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Zeitvertreib
und
Unterricht
fuͤr Kinder

vom dritten bis zehnten Jahr
in kleinen Geſchichten.

[figure]
Leipzig: ,
bey Weidmanns Erben und Reich. 1783.

[][]

Vorbericht.


Ich bin kein Erzieher von Genie und
Profeßion; ſondern ein chriſtlichver-
nuͤnftiger Vater, der ſeine Kinder zaͤrtlich
liebt, und die natuͤrlich gute Anlage, die
ſie alle haben, und behalten, wenn ſie gute
Lehren, mit guten Exempeln begleitet, hoͤ-
ren, nach richtigen Begriffen und Grund-
ſaͤtzen aus der Bekanntſchaft mit natuͤrli-
chen Dingen, und, wenn es Zeit iſt, aus
der Religion, auszubilden ſucht. An mei-
2nem
[] nem Namen iſt nichts gelegen, wenn nur
das, was ich bey der Kinderzucht nuͤtz-
lich gefunden habe, andern auch nuͤtzlich
wird.


Ich habe meinen Unterricht vom drit-
ten bis zum ſechſten Jahre, und einige Jah-
re weiter, nicht nach Regeln, Theorien
und erkuͤnſtelten Methoden, ſondern bloß
nach den Temperamenten, Faͤhigkeiten,
Neigungen und Begriffen meiner Kinder
eingerichtet, und dabey immer auf die Er-
fahrungen gemerkt: was ihnen leicht oder
ſchwer, faßlich oder dunkel, angenehm und
unangenehm geweſen iſt: was beſondern
Eindruck auf ihre Sinne, Empfindungen
und Herz gemacht hat. Dieſes hab’ ich
vor-
[] vorzuͤglich beybehalten, und bey allen Gele-
genheiten zu nutzen geſucht. Ich kann
nicht genug beſchreiben, wie gut es ſey, ſol-
che Erfahrungen zu ſammlen, und in der
Folge gehoͤrig anzuwenden. Da ich kein
Buch von der Kinderzucht ſchreibe, ſo will
ich hier nur einige Beyſpiele ſolcher Erfah-
rungen anfuͤhren.


1. Ich habe angemerkt, daß Kin-
der gewiſſe uͤble unanſtaͤndige Gewohnhei-
ten annehmen, die uͤberaus ſchwer abzu-
bringen ſind. Alle Erinnerungen, Dro-
hungen, Strafen, Schlaͤge, die ich ſehr
ungern waͤhle, helfen nichts. Sie blei-
ben dabey. Bosheit iſt eben ihr Unge-
horſam nicht; ſondern mechaniſche Gewohn-
3heit.
[] heit. Dahin gehoͤrt das fatale Aufſchnau-
ben; das Aufliegen mit den Armen, wo ſie
ſtehen oder ſitzen; das Wackeln, Krumm-
und Schiefſtehen; das Blinken mit den
Augen; das Aufkneipen mit den Lippen;
das Saugen an den Fingern, und derglei-
chen. Ich hab’ es auf alle Art verſucht,
ihnen dieſe Fehler abzugewoͤhnen, und da
alles fruchtlos war, ſo fieng ichs auf die
Art an, als ſie leſen und ſchreiben lern-
ten, daß ich die ganze Gewohnheit in ein
Geſchichtchen brachte, und in demſelben
entweder ein gebeſſertes Kind zur Beſchaͤ-
mung des andern aufſtellte, oder dem Kin-
de mit der boͤſen Gewohnheit zeigte, was
es ſeiner Geſundheit fuͤr Schaden thun
koͤnnte, wenn es die boͤſe Gewohnheit
behiel-
[] behielte. Dieß that die vortrefflichſte
Wirkung.


2. Hab’ ich angemerkt, daß die Kin-
der faſt nichts ſo ſehr verdirbt, als wenn
ihnen von Jugend auf viel aberglaͤubiſches
Zeug in den Kopf geſetzt wird, wodurch ſie
ſo ſehr in beſtaͤndiger Furcht gehalten wer-
den, daß ſie ſich zuletzt vor allem fuͤrchten,
und Zeit ihres Lebens ungluͤcklich werden.
Ich habe dieß auch durch Geſchichtchen ih-
nen aus dem Kopfe zu bringen geſucht; aber
dabey ſie nicht mit allen Arten des dummen
Aberglaubens bekannt gemacht, ſondern
nur mit denen, die, ſo zu reden, noch gaͤnge
und gebe ſind, und wo man es nicht verhuͤ-
ten kann, daß ſie nicht vom Geſinde oder
4von
[] von andern Kindern etwas davon erfah-
ren ſollten. Ich habe ihnen dabey ſorgfaͤl-
tig gezeigt, wie alles, was der Aberglau-
be fuͤr Wunder und uͤbernatuͤrlich haͤlt, ſehr
natuͤrlich zugehe: wie dabey das meiſte laͤ-
cherlich, ungegruͤndet, widerſprechend und
ganz falſch ſey, und wie ſie ſich, wenn ſie
das glaubten, entweder vor lauter natuͤrli-
chen, unſchaͤdlichen Dingen, oder vor ei-
nem bloßen Nichts fuͤrchteten. Ueber-
haupt hab’ ich es ſehr gut gefunden, Kin-
der fruͤhzeitig mit den Begebenheiten und
Wirkungen der Natur, und mit den nuͤtz-
lichſten Ideen des menſchlichen Lebens be-
kannt zu machen. Den Aberglauben, der
die Religion mißbraucht und ſchaͤndet, hab’
ich dabey nicht vergeſſen, inſofern es die
Faͤhig-
[] Faͤhigkeiten der Kinder erlaubten. Ich
kann nicht ſagen, wie groß davon der
Nutzen war. Die Kinder ſahen es ein,
fuͤhlten es, freuten ſich, daß ihre Furcht
vergeblich war, bedauerten andere Kinder,
die das nicht wußten, und wurden ihre Leh-
rer und Wohlthaͤter.


3. Hab’ ich bey dieſen Geſchichtchen
und Kinderhiſtoͤrchen einen Umſtand be-
merkt, der mir ſehr vortheilhaft geweſen
iſt. Bey den Dialogen wird oft eins mei-
ner Kinder genannt, welches das andere
entweder beſchaͤmt, oder belehrt und unter-
richtet hat. Da hieß es immer: Vater!
bin ich das? Und dadurch wurde eine war-
me Ambition erhalten, die, wenn ſie recht
5gelei-
[] geleitet wird, Kindern Tugenden ſehr leicht
macht, und viele Fehler abgewoͤhnt.


Diejenigen Stuͤcke, welche allerley
aberglaͤubiſche Hiſtoͤrchen enthalten, ſind
hauptſaͤchlich fuͤr Kinder in kleinen Staͤd-
ten beſtimmt, welche das Ungluͤck haben,
noch in den gewoͤhnlichen Vorurtheilen er-
zogen zu werden.


Ob ich mich gluͤcklich und verſtaͤnd-
lich zum Kinderton herabgeſtimmt ha-
be, moͤgen andere beurtheilen. So viel
weiß ich, daß mich meine Kinder von
fuͤnf Jahren, und andere, denen von
Kindheit an ihre Mutterſprache rein und
gruͤndlich durch das Buchſtabieren beyge-
bracht war, daß ſie alle Woͤrter richtig,
und nicht Emmer ſtatt Eimer, Letter ſtatt
Leiter,
[] Leiter, Appel ſtatt Apfel, ausſprachen, auch
von allen ihnen vorkommenden Dingen rich-
tige Begriffe bekommen hatten, ſehr gut
verſtanden haben. Wegen mancher fuͤr die
Sinnlichkeit der Kinder gewaͤhlter Worte,
glaube ich leicht einige Nachſicht zu erhalten.


Noch eine Regel hab’ ich bewaͤhrt ge-
funden. Wenn Kinder etwas von den ſo-
genannten natuͤrlichen Dingen oder dem Ge-
ſchlechtsunterſchiede bemerken, und Fragen
thun, die man ihnen nicht beantworten darf,
ſo fahre man ja nicht auf ſie los, oder be-
ſchaͤme ſie daruͤber. Das macht ſie nur
neugieriger. Man ſage ihnen lieber: Das
verſteht ihr noch nicht. Laßt das jetzt weg,
und lernt nach nuͤtzlichern Dingen fragen.
Dann faͤllt es ihnen nicht ſo auf; aber man
ſage
[] ſage ihnen ja nichts falſches vor, das ſie
ſelbſt laͤcherlich und falſch finden, und wo-
durch ſie nur gereizt werden, mehr zu for-
ſchen. S. das Geſchichtchen vom Klap-
perſtorch.


Dieſes fuͤrs erſte genug. Finden die-
ſe Beytraͤge Beyfall; ſo kann das zweyte
Baͤndchen folgen.



[]

Inhalt.


  • I. Weyhnachtsaberglaube. Seite 1
  • II. Knecht Ruprecht. 10
  • III. Der Weyhnachtsmann. 15
  • IV. Das gefallene Kind. 19
  • V. Das wackelnde Kind. 22
  • VI. Die ſchaͤdliche Gewohnheit. 24
  • VII. Der Klapperſtorch. 26
  • VIII. Die Todtenuhr. 29
  • IX. Der Nickelmann. 36
  • X. Die Zigeuner. 41
  • XI. Das Oſterwaſſer. 48
  • XII. Das neidiſche Kind. 54
  • XIII. Das muthwillige und grauſame Kind. 58
  • XIV. Das weichliche Kind. 62
  • XV. Die Lerchenjagd. 66
  • XVI. Von Kindern, die nichts einnehmen
    wollen. Seite 71
  • XVII. Das vorwitzige Kind. 76
  • XVIII. Das verſchwiegene Kind. 82
  • XIX. Vom Angeben. 86
  • XX. Das naſchige Kind. 89
  • XXI. Das vorſchreibende Kind. 91
  • XXII. Das zierige Kind. 94
  • XXIII. Von Kindern, die nicht alles eſſen wol-
    len. 96
  • XXIV. Das herrſchſuͤchtige Kind. 100
  • XXV. Das dankbare Kind. 106
  • XXVI. Das luͤgenhafte Kind. 108
  • XXVII. Das Schreiben. 112
  • XXVIII. Die Rochowiſche Schule. 117
  • XXIX. Der Todtenkopf. 122
  • XXX. Die Irrlichter. 139
  • XXXI. Von der Furcht vor dem Gewitter. 146
  • XXXII. Vom Mißbrauch des Namens Got-
    tes. Seite 157
  • XXXIII. Das unreinliche Kind. 162
  • XXXIV. Nadel im Munde. 165
  • XXXV. Das Pinken mit den Augen. 167
  • XXXVI. Geſpenſter. 169
  • XXXVII. Fortſetzung. 175
  • XXXVIII. Fortſetzung. 182
  • XXXIX. Fortſetzung. 188
  • XL. Fortſetzung. 195
  • XLI. Fortſetzung. 200
  • XLII. Fortſetzung. 204
  • XLIII. Das neugierige Kind. 209
  • XLIV. Die Einfalt. 216
  • XLV. Von Kindern, die ſich vor alles fuͤrch-
    ten. 218
  • XLVI. Etwas Nuͤtzliches. 223
  • XLVII. Von Kindern, die alles ruiniren. 225
  • XLVIII. Die beſtrafte Vermeſſenheit. S. 230
  • XLIX. Das veraͤnderliche Kind. 237
  • L. Das eigenſinnige Kind. 239
  • LI. Fortſetzung. 249

Erklaͤrung der Titelvignette.


Unter dem gefeſſelten Satyr werden gemei-
niglich Dummheit und Aberglaube abge-
bildet, und beyde werden hier von Kin-
dern verſpottet.

I.
[[1]]

I.
Weyhnachtsaberglaube.


Hannchen kam am Weyhnachtsabend zu
Dorchen, und ſagte: was moͤgen doch
wohl unſere Leute vorhaben? Sie machen al-
lerley wunderliches Zeug, daraus ich mich
gar nicht finden kann. Sie ſetzen Salzhaͤuf-
chen
zurecht. Marie holte Bley aus dem
Kramladen, und hatte ein Feuerbecken, eine
Kelle, und etliche Glaͤſer mit Waſſer. Was
willſt du damit machen, Marie? fragte ich.
Ich bekam aber weiter keine Antwort, als
daß mich das nichts angienge. Sie blieben
Adieſe
[2] dieſe Nacht auf, und ich ſollte nur zu Bette
gehen.


Sage mir doch, liebes Dorchen! haſt
denn du noch nichts von dieſen Dingen ge-
hoͤrt? Was mags doch vorſtellen ſollen? Sie
machen alles ſo heimlich, damit Papa und
Mama, und unſer Lehrer, Herr Klug, nichts
davon erfahren ſollen.


Ja, mein liebes Hannchen, antwortete
Dorchen, etwas hab’ ich ſchon davon ge-
hoͤrt, und will dir alles ſagen, wie mich mei-
ne liebe Aeltern davor gewarnt haben.


Es iſt alles Weyhnachtsaberglaube. Al-
bernes Zeug, was die Einfalt und Einbil-
dung, wie auch die Neubegierde der gemei-
nen Leute erfunden hat, und wobey gar kein
Verſtand iſt, ſagte mein Vater, und er ſag-
te mir noch mehr, wovon ich wuͤnſchte, daß
es dich von allem Aberglauben eben ſo be-
frey-
[3] freyen moͤchte, wie es mich davon be-
freyet hat.


O ſage mirs doch, beſtes Dorchen. Du
kannſt mir keinen groͤßern Gefallen thun.
Von dir hoͤr’ ich ſo was am liebſten, weil ſich
deine liebe Aeltern mehr Muͤhe geben, dir
das zu ſagen und begreiflich zu machen.
Warum geſchiehts denn alles eben in der
Chriſtnacht, wie die Leute ſagen? Darum,
antwortete Dorchen, weil ſie glauben: in
der Nacht, da Chriſtus geboren ſey, muͤß-
te durch die Kraft der Geburt Chriſti alles
geſchehen und eintreffen, was die Leute wuͤn-
ſchen und gerne haben wollen. Da muͤßten
alle boͤſe Engel, die ſich der Aberglaube meh-
rentheils ſelbſt erdichtet, Chriſto gehorchen,
und thun, was die Leute im Namen des gebor-
nen Heilandes von ihnen verlangen: als
Schaͤtze anzeigen und graben helfen, ihr zu-
kuͤnftiges Schickſal ihnen bekannt machen,
A 2und
[4] und dergleichen albernes Zeug mehr. Sie-
he! darum thun ſie das in der Chriſtnacht.


Iſt denn das aber recht, fragte Hann-
chen weiter? Davon ſteht doch nichts in un-
ſern Buͤchern, die uns unſere Aeltern zu le-
ſen geben: auch nichts in der Bibel, wie
Herr Klug verſichert, und im andern Gebot
ſagt ja der liebe Gott: wir ſollen ſeinen Na-
men nicht mißbrauchen, und nicht bey dem-
ſelben zaubern. Das moͤgen wohl ſolche
Suͤnden ſeyn, die zur Zauberey gehoͤren.
Das iſt haͤßlich, den Namen Gottes und
Chriſtus ſo mißbrauchen, eben ſo unrecht,
als alle Augenblicke Herr Jeſus ſagen. War-
um moͤgen doch die Leute das nicht bey Ta-
ge thun, wenn ſie ein gut Gewiſſen haben?


Du haſt Recht, antwortete Dorchen.
Das iſt eben der dumme Aberglaube der un-
wiſſenden Leute, den ihr, wie meine Mutter
oft zu unſern Leuten ſagt, von Vater und
Groß-
[5] Großmutter, von Jugend auf, in der Spinn-
ſtube gelernt habt, davon die geſunde Ver-
nunft und Gottes Wort nichts weiß. Laß
uns ja Gott danken, daß wir beſſer unter-
richtet ſind. Wir haben den ſchoͤnen Spruch
gelernt: Dazu iſt erſchienen der Sohn Got-
tes, daß er die Werke des Teufels zerſtoͤre.
Und das waͤren ſolche Werke, ſagte neulich
mein Vater: Unwiſſenheit, Aberglaube, Bos-
heit, Luͤgen, Heucheley, und alles Boͤſe, wo-
durch die Suͤnde Gewalt uͤber den Menſchen
haͤtte. Solche Leute aber, die dem Aber-
glauben ergeben ſind, richten dieſe Werke
wieder auf, die der Herr Chriſtus zerſtoͤret
hat. Iſt das wohl recht?


Nein, mein Dorchen, erwiederte Hann-
chen. Das ſehe ich ein; aber ich moͤchte
doch gar zu gerne wiſſen, was die Leute mit
den Salzhaͤufchen, dem Bley und Kohlen, in
der Chriſtnacht eigentlich anfangen? Wozu
A 3kann
[6] kann ihnen denn das alles helfen? Auch
das will ich dir ſagen, antwortete Dorchen,
ſo gut ichs weiß. Die Salzhaͤufchen ſetzen
ſie wie einen Thurm oder kleinen Berg, und
ſehen des Morgens zu, ob ſie geſunken oder
ſtehen geblieben ſind. Das erſte bedeutet in
dem Jahre Krankheit, Ungluͤck und Tod.
Das zweyte, Geſundheit Gluͤck und Leben.
Und das Abſcheulichſte iſt, daß ſie glauben:
daß entweder Chriſtus das ſelbſt daran thue,
oder durch einen Geiſt und Engel thun laſſe,
und ihnen alſo durch das Fallen oder Ste-
hen der Salzhaͤufchen ſelbſt eine Anzeige von
ihrem Gluͤck und Ungluͤck, von ihrem Leben
und Sterben gebe.


Das iſt ja ganz erſchreckliches Zeug, was
ich da hoͤre, ſagte Hannchen. Ja, hoͤre
nur weiter, fuhr Dorchen fort. Das iſt
noch lange nicht alles. Hoͤre nur, wie ſich
die Leute dabey mit unnuͤtzer Furcht quaͤlen
und
[7] und martern. Iſt das Salz feuchte, wie es
denn mehrentheils iſt; ſo ſinkt das Haͤufchen
ganz natuͤrlich von ſelbſt, zumal wenn es in
der warmen Stube ſteht. Dann bilden ſie
ſich ein, ſie muͤſſen in dem Jahre ſterben,
und graͤmen ſich wohl gar todt, wie mir mein
Vater davon verſchiedene Exempel erzaͤhlt
hat.


Aber das Bley, mein Dorchen, wozu
das? Sie ſchmelzen es auf Kohlen in der Kel-
le, und gießen es in Glaͤſer mit Waſſer. Da
giebt es natuͤrlicher Weiſe, wenn das heiße
geſchmolzene Bley ins kalte Waſſer faͤllt, und
aus einander ſpritzt, allerley Figuren, als
Baͤume, Staͤdte, Thuͤrme, Spieße, Naͤgel
und dergleichen. Die Einbildung macht ſie
dazu, was ſie nicht ſind. Da begucken ſie
denn das alles ſehr ſorgfaͤltig, machen die
Auslegung, und ſehen darinn alles, was ſie
wuͤnſchen und fuͤrchten, ſagt mein Vater.
A 4Staͤd-
[8] Staͤdte, Haͤuſer und Baͤume bedeuten groſ-
ſes Gluͤck und gute Nahrung. Dunkle Klum-
pen aber Kirchhoͤfe, Saͤrge und Todtenkoͤ-
pfe, daß ſie in dem Jahre ſterben muͤſſen.
Und das alles koͤnnen ſie nur in der Chriſt-
nacht, durch Huͤlfe der Geburt Chriſti, erfah-
ren, ſonſt nicht.


Siehe, mein Hannchen, ſo iſt es damit.
Kannſt du das Zeug glauben? Wollteſt du
das wohl nachmachen? O hoͤre auf, Dor-
chen! ich habe genug. Ich mag nichts mehr
wiſſen. Wie gluͤcklich ſind wir, daß wir
beſſer unterrichtet werden, und uns der Aber-
glaube nicht mehr zu fuͤrchten macht! Unſer
Leben hat uns der liebe Gott gegeben. Das
Ende deſſelben ſollen wir nicht wiſſen, ſonſt
haͤtte ers uns gewiß geſagt. Er wird es
uns erhalten, ſo lange es uns nuͤtzlich iſt.
Ich danke dir, liebes Kind, daß du mir ſo
viel
[9] viel Gutes geſagt haſt, und kein dummer
Aberglaube ſoll uns toͤdten.


Bey dieſer Gelegenheit, ſagte Dorchen,
muß ich dir noch ein Geſchichtchen erzaͤhlen,
wie ichs von Vaͤterchen habe, was der Aber-
glaube oft fuͤr ein [trauriges] Ende nimmt.
Vor etwa 30 oder 40 Jahren bereden ſich ein-
mal einige Leute bey Jena in der Chriſtnacht,
daß ſie wollen hinausgehen in einen Wein-
berg, und in dem Haͤuschen deſſelben die boͤ-
ſen Geiſter durch die Kraft der Geburt Chri-
ſti beſchwoͤren, ihnen die darinn vergrabenen
Schaͤtze zu verſchaffen. Weil es ſehr kalt
iſt, nehmen ſie Steinkohlen mit in das enge
Stuͤbchen des Hauſes, und zuͤnden ſie an,
um ſich dabey zu waͤrmen. Dieſe geben vie-
le Schwefelduͤnſte von ſich, die man nicht ſe-
hen kann, aber einſchluckt, und die in einer
engen Stube ſehr gefaͤhrlich ſind. Was ge-
ſchieht? Des andern Morgens werden ſie alle
A 5todt
[10] todt gefunden, und waren von dem Dampf
der Steinkohlen erſtickt.


So ſtraft ſich der Aberglaube, der den
lieben Gott verſucht, ſelbſt. Denn dazu iſt
Chriſtus nicht geboren, daß wir ſollen durch
die Kraft ſeiner Geburt reich werden, Schaͤtze
graben, die boͤſen Engel bannen, und unſer
zukuͤnftiges Gluͤck oder Ungluͤck erfahren; ſon-
dern daß wir ſollen von der Suͤnde befreyet
werden; fromm und gluͤcklich leben.


II.
[11]

II.
Knecht Ruprecht.


Luischen ſagte zu Fritzen: ach wie freue ich
mich aufs Weyhnachtsfeſt, wenn nur
eins nicht waͤre! Du glaubſt nicht, wie ich
mich fuͤrchte, und mich kaum getraue, des
Abends vor die Stubenthuͤr zu gehen.


Nun, was iſt denn das, antwortete Fritze.
Ich weiß von keiner Furcht. Ich freue mich
herzlich aufs Weyhnachtsfeſt, weil ich, ſo
viel ich weiß, meine liebe Aeltern nicht be-
truͤbt habe, und mir daher gar ſchoͤne Weyh-
nachtsgeſchenke verſprechen kann. Warum
fuͤrchteſt du dich denn, armes Luischen? Haſt
du etwa deine Aeltern, oder deine Lehrer be-
leidiget? Haſt du alſo nicht viel zu hoffen?


Das wohl eben nicht, erwiederte Luis-
chen. Aufs Weyhnachtsgeſchenk freue ich
mich eben ſo ſehr, als du, lieber Fritze; aber
wenn
[12] wenn nur eins nicht waͤre, daß ich mich vor
Furcht nur halb freuen kann! Fuͤrchteſt du
dich denn nicht?


Kind! ſo ſage es doch heraus. Ich
verſtehe dich nicht. Was iſt denn das eine,
das dir ſo viele Furcht macht? Ach! ſagte
Luischen weinend, der boͤſe Knecht Ruprecht,
der des Abends umhergeht, die Kinder leſen
und Spruͤche aufſagen laͤßt, und, wenn ſie
das vor Angſt nicht koͤnnen, in den Sack
ſteckt und mitnimmt. Er ſoll erſchrecklich
ausſehen, ganz mit Hede und Wolle bewickelt.
Ich habe ihn nur neulich von ferne geſehen,
und konnte mich vor Schreck in der halben
Stunde nicht beſinnen.


Was ſagſt du da, Luischen? war Fritzens
Antwort. Davon hab’ ich mein Tage noch
nichts gehoͤrt. Das kann unmoͤglich ſo ſeyn,
wie du ſagſt. Von wem haſt du es denn?


Theils
[13]

Theils von unſern Leuten in der Geſinde-
ſtube, antwortete Luischen; theils von an-
dern Kindern; theils hab’ ich neulichen Abend,
da ein graͤulicher Laͤrm auf der Straße war,
den Knecht Ruprecht ſelbſt geſehen.


Alſo nicht von deinen Aeltern und Leh-
rern, gutes Kind? Merkſt du nicht ſchon,
daß das nicht richtig, ſondern Betrug und
Bosheit ſchlechter Leute ſey, die andere nur
wollen zu fuͤrchten machen? Halt! ich wills
bald erfahren. Bleib nur hier. Ich will
gleich wieder kommen, und meine liebe Ael-
tern darum befragen.


(Fritze geht ab, koͤmmt aber bald
zuruͤck.)


Fr. Sey gutes Muths, liebes Luis-
chen, nun will ich dir alles ſagen. Meine
Aeltern wunderten ſich zwar, daß ich dar-
nach fragte, und wollten wiſſen, von wem
ichs
[14] ichs haͤtte. Da ſagte ichs, daß ichs von dir
haͤtte, und du dich erſchrecklich fuͤrchteteſt;
ich aber ſolche Poſſen nicht glauben koͤnnte.
Da erklaͤrten ſie mir alles, und ſagten da-
bey: gehe nun hin, und ſage es Luischen
wieder. Es iſt eine Wohlthat, die du an
dem Kinde thuſt, wenn du es von ſeiner
Furcht befreyeſt.


