weiter und
macht ſeine Roͤmer zu Englaͤndern, und zwar wieder
mit Recht, denn ſonſt haͤtte ihn ſeine Nation nicht ver¬
ſtanden.“
„Darin, fuhr Goethe fort, waren nun wieder die
Griechen ſo groß, daß ſie weniger auf die Treue eines
hiſtoriſchen Factums gingen, als darauf, wie es der
Dichter behandelte. Zum Gluͤck haben wir jetzt an den
Philokteten ein herrliches Beyſpiel, welches Suͤjet alle
drey großen Tragiker behandelt haben, und Sophocles
zuletzt und am beſten. Dieſes Dichters treffliches Stuͤck
[328] iſt gluͤcklicherweiſe ganz auf uns gekommen; dagegen
von den Philokteten des Aeſchylus und Euripides hat
man Bruchſtuͤcke aufgefunden, aus denen hinreichend zu
ſehen iſt, wie ſie ihren Gegenſtand behandelt haben.
Wollte es meine Zeit mir erlauben, ſo wuͤrde ich dieſe
Stuͤcke reſtauriren, ſo wie ich es mit dem Phaethon
des Euripides gethan, und es ſollte mir keine unange¬
nehme und unnuͤtze Arbeit ſeyn.“
„Bey dieſem Suͤjet war die Aufgabe ganz einfach:
naͤmlich den Philoktet nebſt dem Bogen von der Inſel
Lemnos zu holen. Aber die Art wie dieſes geſchieht,
das war nun die Sache der Dichter und darin konnte
jeder die Kraft ſeiner Erfindung zeigen und einer es
dem andern zuvorthun. Der Ulyß ſoll ihn holen, aber
ſoll er vom Philoktet erkannt werden oder nicht, und
wodurch ſoll er unkenntlich ſeyn? Soll der Ulyß allein
gehen, oder ſoll er Begleiter haben, und wer ſoll ihn
begleiten? Beym Aeſchylus iſt der Gefaͤhrte unbekannt,
beym Euripides iſt es der Diomed, beym Sophocles der
Sohn des Achill. Ferner, in welchem Zuſtande ſoll man
den Philoktet finden? Soll die Inſel bewohnt ſeyn oder
nicht, und wenn bewohnt, ſoll ſich eine mitleidige
Seele ſeiner angenommen haben oder nicht? Und ſo
hundert andere Dinge, die alle in der Willkuͤr der Dich¬
ter lagen und in deren Wahl oder Nichtwahl der eine
vor dem andern ſeine hoͤhere Weisheit zeigen konnte.
Hierin liegt’s und ſo ſollten es die jetzigen Dichter auch
[329] machen, und nicht immer fragen, ob ein Suͤjet ſchon be¬
handelt worden oder nicht, wo ſie denn immer in Suͤden
und Norden nach unerhoͤrten Begebenheiten ſuchen, die
oft barbariſch genug ſind, und die dann auch bloß als
Begebenheiten wirken. Aber freylich ein einfaches Suͤjet
durch eine meiſterhafte Behandlung zu etwas zu machen,
erfordert Geiſt und großes Talent, und daran fehlt es.“
Vorbeyfahrende Schlitten zogen uns wieder ans
Fenſter; der erwartete Zug von Belvedere war es aber
wieder nicht. Wir ſprachen und ſcherzten unbedeutende
Dinge hin und her; dann fragte ich Goethe, wie es
mit der Novelle ſtehe.
„Ich habe ſie dieſer Tage ruhen laſſen, ſagte er,
aber Eins muß doch noch in der Expoſition geſchehen.
Der Loͤwe naͤmlich muß bruͤllen, wenn die Fuͤrſtin an
der Bude vorbeyreitet; wobey ich denn einige gute Re¬
flexionen uͤber die Furchtbarkeit dieſes gewaltigen Thieres
anſtellen laſſen kann.“ Dieſer Gedanke iſt ſehr gluͤck¬
lich, ſagte ich, denn dadurch entſteht eine Expoſition,
die nicht allein an ſich, an ihrer Stelle, gut und noth¬
wendig iſt, ſondern wodurch auch alles Folgende eine
groͤßere Wirkung gewinnt. Bis jetzt erſchien der Loͤwe
faſt zu ſanft, indem er gar keine Spuren von Wildheit
zeigte. Dadurch aber, daß er bruͤllet, laͤßt er uns we¬
nigſtens ſeine Furchtbarkeit ahnden, und wenn er ſodann
ſpaͤter ſanft der Floͤte des Kindes folgt, ſo wird dieſes
eine deſto groͤßere Wirkung thun.
[330]
„Dieſe Art zu aͤndern und zu beſſern, ſagte Goethe,
iſt nun die rechte, wo man ein noch Unvollkommenes
durch fortgeſetzte Erfindungen zum Vollendeten ſteigert.
Aber ein Gemachtes immer wieder neu zu machen und
weiter zu treiben, wie z. B. Walter Scott mit meiner
Mignon gethan, die er außer ihren uͤbrigen Eigenheiten
noch taubſtumm ſeyn laͤßt; dieſe Art zu aͤndern kann
ich nicht loben.“
Goethe erzaͤhlte mir von einem Beſuch des Kron¬
prinzen von Preußen in Begleitung des Großherzogs.
„Auch die Prinzen Carl und Wilhelm von Preußen,
ſagte er, waren dieſen Morgen bey mir. Der Kron¬
prinz blieb mit dem Großherzog gegen drey Stunden,
und es kam mancherley zur Sprache, welches mir von
dem Geiſt, Geſchmack, den Kenntniſſen und der Denk¬
weiſe dieſes jungen Fuͤrſten eine hohe Meinung gab.“
Goethe hatte einen Band der Farbenlehre vor ſich
liegen. „Ich bin, ſagte er, Ihnen noch immer eine
Antwort wegen des Phaͤnomens der farbigen Schatten
ſchuldig. Da dieſes aber Vieles vorausſetzt und mit
vielem Andern zuſammenhaͤngt, ſo will ich Ihnen auch
heute keine aus dem Ganzen herausgeriſſene Erklaͤrung
geben, vielmehr habe ich gedacht, daß es gut ſeyn wuͤrde,
[331] wenn wir die Abende, die wir zuſammenkommen, die
ganze Farbenlehre mit einander durchleſen. Dadurch
haben wir immer einen ſoliden Gegenſtand der Unter¬
haltung, und Sie ſelbſt werden ſich die ganze Lehre zu
eigen machen, ſo daß Sie kaum merken, wie Sie dazu
kommen. Das Überlieferte faͤngt bey Ihnen an zu
leben und wieder productiv zu werden, wodurch ich denn
vorausſehe, daß dieſe Wiſſenſchaft ſehr bald Ihr Eigen¬
thum ſeyn wird. Nun leſen Sie den erſten Abſchnitt.“
Mit dieſen Worten legte Goethe mir das aufgeſchla¬
gene Buch vor. Ich fuͤhlte mich ſehr begluͤckt durch
die gute Abſicht, die er mit mir hatte. Ich las von
den pſychologiſchen Farben die erſten Paragraphen.
„Sie ſehen, ſagte Goethe, es iſt nichts außer uns,
was nicht zugleich in uns waͤre, und wie die aͤußere
Welt ihre Farben hat, ſo hat ſie auch das Auge. Da
es nun bey dieſer Wiſſenſchaft ganz vorzuͤglich auf
ſcharfe Sonderung des Objectiven vom Subjectiven an¬
kommt, ſo habe ich billig mit den Farben, die dem
Auge gehoͤren, den Anfang gemacht, damit wir bey
allen Wahrnehmungen immer wohl unterſcheiden, ob die
Farbe auch wirklich außer uns exiſtire, oder ob es eine
bloße Scheinfarbe ſey, die ſich das Auge ſelbſt erzeugt
hat. Ich denke alſo, daß ich den Vortrag dieſer Wiſ¬
ſenſchaft beym rechten Ende angefaßt habe, indem ich
zunaͤchſt das Organ berichtige, durch welches alle Wahr¬
nehmungen und Beobachtungen geſchehen muͤſſen.“
Ich las weiter bis zu den intereſſanten Paragra¬
phen von den geforderten Farben, wo gelehrt wird, daß
das Auge das Beduͤrfniß des Wechſels habe, indem es
nie gerne bey derſelbigen Farbe verweile, ſondern ſo¬
gleich eine andere fordere und zwar ſo lebhaft, daß
es ſich ſolche ſelbſt erzeuge, wenn es ſie nicht wirklich
vorfinde.
Dieſes brachte ein großes Geſetz zur Sprache, das
durch die ganze Natur geht und worauf alles Leben
und alle Freude des Lebens beruhet. „Es iſt dieſes,
ſagte Goethe, nicht allein mit allen anderen Sinnen ſo,
ſondern auch mit unſerem hoͤheren geiſtigen Weſen; aber
weil das Auge ein ſo vorzuͤglicher Sinn iſt, ſo tritt
dieſes Geſetz des geforderten Wechſels ſo auffallend bey
den Farben hervor und wird uns bey ihnen ſo vor allen
deutlich bewußt. Wir haben Taͤnze, die uns im hohen
Grade wohl gefallen, weil Dur und Moll in ihnen
wechſelt, wogegen aber Taͤnze aus bloßem Dur oder
bloßem Moll ſogleich ermuͤden.“
Daſſelbe Geſetz, ſagte ich, ſcheint einem gutem Styl
zum Grunde zu liegen, bey welchem wir gerne einen
Klang vermeiden, der ſo eben gehoͤrt wurde. Auch
beym Theater waͤre mit dieſem Geſetz viel zu machen,
wenn man es gut anzuwenden wuͤßte. Stuͤcke, beſon¬
ders Trauerſpiele, in denen ein einziger Ton ohne
Wechſel durchgeht, haben etwas Laͤſtiges und Ermuͤden¬
des, und wenn nun das Orcheſter bey einem traurigen
[333] Stuͤck auch in den Zwiſchenacten traurige niederſchla¬
gende Muſik hoͤren laͤßt, ſo wird man von einem uner¬
traͤglichen Gefuͤhl gepeinigt, dem man gerne auf alle
Weiſe entfliehen moͤchte.
„Vielleicht, ſagte Goethe, beruhen auch die einge¬
flochtenen heiteren Scenen in den Shakſpeariſchen Trauer¬
ſpielen auf dieſem Geſetz des geforderten Wechſels; allein
auf die hoͤhere Tragoͤdie der Griechen ſcheint es nicht
anwendbar, vielmehr geht bey dieſer ein gewiſſer Grund¬
ton durch das Ganze.“
Die griechiſche Tragoͤdie, ſagte ich, iſt auch nicht
von ſolcher Laͤnge, daß ſie bey einem durchgehenden
gleichen Ton ermuͤden koͤnnte; und dann wechſeln auch
Choͤre und Dialog und der erhabene Sinn iſt von ſol¬
cher Art, daß er nicht laͤſtig werden kann, indem immer
eine gewiſſe tuͤchtige Realitaͤt zum Grunde liegt, die
ſtets heiterer Natur iſt.
„Sie moͤgen Recht haben, ſagte Goethe, und es
waͤre wohl der Muͤhe werth zu unterſuchen, in wiefern
auch die griechiſche Tragoͤdie dem allgemeinen Geſetze des
geforderten Wechſels unterworfen iſt. Aber Sie ſehen,
wie alles aneinander haͤngt, und wie ſogar ein Geſetz
der Farbenlehre auf eine Unterſuchung der griechiſchen
Tragoͤdie fuͤhren kann. Nur muß man ſich huͤten, es
mit einem ſolchen Geſetz zu weit treiben und es als
Grundlage fuͤr vieles andere machen zu wollen; viel¬
mehr geht man ſicherer, wenn man es immer nur
[334] als ein Analogon als ein Beiſpiel gebraucht und an¬
wendet.“
Wir ſprachen uͤber die Art, wie Goethe ſeine Far¬
benlehre vorgetragen, daß er naͤmlich dabey alles aus
großen Ur-Geſetzen abgeleitet und die einzelnen Er¬
ſcheinungen immer darauf zuruͤckgefuͤhrt habe, woraus
denn das Faßliche und ein großer Gewinn fuͤr den
Geiſt hervorgehe.
„Dieſes mag ſeyn, ſagte Goethe, und Sie moͤgen
mich deßhalb loben, aber dieſe Methode erfordert denn
auch Schuͤler, die nicht in der Zerſtreuung leben und
die faͤhig ſind, die Sache wieder im Grunde aufzufaſſen.
