[][][][][][][[I]]
Geſchichte
der
franzoͤſiſchen Revolution
bis auf die Stiftung der Republik.


Leipzig,:
Weidmann’ſche Buchhandlung.
1845.

[[II]][[III]]

Vorwort.


Sollte Einer dieſe Schrift als eine Ergänzung
meines Buches über die engliſche Revolution betrach-
ten wollen, ſo finde ich wenig dagegen einzuwenden.
Es iſt dasſelbe Thema, nur unſerer Gegenwart näher
geführt und von einer weit unmittelbarer europäiſchen
Bedeutung. Freilich habe ich meine Feder gerade an
dem Zeitpuncte der franzöſiſchen Revolution nieder-
gelegt, da der Welttheil anfängt von ihr ergriffen
zu werden, allein, wie mir doch ſcheint, an einem
Orte, welcher zur verweilenden Betrachtung einladet;
weiter gehend hätte ich kaum früher abzubrechen ge-
wußt als mit dem Ausgange des Zeitalters Napo-
leon Bonaparte’s. Das aber wäre vor der Hand ſelbſt
für das Wagniß einer kürzeren Darſtellung zu weit-
ausſehend geweſen. Zu meiner eigenen Beruhigung
[IV] wünſche ich vielmehr ſchon jetzt die Zeit herbei,
da ich dieſes Buch wie ein fremdes zu betrachten im
Stande ſein werde, um von mir ſelbſt zu erfahren,
ob meine Auffaſſung denn tief und eigenthümlich ge-
nug iſt, um es zu rechtfertigen, daß die büchervolle
Welt hier mit einem neuen Werke über dieſen ſo un-
zählige Male behandelten Gegenſtand heimgeſucht
wird.


Bonn, 5. Auguſt 1845.


F. C. Dahlmann.

[[1]]

Erſtes Buch.
Die Vorſpiele der Revolution.


Franzöſiſche Revolution. 1
[[2]][[3]]

1. Die Verhaͤltniſſe.


Es ſind nicht mehr als ſiebzig Jahre ſeit der ſechzehnte
Ludwig den Thron ſeiner Väter beſtieg, und noch leben
hie und da Menſchen, welche ſich der Zeit entſinnen, da
er jung und voll gutherziger Hoffnung war: wenn es aber
eine Kunſt gäbe die Weltgeſchichte nach Erfahrungen aus-
zumeſſen, ſo lägen viele Jahrhunderte zwiſchen ihm und
uns, zwiſchen ſeinem Märtyrerthum und wohl auch dem
unſrigen. Unſere Jugend hat ganz Recht, wenn ſie von
ihren Alten verlangt, ſie ſollen ihr dieſe ſchwierige Zeit
auslegen helfen, den Weg ihr zeigen, welchen ſie ſelber in
den Jahren der Kraft, manchmal abirrend, aber mit Ehre
gingen. Sie will zu jenen Standpuncten hinauf gefördert
ſeyn, wo die düſter verworrenen Trümmerhaufen zurück-
treten vor den ernſten Grundzügen eines Neubaues der
Geſchichte, welchen eine unbegreiflich hohe Waltung unter
Wehgeſchrei zur Welt bringt. Wer auf dieſem Pfade ſich
irgendwie entzieht, nach Art der Buhlerinnen halb zeigt und
halb verbirgt, da aufhört wo er anfangen ſollte, Ereigniſſe
1*
[4] häuft wo es ſich darum handelt die herbe Frucht der
Selbſterkenntniß zu pflücken, der mag bequem ſich im Va-
terlande betten und überall wo es hoch hergeht hochwill-
kommen ſeyn, allein ein ächter Jünger der Geſchichte, ein
Mann der Wahrheit, ein Freund Deutſchlands iſt er nicht.


Der Franzoſe verdankt ſeinem Erbkönigthum ein nicht
genug zu preiſendes Gut, ſeine Staatseinheit. Was ſie
bedeute lernte er früh genug dem Deutſchen gegenüber
ſchätzen, ſtieg gewaltig, während dieſer tief und tiefer in
Zerſtückelung verſank, und brachte dem wohlthuenden
Machtgefühle rings umher im großen Staatenkreiſe nicht
unwillig das Opfer vieler inneren Freiheit. Das unbe-
wußte Streben über die Verſchränkungen des Lehnweſens
hinaus zu dem Ziele der Staatseinheit ehrte er ſchon an
ſeinem heiligen Ludwig, und wenn er vergleichend nach-
wog, was ihm Ludwig XI. und der große Staatsmann
Ludwigs XIII. gegeben und was beide ihm dafür genom-
men hatten, er hätte es am Ende doch nicht viel anders
gemocht. Denn Frankreich war einmal in ſeinem Über-
gewichte auf dem Feſtlande durchaus an die Stelle unſres
armen Deutſchlands getreten, und das blieb unverkennbar
das Werk ſeiner einheitlichen Königsmacht. Allein ein
großes Gelingen der Menſchen und ihr Übermuth ſind,
wie es ſcheint, für immer unzertrennliche Wandnachbaren.
Der vierzehnte Ludwig verſtieg ſich übermüthig in das Ge-
biet der nicht mehr beherrſchbaren Dinge, verlangte auch
Glaubenseinheit in ſeinem Reiche und trieb die Anders-
[5] gläubigen fort. Daneben rundete er auf deutſche Unkoſten
ſein Frankreich vollends ab; weil er aber gar nicht auf-
hören wollte zu erwerben, bewaffnete er am Ende den
Welttheil wider ſich und vereitelte die Arbeit ſeiner Mini-
ſter, welche unermüdet fortfuhren neue Quellen des Wohl-
ſtandes zu eröffnen. Bei dem Allen ſtand der Herr doch
zuletzt auch in der Abendſonne ſeines Lebens ſtrahlend da,
ſchied ungebeugt von ſeinem Hofadel, welcher ihm das
Volk bedeutete und der in dankbarer Vergeltung auch nie
müde ward fern von ſeinen Landſitzen dem Winke herri-
ſcher Augenbrauen zu dienen. Nach der inneren Wunde
des Gemeinweſens hatte Niemand ein Recht zu fragen als
der majeſtätiſche Greis, der nicht danach fragte. Einmal
verrieth ſie ſich zwar in den Worten, welche der König we-
nige Tage vor ſeinem Ende zu ſeinem Urenkel, der ihm
folgen ſollte, ſegnend ſprach: „Ahme mir nicht nach in
der Luſt an Krieg und Bauten, trachte die Laſten deines
Volks zu erleichtern; es iſt mein Unglück, daß ich es nicht
konnte.“ Das will ſagen: „daß ich es nicht der Mühe
werth hielt.“ Denn niemals durfte bei dem Prunke ſeiner
Feſte, auch in den letzten trüben Jahren nicht, da der Tod
Ludwigs Haus verödete, etwas davon durchblicken, daß
damals in den Staatscaſſen das Geld für die Nothwen-
digkeiten der Verwaltung fehlte. Wo freilich der Staat
in ſeinem Fürſten enthalten iſt, da iſt der Überfluß am
Hofe die erſte Nothwendigkeit und die letzte, alles Andere
gilt für Nebenwerk. Ganz in der Stille ſtiehlt ſich indeß
[6] vielleicht ein ernſter Einzelner bei Seite, mißt die Schäden
des Gemeinweſens nach ihrem Umfange aus und ſenkt die
Sonde in ihre Tiefen. Fenelon ſchrieb zur Zeit des ſpa-
niſchen Erbfolgekrieges: „Wir leben nur durch ein Wun-
der fort; es iſt eine abgängige Maſchine, die allein aus
Gewohnheit noch fortgeht und bei dem erſten Anſtoße zer-
brechen muß. Ich fürchte unſer größeſtes Übel beſteht
darin, daß Niemand unſerm Staate auf den Grund ſieht,
ja man iſt entſchloſſen es nicht thun zu wollen, man
ſchließt gefliſſentlich die Augen, öffnet die Hand ſtets um
zu nehmen, ohne zuzuſehen, ob auch etwas da iſt, wovon
man nehmen könne. Das Wunder von heute muß für das
Wunder von geſtern einſtehn, und dieſes Wunder muß ſich
morgen wiederholen, bis es dann endlich zu ſpät ſeyn
wird. Das Volk führt kein menſchliches Leben mehr, es
iſt ein Zigeunerleben.“ Fenelons Herzensmeinung, die er
vor ſeinem ehemaligen Zögling, dem Herzog von Bour-
gogne, der damals der Krone am nächſten ſtand, keines-
wegs verſteckte, war: man müſſe, um einen Boden für die
Zukunft zu gewinnen, die Notabeln von Frankreich zu Ra-
the ziehen, gründlicher noch würden Reichsſtände helfen,
allein es ſey auch mehr Gefahr dabei. „Die Nation,“
ſchrieb er, „muß ſich ſelber retten.“


Seit dem Tode Ludwigs XIV. behauptete die aus-
wärtige Politik Frankreichs nur kurze Zeit ihren hohen
Standpunct und der Abgrund der Finanzen that ſich dro-
hender auf. Jener nicht unedle Stolz des Franzoſen auf
[7] ſeine europäiſche Bedeutung verlor plötzlich allen Halt un-
ter einem Regiment der Lüſte, und auch wer dieſe theilte
verzieh den Machthabern die dem Vaterlande angethane
Kränkung nicht. Unter dem Verſtorbenen gab es keine
Oppoſition, jetzt erhub ſich eine, zu einer Zeit da in der
Hauptſtadt die alte celtiſche Unzucht ſich mit keinem
Schleier mehr deckte, ſeit der König ſelber mit dem Bei-
ſpiele voranging, während leichtſinnig begonnene Kriege
das Capital eines Waffenruhmes ohne Gleichen vergeu-
deten. Man war überhaupt in ein Zeitalter getreten, da
eine öffentliche Meinung über die weltlichen Dinge in der
erſten Entfaltung ſtand; man meinte und unterſuchte nicht
ſowohl in jedem Volk für ſich mehr, als gemeinſchaftlich
in allen Völkern von Bildung; weit entfernte Denker be-
kämpften oder unterſtützten ſich lebendiger als je zuvor
in Fragen der unmittelbaren Gegenwart. So ziemlich
überall befand man daß die Staatsrechte, welche behan-
deln was in jedem Staate für ſich rechtmäßig iſt, nicht
mehr ausreichten; man verſtieg ſich in das weitläuftige
Gebiet des Zweckmäßigen, in welchem die Politik ihre
Heimat hat, und Frankreich beſtand ungünſtig in der
Probe politiſcher Vergleichung. Montesquieu verlieh in
ſeinem Geiſte der Geſetze an England, den Erbfeind ſeines
Vaterlandes, den Preis der beſten Verfaſſung, Rouſſeau
flüchtete ſich aus den Verderbniſſen der Zeit in die Nach-
barſchaft eines Naturzuſtandes, welcher aller höheren Bil-
dung den Krieg erklärt, und ſpendete mit freigebiger Hand
[8] den Völkern ſo das Recht wie die Pflicht ſich eine natur-
gemäße Regierung einzurichten. Solche weitausſehende
Feldzüge gegen den praktiſchen Beſtand der gern genießen-
den Welt liebte nun zwar Voltaire nicht, beſchränkte ſich
auf den kleineren Krieg, welchen er mit unvergleich-
licher Behendigkeit gegen das vaterländiſche Herkommen
in Staat und Kirche führte. Mit den Fortſchritten der
Naturwiſſenſchaften vertraut, behauptete er gar leicht das
Feld im Kampfe gegen die Altgläubigen, wo dieſe auf der
Geſchichtſchreibung des Schöpfungswerkes in den Büchern
Moſe oder auf der Sonne Joſua’s bauten. Den gefähr-
lichſten Angriffspunct auf die Kirchenverfaſſung zeigte ihm
aber die freche Verderbtheit der höhern Geiſtlichkeit ſelber
an, von welcher ein ehrlicher Pfarrer die treuherzige Ver-
ſicherung gab: „vier oder fünf von ihnen glauben wohl
noch an Gott.“ Den Glauben an Gott nun ließ Voltaire
ebenfalls beſtehen, aber zertrümmerte um ſo unbarmherziger
Alles was darüber hinausging. Daneben dichtete er, ein
hingegebener Freund der Macht, Loblieder auf jeden Mai-
treſſenminiſter, der gerade am Ruder ſtand, und zog ſeinen
Nutzen davon, ohne daß ſich ſein Urtheil gefangen gab;
denn mit derſelben geiſtreichen Feder entſchädigte er ſich
dann wieder durch einen Brief an einen Vertrauten, in
welchem er von einem unvermeidlich drohenden großen
Umſturze ſchrieb und etwa [ſeufzend] hinzuſetzte: „Wie
Schade daß ich nicht mehr Zeuge davon ſeyn kann!
Glückliche Jugend, die die tolle Wirthſchaft erleben wird!“
[9] Faßt man aber dieſe drei hervorragenden Köpfe zuſammen
und fügt noch als vierten Mann den genialen Diderot
hinzu, der noch mehr ätzende Elemente im Geiſte trug, ſo
erkennt man recht deutlich, daß der vierzehnte Ludwig bei
weitem höhere Güter als bloß induſtrielle antaſtete, da-
mals als er ſeine fleißigen Reformirten ausſtieß. Denn
er ſchnitt mit ihnen das Aſyl für eine unabwendbare Ent-
wickelung der menſchlichen Geiſteskräfte ab, welche ſich in
dieſer bedächtig prüfenden Glaubensform unſchädlich hätte
ablagern können. Der Proteſtantismus iſt ja nun einmal
begnügt, wo man ihn auch allenfalls bloß duldet, der
Katholicismus dagegen will die Alleinherrſchaft führen,
und Ludwigs Dragoner verhalfen ihm dazu. Aber herrſcht
denn am Ende eine Kirche wirklich, von welcher ſich die
erſten Köpfe der Nation mit Trotz und Geringſchätzung
abwenden? Ganz anders ſtand auch dieſe Sache im deut-
ſchen Reiche. Denn in demſelben achtzehnten Jahrhundert
trug der deutſche Reichsboden vier groß begabte Männer,
welche ihr gediegenes Weſen aufrichtig hinſtellen durften
wie es war, unbekümmert darum, wie es zu den Glau-
bensſatzungen ſtehe, welchen der weſtphäliſche Frieden
Schutz verleiht: Winckelmann, Leſſing, Goethe und Schil-
ler. Pflanzen dieſer edeln Gattung konnten allein auf
einem Boden gedeihen und ihre unſterblichen Früchte zeiti-
gen, auf welchem der Proteſtantismus ein Recht des Da-
ſeyns hat und ſich zugleich mit dem Katholicismus friedlich
eingewöhnen und ausgleichen ſoll, da dann der unwider-
[10] ſtehliche Werth ſolcher höheren Naturen den ſeichten Ver-
ketzerungstrieb nach beiden Seiten zu Boden wirft. Was
dieſe deutſchen Männer, nicht ohne heißen Kampf zwar,
aber ohne Verbitterung ihres lichten Inneren überwanden,
die Hinderniſſe, welche dumpfer Glaubenseifer einer edeln
Geiſtesbildung entgegenſetzt, an dieſen Klippen ſcheiterten
jene ſtarken Geiſter Frankreichs, und es ſchlug hier die
verwandte Richtung in den Witz des Grimmes und eine
giftige Leichtfertigkeit um, weil ſie keinen erlaubten Boden
fand. Das Werk von Montesquieu erlebte im erſten Jahre
ſeines Erſcheinens zwölf Auflagen und keine einzige von
dieſen durfte Frankreich angehören. Was geiſtreich war,
war auch umwälzend, durfte in der Heimat nicht erſchei-
nen, allein je ärger man es trieb, um ſo größer die Ge-
wißheit überall im Vaterlande geleſen zu werden. Vol-
taire und Diderot, nicht zufrieden mit der Bekämpfung des
Klerus, kündigten dem Chriſtenthum Krieg an und ſchnit-
ten ſich hiemit ſelber einen tiefſinnigeren Bildungsgang
und den beruhigten Blick auf die Entwickelung des Men-
ſchengeſchlechtes ab. Und keine Frage mehr, der Blitz, der
aus immer ſchwerer überhängendem Gewölk Frankreichs
Thron bedrohte, mußte zugleich ſeinen Kirchenſtaat treffen.
Denn die Schriften dieſer Männer drangen überall ein,
nicht bloß in die höheren und mittleren Lagen der Geſell-
ſchaft, auch die höchſten Perſonen ſchwelgten in dem Reize
dieſer verbotenen Ideen. Während König Ludwig XV.
jede Entwürdigung des Lebens erſchöpfte, ging es in einem
[11] ſtillen Flügel ſeines Schloſſes nachdenklich zu. Hier lebte
in Abgeſchiedenheit ſein Sohn, der Dauphin, mit ſeiner
ſächſiſchen Gemahlin in frommer ehelicher Eintracht. Be-
ruhigt bei dem Glauben der Väter, nicht einmal den Je-
ſuiten gram, ſtudirte man hier nicht minder eifrig ſeinen
Montesquieu und verhandelte über die unabweislichen
Forderungen einer guten Staatsverfaſſung, tadelte auch
im Kreiſe weniger Vertrauten dieſen unwürdigen Anſchluß
des verſailler Cabinets an Öſterreich, von einer ſchlauen
Maitreſſe geſtiftet, die ſich nothwendig machen wollte. In
dieſen prunkloſen Räumen fand Preußens Friedrich wäh-
rend des ſiebenjährigen Krieges ſeine begeiſterten Bewun-
derer, und wenn, wie das regelmäßig geſchah, die fran-
zöſiſchen Officiere zu Ende jedes Sommers nach Paris zu-
rückſtrömten, um die Winterfreuden der Hauptſtadt ja nicht
zu verfehlen, gar nicht mehr bei dem Heere draußen zu
halten waren, da fand es ſich, daß deren Held eben auch
dieſer Friedrich, ihr Beſieger, war, und die Hauptſtadt gab
ihnen Recht. Aber der Dauphin ſtarb früh, erſt ſechs und† 1765.
Dec. 20.

dreißigjährig. Als ſein älteſter Sohn erwuchs, der nach-
herige Ludwig XVI., ließ er ſich freilich eine Gemahlin
aus Öſterreich gefallen, allein der Gegenſatz der Geſin-
nung blieb. Auch in den Gemächern des neuen Dauphins
beſprach man die Schriften der Denker, die nicht auf kirch-
lichem Grunde bauten, oder der ſogenannten Philoſophen,
eines Voltaire, Rouſſeau, Diderot, Helvetius, und der
junge Fürſt trug eine Färbung derſelben davon, aus wel-
[12] cher er ſich in ſpäteren Tagen ein Gewiſſen machte. Ein
Kreis von jungen Leuten von gehobenerer Lebensart aus
den erſten Familien, den Noailles, den Dillons, den Se-
gurs, den Lafayettes tauſchte hier kühne Freiheitsideen
aus und es fiel den argloſen Jünglingen nicht ein, daß,
wenn dieſe ſich einmal verwirklichten, es keine Obriſten
von ſieben Jahren in ihrer Verwandtſchaft mehr geben
werde. Die veränderte Grundrichtung der Zeit ließ ſich
nicht verheimlichen, ſie brach aller Orten hervor, war Lud-
wig dem XV. ſelber ehemals in ſeiner Liebhaberei für
die Ökonomiſten nahe getreten, und dieſer ruchloſe
Greis, deſſen natürliche Gaben nie ganz erſtarben in dem
Schlamme der Lüſte, dachte ſicherlich nicht allein an ſeine
vier Milliarden Schulden und ſein großes jährliches De-
ficit bei einer Einnahme wie kein anderes Reich in der
Welt ſie beſaß, wenn er in ſeiner letzten Zeit manchmal
wiederholte: „Nun ich komme ſchon durch, ich alter
Mann, aber mein Enkel mag ſich in Acht nehmen.“


Dieſer Enkel ward am 23. Auguſt 1754 geboren,
ſeine Mutter Maria Joſepha, Tochter des Kurfürſten Frie-
drich Auguſt II. von Sachſen, der als König von Polen
der dritte Auguſt hieß. Am 10. Mai 1774 folgte er ſei-
nem Großvater auf dem Throne, kaum zwanzigjährig, nur
funfzehn Jahre älter als der Knabe, der junge Corſe, wel-
cher dereinſt ſein Nachfolger werden ſollte.


An dem wohlwollenden Charakter, der Sittenreinheit
des jungen Königs zweifeln auch ſeine Widerſacher nicht;
[13] aber von Anfang her verlautet die Klage über ſeine ver-
drießliche, ungefällige Außenſeite, die keine Spur von
königlicher Haltung trägt. Wie prächtig erſchien die welt-
gebietende Geſtalt Ludwigs XIV., wie gewinnend Lud-
wig XV., ſobald er es ſeyn wollte! Allein wie dieſer
in ſeinem wüſten Leben ſeine Töchter verabſäumte, ſo auch
ſeine männliche Nachkommenſchaft. Es war ein Reſt von
Scham, der ihn abhielt die Erben ſeines Thrones in die
unmittelbare Nähe ſeiner niedrigen Lüſte zu bringen. Die
Geſtalt des jungen Königs war nicht unedel, aber Gang
und Haltung unbehülflich; er iſt ein ſo ſchwerfälliger
Reiter, die ganze Perſon vernachläſſigt, das Haar unor-
dentlich, die Hände manchmal geſchwärzt durch ſeine Vor-
liebe für Schloſſer- und Schmiedearbeit. Auch ſein Organ
war ungebildet und im Eifer kreiſchend. Die Hofleute er-
zählten ſich, wie er manchmal ſo gar roh auffahre, was ſie
ſeine Rüſſelſchläge nannten. Im Übrigen ein leidlich un-
terrichteter Herr, großer Freund der Geographie, trefflich
geeignet eine wohlbehaltene Erbherrſchaft lange Jahre zu
führen und weiter zu vererben. Später hat man, nach
Vorbedeutungen lüſtern, Gewicht darauf gelegt, daß er am
Tage vor dem Jahrestage jener alten blutigen Bartholo-
mäusnacht geboren worden, ſeine Gemahlin aber, mit
welcher ihn die Politik verband, ſogar am Tage des Erd-
bebens von Liſſabon, am 2. November 1755.


Es war Marie Antonie von Öſterreich, die Toch-
ter Marien Thereſiens und des Kaiſers Franz, deſſen
[14] Stammland Lothringen durch das einzige politiſche Ge-
lingen zur Zeit Ludwigs XV. an Frankreich kam. Die
zärtliche Mutter erniedrigte ſich vor der Pompadour, um
ihrer Tochter die Hoheit eines Thrones und eines Blut-
gerüſtes zu bereiten. Die Ehe ward 1770 geſchloſſen.
Man übergab die junge funfzehnjährige Dauphine an der
Rheingränze zu Straßburg an Frankreich. Unſer großer
Goethe, derzeit als Jüngling zu Straßburg verweilend,
gewahrte auch hier die traurigſte Vorbedeutung; denn auf
den zum Empfange des jungen Paares feſtlich ausgeſpann-
ten Teppichen ſah man die Hochzeit Jaſons mit Medeen
abgebildet. Aber eine andere ernſthaftere Ungeſchicklichkeit
verwandelte die prächtigen Vermählungsfeſte, die nun in
Verſailles und Paris ſich drängten, in eine Trauerfeier.
Ein Feuerwerk ſoll auf dem Platze Ludwigs des Funfzehn-
ten, welcher eben erſt mit der Statue dieſes Königs geziert
iſt, abgebrannt werden; aus übel angewandter Sparſam-
keit ſind ſchlechte Anſtalten gegen das Gedränge getroffen.
Da bricht in den Gerüſten Feuer aus und über hundert
Menſchen werden erdrückt, wohl tauſend ſtarben an den
Folgen. Es war der 30. Mai 1770. Auf dieſem Platze
fiel zwei und zwanzig Jahre darauf das Haupt des Kö-
nigs und der Königin.


Der König, mit einem körperlichen Gebrechen behaftet,
welches erſt ſpäter geheilt ward, ſchien ſeine junge Ge-
mahlin zu Anfang mit Kälte zu betrachten. Einer ſeiner
Brüder, der Graf von Artois, war früh beerbt, die könig-
[15] liche Ehe ward erſt im dritten Jahre vollzogen. Marie
Antoinette, jung, reizend, lebensluſtig, ernſthafter Bildung
und Lectüre abgeneigt, konnte ſich in das ſteife Hofceremo-
niell nicht finden, beſeitigte ſo viel davon als möglich und
ſuchte die bequemere Hausweiſe, die durch den lothringi-
ſchen Fürſtenſtamm an den wiener Hof gekommen war,
einzuführen. Sie brachte zuerſt ſtatt der ſchwerfälligen
alten Pracht den raſchen Wechſel in Kleidung und Woh-
nung auf, der freilich um ſo koſtſpieliger ausfiel. Ein
Misgriff war es, daß ſie ihren Umgang und ihre Luſt-
barkeiten zu häufig von den einförmigen Liebhabereien
ihres Gemahls trennte, dem die Jagd unentbehrlich
war, an welche ſich ſorgfältig geführte Tagebücher über
ſeine Hunde und die Summe des erlegten Wildpretts
ſchloſſen. Die Königin fand an prachtvollen Kopfzeugen
von beiſpielloſer Höhe, mit gewaltigen Federn geſchmückt,
Gefallen, welche unter ihrem Vorgange den Kopf der Da-
men verrückten, indem ſie ihn in die Mitte ihrer Geſtalt
verpflanzten. Dieſe Hofcirkel waren voller Wechſel, Mun-
terkeit und Scherz, man ſang, man tanzte, recitirte Ge-
dichte, fein und unfein wie der Tag ſie brachte, maskirte
ſich, bewunderte die Königin, wenn ſie im engen Cirkel
auf dem Theater ihre Grazie zeigte: ein luftiges Eingehen
in die Schlüpfrigkeit des verderbteſten Welttones konnte
da nicht ausbleiben, wenn auch jede ernſtere Verirrung
vermieden ward. Die Künſte und die Wiſſenſchaften fan-
den hier keinen Zutritt und Frankreich empfand das. Der
[16] König übte gegen dieſes Treiben eine Art kleiner Oppo-
ſition; auf ſeine Veranlaſſung erſchien auf dem Schloß-
theater in Gegenwart der Königin der Harlekin Carlin mit
einer ungeheuren Pfauenfeder auf der Mütze und blieb
ungeſtraft; vollends mislang ſeiner Gemahlin jeder Ver-
ſuch, der franzöſiſchen Politik wieder eine öſterreichiſche
Wendung zu geben. Denn hier widerſtand der König,
ließ ſie überhaupt nicht tief in die Karten ſehen, gab ſei-
nen Miniſtern Recht, die in den alten Pfad, welchen
Bernis und Choiſeuil zum Nachtheile des Reiches verlie-
ßen, wieder einlenkten. Hatte doch ſchon die Maitreſſe des
verſtorbenen Königs, Gräfin Dubarry, ſich ein Vergnügen
daraus gemacht, der Welt zu zeigen, daß eine öſterreichi-
ſche Dauphine und eine an Öſterreich hingegebene Politik
nicht nothwendig zuſammengehörten. Das Miniſterium
des Herzogs von Choiſeuil überlebte jene Heirath, die ſein
Werk, nur kurze Zeit, und all’ ſein Bemühen, ſich jetzt
wieder nothwendig für das Auswärtige zu machen, ſchei-
terte. So oft er an den Hof kam, er mußte immer wieder
unverrichteter Sache zurück auf ſeinen Landſitz zu Chan-
teloup.


Der jüngſte Bruder des Königs, Graf von Artois,
überbot die Königin in glänzenden Luſtbarkeiten und
weihte ſich jeder Art modiſcher Ausgelaſſenheit, in Pferde-
rennen und Anzug nach engliſchem Muſter ein Original,
eben ſo originell im Aufwande weit über ſeine Einkünfte
hinaus. Dem Könige erlaubte er von Jahr zu Jahr ſeine
[17] Schulden zu decken und gab ihm kaum einen Dank dafür.
Der hat im Jahre 1781, in einer Zeit ſchon großen Dran-
ges, anderthalb Millionen Livres für ihn bezahlt, das
Jahr darauf vier Millionen, das dritte Jahr zwei Millio-
nen, und gleichwohl blieben noch vierzehn bis funfzehn
Millionen zu zahlen übrig. Auf die Vorwürfe eines Mi-
niſters erwiederte Artois: „Was kann der König mir
thun?“ Und als nun das Gewitter näher kam und Alles
auf Sparſamkeit und ein anderes Regierungsprincip
drang, ſah man bei Niemand ſonſt höhnenderen Stolz
und ein ſo trotziges Verſchmähen jeder Verbeſſerung. Den
Finanzmann Necker, auf den man doch in Geldſachen zäh-
len konnte, ſchalt er gerade ins Geſicht, ſchimpfte ihn
einen elenden Bürgerlichen, drohte ihm, erzählt man, ſo-
gar mit dem Tode. Die Misſtimmung zwiſchen ihm und
dem Könige wuchs ohne eigentlichen Bruch. Der ältere
Bruder, Monſieur, Graf von Provence, war eben wie
Artois mit einer ſardiniſchen Prinzeſſin verbunden, wel-
cher er jedoch wenig Zuneigung bewies. Monſieur zog
ſich mehr zurück vom Hofe, ohne ihn aus den Augen zu
verlieren. Ein glückliches Gedächtniß unterſtützte ſeine ge-
ſchichtlichen Studien, er galt für einen gewiegten Poli-
tiker, nicht ohne Grund, wie er das zu ſeiner Zeit als
Herrſcher über Frankreich dargethan hat. Auf den König,
ſeinen Bruder, ſchien er wenig zu geben, und als die erſten
Ausbrüche erfolgten, beargwohnte der König ihn, fürch-
tete, er möchte auf die Seite der Neuerer treten. Eine
Franzöſiſche Revolution. 2
[18] Schweſter war an den Thronerben von Sardinien verhei-
rathet, die andere, Eliſabeth, ein Kind von zehn Jahren.
In Zurückgezogenheit vom Hofe lebten die Tanten des Kö-
nigs, Töchter Ludwigs XV., welche die junge Königin
ſchon als Öſterreicherin nicht liebten und an ihren neuen
Weiſen ein Ärgerniß nahmen; man vernachläſſigte ſich
wechſelſeitig. Von der Seitenlinie der Orleans hielt man
ſich in alter Eiferſucht getrennt. Der jetzige König der
Franzoſen ſtand in ſeinem erſten Lebensjahre.


Alſo auch in ſeiner Familie fand der junge König keine
haltbare Stütze; fand er ſie bei ſeinen Miniſtern? Ludwig
dachte beſcheiden von ſeinen Kräften, ſah ſich nach einem
erſten Miniſter um und fiel zuerſt auf Machault, einen
ſtrengen und einſichtig ſparſamen Mann, deſſen früheres
Miniſterium ein Opfer des öſterreichiſchen Syſtems ge-
worden war. Allein der älteſten Tante Adelaide, die eini-
gen Einfluß über den König feſthielt, misfiel an Machault,
daß er überall, wo Staat und Kirche zuſammentrafen, un-
beugſam auf des Staates Seite ſtand; ſie brachte den
Grafen Maurepas in Vorſchlag, als einen Mann, mit
dem ſich reden ließ. Gewiß auch er gehörte nicht zu der
Zahl der Frommen, aber er war frivol, mithin kein Mann
von läſtigen Grundſätzen; zu ſeinem Lobe gereichte, daß
er ein Miniſterium, welches ihm im ſiebzehnten Lebens-
jahre zufiel, gleich zu Anfang der Maitreſſenwirthſchaft
durch die Frau von Pompadour verloren hatte. Jetzt ward
er dreiundſiebzigjährig, am Ende doch nicht älter als
[19] weiland Cardinal Fleury, zum zweiten Male Miniſter und
erſter Miniſter. Seine Neider meinten, er ſey das eine
Mal zu frühe, das andere Mal zu ſpät zur Macht gelangt;
allein Maurepas war der in dieſen Regionen Alles ver-
mögenden bequemen Formen mächtig, und als er inne
ward daß ſein Gebieter mit dem unſchuldigen Ernſte der
Jugend nach ein Paar rechtſchaffenen Männern verlangte,
welche ihm den Druck des Volks erleichtern hülfen, gab er
dieſer Schwäche nach, willigte in die Ernennung von
Turgot und Malesherbes, deren Charakter und Einſicht
in allgemeiner Achtung ſtand, wenn ſchon ſie nicht für
kirchlich gelten konnten. Auf die Frage des Königs:
„Aber iſt es wahr daß Turgot nie in die Meſſe geht?“
antwortete Maurepas: „Sire, ich weiß nur daß der
Abbé Terray jeden Tag hinein ging.“ Terray hatte
neuerdings das Finanzweſen zu Grunde gerichtet und ſich
aus dem Elende der unteren Claſſen ſchamlos bereichert;
man baute auf Turgot. Das Heerweſen lag in tiefem
Verfalle und man berief in das Kriegsminiſterium den
Grafen St. Germain, der nach einer langen Ungnade jetzt
wieder zu Ehren kam.


Wirklich ſtand es ſo, daß nach allen Seiten ſchleunig
eingeſchritten werden mußte, wenn das morſche Band,
welches hier 25 Millionen Menſchen auf 10,000 Qua-
dratmeilen zuſammenhielt, noch länger in alter Weiſe
dauern ſollte, ſo gar übel war es mit Menſchen und
Sachen rings beſtellt. Gewöhnlich aber gewinnen ver-
2*
[20] derbte Ordnungen erſt von dem Augenblicke an, da die
Hand eines ehrlichen Mannes ſich hineinmiſcht, ein recht
verlorenes Anſehn. Licht und Schatten treten bei der Un-
terſuchung greller auseinander, und es iſt mit den verfal-
lenen Staatsſachen nun einmal von Grund aus anders
bewandt, als etwa mit einem verfallenden Ritterſchloſſe,
von welchem man einen beliebigen Theil ſeinem Schickſal
überläßt, einen andern beliebigen ſich wohnlich ausbaut.
Mit dem Staate geht es wie mit dem menſchlichen Kör-
per, ein verletztes Organ zieht das andere in die Mitlei-
denheit. Man konnte die jährliche Einnahme der Krone
damals auf 400 bis 430 Millionen Livres anſchlagen.
Damit ließen ſich alle Ausgaben für die verſchiedenen
Zweige des öffentlichen Dienſtes bequem beſtreiten, und
man hätte auf einen jährlichen Überſchuß rechnen können,
wenn die Staatsſchuld nicht geweſen wäre, deren Höhe
niemand ſo eigentlich kannte, die ſich aber von Jahr zu
Jahr durch ihre Zinsforderung in Erinnerung brachte. So
lange nun Terray in den Finanzen ſchaltete, zahlte er, ſo-
bald das Geld ihm ausging, keine Zinſen, keine Leib-
renten, ſetzte den ohnehin ſehr ungleichartigen Zins will-
kürlich herab, hielt zugleich die Generalpächter an, die
Auflagen ausbündiger zu erheben und ſchärfer einzutreiben
als bisher, was dieſe gern thaten. Der ſo vermehrte Er-
trag kam aber nicht den Pächtern allein zu gute, ſie muß-
ten nach ihren Contracten, wenn der Mehrertrag eine ge-
wiſſe Gränze überſchritt, den Vortheil mit der Krone
[21] theilen. Dergeſtalt half Terray ſich rüſtig durch, ward ein
vielbeliebter Mann, und bloß das Volk litt. Jetzt aber
wollte man von Terray nichts mehr wiſſen; es ſollte dem
Volke geholfen werden, in die verwohnten Gemächer der
Willkür ſollte die Gerechtigkeit einziehen. Mit andern
Worten: Man wollte das Volk erleichtern, alſo weniger
von ihm einnehmen, man wollte zu gleicher Zeit mehr
ausgeben, weil man die Staatsgläubiger zu befriedigen
dachte. Das durch ſo edle Vorſätze zu vergrößernde De-
ficit konnte allein durch tief greifende Erſparungen gedeckt
werden. Alle Koſten ſparenden Einrichtungen führen aber
zu jeder Zeit den Haß des mächtigen Theiles der Bevölke-
rung herbei, welcher ſein Leben bisher von Misbräuchen
gefriſtet hat; ihre Entwickelung iſt langſam, koſtſpielig
ſogar, nur durch Leidensjahre, nur durch vielen Unfrieden
hindurch darf ein ſtandhafter Sinn hoffen zum Frieden zu
gelangen. Ein beſonderer Umſtand erſchwerte noch die
finanziellen Schwierigkeiten. Die Rechtspflege im Reiche
hatte bis dahin der Krone ſehr wenig gekoſtet, denn ſeit
König Franz dem Erſten waren alle königlichen Richter-
ſtellen käuflich, in der Art daß die Krone die eingezahlte
Kaufſumme den Käufern verzinſte. Von dieſen Zinſen
lebten dann die Richter und bezogen daneben nur unbedeu-
tende Beſoldungen. Die Staatsſchuld freilich war dadurch
um über 300 Millionen Livres vermehrt und ganz aus-
drücklich war zugeſagt daß im Falle der Aufhebung einer
Richterſtelle das Kaufgeld zurückgezahlt werden ſolle. Nun
[22] aber begab es ſich daß König Ludwig XV. mit den
ſämmtlichen höchſten Gerichtshöfen ſeines Reiches, funf-
zehn an der Zahl, von welchen dreizehn den Namen Par-
lament führten, in wiederholten, zuletzt unverſöhnlichen
Zwieſpalt gerieth. Alle dieſe Gerichtshöfe, und das pa-
riſer Parlament vor allen, rühmten ſich nämlich des Rech-
tes, der königlichen Geſetzgebung gegenüber ein Veto ein-
legen zu dürfen. Wirklich erlangten neue Geſetze nicht frü-
her ihre Gültigkeit, als bis ſie in die Regiſter der Parla-
mente eingetragen waren, und dieſer Eintragung weiger-
ten ſie ſich nicht ſelten, ließen dieſe keineswegs als eine
lediglich für die Publication der Geſetze erforderliche Förm-
lichkeit gelten. Wenn der Rechtsgrund ihres Anſpruches
zur Frage kam, ſo machten ſie ſich gern als Reichsſtände
im Kleinen geltend, welche von den eigentlichen Reichs-
ſtänden, deren Ausfluß ſie wären, das Recht überkommen
hätten, die von dem Könige ihnen zugeſandten Geſetze zu
beglaubigen und als Beweis der Zuſtimmung einzuzeich-
nen; als aber im Jahre 1614 die Reichsſtände wirklich
beiſammen waren, und zwar zum letzten Male, behaup-
teten die Parlamente ihr Recht an der Geſetzgebung
darum nichts deſto weniger üben zu müſſen. Nun verſtand
Ludwig XIV. vortrefflich ſolche Anforderungen zum
Schweigen zu bringen: „ſie ſollen eintragen ohne Auf-
ſchub, mögen ihre Bedenken hinterher ſchicken;“ und dem
pariſer Parlament blieb nichts übrig, als ſich an ſeinem
Teſtament zu rächen, indem es daſſelbe aufhob. Allein
[23] unter Ludwig XV. lebte der Widerſtand der Parlamente
um ſo heftiger wieder auf, je ſchimpflicher die Maßregeln
der Regierung waren, und der Franzoſe freute ſich daß es
doch noch irgendwo im Staate ein Recht des Widerſtan-
des gebe, mochte es mit ſeiner Begründung ausſehen wie
es wollte. Als ſich indeſſen im Jahre 1770 alle Par-
lamente des Reiches mit einander verbündeten und in
idealer Auffaſſung ihres Verhältniſſes als Gliedmaßen
eines und desſelben Körpers angeſehen ſeyn wollten, hob
ſie der König mit einem Schlage ſämmtlich auf. Jetzt1771.
fragte es ſich aber nicht allein um die Gehalte für die neu
errichteten höchſten Gerichtshöfe, womit eine neue Staats-
laſt geſchaffen war, ſondern zugleich um die Verzinſung
und Rückzahlung jener Kaufgelder an die entſetzten und
verwieſenen Parlamentsmitglieder. Der letzte Punct
konnte nun freilich einen Mann wie Terray wenig anfech-
ten; er that ſelbſt aus Grundſatz wenig für dieſe Leute,
als in verdienter Ungnade ſtehend. Nach ſeiner Entfer-
nung kam das allerdings in Frage, da wieder von Recht
und Unrecht die Rede ſeyn ſollte. Es konnte ſogar zwei-
felhaft ſcheinen, ob es nicht gerathen ſey die alten Parla-
mente wieder herzuſtellen, deren rauhe Stimme dem Ohr
des Franzoſen wohlthat, ihn tröſtete über den Verluſt ſei-
ner Reichsſtände. Von der anderen Seite aber war gerade
ihr mürriſcher und ſelbſtſüchtiger Widerſtand zu fürchten,
wenn vielleicht für die Wiederherſtellung der Finanzen zur
Aufhebung von Steuerfreiheiten geſchritten werden müßte.
[24] Eine Maßregel dieſer Art ging beſonders die Geiſtlichkeit
an; und da war es nun wiederum keine kleine Aufgabe
ſich zwiſchen den Stufen des Altars und den Büchern der
Philoſophen durchzuwinden, welche durchaus von keinen
ſolchen Privilegien mehr und am wenigſten zu Gunſten
des Klerus wiſſen wollten, und deren Lehren in jedermanns
Munde waren. Lag es aber nicht ohnehin in der Natur der
Sache daß man im Volk ſich nach der Wurzel der Misbräuche
erkundigte, an welche die Art gelegt werden ſollte? In ei-
ner noch hoffnungsloſen Zeit, als man neuerlich die Par-
lamente aufhob, erſchienen hunderte von Flugſchriften; in
vielen derſelben wurden Reichsſtände verlangt und die
Verfaſſer behaupteten, das Volk habe ein Recht darauf.
Eine dieſer Schriften forderte die Franzoſen auf die Steuern
zu verweigern, bis die Nation wieder im Beſitze ihrer
Rechte ſey.


Wenn von dieſer grauſamen Verkettung der Verhält-
niſſe auch nur einige wenige Kettenglieder dem Auge des
jungen Königspaares vorſchwebten, ſo begreift ſich leicht,
wie ihm in jener ernſten Stunde zu Muthe ſeyn mußte,
als ein plötzliches Gewoge im Schloſſe, das Gedonner
vieler nahenden Schritte beiden die Verkündigung gab,
nun ſey der alte König todt. Sie warfen ſich nieder auf die
Kniee und beteten laut: „Mein Gott, leite und behüte
uns! wir ſind noch zu jung zu herrſchen!“


[[25]]

2. Das Schickſal der Reformen.


Nach und nach räumten alle Miniſter der vorigen Re-
gierung ihre Plätze, der despotiſche Kanzler Maupeou,
welcher die Parlamente geſtürzt hatte, der freche Finanz-
mann Terray, die übel berüchtigten Herzoge von Aiguillon
und von Vrilliere. Von den neu eintretenden ſtanden Males-
herbes und Turgot in der erſten Linie der öffentlichen Mei-
nung, ohne Nebenmann in ganz Frankreich. Sie waren
von frühher vertraut, tauſchten verwandte Anſichten aus,
die gleichwohl durch die Verſchiedenheit ihrer Natur und
Laufbahn ſich mannigfach abweichend bedingten. Lamoignon
de Malesherbes ging ſeinem Freunde an Jahren und in
ſeiner Stellung voran. Körperlich unbeholfen und ſchwer-
fällig war er als junger Mann die Verzweiflung ſeines
Tanzmeiſters, den ſein Gewiſſen ſogar trieb ſich eines
Tages bei dem Vater ſeines Zöglings, dem damaligen
Parlamentspräſidenten Lamoignon eine förmliche Audienz
zu erbitten. „Herr Präſident, ſprach er, „ich bin es dem
Vertrauen, mit welchem Sie mich beehrt haben, ſchuldig
[26] Ihnen zu erklären, nicht allein daß Ihr Herr Sohn nie-
mals gut tanzen wird, ſondern auch daß er unfähig iſt
in der Magiſtratur oder in der Armee ſeinen Weg zu machen.
Wie ſein Gang leider beſchaffen iſt, kann er es höchſtens
in der Kirche zu etwas bringen.“ Nichts deſto weniger
ließ der Vater, als er 1750 zum Kanzler von Frankreich
ſtieg, ſeine Stelle als erſter Präſident des Oberſteuercol-
legiums auf ſeinen kaum dreißigjährigen, aber ſchon als
Parlamentsrath bewährten Sohn übergehen und vertraute
ihm zugleich die Aufſicht über das Bücherweſen. Beide
Ämter verwaltete dieſer nicht auf die gewöhnliche Weiſe.
Es ſchien ihm ſchimpflich für ſein Vaterland, daß Werke
wie der eben erſt in Genf ans Licht getretene Geiſt der Ge-
ſetze im Auslande erſcheinen mußten, um hernach durch eine
Hinterthüre hereinzuſchlüpfen, und er gab ſich alle mögliche
Mühe, um dem freien Worte über alle Theile der inneren
Verwaltung Raum zu verſchaffen, die Cenſur auf Angriffe
gegen die Religion, die Sitten und die königliche Würde
zu beſchränken. Allein ſeine Denkſchriften über dieſen Ge-
1758.genſtand, fünf an der Zahl, kamen doch am Ende nicht
über die Gemächer des damaligen Dauphins hinaus, und
die lange Liſte der Verbote franzöſiſcher Claſſiker, an deren
Spitze Fenelons Telemach ſtand, in welchem man von jeher
eine Satire auf die Regierung Ludwigs XIV. witterte,
wuchs mit jedem Werke von Voltaire, Rouſſeau, Hel-
vetius, Mably, Condillac, und dehnte ſich bis auf die
franzöſiſche Überſetzung von Hume’s engliſcher Geſchichte
[27] aus. Als in ſpäteren Jahren unter Betheiligung von1762.
Malesherbes ein Abdruck von Rouſſeau’s Emil in Paris
gewagt ward, zog dieſer dem Verfaſſer eine Verurtheilung
durch das pariſer Parlament und einen Verhaftsbefehl zu,
welchem Rouſſeau ſich durch die Flucht entzog. Als Präſi-
dent der Oberſteuerkammer ſuchte Malesherbes die bedräng-
ten Steuerpflichtigen inſoweit mindeſtens der Willkür der
Generalpächter zu entziehen, daß ſie mit Beſtimmtheit er-
führen, was ſie zu zahlen hätten, die öffentlich ausliegen-
den Steuerrollen einſehen dürften. Allein ſein Bemühen
ſcheiterte an dem Widerſtande der Geldmänner und ihres
Beſchützers Terray, und von einem Könige, der insge-
heim für eigene Rechnung Kornhandel trieb, war kein of-
fenes Ohr für die Bedrängniß der kleinen Leute zu hoffen.
Mit eben ſo wenigem Erfolg, aber nicht minder freimüthig
erhob er an der Spitze ſeines Collegiums die Stimme für
den Fortbeſtand der Parlamente und wagte an Reichs-
ſtände zu erinnern. Der Ausgang war daß die Steuer-
kammer das Schickſal der Parlamente theilte, Aufhebung,
und Verweiſung ihrer Mitglieder. Innerlich getroſt zog
ſich Malesherbes in ſein Familienleben und die menſchen-
freundliche Verwaltung ſeiner Güter zurück.


Unterdeſſen hatte Turgot in beſchränkteren Verhältniſſen
große Dinge ausgerichtet. Zu Paris geboren, Sprößling1727.
eines altadlichen Geſchlechtes aus der Normandie, hatte
er ſich für den geiſtlichen Stand beſtimmt und machte ſeine
theologiſchen Studien in der Sorbonne durch. Hierauf
[28] aber wandte er ſich der Rechtsgelehrſamkeit und zugleich
den Naturwiſſenſchaften zu und machte ſich, ſchon Parla-
mentsrath, einen gewiſſen Namen dadurch daß er am
8. Januar 1760 einen Kometen im Orion mit unbewaff-
netem Auge entdeckte. Damals nämlich hatte er das prie-
ſterliche Gewand ſeit vielen Jahren abgelegt und nach dem
Beiſpiele ſeines Vaters und Großvaters den Weg zur Ma-
giſtratur eingeſchlagen. Von ſeinen erſten Studien aber
blieb ihm die Vorliebe für die großen Alten, welche er in
den Urſprachen las und in metriſchen Überſetzungen in
ſeine Mutterſprache übertrug, ohne ſelbſt vor der Nachbil-
dung des Hexameters zu erſchrecken. Er war ſchon maître
des requêtes
als er deutſch lernte, und mit ſo gutem Er-
folge, daß durch ihn ſeine Landsleute in die Bekanntſchaft
mit Geßners Idyllen und theilweiſe auch dem Klopſtockſchen
Meſſias eingeführt werden konnten. Wie nun dieſe Rich-
tung ſeines Geiſtes, unterſtützt von einer edeln Erſchei-
nung und feinen Sitten, ihn der Frauenwelt ungemein em-
pfahl, ſo unterſchied er ſich von faſt allen ſeinen Zeitge-
noſſen durch die Zartheit, mit welcher er dieſes Verhält-
niß behandelte. Niemals auch konnte er ſich mit der Art
befreunden, wie man in Frankreich die Ehe unter den
höheren Ständen als ein Handelsgeſchäft, mit Geburt und
Reichthum marktend vollbrachte, wovon die erkältende Wir-
kung auf die Kinder des Hauſes vererbte; und er blieb un-
vermählt. Für ſeine früh begonnenen ſtaatswirthſchaftlichen
Studien nahm er den Vater der Ökonomiſten Quesnay
[29] zum Leiter, lernte durch ihn perſönlich und durch ſeine
Werke die natürliche Quelle des Reichthums und der Auf-
lagen kennen, aber vor der erdrückenden Einſeitigkeit ſeines
Syſtems bewahrte ihn eine enge Befreundung mit dem
Herrn von Gournay, der als ein Vorläufer Adam Smith’s
betrachtet werden darf. Er begleitete Gournay häufig auf
den Reiſen, welche dieſer als Intendant des Handels zu
machen hatte, und ſchrieb ſeine Lobrede, als er ſtarb. Nicht
lange aber, ſo fand ſich die Gelegenheit für Turgot ſeine
Grundſätze und Kenntniſſe in Ausübung zu bringen, er
ward zum Intendanten der Generalität Limoges ernannt:1761.
ein Steuerbezirk von anſehnlicher Ausdehnung, aber ein
armes Gebirgsland, nur zwei bedeutendere Städte Limoges
und Angouleme darin. Die Bevölkerung zahlte ihre
Hauptſteuern nach einem vor mehr als zwanzig Jahren
ſchlecht ausgearbeiteten Kataſter ohne alle fortlaufende Be-
richtigung, zu den Wegebauten wurden die armen Land-
leute zwei bis drei (fr.) Meilen weit her entboten, um mit
Niedergeſchlagenheit eine Arbeit zu verrichten, die ſie nicht
verſtanden. Schlimmer als Alles war das allgemeine
Mistrauen; man zitterte vor jeder Verwaltungsmaßregel,
wies aus unbeſtimmter Furcht ſelbſt die helfende Hand zu-
rück. War doch nicht einmal derjenige ſicher, welcher ſeine
Steuern redlich getilgt hatte! Denn der Steuerbeamte
hatte das Recht, ſobald in einem Kirchſpiele ein Reſt blieb,
die vier Höchſtbeſteuerten des Kirchſpiels gefangen zu ſetzen,
bis der Ausfall erſetzt war, einerlei ob ſie perſönlich et-
[30] was ſchuldig waren oder nicht. Der neue Intendant rief
die Pfarrer zu Hülfe, die in redlicher Armuth ihrer Seelſorge
warteten. Sie gaben ihm Auskunft, und eine gleichmäßigere
Vertheilung der Steuern, eine verbeſſerte Heberolle ſchuf
einen kleinen Anfang von Vertrauen. Hieran ſchloß ſich
der Plan, die Wegelaſt in eine Geldabgabe zu verwan-
deln und dem mindeſt fordernden Gemeindemitgliede die
Arbeit zuzuſchlagen. Auch hier ſtemmte ſich Anfangs die
Furcht, die Regierung möchte ſich der Gelder zu anderen
Zwecken bemächtigen, der beabſichtigten Verbeſſerung ent-
gegen. Dennoch bequemten ſich endlich alle Gemeinden
der Generalität zu gleichmäßigen Beiträgen, ohne Rück-
ſicht darauf, wer gerade zu bauen hatte, nur daß freilich
die Privilegirten nicht herbeigezogen werden durften. Genug
ſchon ohnehin daß die Regierung die Änderungen des In-
tendanten duldete, ohne ſie mit Geſetzes Kraft zu verſehen.
Die jährliche Wegelaſt ſchwankte zwiſchen 40,000 und
100,000 Thalern, aber jedermann fühlte ſich erleichtert
und die Straßen in dieſer ſchwierigen Gebirgsgegend wa-
ren niemals ſo gut geweſen als jetzt. Ähnlich ward es mit
den Kriegsfuhren eingerichtet. Zu einem beſonders glän-
zenden Siege über träges Herkommen durfte aber Turgot
ſich Glück wünſchen, als ihm gelang den an ſeine
Gerſte, ſeinen Buchweitzen und ſeine Kaſtanien ſo ge-
wöhnten Landmann, daß er von Weitzen nichts wiſſen
wollte, zum Kartoffelbau zu bewegen. Manche weit vor-
theilhaftere und vornehmere Intendantur hatte Turgot
[31] ſchon ausgeſchlagen und ſich zum Lohne nur die Schonung
ſeiner Einrichtungen erbeten, als ihn der junge König zu
ſich nach Verſailles entbot. Denn Ludwig entſann ſich daß
Turgot einſt gegen eine drückende Steuerforderung Ter-
ray’s unerſchrocken proteſtirt und am Ende ſeinen Ab-
ſchied gefordert hatte. Maurepas ſtellte nichts in den Weg.
Der alte Herr hatte durch die Entlaſſung von Aiguillon
und Vrilliere höchſt ungern zwei Verwandte der öffentlichen
Meinung zum Opfer gebracht; zu einigem Erſatze gelang
es ihm an Maupeou’s Stelle einen dritten Verwandten
einzuſchwärzen, indem er dem Miromenil, einem Manne
gemeinen Schlages, die Würde des Siegelbewahrers ver-
ſchaffte, allein mit den Finanzen, ſo viel ſah er ein, ließ
ſich nun einmal nicht länger ſcherzen. Inzwiſchen war der-
zeit Terray noch nicht ganz beſeitigt und Turgot mußte einſt-
weilen als Seeminiſter eintreten. Schon hatte er neues Le-1774.
Jul. 20.

ben in die Kriegshäfen gebracht, indem er den Arbeitern
achtzehnmonatliche Rückſtände auszahlte; ſchon war, denn
die Colonien gehörten ſeinem Miniſterium an, ein Plan
für die Verbeſſerung des Zuſtandes der Negerſclaven zum
Zwecke ihrer allmähligen Befreiung ausgearbeitet, als ihn
nach nur 35 Tagen die Entfernung Terray’s in die Finan-
zen rief. Dem unwürdigſten Manne folgte ein CharakterAug. 24.
von antiker Einfachheit und Stärke, redlich entſchloſſen
die ganze Kraft ſeines Willens an die Wiederherſtellung
einer ehrenhaften Staatswirthſchaft zu ſetzen. „Kein
Staatsbankerutt, weder zugeſtanden noch verdeckt, keine
[32] neue Steuern, kein Anleihen;“ das waren die Grund-
ſätze, welche er vor dem Könige mündlich bekannte und
ſchriftlich dann ihm wiederholte; Alles ſoll durch Wirth-
ſchaftlichkeit, durch eine billigere Vertheilung der Steuern,
durch Beflügelung des Gewerbes verbeſſert werden. Nur
vor allen Dingen keine Halbheit und Schwäche bei der
Ausführung! „Ihre Güte ſelber, Sire, muß Sie gegen
Ihre Güte bewaffnen,“ ſchrieb er. Man gefällt ſich dar-
in dieſen ſeltenen Mann ſo geradehin unter die Ökono-
miſten zu ſtellen, und ſeiner Theorie der Abgaben, wie
ſie ſich in ſeinen Schriften entwickelt, möchte ſchwerlich
beizutreten ſeyn, allein den praktiſchen Staatsmann ſoll
man überhaupt nicht weiter nach ſeinem Syſtem bemeſſen
als er es zur Anwendung bringt, und wir erblicken ihn
nirgend dadurch beengt. Turgot fand unvollſtändige Fi-
nanzrechnungen vor, ein directes Deficit von über 22 Mil-
lionen, 78 Millionen Steuern waren ſchon vorwegge-
nommen, und jeder Verwaltungszweig ſteckte in Schulden.
Von der andern Seite konnte gerade die Fülle von Mis-
bräuchen, welche auf der Beſteurung laſtete, für einen
Sparpfennig gelten, ſobald es nur gelang ſie abzuſtellen.
Seiner Entwürfe froh wünſchte Turgot den Malesherbes
zum Helfer, dieſen Biedermann, voll Erfahrung im
Steuerfache und ſeinen Freund. Gleichwohl gab es einen
Punct von erſter Wichtigkeit, in welchem beide Staats-
männer aus einander gingen.


Malesherbes lebte noch fern von Geſchäften froh und
[33] friedlich in ſeinem ländlichen Exil, als im Miniſterrathe des
Königs zur Frage kam, ob man die alten Parlamente wie-
derherſtellen ſolle. Turgot und die Mehrzahl der Miniſter
war dagegen; ohne die despotiſchen Maßregeln Maupeou’s
zu billigen, glaubten ſie, man dürfe Nutzen aus dem einmal
Geſchehenen ziehen. Turgot zumal ſah in der Wiederkehr
der Parlamente den Widerſtand gegen die Reformen orga-
niſirt, deren umfaſſenden Plan er im Kopfe trug; auch
die Theorie mußte ihm Recht geben wenn er behauptete,
eine ſolche Verbindung der geſetzgebenden Gewalt mit der
geſetzanwendenden, wie ſie ſich in den Parlamenten Frank-
reichs gebildet hatte, ſey gefährlich für den Staat. Soll
die geſetzgebende Gewalt des Königs beſchränkt ſeyn, ſo
muß es durch Reichsſtände geſchehen wie vor Alters. Zu
den Reichsſtänden nun bekannte ſich ſeit lange Malesherbes,
ja er hatte noch ganz kürzlich von ſeinem Landſitze her eine
Denkſchrift, die zu ihrer Berufung rieth, an den Grafen
Maurepas gerichtet: Turgot wünſchte weder das Eine
noch das Andere, wollte ſein Werk weder Parlamenten
noch Reichsſtänden vertrauen; auch hätte er die letzteren
bei dem Könige, wie das Wetterglas der Grundſätze da-
mals ſtand, nicht durchzuſetzen gewußt. Sein Plan war,
das was ihm in dem beſchränkten Kreiſe ſeiner Intendan-
tur, vielfach gekreuzt von Oben, dennoch zum Verwun-
dern in dreizehnjähriger Thätigkeit geglückt war, jetzt im
großen Maßſtabe zu vollbringen. Er dachte die Laſt der
Steuern zunächſt lediglich durch eine angemeſſenere Ver-
Franzöſiſche Revolution. 3
[34] theilung im Kreiſe der anerkannt Pflichtigen und eine wohl-
feilere Erhebung zu vermindern, und wollte beide Ge-
ſchäfte in die Hand von Grundbeſitzern legen, welche zu
dem Ende in jeder Gemeine frei gewählt werden ſollten.
Auf dieſe ſoll auch das Armenweſen übergehen und es
wird mit dieſer Schöpfung zugleich der Weg zur Wieder-
herſtellung freier Municipalitäten angebahnt. In der
That brauchte man ja nur in der Zeit eine gewiſſe Strecke
zurückzugehen und man fand in den meiſten Provinzen
ſolche Einrichtungen in Thätigkeit, welche die Willkür der
letzten Regierungen zuerſt untergraben, dann niedergetreten
hatte. Turgot wollte von Gemeinderäthen zu Kreisräthen,
von da zu Provinzialſtänden allmählig übergehen. Als
letztes Ziel ſchwebten auch ihm im Stillen Reichsſtände
vor, keine mittelalterliche Generalſtaaten freilich, die wie-
der in drei Stände unbehülflich aus einander liefen;
und der unerläßliche vierte Stand bäuerlicher Grundbeſitzer
mußte ja erſt recht eigentlich von vorneher erſchaffen wer-
den; wenn es auch nur in einigen Provinzen eigentliche
Leibeigene gab, deren Zahl man im Ganzen auf 1½ Mil-
lionen anſchlug. Auch ſeinen Lieblingsplan die Grund-
ſteuer über alle Claſſen der Grundbeſitzer auszudehnen und
der Steuerkraft entſprechend anzuordnen, ſtellte Turgot
noch zurück. An den Verſuch die zum Theil in Pacht ge-
gebenen allgemeinen Auflagen aus den Händen der Päch-
ter zu reißen, wenn auch nur ſo, daß man die bisherigen
Pächter allein auf die Erhebung beſchränkt hätte, ließ ſich
[35] vorläufig gar nicht denken. Die Generalpächter und ihre
Beamten kannten faſt allein praktiſch dieſen Zweig der Ver-
waltung, weßhalb man ſie gern zur Erhebung auch der-
jenigen Steuern heranzog, welche nicht in Pacht gegeben
waren. Ein Sturm auf dieſes Gebiet hätte alle Ariſto-
kratien verletzt. Dieſe zitterten ſchon und murmelten von
einem Attentat auf die Krone, als ſie vernahmen, der
neue Miniſter habe nicht allein die ungeheure Liſte von
Penſionen, die beſonders den Hofadel anging, dem Kö-
nige vorgelegt und darin eine jährliche Ausgabe von 28
Millionen aufgedeckt, ſondern auch ein Verzeichniß der ſo-
genannten Croupiers hinzugefügt, welche ihren Namen
von dem Gewinnantheile (croupe) führten, den ihnen die
Generalpächter auszuzahlen angewieſen waren, und wie der
König im Hamlet, mit einem weinenden und einem lachen-
den Auge auszahlten; denn wenn dadurch ihr Gewinn
ſich verkürzte, ſo wurden doch von der anderen Seite die
hohen Herren Theilnehmer mächtig dafür intereſſirt, daß die
Pachtungen in denſelben Händen ſich verlängerten und un-
ter den vortheilhafteſten Bedingungen, die denn freilich für
das Volk der Steuerpflichtigen um ſo nachtheiliger ausfielen.


Nun war der neue Miniſter des Auswärtigen, Herr
von Vergennes, ſonſt kein Liebhaber menſchenfreundlicher
Satzungen, inſofern mit Turgot einverſtanden, daß er
ſich mit Entſchiedenheit gegen die Herſtellung der Parla-
mente erklärte. Vergennes war nach Diplomaten-Art ein
Verehrer unumſchränkter Königsmacht und hatte dem über
3*
[36] die Gebühr gekränkten Königthum neuerdings in Schwe-
den weſentliche Dienſte geleiſtet, indem er den Staats-
ſtreich Guſtavs III. unterſtützte. Von den Prinzen er-
klärte ſich Monſieur ebenfalls in einem ſchriftlichen Gut-
achten gegen die Parlamente. Die übrigen Prinzen und
Pärs, namentlich die Orleans, dachten ſchon anders;
ſie erblickten in der Vernichtung des pariſer Parlaments,
in welchem ihnen Sitz und Stimme zuſtand, eine Beein-
trächtigung ihrer Rechte. Auch die Königin redete der Her-
ſtellung der alten guten Unordnung eifrig das Wort; dem
Könige aber fiel ein Stein vom Herzen, als der Siegel-
bewahrer, welcher ſelber früherhin Parlamentspräſident
in Rouen geweſen war, einen Plan der Wiederherſtellung
unter gewiſſen Cautelen einreichte, welchen Maurepas
ſeine Zuſtimmung gab. Ihre Pflicht iſt einzuzeichnen, auch
in dem Falle daß ſie widerſprechen, ein Verbrechen wäre
es wenn je ſie wieder wagten ihre Amtsthätigkeit einzu-
ſtellen, und ſchon hat man dafür Sorge getragen einen
Gerichtshof zu beſtimmen, der in ſolch unverhofftem Falle
ohne Weiteres für ſie eintreten ſoll. Die Herſtellung des
pariſer Parlaments erfolgte am 12ten November 1774 in
einem ſogenannten Throngericht (lit de justice). Dieſelbe
feierliche Handlung, welche ſo oft ſchon als letztes Mittel
den hartnäckigen Widerſtand dieſer Körperſchaft gebrochen
hatte: der König, vom Throne, dieſem höchſten Richter-
ſtuhle, herab ſeinen unumſchränkten Willen verkündigend,
beging jetzt ihre Wiedereinſetzung. Man erblickte in der
[37] Hauptſtadt mit Entzücken dieſe ſcharlachrothen, mit Her-
melin gefütterten Röcke, dieſe alterthümlichen Mörſerhau-
ben wieder, das Abzeichen der Präſidenten der großen
Kammer, und wenn der alte Geiſt des Ablehnens und Pro-
teſtirens ſich gleichfalls wieder einfand, nur um ſo erwünſch-
ter für die Pariſer. Der König und ſein Mentor hatten in-
zwiſchen kein kleines Gefallen daran, daß ihnen, ſo oft ſie
ins Theater traten, der Jubel des Publicums entgegen-
ſcholl; und Turgot hatte ſeine erſte große Erfahrung gemacht.


Dem pariſer Parlamente folgte die Wiedereröffnung
auch der übrigen Parlamente von Frankreich auf dem Fuße
nach; die Herſtellung auch der Oberſteuerkammer rief den
Malesherbes in die Hauptſtadt zurück. Alsbald widmete
er ſeine ganze Kraft einer ſchwierigen Ausarbeitung, welche
alle Misbräuche des bisherigen Steuerweſens aufdeckt,
ein Werk voll Ernſtes und Gewiſſenhaftigkeit. Wir leſen
darin die Krankheitsgeſchichte des franzöſiſchen Gemein-
weſens, und es lohnt der Mühe daß man ſie leſe.


Der Verfaſſer hebt mit der Klage an daß ſein Colle-
gium hier reden müſſe, welches ſo gern die Pflicht dieſe
traurigen Wahrheiten auszuſprechen Anderen überlaſſen
hätte. Allein die Eiferſucht der Miniſter hat ſeit länger
als einem Jahrhundert die Stände der Monarchie zum
Schweigen gebracht: es iſt der Nation unmöglich gemacht
zu ihrem Könige zu reden; nur der Magiſtratur iſt dieſe
Befugniß noch verblieben. So muß es denn geſagt ſeyn:
Es giebt kein Recht in Frankreich dem Generalpächter ge-
[38] genüber. Der Vornehme mag noch allenfalls Mittel finden
ſich dieſer willkürlichen Gewalt zu erwehren, Genug-
thuung zu erlangen, aber der gemeine Mann nimmer.
Der Oberſteuerhof (cour des aides) und die ihm unterge-
ordneten Gerichtshöfe ſollen ihrer Beſtimmung nach Rich-
ter über alle Steuern ſeyn, allein man hat die meiſten
Steuerſachen den Intendanten der Provinzen zugewendet,
und in den Sachen, die ihm noch geblieben ſind, wird
ſein Erkenntniß von dem Generalpächter an die Finanz-
verwaltung gebracht und dort caſſirt. Nimmt man dazu
die Unbeſtimmtheit der Vorſchriften über die Rechte der
Pächter, die ihren Unterbedienten freigelaſſenen Unter-
ſuchungen auf den Landſtraßen und Hausſuchungen, be-
ſonders wegen Schmuggelei, wobei ein Theil der Straf-
gelder dieſen Unterbedienten zufällt, ſo bleibt kein Zweifel:
der Pächter iſt der höchſte Geſetzgeber über die Gegenſtände
ſeines eigenen perſönlichen Intereſſes. Um ihrer ſpähen-
den Habſucht zu entgehen, ſchließt man heimliche Verträge
über manche Geſchäfte, welche der gerichtlichen Beglaubi-
gung bedürften, entgeht ſo vielleicht der Abgabe, aber
legt den Grund zu einer Menge unabſehlicher Rechtshän-
del, und die Angeberei im Lande iſt ohne Ende. Das
ſind die Mittel, durch welche mehr als 150 Millionen
jährlich in die königliche Caſſe kommen. Nicht um Wohl-
wollen fragt es ſich, ſondern um Gerechtigkeit. Sicher-
lich, dieſe ſchweren Auflagen ſind nothwendig, mit wel-
chen die Unterthanen fortfahren die Siege der Vorfahren
[39] Eurer Majeſtät zu bezahlen, aber mögen Sie es wagen,
Sire, wie Ludwig XII. im Munde Ihrer Hofleute für
geitzig zu gelten, ſo peinlich es ſeyn mag, da die Früchte
einer königlichen Freigebigkeit ſtets in der nächſten Nähe
des Thrones bleiben, die Früchte königlicher Spar-
ſamkeit dagegen ſich in eine ſchwer erkennbare Ferne
verſtreuen. Zunächſt aber iſt es Pflicht des Königs den
Schutz der Geſetze ſeinem Volk zu gewähren, welches,
ohne die gänzliche Aufhebung des Pachtweſens für jetzt zu
begehren, nur Sicherheit gegen ſeine weitere Ausdehnung
und vor der Abrufung der Beſchwerden von den Gerichts-
höfen verlangt, Übel, welche neuerdings bis zum Äußer-
ſten geſteigert ſind. Muß man übermäßige Steuern tra-
gen, ſo müſſen die Steuergeſetze ſtreng ſeyn, aber dieſes
verhindert nicht daß ſie genau ſeyen, daß die Belaſtung
der verſchiedenen Provinzen gleichmäßig ſey, daß die Zoll-
linien im Innern aufhören, durch welche jede Provinz zu
einem Staate für ſich wird, von einem ſtehenden Heere
von Zöllnern umſtellt. So weit die Forderung der Ge-
rechtigkeit. Freilich gab es eine Zeit, da die Franzoſen
ihren Königen gegenüber nicht bloß von Gerechtigkeit, da
ſie von Freiheit ſprachen. Seit aber die Waffengewalt
von den Vaſallen auf die Krone übergegangen iſt, ſteht
das anders, ſtändiſche Beſchwerden werden als gefährlich
betrachtet. Immerhin! wenn nur nicht dafür in Frank-
reich eine Regierungsform, würdig des Orients, aufge-
kommen wäre: die geheime Verwaltung. Ihr
[40] Werk iſt dieſe allgemeine Verwaltungs-Despotie, welche
ſelbſt die Thränen des Volks nicht dulden will. Man hat
auf dieſem Wege zuerſt die Generalſtaaten vernichtet, welche
ſeit nun 160 Jahren nicht verſammelt ſind, nachdem man
ſie früher ſelber berufen und faſt überflüſſig gemacht hatte;
denn man ſchrieb ohne ihre Einwilligung Steuern aus.
Nicht beſſer iſt es den meiſten Provinzen mit ihren beſonderen
Ständen ergangen, und wo man ſie gelaſſen hat, da ſetzt
man ihnen immer engere Schranken. Der Despotismus
macht täglich neue Eroberungen. Die Provinzen, welche
ihre Stände einbüßten, behielten doch als ſogenannte
Wahllande (pays d’élection) noch einen Reſt der ehemali-
gen Freiheiten übrig, indem ihnen erlaubt ward die Ver-
theilung mindeſtens ihrer Auflagen durch Mitbürger ihrer
eigenen Wahl beſorgen zu laſſen: allein nur der Name
iſt davon übrig geblieben; die Provinz erwählt jene Be-
vollmächtigten nicht mehr, ſie ſind zu bloßen Werkzeugen
der Intendanten herabgeſunken. Ebenmäßig iſt auch jeder
Gemeinde ihr natürliches Recht ihre eigenen Angelegen-
heiten zu verwalten, entzogen, der geringſte Dorfbeſchluß
iſt von der Genehmigung der Unterbeamten des Intendan-
ten abhängig. „Man hat der ganzen Nation Vormünder
gegeben.“ Vorſtellungen aus der Provinz, welche ſich
auf die Rechte derſelben oder auf die der ganzen Nation
beziehen, werden, ſobald ſie von einem Einzelnen aus-
gehen, als eine ſtrafbare Verwegenheit, wenn von Meh-
reren unterzeichnet, als eine unerlaubte Verbindung be-
[41] handelt. Nach der Vernichtung der wahren Volksvertreter
haben die Könige allerdings erklärt, die Gerichtshöfe wür-
den die Vertreter des Volks ſeyn, allein jeder Gerichtshof
iſt auf ſein Gebiet beſchränkt und auf die Gerichtspflege.
Dergeſtalt können alle möglichen Misbräuche in der Ver-
waltung begangen werden ohne daß der König etwas da-
von erfährt, weder durch die Volksvertreter, denn in den
meiſten Provinzen giebt es keine, noch durch die Gerichts-
höfe, denn in Bezug auf alle Gegenſtände der Verwaltung er-
klärt man ſie für incompetent, noch durch Einzelne, denn ſie
ſind durch Beiſpiele der Strenge belehrt, daß es ein Verbre-
chen iſt ſich an die Gerechtigkeit ſeines Souveräns zu wenden.
So ſchwer laſtet überall das Geheimniß der Verwaltung.
Einen Beleg dazu geben die Wegefrohnen, die kein Geſetz
des Königreiches genehmigt, und keine Laſt, über welche
das Volk mehr ſeufzt als dieſe. Eben ſo der Zwanzigſte,
welcher ſeit 40 Jahren beſteht, und kein Pflichtiger darf
die Heberollen einſehn. Das ward dem verſtorbenen Kö-
nige 1756 vorgeſtellt und die Miniſter mußten es einge-
ſtehen, worauf der König die Niederlegung der Heberollen
zur öffentlichen Einſicht befahl; allein gleich die folgenden
Miniſter wußten einen Widerruf dieſes Befehles zu be-
wirken. So liegt es fortwährend in der Hand der Be-
amten einen Pflichtigen, welchem ſie wohlwollen, zu be-
günſtigen, was natürlich auf Koſten Anderer geſchieht,
deren Beitrag vermehrt wird, um den Ausfall zu decken,
und den Verletzten bleibt alle Möglichkeit der Beſchwerde-
[42] führung abgeſchnitten, weil ſie die Heberolle nicht kennen.
Und wenn ſie ſie kennten, tritt ihnen nicht ſofort eine an-
dere Heimlichkeit, die der Perſonen, eben ſo hemmend
entgegen? Denn keinen Unterbeamten giebt es, der nicht
der Form nach im Namen eines Höheren verführe, wel-
cher ſeine Vollmacht unterzeichnet hat, ohne ihre Grund-
lagen zu unterſuchen. Darum wagt man im Dorfe nicht
ſich gegen den Unterbeamten zu beſchweren, denn er hat
ſeine Vollmacht vom Intendanten, in der Stadt nicht
gegen den Intendanten, denn er ſtützt ſich auf eine Cabi-
netsorder; und wenn ſelbſt eines der höchſten Collegien
ſich erkühnt Gegenvorſtellungen gegen miniſterielle Befehle,
deren Inhalt vielleicht nur ihren Commis deutlich bekannt
iſt, zu verſuchen, ſo heißt man ihn einen Verwegenen,
denn dieſe Befehle ſind vom König ſelbſt unterzeichnet.
Die Sachen ſtehen ſo als hätte die Regierung ihren Beam-
ten von jeder Abſtufung erklärt: „Dieſe Summe Geldes
bedürfen wir, nehmt ſie von wem ihr wollet, ihr ſeyd für
nichts verantwortlich, als daß ihr ſie anſchaffet.“


Drei directe Abgaben beſtehen: die Taille, die Kopf-
ſteuer und der Zwanzigſte. — Ich unterbreche aber hier
für eine Weile den Gang der Denkſchrift, um zu bemer-
ken, daß die Taille die einzige Steuer war, welche er-
höht werden konnte, ohne einer Einzeichnung von Seiten
der Parlamente zu bedürfen. Sie war, nach ihrem Haupt-
ertrage bemeſſen, eine Grundſteuer, welche in einigen
Steuerbezirken des Südens bloß das gemeine Grundeigen-
[43] thum traf, das der beiden privilegirten Stände ganz frei
ausgehen ließ. In dem übrigen Frankreich aber wurde
dieſes mit herbeigezogen, zunächſt unter der Form einer
Benutzungsſteuer, welche der Pächter zu zahlen hat; aber
auch die ſelbſtbewirthſchafteten privilegirten Grundſtücke
blieben nur dann frei, wenn nicht mehr als vier Pflüge zu
ihrer Bearbeitung verwandt wurden. Hier ward auch
das bewegliche Vermögen nebſt Capitalien und Gewerben
taillepflichtig gemacht, jedoch nicht bedeutend davon er-
griffen. Die Kopfſteuer traf in ihrer urſprünglichen Form
allein die ärmere Claſſe, bei den bürgerlichen Grundbe-
ſitzern machte man den Anſchlag nach Verhältniß ihres
Beitrages zur Taille, bei dem Adel, dem Militär, den
Beamten ward nach Rang und Titel gefragt u. ſ. w. Die
Abgabe des Zwanzigſten kam im Jahre 1749 auf; ſie war
ſonach die dritte Grundſteuer, welche der nicht privilegirte
Grundbeſitzer zu tragen hatte, ward übrigens von allen
Grundſtücken und Häuſern im Königreiche, mit alleiniger
Ausnahme der geiſtlichen, nach dem Maßſtabe ihres Wer-
thes entrichtet. Nicht lange, ſo verdoppelte man die Ab-
gabe durch einen zweiten Zwanzigſten, verwandelte ferner
durch einen nochmaligen Zuſatz dieſen Zehnten in einen
Neunten und eine Zeitlang wurden von einigen Gegenſtänden
ſogar drei Zwanzigſte erhoben. Keine dieſer drei Hauptabga-
ben war verpachtet; ihr Geſammtertrag blieb nicht gar weit
hinter der Hälfte der jährlichen Staatseinnahmen zurück.


Die Denkſchrift bemerkt über ſie: Die Taille gilt für
[44] unveränderlich, allein in Wahrheit wird ſie jedes Jahr
erhöht, durch Hinzufügung von verſchiedenen Abgaben, die
nicht dazu gehören. Die Grundſätze ihrer Vertheilung
über die Provinzen und demnächſt über die einzelnen Ge-
meinden und vollends die Individuen ſind für die Einzel-
nen ein völliges Geheimniß, in welches einzudringen ſo-
gar der Oberſteuerhof vergeblich verſucht hat. Nur durch
freigewählte Provinzialverſammlungen ließe ſich hier Beſ-
ſerung ſchaffen. Wie es mit der Kopfſteuer ſtehe, mag
das Eine beweiſen, daß Intendanten ſich oftmals gerühmt
haben, ſie hätten die Einwohner ihrer Generalität be-
droht, ſie auf den doppelten Satz zu bringen, falls ſie ſich
gegen gewiſſe Anordnungen der Regierung ſperrten. Die
ganze Abgabe müßte beſeitigt werden. Der Zwanzigſte
aber hat von jeher die meiſten Gegenvorſtellungen erweckt,
weil er am allerwillkürlichſten angelegt iſt, und auf dieſer
fehlerhaften Grundlage immerfort erhoben und erhöht
wird. Hier müßte ein Kataſter in die Mitte treten.


Die Summe von Allem iſt: Es kommt nicht auf die
Abſchaffung einzelner Misbräuche an, ſondern auf die
Umſchaffung der Verwaltung und daß dieſer Schöpfung
die Dauer geſichert ſey über des Königs Regierung hin-
aus. Das Vertrauen auf die gegenwärtige Verwaltung
(Turgot) darf unſern Mund nicht ſchließen. Iſt es denn
wahr, was man zu wiederholen liebt, daß König und Mi-
niſter ſtets daſſelbe Intereſſe haben? Wo es ſich vom Ruhme
der Waffen, von der Geltung der königlichen Macht nach
[45] Außen und Innen handelt, da gewiß. Allein in vielen
Fällen wird das königliche Anſehn nur zum Vorwand ge-
nommen, unter welchem die Herrſchaft des Miniſters das
kleinſte Detail ſich vorbehält, um überall Freunde fördern,
Feinde verfolgen, ſich an der eigenen Machtvollkommen-
heit weiden zu können. Darum ſeine Neigung für die
Heimlichkeit der Verwaltung, ganz im Widerſpruch mit
dem königlichen Intereſſe. Denn des Königs Intereſſe iſt
hell zu ſehen über ſeine Miniſter, das der Miniſter aber
nicht ſelten das Licht zu meiden. Das Volk hat ſtets das-
ſelbe Intereſſe mit ſeinem Könige, allein die Großen und
Alles was Zutritt zum Könige hat, theilt das Intereſſe
ſeiner Miniſter, woraus folgt daß dieſer Bund faſt im-
mer den Sieg über das vereinigte Intereſſe des Königs
und des Volks davonträgt. Es kommt alſo darauf an
daß König und Nation ſich einander nähern, daß ſie dieſe
doppelten Schranken durchbrechen lernen. Wie aber könnte
das geſchehen? Das einfachſte und der Verfaſſung dieſer
Monarchie gemäßeſte Mittel wäre die verſammelte Nation
ſelbſt zu hören oder mindeſtens Verſammlungen in jeder
Provinz zu geſtatten. „Es darf Ihnen nicht verhehlt wer-
den, Sire, daß der einmüthige Wunſch der Nation auf Ge-
neralſtaaten oder mindeſtens Provinzialſtände gerichtet iſt.“
Und doch hat ſich ſeit länger als einem Jahrhundert die
Eiferſucht der Miniſter und vielleicht auch die der Hofleute
den Nationalverſammlungen (assemblées nationales) wi-
derſetzt, „und wenn Frankreich ſo glücklich ſeyn ſollte daß
[46] Ew. Majeſtät ſich dazu eines Tages entſchlöſſe, ſehen
wir vorher, daß man unendliche Formſchwierigkeiten er-
ſchaffen wird, die ſich doch gar leicht heben laſſen, ſobald
Ew. Majeſtät es wollen wird; denn ſie ſind nicht von der
Art ein wirkliches Hinderniß dem entgegenzuſetzen, was
durch die glühenden Wünſche eines Volks, welches Sie
lieben, von Ihnen geheiſcht wird.“ — „Wir wiſſen recht
gut, daß unſere Vorſchläge eine Neuerung ſind, allein es
giebt nützliche und oftmals nothwendige Neuerungen.
Hätte man beharrlich alle Neuerungen verworfen, ſo leb-
ten wir noch unter der Herrſchaft der Tyrannei, der Un-
wiſſenheit und Barbarei.“


So weit Malesherbes und ſein Oberſteuerhof. Turgot
war einverſtanden, nur daß er die Freude ſeines Freundes
über die Herſtellung der Parlamente nicht theilte, nur
daß er die Reichsſtände mehr in den Hintergrund geſtellt
wünſchte. Malesherbes meinte daß die Reichsſtände aus
Grundbeſitzern, ohne Rückſicht auf den Adel, aus Bür-
gerlichen, nicht aus Prieſtern erwachſen müßten, aber in
ſeiner Denkſchrift iſt darüber nichts enthalten. Dieſe ward
am 5. Mai 1775 eingegeben und erweckte dem Grafen
Maurepas und ſeinem Vertrauten dem Siegelbewahrer nicht
geringe Sorge. Auf den Rath Beider erwiederte der Kö-
nig, welchen gerade in denſelben Tagen Aufläufe wegen
einer Getraidetheurung beunruhigten, in ausweichender
Faſſung, man dürfe nicht zu Vielerlei auf einmal ändern,
und es floß ſogar der Zweifel ein, ob denn wirklich Mis-
[47] bräuche ſtattfänden. Auf dieſen Beſcheid nahm Males-
herbes ſeinen Abſchied und zog ſich wieder in ſein geliebtes
Landleben zurück. Hier fand ihn nach nur wenig Mo-
naten die dringende Bitte ſeines Freundes Turgot, zurück-
zukehren und das Miniſterium des königlichen Hauſes,
aus welchem Vrilliere wie aus einer Feſtung mit Noth
und Mühe endlich vertrieben war, zu übernehmen. Für
Malesherbes, den kein Gelüſte nach Gewalt beherrſchte,
hatte die Ausſicht wenig Reiz für Hoffnungen zu arbeiten,
die ſich ſchon entblättert hatten. Es war ziemlich klar,
der König wünſchte wackere Männer in ſeiner Nähe, allein
ihre Entwürfe durften ihn nicht gerade beläſtigen. Schon
begann der Dunſtkreis, welcher die Throne umhüllt, ſeine
Wirkung zu üben, die unumgänglichſten Verbeſſerungen
ſchienen nicht ganz ſo dringend mehr. Gleichwohl gab
Ludwig Turgots Bitten um Malesherbes willig nach, und
Maurepas, beunruhigt durch die Einmiſchung der Köni-
gin, die durchaus dieſes Mal das Vergnügen haben
wollte einen Miniſter zu ſchaffen, und irgend einen unbe-
deutenden Menſchen protegirte, verzichtete ſchnell auf jeg-
liche Einwendung. Erſt auf die dritte Einladung nahm
Malesherbes ſeine Weigerung zurück, behielt ſich lediglich
volle Freiheit zurückzutreten vor. In ſeine neue Lauf-Jul.
bahn begleiteten ihn zwei Lieblingsplane; ſie mindeſtens
ſchienen nicht überſpannt zu ſeyn. Zu dem Miniſterium
des königlichen Hauſes, welches man jetzt Miniſterium
des Innern nennt, gehörten auch die Kirchenſachen; Ma-
[48] lesherbes ſchmeichelte ſich mit der Hoffnung, der bedrängten
Lage der franzöſiſchen Reformirten ein Ende machen, einer
halben Million Franzoſen endlich die Freiheit wieder ver-
ſchaffen zu können Gott auf ihre Weiſe zu verehren, ihnen
ſo vielfache Leiden zu vergüten. Dieſe Sache der Menſch-
heit mußte das gütige Herz des Monarchen gewinnen, nur
ſchien es nicht gerade rathſam mit ihr anzufangen; erſt
vor wenig Wochen war ja der König gekrönt und er hatte
es doch über ſein Herz nicht zu bringen vermocht, daß aus
ſeinem Krönungseide die Worte geſtrichen würden, welche
ihn zur Ausrottung der Ketzer verpflichteten. Allein ein
Anderes griff der neue Miniſter raſch an, das Unweſen
der Haftbriefe, welches er ſchon in jener Denkſchrift mit
ſittlicher Entrüſtung gerügt hatte. Sein Vorgänger war
über ein halbes Jahrhundert im Amte geweſen und man
konnte auf jedes Jahr wohl tauſend lettres de cachet rech-
nen. Da war kein hoher Beamter, kein Biſchof, der
nicht einen Vorrath davon empfing, aber auch niedere Be-
hörden, namentlich die unteren Steuerbeamten, die Com-
mis der Generalpächter wurden reichlich damit ausgeſtattet.
Malesherbes nahm die großen Staatsgefängniſſe perſön-
lich in Augenſchein, und mancher unſchuldig Verhaftete
verdankte ihm ſeine Freiheit; ſchwieriger war es eine für
die Dauer ſicherſtellende Maßregel auszufinden, vornämlich
jenem tief eingewurzelten Misbrauche gegenüber, welcher
die Ertheilung von Verhaftsbriefen an Hausväter höheren
Standes geſtattete, die dann gegen Mitglieder ihrer
[49] Familie beliebigen Gebrauch davon machten, wenn es, wie
man das nannte, galt, die Ehre des Hauſes zu retten.
Malesherbes erbat ſich bei dem Könige — ſeltenes Bei-
ſpiel von einem Miniſter! — eine Verminderung ſeiner
Macht. Keine Verhaftung ſolcher Art, daß ſie weder
Unterſuchung noch Strafe zur Folge hat, ſoll künftig ſtatt-
finden können, ohne daß beide Theile vorher von einer zu
dem Ende niederzuſetzenden Behörde vernommen ſind.
Dieſe ſoll verpflichtet ſeyn auch in anderen Verhaftungs-
fällen ohne Aufſchub ein erſtes Verhör anzuſtellen. Der
König hielt „in dem Jahrhundert, in welchem wir leben“
einen mäßigen Gebrauch der Verhaftsbriefe für eine der
Krone unentbehrliche Sicherheitsmaßregel; jene Behörde
billigte er, ohne ſie einzuſetzen.


Da zogen denn nun zwei Männer mit einander an dem-
ſelben Joche, beide ſo einſichtig, erfahren, treu, uneigen-
nützig, ſo frei von gegenſeitiger Eiferſucht wie der begehr-
lichſte Wunſch es nur verlangen kann; und allen ihren
edeln Vorſätzen wird die Spitze abgebrochen, aus dem
einfachen Grunde weil das wahr iſt was Malesherbes ein-
mal gegen den König ausſprach: „Die Urſache alles Un-
glückes iſt, Sire, daß Ihre Nation keine Verfaſſung hat.“
Die treibende Kraft im Staate geht durch eine Natur der
Dinge, die ſich nicht ſpotten läßt, nun einmal vom Volke
aus, ungefährlich, wenn charakteriſtiſche Formen für ſeine
Thätigkeit gefunden ſind. In Frankreich, wo dieſe For-
men theils freventlich zerbrochen, theils abgeſchliſſen
Franzöſiſche Revolution. 4
[50] waren, mußten da die Noth drängte wider die Natur der
Dinge die Miniſter die Treiber ſeyn; denn das Volk durfte
nicht und war allenfalls gedurft hätte, der gefiel ſich in
den Misbräuchen; der König aber war bloß wohlwollend,
und der alte ſelbſtſüchtige Mann, welchen er ſeinen wei-
ſen Maurepas zu nennen pflegte, war ein ſeichter Witz-
ling ohne Gewiſſen und Grundſatz. Turgots ſtarkes Ge-
müth ließ ſich inzwiſchen durch keine ungünſtige Vorbedeu-
tung irren. Ein Diener der Wahrheit ging er ſeinen ſteti-
gen Weg, ohne ſich durch die Ungewißheit, wie lange
ſeine Macht dauern werde, zu Übereilungen hinreißen zu
laſſen. Er unterſuchte und beſchränkte die Ausgabeetats
ſämmtlicher Miniſterien, mit Ausnahme der auswärtigen
Angelegenheiten, verminderte in Einverſtändniß mit Ma-
lesherbes die Ausgaben des königlichen Hofhalts, nach
einem Plane, der, ohne gleich zu ſcharf einzuſchneiden,
allmählig beſchränken und binnen neun Jahren in gänz-
liche Vollziehung treten ſollte, kündigte hochverzinste
Staatsſchulden auf und traf Anſtalt an ihre Stelle wohl-
feilere Anleihen, zu vier vom Hundert, zu ſetzen, zu wel-
chen Holland dem zuverläſſigen Verwalter Hoffnung gab.
Wenn nun für die Zukunft die Penſionsliſte, wie ſich be-
rechnen ließ, durch Todesfälle jährlich um eine halbe Mil-
lion entlaſtet ward, wenn die von der Krone ſelbſt erhobe-
nen Steuern durch Verminderung der Hebungsbeamten
minder koſtſpielig eingingen, ſo vermehrten ſich eben da-
durch die Einnahmen ohne einen Zuwachs des Druckes,
[51] und man hatte angefangen ſich einer verderblichen Groß-
muth zu entäußern. Künftig auch ſollte, das war ſchon laut
ausgeſprochen, von keinen Anweiſungen auf Antheile an
dem Gewinne der Generalpächter, von fünf oder gar von
zwanzig Procenten, zum Vortheil gewiſſer Günſtlinge,
mehr die Rede ſeyn, wenn man gleich die einmal erwor-
benen Anſprüche dieſer Art beſtehen ließ. Da nun auch
der Finanzminiſter alle herkömmlichen Geſchenke von Sei-
ten der Generalpächter zurückwies, mochten dieſe nun ein
für allemal mit 400,000 Livres oder jährlich mit deren
50,000 entrichtet werden, ſo konnten in Zukunft die Pacht-
contracte vortheilhafter für die Finanzen und im Geiſte der
Milde gegen die Unterthanen abgeſchloſſen werden. Tur-
gots allgemeiner Plan war, durch zu errichtende Provin-
zialſtände das ganze Steuerweſen allmählig in dem Sinne
umzugeſtalten, daß zwar, inſoweit die alten Steuern bei-
behalten würden, alle bisherigen Exemptionen fortbeſtän-
den, bei neu anzulegenden Steuern dagegen wegfielen.
Nun aber ſollten alle Steuern, welche den gemeinen
Mann hart belaſteten, als namentlich die Salzſteuer,
demnächſt aufhören und durch neue, mithin allgemeine er-
ſetzt werden. So wenig indeß war ihm die Vermehrung
der königlichen Einkünfte die Hauptſache, daß er ſich der
Einführung eines Lotto beharrlich widerſetzte. Um ſo mehr
verſprach er ſich von einer ſchärferen Controle, und vor
allen Dingen von einem beſchleunigten Rechnungsweſen.
Bei dem Regierungsantritte des jetzigen Königes gab es
4*
[52] Caſſen, deren Rechnungen um fünf Jahre zurückſtanden,
manche ſogar um zwölf und dreizehn Jahre. Von nun an
ſoll im Laufe jedes Jahres der Finanzetat des vorhergehenden
Wirthſchaftsjahres zum vollſtändigen Abſchluſſe kommen.


Im Übrigen ward dem Landmanne gleich jetzt eine
große Erleichterung durch die Aufhebung der Kriegsfuhren
gegen eine mäßige Abfindung zu Theil. Eben ſo ſollen die
Wegebauten überall im Reiche zu Gelde angeſchlagen wer-
den und nach den Vorſchriften der natürlichen Billigkeit
von dem gedrückten beſitzloſen Landvolk ohne Weiteres auf
die Grundbeſitzer übergehen, mit alleiniger Ausnahme
des geiſtlichen Grundbeſitzes, der freilich beinahe ein
Sechstel des ganzen Reichsbodens betrug, aber aus all-
gemeinen Gründen verſchont ward. Turgot dachte die
Zeit walten zu laſſen, zunächſt durch Beſeitigung des
Zunftzwanges die tiefe Kluft zwiſchen Städter und Land-
mann auszufüllen, und vor allen Dingen dem letzteren
die leidigen Frohnen abzunehmen. Der König wird hierin
auf ſeinen Domänen mit gutem Beiſpiele voran gehen, die
Frohnen ablösbar ſtellen und außerdem jeden Vaſallen,
der auf ſeine Lehnsrechte zum Beſten ſeiner Eingeſeſſenen
verzichtet, dadurch entſchädigen daß er ihn ſeiner Pflich-
ten gegen den Oberlehnsherrn enthebt.


Turgot hatte freilich ſchon bei einer früheren Veran-
laſſung erfahren, in welcher traurigen Vereinſamung ein
Staatsmann daſteht, der zu großen Umgeſtaltungen be-
rufen, keine öffentlichen Organe zur Stütze findet. Er iſt,
[53] wenn nicht zur Schwäche, ſo zur Despotie verurtheilt.
Vielleicht in keinem Betracht war Frankreich ſo ſehr einem
beſchränkten Herkommen unterthan geworden als in Bezug
auf den Vertrieb des Getraides. Man glaubte ſeit Col-
bert Miniſter war, dieſem wichtigſten Nahrungsmittel die
angeſtrengteſte Sorge der Polizei widmen zu müſſen.
Nicht nur daß jede Provinz ihre eigene Zolllinie beſaß,
die ſich höher und höher gegen die Ausfuhr hob, ſobald
der Preis Miene machte ſich zu ſteigern, man privilegirte
gewöhnlich in jeder irgend bedeutenden Stadt eine Anzahl
Perſonen für dieſen Handel, wies ihrer Geſellſchaft zu-
gleich einen abgegränzten Landbezirk an, binnen welches
Bezirkes ſie allein aufkaufen und durch ebenfalls privile-
girte Auf- und Ablader ihr Getraide in privilegirte ſtädti-
ſche Mühlen bringen laſſen durfte. Wenn nun das für
eine ſolche Geſellſchaft im gewöhnlichen Laufe der Dinge
einen unverhältnißmäßig großen Gewinn brachte, ſo war
ſie dagegen, ſobald eine Beſorgniß großer Theurung ein-
trat, aller Willkür von Oben preisgegeben. Man viſitirte,
man ſchrieb Preiſe vor und ſtrafte als Wucherpreis was
über den Maßſtab hinausging, welchen eine kurzſichtige
Behörde ſich gebildet hatte. Daneben öffnete man dann
zugleich die theils königlichen theils ſtädtiſchen Maga-
zine, welche mit unmäßigen Koſten beſtändig gefüllt wur-
den und deren meiſt ſchlecht beſtellter Inhalt doch der wirk-
lichen Noth ſo wenig gewachſen war. Um ſo augenſchein-
licher ward der Muth der Kornhändler, dieſer natürlichen
[54] Magaziniers, durch den Mithandel der Regierung gelähmt,
und ſelbſt Ludwig XV. gab der Schule der Ökonomiſten,
welche eine unbedingte Freiheit des Getraidehandels ver-
langte, hin und wieder in ſo weit nach, daß er die läſtig-
ſten Beſchränkungen aufhob. Allein jede ungünſtige Erndte
führte auch zu den altherkömmlichen Misverſtändniſſen zu-
rück. Als im Jahre 1770 dergleichen wieder im Werke
war, erhob ſich Turgot als Intendant kräftig dagegen;
aber jenem gewiſſenloſen Terray und einem Könige gegen-
über, welcher ſelbſt ganz gern auf den Hunger ſeiner Un-
terthanen ſpeculirte, ſcheiterten ſieben gründliche und be-
redte Vorſtellungen. Jetzt da Turgot am Ruder ſaß, ging
er keineswegs ſo weit als ſein Syſtem, trug im Miniſter-
rathe nicht auf freie Ausfuhr ins Ausland an, ihm ge-
nügte die hergeſtellte Freiheit des inneren Verkehrs und
daß die Magazine auf Staatsrechnung aufhörten. Zum
Unglück aber fiel gerade die nächſte Erndte ungünſtig aus
und die Kornpreiſe fingen an zu ſteigen. Mehrerer Orten
erhuben ſich Unruhen, und als ein Schwarm Bauern nach
Verſailles und an das Schloß kam, war der König ſchwach
genug ihnen vom Balcon herab wohlfeileres Brod zu ver-
1775.
Mai 2.
ſprechen. Nichts deſto weniger zog die Bande weiter in die
Hauptſtadt, Bäckerläden wurden in Paris erſtürmt, Ge-
traideſchiffe auf der Seine geplündert. Auffallend war es
dabei daß die Thäter ganz wohlgemuth einherzogen, Brod
und Getraide nicht raubten, ſondern in den Koth und ins
Waſſer warfen, dagegen Gerſtenbrod mit Kleie und Aſche
[55] vermiſcht unter die Leute brachten. Zu gleicher Zeit gingen
Adreſſen ohne Unterſchrift an den König ein, und eine da-
von, welche die Zurückberufung Terray’s erbat, kam ſogar
durch die Königin an den König. Dieſer aber ließ ſich durch
Turgot überzeugen daß ein Verſprechen wohlfeilen Brodes
mehr enthalte als was ein König erfüllen könne, und als
hierauf die bewaffnete Macht freie Hand bekam, kehrte die
öffentliche Ruhe bald zurück. Nur zwei Hinrichtungen er-
folgten. Da man aber bei den Verhafteten reichliches Sil-
bergeld und zum Theil bedeutende Summen in Goldſtücken
fand, ſo gewann die Meinung Beſtand, der ganze hauptſtäd-
tiſche Tumult ſey künſtlich angeſtellt, um Turgot zu verder-
ben. Turgot ſelbſt hatte außer einigen Parlamentsmitglie-
dern den Prinzen von Conti, das Haupt der vierten Linie
des Königshauſes, im Verdacht der Anſtiftung, und aller-
dings kannte man dieſen Herrn ſo, daß er, verliebt in
jeden Skandal, am liebſten doch dem Könige und ſeinen
Miniſtern wehe that.


Die unfreundliche Geſinnung des pariſer Parlaments
that ſich ſchon während des Tumultes kund; es wollte die
ganze Unterſuchung gegen die Meuter an ſich ziehen und
bewies zugleich einige Sympathie mit ihnen, indem es
um niedrigere Kornpreiſe bat. Ein lit de justice mußte
ſeine Einmiſchung zurückweiſen. Um ſo gewiſſer ſah der
Miniſter voraus daß ſeine Veränderungen in den Froh-
nen, dem Zunftweſen, der Grundſteuer, wie ſie ſich nun
in ſieben gleichzeitigen Edicten kundgaben, den lebhafteſten
[56] Widerſtand erfahren würden; er bereitete den König auf
die Nothwendigkeit eines abermaligen lit de justice vor.
Ludwig gab ſeine Einwilligung, und als das Parlament
eine Gegenvorſtellung nach der anderen machte, ſogar eine
Schrift verbrennen ließ, welche der Ablöſung der Frohnen
das Wort redete, erzwang der Spruch vom Throne die
1776.
März 12.
Einzeichnung der Edicte. Das war aber auch die letzte
Kraftanſtrengung des Königs; nur zwei Monate ver-
gingen und Turgot war nicht mehr im Amte. Denn als
nun die Königin, verdrießlich über dieſe langweilige Spar-
ſamkeit, in den Chorus der ſchwelgeriſchen Hofleute ein-
ſtimmte; als der Klerus, zwar noch unverletzt, aber klug
vorausſehend, welch ein Sturm ſeine 130 Millionen Livres
jährlicher Einkünfte bedrohe, alle Minen ſpringen ließ
gegen den Mann, der an Gott glaubte und nicht in die
Meſſe ging; als ſogar in Leichenreden ſich Verwünſchungen
gegen die Ökonomie und ihr Syſtem einmiſchten und man
mit heller Stimme öffentlich fang:


Der König iſt bereits belehrt

Daß er ſelbſt zu den Misbräuchen gehört;

als endlich alle Miniſter, außer den beiden Verbündeten,
die Neuerungen mit kalten Blicken maßen, da war es kin-
derleicht für den Grafen Maurepas die letzte Arbeit zu thun.
Denn dieſem ſchwoll längſt die Bruſt vor Unwillen gegen
den Verwegenen, der ihn behandelte als ob er gar nicht
da wäre, der, wenn Alles aufs Beſte ging, ihn entbehr-
lich machen mußte. Und ſchwindelte nicht ohnedieß dem
[57] Könige ſchon der Kopf, ſo oft ihm Turgot eine neue Denk-
ſchrift mitbrachte? So war es denn doch wirklich nicht ge-
meint geweſen. Auch Ludwig arbeitete wohl zu Zeiten mit
der Feder und hatte noch kürzlich über die Kaninchengehege
der Grundherren und über den Schaden, welchen ſie in
Saaten und Weinſtöcken ſtiften, eine gründliche Ausar-
beitung geliefert, allein ganz andere Gebiete waren es ja,
auf welche ihn Turgot tagtäglich führte, ihm fürder keine
Ruhe ließ. Ludwig überzeugte ſich, ſeine beiden Miniſter
die Philoſophen würden ihn am Ende ins Unglück brin-
gen, wenn ſchon wohlmeinend, wollten ſie doch höher hin-
aus als die monarchiſche Form es ertrage. Die Träume
eines ehrlichen Mannes, meint der König, dürfen nicht
den Staat beherrſchen, und giebt dem Maurepas darin
Recht daß Turgot viel zu eigenwillig iſt. Er unterzeich-
net ſeine Entlaſſung. Gern zwar hätte er den biegſameren
und manchmal nicht ganz regelrechten Malesherbes um
ſeine Perſon noch feſtgehalten; allein dieſer hat ſchon
längſt, auf ein Beſſerwerden verzichtend, zu wiederholten
Malen ſeinen Abſchied erbeten. Jetzt iſt nun vollends ſei-
nes Bleibens nicht mehr. „Sie Glücklicher,“ ſprach ge-
rührt der Monarch, „Sie können abdanken!“ Am 12.
Mai 1776 ſchied Turgot aus dem Miniſterium, in wel-
chem er ein Jahr und nicht volle neun Monate geſeſſen.
Sofort wurden durch ein Edict die Wegefrohnen wieder-
hergeſtellt.


