der
Schwediſchen
Graͤfinn
von G**
beyJohann Wendler, 1748.
Jch bin gegen das Elend, das der Graf
in Rußland ausgeſtanden, zu em-
pfindlich, als daß ichs nach ſeiner
Laͤnge erzaͤhlen und in eine gewiſſe
Ordnung bringen ſollte. Allein ich brauche
auch dieſe betruͤbte Muͤhe nicht. Jch habe
ein halb Jahr nach ſeiner Zuruͤckkunft noch
zween von denen Briefen erhalten, die er in
ſeiner Gefangenſchaft an mich geſchrieben.
Den einen hatte er an einen Geiſtlichen, auf
ſeinen Guͤtern in Liefland, addreßiret, der aber
nichts von meinem Auffenthalte erfahren koͤn-
nen. Den andern brachte mir ein Jude, wie
man in dem Verfolge der Erzaͤhlung ſehen
wird. Dieſe Briefe enthalten den groͤßten
Theil von dem, was ihm in Moskau und
Siberien begegnet iſt. Jch will ſie alſo un-
veraͤndert hier einruͤcken. Es iſt immer, als
wenn man mehr Antheil an einer Begebenheit
naͤhme, wenn ſie der ſelbſt erzaͤhlet, dem ſie
zugeſtoßen iſt. Sie werden uͤber dieſes den
edlen Charakter des Grafen und ſeine beſtaͤn-
dige Liebe gegen mich in ein groͤſſer Licht ſetzen.
Wie
[4]Leben der Schwediſchen
Wie groß iſt ſie nicht geweſen! Und eben zu
der Zeit, da er mich ſo bruͤnſtig geliebt und al-
les fuͤr mich gefuͤhlt hat, was nur ſein Elend
hat vergroͤſſern koͤnnen, habe ich in den Ar-
men eines andern Gemahls der Freuden der
Liebe und des Lebens genoſſen. Wie viel tau-
ſend Thraͤnen hat mich dieſer Gedanke ſchon
gekoſtet, und wie oft bin ich vor meiner un-
ſchuldigen Liebe zu dem Herrn R** als vor
einem Verbrechen erroͤthet!
Der erſte Brief iſt aus der Stadt Mos-
kau geſchrieben.
Euer ungluͤcklicher Gemahl lebt noch.
Wollte doch Gott, daß ihr dieſe Nachricht
ſchon wuͤßtet, oder ſie wenigſtens durch die-
ſen Brief erfuͤhret! Ein ploͤtzlicher Ueberfall,
den die Ruſſen drey Tage vor meiner angeſetzten
Hinrichtung auf das Dorf thaten, in welchem
ich gefangen und krank lag, hat mir das
Leben errettet. Ja, liebſte Gemahlinn,
dieſe Vorſehung iſt eine Frucht eurer
Thraͤnen und meiner Unſchuld. Jch habe et-
liche Tage nach dem geſchehenen Ueberfall
kaum mehr gewußt, daß ich lebte. Nach-
dem ich von meiner Krankheit wieder zu mir
ſelber kam und mich in den Haͤnden der Ruſ-
ſen
[5]Graͤfinn von G**
ſen ſah: ſo gab ich mich zu meiner Sicherheit
fuͤr einen Capitain aus und nannte mich Loͤ-
wenhoek. Unter allen denen Gefangenen,
mit welchen ich bald in dieſe, bald in jene Fe-
ſtung, und endlich nach der Stadt Moskau
geſchleppt worden bin, ſind nicht mehr, als
zween Officiere, die mich kennen. Sie ſind
beide Engellaͤnder von Geburt und die treu-
ſten und beſten Gefaͤhrten meines Elends, die
ich mir nur wuͤnſchen kann. Der eine von
ihnen, Steeley, hat vor wenig Tagen die Frey-
heit erhalten, einige von ſeinen Landsleuten,
die hieher handeln, zu ſprechen, und durch die-
ſe hat er mir einen Brief nach Liefland zu be-
ſtellen, die ſicherſte Gelegenheit ausgemacht.
Wenn er doch ſchon in euren Haͤnden waͤre!
Wenn ich doch nur eine von den Thraͤnen der
Freude ſehen ſollte, die euch die Nachricht von
meinem Leben auspreſſen wird. Wo habt
ihr euch denn nach meinem letzten traurigen
Briefe hingewandt? Hat euch die Rache des
ungerechten Prinzen nicht verfolgt? Jſt mein
Freund R** mit euch gefluͤchtet? Und wo-
hin? Arme und ungluͤckliche Gemahlinn!
Goͤnnt mir doch den Troſt, daß ich alle mein
gegenwaͤrtiges Ungluͤck und das noch kuͤnftige
eurer Tugend und eurer Liebe gegen mich zu-
ſchreiben darf. Nichts als dieſe Urſache iſt
A 3ver-
[6]Leben der Schwediſchen
vermoͤgend, mir mein Elend zu verſuͤſſen, und
mir die Schande und das ſchreckliche And[en]-
ken eines gewaltſamen Todes, den mir der
Prinz zugedacht, zu erleichtern. Ertraget
meine Abweſenheit gelaſſen, ich bitte euch bey
unſerer Liebe, und hofft, wir werden uns ge-
wiß wieder ſehen. Aber, o Gott! wenn?
Und ach wo weis ich denn, ob ihr mein Un-
gluͤck habt uͤberleben koͤnnen? Schrecklicher
Gedanke, den ich ohne Zittern nicht nieder-
ſchreiben kann! Nein, mein einziger Wunſch
in der Welt, ihr lebt noch. Mein Herz ſagt
mirs, und es verſpricht mir die Wolluſt, euch
noch einmal, ehe ich ſterbe, zu umarmen. Um
dieſe Gluͤckſeligkeit bitte ich die Vorſehung alle
Tage und in dem Augenblicke, da ich dieſes
ſchreibe. Kann mir Gott mein Leben wohl
zu einem geringern Vergnuͤgen gelaſſen haben,
als daß ich noch einen Theil davon, und wenn
es auch nur etliche Tage waͤren, mit euch zu-
bringen ſoll? Stellt euch doch die Zufrieden-
heit vor, die wir ſchmecken werden, wenn uns
die Zeit einander wieder geben wird. Wie
lange werden wir vor Entzuͤckung nicht reden!
und wie lange werden wir nach tauſend Um-
armungen ſprechen, ehe wir uns ſatt reden
und unſer Herz und unſer Schickſal einander
ausſchuͤtten werden! Bekuͤmmert euch nicht
zu
[7]Graͤfinn von G**
zu ſehr um mich. Mir fehlt zur Erleicht-
rung meines Elendes nichts, als die Nachricht
von euch und meinem lieben Freunde R**
Erlauben es eure Umſtaͤnde: ſo uͤberſchickt
mir einen Wechſel, ob ich vielleicht dadurch
meine Zuͤruͤckkunft bewerkſtelligen kann. Jch
bin ſeit meinem Arreſte von allem entbloͤßt ge-
weſen. Jch habe alle Beſchwerlichkeiten aus-
geſtanden, die einem Gefangenen auf einem
Wege von mehr als hundert Meilen begegnen
koͤnnen. Eben der kuͤmmerliche Proviant,
der noch etliche hundert gemeine Mitgefange-
ne geſaͤttiget hat, iſt die ganze Zeit uͤber gut
genug fuͤr mich geweſen. Die Erbitterung
der Ruſſen gegen die Schwediſche Nation, hat
uns das Elend, gefangen zu ſeyn, am beſchwer-
lichſten gemacht. Sie nennen ihre Sorglo-
ſigkeit gegen uns, ihre Unempfindlichkeit ge-
gen unſere Klagen, eine gerechte Vergeltung
fuͤr das barbariſche Bezeigen, womit unſer
Koͤnig, wie ſie ſagen, den gefangnen Ruſſen
begegnen ließ. Das Schrecklichſte, was wir,
nachdem wir uͤber die Pohlniſchen Grenzen wa-
ren, erfahren haben, iſt der Mangel an fri-
ſchem Waſſer geweſen, weil wir oft um die
Moraͤſte zu umgehn, einen Umweg durch ſan-
digte Gegenden nehmen mußten.
[8]Leben der Schwediſchen
Mein ganzes Vermoͤgen ſeit meiner Ge-
fangenſchaft hat in zwanzig Thalern beſtan-
den, mit denen mich ein gemeiner Schwedi-
ſcher Soldat unlaͤngſt beſchenkt hat. Er ſtarb
einen Monat zuvor, ehe wir in der Stadt Mos-
kau ankamen, an einer Wunde, und zwar in
einer Nacht, die wir unter freyem Himmel zu-
bringen mußten. Er hatte mir auf dem Mar-
ſche viele Dienſte erwieſen, und ich belohnte
ſeine Treue dadurch, daß ich die ganze Nacht
bey ihm blieb und auf ſein Verlangen mit ihm
betete. Er hatte in ſeinem Bruſttuche ein
Goldſtuͤck von zwanzig Thalern eingenaͤht, wo-
mit ihn ſeine Braut in Stockholm bey ſeinem
Abſchiede beſchenkt. Dieſes gab er mir und
bat mich, wenn ich wieder nach Stockholm
kommen ſollte, ſeiner Braut ſeinen Tod zu mel-
den und ihr einige Wohlthaten zu erzeigen.
Jch ſchicke euch den Zeddel, in welchem das
Geld eingewickelt war, und in welchem der
Braut ihr Name ſteht. Wenn es moͤglich
iſt: ſo laßt ihr den Tod ihres Braͤutigams
melden, und ſchickt ihr fuͤr die zwanzig Thaler,
die mir und meinem lieben Steeley ſo viele Dien-
ſte gethan haben, hundert. Als mein Lands-
mann, der mich bis auf den letzten Augenblick
bey der Hand hielt, todt war: ſo ſchlief ich
neben ihm ein. Damals traͤumte mir, ihr
kaͤ-
[9]Graͤfinn von G**
kaͤmet mir an einem Fluſſe entgegen. Wie
erſchrackt ihr, meine Liebenswuͤrdige, wie
ſchoͤn entſetztet ihr euch, mich wieder zu finden!
Jch erwachte uͤber dieſem Traume und lag auf
dem todten Landsmanne, und dankte dem
Himmel, ehe ich noch aufſtund, fuͤr dieſen
gluͤcklichen Traum. Die Freundſchaft, die
ich dem Sterbenden erwies, brachte mir die
Liebe von ſechs andern gemeinen Schweden zu
Wege, die bey ſeinem Tode zugegen waren.
Es gefiel ihnen, daß ich ihren Cameraden ſo
wohl zum Tode bereitet hatte. Sie baten
mich, daß ich eben das an ihnen thun moͤchte,
wenn ſie etwan auf den Marſche ſterben ſoll-
ten; ſie beeiferten ſich recht von dieſem Tage
an, mir zu dienen und darbten ſich oft das
friſche Waſſer ab, damit ſie es mir und Stee-
ley im Nothfalle anbieten koͤnnten. Jch ward
kurz darauf krank und konnte nicht mehr gehn,
ſo hinfaͤllig war ich. Allein ehe mich mei-
ne ſechs Landsleute zuruͤck ließen: ſo trugen
ſie mich lieber etliche Tage lang in Stoͤcken, an
Stricken gebunden und mit Binſen durchfloch-
ten, fort und nahmen alle die Muͤhe aus gu-
tem Herzen uͤber ſich, zu der ſie auſſerdem we-
der Furcht noch Belohnung wuͤrde faͤhig ge-
macht haben. Jch habe in dieſer Krankheit
inſonderheit den großen Unterſchied geſehen,
A 5der
[10]Leben der Schwediſchen
der unter den Dienſten iſt, die man uns aus
Gehorſam und Hoffnung erzeigt, und unter
denen, die man dem andern aus einem gehei-
men Triebe der Freundſchaft und des Mitlei-
dens erweiſet. Jhre Begierde zu dienen
wuchs mit meiner Gefahr, und Leute, die nie-
mals ſinnreich in Anſchlaͤgen, noch geuͤbt in
Gefaͤlligkeiten geweſen waren, wurden ſorg-
faͤltig, und ſinnreich an Mitteln, mir das Le-
ben zu erhalten, weil ſie es gern erhalten wiſ-
ſen wollten. Dieſes iſt die einzige Krankheit
geweſen, die mir auf dem Wege nach Rußland
zugeſtoßen. Vor ſechs Wochen ſind wir hier
in der Stadt Moskau angekommen und die er-
ſten gefangnen Schweden in dieſem Kriege ge-
weſen, an denen die wilden Einwohner dieſes
Orts ihre rachſuͤchtigen Augen befriedigt
haben. Wir mochten unſer wohl drey bis
vier hundert ſeyn, die man in einem ſehr trau-
rigen Aufzuge dem Poͤbel einen halben Tag lang
oͤffentlich darſtellte. Er wuͤrde uns mit Freu-
den umgebracht haben, wenn wir nicht von
einer ſtarken Wache umgeben geweſen waͤren.
Jndem wir eine Zeitlang auf einem freyen
Platze geſtanden und tauſend Schimpfreden,
die wir aus den Geberden unſrer Feinde erra-
then konnten, angehoͤrt hatten, draͤngte ſich
eine alte Frau zu einem Ruſſen, der mit uns
an-
[11]Graͤfinn von G**
angekommen war. Sie fragte, wo ſein Ca-
merad, ihr Sohn waͤre. Der Ruſſe, der
vielleicht nicht wußte, nach wem ſie fragte,
antwortete ihr, daß ihn die Schweden todt ge-
ſchlagen haͤtten. Jn dem Augenblicke fuhr
ſie auf mich und ſchrie: was? haſt du meinen
Sohn umgebracht? und riß mich, der ich vor
Mattigkeit mich kaum ſelbſt mehr aufrecht
halten konnte, zur Erde, bis die Soldaten
mich von ihrer Wut befreyten. Bedenkt nur,
meine liebe Gemahlinn, wie mir damals zu
Muthe geweſen ſeyn muß. Jn eben der
Stadt, in welcher mein Vater in ſeiner Ju-
gend die Ehre eines Koͤniglichen Abgeſandten
genoſſen, war ich ein nichtswuͤrdiger Schwe-
de, und vielleicht auf eben dem Platze, wo er
ſeinen Einzug gehalten, war ſein Sohn itzt
der Raſerey eines Weibes ausgeſetzt.
Wodurch habe ich doch das traurige
Schickſal verdient, fern von euch, in einer
oͤden Mauer eingeſchloſſen zu ſeyn, in einem
Behaͤltniſſe, in dem ich auſſer der Geſellſchaft
meines Steeley, alles entbehre, was das Le-
ben angenehm macht, und von keiner Freude
weis, als von der, mich euer mit ihm zu er-
innern, und mit ihm uͤber unſer Schickſal zu
ſeufzen? Er hat, wie ich euch ſchon geſagt,
durch ein Geſchenke, das er dem Aufſeher uͤber
die
[12]Leben der Schwediſchen
die Gefangnen von dem Reſte unſrer zwanzig
Thaler gemacht, endlich die Freyheit erhalten,
mit einigen Kaufleuten aus London zu ſpre-
chen. Dieſe haben ihn hundert Thaler vor-
geſchoſſen und alles fuͤr ihn zu thun verſpro-
chen. Durch dieſes Geld hoffen wir uns von
unſern Gebieter zuweilen den Schatten ei-
ner Freyheit zu erkaufen, denn durch Geld laſ-
ſen ſie ſich, wenn ſie anders mitleidig ſeyn
koͤnnten, am erſten mitleidig machen. Er
brachte mir bey ſeiner Zuruͤckkunft eine Flaſche
Wein und etwas Zwieback mit. Jhr denkt
etwan, ſprach er, da er die Flaſche aus der
Taſche zog, daß ich bey meinen Landsleuten
ſchon Wein getrunken habe. Nein, mein lie-
ber Graf, ich wuͤrde mir nicht die Freude ent-
zogen haben, das erſte Glas in eurer Geſell-
ſchaft zu trinken. Jch habe noch keinen Tro-
pfen gekoſtet. Aber nun kommt, nun kann
ich nicht laͤnger warten. Kommt, wir wol-
len unſer Ungluͤck einige Augenblicke vergeſſen
und die Freuden des Weins fuͤhlen, und uns
alles das als gewiß vorſtellen, was wir wuͤn-
ſchen. Wir tranken ein Glas. Welche Wol-
luſt war das fuͤr uns! Wir ehrten durch un-
ſere Entzuͤckung den Gott, der dem Weine die
Kraft geſchenkt, unſere Herzen zu begeiſtern
und dankten ihm durch ein ſtilles Nachdenken
fuͤr
[13]Graͤfinn von G**
fuͤr ein Vergnuͤgen, das wir ſeit ganzen Jah-
ren nicht genoſſen hatten. Wir brachten ei-
nen ganzen Nachmittag uͤber unſerer Flaſche
Wein zu. Wir wollten nicht an unſer
ausgeſtandnes Schickſal denken; aber es
war uns unmoͤglich. Es war, als ob uns
eine große Zufriedenheit fehlte, daß wir nicht
mit einem Blicke die Reihe unſrer betruͤbten
Begebenheiten uͤberſehen ſollten. Wir wieder-
holten ſie einander, als ob wir ſie einander
noch nicht geſagt haͤtten. Wir richteten uns
bey unſern Klagen mit der Wahrheit auf, daß
ein guͤtiger und weiſer Gott dieſes Schickſal
uͤber uns verhaͤngt haͤtte, daß wir uns unſer
Elend nicht leichter machen koͤnnten, als wenn
wir uns ſeinen Schickungen geduldig uͤber-
ließen, bis es ihm gefiele, uns das Ungluͤck,
oder das Leben zu nehmen. Wir gaben ein-
ander die Haͤnde darauf, alles was uns begeg-
nen wuͤrde, mit einer uns anſtaͤndigen Gelaſ-
ſenheit zu ertragen. Aber, fieng Steeley an,
indem er meine Hand betrachtete, duͤrfen wir
denn nicht wuͤnſchen, dieſe Haͤnde denen noch
einmal zu reichen, die wir in unſerm Vater-
lande lieben? Und wenn Gott dieſes nicht
wollte, werden wir auch da gelaſſen bleiben?
Wenn Gott dieſes nicht wollte ‒ ‒ ſprach ich,
und konnte nichts mehr ſprechen. Es ward fin-
ſter
[14]Leben der Schwediſchen
ſter in meinem Verſtande. Jch ſah keine
Gruͤnde zur Gelaſſenheit mehr, aber Urſachen
genug, mich zu beklagen und euern Verluſt zu
beſeufzen. Wir ſchwiegen eine zeitlang ſtill,
als ob wir uns ſchaͤmten, den Entſchluß zu
widerrufen, den wir nach langen Betrachtun-
gen gefaßt hatten. Wie Gott will, fieng end-
lich mein Freund mit einem Tone an, der doch
die groͤßte Unruhe verrieth: wie Gott will!
Jch will durch meine Gelaſſenheit gar nicht ei-
nen Anſpruch machen, daß er ſeine Schickun-
gen nach meinem Wunſche einrichten ſoll.
Nein, er ſoll ſie ordnen. Aber iſt denn das
Verlangen unſer Vaterland wieder zu [ſehn]
und aus dieſer Barbarey erloͤſet zu ſeyn, ein
ungerechter Wunſch? Sollen wir denn in die-
ſem klaͤglichen Zuſtande unſer ganzes Leben zu-
bringen und nur den Tod hoffen? So ſah es
mit unſerer Gelaſſenheit aus, und ſo iſt es uns
oft gegangen. Wenn wir uns bemuͤht ha-
ben, recht ruhig zu ſeyn, ſind wir am unzufrie-
denſten geworden. Man ſieht, wenn man
den Betrachtungen uͤber die Vorſehung nach-
haͤngt, die Unmoͤglichkeit ſich ſelbſt zu helfen,
deutlicher, als wenn man ſich ſeinen Empfin-
dungen uͤberlaͤßt; man ſieht die Nothwendig-
keit, ſich ihren Fuͤhrungen zu uͤberlaſſen, und
man will doch zugleich nicht von dem Plane
ſei-
[15]Graͤfinn von G**
ſeiner eignen Wuͤnſche abgehn. Man will ihn
gewiß, man will ihn bald ausgefuͤhrt wiſſen,
und man ſieht doch, daß die Umſtaͤnde dazu
nicht in unſerer Gewalt ſtehn. Fuͤr dieſe trau-
rige Entdeckung will ſich unſer Herz gleichſam
durch die Unzufriedenheit raͤchen, und es um-
nebelt den Verſtand, damit es von ſeinem Lich-
te nicht noch mehr zu befuͤrchten habe.
Zur Arbeit hat man uns, wie die gemei-
nen Gefangnen, noch nicht gezwungen, und
gleichwohl verſtattet man uns nicht die ge-
ringſte Freyheit auszugehen. Mein erſtes
Geſchaͤfte in meinem itzigen Gefaͤngniſſe iſt die-
ſer Brief, und daß wir keine Geſchaͤfte haben,
uͤber denen wir uns zuweilen vergeſſen koͤnn-
ten, dieſes macht unſer Elend vollkommen.
Wenn auch die Erlaubniß, die ſich Steeley er-
kauft hatte, ſeine Landsleute einige Stunden
zu ſehn, uns nichts zu Wege gebracht haͤtte,
als etliche Bogen Papier, und Dinte und Fe-
der: ſo wuͤrde ſie uns doch ſchon koſtbar ge-
nug ſeyn; denn dieſes haben wir fuͤr alles
Geld nicht erhalten koͤnnen. Sidne, Stee-
leys Landsmann und Vetter, iſt zu unſerm
Ungluͤcke in ein ander Theil der Stadt gelegt
worden; und ſo elend wir beide dran ſind: ſo
muß es ihm doch noch weit kuͤmmerlicher gehn,
da er von allem Gelde entbloͤßt iſt. Steeley
gruͤßt
[16]Leben der Schwediſchen
gruͤßt euch tauſendmal und iſt ſo ſehr euer
Freund, als der meinige. Wenn ich ihn
nicht haͤtte: ſo wuͤrde mir die Gefangenſchaft
eine Hoͤlle ſeyn. Er hat bey einem redlichen
und zaͤrtlichen Herzen gewiſſe Fehler, fuͤr die
ich ihm recht verbunden bin, weil ſie oft unſe-
re traurige Stille unterbrechen und uns etwas
zu thun geben. Er liebt die Verdienſte ſeiner
Nation auf Unkoſten der uͤbrigen Voͤlker.
Dieſe Parteylichkeit, ein natuͤrlicher Unge-
ſtuͤm, und der Fehler des Widerſprechens ma-
chen mir ihn nothwendig und zugleich ſchaͤtzba-
rer. Seine Widerſpruͤche kommen aus einer
Fuͤlle des Geiſtes und der Lebhaftigkeit,
aus einer Liebe zur Freyheit im Denken, aus
einem Haſſe gegen alles niedertraͤchtige Nach-
geben, und aus einem Ueberfluße der Aufrich-
tigkeit und leicht aufwallender Empfindungen
her. Jn ſeinem Charakter und in ſeinem
Munde verliert alſo das Widerſprechen das
meiſte von ſeiner beleidigenden Natur und
wird eine Quelle zu vertrauten Geſpraͤchen
und kleinen Zaͤnkereyen, deren Mangel uns
die lange Zeit und die Gefangenſchaft noch
weit verdrießlicher machen wuͤrde. Kurz, wir
ſind fuͤr einander gemacht. Seine Fehler ſind
von den meinigen das Gegengewicht, und ma-
chen
[17]Graͤfinn von G**
chen ſeine guten Eigenſchaften nur deſto ſicht-
barer. Er iſt ſehr vortheilhaft gebildet und
ſeine Mine iſt ſo lebhaft, als ſein Herz. Er iſt
noch jung. Das Ungluͤck in der Liebe iſt Ur-
ſache, daß er ſein Vaterland verlaſſen und wi-
der ſeine Neigung, bloß aus Unzufriedenheit,
in Schweden Kriegsdienſte angenommen hat.
Jch will euch ſein Ungluͤck kurz erzaͤhlen, und
ihm euer Mitleiden dadurch verdienen. Als
er nebſt ſeinem Vetter Sidne die Univerſitaͤt
zu Oxford verlaſſen, begiebt er ſich auf ſeines
Vaters Landgut, etliche Meilen von London,
um deſto ruhiger ſtudiren zu koͤnnen. Hier wird
er mit einem liebenswuͤrdigen Frauenzimmer,
der Tochter eines benachbarten Landedel-
manns bekannt, und faͤngt an, das erſtemal
zu lieben. Nach zwey Jahren, nach tauſend
beſiegten Hinderniſſen, und nach tauſend Be-
weiſen ihrer Treue, erhaͤlt er endlich von ih-
ren Aeltern das Ja, und von ſeinem Vater die
Einwilligung. Der Tag zur Vermaͤhlung
mit ſeiner geliebten Antonia wird angeſetzt.
Sie ſoll Morgen auf ſeines Vaters Landgute
vor ſich gehen, und heute reiſt er mit ihm zu
ihr, um ſie nebſt den Jhrigen abzuholen. Sie
kommen um die Mittagsmahlzeit an, und nach
derſelben ſoll die Ruͤckreiſe erfolgen. Er ſitzt
mit ſeiner Antonia in der zaͤrtlichſten Vertrau-
IITheil. Blich-
[18]Leben der Schwediſchen
lichkeit unter einer Laube, als man ihnen mel-
det, daß die Wagen angeſpannt wuͤrden.
Verlaßt mich einen Augenblick, faͤngt ſie zit-
ternd zu ihm an, und wenn alles fertig iſt: ſo
holet mich ab. Er koͤmmt wieder und ſo-
dert ſie zur Abreiſe auf. Nun bin ich, ſpricht
ſie, indem ſie ihm die Hand reicht, bereit, euch
zu folgen. Es war mir ſo bange, und ich
weis nicht warum. Bin ich denn nicht gluͤck-
lich genug, da ich in euern Armen der Zufrie-
denheit der Ehe entgegen eile? Kommt, ich
bin die Eurige. Er ſetzt ſich darauf mit ihr in
die Kutſche, und die Uebrigen folgen in zween
andern Wagen nach. Die Liebe, die unſchul-
digſte und ſeligſte Liebe, ihr Urſprung, ihr Fort-
gang, alles was ſie fuͤr einander gefuͤhlt haben,
iſt in dem Wagen ihr Geſpraͤch. Jndem ſie
noch ſo reden, und etwan noch eine Stunde
bis auf ſeines Vaters Landgut haben, zieht ſich
ein Gewitter auf. Jm kurzen wird der gan-
ze Himmel ſchwarz und ein Schlag folgt auf
den andern. Der Donner erſchlaͤgt eins von
ihren Pferden. Antonia ſpringt darauf in
der groͤßten Angſt aus dem Wagen und reicht
Steeleyn die Hand, ihr nachzufolgen und mit
ihr in das naͤchſte Dorf zu eilen. Jndem ſie
ihn bey der Hand nimmt, thut es einen ent-
ſetzlichen Schlag, und er ſinkt in den Wagen zu-
ruͤck
[19]Graͤfinn von G**
ruͤck. Als er wieder zu ſich ſelbſt koͤmmt, ſieht
er ſeine Braut noch an der Thuͤre
des Wagens, vom Blitze getoͤdtet, leh-
nen, ſo wie ſie ihm die Hand reichte. Kann
wohl ein groͤßer Ungluͤck ſeyn? Der arme
Freund! Ein halb Jahr darauf noͤthiget ihn
ſein Vater, eine Reiſe vorzunehmen, um ſeine
Schwermuth zu zerſtreuen. Er thut ihn in
das Gefolge des Engliſchen Geſandten, der nach
Stockholm geht, und giebt ihm ſeinen Vetter
zum Gefaͤhrten mit. Und eben in dieſer
Stadt entſchließt er ſich aus Schwermuth, und
aus Verdruß gegen ſein Leben, ohne Wiſſen
des Geſandten, Kriegsdienſte anzunehmen
und muntert ſeinen Vetter zu eben dieſem
Entſchluſſe auf. Er hat nunmehr an dieſen
Geſandten geſchrieben, und ihm ſein Ungluͤck
und ſeine Gefangenſchaft geklagt, und zugleich
fuͤr mich, unter dem Namen des Capitains
Loewenhoek gebeten. Vielleicht vermag die-
ſer Mann etwas zu unſerer Befreyung.
Addreſſirt eure Briefe nach der beygelegten
Aufſchrift an den Sekretair dieſes Geſandten;
er iſt Steeleys guter Freund. Jch wuͤrde
noch nicht zu ſchreiben aufhoͤren, wenn wir
mehr Papier haͤtten. Wird euch denn dieſer
Brief auch antreffen? Ja, ich hoffe es und
troͤſte mich ſchon mit einer Antwort von euch ‒ ‒
[20]Leben der Schwediſchen
Mein Gemahl hat, wie er mir erzaͤhlt,
in allen dreymal an mich geſchrieben. Zwey-
mal aus Moskau und einmal aus Siberien.
Der andere Brief aus Moskau iſt ganz ver-
lohren gegangen. Er iſt ungefehr ein
Jahr nach dem vorhergehenden und zu einer
Zeit geſchrieben geweſen, in der es ihm in ſei-
ner Gefangenſchaft am ertraͤglichſten gegan-
gen. Steeley hatte naͤmlich durch ſeine Lands-
leute und durch ihr Geld den Aufſeher der Ge-
fangnen immer mehr gewonnen. Er hatte
es ſo weit gebracht, daß ſein Vetter Sidne ihm
und meinem Gemahle bey geſellet worden war.
Durch den Beytritt dieſes Ungluͤckſeligen, von
dem in dem folgenden Briefe eine traurige
Nachricht enthalten iſt, war ihr Ungemach ei-
nige Zeit ſehr gemildert worden. Mein
Gemahl hat mir von dieſem Sidne nicht gu-
tes genug erzaͤhlen koͤnnen. Er war von
Natur liebreich und furchtſam geweſen, und
bloß Steeleyn zu Liebe ein Soldat geworden.