Es ſind einige recht huͤbſche Leute in meiner Farbenlehre
heraufgekommen, allein das Ungluͤck iſt, ſie bleiben
nicht auf geradem Wege, ſondern ehe ich es mir ver¬
ſehe, weichen ſie ab und gehen einer Idee nach, ſtatt
das Object immer gehoͤrig im Auge zu behalten. Aber
ein guter Kopf, dem es zugleich um die Wahrheit zu
thun waͤre, koͤnnte noch immer viel leiſten.“
Wir ſprachen von Profeſſoren, die, nachdem das
Beſſere gefunden, immer noch die Newtoniſche Lehre
vortragen. „Dieß iſt nicht zu verwundern, ſagte Goethe;
ſolche Leute gehen im Irrthum fort, weil ſie ihm ihre
Exiſtenz verdanken. Sie muͤßten umlernen, und das
waͤre eine ſehr unbequeme Sache.“ Aber, ſagte ich,
wie koͤnnen ihre Experimente die Wahrheit beweiſen, da
der Grund ihrer Lehre falſch iſt? — „Sie beweiſen
[335] auch die Wahrheit nicht, ſagte Goethe, und das iſt
auch keineswegs ihre Abſicht, ſondern es liegt ihnen
bloß daran, ihre Meinung zu beweiſen. Deßhalb ver¬
bergen ſie auch alle ſolche Experimente, wodurch die
Wahrheit an den Tag kommen und die Unhaltbarkeit
ihrer Lehre ſich darlegen koͤnnte.“
„Und dann, um von den Schuͤlern zu reden, wel¬
chem von ihnen waͤre es denn um die Wahrheit zu
thun? Das ſind auch Leute, wie andere und voͤllig
zufrieden, wenn ſie uͤber die Sache empiriſch mitſchwa¬
tzen koͤnnen. Das iſt Alles. Die Menſchen ſind uͤber¬
haupt eigener Natur: ſobald ein See zugefroren iſt,
ſind ſie gleich zu hunderten darauf und amuͤſiren ſich
auf der glatten Oberflaͤche; aber wem faͤllt es ein zu
unterſuchen, wie tief er iſt und welche Arten von Fi¬
ſchen unter dem Eiſe hin- und herſchwimmen. Niebuhr
hat jetzt einen Handelstractat zwiſchen Rom und Car¬
thago entdeckt aus einer ſehr fruͤhen Zeit, woraus es
erwieſen iſt, daß alle Geſchichte des Livius vom fruͤhen
Zuſtande des Roͤmiſchen Volks nichts als Fabeln ſind,
indem aus jenem Tractat erſichtlich, daß Rom ſchon
ſehr fruͤh in einem weit hoͤheren Zuſtande der Cultur
ſich befunden als aus dem Livius hervorgeht. Aber
wenn Sie nun glauben, daß dieſer entdeckte Tractat in
der bisherigen Lehrart der roͤmiſchen Geſchichte eine große
Reform hervorbringen werde, ſo ſind Sie im Irrthum.
Denken Sie nur immer an den gefrorenen See; ſo
[336] ſind die Leute, ich habe ſie kennen gelernt, ſo ſind ſie
und nicht anders.“
Aber doch, ſagte ich, kann es Ihnen nicht gereuen,
daß Sie die Farbenlehre geſchrieben; denn nicht allein
daß Sie dadurch ein feſtes Gebaͤude dieſer trefflichen
Wiſſenſchaft gegruͤndet, ſondern Sie haben auch darin
ein Muſter wiſſenſchaftlicher Behandlung aufgeſtellt,
woran man ſich bey Behandlung aͤhnlicher Gegenſtaͤnde
immer halten kann.
„Es gereut mich auch keineswegs, ſagte Goethe,
obgleich ich die Muͤhe eines halben Lebens hineingeſteckt
habe. Ich haͤtte vielleicht ein halb Dutzend Trauerſpiele
mehr geſchrieben, das iſt alles, und dazu werden ſich
noch Leute genug nach mir finden.“
„Aber Sie haben Recht, ich denke auch die Be¬
handlung waͤre gut; es iſt Methode darin. In der¬
ſelbigen Art habe ich auch eine Tonlehre geſchrieben, ſo
wie auch meine Metamorphoſe der Pflanzen auf der¬
ſelbigen Anſchauungs- und Ableitungs-Weiſe beruhet.“
„Mit meiner Metamorphoſe der Pflanzen ging es
mir eigen; ich kam dazu wie Herſchel zu ſeinen Ent¬
deckungen. Herſchel naͤmlich war ſo arm, daß er ſich
kein Fernrohr anſchaffen konnte, ſondern daß er genoͤ¬
thiget war ſich ſelber eins zu machen. Aber dieß war
ſein Gluͤck; denn dieſes ſelbſtfabricirte war beſſer als
alle anderen und er machte damit ſeine großen Ent¬
deckungen. In die Botanik war ich auf empiriſchem
[337] Wege hereingekommen. Nun weiß ich noch recht gut,
daß mir bey der Bildung der Geſchlechter die Lehre zu
weitlaͤuftig wurde, als daß ich den Muth hatte, ſie zu
faſſen. Das trieb mich an, der Sache auf eigenem Wege
nachzuſpuͤren und dasjenige zu finden, was allen Pflan¬
zen ohne Unterſchied gemein waͤre, und ſo entdeckte ich
das Geſetz der Metamorphoſe.“
„Der Botanik nun im Einzelnen weiter nachzugehen,
liegt gar nicht in meinem Wege, das uͤberlaſſe ich An¬
dern, die es mir auch darin weit zuvor thun. Mir lag
bloß daran, die einzelnen Erſcheinungen auf ein allge¬
meines Grundgeſetz zuruͤckzufuͤhren.“
„So auch hat die Mineralogie nur in einer doppel¬
ten Hinſicht Intereſſe fuͤr mich gehabt: zunaͤchſt naͤmlich
ihres großen practiſchen Nutzens wegen, und dann um
darin ein Document uͤber die Bildung der Urwelt zu
finden, wozu die Werneriſche Lehre Hoffnung machte.
Seit man nun aber nach des trefflichen Mannes Tode
in dieſer Wiſſenſchaft das Oberſte zu Unterſt kehrt, gehe
ich in dieſem Fache oͤffentlich nicht weiter mit, ſondern
halte mich im Stillen in meiner Überzeugung fort.“
„In der Farbenlehre ſteht mir nun noch die Ent¬
wickelung des Regenbogens bevor, woran ich zunaͤchſt
gehen werde. Es iſt dieſes eine aͤußerſt ſchwierige Auf¬
gabe, die ich jedoch zu loͤſen hoffe. Es iſt mir aus die¬
ſem Grunde lieb, jetzt mit Ihnen die Farbenlehre wieder
I. 22[338] durchzugehen, wodurch ſich denn, zumal bey Ihrem
Intereſſe fuͤr die Sache, Alles wieder anfriſchet.“
„Ich habe mich, fuhr Goethe fort, in den Natur¬
wiſſenſchaften ziemlich nach allen Seiten hin verſucht;
jedoch gingen meine Richtungen immer nur auf ſolche
Gegenſtaͤnde, die mich irdiſch umgaben und die unmit¬
telbar durch die Sinne wahrgenommen werden konnten;
weßhalb ich mich denn auch nie mit Aſtronomie beſchaͤf¬
tiget habe, weil hiebey die Sinne nicht mehr ausreichen,
ſondern weil man hier ſchon zu Inſtrumenten, Berech¬
nungen und Mechanik ſeine Zuflucht nehmen muß, die
ein eigenes Leben erfordern und die nicht meine Sache
waren.“
„Wenn ich aber in denen Gegenſtaͤnden, die in
meinem Wege lagen, etwas geleiſtet, ſo kam mir dabey
zu gute, daß mein Leben in eine Zeit fiel, die an gro¬
ßen Entdeckungen in der Natur reicher war als irgend
eine andere. Schon als Kind begegnete mir Franklins
Lehre von der Electricitaͤt, welches Geſetz er damals ſo¬
eben gefunden hatte. Und ſo folgte durch mein ganzes
Leben, bis zu dieſer Stunde, eine große Entdeckung der
andern; wodurch ich denn nicht allein fruͤh auf die
Natur hingeleitet, ſondern auch ſpaͤter immer fort in
der bedeutendſten Anregung erhalten wurde.“
„Jetzt werden Vorſchritte gethan, auch auf den
Wegen, die ich einleitete, wie ich ſie nicht ahnden konnte,
und es iſt mir wie einem, der der Morgenroͤthe ent¬
[339] gegengeht und uͤber den Glanz der Sonne erſtaunt,
wenn dieſe hervorleuchtet.“
Unter den Deutſchen nannte Goethe bey dieſer Ge¬
legenheit die Namen: Carus, d'Alton, Meyer in
Koͤnigsberg, mit Bewunderung.
„Wenn nur die Menſchen, fuhr Goethe fort, das
Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten
und verduͤſterten, ſo waͤre ich zufrieden; denn es thaͤte
der Menſchheit ein Poſitives noth, das man ihr von
Generation zu Generation uͤberlieferte, und es waͤre doch
gut, wenn das Poſitive zugleich das Rechte und Wah¬
re waͤre. In dieſer Hinſicht ſollte es mich freuen,
wenn man in den Naturwiſſenſchaften aufs Reine kaͤme,
und ſodann im Rechten beharrte und nicht wieder trans¬
cendirte, nachdem im Faßlichen alles gethan worden.
Aber die Menſchen koͤnnen keine Ruhe halten und ehe
man es ſich verſieht, iſt die Verwirrung wieder oben
auf.“
„So ruͤtteln ſie jetzt an den fuͤnf Buͤchern Moſes,
und wenn die vernichtende Critik irgend ſchaͤdlich iſt, ſo
iſt ſie es in Religionsſachen; denn hiebey beruhet alles
auf dem Glauben, zu welchem man nicht zuruͤckkehren
kann, wenn man ihn einmal verloren hat.“
„In der Poeſie iſt die vernichtende Critik nicht ſo
ſchaͤdlich. Wolf hat den Homer zerſtoͤrt, doch dem
Gedicht hat er nichts anhaben koͤnnen; denn dieſes Ge¬
dicht hat die Wunderkraft wie die Helden Walhalla's,
22*[340] die ſich des Morgens in Stuͤcke hauen und Mittags ſich
wieder mit heilen Gliedern zu Tiſche ſetzen.“
Goethe war in der beſten Laune und ich war gluͤck¬
lich ihn abermals uͤber ſo bedeutende Dinge reden zu
hoͤren. „Wir wollen uns nur, ſagte er, im Stillen
auf dem rechten Wege forthalten und die Übrigen gehen
laſſen; das iſt das Beſte.“
Goethe ſchalt heute auf gewiſſe Critiker, die nicht
mit Leſſing zufrieden, und an ihn ungehoͤrige Forde¬
rungen machen.
„Wenn man, ſagte er, die Stuͤcke von Leſſing mit
denen der Alten vergleicht und ſie ſchlecht und miſerabel
findet, was ſoll man da ſagen! — Bedauert doch den
außerordentlichen Menſchen, daß er in einer ſo erbaͤrm¬
lichen Zeit leben mußte, die ihm keine beſſeren Stoffe
gab als in ſeinen Stuͤcken verarbeitet ſind! — Bedauert
ihn doch, daß er in ſeiner Minna von Barnhelm an
den Haͤndeln der Sachſen und Preußen Theil nehmen
mußte, weil er nichts beſſeres fand! — Auch daß er
immerfort polemiſch wirkte und wirken mußte, lag in
der Schlechtigkeit ſeiner Zeit. In der Emilie Galotti
hatte er ſeine Piquen auf die Fuͤrſten, im Nathan auf
die Pfaffen.“
[341]
Ich erzaͤhlte Goethen, daß ich in dieſen Tagen
Winckelmanns Schrift uͤber die Nachahmung grie¬
chiſcher Kunſtwerke geleſen, wobey ich geſtand, daß es
mir oft vorgekommen, als ſey Winckelmann damals
noch nicht voͤllig klar uͤber ſeine Gegenſtaͤnde geweſen.
„Sie haben allerdings Recht, ſagte Goethe, man
trifft ihn mitunter in einem gewiſſen Taſten; allein,
was das Große iſt, ſein Taſten weiſet immer auf etwas
hin; er iſt dem Columbus aͤhnlich, als er die neue
Welt zwar noch nicht entdeckt hatte, aber ſie doch ſchon
ahnungsvoll im Sinne trug. Man lernt nichts,
wenn man ihn lieſet, aber man wird etwas.“
„Meyer iſt nun weiter geſchritten und hat die
Kenntniß der Kunſt auf ihren Gipfel gebracht. Seine
Kunſtgeſchichte iſt ein ewiges Werk; allein er waͤre das
nicht geworden, wenn er ſich nicht in der Jugend
an Winckelmann hinaufgebildet haͤtte und auf deſſen
Wege fortgegangen waͤre. Da ſieht man abermals, was
ein großer Vorgaͤnger thut und was es heißt, wenn
man ſich dieſen gehoͤrig zu Nutze macht.“
[342]
Ich ging dieſen Mittag um ein Uhr zu Goethe, der
mich vor Tiſch zu einer Spazierfahrt hatte einladen
laſſen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das
Wetter war ſehr ſchoͤn, die Kornfelder zu beyden Sei¬
ten des Weges erquickten das Auge mit dem lebhafteſten
Gruͤn; Goethe ſchien in ſeinen Empfindungen heiter
und jung wie der beginnende Lenz; in ſeinen Worten
aber alt an Weisheit.
„Ich ſage immer und wiederhole es, begann er, die
Welt koͤnnte nicht beſtehen, wenn ſie nicht ſo einfach
waͤre. Dieſer elende Boden wird nun ſchon tauſend
Jahre bebaut und ſeine Kraͤfte ſind immer dieſelbigen.