Etwas länger hielt ſich ein dritter Reformator, der
[58] neue Kriegsminiſter Graf St. Germain, im October 1775
ernannt. Dieſer merkwürdige Mann fand ſeine Jugend-
bildung bei den Jeſuiten. Siebzehnjährig warf er das Or-
denskleid von ſich und trat als Unterlieutenant ein. Eine
Ehrenſache vertrieb ihn aus Frankreich, er nahm Dienſte
bei einem deutſchen Fürſten nach dem andern, bis ihn der
Marſchall von Sachſen zur Rückkehr in ſein Vaterland be-
wog. Hier machte er in ſchon hohen Graden den ſieben-
jährigen Krieg mit; die Achtung vor ſeiner Fähigkeit war
ſo verbreitet wie der Ruf von ſeiner biſſigen und unhof-
männiſchen Gemüthsart. Die Frau von Pompadour
nannte ihn nur den ſchlechten Patron und dieſe Titulatur
fand Beifall als er mitten im Kriege ſeinen Befehl am
Niederrhein aufgab, haſtig austrat, Alles aus Unzu-
friedenheit mit ſeinem Oberbefehlshaber dem Herzog von
Broglie. Der Hof war froh den Bären los zu ſeyn, man
ſchickte ihm ſeinen Abſchied nach und hatte nichts dagegen
daß er in die Dienſte der Krone Dännemark als Feldmarſchall
und Präſident des Kriegscollegiums trat; dort nämlich be-
durfte man eines kräftigen Armes, um ein verfallenes Kriegs-
weſen raſch wiederherzuſtellen. Denn Kaiſer Peter III. von
Rußland drohte für ſchwere Unbilden, die ſein Stamm in
Schleswig-Holſtein erlitten, unverſöhnliche Rache zu neh-
men; ſein Gedanke war, den König Friedrich V. von Dän-
nemark allernächſtens nach Trankebar an die Küſte Koro-
mandel zu verpflanzen. Da war nun St. Germain ganz
an ſeiner Stelle, ſchuf ein Heer, bemannte die Flotte und
[59] als es an Geld gebrach, ward die erſte Anwendung ſeiner
Kriegsmacht gegen die Stadt Hamburg gemacht; ſie mußte
einen Theil ihrer Reichthümer daran ſtrecken. Schon ſtan-
den beide Heere einander kampffertig auf meklenburgiſchem
Boden in der Nähe von Wismar gegenüber als der Tod
des Kaiſers die größeſte Gefahr abwandte, in welcher
Dännemark jemals geſchwebt hat. Der Vielgewanderte
hätte ſich nun wohl am Ende hier zur Ruhe begeben; vom
Könige Chriſtian VII. entlaſſen bezog er einen Gnadenge-
halt; allein die blutige Kataſtrophe des Miniſters Struen-
ſee, dem er zugethan war, vertrieb ihn auch von hier.
Man findet ihn mit 100,000 Thalern ab, die er in Ham-
burg unterbringt; er zieht ſich auf ein Dorf im Elſaß zu-
rück, wo er den Acker baut. Und er muß das bald im ei-
gentlichſten Sinne des Wortes thun, da ſein hamburger
Banquier ſeine Zahlungen einſtellt. St. Germain wäre
in die tiefſte Armuth verſunken, hätten ſich nicht alle Of-
ficiere der deutſchen Regimenter in franzöſiſchen Dienſten
zuſammengethan und einen Jahrgehalt dem Greiſe ausge-
worfen, der von den Höheren gehaßt, allenthalben die
Liebe ſeiner Untergebenen zu gewinnen verſtand. So ward
denn auch die Regierung faſt gezwungen ſich ſeiner wieder
zu erinnern; ſie trat mit einem Jahrgehalt ins Mittel.
Seitdem hält er es nun aber auch für ſeine Pflicht den al-
ten Maurepas mit Denkſchriften zu beläſtigen, die von der
elenden Einrichtung des franzöſiſchen Heeres handeln.
Damals ſtanden noch die Reformpläne in ihrer Blütenzeit;
[60] der Platz des Kriegsminiſters war gerade durch einen To-
desfall erledigt, auf den Betrieb von Malesherbes trat
St. Germain an die Stelle. Was dem alten Herrn be-
ſonders misfiel war das ſogenannte königliche Haus im
Heere; denn dieſe königlichen Haustruppen oder Garden
bedeuteten in der Armee ungefähr das was die Parlamente
in der bürgerlichen Ordnung, eine Art Staat im Staate,
bei welchem an die gewöhnliche Disciplin gar nicht zu
denken war. Das war nun zwar im geringeren Grade bei
dem Fußvolk der Fall, welches aus ſechs Bataillons fran-
zöſiſcher Garden und vier Bataillons Schweizergarden be-
ſtand, im höchſten Grad aber bei der Reiterei, deren Kern
acht Escadrons Gardes du Corps bildeten. Denn alle
Gemeinen der berittenen Haustruppen waren Edelleute
mit Lieutenants-Rang. An dieſe am meiſten bevorrechte-
ten Haustruppen ſchloſſen ſich dann wieder andere Truppen-
abtheilungen an, als Grenadiere zu Pferde, Gensdarmen,
Carabiniers, deren Officiere höheren Rang hatten als die
übrigen des Heeres. Durch das ganze Heer ging aber ein
tief greifender Misbrauch: die Officierſtellen waren der
großen Mehrzahl nach käuflich und wurden eben darum
ohne Maß vervielfältigt; man konnte auf drei Gemeine
einen Officier zählen, die Unterofficiere mitgerechnet.
Man hatte 60,000 Officiere im Heere. Dieſe üble Weiſe
ſtammte von den letzten unglücklichen Kriegsjahren Lud-
wigs XIV. her, da jede Hülfsquelle benutzt ward, die der
erſchöpften Staatscaſſe aufhelfen konnte. Denn nun machte
[61] man für Geld jedweden der ſich anbot eine Compagnie zu
errichten, zum Kapitän und ließ ihm frei die niederen
Grade zu verkaufen, damit er ſeiner Auslage nachkomme.
So boten Eitelkeit und Gewinnſucht einander die Hand,
um die Zahl der Officiere möglichſt anſchwellen zu laſſen.
Dieſen Krebs des Heeres auszurotten und alle Abthei-
lungen einer gleichmäßigen Disciplin zu unterwerfen ohne
Bevorrechtung, war der Plan des neuen Kriegsminiſters.
Ein Alter von achtundſechzig Jahren ließ ihn keine lange
Wirkſamkeit hoffen; ſein Plan war fertig und abgerundet,
nichts fehlte als ihn ſchleunig in ſeiner ganzen Ausdeh-
nung in Vollzug zu ſetzen. Denn eine gleichzeitig durch-
greifende Umgeſtaltung bietet ſtets den Vortheil daß ſie
eine Schaar Zufriedener der Schaar von Misvergnügten,
die nie ausbleibt, gegenüberſtellt; und ein geſundes
Staatsprincip, an die Stelle eines morſchen, faulenden
geſetzt, erfriſcht zugleich den Blutumlauf im ganzen Volks-
körper. Allein wir kennen ſchon den König und ſeinen
Hofmeiſter, und St. Germain ließ mit ſich handeln.
Allmählige Verbeſſerungen waren das Wiegenlied des Ho-
fes; ich weiß nicht ob man dergleichen damals ſchon Ent-
wickelung nannte. Aber die Entwickelung eines baufälli-
gen Hauſes iſt ſein Umſturz. Jetzt wurden einige bevor-
zugte Corps aufgehoben, andere vermindert, allein das
falſche Princip blieb und wucherte. Man hatte hier Un-
willen erregt, dort die geſteigerte Erwartung unbefriedigt
gelaſſen. Ein öffentlich aufgeſtellter Grundſatz ward durch
[62] Ausnahmen herabgewürdigt, und nun gab es bald keinen
Halt mehr. Der Kriegsminiſter hatte verkündigt, aller
Stellenverkauf im Heere ſolle aufhören, für die eingezahl-
ten Summen werde Entſchädigung erfolgen; das aber
hielt den König nicht ab, auf einen Schlag hundert Ka-
pitäne für Geld zu machen. Als St. Germain nun vol-
lends Luſt bezeigte die Stockſchläge im Heere einzuführen
und Hiebe mit der flachen Klinge wirklich in Ausführung
brachte; als er unbedachter Weiſe das Ehrendenkmal Lud-
wigs XIV., das pariſer Invalidenhaus antaſtete, da ver-
lor er auch in den unteren Ordnungen der Krieger ſeine
frühere Geltung. Auch ſeine umſtändlichen Andachts-
übungen in alter Jeſuitenweiſe, ſeine Seminarien für
Feldprieſter entſprachen der Zeitrichtung nicht. Schließlich
1777.
Sept.
ſchüttelte man ihn ganz ab, er aber, der, je ſchlechtere
Geſchäfte er machte, ſich um ſo feſter an ſein Miniſterium
† 1778.
Jan. 15.
klammerte, ſtarb an ſeiner Ungnade nach wenig Monaten.


So feierte die Hofpartei nach allen Seiten Triumphe.
Malesherbes erzählte manchmal von dieſen Dingen im
vertrauten Kreiſe: „Wir hatten für uns den König, Turgot
und mich, allein der Hof war uns entgegen, und die Höf-
linge ſind weit mächtiger als die Könige.“


[[63]]

3. Die holden Jahre der Selbſttaͤuſchung.


Frankreich führte mit krankem Blicke das Leben eines
Geſunden fort; man entſchlug ſich der Sorgen zu einer
Zeit, da der ewig junge Weltgeiſt ſeine Flügel prüfte, ſich
dann aufſchwang und bald von ſeinen Thaten zu reden
gab. In den letzten Jahren Ludwigs XV. verſchlief das
Cabinet von Verſailles das ſchlimme Wetter der Politik,
merkte nichts von der erſten Theilung von Polen bis ſie
völlig zu Stande war; allein der Lärm, den jetzt Nord-
amerika im alten Welttheile machte, als es plötzlich auf
ſeine Füße gerichtet ſich mitten unter die bejahrten eben-
bürtigen Häupter ſtellte, hätte Siebenſchläfer wecken
müſſen.


Turgot war noch am Ruder als dieſe Frage weltge-
ſchichtlich ward. Er ſah den jungen kriegeriſchen Adel
Frankreichs brennend vor Luſt am Kampfe theilzunehmen,
häßliche vaterländiſche Scharten auf Koſten Englands aus-
zuwetzen; niemand bewunderte dieſes Volk unerſchrockener
Republikaner aufrichtiger als Turgot; der lateiniſche Vers
[64] unter dem Bilde Benjamin Franklins, welcher die Ver-
dienſte dieſes ſeltenen Bürgers um die Menſchheit eben ſo
kurz als eigenthümlich preiſt:


Eripuit coelo fulmen, sceptrumque tyrannis,

Dieſer entriß dem Himmel den Blitz, den Tyrannen das Scepter,

wird ihm zugeſchrieben; allein ſeine Denkſchrift an den
König über Frankreichs Stellung zu dieſem inhaltsſchwe-
ren Ereigniß mußte freilich andere Bahnen gehn. Sie iſt
wenig Wochen vor ſeiner Entlaſſung verfaßt. Turgot er-
kennt in dem ganzen Vorgange einen großen und unver-
meidlichen Wendepunct der Zeit: nichts natürlicher als
daß Kinder, die ſich der elterlichen Leitung entwachſen
fühlen, ihren eigenen Weg verſuchen, und in dem Falle
daß die Eltern nicht verſtändig genug ſind ihnen eine ihrer
Kraft entſprechende freie Bewegung zu geſtatten, ſich wohl
gar völlig losreißen. Er ſieht voraus daß die Colonien
der übrigen Reiche unſeres Welttheiles dieſem Beiſpiele
folgen werden, und meint, Spanien ins Beſondere werde
weiſe thun, ſich auf eine gänzlich veränderte Colonial-
Politik zu rüſten; übrigens ſey es ein Irrthum zu glau-
ben daß die gelungene Losreißung Englands Macht und
Wohlfahrt zu Grunde richten müſſe. Seine Meinung in
Bezug auf Frankreich iſt: Ein Staat, welcher ein fort-
laufendes Deficit von 20 Millionen hat, und deſſen er-
ſtes Bedürfniß iſt durch eine tiefgreifende Reform die Laſten
des Volks zu erleichtern, muß die vielleicht unwiederbring-
liche Zeit zu dieſem Zwecke benutzen, darf einen ſolchen
[65] Krieg nicht führen. „Die franzöſiſche Flotte iſt in Ver-
fall, man kann die Ausgaben zu ihrer Wiederherſtellung
nicht beſtreiten zu einer Zeit, da die einzige Rettung in der
Sparſamkeit zu finden iſt. Uns unſerer gegenwärtigen
Stärke bedienen hieße unſere Schwäche verewigen.“
Dieſe Anſicht drang damals durch und ward eine Weile
feſtgehalten, auch nachdem die Reformen ſchon aufgege-
ben waren.


Wie weiſe das nun ſeyn mochte, die franzöſiſche Ju-
gend fühlte ſich nicht überzeugt und fand einen mächtigen
Halt an dem erſten Staatsmanne der Zeit, welcher von
Anfang her auf der Seite der Nordamerikaner ſtand, wie-
wohl ſein Vaterland ihr Bedränger war. Es iſt kaum
möglich, einem Mitbürger einen größeren Zuwachs an
materieller Macht und geiſtiger Erfriſchung zu verdanken
als England ſeinem großen Chatham, ſo lange er an der
Spitze der Verwaltung ſtand; und derſelbe Mann erblickte
von Anfang her in dem was gegen jene Provinzen geſchah
eine Verletzung der jedem Engländer angeborenen Rechte,
zugleich aber auch der Rechte, die jedem Menſchen ge-
bühren. Schon 1765 ſprach er ein Wort von langem
Widerhall in Frankreich: „ich freue mich daß Amerika
widerſtand. Drei Millionen Menſchen, ſo abgeſtorben
für jede freiheitliche Regung, daß ſie ſich gutwillig zu
Sclaven machen laſſen, würden geeignete Werkzeuge ge-
weſen ſeyn auch die übrigen in Sclaverei zu ſtürzen.“ Und
nicht müde wird er in den nächſten Jahren zu wiederholen:
Franzöſiſche Revolution. 5
[66] „Das Recht Steuern aufzulegen und das Recht Repräſen-
tanten zu ſchicken iſt unzertrennlich. Alle Zeit iſt der Satz
von den Bürgern dieſes Reiches heilig gehalten, daß was
ein Mann rechtlich erworben hat, ſein unbedingtes Eigen-
thum iſt, welches er nach freiem Willen geben, das ihm
aber niemand nehmen kann ohne ſeine Einwilligung“.
1774.Kurz vor dem völligen Bruche ſprach er: „Ich will den
Grundſatz in mein Grab nehmen: Ihr habt kein Recht
1775.Amerika zu beſteuern,“ und als man ſchon kriegte: „Han-
delt, wie ein guter liebreicher Vater einen theuern Sohn
behandelt. Statt der harten und ſtrengen Gebote erlaſſet
eine Amneſtie für alle ihre jugendlichen Irrthümer, um-
faſſet ſie noch einmal freundlich, und ich wage zu behaup-
ten daß Ihr in ihnen Kinder finden werdet, würdig ihres
Vaters.“ Bald darauf aber ward die Rechtloſigkeit der
deutſchen Unterthanen-Verhältniſſe Urſache, daß das Band
zwiſchen Mutter- und Tochterland unwiederherſtellbar
brach. Denn als unſere Landesväter von Braunſchweig
1776.und Heſſen-Caſſel, Anſpach und Waldeck 20,000 Deut-
ſche der engliſchen Regierung verkauften, die oft vergeblich
widerſtrebenden zwangen ſich für Nordamerika einſchiffen
zu laſſen, wobei der Erbprinz von Heſſen-Caſſel noch ſei-
nen beſonderen Profit aus verhandelten Hanauern zog, ſeit-
dem galten die Bande des Bluts zwiſchen England und Ame-
1777.rika nichts mehr. Abermals aber vernahm man Chathams
Stimme über dieſes „Handeln und Markten mit jedem
kläglichen kleinen deutſchen Fürſten, der ſeine Unterthanen
[67] für die Schlachtbank eines Auslandes los werden möchte.
— Dieſe erkaufte Hülfe, der Ihr vertrauet, entzündet einen
unheilbaren Groll im Gemüthe Eurer Widerſacher, die
ihr mit den feilen Söhnen des Raubes und der Plünde-
rung überſchwemmet, ſie und ihr Eigenthum grauſamen
Miethlingen opfernd. Wäre ich Amerikaner wie ich Eng-
länder bin, ſo lange bewaffnete Fremdlinge bei mir lande-
ten, ich legte nimmer die Waffen nieder, nimmer! nim-
mer! nimmer!“ Mit noch gewaltigeren Worten ſtrafte er
daß die Miniſter ſelbſt die wilden Eingeborenen, die ro-
then Häute zu Hülfe gerufen hätten.


Damals geſchah es daß der Graf Suffolk dem Redner
einwarf, es ſey einmal nothwendig ſich der Wilden als
Helfer zu bedienen und man mache billig gegen ſeine Feinde
von allen Mitteln Gebrauch, welche Gott und die Natur in
unſere Hände gelegt haben. Da ſtand Lord Chatham noch
einmal auf: „Ich bin erſtaunt, empört ſolche Grundſätze
in dieſem Hauſe, dieſem Lande bekennen zu hören, Grund-
ſätze, eben ſo verfaſſungswidrig als unmenſchlich und un-
chriſtlich. Mylords! Es war nicht meine Abſicht noch einmal
Ihre Aufmerkſamkeit in Anſpruch zu nehmen, aber ich kann
meinen Unwillen nicht unterdrücken, ich fühle mich getrie-
ben durch jede Pflicht. Mylords, es iſt unſer Aller Schul-
digkeit als Mitglieder dieſes Hauſes und als Chriſten ein-
zuſprechen, damit ſolche Grundſätze dem Throne nicht
nahen, das Ohr der Majeſtät beflecken. Die Gott und
die Natur in unſere Hände legte! Ich weiß nicht, welche
5*
[68] Begriffe dieſer Lord von Gott und Natur haben mag, al-
lein ich weiß daß ſolche verabſcheuungswürdige Grund-
ſätze der Religion und der Menſchlichkeit im gleichen Maße
widerſtreiten. Wie! die heilige Weihe Gottes und der Na-
tur den Schlachtungen des indianiſchen Skalpiermeſſers
beilegen! dem kannibaliſchen Wilden, der die verſtüm-
melten Schlachtopfer ſeines hinterliſtigen Überfalles fol-
tert, mordet, röſtet und verzehrt, wörtlich, Mylords,
verzehrt! Solche ſcheußliche Grundſätze widerſprechen je-
dem Gebot der Religion, der göttlichen und der natür-
lichen, und jedem edeln Gefühl der Menſchlichkeit, und,
Mylords, ſie empören jedes Ehrgefühl; ſie empören mich
als Freund des ehrlichen Krieges, als Feind der grauſa-
men Mordluſt. Dieſe verdammenswerthen Grundſätze und
dieſes noch verdammlichere Ausſprechen derſelben fordern
daß der Abſcheu laut werde. Ich rufe die ehrwürdige
Bank auf, die heiligen Hüter des Evangeliums, die from-
men Diener unſerer Kirche, ich beſchwöre ſie die Hand
zum heiligen Werk zu bieten und die Religion ihres Gottes
zu behaupten! Ich appellire an die Weisheit und das Ge-
ſetz dieſer gelehrten Bank, daß ſie die Gerechtigkeit ihres
Landes vertheidige und rette. Ich fordere die Biſchöfe auf
in ihrem fleckenloſen Gewande, die gerechten Richter in
ihrem Hermelin, daß ſie ſich und uns ſchützen vor dieſer
Beſudelung. Ich rufe die Ehre Eurer Herrlichkeiten an,
daß Ihr die Würde Eurer Vorfahren achtet und die Eure
wahret. Ich rufe den Geiſt und die Menſchlichkeit meines
[69] Vaterlandes zum Schutze unſerer Volksthümlichkeit auf,
beſchwöre den Genius unſerer Conſtitution. Von den
Wänden dieſer Halle herab (man erblickte damals noch an
ihnen die Zerſtörung der Armada durch Lord Howard von
Effingham), von den bunten Teppichen dieſer Halle her-
ab zürnt der unſterbliche Ahnherr dieſes edeln Lords, un-
willig über die Schmach ſeines Landes. Umſonſt führte er
Eure ſiegreichen Flotten gegen die prangende Armada Spa-
niens, umſonſt vertheidigte er die Ehre, die Freiheiten,
die Religion, die proteſtantiſche Religion dieſes Landes
gegen die willkürlichen Grauſamkeiten des Papſtthums
und der Inquiſition, wenn dieſe mehr als papiſtiſchen
Grauſamkeiten und inquiſitoriſchen Miſſethaten unter uns
gebilligt und zur Satzung werden, aufgeboten inmitten
unſerer alten Genoſſen, Freunde und Verwandte; die er-
barmungsloſen Kannibalen losgelaſſen, die da dürſtet nach
dem Blute des Mannes, des Weibes und des Kindes! die
ungläubigen Wilden getrieben — gegen wen? Gegen Eure
proteſtantiſchen Brüder! ihr Land zu verwüſten, in ihre
Häuſer zu brechen, ihr Geſchlecht, ihren Namen zu zerſtö-
ren durch dieſe furchtbaren Höllenhunde der Wildniß! Höl-
lenhunde der Wildniß, ſage ich. Spanien ließ ſeine Blut-
hunde los, um die unglücklichen Völkerſchaften Amerikas
zu vernichten, und wir übertreffen noch das Beiſpiel ſpa-
niſcher Grauſamkeit! Wir hetzen dieſe wilden Höllenhunde
gegen unſere Brüder und Landsleute in Amerika, die mit
uns eine Sprache, ein Geſetz, eine Freiheit und Religion
[70] haben, die unſer ſind durch das Band der heiligſten menſch-
lichen Gefühle. — Mylords, ich bin alt und ſchwach, und
jetzt nicht im Stande weiter zu ſprechen, aber mein Gefühl
und mein Unwille waren zu ſtark, als daß ich weniger
hätte ſagen können. Ich hätte dieſe Nacht keine Ruhe fin-
den können in meinem Bette, hätte mein Haupt nicht auf
mein Kiſſen niederlegen können, wenn ich nicht meinem
ewigen Abſcheu gegen ſo ausgeartete, ungeheure Grund-
ſätze Luft gemacht hätte.“


Wohl verſuchte man die Einwendung, und es geſchah
das mit ſchadenfroher peinlicher Gründlichkeit, es habe ja
Chatham in den Tagen ſeiner Gewalt, damals als er Hand
in Hand mit dem großen Friedrich ging, und es für ihn
Canada galt, jene Wildenhülfe gleichfalls nicht verſchmäht.
Wäre dem wirklich ſo, was Chatham indeß entſchieden
abläugnete, ſo ließ ſich erwiedern, daß dieſes Mittel da-
mals gegen den Erbfeind Englands angewendet ward und
daß dieſer zuerſt Gebrauch davon machte; aber eine andere
Entgegnung wäre vielleicht noch zutreffender geweſen,
welche auf den erſten Anblick trivial ſcheinen kann, dieſe
nämlich, daß verſchiedene Zeitalter verſchiedene Grund-
ſätze gebären. Denn erſt ſeit dem pariſer und hubertsbur-
ger Frieden ſchlug zugleich mit dem endlich durchdringen-
den Sinne für kirchliche Duldung jene höhere Geſittung
Wurzel, welche ein Gebiet der allgemeinen Menſchheit
feſthält, das durch die Zertrennung in zwiſtige Staaten
nicht verloren gehen darf.


[71]

Ein Engländer, der im Jahre 77 Paris beſuchte,
ſchreibt in ſeinem Reiſeberichte: „Man ſpricht jetzt hier in
allen Kaffeehäuſern und in allen Geſellſchaften von natio-
naler und politiſcher Freiheit ſo freimüthig wie nur irgend
in einem britiſchen Parlament oder in einem londoner Kaf-
fechauſe oder in einem Club der Oppoſitionspartei. Der Hof
ſieht hiebei durch die Finger und denkt nicht an das bekannte
alte Sprüchwort: mutato nomine de te fabula narratur.“
Man ſuchte und fand ſeine Ideale jenſeit des Oceans im
Weſten, und ſelbſt die kühlere Geſellſchaft gab ihren Bei-
trag, verließ ihre Whiſttiſche, ſpielte Boſton, den tapfe-
ren Boſtonern zu Ehren, die das Panier des Widerſtandes
zuerſt erhuben. Da kam die Botſchaft von der Capitulation
eines engliſchen Heeres bei Saratoga, und jetzt trat der
Boſtoner Benjamin Franklin ſchon öffentlich in den könig-
lichen Gemächern von Verſailles auf, der ſiebzigjährige
Greis, ſo anſpruchslos und doch ſo vielſagend ſeine Er-
ſcheinung; denn ſie bezeugte das Wunder ſeines Lebens,
den armen Buchdruckerjungen von ehemals und jetzt unter
den Stiftern eines der größeſten Staaten der Welt nach
Waſhington den Ruhmgekrönteſten. Seiner einfachen Un-
terhaltung über die Probleme des Staates und der großen
Natur, welcher er mit Apparaten, die jedem Kinde zu
Gebote ſtehen, die Zunge gelöſt hatte, kam in dieſen ari-
ſtokratiſchen Kreiſen volle Hingebung entgegen. Denn über-
all ſchmachtet der Menſch nach einem heimlichen Trunke
Begeiſterung, woran er in der langen Lebensſteppe ſich
[72] labe. Nun widerſtand auch das franzöſiſche Cabinet nicht
länger, erkannte die Unabhängigkeit der nordamerikani-
1778.
Febr.
ſchen Provinzen an, ſchloß einen Freundſchaft- und Han-
delstractat mit ihnen. Auf die Nachricht gaben die Führer
der Oppoſition in beiden Häuſern des engliſchen Parla-
ments die Erklärung, die Pflicht der Regierung ſey dem
Beiſpiele Frankreichs zu folgen, den unausbleiblichen dop-
pelten Krieg zu vermeiden. Lord Chatham dachte anders.
Am 7. April 1778 erſchien er im Oberhauſe, entſchloſſen
neben ſeinen alten Gegnern im Hauſe nun auch ſeine bis-
herigen Anhänger zu bekämpfen. England ſollte den Muth
von ihm lernen nach beiden Seiten zugleich die Spitze zu
bieten. Als ſein Freund der Herzog von Richmond den
Antrag machte, den König um die Entfernung ſeiner Mi-
niſter und zugleich um die Entfernung aller See- und
Landtruppen aus Nordamerika zu erſuchen, ſtand Chatham
auf, an zwei Freunde gelehnt, dieſelben die ihn mühſam
auf Krücken in den Saal hineingeleitet, ein ſterbender
Mann, von deſſen abgemagertem Geſichte unter ſeiner mäch-
tigen Perüque kaum ein Zug weiter unterſchieden ward als
neben der großen Adlernaſe dieſes durchdringende Augen-
paar. Er hob die Hand von einer Krücke auf, ſah gen
Himmel und es ward als er die Lippen zu leiſer Rede öff-
nete, ſo ſtill im Saale, daß man, nach dem Ausdrucke
Eines der dabei war, das Fallen eines Taſchentuches
würde haben hören können. „Ich danke Gott,“ ſprach
er, „daß ich im Stande geweſen bin heute hieher zu kom-
[73] men, um meine Schuldigkeit zu erfüllen und über einen
Gegenſtand zu reden, der mir ſo innig am Herzen liegt.
Ich bin alt und ſchwach, habe einen Fuß, mehr als einen
Fuß im Grabe; ich bin aus dem Bette aufgeſtanden, um
in der Sache meines Vaterlandes hier zu ſtehen, vielleicht
um niemals mehr in dieſem Hauſe zu reden. Mylords,
ſprach er mit allmählig ſteigender Kraft, ich freue mich daß
das Grab mich noch nicht eingeſchloſſen hat, daß ich noch
lebe, um meine Stimme zu erheben gegen die Zerſtückelung
dieſes alten herrlichen Reiches. Niedergedrückt von Gebre-
chen wie ich bin reicht meine Kraft wenig aus zum Beiſtande
für mein Vaterland in dieſer gefährlichen Zeitlage; allein,
Mylords, ſo lange ich meiner Sinne und meines Gedächt-
niſſes mächtig bin, werde ich nimmermehr meine Stimme
dazu geben, den königlichen Sproſſen des Hauſes Braun-
ſchweig, die Erben der Prinzeſſin Sophia ihres ſchönſten
Erbtheiles zu berauben. Wo iſt der Mann, der zu ſolch
einer Maßregel rathen kann? Mylords! Seine Majeſtät
iſt Erbfolger in einem Reiche, ſo mächtig an Ausdehnung
als unbeſcholten an ſeinem Rufe. Sollen wir den Glanz
dieſer Nation durch eine ſchimpfliche Übergabe ihrer Rechte
und ſchönſten Beſitzthümer beflecken? Soll dieſes große
Königreich, welches die däniſchen Beutezüge, die ſchotti-
ſchen Einfälle und die normänniſche Eroberung überlebt,
das die furchtbare Invaſion der ſpaniſchen Armada beſtan-
den hat, nun dem Hauſe Bourbon zu Füßen fallen? Ge-
wiß, Mylords, dieſes Volk iſt nicht mehr was es war.
[74] Soll ein Volk, welches funfzehn Jahre lang das Schrecken
der Welt war, heute ſo tief ſinken, daß es zu ſeinem alten
eingewurzelten Feinde ſpricht: Nimm Alles was wir ha-
ben, nur gieb uns Frieden? Es iſt unmöglich! — Um
Gottes Willen, wenn es denn durchaus nothwendig iſt,
ſich entweder für Krieg oder Frieden zu erklären, und der
letztere kann nicht mit Ehren erhalten werden, warum
fängt man nicht den erſteren ohne Verzug an? Ich bin,
das geſtehe ich, nicht hinlänglich von den Hülfsquellen
des Königreichs unterrichtet, allein ich vertraue darauf
daß ſie hinreichen ſeine geſetzlichen Rechte zu vertheidigen.
Jeder Zuſtand iſt beſſer als der der Verzweiflung. Laßt
uns mindeſtens den Verſuch machen, und müſſen wir fal-
len, laßt uns fallen wie Männer.“ Er hatte noch nicht
Alles geſagt, was ihm ſein ſtolzes Gemüth, ſeine na-
gende Sorge, die Trennung werde der Untergang ſeines
Vaterlandes ſeyn, eingab; ſeine Abſicht war einen ewi-
gen Bund zwiſchen England und Amerika vorzuſchlagen;
aber ſeine Kraft ging zu Ende. Als jedoch der Herzog von
Richmond ſeinen Antrag wieder aufnahm und ausführte
daß es jetzt nicht darauf ankomme, wie vor zwanzig Jahren,
Frankreich und das an Frankreich gekettete Spanien mit
der vereinigten Kraft von England und Amerika und von
einem Chatham zu beſtehen, ſondern es mit Frankreich und
Spanien und Amerika aufzunehmen ohne Amerika und
Chatham, allein auf England geſtützt, da richtete ſich der
Siebzigjährige noch einmal mit Heftigkeit auf ſeine Füße,
[75] aber er ſank in plötzlicher Ohnmacht zurück und wäre auf
den Boden geſtürzt ohne die Unterſtützung ſeiner Freunde.
Da ſtrömten alle Lords um ihn zuſammen, keine Sitzung
mehr, jedermann befliß ſich Chathams jüngſtem ſiebzehn-
jährigen Sohne beizuſtehen, daß er den Vater nur weg-
bringe. Noch einen Monat ſchleppte ſich ſein Kampf hin,
bis der 11. Mai ihn hinwegnahm. Hier aber offenbarte
ſich der Segen höherer Sitte, welcher aus den Grund-
ſätzen ächter Freiheit quillt. Über die kleinliche Wuth des
Hofes, über den beſchränkten Widerwillen des Königs
Georg III. gegen Chatham, den er die Aufruhrstrompete
nannte, trug die Meinung eines dankbaren Landes den
glänzendſten Sieg davon. Seine Leiche ward in der Weſt-
minſterabtei beſtattet und eben daſelbſt ihm ein Denkmal
geſetzt, welches den Staatsmann zeigt, „unter deſſen
Amtsführung die göttliche Vorſehung Großbritannien er-
hob zu einer jedem früheren Zeitalter unbekannten Höhe
der Wohlfahrt und des Ruhmes;“ denn das ſind die
Worte der Inſchrift.


Den Charakter Chathams beſitzen wäre in Frankreich
Hochverrath geweſen. Hier konnte das Ungemeine nur im
Verſteck aufgehen, ungeſetzlich groß werden, wie ein küh-
ner Strauch die Felswand durchbricht. Als noch Alles in
Verſailles in der Schwebe ſtand, ob man den Krieg auch
wolle, den man drohte, brachen die Zeichen der Zeit wie
Zähne in einem jungen Kopfe durch. Der Marquis von
Lafayette verließ zwanzigjährig Frau und Kind, die Ge-
[76] nüſſe des Reichthums und den Glanz des Hofes, um in
einem anderen Welttheile der Geſchichte in die Hand zu
arbeiten. Alle Vorbereitungen zu dieſem Schritte wurden
in der Stille getroffen, der junge franzöſiſche Capitän
reiſte unter dem Vorwande eines Beſuches bei ſeinem
Oheim dem Marquis von Noailles, welcher damals Ge-
ſandter in England war, nach London, kaufte hier ein
kleines Kriegsſchiff und ließ es an die ſpaniſche Küſte mit
einer Anzahl Officiere abgehen, welche er mitzubringen
verſprochen hatte; dort ſollen ſie ſeiner warten. Allein
dieſe Vorbereitungen hatten den Verdacht der engliſchen
Regierung erregt, man beklagte ſich, und als Lafayette, der
inzwiſchen nach Paris zurückgekehrt war, um ſein Haus zu
beſtellen, ſich ſchon auf der Reiſe befand, ohne Paß, ohne
Urlaub und Abſchied, holte ihn ein Verhaftsbefehl ein.
Er ſah ſich in Bordeaux als Deſerteur feſtgehalten. In-
deſſen fand er Mittel zu entkommen und günſtige Winde
trugen ihn im April 77 an die Küſte des Landes ſeiner
Verheißung. Lafayette diente auf eigene Koſten ohne Sold
Anfangs als Freiwilliger, aber bald, nachdem er im un-
günſtigen Glücke ſeine Ausdauer bewährt hatte, auf
Waſhingtons Antrag als General-Major an der Spitze
einer Diviſion. Und nicht lange darauf lag es eigentlich
nur an ihm und ſeiner dankbaren Unterordnung unter dem
großen Manne, den er als Vater verehrte, wenn er in
fernerer Abhängigkeit von Waſhington blieb, kein Com-
mando für ſich erhielt; denn alle Neigung kam ihm ent-
[77] gegen und was dieſe nicht bewirkte, das that gemeine Ei-
ferſucht gegen den Landsmann. Als nun aber Lafayette
nach Verlauf von nicht zwei Jahren wieder im Vaterlande,
in der bewegten Hauptſtadt erſchien, ein zarter blonder
Jüngling und ſchon ſo thatenreich, wie war da ſein viel-
getadelter Jugendſtreich in Aller Augen durch den Erfolg
gerechtfertigt! War doch Frankreich ſelbſt ſchon für Ame-
rika in die Schranken getreten, hatte ſeine erſte Hülfsflotte
entſendet. Maurepas freilich fuhr den Ankömmling em-
pfindlich an, ſchon weil er in Stiefeln bei ihm eingetreten,
und der König wollte ihn durchaus nicht ſehen; allein
was ging ihm ab, auf den die Pariſer allein ſahen, ſo
oft er im Theater erſchien, jede paſſende Stelle im Stücke
Beifall klatſchend auf ihn bezogen? Und die Königin klatſchte
mit, ſah ihn häufig. Da mußte denn auch der König am
Ende freundlich auf den jungen General blicken, welchem
der dankbare Congreß hier einen Ehrendegen überreichen
ließ. Schon tritt der Krieg mit England in ſeiner ganzen
Bedeutung in den Vordergrund; Spanien verſpricht ſich
ebenfalls zu entſcheiden, ſeine Flotte mit der franzöſiſchen
zu vereinen; denn erſt lange hinterher hat man in Madrid
erkannt, welche mächtige Einwirkung die Unabhängigkeit
der Söhne Englands auf die ſpaniſchen Colonialreiche in
Amerika haben müſſe. Ganz ernſtlich aber war in Frank-
reich derzeit eine Landung auf der Küſte von England im
Werke, man vereinigte an der Weſtſee zu dem Ende wohl
40,000 Mann nebſt zahlreichen Transportſchiffen, und
[78] hieher ſandte der König den Lafayette als nunmehrigen
Generalmajor in franzöſiſchen Dienſten. Mit jener Lan-
dung ging es nun zwar nicht über die Drohung hinaus,
dagegen beſtimmte man eine zweite und größere Hülfs-
macht für Amerika. Eine Flotte mit 12,000 Mann Lan-
dungstruppen, geführt vom Grafen Rochambeau, iſt in
Rüſtung, ſie wird zugleich eine Anleihe von mehreren
Millionen für Nordamerika mitbringen und Lafayette ſoll
als Bote dieſer frohen Neuigkeit vorangehen. Auch legt
man thätig Hand ans Werk, und wenn auch zunächſt nur
6000 Mann eintreffen, ſchon die Botſchaft hat den geſun-
kenen Muth Amerikas wieder angefacht und man verehrt
in Lafayette nicht bloß den Überbringer einer frohen Kunde,
nein auch den Mann, der jene Kraftanſtrengung Frank-
reichs durch ſeinen glühenden Eifer herbeigeführt hat. Und
dieſe Tapferen Frankreichs ſtellen ſich unter den Oberbe-
fehl Waſhingtons. Und auch jene Geldhülfe, wie willkom-
men erſchien ſie! war doch das Papiergeld der jungen
Freiſtaaten faſt auf ſeinen Papierwerth herabgeſunken!
Jetzt aber erfolgte jene große Entſcheidung daß General
1781.
Oct. 19.
Cornwallis in Yorktown vor Waſhington die Waffen
ſtrecken mußte; und das ſtolze England, welches neuer-
dings noch den Holländern den Fehdehandſchuh hinwarf,
bloß weil ſie mit den Nordamerikanern in Unterhandlung
wegen Anerkennung ihrer Unabhängigkeit traten, mußte
die Hoffnung aufgeben ein Erſatzheer ſchicken zu kön-
nen. Lafayette kehrte zum zweiten Male nach Frankreich
[79] zurück und nun führte ihm die Königin ſelber ſeine junge
Gemahlin entgegen und auch Ludwig empfing ihn freund-
lich. Aber Frankreich rüſtete zum dritten Male für Ame-
rika; man wollte dieſes Mal die Landungstruppen auf
24,000 Mann bringen, in der Hoffnung mit einem Theile
davon den Verluſt von Canada wieder einzubringen. Al-
lein die Weltgeſchichte hatte ihr entſcheidendes Wort be-
reits geſprochen und ſo reichte die Drohung einer neuen
Kraftanſtrengung hin, die Unabhängigkeit Amerikas ward
vom Mutterlande anerkannt, und Frankreich ſchloß nach1782.
Nov. 30.

langer Zeit wieder einmal einen ruhmvollen Frieden zu
Verſailles.1783.


Nun kehrten die franzöſiſchen Regimenter nach Hauſe,
allein man erkannte in ihnen nicht die Söldner des alt-
königlichen Frankreichs mehr, in dem Grade war ihr Sinn
verwandelt, ſeit der Zeit da in dem Fortgange des Krieges
das Anfangs kalte Verhältniß zwiſchen Franzoſen und
Amerikanern ſich zu einer herzlichen Waffenbrüderſchaft ge-
ſtaltete. Nicht bloß die Männer, welche ſchon in hohen
militäriſchen Graden ſtanden, ein Alexander Berthier, ein
Mathieu Dumas blickten die alte Welt mit andern Augen an
als zuvor, auch bei den Gemeinen war tief eingedrungen
jener edle Stolz des Bürgers, der für eine Freiheit ficht;
ſie hatten mit Erſtaunen die Gewalt des Geſetzes mächtig
da hervortreten ſehen, wo kein Königswille ihm zu Hülfe
kam. Als der Graf von Rochambeau eines Tages vor ſei-
nem Heere, umgeben vom Generalſtabe, ritt, trat ihn
[80] ein Amerikaner an, und indem er ihm leiſe mit der Hand
die Schulter berührt, überreichte er ein Papier und ſprach:
„Im Namen des Geſetzes, Ihr ſeyd mein Gefangener.“
Der Feldherr verſtand Ort und Zeit, mäßigte die Hitze
einiger jungen Officiere und ſprach lächelnd: „So führt
mich fort, wenn Ihr dazu im Stande ſeyd.“ „Nein, er-
wiederte der Amerikaner, ich habe meine Pflicht gethan
und Eure Excellenz kann ihren Weg fortſetzen, wenn ſie
ſich der Gerechtigkeit widerſetzen will; in dieſem Falle bitte
ich nur um ungehinderte Rückkehr. Soldaten von der Bri-
gade von Soiſſonnais haben mehrere Bäume für ihre Wacht-
feuer verbrannt; der Eigenthümer verlangt Entſchädigung,
hat ſich den Verhaftbefehl gegen Euch erwirkt und ich
habe ihn vollzogen.“ Rochambeau ſtellte unbedenklich den
Intendanten ſeines Heeres als Bürgen und bezahlte auf
ſchiedsrichterlichem Wege 2000 Livres Entſchädigung.


Unter den Gefeierten aus dem neuen Welttheile ging
Lafayette allen Andern weit voran. Mochte auch Mancher,
der in ſein Cabinet trat, den Kopf bedenklich ſchütteln, wenn
er hier in einem koſtbaren Rahmen die Erklärung der Rechte
von Nordamerika erblickte und daneben eine leere Columne
mit der Überſchrift: Erklärung der Rechte des fran-
zöſiſchen Volks
, der neue Freiſtaat des Oceans war ein-
mal fertig mit Allem was ſich unvermeidlich daran knüpfte,
und im Wappen der Lafayettes ſtand ſehr leſerlich die De-
1784.viſe: Cur non? Noch einmal ſchiffte Lafayette nach Ame-
rika, nahm von Waſhington in deſſen ſtillem Landſitze von
[81] Mount-Vernon den letzten Abſchied. Als er darauf nach
Berlin kam, ſah man den alten Friedrich, wie er auf der1785.
großen Heerſchau zu Potsdam mit dem Jünglinge die
Reihen ſeiner Grenadiere mühſam durchging, ihn ihre
Evolutionen bewundern ließ; eine kurze freundliche Begrü-
ßung zwiſchen alter und neuer Zeit, auf nie Wiederſehen!


Als nun Alles zu Ende war, machte man auch die
Rechnung auf. Der Krieg hatte Frankreich mehr als eine
Milliarde, hatte wohl 1250 Millionen Livres gekoſtet,
mit anderen Worten, er hatte den Betrag der Staatsein-
künfte von drei Jahren verſchlungen.


Franzöſiſche Revolution. 6
[[82]]

4. Das erſte Anklopfen der Revolution.


In der nächſten Zeit nach Turgots Sturze thaten ge-
wöhnliche Handlanger ihren Dienſt in den Finanzen: ſeit
aber der nahende Krieg außerordentliche Opfer heiſchte,
warf Maurepas ſeine Augen auf Necker. Dieſer war Aus-
länder, zu Genf 1732 geboren, wo ſein Vater die Pro-
feſſur des Staatsrechts bekleidete; er leitete ſein Geſchlecht
aus dem Brandenburgiſchen. Der junge Mann widmete
ſich Anfangs den Wiſſenſchaften, weil er aber ohne Ver-
mögen war, ſchlug er auf den Wunſch ſeines Vaters eine
andere Laufbahn ein, ging nach Paris zu ſeinem Oheim
Vernet aufs Comtoir, und bald finden wir ihn als Com-
pagnon des erſten Banquierhauſes der Hauptſtadt, des
Hauſes Theluſſon. Die Leitung der Geſchäfte kam in
ſeine Hände, gelungene Speculationen in Getraide legten
den Grund zu ſeinem Reichthum, öftere zu Terray’s Zeit
den bedrängten Finanzen gewährte Nothhülfen machten
ihn zugleich zum Manne der Krone und des Staates. Al-
lein der Reiz der Geldgeſchäfte genügte weder ſeinem Ehr-
[83] geize noch ſeiner Bildung, er that den Kaufmann ab,1772.
lebte fortan als Geſchäftsträger von Genf und Millionär
in Paris, und wie er ſchon früher ſich ſchriftſtelleriſch im
Fache der Staatswirthſchaft verſucht und durch ſeine Lob-
rede auf Colbert ſelbſt einen Preis der Akademie gewonnen
hatte, ſo trat er nun dem Miniſter Turgot mit einer Schrift
über die Korngeſetzgebung entgegen. Turgot, immer groß1775.
geſinnt, ließ den Schriftſteller frei walten, der ihm ſeine
Laufbahn erſchweren wollte, indem er in dem praktiſchen
Staatsmanne ein Syſtem bekämpfte, mochte von einem
Verbote des Buches nichts wiſſen. Lag es doch jedermann
vor Augen, daß die Maßregeln Turgots für die Befreiung
des Getraidehandels im Innern keineswegs die Ausfuhr
aus dem Reiche freigaben, und wer Galiani’s Dialogen
über den Getraidehandel kannte, wußte auch daß in die-
ſen ſchon fünf Jahre früher mit überlegener Meiſterſchaft
Alles das entwickelt war, was ſich an Bedenken gegen die
unbedingte Freiheit der Ausfuhr aufſtellen läßt. Aber
Neckers Ruf wuchs eben durch dieſe klug gewählte Gegner-
ſchaft und wenig Monate nach dem Sturze Turgots erhielt
er eine Anſtellung in den Finanzen, zuerſt als Director1776. Oct.
des Schatzes, dann als Generaldirector der Finanzen;1777. Jun.
denn daß ein Ausländer, ein Proteſtant und ein vorma-
liger Banquier, nicht von Familie, Finanzminiſter hieße
wollte ſich nicht ſchicken. Gleichwohl ſollte er der Miniſter
ſeyn, und es war daher eine keineswegs unbedeutende
Kleinigkeit daß ihm der mangelnde Titel eines Controleur-
6*
[84] general den unmittelbaren Vortrag bei dem Könige ab-
ſchnitt. Als Necker ſich im Beſitze einer Macht befand,
nach welcher er etwas zu lüſtern die Hand ausgeſtreckt
hatte, hielt er in der höheren Verwaltung im Ganzen Tur-
gots Bahnen ein, und über Nordamerika befragt, rieth
auch er vom Kriege ab. Nachdem gleichwohl Krieg be-
ſchloſſen war, nahm er zu Anleihen ſeine Zuflucht, wobei
ihm die pariſer Discontocaſſe, eine Einrichtung Turgots,
auf Privatcredit gegründet, ungemeine Dienſte leiſtete.
Der Geſchicklichkeit Neckers das Geldweſen auf ſeinen ver-
ſchlungenen Wegen zu behandeln ließ jedermann Gerech-
tigkeit widerfahren, ſeine Uneigennützigkeit ſtand außer
Zweifel, ſein Haus, durch eine Frau von Charakter und
Bildung vertreten, war eines der wenigen in der Haupt-
ſtadt, in welchem ein geiſtreicher Umgang ſich niemals
von der Sitte trennte. Von dem früheren Theoretiker
Necker merkte man fortan nichts mehr. Das Geſchäft des
Finanzminiſters iſt nicht wenig dem feldherrlichen ver-
wandt. Beide verſtehen ſich auf die Regeln ihrer Kunſt,
allein ihre Schlachten und Siege werden nur durch den
glücklichen Blick erfochten, welcher alle Conjuncturen im
rechten Augenblicke zu vereinigen weiß. Freilich ſpielt die
Macht, welche Einer ins Feld führt, immer ihre große Rolle,
und Necker war dem alten Maurepas nur inſofern will-
kommen als er das Organiſiren unterließ. Auch durfte der
Proteſtant nichts gegen die Geiſtlichkeit wagen, der Aus-
länder dem Adel ſeine Penſionen nicht beſchneiden. So
[85] blieben dem eifrigen Finanzmanne allein die Hülfen ſeines
Bodens übrig, als da ſind ſparen durch weniger Ausge-
ben und wohlfeiler Einnehmen, Gewinn in Geld- und
Handelsgeſchäften machen, hier ſchuldig bleiben, dort
vorwegnehmen, öffentlich und verſteckt anleihen. Necker
ließ es der Schatzkammer niemals an Mitteln fehlen, den
Krieg mit Nachdruck zu führen, und das Parlament ge-
währte den Hunderten von Millionen, die er anlieh, ohne
Widerſtand die Einzeichnung in ſein Protocoll, zufrieden
daß er keine neue Steuern einführte, wenn er auch die Er-
höhung einiger in der Stille durchzuführen verſtand. Die
Staatsſchuld war um ungefähr 300 Millionen gewachſen,
deren regelmäßige Verzinſung nichts zu wünſchen übrig
ließ, als der Krieg erſt recht begehrlich ward, neue Stützen
des Credits nothwendig machte. Da erhielt Necker vom
Könige die Erlaubniß ſeinen Finanzbericht, ſein Compte
rendu au Roi
durch den Druck bekannt machen zu dürfen.1781.
Es war damit in der That für den kalten Prüfer nicht ſon-
derlich viel geleiſtet. Necker ſchildert uns einen Zuſtand
der Ruhe und weiſt nach daß Frankreich, Dank ſeiner
treuen Sorge, Kraft genug beſitze, um in ſolchem Zuſtande
ſeine ordentlichen Verpflichtungen zu erfüllen und noch da-
zu einen anſehnlichen Überſchuß zu gewinnen. Nun war
aber ein unabſehlicher Krieg entſtanden, welcher durch
außerordentliche Anſtrengungen beſtritten werden mußte.
Wie weit dieſe gingen lag nicht vor; auch war allein der
geſunde Zuſtand der Schatzkammer, daß bei ihr Einnahme
[86] und Ausgabe im günſtigen Verhältniſſe ſtanden, nachge-
wieſen, aber über ein Drittel der jährlichen Staatsein-
nahmen gelangte nicht in dieſe, floß in andere öffentliche
Caſſen, über deren Verhältniſſe nichts erhellte. Die ideale
Darſtellung Neckers ſtellte einen Überſchuß von 10 Millio-
nen in Ausſicht, aber die unerbittliche Wirklichkeit hat das
Jahr 1781 mit einem Unterſchuſſe von über 218 Millionen
belaſtet, zu deſſen Deckung und für die Bedürfniſſe des
nächſten Kriegsjahres eine neue Anleihe von 426 Millionen
nöthig war, wovon jedoch nur ein Theil in Neckers Ver-
waltung fällt. Ungeachtet dieſer ſchwachen Seiten — und
wie Wenige rechnen denn am Ende nach! machte Neckers
Darſtellung einen faſt unglaublichen Eindruck. Denn aus
dieſer Veröffentlichung ſprach eine Huldigung, in überraſchen-
der Weiſe der öffentlichen Meinung dargebracht; wie ein
Blitz ſchlug die Wahrheit durch daß die Staatsfinanzen
eine Sache des Volks ſind, deſſelben Volks, welches durch
harte Steuern ſie hervorbringt. Aber unmittelbar nach
dem Blitze kehrte die alte Nacht zurück. Necker ward wie
Turgot in dem Augenblicke geſtürzt, da er am höchſten ſtand.
Der alte boshafte Maurepas fragte jedermann: „Haben
Sie das blaue Mährchen (le conte bleu) geleſen?“ auf
den blauen Umſchlag des Compte rendu hindeutend, und
doch hatte er ihm ſelber im Miniſterrathe ſeine Billigung
geſchenkt. Er blieb nicht dabei ſtehen, entſchloſſen den
Mann zu verderben, welcher kürzlich der Königin zu zwei
Triumphen über ſeinen Einfluß verholfen hatte; denn
[87] zwei Miniſter waren wider Willen des Alten eingeſchwärzt,
in die Marine de Caſtries, in das Kriegsweſen Graf
Segur. Da ſtrömte plötzlich eine Zahl von Flugſchriften
gegen Necker aus, eifrig befördert und verbreitet von allen
Denen, welchen das Erſparungsſyſtem zuwider war, na-
mentlich dem Grafen von Artois, und Necker verdarb ſeine
Sache, indem er mit krankhafter Reizbarkeit Verfolgungen
gegen die Verfaſſer anſtellte. Nicht lange ſo ward der
König ſtutzig, wandte ſich an Vergennes und vernahm von
dieſem, daß es allerdings gewagt ſey ein ſo zartes Geſchäft
wie die Verwaltung der Finanzen in die Hände eines Aus-
länders niederzulegen, der Proteſtant ſey und republika-
niſche Grundſätze mit der Muttermilch eingeſogen habe.
Als nun Necker gerade jetzt einen Beweis der königlichen
Gunſt ſeinen Feinden gegenüber begehrte, den Eintritt in
das Cabinet mit Sitz und Stimme als wirklicher Finanz-
miniſter erbat, traf ihn das Nein des Königs ſo bitter,
daß ſelbſt die Bitten der Königin nichts über ihn vermoch-
ten; er reichte ſeine Entlaſſung ein, die ihm gern ertheiltMai 20.
ward, wenig Wochen nach Turgots Tode. Neckers Ent-
fernung ward wie ein öffentliches Unglück betrauert und
er ſelbſt hat ſpäter die Haſt bereut, mit welcher er ſeine
Finanzarbeiten und die eben erſt nach Turgots Plane in
ein Paar Provinzen verſuchsweiſe eingeführten Provin-
zialverſammlungen im Stiche ließ. Nur ein halbes Jahr
noch Geduld, mit dem öffentlichen Zutraun ſich getröſtet,
und Maurepas hatte ſeine Schuldigkeit gethan, war todt!
[88]†Nov.21.Vier Wochen vor ſeinem Ableben ward ein Brief geſchrie-
ben, der den Unwerth dieſes Mannes dem Könige offen
vor die Augen legt. Der Briefſteller war Graf d’Angiviller,
Jugendgeſpiele des Königs, ein Mann, der nicht Miniſter
Ludwigs ſeyn wollte, aber es ſich nicht nehmen ließ ihn mit
allen Kräften ſeines Weſens zu lieben und dann und wann
die Gelegenheit ergriff ihm eine Strafpredigt zu halten.
Wir haben ihn in ſpäteren Tagen als Ausgewanderten in
Holſtein unter dem beſcheidenen Namen Trueman geſehen,
in ehrenvoller Armuth bis an ſeinen Tod verſchmähend, die
Rückkehr in ſein Vaterland durch eine Anerkennung Napo-
leons zu erkaufen. Seine Antwort war ſtets: ein altes
Kleid könne man ablegen, aber nicht einen alten Eid. Er
nun ſchrieb an den König bei Gelegenheit der Geburt und
Taufe des erſten kurz vor dem Ausbruche der Revolution
geb.Oct.22.
1781.
wieder verſtorbenen Dauphins einen Brief, welcher nach
des Grafen Tode in Ludens Nemeſis gedruckt iſt, warnt
den König vor ſeiner jähen Hitze, eben ſo ſehr vor ſeiner
gefährlichen Vertraulichkeit mit Leuten die kein Vertrauen
verdienen, mahnt ihn Er ſelber zu ſeyn, von ſeinem Mis-
trauen in ſich ſelbſt abzuſtehen. „Aber ich werde Thor-
heiten begehen, werden Sie mir ſagen. Ja, Sire, viel-
leicht, aber dieſe Thorheiten werden die Ihren ſeyn und
jetzt begehen Sie die von Fremden. Wenn Sie die Ihren
begehen, ſo kann das bei dem guten Verſtande, welchen
Ihnen Gott verliehen hat, nicht lange dauern, und Sie
lernen davon, aber die von Fremden ſind und bleiben nutz-
[89] los.“ Über Maurepas urtheilt er ſo: „Sire, erinnere
ſich Ew. M. daß nachdem Sie ihn gewählt hatten, ich
mir die Freiheit nahm zu Ihnen zu ſprechen: das iſt ein
Mann von vielem Geiſte, der faſt mit Allem auf dem Rei-
nen iſt, höchſt entſchieden, in Geldſachen ehrlich und un-
eigennützig, allein er, der mit 17 Jahren Miniſter ward
unter einer verderbten und ſittenloſen Regentſchaft und her-
nach ſich durch Maitreſſen-Intriguen winden mußte, ſieht
in allen Geſchäften reine Privatangelegenheiten. — —
Ein Miniſter, beſonders ein Premier-Miniſter ſollte ſei-
nem Herrn die Wahrheit und die ganze Wahrheit ſagen.
Herr von Maurepas, ein alter Hofmann, unterrichtet, ent-
ſchieden, gleicht in nichts ſeinem Herrn. Spaßhaft bis
zum Poſſenreißen bringt er dieſen Charakter in die Be-
handlung aller Geſchäfte. Ew. M. ſind furchtſam, er dreiſt
bis zum Cynimus, Ew. M. lieben die Ehrbarkeit, er reißt
Zoten und iſt einer der erſten geweſen, über dieſen Cha-
rakter Ew. M. mit den jungen Leuten Scherz zu treiben,
die es nun eifrig dem alten Lehrer nachmachen, für den das
Lachen ein Geſchäft iſt.“


Der Eindruck von Neckers Entlaſſung haftete unge-
wöhnlich tief und dauernd; es wird verſichert daß die
Nachricht von einem der folgenreichſten Kriegsereigniſſe, der
Capitulation des engliſchen Generals Cornwallis in York-Oct. 19.
town bei der allgemeinen Niedergeſchlagenheit der Gemü-
ther in Frankreich faſt keine Freude zu erwecken im Stande
war. Und zur unglücklichſten Stunde mußte nun noch der
[90] neue Kriegsminiſter, ſonſt ein Mann von Einſicht, eine
Ordonnanz ausgehen laſſen, welche alle nordamerikaniſchen
Sympathien verletzte. Mehr aus Nachgiebigkeit gegen
die den König beherrſchenden Einflüſſe als aus eigener
Überzeugung willigte nämlich Segur in eine Verfügung,
welche den Bürgerſtand faſt gänzlich von Officierſtellen
ausſchloß. Zwar ward ſchon unter der vorigen Regierung
darauf geſehen daß die höheren Officierſtellen vom Capi-
tän an, gleich wie die höheren und einträglicheren geiſtlichen
Ämter, dem Adel möglichſt vorbehalten blieben; allein in
der Ausübung ſtand die Sache damals leidlicher. Es
ward eine einfache Beſcheinigung des Adels durch vier
Edelleute begehrt, und dieſe für Geld und gute Worte zu
erlangen war für Einen, der ſonſt zur guten Geſellſchaft
gehörte, gerade nicht ſchwer. Jetzt aber ſchrieb man eine
Mai 22.förmliche Adelsprobe vor, von welcher bloß die Söhne
der Ludwigsritter ausgenommen waren. Hierin empfand
der Bürgerſtand eine ſchwere Beeinträchtigung ſeines Fort-
kommens, und tiefer noch ſchnitt der unbürgerliche Grund-
ſatz in die verletzten Gemüther ein. Blieb doch ſelbſt der
Tod eines Maurepas nicht unbeklagt; denn bei der ſchon
allbekannten Schwäche des Königs drang ſich die Be-
ſorgniß auf, die Königin, eben ſo lüſtern nach Ein-
fluß als unfähig für den Ernſt der Geſchäfte, werde jetzt
anfangen den Premierminiſter zu ſpielen.


Der König vermißte ſeinen Maurepas, der ſo manches
Jahr über ſeinem Kopfe im niedrigen Mittelgeſchoſſe des
[91] Verſailler Schloſſes hörbar regiert hatte, zollte ihm ſeine
gutherzigen Thränen und beließ in der Verwaltung der
Finanzen den Staatsrath Joly de Fleury, welchen der
Verſtorbene Neckern zum Nachfolger gegeben hatte. Dieſer
wenig achtbare Mann erhöhte die Auflagen rückſichtslos
und mehrte die Staatsſchuld durch koſtſpielige Anleihen,
um die Laſten des Krieges zu tragen. Die Provinzialver-
ſammlungen ſtellte er gleich ab, denn er theilte gänzlich
den Grundſatz von Vergennes, daß es im Gemeinweſen
dann am beſten ſtehe, wenn alle Gewalt in einer einzigen
Hand concentrirt ſey. Ludwig fing an ſich mehr zu ver-
trauen; das Regierungsgeſchäft war, von Verbeſſerern
befreit, in den Bereich gewöhnlicher Begriffe herabgeſun-
ken. Gleichwohl ward man daran erinnert daß Necker
klug gethan hatte, indem er an die Steuern nicht rührte.
Denn wenngleich das pariſer Parlament in dankbarer
Freude über Neckers Fall, der über die Parlamente wie
Turgot dachte, die neuen Steuern ſo ſtillſchweigend wie
die neuen Anleihen protocollirte: das Parlament von Be-
ſançon erhob verſchiedene Einwendungen und verſtieg ſich
in wachſender Erbitterung bis zu dem verhaßten Antrage
auf Berufung von Reichsſtänden. Noch ſchroffer ſtellten
ſich die Verhältniſſe in der Bretagne, wo man noch ſeine
alten Stände beſaß. Dieſe empfanden es übel daß ihnen
die Regierung das Recht ſtreitig machte, Männer ihrer
Wahl als Deputirte an das Hoflager zu ſchicken, die Er-
nennung derſelben dem Gouverneur der Provinz zuwenden
[92]1782.wollte. Als ſie am Ende Zutritt erlangt, vernahmen ſie
mit Entrüſtung daß ihre Freiheiten als widerrufbare Pri-
vilegien, von den Vorfahren des Königs gnädigſt bewil-
ligt, behandelt würden. Dieſer Anſicht aber widerſprachen
die Stände in einer Gegenvorſtellung voll altbretagniſchen
Stolzes. „Unſere Vorrechte und Freiheiten“ ſo ſchreiben
ſie „ſind weſentliche Bedingungen des Vertrages, durch
welchen Sie die Betragne erworben haben. Wir können
Ihnen, Sire, die traurigen Folgen von Ausdrücken nicht
verhehlen, welche den alten Grundſätzen unſeres National-
rechtes von Grundaus widerſtreiten. Sie ſind höchſt be-
unruhigend für Unterthanen, welche ihrem Souverain eben
ſo ergeben als auf ihre Verfaſſungsrechte eiferſüchtig ſind,
für Unterthanen, nicht an knechtiſchen Gehorſam, ſondern
an eine durch verſtändige Geſetze geleitete Unterwürfigkeit
gewöhnt, welche Eure Majeſtät zu achten geſchworen ha-
ben. Dieſe Geſinnung iſt in unſerm Herzen eins mit der
Liebe zum Vaterlande. Ja, Sire, dieſen heiligen Namen
kennen die Bretagner: ſie haben ein Vaterland: ſie haben
Pflichten zu erfüllen: ſie haben Rechte, die ſie um des
Intereſſes Ihres Staates willen nicht vergeſſen dürfen.
Als Vater Ihrer Völker werden Sie allein die Herrſchaft
der Geſetze ausüben; die Geſetze herrſchen durch Sie und
Sie herrſchen durch die Geſetze. Die Bedingungen, welche
Ihnen unſern Gehorſam ſichern, machen einen Theil der
poſitiven Geſetze Ihres Königreiches aus.“ Der Wider-
ſtand ging ſo weit, daß Soldaten in den Sitz des Land-
[93] tages, die Stadt Rennes einrückten. Nun erfolgte eine
Unterwerfung, welcher die Minderzahl des Adels wider-
ſprach. Ludwig war Despot geworden ohne es zu wollen.


Unterdeſſen gewann Vergennes täglich mehr Gebiet
bei dem Könige und ſchien geneigt an die Stelle von Mau-
repas zu treten. Da er aber Widerſtand bei den andern
Miniſtern fand, ſtand er ab und Joly de Fleury, der ſich
an ihn gehangen, mußte fallen. Der Friede war inzwi-1783.
März.

ſchen wieder hergeſtellt; um ſo weniger fühlte ſich der Kö-
nig geneigt ſeine Antipathie gegen Necker zu überwinden,
er hatte einen vollkommen ehrlichen Mann an dem Staats-
rathe D’Ormeſſon gefunden, der freilich beſcheiden einge-
ſtand daß er von den Finanzen wenig verſtehe; dieſen
zwang er beinahe die Finanzen zu übernehmen. Allein die
Dinge gingen ſchief; der redliche Mann hatte das Schick-
ſal ſeines Königes, er ward aus Unbeholfenheit manchmal
despotiſch, was die Finanzen am wenigſten dulden, und
als er an die Generalpächter rührte, war ſein Fall ent-
ſchieden. Nach nur ſieben Monaten war Frankreich aber-Oct.
mals ohne Finanzminiſter. Die Welt der Schurken ſchrie
Triumph als es der ungeſchickten Ehrlichkeit ſo übel ge-
lungen war, und aus einer nicht kleinen Zahl von Bewer-
bern, die jetzt mit kecker Stirn in die lange Reihe derjeni-
gen traten, von deren Rechtlichkeit nichts zu fürchten war,
griff Ludwigs unglückliche Hand gerade den Schlimmſten
heraus. Der Herr von Calonne war als Intendant der
Generalität Lille ſo übel berufen, ſolch ein Schuldenmacher
[94] im eigenen Hausweſen, daß ihn der König auf die erſte
Empfehlung barſch verwarf. Allein die heitere Zuverſicht,
mit welcher der funfzigjährige Mann ſich geltend machte,
ſichere Abhülfe verſprach, auf tauſend von den Finanz-
pedanten überſehene Hülfsmittel in ruhiger Haltung hin-
wies, gewann ihm jene höchſten Kreiſe bald, welchen ſor-
genvolle Stirnen ein Gräuel ſind. Jener d’Ormeſſon hatte
beiden Brüdern des Königs die Bezahlung ihrer Schulden
rund abgeſchlagen, Calonne ließ ganz andere Glöcklein
klingen und Artois war entzückt von ihm. Da nun die
Königin beifällig nickte, Vergennes nicht widerſprach,
Nov. 3.ſo ließ der König ſich einen Mann gefallen, der ihm gute
Tage in Ausſicht ſtellte. Ungeſchickt und beſcheiden wie er
war legte Ludwig der zuverſichtlichen Gewandtheit einen
ſchöpferiſchen Werth bei. Wirklich warf die neu auf-
gehende Finanzſonne gleich ihre erſten Strahlen auf alle
Wipfel des Landes; die Brüder des Königs blickten be-
friedigt, die Königin erhielt St. Cloud zum Geſchenk,
die Steuerpächter wurden aller Sorge quit daß ihr geſegneter
Betrieb, der nach mäßiger Schätzung jedem Theilnehmer
jährlich reine 75,000 Livres einbrachte, plötzlich aufhören
werde, verarmte Große wurden ihre Güter für übertriebene
Preiſe an die Krone los, Steuern wurden ihnen erlaſſen,
manchmal ſogar zurückgezahlt. Calonne hatte Zeit für je-
dermann, und Meiſter in aller Leichtigkeit der Formen,
koſtete er dem Könige wenig Zeit, wußte augenblicklich
Rath in Verlegenheiten. Schüttelte Ludwig auch zu Zeiten
[95] den Kopf über die maßloſe Prachtliebe eines Miniſters,
deſſen Schulden er ſo eben erſt bezahlt hatte: er verzieh ſo
einleuchtenden Verdienſten dieſe Eigenheit und machte
ſie durch ſtrenge Sparſamkeit von ſeiner Seite gewiſſer-
maßen wieder gut. Calonne ſchloß große Anleihen mit
Leichtigkeit; man legte ſein Geld gern bei ihm an, weil er
ungewöhnliche Vortheile bot. Ein Großer des Hofes rief
mit Entzücken aus: „Ich wußte wohl daß Calonne den
Staat retten würde, aber ich hätte nie im Leben geglaubt
daß es ſo ſchnell geſchähe.“


Während nun Calonne in der Hauptſtadt rettete, in-
dem er eine Anleihe der andern unter verführeriſchen Be-
dingungen folgen ließ, ſchrieb man aus den Provinzen
daß niemals noch die Eintreibung der Steuern mit ſo er-
drückender Strenge geübt ſey. Überall aber geſtand man
ſich, aus Frankreich ſey nun doch nicht Amerika geworden,
der kurze Rauſch war verflogen und machte in den mittleren
und unteren Lagen der Geſellſchaft einer giftigen Erbitterung
Platz. Gegen den König? Dieſer bot nur immer eine und
dieſelbe Seite des übel berathenen guten ſchwachen Willens
dar. Mit Marien Antonien war es anders bewandt. Sie
hatte ihren ehrenfeſten, manchmal mürriſch aufbrauſenden
Eheherrn allmählig in einen Liebhaber verwandelt, der
ihren anmuthigen Bitten nichts verweigern konnte. Die
treue Gattin hat ihm vor Kurzem ſein drittes Kind, den
zweiten Sohn geboren, allein die Mutterfreuden füllen1785.
ihren beweglichen Sinn nicht aus. Der lafayettiſchen
[96] Amerikaner war ſie ohnehin überdrüſſig. Wenn ſie dann,
von dem Anblick des neuerfundenen Luftballons oder einer
Vorſtellung der Hochzeit des Figaro begeiſtert, in die
Staatsgeſchäfte hineinflatterte, ein Staatsamt für einen
Beſchützten wie eine leichte Gunſt erbat: es that nicht gut,
aber gar ſelten daß ſie ihren Buſenfreunden den Polignacs
nicht am Ende freudeſtrahlend die Nachricht bringen konnte,
es ſey ihr doch geglückt. Dafür rächte ſich das Publicum
mit eiſiger Kälte, ſobald ſie ſich allein ohne den König
blicken ließ; einmal verſtimmt, hieß man ſie eine Ver-
ſchwenderin, und inſofern mit Recht, als ſie ein Beiſpiel
zu geben hatte; man nannte ſie auch die Öſterreicherin
und that ihr Unrecht, weil ſie, ohne ihrer Heimat zu ver-
geſſen, wirklich Franzöſin geworden war. Mit einem
Wort, man wünſchte ihr etwas anhaben zu können, und
die Gelegenheit ließ nicht auf ſich warten.


Mariä Himmelfahrt, der 15. Auguſt 1785, bot den
Verſaillern einen merkwürdigen Anblick dar. Man war-
tete auf den feierlichen Kirchgang der höchſten Herrſchaf-
ten, ſtatt deſſen fuhr über den Schloßhof ein vornehmer
Gefangener unter Bedeckung. Es war der Cardinal Louis
de Rohan, Biſchof von Straßburg, Großalmoſenier von
Frankreich; Gerüchte flogen von einem entwendeten koſt-
baren Halsbande, von der Beleidigung einer erhabenen
Frau. Bald vernimmt man, die Sache komme vor das
Parlament, denn es ſey dem Cardinal abgeſchlagen von
ſeinen Standesgenoſſen gerichtet zu werden. Der Cardinal
[97] ſtand in großer Misachtung. Ein hoher Fürſt der Kirche,
funfzigjährig, lebte er ſeinen Lüſten und einer maßloſen
Verſchwendung, die ihn des Steines der Weiſen, wel-
chen er im Verkehr mit Caglioſtro ſuchte, ſehr bedürftig
machte. An dieſen glaubte er, ſonſt an nichts und machte
kein Hehl daraus. Zu ſeinen Liebſchaften gehörte die
Gräfin Lamotte, welche einige Aufmerkſamkeit dadurch er-
regte daß ſie aus Familienpapieren nachwies, ſie ſtamme
aus dem königlichen Hauſe der Valois durch einen Baſtard
Heinrichs II. Sie und ihr Gemahl der Graf waren ver-
ſchmitzte Abenteurer, die den Cardinal umgarnten, ſeine
Leidenſchaften für ihre Bettelhaftigkeit ausbeuteten. Rohan
hatte früher die Geſandtenbahn gemacht, und abgefeimter
iſt nichts als die gewöhnliche Jüngerſchaft der Diplomatie.
Man ſieht Menſchen an ihr zu Grunde gehen, mit welchen
die Natur es gut gemeint hatte; bei dem gewöhnlichen
Schlage bleibt vollends nur ein ſtehender Sumpf zurück.
Die verbrauchten Werkzeuge eines fremden Willens wollen
dann am Schluſſe auch die Genugthuung eines eigenen
Willens haben, als Staatsminiſter im Beſitze eines Bruch-
theils des Königthums ſterben, der Ambos möchte Ham-
mer ſeyn. Hat es Fortgang damit, ſo kommen nun alle
die krummen häßlichen Mittel, welche, Staat gegen Staat
gebraucht, für erlaubt gelten, auf das eigene Volk in An-
wendung, welches ein Recht hat offen und verſtändlich re-
giert zu werden. Nach dieſem Elyſium ſehnte ſich Rohan.
Er hatte ſchöne Beweiſe ſeiner Brauchbarkeit gegeben, ver-
Franzöſiſche Revolution. 7
[98] ſtand fremde Briefe zu öffnen und Nachſchlüſſel zu gebrau-
chen, hatte davon während ſeiner Geſandtſchaft zu Wien
ſeinem Hofe die Proben vorgelegt. Gleichwohl datirte ſich
gerade von dort her ſeine Ungunſt bei Hofe. Er hatte ärger-
liche Dinge über Marien Thereſien berichtet, wie ſie über
die Theilung von Polen Thränen vergieße, und doch ihren
Antheil ſo munter in die Taſche ſtecke. Das vergab ihm
die Tochter nie. Auch der König verbarg ſeinen Unwillen
nicht gegen einen Prälaten ohne Religion und Sitten, von
welchem man wußte daß er die zur Linderung des menſch-
lichen Elends ihm als Almoſenier zufließenden Gelder zum
guten Theile ſelbſt verzehre. Nun machte Rohan den Ver-
ſuch den Verliebten bei der Königin zu ſpielen, und fuhr
gänzlich ab damit. Der Mann aber wollte ſchlechterdings
Miniſter ſeyn; als er nicht aufhörte mit ſeinen Vertrauten
über die fatale Ungnade der Königin zu reden, erwuchs
den Lamottes der Plan daraus ihn auf dieſem Wege zu
plündern. Eines Tages überraſchte die Gräfin den Car-
dinal mit der Erzählung, ein Großes ſey ihr gelungen,
ſie habe ſeit einiger Zeit Zutritt bei der Königin, es ſey
ihr geglückt, das Mistrauen der Monarchin zu beſiegen,
er habe entſchiedene Hoffnungen. Von nun an eine ganze
Kette von Täuſchungen, die ärgſte dieſe: dem Cardinal
wird eine Unterredung mit der Königin im Luſtwäldchen von
Verſailles zugeſagt. Ein öffentliches Mädchen, Oliva,
welches viele Ähnlichkeit mit Marien Antonien hatte, über-
nimmt die Rolle derſelben, flüſtert die Worte: „das Ge-
[99] ſchehene iſt vergeſſen,“ läßt eine Roſe fallen. Der ent-
zückte Cardinal hat nur eben Zeit den Fuß ſeiner Gebieterin
zu küſſen als ein Geräuſch entſteht, und die Dame, in
welcher er ſeine Königin verehrt, flüchtet eilig. Allein der
Zweck? Nicht lange, ſo werden dem Cardinal wegen vor-
übergehender Geldverlegenheiten der Königin bedeutende
Summen abgeborgt, und bald darauf gilt es ein Diaman-
tenhalsband, von den Juwelieren Böhmer und Baſſange
verfertigt, welches die Königin durch ihren neuen Günſt-
ling heimlich an ſich bringen möchte. Mit dieſem Pracht-
ſchmucke ohne Gleichen verhielt es ſich ſo: er war Anfangs für
die berüchtigte Gräfin Dubarry verfertigt, aber Ludwig XV.
ſtarb darüber. Nun ſtand er für die Königin um 1,600,000
Livres zu Kauf; die Verſuchung war groß, der König kei-
neswegs abgeneigt, allein man überwand ſich, „ein Paar
Linienſchiffe gegen die Engländer fruchten mehr,“ hieß es.
Der Ankauf unterblieb ſonach. Faſt unbegreiflich aber iſt es,
wie jetzt der Cardinal an einen heimlichen Ankauf glauben
konnte, gleich als werde es der Königin genügen wie dem
Grethchen im Fauſt in der Stille ihres Kämmerleins am
Spiegelglas damit vorüberzugehen. Allein ein Billet mit
nachgemachter Unterſchrift der Königin, ein zur Empfang-
nahme des Schmuckes untergeſchobener Kammerdiener in
der Livrey der Königin überzeugten ihn; nur daß er die
Juweliere in das Geheimniß zog, um ſich vor Zahlungs-
verlegenheiten ſicher zu ſtellen. Auch hätten dieſe dem cre-
ditloſen Prälaten nimmer ſolch ein Kleinod anvertraut.
7*
[100] Jetzt aber trugen ſie kein Bedenken. Während nun der
Gemahl der Betrügerin nach England ging, um dort das
Halsband ſtückweiſe zu Gelde zu machen, richtete der Car-
dinal ſich zum künftigen Miniſter ein, welchen ihm ſein
Freund Caglioſtro längſt geweiſſagt hatte, und nur Eins
nahm ihn Wunder, die Königin noch immer ſo zurückwei-
ſend und ohne Halsband zu erblicken. Da rückte der erſte
Zahlungstermin heran; der weibliche Calonne — denn
es giebt Naturen, für welche der Spruch: Bedenke das
Ende! nicht geſchrieben ſteht, dachte noch immer nicht
ernſtlich daran ſich raſch aus dem Staube zu machen. Zu-
erſt verſucht ſie einem ſchwerreichen Manne, der auch gern
am Hofe etwas gegolten hätte, Gelegenheit zu geben, ſich
die Königin unendlich zu verpflichten; der aber denkt zu-
letzt doch: Ehren ſind gut, Geld iſt beſſer, tritt zurück.
Hierauf opfert ſie einen Theil ihres Erlöſes, 30000 Livres
auf, bringt dieſe dem Cardinal, wieder mit einem vorgeb-
lichen Billet der Königin, als Abſchlagszahlung; Ende
Auguſt ſoll der Reſt erfolgen. Allein die Juweliere, ſelbſt
bedrängt, wollen nicht warten, drohen mit einer Wechſel-
klage, wagen am Ende einen Brief an die Königin, wünſchen
ihr Glück zu dem Beſitze des ſchönſten Halsbandes in der
Welt, bitten demüthig, man möge ſie nicht vergeſſen.
Die Antwort lautet, die Königin wiſſe von nichts, ein fre-
cher Betrug müſſe geſpielt ſeyn. Das melden ſie dem Car-
dinal. Dieſer fühlt ſich zerſchmettert, einen verlorenen
Mann. Dennoch erſcheint er Mariä Himmelfahrt in
[101] Verſailles, wohin ſein Amt als Großalmoſenier ihn ruft.
Wer hat ihn betrogen? die Lamotte? oder die Königin?
die Monarchin, die er geſprochen, deren Briefe er in Hän-
den hatte? Wie aber wenn die Königin in der Bedrängniß
allen Verkehr mit ihm abläugnet, was die Gräfin ihn jetzt
fürchten läßt? Nun er beſaß ja doch ihre eigenen Briefe!


Die Königin, ſchon gewohnt ihren Gemahl zu lenken,
ging nicht zuerſt zu dieſem, ihm die erlittene Schmach zu
klagen, ſie ſprach mit ihrer Kammerfrau der Campan, be-
rief zwei Männer zu ſich, die in ihrem engeren Vertrauen
ſtanden, den Baron von Breteuil und den Abbé Vermont,
beides Hofleute vom gewöhnlichen Schlage und Feinde
Rohans. Breteuil vergab es dem Cardinal nicht daß er
ihm ehemals ſeine Bahn geſtört, in der Wiener Geſandt-
ſchaft ihn ausgeſtochen, ihn genöthigt vor der Hand bei
kleineren Höfen zu bleiben. Das hatte zwar in der Folge
ſich wieder völlig ausgeglichen, Breteuil ward nach Rohan
Geſandter in Wien und hatte gegenwärtig als Miniſter
des königlichen Hauſes (in beſſeren Tagen das Miniſterium
von Malesherbes) ihn nun vollends überholt; allein der
verhaßte Mann durfte nicht wieder aufkommen; und Abbé
Vermont, der aus einem demüthigen Lehrer in der fran-
zöſiſchen Sprache bei Marien Antonien, welchen ſich die
Kaiſerin aus Paris verſchrieb, neuerdings ein Mann von
Geltung geworden war, hatte zu oft in früheren Tagen
den wegwerfenden Übermuth des Cardinals erfahren, um
nicht derſelben Meinung zu ſeyn. Vergeblich daß Vergennes
[102] und Miromenil widerriethen ein Feuer anzufachen, von
welchem nicht zu berechnen war, weſſen Dach es ergreifen
werde. Wenn man Alles ruhig erwog, ſo lag in dem Ge-
ſchehenen von Seiten des Cardinals viele Abgeſchmacktheit,
große Unverſchämtheit, aber kein Verbrechen; man hatte
ihn fortan in Händen, man konnte ihn ſeinen Gläubigern
oder, je nachdem er es trieb, dem unbarmherzigen Geläch-
ter der Pariſer preisgeben. Unter dieſem milden Ludwig
XVI. ſind doch immer Tauſende von Verhaftsbriefen aus-
gegeben; warum nicht einen davon auf die Beſeitigung
der Lamotte verwenden? Allein der Cardinal ſollte nun
einmal mit dem äußerſten Auſſehn beſchimpft, durch eine
Verurtheilung gründlich vernichtet werden.


Als nun die Verbündeten die Sache endlich an den
König brachten, war deſſen erſter Gedanke, das ſey ein
Gaunerſtreich des Cardinals, durch welchen dieſer ſeinen
zerrütteten Angelegenheiten aufhelfen wolle, und er ſagte
ſeiner Gemahlin jede Genugthuung zu. Breteuil, auf die
Vernehmung der Juweliere geſtützt, reichte ein Gutachten
ein, umſonſt wieſen Vergennes und Miromenil noch einmal
auf den guten Leumund der Königin und, wenn man allen
Umſchweif zuſammenfaßt, auf den Satz hin, welchen der
Nachfolger Ludwigs Napoleon in die Worte bringt: „Die
Völker rächen ſich gern an uns wegen der Huldigungen,
welche ſie uns darbringen.“ Man ſagt der Hochzeit des
Figaro von Beaumarchais nach daß ſie die Laſter und
Thorheiten der vornehmen Welt mit berechneter Schaden-
[103] freude bloßſtelle; hier ward eine Umarbeitung derſelben
von höchſter Hand beſchloſſen, und gleich morgen am hohen
Feſttage ſoll die Aufführung vor den Augen des ganzen
Hofes ſeyn. Kurz vor der Meſſe wird der Cardinal in
das Cabinet des Königs berufen; er findet hier den Kö-
nig, die Königin und mehrere Miniſter. Ein leidenſchaft-
licher Auftritt erfolgt, mag nun der Cardinal die Vor-
würfe der erbitterten Königin mit Gegenbeſchuldigungen
erwidert oder, wie Andere erzählen, in tiefer Zerknirſchung
ſeine Verirrung eingeſtanden haben. Aber als er aus dem
Cabinet tritt, wird er vor Aller Augen verhaftet; nur daß
die Ehrfurcht des Officiers dem Kirchenfürſten vor der Ab-
fahrt in die Baſtille noch eine kurze Friſt vergönnt, welche er be-
nutzt um ſeinen Generalvicar zu der Vernichtung ſeiner gehei-
men Papiere durch ein Billet anzuweiſen. Auch die Gräfin
wird verhaftet, ihr Gemahl entkommt. Die Anklage ward
im Namen des Königs wegen Beleidigung ſeiner Gemahlin
vor dem Parlament erhoben. Die Unterſuchung zog ſich
in die Länge und verwickelte ſich ſehr als die Lamotte ihren
Gönner gänzlich im Stiche ließ und ohne Einmiſchung der
Königin ſo ausſagte, daß der Cardinal als ein gemeiner
Betrüger in der Art erſchien, wie ihn der König ſich ge-
dacht hatte. Allein in Folge mehrerer Verhaftungen und
Ermittelungen mußte ſie dieſen Standpunct verlaſſen, und
am 31. Mai 1786 erfolgte der Spruch des Parlaments,
in welchem dreißig Stimmen gegen zwanzig den Cardinal
völlig freiſprachen, die Gräfin aber zu Brandmark, Staub-
[104] beſen und lebenslänglicher Einſperrung verurtheilten.
Man wußte, welche Mühe ſich der Hof gegeben hatte, um
die Verurtheilung Rohans zu erlangen; mit um ſo größe-
rem Jubel gab eine unermeßliche Volksmenge dem Losge-
ſprochenen das Geleite zuerſt zurück in die Baſtille und
dann zu ſeinem Palaſt. Als darauf die Entlaſſung Rohans
von ſeiner Würde als Großalmoſenier und ſeine Confinirung
in eine Abtei erfolgte, erblickte man hierin eine unwürdige
Rache der Königin, und als nun gar die Lamotte nach
kurzer Gefangenſchaft entkam, von England aus mit einer
Denkſchrift drohte, war der Hof ſchwach genug ihr dieſe für
eine große Summe abzukaufen. Nichts deſto weniger erſchien
das Pasquill und die Ehre der Königin unterlag fortan
den unwürdigſten und unverdienteſten Beſchuldigungen.
Der in den ſtolzen Rohans tief gekränkte hohe Adel miſchte
der unfläthigen Schmähung der Menge den ätzenden Scharf-
ſinn der Verläumdung bei, und auch die Schwäche des
Königs ging nicht leer aus.


Kurze Zeit darauf kündigte Calonne ſeinem Gebieter
an, man müſſe Bankerutt machen oder eine Verſammlung
der Notabeln berufen.


Bis jetzt, wenn man Alles ſich recht erwägt, tragen
an dem was in Frankreich geſchah, die vielverklagten hoh-
len Speculationen, welche die wirklichen Verhältniſſe über-
ſpringen wollen, gar keine Schuld. Denn da wo der
Staat allein im Könige enthalten iſt, führt Unfähigkeit
von Oben eine Staatsveränderung von ſelbſt herbei, ſo-
[105] bald die Regierung in ihrer Verlegenheit genöthigt iſt,
ihr Volk zu Hülfe zu rufen. Wer hier Rath zu ertheilen
fähig war, der kannte auch den Werth natürlich geglieder-
ter Staatsordnungen. Man erblickte eine ſolche im alten
Styl im nahen England, wo unter nicht glänzender be-
gabten Königen als Ludwig Alles ſeinen ſtetigen ſicheren
Gang ging; zu einer anderen Staatsordnung gewagterer
Art hatte man kürzlich ſelbſt auf des Königs Befehl die
Bauſteine über den Ocean mühſam herbeigetragen. Auch
König Ludwig und ſeine Miniſter zeigten keine Spur von
philoſophiſcher Anſteckung; denn die Hülfsmittel, welche
ſie in ihrer Noth ergriffen, waren alt, eher veraltet zu nen-
nen, oft ſchon empfohlen. Es waren die Notabeln, es
waren die Etats-généraux.


[[106]]

5. Es wird der Revolution aufgethan.


Calonne gab von Anfang her ſeinen koſtſpieligen An-
leihen die Färbung, eine gänzliche Tilgung der Staats-
ſchuld ſey im Werke, was freilich ungewöhnliche Anſtren-
gungen erfordere. Man wird in den nächſten fünfund-
zwanzig Jahren zwölf bis dreizehn hundert Millionen til-
gen, und ſo folgerecht weiter ſchreiten. Wer durfte da
noch tadeln, wenn zu ſo erhabenen Zwecken in den näch-
ſten Paar Jahren vier bis fünfhundert Millionen geliehen
wurden? Der Staat konnte dabei nur gewinnen, und
augenſcheinlich gewannen die Capitaliſten, welche ihre
Gelder ungemein vortheilhaft anlegten; auch muß man
zugeben daß Calonne in ſeinen Börſenoperationen eine
Fülle von jenen Finanzkünſten entwickelte, welche zur Ver-
lockung der Habſucht und zur Berückung der Unerfahren-
heit dienen. Jetzt freilich da der Schatz leer war, mit
Anticipationen es nicht mehr vorwärts ging, niemand
mehr leihen und das Parlament nicht mehr protocolliren
wollte, kehrte der Mann mit einer Frechheit ohne Gleichen
[107] plötzlich die Sache um. Jetzt tragen auf einmal die zahl-
loſen Misbräuche alle Schuld, ſie, die ein gut regiertes
Frankreich unmöglich machen; jetzt wirft er alle Verbeſſe-
rungen, die nur Turgot je im Sinne hatte und Necker mit
unbedeutenden Abänderungen auffriſchte, und mehr als
das in eine Denkſchrift zuſammen: gleiche Beſteurung von1786.
Aug.

Grund und Boden, Provincialverſammlungen, Veräuße-
rung der Domänen (die er ſoeben noch hat vermehren hel-
fen), Vertheilung von Gemeindeländereien, freie Ge-
traideausfuhr, Aufhebung der Wegefrohnen und der Zoll-
linien im Innern. Mit dem Allen und verſteht ſich zu-
gleich mit einer Anzahl von neuen Auflagen ſoll das Defi-
cit getilgt werden. Allein von wem erlangt er eine Ge-
währleiſtung für ſeine Reformen? Schwerlich vom Parla-
ment; denn dieſes bereut längſt ſeine Willfährigkeit gegen
ihn, iſt auch in ſeiner ariſtokratiſchen Zuſammenſetzung
der Beſeitigung von Privilegien nichts weniger als hold.
Alſo ſoll man Reichsſtände berufen? Allein das hieße das
Andenken Ludwigs XIV. entweihen, welcher zuerſt die
Despotie zur Religion erhob. Unantaſtbar muß, darin
ſind das königliche Haus, der Hof und die Miniſter ſich
einig, der von jenem großen Monarchen aufgeſtellte Grund-
ſatz bleiben „daß ein König überall ſeinen Entſchluß ſel-
ber faſſen müſſe, weil ſelbſt da wo die Einſicht ihn ver-
läßt, er ſich auf ſeinen Inſtinct verlaſſen darf, welchen
Gott in alle Menſchen und vorzüglich in die Könige gelegt
hat.“ Dagegen iſt es ein natürliches Recht des Königs
[108] ſich mit Rathgebern eigener Wahl für beſtimmte Zwecke
auszurüſten. Schon Karl der Große berief Notabeln; Kö-
nig Franz der Erſte, der die Reichsſtände niemals ver-
ſammelte, berief Notabeln, als er eines Gutachtens über
den Madrider Frieden mit dem Kaiſer bedurfte, ob er an
dieſen auch gebunden ſey. Als die Reichsſtände ſchon
ganz in Abgang gekommen waren, hat man 1626 noch
Notabeln berufen. Alſo Notabeln!


Der König ſtand wieder da, wo er zu Turgots Zeit
geſtanden hatte, damals als er die Hände ſinken ließ,
aber unter wie viel nachtheiligeren Umſtänden jetzt! An-
fangs ganz erſtaunt daß ſein Miniſter gegenwärtig die-
ſelben Reformen predige, die ſein Übermuth früher ver-
höhnt hatte, ergab er ſich doch darin, denn es wohnt der
gutmüthigen Schwäche ein eigenes Vertrauen auf die
Macht der geheimnißvollen Künſte bei, welche ihrer Mei-
nung nach den Laſterhaften zu Gebote ſtehen. Ohne dem
böſen Geiſte zu trauen, verſchrieb er ſich ihm, nachdem
Vergennes, der mit in das Geheimniß gezogen war, ſein
Ja zu den Notabeln geſagt hatte, nicht ohne Bedenken
zwar, allein es kam darauf an, den drohenden Wider-
ſpruch der Parlamente durch eine große Autorität zu ent-
waffnen. Man ward über 144 Perſonen einig, natürlich
meiſtens Privilegirte, nur etwa ein halbes Dutzend Bür-
gerliche darunter. Wer wird nun die Privilegirten ver-
mögen ſich gegen die Privilegien zu erklären? Calonne,
ſtets reich an Auskunftsmitteln, hatte ſich ein eigenes
[109] Kunſtſtück erdacht, um durch die Minderzahl der Mitglie-
der ihre Mehrzahl zu beherrſchen. Hätte er der ungetheil-
ten Verſammlung die Entſcheidung vertraut, ſo bedurfte
es mindeſtens 73 miniſterieller Stimmen, was ſeine
Schwierigkeit haben konnte. Ganz anders wenn die Ver-
ſammlung, nachdem ſie ihre Mittheilungen empfangen,
ſich nun in Sectionen zerfällte, in dieſen arbeitete und
abſtimmte. Sieben Curien, die man Büreaus nennt,
werden gebildet, in zweien derſelben ſitzen 22, in den
übrigen 20 Mitglieder. Hat das Miniſterium in vier Bü-
reaus die Majorität für ſich, die ſich mit 44 bis 46 Stim-
men gewinnen läßt, ſo iſt der Widerſtand von 98 oder
100 Stimmen gelähmt. So gerüſtet trat Calonne in die
Schranken. Am 29. December 1786 verkündigte der Kö-
nig ſeinen Willen, auf den 29. Januar kommenden Jahres
eine Verſammlung der Notabeln zu berufen. Allein der
Termin mußte viermal umgeſetzt werden, weil Calonne
mit ſeinen Vorlagen noch nicht fertig war. In der Zwi-
ſchenzeit ſtarb Vergennes und Graf Montmorin trat an
ſeine Stelle.


Als nun am 22. Februar die Eröffnung der Notabeln1787.
erfolgte, ſprach der König einfache Worte von gewohntem
unwichtigen Wohlwollen; um ſo künſtlicher rechtfertigte
der Miniſter den Geiſt ſeiner Verwaltung, redete von ei-
nem alten Deficit in den Finanzen, ſeit Jahrhunderten
obwaltend, welches ſich nothwendiger Weiſe letzter Zeit
habe vermehren müſſen. Seine Höhe ließ er unausge-
[110] ſprochen, als der Aufgabe der Notabeln fremd. Dieſe
ſollten einen Abgrund ausfüllen helfen, deſſen Tiefe und
Umfang ſie nicht ausmeſſen durften. So eingeleitet traten
die neuen Anforderungen, bis dahin als ſtrenges Geheim-
niß verwahrt, ans Licht. In jedem der Büreaus führte
ein Prinz von Geblüt den Vorſitz, Erzbiſchöfe, Biſchöfe,
Herzoge, Marſchälle, Staatsräthe, erſte Präſidenten
ſaßen darin. Dieſen erſchien eine ſolche Behandlung uner-
träglich, und das von einem Manne, welchem man Ver-
ſchleuderungen, die in viele Millionen gingen, nachwei-
ſen konnte. Je widerwärtiger der Mehrzahl die neue
Grundſteuer war, auf der Grundlage gleichmäßiger Be-
laſtung, deren Billigkeit ſich freilich nicht abläugnen ließ,
um ſo hitziger vertiefte man ſich in den Zorn gegen den
Unverſchämten, der ſolche Anſinnen ſtellen durfte. Er ſoll
die Größe des Schadens zeigen, der geheilt ſeyn muß,
und man will den Urheber wiſſen. Monſieur ſelbſt giebt
im erſten Büreau hiezu den Anſtoß. Vergeblich erinnert
Calonne, die vorgeſteckte Linie dürfe nicht überſchritten
werden, es bleibt dabei. Calonne, in allen Büreaus be-
droht, that Rückſchritte, erklärte ſich bereit mit einem
Ausſchuſſe offener herauszugehen, und ſechs Mitglieder
von jedem Büreau eröffneten bei Monſieur ihre Zuſam-
menkünfte. Als der Finanzminiſter hier ein Deficit von
112 ja 115 Millionen zugeſtand und ſich mit der Behaup-
tung deckte, ſchon unter Necker, der die Welt mit einem
Überſchuſſe getäuſcht, habe es 48 und im Grunde 70 Millio-
[111] nen betragen, wollte man nun durchaus wiſſen, wer von
Beiden der Betrüger ſey, und ganz beſonders hartnäckig
erwieſen ſich die Prälaten, deren Führer, der Erzbiſchof
von Toulouſe, Lomenie de Brienne mit ihnen regelmäßig
abgeſonderte Berathungen pflog. Sie rechneten ein Defi-
cit von 140 Millionen heraus und nicht wenige unter ih-
nen ſprachen von Reichsſtänden, als allein berechtigt die
neue Grundſteuer, welcher man um Alles hätte entrinnen
mögen, zu bewilligen. In dieſer Bedrängniß nahm Ca-
lonne ſeine Zuflucht zur höchſten Gewalt, und Ludwig
verkündigte den Büreaus, ihre Aufgabe ſey nicht über den
Grund der Steuer, ſondern über ihre Form zu berathen.
Hierüber ward in der Hauptſtadt viel geſcherzt. Ein
Koch legt ſeinen Hühnern die Frage vor: Mit welcher
Brühe wollt ihr gegeſſen werden? Sie darauf: Aber
wir wollen gar nicht gegeſſen werden. Er: Ihr verwech-
ſelt den Stand der Frage; man fragt euch, mit welcher
Brühe ihr gegeſſen werden wollt. Zu gleicher Zeit machte
im zweiten Büreau, in welchem Artois präſidirte, der
Marquis Lafayette durch eine Menge von Anträgen zu
ſchaffen, wollte das Lotto, die Verhaftsbriefe abgeſchafft,
die Domänen beſſer beaufſichtigt wiſſen, damit ſie weder
verſchleudert, noch im unpaſſendſten Zeitpuncte durch An-
käufe vermehrt würden. Die Bewilligung von Steuern
knüpfte er in aller Form an Reichsſtände; nur für die
Friſt bis zu ihrem Zuſammentritte können ſich nach ſeiner
Meinung die Notabeln ermächtigt halten Steuern zu be-
[112] willigen. Die allgemeine Stille, welche auf dieſe Rede
eintrat, unterbrach der Graf von Artois: „Wie, mein
Herr, Sie verlangen die Berufung der Generalſtaaten?“
— „Ja, gnädigſter Herr, und wo möglich noch etwas
Beſſeres.“ — „Sie wollen alſo, ich ſoll dem Könige ein-
berichten daß Herr von Lafayette den Antrag macht die
Generalſtaaten zu berufen?“ — „Ja, gnädigſter Herr.“
— Der Antrag fiel im Büreau, obgleich mehrfach un-
terſtützt; allein der Unwille gegen den Urheber aller dieſer
Nöthen ward in dem Grade perſönlich, daß man Vor-
ſchläge ablehnte, welche man aus jeder andern Hand be-
reitwillig angenommen hätte, als z. B. die Aufhebung
der inneren Zolllinien, welche ſchon die letzten Reichs-
ſtände von 1614 als ein öffentliches Unglück beklagten,
deſſen Beſeitigung Colbert betrieben hatte. Es war augen-
ſcheinlich Plan in allen dieſen Verwerfungen. Auch ließ
Calonne, erbittert daß ſein eigenes Meſſer ihn verwunde,
die Notabeln durch Brochüren angreifen, welchen ohne
Mühe der Beweis gelang daß viele dieſer Ablehnungen
dem Gemeinwohle widerſtritten. Darüber beſchwerte ſich
dann wieder die Verſammlung bei dem Könige; dieſer re-
dete zur Güte bei den Einzelnen, weil er aber der Ver-
ſammlung im Ganzen grollte, hielt er ſeinen Miniſter
noch feſt, als ſchon die feinſpürenden Hofleute anfingen
ſich von ihm loszulöſen. Da Calonne den Miromenil auf
einem Verſuche ihn zu ſtürzen betraf, erlangte er vom Kö-
nige daß dieſer entfernt und der Parlamentspräſident
[113] Lamoignon an ſeiner Statt Siegelbewahrer ward. Ohne die
Freundſchaft der Königin hätte auch Breteuil ſeinen Platz
verloren. Marie Antonie war Calonnen gram, ſeit er,
ohne ſie zu fragen, die Notabeln eingeleitet; jetzt da Alles
ſo ſchief ging, gewann ſie Macht über ihn als einen Herab-
würdiger der Krone, ſie unternahm einen Hauptſturm auf
den König und Miromenil hatte die Freude den Urheber
ſeines Falles raſch nachſtürzen zu ſehen. Calonne wardApril
8. 9.

entlaſſen und als ſich bald hernach eine Verſchleuderung
von 12 Millionen auf Börſenoperationen ohne alle Auto-
riſation herausſtellte, nach Lothringen verwieſen. Weil
aber auf den Antrag des Parlaments eine peinliche An-
klage ihm drohte, entwich er lieber nach England.


Dieſe Entlaſſung geſchah viel zu ſpät und doch zu frühe,
denn es war noch kein neuer Finanzminiſter gefunden.
Montmorin hatte mehrmals ſchon an Necker erinnert, jetzt
wagte er auf ihn zurückzukommen, rechnete dabei auf La-
moignon und Breteuil. Aber letzterer fiel im Augenblicke der
Entſcheidung ab. An Neckers etwas ſelbſtgefällig dociren-
der Perſönlichkeit hatte der König von jeher zu überwin-
den gehabt und ſein vor drei Jahren erſchienenes Werk
über die Finanzverwaltung hatte ihn verſtimmt. Es durf-
ten dieſe peinlichen Wahrheiten in Frankreich nicht feil ge-
boten oder mindeſtens nicht öffentlich beſprochen werden
und der König ließ Neckern damals bedeuten nicht mehr
nach Paris zu kommen. Nun aber erſchien gerade in den
letzten Tagen wieder eine Schrift von ihm, welche ſeine
Franzöſiſche Revolution. 8
[114] angefochtenen Rechnungen gegen Calonne vertheidigte.
Sie traf dieſen nicht mehr im Amte, gleichwohl ward ſie
höchſten Orts übel empfunden, der Überläſtige, der ſo
ganz und gar nicht begreifen wollte daß die Wahrheit in
Frankreich zu den Regierungsrechten gehöre, mußte ſich
auf zwanzig Stunden von Paris entfernen. Da das ſo
eben erſt verfügt war, brauchte Breteuil bloß hinzuwerfen,
wie viel man ſich durch einen Widerruf vergeben würde,
welcher geradehin das Geſtändniß der Unentbehrlichkeit
dieſes Plebejers enthalte. Nachdem er ſich dadurch Bahn
gebrochen, rückte er mit ſeinem Candidaten hervor, wel-
chen ihm die Königin aus Herz gelegt hatte. Es war
Brienne, der Erzbiſchof von Toulouſe. „Der Mann
glaubt nicht an Gott!“ rief der König aus. Dagegen
ward eingewandt, der Prälat habe große Studien ge-
macht, ſey mit Turgot, deſſen Autorität Alles galt ſeit
er nicht mehr im Wege ſtand, verbunden geweſen, im
Eifer gegen die Proteſtanten komme ihm niemand gleich
und er habe bei den Notabeln ſtets die zarte Linie des
Schicklichen eingehalten. Wirklich hatte der Erzbiſchof
mehr den geheimen Schürer gemacht, um ſich den Weg
zur Größe nicht zu verſperren. Und er erreichte ſein Ziel,
trat in den Mai als Chef des Finanzrathes, ſo daß der
neue Controleur Laurent de Villedeuil unter ihm ſtand.
Sein Erſtes war den Notabeln jene lang erſehnten Finanz-
rechnungen vorzulegen. Dieſe machten Übel ärger; man
war nicht klüger über den Umfang des Deficit gewor-
[115] den und nicht geneigter zu neuen Steuern. Als am Ende
der hohe Adel zu der Entſcheidung kam, den Grundſatz
der gleichen Vertheilung anzuerkennen und wirklich in den
Büreaus dafür den Ausſchlag gab, erhoben ſich aus dem
Provinzialadel ungeſtüme Stimmen dagegen: „Der hat
gut ſchenken,“ ſprach man, „welcher vorher weiß daß
ihm ſeine Opfer mit reichlichen Zinſen erſetzt werden. Ihr
ziehet Penſionen von je 60,000, wo nicht gar 160,000
Livres, und wenn Ihr gleichwohl das Unglück habt Schul-
den zu machen, fließen Euch abermals Hunderttauſende
zu. Mit uns Leuten aus der Provinz ſteht es anders.“
Auch die vom Klerus mochten von dem Grundſatze der
Gleichmäßigkeit nichts wiſſen, und wie vielfach auch Brienne
an den Steuern veränderte, ermäßigte, in Sachen des
Eigennutzes ſehen auch Einfältige ſcharf, es blieben im-
mer Steuern und es war der ärgerliche Weg Calonne’s.
Ja hätte Brienne bloß durch Erſparungen und ohne damit
jemand läſtig zu fallen den Ausfall zu ergänzen vermocht,
er wäre der rechte Mann geweſen. So aber war das Ende
doch daß man die Steuern abſchlug, als zu deren Bewil-
ligung nicht befugt. Dabei von allen Seiten Überdruß
der Sitzungen, bis auf den einen Lafayette, der nicht
müde ward fruchtloſe Anträge zu häufen, den Reformir-
ten geholfen wiſſen wollte und ſogar noch einmal die
Reichsſtände anregte, indem er eine Anleihe in Vorſchlag
brachte, welche bis zu deren Berufung den Staatsbedarf
decken ſollte. Am 25. Mai Entlaſſung der Notabeln.


8*
[116]

So kam es nun doch darauf zurück daß man allein auf
die eigene Kraft geſtützt es mit dem Parlament aufneh-
men mußte. Brienne machte vorſichtig mit ſolchen Maß-
regeln den Anfang, für welche die Notabeln ſich ausge-
ſprochen hatten, mit der Freiheit des Kornhandels im In-
nern, der Ablöſung der Frohnen, den Provinzialverſamm-
lungen, in welchen der dritte Stand eben ſo viele Mit-
glieder haben ſoll als die beiden privilegirten zuſammen
und worin man nach Köpfen ſtimmen wird. Hierin war
ein volksfreundliches Princip enthalten, wiewohl man der
Thätigkeit dieſer Verſammlungen einen ſehr beſchränkten
Kreis abſteckte, ſie auch keineswegs aus freier Wahl der
Provinz, ſondern ſo hervorgehen ließ, daß die Regierung
die eine Hälfte der Mitglieder ernannte mit der Vollmacht,
die andere Hälfte hinzuzuwählen. Als es mit den erſten
Einzeichnungen beim Parlament geglückt war, folgte die
Stempelſteuer nach, den Beſchluß ſollte die Grundſteuer
machen, dem Betrage nach ſehr mild geſtellt, aber auf
der Grundlage der Gleichmäßigkeit. Allein ſobald es an
die Steuern kam, forderte das Parlament ſtatt zu proto-
colliren Einſicht in die öffentlichen Einnahmen und Aus-
gaben, wollte auch wiſſen, was aus den zugeſagten Er-
ſparungen geworden ſey. Als darauf ein Abſchlag er-
folgte, maßen dergleichen dem Parlament durchaus nicht
zuſtehe, ſprach der Parlamentsrath Sabathier de Cabre,
gleich als pflichte er der Regierung bei: „Wir brauchen
auch keine Finanzetats, es ſind Etats-généraux, die wir
[117] brauchen,“ und das Parlament gab die Erklärung ab:
die Nation, durch Reichsſtände vertreten, habe allein das
Recht eine dauernde Steuer zu bewilligen. Das hieß eineJuli.
ganz neue Bahn betreten; es war ein entſchiedener Sieg
der jüngeren Parlamentsräthe über die älteren. Der hef-
tigſte Redner unter jenen war Duval d’Espréménil, kein
Jüngling mehr, er ſtand in ſeinem fünften Jahrzehnt,
aber von Natur Enthuſiaſt. Wie ihm früher in Caglioſtro
und Mesmer das Heil der Welt erſchien, ſo malte ihm
jetzt ſeine Phantaſie das Bild der Reichsſtände, mit dem
Parlament verknüpft, vor, jene als die mächtigere aber
wechſelnde Erſcheinung, dieſes als eine Darſtellung der
Reichsſtände im verjüngten Maßſtabe, aber bleibend. Die
Sache ließ ſich hören und konnte auch denjenigen jüngeren
Räthen, die ſonſt mehr in nordamerikaniſchen Ideen leb-
ten, wie Duport, zuſagen. Auf die milden Warnungen
des Königs antwortete das Parlament mit geſteigertem
Selbſtgefühl, ſprach jetzt unbedingt die Nothwendigkeit
von Reichsſtänden, inſofern Steuern irgend einer Art be-
gehrt würden, aus. So war denn alle auf die Notabeln
geſetzte Hoffnung geſcheitert, ein Lit de justice mußteAug. 6.
aushelfen, allein das Parlament proteſtirte ſchon vor dem-
ſelben gegen ſeine Ergebniſſe, in der Sitzung tönten aus
dem Munde des erſten Präſidenten dem Könige die herben
Worte entgegen, die Steuern wären unter ſeiner Regie-
rung um 200 Millionen vermehrt und der Verfaſſungs-
grundſatz der franzöſiſchen Monarchie daß die Steuern von
[118] denen bewilligt würden, welche ſie bezahlten, werde mis-
achtet; und nach der Sitzung proteſtirte man abermals
gegen die erzwungene Einzeichnung der Steueredicte. Die
jungen Räthe, durch den Beifall der Pariſer berauſcht,
überboten ſich einander. Die Königin war in dieſen Ta-
gen in ihrem Park von St. Cloud nicht vor Beleidigun-
gen ſicher, man hielt ſie zurück von Paris, damit ſie den
Zuruf: „Madame Deficit“ nicht höre. Als das Parla-
ment die Steueredicte für nichtig und erſchlichen erklärte,
zum dritten Male Reichsſtände fordernd, ſah man den
d’Espréménil von der vor dem Palaſte harrenden Menge
mit Jubel empfangen, in ſeinen Wagen getragen. Auf
die Nachricht erhielt das Parlament Befehl ſeinen Palaſt
in der Cité und die Hauptſtadt ſofort zu räumen, ſeine
Amtsverrichtungen in Troyes fortzuſetzen. Den Rückſchlag
darauf gaben der Rechnungshof und das Oberſteuercolle-
gium, indem beide nun ebenfalls gegen die auch ihnen
abgezwungene Protocollirung proteſtirten, ebenfalls Reichs-
ſtände begehrend, daneben die Rückberufung des Parla-
ments an den gewohnten Ort ſeiner Thätigkeit. Aber die
wogende Menge zog die Standhaftigkeit des Oberſteuer-
hofes in Zweifel, ſie drang in den Juſtizpalaſt, wo die-
ſes hohe Collegium neben dem Parlamente reſidirte, er-
brach die Thüren, ließ nicht eher ab, bis ihr das Pro-
tocoll vorgezeigt war.