Er hatte nach ſeiner natuͤrlichen Beſchaffenheit
die Beſchwerlichkeiten der Gefangenſchaft
empfindlicher gefuͤhlt, als ſie beide; und ſo
traurig er ſelbſt geweſen war: ſo war er doch,
wenn Steeley und mein Gemahl ihren Muth
verlohren hatten, aus Liebe fuͤr ſie gelaſſen
und
[21]Graͤfinn von G**
und ihr Beruhiger geworden. Der Brief,
den mein Gemahl aus der Stadt Tobolskoy
in Siberien an mich geſchrieben, iſt fol-
gender:
Jch hoffe, daß ihr noch lebt, weil es
mein Herz wuͤnſcht, und ich hoffe ſo gar, daß
dieſer Brief, den ich in dem entfernteſten und
ſchrecklichſten Theile der Welt ſchreibe, gewiß
in eure Haͤnde kommen ſoll. Ein Pohlniſcher
Jude, der nach Tobolskoy handelt, und im
Begriffe ſteht, wieder nach Pohlen abzurei-
ſen, iſt mein Freund und großer Wohlthaͤter
geworden, und vielleicht wird er gar mein Be-
freyer aus der Gefangenſchaft. Jch habe
ihm vor einem Jahre in einem nah an der
Stadt gelegnen Gehoͤlze, wo ich nach dem
Willen meines Schickſals noch, wie andre
Ungluͤckliche, auf Zobel ausgehn mußte, das
Leben erhalten, und ihn aus dem Schnee, in
den er mit dem Pferde gefallen und faſt ſchon
erfroren war, mit der groͤßten Gefahr erret-
ret. Dieſer Mann iſt auf die edelſte Art dank-
bar geweſen, und hat mir bewieſen, daß es
auch unter dem Volke gute Herzen giebt, das
ſie am wenigſten zu haben ſcheint. Er hat
nicht eher geruht, biß er mich vor den Gou-
B 3ver-
[22]Leben der Schwediſchen
verneur gebracht, bey dem er ſeines Reich-
thums wegen in Anſehn ſteht. Herr, ſprach
er, dieſer Schwediſche Officier hat mir, wie ihr
wißt, das Leben erhalten, und ich habe Dank-
barkeit und Geld genug, ihn zu ranzioniren.
Der Gouverneur antwortete, daß dieſes nicht
bey ihm ſtuͤnde, und daß er ohne Befehl von
dem Hofe keinen Menſchen freygeben koͤnnte.
Darauf gab ihm der Jude einen Beutel mit
Golde und bat, daß er mir die beſchwerlichen
Dienſte eines ins Elend Verwieſenen erlaſſen
moͤchte. Der Gouverneur verſprach ihm die-
ſes, doch unter der Bedingung, daß er taͤglich
etliche Copicken fuͤr mich erlegen ſollte. Mein
Wohlthaͤter bezahlte das Geld mit Freuden
auf ein ganzes Jahr zum voraus und bat ſich
zugleich aus, daß er mich in dem Gefangen-
hofe einen Tag um den andern beſuchen duͤrfte.
Doch ehe ich euch meine itzigen Umſtaͤnde wei-
ter beſchreibe, ſo muß ich euch erſt ſagen, wie
mirs ſeit drey Jahren in Siberien gegangen
iſt, und wie ich in dieſes Land gekommen bin.
Wenn ihr meinen letzten Brief aus Mos-
kau erhalten habt: ſo werdet ihr wiſſen, daß
Sidne, Steeleys Anverwandter, nunmehr
mit uns an einem Orte verwahret wurde.
Das Geld, das Steeley von ſeinen Landsleu-
ten aufs neue bekommen, langte einige Mo-
nate
[23]Graͤfinn von G**
nate zu, unſere aͤuſſerlichen Umſtaͤnde zu ver-
beſſern. Wir durften nicht bloß von der elen-
den Koſt leben, die man den Gefangnen reich-
te. Wir konnten wenigſtens zu Mittage etwas
beſſers haben. Wir hatten dem Aufſeher lange
angelegen, uns einige Engliſche oder Fran-
zoͤfiſche Buͤcher zum leſen zu verſchaffen; allein
wir erhielten keine. Er gab uns etliche Ruſ-
ſiſche Chroniken, und einen Popen, oder Geiſt-
lichen, der uns dieſe Sprache lehren ſollte.
Wie froh waren wir, daß wir etwas zu thun
bekamen. Es waren ſehr mittelmaͤßige Buͤ-
cher, und dennoch laſen wir ſie wohl zehnmal
durch. Wir konnten wenigſtens, ſo lange
wir ſie laſen, nicht an unſer Elend denken, und
dieſer Vortheil war groß genug fuͤr die Muͤhe,
die wir anwenden mußten, wenn wir die Ge-
ſchichte der alten Barbariſchen Fuͤrſten in Ruß-
land verſtehn wollten. Unſer Pope vertrieb
uns durch ſeinen Unterricht in der Sprache al-
le Tage etliche Stunden fuͤr ein geringes Geld.
Er brachte endlich einige kleine Buͤcher mit,
welche von der Griechiſchen Religion handel-
ten. Er war ſo unwiſſend darinn, als man
nur ſeyn kann. Steeley widerſprach ihm
nach ſeiner Gemuͤthsart ſehr oft, und ſo we-
nig er noch das Ruſſiſche ſprechen konnte: ſo
konnte er doch genug, um ihn zu widerlegen.
B 4Jch
[24]Leben der Schwediſchen
Jch und Sidne baten ihn oft, es nicht zu
thun, weil wir nach und nach viel Bosheit bey
dem Popen merkten. Da endlich unſer Geld
alle wurde und der Pope auf die letzt meiſtens
betrunken zu uns kam: ſo dankten wir dieſen
Geiſtlichen ab. Dieſes verdroß ihn. Er
ſchalt auf Steeleyn und den armen Sidne, der
ihm das letzte Geld fuͤr ſeine Unterweiſung
auszahlte. Wir ſuchten ihn bald durch gute
Worte, bald durch Stillſchweigen zu beſaͤnfti-
gen; aber vergebens. Der Brandtwein und
eine niedertraͤchtige Seele tobten aus ihm, und
er laͤrmte und ſchrie, biß die Wache hereintrat.
Sie fragte, was es waͤre, und der Boͤſewicht
beſchuldigte uns, daß wir wider den
Zaar und die Kirche geſprochen haͤt-
ten. Die Wache ward uͤber dieſe Beſchuldi-
gung ſo raſend, daß wir in der Gefahr waren,
umgebracht zu werden. Der Oberaufſeher
kam und verſprach dem Popen Genugthuung;
wir aber wurden gleich als die groͤßten Miſſe-
thaͤter geſchloſſen. Ach meine Gemahlinn, ſoll
ich euch unſere damalige Angſt beſchreiben?
ſoll ich euch alles ſagen? Wir wurden den
andern Tag zum Verhoͤr gebracht. Der Po-
pe, deſſen Wort unbetruͤglich war, widerhol-
te ſeine Beſchuldigung zuerſt gegen Steeleyn.
Mein Freund berufte ſich auf ſeine Unſchuld;
aber
[25]Graͤfinn von G**
aber vor dieſem ſchrecklichen Gerichte galt ſie
nicht. Man verfuhr nach ihrer barbariſchen
Gewohnheit, die Wahrheit vor Gerichte her-
auszubringen. Man ließ ihn niederwerfen
und ihm die Bodoggen geben, damit er beken-
nen ſollte. Er ſtund dieſe Marter vor unſern
Augen ſtandhaft aus und ließ unter den Haͤn-
den der Barbaren, die ihn mit zwey Staͤben
auf den bloſſen Leib ſchlugen, nicht die ge-
ringſte Klage hoͤren. Als ſeine Qvaal voruͤ-
ber war, ohne daß man ihm ein Geſtaͤndniß
hatte abzwingen koͤnnen, ſo kam die Reihe an
den ungluͤckſeligen Sidne. Der Pope bekann-
te wider ihn, und Sidne, der mit tauſend
Thraͤnen und Bitten dieſer Marter vergebens
zu entgehn ſuchte, ward endlich nieder geriſ-
ſen. Jch wollte das Geſicht wegwenden, um
ſeiner Qvaal nicht mit zuzuſehn; allein die
Wuͤtriche noͤthigten mich, der naͤchſte Zeuge
davon zu ſeyn. Er erduldete ſie, ohne ſie zu
uͤberleben. Sobald man ihm die geſetzte Zahl
von Streichen gegeben hatte: ſo lag er ohne
Bewegung da. Man nahm ein Geſchirr
Waſſer und goß es ihm uͤber das Geſicht, um
ihn wieder zu ſich ſelbſt zu bringen; doch es
war kein Leben in ihm; und dieſes befremde-
te unſere Richter um deſto weniger, weil viele
von den Angeklagten unter dieſer Marter das
B 5Le-
[26]Leben der Schwediſchen
Leben einbuͤſſen. Steeley war wegen ſeines
Unvermoͤgens bey Seite geſchafft; Sidne
war todt, und ich erwartete, ohne mir recht
bewußt zu ſeyn, mein Schickſal. Der bos-
hafte Pope verlohr entweder mit dem Leben
des Sidne ſeine Rachbegierde, oder er hielt
ſich von mir am wenigſten beleidiget. Er be-
ſchuldigte mich keiner Laͤſterungen wider den
Staat, er begehrte nur, daß ich geſtehen ſoll-
te, daß meine beiden Cameraden welche aus-
geſtoßen haͤtten. Jch vertheidigte mich, daß
ich von nichts wuͤßte. Man befahl, eben die
Marter an mir vorzunehmen. Man legte
mich auf die Erde und fragte noch einmal, ob
ich nichts gehoͤrt haͤtte. Die Furcht vor der
Pein und vor dem Tode beſtuͤrmten mich ent-
ſetzlich. Dennoch beſchloß ich eher zu ſterben,
als durch ein falſches Bekenntniß mir das Le-
ben zu retten und es Steeleyn vielleicht zu
nehmen. Jch weis nicht, ob mein trauriger
Anblick den Popen zum Erbarmen bewegte;
genug, er bat fuͤr mich um Gnade und ſagte,
daß ich vielleicht die Laͤſterungen nicht koͤnnte
verſtanden haben, weil ich nicht ſo viel Ruſ-
fiſch koͤnnte, als die andern beide. Man ließ
mich alſo wieder aufſtehn und brachte mich in
unſer Gefaͤngniß zuruͤck, in welchem ich Stee-
leyn ſinnlos antraf. Jch warf mich zu ihm
auf
[27]Graͤfinn von G**
auf das harte Lager und umarmte ihn mit der
einen Hand; denn mit der andern war ich
noch geſchloſſen. Er ſprach die ganze Nacht
kein Wort und lag in einem fuͤhlloſen Schlum-
mer. Der Morgen brach an. Jch redte auf
meinen Freund und er ſchlug endlich zu mei-
ner Freude die Augen auf und reichte mir die
Hand. Unſer Aufſeher kam und erkundigte
ſich, ob Steeley noch lebte. Er ließ mir die
Banden abnehmen und ſchien uns beide zu be-
dauern. Jch verſicherte ihn bey allem, was
heilig iſt, daß mein Freund ſo unſchuldig waͤ-
re, als ich. Das hilft euch nichts, ſprach er.
Das Zeugniß des Popen, als eines Geiſtlichen,
gilt, und ihr ſeyd beide verurtheilt, nach Si-
berien geſchickt zu werden. Gott helfe euch!
ich kann euch nicht helfen, ſonſt muß ich alles
von dem Popen befuͤrchten. Seyd zufrieden,
wenn euch die Zunge nicht aus dem Halſe ge-
ſchnitten wird, ehe ihr nach Siberien verwie-
ſen werdet; denn dieſes widerfaͤhrt denen, die
wider den Staat, oder die Kirche geſprochen
haben. Warum ſeyd ihr ſo unvorſichtig ge-
weſen und habt den Popen beleidigt? Jn ein
Paar Tagen wird man euch nebſt andern Ge-
fangnen nach Siberien ſchicken. Jch werde
euch wohl nicht wieder ſehn. Jch warf mich
neben Stecleyn nieder, der immer noch in ſei-
ner
[28]Leben der Schwediſchen
ner Betaͤubung lag, und wenigſtens itzt gluͤck-
licher war als ich, weil er ſich ſeiner nicht mehr
bewußt zu ſeyn ſchien. An Statt, daß der
Aufſeher mir einen Troſt haͤtte zuſprechen ſol-
len: ſo foderte er fuͤr die grauſame Nachricht,
und fuͤr ſeine Dienſte uͤberhaupt, noch eine
Belohnung. Jch griff in Steeleys Taſchen,
um ſuͤr ihn etwas zu ſuchen; allein die Wa-
che hatte ihm alles genommen. Da der Auf-
ſeher kein Geld mehr ſah: ſo ſchien der Schat-
ten von ſeinem Mitleiden zu verſchwinden.
Er gieng mißvergnuͤgt fort und ließ mich in
einem Zuſtande liegen, den ich euch nicht be-
ſchreiben kann. Jch verſank in Schwermuth
und Traurigkeit. Von Gott und Menſchen
in meinen Gedanken verlaſſen, und feindſelig im
Herzen wider beide, ſchlief ich ſchrecklicher
Menſch ein, indem ich mir den Tod tauſend-
mal wuͤnſchte. Es war viele Naͤchte kein
Schlaf in meine Augen gekommen, und mei-
ne zerſtoͤrten und ermatteten Geiſter hatten
eine lange Ruhe noͤthig, wenn ſie wieder zu ſich
ſelbſt kommen ſollten. Jch glaube, daß ich
laͤnger als vier und zwanzig Stunden in ei-
nem Stuͤcke geſchlafen habe. Jch erwachte
und ſah meinen Freund mit aufgeſchlagnen
Augen neben mir liegen. Er fragte mich, wo
Sidne waͤre, denn er war weggeſchafft wor-
den,
[29]Graͤfinn von G**
den, ehe Sidne ſtarb. Jch konnte ihm nicht
antworten. Jſt er todt? ach wenn doch
Gott das wollte! ſo waͤre er gluͤcklicher, als
wir. So iſt er nicht mehr in den Haͤnden der
Henker? Jch ſagte ihm, daß er todt waͤre.
Jch fragte ihn, ob er noch große Schmerzen
empfaͤnde, und er fragte mich, ob ich ſie noch
ſehr fuͤhlte, denn er glaubte, daß ich ſeine Mar-
ter ebenfalls ausgeſtanden haͤtte. Alſo hat
man euch verſchont? fieng er, nach meiner
Erzaͤhlung, an. Nun bin ich doppelt zufrie-
den. Sidne iſt todt, und ihr habt meine
Qvaal nicht gefuͤhlt. Fuͤr beides muͤſſen wir
Gott danken.
Jch konnte ihm die Nachricht von
unſrer Verweiſung nach Siberien nicht laͤnger
verſchweigen. Jch ſagte ihm, was ich von
dem Aufſeher gehoͤrt hatte. Er ſchien durch
das erlittene Ungluͤck ſchon ſo unempfindlich
geworden zu ſeyn, daß ihn Siberien nicht mehr
ſchreckte. Als ich aber davon anfieng, daß
man uns vielleicht noch grauſamer begegnen
wuͤrde: ſo rang er die Haͤnde. Nein, nein,
ſchrie er, lieber den Tod, tauſendmal lieber,
als jenes. Wollt ihr noch leben, wenn man euch
ſo mißhandelt? Wir uͤberlieſſen uns der Wut
und der Verzweiflung vom neuen. Jndem
trat der Aufſeher in unſer Gefaͤngniß und kuͤn-
dig-
[30]Leben der Schwediſchen
digte uns an, daß man uns Morgen fruͤh
nach Siberien abfuͤhren wuͤrde. Wird man
uns, rief Steeley, noch etwas mehr thun?
Nein, ſprach der Ruſſe, nichts mehr, ihr ſeyd
beide nur verurtheilt, nach Siberien zur Ar-
beit verwieſen zu werden. Nun ſchien uns
das groͤßte Elend geringe zu ſeyn, da wir nur
hoͤrten, daß man keine weitere Gewalt an uns
ausuͤben wollte; und wir fanden in dem Ver-
lußte dieſer Furcht eine Art des Troſtes, den
uns alles andere nicht haͤtte geben koͤnnen.
Steeley wollte dem Aufſeher noch eine Beloh-
nung geben, allein ſein Geld war ihm genom-
men. Nachdem er lange geſucht, fand er end-
lich noch zween Rubel. Er ſtund vor Freu-
den zum erſtenmale von ſeinem Lager auf und
ſagte dem Aufſeher, daß er ſeinen Reichthum
mit ihm theilen wollte. Dieſer war auch ſo
menſchlich, daß er ihm die Haͤlfte zuruͤck gab.
Steeley fragte darauf, wo man den todten
Koͤrper des Sidne hingethan haͤtte, ob er
ihn nicht noch einmal ſehn koͤnnte. Der Ruſſe
antwortete, daß man ihn ſchon an dem Orte
eingeſcharret haͤtte, wo die Miſſethaͤter begra-
ben wuͤrden. Er liege, wo er wolle, fieng er
mit einem thraͤnenden Ungeſtuͤm an, er iſt doch
ein ehrlicher Mann und mein Freund: es iſt
ihm unrecht geſchehn ‒ ‒ Jch rief ihm zu, daß
er
[31]Graͤfinn von G**
er ſchweigen und ſich aus Liebe zu ſeinem tod-
ten Freunde nicht noch ungluͤcklicher machen
ſollte. Er fragte, ob es nicht noch moͤglich
waͤre, einen von ſeinen Landsleuten zu ſprechen;
aber daran war nicht mehr zu gedenken.
Nunmehr nahm unſer Aufſeher Abſchied. Wir
dankten ihm unausſprechlich fuͤr ſeine Men-
ſchenliebe, ob wir ſie gleich meiſtens erkauft
hatten. Wir umarmten ihn und fragten ihn
immer, ob es auch gewiß waͤre, daß man uns
nichts weiter thun wuͤrde. Er verſicherte uns die-
ſes mit dem groͤßten Eide, den ſie in ihrer Spra-
che haben. Wir wollten ihm noch etwas Geld
geben, daß er uns zu eſſen ſchaffen ſollte; denn
es war wohl der dritte Tag, daß wir nichts
zu uns genommen hatten. Auf einmal ward
er großmuͤthig und ſagte, daß er uns zu eſſen
und auch ein Glas Brandtwein auf unſere
traurige Reiſe, und Steeleyn ein Pflaſter uͤber
den Leib bringen wollte, welches ihm gute
Dienſte thun wuͤrde. Er hielt ſein
Wort und brachte uns, was er uns
verſprochen hatte. Wir aſſen den
Abend ziemlich ruhig und ergaben uns in
alles, was uns begegnen wuͤrde, weil wir
ſicher waren, daß uns faſt nichts ſchrecklichers
begegnen konnte, als was wir ſchon ausge-
ſtanden hatten. Der Schmerz, den Steeley
noch
[32]Leben der Schwediſchen
noch in dem Leibe fuͤhlte, minderte ſich durch
das empfangne Pflaſter. Der Morgen brach
an, ohne daß wir geſchlafen hatten, und man
foderte uns zur Reiſe auf. Der Aufſeher
empfahl uns dem Officier, der uns zu den
uͤbrigen acht Gefangnen fuͤhrte, welche mit
uns nach Siberien ſollten gebracht werden,
und welche, wie ich nachdem erfuhr, meiſtens
vornehme Ruſſen und wegen der Rebellion
verdaͤchtig waren. Wir wurden alle zehn
auf zwey Fahrzeuge vertheilt, und ich hatte
gleich das Ungluͤck, daß man Steeleyn von mir
trennte und auf den andern Wagen wies.
Mehr hatte zu meinem Elende nicht gefehlt.
So wie wir auf einer Station ankamen, muß-
ten wir auch wieder fortgebracht werden, alſo
kam Steeley niemals zu mir, uud ich habe auf
dem ganzen Wege nichts, als einzelne Wor-
te, mit ihm ſprechen koͤnnen. Drey von mei-
nen Gefaͤhrten waren Ruſſen, und ihre Her-
zen waren ſo wild, als ihre Geſichter. Jhr
Unfall machte ihre Gemuͤther nur mehr erbit-
tert, und ſie ſchaͤmten ſich, daß ſie, als Rußi-
ſche Knees, mit einem Schweden und einem
Franzoſen, denn dieſes war mein vierter Ge-
faͤhrte, ein gleiches Ungluͤck theilen ſollten.
Der Franzoſe, der Major geweſen war, und
ſich ungluͤcklicher Weiſe ſeinem Oberſten mit
dem
[33]Graͤfinn von G**
dem Degen widerſetzt hatte, ward bald mein
Vertrauter, und wir waren um deſto gluͤckli-
cher, weil die Ruſſen kein Franzoͤſiſch verſtun-
den. Er hatte die edlen Meinungen einer gu-
ten Erziehung im Felde nicht verlohren; und
ſo unterſchieden ſeine Gemuͤthsart von der mei-
nigen war: ſo machte uns doch das Ungluͤck
ſchon halb zu Freunden. Er hatte ein von
Natur ehrliches Gemuͤth, und das Mißtrauen,
das ich anfangs bey ihm merkte, verlohr ſich
voͤllig, da er mein Herz kennen lernte. Jch
bildete ihn auf unſerm elenden und beſchwer-
lichen Wege ſo, wie ich ihn haben wollte, und
wie er ſeyn mußte, wenn er mir Steeleys
Verluſt einiger maſſen erſetzen ſollte. Je naͤ-
her wir Siberien kamen, deſto unfreundlicher
wurden wir an denen Orten aufgenommen,
wo man uns weiter fortſchaffen mußte. Wir
achteten die Niedertraͤchtigkeiten, ich und Re-
mour, ſo hieß der Franzoſe, kaum mehr, mit
denen man uns begegnete. Wir bleiben doch
rechtſchaffene Leute, ſprach der Major immer
zu mir, wenn uns gleich der Poͤbel verun-
ehrt. Er, ich, und die vornehmen Ruſſen, wir
waren einer ſo arm, als der andre; und wenn
wir auch etwas gehabt haͤtten: ſo wuͤrde uns
doch der Poͤbel, oder unſere eigene Bedeckung
nichts gelaſſen haben; ſo ſeindſelig geht man
IITheil. Cmit
[34]Leben der Schwediſchen
mit denen um, die das Ungluͤck haben, nach
Siberien beſtimmt zu ſeyn. Wir hatten nichts
als trocknes Brodt, und auch damit waren wir
zufrieden. Die Kaͤlte quaͤlte uns am meiſten.
Niemand empfand ſie mehr als der arme Stee-
ley an ſeinem mißhandelten Koͤrper. Nach
ungefehr ſechs oder ſieben Wochen kamen wir
in Tobolskoy an, wohin wir verwieſen wa-
ren. Wir fanden, daß ichs kurz ſage, hier
alles, was eine Gegend fuͤrchterlich und das
Leben eines ins Elend Verwieſenen traurig
machen kann. Wir wurden dem Gouver-
neur vorgeſtellt und ich hatte das Ungluͤck von
meinem lieben Steeley getrennt zu werden;
doch blieb mir Remour. Der Gouverneur
legte uns allen nach der eingefuͤhrten Gewohn-
heit einerley Schickſal auf, naͤmlich die elende
Beſchaͤftigung, Zobel zu fangen, deren Felle an
den Ruſſiſchen Hof geliefert werden. Stellt euch
vor, was ein Mann von meinem Stande und
von meiner Gemuͤthsart fuͤhlen muß, der ſich zu
der niedrigſten Verrichtung verdammet ſieht,
der mit ſtumpfen Pfeilen in den Waͤldern her-
umirren und Zobel erlegen, oder ſie mit Fal-
len fangen, und unter den Befehlen ſolcher
Menſchen ſtehen muß, die nicht viel vernuͤnfti-
ger, und oft grauſamer, als Thiere ſind.
Wenn
[35]Graͤfinn von G**
Wenn nicht die groͤßte Plage durch die Laͤnge
der Zeit etwas von ihrer Laſt verloͤre; wenn
nicht die groͤßten Beſchwerlichkeiten dem Koͤr-
per endlich zur Gewohnheit wuͤrden, oder, daß
ich mehr ſage, wenn Gott denen, die ohne ih-
re Schuld ungluͤcklich ſind, nicht ſelbſt ihr
Schickſal durch ihre Unſchuld und durch die
geheimen Vergnuͤgungen eines guten Gewiſ-
ſens in gewiſſen Stunden erleichterte: ſo wuͤr-
de mein Zuſtand in Siberien ein Stand der
Verzweiflung geweſen ſeyn. So elend jeder
Tag verſtrich: ſo fand ich doch wenigſtens als-
dann eine Beruhigung, wenn ich meinen Re-
mour ſehn und ſprechen, und das, was mir
begegnet war, und auch das, was ich ihm ſchon
hundertmal geſagt hatte, in ſeine Seele aus-
ſchuͤtten konnte. Ein Sclave zu ſeyn, bleibt
allemal das groͤßte Ungluͤck; allein einen
Freund in dieſem Elende zum Gefaͤhrten zu
haben, iſt zugleich die groͤßte Wohlthat. Ei-
ne Umarmung, ein Wort, ein Blick von ihm,
alles iſt ein Troſt, der ſich nicht ausdruͤcken
laͤßt, alles iſt Mitleiden; und was ſucht ein
ungluͤckliches Herz, das der Nothwendigkeit
elend zu ſeyn unterworfen iſt, mehr, als Mit-
leiden? Jch wuͤrde undankbar gegen mein
Schickſal ſeyn, wenn ich, da ich euch mein Un-
C 2ge-
[36]Leben der Schwediſchen
gemach erzaͤhle, nicht auch der kleinen An-
nehmlichkeiten gedaͤchte, die der Elendeſte noch
in ſeinen Umſtaͤnden zuweilen empfindet. Die
Natur der Dinge ſcheint ſich, den Ungluͤckli-
chen zu gefallen, oft zu veraͤndern; und das,
was mir im Gluͤcke eine Betruͤbniß geweſen
ſeyn wuͤrde, ward mir im Ungluͤcke ein Troſt.
Jch habe, ſeit dem ich ſo gluͤcklich bin, weni-
ger ein Sclave zu ſeyn, dieſen Spuren der
Vorſehung oft mit tiefer Ehrfurcht, obgleich
mit einem innerlichen Schauer, nachgedacht.
Vielmal habe ich, wenn ich der Verzweiflung
am naͤchſten war, und in der Ferne einen an-
dern Verwieſenen erblickte, in dieſem Anbli-
cke einen Troſt gefunden. Der Tod ſelbſt,
der uns ſonſt ſo ſchrecklich ſcheint, iſt mir tau-
ſendmal zur Wolluſt geworden, und der Ge-
danke von ihm, der uns ſonſt niederſchlaͤgt,
hat mich unter der Laſt, unter der ich ſeufzte,
recht goͤttlich aufgerichtet. Jch bin in der
Vorſtellung, daß ich in dieſer oder jener Nacht
vielleicht ſterben koͤnnte, oft ſo freudig einge-
ſchlafen, als ob ich alles haͤtte, was ich wuͤnſch-
te. Und wenn ich um und neben mir kein
Vergnuͤgen erblicken konnte: ſo brachte mir
die Religion doch oft die Freuden aus einer
andern Welt heruͤber. Nachdem ich alſo drey
Jahre in einer vollkommenen Knechtſchaft zu-
ge-
[37]Graͤfinn von G**
gebracht, und, gleich den andern Gefangnen,
mir das Brodt aus den Haͤnden meiner Ge-
bieter durch eine gewiſſe beſtimmte Anzahl der
Thiere, die wir fiengen, erkaufen muͤſſen: ſo
ereignete ſich die Begebenheit mit dem Pohl-
niſchen Juden. Dieſer dankbare Mann, wie
ich euch ſchon erzaͤhlt habe, hat mich durch
ſeine Vorbitte bey dem Gouverneur und durch
ſein erlegtes Geld von der Arbeit befreyet. Er
hat es nach und nach ſo weit gebracht, daß
ich in ein lichter und geraumer Behaͤltniß ge-
kommen bin. Sobald ich dieſes nur hatte:
ſo ſuchte er mir meine Gefangenſchaft noch
mehr zu erleichtern. Er brachte mir ein be-
qvemes Kleid und entriß mich dem groben und
wilden Anzuge, in welchem ich nun ſchon ſo
lange gegangen war. Schreckliches Kleid,
das noch hier vor meinen Augen haͤngt und
mich an das vorige Ungluͤck erinnert! Er
brachte mir allerhand Decken und Pelzwerke
zum Schlafen, wiewohl mich dieſe Anfangs
nur an dem Schlafe hinderten. Eine lange
Gewohnheit, hart zu liegen, hatte ſie faſt un-
nuͤtz fuͤr mich gemacht. Er beſuchte mich oft,
und niemals, ohne mir eine Gutthat zu erwei-
ſen. So ſehr mein Zuſtand von dem vorigen
unterſchieden war: ſo war er mir doch nicht
angenehm genug, weil ich ihn nicht mit Stee-
C 3leyn
[38]Leben der Schwediſchen
leyn oder mit Remourn, theilen konnte. Von
Steeleyn hatte mein Wohlthaͤter auf mein
Bitten die Nachricht eingezogen, daß er nach
Pohem, vierzehn Tagereiſen von Tobolskoy,
gebracht worden waͤre, ob er aber noch lebte,
das konnte ich nicht erfahren. Der Jude hat-
te mir ein Geſchenk von ein Duzend Dukaten
gemacht, damit ich in ſeiner Abweſenheit et-
was zu meiner Verſorgung haͤtte. Jch wag-
te es und bat ihn, daß er drey davon Re-
mourn uͤberbringen, oder ihm einige Erqui-
ckungen dafuͤr ſchaffen moͤchte, die uͤbrigen hub
ich in Gedanken fuͤr Steeleyn auf. Er that
es, und das war nicht genug: er brachte es
noch denſelben Tag dahin, daß Remour etliche
Stunden zu mir gelaſſen wurde. Jch thei-
lete mein Herz mit ihm und alles, was ich hat-
te. Jch hoffte dieſes Vergnuͤgen noch mehr-
mal zu genieſſen; allein er ward darauf krank
und ſtarb; und ich erhielt nicht eher, als et-
liche Stunden vor ſeinem Tode die Erlaubniß
ihn zu beſuchen, da er kaum noch etliche Wor-
te ſtammeln konnte. Der Jude ſetzte, wie er
mir verſprochen hatte, ſeine Beſuche fleißig
fort. Er gab mir allerhand Anſchlaͤge, aller-
hand Nachrichten von dem Gouverneur, und
ſagte mir, daß er bey dem Zaar in groſſen
Gnaden ſtuͤnde, daß er mit ihm in Deutſch-
land
[39]Graͤfinn von G**
land geweſen waͤre, daß ſeine Gemahlinn aus
Curland gebuͤrtig und eine Vertraute der Ca-
tharina geweſen ſey. Er erzaͤhlte mir ferner,
daß der Gouverneur ein groſſer Liebhaber vom
Bauen waͤre, und daß ich, wenn ich etwas
von der Baukunſt verſtuͤnde, mir vielleicht gar
ſeine Gnade erwerben wuͤrde. Dieß war mir
eine ſehr angenehme Nachricht. Jch ſagte
ihm, daß ich zeichnen und Riſſe zu Gebaͤuden
machen koͤnnte, und wenn er mir die noͤthigen
Sachen ſchaffte, ſo wuͤrde ich wenigſtens ei-
ne Beſchaͤftigung in meiner Einſamkeit mehr
haben. Er that es, und ich uͤbte mich eini-
ge Wochen. Sobald ich einen nicht unge-
ſchickten Riß fertig hatte: ſo trug ihn der Ju-
de zum Gouverneur. Den andern Tag wur-
de ich ſchon zu ihm geholt. Er verſtund zu
meinem Gluͤcke etwas von der Baukunſt, und
wuͤrdigte mich, als mein Befehlshaber, etlicher
freundlichen Minen und unterredte ſich mit
mir bald auf deutſch, bald im gebrochnen La-
tein. Er erſchrack, daß ich ſo fertig Latein
ſprechen konnte, und von dieſem Augenblicke
an ſchien er mich zu bedauern. Wenn es bey
mir ſtuͤnde, ſprach er, ſo wollte ich euch die
Freyheit ſchenken; allein ihr ſeyd auf zeitle-
bens nach Siberien verbannet, und ich kann
nichts thun, als euch eure Gefangenſchaft er-
C 4traͤg-
[40]Leben der Schwediſchen
traͤglicher machen. So lange ich lebe, ſoll
euch alle Arbeit der Gefangnen erlaſſen ſeyn,
ohne daß der Jude etwas weiter fuͤr euch be-
zahlt. Seyd ihr damit zufrieden? Jch be-
dankte mich ſehr ehrerbietig und ſah ihn beweg-
lich an. Jhr koͤnnt leicht denken, warum ich
ihn nunmehr bat. Jch nahm alle meine Be-
redſamkeit zuſammen, um ihn zu bewegen, daß
er einem Freunde von mir, der zugleich mit
mir nach Siberien verwieſen worden, und
Steeley hieſſe, eben die Großmuth erzeigen
ſollte, die er mir erwieſen haͤtte. Jhr bittet
mehr, fieng er an, als mir zu thun frey ſteht.