Ein wenig Regen, ein wenig Sonne, und es wird
jeden Fruͤhling wieder gruͤn, und ſo fort.“ Ich fand
auf dieſe Worte nichts zu erwiedern und hinzuzuſetzen.
Goethe ließ ſeine Blicke uͤber die gruͤnenden Felder
ſchweifen, ſodann aber, wieder zu mir gewendet, fuhr
er uͤber andere Dinge folgendermaßen fort.
„Ich habe in dieſen Tagen eine wunderliche Lectuͤre
gehabt, naͤmlich die Briefe Jacobi's und ſeiner Freunde.
Dieß iſt ein hoͤchſt merkwuͤrdiges Buch und Sie muͤſſen
es leſen, nicht um etwas daraus zu lernen, ſondern um
in den Zuſtand damaliger Cultur und Literatur hinein¬
zublicken, von dem man keinen Begriff hat. Man ſieht
[343] lauter gewiſſermaßen bedeutende Menſchen, aber keine
Spur von gleicher Richtung und gemeinſamem Intereſſe,
ſondern jeder rund abgeſchloſſen fuͤr ſich und ſeinen
eigenen Weg gehend, ohne im geringſten an den Be¬
ſtrebungen des Andern Theil zu nehmen. Sie ſind mir
vorgekommen wie die Billardkugeln, die auf der gruͤnen
Decke blind durch einander laufen ohne von einander
zu wiſſen und die, ſobald ſie ſich beruͤhren, nur deſto
weiter auseinander fahren.“
Ich lachte uͤber das treffende Gleichniß. Ich erkun¬
digte mich nach den correſpondirenden Perſonen, und
Goethe nannte ſie mir, indem er mir uͤber jeden etwas
Beſonderes ſagte.
„Jacobi war eigentlich ein geborener Diplomat, ein
ſchoͤner Mann von ſchlankem Wuchs, feinen vornehmen
Weſens, der als Geſandter ganz an ſeinem Platz ge¬
weſen waͤre. Zum Poeten und Philoſophen fehlte ihm
etwas, um beydes zu ſeyn.“
„Sein Verhaͤltniß zu mir war eigener Art. Er
hatte mich perſoͤnlich lieb, ohne an meinen Beſtrebungen
Theil zu nehmen oder ſie wohl gar zu billigen. Es
bedurfte daher der Freundſchaft, um uns an einander
zu halten. Dagegen war mein Verhaͤltniß mit Schiller
ſo einzig, weil wir das herrlichſte Bindungsmittel in
unſern gemeinſamen Beſtrebungen fanden und es fuͤr
uns keiner ſogenannten beſondern Freundſchaft weiter
bedurfte.“
Ich fragte nach Leſſing, ob auch dieſer in den Brie¬
fen vorkomme. „Nein, ſagte Goethe, aber Herder und
Wieland.“
„Herdern war es nicht wohl bey dieſen Verbindun¬
gen; er ſtand zu hoch als daß ihm das hohle Weſen
auf die Laͤnge nicht haͤtte laͤſtig werden ſollen, ſo wie
auch Hamann dieſe Leute mit uͤberlegenem Geiſte be¬
handelte.“
„Wieland, wie immer, erſcheint auch in dieſen
Briefen durchaus heiter und wie zu Hauſe. An keiner
beſonderen Meinung haͤngend, war er gewandt genug,
um in alles einzugehen. Er war einem Rohre aͤhnlich,
das der Wind der Meinungen hin und her bewegte,
das aber auf ſeinem Wurzelchen immer feſte blieb.“
„Mein perſoͤnliches Verhaͤltniß zu Wieland war
immer ſehr gut, beſonders in der fruͤheren Zeit, wo er
mir allein gehoͤrte. Seine kleinen Erzaͤhlungen hat er
auf meine Anregung geſchrieben. Als aber Herder nach
Weimar kam, wurde Wieland mir ungetreu; Herder
nahm ihn mir weg, denn dieſes Mannes perſoͤnliche
Anziehungskraft war ſehr groß.“
Der Wagen wendete ſich zum Ruͤckwege. Wir ſa¬
hen gegen Oſten vielfaches Regengewoͤlk, das ſich in
einander ſchob. Dieſe Wolken, ſagte ich, ſind doch ſo
weit gebildet, daß ſie jeden Augenblick als Regen nieder¬
zugehen drohen. Waͤre es moͤglich, daß ſie ſich wieder
aufloͤſten, wenn das Barometer ſtiege? „Ja, ſagte
[345] Goethe, dieſe Wolken wuͤrden ſogleich von oben herein
verzehrt und aufgeſponnen werden wie ein Rocken. So
ſtark iſt mein Glauben an das Barometer. Ja ich ſage
immer und behaupte: waͤre in jener Nacht der großen
Überſchwemmung von Petersburg das Barometer geſtie¬
gen, die Welle haͤtte nicht herangekonnt.“
„Mein Sohn glaubt beym Wetter an den Einfluß
des Mondes und Sie glauben vielleicht auch daran, und
ich verdenke es euch nicht, denn der Mond erſcheint als
ein zu bedeutendes Geſtirn, als daß man ihm nicht eine
entſchiedene Einwirkung auf unſere Erde zuſchreiben
ſollte; allein die Veraͤnderung des Wetters, der hoͤhere
oder tiefere Stand des Barometers ruͤhrt nicht vom
Mondwechſel her, ſondern iſt rein telluriſch.“
„Ich denke mir die Erde mit ihrem Dunſtkreiſe
gleichnißweiſe als ein großes lebendiges Weſen, das im
ewigen Ein- und Aus-Athmen begriffen iſt. Athmet
die Erde ein, ſo zieht ſie den Dunſtkreis an ſich, ſo
daß er in die Naͤhe ihrer Oberflaͤche herankommt und
ſich verdichtet bis zu Wolken und Regen. Dieſen Zu¬
ſtand nenne ich die Waſſer-Bejahung; dauerte er uͤber
alle Ordnung fort, ſo wuͤrde er die Erde erſaͤufen. Dieß
aber giebt ſie nicht zu; ſie athmet wieder aus und ent¬
laͤßt die Waſſerduͤnſte nach oben, wo ſie ſich in den
ganzen Raum der hohen Atmoſphaͤre ausbreiten und
ſich dergeſtalt verduͤnnen, daß nicht allein die Sonne
glaͤnzend herdurchgeht, ſondern auch ſogar die ewige
[346] Finſterniß des unendlichen Raumes als friſches Blau
herdurch geſehen wird.“
„Dieſen Zuſtand der Atmoſphaͤre nenne ich die Waſ¬
ſer-Verneinung. Denn wie bey dem entgegengeſetzten
nicht allein haͤufiges Waſſer von oben kommt, ſondern
auch die Feuchtigkeit der Erde nicht verdunſten und ab¬
trocknen will; ſo kommt dagegen bey dieſem Zuſtand
nicht allein keine Feuchtigkeit von oben, ſondern auch
die Naͤſſe der Erde ſelbſt verfliegt und geht aufwaͤrts,
ſo daß bey einer Dauer uͤber alle Ordnung hinaus, die
Erde, auch ohne Sonnenſchein, zu vertrocknen und zu
verdoͤrren Gefahr liefe.“
So ſprach Goethe uͤber dieſen wichtigen Gegenſtand
und ich hoͤrte ihm mit großer Aufmerkſamkeit zu.
„Die Sache iſt ſehr einfach, fuhr er fort, und ſo
am Einfachen, Durchgreifenden halte ich mich und gehe
ihm nach, ohne mich durch einzelne Abweichungen irre
leiten zu laſſen. Hoher Barometer: Trockenheit, Oſt¬
wind; tiefer Barometer: Naͤſſe, Weſtwind, dieß iſt das
herrſchende Geſetz, woran ich mich halte. Wehet aber
einmal bey hohem Barometer und Oſtwind ein naſſer
Nebel her, oder haben wir blauen Himmel bey Weſt¬
wind, ſo kuͤmmert mich dieſes nicht und macht meinen
Glauben an das herrſchende Geſetz nicht irre, ſondern
ich ſehe daraus bloß, daß auch manches Mitwirkende
exiſtirt, dem man nicht ſogleich beykommen kann.“
„Ich will Ihnen etwas ſagen, woran Sie ſich im
[347] Leben halten moͤgen. Es giebt in der Natur ein Zu¬
gaͤngliches und ein Unzugaͤngliches. Dieſes unterſcheide
und bedenke man wohl und habe Reſpect. Es iſt uns
ſchon geholfen, wenn wir es uͤberall nur wiſſen, wie¬
wohl es immer ſehr ſchwer bleibt zu ſehen, wo das
Eine aufhoͤrt und das Andere beginnt. Wer es nicht
weiß, quaͤlt ſich vielleicht lebenslaͤnglich am Unzugaͤng¬
lichen ab, ohne je der Wahrheit nahe zu kommen. Wer
es aber weiß und klug iſt, wird ſich am Zugaͤnglichen
halten, und indem er in dieſer Region nach allen Sei¬
ten geht und ſich befeſtiget, wird er ſogar auf dieſem
Wege dem Unzugaͤnglichen etwas abgewinnen koͤnnen,
wiewohl er hier doch zuletzt geſtehen wird, daß manchen
Dingen nur bis zu einem gewiſſen Grade beyzukommen
iſt, und die Natur immer etwas Problematiſches hinter
ſich behalte, welches zu ergruͤnden die menſchlichen Faͤhig¬
keiten nicht hinreichen.“
Unter dieſen Worten waren wir wieder in die Stadt
hereingefahren. Das Geſpraͤch lenkte ſich auf unbedeu¬
tende Gegenſtaͤnde, wobey jene hohen Anſichten noch
eine Weile in meinem Innern fortleben konnten.
Wir waren zu fruͤh zuruͤckgekehrt, um ſogleich an
Tiſch zu gehen, und Goethe zeigte mir vorher noch eine
Landſchaft von Rubens und zwar einen Sommer-
Abend. Links im Vordergrunde ſah man Feldarbeiter
nach Hauſe gehen; in der Mitte des Bildes folgte eine
Herde Schafe ihrem Hirten dem Dorfe zu; rechts tiefer
[348] im Bilde ſtand ein Heuwagen, um welchen Arbeiter
mit Aufladen beſchaͤftigt waren, abgeſpannte Pferde
graſeten nebenbey; ſodann abſeits in Wieſen und Ge¬
buͤſch zerſtreut weideten mehrere Stuten mit ihren Foh¬
len, denen man anſah, daß ſie auch in der Nacht drau¬
ßen bleiben wuͤrden. Verſchiedene Doͤrfer und eine
Stadt ſchloſſen den hellen Horizont des Bildes, worin
man den Begriff von Thaͤtigkeit und Ruhe auf das
Anmuthigſte ausgedruͤckt fand.
Das Ganze ſchien mir mit ſolcher Wahrheit zuſam¬
men zu haͤngen und das Einzelne lag mir mit ſolcher
Treue vor Augen, daß ich die Meinung aͤußerte: Ru¬
bens habe dieſes Bild wohl ganz nach der Natur ab¬
geſchrieben.
„Keineswegs, ſagte Goethe; ein ſo vollkommenes
Bild iſt niemals in der Natur geſehen worden, ſondern
wir verdanken dieſe Compoſition dem poetiſchen Geiſte
des Malers. Aber der große Rubens hatte ein ſo
außerordentliches Gedaͤchtniß, daß er die ganze Natur
im Kopfe trug und ſie ihm in ihren Einzelnheiten im¬
mer zu Befehl war. Daher kommt dieſe Wahrheit des
Ganzen und Einzelnen, ſo daß wir glauben, alles ſey
eine reine Copie nach der Natur. Jetzt wird eine ſolche
Landſchaft gar nicht mehr gemacht, dieſe Art zu em¬
pfinden und die Natur zu ſehen, iſt ganz verſchwunden,
es mangelt unſern Malern an Poeſie.“
„Und dann ſind unſere jungen Talente ſich ſelber
[349] uͤberlaſſen, es fehlen die lebendigen Meiſter, die ſie in
die Geheimniſſe der Kunſt einfuͤhren. Zwar iſt auch
von den Todten etwas zu lernen, allein dieſes iſt, wie
es ſich zeigt, mehr ein Abſehen von Einzelnheiten als
ein Eindringen in eines Meiſters tiefere Art zu denken
und zu verfahren.
Frau und Herr v. Goethe traten herein und wir ſetz¬
ten uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten uͤber hei¬
tere Gegenſtaͤnde des Tages: Theater, Baͤlle und Hof,
fluͤchtig hin und her. Bald aber waren wir wieder
auf ernſtere Dinge gerathen und wir ſahen uns in einem
Geſpraͤch uͤber Religionslehren in England tief befangen.