Während ſo die Schwierigkeiten der Zeit zu drohenden
Gefahren heranwuchſen, ſah man die Königin regelmäßig
[119] in dem Miniſterrathe in des Königs Zimmer und aus
allen Kräften für Brienne’s Maßregeln thätig. Eines Ta-
ges als ſie dahin auf dem Wege war, hörte ſie unbemerkt
die Worte eines Muſikers der Kapelle: „eine Königin,
die ihre Pflicht kennt, bleibt in ihren Zimmern und ſtrickt
Filet;“ allein ſie nannte bereits ihr unglückliches Geſchick,
was ihre Luſt und ihr Stolz war, die Einmiſchung in
Staatsſachen. Durch den Einfluß der Königin ſtieg
Brienne, der ein öffentliches Zeichen des allerhöchſten
Vertrauens begehrte, gerade jetzt zum Premierminiſter.
Dadurch beleidigt traten Segur und de Caſtries zurück,
und Brienne beförderte ſeinen verdienſtloſen Bruder zum
Kriegsminiſter, das Seeweſen erhielt Graf La Luzerne,
der freilich gerade in Domingo ſich befand, und das zu
einer Zeit da ein Krieg nicht unwahrſcheinlich war. Da-
mals inzwiſchen ward Holland den preußiſchen Waffen
preisgegeben, welche die Leiden des Erbſtatthalters, des
Schwagers Friedrich Wilhelms II., zu rächen kamen.
Aber Viele in Frankreich waren der Meinung, Necker an
der Spitze der Finanzen und eine kräftige Kriegsdemon-
ſtration durch verſammelte 20,000 Mann, als deren An-
führer man Lafayette nannte, würden das ſchwankende
Anſehn der Krone im rechten Augenblicke wieder befeſtigt
haben.


Unterdeſſen traf das Parlament an ſeinem Verban-
nungsorte vergebliche Anſtalten zur Fortſetzung ſeiner
Amtsgeſchäfte, denn kein Advocat erſchien. Um ſo häufiger
[120] trafen Deputationen der Untergerichte ein, welche ihm
Glückwünſche zu ſeinem ehrenvollen Misgeſchicke brachten.
Um ſo eifriger auch wiederholte das Parlament ſeinen An-
trag auf Reichsſtände, dieſes Mal mit dem Zuſatze daß
die Monarchie Gefahr laufe in eine Despotie überzugehen,
wenn das Schickſal der Perſonen durch Verhaftsbriefe,
das des Eigenthums durch Throngerichte entſchieden und
der Lauf der Gerechtigkeit durch Verſetzungen gehemmt
werde. Und nicht lange ſo ſchloß ſich dieſen Hauptſchau-
ſpielern der laute Chorus der übrigen Parlamente an.
Überall ertönt das Verlangen nach Reichsſtänden. Jetzt
aber lenkte Brienne in einen Ausweg ein. Ihm blieb nicht
unbekannt daß die Mitglieder des Parlaments ſich in
Troyes ſehr unbehaglich fühlten, hierauf baute er einen
Vergleich. Die Regierung nahm die im Throngericht ein-
gezeichneten Edicte zurück und erhielt dafür den zweiten
Zwanzigſten in alter Form bewilligt. So verglichen ſich
Regierung und Parlament, beide auf Koſten ihrer Grund-
ſätze. Den Finanzen war für eine kurze Friſt ausgeholfen,
den Parlamentsräthen blühten die Freuden der Hauptſtadt
wieder, aber die Selbſtachtung, an der Wurzel verletzt,
wächſt ſobald nicht wieder nach.


Um endlich für die Dauer Rath zu ſchaffen, erfand
Brienne einen Hauptſtreich, der ihm zugleich die öffent-
liche Meinung wieder gewinnen und die Schatzkammer
füllen ſoll. Der König wird die Zuſage geben binnen fünf
Jahren Reichsſtände zu berufen; ſie ſollen ſich mit den
[121] nothwendigen Verbeſſerungen beſchäftigen. Um aber zu
dem Ende Alles hinlänglich vorbereiten zu können, muß
in der Zwiſchenzeit für die Staatsbedürfniſſe geſorgt ſeyn.
Das geſchieht durch eine Anleihe von 420 Millionen, in
fünf Jahren zahlbar. Man wird im erſten Jahre 120
Millionen brauchen zur Deckung des Deficit, in jedem
nächſten ſtufenweiſe weniger, im fünften wird man mit
deren 60 reichen und dieſe wegen des wiederbefeſtigten
Credits zu ſehr niedrigen Zinſen erwerben können. Als
König und Königin ſich wegen der Reichsſtände Sorge
machten, fehlte es an leichtfertigen Troſtſprüchen nicht:
„Fünf Jahre ſind eine lange Zeit. Sind inzwiſchen die
nöthigen Verbeſſerungen im Innern gemacht, ſo hat man
freie Hand die Reichsſtände auch nicht zu berufen, inſo-
fern ſie dann keinen Zweck mehr haben, oder auch ſie zu
berufen als ein Schauſpiel ohne Wirklichkeit, ſobald nur
die Leidenſchaften beruhigt ſind.“


Auf den 19. November ließ der König eine königliche
Sitzung (séance royale) im Parlament anſagen. Eine
ſolche war in der äußeren Erſcheinung dem Throngerichte
verwandt. In beiden ſah man den König unter dem
Thronhimmel auf einem Kiſſen ſitzend, zwei Seitenkiſſen
ſtützen ſeine Ellenbogen, ein viertes ſeinen Rücken, ein
fünftes unten die Füße; allein im Throngericht ging der
Kanzler umher und ſammelte die Stimmen der einzelnen
Mitglieder ein, und zwar gegen das ſonſtige Herkommen
zuerſt bei den Pärs, den geborenen und den ernannten,
[122] dann erſt bei den Präſidenten mit der Mörſerhaube, den
geiſtlichen Räthen und ſo weiter, die Befragten aber ga-
ben ihre Meinung mit leiſer Stimme in demüthiger Weiſe
ab, worauf der König dann vom Kiſſen (lit) her ſeinen
unumſchränkten Willen verkündigte und die Einzeichnung
befahl. In der königlichen Sitzung dagegen ertheilte der
König die Erlaubniß laut abzuſtimmen und die Mehrzahl
der Stimmen gab die Entſcheidung. Nun hatte Brienne
ſich einer günſtigen, wenn auch nicht glänzenden Mehr-
heit zum Voraus verſichert und Alles verſprach einen gün-
ſtigen Ausgang, wenn nicht der Siegelbewahrer Lamoig-
non geweſen wäre. Zwar gaben einige Sätze in des Kö-
nigs Rede Anſtoß, welche den ungeſtümen Bittſtellern um
Reichsſtände eine verdeckte Weiſung ertheilten. „Es iſt
nicht nöthig geweſen mich um eine Verſammlung der No-
tabeln anzugehen; ich werde niemals fürchten mich mitten
unter meinen Unterthanen zu befinden. Ein König von
Frankreich fühlt ſich nie wohler als umgeben von ihrer
Liebe und Treue. Aber mir allein gebührt es über den
Nutzen und die Nothwendigkeit ſolcher Verſammlungen zu
urtheilen und ich werde niemals dulden daß man zudring-
lich von mir begehrt, was man von meiner Einſicht und
Liebe für mein Volk erwarten muß, deſſen Wohl und
Wehe unauflöslich mit dem meinen verbunden iſt.“ Aber
Lamoignon hatte beſchloſſen ein Übriges zu thun. Ein
Altgläubiger der Unumſchränktheit hielt er in Einverſtänd-
niß mit der Königin für nöthig, gerade an dieſem Tage
[123] der wachſenden Freigeiſterei gegenüber ein politiſches Glau-
bensbekenntniß aufzuſtellen. Nachdem er alſo in her-
kömmlicher Entwickelung der kurzen Rede des Königs ei-
nige Erſparniſſe aufgezählt, aber zugleich bemerkt hat daß
dieſe aus mehreren Gründen ihre volle Wirkſamkeit erſt
im Verlaufe der nächſten fünf Jahre würden entfalten kön-
nen, verkündigt er den Willen des Monarchen die erbe-
tenen Generalſtaaten nach fünf Jahren zu berufen, nur
daß dieſe nie etwas mehr als Rathgeber der Krone, als
ein erweiterter Staatsrath bedeuten könnten; denn ſo ver-
lange es die ihm von Gott verliehene Hoheit, deren Rechte
ungeſchmälert zu erhalten er der Nation, ſeinen Nach-
folgern und ſich ſelber ſchuldig. „Dem Könige allein ge-
hört die ſouveräne Gewalt in ſeinem Königreiche, er iſt
in Hinſicht auf ihre Ausübung Gott allein verantwortlich.
Kraft dieſer ſouveränen Gewalt gehört ihm die Geſetzge-
bung, unabhängig und ungetheilt.“ Gaben nun auch
die Würdenträger und Mitglieder der großen Kammer und
überhaupt die älteren Räthe ihre laute Beiſtimmung zu
der Einzeichnung, und ſah man ſchon wohin die Mehr-
heit ſich neige, ſo ließen ſich doch andere Mitglieder nicht
abhalten nur einen Theil der Anleihe zu genehmigen und
die Bitte um eine frühere Einberufung der Reichsſtände
dringend auszuſprechen. Auch mußte der Premierminiſter
ziemlich deutlich vernehmen daß man ihm den Plan wohl
zutraue mit der königlichen Verheißung der Reichsſtände
ein leeres Gaukelſpiel zu treiben, und ſeinen Untergebenen
[124] den damaligen Generalcontroleur Lambert trafen herb die
Worte: „Seit acht Monaten ſind Sie der vierte General-
controleur, und Sie machen einen Plan, der fünf Jahre
braucht, um in Erfüllung zu gehen?“ D’Espréménil
ſprach wohl zwei Stunden lang mit jener inneren Bewe-
gung, die den Redner macht, bat in ſonſt beſcheidenen
Ausdrücken um die Berufung der Reichsſtände auf 1789.
Die Sitzung wollte nicht enden; jede halbe Stunde gin-
gen Boten an die Königin nach Verſailles, die wegen
des Gelingens ihres Werkes doch in großen Sorgen ſtand.
Die Abſtimmung hatte ſieben Stunden gedauert, der erſte
Präſident hatte die Stimmen geſammelt und erwartete
nun den Befehl des Königs ſie zu zählen, um demnächſt
die Anleihe als Ergebniß der Stimmenmehrheit zur Ein-
zeichnung zu bringen. Zu allgemeiner Überraſchung aber
näherte der Siegelbewahrer ſich dem Throne und empfing
den Befehl des Königs, die Einzeichnung zu verkündigen.
Da erwachte alle Reizbarkeit der Magiſtrate, deren Mehr-
zahl ihren guten Willen ſo ſchlimm gelohnt ſah, und ein
Prinz vom Geblüt, der Herzog von Orleans erhub ſich
nach einiger Zögerung. Dieſer Herr, der ſeit zwei Jah-
ren in Rang und Reichthum ſeines verſtorbenen Vaters
eingetreten war, ſtand bis dahin bei den Pariſern in
übelm Anſehn. Man vergab ihm nicht daß er im Garten
ſeines Palais-Royal die ſchönen ſchattigen Baumgänge
hatte umhauen laſſen und ihn mit Gallerien umzogen, für
deren Benutzung zu Kaufgeſchäften und manchem nicht ge-
[125] rade ehrenhaften Erwerb er ungeheure Summen erhob.
Die entſtellende Spur ſeiner Ausſchweifungen und eine
tiefe ſittliche Abſpannung las man auf ſeinem ſonſt wohl-
geſtalten Geſichte. Seit er der Königin durch unziemliche
Bewerbungen misfiel, ſeit er die Stelle eines Großad-
mirals nicht erhielt, weil ſein Muth im letzten Seekriege
zweifelhaft erſchien, war er mit dem Hofe zerfallen. Er
ſprach nicht ohne Verwirrung: „Sire, ich erlaube mir
die Frage, ob die heutige Sitzung ein lit de justice iſt?“
Worauf der König: „Sie iſt eine königliche Sitzung.“
— „So bitte ich um die Erlaubniß,“ fuhr der Herzog
fort, „die Erklärung niederlegen zu dürfen daß ich dieſe
Form der Einzeichnung als ungeſetzlich betrachte; man
muß, um das Parlament der Verantwortlichkeit zu über-
heben, hinzufügen, ſie ſey auf ausdrücklichen Befehl des
Königs geſchehen.“ — „Die Einzeichnung iſt geſetzlich,“
erwiderte der König, „weil ich die Meinung Aller ver-
nommen habe.“


Als der König den Saal verlaſſen hatte, brach die
Bewegung der Gemüther frei hervor. Man umgab den
Herzog, ſagte ihm Dank. Unter denen die zum Frieden
riethen, erblickte man Malesherbes, der kürzlich durch
ſeinen Verwandten den Siegelbewahrer wieder in das
Conſeil gekommen war. Ihm lag es ganz beſonders am
Herzen daß ein zweites, in derſelben Sitzung verleſenes
Edict, für welches auch Breteuil großen Eifer bezeigte,
nicht über der allgemeinen Spaltung zu Grunde gehe.
[126] Dieſes betraf die Reformirten, ihre endliche Wiederein-
ſetzung in einen geringen Theil ihrer ſeit ſo lange verlore-
nen bürgerlichen Rechte, nicht als ob ſie wieder Zutritt
zu bürgerlichen Ämtern erhalten ſollten, nur daß ihre
Ehen, Geburten und Todesfälle künftig der geſetzlichen
Anerkennung und Bezeugung nicht entbehrten. Das Par-
lament ließ ſich nicht aufhalten; es ſagte ſich in der-
ſelben Sitzung von jedem Antheile an der Einzeichnung
des Anleiheedicts aus dem Grunde los, weil die Stim-
men nicht gezählt wären.


Tags darauf verwies der König den Herzog von Or-
leans auf eines ſeiner Landgüter, ließ zwei Parlaments-
räthe, Sabathier und Fréteau auf die hieriſchen Inſeln
bringen. Das Parlament ward nach Verſailles beſchieden
und ſein Proteſt dort aus dem Protocoll ausgemerzt; und
daß man ſich ja nicht unterſtehe ihn wiederherzuſtellen!
Doch verſichert der König zugleich, ſein Wort wegen der
Reichsſtände, ſpäteſtens auf das Jahr 1791, werde ihm
heilig ſeyn. Damit niemand bezweifeln könne, auf welcher
Seite die gute Sache ſey, ward Brienne mit dem Erzbis-
thum Sens, weit reicher als ſein bisheriges, der nicht
minder habſüchtige Lamoignon mit einem großen Geldge-
ſchenke belohnt. Das Parlament beſchränkte ſich auf einen
1788.
Jan. 4.
Beſchluß gegen die Verhaftsbriefe, ganz im Allgemeinen,
als ſtreitend mit dem Staats- und dem Naturrechte. Allein
auch dieſe kleine Genugthuung ward ihm aus ſeinem Pro-
tocoll geſtrichen. Aber es kam wieder und machte nun auf
[127] jene drei Märtyrer für die gemeinſchaftliche Sache die
lebendige Anwendung. Auch die übrigen Parlamente
ſtimmten ein. Und die Sprache dieſer Vorſtellungen tönte
immer gehäſſiger; ſelbſt auf die Königin, daß die Erbitte-
rung gegen den Herzog von Orleans allein von ihr aus-
gehe, ward hingedeutet. Das Edict wegen der Refor-
mirten ließ man ſich gefallen, obgleich es Widerſpruch
fand, beſonders von Seiten d’Espréménil’s, der nurJan. 19.
eine ſeeligmachende Kirche kannte.


Die Verlegenheit des Premierminiſters ſtieg, denn
die Anleihen, mit dem Widerſpruche des Parlaments be-
haftet, hatten keinen Fortgang, und als man Miene machte
die Zwanzigſten nach dem neuen Grundſatze der Gleich-
mäßigkeit gewinnreicher zu erheben, ſträubten ſich die
Provinzen; mehrere derſelben wollten auch von den neuen
Provinzialverſammlungen durchaus nichts wiſſen. Allein
die Noth iſt die Mutter der Erfindungen. Brienne ſetzte
ſich mit ſeinem juriſtiſchen Freunde Lamoignon zuſammen,
beide heckten den Plan aus den Knoten zu durchhauen,
in Maupeou’s Art einen Streich gegen die Parlamente zu
führen. Es war um die Zeit, da an fernen Küſten der
Weltumſegler Lapeyrouſe und ſeine Gefährten zu Grunde
gingen, an deren Unternehmung König Ludwig ſchöne
Hoffnungen geknüpft hatte. Als die traurigen Vermuthun-
gen ſich allmählig zur Gewißheit ſteigerten, ſprach der
König: „Ich wußte es ſchon daß ich nicht glücklich bin.“


Eine Zeitlang herrſchte von Oben her eine räthſelhafte
[128] unheimliche Stille. Es konnte nicht Unthätigkeit ſeyn, da
die Verlegenheiten der Schatzkammer wuchſen. Die Ahn-
dung daß große Dinge im Werke wären ging durch ganz
Frankreich, wie viel ſpannender durch die Hauptſtadt!
Hier wußte man daß in Verſailles eine militäriſch um-
ſtellte Druckerpreſſe arbeite; keiner der Arbeiter durfte aus
dem Gebäude. Militäriſche Vorſichtsanſtalten waren in
allen Provinzen genommen. Was eigentlich beabſichtigt
werde blieb innerhalb des engen Kreiſes der Eingeweih-
ten, dennoch ſprach ſich allerlei herum und für die Parla-
mente ward in den entfernteſten Enden von Frankreich ge-
fürchtet. Es kam Alles darauf an, vor dem vielleicht tödt-
lichen Schlage noch einmal die Stimme zu erheben.


König Ludwig hatte vierzehn Jahre regiert, als am
3. Mai 1788 d’Espréménil ſeine Collegen aufforderte fol-
gende Erklärung zu genehmigen:


„Das Parlament iſt durch offenkundige Thatſachen
und den Zuſammenhang ſattſam bekannter Umſtände
davon unterrichtet daß ein Schlag die Nation treffen
ſoll, deſſen nächſtes Ziel die Magiſtratur iſt.


In Erwägung nun daß die Unternehmungen der Mi-
niſter gegen die Magiſtratur augenſcheinlich ihren Grund
darin haben daß der Hof ſich zwei unſeligen Auflagen
widerſetzt, ſich für incompetent in Steuerſachen erklärt,
die Berufung der Generalſtaaten beantragt und die per-
ſönliche Freiheit der Bürger in Schutz genommen hat;


Daß die gedachten Unternehmungen folglich keinen
andern Zweck haben können, als mit Umgehung, wenn
[129] es möglich iſt, der Reichsſtände zu den alten Verſchleu-
derungen zurückzukehren und zu dieſem Zwecke Mittel
anzuwenden, welche das Parlament zum Widerſtande
auffordern müßten, da es ſeine Pflicht iſt, mit uner-
ſchütterlicher Standhaftigkeit alle Plane, welche die
Rechte und Verpflichtungen der Nation gefährden, zu
bekämpfen, geſtützt auf dem Anſehn der Geſetze, dem
Worte des Königs, dem öffentlichen Glauben und der
Beſtimmung der öffentlichen Abgaben;


In Erwägung endlich daß das Syſtem des einzigen
Willens, welches ſich in den verſchiedenen unſerm
Herrn und Könige abgewonnenen Antworten klärlich
darſtellt, den traurigen Plan der Miniſter die Grund-
lagen der Monarchie zu vernichten aufdeckt, gegen wel-
chen der Nation keine andere Hülfe bleibt als eine förm-
liche Erklärung des Parlaments über die Grundſätze, zu
deren Wahrung es verpflichtet iſt und die Geſinnungen,
zu welchen es ſich immerdar bekennen wird:


Erklärt das Parlament daß Frankreich eine Monarchie
iſt, welche vom Könige nach Geſetzen regiert wird;


Daß einige unter dieſen Geſetzen Grundgeſetze ſind,
welche umfaſſen und heiligen


  • das Recht des regierenden Hauſes zum Throne,
    von Mann zu Mann in Folge der Erſtgeburt, mit
    Ausſchließung der Töchter und ihrer Abkömmlinge;
  • das Recht der Nation die Steuern durch ihre vor-
    ſchriftsmäßig einberufenen und zuſammengeſetzten
    Generalſtaaten frei zu bewilligen;
  • das rechtliche Herkommen und die Capitulationen
    der Provinzen;
  • die Unentſetzbarkeit der Magiſtrate;
  • das Recht der höchſten Gerichtshöfe in jeder Provinz
    die Befehle des Königs in Hinſicht auf ihre Urkundlich-
    keit zu unterſuchen und nur in dem Falle einzutragen,
    wenn ſie den Verfaſſungsordnungen der Provinz und
    den Grundgeſetzen des Staates entſprechen;
  • das Recht jedes Bürgers in keinem Falle vor andere
    Richter geſtellt zu werden als ſeine natürlichen, das
    heißt diejenigen welche das Geſetz ihm anweiſt;
  • endlich das Recht, ohne welches alle anderen nichtig
    ſind, auf Niemandes Befehl, wer es auch ſey, anders
    verhaftet werden zu dürfen als um ohne Verzug in die
    Hände der competenten Richter überzugehen;

Proteſtirt beſagtes Parlament gegen jeden Angriff,
der auf die oben ausgeſprochenen Grundſätze gemacht
werden könnte;


Erklärt einſtimmig daß es von denſelben in keinem
Falle abweichen könne; daß dieſe Grundſätze, welche
ſämmtlich auf gleich feſtem Grunde ſtehen, alle Mit-
glieder des Parlaments verpflichten und in ihrem Eide
begriffen ſind; daß folglich keines ſeiner Mitglieder das
Recht und die Abſicht hat die geringſte Neuerung in
dieſer Hinſicht durch ſein Benehmen gut zu heißen, noch
in irgend einer anderen Behörde als in dieſem Parla-
ment, zuſammengeſetzt aus denſelben Perſonen und mit
denſelben Rechten bekleidet, Platz zu nehmen; und für
den Fall daß die Gewalt durch Zerſprengung des Par-
laments daſſelbe außer Stand ſetzen ſollte die im gegen-
wärtigen Beſchluſſe enthaltenen Grundſätze ſelbſt zu
vertheidigen, erklärt beſagtes Parlament daß es die-
ſelben von jetzt an als ein unverletzliches Pfand nie-
derlegt in die Hände des Königs, ſeiner erhabenen
[131] Familie, der Pärs des Reiches, der Generalſtaaten,
und eines jeden der ſey’s verſammelten oder getrenn-
ten Stände, welche die Nation ausmachen.“


Alle Mitglieder traten einſtimmig bei und vollzogen
die unverzügliche Verſendung dieſer Erklärung in alle Be-
zirke ihres weitläuftigen Gerichtsſprengels. Schon den
Tag vorher ſprach ſich das Parlament zu Pau und am
5ten das zu Rennes, durch dieſelben allgemeinen Befürch-
tungen beſtimmt, ebenfalls verwahrend aus. Um ſo we-
niger Grund den Verbreitungen zu glauben daß d’Espré-
ménil durch Beſtechung eines Druckers oder ſeiner Frau in
den Beſitz der Edicte gelangt ſey, was mit der ſchriftlichen
Erklärung im Widerſpruch ſtände und er ſelber ſtets ge-
läugnet hat.


Gleich am nächſten Morgen caſſirte der König die Er-
klärung nebſt einem etwas früher gefaßten Beſchluſſe gegen
die Erhebung des Zwanzigſten nach neuen Grundſätzen,
deſſen Urheber ein junger Rath Goislard de Monſabert
war. Gegen ihn und d’Espréménil erging ein Verhafts-
befehl, allein es gelang ihnen ſich in ihren Palaſt zu ret-
ten. Auf die Nachricht verſammelt ſich das Parlament,
beſchließt eine Deputation an das Hoflager. Dieſe aber
bleibt ohne Erfolg; denn der Hof benutzt eine in der Eile
unterlaſſene Förmlichkeit der Anmeldung, um ſie zurückzu-
weiſen. Mittlerweile ſieht man den Palaſt von Truppen
umſtellt; es iſt Mitternacht, da tritt ein Gardeofficier als
9*
[132] Überbringer königlicher Befehle ein, verlieſt ſeine Voll-
macht:


  • „Ich befehle dem Herrn Marquis d’Agoult ſich unver-
    züglich zu dem Palaſt zu begeben, an der Spitze von
    ſechs Compagnien meines Garderegiments, ſich aller
    Ausgänge zu bemächtigen und die Herren Duval
    d’Espréménil und Goislard de Monſabert in der
    großen Kammer oder wo es ſonſt ſeyn mag, gefan-
    gen zu nehmen und ſie in die Hände der Beamten der
    Vogtei des Palaſtes, die mit meinen Befehlen ver-
    ſehen ſind, abzuliefern.

Gezeichnet Ludwig.“


Aber der Officier kannte jene Männer, die er weg-
führen ſollte, nicht von Perſon. Auf ſeine Nachfrage tönte
ihm der Ruf entgegen: „Wir ſind alle d’Espréménil und
Monſabert.“ Da zog er ſich zurück und erſchien erſt am
andern Morgen um eilf Uhr wieder vor der Verſammlung,
die ihre Sitzung keinen Augenblick unterbrochen hatte, die-
ſes Mal begleitet von einem Unterbeamten, der ſämmt-
liche Mitglieder kennen mußte. Dennoch wagte dieſer zu
erklären, er ſehe die beiden Herren nicht. Nun aber
machte d’Espréménil dem Auftritte ein Ende, gab ſich
zu erkennen, ſtand auf, proteſtirte und nahm mit der Er-
mahnung die öffentliche Sache nicht zu verlaſſen von ſei-
nen Amtsbrüdern Abſchied. Ebenſo Goislard. Beide ver-
ließen die Inſel des Palaſtes, um in weitentfernte Haft-
orte abzufahren, dieſer nach dem Lyonner Fort Pierre en
[133] Cize, jener auf die Inſel St. Marguerite an der Küſte
der Provence, wo ehemals die eiſerne Maske räthſelhaf-
ten Andenkens in dem feſten Schloſſe verwahrt ward.


Als nach aufgehobener dreißigſtündiger Sitzung die
Mitglieder den Palaſt verließen, wurden hinter ihnen die
Pforten verſchloſſen und blieben mit Wachen beſetzt.


Die ſo ſchweigſam vorbereiteten Edicte enthielten Gu-
tes und Schlimmes, aber nichts was geeignet war die
Gährung der Gemüther zu beſchwichtigen. Die Verifici-
rung und Eintragung der Geſetze wird den Parlamenten
des Königreichs ganz entzogen und einer cour plenière
(ein Wort, welches niemand recht verſtand) übertragen,
deſſen Kern die Prinzen von Geblüt, als geborene Pärs,
die übrigen Pärs und die Mitglieder der großen Kammer
des pariſer Parlaments bilden werden; dazu aber kommt
ein Zuſatz von einer Zahl von vornehmen an den Hof ge-
knüpften Herren, deren Intereſſe ſchon einer gefährlichen
Selbſtändigkeit das Gegengewicht halten wird. Ohne klare
Entſcheidung blieb die Frage, ob ein Einſpruch der cour
plenière
hindernde Macht habe, eben ſo eine andere, ob
künftig Reichsſtände über jedwede neue Steuer berathen
oder vollends entſcheiden ſollen. So viel erfährt man: In
dringenden Fällen iſt die cour plenière verpflichtet die
Steuern vorläufig einzuzeichnen, bis daß die Reichsſtände
zuſammenkommen, auch behält ſich der König die Macht
bevor ſolche Anleihen zu machen, welche keine neue
Steuern nach ſich ziehen. Was mögen das nur aber für
[134] ſeltſame Anleihen ſeyn? und wer entſcheidet ob der Fall
ſo dringend iſt? Vor Allem jedoch: Wie konnten die bei-
den Planſchmiede hoffen die große Kammer für ihre Neue-
rung zu gewinnen, da ſie zu gleicher Zeit die Gerichts-
barkeit ſämmtlicher Parlamente durch 47 ganz neu zu er-
richtende Mittelgerichte beſchnitten? Dieſe, Oberämter
genannt, ſollen über alle bürgerliche Streitigkeiten, welche
nicht über 20,000 Livres hinausgehen, erkennen, in pein-
lichen Sachen aber überall, wo weder Geiſtliche noch
Edelleute die Angeklagten ſind. Und das hieß nun vollends
dem dritten Stande ins Auge ſchlagen! In dieſem Geleite
misfielen ſelbſt manche unläugbare Verbeſſerungen, als
z. B. die wirklich längſt nöthigen Mittelgerichte, zwiſchen
Parlament und Untergericht (Amt) ſtehend, die Beſei-
tigung einer Menge von Ausnahmegerichten, ferner daß
die Folter, ſchon ſeit acht Jahren im Proceſſe abgeſchafft,
fortan auch nicht mehr vor der Hinrichtung, zum Zwecke
der Entdeckung von Mitſchuldigen, in Anwendung kom-
men darf.


Um nun aber für dieſe Neuerungen einen geſetzlichen
Eintritt ins Leben zu gewinnen, mußte abermals ein lit
Mai 8.de justice daran, dieſes Mal zu Verſailles früh Morgens
neun Uhr gehalten. Die Rede des Königs begann mit
den Sturm drohenden Worten: „Es giebt keine Aus-
ſchweifung, welcher ſich mein Parlament von Paris nicht
ſeit einem Jahre überlaſſen hätte.“ Der Übergang zur
Hauptſache mit den Worten: „Ein großer Staat bedarf
[135] einen einzigen König“ (Wären denn für einen kleinen meh-
rere Könige noth?), „ein einziges Geſetz, eine einzige
Einregiſtrirung,“ konnte gerade nicht für geiſtreich gelten.
In der gern vernommenen Äußerung „daß die états-géné-
raux
nicht nur das eine Mal, ſondern jedes Mal, wenn
die Bedürfniſſe des Staates es erfordern, verſammelt
werden ſollen,“ war doch noch immer nicht deren regel-
mäßige Wiederkehr enthalten. Als nun die Einzeichnung
nicht ohne Widerſpruch abgezwungen war, proteſtirten
alle Mitglieder des Parlaments gleich nach der Sitzung
von einem verſailler Gaſthofe aus, und die von der erſten
Kammer weigerten ſich in die cour plenière zu treten. Ihre
Beharrlichkeit ward nicht wenig durch die Nachrichten aus
den Provinzen beſtärkt. Die Mehrzahl der bretagniſchen
Edelleute unterzeichnete eine Erklärung, in welcher ſie ei-
nen jeden für ehrlos erklären, der eine Stelle in der neuen
Ordnung der Dinge annähme; und ſie glaubten hiemit
noch nicht genug gethan zu haben. Man faßte eine An-
klage der Miniſter ab und ſchickte zwölf Abgeordnete, um
ſolche dem Könige zu überreichen. Dieſe nun fanden ihr
Unterkommen in der Baſtille. Sogleich aber reiſte eine
zweite noch zahlreichere Deputation ab, um ihre Loslaſſung
zu verlangen; der Intendant der Provinz, Bertrand de
Molleville, Anfangs übereifrig in des Königs Dienſt,
ſah ſich zur Flucht genöthigt. Es ſchien hier eine blutige
Entſcheidung bevorzuſtehen, und faſt nicht minder aufre-
gend wirkten die Berathungen der ergrimmten bretagner
[136] Deputirten in der Hauptſtadt, an welchen außer allen in
Paris gerade anweſenden Edelleuten aus der Bretagne
auch viele andere Adlige theilnahmen, und nicht bloß als
Zuhörer, auch als Mitunterzeichner. Durch dieſen Mis-
griff verlor Lafayette ſein Commando, Andere büßten
ihre Penſionen, ihre Hofämter ein. In der Bretagne
mußte ein Regiment aufgelöſt werden, weil die Officiere
ſich weigerten ihren Befehlshabern zu gehorchen. Auch in
der Provence, im Languedoc und im Rouſſillon zeigten
ſich ernſthafte [Bewegungen], nirgend aber gefährlicher als
im Dauphiné. Als hier der unvorſichtige Gouverneur
Verhaftsbriefe gegen die Parlamentsglieder anwandte,
brachte ihn ein Aufſtand in Grenoble bald in die Lage daß
er den Beiſtand ſeiner Gefangenen für die eigene Rettung
anrufen mußte. Die Truppen bewieſen ſich auch hier lau,
mancher Officier gab bedenkliche Erklärungen. Am Ende
nahmen einige Männer von Gewicht, gleich bedacht der
Anarchie zu ſteuern wie den Kampf gegen die Miniſter
nicht aufzugeben, ſich des Gemeinweſens an, ſtellten auf
eigene Verantwortlichkeit die Provinzialſtände des Dau-
phiné wieder her, welche ſeit 1628 nicht zuſammengekom-
men waren. Ein noch junger Mann von ernſter Bildung,
der königliche Richter in Grenoble, Mounier, trat an die
Spitze dieſer ſtändiſchen Schöpfung, welche ohne Erlaub-
niß der Regierung geſtaltet, kaum von ihr geduldet, den-
noch die zarte Gränze des Gehorſams einzuhalten bemüht
Aug.war. Schließlich aber gerieth man doch dahin daß man
[137] vor Allem auf Reichsſtände antrug. Man konnte ſich in
dieſem Betracht nicht der Voreiligkeit anklagen. Einige
Monate früher ward der Klerus vom Premierminiſter ver-
ſammelt (es war ſeine letzte Verſammlung im altkönig-
lichen Frankreich) und um eine Beihülfe von 1,800,000
Livres für dieſes Jahr und um eben ſo viel für das nächſte
angeſprochen; die Beihülfe ſchlug er ab und ſtimmte in
den allgemeinen Wunſch nach Reichsſtänden ein.Juni 15.


Um dieſe Zeit reichte Malesherbes eine Denkſchrift
ein, bat die Unruhen nicht für unbedeutend zu halten,
das habe der Londner Hof gethan den Amerikanern gegen-
über, der Kaiſer eben ſo in ſeinen Niederlanden, und beide
haben ſich getäuſcht. Seine Hoffnung iſt nicht auf hiſto-
riſche Stände gerichtet, nach deren Zuſammenſetzung
Brienne in den Archiven forſchen läßt und die Schriftſtel-
lerwelt ſogar einladet ſich über dieſen Gegenſtand zu ver-
breiten, Malesherbes verlangt Stände, die das Leben,
wie es wirklich vorliegt, abbilden; er glaubt ſie in frei-
gewählten Grundbeſitzern zu erkennen. Auf dieſe geſtützt,
meint er, könne man den Parlamenten getroſt entgegen-
treten. Las der König dieſe Denkſchrift? Er ſchien ſich
um dieſe Zeit der Regierungsangelegenheiten gefliſſentlich
zu entſchlagen; er jagte.


Brienne hatte ſeinen Vorrath von Finanzkünſten er-
ſchöpft; noch einmal verſuchte er die Sprödigkeit der öf-
fentlichen Meinung zu überwinden, indem er ſeine cour
plenière
bis zu der Verſammlung der Reichsſtände ver-
[138] tagte, dieſe aber ſchon auf den erſten Mai des nächſten
Aug. 8.Jahres ankündigte. Darüber freute man ſich, aber es
lag zu ſehr das Bekenntniß ſeiner Finanzverlegenheiten
darin, als daß man Dankbarkeit empfunden hätte. Nicht
zunächſt das Volk, die Regierung bedurfte der Reichs-
ſtände. Wirklich griff Brienne in den letzten Wochen zu
den Mitteln der Verzweiflung. Schon waren öffentliche
Zahlungen angekündigt, die theilweiſe in Papiergeld, in
Schatzkammerſcheinen geſchehen ſollten, man fürchtete ei-
nen Eingriff in die Barſchaften der Discontocaſſe, als
Brienne an Necker die Frage richtete, ob er ſein General-
controleur werden wolle. Necker war klug genug nicht un-
ter ein Dach zu treten, welches mit dem Einſturz drohte.
Als ſein Nein eintraf, ſpielte Brienne den Großmüthigen,
Aug. 25.nahm ſeine Entlaſſung und ward mit dem Cardinalshute,
mit reichen Spenden aller Art und durch die Thränen der
Königin für den Verluſt ſeiner Macht entſchädigt. Nicht
lange, ſo wurden die verhaßten Edicte aufgehoben und
die Parlamente ihrem alten Geſchäftskreiſe zurückgegeben.
Auch Lamoignon ſchied trauernd und mit vielem Gelde ge-
tröſtet vom Amte. Sein Nachfolger ward Barentin.


Allgemeiner ausſchweifender Jubel erſcholl als man
von dem Falle des Erzbiſchofs vernahm und daß Necker
mit freier Hand in die Finanzen trete. Die Zukunft Frank-
reichs beruhte von nun an hauptſächlich darauf, ob Necker
zur Klarheit darüber gelangte daß die Reichsſtände unend-
lich viel mehr bedeuteten als der Drang der Finanzen.


[[139]]

Zweites Buch.
Das neue Frankreich und ſein Koͤnigthum.


[[140]][[141]]

1. Die Form der Reichsſtaͤnde.


So lange die unumſchränkte Herrſchaft dauert iſt der
Staat ein mythologiſches Weſen; Alles kommt darauf
an den Mythus feſtzuhalten daß Macht und Weisheit, un-
auflöslich verſchlungen, auf demſelben Throne ſitzen, ohne
ſich einander zu verdrängen. Sobald aber regelmäßig wie-
derkehrende Ständeverſammlungen berufen werden, nimmt
das Wiſſen vom Staate ſeinen Anfang. Es iſt nun von
Oben her anerkannt daß der Inhaber der Macht ungenü-
gend berathen ſeyn könne. Eine Lücke im Staatsweſen iſt
zugeſtanden, welche durch Einſicht aus dem Volke her er-
gänzt werden ſoll. Aber jede Einſicht iſt Macht, aus Vie-
len und Erleſenen redend große Macht. Darum werden
Reichsſtände, wie man ſich auch ſtelle, immer eine ent-
ſcheidende Stimme führen, und beharrt eine Staatsregie-
rung dabei ſie als bloß rathgebend zu behandeln, ſo ver-
tieft ſie ſich in einen Wortſtreit, bei welchem ſie nothwen-
dig den Kürzeren ziehen muß. Beſonders entſcheidend
mußten die Generalſtaaten Ludwigs XVI. auftreten, und
[142] es war von Anfang an zu fürchten daß ſie die Regierung
an ſich reißen möchten. Darum durfte ihr Verſammlungs-
ort für das Mal vor allen Dingen nicht in der bereits ge-
fährlich aufgeregten Hauptſtadt ſeyn. Auch Verſailles
ſtand viel zu nahe und bot als der glänzende Mittelpunct
aller Misbräuche und Hoffarth ohnehin keinen für das
Königthum günſtigen Anblick dar. Wenn der König die
Verſammlung ſey es nach Troyes oder Orleans beſchied,
und die Königin vermocht werden konnte ihn nicht zu be-
gleiten, ſo waren vielfache Anſtöße entfernt. Aber freilich
gehörte noch weit mehr dazu, um einen günſtigen Aus-
gang ſicher zu ſtellen. Niemand zog damals das Recht der
Krone in Zweifel die Form der Reichsſtände vorzuſchrei-
ben. Hier kam es nicht auf antiquariſche Unterſuchungen
an, wie es vor 175 Jahren damit geſtanden. Die Beru-
fung der Reichsſtände bedeutete in dieſem Augenblicke
nichts Geringeres als eine neue Verfaſſung, zugleich konnte
die Verbeſſerung der Finanzen nur durch weſentliche Umge-
ſtaltungen in der Verwaltung bewirkt werden; Alles hing
davon ab einer Verſammlung das Daſeyn zu geben,
welche tiefgreifende Beſchlüſſe mit Beſonnenheit zu faſſen
und die Macht der Krone ſie durchzuführen weiſe in Ehren
zu halten verſtand. Nun iſt es ein Irrthum zu glauben,
die Grundformen der engliſchen Verfaſſung hätten einen
bloß nationalen Grund. Die innerſte Natur des Geſchäf-
tes führt darauf daß Berathſchlagungen, auf deren Gelingen
das Heil des Gemeinweſens beruht, in zwei verſchiedenen
[143] und verſchiedenartigen Verſammlungen gepflogen und
allein diejenigen Gegenſtände, über welche beide ſich Eins
geworden ſind, dem Könige zur Entſcheidung vorgelegt
werden. Dieſe Form der Verhandlung vermeidet die Zu-
fälligkeiten, welche ſtets an der Stimmenmehrheit in einer
einzigen Verſammlung haften, vermeidet das von mehr
als zwei Kammern unzertrennliche verhaßte Gefühl von
einer Minorität der Köpfe beherrſcht zu werden, vermei-
det die Gefahren leidenſchaftlicher, häufig bald hernach
bereuter Beſchlüſſe, indem der lobenswerthe Ehrgeiz jeder
Kammer dahin geht auf ihre Amtsgenoſſin berichtigend
einzuwirken. Ganz beſonders aber gewährt dieſe Ordnung
treuen Schutz der Krone vor der Erſchütterung, welche
die brauſende Welle der Berathungen ſo vieler Köpfe leicht
hervorbrächte, ſchlüge ſie ungebrochen immerfort geradezu
an den Thron an. Von der anderen Seite wirkt ſie eben
ſo kräftig für die Freiheit, ſowohl in außerordentlichen
Fällen dem Despoten gegenüber, der in der Unwandel-
barkeit einer erblichen Kammer das entſchiedenſte Hinder-
niß ſeiner Plane findet, als im ordentlichen Laufe der
Dinge, weil ein in beiden Kammern übereinſtimmend gefaß-
ter Beſchluß als die wirkliche Stimme des Volks vor dem
Throne erſcheint, mithin in der Regel die königliche Ge-
nehmigung nach ſich zieht. Dieſe Einſicht ſtand auch ſeit
Montesquieu den Franzoſen von Bildung nicht mehr fern,
ſie ließ ſich bei den Einen auf Englands altbewährten
Vorgang, bei den Andern auf die Nordamerikaner ſtützen,
[144] welche mit ſo ganz und gar keinem ariſtokratiſchen Mate-
rial verſehen und wahrlich nicht danach geſtimmt der Mut-
ter nachzuäffen, um ihrer eigenen Wohlfahrt willen die
Bildung von Senaten den Volkskammern gegenüber nicht
verſchmäht haben. Und eben mit Nordamerika war auch
gleich der klägliche Einwand abgeſchnitten daß England
wohl bewundert, aber nicht nachgeahmt werden dürfe.
Denn wo ſich auch eine ſo treffliche Gliederung der Volks-
mannigfaltigkeit nicht findet, wie ſie in England ſich dem
Unterhauſe gegenüber als Oberhaus geſtaltet, da finden
ſich doch ſicherlich die Unterſchiede des Alters, der Würde
und der Amtserfahrung, mithin Elemente zu einem Senat
von bleibenden, vielleicht lebenslänglichen Mitgliedern,
der raſcher wechſelnden Volkskammer gegenüber. In Frank-
reich aber bot ſich ſchon in den Pärs, deren derzeit im
Ganzen ungefähr 60 waren, kein verächtliches Material
auch zu erblichen Mitgliedern dar, und keine Frage daß
die hohe Geiſtlichkeit, wenn auch bloß durch die ſieben
geiſtlichen Pärs vertreten, ſich hier mehr zu Hauſe gefühlt
hätte als, wie es ſpäter kam, mit der niederen Geiſtlichkeit
in demſelben Standesſaale zuſammengeſperrt und von ihr
überſtimmt. Was aber die Geſinnung betrifft, ſo zeigte
die Hälfte der Pärs und ein bedeutender Theil des Adels
bald daß er nicht blind an der Steuerfreiheit ſeines Stan-
des hafte, und wenn dem Könige, wie billig, freie Hand
blieb außerdem Mitglieder jedes Standes, durch Ver-
dienſte und Erfahrung ausgezeichnet, zur erſten Kammer zu
[145] ernennen, ſo ließ ſich ein Oberhaus erwarten, welches
keineswegs mit bloß erborgtem Lichte geglänzt hätte.
Selbſt der Staatsbankerutt, unabwendbar drohend, wenn
man unverrichteter Sache aus einander ginge, und in ſei-
nem Gefolge eine Staatsumwälzung, legte eine furcht-
bare Waffe in des Miniſters Hände, welcher ſie gegen
Starrköpfe wie Artois zu gebrauchen verſtand. Auch die
zwar aufgeregte, aber durchaus noch nicht unverbeſſerlich
irregeführte öffentliche Meinung war für eine getheilte
Reichsſtandſchaft zu gewinnen, wovon die um dieſe Zeit
erſchienenen Schriften von Mounier, Bergaſſe, von dem
Biſchof von Langres de la Luzerne, dem Grafen Laura-
gais und andern genugſam Zeugniß geben, und in Be-
nutzung dieſes ſicheren Fahrwaſſers ließ ſich dann ferner
von Anfang her den Provinzen kundthun daß ihre Depu-
tirten zwar mit Aufträgen verſehen, aber an keine Vor-
ſchriften gebunden werden dürften. Daneben mußten Be-
ſtimmungen für die Wähler und die Wählbarkeit zur zwei-
ten Kammer erlaſſen werden, und für jetzt war zu wün-
ſchen daß beide Berechtigungen an einen gewiſſen Grund-
beſitz, übrigens ohne Unterſchied des Standes, geknüpft
würden. Zur Aushülfe konnte eine gewiſſe Steuerquote
hinzutreten. Weil aber die beſten Grundſätze nur dann
etwas für die Welt bedeuten, wenn ſie von Lebendigen
zu rechter Zeit vertreten werden, ſo galt es nun vor allen
Dingen für den praktiſchen Staatsmann, durch die Kraft
der Überzeugung, welche von hoher Stelle aus mächtig
Franzöſiſche Revolution. 10
[146] wirkt, eine Schaar von Gleichgeſinnten um ſich zu ver-
ſammeln, die emporſtrebenden Talente durch Ausſichten
zu beflügeln und Alles in folgerechte Thätigkeit zu ſetzen.
Ein Paar Männer aus dem engeren Kreiſe rückten dann
wahrſcheinlich in die Stellen einiger unbrauchbarer Mini-
ſter ein, damit in jeder Kammer die Rechte der Krone
durch ihre höchſten Diener mit der Unmittelbarkeit des
Worts vertreten und die nöthigen Aufklärungen ertheilt
würden. Gewiß, das waren ſchwere Aufgaben, deren
Kämpfe ſich kein Staatsmann von freien Stücken erwählt,
allein die Sachen waren bereits dahin gediehen, daß das
Gewagteſte für das Sicherſte gelten konnte, wenn es nur
das Gepräge von Einſicht und Willensſtärke trug.


Necker war zum Principalminiſter zwar nicht ernannt,
wie Brienne, aber er ward als ein ſolcher behandelt und
ſein Ehrgeiz entzog ſich dieſer Stellung keineswegs. Wenn
er nun nicht bloß Finanzmann, wenn er wirklich Staats-
mann war, ſo mußten die eben aufgeſtellten Erwägun-
gen ſeinen Geiſt beſchäftigen und zur angeſtrengteſten Thä-
tigkeit beſtimmen. Was ihn dabei in Verlegenheit ſetzen
konnte, war daß ſein leichtfertiger Vorgänger die Friſt
bis zu den Reichsſtänden ſo kurz geſtellt hatte. Mit einem
Aufſchub aber anfangen war gehäſſig und wegen der nach
Bewilligungen drängenden Finanzen überaus ſchwierig.
Was that nun Necker? Allein es ſoll dem Zuſammenhange
der Begebenheiten nicht vorgegriffen werden.


In Behandlung der Finanzen ließ Necker nichts zu
[147] wünſchen übrig. Er half den dringendſten Bedürfniſſen
durch ein Paar Millionen ab, die er aus eigenem Ver-
mögen einſchoß, und gab dem Patriotismus Anderer da-
durch einen Antrieb. Keine Rede mehr von aufgedrunge-
nem Papiergelde. Die Hauptſache freilich mußte doch am
Ende die Discontocaſſe, das Ehrendenkmal Turgots, thun.
Es war verzeihlich oder eher löblich daß Necker in dieſer
äußerſten Noth den König bewog, die Verwalter der Dis-
contocaſſe von ihrer Verpflichtung durchaus keine Geldge-
ſchäfte mit den Finanzen zu machen zu entbinden, ſo daß
er in den erſten acht Monaten ſeiner Verwaltung nach und
nach wohl 60 Millionen von ihr anlieh. Gleichwohl
mußte eine Menge von Zahlungen unberichtigt bleiben.
Es war verzeihlich daß er in dieſem Drange, welchen er
ſpäterhin vergeblich abläugnen möchte, ſogar dahin ge-
rieth, die Eröffnung der Verſammlung der Reichsſtände
noch zu verfrühen, vorausgeſetzt daß in der Zwiſchenzeit
für die Löſung dieſer Hauptaufgabe das Genügende vor-
bereitet werden konnte.


Ein unbedachter Schritt des Parlaments erleichterte
im rechten Augenblicke Neckers ſtaatsmänniſche Thätigkeit.
Der König verkündigte die Reichsſtände ſchon auf nächſtenSept.23.
Januar. Nun regiſtrirte das Parlament zwar dieſes
Edict, aber fügte die Clauſel hinzu: „in der im Jahre
1614 beobachteten Form.“ Das hieß Reichsſtände beru-
fen, in welchen jeder Stand ein Veto gegen den andern
gehabt hätte; es war unmöglich mit einer ſolchen Ver-
10*
[148] ſammlung die nöthigen Verbeſſerungen zu bewirken. Auf
einen Schlag aber war es jetzt auch mit der Popularität
des pariſer Parlaments und der Achtung zu Ende, welche
ihm ſelbſt ruhige Beobachter eine Zeitlang zollen mochten.
Man warf ihm öffentlich ſeinen Standesegoismus vor,
daß es nicht an das Volk, nur an ſeinen erblichen Adel
denke, das Vorrecht jedes Mitgliedes dieſes Parlaments.
Als der freigegebene d’Espréménil auf ſeiner Rückreiſe
durch Frankreich ſeine Parlamentsapotheoſen wiederholte,
ward er wie ein faſelnder Geck betrachtet. Hierauf ließ
ſich etwas gründen. Der Widerſtand dieſes Parlaments,
welcher eben noch unüberwindlich ſcheinen konnte, war
durch ſeine eigene Schuld gebrochen. Wenn nichtsdeſto-
weniger Necker ſich nicht ſtark genug hielt ein Zweikam-
merſyſtem ſofort durchzuſetzen, ſo öffnete ſich ihm ein zwei-
ter Weg. Der ganze dritte Stand, das heißt ungefähr
24 Millionen Franzoſen und außerdem eine Anzahl ein-
ſichtiger Männer vom Adel ſtimmten darin überein daß
der dritte Stand mindeſtens ſo viel Repräſentanten erhal-
ten müſſe als Geiſtlichkeit und Adel zuſammengenommen.
Man konnte dafür ſogar das Herkommen anführen, weil
wirklich in den alten Etats-généraux der dritte Stand ge-
wöhnlich am zahlreichſten erſchien, obgleich er in einigen
Provinzen bloß aus Städtern beſtand, während er in den
andern auch die Landleute begriff. Den privilegirten Stän-
den konnte das gleichgültig ſeyn, ſobald jeder Stand für
ſich abſtimmte, wovon auf älteren Reichstagen freilich
[149] auch das Gegentheil vorgekommen. Gegenwärtig aber
ging mit dem Begehren nach Verdoppelung des dritten
Standes die zweite Forderung Hand in Hand daß nicht
mehr nach Ständen geſtimmt, ſondern nach Köpfen durch-
geſtimmt werde. Doppelt ſo ſtark erſchienen zu ſeyn und
doch unterliegen zu müſſen wäre nur eine Erniedrigung
mehr geweſen. Neuerliche Ereigniſſe hatten die Befriedi-
gung beider Wünſche in Ausſicht geſtellt. Der König hatte
die Provinzialverwaltungen in Steuerſachen auf dieſem
Fuß eingerichtet: Verdoppelung des dritten Standes und
Durchſtimmen nach Köpfen; die Provinzialſtände, welche
das Dauphiné ſich gab, auf derſelben Grundlage einge-
richtet, erhielten königliche Beſtätigung. Wenn nun der
König bei Berufung der Reichsſtände, auf das Herkom-
men und die Billigkeit, insbeſondere in Bezug auf Steuer-
ſachen geſtützt, dieſe Grundform des Reichstags verkün-
digte, ſo gewann er die Stimme des Volks für ſich. Ein
Theil des Adels und die höhere Geiſtlichkeit konnte das
übel empfinden, allein vom Reichstage darum ausbleiben
hieße Alles aufs Spiel ſetzen wollen. Zu gleicher Zeit
aber konnte der König, indem er in ſeinem Berufungs-
ſchreiben den nächſten Reichstag bloß auf Steuerſachen
beſchränkte, die privilegirten Stände darüber beruhigen,
daß ihre Einbußen nicht über die Gleichheit der Beſteue-
rung hinausgehen würden; er konnte endlich weiter gehen-
den Hoffnungen ſo entgegenkommen, daß in dem Ausſchrei-
ben hinzugefügt ward, ein Ausſchuß, theils vom Könige
[150] theils von den Ständen ernannt, werde nach Entlaſſung
der Reichsſtände zuſammentreten, um an der künftigen
Verfaſſungsordnung zu arbeiten, auf deren Grund ſodann
die reichsſtändiſche Verſammlung des Jahres 90 werde
berufen werden. Dergeſtalt ließ ſich noch immer, den
König ſtets leitend voran, zu einem Zweikammerſyſtem
gelangen.


Necker ergriff den unſeligſten Ausweg von allen, ließ
den König nichts entſcheiden; er, der froh ſeyn muß un-
beengt vom Parlament zu ſeyn, ſchafft ſich künſtlich eine
neue Hemmung, beruft die früheren Notabeln zum zwei-
ten Male; ſie ſollen ihm Rath geben in Bezug auf die
Form der Reichsſtände. Dieſe ſitzen vom 6ten November
bis zum 12ten December. Die nächſte Folge davon iſt
ſchon daß nun im Januar nichts aus den Reichsſtänden
werden kann; die weitere Folge daß er am 13ten Decem-
ber ſo klug iſt als er am 5ten November war. Ihre Zu-
ſammenſetzung war die alte, nur daß man ſich jetzt in
ſechs Büreaus, ſtatt ſieben theilte, weil einer der den Vorſitz
führenden Prinzen, der Herzog von Penthièvre mittlerweile
geſtorben war. Für die Verdoppelung des dritten Standes
entſchied ſich ein einziges Büreau, das von Monſieur, und
nur mit der zufälligen Mehrheit einer einzigen Stimme.
Dasſelbe machte auch den Grundſatz geltend daß die größeren
Ämter zahlreicher vertreten werden ſollten als die kleineren,
doch ebenfalls ohne Erfolg. Ein einziger Punct von Be-
lang ging durch, wahrſcheinlich weil man die Folgen
[151] nicht ahnte, daß nämlich auch die niedere Geiſtlichkeit für
wählbar erklärt ward und eben ſo der ganze Adel, ohne
Rückſicht darauf, ob er mit Lehen oder überhaupt nur mit
Grundſtücken angeſeſſen ſey.


Es läßt ſich nicht bezweifeln daß eine Verſtändigung mit
dem Parlament viel weiter geführt hätte. Die Mehrzahl
ſeiner Mitglieder bereute bitter jenen Schritt des Wider-
ſpruchsgeiſtes, welchen es mit ſeiner Volksgunſt bezahlt
hatte; manche Räthe wünſchten in die Reichsſtände, ſey’s
vom Adel, ſey’s in den dritten Stand gewählt zu werden.
Das Parlament verrieth ſeine verſöhnliche Stimmung
durch ein Erklärung an den König, worin es die ZahlDec. 5.
der Abgeordneten jedes Standes, als weder durch Geſetz
noch Herkommen beſtimmt, dem königlichen Ermeſſen an-
heimſtellte und einige volksfreundliche Wünſche hinzufügte,
als da ſind: die Berufung der Reichsſtände in feſtgeſetzten
Zwiſchenräumen, die Verklagbarkeit der Miniſter durch
die Reichsſtände vor dem Parlament, die Beſteurung
nicht länger nach dem Stande, ſondern nach der Steuer-
kraft; ſogar der Preßfreiheit ward gedacht und daß die
Verantwortlichkeit der Verfaſſer vor dem Geſetz an die
Stelle der Cenſur treten möge. Es war der Augenblick
gekommen, da es möglich ſchien dieſe erſte Körperſchaft
des Staates, welche einzuſehen anfing daß ihr Licht er-
bleiche, ſobald es wieder Reichsſtände gebe, für die
Stützung eines Verbeſſerungsplans ohne Umwälzung zu
gewinnen. Aber Necker hatte keinen Plan und auf ſeinen
[152] Rath lehnte der König eine Annäherung, welche ſämmt-
liche Parlamente des Reiches nach ſich gezogen hätte, mit
trockenen Worten ab.


Es gab eine zeitgemäße folgenreiche Überzeugung, die
man als durchgedrungen betrachten durfte. Das iſt die künf-
tighin gleiche Vertheilung der Steuern. In Bezug auf
dieſen Punct hatten ſich beide, Notabeln und das Parla-
ment, der öffentlichen Meinung angeſchloſſen. Dreißig
Dec. 20.Herzoge und Pärs gaben eine Erklärung an den König in
demſelben Sinne ab. Selbſt eine ſonſt alle Neuerungen
verdammende, unvernünftig heftige Adreſſe von fünf
Prinzen von Geblüt, den Grafen von Artois an der
Spitze, giebt im Angeſicht des Monarchen zu daß die
Großmuth der beiden erſten Stände ſie wohl dahin führen
dürfte. Dieſer Umſtand, wohlbenutzt, mußte große reichs-
ſtändiſche Erfolge ſicherſtellen.


Allein Necker benutzte nichts, man ſieht ihn nie von
ſeiner Throneshöhe herabſteigen, um menſchliche Verbin-
dungen zu knüpfen. Er kennt nur ſein Cabinet und ſeine
damals unumſchränkte Macht über König und Königin,
nebſt den Meinungen der Hofleute. Es ſollen in dieſen
Monaten der Aufregung wohl an 3000 Flugſchriften in
Frankreich erſchienen ſeyn, und die verſchiedenſten Mei-
nungen machen ſich geltend, aber nirgend entdeckt ſich eine
Spur daß Necker Federn für ſeine Zwecke in Bewegung
geſetzt hätte. Auch ergiebt ſich das Talent nur Solchen,
welche etwas nachhaltig wollen. Man kann jedermann
[153] den Weg zeigen, nur nicht dem, der nicht weiß wohin er
will. Während Necker mit dem Winde trieb, glaubte er
Alles zu lenken, weil ſein Fahrzeug ein Steuerruder hatte
und man ihn den Steuermann hieß. Was er am Ende
aus dem Staatsrathe verkündigte, war: Der Abgeordne-Dec. 27.
ten ſollen mindeſtens tauſend ſeyn; ihre Zahl wird für jeden
Amtsbezirk nach Maßgabe ſeiner Bevölkerung und ſeiner
Steuerquote beſtimmt; Pfarrer ſind wählfähig und wahlfä-
hig, ebenſo unangeſeſſene Edelleute und Nichtkatholiken;
trotz den Notabeln ſoll die Verdoppelung des dritten Standes
ſtattfinden, welcher übrigens ſo wenig als die andern
Stände in der Wahl ſeiner Abgeordneten an ſeine Stan-
desgenoſſen gebunden iſt. Der Hauptpunct, welcher der
Verdoppelung erſt Werth gab, bleibt der Entſcheidung
der Stände ſelber, „der Liebe zum Staatswohle“ anheim-
geſtellt, unter Vorbehalt jedoch der königlichen Genehmi-
gung. Lediglich eine Andeutung erfolgt daß bei Geldfragen
eine gemeinſame Berathſchlagung wünſchenswerth ſcheine.
Die Sache war hiemit, da man die Geſinnung der Mehr-
zahl des Adels kannte, gegen die Wünſche des dritten
Standes entſchieden, ſo lange Alles in geſetzlicher Ord-
nung blieb; zu gleicher Zeit fühlte ſich der dritte Stand
durch die Verdoppelung angeſtachelt, auf irgend einem
Wege gleichwohl zum Ziele der Ständevereinigung zu ge-
langen.


So ſchwere Unterlaſſungsſünden und ihre furchtbaren
Folgen haben Neckern nicht abgehalten am Ende ſeiner
[154] Tage das Bekenntniß abzulegen: „daß er die Welt voller
Fehler ſehe und man ihm ſelber deren viele vorgeworfen
habe, allein bei der täglichen Gelegenheit zu den wichtig-
ſten Fehlgriffen habe er ſich nach der gewiſſenhafteſten Un-
terſuchung in Abſicht der ganzen Vergangenheit zu ſeiner
eigenen Verwunderung auch nicht einen einzigen Vorwurf
machen können.“


Das Jahr 88 ging unfroh zu Ende. Einem ſehr trocke-
nen Sommer mit Hagelſchlag waren Miswachs und Theu-
rung gefolgt. Die Regierung ſetzte Prämien auf die Korn-
einfuhr und verdoppelte dieſe. Schon am 26ſten Novem-
ber fror die Seine zu, am letzten Jahrestage ſtand das
reaumürſche Thermometer 18¾ Grade unter dem Gefrier-
punct. Die älteſten Leute wußten von keinem ſo ſtrengen
Winter zu ſagen und der ſo lange angehalten hätte. Trotz
dieſen allgemeinen Leiden brach in der Bretagne unter den
gerade verſammelten Ständen die lange genährte Zwie-
tracht in lichte Flammen aus. Der Bürgerſtand wollte die
Verdoppelung und was aus ihr folgte, der Adel pro-
teſtirte gegen die Neuerungen der Miniſter. Studenten
und junge Bürger griffen zu den Waffen, unter den Füh-
rern ſah man einen jungen Rechtsgelehrten, Namens
Victor Moreau. Als nun der Adel ſich und ſein Geſinde
und einen Haufen Tagelöhner bewaffnet dagegen ſtellte,
ſchrieben jene an die anderen Städte der Bretagne, und
ihre junge Mannſchaft brach zur Hülfe auf. Es kam in
Rennes zu blutigen Auftritten, bis daß die Edelleute ſich
[155] zurückzogen. Die Regierung, auf den Adel erzürnt, griff
nicht weiter ein, als daß ſie den Landtag ſchloß. In der
Hauptſtadt war man es endlich müde geworden, den
Strohmann Brienne und ſeine Strohfrau den Lamoignon
öffentlich zu verbrennen, und den Herzog von Orleans,
wenn er ſich wie zufällig dabei blicken ließ, zu beklatſchen.
Die Raufereien mit der Polizei ließen nach. Allein man
ſtritt ſich, ob die Bäcker oder die Aufkäufer die meiſte
Schuld an den theuern Brodpreiſen trügen, und wer die
Ariſtokraten dazwiſchen ſchob, fand großen Beifall. Dar-
über herrſchte nur eine Stimme, man müſſe Alles an
die reichsſtändiſchen Wahlen ſetzen.


[[156]]

2. Die Wahlbewegung.


Noch waren die bretagner Stürme nicht beſchwichtigt,
die junge Mannſchaft ſtand unter den Waffen, und ward
von Müttern, Schweſtern, Gattinnen und Geliebten mit
Manifeſten begrüßt, die ihnen Mundvorrath und im Falle
1789.
Jan. 24.
rühmlicher Wunden Verpflegung boten, — als das Wahl-
geſetz erſchien. Die Aufgabe deſſelben war verwickelt,
denn eine Wahl der Wähler ſollte angeordnet und zugleich
dafür geſorgt werden daß nach altem Herkommen jede De-
putation ihre ſchriftlichen Inſtructionen, ihr ſogenanntes
Cahier mit ſich bringe. Da erhält nun was den dritten
Stand betrifft jeder Franzoſe von 25 Jahren, der ſeinen
Wohnort in einer Gemeinde des Wahlbezirks hat und in
der Steuerrolle ſteht, das Recht zu wählen und gewählt
zu werden, weil aber nicht füglich Alle unmittelbar an
der Wahl theilnehmen können, iſt Anſtalt getroffen, ein
Procent dieſer Berechtigten aus Corporationen, Zünften
oder ſonſt wählen zu laſſen. Dieſe erſte Auswahl begiebt
ſich auf das Stadthaus, bringt dort ihre Klagen und
[157] Wünſche zu Papier, ernennt dann abermals aus eigener
Mitte Einen Mann von deren Hundert zum engeren Aus-
ſchuſſe, welcher dann zu ſeiner Zeit gleichzeitig mit den
beiden anderen Ständen die Deputirtenwahl vollbringt.
So in kleineren Amtsbezirken. Wo aber Oberämter ſind,
zu denen mehrere Unterämter gehören, da findet noch
eine dritte Verminderung der Theilnehmer ſtatt, indem in
jedem Bezirk drei Viertel des engeren Ausſchuſſes zurück-
treten, die übrig bleibende Viertheile dann aber am Haupt-
orte des Oberamts ſich verſammeln, ihre verſchiedenen
Inſtructionen zu einer Geſammtſchrift vereinigen und die
Wahl der Abgeordneten durch verſchloſſene Zettel vollbrin-
gen. Keine Stadt aber wählt als ſolche für ſich, ſondern
ſtets in Verbindung mit ihrem Amte, mit einziger Aus-
nahme der Hauptſtadt des Reiches.


Durch dieſe Anordnung, deren Hauptgliederung hier
angegeben iſt, ward ein nützlicher Zweck erreicht: man
beugte tumultuariſch wählenden Volksverſammlungen vor;
allein bei weitem wichtigere Aufgaben wurden verfehlt,
indem man ſo gut wie gar keine Bedingungen an die
Wähl- und Wahlfähigkeit knüpfte, ganz beſonders aber
dadurch daß man, ſtatt durch einen verſtändig belehrenden
Erlaß die Cahiers abzuſchneiden, oder ihre Abfaſſung
mindeſtens der Willkür zu überlaſſen, ſie geradezu vor-
ſchrieb. Auf früheren Reichstagen ſpielten dergleichen Be-
ſchwerdeſchriften allerdings eine Rolle, aber damals ward
dergleichen was den dritten Stand betrifft von Behörden
[158] angefertigt in Form kniefälliger Vorſtellungen über Local-
und Provinzialverhältniſſe, jetzt lockte man von einer
zahlreichen Verſammlung, deren Mitglieder als Neulinge
zuſammentrafen, ein langes Regiſter von Nationalbe-
ſchwerden hervor. Denn die begangenen Finanzſünden
waren männiglich bekannt. Es hieß der Tadelſucht Flü-
gel geben, um in Formen ſich auszuſprechen, deren Mi-
ſchung von Alt und Neu kaum unglücklicher erdacht
werden konnte. Eine Inſtruction widerſprach der anderen
und gleichwohl wollte jede nach ihrer Art den Staat
neuaufgebaut wiſſen. Aber auch die beiden privilegir-
ten Stände, deren Cahiers ſonſt mehrentheils darin
übereinſtimmten daß ſie die Erhaltung der alten Ver-
faſſung mit drei von einander abgeſonderten Ständen
befahlen, verwickelten ſich in einen ſeltſamen Wider-
ſpruch; denn man las in vielen doch zu gleicher Zeit
das Begehren regelmäßig verſammelter Reichsſtände,
keine Steuer ohne Reichsſtände, Theilung der geſetzge-
benden Gewalt mit dem Könige, kurz Alles was den
Miniſtern wehthun konnte ohne dem dritten Stande wohl-
zuthun. Nichts dergleichen aber enthielt die alte Ver-
faſſung; denn ſchon manches Menſchenalter vor 1614
wurden die Etats-généraux nach Belieben berufen, ward
beſteuert und Geſetze gegeben ohne ſie. Aus den meiſten
Cahiers der Geiſtlichkeit ſprach ein Geiſt der Unduld-
ſamkeit: Ehen zwiſchen Katholiſchen und Proteſtanten
ſollen verboten ſeyn, keine Taufe als in katholiſchen
[159] Kirchen, kein Patronatsrecht proteſtantiſcher Gutsbeſitzer,
eine geiſtliche Commiſſion ſoll die geſammte Büchercen-
ſur verſehen, die Geiſtlichkeit muß Leiterin der Volks-
erziehung ſeyn, Schade daß ein gelehrter Orden, „deſ-
ſen Aufhebung man nicht genug bejammern kann,“ daran
verhindert iſt. Es wäre ungerecht von einer Neuerungs-
wuth des dritten Standes hier zu reden, ſtatt von der
Unerfahrenheit aller Stände in Staatsſachen. Denn
wenn einige Cahiers des dritten Standes dem Könige
jeden Antheil an der geſetzgebenden Gewalt und die
Macht die Ständeverſammlung aufzulöſen entziehen, ſo
wollen einige Cahiers der Geiſtlichkeit ihm ſogar ſeine
Miniſter vorſchreiben. Der Adel möchte die Mitwirkung
zu den Abgaben ganz dem Könige nehmen, vornämlich
aber eine Hand über das Heerweſen bekommen, kein
willkürliches Avancement mehr und die Unterlieutenants-
ſtellen ſollen nach dem Vorſchlage der Provinzialſtände
(will ſagen, mit Adlichen) beſetzt werden. Auch ſollen
alle Militärperſonen einen Eid ſchwören ſich in keinem
Falle zur Überbringung und Vollſtreckung miniſterieller
Befehle und überhaupt gegen ihre Mitbürger brauchen
zu laſſen, den einen Fall ausgenommen, daß die Nation
ihnen geböte gegen einen aufrühreriſchen Theil der Na-
tion zu marſchiren. Die ausländiſchen Truppen ſollen
ſchwören ſelbſt im Falle des Aufruhrs nicht einzugrei-
fen: der dritte Stand begehrte verſtändiger die Entlaſ-
ſung der ausländiſchen Truppen. Im Dauphiné halten,
[160] von Mounier geleitet, alle drei Stände einſtimmig dar-
in zuſammen daß der dritte Stand die doppelte Reprä-
ſentation erhalte und die Durchſtimmung nach Köpfen
ſtattfinde; man wird vor Anerkennung dieſer Grundſätze
an keinem Beſchluſſe der Reichsſtände Antheil nehmen.
Charakteriſtiſch ſteht das Elſaß da; es will fortfahren
als auswärtige Provinz außerhalb der Zolllinie zu ſtehen,
damit ſein Verkehr mit Deutſchland nicht leide; doch
wäre es ihm ganz recht, wenn zugleich der Abſatz ſei-
ner Erzeugniſſe nach Frankreich hin begünſtigt würde.
Die elſaſſer Lutheraner waren durch Staatsverträge von
Alters her vor der Verfolgungsſucht geſchützt.


Das Weichbild von Paris ward ausnahmsweiſe von
der Stadt getrennt, ſtellte für ſich zwölf Deputirte, alſo
ſechs vom dritten Stande. Die ungeheure Stadt von
750,000 Einwohnern bildete ohnehin eine ſchwierige
Aufgabe. Ihr ſind im Ganzen vierzig Deputirte zuge-
billigt. Die Hauptſtadt, in welcher man bisher ſich
nach zwanzig Quartieren zurechtfand, wird zu dem Ende
März 28.in ſechzig Bezirke getheilt. In dieſen iſt der Anfang
der Wahlbewegung für den dritten Stand; nur daß
man hier denn doch mit den Bedingniſſen für die Theil-
nahme es etwas genauer nimmt. In Ermangelung
ſonſtiger Befugniſſe, wie daß man zu einer Zunft ge-
hört, iſt eine Kopfſteuer von mindeſtens ſechs Livres
jährlich vorgeſchrieben. Im Dauphiné hatte man eine
Grundſteuer von vierzig Livres für die Theilnahme an
[161] den Wahlen für nicht zu hoch gehalten. Es war eine
gewaltige Bewegung im April unter den Pariſern. Wer
ſonſt kein Kirchengänger war, ging jetzt hinein, denn
hier wurden die weiteren Verſammlungen gehalten, die
Cahiers vorbereitet; hier auch geſchieht die Wahl der
Wähler; ihrer kommen fünf auf jeden Wahlbezirk. Am
26ſten April verſammelten ſich die Wähler von Paris
im großen Saale der erzbiſchöflichen Reſidenz. Hundert-
funfzig Geiſtlichen, eben ſo viel Edelleuten ſaßen mehr
als dreihundert Bürgerliche gegenüber, denn dieſe hat-
ten zum Theil noch Erſatzmänner gewählt und mitge-
bracht. Hier wurden die Vollmachten durch einen Be-
amten des Stadtrathes unterſucht, worauf die beiden
erſten Stände ſich in ihren beſondern Saal zurückzogen.
Der dritte Stand hätte nun vorſchriftsmäßig unter dem
Vorſitz des ſtädtiſchen Beamten ſein Geſchäft vollfüh-
ren ſollen, allein ſchon in den Bezirksverſammlungen
hatte man dieſes Hemmniß abgeſchüttelt, indem man
entweder den Beamten zum Vorſitzer wählte, oder wenn
der in dieſer Form nicht präſidiren wollte, ein Mitglied
an ſeine Stelle ſetzte. Letzteres wiederholte ſich nun
hier und die Advocaten Target und Camus traten als
Präſident und Vicepräſident ein; der berühmte Aſtro-
nom Bailly ward Secretär, der Arzt Guillotin Vice-
ſecretär. Hierauf beſchloß man einſtimmig, von der
durch das Geſetz geſtatteten Redaction der Cahiers in
Verbindung mit den beiden andern Ständen keinen
Franzöſiſche Revolution. 11
[162] Gebrauch zu machen, und übertrug dieſes Geſchäft einem
Ausſchuſſe von 36 Mitgliedern. Das Alles nahm den
ganzen Tag weg. Da die Regierung in keiner Art ein-
ſchritt, ſo beſchloß man bald hernach weder einen Edel-
mann noch einen Geiſtlichen zu wählen, ging aber von
dieſem Beſchluſſe wieder zurück als man vernahm, der
Abbé Sieyes, deſſen politiſche Flugſchriften man bewun-
derte, ſey noch nirgend gewählt. So fiel die letzte Wahl
von allen auf ihn. Das Cahier von Paris, aus der Ver-
arbeitung von 60 Schriften erwachſen, bildete ein anſehn-
liches Heft, welches in nordamerikaniſcher Weiſe mit ei-
ner Erklärung der Menſchenrechte anhob, ſich dann in
ſechs Abſchnitten über die Verfaſſung, die Finanzen, den
Ackerbau und den Handel, die Kirche, die Geſetzgebung
und endlich über die beſonderen Angelegenheiten der
Hauptſtadt verbreitete. Den König faßte man auf als mit
der ganzen ausübenden Gewalt und einem Antheil an der
geſetzgebenden bekleidet, verpflichtete ſeine Abgeordneten
ganz ausdrücklich auf die Durchſtimmung nach Köpfen,
war übrigens damit zufrieden, wenn die allgemeinen
Stände künftig jedes dritte Jahr zuſammenkämen, nur
daß es in der Hauptſtadt geſchehe, welche ſich inzwiſchen
durch Schleifung der Baſtille würdig machen wird ſie auf-
zunehmen. Man arbeitete noch an dieſem Werk und an
den Wahlen, als bereits in Verſailles (denn für Verſail-
les hatte der König auf den Rath ſeiner Gemahlin und
des Grafen von Artois gegen Neckers Wunſch, der lieber
[163] die Hauptſtadt erwählt hätte, entſchieden) die Reichs-
ſtände zuſammentraten, ward erſt vierzehn Tage ſpäter fer-Mai 19.
tig. Damals aber war bereits Alles ſo aufgeregt, daß die
pariſer Wähler des dritten Standes beſchloſſen ſich über-
haupt nicht aufzulöſen, ſondern von Zeit zu Zeit Ver-
ſammlungen zu halten, um ihre zwanzig Abgeordneten
beobachten und deren Zweifel löſen zu können. Der Ein-
ſpruch der königlichen Commiſſarien für das Wahlgeſchäft
blieb unbeachtet. Man beſaß ſomit neben den 1200
Reichsſtänden in Verſailles eine berathſchlagende Bürger-
verſammlung von drei bis vierhundert Mitgliedern in der
Hauptſtadt. Und was hinderte die Wähler in den Pro-
vinzen es eben ſo zu machen?


Zu gleicher Zeit verbreitete ſich die Nachricht daß gar
keine Edelleute aus der Bretagne kämen. Der Adel dort
hatte beſchloſſen den Reichstag nicht zu beſchicken und der
hohe Klerus machte gemeinſchaftliche Sache mit ihm. Um
ſo trotziger traten die 42 Abgeordneten ſeines dritten
Standes auf; manches drohende Wort von ihnen wies
auf Entwürfe hin, wie ſie doch nur in wenigen Cahiers
vorgekommen waren, als: überhaupt keinen Adel mehr,
oder nur perſönlichen, oder er mag mit den Familien, die
ihn gegenwärtig beſitzen, ausſterben. Aus den Verbin-
dungen, welche dieſe Bretagner knüpften, iſt ſpäterhin
der Jacobinerclub hervorgegangen.


Jetzt konnte man ſchon einen Überſchlag machen, der
die Phyſiognomie der Verſammlung andeutete. Der Adel
11*
[164] blieb hinter der ihm erlaubten Zahl von 300 aus dem be-
merkten Grunde zurück, man erblickte in ſeinen Reihen
eine Anzahl Mitglieder der höchſten Gerichtshöfe; in alle
Lücken, welche die hohe Geiſtlichkeit (das heißt, mit we-
nig Ausnahmen, der Adel im geiſtlichen Gewande) ließ,
trat die niedere Geiſtlichkeit ein, und man ſah am Ende
in dem geiſtlichen Dreihundert, welches bis zu 308 Mit-
gliedern überſchwoll, 207 theils Pfarrer, theils Geweihte
ohne Kirchenamt, meiſtens Schulmänner ſitzen, eine
mächtige Verſtärkung des Bürgerſtandes. Im dritten
Stande ſaßen über 200 Advocaten und Notare, gegen 200
eigentliche Beamte, meiſtens bei den Untergerichten an-
geſtellt, 176 Bürger, Kaufleute und Landwirthe, ein
Paar Geiſtliche, einige Ärzte, 15 Edelleute. Man zählte
im Ganzen 621 Mitglieder dritten Standes heraus. Au-
genſcheinlich war der Grundbeſitz im dritten Stande un-
genügend vertreten. Das Wahlgeſetz hatte nichts vorge-
ſehen und die Abneigung Edelleute zu wählen, welche
faſt allein die großen Landgüter beſaßen, war allgemein.


Was den Pariſern ausnahmsweiſe einen Mann geiſt-
licher Weihen empfahl, erklärt ſich aus den Leiſtungen
dieſes Mannes. Immanuel Joſeph Sieyes ſah in der al-
ten Stadt Frejus in der Provence das Licht, welche in
alten Tagen, da ſie noch Forum Julii hieß, den Julius
Agricola gebar. Seine Jugenderziehung empfing er im
geiſtlichen Seminar, ſtudirte dann in Paris und empfing
von der Sorbonne den Grad des Licentiaten. Ein Kano-
[165] nikat führte ihn in die Bretagne, und als Mitglied der
Geiſtlichkeit in den dortigen Provinzialſtänden weihte er
ſich zuerſt in die öffentlichen Geſchäfte ein. Er war zum
Generalvicar des Biſchofs von Chartres geſtiegen, als
die Zeit der Reichsſtände erſchien, deren Bedeutung ſein
Scharfblick ſchnell durchdrang. „Kein Buch,“ ſagt er von
ſich ſelber, „hat mir eine innigere Befriedigung gewährt
als die Schriften von Locke und Condillac;“ allein er war
nicht der Mann abgezogener Studien, welche ihren
Lohn in ſich ſelber tragen; um ſich und ſeinen Überzeu-
gungen den Weg in die Außenwelt zu bahnen, ſchlenderte
er raſch hinter einander drei politiſche Schriften in das
Publicum, ohne ſich zu nennen zwar, aber als Verfaſſer
allgemein gekannt. Sein Auge ſieht im Staate von Frank-
reich die völlig umgekehrte Naturordnung; die Krone trägt
hier den ganzen Staat; es iſt eine Pyramide die auf ihrer
Spitze ſteht (Mignet), keine andere Hülfe als man
muß ſie umdrehen, auf ihre eigentliche Baſis ſtellen.
Dieſe Baſis iſt das Volk. Dieſes macht in Wahrheit den
ganzen Inhalt der Pyramide aus, weil es aber für ſein
Wohl nicht füglich als Geſammtheit wirkſam ſeyn kann,
ſo verwirft Sieyes die reine Demokratie und giebt der re-
präſentativen Verfaſſung den Vorzug, läßt auch die Krone
ohne Bedenken den Höhepunct der Pyramide bilden; denn
die monarchiſche Ordnung ſtellt nun einmal die Freiheit
der Einzelnen ſicherer als jede andere. Aber er hält der
Krone die Forderung der Freiheit unabläſſig entgegen,
[166] dem Adel die der Gleichheit, zögernder ſeiner Geiſtlichkeit
die Forderung der ewigen Vernunft. Seine Schrift:
„Was iſt der dritte Stand?“ erſchien im Januar 89; ſie
gewann ihm die Wahlſtimme der Pariſer und flog in 30,000
Exemplaren durch die ganze civiliſirte Welt. Sie will den
dritten Stand über ſeine natürlichen Rechte belehren, in-
dem ſie drei Fragen aufwirft und beantwortet. Die erſte:
Was iſt der dritte Stand? Antwort: Alles. Was iſt er
bis heute in ſeiner politiſchen Bedeutung geweſen? Nichts.
Was verlangt er? Etwas zu ſeyn. Er ſpricht: Der dritte
Stand iſt in Wahrheit die Nation, 25 Millionen ſtark
tritt er 80,000 Geiſtlichen und 120,000 Edelleuten gegen-
über, die ohne ihn Nichts ſind. Sagt Ihr, der Adel da-
tire von der Eroberung, nun der dritte Stand wird jetzt
erobern, ſich ſeinen Adel verdienen. Er wird jetzt eine
Conſtitution ſchaffen, denn es giebt in Frankreich keine.
Dieſe Conſtitution wird keine Nachahmung der engliſchen
ſeyn, die für ihre Zeit anſtaunenswerth iſt, aber in ihrer
Verwickelung den geſellſchaftlichen Fortſchritten eines Zeit-
alters, welches einfachen Freiheitsgenuß begehrt, nicht
entſpricht. Denn alle Einrichtungen der bürgerlichen Ge-
ſellſchaft ſind in dem einzigen Zwecke enthalten daß nie-
mand den Andern beeinträchtige, und dürfen nicht dar-
über hinausgehen. Er wirft den Blick auf Frankreichs
Geſchichte. Nimmt man wenige Jahre Ludwigs XI. hin-
weg, ſo beherrſcht nicht der König, ſondern der Hofadel
Frankreich. Wie ſteht es jetzt? Die Ariſtokratie allein
[167] kämpft zugleich gegen Vernunft, Gerechtigkeit, Volk, Mi-
niſter und König an. Der dritte Stand verlangt daß nach
Köpfen, nicht nach Ständen geſtimmt werde, denn jedes
Standesprivilegium iſt Beeinträchtigung, jedes Privile-
gium der Ehre iſt ſogar Beſchimpfung. Die Mitglieder
des dritten Standes müſſen allein aus ihm ſelbſt gewählt
werden. Sagt Ihr: der dritte Stand allein kann ja keine
Generalſtände bilden? Gut, ſo bildet er eine Nationalver-
ſammlung. — Der ſcharfſinnige Mann verſchwieg daß die
beiden privilegirten Stände reichlich die Hälfte alles fran-
zöſiſchen Grundeigenthums beſaßen; denn er hätte ſonſt
die Kette ſeiner Folgerungen um ein Glied verlängern, die
Herausgabe dieſer Güterfülle fordern müſſen, als dem
Volk einſt widerrechtlich abgewonnen und durch ſchmäh-
liche Becinträchtigung ſo lange vorenthalten. So weit
aber ging er keineswegs. Dagegen hielt er drei ſchwere
Gewichte bereit, um ſie eheſtens in die Wage zu werfen,
der er ſein Glück vertraut hatte: der dritte Stand muß
die Nation die er iſt auch bedeuten, eine Nationalbewaff-
nung muß dieſe neue Ordnung beſchützen, eine neue Lan-
deseintheilung muß, indem ſie eine neue Verwaltung be-
gründet, die Wiederkehr der alten Ordnung unwiderruf-
lich abſchneiden. Gelang das, ſo war die bürgerliche Ge-
ſellſchaft von bisher mit wenig ſcharfen Schnitten abge-
ſchlachtet, und es war nicht Rouſſeau, es war der Abbé
Sieyes, der das Alles rein aus ſich ſelbſt erdacht hatte,
ein kränklicher unſcheinbarer Mann und doch ein Eroberer,
[168] der mit der Macht von ein Paar leicht verſtändlichen Ge-
danken ausgerüſtet, die Landſtraßen einer Revolution
baute, ihre Signale aufſteckte.


Es iſt nicht wahr daß die Revolution das Werk der
jungen Leute iſt. D’Espréménil, Sieyes und Graf Mi-
rabeau ſtanden in gleichem Alter, waren Vierziger oder
wenig darüber. Necker, der das Meiſte, wider Willen,
dazu gethan, ſtand ſchon ziemlich hoch in den Funfzigen.


Soll ich nun von Mirabeau reden? Es iſt der nächſte
Landsmann von Sieyes; beide ſind Provençalen; allein
mit dieſem iſt man fertig ſobald man ſeine Lehren kennt,
die in Kurzem wie Thalerſtücke handgreiflich in Frankreich
umlaufen, in jenem iſt ein tragiſcher Abſchnitt der Ge-
ſchichte der Menſchheit enthalten, freilich ſehr franzöſiſch
gefärbt.


Mirabeau’s Vorfahren die Arrighetti gehörten zu den
Gibellinen von Florenz. Sie wurden um 1267 von dort
vertrieben und zogen in die Provence. Mirabeau ſelbſt
hat ſeine Familiengeſchichte beſchrieben. Es ſind das
Alles Leute von eiſerner Körperkraft, heroiſche Naturen,
heißblütig, voll von den wilden Fehlern jener Zeitalter,
aber frei von kleinlichen. Einer unter ihnen iſt Malthe-
ſer, giebt dem Großmeiſter eine Ohrfeige und rettet ſich
glücklich durch Schwimmen auf ein Schiff, welches gerade
die Anker lichtet. Er wird dann ausgeſtoßen aus dem Or-
den, doch ſpäter wieder aufgenommen, und eine große
Anzahl der jüngeren Söhne des Hauſes gehörte dem Orden
[169] an. Die anderen thaten ſonſt Kriegsdienſte, und wenn
dann die Bruchtheile eines ſolchen Mirabeau in den ver-
ſchiedenſten Regionen begraben lagen, kehrte der Reſt zu-
rück auf das väterliche Schloß Mirabeau, und trieb dort
mehr Lärmen noch als ſonſt irgend wer, der ſeine Glied-
maßen beiſammen hatte. In ſchon ſehr zahmer Zeit lebte
Mirabeau’s Großvater, ſtark, groß, ſchön, ganz Kriegs-
mann, allein er bringt es im ſpaniſchen Erbfolgekriege
doch nicht weiter als zum Brigadier, weil er von Hof-
gunſt nichts wiſſen will. Ihm genügt daß ſein Lieblings-
held, Marſchall Vendome ihn anerkennt, beſonders als
er an der Adda gegen Eugen Stand gehalten. Vendome
ſagte einmal: „Mirabeau iſt groß.“ „Ja,“ wirft einer
vom Generalſtabe ein, „beinahe ſechs Fuß.“ „Nein,“
ruft der Feldherr, „er iſt groß am Tage der Schlacht.“
Als er es einmal beſonders brav gemacht, betheuert ein
Marechal de Camp, der das Verdienſt hat Bruder des
untüchtigen Kriegsminiſters Chamillard zu ſeyn, er werde
es bei ſeinem Bruder zu beloben wiſſen und empfängt zur
Antwort: „Herr, Euer Bruder iſt ſehr glücklich Euch zu
beſitzen, denn ohne Euch wäre er der größeſte Narr im
Königreiche.“ Sein Starrſinn ſprengte die ſpaniſche
Etiquette, nöthigte den König von Spanien ihm in Ita-
lien perſönlich die Parole zu geben, und was mehr iſt,
er wagte es mit dem bei ſeinem Könige allmächtigen Pa-
ter La Chaiſe ſeinen Scherz zu treiben. Allein der Tag
kam, da er, wenn wir ihm ſelber glauben, getödtet
[170] ward; ſein rechter Arm wird ihm verſtümmelt, ein Schuß
zerreißt ihm die Sehnen des Halſes, ſo daß er einen ſil-
bernen Halsring fortan tragen muß, um den Kopf nur
gerade zu halten. Jetzt beſchließt er ſich zurückzuziehen,
nicht um Wort zu halten und zu ſterben, er heirathet aus
wirklicher Liebe ein junges ſchönes vortreffliches Fräulein.
Vendome ſtellte ihn dem Könige vor als den Mann, der
ſeit die Franzoſen in Italien eingerückt bis zur Räumung
nicht aus dem Sattel kam; als der König nicht viel dar-
auf zu geben ſchien, ſprach Mirabeau: „Ja Sire, da
hätte ich meine Fahnen verlaſſen und mir am Hofe ſo eine
Vettel erkaufen ſollen, das hätte mir Beförderung und
weniger Wunden gebracht.“ Der König wendete ſich bloß
ab, aber Vendome ſprach hernach: „Ich hätte Dich ken-
nen ſollen. Künftig ſtelle ich Dich noch dem Feinde, aber
nie in meinem Leben dem Könige vor.“ Wirklich that er
noch eine Zeitlang Dienſte, zog ſich dann auf ſein Fami-
liengut Mirabeau in der Provence, welches der König
zum Marquiſat erhöhte, zurück und ſchaltete dort wie bis-
her bei ſeinem Regiment, gebieteriſch, ungeſtüm, aber mit
redlicher Sorgfalt. Wie früher ihm niemand mehr zuwi-
der war als die Commiſſäre, die ſein Regiment inſpicir-
ten, ſo verfolgte er jetzt die Mauthbeamten auf jede Weiſe,
und ſie waren bei der geringſten Überſchreitung, mochte
ſie ihn ſelbſt oder ſeine Bauern angehen, ihres Lebens
nicht ſicher. Man wußte ſchon, mit ihm ſey nichts anzu-
fangen, aber an ſeine Wittwe ſtiegen die Anforderungen
[171] von nicht bezahlten Gebühren auf 50,000 Livres und ſein
Vermögen war am Ende ſehr geſunken. Bei dem Lawſchen
Bankunweſen verlor er 100,000 Thaler, und er war nicht
zu bewegen mit dem werthloſen Papiergelde, das ihm
wurde, ſeine Schulden zu bezahlen, wiewohl die Geſetze
es geſtatteten. Starb 1737.


Von den überlebenden Söhnen war der Marquis Mi-
rabeau, der Vater unſeres Mirabeau, jetzt der Stamm-
halter. Das mirabeauſche Blut war von jeher durch Stra-
pazen und Wunden verdünnt worden; aber der Marquis
verließ ziemlich bald die kriegeriſche Laufbahn, welche un-
ter Ludwig XV. keine Lorbeern verſprach. Sein Gedanke
iſt durch Schriftſtellerei eine neue Art des Ruhmes in die
Familie zu bringen; in dieſem Hauſe wird aber Alles zur
Leidenſchaft. Schon als junger Menſch ſchreibt er Me-
moiren und giebt ſeiner Nachkommenſchaft Rath, ſchrift-
ſtellert über Nationalökonomie, wird die mächtigſte Stütze
von Quesnay’s Syſtem, er hat viele Tauſende von Brie-
fen und über 400 Folianten an Abſchriften hinterlaſſen.
Seine meiſten Briefe ſind an einen jüngeren Bruder, der
Bailli des Maltheſer Ordens und lange Zeit Gouverneur
von Guadeloupe iſt, gerichtet. Die Briefe des Marquis
athmen eine natürliche Wohlredenheit, allein ſobald er
für den Druck ſchreibt, verfällt er in einen pomphaften,
verwickelten, unleidlichen Styl, vergeblich die Warnun-
gen des gutherzigen Bruders; ein Buch folgt dem andern.
Noch ſchlimmer daß der Marquis an der trefflichen unbe-
[172] ſcholtenen Ehe ſeines Vaters kein Muſter nahm. Dieſer
wollte von ſeiner Verlobten durchaus kein Vermögen, nicht
einmal eine Ausſteuer; der Marquis heirathet ein Ver-
mögen, er wird der Geizhals des Hauſes. Das Verneh-
men der Eheleute, von jeher kalt, wird feindſelig, ſeit
der Mann mit einem ſchlauen Weibe, das ihn zu benutzen
weiß, unrühmliche Gemeinſchaft hat. Dazu kommen öko-
nomiſche Verwickelungen, beſonders durch ſeine verun-
glückten Verſuche als Landwirth, Volksbeglücker, Späher
nach Minen und Güterkäufen veranlaßt. Die eilf Kinder
erwuchſen faſt als ob ſie Waiſen wären. Er war der
Schrecken des Hauſes und doch innerlich überzeugt von
ſeiner Gutherzigkeit, wie er denn wirklich jedermann, der
ſeinem Gebot ſich unterwarf, und, wenn es möglich wäre,
ſeinen Ami des hommes und ſeine ökonomiſchen Epheme-
riden las, gern dienſtlich war, ſeine Einſaſſen gut hielt,
keinen Armen leicht ungetröſtet ziehen ließ. Seine Mei-
nung ſagte er ſtarr in Schriften heraus, einerlei ob ſie
den Hof verletzte. Seine „Theorie der Steuer“ brachte
ihn auf kurze Zeit nach Vincennes, er hatte das Allerhei-
ligſte, die Generalpächter angetaſtet. Nicht zu bewegen
war er, eine ſeiner Schriften dem Dauphin, nachherigem
König Ludwig XVI. zu widmen, er ſchrieb ſie dem Groß-
herzog Leopold von Toscana zu, mit welchem wie mit dem
Markgrafen von Baden, ſeinem ökonomiſtiſchen Glaubens-
genoſſen, er in vertrautem Briefwechſel ſtand. Es war
mit dieſem Marquis nicht mehr wie zur Zeit ſeiner Vor-
[173] fahren, aber auch er handelte und ſprach aus einer Fülle
des Weſens heraus; es waren reiche Naturen.


Ihm nun ward als fünftes Kind Gabriel Honoré am
9ten März 1749 geboren. Er brachte einen unnatürlich
großen Kopf und zwei Backenzähne mit auf die Welt. Es
war der erſte Sohn, der Vater bildete ſich ein, er habe
juſt einen Sohn gewollt und drum ſey’s ſo gekommen,
ſchrieb dem Bruder: „der dicke Junge ſchlägt ſeine Amme
und ſie pufft ihn wieder.“ Im dritten Jahre überfielen
ihn bösartige Blattern; die Mutter, die nach Frauen
Art gern doctorte, legte ihm Umſchläge auf ſein geſchwol-
lenes Geſicht, die zugeſchwollenen Augen; da hinterblie-
ben tiefe Furchen, eine ganz zerriſſene Haut. Der Vater
ſchrieb dem Oheim: „dein Neffe iſt häßlich wie Satan
ſeiner,“ ließ die anderen Kinder impfen. Sein Älteſter
hinterblieb als der Häßliche in einer von Alters her ſchö-
nen Familie. Die Erziehung war ſtreng, der Vater half
dem Lehrer züchtigen, verzweifelte bald an dem Jungen,
der einen bloßen Querkopf und Narren verſpreche, alle
Verkehrtheiten der Mutter habe, aber freilich unbegreif-
lich große Anlagen, ein wunderbares Gedächtniß. Giebt
ihn am Ende in eine Penſion, die ſtrengſte die er finden
kann, er muß dort Pierre Buffiere nach einem Landgute
ſeiner Mutter heißen, denn ein ruhmvoller Name ſoll nicht
den Züchtigungen einer Schulbank preisgegeben werden.
Außer ſich iſt der Vater, als er entdeckt, die Mutter habe
ihm heimlich Geld geſchickt, ſchneidet ihm allen Brief-
[174] wechſel ab. Mit achtzehn Jahren muß er in ein Regi-
ment; da macht er einige Schulden, verſpielt einmal 40
Louisd’or. Der Vater hält ihn darum nur um ſo karger
(„das iſt der Geiſt ſeiner Mutter wieder“), nun eine
Liebſchaft, an ſich ganz unverfänglich, mit einem gerin-
gen Mädchen. Der häßliche Unterlieutenant hat das Glück
ſeinen Oberſten bei der Schönen auszuſtechen. Dieſer
weiß ſich zu rächen, und Mirabeau verläßt ſein Regiment
als er gerade den Dienſt hat, flieht nach Paris zu väter-
lichen Freunden. Von hier begann eine Reihe von Ver-
folgungen für ihn. Sein Vater läßt gerade ökonomiſches
Brod backen, 600 Pfund den Tag, um ſeinen Gutsun-
terthanen ein beſſeres und wohlfeileres Nahrungsmittel zu
verſchaffen, aber hat kein Ohr des Erbarmens für die
ehrerbietigen Bitten ſeines Sohnes. Nicht als ob er blind
gegen die angeborene Wildheit ſeines Geſchlechtes wäre,
die nothwendig ihre Zeit zum Ausraſen haben muß.
Schreibt er doch ſelbſt von dem jetzt ſo ſanften würdigen
Bailli: „Als der jung war, gab es drei vier Jahre daß
er keine vier Tage auf freiem Fuß war. Kaum daß der
Tag anbrach, ſo fiel er auch über den Brantewein her,
und dann ward er mit Jedem handgemein, den er auf
dem Wege traf, bis man ſeiner Herr ward und ihn feſt-
nahm. Sonſt aber ein Ehrenmann bis zum Übermaß,
und ſeine Chefs, erfahrene Leute, verſprachen immer mei-
ner Mutter, aus ihm werde noch etwas Vortreffliches.
Aber niemand war im Stande ihn aufzuhalten, bis er
[175] plötzlich ſich ſelber aufhielt.“ So gut ſollte es ſeinem Nef-
fen nicht werden. Der Alte beſchloß ihn von nun an durch
Verhaftsbriefe zu beherrſchen. Zuerſt Verbannung nach
der Inſel Rhé; aber bald vernimmt der Vater: „er be-
zaubert ſeinen Aufſeher, der ihn gegen meinen Befehl in
der Citadelle ſpazieren läßt, bezaubert meine Freunde und
alle Welt.“ Nun dachte er ihn in die holländiſchen Colo-
nien zu ſchicken, was nicht viel beſſer war als in den Tod.
Doch ſoll es zunächſt bei Corſica beruhen. Dieſe Inſel,
von den Genueſen 1767 an Frankreich abgetreten, hat er
für Frankreich vollends erobern helfen, iſt dort an der
Wiege des Kindes Bonaparte vorübergegangen. Man gab1770.
ihm das Zeugniß eines tapferen und geſchickten Officiers;
das mußte ſogar ſein Vater einräumen; nur daß man ja
nicht von ihm verlange, die Geſchichte von Corſica, die
der junge Mann hier geſchrieben hat, drucken zu laſſen.
Doch trat nach ſeiner Rückkehr der alte Oheim wieder ein
und die Brücke zum Wiederſehen wird mit den Büchern des
Marquis geſchlagen. „Laß ihn meine Economiques und
die beiden erſten Jahrgänge der Ephémérides du citoyen
leſen.“ Jetzt ſchrieb er noch einen ökonomiſchen Katechis-
mus, ſchickte ihn für den Sohn. Der las wirklich, ob-
gleich die trockene Einſeitigkeit des Syſtems ihn anekelte.
Nun ſoll aber Pierre Buffiere, denn ſo muß er noch im-
mer heißen, auch ganz und gar Landwirth werden, den
Officier aufgeben. Endlich ſehen ſie ſich und der Vater
iſt erſtaunt über den Menſchen. „Was aber ſoll man mit
[176] dieſem Übermaß von Verſtand und Blut anfangen? Der
muß die Kaiſerin von Rußland heirathen, ſonſt weiß ich
keine, die für ihn paßt.“ Inzwiſchen giebt er ihm —
denn er fügt ſich ſeinen Planen, greift die Landwirthſchaft
mit gewaltigem Eifer an — doch eine Frau von 600,000
Livres und noch weit glänzenderen Ausſichten, eine Ma-
rignan. Allein ihre Eltern lebten, und waren in Ver-
wickelungen, keine eigentliche Mitgift erfolgte und der
Marquis kargte, auch aus Grundſatz, um den Sohn un-
ter Aufſicht zu halten. Dieſer machte nun Schulden und
fing, während der Vater gerade abweſend, koſtſpielige
Bauten an. Die Strafe blieb nicht aus. Der Vater ver-
weiſt ihn durch einen Verhaftsbrief vom Gute in eine
kleine Stadt, er wird gerichtlich confinirt und interdicirt.
Hier, in Manosque, ſchreibt er ſeinen Verſuch über den
Despotismus. Von nun an erweitert ſich die Kluft zwi-
ſchen Vater und Sohn mit jedem Tage. Wegen einer Eh-
renſache hat der junge Mann den ihm angewieſenen Auf-
enthalt auf kurze Zeit verlaſſen; es kommt heraus. Zur
Strafe wird er, der ſchon ſelber einen Sohn hat, auf
1774.
Juni.
das Felſenſchloß If am Hafen von Marſeille gebracht,
das Jahr darauf nach Fort de Jour hoch im Jura, hart
an der Gränze des Pays de Vaud. Auch hier weiß er ſich
gegen des Vaters Willen einen freieren Aufenthalt zu ver-
ſchaffen, erhält im nahen Pontarlier Zutritt bei dem Prä-
ſidenten Marquis de Monnier, lernt deſſen junge liebens-
würdige Gattin kennen, die durch Mirabeau berühmt
[177] gewordene Sophie. Sie war aus adlichem Hauſe, wo
der Töchter Schickſal damals insgemein der männlichen
Nachkommenſchaft geopfert ward. Ihre ältere Schweſter
kam in ein Kloſter. Sophie ſollte zwölfjährig zuerſt den
63jährigen berühmten Büffon heirathen, doch der noch
ältere Monnier erhielt den Vorzug. Sie war nicht glück-
lich, aber ertrug das Leben, als ihr auf einmal Mira-
beau’s Umgang zeigte, wie reich ein Menſchenleben wer-
den kann. Man darf nicht ſagen daß er wie ein gemeiner
Verführer ſich ſeiner Beute bemächtigt habe, er wider-
ſtand, ſuchte ſtärker zu werden, indem er ſeine Frau in
den dringendſten Ausdrücken einlud ſeine Gefangenſchaft
zu theilen. Als eine Erwiderung von eiſiger Kälte kam,
da freilich ſchlugen alle Wellen der Leidenſchaft über ihm
zuſammen. Die Eiferſucht des Gemahls erwachte oder
ward durch fremde Anzeigen wider Willen geweckt. Ent-
führung und Flucht waren der Ausgang. Da das Paar
ſich in der nahen Schweiz nicht ſicher wußte, ging es wei-
ter nach Holland.


Am 10ten Mai 1777 ward Mirabeau als Verführer
und Entführer einer Ehefrau vom Amtsgerichte von Pon-
tarlier zur Enthauptung im Bilde und 40,000 Livres Ent-
ſchädigung verurtheilt. Der Vater verwandte 20,000
Livres darauf der Schuldigen habhaft zu werden, und es
gelang. Hören wir wie der Ami des hommes in einem
Briefe an den Bruder ſich Glück dazu wünſcht. „Da es
keine Familiengerichtsbarkeit mehr giebt, ſo muß man zu
Franzöſiſche Revolution. 12
[178] dem barbariſchen Despotismus der Verhaftsbriefe, wenn
es die Züchtigung verbrecheriſcher Kinder gilt, lieber grei-
fen, als zu den langſamen Förmlichkeiten einer blinden
und pedantiſchen Gerechtigkeit. — Laß die Leute mich für
einen Nero halten — ich fürchte nur mein eigenes Gewiſ-
ſen. — Meinen Proceß habe ich gewonnen (er meint den
mit ſeiner Frau, von welcher er getrennt lebte), ich habe
ihn gewonnen; ich wollte jene Närrinnen einſperren laſſen
(wieder ſeine Frau und ſeine jüngere Tochter, welche
letztere er auf ein Paar Jahre in ein Kloſter ſteckte), es
iſt geſchehen; ich wollte jenen Tollkopf einſtecken laſſen,
er ſitzt.“ — Zu derſelben Zeit feierte er ſich als den Mann,
der ſein ganzes Leben für die Erleichterung der Armuth
und den allgemeinen Unterricht geopfert habe.


1777
Juni.
Sophie ward in Paris unter Aufſicht geſtellt, Mira-
beau kam nach Vincennes. Von hier ſtammen jene Ker-
kerbriefe an Sophien, voll von Poeſie und ausſchweifen-
der Leidenſchaft, welche nach des Verfaſſers Tode wider
Recht ins Publicum kamen. Vergeblich beſtürmte er den
Grafen Maurepas um ſeine Freilaſſung: man ſoll ihn,
bittet er, mit den Truppen nach Amerika ſchicken und nur
die Todtenliſte wird von ihm Zeugniß geben, wenn es
nicht ſeine Thaten thun. Von Verzweiflung und Krank-
heit erſchöpft, nährt er Gedanken von Selbſtmord,
doch ermannt ſich ſein Geiſt wieder. Der Alte aber beharrt
unbeweglich. Da ſtirbt des Gefangenen rechtmäßiger
Sohn, ein fünfjähriger Knabe, und nun wachen dem
[179] Alten Familiengedanken auf. „Unſer Kind iſt todt, Vic-
tor,“ ſchreibt der Bailli, „deine Familie iſt vernichtet,
der Herr hat es gegeben, hat es genommen.“ Der Mar-
quis darauf: „Die letzte Hoffnung unſeres Namens iſt da-
hin. — Nach ſo Vielem was ich ertragen, glaubte ich an
meine Stärke; Gott hat mich enttäuſchen wollen. — Ich
habe getrachtet ein guter Sohn, guter Bruder, guter
Gatte, guter Vater, guter Nachbar zu ſeyn, geſetzlich in
Geſchäften, billig in Verträgen, habe niemals jemanden
übel gewollt, und doch ſcheine ich ein Gegenſtand des
himmliſchen Zornes zu ſeyn.“ Er vergleicht ſich mit dem
Regulus in der Tonne, umgeben von Böſewichtern; „die
Mutter und von fünf Kindern ihrer viere eingeſperrt.“
Der Oheim brachte nun in aller Stille den Gefangenen
dazu ſeinem Vater unterwürfig zu ſchreiben, erinnerte zu-
gleich den Bruder an den Schmerz der Provençalen, wenn
eines ſeiner beſten und kraftvollſten Geſchlechter ausgehen
ſollte. Als auch Sophie ſchreibt, ſich ſelbſt alle Schuld
beimißt, bricht das Eis etwas. „Ich glaube, alle Narren
und Närrinnen der Welt haben ſich verſchworen mir Re-
ſpect zu bezeigen.“ Als endlich die Miniſter ſelbſt nahe
daran waren einzuſchreiten, kam Mirabeau frei nach vierte-1780
Dec.

halbjähriger Gefangenſchaft.


Die Wiedervereinigung mit ſeiner Frau gelang nicht;
eben ſo wenig aber knüpfte ſich das Verhältniß mit So-
phien wieder an. Dieſe ſtand im Begriffe, nachdem ihr
Mann geſtorben, ein anderes Bündniß aus wahrer
12*
[180] Neigung einzugehen; aber ihr Verlobter ſtarb und ſie
machte ihrem Leben durch Kohlendampf ein Ende.