So hoͤre nun zu deinem Troſt. Knecht
Ruprecht iſt ein Knecht, oder ſonſt ein gemei-
ner ſchlechter Kerl, der ſich ausgekleidet hat,
davon heißt er Ruprecht, und des Abends
die aberglaͤubigen Leute und die einfaͤltigen
Kinder zu fuͤrchten macht. In den Doͤrfern
iſt es noch ſehr gemein.


Davon will ich dir eine traurige Hiſtorie
erzaͤhlen. Es kam einmal ein ſolcher Kerl,
der ſich uͤber und uͤber mit Flachs und Hede
bewickelt hatte, in eine Spinnſtube. Die
eine Magd ſteckte mit der Lampe den Flachs
an.
[15] an. Der Kerl konnte ſich nicht helfen. Al-
les lief fort. Er mußte elendiglich verbren-
nen, und haͤtte bald das Haus angeſteckt,
wenn er ſich nicht noch in den Miſtſumpf ge-
waͤlzt haͤtte. Das ſind die Folgen ſolcher
Thorheiten!


Fuͤrchteſt du dich nun noch vor dem
Knecht Ruprecht? Du denkſt wohl gar, es
ſey ein Engel, ein Geiſt, oder ein Geſpenſt?
Daruͤber muͤßte ich dich erſt recht auslachen.
Ich verſichere dich, zu mir wird kein Knecht
Ruprecht kommen. Mein Vater gab mir
dabey noch die Lehre: mache dich nicht mit
dem Geſinde und andern ſchlechten Leuten ge-
mein, damit du nicht ihre ſchlechte Stuͤcke ler-
neſt, oder dich ohne Urſache vor Dingen
fuͤrchteſt, die von ihrem Aberglauben und
Betruͤgerey herkommen.


Nun, liebes Luischen! freue dich mit
mir aufs Weyhnachtsfeſt. Ruprecht ſoll
uns nichts nehmen.


III.
[16]

III.
Der Weyhnachtsmann.


Du fragteſt doch neulich, liebes Minchen,
nach dem Weyhnachtsmann, der des
Abends umhergienge, und ſich mit den In-
ſtrumenten und Spielzeuge hoͤren ließe, wel-
ches die artigen Kinder zum Weyhnachtsge-
ſchenk haben ſollten: auch dann und wann
ſchon vorher Roſinen und Mandeln zur Freu-
de der Kinder verzettelte. Du fragteſt wei-
ter, ob es der heilige Chriſt ſelbſt ſey, wie
die Leute ſagten, der zu Weyhnachten den
Kindern was beſcheere, und warum ſich der
Weyhnachtsmann in unſerm Hauſe nicht hoͤ-
ren ließe, da doch alle Kinder in der Schule
davon ſpraͤchen?


Jetzt will ich dirs erklaͤren. Zuerſt ſage
ich dir, daß es ganz falſch und erdichtet ſey,
daß unſer Herr Chriſtus zu Weyhnachten auf
der
[17] der Erde herumgehe, von den Drechslern,
Toͤpfern, Tiſchlern und andern Handwerks-
leuten die Spielſachen hole, und ſolche den
Kindern beſcheere. So klein dein Verſtand
noch iſt, ſo kannſt du das doch ſchon begrei-
fen, daß das viel zu klein und niedrig von
der Perſon gedacht ſey, die Gott den Men-
ſchen als Heiland, Lehrer und Wohlthaͤter,
hat an dieſem Feſte geboren werden laſſen.
Das faͤllt alſo ganz weg, und ich bitte dich,
aus Reſpekt und Liebe zu deinem Heilande,
den du kuͤnftig noch beſſer wirſt kennen ler-
nen, nie wieder zu ſagen: der heilige Chriſt
hat mir das beſcheeret. Die einfaͤltigen Leu-
te wiſſen es nicht beſſer, ſonſt wuͤrden ſie
nicht ſo ſprechen; und wenn ſie es beſſer wiſ-
ſen, ſo thun ſie doch unrecht, den Kindern
das vorzuſagen, weil es an ſich falſch iſt,
und den Namen Gottes entheiliget.


BZwey-
[18]

Zweytens iſt es eine alberne Gewohn-
heit unter den Leuten, daß ſie den Kindern
vorſprechen: Chriſtus ſchicke den Weyh-
nachtsmann, der den Kindern was beſcheere.
Das ſey ein Engel, der in der Weyhnachts-
nacht umhergehe, und die Sachen fuͤr die
Kinder hinlege. Daher laſſen ſie verkleidete
Perſonen in allerley Aufzuͤgen herumgehen,
wovon oft manche Kinder vor Schreck den
Tod gehabt haben.


Du haſt von dieſen Poſſen noch nichts
gehoͤrt und geſehen, ſagte mein Vater, und
wirſt dergleichen in unſerm Hauſe auch nicht
ſehen. Da du aber ſchon etwas davon er-
fahren haſt, ſo ſage ich dir, daß das alles
falſch, und ein Betrug der Leute ſey. Wir
haben dich viel zu lieb, als daß wir dir ſol-
che falſche Dinge in den Kopf ſetzen ſollten.
Das Weyhnachtsfeſt iſt ganz zu andern Ab-
ſichten beſtimmt, die du kuͤnftig erfahren
wirſt.
[19] wirſt. Es heißt Weyhnachten, oder die ge-
weihete und heilige Nacht, darinn Chriſtus
den Menſchen zum Heil und zur Freude ge-
boren iſt.


Wir beſchenken dich an dieſem Feſte als
eine Belohnung deiner Artigkeit und deines
Fleißes, aber auch zum Andenken des groſ-
ſen Geſchenks der goͤttlichen Liebe. Nun
weißt du, wie es mit der Geſchichte vom
Weyhnachtsmanne beſchaffen iſt.


IV.
Das gefallene Kind.


Wenn die Kinder immer ihre Spielſachen
im Kopfe und vor den Augen haben;
ſo geben ſie nicht Achtung auf die Dinge, die
vor und um ihnen ſind; und das iſt Unvor-
B 2ſichtig-
[20]ſichtigkeit, dadurch ſie oft hart genug ge-
ſtraft werden.


Ein kleines Maͤdchen von fuͤnf Jahren,
das ſonſt vorſichtig genug war, wurde von
ſeinem Spielzeuge von oben herunter geru-
fen, und war doch auf einer etwas ſteilen
Treppe, die es wohl ſchon hundertmal gegan-
gen war, nicht vorſichtig genug.


Als es in die Mitte derſelben kam, moch-
te es ſein Spielzeug vor Augen haben, und
uͤber eine Stufe wegſehen; trat alſo vorbey,
und fiel die uͤbrigen Stufen herunter. Zum
Gluͤck gieng es noch ſo ziemlich ohne Scha-
den ab. Der ganze Koͤrper war erſchuͤttert,
und es mußte den linken Arm wohl acht Ta-
ge im Bande tragen, weil er ſtark angeſchwol-
len war. Da ſich aber das Kind, ohne Ei-
genſinn, gerne waſchen und verbinden ließ;
ſo wurde es auch bald wieder beſſer.


Die-
[21]

Dieſer Vorfall dient allen unvorſichtigen
Kindern zur Warnung, daß ſie ſich in Acht
nehmen, weil nicht jeder Fall ſo gluͤcklich ab-
laufen kann. Als es wieder beſſer war, ga-
ben ihm ſeine Aeltern folgende Lehren:


1. Daß es Gott danke, der es bey dem
Falle ſo gnaͤdig behuͤtet habe, da es ſich haͤt-
te todt fallen, oder Arm und Beine brechen
koͤnnen.


2. Daß es ſeine guten Aeltern um Ver-
gebung bitte, weil es ihnen durch ſeine Un-
vorſichtigkeit einen ſolchen Schreck gemacht
haͤtte, und ihnen danke, daß ſie ſich ſeiner
ſo liebreich angenommen, und ihm Arzt und
Chirurgus zu ſeiner Geneſung gehalten
haͤtten.


3. Daß es ſeinen Aeltern deſto gehorſa-
mer, und gegen andere arme Kinder deſto
mitleidiger ſey, die es in ſolchen Faͤllen lan-
B 3ge
[22] ge ſo gut nicht haͤtten, und an welche ihre
arme Aeltern das nicht wenden koͤnnten.


4. Daß es auf der Treppe, und an an-
dern gefaͤhrlichen Orten, deſto vorſichtiger
ſey, damit es nicht wieder falle, und noch
groͤßern Schaden nehme.


V.
Das wackelnde Kind.


Kinder gewoͤhnen ſich alle Augenblicke eine
neue Unart an. Zwar iſt es eben keine
Bosheit, wenn ſie nicht auf die ihnen des-
halb gegebenen Erinnerungen merken, ſondern
Unachtſamkeit: auch wider alle gute Sitten,
dadurch ſie andern mehr gefallen, als wenn
ſie einen guten Verſtand haben, und noch ſo
viel lernen.


Dor-
[23]

Dorchen wackelte beſtaͤndig hin und her,
wenn es bey jemand ſtund, oder es legte die
Arme auf den Tiſch, oder es nahm ſonſt ei-
ne unanſtaͤndige Stellung des Koͤrpers vor.
Es wurde ihm oft verboten; aber es thats
doch. Kurz, es wollte nichts helfen. Es
ſahe andere artige, beſcheidene und gutgeſit-
tete Kinder; es ſchaͤmte ſich zwar, konnte es
aber nicht laſſen.


Endlich kam man auf den Einfall, daß
alle, die um es waren, es ihm beſtaͤndig ſo
nachmachten, wie es zu thun gewohnt war.
Das half. Denn es ſahe und fuͤhlte nun
ſelbſt, wie haͤßlich und unanſtaͤndig es aus-
ſahe. Es beſſerte ſich, und gewoͤhnte ſich
binnen acht Tagen das Wackeln und Aufle-
gen ab.


VI.
[24]

VI.
Die ſchaͤdliche Gewohnheit.


Wenn die Kinder allemal wuͤßten und be-
daͤchten, was boͤſe Gewohnheiten fuͤr
Schaden thaͤten, und fuͤr traurige Folgen
haͤtten: ſie wuͤrden ſie bald ablegen. Gute
Aeltern und Lehrer ſagen es ihnen oft genug;
aber ſie glauben es nicht, bis ſie mit Scha-
den klug werden.


So gieng es Fritzen und Carln, welche
die Gewohnheit hatten, ſich einander immer
aufzuheben, zu zerren und herumzuſchleu-
dern. Es wurde ihnen oft verboten; aber
ſie ließen es nicht. Sie kriegten Schlaͤge
daruͤber, und ſie thaten es nun heimlich,
wenn keiner dabey war.


Was geſchahe? Als ſie das Ding ein-
mal recht arg getrieben hatten, zerriß ſich
Carl das Netz im Leibe, daß er einen Bruch
bekam,
[25] bekam, und die Gedaͤrme austraten. Er
mußte nun Tag und Nacht ein eiſernes Bruch-
band tragen, welches ihm Strafe genug
war. Fritze aber bekam eine ſchiefe Huͤfte,
daß er nicht gerade ſtehen konnte. Mit genau-
er Noth wurde dieſelbe unter vielen Schmer-
zen wieder eingerenkt, und jener wurde auch
wieder beſſer.


Wie leicht haͤtten nicht beyde Knaben
aus bloßem Muthwillen, und durch eine ſchaͤd-
liche Gewohnheit, zeitlebens ungeſund und
Kruͤppel werden koͤnnen! Kinder muͤſſen al-
ſo nichts unternehmen, nichts tragen und
heben, wozu ſie noch die Kraͤfte nicht haben.


Als Dorchen das hoͤrte, ſagte es zu ſei-
nen Aeltern: die andern Kinder wollen mich
immer aufheben und tragen; aber ich leide
es nicht, und mag darum nicht gerne mit ih-
nen umgehen. Da wurde Dorchen ſehr ge-
lobt, daß es ſo vorſichtig war.


VII.
[26]

VII.
Der Klapperſtorch.


Chriſtianchen kam neulich zu Dorchen, und
ſagte: der Klapperſtorch hat mir ein
kleines Schweſterchen gebracht.


Wer hat dir denn, antwortete Dorchen,
ſolch Zeug weiß gemacht? Kann denn ein Vo-
gel Kinder und Menſchen bringen? Unſere
Cathrine, ſagte Chriſtianchen, hat mirs ſo
vorgeſprochen. Aber glaubſt du denn das,
erwiederte Dorchen?


Hoͤre zu, ich will dirs wieder ſagen, wie
michs Vaͤterchen gelehrt hat. Die kleinen
Kinder ſitzen nicht im Teiche oder im Waſſer,
wie die Froͤſche. Der Klapperſtorch bringt
ſie auch nicht. Das iſt ein Vogel mit lan-
gen Fuͤßen und Schnabel, daß er im Waſſer
gehen, und die Froͤſche und Fiſche von un-
ten herauf holen kann. Man ſpricht uns
Kin-
[27] Kindern das nur ſo vor, weil [ſichs] nicht fuͤr
uns ſchickt, und wir es auch noch nicht ver-
ſtehen, wie die kleinen Kinder in die Welt
kommen.


Der liebe Gott, als der Schoͤpfer und
Erhalter aller Kreaturen, ſagte mein Vater,
laͤßt ſie als Menſchen von Menſchen geboren
werden, und ſchenkt ſie den Aeltern. Die
Mutter giebt ihnen die erſte Nahrung aus
ihrer Bruſt. Die haben wir auch bekom-
men, da wir noch ſo einfaͤltig und huͤlflos
wie die jungen Hunde waren. Ach du lieber
Gott, was ſind wir jetzt ſchon, da wir ſte-
hen, hoͤren, gehen, reden, uns beſinnen,
und unſer Butterbrod fordern koͤnnen! Ich
fuͤhle es recht ſehr, wie ſauer wir den Aeltern
werden, und wie viel Gutes ſie von unſerm
erſten Anfange an, da wir noch elender dran
waren, als die jungen Thiere, an uns taͤglich
gethan
[28] gethan haben und noch thun. O Chriſtian-
chen! laß uns das ja erkennen.


Wie gut hat das der liebe Gott fuͤr uns
eingerichtet, daß er uns den Aeltern gegeben
hat, und wir ihre Kinder ſind? Wer wuͤrde
ſich ſonſt unſerer annehmen, und uns kleiden,
ſpeiſen, verſorgen und erziehen?


Ha! ha! ſagte Chriſtianchen. Das iſt
ein ganz ander Ding, Dorchen, was du mir
da ſagſt. Ich habe das vom Klapperſtorch
auch gar nicht begreifen koͤnnen. Es hat
mir gar nicht in den Kopf gewollt. Ich weiß
nun genug: der liebe Gott hat es ſo einge-
richtet, daß Menſchen von Menſchen gebo-
ren werden. Ja! ja! anders kanns auch
nicht ſeyn. Denn wenn unſere Marie dem
Huhne Eyer unterlegt; ſo kommen die jun-
gen Kuͤchelchen heraus, und keins ſagt, daß
ſie der Klapperſtorch bringe.


Du
[29]

Du haſt Recht, mein Kind, erwiederte
Dorchen. Ein jedes in der Welt bringt ſei-
nes gleichen hervor, wie wir vor Augen ha-
ben. Keine Gans einen jungen Hund, und
kein Sperling eine Katze. Laß uns nur nicht
zu vorwitzig nach ſolchen Dingen fragen, die
wir noch nicht verſtehen. Es ſchickt ſich fuͤr
uns noch nicht, da wir Kinder ſind, und
noch viel zu lernen haben. Nur muͤſſen wir
uns auch nichts falſches und laͤcherliches vor-
ſagen laſſen.


VIII.
Die Todtenuhr.


Da pickt und klopft es ſchon wieder in der
Wand, ſagte Fritze ganz aͤngſtlich, und
ſeufzte: was mag das bedeuten? Was das
bedeutet? antwortete die alte Kindermuhme:
daß
[30] daß wieder einer aus dem Hauſe ſterben wird.
Nimm dich ja in Acht, Fritze. Es kann
dich bedeuten. Denn das Ding in der
Wand pickt und klopft einem den Tod. Da-
her heißt man es auch die Todtenuhr, den
Todtenſchmidt.


Was? ſagte Fritze. Das iſt denn doch
wunderlich Zeug. Hat denn der Tod eine
Uhr, die er da in die Wand ſteckt und picken
laͤßt, wenn einer ſterben ſoll? Sage mir doch,
Marie, wie ſieht denn das Ding aus? Hat
ſie auch ſo ſchoͤne gelbe Raͤder, wie Vaͤter-
chen ſeine? Sage mir doch, woher weißt du
denn das, daß einer von dem Picken ſtirbt
und ſterben muß? Meine Aeltern und Lehrer
haben mir noch nichts davon geſagt. Wo-
her weißt du es denn? Ja! das weiß ich eben
nicht, erwiederte die Kindermuhme, was es
fuͤr ein Ding iſt, ich hab’ es auch niemals
geſehen, aber gehoͤrt genug, und das weiß
ich
[31] ich wohl, daß es allemal vorher geklopft und
gepickt hat, wenn einer geſtorben iſt. Das
hat mir meine Großmutter ſchon vor vielen
Jahren geſagt, Gott laſſe ſie wohl ruhen!


Hum! ſagte Fritze, das iſt doch eine
wunderliche Sache, die ich nicht recht zuſam-
menbringen kann. Marie! weißt du was:
es koͤmmt mir faſt eben ſo vor, wie mir neu-
lich unſer Lehrer, Herr Kinderlieb, ſagte:
Kinder, ſagte der liebe Mann, ich habe euch
gar zu lieb, und weil ich euch ſo lieb habe,
ſo bitte ich euch recht ſehr: nehmet euch doch
vor dem Aberglauben der Leute in Acht. Die
ſagen euch von manchen Dingen lauter fal-
ſche Urſachen vor, und das ſetzt euch in
Furcht und Schrecken, was doch nichts iſt.
Kannſt du das wohl glauben oder ſagen,
Fritze, ſprach er zu mir: dein Stock ſtehet
im Winkel, jetzt regnets draußen, alſo iſt
das Schuld dran, oder es regnet davon, daß
dein
[32] dein Stock im Winkel ſteht? Ich lief ge-
ſchwind hin, und nahm den Stock weg; aber
es regnete immer fort.


Marie, du machſt es faſt eben ſo wie
mit dem Stock in der Ecke. Es pickt was
in der Wand, darum muß einer ſterben.
Wenn ich das Pickding nur herausbohren
koͤnnte, es ſollte keiner ſterben. Ja! das
weiß ich wohl, antwortete Marie, wenn ihr
Kinder erſt gelehrt werdet: dann wollt ihr
uns alten Leuten nicht mehr glauben. Du
wirſt es wohl ſehen.


Siehe da, willkommen, Dorchen, ſagte
Fritze. Du kommſt eben recht. Die Tod-
tenuhr pickt wieder in der Wand, und Ma-
rie macht mir bange, daß davon wieder eins
ſterben wuͤrde. Das iſt ja ſchoͤn, antwor-
tete Dorchen, das Ding hab’ ich lange gern
hoͤren wollen. Sie horchen. Es geht in
der Wand: Pickpick, pickpick, wie eine Ta-
ſchen-
[33] ſchenuhr, und das Picken waͤhrt wohl eine
Viertelſtunde.


Fritze wird blaß, und Dorchen lacht. Du
lachſt? ſagt Fritze, und ich moͤchte davon
laufen. Warum denn das? erwiederte Dor-
chen. Weil ich mir faſt vorſtelle, daß ich
nun ſterben muß. O du armes Kind! ant-
wortete Dorchen. Wer iſt denn ſo grauſam,
dich mit ſolcher vergeblichen Furcht zu quaͤ-
len? Hoͤre mich, und deine Furcht ſoll bald
vergehen. Ich freue mich, daß mir mein
lieber Vater ſchon manches Artige aus der
Natur geſagt hat, was mir wunderbar und
fuͤrchterlich war. Kind, ſagte der liebe Va-
ter, lerne ja bey Zeiten die natuͤrlichen Din-
ge, Urſachen und Wirkungen, recht kennen.
Du wirſt dadurch vor vieler aberglaͤubiſcher
Furcht verwahret bleiben.


Er hat mir die Sache auch mit der Tod-
tenuhr erklaͤrt. Es iſt ein kleines Holzwuͤrm-
Cchen,
[34] chen, das in der Wand im Holze ſteckt, und
das Holz in Staub zerfrißt, welches ſeine
Nahrung iſt. Wenn es mit ſeinem Ruͤßel-
chen am Holze nagt, ſo geht das, als wenn
eine Uhr pickt. Zuletzt verwandelt ſich das
Wuͤrmchen in ein kleines fliegendes Kaͤ-
ferchen.


Was hat das nun mit dem Tode der
Menſchen zu thun? Woher weiß es das, daß
einer ſterben werde? Hat es ihm der liebe
Gott geoffenbart? Kannſt du das wohl den-
ken, Fritze? Der liebe Gott offenbaret keinem
ſeine Todesſtunde, am wenigſten durch das
Picken eines Wurms, der ſich ſatt frißt. So
ſagte der liebe Vater, und ſetzte hinzu: Kind,
denke ja nicht, daß, wenn zwey Dinge zu-
ſammen da ſind, das eine immer die Urſache
von dem andern ſey. Es ſtehet ein Komet
am Himmel: es iſt zu gleicher Zeit Krieg auf
der Erde. Alſo iſt der Komet davon die Ur-
ſache.
[35] ſache. Es pickt in der Wand; es ſtirbt juſt
einer; alſo iſt das Picken Schuld daran, daß
er geſtorben iſt.


Das Ding mit dem Picken, lieber Fritze,
gehet alſo ſehr natuͤrlich zu; und wenn auch
einmal zu eben der Zeit, da es gepickt hat,
jemand im Hauſe geſtorben iſt, ſo iſt doch
der Wurm und ſein Picken nicht Schuld dar-
an. Kannſt du das nunmehro wohl be-
greifen?


Fuͤrchte dich nicht mehr davor, lieber
Fritze. Wenn du einmal zu uns kommſt,
will ich dir das Kaͤferchen dieſes Wurms wei-
ſen, wie es mein Vater an einer Nadel ſte-
cken hat.


O das freuet mich, liebes Dorchen, ſag-
te Fritze, daß du mir meine Furcht benom-
men haſt. Siehe da, Marie, da haſt du
deinen Beſcheid auf deinen Aberglauben, und
wir lachen dich aus.


IX.
[36]

IX.
Der Nickelmann.


Es ſind recht alberne Leute, die den Kin-
dern durch falſche Erzaͤhlungen und
Maͤhrchen eine Furcht einjagen. Dieſe
Furcht ſchadet ihnen Zeit ihres Lebens. Das
bedenken aber die Leute nicht. Sie haben
dabey eben keine boͤſe Abſicht; ſondern mey-
nen es gut. Aber mit Gutmeynen iſt die
Sache nicht ausgemacht, wenn man dadurch
Schaden anrichtet. Die Leute wollen durch
ſolche Erzaͤhlungen die Kinder von Dingen
abhalten, die ihnen ſchaͤdlich ſind; aber ſie
ſchaden ihnen durch die falſche Furcht weit
mehr, als wenn ſie dieſelben gar nicht ge-
warnt haͤtten.


Lottchen kam neulich Abend vom Waſſer,
und zitterte und bebte vor Furcht am ganzen
Leibe, daß es krank wurde, und was einneh-
men
[37] men mußte. Was iſt dir? fragte Dorchen
dieſes Kind. Ach, ſagte Lottchen, da bin
ich am Waſſer geweſen, und unſere Marie
ſagte: der Nickelmann ſaͤße im Waſſer und
kaͤmmete ſeine gruͤnen Haare. Ich ſollte ja
laufen, ſonſt zoͤge er mich ins Waſſer. Da
hab’ ich mich ſo erſchrocken.


O! ſagte Dorchen, wie freue ich mich,
daß ich ſo gute Aeltern habe, die mir der-
gleichen Poſſen und aberglaͤubiſches Zeug
ſchon lange erklaͤrt haben, daß ich mich da-
vor nicht mehr fuͤrchte! Du armes Kind
dauerſt mich, und ich will dir alles ſagen,
wie es damit iſt. Wenn du hoͤrſt, daß al-
les falſch iſt, ſo wird deine Furcht von ſelbſt
vergehen. Denn wer wird ſich vor falſchen
Dingen fuͤrchten? Es iſt mir ſonſt eben ſo
gegangen. Weil ich dergleichen Dinge fuͤr
wahr hielt, ſo fuͤrchtete ich mich auch davor.
C 3Ich
[38] Ich freue mich herzlich, daß ich dir deine
Furcht benehmen kann.