„Ihr muͤßtet wie ich, ſagte Goethe, ſeit funfzig
Jahren die Kirchengeſchichte ſtudirt haben, um zu be¬
greifen, wie das alles zuſammenhaͤngt. Dagegen iſt es
hoͤchſt merkwuͤrdig, mit welchen Lehren die Mohame¬
daner ihre Erziehung beginnen. Als Grundlage in der
Religion befeſtigen ſie ihre Jugend zunaͤchſt in der Über¬
zeugung, daß dem Menſchen nichts begegnen koͤnne, als
was ihm von einer alles leitenden Gottheit laͤngſt be¬
ſtimmt worden; und ſomit ſind ſie denn fuͤr ihr ganzes
Leben ausgeruͤſtet und beruhigt und beduͤrfen kaum eines
Weiteren.“
„Ich will nicht unterſuchen, was an dieſer Lehre
Wahres oder Falſches, Nuͤtzliches oder Schaͤdliches ſeyn
mag; aber im Grunde liegt von dieſem Glauben doch
etwas in uns Allen, auch ohne daß es uns gelehrt
[350] worden. Die Kugel, auf der mein Name nicht ge¬
ſchrieben ſteht, wird mich nicht treffen, ſagt der Sol¬
dat in der Schlacht, und wie ſollte er ohne dieſe Zu¬
verſicht in den dringendſten Gefahren Muth und Heiter¬
keit behalten! Die Lehre des chriſtlichen Glaubens: kein
Sperling faͤllt vom Dache ohne den Willen eures Vaters,
iſt aus derſelbigen Quelle hervorgegangen, und deutet
auf eine Vorſehung, die das Kleinſte im Auge haͤlt
und ohne deren Willen und Zulaſſen nichts geſchehen
kann.“
„Sodann ihren Unterricht in der Philoſophie begin¬
nen die Mohamedaner mit der Lehre: daß nichts exiſtire,
wovon ſich nicht das Gegentheil ſagen laſſe; und ſo
uͤben ſie den Geiſt der Jugend, indem ſie ihre Aufgaben
darin beſtehen laſſen, von jeder aufgeſtellten Behaup¬
tung die entgegengeſetzte Meinung zu finden und aus¬
zuſprechen, woraus eine große Gewandtheit im Denken
und Reden hervorgehen muß.“
„Nun aber, nachdem von jedem aufgeſtellten Satze
das Gegentheil behauptet worden, entſteht der Zwei¬
fel welches denn von Beyden das eigentlich Wahre
ſey. Im Zweifel aber iſt kein Verharren, ſondern er
treibt den Geiſt zu naͤherer Unterſuchung und Pruͤ¬
fung, woraus denn, wenn dieſe auf eine vollkommene
Weiſe geſchieht, die Gewißheit hervorgeht, welches
das Ziel iſt, worin der Menſch ſeine voͤllige Beruhi¬
gung findet.“
„Sie ſehen, daß dieſer Lehre nichts fehlt und daß
wir mit allen unſern Syſtemen nicht weiter ſind und
daß uͤberhaupt niemand weiter gelangen kann.“
Ich werde dadurch, ſagte ich, an die Griechen erin¬
nert, deren philoſophiſche Erziehungsweiſe eine aͤhnliche
geweſen ſeyn muß, wie uns dieſes ihre Tragoͤdie be¬
weiſet, deren Weſen im Verlauf der Handlung auch
ganz und gar auf dem Widerſpruch beruhet, indem nie¬
mand der redenden Perſonen etwas behaupten kann,
wovon der Andere nicht eben ſo klug das Gegentheil
zu ſagen wuͤßte.
„Sie haben vollkommen Recht, ſagte Goethe; auch
fehlt der Zweifel nicht, welcher im Zuſchauer oder Leſer
erweckt wird; ſo wie wir denn am Schluß durch das
Schickſal zur Gewißheit gelangen, welches ſich an das
Sittliche anſchließt und deſſen Partey fuͤhrt.“
Wir ſtanden von Tiſch auf und Goethe nahm mich
mit hinab in den Garten, um unſere Geſpraͤche fortzu¬
ſetzen.
An Leſſing, ſagte ich, iſt es merkwuͤrdig, daß er in
ſeinen theoretiſchen Schriften, z. B. im Laokoon, nie
geradezu auf Reſultate losgeht, ſondern uns immer erſt
jenen philoſophiſchen Weg durch Meinung, Gegen¬
meinung und Zweifel herumfuͤhrt, ehe er uns endlich
zu einer Art von Gewißheit gelangen laͤßt. Wir ſehen
mehr die Operation des Denkens und Findens, als
daß wir große Anſichten und große Wahrheiten erhiel¬
[352] ten, die unſer eigenes Denken anzuregen und uns ſelbſt
productiv zu machen geeignet waͤren.
„Sie haben wohl Recht, ſagte Goethe. Leſſing ſoll
ſelbſt einmal geaͤußert haben, daß, wenn Gott ihm die
Wahrheit geben wolle, er ſich dieſes Geſchenk verbit¬
ten, vielmehr die Muͤhe vorziehen wuͤrde, ſie ſelber
zu ſuchen.“
„Jenes philoſophiſche Syſtem der Mohamedaner
iſt ein artiger Maßſtab, den man an ſich und Andere
anlegen kann, um zu erfahren, auf welcher Stufe gei¬
ſtiger Tugend man denn eigentlich ſtehe.“
„Leſſing haͤlt ſich, ſeiner polemiſchen Natur nach,
am liebſten in der Region der Widerſpruͤche und Zweifel
auf; das Unterſcheiden iſt ſeine Sache, und dabey kam
ihm ſein großer Verſtand auf das Herrlichſte zu Stat¬
ten. Mich ſelbſt werden Sie dagegen ganz anders
finden; ich habe mich nie auf Widerſpruͤche eingelaſſen,
die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen
geſucht und nur die gefundenen Reſultate habe ich aus¬
geſprochen.“
Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philoſophen
er fuͤr den vorzuͤglichſten halte.
„Kant, ſagte er, iſt der vorzuͤglichſte, ohne allen
Zweifel. Er iſt auch derjenige, deſſen Lehre ſich fort¬
wirkend erwieſen hat, und die in unſere deutſche Cul¬
tur am tiefſten eingedrungen iſt. Er hat auch auf Sie
gewirkt, ohne daß Sie ihn geleſen haben. Jetzt brau¬
[353] chen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben
konnte, beſitzen Sie ſchon. Wenn Sie einmal ſpaͤter
etwas von ihm leſen wollen, ſo empfehle ich Ihnen
ſeine Critik der Urtheilskraft, worin er die Rhetorik
vortrefflich, die Poeſie leidlich, die bildende Kunſt aber
unzulaͤnglich behandelt hat,“
Haben Eure Excellenz je zu Kant ein perſoͤnliches
Verhaͤltniß gehabt? fragte ich.
„Nein, ſagte Goethe. Kant hat nie von mir No¬
tiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen
aͤhnlichen Weg ging als er. Meine Metamorphoſe der
Pflanzen habe ich geſchrieben, ehe ich etwas von
Kant wußte, und doch iſt ſie ganz im Sinne ſeiner
Lehre. Die Unterſcheidung des Subjects vom Ob¬
ject, und ferner die Anſicht, daß jedes Geſchoͤpf um
ſein ſelbſt willen exiſtirt und nicht etwa der Korkbaum
gewachſen iſt, damit wir unſere Flaſchen propfen koͤn¬
nen, dieſes hatte Kant mit mir gemein und ich freute
mich ihm hierin zu begegnen. Spaͤter ſchrieb ich die
Lehre vom Verſuch, welche als Critik von Subject
und Object und als Vermittelung von beyden anzu¬
ſehen iſt.“
„Schiller pflegte mir immer das Studium der Kan¬
tiſchen Philoſophie zu widerrathen. Er ſagte gewoͤhnlich,
Kant koͤnne mir nichts geben. Er ſelbſt ſtudirte ihn
dagegen eifrig, und ich habe ihn auch ſtudirt und zwar
nicht ohne Gewinn.“
Unter dieſen Geſpraͤchen gingen wir im Garten auf
und ab. Die Wolken hatten ſich indeß verdichtet und
es fing an zu troͤpfeln, ſo daß wir genoͤthiget waren
uns in das Haus zuruͤckzuziehen, wo wir denn unſere
Unterhaltungen noch eine Weile fortſetzten.
Der Familien-Tiſch zu fuͤnf Couverts ſtand gedeckt,
die Zimmer waren leer und kuͤhl, welches bei der gro¬
ßen Hitze ſehr wohl that. Ich trat in das geraͤumige
an den Speiſeſaal angrenzende Zimmer, worin der ge¬
wirkte Fußteppich liegt und die coloſſale Buͤſte der Juno
ſteht. Ich war nicht lange allein auf- und abgegangen,
als Goethe, aus ſeinem Arbeitszimmer kommend, herein¬
trat und mich in ſeiner herzlichen Art liebevoll begruͤßte
und anredete. Er ſetzte ſich auf einen Stuhl am Fen¬
ſter. „Nehmen Sie ſich auch ein Stuͤhlchen, ſagte er,
und ſetzen Sie ſich zu mir, wir wollen ein wenig reden
bis die Übrigen kommen. Es iſt mir lieb, daß Sie
doch auch den Grafen Sternberg bey mir haben kennen
gelernt; er iſt wieder abgereiſet und ich bin nun ganz
wieder in der gewohnten Thaͤtigkeit und Ruhe.“
Die Perſoͤnlichkeit des Grafen, ſagte ich, iſt mir
ſehr bedeutend erſchienen, nicht weniger ſeine großen
Kenntniſſe; denn das Geſpraͤch mochte ſich lenken, wo¬
[355] hin es wollte, er war uͤberall zu Hauſe und ſprach uͤber
Alles gruͤndlich und umſichtig mit großer Leichtigkeit.
„Ja, ſagte Goethe, er iſt ein hoͤchſt bedeutender
Mann und ſein Wirkungskreis und ſeine Verbindungen
in Deutſchland ſind groß. Als Botaniker iſt er durch
ſeine Flora subterranea in ganz Europa bekannt; ſo
auch iſt er als Mineraloge von großer Bedeutung.
Kennen Sie ſeine Geſchichte?“ Nein, ſagte ich, aber
ich moͤchte gerne etwas uͤber ihn erfahren. Ich ſah
ihn als Grafen und Weltmann, zugleich als vielſeitigen
tiefen Gelehrten, dieſes iſt mir ein Problem, das ich ger¬
ne moͤchte geloͤſet ſehen. Goethe erzaͤhlte mir darauf, wie
der Graf, als Juͤngling zum geiſtlichen Stande beſtimmt,
in Rom ſeine Studien begonnen; darauf aber, nachdem
Öſtreich gewiſſe Verguͤnſtigungen zuruͤckgenommen, nach
Neapel gegangen ſey. Und ſo erzaͤhlte Goethe weiter,
gruͤndlich, intereſſant und bedeutend, ein merkwuͤrdiges
Leben, der Art, daß es die Wanderjahre zieren wuͤrde,
das ich aber hier zu wiederholen mich nicht geſchickt
fuͤhle. Ich war hoͤchſt gluͤcklich ihm zuzuhoͤren und
dankte ihm mit meiner ganzen Seele. Das Geſpraͤch
lenkte ſich nun auf die boͤhmiſchen Schulen und ihre
großen Vorzuͤge, beſonders in Bezug auf eine gruͤnd¬
liche aͤſthetiſche Bildung.
Herr und Frau v. Goethe und Fraͤulein Ulrike von
P. waren indeſſen auch hereingekommen und wir ſetzten
uns zu Tiſch. Die Geſpraͤche wechſelten heiter und
23 *[356] mannigfaltig, beſonders aber waren die Froͤmmler einiger
norddeutſchen Staͤdte ein oft wiederkehrender Gegenſtand.
Es ward bemerkt, daß dieſe pietiſtiſchen Abſonderungen
ganze Familien mit einander uneins gemacht und zer¬
ſprengt haͤtten. Ich konnte einen aͤhnlichen Fall erzaͤh¬
len, wo ich faſt einen trefflichen Freund verloren, weil
es ihm nicht gelingen wollen, mich zu ſeiner Meinung
zu bekehren. Dieſer, ſagte ich, war ganz von dem
Glauben durchdrungen, daß alles Verdienſt und alle
gute Werke nichts ſeyen, und daß der Menſch bloß
durch die Gnade Chriſti ein gutes Verhaͤltniß zur Gott¬
heit gewinnen koͤnne. Etwas aͤhnliches, ſagte Frau
von Goethe, hat auch eine Freundinn zu mir geſagt,
aber ich weiß noch immer nicht, was es mit die¬
ſen guten Werken und dieſer Gnade fuͤr ein Bewand¬
niß hat.
„So wie alle dieſe Dinge, ſagte Goethe, heutiges
Tages in der Welt in Cours und Geſpraͤch ſind, iſt es
nichts als ein Mantſch und vielleicht niemand von euch
weiß, wo es herkommt. Ich will es euch ſagen. Die
Lehre von den guten Werken, daß naͤmlich der Menſch
durch Gutesthun, Vermaͤchtniſſe und milde Stiftungen
eine Suͤnde abverdienen und ſich uͤberhaupt in der
Gnade Gottes dadurch heben koͤnne, iſt katholiſch. Die
Reformatoren aber, aus Oppoſition, verwarfen dieſe
Lehre, und ſetzten dafuͤr an die Stelle, daß der Menſch
einzig und allein trachten muͤſſe, die Verdienſte Chriſti
[357] zu erkennen und ſich ſeiner Gnaden theilhaftig zu ma¬
chen, welches denn freylich auch zu guten Werken fuͤhre.