Vater und Sohn ſehen ſich nach neun Jahren wieder.
Da aber der Marquis auch jetzt nicht zu bewegen war ein
feſtes Jahrgehalt ſeinem Sohne auszuſetzen, machte dieſer
ſich mehr unabhängig, half ſich mit Schuldenmachen und
dem Ertrage zahlreicher literariſcher Arbeiten. Er trat mit
Calonne in Verbindung, und ſchrieb Anfangs im Inter-
eſſe ſeiner Finanzplane. Als er aber deſſen Unwürdigkeit
erkannte, beſchloß er öffentlich mit ihm zu brechen, ging
nach Berlin, um von dort aus ſeine Blitze zu ſchleudern.
Hier ſah er Friedrich den Großen, ward gern von ihm
1785.empfangen. Die Hand eines Freundes hielt ſein Send-
ſchreiben an Calonne von der Veröffentlichung zurück; es
iſt Talleyrand-Perigord. Dieſer Mann war Mirabeau’s
Leidensgenoſſe, auch er ein Opfer jener ſchrankenloſen
Hausmacht in den Familien des hohen Adels. Er ward
in Paris geboren, die Eltern gaben ihn gleich aus dem
Hauſe in die Vorſtadt einer Amme hin. Dieſe verwahr-
loſte das Kind, er that einen Fall, der ihn für ſein Leben
lang gebrechlich machte. Nun mußte er, der Erſtgeborene
eines alten glänzenden Hauſes, in die beſcheidene Lauf-
bahn eines Nachgeborenen treten, die weltlichſte Seele
wider Willen in den geiſtlichen Stand. Aber Abteien floſ-
ſen ihm zu, er ward Generalagent der franzöſiſchen Geiſt-
lichkeit, ward als ſolcher der Verwalter ihres ungeheuren
Vermögens und rüſtete in dieſer Stellung während des
[181] nordamerikaniſchen Krieges einen Kaper gegen die Eng-
länder aus. Er nun deckte damals Calonne mit ſeinem
Schilde, lediglich in der Abſicht ſeinem älteren Freunde,
deſſen Kraftfülle ohne Nutzen wucherte, einen Wirkungs-
kreis durch die Regierung zu verſchaffen. Dieſe erkannte
den Vortheil, den ein in Berlin wohl aufgenommener
Mann in einem Zeitpunct bringen könne, da eine Regie-
rungsveränderung in Preußen bevorſtand. Mirabeau’ging
nach Berlin ab wenig Wochen vor dem Tode Friedrichs.
An ſeinen Nachfolger richtete er ein Schreiben voll eingrei-
fender Rathſchläge, rieth an die Stelle des bisherigen
Militärzwanges Nationalcompagnien, nach Kirchſpren-
geln gebildet, zu ſetzen, die ſich unter ſich einüben, ihre
Oberen wählen, verlangte unabſetzbare Richter, die von
Gehalt, nicht von Sporteln leben, völlige Freiheit der
Preſſe als des einzigſten Mittels für den König die Wahr-
heit zu erfahren, eiferte gegen das Lotto, ſprach endlich
herben Tadel gegen das ganze Wirthſchaftsſyſtem des ver-
ſtorbenen Königs aus, namentlich gegen den ungeheuren
Staatsſchatz. Es war die Zeit der erſten Notabeln gekom-
men, Talleyrand fand ſeinen Platz in ihnen, Mirabeau
bewarb ſich vergeblich um eine der Secretärſtellen, er ſah1787
Jan.

bei ſeiner Rückkehr beide beſetzt. Nun griff er öffentlich Ca-
lonne an in ſeiner vortrefflichen Schrift über die Agiotage,
richtete nach deſſen Falle zwei Briefe gegen Necker, wel-
chem er, im Princip richtig, aber nach Lage der Umſtände
mit Unbilligkeit ſein Syſtem der Anleihen zum Vorwurf
[182] macht; er hätte mit Steuern aushelfen ſollen. Mit größe-
rem Rechte hielt er ihm ſeine Schrift über den Getraide-
handel vor, durch welche er an dem Sturze des einzigen
Miniſters, welcher der Wiedergeburt von Frankreich ge-
wachſen war, an Turgots Sturze gearbeitet habe. Um
den Folgen eines Verhaftsbriefes zu entgehen, der ihn
wegen der Schrift gegen Calonne traf, kam Mirabeau
zum dritten Male nach Deutſchland, und brachte jetzt mit
Beihülfe des Majors und Profeſſors Mauvillon in Braun-
ſchweig ſein großes denkwürdiges Werk über die preußiſche
Monarchie zu Stande. Vielfach, wo er Preußen nannte,
hatte er Frankreich im Auge. Der Vater, dem er ſein
Werk gewidmet, nahm es wohl auf, meinte, der Haupt-
nutzen deſſelben ſey zu zeigen, wie Friedrich der Große mit
allem guten Willen, all ſeiner Wachſamkeit ſich doch im
Einzelnen unzählige Male geirrt habe.


Aufs Neue bot aber Mirabeau der Regierung ſeine
Dienſte an, wandte ſich an den Miniſter Montmorin.
Die Sache lag ganz einfach vor; man hätte ihn im Va-
terlande benutzen, oder unter dem Scheine der Dienſte
einen gefährlichen Gegner an ihm entfernen ſollen. Denn
in ſeiner wachſenden Bedrängniß erklärt er ſich bereit, wo-
hin man will, „nach Warſchau, St. Petersburg, Con-
ſtantinopel, Alexandrien“ zu gehen. Weder das Eine
noch das Andere geſchah. Es iſt nicht anders, dieſe mi-
niſterielle Unfähigkeit ein politiſches Genie zu würdigen,
gepaart mit dem unerbittlichen Geize des alten Vaters
[183] hat einen Hauptimpuls zur Revolution abgegeben. In
allen ſeinen Nöthen war Mirabeau geradezu der Einzige,
der durch allen den Tageslärmen hindurch die ſtille Bil-
dung einer neuen Geſchichte von Frankreich mit des Gei-
ſtes Augen ſah, bevor ſie noch in die Erſcheinung trat.
Schon am 10ten November 87 ſchrieb er an ein Mitglied
des Parlaments, die Berufung der Generalſtaaten habe
nicht Zeit bis 1792, ſie ſey unvermeidlich, möge nun
Achilles oder Therſites Miniſter ſeyn; er wünſchte dem
(unbekannten) Correſpondenten Glück zu der belle part
dans la révolution qui constituera la France.
Demſelben
ſchrieb er am 18ten November, man dürfe 120 Millionen
als Proviſorium bewilligen, unter der Bedingung daß
die Etats-généraux 1789 verſammelt würden, durchaus
aber nicht die ganze Forderung. Nach jener verhängniß-
vollen königlichen Sitzung vom 19ten November ſchrieb er
an Montmorin, beſchwor ihn Muth zu faſſen: „Es giebt
Augenblicke wo der Muth Klugheit iſt.“ Die Antwort des
Miniſters war eine Aufforderung gegen das Parlament
zu ſchreiben. Er aber antwortete mit der Beweisführung
daß man das Parlament nur ſtürzen könne, wenn man
die Nation zur Gehülfin habe. Wenn man freilich dieſes
Weges wollte, hätte man den König nicht ſollen ſagen
laſſen daß allein der Wille des Monarchen das Geſetz
macht. „Ich werde nie die Parlamente bekriegen als in
Gegenwart der Nation. — Sehen wir nicht an der Stelle
der von ihnen uſurpirten Rechte eine durch unſere Ein-
[184] willigung beſtätigte Conſtitution erwachſen, welcher ehr-
liche Mann würde dann dazu helfen wollen, die letzte
Spur unſerer ſterbenden Freiheiten zu vertilgen? Die Ge-
neralſtände ſind eben ſo nothwendig als die einzige Hülfs-
quelle der Finanzen wie als das einzige Mittel das Kö-
nigreich zu conſtituiren und umgekehrt. — Aber leider iſt
es die Krankheit der Miniſter heute das nicht geben zu
wollen, was ihnen morgen entriſſen wird. — Sobald der
nothwendige Schritt geſchehen iſt, die Regierung das
Vertrauen der Nation wieder erlangt hat, werden die Par-
lamente durch die Gewalt der Dinge auf ihr wahres Maß
herabſinken.“ Er ſchließt ungefähr ſo: „Herr Graf,
compromittiren Sie nicht einen eifrigen Diener, der an
dem Tage, an welchem die Pflicht ihm gebietet ſich ſei-
nem Vaterlande zu weihen, ſeine Gefahren für nichts an-
ſchlagen wird; aber der um den Preis aller Kronen ſich
nicht in einer zweideutigen Sache bloßſtellen will. Würde
ich nicht dieſes geringe Talent, deſſen Einfluß Sie zu hoch
anſchlagen, aufopfern, wenn ich dieſer unbeugſamen Un-
abhängigkeit entſagte, welche allein mich nützlich meinem
Lande und meinem Könige machen kann? An dem Tage
da begeiſtert von meinem Gewiſſen und ſtark durch meine
Überzeugung ich als reiner Bürger, treuer Unterthan,
jungfräulicher Schriftſteller mich in das Handgemenge
ſtürze, werde ich ſagen können: Höret einen Mann, der
nie in ſeinen Grundſätzen geſchwankt, nie die öffentliche
Sache verrathen hat.“


[185]

Zu dieſer Zeit gab er ſeine Schriften über die Gefäng-
niſſe und über die Preßfreiheit heraus, letztere nach John
Milton und mit dem Motto: „Wer einen Menſchen töd-
tet, tödtet ein vernünftiges Geſchöpf, wer aber ein gutes
Buch vernichtet, tödtet die Vernunft ſelber.“ Mirabeau
hielt feſt an dem Satze, die Regierung habe durch die
Aufforderung an das Publicum, ſie mit ihrem guten Rathe
für die Reichsſtände zu unterſtützen, auf die Cenſur ver-
zichtet, und Tauſende von Flugſchriften ſetzten das
praktiſch durch.


Um die Zeit da die berühmte Brochüre von Sieyes ans
Licht trat, ging ſein Landsmann in die Provence, mit1789
Jan.

dem Adel an der Wahl von Abgeordneten für die General-
ſtände theilzunehmen. Er that durch ſeinen Oheim bei
dem Vater Schritte, wünſchte die großen mirabeauſchen
Hauslehen in der Adelskammer zu repräſentiren; der aber
meinte: das komme ihm, dem Inhaber, doch wohl eher
zu. Nun fragte es ſich, ob der Adel den Sohn, als nicht
wirklichen Beſitzer von Lehen zulaſſen, noch mehr, ob er
ihn zum Abgeordneten wählen werde. Allein das ſchlimmſte
Hinderniß ſteht noch zurück. Für ſeine Geltung in den
Reichsſtänden war ſein Selbſtgefühl ihm Bürge, allein
wer bürgte dem Bedrängten für ſein Reiſegeld hin in die
Provence und wieder zurück? Nun hatte er ein geiſtreiches,
aber vielfach anſtößiges Buch abgefaßt: Geheime Ge-
ſchichte des berliner Hofes. Er bietet ſeine Handſchrift
dem Grafen Montmorin an, will man ihn entſchädigen,
[186] ſo ſoll ſie nicht erſcheinen. Dieſer leiſtet eine Zahlung,
ſtellt aber die Bedingung dabei, Mirabeau ſoll nicht in
die Provence gehen, auf ſeine Deputirtenwahl verzichten.
Aber Mirabeau geht in die Provence und läßt ſich noch
dazu von einer hübſchen Buchhändlersfrau überreden, ihren
Mann durch eine Copie ſeiner Handſchrift glücklich zu
machen. So floß ihm Geld aus zwei Quellen zu. Das
Parlament verbrannte ſein Buch und beförderte nur deſſen
Verbreitung. Seit dem Tage zog ſich Talleyrand von Mi-
rabeau zurück, er der ihn vielleicht hätte retten können.
So kam der Mann mit Unehre belaſtet in die Provence,
allein auch ſeine Gegner geſtehen daß ſein Benehmen dort
ehrenhaft, voll Würde und Mäßigung war. Seit funf-
zehn Jahren hatte er die landſtändiſchen Verſammlungen
der Provence als Mitglied der mit Lehen angeſeſſenen Rit-
terſchaft beſucht, auch dieſes Mal war er ſchriftlich einbe-
rufen, und niemand taſtete in den erſten Sitzungen ſeine
Gerechtſame an. Nun erhub ſich aber ein heftiger Streit
unter den Privilegirten über die Frage, wer die Wahl zu
den Reichsſtänden zu treffen habe und wer wählbar ſey.
Die Prälaten und der Lehnsadel ſprachen: „Wir allein,“
die Stimme des Landes ward nicht müde zu wiederholen:
„Die geſammte Geiſtlichkeit, der geſammte Adel.“ Jene
hatten das Herkommen, dieſe die proviſoriſche Verfügung
des Königs zum Zwecke der Reichsſtände und die Lebens-
verhältniſſe für ſich. Kaum aber hatte Mirabeau, der
Einzige ſeines Standes, in einer Rede voll Einſicht und
[187] edler Mäßigung dargelegt daß der königliche Befehl eben
ſo ſehr Gehorſam heiſche als die königliche Abſicht ihn
verdiene, daß auch die Stimme von 600,000 Einwohnern
einen Werth habe, 180 Berechtigten gegenüber, als auch
der Sturm über ihn ausbrach. Man befand jetzt daß die
mirabeauſchen Lehen auf ſeines Vaters Namen gingen,
daß auch ſein Ehecontract ihn nicht zum Lehnseigenthümer
mache, ſeine Ausſtoßung ward entſchieden. Auch ſein
Proteſt hiegegen trägt keine Spur von Leidenſchaft; er iſt
ein anderer Menſch, ſobald er in die Sphäre öffentlicher
Verhältniſſe tritt. Um ſo gewiſſer konnte er von nun an
der Gunſt des dritten Standes ſeyn, es wäre denn daß
ein Verhaftsbrief wegen ſeiner berliner Briefe dazwiſchen
träte. Dieſe Sorge trieb ihn ſchleunig nach Paris, und
als er erfahren, für ſeine Perſon ſey nichts zu fürchten,
eben ſo raſch wieder zurück in die Provence. Sein Ein-
tritt hier war ein Triumphzug, allenthalben ſtrömte ihm
die Bevölkerung entgegen, man feierte mit lautem Zuruf
den König und Mirabcau. An den Zauber ſeiner Unter-
haltung ſah man Alt und Jung gefeſſelt; wer ihn von den
Irrthümern ſeiner Jugend reuig erzählen hörte, überredete
ſich gern, dieſem Manne gehörten bloß ſeine Tugenden,
ſeine Laſter wären ihm äußerlich angeſpritzt. Aber Theu-
rung herrſchte auch in der Provence; der geringe Mann
forderte in Marſeille einen niedrigeren Satz für Brod und
Fleiſch; die Obrigkeit hat im erſten Schrecken nachgegeben,
und weiß nun nicht wie ſie Wort halten ſoll. Da nimmt
[188] das Gouvernement zu dem Manne des Volks ſeine Zu-
flucht und Mirabeau wagt es auf ein Paar meiſterhaft ge-
März 25.ſchriebenen Seiten das Volk zu belehren daß es einen hö-
heren Preis für ſein Brod zahlen müſſe, wenn es nicht
verhungern will. Und es nimmt die Lehre an. Von da
beruft man ihn nach Aix, wo das Volk die Magazine ge-
plündert hat, auch hier iſt er der Friedensſtifter, läßt die
Soldaten abziehen, übergiebt die Sicherheitsſorge einer
Bürgerbewaffnung. Jetzt fällt die Wahl des dritten Stan-
des der beiden Bezirke von Marſeille und Aix auf ihn. Er
April 7.befindet ſich gerade in Aix und nimmt dieſe Wahl an. Die
Erzählung, er habe ſeinem Adel förmlich entſagt, habe
einen Tuchladen in Marſeille gekauft, iſt eine Fabel.


Die Geſchicke Frankreichs erfüllten ſich, indem zwei
Provençalen, ſo ungleichartig wie Waſſer und Feuer ſind,
ſich in der Kammer des dritten Standes zuſammenfanden,
der ihrer beiderſeitigen Vergangenheit fremd war. Es ge-
hörte Neckers Wahlordnung und eine wunderbare Verket-
tung von Umſtänden dazu daß ſie nur überhaupt gewählt
wurden. Dagegen bahnte ſich vor Talleyrand-Perigord
überall leicht der Weg. Er war kürzlich Biſchof von Autun
geworden und ſeine Geiſtlichkeit wählte ihn; er nahm von
ihr mit einer Rede Abſchied, welche die Gleichheit aller
Stände vor dem Geſetz empfahl, die Freiheit des Gedan-
kens verherrlichte.


In der Woche vor Eröffnung der Reichsſtände ward
das Haus eines ehrlichen pariſer Fabrikanten Reveillon
[189] in der Vorſtadt St. Antoine von Geſindel erſtürmt undApril 28.
ausgeplündert. Als Alles vorüber war, erſchien die be-
waffnete Macht, feuerte und nahm einige Verhaftungen
vor. Der Umſtand daß man bei den Verhafteten Sechs-
frankenthaler fand, dergleichen ſich zu Tagelöhnern nicht
ſo leicht verirren, gab, an ſpätere Erfahrungen geknüpft,
der Vermuthung Raum, es fänden ſich in der Hauptſtadt
Leute von großem Vermögen, welche gelegentlich hätten
erproben wollen, wie theuer wohl eine Emeute zu ſtehen
komme; denn die Aufregung gegen Reveillon, der Hun-
derte von Arbeitern mit Milde und Redlichkeit ernährte,
war offenbar künſtlich angefacht. Doch rauſchte der ganze
Vorgang damals ſchnell vor dem Gedächtniß vorüber; je-
dermann dachte an Verſailles, und wer von Paris dahin
kam, weidete ſein Auge an der Geſchäftigkeit der Arbeiter,
welche in einem der Schloßgebäude einen gewaltigen Saal,
der zur Aufbewahrung von Teppichen, Kronleuchtern,
Decorationen, Theater- und Maskenkleidern diente und
jetzt wieder dient, für die Eröffnung der Reichsſtände
prachtvoll einrichteten. Er hieß der Saal der kleinen Ver-
gnügungen, la salle des menus oder menus plaisirs.
Man verſprach ſich ein recht großes Vergnügen davon.


[[190]]

3. Der Geburtstag der Revolution.


Zu den Reichsſtänden ließ ſich nun Alles vorſchriftsmäßig
an. Die große Stadt Verſailles füllte ſich Anfang Mai mit
Fremden, die allmählig angereiſten Abgeordneten wurden
mit den jedem Stande gebührenden Förmlichkeiten dem
Mai 4.Könige vorgeſtellt, und ſchon zu der kirchlichen Feier in
der Kirche des heiligen Ludwig ſtrömten die Hauptſtäd-
ter herbei, die große ſtändiſche Proceſſion zu ſehen, die
vom dritten Stande voran, Alle ganz ſchwarz nach Vor-
ſchrift, mit einem ſchmalen ſeidenen Mäntelchen hinten
herabhängend angethan, bis auf einen Bauer aus der
Bretagne, der in der Landestracht einherging; dann der
Adel mit reich galonirtem Mantel, mit Degen und Feder-
hut wie zur Zeit Heinrichs des Vierten, in deſſen Reihen
man nur einen Prinzen vom Geblüt, den Herzog von Or-
leans bemerkte, denn der Graf von Artois hatte auf die
Wahl, welche ihn getroffen, auf königlichen Befehl verzichten
müſſen. Langſam folgte zuletzt der Klerus; aber die Prä-
laten in farbigen Prachtgewanden und weißen Chorhemden
[191] durften mit den ſchlichten Pfarrern in beſcheidener Amts-
tracht nicht verſchmelzen; der umſichtige Ceremonienmei-
ſter hatte ein Muſikchor zwiſchen beiden eingeſchoben.


Den Tag darauf am 5ten Mai wurden die Reichs-
ſtände eröffnet. Der Klerus nahm an der rechten, der
Adel an der linken Seite des Thrones Platz. Die ſchwarze
Schaar des dritten Standes lagerte im Hintergrunde des
großen prächtigen Saales. Ein Paar tauſend Menſchen
füllten die hinter den Säulen laufenden doppelten Galle-
rien. Als das Königspaar eintrat, umgeben von den
Prinzen von Geblüt, den Herzogen und Pärs, geleitet
von Miniſtern, Staatsräthen, Hofleuten, ſtand Alles
auf und freudige Zurufe wurden gehört. Der König er-
hob ſich vom Throne, verlas unbedeckten Hauptes ſeine
Rede: „Er habe gern eine in Abgang gekommene Ge-
wohnheit erneuert, die Reichsſtände berufen und ſo hof-
fentlich eine neue Quelle für das Glück ſeiner Unterthanen
eröffnet. Bei ſeiner Thronbeſteigung habe er eine unge-
heure Staatsſchuld vorgefunden, ſie ſey unter ſeiner Re-
gierung noch vermehrt durch einen wenn auch ehrenvollen
Krieg; indem neue Auflagen nöthig wurden, ſey die un-
gleiche Vertheilung derſelben noch auffallender ans Licht
getreten. Um ſo beruhigender die Bereitwilligkeit, welche
ſich in den beiden erſten Ständen offenbare, auf ihre Vor-
züge in der Beſteurung zu verzichten. Sparſamkeit werde
das Übrige thun; die Finanzetats ſollen vorgelegt werden.
Die Geiſter ſind in großer Aufregung, eine Sucht nach
[192] Neuerungen iſt erwacht; aber die Weisheit der Verſamm-
lung wird dieſe beſchwichtigen, ihre Eintracht wird die
heißen Wünſche ihres Souveräns, des erſten Freundes
ſeiner Völker, zu ehren wiſſen.“ Als der König ſich ge-
ſetzt und bedeckt hatte, bedeckten ſich ſämmtliche Edelleute.
Der dritte Stand war gereizt durch einige demüthigende
Formen, welche die Höflinge für ihn erdacht hatten, da-
mit er den Abſtand ſeiner Geburt keinen Augenblick ver-
geſſe, und mehrere ſeiner Mitglieder bedeckten ſich eben-
falls, während andere Hut ab! riefen, und wieder andere
dagegen Hut auf!, bis der König deſſen inne ward, und
indem er ſeine Kopfbedeckung abnahm, Alles wieder ins
Gleis brachte. Von der Rede des Siegelbewahrers, mit
leiſer zitternder Stimme verleſen, ward wenig verſtanden.
Die Regierung des Königs belobend und wegen ihrer Un-
beſtimmtheit wenig gewinnend, obwohl die Worte: „öf-
fentliche Freiheit“ und „Staatsbürger“, bisher unge-
wohnte Klänge, darin vorkamen, deckte ſie den Grund-
fehler der Regierung auf, die Form der ſtändiſchen Bera-
thung unentſchieden zu laſſen. Nach Barentin nahm Necker
das Wort, las viel zu lang, indem er über drei Stunden
mit finanziellen Details ausfüllte, wovon der Verfolg ihn
ſogar bis auf den Schnupftabak führte, deſſen Anwen-
dung auf die Naſen des Menſchengeſchlechts er eine Me-
thode nannte. Eine Staatsſchuld giebt er von 3,090 Mil-
lionen an, ein Deficit von nur 56 Millionen, fordert die
beiden erſten Stände auf zunächſt den Verzicht auf ihre
[193] Steuerfreiheit, jeder Stand für ſich, zu beſchließen, dann
weiter durch Commiſſarien über die Form der Verhand-
lung zu berathen. Welch eine Regierungsweisheit iſt aber
das, die über ſolch einen Gegenſtand erſt eine Meinung
ſammeln will? Neckers Andeutung geht, gleich der Baren-
tins, dahin, die Berathung in zwei oder drei Kammern
werde dem Neuerungsgeiſte entgegenwirken, in gewiſſen
Fällen dagegen ſcheine gemeinſchaftliche Berathung in ei-
ner
Kammer die Schnelligkeit und Eintracht der Beſchlüſſe
ſicher zu ſtellen. Eine leere Rednerei Neckers, welche nie-
manden täuſchte, iſt ſeine Ausführung, für die Ordnung
der Finanzen habe es der Reichsſtände nicht bedurft, ihre
Berufung ſey ein freies Geſchenk königlicher Weisheit und
Huld. Der König erfüllte als ehrlicher Mann ſeine Zu-
ſage, allein er that es ungern, that es mit Sorge, konnte
nicht anders.


Mirabeau hatte auf eigene Hand ein politiſches Ta-
gesblatt begonnen (Journal des Etats généraux), immer
noch in der kühnen Vorausſetzung, alle Cenſur habe auf-
gehört. Hier erſchien gleich den nächſten Tag eine ſcharfe
Kritik der Rede Neckers, die Behauptung ward aufgeſtellt,
die Etats-généraux hätten in ungetrennter Verſammlung
über die Frage zu entſcheiden, ob ſie fortfahren wollten
beiſammen zu ſeyn oder nicht. Aber das Blatt ward unter-
drückt und ſeine Fortſetzung verboten. Nichts deſto weni-
ger ging es unter verändertem Titel fort, Mirabeau be-
klagte ſich öffentlich in einem Briefe an ſeine Wähler über
Franzöſiſche Revolution. 13
[194] den erlittenen Eingriff in ſein Recht und die Wähler von
Paris unterbrachen ihre Geſchäfte, um einen einſtimmigen
Beſchluß der Misbilligung gegen die Verfügung des
Mai 7.Staatsrathes zu faſſen und zu veröffentlichen.


Inzwiſchen waren die Abgeordneten dritten Standes,
einer bloß zuſchauenden Regierung gegenüber, ungemein
thätig. Alle Umſtände vereinigten ſich zu ihren Gunſten.
Mai 6.Den Tag nach der Eröffnung fanden ſie ſich wieder in dem
großen Saale von geſtern zuſammen, der ihnen bleiben
ſollte, während dem Adel und der Geiſtlichkeit kleinere
Gemächer angewieſen wurden. So erſchienen jene von
Anfang her als der Mittelpunct der großen Bewegung,
und weil mit den Abgeordneten zugleich auch viele Men-
ſchen ſonſt eindrangen und die Gallerien erfüllten, nicht
ſelten auch neben befreundeten Abgeordneten Platz nehmen
durften, wurden ihre Sitzungen öffentlich ohne alle Be-
ſchlußnahme oder Geſtattung. An die Nothwendigkeit der
Gegenwart von Staatsminiſtern oder Regierungscommiſ-
ſarien hatte niemand im Miniſterium gedacht, nicht ein-
mal an eine Vorſchrift, wie es mit der Unterſuchung der
Vollmachten zu halten ſey. Die Regierung konnte das als
ihr ausſchließliches Recht betrachten, nachzuſehen, ob je-
der Erſchienene rechtmäßig gewählt ſey, und ſo hatte ſie
dieſes Verhältniß bei den vorläufigen Wahlen zum Zwecke
der Deputirtenwahl behandelt. Es ließ ſich aber auch das
Geſchäft an die Reichsſtände übertragen, nur daß die
Form der Behandlung vorgeſchrieben würde. Hier aber
[195] war der Art nichts verfügt, Alles ſtillſchweigend den Ge-
neralſtänden, wie ſie ſich einigen würden, überlaſſen, und
eben hieran knüpften, im Stillen einverſtanden, die Leiter
des dritten Standes ihren Feldzugsplan an. „Wie iſt es
doch“, ſprach man, „daß die Geiſtlichkeit und der Adel nicht
in den Ständeſaal kommen?“ denn ſo nannte man jetzt die-
ſen großen Saal. „Wir ſind außer Stand ein gültiges
Geſchäft vorzunehmen, ehe unſere Vollmachten in Gegen-
wart der drei Stände unterſucht und richtig befunden ſind,
und Adel und Geiſtlichkeit befinden ſich im gleichen Falle.
Wir müſſen jeden Anſchein vermeiden, als hielten wir uns
für conſtituirt, ehe das geſchehen, ein Älteſter mag bei
uns Vorſitzer ſeyn, wir beſprechen uns als Einzelne,
warum nicht? aber kein Protocoll darf geführt, kein
Staatsgeſchäft vorgenommen werden“. Die Schwierigkeit
beſtand darin, zugleich Etwas und Nichts zu ſeyn; man
kam überein in der Eigenſchaft von muthmaßlichen Abge-
ordneten mit Geiſtlichkeit und Adel in Verbindung zu tre-
ten, ſie durch einzelne Mitglieder um ihr Erſcheinen er-
ſuchen zu laſſen. Allein der Adel beſchloß raſch mit großer
Mehrheit die Prüfung für ſich vorzunehmen, ebenſo, doch
zögernder und mit geringer Mehrheit die Geiſtlichkeit.
Dadurch aber war die Verwickelung nur vergrößert. Denn
Geiſtlichkeit und Adel galten bei dem dritten Stande weder
für conſtituirt, noch konnten ſie ſich als Generalſtaaten
geltend machen, ſo lange der dritte Stand auf ſeiner
ſchlauen Trägheit beharrte. So ließ man ſich denn zu
13*
[196] Commiſſarien aller drei Stände herbei; aber die Abgeord-
neten der Gemeinen, denn ſo benannten ſich die vom drit-
ten Stande in dieſen Tagen, gaben weder zu, daß für die-
ſen in ſeiner Wahlordnung ſo mannigfach abweichenden
Reichstag das gelte was vor Jahrhunderten gegolten,
noch misglückte ihnen der Beweis daß wirklich auch auf
ein Paar alten Reichstagen die Prüfung der Vollmachten
gemeinſam vorgenommen ſey. Bis in die dritte Woche
hatte man ſich geſtritten, Frankreich ſah vergeblich nach
den Thaten ſeiner Vertreter aus, und die Freude der Höf-
linge brach faſt ſchon in ein helles Jauchzen aus, als
Klerus und Adel ſagen ließen, ſie hätten auf ihre Steuer-
freiheit Verzicht geleiſtet. Dieſer Verſuch die Gemeinen
von ihrer Bahn abzulenken, ſcheiterte; ſie nahmen die
Botſchaft kalt an und beharrten, ſie wollten keine bloße
Steuerveränderung mehr, ihr Sinn ſtand nach einer neuen
Verfaſſung. Man hielt damals bei ihnen ſehr kurze Sitzun-
gen; jedes Mitglied redete einfach von ſeinem Platze aus;
nur daß ausnahmsweiſe, wenn etwas beſonders Wich-
tiges vorzubringen war, ein Mitglied auf die Erhöhung,
das Büreau trat, wo der Alterspräſident ſeinen Platz
hatte. Man war in die vierte ſtändiſche Woche getreten,
als auf Mirabeau’s Antrag einige Vertreter der Gemei-
nen bei der Geiſtlichkeit erſchienen, ſie im Namen des
Gottes des Friedens beſchwörend, gemeinſchaftliche Sache
mit ihnen zu machen. Dieſer Schritt erſchütterte die Ge-
müther der Geiſtlichen und wenig fehlte, ſo wäre an die-
[197] ſem Tage die Vereinigung unmittelbar erfolgt. Der Bi-Mai 27.
ſchof von Chartres, der alte Gönner von Sieyes, ein von
ſeinem Berufe in Redlichkeit erfüllter Prälat, drang tief
bewegt darauf. Dennoch ward es für das Mal abgewen-
det, und der König trat eilig mit Vergleichsvorſchlägen
dazwiſchen. Jeder Stand ſoll zunächſt für ſich prüfen, den
beiden anderen Einſicht der Acten geben; bleiben dann
angefochtene Vollmachten übrig, ſo treten Commiſſarien
der drei Stände zuſammen, ſchließlich entſcheiden die Kam-
mern, können ſie ſich nicht einigen, der König. Dieſen
Vorſchlägen, deren Dolmetſcher Necker in dem Ausſchuſſe
der drei Stände war, fügte die Geiſtlichkeit ſich gleich;
geſchah es daß auch der Adel nachgab, ſo war dem unpri-
vilegirten Stande eine große Gefahr bereitet; er mußte
dann entweder aus ſeiner geſchützten Stellung weichen und
auf Hoffnungen verzichten, die ihm Alles bedeuteten,
oder ſich gegen Vorſchläge auflehnen, die, wenn ſie als
Vorſchriften den Etats-généraux vorangegangen wären,
jedermann befriedigt hätten. Allein der Adel hatte ſchon
einige Tage vorher einen Beſchluß gefaßt, welcher die
Berathung jedes Standes für ſich und das Veto jedes
Standes für unabänderliche Grundſätze der franzöſiſchen
Monarchie erklärte, und dieſem Beſchluſſe getreu fiel ſeine
Erklärung dahin aus, daß er allein über die Wahlen ſeines
Standes zu entſcheiden habe. Alsbald erklärten die Gemei-
nen, ein Vergleichsvorſchlag, welchen eine der Parteien ver-
worfen habe, ſey fruchtlos, und die Conferenzen brachen ab.Juni 9.


[198]

Die Gemeinen ſtanden jetzt beſſer als vor dieſer Ge-
fahr. Sie hatten nicht den Krieg erklärt und durften wie-
der auf die Geiſtlichkeit hoffen. Wenn ſie nun zugleich ei-
nen Schritt des Selbſtgefühls kühn in die Welt hinaus
thaten, er konnte für geboten durch die Nothwendigkeit
gelten, den Reichsſtänden ein Reſultat zu ſichern. Aber
verſchoben durfte er nicht länger werden, denn dieſelbe
Gefahr konnte wiederkehren, wenn die ſtarrſten Köpfe des
Adels, durch die Polignacs angefeuert, ſich etwa bedeu-
ten ließen.


Es war der 10te Junius als Mirabeau ſprach: „Die
Gemeinen können länger nicht ohne Gefahr in dieſem Zu-
ſtande der Unentſchiedenheit verharren, und ich bin unter-
richtet daß ein Mitglied der pariſer Deputation einen An-
trag von der größten Wichtigkeit zu ſtellen hat.“ Der
Abbé Sieyes trat auf, entwickelte daß die Verſammlung
der Gemeinen, ohne ein Verbrechen gegen die Nation auf
ſich zu laden, nicht länger unthätig bleiben könne, man
müſſe handeln und, um handeln zu können, die Prüfung
der Vollmachten vornehmen, auch zu dieſem Ende eine
letzte Ladung an die Geiſtlichkeit und den Adel ergehen laſ-
ſen, binnen einer Stunde ſich im Ständeſaale einzufin-
den. Wer nicht erſcheint iſt ausgeſchloſſen. Der Antrag
ward mit großem Beifalle aufgenommen; nur einige Här-
ten milderte man, ſetzte auf Targets Vorſchlag ſtatt „La-
dung“ Einladung, ſetzte die Friſt von einem Tage und
ließ die Erwägung gelten, daß ſtatt die nicht Erſchienenen
[199] auszuſchließen, man ſtets die Thüre zur Vereinigung of-
fen laſſen müſſe.


Der dritte Stand hatte das Recht die Hälfte zu bedeu-
ten, welches ihm ſeine Verdoppelung in Ausſicht ſtellte,
nicht erlangen ſollen, und war jetzt auf dem Wege ſich
für das Ganze zu erklären. Mirabeau kannte die Gefahr
jedes Schrittes auf dem ſchlüpfrigen Boden der Neuerung.
Als einige Wochen früher ein heftiger bretagner Advocat
Le Chapelier in dieſe Bahn einlenkte, trat er ihm entge-Mai 18.
gen: „Ein ſo wichtiger, ſo neuer, ſo tief entſcheidender
Schritt wie der, uns für die Nationalverſammlung zu er-
klären, die anderen Stände als nicht erſchienen auszu-
ſchließen, kann nicht reiflich genug erwogen und ermeſſen,
nicht würdig genug gethan werden; er müßte ſelbſt andere
Handlungen nach ſich ziehen, ohne welche unſer ganzer
Erfolg eine Auflöſung ſeyn würde, welche Frankreich den
ſchrecklichſten Unordnungen überlieferte.“ An demſelben
Tage, an welchem er an Sieyes’ Seite den gefürchteten
Schritt gleichwohl that, trachtete er für die Regierung,
die er erſchütterte, neue Stützen zu gewinnen. Unter den
Deputirten des dritten Standes aus der Auvergne befand
ſich Malonet, ein Mann von Grundſätzen und Einſicht, alſo
redlicher und muthiger Freund der Freiheit, Feind gewalt-
ſamer Umwälzung, weil die zuſammenbrechende Ordnung
die Freiheit unter ihren Trümmern zu begraben pflegt.
Malouet ſtand in alter Verbindung mit den Miniſtern
Necker und Montmorin. Staatskundiger als beide glaubte
[200] er keineswegs daß ſich Alles ſo von ſelber machen dürfe
und werde, wie Necker wähnte, keineswegs daß es ge-
lingen könne nichts thuend das Heft in den Händen zu be-
halten. Malouet warnte beide als es noch Zeit war, trieb
ſie, mit nützlichen und gerechten Zugeſtändniſſen den
Reichsſtänden entgegen zu kommen, ohne Kargheit billige
Wünſche zu befriedigen, bevor dieſe nur ausgeſprochen
würden, und eben dadurch ſich die Macht zu ſichern, ſchäd-
lichen und umwälzenden Planen entgegenzutreten. Seine
Warnungen machten Eindruck auf Montmorin, Neckern
bewegten ſie nicht. Durch politiſche Schwärmerei und
Selbſtgefälligkeit getäuſcht, fuhr dieſer fort in den bevor-
ſtehenden Reichsſtänden lediglich die Erhabenheit einer
zu den edelſten menſchlichen Zwecken berufenen Verſamm-
lung zu erblicken, und ſeines redlichen Willens ſich ganz
bewußt, rechnete er auf ihre Leitſamkeit und die unſterb-
liche Dankbarkeit des franzöſiſchen Volks. Malouet mußte
ſich mit der Antwort zufrieden ſtellen, es ſey gefährlich,
mit Adel und Geiſtlichkeit es zu verderben, ohne gewiß zu
wiſſen, ob man auch mit ſeinen Anerbietungen dem drit-
ten Stande Genüge thue. Nun traten die Reichsſtände
in Thätigkeit. Malouet wünſchte ſo redlich wie Mounier
von ihrer Verſammlung eine Verjüngung Frankreichs, ſah,
wie dieſer, das Mittel dazu in der Durchſtimmung nach
Köpfen, aber ihn betrübte der wachſende Zwieſpalt der
Stände, die träumeriſche Unthätigkeit der Krone. Da
ging ihm an dem entſcheidenden 10ten Junius eine Hoff-
[201] nung von unerwarteter Seite auf. Mirabeau bat ihn um
eine Unterredung für denſelben Tag. Dieſe hat Malouet,
der ſein Leben bis über die napoleoniſchen Zeiten verlän-
gerte, aus friſcher Erinnerung niedergeſchrieben. Mira-
beau ging offen heraus: er wende ſich an einen verſtändi-
gen Freund der Freiheit, dazu den Freund von Necker und
Montmorin. Auf beide gebe er wenig, allein man brauche
ſich auch nicht zu lieben, genug, wenn man ſich verſtän-
dige. Jetzt frage es ſich, ob der Monarch und die Monar-
chie den Sturm, welcher im Anzug iſt, überleben, oder
ob die Fehler, welche man begangen hat und ohne Zwei-
fel noch begehen wird, uns Alle verſchlingen ſollen. „Ich
wünſche,“ ſchloß er, „die Abſichten der beiden Miniſter
zu kennen und wende mich an Sie, um eine Zuſammen-
kunft mit ihnen zu erhalten. Die Miniſter würden ſehr
ſtrafbar und ſehr beſchränkten Geiſtes, ſelbſt der König
würde nicht zu entſchuldigen ſeyn, wenn ſie ſich anmaßten
dieſe Reichsſtände auf daſſelbe Ergebniß zurückzuführen,
welches alle anderen gehabt haben. Das wird nimmer-
mehr geſchehen. Die Herren müſſen einen Plan haben;
wenn dieſer Plan vernünftig iſt, im monarchiſchen Sinne,
ſo will ich ihn unterſtützen, alle meine Kräfte, allen mei-
nen Einfluß anſpannen, um den Einbruch der Demokra-
tie, die uns bedroht, abzuwenden.“ Malouet war in
gleichem Maße überraſcht und erfreut, ſprach denſelben
Abend mit beiden Miniſtern. Aber Montmorin wollte mit
einem Manne nichts zu ſchaffen haben, der, wie er ſagte,
[202] ein Spiel mit ſeiner Ehre treibe, erinnerte an den doppel-
ten Verkauf der berliner Briefe. Necker willigte ein, man
ſah ſich am 11ten; Malouet war nicht anweſend. Ein
kurzer Zwieſprach! Als Necker kalt und argwöhniſch ſeinen
alten Widerſacher fragte: welche Vorſchläge der Herr
Graf zu machen habe? gleich als gelte es einen Handel
zu treffen, einen Preis der politiſchen Beſtechung feſtzu-
ſtellen, erwiderte Mirabeau mit wenig wilden Worten,
ging davon. In der Verſammlung rief er dem Malouet
im Vorbeigehen zu: „Euer Mann iſt ein Gimpel, er
ſoll von mir hören.“


Am 12ten Junius Abends ward zur Prüfung der Voll-
machten geſchritten. Man theilte ſich, um ſchneller zum
Ziele zu kommen, in zwanzig Ausſchüſſe; der Wahlbezirke
waren 176; jedem Ausſchuſſe ward ſein Antheil zugewie-
ſen. So wie ein Wahlbezirk an die Reihe kam, unterließ
man nicht die Herren von der Geiſtlichkeit, die Herren
vom Adel jedesmal aufzurufen, und die Antwort: „Nie-
mand anweſend,“ ward im Protocoll verzeichnet. Als
man am nächſten Tage fortfuhr, traten drei Pfarrer, nicht
unerwartet, ein, legten ihre Vollmachten zur Prüfung
auf das Büreau. Sie wurden mit Entzücken empfangen.
Den Tag darauf erſchienen deren ſechs, unter ihnen Gre-
goire. Eben kamen noch zwei Pfarrer an, als man nach
Beendigung der Prüfung der Vollmachten ſich am 15ten
auf Antrag von Sieyes mit der Frage zu beſchäftigen be-
gann, welchen Namen die jetzt conſtituirte Verſammlung
[203] führen ſoll. Es war klar: eine Verſammlung, welche
fortfährt ſich den dritten Stand zu nennen, darf nicht drei
Stände bedeuten wollen; aber Etats-généraux ſich zu
heißen, war ebenfalls unthunlich, ſo lange die Mehrzahl
der Geiſtlichkeit, der ganze Adel draußen blieb. Sieyes
ermäßigte einſtweilen ſeine bekannte Theorie, ſchlug die
Benennung „Verſammlung der bekannten und beglau-
bigten Vertreter der franzöſiſchen Nation“ vor. Dieſe Be-
zeichnung hatte nichts Anſprechendes und es ſtand ihr auch
das entgegen, daß ſie nicht von Dauer ſeyn konnte. Mi-
rabeau’s Vorſchlag, „Vertreter des franzöſiſchen Volks,“
zu deſſen Stützung er Volk als den größeren Theil der
Nation definirte, erregte ſogar Unwillen, wegen der Ge-
ringſchätzung die nun einmal in Frankreich an dem Worte
Volk haftete, und die Hinweiſung des Redners auf Cha-
thams „Majeſtät des Volks,“ ſelbſt auf die Holländer
und die Schweizer, welche die geringſchätzigen Namen:
Geuſen und Hirten bald zu Ehren zu bringen wußten,
ſeine Worte: „Warum ſich Namen geben, die der Eitel-
keit ſchmeicheln?“ wurden von der verletzten Verſammlung
faſt tumultuariſch zurückgewieſen. Endlich ward unter meh-
reren Vorſchlägen auch der Name Nationalver-
ſammlung
genannt. Dieſer Ausdruck war ſchon manch-
mal vorgekommen, Malesherbes, Mirabeau, ſelbſt der
König hatte ihn unverfänglich gebraucht; jetzt aber er-
wählt, bedeutete er nicht weniger als die Theorie, zu
welcher Sieyes ſich in ſeiner berühmten Schrift bekannt
[204] hatte: „der dritte Stand iſt Alles.“ Sieyes, dem jener
Ausdruck unmöglich fremd geblieben ſeyn konnte, gab ſich
die Miene der Nachgiebigkeit, indem er innerlich trium-
phirte. Eine leidenſchaftliche Discuſſion erfolgte, ſelbſt
das Publicum auf den Gallerien miſchte ſich mit Klatſchen
und Murren ein, Malouet ward ſogar thätlich bedroht,
aber der Vorſitzende, Bailly verſchob die Entſcheidung bis
auf den nächſten Tag. Mirabeau entzog ſich dieſer Sitzung,
deren Ergebniß er vorausſah und nicht billigte. Er hatte
die Abſtimmung nach Köpfen durchzuſetzen, ſeine Schach-
partie, wie er ſich unter Freunden ausdrückte, Zug für
Zug zu gewinnen gedacht; jetzt aber ſah er ein Va-banque
vor Augen, welches einer Partei von beiden Alles koſten
wird. Er wollte keinen Namen, welcher die freie Geneh-
migung des Königs nimmermehr erlangen konnte. Als in
der Sitzung vom 16ten die Worte fielen: „wenn das Volk
geſprochen habe, ſey die königliche Genehmigung über-
flüſſig,“ gab er die tiefſinnige Entgegnung: „Ich, meine
Herren, ich halte das Veto des Königs in dem Grade für
nothwendig, daß ich lieber in Konſtantinopel leben würde
als in Frankreich, wenn er es nicht hätte: ja ich erkläre,
nichts würde mir ſchrecklicher ſcheinen als eine ſouveräne
Ariſtokratie von ſechshundert Perſonen, welche morgen
ſich unabſetzbar, übermorgen ſich erblich machen könnten,
und am Ende, wie die Ariſtokraten aller Länder der Welt,
Alles an ſich reißen würden.“ Der 17te Junius entſchied
mit 491 gegen 90 Stimmen die Erklärung des dritten
[205] Standes zur Nationalverſammlung. Gegen die Motive
dieſes Beſchluſſes, von Sieyes aufgeſtellt, ließ ſich von
ſeinem Standpuncte aus nichts einwenden. „Dieſe Ver-
ſammlung repräſentirt achtundneunzig Hundertſtel der Be-
völkerung. Eine ſolche Mehrzahl darf nicht unthätig blei-
ben, weil eine ſolche Minderzahl ſich weigert. Dieſe
Minderzahl darf kein Veto länger üben. Die National-
verſammlung iſt verpflichtet ohne Aufſchub an der Wieder-
herſtellung des öffentlichen Wohles zu arbeiten, allein ſie
wird ſtets mit entgegenkommender Wärme jene Minder-
zahl empfangen, ihre Vollmachten einſehen und ſie zulaſ-
ſen.“ Sieyes beſaß keine redneriſche Gaben, ſprach lieber
durch Andere als ſelbſt, ward wenn man ihm widerſprach,
leicht ärgerlich, auch mochte er die Ungunſt ſcheuen, welche
ſich immer gegen überwiegenden Einfluß waffnet. So kam
es an demſelben Tage durch einen fremden Mund, der
ſich ihm lieh, zu dem weit reichenden Beſchluſſe daß
ſämmtliche bisherige Steuern bis zum Tage der Auflö-
ſung der Nationalverſammlung entrichtet werden ſollen,
aber länger nicht. Die Nationalverſammlung hatte hie-
mit ihre Bereitwilligkeit erklärt die Regierung des franzö-
ſiſchen Staates anzutreten. Sie ſchickte ihre Beſchlüſſe in
die Provinzen.


Das Glück war mit der Kühnheit. Nur zwei Tage
darauf beſchloß die geiſtliche Kammer mit einer MehrheitJuni 19.
von 149 Stimmen gegen 115 die gemeinſame Prüfung
der Vollmachten, jedoch unter Vorbehalt des Unterſchiedes
[206] der Stände. Um ſo angelegentlicher rieth die Minderzahl
der Geiſtlichkeit und die große Mehrzahl des Adels dem
Könige zur Auflöſung der Reichsſtände. Aber dieſe Maß-
regel hatte ihr großes Bedenken. Durfte man die auf ei-
nen verbeſſerten Zuſtand der Dinge geſpannten Hoffnun-
gen täuſchen? und wie, wenn die ohnehin Noth leidenden
Provinzen, den Beſchluß der Gemeinen ehrend, mit einer
allgemeinen Steuerverweigerung antworteten?


Als am Sonnabend, den 20ſten Junius Morgens
acht Uhr die Gemeinen in die Sitzung gingen und das
Publicum doppelt ſtark zuſtrömte, begierig die Geiſtlichen
zum erſten Male im Schoße der Nationalverſammlung zu
erblicken, begegnete man Waffenherolden auf den Straßen,
welche dieſe Kundmachung verlaſen. „Da der König be-
ſchloſſen hat eine königliche Sitzung bei den Generalſtaa-
ten Montag den 22ſten Junius zu halten, machen die
in den drei Verſammlungsſälen der Stände zu treffenden
Vorbereitungen eine Ausſetzung der Verſammlungen bis
zur Haltung der gedachten Sitzung nöthig. Seine Maje-
ſtät wird durch eine neue Kundmachung die Stunde zur
Kenntniß bringen, in welcher ſie ſich Montag in die Ver-
ſammlung der Stände begeben wird.“ Was ſie eben ge-
hört, das laſen ſie als Anſchlag am Ständehauſe zum
zweiten Male. Die Abgeordneten ſahen ſich an der Thüre
des Saales von Bewaffneten zurückgewieſen; bloß den
Präſidenten Bailly ließ man nebſt den Secretären ein, um
die Papiere in Sicherheit zu bringen. Wie man nun in
[207] den Straßen zu Hunderten beiſammen ſtand, war der Be-
ſchluß bald gefaßt, man wolle, es koſte was es wolle,
Verſammlung halten, und zwar gleich; denn die Auflö-
ſung ward allgemein gefürchtet. Aber wo? Nach längerem
Schwanken brachte der pariſer Abgeordnete, Arzt Guillo-
tin das Ballhaus in Vorſchlag und Bailly forderte einige
Deputirte auf ſich eilends dieſes Raumes zu verſichern.
Der Eigenthümer fühlte ſich geehrt, in den Saal wo man
bisher Ball ſchlug und rappirte die Nationalverſammlung
einzuführen. Einige an der Thüre aufgeſtellte Abgeord-
nete verhinderten, daß die wogende Volksmenge zugleich
eindrang. Als der Präſident die Sitzung eröffnete, erhielt
Mounier das Wort. Dieſer hatte ſich vor wenig Tagen
noch vergebens bemüht die Uſurpation abzuwenden, durch
welche ſich der dritte Stand zur Nationalverſammlung er-
hob; jetzt aber war der Schritt geſchehen, man mußte
ihn behaupten, ohne rückwärts zu blicken, oder auf jede
vaterländiſche Hoffnung, an die Reichsſtände geknüpft,
mußte verzichtet werden. Denn wenn nicht etwas gegen
dieſe im Werke war, wozu dann den Ständeſaal neben
friedlichen Arbeitern mit Bewaffneten erfüllen? Ließ ſich
denn kein anderes Local ausfindig machen? Durfte die
Würde der Verſammlung gekränkt werden, indem man
ihre Mitglieder durch öffentlichen Ausruf und Anſchlag
unterrichtete, ihren Präſidenten aber kurz vor der Sitzung
durch ein Billet des Oberceremonienmeiſters? Verlangte
doch das Herkommen in ſolchen Fällen, wenn ſie auch nur
[208] das Parlament angingen, daß der König ſelbſt dem Präſi-
denten ſchreibe! Unter ſteigender Aufregung, während
Einige davon ſprachen, man müſſe geradezu nach Paris
wandern, dahin den Sitz der Verſammlung verlegen, Le
Chapelier aber verlangte, man müſſe dem Könige ſchrei-
ben, ſein Thron ſey von Feinden des Vaterlandes umla-
gert, gewann Mounier alle Gemüther für den Vorſchlag,
ſich gegenſeitig durch einen Eidſchwur zum treuen Zuſam-
menſtehn, wo es denn ſey, zu verpflichten, dieſen Eid
in Schrift zu bringen und zu unterzeichnen. Die Formel
des Eidſchwurs entwarf Sieyes. Der Präſident ſtieg auf
den Tiſch und verlas ſo laut, daß auch die Menge draußen
ſie hören konnte, die Worte: „Wir ſchwören uns nie-
mals von der Nationalverſammlung zu trennen und uns
allenthalben zu verſammeln, wo die Umſtände es erfordern
werden, bis die Verfaſſung des Königreiches vollendet
und auf feſten Grundlagen errichtet ſeyn wird.“ Als man
die Unterſchriften nachſah, hatte ein einziger Abgeordne-
ter als „nicht beiſtimmend“ unterzeichnet. Auf Befragen
erklärte dieſer, (Martin d’Auch) er könne nicht ſchwören
einen vom Könige nicht genehmigten Beſchluß auszufüh-
ren, und die Bemerkung des Präſidenten, wie der von
der Verſammlung ſtets anerkannte Grundſatz daß die Ver-
faſſung und die Geſetzgebung der königlichen Genehmigung
bedürfen, durch den Eid nicht ausgeſchloſſen ſey, machte
ihn nicht irre. Man ließ ihn aber gewähren, um ei-
nen Beweis der Achtung für die Freiheit der Meinungen
[209] zu geben, und war um ſo mehr erfreut, unter den Eidab-
leiſtern einige Herren von der Adelskammer, einen Mathieu
Montmorency, Clermont-Tonnerre und Lally-Tollendal
zu erblicken.


Die königliche Sitzung ward um einen Tag verſcho-
ben, dieſes Mal durch ein königliches Handſchreiben an
den Präſidenten, welches zugleich den Eintritt in den
Ständeſaal bis dahin verbot. Eine beabſichtigte zweite
Verſammlung im Ballhauſe aber ſchnitt der Graf von
Artois ab, indem er dem Eigenthümer ſagen ließ, er
wolle Montag dort ſpielen. Aber auch dieſe Liſt ſchlug in
ihr Gegentheil um, die Gemeinen verſammelten ſich in
der Kirche des heiligen Ludwig, und hier traten vor allerJuni 22.
Welt Augen die 149 Geiſtlichen zu ihnen ein, meiſtens
arme Pfarrer, es iſt wahr, aber geführt von zwei Erzbi-
ſchöfen, drei Biſchöfen. So verſtärkt konnte man dem
nächſten Tage getroſter entgegenſehen.


In der königlichen Sitzung ward ſofort Neckers AnblickJuni 23.
vermißt. Er war im Miniſterrathe, überraſcht von der
Thatkräftigkeit des dritten Standes, mit ſeinen alten Ge-
danken herausgetreten, nur daß was er früher anheimgab,
ſich jetzt zum Befehl des Königs umgeſtalten ſollte. Der
König ſollte demnach die gemeinſame Berathung über alle
gemeinſamen Angelegenheiten bewilligen, die getrennte
Berathung befehlen, ſobald es ſich von Rechten der ein-
zelnen Stände handelte. Dieſer Plan war von jeher arm-
ſelig, unpraktiſch, denn es wird ſich ewig fragen, was
Franzoͤſiſche Revolution. 14
[210] denn nun gemeinſame, was bloße Standesangelegenheit
ſey, aber die ſtürmiſche Adels- und Hofpartei bekämpfte
ihn als viel zu nachgiebig, mit der Würde der Krone un-
verträglich, und warf ihn mit Hülfe der Königin und des
Grafen von Artois um. Es ſoll und muß dabei bleiben,
daß es von der Einwilligung jedes der drei Stände und
der Einwilligung des Königs abhängt, ob über einen
Gegenſtand gemeinſam berathen werden ſoll, und es muß
gleich jetzt erklärt werden, daß die künftige Reichsverfaſſung
nicht zu den Gegenſtänden gemeinſamer Berathung gehört.
Necker bot hierauf ſeine Entlaſſung an, ließ ſich jedoch
halten, allein er blieb von der königlichen Sitzung aus,
gegen ſein, wie die Königin ſtets behauptet hat, aus-
drücklich am Abend vorher gegebenes Verſprechen.


Als der König mit ſeiner glänzenden Umgebung ein-
trat, tönte ihm ein ſchwacher Zuruf von einem Theile
der Geiſtlichkeit und dem Adel entgegen, die Gallerien
ſtanden leer, waren abgeſperrt. Der König eröffnete mit
allgemeinen Äußerungen, wie ſehr ſeine Hoffnungen ge-
täuſcht worden, knüpfte Ermahnungen an. Hierauf ver-
las der Siegelbewahrer 15 Artikel, deren erſter die Be-
ſchlüſſe des dritten Standes vom 17ten aufhebt als unge-
ſetzlich und verfaſſungswidrig. Die drei Stände, in drei
Kammern berathend, haben allein das Recht den Körper
der Vertreter der Nation zu bilden. Zwar können ſie, wenn
der König es erlaubt, auch zuſammentreten, und was le-
diglich dieſe Sitzung betrifft, ermahnt der König ſelbſt
[211] dazu in Bezug auf Gegenſtände von allgemeinem Nutzen,
aber ausgenommen ſind von der gemeinſamen Berathung
ganz ausdrücklich alle alten und verfaſſungsmäßigen Rechte
der drei Stände, die künftige reichsſtändiſche Verfaſſung,
nebſt den Lehngütern, den nutzbaren Rechten und den Eh-
renrechten der beiden erſten Stände (Art. 7 u. 8.). Auf-
gehoben werden alle Inſtructionen der Abgeordneten,
welche bindende Vorſchriften enthalten; wer ſich dadurch
in ſeinem Gewiſſen beſchwert achtet, möge ſich neue In-
ſtructionen erbitten. Der letzte Artikel verbietet die Zulaſ-
ſung von irgend jemand, der den Ständen nicht angehört,
zu den Sitzungen, als ſtreitend mit der guten Ordnung,
der Schicklichkeit und ſelbſt der Freiheit der Abſtimmung.


Der König nahm abermals das Wort, kündigte der
Verſammlung eine lange Reihe königlicher Wohlthaten an,
fügte hinzu: „ich darf ſagen, ohne mich zu täuſchen, daß
niemals noch ein König ſo viel für eine Ration gethan
hat,“ worauf der Siegelbewahrer dieſe in 35 Artikeln
verlas. Ihr Inhalt aber entſprach dem königlichen Worte
nicht. Allerdings ſollen fortan keine neue Steuern ohne
Einwilligung der Reichsſtände erhoben werden, Grund-
ſteuerprivilegien und die Wegefrohn ſollen aufhören; allein
alle Lehn- und Herrenrechte werden beibehalten und der
Grundſatz der künftigen Gleichheit der Beſteurung wird
von der Verwirklichung der Geneigtheit abhängig gemacht,
welche Geiſtlichkeit und Adel in dieſem Betracht an den
Tag gelegt haben. Mit der Verlegung der Zolllinie an
14*
[212] die Reichsgränze, mit Abſchaffung der Salzſteuer wird
man ſich beſchäftigen; eben ſo mit der Freiheit der Preſſe,
mit den Verhaftsbriefen und zwar mit dieſen ſo, daß die
Generalſtaaten Mittel ausfindig machen ſollen, ihre Ab-
ſchaffung mit der öffentlichen Sicherheit, mit der Noth-
wendigkeit ſey’s in gewiſſen Fällen die Ehre der Familien
zu ſchonen, ſey’s drohenden Aufſtand ſchnell zu unter-
drücken, ſey’s den Staat vor verbrecheriſchen Einverſtänd-
niſſen mit dem Auslande zu bewahren, in Einklang zu
bringen. Aber das Alles iſt am Ende nur Nebenſache.
Hätte auch der König alle jene Zuſagen, deren ſich Necker
in ſeinen Büchern rühmt daß ſie in ſeinem Plane ſtanden,
in der bindendſten Form gegeben, er hätte damit doch
nichts mehr bewirkt, als wenn er den Franzoſen beſtän-
digen Sonnenſchein und reiche Erndten bewilligt hätte.
Denn ohne die Zuſtimmung der Reichsſtände hatte keine
dieſer Zuſagen Werth, dieſe aber war nicht zu hoffen,
wenn das Veto jedes Standes verewigt ward.


Der König nahm zum dritten Male das Wort: Sein
Eifer für das öffentliche Wohl ſey durch das Geleſene be-
thätigt; laſſen die Stände ihn im Stich, ſo wolle er als
wahrhafter Repräſentant ſeiner Völker allein ihr Glück
gründen. Man ſolle ſich erinnern daß kein ſtändiſcher Be-
ſchluß zum Geſetz werde ohne königliche Genehmigung.
Man dürfe ihm nicht mistrauen ohne Ungerechtigkeit. Die
Schlußworte ſind: „Ich befehle Ihnen, meine Herren,
ſich ſogleich zu trennen und ſich morgen früh jeder in das
[213] Zimmer ſeines Standes zu begeben, um die Sitzungen
wieder aufzunehmen. Ich befehle demgemäß dem Ober-
ceremonienmeiſter die Säle in Stand ſetzen zu laſſen.“


Der König entfernte ſich und der Adel und ein Theil
des Klerus verließ den Saal. Die Übrigen blieben unbe-
weglich ſitzen. Nicht lange ſo trat der Oberceremonien-
meiſter, der den König begleitet hatte, wieder ein. Dieſer
Marquis de Brézé, ein ſehr junger Mann, war alt im
Studium aller Förmlichkeiten, eine peinliche Natur, ganz
der Mann ſeines Amtes. Er hätte nicht ein Tüttelchen
von dem Herkommen früherer Jahrhunderte fahren laſſen
mögen. Ihm verdankte der dritte Stand ſeine fatale Ju-
riſtentracht, und ginge es nach ihm, ſo hätten ſeine Depu-
tationen nur knieend wie vor Alters zum Könige reden dür-
fen. In den letzten ſchweren Wochen war der Dauphin,
ein Knabe von ſieben Jahren geſtorben; als eine ſtändi-† Juni 4.
ſche Deputation bei dem Begängniß erſchien, meldete de
Brézé dieſes der Leiche mit den Worten an: „Gnädigſter
Herr, die Deputirten der Etats-généraur!“ Noch heute
hatte er die Abgeordneten des dritten Standes ohne Barm-
herzigkeit dem Platzregen preisgegeben, ſie durften ihm
nicht in den Saal, bis er den beiden erſten Ständen ihre
Ehrenplätze angewieſen hatte. Jetzt wieder eintretend
fragte de Brézé: „Sie haben, meine Herren, die Be-
fehle des Königs vernommen?“ Als der Präſident aus-
weichend antwortete, man habe ſich vertagt nach dem
Schluſſe der königlichen Sitzung, zur Aufhebung der Ver-
[214] ſammlung gehöre eine Beſprechung mit derſelben, erhub
ſich Mirabeau gegen de Brézé, ſprach: „Die Gemeinen
von Frankreich haben beſchloſſen zu berathſchlagen. Wir
haben die Abſichten vernommen, welche man dem Könige
untergeſchoben hat. Sie aber, der Sie nicht ſein Organ
bei der Nationalverſammlung ſeyn können, Sie der Sie
hier weder Sitz, noch Stimme, noch ein Recht zu ſprechen
haben, Sie ſind nicht der Mann, der uns an ſeine Rede
erinnern darf. Gehen Sie und ſagen Sie Ihrer Herr-
ſchaft daß wir durch die Gewalt des Volks hier ſind, und
daß man uns von hier nicht anders fortbringt als durch
die Gewalt der Bajonette.“ Man hörte Mirabeau’s harte,
grimmige Stimme, die heute bis zum Donner anſchwoll,
weit durch den Saal, und die ganze Verſammlung rief:
„Das iſt der Wille der Verſammlung.“


Das war die Revolution.


[[215]]

4. Die pariſer Revolution.


Als der Ceremonienmeiſter verſchwunden war, ſprach
Sieyes: „Das franzöſiſche Volk hat uns geſendet und wir
haben geſchworen es in ſeinen Rechten wiederherzuſtellen.
Welche Macht auf Erden könnte Euch das Recht rauben,
Eure Sender zu vertreten? Wir ſind heute was wir geſtern
waren, laßt uns berathſchlagen.“ Auf Mirabeau’s Vor-
ſchlag erklärte die Nationalverſammlung jedes ihrer Mit-
glieder für unverletzlich, wer dagegen handelt, ſoll als
ehrlos und Verräther an der Nation, als ſchuldig eines
Kapitalverbrechens behandelt werden. Die anweſenden
Mitglieder der Geiſtlichkeit nahmen, inſoweit ihre Voll-
machten geprüft waren, an der Abſtimmung Theil.


Längſt war was im Saale geſchehen auch draußen in
der Stadt verbreitet. Schon als der König durch die lange
Hecke, welche Tauſende von Soldaten bildeten, in ſein
Schloß zurückkehrte, war man unterrichtet, und die Menge
ſtand lautlos da, kein Ruf der Liebe erſcholl. Als der
Marquis de Brézé erſchien, ſeine Meldung machte, ſprach
[216] Ludwig trübe und tonlos: „Nun wohlan, wenn die Her-
ren vom dritten Stande ihren Saal nicht verlaſſen wollen,
ſo bleibt nichts übrig als ſie darin zu laſſen.“ Dieſe Ant-
wort war, als Geſtändniß einer Niederlage ſchwach, ſonſt
aber den Umſtänden angemeſſen. Der König hätte die Ge-
meinen leicht durch eines ſeiner Regimenter, die er in den
letzten Wochen nach Verſailles gezogen, vertreiben, ver-
wunden und einkerkern laſſen können, er aber hätte Frank-
reich nimmermehr verhindert ſie zu rächen. Es wäre das
Signal zum Bürgerkriege geweſen.


Aber den dritten Stand umgab, als er endlich aus
dem Saale trat, eine jauchzende Volksmenge, welche ihn
nur verließ, um mit vielen Drohungen gegen die anderen
Stände die Amtswohnung Neckers, die in einem Flügel
des königlichen Schloſſes war, aufzuſuchen, damit ſich’s
offenbare, ob denn die Nachricht wahr ſey, daß dieſer
Volksfreund abdanke. Necker beruhigte die Tauſende, die
ſeiner harrten, perſönlich. Er hatte ſo eben den dringen-
den Bitten des Königspaares nachgegeben, ſein Bleiben
zugeſagt, der König hatte ihm ſein Bedauern ausgeſpro-
chen, verkehrten Rathgebern ſein Ohr geliehen zu haben.
Necker wandte ſein Bemühen dahin, den Monarchen mit
einer Demüthigung auszuſöhnen, welche jetzt eben ſo un-
abwendbar war, als ein Paar Monate früher mit gerin-
ger Vorausſicht leicht vermeidlich. Aber Neckers Freude
an der Volksgunſt ließ keine Selbſtanklage bei ihm auf-
kommen.


[217]

Mittlerweile blieben die Wachen ſtehen, welche den
Zutritt zu dem Ständeſaale der ungeduldigen Menge
manchmal mit Gewalt verwehrten. Das hielt die Mehr-
zahl der Geiſtlichkeit nicht ab, jetzt ihren Übergang zum
dritten Stande ohne Vorbehalt zu vollführen; unter denJuni 24.
Auswanderern befand ſich Talleyrand, Biſchof von Au-
tun. Ein Gleiches zu thun ſchlug in der Adelskammer
der Graf von Clermont-Tonnerre vor, vom Grafen Lally-
Tollendal mit Nachdruck unterſtützt. „Bedenken wir,“
ſprach Lally, „daß es eine Gewalt der Dinge giebt, ſtär-
ker als die Gewalt der Menſchen. Nähme jene einen zu
ſchnellen Lauf, ſo wäre das einzige Mittel ihn zu verzö-
gern das, ſich ihr anzuſchließen. Es hat eine Zeit ge-
geben, da man die Sclaverei aufheben mußte, und ſie iſt
aufgehoben, eine andere da man den dritten Stand in die
Nationalverſammlungen eintreten laſſen mußte, und er iſt
eingetreten. Jetzt haben wir eine Zeit, da die Fortſchritte
der Einſicht, die zu lange verkannten Rechte der Menſch-
heit dieſem dritten Stande, der 24 Millionen zählt, die
Gleichheit der Rechte, welche ihm gebührt, zutheilen wer-
den. Dieſe dritte Revolution hat begonnen und nichts
wird ſie aufhalten.“ Die Verſammlung beſchloß den An-
trag nicht in Erwägung zu ziehen; niemand widerſprach
heftiger als d’Espréménil und der Vicomte von Mira-
beau, jüngerer Bruder des Grafen. Da aber traten den
nächſten Tag 47 Mitglieder der Adelskammer in den SaalJuni 25.
der Nationalverſammlung, unter ihnen der Herzog von
[218] Orleans. Jetzt aber gab auch der König dem Andringen
Neckers nach, forderte die beiden erſten Kammern ſchrift-
Juni 27.lich auf, ſich mit der dritten zu vereinigen. Es bedurfte ei-
nes zweiten förmlichen Befehles, um den Widerwillen des
Adels zu brechen.


Das war das Reſultat eines faſt zweimonatlichen
Kampfes, welcher dem Königthum unheilbare Wunden
ſchlug. Äußerlich war auf einmal Alles Friede und Freude;
freiwillige Illumination der Stadt Verſailles, dreitägige
Feſtlichkeiten, Beifallsrufe dem Könige und ſelbſt der Kö-
nigin, wo ſie ſich nur zeigten; Wohlmeinende wünſchten
ſich einander mit den Worten Glück: „Die Revolution iſt
beendigt.“ In Wahrheit lag von nun an das Schickſal
Frankreichs in den Händen der Nationalverſammlung;
ihre Weisheit und Mäßigung allein konnte die verletzte
Krone wiederherſtellen. Wehe ihm und ſeinem Stamme,
wenn der König es mit Gewalt verſuchte!


Wirklich war ein Geiſt der Verſöhnlichkeit und Beſon-
nenheit bei der Nationalverſammlung eingekehrt; man
misbilligte laut verſchiedene Verſuche die öffentliche Ruhe
zu ſtören; man befand, daß die Berathung in einer ſo über-
aus zahlreichen Verſammlung keineswegs genüge, um
den Gegenſtänden hinlänglich auf den Grund zu kommen,
beſchloß deßhalb die Hälfte der Woche engeren Sitzungen
zu widmen, und als man nun zum Zwecke der Vorbera-
thung aller wichtigeren Fragen die ganze Verſammlung in
30 Büreaus theilte, fand ſich, daß in jedem Büreau ent-
[219] weder ein Geiſtlicher oder ein Adlicher zum Vorſitzenden
gewählt war; man vergönnte den Prälaten und Edelleu-
ten ihre Sitze beiſammen einzunehmen und ließ ſogar die
beſonderen Zuſammenkünfte ungerügt, welche eine Anzahl
entflammter Edelleute noch immer in ihrem Standesſaale
hielten; man begnügte ſich auf die ſchriftlichen Inſtructio-
nen weiter keine Rückſicht zu nehmen, ohne durch ihre An-
nullirung einen Sturm zu erregen: ſie hinderten niemand
ſeine Meinung zu ſagen, wer ſich aber gebunden fühlte,
enthielt ſich, wie Lafayette und Andere thaten, der Ab-
ſtimmung, man nahm mit Wohlgefallen eine Arbeit auf,
welche Mirabeau in Bezug auf die Geſchäftsordnung im
engliſchen Unterhauſe abgefaßt hatte, und beſchloß über
keinen Antrag an demſelben Tage zu berathſchlagen, da
er gemacht ſey, jeden Punct der Conſtitution aber erſt
nach der Berathung von drei Tagen zur Abſtimmung zu
bringen. Aber von dieſer Bahn der Mäßigung ward auf
einmal wieder abgelenkt, und das alte Mistrauen kehrte
zurück, als kein Zweifel mehr übrig blieb, die Regierung
ziehe ein Heer zwiſchen Verſailles und Paris zuſammen.
Freilich waren in beiden Städten unruhige Auftritte vor-
gefallen; der verſailler Pöbel hatte den Erzbiſchof vonJuni 25.
Paris mit Steinwürfen verfolgt und ihm in ſein Haus
eindringend das Verſprechen abgezwungen in die National-
verſammlung zu treten; ein Vorgang, der dem Anſehn
der Regierung auch dadurch ſchadete, daß Truppenabthei-
lungen zur Stelle waren und die Gewaltthat nicht hinder-
[220] ten. Noch tiefer griff der Vorgang in der Hauptſtadt,
welchen die Zuchtloſigkeit eines ganzen Regiments veran-
laßte, desjenigen, welches den Namen franzöſiſche Gar-
den führte. Dieſes, 4000 Mann ſtark, ward theils in
Paris, theils in Verſailles zum inneren Dienſte ge-
braucht, da die gewöhnliche Scharwache für die Ordnung
nicht mehr ausreichte. Das Regiment war mit ſeinem
neuen, peinlich ſtrengen Chef unzufrieden und neigte
ſich zur Volksſache hin. Als man auch in Paris die Ver-
einigung der drei Stände mit Luſtbarkeiten beging, ver-
ließen Mehrere vom Regiment trotz des Verbotes ihre Ka-
ſernen, nahmen an dem allgemeinen Jubel Theil. Zur
Strafe wurden die Schuldigſten in die Abtei gebracht,
das Gefängniß für Militärs in der Vorſtadt St. Germain.
Aber ein Volkshaufe ſtürmte herbei und befreite ſeine
Freunde. Das waren alſo zwei recht ſchlimme Fälle, welche
Vorſicht in Behandlung des Militärs anempfahlen, ſicher-
lich aber keinen Antrieb in ſich enthielten, immer mehr
Regimenter zuſammen zu ziehen. Nichtsdeſtoweniger ver-
ſammelten ſich 30,000 Mann, darunter eine Anzahl deut-
ſcher Regimenter, und man ſprach noch von vielen Tau-
ſenden, die erwartet würden. Ihr Befehlshaber, der
Herzog von Broglie, nahm ſein geräuſchvolles Haupt-
quartier in Verſailles. Jedermann ahnte, daß außerordent-
liche Dinge im Werke wären, und die drohenden Reden
der jungen Officiere ließen keinem Zweifel Raum; nur der
König und Necker ſchienen nichts zu bemerken. Dieſer
[221] brütete über ſeinen Finanzverlegenheiten, und wiewohl er
aus den frechen Blicken der Hofleute und gelegentlichen
Schmähreden des Grafen von Artois, aus den geheimen
Beſprechungen, von welchen man ihn ausſchloß, deutlich
abnahm daß er übel angeſchrieben ſey, ließ er Alles ſei-
nen Weg gehen; den König aber hatte man glauben ma-
chen, das wären nothwendige Vorſichtsmaßregeln, und
ſo ſchwer das Geld aufzutreiben war, ſo ſehr die Theu-
rung durch die Anhäufung der Truppen vermehrt ward,
er ließ es geſchehen. Von geſcheiterten Entwürfen, die
verderblich gewirkt haben, ſpricht hinterher niemand gern,
allein es ſteht außer Zweifel, daß damals von einem neuen
Miniſterium, von Auflöſung oder Verlegung der Stände-
verſammlung, von Verhaftung ihrer gefährlichſten Mit-
glieder die Rede war und daß die Königin, von Natur
beherzt und durch die Vorgänge der letzten Wochen im
tiefſten Innern verletzt, mit dem Grafen von Artois an
der Spitze ſtand. Mit Breteuil, der auf ſeinem Landgute
lebte, ward ununterbrochen correſpondirt. Von dem Kö-
nige wußte man, er ſey zu Allem zu bewegen, nur nicht
das Blut ſeines Volks zu vergießen; wenn es aber in
Verſailles oder in der Hauptſtadt zu irgend einem Aus-
bruche kam, mußten die Ereigniſſe ſeinen Willen fort-
reißen und man glaubte wie auf die Treue, ſo auch auf
die Einſicht des erfahrnen Herzogs von Broglie in der
Stunde der Gefahr bauen zu können.


Der Inhalt dieſer unſeligen Entwürfe ward nicht ganz
[222] treu verſchwiegen, und jedermann konnte ſich von der ſtets
wachſenden Truppenzahl auf dem Wege nach Paris, zu
Sevres, in Paris auf dem Marsfelde durch ſeine Augen
überzeugen. Mirabeau’s Antrag, den König um die Ent-
fernung der Truppen zu erſuchen, fand daher die einſtim-
Juli 8.mige Genehmigung der Nationalverſammlung, eben ſo
die von ihm entworfene beredte Adreſſe, an deren Über-
reichung er ſelber theilnahm. Sie ſchildert die getroffene
Maßregel als zugleich unnütz und gefahrvoll. „Wo wäre
denn die Gefahr von den Truppen, werden freilich unſere
Feinde ſagen wollen, wenn die Verſammlung ſelbſt keine
Furcht hegte? Es iſt, Sire, eine dringende und allge-
meine Gefahr vorhanden, Gefahr über alle Berechnungen
menſchlicher Klugheit hinaus; Gefahr für die Bevölkerung
der Provinzen! Schleicht ſich in dieſe der Argwohn ein,
unſere Freiheit ſey bedroht, ſo giebt es keinen Zügel mehr, der
ſie zurückhält. Die Entfernung ſchon vergrößert, übertreibt
Alles, verdoppelt die Beunruhigung, ſchärft, vergiftet
ſie. Gefahr für die Hauptſtadt! Mit welchen Augen wird
ihre darbende, unſäglich gequälte Volksmenge die drohen-
den Soldaten betrachten, welche ihr den Reſt ihrer Lebens-
mittel ſtreitig machen? Die Gegenwart der Truppen führt
Aufregung und Meuterei herbei, eine allgemeine Gäh-
rung, und an die erſte That der Gewalt, unter dem Vor-
wande einer Polizeimaßregel ausgeführt, kann ſich eine
ſchreckliche Folgenreihe von Unheil knüpfen. Gefahr für
die Truppen! Franzöſiſche Soldaten, die man in den
[223] Mittelpunct der Berathſchlagungen ruft, ſie, die die Lei-
denſchaften und die Intereſſen ihres Volks theilen, können
leicht vergeſſen, daß ein Eid ſie zu Soldaten gemacht hat,
und ſich erinnern, daß die Natur ſie zu Menſchen machte.
Gefahr, Sire, droht auch unſern Arbeiten, welche unſere
erſte Pflicht ſind und nur unter der Bedingung wahren Er-
folg und ungeſtörten Fortgang haben können, wenn wir
von jedermann als völlig frei betrachtet werden. Aber es
liegt außerdem in den Leidenſchaften der Menſchen eine ge-
fährliche Anſteckung; wir ſind nur Menſchen; das Mis-
trauen gegen uns ſelbſt, die Furcht ſchwach zu erſcheinen
können uns über das Ziel hinaus führen; man wird uns
mit heftigen, übertriebenen Rathſchlägen beſtürmen, und
die nüchterne Vernunft, die ruhige Weisheit ertheilen ihre
Orakelſprüche nicht inmitten von Tumult, von Unordnung
und Aufruhr. Sire, noch eine weit ſchrecklichere Gefahr
liegt im Hintergrunde, und unſer beſtürztes Erſcheinen
möge Ihnen Zeuge davon ſeyn. Zu mancher großen Re-
volution iſt der Anſtoß weit weniger auffallend geweſen,
und mehr als ein volksverderbliches Unternehmen hat ſich
minder traurig, minder furchtbar angekündigt.“ Es wa-
ren Worte der Weiſſagung, die ſich bald genug erfüllten.


Der König antwortete nach drei Tagen, die Zuſam-Juli 11.
menziehung von Truppen ſey durch die bekannten ſchmäh-
lichen Auftritte hervorgerufen und ſogar für die Freiheit
der reichsſtändiſchen Berathungen nothwendig; dafern je-
doch ein ungegründetes Mistrauen ſtattfinde, ſey der König
[224] bereit die Generalſtaaten nach Noyons oder Soiſſons zu
verlegen, in welchem Falle er für ſeine Perſon ſich nach
Compiegne begeben werde. An demſelben Tage ward
Necker entlaſſen und zugleich bedeutet, das Königreich
ungeſäumt und ohne Aufſehn zu räumen. Mont-
morin und alle übrigen Miniſter bis auf Barentin nah-
men ihren Abſchied. Necker erhielt das Schreiben des
Königs, als er gerade im Begriffe ſtand ſich mit Gäſten
zu Tiſche zu ſetzen. Er ließ Alles ſeinen Gang gehen.
Nach der Mahlzeit forderte er Madame Necker zu einer
Spazierfahrt auf, theilte ihr im Wagen den königlichen
Befehl mit, nahm auf der erſten Poſt unter einem frem-
den Namen Vorſpann nach Brüſſel, ging von da in die
Schweiz. So rechtfertigte er das Vertrauen des Königs,
der den Vorſchlag Breteuil’s abwies, Neckern verhaften
zu laſſen, weil zu fürchten ſey, er werde ſich nach Paris
begeben und die wogende Hauptſtadt in Aufruhr ſetzen.


An die Spitze des Miniſteriums und der Finanzen trat,
plötzlich aus dem Dunkel ſpringend, Tags vorher erſt an-
gekommen, Breteuil; Broglie ward Kriegsminiſter.


In Paris gab es zwei Puncte der Bewegung, das
Stadthaus und das Palais-royal. An beiden Orten wur-
den zahlreich beſuchte Zuſammenkünfte zu politiſchen Zwecken
gehalten. Im Stadthauſe ſaßen die Wähler von Paris;
die ſtädtiſche Behörde hatte ihnen den Saal dort zu Ver-
ſammlungen eingeräumt, welche die Regierung unterſagte
ohne ſie zu hindern. Man discutirte hier in aller Form,
[225] wünſchte der Nationalverſammlung zu ihren Thaten und
ihrem Namen durch eine Deputation Glück und dieſe De-
putation ward angenommen; man erließ auch Ermahnun-
gen an die Pariſer, Ruhe und Ordnung aufrecht zu halten.
Kürzlich war Mirabeau mit ſeinem Vorſchlage, die Bitte
um Bildung einer Nationalgarde in Verſailles und Paris
in jene Adreſſe an den König aufzunehmen, durchgefallen;
der Gedanke an eine hauptſtädtiſche Bürgerbewaffnung
war aber auch ſchon im Stadthauſe beſprochen. Man
mußte die geſetzliche Haltung dieſer Verſammlungen rüh-
men, wäre ihr Daſeyn nur geſetzlich geweſen. Völlig regellos
ward aber im Palais-royal, ſey’s in Kaffeehäuſern, ſey’s
im Garten discutirt, und die Nationalverſammlung lud
eine ſchwer zu büßende Schuld des Unbedachtes auf ſich,
als ſie eine Deputation des Palais-royal annahm, welche
ihr eine Dankadreſſe mit einigen Tauſend Unterſchriften
überbrachte.


Als nun die Nachricht von Neckers Entlaſſung in die
Hauptſtadt kam, rannte Alles in das Palais-royal. ManJuli 12.
ſah hier im Garten einen jungen Mann, mit einem Piſtol
bewaffnet, heftig declamirend von einem Tiſche herab.
Es war der Advocat Camille Desmoulins, er ſtotterte
ohne Unterlaß, und doch ward jedes ſeiner Worte von
den Umſtehenden verſchlungen. Denn er brachte Kunde
von Verſailles, rief dann zu den Waffen; „denn noch
heute,“ ſprach er, „verlaſſen die Regimenter das Mars-
feld, gehen auf das rechte Seineufer über, rücken noch
Franzöſiſche Revolution. 15
[226] heute in Paris ein. Vor Allem müſſen die Patrioten ſich
ein Erkennungszeichen geben.“ Camille riß ein Blatt vom
Baume, ſteckte es an ſeinen Hut, und bald war kein
Blatt mehr an den Bäumen zu erreichen. Alles legte die
grüne Kokarde an. Man ſuchte nach Waffen, Säbeln,
Piſtolen, Knitteln. Einer rief, man müſſe an ſolchem
Trauertage die Theater ſchließen, und gleich vertheilte
man ſich, brachte die Maßregel in Vollzug. Einige dran-
gen in ein Cabinet von Wachsfiguren im Palais-royal,
nahmen die Büſten Neckers und des Herzogs von Orleans
weg, hüllten ſie in Trauerflöre, trugen ſie umher. Wirk-
lich ſtanden mehrere Regimenter Fußvolk und Reuterei,
reichlich mit Kanonen verſehen, unter dem Befehl des
Schweizers Beſenval bereits auf den eliſäiſchen Feldern,
ſelbſt auf dem Platze Ludwigs XV., dicht am Garten der
Tuillerien. Alle Drohungen der Gewalt waren angehäuft.
Suchte man denn einen Feind? Und gerade dieſe heraus-
fordernde Stellung reizte die Menge, ſo daß einige Stein-
würfe erfolgten. Da bezwang aber der Prinz von Lam-
beſc, Obriſter des Regiments Royal-Allemand, nicht
länger ſeine Ungeduld, warf ſich mit einer Schaar ſeiner
Reuter in den Tuilleriengarten, wo der Sonntag eine große
Zahl harmloſer Spaziergänger zuſammengeführt hatte.
Nun ſtob Alles auseinander, einige Verletzungen mögen
vorgefallen ſeyn; aber der Ruf von einem Gemetzel flog
durch die nächſten Gaſſen. Gleich liefen Viele auf das
Stadthaus, verlangten und erhielten Waffen, einige
[227] Hundert Flinten. Nun trat ein anderes Ereigniß dazu.
Jenen Herumträgern der Büſten hatte ſich ein Soldat des
Regiments Franzöſiſche-Garden zugeſellt; der will nicht
ausweichen als man auf eine Patrouille Royal-Allemand
ſtößt, wird darum verwundet, wo nicht gar getödtet. Da
aber rottet ſich Alles zuſammen, was von franzöſiſchen
Garden in der Nähe, feuert auf eine Abtheilung Royal-
Allemand, und macht ſich ſpät Abends noch, unter dem
Rufe „es lebe der dritte Stand!“ auf, um die Truppen
auf dem Platze Ludwigs XV. aufzuſuchen. Zum Glücke
fand man den Platz leer; alle Regimenter waren bereits
auf das Marsfeld und weiter abgezogen.


So hatte ſich die bewaffnete Macht gezeigt, hatte Un-
ruhen erregt und ſich zurückgezogen, und ein Theil derſel-
ben war abtrünnig geworden. Den nächſten Tag frühJuli 13.
Morgens ſah man die Wähler auf dem Stadthauſe ver-
ſammelt; die Municipalität vereinigt ſich mit ihnen. Man
wählt einen fortwährenden Ausſchuß, welcher für die
Sicherheit und die Lebensmittel der Hauptſtadt ſorgen ſoll.
Der nächſte Beſchluß iſt, aus den beſten Bürgern von
Paris eine Miliz zu bilden zur Aufrechthaltung der allge-
meinen Sicherheit. Man will ſie auf 48,000 Mann brin-
gen, und zwar ſo, daß man zunächſt 200 Mann aus je-
dem der 60 Diſtricte aushebt und hiermit vier Tage lang
fortfährt. Im Stadthauſe iſt das Hauptquartier. Nie-
mand darf künftig Waffen tragen, der nicht in ſeinem
Diſtrict eingeſchrieben iſt und ſo das Recht erworben hat,
15*
[228] ſich mit der Kokarde der Bürgermiliz zu ſchmücken. Die
Farbe dieſer Kokarde darf ſchon darum nicht länger grün
ſeyn, weil das die Farbe des Grafen von Artois iſt; man
nimmt die Farben der Stadt Paris, blau und roth an.
Das war geſchehen, als aus dem Hauptquartier der Be-
fehl an die franzöſiſchen Garden eintraf gleich Paris zu
verlaſſen, nach St. Denis, wo auch ein Lager ſtand, ab-
zumarſchieren. Es war zu ſpät. Alle Gemeinen verſagten
den Gehorſam und ſtellten ſich unter den Befehl des Stadt-
hauſes. Auch einige Officiere folgten nach. Auf ſolche
Weiſe gebot die Regierung des Stadthauſes, denn ſo
werden wir ſie nennen müſſen, über ein Regiment von
3000 geübten Soldaten mit Kanonen und Kanonieren.
Das Beiſpiel wirkte weiter; eine Menge Deſerteure von
den andern Regimentern kam in der Hauptſtadt an.


Aber in denſelben Stunden da man im Stadthauſe
ſich eigenmächtig ein Heer erſchuf, zum Theil aus des
Königs Soldaten zuſammengeſetzt, ließ der König ſchon
den Gedanken an die Ausführung von Gewaltſchritten
völlig fallen. Er ſchrieb (denn an der Ächtheit der Urkunde
ſcheint kein Zweifel zu ſeyn) den 13ten Julius Morgens
11 Uhr an den Grafen von Artois: „Ich hatte, mein lie-
ber Bruder, Eurem Andringen und den Vorſtellungen
einiger treuen Unterthanen nachgegeben; allein ich habe
nützliche Überlegungen gepflogen. In dieſem Augenblicke
Widerſtand entgegenſtellen hieße die Monarchie dem Ver-
derben ausſetzen, das heißt, uns Alle verderben. Ich habe
[229] meine Befehle zurückgenommen; meine Truppen werden
Paris verlaſſen; ich will ſanftere Mittel anwenden. Redet
mir nicht mehr von einem Machtſtreiche; ich halte es für
klüger Zeit zu gewinnen, dem Ungewitter auszuweichen,
Alles von der Zeit, von dem Erwachen der wackeren Leute
und der Liebe der Franzoſen für ihren König zu erwarten.“
Ludwig XVI. war der Hartnäckigkeit Karl Stuarts fremd
und ſo ward der Bürgerkrieg vermieden. Der National-
verſammlung gegenüber hielt er noch feſt, ſchlug ihr deſ-
ſelbigen Tages ihre wiederholte Bitte um Entfernung der
Truppen, nicht minder die Bitte um Genehmigung einer
Bürgergarde für Paris entſchieden ab. Die Verſammlung
antwortete hierauf mit der Erklärung, daß Necker und die
übrigen verabſchiedeten Miniſter ihre Achtung und ihr Be-
dauern mit ſich nähmen, und machte die gegenwärtigen
Miniſter verantwortlich für alle unglücklichen Folgen der
neueſten Maßregeln. Da man nächtliche Verhaftungen
einzelner Mitglieder fürchtete, erklärte man ſich für perma-
nent, blieb die Nacht beiſammen, und wählte, um die
Mühwaltung des Präſidenten, des hochbejahrten Erzbi-
ſchofs von Vienne zu erleichtern, den erſten Vicepräſiden-
ten, Lafayette.


Mittlerweile ging es den Männern des Stadthauſes
bereits wie dem Zauberlehrling, der die Geiſter, welche
er aufgeboten hat, nicht wieder zu bannen weiß. Sie
hatten einer gewaltigen bewaffneten Macht das Daſeyn
gegeben, und wußten ſie kaum einen vollen Tag zu be-
[230] herrſchen. So viele von ihrer Tagesarbeit zu den Waffen
aufgerufene Tauſende wollen und können nicht müßig
feiern, ſie verlangen vollſtändig bewaffnet zu ſeyn und
durch Thaten ſich ihrer Nationalverſammlung würdig zu
beweiſen. Damals wurden neben Camille Desmoulins
die Namen Danton, Marat, Santerre zuerſt genannt;
man ſprach von der Rothwendigkeit die Baſtille zu erobern.
Baſtille bedeutet ſo viel als Feſtung. Dieſe Baſtille ward
im vierzehnten Jahrhundert am Thore des heiligen Anto-
nius erbaut, um die unruhigen Pariſer im Zaum zu hal-
ten. König Karl V. legte ſie an, ſie ward unter ſeinem
Nachfolger Karl VI. fertig um 1383. Es war ein altes
Schloß mit acht finſtern Thürmen, wovon die Kanonen
aus den Schießſcharten drohend auf die Hauptſtädter blick-
ten; über den tiefen Graben führten zwei Zugbrücken ne-
ben einander, eine für Wagen, eine für Fußgänger, in
das dunkele Thor; dann das Wohnhaus des Gouver-
neurs, noch eine ſolche Doppel-Zugbrücke und man ſtand in
der Feſtung. Ihr Daſeyn war den Pariſern von jeher ein
Gräuel. Die Geſchichten von den dort ſchmachtenden
Opfern willkürlicher Verhaftung erbten ſich durch Gene-
rationen fort. Kein Wunder darum daß die Wähler von
Paris die Schleifung der Baſtille mit in ihr Cahier brach-
ten: an dem Orte wo ſie geſtanden ſoll ein Ehrendenkmal
für Ludwig XVI. als den Herſteller der öffentlichen Frei-
heit errichtet werden. Von ſeiner Seite ließ der Gouver-
neur, Herr von Launay, ſeit der Erſtürmung von Re-
[231] veillons Hauſe die Feſtungswerke ausbeſſern und in den
letzten Nächten hatte man große Pulvervorräthe aus dem
Arſenal herbeigeſchafft; aber die Beſatzung blieb die alte,
32 Schweizer und 80 franzöſiſche Invaliden, ihr Mund-
vorrath beſtand aus zwei Säcken Mehl und etwas Reis.


Dienſtag Morgen mit Tagesanbruch zog ein bewaff-Juli 14.
neter Haufe aus dem Palais-royal nach dem Hotel der
Invaliden, verlangte die Auslieferung des dort verwahr-
ten Waffenvorraths. Als der Commandant zögerte, ſprang
man in die Gräben, ganze Schaaren kletterten den Wall
hinan. Da ließ der Commandant das Gatter öffnen, die
Pariſer gewannen 28,000 Flinten und 20 Kanonen. So
eroberten ſie ſich ſelber hier die Waffen, um welche ſie
bisher auf dem Stadthauſe die erſte ſtädtiſche Obrigkeit,
den ſ. g. Vogt der Kaufleute, Herrn von Fleſſelles ver-
geblich beſtürmt hatten. Der, um ſeine Verantwortlich-
keit beſorgt, hatte ſie hierhin und dorthin geſchickt, wo ſie
nichts fanden; ein Schiff mit 5000 Pfund Pulvers auf
der Seine, wovon er ihnen geſchwiegen, ſpürten ſie ſelbſt
auf. War nun der Handſtreich mit dem Invalidenhauſe
ſo über alle Erwartung leicht gelungen, warum nicht auch
mit der Baſtille?


Wie gern wäre man auf dem Stadthauſe, wo man
ernſtlich Erhaltung der Ruhe wünſchte, dem zuvorgekom-
men! Man ſchickte früh Morgens zu dem Gouverneur der
Baſtille, bat ihn die Kanonen, deren Anblick das Volk
nur erbittere, zurückziehen zu laſſen, was auch geſchah,
[232] ſchickte hernach, als die Gefahr drohender ward, die Men-
ſchenmaſſe ſich häufte, eine zweite Deputation mit der
Bitte, der Gouverneur möge eine Abtheilung Bürgermiliz
aufnehmen, um gemeinſam mit der Garniſon Beſatzungs-
dienſte zu thun. Aber es war nicht mehr möglich bis zur
Baſtille durchzudringen. Dennoch verſuchte man es vom
Stadthauſe aus mit einer dritten Deputation. Dieſe ſoll,
einen Tambour und eine Fahne voran, ſich Platz ſchaffen,
das Volk vom Schießen abhalten; aber ſie kann nicht
allenthalben ſeyn, hier läßt man ſich ſagen, dort aber
feuert man luſtig fort aus Flinten gegen Mauern, von
welchen die Kugeln abprallen. Endlich erwiedert der Gou-
verneur das Feuer, und Einige aus der Menge fallen.
Schon aber kommen Kanonen herbei, es bilden ſich zwei
Sturmhaufen. Dreihundert von jenen franzöſiſchen Gar-
den, einer, Elie, früher Sergent in einem anderen Re-
giment, führt ſie an; der zweite Haufe beſteht aus Hand-
werkern, ein Uhrmachergeſelle aus Genf, Hullin, iſt der
Führer. So kam Ordnung in den Angriff, der mit wun-
derbarer Kühnheit geſchieht. Ein glücklicher Schuß ſprengt
die Ketten der erſten Zugbrücke; ſie fällt. So kamen die
Stürmer in den erſten Hof, ſtellten hier ihre Kanonen
auf. Ihre Zahl war ſehr geſchmolzen; ſie hatten mehr
als 80 Mann an Todten, eben ſo Viele an Verwundeten
verloren, aber nichts von ihrem Muthe. Launay war ein
Befehlshaber ohne Entſchloſſenheit, aber ein Soldat von
Ehre. Als er das Gelingen des Sturmes ſah, wollte er
[233] ſich mit der Feſtung in die Luft ſprengen; einer ſeiner Un-
terofficiere hielt ihn mit Gewalt zurück. Man ſteckte die
weiße Fahne auf, als Zeichen der Capitulation, und Lau-
nay ſchrieb die Worte: „Wir haben 20 Centner Pulver,
wir ſprengen das Schloß in die Luft, nehmt Ihr die Ca-
pitulation nicht an.“ Man ſteckt das Papier durch eine
Öffnung der zweiten noch aufgezogenen Zugbrücke, mit
Hülfe einer übergelegten Diele nimmt es einer der Stür-
mer in Empfang. Elie verbürgt ſein Wort für die Sicher-
heit der Beſatzung. Noch aber verhandelte man um Abzug
mit kriegeriſchen Ehren, um Beſtätigung der Capitulation
auf dem Stadthauſe, als die angſtvollen Invaliden die
Zugbrücke fallen ließen. Da erhub ſich das Jubelgeſchrei
des Volks: „Die Baſtille ergiebt ſich.“ Das begab ſich,
während mehrere Regimenter königlicher Truppen unter
dem General von Beſenval auf dem Marsfelde ſtanden.
Beſenval aber that nichts weiter als daß er dem Comman-
danten der Baſtille den ſchriftlichen Befehl zuſandte, ſich
aufs Äußerſte zu halten, und Verſtärkung zu ſchicken ver-
ſprach. Der Überbringer ward unterwegs aufgefangen
und auf das Stadthaus geſchleppt. Elie und Hullin bo-
ten Alles auf um Launay und ſeine Beſatzung zu ſchützen.
Der Zug zum Stadthauſe ward angetreten. Als man auf
den Greveplatz kam, wurden Launay und ſein Major
von einer andringenden Horde ihren heldenmüthigen Ver-
theidigern entriſſen. Nicht lange ſo ſah man ihre zerfleiſch-
ten Körper und Launay’s Haupt auf einer Pike. Ein Paar
[234] Kanoniere wurden an einem Laternenpfahl aufgeknüpft.
Fleſſelles erkannte ſein Schickſal, als man ihm zurief: er
ſolle ins Palais-royal, um dort gerichtet zu werden. Lau-
nay’s Kopf war ihm dahin vorangegangen. Als Fleſſelles
auf den Greveplatz trat, nahte ſich ein unbekannter jun-
ger Menſch, ſchoß ihn nieder, und man trug ſeinen Kopf
umher. Die Eroberer behielten die Baſtille im Beſitz; die
wenigen Gefangenen, nur ſieben, darunter ein Paar
Wahnſinnige, wurden befreit. Nach ein Paar Tagen
ward unter Trompetenſchall durch ganz Paris verkündigt,
die Schleifung der Baſtille ſey auf dem Stadthauſe be-
ſchloſſen.


Die Baſtille ward um vier Uhr Nachmittags genom-
men; die Nationalverſammlung erfuhr davon durch den
Herrn von Wimpfen, Deputirten von Caen, der gerade
in Paris war, und ungeachtet die Miniſter alle Verbin-
dung zwiſchen Verſailles und der Hauptſtadt hatten ab-
ſperren laſſen, glücklich durchkam. Auch die Miniſter wa-
ren unterrichtet; ihre Sorge war daß nur der König nicht
um ſeine Nachtruh komme und ſie verſchwiegen es ihm.
Aber der Herzog von Liancourt, dem des Königs Heil
aufrichtig am Herzen lag, bediente ſich des Vorrechts ſei-
Juli 15.nes Hofamtes, ließ ihn wecken, verkündigte ihm was ge-
ſchehen. „Alſo ein Aufſtand?“ rief der Monarch. „Nein,
Sire,“ ſprach Liancourt, „das iſt eine Revolution.“
Ludwig hatte geſtern zwei verſchiedenen Deputationen der
Nationalverſammlung, welche die Entfernung der Truppen
[235] begehrten, von innern Zweifeln zerriſſen, aber dennoch
widerſtanden. Jetzt war er ſich ſelbſt wieder gegeben. Tief
erſchüttert durch das Blutvergießen in der Hauptſtadt,
aber wohl damit zufrieden, von ſeiner Zuſage Gewalt zu
üben befreit zu ſeyn, ließ er ſeine Brüder rufen; Mon-
ſieur ſtimmte bei und Artois beugte ſich vor der Nothwen-
digkeit.


Eben war die Nationalverſammlung im Begriffe eine
dritte Deputation mit herben Beſchwerden und Anklagen
auf das Schloß zu ſenden, als Liancourt die Nachricht
brachte, der König ſchicke ſich an in die Verſammlung zu
kommen, er bringe Frieden und Verſöhnung. Ludwig
war gewinnend, ſobald der reine Strahl ſeiner Herzens-
güte hervorbrechen durfte. Man war ſich ziemlich einig ge-
worden den Monarchen mit finſterer Stille zu empfangen,
die Worte waren geſprochen: „Das Schweigen des Volks
iſt die Schule der Könige,“ aber als er nun in den Saal
trat, der ehrliche und ſo bedrängte Mann, allein von ſei-
nen Brüdern begleitet, tönten ihm Bewillkommnungen ent-
gegen. Und Beifallsrufe unterbrachen ſeine Rede, als er
nun zum erſten Male die bisher verſagte Benennung:
„Nationalverſammlung“ einfließen ließ, gleich als ver-
ſtände ſie ſich von ſelber, die Entfernung der Truppen als
ſchon befohlen verkündigte, mit dem unverhehlten Kum-
mer ſeines Herzens einen Ausdruck des Vertrauens ver-
band, daß die Verſammlung rathen und helfen werde. Die
Antwort des Präſidenten erinnerte daran, daß die im Rathe
[236] des Königs vorgenommenen Veränderungen als die Haupt-
quelle der betrübenden Unruhen betrachtet werden müßten.
Obgleich nun Ludwig eine Äußerung über dieſen Punct
vermied, war die Begeiſterung allgemein, und als der
König den Saal zu verlaſſen Miene machte, ſprach die
Verſammlung den Wunſch aus ihn zum Schloſſe beglei-
ten zu dürfen; worauf der König den Weg zu Fuß antrat.
So kam es zu einem öffentlichen Verſöhnungsfeſte, in deſ-
ſen Taumel ganz Verſailles, ſogar die Königin, hinein-
gezogen ward; den Schlußpunct machte ein Tedeum in
der königlichen Capelle.


An demſelben Tage ſah man eine Deputation der Na-
tionalverſammlung auf dem pariſer Stadthauſe, 88 Mit-
glieder ſtark; der König hatte dieſe Vermittelung ſelbſt
gewünſcht und Monſieur ſtellte ihnen ſeine Wagen zur
Verfügung. Auch hier war der Jubel allgemein, denn die
Abgeordneten brachten die königliche Beſtätigung der Bür-
gerbewaffnung mit, und als die franzöſiſchen Garden von
der ihnen angekündigten Verzeihung nichts wiſſen wollten,
ward auch über dieſen Punct hinweggegangen. Kein
Vogt der Kaufleute weiter; Bailly ward zum Maire von
Paris ernannt, Lafayette zum Oberbefehlshaber der Mi-
liz, die von nun an (16. Juli) Nationalgarde heißen ſoll.
Auch hier machte ein Tedeum den Beſchluß.


Am 17ten erſchien der König in Paris. Er hatte
außerordentliche Erſchütterungen des Gemüthes überſtan-
den, ſeine Miniſter, die Urheber verderblicher Entſchlüſſe,
[237] endlich entlaſſen, Neckern geſchrieben daß er wiederkehre;
er hatte Abſchied genommen von ſeinem jüngſten Bruder;
denn Artois wollte nicht länger in Frankreich bleiben, ſeit
der König den Vorſchlag ſich dem abziehenden Heere an-
zuſchließen, welchen Breteuil und Broglie, von der Kö-
nigin unterſtützt, kurz vor ihrem Ausſcheiden machten,
das heißt, den Vorſchlag zum Bürgerkriege, verworfen
hatte; mit dem Grafen von Artois aber reiſten die Prin-
zen von Condé, von Conti, die Polignacs, und kurz
darauf ſetzten ſich auch Breteuil, Barentin, Broglie, der
Prinz von Lambeſc und viele Andere, um König und Va-
terland unbekümmert, in perſönliche Sicherheit. Ludwigs
Entſchluß nach Paris zu gehen war weiſe; er durfte ſich
nach Entfernung des Heeres nicht mistrauiſch vom Volk
zurückhalten; aber die Königin nahm von ihm einen Ab-
ſchied faſt der Verzweiflung den Gemahl je wieder zu
ſehen; er beſtellte durch eine ſchriftlich niedergelegte Acte
den einzigen Bruder, der ihm blieb, ſcheidend zum Ge-
nerallieutenant des Königreiches für den äußerſten Fall,
hörte die Meſſe, empfing das Abendmahl, und man las
in ſeiner Miene eine ſtille tiefe Betrübniß, als er an der
Barrière ſeiner Hauptſtadt eintraf. Hier empfing ihn der
neue Maire an der Spitze der Municipalität mit Worten
der Glückwünſchung, deren ungeſchickt zugeſpitzter An-
fang war: „Sire, ich bringe Eurer Majeſtät die Schlüſ-
ſel Ihrer guten Stadt Paris; es ſind dieſelben, welche
Heinrich dem Vierten überreicht wurden. Er hatte ſein
[238] Volk wieder erobert; heute iſt es das Volk, welches ſeinen
König wieder erobert hat.“ Nun der Zug nach dem Stadt-
hauſe durch die unermeßlich lange Doppelreihe Bewaffne-
ter, bewaffnet und gekleidet wie es zutraf, ſelbſt Flinten
tragende Frauen, ſogar Mönche darunter. Der König er-
kannte die Eroberung, welche eine neue Ordnung der
Dinge an ihm gemacht hatte, die Schatten der letzten
Merowinger mochten ihn umſchweben. Er empfing von
ſeinem Majordom Bailly auf dem Stadthauſe die Kokarde
mit den Farben der Stadt Paris und befeſtigte ſie an ſei-
nen Hut, hörte Reden an, welche Bailly in ſeinem Na-
men beantwortete, er ſelbſt vermogte es nicht; er ward
an ein Fenſter des Stadthauſes geführt, dem Volk vor-
geſtellt, welches ihm zurief. Abends ging es nach Ver-
ſailles zurück, man ſah ſich mit Thränen wieder.


[[239]]

5. Die Schoͤpfungen der Nationalver-
ſammlung.


In denſelben Tagen da der Kampf zwiſchen der Re-
gierung und der Nationalverſammlung begann, nahmen
die Verfaſſungsarbeiten ihren Anfang. Man wollte dem
Vaterlande zeigen, daß man weit mehr mit ſeiner Pflicht
als mit ſeiner Gefahr beſchäftigt ſey. Von dieſer Ver-
ſammlung, in welcher ein mächtiges Genie und viele Ta-
lente, viele Männer von edler und bewährter Geſinnung
ſaßen, erwartete der bei Weitem größte Theil der Bevöl-
kerung Frankreichs ſeine politiſche Wiedergeburt, und
man durfte hoch geſpannte Erwartungen nicht übertrieben
ſchelten. Die Kurzſichtigkeit der Regierung, welche weder
die Grundlinien der künftigen Staatsverfaſſung bezeich-
nete, noch einen Verfaſſungsentwurf zur Berathung vor-
legte, hätte zwar einen üblen Ausgang von Anfang her
vorausſehen laſſen müſſen, allein bei der kläglichen Un-
wiſſenheit über Staatsſachen, welche bei unumſchränkt
regierten Völkern zu Hauſe iſt, freute man ſich in und
außer der Verſammlung der freien Hand, welche ihr ge-
[240] laſſen war. Da nun die Rathgeber der Krone zu der Ver-
ſammlung wie Fremde ſtanden, ſo befand ſich niemand
darin, deſſen Obliegenheit es geweſen wäre, immerfort
an die Grundwahrheit zu erinnern, daß die Wirkſamkeit
einer Regierung ſtets die Hauptſache im Staate bleibt,
weil mit der Ordnung mindeſtens die Möglichkeit der
Freiheit gegeben iſt, welche nothwendig verloren geht,
wenn Ordnungsloſigkeit dauernd wird. Die Nationalver-
ſammlung war durch eine gelungene Revolution an die
Spitze von Frankreich getreten. Fortan mußte es ihr erſtes
Anliegen ſeyn, die ſchwankende Macht der Krone wieder zu
befeſtigen und das bereits ſicher geſtellte Recht der Gegen-
wart mit der Vergangenheit zu verknüpfen, überhaupt
aber an der Beſcheidenheit der Natur ein Muſter zu neh-
men, welche niemals von unvollkommenen Bildungen
durch einen Sprung zu den vollkommenſten übergeht.
Denn ſchon hatte ſich die Entwickelung finſterer Gewalten
angekündigt, für die Krone und die Nationalverſammlung
gleich gefährlich. Im bretagniſchen Club in Verſailles
ward jener Anfall auf den Erzbiſchof von Paris angezet-
telt, und nicht bloß die Helden der Baſtille ſtatteten im
Palais-royal Bericht ab, auch die Mörder empfingen dort
ihren Auftrag oder ihren Lohn. Dort ſaß auch der Herzog
von Orleans wie eine Spinne in ihrem Gewebe, allein
ſein Kleinmuth, größer als ſein Ehrgeiz, zerriß jeden Tag
wieder ſein Geſpinnſt, und manche die orleansſches Geld ver-
wandten, gaben auf den Plan ſeiner minder abgeſpannten
[241] Stunden, dem ſchwachen Könige eine Regentſchaft unter
dem Titel eines Generallieutenants des Königreiches ab-
zudringen, wenig oder nichts. Daß Mirabeau unter ſei-
nen Verbündeten geweſen ſey, wird von Männern, die
dieſem nahe ſtanden ohne ſich über ihn zu verblenden, ent-
ſchieden in Abrede geſtellt.