Weißt du wohl, warum man den klei-
nen Kindern das vom Nickelmann vorſpricht?
Bloß darum, daß ſie ſich vor dem Waſſer
fuͤrchten, nicht zu nahe hingehen, hineinfal-
len und erſaufen ſollen. Das iſt die ganze
Sache. Einen ſolchen Nickelmann, wie ihn
die Leute beſchreiben, giebts gar nicht. Mer-
ke das wohl. Naͤmlich einen Kerl oder Weib,
die halb nackend im Waſſer ſaͤßen, im Waſ-
ſer lebten, und gleichſam wilde Menſchen waͤ-
ren, die gruͤne Haare haͤtten, und den Kin-
dern nachſtellten. Das alles iſt bloß um der
Kinder willen erdichtet. Haſt du wohl das
gruͤne langhaarigte Mooß geſehen, das ſich
unten im Waſſer, in dem langen Graben vor
dem Thore, wo wir immer ſpazieren gehen,
angeſetzt hat? Siehe, dieß Waſſermooß hat
Gelegenheit zu der Erdichtung oder zu dem
Maͤhr-
[39] Maͤhrchen von den Nickelmannshaaren ge-
geben. Was das einfaͤltig iſt! Das koͤnnen
wir Kinder doch ſchon begreifen.


Erhole dich alſo von deiner Furcht.
Glaube dergleichen Zeug nicht mehr, das der
Aberglaube erdichtet, und das alles falſch iſt.
Es iſt faſt eben ſo wie mit dem Nachtwaͤchter
und Schornſteinfeger, womit die Kinder-
maͤgde die Kinder des Abends zu fuͤrchten
machen, als wenn ſie die Kinder holten, um
ihrer los zu werden, damit ſie deſto zeitiger
ſollen zu Bette gehen. Davor hab’ ich mich
auch ſonſt ſehr gefuͤrchtet, bis mir meine lie-
be Mutter ſagte: daß es gute und nuͤtzliche
Leute waͤren, die den Kindern nichts zu Lei-
de thaͤten.


Der liebe Gott hat uns ja geſunden Men-
ſchenverſtand gegeben, daß wir das Falſche
von ſolchem Geſchwaͤtz einſehen koͤnnen. Laß
uns nur vorſichtig ſeyn, unſern guten Ael-
C 4tern
[40] tern folgen, und nicht allein ans Waſſer ge-
hen; ſo wird uns kein Nickelmann was thun.
Denn es giebt keinen.


O! wie dank ich dir, liebes Dorchen,
ſagte Lottchen, daß du mich von meiner al-
bernen Furcht befreyet haſt! Ich weiß es
nicht: es iſt mir nun ſo leicht in allen Glie-
dern. Ich will aufſtehen, und gutes Muths
ſeyn.


Wie groß iſt der Schaden, den die aber-
glaͤubiſche Furcht den Kindern thut! [Diejeni-
gen]
ſind ihre groͤßten Feinde, die ſie ſo zu
fuͤrchten machen. Es klebt Ihnen zeitlebens
an. Und ihre Nerven werden das Er-
ſchrecken ſo gewohnt, daß ſie bey dem gering-
ſten Vorfall zuſammenfahren, und daher in
der Folge Kraͤmpfe und allerley traurige
Krankheiten entſtehen.


X.
[41]

X.
Die Zigeuner.


Als neulich Dorchen und Riekchen mit ih-
ren Aeltern aufs Land zu ihrer Taute ge-
fahren waren; ſo entſtand im Dorfe ein ge-
waltiger Laͤrm. Viele Leute verſammelten
ſich. Einige lachten, andere ſchalten und
waren ſehr boͤſe. Die Jungen riefen: Zi-
geuner, Zigeuner
.


Dorchen und Riekchen waren eben vor
dem Hauſe ihrer Tante, und wollten nach
dem Laͤrm hinlaufen. Thut das nicht, lie-
ben Kinder! ſagte die Tante. Ihr moͤchtet
im Gedraͤnge zu Schaden kommen. Indem
zogen die Zigeuner vorbey: haͤßliche Leute
von Anſehen. Braungelb im Geſicht. Faſt
alle Dorfjungen hinter her, die noch immer
riefen: Zigeuner, Zigeuner.


C 5Die
[42]

Die beyden Kinder wollten ſich verkrie-
chen; aber ihre liebenswuͤrdige Tante nahm
ſie bey der Hand, und ſagte: Fuͤrchtet euch
[nicht] vor dieſen Leuten: ſie duͤrfen euch nichts
thun; aber laßt euch nur kuͤnftig nicht von
ihnen betruͤgen.


O liebe Tante! ſagten die Kinder: wir
haben ja in unſerm ganzen Leben noch nichts
von dieſen Leuten gehoͤrt. Was ſind es denn
fuͤr Leute? Sind es denn Menſchen? Sie ſe-
hen ja gar zu haͤßlich aus, als wenn ſie ſich
niemals gewaſchen haͤtten. Erzaͤhlen ſie uns
doch was von ihnen.


Die Tante ſetzte ſich auf den Stein vor
der Thuͤr. Die Kinder traten vor ſie, und
ſie fieng alſo an, da der Schwarm indeſſen
uͤber die Wieſe nach dem naͤchſten Dorfe
hinzog.


Lieben Kinder! ſagte die Tante: die Zi-
geuner ſind Menſchen wie andere Menſchen.
Sie
[43] Sie kommen aus der Tartarey her, wo die
Tuͤrken wohnen. Daher nennen ſie auch die
gemeinen Leute mannichmal die Tatern. Ihr
werdet das kuͤnftig verſtehen lernen, wenn
ihr erſt von den Laͤndern der Erde werdet un-
terrichtet werden.


Es iſt ein faules Volk, das nicht arbei-
ten will. Daher ziehen ſie aus einem Lande
ins andere, und ernaͤhren ſich vom Betteln,
Stehlen, Rauben und Pluͤndern, vom Wahr-
ſagen
und andern betruͤgeriſchen Kuͤnſten,
womit ſie die einfaͤltigen Leute hintergehen,
und ihnen was weiß machen.


In den Staͤdten werden ſie nicht gedul-
det. Daher habt ihr auch noch keine geſe-
hen. Sie ſchleichen ſich nur ſo auf den Doͤr-
fern herum, und wenn es die Obrigkeit er-
faͤhrt, ſo muͤſſen ſie fort. Sie ſehen darum
ſo haͤßlich aus, weil ſie ſich mit Specke im
Geſichte ſchmieren, und in die Sonne legen:
auch
[44] auch Tag und Nacht unter freyem Himmel
liegen. Sie thun das darum, um ſich bey
den Leuten ein fuͤrchterliches Anſehen zu ma-
chen, damit ſie ihnen deſto eher glauben, und
was geben ſollen.


Ja! ſagte Dorchen, liebe Tante! dar-
um bettelten ſie auch Speck, wie ich hoͤrte,
da der Laͤrm angieng. Aber warum ſagten
ſie denn immer: blanke Schweſter zu den
Bauermaͤdchen? Darum, antwortete die Tan-
te, weil ſie alle Leute Du nennen, und ihnen
ſchmeicheln, wenn ſie ſie blank heißen. Denn
das bedeutet ſchoͤn.


Aber, fragte Riekchen, liebe Tante!
was meynten ſie denn vorher mit dem Wahr-
ſagen?
Koͤnnen denn das die Menſchen? Ich
meynte, das koͤnnte nur der liebe Gott; der
waͤre nur allwiſſend; die Menſchen aber nicht.


Ja! mein Kind, erwiederte die Tante.
Das iſt er auch, und bleibt es auch. Da-
her
[45] her kannſt du ſchon begreifen, daß dieſe Leu-
te Betruͤger ſind. Sie geben nur vor, daß
ſie wahrſagen, oder den Leuten ihr Gluͤck
und Ungluͤck vorherſagen koͤnnten: laſſen ſich
dafuͤr bezahlen, und wenn denn die einfaͤlti-
gen Leute das glauben, ſo ſind ſie um ihr
Geld, und zugleich betrogen.


Wie machen ſie denn das? liebe Tante!
fragte Dorchen, wenn ſie wahrſagen? Wie
ſprechen ſie denn dabey? Das iſt ihre Spra-
che, antwortete die Tante, beſonders vor
den unverheyratheten Bauermaͤdchen und jun-
gen Mannsperſonen, die ſich einander gerne
freyen wollen: Ich will dir gute Waare ſagen:
Du wirſt bald heyrathen. Du wirſt gluͤck-
lich ſeyn, Haus und Hof bekommen, und
recht reich werden.


Das hoͤren denn die Leute gar zu gern,
und glauben, es ſind lauter Wahrheiten.
Sie pflegen ſich auch wohl vorher nach allen
Um-
[46] Umſtaͤnden der Leute und Haͤuſer zu erkundr-
gen, was darinnen vorgegangen iſt, und ſa-
gen ihnen viele Dinge, die ſchon geſchehen
und ihnen begegnet ſind, daß die dummen
Leute Naſe und Maul aufſperren, und nicht
begreifen koͤnnen, woher ſie ſolches wiſſen,
welches doch ſehr natuͤrlich zugehet.


Sie richten auch oft in den Haͤuſern viel
Unheil, Argwohn, Neid und Zank an, wenn
ſie zu den Leuten ſagen: ſie ſollen ſich vor die-
ſem und jenem in Acht nehmen, der ſey ihr
Feind, und meyne es nicht gut mit ihnen.
Dadurch iſt oft der Mann der Frau gram ge-
worden; die Herrſchaft hat ſich mit dem Ge-
ſinde gezankt, und dieſes iſt unter einander
uneins geworden. Iſt das nicht abſcheulich?


Indem kam der Richter des Orts daher
gegangen. Die Tante rief ihn an, und frag-
te: warum vorher ein ſolcher Laͤrm geweſen
waͤre, und die Jungen ſo hinter die Zigeuner
herge-
[47] hergerufen haͤtten? Weil es Betruͤger ſind,
ſagte der Mann. Sie hatten da vor einem
Hauſe wahrſagen wollen, und von den dum-
men Leuten ſchon viel Geld, Brod und Speck,
bekommen, als der Sohn des Hauſes, der
ein vernuͤnftiger Menſch war, oben auf den
Boden geht, und ſie von oben herunter mit
einem Eymer voll Waſſer dergeſtalt begießt,
daß ſie wie die gebadeten Katzen ausſahen.
Und nun kam der junge Menſch herunter,
und ſagte: Leute, was ſteht ihr da, und hoͤ-
ret den Betruͤgern zu? Sie wiſſen nichts.
Sie koͤnnen nichts. Koͤnnten ſie wahrſagen
und kuͤnftige Schickſale vorherwiſſen; ſo haͤt-
ten ſie auch wohl vorher gewußt, daß ich ſie
begießen wuͤrde. Da ſeht ihrs ja, daß es
Luͤgner und Betruͤger ſind. Das begriffen
denn die Leute, und forderten ihr Geld wieder.


Das waren aber die Zigeuner nicht Wil-
lens wieder zu geben, ſondern liefen fort.
Die
[48] Die Jungen hinter her, und warfen ſie mit
Dreck.


Das war ihr verdienter Lohn, ſagten die
Kinder; aber der dummen Leute auch, daß
ſie um ihr Geld ſind. Wir wollen uns wohl
vor dieſen Betruͤgern huͤten.


XI.
Das Oſterwaſſer.


Daß du ja morgen recht fruͤh bey der Hand
biſt, ſagte Marie zu der andern Magd,
ehe die Sonne aufgeht: ſonſt iſt alles verge-
bens. Warum denn das? fragte Jettchen
und Carl. Was wollt ihr denn morgen
ſchon ſo fruͤh machen? Es iſt ja der erſte Oſter-
tag. Eben darum, war die Antwort. Wir
wollen Oſterwaſſer holen. Das muͤſſen wir
vor Aufgang der Sonne holen. Dann faults
nicht.
[49] nicht. Damit waſchen wir uns. Dadurch wer
den wir ſchoͤn, und kriegen auch in dem Jahre
das Fieber nicht. Aber warum muß es denn
eben Oſterwaſſer ſeyn? fragten die Kinder.
Thuts denn ander Waſſer nicht auch? Und
warum holt ihrs denn vor Aufgang der Son-
ne? Ja! Kinderchen, ſagten die Leute, das
muß ſo ſeyn. So ſagt mans, und ſo hats
meine Großmutter ſchon gehalten. Der
Herr Chriſtus iſt ja morgen auferſtanden.
Dann zittert die Sonne, wenn ſie aufgeht,
und ehe ſie denn aufs Waſſer ſcheint, muͤſſen
wirs holen, und zwar ſtillſchweigend: ja
kein Wort reden. Sonſt hilft alles nichts.


O! nehmt uns mit, riefen die Kinder.
Nein! ſagten die Leute. Wir muͤſſens heim-
lich thun. Papa und Mama ſind nicht da-
fuͤr, und koͤnnen es nicht leiden. Aber es
iſt doch wahr. Die Kinder baten ſehr. Die
Leute wollten erſt nicht; aber endlich verſpra-
Dchen
[50] chen ſie es, mit der Bedingung, daß ſie ja
den Aeltern nichts ſagen, auch bey dem Waſ-
ſerholen nicht reden ſollten.


Noch an demſelben Abend kriegten die
Kinder Dorchen, ihre Nachbarin, zu ſpre-
chen. Ein Kind, das ſchon beſſer unterrich-
tet war, und den dummen Aberglauben gar
nicht ausſtehen konnte. Wie Kinder ſind.
Sie koͤnnen nicht lange was verſchweigen.
So gieng es auch hier. Erſt fieng Jettchen
an zu buchſtabieren: Morgen fruͤh, Carl!
nicht wahr? Dann wollen wir recht fruͤh
aufſtehen. Ja! Jettchen, platzte Carl her-
aus, und Oſterwaſſer holen. Dorchen,
willſt du mit? Was wollt ihr holen? ſagte
dieſes. Ich haͤtte bald was geſagt. Wiſ-
ſen es denn eure Aeltern? Nein! die ſollen
es eben nicht wiſſen, ſagten beyde. Denn
ſie leidens nicht, haben uns unſere Leute ge-
ſagt. Wenn du nur wuͤßteſt, Dorchen,
was
[51] was das Oſterwaſſer fuͤr ſchoͤnes Waſſer waͤ-
re! Es macht ſchoͤn, und man kriegt das
Fieber nicht.


Das ſind huͤbſche Dinge, antwortete
Dorchen, die ich da hoͤre. Erſtlich wollt
ihr was wider eurer Aeltern Willen und ohne
ihr Wiſſen thun. Ihr wollt dem Geſinde
mehr gehorchen als euren Aeltern. Zwey-
tens verſuͤndiget ihr euch gegen den lieben
Gott. Denn das iſt dummer Aberglaube.
Ich merke ſchon, was man euch in den Kopf
geſetzt hat. Was hat doch der Herr Chri-
ſtus und ſeine Auferſtehung mit dem Waſſer
zu thun? Davon bekoͤmmt das Waſſer nicht
mehr Kraft, als es vorher hat. Laßt euch
ſolch Zeug nicht weiß machen.


O! ſo ſag es uns doch, wenn du es
beſſer weißt. Das will ich auch, wenn ihr
zuhoͤren wollt. Unſere Leute wollten es auch
einmal ſo machen. Da erfuhr es mein Va-
D 2ter,
[52] ter, und brachte ſie bald davon ab. Leute,
ſagte der Vater, glaubt doch das nicht, daß
das Waſſer durch die Auferſtehung Chriſti
beſondere Kraͤfte bekomme. Wo ſteht das?
Wo habt ihr das je geleſen? Welcher ver-
nuͤnftige Menſch glaubt das? Ja! ſagten die
Leute, das iſt doch wahr, daß das Oſter-
waſſer nicht faul wird. Das kann ſeyn,
ſagte der Vater; aber womit beweiſet ihr
denn, oder woher wiſſet ihr das, daß das
von der Kraft der Auferſtehung Chriſti
koͤmmt? Wenn ich euch nun zeige, daß es
von ganz natuͤrlichen Urſachen herruͤhrt, wol-
let ihr denn euern Aberglauben ablegen?


Und nun ſagte der Vater weiter. Oſtern
faͤllt gemeiniglich ſo im Fruͤhjahr, in dem
Monat, da der Schnee aufgeht, und ins
Waſſer fließt. Im Schnee ſind viele Salz-
theile, die das Waſſer erhalten, daß es nicht
faul wird. Wenn ihr das Fleiſch recht ein-
ſalzt,
[53] ſalzt, ſo wirds auch nicht faulen. Und
wenn ihr mitten im Sommer viel Salz ins
gemeine Waſſer thut, ſo ſteht es Jahre lang,
und wird nicht faul werden. So iſt es mit
dieſem Waſſer auch. Begreift ihr das nun
wohl, daß das Oſterwaſſer darum nicht fault,
weil es viel Salz in ſich hat? Das uͤbrige
haben die einfaͤltigen Leute erdacht und dazu
geſetzt.


In der Baumannshoͤhle iſt in der erſten
Hoͤhle in der Felſenwand ein kleines drey-
eckigtes Loch, welches immer voll Waſſer
ſteht. Wißt ihr noch wohl, daß ich vor
zwey Jahren eine Bouteille voll mitbrachte?
Ich habe ſie aufgehoben, und ſo ſtehet ſie
noch im Keller. Das Waſſer iſt nicht faul
geworden. Denn es hat viel Salz bey ſich.
So iſts mit dem Oſterwaſſer auch.


Was wollt ihr nun thun? fragte Dor-
chen die Kinder. Wir wollen ſchoͤne liegen
D 3blei-
[54] bleiben, antworteten ſie, wenn das ſo iſt.
Sie giengen nach Hauſe, ſagten das den Leu-
ten. Dieſe ſchaͤmten ſich, und legten ihren
Aberglauben ab.


So kann ein vernuͤnftiges Kind, wenn
es gut unterrichtet iſt, viele beſſern.


XII.
Das neidiſche Kind.


Neulich Abend ſaßen Lottchen und Haͤns-
chen bey einander am Tiſche, und hat-
ten beyde Braten, Birnen und andere ſchoͤne
Sachen, vollauf gehabt. Haͤnschen war ſo
ſatt, daß er nichts mehr eſſen konnte. Lott-
chen aber war aͤlter und groͤßer. Auf Haͤns-
chens Teller lagen noch ein paar geſchmorte
Birnen. Dieſe bat ſich Lottchen ganz ſach-
te mit vieler Beſcheidenheit von ihm aus,
daß
[55] daß es niemand hoͤrte. Haͤnschen aber biß
die Zaͤhne zuſammen, riß den Teller nach ſich,
und ſchrie uͤberlaut: nein! ich will nicht, du
ſollſt ſie nicht haben.


Die Gefellſchaft ſahe auf, weil ſie nicht
wußte, was vorgegangen war. Das be-
ſcheidene artige Lottchen wurde roth im Ge-
ſichte; Haͤuschen aber hielt noch beyde Haͤn-
de uͤber den Teller. Die Mutter fragte,
was vorwaͤre, und dachte erſt, Lottchen haͤt-
te ihrem Bruder was zu Leide gethan. Die-
ſes aber erzaͤhlte die Sache, wie ſie war.
Da mußte Haͤnschen vom Tiſche, vorher
aber erſt zuſehen, daß Lottchen ſeine beyde
Birnen und noch mehr ſchoͤne Zuckerſachen
bekam. Hernach mußte er hinaus auf den
Hof, und eine ganze Stunde in der Hunde-
huͤtte
zubringen.


Ihr Kinder, die ihr dieſes leſet, denkt
nicht, daß dieſe Strafe zu hart war: ein
D 4Kind
[56] Kind zu dem Hund in die Huͤtte zu ſtecken.
Haͤnschen hatte das durch ſeinen hundiſchen
Neid verdient. Bedenkt nur, was er that,
und wie er geſinnet war. Er war voͤllig ſatt,
und wollte auch die beyden Birnen, die er
noch auf dem Teller hatte, und ſelbſt nicht
mehr eſſen konnte noch mochte, ſeiner Schwe-
ſter nicht einmal goͤnnen. Sie ſollten lieber
umkommen, als daß er ſie mit gutem Wil-
len andern gegeben haͤtte. War das nicht
hundiſcher Neid? Juſt ſo machens die Hun-
de. Wenn ſie ſich ſatt gefreſſen haben, und
es bleibt noch was uͤbrig; ſo legen ſie die
Pfoten darauf. Koͤmmt nun ein anderer
Hund, der noch gar nichts gefreſſen hat; ſo
weiſen ſie die Zaͤhne, und fahren auf ihn los.
Alſo hatte Haͤnschen eine wahre Hundeſeele.


Wie beſchimpfte er ſich und ſeine Aeltern
vor der ganzen Geſellſchaft! Hatte er alſo
nicht dieſe Strafe verdient? Er gehoͤrte nicht
mehr
[57] mehr unter die Menſchen, die ſich unter ein-
ander lieben, und alles Gute goͤnnen ſollen;
ſondern unter die Hunde. Was wuͤrde kuͤnf-
tig einmal aus ihm geworden ſeyn, wenn
dieſes Hundelaſter, der Neid, mit ihm groß
geworden waͤre? Wuͤrde er wohl einmal ei-
nem armen Menſchen was gegoͤnnt oder ge-
geben haben? Wuͤrde er nicht ein rechter Geiz-
hals
geworden ſeyn?


Die Strafe that ihre gute Wirkung. Als
die Geſellſchaft weggegangen war, kam Haͤns-
chen wieder aus dem Hundeloche, und nun
wurde ihm alles ſo erklaͤrt, daß er es ſelbſt
fuͤhlte, daß er Unrecht gethan hatte, und
wie abſcheulich der Neid ſey. Er thats
nicht wieder. Und wenn ſich manchmal
der Neid noch regte; ſo durfte man nur Hund
oder Knochen ſagen. Gleich beſann er ſich,
und wurde beſſer.


D 5Wenn
[58]

Wenn ihr Kinder ſtraft, ſo ſtraft ſie nie
ſo, daß ſie nicht wiſſen, warum? Derglei-
chen Strafen beſſern kein Kind; ſondern ma-
chen es nur verſtockter.


Ihr Kinder! ihr koͤnnt euch kein haͤßli-
cher Laſter angewoͤhnen, als den Neid, weil
es euch den Hunden gleich macht.


XIII.
Das muthwillige und grauſame
Kind.


Der Muthwille macht allemal grauſam
und unbarmherzig. Das ſeht ihr faſt
an allen Kindern, die vor Muthwillen nicht
mehr wiſſen, was ſie thun ſollen. In der
Maykaͤſerzeit fangen ſie nicht nur dieſe Thie-
re; ſondern ſie quaͤlen ſie auf die unbarmher-
zigſte Weiſe. Sie ſtechen ihnen Nadeln
durch
[59] durch die Fuͤße. Sie reißen ihnen die Bei-
ne, die Fluͤgel, und ein Glied nach dem an-
dern aus. Was macht ſie ſo grauſam?
Nichts als der Muthwille.


Kinder! ich will euch hiervon ein artiges
Hiſtoͤrchen erzaͤhlen. Ich war einmal auf
dem Lande bey einem Prediger, der viele Kin-
der hatte, der ſie aber ganz vortrefflich er-
zog. Die Mutter that es ebenfalls. Wir
ſaßen des Abends nach Tiſche vor dem Gar-
ten, daß wir nach dem Hofe hinſehen konn-
ten. Da ſahen wir, daß Wilhelm mit einer
Ruthe eine Ente vor ſich herjagte. Das
gieng erſt auf dem Hofe herum. Dann zum
Thorwege heraus ins Dorf. Dann wieder
auf den Hof. Das arme Thier konnte zu-
letzt nicht mehr fort, ſondern blieb liegen und
ſperrte den Schnabel weit auf, weil es keine
Luft mehr hatte. Deſſen ohnerachtet ſchlug
er mit der Gerte immer drauf los. O das
arme
[60] arme Thier! ſagten die andern mitleidigen
Kinder, die bey uns ſtanden. So macht es
Wilhelm immer, und ſo grauſam geht er
mit den Thieren um.


Stille, ganz ſtille, ſagte die Mutter: er
ſolls gewiß nicht wieder thun. Sie gieng
vor nach dem Hofe, und holte einen Strick.
Nun rief ſie Wilhelmen, der ganz außer
Athem in den Thorweg kam, und noch ſag-
te: das war eine rechte Luſt. Die Mutter
ſtellte ſich, als haͤtte ſie nichts geſehen, und
fragte: was haſt du denn fuͤr eine Luſt ge-
habt? Da, antwortete er, hab’ ich die En-
te brav herumgejagt, daß ſie nicht mehr kann.
So, ſagte die Mutter, das gefiel der Ente
wohl recht wohl? und indem hatte ſie ihn
beym Arme, machte ihm den Strick um den
Leib, und nahm ihm die Gerte weg. Ma-
ma! rief er, was wollen ſie machen? Ich
habe ja nichts gethan. Lauf! Lauf! war die
Ant-
[61] Antwort. Er wollte nicht fort, nun ſchlug
ſie mit der Gerte an die Fuͤße, daß er laufen
mußte, und eher ſchlug ſie nicht, als bis er
nicht laufen wollte. Ach Mama! rief er:
ſie jagen mich todt. Weiter keine Antwort:
als, ſo gefaͤllts der Ente. Und nun wie-
der fort. Das gieng ſo lange, bis ſie merk-
te, er wuͤrde ſich zu ſehr erhitzen. Da hoͤr-
te ſie auf. An jeder Ecke auf dem Hofe, wo
die Jagd durchgieng, und wo er die Ente
getrieben hatte, hieß es allemal: Sieh’, ſo
gefaͤllts der Ente
.


Als er wieder los kam, wurde ihm erſt
ſein Muthwille und ſeine Grauſamkeit noch
einmal vorgehalten. Die andern Kinder
lachten ihn brav aus. Und wenn er kuͤnf-
tig wieder grauſam ſeyn wollte, ſo durfte
man nur ſagen: Die Ente.