So iſt es; aber heutiges Tags wird alles durcheinander
gemengt und verwechſelt und niemand weiß, woher die
Dinge kommen.“
Ich bemerkte mehr in Gedanken, als daß ich es
ausſprach, daß die verſchiedene Meinung in Religions¬
ſachen doch von jeher die Menſchen entzweyt und zu
Feinden gemacht habe, ja daß ſogar der erſte Mord
durch eine Abweichung in der Verehrung Gottes herbey¬
gefuͤhret ſey. Ich ſagte, daß ich dieſer Tage Byrons
Cain geleſen und beſonders den dritten Act und die
Motivirung des Todtſchlages bewundert habe.
„Nicht wahr? ſagte Goethe, das iſt vortrefflich
motivirt! es iſt von ſo einziger Schoͤnheit, daß es in
der Welt nicht zum zweyten Male vorhanden iſt.“
Der Cain, ſagte ich, war doch anfaͤnglich in Eng¬
land verboten, jetzt aber lieſet ihn jedermann und die
reiſenden jungen Englaͤnder fuͤhren gewoͤhnlich einen
completen Byron mit ſich.
„Es iſt auch Thorheit, ſagte Goethe, denn im
Grunde ſteht im ganzen Cain doch nichts, als was die
engliſchen Biſchoͤfe ſelber lehren.“
Der Canzler ließ ſich melden und trat herein und
ſetzte ſich zu uns an den Tiſch. So auch kamen Goethe's
Enkel Walter und Wolfgang nach einander geſprun¬
gen. Wolf ſchmiegte ſich an den Canzler. „Hole dem
[358] Herrn Canzler, ſagte Goethe, dein Stammbuch und
zeige ihm deine Prinzeß und was dir der Graf Stern¬
berg geſchrieben.“ Wolf ſprang hinauf und kam bald
mit dem Buche zuruͤck. Der Canzler betrachtete das
Portrait der Prinzeß mit beygeſchriebenen Verſen von
Goethe. Er durchblaͤtterte das Buch ferner und traf
auf Zelters Inſchrift und las laut heraus:
Lerne gehorchen!
„Das iſt doch das einzige vernuͤnftige Wort, ſagte
Goethe lachend, was im ganzen Buche ſteht. Ja,
Zelter iſt immer grandios und tuͤchtig! — Ich gehe
jetzt mit Riemer ſeine Briefe durch, die ganz unſchaͤtzbare
Sachen enthalten. Beſonders ſind die Briefe, die er mir
auf Reiſen geſchrieben, von vorzuͤglichem Werth; denn da
hat er als tuͤchtiger Baumeiſter und Muſikus den Vor¬
theil, daß es ihm nie an bedeutenden Gegenſtaͤnden des
Urtheils fehlt. So wie er in eine Stadt eintritt, ſte¬
hen die Gebaͤude vor ihm, und ſagen ihm, was ſie
Verdienſtliches und Mangelhaftes an ſich tragen. So¬
dann ziehen die Muſik-Vereine ihn ſogleich in ihre
Mitte und zeigen ſich dem Meiſter in ihren Tugenden
und Schwaͤchen. Wenn ein Geſchwindſchreiber ſeine Ge¬
ſpraͤche mit ſeinen muſikaliſchen Schuͤlern aufgeſchrieben
haͤtte, ſo beſaͤßen wir etwas ganz Einziges in ſeiner
Art. Denn in dieſen Dingen iſt Zelter genial und groß
und trifft immer den Nagel auf den Kopf“
[359]
Heute gegen Abend begegnete Goethe mir am Park
von einer Spazierfahrt zuruͤckkommend. Im Vorbey¬
fahren winkte er mir mit der Hand, daß ich ihn beſu¬
chen moͤchte. Ich wendete daher ſogleich um nach ſei¬
nem Hauſe, wo ich den Oberbaudirector Coudray fand.
Goethe ſtieg aus und wir gingen mit ihm die Treppen
hinauf. Wir ſetzten uns in dem ſogenannten Juno-
Zimmer um einen runden Tiſch. Wir hatten nicht lange
geredet, als auch der Canzler hereintrat und ſich zu
uns geſellte. Das Geſpraͤch wendete ſich um politiſche
Gegenſtaͤnde, Wellingtons Geſandtſchaft nach Petersburg
und deren wahrſcheinliche Folgen, Capodiſtrias, die ver¬
zoͤgerte Befreyung Griechenlands, die Beſchraͤnkung der
Tuͤrken auf Conſtantinopel, und dergleichen. Auch fruͤ¬
here Zeiten unter Napoleon kamen zur Sprache, beſon¬
ders aber uͤber den Herzog von Enghien und ſein un¬
vorſichtiges revolutionaires Betragen ward viel geredet.
Sodann kam man auf friedlichere Dinge, und Wie¬
lands Grab zu Osmannſtedt war ein viel beſprochener
Gegenſtand unſerer Unterhaltung. Oberbaudirector Cou¬
dray erzaͤhlte, daß er mit einer eiſernen Einfaſſung des
Grabes beſchaͤftigt ſey. Er gab uns von ſeiner Inten¬
tion eine deutliche Idee, indem er die Form des eiſernen
Gitterwerks auf ein Stuͤck Papier vor unſern Augen
hinzeichnete.
[360]
Als der Canzler und Coudray gingen, bat Goethe
mich, noch ein wenig bey ihm zu bleiben. „Da ich in
Jahrtauſenden lebe, ſagte er, ſo kommt es mir immer
wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumen¬
ten hoͤre. Ich kann nicht an eine Bildſaͤule denken,
die einem verdienten Manne geſetzt wird, ohne ſie im
Geiſte ſchon von kuͤnftigen Kriegern umgeworfen und
zerſchlagen zu ſehen. Coudray's Eiſenſtaͤbe um das
Wielandiſche Grab ſehe ich ſchon als Hufeiſen unter
den Pferdefuͤßen einer kuͤnftigen Cavallerie blinken, und
ich kann noch dazu ſagen, daß ich bereits einen aͤhn¬
lichen Fall in Frankfurt erlebt habe. Das Wielandiſche
Grab liegt uͤberdieß viel zu nahe an der Ilm; der Fluß
braucht in ſeiner raſchen Biegung kaum ein hundert
Jahre am Ufer fort zu zehren, und er wird die Todten
erreicht haben.“
Wir ſcherzten mit gutem Humor uͤber die entſetzliche
Unbeſtaͤndigkeit der irdiſchen Dinge und nahmen ſodann
Coudray's Zeichnung wieder zur Hand und freuten uns
an den zarten und kraͤftigen Zuͤgen der engliſchen Bley¬
feder, die dem Zeichner ſo zu Willen geweſen war, daß
der Gedanke unmittelbar ohne den geringſten Verluſt
auf dem Papiere ſtand.
Dieß fuͤhrte das Geſpraͤch auf Handzeichnungen, und
Goethe zeigte mir eine ganz vortreffliche eines italieni¬
ſchen Meiſters, den Knaben Jeſus darſtellend im Tem¬
pel unter den Schriftgelehrten. Daneben zeigte er mir
[361] einen Kupferſtich, der nach dem ausgefuͤhrten Bilde
gemacht war und man konnte viele Betrachtungen an¬
ſtellen, die alle zu Gunſten der Handzeichnung hinaus¬
liefen.
„Ich bin in dieſer Zeit ſo gluͤcklich geweſen, ſagte
Goethe, viele treffliche Handzeichnungen beruͤhmter Mei¬
ſter um ein Billiges zu kaufen. Solche Zeichnungen
ſind unſchaͤtzbar, nicht allein, weil ſie die rein geiſtige
Intention des Kuͤnſtlers geben, ſondern auch, weil ſie
uns unmittelbar in die Stimmung verſetzen, in welcher
der Kuͤnſtler ſich in dem Augenblick des Schaffens befand.
Aus dieſer Zeichnung des Jeſusknaben im Tempel blickt
aus allen Zuͤgen große Klarheit und heitere ſtille Ent¬
ſchiedenheit im Gemuͤthe des Kuͤnſtlers, welche wohl¬
thaͤtige Stimmung in uns uͤbergeht, ſo wie wir das
Bild betrachten. Zudem hat die bildende Kunſt den
großen Vortheil, daß ſie rein objectiver Natur iſt, und
uns zu ſich herannoͤthiget, ohne unſere Empfindungen
heftig anzuregen. Ein ſolches Werk ſteht da und ſpricht
entweder gar nicht, oder auf eine ganz entſchiedene Weiſe.
Ein Gedicht dagegen macht einen weit vageren Eindruck,
es erregt die Empfindungen und bey Jedem andere, nach
der Natur und Faͤhigkeit des Hoͤrers.“
Ich habe, ſagte ich, dieſer Tage den trefflichen eng¬
liſchen Roman Roderik Random von Smollet geleſen;
dieſer kam dem Eindruck einer guten Handzeichnung
ſehr nahe. Eine unmittelbare Darſtellung, keine Spur
[362] von einer Hinneigung zum Sentimentalen, ſondern das
wirkliche Leben ſteht vor uns, wie es iſt, oft wider¬
waͤrtig und abſcheulich genug, aber im Ganzen immer
heiteren Eindruckes, wegen der ganz entſchiedenen Rea¬
litaͤt.
„Ich habe den Roderik Random oft ruͤhmen hoͤren,
ſagte Goethe, und glaube, was Sie mir von ihm er¬
waͤhnen; doch ich habe ihn nie geleſen. Kennen Sie
den Raſſelas von Johnſon? Leſen Sie ihn doch auch
einmal und ſagen Sie mir, wie Sie ihn finden.“ Ich
verſprach dieſes zu thun.
Auch in Lord Byron, ſagte ich, finde ich haͤufig
Darſtellungen, die ganz unmittelbar daſtehen und uns
rein den Gegenſtand geben, ohne unſer inneres Sen¬
timent auf eine andere Weiſe anzuregen als es eine
unmittelbare Handzeichnung eines guten Malers thut.
Beſonders der Don Juan iſt an ſolchen Stellen reich.
„Ja, ſagte Goethe, darin iſt Lord Byron groß;
ſeine Darſtellungen haben eine ſo leicht hingeworfene
Realitaͤt, als waͤren ſie improviſirt. Von Don Juan
kenne ich wenig; allein aus ſeinen anderen Gedichten
ſind mir ſolche Stellen im Gedaͤchtniß, beſonders See¬
ſtuͤcke, wo hin und wieder ein Segel herausblickt, ganz
unſchaͤtzbar, ſo daß man ſogar die Waſſerluft mit zu
empfinden glaubt.“
In ſeinem Don Juan, ſagte ich, habe ich beſonders
die Darſtellung der Stadt London bewundert, die man
[363] aus ſeinen leichten Verſen heraus mit Augen zu ſehen
waͤhnt. Und dabey macht er ſich keineswegs viele Scru¬
pel, ob ein Gegenſtand poetiſch ſey oder nicht, ſondern
er ergreift und gebraucht alles, wie es ihm vorkommt
bis auf die gekraͤuſelten Peruͤcken vor den Fenſtern der
Haarſchneider und bis auf die Maͤnner, welche die
Straßenlaternen mit Oel verſehen.
„Unſere deutſchen Äſthetiker, ſagte Goethe, reden
zwar viel von poetiſchen und unpoetiſchen Gegenſtaͤnden,
und ſie moͤgen auch in gewiſſer Hinſicht nicht ganz
Unrecht haben; allein im Grunde bleibt kein realer
Gegenſtand unpoetiſch, ſobald der Dichter ihn gehoͤrig zu
gebrauchen weiß.“
Sehr wahr! ſagte ich, und ich moͤchte wohl, daß
dieſe Anſicht zur allgemeinen Maxime wuͤrde. Wir
ſprachen darauf uͤber die beyden Foscari, wobey ich die
Bemerkung machte, daß Byron ganz vortreffliche Frauen
zeichne.
„Seine Frauen, ſagte Goethe, ſind gut. Es iſt
aber auch das einzige Gefaͤß, was uns Neueren noch
geblieben iſt, um unſere Idealitaͤt hinein zu gießen.
Mit den Maͤnnern iſt nichts zu thun. Im Achill und
Odyſſeus, dem Tapferſten und Kluͤgſten, hat der Homer
alles vorweggenommen.“
Übrigens, fuhr ich fort, haben die Foscari wegen
der durchgehenden Folter-Qualen etwas Apprehenſives,
und man begreift kaum, wie Byron im Innern dieſes
[364] peinlichen Gegenſtandes ſo lange leben konnte, um das
Stuͤck zu machen.
„Dergleichen war ganz Byrons Element, ſagte
Goethe; er war ein ewiger Selbſtquaͤler, ſolche Gegen¬
ſtaͤnde waren daher ſeine Lieblings-Themata, wie Sie
aus allen ſeinen Sachen ſehen, unter denen faſt nicht
ein einziges heiteres Suͤjet iſt. Aber nicht wahr? Die
Darſtellung iſt auch bey den Foscari zu loben.“
Sie iſt vortrefflich, ſagte ich; jedes Wort iſt ſtark,
bedeutend und zum Ziele fuͤhrend, ſo wie ich uͤberhaupt
bis jetzt in Byron noch keine matte Zeile gefunden habe.