Die Nationalverſammlung hatte ein Comité ernannt,Juli 6.
um über die Reihenfolge der zu berathenden Verfaſſungs-
fragen ihr Gutachten abzugeben. Eben hatte Mirabeau
ſeine berühmte Adreſſe wegen Entfernung der Truppen
beantragt, als Mounier Bericht erſtattend auftrat. SeineJuli 8.
Bemerkung war einleuchtend, die neue Verfaſſung werde
eine Umgeſtaltung der Geſetzgebung zur Folge haben, allein
die Ausarbeitung der Verfaſſungsurkunde müſſe, als die
Grundform des Staatsganzen beſtimmend, das erſte Ge-
ſchäft ſeyn; ganz anders aber war es mit dem daran ge-
knüpften Vorſchlage beſchaffen, an die Spitze der Verfaſ-
ſungsurkunde eine Erklärung der Menſchenrechte zu ſtellen.
Das hatten die Nordamerikaner aufgebracht, indem ſie,
um den Vorwurf der Rebellion abzuwälzen, dem Könige
von England in ihrer Unabhängigkeitserklärung punct-
weiſe aufwieſen, er habe die natürlichſten Rechte der
Menſchheit an ihnen gekränkt. Die meiſten einzelnen
Staaten dort machten das ferner ohne Noth in ihren be-
ſonderen Verfaſſungsurkunden nach, ſo ſeltſam ſich die
natürlichen Menſchenrechte auch da wo Sclaven gehalten
wurden ausnahmen; dergleichen nun vollends in Frank-
Franzöſiſche Revolution. 16
[242] reich aufzuſtellen, war nicht der geringſte Grund vorhan-
den. Inzwiſchen war das Comité ſelbſt der Meinung,
man müſſe dieſe Arbeit bis ganz zuletzt, bis ſo lange ver-
ſparen, daß alle übrigen Theile der Conſtitution vorher
ausgearbeitet wären. Wann es aber dazu kommen werde,
ließ ſich fürwahr kaum abſehen, wenn es bei dem höchſt
unpraktiſchen Vorſchlage blieb, den Verfaſſungsentwurf
keinem Ausſchuſſe zu vertrauen, ſondern die vom Comité
namhaft gemachten Artikel: Menſchenrechte, Grundlagen
der Monarchie, Rechte der Nation, Rechte des Königs
und ſo weiter, gleichzeitig in allen Büreaus berathen und
die Abweichungen durch einen Vermittelungs-Ausſchuß
ausgleichen zu laſſen.


Allein es iſt hiebei in keiner Art geblieben. Ein Ver-
faſſungsausſchuß von Achten ward beliebt, deſſen Mit-
glieder der Erzbiſchof von Bordeaux, der Biſchof von Au-
tun, die Grafen Lally-Tollendal und Clermont-Tonnerre
und vom dritten Stande Mounier, Sieyes, Le Chapelier
und Bergaſſe wurden; und kaum waren die Menſchen-
rechte auf die Bahn gebracht, als auch Lafayette leicht-
füßig von der Frage Ob auf das Wie hinüberſprang, ei-
Juli 11.nen Entwurf hervorzog und zur Annahme empfahl. Er
geht von der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller
Menſchen aus, folgert daraus für den Einzelnen eine An-
zahl jedem Menſchen angeborener unverjährbarer Rechte,
für das Ganze die Volksſouveränität. Aus der Volksſou-
veränität geht dann weiter das Recht der künftigen Ge-
[243] ſchlechter hervor, durch eine heute beſchloſſene Staatsver-
faſſung nicht für immer gebunden zu ſeyn. Das Volk wird
demnach durch außerordentlich berufene Abgeordnete von
Zeit zu Zeit die nöthigen Abänderungen beſchließen. Allein
um nur bei ſeinem Ausgangspuncte ſtehen zu bleiben, ſo
leidet dieſer an einem doppelten Gebrechen. Denn weder
ſind die Menſchen von Natur frei und gleich, noch iſt der
Staat als eine künſtliche Einrichtung zu begreifen, welcher
ein ſtaatloſer Naturſtand vorangegangen wäre. Jeder
Menſch erwächſt hülfsbedürftig und beherrſcht, und iſt er
erwachſen, ſo ſieht er ſich von Menſchen umgeben, ihm
ungleich an Geſtalt, Fähigkeiten, Stand, Vermögen.
Auch iſt durchaus kein Grund anzunehmen, das ſey je-
mals anders geweſen; der Staat iſt ſo alt als die Menſch-
heit. Ging man einmal darauf aus, das franzöſiſche Volk
auf eine belehrende Weiſe in die Wohlthaten ſeiner neuen
Verfaſſung vorredend einzuleiten, ſo mußte das auf dem
gerade entgegengeſetzten Wege geſchehen, indem man jene
Ungleichheiten anerkannte, als durch Gott und Natur und
die Macht der Geſchichte begründet, allein zu gleicher Zeit
darthat, das Ziel einer guten Staatsverfaſſung ſey, das
ſchädliche Übermaß ſolcher Unterſchiede zu beſeitigen und
Allem was billig unter den Menſchen gleich und frei iſt
gerechte Geltung zu verſchaffen. So konnte man der öffent-
lichen Dankbarkeit Nahrung geben, indem man den Fran-
zoſen zu der Vergleichung der ehemaligen Generalſtaaten
mit dem jetzigen Reichstage, der Steuerbefreiungen mit
16*
[244] der Steuergleichheit führte. Jene Menſchenrechte dagegen
ſtellten ihn auf einen Standpunct, von welchem aus jede
durch die bürgerliche Geſellſchaft gebotene Beſchränkung
ſeiner natürlichen Freiheit und Gleichheit, wenn nicht un-
billig, doch beklagenswerth erſchien. Es war ſogar zu
fürchten, daß die Gelehrten der Menſchenrechte einen
Sprung weiter vom Staatsrechte in das Privatrecht ver-
ſuchen und eine Gleichtheilung alles Eigenthums be-
ſchließen möchten.


Wenn Mirabeau auch dieſe Wahrheiten nicht hinläng-
lich im Zuſammenhange durchſchaute, ſo beſaß er doch
ſtaatsmänniſchen Tact genug, um die Gebrechlichkeit ſol-
cher menſchenrechtlichen Satzungen zu erkennen. Als La-
fayette fertig war, ſprach er lachend zu einem Nachbar:
„Dieſe unverjährbaren Rechte des guten Lafayette werden
kein Jahr vorhalten.“ Weil aber die Verſammlung an
dem Köder hängen blieb, ließ auch er ſich von den jungen
Männern, die er beſtändig zur Hand hatte (denn Mira-
beau verſtand, wie wenige, die Kunſt für ſich arbeiten zu
laſſen) einen Entwurf der Menſchenrechte anfertigen, auch
Sieyes blieb nicht zurück, an dreißig Entwürfe ſtrömten
zuſammen, und ſo ernannte man am Ende allein für die-
ſen Gegenſtand einen Ausſchuß von fünf Mitgliedern, deſ-
Aug. 18.ſen Berichterſtatter Mirabeau ward. Wir ſehen aber die-
ſen ſonſt ſo kühnen Redner hier völlig in ſein Gegentheil
verwandelt. Er ſchildert die Leiſtung des Ausſchuſſes als
einen ſchwachen Verſuch, wie er es wirklich war, das
[245] kaum irgend zu Leiſtende zu leiſten, und beſteht für ſeine
Perſon darauf, ſich hierin von ſeinen Collegen trennend,
daß die ſchließliche Redaction bis zur Vollendung aller
andern Theile der Conſtitution Anſtand finde; denn nur
ſo allein laſſe ſich die Gefahr vermeiden, Principien aufzu-
ſtellen, welche man in der Anwendung nicht wieder erken-
nen möchte. Allein ſein immer ſchärfer hervortretendes
Bedenken gegen eine gefährliche politiſche Gasconnade,
wie man ſie im Sinne hatte, trug ihm von der Gegen-
partei heftige Vorwürfe ein, als wolle er unter dem
Scheine der Verzögerung die Menſchenrechte überhaupt be-
ſeitigen. Was er oft im Kreiſe ſeiner Vertrauten beklagte,
daß der ſchlimme Ruf einer wüſten Jugend ihm ſeine
Bahn erſchwere, mußte er jetzt öffentlich erfahren. Den
Ausfällen, die ihn trafen, ſtellte er die Antwort entge-
gen: „Sicherlich, inmitten einer höchſt ſtürmiſchen Ju-
gend habe ich durch die Schuld Anderer, allein hauptſäch-
lich durch eigene Schuld großes Unrecht begangen, und
wenige Menſchen haben in ihrem Privatleben mehr Vor-
wand als ich der Verläumdung, mehr Nahrung der übeln
Nachrede gegeben; allein, ich wage es Euch alle zu Zeu-
gen zu rufen, kein Schriftſteller, kein öffentlicher Cha-
rakter hat größeres Recht als ich, ſich muthiger Geſinnun-
gen, uneigennütziger Anſichten, einer ſtolzen Unabhängig-
keit und der Gleichmäßigkeit unbeugſamer Grundſätze zu
rühmen.“ Nach einer unerquicklichen Debatte, welche
durch viele Sitzungen des Julius und Auguſt ſich ſchlang,
[246] beſonders auch darum unerquicklich, weil die Mehrzahl
mit aufgeſchriebenen Reden gegen beliebige, manchmal
gar nicht vorgekommene Einwendungen auf ſelbſtgewähl-
tem Terrain manövrirte, ſtatt wie in England dem bald
hier bald dort angreifenden Feinde eine entſcheidende
Schlacht zu liefern: trug ein Entwurf, aus dem ſechſten
Aug. 19.Büreau eingegangen, den Sieg davon, welcher, es iſt
wahr, gemäßigte Überzeugungen vermittelt und nament-
lich die Anerkennung ausſpricht, daß ſchon in der natür-
lichen Beſchaffenheit der Menſchen ihre Ungleichheit ent-
halten ſey. Weil aber die Verſammlung ſich vorbehielt
ſpäter noch daran zu ändern, ſowohl durch Hinzufügen
als Hinwegſchneiden, hatte man im Grunde Nichts be-
ſchloſſen, und wirklich weicht die Erklärung der Rechte
des Menſchen und des Bürgers, welche an der Spitze
der vollendeten Verfaſſungsurkunde ſteht, durchaus ab
von jener damals genehmigten.


Ging man ſo in der Aufſtellung der Menſchenrechte
höchſt umſtändlich und tappend zu Werke, ohne gleich-
wohl zur Erkenntniß ſeines Grundirrthumes durchzudrin-
gen, ſo ward dagegen das ſtill zuſchauende Europa durch
die Haſt überraſcht, mit welcher eine andere Frage von
höchſt praktiſchem Belange zur Erledigung kam. Seit die
Plane des Hofes an der Erſtürmung der Baſtille ſcheiter-
ten, bildete ſich in großen hauptſtädtiſchen Kreiſen die
Meinung zur politiſchen Lehre aus, die Maſſen dürf-
ten nicht zur Ruhe kommen und müßten dann und wann
[247] durch eine That der Volksrache einen ſichtbaren Beweis
ihrer Macht und Geſinnung geben. Dergleichen, meinte
man, ſey nach zwei Seiten dienlich, gut um den Hof in
Furcht, gut um die Nationalverſammlung im Fahrwaſſer
der Freiheit zu erhalten. Als ein Opfer dieſer Maxime
fiel Foulon, einer von den kürzlich entlaſſenen Miniſtern,
und ſein Schwiegerſohn Berthier von Sauvigny, eben
noch Intendant von Paris, beide an demſelben Tage öf-Juli 22.
fentlich fortgeſchleppt und ermordet, ihre Köpfe vom Pö-
bel auf Piken getragen, und es war nicht bloß Pöbel da-
bei. In der erſten Bewegung des Schmerzes ſagten Bailly
und Lafayette, die vergeblich zu ſchützen, zu retten geſtrebt
hatten, ſich von ihren Stellen los. Doch ließen ſie ſich
überreden wieder einzutreten. Bailly hoffte Hülfe von ei-
ner beſſeren Organiſation des Stadtregiments und wirk-
lich legte der beſtändige Ausſchuß der Wähler die Regie-
rung nieder, und eine Municipalität von 120 Mitgliedern,
zwei aus jedem Diſtrict, trat an die Stelle; LafayetteJuli 30.
ſetzte ſein Vertrauen auf die jetzt zu vollendende Organi-
ſation ſeiner Nationalgarde, welche derzeit aus 6000
Mann Beſoldeten, deren Kern das Regiment franzöſiſcher
Garden bildete, und 24,000 Mann unbeſoldeter Bürger,
dazu 1000 Officiere, beſtand, und reichlich mit Geſchütz,
über 100 Kanonen, bald auch mit einigen Compagnien
Reuterei verſehen war. Die Hauptweihe aber glaubte er
ſeinem Werk zu geben, indem er nun mit der bisher dop-
pelfarbigen Nationalcocarde als Zeichen des geſchloſſenen
[248] inneren Friedens die weiße Farbe der Bourbons vereinigte.
Er übergab dieſe den Nationalgarden bei ihrer erſten gro-
Juli 26.ßen Heerſchau mit den Worten: „Dieſe Cocarde wird die
Runde um den Erdkreis machen.“ Was aber ruhigen
Beobachtern die meiſte Sorge erweckte, war daß ein Theil
der Nationalverſammlung die Klagen der Beſſeren über
die Entweihung der jungen Freiheit durch blutige Gräuel
lau, einige ſogar mit Misbilligung anhörten. Maximi-
lian Robespierre, Advocat in Arras, ſprach von einer
Juli 20.furchtbaren Verſchwörung gegen die Nation, deren Be-
kämpfung geſetzlich ſey, und erklärte den Verſuch da hin-
dern zu wollen für einen Angriff auf die Vertheidiger der
Freiheit. Von dieſem Manne ſagte Mirabeau, er ſehe
aus wie eine Katze, die Eſſig getrunken hat; ein an-
deres Mal bemerkte er, der Menſch ſcheine an Alles zu
glauben, was er ſage. Barnave, ein Talent der Ver-
ſammlung, welches ſich bisher den Rathſchlägen Mou-
niers untergeordnet hatte, vergaß ſich damals bis zu den
Worten: „War denn das vergoſſene Blut ſo rein?“ Das
Beiſpiel von Paris hätte die Provinzen fortgeriſſen, wä-
ren auch keine Anſtifter von dort zu ihrer Aufwiegelung
thätig geweſen. Mit wie großer Mühe hatte man in der
Hauptſtadt dem gemeinen Manne wenigſtens einen Theil
der Waffen wieder entwunden, die ein ſtürmiſcher Tag
in ſeine Hände gab, indem man ſie ihm abkaufte! Nun
aber griff man überall auf dem flachen Lande zu den Waf-
fen, theils durch von Emiſſären ausgeſprengte Befürch-
[249] tungen geſchreckt, wobei beſonders Duport im Spiele
war, theils um ſich an Beamten und Edelleuten zu rä-
chen, Klöſter zu zerſtören und Schlöſſer, oft um mit ihnen
die alten Papiere zu vernichten, in welchen ihre harten
Pflichtigkeiten verzeichnet ſtanden. Mehrere Ermordungen
von Vornehmen wurden gemeldet. In dem Dauphiné,
wo bisher die Stände einträchtig zuſammenhielten, ſah
man den Brand von 30 Schlöſſern leuchten; doch griff der
ſtändiſche Ausſchuß dort gleich kräftig ein, errichtete Na-
tionalgarden, und, thätiger als in der Hauptſtadt, ließ
man nicht eher ab, als bis die Verbrecher ergriffen und die
Schuldigſten hingerichtet waren. So ward daſelbſt die
Ruhe wieder hergeſtellt.


Als aber die Nachricht von dieſen Vorgängen nach
Paris kam, hielten viele Edelleute, Mitglieder der Na-
tionalverſammlung, Rath unter einander und beſchloſſen
durch das Opfer ihrer Lehnsrechte gegen mäßige Entſchä-
digung die Gemüther zu verſöhnen, ſich aber den Sicher-
ſtand deſſen was ihnen bleiben müſſe zu erkaufen. Der
Herzog von Aiguillon, Sohn des vormaligen Miniſters
war im Begriff in der Abendſitzung des 4ten Auguſt ſolchen
Antrag zu ſtellen, und es geziemte ihm, weil jedermann
wußte, daß er aus dieſer Quelle große Einkünfte zog, als
ihm der Vicomte von Noailles, Lafayette’s Schwager,
ein jüngerer Sohn ſeines Hauſes, der keine ſolche Opfer
zu bringen hatte, mit einiger Eitelkeit zuvorkam. Genug
der Antrag geſchah und ward vom Herzog von Aiguillon
[250] mehr entwickelt, ſowohl aus Gründen der Sicherheit,
als um eine gerechte Unzufriedenheit zu beſeitigen und das
beſondere Wohl dem allgemeinen unterzuordnen unter Auf-
hebung aller Steuerfreiheiten den Grundſatz einer künftig
völlig gleichen Vertheilung der Steuern zu ſanctioniren,
imgleichen aus denſelben Gründen und in Rückſicht auf das
Gedeihen des Ackerbaues den Grundſatz der Ablösbarkeit
aller Lehns- und Herrenrechte auf Begehren der Pflichtigen.
Die Ablöſung möge zu Eins von Dreißig (3⅓ Procent)
oder nach einem andern für jede Provinz für ſich zu
beſchließenden Maßſtabe geſchehen, nur daß, da dieſe
Einkünfte wirkliches Eigenthum und ſogar das einzige
Einkommen manches Beſitzers ſind, ſie, inſoweit die
Ablöſung nicht erfolgt iſt, fortbeſtehen. Die perſön-
lichen Dienſte dagegen ſollen ohne Ablöſung erlöſchen.
Ein Landmann aus der Bretagne erhob ſich in ſeiner
Bauerntracht, erinnerte daran daß in Frankreich noch
Menſchen wie Thiere vor den Wagen geſpannt werden
dürften, daß noch ein Recht beſtehe, welches Bauern nö-
thige zur Nachtzeit die Teiche zu peitſchen, damit die
Fröſche nicht durch ihr Quaken den Schlaf ihrer wollüſti-
gen Herren ſtören. „Wartet keinen Augenblick,“ ſchloß
er, „oder ſollen Eure Geſetze einem verwüſteten Frank-
reich zu Theil werden?“ Ein Edelmann verſuchte dem
überwiegenden Beifalle, welcher dieſe Anträge begleitete,
eine andere Richtung zu geben, indem er bemerkte, es
dürfte wohl rathſam ſeyn, den Anfang der Verbeſſerungen
[251] mit Streichung der Jahrgelder und zum Theil übermäßi-
gen Gehalte des Hofadels zu machen; alsbald aber er-
klärten ſich Viele, die das anging, zu ſolchem Opfer er-
bötig. Der Enthuſiasmus war entzündet, ſchon häuften
und miſchten ſich die Anträge. Der Vicomte von Beau-
harnais verlangt ein Strafgeſetz, welches Gleichheit der
Strafen ohne Standesunterſchied feſtſtelle, er verlangt die
Zulaſſung jedes Franzoſen zu jedem öffentlichen Amt in der
Kirche, der Verwaltung und im Heerweſen. Einer vom
dritten Stande begehrt die Aufhebung der Patrimonial-
gerichte. Die Einrede eines elſaßer Abgeordneten, man
möge doch an die Lehnrechte denken, welche vielen deut-
ſchen Reichsfürſten Kraft unzweifelhafter Staatsverträge
im Elſaß zuſtänden, fand keinen Eingang. Vielmehr trat
Graf Mathieu de Montmorency auf, verlangte die Ab-
ſtimmung über ſämmtliche Anträge. Das lief der Ge-
ſchäftsordnung entgegen; allein man hatte ſich letzter Zeit
ſchon über ſo Vieles hinweggeſetzt und namentlich den Be-
ſchluß, wöchentlich nur drei allgemeine und öffentliche
Sitzungen zu halten, die übrigen Tage in den Büreaus
zu arbeiten, in dem Grade verlaſſen, daß man täglich zwei
allgemeine Sitzungen, eine Morgens, die andere Abends
hielt. Allein der Präſident Le Chapelier (der Vorſitz in
der Nationalverſammlung wechſelte alle vierzehn Tage)
machte darauf aufmerkſam daß jedenfalls doch zuvor die
Anſicht der Geiſtlichkeit vernommen werden müſſe. Als
nun auch die Prälaten ſich geneigt erklärten, den Abkauf
[252] ihrer Feudallaſten zuzulaſſen, und zugleich verſprachen, ſie
wollten den Erlös nicht zu ihrer Bereicherung, ſondern zu
reichlicheren Almoſen verwenden, als ſogar blutarme
Pfarrer das Anerbieten ihrer Accidentien machten, deſſen
Annahme man freilich ausſchlagen mußte, ſtiegen die Bei-
fallsrufe und die Anträge drängten ſich noch ſtürmiſcher:
Abſchaffung aller der Leibeigenſchaft verwandten Ver-
hältniſſe, welche unter dem Namen der todten Hand für
anderthalb Millionen Franzoſen noch beſtehen; Setzung
ſämmtlicher Zehenten zu Gelde und Ablösbarkeit derſelben;
Aufhebung des ausſchließlichen Jagdrechtes, mithin der
barbariſchen Strafen gegen Jagdfrevler; Aufhebung der
Taubenhäuſer und Kaninchengehege; Verbeſſerung der
Gilden; Abſchaffung aller Ämterverkäufe; Aufhebung der
Privilegien der einzelnen Provinzen von Frankreich — und
endlich als unmittelbare Folge des letzten Antrages: man
will überhaupt künftighin nicht mehr Provençale, Langue-
docker, Burgunder, alle wollen Franzoſen ſeyn, zweifeln
auch durchaus nicht an der gleichen Geſinnung ihrer Com-
mittenten; und die Städte und die Ämter wollen keinen
Schritt hinter den Provinzen zurückbleiben, auch ſie ent-
ſagen ihren Vorzügen. Bei dieſem letzten Aufſchwunge
zum Ziele der Gleichheit ward der Taumel der Begeiſte-
rung ſo allgemein, ein ſolcher Andrang zur Rednerbühne,
ſolch ein Zuſammenhäufen in Gruppen unter vielen Um-
armungen trat ein, daß die Secretäre darauf verzichten
mußten die Fülle der Anträge zu verzeichnen; ſie haben
[253] es erſt nachträglich gethan. Nun verlangte der Herzog von
Liancourt noch eine Medaille zum Andenken der That die-
ſes Tages, der Erzbiſchof von Paris ein Te Deum. Lally-
Tollendal lenkte wohlgeſinnt auf die Dankbarkeit gegen den
König zurück, als die Quelle aller dieſer Wohlthaten.
Ludwig XVI. wird den Titel: „Wiederherſteller der fran-
zöſiſchen Freiheit“ führen. Alles ward wie angetragen
auch beſchloſſen; man hatte von 8 Uhr Abends an geſeſ-
ſen, trennte ſich um 2 Uhr Morgens, und erwachte in
einem umgeſchaffenen Frankreich.


Die nächſten Sitzungen brachte man mit den Redactio-
nen der Anträge zu, und ging zum Theil noch eine gute
Strecke über dieſelben hinaus. Das geſchah vornämlich
in Abſicht auf den Zehenten der Geiſtlichkeit, welchen man
zuvor abkäuflich geſtellt hatte, der jetzt ohne Entſchädigung
fallen ſollte. An dieſem Tage ward Sieyes mit der Ruthe
ſeiner eigenen Grundſätze gezüchtigt. Er ſo wenig als Mi-
rabeau waren in der Sitzung der Gleichmachung gegen-
wärtig geweſen, letzterer durch einen Familienrath in
Bezug auf den kürzlichen Tod ſeines Vaters verhindert,† Juli 11.
allein am 10ten Auguſt erhub ſich Sieyes, räumte ein
daß der Naturalzehnte die für den Ackerbau verderblichſte
Steuer ſey, beſtand aber um ſo nachdrücklicher auf ſeiner
Ablöſung; denn auch abgeſehen von dem Bedürfniſſe der
Geiſtlichkeit ſey durchaus kein Grund vorhanden, mit einem
Jahresertrage von mindeſtens 70 Millionen Livres den
Grundbeſitzern ein Geſchenk zu machen, ihnen, von denen
[254] keiner den Zehenten in Wahrheit bezahlt, denn er hat ſein
Grundſtück um eben ſo viel wohlfeiler gekauft als der Ca-
pitalwerth ſeines Zehenten iſt. Auf die ganz entgegenge-
ſetzte Seite ſtellte ſich aber Mirabeau, und ſtatt dabei
ſtehen zu bleiben daß die Zehenten einen milden Ablö-
ſungsſatz verdienen, oder allenfalls ihren Ertrag der dar-
benden Staatscaſſe zuzuweiſen, nannte er die Zehenten
eine Steuer für den Unterhalt der Geiſtlichkeit, den
Grundbeſitzern unbillig auferlegt, verlangte ihre Aufhe-
bung ohne alle Entſchädigung, brachte zugleich die Beſol-
dung der Geiſtlichkeit aus öffentlichen Mitteln in Anre-
gung. Mirabeau erkannte das praktiſche Moment der Be-
ſchlüſſe vom 4ten Auguſt, ihre Unwiderruflichkeit. Die
Art wie ſie zu Stande kamen betrachtete er als charakte-
riſtiſch für ſeine Nation, die, ein Spielball ihrer Lebhaf-
tigkeit, die vernünftigſten Dinge auf die tollſte Art voll-
bringe. Als der Zehente ohne Entſchädigung fiel, ſagte
Sieyes: „Sie wollen frei ſeyn und verſtehen nicht gerecht
zu ſeyn.“ Seitdem war er erbittert auf die Verſammlung,
ſprach nur ſelten. Bei einer Unterredung zwiſchen den bei-
den Vätern der Revolution, wie Mirabeau ſich und Sieyes
nannte, fielen die Worte: „Mein lieber Abbé, Sie ha-
ben den Stier losgekettet und beklagen ſich daß er Sie
ſeine Hörner fühlen läßt?“ Auch die weiteren Folgen der
vierten Auguſtnacht, zunächſt für den Adel, ſah Mirabeau
klar voraus. Der franzöſiſche Adel hatte die einzigen Klam-
mern, welche er im Bewußtſeyn der Nation hatte, ſelbſt
[255] geſprengt, nichts hielt ihn mehr. Der Titularadel fiel am
20ſten Julius 1790. Ihm folgten am 30ſten October
1791 die Ritterorden nach, und da von Anfang her der
franzöſiſche Landmann ſich nur die Aufhebung der Feudal-
laſten und Zehenten zu eigen machte, für ihre Zahlung
bis zu geſchehener Ablöſung keine Ohren hatte, ſo hob
man am Ende am 25ſten Auguſt 1792 alle dieſe Laſten
ohne Entſchädigung auf. Endlich: nur ein Paar Monate
verliefen ſeit jener Auguſtnacht, und es gab in Frankreich
keine Provinzen mehr, an ihre Stelle traten 83 Departe-
ments. Bis dahin hatte man in Frankreich Provinzen mit
althiſtoriſchen Namen als politiſche Eintheilung, Gouver-
nements als militäriſche, Generalitäten als adminiſtra-
tive und finanzielle, Diöceſen als kirchliche, Balliagen
Senechauſſéen und Parlamentsbezirke als gerichtliche Ein-
theilung. Jetzt ward der geſammten Eintheilung das De-
partement zum Grunde gelegt, bei deſſen Abgränzung und
Benennung, woran der König als Liebhaber der Geo-
graphie Freude hatte, große Rückſicht auf Berge und
Flüſſe genommen ward, aber möglichſt geringe auf den alten
Zuſammenhang der Bevölkerung. Jedes Departement iſt
in Diſtricte, jeder Diſtrict in Cantons getheilt, deren ei-
nem jede der 44,000 politiſchen Gemeinden von Frank-
reich angehört. Die Folge davon iſt nun ferner ein ganz
neues Syſtem der Verwaltung, deren herrſchender Mittel-
punct in ganz anderer Art als bisher die Hauptſtadt wird.
Und zu dem Allen bahnte doch jene unvergeßliche Nacht
[256] der Gleichmachung allein den Weg, und von dem Allen
war doch wieder Sieyes allein der Grundleger und rühmte
ſich deſſen im ſpäteſten Alter, wenn er gleich nach ſeiner
Oct.Weiſe einen anderen Antragsſteller vorſchob. Gewiß der
vierte Auguſt hat dieſem ungemein eiteln Manne die Eine
herbe Kränkung durch einen reichlichen Zuwachs an Selbſt-
zufriedenheit vergütet.


In den letzten Tagen des Auguſt hielten Mounier und
Lally-Tollendal im Namen des Verfaſſungsausſchuſſes
Vortrag über die Grundformen der künftigen Verfaſſung.
Es kam dabei hauptſächlich auf die Beantwortung von
drei Lebensfragen an. Sie lauten:


Soll die Nationalverſammlung permanent ſeyn?

Soll ſie ungetheilt bleiben oder in Kammern zer-

fallen?

Soll der König ein Veto haben, und wenn eines,

welch eines?

Unter Permanenz der Nationalverſammlung verſtand
man im Ausſchuſſe eine zu geſetzlich beſtimmter Zeit zu-
ſammentretende Nationalverſammlung, welche der König
wohl vertagen, aber nicht auflöſen darf, ohne ſogleich
neue Wahlen anzuordnen. Man beantragt eine ſolche, die
jeden erſten December zuſammentritt und vier Monate bei-
ſammen bleibt. Der Ausſchuß, das heißt, die Mehrheit
deſſelben begehrt zwei Kammern, die eine von 600 Abge-
ordneten, auf drei Jahre gewählt, die andere ein Senat
von 200 auf Lebenszeit beſtellten, vom Könige genehmigten
[257] Mitgliedern. Ein Alter von 35 Jahren, ein gewiſſer
Grundbeſitz iſt erforderlich, übrigens ſteht jedem Verdienſte
der Eintritt in den Senat offen. Jede Kammer hat ein
Veto gegen die andere, eben ſo gebührt dem Könige ein
unbedingtes, nicht bloß aufſchiebendes Veto. Mit die-
ſen nach Lage der Dinge lobenswerthen Grundlagen ſteht
freilich im ſchneidenden Widerſpruche der zugleich empfoh-
lene Grundſatz: die zu gründende Verfaſſung bedürfe der
königlichen Sanction nicht, weil ſie erſt dieſe Sanction
feſtſtelle. Aber wenn man die Nothwendigkeit erkannte,
dem Königthum der Zukunft das unbedingte Veto einzu-
räumen, ſo mußte man vor allen Dingen anerkennen, daß
dieſes Veto und weit mehr als das dem Könige der Ge-
genwart ſchon zuſtehe. Oder hatte denn König Ludwig XVI.
abdicirt, und es handelte ſich um die Bedingungen ſeiner
Wiedereinſetzung?


Man machte in der Nationalverſammlung den Verſuch
die Fragen getrennt zu behandeln, allein es ergab ſich
bald, das ſey unmöglich. Alle drei ſind Lebensfragen für
die Krone, am tiefſten aber dringt die Vetofrage ein,
ſie, die grade für den gewöhnlichen Betrachter kinderleicht
zu beantworten iſt. Die Politiker des Palais-royal und
des bretagniſchen Clubs waren längſt darüber einig, es
ſey ein Unſinn und ein Frevel gegen die Menſchheit, den
Willen von 25 Millionen Menſchen von der Willkür ei-
nes Einzigen abhängig zu machen; hier eine National-
verſammlung, dort ein König mit dem Veto, das heiße
Franzöſiſche Revolution. 17
[258] zwei Souveräns in demſelben Staate aufſtellen. Man
miſchte die Maſſen geſchäftig ein, manche Franzoſen hiel-
ten das Veto für eine neue Auflage, andere für die Ur-
ſache des Brodmangels. Im Palais-royal ging ein ſchrift-
licher Vorſchlag herum, nach Verſailles zu ziehen zur Un-
terſtützung der patriotiſchen Abgeordneten; die Vetofreunde
müſſen ausgeſtoßen und nachdem ſie ſo ihrer Unverletzbarkeit
beraubt ſind, muß ihnen der Proceß gemacht werden.


Auf dieſem Felde der Vetofrage entwickelte Mirabeau
ſeine Meiſterſchaft, während Sieyes, Begriffe ſpaltend,
unter die Mittelmäßigkeit herabſank. Aber Neckers ge-
brechlicher Nachen lief eben hier kläglich auf den Strand.


Sept. 1.Mirabeau läßt alle Gerechtigkeit der Beſorgniß wider-
fahren, in die Hände eines einzigen Menſchen die Macht
niederzulegen, daß er ſagen dürfe: „Ich widerſetze mich der
allgemeinen Einſicht.“ Allein, indem der Redner ſich in
Acht nimmt, nicht gegen die Lieblingsanſichten von der
Entſtehung des Staats durch willkürliche Satzungen an-
zuſtoßen, giebt er zu bedenken, daß ja auch ſchlechte Wah-
len von Volksvertretern möglich ſind, daß es dieſen ein-
fallen kann, wenn ihnen kein königliches Veto gegenüber
ſteht, ihre Vertretungszeit nach Belieben zu verlängern,
zu verewigen, ja ſogar die ausübende Gewalt in ſich auf-
zunehmen, wie das Alles in England in den Tagen der
Revolution gegen Karl I. vorgekommen. Ganz gewiß, er
will es nicht läugnen, kann das Veto des Fürſten ſich ei-
nem guten Geſetze widerſetzen, allein es kann auch be-
[259] wahren vor einem ſchlechten Geſetze. Im ſchlimmſten Falle
wird dann die ihrer jährlichen Wiederkehr verſicherte Ver-
ſammlung die Steuern und das Heer verweigern oder nur
für kurze Zeit bewilligen. Der Fürſt wird hierauf viel-
leicht die Nationalverſammlung auflöſen, nun verpflichtet
ihn aber die Verfaſſung binnen drei Monaten eine neue
Verſammlung zu berufen. Das Volk wird alsdann, wenn
es mit ſeinen Vertretern wirklich einverſtanden iſt, dieſel-
ben Vertreter wieder wählen. Was bleibt dem Fürſten
übrig als ſich zu fügen? Wenn aber dem Fürſten das Veto
abgeht, wie hilft ſich dann ein Volk gegen ſchlechte Ver-
treter anders als durch Aufſtand? „Wir werden,“ fährt
er fort, „jedes Jahr zuſammenkommen; denn bedenket
wohl die ungeheure uns obliegende Verpflichtung. Die
Finanzen allein werden vielleicht die Arbeit eines halben
Jahrhunderts erfordern. Dann das bürgerliche und das
peinliche Geſetzbuch! Wie? die Engländer, bei denen, ſo
zu ſagen, Alles ſchon gethan iſt, verſammeln ſich von
Jahr zu Jahr, und finden ſtets zu thun, und die Franzo-
ſen, bei welchen Alles noch zu thun iſt, ſollten ſich nicht
jedes Jahr verſammeln? Wir werden alſo eine permanente
Verſammlung haben und in ihr allein ſchon ein hinläng-
liches Gegengewicht gegen das königliche Veto. Wer frei-
lich jede große Gewalt fürchtet, wird es Despotismus
nennen, wenn der König ſagen kann: „Das iſt der Wille
meines Volks, aber der meine ſteht ihm entgegen, und
mein Wille ſoll gelten.“ Aus dieſer Furcht iſt das ſus-
17*
[260] penſive Veto hervorgegangen; das will ſagen: der König
ſoll die Sanction allerdings verweigern können; es ſteht
ihm frei vielleicht in dieſem Falle die Nationalverſamm-
lung aufzulöſen, den Eintritt einer durch neue Wahlen
erneuten Verſammlung zu erwarten; aber wenn dieſe neue
Verſammlung ihm das von ihm verworfene Geſetz zum
zweiten Male darbietet, iſt er gezwungen es zuzulaſſen;
denn er hat die Gewißheit erhalten, dieſes ſey wirklich
der Volkswunſch. Allein bedenket wohl, wie hoch Ihr
den König mit der einen Hand geſtellt habt und wie tief
Ihr ihn mit der anderen herabdrücken wollet! Hier ſteht
er als erblicher Herrſcher, als unverletzlicher, auf einer
von keiner Ehrſucht erreichbaren Höhe, berufen über 25
Millionen zu befehlen, auf einer Strecke von 30,000 Qua-
drat-Lieues allenthalben der Beſchützer zu ſeyn, und dort
wollet Ihr dieſen Mann der Macht zwingen Geſetze aus-
zuführen, in die er nicht gewilligt hat. Wollet Ihr alle
Schrecken eines blutigen Aufruhrs daran ſetzen? Gut, es
ſteht in Eurer Hand, aber verkannt habt Ihr alsdann
jene weit ſicherer zum Ziele führende Macht, die Macht
der öffentlichen Meinung. Wenn ſie wahrhaftig in Wirk-
ſamkeit tritt, in dem Augenblicke erhebt ſie auch den Ge-
ſetzvorſchlag weit über die Willkür auch des mächtigſten
Fürſten hinaus; er könnte nicht länger widerſtehen ohne
ein Gegenſtand des Abſcheues zu werden. Seine Einwil-
ligung iſt in Wahrheit nichts anders als das feierliche
Verſprechen, das Geſetz, welches er genehmigt hat, in
[261] Ausübung bringen zu wollen. Untergeordnete Gewalten
im Staate müſſen allerdings ausführen auch was ſie nicht
billigen, obgleich es nie gehörig geſchieht; die höchſte Macht
im Staate zwingen wollen, heißt ſich an ihre Stelle ſetzen.
Wird die bedrohte höchſte Macht nicht Widerſtand leiſten?
Wird ſie keine Helfer finden? Blicket auf Schweden hin;
wie ſchnell iſt dieſes Reich dem Despotismus verfallen!
aus keinem anderen Grunde, als weil man dort den Kö-
nig, wiewohl Erbkönig, doch zum duldenden und blinden
Werkzeuge des Senats machen wollte. Haben wir einmal
die Krone einer beſtimmten Familie übergeben, daß ſie ein
Erbtheil ihrer Erſtgeborenen ſey, dann iſt es unklug dieſe
zu beunruhigen, indem man ſie einer geſetzgebenden Ge-
walt unterwirft, deren Geltung man in königlichen Hän-
den läßt, und gleichwohl des Königs Meinung verachten
will. Dieſe Verachtung geht zuletzt auf die Perſon über;
der Inhaber aller Macht des franzöſiſchen Reiches kann
aber nicht verachtet werden ohne die größte Gefahr.“
Der Redner ſchließt mit den Worten: „So führt denn
eine folgerechte Betrachtung, aus dem menſchlichen Her-
zen und aus der Erfahrung geſchöpft, dahin daß der Kö-
nig das Recht haben muß auf die Nationalverſammlung
einzuwirken, indem er ſie wieder erwählen läßt. Dieſe
Einwirkung iſt nothwendig, um dem Könige ein geſetz-
liches und friedliches Mittel zu ſichern, von ſeiner Seite
Geſetzen die Annahme zu verſchaffen, die er nützlich für
die Nation hält, und welchen gleichwohl die Nationalver-
[262] ſammlung ſich widerſetzen möchte. Darin liegt auch durch-
aus keine Gefahr. Denn der König muß nothwendig auf
den Beifall der Nation rechnen, wenn er, um die Zu-
ſtimmung zu einem Geſetze zu erlangen, die Nation zur
Wahl von neuen Mitgliedern auffordert; wenn aber die
Nation und der König ſich vereinigen, ſo kann der Wider-
ſtand des geſetzgebenden Körpers nur zwei Urſachen ha-
ben, entweder die Verderbtheit ſeiner Mitglieder, und
dann iſt ihr Abgang ein Glück, oder einen Zweifel über
die öffentliche Meinung, und das beſte Mittel dieſen zu
löſen iſt dann ohne Zweifel die Wahl neuer Mitglieder.
— Ich faſſe Alles in einem Worte zuſammen: Jährlich-
keit der Nationalverſammlung, Jährlichkeit des Heeres,
Jährlichkeit der Steuer, Verantwortlichkeit der Miniſter,
und die königliche Sanction ohne alle Beſchränkung in
Worten, aber in der That befriedigend begränzt: das iſt
das Palladium der Nationalfreiheit und die köſtlichſte Hand-
habung der Freiheit, die einem Volk nur werden kann.“


Mirabeau giebt in dieſer Rede über zwei Fragen von
den dreien ſeine entſchiedene Meinung ab, er will das
abſolute königliche Veto, will eine jährlich wiederkehrende
und inſofern permanent zu nennende Nationalverſammlung.
Weniger zufriedenſtellend erſcheint ſein Urtheil über die
Frage, ob es eine oder mehrere Kammern geben ſolle.
Hier muß man zwar vor allen Dingen den praktiſchen
Staatsmann von dem Theoretiker der Schule unterſchei-
den. Jener bedarf des Beifalles, um zu wirken, und auch
[263] die beſte Theorie ſtellt er bei Seite, wo ſie auf die gege-
benen Verhältniſſe keine Anwendung findet und doch etwas
gethan werden muß. Der franzöſiſche Adel nahm von jeher
eine ſchiefe Stellung gegen die Verfaſſung, und der vierte
Auguſt hatte über die ganze vaterländiſche Ariſtokratie den
Stab gebrochen. Welcher Zukunft ſahen die Prälaten ent-
gegen? Der Zehente dahin, und ſchon war den Gütern
der Geiſtlichkeit als der beſten Stütze in der Finanznoth
nachgefragt. In jenen 200 Senatoren, wer ſie auch vor-
ſchlagen mochte, erblickte man unwillig die Pflanzſchule
einer neuen Ariſtokratie, lediglich Werkzeuge der Miniſter.
Was allenfalls noch haltbar ſcheinen möchte, ſprach Mi-
rabeau in einer ſpäteren Sitzung kurz ſo aus: „Ich willSept. 9.
zwei Kammern, wenn ſie nur zwei Sectionen einer ein-
zigen ſeyn ſollen, und ich will nur eine einzige, wenn die
eine ein Veto gegen die andere haben ſoll.“ Er ſah die
Gemüther bereits entſchieden, warf dieſes Mittelding
noch ſo hin. In derſelben Sitzung beſchloſſen 849 Stim-
men gegen 89 die Untheilbarkeit der Nationalverſamm-
lung. Über die Permanenz war ſchon früher im Sinne
des Ausſchuſſes entſchieden. Die Vetofrage blieb übrig.


Sieyes ſchnitt alle dieſe Fragen, welche Mirabeau
mit Blick und Sinn für das vielfach verſchlungene Leben
organiſch behandelt hatte, mit einem Scheermeſſer hand-
werksmäßig durch, ließ kein Veto irgend einer Art zu.
Keine Ahnung in ihm von jener Vermittelung, welche
ſelbſt der Mathematiker anerkennt, ſobald er mit ſeiner
[264] Formel in das Reich der Naturkräfte tritt. „Nach meiner
Definition,“ ſprach Sieyes, „iſt Geſetz der Wille der
Regierten; mithin kann die Regierung keinen Theil an der
Bildung des Geſetzes haben. Vergeblich würde man den
Beweis verſuchen, daß dem Könige ein irgend ausgezeich-
neter Antheil an der Bildung des Geſetzes gebühre. Könnte
ſein Wille auch nur dem Antheile von zwei Abgeordneten
gleichſtehen, warum nicht dem Willen von 25 Millionen?
Die Stimme des Königs kann lediglich wie die Stimme
eines Präſidenten gelten. Welche Vorſtellung man ſich
auch von einem Veto mache, ſie iſt immer dieſem Princip
entgegen. Der Inhaber der ausübenden Gewalt macht
keinen integrirenden Theil des Geſetzes aus: denn das
Recht ein Geſetz zu verhindern iſt nichts anders als das
Geſetz machen; darin iſt gar kein Unterſchied. Der Menſch
welcher ſagt: ich will nicht daß das und das geſchehe,
ſagt ganz eigentlich: ich will daß das was Ihr wollet
nicht ſey. Mithin muß die Majorität der geſetzgebenden
Gewalt unabhängig von der ausübenden Gewalt han-
deln, und das Veto, einerlei ob abſolut oder ſuspenſiv,
iſt nichts anders als ein Verhaftsbrief, gegen den öffent-
lichen Willen geſchleudert. Ohne Grund ſagt man: wenn
die ausübende Gewalt nicht mit einem abſoluten oder
doch einem aufſchiebenden Veto bekleidet iſt, ſo wird die
geſetzgebende Gewalt in dieſelbe eingreifen. Denn es iſt
die Conſtitution ja dazu da, die Gewalten zu binden,
ohne daß ſie etwas verändern, etwas neuern können. Die
[265] Conſtitution wird die Trennungslinie unverbrüchlich feſt-
ſetzen, fortan iſt keine Veränderung möglich. Ein auf-
ſchiebendes Veto feſtſetzen, heißt nichts anders als ſagen:
Die Völker verlangen von uns Geſetze; wir aber wollen
feſtſetzen was ſie verhindern kann. Betrachtet das wahre
Verhältniß: der geſetzgebende Körper entſteht durch Wahl,
iſt zahlreich, nimmt Theil am öffentlichen Wohle, er ſteht
unter dem Einfluſſe des Volks; der Inhaber der vollzie-
henden Gewalt iſt erblich, unentfernbar, ſeine Miniſter
ſchaffen ihm ſein beſonderes Intereſſe. Wie kann man bei
ſo ungleichem Stande der Dinge noch immer die Miene
annehmen als fürchte man die möglichen Misgriffe der
Geſetzgebung, nicht im Geringſten aber die Misgriffe der
Miniſter? Welche Parteilichkeit! Ganz gewiß jedoch, der
geſetzgebende Körper kann ſich möglicher Weiſe übereilen
und irren, und es iſt gut ſich davor zu ſchützen. Läßt man
überhaupt ein Veto und mehr als eine Kammer zu, ſo
werde ich dafür ſtimmen daß dieſes Veto in die Verſamm-
lung ſelber falle, daß damit die Hände bewaffnet werden,
in welchen es am nützlichſten ruhen würde, daß man zu
dem Ende die Verſammlung in drei Sectionen theile; eine
davon würde jedes Jahr erneuert, denn jedes Jahr ſoll
man ein Drittel der Verſammlung durch Wahl erneuern,
worauf dann die bisherige dritte Section in die zweite,
die bisherige zweite in die erſte Stelle rückt, und die
Mehrheit der Stimmen, durch die drei Sectionen durch-
gezählt, bringt das Geſetz hervor ꝛc.“ Dergeſtalt ſtellte
[266] der Mann, welchem zwei Kammern zu viel waren, deren
drei auf.


Die Discuſſion war geſchloſſen, aber der Tag der
Abſtimmung noch nicht gekommen, noch ſchwankte die
Wage, als Necker dazwiſchen trat.


Necker war dem Rufe des Königs gefolgt. Seine Reiſe
von Baſel nach Paris glich einem Triumphzuge; dennoch
mußte er ſchon unterwegs erfahren, wie es mit dem kö-
niglichen Anſehn ſtehe. Der König hatte den General von
Beſenval veranlaßt ſich in ſeine Schweiz zurückzuziehen,
allein man hielt den verhaßten Mann unterwegs feſt, und
Neckers Ermahnung, den königlichen Befehl zu achten,
blieb fruchtlos: man wollte den Befehl des pariſer Stadt-
hauſes erwarten. Als nun der neue Miniſter zum erſten
Male in die Hauptſtadt kam, benutzte er die Jugend ſei-
Juli 30.ner Volksgunſt, begab ſich in das Stadthaus, wo gerade
die Wähler beſchäftigt waren die neu gewählte Stadt-
obrigkeit zu inſtalliren, um ihr Platz zu machen, richtete
an ſie Alle Worte dankbarer Rührung, und vom allgemei-
nen Beifalle begrüßt, dem Volk draußen gezeigt, bat er,
dieſen ſchönen Tag durch eine allgemeine Amneſtie zu ei-
nem unvergeßlichen zu machen. Kaum hatte Necker geen-
digt, als man ihm von allen Seiten beifiel; ein Beſchluß
wird aufgeſetzt, der von allen Kanzeln in ganz Frankreich
verleſen werden ſoll; keine Gewalt mehr, Verzeihung,
öffentliche Ruhe. Necker vergoß Thränen der Rührung,
kehrte beſeligt nach Verſailles zurück, verkündigte dem
[267] Königspaare die Beendigung der Revolution. Traurige
Täuſchung eines unvorſichtigen, von dem Taumel augen-
blicklicher Gunſt berauſchten Miniſters! Necker hatte einen
zwiefachen Misgriff begangen, indem er zugleich die Na-
tionalverſammlung und die königliche Gerechtſame verletzte.
Das Stadthaus hatte hier nichts zu beſchließen, nicht ein-
mal die Nationalverſammlung. Eine Bitte um Amneſtie,
von dieſer an den König gerichtet, von dem Könige kraft
ſeines Begnadigungsrechtes gewährt, würde vor ganz
Frankreich die wiederhergeſtellte Eintracht der höchſten Ge-
walten bethätigt haben. Dennoch wäre es nützlich und
großmüthig geweſen, eine hochherzige Richtung zu begün-
ſtigen, indem man den begangenen Verſtoß in der Natio-
nalverſammlung verbeſſerte. Allein Mirabeau war nicht
der Mann, einen Widerſacher, den er geringſchätzte und
deſſen Platz er einzunehmen hoffte, zu ſchonen. Einige
Diſtricte von Paris wurden aufgeregt, die über ihre Über-
eilung beſtürzten Wähler beeilten ſich ihrem Beſchluſſe eine
andere Auslegung zu geben, die Nationalverſammlung
ſprach ſich faſt einſtimmig gegen eine allgemeine AmneſtieJuli 31.
aus, und Necker mußte beſchämt ſeinem Könige geſtehen,
ſeine Hoffnung auf Beendigung der Revolution ſey eine
Täuſchung geweſen.


Seit dieſem Tage war Necker wieder bloß Finanzmini-
ſter und ein ſchwer bedrängter. Noch waren die Beſchlüſſe
des 4ten Auguſt nicht vollſtändig redigirt, als er die auf
den Höhen der Philanthropie ſchwebende Verſammlung in
[268] die gemeine Proſe des Tages mit der Erklärung herabzog,
der öffentliche Credit ſey verſchwunden, denn es würden
keine Abgaben bezahlt. Er ſchlug zur nächſten Aushülfe
die mäßige Anleihe von 30 Millionen vor, welche zu
5 Procent zu beziehen er die Einleitung getroffen und Zu-
ſicherungen erhalten habe. Dieſer Zins war höchſt mäßig,
das wußte Mirabeau ſo gut wie einer, dennoch vereitelte
die Verſammlung Neckern ſeinen Plan, indem ſie ihn auf
4½ Procent beſchränkte. Nun aber ging die Anleihe nicht
ein und man mußte ſich bald darauf dazu verſtehen, eine
viel größere, 80 Millionen zu bewilligen und dem Finanz-
miniſter das Geſchäft zu überlaſſen. Die Noth drängte
von allen Seiten. Es ergab ſich plötzlich daß man ſeit
drei Monaten von der Hand in den Mund lebe; jede
Nacht war man auf dem Stadthauſe in Sorge, ob auch
die Lebensmittel wirklich anlangen würden, von welchen
die ungeheure Bevölkerung ſich den nächſten Tag nähren
ſollte. Der Ausſchuß der Lebensmittel arbeitete unermüd-
lich, allein die Unſicherheit des Eigenthums, die wach-
ſende Anarchie war es, welche vom Sammeln, vom Her-
beibringen der Vorräthe abſchreckte.


So ſtanden die Dinge, als Necker durch ſeine Einmi-
ſchung in die Vetofrage alle Hoffnungen der aufrichtigen
und verſtändigen Freunde der Monarchie vereitelte. Mag
es nun Mangel an Einſicht in die Tiefen der Politik,
oder der Hang eine erſchütterte Popularität wiederherzu-
ſtellen, gemiſcht mit Widerwillen gegen Mirabeau, gewe-
[269] ſen ſeyn: Necker ſtellte dem Könige vor, man dürfe nicht
zu viel wagen; wenn man nicht einer großen Majorität
für das abſolute Veto gewiß ſey, ſcheine es rathſamer
ſich zum Voraus zufrieden mit dem bloß aufſchiebenden
zu erklären, welches im Grunde eben ſo viele Vortheile
und weniger Gefahren in ſich trage als das abſolute.
Er faßte eine ſchriftliche Ausführung dieſer Einfälle ab,
theilte dieſe im Conſeil mit und erhielt leicht von der
Nachgiebigkeit des Königs die Erlaubniß ſein Be-
denken weiter an die Nationalverſammlung gelangen zu
laſſen. Nun ſetzte zwar Mirabeau durch daß man, ohne
den Neckerſchen Bericht nur einmal zu verleſen, bei dem
Schluſſe der Discuſſion beharrte, aus dem Grunde,
weil, wenn für des Königs Meinung, ſie auch für die
der Abgeordneten wieder eröffnet werden müſſe, weil fer-
ner der Umſtand, daß der König das abſolute Veto nicht
begehre, die Verſammlung nicht abhalten dürfe, es
ihm aus höheren Staatsgründen dennoch beizulegen;
allein die Überzeugungen waren einmal erſchüttert, und
man verließ die Krone, die ſich ſelbſt verlaſſen hatte. Im-
mer leerer wurden die Sitze zur rechten Hand des Prä-
ſidenten, immer beſetzter die zu ſeiner Linken; denn wäh-
rend dieſer Debatte bildete ſich zuerſt die Gewohnheit, in
gegneriſchen Maſſen aus einander zu treten. Am 11ten
September entſchieden 673 Stimmen gegen 325 für ein
lediglich aufſchiebendes Veto, für einen König, der noch
immer erblich, für ſeine Perſon unverletzlich und heilig,
[270] der Urquell aller Ehren und Gnaden, reich an Prädica-
ten auch der Macht iſt, allein er iſt mächtig allein
in Bezug auf die Ausführung der Geſetze, ohnmächtig
in Bezug auf ihren Inhalt, ein Diener fremden Willens.


Als Mounier, Lally-Tollendal, Clermont-Tonnerre
und Bergaſſe die Grundlagen ihrer Verfaſſungsarbeit ver-
worfen ſahen, legten ſie ihre Stellen im Verfaſſungsaus-
ſchuſſe nieder. Da nun auch der Erzbiſchof von Bordeaux
neuerdings in das Miniſterium Neckers und Montmorins
als Siegelbewahrer getreten war, ſo blieben vor der Hand
allein der Biſchof von Autun, Sieyes und Le Chapelier
im Ausſchuſſe zurück.


[[271]]

6. Der Koͤnig und die Nationalver-
ſammlung nach Paris.


Bisher hatte die Nationalverſammlung die Zügel der
Macht mit feſter Hand gehalten. Ihre Stützen, der wo-
genden Hauptſtadt gegenüber, waren Bailly und Lafayette;
aber auch die große Mehrzahl der Pariſer folgte mit Ver-
trauen den Beſchlüſſen der Reichsſtände. Als die Redner
vom Palais-royal es darauf anlegten einen Sturm von
Adreſſen gegen das königliche Veto loszulaſſen, gelang
es ihnen nur in wenigen Diſtricten eine vorübergehende
Aufregung hervorzurufen. Als die Stadt Rennes durch
ihren Abgeordneten Chapelier eine Adreſſe einreichte, wo-
rin ſie alle Vetofreunde für Verräther und Feinde des Va-
terlandes erklärte, ſprach Mirabeau in ſeiner hochfahrenden
Weiſe, es müſſe jedem kleinen Neſte in Frankreich ſo gut
wie der Stadt Rennes freiſtehen Abgeſchmacktheiten vor-
zubringen, aber auch der Nationalverſammlung ſich nicht
darum zu bekümmern, und die Sache war damit abge-
than. Nun aber kam der Tag, da die Verſammlung ſich
ſelber untreu ward. Man hatte das aufſchiebende Veto
[272] im Allgemeinen genehmigt, allein ſeine Dauer noch nicht
beſtimmt. Auf Barnave’s Vorſchlag beſchloß man dieſer
Entſcheidung ſo lange Anſtand zu geben, bis die königliche
Sanction der Beſchlüſſe vom 4ten Auguſt eingegangen
wäre. War es aber weiſe oder auch nur anſtändig, Ver-
faſſungsbeſtimmungen ſo zu ſagen von dem Wohlverhal-
ten des Königs abhängig zu machen? Die königliche Ant-
wort kam; ſie rühmte den Geiſt jener Beſchlüſſe, ſprach
dabei Bedenken gegen einige Puncte in der mildeſten Faſ-
ſung aus, machte dieſe gerade nur als Bedenken, keines-
wegs als Ablehnung geltend, als z. B. die financielle
Schwierigkeit, gerade jetzt die Capitalien zurückzahlen zu
müſſen, mit welchen die Richterſtellen erkauft worden, die
Nothwendigkeit mit dem heiligen Stuhle wegen der abzu-
ſchaffenden Annaten zuvörderſt in Unterhandlung zu treten.
Am tiefſten traf die Bemerkung über den Zehenten, ſo leiſe
ſie ausgeſprochen war. Das Opfer, von Seiten der Geiſt-
lichkeit gebracht, erhielt alles Lob; allein warum den
Grundbeſitzern ein Geſchenk mit ſo vielen Millionen ma-
chen? Warum nicht lieber dieſe zum allgemeinen Nutzen
der bedrängten Staatscaſſe zuweiſen? So gerecht dieſe
Rüge war, ſie konnte nicht ungelegener kommen, Mira-
beau hatte durch ähnliche Äußerungen ſchon früher den
Verdruß der Verſammlung erregt. Man fühlte keine Nei-
gung eine Übereilung einzuſehen, die man außer Stand
zu verbeſſern war. Denn ſchon war die Kunde von die-
ſen Beſchlüſſen durch ganz Frankreich erſchollen, die kleinern
[273] Grundbeſitzer jubelten einer Ordnung der Dinge ent-
gegen, die ſolche Spenden brachte; Zurücknahme ſchien
in hohem Grade gefährlich. Statt aber einen Weg der
Vermittelung bei dem Könige zu ſuchen, rief Le Chape-
lier jenen ſchon einmal vom Verfaſſungsausſchuſſe ausge-
ſprochenen, aber damals nicht weiter erörterten gefähr-
lichen Satz zu Hülfe, welcher der Nationalverſammlung
die alleinige Entſcheidung über die Conſtitution beilegt,
und trat mit der Behauptung auf, die Sanction des Kö-
nigs bedeute in Bezug auf die Beſchlüſſe vom 4ten Auguſt
lediglich deren Bekanntmachung. Das nun war von Cha-
pelier nicht zum Verwundern, ſchmählicher war Mira-
beau’s Billigung, weil er, tiefere Überzeugungen hegend,
vorzog, ſeine Popularität zu gelegener Zeit wieder aufzu-
friſchen, indem er einen ſeiner Blitze gegen den Thron
ſchleuderte. „Die Mehrzahl von uns,“ ſprach er, „hat
geglaubt, die Prüfung der conſtituirenden Gewalt in
ihrem Verhältniſſe zum Fürſten ſey im Grunde überflüſſig
und unter ſolchen Umſtänden gefährlich. Aber dieſe Prü-
fung iſt nur überflüſſig, wenn wir Alle mindeſtens ſtill-
ſchweigend die unbeſchränkten Rechte der conſtituirenden
Gewalt vorausſetzen. Werden ſie in Zweifel gezogen, ſo
wird die Unterſuchung nothwendig, und die Hauptgefahr
beſtünde in der Unentſchiedenheit der Frage. Wohl frei-
lich ſind wir keine nackte Wilden vom Orinoko her, die
eine bürgerliche Geſellſchaft erſt bilden wollen. Wir ſind
eine alte Nation und ohne Zweifel zu alt für unſer Zeit-
Franzöſiſche Revolution. 18
[274] alter, wir haben eine gegebene Regierung, einen gegebe-
nen König, gegebene Vorurtheile. Man muß dieſe Dinge
möglichſt der Revolution anbequemen, plötzliche Über-
gänge verhüten. Man muß es bis zu dem Augenblicke,
da aus dieſer Duldung eine praktiſche Verletzung der
Grundſätze der nationalen Freiheit hervorginge, ein völli-
ger Misklang in der geſellſchaftlichen Ordnung. Sobald
zwiſchen der alten Ordnung der Dinge und der neuen eine
Kluft entſteht, da gilt es den Sprung wagen, den Schleier
lüften und — vorwärts!“ Man hätte, fügte er hin-
zu, nicht nöthig gehabt, jene Beſchlüſſe dem Könige zur
Sanction vorzulegen, denn ſie ſind keine Geſetze, ſie gehen
theils die Verfaſſung an, theils ſind ſie Ausflüſſe der
Aufopferung von Privatintereſſen. Da die Vorlage aber
einmal geſchehen iſt, bringt er die Sendung des Präſiden-
ten an den König in Antrag, mit der Erklärung daß die
Verſammlung die unverzügliche Bekanntmachung ihrer Be-
Sept. 18.ſchlüſſe erwarte. Robespierre ſprach: „Bedarf denn die
Nation für die Verfaſſung eines anderen Willens als des
ihrigen?“ Der Juriſt Rewbell, Abgeordneter des Wahl-
bezirks von Colmar und Schlettſtadt, wunderte ſich daß
man ſo viel Aufhebens von den Lehnsrechten fremder Für-
ſten im Elſaß mache, Fürſten, die ſich ſtets an die Mini-
ſter wenden, ſtatt an die Nation. Nach zwei Tagen er-
Sept. 20.folgte die königliche Beſtätigung ohne Vorbehalt. Derge-
ſtalt ward es dem Könige verwehrt, auch nur das erſte Mal
von ſeinem verkümmerten Veto Gebrauch zu machen.
[275] Dieſes Veto aber dehnte man nun großmüthig bis auf die
dritte Legislatur aus, indem man unter Legislatur denSept. 21.
Zeitraum von zwei Jahren verſtand, über welchen die
Wirkſamkeit derſelben Volksvertreter nicht hinausgehen
darf. Ein vom Könige verworfener Geſetzvorſchlag darf
in derſelben Legislatur nicht wieder vorgelegt werden.
Wäre er aber in drei einander folgenden Legislaturen in
derſelben Faſſung vorgelegt, ſo wird die königliche Sanc-
tion als wirklich erfolgt betrachtet.


Der über die Krone erfochtene Triumph ſchadete der
Freiheit zwiefach. Die Redner vom Palais-royal rühm-
ten ſich der Bekehrung der Nationalverſammlung zu dem
von ihnen längſt verfochtenen politiſchen Glaubensbekennt-
niß, und die Abgeordneten von gemäßigten Grundſätzen
fingen an in abgeſonderten Kreiſen zu berathen, ob nicht
der Krone durch irgend eine außerordentliche Maßregel
aufzuhelfen ſey. Unter dieſen war der treugeſinnte Ma-
louet beſonders thätig; man ſuchte den alten Plan hervor,
die Verſammlung nach Tours oder Soiſſons zu verlegen,
ein untüchtiger, dermalen ganz unausführbarer Behelf,
welchen der König mit Recht verwarf. Unglücklicher Weiſe
glaubt man gern, wenn recht lange berathſchlagt iſt, daß
dann doch etwas geſchehen müſſe. Ludwig gab dem Rathe
Beifall, das Regiment Flandern nach Verſailles zu ver-
legen. Das hieß die Schreier abermals zu der Verdäch-
tigung reizen, daß den Volksvertretern Gewalt geſchehe,
es hieß den König dürftig ſchützen, wenn etwas Ernſtes
18*
[276] im Werke war. Das Regiment zählte nur 1000 Mann,
und wer ſchützte denn dieſe vor der verführeriſchen Stimme
der nicht mehr abzuläugnenden Revolution? Gewiß ein
klägliches Palliativ, während man darauf beharrte, den
einzigen Mann, der, wenn Rettung möglich war, hätte
retten können, der ſo eben gezeigt hatte daß er auch ver-
derben könne, dieſen nicht zu wollen. Was Mirabeau
durch die Macht ſeines Weſens vermöge, offenbarte er in
dieſen Tagen, als der ewige Unglücksbote Necker wieder
Sept. 24.eintrat, meldete, um das Äußerſte, einen Bankerutt zu ver-
meiden, ſey eine äußerſte Anſtrengung nöthig; er verlangte
den vierten Theil von jedem reinen Jahreseinkommen, als
außerordentliche Steuer, ein für alle Male in Terminen
zu entrichten, deren letzter der 1ſte April 92 ſeyn ſolle.
Tagelöhner ſind frei, eben ſo jedes Einkommen unter
40 Livres; übrigens ſoll keine Nachforſchung, auch kein
Eid ſtattfinden, eine einfache ſchriftliche Erklärung genügt.
Necker rechnete auf über 400 Millionen; er ſelbſt bot
100,000 Livres als ſeinen Antheil an. Allerdings eine
ungeheure Anmuthung an Abgeordnete, die mit der Hoff-
nung erſchienen waren, die Laſten des Volks zu vermin-
dern; aber Necker, ſonſt ſo unſicher, war kühn auf dem
Felde ſeiner Kunſt. In dieſer großen Angelegenheit hat
Mirabeau drei Mal geredet; niemals erſcheint ſein Genie
erhabener als wenn er ſeine grimmige Augenbraue,
wie ſein Vater es nannte, den Vorurtheilen einer ganzen
Verſammlung entgegenſtemmt. Seine Meinung war,
[277] man könne Neckern nicht nachrechnen, habe überhaupt keine
Zeit mit Berathungen zu verlieren, darum müſſe man dem
Manne des Vertrauens von ganz Frankreich volles Ver-
trauen ſchenken, ſeinen Plan annehmen, ohne ihn zu ver-
bürgen. Das Lob Neckers, reichlich und in edler Haltung
geſpendet, hatte aus dieſem Munde doppelten Werth.
Mirabeau verließ den Saal, um im Auftrage der Ver-
ſammlung ein ſeiner Anſicht entſprechendes Decret zu ent-
werfen. Während ſeiner Abweſenheit ging die Debatte
fort und als er wieder eintrat, waren manche Aushülfen
vorgeſchlagen, Mirabeau’s Entwurf ward angefochten,
von Manchen aus Mistrauen gegen den Urheber. Mira-
beau hat oft, wie Andere thaten, geſchriebene Reden auf
die Bühne gebracht, nur daß ſein innerer Drang ihn ge-
wöhnlich nicht lange bei dem Papier feſt hielt. Jetzt
ſchwang er ſich auf die Tribune, den unvorhergeſehenen
Sturm nieder zu kämpfen.


„Meine Herren! Inmitten dieſer ſtürmiſchen Debat-
ten — ſollte es mir wohl gelingen durch eine ganz kleine
Anzahl von Fragen Licht in die Berathung zurückzuführen?
Würdigen Sie mich, meine Herren, einer Antwort. Hat
nicht der Finanzminiſter Ihnen das ſchrecklichſte Gemälde
unſerer gegenwärtigen Lage gegeben? Hat er Ihnen nicht
geſagt daß jeder Verzug die Gefahr vermehrt? daß ein
Tag, eine Stunde, ein Augenblick den Tod bringen kann?
Haben wir einen Plan an die Stelle des von ihm vorge-
ſchlagenen zu ſetzen?“ — Ja! rief hier Einer aus der Ver-
[278] ſammlung. — „Ich beſchwöre den Herrn, der hier Ja ge-
rufen hat, zu erwägen daß ſein Plan nicht bekannt iſt;
daß man Zeit bedarf um ihn zu entwickeln, zu unterſuchen,
aus einander zu ſetzen; daß, könnten wir ihn auch gleich
jetzt berathen, doch möglicher Weiſe ſein Urheber ſich ge-
täuſcht hat; daß, möge er jeden Irrthum vermieden haben,
man doch glauben könne daß er ſich irrte; daß wo alle
Welt Unrecht hat, alle Welt wieder Recht hat; daß alſo
möglicher Weiſe der Urheber dieſes Plans, ſo ſehr er
Recht hat, doch von aller Welt Unrecht bekomme, weil das
größte Talent der öffentlichen Zuſtimmung bedarf, um über
die Umſtände zu triumphiren. Auch ich halte Herrn
Neckers Vorſchlag nicht für den beſtmöglichen, aber der
Himmel bewahre mich daß ich unter ſo kritiſchen Umſtän-
den nicht meine Vorſchläge mit den ſeinen meſſe. Ver-
geblich würde ich die meinen für vorzüglicher halten; man
wetteifert nicht in einem Augenblicke mit einer wunderba-
ren Volksgunſt, durch glänzende Verdienſte erworben, mit
einer langen Erfahrung, mit dem Rufe des erſten bekann-
ten Finanztalents, und wenn man Alles ſagen ſoll, mit
Zufälligkeiten, welche einer Beſtimmung, wie ſie keinem
andern Sterblichen zu Theil geworden iſt, das Daſeyn
gaben.“


„Wir müſſen alſo auf Herrn Neckers Plan zurückkom-
men. Aber haben wir die Zeit ihn zu prüfen, ſeine Grund-
lagen zu erforſchen, ſeine Berechnungen zu beglaubigen?
Nein, nein, tauſendmal nein! Unbedeutende Fragen, ge-
[279] wagte Vermuthungen, ein unſicheres Betaſten, das iſt Al-
les, wozu wir es in dieſem Augenblicke bringen können.
Was werden wir alſo vollbringen mit einem Vorbehalt
längerer Erwägung? Wir werden den rechten Augenblick
verfehlen, werden unſere Eigenliebe erhitzen, um Verände-
rungen an einem Plane zu beſchließen, in deſſen Zuſam-
menhang wir nicht eingedrungen ſind, werden durch un-
ſere unbeſonnene Einmiſchung den Einfluß eines Miniſters
ſchwächen, deſſen Geltung in den Finanzen größer als die
unſere iſt und ſeyn muß. Gewiß, meine Herren, das
zeugte weder von Weisheit noch von Vorſicht! Aber zeugt
es denn mindeſtens von Treu und Glauben?“


„Ja, wären nicht ſo feierliche Erklärungen gegeben,
die unſere Ehrfurcht vor der öffentlichen Treue, unſern Ab-
ſcheu vor dem ehrloſen Wort Bankerutt verbürgen, ſo
würde ich es wagen, die geheimen und vielleicht ach! uns
ſelbſt unbewußten Beweggründe zu erſpähen, welche in
uns dieſe unbedachte Scheu vor einer öffentlichen Hand-
lung des Vertrauens erwecken, die, wenn nicht ſchnell
vollbracht, ſicherlich unwirkſam und wahrhaft zwecklos
iſt. Dann würde ich denjenigen, welche ſich vielleicht
mit dem Gedanken, die öffentliche Treue zu brechen, aus
Furcht vor übermäßigen Opfern, aus Scheu vor Steuern,
befreunden möchten, zurufen: Was iſt denn der Bankerutt
anders als die grauſamſte, die unbilligſte, die ungleichmä-
ßigſte und unglückſeligſte aller Steuern? — Meine Freunde,
höret ein Wort, ein einziges Wort.“


[280]

„Zwei Jahrhunderte von Verunteruungen und Erpreſ-
ſungen haben den Abgrund gegraben, der unſer König-
reich verſchlingen will. Man muß ihn ausfüllen, dieſen
furchtbaren Abgrund. Wohlan denn! hier iſt die Liſte der
franzöſiſchen Grundeigenthümer. Treffet eine Auswahl
der reichſten, um weniger Bürger zu opfern. Aber wählt
aus; denn muß es nicht ſo ſeyn daß eine kleine Zahl um-
komme, um das ganze Volk zu erretten? Gut denn.
Zweitauſend ſolcher Notabeln beſitzen was dazu gehört
das Deficit auszufüllen. Führt die Ordnung in Eure Fi-
nanzen zurück, Glück und Friede in das Reich. Stoßt ſie
nieder, ſchlachtet mitleidslos dieſe traurigen Opfer, ſtürzet
ſie in den Abgrund und er wird ſich ſchließen. — Ihr be-
bet ſchaudernd zurück? O wenig folgerechte Männer, klein-
müthige Männer, die Ihr ſeyd! Seht Ihr denn nicht, daß
wenn Ihr den Bankerutt beſchließt, oder was noch verhaß-
ter iſt, ihn herbeiführt ohne ihn zu beſchließen, Ihr Euch
mit einem viel größeren Verbrechen befleckt und unbegreifli-
cher Weiſe mit einem Verbrechen ohne Nutzen; denn jenes
fürchterliche Opfer würde mindeſtens dem Deficit ein Ende
machen. Glaubt Ihr denn wirklich, daß wenn Ihr nichts
bezahlet, Ihr auch nichts mehr ſchuldig ſeyd? Glaubt Ihr,
daß die Tauſende, die Millionen Menſchen, welche in
einem Augenblick durch den fürchterlichen Ausbruch oder
durch ſeine Gegenſtöße Alles einbüßen was den Troſt
ihres Lebens und vielleicht ſeine einzige Stütze ausmachte,
Euch die Früchte Eurer Miſſethat werden ruhig genießen
[281] laſſen? Ihr ſtoiſche Zuſchauer der nicht zu berechnenden
Übel, welche dieſe Kataſtrophe über Frankreich aus-
ſpeien wird, gleichgültige Egoiſten, die Ihr wähnen
könnet, jene Zuckungen der Verzweiflung und des Elends
würden, wie ſo viele andere, raſch vorüberſtreichen, um ſo
raſcher, je heftiger ſie geweſen ſind; ſeyd Ihr ſo gewiß,
daß ſo viele brodloſe Menſchen Euch ruhig werden die Ge-
richte durchkoſten laſſen, deren Zahl und Köſtlichkeit keine
Schmälerung duldet? Nein, Ihr werdet zu Grunde gehen
und aus dem allgemeinen Brande, welchen Ihr ohne Schau-
der entzündetet, wird der Verluſt Eurer Ehre auch keinem
einzigen Eurer ſcheußlichen Genüſſe Errettung bringen.“


„Seht, dahin gehen wir. Ich höre von Vaterlands-
liebe reden, vom Aufſchwunge, vom Aufrufe der Vater-
landsliebe. Ach entweiht nicht die Worte Vaterland und
Vaterlandsliebe. Iſt ſie denn ſo hochherzig, die Kühnheit,
einen Theil ſeines Einkommens hergeben um alle ſeine
Habe zu retten? Nein, meine Herren, es iſt ein einfaches
Rechenexempel, und wer da Anſtand nimmt, kann
den Unwillen lediglich durch die Verachtung entwaffnen,
welche ſeine Dummheit einflößen muß. Ja, meine Her-
ren, es iſt der gemeinſte Menſchenverſtand, die alltäglichſte
Einſicht, der roheſte Eigennutz, den ich aufrufe. Ich ſage
Euch nicht mehr wie ehemals wohl: Wollet Ihr die Er-
ſten ſeyn, die der Welt das Schauſpiel eines Volks geben,
welches ſich verſammelt, um den öffentlichen Glauben zu
brechen? Ich ſage Euch nicht mehr: Welchen Anſpruch
[282] habt Ihr auf Freiheit, welche Mittel zu ihrem Schutze,
wenn Eure erſten Schritte die Schandbarkeiten der verdor-
benſten Regierungen hinter ſich laſſen? wenn Eure Ver-
faſſung nicht durch die Würdigkeit ihrer Stifter überwacht
und verbürgt wird? Was ich Euch ſage iſt: Ihr werdet
Alle in den gemeinſamen Untergang hineingezogen werden
und für das Opfer, welches die Regierung von Euch ver-
langt, ſpricht kein Intereſſe lebhafter, als das Eurige.“


„Stimmt alſo für dieſe außerordentliche Steuer, und
möge ſie ausreichen! Stimmt dafür, weil wenn Ihr auch
Zweifel, dunkle und unbeſtimmte, über das ergriffene
Mittel haben möget, Ihr doch keine über ihre Nothwen-
digkeit und über unſer Unvermögen habt, eine andere,
mindeſtens unmittelbare Aushülfe an ihre Stelle zu ſetzen.
Stimmt dafür, weil die öffentlichen Verhältniſſe keine
Verzögerung dulden und wir für jeden Aufſchub verant-
wortlich ſeyn würden. Hütet Euch Friſt zu verlangen,
das Unglück gewährt keine Friſten. Endlich, meine
Herren, (und hier benutzt der Redner einen neuerlichen
Anlaß, da man ihn ſelber misverſtändlich mit einer tu-
multuariſchen Drohung im Palais-royal, gegen die
Freunde des Veto gerichtet, in Verbindung brachte, und ein
Mitglied der Nationalverſammlung im erſten Schreck ihn
als Catilina bezeichnete) Ihr habt kürzlich auf Anlaß
eines lächerlichen Antrags im Palais-royal, eines ſpaß-
haften Aufſtandes, der nur in der reizbaren Einbildung
oder in den verkehrten Planen einiger Übelgeſinnten Be-
[283] deutung hatte, die tollen Worte vernommen: Catilina iſt
vor Roms Thoren und Ihr berathſchlagt? Und wahrlich,
es gab damals in unſerer Nähe keinen Catilina, keine Ge-
fahr, keine Faction, kein Rom. Aber heute iſt der Banke-
rutt, der ſcheußliche Bankerutt da, er droht zu verſchlingen,
Euch, Euer Eigenthum, Eure Ehre, und Ihr berath-
ſchlagt!“


Auf dieſe Worte erſcholl ein Sturm des Beifalls und
der Bewunderung, die Verſammlung, wider Willen fort-
geriſſen, beugte ſich vor dem Genie, welches ſie nicht liebte,
dem ſie mistraute; die ſchlichte Faſſung des Beſchluſſes,
welche Mirabeau jetzt entwarf: „In Betracht der Dring-
lichkeit der Umſtände und nach Vernehmung des Finanz-
berichtes, nimmt die Nationalverſammlung den Plan des
Finanzminiſters mit Vertrauen an,“ begegnete keinem
Widerſpruche mehr.


Dagegen zogen andere finſtere Wolken auf. Seit län-
ger trug man ſich in der Hauptſtadt mit dem Gedanken,
man müſſe den König und ſeine Familie einladen bei ſei-
nen guten Pariſern zu wohnen; kein beſſeres Mittel gebe
es gegen den Brodmangel. Dieſer drohte freilich, war
aber doch niemals noch wirklich eingetreten, und man
hätte ſich vielleicht beruhigt ohne eine vom Hofe began-
gene, ſchwer beſtrafte Unbeſonnenheit. Das Regiment
von Flandern war wirklich in Verſailles eingerückt; es
ſollte, um mit den Gardes-du-corps Freundſchaft zu
ſchließen, feſtlich von dieſen bewirthet werden. Der präch-
[284] tige Opernſaal ward dazu eingeräumt. Alle Logen füllten
ſich am 1ſten October mit Zuſchauern. Die Officiere ta-
felten auf der Bühne, die Gemeinen ſah man reichlich im
Parterre bewirthet. Alles überließ ſich kameradſchaftli-
cher Freude, als die Erſcheinung der Königin, ihren Dau-
phin an der Hand, dem Feſte plötzlich einen politiſchen
Charakter gab. Schon waren die Gemüther ſehr erhitzt,
als auch der König, eben von der Jagd zurückgekehrt, in
den Saal trat. Nun ſpielte die Muſik das bekannte be-
deutungsvolle Lied: „O Richard, o mein König, die
ganze Welt verläßt Dich!“ In das Lebehoch für den
König miſchte ſich manch ungeſtümer Ausruf gegen die
Nationalverſammlung ein. Es iſt nicht wahr daß man
die dreifarbige Cocarde beſchimpft, mit Füßen getreten hat,
allein die Damen nahmen ihre weißen Bänder ab und
verwandelten ſie in Cocarden, vertheilten dieſe, und der
König ließ es geſchehen daß man die weiße Cocarde auch
die folgenden Tage in dem Schloſſe trug, in welchem er
ſelbſt die dreifarbige führte.


Von dieſem Auftritte verbreiteten ſich die übertrieben-
ſten Gerüchte in die Hauptſtadt und der Pariſer kam da-
rauf zurück, es tauge nimmermehr daß ſein König ferner
da draußen in Verſailles hauſe, ohne die entſetzliche Noth
der hier bei jedem Tagesanbruche vor den Bäckerläden
kämpfenden Menge auch nur zu kennen. Viele fürchteten,
man werde den König eheſtens überreden, noch weiter von
Paris fortzureiſen.


[285]

Mounier war gerade Präſident der Nationalverſamm-
lung, die durch dieſe Auszeichnung einem Verdienſte hul-
digte, welches ſie neuerlich, als es Alles galt, im Stiche
gelaſſen hatte; es war der 5te October, Morgens zwiſchen
11 und 12, als Mirabeau dem Präſidenten zuraunte:
„40,000 Pariſer rücken auf uns zu, heben Sie die Sitzung
auf, gehen Sie in das Schloß, ſtatten Sie Bericht ab.“
Mounier hat ſpäterhin in dieſer Mittheilung den Beweis
einer ſtrafbaren Mitwiſſenſchaft von Seiten Mirabeau’s
erblickt, und nichts als Hinterliſt in ſeinem Rathe: er
ſpricht ſich in einer Druckſchrift darüber aus. Allein Mou-
nier geht irre; der gewiſſenhafteſte der franzöſiſchen Ge-
ſchichtſchreiber der Revolution, Joſeph Droz, tritt aus ent-
ſcheidenden Gründen dem Urtheile der Nationalverſamm-
lung bei, welche nach angeſtellter gerichtlicher Unterſuchung
keinen Grund zur Anklage gegen Mirabeau fand. Zu der-
ſelben Zeit, da Mirabeau warnte, verbreitete ſich die Nach-
richt von dem Anzuge in ganz Verſailles, und es lag ſehr
nahe eine Aufhebung der Sitzung zu beſchließen, um die
Nationalverſammlung vor einer Herabwürdigung durch
aufgezwungene Deputationen und eindringende Pöbelmaſ-
ſen zu retten. Mounier wandte eine unnütze Standhaftig-
keit ſtatt der nöthigen Umſicht an, indem er fortfuhr
Sitzung zu halten. In Paris aber ſtand es mit den Pla-
nen und den Thaten alſo.


Die Freunde der Anarchie oder, wenn man will, der
Republik beſchloſſen, die wieder erwachte Misſtimmung
[286] auszubeuten, um den König und, was damit zuſammen-
hing, die Nationalverſammlung nach Paris zu verſetzen.
Beide waren ihnen in Verſailles zu unabhängig. Allein
ſolange die Nationalgarde treu blieb, hatte eine Bewe-
gung in der Hauptſtadt wenig Ausſicht auf ſolch ein Ge-
lingen. Man mußte dieſe zu gewinnen trachten. Wirk-
lich drangen die Aufwiegler bei den beſoldeten Com-
pagnien, ſoweit ſie aus jenen franzöſiſchen Garden beſtan-
den, durch. Dieſe meuteriſche Truppe richtete ſchon Mitte
Septembers an Lafayette die Bitte nach Verſailles rücken
und von ihrem alten Rechte die Wachen im königlichen
Schloſſe zu beziehen Gebrauch machen zu dürfen. Offenbar
war das nur ein Vorwand und Lafayette redete ihnen die-
ſen damals aus. Allein der ſtille Plan blieb, bildete ſich
aus und auf die Nachricht vom Banket im Opernhauſe
wuchſen ihm plötzlich Flügel. Am Sonntag den 4ten Oc-
tober hörte man Soldaten ſich laut verabreden: „Morgen
geht’s vor ſich! Weiber ſollen voran; ſie ſind ſo gut wie
eine Verſtärkung: denn wer wird auf Weiber ſchießen?
und wer darf nach Brod ſchreien, wenn nicht Weiber?“
Camille Desmoulins forderte Sonntags öffentlich zum
Zuge nach Verſailles für den nächſten Morgen auf. Das
hat die gerichtliche Unterſuchung bei dem Stadtgerichte
völlig ins Klare gebracht.


Oct. 5.Wie verabredet, ſo gethan. Mit Tagesanbruch bilden
ſich Weiberhaufen, beſonders in den Vorſtädten, ziehen
um 7 Uhr auf den Greveplatz, ſchreien nach Brod, dazu be-
[287] waffnete Männer. Nun wird zwar gleich vom Stadthauſe
in die Diſtricte geſchickt, die Nationalgarde aufgeboten,
allein Gewalt mag man gegen die Weiber nicht brauchen,
und ſo gelingt es den Rotten in das Stadthaus einzubre-
chen, ſich des Waffenvorraths dort zu bemächtigen. End-
lich kommt Bewegung in den Haufen; ein junger Mann,
Maillard, der ſich bei Eroberung der Baſtille ausgezeich-
net, tritt an die Spitze, verſpricht die Menge nach Ver-
ſailles zu führen, läßt Weiber und Männer, wohl 6000,
unter Trommelſchlag antreten. Hernach hat er vor Ge-
richt ausgeſagt, er habe das, weil er den Ruf: nach
Verſailles! gehört, lediglich zu dem Zwecke gethan, das
Stadthaus zu befreien. Schon ſind ſie fort, da rücken von
allen Seiten Nationalgarden auf den Greveplatz: es iſt
für die Ordnung hier nichts mehr zu thun, allein ſie ſel-
ber ſchließen der Bewegung ſich an; die beſoldeten Com-
pagnien führen das Wort. Als Lafayette herbeikommt,
treten ihn Deputirte aus ihrer Mitte an, verlangen drin-
gend, nach Verſailles geführt zu werden, denn der Kö-
nig müſſe nach Paris. Deſſen aber weigerte ſich Lafayette,
widerſtand Stunden lang, auch als ſein Leben bedroht
ward; erſt als ihm der Gemeinderath nicht allein die
Vollmacht, ſondern den Befehl dazu ertheilte und ihm
zugleich vier ſeiner Mitglieder zugeſellte, um die Wünſche
der Hauptſtadt dem Könige vorzutragen, gab er nach,
doch unter der Bedingung daß die Hälfte der freiwilligen
Nationalgarde ihn begleite. Denn mit ihrem Beiſtande
[288] hoffte er den Frevel der beſoldeten Compagnien in Zaum
zu halten. Es war 5 Uhr Nachmittags als er aufbrach.
Aber ſchon um 4 Uhr fing das Weiberheer an in Verſailles
einzurücken. Eben ſtand die Nationalverſammlung im Be-
griffe den König durch eine Deputation erſuchen zu laſſen,
er möge die Genehmigung der Menſchenrechte, welche nur
bedingt gegeben war, unbedingt ohne Aufſchub ertheilen,
als die Meldung kam: „die Weiber ſind angekommen,
verlangen Zulaß.“ Er ward gewährt, und Maillard trat
an ihrer Spitze vor der Nationalverſammlung als Redner
auf, mit ſchamloſer Übertreibung des Brodmangels und
der Beſchwerden gegen die Gardes-du-corps, als Be-
ſchimpfer der Nationalcocarde. Nun zeigte es ſich, wie
weiſe es geweſen wäre, der Sitzung bei Zeiten ein Ende
zu machen, ſtatt die Nationalverſammlung dem Geſpötte
preiszugeben. Denn nicht nur daß die Weiber oben die
Gallerien erfüllten, man ſah deren aus der Hefe des
Volks, untermiſcht mit bewaffneten Männern, neben den
Abgeordneten Platz nehmen, man mußte ihre laute Un-
terhaltung mit denen da oben ertragen. Vergeblich das
Bemühen Mirabeau’s, der Donner ſeiner Stimme ſtellte
nur für Augenblicke die Ordnung wieder her. Was war
zu thun? Der Präſident befand ſich mit vielen Abgeord-
neten bei dem Könige, um ihm die bedrängte Lage der
Hauptſtadt zu vergegenwärtigen, und der Vicepräſident,
Biſchof von Langres, wußte keinen andern Rath als den-
jenigen, der von Anfang her der beſte geweſen wäre: die
[289] Aufhebung der Sitzung. Der Sitzungsſaal aber blieb im
Beſitze der Eindringlinge.


Nicht ſo leicht als mit den Abgeordneten der Nation
war mit dem königlichen Schloſſe und ſeinen Hütern fertig
zu werden. Die berittenen adlichen Garden (gardes-du-
corps),
500 an der Zahl, das Regiment Flandern, die
Schweizergarden, die verſailler Nationalgarde hatten noch
gerade zu rechter Zeit ihre Stellung zum Schutze der
Schloßzugänge eingenommen, und Maillards Heer nahm
ſich wohl in Acht mit dieſen anzubinden. Nur einige Flin-
tenſchüſſe auf einzelne Poſten fielen, vereinzelte Gardes-
du-corps wurden verwundet. Um ſo eifriger erforſchte
man in friedlicher Annäherung die Stimmung der könig-
lichen Kriegsmacht und brachte bald heraus daß im Regi-
ment Flandern ein zweifelhafter Wille herrſche, die ver-
ſailler Nationalgarde aber feſt entſchloſſen ſey, gegen ihre
pariſer Brüder nicht zu kämpfen. Schon unterhandelte
auch der König mit abgeordneten Weibern, gab erſt münd-
lich, dann ſchriftlich die Zuſicherung dem Brodmangel ab-
zuhelfen, während von draußen her weibliche Stimmen
zu ihm drangen, die den Kopf der Königin verlang-
ten. Beim Eintritte der Dunkelheit ſah man die meiſten
Truppen in ihre Quartiere abziehen. Allein es war
das nur ein anſtändiges Mittel ſich der verdächtigen
verſailler Bürgerbewaffnung zu entledigen, und man
zog die Gardes-du-corps und Flandern gleich wieder
heran.


Franzöſiſche Revolution. 19
[290]

Spät um 10 Uhr berief Mounier durch Trommelſchlag
die Nationalverſammlung, zeigte ihr an, der König habe
die Menſchenrechte beſtätigt. Da ging — es war gegen
Mitternacht — die Meldung Lafayette’s ein von ſeiner
und ſeines Heeres Ankunft. Mounier war aufs Äußerſte
betroffen und verbarg in der erſten Bewegung ſeinen Arg-
wohn gegen Lafayette’s Abſichten nicht einmal vor dieſem
ſelber. Jetzt aber riethen, wie ſchon bei dem erſten An-
zuge der Weiber, mehrere Miniſter dem Könige ſich mit
der bewaffneten Macht nach Rambouillet zu entfernen:
denn wenn auch die pariſer Nationalgarde die Überſiede-
lung des Königs in die Hauptſtadt begehrte, war Wider-
ſtand unmöglich. Wozu aber die Auflehnung derſelben
gegen ihren General und überhaupt der Zug hieher als
um dieſes einen Zweckes willen? Auch legten die Abge-
ordneten von Paris, als ſie nun mit Lafayette vor den
König traten, die Bitten der Hauptſtadt ausſprachen,
am meiſten Gewicht auf den Punct daß der König dem
franzöſiſchen Volk einen Beweis ſeiner Liebe dadurch geben
möge, daß er fortan den ſchönſten Palaſt von Europa, in-
mitten der größten Stadt ſeines Reiches, bevölkert von
dem zahlreichſten Theile ſeiner Unterthanen, zur Wohnung
nehme. Ludwig zwar glaubte mit einer allgemeinen güti-
gen Zuſage, die Sache in Erwägung ziehen zu wollen,
davon zu kommen, und verwarf den Rath einer ſchnellen
verſtohlenen Abreiſe jetzt um ſo entſchiedener, als Lafayette
ihm die Verſicherung gab, er habe von ſeiner National-
[291] garde das eidliche Verſprechen des völligſten Gehorſams
gegen König und Nationalverſammlung erhalten. Die
unbeſonnene Zuverſicht Lafayette’s auf leere Worte ging ſo
weit, daß er den König bewog, den franzöſiſchen Garden
die alten Wachtpoſten im Äußeren des Schloſſes wieder
zu vertrauen. Der erſchöpfte Fürſt ging um 2 Uhr zurOct. 6.
Ruhe, auch die Nationalverſammlung ließ den Gedanken
an eine Nachtſitzung fahren und machte müden Pari-
ſern und Pariſerinnen Platz, die im Saale ſich zum
Schlafen einrichteten. Auch Lafayette ſuchte endlich ſein
Quartier in der Stadt Verſailles; er will dort die ganze
Nacht wach geblieben ſeyn, nur drei Viertelſtunden den mat-
ten Körper geſtreckt haben. Immerhin! Der gutmüthig ver-
trauende Mann ward wie ein Kind von den Ereigniſſen über-
raſcht. Denn früh Morgens 6 Uhr drang ein bewaffneter
Pöbelhaufe durch ein Paar Eingänge in den Palaſt ein,
ohne daß die Wachen, franzöſiſche Garden, Widerſtand
leiſteten. Es war zunächſt auf die ſeit den Auftritten im
Opernſaale ſo tödtlich gehaßte Adelgarde abgeſehen, und
nicht lange, ſo erblickte man zwei Gardes-du-corps erſchla-
gen, ihre Köpfe auf Piken geſteckt. Der Haufe drang
weiter die Haupttreppe hinauf gerade zu den Gemächern
der Königin. Hier traten ihnen aus den Vorzimmern ein-
zelne Gardes-du-corps entgegen, mehr abmahnend als ab-
wehrend, denn der König hatte ihnen vor Schlafengehen
jeden ernſtlichen Gebrauch ihrer Waffen wiederholt unter-
ſagt. Die aufgeſchreckte Königin flüchtete kaum bekleidet
19*
[292] mit ihren Frauen zu den Zimmern des Königs, welcher
ſelbſt gegangen war, ſie und die königlichen Kinder auf-
zuſuchen; es dauerte eine Weile ehe man ſich zuſammen-
fand. Von nun an ſammelten ſich die im Schloſſe befind-
lichen Gardes-du-corps zur Vertheidigung der Gemächer
des Königs, allein gebunden durch Befehle wie ſie waren,
fiel einer nach dem andern in die Hände des Pöbels, ward
in den untern Hof hinabgeſchleppt, und ohne die lange
Berathung über die Art ihrer Hinrichtung wären ſie alle
verloren geweſen. Endlich aber eilte, freilich eine volle
Stunde zu ſpät, Lafayette mit Truppen herbei, unter-
ſtützte ſogleich die franzöſiſchen Garden in ihrem Bemühen,
die dem Tode Geweihten zu retten, und vollbrachte es.
Der Ruf erſcholl: Gnade den Garden! Nun aber wollte
die Menge den König ſehen. Er trat auf den Balcon, bat
um Schonung für ſeine Gardes-du-corps. Aber als Preis
der Gnade tönte ihm das Geſchrei entgegen: „Der König
nach Paris!“ Zugleich verlangte man nach der Königin.
Die muthige Tochter Marien Thereſiens erſchien mit ih-
ren Kindern auf dem Balcon, Lafayette ſchützend neben
ihr. Es ward eilf Uhr Morgens, mancher Rath war
drinnen gepflogen und wieder verzichtet, als der König
noch einmal den Balcon betrat und dem Volk erklärte: er
ſey entſchloſſen nach Paris zu ziehen. Alsbald ertönte ein
Freudenfeuer aus allen Gewehren. Man vernahm im
Sitzungsſaale der Nationalverſammlung, nur ein Paar
hundert Schritte von da, ſchnell was das bedeute, und
[293] auf den Vorſchlag von Mirabeau und Barnave gab die
Verſammlung die Erklärung ab, ſie ſey unzertrennlich von
der Perſon des Königs. Der doppelte Zweck des Zuges
nach Verſailles war erreicht.


Nur kurze Friſt und es ging ſchon fort. Sieben
lange Stunden, von zwei Uhr bis neun, verbrachte der
König im Wagen, begleitet von ſeiner Familie, um-
ſtrömt von einer verworrenen Maſſe von 40,000 eifernden,
ſchießenden, manchmal höhnenden, drohenden Menſchen,
welche jede raſchere Bewegung hinderten. Oft auch ſchol-
len Jubelgeſänge dazwiſchen und man beglückwünſchte ſich
wegen der nun überſtandenen Hungersnoth mit dem häufig
wiederkehrenden Geſange: „Hier bringen wir den Bäcker,
die Bäckerin und den kleinen Bäckerjungen.“ Das Ge-
wühl ward undurchdringlich als man um ſieben die Bar-
rieren der Hauptſtadt erreichte. Man brauchte zwei Stun-
den von da bis zum Stadthauſe. Hier hatte der König
noch die Glückwünſche des Gemeinderathes zu überſtehen,
fuhr dann ab in die öden Gemächer der ſeit ſo lange un-
bewohnten, noch gar nicht für ſeinen Empfang eingerich-
teten Tuillerien, wo er fortan unter dem Schutze der
hauptſtädtiſchen Nationalgarde leben ſollte. Die adliche
Garde war ſchon entlaſſen. Für den Lebensretter der kö-
niglichen Familie galt damals Lafayette; von dieſem
Retter aber wußte man daß er zwar aus Pflichtgefühl
ſeinem Könige treu diene, jedoch im Herzen Republi-
kaner ſey.


[294]

Oct. 9.Als der König nun ſeinen freien Entſchluß, fortan in
der Hauptſtadt zu reſidiren, öffentlich kundgab, erwählte
die Nationalverſammlung die Reitbahn der Tuillerien, da
wo jetzt die Straße Rivoli ſteht, zu ihrem künftigen Sitze.
Weil aber die Einrichtung Zeit erforderte, eröffnete man
Oct. 19.vorläufig im erzbiſchöflichen Palaſt die Sitzungen. Keine
800 Mitglieder fanden ſich zuſammen: 120 Mitglieder
nahmen ihre Entlaſſung, unter ihnen Mounier und Lally-
Tollendal; Bergaſſe blieb ohne Anzeige weg. Man ſoll
aber am Vaterlande und an der Menſchheit nie verzwei-
feln, nie ſo hoch ſich gegen beide ſtellen, daß man ſie tief
unter ſich erblickte, nie ſo gering von ſich denken, als ob
man nichts mehr nütze, wenngleich weit in der Minder-
zahl ſtehend. Lafayette ſchrieb mit rührender Wärme an
Mounier, vermochte ihn jedoch nicht umzuſtimmen. Um
ſo entſchiedener beſtand Lafayette auf der Entfernung des
Herzogs von Orleans, welchen die öffentliche Stimme
als den Urheber der Auftritte vom 5ten und 6ten October
bezeichnete, und er mußte ſich bequemen unter dem Vor-
wande einer diplomatiſchen Sendung nach England zu gehen.


[[295]]

7. Mirabeau kaͤmpft fuͤr den Thron.


Dasſelbe Jahr 1789, ſo mächtig im Schaffen und Zer-
ſtören, begrub noch die Parlamente. Schlau benutzte man
dazu die Ferienzeit, welche regelmäßig am 7ten Septem-
ber eintrat und über zwei Monate währte, in welcher Zeit
dann bloß eine Ferienkammer in Thätigkeit war. Man
verlängerte den Parlamenten ihre Ferien auf unbeſtimmteNov.
Zeit, ließ die Ferienkammer fortarbeiten bis man mit der
neuen Gerichtsordnung fertig wäre. Vergeblich legte die
pariſer Ferienkammer gegen dieſes „Begraben bei leben-
digem Leibe“ Proteſt ein, fruchtlos verſtiegen ſich auch
die Ferienkammern der übrigen Parlamente zu bald trotzi-
gen, bald beweglichen Erklärungen. Der Stab ward ge-1790
Sept. 6. 7.

brochen und man vernahm im Volk mit Gleichgültigkeit
den Umſturz dieſer alten Rechtsgewalten, welche unvor-
ſichtig den erſten Anſtoß zur Neuerung gaben. Von der
neuen Ordnung ſtand ſo viel ſchon feſt daß in peinlichen
Sachen Geſchworene erkennen ſollten, aber nicht nach Ein-
ſtimmigkeit wie in England, ſondern nach Mehrzahl der
[296] Stimmen. Auch an die Bildung von Schiedsgerichten,
Friedensgerichten und Vergleichscommiſſionen ward die
Hand gelegt. Die Gerechtigkeit wird zwar fortfahren im
Namen des Königs verwaltet zu werden, allein der König
ernennt die Richter nicht mehr; er wird bloß das Wahl-
protocoll einſehen und wenn alle Förmlichkeiten erfüllt ſind,
erklären: „ſie ſind ernannt.“ Die Ernennung ſteht den
ſämmtlichen Wählern eines Diſtricts zu, und beſchränkt
ſich auf ſechs Jahre. Man glaubte die Volksfreiheit zu
vergrößern, indem man die Unentfernbarkeit der Richter
aufopferte.


Ebenfalls noch in dem alten Jahre ward das Schick-
ſal der Geiſtlichkeit entſchieden; man ſtellte ihre ſämmt-
lichen Güter und Einkünfte den darbenden Finanzen zur
Oct. 10.Verfügung, auf Antrag des Biſchofs von Autun Talley-
rand-Perigord. Dieſer ſchlug das Geſammteinkommen
der Geiſtlichkeit auf 150 Millionen an, davon ſollen ihr
100 vor der Hand verbleiben, bald aber werden, vermöge
des Abſterbens vieler Nutznießer von aufzuhebenden Pfrün-
den, deren 80 vollkommen ausreichen. So hat der Staat
70 Millionen jährlich gewonnen, die ein Capital von
2 Milliarden repräſentiren, welches man nach Belieben
durch Verkauf der Güter flüſſig machen kann, und für die
Pfarrer iſt beſſer geſorgt als zuvor: denn keiner von ihnen,
der nicht vom Staate mindeſtens 1200 Livres jährlich be-
ziehen wird, ſein Pfarrhaus ungerechnet. Auf dieſen Grund-
Nov. 2.lagen kam nach heftiger Debatte ein Beſchluß zu Stande.


[297]

An dieſe freundliche Finanzausſicht ſchloß ſich ein Drit-
tes an, gleichfalls noch vor dem Jahresſchluſſe vollbracht.
Letzter Zeit ging überhaupt wenig an Steuern ein, am
wenigſten von jener außerordentlichen Steuer, dem
Triumphe der Beredſamkeit Mirabeau’s, viele Barſchaf-
ten wanderten mit den Auswanderern aus, andere ver-
bargen ſich. Als Necker, ſchwer niedergedrückt von der
Lage der Dinge, ſeine Vorſchläge machte, abermals Hülfe
bei der Discontocaſſe ſuchend, verwarf die Nationalver-
ſammlung dieſe, ſetzte eine Anleihe von 80 MillionenDec. 17.
und den Verkauf von Kirchengütern und Domänen bis zum
Belaufe von 400 Millionen an die Stelle. Zu gleicher
Zeit ſollen für 400 Millionen Scheine, Aſſignaten ge-
nannt, ausgegeben werden, denen ſich ein guter Curs
verſprechen läßt, weil der Staat ſich bereit erklärt, ſie
nicht allein mit 5 Procent zu verzinſen, ſondern auch gleich
wieder bei jenen Verkäufen an Zahlungsſtatt anzuneh-
men. Keine Aſſignate unter 1000 Livres; ſo können ſie
nicht in den kleinen Verkehr übergehen. Niemand iſt ver-
pflichtet ſie anzunehmen, auch ſollen ſie ſchon 1795 ver-
nichtet werden. Als nun die Stadt Paris mit gutem Bei-
ſpiele voranging, ſich bereit erklärte für 200 Millionen
Nationalgüter zu kaufen, um dieſe dann vereinzelt wieder1790
März.

loszuſchlagen, ſo folgten andere Municipalitäten nach und
die Maßregel hatte Fortgang. Weil aber der Quell des
Übels blieb, die Steuereinnahmen verſiegten, mußte man
dennoch bald zum gezwungenen Curs ſeine Zuflucht neh-
[298] men und hiemit war die Bahn beſchritten, welche in den
Bankerutt auszumünden pflegt.


Hinter allen dieſen laut ſchallenden Thaten der Natio-
nalverſammlung, neben welcher der königliche Name kaum
je genannt ward, bewegt ſich eine geheime Geſchichte des
bis zum Sterben bedrängten Königthums, an welcher
Mirabeau Theil hat. Seit der Überſiedelung in die Tuil-
lerien fing man in den höheren Regionen an einzuſehen,
was ein Mann von Mirabeau’s Schlage werth ſey. So
viel man ihm auch vorwarf, er hatte mit Allem was er
für die Freiheit gethan ein ernſtes Streben für die Wah-
rung der ächten Kronrechte vereinigt. Allein ſtehend, ohne
alle Partei in der Nationalverſammlung, bildete er eine
Macht durch ſein Genie, und jedermann kannte zugleich
die ſchwache Seite dieſer Macht. Seine Verſchuldung war
durch das väterliche Erbtheil wenig verbeſſert; noch hatte
er den Rock nicht bezahlt, in welchem er 1772 Hochzeit
hielt. Wenn einer ihn mahnte, gab er etwa zur Antwort:
„Ach er ſoll wieder kommen, wenn ich Miniſter bin.“
Ein Freund blieb ihm, der Graf La Mark, ſpäter unter
dem Namen des Prinzen Auguſt von Ahremberg bekannt.
Auf La Marks Anregung und durch Lafayette’s Vermitte-
lung unterredete ſich Montmorin mit ihm; allein den Mini-
ſter trug der Schwung ſeiner Gedanken doch nicht weiter
als bis zu einer ehrenvollen Entfernung Mirabeau’s, er
ließ etwas von einem Geſandtſchaftspoſten in Conſtanti-
nopel fallen. Den in London wollte dieſer allenfalls gelten
[299] laſſen; allein es kam derzeit überhaupt nicht weiter als
daß der König eine Summe Geldes zur Tilgung eines
Theiles ſeiner Schulden aufwandte. Aber Montmorins
Scheu, einen Mirabeau zum Collegen zu haben, ward
bei Weitem von der Beſorgniß übertroffen, welche die linke
Seite der Nationalverſammlung vor einer Verbindung des-
ſelben mit dem Hofe hegte, beſonders das ſogenannte
Triumvirat. Unter dieſer Bezeichnung verſtand man die
Abgeordneten Duport, Barnave und Alexander de Lameth.
Dieſe getrauten ſich die Revolution gemeinſchaftlich im
freiheitlichſten Sinne zu leiten. Sie waren bisher thätige
Mitglieder des bretagniſchen Clubs, welchen Le Chape-
lier gründete. Seit dem Umzuge nach Paris nahm dieſer
in einem Saale des Kloſters der Jacobinermönche ſeinen
Sitz, die Triumvirn verſchafften auch Nichtabgeordneten
den Zugang, vornehmlich den Männern der Tagespreſſe.
Der Zweck war dem Strome der Revolution einen noch
raſcheren Fluß zu verſchaffen. Zu dieſem Ende fing man
an in allen Departements Clubs zu organiſiren, welche
mit dem Centralclub der Freunde der Verfaſſung, denn ſo
nannten ſich die Jacobiner, in lebendiger Verbindung ſte-
hen und von ihm geleitet werden ſollten. Ihnen gegenüber
verſuchten nun freilich die beſonnenen Freunde der Freiheit
ſich ebenfalls durch einen engeren Verein zu ſtärken, Malouet
und Clermont-Tonnerre entwarfen dazu den Plan, und
Lafayette war geneigt zum Beitritte. Allein an ſich beſteht
ſchon Mäßigung, weil ihr Weſen Hemmung iſt, ſchwer
[300] gegen treibende Kraft; und dieſe wackeren Männer woll-
ten nichts weniger als eine Gegenrevolution. Darum ſtan-
den ſie, eingeklemmt von beiden Parteien, in geringer
Stärke da, verſchmähten daneben jede Verſtärkung außer-
halb des Kreiſes der Abgeordneten. Das Programm ihrer
gemeinſamen Grundſätze zu entwerfen übernahm Malouet;
eine recht ſchwierige Aufgabe. Dem Könige ſoll eine
wahrhaft executive Gewalt zurückgegeben werden, indem
die Nationalgarde nicht minder als das Heer unter ſeinem
Oberbefehle ſteht: die katholiſche Religion ſoll Staatsre-
ligion bleiben, ohne daß andere Formen der Gottesvereh-
rung Verfolgung erleiden: mit dem Verkaufe geiſtlicher
Güter darf weiter nicht vorgeſchritten werden als am 17ten
December beſchloſſen iſt, damit die noch vorhandenen geiſt-
lichen Güter in geiſtlichen Händen bleiben: Preßfreiheit
ſoll Statt haben, aber gezügelt durch ein Preßgeſetz. Über
manchen dieſer Puncte war man aber am Ende weniger
innerlich einig als daß man äußerlich nachgab, um nur
etwas zu Stande zu bringen, und Alles ſtockte hier, wäh-
rend die kühnen Organiſationen Duports ſchon das ganze
Frankreich affiliirten.