Die beſte Art, Kindern Muthwillen,
Tuͤcke und Grauſamkeit abzugewoͤhnen, iſt
dieſe:
[62] dieſe: wenn man ihnen eben das thut, und
ſie ein gleiches empfinden laͤßt, was ſie an-
dern thun.


So wurde dem muthwilligen Benjamin,
der immer andere Kinder mit Nadeln ſtach
und kneipte, die Unart abgewoͤhnt, daß er
zur Strafe wieder mit Nadeln geſtochen und
gekniepen wurde. Lernt hieraus, Kinder!
was ihr wollt, das euch andere thun ſollen,
das thut ihr ihnen auch.


XIV.
Das weichliche Kind.


Es iſt gar nicht gut, wenn die Kinder zu
weichlich erzogen werden. Sie werden
dadurch ſo empfindlich, daß ſie gar nichts
tragen und ausſtehen koͤnnen, und bey der
geringſten Kleinigkeit, wenn ſie ein Sand-
korn
[63] korn im Schuhe haben, oder ſich ein bischen
mit der Nadel reißen, aus der Haut fahren
wollen.


So hatte ſich Albertine gewoͤhnt. Ueber
alles, was ihr begegnete, war ſie empfind-
lich. Bald war es zu warm, bald zu kalt:
bald zu windicht, bald zu naß, bald zu ſtau-
bicht. An ihren Koͤrper durfte kein Luͤftchen
wehen, ſo meynte ſie ſchon, ſie waͤre erſtickt.
Bey Tiſche, wenn die Suppe gegeſſen wur-
de, wobey alle andere Kinder ruhig waren,
ſtellte ſie ſich an, wenn ſie den erſten Loͤffel
nahm, als ob ſie ſich aufs aͤußerſte verbrannt
haͤtte, ſperrte das Maul weit auf, und wur-
de von den andern immer brav ausgelacht.
Kams nun einmal, daß ſie ſich in eine Na-
del riß, oder geſtoßen, oder einen kleinen Fall
gethan hatte; oder daß ſie wohl gar krank
wurde; ſo haͤtte man das Ungluͤck ſehen ſol-
len. Ihre Aeltern hatten manchen Verdruß
und
[64] und Schrecken daruͤber. Wenn ſie mit an-
dern Kindern ſpielte, und es kam ihr eins zu
nahe, oder trat ihr ein bischen auf den Fuß,
wie es unter lebhaften Kindern hergeht; ſo
ſchrie ſie ſo entſetzlich auf, daß man glauben
mußte, ſie waͤre dem Ende nahe. Das Ge-
ſinde ſtand entſetzlich viel mit ihr aus. Und
was das aͤrgſte war; ſo konnte ſie manch-
mal uͤber eine Kleinigkeit eine halbe Stunde
weinen und ſchreyen. Weil ſie uͤber alles
empfindlich war, ſo war auch ihr Ton und
ihre Sprache faſt immer weinerlich und mauig,
wie die jungen Katzen oder Hunde zu mauen
pflegen. Die Aeltern betruͤbten ſich ordent-
lich daruͤber, und wußten nicht, wie ſie ihr
dieſe Unart abgewoͤhnen ſollten. Aus der
Weichlichkeit wurde zuletzt Eigenſinn und
Trotz.


Endlich gewoͤhnte ſie ſich das Ding von
ſelbſt ab; oder die Unart gewoͤhnte ſich ſelber
ab.
[65] ab. Wegen ihrer Weichlichkeit und Em-
pfindlichkeit war ſie auch andern Kindern un-
ertraͤglich. Denn ſie verdarb allemal das
Spiel. Was geſchah? Die andern Kin-
der vexirten ſie zuletzt ſo, daß es immer hieß:
Da koͤmmt die Mibbe wieder. Denn ſo
nennten ſie das mauige Weſen, das ſie an
ſich hatte. Dieß verdroß ſie zwar anfaͤng-
lich ſehr, und ſie wollte daruͤber auch mauen.
Weil ſie aber bey den Aeltern keinen Beyfall
fand, und ein Spott der andern Kinder wur-
de; ſo fuͤhlte ſie es nach und nach, und beſ-
ſerte ſich. Dazu kam, daß ſie manchmal
ſahe, wie ſich einige harte Jungen, die noch
viel [juͤnger] als ſie waren, riſſen, verwunde-
ten, die Finger quetſchten, auf die Naſe fie-
len, daß das Blut hinfloß, und doch keine
Miene verzogen, und keine Thraͤne fallen lieſ-
ſen. Das beſchaͤmte ſie, und ſie beſchloß
bey ſich ſelbſt: ich will auch nicht mehr ſo
Eweich-
[66] weichlich ſeyn, weil ich dadurch mir ſelbſt
und andern zur Laſt werde.


XV.
Die Lerchenjagd.


Eine groͤßere Luſt hab’ ich in meinem Leben
nicht gehabt, ſagte Dorchen zu ihren
Geſpielinnen, als ſie mit ihrem Vater auf
dem Lande geweſen war. Nun, das muß
doch recht was beſondres geweſen ſeyn, ſag-
te die ſchnipſche Jette, die ſich uͤber alles auf-
hielt, und nichts lobte, was andere lobten,
und alles lobte, was andere tadelten. Ja!
das war es auch, antwortete Dorchen, ich
habe eine Lerchenjagd geſehen, die ich mir in
meinem Leben nicht haͤtte traͤumen laſſen, daß
ſie nur moͤglich waͤre. Sachte, ſachte,
ſprach Jettchen, nur nicht ſo groß gethan.
Die
[67] Die ſehe ich faſt alle Abend im Herbſt mit
meinen Aeltern, wenn die Netze aufgeſtellt,
und die Lerchen eingetrieben werden. Das
iſt gar nichts neues. So gehts den Kin-
dern, die nicht aus der Stube kommen. De-
nen iſt alles neu. Auch das Lerchenſtreichen.


So habe doch Geduld, Jettchen, bis
ichs erzaͤhlt habe. Gar nicht am Abend mit
Netzen hab’ ich die Lerchen fangen geſehen;
ſondern am hellen Tage bey klarem Sonnen-
ſchein. Und zwar auf eine ſo poßierliche Art,
daß ſich die Dinger ſelbſt zu ihrem Tode hin-
ſtellten. Das muß ich geſtehen, erwiederte
Jette. Du haſt gewiß Luſt uns aufzuziehen,
oder was weiß zu machen. Nein, ſagte das
ehrliche Dorchen, das iſt meine Sache nicht.
Wenn du nicht zuhoͤren willſt, ſo laß es
bleiben. Dein ſchnipſch Weſen kannſt du vor
dich behalten. Kommt, Kinder! ich wills
euch erzaͤhlen.


E 2Als
[68]

Als wir vorige Woche bey dem Hrn. von
* * * * * waren, ſagte derſelbe zu meinem Va-
ter: Morgen will ich ihnen mit einer beſon-
dern Lerchenjagd eine rechte Luſt machen. Er
befahl dem Jaͤger, alle Vogelflinten mit klei-
nem Schrot zu laden, und die Jagdmaſchine
parat zu halten. Ich habe dieſe Jagd, ſag-
te er, in Italien bey Rom auf dem Lande
geſehen, und ſie gluͤcklich nachgemacht. Des
andern Morgens nach dem Koffee giengen
wir aufs Feld, wo viele Lerchen waren. Die
Sonne ſchien ungemein helle. Denn bey
Sonnenſchein kanns nur gemacht werden.


Der Jaͤger trug die Flinten, und die
Maſchine zur Jagd. Dieß iſt ein ganz poſ-
ſterliches Ding. Es iſt ein hoͤlzernes Pul-
pet, etwan eine halbe Elle lang, und drey
viertel Elle breit. Auf der ganzen Flaͤche
ſind viele kleine runde Spiegel, in der Groͤße
eines Thalers, eingelegt. Dieß Pulpet ſte-
het
[69] het auf einem Ellen langen Stiele, den man:
in die Erde ſteckt, und an welchem es mit ei-
nem Bindfaden kann herumgedrehet werden.
Als der Jaͤger es feſtgemacht hatte; ſo begab
er ſich wohl dreyßig Schritt mit dem Bind-
faden davon. Mein Vater und noch wohl
ſechs andere, nahmen die Flinten. Nun
fieng der Jaͤger an, das Ding nach der Son-
ne zu drehen. Die uͤberfliegenden Lerchen
ſahen ihr Bild von weitem in den Spiegeln,
die ſehr weit hinſtralten, und kamen herzu-
geflogen. Nicht etwan eine oder ein paar,
ſondern einige zwanzig bis dreyßig, und
ſchwebten uͤber den Spiegeln, ſo daß ſie in
der Luft ſtill zu ſtehn ſchienen. Da ſchoſſen
ſie drunter, und bekamen den Vormittag
wohl einige hundert.


Was ſagſt du nun, Jettchen? Haſt du
dergleichen Lerchenjagd ſchon geſehen? Das
iſt wahr, antwortete dieſe. Das hab’ ich
E 3noch
[70] noch nicht gehoͤrt. Aber warum moͤgen die
dummen Lerchen nach den Spiegeln fliegen?
Koͤnnen ſie nicht wegbleiben? Die Lerche, er-
wiederte Dorchen, iſt ein neidiſcher Vogel,
wie wir an denen in der Stube ſehen. Kei-
ne darf der andern zu nahe kommen; ſo giebt
es was zu kreiſchen und zu zanken. So
bald ſich nun ſo viele auf einmal im Spiegel
ſehen, ſo fahren ſie drauf los, in der Mey-
nung, daß es wirkliche Lerchen ſind.


So weiß der Verſtand und die Klugheit
der Menſchen die Triebe der Thiere wider ſie
ſelbſt anzuwenden.


XVI.
[71]

XVI.
Von Kindern, die nichts einneh-
men wollen.


Ich ſagte einmal zu einigen Aeltern, die
mir klagten, daß ihre Kinder ſchlechter-
dings nichts einnehmen wollten, wenn ſie
krank waͤren: ſie waͤren daran ſelbſt Schuld.
Ich zoͤge meine Kinder von der Zeit an, da
ſie abgewoͤhnt waͤren, wie die jungen Hunde.
Denn mit ihrer Seele ſey noch nichts anzu-
fangen; alſo muͤſſe man bloß den Koͤrper
mechaniſch gewoͤhnen. Da muͤßten ſie alles
thun lernen, was ich haben wollte. Wie
man ſie da gewoͤhne, ſo waͤren ſie, und das
kaͤme ihnen vortrefflich zu Statten, wenn ſie zu
Verſtande kaͤmen, daß man ſie bedeuten koͤn-
ne. Das waͤre die Sache auch mit dem Arz-
neyeinnehmen. Wenn man dazu die Kinder
beyzeiten gewoͤhnte; ſo duͤrften ſie ſich nicht
E 4durch
[72] durch Zwang erboßen; ſondern thaͤten es
gerne. Aber das wurde mir erſchrecklich
uͤbel genommen, daß ich ſo ſprach. Ich
ließ das gehen, und befand mich bey meiner
mechaniſchen Kinderzucht ſehr wohl.


Weil dieſes wirklich vielen Aeltern große
Noth macht; ſo will ich ſagen, wie ichs an-
gefangen habe. Die erſte Urſache, die den
Kindern das Einnehmen ſo ſchwer macht, iſt
der Fehler der Aeltern, daß ſie den Kindern
von der Zeit ihrer Abgewoͤhnung lauter Suͤ-
ßigkeiten, Naͤſchereyen und wohlſchmeckende
Sachen geben. Man gebe ihnen zuweilen
etwas Bitteres unſchaͤdliches, etwas Salz
auf die Zunge und dergleichen. Man gebe
ihnen ſo wenig Suͤßigkeiten als moͤglich.
Denn wie viele Kinder koͤnnen und muͤſſen
ohne dieſelben leben! Sind ſie wenig an das
Suͤße gewoͤhnt, und des Bittern ſchon et-
was gewohnt; ſo wird ihnen das Einneh-
men
[73] men deſto leichter. Denn es iſt eine wahre
Plage des Arztes, wenn er ſich nach dem Ge-
ſchmack eigenſinniger Kinder und wunderli-
cher Aeltern richten muß. Meine Kinder
vom zweyten bis dritten Jahre ſind dadurch
ſo gewoͤhnt, daß ich zum Arzte ſagen kann:
geben ſie, was ſie wollen.


Im dritten Jahre faͤngt der Verſtand
und das Begreifen ſchon an zu keimen, und
der Nachahmungstrieb regt ſich. Da hab’
ichs mit meinen Kindern ſo gehalten. So
oft ich oder die Mutter was einnahmen, ha-
ben ſie zugeſehen. Vater! hieß es, was
iſt das? wie ſchmeckt das? Antwort: das
ſchmeckt nicht wie Zucker; aber man wird da-
durch wieder geſund. Es iſt wider die Krank-
heit. Vater! mir ein Bißchen. Das hab’
ich ihnen nie abgeſchlagen; ſondern allezeit,
wenn es ohne Schaden geſchehen konnte, et-
was abgegeben. Nie ſahen ſie, daß Vater
E 5oder
[74] oder Mutter nach der Arzney Zuckerſtuͤcken
nahmen, oder die Mienen verzogen, und vor
Ekel ſich brechen wollten. Sehen das die
Kinder einmal an den Aeltern, ſo iſt alles
verloren. Ich rathe daher allen zaͤrtlichen
Muͤttern, denen der Abſcheu vor Arzeneyen
natuͤrlich iſt, daß ſie ja ſolchen vor den Kin-
dern nicht merken, und ſie daher lieber nicht
zuſehen laſſen, wenn ſie was einnehmen.


Je mehr nun der Verſtand bey dieſer me-
chaniſchen Gewohnheit zunimmt, und ſie die
Abſicht und den Nutzen der Sache einſehen
lernen; deſto weniger ſcheuen ſie ſich vor dem
Einnehmen. Iſt aber dieſe Gewohnheit nicht
von Kindheit auf da, ſo mag der Verſtand
nachher ſprechen was er will; es wird ih-
nen Zeitlebens der Ekel und Abſcheu vor dem
Einnehmen natuͤrlich bleiben.


Dorchen, ein Kind von fuͤnf Jahren,
kam neulich zu Carln, der die Pocken hatte,
und
[75] und abſolut nichts einnehmen wollte, ohner-
achtet er ſchon bald acht Jahre alt war.
Man bat ihn, man verſprach ihm, man ſtand
mit der Ruthe uͤber ihm. Alles vergeblich.
Der Junge erboßte ſich, und die Pocken waͤ-
ren beynahe zuruͤckgetreten. Dorchen er-
ſtaunte, und fragte: was er nicht einneh-
men wollte? Es war ein bischen Rhabar-
ber. Gebt mirs her, ſagte das Kind, und
nahm es vor ſeinen Augen ein. Da ſchaͤm-
te er ſich, und thats auch, brachs aber wie-
der weg, weil er nie mechaniſch dazu ge-
woͤhnt war.


Wie viele Kinder ſterben bloß davon, daß
ſie nichts einnehmen wollen! Soll man mehr
den Kindern oder den Aeltern die Schuld
geben?


XVII.
[76]

XVII.
Das vorwitzige Kind.


Kinder! ich kann euch nicht genug vor dem
Vorwitz warnen. Es iſt entweder bloſ-
ſer Muthwille, der die Kinder vorwitzig
macht, oder ſie wollen ſich was vor andern
ſehen laſſen, daß ſie Dinge unternehmen,
wozu ihre Kraͤfte noch nicht hinreichen, die
ſelten, ſelten gluͤcklich abgehen, und mehren-
theils die traurigſten Folgen haben. Ich
kann euch davon viele klaͤgliche Exempel er-
zaͤhlen.


Vor ohngefaͤhr acht Wochen hat ſich in
Deſſau folgende traurige Geſchichte zugetra-
gen. Ein Predigersſohn von neun Jahren
bittet ſeine Aeltern, daß er doch mit nach
Werlitz gehen duͤrfe, wo der Fuͤrſtin Geburts-
tag gefeyert wurde. Es wird ihm abgeſchla-
gen, weil die Aeltern nicht dabey ſeyn konn-
ten,
[77] ten, und der Vater den Sonntag darauf ſei-
ne Abſchiedspredigt halten mußte. Als der
Tag koͤmmt, gehet der Knabe des Morgens
um acht Uhr nach der Schule, weil aber kei-
ne Schule iſt, ſo denkt er, du willſt hinaus-
laufen, und zu Mittag wiederkommen; ſo
haſt du doch die Luft geſehen, und deine Ael-
tern denken, du biſt in der Schule geweſen.


Das war ſchon Unrecht, daß er das wi-
der ſeiner Aeltern Willen und Wiſſen that,
und ſogar denſelben vorluͤgen wollte, er ſey
in der Schule geweſen. Es kam aber ganz
anders, als er dachte.


Er macht ſich alſo auf den Weg, weiß
aber nicht, daß es auf drey Stunden weit
zu gehen iſt, haͤngt ſich mit auf einen Wagen,
und koͤmmt gluͤcklich hinaus. Weil es ſehr
kothiger Weg iſt, ſo muß er warten, bis die
Wagen des Abends wieder hereinfahren, und
ſo faͤhrt er auch wieder mit. Wenigſtens
hat
[78] hat man vermuthet, daß es ſo gekommen
ſey. Denn draußen auf dem Platze haben
ihn viele Leute geſehen.


Wie viele Angſt moͤgen nicht da ſeine Ael-
tern ſchon ausgeſtanden haben, als er den
Mittag nicht nach Hauſe koͤmmt, und ſie er-
fahren, daß keine Schule geweſen ſey! Dar-
an war er doch Schuld.


Als er des Abends im Finſtern zuruͤck-
koͤmmt, will er ſich vermuthlich an der Mul-
damuͤhle die Schuh abwaſchen, mag in einen
Kahn treten, oder wie es gekommen iſt.
Kurz, er iſt weg, faͤllt ins Waſſer, geraͤth
unter die Muͤhlraͤder; kein Menſch iſt da. Es
iſt ſtockfinſter, und er muß elendiglich um-
kommen.


Niemand weiß, wo er geblieben iſt. Der
Abend koͤmmt; er aber koͤmmt nicht wieder.
Er wird die ganze Nacht geſucht, des andern
Tages geſucht. Der gnaͤdige Fuͤrſt laͤßt ihn
ſelbſt
[79] ſelbſt durch viele Leute in der ganzen Gegend
in allen Buͤſchen ſuchen. Alles vergeblich.
Er iſt weg. Stellt euch einmal, Kinder!
die ihr dieſes leſet, dabey die Angſt der Ael-
tern vor, unter den Umſtaͤnden vor, da ſie
Montags darauf von Deſſau wegziehen
wollen.


Endlich merkt der Muͤller des Sonna-
bends Nachmittags, daß das eine große
Muͤhlrad ſtockt. Er nimmt eine Stange,
und ſtoͤßt unter dem Rade herum. Da fuͤhlt
er, daß was unten durchgeht, und das Rad
wieder umgeht. Gleich darauf ſtockt das
andere. Er nimmt einen Haken, und viſi-
tirt wieder. Da wird denn endlich das elen-
diglich zerſchmetterte Kind herausgezogen,
und in dem Zuſtande ſeinen Aeltern ins Haus
gebracht. Noch an demſelben Abend wird
er begraben. Der arme Vater muß Tags
darauf ſeine Abſchiedspredigt halten, ſeinem
eige-
[80] eigenen verungluͤckten Kinde die Dankſagung
thun, den Montag abreiſen, und ſeine Ge-
beine in Deſſau laſſen.


Was empfindet ihr bey dieſer Geſchichte,
wenn ihr euch das Schickſal dieſes verun-
gluͤckten Kindes, und die Traurigkeit der Ael-
tern recht lebhaft vorſtellet? Gott bewahre
doch alle Aeltern, daß ſie dergleichen nicht
erleben. Es iſt ſo entſetzlich, daß ich mirs
kaum denken kann. War nicht aber der Kna-
be erſtlich durch ſeinen Ungehorſam, hernach
durch ſeinen Vorwitz, an allein Schuld?
Hat er nicht dadurch ſchon an dem erſten
Tage ſeinen Aeltern ſo große Angſt und Un-
ruhe gemacht? Hat er ſich dadurch nicht ſelbſt
den elenden und jaͤmmerlichen Tod zugezogen?
Hat er nicht dadurch ſeinen armen Aeltern
das unausſprechliche Herzeleid verurſacht,
daß ſie ihn und ſeine zerſchmetterte Leiche muß-
ten
[81] ten begraben laſſen, und mit ſo vielen tau-
ſend Thraͤnen von Deſſau wegziehen?


O Kinder! ſolche Folgen haben Unge-
horſam und unzeitiger Vorwitz! Sie haben
gewiß ſchon viele Kinder elendiglich ums Le-
ben gebracht. Ich weiß noch mehr Exempel.


Ich hab’ es ſelbſt einmal mit meinen Au-
gen geſehen, daß im Winter einige Knaben
an einem uͤbergefrornen Fluſſe heruntergien-
gen. Da hieß es gleich: wer hat das Herz,
uͤber das Eis zu gehen? Keiner wollte erſt
dran. Endlich ſagte Wilhelm: wenn keiner
will; ſo will ichs thun. Er war kaum eini-
ge Schritte auf dem Fluſſe hingegangen, ſo
brach das Eis, und er war in einem Augen-
blicke weg. Erſt nach einigen Wochen, da
das Wetter aufgieng, wurde er todt wieder
herausgezogen. Auf dem Eiſe iſt ſchon ſo
manches Kind ungluͤcklich geweſen. Alles
Folgen des Vorwitzes.


XVIII.
[82]

XVIII.
Das verſchwiegene Kind.


Lottchen und Dorchen waren beyde ein Paar
ſehr verſchiedene Kinder. Lottchen die
Schwatzhaftigkeit ſelbſt. Dorchen ver-
ſchwiegen.


Nichts, gar nichts durfte in der Aeltern
Hauſe vorgehen, ſo wußtens alle Kinder in
der Schule, alle Maͤgde, alle Nachbarn.
Was gegeſſen, getrunken, geſprochen war:
alles ſagte Lottchen wieder. Die unſchul-
digſten Dinge, auch was ihr verboten wur-
de, klatſchte ſie wieder aus. Natuͤrlicher
Weiſe mußten daraus allerley Mißverſtaͤnd-
niſſe, Klatſchereyen und Verdruͤßlichkeiten
entſtehen. Denn es giebt immer ſo ſchlechte,
neugierige und boshafte Leute, welche die
Kinder ausfragen, und das mißbrauchen,
was dieſe aus kindiſcher Einfalt wiederſagen.
Die
[83] Die Aeltern wußten oft nicht, wo die Klat-
ſchereyen herkamen. An dem allen war das
ſchwatzhaftige Kind Schuld.


Auch unter andern Kindern hatte ſich
Lottchen dadurch ſo verhaßt gemacht, daß
ihr keins mehr trauete. Wenn ſie nur ir-
gend etwas von andern Kindern wußte; ſo
mußte es heraus. Daraus entſtanden viele
Zaͤnkereyen unter den Kindern, und ſelbſt un-
ter den Aeltern.


Kann man das wohl loben, daß Lott-
chen ſo ſchwatzhaftig war, und nichts bey
ſich behalten konnte? Bosheit war es wohl
eben nicht; aber doch eine ſo uͤble Gewohn-
heit, wodurch ſie ſich und andern ſchadete.
Es war nicht anders, als wenn es ihr das
Herz abſtoßen wollte, wie man zu ſagen pflegt,
wenn ſie etwas verſchweigen ſollte. Man
gewoͤhnte ihr dieſen Fehler dadurch ab, daß
man von ihr auch alles wieder ſagte, was
F 2man
[84] man nur wußte. Das war ihr empfindlich,
und ſie ſahe es nun ein, daß das andern eben
ſo wenig, als ihr ſelbſt, gefallen konnte.


Dorchen war ein ganz anderes Kind, und
beyzeiten zur Verſchwiegenheit gewoͤhnt.
Man ließ es vom Anfange an nicht alles wiſ-
ſen und erfahren, wornach es fragte. Es
mußte zuweilen, wenn auch Vater und Mut-
ter ganz allein waren, aus der Stube gehen,
weil man ihm ſagte: daß man was ſprechen
wollte, das es nicht hoͤren ſollte, indem man
befuͤrchtete, es wuͤrde es gleich dem Geſinde,
oder andern wieder ſagen. Dieß ſchmerzte
daſſelbe, beſonders wenn der Vater ſagte: ich
kann dir noch nicht recht trauen, daß du es
nicht andern wiederſagſt, und mir dadurch
Verdruß macheſt. O nein! ſagte das Kind,
lieber Vater! das will ich nicht thun, zumal
wenn ich weiß, daß Sie es nicht haben wol-
len. Man machte daher mit einigen gleich-
guͤlti-
[85] guͤltigen Dingen die Probe, und verbot es
ihm. Es hielt die Probe, und ſagte nichts
wieder. Da es nun darinn ſchon geuͤbt
war; ſo wurde es immer verſchwiegener, als
es zu Verſtande kam, und ſelbſt einſahe, was
die Schwatzhaftigkeit fuͤr verdruͤßliche Folgen
nach ſich ziehe.