Jch will mich entſchlieſſen. Jtzt koͤnnt ihr
gehn und mir den Riß von dem Gebaͤude ma-
chen, von dem ich mit euch geſprochen habe.
Jndem er dieſes noch ſagte, trat ein ſehr ſchoͤ-
nes-Frauenzimmer mit einer viel verſprechen-
den und großmuͤthigen Mine in das Zimmer.
Wartet, rief er mir zu. Hier, meine Gemah-
linn, fuhr er fort, iſt der ungluͤckliche Schwe-
de, von dem ich euch neulich geſagt habe.
Wenn es euch gefaͤllt, ſo koͤnnt ihr ſelbſt mit
ihm reden, und ihm etwas zu eſſen reichen laſ-
ſen. Jch will ein Paar Stunden auf die
Jagd reiſen. Er gieng fort, und ſeine Ge-
mahlinn redte auf eine ſehr liebreiche Art mit
mir, und ſagte, daß ſie Urſache haͤtte, an mei-
nem
[41]Graͤfinn von G**
nem Ungluͤcke Theil zu nehmen, weil ich, wie
ſie hoͤrte, ein halber Landsmann von ihr waͤ-
re. Sie that tauſend Fragen an mich und
belohnte meine Erzaͤhlungen mit einer mitlei-
digen Aufmerkſamkeit und mit einer Hoͤflichkeit,
die mir alle Furcht benahm, frey und edel mit
ihr zu reden. Nichts hoͤrte ſie lieber als die
vortheilhaften Beſchreibungen, die ich ihr von
euch machte, und die Wuͤnſche, euch, meine
Gemahlinn, wieder zu ſehn. Jch bedaure ſie,
fieng ſie an, nachdem ſie wohl zwo Stunden
mit mir geſprochen hatte; und ich wuͤrde ihren
Verdienſten ein beſſer Schickſal anweiſen,
wenn ich dem Hofe naͤher waͤre. Vielleicht
iſt es moͤglich, daß ich mit der Zeit noch etwas
zur Ruͤckkehr in ihr Vaterland beytragen kann.
Die ausnehmende Liebe, die ſie wider die Ge-
wohnheit ihres Geſchlechts fuͤr ihre Gemah-
linn haben, und ihr Ungluͤck ſind genug, mich
zu ihrer Freundinn zu machen, und ich kann
ihnen meine Hochachtung nicht entziehn, wenn
gleich ihre Gebieter ihnen als einem Sclaven
begegnen. Gefaͤllt ihnen mein Mitleiden:
ſo beruhigen ſie ſich damit in einem Lande, wo
die Barbarey die Stelle der Tugend zu ver-
treten ſcheint. Jch wuͤrde dieſen Mittag mit
ihnen ſpeiſen, wenn ich meinem Willen fol-
gen duͤrfte. Darauf langte ſie| von der Ta-
C 5fel,
[42]Leben der Schwediſchen
fel, die ſchon gedeckt war, eine Flaſche Wein,
und trank mir eure Geſundheit zu. Jch ward
von ihrer Großmuth bis zu den Thraͤnen ge-
ruͤhret, und es war mir unmoͤglich, ihr meinen
wahren Nahmen laͤnger zu verſchweigen. Jch
warf mich zu ihren Fuͤſſen. Madam, fieng
ich an, ſie verdienen, daß ich ihnen auf den
Knien fuͤr die Freundſchaft danke, die ſie mir
Ungluͤcklichen ſchenken. Jch muß ihnen alles
ſagen, wenn auch mein Bekenntniß mit der
Gefahr meines Lebens verknuͤpft ſeyn ſollte.
Alles iſt wahr, was ich ihnen erzaͤhlt habe,
allein ich heiſſe nicht Loͤwenhoek. Nein, ich
bin der Graf von G** und ich bitte ſie bey
ihrer edlen Seele und bey meiner Gemahlinn,
meinen Namen nicht zu entdecken. Sie hob
mich freundlich auf, und ich erzaͤhlte ihr mein
Ungluͤck bey der Armee. O Gott! rief ſie,
ſind ſie der Graf von G**? Mein Gemahl
hat ihren Vater als Geſandten in Moskau ge-
kannt. Ungluͤcklicher Graf! Sagen ſie ihm
ja nichts davon. So viel ich Urſache habe
mit ſeiner Auffuͤhrung gegen mich zufrieden zu
ſeyn: ſo hat er doch gegen andere ein hitziges
und rachgieriges Herz, und wie bald koͤnnte
es nicht geſchehn, daß ſie ihn wider ihren Wil-
len beleidigten. Begegnen ſie ihm ja allezeit
mit einer tiefen Unterwerfung, und alsdann
am
[43]Graͤfinn von G**
am allermeiſten, wenn er am gnaͤdigſten mit
ihnen umgeht, auſſerdem ſtehn ſie in der Ge-
fahr, noch weit mehr zu erfahren. Er liebt
das Geld, und es wird gut fuͤr ſie ſeyn, wenn
ihm der Jude von Zeit zu Zeit ein Geſchenk
macht. Jch habe kein Geld, fuhr ſie fort, um
ihnen zu dienen: allein ich habe Juwelen, von
denen mein Gemahl nichts weis, davon will ich
ihnen einige holen. Der Jude iſt ein ehrlicher
Mann und wird ihnen doch wenigſtens die
Haͤlfte ſo viel dafuͤr geben, als ſie werth
ſind; allein ich wollte es nicht gern,
daß ſie ihm ſagten, von wem ſie ſolche be-
kommen haͤtten. Sie brachte mir darauf
zwo goldne Einfaſſungen, die wie ich muth-
maßete, von ein Paar Portraits abgenom-
men waren. Sie waren mit koſtbaren Stei-
nen beſetzt. Nehmen ſie, ſprach ſie, dieſes
Geſchenk als einen Beweis an, daß es mir
nicht an dem Willen fehlt, ihr Elend zu min-
dern. Jch zweifle, daß ich iemals wieder die
Gelegenheit erhalten werde, ſie allein zu ſpre-
chen: darum wiederhole ich ihnen mein Mit-
leiden und meine Hochachtung, und bitte ſie,
in mir auch alsdann ihre Freundinn zu erken-
nen, wenn ich genoͤthigt ſeyn werde, die Per-
ſon einer Gebieterinn anzunehmen. Bege-
ben ſie ſich nunmehr wieder in ihren einſamen
Auf-
[44]Leben der Schwediſchen
Auffenthalt. Jch will ſehn, ob ichs bey mei-
nem Gemahle ſo weit bringen kann, daß ihr
Freund, von dem ſie mir erzaͤhlt haben, zu ih-
rer Geſellſchaft hieher verlegt wird. Gewiß
kann ichs ihnen nicht verſprechen. Gehn ſie
und leben ſie wohl, armer Graf! Jch kehrte
als im Triumpfe zuruͤck, und hielt mich nun-
mehr unter den Haͤnden der Barbaren fuͤr ge-
ehrt und gluͤcklich; ſo ſehr erfuͤllte das Mit-
leiden dieſer ſo großmuͤthigen Seele mein Herz
mit Hoheit und Hoffnung. Mein Jude be-
ſuchte mich den Tag darauf. Und ehe ich
ihm erzaͤhlte, wie ich von dem Gouverneur
aufgenommen worden: ſo ſagte ich ihm, daß
ich ſo gluͤcklich geweſen waͤre, in dem alten Kleide
meines verſtorbenen Freundes, das er, da er
bey mir war, zuruͤck ließ, weil ich ihm ein
neues gab, uud das ich itzt vor mich hingelegt
hatte, einige Koſtbarkeiten zu finden, wodurch
ich ihm vielleicht die Koſten erſetzen koͤnnte, die
er als mein Freund fuͤr mich zeither aufge-
wandt haͤtte. Er betrachtete die beiden Ein-
faſſungen mit Erſtaunen und ſchien mein Vor-
geben zu glauben. Das ſind fuͤrſtliche Koſt-
barkeiten, fieng er an, und ich kann euch mei-
ne Aufrichtigkeit nicht beſſer beweiſen, als daß
ich euch ſage, daß ſie fuͤnf bis ſechs tauſend
Thaler werth ſind. Wollt ihr mir ſie anver-
trauen:
[45]Graͤfinn von G**
trauen: ſo will ich ſie euch bey einem Juden,
der Steine einkauft, verhandeln. Ein Mann,
ſprach ich, der mir ſo viel Gutes erwieſen hat,
wie ihr, verdient das groͤßte Vertrauen. Al-
lein, verſetzte er, was wollt ihr mit ſo vielem
Gelde anfangen? Man koͤnnte es euch uͤber
lang oder kurz nehmen. Wißt ihr, was ich
machen will? Jch will das Geld, das ich da-
fuͤr bekomme, bey einem Juden, der hier wohn-
haft iſt, niederlegen; er ſoll euch nicht um ei-
nen Groſchen betriegen. Jch will ihm, und
wenn ich binnen acht Tagen wieder zuruͤck
nach Polen reiſe, auch dem Gouverneur ſagen,
daß ich euch als dem Erhalter meines Lebens
ſo und ſo viel zu eurer Verſorgung, und wenn
es moͤglich waͤre, zu eurer baldigen Befrey-
ung zuruͤckgelaſſen haͤtte. Kurz, ich war al-
les zu frieden. Er verkaufte die Juwelen fur
fuͤnftauſend Thaler und brachte mir tauſend
baar und das Uebrige durch eine Anweiſung
mit. Jch bot ihm fuͤr ſeine treuen Dienſte zwey-
hundert Thaler an; allein er nahm ſie unter kei-
ner andern Bedingung, als daß er ſie bey ſei-
ner Abreiſe dem Gouverneur ſchenken wollte,
damit er mir guͤnſtig bliebe. Dieß iſt geſchehn.
Er hat mir durch meinen lieben Juden ver-
ſprechen laſſen, daß ich Steeleyn gewiß zu mir
bekommen ſollte, zumal wenn er auch etwas
von
[46]Leben der Schwediſchen
von der Baukunſt verſtuͤnde. Der Jude
ſelbſt ſteht nunmehr im Begriffe fortzureiſen.
Jch verliere ſehr viel an dieſem treuherzigen
Manne; doch ich will ihn gern verlieren,
wenn er das Werkzeug iſt, durch den ihr von
mir und ich von euch eine Nachricht erhalte.
Er kennt meinen wahren Stand, und er hat
mirs auf die heiligſte Art verſprochen, weder
mich zu verrathen, noch zu ruhn, bis er euern
Aufenthalt in Liefland ausfuͤndig gemacht.
Jn dieſer letzten Abſicht hat er hundert Thaler
zu Reiſekoſten von mir angenommen. Er
koͤmmt, der ehrliche Mann, und will Abſchied
nehmen und ſeinen Brief haben. Jch um-
arme euch, wo ihr auch ſeyd, mit der treuſten
Liebe. Moͤchten doch meine Umſtaͤnde ſo blei-
ben, wie ſie itzt ſind! ſo hoffe ich noch, euch
wieder zu ſehn und alle mein ausgeſtandnes
Elend in euern Armen zu vergeſſen. Bittet
den Himmel um dieſe Gluͤckſeligkeit. Ja,
meine liebſte Gemahlinn, er wird ſie uns noch
ſchenken.
P.S. Jch habe, weil Steeley noch nicht
zugegen iſt, an ſeinen Vater nach London, und
auch an den Engliſchen Geſandten nach Stock-
holm geſchrieben, und unter dem Namen Loͤe-
wenhoek beiden von meines Freundes neuem
Ungluͤcke Nachricht gegeben.
[47]Graͤfinn von G**
Dieſes ſind die beiden Briefe, die mein
Gemahl in ſeiner Gefangenſchaft an mich ge-
ſchrieben. Er hat von dem Abgange des letz-
ten Briefs an, ungefehr noch anderthalb
Jahre in Siberien zugebracht. Jch will das
uͤbrige ſo erzaͤhlen, wie er mirs muͤndlich er-
zaͤhlet hat.
Einige Wochen nach des Juden Abreiſe
ſprach er, ward ich zum Gouverneur geholt.
Jch uͤbergab ihm mit vieler Demuth den Riß,
den er mir zu machen befohlen hatte. Er war
ziemlich wohl damit zufrieden; allein er war
doch der Gouverneur und ich ſein Gefangner.
Kurz, er ſchaͤmte ſich, mir eine Art der Hoch-
achtung aͤuſſerlich ſehn zu laſſen, die er mir
vielleicht im Herzen nicht ganz abſchlagen konn-
te. Er fragte mich, ob mir der Jude ſo und
ſo viel Geld zuruͤckgelaſſen haͤtte und ich beant-
wortete es mit Ja. Darauf befahl er, daß
der Gefangene hereintreten ſollte; dieſes war
mein lieber Steeley, den ich faſt ſeit vier Jah-
ren nicht geſehen hatte. Jch vergaß vor Freu-
den, daß ich vor dem Gouverneur ſtund, und
lief auf Steeleyn mit offnen Armen zu. Er
ſoll euer Geſellſchaffter ſeyn, fieng der Gou-
verneuer an; allein wie lange, das kann ich
euch
[48]Leben der Schwediſchen
euch nicht ſagen. Jch verſtund dieſe Spra-
che, und bat, ob er ſich nicht wollte gefallen
laſſen, daß ich tauſend Thaler zum Unterhalte
meines Freundes erlegen duͤrfte, Er ſagte
daß er ſie zum Pfande, daß wir ſeine Gnade
nicht mißbrauchen wuͤrden, annehmen wollte.
Der Jude, von dem ich die Anweiſung bey
mir hatte, ward gefodert, und bezahlte
die tauſend Thaler. Er erhielt zugleich die
Erlaubniß, mich an Statt des abgereiſten Ju-
den zu beſuchen und mich mit dem Nothwen-
digen zu verſehen. Nunmehr durfte ich an
der Hand meines Steeleys, der noch wie in
einem Traume war, und nichts als etliche ab-
gebrochne Worte zu mir geſprochen hatte, nach
meinem Behaͤltniſſe eilen. Unſere erſte Be-
ſchaͤftigung, als wir allein waren, beſtund dar-
inn, daß wir einander eine lange Zeit anſahn,
ohne ein Wort zu ſprechen. Alsdann ſuchte
ich ihm Waͤſche und eine Kleidung, womit
mich der Jude noch vor der Abreiſe verſorget
hatte; allein er war nicht vermoͤgend vor
truckner Freude ſich allein anzukleiden, ich
mußte ihm helfen. Er ſah die Sachen, die
ich ihm gab, recht mit Erſtaunen an, als ob
er ihren Gebrauch vergeſſen haͤtte. Da er end-
lich umgekleidet war: ſo betrachtete er ſich mit
unerſaͤttlichen Angen und weinte. Jch hatte
ihn
[49]Graͤfinn von G**
ihn ſchon oft gefragt, wie es ihm gegangen
waͤre; und er hatte mir nichts geantwortet,
als: wie es mir gegangen iſt, mein lieber
Graf, wie es mir gegangen iſt? Ja, ich wuͤr-
de ihm, ungeachtet meiner Neugierigkeit doch
nicht haben zuhoͤren koͤnnen, wenn er mir
auch meine Fragen beantwortet haͤtte, ſo be-
ſtuͤrmt war ich von den Trieben der Freund-
ſchaft und der Freude. Jch reichte ihm ein
halbes Glas Wein, denn mehr hatte ich nicht,
und erinnerte ihn, wie er mich einmal in Mos-
kau damit tractiret hatte. Wir wurden nach
und nach unſer maͤchtig. Wir hatten einan-
der ſo viel zu erzaͤhlen, daß wir nicht wußten,
wo wir anfangen ſollten. Unter dieſen Un-
terredungen verſtrichen ganze Tage und Naͤch-
te und eben ſo viele unter den Wiederholun-
gen unſerer Begebenheiten. Steeley hatte
in ſeinem Elende weit mehr erlitten, als ich.
Ohne Mitleiden, ohne Freund war er die
ganze Zeit ein Sclave, und was noch mehr iſt,
ein Gefaͤhrte des boshaften Mitgefangnen, des
Knees Eskin, geweſen. Dieſes Ungeheuer
hatte ihm ſeine Huͤtte des Abends zur Hoͤlle ge-
macht, wenn er den Tag uͤber die Laſt der
Sclaverey uͤberſtanden. Von tauſend nie-
dertraͤchtigen Streichen, vor welchen die Na-
tur erſchrickt, will ich nur einen erzaͤhlen.
II Theil. DStee-
[50]Leben der Schwediſchen
Steeley war krank worden und hatte ſich etli-
che Tage nicht von ſeinem Lager aufrichten
koͤnnen. Er hatte ſich alſo genoͤthigt geſehn,
da Eskin des Abends aus den Waͤldern zuruͤck
gekommen, ihn zu erſuchen, daß er ihm das
Gefaͤß mit Waſſer reichen moͤchte, weil ihm
ſehr durſtete. Alſo durſtet euch recht ſehr?
ſpricht Eskin. Das iſt mir lieb. Es hat
mich vielmal auch gedurſtet, und ihr ſeyd ge-
gen einen Fuͤrſten doch nur ein Nichtswuͤrdi-
ger. Darauf nimmt er das Trinkgeſchirr und
trinkt, und alsdann wirft ers Steeleyn vor
die Fuͤſſe und lacht: da ſo viel gehoͤrt euch!
Braucht man wohl mehr zur Verzweiflung,
als ſo einen Unmenſchen um ſich zu haben?
Nach einer Zeit von einem Jahre, und nach
unzaͤhligen Beleidigungen, wird dem Eskin,
der ſich gegen einen von ſeinen Aufſehern in
der Raſerey vergangen, ſo uͤbel mit gefahren,
daß man ihn halb todt in ſein Behaͤltnis ſchlep-
pen muß. Man entzieht ihm zween Tage
das Brodt; aber Steeley iſt ſo großmuͤthig
und theilet das ſeinige mit ihm. Er reicht
ihm, ſo oft er kann das Trinken. Er waͤſcht
ihm ſo gar die Wunden aus; und damals hat
ihm der Ruſſe die Hand gedruͤckt und zu ihm
geſagt: vergebt mirs, daß ich nicht eben ſo an
euch gehandelt, als ihr an mir thut. Er hat
ihm
[51]Graͤfinn von G**
ihm nach dieſem |weniger Verdruß angethan.
Sein ganzes Gluͤck, das ihm in ſeiner Abwe-
ſenheit von mir begegnet iſt, beſteht in einer
kleinen Freundſchaft, die ihm ein Coſakiſches
Maͤdchen in dem letzten Jahre vor ſeiner Zu-
ruͤckkunft nach Tobolskoy erwieſen. Sie be-
weiſt, daß es auch unter dem wildeſten Vol-
ke noch edle und empfindliche Herzen giebt.
Steeley war eines Tages auf ſeinem Reviere
um Pohem ſo gluͤcklich geweſen, die geſetzte
Zahl ſeiner Zobel bald zu fangen. Auf dem
Ruͤckwege nach der Stadt hatte er ſich, um
auszuruhen bey einer Quelle niedergeworfen.
Darauf koͤmmt ein wohlgebildetes Maͤdchen
zu ihm und ſieht ihn lange ſtarr an. Endlich
ſetzt ſie ſich nieder und trinkt mit der holen
Hand aus der Quelle. Armer Fremdling,
faͤngt ſie an, wollt ihr nicht auch trinken?
Steeley ſagt, daß ers ſchon gethan haͤtte.
Aber, ſpricht ſie, wollt ihr denn nicht einen
Trunk Waſſer aus meiner Hand annehmen?
Thut es doch, ihr dauert mich, ſo oft ich euch
gehn ſehe, und ich bin nicht hieher gekommen,
um zu trinken, ſondern um euch dieſes zu ſa-
gen. Steeley erſchrickt, und weis ſelbſt nicht,
was er ſagen ſoll. Ach faͤhrt ſie fort, ihr wollt
mir nicht antworten? Nun dauert michs, daß
ich euerntwegen hieher gegangen bin. War-
D 2tet
[52]Leben der Schwediſchen
tet nur, ich will nicht wieder kommen. Er
ſieht ſie darauf traurig an, und ſagt, daß er
ihr fuͤr ihr Mitleiden recht ſehr verbunden waͤ-
re, und reicht ihr zur Dankbarkeit die Hand.
Dieſe druͤckt ſie bald an den Mund, bald an
die Bruſt. Sie ſpielt mit ſeinen ſchwarzen
Haarlocken und wiederholt ihre Liebkoſung
auf zehnerley Art. Er will nunmehr fort-
gehn. O ſpricht ſie, wartet doch, ich kann
mich an euch gar nicht ſatt ſehn. Jch wollte,
daß alle Maͤnner in dieſem Lande ſo ausſaͤhen,
wie ihr, alsdann wuͤrde es recht huͤbſch in Si-
berien ſeyn. Und wenn ihr ja gehn muͤßt,
werdet ihr euch nicht bald wieder hieher ſetzen?
Jch habe euch ſo viel zu ſagen, und ich weis
nicht, was es iſt. Jch wußte es, ehe ich zu
euch kam, und nun habe ichs uͤber euren Haa-
ren vergeſſen. Jndem ſieht ſie in die klare
Quelle und ſieht ihr Bild darinn. Aber ſagt
mir nur, ſpricht ſie, ſehe ich denn wirklich ſo,
wie hier im Waſſer? Jch habe ja auch ſchwar-
ze Augen, wie ihr. Eure gefallen mir, gefal-
len euch denn meine auch? Sind meine Zaͤh-
ne auch ſo weiß, wie eure? Ja, ſpricht er, ihr
ſeyd ſchoͤn; aber laßt mich gehn, ich bin ein
ungluͤcklicher Menſch. Darauf geht ſie mit
thraͤnenden Augen fort. Als Steeley den
andern Morgen wieder in ſein Revier geht: ſo
ſitzt
[53]Graͤfinn von G**
ſitzt ſie ſchon an der Quelle und wartet auf
ihn. Sie noͤthigt ihn, daß er ſich niederſetzen
und ein Stuͤck Honig und Brodt aus ihrer
Hand eſſen muß. Seht ihr, ſpricht ſie, ich
aͤſſe gern ſelbſt; aber ich goͤnne es euch doch
noch lieber. Und hier habe ich euch auch et-
liche Zobel mitgebracht, womit mich meine
Liebhaber beſchenkt haben. Nun habt ihr
den ganzen Tag nichts zu thun. Sie ſollen
mir nun alle Tage welche ſchenken muͤſſen, und
ich will ſie euch bringen. Seht mich doch
freundlich an. Jhr hoͤrt ja, wie gut ichs mit
euch meyne. Sie ſpielt darauf wieder ganz
beſcheiden mit ſeinen Haaren, und bittet um
eine Locke, und zeigt ihm eine Scheere, die ſie
zu dieſer Abſicht mitgebracht. Steeley, dem
die treuherzige und doch ehrbare Liebe dieſer
wilden Coſakinn nicht mißfaͤllt, erlaubt ihr
dieſe Bitte. Sie belohnt ihn durch etliche
freywillige Kuͤſſe und zeigt ihm von fern eine
Huͤtte, welches die Huͤtte ihres Vaters waͤre.
Darauf nimmt ſie ein Blatt von einem Bau-
me und blaͤßt. Nunmehr wird mein Bru-
der kommen. Jch hatte ihn beſtellt. Wenn
du mir die Locke nicht im guten gegeben haͤt-
teſt, ſo haͤtten wir dich dazu gezwungen.
Fuͤrchte dich nicht, er iſt wie ich, er thut dir
kein Leid. Siehſt du, ſpricht ſie, da der Bru-
D 3der,
[54]Leben der Schwediſchen
der, ein Menſch mit einem ehrlichen wilden Ge-
ſichte, naͤher koͤmmt, das iſt der Fremdling,
dem ich ſo gut bin. Betrachte ihn nur, und
ſag es ihm, wie oft ich von ihm mit dir rede.
Zeige ihm doch die Gegenden, wo er mit leich-
ter Muͤhe die Zahl von Zobeln zuſammen brin-
gen kann. Jch will auch alles fuͤr dich thun.
Suche mir hier in der Naͤhe eine Hoͤle, oder ei-
nen Baum aus, wo ich dem armen Fremden
kuͤuftig etwas Honig und Fiſch und Brodt
hineinlegen kann. Der Bruder verſpricht es
ihr, und geht mit Steeleyn fort, und weiſt ihm
verſchiedene Vortheile, und auch einen Ort,
wie ihn ſeine Schweſter verlangt hatte. Die-
ſen hat ſie zur Vorrathskammer von ihren
kleinen Wohlthaten gemacht, oder Steeleyn
vielmehr entweder des Morgens, oder des
Abends, da erwartet. Sie iſt oft ganze hal-
be Tage bey ihm geblieben, und alsdann hat
ihr Bruder ihres Liebhabers Arbeit verrichten
muͤſſen. Da Steeley das vortreffliche Herz
ſeiner Schoͤnen wahrgenommen: ſo hat er ſich
alle Muͤhe gegeben, ſie zu bilden, und ihre ed-
len Empfindungen von den rauhen Eindruͤ-
cken ihrer Erziehung zu reinigen. Sie hat,
durch die Liebe ermuntert, im kurzen ſeine Mey-
nungen und ſeine Sitten angenommen und ſo
viel Verſtand bekommen, daß er ſich keine Ge-
walt
[55]Graͤfinn von G**
walt mehr hat anthun duͤrfen, ihr gewogen
zu ſeyn. Allein dieſes Vergnuͤgen hat fuͤr bei-
de nicht lange gedauret, weil Steeley nach
drey Monaten nebſt etlichen andern Gefang-
nen in eine andre Gegend zwanzig Werſte von
Pohem verlegt worden. Von da iſt er nach-
dem nach Tobolskoy abgerufen worden, und
hat alſo ſeine Freundinn nie wieder ge-
ſehn.
Wir richteten, da wir nunmehr wieder
beyſammen waren, unſre Lebensart ſo gut ein,
als es unſre Umſtaͤnde zulieſſen. Der Gou-
verneur hatte mir ein Reiszeug gegeben und
ich mußte durch meine kleine Kenntniß, die ich
in der Mathematik hatte, ſeine Gewogenheit
zu behaupten ſuchen. Jch unterwies Stee-
leyn in dem, was ich von dieſen Dingen wuß-
te, und da er die Rechenkunſt, die ihm ſein ei-
gener Vater beygebracht, noch ſehr gut ver-
ſtund: ſo war er in einem halben Jahre in
allen dieſen Uebungen ſo geſchickt, als ich. Wir
arbeiteten alſo um die Wette, und der Gou-
verneur wuͤrde uns keine groͤſſere Strafe ha-
ben anthun koͤnnen, als wenn er uns befohlen
haͤtte, dieſe Beſchaͤftigung nicht zu treiben
und muͤſſig zu ſeyn. Allein er ließ es uns
nicht an Arbeiten fehlen. Er gab uns Rech-
nungen, er gab uns tauſend alte Riſſe, die wir
D 4ab-
[56]Leben der Schwediſchen
abcopiren mußten; und ich glaube, daß kein
verfallenes Schloß in Siberien und ganz Mos-
kau mehr war, das wir nicht abgezeichnet ha-
ben. Er ließ uns zwar nicht zu ſich kommen;
allein er beſuchte uns faſt alle Wochen ſelbſt
einmal. Wir belohnten dieſe Gnade mit der
moͤglichſten Demuth, und er belohnte ſich fuͤr
ſeine Herablaſſung dadurch, daß er alles beſ-
ſer wußte als wir, und uns unmittelbar nach
einem zu freundlichen Worte, das ihm ent-
wiſcht war, einmal gebietriſch anfuhr. Stee-
ley, ſo ſehr ihn ſonſt der Geiſt des Widerſprnchs
und der Stolz ſeiner Nation belebt hatte, war
itzt viel gelaßner. Er ſchwieg, ſobald ihn der
Gouverneur tadelte; allein damit war dieſer
nicht allemal zufrieden. Nein, Steeley muß-
te reden und ihm in der unwahrſten Sache
Recht geben. Dieſes ward ihm ſehr ſauer,
und er that es mit einer ſo gezwungnen Art,
daß ihm oft der Schweis daruͤber ausbrach,
und daß ich wuͤrde haben laut lachen muͤſſen,
wenn wir an einem andern Orte, als in Sibe-
rien, geweſen waͤren. Einsmals traf er uns
an, daß wir Schach ſpielten. Steeley hatte
die Steine mit dem Meſſer geſchnitzt, und ſie
waren freylich nicht gar zu ſauber gemacht.