Mirabeau’s Plane, der Regierung die Mittel an die
Hand zu geben, um die Revolution zu zügeln, gingen
ihren eigenthümlichen Weg. Schon am 6ten November
ſtellte er den Antrag, um die Eintracht zwiſchen der geſetz-
gebenden und der ausübenden Gewalt zu befördern, die
Miniſter unverzüglich einzuladen, ihren Platz in der Na-
[301] tionalverſammlung mit berathender Stimme einzunehmen,
bis die Verfaſſung demnächſt ihre künftige Stellung feſt-
ſetze. Da durchdrang Einige von der linken Seite der Arg-
wohn, Mirabeau wolle ſeinen künftigen Einfluß ſicher
ſtellen, und einer, ſonſt ein achtbarer Mann, Profeſſor
des kanoniſchen Rechtes, der Bretagner Lanjuinais, ſtellte,
ſeinen Verdacht wenig verheimlichend, den GegenantragNov. 7.
auf, kein Mitglied der Nationalverſammlung dürfe wäh-
rend der Legislatur und auch die nächſten drei Jahre eine
Miniſterſtelle oder ein Amt oder ſonſt irgend eine Gunſt-
bezeugung von der Staatsregierung annehmen, bei Strafe
der Nichtigkeit und des Verluſtes ſeiner activen Bürger-
rechte für die Dauer von fünf Jahren. Es iſt unmöglich
zugleich eindringender und mit ſchlagenderer Ironie einen
unſinnigen Vorſchlag zu bekämpfen als hier Mirabeau
that. Er kann nicht begreifen, wie es mit der verkündig-
ten Gleichheit der Rechte beſtehe, daß 1200 Abgeordnete
ihrer nicht genießen ſollen, ſolche Abgeordnete, welche die
Wahl des Volks als ſeine Auserleſenen bezeichnet hat.
Giebt es einen ſolchen Überfluß an Begabtheiten? oder
ſoll der König gezwungen ſeyn Hofſchranzen und über-
haupt ſolche Leute, welchen das Volk ſein Vertrauen
nicht geſchenkt hat, denen vorzuziehen, welchen es Ver-
trauen ſchenkt? — „Nein ich glaube nicht daß das der
Zweck des Antrages iſt, weil niemand mich zwingen wird,
eine abgeſchmackte Sache zu glauben. Es muß ein gehei-
mer Grund ſeyn und ich will verſuchen, ob ich ihn er-
[302] rathen kann. Es iſt vielleicht nützlich, zu verhindern daß
dieſes oder jenes Mitglied der Verſammlung in das Mi-
niſterium trete. Darum aber, um dieſen beſonderen Zweck
zu erreichen, iſt es nicht nöthig einen großen Grundſatz
aufzuopfern, und ich habe den Muth es zu übernehmen,
Euch die Mitglieder, welche der Antragſteller zu fürchten
ſcheint, zu bezeichnen. Es ſind offenbar nur zwei, der
Antragſteller und ich. Es iſt ſeine äußerſte Beſcheidenheit,
die ihn fürchten läßt in das Miniſterium berufen zu wer-
den, und er will dieſe Verlegenheit durch eine allgemeine
Ausſchließung von ſich abwenden. Daneben hat er einige
Volksgerüchte mich angehend vernommen, und er weiß
am beſten wie unfähig ich bin Miniſter zu ſeyn, zumal
wenn ich dadurch der Belehrung und des Rathes beraubt
würde, welchen ich ſo glücklich bin in dieſer Verſammlung
täglich zu empfangen. Darum, meine Herren, iſt mein
Vorſchlag: die verlangte Ausſchließung auf Herrn von
Mirabeau, den Abgeordneten von Aix zu beſchränken.“


Aber Mirabeau’s Witz ſprühte und brannte Wunden,
man lachte, man bewunderte ihn, und beſchloß doch zu-
letzt, mit einiger Beſchränkung zwar des erſten Antrages,
keines der gegenwärtigen Mitglieder der Nationalver-
ſammlung dürfe während dieſer Legislatur eine Stelle von
der Staatsregierung annehmen. So ſchnitt man dem Red-
ner ins Herz, und zwang ihn zugleich, für immer aus-
geſchloſſen vom Ziele ſeines flammenden Ehrgeizes, die
Miene eines Lächelnden zu behalten. Das aber iſt der
[303] tägliche Gang der Welt, und die Wunden die wir nicht
nennen, ſind gerade diejenigen, an welchen wir verbluten.


Noch vor dieſem Decret ließ Mirabeau durch La Mark
an Monſieur einen ſchriftlichen Entwurf gelangen, in deſ-
ſen Ausführung er die Rettung des Königs, ich ſage mehr,
die Rettung der Krone erblickte. Nichts hier von einer
raſchen Entfernung an die Gränze, nichts auch von einer
Flucht in das Innere, nichts von einem Aufrufe des
Adels: dergleichen rathen hieße Hülfe von Fremden wol-
len, hieße den Bürgerkrieg anrathen, und es giebt nun
einmal keinen Adel mehr. Der König muß ſeine Freiheit
wieder erlangen, ohne ſich von der Nationalverſammlung
und der öffentlichen Freiheit zu trennen. Das muß durch
einen öffentlichen Schritt geſchehen; er iſt gefährlich, aber
Gefahr wird allein mit Gefahr überwunden. Man bedarf
zur Ausführung einer bewaffneten Macht von 20,000
Mann; dieſe läßt ſich in wenig Tagen zwiſchen Rouen
und Paris zuſammenziehen. Am lichten Tage reiſt der
König ab nach der ihm ergebenen reichen Stadt Rouen im
Innern des Reiches, in der Normandie, welche mit An-
jou und Bretagne in ſo nahen Beziehungen ſteht. Er er-
läßt von dort eine Proclamation an das Volk. Ihr In-
halt: Man hat den König in Verſailles, noch mehr in
Paris ſeiner Freiheit beraubt: daher der Vorwand der
Unzufriedenen ſich den Beſchlüſſen der Nationalverſamm-
lung nicht zu fügen, weil dieſen die Stütze der königlichen
Gewalt gebricht. Der König muß frei ſeyn, um die Frei-
[304] heit gründen zu können. Er beruft die Verſammlung zu
ſich, um ihre Arbeiten fortzuſetzen, um ſie ohne anarchi-
ſche Einflüſſe zu beendigen. Monſicur war überraſcht von
der Schrift, durchdrungen, allein um ſo weniger zum
Beitritte, zur Mittheilung an den König geneigt, als er
ſo eben für einen andern Entwurf die Beiſtimmung der
Königin gewonnen hatte. Dieſer war eben ſo liſtig feige,
Verderben drohend gerade in ſeinem Gelingen, als jener
kühn, vielleicht überkühn: denn wer ſtand dafür ein daß
nicht über Ludwigs ſchwaches Gemüth in Rouen die Mei-
nung der Höflinge obſiegte, welche die Krone des heiligen
Ludwig allein in ihrer Unumſchränktheit erkannten? Mon-
ſieur legte ſeinen Plan auf ein Entwiſchen des Königs in
den Norden, in die Picardie an, nach Peronne, von wo
man im ſchlimmſten Falle die belgiſche Gränze nicht weit
hatte. Von dort aus ſollte der König die Nationalver-
ſammlung für aufgelöſt und alle ihre Beſchlüſſe für ungül-
tig erklären. Die nöthige Mannſchaft zur Ausführung zu
werben, die Gelder zu negotiiren war ein Marquis de
Favras, früher in Monſieurs Dienſten ſtehend, beauf-
tragt, ein kühner Abenteurer, wenn nicht an Genie,
doch in der Zahl ſeiner Gläubiger dem Grafen Mirabeau
gewachſen. Aber ſeine Werber verriethen ihn und Weih-
nachtsabend brachte man den Favras gefangen in das Stadt-
haus. Auf einmal ſchallt es durch Paris von einer Ver-
ſchwörung, an deren Spitze Monſieur ſteht. Dieſer Fürſt
konnte, wenn es galt, beherzt auftreten, allein er gab
[305] der Liſt gern den Vorzug. Jetzt drängte ihn die Noth zu
einem kühnen Entſchluſſe. Ohne etwas zuzugeſtehen, fragte
er einen Vertrauten um Rath. Dieſer rieth, ſchleunig ſich
auf das Stadthaus zu verfügen, dort kecklich zu erklären,
was falſch iſt, ihm ſey Alles fremd, was den Favras an-
gehe. Auch bei Mirabeau wird angefragt. Dieſer billigt
zwar jenen Rath, allein es dünkt ihm nicht genug damit
gethan. Monſieur ſoll auf dem Stadthauſe erklären, und
Mirabeau ſchreibt für ihn die Phraſe auf: „ſeit dem
Tage, da er in den Notabeln für die Verdoppelung des
dritten Standes ſich ausgeſprochen, habe er auch erkannt
daß eine gewaltige Umwälzung vor der Thüre und der
König berufen ſey ſich an ihre Spitze als Gründer der
Freiheit zu ſtellen.“ Dieſes Bekenntniß legte Monſieur
auf dem Stadthauſe ab, und der Maire antwortete mitDec. 26.
Bezeugungen der ehrfurchtsvollſten Ergebenheit. Aber
Favras liebte das Leben. Schon hatte er im Gefängniſſe
eine ſchriftliche Erklärung aufgeſetzt, deren umſtändliche
Aufrichtigkeit den Bruder des Königs und die Königin un-
fehlbar zu Grunde gerichtet hätte; er ließ den Civillieute-
nant des pariſer Stadtgerichtes, welches von ſeinem Sitze
im alten Kaſtell an der Wechsler-Brücke, die zur Cité
führt, den Namen Chatelet trägt, zu ſich laden, damit
dieſer ſein Geſtändniß empfange. Allein Talon, ſo hieß
der Mann, gab ihm zu bedenken, welch ein unermeßliches
Unglück er durch dieſen Schritt verſchulde, ohne Hoffnung
ſich ſelbſt zu retten, dahingegen die Geretteten dankbare
Franzöſiſche Revolution. 20
[306] Sorge für ſeine Familie tragen würden. Und Favras lie-
ferte das Papier aus, welches erſt in ſpäten Tagen durch
Talons Tochter in die Hände Ludwigs XVIII. gekommen
iſt. Nicht lange darauf aber jauchzte der pariſer Pöbel,
1790
Febr. 18.
als er auf dem Greveplatze einen Edelmann, den Favras,
henken ſah.


Wenig Tage nach jenem Auftritte auf dem Stadthauſe
ließ Graf Mirabeau an Monſieur einen anderen Rettungs-
plan gelangen. Monſieur ſoll an die Spitze des Conſeils
treten, factiſch zum Generallieutenant des Königs werden.
Der Bruder des Königs liebte die Macht und wäre wohl
geneigt geweſen, allein er glaubte in dem Königspaare
keine Geneigtheit zu erkennen. Doch begriff der Geſchmei-
chelte von nun an williger Mirabeau’s Unentbehrlichkeit,
und vermittelte einen förmlich unterzeichneten Vertrag zwi-
ſchen dem Könige und dem Grafen, in welchem dieſer
eine Geſandtſchaftsſtelle annimmt, vorläufig aber und
mindeſtens vier Monate lang 50,000 Livres monatlich
empfangen ſoll; wogegen Mirabeau verſpricht den Kö-
nig durch ſeine Beredſamkeit in Allem zu unterſtützen, was
Monſieur für dem Wohle des Staates und dem Intereſſe
des Königs, die als unzertrennbar zu betrachten, entſpre-
chend halten wird, imgleichen verſpricht in der Verſamm-
lung zu ſchweigen, inſofern ihn die Gründe Monſieurs
nicht überzeugen. Es iſt ſicher vergeblich, wenn der Adop-
tivſohn Mirabeau’s Montigny, der Gründer der wichtigen
ſogenannten Memoiren Mirabeau’s, die Urkunde dieſes
[307] Vertrages für unächt erklärt; allein ohne Zweifel traute
ſich Mirabeau in dem Vollgefühle ſeiner Überlegenheit
die Kraft zu, in jedem Falle Monſieur zu ſeiner Meinung
fortzureißen, und Favras lebte damals noch, ein Schreck-
bild für den Prinzen! Wirkliche Folgen hat der Vertrag
übrigens weder von der einen noch von der anderen Seite
gehabt. Dem Prinzen, der mit der Königin nicht gut
ſtand, ward die Leitung der Regierung keineswegs ver-
traut, und dem Könige ſich aufzudringen lag nicht in ſei-
ner Abſicht.


Der König liebte Neckern nicht, aber in einem Zuge
ſtimmten ihre Sinnesarten zuſammen, beide überließen
ſich gern einem Erguſſe ihrer Gefühle, und aufrichtig wie
ihr Inneres war, glaubten ſie die Gemüther durch ſolche
Ausſtrömungen von Wohlwollen zu beherrſchen. Am 4ten
Februar kündigte der König der Nationalverſammlung ſeine
Gegenwart an, verbat alle Empfangsfeierlichkeiten. Er
hielt eine Rede, welche Necker entworfen hatte. Sie be-
klagt die Gewaltthaten, Angriffe auf Perſonen und Gü-
ter, welche aus dem Süden von Frankreich gemeldet wer-
den, die Hemmung der Rechtspflege, beſchwört die Ver-
ſammlung, das Volk über ſein wahres Intereſſe, welches
an die Handhabung der ausübenden Macht geknüpft iſt,
zu belehren. „Es wird irre geführt, dieſes gute Volk,
welches mir ſo lieb iſt, und von welchem ich geliebt werde,
wie man mir verſichert, wenn man mich in meinem Kum-
mer tröſten will. — Wohl hätte ich einen ſanfteren Weg
20*
[308] zu dieſer neuen Ordnung der Dinge gewünſcht, aber nicht
minder aufrichtig iſt darum meine Anhänglichkeit an den
Grundſätzen conſtitutioneller Freiheit. Mögen alle Einzel-
nen, die noch bittere Erinnerungen hegen, dieſe heute mir
zum Opfer bringen; meine Erkenntlichkeit und Liebe ſoll
ſie bezahlen.“ Die Verſammlung war gerührt, unterbrach
die Rede mit Beifallklatſchen, ſchickte dem Monarchen eine
Deputation nach. Dieſe ward auch der Königin vorge-
ſtellt. Sie ſprach: „Sehet hier meinen Sohn; ich will
ihm ohne Ende von den Tugenden des beſten der Väter
erzählen, will ihn bei Zeiten die öffentliche Freiheit lieben
lehren, und er wird ihre feſteſte Stütze ſeyn.“ Fragt man
aber nach dem Ergebniſſe des ganzen Auftrittes: es war
der allgemeine Bürgereid. Die durch die königlichen Worte
begeiſterte Verſammlung beſchloß daß jeder Abgeordnete
ohne Ausnahme den Eid ableiſten ſolle, der Nation, dem
Geſetze und dem Könige treu zu ſeyn und mit aller Kraft
die Staatsverfaſſung aufrecht zu halten, welche die Na-
tionalverſammlung beſchließen und der König annehmen
wird. Die Nationalverſammlung ging ſogleich mit dem
Beiſpiele voran und alle 44000 Municipalitäten Frank-
reichs folgten nach. Allein es ließ ſich vernünftiger Weiſe
nicht hoffen durch politiſche Eide Menſchen zu binden, die
im Innern längſt dem Königthum als einer Unvernunft
barbariſcher Zeitalter abgeſagt hatten, nicht hoffen durch
einen Act royaliſtiſcher Aufwallung den franzöſiſchen Adel
zu verſöhnen, der ſeine Sterbeſtunde vor Augen ſah, die
[309] Prälaten zu gewinnen, deren Güter man verkaufte, über
deren Klöſter und Mönchsorden ohne Ausnahme man im
Begriffe ſtand ein unbarmherziges Gericht zu verhängen.Febr. 13.
Der aufgezwungene Eid ward von den Freunden der alten
Ordnung als eine neue bittere Kränkung empfunden. Als
der Vicomte de Mirabeau, man pflegte ihn wegen ſeiner
Dicke auch Mirabeau-tonneau zu nennen, den Sitzungs-
ſaal verließ, warf er wüthend ſeinen Degen auf den Bo-
den, rief: „Wenn der König ſein Scepter zerbricht, muß
ein treuer Unterthan ſeinen Degen zerbrechen.“ Dieſer
wunderliche heftige Mann pflegte ſein Schickſal zu bekla-
gen: „In jeder anderen Familie,“ ſprach er, „würde
ich für einen geſcheuten Kopf aber lockeren Zeiſig gelten,
mit dieſem Bruder behaftet heißt man mich einen Dumm-
kopf, ſonſt aber einen ganz ordentlichen Menſchen.“ Faßt
man Alles zuſammen: die Gluten vom 4ten Februar, an
keinen politiſchen Plan geknüpft, verdampften wirkungs-
los. Ein guter Beurtheiler ſagt: „Necker ſtellte einen Säu-
lengang hin, welcher zu keinem Gebäude führte.“


Im Frühling 1790 ward die Nationalverſammlung
plötzlich daran erinnert daß Frankreich nicht allein ſtehe
unter den Staaten. Großbritannien hatte mit der Krone
Spanien ſorgliche Händel und rüſtete; es ſchien nothwen-
dig, Frankreich müſſe gleichfalls rüſten. Darüber kam
eine Botſchaft vom Miniſter des Auswärtigen an die Na-
tionalverſammlung, damit die Mittel dazu in Ausſicht ge-
ſtellt würden. Alsbald aber rief man bei den Jacobinern,
[310] die Gegenrevolution ſey im Anzuge, und Alexander La-
meth übernahm es der Nationalverſammlung das aus-
ſchließliche Recht über Krieg und Frieden zu ſichern. Mi-
rabeau begehrte, man ſolle ſich zunächſt an die concrete
Frage der Gegenwart halten, die getroffenen Vorſichts-
maßregeln billigen; denn es handle ſich hier gar nicht von
Krieg erklären, bloß von ſich vertheidigen, wofür zu ſor-
gen allzeit die Sache der vollziehenden Gewalt ſey; die
allgemeine Frage, wie es mit dem Rechte über Krieg und
Frieden zu halten, müſſe vom Verfaſſungsausſchuſſe vor-
bereitet werden. Wirklich ward mit großer Übereinſtim-
Mai 15.mung ein Dank dem Könige wegen ſeiner Fürſorge votirt;
nichtsdeſtoweniger debattirte man eine ganze Woche lang
über die allgemeine Frage: Soll der König künftig das
Recht über Krieg und Frieden haben? Die Geſchichte von
Frankreich ſeit manchem Jahrhundert, wer dürfte das
läugnen? antwortete mit lauter Stimme: Nein. Sol-
len die Kriege wiederkehren, die aus wildem Ehrgeiz, aus
Eitelkeit, die vielleicht zu alleinigen Ehren einer Mätreſſe
geführt ſind? Barnave, Karl Lameth, Pétion und wie
Viele nicht ſonſt, legten die alleinige Entſcheidung über
Krieg und Frieden in die Hände der Nationalverſammlung
nieder. Aber auch auf der rechten Seite erhoben ſich be-
redte und eifrige Männer als Vertheidiger der nothwen-
digen Rechte der Krone, unter ihnen der Abbé von Mon-
tesquiou, Cazalès, der Abbé Maury. Erſt am fünften
Tage tritt Mirabeau auf. Er zeigt daß man vergeblich
[311] von beiden Seiten ſich in die Extreme werfe. Dem Könige
gebührt die Wache für das Auswärtige, und das iſt
ſein Recht; droht aber Krieg, ſo bedarf er des Geldes
der Nation, und dieſes zu bewilligen oder zu verneinen
und im Falle des irgendwie verſchuldeten Krieges die Mi-
niſter zur Strafe zu ziehen iſt das Recht der Nationalver-
ſammlung. So erhalten beide Theile ihr natürliches Ge-
biet für die Beantwortung dieſer Frage. Der leitende
Grundſatz für Beide muß ſeyn: Frankreich verzichtet auf
jede Eroberung. Dringt man dem Könige von ſeinem
Rechte das Geringſte ab, nöthigt man ihn das nothwen-
dige Geheimniß der Verhandlungen mit fremden Mächten
zu entſchleiern, darf ſeine angegriffene Flotte, angegriffen
in fernen Meeren vielleicht, ſich nicht vertheidigen, darf
ſie ſelbſt nicht zuvorkommen, bevor die Nationalverſamm-
lung den Krieg genehmigt hat, ſo ſündigt man gegen die
Natur der Dinge und ſtürzt das Vaterland in Gefahr.
Seine Worte machten tiefen Eindruck, allein Barnave
nahm den Tag darauf den Handſchuh auf, hielt feſt dar-
an, der König dürfe und müſſe einleiten, vorbereiten,
auch Verträge unterzeichnen, allein die Beſtätigung, das
Ja und Nein über Krieg und Frieden gebühre allein der
Nationalverſammlung. Tadle man die Hauptſtadt nicht,
daß ſie, genöthigt ſich in die feinſten Fragen der Politik zu
vertiefen, in eine gewaltige, unermeßliche Aufregung ge-
rieth. Je unverſtändlicher die Löſung für den ungeübten
Sinn, um ſo glühender die Bemühung von vielen Tau-
[312] ſenden, und vielen tauſend Franzoſen, damit zu Stande
zu kommen. Nun dazu die Aufwiegler, deren Logik die
Fäuſte ſind. Eine Flugſchrift erſchien unter dem Titel:
„Der große Verrath des Grafen Mirabeau enthüllt.“
Als Mirabeau den Verfaſſer, einen jungen Mann Na-
mens Lacroix zur Verantwortung zog, nannte er vor
Gericht das Triumvirat als ſeinen Anſtifter. In dieſen
Tagen ſchrieb Mirabeau nach Deutſchland an ſeinen
Freund Mauvillon: „Wir befinden uns in einer großen
Kriſe und es wird nicht die letzte ſeyn, aber was auch ge-
ſchehen mag, Euer Freund wird leben und ſterben als ein gu-
ter und vielleicht als ein großer Bürger.“ Als er am 22ſten
Mai im Begriffe ſtand auf die Rednerbühne zu treten,
ſprach er zu ſeiner Umgebung: „Einerlei, man wird mich
von hier im Triumph oder in Stücken hinwegtragen.“
Gleichwohl war er ſeines dialektiſchen Sieges zum voraus
ſicher. Barnave hatte ſich den Tag vorher mit vieler Fülle
und Kraft der Rede auf den beliebten Gemeinplätzen der
durch ungerechte Kriege geſtifteten Gräuel ergangen, er
hatte auch die Sentimentalität eingemiſcht: man dürfe
dem Könige keine Betrübniß bereiten, indem man das
traurige Recht Blut zu vergießen in ſeine Hände lege;
allein der Nerv ſeiner politiſchen Beweisführung blieb bei
den trockenen Sätzen von Sieyes ſtehen: „In der Natio-
nalverſammlung wohnt der Beſchluß, in dem Könige die
Ausführung, folglich“ — — Und das ſchien den Hörern
ſo ganz einfach und unwiderſprechlich. Allein dieſer Unter-
[313] bau hielt nicht mehr Stich, ſeit dem Könige durch das
Veto wenn auch nur ein aufſchiebender Antheil am Be-
ſchluſſe eingeräumt war. Als Mirabeau dieſen Misgriff
Barnave’s bemerkte, ſagte er zu ſeinem Nachbar und
Freunde Frochot, demſelben der in ſpäteren Tagen auf
Anlaß der Malletſchen Verſchwörung in Napoleons Un-
gnade fiel: „Da hab’ ich ihn feſt!“ lieh ihm ſeinen Blei-
ſtift ab, ſchrieb ein Paar Worte auf, ſprach: „Genug
des Hörens, ich habe meine Entgegnung, gehen wir!“
Beide ſpazierten nun in dem Garten der Tuillerien, und
Mirabeau unterhielt ſich dort auf das lebhafteſte mit
Neckers Tochter, der Frau von Staël.


Mirabeau’s Rede, welche damals für eine Weltbege-
benheit galt, von allen Geſandten, welche zahlreich der
ganzen Verhandlung beiwohnten, an ihre Höfe verſchickt
ward, nahm dieſen Gang:


„Ganz gewiß, es iſt von großem Werthe für die An-
näherung ſtreitender Parteien, wenn man ſich mit Auf-
richtigkeit darüber aufklärt, worin man einig iſt und wor-
in man von einander abweicht. Zur Verſtändigung tragen
freundliche Verhandlungen mehr bei als verläumderiſche
Einflüſterungen, tolle Beſchuldigungen, gehäſſige Eifer-
ſüchteleien und die Umtriebe ränkeſüchtiger Bosheit. Seit
acht Tagen verbreitet man daß der Theil dieſer Verſamm-
lung, welcher dem königlichen Willen einen Antheil an
der Entſcheidung über Krieg und Frieden ſichern will, die
öffentliche Freiheit meuchelmorde, verbreitet Gerüchte von
[314] Untreue und Beſtechung, ruft die Volksrache herbei, um
eine Tyrannei der Meinungen zu begründen. Man will,
ſo ſcheint es, ein Verbrechen daraus machen daß über eine
der feinſten und ſchwierigſten Fragen der geſellſchaftlichen
Ordnung zwei verſchiedene Meinungen ſtattfinden. Was
mich betrifft, es iſt nur wenig Tage her daß man mich
im Triumph tragen wollte, und heute ſchreit man durch alle
Gaſſen die große Verrätherei des Grafen Mi-
rabeau
aus. Es bedurfte für mich dieſer Lehre nicht,
um zu wiſſen daß vom Capitol nur wenig Schritte bis
zum tarpejiſchen Felſen ſind, aber ein Mann, der für die
Vernunft, für ſein Vaterland kämpft, hält ſich nicht ſo
leicht für überwunden. Wem ſein Gewiſſen ſagt, er habe
ſich wohl verdient um das Vaterland gemacht und vor
Allem er nütze ihm noch jetzt; wer ſich an keiner leeren
Berühmtheit weidet und die Erfolge eines Tages ver-
ſchmäht, wo wahrer Ruhm auf dem Spiele ſteht, der
Mann trägt in ſich die Belohnung ſeiner Dienſte, die
Luſt ſeiner Mühen, den Preis ſeiner Gefahren; er darf
ſeine Erndte, ſeine Zukunft, das Einzige was ihn reizt,
die Zukunft ſeines Namens allein von der Zeit, dieſem
unbeſtechlichem Richter erwarten, welcher Allen Gerech-
tigkeit widerfahren läßt. Mögen diejenigen, welche ſeit
acht Tagen meine Meinung prophezeiten ohne ſie noch zu
kennen, welche dieſen Augenblick meine Rede verläumden
ohne ſie verſtanden zu haben, mich beſchuldigen ohnmäch-
tigen Götzenbildern Weihrauch zu ſtreuen in demſelben
[315] Augenblicke da ſie umgeſtürzt ſind, oder der feige Söld-
ling derer zu ſeyn, welche ich unaufhörlich bekämpft habe;
mögen ſie als einen Feind der Revolution den Mann be-
zeichnen, der ihr vielleicht nicht unnütz geweſen iſt und
der, wäre ſie ſeinem Ruhme fremd, doch allein bei ihr
ſeine Sicherheit finden könnte; mögen ſie der Wuth eines
getäuſchten Volks den Mann überliefern, der ſeit zwan-
zig Jahren jede Unterdrückung bekämpft; der zu den Fran-
zoſen von Freiheit ſprach, von Verfaſſung, von Wider-
ſtand, als jene feilen Verläumder die Milch der Höfe ſogen,
ſich nährten von Misbräuchen. — Was geht das mich
an? Dieſe Stöße von tief Unten nach hoch Oben ſollen
mich nicht in meiner Bahn aufhalten. Ich ſage ihnen:
Antwortet wenn ihr könnet, und dann verläumdet ſo viel
ihr wollet.“


Nach dieſem Eingange dringt er auf Barnave ein:
„Ihr behauptet: die Nation ſtellt zwei verſchiedene Ge-
walten zu ihren Vertretern auf, die eine für den Willen,
die andere für die That, Ihr nennt die erſte den geſetzge-
benden Körper, die andere König. Ihr habt Unrecht und
ſeyd von einem richtigen Ausgangspuncte in eine falſche
Folgerung gerathen. Es iſt nicht wahr daß der geſetzgebende
Körper und die geſetzgebende Gewalt einerlei ſind.
Der geſetzgebende Körper iſt nur ein Theil der geſetzgeben-
den Gewalt, ſeit unſere Verfaſſung im Veto dem Könige
einen Antheil an der geſetzgebenden Gewalt gegeben hat.
Wie mögt Ihr nur die Begriffe ſo verwirren, daß Ihr in
[316] Eurer Rede die Erklärung des allgemeinen Willens der
geſetzgebenden Gewalt beileget, das iſt der National-
verſammlung und dem Könige, in Eurem Geſetzentwurfe
aber allein dem geſetzgebenden Körper, das iſt allein
der Nationalverſammlung? Durch Letzteres frevelt Ihr an
unſerer Verfaſſung, ſtürzet alle Geſetze um, die wir ge-
macht haben. Wenn der geſetzgebende Körper allein ge-
nug iſt, ſobald es ſich davon handelt den allgemeinen Wil-
len in Bezug auf den Krieg auszudrücken, ſo erhaltet Ihr,
da der König dann weder Theilnahme, noch Einfluß, noch
Controle, noch Etwas von dem beſitzt was die Verfaſ-
ſung der ausübenden Gewalt bewilligt hat, für die Ge-
ſetzgebung zwei verſchiedene Principien, das eine für die
gewöhnliche Geſetzgebung, das andere für die Geſetzge-
bung, die den Krieg, das heißt, die fürchterlichſte Kriſis
angeht, welche den politiſchen Körper erſchüttern kann.
Dort bedürft Ihr der Zuſtimmung des Königs, hier nicht
— und Ihr ſprecht von Gleichartigkeit, Einheit und Zu-
ſammenhang der Verfaſſung! Ihr antwortet mir nicht;
iſt dem nicht ſo? — Fürwahr eine ſeltſame Verfaſſung,
die dem Könige die höchſte ausführende Macht überträgt,
aber den Krieg erklärt haben will, ohne daß der König
zur Berathſchlagung darüber auffordert und Mittheilun-
gen macht! Ihr habt dann keine beſchließende National-
verſammlung mehr, ſie wird handelnd, ſie herrſcht. Oder
wollet Ihr dem Könige die Initiative geben? Was ver-
ſteht Ihr darunter? Soll er der Nationalverſammlung bloß
[317] Mittheilungen machen? oder hat er das Recht auch vorzu-
ſchlagen, welche Partei zu ergreifen ſey? Und wenn er
nun den Frieden will, ſoll der geſetzgebende Körper ihm
befehlen dürfen wider ſeinen Willen Krieg zu führen? Ich
wiederhole es, der geſetzgebende Körper regiert dann, un-
ſere Verfaſſung verliert ihre Natur, ſie ſoll monarchiſch
ſeyn und ſie würde rein ariſtokratiſch werden. Ihr habt
nichts geantwortet auf dieſen Einwurf und werdet nie im
Stande ſeyn darauf zu antworten. Ihr redet immerdar
allein von Verhinderung der miniſteriellen Übergriffe, ich
aber rede zu Euch von den Mitteln, die Übergriffe einer re-
präſentativen Verſammlung zu verhindern; ich rede zu
Euch von der Nothwendigkeit Halt zu machen, ja nicht zu
viel der natürlichen Strömung nachzugeben, welche jede
Verfaſſung unvermerkt auf das Princip zurücktreibt, aus
welchem ſie entſprungen iſt.“


Auch Mirabeau hatte dieſem Princip, dem Alles da-
mals beherrſchenden, der Souveränität des Volks in ſei-
nem Geſetzentwurfe gehuldigt. Sie machte es ihm un-
möglich, rein heraus zu ſagen, wie wir wohl thun: „Der
König hat das Recht über Krieg und Frieden.“ Nichts-
deſtoweniger warf ihm Barnave vor, er lege unbedingt
in die Hände des Königs und ſeiner Miniſter das Recht
Feindſeligkeiten anzufangen, einen Angriff zu machen.
Nicht ohne einige Sophiſtik, obgleich dem Weſen nach
wahr, erwidert Mirabeau darauf: „Nein ich gebe dem
Könige dieſes Recht nicht, weil ich es ihm förmlich nehme;
[318] ich erlaube den Angriff nicht, weil ich vorſchlage ihn zu
beſtrafen. Was thue ich denn? Ich unterſuche eine Mög-
lichkeit, welche Ihr ſo wenig ändern könnet als ich. Ich
weiß es nicht zu machen daß der höchſte Inhaber aller
Kräfte der Nation nicht große Mittel und Gelegenheiten
habe Misbrauch damit zu treiben; aber findet ſich dieſer
Übelſtand nicht in allen Syſtemen? Immerhin nennt ihn
die ſchlimme Seite des Königthums, aber denkt Ihr
wirklich daß menſchliche Einrichtungen, daß eine Regie-
rungsform, von Menſchen für Menſchen errichtet, frei
von Übelſtänden ſeyn könne? Denkt Ihr uns der Vortheile
des Königthums zu berauben, weil das Königthum Ge-
fahren hat? Sagt es immer rein heraus! Uns bleibt dann
zu überlegen, ob wir, weil das Feuer brennt, die Wärme
und das Licht miſſen wollen, welches wir von ihm ent-
lehnen. Alles in der Welt kann beſtehen, mit Ausnahme
der Inconſequenz; ſagt uns: wir brauchen keinen König,
aber ſagt uns nicht: wir brauchen einen machtloſen, einen
unnützen König.“


„Es iſt,“ ſo ſchließt er endlich, „mehr als Zeit dieſe
langen Verhandlungen zu beendigen. Fortan wird man,
wie ich hoffe, den wahren Schwierigkeitspunct nicht mehr
verheimlichen. Ich will die Mitwirkung der ausübenden
Gewalt zur Bildung des allgemeinen Willens in Hinſicht
auf Krieg oder Frieden, wie die Verfaſſung ſie in allen
bereits feſtgeſtellten Theilen unſeres Syſtems feſtgeſetzt
hat. Meine Gegner wollen das nicht. Ich will daß das
[319] Oberaufſichtsrecht, welches dem einen der Vertreter des
Volks gebührt, ihm nicht abgehe, ihm nicht entriſſen
werde gerade bei den wichtigſten Thätigkeiten der Staats-
kunſt, meine Gegner aber wollen daß der eine dieſer Ver-
treter ausſchließlich das Recht des Krieges beſitze, gleich
als ob, ſelbſt angenommen daß die ausübende Gewalt
der Bildung des allgemeinen Willens fremd bliebe, wir
allein über die Kriegserklärung zu berathen hätten, als
ob nicht die Ausübung dieſes Rechtes eine Reihenfolge
von gemiſchten Thätigkeiten mit ſich führte, bei welchen
That und Wille ſich drängen und durchdringen.“


„Sehet da die Linie, die uns trennt. Irre ich mich,
dann noch einmal, laßt meinen Gegner mich zurechtwei-
ſen, oder vielmehr laßt ihn in ſeinem Geſetzentwurfe die
Worte: geſetzgebender Körper in geſetzgebende Gewalt
verändern, und wir ſind vollkommen einig, wenn nicht
in der Praxis, ſo doch mindeſtens in der Theorie, und
wir wollen dann ſehen, ob nicht mein Geſetzentwurf beſ-
ſer als jeder andere dieſe Theorie verwirklicht.“


„Man hat Euch vorgeſchlagen, über dieſe Frage durch
die Vergleichung der Männer zu entſcheiden, welche ſie
bejahen und verneinen; man hat Euch geſagt, Ihr würdet
an der einen Seite Männer ſehen, welche auf Beförde-
rung in der Armee hoffen, oder die auswärtigen Angele-
genheiten verwalten wollen, Männer die mit den Mini-
ſtern und ihren Agenten verbunden ſind; auf der andern
Seite den friedlichen, tugendhaften, unbekannten, von
[320] Ehrgeiz unberührten Bürger, welcher ſein Glück und ſein
Daſeyn im allgemeinen Glücke findet.“


„Ich will dieſem Beiſpiele nicht nachahmen. — Ich
glaube nicht daß Männer, welche der öffentlichen Sache
als wahrhafte Waffenbrüder dienen ſollen, ſich wie feile
Gladiatoren bekämpfen dürfen, durch Beſchuldigungen
und Ränke mit einander ringen dürfen, ſtatt mit Einſicht
und Talent, in der wechſelſeitigen Vernichtung ſtraf-
bare Erfolge ſuchen dürfen, die Tropäen eines Tages, die
für jedermann und ſelbſt für den Ruhm verderblich ſind.
Allein ich will Euch ſagen: unter denjenigen, welche meine
Lehre annehmen, werdet Ihr alle gemäßigten Männer
finden, welche nicht glauben daß die Weisheit in den Ex-
tremen beſtehe, noch daß der Muth zu zerſtören niemals
dem Muthe wiederaufzubauen Platz machen dürfe; Ihr
werdet dazu die Mehrzahl jener entſchloſſenen Bürger zäh-
len, welche zu Anfang der Etats-généraux (denn ſo hieß
damals die Nationalverſammlung, als ſie noch in den
Windeln der Freiheit eingeſchnürt lag) ſo viele Vorurtheile
mit Füßen traten, ſo vielen Gefahren Trotz boten, ſo vie-
len Widerſtand beſiegten, um in den Schooß der Gemei-
nen zu gelangen, welchen dieſe Hingebung den Muth und
die ſiegende Kraft gab, wovon der Erfolg Eure ruhmvolle
Revolution geweſen iſt; Ihr werdet dort jene Volkstribu-
nen finden, welche die Nation noch lange, trotz des Ge-
kläffes einer neidiſchen Mittelmäßigkeit, zu den Befreiern
des Vaterlandes zählen wird. Ihr werdet dort Männer
[321] ſehen, deren Name die Verläumdung entwaffnet und deren
Ruf als Privatleute und öffentliche Charaktere auch den
zügelloſeſten Libelliſten vom Angriffe zurückſchreckt; Män-
ner endlich, welche ohne Makel, ohne Eigennutz, ohne
Furcht bis zum Grabe ſtolz ſeyn werden, ſolche Freunde
und ſolche Feinde gefunden zu haben.“


Mirabeau durfte es wagen nahe am Ziele ſeiner Rede
ſich auf die Baſis ſeiner eigenen Verdienſte ſelbſtbewußt
zu ſtellen, doch lenkt er ganz am Schluſſe fein zu einem
noch höheren Standpuncte jener Glücklichen ab, welche
einen unbefleckten Privatcharakter mit hohem politiſchen
Verdienſt verbinden, wobei wohl jedermann zunächſt auf
Lafayette hinblickte, welcher es in dieſer Frage treulich mit
Mirabeau hielt. Dieſem ſtanden überall die Flecken ſeiner
Jugend, das unordentliche Leben auch ſeiner reiferen
Tage, das Mistrauen der Guten hemmend entgegen, und
wie trübten ſie auch dieſen Triumph! Denn ein Triumph
war es. Man ließ Barnave nicht wieder zu Worte: mit
der größten Stimmenmehrheit, keine 50 in der Minori-
tät, ſiegte Mirabeau, nur daß die Faſſung ſeines An-
trages der damals geltenden Anſicht etwas näher gebracht
ward. Er lautete nun: „Das Recht über Krieg und Frie-
den gehört der Nation; der Krieg kann allein durch einen
Beſchluß der Nationalverſammlung erklärt werden, wel-
cher auf den ausdrücklichen und nothwendigen Vorſchlag
des Königs gefaßt und von ihm ſanctionirt iſt.“ Mira-
beau gab ſeine beiden Reden im Druck heraus und fügte
Franzöſiſche Revolution. 21
[322] ein Schreiben an die Behörden der Departements hinzu,
worin folgende Stellen zugleich die tiefe Bekümmerniß ſei-
nes Inneren ausſprechen: „Meine Herren! So lange
man bloß mein Privatleben verläumdet hat, habe ich ge-
ſchwiegen, ſey es weil ein ſtrenges Schweigen eine Ab-
büßung von rein perſönlichen Fehlern iſt, wie ſehr ſie auch
zu entſchuldigen ſeyn möchten, und weil ich die Achtung
edler Männer allein von der Zeit und meinen Dienſten er-
wartete, ſey es weil die Ruthe des öffentlichen Tadels,
ſelbſt von feindlichen Händen gebraucht, mir ehrwürdig
erſcheint; ſey’s endlich und hauptſächlich, weil es mir
ſtets ein engherziger Egoismus und ein lächerlicher Mis-
griff däucht, ſeine Mitbürger von Dingen zu unterhalten,
die ſie am wenigſten intereſſiren.“


„Aber heute da man meine Grundſätze als öffentlicher
Charakter angreift, heute da man in der Meinung, welche
ich vertheidige, meinen ſämmtlichen Meinungsgenoſſen
den Krieg macht, kann ich mich nicht zurückziehen ohne ei-
nen Ehrenpoſten zu verlaſſen, ohne, ſo zu ſagen, das
koſtbare Unterpfand zu verletzen, welches mir anvertraut
iſt, und ich glaube derſelben Nation, deren Intereſſe ich,
wie meine Ankläger ſagen, verrathe, eine beſondere Re-
chenſchaft von meiner Meinung geben zu müſſen, die man
verunſtaltet. Es reicht mir nicht hin daß die Nationalver-
ſammlung mich von dieſer verhaßten Beſchuldigung rein
gewaſchen hat, indem ſie faſt einſtimmig mein Syſtem
annahm; ich muß auch noch von dem Tribunal gerichtet
[323] werden, deſſen Unterthan und Organ der Geſetzgeber ſel-
ber iſt. Dieſes Urtheil iſt um ſo wichtiger als ich, den man
bis dahin zu den nützlichen Volkstribunen zählte, dem Volk
um ſo ſtrengere Rechenſchaft ſchuldig bin. Dieſes Urtheil iſt
ſelbſt um ſo nothwendiger, weil es ſich davon handelt, über
die Principien ſich auszuſprechen, welche die wahre Theo-
rie der Freiheit von der falſchen unterſcheiden, ihre wah-
ren Apoſtel von den falſchen Apoſteln, die Freunde des
Volks von ſeinen Verderbern; denn das Volk hat in einer
freien Verfaſſung auch ſeinen Hofhalt, ſeine Schmarozer,
ſeine Schmeichler, ſeine Schranzen, ſeine Sklaven.“


Mirabeau’s Schluß iſt: „Das ſind die wahren Freunde
des Volks, welche es belehren daß den Bewegungen,
welche uns nöthig waren um aus dem Nichts hervorzu-
gehen, friedliche Organiſationen folgen müſſen; daß man
dem Mistrauen ein Ende machen, den elenden Schutt hin-
wegſchaffen und unter der Mitwirkung aller Willen zum
Wiederaufbau ſchreiten muß; daß es Zeit iſt, endlich aus
dem Zuſtande der rechtmäßigen Inſurrection zu dem dauer-
haften Frieden einer geſellſchaftlichen Ordnung überzu-
gehen, und daß man keineswegs allein durch dieſelben
Mittel die Freiheit bewahrt, durch welche ſie erobert iſt.“


Die unparteiiſche Geſchichte wird den Werth dieſer
Grundſätze darum nicht geringer anſchlagen, weil ſie aus
einer Feder floſſen, welche damals ſchon dem Cabinet ge-
heime Zuſagen gemacht hatte. Dasmal war der kaiſerliche
Geſandte Graf von Mercy der Vermittler, wieder durch den
21*
[324] Grafen Lamark; an der anderen Seite ſtand dieſesmal ein-
leitend die Königin. Seit dem März dauerte die Unterhand-
lung, am 10ten Mai gab Mirabeau ſeine Zuſage. Er ver-
pflichtete ſich den wahren Intereſſen der Monarchie mit ſei-
nem ganzen Anſehn zu dienen, da er den Gedanken nicht er-
trage, nur zu einer großen Zerſtörung geholfen zu haben. Es
genügt, um in ſeinen Sinn einzugehen, daß Alles, wozu er
ſich verpflichtete, auf der Grundlage dieſes Satzes beruht:
„Ich erkläre dem Könige daß ich eine Gegenrevolution für
eben ſo gefährlich und verbrecheriſch halte, wie ich von der
anderen Seite für chimäriſch jede Hoffnung und jeden Plan
halte in Frankreich eine Regierung zu begründen, deren
Haupt der nothwendigen Gewalt ermangelt dem Geſetze
eine kräftige Vollziehung zu geben.“ Ludwig antwortete,
er habe von jeher nur eine geſetzlich beſchränkte Macht ge-
wünſcht. Dreiundvierzig Noten wurden ſeitdem zwiſchen
dem Königspaare und Mirabeau gewechſelt, einige Mi-
niſter ins Vertrauen gezogen, und Ende Mai erlangte
Mirabeau eine geheime Unterredung mit der Königin in
einem der königlichen Gärten. Beim Abſchiede erbat er
ſich die Hand der Königin zum Kuſſe und rief: „Madame,
die Monarchie iſt gerettet.“ Sein Geiſt ſprühte damals
von Entwürfen und Hoffnungen: „Die Königin, ſchrieb
er, iſt der einzige Mann, den der König um ſich hat.“


[[325]]

8. Die letzten Stuͤtzen des Thrones weichen.


Bei der Würdigung von Mirabeau’s nunmehriger
Stellung zu der Krone kommt es wenig darauf an, wie
große Summen der große Staatsmann empfangen hat,
er der ſein Verhältniß gegen Vertraute treffend mit den
Worten bezeichnete: „Man kauft mich, aber ich verkaufe
mich nicht.“ Der König bezahlte an ihm keinen feilen
Helfer, der ſein beſſeres Bewußtſeyn um des Eigennutzes
willen verläugnete, er belohnte in ihm einen Mann,
der beſſere Rathſchläge ertheilte, als ſeine öffentlich be-
zahlten Miniſter im Stande waren. Gewiß iſt es ehren-
voller einen Jahrgehalt nicht anzunehmen, zu welchem
man ſich nicht vor aller Welt bekennen darf, und hier
ſtoßen wir auf das Verhängniß, welches ſich überall an
dieſes Mannes Ferſen klammert, daß er nun und nimmer
zu einer völlig reinen Lebenslage gelangen kann. Was
fruchteten ihm die 18 Livres Diäten, die ſeit Kurzem je-
dem Abgeordneten bewilligt waren? In des Königs Hand
lag allein die Macht, ihn als einen völlig Geſunden gerade
[326] aufzurichten, ſich zu ihm als ſeinem Rathgeber öffent-
lich zu bekennen, allein der König war einmal keines feſten
Entſchluſſes fähig, geſchweige denn eines ſolchen, wel-
chem ein Decret der Nationalverſammlung, ſo wenig es ihn
verpflichtete, im Wege ſtand. Mirabeau hat ſich mit der
Königin nur zweimal im Geheimen verabredet, hat den
König einmal vielleicht, am 8ten Januar 1790; vielleicht
kein einziges Mal geſprochen. Seine Aufgabe iſt, ſchrei-
bend, immer wieder ſchreibend, Vorurtheile zu bekämpfen,
Muth einzuſprechen, der Willenloſigkeit Kraft einzuimpfen.
Noch eine Schwierigkeit! Während Mirabeau im Ver-
trauen der Königin ſtarke Fortſchritte macht, fängt der
König an Lafayette’s Rath einzuholen, dieſes grundred-
lichen Mannes, aber deſſen eines Auge ſtets auf Amerika,
das andere auf Frankreich ruht, der mithin Alles ſchief
ſieht und die Misgriffe der Nationalverſammlung für ge-
diegenes Gold hält. Aber auch die Königin, die den La-
fayette einmal nicht leiden kann, machte ihrem Berather
vollauf zu ſchaffen. Wie muß er ſie beſtändig warnen:
„Ja keine Gardes-du-corps wieder! Vertrauen allein zu
ſolchen Königsfreunden, welche Freunde freier Verfaſſung
ſind! Ja kein Zuſammenſtecken mit den Ausgewanderten,
dieſen falſchen verderblichen Freunden!“ von welchen
wirklich ein Theil damals ſchon mit dem Plane umging,
nach einer gelungenen Gegenrevolution den König durch
das pariſer Parlament entſetzen zu laſſen, weil er an der
Krone gefrevelt durch einen eben ſo unverſtändigen wie
[327] verderblichen Verzicht auf ihre angeſtammten Rechte. Mi-
rabeau’s Thätigkeit war ungeheuer, man möchte ſie über-
menſchlich nennen. Nach den Sitzungen der Nationalver-
ſammlung ſah derſelbe ſpäte Abend ihn oft bei den Jaco-
binern und dann wieder in einem andern Club jüngſter
Stiftung, in welchem Männer ſich trafen, die neuerdings
für gemäßigt galten. Sieyes war der erſte Präſident; La-
fayette, Talleyrand, Röderer, mit Mirabeau näher ver-
bunden, Bailly, Le Chapelier, der in der Frage über
Krieg und Frieden ſich an Mirabeau ſchloß, Dupont de
Nemours nahmen Theil; man nannte ſich den Club von
1789. Dazu die nimmer ruhenden Liebesabenteuer des
Mannes, ſeine Vergnügungen, wie ſeine Arbeiten, über-
ſchwänglich. Ein böſes Augenübel hielt ihn eine Reihe
von Tagen von der Nationalverſammlung entfernt, doch
ſah man ihn am 11ten Junius wieder, Franklins Tod
verkündigend. Seinem Antrage, dem großen Manne, der
den Blitz und die Tyrannen bändigte, für welchen die
dankbaren Bürger der vierzehn Freiſtaaten zwei Monate lang
Trauer trugen, eine dreitägige Trauer in der Verſamm-
lung zu widmen, begegnete allgemeiner Beifall. Wer nur
machte Mirabeau nicht zu ſchaffen? Endlich mußte er noch
für ſeinen eigenen Bruder auftreten. Dieſer, von Natur
unerträglich heftig, verwickelte ſich mit jedem Tage mehr
in eine unhaltbare Gegnerſchaft. Er war Malteſer, hatte
in Amerika tapfere Dienſte gethan, aber für die National-
verſammlung taugten ſeine drohenden, ariſtokratiſchen
[328] Redensarten nicht. Ein einziges Mal rüſtete er ſich auf
eine förmliche Rede, da ſchrieb ihm der alte Vater:
„Wenn man einen Bruder in der Nationalverſammlung
hat wie Ihr, und ein Mann iſt wie Ihr, dann läßt
man ſeinen Bruder ſprechen und ſchweigt ſtill.“ Jetzt
vernahm er, auch ſein Regiment ſey von der Neuerung
ergriffen, mehrere Officiere wären von den Soldaten
als Ariſtokraten verjagt; ſogleich reiſte er ab, um Ord-
nung zu ſtiften, trieb es hier aber ſo gewaltthätig, daß
er kaum mit dem Leben davon kam, und eine mißliche
Unterſuchung ſchwebte über ſeinem Haupte. Sein Bru-
der ehrte das Verſprechen, welches er dem Oheim ge-
geben hatte, niemals die politiſchen Zwiſte in Familien-
feindſchaft ausbrechen zu laſſen, und nahm ſich des be-
drängten Vicomte inſoweit an daß er jeden Rechtsſchutz,
welcher dem Abgeordneten der Nation zuſtand, für ihn
erlangte. Allein die Anklage war nicht abzuwenden und
der jüngere Mirabeau wanderte nach Deutſchland aus,
wo er mit den Emigranten rüſtete, aber bald am Schlage
15. Sept.
1792.
geſtorben iſt.


Jetzt aber kam der Tag, da die Art an die Wurzel
von Geiſtlichkeit und Adel gelegt ward. Beides mis-
billigte Mirabeau und beides ſah er ſich außer Stand
zu verhindern, fühlte auch durchaus keine Neigung in
ſich, ſeine Popularität an die Beſchützung von Gebäu-
den zu ſetzen, welche der Strom der öffentlichen Mei-
nung unterwühlt hatte. Und dennoch ſteht das Erb-
[329] königthum, von keiner erblichen Ariſtokratie umkleidet,
wie ein nackter, viel umſtürmter Thurm auf weiter Ebene
da, deſſen Bauſtyl niemand ſo leicht begreift. In Be-
zug auf die Geiſtlichkeit hätte Mirabeau gewünſcht, daß
man ſie in Ruhe laſſe. Niemand ſah klarer als er vor-
aus, welche Folgen es haben werde, wenn der Gedanke,
die Geiſtlichen ganz in die bürgerlichen Beamten einzu-
reihen, ſie mithin von den Wählern der Diſtricte wäh-
len zu laſſen, zur Ausführung käme. Man drängte da-
durch den König auf einen Punct hin, auf welchem
auch die Schwachen ſtark zu ſeyn pflegen; denn er konnte
von nun an nicht mehr mit unbeſchwertem Gewiſſen die
Conſtitution annehmen. Man ließ ihm die Wahl zwi-
ſchen der Krone und ſeinem Glauben; gab er leicht ge-
ſinnt der Krone den Vorzug, treu konnte er einer Ver-
faſſung nicht ſeyn, die ihn untreu gegen ſich ſelbſt ge-
macht hatte. Allein das war doch nur die kleinere
Hälfte der Gefahr. Wenn Decrete der Nationalverſamm-
lung die römiſchkatholiſche Kirchenverfaſſung in die Luft
ſprengten, ſo hieß das nicht bloß das neue Frankreich
vollends iſoliren in der Staatengeſellſchaft, es hieß zu
der politiſchen Entzweiung einen unabſehlichen Streit
religiöſer Überzeugungen fügen, hieß nach manchen An-
zeichen das Signal zum bürgerlichen Kriege geben. Hier
den Kampf für die Kirchenverfaſſung aufzunehmen, zu
warnen vor dem Abgrunde, welchem man entgegenging,
wäre auch eines von kirchlichen Überzeugungen unberühr-
[330] ten Staatsmannes würdig geweſen. Mirabeau betrach-
tete dieſe Fragen, wahrſcheinlich mit Recht, als ſchon
entſchieden, ſobald ſie nur in der Nationalverſammlung
aufgenommen würden, und vermied die Sitzungen, in
welchen über Geiſtlichkeit und Adel berathſchlagt ward.
Das Decret der Nationalverſammlung über den Adel
Juni 20.lautete: „Die Nationalverſammlung beſchließt daß der
Erbadel für immer in Frankreich abgeſchafft iſt; daß folg-
lich die Titel marquis, chevalier, écuyer, comte, vi-
comte, messire, prince, baron, vidame, noble, duc,

und alle andere ähnliche Titel weder von jemand, wer
es auch ſey, gegeben, noch angenommen werden kön-
nen; daß jeder Bürger allein ſeinen wahren Familien-
namen führen darf; daß niemand ſeine Dienerſchaft
Livreien darf tragen laſſen, noch Wappen führen darf;
daß der Weihrauch allein zu Ehren der Gottheit in den
Tempeln flammen ſoll, und niemanden, wer es auch
ſey, darf angeboten werden; daß die Titel monseigneur
und messeigneurs weder einer Körperſchaft noch einem
Individuum ferner gegeben werden dürfen, eben ſo we-
nig die Titel excellence, altesse, éminence, gran-
deur
.“ Doch werden im Verfolg des Decrets die öffent-
lichen Denkmäler und Urkunden, welche ſolche verbotene
Titel tragen möchten, ausdrücklich in Schutz genommen,
auch ſoll die Vollziehung, was namentlich Livreien und
Wappen betrifft, bis zum 14ten Julius für Paris aus-
ſtehen und drei Monate für die Provinzen, und Aus-
[331] länder ſollen nicht davon betroffen werden. So ſtand
der König, ſchon ſeit länger aus einem König von Frank-
reich in einen König der Franzoſen verwandelt, mit ſei-
nem Sire und ſeiner Majeſtät ganz vereinzelt da. We-
nig fehlte ſo hätte er unlängſt auf einen Antrag Pé-
tions auch das „von Gottes Gnaden“ verloren, ohne
die Bemerkung Mirabeau’s: „Dieſe Worte enthalten
eine der Gottheit erwieſene Huldigung, welche alle Völ-
ker der Welt ihr ſchuldig ſind.“ Was Mirabeau über
die ganze Neuerung dachte, verhehlt er ſeinem Freunde
Mauvillon nicht: „Ich denke gerade wie Sie in Hin-
ſicht der Titel, Livreien u. ſ. w. Nichts unmöglicher
als die Gewalt der Erinnerungen aus den Herzen der
Menſchen herauszureißen; der wahre Adel iſt in dieſem
Sinne eine eben ſo unzerſtörbare als geheiligte Sache.
Die Formen werden wechſeln, die Verehrung wird blei-
ben. Laß jedermann gleich vor dem Geſetze ſeyn, jedes
Monopol, beſonders jedes ſittliche, verſchwinde; alles
Übrige iſt Eitelkeit, dahin oder dorthin verlegt.“ Als
die Zeitungsſchreiber ihre Luſt daran hatten ihn nun
nach ſeinem Geſchlechtsnamen Riquetti den Älteren zu
nennen, ſprach er: „Ihr habt Europa vier Tage lang
mit Eurem Riquetti irre gemacht!“ Aber Camille Des-
moulins ließ es ſich nicht nehmen, die Königin jetzt
in ſeinem Blatte die Frau des Königs und den Kö-
nig ſelbſt gelegentlich den Älteſten der Capets zu
nennen.


[332]

Die Gunſt der öffentlichen Meinung ſtand der Na-
tionalverſammlung faſt unbedingt zur Seite. Fielen grobe
Ruheſtörungen vor, die Franzoſen glaubten das Böſe
mit dem Guten hinnehmen zu müſſen und bauten auf
die Hülfe der Verſammlung und des Königs. Das frohe
Selbſtgefühl eines freier aufathmenden Volks entfal-
tete ſeine Schwingen. Man will ſich die ſchönen jüngſt
errungenen Güter der Selbſtändigkeit um keinen Preis
entreißen laſſen. Die Nationalgarden mehrerer Städte
leiſten ſich wechſelſeitig Bundeseide auf treue Verthei-
digung der Verfaſſung und des Königs; ſie verbrüdern
ſich zu demſelben Zwecke mit den Linientruppen, erneuern
gemeinſam den Bürgereid. Man fühlt ſich in guten Vor-
ſätzen geſtärkt, aber es ſcheint nicht genug damit gethan,
die Gedanken wachſen, man möchte aus dieſen Bun-
desvereinen einen allgemeinen Verein, der das ganze
Vaterland umfaßt, einen Geſammtbund auf gleiche Grund-
ſätze hervorgehn ſehen. Das aber kann allein würdig
in Paris geſchehen; im Angeſicht der Nationalverſamm-
lung und des Königs müſſen die Abgeordneten aller
Vereine ſich zum großen Bunde zuſammenſchließen, ſeine
Gelübde beſchwören, ſein Feſt feiern; der Tag darf kein
anderer als der Jahrestag des 14ten Julius ſeyn, wel-
cher die Baſtille fallen ſah. Der Maire Bailly trat an
Juni 5.der Spitze einer Deputation des Gemeinderathes an die
Schranken der Nationalverſammlung; ſein Antrag auf
ein Bundesfeſt des franzöſiſchen Volks ward mit Be-
[333] geiſterung begrüßt. Zu den Vorbereitungen kommt die
ganze Hauptſtadt in Bewegung; auf dem Marsfelde ſoll
die große Eidesleiſtung ſeyn, man braucht 150,000 Erd-
arbeiter, um hier die Grundlagen des gewaltigen Am-
phitheaters zu errichten, deſſen Spuren man noch heute
dort erkennt. Denn unzählige frohe Menſchen ſollen
hier beiſammen Platz finden. Da greift Alles zum Spa-
ten und zur Hacke, alle Stände miſchen ſich, man ſieht
Mönche und Pfarrer graben, vornehme Frauen nehmen
Theil, in langen Zügen kommt man aus den benach-
barten Dörfern mit fröhlicher Muſik herbei. Selbſt der
König, der ſeit ſeiner Überſiedelung zum augenſchein-
lichen Nachtheile ſeiner Geſundheit weder ausritt noch
jagte, ſich kaum blicken ließ, kam um zuzuſehen und
frohe Miene zu machen. Nun die Erwartung der Fö-
derirten. Ihrer werden viele, über 16000 ſeyn, von
jedem Regiment vier alte Krieger, einen Officier an der
Spitze, von je 200 Mann Nationalgarden ein Abgeord-
neter. Zu ihrer gaſtlichen Aufnahme läßt ſich einſchrei-
ben wer Raum und wer keinen hat. Endlich kommt
der Tag des Feſtes, aber mit ihm Regen ohne Unter-Juli 14.
laß. Nichtsdeſtoweniger harren auf dem Marsfelde ſeit
früh um ſechs Uhr 300,000 Franzoſen jedes Alters und
Geſchlechtes, ſitzend, ſtehend, auf den Zug, der ſich
langſam vom fernen Baſtilleplatze heranbewegt. Unter-
deſſen weiden ſie ſich an dem Anblicke des Altars des
Vaterlandes, der inmitten des Marsfeldes hoch anſteigt,
[334] deuten ſeine Sinnbilder, beſprechen ſeine Inſchriften. Vor
der Militärſchule erhebt ſich über den amphitheatraliſchen
Stufen der Königsthron mit ſeinem Baldachin, rechts un-
mittelbar neben demſelben findet in gleicher Höhe der
Seſſel des Präſidenten der Nationalverſammlung ſeinen
Platz, zu beiden Seiten werden die Mitglieder Platz neh-
men. Gern wäre Mirabeau zur Zeit dieſes Feſtes Prä-
ſident geweſen und er verbarg es nicht, aber Lafayette
war ſeiner Wahl entgegen und widerſtand ſelbſt dem Zu-
reden des Königspaares. Wollte er, den der König für
dieſen Tag zum Oberbefehlshaber der geſammten bewaff-
neten Macht in der Hauptſtadt ernannt hatte, durch keine
Größe verdunkelt werden? oder war ſeine Meinung auf-
richtig, wenn er erklärte, an dieſem Tage dürfe nur ein
durchaus unbeſcholtener Mann die erſte Stelle in der Na-
tion einnehmen? Genug er beharrte und die Nationalver-
ſammlung erwählte den Marquis de Bonnay, einen ach-
tungswürdigen gemäßigten Mann, am 5ten Julius zum
Präſidenten. Schon aber langen, es iſt neun Uhr, die
erſten Abtheilungen des endloſen Zuges an, man ſieht die
Föderirten departementsweiſe geſchaart, alle in Waffen.
So wie ſie eintreten, ſtellen ſie ihre Gewehre zur Pyra-
mide zuſammen; um den gewaltiger ſtrömenden Regen
froher zu ertragen, umtanzt jedes Departement ſeine
Waffenpyramide und die Zuſchauer klatſchen Beifall von
oben. Nun aber verkünden Kanonenſchüſſe den Anfang
der Feier, und jedes Departement ſtellt ſich raſch geordnet
[335] um ſeine Pyramide. Man erblickt jetzt den Altar des Va-
terlandes umgeben von 300 Geiſtlichen, und ſieht dieſe
unwillkürlich darauf an daß ſie ſeit vorgeſtern zu bürger-
lichen Beamten gemacht ſind, welche nach den Gebräuchen
der urſprünglichen Kirche vom Volk erwählt werden ſollen,
doch bemerkt man weiter keine Veränderung an ihnen als
daß ihre weißen Meßgewänder mit dreifarbigen Bändern
verziert ſind. Nun wird Hochamt gehalten, hierauf Fah-
nenweihe. Im Angeſichte der Oriflamme von Frankreich,
einer neu verfertigten Reichsfahne, die den altehrwür-
digen Namen trägt, ſpricht Biſchof Talleyrand von Autun
den Segen über die Paniere der 83 Departements, wel-
chen drei Millionen franzöſiſche Nationalgarden folgen
werden. Jetzt empfängt Lafayette aus den Händen des
Königs die Formel des zu leiſtenden Bundeseides. Er
ſteigt die Stufen des Altars hinan, legt ſeinen Degen ab,
giebt mit einer Fahne das Zeichen und ſpricht die Eides-
worte: „Wir ſchwören, für immer der Nation, dem Ge-
ſetz, dem Könige getreu zu ſeyn und mit allen Kräften die
von der Nationalverſammlung beſchloſſene und von dem
Könige genehmigte Verfaſſung aufrecht zu halten, nach
Vorſchrift der Geſetze die Sicherheit der Perſonen und des
Eigenthums, den freien Verkehr mit Getraide und Lebens-
mitteln im Innern des Königreiches, die Erhebung der
öffentlichen Abgaben ohne Unterſchied zu beſchützen, und
in unauflöslichen Banden der Verbrüderung mit allen
Franzoſen zu leben;“ und die unermeßliche Menge oben
[336] und unten, Volk, Nationalgarden, Soldaten rufen:
„wir ſchwören,“ kriegeriſche Inſtrumente und Kanonen
fallen ein und in demſelben Augenblicke bricht die Sonne
durch das ſchwere Gewölk. Der Präſident der National-
verſammlung ſpricht, vor ſeinem Seſſel ſtehend, denſel-
ben Eid, und alle Mitglieder der Nationalverſammlung
wiederholen ihn. Zuletzt der König vom Throne; er er-
hob ſeine Hand gegen den Altar und ſprach mit lauter
Stimme: „Ich, König der Franzoſen, ſchwöre, die ganze
Gewalt, welche mir durch das Verfaſſungsgeſetz des
Staates übertragen iſt, anzuwenden, um die von der Na-
tionalverſammlung beſchloſſene und von mir angenommene
Verfaſſung aufrecht zu halten und die Geſetze ausführen
zu laſſen.“ Während des allgemeinen Jubels erhub die
Königin, welche eine Loge an der Militärſchule einnahm,
den Dauphin auf ihren Armen. Den Schluß machte ein
Tedeum um ſechs Uhr Abends; es knüpften ſich aber noch
einige feſtliche Tage an. Und die große Mehrzahl der
Bundesbrüder brachte eine fröhliche und gute Stimmung
in ihre Departements zurück, nicht zur Freude der dema-
gogiſchen Schriftſteller der Hauptſtadt, welche gegen dieſe
Eintracht wütheten. Camille Desmoulins, der ſich in
ſeinem mit Talent geſchriebenen Tagesblatte unverhohlen
den Generalprocurator der Laterne nannte, ermahnte, die
Laterne in Ehren zu halten, dieſes Kriegsgeſetz der Na-
tion, für Verbrecher gegen die Nation beſtimmt, nicht
zur Beſtrafung von Dieben herabzuwürdigen. Der junge
[337] häßliche Marat drängte in einer Flugſchrift: „Es iſt aus
mit uns,“ eine Unzahl von Verſchwörungen auf wenig
Seiten zuſammen, ſchalt den König, weil er ſeinen Eid
nicht am Altar geleiſtet, verlangte die Einſperrung der
Öſterreicherin und ihres Schwagers, hieß Lafayette einen
Verräther, der die eiteln und blinden Pariſer National-
garden durch Schmeicheleien ködre, nannte es eine kläg-
liche Menſchlichkeit ſich zu ſcheuen fünf- bis ſechshundert
Köpfe ſpringen zu laſſen; man werde dieſe Empfindſam-
keit mit dem Blute von Millionen Brüdern bezahlen müſ-
ſen. In ſeinem Blatte, dem Volksfreund, verlangte er
800 Galgen und daß Riquetti der Ältere zuerſt gehängt
werde. Wenn ſolch ein Giftpfeil abgeſchoſſen war, pflegte
dann der Schütze für einige Tage zu verſchwinden, und
Polizei und Gerichte fragten vergeblich nach dem Arzte
Marat.


Die ernſtlichſten Beſorgniſſe erweckte das Heerweſen
und dieſe waren durch das große Bundesfeſt merklich ge-
ſteigert. Es lag Alles daran daß die Linienregimenter ih-
ren Beruf nicht mit dem der Nationalgarden verwechſelten.
Man war aber auf den Weg dazu ſchon durch die Verbrü-
derungen, die gemeinſam beſchworenen Bürgereide in den
Departements gerathen. Die Aufhebung des Adels führte
einen großen Schritt weiter, die Gemeinen fingen an ihre
adlichen Officiere als Männer zu betrachten, die durch
ein altes Unrecht, einen jetzt glücklich überwundenen Mis-
brauch zu ihren Stellen gelangt waren; zu betrachten und
Franzöſiſche Revolution. 22
[338] allgemach auch zu behandeln: man verſchwieg ſich nicht
daß im Dienſte, daß in der Caſſenführung Vieles anders
werden müſſe. Nun kam das pariſer Feſt, an welchem
die 1200 Mann deputirte Linientruppen neben den 15000
deputirten Nationalgarden faſt verſchwanden. Der Sol-
dat erſchien ſich hier als ſolcher klein, um ſo raſcher lernte
er ſich als Bürger begreifen, Caſernenvereine, Caſernen-
berathſchlagungen ſtiften. Seitdem war die Macht der
Officiere gelähmt, unzählige Widerſetzlichkeiten erfolgten,
Aug. 6.ein Decret der Nationalverſammlung, welches dieſe Ver-
eine aufhob, brachte die Flamme des Aufruhrs in Nancy
zum Ausbruch. Die ganze Beſatzung, aus drei Regimen-
tern beſtehend, empörte ſich; der General Bouillé, ein
kühner Krieger und ein Ehrenmann, der die Revolution
nicht liebte, aber den Verfaſſungseid, einmal geleiſtet,
Aug. 31.halten wollte, mußte in die Feſtung mit ſtürmender Hand
eindringen und durch ein Blutvergießen dem Geſetze den
Sieg verſchaffen. Mirabeau ſtützte kräftig die Meinung,
daß die Nationalverſammlung ihren Dank gegen den
Heerführer und ſeine Truppen ausſpreche, und drang
durch; er auch ſprach kühn den Vorſchlag aus, das alte
Heer aufzulöſen und ſogleich ein neues wieder zu bilden,
deſſen Mitglieder einen Eid ſchwören ſollen, in welchem
die Nationalverſammlung die Pflichten des Soldaten mit
Klarheit niederlegen wird. Dieſer Antrag hatte keine Folge.


In den nächſten Tagen trat Necker ab; entmuthigt,
von körperlichen Anſtrengungen und Seelenleiden nieder-
[339] gedrückt, zuletzt ſogar für ſeine perſönliche Sicherheit in
Sorgen, nahm und empfing er ſeinen Abſchied. Ein freund-Sept. 4.
liches Wort, er geſteht es ſelbſt, hätte ihn zum Bleiben
bewogen, allein die Nationalverſammlung ſchien ſeinen
Abgang kaum zu beachten. Zweimal auf ſeiner Reiſe an-
gehalten, gleich als ob er der Gerechtigkeit entrinnen
wolle, er der zwei Millionen von ſeinem Vermögen dem
Schatze geliehen hatte, bedurfte er der Dazwiſchenkunft
der Nationalverſammlung, um unter vielfachen Kränkun-
gen in die Schweiz zu gelangen. Neckers politiſche Lauf-
bahn iſt hiemit zu Ende. Seine Zurückgezogenheit ſtützte
ein reines Gewiſſen und eine nie getrübte, in ſeiner
Schriftſtellerei durchweg ausgeprägte wunderbare Selbſt-
zufriedenheit mit allen ſeinen ſtaatsmänniſchen Leiſtungen.
„Malebranche,“ ſprach Mirabeau, „ſieht Alles in Gott,
Necker Alles in Necker.“


Was Neckern zunächſt forttrieb, war die obſchwebende
finanzielle Frage. Man hatte bereits 330 Millionen Aſ-
ſignaten ausgegeben und beſchloſſen ſie auf 400 Millionen
zu bringen. Wollte man auf dieſem Wege fortfahren, ſo
mußte man denjenigen Recht geben, welche zwei Milliar-
den Aſſignaten forderten. Necker war keineswegs dieſer
Meinung; er bewies daß man mit 200 Millionen neuer
Aſſignaten die Bedürfniſſe des öffentlichen Dienſtes decken
könne, rieth hier anzuhalten, alle rückſtändige Verbind-
lichkeiten mit Schuldſcheinen zu 5 Procent verzinslich zu
beſtreiten. Schon verloren in den Departements die Aſ-
22*
[340] ſignaten, obgleich ſie dem Inhaber zu Ende jedes Jahres
mit 3 Procent verzinſt wurden, 6 bis 10 Procent und
das baare Geld ward ſo ſelten, daß man in manchen
Städten ſich mit Scheinen, auf geringe Werthe lautend,
aushalf, um nur im täglichen Verkehr ſich auseinander-
ſetzen zu können. Denn die kleinſte Aſſignate betrug noch
immer 200 Livres. Nichtsdeſtoweniger verlangte Mira-
beau: man ſoll die Aſſignaten dreiſt vermehren, mit den-
ſelben die öffentlichen Verbindlichkeiten tilgen, zu gleicher
Zeit aber dem Papiergelde durch den Verkauf ſämmtlicher
Nationalgüter eine ſolide Grundlage geben; denn alle der-
geſtalt zurückſtrömenden Aſſignaten ſollen ſofort vernichtet
werden. Er mußte es in der Debatte oft genug hören, daß
er in früheren Schriften gegen alles Papiergeld geeifert,
es „die umlaufende Peſt“ genannt hatte. Allein mit ihm
hielten es alle diejenigen, welche in dem Verkaufe der Na-
tionalgüter, „dieſes Brautſchatzes der Revolution,“ eine
Gewährleiſtung ihres Beſtandes vermöge des Geſammt-
intereſſes aller Käufer erblickten, darum die Verkäufe mög-
lichſt beſchleunigt und durch die Zerſtückelung der Güter-
maſſen die Zahl der freien Grundbeſitzer Frankreichs ver-
mehrt zu ſehen wünſchten. Die Debatte, durch Bittſchrif-
ten Für und Wider aus den Departements mannigfach ge-
kreuzt, ging durch den Monat September, die Stimmen
theilten ſich dasmal nicht in gewohnter Weiſe; am leb-
hafteſten ſprach im Sinne der alten Staatsordnung der
Abbé Maury, am einſichtigſten Talleyrand aus Finanz-
[341] gründen gegen Mirabeau. Aber weder Mirabeau noch
Talleyrand ſtand dabei im Grunde recht auf eigenen Füßen;
jener folgte den Anſchlägen ſeines Vertrauten Clavière, ei-
nes vertriebenen Genfers, welcher ſich damals durch
Schriften und Ausarbeitungen im Sinne der neuen Ord-
nung der Dinge den Weg zum künftigen franzöſiſchen Fi-
nanzminiſter bahnte; Talleyrand dagegen hatte ſich von
dem Banquier Panchaud einſchulen laſſen, der, wie es
auch mit ſeiner Integrität als Kaufmann ſtehen mochte,
eine tiefe praktiſche Einſicht in die Finanzen beſaß. Am
Ende freilich löſte ſich der Kampf, auf deſſen Ausgang
ganz Frankreich geſpannt war, ſo ziemlich in einen Wort-
ſtreit auf. Man ging auf beiden Wegen, ſowohl dem
der Anleihen als dem des Papiergeldes, dem Staatsban-
kerutt unvermeidlich entgegen, ſo lange man kein Mittel
ausfand, den Gehorſam im Volke wiederherzuſtellen,
welcher der Quell aller Steuerzahlung iſt. Jene patrio-
tiſche Steuer, von welcher man ſich Wunder verſprochen,
ging etwa vom vierten Theile der Gemeinden ein. Der
Beſchluß der Nationalverſammlung fiel mit ſchwacher Mehr-
heit (508 gegen 423 Stimmen) dahin aus, die AſſignatenSept. 29.
von 400 auf 1200 Millionen, alle unverzinslich, zu brin-
gen. Zinſen werden fortan auch von den erſten 400 nichtOct. 8.
mehr bezahlt, und die kleinſte Aſſignate kommt auf 50 Li-
vres zu ſtehen. Mit den 1200 Millionen aber will man
nun auch ganz gewiß es genug ſeyn laſſen.


Einer der Kunſtgriffe der Aufwiegler war, alle Un-
[342] ruhen und Widerſetzlichkeiten, wovon die Nachricht ein-
ging, der Untüchtigkeit oder dem übeln Willen der Mini-
ſter des Königs aufzubürden. Während die Krone in
Machtloſigkeit verſank, verlangte man daß die Miniſter
als die Anſtifter des öffentlichen Unglücks in den Anklage-
ſtand verſetzt würden. Paris hatte ſo eben ſtatt der neuen
Eintheilung in 60 Diſtricte eine allerneueſte in 48 Sectio-
nen erhalten, und eine ihr entſprechende Municipalität or-
ganiſirte ſich, als die Sectionen den Entſchluß faßten, der
Nationalverſammlung die Miniſteranklage aus Herz zu
legen. Weigerte ſich auch Bailly, der ungeachtet mancher
Gegnerſchaft wieder erwählte Maire, dieſen Auftrag zu
vertreten, er durfte die läſtige Pflicht nicht ablehnen, die
Abgeſandten der Sectionen an die Schranken der Verſamm-
Nov. 10.lung zu führen. Ihr Redner war Danton, eben noch ein
dunkler Advocat, jetzt als Miterſtürmer der Baſtille, Vor-
ſitzender des Cordeliersdiſtricts allgenannt; ſeine athle-
tiſche Figur, ſeine Meduſenaugen in dem breiten von
Blattern beſprengten Geſichte, dieſe aufgeworfenen Nüſtern
und Lippen, die Schildhalter anmuthloſer Zuverſichtlich-
keit, verkündigten den angehenden Mirabeau des gemei-
nen Mannes. Er las ſeine Bittſchrift mit ungeheurer
Heftigkeit, eine ſo rauhe dröhnende Stimme hatte dieſe
Wände noch nicht erſchüttert, und ſein Vortrag enthielt
vulcaniſche Ausbrüche einer bisher unerhörten Staats-
weisheit. „Ganz Frankreich hatte Grund zu glauben daß
die Miniſter eine Entlaſſung einreichen würden, welche
[343] die Nationalverſammlung das Recht hat nach ihrem Gut-
dünken zu fordern.“ — „Wer hat das je behauptet?“
unterbrach Maury, aber Cazalès hieß ihn ſchweigen mit
den Worten: „Man muß Alles hören, auch die politi-
ſchen Abgeſchmacktheiten;“ man will das politiſche Wun-
derthier ausreden laſſen. Nun folgt ein Schlagſatz dem
andern: „Die Pariſer Commune iſt mehr im Stande als
jede andere, das Betragen der Miniſter zu würdigen; denn
ſie beſteht aus Bürgern, die gewiſſermaßen allen 83 Depar-
tements angehören, ſie iſt die erſte Schildwache der Con-
ſtitution und ſie iſt es, welche die ſchnelle, die unmittel-
bare Entfernung der Miniſter begehrt.“ Er zählt die Ver-
gehen derſelben auf. Champion der Siegelbewahrer hat
den Text mehrerer Decrete der Nationalverſammlung ver-
fälſcht — „Das iſt nicht wahr“ rufen mehrere Stimmen
dazwiſchen. — Guignard hat ſeine Politik im Divan ge-
lernt, mit ſeinem Damascener bedroht er die Köpfe der
Patrioten, will 6000 königliche Haustruppen bilden, ohne
daß die Nationalverſammlung darum gefragt iſt. De la
Tour-du-Pin iſt unfähig jedes Entſchluſſes, aber Feind
der Revolution, denn er hält ſeine Pergamente und ſeine
Eitelkeit für den wahren Adel — und in dieſem Tone bis
zu Ende fort. Die Verſammlung ging zwar in Bezug auf
den Antrag in der nächſten Sitzung zur Tagesordnung
über, aber die in der Adreſſe gefallenen Worte: „Die
Gemeine hat das Recht ihren Verdacht auch ohne Beweiſe
auszuſprechen“ und „es muß ſogleich ein Gerichtshof für
[344] die Verbrechen der verletzten Nation errichtet werden“ wu-
cherten in den Gemüthern der Menge, und dieſen Philo-
ſophen des nackten Willens, welcher, die Gewalt der
Fäuſte im Hinterhalt, keiner Gründe mehr bedarf, war
die Ehre der Sitzung zu Theil geworden. Auch gingen die
Miniſter allmählig von ſelbſt ab bis auf den minder ge-
tadelten Montmorin; aber der König ſollte doch nun ein-
mal Miniſter haben, und wenig fehlte ſo hätte er in ſei-
ner Apathie dem albernen Rathe Bergaſſe’s nachgegeben,
die Nationalverſammlung um Bezeichnung derſelben zu
bitten, wäre nicht Mirabeau dazwiſchen getreten.


Das Jahr 1790 endigte überaus traurig für den Kö-
nig; denn das Werk, deſſen Grund man am 12ten Ju-
lius legte, ward am 27ſten November vollendet, die neue
Juli 12.Verfaſſung der Geiſtlichkeit. An jenem erſten Tage ward
beſchloſſen: In jedem Departement ſoll ein Biſchof ſeyn,
zehn Erzbisthümer im ganzen Königreiche: die Wahl der
Biſchöfe und der Pfarrer geſchieht nach dem Muſter der
urſprünglichen Kirche durch das Volk nach Stimmenmehr-
heit: alle Kirchendiener werden aus dem königlichen
Schatze beſoldet, ohne daß Accidenzien ſtattfinden. Man
rechnete aber, daß dieſe Beſoldungen insgeſammt, die Jahr-
gelder der Mönche und Nonnen mit eingeſchloſſen, nur
die Hälfte der bisherigen Einkünfte der Geiſtlichkeit ver-
zehren würden. Dieſe Neuerungen drangen tief in die
Kirchenverfaſſung ein, allein es ſchien nicht ganz unmöglich,
die Zulaſſung des Papſtes für ſie zu gewinnen, Pius VI.,
[345] der dem Kaiſer Joſeph in verwandter Richtung zwar we-
nig zugeſtanden, aber Vieles nachgeſehen hatte. Allein
als Ludwig ſeine ſchmerzliche Genehmigung zögernd gege-Aug. 24.
ben hatte und nun den Papſt beſchwor ihm in dieſem grau-
ſamen Drange zu Hülfe zu kommen, entgegnete Pius:
„Seine Majeſtät wolle nicht glauben daß ein rein politi-
ſcher Körper die allgemeine Lehre und Zucht der Kirche
verändern könne, Beſchlüſſe faſſen könne wegen der Wahl
der Biſchöfe oder wegen Aufhebung biſchöflicher Sitze.
Ferne ſey es daß Seine Majeſtät ihr ewiges Heil daran
wage oder das Heil ihrer Völker, mittelſt einer voreiligen
Genehmigung zum Ärgerniſſe der ganzen katholiſchen Welt.
Hat der König den Rechten ſeiner Krone entſagen können,
ſo darf doch keine Rückſicht ihn verleiten, ſeine Pflicht gegen
Gott und die Kirche zu opfern, deren älteſter Sohn er iſt.“
Dieſe Worte, ſorgſam verheimlicht, laſteten darum nicht
minder ſchwer auf des Königs Gemüthe. Nun kam das
Decret vom 27ſten November. Jeder Geiſtliche, der ſey’s
ein Kirchenamt, ſey’s ein Schulamt verwaltet, ſoll den
Eid leiſten: „Ich ſchwöre mit Sorgfalt für die Gläubigen
zu wachen, deren Leitung mir anvertraut iſt; ich ſchwöre
der Nation treu zu ſeyn, dem Geſetze und dem Könige;
ich ſchwöre mit aller meiner Macht die franzöſiſche Conſti-
tution aufrecht zu erhalten und namentlich die Decrete,
welche die bürgerliche Verfaſſung der Geiſtlichkeit an-
gehen.“ Wer dieſen Eid in gewiſſer Friſt nicht leiſtet,
hat ſein Kirchenamt verwirkt. Das hieß einen harten
[346] Zwang auf die Gewiſſen legen, ſo lange die päpſtliche
Beſtätigung fehlte, und wohl hätte dem Könige, ganz
anders überzeugt wie er war, ſein Gewiſſen ſagen können,
der Augenblick ſey gekommen, da die irdiſche Krone ge-
opfert werden müſſe, um die ewige zu erlangen. Papſt
Pius wünſchte nichts mehr, als eine muthige Erklärung
des Königs durch einen Blitz vom Vatican unterſtützen zu
können. Allein der König that nichts weiter als daß er
ſeine Genehmigung hinausſchob. Das hatte drei Wochen
Dec. 23.gedauert, da ſchickte die Nationalverſammlung ihren Präſi-
denten zum Könige, bat ihn die Gründe ſeiner Zögerung
anzugeben. Ludwig erwiderte, ſeine Achtung gegen die
Religion ſey die Urſache, nicht minder ſein Wunſch (auf
Unterhandlungen mit Rom hindeutend) die Unruhen zu
vermeiden, welche der neuen Ordnung drohten. Der Prä-
ſident mußte noch einmal zurückkehren und nun gab Lud-
Dec. 26.wig nach. Seitdem ſah er kein Heil mehr, wünſchte
Frankreichs Gränze im Rücken zu haben.


Noch machte der Biſchof von Clermont einen Verſuch,
ſchlug die Eidesformel vor: „Ich ſchwöre der Nation,
dem Geſetze und dem Könige treu zu ſeyn und mit meiner
ganzen Macht in Allem was der Staatsordnung gemäß
iſt die von der Nationalverſammlung decretirte und vom
Könige angenommene Verfaſſung aufrecht zu halten, mit
ausdrücklicher Ausnahme derjenigen Gegenſtände, welche
weſentlich von der geiſtlichen Autorität abhängen;“ es
gelang ihm nicht, und über ein Drittel der geiſtlichen Mit-
[347] glieder der Nationalverſammlung leiſtete den vorgeſchriebe-
nen Eid, unter ihnen Talleyrand und Gregoire. Am 4ten
Januar war die geſetzte Friſt abgelaufen und der nament-1791.
liche Aufruf aller Mitglieder der Nationalverſammlung
geiſtlichen Standes, welche den Eid noch nicht geleiſtet,
trat auf den Antrag Barnave’s ein. Aber hier folgte eine
Weigerung der anderen, nur ein einziger Pfarrer ſchwur.
Und es machte großen Eindruck in ganz Frankreich als man
vernahm, ſo manchem Biſchof, ſo vielen Pfarrern habe
ihre kirchliche Überzeugung mehr als ihr Kirchenamt ge-
golten. Seitdem war in Frankreich eine Menge von geiſt-
lichen Stellen unbeſetzt und man unterſchied zwiſchen be-
eidigten und unbeeidigten Prieſtern, welche letzteren nun
nicht länger für Prieſter gelten ſollten, aber in den Augen
der Gläubigen um ſo mehr dafür galten. An dieſem De-
cret ſchliff der Bürgerkrieg ſeine Waffen. Denn wie lange
wird es dauern, ſo theilt ſich Frankreich in zwei Parteien,
die eine ſprechend: „Weg mit einer Freiheit, die uns un-
ſer ewiges Heil, unſere Kirche nimmt,“ die andere da-
gegen: „Wir ſind frei und glücklich, weg mit einer Kirche,
die uns dieſe himmliſchen Güter rauben will; uns bleibt
der Gott, der die Welt geſchaffen hat, der Gott der Frei-
heit.“ Biſchof Talleyrand weihte die neuen Biſchöfe,
machte dann von der ihm angeborenen feinen Witterung
Gebrauch und trat mit raſchem Sprunge aus dem gefähr-
lichen geiſtlichen Stande hinüber in die Weltlichkeit.Febr.


Mirabeau erkannte vollkommen die Tiefe des Ab-
[348] grundes, welchen die Nationalverſammlung durch die Be-
ſchlüſſe über die Geiſtlichkeit unter ihren Füßen eröffnete.
Das zeigt ein Brief von ihm vom 27ſten Januar. „Das
iſt eine neue Wunde und die giftigſte von allen; ſie wird
den Brand vollends in die vielen Schwären bringen, von
welchen unſer politiſcher Körper zernagt, zerfreſſen und
aufgelöſt wird. Wir hatten uns einen König im Bilde
gemacht, einen König ohne Macht, einen geſetzgebenden
Körper, der verwaltet, der unterſucht, der richtet, der
belohnt, der ſtraft, der Alles thut, außer was er thun
ſollte. Nun aber ſtellen wir die kirchliche Spaltung an die
Seite der politiſchen; wir hatten noch nicht Widerſetzlich-
keiten genug, wir ſchaffen uns neue nach Luſt, nicht Ge-
fahren genug, wir rufen die allerſchlimmſten hervor, nicht
Verlegenheiten genug, wir ſchaffen uns die unentwirrbar-
ſten; das kann das Ende von Allem herbeiführen, wenn
die Verſammlung nicht bald müde wird den Anarchiſten zu
gehorchen.“ Derſelbe Mirabeau aber erkannte, wohin
die Woge der öffentlichen Meinung unaufhaltſam gehe,
und machte ſich wider innere Überzeugung zum Genoſſen
Barnave’s, um ſeinen Einfluß in der Verſammlung zu
behaupten. Allerdings ging bei hoher Ehrfurcht gegen die
Religion, welche Mirabeau in ſeinen Reden nie verläug-
net, die Freiheit ſeiner Anſicht, der beſtehenden Kirchen-
ordnung gegenüber, weit. Wir finden in ſeinem Nach-
laſſe eine ausführliche, völlig ausgearbeitete Rede gegen
den Cölibat der Prieſter. Allein wenn er dieſe gleich, um
[349] die Stürme der Zeit nicht zu vermehren, zurückhielt, ſo
wagte er von der anderen Seite nicht mit ſeiner wahren
Anſicht herauszutreten. Denn innerlich war er der Mei-
nung, die er auch vor Vertrauten kundgab, dem Staate
ſey genug geſchehen, wenn es bei dem gewöhnlichen Bür-
gereide bleibe, welchen die geiſtlichen Mitglieder der Na-
tionalverſammlung bereits geleiſtet hatten, und er billigte
weder das öffentliche Aufſehn des Namensaufrufes, noch
überhaupt daß man zu einem Thun wider die Überzeu-
gung zwinge oder eine Unterlaſſung durch Entſetzung ſtrafe.
Aber ſeine Einſicht blieb thatlos. Das Einzige, was er
vollbrachte, war eine Maßregel, die der drohenden Ver-
ödung ſo vieler Kirchenämter vorbeugen ſollte; denn die
Nationalverſammlung genehmigte auf ſeinen Vorſchlag,
daß von nun an ein fünfjähriger Kirchendienſt, ſtatt eines
fünfzehnjährigen, zum Pfarramte befähigen ſollte und nach
Verhältniß ſo weiter in den höheren Kirchenwürden.


Soll man nun Mirabeau’s ganzes Treiben, ſeit er
den Bund mit der Krone geſchloſſen, als eine Handlungs-
weiſe betrachten, die ihr eigenes Werk zerſtört? und ſie
verurtheilen als das Zeugniß einer Geſinnung voll inneren
unlauteren Widerſpruches? Ganz gewiß muß man das
Erſte bis zu einem gewiſſen Puncte, aber ſchwerlich darf
man Letzteres. Der Schlüſſel liegt nahe genug; wer ihn
aber brauchen will, darf das innerſte Wollen dieſes wun-
derbaren Mannes nicht mit ſeiner Lage vermengen, er
muß beide aus einander zu halten wiſſen, ſo oft ſie auch
[350] in einander greifen. Kein Zweifel, dieſe nach Macht und
Ruhm dürſtende Seele hatte ein hohes Ziel im Sinne.
Die Nachwelt ſollte von ihm ſagen: „Er hat, um Frank-
reich frei zu machen, die Ordnung erſchüttert, Frankreich
iſt frei! und derſelbe Mann hat die Ordnung wieder her-
geſtellt; er hat die Flecken einer wüſten Jugend durch ein
unſterbliches Werk ſeines Mannesalters abgewaſchen.“
Allein das Werk, im Übermuthe des Selbſtgefühls be-
gonnen, will ſich nicht vollenden, jene entſtellenden Flecken
weichen nicht: zuerſt ſchließt ihn ſein Ruf von der höch-
ſten Stelle hart am Throne, die ſeinem Genie gebührte,
aus, hierauf ein unſinniger Beſchluß der Nationalver-
ſammlung. Nichtsdeſtoweniger iſt er der Rath des Kö-
nigspaares geworden, allein ſein Rath ringt hier mit ei-
ner Unſchlüſſigkeit, welche ſtets neue Recepte verlangt
ohne den bittern Trank je anzurühren, und wird von ihr
beſiegt; draußen aber nennt man ihn einen Verräther an
der Freiheit, ſobald er Mäßigung predigt, denn man
ahnt ſein Verhältniß zum Hofe. So krankte er in der letz-
ten Zeit, von der Unhaltbarkeit ſeiner doppelſinnigen Lage
gepeinigt, ſchwerer als je an ſeinem Rufe. Zu einem Ab-
geordneten ſprach er: „Ich weiß ſchon, Sie lieben mich
nicht; ich ſage mehr, Sie achten mich nicht.“ Zu einem
Vertrauten ſprach er: „Ach wenn ich in die Revolution
einen Ruf gebracht hätte, ähnlich dem von Malesherbes,
welche Zukunft hätte ich meinem Lande geſichert! welch
einen Ruhm an meinen Namen geknüpft!“ Allein ſein
[351] ſtolzer Geiſt raffte ſich immer wieder auf. Eine Unſterb-
lichkeit ſollen ihm ſeine Widerſacher nicht rauben, den
Ruhm, der Freiheit einen Boden gegeben zu haben, in
Frankreich und durch Frankreich in Europa, — denn er
blickte gern hinaus auf die ganze bürgerliche Geſellſchaft
im Welttheile. Der träge Ballaſt des Mittelalters iſt fort-
geſchafft, das Lehnsweſen unwiederbringlich vernichtet,
frei der Boden des Landmanns und ſein Geſchäft; auch
an die Veraltungen des Kirchenthums iſt die Art gelegt,
keine Staatsreligion mehr, keine Herrſchaft Roms über
den Staat. So trieb er vor aller Welt Augen das Werk
der Neugeſtaltung weiter, ſinniger freilich als die Andern
der linken Seite, aber doch wirklich während er im Ver-
borgenen ſich zur Wiederherſtellung der Ordnung an Men-
ſchen verpfändet hat, die in ſeiner Ordnung ſtets nur Un-
ordnung erblicken werden. Hätte er alſo wirklich den Kö-
nig getäuſcht? oder beide Theile? Vor dem König, der
Königin und Montmorin wollte er Ruhe haben, wenn er
gelegentlich ſagte, er ſtelle dieſe Dinge an, damit ſich die
Nationalverſammlung ihr eigenes Grab grabe. Denn das
war nicht der Fall; er achtete aufrichtig die raſche Beſei-
tigung morſcher Zuſtände für ein hohes Verdienſt um die
Zukunft, obgleich er, wäre ihm freie Hand gegeben, die
Maſſe der Streitfragen, welche Frankreich iſoliren muß-
ten, nicht ſo gehäuft haben würde. Aber ſo viele Vor-
würfe auch gegen ihn ausgeſprochen ſind, deſſen hat ihn
niemand noch zu beſchuldigen gewagt, die Rathſchläge,
[352] welche er dem Königshauſe gab, wären nicht ehrlich, wä-
ren nicht zweckmäßig geweſen.


Damals kreuzte ſich eine Menge von Planen für die
Errettung des Königthums. Der vormalige Miniſter Bre-
teuil war in die Schweiz ausgewandert. Er wandte ſich
von Solothurn durch eine Mittelsperſon (Oct. 1790) an
die Königin. Der König ſoll heimlich Paris verlaſſen,
ſich in eine Feſtung werfen, welche der treue Bouillé ihm
angeben wird. Dort wählt er ſich ſeine Miniſter, ſpricht
von dort die Grundlagen der künftigen Staatsordnung aus
und bietet ſie an. Im Nothfalle werden fremde Mächte zu
dem Gelingen durch Truppen mitwirken, und Breteuil un-
ternimmt es, ſie günſtig dafür zu ſtimmen; der Ausgewan-
derten aber ſoll man ſich ſo wenig als möglich bedienen.
Breteuil meinte es aufrichtig mit dem Könige, ohne ſeine
eigene Zukunft, wenn er der Retter wäre, darüber zu ver-
geſſen. Denn nicht ohne Eiferſucht vernahm er daß Herr
von Calonne in Turin angekommen ſey, wo der Graf
von Artois mit vielen Ausgewanderten unter dem Schutze
der ſardiniſchen Regierung lebte. Breteuil ſah voraus daß
Calonne nicht ruhen werde, bis er ſich die Palme zuge-
wendet hätte. Wirklich heckte man auch dort einen Ret-
tungsplan aus, deſſen Grundlage die Überzeugung war,
ganz Frankreich harre ſehnſüchtig auf die Rückkehr ſeiner
Ausgewanderten, mit Ausnahme einer kleinen Zahl ver-
ſtockter Böſewichter. Alles ſoll von Lyon aus geſchehen,
wo man Einverſtändniſſe hat, wo der Commandant
[353] gewonnen iſt: der König ſoll ſich dahin begeben, die zweite
Stadt des Königreiches wird von nun an die erſte ſeyn.
Allein Ludwig verwarf dieſen Plan und ließ den Prinzen
verbieten ihn zu verfolgen; er hatte bereits Schritte in der
Richtung Breteuils gethan, Anfang December an den
Kaiſer und andere Mächte geſchrieben, ließ den Bouillé
erforſchen. Dieſer nun hatte einen dritten Entwurf fertig.
Nichts hier von geheimer, immer gefährlicher, immer
herabwürdigender Flucht. Bouillé ſchließt ſich an die Lage
der auswärtigen Angelegenheiten an. Durch die Decrete
vom 5ten Auguſt 1789 ſehen ſich verſchiedene deutſche
Fürſten, weltliche und geiſtliche, in ihren Intereſſen ver-
letzt. Kann der Kaiſer bewogen werden eine drohende
Demonſtration zu machen, ein Truppencorps an der fran-
zöſiſchen Gränze zuſammenzuziehen, ſo iſt eine Gegenrü-
ſtung Frankreichs die nothwendige Folge davon. Bouillé
wird Sorge tragen die getreueſten Regimenter zu verſam-
meln. Die Truppen werden ſich alsdann die Gegenwart
des Königs erbitten, die Behörden des Departements, in
welchem Bouillé den Befehl hat und beliebt iſt, ſind leicht
vermocht ein Gleiches bei der Nationalverſammlung zu
thun, und in dieſer kann ja der König auf Unterſtützung
zählen; Bouillé ſtand nämlich im Geheimniß der Verbin-
dung mit Mirabeau. Iſt das aber ſo weit gelungen, ſo
kann das Weitere kaum fehlen: der König wird, von
Truppen die ihn lieben, welchen er vertraut, umgeben,
als Friedensſtifter auftreten. Auch dieſer Plan hatte ſeine
Franzöſiſche Revolution. 23
[354] Schwächen, ſein Gelingen hing von zwei Gewalten ab,
von dem Auslande und von der Nationalverſammlung,
aber er hatte den unermeßlichen Vorzug, den König nicht
zu verwickeln und ſeine Thatkraft erſt in Anſpruch zu neh-
men, wenn keine Wahl mehr bleibt. Inzwiſchen erklärte
ſich Bouillé bereit auch zur Ausführung des Breteuilſchen
Anſchlages zu helfen, ohne ihm darum mehr zu vertrauen.
Einen vierten Plan bildete Mirabeau im Februar 1791
Jan. 29
bis
Febr. 13.
aus, wunderbar genug gerade zu der Zeit, da er Prä-
ſident der Nationalverſammlung war. Er bekleidet dieſe
Würde zum erſten Male, denn Eiferſucht und Mistrauen
ſind Urſache daß man ihn bei 42 Wahlen übergangen
hat, aber keine Präſidentur iſt mit ſolcher Sicherheit und
Geſchicklichkeit, mit ſolcher Achtung gegen die Verſamm-
lung und zugleich ſo Achtung gebietend geführt als die
dreiundvierzigſte. Mirabeau’s Plan war: Man muß eine
Auflöſung der Nationalverſammlung bewirken, indem ſie
von den Departements aus gefordert wird. Dahin bringt
man es, indem man unter dem Vorwande, die Einthei-
lung des Königreichs in Departements, Diſtricte, Can-
tons völlig ins Leben zu rufen, aller Orten hin königliche
Commiſſarien abſendet; dieſe müſſen die Gemüther dafür
ſtimmen und daß die neuen Wahlen einſichtig geſchehen.
Die neue Verſammlung unterwirft die Verfaſſung einer
Reviſion, deren Grundlagen ſind: die Theilung des ge-
ſetzgebenden Körpers in zwei Kammern, das abſolute
Veto des Königs und ſein Recht die zwei Kammern auf-
[355] zulöſen. Ferner: laut der von der Nationalverſammlung
beliebten Verfaſſung darf der König keinen Beamten ſus-
pendiren ohne die Nationalverſammlung davon zu benach-
richtigen, und dieſe hat das Recht die Suſpenſion zu ver-
werfen oder zu beſtätigen; das muß ein Ende haben;
die Regierung muß wieder zur Regierung gelangen, indem
die Verwaltungsbehörden in den Departements und die
Municipalitäten unter die wirkliche Aufſicht des Königs
und ſeiner verantwortlichen Miniſter treten; eben ſo die
Nationalgarde. Dagegen bleiben die Reſultate des 5ten
Auguſt unangetaſtet, aber bloß der dritte Theil der Gü-
ter der Geiſtlichkeit wird für die Bedürfniſſe des Staats
verwendet. Dieſer Entwurf ward von Mirabeau in einer
nächtlichen Zuſammenkunft mitgetheilt, welche bei demFebr.
Miniſter Montmorin ſtattfand. Man kennt das Geheim-
niß (durch Droz) aus ungedruckten Memoiren Malouets,
welcher zugegen war. Man blieb von 10 bis 2 Uhr bei-
ſammen. Mirabeau war damals krank und matt; ein Fie-
ber nöthigte ihn zwei Tage lang die Präſidentur abzutre-
ten; man ſah ihn dieſen Abend mit entzündeten Augen
ſitzend, welche blutig unterlaufen aus ihren Höhlen tra-
ten, allein die Gewalt ſeiner Beredſamkeit erfocht den ge-
wohnten Sieg. Mirabeau enthüllte in dieſer Unterredung
nicht alle ſeine Geheimniſſe. König und Königin kannten
damals ſchon die Grundzüge ſeines Anſchlags durch den
Grafen Lamark; allein in der Unterhaltung mit dieſem
war der Königin ein Wort entfallen, welches Lamark auf
23*
[356] einen Abreiſeplan deuten mußte, bei welchem man auf
Bouillé rechne. Er verbarg ſeine Beſtürzung, vertraute
aber ihren Grund dem Freunde, der ſtatt irre zu werden
alsbald den Gedanken auffaßte, man müſſe ſich durch
Bouillé verſtärken. Auf ſeinen Antrieb theilte Lamark dem
Königspaare mit, Mirabeau wünſche daß Bouillé ſeinen
Plan kenne, er, der einzige General von Einfluß bei der
Armee und der vielleicht mithelfen müſſe. Somit erhält
Lamark den Auftrag nach Metz zu Bouillé zu eilen. Dieſer
wird ganz gewonnen für einen Anſchlag, welcher die Vor-
theile ſeines und des Breteuilſchen Entwurfes vereinigt,
ohne an ihren Gebrechen zu kranken, ſchreibt dem Könige,
er möge ſich an Mirabeau halten, dieſen Mann durch
jede Gunſt an ſich feſſeln. Ein Verſuch, welchen gleichzei-
tig Mirabeau auf Lafayette machte, ob er ihn für ſeine
Entwürfe gewinnen könne, ſcheiterte. Lafayette traute
nicht, man ging entfremdeter aus einander als man ge-
kommen war. Um ſo größer aber Mirabeau’s Freude über
das Gelingen Lamarks; er ſah Hoffnungen mit Erfüllung
gekrönt, die er kaum mehr genährt hatte. Mit verjüngter
Kraft ſtemmte er ſich der Anarchie entgegen. Die alten
Tanten des Königs fühlten ſich in Frankreich nicht mehr
zu Hauſe, ſeit die Decrete über die Geiſtlichkeit ſie in ih-
rer gewohnten Andacht beunruhigten, beeidigte Prieſter
vorſchrieben; ſie wollten den vaterländiſchen Boden je eher
je lieber verlaſſen, nahmen eine Reiſe nach Italien zum
Vorwande. Mirabeau hätte dieſe Reiſe gern verhindert,
[357] die in einem Augenblicke, da Alles darauf ankam dem Kö-
nige Popularität zu gewinnen, ſtörend dazwiſchen trat:
allein was bedeutet für Tanten die Politik? er richtete
nichts aus. Was er aber vorhergeſagt hatte, traf ein.
Die Damen wurden unterwegs angehalten. Nun bliebFebr. 19.
Mirabeau feſt dabei, es gebe kein Geſetz, welches der
Reiſe der Prinzeſſinnen entgegenſtünde, das Wohl des
Volks aber gebiete die Beobachtung der Geſetze — und
dem geſchah ſo. Bald hernach aber wollte man die Aus-
wanderung verboten wiſſen. Mirabeau erklärte ein Geſetz
über die Auswanderungen für unausführbar. Er erſuchte
die Verſammlung, eine Stelle eines Schreibens anhören
zu wollen, welches er an den König von Preußen bei ſei-
ner Thronbeſteigung gerichtet habe; in derſelben bittet
er den unumſchränkten Herrſcher, ſeine Unterthanen allein
durch das Glück, welches ſie genießen, an ſeinen Staat
zu feſſeln, keineswegs durch ein tyranniſches Verbot der
Auswanderung. Ein Theil der Verſammlung, ohne ſei-
nen allgemeinen Grundſatz zu bekämpfen, wollte die Lage
der Gegenwart in Erwägung gezogen wiſſen und ſchlug vor,
einen Ausſchuß von drei Mitgliedern zu beſtellen, der über
jeden einzelnen Fall mit dictatoriſcher Gewalt entſcheiden
ſolle. Hierauf Mirabeau: „Wohl, ſo nennet das nicht
ein Geſetz über die Auswanderungen was eine polizeiliche
Maßregel ſeyn würde. Ohne Zweifel ſteht eine ſolche in
Eurer Macht. Aber daraus daß Ihr ſie ergreifen könnet,
folgt noch nicht daß Ihr es thun ſollet. Ihr ſollt es nicht,
[358] denn ſie iſt unausführbar.“ Er ſprach weiter: „Ich er-
kläre mich für entbunden von jedem Eide der Treue gegen
diejenigen, welche die Ehrloſigkeit begingen, ein dictatori-
ſches Comité zu ernennen. Die Popularität, um welche
ich mich beworben und welche ich die Ehre gehabt habe
zu genießen wie nur irgend jemand ſonſt, iſt kein ſchwa-
ches Schilfrohr; ich will ſie tief in die Erde pflanzen, daß
ſie Wurzel ſchlage auf dem unerſchütterlichen Boden von
Vernunft und Freiheit. Wenn Ihr ein Geſetz gegen die
Febr. 28.Auswanderer gebt, ſchwöre ich ihm niemals zu gehorchen.“
Dieſe Worte ſind berühmt geworden, obgleich ſie ihr Ziel
überſprangen, und vielleicht eben darum. Aber ſo erging
es dem großen Redner öfter und beſonders in ſeiner letzten
Zeit. Denn an dieſer ſtehen wir, ſeine Tage ſind gezählt.