Selbſt wenn der Vater der Mutter ein
Weyhnachtsgeſchenk geben wollte, wurde es
ihm anvertrauet, und dabey geſagt, daß es
dafuͤr apart ſollte beſchenkt werden, wenn es
reinen Mund hielte. Die Mutter drang in
es, daß es doch ſagen ſollte, was der Vater
beſcheeren wuͤrde; ſagte auch wohl dabey:
du biſt mir ungehorſam. Da ſagte das lie-
be Kind: Mutter, ich kann nicht, und darf
nicht: der Vater hats mir verboten: ich wuͤr-
de ihm eine Freude nehmen: verlangen ſie es
doch nicht. Die Thraͤnen kamen ihm in die
F 3Au-
[86] Augen, und die Mutter lobte es ſehr, daß
es ſo verſchwiegen waͤre.


Welches von beyden Kindern iſt nun
wohl das beſte: das ſchwatzhaftige oder das
verſchwiegene?


XIX.
Vom Angeben.


Kinder koͤnnen ſich durch nichts verhaßter
machen, als wenn ſie beſtaͤndig andere
angeben.


Franz iſt ein rechter Spion im Hauſe.
Er thut faſt nichts anders, als daß er das
Geſinde belauert, und alles wieder angiebt,
was er geſehen und gehoͤrt hat. Daher ſind
ihm die Leute ſo gram, daß ſie ihn den Spion
nennen. Wenns nur auch alles wahr waͤre,
was er angiebt. So aber luͤgt er vieles hin-
zu,
[87] zu, oder macht die Dinge groͤßer, als ſie ſind,
verklatſcht und verkleinert das Geſinde.
Wenn denn die Leute brav ausgemacht wer-
den, das hoͤrt er gerne. Daruͤber kitzelt er
ſich. Was bewegt ihn alſo zum Angeben?
Nichts als Tuͤcke und Schadenfreude.


Unter andern Kindern macht er es eben
ſo. Die unſchuldigſten Heimlichkeiten der
Kinder giebt er an. Wenn ſich einmal ein
Paar Kinder um einer Kleinigkeit willen ge-
zankt haben; ſo giebt ers bey dem Lehrer oder
bey den Aeltern an, mit vielen falſchen Zu-
ſaͤtzen. Wenn denn die Kinder davon Un-
willen haben, Keife und Schlaͤge kriegen, ſo
freuet es ihn in der Seele.


O der Schadenfroh! Wie gefaͤllt euch
das Betragen dieſes Knabens? Was wird
einmal aus ihm werden, wenn er groß wird,
und den Fehler behaͤlt? Es wird ihm erge-
hen, wie einem gewiſſen Studenten, der auch
F 4das
[88] das Angeben nicht laſſen konnte, als er auf
die Univerſitaͤt kam. Er hatte davon vielen
Verdruß, und machte ſich lauter Feinde.
Endlich verſchworen ſich einige wider ihn, die
er gar zu ſehr durch ſein Klatſchen und An-
geben beleidiget hatte, lauerten ihm des Abens
auf, und hieben ihn krumm und lahm. Das
hatte er nun davon.


Es iſt eine haͤßliche Geſinnung, andere
anzugeben, und ſich daruͤber zu freuen, wenn
ſie Unwillen haben. Franz blieb lange bey
ſeiner uͤblen Gewohnheit, bis ein anderer
uͤber ihn kam, der noch ein aͤrgerer Schaden-
froh als er ſelbſt war. Der machte es mit
ihm eben ſo. Da giengen ihm die Augen
auf, und er beſſerte ſich.


XX.
[89]

XX.
Das naſchige Kind.


Das Naſchen war Riekchen ſo zur Ge-
wohnheit geworden, daß ſie es gar
nicht mehr laſſen konnte. Woher kam das?
weil ſie von allem, was vorkam, und was
ſie ſahe, etwas haben mußte. Wo ſie
gieng und ſtand, hatte ſie die Ficken voll Ro-
ſinen, Mandeln und trockener Pflaumen.
Ehe das Mittagsbrod gegeſſen wurde, quaͤl-
te ſie die Koͤchin ſo lange, bis ſie ihr was
aus jedem Topfe geben mußte. So oft die
Mutter auf die Vorrathskammer gieng, war
ſie hinter her, und benaſchte alles, was da
war. Was folgte daraus? ſie gewoͤhnte
ſich durchs Naſchen das Stehlen an. Wenn
ſie zu der Zuckerdoſe kommen konnte, nahm
ſie Zucker heraus, und andere Dinge mehr.
Das gieng ſo weit, daß das Geſinde vielen
F 5Unwil-
[90] Unwillen davon hatte, weil man ihnen
Schuld gab, ſie haͤtten die Sachen geſtohlen.
Riekchen war ſo boshaft, daß ſie es wohl be-
ſtaͤrkte, was ſie ſelbſt gethan hatte. Als
ſie groß wurde, und ſelbſt eine Haushaltung
bekam, war und blieb ihr das Naſchen ſo na-
tuͤrlich, daß ſie immer aus der Ficke aß. Das
Geſinde und ihre eigene Kinder machten das
ſo nach. In kurzer Zeit gieng die Haushal-
tung zu Grunde, und ſie wurden alle arm.


So folgt ein Boͤſes aus dem andern, bis
es endlich zum aͤußerſten Schaden und Ver-
derben ausſchlaͤgt. Moͤchten nur nicht die
Muͤtter ſelbſt oft Gelegenheit und Anlaß zu
dieſer boͤſen Gewohnheit geben!


XXI.
[91]

XXI.
Das vorſchreibende Kind.


Es iſt nichts unangenehmer, als wenn
man in einer Geſellſchaft am Tiſche iſt,
wo die Kinder nichts thun als vorſchreiben.
Mutter, mir noch Suppe. Mutter, mir
noch Brod; mir noch Braten; mir noch Bir-
nen. So gieng das beſtaͤndig, daß man
ſein eigen Wort nicht hoͤren konnte. Kinder
muͤſſen gar nicht vorſchreiben, ſondern war-
ten, bis ſie das Ihrige bekommen. Die Ael-
tern aͤrgern ſich oft am Tiſche daruͤber, und
ſind doch ſelber Schuld, daß die Kinder ſo
vorſchreiben, und gleichſam uͤber ſie herrſchen,
daß ſie ſich ſelbſt oft nicht helfen koͤnnen, und
vor den Fremden ſchaͤmen muͤſſen.


O wie artig und beſcheiden iſt dagegen
Dorchen! Sobald es ſeine Aeltern mit an
den Tiſch nahmen, war das die erſte Regel:
wer
[92] wer was fordert oder vorſchreibt, kriegt
nichts. Darauf wurde aber auch ſtrenge
gehalten. Alles, was das Kind forderte,
kriegte es ſchlechterdings nicht. Neulich
wurde es einmal, da es an einem beſondern
Tiſche ſaß, gar vergeſſen. Da ſagte es mit
großer Beſcheidenheit: ich fordre nichts, und
kriege auch nichts, und bin doch ein artig
Kind. Das ruͤhrte alle Anweſende, und es
wurde ſehr belohnt. Stille Beſcheidenheit
bekoͤmmt allezeit mehr, als unverſchaͤmtes
Vorſchreiben. Man kann ſich daher kein
artiger Kind bey Tiſche gedenken, als Dor-
chen. Die Leute ſehen es gern, und es ge-
faͤllt Jedermann. Es wird in alle große
Geſellſchaften mit gebeten, ob es gleich nur
erſt fuͤnf Jahre alt iſt. Es iſt ſtille bey Ti-
ſche, beſcheiden, zufrieden und genuͤgſam.
Es fordert niemals eine Sache, waͤre ſie
auch noch ſo ſchoͤn. Kann es nicht ſo lange
ſitzen,
[93] ſitzen, als die Mahlzeit waͤhrt, ſo bittet es
um Erlaubniß, aufzuſtehen. Es gehet um
den Tiſch heiter und vergnuͤgt herum, und
nimmt nichts an, was ihm angeboten wird,
wenn es nicht ſeine Aeltern oder der Arzt,
wenn er dabey iſt, genehmhalten. Wenn
es um neun Uhr des Abends abgeholt
wird; ſo gehet es, mitten aus dem Spiel,
ohne Eigenſinn und mit großer Freundlich-
keit nach Hauſe. Ein liebes Kind!


XXII.
[94]

XXII.
Das zierige Kind.


Zierige Kinder ſind allen Leuten zuwider.
Sie nehmen allerley unnatuͤrliche Stel-
lungen des Koͤrpers, oder Verziehung der
Mienen, Lippen und Augen an. Denn
eben das heißt, ſich zieren, wenn man in den
Mienen und Gebaͤrden ſo etwas zeigt, das
gar nicht natuͤrlich iſt, ſondern affektirt und
gezwungen herauskoͤmmt. Und das faͤllt ge-
waltig in die Augen, eben darum, weil es
nicht natuͤrlich iſt.


Albertine zierte ſich beſtaͤndig wie ein Aef-
chen. Bald drehete ſie ſich auf den Hacken,
bald legte ſie die Haͤnde kreuzweis; bald zupf-
te ſie an den Haarlocken; bald kniep ſie die
Lippen zuſammen, pinkte mit den Augen,
verzog die Mienen; kurz, man kann das al-
berne zierige Zeng nicht alles beſchreiben, was
ſie
[95] ſie vornahm. Kam ſie vor den Spiegel, ſo
war des Zierens kein Ende. In der Geſell-
ſchaft machte ſie hundert Knikſe hinter ein-
ander, und das ſo zierig, daß alles lachen
mußte. In der Sprache war faſt kein Aus-
kommen, ſo affektirt, laͤppiſch und laͤcherlich
kam alles heraus, was ſie ſagte. Und das
ſollte doch was ſeyn. Das ſollte vornehm
laſſen. Darauf bildete ſie ſich was rechts
ein. Andere Kinder, die ſich ordentlich und
natuͤrlich betrugen, waren in ihren Augen
Bauerkinder.


Seht, Kinder! ſo geht es mit euren Feh-
lern. Erſt iſt es Gewohnheit. Hernach
wirds Eigenſinn, wenn ihr daruͤber getadelt
werdet. Und zuletzt Hochmuth, daß ihr
euch gar was darauf einbildet.


Albertinen war das zierige Weſen gar
nicht erſt abzugewoͤhnen, ſo viele Erinnerun-
gen ſie auch daruͤber von ihren Aeltern und
Leh-
[96] Lehrern bekam. Endlich kam einmal ein Ka-
meel durch, das einige kleine Affen trug, die
vor den Leuten tanzen, und ihre Kuͤnſte ma-
chen mußten. Albertine ſahe mit andern Kin-
dern zu, wie ſich die Affen ſo naͤrriſch her-
umgaukelten. Da ſagten die andern Kin-
der: juſt ſo ziert ſich Albertine auch. Von
der Zeit an that ſie es nicht wieder.


XXIII.
Von Kindern, die nicht alles eſſen
wollen.


Ein Fehler, der den Aeltern viele Noth
macht, und in der Zukunft die ſchaͤdlich-
ſten Folgen hat. Er ruͤhret gemeiniglich da-
her, wenn die Kinder in der zarteſten Kind-
heit verzaͤrtelt werden, und ihren Willen ha-
ben muͤſſen, daß ſie das Eſſen tadeln duͤrfen,
und
[97] und bald dieß bald jenes nicht eſſen wollen.
Haͤlt man ihnen das erſt einmal zu gute, ſo
werden ſie es bald oͤfter probieren, und in
den gewoͤhnlichen Fehler fallen, den man das
Aufſtippen der Kinder nennt.


So war der kleine Karl beſchaffen. Er
war durch Zuckerwerk, Gebackenes und al-
lerley Naͤſchereyen ſo verwoͤhnt, daß er kein
Sauerkraut, gelbe Ruͤben und andere Ge-
muͤſe, ſondern lauter Braten, Rebhuͤhnchen,
und andere Delikateſſen eſſen wollte. Von
allem, was auf den Tiſch kam, mußte er et-
was haben. Einer der groͤßten Erzie-
hungsfehler, und ein wahres Verderben fuͤr
die Kinder.


Was geſchah? Karl kam in die Lehre,
und ſollte ein Kaufmann werden. Die
Kaufmannspurſche werden in den erſten Jah-
ren nicht mit Delikateſſen gefuͤttert, ſondern
muͤſſen mit den Leuten eſſen. Ach! wie ſauer
Gkam
[98] kam ihm das vor! Anfaͤnglich ließ er das
Eſſen ſtehen und hungerte. Das konnte er
nicht lange aushalten. Er ſtahl alſo Geld
im Laden, und kaufte ſich Naͤſchereyen. Das
wurde bald gemerkt. Er laͤugnete, und
doch ließ ers nicht. Endlich wurde er dar-
auf ertappt, brav abgepruͤgelt, und ſeinen
Aeltern wieder zugeſchickt. Sie brachten ihn
an einen andern Ort. Da machte er es eben
ſo, und lief aus der Lehre. Seine Aeltern
wollten ihn nicht wieder annehmen. Da
gieng er unter die Schiffsſoldaten, und muß-
te mit der elendeſten Koſt vorlieb nehmen.
Weil er das nun gar nicht ertragen konnte;
ſo ſtarb er bald in ſeinen beſten Jahren.


Woher kam das alles? Weil er ſich nicht
von Kindheit an gewoͤhnt hatte, alles zu eſ-
ſen. Kinder! ſpiegelt euch an dieſem Exem-
pel. Ihr koͤnnt ja nicht wiſſen, wohin ihr
noch einmal in der Welt kommt, und was ihr
fuͤr
[99] fuͤr einen Beruf kriegt. Ihr ſeyd elend dar-
an, wenn ihr euch ſo weichlich gewoͤhnt habt,
und nicht alles eſſen lernt. Es iſt bloße Zie-
rerey und Verwoͤhnung, wenn ein Kind ſagt:
Das kann ich nicht eſſen. Davor hab’ ich ei-
nen Ekel. Davor ſchaudert mich. Gebt
ihm alles, wenn es klein iſt, und noch kei-
nen Unterſchied weiß. Gebt ihm nicht alles,
was es haben will. Laßt es ſo lange hun-
gern, bis es das ißt, was es hat ſtehen laſ-
ſen. Es wird in der Folge nichts tadeln.
Inſonderheit verwoͤhnt ſeinen Magen nicht
durch zu vieles Fleiſch und Naͤſchereyen, da-
mit es immer geſunden Appetit behalte.


Ein darinn gut gezogenes Kind wird we-
der ſich, noch ſeinen Aeltern, noch andern Leu-
ten zur Laſt werden, wie ein verwoͤhntes Kind,
das nicht alles eſſen will, nothwendig wer-
den muß.


XXIV.
[100]

XXIV.
Das herrſchſuͤchtige Kind.


Es laͤßt ſehr laͤcherlich, wenn ſich Kinder,
die noch ſo viele Huͤlfe von andern noͤ-
thig haben, ſchon ſo viel herausnehmen,
daß ſie uͤber andere herrſchen wollen.


Moritz hatte dieſen Fehler an ſich. Er
konnte den Leuten im Hauſe nichts in Guͤte
ſagen, oder von ihnen fordern. Alles be-
fehlsweiſe. Und wenn die Leute ihm nicht
gleich aufwarteten, wie und was er haben
wollte; ſo war er im Stande, ſie aͤrger aus-
zuſchelten, als es Vater und Mutter wuͤr-
den gethan haben. Ja er ſagte wohl gar:
wißt ihr nicht, daß ich Sohn im Hauſe bin,
daß ihr Geſinde ſeyd, und ich uͤber euch herr-
ſchen kann? Ein Junge von ſechs Jahren
— herrſchen? Wie laͤcherlich!


Unter
[101]

Unter ſeines Gleichen machte ers eben ſo.
Daher wollte faſt kein Kind mehr mit ihm
umgehen. Er wollte immer befehlen, herr-
ſchen, Recht haben, und wohl gar drunter
ſchlagen. So wurde er groͤßer und immer
herrſchſuͤchtiger. Als er unter andere Leute
kam, machte ers eben ſo. Alle Augenblicke
hatte er Zank und Schlaͤgerey. Das konn-
te auch nicht anders ſeyn. Denn wer wird
ſich von einem ſo jungen Menſchen immer be-
fehlen laſſen?


Moritz trieb das Ding endlich ſo lange,
bis keiner mehr mit ihm fertig werden konn-
te. Da gerieth er unter die Soldaten, und
bekam ſeinen verdienten Lohn. Hatte er
ſonſt uͤber alle andere herrſchen wollen; ſo
mußte er hier ſchlechterdings gehorchen. Das
wollte ihm zwar anfaͤnglich nicht in den Kopf;
aber der Stock des Unterofficiers machte ihn
ſo zahm, daß er endlich in ſich gieng, bitter-
G 3lich
[102] lich weinte und ſagte: Ach das hab’ ich an
dem armen Geſinde verdient, das ich ſonſt
genug gequaͤlt habe. Hier legte er bald ſein
herrſchſuͤchtiges Weſen ab, und als er wie-
der los kam, wurde noch ein guter Mann
aus ihm.


Lenore hatte den Fehler auch an ſich, daß
ſie immer was zu hofmeiſtern hatte, und kei-
nem ein gut Wort gab; aber ihre Mutter
konnte es ihr bald abgewoͤhnen. Sie befahl
den Leuten, ihr nicht das geringſte zur Huͤl-
fe zu thun. Sie mußte allein aufſtehen, al-
lein ſich waſchen, die Schuhe putzen, kurz,
alles thun, was die Leute ſonſt fuͤr ſie ge-
than hatten. Da ſahe ſie, wie noͤthig ihr
andere Leute waren, und wie gut es ſey, auch
mit andern Leuten gut zu ſeyn, wenn es gleich
Dienſtbothen ſind.


Ich weiß es nicht, wie es zugeht, ſag-
te Riekchen zu ihrer Schweſter Dorchen, daß
die
[103] die Leute dir gleich alles zu Gefallen thun,
und auf mich paßt keiner. Ich mag rufen
und laͤrmen, wie ich will, ſo hoͤren ſie nicht
darnach, und lachen mich wohl dazu aus.
Das will ich dir wohl ſagen, antwortete Dor-
chen: das koͤmmt daher, weil du herrſchſuͤch-
tig biſt, und den Leuten kein gut Wort giebſt.
Ja! das brauche ich nicht, erwiederte Riek-
chen. Das muͤſſen ſie wohl thun. Dafuͤr
giebt ihnen Papa und Mama das Brod.
Recht gut, Riekchen; aber dafuͤr dienen ſie
auch nicht, daß wir Kinder ſie regieren, quaͤ-
len und behandeln ſollen, wie wir wollen.
Meynſt du denn, daß große, alte, verſtaͤn-
dige Leute ſich von Kindern, wie du biſt, ſo
werden beherrſchen und herumhudeln laſſen?
Ich gebe ihnen immer ein gut Wort, und
das findet, wie Mama ſagt, eine gute Stel-
le. Hoͤrſt du denn, daß Mama oder Pa-
pa nur einmal ſo trotzig, herrſchſuͤchtig
G 4und
[104] und befehlshaberig mit den Leuten ſpricht,
wie du es machſt? Daher ſind ſie dir auch
nicht gut, und thun dir nichts zu Willen.


Ich kann das unmoͤglich; nein, ich kann
es nicht, ſagte die ſtolze Rieke, mich ſo weit
gegen die Leute herunter zu laſſen, die in un-
ſerm Lohne und Brode ſind. Sie haben
ſonſt keinen Reſpekt fuͤr mich. Sachte, ſach-
te, meine liebe Schweſter, antwortete Dor-
chen. Nicht zu weit. Das iſt noch viel zu
fruͤh fuͤr dich, ſo zu ſprechen. Jetzt haben
die Leute gar keinen Reſpekt fuͤr dich, wie du
aus der Erfahrung ſieheſt. Meynſt du denn,
daß ich dadurch meinen Reſpekt vergebe,
wenn ich mit den Leuten gut bin, und zu Ih-
nen ſage: wenn ihr Zeit habt, ſo ſeyd doch
ſo gut, und bringt mir einmal das: anſtatt,
daß du ſprichſt: Marie, Waſſer, Zwirn,
Birnen, meine Schuhe, und in einem Augen-
blick zehnerley. Deswegen mache ich mich
mit
[105] mit den Leuten nie zu gemein, und ſie haben
gegen mich mehr Reſpekt, als gegen dich. Es
ſind ja auch Menſchen und keine Hunde, die
man traktiren kann, wie man will, welches
doch auch gegen die Thiere nicht einmal er-
laubt iſt.


Riekchen! wenn du ſo bleibſt, ſo wirſt
du einmal kuͤnftig deine Noth mit dem Ge-
ſinde haben, und wie jene Frau werden, die
in 16 Jahren ihrer Haushaltung 92 Maͤgde
gehabt hatte.


XXV.
[106]

XXV.
Das dankbare Kind.


Die Dankbarkeit lernen Kinder nicht beſ-
ſer, als wenn man ſie oͤfters fuͤhlen
laͤßt, wie vieles ſie noͤthig haben und beduͤr-
fen; und wie viel Gutes ſie ihren Aeltern zu
danken haben.


Caroline war immer ſehr undankbar ge-
gen ihre Aeltern. Als ſie einmal bey ihrer
Mutter in der warmen Stube ſaß; ſo kam
eben ihr Lehrer, und beſchwerte ſich uͤber ſie,
daß ſie zu andern ſagte: das muͤßte ſo ſeyn;
ihre Aeltern muͤßten ihr alles geben. Dafuͤr
waͤre ſie Kind. Gleich wurde ſie in ein kal-
tes Zimmer gebracht, und ihr Struͤmpfe und
Schuhe ausgezogen. Des Abends ſollte ſie
nicht im Bette, ſondern auf dem Heuboden
ſchlafen. Des andern Morgens bekam ſie
keinen Koffee, und zu Mittage Waſſer und
Brod.
[107] Brod. Auch mußte ſie ſich ſelbſt aufwarten,
und alles holen. O wie ſchoͤn konnte ſie nun
das viele Gute erkennen, das ſie vor vielen
tauſend armen Kindern voraus hatte!


Dorchen hingegen war ein liebes dank-
bares Kind, und betete alle Tage recht
herzlich:


Wie dank ich Gott fuͤr ſeine Gabe,

Daß ich ſo gute Aeltern habe,

Die fuͤr mich vom Morgen,

Bis zum Abend ſorgen!

Es war ihnen dafuͤr gehorſam, weil es noch
durch nichts anders es ſeyn konnte. Aber
es hatte doch ſchon im ſechsten Jahre den
Willen und Vorſatz, es zu ſeyn. Daher
that es den Aeltern aus eigenem Triebe aller-
ley kleine Gefaͤlligkeiten; ſollte es auch nur
Nadeln in der Stube aufſuchen, und dem
Vater feinen Sand durch ſein Spieltrichter-
chen in die Sandbuͤchſe thun.


XXVI.
[108]

XXVI.
Das luͤgenhafte Kind.


Wie mag es wohl kommen, daß viele Kin-
der ſo gerne luͤgen, und ſich das Luͤ-
gen ſo ſehr angewoͤhnen?


Ich habe recht genau Achtung gegeben,
wie ſich dieſer Fehler nach und nach einzu-
ſchleichen pflege.


Wilhelmine liebt das Prahlen, Groß-
thun und Aufſchneiden ſehr. Sie ſagt und
erzaͤhlt faſt nichts ohne Zuſaͤtze, ohne die Sa-
che zu vergroͤßern, um ſich unter ihres Glei-
chen groß zu machen, was ſie alles geſehen,
gehoͤrt habe, und beſitze. Neulich ſagte ſie
einmal, da ſie mit ihren Aeltern verreiſt ge-
weſen war, ſie haͤtte Bienen geſehen, die ſo
groß geweſen waͤren als eine Taube. Da
fragten die andern Kinder: waren denn eben
ſo viele, wie ſonſt, in einem Korbe? Ja! ſag-
te
[109] te ſie, eben ſo viele, und doch war der Korb
nicht groͤßer als gewoͤhnlich. Da wurde ſie
brav ausgelacht. Durch die Neigung, groß-
zuthuu, und von ſich zu prahlen, hatte ſich
Wilhelmine das Luͤgen angewoͤhnt.


Wenn Kinder gar zu ſtrenge und ſcharf
gehalten werden, ſo haben ſie kein Vertrauen
zu den Aeltern; ſie werden Heuchler, und
gewoͤhnen ſich das Luͤgen, aus Furcht vor
der Strafe, an. Hatte Fritze eine Unart
ausgeuͤbt, und wurde daruͤber zur Rede ge-
ſtellt, ſo laͤugnete er, ſo lange er konnte;
fieng an zu luͤgen, und wohl gar andern es
Schuld zu geben.


Wird das Luͤgen erſt Gewohnheit, ſo
thun es die Kinder zuletzt, wenn ſie groͤßer
werden, und der Verſtand ihnen zu Huͤlfe
koͤmmt, aus Tuͤcke, Bosheit und Schaden-
freude, zumal wenn ſie ſehen, daß ſie mit den
Luͤgen
[110] Luͤgen durchkommen, und die Schuld auf
andere bringen koͤnnen.