Es iſt mir immer, als ſaͤhe ich ihn aus den Meeres¬
wellen kommen, friſch und durchdrungen von ſchoͤpferi¬
ſchen Urkraͤften. „Sie haben ganz Recht, ſagte Goethe,
es iſt ſo.“ — Jemehr ich ihn leſe, fuhr ich fort, jemehr
bewundere ich die Groͤße ſeines Talents und Sie haben
ganz recht gethan ihm in der Helena das unſterbliche
Denkmal der Liebe zu ſetzen.
„Ich konnte als Repraͤſentanten der neueſten poeti¬
ſchen Zeit, ſagte Goethe, niemanden gebrauchen als ihn,
der ohne Frage als das groͤßte Talent des Jahrhunderts
anzuſehen iſt. Und dann, Byron iſt nicht antik und
iſt nicht romantiſch, ſondern er iſt wie der gegenwaͤrtige
Tag ſelbſt. Einen ſolchen mußte ich haben. Auch paßte
er uͤbrigens ganz wegen ſeines unbefriedigten Naturells
und ſeiner kriegeriſchen Tendenz, woran er in Miſſo¬
lunghi zu Grunde ging. Eine Abhandlung uͤber Byron
[365] zu ſchreiben iſt nicht bequem und raͤthlich, aber gelegent¬
lich ihn zu ehren und auf ihn im Einzelnen hinzuweiſen
werde ich auch in der Folge nicht unterlaſſen.“
Da die Helena einmal zur Sprache gebracht war,
ſo redete Goethe daruͤber weiter. „Ich hatte den Schluß,
ſagte er, fruͤher ganz anders im Sinne, ich hatte ihn
mir auf verſchiedene Weiſe ausgebildet und einmal auch
recht gut, aber ich will es euch nicht verrathen. Dann
brachte mir die Zeit dieſes mit Lord Byron und Miſſo¬
lunghi und ich ließ gern alles Übrige fahren. Aber ha¬
ben Sie bemerkt, der Chor faͤllt bey dem Trauergeſang
ganz aus der Rolle; er iſt fruͤher und durchgehends
antik gehalten, oder verleugnet doch nie ſeine Maͤdchen¬
natur, hier aber wird er mit einem Mal ernſt und hoch
reflectirend und ſpricht Dinge aus, woran er nie gedacht
hat und auch nie hat denken koͤnnen.“
Allerdings, ſagte ich, habe ich dieſes bemerkt; allein
ſeitdem ich Rubens Landſchaft mit den doppelten Schat¬
ten geſehen, und ſeitdem der Begriff der Fictionen mir
aufgegangen iſt, kann mich dergleichen nicht irre machen.
Solche kleine Widerſpruͤche koͤnnen bey einer dadurch
erreichten hoͤheren Schoͤnheit nicht in Betracht kommen.
Das Lied mußte nun einmal geſungen werden, und da
kein anderer Chor gegenwaͤrtig war, ſo mußten es die
Maͤdchen ſingen.
„Mich ſoll nur wundern, ſagte Goethe lachend,
was die deutſchen Critiker dazu ſagen werden. Ob ſie
[366] werden Freyheit und Kuͤhnheit genug haben daruͤber
hinwegzukommen. Den Franzoſen wird der Verſtand
im Wege ſeyn, und ſie werden nicht bedenken, daß die
Phantaſie ihre eigenen Geſetze hat, denen der Verſtand
nicht beykommen kann und ſoll. Wenn durch die Phan¬
taſie nicht Dinge entſtaͤnden, die fuͤr den Verſtand ewig
problematiſch bleiben, ſo waͤre uͤberhaupt zu der Phan¬
taſie nicht viel. Dieß iſt es, wodurch ſich die Poeſie
von der Proſa unterſcheidet, bey welcher der Verſtand
immer zu Hauſe iſt und ſeyn mag und ſoll.“
Ich freute mich dieſes bedeutenden Wortes und merkte
es mir. Darauf ſchickte ich mich an zum Gehen, denn
es war gegen zehn Uhr geworden. Wir ſaßen ohne
Licht, die helle Sommer-Nacht leuchtete aus Norden
uͤber den Ettersberg heruͤber.
Ich fand Goethe allein, in Betrachtung der Gyps-
Paſten nach dem Stoſchiſchen Cabinet. „Man iſt in
Berlin ſo freundlich geweſen, ſagte er, mir dieſe ganze
Sammlung zur Anſicht herzuſenden; ich kenne die ſchoͤ¬
nen Sachen ſchon dem groͤßten Theile nach, hier aber
ſehe ich ſie in der belehrenden Folge, wie Winckelmann
ſie geordnet hat; auch benutze ich ſeine Beſchreibung und
ſehe ſeine Meinung nach in Faͤllen, wo ich ſelber zweifle.“
Wir hatten nicht lange geredet, als der Canzler
hereintrat und ſich zu uns ſetzte. Er erzaͤhlte uns Nach¬
richten aus oͤffentlichen Blaͤttern, unter andern von
einem Waͤrter einer Menagerie, der aus Geluͤſte nach
Loͤwenfleiſch einen Loͤwen getoͤdtet und ſich ein gutes
Stuͤck davon zubereitet habe. „Mich wundert, ſagte
Goethe, daß er nicht einen Affen genommen hat, wel¬
ches ein gar zarter ſchmackhafter Biſſen ſeyn ſoll.“ Wir
ſprachen uͤber die Haͤßlichkeit dieſer Beſtien und daß ſie
deſto unangenehmer, je aͤhnlicher die Race dem Men¬
ſchen ſey. Ich begreife nicht, ſagte der Canzler, wie
fuͤrſtliche Perſonen ſolche Thiere in ihrer Naͤhe dulden,
ja vielleicht gar Gefallen daran finden koͤnnen. „Fuͤrſt¬
liche Perſonen, ſagte Goethe, werden ſo viel mit wider¬
waͤrtigen Menſchen geplagt, daß ſie die widerwaͤrtigeren
Thiere als ein Heilmittel gegen dergleichen unangenehme
Eindruͤcke betrachten. Uns Andern ſind Affen und Ge¬
ſchrey der Papagayen mit Recht widerwaͤrtig, weil wir
dieſe Thiere hier in einer Umgebung ſehen, fuͤr die
ſie nicht gemacht ſind. Waͤren wir aber in dem Fall,
auf Elephanten unter Palmen zu reiten, ſo wuͤrden
wir in einem ſolchen Element Affen und Papagayen
ganz gehoͤrig, ja vielleicht gar erfreulich finden. Aber,
wie geſagt, die Fuͤrſten haben Recht, etwas Widerwaͤr¬
tiges mit etwas noch Widerwaͤrtigerem zu vertreiben.“
— Hiebey, ſagte ich, faͤllt mir ein Vers ein, den Sie
vielleicht ſelber nicht mehr wiſſen:
[368]
Goethe lachte. „Ja, ſagte er, es iſt ſo. Eine
Roheit kann nur durch eine andere ausgetrieben wer¬
den, die noch gewaltiger iſt. Ich erinnere mich eines
Falles aus meiner fruͤheren Zeit, wo es unter den Ad¬
lichen hin und wieder noch recht beſtialiſche Herren gab,
daß bey Tafel in einer vorzuͤglichen Geſellſchaft und in
Anweſenheit von Frauen ein reicher Edelman ſehr maſ¬
ſive Reden fuͤhrte zur Unbequemlichkeit und zum Ärger¬
niß Aller, die ihn hoͤren mußten. Mit Worten war
gegen ihn nichts auszurichten. Ein entſchloſſener an¬
ſehnlicher Herr, der ihm gegenuͤber ſaß, waͤhlte daher
ein anderes Mittel, indem er ſehr laut eine grobe Unan¬
ſtaͤndigkeit beging, woruͤber alle erſchraken, und jener
Grobian mit, ſo daß er ſich gedaͤmpft fuͤhlte und nicht
wieder den Mund aufthat. Das Geſpraͤch nahm von
dieſem Augenblick an eine anmuthige heitere Wendung
zur Freude aller Anweſenden, und man wußte jenem
entſchloſſenen Herrn fuͤr ſeine unerhoͤrte Kuͤhnheit vielen
Dank in Erwaͤgung der trefflichen Wirkung, die ſie ge¬
than hatte.“
Nachdem wir uns an dieſer heiteren Anecdote ergoͤtzt
hatten, brachte der Canzler das Geſpraͤch auf die neue¬
ſten Zuſtaͤnde zwiſchen der Oppoſitions- und der Mini¬
[369] ſteriellen Partey zu Paris, indem er eine kraͤftige Rede
faſt woͤrtlich recitirte, die ein aͤußerſt kuͤhner Demokrat
zu ſeiner Vertheidigung vor Gericht gegen die Miniſter
gehalten. Wir hatten Gelegenheit, das gluͤckliche Ge¬
daͤchtniß des Canzlers abermals zu bewundern. Über
jene Angelegenheit und beſonders das einſchraͤnkende
Preß-Geſetz ward zwiſchen Goethe und dem Canzler
viel hin und wieder geſprochen; es war ein reichhaltiges
Thema, wobey ſich Goethe wie immer als milder Ari¬
ſtokrat erwies, jener Freund aber wie bisher ſcheinbar
auf der Seite des Volkes feſthielt.
„Mir iſt fuͤr die Franzoſen in keiner Hinſicht bange.
ſagte Goethe; ſie ſtehen auf einer ſolchen Hoͤhe welt¬
hiſtoriſcher Anſicht, daß der Geiſt auf keine Weiſe mehr
zu unterdruͤcken iſt. Das einſchraͤnkende Geſetz wird
nur wohlthaͤtig wirken, zumal da die Einſchraͤnkungen
nichts Weſentliches betreffen, ſondern nur gegen Per¬
ſoͤnlichkeiten gehen. Eine Oppoſition, die keine Gren¬
zen hat, wird platt. Die Einſchraͤnkung aber noͤthigt
ſie geiſtreich zu ſeyn, und dieß iſt ein ſehr großer Vor¬
theil. Direct und grob ſeine Meinung herauszuſagen
mag nur entſchuldigt werden koͤnnen und gut ſeyn,
wenn man durchaus Recht hat. Eine Partey aber hat
nicht durchaus Recht, eben weil ſie Partey iſt, und
ihr ſteht daher die indirecte Weiſe wohl, worin die
Franzoſen von je große Muſter waren. Zu meinem
Diener ſage ich gradezu: Hans, zieh mir die Stiefel
I. 24[370] aus! das verſteht er. Bin ich aber mit einem Freunde
und ich wuͤnſche von ihm dieſen Dienſt, ſo kann ich
mich nicht ſo direct ausdruͤcken, ſondern ich muß auf
eine anmuthige, freundliche Wendung ſinnen, wodurch
ich ihn zu dieſem Liebesdienſt bewege. Die Noͤthigung
regt den Geiſt auf und aus dieſem Grunde, wie geſagt,
iſt mir die Einſchraͤnkung der Preßfreyheit ſogar lieb.
Die Franzoſen haben bisher immer den Ruhm gehabt,
die geiſtreichſte Nation zu ſeyn, und ſie verdienen es zu
bleiben. Wir Deutſchen fallen mit unſerer Meinung
gerne gerade heraus und haben es im Indirecten noch
nicht ſehr weit gebracht.“
„Die Pariſer Parteyen, fuhr Goethe fort, koͤnnten
noch groͤßer ſeyn als ſie ſind, wenn ſie noch liberaler
und freyer waͤren und ſich gegenſeitig noch mehr zuge¬
ſtaͤnden als ſie thun. Sie ſtehen auf einer hoͤheren
Stufe welthiſtoriſcher Anſicht als die Englaͤnder, deren
Parlament gegeneinanderwirkende gewaltige Kraͤfte ſind,
die ſich paralyſiren und wo die große Einſicht eines
Einzelnen Muͤhe hat durchzudringen, wie wir an Can¬
ning und den vielen Quaͤngeleyen ſehen, die man die¬
ſem großen Staatsmanne macht.“
Wir ſtanden auf, um zu gehen. Goethe aber war
ſo voller Leben, daß das Geſpraͤch noch eine Weile ſte¬
hend fortgeſetzt wurde. Dann entließ er uns liebevoll
und ich begleitete den Canzler nach ſeiner Wohnung.
Es war ein ſchoͤner Abend und wir ſprachen im Gehen
[371] viel uͤber Goethe. Beſonders aber wiederholten wir uns
gerne jenes Wort, daß eine Oppoſition ohne Einſchraͤn¬
kung platt werde.
Ich ging dieſen Abend nach acht Uhr zu Goethe,
den ich ſo eben aus ſeinem Garten zuruͤckgekehrt fand.
„Sehen Sie nur, was da liegt! ſagte er; ein Roman
in drey Baͤnden und zwar von wem? von Manzoni!“
Ich betrachtete die Buͤcher, die ſehr ſchoͤn eingebunden
waren und eine Inſchrift an Goethe enthielten. Man¬
zoni iſt fleißig, ſagte ich. „Ja das regt ſich“, ſagte Goethe.