Der Gouverneur beſahe ſie, und hielt ihm ei-
ne lange Rede, daß keine Symmetrie und kei-
ne
[57]Graͤfinn von G**
ne Sauberkeit darinn zu finden waͤre. Mein
Freund gab es gern zu, und entſchuldigte ſich,
daß er keine Jnſtrumente gehabt haͤtte. Aber
das half alles nicht. Wenn ſie recht ſchoͤn
ſeyn ſollten, ſprach der Gouverneur: ſo muͤß-
ten ſie ſeyn, als wenn ſie gedrechſelt waͤren,
und ihr ſeht doch wohl, daß ſie nicht ſo ſind,
daß ſie hier zu viel, dort zu wenig, mit einem
Worte, grob und ſchlecht geſchnitten ſind.
Dergleichen Anmerkungen konnte er ganze
Stunden fortſetzen, und Steeley zitterte auf
die letzt vor dem Beſuche dieſes gebietriſchen
Pedanten. Er ſetzte ſich oft, wenn wir zeich-
neten, neben uns, und ſtopfte ſich eine Pfeife
von unſerm Tabacke ein. Wenn er ihn end-
lich mit vielem Appetite aufgeraucht hatte:
ſo warf er die Pfeife hin, und that einen groſ-
ſen Schwur, daß unſer Taback nicht das ge-
ringſte taugte. Zuweilen pries er uns ſeine
Wohlthat, daß er uns die ordentlichen Arbei-
ten erlaſſen haͤtte, und noͤthigte uns dadurch,
ihn demuͤthig zu bitten, daß er uns nicht wie-
der den andern Sclaven gleich machen moͤchte.
Oft kam er in dem groͤßten Zorne zu uns und
fluchte auf die Gefaugnen, ohne zu ſagen, was
geſchehen war, und wir mußten ſeine unſin-
nige Hitze mit Ehrerbietung anhoͤren. Ob
wir ihm nun gleich unſere verbeſſerten Umſtaͤn-
D 5de
[58]Leben der Schwediſchen
de zum Theil zu danken hatten: ſo war er doch
bey allen unſern Vortheilen noch unſer beſtaͤn-
diges Schrecken. Wir kannten ſeine unmaͤſ-
ſige Gemuͤthsart und mußten alle Tage fuͤrch-
ten, daß es ihm einfallen koͤnnte, uns von ein-
ander zu trennen, und wieder unter die an-
dern Gefangnen zu ſtecken. Um dieſem Un-
gluͤcke zu entgehn, ließ ich ihm durch den Ju-
den, der mein Geld in den Haͤnden hatte, ein
klein Geſchenk nach dem andern machen.
Ein Jahr war verfloſſen, ſeit dem Stee-
ley wieder bey mir lebte. Jch hoffte nun von
einem Tage zum andern auf Briefe von euch,
weil der Jude, dem ich den meinigen mitgege-
ben, nach Tobolskoy handelte, und mir alſo
leicht eine Antwort uͤbermachen konnte; allein
ich hoffte vergebens. Steeley hatte ebenfalls
binnen dieſer Zeit nach London, und an den
Engliſchen Geſandten nach Schweden, geſchrie-
ben, und keine Antwort erhalten. Die Ge-
mahlinn des Gouverneurs hatte ich ſeit der
Zeit, da ſie mir das großmuͤthige Geſchenk ge-
macht, mit einem Worte, ſeit dem erſten ma-
le nicht wieder geſehn. Alles dieſes machte
uns niedergeſchlagen; und ie ertraͤglicher un-
ſere Gefangenſchaft war, deſto mehr meldete
ſich d[er] Wunſch in uns, ihrer gar los zu ſeyn.
Und mit was fuͤr Rechte konnten wir dies hof-
fen,
[59]Graͤfinn von G**
fen, da der Krieg mit den Ruſſen und Schwe-
den noch immer fortdauerte? Jch ſtand eben
um die Mittagszeit mit Steeleyn an unſerm
kleinen Fenſter, als ich den Juden mit ſchnel-
len Schritten uͤber den Hof durch den tiefſten
Schnee laufen ſah. Er pflegte um dieſe Zeit
nie zu kommen, und ich ſchloß aus ſeiner freu-
digen Mine, daß er mir einen Brief von ſeinem
Correſpondenten, dem Pohlniſchen Juden,
bringen wuͤrde. Er brachte mir auch einen
Brief, aber von der Gemahlinn des Gouver-
neurs. Sie ſchrieb mir folgendes. Der
Graf laß mir darauf einen Brief, den ich noch
beſitze. Jch will ihn hier einruͤcken.
Jch melde Jhnen eine Nachricht, die ich
Jhnen lieber muͤndlich ertheilen moͤchte, da-
mit ich das Vergnuͤgen haͤtte, ihre Freude mit
anzuſehn und zu genieſſen. Sie ſind frey.
Der Befehl wegen Jhrer Befreyung iſt geſtern
mit dem neu angelangten Gefangnen angekom-
men, und ſie ſollen Morgen nebſt vier andern
Verwieſenen wieder auf die Art zuruͤck nach
der Stadt Moskau gebracht werden, wie Sie
hieher gebracht worden ſind. Alsdann haben
Sie die Erlaubniß Sich hinzuwenden, wo Sie
hinwollen. |Jch habe Jhnen Jhre Freyheit durch
eine
[60]Leben der Schwediſchen
eine von meinen Freundinnen bey Hofe aus-
gewirkt. Mein Gemahl weis es nicht, daß
ich mich Jhres Ungluͤcks angenommen habe,
und er ſoll es auch nicht wiſſen; auch nicht die
Welt. Jch bin zufrieden, daß Sie es wiſſen.
Und vielleicht waͤre mein Dienſt viel großmuͤ-
thiger, wenn ich Jhnen ſolchen nicht ſelbſt be-
kannt gemacht haͤtte. Jch war es Willens;
allein ich war zu ſchwach; und ich ſehe, daß
es leichter iſt, eine gute That zu unternehmen,
als ſie zu verſchweigen. Vergeſſen Sie dieſe
kleine Eitelkeit, durch die ich mich fuͤr meine
guten Abſichten ſelbſt belohnt habe. Jch zwei-
fle, daß ich das Vergnuͤgen haben werde, Sie
vor Jhrer Abreiſe noch zu ſprechen, wenigſtens
doch nicht allein. Jch wuͤnſche Jhnen alſo mit
der groͤßten Aufrichtigkeit das Gluͤck, Jhre Ge-
mahlinn bald wieder zu finden. Wie wird
ſie mich lieben, daß ich ihr ihren Grafen wie-
der geſchafft habe! Fuͤr Jhren Freund, den Sie
hier zuruͤcklaſſen, will ich ſorgen. Leben Sie
wohl, und ſchreiben Sie mir kuͤnftig, ob Sie Jh-
re Gemahlinn angetroffen haben. Wenn
meine Wuͤnſche erfuͤllet werden: ſo hoffe ich
das betruͤbte Land, aus dem Sie eilen, noch mit
meinem Vaterlande zu verwechſeln. Doch
nein, ich Ungluͤckliche werde wohl hier mein
Leben beſchlieſſen muͤſſen. Schreiben Sie mir
ja
[61]Graͤfinn von G**
ja. Jch habe noch eine Stiefſchweſter in Cur-
land, an die ich Jhnen den beyliegenden Brief
mitgebe. Sollten es ihre Umſtaͤnde verlan-
gen: ſo glaube ich, daß ſie ſehr gut bey ihr
aufgehoben ſind. Sie iſt eine Witwe; doch
habe ich ſeit zwey Jahren keine Nachricht von
ihr. Leben Sie noch einmal wohl.
Amalia L**
Dieſen Brief las ich und taumelte vor
Freuden in Steeleyns Arme, und wollte ihm
ſagen, was darinne ſtuͤnde; allein er wartete
meine Entzuͤckungen nicht ab. Er riß mir ihn
aus der Hand und las ihn. Jch legte mich
mit dem Kopfe auf ſeine Achſel, um die Bewe-
gungen nicht mit anzuſehn, die ihm die Nach-
richt von meiner Befreyung und ſeiner fort-
dauernden Gefangenſchaft verurſachen wuͤrde.
Jhr ſeyd frey, fieng er an, und ich verliere euch
und bleibe noch ein Gefangner und werde noch
ungluͤcklicher, als zuvor? das iſt ſchrecklich!
Hat euch der Himmel lieber, als mich? Doch
ich werde Zeit genug zu meinen Klagen haben,
wenn ihr nicht mehr bey mir ſeyd. Jch weis,
daß es euch unmoͤglich iſt, mich zu vergeſſen.
Nein, fiel er mir um den Hals, ihr vergeßt mich
nicht. Jch konnte ihm vor Wehmuth lange
nicht antworten, und mein Stillſchweigen, das
doch nichts als Liebe war, machte ihn ſo hitzig,
als
[62]Leben der Schwediſchen
als ob ich ſchon die groͤßte Untreue an ihm be-
gangen haͤtte. Jch ließ ſeinen Affect ausre-
den, und nach einem kleinen Verweiſe, ſah ich
ihn beſchaͤmt und gelaſſen genug, ihm mein
Herz zu entdecken und ihn zu uͤberfuͤhren, wie
unvollkommen mir meine Freyheit ohne die ſei-
nige waͤre. Jch nahm mit dem Juden die
Abrede, daß er mir das Drittel von meinem
Gelde zur Reiſe geben und das Uebrige fuͤr
Steeleyn zuruͤck behalten und uns fuͤr ſeine
Muͤhe, ſo viel er wollte, abziehn ſollte. Der
Jude war vorſichtiger, als ich. Er ſagte mir,
daß ich wenig baar Geld mitnehmen ſollte;
weil ich in der Gefahr ſtuͤnde, auf der Reiſe
nach Moskau zehnmal darum zu kommen. Er
gab mir etwas weniges baar, und tauſend
Thaler und daruͤber in vier Wechſeln an Ju-
den in Moskau, damit ich, wenn ich einen
verloͤre, doch nicht um alles kaͤme; ſo ehrlich
handelte dieſer Mann an mir. Jch ward noch
vor dem Abend zu dem Gouverneur gerufen.
Er lag an dem Podagra krank und kuͤndigte
mir meine Freyheit auf dem Bette, im Bey-
ſeyn ſeiner [G]emahlinn an. Er reichte nur die
Hand und ſagte: ich habe Befehl, euch wie-
der nach Moskau zu ſchicken, und es ſoll Mor-
gen zu Mittage geſchehn. Jch verliere euch
zwar ungern; aber reiſet mir Gott und ſeyd
gluͤck-
[63]Graͤfinn von G**
gluͤcklicher, als ihr bisher geweſen. Jch kuͤß-
te ihm die Hand aus einer wahren Dankbar-
keit und bat um ſeine fernere Gnade fuͤr Stee-
leyn. Wenn ich lebe, ſprach er, ſo ſoll es ihm
nicht ſchlechter ergehn, als zeither. Er hieß
mich niederſitzen, (eine Ehre, die er mir zum
erſten male erwies) und ſagte, daß er noch viel
mit mir zu reden haͤtte; allein ſeine Schmer-
zen meldeten ſich ſo heftig, daß er mir winkte,
ihn zu verlaſſen. Jch that es, und wieder-
holte ſeiner Gemahlinn im Herausgehn durch
eine dankbare Mine die Groͤſſe meiner Ver-
bindlichkeit und ihrer Wohlthat. Lebt wohl,
mein Herr, ſprach ſie, und wandte ſich den Au-
gendlick wieder zu ihrem Gemahle. Sobald
ich wieder bey Steeleyn war; ſo ſchrieb ich
an meine Erretterinn, weil ich dieſer großmuͤ-
thigen Seele nicht muͤndlich hatte danken koͤn-
nen. Jch gab den Brief dem Juden, der un-
terdeſſen die Wechſel beſorgt und mir Pelze
und andere Nothwendigkeiten geſchafft hatte,
um mich vor der groſſen Kaͤlte zu ſchuͤtzen.
Nunmehr war alles verrichtet, und nun uͤber-
ließ ich mich meinem Freunde die ganze Nacht
hindurch. Wir redten, wir weinten, und em-
pfanden alles, was wir nur nach unſern ver-
ſchiednen Umſtaͤnden empfinden konnten. Der
Morgen uͤbereilte uns, und eben ſo der Mit-
tag,
[64]Leben der Schwediſchen
tag, und wir hatten bis auf den letzten Augen-
blick einander noch, ich weis nicht was, zu ſa-
gen. Der Jude kam, und ſagte, daß die Schlit-
ten, die mich nebſt den uͤbrigen Befreyten fort-
fuͤhren ſollten, gleich zugegen ſeyn wuͤrden.
Wir nahmen Abſchied, ohne zu reden, und
ich vergaß mich in den Armen meines redlichen
Steeleys, bis mich die Aufforderung der Wa-
che von ihm losriß. Er ſtieß mich fort und
in dem Augenblicke wollte er mir auch nach-
laufen; allein man verſchloß die Thuͤre und
mein Jude fuͤhrte mich bis in den Schlitten
und rief mir noch die freundſchaftlichſten
Wuͤnſche nach.
Jch ward nebſt drey andern auf einen
Schlitten geſetzt, denen Hoffnung und Freude
aus den Augen leuchteten. Jch kann nicht
ſagen, was in den erſten Stunden, ja faſt in
den ganzen erſten beiden Tagen in meiner See-
le vorgieng. Ein Uebermaß von freudigen
Wallungen und betruͤbten Regungen uͤber-
ſtroͤmte mein Herz wechſelsweiſe. Man be-
gegnete uns an den Orten, wo wir friſche
Rennthiere bekamen, nicht ſo veraͤchtlich, als
damals, da wir auf dem Wege nach Siberien
waren. Meine Geſellſchafter waren drey
Ruſſen. Sie hatten Geld und verſorgten ſich
an allen Orten mit ſo vielem Brandtweine,
daß
[65]Graͤfinn von G**
daß ſie auf der ganzen Reiſe faſt nicht nuͤch-
tern wurden. Sie haben mich indeſſen nie
mit Willen beleidiget, und ich wuͤrde ihre
Freundſchaft erhalten haben, wenn ich mit ih-
nen getrunken haͤtte. Wir waren zu Ende
des Maͤrzes in Moskau. Jch ward in eben
das Haus gebracht, in dem ich vor fuͤnf Jah-
ren verwahrt geſeſſen hatte und fand den vo-
rigen Gefangenwaͤrter noch. Jn drey Tagen
ward ich voͤllig losgelaſſen und bekam einen
Paß, und nun konnte ich mich hinwenden,
wo ich hin wollte. Jch hatte mein Wechſel
noch alle und begab mich nunmehr zu den En-
gliſchen Kaufleuten, welche Steeleyn vordem
beygeſtanden hatten, und uͤbergab dem einen,
welcher Tompſon hieß, ein Billet von ihm.
Er nahm mich ſehr liebreich auf und ſagte mir,
daß ihm Steeleys Ungluͤck, nach Siberien ver-
wieſen zu werden, durch den Gefangenwaͤrter
waͤre hinterbracht worden, daß ers alsbald
nach London an ſeine Freunde gemeldet und
ſeit drey Jahren verſchiedne Briefe an den En-
gliſchen Agenten in Moskau erhalten haͤtte.
Zu dieſem giengen wir den andern Tag. Der
Agent war der liebreichſte Mann von der Welt.
Er wies mir die beweglichen Briefe, die Stee-
leys Vater an ihn geſchrieben hatte. Er wies
mir die Memoriale, durch die er bey dem Se-
II Theil. Ena-
[66]Leben der Schwediſchen
nate um meines Freundes Befreyung angehal-
ten, und verſicherte mich, daß er ſie bey der
Zuruͤckkunft des Zaars, die bald erfolgen ſoll-
te, gewiß auszuwirken hoffte. Der Engli-
ſche Geſandte in Schweden hatte ebenfalls an
ihn geſchrieben und ihn gebeten, alles zu Stee-
leyns Befreyung beyzutragen. Er gab mir
die Briefe, die er aus London an ihn erhalten
hatte, und Tompſon fuͤhrte mich nunmehr zu
den Juden, um meine Wechſel zu heben. Jch
bekam binneu zehn Tagen mein Geld, zu dem
mir Tompſon doch wenig Hoffnung gemacht
hatte, und buͤßte nicht mehr, als einen Wech-
ſel von hundert und funfzig Rubeln ein. Der
Jude, der mir ihn bezahlen ſollte, war in die
elendeſten Umſtaͤnde gerathen, und ſeine Mit-
bruͤder verſicherten mich, daß ſie binnen einem
Jahre das Geld fuͤr ihn erlegen wollten, wenn
ers nicht |thun koͤnnte. Jch zerriß darauf
den Wechſel, und gab dem armen Juden noch
zehn Thaler von dem uͤbrigen Gelde. Jch
hat ſie, daß ſie mir etliche Briefe an ihren Corre-
ſpondentē nach Siberien, von dem ich die Wech-
ſel empfangen, beſtellen ſollten. Sie ſagten mir,
daß drey von ihnen ihrer Geſchaͤfte wegen ſelbſt
nach Tobolskoy reiſen wuͤrden, und wenn ich
mich zween Monate hier aufhalten koͤnnte: ſo
wollten ſie mir durch die Antwort beweiſen, ob
ſie
[67]Graͤfinn von G**
ſie ihr Wort gehalten haͤtten. Jch ſchrieb an
meinen Freund; doch ehe der Brief fortgieng,
ließ mich der Agent rufen, und ſagte mir, daß
er endlich ſo gluͤcklich geweſen waͤre, ſich um
ſeinen Landsmann verdient zu machen; ſeine
Befreyung waͤre in dem Senate unterzeich-
net worden, und er haͤtte das Verſprechen er-
halten, daß Steeley binnen drey oder vier Mo-
naten aus Siberien zuruͤckgebracht und frey-
gelaſſen werden ſollte. Jch dankte dem Agen-
ten nicht anders, als ob er mir dieſe Wohl-
that ſelbſt erwieſen haͤtte, und eilte meinem
Freunde dieſe freudige Nachricht zu melden.
Die Juden reiſten ab, und ich war wirklich
willens, Steeleys Ankunft zu erwarten. Doch
die Liebe ſiegte uͤber die Freundſchaft und das
Verlangen euch zu ſuchen, machte mir meinen
Auffenthalt in Moskau unertraͤglich. Jch
wollte fort, ohne zu wiſſen, wohin. Der
Handel in die Schwediſchen Lande war noch
verboten. Jch wollte nach Daͤnnemark, weil
ich mir einbildete, daß ihr euch vielleicht dahin
gewendet haben wuͤrdet: allein Tompſon be-
redte mich, daß ich mit einem Hollaͤndiſchen
Schiffe, deſſen Ladung er in Commiſſion hat-
te, und das in Archangel ſegelfertig lag, nach
Holland gehn ſollte. Er gab mir eine Addreſ-
ſe an den Kaufmann mit, dem die Waaren des
E 2Schiffs
[68]Leben der Schwediſchen
Schiffs gehoͤrten, und verſprach mir, daß er
die Briefe von Steeleyn an ihn einſchlagen
wollte; ich aber ſollte bey dieſem Manne
die Nachricht zuruͤcklaſſen, wo ich mich von
Holland aus hinwenden wuͤrde, damit mich
Steeley bey ſeiner Zuruͤckkunft zu finden wuͤß-
te. Jch gieng alſo in der ſechsten Woche nach
meiner Ankunft in Moskau mit dem Schiffe
fort, das mich ſo unvermuthet und gluͤcklich
zu euch gebracht hat. Ehe ich Moskau noch
verließ: ſo gab ich Tompſon funfzig Thaler,
um ſie nach meiner Abreiſe unter etliche von
meinen gefangnen Landsleuten auszuthei-
len.
Dieß iſt das meiſte von dem, was mir
mein Gemahl, uͤber ſeine ſchriftlichen Nachrich-
ten, von ſeinem Auffenthalt in Siberien erzaͤhlt
hat. Jch habe es hin und wieder zuſammen
gezogen, und das was zur Geographie oder
zur Hiſtorie dieſes Lands gehoͤret, mit Fleiß
uͤbergangen, weil ich keine Reiſebeſchreibung
machen wollen. Es hat ſich auch ſeit der Zeit
in dieſem Reiche vieles veraͤndert, beſonders
ſeit der Erbauung der Stadt Petersburg und
den groſſen Anſtalten Peters des Erſten, die
ſo wohl in die Natur des Landes, als in die
Gemuͤthsart der Einwohner einen groſſen Ein-
fluß gehabt haben.
[69]Graͤfinn von G**
Jch eile nunmehr zu dem letzten Periode
dieſer Geſchichte, naͤmlich zu dem, was nach
der Ruͤckkunft meines Gemahls erfolgt iſt.
Wir lebten in unſerer zweyten Ehe, wenn ich
ſo reden darf, vollkommen zufrieden, und mein
Gemahl ſchmeckte auf ſein erlittenes Ungemach
die Freuden der Liebe und der Ruhe gedoppelt.
Er bluͤhte in meinen Armen wieder auf und be-
kam die erſte Lebhaftigkeit wieder, von der ihm
das Ungluͤck einen groſſen Theil entzogen hat-
te. Die erſten Monate verſtrichen uns in der
Geſellſchaft der Mariane und des Herrn R**
meiſtens unter wechſelſeitigen Erzaͤhlungen.
Nichts war klaͤglicher, als da ich ihm| einsmals
meine Heyrath und die Geſchichte meiner Ehe
mit dem Herrn R** und zwar in dem Beyſeyn
deſſelben umſtaͤndlich erzaͤhlen ſollte. Der Graf
hatte mich die ganze Zeit uͤber bey der Hand,
als wollte er mir einen Muth einſprechen. Jch
fieng die Erzaͤhlung mit vieler Dreiſtigkeit an.
Jch war von der Liebe meines Grafen voͤllig
uͤberzeugt: ich wußte, daß ich ihm niemals
untreu geworden ſeyn wuͤrde, wenn ich nur
die geringſte Nachricht von ſeinem Leben ge-
habt haͤtte. Allein alles dieſes langte nicht
zu, mich in meiner Erzaͤhlung zu unterſtuͤtzen.
Jch wollte aufrichtig und doch auch behutſam
ſprechen; und ie mehr ich redete, deſto mehr
E 3fuͤhl-
[70]Leben der Schwediſchen
fuͤhlte ich, wieviel beleidigendes dieſe Geſchich-
te fuͤr den Grafen in ſich hatte, und wie viel kraͤn-
kendes fuͤr mich und fuͤr den Herrn R**. Jch
ward verzagt. Der Graf gab mir die theuer-
ſten Verſicherungen, daß er durch nichts belei-
digt wuͤrde; allein ich kam nicht weiter, als
bis auf die Geburt meiner Tochter. Jch ſamm-
lete alle meine Kraͤfte; ich fieng zehnmal wie-
der an; doch mein ganzes Herz weigerte ſich,
mich fortfahren zu laſſen; ich ſchwieg. Nun
ſprach der Graf mit einer liebreichen Mine,
dieſe kleine Marter, die ich euch itzt gemacht
habe, das ſoll die Strafe fuͤr eure Untreue ſeyn,
und umarmte mich. Und ihr mein lieber
R** fuhr er fort, ſchlagt eure Augen immer
wieder auf und ſeht zu eurer Strafe eure
vorige Gemahlinn in meinen Armen. Er
kuͤßte ihn, und ich mußte es auch thun. Nein,
ſprach er, ſie hat euch geliebt und ihr habt es
verdient, und wenn ich ſterbe, ſo liebt ſie euch
wieder. Wir haben uns alle kein Vergehn,
ſondern nur das Ungluͤck vorzuwerfen. Ma-
riane, (ſie ſaß bey mir), ſeht nur, wie euch
meine Gemahlinn betrachtet. Kann ſie ſich
wohl beſſer an mir raͤchen, als durch eure Ge-
genwart?
Jch war unermuͤdet, dem Grafen alle die
Augenblicke zu erſetzen, die er ohne mich zuge-
bracht.
[71]Graͤfinn von G**
bracht. Jch kam ſelten von ſeiner Seite und
ſann bey jeder Gefaͤlligkeit, die ich ihm erwei-
ſen konnte, ſchon auf eine neue. Wenn wir
unſer Herz ausgeredet hatten: ſo las ich ihm
etwas vor, und wenn ich nicht mehr leſen
konnte, ſo that ers. Dieſe gluͤckliche Beſchaͤf-
tigung mit dem Geiſte der beſten Scribenten,
die der Graf ſo lange entbehrt hatte, nahm
uns den groͤßten Theil des Tages weg, und
breitete ihr Vergnuͤgen uͤber unſere Geſpraͤche,
uͤber unſere Mahlzeiten und uͤber alle unſere
Zaͤrtlichkeiten aus. Wir hielten keine Geſell-
ſchaften und fuͤhlten doch nie die Beſchwerlich-
keit der Langenweile. Wenn wir mitten in
unſern Vergnuͤgungen recht empfindlich ge-
ruͤhrt ſeyn wollten: ſo dachten wir unſerm
Schickſale nach. Diejenigen, die niemals
unter groſſen Ungluͤcksfaͤllen geſeufzt haben,
wiſſen gar nicht, was fuͤr eine Wolluſt in die-
ſen Betrachtungen zu finden iſt. Man ent-
kleidet ſich in ſolchen Augenblicken von al-
lem ſeinen natuͤrlichen Stolze; man ſieht, in-
dem man ſein Schickſal durchſchaut, ſein Un-
vermoͤgen, ſich ſelber gluͤcklich zu machen, und
uͤberlaͤßt ſich den Entzuͤckungen der Dankbar-
keit, die uns nicht laͤnger wollen nachdenken
laſſen. Der Graf ſetzte zuweilen ganze Tage
zu dieſer Abſicht aus und wandte ſie zu Wer-
E 4ken
[72]Leben der Schwediſchen
ken der Gutthaͤtigkeit an. Er erkundigte ſich
nach elenden und ungluͤcklichen Perſonen; mit
einem Worte, Arme, Kranke und Gefangene
an dieſem Tage zu erquicken und aufrichten zu
laſſen, das war ſeine Zufriedenheit. Oft ließ
er auch einige von denen, die ſchon unter dem
Elende grau geworden waren zu ſich rufen,
und ſie an einem Tiſche zuſammen ſpeiſen.
Es war ihm freylich lieb, wenn er wußte daß
es Leute waren, welche die Gutthat ver-
dienttn; allein er ſtellte deswegen nicht die
ſtrengſten Unterſuchungen an. Vielleicht,
ſprach er, laſſen ſie ſich durch die Wohlthaten
beſſern, wenn ſie boshaft geweſen ſind; laßt
ſie auch der Wohlthat unwerth ſeyn: ſie ſind
doch Menſchen. Wenn er hoͤrte, daß ſie mit
dem Eſſen bald fertig waren: ſo gieng er zu
ihnen und ließ ſich ihr Schickſal erzaͤhlen.
Fand er eine Perſon darunter, die ein edles
Herz hatte: ſo nahm er ſich ihrer ins beſon-
dre an. R** war ſein Gehuͤlfe in dieſer
Tugend, und wem ſie beide nicht als Wohl-
thaͤter dienen konnten, dem dienten ſie doch
als vernuͤnftige Rathgeber. Wir fuhren ge-
meiniglich an dieſen Tagen etliche Stunden in
die Felder, oder in die Gaͤrten, ſpatziren. Ein-
mal hoͤrten wir des Abends, indem wir bey
dem Mondenſcheine durch die Wieſen giengen
und
[73]Graͤfinn von G**
und den Wagen am Wege halten lieſſen, ein
jaͤmmerliches Gewinſel. Wir naͤherten uns
ungeachtet des tiefen Graſes dem Orte, mo der
Schall herkam, und fanden eine junge Wei-
besperſon, welche die Schmerzen der Geburt
kaum uͤberſtanden hatte und in eiuem huͤlflo-
ſen Zuſtande da lag. Herr R** der bey uns
war, fuhr den Augenblick in das naͤchſte Land-
haus, um ein Weib und andre Beduͤrfniſſe fuͤr
die Geburt herbey zu holen, und ich machte
mich indeſſen um dieſe Ungluͤckliche ſo gut ver-
dient, als es die Nothwendigkeit erforderte.
Jch konnte aus ihrem Anzuge ſchlieſſen, daß
ſie keine der Vornehmſten und keine der Ge-
ringſten war, und ihre Jugend und ihre gute
Bildung war genug, uns einen Theil von ih-
rem Schickſale zu erklaͤren, weil ſie ſelbſt nichts,
als etliche unvernehmliche Worte, hervorbrin-
gen konnte. Herr R** kam mit einigen
Weibern zuruͤck und wir lieſſen die unbekann-
te Elende auf unſerm Wagen in das naͤchſte
Dorf bringen, und kehrten zu Fuſſe in die
Stadt. Nun, ſprach der Graf, indem wir
zuruͤckgiengen, dieſer Spaziergang iſt viel
werth. Wie ſchoͤn wird ſichs in den Gedan-
ken einſchlafen laſſen, daß wir zwoen Perſonen
das Leben auf einmal erhalten haben! Das
arme Maͤdchen iſt vermuthlich aus Furcht der
E 5Schan-
[74]Leben der Schwediſchen
Schande von ihrem Geburtsorte gefluͤchtet.