Es iſt nichts ſchaͤndlicher fuͤr ein Kind,
als wenn es ſich das Luͤgen angewoͤhnt. Der
kleine Jacob war darinn ein rechter Meiſter.
Es gieng kein wahres Wort mehr aus ſeinem
Munde. Je oͤfter er mit ſeinen Luͤgen durch-
kam, wenn er was Boͤſes begangen hatte,
und nicht geſtraft wurde; deſto liſtiger pfleg-
te er ſeine Luͤgen auszudenken. Alle andern
Kinder klagten uͤber ihn, daß er ſie beloͤge.
Er wußte ſich aber immer ſo meiſterlich her-
auszuluͤgen, daß man ihm nichts anhaben
konnte, und manche Unſchuldige das leiden
mußten, was er verſchuldet hatte. End-
lich aber wurde er auf allen ſeinen Luͤgen ge-
kriegt, uͤberwieſen, und oͤffentlich vor vielen
Kindern beſchaͤmt. Das machte ihn nur
noch boshafter und verſtockter, weil er ſchon
zu weit darinn gekommen war. Die Luͤgen
wur-
[111] wurden alſo mit ihm groß. Als er auf
Schulen kam, machte er ſich dadurch ſo ver-
haßt, daß keiner ſeiner Mitſchuͤler mit ihm
umgehen wollte. Seine Lehrer waren ihm
gram. Auf Univerſitaͤten kam er dadurch in
viele Haͤndel und Schlaͤgereyen. Jedermann
wies mit Fingern auf ihn. In keiner Ge-
ſellſchaft durfte er bleiben, ſondern wurde
als ein Luͤgner mit Verachtung hinausge-
wieſen. Gelernt hatte er was. Daher kam
er bald bey einem großen Herrn in Bedie-
nung. Da er aber auch hier anfieng zu luͤ-
gen, ſo wurde er bald vom Amte geſetzt, und
fortgeſagt.


Sind das nicht ſchoͤne Fruͤchte, die das
Luͤgen bringt? Kinder! ein Luͤguer iſt aͤrger
als ein Dieb. Vor dieſem kann man ſich
doch noch huͤten, aber vor dem Luͤgner nicht.
Seyd ehrlich und aufrichtig gegen jedermann,
vornehmlich gegen eure Aeltern und Lehrer,
ſo
[112] ſo werden ſie euch noch einmal ſo lieb haben.
Euch Aeltern aber geb’ ich den Rath, lieber
die Strafe etwas zu mildern, oder gar zu
ſchenken, wenn ein Kind Boͤſes gethan hat;
ſobald ihr ſehet, daß es alles aufrichtig und
ehrlich geſtehet, und nicht luͤget. Ihr wer-
det dadurch die Neigung zum Luͤgen, aus
Furcht vor der Strafe, deſto leichter erſticken.


XXVII.
Das Schreiben.


Karl wollte ſich gar nicht zum Schreiben
bequemen. Er fieng es ganz verkehrt
an, hatte keine Luſt und Geduld dazu, und
wollte nur immer ſpielen. Den Bleyſtift
oder die Feder lernte er gar nicht recht hal-
ten. Er gab auch niemals recht Acht dar-
auf, wie die Buchſtaben ausſahen, die er
nach-
[113] nachmachen ſollte, ſondern ſahe immer dar-
uͤber weg. Wenn ihm der Vater die Hand
fuͤhrte, ſo hielt er ſie bald zu feſt, bald zu
loſe, daß derſelbe ganz verdruͤßlich wurde,
und ſagte: er wolle ſich gar nicht mehr um
ihn bekuͤmmern. Er wuͤrde es zu ſpaͤt be-
reuen, daß er das Schreiben nicht habe ler-
nen wollen. Man ließ ihn eine geraume Zeit
ſo gehen, ohne ihm wieder vom Schreiben
was zu ſagen.


Endlich kam er einmal zu Dorchen, das
erſt fuͤnf Jahre alt war, und ſchon artig
ſchreiben und Geſchriebenes ſehr gut leſen
konnte, da er im achten Jahre noch keinen
Buchſtaben zu machen im Stande war. Da
ſchaͤmte er ſich, und fragte, wie es doch das
gemacht haͤtte, daß es ſo bald haͤtte ſchrei-
ben gelernt? Dorchen ſagte: das hab’ ich
meinem lieben Vater zu danken. Der ſagte
oft zu mir: Kind, fang beyzeiten an. Lerne
Hnur
[114] nur erſt Kritzeln. Ich will dir Tafel und
Schieferſtift, Bleyfeder, Papier genug, auch
ein ſchoͤnes Tintefaß von Quadeau geben.
Dorchen holte das niedliche Tintefaß: eine
gruͤne runde bleyerne Buͤchſe, ſchoͤn gemalt.
Inwendig das Tintefaß, eine Sandbuͤchſe
und eine Kapſel zu Siegeloblaten. Das
ſtach Karin gewaltig in die Augen. Er lief
nach Hauſe, und bat ſeinen Vater um ein
ſolches Tintefaß. Er wollte nun gerne
ſchreiben lernen. O ja! ſagte der Vater,
daran ſolls nicht fehlen. Das ſollſt du ha-
ben; gehe aber wieder hin zu Dorchen, und
frage weiter, wie es ſo bald ſchreiben gelernt
habe? Du wirſt hoͤren, daß es nicht das
Tintefaß allein gethan; ſondern daß das lie-
be Kind ſelbſt Luſt dazu gehabt habe.


Er kam wieder mit großen Freuden, und
ſagte: O liebes Dorchen, ich kriege eben ein
ſolches Tintefaß. Sage mir doch weiter,
wie
[115] wie du es gemacht haſt. Ich hatte Luſt da-
zu, antwortete Dorchen, und freuete mich,
wenn ich ſahe, daß ich weiter kam. Ich
machte einen Buchſtaben ſo lange, bis er ſo
ausſahe, wie der vorgeſchriebene. Meine
Luſt zum Schreiben wurde immer groͤßer,
wenn ich nach acht Tagen Buchſtaben fertig
hinſchrieb, die ich vor acht Tagen noch nicht
machen konnte. Ich gab inſonderheit Ach-
tung, wie mir der Vater die Hand fuͤhrte,
und wie die Buchſtaben ausſahen, die ich
nachmachen ſollte. Da lernte ichs bald, und
ſahe nun ein, wie nuͤtzlich mir das Schrei-
ben war. Denn da ich nun ſelbſt Geſchrie-
benes leſen konnte; ſo ſchrieb mir der Vater
allerley artige Hiſtoͤrchen vor, die mich ſehr
vergnuͤgten. Da ich auch nun ſelbſt ſchrei-
ben konnte; ſo machte ich mir durchs Schrei-
ben manchen Zeitvertreib. Ich ſchrieb mir
alle meine Spielſachen, meine Kleider und
H 2ande-
[116] andere Dinge auf. Ich ſchrieb mir in ein
beſonderes Buch, was ich nicht gerne ver-
geſſen wollte. Und hoͤre nur: ich bekam
manches ſchoͤne Praͤſent von Vater und Mut-
ter, eben dadurch, daß ich ein Briefchen an
Sie ſchrieb, und um das bat, was ich gerne
haben wollte, welches ich ſonſt nicht wuͤrde
bekommen haben. Siehſt du nun wohl, lie-
ber Karl, wie nuͤtzlich das Schreiben iſt?
Mache du es nun auch ſo. Wenn wir nicht
ſchreiben lernen, ſo kommen wir einmal
ſchlecht in der Welt fort, und ſind veraͤchtli-
cher, als Knecht und Magd, wenn ſie ſchrei-
ben gelernet haben.


XXVIII.
[117]

XXVIII.
Die Rochowiſche Schule.


Ich will euch was erzaͤhlen, Kinder! ſag-
te Dorchen zu ihren Spielkameraden,
die es aus der Schule mitgenommen hatte.
Ich will euch was erzaͤhlen, was ihr noch
nie gehoͤrt habt. Hoͤrt zu, ich bin ganz auſ-
ſer mir vor Freuden. Ich kanns ſelbſt kaum
glauben. Hoͤrt nur, hoͤrt nur.


Was iſt denn das? fragten die Schul-
kinder. Das muß ja was beſonderes ſeyn.
Gewiß hat dir der Vater was mitgebracht
von ſeiner Reiſe. Ja! das hat er auch ge-
than, der liebe Vater. Er koͤmmt kein ein-
zigmal von der Reiſe, er bringt was mit.
Aber das iſt es dießmal nicht, was ich euch
erzaͤhlen will. Ganz was anders.


Die Kinder wurden immer neugleriger,
und ſagten: o ſo mache doch fort, und ſa-
H 3ge
[118] ge an. Nun ſo hoͤrt denn, antwortete
Dorchen.


Mein Vater iſt 14 Tage in Rekane ge-
weſen, das da nicht weit von Berlin ſeyn
ſoll, wo der Koͤnig wohnt. Lauter Sand
mag da ſeyn. Bey dem Herrn von Rochow
iſt er geweſen. Das ſoll ein Kinderfreund
ſeyn, der ſeines gleichen nicht hat. Geſe-
hen hab’ ich den lieben Mann ſchon einige-
mal, da er meinen Vater beſuchte; aber ich
war noch zu klein. Aber ich habe an ſeinem
Namen das R ausſprechen lernen, weil mir
der Vater den Namen Rochow immer vor-
ſagte. Er muß ihn recht lieb haben, daß er
immer dieſen Namen nahm. Was mir der
Vater von der Schule, die der Herr von Ro-
chow angelegt, erzaͤhlt hat, kann ich euch
gar nicht genug beſchreiben.


Denkt nur, pure gemeine Bauerkinder
werden darinn erzogen und unterrichtet. Er
hat
[119] hat den Kindern ein niedliches, beſonderes
reines Schulhaus bauen laſſen, welches frey
an einem Garten liegt, worinn ſie nicht ſo
vor Hitze und Dampf braten, als wir thun
muͤſſen. Da lernen ſie nun leſen, ſchreiben,
rechnen, und das ſo leicht, daß mans kaum
begreifen kann. Der Vater ſagte: er habe
den Bauermaͤdchen und Bauerjungen ſelbſt
einige Exempel an der Tafel aufgegeben, und
ſie haͤttens richtig ausgerechnet. Manche
ſchon vorher aus dem Kopfe. Erſt kommen
die Großen in der Stunde bis um 9. Dann
gehen die heraus in die friſche Luſt, und ſpie-
len eine Viertelſtunde. Dann kommen die
Kleinen, die noch buchſtabieren. Der Leh-
rer macht es ihnen allen ſo leicht und ange-
nehm, daß es eine Luſt ſeyn ſoll, zuzuhoͤren.
Der Vater hat Bauerknaben barfuß geſehen,
von etwa ſieben oder acht Jahren, die per-
fekt leſen, ſchreiben und rechnen konnten.
H 4Da-
[120] Dabey werden ſie in den nothwendigſten
Stuͤcken des Chriſtenthums und in andern
nuͤtzlichen Dingen des menſchlichen Lebens
unterrichtet; beſonders in dem, was zu ih-
rem kuͤnftigen Beruf, Ackerban, Pfluͤgen;
Kaufen und Verkaufen, gehoͤrte, damit ſie
doch als vernuͤnftige Menſchen kuͤnftig nicht
aufs blinde Gerathewohl leben.


Das ſoll ſehr großen Nutzen haben.
Denn die Kinder ſind mehrentheils kluͤger,
als ihre Aeltern, und koͤnnen den Aeltern
ſchon vieles ſchreiben und ausrechnen, wel-
ches ihnen bey vielen Gelegenheiten ſehr zu
Statten koͤmmt.


Die Kinder ſollen den Herrn von Rochow
wie einen Vater lieben. Noch was artiges
muß ich euch erzaͤhlen. Der Herr von Ro-
chow hatte einmal in ſeinen Aeckern viele ſchaͤd-
liche Wuͤrmer, die man Maulwurfsgrillen
nennet, und die die Wurzeln des Korns ab-
fraßen.
[121] fraßen. Da rief er die Schulkinder zuſam-
men, und ſagte: gehet heraus, Kinder, und
ſucht die Dinger; ich gebe euch fuͤr jedes
einen Pfennig. Was meynt ihr, wie viel
ſie brachten? So viele, daß er 23 Thl. bezah-
len mußte. O wie freueten ſich die Kinder,
daß ſie mit Spielgehen ſo viel Geld verdient
hatten! Davon ließen ſie ſich Schuhe,
Struͤmpfe und andere gute Sachen machen.
Koͤnnten wir nun auch ſchon ſo gut rechnen,
wie die Rekaniſchen Bauerkinder; ſo koͤnnten
wir es bald wiſſen, wie viele dieſer Wuͤrmer
ſie gefangen haͤtten.


Dieſe Erzaͤhlung war den Kindern ſo an-
genehm, daß ſie alle wuͤnſchten, in der Ro-
chowiſchen Schule zu ſeyn, und ſich vornah-
men, recht fleißig zu lernen, damit ſie als
Stadtkinder von Bauerkindern nicht moͤchten
uͤbertroffen werden.


H 5Wie
[122]

Wie viel koͤnnen nicht gute Exempel
thun!


XXIX.
Der Todtenkopf.


Dorchen war mit ſeines Vaters Natura-
lienkabinet ſo bekannt, daß es auch den
ſchoͤnen weißen Todtenkopf ohne Furcht ſahe,
der in einem glaͤſernen Kaſten auf dem Saale
ſtand. Der Vater nahm ihn oft herunter,
ſetzte ihn vor dem Kinde auf den Tiſch, und
erklaͤrte ihm alles daran: wo die Zaͤhne, die
Augen, die Ohren geſeſſen hatten, und ſag-
te ihm ſonſt viel merkwuͤrdiges davon: z. E.
wie es zugienge, wenn einer den Schnupfen
habe, oder den Kindern die Naſe ſo verſtopft
waͤre. Das Kind freuete ſich daruͤber, als
es das ſiebfoͤrmige Naſenbein, die Augen-
hoͤhlen
[123] hoͤhlen und Ohrgaͤnge zu ſehen kriegte. Der
Vater nahm ein kuͤnſtliches Auge dazu, und
da er auch alle Theile und Knoͤchelchen des
Ohrs hatte, ſo konnte er dem wißbegierigen
Kinde ziemlich alles ſagen, wie kuͤnſtlich der
liebe Gott das Auge, das Ohr, und ande-
re Theile des Menſchenkopfs gemacht habe.
Dadurch vergieng natuͤrlicher Weiſe aller Ab-
ſcheu und alle Furcht bey dieſem Kinde von
fuͤnf Jahren, die der Aberglaube vor Tod-
tengebeinen insgemein zu haben pflegt. Es
wurde ſo bekannt mit dem Todtenkopfe, daß
es ihn ſelbſt in die Hand nahm, die Hirn-
ſchaale abdeckte, und andern Leuten wieder
ſagte, was ihm der Vater dabey geſagt hatte.


Nun aber kamen die Fragen, die wir zur
Belehrung anderer Kinder herſetzen wollen.


D. Aber, lieber Vater! iſt denn der
Kopf wirklich von einem todten Menſchen?


V. Ja!
[124]

V. Ja! mein Kind! das iſt er. Das
kannſt du ſelbſt unterſcheiden. Da will ich
dir den Kopf eines Hundes, und einiger an-
dern Thiere herſetzen. Siehe ſie an, und
dann wieder dieſen Kopf. Findeſt du da nicht
einen großen Unterſchied?


D. Ja! der Menſchenkopf ſiehet ganz
anders aus. Er iſt viel runder; auch die
Zaͤhne ſind anders. Da unten ſind einige
Zaͤhne los. Ach! Vater, das wackelt ja.
Bald waͤre ich erſchrocken.


V. Wovor denn, mein Kind? Vor ei-
nem Knochen? Was da wackelt, das iſt die
Unterkinnlade. Dieſe iſt auch im Leben be-
weglich. Probiere es einmal. Die Ober-
kinnlade ſitzt feſt. Bloß die untere bewegt
ſich, wenn du kaueſt.


D. faßt ſich an das Kinn, und ſagt:
Es iſt wahr, Vater, dieß kauet allein. Aber
woher haben Sie denn den Kopf, und was
machen
[125] machen Sie damit? Er iſt doch wohl nicht auf
dem Rade oder am Galgen geweſen?


V. Wenn er das auch waͤre. Das wuͤr-
de mich und dich nichts hindern. Ich habe
ihn von einer Anatomie bekommen.


D. Was iſt das, Anatomie? Das ver-
ſtehe ich noch nicht.


V. Das heißt zerſchneiden, zergliedern.
Auf der Univerſitaͤt oder hoͤhern Schule, wo
die jungen Leute in allen Wiſſenſchaften un-
terrichtet werden, und wo auch die jungen
Doctores das Ihrige lernen muͤſſen, werden
von dem Herrn des Landes ſolche Haͤuſer ge-
halten, wo die todten Koͤrper von Leuten,
die in den Hoſpitaͤlern geſtorben, auch wohl
von Miſſethaͤtern, die gekoͤpft und gehangen
ſind, hingebracht werden. Da ſind denn
gelehrte Maͤnner, die ſolche Koͤrper inwen-
dig und auswendig zerſchneiden, und alle
Theile, Adern, Nerven, Sehnen, Knochen,
und
[126] und alles aus einander nehmen, und das
den jungen Doctoren erklaͤren, damit ſie wiſ-
ſen, wie der menſchliche Koͤrper inwendig
und auswendig beſchaffen ſey, weil ſie ſonſt
keine Krankheit kuriren koͤnnen, wenn ſie das
nicht wiſſen. Da machen ſie denn ſolche
Todtenkoͤpfe zurechte, damit ſie immer nach-
ſehen koͤnnen, wenn einem Menſchen etwas
im Kopfe fehlt, wie ich dirs vorher geſagt
habe. Das heißt die Anatomie.


D. Ach! Vater, das iſt ja grauſam, die
Menſchen ſo zu zerſchneiden. Da muß es ja
auch erſchrecklich ſtinken.


V. Nein! mein Kind, das iſt nicht grau-
ſam. Denn die todten Menſchen fuͤhlen da-
von nichts mehr. Es iſt ihnen einerley, ob
ihr Leib in der Erde verfault, oder hier zer-
ſchnitten wird. Es iſt vielmehr ſehr nuͤtz-
lich, den Bau und die innere Beſchaffenheit
des menſchlichen Koͤrpers auf dieſe Art recht
kennen
[127] kennen zu lernen. Es geſchiehet auch die
Anatomie im Winter, wenn es kalt iſt: im
Sommer wuͤrde es freylich nicht angehen.


D. Aber, Vater! ich muß ſie noch eins
fragen. Unſere Marie ſagte neulich zu mir:
Dorchen, wie kann ſie doch des Abends ſo
dreiſte im Finſtern uͤber den Saal gehen, wo
der Todtenkopf ſtehet? Es graut mir bey
Tage, geſchweige des Abends. Ich denke
immer, wenn der Todte einmal kaͤme, und
ſeinen Kopf wieder haben wollte. Seit der
Zeit grauet mir denn doch ein Bißchen, wenn
es wahr iſt, daß die Todten ſpuken gehen,
wie unſere Leute ſagen.


V. Ich wollte, daß dir Marie ſonſt was
geſagt haͤtte. Es koͤmmt nun auf dich an,
ob du meynſt, daß Marie oder dein Vater
kluͤger ſey, und ob du Marien, die voll Aber-
glauben iſt, mehr glauben willſt, als deinem
Vater.


D. O
[128]

D. O! herzenslieber Vater, werden Sie
doch nicht boͤſe. Das meyne ich ja ſo nicht.
Ich habe es Ihnen darum nur geſagt, damit
Sie mirs beſſer erklaͤren ſollen. Ich glaube
Ihnen weit mehr als Marien.


V. Nun, ſo hoͤre mich denn an, liebes
Kind! und laß eine Furcht fahren, die dich
zeitlebens ungluͤcklich machen wuͤrde. Wie
ungluͤcklich iſt nicht ein Menſch, der ſich nicht
getrauet, des Abends eine Stunde allein zu
bleiben, des Abends im Finſtern vor die
Stubenthuͤr, oder auf den Boden zu gehen!
Iſt er nicht zu bedauern, da er ſich mit einer
beſtaͤndigen Furcht quaͤlet, und im Grunde
ſich vor einem bloßen Nichts fuͤrchtet? Fuͤrch-
teſt du dich wohl vor einer Wolke, vor einem
Nebel oder Dunſte?


D. Nein! lieber Vater; aber vor Ge-
ſpenſtern und Todten muß man ſich doch wohl
fuͤrchten?


V. Du
[129]

V. Du fuͤrchteſt dich alſo vor einem
bloßen Knochen?


D. Nein! lieber Vater, der kann mir
nichts thun.


V. Alſo haſt du auch nicht Urſache, dich
vor dem Todtenkopfe zu fuͤrchten. Denn
das iſt ja bloßer Knochen, der ſich nicht ruͤhrt,
und nichts fuͤhlt: auch gar kein Leben mehr
hat. Der todte Menſch hat damit nichts
mehr zu thun. Sein Koͤrper iſt eben ſo todt,
als ſein Kopf, und ſeine Seele bekuͤmmert
ſich jetzt nicht mehr um den todten Koͤrper.
Fuͤrchteſt du dich denn vor deinen beyden tod-
ten Bruͤderchen, die da vor unſerm Fenſter
auf dem Kirchhofe liegen?


D. Nein! die liegen im Grabe, und koͤn-
nen nicht wieder heraus, weil ſie todt ſind.


V. Gut, weil ſie todt ſind, ſagſt du.
So iſt es mit allen menſchlichen Koͤrpern,
wenn ſie einmal todt ſind: ſie moͤgen im Gra-
Ibe
[130] be liegen, oder am Galgen haͤngen, oder auf
der Anatomie zerſchnitten werden. Das
Spuken iſt Thorheit, Einbildung und Aber-
glaube der Leute, die es nicht beſſer wiſſen.
Du aber weißt es beſſer. Sieheſt du denn,
daß ich oder deine Mutter des Abends ſich
fuͤrchten? Wir gehen ohne Licht uͤber den
Saal vor dem Todtenkopfe vorbey, und vor
vielen andern todten menſchlichen Koͤrpern,
die da herumſtehen.


D. Was? Haben Sie denn noch mehr
todte menſchliche Koͤrper?


V. Ja! die kleinen Kinderkoͤrper, die du
geſehen haſt, und die aus lauter Knochen be-
ſtehen, die man Skelete nennet. Auch die
vielen kleinen Menſchen da im Schranke in
den Glaͤſern mit Branntewein, die du immer
deine Bruͤderchen nenneſt. Haben die dir
ſchon was gethan?


D. Nein!
[131]

D. Nein! lieber Vater, ich freue mich,
ſo oft ich ſie ſehe; aber mich fuͤrchten vor ih-
nen, das kann ich nicht.


V. Nun ſo fuͤrchte dich auch nicht mehr
vor großen todten menſchlichen Koͤrpern, oder
vor Geſpenſtern. Denn das iſt einerley:
wenn die Todten ſpuken ſollten, ſo koͤnnen
es die kleinen ſo gut als die großen. Aber
ſie thun es beyde nicht. Das kannſt du ſo
gewiß glauben, als ich dein Vater bin. Da-
her fuͤrchte dich nicht, des Abends auch uͤber
den Kirchhof zu gehen, den wir vor der Thuͤr
haben, und wo viele Todte begraben ſind.
Die liegen da ganz ruhig, und haben mit
den Lebendigen nichts mehr zu ſchaffen.


D. Lieber Vater! ich fuͤrchte mich nun
ganz und gar nicht mehr. O wie lieb iſt es
mir, daß ichs nun beſſer weiß! Warte,
Marie, ich will dich mit deinem Todtenkopfe
brav auslachen.


I 2V. Nein!
[132]

V. Nein! mein Kind, ſage Marien lie-
ber, wie es iſt, und wie ichs dir geſagt ha-
be; ſo wirſt du ihr eine Wohlthat thun.
Denn ſie weiß es nicht beſſer, und iſt nicht
ſo erzogen, wie du erzogen wirſt. Ich will
dir aber dabey noch ein Hiſtoͤrchen erzaͤhlen.
Es war auch einmal ein ſolches furchtſames
aberglaͤnbiſches Maͤdchen, wie Marie iſt,
das ſich des Abends nicht getrauete, auf den
Hof zu gehen. Da koͤmmt eine hungrige
Katze, nimmt das brennende Talglicht vom
Leuchter, und laͤuft damit auf den Heuboden.
Das Maͤdchen ſieht es, laͤuft ihr aber, aus
Furcht vor Geſpenſtern, nicht nach auf den
Boden, wo es haͤtte ihr das Licht wieder ab-
jagen, oder doch ausloͤſchen koͤnnen. Was
geſchieht? Das Heu faͤngt an zu brennen,
und nicht nur das Haus, ſondern die halbe
Stadt iſt abgebrannt. Was ſagſt du dazu?
War daran nicht die dumnie Furcht des Maͤd-
chens
[133] chens Schuld? Haͤtte das Ungluͤck nicht koͤn-
nen verhuͤtet werden, wenn das Maͤdchen
nicht ſo furchtſam geweſen waͤre?


D. Nun, Vater, Sie ſollen es ſehen,
daß ich mich nicht mehr fuͤrchten will, am
wenigſten vor dem ſchoͤnen Todtenkopfe, den
ich nun noch einmal ſo lieb habe.