Es fügte ſich daß der König in den erſten Tagen des
März erkrankte. „Was kümmert uns,“ ſchrieb Camille
Desmoulins in ſeinem Blatte, „der Schnupfen vom Äl-
teſten der Capets!“ War es nun daß das körperliche Mis-
gefühl ſeine morſchen Entſchlüſſe überwältigte, kaum ge-
März 15.neſen ſchrieb Ludwig einen Brief an Bouillé: alle frühere
Verabredung iſt darin rein vergeſſen, er will fort, flüch-
ten mit ſeiner Familie, vor Ende April muß Alles dazu
bereit ſeyn. Die Kunde dieſer Abtrünnigkeit erreichte den
Mirabeau nicht mehr. Damals litt er ſchon an heftigen
Anfällen von Schmerzen der Eingeweide, die ihm doch
nicht verboten ſich immer wieder aufzuraffen. Vom 20ſten
bis zum 27ſten März ward über die Bergwerke debattirt.
[359] Mirabeau verfocht mit ungemeiner Lebhaftigkeit das Prin-
cip der Oberaufſicht des Staates oder, wie man damals
ſagen mußte, der Nation auf den Bergbau, infofern näm-
lich daß die Bearbeitung wirklich ſtattfinde und in keinen
Raubbau ausarte, allein er verfocht das Näherrecht des
Beſitzers von Grund und Boden gegen den Anſpruch des
Entdeckers des Bergwerks. Er iſt in dieſer Angelegenheit
fünfmal aufgetreten und immer mit der ihm eigenthümlichen
ſprühenden Gluth, welche jeden Widerſtand vertilgt, das
letzte Mal am 27ſten. Als er an dieſem Tage in die Sitzung
ging, ſprach er bei ſeinem Lamark vor, der bei dem Aus-
gange als Bergwerkbeſitzer mit ſeinem Vermögen intereſſirt
war. Er blieb dort eine volle Stunde bewußtlos auf dem
Sopha liegen, fuhr dann in die Sitzung, hielt ſeine Rede
über die Minen, und kehrte mit dem Gefühle tödtlicher Er-
ſchöpfung nach Hauſe. Der Kranke pflegte den Grund ſei-
nes Übels vom Februar 1788 zu leiten, da ihn was er cho-
lera-morbus
nannte befallen habe; er habe das Leben von
zehn kräftigen Menſchen in ſich getragen, von da an ſey er
aus dem Sommer in ſeinen Herbſt getreten. Seine Augen-
leiden ſchrieb er dem feuchten Local in den Sälen des Reit-
hauſes zu. An demſelben 27ſten, da er ſeine letzte Rede
hielt, wollte er noch das italiäniſche Theater beſuchen, man
ſah ihn ſchwanken, er mußte am Eingange umkehren.


Der Ruf von Mirabeau’s Fähigkeiten war unermeßlich,
weit größer als ſeine Popularität. Es war ſo angenommen
daß für ihn das einfältige Wort „unmöglich,“ wie er ſelbſt
[360] es nannte, nicht gelte, alle großen Dinge gingen auf ſeinen
Namen; der Fuhrmann nannte ſein Stangenpferd, welches
die ſchwerſte Arbeit thun muß, ſeinen Mirabeau. Auf die
Nachricht von ſeiner Krankheit füllte ſich die Straße in
der er wohnte (rue de la chaussée d’Antin) mit Volk:
die Menge trug Sorge an beiden Seiten ſeines Hauſes ab-
zuſperren, damit das Geräuſch der Wagen ihn nicht ſtöre.
Aber man wollte von ſeinem Befinden wiſſen und es reichte
nicht hin ſchriftliche Nachricht bei dem Pförtner niederzu-
legen, man mußte die Bulletins drucken laſſen. Der König
ſchickte ein Paar Mal des Tages ganz öffentlich. Der Ja-
cobinerclub, deſſen Präſident Mirabeau letzten Winter eine
Weile geweſen war, ſchickte eine Deputation, an deren
Spitze Barnave ſtand. Der Kranke konnte ſie nicht ſehen,
doch ſprach er als er vernahm, Alexander Lameth habe ſich
ausgeſchloſſen: „ich kannte ihn bisher als einen Aufwieg-
ler, aber noch nicht als einen Narren.“ Mirabeau ließ bei
ſeinen Leiden den Gang der Nationalverſammlung nie aus
den Augen, ſprach gern von den auswärtigen Angelegen-
heiten, beſonders von den geheimen Entwürfen Englands:
„Dieſer Pitt iſt der Miniſter der Vorbereitungen; er re-
giert durch das was er droht mehr als durch das was er
thut. Hätte ich gelebt, ich glaube, ich hätte ihm Verdruß
gemacht.“ Um ihn waren außer ſeinem Arzte Cabanis
und ſeiner Schweſter Madame Le Saillant gewöhnlich
ſeine Freunde Lamark und Frochot. Als er zu Letzterem
ſagte: „Ich habe Schulden, deren Größe ich nicht kenne,
[361] auch mein Vermögen kenne ich nicht,“ übernahm Lamark
die Ausrichtung derjenigen Legate, welche ſein Vermögen
überſteigen möchten. Die letzte Arbeit dieſes Mannes, den
ſeine eigenen Angelegenheiten ſo wenig angingen, war eine
Rede über die Vererbungen und Einſetzungen durch Teſta-
ment, ein Gegenſtand, deſſen Grund der berühmte Rechts-
gelehrte Merlin, Deputirter von Douay, gelegt hat: Die
Vererbung ſoll künftighin nicht mehr verſchiedenartig nach
Provinzen, ſondern nach einem durchſtehenden Grundſatze
geregelt ſeyn; der Vorzug der Erſtgeburt und des Mannes-
ſtammes fällt weg, und ſo lange das Vermögen in directer
Linie bleibt, wird das Verfügungsrecht ſehr beſchränkt ſeyn.


Am Morgen vor ſeinem Todestage hörte man Kanonen-
ſchüſſe. Der Kranke fuhr auf und rief: „Fängt ſie ſchon an,
die Leichenfeier des Achilles?“ Den Morgen darauf am
2ten April, ganz frühe, ſprach er zu Cabanis: „Mein
Freund, ich ſterbe heute;“ er wollte aufſtehen, ſich zum
letzten Male ankleiden laſſen, aber vermochte es nicht. Da
ließ er ſein Bette nah an das Fenſter tragen, ſah in ſeinen
Garten hinaus in den Sonnenſchein. Hier war eine Ab-
theilung von ſeinem Bataillon Nationalgarden aufgeſtellt,
deſſen Befehlshaber er ſeit Kurzem geworden war. Lange
ſprach er dann mit den Freunden, beſonders über die Zu-
kunft von Frankreich. Hier fielen die Worte: „Ich trage
in meinem Herzen die Todtentrauer der Monarchie; die
Aufrührer werden ſich in ihre Trümmer theilen.“ Noch
kam Talleyrand, um den Sterbenden zu ſehen, und die ſo
[362] lange unterbrochene freundſchaftliche Verbindung knüpfte
ſich für wenige Momente wieder. Ihm übergab Mirabeau
jene letzte Ausarbeitung.


Bald darauf verlor er die Sprache. Als die Schmer-
zen furchtbar wuchſen, ſchrieb er ſein Verlangen auf, daß
man der unnützen Qual ein Ende durch Opium machen
möge. Ein beſänftigendes Mittel ward gerade zubereitet,
als ein gewaltiger Krampf ihn durchzuckte und tödtete, um
† April 2.9¾ Uhr Morgens, im 42ſten Jahre ſeines Lebens.


Die Nationalverſammlung beſchloß dem Leichenbegäng-
niſſe Mirabeau’s in ihrer Geſammtheit beizuwohnen.
Man wird die Leiche in der Kirche der heiligen Genoveva
beiſetzen und hier ſollen künftig die Leichen großer Männer
ruhen. Gleich am Todestage verlas Talleyrand in der
Verſammlung das hinterlaſſene Werk des Verſtorbenen.
Die Behörden des Departements und der Stadt, nicht
minder der Jacobinerclub widmeten ihm eine achttägige
Trauer. Alle Miniſter, außer Einem, Duportail, der
ein beißendes Wort Mirabeau’s nicht verſchmerzen konnte,
ſah man im Gefolge der Leiche.


[[363]]

Drittes Buch.
Der Übergang zur Republik.


[[364]][[365]]

1. Der Koͤnig fluͤchtig, gefangen, ſuſpen-
dirt, wieder angeſtellt.


Am Tage nach der königlichen Beſtätigung des Eides
der Geiſtlichkeit ließ Marat folgenden Brief an den König
gedruckt ausgehen:


„Sire,


Wären Sie als einfacher Bürger geboren, ſo würden
Sie vielleicht verdienen auf Ihr Wort geglaubt zu wer-
den; allein, geboren auf einem Throne, mit allen Ge-
brechen Ihrer Erziehung, und nach ſechsunddreißig an
dem verderbteſten Hofe von Europa verlebten Jahren,
von einer wedelnden Dienerſchaft umkrochen, durch heil-
loſe Miniſter und treuloſe Hofleute zum Verbrechen ange-
leitet und von Ihrer Familie zur fortwährenden Aufleh-
nung gegen Ihre Pflichten verführt: welches Vertrauen
können Ihre Verſicherungen von Anhänglichkeit und Treue
gegen das Vaterland da noch einflößen? Mögen Ihre fei-
len Agenten Beifall ſolchen Betheurungen klatſchen, und
Ihre leichtgläubigen Mitbürger einen albernen Chor dazu
ſingen, das iſt in der Ordnung; aber ſchmeicheln Sie
[366] ſich nicht mit der Hoffnung, hellſehende Patrioten zu blen-
den. In deren Augen gehören Sie den Deſpoten an.


„Das iſt die Albernheit der Könige, ſich für Weſen
höherer Natur als andere Menſchen zu halten; ihre Thor-
heit geht bis zu der Anmaßung, daß der Himmel ſie ge-
ſchaffen habe um zu befehlen, ihr Leben in Müſſiggang,
Prunk und Üppigkeit zu verbringen. Sie hören ſo oft ſich
die unumſchränkten Herren der Erde nennen, daß ſie es am
Ende glauben, ihre Landsleute für Sclaven halten, ge-
boren um ihren Vergnügungen zu fröhnen, für verächt-
liche Weſen, die ſie ihren Launen ungeſtraft opfern dürfen.


„Soll ich von ihren Neigungen reden? Eine nur zu
traurige Erfahrung hat uns belehrt daß ein unerſättlicher
Durſt nach Macht jedes andere Gefühl in ihrer Bruſt er-
ſtickt. Wer wüßte nicht daß die Moral der Könige ihnen
eine Pflicht aus der Hinterliſt macht, aus der Lüge, dem
Betrug, der Treuloſigkeit, dem Verrath, dem Todtſchlag,
der Giftmiſcherei und dem Elternmorde, ſobald es die
Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer angemaßten Herr-
ſchaft gilt. Die Miſſethaten der Könige bilden den In-
halt der Geſchichte, und die tiefe Herabwürdigung faſt
aller Völker der Erde giebt den ſchlagenden Beweis dieſer
entſetzlichen Wahrheit.


„Antworten Sie mir, ſechzehnter Ludwig; was ha-
ben Sie bis jetzt gethan, um vom Himmel das Wunder-
werk zu verdienen daß er Ihre Seele vor der Anſteckung
jener Böſewichter, von welchen Sie umringt und belagert
[367] ſind, behüten, daß er Ihnen Licht und Tugend verleihen
ſollte, um über ihre hölliſchen Lehren zu triumphiren?
Glauben Sie ja nicht, daß ich hier die unumſtößlichen
Grundſätze in Anwendung bringen will, welche den Phi-
loſophen befähigen, Gericht über Könige zu halten: Nein,
aus Ihrer Vergangenheit richte ich Sie; ich richte Sie
nach Ihnen ſelber.


„Reden Sie, welches Vertrauen können wir dem
Worte, den Verſicherungen, den Eiden eines Königs
ſchenken, der die Nation allein zu dem Zwecke verſammelt,
daß ſie den Abgrund, welchen die Verſchleuderungen ſei-
ner Miniſter, der Prinzen des Hauſes, ſeiner Günſtlinge
und der übrigen Hofſchurken höhlten, ausfüllen möge?
eines Königs, der die Nationalverſammlung aufzulöſen
ſuchte, ſobald nur ſein Wille einigen Widerſtand erfuhr?
eines Königs, welcher mit kaltem Blute ſechs Wochen
lang an der Ausführung des hölliſchen Planes arbeitete,
die Hauptſtadt in Blut und Flammen zu ſetzen, lediglich
um ihre unglücklichen Einwohner für die hochherzige Un-
terſtützung zu beſtrafen, welche ſie den Repräſentanten der
Nation gegen die Angriffe des Deſpotismus zu verſprechen
ſchienen? eines Königs, der dieſe ſeine furchtbaren Ent-
würfe nur dann aufgab, als das Volk zu den Waffen
griff, um ſich ſelbſt ſein Recht zu verſchaffen? eines Kö-
nigs, welcher mit Verachtung ſeiner feierlichen Eide, faſt
in demſelben Augenblicke, da ſein großmüthiges Volk ihm
verziehen hat, ſein Ohr den treuloſen Rathſchlägen ſeines
[368] Hofes leihend, eine neue Verſchwörung gegen ſein frei
gewordenes Volk anſpinnt? eines Königs, der ſein Flehn
um Verzeihung vergeſſend, ſobald er ſich wieder mächtig
glaubt, wieder im Tone des Herrn zu reden wagte, An-
ſtalt zur Niedermetzelung der Unzufriedenen machte, auf
den Fall aber daß das Glück ihm nicht günſtig wäre, zum
Entrinnen? eines Königs, welcher genöthigt zum zweiten
Mal um Gnade zu bitten kaum ſeine Verzeihung erlangt
hatte, als er auch wieder Ränke ſpann? eines Königs,
der für die unzähligen Anklagen gegen ſeine tauſendfach
verrätheriſchen und pflichtvergeſſenen Miniſter ſtets ſein
Ohr verſchloß? eines Königs, der ſtatt ſie mit Schmach
bedeckt fortzujagen, ſie unter das Obdach ſeines Schutzes
ſtellte, gleich als ob er ſelbſt der Urheber aller ihrer ſchreck-
lichen Complotte wäre, und der zu ihrer Entlaſſung erſt
dann ſeine Einwilligung gab als das Volk mit Geſchrei
ihre ſchuldigen Köpfe forderte?


„Sehen Sie da das treue Gemälde Ihres Verhaltens
ſeit achtzehn Monaten. Seyn Sie alſo Ihr eigener Rich-
ter und ſagen Sie uns, wenn Sie den Muth haben, ob
ein ſolcher König einen anderen Namen als den eines
dummen Automaten oder eines treuloſen Betrügers ver-
dient! Und Sie reden uns von Ihrer Anhänglichkeit an
die Conſtitution, und Sie erinnern uns an Ihren Eid
treu dem Vaterlande zu ſeyn, und Sie reden uns von dem
Bürgerſinne Ihrer Frau, und Sie begehren von uns, wir
ſollen Ihrem Worte vertrauen? Ja wollte der Himmel
[369] daß wir Ihnen endlich glauben könnten! Aber könnten
wir das, ohne uns ſelbſt für Dummköpfe zu geben, ohne
auf unſere Freiheit, unſere Ruhe, unſer Glück zu verzich-
ten, ohne unſere Freunde, Eltern, Brüder, Kinder, Wei-
ber, ohne uns ſelbſt zu opfern? Sire, Sie ſind der Freund
unſerer Freiheit, wie Ihre Gattin die Freundin der Fran-
zoſen iſt. Selbſt der Ton, in welchem Sie ſich darüber
ausdrücken, muß Argwohn erwecken. Denn wie wäre es
wohl der Würde eines Königs, dem nicht Verſtellung zur
Gewohnheit geworden iſt, irgend angemeſſen uns zu ſa-
gen: „ich will offen und freimüthig mit Euch reden!“
Die Wahrheit, die Sie uns ſchuldig ſind und uns verber-
gen, wollen wir Ihnen ſagen; haben Sie den Muth zu-
zuhören und lernen Sie davon.


„Ihre gegenwärtigen Miniſter ſind Spitzbuben, treu-
loſe Verräther, wie ihre Vorgänger, auf deren Irrwegen
ſie fortgehen. Ein abſcheuliches Complott ward ſeit eini-
ger Zeit in Ihrem Cabinet geſponnen, man wollte die pa-
triotiſchen Bürger ermorden und mit bewaffneter Hand
Ihren Despotismus herſtellen. Die beſtochene Mehrzahl
der Nationalverſammlung, die Häupter des Heeres und
der pariſer Municipalität, alle Befehlshaber der Linien-
truppen, Ihre Agenten und Trabanten rings im ganzen
Königreiche legten Hand an für den günſtigen Erfolg. Ihr
Schwager der Öſterreicher und Ihre Mitbrüder, die Kö-
nige von Spanien Neapel und Sardinien, zogen Truppen
zu Ihrer Unterſtützung zuſammen. Die entflohenen Capets
Franzöſiſche Revolution. 24
[370] ſollten an der Spitze der verſchworenen Unzufriedenen in
unſere Provinzen zurückkehren; und Sie, Sire, die Sie
einen Vorwand zur Entzündung des bürgerlichen Krieges,
zum Blutvergießen und zum Umſturze der Conſtitution,
deren Erhaltung Sie beſchworen haben, ſuchten, fanden
ihn in der Widerſetzlichkeit der Geiſtlichkeit. Sie haben
geduldet, daß dieſe ihre Beſchwerden nach Rom ge-
bracht, in der Hoffnung daß das Volk zu Gunſten ränke-
ſüchtiger meuteriſcher Prieſter die Waffen ergreifen werde,
damit der Fanatismus den Staat in Flammen ſetze und
das Blut der Freiheitsfreunde durch die Hand von Ver-
ſchwörern fließe. Der Himmel hat dieſen abſcheulichen
Plan vereitelt, und erſt nachdem Sie ſein Mislingen nach
allen Richtungen erfahren, willigen Sie in die Annahme
des Decrets, welches die meuteriſchen Prieſter bändigen
ſoll; Ihren hartnäckigen Widerſtand aber beſchönigen Sie
mit dem lächerlichen Vorwande, man müſſe den erhitzten
Gemüthern Friſt zur Beruhigung laſſen, als ob nicht die-
ſer hartnäckige Widerſtand gerade das Mittel wäre, ſie
zu einem verzweifelten Wagniß zu treiben und die Fackel
des Krieges zu entzünden.


„Wohlan, Sire, da ſind ſie in aller Reinheit dieſe
abſcheulichen Wahrheiten, welche aus Ihrem Munde
nicht zu entſchlüpfen wagten; ihre Bekanntmachung müßte
Sie vor Schrecken erſtarren machen. Möchten ſie Ihre
Stirn mit einer heiligen Röthe überziehen und Ihr von
Böſewichtern umlagertes verführtes Herz zum Gefühle
[371] Ihrer Pflichten zurückrufen! Ihre Miniſter haben, indem
ſie Sie zum gelehrigen Werkzeuge ihrer Betrügereien
machten, nur in ihrem gewöhnlichen Berufe gearbei-
tet; ich aber erfülle die heiligſte Pflicht, indem ich dieſe
Betrügereien vor den unwilligen Augen des Publikums
entſchleiere.


„Aber nein, die Nation will kein Urtheil fällen; ſie
vertraut ſich aufs Neue Ihrem Worte, ſie verzeichnet
förmlich Ihre Zuſicherungen, um über Ihren guten Glau-
ben, über die Aufrichtigkeit Ihrer Eide aus dem Eifer zu
entſcheiden, mit welchem Sie die Züchtigung der Präla-
ten betreiben werden, welche wagen möchten ſich wider-
ſpänſtig gegen das von Ihnen genehmigte Decret zu be-
weiſen, jetzt noch wagen ſollten den ihnen abzuverlan-
genden Bürgereid zu verweigern oder zu verletzen. Sollte
auch nur ein Einziger durch Ihre Nachläſſigkeit ihn zu
fahen und den Gerichten auszuliefern entrinnen, ſo gelten
Sie, Sire, für einen Feind der öffentlichen Freiheit, für
einen treubrüchigen Verſchwörer, für den elendeſten Mein-
eidigen, für einen Fürſten ohne Ehre, ohne Scham, für
den letzten der Menſchen. Möge die Scheu, vor den Au-
gen von ganz Europa mit Schmach bedeckt zu werden, Ihr
Herz vor den Rathſchlägen der Sie umgebenden Böſewich-
ter verſchließen: möge ſie Ihnen ein Beweggrund ſeyn,
dieſe von freien Stücken dem Schwerte der Geſetze zu
überliefern! Tragen Sie endlich Scheu, die Wahrheit,
welche ſich Ihnen zu nahen wagt, zurückzuſtoßen. Auf
24*
[372] dieſer neuen Probe beruht das Urtheil, welches Gegen-
wart und Zukunft über Sie fällen werden.“


Paul Marat, der Volksfreund.


Ein Paar Wochen nach Mirabeau’s Tode machte der
König die Erfahrung daß ſeine Perſon unfreier als die
April 18.des geringſten Franzoſen ſey. Er wollte auf einige Tage
nach St. Cloud, um ſein Gemüth und ſeine Geſundheit
durch den ländlichen Aufenthalt, die Bewegung der Jagd
zu erfriſchen, die heilige Oſterwoche in Stille mit un-
beeidigten Prieſtern zu begehen; vielleicht auch geſchah es,
um einen Verſuch zu machen, ob eine weitere Reiſe, öf-
fentlich angeſtellt, ausführbar ſeyn möchte. Dieſer Ver-
ſuch mislang. Der Verdacht der Flucht war verbreitet,
vergeblich daß Lafayette und Bailly Alles aufboten, die
aufgeſtellten Nationalgarden gehorchten nicht, und der
wilde Danton führte ſein Bataillon herbei, ohne irgend
berufen zu ſeyn. Der König ſaß mit der Königin andert-
halb Stunden im Wagen, unſäglichen Kränkungen aus-
geſetzt, und mußte am Ende ausſteigen, bleiben. La-
fayette, tief gekränkt, reichte ſeine Entlaſſung ein; da
gab es neue Verſicherungen, neue Eide, und Lafayette be-
April 25.hielt den Befehl.


Um ſo ungeduldiger betrieb nun die Königin den Plan
der geheimen Entweichung. Unter unzähligen Vorſichts-
anſtalten, Verabredungen mit Bouillé, Feſtſtellungen und
Umſtellungen des Abreiſetages kam man endlich auf den
21ſten Junius überein. Glücklich gelang gegen Mitter-
[373] nacht den Vereinzelten die leiſe Entfernung aus den Tuil-
lerien, durch einen Nebenausgang. Man ging Anfangs
irre, fand ſich aber wieder zuſammen und athmete auf als
man in einem Miethwagen, deſſen Kutſcher Graf Ferſen,
ein Schwede in franzöſiſchen Kriegsdienſten, war, unbe-
hindert durch die Barriere an die Station von Bondy kam,
wo ein vierſpänniger Reiſewagen wartete. Man ſchlug
den Weg nach der Feſtung Montmedy ein; hier wollte
der Monarch, von treuen Truppen geſchützt, ſeine Frei-
heit wiederfinden. In derſelben Nacht aber reiſte Mon-
ſieur in anderer Richtung der Gränze zu und erreichte glück-
lich Brüſſel. Es ward acht Uhr Morgens ehe man in Pa-Juni 21.
ris vernahm was über Nacht geſchehen ſey. Da entſtand
ein gewaltiges Strömen des Volks, beſonders zu den
Tuillerien, man ſah Pikenmänner darunter. Tiefgekränkt
fühlte ſich Lafayette; er hatte kürzlich den König wegen
der umlaufenden Gerüchte gefragt, und zur Antwort er-
halten: „Kein Gedanke an eine Entfernung,“ worauf
der General ſich mit ſeinem Kopfe gegen die Nationalver-
ſammlung verbürgte daß nichts dergleichen im Werke ſey.
Jetzt beſprach er ſich ſchleunig mit Bailly und Alexander
Beauharnais, derzeit Präſidenten der Nationalverſamm-
lung, und vernahm aus Beider Munde die Verſicherung:
ſolle Frankreich die Schrecken eines Bürgerkrieges vermei-
den, ſo müſſe man den König anhalten auf ſeiner Flucht.
Einen der fliehen will anhalten heißt aber ihn verhaften.
Verhaftet man Könige? Lafayette nahm die Verantwort-
[374] lichkeit der That auf ſich, und ehe noch die Nationalver-
ſammlung zuſammentrat, waren ſchon ſeine Officiere in
Bewegung. Sie überbrachten an alle Nationalgarden, alle
Gemeinden des Königreiches den von ihrem General un-
terzeichneten Befehl, ſich der Entweichung des Königs zu
widerſetzen.


Die Nationalverſammlung trat, raſch entboten, um
10 Uhr Morgens zuſammen. Während die Menge draußen
ihren Zorn an königlichen Wappen und Namenzügen aus-
ließ, ward hier mit einiger Schonung der königlichen
Würde der Beſchluß gefaßt, daß die Feinde des Staates,
welche die Entführung des Königs veranſtaltet, verhaftet
werden ſollen. Zugleich erklärte man ſich für permanent,
nahm von den in der Hauptſtadt anweſenden Generalen
die Zuſicherung ihres Gehorſams in Empfang, übertrug
die vollziehende Gewalt an die Miniſter. Allein die De-
crete der Verſammlung bedürfen keiner Sanction mehr,
der Siegelbewahrer wird ſie unterzeichnen und beſiegeln;
dergeſtalt wohnte man ſich in die Republik ein. Die Ge-
ſandten der fremden Mächte ſollen unverzüglich von dem
Geſchehenen unterrichtet, die eigenen Geſandten demge-
mäß angewieſen werden. Das gethan, ging die Ver-
ſammlung mit gewohnter Zuverſicht zur Tagesordnung
über, berieth über das künftige Strafgeſetz. Nicht lange
freilich, ſo führte eine Unterbrechung auf die beklemmende
Frage des Augenblickes zurück. Denn der Intendant der
Civilliſte überſendet dem Präſidenten ein ihm ſo eben zu-
[375] gegangenes Packet: es iſt eine Proclamation an die Fran-
zoſen, welche der unbedachtſame unglückliche König zurück-
gelaſſen hat, von ſeiner eigenen Hand geſchrieben. Sie
enthält ein Gemälde der unzähligen von ihm erduldeten
Kränkungen, zugleich einen Proteſt gegen alle Erlaſſe,
welche ſeit dem 6ten October 89 ihm abgedrungen ſind.
Alſo war der König nicht entführt, er war entflohn, und
am zweiten Sitzungstage 10 Uhr Abends drang der RufJuni 22.
in die Verſammlung: „Man hat ihn! er iſt verhaftet!“


Die königliche Familie hatte ſich, ſeit es von Bondy
weiter ging, frohen Hoffnungen überlaſſen. Der König
ließ ſich ſogar am Schlage blicken und es gefiel ihm wohl
wenn er von Einzelnen erkannt ward. Einige gute Wün-
ſche ſtreiften an den rollenden Rädern vorüber. Als man
über Chalons hinaus war, fühlte man ſich wie neugebo-
ren, jetzt mußte man ja auch bald auf die von Bouillé
aufgeſtellten Reuterabtheilungen ſtoßen. Das kam nun
freilich nicht ganz ſo, vielmehr zeigte es ſich daß Bouillé
mit gutem Grunde vor der ganzen Maßregel gewarnt hatte,
weil ſolche Piquets, zu ſchwach um zu ſchützen, doch
ſtark genug ſind, um den Argwohn zu wecken. Wirklich
hatte die Umgegend, ſowie nur die erſte Abtheilung von
40 Pferden ſich blicken ließ, unbeſtimmten Verdacht ge-
ſchöpft: die Reuter zogen ſich zurück, als man in den na-
hen Dörfern Sturm läutete, in der Meinung, es ſey auf
Eintreibung von Steuern abgeſehn. Als die Reiſenden in
St. Menehould anlangten, herrſchte auch dort große Auf-
[376] regung wegen des Detachements Dragoner, welches ſeit
geſtern eingerückt war. Der Capitän deſſelben ritt an den
Schlag, ſprach mit dem Könige, welcher unvorſichtig fort-
fuhr ſich zu zeigen, und der Poſtmeiſter des Orts Drouet
glaubte ihn zu erkennen. Dennoch war er ſeiner Sache
nicht gewiß, die durch einen Courier vorausbeſtellten
Pferde waren angeſchirrt, es blieb für den Augenblick
nichts zu thun, allein ſein Vorſatz war gefaßt. Als der
Wagen abfuhr, ſchwang ſich Drouet, der früher bei den
Dragonern ſtand, auf ſein Pferd, nahm noch einen
Kriegscameraden mit ſich; ſeine Abſicht iſt auf Feldwegen
den Reiſenden zuvorzukommen, welche auf ſchlechter
Straße manchen Höhenzug zu überwinden haben. Mitt-
lerweile hatte ſich die Vermuthung des Poſtmeiſters her-
umgeſprochen, und als die Dragoner dem Wagen folgen
wollten, ließ die Menge ſie nicht fort. Sie ſelbſt ſchloſſen
ſich der Volksſtimme an, ließen es ſogar geſchehen daß
ihr Officier verhaftet ward. Ähnlich ging es auf der näch-
ſten Station in Clermont, nur daß der Officier glücklich
davon kam. Im Flecken Varennes müſſen abermals Pferde
gewechſelt werden; dieſe ſind nicht gleich zur Stelle; es
iſt faſt Mitternacht: da erſchallt plötzlich Drouets Stimme
zu den Poſtillonen: „Im Namen der Nation verbiete ich
Euch weiter zu fahren, Ihr fahret den König.“ Zugleich
fügt er einen Zwang ſeinen Drohungen hinzu, zieht einen
auf der Gaſſe ſtehenden Packwagen auf die nahe Brücke
hinauf; man hilft ihm dieſen umſtürzen; jetzt iſt der Weg
[377] geſperrt, nun kann der König nicht über die Brücke. Bald
auch waren die Behörden wach, die Sturmglocke läutete,
und als nun die Menge von allen Seiten herbeiſtrömte,
hatten die auch hier aufgeſtellten Mannſchaften Noth nur
davon zu kommen; der jüngere Bouillé war dabei; er eilte
ſeinen Vater zu benachrichtigen. Der Beamte der Ge-
meinde, ein kleiner Krämer und Lichtzieher, hieß Sauſſe,
trat ſchüchtern an die Kutſche, bat den König in demüthi-
gen Ausdrücken, unter ſein Dach zu treten. Hier ange-
kommen, ließ Ludwig die Verſtellung fahren, gab ſich zu
erkennen, erklärte daß er Paris verlaſſen habe, um un-
zähligen Kränkungen zu entgehen, aber in Frankreich bleibe;
er warf ſich in die Arme Sauſſe’s, beſchwor ihn, vereint
mit der Königin, um ſeine und der Seinigen Rettung.
Dann ſich ermannend ſprach er: „Sie verlangen meine
Befehle, laſſen Sie meinen Wagen unverzüglich anſpan-
nen, um meinen Weg nach Montmedy fortzuſetzen.“ Das
begab ſich in der Gegenwart Vieler, die, in das Haus
ſchon eingedrungen, die königliche Familie mit neugieri-
gen Blicken muſterten. Hätte Sauſſe auch gewollt, er
konnte, ſo umgeben, nichts für den König thun. Eben
ſo ſtand es mit dem Haufen Huſaren, der im Verlaufe
der Nacht unter verſchiedenen Officieren ſich in Varennes
zuſammengefunden hatte. Den König und ſeine Familie
ſchnell beritten machen, ſie in die Mitte nehmen und
ſich heraushauen, mitten durch die Nationalgarden hin-
durch, war der heherzte Rath der Officiere, welcher aber,
[378] wie es ſcheint, nicht minder an der Geſinnung der Huſa-
ren als an der des Königs ſcheitern mußte. Dieſer will
auf allen Fall Bouillé’s Ankunft abwarten, der, meinte
er, ganz gewiß kommt: außerdem hält er ſich daran daß
ja die Gemeinde von Varennes ihrem Könige die Reiſe
nicht abgeſchlagen, nur verlangt hat daß er warte bis
morgen früh. Aber Bouillé kam nicht; ſtatt ſeiner er-
ſchien ein Adjudant Lafayette’s, begleitet von einem Of-
ficier der pariſer Nationalgarde. Sie überreichen dem Kö-
nige ein Decret der Nationalverſammlung, welches ſeine
Rückkehr fordert, geſtützt auf ein früheres Decret, welches
dem Könige verbietet ſich weiter als 20 Lieues vom Sitze
der Nationalverſammlung zu entfernen. Der König ſprach:
„Dieſes Decret habe ich nie ſanctionirt.“ Morgens acht
Uhr ſaß der König wieder im Wagen, aber die Reiſe ging
zurück nach Paris. Eine Stunde nach ſeiner Abfahrt er-
ſchien Bouillé mit einem Reuterregiment vor dem von Tau-
ſenden umringten, rings abgeſperrten Varennes. Da
wandte er um und rettete ſich mit ſeinem Stabe über die
franzöſiſche Gränze hinaus nach Luxemburg. Von hier
ſchrieb er an die Nationalverſammlung einen Drohbrief,
deſſen Schluß zu erkennen giebt, wie ſehr es dieſem
Tapfern an politiſcher Vorausſicht gebreche: „Ich wollte
mein Vaterland, den König und ſeine Familie retten:
Sehet da mein Verbrechen! Ihr werdet über ihre Erhal-
tung Rechenſchaft geben müſſen, nicht mir, aber allen
Königen; und ich verkünde Euch, daß, krümmt man ihnen
[379] auch nur ein Haar, kein Stein von Paris auf dem andern
bleiben wird. Ich kenne die Wege und werde ſie den
fremden Heeren ſelbſt zeigen, die Vergeltung wird Euch
ereilen. Dieſer Brief iſt nur der Vorläufer eines Mani-
feſts der Souveräne Europa’s: ſie werden Euch vernehm-
licher kundthun was Ihr zu thun und zu fürchten habt.
Gott befohlen, meine Herren, ich ſchließe ohne Förmlich-
keiten; meine Geſinnungen ſind Euch bekannt.“


Die Rückreiſe der königlichen Familie, auf einer Strecke
von etwa 30 deutſchen Meilen, dauerte volle vier Tage,
ſo unermeßlich war die Volksmenge auf allen Straßen zu-
ſammengeſtrömt, und je näher man der Hauptſtadt rückte,
um ſo langſamer ſchritt der unheimliche Zug vorwärts,
auf dem Bocke drei Leibgarden ſitzend, ihres Todes ge-
wärtig, weil ſie auf der Reiſe Courierdienſte gethan, um
den Wagen Nationalgarden, die meiſten zu Fuß, halb-
verdrängt von der ſtets wachſenden Schaar von Landleu-
ten, die mit Forken und Senſen bewaffnet auf Ackerpfer-
den heranſprengten, alle den Hut auf, ohne Begrüßung
des Fürſten; als ein Edelmann, von Dampierre, heran-
trat, mit Schmerz im Blick ſeine Ergebenheit denen im
Wagen bezeugte, büßte er die That mit dem augenblick-
lichen Tode. Bei Epernay begegnete man den Commiſſa-
rien der Nationalverſammlung. Zwei von ihnen, Bar-
nave und Pétion nahmen in dem königlichen Wagen Platz;
der dritte Latour-Maubourg vermied das. Den 25ſten
Abends erreichte man die Hauptſtadt. In der Vorſtadt
[380] St. Antoine war angeſchlagen: „Wer dem Könige zu-
klatſcht, kriegt Schläge, wer ihn beleidigt, wird gehan-
gen.“ Durch eine doppelte Reihe von Nationalgarden
ging der Weg zu den Tuillerien. Hier ward die königliche
Familie einer Abtheilung der Nationalgarde übergeben,
die für ihre Sicherheit wachen und für den König, die
Königin und den Dauphin einſtehen ſoll. Lafayette iſt von
nun an der Wächter ſeines Königs. Die executive Gewalt
bleibt bis weiter noch in den Händen der Miniſter, der
Sanction des Königs bedarf es bis weiter nicht. So ward
denſelben Morgen decretirt.


Dieſe übel berathene Flucht und ihr Mislingen entriß
der Majeſtät ihr letztes Gewand. Der König iſt ein Ge-
fangener, welcher über die Beweggründe ſeiner Entwei-
chung von Commiſſarien der Nationalverſammlung förm-
lich vernommen wird. Ludwig beſaß nicht den Muth ei-
nes vollkommen wahrhaften Bekenntniſſes. Zwar blieb er
in der ausgeſtellten Erklärung bei den erduldeten Mis-
handlungen als den Urſachen ſeiner Entfernung aus Pa-
ris, nicht aus dem Königreiche, ſtehen, er behauptete
aber durch ſeinen Proteſt die Grundlagen der Verfaſſung
nicht angegriffen zu haben, erſt ſeit dem 6ten October ſey
ſein Zuſtand unfrei geweſen, ein Einverſtändniß mit aus-
wärtigen Mächten habe nicht ſtattgefunden. Er fügte noch,
gleichſam entſchuldigend, hinzu, erſt auf ſeiner Reiſe habe
er die Überzeugung gewonnen, wie günſtig die Volks-
ſtimme der neuen Verfaſſung ſey, und gern opfere er ſeine
[381] perſönlichen Intereſſen dem Glücke des Volks. Die Kö-
nigin ward ebenfalls vernommen; ihre Aufgabe war leich-
ter; ſie hielt an der Pflicht der Gattin feſt, Mann und
Kinder nicht zu verlaſſen. Man fand ein Bild des Grames
vor; ihre Haare waren in den wenigen Tagen weiß ge-
worden. Nun ſiegte zwar in der Nationalverſammlung
nach heftigem Kampfe der Grundſatz ob daß der KönigJuli 15.
nicht vor Gericht geſtellt werden dürfe, allein wie wollte
man dieſe Unverletzlichkeit ſeiner Perſon feſthalten, wenn
man den Tag darauf ihr Fundament, die Unverletzlichkeit
ſeiner Würde, zu Trümmern ſchlug? Denn decretirt ward,Juli 16.
die königliche Gewalt ſolle bis zu dem Zeitpuncte ſuſpen-
dirt ſeyn, da die Verfaſſungsurkunde dem Könige könne
zur Annahme vorgelegt werden.


Unter ſolchen Umſtänden hätte der Rath, welchen der
geprieſene Condorcet öfter im Geſpräch mit geiſtreichen
Freunden gab, alle Aufmerkſamkeit verdient. Er läßt ſich
ungefähr ſo zuſammenfaſſen. „Die Monarchie iſt in ihre
Elemente aufgelöſt. Der König iſt gefallen, laſſet ihn lie-
gen. Ihn wieder künſtlich zu heben, den erklärten Feind
Eurer Verfaſſung, um ihn dann von größerer Höhe den
Todesſturz thun zu laſſen, wäre unmenſchlich und wider-
ſinnig. Es wäre aber auch gefährlich; denn der Sturz
des Wiedererhöhten erfordert eine neue Revolution, und
ſehet dann wohl zu, daß nicht auf den leeren Platz ſchnell-
füßig die Anarchie ſich ſetze.“ Befolgte man dieſen Rath-
ſchlag, that beſonnen den von nun an unvermeidlichen
[382] Schritt, ſo ließ ſich ein Präſident für die Republik Frank-
reich retten, aber freilich Ludwig konnte dieſer Präſident
nicht mehr ſeyn, auch nicht der Herzog von Orleans, den,
ſeit er wieder von England zurück, niemand beachtete.
Allein Condorcet ſaß nicht in der Nationalverſammlung
und ſelbſt als ihr Mitglied würde er nicht durchgedrungen
ſeyn. Denn je weniger das Königthum noch haltbar war,
um ſo entſchloſſener war dieſe, es am Zipfel feſtzuhalten,
denn freilich ihr Ruhm bei der Nachwelt, ihr ganzes Ver-
faſſungswerk beruhte darauf. Es wird glaubhaft behaup-
tet daß für die Republik damals keine dreißig Stimmen in
der Verſammlung waren; von dem dunkeln Gefühle daß
ſie gleichwohl hereinbreche betroffen, ſuchte mancher Ab-
geordnete damals Stützen auf, die er früher verſchmäht
hatte. Seit Mirabeau’s Tode näherte ſich Alexander La-
meth durch Montmorin dem Hofe. Lehren weiſer Mäßi-
gung tönten ſelbſt aus Duports Munde. Insbeſondere
bemerkte man an Barnave eine große Veränderung, ſeit
er von jener Begleitung der königlichen Familie zurück-
kehrte. Die Eiferſucht gegen Mirabeau trübte ſeinen Blick
nicht mehr, und das traurige Schickſal dieſes Königspaares
drang ihm tief ins Herz. Während ſein Gefährte Pétion
ſich ſelbſtgefällig zwiſchen König und Königin zur Tafel
ſetzte, hielt ſich Barnave beſcheiden zurück; zweimal un-
terredete er ſich insgeheim mit der Königin während der
Reiſe, bot ihr ſeine Dienſte mit Wärme an. Er war es
auch, der mannhaft der äußerſten Linken entgegentrat, als
[383] ſie den Satz aufſtellte, die Unverletzlichkeit des Königs
reiche gerade ſo weit als die Verantwortlichkeit ſeiner Mi-
niſter, keinen Zoll weiter; wo er von dieſer ungedeckt
bleibe, da ſey er verwundbar; nun habe kein Miniſter
um ſeine Reiſe gewußt, keiner ſeinen Proteſt unterzeich-
net — alſo! Barnave legte damals der Verſammlung die
ernſte Frage vor: „Wollen wir die Revolution endigen?
oder wollen wir ſie wieder anfangen? — Ich fürchte kei-
neswegs die fremden Mächte, auch die Ausgewanderten
nicht. Ach es iſt nicht unſere Schwäche die ich fürchte, un-
ſere Stärke fürchte ich, unſere Stürme, die endloſe Ver-
längerung unſeres Revolutionsfiebers. — Bedenket wohl,
was nach Euch geſchehen wird. Ihr habt Alles zerſtört
was zu zerſtören war. Ihr habt gethan was die Freiheit,
was die Gleichheit forderte, keiner willkürlichen Gewalt
iſt geſchont, keine Uſurpation der Eigenliebe iſt Euch ent-
wiſcht, Ihr habt alle Menſchen gleich gemacht, beides vor
dem bürgerlichen und dem politiſchen Geſetze, Ihr habt
dem Staate zurückgegeben Alles was ihm genommen war.
Ein Schritt weiter und die Revolution ſtürzt ſich in Ge-
fahr; ein Schritt weiter auf der Bahn der Freiheit, und
unſer Erſtes wäre die Vernichtung des Königthums; ein
Schritt weiter auf der Bahn der Gleichheit, und unſer
Erſtes wäre ein Angriff auf das Eigenthum.“ So Bar-
nave und er gewann den Sieg. Nicht wenige aber die
dem Königthum übel wollten, beriefen ſich auf die große
politiſche Autorität von Sieyes. Dieſer brach hierauf ſein
[384]Juli 6.verbiſſenes übellauniges Schweigen, erklärte öffentlich im
Moniteur, er gebe der Monarchie den Vorzug vor der re-
publikaniſchen Verfaſſung, wiewohl er in einer Civilliſte
von 30 Millionen Gefahr für die Freiheit ſehe. „Nicht
um alten Gewohnheiten zu ſchmeicheln, auch nicht aus
einem abergläubiſchen Hange für den Royalismus ziehe
ich die Monarchie vor. Ich ziehe ſie vor, weil ich für er-
wieſen halte daß es in der Monarchie mehr Freiheit für
den Bürger giebt als in der Republik. Jeden andern Be-
weggrund würde ich für kindiſch halten. Die beſte Regie-
rungsform iſt nach meinen Begriffen diejenige, in welcher
nicht Einer bloß, auch nicht Einige, ſondern Alle die
größte Breite der möglichen Freiheit genießen. Wenn ich
dieſen Charakter in der Monarchie entdecke, ſo iſt es klar
daß ich ſie den andern Regierungsformen vorziehe. Das
iſt das ganze Geheimniß meiner Principien und mein auf-
richtiges Glaubensbekenntniß. Vielleicht gewinne ich bald
Zeit dieſe Frage zu entwickeln und einen ehrlichen Kampf
mit den Republikanern zu beſtehen. Ich will ihnen keine
Gottloſigkeit, keinen Frevel Schuld geben, ſie nicht be-
leidigen. Mehrere unter ihnen kenne ich, die ich von gan-
zem Herzen ehre und liebe. Allein Gründe ſollen ſie ha-
ben, und ich hoffe ihnen zu beweiſen, nicht daß die Mon-
archie unter dieſen und jenen Verhältniſſen vorzuziehen
iſt, ſondern daß man unter jeder Vorausſetzung mit ihr
freier iſt als in der Republik.“ Als nun aber der berühmte
Thomas Payne, nordamerikaniſchen Andenkens, den
[385] Handſchuh aufnahm und ſich für den geſchworenen Feind
dieſer Hölle der Monarchie erklärte, da offenbarte es ſich
in einem zweiten Moniteur-Artikel, was denn dieſer ange-Juli 16.
ſtaunte Theoretiker Sieyes unter Monarchie verſtehe. Er
bezeichnet mit dem Stempel der Verwerfung jede hiſtoriſche
Monarchie, die engliſche nicht minder als die ottomani-
ſche, ſieht in dem Monarchen allein den unverantwort-
lichen Wähler von 6 verantwortlichen Monarchen, den
Miniſtern. Der Unterſchied zwiſchen Monarchie und Re-
publik beſteht, recht begriffen, lediglich darin, daß dort der
Einzelne, hier eine Mehrheit die Miniſter ein- und ab-
ſetzt. Weit richtiger aber, ſich hierin der Einheit eines
Individuums zu vertrauen als einer Stimmenmehrheit,
weit angemeſſener, den Staatsbau in eine Spitze als in
einen Söller ausgehn zu laſſen. Allerdings iſt es eine Ab-
geſchmacktheit, den unverantwortlichen Monarchen erblich
zu machen, allein die Formen der Wahlmonarchie, welche
die Geſchichte bietet, ſind nicht minder abgeſchmackt, und
man darf es der Nationalverſammlung nicht verargen, daß
ſie, mit derartigen Fragen wenig noch vertraut, als ſie
an ihr Geſchäft ging, die abgeſchmackte Erblichkeit einer
eben ſo abgeſchmackten Wahl, die den bürgerlichen Krieg
im Gefolge hat, vorzog. Allerdings iſt man jetzt mehr
eingeübt in Wahlfragen und unſer Staatskünſtler weiß
eine für die höchſte Würde ganz geeignete Wahlform.
Nichtsdeſtoweniger iſt er keineswegs der Meinung, daß man
unter den gegebenen Verhältniſſen die beſchloſſene Con-
Franzöſiſche Revolution. 25
[386] ſtitution in dieſem Punct abändere, zumal die Verſamm-
lung gewiß ſeyn kann, daß alle Theile von Frankreich ſich
in der ſchon bekannten Verfaſſung am ſicherſten vereinigen
werden. Man muß endlich fertig werden; auch bleibt ja
der Nation immer noch offen, künftig einmal durch eine
conſtituirende Verſammlung jene Änderung zu treffen. Das
Reſultat iſt: Sieyes hat in Verfolgung des Zieles geſell-
ſchaftlicher Freiheit die von Andern als ihr Äußerſtes be-
wunderte Republik weit hinter ſich zurückgelaſſen, und iſt
bei der wahrhaften Monarchie angelangt. Er hat übri-
gens ſeine Unterſuchungen über dieſen Punct ſchon vor
Anfang der Revolution abgeſchloſſen. Dergeſtalt würde,
wir dürfen es nicht bezweifeln, in den Augen von Sieyes
ein gewählter Präſident einen Monarchen bedeuten, und
ſicherlich auch einer, der für wenige Jahre gewählt iſt;
denn warum ſollte man die geſellſchaftliche Freiheit mit
den Altersſchwächen eines Individuums belaſten?


Stand es nun ſo mit der monarchiſchen Theorie des
als Monarchiſt rings verſchrieenen Mannes, ſo darf
man ſich nicht wundern daß ein Jünger Payne’s, Briſſot,
der in Nordamerika das Gedeihen der Grundſätze bewun-
dert hatte, welche jener dort ausſäen half, in ſeinem Jour-
nal und im Jacobinerclub ohne Scheu erklärte, er gehorche
zwar wie billig der einmal über Frankreich verhängten
Monarchie, allein ſie höre darum nicht auf, die Geißel der
Menſchheit zu ſeyn. Briſſot war in etwas anſtändigeren
Formen der Nachtreter von Camille Desmoulins und Ma-
[387] rat, deren Blätter längſt alle Monarchie als Ungereimt-
heit und Schlechtigkeit behandelten, und zu derſelben Mei-
nung bekannte ſich die damalige Mehrheit des Jacobiner-
clubs, vor Allen ſein Stentor Danton. Sein Satz war,
König Ludwig müſſe entweder für einen Verbrecher oder
für wahnſinnig erklärt werden. Da traten nun freilich die
Mitglieder der Nationalverſammlung, mit Ausnahme von
Leuten wie Robespierre und Pétion, lieber aus dem Ja-
cobinerclub und bildeten einen Verein für ſich im Kloſter
der Feuillans; allein die Jacobiner hatten jetzt nur um ſo
freiere Hand, und nicht lange ſo war auf offenem Mars-
felde die Unterzeichnung einer Volksbittſchrift ins Werk
gerichtet, deren Unterzeichner erklären, daß der König am
21ſten Junius auf die ihm übertragene Krone verzichtet hat,
und auf die Wahl einer neuen conſtituirenden Verſamm-
lung antragen, die den vormaligen König richte und eine
neue ausübende Gewalt aufſtelle. Aber während ſich auf
den morſchen Stufen des Altars des Vaterlandes von je-
nem Bundesfeſte her die Unterſchriften häuften, in vielen
Exemplaren gleichzeitig eingeſammelt, erſchien, um dieſen
Eifer zu ſtören, ein Mann, der über das Königthum in-
nerlich nicht viel anders dachte als die Unterzeichner. La-
fayette rückte mit der Nationalgarde an, zerſtreute die wi-Juli 17.
derſetzliche Menge durch eine Flintenſalve, welche Ver-
wundete und Todte hinterließ. In dem erſten Schrecken
flüchteten Camille Desmoulins und Danton aus der
Hauptſtadt, Marat verſteckte ſich, und Robespierre, ob-
25*
[388] gleich geſchützt durch die Würde des Abgeordneten, hielt
ſich eine Zeit lang nicht ſicher in ſeinem Hauſe. Man
fürchtete die Schließung des Jacobinerclubs und des noch
ausſchweifenderen der Cordeliers. Vergebliche Furcht!
Die Nationalverſammlung verfolgte ihren Sieg nicht. Von
der großen Mehrzahl derſelben ward die Krone nicht aus
politiſcher Überzeugung, auch nicht aus Treue gegen Lud-
wig XVI. geſchützt, ſondern weil ſie einen integrirenden
Theil des Verfaſſungspalaſtes ausmachte, welcher nach
mehr als zweijähriger Arbeit nun doch endlich fertig wer-
den mußte, an dem man vor allen Dingen nicht wieder
einreißen durfte, ohne den Verdacht decemviraliſcher Uſur-
pationsplane auf ſich zu laden.


Um ſo widerſinniger war es freilich daß die Verſamm-
lung unlängſt den ſchwachen Hoffnungsfaden durchſchnit-
ten hatte, welcher den Beſtand ihres Werks an die Eigen-
liebe ſeiner Schöpfer knüpfte. Bereits am 16ten Mai ver-
zichtete die Verſammlung faſt mit Einſtimmigkeit auf die
Wählbarkeit ihrer Mitglieder zu der geſetzgebenden Natio-
nalverſammlung, welche der ſogenannten conſtituirenden
auf dem Fuß folgen ſoll; der Taumel der fünften Auguſt-
nacht ſchien wiedergekehrt, man wollte vor aller Welt den
Beweis der völligſten Selbſtverläugnung geben. Vor aller
Welt vielleicht, aber gewiß nicht im verſchwiegenen In-
nern des ſich ſelbſt prüfenden Gemüthes. Ohne Zweifel
hat uns Mirabeau’s Tod hier eines Meiſterſtückes der
Rede beraubt. Wie würde er den Unverſtand, der ſich
[389] für lautere Tugend giebt, beſchämt, die Tücke der verſtock-
ten Royaliſten aufgedeckt haben, die in heimlichem Triumph
hofften, an der rohen Thatkraft einer neuen ungeſchulten
Verſammlung das verhaßte Conſtitutionswerk nächſtens
ſcheitern zu ſehen! Denn weit lieber war dieſen die Re-
publik, als doch unhaltbar, gegen ſolch ein Königthum.
Wie würde er vollends der ſchnöden Eiferſucht, die, ſelbſt
ohne Hoffnung zur Macht, gern auch Andern den Weg
dazu verſperrt, ihren dürftigen Schleier abgezogen, den
einſichtigeren Theil aber, der vor dem Vorwurfe ſelbſt-
ſüchtiger Herrſchſucht verſtummte, ermuthigt haben Alles
aufzubieten, damit die Kräfte, die das Werk geſtiftet,
auch zur Erhaltung desſelben verwendet würden! Denn
alle Leidenſchaften und Verſtocktheiten, unterſtützt von dem
dieſer Nation einwohnenden Gefallen an theatraliſcher Tu-
gend, wirkten zu dieſem Beſchluſſe albernſter Selbſtver-
läugnung zuſammen. Eben ſo verfehlt war, daß nach jenem
Decret, welches die königliche Macht noch nach des Kö-
nigs Rückkehr von ſeiner mislungenen Flucht ſuſpendirt
bleiben ließ, während einige Mitglieder unwillig austra-
ten, ein anderer Theil der Verſammlung, ungefähr 300,
eine Erklärung unterzeichneten, daß allein die Hoffnung, für
die perſönlichen Intereſſen des Königs und der königlichen
Familie noch wirken zu können, ſie bei Männern zurück-
halte, welche über den Trümmern der Monarchie die Mis-
geſtalt einer Republik errichten wollten: die Unterzeichne-
ten würden daher an Berathungen, welche jene Intereſſen
[390] nicht berührten, keinen Antheil ferner nehmen. Das hieß
ſich ſelbſt zur Ohnmacht verurtheilen. Verlor ſo die Na-
tionalverſammlung während der letzten Monate ihrer Thä-
tigkeit zuſehends an Kräften, ſo zählte dagegen der Jaco-
binerclub ſo viele Mitglieder als Necker jener zugewieſen
hatte, reichlich 1200, ſtieg auf 1800, und wenn er ſeine
Ableger durch ganz Frankreich überſchlug, es waren ihrer
leicht drittehalbhundert, ſo ſtand ihm eine Heeresmacht
zu Gebote. Denn von der beſcheidenen Zeit an, da der
Club der Bretagner Deputirten ſich für 400 Franken Miethe
die Aufnahme im Jacobinerkloſter der Straße St. Honoré
erkaufte, welch eine Bahn hatte er durchmeſſen! Von dem
geräumigen Speiſezimmer der Mönche ging man zu ihrem
großen Bibliothekſaale, endlich zu ihrer Kirche über, im-
mer weil es an Raum gebrach. Jetzt aber war auch Alles
in erwünſchter Anordnung feſtgeſtellt: der Hochſitz des
Präſidenten, die Seſſel der Secretäre, die Rednerbühne,
die Geſchäftsordnung, ein eigenes Journal, welches die
Debatten und Beſchlüſſe des Clubs veröffentlicht, Alles
nach dem Muſter der Nationalverſammlung, welche man
auf jedem ihrer Schritte begleitet; auch die Sitzungen wa-
ren öffentlich, wenngleich durch Eintrittskarten bedingt.
Am bequemſten aber war es geradezu nur als thätiges
Mitglied einzutreten, denn dazu genügte letzter Zeit ſchon
der Vorſchlag von nicht mehr als 6 Mitgliedern. Gewiß,
vom pariſer Mutterclub aus ließ ſich Frankreich beherr-
ſchen, auch wenn man nicht mehr zugleich in der National-
[391] verſammlung ſaß, vorausgeſetzt daß man ſeiner Bered-
ſamkeit vertraute, die ſich jetzt hauptſächlich in Improvi-
ſationen geltend machte. Auch ertrug Duport nur kurze
Zeit die Entfernung von ſeiner Hände Werk, kehrte zurück
in den Schooß der Jacobiner, und viele Abgeordnete folg-
ten ſeinem Beiſpiele.


Mittlerweile trat der Ausſchuß ins Leben, welcher ſeit
länger zum Zwecke der Reviſion der Verfaſſung ernannt
war. Wie gern wäre Mirabeau damals hineingetreten,
aber man fand Mittel ihn auszuſchließen. Seine Mitglie-
der waren: Duport, Barnave, Alexander Lameth, Cler-
mont-Tonnerre, der redlich gemäßigte Beaumetz, endlich
Pétion und Buzot. Bloß die beiden letzteren waren erklärte
Republikaner, ſie ſahen ein daß ſie nichts ausrichten wür-
den und zogen ſich bald von den Sitzungen zurück. Somit
hatten die Hauptbegründer der auf republikaniſchen Grund-
ſätzen ruhenden Monarchie freie Hand. Ihre Aufgabe
war zu redigiren, Ungehöriges auszuſcheiden, Dunkelhei-
ten und Widerſprüche in dieſen unzähligen Decreten zu
entfernen. Die Verfolgung dieſes Zieles konnte zu weſent-
lichen Verbeſſerungen führen, ſicherlich aber zu keinem
Umbau durch die Hand von Männern, deren Haupt-
triumphe ſich an die Hauptfehler der Verfaſſung knüpften,
mochte auch mancher von ihnen wünſchen damals nicht
triumphirt zu haben. Der Reviſionsausſchuß hielt oft ge-
meinſchaftliche Sitzungen mit dem Verfaſſungsausſchuſſe.
Die damaligen Mitglieder des letzteren waren: Sieyes,
[392] Talleyrand, Thouret, Chapelier, Target, Rabaud St.
Etienne und Desmeuniers. Allein Sieyes hüllte ſich in
ſein mürriſches Schweigen, Talleyrand ſah zu, die übri-
gen waren entzückt von der Verfaſſung, mit Ausnahme von
Chapelier. Mit dieſem und Barnave beſprach ſich Ma-
louet, ohne Vergleich der bewährteſte Charakter in der gan-
zen Verſammlung, deſſen treugepflegte Überzeugungen von
keiner Zuthat perſönlichen Ehrgeizes erſtickt wurden. Sie
entwarfen den Plan, eine gründliche Verbeſſerung der Ver-
faſſung im Sinne der Ordnung in der Nationalverſamm-
lung zu bewirken, noch während der Reviſionsausſchuß
ſeine Arbeit thäte. Die Verfaſſungsurkunde ward der Ver-
ſammlung durch eine Verleſung, welche Thouret über-
Aug. 5.nahm, bekannt gemacht. Nun griff Malouet ihr metaphy-
ſiſches Princip an. „Eine Regierungsform, welche mit
der Freiheit eine weiſe Fürſorge für ihre Dauerhaftigkeit
verbindet, darf nicht auf die größte politiſche Freiheit be-
rechnet ſeyn, ſie muß berechnet ſeyn auf die größte Sicher-
heit und Freiheit der Perſonen und des Eigenthums. Ihr
habt das Gegentheil gethan; Ihr ſtelltet in Eurer Ver-
theilung der Gewalten die politiſche Freiheit in der größ-
ten Ausdehnung an die Spitze und möchtet nun die mög-
lichſt große Sicherheit der Perſonen und des Eigenthums
daran knüpfen. Ihr ſtellet das Volk als den Souverän
hin, der freilich ſeine Souveränität nicht ſelbſt ausüben
könne, Ihr laſſet ihn zu dem Ende Gewalten übertragen;
allein es iſt gar ſchwer, denjenigen zum Unterthan um-
[393] zuſchaffen, welchem man beſtändig ſagt, in ihm wohne
die Herrſchaft. Er wird bei jedem Anlaſſe auf den erſten
Grundſatz zurückgehen, wird die Gewalten zurückziehen,
ſie umwandeln. Mithin iſt der erſte Fehler Eurer Verfaſ-
ſung dieſe abſtract aufgeſtellte Souveränität.“ So bahnte
ſich Malouet den Weg zum Umſturze der Erklärung der
Rechte und hatte ſchon an die Nothwendigkeit, vor allen
Dingen den König auf freien Fuß zu ſetzen, erinnert, als
ihn Buzots Stimme unterbrach: „Was man Euch vor-
ſchlägt iſt nichts weniger als eine Gegenrevolution.“ Als-
bald erhub ſich gewaltige Aufregung und ein Getöſe, Cha-
pelier und Barnave wichen dem Sturme, ſie vermochten
es nicht über ſich, ihre eigene ſtaatsmänniſche Laufbahn zu
bekämpfen, ſie ſelbſt unterſtützten den Antrag daß die lei-
tenden Grundſätze unantaſtbar bleiben müſſen. Fortan
nahm die Reviſion ſowohl in dem Ausſchuſſe als in der
Verſammlung einen äußerſt raſchen Gang, alle Grund-
lagen blieben wie ſie waren, die Vertheilung der Gewal-
ten ward in keinem Stücke geändert, die Aufhebung jenes
Beſchluſſes wegen der Nichtwählbarkeit der Mitglieder der
Nationalverſammlung ward zwar von dem Ausſchuſſe be-
antragt, aber verworfen; für ſpäter ſoll indeß die Wieder-
wahl zur nächſtfolgenden Verſammlung geſtattet ſeyn, nicht
aber zum dritten Male. Beide Ausſchüſſe ſchlugen den
Artikel vor: „Die Miniſter werden in der geſetzgebenden
Nationalverſammlung Zutritt haben; ſie werden daſelbſt
einen ausgezeichneten Platz erhalten und auf ihr Verlangen
[394] über alle Gegenſtände gehört werden und Aufklärungen
geben, ſobald man ſie darum erſucht.“ Dieſer Artikel
ward verworfen und ein anderer trat an die Stelle, wel-
cher ihre Redefreiheit auf die ihrem Reſſort angehörigen
Gegenſtände beſchränkte, es ſey denn daß ſie die Erlaub-
niß erhielten dieſe Gränze zu überſchreiten.


Die Frage entſtand, wie es gehalten werden ſolle,
wenn ſich das Bedürfniß einer Veränderung der Verfaſ-
ſung offenbare. Nach mancher Debatte fand Frochots ge-
mäßigter Vorſchlag Beifall, welcher jede directe Einwir-
kung des ſouveränen Volks entfernte. Wenn drei auf ein-
ander folgende Legislaturen ſich für die Veränderung eines
Verfaſſungsartikels übereinſtimmend entſchieden haben,
ſoll die Veränderung ſtattfinden; aber es iſt nicht geſtattet,
in den beiden nächſten Legislaturen eine Veränderung in
Vorſchlag zu bringen.


Am 3ten September endigte mit der Reviſion die Ver-
faſſungsarbeit. So unbedeutend die Veränderungen wa-
ren, ließ ſich Robespierre es nicht nehmen, ſie als ein Na-
tionalunglück zu beklagen; er verlangte daß auch nicht ei-
nen Augenblick über die Annahme mit der executiven Ge-
walt unterhandelt werde. Dieſe ward inzwiſchen, damit
ſie der ihr zugedachten Regierung nicht entrinne, ſeit dritte-
halb Monaten ſtrenge in ihrem eigenen Schloſſe bewacht,
ſo ſtrenge, daß die Königin kaum für den Kleiderwechſel
hinlänglich freie Zeit behielt und die wachthabenden Of-
ficiere manchmal Nachts durch die offene Thüre hin nach-
[395] ſahen, ob König und Königin ſich auch in ihren Betten
befänden. Jetzt aber am Abend des 3ten September begab
ſich eine Deputation von 60 Mitgliedern bei Fackelſchein
in die Tuilerien; ihrer wartete der König, von ſeinen
Miniſtern umgeben. Thouret, zum dritten Male Präſi-
dent, ſprach: „Die Vertreter der Nation bringen Eurer
Majeſtät die Verfaſſungsurkunde, welche die unverjähr-
baren Rechte des franzöſiſchen Volks heiligt, dem Thron
ſeine wahre Würde zurückſtellt, und der Verfaſſung des
Reiches ein verjüngtes Daſeyn giebt.“ Zugleich wurden
die Wachen zurückgezogen, und Ludwig befahl nun der
Garde, die ihm eben noch zu befehlen hatte. Am 13ten
ertheilte der König ſchriftlich ſeine Genehmigung, unbe-
dingt, ohne gleichwohl zu verhehlen daß er in Betracht
der Größe des Reiches mehr Macht für die ausübende
Gewalt gewünſcht hätte, bei ſo getheilten Meinungen
vertraue er jedoch die Entſcheidung der Erfahrung. Den
Tag darauf leiſtete der König perſönlich den Eid auf die
Verfaſſung, ſtehend vor den ſitzenden Nationalvertretern;
die Königin befand ſich mit ihrem Gefolge in einer Sei-
tenloge. Als Ludwig, begleitet von der jubelnden Ver-
ſammlung, ſein Schloß erreicht hatte, warf er ſich in einen
Seſſel und beklagte weinend die erlittene Demüthigung.


Noch beſchloß die Verſammlung ein unwirkſames De-Sept. 29.
cret gegen die Clubs und ihre Anmaßung, ſich als politi-
ſche Körperſchaften geltend zu machen, politiſche Beſchlüſſe
zu faſſen und auf die Behörden einwirken zu wollen, ſtatt
[396] ſich auf wechſelſeitige Aufklärung zu beſchränken. Aber
am 30ſten September entließ der König die Nationalver-
ſammlung mit der Mahnung an ihre Mitglieder, ihre
Grundſätze der Ordnung und Geſetzlichkeit in den Depar-
tements zu verbreiten. Der Präſident Thouret nahm dann
das Wort: „Die conſtituirende Verſammlung erklärt daß
ihr Auftrag erfüllt iſt und daß ſie von dieſem Augenblicke
an ihre Sitzungen ſchließt.“


[[397]]

2. Die geſetzgebende Verſammlung und das
Ausland.


Während die conſtituirende Verſammlung ihr Werk
nachbeſſerte, wurden die Mitglieder der folgenden Legis-
latur gewählt und nach Paris beſchieden, damit die höchſte
Gewalt auch keinen Tag in ihrer Thätigkeit feiere. In die
alten Räume der Reitbahn ziehen fremde Geſichter ein,Oct. 1.
an welchen dem Pariſer zuerſt ihre Jugend auffällt, es
ſind mehrentheils Männer unter dreißig Jahren. Aber
der Saal füllt ſich auch nicht wie ſonſt; ihrer ſind, und
wir loben das, nicht mehr 1200, nur 745. Wie man
aber gerade zu dieſer Zahl kam? Es greift das auf die
früher beſprochene neue Reichseintheilung in Departements,
Diſtricte und Cantons zurück. Im Canton nimmt das
Wahlgeſchäft ſeinen Anfang, das will ſagen die Wahl
der Wähler; denn bei dieſen keineswegs empfehlenswer-
then Wahlcollegien, aus welchen die erſte Nationalver-
ſammlung nothgedrungen hervorging, iſt man ſtehen ge-
blieben. In jedem Canton tritt zu dem Ende eine Urver-
ſammlung zuſammen, die im Durchſchnitt 600 bis 900
[398] active Bürger enthält, das heißt Zahler einer jährlichen
Steuer von mindeſtens drei Tagelohnen, übrigens mit
Heimathsrecht im Canton, volle 25 Jahre alt, der dienen-
den Claſſe nicht angehörig ꝛc. Iſt der Canton bevölkerter,
ſo zerfällt er in mehr als eine Urverſammlung, deren jede
im Durchſchnitt vier oder fünf Wähler zu ernennen hat.
Um aber wählbar zum Wähler zu ſeyn, muß man entwe-
der ein gewiſſes jährliches Einkommen als Eigenthümer
oder Pächter beziehen oder auch eine jährliche Miethe von
gewiſſer Höhe bezahlen, welches Alles dann für Städte
über 6000 Einwohner und darunter und drittens für das
Land verſchiedenartig normirt iſt. Schließlich treten dann
ſämmtliche Wähler eines Departements zum Wahlcolle-
gium zuſammen, in der Regel an dem Hauptorte deſſelben.
Die Zahl ſämmtlicher Abgeordneten zur Nationalverſamm-
lung iſt laut der Verfaſſungsurkunde neunmal ſo groß als
die Zahl ſämmtlicher Departements im Königreiche. Das
nun würde 747 Abgeordnete bringen, wenn nicht eine
Ausnahme dazwiſchen träte. Denn dieſe Abgeordneten
werden keineswegs ſo beſchafft, daß jedes Departement
deren 9 ſtellte. Vielmehr wird der Anſpruch jedes Depar-
tements nach drei Geſichtspuncten abgeſchätzt, welche in
der Geſammtrepräſentation gleiches Gewicht haben ſollen,
nach Verhältniß nämlich ſeines Territoriums, ſeiner Be-
völkerung und ſeiner Steuerquote. Nun hat man zwar bei
der Departementaleintheilung die Gleichheit der Gebiete
im Auge behalten und kann da ohne ſonderliche Verletzung
[399] der Theorie jedem Departement ſeine volle Dreizahl der
Gebietsvertreter zubilligen, doch macht das hauptſtädtiſche
(Département de Paris) eine Ausnahme, indem es wegen
ſeiner Kleinheit nur einen einzigen Vertreter dieſer Art da-
vonträgt, und eben daher ſtammt der Ausfall von zwei
Deputirten dieſer Kategorie und die Geſammtſumme von
nur 745 Abgeordneten. Dagegen wird dieſes Departe-
ment hinlänglich durch ſein Übergewicht in den beiden an-
deren Kategorien, beſonders dem Steuerbeitrage entſchä-
digt, und erhält im Ganzen 24 Abgeordnete; das Depar-
tement Rhone und Loire, worin Lyon, ſtellt aus ähnlichen
Gründen deren 15. Jedes der 83 Wahlcollegien hat außer
den Abgeordneten auch noch ein Drittel Erſatzmänner zu
wählen, aber, und dieſe Verbeſſerung wird, wie manche
andere im Wahlweſen, der Reviſionsarbeit verdankt, alle
früher erſonnenen Beſchränkungen ihrer Wählerfreiheit fal-
len weg. Welches Alters, Standes, Gewerbes, Ver-
mögens einer auch ſey, wer die Eigenſchaften des activen
Bürgers beſitzt, darf unter die Vertreter der Nation ſich
ſtellen (ein vollkommen richtiges Princip, vorausgeſetzt
daß die richtigen Wähler gefunden ſind). Trifft einen ent-
fernbaren Beamten die Wahl, ſo muß er eines von beiden
Verhältniſſen aufgeben; dagegen darf der unentfernbare
Richter ſich einſtweilen erſetzen laſſen. Die Zahl der ge-
wählten Advocaten war noch größer als in der erſten Ver-
ſammlung; man ſprach von Dreihunderten.


Als die neue Verſammlung allmählig in Fluß kam
[400] und man anfing einander kennen zu lernen, bildete ſich ſo-
fort die frühere Scheidung wieder, indem die Gleichge-
ſinnten ſich rechtshin oder linkshin zuſammen ſetzten, mit
der alten Bedeutung beider Seiten, vergeblich daß der
Präſident den Ausdruck „rechte Seite“ nicht dulden wollte.
Weiterhin trat jedoch auf der linken Seite eine noch nicht
vorgekommene Trennung ein, als eine Gruppe dort ſich
auf den unteren Bankreihen zuſammenhielt, die andere
unluſtig die höheren Sitze ſuchte. Dieſe Männer des Ber-
ges, wie man ſie nannte, blickten verſtimmt auf ihre Nach-
barn in der Ebene, die ihre politiſche Farbe trugen, aber
ſich beſſer dünkten als ſie. Freilich kam die Mehrzahl von
dieſen aus dem großen, gewerbreichen, vermögenden Bor-
deaux im Departement der Gironde und es fanden ſich un-
ter dieſen Girondiſten Männer von ausgezeichneten Gaben,
vor Allen Vergniaud, Guadet, Genſonné, Grangeneuve;
und Männer von Bildung, wie Condorcet und Briſſot,
beide von den Pariſern gewählt, ſchloſſen ſich ihnen an.
Der Charakter der Girondiſten prägt ſich am offenherzig-
ſten, obgleich nicht gerade auf die ehrenhafteſte Weiſe in
Briſſot aus. Sie alle ſind keine Freunde der Monarchie,
halten ſie für eine veraltete, ziemlich unverſtändige Regie-
rungsform, allein ſie erkennen ihre Verpflichtung der Con-
ſtitution zu gehorchen bis zu einem gewiſſen Grad an.
Wenn unverſehens eine Republik aus Frankreich würde,
ſie hätten gewiß nichts dawider, aber in eine Herrſchaft
der rohen Maſſen, des Pöbels darf es nicht umſchlagen;
[401] und das wird, meinen ſie, ihr politiſches Talent, ihre
Beredſamkeit ſchon zu verhindern wiſſen. Ganz anders aber
dachte der Berg hinter und über ihnen. Er ſah in dieſen
feinen Bordeauxer und Pariſer Herren eine ihm keines-
wegs genehme Ariſtokratie des vermöglichen Talents und
der Bildung, die man zwar vorläufig gelten laſſen konnte,
inſofern ſie dazu half, die rechte Seite unten zu halten,
aber lange durfte ihr Reich nicht währen; denn der Berg
ſteuerte mit vollen Segeln auf die Republik und die Herr-
ſchaft der Maſſen zu. Ihre natürliche Wurzel ſah die Berg-
partei im Jacobinerclub, hier fand ſie ihren Robespierre,
der ſeit ſeinem Rücktritt von der Macht in allem Glanze
der Selbſtverläugnung ſtrahlte, hier Danton, Camille
Desmoulins, Marat, hier die neuen Größen, den gewe-
ſenen Schauſpieler Collot d’Herbois, den Fleiſcher Legendre,
den Journaliſten Tallien, Alles Nicht-Deputirte, aber
Männer von entſchiedenem Einfluß in den Volkskreiſen der
Hauptſtadt. Auf der rechten Seite der Nationalverſamm-
lung ſaßen die Deputirten, welche es mit dem Eide auf
die neue Verfaſſung ernſtlich meinten; man darf keine Ei-
ferer für die alte Ordnung der unumſchränkten Monarchie
unter ihnen ſuchen, aber Männer, wie Mathien Dumas
und Paſtoret, die das Leben und den beweglichen Cha-
rakter ihrer Landsleute in Krieg und Frieden kannten, hät-
ten der Krone gern alle noch mögliche Macht geſichert.
Ihre Hoffnung war, diejenigen Collegen, welche noch
eine Meinung zu ſuchen ſchienen, und es mochten derer
Franzöſiſche Revolution. 26
[402] ein Paar Hundert ſeyn, für ſich und ihren Club, den
der Feuillants, zu gewinnen. Auch gelang es ihnen zu-
nächſt damit, ihren Clubſaal belebten in den nächſten
Monaten wohl drittehalb Hundert Deputirte. Hier ward
es aufrichtig beklagt, als der verdienſtvolle, durch Er-
fahrung gemäßigte Bailly von der Mairie der Haupt-
ſtadt jetzt zurücktrat und der laxe unzuverläſſige Pétion
an deſſen Stelle gewählt ward, welcher einen der hef-
tigſten Jacobiner, den Manuel, zum Procureur-Syndic
erhielt, deſſen Subſtitut dann Danton ward. Wie gern
wäre Lafayette Maire geworden, da er laut der neuen
Oct. 8.Ordnung den Oberbefehl der Nationalgarde niederlegen
mußte, welcher jetzt unter den Chefs ihrer ſechs Legio-
nen von Monat zu Monat wechſelt. Aber Lafayette’s
Bewerbung ſcheiterte an der momentanen Eintracht der-
jenigen, welchen er zu wenig königlich, und derer, wel-
chen er es viel zu viel war. Die Freunde der Ruhe
weiſſagten wenig Gutes aus dieſen beiden Verände-
rungen.


Mittlerweile vollendete die Nationalverſammlung bin-
nen drei Tagen die Prüfung der Vollmachten unter ihrem
Alterspräſidenten; als die Hälfte der Deputirten und einer
darüber beiſammen, war Präſidentenwahl, und ſo glimpf-
lich ließen ſich die Sachen an, daß Paſtoret gewählt ward.
Eine Deputation ging auf das Schloß, um den König
zu benachrichtigen daß die Verſammlung conſtituirt ſey,
und die Beſtimmung des Tages zu erhalten, an welchem
[403] der König erſcheinen werde, ſie zu begrüßen. Die De-
putirten kehrten ärgerlich zurück, man hatte ſie mehrere
Stunden warten laſſen, ihre Verſtimmung theilte ſich
der Verſammlung mit und ſogleich ward ein Beſchluß
gefaßt, welcher die Empfangsehren des Königs beſchränkte
und ihm die Titel Majesté und Sire entzog. Erſt denOct. 5.
Tag darauf war man abgekühlt genug, um einzuſehen
daß ſolch ein Beſchluß keineswegs eine Maßregel der
inneren Polizei der Verſammlung ſey, ſondern der kö-
niglichen Sanction bedürfe, und trat davon zurück. AberOct. 6.
während der Debatte ging manches Licht auf. Die Gi-
rondiſten, an ihrer Spitze Vergniaud, verriethen daß
es ihnen ganz recht ſey, die Krone noch tiefer zu ſtel-
len, und die für dasmal geſchlagene Partei nahm an
einem Theile ihrer Gegner Rache. Dafür nämlich mußte
ſie eine Anzahl Mitglieder der vorigen Verſammlung
(exconstituants) halten, welche in der Hauptſtadt ge-
blieben waren, um die neue Verſammlung einzuſchulen,
und welche ſogar während der Sitzung von gewiſſen
vorbehaltenen Gallerieplätzen aus Mittheilung mit Ein-
zelnen pflogen. Letzterem ward gleich ein Ende gemacht,
um ſo eher ließ ſich hoffen durch einige Siege über die
conſtituirende Verſammlung volle Genugthuung zu er-
langen.


Und ſo geſchah es. Man begann mit der Aufhe-
bung ihres Beſchluſſes wegen der Clubs und anderer
Volksgeſellſchaften, und nahm fortan Bittſchriften und
26*
[404]Nov.Deputationen von dieſen an, nur daß man ſie auf den
Sonntag beſchränkte. Man erlaubte dem gemeinen Manne,
den nichtactiven Bürgern, welche keinen Zutritt zur Na-
Dec.tionalgarde hatten, eine andere ſtädtiſche Bewaffnung
nebenher zu bilden, Piken zu tragen, nur daß jeder Pi-
kenmann ſich förmlich einzeichnen laſſe und die Piken-
mannſchaft unter dem Befehlshaber der Nationalgarde
ſtehe. Man ließ endlich im Verlaufe des Winters neben
der Nationalcocarde noch ein anderes äußeres Abzeichen,
die rothe Mütze, aufkommen, Anfangs allein von der
niedern Claſſe als Erklärung der Freiheitsliebe getragen,
allein mit dem nächſten Frühling wurden auch einige
Girondiſtenköpfe roth, und Verſuche kamen vor, ſie bei
den Jacobinern, ja ſelbſt in die Nationalverſammlung
einzuführen, nur daß ein gewiſſer guter Ton noch da-
gegen war. Allein die Maſſe, welcher für die Welt-
herrſchaft nichts fehlt als die Ordnung, organiſirte ſich,
und es gab bereits ein Gebiet in Frankreich, wo ſie die
Herrſchaft führte.


In jenen frühen Jahrhunderten des Mittelalters, da
Frankreich noch der Einheit ſeines Territoriums ſo fern
ſtand, kamen zwei provençaliſche Gebiete, die Grafſchaft
Venaiſſin und der Staat von Avignon, an den päpſt-
lichen Stuhl, erſtere 1274 durch eine unbedachte könig-
liche Schenkung, letzterer 1348 durch einen mit einer
ſchönen fürſtlichen Sünderin, welche der Abſolution und
des Geldes gleich dringend bedurfte, vortheilhaft abge-
[405] ſchloſſenen Handel. Die Läſtigkeit dieſer Enclave war
ſchon oft empfunden, ſie ſchien unerträglich jenen Män-
nern, welche die neue Eintheilung des franzöſiſchen Ge-
bietes zu Stande brachten. Die Päpſte hielten dieſe ent-
fernten Unterthanen mild, ihr Zehenter betrug kaum den
ſechzigſten Theil ihrer Erndte; dennoch konnte es nicht
fehlen daß dieſe Provençalen ſich als Franzoſen fühlten,
und ein Theil von ihnen ward von der großen Bewe-
gung ergriffen, welcher das franzöſiſche Volk folgte. Im
Jahre 1790 richtete man in Avignon eine Municipalität
und Nationalgarden in neufranzöſiſcher Art auf, ſchloß
mit der Grafſchaft eine Föderation. Aber auch die päpſt-
liche Regierung hatte ihre Partei, es kam zwiſchen bei-
den Theilen zu Feindſeligkeiten, welchen das Einſchrei-
ten franzöſiſcher Nationalgarden aus der Nachbarſchaft
ein Ende machte. Jetzt riß man in Avignon die päpſt-
lichen Wappen ab, erbat durch eine Deputation die Ein-
verleibung in Frankreich. Anders ſtand es mit Venaiſſin;
hier dachte die Hauptbevölkerung päpſtlich. Die Natio-
nalverſammlung entſchied ſich nach längeren Debatten,
ſchickte Truppen nach Avignon. Dieſe aber, ſtatt ſich
zu begnügen die franzöſiſche Partei in Avignon zu be-
ſchützen, drangen in Venaiſſin ein, und ermordeten ihren
eigenen General, als er ihrer Zuchtloſigkeit wehren wollte.
Das geſchah im April 1791. Nun bemächtigten ſich die
Soldaten der Regierung, an ihre Spitze trat ein Wü-
therich, Jourdan genannt, ſie häuften Gräuel auf Gräuel,
[406] die Nationalverſammlung ſchickte Commiſſarien, welche
nichts ausrichteten; endlich beſchloß die conſtituirende
Sept. 14.Verſammlung kurz vor dem Ablaufe ihrer Machtvollkom-
menheit die Vereinigung beider Gebiete mit Frankreich,
als durch die Stimme ihrer Bevölkerung entſchieden. Sie
ſollten zum Departement der Rhonemündungen geſchla-
Sept. 23.gen werden, allein ein neuer Beſchluß, erſt nach Er-
öffnung der geſetzgebenden Verſammlung (Oct. 2.) be-
kannt gemacht, ſchuf ein eigenes Departement Vaucluſe,
das 84ſte, aus ihnen. Nichtsdeſtoweniger dauerten die
Metzeleien der Horden Jourdans unter den Freiheits-
feinden fort, ein erhabenes Beiſpiel für die Pikenmän-
ner der Hauptſtadt.


Die bürgerliche Verfaſſung der franzöſiſchen Geiſtlich-
keit war von der conſtituirenden Verſammlung beſchloſ-
ſen, ohne in die Verfaſſungsurkunde aufgenommen zu
Nov. 29.ſeyn. Jetzt ſoll ihre Durchführung erfolgen. Ein Decret
erſchien: „Binnen acht Tagen müſſen die noch unbeei-
digten Prieſter ſich vor ihren Municipalitäten zur Eides-
leiſtung ſtellen; man wird Liſten der beeidigten und der
eidweigernden Prieſter abfaſſen; die letzteren verlieren
ihre Penſionen und werden als in Verdacht der Empö-
rung gegen das Geſetz und der böſen Geſinnung gegen
das Vaterland ſtehend, ſobald irgendwo Unruhen aus-
brechen, von dieſem Orte entfernt, und wenn ſie als
Anſtifter erſcheinen, in zweijährige Haft gebracht.“ Gegen
die Gewaltſamkeit dieſer Maßregel erhoben ſich Stimmen
[407] in der Verwaltung des Departements der Hauptſtadt,
an deren Spitze der 81jährige (Herzog von) Rochefou-
cauld ſtand. Die ſämmtlichen Mitglieder dieſer Verwal-
tung wurden von dem Collegium der Wähler des De-
partements für zwei Jahre ernannt. Alle activen Bür-
ger, die einen zehntägigen Arbeitslohn ſteuern, ſind
wählbar; ihrer 36 bilden die Verwaltung des Depar-
tements; ihr Vorſtand iſt der General-Procureur-Syndic.
Dieſer Oberbehörde untergeordnet ſind die Verwaltungs-
räthe der Diſtricte, eben ſo ernannt, jeder von nur 12
Mitgliedern, mit einem General-Procureur an der Spitze.
In der Oberbehörde des pariſer Departements ſaßen
Männer, welche eben noch unter den Umbildern von
Frankreich in der erſten Linie ſtanden, Sieyes, Talley-
rand, Beaumetz, und wir zählen dazu auch Röderer,
aus Metz gebürtig und in der erſten Nationalverſamm-
lung Deputirter dieſer wichtigen Stadt, deſſen Bedeu-
tung freilich weniger in den großen politiſchen Fragen
als im Steuerausſchuſſe, wo es auf die indirecten Steuern
ankam, hervortrat. Denn er war es, der die ſeit Col-
bert und Turgot ſo oft beantragte Verlegung der Zölle
an die äußere Gränze des Staates durchſetzte und den
Grund zu der Abgabe des Enregiſtrement legte. Mit-
glieder dieſer Behörde alſo beſchloſſen eine Bittſchrift an
den König, welche ihre Unterzeichner ehrt, allein es ſind
deren überhaupt nur zehn, und wir vermiſſen insbe-
ſondere die Namen von Sieyes und Röderer. Man geht
[408] von der eindringlichen Bitte an den König aus, er möge
in der Erhaltung der Conſtitution das einzige Heil Frank-
reichs erblicken, und knüpft daran die Bitte, gegen das
letzte Decret der Nationalverſammlung ſein Veto einlegen
zu wollen. „Sire, die Nationalverſammlung hat ſicher-
lich das Gute gewollt und will es beſtändig: wir erwei-
ſen ihr gern dieſe Huldigung, verſchaffen ihr gern Genug-
thuung, ihren ſtrafbaren Widerſachern gegenüber; ſie hat
die unzähligen Übel ausrotten wollen, wovon gerade jetzt
die kirchlichen Zwiſtigkeiten die Urſache oder der Vorwand
ſind. Allein wir glauben daß dieſer löbliche Vorſatz ſie zu
Maßregeln verleitet hat, welche die Conſtitution, die Ge-
rechtigkeit, die Klugheit nicht dulden.


„Für die Zukunft ſoll für alle Geiſtliche außer Dienſt
der Genuß ihrer Jahrgelder von der Ableiſtung des Bür-
gereides abhängen, während die Conſtitution ganz aus-
drücklich und buchſtäblich dieſe Penſionen der National-
ſchuld gleichſtellt. Kann denn aber die Weigerung irgend
einen Eid zu leiſten, und wäre dieſer der allergeſetzlichſte,
ein anerkanntes Recht des Gläubigers vernichten? und
kann in irgend einem Falle es dem Schuldner zuſtehen,
hinterher eine Bedingung zu ſtellen, welche ihn von einer
früher eingegangenen Verpflichtung befreien ſoll?


„Die conſtituirende Verſammlung hat in Bezug auf
die unbeeidigten Prieſter gethan was ſie thun konnte.
Dieſe haben den vorgeſchriebenen Eid verweigert, ſie hat
dieſelben ihrer Functionen beraubt, und indem ſie ſie außer
[409] Beſitz ſetzte, ſie auf eine Penſion beſchränkt. Das iſt die
Strafe, das iſt das Urtheil. Wie kann man nun eine
neue Strafe über einen ſchon abgeurtheilten Gegenſtand
ausſprechen, ſolange kein neues Vergehn des Indivi-
duums den Stand der Frage verändert?


„Die unbeeidigten Prieſter ſind entſetzt, und nun will
die Nationalverſammlung ſie noch für verdächtig der Em-
pörung gegen das Geſetz erklären, wenn ſie ſich weigern
einen Eid zu leiſten, der von keinem Bürger ſonſt, wel-
cher nicht in Amtspflicht ſteht, gefordert wird. Kann denn
das Geſetz überhaupt Menſchen für verdächtig der Empö-
rung gegen das Geſetz erklären? Hat man das Recht der-
geſtalt ein Verbrechen zu präſumiren?


„Das Decret der Nationalverſammlung will daß die
Geiſtlichen, welche den Eid noch nicht geleiſtet oder ihn
zurückgenommen haben, bei allen Unruhen wegen Reli-
gionsſachen ſollen proviſoriſch entfernt werden dürfen, und
man ſoll ſie gefangen nehmen, ſobald ſie dem Befehle ſich
zu entfernen nicht gehorchen. Heißt das aber nicht das
Syſtem der Befehle nach Willkür zurückrufen, wenn einer,
der ſich nicht bewußt iſt gegen ein Geſetz angeſtoßen zu ha-
ben, verbannt oder gefangen geſetzt werden kann?


„Das Decret befiehlt, die Departements-Directorien
ſollen Verzeichniſſe der unbeeidigten Prieſter anfertigen und
dieſe dem geſetzgebenden Körper einreichen, mit Bemer-
kungen dabei über die perſönliche Aufführung eines jeden,
als ob es in der Macht der Directorien ſtände Menſchen
[410] zu claſſificiren, welche, da ſie keine öffentlichen Beamten
ſind, ſich in der allgemeinen Claſſe der Bürger verlieren;
als ob Verwalter ſich entſchließen könnten Verzeichniſſe zu
bilden und bekannt zu machen, welche in den Tagen der
Aufregung ſich in blutige Proſcriptionsliſten verwandeln
können; als ob ſie überhaupt fähig wären ein inquiſitori-
ſches Verfahren einzuleiten, welches aus der buchſtäb-
lichen Ausführung des Decretes nothwendig flöſſe.


„Sire, bei dem Leſen dieſer Verfügungen haben alle
die Individuen, welche Ihnen dieſe Bittſchrift darbringen,
ſich gefragt, ob ſie dieſe Art von Hingebung in ſich füh-
len: Alle haben ein tiefes Stillſchweigen beobachtet.


„Müßten ſie denn nicht zu jedem Mitbürger ſprechen:
ſagt uns, welches Glaubens ihr ſeyd, gebt Rechenſchaft
von euren Religionsmeinungen, unterrichtet uns von eu-
rem bisherigen Gewerbe, und es wird ſich zeigen ob ihr
Recht auf geſetzlichen Schutz habt, ob es uns erlaubt iſt
euch in Frieden zu laſſen. Seyd ihr geiſtlich, ſo zittert,
wir heften uns dann an eure Ferſen, ſpähen alle eure
Privathandlungen aus, eure geheimſten Beziehungen
erforſchen wir: wie regelmäßig auch eure Betragen ſeyn
mag, bei dem erſten Auflaufe in dieſer unermeßlichen
Stadt, wobei man das Wort Religion ausſpricht, ziehen
wir euch hervor aus eurer Zurückgezogenheit, und möget
ihr noch ſo unſchuldig ſeyn, wir haben die Macht euch
von eurem Heerde zu treiben, den ihr euch wähltet.


„Wenn Frankreich, das freie Frankreich dahin geriethe
[411] dieſe Sprache zu hören, wo iſt der Mann, der ſich ent-
ſchließen könnte ihr Organ zu ſeyn?


„Die Nationalverſammlung verweigert allen denen,
die den Bürgereid nicht leiſten, das freie Bekenntniß ih-
rer Gottesverehrung. Aber dieſe Freiheit kann niemanden
geraubt werden: keine Macht konnte ſie geben, keine Macht
kann ſie wieder nehmen; es iſt von allen Arten des Eigen-
thums das die erſte, die unverletzlichſte. Sie iſt für im-
mer geheiligt in der Erklärung der Rechte, in den Funda-
mental-Artikeln der Conſtitution: ſie iſt demnach unan-
taſtbar.


„Die conſtituirende Nationalverſammlung hat ſich viel-
leicht niemals größer, nie Ehrfurcht gebietender in den Au-
gen der Nation gezeigt, als damals wie ſie inmitten der
Stürme des Fanatismus dieſem Princip eine glänzende
Huldigung darbrachte. Es war verloren gegangen in den
Jahrhunderten der Unwiſſenheit und des Aberglaubens,
in den erſten Freiheitstagen mußte es ſich wiederfinden;
allein es darf nicht zum zweiten Male verloren gehen, in
dieſem Punct ſo wenig als in einem anderen darf die Frei-
heit Rückſchritte machen.


„Vergebens wird man euch ſagen, der unbeeidigte
Prieſter ſey verdächtig. Waren denn unter Ludwig XIV.
die Proteſtanten nicht verdächtig in den Augen der Regie-
rung, ſobald ſie ſich der herrſchenden Religion nicht unter-
werfen wollten? Waren die erſten Chriſten nicht den rö-
miſchen Kaiſern verdächtig? Waren die Katholiken nicht
[412] in England lange Zeit verdächtig? Es giebt keine Reli-
gionsverfolgung, die man nicht unter dieſem Vorwande
rechtfertigen kann. Soll denn ein ganzes Jahrhundert von
Philoſophie nur dazu gedient haben uns zu der Unduld-
ſamkeit des ſechzehnten Jahrhunderts zurückzuführen, und
das auf der Straße der Freiheit? Überwache man immer-
hin die unbeeidigten Prieſter, treffe man ſie ohne Erbar-
men mit der ganzen Schärfe des Geſetzes, wenn ſie es
verletzen oder das Volk zum Ungehorſam aufreizen: nichts
iſt gerechter, nichts iſt nothwendiger als das; allein bis
das geſchieht, achte man ihren Cultus wie jeden anderen
und beunruhige ſie nicht in ihren Überzeugungen. Weil keine
Religion Geſetz iſt, ſo ſey auch keine Religion Verbrechen.


„Sire, das Departement von Paris hat ſich von jeher
eine Ehre daraus gemacht, dieſe Principien ſtandhaft be-
kannt zu haben; wir ſind überzeugt daß dasſelbe ihnen
zum Theil den kirchlichen Frieden verdankt, deſſen es ſich
jetzt erfreut. Wohl freilich wiſſen wir daß es ſyſtematiſche
Unruhſtifter giebt, deren Treiben ſo bald nicht endet, und
die man vergeblich hoffen würde zu patriotiſchen Geſinnun-
gen zurückzuführen; aber die Vernunft und die Erfahrung
aller Jahrhunderte bezeugen daß das wahre Mittel ſie in
Schranken zu halten darin beſteht, daß man ſich völlig ge-
recht gegen ſie beweiſt und daß die Unduldſamkeit und die
Verfolgung, weit entfernt den Fanatismus zu erſticken,
ſeine Wuth nur mehr entflammen.


„Aus allen dieſen Beweggründen und im heiligen
[413] Namen der Freiheit bitten wir Sie, Sire, Ihre Geneh-
migung dem Decret vom 29ſten November und den vorher-
gehenden Tagen über die kirchlichen Unruhen zu verwei-
gern; allein zu gleicher Zeit beſchwören wir Sie mit aller
Ihrer Macht den Wunſch, welchen die Nationalverſammlung
Ihnen kürzlich mit ſo vieler Kraft und ſo vielem Grunde
ausgedrückt hat, zu unterſtützen, daß die Rebellen, welche
an den Gränzen des Königreiches ſich verſchwören, in
Zaum gehalten werden mögen. Wir beſchwören Sie kei-
nen Augenblick zu verlieren, welchen feſte, kraftvolle und
entſcheidende Maßregeln gegen jene Unſinnigen erfordern,
die dem franzöſiſchen Volk mit ſolcher Kühnheit zu drohen
wagen. Hiedurch und hiedurch allein werden Sie zur
Beſchämung der übelwollenden, zum Troſte der guten
Bürger alles das Gute ſtiften, welches Ihr Herz wünſcht
und ganz Frankreich von Ihnen erwartet. Wir bitten Sie
alſo, Sire, dieſem doppelten Geſuche zu entſprechen und
beide nicht von einander trennen zu wollen.“


So ſchrieben am 5ten December 1791 jene Männer,
im Einverſtändniß mit den Miniſtern Montmorin und
Bertrand de Molleville, und der König übte ſein Veto.Dec. 19.
Schon einige Wochen früher hatte er, einem Decret gegenNov. 12.
die Emigrirten gegenüber, davon Gebrauch gemacht, dieſes
war das zweite Mal, und es hatte Beſtand; ein Verſuch, die
königliche Sanction bei dringenden Fällen für unnöthig zu
erklären, mislang. Reden wir zuletzt von jenem erſten Veto,
weil es mit den wichtigſten Entſcheidungen verknüpft iſt.


[414]

Die Auswanderung war ſeit Eroberung der Baſtille
in verſchiedenen großen Stößen erfolgt, vorzüglich nach
Deutſchland und in das Erzbisthum Trier; in Coblenz
war der Hofhalt der ausgewanderten Königsbrüder. Von
hier aus ſchrieben Monſieur und der Graf von Artois an
den König, bevor er ſich noch über die Conſtitution er-
Sept. 10.klärt hatte, legten Proteſt ein gegen die neue Ordnung
der Dinge. Und was ſie ſprachen, das waren nicht bloß
Wünſche oder machtloſe Drohungen. Aus den Werbeplätzen
des Prinzen von Condé zu Worms, deſſen Biſchof der
Kurfürſt von Maynz war, des Cardinals Rohan und des
Vicomte de Mirabeau zu Ettenheim im Breisgau, zum
Straßburger Hochſtift gehörig, und vornämlich des Gra-
fen von Artois zu Coblenz, im Gebiete ſeines gaſtfreien
Mutterbruders Ludwig Wenzels von Kurſachſen, des Trier-
ſchen Erzbiſchofs, ſtellte ſich eine Emigrantenmacht von
über 20,000 Mann zuſammen, ein Heerd, wie Briſſot
ſprach, der Gegenrevolution. So kam es zum Decret des
9ten November: „Die jenſeit der Gränze des König-
reichs verſammelten Franzoſen ſind der Verſchwörung gegen
ihr Vaterland verdächtig, und wenn ſie am 1. Januar
1792 noch verſammelt ſind, dieſer Verſchwörung ſchuldig,
mithin der Todesſtrafe verfallen; ihre Einkünfte fallen, ſo-
lange ſie am Leben, an die Nation, doch unbeſchadet der
Anſprüche ihrer Frauen, Kinder und Gläubiger. Gleich
von jetzt an hören alle Einkünfte der abweſenden franzö-
ſiſchen Prinzen auf und ſie ſind, wenn ſie bis zum nächſten
[415] 1. Januar nicht zurückkehren, der Todesſtrafe verfallen,
eben ſo alle ausgewanderte öffentliche Beamte, bürger-
liche und militäriſche.“ Der König ſchrieb ſogleich ſeinen
Brüdern, mahnte ſie an die Rückkehr, verſagte aber dem
Decret ſeine Zuſtimmung, unter Bezeugung aller Bereit-
willigkeit einige Artikel desſelben zu genehmigen, falls eine
Trennung der Artikel zugelaſſen werde. Bald aber traten
die auswärtigen Angelegenheiten ganz an die Oberſtelle.


Der auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs will ich
nur inſoweit gedenken, als ſie für das Verſtändniß der
inneren dienen. Es ſind die Beſchlüſſe vom 5ten Auguſt
1789, welche Zwieſpalt zwiſchen dem deutſchen Reiche
und dem Lande der Revolution hervorriefen. Durch die
Abrundung, welche Frankreich plötzlich ſeinem Staate gab,
fiel eine Menge von geiſtlichen und weltlichen Hoheitsrech-
ten und nutzbaren Rechten weg, welche bis dahin alther-
kömmlich vom deutſchen Nachbarlande her mit ihren ver-
witterten Ecken tief in Frankreich hineinragten. Wie viele
franzöſiſche Unterthanen ſtanden nicht unter der geiſtlichen
Obhut eines deutſchen Biſchofs! Wie viele deutſche Lan-
deshoheiten machten ſich nicht auf franzöſiſchem Gebiete
geltend, mit Steuerfreiheit, Zehnten, Frohnen, Patri-
monialgerichten, Leibeigenen ausgeſtattet, durch Staats-
verträge geſchützt, und von dem Allen ſollte von nun an nicht
mehr die Rede ſeyn! Die hauptſächlich verletzten deutſchen
Reichsſtände waren die drei geiſtlichen Kurfürſten, die
rheiniſchen Biſchöfe, die Häuſer Heſſen-Darmſtadt, Baden,
[416] Naſſau, Würtemberg, Zweibrück, ein Theil der Reichs-
ritterſchaft, und es ging dieſe Frage keineswegs bloß die
ſpäteren Einbußen des deutſchen Reiches, ſondern außer
Lothringen und Elſaß, auch die Freigrafſchaft und Henne-
gauiſche und Luxemburgiſche Gebiete an. Nun hätte ſich
zwar eine Ausgleichung auf dem Wege der Entſchädigung
finden laſſen, und die Nationalverſammlung erklärte ſich
dazu geneigt, aber ſie that das lediglich in Bezug auf das
Elſaß, und ohne der Ausführung ihrer Beſchlüſſe Anſtand
zu geben. Von deutſcher Seite ſchlug man die zu vergü-
tenden Verluſte auf mindeſtens 100 Millionen Livres an,
wollte aber der Mehrzahl nach überhaupt von Entſchädi-
gung nichts wiſſen, Kurmaynz trat mit Anträgen hervor,
hinter welchen der Krieg lauerte, Kurtrier wollte ſeine
Suffraganen, die Biſchöfe von Metz, Toul und Verdun
durchaus nicht fahren laſſen. Die meiſten geiſtlichen Her-
ren, deren politiſcher und kirchlicher Glaube zugleich ver-
letzt war, verwarfen beharrlich jede Entſchädigung. Ver-
geblich ſprach Kurhannover auf dem Reichstag dawider
die Sache auf eine gefährliche Spitze zu ſtellen; es zeigte
ſich bei der Mehrzahl der Gekränkten wenig Neigung zu
bedenken daß Öſterreich und Preußen vor nur wenig Mona-
ten mit gezücktem Schwert gegen einander geſtanden, und
wie ſo gar nichts ohne die Einigkeit dieſer das an allen
Gliedern gebrochene Heiligthum des deutſchen Reiches ver-
möge. Der neue Kaiſer Leopold II. billigte die Rüſtungs-
plätze der Emigranten auf deutſchem Reichsboden nicht,
[417] gewährte ſelbſt keine, und auch ſein Bruder, der Kurfürſt von
Cöln, ließ ſich nicht hinreißen. In dem Kaiſer kämpfte die
Entrüſtung gegen die franzöſiſche Revolution mit ſeinen fried-
fertigen Neigungen und der Zorn trug manchmal den Sieg
davon. Er beſprach ſich mit dem Grafen von Artois, führte
durch ſeinen Geſandten den Grafen Mercy mit ſeiner Schwe-
ſter der Königin einen langen geheimen Briefwechſel, der ihn
darüber ins Klare ſetzte daß ſie die Emigranten faſt eben
ſo ſehr als die Jacobiner verabſcheue und von der völligen
Unfähigkeit ihres wankelmüthigen Gemahls, die Regierung
zu führen, ſchmerzlich durchdrungen ſey. Daneben unter-
handelte er mit Preußen und Spanien, und traf mit dem
preußiſchen Könige in Pillnitz zuſammen. Der König fand,
als er am 25ſten Auguſt 1791 in dieſem kurſächſiſchen Luſt-
ſchloſſe erſchien, den Kaiſer ſchon vor. Beide Monarchen
brachten ihre Kronprinzen mit. Am Abend beim Souper
ward plötzlich der Graf von Artois angeſagt, der mit dem
Herrn von Calonne und Bouillé und Polignac ſo eben
angekommen. Der Kaiſer verhehlte dem Könige nicht daß
er den Krieg nicht wünſche, daß auch ſein alter Lascy, den
er mitgebracht, ganz dagegen ſey, daß er für ſeine Nieder-
lande fürchte, und allenthalben wo die Franzoſen, deren
Hülfsquellen groß, einrückten, die Verbreitung franzöſi-
ſcher Grundſätze vor Augen ſehe. Beide Monarchen ver-
einigten ſich zu der Erklärung, daß ſie in Gemäßheit derAug. 27.
von Monſieur und dem Grafen von Artois ausgeſproche-
nen Vorſtellungen und Wünſche die Lage, in welcher der
Franzöſiſche Revolution. 27
[418] König von Frankreich ſich befindet, als einen Gegenſtand
des allgemeinen Intereſſes aller europäiſchen Souveräns
betrachten, daß ſie keinen Augenblick an der übereinſtim-
menden Überzeugung dieſer zweifeln, in Folge welcher ſie
denn ihre Mitwirkung nicht entziehen werden, um den
König von Frankreich in Stand zu ſetzen, die Grundlagen
einer monarchiſchen Regierung wieder mit völliger Freiheit
zu befeſtigen, wie ſolche den Rechten der Souveräne und
der Wohlfahrt der Franzoſen in gleichem Grade gemäß iſt.
In dieſem Falle — und dieſe Schlußphraſe wird Calonne
zugeſchrieben — ſind beide Majeſtäten entſchloſſen mit
der nöthigen Macht zu ſolchem gemeinſamen Zwecke zu
verfahren, und werden mittlerweile ihren Truppen die ge-
eigneten Befehle geben, um in Thätigkeit treten zu kön-
nen. — In dieſer Note, die in Kurzem Europa durchflog,
lag zwar keine Kriegserklärung, wohl aber eine Kriegs-
drohung, und kein Zweifel daß der Preußiſche König den
Krieg lebhaft betrieb und für eine leichte Sache hielt.
„Mit dem Kriege hat es nichts zu bedeuten,“ ſchrieb der
alte kriegskundige Prinz Heinrich. Über Bürger und ein
zuchtloſes Heer triumphirt ſich’s leicht.“ Wie mühelos
war es im Herbſt 1787 den 20,000 Preußen gelungen die
rebellirenden Holländer ihrem Erbſtatthalter wieder zu
unterwerfen! Mußten die Belgier ſich nicht geben als im
November 1790 Öſterreich wirklich Ernſt machte! War es
nicht erſt ein halbes Jahr her daß die aufrühreriſchen Lütti-
cher gezwungen wurden bei ihrem Biſchof Gnade zu ſuchen!
[419] Mit mehr Bedenken betrachtete Kaiſer Leopold die Sache:
er liebte den Frieden, ihm machten ſchon genug die Grund-
ſätze der Neuerung zu ſchaffen, welche ſein Bruder Joſeph
rings in ſeinen Reichen ausgeſtreut hatte. Öſterreich iſt auf
der alten Ordnung gebaut, beides in Staat und Kirche;
jeder Verſuch hier umzuwandeln bedroht den wunderlich
zuſammengeſetzten Staatskörper mit Auflöſung. Wie nahe
der Auflöſung hatte es der Bruder Joſeph nicht ſchon ge-
bracht! Zurück alſo, ſchleunig zurück in das alte Geleiſe!