Ich kenne nichts von Manzoni, ſagte ich, als ſeine Ode
auf Napoleon, die ich dieſer Tage in Ihrer Überſetzung
abermals geleſen und im hohen Grade bewundert habe.
Jede Strophe iſt ein Bild! — „Sie haben Recht,
ſagte Goethe, die Ode iſt vortrefflich. Aber finden Sie,
daß in Deutſchland einer davon redet? Es iſt ſo gut,
als ob ſie gar nicht da waͤre, und doch iſt ſie das
beſte Gedicht, was uͤber dieſen Gegenſtand gemacht
worden.“
Goethe fuhr fort, die engliſchen Zeitungen zu leſen,
in welcher Beſchaͤftigung ich ihn beim Hereintreten ge¬
funden. Ich nahm einen Band von Carlyle's Über¬
24 *[372] ſetzung deutſcher Romane in die Haͤnde und zwar den
Theil, welcher Muſaͤus und Fouqué enthielt. Der mit
unſerer Literatur ſehr vertraute Englaͤnder hatte den
uͤberſetzten Werken ſelbſt immer eine Einleitung, das
Leben und eine Critik des Dichters enthaltend, voran¬
gehen laſſen. Ich las die Einleitung zu Fouqué und
konnte zu meiner Freude die Bemerkung machen, daß
das Leben mit Geiſt und vieler Gruͤndlichkeit geſchrieben
und der critiſche Standpunct, aus welchem dieſer beliebte
Schriftſteller zu betrachten, mit großem Verſtand und
vieler ruhiger milder Einſicht in poetiſche Verdienſte be¬
zeichnet war. Bald vergleicht der geiſtreiche Englaͤnder
unſern Fouqué mit der Stimme eines Saͤngers, die
zwar keinen großen Umfang habe und nur wenige Toͤne
enthalte, aber die wenigen gut und vom ſchoͤnſten Wohl¬
klange. Dann, um ſeine Meinung ferner auszudruͤcken,
nimmt er ein Gleichniß aus kirchlichen Verhaͤltniſſen
her, indem er ſagt, daß Fouqué an der poetiſchen Kirche
zwar nicht die Stelle eines Biſchofs oder eines andern
Geiſtlichen vom erſten Range bekleide, vielmehr mit den
Functionen eines Caplans ſich begnuͤge, in dieſem mitt¬
leren Amte aber ſich ſehr wohl ausnehme.
Waͤhrend ich dieſes geleſen, hatte Goethe ſich in
ſeine hinteren Zimmer zuruͤckgezogen. Er ſendete mir
ſeinen Bedienten mit der Einladung, ein wenig nach¬
zukommen, welches ich that. „Setzen Sie ſich noch
ein wenig zu mir, ſagte er, daß wir noch einige Worte
[373] miteinander reden. Da iſt auch eine Überſetzung des
Sophocles angekommen, ſie lieſet ſich gut und ſcheint
ſehr brav zu ſeyn; ich will ſie doch einmal mit Solger
vergleichen. Nun was ſagen Sie zu Carlyle?“ Ich
erzaͤhlte ihm, was ich uͤber Fouqué geleſen. „Iſt das
nicht ſehr artig? ſagte Goethe; ja uͤberm Meere giebt
es auch geſcheidte Leute, die uns kennen und zu wuͤr¬
digen wiſſen.“
„Indeſſen, fuhr Goethe fort, fehlt es in anderen
Faͤchern uns Deutſchen auch nicht an guten Koͤpfen.
Ich habe in den Berliner Jahrbuͤchern die Recenſion
eines Hiſtorikers uͤber Schloſſer geleſen, die ſehr groß
iſt. Sie iſt Heinrich Leo unterſchrieben, von welchem
ich noch nichts gehoͤrt habe und nach welchem wir uns
doch erkundigen muͤſſen. Er ſteht hoͤher als die Fran¬
zoſen, welches in geſchichtlicher Hinſicht doch etwas hei¬
ßen will. Jene haften zu ſehr am Realen und koͤnnen
das Ideelle nicht zu Kopf bringen, dieſes aber beſitzt
der Deutſche in ganzer Freyheit. Über das indiſche
Caſten-Weſen hat er die trefflichſten Anſichten. Man
ſpricht immer viel von Ariſtokratie und Demokratie, die
Sache iſt ganz einfach dieſe: In der Jugend, wo wir
nichts beſitzen, oder doch den ruhigen Beſitz nicht zu
ſchaͤtzen wiſſen, ſind wir Demokraten. Sind wir aber
in einem langen Leben zu Eigenthum gekommen, ſo
wuͤnſchen wir dieſes nicht allein geſichert, ſondern wir
wuͤnſchen auch, daß unſere Kinder und Enkel das Er¬
[374] worbene ruhig genießen moͤgen. Deßhalb ſind wir im
Alter immer Ariſtokraten ohne Ausnahme, wenn wir
auch in der Jugend uns zu anderen Geſinnungen hin¬
neigten. Leo ſpricht uͤber dieſen Punkt mit großem
Geiſte.“
„Im aͤſthetiſchen Fach ſieht es freylich bey uns
am ſchwaͤchſten aus und wir koͤnnen lange warten, bis
wir auf einen Mann wie Carlyle ſtoßen. Es iſt aber
ſehr artig, daß wir jetzt, bey dem engen Verkehr zwi¬
ſchen Franzoſen, Englaͤndern und Deutſchen, in den Fall
kommen uns einander zu corrigiren. Das iſt der große
Nutzen, der bey einer Weltliteratur herauskommt und
der ſich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben
von Schiller geſchrieben und ihn uͤberall ſo beurtheilt,
wie ihn nicht leicht ein Deutſcher beurtheilen wird.
Dagegen ſind wir uͤber Shakſpeare und Byron im
Klaren und wiſſen deren Verdienſte vielleicht beſſer zu
ſchaͤtzen als die Englaͤnder ſelber.“
„Ich habe Ihnen zu verkuͤndigen, war heute Goethe's
erſtes Wort bey Tiſch, daß Manzoni's Roman alles
uͤberfluͤgelt, was wir in dieſer Art kennen. Ich brauche
Ihnen nichts weiter zu ſagen, als daß das Innere,
alles was aus der Seele des Dichters kommt, durchaus
[375] vollkommen iſt, und daß das [Ä]ußere, alle Zeichnung
von Localitaͤten und dergleichen, gegen die großen inne¬
ren Eigenſchaften um kein Haar zuruͤckſteht. Das will
etwas heißen.“ Ich war verwundert und erfreut, die¬
ſes zu hoͤren. „Der Eindruck beym Leſen, fuhr Goethe
fort, iſt der Art, daß man immer von der Ruͤhrung in
die Bewunderung faͤllt, und von der Bewunderung
wieder in die Ruͤhrung, ſo daß man aus einer von
dieſen beyden großen Wirkungen gar nicht herauskommt.
Ich daͤchte, hoͤher koͤnnte man es nicht treiben. In
dieſem Roman ſieht man erſt recht, was Manzoni iſt.
Hier kommt ſein vollendetes Innere zum Vorſchein,
welches er bey ſeinen dramatiſchen Sachen zu ent¬
wickeln keine Gelegenheit hatte. Ich will nun gleich
hinterher den beſten Roman von Walter Scott leſen,
etwa den Waverley, den ich noch nicht kenne, und
ich werde ſehen, wie Manzoni ſich gegen dieſen großen
engliſchen Schriftſteller ausnehmen wird. Manzoni's
innere Bildung erſcheint hier auf einer ſolchen Hoͤhe,
daß ihm ſchwerlich etwas gleich kommen kann; ſie be¬
gluͤckt uns als eine durchaus reife Frucht. Und eine
Klarheit in der Behandlung und Darſtellung des Ein¬
zelnen wie der italieniſche Himmel ſelber.“ Sind auch
Spuren von Sentimentalitaͤt in ihm? fragte ich. „Durch¬
aus nicht, antwortete Goethe. Er hat Sentiment, aber
er iſt ohne alle Sentimentalitaͤt; die Zuſtaͤnde ſind
maͤnnlich und rein empfunden. Ich will heute nichts
[376] weiter ſagen, ich bin noch im erſten Bande, bald aber
ſollen Sie mehr hoͤren.“
Als ich dieſen Abend zu Goethe ins Zimmer trat,
fand ich ihn im Leſen von Manzoni's Roman. „Ich
bin ſchon im dritten Bande, ſagte er, indem er das
Buch an die Seite legte, und komme dabey zu vielen
neuen Gedanken. Sie wiſſen, Ariſtoteles ſagt vom
Trauerſpiele, es muͤſſe Furcht erregen, wenn es gut
ſeyn ſolle. Es gilt dieſes jedoch nicht bloß von der
Tragoͤdie, ſondern auch von mancher anderen Dichtung.
Sie finden es in meinem Gott und die Bajadere,
Sie finden es in jedem guten Luſtſpiele und zwar bey
der Verwickelung, ja Sie finden es ſogar in den ſie¬
ben Maͤdchen in Uniform, indem wir doch immer
nicht wiſſen koͤnnen, wie der Spaß fuͤr die guten Din¬
ger ablaͤuft. Dieſe Furcht nun kann doppelter Art ſeyn,
ſie kann beſtehen in Angſt, oder ſie kann auch beſtehen
in Bangigkeit. Dieſe letztere Empfindung wird in uns
rege, wenn wir ein moraliſches Übel auf die handelnden
Perſonen heranruͤcken und ſich uͤber ſie verbreiten ſehen, wie
z. B. in den Wahlverwandtſchaften. Die Angſt
aber entſteht im Leſer oder Zuſchauer, wenn die han¬
delnden Perſonen von einer phyſiſchen Gefahr bedroht
[377] werden. Z. B. in den Galeerenſclaven und im
Freyſchuͤtz; ja in der Scene der Wolfsſchlucht bleibt
es nicht einmal bey der Angſt, ſondern es erfolgt eine
totale Vernichtung in Allen die es ſehen.“
„Von dieſer Angſt nun macht Manzoni Gebrauch
und zwar mit wunderbarem Gluͤck, indem er ſie in
Ruͤhrung aufloͤſet und uns durch dieſe Empfindung
zur Bewunderung fuͤhrt. Das Gefuͤhl der Angſt iſt
ſtoffartig, und wird in jedem Leſer entſtehen, die Be¬
wunderung aber entſpringt aus der Einſicht, wie vor¬
trefflich der Autor ſich in jedem Falle benahm und nur
der Kenner wird mit dieſer Empfindung begluͤckt wer¬
den. Was ſagen Sie zu dieſer Äſthetik? — Waͤre ich
juͤnger, ſo wuͤrde ich nach dieſer Theorie etwas ſchreiben,
wenn auch nicht ein Werk von ſolchem Umfange, wie
dieſes von Manzoni.“
„Ich bin nun wirklich ſehr begierig, was die Her¬
ren vom Globe zu dieſem Roman ſagen werden; ſie
ſind geſcheidt genug, um das Vortreffliche daran zu er¬
kennen; auch iſt die ganze Tendenz des Werkes ein rech¬
tes Waſſer auf die Muͤhle dieſer Liberalen, wiewohl
ſich Manzoni ſehr maͤßig gehalten hat. Doch nehmen
die Franzoſen ſelten ein Werk mit ſo reiner Neigung
auf wie wir; ſie bequemen ſich nicht gerne zu dem
Standpuncte des Autors, ſondern ſie finden, ſelbſt bey
dem Beſten, immer leicht etwas, das nicht nach ihrem
Sinne iſt und das der Autor haͤtte ſollen anders machen.“
Goethe erzaͤhlte mir ſodann einige Stellen des Ro¬
mans, um mir eine Probe zu geben, mit welchem Geiſte
er geſchrieben. „Es kommen, fuhr er ſodann fort,
Manzoni vorzuͤglich vier Dinge zu Statten, die zu
der großen Vortrefflichkeit ſeines Werkes beygetragen.
Zunaͤchſt daß er ein ausgezeichneter Hiſtoriker iſt, wodurch
denn ſeine Dichtung die große Wuͤrde und Tuͤchtigkeit
bekommen hat, die ſie uͤber alles dasjenige weit hinaus¬
hebt, was man gewoͤhnlich ſich unter Roman vorſtellt.
Zweytens iſt ihm die katholiſche Religion vortheilhaft,
aus der viele Verhaͤltniſſe poetiſcher Art hervorgehen,
die er als Proteſtant nicht gehabt haben wuͤrde. So
wie es drittens ſeinem Werke zu gute kommt, daß der
Autor in revolutionairen Reibungen viel gelitten, die,
wenn er auch perſoͤnlich nicht darin verflochten geweſen,
doch ſeine Freunde getroffen und theils zu Grunde ge¬
richtet haben. Und endlich viertens iſt es dieſem Ro¬
mane guͤnſtig, daß die Handlung in der reizenden Ge¬
gend am Comer See vorgeht, deren Eindruͤcke ſich dem
Dichter von Jugend auf eingepraͤgt haben und die er
alſo in- und auswendig kennet. Daher entſpringt nun
auch ein großes Hauptverdienſt des Werkes, naͤmlich die
Deutlichkeit und das bewundernswuͤrdige Detail in Zeich¬
nung der Localitaͤt.“
[379]
Als ich dieſen Abend gegen acht Uhr in Goethe's
Hauſe anfragte, hoͤrte ich, er ſey noch nicht vom Gar¬
ten zuruͤckgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und
fand ihn im Park auf einer Bank unter kuͤhlen Linden
ſitzen, ſeinen Enkel Wolfgang an ſeiner Seite.