Das Kind hielt ſein Wort, wie folgen-
des Exempel zeigt. Es kam kurz darauf des
Abends ein ſehr ſtarkes Gewitter, ſo daß der
Vater die Leute in ſeine Stube kommen ließ,
um gleich alle bey der Hand zu haben. Es
that einige harte Schlaͤge, daß das Haus
anfieng zu ſchuͤttern, und die Glaͤſer auf dem
Saale klungen. Bey dieſer Gelegenheit fiel
die Hirnſchaale vom Todtenkopfe an die eine
Seite des Glaskaſtens durch die Erſchuͤtte-
rung herunter, daß man es deutlich unter-
ſcheiden konnte, was es war. Marie fieng
an: Ach der abſcheuliche Todtenkopf! Der
I 3kann
[134] kann auch im Tode keine Ruhe haben. Dor-
chen ſahe den Vater an. Dieſer lachte,
ſteckte den Wachsſtock an, und gab ihn Dor-
chen, ohne etwas zu ſagen. Dieß gieng den
Augenblick allein heraus, und brachte die
Nachricht: die Hirnſchaale ſey dem Kopfe ab-
und ans Glas gefallen. Wovon? fragte
der Vater. Da es ſo ſtark donnerte und
ſchuͤtterte, antwortete es. Da haſt du alſo
den ganzen Spuk, ſprach der Vater. War
das von dem Todtenkopfe, oder gieng die
Sache ganz natuͤrlich zu? Mußte nicht die
Hirnſchaale herunterfallen, weil ſie nicht fe-
ſte lag, und vom Donner erſchuͤttert wurde?
Allerdings, Vater! ſagte Dorchen, und du,
Marie, darfſt dich nicht fuͤrchten, daß dein
Kopf einmal ſpuken gehe. Hierauf giengen
die Leute mit dem Kinde herunter, da das
Gewitter vorbey war. Und dieſes erzaͤhlte
ihnen alles, was ihm der Vater vom Tod-
ten-
[135] tenkopfe geſagt hatte. Die Leute wunder-
ten ſich, und wurden wirklich durch des Kin-
des Dreiſtigkeit von ihrer Furcht und Aber-
glauben befreyet.


Kurze Zeit darauf nahm der Vater ein-
mal wieder den Kopf vor, um dem Kinde was
zu erklaͤren. Da ſagte der Vater: Es iſt
mir lieb, daß du dich nicht mehr davor fuͤrch-
teſt. Es iſt dir ſelbſt eine Wohlthat. Was
wuͤrdeſt du aber thun, wenn dir folgendes
begegnete, was mir einmal auf einer Reiſe
begegnet iſt?


Ich logirte in einer gewiſſen Stadt bey
einem Doctor, der viele Skelete und Tod-
tenkoͤpfe auf ſeiner Schlafkammer hatte. Ei-
nige Koͤpfe ſtanden frey auf Tiſchen ohne Ka-
ſten. Als wir des Abends von einem guten
Freunde zu Hauſe kamen, kam uns die Magd
vor der Hausthuͤr halb todt entgegen, und
ſagte: der eine Todtenkopf waͤre vom Tiſche
I 4geſprun-
[136] geſprungen, und kollere ſich immer in der
Kammer herum, da ſie haͤtte das Bette ma-
chen wollen. Wir lachten ſie aus, und for-
derten Licht. Als wir in die Kammer ka-
men, lag der Todtenkopf wirklich an der Er-
de. Aus den Hoͤhlen blitzten uns ein Paar
helle Augen entgegen. Und als wir mit dem
Lichte naͤher traten, fieng er an, in der Kam-
mer herumzukollern. Ich kann wohl ſagen,
daß mir das Ding anfaͤnglich ſelbſt wunder-
lich vorkam. Da ich mich aber beſtaͤndig
gewoͤhnt habe, bey keiner Sache, die mir
wunderlich und unnatuͤrlich vorkoͤmmt, und
die ich nicht gleich erklaͤren kann, einen Spuk
oder ſo was zu glauben; ſo faßte ich mich
auch hier gleich, ſetzte das Licht hin, und
ergriff den Todtenkopf mit beyden Haͤnden.
Da hieng ein Rattenſchwanz heraus. Es
hatte ſich eine Ratte hineingeklemmt, und
konnte nicht gleich wieder herauskommen.
Was wuͤrdeſt du dabey gethan haben?


D. Ich
[137]

D. Ich wuͤrde erſchrocken ſeyn. Aber
ich wuͤrde doch gedacht haben, daß es et-
was anderes ſeyn muͤßte, was den Todten-
kopf bewegte, da ich nun weiß, daß er kein
Leben hat, und nicht ſpuken kann.


V. Das beſte Mittel in ſolchen Faͤllen iſt
allemal, dreiſte zugeſehen oder zugefaßt; ſo
findet man leicht das Spukeding, wie ich es
gefunden habe.


Dieſe Unterredung hatte bey dem Kinde
ſo viel gewirkt, daß es des andern Tages
aus der Schule kam, und den Vater bat: er
moͤchte doch erlauben, daß die Schulkinder
duͤrften heruͤber kommen, um den Todten-
kopf zu ſehen. Ich habe ihnen vieles davon
geſagt; und da ſie ſich noch alle davor fuͤrch-
ten, ſo kann ich ihnen dadurch wohl die Furcht
nehmen, wenn ſie ihn ſelbſt ſehen, und ich
ihnen zeige, daß ich mich davor nicht fuͤrch-
I 5te.
[138] te. Sie ſagten ja, Vater! es waͤre Wohl-
that, andern die unnuͤtze Furcht zu nehmen.


O ja! von Herzen gern, ſagte der Vater,
mein liebes Kind, will ich dir das erlauben.
Bring nur die Kinder her, ſo viel du willſt.
Ich will indeſſen den Todtenkopf herausneh-
men, und auf den Tiſch ſetzen. Die Kinder
kamen, und blieben alle von weitem ſtehen,
ſahen auch den Kopf ſehr aͤngſtlich an. Dor-
chen aber gieng gerade hin, nahm die Hirn-
ſchaale ab, und den Kopf in beyde Haͤnde.
Da wurden die Kinder dreiſter, und traten
im Zirkel um ſie herum. Und nun haͤtte
man ſehen ſollen, wie das Kind hintrat, und
den Kindern alles erklaͤrte, was der Vater
geſagt hatte, inſonderheit wie es die Kinder
ermahnte, ſich nicht davor zu fuͤrchten, weil
es ein todter Knochen ſey, der nicht ſpuken
koͤnne.


Dem
[139]

Dem Vater liefen vor Freude die Thraͤ-
nen aus den Augen, und er ſagte nur noch
das einzige Wort zu der Verſammlung von
Kindern: Lieben Kinder, bildet euch ja nie-
mals was auf die Schoͤnheit eures Geſichts
ein. Ihr ſehet hier, was aller Menſchen
Schoͤnheit im Tode iſt. Wo ſind die ro-
then Backen? die hellen Augen? die Naſe?
die Lippen? So lehret euch ein Todtenkopf
fruͤhzeitig Demuth.


XXX.
Die Irrlichter.


Was ſagſt du da, Lene? ſprach Haͤns-
chen. Was ſind das fuͤr Dinger,
Irrwiſche, welche die Leute verfuͤhren? Ja!
das weiß ich nicht, antwortete die Magd.
Aber das weiß ich wohl, daß ich ihrer heute
Abend
[140] Abend auf der Bruchwieſe genug geſehen ha-
be, und daß ich daruͤber bis an die Knie in
Moraſt gerathen bin, da ich nach ihnen hin-
gieng, und meynte, es waͤre ein Licht auf
dem Dorfe. Was moͤgen ſie wohl anders
ſeyn, als boͤſe Dinger, welche die Leute ver-
fuͤhren? Denn da, wo ſie ſind, und ſich
ſehen laſſen, ſolls nicht allzurichtig ſeyn.
Das Gericht, Galgen und Rad, iſt auch
nicht gar zu weit davon.


Haͤnschen liefs kalt uͤber die Haut, und
er erzaͤhlte das alles ſeinem Vater. Gut,
ſagte der Vater, morgen Abend gehen wir
heraus, und warten, bis es finſter iſt.
Dann ſollſt du ſehen, was es iſt, und dich
nicht mehr fuͤrchten. Das wollten Sie thun,
Vater? wenn Sie nun auch ſo tief in den
Moraſt kaͤmen? antwortete Haͤnschen. Sor-
ge du vor nichts. Ich will dich ſchon hin-
bringen, erwiederte der Vater, wo kein Mo-
raſt
[141] raſt iſt, und wo du ſie mit deiner Hand fan-
gen ſollſt. Nun, wenn Sie mitgehen, ſprach
Haͤnschen, ſo gehe ich auch mit.


Der andere Abend kam, und ſie giengen
gegen halb zehn Uhr heraus. Haͤnschen
mußte ſein Fangeiſen mitnehmen, womit er
die Schmetterlinge fieng. Der Vater fuͤhr-
te ihn nach der Aaskuhle, wo das todte Vieh
abgezogen wird. Sie ſahen ſie ſchon von
ferne, als kleine blaue Flaͤmmchen, auf und
nieder huͤpfen. Haͤnschen wollte davon lau-
fen. Kind, ſagte der Vater, du wirſt doch
nicht glauben, daß ich dich ins Ungluͤck fuͤh-
ren will. Wenn ichs nicht beſſer wuͤßte, ſo
wuͤrde ich dich nicht mitgenommen haben.
Der Knabe wurde dreiſter, und indem kamen
ein Paar auf ſie zugehuͤpft. Giebs Fangei-
ſen her, ſagte der Vater. Schnapp hatte
er eins weg. Nun lief Haͤnschen ſelbſt hin-
ter her, und fieng noch einige. Weil es
aber
[142] aber dunkel war, konnten ſie nichts daran ſe-
hen. Als ſie nach Hauſe kamen, legte der
Vater das Fangeiſen in ſeinen Schrank, und
hieß Haͤnschen ruhig zu Bette gehen. Mor-
gen, ſagte er, will ich dir alles weiſen.


Der Morgen kam, und Haͤnschen lief
gleich zum Vater. Dieſer holte das Fang-
eiſen her. Und was hatten ſie darinn? Eine
weiche klebrichte Materie, wie man aus der
Naſe ſchnaubt.


V. Das iſt die ganze Sache, mein Sohn,
wovor ſich ſo viele Leute ſo aͤngſtlich fuͤrch-
ten. Haben ſie das wohl Urſache?


H. Vater! was iſt es denn? Wie kann
das leuchten und huͤpfen?


V. Es ſind fettige Ausduͤnſtungen von
dem todten Vieh, die ſich in die Hoͤhe heben,
und von der Luft herumgefuͤhrt werden, und
leuchten.


H. Iſt
[143]

H. Iſt es denn Feuer?


V. Nein, nur ſo etwas aͤhnliches, das
nur leuchtet, aber nicht brennt. Kamſt du
nicht neulich Abend erſchrocken vom Hofe,
da ich Holz gekriegt hatte, und ſagteſt: das
Holz brenne? Das faule Holz leuchtet auch
im Finſtern.


H. Wie verfuͤhren ſie denn aber die Leu-
te in den Moraſt, wie Lenen begegnet iſt?


V. Eigentlich thun ſie das nicht. Weil
aber aus dem Moraſt auch dergleichen Duͤn-
ſte aufſteigen; ſo muͤſſen die Leute wohl hin-
einkommen, wenn ſie dieſen Dingern, die
daher Irrwiſche oder Irrlichter heißen, fol-
gen, und ſie fuͤr Licht im Dorfe anſehen.


H. Noch eins, lieber Vater! Lene ſprach
vom Gerichte, wo der Galgen und die Raͤ-
der ſtuͤnden. Da waͤren ſie auch, und es
waͤre da herum nicht recht richtig. Was
mag das ſeyn ſollen?


V. Wie
[144]

V. Wie es die einfaͤltigen aberglaͤubi-
ſchen Leute glauben, ſo ſagen ſie es. Das
nicht richtig ſeyn, nennen ſie ſpuken, und
bilden ſich ein: die Geraͤderten und Gehaͤng-
ten giengen herum ſpuken, und machten die
Leute zu fuͤrchten; und die Irrlichter waͤren
ihre Seelen. Kannſt du das glauben? Es
iſt eben die Urſache da, warum ſie auf der
Aaskuhle, als warum ſie hier ſind. Denn
hier unter dem Gerichte ſind auch viele todte
menſchliche Koͤrper verfault, und daher ſind
auch hier eben ſolche fettige leuchtende Duͤn-
ſte. Fuͤrchteſt du dich noch, mein Sohn?


H. Nein! mein Vater, alle Furcht iſt
weg.


V. Zur Belohnung will ich dir noch was
ſagen, was du noch nicht weißt, aber ge-
wiß hoͤren wirſt, wenn du einmal auf Reiſen
koͤmmſt, und des Nachts mit der Poſt faͤh-
reſt. Da ſagen die Poſtillions, wenn ſie
der-
[145] dergleichen Dinger ſehen: man muͤſſe ja nicht
beten, ſondern fluchen. Durch das erſte
kaͤmen ſie herzu, huͤpften auf den Pferden
herum, ja den Leuten auf die Naſe. Durch
das letzte aber wuͤrden ſie weggejagt.


H. Das iſt ja ſonderbar. Das moͤchte
ich doch auch wiſſen.


V. Es gehet wieder ſehr natuͤrlich zu.
Aber weder das Beten noch das Fluchen hat die
Kraft, ſie anzulocken und wegzutreiben.
Wenn einer in den Umſtaͤnden betet, iſt er in
Angſt, und zieht die Luft an ſich. Dann
kommen die unſchuldigen Dingerchen mit,
dichte vors Maul. Wenn aber einer flucht,
ſo iſt er heftig, und ſtoͤßt die Luft von ſich
weg. Dann gehen ſie auch mit fort.


H. Ja! ja, Vater, ſo iſt es auch, und
das iſt ſehr natuͤrlich. Bleib zu Hauſe, Lene,
mit deinen Poſſen. Ich weiß es nun beſſer.


XXXI.
[146]

XXXI.
Von der Furcht vor dem
Gewitter.


Ach! Vater, es blitzt ſchon wieder, ſagte
Dorchen mit vieler Angſt.


Was iſt dir, mein Kind? antwortete der
Vater. Du haſt dich ja ſonſt nicht gefuͤrch-
tet. Wie koͤmmt das? Gewiß hat dir jemand
was in den Kopf geſetzt.


D. Ach lieber Vater! Sie wiſſen, daß
ich Ihnen alles ehrlich bekenne. Alſo will
ichs auch jetzt thun. Neulich ſagte mir ein
kleiner Junge in der Schule: der Blitz ſchluͤ-
ge die Leute todt, und ſeit der Zeit fuͤrchte ich
mich wieder vor dem Gewitter.


V. Das iſt deine gerechte Strafe, mein
Kind, daß dich die Furcht ſo quaͤlet, weil du
einem kleinen dummen Jungen mehr glaubſt,
als deinem Vater, der ſich alle Muͤhe giebt,
dir
[147] dir die falſche Furcht zu nehmen. Hab’ ich
dir nicht oft genug geſagt: du ſollteſt dich
nicht vor dem Gewitter fuͤrchten? Sieheſt
du denn, daß ich mich ſo aͤngſtlich davor
fuͤrchte? Hab’ ich dir nicht oft genug geſagt:
es komme nicht unmittelbar von dem lieben
Gott, wie ſichs die Leute vorſtellen: daß der
liebe Gott da uͤber den Wolken ſaͤße, und
den Blitz, Hagel und Regen herunterwerfe?


D. Ja! iſts denn nicht ſo? darum hab’
ich mich eben ſo gefuͤrchtet.


V. Nein! mein Kind, der liebe Gott
hat alles, von der erſten Schoͤpfung an, in
der Natur dazu ſo eingerichtet, daß ein Ge-
witter entſtehen kann. Wenn ſich von der
Erde ſo viele waͤſſerige Duͤnſte in die Hoͤhe
gezogen haben, daß ſie oben in den Wolken
nicht mehr bleiben koͤnnen, und zu ſchwer
werden; ſo fallen ſie in unzaͤhligen Tropfen
herunter, und dann regnets. So auch mit
K 2dem
[148] dem Gewitter. Wenn die dazu gehoͤrigen
Umſtaͤnde in der Luft da ſind, ſo koͤmmt es;
und wenn ſie nicht da ſind, ſo koͤmmt es nicht.


D. Hat denn aber der liebe Gott gar
nichts damit zu thun?


V. O ja! denn ſonſt entſtuͤnde ja das
Gewitter ganz von ohngefaͤhr, und koͤnnte
machen, was es wollte. Der liebe Gott hat
dabey alles vorhergeſehen und eingerichtet,
wie es kommen ſolle. Es geſchiehet dabey
nichts ohne ſeinen Willen, ohne ſeine Regie-
rung und Zulaſſung. Und da der liebe Gott
alles zum Beſten der Menſchen thut; ſo hat
er ihnen auch das Gewitter zur Wohlthat
gemacht. Kind, verſtehſt du mich wohl?
oder kannſt du das noch nicht alles begreifen?


D. Nicht ſo recht, lieber Vater! aber
doch beſſer, als vorher.


V. Du ſieheſt doch immer gerne zu, wenn
dein Vater eine Uhr macht. Wenn ſie nun
fertig
[149] fertig iſt, ſo haͤngt er ſie hin, und ſie gehet
durch die Gewichte, Raͤder und andre Thei-
le von ſelbſt, wenn ſie aufgezogen iſt. Darf
ich nun wohl immer die Hand daran haben,
wenn ſie gehen ſoll?


D. Nein! ſie gehet doch.


V. Siehe, ſo iſts mit den Dingen in
der Natur, und mit dem Gewitter auch. Die
ganze Welt iſt wie eine große Uhr, die der
liebe Gott gleichſam bey der Schoͤpfung auf-
gezogen hat, und die nun immer fortgehet,
wie er es haben will.


D. Ja! nun verſtehe ichs beſſer. Aber
ſagen ſie mir doch noch mehr vom Gewitter.
Ich hoͤre es gar zu gern.


V. Das will ich wohl thun, wenn du
es dazu gebrauchen willſt, deine Furcht vor
dem Gewitter abzulegen.


D. Das ſollen ſie ſehen.


K 3V. Du
[150]

V. Du willſt doch gerne wiſſen, wie das
Gewitter entſtehe? Wenn es im Sommer
zu warm wird — denn im Winter koͤmmt
ſelten ein Gewitter — ſo ſammlen ſich in der
Luft ſo viele feurige Duͤnſte, die ſich leicht
entzuͤnden, wie du an dem Schwefel und
Schießpulver ſchon geſehen haſt. Wenn
dieſe Duͤnſte ſich zuſammen einander druͤcken
und reiben; ſo brennen ſie zuletzt an. Wo
die Flamme durchfaͤhrt, das iſt der Blitz.
Dieſer zerreißt die Luft, und wenn dieſe wie-
der zuruͤckſchlaͤgt, wo ſie weggetrieben iſt,
das iſt der Donner. Probiere es einmal,
und laß ein Schnupftuch vor deinem Geſich-
te niederſchlagen; ſo wirſt du die Luft fuͤhlen.
Wenn ſich nun der Schall an den Bergen
und Wolken ſtoͤßt, ſo wird er oft wiederholt,
und darum rollt der Donner ſo, ob es gleich
nur ein Schlag iſt. Da wir neulich auf
dem Berge waren, wo das Echo iſt, das dir
immer
[151] immer nachrief, und eine Flinte losgeſchoſ-
ſen wurde, hoͤrteſt du den Schuß wohl zwan-
zigmal nach einander. So iſt es mit dem
Donner auch. Und dabey ſag’ ich dir noch,
daß der Donner gar keinen Schaden thut,
auch niemand todt ſchlaͤgt; denn es iſt bloſ-
ſer Luftſchall. Davor darf man ſich alſo
eben ſo wenig fuͤrchten, als vor dem Schal-
le, den die Glocken machen, wenn ſie gelaͤu-
tet werden.


D. Das alles iſt mir ſehr angenehm;
aber der Blitz iſt doch ſchaͤdlich, und kann
todt ſchlagen.


V. Darauf will ich dir auch antworten.
Du biſt nun ſechs Jahre alt. Haſt du ſchon
gehoͤrt, daß der Blitz hier in der Stadt ei-
nen todt geſchlagen hat? Ich bin bald ſech-
zig Jahre alt, und an keinem Orte, wo ich
gelebt habe, iſt ſolches geſchehen. Alſo iſt
es etwas ſehr ſeltenes. Unter hundert tau-
K 4ſend
[152] ſend Menſchen trifft er kaum einen. Denn
die meiſten Blitze ſchlagen oberwaͤrts in der
Luft hin, und verzehren ſich. Weißt du
nun gewiß, daß du der Eine ſeyn ſollſt?
Kann dich nicht eben ſo bald ein Dachziegel
todt ſchlagen? Wer ſich ſo vor alles in der Welt
fuͤrchten wollte, was ihn toͤdten koͤnnte, der
haͤtte keine ruhige Stunde. Davor iſt der lie-
be Gott, der uns behuͤtet, und wie du ſchon
gehoͤrt haſt: ohne deſſen Willen kein Sper-
ling vom Dache, und kein Haar von deinem
Kopfe faͤllt. Deswegen aber muß man nicht
unvorſichtig und vorwitzig ſeyn, oder ſich
muthwillig in Gefahr begeben. Man muß
zur Zeit eines nahen Gewitters die Zugluft
vermeiden, weil der Blitz gern dahin ziehen
ſoll, wo ein Zug iſt. Auch des Abends,
wenn es draußen ſehr finſter iſt, muß man
nicht viel in den Blitz ſehen, weil das den
Augen ſchadet; aber nicht vor Furcht in den
Keller
[153] Keller kriechen. Denn da iſt man eben ſo
wenig ſicher, wenn der Blitz treffen ſoll.


D. Aber das Gewitter thut doch gar zu
viel Schaden. Ich bin einmal im Gewitter
unterwegs geweſen, da ich kaum vier Jah-
re alt war, wie ſie wiſſen. Alles verhagelte
und verſchlemmete, und man ſahe viele Mei-
len nichts gruͤnes mehr. Ach wie erbaͤrm-
lich ſahe das aus? Die armen Leute! Das
ſollte doch der liebe Gott nicht thun. Es
heißt zwar, er ſtrafe; aber ſind denn alle die
Leute gottlos geweſen? Das kann ich mir
nicht vorſtellen.


V. Da haſt du Recht, mein Kind! Glau-
be das ja nicht, daß der liebe Gott durchs
Gewitter ſtrafe. Er giebt dadurch unend-
lich mehr Gutes als Boͤſes. Wir muͤßten
zuletzt vor Hitze erſticken, wenn kein Gewit-
ter kaͤme. Der Blitz verzehret die Schwe-
felduͤnſte. Der Wind und Platzregen reini-
K 5get
[154] get die Luft, daß es wieder kuͤhle wird. Wie
gerne gehſt du dann wieder in die Schule,
wenns nicht mehr ſo heiß iſt! Der Donner
erſchuͤttert die Erde, daß ſie locker wird. Der
Regen erquickt die Pflanzen, die ſonſt verdor-
ren muͤßten, daß das Vieh wieder auf den
Wieſen und Angern friſches gruͤnes Futter
findet, und die Aepfel, Birnen und Pflan-
men gut gerathen. Wie ſchoͤn gruͤnet das
Feld nach einem fruchtbaren Gewitter!


D. Aber der Schaden iſt doch faſt noch
groͤßer, den es thut?


V. Warte nur. Gleich wirds kommen.
Wenn denn auch einmal Hagel faͤllt, und das
Korn auf dem Felde niederſchlaͤgt, oder der
Wind ein Paar Baͤume zerbricht, und der
Platzregen einige Felder uͤberſchwemmt; ſo
iſt das ein kleiner Fleck von einigen Meilen,
wo der Schaden geſchehen iſt, und einige
funfzig Meilen ſind dagegen herrlich befruch-
tet.
[155] tet. Iſt das nicht ein weit groͤßerer Nutzen,
den das Gewitter bringt, als der Schaden,
den es thut? Und bey allen Gewittern ha-
gelts auch nicht, und geſchieht gar kein
Schaden, ſondern lauter Gutes, lauter
Segen.


D. Aber das Todtſchlagen des Blitzes,
lieber Vater, kann ich noch nicht vergeſſen.
Es iſt doch wahr, daß der Blitz zuweilen die
Leute todtſchlaͤgt.


V. Wie ich dir ſchon geſagt habe, ſel-
ten, ſehr ſelten. Und wenns geſchieht, doch
nicht ohne Gottes Zulaſſung, Rath und Wil-
len. Das merke dir. Es muß daher denen
Leuten, die es trifft, zum Beſten dienen.
Sonſt ließe es der liebe Gott nicht geſchehen.
Es iſt der geſchwindeſte und wohlthaͤtigſte
Tod, weil ſie gar nichts vorher davon wiſ-
ſen und fuͤhlen. Die alte Marie, die du
oft beſuchſt, hat nun ſchon zehn Jahre an
der
[156] der Gicht, wie ein Kruͤppel, auf dem Bette
gelegen, und kann keine Nacht vor Schmer-
zen ſchlafen. Iſt das nicht viel ſchlimmer?
Da uns nun in der Welt ſo viele andere Din-
ge eben ſo leicht toͤdten koͤnnen; ſo muͤſſen wir
immer fromm leben und Gutes thun. Dann
duͤrfen wir uns vor keiner Art des Todes
fuͤrchten, wenn es auch Gott gefallen ſollte,
uns durch den Blitz ſterben zu laſſen.