Wer weis, welcher Betruͤger ſie unter dem
Verſprechen der Ehe um ihre Unſchuld ge-
bracht hat. Jch fuhr mit anbrechendem Ta-
ge nebſt Carolinen auf das Dorf und wir fan-
den die Ungluͤckliche mit ihrem Kinde auf den
Armen, in Thraͤnen zerflieſſen. Sie war nicht
allein wohl gebildet, ſie war ausnehmend
ſchoͤn, und eine gewiſſe ſchamhafte Mine ent-
ſchuldigte ihren Fehler zum voraus. Die Lie-
be, ſprach ſie, oder vielmehr ein Liebhaber hat
mich ungluͤcklicher gemacht, als ich zu ſeyn ver-
diene. Jch habe mich mit ihm ſeit zwey Jah-
ren verſprochen; allein ein bejahrter Vor-
mund, unter dem ich ſtehe und der mir ſein
eigen Herz aufdringen wollte, hat unſre Ver-
bindung verhindert. Mein Braͤutigamm, ei-
nes Pachters Sohn bey Leiden, hat mich mit
meinem Willen entfuͤhrt, und mir verſprochen,
ſich im Haag mit mir nieder zu laſſen und die
Handlung zu treiben. Als wir geſtern Mor-
gen in die Gegend kamen, wo ihr mich ange-
troffen, ſah ich mich durch eine Unpaͤßlichkeit
genoͤthigt, vom Wagen abzuſteigen. Mein
bis dahin getreuer Liebhaber fuͤhrte mich in
dem Felde herum, um mich durch die Bewe-
gung wieder zu mir ſelber zu bringen. Jch
mußte mich endlich niederſetzen, und ſobald
er
[75]Graͤfinn von G**
er ſah, was mir fuͤr ein Schickſal bevor ſtund,
verließ mich der Boshafte unter den Vorwan-
de, mir iemanden zu Huͤlfe zu rufen. Jch
habe alſo den ganzen Tag auf ſeine Zuruͤck-
kunft vergebens gewartet und bin mehr durch
das Entſetzen uͤber ſeine Untreue, als durch die
ungluͤckliche Frucht meiner Liebe in den ſinn-
loſen Zuſtand gekommen, indem ihr euch ge-
ſtern meiner ſo großmuͤthig angenommen.
Man kann keine groͤſſere Bosheit begehn, als
er an mir begangen hat. Er hat mir mein
Geſchmeide, das mein ganzer Reichthum war,
und das wir im Haag zu Gelde machen woll-
ten, mitgenommen. Dennoch haſſe ich ihn
noch nicht, ja ich wuͤrde, es ihm mit Freuden
vergeben, daß er mich mit der Gefahr meines
Lebens verlaſſen hat, wenn ich nur wuͤßte, daß
es ihn reute ‒ ‒ Jch ſuchte ſie zu beruhigen
und verſprach ihr, wenn ihr Liebhaber binnen
acht Tagen nicht wieder kaͤme, ſie zu mir zu
nehmen und ſie und ihr Kind zu verſorgen.
Er kam nicht, und ich erfuͤllte mein Wort und
ließ das Kind auf dem Dorfe erziehn.
Der Graf war nunmehr ein halb Jahr
lang bey mir und hatte nicht das geringſte
Verlangen in ſein Vaterland zuruͤck zu keh-
ren, wenn ihn auch die Erlaubniß dazu waͤ-
re angeboten worden. Ueberdieſes wußte er,
daß
[76]Leben der Schwediſchen
daß der Prinz, dem er ſein Ungluͤck zu dan-
ken hatte, noch lebte und bey dem Koͤnige in
dem groͤßten Anſehn ſtund; und was brauch-
te er mehr, als dieſes zu wiſſen, um an keine
Ruͤckkehr zu denken? Aber daß Steeley nicht
kam, und daß er, auf alle ſeine Briefe an ihn,
noch nicht die geringſte Antwort erhalten, die-
ſes beunruhigte ihn deſto mehr. Von Stee-
leys Vater hatte er zwar aus London ſchon
vor etlichen Monaten die Nachricht bekom-
men, daß ſein Sohn durch die Bemuͤhungen
des Engliſchen Geſandten, und durch ein Straf-
geld von etlichen tauſend Thalern ſeiner Ver-
weiſung nach Siberien erlaſſen worden waͤ-
re, von ihm ſelbſt aber haͤtten er und ſeine
Landsleute in Moskau keine Briefe. Jndeſ-
ſen daß der Graf vergebens auf Steeleyn
hoffte, begegnete ihm ein andrer vergnuͤgter
Zufall. Er war eine Stunde vor der Mahl-
zeit, wie er zu thun pflegte, mit dem Herrn
R** auf das Caffeehaus gegangen, wo die
meiſten Fremden einzuſprechen pflegten. Kurz
darauf ließ er mir ſagen, er wuͤrde mir einen
Gaſt mitbringen, fuͤr den ich ein Zimmer zu
rechte machen laſſen ſollte. Er kam, und der
Gaſt war der ehrliche Jude, der ihm in Si-
berien ſo viele Menſchenliebe erwieſen, und den
ſeine Geſchaͤfte nach Holland zu gehn genoͤ-
thigt
[77]Graͤfinn von G**
thigt hatten. Mein Gemahl war auſſeror-
dentlich erfreut, daß er dieſem wackern Man-
ne einige Gefaͤlligkeiten erzeigen konnte, und
er ſelbſt war eben ſo froh, daß er meinen Ge-
mahl ſo unvermuthet und ſo gluͤck[lic]h angetrof-
fen. Er uͤberreichte mir den Brief aus Si-
berien, den ich ſchon eingeruͤckt habe, und ver-
ſicherte mich, daß er ſich in Liefland und Daͤn-
nemark ſehr ſorgfaͤltig nach mir erkundigt und
doch nicht das Geringſte von meinem Auffent-
halte haͤtte erfahren koͤnnen. Sein Herz war
wirklich ſeiner ehrlichen und einfaͤltigen Mine
gleich, und ſeine Sitten gefielen durch ſein
Herz. Er war ſchon bey Jahren und ſein
grauer Bart und ſein langer pohlniſcher Pelz
gaben ihm ein recht ehrwuͤrdiges Anſehn. Die
freundſchaftliche Art, mit der wir mit ihm um-
giengen und ihm unſere Erkenntlichkeit zu be-
zeigen ſuchten, ruͤhrte ihn ausnehmend.
Als wir das erſtemal von der Tafel aufſtun-
den: ſo ward der gute Mann ganz betruͤbt.
Mein Gemahl fragte ihn um die Urſache. Ach
ſprach der Alte, wenn ich nur ſo gluͤcklich ſeyn
koͤnnte, noch etliche Stunden bey ihnen zu
bleiben! Jch habe mein Tage kein ſolch Ver-
gnuͤgen gehabt, und niemand iſt noch ſo groß-
muͤthig mit mir umgegangen, als ſie thun.
Der Graf nahm ihn bey der Hand und fuͤhrte
ihn
[78]Leben der Schwediſchen
ihn in das Zimmer, das fuͤr ihn zu bereitet
war. Seht ihr, ſprach er, meine Gemahlinn
giebt euch ihr beſtes Zimmer ein. Glaubt
ihr nun wohl, daß ihr uns angenehm ſeyd?
Jhr duͤrft nicht daran denken, uns unter acht
Tagen zu verlaſſen. Nicht wahr, ich woh-
ne hier beſſer, als in Siberien? dort habt ihr
mich bedienet, und hier wollen ich und meine
Gemahlinn euch bedienen. Wir thaten es,
und wir alle, Caroline ſowohl als R** be-
ſtrebten uns recht, dieſe acht Tage unſerm Ga-
ſte zu Tagen des Vergnuͤgens zu machen.
Wenn die Sonne untergieng, ſchlich er ſich in
ſein Zimmer und blieb meiſtens eine halbe
Stunde aus. Wir fragten ihn, als dieſes
etlichemal geſchah, um die Urſache und er
wandte allerhand kleine Verrichtungen vor,
bis ihn endlich Herr R** einmahl uͤberraſchte
und auf den Knien betend fand. Als dieſe
acht Tage unter tauſend kleinen Vergnuͤgun-
gen verſtrichen waren: ſo bat er uns, unſere
Wohlthaten einzuſchraͤnken und ihn wieder
fortreiſen zu laſſen. Er verließ uns einen
Tag, um ſeine Geſchaͤfte zu beſorgen, und
kam den andern wieder, um Abſchied von uns
zu nehmen. Nun, ſprach er, will ich mit
Freuden fortreiſen, Herr Graf, und Gott auf
meiner Reiſe danken, daß ich ſie angetroffen
ha-
[79]Graͤfinn von G**
habe. Jch bin alt, und ich werde ſie alle in
dieſer Welt wohl nicht wieder ſehn. Jch ha-
be keine Kinder, und wenn ich nicht bey mei-
nem Weibe ſterben wollte: ſo wuͤrde ich
mich auf meine alten Tage hier niederlaſſen.
Wir nahmen alle als von einem Vater Abſchied
von ihm. Ach Herr Graf, fieng er endlich
ganz furchtſam an, ſie haben mich fuͤr meine
Dienſte reichlich belohnt; aber ich bin gegen
ſie noch nicht dankbar genug geweſen, daß ſie
mir das Leben mit ihrer eignen Gefahr erhal-
ten haben. Sie wiſſen, daß ich mehr Vermoͤ-
gen habe, als ich und meine Frau beduͤrfen. Jch
habe hier in der Bank ein Capital von zehn-
tauſend Thalern zu heben. Erlauben ſie mir
die Freude, daß ichs ihrer kleinen Tochter
ſchenken darf, und nehmen ſie den Schein von
mir an. Wir verſicherten ihn, daß unſere
Umſtaͤnde ſo beſchaffen waͤren, daß wir nicht
Urſache haͤtten, ihm einen Theil von ſeinem
Vermoͤgen zu entziehn; allein er beklagte ſich,
daß wir ſeine Gutwilligkeit verachten wollten,
und zwang uns, das Geſchenk anzunehmen.
Er gieng darauf zu unſrer Tochter und knuͤpfte
ihr noch ein ſehr koſtbares Halsband um den
Hals. Er beſchenkte auch das ungluͤckliche
Maͤdchen, das ich zu mir genommen hatte, ſehr
reichlich, und eilte alsdann, was er konnte, um
ſich
[80]Leben der Schwediſchen
ſich ſeinen Abſchied nicht noch ſaurer zu ma-
chen. Der rechtſchaffene Mann! Vielleicht
wuͤrden viele von dieſem Volke beßre Herzen
haben, wenn wir ſie nicht durch Verachtung
und liſtige Gewaltthaͤtigkeiten niedertraͤchtig
und betruͤgeriſch in ihren Handlungen mach-
ten, und ſie nicht oft durch unſere Auffuͤhrung
noͤthigten, unſere Religion zu haſſen. R**
begleitete den Alten etliche Meilen und koñte gar
nicht aufhoͤren, ſeinen uneigennuͤtzigen und groſ-
ſen Charakter zu bewundern. Unter allen
Merkmalen der Freundſchaft, die wir ihm er-
wieſen, ruͤhrte ihn nichts ſo ſehr, als dieſes,
daß ihn der Graf abmalen und das Bild in
ſeine Studierſtube ſetzen ließ.
Auf dieſe Freude folgte in einigen Wo-
chen eine noch groͤſſere und eben ſo unvermu-
thete. Andreas, Carolinens Bruder, war
gewohnt, alle Jahre ſeinen Geburtstag zu fey-
ern. Er kam einſtens ſehr fruͤh zu uns und
ſagte, weil er genoͤthigt waͤre, auf etliche Wo-
chen zu verreiſen, und weil ſein Geburtstag
morgen einfiele: ſo wollte er ihn heute feyern
und uns bitten, uns gleich mit ihm auf eine
Gondel zu ſetzen und einmal einen ganzen Tag
in ſeinem Hauſe zuzubringen. Wir lieſſen
es uns gefallen, und weil wir bey dem Thee
gleich mit dem Briefe beſchaͤfftigt geweſen wa-
ren,
[81]Graͤfinn von G**
ren, den mir der Graf durch den Juden aus
Siberien geſchickt: ſo baten wir den Andreas,
uns nur ſo lange Zeit zu laſſen, bis ich dieſen
Brief vollends laut hergeleſen und der Graf
uns das, was wir noch umſtaͤndlicher wiſſen
wollten, erzaͤhlt haͤtte; denn Caroline und R**
ſaſſen bey uns. Ach, ſchrie er ganz aͤngſtlich,
das koͤnnt ihr in meinem Hauſe auch thun;
nehmt den Brief mit und verderbt mir meine
Freude nicht, oder ich reiſe gleich heute fort
und tractire euch gar nicht. Dieſes treuher-
zige Compliment noͤthigte uns, ihm gleich zu
folgen. Alles war in ſeinem Hauſe wider ſei-
ne Gewohnheit aufgeputzt, und wir konnten
uns in ſeine groſſen Anſtalten gar nicht finden.
Jch weis nicht, ſprach Caroline, was ich von
meinem Bruder denken ſoll. Wenn nur nicht
etwan aus dieſem Geburtstage ein Hochzeit-
tag wird. Er thut mir zu froh und zu ge-
heimnißvoll. Wir ſcherzten mit ihm daruͤber,
als er uns den Thee auftrug, und er lachte auf
eine Art, als ob er es gern ſaͤhe, daß wir ſeine
kleine Liſt erriethen. Leſet nur euern Brief
vollends durch, fieng er an, ich will indeſſen
meine Braut holen, oder wenigſtens meinen
Flaſchenkeller zurechte machen. Er gieng
in das Nebenzimmer, und wir vertieften uns
wieder in den Brief. Jch fragte nach tauſend
II Theil. FKlei-
[82]Leben der Schwediſchen
Kleinigkeiten, welche die Gemahlinn des Gou-
verneurs angiengen, deren Brief an ihre Stief-
Schweſter nach Curland mein Gemahl wieder
zuruͤck bekommen hatte, weil ſie todt war.
R** wollte immer mehr von der wunderlichen
Gemuͤthsart des Gouverneurs wiſſen, und
Caroline blieb bey aller Gelegenheit bey Stee-
leyn ſtehn. Andreas trat aus der Nebenſtu-
be wieder herein, als wollte er uns zuhoͤren.
Habe ich ihn euch denn noch nicht genug be-
ſchrieben? ſagte mein Gemahl zu Carolinen.
Habt ihr euch denn gar in ihn verliebt? Frey-
lich ſah er vortheilhaft aus, ſonſt wuͤrde ihm
das Coſackiſche Maͤdchen nicht ſo gut geweſen
ſeyn. Er hatte groſſe ſchwarze Augen, wie
ihr, und ‒ ‒ Jndem oͤffnete Andreas, der
nah an der Thuͤre ſtund, das Nebenzimmer und
rief, nach ſeinen Gedanken, ganz ſinnreich: ſah
er etwan wie dieſer Herr aus? und in dem
Augenblicke ſtund Steeley vor uns. Der
Graf zitterte, daß er kaum von dem Seſſel auf-
ſtehen konnte, und wir ſahen ihren Umarmun-
gen mit einem freudigen Schauer lange zu.
Nun, ſchrie endlich Steeley, nun ſind wir fuͤr
alle unſer Elend belohnet, und riß ſich von dem
Grafen los, und ich eilte ihm mit offnen Armen
entgegen. Ach Madam, fieng er an, ich ‒ ‒ ich ‒
ja, ja, ſie ſind es ‒ ‒ und das war ſein ganzes
Com-
[83]Grafinn von G**
Compliment. Der Grafkam auf uns zu, und
wir umarmten uns alle drey zugleich. O was
iſt das Vergnuͤgen der Freundſchaft fuͤr eine
Wolluſt, und wie wallen empfindliche Herzen
einander in ſo gluͤcklichen Augenblicken entge-
gen! Man ſieht einander ſchweigend an, und
die Seele iſt doch nie beredter, als bey einem
ſolchen Stillſchweigen. Sie ſagt in einem Bli-
cke, in einem Kuſſe ganze Reihen von Em-
pfindungen und Gedanken auf einmal, ohne
ſie zu verwirren. Caroline und der Herr R**
theilten ihre Freude mit der unſrigen, und wir
traten alle viere um Steeleyn und waren alle
ein Freund. Dem Andreas mochte unſre Be-
willkommung zu lange dauern; er zog mich
und Carolinen bey Seite. Jhr Leute, ſprach
er ganz beſtrafend, vergeßt doch nicht, daß ihr
Frauenzimmer ſeyd und ‒ ‒ Setzt euch alle
nieder, ſonſt muß ich den ganzen Tag euern
Umarmungen zuſehen. Thut es, wenn ich
nicht dabey bin. Wir wollen heute luſtig und
nicht ſo niedergeſchlagen ſeyn. Und damit muß-
ten wir uns niederſetzen. Herr Graf, fuhr er
darauf fort, habe ichs nicht liſtig gemacht?
Wir merkten, daß er fuͤr ſeine Erfindung be-
lohnt ſeyn wollte, und er war es werth, daß
wir ihm unſer eigen Vergnuͤgen etliche Minu-
ten aufopferten. Mein Gemahl hatte ſchon
F 2zehn
[84]Leben der Schwediſchen
zehn Fragen an Steeleyn gethan; allein Andreas
ließ ihn zu keiner Erzaͤhlung kommen. Seyd
doch zufrieden, ſprach er, daß ihr ihn habt, und
daß ich ihn euch geſchafft habe. Jhr ſollt ihn auf
den Abend mit zu euch nehmen, alsdann koͤnnt
ihr mit einander reden, bis wieder auf mei-
nen Geburtstag. Jtzt will ich das Vergnuͤ-
gen haben, daß ihr bey mir recht aufgeraͤumt
ſeyn und recht laut werden ſollt. Wir wuͤnſch-
ten unſtreitig alle, von unſerm gebietriſchen und
uns ſo unaͤhnlichen Wirthe bald entfernt zu
ſeyn; allein wir mußten uns ihm aus Dank-
barkeit Preis geben, und Steeley ſchien ſelbſt
itzt keine Luſt zu haben, uns ſeine Begebenhei-
ttn zu erzaͤhlen, auſſer daß er den Tod des Gou-
verneurs etlichemal erwaͤhnte. Und von ſeiner
Gemahlinn, fuhr er zum Grafen fort, habe ich
einen Brief an euch. Die großmuͤthige Seele!
Jch will euch den Brief aus meinem Coffer lan-
gen. Er gieng, und Andreas mit ihm. Wir
waren es zu frieden, daß uns Steeley einige
Augenblicke verließ, nur damit wir das Ver-
langen befriedigen konnten, einander unſere
Lebſpruͤche von ihm mitzutheilen. Jſt er mei-
ner Liebe werth, ſprach der Graf zu mir, und
gefaͤllt er euch? Caroline ließ mich nicht zum
Worte kommen. Herr Graf, rief ſie, ihre Ge-
mahlinn kann nicht urtheilen, ſie iſt nur von
ih-
[85]Graͤfinn von G**
ihnen eingenommen. Fragen ſie doch mich, ich
wills ihnen aufrichtig ſagen, ich und das Maͤd-
chen in Siberien, wir ‒ ‒ Hier trat Steeley,
mit einem Frauenzimmer an der Hand, herein,
aus deren Geſichte Anmuth und Freude lach-
ten. Sie gieng in Amazonenkleidern, und je-
der Zug in ihrer Bildung war ein Abdruck der
Gefaͤlligkeit und der Liebe. Ach Gott! rief der
Graf, wen ſehe ich? Jſt es moͤglich, Madam?
oder betruͤgen mich meine Augen? das iſt zu
viel Gluͤck auf einen Tag! Madam, redte mich
Steeley an, indem ich noch vor Erſtaunen
immer auf einer Stelle ſtund: Hier bringe ich
ihnen meine liebe Reiſegefaͤhrtinn und bitte fuͤr
ſie um ihre Freundſchaft. Jch wußte noch
nicht, wen ich umarmte, oder wollte es doch
nicht ſobald wiſſen, um mein Vergnuͤgen zu
verlaͤngern. Sie ſelbſt ſchien mich aus eben
der Urſache in der Ungewißheit zu laſſen.
Glaubt es doch, rief mir endlich mein Gemahl
zu, ſie iſt es, der ich meine Befreyung zu dan-
ken habe; ſie hat mich euch wieder ge-
geben. Ja, Madam, fieng ſie an, fuͤr dieſen
Dienſt ſuche ich itzt die Belohnung bey ihnen,
und ich bitte nicht um ihre Freundſchaft, ſon-
dern ich fodere ſie von ihnen. Jſt es ihnen
denn recht lieb, daß ſie mich ſehn? Ja, ich ſe-
F 3he
[86]Leben der Schwediſchen
he es, ſie fuͤhlen eben ſo viel, als ich, daß ich
ſie nunmehr kenne. Ach, Herr Graf, alſo
ſind wir nicht mehr in Siberien? Wie viel
habe ich ihnen zu erzaͤhlen! Jhr Freund, den
ſie mir hinterlaſſen haben, hat mir viel zuwi-
der gethan, (hier ſah ſie Steeleyn mit dem
zaͤrtlichſten Blicke an) und ‒ ‒ er mag es ihnen
ſelber ſagen. Aber fieng ſie ganz ſacht zu mei-
nem Gemahle an, wer iſt das Frauenzimmer
und der Herr? (ſie meynte Carolinen und R**)
Der Graf erſchrack und wußte nicht, was er
in der Eil ſagen ſollte. Sie ſind ‒ ‒ ſie ſind
unſre Freunde und auch die ihrigen. Jch
nahm darauf Carolinen bey der Hand und
fuͤhrte ſie zu ihr, und der Graf that mit
R** eben das. Wir glaubten, daß Andreas
das Geheimniß vor unſerer Zuſammenkunft
ſchon verrathen haͤtte; denn die Verſchwiegen-
heit war ſeine Sache nicht. Allein er hatte,
entweder um uns zu ſchonen, oder weil er
nicht daran gedacht hatte, geſchwiegen. Er
hatte nicht die Geduld gehabt, unſere Bewill-
kommung ganz anzuhoͤren. Jtzt kam er wie-
der herein und half uns zum Theil aus unſrer
Verwirrung. Das iſt, fieng er zu der Frem-
den an, das iſt meine liebe Schweſter. Jn
dem Augenblicke gieng R** mit niedergeſchla-
ge-
[87]Graͤfinn von G**
genen Augen aus der Stube, weil er glaubte,
daß Andreas auch von ihm anfangen wuͤrde.
Geht nicht, rief ihm dieſer nach, ich will
nichts ſagen. Der Herr Graf wird es ſchon
ſelbſt erzaͤhlen. Ach, mein lieber Graf,
ſprach Steeley, was iſt das fuͤr ein Geheimniß?
Darf ichs und die Madam nicht wiſſen? Wer
iſt der Herr R**? Er iſt einer von meinen
aͤltſten Freunden, und wenn ich ihnen alles ſa-
gen ſoll ‒ ‒ hier ſahe er mich an und ſchwieg.
Er war mein Gemahl, ſprach ich zu meiner
neuen Freundinn, ehe ich wußte, daß mein
Graf noch lebte. Sie haſſen mich doch des-
wegen nicht? Nein, Madam, ich verdiene
ihr Mitleiden und mein Graf ‒ ‒ dieſer liebt
euch, fuhr erfort, eben ſo zaͤrtlich, als iemals.
Sie ſah mich beſchaͤmt und eilte, mir durch
eine mitleidige Umarmung dieſe traurigen Au-
genblicke zu verkuͤrzen. Steeley ſchien wirk-
lich bey dieſer Nachricht etwas von ſeiner Hoch-
achtung gegen mich zu verlieren. Er ſah
bald mich, bald den Grafen an. Jſt ſie denn
nicht mehr eure Gemahlinn? ſprach er ganz
heftig. Sie iſt meine Gemahlinn, antwortete
ihm der Graf; beunruhigt euch nicht. Jch
weis, daß ihr mich liebt, und mir hat zu
meinem Gluͤcke nichts als der heutige Tag ge-
F 4fehlt.
[88]Leben der Schwediſchen
fehlt. Hierauf gieng unſere Freude, wie
von neuem, an.
Unſer ſtuͤrmiſcher Wirth noͤthigte uns
alsbald zur Mahlzeit. Ein jedes Wort von
uns war eine Liebkoſung, und an Statt zu
eſſen, ſahen wir einander an. Madam, fieng
endlich Steeley zu mir an, ihre Augen fra-
gen mich alle Augenblicke etwas. Beneiden
ſie mich etwan wegen meiner liebenswuͤrdigen
Reiſegefaͤhrtinn? Oder wollen ſie wiſſen,
warum ſie nach Holland gegangen iſt? Sie
will die Juwelen wieder holen, die ſie dem
Herrn Grafen in Siberien gegeben hat. Wir
erfuhren in Moskau, daß wir ihn hier finden
wuͤrden, und ſie wird ſo lange bey ihnen blei-
ben, bis ſie erſetzt ſind. Ja, ſprach ich, wir
ſind dazu verbunden; aber warum nehmen
ſie ſich der Madam ſo eifrig an? Erfodert die-
ſes die Pflicht der Reiſegeſellſchaft? Sie hoͤ-
ren wohl, verſetzte ſie, daß er das Geheimniß
meiner Reiſe gern entdeckt wiſſen will. Jch
ſoll ihnen ſagen, daß ich ihn liebe, und daß ich
ihn aus Liebe hieher begleitet habe. Er ver-
dient und beſitzt mein Herz, und ihm meine
Hand zu geben, habe ich bloß auf ihre Gegen-
wart verſpart. Steeley ſtund [auf] und um-
arm-
[89]Graͤfinn von G**
armte ſie. Alſo ſind ſie meine Braut? rief
er. Ja, ſagte ſie, und um es zu werden, wuͤr-
de ich noch eine See durchreiſen. Und ihnen,
mein lieber Herr Graf, ihnen bin ich mein
Gluͤck ſchuldig, denn ohne ſie wuͤrde ich meinen
Geliebten nie haben kennen lernen. Sie ha-
ben mir ihn in ihrem erſten Geſpraͤche mit mir,
ſo edel beſchrieben, daß ich ihm gewogen war,
ehe ich ihn ſah. Die Vorſehung hat mir
mein Ungluͤck durch ihn belohnt, und ich will das
ſeinige durch meine Liebe belohnen. Jch bleibe
bey ihnen; und ſie, Madam, ſollen das Recht
haben, unſere Verbindung zu vollziehn,
und einen Tag zu unſrer Vermaͤhlung anzuſe-
tzen, welchen ſie wollen. Jch will meinen
kuͤnftigen Gemahl von ihren Haͤnden empfan-
gen; Und ich, ſprach der Graf, meine Ge-
mahlinn von den ihrigen. Jch will mir ſie,
da ich die zweyte Ehe mit ihr angefangen ha-
be, auch noch einmal vermaͤhlen laſſen, und
dieſes ſoll an dem Tage geſchehn, da ſie ihre
Verbindung vollziehn. Amalie, ſo hieß
Steeleys Braut, ließ darauf einen Pocal und
einen Flaſchenkeller Wein aus ihrem Zimmer
langen. Kennen ſie das Glas, Herr Graf?
daraus habe ich ihnen in Siberien die Geſund-
heit ihrer Gemahlinn zu getrunken. Und aus
F 5eben
[90]Leben der Schwediſchen
eben dieſem Glaſe und von dem Weine, der
nicht weit von dieſem Lande gewachſen iſt,
wollen wir ſie zum andernmale in Holland
trinken. O wie gut wird mirs ſchmecken!
Sie trank und reichte mirs. Jch ſah das
Glas und den Wein an, und ſah meinen Ge-
mahl zugleich in Siberien und in den ungluͤck-
lichſten Umſtaͤnden von einer großmuͤthigen
Seele bedauert und geſchuͤtzt; ich ſah ſie an
und trank, und Thraͤnen fielen in den Wein.
Kein Wein hat mir in meinem Leben ſo gut
geſchmeckt, als dieſer. Wir ſchwiegen vor
Vergnuͤgen alle ſtill, bis Andreas endlich un-
ſer Stillſchweigen unterbrach. Aber, Madam,
fieng er lachend an, wie ſah denn der Herr Graf
damals aus, da er als ein Gefangner vor ihnen
ſtund? Sah er vornehm oder nicht? Sah
er traurig? Seine Mine, ſprach ſie, richtete
ſich nach der Art, mit der ich mit ihm redte.
Wenn ich ihn recht freundſchaftlich bedauer-
te: ſo ſah er mich zur Dankbarkeit ſehr demuͤ-
thig an; und wenn ich einen Augenblick un-
empfindlich gegen ſein Elend ſchien: ſo warf
er mir mein kaltes Herz mit einer ſtolzen Mi-
ne vor, die mich leicht errathen ließ, daß er
aus Unſchuld ungluͤcklich und im Elende auch
noch groß geſinnt war. Aber wie war er ge-
klei-
[91]Graͤfinn von G**
kleidet? Schlechter, als ich wuͤnſchte. Ein
deutſches Unterkleid, ſehr abgenutzt, und ein
ſchwarzer ruſſiſcher Pelz und ein Paar Halb-
ſtiefeln waren ſein Staat. Sein kurzes auf-
gelaufnes Haar gab indeſſen ſeinem Geſichte,
bis auf etliche Spuren von Kummer, die aus
ſeinen Augen nicht vertrieben werden konnten,
einunerſchrocknes Anſehn. Nie war er bered-
ter und in meinen Augen groͤſſer, als da er von
ſeiner Gemahlinn ſprach; und ich that von
dieſem Augenblicke an heimlich ein Geluͤbde,
ihm die Freyheit auszuwirken. Aber ihr
verſtorbner Gemahl und der Herr Graf,
ſprach Andreas, waren wohl nicht allezeit die
beſten Freunde? Was dieſer gethan hat, das
bitte ich dem Grafen itzt ab. Ach vergeben
ſie ihm die Fehler ſeiner Gemuͤthsart und ſei-
nes Volkes, die ich ungeachtet ſeiner Neigung
gegen mich mehr, als ſie, empfunden habe.