Goethe ſchien ſich meiner Annaͤherung zu freuen und
winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten
kaum die erſten fluͤchtigen Reden des Zuſammentreffens
abgethan, als das Geſpraͤch ſich wieder auf Manzoni
wendete.
„Ich ſagte Ihnen doch neulich, begann Goethe,
daß unſerm Dichter in dieſem Roman der Hiſtoriker zu
gute kaͤme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß
der Hiſtoriker dem Poeten einen boͤſen Streich ſpielt,
indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des
Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Hi¬
ſtoriker daſteht. Und zwar geſchieht dieſes bey einer
Beſchreibung von Krieg, Hungersnoth und Peſtilenz,
welche Dinge ſchon an ſich widerwaͤrtiger Art ſind, und
die nun durch das umſtaͤndliche Detail einer trockenen chro¬
nikenhaften Schilderung unertraͤglich werden. Der deutſche
Überſetzer muß dieſen Fehler zu vermeiden ſuchen, er
muß die Beſchreibung des Kriegs und der Hungersnoth
um einen guten Theil, und die der Peſt um zwey
[380] Drittheil zuſammenſchmelzen, ſo daß nur ſo viel uͤbrig
bleibt, als noͤthig iſt, um die handelnden Perſonen
darin zu verflechten. Haͤtte Manzoni einen rathgebenden
Freund zur Seite gehabt, er haͤtte dieſen Fehler ſehr
leicht vermeiden koͤnnen. Aber er hatte als Hiſtoriker
zu großen Reſpect vor der Realitaͤt. Dieß macht ihm
ſchon bey ſeinen dramatiſchen Werken zu ſchaffen, wo
er ſich jedoch dadurch hilft, daß er den uͤberfluͤſſigen
geſchichtlichen Stoff als Noten beygiebt. In dieſem
Falle aber hat er ſich nicht ſo zu helfen gewußt und
ſich von dem hiſtoriſchen Vorrath nicht trennen koͤnnen.
Dieß iſt ſehr merkwuͤrdig. Doch ſobald die Perſonen
des Romans wieder auftreten, ſteht der Poet in voller
Glorie wieder da und noͤthigt uns wieder zu der ge¬
wohnten Bewunderung.“
Wir ſtanden auf und lenkten unſere Schritte dem
Hauſe zu.
„Man ſollte kaum begreifen, fuhr Goethe fort, wie
ein Dichter wie Manzoni, der eine ſo bewunderungs¬
wuͤrdige Compoſition zu machen verſteht, nur einen
Augenblick gegen die Poeſie hat fehlen koͤnnen. Doch
die Sache iſt einfach; ſie iſt dieſe.“
„Manzoni iſt ein geborener Poet, ſo wie Schil¬
ler einer war. Doch unſere Zeit iſt ſo ſchlecht, daß
dem Dichter im umgebenden menſchlichen Leben keine
brauchbare Natur mehr begegnet. Um ſich nun auf¬
zuerbauen, griff Schiller zu zwey großen Dingen: zur
[381] Philoſophie und Geſchichte; Manzoni zur Geſchichte
allein. Schillers Wallenſtein iſt ſo groß, daß in ſeiner
Art zum zweyten Mal nicht etwas Ähnliches vorhanden
iſt; aber Sie werden finden, daß eben dieſe beyden ge¬
waltigen Huͤlfen, die Geſchichte und Philoſophie, dem
Werke an verſchiedenen Theilen im Wege ſind und ſei¬
nen reinen poetiſchen Succeß hindern. So leidet Man¬
zoni durch ein Übergewicht der Geſchichte.“
Euer Excellenz, ſagte ich, ſprechen große Dinge aus
und ich bin gluͤcklich, Ihnen zuzuhoͤren. „Manzoni,
ſagte Goethe, hilft uns zu guten Gedanken.“ Er
wollte in Äußerung ſeiner Betrachtungen fortfahren,
als der Canzler an der Pforte von Goethe's Hausgarten
uns entgegentrat und ſo das Geſpraͤch unterbrochen
wurde. Er geſellte ſich, als ein Willkommener, zu uns
und wir begleiteten Goethe die kleine Treppe hinauf
durch das Buͤſtenzimmer in den laͤnglichen Saal, wo
die Rouleau's niedergelaſſen waren und auf dem Tiſch
am Fenſter zwey Lichter brannten. Wir ſetzten uns
um den Tiſch, wo dann zwiſchen Goethe und dem
Canzler Gegenſtaͤnde anderer Art verhandelt wurden.
[382]
Mit Goethe nach Berka. Bald nach acht Uhr fuh¬
ren wir ab; der Morgen war ſehr ſchoͤn. Die Straße
geht anfaͤnglich bergan, und da wir in der Natur nichts
zu betrachten fanden, ſo ſprach Goethe von literariſchen
Dingen. Ein bekannter deutſcher Dichter war dieſer
Tage durch Weimar gegangen und hatte Goethen ſein
Stammbuch gegeben. „Was darin fuͤr ſchwaches Zeug
ſteht, glauben Sie nicht, ſagte Goethe. Die Poeten
ſchreiben alle, als waͤren ſie krank und die ganze Welt
ein Lazareth. Alle ſprechen ſie von dem Leiden und
dem Jammer der Erde und von den Freuden des Jen¬
ſeit, und unzufrieden, wie ſchon alle ſind, hetzt einer
den andern in noch groͤßere Unzufriedenheit hinein. Das
iſt ein wahrer Mißbrauch der Poeſie, die uns doch
eigentlich dazu gegeben iſt, um die kleinen Zwiſte des
Lebens auszugleichen und den Menſchen mit der Welt
und ſeinem Zuſtand zufrieden zu machen. Aber die
jetzige Generation fuͤrchtet ſich vor aller echten Kraft
und nur bey der Schwaͤche iſt es ihr gemuͤthlich und
poetiſch zu Sinne.“
„Ich habe ein gutes Wort gefunden, fuhr Goethe
fort, um dieſe Herren zu aͤrgern. Ich will ihre Poeſie
die Lazareth-Poeſie nennen; dagegen die echt Tyr¬
taͤiſche diejenige, die nicht bloß Schlachtlieder ſingt,
[383] ſondern auch den Menſchen mit Muth ausruͤſtet, die
Kaͤmpfe des Lebens zu beſtehen.“
Goethe's Worte erhielten meine ganze Zuſtimmung.
Im Wagen zu unſern Fuͤßen lag ein aus Binſen
geflochtener Korb mit zwey Handgriffen, der meine
Aufmerkſamkeit erregte. „Ich habe ihn, ſagte Goethe,
aus Marienbad mitgebracht, wo man ſolche Koͤrbe in
allen Groͤßen hat, und ich bin ſo an ihn gewoͤhnt, daß
ich nicht reiſen kann, ohne ihn bey mir zu fuͤhren.
Sie ſehen, wenn er leer iſt, legt er ſich zuſammen und
nimmt wenig Raum ein; gefuͤllt dehnt er ſich nach al¬
len Seiten aus und faßt mehr, als man denken ſollte.
Er iſt weich und biegſam und dabey ſo zaͤhe und
ſtark, daß man die ſchwerſten Sachen darin fortbringen
kann.“
Er ſieht ſehr maleriſch und ſogar antik aus, ſagte ich.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, er kommt der
Antike nahe, denn er iſt nicht allein ſo vernuͤnftig und
zweckmaͤßig als moͤglich, ſondern er hat auch dabey die
einfachſte, gefaͤlligſte Form, ſo daß man alſo ſagen kann:
er ſteht auf dem hoͤchſten Punkt der Vollendung. Auf
meinen mineralogiſchen Excurſionen in den boͤhmiſchen
Gebirgen iſt er mir beſonders zu Statten gekommen.
Jetzt enthaͤlt er unſer Fruͤhſtuͤck. Haͤtte ich einen Ham¬
mer mit, ſo moͤchte es auch heute nicht an Gelegenheit
fehlen, hin und wieder ein Stuͤckchen abzuſchlagen und
ihn mit Steinen gefuͤllt zuruͤckzubringen.“
Wir waren auf die Hoͤhe gekommen und hatten die
freye Ausſicht auf die Huͤgel, hinter denen Berka liegt.
Ein wenig links ſahen wir in das Thal, das nach
Hetſchburg fuͤhrt und wo auf der andern Seite der Ilm
ein Berg vorliegt, der uns ſeine Schattenſeite zukehrte
und wegen der vorſchwebenden Duͤnſte des Ilm-Thales
meinen Augen blau erſchien. Ich blickte durch mein
Glas auf dieſelbige Stelle und das Blau verringerte
ſich auffallend. Ich machte Goethen dieſe Bemerkung.
Da ſieht man doch, ſagte ich, wie auch bey den rein
objectiven Farben das Subject eine große Rolle ſpielt.
Ein ſchwaches Auge befoͤrdert die Truͤbe, dagegen ein
geſchaͤrftes treibt ſie fort oder macht ſie wenigſtens
geringer.
„Ihre Bemerkung iſt vollkommen richtig, ſagte
Goethe; durch ein gutes Fernrohr kann man ſogar das
Blau der fernſten Gebirge verſchwinden machen. Ja!
das Subject iſt bey allen Erſcheinungen wichtiger als
man denkt. Schon Wieland wußte dieſes ſehr gut,
denn er pflegte gewoͤhnlich zu ſagen: Man koͤnnte
die Leute wohl amuͤſiren, wenn ſie nur amuͤ¬
ſabel waͤren. —“ Wir lachten uͤber den heiteren Geiſt
dieſer Worte.
Wir waren indeß das kleine Thal hinabgefahren,
wo die Straße uͤber eine hoͤlzerne mit einem Dach uͤber¬
baute Bruͤcke geht, unter welcher das nach Hetſchburg
hinabfließende Regenwaſſer ſich ein Bette gebildet hat
[385] das jetzt trocken lag. Chauſſée-Arbeiter waren beſchaͤf¬
tigt, an den Seiten der Bruͤcke einige aus roͤthlichem
Sandſteine gehauene Steine zu errichten, die Goethe's
Aufmerkſamkeit auf ſich zogen. Etwa eine Wurfsweite
uͤber die Bruͤcke hinaus, wo die Straße ſich ſachte an
den Huͤgel hinanhebt, der den Reiſenden von Berka
trennet, ließ Goethe halten. „Wir wollen hier ein
wenig ausſteigen, ſagte er, und ſehen, ob ein kleines
Fruͤhſtuͤck in freyer Luft uns ſchmecken wird. Wir
ſtiegen aus und ſahen uns um. Der Bediente breitete
eine Serviette uͤber einen viereckigen Steinhaufen, wie
ſie an den Chauſſéen zu liegen pflegen und holte aus
dem Wagen den aus Binſen geflochtenen Korb, aus
welchem er neben friſchen Semmeln, gebratene Reb¬
huͤhner und ſaure Gurken auftiſchte. Goethe ſchnitt
ein Rebhuhn durch und gab mir die eine Haͤlfte. Ich
aß, indem ich ſtand und herumging; Goethe hatte ſich
dabey auf die Ecke eines Steinhaufens geſetzt. Die
Kaͤlte der Steine, woran noch der naͤchtliche Thau
haͤngt, kann ihm unmoͤglich gut ſeyn, dachte ich und
machte meine Beſorgniß bemerklich; Goethe aber ver¬
ſicherte, daß es ihm durchaus nicht ſchade, wodurch ich
mich denn beruhigt fuͤhlte und es als ein neues Zeichen
anſah, wie kraͤftig er ſich in ſeinem Innern empfinden
muͤſſe. Der Bediente hatte indeß auch eine Flaſche
Wein aus dem Wagen geholt, wovon er uns einſchenkte
„Unſer Freund Schuͤtze, ſagte Goethe, hat nicht Un¬
I. 25[386] recht, wenn er jede Woche eine Ausflucht aufs Land
macht; wir wollen ihn uns zum Muſter nehmen und
wenn das Wetter ſich nur einigermaßen haͤlt, ſo ſoll
dieß auch unſere letzte Partie nicht geweſen ſeyn.“ Ich
freute mich dieſer Verſicherung.
Ich verlebte darauf mit Goethe, theils in Berka,
theils in Tonndorf einen hoͤchſt merkwuͤrdigen Tag.
Er war in den geiſtreichſten Mittheilungen unerſchoͤpflich;
auch uͤber den zweiten Theil des Fauſt, woran
er damals ernſtlich zu arbeiten anfing, aͤußerte er viele
Gedanken, und ich bedaure deßhalb um ſo mehr, daß
in meinem Tagebuche ſich nichts weiter notirt findet als
dieſe Einleitung.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjw0.0