Mit dem Preußiſchen Staate iſt es durchaus anders
bewandt. Seine Baſis ruht auf der größten Abweichung
vom Herkommen, welche jemals geſchehen, auf der Mar-
tin Luthers. Die erſte große politiſche That der Reforma-
tion war die Verwandlung des geiſtlichen Ordenslandes
Preußen in ein Erbherzogthum im Hauſe der brandenbur-
giſchen Hohenzollern. Als hernach 1613 Kurfürſt Johann
Sigismund aus einem Lutheraner zum Reformirten ward:
— es war ein Act der Politik, ſeinen jüngſten Unterthanen,
den Jülichſchen, und deren Nachbarn, den reformirten Hol-
ländern zu Gefallen, die ihm den neuen Erwerb ſollten
ſchützen helfen. Abermals eine ungeheure Abweichung
vom Herkommen, die aber außer der Erweiterung des
kirchlichen Horizonts, an welchem man allmählig zwiſchen
Theologie und Chriſtenthum zu unterſcheiden anfing, auch
den Staat als ſolchen feſter ſtellte, während dahingegen
das Haus Sachſen, in der Geburtsſtätte der Reforma-
tion wurzelnd, durch Unſicherheit im Religionsweſen und
27*
[420] ſpäter durch den Religionswechſel um der polniſchen Krone
willen ſeine Anwartſchaft auf eine große Zukunft in
Deutſchland verwirkt hat. Der erſte Gründer der preußi-
ſchen Staatseinheit war der große Kurfürſt Friedrich Wil-
helm, indem er alle landſtändiſchen Schranken gewaltſam
niederbrach. Er betrachtete ſich als die Stütze des deut-
ſchen Proteſtantismus und reichte dem großen Oranier,
welcher die Stütze des Proteſtantismus im ganzen Welt-
theile werden ſollte, zu ſeinem langgepflegten Beginnen
treu die Hand. Er war im Geheimniß jener Unterneh-
mung, welche die Stuarts ſtürzte, hob dafür einen Feld-
herrn den berühmten Schomberg bei ſich auf, und ſeine
Lippen, auf denen der Tod ſchon ſchwebte, verriethen ge-
wiſſermaßen das Geheimniß ſeiner Seele als er ſeine bei-
den letzten Parolen austheilte; ſie hießen London und
Amſterdam. Sein Sohn gab dann dem Staate die Hal-
tung und das ſtolze Trachten, welches in der Königskrone
wohnt. Sein Enkel rief mit unabläſſigem Bemühen die
wirthſchaftliche Einheit und die der Heeresmacht herbei.
Nun Friedrich der Große! Durch ſein Schleſien, durch
ſeine drei ſchleſiſchen Kriege ſtellte er dieſes noch unver-
ſtändliche zweideutige Preußen plötzlich neben Öſterreich
als ebenbürtig hin, und ſchuf zugleich das preußiſche Na-
tionalgefühl, auch durch ſein Landrecht das provinziale
Trachten dem ſtaatiſchen unterordnend. Friedrichs Nach-
folger brauchte den Blick vor dem jungen Frankreich nicht
niederzuſchlagen, wenn er ſeines hohen Berufes ſich ge-
[421] hörig bewußt war. Er konnte auf die lange Reihe ſeiner
Vorfahren hinweiſen und ſagen: „Sehet, dieſe Männer
haben in raſtloſer Arbeit das vollführt, was Eure Kö-
nige, Franzoſen, im Wohlbehagen an den Genüſſen un-
umſchränkter Macht verſäumten und darum jetzt von der
Umwälzung ereilt ſind, weil ihre Selbſtſucht die Aufgabe
ſo hoher Macht verkannte: die Hinwegräumung des nicht
mehr haltbaren mittelalterlichen Staates. Wozu Euch eine
warme Auguſtnacht genügte, das haben jene, freilich
langſam, in Menſchenaltern vollbracht. Entſpricht noch
nicht Alles bei uns Euren Begriffen, ſehet her, ob nicht
unſere Zuſtände reif ſind zu einer weiteren Entwickelung
durch Entfeſſelung des ländlichen und ſtädtiſchen Gewerbes,
und ob ſie nicht ſicherer begründet ſind. In der kirchlichen
Freiheit ſind meine Preußen Euch voraus, das beweiſt
Eure neueſte Prieſterverfolgung. Was freilich Eure poli-
tiſche Freiheit angeht, auf die Ihr ſo ſtolz ſeyd, von wel-
cher Ihr Eure Zeit datiren wollt, gewiß ſie fehlt den
Preußen, aber ſeyd Ihr der Euren denn ſo ſicher, daß Ihr
ſie lange behaupten werdet? Und fragt Ihr nach Preußens
Zukunft, wer ſagt Euch denn daß die Hohenzollern ihre
Unumſchränktheit von vier Menſchenaltern anders als wie
einen fruchtbaren Durchgangspunct verſtehen, daß der Sinn
des großen Friedrich, welcher den erſten Diener des Staats
in ſich erkannte, vor ihren Ohren verklungen iſt? Was
jemals Herrliches unter den Menſchen gelungen iſt, Alles
das liegt zwiſchen den großen Axen, von welchen die Welt
[422] gehalten wird, liegt zwiſchen Ordnung und Freiheit mit-
ten inne. Ohne Ordnung keine Sicherheit, ohne Sicher-
heit keine Freiheit, und Eure Ordnung ſie liegt am Tode.“


Es war nicht ſchwer Friedrich dem Zweiten zu folgen.
Niemand in der Welt iſt verpflichtet ein großer Mann zu
ſeyn, und eine gewiſſe Freudenloſigkeit, welche in den
letzten Jahrzehnten an dieſem vereinſamten Throne haftete,
erleichterte den Wechſel ungemein. Ein Volk ſieht gern
einem friſchen Prinzengeſchlechte ins Auge, und ſeit der
Alte Polen theilen half und ſich zu vieler Unterwürfigkeit
gegen Rußland bequemte, war es Einſichtigen klar daß
der auf dem Einzigen ruhende Staat für dasmal nicht
weiter zum Ziele ſchreiten werde. Friedrich hinterließ ein-
geſchulte Arbeiter, keinen Mann von Charakter. Wenn
ſein Nachfolger einige ſchreiende Härten der Verwaltung
entfernte, womit ſogleich ein kleiner Anfang gemacht ward;
wenn er zugleich ſeine religiöſen Neigungen mild walten
ließ, manche im Übermuth der Größe zerriſſenen Fäden
menſchlich wieder anknüpfte, ſo war ihm die Liebe des
Volks gewiß; wichtige Bedürfniſſe des Zeitalters lagen
am Tage, man konnte zu ihrer Befriedigung weite Wege
gehen, fremde Erfahrungen benutzend, ohne daß von ei-
ner Veränderung in der Staatsverfaſſung für jetzt die
Rede zu ſeyn brauchte; für jetzt, wiederhole ich. Denn
argliſtiger iſt kein Satz erfunden und einfältiger nachge-
ſprochen als die Behauptung, es könne der Segen einer
freien Verwaltung auch ohne eine gewiſſe Summe politi-
[423] ſcher Rechte der Unterthanen beſtehen. Allein das Trach-
ten dieſer Biſchofswerder und Wöllner, betrogener Betrü-
ger, die dem neuen Könige unvermerkt die Laſt der Regie-
rung abnahmen und mit frommer Ergebung in ihren
Vortheil auf die eigenen Schultern luden, war durchaus
auf jenen Stein der Weiſen gerichtet, welcher die Güter
dieſer Welt ausſchließlich in die Hände der Gläubigen
bringt. Wie ſie ihren König mit Geiſtererſcheinungen
täuſchten, die ſich ſogar bis zu Chriſtus verſtiegen, eben
ſo zuverſichtlich verſchloſſen ſie die Augen vor den Geiſtern,
welche wirklich erſchienen waren. Weil aber dem Volk
eine gleiche Geiſtesſtärke nicht zuzutrauen, legte man durch
ein Religionsedict eine breite Binde um ſeine Augen und
verpflichtete drohend ſeine Lehrer zu aller formalen Recht-
gläubigkeit des ſechzehnten Jahrhunderts, ſetzte den Preß-
zwang wieder in Thätigkeit, welchen Friedrich hatte ver-
alten laſſen. Während mancher Deutſche ſchwermüthig be-
geiſtert ahnte, das neue Licht von Frankreich her werde auch
einen Strahl in unſere vaterländiſchen Abgründe werfen,
ſchloß man in Berlin alle Läden zu und beſchloß ſich auf den
Weg zu machen, um die Irrlichter Frankreichs auszuputzen.


In dieſe Stimmungen und Meinungskämpfe fiel Ed-
mund Burke’s gewichtiges Buch über die franzöſiſche Re-
volution, im November 1790 erſcheinend, breit hinein.
Der außerordentliche Mann hatte ſich die Sache leicht ge-
macht. Ohne in den Nothſtand des franzöſiſchen Volks,
die Zerrüttung ſeiner Finanzen, die Rechtloſigkeit ſo vieler
[424] Verhältniſſe irgend einzugehen, ohne Geneigtheit von den
unzähligen Misgriffen der franzöſiſchen Regierung, welche
die Nation mit der Umwälzung vertraut machten, auch
nur einen einzigen aufzudecken, bürdete er dieſem leichtſin-
nigen Volk und der Bosheit ſeiner Verführer Alles auf,
ſtellte das Engliſche 1688 und 89 dem Franzöſiſchen 1788
und 89 triumphirend gegenüber, und ließ den Gedanken
gar nicht aufkommen daß ſeine Landsleute denn doch wirk-
lich anderthalb Jahrhunderte gebraucht haben, um von ei-
ner Verwirrung in Staats- und Kirchenſachen ohne Glei-
chen, von Bürgerkrieg und Königsmord zu dieſer mit Recht
geprieſenen Mäßigung zu geneſen. Er aber will nicht ein-
mal durch das Blutgerüſt Karls I. geſtört ſeyn, ſchilt den
Doctor Price, weil er zuſammenwerfe was man unter-
ſcheiden müſſe. Kein Gedanke daran, den Franzoſen auch
nur einigermaßen zu Gute kommen zu laſſen daß bei ihnen
die kirchliche Umwälzung mit der politiſchen unvermeidlich
zuſammenfiel, und das in einem Zeitalter überhaupt ge-
ſchwächter Gewalt des Herkommens, und das in einem
Volk, deſſen politiſche Organe kläglich zerbrochen waren.
Burke, der mit edler Wärme die in der Geſchichte wal-
tende Vorſehung verehrt, richtet gleichwohl keinen Blick
auf die vielen durch Unumſchränktheit morſch gewordenen
Throne unſeres Welttheils, die keine vorwitzige Volks-
hand zum Wanken brachte; ihn ficht nicht an die tragiſche
Bedeutung Dännemarks, wo ein Arzt das königliche Scepter
ergriff und man es litt, und er es wieder verlor und Hin-
[425] richtung erfuhr, begleitet von der Beſchimpfung einer Kö-
nigin, und man es litt, und wo ein Menſchenalter hin-
durch eine uſurpirte Herrſchaft der anderen folgte, bloß
weil im ganz unumſchränkt regierten Staate niemand das
Recht hat, zwiſchen einem Herrſcher, der ſeiner Sinne nicht
mächtig iſt, und einem der es iſt zu unterſcheiden, außer
dieſer Herrſcher ſelber. Zwar nimmt Burke ſich wohl in
Acht eine ſolche Verfaſſungsform anzurathen, wohl wiſ-
ſend daß jeder Engländer dann ſein Buch mit Verachtung
zurückſchieben würde; er macht die Krone des Beherrſchers
von Großbritannien ſogar von der Erfüllung der geſetz-
lichen Bedingungen des Souveränitätsvertrages abhängig
and whilst the legal conditions of the compact of so-
vereignity are performed by him (as they are perfor-
med) he holds his crown
—; allein dieſer Umſtand ſtimmt
ihn durchaus nicht billiger gegen die Völker, welche, durch
grauſame Erfahrungen belehrt, es eben ſo gut haben
möchten. Er ſchildert nach ſeinen flüchtigen Reiſebemer-
kungen den Zuſtand Frankreichs vor der Revolution als
recht erwünſcht, ſeine hohe Geiſtlichkeit, ſeinen Adel als
löblich geſinnt; er bezeichnet die damalige Verfaſſung als
immer noch die beſte unter den ſchlechtgerathenen monar-
chiſchen Regierungsformen, obgleich voll von Misbräu-
chen, „wie ſie überall ſich häufen müſſen da wo die Mon-
archie der beſtändigen Aufſicht einer Volksvertretung ent-
behrt.“ Was aber ſind, wenn man ihm glaubt, die Fol-
gen des frevelhaften Umſturzes geweſen? Ein durch Aus-
[426] wanderungen verödetes, entkräftetes, verarmtes Frank-
reich. „Man muß Frankreich“ ſo ſprach er auch im Par-
lament, „als ausgeſtrichen aus dem Syſtem Europa’s
betrachten.“ Mit einem Wort, Burke’s Darſtellung, ſo
hoch ſie als redneriſches Werk ſteht, ſo unvergeßlich ihre
überwältigende politiſche Wirkung iſt, kann als hiſtoriſche
Schilderung kaum niedrig genug geſtellt werden.


Nun iſt der Engländer gewiegt genug, um politiſche
Parteiſchriften auch als ſolche zu würdigen; allein es han-
delte ſich damals nicht bloß davon ein unparteiiſches Ur-
theil über die franzöſiſche Revolution zu begründen, es
fragte ſich, ob diejenigen Recht hatten, welche nun auf
dem Engliſchen Boden einen Umbau der Verfaſſung nach
dem gefeierten Muſter Frankreichs beginnen wollten. Und
hier zeigte ſich Burke’s ſcharfer Blick, welcher, ſo blind
für die franzöſiſche Revolution als weit wirkendes Welt-
ereigniß, dennoch die nächſten Folgen, die Unmöglichkeit
daß eine monarchiſche Verfaſſung, ſo entſtanden und ſo
beſchaffen wie die neufranzöſiſche, Beſtand haben könne,
klarer erkannte als ſonſt jemand in der Welt. Der parla-
mentariſche Kampf, den er darüber mit ſeinem jüngeren
Freunde und politiſchen Zöglinge Charles Fox beſtand,
bildet eine rührende Epiſode dieſer erſchütternden Zeit.
Denn Fox, weder in Kenntniſſen noch an Welterfahrung
mit Burke vergleichbar, und in ſeinem Privatleben durch
väterliche Verzärtelung faſt ſo zerrüttet wie Mirabeau durch
das Gegentheil, athmete in vollen Zügen die Lebensluft
[427] ein, welche der Anfang der franzöſiſchen Revolution über
den ſchwindſüchtig alternden Welttheil ausſtrömte, und die
Schwingen ſeiner warmen, naturgewaltigen Rede entfal-
teten ſich prächtig in dieſem Element. Wie innig hätte er
gewünſcht an der Seite ſeines älteren Freundes, deſſen
Genie Chatham zuerſt erkannte als er die Rechte der Nord-
amerikaner vertrat, nun an der Verjüngung des eigenen
Vaterlandes arbeiten zu können! Denn er ahnte in dem
was in Frankreich geſchah ein zum Durchbruche ringendes
allgemeingültiges Bildungsgeſetz. Allein je mehr ſich Fox
für die Menſchenrechte erwärmte, um ſo kälter fand er
ſeinen Freund, der ſittlich verletzt durch ſo viele Gräuel
der Unordnung, ſtaatsmänniſch überzeugt von der Unhalt-
barkeit dieſer Schöpfungen, jede Nachahmung dieſes Trei-
bens ablehnte. Das Ende einer Freundſchaft, die faſt ein
Vierteljahrhundert beſtanden hatte, kündigte ſich 1790 zu-
erſt durch einen Bruch zwiſchen Burke und Sheridan an,
die ſich einander im Grunde nie leiden konnten. Aber ſeit
dem Februar 1791 trafen die Männer, die ſich liebten,
ernſtlicher auf einander, und die Frage, ob die neue Ver-
faſſung für Canada ariſtokratiſche Beſtandtheile und von
welcher Beſchaffenheit erhalten ſolle, führte die Kriſe her-
bei. Noch beſuchten ſie ſich gegen Ende April, man ſah
ſie zu Zeiten in ernſtem Geſpräch mit einander gehen und
zugleich in das Unterhaus treten. Aber am 6ten Mai ent-
faltete Burke die Nothwendigkeit, das Recht ſowohl als
die Pflicht des Parlaments, jenem Lande eine Verfaſſung
[428] nach dem Muſter der engliſchen Conſtitution zu geben, kei-
neswegs aber auf der Bahn der franzöſiſchen Menſchen-
rechte den gefährlichen Verſuch zu machen die Nation durch
die Nation zu regieren, was nirgend zu rathen, und am
allerwenigſten in einem Gebiete, wo Franzoſen mit ame-
rikaniſchen Anſiedlern, die aus den vereinigten Staaten
ausgewandert, untermiſcht lebten. Warnend wies er auf
die Lage der franzöſiſchen Colonien in Weſtindien, beſon-
ders Domingo hin, wo ein friedlicher Zuſtand durch die
pariſer Menſchenrechte in ein wechſelſeitiges Morden aller
Hautfarben umgeſchlagen iſt. Das Mutterland hat Trup-
pen entſenden müſſen und dieſe Menſchenrechtler ermorden
ihren eigenen Anführer. Soll man dem nachahmen? Von
da ging der Redner zu dem inneren Zuſtande von Frank-
reich über, zu dem Könige, welchen der erſte Kerkermei-
ſter von Frankreich, Lafayette genannt, in Verwahrung
hält, und ſo ferner. Als man hier Burke’n zur Ordnung
rief, trat Fox dieſem Rufe bei, erklärte ſolche Abſchwei-
fungen, welche die Quebecfrage nichts angingen, nicht
billigen zu können, wie er denn dabei beharre die franzö-
ſiſche Revolution eines der ruhmvollſten Ereigniſſe in der
Geſchichte der Menſchheit zu nennen, ohne darum die ge-
genwärtige franzöſiſche Conſtitution zu preiſen, welche
vieler Nachbeſſerung durch Erfahrung bedürfe. Aber die
Willkürherrſchaft ſey doch entfernt und das Beſte des Volks
werde berückſichtigt, Vieles darin verdiene Nachahmung,
und ſein Freund habe ſein vielgeleſenes Buch geſchrieben,
[429] ohne hinlänglich unterrichtet zu ſeyn; vollends verdienten
die Menſchenrechte, als jeder vernünftigen Conſtitution
zum Grunde liegend, dieſen Spott durchaus nicht. Sei-
nem Freunde und Meiſter verdanke er Alles was er von
Politik wiſſe und namentlich in Bezug auf Nordamerika
den Satz: daß der Aufſtand eines ganzen Volks nothwen-
dig müſſe veranlaßt ſeyn, daß man ein ganzes Volk nicht
in Anklagezuſtand verſetzen könne. Warum denn aber jetzt
nur von teufliſchen und gottesläſterlichen Franzoſen reden?
Nun ſprach Burke ſchwer gereizt gegen Fox, der nach zwei-
undzwanzigjähriger Freundſchaft ihn perſönlich angreife,
ſein ganzes politiſches Leben antaſte, und nicht zufrieden
mit den eigenen Plänkeleien eine ganze zum Gehorſam ein-
geübte Mannſchaft auf ihn loslaſſe, bei welchen verletzen-
den Worten er von Charles Grey zur Ordnung gerufen
ward. Aber Burke, heftiger erregt, wies auf ſeine lan-
gen Dienſte, ſeine grauen Haare hin; in dieſem Alter
müſſe man ſich ſonſt keine Feinde ſuchen, oder ſeinen
Freunden Gelegenheit geben zu entweichen; aber für die
britiſche Conſtitution wage er Alles, und ſeiner öffent-
lichen Pflicht getreu, wolle er mit dem letzten Athemzuge
rufen: „Flieht die franzöſiſche Conſtitution!“ Leiſe ſagte
Fox: das führe noch keinen Untergang der Freundſchaft
mit ſich, aber Burke darauf: Ja dem ſey ſo: er wiſſe
was ihn ſein Verfahren koſte, die Erfüllung ſeiner Pflicht
koſte ihn ſeinen Freund, ihre Freundſchaft ſey zu Ende.
Fox ſtand auf, er war eine Zeitlang unfähig zu reden,
[430] ſeine Thränen floſſen und als er endlich Worte fand, dran-
gen dieſe nicht mehr über die Kluft zerriſſener Freundſchaft
hinüber. Es war ein weltgeſchichtlicher Hergang.


In dieſem England, welches ſeinen Bewohnern menſch-
lich auszuwachſen geſtattet, verſtanden Viele was hier ge-
ſchehen. Manches Talent mäßigte ſich ſeitdem, ohne ſein
Ziel aufzugeben. Von Charles Grey, dem vor wenig Ta-
gen (17. Juli 1845) verſtorbenen, wiſſen wir daß er ſich mit
Männern verband, welche, ohne gewaltſame Mittel zu be-
günſtigen, mit edler Beharrlichkeit die Gebrechen hervorho-
ben, an welchen jede menſchliche Verfaſſung krankt, welche
ſich Verbeſſerungen entziehen will. An dieſer Phalanx fand
Chathams Sohn Pitt, der ſeit den franzöſiſchen Ausbrü-
chen jeder Veränderung abholde, ſeine beharrlichen Geg-
ner, und nach vierzigjährigem Kampfe hat Grey die Eman-
cipation der Katholiken mitwirkend erlebt und iſt bei der
Reform des Parlaments der Führer geweſen. Beides ge-
ſchah im entſchiedenſten Gegenſatze gegen Burke’s Ausſpruch
in jenem Buche: „Wir ſind entſchloſſen, eine feſtgeſtellte
Kirche, eine feſtgeſtellte Monarchie, eine feſtgeſtellte Ariſto-
kratie und eine feſtgeſtellte Demokratie gerade in dem Ver-
hältniſſe zu behalten, worin jede exiſtirt, und in keinem
anderen,“ und die Männer die das vollbrachten erhiel-
ten England, indem ſie es umgeſtalteten. Allein an den
deutſchen Höfen fuhr man fort ſeine politiſche Magerkeit
mit Burke’s Brocken zu mäſten, und Burke iſt eine der
Fackeln des unbedachteſten Krieges geworden.


[[431]]

3. Der Krieg und die Republik.


Der Mäßigung des Kaiſers Leopold kam im Septem-
ber 1791 die Erklärung Ludwigs XVI. zu Statten, daß er
aus freiem Entſchluſſe die neue Verfaſſung ſeines Reiches
angenommen habe. Dem widerſprachen nun freilich öf-
fentlich die Emigrirten, auch König Guſtav von Schwe-
den widerſprach, er der eben ſo gern von ſeiner ſchwedi-
ſchen Revolution erzählte als ihn die franzöſiſche anekelte,
und ſelbſt der Kaiſer glaubte ſeiner Würde die Gegen-
erklärung ſchuldig zu ſeyn, die Verbindung der Mächte
beſtehe noch. Die Hauptſache war: die Rüſtungen der
Ausgewanderten am Rheine dauerten fort. Da trat in der
Nationalverſammlung Briſſot als Kriegsredner auf, hielt
ſeine drei Reden über die Nothwendigkeit der Kriegserklä-
rung, die dritte am 17ten Januar 1792. Der König1792.
ward immer heftiger gedrängt; er ſoll den Mächten eine
Friſt ſetzen, bis zu welcher ihre Verbindung für aufgelöſt
erklärt und das Emigrantenheer entlaſſen ſeyn muß; man
beſteht auf dem 1ſten März. An eben dieſem Tage ſtirbt
[432] der Kaiſer, ſein Älteſter, Franz der Zweite, folgt, und am
16ten März geht mit der Todeswunde Guſtavs von Schwe-
den der romantiſche Entwurf unter, an der Spitze von Ruſſen
und Schweden durch eine Landung an der Nordküſte von
Frankreich und einen raſchen Marſch auf Paris die Revo-
lution zu ſchließen. Fürſt Kaunitz, „der alte Kutſcher von
Europa,“ wollte zwar ungern mit Umwerfen endigen und
nahm die Aufgabe keineswegs ſo leicht wie der Berliner
Hof, dennoch hielt er ſeinen Ingrimm gegen die Neue-
rung jetzt weniger im Zaum, es ward erklärt, man könne
wegen der Jacobiner nicht umhin eine Macht in Belgien
zuſammenzuziehen. Wirklich ließ ſich Ludwig die Entlaſ-
ſung ſeiner Miniſter, die, weil ſie den Frieden wollten, mit
Anklagen bedroht wurden, abnöthigen und nahm ein Mi-
niſterium von Jacobinern nach Briſſots Rathe an. Der
Generallieutenant Dumouriez ward Miniſter des Aus-
wärtigen, Clavière, der Freund Mirabeau’s, Finanzmi-
niſter, Servan Kriegsminiſter; dem Innern ward Ro-
land vorgeſetzt, der einzige Biedermann im Miniſterium,
allein darum nicht minder Schwärmer für unbegränzte
Freiheit als jemand ſonſt im Jacobinerclub. Mit ihm
ſchwelgte in dem Gefühle der hohen Beſtimmung Frank-
reichs, der ganzen Welt Ehre und Freiheit zu bringen,
ſeine hochherzige Frau, die bei hohem Gemüth und kräf-
tigem Verſtande doch Worte für Thaten nahm, den fla-
chen Briſſot für einen ganzen Mann und einen Charakter
hielt. Der begabteſte unter Briſſots Miniſtern war ohne
[433] Vergleich Dumouriez. Dieſer Durchtriebene ſpottete ſeiner
Collegen, die an Frau Rolands Arbeitstiſche ihre Staats-
ſachen zu berathen kamen, und ſchuf ſich ſogleich ein ſelb-
ſtändiges Gebiet, indem er ſich 6 Millionen für geheime
Ausgaben vorbehielt, von welchen er keine Rechenſchaft
geben wollte. Bei den Jacobinern ſprach Robespierre
gegen den Krieg, theils aus Misgunſt gegen den Einfluß
Briſſots und der Gironde, theils weil er wie ſo viele
Jacobiner die Conſtitution haßte, inſofern ſie einen König
enthielt, welcher leicht durch den Krieg, wie dieſer auch
gehen mochte, an Macht gewinnen konnte. Niemand aber
ging mit beklommnerem Herzen in den Krieg als Ludwig.
Man ſah Thränen in ſeinen Augen, als er am 20. April
in der Nationalverſammlung dem Gutachten ſeines Con-
ſeils, von Dumouriez verleſen, ſeine Beiſtimmung ertheilte
und den Antrag machte, dem Könige von Ungarn und
Böhmen den Krieg zu erklären. Der Beſchluß ward in
derſelben Sitzung gefaßt. Der Widerſtand der Feuillants,
ſo nannte man damals die Freunde der conſtitutionellen
Monarchie, blieb wirkungslos.


In dieſem Schritte, ohne Finanzen und Heer wie man
war, lag alle Verwegenheit der Revolution, aber keine
ſo baare Unvernunft. Man hoffte, auf alte Eiferſucht
bauend, das deutſche Reich, welches zur Zeit noch ohne
Kaiſer war, und Preußen von Öſterreich zu trennen, man
baute auf Sympathien in Belgien. Zugleich ſchickte man
den Talleyrand-Perigord nach London, um, wenn es
Franzöſiſche Revolution. 28
[434] möglich wäre, ein Bündniß zwiſchen Frankreich und Eng-
land zu erlangen. Talleyrand durfte, als früheres Mit-
glied der conſtituirenden Verſammlung, zwar nicht als
Botſchafter auftreten, allein er überwand die Schwierig-
keiten ſeiner Stellung. Gewiß, an ein Bündniß war nicht
entfernt zu denken, allein die Zuſicherung, daß England
nicht Partei nehmen werde, konnte für ein Großes gelten.
Von Kaiſerin Katharina wußte man daß ſie ihren lieben
Nachbarn den Krieg eben ſo gern gönnte, als ſelber drau-
ßen blieb. Man kannte Spanien und Sardinien genug,
um beide nicht zu fürchten. Im äußerſten Falle machte man
überall auf die Völker Rechnung.


Ich ſagte: Frankreich war ohne Heer, und meinte ein
disciplinirtes Heer. Man hatte ſonſt noch die alte gewor-
bene Truppe, allein ſeine Officiere waren zum Theil aus-
gewandert, zum Theil unerfahren, die gedienten wurden
als adlich mit Mistrauen betrachtet, auch traute man allen
den Regimentern nicht, welche aus geworbenen Auslän-
dern beſtanden. Man hoffte ſie bald durch zahlreiche Frei-
willige, die aus den Nationalgarden in die Linie träten,
erſetzen zu können. Übrigens zählte man 150,000 Bewaff-
nete und vielleicht darüber, die in drei Heere von faſt glei-
cher Stärke an der deutſchen Gränze vertheilt waren, unter
den Generalen Rochambeau, Lafayette und Luckner. Ich
nannte Frankreich ohne Finanzen, weil es mit Papiergeld
wirthſchaftete, welches in gewaltigen Laſten ins Lager
verſandt und hier, wie aus langem Stroh das Häckſel
[435] für die Pferde, von den großen Bogen für die Soldaten
zurechtgeſchnitten ward. Allein im Kriege kommt das Be-
dürfniß vieler Zahlungsmittel auch den ſchlechteren zu
Gute, und wenn der Krieg nur gut ging, ſo ließ es ſich
rechtfertigen daß man die Aſſignaten jetzt auf 1900 Mil-
lionen brachte.


Am 28ſten April begannen die Feindſeligkeiten, nach
Dumouriez’s Plane. Man will durch einen raſchen Einfall
in Belgien die neuerdings erſt beruhigten Unzufriedenen
hier ermuthigen. Nur 30,000 Öſterreicher ſtanden im
Lande; wie ſich Preußen auch entſcheiden mochte, für jetzt
galt das gleich, ſeine Macht war noch nicht im Felde.
Allein ſo fein Dumouriez auch rechnete, ſein Anſchlag er-
fuhr ein ſchmähliches Mislingen. Gleich beim erſten Ein-
rücken kehrten Tauſende von Angreifern vor wenig Hun-
dert Öſterreichern um und wandten, Verrath rufend, ihre
Waffen gegen die eigenen Officiere, ſo daß der bewährte
Rochambeau ſeinen Befehl mit der Erklärung niederlegte,
es ſey ihm unmöglich da zu bleiben, wo Feiglinge dem
Feinde den Rücken kehrten und Böſewichter ihre Officiere
niederſchöſſen. Die Feindſeligkeiten endigten ſo ſchnell als
ſie begonnen hatten. „Ich habe das ſeit ſechs Monaten
vorausgeſagt,“ ſchrieb Marat, „die Armee hätte damit
anfangen ſollen, ihre Generale zu maſſacriren.“ In dieſen
blutigen Worten lag einige Wahrheit: denn alle drei
Feldherrn waren Gegner Dumouriez’s und ſeines Angriffs-
krieges.


28*
[436]

Inzwiſchen war für den franzöſiſchen Boden nichts zu
beſorgen, ſolange Preußen zauderte, und man ſprach in
der Hauptſtadt vornämlich von der Nothwendigkeit, ſich
vor den inneren Feinden bei Zeiten ſicher zu ſtellen. Unter
dieſen verſtand das Volk die Hofpartei (auch Königin oder
öſterreichiſches Comité genannt) und die eidweigernden
Prieſter. Gegen letztere ſchleuderte die Nationalverſamm-
Mai 25.lung ein Decret, welches jeden von ihnen zur Deportation
verurtheilte, ſobald zwanzig Einwohner ſeines Aufent-
haltsortes darauf antragen würden. Aber der Haß, ja
die Wuth des gemeinen Mannes gegen die Königin ſtei-
gerte ſich mit jedem Tage und hatte inſofern Grund, als
ſie in den Heeren des Auslands ihre Befreier erblickte und
mit dem Wiener Hofe beſtändigen geheimen Verkehr un-
terhielt. Jede Vermuthung dieſer Art ward zur Gewißheit
ausgeprägt und mit der ſchreiendſten Farbe des Verraths
bemalt. Allein es ward auch für eine Gegenmine geſorgt,
um bei der Annäherung des Feindes ſo verderbliche Plane
in die Luft zu ſprengen. Unter dem Vorwande der Wie-
derbegehung des Baſtillefeſtes will man 20,000 auserle-
ſene Nationalgarden aus den Departements nach Paris
bringen und hierauf in einem Lager bei Soiſſons feſt-
halten, mit der Beſtimmung, nöthigenfalls zum Schutze
der Hauptſtadt verwandt zu werden. Dieſer Entwurf ging
ſogar von einem der königlichen Miniſter aus, dem Kriegs-
miniſter Servan, der in Einverſtändniß mit Roland und
Clavière, ohne dem Könige und den übrigen Miniſtern
[437] etwas darüber mitzutheilen, ihn als Antrag an die Natio-
nalverſammlung brachte, welche denſelben ſchleunig zum
Decret erhob. Dumouriez, welcher die Krone, ſoweit esJuni 8.
ſein Vortheil zuließ, gern geſtützt hätte, der Gironde
keineswegs zugethan, benutzte dieſen unverzeihlichen Ver-
ſtoß für die Entfernung der drei Miniſter; als er aber zu
gleicher Zeit inne ward daß der König entſchloſſen ſey
beiden Decreten ſeine Genehmigung zu verſagen, war er
ſchlau genug, dem Sturme auszuweichen, nahm ſeine
Entlaſſung, ging zum Heere Luckners ab.Juni 18.


Am 19ten Junius ſprach der König nach langer Zöge-
rung ſein Veto gegen beide Decrete aus, und gleich den
Tag darauf, am dritten Jahrestage des Ballhausſchwures,
ſetzten ſich die Pikenmänner der Hauptſtadt in Bewegung.Juni 20.
Mögen Andere unterſuchen, wer das von Anfang her an-
geſtiftet, und was in dieſen Auftritten über den gelegten
Plan hinausging. Gewiß iſt, die Gironde zürnte dem
Könige, weil er zu Feuillants-Miniſtern zurückgekehrt war,
und von Männern, die in Betracht der Zeitlage es ſchon
vor einem Vierteljahre angemeſſen fanden, für die endlich
eingefangenen Kopfabhacker von Avignon eine Amneſtie
auszuwirken, läßt ſich keine Gewiſſenhaftigkeit in Wahl
der Mittel erwarten. Dennoch hat man nicht immer ge-
than, was man wohl gethan haben könnte und zu begün-
ſtigen geneigt iſt. Aus den Vorſtädten St. Antoine und
St. Marçeau quoll der Aufſtand hervor, eine Anzahl Na-
tionalgarden, nicht viele, voran, gleich als gälte es ein
[438] geſetzliches Vorhaben, aber Tauſende von Rothmützen
mit Piken, Spießen, Äxten hinterdrein. Der Anführung
unterzieht ſich der Brauer Santerre, Befehlshaber eines
Bataillons Nationalgarden aus St. Antoine; unter den
Wegweiſern erkennt man den nervigen Fleiſcher Legendre,
und auch jenen Maillard vom 5ten October. Die Natio-
nalverſammlung war gewarnt, ſie berathſchlagte noch
über die Mittel die Tuilerien zu ſchützen, als Santerre
für ſich und ſeine Mitdeputirten, die Vertreter von 8000
Bittſtellern, Gehör erbat. Vergniauds beredte Stimme
unterſtützte den Antrag, und die Verſammlung willfahrte
dem Eintritte bewaffneter Männer. Ihre Rede enthielt
Klagen über die Unthätigkeit der Heere nach angefangenem
Kriege; ſie ſchildert den König, der ſeine patriotiſchen
Miniſter fortgeſchickt hat, als Verräther an der Volksſache.
„Wir verlangen die Vollziehung der Menſchenrechte! Darf
ein Menſch, den man aus Rückſicht (par un souvenir) an
ſeinem Poſten gelaſſen hat, ſich gegen den Willen von 25
Millionen auflehnen? Hat die ausübende Macht Schuld,
ſo werde ſie vernichtet.“ Nicht lange darauf drang die
ganze Maſſe in den Sitzungsſaal ein und durchzog denſel-
ben unter kriegeriſcher Muſik. Dieſer ſchimpfliche Auftritt
dauerte viele Stunden lang, denn wer nur wollte, auch
Weiber und Kinder ſchloſſen ſich an, und noch wälzte ſich
das Gewühl hier fort, als der Vortrab dieſer Hor-
den bereits in den Tuilerien ſchaltete. Denn hier hatte
man ſich freilich in Vertheidigungszuſtand geſetzt, die Na-
[439] tionalgarden waren endlich erſchienen, auch fanden ſich
ein Paar Hundert Edelleute ein, bereit ihr Leben für das
königliche Haus zu opfern, aber letztere entließ der König,
und die Nationalgarden hielten doch nicht hinlänglich feſt.
Die Verführung, hier verſucht und dort, fand ihren Ein-
gang, und eine kleine Pforte genügte, um den weiten Palaſt
mit bewaffneten Vorſtädtern zu erfüllen. Als man an die
Thür des königlichen Gemaches ſchlug, ließ der König
aufſchließen, und bald erblickte man den Monarchen mitten
unter dem wüſten Haufen, mit der rothen Mütze bekleidet
und auf das Wohl der Nation trinkend. Als Legendre ihn
Monſieur anredete, miſchten ſich Erſtaunen und Unwillen
in Ludwigs Blicken, aber auf den Zuruf der Menge: Be-
ſtätigung der Decrete! Nieder mit den Prieſtern! erwi-
derte er mit Ruhe, dies ſey nicht der Augenblick zur Ent-
ſcheidung. Erſt als ganz verſpätet Pétion im Schloſſe
erſchien, auf einem Stuhle ſtehend die Menge wegſchmei-
chelte, leerten ſich allmählig die Gemächer; worauf der
Maire im Moniteur erklärte: „Niemand würde in dem
ganzen Auftritte etwas mehr erblickt haben, als eine fried-
liche Deputation der Vorſtädte von impoſanter Haltung
ohne Verletzung der Perſonen und des Eigenthums, wäre
dieſe nicht zufällig, wie eine Maſſe, welche dem Geſetze
der Schwere folgt, in das königliche Schloß gerathen; kein
vernünftiger Menſch könne darin etwas von Vorbedacht
entdecken.“ Daß der König ein Verfahren gegen Pétion
anſtellen ließ, ſicherte dieſem lediglich einen Triumph, und
[440] da man bereits von mehreren Tauſend Föderirten wußte,
die ſich auf den Weg nach Paris zum Baſtillefeſte gemacht
hatten, ſo kam es wenig darauf an, ob der König ſein
Veto feſthielt oder zurücknahm.


Aber niemanden verwundete die Kunde von dieſer be-
ginnenden Tyrannei der Ausgelaſſenheit ſchmerzlicher als
Lafayette. Schon einmal hatte er aus dem Lager ein Schrei-
Juni 16.ben an die Nationalverſammlung gerichtet, die Jacobiner
verklagend, die Verſammlung ermahnend an die Stelle der
Herrſchaft der Clubs die Herrſchaft des Geſetzes zu ſetzen;
Juni 28.jetzt aber erſchien er ſelbſt in der Verſammlung, ſprach ſeine
und ſeines Heeres Entrüſtung aus, verlangte die ſtrengſte
Unterſuchung; allein er ward mit Unwillen gehört, kaum
mit der Anklage verſchont, und ſchied mit dem bittern Ge-
fühle ſeiner völligen Machtloſigkeit. Nun bildete er einen
Plan aus, den König nach Compiegne zu bringen, nicht
heimlich, ſondern wie es damals Mirabeau meinte, auf
dem Wege einer öffentlichen Abreiſe, welche Lafayette und
Luckner, die das Conſtitutionsfeſt nächſtens (14. Juli) nach
Paris bringen wird, den Tag darauf perſönlich decken
werden. Allein der König war zu tief gebeugt, um noch
etwas zu wagen, und die Königin betheuerte, lieber um-
kommen zu wollen, als dieſem Manne ihr Leben zu ver-
danken. Sie zählte recht eigentlich die Tage bis zur Ankunft
ihrer Befreier.


Juni 26.Und ſie verſprachen zu kommen. Denn endlich erſchien
die Kriegserklärung des Berliner Hofes, und 45,000 Preu-
[441] ßen, 6000 Heſſen und 20,000 Öſterreicher rückten heran,
um den Marſch auf Paris vereinigt anzutreten; dazu
kamen 12,000 Emigrirte, welche jedoch die franzöſiſche
Königin nicht werkthätig gebraucht zu ſehen wünſchte,
damit die Leidenſchaften eines bürgerlichen Krieges ver-
mieden würden. Das hieß den Widerſtand des franzöſi-
ſchen Volks nicht hoch anſchlagen. Den Oberbefehl über
die geſammte Macht erhielt der regierende Herzog Karl
Wilhelm Ferdinand von Braunſchweig, aus der Kriegs-
ſchule Friedrichs, ſeines Oheims, und derſelbe, welcher
jüngſt die Holländer zu Paaren trieb. Gewiß keine leichte
Aufgabe ein ſo gemiſchtes Heer zu befehligen, zumal bei
perſönlicher Anweſenheit des preußiſchen Königs, und der
Herzog bewies der Welt ſeine Unfähigkeit, ſie ſelbſtändig
zu löſen, noch vor dem Aufbruche, indem er ſich ein Kriegs-
manifeſt, deſſen Inhalt ſeinen Anſichten widerſtritt, durchJuli 25.
Emigranteneinfluß aufdringen ließ. Denn in dieſer Arbeit
entſprach dem richtigen Ziele nichts als die Verſicherung
beider Mächte, keine Vergrößerungen zu beabſichtigen und
ſich in die innere Regierung von Frankreich nicht miſchen
zu wollen. Was weiter folgt ſind Drohbefehle, wie ſie
ſelbſt nach einer gewonnenen Feldſchlacht nicht an der
Stelle geweſen ſeyn würden. Den franzöſiſchen National-
garden wird aufgegeben, proviſoriſch die Ordnung aufrecht
zu erhalten bis zur Ankunft der kaiſerlichen und königlichen
Truppen, dafern ſie aber Widerſtand zu leiſten wagen,
ſollen ſie als Rebellen geſtraft werden. Eben ſo alle Be-
[442] wohner von Städten, Flecken, Dörfern, welche die Waf-
fen ergreifen, und ihre Häuſer werden verbrannt. In Ab-
ſicht der Linientruppen hat es nun zwar bei der Ermahnung,
zum Könige zurückzukehren, ſein Bewenden; was dagegen
die Stadt Paris angeht, ſo werden alle Mitglieder der
Nationalverſammlung, der Municipalität, der National-
garde wegen jedes Vergehns gegen den König und ſeine
Familie verantwortlich gemacht, „und außerdem erklären
Ihre Kaiſerliche und Königliche Majeſtäten, daß wenn dem
Schloſſe der Tuilerien Gewalt oder Zwang geſchieht und
die geringſte Gewaltthätigkeit dem Könige, der Königin
und der königlichen Familie zugefügt wird, — ſie eine
exemplariſche und für immer denkwürdige Rache nehmen
werden, indem ſie die Stadt Paris der militäriſchen
Execution und einer gänzlichen Zerſtörung überliefern, die
ſchuldigen Aufrührer aber dem verdienten Strafgericht.“
Dagegen werden dieſelben Majeſtäten ſich bei Seiner aller-
chriſtlichſten Majeſtät verwenden, den Bewohnern von
Paris, wenn ſie ſich unterwürfig zeigen, ihr Unrecht, ihre
Verirrungen zu verzeihen. Der König wird eingeladen,
ſich einer Escorte, welche man ihm ſenden wird, zu bedie-
nen, um ſich in eine Gränzſtadt zu begeben und daſelbſt
nach ſeinem Willen und durch Berufungen, welche ihm
zweckmäßig ſcheinen, die künftige Verwaltung des König-
reiches feſtzuſetzen. Hiemit aber ſchien noch nicht einmal
genug gethan. Der Herzog ſchickte eine nachträgliche Er-
Juli 27.klärung hinterdrein, welche in dem Falle der Entführung
[443] des Königs und ſeiner Familie aus ſeiner Hauptſtadt alle
Ortſchaften, welche ſich ſolchem Beginnen nicht widerſetzen,
mit denſelben äußerſten und unerläßlichen Strafen wie die
Stadt Paris bedroht.


Wer da behaupten wollte, der franzöſiſche Königsthron
ſey durch dieſe Coblenzer Manifeſter umgeſtürzt, ſagte ganz
gewiß zu viel. Allein ein zweckmäßigeres Mittel, den
König zum Volksfeind zu ſtempeln und alle politiſchen
Parteien in Frankreich zum einträchtigen Widerſtande zu
entflammen, konnte nicht erdacht werden. Ein König,
deſſen völlige Unfähigkeit ein Recht der Herrſchaft nach
dem andern dem Volk überliefert hat, ſoll nun durch einen
„militäriſchen Spaziergang“ von Ausländern, welche
Polen theilten, dieſes ſelbige Volk mit gebundenen Hän-
den ausgeliefert erhalten, damit er diejenige Strafe an
ihm übe, welche die Rachſucht der Ausgewanderten ſeiner
Schwäche dictiren wird. Ganz dahin ſind alſo alle hohen
Gedanken, welche ſeit drei Jahren Frankreich begeiſterten
und den aufmerkſamen Welttheil in ein zwiſchen Hoffnung
und Sorge getheiltes Erſtaunen ſetzten, eine ſchmählichere
Unterwürfigkeit als jede frühere tritt an ihre Stelle. Denn
das ſteht ja feſt: dieſe Zurückgekehrten werden nicht allein
ihre Habe zurückfordern, welche neuerdings erſt der ver-
letzten Nation als Schadloshaltung zugeſprochen iſt, der-März 30.
ſelbe Sturm, welcher das politiſche Recht der Franzoſen
entblättert, wird dem dienſtloſen Leben des Landmannes,
dem geliebten Grundſatze der Gleichheit in Beſteurung und
[444] perſönlichen Rechten, wird dieſer herrlichen Fülle allver-
theilten bürgerlichen Grundbeſitzes ein Ende machen, Alles
Segnungen, welche, ſo neu ſie ſind, doch ſo innig im
Volksbewußtſeyn haften, wie ſich der Regen des Himmels
mit der durſtenden Flur vermählt. Wer es verſteht menſch-
liche Dinge mit dem Maße menſchlicher Kräfte zu meſſen,
der begreift auch, wie die Lehre der Marats: „Es iſt ein
Verbrechen König zu ſeyn,“ von nun an geläufig werden
konnte.


In der Nationalverſammlung irrten die Gedanken in
Erwartung des feindlichen Einbruches geſchäftig hin und
her. Man ahnte in den Tuilerien einen ſchlummernden
Feind, welchen die Kanone des Auslands wecken konnte,
und gleichwohl trug man Bedenken ihn zu entwaffnen, die
Verfaſſung in demſelben Augenblicke zu verändern, da ſie
auf dem Schlachtfelde vertheidigt werden ſollte. Somit
wechſelten freundliche Ausgleichungsverſuche mit herben
Anklagen. Man erklärte den einen Tag weder die Republik
noch zwei Kammern zu wollen, den andern hörte man
Briſſot gläubig zu, wie er die Verſchwörung des Hofes
gegen die junge Freiheit enthüllte. Am großen Bundesfeſte
Juli 14.erſchien der König in einen Bruſtpanzer von funfzehnfachem
italiäniſchen Atlas gehüllt. Aber keine Dolche bedrohten
ihn, wenn das nicht ein Dolchſtich war daß ein Redner
des Tages ſprach: „Alle Könige verſchwören ſich zum
Untergange des franzöſiſchen Volks; ſchwören wir den
Untergang der Könige.“ Und faſt kein Hoch für den König
[445] ward gehört, um ſo häufigere für Pétion. Die Erklärung,
das Vaterland ſey in Gefahr, war geſchehen, und daß
der König nicht mehr an der Spitze bleiben könne galt
für ausgemacht. Vergniaud, Guadet, Genſonné betrieben
einen Verzicht des Königs zu Gunſten ſeines Dauphins,
als Briſſot die Nationalverſammlung zu einer Unterſuchung
aufforderte, welche durch den Artikel der Verfaſſungsur-
kunde: „Sollte ſich der König an die Spitze eines Heeres
ſtellen und dieſes gegen die Nation führen oder ſollte er
ſich einem ſolchen Unternehmen, falls daſſelbe in ſeinem
Namen ausgeführt würde, nicht förmlich widerſetzen, ſo
wird er angeſehen, als habe er dem Königthum entſagt“
— allerdings begründet ward. Die Nationalverſammlung
hatte bereits den Beſchluß gefaßt zu unterſuchen, ob derJuli 26.
durch die Conſtitution vorgeſehene Fall eingetreten ſey, als
das große Manifeſt der Feinde in der Hauptſtadt eintraf.
Es ſtand im Moniteur vom 3ten Auguſt, und an demſel-
ben Tage verlangte Pétion im Namen der Hauptſtadt die
Erklärung des verwirkten Thronrechtes in Rückſicht auf
den nahenden Feind, nicht bloß jene beiden Deſpoten,
„die ein eben ſo unverſchämtes als abgeſchmacktes Mani-
feſt erlaſſen haben,“ ſondern eine Schaar von Vaterlands-
mördern, Franzoſen, geführt von den Brüdern des Königs.
Entſetzung des Königs und Ernennung der Miniſter durch
die Nationalverſammlung, jedoch mit Ausſchließung ihrer
Mitglieder, war ſein Antrag, und die Nationalverſamm-
lung beſchloß denſelben am 9ten Auguſt in Erwägung zu
[446] ziehen. Als ſie aber an dieſem Tage die Verwirkungsfrage
bis auf einen andern Tag ausſetzte, gab eine Section der
Hauptſtadt (des Quinze-vingt in der Vorſtadt St. Antoine)
die Erklärung ab, daß wenn nicht die Entſetzung noch den-
ſelben Tag ausgeſprochen werde, man um Mitternacht die
Sturmglocke läuten, Generalmarſch ſchlagen und die Tui-
lerien angreifen werde. Da lud die Nationalverſammlung
Röderern, der kürzlich nach dem Rücktritte der gemäßigten
Mitglieder der Departementalverwaltung an die Spitze
derſelben gelangt war, und den Maire Pétion vor ihre
Schranken, befragte Beide, ob ſie hinlängliche Sicher-
heitsmaßregeln getroffen, und beruhigte ſich bei ihren allge-
meinen Zuſagen.


Man wußte in den Tuilerien ſeit mehreren Tagen was
bevorſtand, jetzt war ſogar die Stunde angekündigt, und
Schweizer, Linientruppen, Nationalgarden, ſchwere Ge-
ſchütze wurden herbeigezogen. Die Nationalgarde ſtand
unter Mandats Anführung, eines treuen und bedächtigen
Mannes. Dieſer traf Abends ſeine Anſtalten, und ließ
dem Pétion, der zugleich mit Röderer auf das Schloß be-
ſchieden war, keine Ruhe, bis er ihm den ſchriftlichen Be-
fehl ertheilte, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben. Über
200 Edelleute ſtellten ſich zur Vertheidigung ein; dieſe
zwar hätte Mandat gern entfernt geſehn, ihr Anblick erin-
nerte die Nationalgarden an eine Zeit, welche nicht wieder-
kehren durfte.


Mit dem Schlage Zwölf läuteten die Sturmglocken,
[447] der Generalmarſch ſetzte die Vorſtädter von St. Marceau,
von einem Namens Fournier geführt, in Bewegung, die
von St. Antoine rückten unter Santerre und Weſtermann
herbei; mit den Marſeillern kamen Danton, Camille
Desmoulins, Carra; wir werden mit dieſen die Haupt-
planmacher des Tages genannt haben. Der erſte Streich
wird auf dem Stadthauſe geführt. Man dringt ein, ſetzt
die verſammelte alte Municipalität ab, bildet eine neue,
in welche ein Theil der bisherigen Mitglieder übergeht,
als da ſind, außer dem abweſenden Maire Pétion,
Manuel, welcher kürzlich mit Pétion wegen des 20ſten
Junius verklagt und freigeſprochen ward, und Danton,
aber auch der in ſpäteren Tagen ehrenwerthe Name Royer
Collards taucht hier zum erſten Male in ſolcher Genoſſen-
ſchaft auf. Unter den neuen Mitgliedern befinden ſich
Namen von einer bald furchtbaren Berühmtheit, als Fabre
d’Eglantine, Chaumette, Hebert, Billaud-Varennes, der
thatſcheue Robespierre trat erſt den folgenden Tag nach
erfochtenem Siege ein. Dieſer neue Gemeinderath beſchied
nun den Pétion, als ſein erſtes Mitglied, aus dem Schloſſe
zu ſich, und man wagte dort nicht ihn zu verweigern. Er
erſchien, doch nur um wieder zu verſchwinden. Denn war
er im Schloſſe wider Willen unter Aufſicht gehalten, hier
im Stadthauſe ließ er ſich gern als einen Verdächtigen
unter Wache ſtellen, um nicht mit ſeinem an Mandat er-
theilten Befehle, durch das was jetzt bevorſteht, in zu
ſchreienden Widerſpruch zu treten. Denn nunmehr wird
[448] Mandat beſchieden: er ſoll augenblicklich erſcheinen.
Dieſer wußte nichts von dem Umſturze der rechtmäßigen
Behörde, gleichwohl war er unſchlüſſig, endlich ließ er
ſich bereden den kurzen Weg anzutreten und ſchied in der
Hoffnung bei Zeiten wieder zurück zu ſeyn. Allein kaum
iſt er angelangt, hat erſtaunt die fremden Geſichter erblickt,
ſo wird er als Verbrecher verhört, zur Abführung nach der
Abtei verurtheilt und unten auf dem Platze ermordet.


Der Plan war meiſterhaft berechnet und durchgeführt.
Mit Mandats Falle brach der ganze Widerſtand der Tui-
lerien zuſammen. Denn als nun das Heer der Vorſtädte
ſich nahte, 20,000 an der Zahl, da trat vergeblich der
König zur Muſterung ſeiner Bataillone hinaus; ließ auch
ein Theil der Truppen den König leben, viel lautere Stim-
men brachten der Nation und dem Pétion ein Hoch! und
zuletzt ſcheuchte ein mächtiges: Nieder mit dem Veto!
Nieder mit dem Verräther! den Fürſten blaß und entmu-
thigt in ſein Schloß zurück. Wohl ſprach Röderer, den
Schein rettend, jetzt den Befehl aus, Gewalt mit Gewalt
zu vertreiben, allein in demſelben Augenblicke drehten die
königlichen Kanoniere ihre Geſchütze um, richteten ſie gegen
das Schloß, und die Vorſtädter drangen ſchon ohne Wider-
ſtand zu finden durch alle Eingänge ein. Es war 8 Uhr
Morgens, da erſchienen Mitglieder des neuen Gemeinde-
rathes in den Tuilerien, meldeten, das Volk verlange die
Entſetzung des Königs. Hierauf gab Röderer den Rath,
der König möge, da Widerſtand unmöglich, ſich in den
[449] Schooß der Nationalverſammlung begeben, dort ſeine
Sicherheit ſuchen. Und unter der Bedeckung von 200
Schweizern und einer Abtheilung Nationalgarde brach
Ludwig auf, begleitet von Gemahlin und Schweſter und
den königlichen Kindern. Als er in die Verſammlung trat,
ſprach er: „Ich bin hieher gekommen, um ein großes
Verbrechen zu verhindern, und ich denke daß ich nirgend
ſicherer ſeyn kann als in Ihrer Mitte,“ nahm dann Platz
an der Seite des Präſidenten Vergniaud. Allein auf die
Bemerkung daß der geſetzgebende Körper nicht in Gegen-
wart der vollziehenden Gewalt berathen dürfe, mußte der
Monarch ſeinen Ehrenplatz verlaſſen und mit ſeiner Familie
in die enge Loge eines Schnellſchreibers für die Tages-
preſſe treten. Hier ſah man ihn den langen Tag hindurch
bis nach Mitternacht unbeweglich ſitzen; die Krone von
Frankreich ward vor ſeinen Augen zerbrochen.


Zuerſt fielen die Tuilerien in die Hände ihrer Beſtür-
mer, unvertheidigt. Denn kaum hatte der König das
Schloß verlaſſen, als die Nationalgarde abzog; ſie be-
trachtete ihre Aufgabe als beendigt. Soll ſie leere Wände
vertheidigen? Wie gern hätte der König nur ſeine Schweizer
gerettet, ein neu angekommenes Regiment, welches ſicher
nicht, das wußte er, ohne ſeinen Befehl vom Platze wich!
Aber ehe noch die Deputirten der Nationalverſammlung
zur Stelle kamen und dazwiſchen treten konnten, hörten
ſie ſchon den Donner der Kanonen. Der Kampf hatte
begonnen, zuerſt im Freien; hierauf, als die Schweizer
Franzöſiſche Revolution. 29
[450] vor der Übermacht zurückwichen, ſetzte er ſich in den Gän-
gen des Schloſſes und ſeinen Gemächern fort, und wo es
die Verfolgung von Flüchtigen galt, auch in den Straßen
rings. Man ſprach von 700 gemordeten Schweizern, aber
auch von den friedlichen Schloßeinwohnern wurde was
vorkam geſchlachtet; ein Theil des Schloſſes ſtand in
Flammen. Es war zehn Uhr Morgens; da erſchien eine
Deputation des Gemeinderathes vor der Nationalverſamm-
lung, erklärte, man werde keine Hand rühren um den
Brand zu löſchen, es ſey denn daß die Entſetzung des Kö-
nigs ausgeſprochen werde. Hierauf beantragte Vergniaud
die Suspenſion der königlichen Gewalt und daß der
König mit ſeiner Familie unter Aufſicht geſtellt werde,
die Beſtellung eines Erziehers für den königlichen Prinzen,
ingleichen die Berufung eines Nationalconvents, welcher
über die künftige Verfaſſung Frankreichs die Entſcheidung
treffen wird. Während der Debatte und Abſtimmung ſah
man den König ruhig daſitzend, auf das Geſimſe ſeiner
Loge geſtützt, unveränderten Angeſichts. Der Dauphin
ſchlief auf dem Schooße der Königin. Für den Reſt der
Nacht ward nun die königliche Familie im Sitzungsge-
bäude nothdürftig untergebracht; ſie ſollte demnächſt im
Schloſſe Luxembourg wohnen. Allein hiegegen ſprach der
Gemeinderath ein, verlangte einen beſſer zu bewachenden
Aufenthalt und entſchied für den Tempelthurm, die alte Re-
ſidenz der Tempelherren. Hier ſtanden Pétion und Santerre,
Mandats Nachfolger, für die Staatsgefangenen ein.


[451]

Das nächſte Geſchäft war die Wahl neuer Miniſter.
Die Nationalverſammlung ſetzte einige der früher vom
Könige entlaſſenen durch Abſtimmung wieder ein, Roland,
Servan, Clavière; da Dumouriez beim Heere nicht ge-
mißt werden konnte, trat Lebrun an ſeine Stelle, Miniſter
der Marine ward der große Mathematiker Monge. Als
Juſtizminiſter trat aber Danton ein, der große Feldherr
des zehnten Auguſts; ſeine eigene Verwunderung, ſich an
dieſem Platze zu finden, ſprach er mit den Worten aus:
„Mich hat die Kanonenkugel, welche gegen die Tuilerien
flog, ins Miniſterium getragen.“ Der Preis, um welchen
Mirabeau ſein ganzes Leben hindurch vergeblich warb,
fiel dieſem Manne auf einen Schlag zu, und daneben
hatte der Verſchuldete große Summen vom Hofe, und noch
vor wenig Tagen, als die Angſt ſtieg, viele Tauſende
heimlich gezogen. Er konnte, und vielleicht ſchloß er in
ſeinem rohen Sinne ſo mit ſich ab, ſeine Gegenrechnung
darauf ſtellen, daß am 10ten Auguſt das Leben des Königs
und ſeines Hauſes in Dantons Hand gegeben war und
geſchützt ward.


Unvermeidlich aber erſchien jetzt Lafayette’s Sturz,
der, ſo oft ſchon verklagt und freigeſprochen, ſeine innere
Entrüſtung laut kundgab, nicht bloß gegen dieſen die
höchſte Staatsgewalt frech uſurpirenden Gemeinderath,
ſondern eben ſo ſtark gegen dieſe Nationalverſammlung,
die ſo feige als gleißneriſch den Thaten der Gewalt eine
geſetzliche Form gebe. Wie, wenn es ihm glückte ſein Heer
29*
[452] und die nächſten Departements für die Erhaltung der mit
Füßen getretenen Conſtitution, des Gegenſtandes ſeiner
ehrlichen Begeiſterung, zu gewinnen? Die Nationalver-
ſammlung ſchickte drei Commiſſäre ab, um die neuen Be-
ſchlüſſe zu verbreiten und neue Eide den Heeren abzuneh-
men. Dieſe ließ Lafayette zu Sédan durch die Obrigkeit
verhaften, als geſendet von einer Verſammlung, welche
bei Faſſung jener Beſchlüſſe ſich im unfreien Zuſtande be-
funden habe. Das hieß ein großes Werk beginnen, deſſen
Durchführung geradezu unmöglich war. Alle Ehre dem
reinen Willen, allein dem iſt ſo. Will Lafayette, welcher
weiß daß ſein Heer ihn liebt, dieſes zu dem Feinde hin-
überführen, um dann vereint mit den Auswärtigen und
den Ausgewanderten die Königsmacht wieder herzuſtellen?
Unmöglich für ihn, hochgeſinnt wie er iſt, das zu wollen,
eben ſo unmöglich daß er ſein Heer dazu vermöge. Will
er denn ſich mit dem Heere gegen die Hauptſtadt wenden,
dort der Verfaſſung den Sieg erzwingen und dann zurück
gegen den auswärtigen Feind? Dahin hätte ein Mann
wie Lafayette ſich wohl geneigt. Aber wird ſich nicht durch
die geriſſene Lücke der Feind den Weg ins Vaterland bah-
nen, die zwieträchtige Revolution beſiegen? Iſt er auch
der übrigen Oberfeldherrn irgend gewiß? Wird die An-
hänglichkeit ſeines Heeres, welches die höchſte Gewalt
in der Nationalverſammlung zu ehren gewohnt iſt, ſo
weit reichen? Die Nationalverſammlung war unermüd-
lich, ſchickte neue Commiſſäre, neue Befehle, die Vorge-
[453] ſetzten der anderen Heere und Heeresabtheilungen unter-
warfen ſich dieſen Befehlen, wenn auch zum Theil zau-
dernd, aber doch wirklich, und Dumouriez, welcher un-
ter Luckner ein Corps commandirte, ging Allen in Bereit-
willigkeit voran, denn er ſchätzte richtig die nächſte Zu-
kunft. So ſtand Lafayette plötzlich allein, und als am
19ten Auguſt die Nationalverſammlung ihn für einen Ver-
räther erklärte, blieb ihm von aller ſeiner Macht und ſei-
ner Liebe beim Heere nichts weiter, als daß er den Tag
darauf mit einigen Officieren, darunter Latour-Maubourg
und Alexander Lameth, ungeſtört ſein Lager verlaſſen und
die Belgiſche Gränze ſuchen konnte. Seine Abſicht war
über Holland nach Nordamerika zu gehen. Aber unedel
hielt man ihn als Kriegsgefangenen feſt und ſchleppte
Jahre lang von einer Feſtung zur andern den Mann, der
bei aller Unreife ſeiner politiſchen Schöpfungen dennoch
dem Verſtändniſſe der Zeit näher ſtand als ſeine Kerker-
meiſter. So ſaß nun der König gefangen, und der Feld-
herr, welcher gern ſein Leben geopfert hätte, um ihn zu
befreien, ebenfalls. Wohin Lafayette wollte, dahin ge-
langte mit Gewandtheit Talleyrand. Dieſer war vor kur-
zem erſt aus England zurück; jetzt ging er ohne Auftrag
von neuem dahin. Als ſpäter England den kriegführenden
Mächten beitrat, litt ihn Pitt dort nicht mehr, im Vater-
lande drohte ihm Anklage, ſo ging er mit Beaumetz in die
nordamerikaniſchen Staaten.


Aber Dumouriez brach die friſche Frucht ſeiner Will-
[454] fährigkeit und trat an Lafayette’s Stelle in den Oberbe-
fehl ein; den verdächtigten ungeſchickten Luckner erſetzte
Kellermann. Mit Recht ſagt Dumouriez in ſeinen Denk-
würdigkeiten: der Herzog von Braunſchweig hätte ſeinen
Angriff auf ein Heer ohne Feldherrn machen ſollen, zu ei-
ner Zeit da Lafayette geflohen war und Dumouriez ihn
noch nicht erſetzt hatte. Aber der Oberfeldherr der deut-
ſchen Mächte, innerlich unklar, gegen jeden hohen Rath-
ſchlag ſich tief verbeugend, keinem mit Hingebung folgend,
ſchritt behutſam über Trier und Luxemburg vor, vollbrachte
die Vereinigung mit den 20,000 Öſterreichern unter Clair-
Aug. 19.fait, und hatte als er endlich die Gränze überſchritt in
zwanzig Tagen immer doch ſeine vierzig Stunden Weges
zurückgelegt. Als Danton auf die Coblenzer Redensarten
vom 25ſten Julius das blutige Werk des 10ten Auguſts
zur Antwort gab, rief König Friedrich Wilhelm in ritter-
licher Ungeduld: „Wohlan, wenn der König nicht zu ret-
ten iſt, ſo retten wir das Königthum.“ Sein Feldherr
dachte anders; man hatte auf eine royaliſtiſche Bewegung
in Frankreich gerechnet; dieſe Hoffnung ſchien durch den
10ten Auguſt vereitelt; der Herbſt war vor der Thüre,
ſchon kündigten ihn Regengüſſe an; der Herzog hätte ſich
für dieſen Feldzug auf einen Feſtungskrieg beſchränken mö-
gen, allein der königliche Wille ſchob ihn vorwärts. Wei-
ter aber kam es auch nicht, und ſo ſtand er zwar nicht ſtille,
wußte aber der Forderung, raſch auf Paris vorwärts zu
dringen, mochte ſie nun vom Könige oder von überläſtigen
[455] Emigranten kommen, Tag für Tag eine Einwendung aus
der Kriegswiſſenſchaft entgegenzuſtellen. Sein Zug ging
über Longwy und Verdun, Feſtungen, deren Werke, wie
man von Bouillé wußte, ganz vernachläſſigt waren. Auch
ergab ſich Longwy am 23ſten Auguſt auf ein Bombarde-
ment ohne eigentliche Vertheidigung; am 2ten September
fiel Verdun. Der Commandant Beaurepaire ſchoß ſich eine
Kugel durch den Kopf, als nach kurzer Beſchießung Ein-
wohner und Beſatzung die Übergabe verlangten. Die
Preußen ſtanden keine dreißig Meilen von Paris.


Mittlerweile hatte Dumouriez ſchon am 28ſten Auguſt
einen Kriegsrath in Sédan verſammelt. Die Meinung
ſeiner Generale war, man müſſe ſich auf die große Straße
von Chalons zurückziehen, die Hauptſtadt ſchützen. Du-
mouriez verſpricht die Sache zu überlegen. Da, wäh-
rend er Abends ſpät noch mit einem ſeiner vertrauten Of-
ficiere Thouvenot über der Karte ſinnt, findet er einen ret-
tenden Rathſchlag aus. Südlich von Sédan zieht ſich nach
St. Menehould hin und darüber hinaus viele Meilen
lang ein Zweig der Ardennen, der Gebirgswald der Ar-
gonne. Durch die dichte Waldung, von Gewäſſern und
Sümpfen häufig unterbrochen, führen nur fünf Engpäſſe.
Hier hindurch muß der Feind, wenn er von Lothringen
aus in die Champagne tritt; dringt er glücklich hindurch,
ſo vertauſcht er den elendeſten Theil der Champagne mit
ihren lachendſten Gegenden. Dumouriez erkannte hier die
Thermopylen Frankreichs, und die erſte über dem eroberten
[456] Verdun aufgehende Sonne fand ihn ſchon in dieſen Päſ-
ſen, deren Beſetzung der deutſche Feldherr verabſäumt
hatte. Auch ließ dieſer ihm eine volle Woche Zeit ſich hier
zu befeſtigen, Verſtärkungen aus dem Innern und von
der Belgiſchen Gränze an ſich zu ziehen, ingleichen dem
Kellermann nach Metz hin die Hand zur Verbindung zu
reichen. Als die Preußen endlich erſchienen, konnten ſie
Sept. 10.nicht durchdringen, ſie fanden ſich im unfruchtbarſten Theile
der Champagne wider Erwarten feſtgehalten. Dumouriez
ſchrieb nach Paris an ſeine Obern: „Hier ſind die Ther-
mopylen, ich aber werde glücklicher ſeyn als Leonidas.“


Dieſes Standhalten, dieſes erſte Gelingen war un-
ſchätzbar für die Befeſtigung der Gemüther, und wirkte
auch dann noch fort, als Dumouriez, mehr kühn als vor-
ſichtig, durch die Vernachläſſigung des Engpaſſes Croix-
aux-bois auf einmal alle Vortheile ſeiner Stellung ein-
büßte. Clairfait, denn auch die Öſterreicher ſtanden an
der Seite der ungeduldig Treibenden, bemächtigte ſich des
ſchwach beſetzten Paſſes mit ſtürmender Hand, und Du-
mouriez hatte alle mögliche Mühe, ſich nach manchem Verluſt
aus den Defileen hinauszuwinden, die eben noch ſein
Schutz geweſen waren. Ohne die unerſchütterliche Unthä-
tigkeit des Herzogs hätte er, abgeſchnitten und zerſtückelt,
hier ſeinen Untergang finden müſſen. Allein auch jetzt be-
harrte Dumouriez auf dem Plane keinen Rückzug gegen
Paris nach Chalons anzutreten, er nahm eine Seitenſtel-
lung im Süden von St. Menehould, und mahnte aus
[457] allen Kräften den Kellermann, welcher ſeit der Argonne
ſchon geneigter war ſich zu bequemen, ihn dort zu finden.
Im Geſichte von St. Menehould erheben ſich mehrere An-
höhen im Kreiſe; eine von ihnen trägt die Mühle von
Valmy. So langſam Kellermann heranrückte, ſo ließ der
Herzog von Braunſchweig ihm dennoch Zeit am 19ten
anzukommen. Er bildete jetzt den linken Flügel Du-
mouriez’s, mit welchem dieſer gegen Paris gewendet da-
ſtand; die Verbündeten, auf der Chauſſee von Chalons,
mußten, wenn ſie dem Feinde ins Auge ſehen wollten, gegen
Deutſchland hinblicken. Und ſie rückten wirklich am 20ſten
September auf den Feind, denn der König, der eine
Schlacht verlangte, befahl es ſo; es galt beide franzöſi-
ſche Feldherren an demſelben Schlachttage zu vernichten.
Dieſe, vereinigt 53,000 Mann ſtark, hielten auf den Hö-
hen Stand und eine furchtbare Kanonade begann früh
Morgens von beiden Seiten. Als es zehn Uhr war, be-
ſchloß der Herzog die Erſtürmung der Anhöhe von Valmy.
Schon drangen drei ſeiner Sturmhaufen heran, und Kel-
lermann wartete ihrer, als plötzlich der Herzog nachſprengte,
zuerſt langſamer vorrücken hieß, weil Clairfait noch nicht
zur Stelle ſey, um zu gleicher Zeit den feindlichen rechten
Flügel anzugreifen, bald darauf aber den Rückzug anord-
nete. „Hier ſchlagen wir uns nicht,“ ſprach er zu ſeiner
Umgebung. Bloß das Kanoniren ging fort. Hierauf um
vier Uhr abermals Aufſtellung der Preußen gleichwie zum
Sturme, denn ſo wollte es der König, und abermals
[458] kein Angriff, denn ſo gefiel es dem Herzog. Es blieb bei
der Kanonade, es ſollte keine Schlacht von Valmy werden.
Wohl 20,000 Kanonenkugeln waren hin und wieder geflo-
gen, Hunderte lagen an jeder Seite todt und verwundet,
Nichts war geſchehen und doch das Größte. Ein Pulver-
verknallen wie zum blutigen Scherz der Mächtigen war ge-
halten auf einer Stätte, in deren Nähe, wenige Meilen
von da, die gewaltigſte Schlacht der beginnenden germa-
niſchen Zeit, die des Attila geſchlagen ward. Und doch
lag in dem Geplänkel von Valmy mehr Entſcheidung für
die Menſchengeſchichte als auf den catalauniſchen Feldern.
Am Abend des 20ſten Septembers ſank der Nebel der Täu-
ſchungen, welcher noch dick auf den Gemüthern desſelben
Morgens laſtete. Die größte Beſtürzung nahm den Platz
des ungemeſſenſten Selbſtvertrauens ein, „jeder ging vor
ſich hin, man ſah ſich nicht an, oder wenn es geſchah,
ſo war es um zu fluchen oder zu verwünſchen.“ In einem
Kreiſe, der am Abend in tiefer Finſterniß unter Sturm
und Regen lagerte (denn der Regen machte ſchon ſeit Wo-
chen alle Wege grundlos und brachte Tauſende von Ruhr-
kranken hervor) befand ſich Deutſchlands Goethe, der im
Gefolge des Herzogs von Sachſen-Weimar kam. Als man
ihn um ſeine Meinung fragte, ſprach er: „Von hier und
heute geht eine neue Epoche der Weltgeſchichte aus, und
Ihr könnt ſagen, Ihr ſeyd dabei geweſen.“


Seit der Kanonade von Valmy und dem Rückzuge der
Preußen, wenig Tage hernach, ſchlug die franzöſiſche Frei-
[459] heit ihre Wohnung in den franzöſiſchen Heeren auf; denn
hier ward ihr durch Kriegszucht, fortan williger anerkannt,
eine Stätte bereitet, ohne daß die Freudigkeit des Sinnes
dabei verlor. Der Anfang einer neuen Heeresordnung,
einer neuen Strategie ſchloß ſich bald an dieſes erſte Ge-
lingen, Schöpfungen des Krieges kündigten ſich an, welche
ihre Stelle im Welttheile eben ſo entſchieden errungen ha-
ben als der Anſpruch auf politiſche Freiheit aus derſelben
Quelle. In der Hauptſtadt aber, wo man dem armen Kö-
nige den geringen Reſt ſeiner Macht leichten Spieles ent-
riſſen hatte, gab es keine Freiheit mehr, nur einen wilden
Kampf der Parteien um die Herrſchaft. Wenn ſo die Wür-
fel der Geſchichte gefallen ſind, darf die Hiſtorie einfache
Wege ſuchen; mag das Zeitungscollegium alle möglichen
Einzelheiten häufen, ſie beſchränkt ſich gern auf den war-
nenden Gang der leitenden Begebenheiten.


Der zehnte Auguſt war die That des neuen Gemeinde-
rathes von Paris, deſſen Perſonal ſich in Tyrannen-Art
ſelbſt eingeſetzt hat. Nicht an die Nationalverſammlung
und den Vollziehungsrath der Miniſter ihrer Wahl, nein
an den Gemeinderath ging durch des Königs Sturz die
Regierung über. Nicht lange, ſo hebt dieſer den Departe-
mentsrath, welcher ihm allenfalls die Herrſchaft ſtreitig
machen konnte, eigenmächtig auf, vergeblich daß die Na-Aug. 22.
tionalverſammlung widerſpricht; ſie mag den Heeren drau-
ßen und den Departements Befehle zuſenden, in Paris
herrſcht ſie nicht mehr. Hier übernehmen die Pikenmänner,
[460] vor welchen am zehnten Auguſt die Nationalgarden abzo-
gen, von freien Stücken die Polizei, ſobald es auf etwas
von Bedeutung ankommt; ohne Unterlaß aber berathſchla-
gen die 48 Sectionen der Hauptſtadt über die Angelegen-
heiten dieſes gewaltigen Mittelpuncts der werdenden Re-
publik. Dieſen Sectionsverſammlungen giebt der Jacobi-
nerclub einheitliche Haltung und die den Jacobinerclub
leiten ſind gerade auch dieſelben, welche im Gemeinderathe
den Ausſchlag geben, vor Allen Danton und Robespierre.
Robespierre wird nächſtens beweiſen daß die Tiger zum
Katzengeſchlechte gehören, noch aber ſtreichelt er lieber und
tritt in waglichen Fällen gern in den Schatten des unge-
heuren Danton, welchen man den Minotaur der Revolution
genannt hat. Schon ſind die Sitzungen des vielköpfigen
Gemeinderathes öffentlich, ſein Zeitungsſchreiber iſt Marat.
Der hat aus dem Schiffbruche der königlichen Habe glück-
lich am Sturmtage der Tuilerien vier Druckerpreſſen ge-
kapert; nun nimmt er ſeine eigene Tribüne im Sitzungs-
ſaale des Gemeinderathes ein, bildet eine politiſche Macht,
das heißt eine Macht zur Verfügung Dantons, welcher
den ſchmutzigen, in ſeiner ganzen Erſcheinung ekelhaften
Menſchen, dieſe Goſſe für fremden Unrath und doch ein
Talent der Feder, ungern vorwies, wie er denn der
Frau Roland, welche das Meerwunder einmal bei ſich zu
ſehen wünſchte, es mit den Worten abſchlug: das ſey eine un-
nütze und ſogar widerwärtige Sache, mit dieſem Original,
aus welchem nichts herauszubringen, zu verkehren. Gewiß
[461] iſt, Marat, der Menſch ohne Anſtellung, bedeutete nichts
Kleines, während Pétion, der erſte im Gemeinderathe,
eine leichtſinnig eitle läſtige Natur, Alles in fremde Hände
übergehn ließ. Dieſe waren eben ſo ſchlau gewandt als
kraftvoll. Danton erfuhr täglich im Miniſterrathe daß er
gegen Rolands ſtrenge Grundſätze nichts vermöge. Nim-
mermehr hätte ſich dieſer zu Blutthaten verſtanden. Folg-
lich muß der Miniſter des Innern geſchwächt werden, ihm
muß vor allen Dingen die Polizei aus den Händen ge-
wunden werden. Wie willig nun aber die Girondiſten, die
ſich für ſo weiſe hielten, in Dantons Fallen gingen! We-
gen der dringlichen Umſtände, Feinde an den Gränzen,
Feinde im Innern, trägt Genſonné in der Nationalver-
ſammlung darauf an daß den Municipalitäten die Sorge
für die hohe Sicherheitspolizei in ihrem ganzen Umfange
übertragen werde, und dringt durch. Jetzt mochte die Na-
tionalverſammlung immerhin aus der eigenen Mitte einen
allgemeinen Sicherheitsausſchuß hervorſteigen laſſen, einAug.12.
vornehmer Titel! allein die wirkliche Gewalt ſtand bei dem
Aufſichtscomité, welches der Gemeinderath aufſtellte, nur
ſieben Mitglieder, welche aber alsbald ihre Hände durch
die Ernennung von Commiſſären vervielfältigten, unter wel-
chen Marat erſcheint. Sieben Tage weiter und die Natio-
nalverſammlung, der man keine Ruhe ließ, gab auch die
Aufſtellung eines außerordentlichen Gerichtshofes nach;
die Richter werden aus den Sectionen genommen, die Ap-
pellation an den Caſſationshof fällt weg. Die Wahl zum
[462] Präſidenten dieſes Gerichtshofes lehnte Robespierre doch
ab. Jetzt aber war freier Spielraum gewonnen und der
Gemeinderath beſchloß alle Verdächtigen einfangen zu laſ-
ſen; da wanderten Barnave, Karl Lameth, Montmorin
ins Gefängniß. Nun erſchien ein geſchärftes Decret der
Nationalverſammlung gegen die unbeeidigten Prieſter: ſie
ſollen binnen acht Tagen aus dem Departement, binnen
vierzehn Tagen aus dem Königreiche weichen; kehrt einer
zurück, ſo trifft ihn zehnjähriges Gefängniß. Ganz das Ge-
gentheil aber wird über die Familien der Emigranten ver-
hängt, ſie dürfen nicht allein dableiben, ſie müſſen es, ſol-
len als Geißeln dienen, werden confinirt auf ihren Wohn-
ort, ihr Eigenthum wird in Regiſter gebracht. Die Paß-
geſetze ſind ſchon ſeit einem halben Jahre ſtreng genug,
um einen Austritt von Paßloſen über die Gränze, ja ſelbſt
ein Reiſen im Innern ohne Paß zu verwehren, und was
hindert, ſie noch mehr zu ſchärfen! Als die Nachrichten von
den Fortſchritten der Verbündeten einliefen, als vollends
die Botſchaft von dem Falle von Longwy kam, reiften blu-
tige Entſchlüſſe. Damals beſchloß die Nationalverſamm-
lung 30,000 Mann aus dem Pariſer Departement auszu-
heben, und Danton betrieb die Aushebung und daß ihnen
Sold werde mit der äußerſten Raſtloſigkeit; allein wie
thörigt iſt es doch, ſo hört man aus demſelben Munde, die
bewaffnete Mannſchaft wegſenden und zu Hauſe den Ver-
rath laſſen, welcher ihr in den Rücken fallen wird! Man
muß die Königlichen in Schrecken jagen. Der Plan war
[463] die Gefängniſſe der Hauptſtadt raſch zu füllen, um ſie noch
raſcher wieder auszuleeren. Dergleichen aber ſpricht ſich
nicht vor nervenſchwachen Leuten aus, es muß das Ge-
heimniß einiger ſtarken Köpfe bleiben; der Gemeinderath
als ſolcher verfügt bloß was in ſeiner Befugniß, ja in ſo
drangvollen Augenblicken in ſeiner Pflicht liegt: Sperrung
der Hauptſtadt, acht und vierzig Stunden lang, Haus-
ſuchung nach den Verdächtigen, Abführung derſelben in die
Gefängniſſe; eben dahin müſſen auch alle unbeeidigten
Prieſter, um ſie, ſo wird verbreitet, für die Deportation
zu ſammeln. Es ſcheint, die Nationalverſammlung war
nicht ohne Ahnung von Gräueln; ſie ermannte ſich plötz-
lich, gab dem girondiſtiſchen Antrage Beifall, daß dieſer
Gemeinderath, der ſeine Gewalt ſeit dem 10ten Auguſt
bloß uſurpirt hat, entſetzt und ein anderer an ſeine Stelle
erwählt werde. Ohnmächtiger Verſuch! Wie oft hatteAug.30.
nicht die Nationalverſammlung dieſen Gemeinderath aner-
kannt, ihm für ſeine kraftvollen Maßregeln Dank geſagt!
Als eine Deputation deſſelben, Pétion, Manuel, Tallien
an der Spitze, vor den Schranken erſchien, erfolgte die Zu-Aug.31.
rücknahme.


Am 2ten September kam die Nachricht in den Gemein-
derath, Verdun werde belagert. Denſelben Nachmittag er-
fuhr Paris, was der Juſtizminiſter unter Schreck einjagenSept.2.
verſtehe. Ich bin der Meinung daß ſein Plan ſich auf die
Ermordung der gefangenen eidloſen Prieſter, ingleichen die
raſche Aburtheilung und Niedermetzelung der politiſchen
[464] Gefangenen beſchränkte; allein die Ausführung ging weit
über dieſe Gränze hinaus. Die That ward an den Prie-
ſtern, welche als überführte Verbrecher betrachtet wurden,
ohne alle beſchönigende Form vollbracht. Gedungene Mör-
derhaufen drangen zu den Karmelitern ein, trieben die in
der Kirche zuſammengeſperrten Geiſtlichen in den Kloſter-
garten und ſchoſſen nun unter den Haufen; weil aber doch
viele bloß verwundet, manche unverſehrt blieben, mußte
man ſie einzeln tödten, ließ die Leichen liegen, man zählte
deren 163, darunter der Erzbiſchof von Arles und zwei
Biſchöfe. In eben der Art ward mit den Prieſtern in an-
dern Verwahrungsplätzen verfahren, man ſtieß oder ſchlug
ſie nieder, warf ihre Leichen aus den Fenſtern auf die offene
Gaſſe. Dagegen war in den Gefängniſſen der Abtei St.
Germain und in La Force, in welchen man die politiſch
Verdächtigen planmäßig zuſammengehäuft hatte, ein regel-
mäßiges Verfahren veranſtaltet. Wir finden in der Abtei
den wohlbekannten Maillard wieder, dieſes Mal als Prä-
ſidenten eines Geſchworenengerichtes von zwölf pariſer
Bürgern. Es hat ſeinen Sitz in der Stube hart am Pfört-
chen zur Straße hin erwählt und arbeitet ohne Unter-
brechung Tag und Nacht. Der Präſident, im grauen Rocke,
den Säbel an der Seite, ſieht die Gefangenenliſte durch,
läßt einen nach dem anderen von ein Paar Bewaffneten
vorführen, ein förmliches Verfahren beginnt, Fragen und
Antworten wechſeln, nicht einmal die Öffentlichkeit fehlt,
denn eine Anzahl geſprächiger Weiber iſt zugelaſſen; aber
[465] der alte Pförtner ſteht unbeweglich die Hand auf dem Thür-
ſchloſſe da, wartend ob er das Pförtchen öffne. Endlich
ſpricht der Präſident ſeine Meinung über den Gefangenen
aus; wer von den Geſchworenen gerade noch wach iſt —
denn einige ſchlummern unter Flaſchen und Tellern hinge-
ſtreckt auf der Bank, — giebt ſeine Erklärung, und gewöhn-
lich öffnet ſich dann die Todespforte. Der Gefangene wird
ins Freie geſtoßen und findet dort den augenblicklichen Tod;
drinnen aber wird er ordentlich eingezeichnet, auch werden
einzelne Freiſprechungsſcheine ausgetheilt. Vor dieſem
Tribunal mußte Montmorin, der vormalige Miniſter, er-
ſcheinen. Als er mit großer Heftigkeit gegen ſolche Richter
proteſtirte, ſprach einer von ihnen zum Präſidenten: „Die
Verbrechen Montmorins ſind bekannt, da er aber mit uns
nichts zu ſchaffen haben will, ſo verlange ich ſeine Abfüh-
rung nach La Force.“ „Ja nach La Force!“ ſchrieen Alle.
Montmorin glaubte ſich gerettet, allein es war das Stich-
wort für ſeinen Tod. In La Force rief man umgekehrt ſtatt
des Todesurtheils: „Nach der Abtei.“ So ſehr überlegt
war Alles. Allein man rückte über dieſen Förmlichkeiten
langſam vorwärts. Die Gemeinderäthe Manuel und Bil-
laud-Varennes gingen ab und zu, die Geſchworenen an-
feuernd, belobend. Letzterer ſagte den blutigen Arbeitern
draußen jedem 24 Livres Tagelohn zu, ungerechnet natür-
lich, was die Erſchlagenen von Geld und Gut an ſich tru-
gen. Mehrere Tage und Nächte vergingen dennoch, ehe die
Abtei mit 122 Ermordeten ihr Geſchäft abſchloß; La Force
Franzöſiſche Revolution. 30
[466] zählte deren 167 oder darüber. Manchmal ließ ſich auch
Danton blicken, allein mit kluger Zurückhaltung. Er war
es, der mit dem Aufſichtscomité, welches ſich in dieſen Ta-
gen den Namen des Ausſchuſſes für das öffentliche Heil
beilegte und in welches Marat als ordentliches Mitglied
eintrat, die großen Maßregeln verabredete, draußen aber
ſehen wir ihn Einzelne retten, Duport, Barnave, Karl
Lameth verdankten ihm ihre Entlaſſung aus den Gefäng-
niſſen. Auch gleicht das weiter gehende Gefängnißmorden
weit mehr dem Marat und ſeinem Gelichter (son peuple)
als Dantons Anordnungen, ich meine das Niedermetzeln
der zu den Galeeren verurtheilten Verbrecher bei den Bern-
hardinern, der heilloſen Weiber in der Salpetrière und
nun vollends der dreitägige Kampf im Bicêtre, um mit
Kartätſchen und endlich ſogar mit in die Keller geleitetem
Waſſer gemeine Verbrecher und Wahnſinnige, die ſich ihres
Lebens wehrten, zu vertilgen.


Während alles des angeſtellten Blutvergießens wird
vor den Behörden der Name des Volks beſtändig mis-
braucht, welches ſich in ſeiner gerechten Rachewuth durchaus
nicht bändigen laſſe. Die Volksmenge aber miſchte ſich die-
ſes Mal durchaus nicht mit ihren Leidenſchaften ein; ſie
ehrte ſogar das um den Tempel hin ausgeſpannte mit einer
warnenden Inſchrift bezeichnete Band, welches die könig-
liche Familie ſchützen ſollte. Erſt als in La Force die Prin-
Sept.3.zeſſin Lamballe erwürgt und von ihrer nackten gräßlich ver-
ſtümmelten Leiche das Haupt getrennt war, verletzten ge-
[467] dungene Mörder dieſe Freiſtätte des entweihten König-
thums, ruhten auch nicht bis ſie über den Trümmern von
ein Paar abſichtlich, um den Tempel zu iſoliren, niederge-
riſſenen Häuſern ſo hoch geklettert waren, daß ſie der ent-
ſetzten Königin den blutigen Kopf ihrer Freundin mit Hülfe
der Pike zeigen konnten. Manche der Gedungenen kamen
auch in die Häuſer von Girondiſten, um dieſe gefangen
abzuführen, und ließen ſie gehen auf ihre Weigerung, irrten
dann mit ihren Scheinen auf zu zahlenden Tagelohn von
einer Behörde zur andern, bis ſie Befriedigung fanden.
Denn einen ſichern Anhaltspunct in Bezug auf ihre Schuld-
ner beſaßen ſie an einem Rundſchreiben, welches der Aus-
ſchuß des öffentlichen Heiles gleich beim Anfange des Mor-
dens an alle Departements erließ, dieſes Hauptinhalts:
„Brüder und Freunde, ein abſcheuliches Complott, vom
Hofe zur Ermordung aller Patrioten Frankreichs angeſtiftet,
und worin viele Mitglieder der Nationalverſammlung ver-
wickelt ſind, hat am 9ten des vorigen Monats die Gemeinde
von Paris in die traurige Nothwendigkeit verſetzt, ſich der
Macht des Volks zu bedienen, um die Nation zu retten. —
Jetzt aber hat die Gemeinde von Paris vernommen, daß
barbariſche Horden auf ſie anrücken, und beeilt ſich ihre
Brüder in allen Departements zu unterrichten, daß ein
Theil der frechen Verſchwörer, welche in den Gefängniſſen
verwahrt wurden, vom Volk getödtet iſt; eine Handlung
der Gerechtigkeit, welche ihm unerläßlich ſchien, um in dem
Augenblicke ſeines Auszuges gegen den Feind die Legionen
30*
[468] der innerhalb ſeiner Mauern verſteckten Verräther durch
Schrecken zu bändigen; und ohne Zweifel wird die ganze
Nation nach der langen Kette von Verräthereien, welche
ſie bis an den Rand des Abgrundes gebracht haben, wett-
eifern einer ſo nützlichen und ſo nothwendigen Maßregel
nachzuahmen, und alle Franzoſen werden gleich den
Pariſern ſagen: Wir ziehen gegen den Feind, allein wir
werden keine Banditen in unſerm Rücken laſſen, die un-
ſere Frauen und Kinder ermorden.“ Hier folgen ſieben
Unterſchriften: Duplain. Panis. Sergent. Lenfant. Ma-
rat
. Lefort. Jourdeuil. Auch zeigten ſich in Rheims, in
Meaux, in Lyon und anderer Orten Nacheiferer. Am wil-
deſten begab ſich die Ermordung von über 50 Gefangenen,
die von Orleans nach Verſailles gebracht wurden und
weiter nach Paris ſollten. Die Pariſer Mörder gingen
dieſen entgegen, vergeblich daß der Maire von Verſailles
ſie zu retten ſuchte. Unter den hier Ermordeten befand
ſich Deleſſart, der frühere Miniſter. Verſailles hatte die
ganze Schwere der Revolution ſchon empfunden. Seit
der Entfernung des Hofes ſank die Stadt von 80,000 Ein-
wohnern auf 25,000 herab.


Fragt man, wo in dieſen vier Tagen und Nächten des
Mordens bei Sonnen- und bei Fackelſchein die National-
garde blieb, ſo lautet die Antwort daß Santerre ſie unge-
achtet aller Mahnungen Rolands unaufgeboten ließ. Und
die Nationalverſammlung? Sie forderte den Gemeinde-
rath auf, über den Zuſtand der Stadt zu berichten; der aber
[469] berichtete, Paris ſey ruhig, und dabei blieb es. Und als
das Morden vorbei, erſchien der freundliche SchleicherSept.6.
Pétion, bat, man möge ihm erlauben einen Schleier über
das Geſchehene zu werfen, man müſſe hoffen daß dieſe
traurigen Scenen ſich nicht wiederholen würden, die alte
Brüderlichkeit kehre ſchon zurück. Und war denn der Brief,
welchen der ſtrenge Roland am 3ten September an die
Nationalverſammlung ſchrieb, in viel anderem Sinne ab-
gefaßt? Roland findet den zehnten Auguſt vortrefflich und
läßt noch allenfalls den vergangenen Abend gelten. Aber
nun nicht weiter! Warum aber nicht weiter, wenn nur
überall ſo weit? Rolands Theorie iſt durch den zehnten
Auguſt ins Leben gerufen, die Dantons erſt durch die
Septembermorde. Geben Theorien den Ausſchlag für Tha-
ten der Gewalt, ſo ſtehen beide Männer in gleichem
Rechte. Allein die Worte Rolands, des Miniſters, der
thörichter Weiſe bald hernach nicht müde wird ein Straf-
gericht über die Septembermänner herabzurufen, ohne zu
bedenken daß er ſie zum Kampfe der Verzweiflung zwingt,
ſind bezeichnend für die Denkart der Zeit. „Ich weiß daß
die Revolutionen nicht berechenbar nach den gewöhnlichen
Regeln ſind, allein ich weiß auch daß die Macht, welche
ſie hervorbringt, ſich bald unter den Schutz der Geſetze
ſtellen muß, wenn ſie eine gänzliche Auflöſung vermeiden
will. Der Zorn des Volks und die Bewegung der Inſur-
rection gleichen einem Strome, der alle Hinderniſſe durch-
bricht, welche keine andere Macht je vernichtet hätte, aber
[470] deſſen Überſchwemmung weit hinaus Alles zerſtören und
verwüſten muß, wenn er nicht bald in ſein Bette zurück-
kehrt. Kein Zweifel, ohne den Tag des 10ten
waren wir verloren
; der Hof, ſeit lange vorberei-
tet, erwartete nur die Stunde, um alle ſeine Verräthereien
zu krönen, über Paris die Todesfahne zu entfalten und es
durch Schrecken zu beherrſchen. Das Gefühl des Volks,
immer gerecht und zutreffend, wenn die öffentliche Mei-
nung unverdorben iſt, eilte dem Augenblicke voran, wel-
cher für ſein Verderben beſtimmt war, und benutzte ihn
zum Verderben der Verſchwörer.“ Dann von den Thaten
des zweiten Septembers: „Geſtern war ein Tag, von
deſſen Ereigniſſen man vielleicht den Schleier nicht lüften
darf; ich weiß daß das Volk, furchtbar in ſeiner Rache,
doch eine Art Gerechtigkeit hineinbringt; es opfert nicht
Alles auf was ſeiner Wuth ſich darbietet: es richtet dieſe
gegen Solche, welche es ſchon zu lange mit dem Schwerte
des Geſetzes verſchont zu haben glaubt und welche die Ge-
fahr der Umſtände ihm als Schlachtopfer bezeichnet, die
unverzüglich fallen müſſen.“ Stand es ſo mit den eidlo-
ſen Prieſtern? Gewiß, Roland war eine weit reinere
Seele als Danton, allein in der politiſchen Anſchauung
beider machte bloß das Datum einen kleinen Unterſchied.
Roland hatte den inneren Feind in den Tuilerien gefürch-
tet und er freut ſich des erfolgreich angewandten Schreckens.
Danton fürchtete in ausgedehnterem Maße den inneren zu-
gleich und den äußeren Feind und machte von einer größe-
[471] ren Doſis Schrecken Gebrauch. Was wird es geben, wenn
die Furcht Marats und Robespierre’s freie Hand be-
kommt?


In denſelben Tagen, da die Einen aus Paris in dich-
ten Schaaren ins Feld rückten, die Anderen drinnen für
die gute Sache mordeten, hielt Dumouriez die Feinde inSept.3.4.
der Argonne auf. Am Tage der Kanonade von Valmy
hielt aber der geſetzgebende Körper ſeine letzte Geſchäfts-
Sitzung. Zwar trat er am nächſten Morgen, den 21ſten
September noch einmal zuſammen, allein lediglich um die
Botſchaft zu empfangen, der Nationalconvent ſey conſti-
tuirt, und ſich hierauf für immer aufzulöſen. An ſeine Stelle
tritt eine Verſammlung, weit volksmäßiger gewählt als
die vorige; denn der ariſtokratiſche Unterſchied zwiſchen
gewöhnlichen und thätigen Bürgern iſt für dieſe Welt ganz
aufgehoben; jeder einundzwanzigjährige Franzoſe, der
nicht Dienſtbote iſt, kann Wähler ſeyn, und jeder Fran-
zoſe kann mit fünfundzwanzig Jahren ſowohl im Wahl-
collegium als im Nationalconvent ſitzen; man hat aber die
Wahlcollegien bloß um der Eile willen noch beibehalten,
weil es darauf ankommt in kürzeſter Friſt einer Verſamm-
lung das Daſeyn zu geben, welche in den Tuilerien künf-
tig wohnen, vor allen Dingen aber das Königthum ab-
ſchaffen wird.


Dumouriez wußte aus erſter Hand durch ſeinen ge-
treuen Correſpondenten, den Juſtizminiſter, daß dieſe Ent-
ſcheidung unmittelbar bevorſtehe, nichtsdeſtoweniger un-
[472] ternahm er es, den Herzog von Braunſchweig zu überzeu-
gen, er habe nicht allein den Willen, ſondern auch die
Kraft, die Macht der Krone wiederherzuſtellen, verſteht ſich
erſt nachdem die Preußen ihm durch die ſchleunige Räu-
mung Frankreichs freie Hand, ſein Heer zu gebrauchen, ver-
ſchafft haben werden. Wunderbarer Umſchwung der Dinge!
Keine vierundzwanzig Stunden ſind ſeit jener entſcheidungs-
vollen Kanonade verfloſſen und wir finden beide Heerfüh-
rer in einer Unterhandlung, welche ſich unter einer Aus-
wechſelung von Gefangenen verſteckt, und bereits am Abend
Sept.22.des dritten Tages tritt ein Waffenſtillſtand ein. So un-
bedingt Dumouriez den Antrag verwirft, gemeinſchaftliche
Sache mit den Verbündeten zu machen, ſein Heer zur Ret-
tung des Königs gegen Paris zu führen, eben ſo nach-
drücklich macht er durch ſeine Abgeordneten geltend, es
gebe kein anderes Mittel, die Tage des Königs und die
Monarchie zu ſichern, als den Rückzug der Preußen und die
Losſagung dieſer Macht von einem Kriege, welchen ſie un-
gereizt, gegen alle geſunde Politik, Öſterreich zu Gefallen
unternommen habe. Eben das war die nicht ganz verbor-
gene Anſicht des Herzogs; als dieſer aber die Wiederein-
ſetzung Ludwigs XVI. in die Macht, welche er vor dem
10ten Auguſt beſeſſen, zur Baſis jeder Friedensunterhand-
lung machte (ein ungeheures Zugeſtändniß von Seiten ei-
nes Fürſten, welcher das Coblenzer Manifeſt hatte aus-
gehen laſſen), antwortete Dumouriez mit der Meldung:
der franzöſiſche Nationalconvent habe an ſeinem erſten
[473] Sitzungstage das Königthum aufgehoben und in ſeiner
zweiten Sitzung die Stiftung der franzöſiſchen Republik be-Sept.22.
ſchloſſen. Und dem war ſo. Auf die Nachricht wollte Fried-
rich Wilhelm, tief erſchüttert, ſogleich die Unterhandlun-
gen abgebrochen wiſſen, verlangte eine Schlacht und
ſetzte dieſe ſogar auf den 29ſten feſt. Allein an demſelben
Tage überzeugte der Herzog den König von der Nothwen-
digkeit den Rückzug anzutreten, welchen man ungeſtört,
Dank ſeiner Sorgfalt, werde vollbringen können. Wirk-
lich hatte der Vollziehungsrath, welcher officiell jede Un-
terhandlung bis zur Räumung des franzöſiſchen Bodens
abſchnitt, dem General Dumouriez unter der Hand ge-
ſtattet, dem Feinde einen unbeunruhigten Rückzug bis an
die Maas zuzugeſtehen, immer in der Hoffnung, das Ber-
liner Cabinet gänzlich von dem Wiener zu trennen. Der-
geſtalt ward der Tag nach dem projectirten Schlachttage
der Anfang eines ſchmählichen Rückzuges, zum unſäglichenSept.30.
Schmerze der Emigranten, deren Corps nicht einmal in
den geheimen Stillſtand begriffen werden durfte. Als die
Preußen an der Maas bei Verdun ſtanden, überließ Du-
mouriez das Weitere in Bezug auf ſie den Generalen Kel-
lermann und Dillon und beeilte ſich, was er längſt ge-
wünſcht, die Offenſive gegen die kaiſerlichen Niederlande
zu eröffnen, führte ſeine Hauptmacht dahin ab. Eben da-
hin begab ſich unmuthig Clairfait mit ſeinem Corps, nach-Oct.21.
dem die Preußen Verdun und Longwy ohne Widerſtand
durch eine Übereinkunft geräumt hatten. Wenn noch hie
[474] und da eine ſchwache Beunruhigung der Zurückziehenden
erfolgte, ſo diente das eher zur Rettung der politiſchen
Ehre Preußens; denn das verwundete Gemüth des Kö-
nigs würde einen öffentlichen Bruch der gegen Öſterreich
übernommenen Pflichten nicht ertragen haben, wenngleich
ſein Wille ſich den Rathſchlägen ſeiner Lombards, Lucche-
ſinis und Haugwitze gefangen gab. Allein auch dieſe
konnten für jetzt keinen förmlichen Frieden mit Frankreich
wünſchen, denn nimmermehr würde in dieſem Falle Kai-
ſerin Katharina eingewilligt, haben daß Preußen durch
eine neue Theilung von Polen die längſt erſehnte Ver-
größerung mit Thorn und Danzig erlange.


Zwei Monate und fünf Tage hatten die Preußen
franzöſiſchen Boden inne gehabt als ſie auf ihrem Rück-
zuge am 23ſten October die Gränze, das Luxemburgiſche
erreichten. Als man hier die gerettete Heerſchaar muſtert,
zeigt es ſich daß ein Drittel von denen, welche in die
Champagne rückten, nicht wiedergekehrt iſt, und gleich-
wohl ſind höchſtens 2000 durch die Waffen gefallen. Und
während der Berechnung der Verluſte wird man durch die
Schreckensnachricht überraſcht: „Wir Deutſche ſind nicht
mehr die Angreifer, uns greift man an; am 19ten Octo-
ber iſt General Cuſtine vor Mainz gerückt, ohne Belage-
rungsgeſchütz, er fordert die Reichsfeſtung auf und ſie er-
giebt ſich ihm gleich am 21ſten, und in Mainz beginnt
die Revolutionirung von Deutſchland.“ Will man mehr?
Zehn Tage vor der Kanonade von Valmy erklärte die Na-
[475] tionalverſammlung der Krone Sardinien den Krieg, weil
ſie bewaffneten Emigranten Einfälle in Frankreich geſtat-
tete. Noch im Laufe Septembers erobert der General
Montesquiou Savoyen faſt ohne Widerſtand, und Gene-
ral Anſelme ſteht in Piemont. Am 21ſten November wird
Savoyen als Departement Montblanc mit der franzöſi-
ſchen Republik vereinigt, den 4ten Februar 1793 bildet
die Grafſchaft Nizza das Department der Seealpen. So
ſchnell wird vergeſſen daß das freie Frankreich nicht er-
obern will. Noch mehr. Dumouriez iſt in Belgien einge-
drungen, hat am 6ten November 1792 das regelrechte kai-
ſerliche Heer bei Jemappes aufs Haupt geſchlagen, und
nun wird allen Völkern der Erde Freiheit und Gleichheit
verkündigt. Und unſer deutſches Reich? Nachdem der erſte
Feldzug der Deutſchen ohne Theilnahme des Reiches
ſchmählich verloren iſt, — Mainz, Aachen, Frankfurt ſind
in feindlichen Händen — beſchließt das deutſche Reich am
22ſten December den Krieg, ein Vierteljahr ſpäter die Er-
klärung des Krieges (23. März 1793) und ſechs Wochen
ſpäter (30. April) die Bekanntmachung dieſer Erklärung.
In denſelben Tagen legten Rußland und Preußen an eine
neue Theilung Polens die Hand, und gleichzeitig ward Lud-
wig dem XVI. und dem polniſchen Volk der Proceß ge-
macht.


Wenn es aber Weiſungen von oben giebt, welche die
irren Bahnen der ſchwachen Sterblichen erleuchten, ſo ſind
dieſe damals ertheilt, als neben den frechen Königsmord
[476] der kalt berechnete Volksmord trat. Seitdem iſt eine lange
Zeit vergangen, die damals Knaben waren ſind zu Grei-
ſen geworden, unverrückt weiſt der große Zuchtmeiſter der
Welt immerfort auf dieſelbe Aufgabe hin, ſucht ſeine ſtör-
rig-trägen Schüler mit unſäglichen Leiden heim. Und den-
noch wollen die Einen nicht lernen daß es ein Unſinn und
ein Frevel iſt, unſern von monarchiſchen Ordnungen durch-
drungenen Welttheil in Republiken des Alterthums um-
modeln zu wollen, die Andern umklammern hartnäckig das
geliebte Götzenbild einer monarchiſchen Unumſchränktheit,
welche ja ihre unvergeßliche Zeit gehabt hat, gegenwärtig
aber, verlaſſen von dem Glauben der Völker, ein ſo eit-
les Geräuſch treibt, wie die klappernden Speichen eines
Rades, deſſen Nabe zerbrochen iſt.


[[477]]

Appendix A Inhalt.


  • Seite
  • Erſtes Buch. Die Vorſpiele der Revolution.
    1. Die Verhältniſſe 3
  • 2. Das Schickſal der Reformen 25
  • 3. Die holden Jahre der Selbſttäuſchung 63
  • 4. Das erſte Anklopfen der Revolution 82
  • 5. Es wird der Revolution aufgethan 106
  • Zweites Buch. Das neue Frankreich und ſein Kö-
    nigthum.
    1. Die Form der Reichsſtände 143
  • 2. Die Wahlbewegung 156
  • 3. Der Geburtstag der Revolution 190
  • 4. Die pariſer Revolution 215
  • 5. Die Schöpfungen der Nationalverſammlung 239
  • 6. Die König und die Nationalverſammlung nach Paris 271
  • 7. Mirabeau kämpft für den Thron 295
  • 8. Die letzten Stützen des Thrones weichen 325
  • Seite
  • Drittes Buch. Der Übergang zur Republik.
    1. Der König flüchtig, gefangen, ſuſpendirt, wieder an-
    geſtellt 365
  • 2. Die geſetzgebende Verſammlung und das Ausland 397
  • 3. Der Krieg und die Republik 431

Appendix B

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.


[]

Appendix C Druckfehler.


Seite 293. Zeile 7 v. u. und öfter lies: Tuilerien ſtatt: Tuillerien.


〃 311. 〃 10 v. o. lies: Dingt ſtatt: Dringt.


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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjvf.0