Unſre Ehe war ein Buͤndniß, das der Hof
ſchloß, und das ich aus Gehorſam nicht aus-
ſchlagen durfte. Jndeſſen ehre ich ſein An-
denken; ſo wie ich mein Schickſal an ſeiner
Seite geduldig ertragen und mir, wenn ichs
ſagen darf, vielleicht durch meine Geduld ein
beſſers verdient habe.
[92]Leben der Schwediſchen
Andreas ward zu unſerm Gluͤcke durch
ſeine Geſchaͤf[t]e von uns gerufen, und ſeine Ab-
weſenheit ließ uns vertraulicher werden. Stee-
ley wollte dem Grafen erzaͤhlen, was ſeit
ſeiner Abreiſe aus Tobolskoy vorgegangen;
allein er ſtand alle Augenblicke vor gar zu groſ-
ſer Empfindung ſtill, und wir waren zu-
frieden, das wir dieſesmal das Wichtigſte von
dem erfuhren, was uns Amalie nachdem um-
ſtaͤndlicher auf folgende Art erzaͤhlet hat.
Wenig Tage nach des Herrn Grafen
ſeiner Abreiſe, fieng ſie auf unſer Bitten an,
ſtarb mein Gemahl an dem zuruͤckgetretenen
Podagra. Jch berichtete ſeinen Tod nach
Hofe, und bat zugleich um die Erlaubniß, nach
Moskau zuruͤck zu kehren. Die Gewalt, die ich
bis zur Ernennung eines neuen Gouverneurs
in den Haͤnden hatte, gab mir Gelegenheit ver-
ſchiedne harte Verordnungen aufzuheben,
die mein Gemahl in Anſehung der Gefang-
nen ergehn laſſen. Jhrem zuruͤckgelaſſenen
Freunde, Herr Graf, konnte ich mehr Be-
quemlichkeiten verſchaffen. Jch befahl dem
Juden, ihn mit allem zu verſorgen, was er noͤ-
thig haͤtte, und ließ ihn muthmaſſen, als ob
er ein Anverwandter von mir waͤre. Damals
wa-
[93]Graͤfinn von G**
waren meine Wohlthaten wohl bloſſe Wir-
kungen des Mitleidens. Jch hatte ihn nicht
mehr, als einmal, und noch dazu in den trau-
rigſten Umſtaͤnden geſehn, als er auf ihre Fuͤr-
bitte durch meinen Gemahl nach Tobolskoy
zuruͤck berufen ward. Jch hoͤrte es gern,
wenn mir der Jude ſeine Dankſagungen fuͤr
meine Vorſorge uͤberbrachte, und was ich nicht
wohl durch Befehle ausrichten konnte,
das mußte der Jude durch das Geld, das ich
ihm gab, bey den Unteraufſehern zu bewerk-
ſtelligen ſuchen. Er war in ein beſſer Be-
haͤltniß gebracht, und ich hatte ſchon aller-
hand Mittel ausgeſonnen, wie ich ihm bey
meiner Zuruͤckreiſe nach Moskau dieſe ertraͤg-
lichen Umſtaͤnde dauerhaft machen wollte.
Ungefehr nach vier Wochen kam ein
Befehl an mein[e]n verſtorbnen Gemahl, daß
Steeley frey ſeyn, und bey der erſten Gele-
genheit, die man ihm verſchaffen koͤnnte, mit
einem Paſſe verſehn, und fuͤr ſein Geld fort-
gebracht werden ſollte. Jch ließ den Mor-
gen darauf den Juden zu mir kommen, und
ſagte ihm, daß er Steeleyn eiligſt zu mir
bringen ſollte, und daß ich unter der Zeit, da
er ihm dieſes meldete, die Wache nachſchi-
cken wollte, ihn abzuholen. Er kam, und
ich ließ ihn nebſt dem Juden zn mir ins Zim-
mer
[94]Leben der Schwediſchen
mer treten. Er ſtattete mir die Dankſagung
fuͤr meine bisherige Vorſorge auf eine ſehr
ehrerbietige und gefaͤllige Weiſe ab, und blieb
an der Thuͤre des Zimmers ſtehn. Jch frag-
te ihn, ob er keine Nachricht von dem Gra-
fen haͤtte? ob er mit ſeinen Umſtaͤnden zu-
frieden waͤre? Er beantwortete das erſte mit
einem traurigen Nein, und das andere mit
einem gelaßnen Ja. Jch bat ihn, mir eine
kurze Erzaͤhlung von ſeinem Schickſale zu
machen. Er that es, und ie mehr er redte,
deſto mehr noͤthigte er mir durch ſeine Worte
und durch ſeine Minen Aufmerkſamkeit und
Hochachtung ab. Er ſah weit beſſer aus, als
vor zwey Jahren, und ich weis nicht, ob ich
mirs beredte, oder ob es wahr war, daß ihm
der Siberiſche Pelz recht ſchoͤn ließ. Jch
hoͤrte aus ſeiner Art zu reden nunmehr ſehr
wohl, daß er ein edelmuͤthiges Herz hatte;
und wenn ich ja noch einige Augenblicke dar-
an gezweifelt hatte: ſo war es vielleicht des-
wegen geſchehn, weil ich bey meinem Zweifel
gern widerlegt ſeyn wollte. Der Graf, dach-
te ich, hat Recht, daß er ihn ſo ſehr liebt,
und ſo ſehr fuͤr ihn gebeten hat. Er ver-
dient Hochachtung und Mitleiden; und es iſt
deine Pflicht, einem ſo rechtſchaffenen und un-
gluͤcklichen Manne zu dienen. Jch merkte,
ie
[95]Graͤfinn von G**
je mehr er redte, daß etwas in meinem Herzen
vorgieng; allein ich hatte keine Luſt, es zu un-
terſuchen, und ich huͤtete mich zugleich, mein
Herz nicht zu ſtoͤren. Jch nannte meine Re-
gungen bey mir ſelbſt, Wirkungen ſeiner Un-
gluͤcksfaͤlle, und ſetzte mich in Gedanken nie-
der, und ließ ihn lange fortreden, ohne ein
Wort zu ſagen. Als er mir die Grauſamkeit
erzaͤhlte, die man in der Stadt Moskau an
ihm und dem Sidne begangen: ſo fuͤhl-
te ich weit mehr, als da ſie mir der Graf er-
zaͤhlt hatte. Es war mir unmoͤglich, die Thraͤ-
nen zuruͤck zu halten, und ich wollte doch auch
nicht, daß er meine Wehmuth ſehn ſollte. Jch
fragte ihn in der Angſt, wie alt ſein Vater
waͤre, und wie lange er ihn nunmehr nicht ge-
ſehn haͤtte, nur damit ich das Wort: der ar-
me Mann! das mir mein Herz fuͤr ihn abnoͤ-
thigte, nebſt einigen Thraͤnen bey ſeinem Va-
ter anbringen konnte. Jch fuͤhrte ihn durch
ziemlich neugierige Fragen in die Umſtaͤnde
ſeiner Familie und ſeiner Jugend zuruͤck. Er
fieng endlich an, von der traurigen Begeben-
heit mit ſeiner Braut in Engelland zu erzaͤh-
len, und ich ward ſo geruͤhrt, daß ich recht ge-
waltſam von meinem Stuhle aufſprang, und
ganz nah zu ihm trat; vielleicht hatte ich das
letzte ſchon gewuͤnſcht. Er ward bey dieſer
Erzaͤh-
[96]Leben der Schwediſchen
Erzaͤhlung ſehr weichmuͤthig, und endigte ſie
mit einem Ach Gott! das mir durch die See-
le gieng. Er ſchlug die Augen nieder, und es
war mir nicht anders, als ob ich ſie ihm wieder
oͤffnen ſollte. Er ſah mich endlich auf einmal
mit einer klagenden Mine an, und ich erſchrack,
als ob er mir ein Verbrechen vorruͤckte. Mein
Herr, fieng ich an, ich will gleich weiter mit ih-
nen reden. Jch gieng in das Nebenzimmer, um
den Befehl wegen ſeiner Befreyung zu holen.
Jch ſuchte ihn lange vergebens, ob er gleich vor
mir lag. Jch ſchaͤmte mich vor meiner Unruhe,
und glaubte zu meinem Troſte, daß ſie von den
traurigen Erzaͤhlungen herſtammte, und daß
ſie durch die Freude, die Steeley uͤber ſeine Er-
loͤſung haben wuͤrde, ſich bald verlieren ſollte.
Jch ſah in den Spiegel, ehe ich wieder in das
andre Zimmer trat, und ich ſah in jedem Bli-
cke die Unruhe meines Herzens verrathen. Jch
hatte indeſſen bey aller meiner Unruhe noch
die Geduld, etwas an meinem Kopfputze zu
verbeſſern; und mitten in dem Verlangen, Stee-
leyn ſeine Befreyung anzukuͤndigen, uͤberlegte
ich noch, wie ſeine ungluͤckliche Braut ausgeſehn
hatte, und hielt ihr Bild im Spiegel gleichſam
gegen das Meinige. Jch bereitete mich auf ei-
ne kleine Anrede, und oͤffnete das Zimmer, und
gieng auf Steeleyn zu. Jch fuͤhlte, da ich an-
fan-
[97]Graͤfinn von G**
fangen wollte zu reden, daß mir der Athem
fehlte, und daß ich die Worte nicht wieder
finden konnte, die ich in meinem Gedaͤchtniſſe
geſammelt hatte. Jch that alſo an den Ju-
den etliche gleichguͤltige Fragen, bis ich mich
wieder erholte. Jch will nicht laͤnger unge-
recht ſeyn, fieng ich endlich an, und ihnen ei-
ne Nachricht vorenthalten, die ſie vielleicht
ſchon lange zuͤ hoͤren gewuͤnſcht haben. Ver-
ſtehen ſie Ruſſiſch? Er antwortete mir aͤngſt-
lich, ja, ja, und zitterte, und machte, daß ich ei-
nen kleinen Schauer fuͤhlte. Jch ſetzte mich
nieder, und bat ihn, daß ers auch thun ſollte.
Er weigerte ſich, u. ich hielt mich fuͤr verbunden,
ihm ſelbſt einen Seſſel zu reichen und mich da-
durch an dem mir ſchon beſchwerlichen Ceremo-
niell zu raͤchen. Jch las ihm den Befehlvor,
und ſagte endlich zu ihm: von dieſer Stunde
an haben ſie ihre Freyheit, und ich bin ſehr ver-
gnuͤgt, daß ich die Perſon habe ſeyn ſollen, die
ſie ihnen ertheilen muß. Sehen ſie mich nicht als
ihre Gebieterinn, ſondern als ihre gute Freundiñ
an. Er ſprang vom Stuhle auf und kuͤßte mir
mit einer unausſprechlichen Freude die Hand,
und ich ließ ihn dieſe Dankbarkeit ſehr oft wie-
derholen, als fuͤrchtete ich, ihn zu beleidigen,
wenn ich die Hand zuruͤcke zoͤge. Er ſtammelte
etliche Worte vor Freuden hervor, und auch die-
II Theil. Gſe
[98]Leben der Schwediſchen
ſe Sprache gefiel mir. Jch ließ den Aufſehern
der Gefangnen Steeleys Befreyung gleich an-
zeigen, und die Wache, die ihn begleitet hatte,
zuruͤck gehn. Jch wollte ihnen, fuhr ich fort,
gern mein Haus zum Auffenthalte anbieten, bis
ſie mit einer ſichern Gelegenheit nach Moskau
zuruͤckkehren koͤnnen; allein meine Umſtaͤnde
ſcheinen es zu verbieten. Der Jude wird ih-
nen ſchon eine Wohnung ausmachen. Sie duͤr-
fen um nichts bekuͤmmert ſeyn, ſo lange ich noch
hier bin. Er nahm Abſchied, und ich ſah in ſei-
nen Augen, daß er mir weit mehr zu ſagen hat-
te, als er ſagte, und ich kraͤnkte mich, daß der Ju-
de zugegen war. Dieſem befahl ich, daß er nach
der Tafel wieder zu mir kommen ſollte. Alſo
war dieſer erſte Beſuch geendiget. Jch trat an
das Fenſter und wollte ihm nachſehn, und ich
fragte mich in den Augenblicke, warum ich die-
ſes thaͤte; aber ich that es doch. Jch ſetzte
mich zur Tafel und es reute mich, daß ich ihn
nicht bey mir behalten hatte. Der Jude blieb
mir ſchon zu lange, und ich haͤtte es ſicher genug
wiſſen koͤnnen, daß ich Steeleyn mehr als be-
dauerte; allein ich fand es fuͤr gut, mich zu
hintergehen. Jch ſtellte mir vor, daß Steeley
vielleicht mit einer Caravane handelnder
Kaufleute durch Huͤlfe des Juden in wenig
Tagen von hier abgehn koͤnnte, und ich ver-
wehr-
[99]Graͤfinn von G**
wehrte es ihm in meinen Gedanken ſchon, und
wuͤnſchte, daß er in meiner Geſellſchaft moͤchte
zuruͤck reiſen koͤnnen. Der Jude kam und ver-
ſicherte mich, daß er ſeinen Gaſt ſehr wohl auf-
gehoben, und ihn in das Haus gebracht haͤtte,
das er meinem verſtorbenen Gemahle vor zwey
Jahren abgekauft. Jch erſchrack uͤber dieſe
Nachricht, als ob ſie von einer Vorbedeutung
waͤre, und ich war zugleich mit ſeiner Anſtalt
zufrieden. Jch rief den alten deutſchen Be-
dienten, der mir von Curland aus nach Mos-
kau und von Moskau nach Siberien gefolgt
war, und den ich itzt noch bey mir habe, u. befahl
ihm, daß er mit dem Juden gehn und ſehn ſollte,
was der Herr, der heute aus dem Arreſte gekom-
men, in ſeiner Wohnung brauchte, weil er
nach dem Befehle des Hofs bis zu ſeiner Ab-
reiſe als eine Standsperſon verſorgt werden
ſollte. Er kam wieder und ſagte mir, daß er,
bis auf das weiſſe Geraͤthe und eine Madratze
zum Schlafen, mit den noͤthigſten Meubeln
verſehn waͤre. Jch reichte ihm alles ſelbſt, was
er foderte, und zwar von jeder Art das Koſt-
barſte, und war unwillig, daß der Bedien-
te nicht mehr verlangte. Jch ſagte ihm, daß
er die Stuͤcke genau zaͤhlen ſollte, damit keines
verlohren gienge, und mein Herz wußte doch
nicht das geringſte von dieſer wirthſchaftlichen
Sorgfalt. Jch hieß ihn noch ein Flaſchenfut-
G 2ter
[100]Leben der Schwediſchen
ter Wein mitnehmen. Und wenn ihr von ihm
geht, fuhr ich fort: ſo koͤnnt ihr ihn in euerm
Namen fragen, ob er noch etwas zu befehlen
haͤtte. Er kam nicht eher, als mit dem Abend
wieder. Jch fragte ihn, wo er ſo lange geblie-
ben waͤre. Ach, hub er in ſeiner treuherzigen
Sprache an, man kann von dem Herrn gar
nicht wieder loskommen. Es iſt ein rechter
lieber Herr; alles was er ſagt, nimmt einem
das Herz. O wenn ſies nur haͤtten hoͤren
ſollen, wie er dem Himmel dankt, daß er ihn
aus der Gefangenſchaft errettet hat! Er mag
recht fromm ſeyn, und ich weis nicht, wie ihn
der liebe Gott nach Siberien hat fuͤhren koͤn-
nen! Jch wollte ihn, als ich gieng, auskleiden
helfen. Ach, ſprach er, mein lieber Chriſtian,
gebt euch keine Muͤhe, ich habe mich in Siberi-
en ſelber bedienen lernen. Es gieng mir recht
nahe. Er hat auch ein recht gutes Anſehn.
Wer weis, wie vornehm er von Geburt iſt und
hat doch in dieſem verwuͤnſchten Lande ſo viel
ausſtehen muͤſſen! Wenn ſie mirs erlauben,
ſo will ich ihn alle Tage etliche Stunden bedie-
nen, damit es ihm wieder wohlgehe. Bey ih-
nen laͤßt er ſich fuͤr alle Gnade, die ſie ihm er-
zeigen, ganz unterthaͤnigſt bedanken, und um
nichts als ein Buch bitten. Es wird auf dieſem
Zeddel ſtehn. Dieſer Zeddel war ein Franzoͤ-
ſiſch Billet von dieſem Jnnhalte:
[101]Graͤfinn von G**
Mein Gluͤck ſcheint mir nur ein Traum zu
ſeyn; und Sie uͤberhaͤufen mich mit ſo vieler Gna-
de, daß ich gar nicht weis, wie ich dankbar ge-
nug ſeyn ſoll. Jch erzaͤhle es dem Grafen und
allen meinen Freunden, und allen meinen Lands-
leuten, ſchon in Gedancken, daß ich das großmuͤ-
thigſte Herz in Siberien angetroffen habe. Ach,
Madam, wodurch verdiene ich ihre Sorgfalt?
und wodurch kann ich ſie in dem Reſte meines
ungluͤcklichen Lebens verdienen? durch nichts, als
durch Ehrerbietung ‒ ‒ ‒
Dieſer kurze Brief gefiel mir ſehr wohl. Jch
brachte einen groſſen Theil der Nacht mit einer
geheimen Auslegung dieſes Briefs zu. „Wo-
„durch ſoll ich ihre Sorgfalt in dem Reſte mei-
„nes ungluͤcklichen Lebens verdienen? durch
„Ehrerbietung„. Jch gab dieſem Worte eine
Bedeutung, wie ſie mein Herz verlangte. Jch
freute mich, da ich erwachte, daß der Tag ſchon
da war. Jch eilte, und beſchloß, Steeleyn des
Mittags mit mir ſpeiſen zu laſſen. Jch konnte
den Bedienten nicht finden. Jch vermuthete,
daß er bey ſeinem neuen Herrn ſeyn wuͤrde, und
ich hatte Recht. Jn kurzem kam er. Jch warf
ihm vor, daß er mich bald uͤber ſeinen neuen
Herrn vergeſſen wuͤrde, und ſchickte ihn mit zwey
franzoͤſiſchen Buͤchern wieder an Steeleyn, und
ließ ihn bitten, zu Mittage mit mir zu ſpeiſen.
Jch ließ etliche wenige Gerichte nach deutſcher
Art zurichten, und ihn zu Mittage in einem
Schlitten abholen. Jch hatte mich nicht vor-
nehm gekleidet, um ihm deſto aͤhnlicher zu ſeyn;
G 3doch
[102]Leben der Schwediſchen
doch war ich ſorgfaͤltig genug geweſen, eine gu-
te Wahl in meinem Anzuge zu treffen. Bey
dieſer Mahlzeit wollte ich, ſo zu reden, hinter
mein eigen Herz kommen, und erfahren, ob mei-
ne Empfindungen mehr als Freundſchaft waͤren.
Mein Gaſt kam, und ſeine Mine war weit heit-
rer, als die geſtrige, und wie mich duͤnkte, weit
gefaͤlliger. Er war beſſer, ob gleich noch Ruſ-
ſiſch gekleidet, als geſtern. Dankbarkeit und
Ehrerbietung redten aus ihm. Jch that, als ob
meine Vorſorge fuͤr ihn eine Verordnung des
Hofs waͤre, und ſetzte mich ganz allein mit ihm
zu Tiſche. Wir brachten uͤber unſrer kleinen
Mahlzeit wohl drey Stunden zu, und es ſchien
mir, daß ſie ihm eben ſo kurz ward, als mir.
Er konnte ſich noch nicht recht in das Ceremoniell,
mit einer Dame, und vornehm zu ſpeiſen, finden,
und ich hatte das Vergnuͤgen, ihn alle Augen-
blicke durch eine kleine Hoͤflichkeit zu erſchrecken;
ja, ich erfreute mich, daß ich ihn in der Wohl-
anſtaͤndigkeit uͤbertraf, weil ich merkte, daß er
mir am Geiſte uͤberlegen war. Er mußte mir
ſeine Begebenheiten noch einmal erzaͤhlen, und
ſie ruͤhrten mich, als ob ich ſie noch nicht gehoͤrt
haͤtte. Wir ſprachen von dem Grafen, und er
bezeigte ein ſo groſſes Verlangen, ihn wieder zu
ſehn, daß ich lieber eiferſuͤchtig geworden waͤre.
Mit einem Worte, mein Gaſt gefiel mir nach
wenig Stunden ſo ſehr, daß ich mir alle Gewalt
anthun mußte, mich zu verſtellen. Jch wuͤnſch-
te in denen Augenblicken, da uns unſer Bedien-
ter verließ, daß er mir etwas verbindliches ſagen
moͤch-
[103]Graͤfinn von G**
moͤchte, nur um zu wiſſen, ob ich ihm gefiele.
Allein er blieb bey der Sprache der Ehrerbietung,
und ſeine Augen redten eben die Sprache. Er
nahm aus einer ungluͤcklichen Hoͤflichkeit, als wir
vom Tiſche aufſtunden, Abſchied, und ich hatte
das Herz nicht, ihn zu bitten, daß er laͤnger bleiben
ſollte, weil ich mich zu verrathen glaubte. Jch
ließ ihn alſo wieder in ſein Quartier bringen.
Und nun wußte ichs, ob ich ihm gewogen war.
Jch war beleidigt, daß er mich ſchon verlaſſen
hatte. Jch war unruhiger, als zuvor, und ich
ward es nur mehr, ie weniger ichs ſeyn wollte.
Jch ſtellte mir vor, daß ich ihm nicht gefiele, und
kraͤnkte mich, daß ich nicht reizend genug war,
mehr als Hochachtung von ihm zu verdienen.
Jch ward uͤber dieſer Vorſtellung kleinmuͤthig,
und raͤchte mich durch Geringſchaͤtzung an mir
ſelber. Gleichwohl wollte ich nicht alle Hoffnung
fahren laſſen, und meine Liebe zu ihm mir auch
nicht verbieten. Jch beſchloß, ihn in drey Ta-
gen wieder zu mir zu bitten. O was waren das
fuͤr lange Tage fuͤr mich! Der Bediente erzaͤhl-
te mir binnen dieſer Zeit, daß ſein Herr in ſeiner
Einſamkeit ganz tiefſinnig wuͤrde. Wie lieb war
mir dieſe Nachricht! Jch war ſchwach genug
ihn zu fragen, ob er nichts von mir geſprochen
haͤtte. Er lobt ſie uͤber die maßen, ſprach er, und
fragt mich, ſo oft ich komme, wie ſie ſich be-
finden, und fragt nach allen Kleinigkeiten.
Nach drey Tagen war er wieder auf die vo-
rige Art mein Gaſt. Er kam, und die Unruhe
hatte ſich in alle ſeine Blicke vertheilet. Er hat-
G 2te
[104]Leben der Schwediſchen
te ſich durch den Juden ein Kleid nach deutſcher
Art machen laſſen, und ſah noch einmahl ſo jung
aus. Ja, ja, dacht ich, er iſt ſchoͤn, er iſt liebens-
werth, aber nicht fuͤr dich. Jch glaubte, ich
haͤtte alles Bange aus meinem Geſichte vertrie-
ben, als er mich bey der Tafel um die Urſache frag-
te, warum er mich nicht ſo zufrieden ſaͤhe, als
das letztemal. Jch erſchrack uͤber mein verraͤthe-
riſches Geſicht, und uͤber die Aufmerkſamkeit,
mit der er mich betrachtete, und ſchob die Schuld
darauf, daß ich die Erlaubniß noch nicht vom
Hofe bekommen haͤtte, nach Moskau zuruͤck zu
kehren. Aber, fuhr ich fort, was fehlet ihnen?
die Freude uͤber ihre Befreyung herrſcht nicht
mehr in ihrem Geſichte. Jſt es das Verlangen
nach ihrem Vaterlande, das ſie beunruhiget?
Ja, Madam, ſprach er, mit niedergeſchlagenen
Augen. O wie war mir dieſes Ja angenehm,
das der Ton, mit dem ers ausſprach, zu einem
Nein machte Haben ſie vielleicht, fuhr ich fort, noch
eine Braut in ihrem Vaterlande, die ſie erwartet?
Warum entziehen ſie ſich und mir das Vergnuͤgen,
von ihr zu ſprechen? Jch gebe ihnen mein Wort daß
ich ihnen mit der Haͤlfte meines Vermoͤgens dienen
will, um ihre Reiſe zu beſchleunigen und ſie von
meiner Freundſchaft zu uͤberzeugen. Er antwor-
tete mir mit einem verſchaͤmten Blicke, und
ſagte weiter kein Wort. Jch wollte nunmehr
mein Gluͤck oder Ungluͤck mit einem male wiſſen.
Sie ſchweigen? Alſo haben ſie eine Braut in
London? Nein, rief er, Madam, der Himmel
weis
[105]Graͤſinn von G**
weis es, daß ich ſeit dem Tode meiner Braut
ohne Liebe geweſen bin. Wie koͤnnte ich
ihnen etwas verſchweigen? Ach wie koͤnnte ich
dieſes? ich bitte ſie, vermindern ſie ihre Guͤtig-
keit gegen mich. Jch bin unruhig, daß ich ſie
nicht verdiene. Dieß iſt die wahre Urſache.
Nunmehr war ich zufrieden, und er haͤtte aus
meiner ploͤtzlichen Veraͤnderung leicht mein Herz
errathen koͤnnen; allein meine Freude that bey
ihm eine entgegengeſetzte Wirckung. Er ward
nur trauriger, ie mehr ich ruhig war. Jch red-
te faſt allein, und ich ſtudirte ſeine Augen und
ſein Hertz aus. Er liebt dich, fieng ich zu mir
ſelbſt an, und nichts als die Geſetze der Dank-
barkeit und Ehrerbietung legen ſeiner Liebe ein
Stillſchweigen auf. Er iſt verſchaͤmt, das wuͤn-
ſcheſt du; und er wuͤnſchet, daß du ihn zu dem
Fehler noͤthigen ſollſt, dir deine Liebe zu geſtehen;
und dieſes verdient er. Jch verdoppelte meine
Gefaͤlligkeit, ohne ſie uͤber die Schranken der
Freundſchaft zu treiben. Mein Gemahl hatte
ein koſtbares Haus gebaut. Jch ließ alle Zim-
mer auf der Gallerie einheizen, und fuͤhrte ihn
nach der Tafel in alle, nur damit ich eine Gele-
genheit haͤtte, ihn laͤnger bey mir zu behalten.
Als wir in das groͤßte kamen, in welchem die
Riſſe und Abzeichnungen von Feſtungen und
Landſchaften hiengen: ſo fragte ich ihn, ob er
nicht auch einen Theil von ſeiner Arbeit hier faͤn-
de. Jch ſah, daß er nicht auf die Abzeichnungen,
ſondern auf mich Acht gab, und ich belohnte ihn
gleich dafuͤr. Jch will ihnen ihre Stuͤcke zei-
G 5gen
[106]Leben der Schwediſchen
gen, ſprach ich; mein Gemahl hat mirs geſagt,
daß die, unter welchen ein S. ſtuͤnde, von ih-
nen waͤren. Er mag ſie mit dieſen Arbeiten
wohl recht gequaͤlt haben. Ach, ſprach er,
Madam, ſie koͤnnten mich fuͤr alle meine Muͤhe
auf einmal belohnen. Aber nein ‒ ‒ ‒. Jch
wußte in der That nicht, was er verlangte, und
ich bat ihn recht inſtaͤndig, daß er mirs ſagen
ſollte. Wollen ſie mirs vergeben, rief er, wenn
ichs ihnen geſtehe? denn es iſt eine Verwegenheit.
Ja, ſagen ſies. Er oͤffnete darauf die Thuͤre
von dem vorhergehenden Zimmer und wies auf
mein Portrait. Madam, dieſes Geſchenk
wollte ich mir wuͤnſchen, wenn ich Siberien ver-
laſſe. Dieſe Bitte war mir das angenehm-
ſte, was ich von ihm gehoͤret hatte. Jch gab
ihm durch die Art, mit der ich ſie anhoͤrte, das
Recht, ſie zu wiederholen, und er hatte ſchon das
Herz, mich bey der Hand zu faſſen und meiner
Hand durch die ſeine, ich weis nicht was fuͤr
verbindliche Dinge, zu ſagen. Jch begab mich
geſchwind mit ihm in das Tafelzimmer zuruͤck,
um gleichſam der Gewalt zu entfliehen, die er mei-
nem Herzen anthat. Er merkte ſeinen Sieg
nicht, und glaubte vielmehr, mich beleidiget zu
haben. Er war von der Zeit an faſt ganze acht
Tage hindurch nichts als ein Freund, der mir
durch eine ſtrenge Ehrerbietung gefallen, oder
ein Gaſt, der durch eine dankbare Schamhaf-
tigkeit meine Hoͤflichk iten, die ich ihm alle Mit-
tage erwies, bezahlen wollte. Jch konnte mich
in das Geheimniß unſrer Herzen nicht finden.
Wir
[107]Graͤfinn von G**.
Wir hatten die Erlaubniß alle Tage mit einan-
der umzugehen. Wir durften uns vor Nieman-
den ſcheuen, als vor uns ſelbſt. Alles ſtund un-
ter meinen Befehlen, und ich war denen, die
um mich lebten, zu groß, als daß ich von ihnen
bemerkt zu werden haͤtte fuͤrchten duͤrfen. Dem
ungeachtet ſchienen wir beide bey aller unſerer
Freyheit und bey unſerm taͤglichen Umgange, an
Statt daß wir vertrauter haͤtten werden ſollen,
einander nur deſto fremder zu werden. Er huͤ-
tete ſich, mir die geringſte Liebkoſung zu machen,
und ich nahm mich vielmehr, als im Anfange, in
Acht, ihm Gelegenheit dazu zu geben. Wir
ſahn beide nicht, daß die Behutſamkeit, die wir in
unſern Reden und in unſern Handlungen beob-
achteten, nichts als die ſtaͤrkſte Liebe war; oder
beſſer, wir fuͤhlten die Liebe ſo ſehr, daß wir ge-
noͤthiget wurden, uns ſtrenge Geſetze vorzuſchrei-
ben. Jch ahmte ihm nach, und er ahmte an
Beſcheidenheit mir nach; und was war dieſer
Zwang anders, als die Sorge, einander zu ge-
fallen, und die Ungewißheit, wie wir dieſes ein-
ander ohne Fehler zu erkennen geben wollten? Al-
le Augenblicke erwartete ich ein vertrauliches Be-
kenntniß von ihm, und hinderte ihn doch durch
mein Bezeigen daran, und befriedigte meinen
Verdruß mit neuer Hoffnung. Wir hatten
uns durch einen Umgang von zehn oder zwoͤlf Ta-
gen ſo ausgeredet, daß wir faſt nichts mehr wuß-
ten, und wir wurden deſto aͤrmer| an Geſpraͤ-
chen, ie weniger wir unſer Herz wollten reden
laſſen. Wir ſpielten gemeiniglich nach der Tafel
Schach
[108]Leben der Schwediſchen
Schach, ein Spiel, das fuͤr Verliebte eher eine
Strafe, als ein Vergnuͤgen iſt, und das uns ſehr
beſchwerlich geweſen ſeyn wuͤrde, wenn es uns
nicht das Recht ertheilt haͤtte, einander genauer,
als auſſerdem, zu beobachten. Jch ließ meine
Hand mit Fleiß immer lange auf dem Steine
liegen, als wenn ich noch ungewiß waͤre, ob ich
ihn fortruͤcken wollte, und ich ließ ſie doch nur
fuͤr ſeine Augen da. Unſere Spiele wurden
alle bald aus. Jch verſtund es wirklich beſſer,
als er; allein ein Blick in ſeine redlichen und
zaͤrtlichen Augen, und eine kleine Roͤthe, oder ein
verſchaͤmter Seufzer, den ich ihm abnoͤthigte,
war genug, mich zu dem einfaͤltigſten Zuge zu be-
wegen. Wir wiederholten dieſen Zeitvertreib
ganze Stunden, ohne zehn Worte zu reden,
und wir befanden uns ſo gut dabey, daß wir
recht von der Tafel eilten, um zum Schache zu
kommen. Unſer Umgang hatte nunmehr unge-
fehr vier Wochen gedauert, und binnen dieſer
Zeit hatten wir einander nicht laͤnger, als fuͤnf
Tage, nicht geſehen, und dennoch waren wir, ſo
ſehr wir einander gefielen, nicht vertrauter, als im
Anfange; und wir wuͤrden unſtreitig dieſen Cha-
rakter noch laͤnger behauptet haben, wenn unſere
Herzen nicht durch einen Zufall uͤbereilet worden
waͤren. Der Jude beſuchte uns naͤmlich un-
vermuthet bey Tiſche und kuͤndigte Steeleyn an,
daß morgen eine Lieferung fuͤr den Hof nach
Moskau abgehen wuͤrde, und daß er fuͤr ſo und
ſo viel Geld ſicher und ziemlich bequem mit fort-
kommen koͤnnte. Jch erſchrack uͤber dieſe Nach-
richt
[109]Graͤfinn von G**
richt, daß ich nicht ein Wort ſagen konnte, und
Steeley eben ſo ſehr. Wenn, rief er, wenn ſoll
ich fort? Geht nur in mein Quartier, ich will
gleich nachkommen. Der Jude verließ uns.
Und nun gieng eine traurige Scene an. Ach
Madam, fieng Steeley an, und ſchon liefen ihm
die Thraͤnen uͤber die Wangen; ach Madam,
ich ſoll ſchon fort? Morgen ſchon? Und was
macht ihnen denn ihre Abreiſe ſo ſauer? Er ent-
ſetzte ſich uͤber dieſe Frage und gerieth in eine klei-
ne Hitze. Sie fragen mich noch, was mir mei-
nen Abſchied ſauer macht? Sie! Und auf ein-
mal ward er ſtill und ſuchte ſeine Wehmuth zu
verbergen. Mit welcher Entzuͤckung ſah ich mich
von ihm geliebt! Jch ſchwieg ſtill, oder konnte
vielmehr nicht reden. Er wollte fortgehn, und
ich nahm ihn in der Angſt bey der Hand. Wo
wollen ſie hin? Jch will mich, ſprach er, fuͤr meine
Verwegenheit beſtrafen, die ich itzt begangen ha-
be, und Abſchied von ihnen nehmen und ‒ ‒.
Aber wenn ich ſie nun erſuchte, noch nicht fortzu-
reiſen, wollten ſie nicht bey mir bleiben? Woll-
ten ſie nicht ihr Vaterland, ihre Freunde, einige
Zeit ſpaͤter ſehn? Ach, Madam, rief er, ich will
alles, ich will mein Vaterland ewig vergeſſen,
fuͤr ſie vergeſſen. Sagen ſie mir nur, ob ſie
mich ‒ ‒ ob ſie mich haſſen? Jch liebe ſie, fieng
ich an, es iſt nicht mehr Zeit mich zu verbergen,
und wenn ſie mich lieben: ſo bleiben ſie hier, und
reiſen ſie in meiner Geſellſchaft. Nunmehr
wagte er die erſte Umarmung, und o Himmel!
was war dieſes nach einem ſo langen Zwange
fuͤr
[110]Leben der Schwediſchen
fuͤr ein unausſprechliches Vergnuͤgen! Wie viel
tauſendmal ſagte er mir, daß er mich liebte, und
wie vielmal ſagte ichs, und durch wie viele Kuͤſſe,
durch wie viele Seufzer wiederholten wir unſer
Bekenntniß! Nun redte unſer Herz allein. Er
fragte mich, ob ich ſeine Liebe nicht gemerkt haͤtte,
und ich fragte ihn eben das. Wir erzaͤhlten ein-
ander die Geſchichte unſrer Empfindungen, und
unſer Umgang war von dieſer Stunde an Liebe
und Freude. Die Lieferung gieng fort, und
mein Liebhaber blieb mit tauſend Freuden zuruͤck.
Jch ſchickte noch ein Memorial an den Hof mit
ab, um die Erlaubniß zu meiner Abreiſe zu be-
ſchleunigen.
Waren wir vorher nur halbe Tage beyſam-
men geweſen: ſo wurden uns nunmehr ganze noch
zu unſerer Liebe zu kurz. Er ſuchte meine Liebe,
die er ſchon gewiß beſaß, durch die beſcheidene
Art, mit der er ſie genoß, erſt zu verdienen, und
ich, die ich acht Jahre vermaͤhlt geweſen, ohne
die Liebe zu kennen, lernte ihren Werth unter den
unſchuldigſten Liebkoſungen erſt ſchaͤtzen. Jch
verſprach ihm, wenn er mir nicht nach Curland
folgen wollte, mit ihm in ſein Vaterland zu ge-
hen, und wenn ich in Moskau die Erlaubniß, da-
hin zuruͤck zu kehren, nicht erhalten koͤnnte, mich
mit ihm insgeheim wegzubegeben. Bis auf die-
ſe Zeit, ſprach ich, bin ich ihre Braut, und ſobald
wir uns an einem Orte niederlaſſen, ihre Ge-
mahlinn.
Wir nnterhielten uns mit den Vorſtellungen
von unſerm kuͤnftigen Gluͤcke noch vierzehn Ta-
ge
[111]Graͤfinn von G**
ge, als ich endlich die Erlaubniß und die Paſſe-
porte vom Hofe erhielt, mich nach Moskau zu-
ruͤck zu begeben. Mein Liebhaber war gleich bey
mir. Und wie eilten wir, aus dieſem traurigen
Lande zu kommen! Der Commendant von einem
nah gelegenen Schloſſe war zum Nachfolger mei-
nes Gemahls ernannt. Jch uͤbergab ihm bin-
nen acht Tagen die Rechnungen meines Gemahls;
allein er ſahe ſie nicht an. Jhr Gemahl, ſprach
er, war ein guter Freund und auch ein Freund
des Hofs. Er wird ſchon gut hausgehalten ha-
ben, und ich bin alt genug, ihm bald im Tode
nachzufolgen. Jch bat ihn, daß er Befehl zu
meiner Abreiſe geben, und die Meubeln und das
Haus meines Gemahls von mir zum Abſchiede
annehmen ſollte. Jch nehme es an, ſprach er;
ſie aber haben die Freyheit, was ihnen gefaͤllt,
mit ſich zu nehmen; die ihrem Stande ge-
maͤſſe Bedeckung iſt alle Stunden zu ihren
Dienſten.
Jch reiſte alſo mit zween Wagen unter einer
ſtarken Bedeckung in der Mitte des Junius fort.
Mein Gemahl hatte mir uͤber hunderttauſend
Rubeln meiſtens an Golde und Juwelen hinter-
laſſen. Die eine Haͤlfte nahmen wir auf unſern
Wagen, und die andere auf den, wo unſer Chri-
ſtian nebſt einigen befreyten Gefangnen ſaß.
Steeley ließ, ehe wir abreisten, alle Gefangene,
in und um. Tobolskoy herum, kleiden, ſie drey
Tage ſpeiſen, und jedem, etliche Rubeln geben.
Es mochten ihrer etliche funfzig ſeyn.
Wir kamen nach einer beſchwerlichen Reiſe
von
[112]Leben der Schwediſchen
von fuͤnf Wochen, die wir Tag und Nacht fort-
ſetzten (weil die Nacht in den warmen Monaten
faſt ſo hell, wie der Tag, bleibt) gluͤcklich in
Moskau an. Jch wollte nicht oͤffentlich bey
Hofe erſcheinen, und ich ſuchte nichts, als der
Geliebten des Zaars, deren Fraͤulein ich geweſen
war, insgeheim aufzuwarten. Die großmuͤthi-
ge Catharina empfieng mich auf dem Luſtſchloſſe
Taninska ſehr liebreich. Jch mußte acht Tage
bey ihr bleiben; allein alle die Gnade, die ſie
mir unter dieſer Zeit erwies, war mir ohne mei-
nen Geliebten eine unertraͤgliche Laſt. Sie hoͤr-
te, daß ich nichts wuͤnſchte, als das Gluͤck, nach
Curland zuruͤck zu kehren, und ſie verſchaffte mirs,
weil ſie nur befehlen durfte. Jch eilte nach der
Stadt zuruͤck und ließ meinen lieben Reiſegefaͤhr-
ten, der bey dem engliſchen Kaufmanne abgetreten
war, aufſuchen. Mein Chriſtian brachte mir die
betruͤbte Nachricht, daß er krank und nicht im
Stande waͤre, zu mir zu kommen. Jch ließ
mich den Augenblick zu ihm fahren. Seine
Krankheit war nichts, als der Kummer um mich.
Ach, rief er mir entgegen, habe ich ſie nicht ver-
lohren? Sind ſie noch meine beſtaͤndige Freun-
dinn? Jch bewies es ihm und blieb den ganzen
Tag bey ihm. Er zeigte mir Briefe aus Lon-
don, und inſonderheit die, welche der Herr Graf
an ihn zuruͤckgelaſſen hatte. Es war wirklich
mein Vorſatz nach Curland zu gehn, und nichts,
als die Schwachheit meines Geliebten, hinderte
die Abreiſe. Endlich erhielt er Briefe von
dem Herrn Grafen. Ach, ſprach er zu mir, er
hat
[113]Graͤfinn von G**
hat ſeine Gemahlinn wieder gefunden, er lebt mit
ihr in Holland. Wollen wir nicht zu ihm reiſen?
wie gluͤcklich wuͤrden wir bey ihm ſeyn! Mehr
brauchte er nicht, um mich meinem Vaterlande
zu entziehen.
Nun war es beſchloſſen, wir giengen nach
Holland. Jch ſetzte mich mit ihm zu Ende des
Auguſts zu Schiffe, und auch die See ward mir
durch die Liebe angenehm. Wir haben nichts
als eine kleine Seekrankheit und etliche Stuͤrme
ausgeſtanden, die uns nichts gethan, als daß ſie
uns ein Paar Wochen laͤnger auf der See aufge-
halten haben. Wir ſind ſchon vor vier Tagen
ans Land geſtiegen und geſtern fruͤh zu Lande hier
angekommen.
Dieß war die Geſchichte von Amaliens und
und Steeleys Liebe.
Die beiden erſten Tage verſtrichen uns unter
lauter Erzaͤhlungen, und der dritte war der Ver-
maͤhlungstag. Jch und Caroline kleideten unſe-
re Braut an, und verliebten uns recht in ſie, ſo
reizend war ſie; allein der, fuͤr den ſie ſo reizend
war, hatte nicht weniger maͤnnliche Schoͤnheiten.
Wir fuͤhrten ſie in ſein Zimmer. Jtzt, ſprach ſie,
iſt es noch Zeit, wenn ſie Luſt haben, eine andere
zu waͤhlen, und umarmte ihn. R ‒ ‒ kam bald
darauf mit ſeinem guten Freunde, einem Predi-
ger bey der franzoͤſiſchen Gemeine, der ſie ver-
maͤhlen ſollte. Er hatte ihm die Umſtaͤnde von
beiden geſagt. Wir ſetzten uns nieder und wir
wußten nicht, daß unſer Geiſtlicher eine Rede
halten wuͤrde. Er that es mit ſo vieler Bered-
II.Theil. Hſam-
[114]Leben der Schwediſchen
ſamkeit und mit ſo vielem Geiſte, daß wir alle
auſſer uns kamen und uns keine groͤſſere Wolluſt
auf dieſen Tag haͤtten erdenken koͤnnen. Er red-
te von den wunderbaren Wegen der Vorſehung
bey dem Schickſale der Menſchen. Man ſtelle
ſich den Grafen und Steeleyn mit allen ihren Un-
gluͤcksfaͤllen, ſeine Braut, mich, kurz, uns alle
vor, wenn man wiſſen will, was dieſe vernuͤnfti-
ge Rede fuͤr einen Eindruck in unſere Herzen
machte. Unſere Seele erweiterte ſich durch die
hohen Vorſtellungen, um den Umfang der goͤtt-
lichen Rathſchluͤſſe in Anſehung unſers Schickſals
zu uͤberſehn, und die Empfindungen der Verwun-
derung und der Dankbarkeit wuchſen mit unſern
erhabnen Vorſtellungen. Leuten, die niemals
im Ungluͤcke geweſen, Leuten, die zu froſtig ſind,
andrer Ungluͤck zu fuͤhlen, wird das Vergnuͤgen,
das wir aus dieſer Rede ſchoͤpften, als ein ſchein-
heiliges Raͤzel vorkommen. Sie werden ſich nicht
einbilden koͤnnen, wie ſich ſolche ernſthafte Be-
trachtungen zu einem Tage der Freude und der
Liebe ſchicken; allein ſie werden mir auch nicht zu-
muthen, daß ich ihnen eine Sache beweiſen ſoll,
die auf die Empfindung ankoͤmmt.
So vergieng der Vormittag, und Steeley und
Amalie waren verbunden, und unſer Buͤndniß
war auch wieder erneuert. Unſer Geiſtlicher, der
uns ein recht lieber Gaſt geweſen ſeyn wuͤrde,
wollte nicht bey uns bleiben, ſo ſehr wir ihn auch
baten. Er ſagte, daß er den Nachmittag bey ei-
nem jungen Menſchen zubringen wuͤrde, der ſich
aus Schwermuth das Leben haͤtte nehmen wol-
len,
[115]Graͤfinn von G**
len, aber noch an dem Selbſtmorde gehindert
worden waͤre. Er bat uns, ob wir nicht zur
Verbeſſerung ſeiner elenden Umſtaͤnde etwas bey-
tragen und ihn mit einigen Arzneyen verſehen laſ-
ſen wollten, damit nicht die Krankheit des Ge-
muͤths durch ein verdorbnes Blut noch mehr unter-
halten wuͤrde. Weil es ſchien, daß er die be-
ſondern Umſtaͤnde dieſes Menſchen mit Fleiß ver-
ſchwieg: ſo wollten wir nicht zur Unzeit neugierig
ſeyn. Wir fragten alſo nichts, als wo er anzu-
treffen waͤre. Er nannte uns eine alte Schiffe-
rinn, die ihn, wie er gehoͤrt, nur vor etlichen Ta-
gen in ihre Huͤtte aus Mitleiden eingenommen,
in der er ſich geſtern durch ein Meſſer, doch
ohne Lebensgefahr, verwundet haͤtte. Wir ſag-
ten ihm, daß er nicht bitten, ſondern uns vorſchrei-
ben ſollte, wie ers mit dem Kranken gehalten
wiſſen wollte; weil wir gar keine Ueberwindung
noͤthig haͤtten, einem Elenden mit einem Theile von
unſerm Vermoͤgen zu dienen. Wir ſchickten ihm,
ſobald der Geiſtliche weg war, Betten und an-
dere Sachen. Unſer Doctor mußte kommen, und
das ungluͤckliche Maͤdchen, von der ich oben geredt
habe, und die itzt Aufſeherinn in meinem Hauſe
war, mußte ihn zu dem Kranken begleiten, um zu
hoͤren, was er fuͤr Anſtalten wegen der Speiſen
und des Getraͤnks machen wuͤrde, damit ſie alles
nach ſeiner Vorſchrift einrichten koͤnnte.
Wir ſetzten uns zur Tafel und wir waͤren ei-
nes ſolchen Tages nicht werth geweſen, wenn
wir ihn nicht zu genieſſen gewußt haͤtten. Eins
war zu dem Vergnuͤgen des andern ſinnreich; und
H 2Klei-
[116]Leben der Schwediſchen
Kleinigkeiten, die andre aus Mangel der Ver-
traulichkeit, oder auch des Geſchmacks, voruͤber
gehn, dienten uns in unſerer Geſellſchaft zu neuen
Unterhaltungen, und erhielten durch die Art, mit
der wir uns ihrer bedienten, den Werth, den die
praͤchtigſten Mittel der Freude am wenigſten ha-
ben. Kleine Zaͤnkereyen, die Amalie mit Steeleyn
wegen des Coſackiſchen Maͤdchens anfieng, klei-
ne Vorwuͤrfe, womit wir einander erſchreckten,
beſeelten unſere Vertraulichkeit, und jeder unſchul-
dige Scherz gab uns eine neue Scene des Ver-
gnuͤgens. Die Aufſeherinn, die wir zu dem
Kranken geſchickt hatten, kam mit offnen Armen
zuruͤck und erzaͤhlte uns, daß ſie ihren ungetreuen
Liebhaber wieder gefunden, und daß es der Elende
ſelbſt waͤre, fuͤr den wir geſorgt haͤtten. Er, rief
ſie, hat mir alles mit tauſend Thraͤnen abgebe-
ten, und ich habe ihm alles vergeben, und ich bit-
te fuͤr ihn. Sein Gewiſſen hat ihn mehr als zu
ſehr beſtraft. Er ſagte mir, daß er ſich, da er
mich ſo boshaft verlaſſen, nach Harlem gewen-
det und ſich allen Ausſchweifungen uͤberlaſſen haͤt-
te, um nicht an das zu denken, mas er gethan.
Einige Monate ſey es ihm gelungen, nachdem
aber haͤtte er ſich der entſetzlichen Vorſtellungen,
daß er mich und die Frucht unſrer Liebe durch
ſeine Untreue vielleicht ums Leben gebracht, nicht
laͤnger erwehren koͤnnen. Sie haͤtten ihn genoͤthigt,
an den Ort zuruͤck zu kehren, wo er mich
verlaſſen, und da er weder das Herz gehabt, ſich
genau nach mir zu erkundigen, noch auch gewußt
haͤtte, wo er es thun ſollte: ſo haͤtte ihn endlich
eine
[117]Graͤfinn von G**
eine alte Schifferinn auf eben der Wieſe, wo er
von mir gewichen, und auf der er ſchon zween
Tage zugebracht, in der groͤßten Verzweiflung
angetroffen und ihn mit ſich in ihre Huͤtte genom-
men. Hier haͤtte er, da er ohnedieß nichts mehr
zu leben gehabt, ſein Elend durch den Selbſtmord
endigen und ſich zugleich fuͤr ſeine Bosheit be-
ſtrafen wollen. Es ſteht bey ihnen, fuhr ſie fort,
ob ſie ihm durch ihre Wohlthaten das Leben und
mich wiedergeben wollen. Jch liebe ihn, als ob
er mich nie beleidiget haͤtte, allein (hier ſah ſie
mich an) ſie zu verlaſſen, das kann ich nicht ‒ ‒
Sie verdiente unſere Gewogenheit und unſer Ver-
gnuͤgen uͤber ihr Gluͤck. Wir lieſſen ihren Lieb-
haber in das Haus neben uns bringen und be-
ſuchten ihn den Abend noch. Seine Wunde war
nicht gefaͤhrlich, und die Freude, ſeine Geliebte
wieder gefunden zu haben, hatte ihm ſo viel Leb-
haftigkeit ertheilt, daß er mit uns ſprechen und
uns ſeinen Fehler abbitten konnte. Er wollte uns
alles erzaͤhlen; allein wir waren mit ſeiner Reue
zufrieden und erlieſſen ihm die Schaam, ſein
eigner Anklaͤger zu werden. Wir ſahen in ſeinem
zerſtreuten und ausgezehrten Geſichte noch Spu-
ren genug von einer angenehmen Bildung und
einem zaͤrtlichen Herzen. Er war noch nicht vier
und zwanzig Jahr alt und wegen ſeiner Jugend
der Vergebung und des Mitleids deſto wuͤr-
diger.
Den Reſt des Abends brachten wir mit einer
Muſik zu, die wir uns ſelber machten. Jch ſpiel-
te den Fluͤgel, und bald ſang ich ſelbſt, bald Amalie,
H 3oder
[118]Leben der Schwediſchen
oder Caroline, dazu. Meine kleine Tochter, die
in das ſechſte Jahr gieng, war ſo verwegen,
Stecleyn zu einem Tanze aufzufodern, und ſie
haͤtte uns bald alle zu dieſer Luſt verfuͤhrt. Wir
fuͤhrten endlich unſre beiden Vermaͤhlten in ihr
Schlafzimmer und uͤberlieſſen ſie den Wuͤnſchen
der Liebe.
Als ich mich den Morgen darauf noch mit dem
Grafen berathſchlagte, was wir unſerm Paare
heute fuͤr ein Vergnuͤgen machen wollten, trat
der Bediente herein und ſagte, daß ein Engel-
laͤnder meinen Gemahl ſprechen wollte. Sobald
er die Thuͤre oͤffnete, ſo ſagte uns ſein Geſicht,
daß es Steeleys Vater waͤre. Er hatte ein eis-
graues Haupt; aber ſeine muntern Augen, ſein
rothes Geſicht, und ſein trotziger Gang widerlegten
ſeine Haare. Jch ſuche, fieng er auf franzoͤſiſch
an, meinen Sohn bey ihnen, oder da ich in meinem
Leben wohl nicht ſo gluͤcklich ſeyn werde, ihn wie-
der zu ſehen: ſo will ich wenigſtens hoͤren, ob ſie
nicht wiſſen, wo er iſt. Meine Nachricht aus
Moskau geht nicht weiter, als daß ich gewiß weis,
daß er aus ſeinem Elende in Siberien hat ſollen
befreyt werden. Und aus Verlangen einen ſo
theuern Freund von meinem Sohne zu ſprechen,
bin ich in meinem neun uud ſiebenzigſten Jahre
noch einmal zur See gegangen. Jhre Reiſe,
fieng mein Gemahl an, ſoll ſie nicht gereuen.
Jch habe Briefe von ihrem Sohne aus Moskau
und kann ihnen die erfreuliche Nachricht von ſeiner
baldigen Ankunft zum Voraus melden. Wie
lange koͤnnen ſie ſich hier aufhalten? Das ganze
Jahr
[119]Graͤfinn von G**
Jahr hindurch, ſprach der Alte, und noch laͤnger,
wenn ich meinen Sohn erwarten kann. Mein
Gemahl befriedigte ſeine vaͤterliche Neubegierde
mit einigen beſondern Nachrichten, und ich eilte
zu unſerm zaͤrtlichen Paare, um zu ſehen, ob ſie
angekleidet waͤren. Sie giengen beide noch in
ihren Schlafkleidern, und ich ließ dem Grafen
heimlich ſagen, daß ſie aufgeſtanden waͤren.
Mein Gemahl, ſprach ich, nach einigen kleinen
Fragen, wird gleich kommen und ſie zu einer
Spazierfarth einladen. Jndem oͤffnete er ſchon
die Thuͤre und trat mit dem Alten herein. Jn
dem Augenblicke riß ſich Steeley von ſeiner Ge-
mahlinn, die ihn in den Armen hatte, los, und
lief auf ſeinen Vater zu. Der Alte ſahe ihn nach
der erſten Umarmung lange an, ohne ein Wort
zu ſagen. Ja, rief er endlich du biſt mein Sohn,
du biſt mein lieber Sohn! Gottlob, nun will ich
gern ſterben. Mein Sohn, gieb mir einen Stuhl,
meine Fuͤſſe wollen mich nicht mehr halten.
Amalie langte ihm einen und wir traten alle vor
ihn. Seine erſte Frage war, wer Amalie waͤ-
re. Seit geſtern, ſprach ſie, bin ich die Gemah-
linn ihres Sohnes. Sind ſie mit ſeiner Wahl
zufrieden? Er nahm ſie recht liebreich bey der
Hand. Jſt es gewiß, daß ſie meine Tochter ſind:
ſo kuͤſſen ſie mich, und ſagen ſie mir, aus welchem
Lande ſie ſind. Er machte ihr darauf die groͤß-
ten Liebkoſungen, und that allerhand Fragen, die
ſeinem ehrlichen Charakter gemaͤß und uns des-
wegen angenehm waren, wenn ſie gleich nicht die
wichtigſten waren. Es mißfiel ihm, da er hoͤr-
H 4te,
[120]Leben der Schwediſchen
te, daß wir nicht getanzt haͤtten. Nicht getanzt?
fieng er an, wie traurig muß dieſe Hochzeit gewe-
ſen ſeyn! Nein, was unſere Vorfahren fuͤr gut
befunden haben, das muß man nicht abkommen
laſſen. An ſeinem Hochzeittage muß man froh
ſeyn. Wenn wir nach London kommen: ſo will
ich alles ſo anordnen, wie es an meiner Hochzeit
war. Es ſind Gottlob! ſchon funfzig Jahre
verſtrichen, und ich weis alles noch ſo genau, als
ob es erſt geſtern geſchehen waͤre. Es iſt wahr,
ſprach er zu Amalien, ſie ſehn viel ſchoͤner aus,
als meine ſelige Frau an ihrem Brauttage ſah;
aber ſie war viel beſſer angezogen. Er beſchrieb
ihr mit der Freude eines Alten, dem das gefaͤllt,
was in ſeiner Jugend Mode geweſen, den gan-
zen Anzug ſeiner Frau, und ſie verſprach ihm,
wenigſtens um den Kopf und den Hals einen
Theil von dieſem Staate nachzuahmen. Sie
that es auch, und in einem engen Leibchen und
groſſen weiſſen Ermeln, drey oder viermal mit
Bande gebunden, und in Locken, die bis auf die
Schultern hiengen, gefiel ſie ihm erſt recht wohl.
Sein Sohn mußte ihm ſein Schickſal erzaͤhlen.
Er weinete die bitterſten Thraͤnen, wenn Steeley
auf eine betruͤbte Begebenheit kam; und mitten
unter den Thraͤnen machte er hier und da noch
allerhand Anmerkungen. Er fuhr ihn z. E. bey
dem Anfange ſeiner Geſchichte recht vaͤterlich an,
daß er den Geſandten verlaſſen haͤtte und ein
Soldat geworden waͤre. Bald darauf umarm-
te er ihn, daß er ſo rechtſchaffen an den Grafen
gehandelt haͤtte, als er auf dem Wege krank ge-
wor-
[121]Graͤfinn von G**
worden. Da erkenne ich meinen Sohn, rief er.
Gott weis es, ich haͤtte es eben ſo gemacht; das
heißt ſeinen Freunden in der Noth dienen! Bey
der Begebenheit mit dem Popen in Rußland
machte er ihm keine Vorwuͤrfe. Deine Liebe zur
Wahrheit, ſprach er, iſt dir freylich uͤbel bekom-
men, und ich wuͤnſchte, es waͤre nicht geſchehn;
aber es iſt doch allemal beſſer, ſeine Meinung
frey heraus zu ſagen, als mit einer niedertraͤchti-
gen Furchtſamkeit zu reden. Jch ſehe dich, weil
die Sache von der Religion hergekommen iſt, als
einen Maͤrtyrer an; und ich danke Gott fuͤr den
Muth, den er dir gegeben hat. Bey den groſſen
Dienſten, die der Graf Steeleyn in Siberien
erwieſen, nahm er eine recht majeſtaͤtiſche Mine
an. Nun, ſprach er, das iſt Großmuth! mehr
kann kein Freund an dem andern thun. Ach
Herr Graf, ſie haben noch ein redlicher Herz als
ich und mein Sohn. Jhnen habe ich meinen
Sohn zu danken. Ja, in meinem ganzen Le-
ben, noch in jenem Leben will ich ſie ruͤhmen.
Die Geſchichte der Liebe mit Amalien trug
Steeley auf der Sei[t]e vor, wo er wußte, daß ſie
ſeinen Vater am meiſten ruͤhren wuͤrde. Er ließ
alles Freundſchaft in ihrem Umgange ſeyn, und
die Liebe nicht eher, als kurz vor der Abreiſe aus
Moskau, entſtehen. Alles gefiel ihm, alles war
ſchoͤn an Amalien, und ie mehr er aus der gan-
zen Erzaͤhlung ſchloß, daß Amalie vor ihrer Ver-
maͤhlung ſeinem Sohne keine vertrauliche Liebe
erlaubt, deſto freudiger ward er, und deſto mehr
Hochachtung bezeigte er ihr. Da die Erzaͤhlung
H 5ge-
[122]Leben der Schwediſchen
geendigt war, umarmte er Amalien noch einmal.
Ach, ſprach er, mein Sohn iſt ihrer nicht werth.
Er verdient eine liebe Frau; aber wodurch hat
er ſie verdient? Kommen ſie mit nach London,
ich habe ein groſſes Haus und es iſt in der ganzen
Welt nicht beſſer, als in London. Was? fieng
ich an, als in London? und hier bey ihnen, fuhr
er laͤchelnd fort, und fragte mich, ob ich ihn
denn auch etliche Tage bey mir behalten und mir
ſeine Art zu leben, die nicht nach der Welt waͤre,
gefallen laſſen wollte. Er war wirklich bey al-
len ſeinen kleinen Fehlern ein rechter liebenswuͤr-
diger Mann, und die Aufrichtigkeit, mit der er
ſie begieng, machte ſie angenehm. Er war dreiſt,
ohne die Hoͤflichkeit zu beleidigen, und ſeine Vor-
urtheile waren entweder unſchuldig, oder doch dem
Umgange nicht beſchwerlich. Wir begiengen
dieſen und den folgenden Tag das Hochzeitfeſt
nach ſeinem Plane. Er war auf die anſtaͤn-
digſte Art munter, und weckte uns alle durch ſein
Beyſpiel auf. Sein Leibſpruch war, man kann
fromm und auch vergnuͤgt ſeyn. Mein Sohn,
ſprach er, hat mir viel bekuͤmmerte Stunden ge-
macht, nun ſoll er mir freudige Tage machen.
Er tanzte denſelben Abend bis um eilf Uhr und
war gegen R ‒ ‒ und den Grafen, und gegen ſei-
nen Sohn ſelbſt, ein Juͤngling. Das heißt, fieng
er endlich an, recht ausgeſchweift. So ſpaͤt bin
ich ſeit vierzig Jahren nicht zu Bette gegangen.
Aber iſt doch das Tanzen keine Suͤnde. Wenn ich
nun auch dieſe Nacht ſtuͤrbe, ſo wuͤrde mir meine
Freude doch nichts ſchaden. R ‒ ‒ fragte ihn
bey
[123]Graͤfinn von G**
bey dieſer Gelegenheit, wie er ſich denn bis in ſein
hohes Alter ſo munter erhalten, und wodurch er
die Furcht vor dem Tode beſiegt haͤtte, da er
ihm nach ſeinen Jahren ſo nah waͤre. Daß
ich noch ſo munter bin, ſprach er, das iſt eine
Gabe von Gott und eine Wirkung eines ordent-
lichen Lebens, zu dem ich von den erſten Jahren
an gewoͤhnet worden bin. Und warum ſollte ich
mich vor dem Tode fuͤrchten? Jch bin ein Kauf-
mann: ich habe meine Pflicht in Acht genom-
men, und Gott weis, daß ich Niemanden mit
Willen um einen Pfennig betrogen habe. Jch
bin gegen die Nothleidenden guͤtig geweſen, und
Gott wird es auch gegen mich ſeyn. Die Welt
hier iſt ſchoͤn; aber jene wird noch beſſer ſeyn ‒ ‒
Mußte man einen ſolchen Mann nicht lieben,
der von Jugend auf mit dem Gewinn umgegan-
gen war und doch ein ſo edelmuͤthiges Herz hat-
te? Er bezeigte uͤber das groſſe Vermoͤgen, das
Amalie beſaß, keine beſondere Freude. Mein
Sohn, ſprach er, du haſt ein Gluͤck mehr, als
andre Leute; aber du haſt auch eine Laſt mehr,
wenn du dein Gluͤck recht gebrauchen willſt.
Nachdem er das Vergnuͤgen eingeſammlet
hatte, das ſich ein Vater in ſeinen Umſtaͤnden
wuͤnſchen konnte: ſo waren alle unſre Bitten
nicht vermoͤgend, ihn von der Ruͤckkehr in ſein
Vaterland abzuhalten. Jch will in Londen ſter-
ben, ſprach er, und bey meiner Frau begraben
werden; laſſen ſie mich reiſen, ehe die See ſtuͤr-
miſch wird. Jch will ihnen meinen Sohn zuruͤck
laſſen und zufrieden ſeyn, wenn er kuͤnftiges Jahr
zu
[124]Leben der Schwediſchen
zu mir koͤmmt. Der junge Steeley wollte ſei-
nen Vater nicht gern allein reiſen laſſen, und ſich
doch auch nicht von uns trennen. Mit einem
Worte, wir entſchloſſen uns alle, Carolinen aus-
genommen, ihn nach Londen zu begleiten und den
Winter uͤber da zu bleiben. Dieſes hatte der
Alte gewuͤnſcht; aber nicht das Herz gehabt, es
uns zuzumuthen. Ehe wir fortgiengen, ſtifteten
wir noch ein gutes Werk. Wid, ſo hieß der
junge Menſch, der ſeine Geliebte ehemals ver-
laſſen hatte, war voͤllig von ſeiner Krankheit wie-
der hergeſtellt. Er wuͤnſchte nichts, als ſeine
Braut zu beſitzen, und mit ſeinem Vater wieder
ausgeſoͤhnt zu werden. Wir hatten an ihn ge-
ſchrieben; aber er wollte nichts von ſeinem Soh-
ne mehr wiſſen, und verſicherte uns, daß er ihn,
ſo geringe ſein Vermoͤgen waͤre, doch ſchon ent-
erbt haͤtte. Der junge Wid dauerte uns, und
wir ſahen, daß er die Thorheit ſeiner Jugend in
ſeinen maͤnnlichen Jahren wieder gut machen wuͤr-
de. Er hatte in Leiden bis in ſein ſiebenzehentes
Jahr ſtudirt, und nachdem auf ſeines Vaters
Willen in ein Contoir gehen muͤſſen. Andreas
war auf das erſte Wort willig, ihn in ſeine Hand-
lung zu nehmen. Wir machten ihm eine kleine
Hochzeit. Amalie ſtattete die Braut ſehr reich-
lich aus, und der alte Steeley und der Graf ga-
ben ihm auch tauſend Thaler. Wir ſtreckten
ihm uͤberdieß noch ein Capital in die Handlung
vor und meldeten alles dieſes ſeinem Vater, um
ihn deſto eher zu gewinnen. Wir uͤberlieſſen alſo
Carolinen unſre Tochter und unſer Haus zur
Auf-
[125]Graͤfinn von G**
Aufſicht, und giengen zwoͤlf Tage nach des alten
Steeley Ankunft zur See. Der Wind war
uns ſo guͤnſtig, daß wir in wenig Tagen nur
noch etliche Meilen von Londen waren. Wir
trafen ein Paquetboot an, und um eher am Lan-
de zu ſeyn, ſetzten wir uns in dieſes; allein zu
unſerm Ungluͤcke. Wir waren alle in
dem Boote, bis auf den alten Chriſtian der
Amalie. Dieſer wollte ſeinem Herrn die Cha-
toulle, in welcher der groͤßte Theil von Amaliens
Vermoͤgen an Kleinodien und Golde war, von
dem Schiffe zulangen. Steeley und ein Be-
dienter des Grafen griffen auch wirklich darnach;
allein vergebens. Chriſtian, es mag nun ſeine
Unvorſichtigkeit oder das Schwanken des Schif-
fes ſchuld geweſen ſeyn, ließ vor unſern Augen
die Chatoulle in die See fallen und ſchoß in dem
Augenblicke, entweder aus Schrecken, oder weil
er ſich zu ſehr uͤber Bord gebogen hatte, ſelbſt nach.
Wir hatten alle Muͤhe, ihm das Leben zu retten,
und ein Schatz von mehr als funfzig tauſend
Thalern war in einem Augenblicke verlohren.
Bin ich ihnen, fieng endlich Amalie zu ihrem
Manne an, als Chriſtian in dem Boote war,
bin ich ihnen noch ſo lieb, als zuvor? Steeley
betheuerte es ihr mit einem heiligen Schwure,
und nun war ſie zufrieden. Der alte Steeley,
ſo wenig er das Geld liebte, konnte doch den Zu-
fall nicht vergeſſen. Er hielt dem alten Chriſtian
eine lange Strafpredigt. Endlich nahm er
Amalien bey der Hand. Seyn ſie getroſt,
ſprach er, ich habe Gottlob! ſo viel, daß ſie beide
nach
[126]Leben der Schwediſchen
nach meinem Tode ohne Kummer mit einander
werden leben koͤnnen. Den armen Chriſtian koſtete
dieſe Begebenheit dennoch das Leben. Er kam krank
nach London und ſtarb bald nach unſrer Ankunft.
Amalie und Steeley hatten eine auſſerordentliche
Liebe fuͤr dieſen Menſchen, und ſie lieſſen ihn den
veurſachten Berluſt ſo wenig entgelten, daß ſie
ihn vielmehr fuͤr ſeine Treue auf die großmuͤthig-
ſte Art noch auf ſeinem Sterbebette belohnten.
Sobald ſie von dem Doctor hoͤrten, daß wenig
Hoffnung zu ſeinem Auf kommen uͤbrig waͤre:
ſo lieſſen ſie ihn in ein Zimmer neben dem ihrigen
legen, um ihn recht ſichtbar zu uͤberfuͤhren, daß ſie
nicht auf ihn zuͤrnten, denn dieſes war ſein Kum-
mer. Kurz vor ſeinem Tode beſuchte ich ihn noch
mit Amalien. Der alte Steeley kam auch und
ſetzte ſich vor das Bette des Kranken, um ihn
ſterben zu ſehn. Er hat ein ſanftes Ende, fieng
er zu uns an, und wenn es ſeyn muͤßte, ich woll-
te gleich mit ihm ſterben. Der Sterbende ſchien
ſich noch einmal aufrichten zu wollen, und indem
ſchoß ihm ein Strom vom Blute aus dem Mun-
de, und Chriſtian war todt. Bin ich nicht er-
ſchrocken? rief der Alte zitternd. Wir wollten
ihn in das andere Zimmer fuͤhren; allein er konn-
te ſich nicht aufrecht erhalten, und wir mußten
ihn hinein tragen laſſen. Laßt mir meinen Groß-
vaterſtuhl bringen, fieng er an, in dieſem will ich
ſterben, ich fuͤhle mein Ende. Man brachte ihm
den Stuhl und er ließ ihn vor das Fenſter, das
nach dem Garten gieng, ſetzen, damit er den
Him-
[127]Graͤfinn von G **
Himmel anſehn koͤnnte. Er hub ſeine Haͤnde
auf, und bat uns, (wir waren alle zugegen) daß
wir ihn nicht ſtoͤren ſollten. Nachdem er ſein
Gebet verrichtet, rief er ſeinen Sohn. Jch fuͤhle
es, ſprach er, daß ich bald ſterben werde. Der
gute Chriſtian hat mich recht erſchreckt; aber wer
kann dafuͤr? Hier haſt du den Schluͤſſel zu mei-
nem Schreibetiſche. Gott ſegne dir und deiner
Frau das Vermoͤgen, das ich euch hinterlaſſe.
Es iſt kein Heller von unrechtmaͤßigem Gute da-
bey. Der Doctor, nach dem wir geſchickt hat-
ten, kam und oͤffnete ihm eine Ader, wozu der
Alte anfangs gar nicht geneigt war. Doch es
gieng kein Blut. Er ſchlug ihm eine an dem
Fuſſe, und auch da kam keines. Sieht er, ſprach
der Alte, daß ſeine Kunſt nichts hilft, wenn Gott
nicht will? Was hat er nunmehr fuͤr Hoffnung?
Keine, ſprach der Medicus. So gefaͤllter mir,
war ſeine Antwort, wenn er aufrichtig redt. Be-
dienen ſie ſich, fuhr der Doctor fort, der guten
Augenblicke, wenn ſie noch einige Anſtalten zu
treffen haben. Der Alte laͤchelte: als wenn ich
in achtzig Jahren nicht Zeit genug gehabt haͤt-
te, die Anſtalt zu meinem Tode zu treffen. Gott,
fuhr er fort kann mich rufen, wenn er will, ich
bin fertig, bis auf das Abſchied nehmen. Wo
ſind meine Kinder und meine lieben Gaͤſte? Wir
traten alle mit thraͤnenden Augen vor ihn, und
er nahm von einem jeden insbeſondere Abſchied.
Ach, fieng er darauf an, wie ſchoͤn wirds in jener
Welt ſeyn! Jch freue mich recht darauf; und
wen werd ich von ihnen am erſten da umarmen?
Es
[128]Leben der Schwediſchen
‒ ‒ Es wird mir ganz dunkel vor den Augen:
aber ſonſt iſt mir recht wohl, recht ‒ ‒ Bey
dieſen Worten uͤberfiel ihn eine Ohnmacht und
bald darauf ſtarb er.
Der Anfang unſers Aufenthalts in London
war alſo traurig und das Geraͤuſche der Stadt
und der Beſuch ward uns ſo beſchwerlich, daß
wir uns gleich nach der Beerdigung entſchloſſen,
den Reſt des Herbſts und den Winter ſelbſt
auf Steeleyns Landgute, das etliche Meilen von
Londen war, zuzubringen.
Wir lebten daſelbſt ſechs Monate recht zufrie-
den und meiſtens einſam, auſſer, daß wir zuwei-
len die Schweſter von der ehmaligen Braut unſers
Steeley beſuchten, und wieder von ihr beſucht
wurden. Sie war von ihrer ganzen Familie
noch allein am Leben, und entſchloſſen, niemals
zu heyrathen. Niemand, als ſie, wußte, wer
mein Gemahl war, denn die andern Nachbarn
kannten ihn nicht anders, als unter dem Namen
des Herrn von Loewenhoeck. Dieſes Frauen-
zimmer, die nichts weniger, als ſchoͤn war, beſaß
doch die liebenswuͤrdigſten Eigenſchaften. Amalie,
ſie und ich, brachten manche Stunde bey der Gruft
ihrer Schweſter zu, und ehrten ihr Andenken mit
unſern Thraͤnen.
Es war Fruͤhling und viele Familien aus Lon-
don beſuchten nunmehr das Land. Das naͤch-
ſte Gut an dem unſrigen gehoͤrte dem Staatsſecre-
tair Robert. Dieſer hatte mit Steeleyn ehemals
in Oxford ſtudirt, und Steeley war ſehr begierig,
ihn nach ſo vielen Jahren einmal wieder zu ſehn.
Er
[129]Graͤfinn von G**
Er ſchrieb an ihn, ſo bald er hoͤrte, daß er auf
dem Landgute angekommen war, und bat um die
Erlaubniß, daß er ihn nebſt ſeiner Frau und noch
ein Paar guten Freunden beſuchen duͤrfte. Robert,
der noch gar nicht gewußt hatte, daß Steeley wie-
der aus Moskau zuruͤck gekommen war, ſchickte
ihm den andern Tag eine Antwort voll Sehn-
ſucht und Freundſchaft, und zugleich ſeinen eignen
Wagen. R. war unpaß, und wir fuhren alſo
ohne ihn zu Roberten, und kamen kurz vor der
Mittagsmahlzeit an. Er empfieng uns mit vieler
Hoͤflichkeit, und Steeley praͤſentirte ihm meinen
Gemahl unter ſeinem angenommenen Namen,
als einen Freund, den er mit aus Siberien ge-
bracht. Unſer Wirth, der ganz allein war, noͤ-
thigte uns ohne Verzug zur Tafel, damit er un-
geſtoͤrt mit uns reden koͤnnte. Wir hatten uns
kaum niedergeſetzt und auſſer den Complimenten
noch nichts geſprochen, als der Bediente des
Staatsſecretairs hereintrat, und iemanden an-
meldete, aber ſo ſachte, daß wir nichts, als das
Wort Abgeſandter verſtehen konnten. Muͤſſen
wir denn geſtoͤrt werden? fieng Robert ganz zor-
nig an, und eilte den Augenblick nebſt dem Be-
dienten aus dem Zimmer. Wir bleiben ſitzen und
erwarteten mit groͤßtem Verdruß den neuen Gaſt;
aber o Himmel, was fuͤr ein Anblick war das
fuͤr mich und den Grafen, als Robert den Prinzen
von S ‒ ‒ herein gefuͤhret brachte! Wir ſpran-
gen beide von der Tafel auf, und wußten nicht,
ob wir in dem Zimmer bleiben ſollten. Der Prinz
trat auf mich zu, als ob er ſeinen Augen nicht trauen
II.Theil. Jwollte,
[130]Leben der Schwediſchen
wollte; indem ſah er den Grafen und erſchrack,
daß er blaß wurde. Robert merkte nichts von
dieſem Geheimniſſe und noͤthigte den Prinzen und
uns, die er ſeine F[re]unde nannte, an die Tafel.
Der Prinz bedankte ſich und ſagte, daß er ſchon
gefruͤhſtuͤckt haͤtte und nur gekommen waͤre, ſich
einige Stunden mit der Jagd zu vergnuͤgen.
Robert antwortete, daß er ihm Geſellſchaft
leiſten wollte; allein er nahm es nicht an. Ge-
ben ſie mir ihren Jaͤger mit, ſprach er ganz zer-
ſtreut; auf den Abend will ich gewiß ihr Gaſt
ſeyn. Jndem machte er uns allen ein Compli-
ment und Robert begleitete ihn. Ach, fieng mein
Gemahl zu Steeley an: wo haben ſie uns hinge-
fuͤhrt? Wie wird mirs und meiner Gemahlinn
ergehn? Das war der Prinz von S ‒ ‒ Er
wird in den Verrichtungen ſeines Koͤnigs hier ſeyn,
und ich, ich ‒ ‒ Robert kam mit einer unruhi-
gen Mine wieder. Jch weis nicht, ſprach er,
warum der Prinz ſo beſtuͤrzt war. Er muß ie-
manden von ihnen kennen oder zu kennen ſich ein-
bilden. Er fragte inſonderheit nach ihnen; (er
meinte den Grafen) allein ich ſagte ihm, daß ich
mit meinen Gaͤſten ſelbſt noch nicht bekannt waͤ-
re. Er iſt in den Angelegenheiten des Koͤnigs
von Schweden ſeit kurzer Zeit hier, nnd wird
vermuthlich bald wieder von hier zur Armee ab-
gehn. Unſer Wirth ſchloß aus unſrer Beſtuͤr-
zung auf ein Geheimniß und bat, daß wir ihm
die Sache entdecken ſollten, wenn ſie nicht von
Wichtigkeit waͤre. Jch will ihnen alles ſagen,
fieng der Graf an, und zum Voraus um ihren
Schutz
[131]Graͤfinn von G**
Schutz bitten, wenn ich ihn verdiene. Jch bin
der Graf von G ‒ ‒ Mein Name wird ihnen
durch mein Ungluͤck vielleicht ſchon bekannt ſeyn.
Jch bin vor zehn Jahren als ein Schwediſcher
Obriſter ſo ungluͤcklich geweſen, daß mir das Le-
ben durch das Kriegsrecht abgeſprochen worden
iſt. Darauf| erzaͤhlte er ihm das Uebrige, und
wie er zu ſeiner Sicherheit, als ein Gefangner
der Ruſſen, den Namen Loewenhoeck angenom-
men. Der Prinz, fuhr er fort, iſt mein Feind,
und meine Verurtheilung iſt vielleicht eine Wuͤr-
kung ſeiner Rache geweſen. Jch will ihnen die
Urſache nicht ſagen, wodurch er bewogen worden,
meinen Untergang zu ſuchen. Sie iſt ihm viel-
leicht nachtheiliger, als ſeine Rache ſelbſt. Jch
ſchlieſſe aus ſeiner Beſtuͤrzung, daß er mich
fuͤr todt muß gehalten haben, und wer weis, ob
nicht die Zeit ſeinen Haß gegen mich vertrieben
hat. Bin ich, ſchloß er endlich, nicht ſo unſchul-
dig, als ich ihnen geſagt habe: ſo laſſe mich Gott
noch durch die Verfolgung dieſes Prinzen ſter-
ben. Unſer Wirth, dem das Blut vor edler
Empfindung in das Geſicht trat, reichte dem
Grafen die Hand. Bleiben ſie bey mir, ſprach
er. Jch will alle mein Anſehn bey Hofe zu ihrer
Sicherheit anwenden, und wenn das nicht hilft,
mein Leben. Verlaſſen ſie ſich auf mein Wort,
ich bin ein ehrlicher Mann. Jch will dem Prinzen
in etlichen Stunden entgegen fahren und ihn zu-
ruͤck holen, und bey meiner Zuruͤckkunft will ich
ihnen ſagen, was ſie thun ſollen. Erzaͤhlen ſie mir
indeſſen alles, was zu ihrem Schickſale gehoͤrt,
J 2denn
[132]Leben der Schwediſchen
denn ich ſehe doch, daß wir itzt nicht eſſen koͤnnen.
Wir thaten es. Jch bin ihr Freund, fieng
Robert endlich an, mehr kann ich ihnen nicht ſagen;
ich will es ihnen aber beweiſen. Er fuhr nunmehr
dem Prinzen entgegen und bat, daß wir uns bis
zu ſeiner Zuruͤckkunft in dem Garten aufhalten
ſollten. Wir erwarteten ihn daſelbſt zwiſchen
Furcht und Hoffnung und waren beynahe ent-
ſchloſſen, ohne ſeine Erlaubniß wieder zuruͤck zu
kehren. Endlich ſahen wir ihn nebſt dem Prinzen
in den Garten kommen, und mein ganzes Herz
empoͤrte ſich uͤber dieſen Anblick. Der Prinz
gieng gerade auf den Grafen zu, der die Augen
niederſchlug, und umarmte ihn, nachdem er mir
und Amalien ein Compliment gemacht. Jch
bin ihr Freund, ſprach er, wenn ichs auch nicht
immer geweſen bin, und ich wuͤnſche, daß ſie der
meinige werden moͤchten. Wir haben ſie alle
fuͤr todt gehalten. Jch weis, daß ihnen bey der
Armee zu viel geſchehen iſt, und es koͤmmt auf
ſie an, was ſie fuͤr eine Genugthuung fodern
wollen. Keine, antwortete der Graf, als dieje-
nige, die ſie mir ſchon ertheilt haben, naͤmlich
daß ich unſchuldig und der Gnade des Koͤnigs
nicht unwerth bin. Sie ſind ihrer ſo werth,
verſetzte der Prinz, daß ich ihnen in ſeinem Na-
men zweyerley zum Voraus verſpreche. Wol-
len ſie mit nach Schweden und zur Armee zu-
ruͤckkehren: ſo biete ich ihnen die Stelle eines
Generals an. Dieß wird die beſte Ehrenerklaͤ-
rung fuͤr das ſeyn, was ihnen als Oberſten
Schuld gegeben worden iſt. Wollen ſie dieß
nicht:
[133]Graͤfiinn von G**
nicht: ſo bleiben ſie hier. Jch will es bey dem
Koͤnige ſo weit bringen, daß ſie als Schwedi-
ſcher Envoye bey meiner Abreiſe zuruͤck bleiben
ſollen. Sagen ſie ja, Herr Graf, damit ich
das Vergnuͤgen habe, ſie zu uͤberzeugen, daß
ich ſie hoch ſchaͤtze und das Vergangene wieder
gut machen will. Der Graf ſchlug beydes aus.
Jch bin zufrieden, ſprach er, daß ſie mein Freund
ſind, und mich in die Gnade des Koͤnigs von
neuem ſetzen wollen: mehr verlange ich nicht.
Sollte ich mich noch einmal in die groſſe Welt
wagen und gluͤcklich ſeyn, um vielleicht wieder
ungluͤcklich zu werden? Jch will mein Leben oh-
ne oͤffentliche Geſchaͤfte beſchlieſſen. Robert
mengte ſich endlich in das Geſpraͤch, und unſere
Furcht vor dem Prinzen verminderte ſich. Es
ſey nun, daß ſeine Rache geſaͤttigt war, oder daß
ihn ſein Gewiſſen gequaͤlt hatte: ſo bezeugte er
den ganzen Abend eine auſſerordentliche Freude,
daß der Graf noch lebte, den er ſo viele Jahre
hindurch fuͤr todt gehalten hatte. Mein Ge-
mahl that ſo großmuͤthig gegen| ihn, als ob er
nie von ihm waͤre beleidigt worden. Der
Prinz nahm noch denſelben Abend von uns Ab-
ſchied, weil er ſehr fruͤh wieder zuruͤck nach
London wollte. Wenn ſie mein Freund ſind,
ſprach er zum Grafen, ſo beſuchen ſie mich noch
dieſe Woche, oder ich komme zu ihnen. Der
Graf verſprach es ihm, allein er konnte ſein
Wort nicht halten; die Zeit war da, daß ich ihn
zum andern male verlieren ſollte. Denn in
eben dieſer Nacht bekam er einen Anfall von ei-
J 3nem
[134]Leben der Schwediſchen
nem Fieber. Wir eilten den andern Tag von
unſerm großmuͤthigen Wirthe auf unſer Land-
gut zuruͤck, und das Fieber ließ den armen Grafen
kaum mehr aufdauern. Er ward in wenig Tagen
ſo entkraͤftet, daß er die Hofnung zum Leben
aufgab. Jch kam bis in den neunten Tag
weder Tag noch Nacht von ſeiner Seite und
ſuchte mir ihn recht wider den Willen des Schick-
ſals zu erhalten; ſo vollkommen liebte ich ihn
noch. Drey Tage vor ſeinem Ende wuͤnſchte er,
daß ihn der Prinz beſuchen moͤchte. Wir lieſſens
ihm eiligſt melden, und er war den Tag darauf
ſchon zugegen. Sehn ſie, ſprach der Graf, daß
ich keine Gnade des Koͤnigs mehr noͤthig habe?
Jch will nur Abſchied von ihnen nehmen und ſie
und mich uͤberzeugen, daß ich als ihr Freund
ſterbe. Der Prinz war ſo geruͤhrt uud zugleich
ſo beſchaͤmt, daß er ihm wenig antworten konn-
te. Er blieb wohl eine halbe Stunde vor dem
Bette ſitzen und druͤckte ihm die Hand, und
fragte, ob er ihm denn mit nichts mehr dienen
koͤnnte, als mit ſeinem Mitleiden. Der Graf
ward ſo ſchwach, daß er kaum mehr reden konn-
te; und bat den Prinzen ihn zu verlaſſen. Der
Prinz gieng mit der groͤßten Wehmuth fort und
wagte es nicht, von mir Abſchied zu nehmen.
Den andern Tag kam der Graf aus einem
tiefen Schlafe eine Stunde lang wieder zu ſich
ſelber. Amalie, Steeley und R. der doch ſelbſt
noch krank war, traten alle zu ihm. Bald,
ſprach er zu mir, haͤtte ich euch nicht wieder ge-
ſehn. Ach meine Gemahlinn, der Tod iſt nicht
ſchwer,
[135]Graͤfinn von G**
ſchwer, aber ench und meine Freunde zu verlaſſen,
das iſt bitter. Jch ſterbe; und ihnen, mein lieber
R ‒ ‒ uͤberlaſſe ich meine Gemahlinn. Er
ſtarb auch an eben dem Tage. Jch will meinen
Schmerz uͤber ſeinen Tod nicht beſchreiben. Er
war ein Beweis der zaͤrtlichſten Liebe und bis zur
Ausſchweifung groß. Jch fand eine Wolluſt
in meinen Thraͤnen, die mich viele Wochen an
keine Beruhigung denken ließ, und Amalie klagte
mit mir, an Statt, daß ſie mich troͤſten ſollte.
R ‒ ‒ mußte die meiſte Zeit uͤber das Bette
huͤten, und auch dieſes vermehrte meinen Schmerz:
Steeley allein ſann auf meine Ruhe und noͤthig-
te mich, da die beſte Zeit des Jahres verſtrichen
war, mit ihm nach London zuruͤck zu kehren.
Das erſte, was mir da wieder begegnete, war
ein Vorfall mit dem Prinzen. Er war im Be-
griffe von London wegzugehn, und wagte es in
Roberts Geſellſchaft bey unſrer Ankunft mir die
Condolenz abzuſtatten. Er wiederholte ſeinen
Beſuch binnen zwey Tagen etliche mal und be-
gehrte, daß ich ihm eine Bittſchrift an den Koͤ-
nig mitgeben und um die Erſetzung der eingezo-
genen Guͤter meines Gemahls anhalten ſollte.
Jch gab ihm eine, bloß um ihn nicht zu beleidi-
gen. Noch an eben dem Tage erhielt ich einen
Beſuch von dem Staatsſecretair. Jch will ih-
nen, fieng er nach etlichen Complimenten an, die
Urſache meines Beſuchs kurz entdecken. Jch
bin ein Abgeordneter des Prinzen, und ich weis
nicht, ob ſie mich ohne Unwillen anhoͤren werden.
Wiſſen ſie, daß ihm ſeine Gemahlinn vor etlichen
Jahren
[136]Leben der Schwediſchen ꝛc.
Jahren geſtorben iſt? Er wuͤnſcht, ſie als Ge-
mahlinn mit nach Schweden nehmen zu koͤnnen,
und es iſt nichts gewiſſer, als daß er ſie auf das
aͤuſſerſte liebt. Mit einem Worte, er will durch
mich erfahren, ob er hoffen darf, oder nicht.
Nunmehr habe ich ihnen alles geſagt, und ſie
duͤrfen ſich bey ihrer Antwort nicht den geringſten
Zwang anthun. Steeley und Amalia und
R * * waren zugegen, als er mir den Antrag
that, und R * * erſchrack, als ob er mich ſchon
verloren haͤtte. Jch entſetzte mich ſelbſt uͤber die
Verwegenheit des Prinzen und antwortete dem
Herrn Robert nichts als dieſes: Hier iſt mein Ge-
mahl und wies auf den Herrn R ‒ ‒. Jn der
That war er mir noch ſo ſchaͤtzbar, daß ich ihn
allen andern vorgezogen haben wuͤrde, wenn ich
mich haͤtte entſchlieſſen koͤnnen, mich wieder zu
vermaͤhlen. Und vielleicht waͤre ich ſoll ich ſa-
gen, zaͤrtlich, oder ſchwach genug dazu geweſen,
wenn er laͤnger gelebt haͤtte. Er ſtarb bald dar-
auf an ſeiner noch fortdauernden Krankheit und
die Betruͤbniß uͤber ſeinen Verluſt uͤberfuͤhrte
mich, wie ſehr ihn mein Herz noch ge-
liebt hatte.
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- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjv6.0