D. O lieber Vater! wie dank ich ihnen
fuͤr dieſe Lehre und Troſt! Nun fuͤrchte ich
mich vor keinem Gewitter mehr, und will
den lieben Gott immer als meinen beſten Va-
ter liebhaben, und nichts Boͤſes thun; ſo
kann mir kein Blitz was ſchaden.


XXXII.
[157]

XXXII.
Vom Mißbrauch des Namens
Gottes.


Was meynſt du, Eberhard, ſagte der
Vater, wenn die andern Kinder bey
allen ihren Spielwerken, oder wenn ſie ſich
zanken und ſchlagen, oder bey den geringſten
Kleinigkeiten, beſtaͤndig deinen Namen nen-
nen und ausſprechen wuͤrden: wie wuͤrde
dir das gefallen?


Ich wuͤrde denken, antwortete der Kna-
be, ſie thaͤten es mir zum Torte, ſie woll-
ten mich dadurch necken und beſchimpfen.
Aber, lieber Vater! das thun die Kinder nicht.
Warum fragen ſie denn darnach?


Hoͤre weiter. Wuͤrdeſt du dich nicht wun-
dern, wenn du hoͤrteſt, daß andere bey aller
Gelegenheit deines Vaters oder deiner Mut-
ter Namen im Munde haͤtten? Ich will ein-
mal
[158] mal den Fall ſetzen: Marie in der Kuͤche haͤt-
te ſich in den Finger geſchnitten. Das thaͤ-
te ihr wehe. Nun riefe ſie in einem weg:
Ach das boͤſe verfluchte Meſſer! und nun mei-
nen Namen hinterher. Was wuͤrdeſt du
denken? Oder Marie und Hanne zankten ſich,
brauchten die haͤßlichſten Scheltworte und
Fluͤche, und hinter jedem ſolchen Worte dei-
ner Mutter Namen. Was meynſt du da-
von?


Lieber Vater, erwiederte Eberhard, ich
verſtehe Sie nicht recht. Was meynen Sie
damit?


Nun ſo hoͤre, was ich meyne, war des
Vaters Antwort. Ihr Kinder hoͤrt leider
von andern ſo oft den Namen Gottes und
Jeſus ausſprechen; und zwar ſo, daß es
abſcheulich iſt, es anzuhoͤren, bey welchen
Kleinigkeiten, Schimpf- und Scheltwoͤrtern,
Fluͤchen und nichtswuͤrdigen Reden, der Na-
me
[159] me Gottes gemißbraucht, und Herr Gott,
oder Herr Jeſus, oder Gotts tauſend, ge-
ſagt wird. Ich mag es nicht einmal nach-
ſagen, wie es die ſchlechten Leute machen.
Du wirſt es leider ſchon manchmal vom Ge-
ſinde, auch von andern Kindern gehoͤrt ha-
ben, wie ſie es machen. Du haſt dirs ſelbſt
ſchon ſo angewoͤhnt, daß du immer bey al-
len Gelegenheiten Herr Jeſus ſagſt. So
leicht koͤnnen ſich Kinder das Boͤſe angewoͤh-
nen, ohne zu wiſſen, daß es Boͤſes iſt. Du
weißt noch nicht, was das fuͤr eine große
Suͤnde iſt, den heiligen Namen Gottes ſo zu
mißbrauchen. Wenn du das andere Gebot
erſt verſteheſt, dann wirſt du es ſelbſt ein-
ſehen, und vor dir ſelbſt erſchrecken, daß du
unwiſſend ſchon dieſe große Suͤnde ſo oft ge-
than, und andern nachgemacht haſt.


Siehe! darum ſage ich dirs jetzt ſchon
zur Warnung. Was jetzt bey dir noch Ge-
wohn-
[160] wohnheit iſt, das wird nachher Suͤnde,
wenn es erſt ſo weit gekommen iſt, daß du
es der Gewohnheit wegen nicht mehr laſſen
kannſt, aber ſelbſt weißt, daß du Unrecht
daran thuſt.


Lieber Eberhard! du kenneſt Gott und
den Herrn Jeſum noch nicht. Sonſt wuͤr-
deſt du es nicht thun. Hoͤreſt du das wohl
von uns, deinen Aeltern? Wuͤrden wir das
leiden, wenn du unſere Namen ſo veruneh-
ren und mißbrauchen wollteſt? Kein Koͤnig
wird das leiden, daß die Leute und Untertha-
nen ſeinen hohen Namen ſo ſchaͤnden und laͤ-
ſtern duͤrfen. Das weißt du doch, daß der
liebe Gott der Allerhoͤchſte und Beſte iſt, von
dem die Menſchen und Kreaturen alles Gute
haben, und der uns ſeinen lieben Sohn Je-
ſum zum Erloͤſer, Lehrer und Wohlthaͤter ge-
ſandt hat, daß wir ihn lieben, und alles
Gute von ihm lernen ſollen. Heißt das nun
ihn
[161] ihn lieben, wenn du ſeinen Namen ſo verun-
ehreſt, und alle Augenblicke Herr Jeſus ſagſt?
Was meynſt du, wenn der liebe Gott das
allemal ſo ſtrafen wollte, wie es dieſe Suͤn-
de verdiente; wenn er dir davor alle Speiſe,
Kleider, Geſundheit und alles Gute, was du
von ihm haſt, wieder naͤhme; haͤtteſt du das
nicht verdient? Sage an, ob du mich nun
verſteheſt?


Ach ja, lieber Vater! nun verſtehe ich
Sie. Ach! ſprach er mit weinenden Augen,
ich habe es ja nicht gewußt, daß das ſo un-
recht iſt. Ja, ich habe den lieben Gott oft
dadurch beleidiget. Ich habe es ſo von an-
dern gehoͤrt. Ich wills gewiß nicht wieder
thun.


Wenn du mich recht liebeſt, fuhr der Va-
ter fort, ſo halte dein Wort. Du kannſt
mich durch nichts mehr betruͤben, als wenn
du Gott verunehreſt, der uns ſo viel Gutes
Lgiebt.
[162] giebt. Folge nun deſto mehr der Regel, die
ich dir ſo oft gegeben habe: Man muß von
andern ſchlecht erzogenen Leuten keine boͤſe
Gewohnheiten
lernen.


XXXIII.
Das unreinliche Kind.


Friederike war in allen Stuͤcken ein unrein-
liches Kind. Alle ihre Kleider waren
voll Flecke von Fett und Bier. Die Haare
hiengen ihr um den Kopf herum, und die
Strumpfbaͤnder an den Beinen herunter.
Das Haͤßlichſte war, daß ſie ſich ſelten wuſch,
und auch nicht einmal des Morgens, wenn
ſie aufgeſtanden war.


Was waren die Folgen ihrer Unreinlich-
keit? Andere Kinder wollten ſie nicht mehr
unter ſich leiden. Sie beſchmierte andere
mit
[163] mit ihren haͤßlichen Kleidern. Sie roch aus
dem Munde, weil ſie ſich ſolchen nie des
Morgens ausſpuͤhlte. Sie hatte ſchwarze
faule Zaͤhne, und war andern ein rechter
Abſcheu.


Wie liebenswuͤrdig wird ein Kind durch
Ordnung und Reinlichkeit! Dorchen hielt al-
le ihre Spielſachen ordentlich und reinlich,
und ihre Kleider ebenfalls. Daher kams,
daß es ein Kleid noch ſechsmal ſo lange hat-
te, als Friderike, die in einem Jahre wohl
dreye, viere haben mußte. Welches Kind
war nun ſeinen Aeltern koſtbarer? und wo-
durch? Durch nichts als durch Reinlichkeit,
da durch Unreinlichkeit die beſten und dauer-
hafteſten Sachen in kurzer Zeit ruinirt
werden.


Wenn Friederike alle Augenblicke uͤber
Zahnſchmerzen und andere boͤſe Zufaͤlle im
Munde klagte, ſo war Dorchen geſund, weil
L 2ſie
[164] ſie ſich fleißig den Mund ausſpuͤhlte, und
den Schleim von den Zaͤhnen abrieb, der ſie
anſteckt, wenn er faul wird. Wenn Friede-
rike allen ekelhaft wurde, durch den haͤßli-
chen Geruch, der ihr aus dem Munde kam;
ſo wurde Dorchen gern von allen gekuͤßt.
Denn ſein Odem war geſund und rein, ſei-
ne Zaͤhne wie Elfenbein, und ſein Geſicht wie
eine Roſe, die ein ſchoͤner Regen abgeſpuͤhlt
hat. Macht alſo nicht Unreinlichkeit unge-
ſund, und gewiſſen Thieren gleich, die ich
nicht nennen will?


XXXIV.
[165]

XXXIV.
Nadel im Munde.


Wenn die Kindermaͤdchen die Kinder aus-
und anziehen, ſo pflegen ſie gemeinig-
lich die Nadeln in den Mund zu nehmen,
und davon lernen die Kinder leicht dieſe hoͤchſt-
gefaͤhrliche Gewohnheit.


Haſt du die Nadel ſchon wieder im Mun-
de? ſagte der Vater zu Minchen. Du wirſt
wohl noch erfahren, was du dir fuͤr ein Un-
gluͤck zuzieheſt, wenn du einmal die Nadel
hinunterſchluckſt. So kam es auch. Min-
chen vergaß, daß ſie die Nadel im Munde
hatte, fieng an zu ſchlucken oder zu ſprechen.
Huſch! war ſie in der Kehle, wo ſie in der
Queer ſtecken blieb. Da haͤtte man das Un-
gluͤck und jaͤmmerliche Geſchrey hoͤren ſollen.


Der Vater ließ gleich einen Wundarzt
holen. Ehe dieſer kam, floß das Blut ſchon
L 3aus
[166] aus dem Halſe, und Minchen wollte immer
erſticken. Als er kam, konnte er die Nadel
nicht mehr faſſen. Er mußte alſo einen krum-
men Haken von Drath machen. Damit
fuhr er in die Gurgel hinunter, faßte die Na-
del, und riß ſie mit Gewalt heraus, daß das
Blut hinterher floß. Das Kind kriegte ei-
nen boͤſen Hals, und mußte wohl vierzehn
Tage geſpruͤtzt werden, ehe es wieder heil
wurde.


Siehſt du nun, ſagte der Vater, was
du angerichtet haſt? So gehts, wenn man
ſich gar nicht will ſagen und warnen laſſen.
Danke Gott, daß die Nadel nicht in den Ma-
gen gekommen, oder in die Gedaͤrme gegan-
gen iſt, und ſich da wo durchgeſtochen hat.
Dann haͤtteſt du ganz gewiß, und unter vie-
len Schmerzen ſterben muͤſſen. Es iſt mit
dem menſchlichen Magen nicht ſo wie mit
dem Magen der Thiere. Dieſe koͤnnen mehr
ertra-
[167] ertragen. In dem Magen der Gaͤnſe und
Enten findet man oft eiſerne Naͤgel, große
Nadeln, und dergleichen, die ſich manchmal
queer durchgeſtoßen haben, und verwachſen
ſind, ohne daß es ihnen im geringſten ge-
ſehadet haͤtte. Hab’ ich doch einmal in dem
Magen eines Klapperſtorchs Steine, große
Glaßſcherben, und eine Meſſerklinge gefunden.


Auf ein andermal nimm dich alſo huͤbſch
in Acht.


XXXV.
Das Pinken mit den Augen.


Kinder ſind oft wie die Affen, die alles
nachmachen, was ſie ſehen. In der
Schule war ein kleines Maͤdchen, welches
ſich das Augenpinken ſo angewoͤhnt hatte,
L 4daß
[168] daß es ſolches nicht mehr laſſen konnte, und
es recht haͤßlich anzuſehen war.


Chriſtian mochte meynen, das ließe recht
ſchoͤn, und pinkte beſtaͤndig mit den Augen,
wenn er einen anſahe, oder wenn ihm etwas
erzaͤhlt wurde. Erſt that ers nur, wenn er
daran dachte; zuletzt beſtaͤndig. Es wur-
de ihm oft verboten, und geſagt: er waͤre
den Affen und Eulen gleich. Die machten
es auch ſo. Es half aber nichts, und er
machte es immer aͤrger.


Endlich ſchwaͤchte er die Augenlieder da-
durch ſo ſehr, daß er ſie zuletzt faſt gar nicht
mehr regieren und in die Hoͤhe ziehen konnte.
Da ſahe er es ein, wie ſchaͤdlich ihm das
war, und gewoͤhnte ſich die Unart bald ab.


So muͤſſen die Kinder oft mit Schaden
klug werden, wenn ſie nicht folgen wollen.


XXXVI.
[169]

XXXVI.
Geſpenſter.


Nehmen Sie es nicht uͤbel, lieber Vater!
daß ich noch einmal frage, ſagte Dor-
chen: ſollte es denn keine Geſpenſter geben,
wie die Leute ſagen, die des Nachts auf den
Kirchhoͤfen, in den Kellern, in wuͤſten Schloͤſ-
ſern, herumgehen, und andere zu fuͤrchten
machen? Ich hoͤre doch ſo viel von der weiſ-
ſen Nonne, von dem Moͤnche, von dem grau-
baͤrtigen Maͤnnchen, von dem Hunde mit
feurigen Fuͤßen und Augen, von Todtenkoͤ-
pfen, von dem wilden Jaͤger, von dem wuͤ-
thenden Heer und dergleichen, daß ich gar zu
gerne wiſſen moͤchte, wie es damit beſchaffen
waͤre. Ich glaube das Zeug alles nicht;
aber woher mag denn ſolch Geſchwaͤtze kom-
men? Das moͤchte ich nur wiſſen. Wer
L 5kann
[170] kann mir das auch beſſer ſagen, als Sie, lie-
ber Vater?


V. Ja, mein Kind, das Vergnuͤgen
will ich dir gerne machen. Erſtlich ſag’
ich dir uͤberhaupt, daß verſtaͤndigen Leuten,
die ſich faſſen koͤnnen, und nicht gleich vor
Furcht oder Schrecken außer ſich ſind, und
ſich nicht mehr beſinnen koͤnnen, ganz und
gar nichts ſpukt. Ferner, daß dreiſte Leu-
te, die drauf losgehen und zugreifen, wenn
es heißt: da ſteht ein Spukeding, gemeinig-
lich die Sache entdecken, was es geweſen
iſt. Mir hat in meinem Leben nichts ge-
ſpukt, da ich doch ſo viel auf Reiſen gewe-
ſen, ſo manche liebe ſtockfinſtre Nacht gereiſt,
und an ſo manchem fremden Orte geweſen
bin. Daraus kannſt du ſchon ſehen, liebes
Kind, daß es einfaͤltige, leichtglaͤubige Leu-
te ſind, die ſich ſo was weißmachen laſſen,
oder daß ſie zu furchtſam ſind, die Sache zu
unter-
[171] unterſuchen, und daher feſt auf ihrem Ko-
pfe bleiben, daß es geſpukt habe.


D. Ja! lieber Vater, ſie haben Recht:
die Furcht macht den Leuten erſchreckliches
Zeug vor; zumal des Abends, wenn es
finſter iſt, und man nicht recht mehr ſehen
kann. So gieng mirs neulich ſelbſt. Ich
kam auf den Hof, und hinten an der Scheu-
ne ſtand was Weißes. Mir liefs kalt uͤber
die Haut. Doch gieng ich gerade drauf zu.
Was war es? Ein weißes Tuch, das trocken
werden ſollte.


V. Daß dirs kalt uͤber die Haut lief,
war nichts als die Furcht und die Vorſtel-
lung, daß es etwas unnatuͤrliches und ein
Spuk ſey. Wenn das koͤnnte verhuͤtet wer-
den, daß ein Kind nie das Wort Spuk oder
Geſpenſt hoͤrte, ſo wuͤrde es ſich auch nie-
mals fuͤrchten, ſondern im Finſtern ohne
Schaudern gerade auf alles zugehen.


Was
[172]

Was die Furcht bey den Leuten thut, da-
von will ich dir laͤcherliche und traurige Exem-
pel erzaͤhlen. Die Furcht vergroͤßert alles,
und ſtellt den Leuten juſt die Dinge vor, die
ſie in ihrer Einbildung haben, als ob ſie auſ-
ſer ihnen wirklich da ſtuͤnden. Wenn viele
furchtſame Leute beyſammen ſind, und einer
glaubt einen Spuk zu ſehen; ſo ſehen ſie ihn
alle ſo, wie ihn der eine beſchreibt.


Ich reiſte einmal des Nachts auf der
Poſt, wo allerhand Leute bey mir ſaßen, die
die ganze Nacht durch von Drachen, Geſpen-
ſtern und ſolchen Erſcheinungen ſprachen.
Ich und noch ein vernuͤnftiger Mann be-
muͤhten uns, ihnen das aus dem Kopfe zu
bringen. Sie blieben aber dabey, und ſag-
ten: ſie haͤtten es mit ihren Augen geſehen.
Als wir an die naͤchſte Station kamen, bere-
dete ich mich mit dem Mann, wir wollten
vorgeben, wir ſaͤhen was, ſo wuͤrden die an-
dern
[173] dern es bald auch ſehen. Als wir wieder
auf dem Poſtwagen ſaßen, und durch einen
dicken Wald fuhren, ſagte mein Kamerad
erſchrocken: Ach! was iſt das? Was ſteht
denn da? Wo denn? riefen die andern: Da,
da, linker Hand, ein ſchwarzer Kerl mit ent-
ſetzlichen Armen und Beinen. Ja! ja! ſag-
te ich: da ſteht er, und ſetzte hinzu: ach,
wie ihm die Augen funkeln! Nun ſahen ihn
die andern auch. Der eine ſagte ſogar: er
koͤmmt naͤher. Poſtillion, fahre zu. Und
nun beſchrieben ſie den Kerl noch abſcheuli-
cher. Wir ſagten, daß wir nun doch faſt
Geſpenſter glauben ſollten. Nicht lange dar-
auf that ich, als wenn ich zuſammenfuhr,
wies gen Himmel, und ſagte: ſehen ſie doch
da den feurigen Baͤr, der da durchzieht.
Welch ein Schwanz! ſagte mein Kamerad.
Alle ſahen ihn nun auch, und ſchwuren drauf,
daß es ſo waͤre.


Hier-
[174]

Hierauf giengen die Erzaͤhlungen erſt
recht an. Da hatte der eine bey dem Gal-
gen und Rade den Todten herumgehen geſe-
hen, mit dem Kopfe unter dem Arme. Der
andere hatte Raben mit feurigen Schnaͤbeln
auf dem Galgen ſitzen geſehen. Und was des
albernen Zeugs mehr war.


Als wir nun an Ort und Stelle kamen,
ſagten wir es den guten Leuten, wie wir es
gemacht haͤtten, damit ſie nun aus eigener
Erfahrung ſehen moͤchten, was Furcht und
Einbildung thun koͤnnten. Sie mußten
es eingeſtehen, und dankten uns ſehr, daß
wir ſie ſo uͤberzeugt haͤtten. *)


XXXVII.
[175]

XXXVII.
Fortſetzung des 36ſten Stuͤcks.


V. Merke dir das ja, mein Kind! auf
deine ganze Lebenszeit, was die Furcht
thun kann. Alle Spukhiſtorien kommen ent-
weder von Dieberey, oder von Betrug, oder
von ganz natuͤrlichen Dingen her, welche
die Furcht vergroͤßert.


Es war ein reicher Kaufmann in einer
großen Stadt, der einen ſehr großen Vor-
rath koſtbarer Gewuͤrzwaaren, als Koffee,
Zucker u. ſ. w. hatte. In deſſen Hauſe
fieng es Abends nach eilf Uhr gewaltig an
zu ſpuken. Ob gleich alle Thuͤren verſchloſ-
ſen waren, ſo gieng es doch durch alle Stu-
ben, Saͤle, Boͤden und Kammern, und
ſchlug die Thuͤren ſo entſetzlich, daß die Fen-
ſterſcheiben klangen. Im Anfange war man
noch ſo dreiſt, einmal nachzuſehen. Da
man
[176] man aber eine entſetzlich hohe Geſtalt mit ei-
nem weißen Laken und ſchwarzen Baͤndern
ſahe; ſo zweifelte niemand mehr, daß es nicht
die vor kurzem verſtorbene Frau des Kauf-
manns waͤre. Denn nicht lange nach ihrem
Tode hatte es erſt angefangen, ſo im Hauſe
zu laͤrmen.


Der Kaufmann war etwas aberglaͤubiſch
und furchtſam. Daher verbot er alle ferne-
re Unterſuchung; und wenn es des Abends
eilfe geſchlagen hatte, ſo mußten alle ſeine
Leute erſt vor ihn kommen, und dann zu Bet-
te gehen. Er aber verſchloß und verriegelte
ſich, und ſang viele Lieder wider die Geſpen-
ſter und Nachtgeiſter.


D. O! weiter, lieber Herzensvater.
Wie wird das Ding kommen?


V. Es kam ſo, daß verſchiedene Laden,
diener und Maͤgde wegzogen, weil ſie den
Spuk nicht mehr ausſtehen konnten, der ſo
drei-
[177] dreiſte wurde, daß er dem Herrn und den Leu-
ten an die Kammer kam, und aufklinken woll-
te. Da es bekannt wurde, ſo rieth man
dem Kaufmann, er ſollte doch ja recht nach-
ſehen, ob auch alle ſeine Leute im Hauſe, und
jeder an ſeinem rechten Orte waͤre. Ja!
ſagte er, das ſind ſie. Denn ſie muͤſſen des
Abends, ehe der Spuk angeht, alle vor mich
kommen. Aber, hieß es, ſind ſie auch alle
des Nachts in ihren Kammern? Da trauete
ſich der Herr ſelbſt nicht herumzugehen.
Gleichwohl verſicherte es einer von dem an-
dern. Mit dem Glockenſchlag zwoͤlf hoͤrte
der Spuk auf, und es wurde alles ruhig.


D. Wurde es denn nicht entdeckt, lie-
ber Vater?


V. Es war Dieberey und Betrug, wie
du gleich hoͤren ſollſt. Der Herr bekam ei-
nen neuen Ladendiener, der viel gereiſt war,
und ſehr vernuͤnftig dachte, auch von Furcht
Mvor
[178] vor Geſpenſtern gar nichts wußte. Als ihn
der Herr annahm, ſagte er ihm dabey: Punkt
eilfe muͤſſe er zu Bette gehen, weil es in ſei-
nem Hauſe gewaltig ſpuke. Er hoͤrte das
ſtille an, legte ſich zu Bette, und hoͤrte in
der erſten Nacht den Spuk auch ruhig an.
Des andern Tages beſahe er die Gelegenheit
des Hauſes, und nahm eine Laterne, eine
gute Peitſche, und einen tuͤchtigen Strick mit
in die Kammer. So bald es eilfe ſchlug,
gieng das Thuͤrenſchlagen und Kollern wie-
der an, daß allen die Haare zu Berge ſtun-
den. Er aber nahm ganz getroſt ſeine Later-
ne, Strick und Peitſche, und gieng dem Spu-
kedinge nach. Er traf es juſt mitten auf
dem großen Saale an. Da es ihn ſahe, kam
es gerade auf ihn zu, als eine entſetzliche Ma-
ſchine. Er betrachtete es ohne Furcht, und
ſahe, daß es keine Fuͤße hatte, ſondern auf
Stelzen ſtand. Harre, dacht’ er, dich will
ich
[179] ich kriegen. Da er ſtehen blieb, blieb das
Ding auch ſtehen. Denn es merkte, daß der
Menſch dreiſt war. Mit einemmale aber,
ehe ſich es verſahe, lief der Diener auf daſſelbe
los, und rennte es um und um, daß es wie
ein Mehlſack mitten in den Saal fiel. Und
nun war er mit der Peitſche druͤber her. Bey
jedem Schlage fuͤhlte er was menſchliches.
Endlich fieng das Ding an jaͤmmerlich zu
ſchreyen. Wer biſt du? Keine Antwort.
Bav, Bav, mit der Peitſche druͤber her.
Ach! Barmherzigkeit, rief eine klaͤgliche Wei-
berſtimme. Als er ihm das Tuch abriß,
ſahe er, daß es das Kindermaͤdchen war.
Er faßte es oben bey den Haaren, und ſchlepp-
te es ſo vor ſeines Herrn Kammer. Als die-
ſer den entſetzlichen Laͤrm hoͤrte, rief er: um
Gottes willen, was willſt du, Geſpenſt! ich
habe dir ja nichts gethan. Aufgemacht!
rief der Diener. Kennen ſie meine Stimme?
M 2Hier
[180] Hier bringe ich das ganze Geſpenſt. Der
Herr machte auf, und konnte erſt ſeinen Au-
gen nicht trauen, da er das Kindermaͤdchen
zu ſeinen Fuͤßen winſeln ſahe.


Nun rief der Diener alles Geſinde zuſam-
men, daß ſie das Geſpenſt ſehen mußten.


D. Aber, warum hatte denn das Menſch
das gethan?


V. Merkſt du das noch nicht? Es be-
kannte nun alles. Es habe ſich einen Haupt-
ſchluͤſſel machen laſſen, der alle Thuͤren ſchloß.
Es habe es gleich nach der Frau Tode ange-
fangen, um die Leute erſt in Furcht zu ſetzen.
Den Laͤrm habe es darum durch alle Zimmer
gemacht, damit ſie ſich deſto mehr fuͤrchten
moͤchten. Auf den Stelzen ſey es gegangen,
um dadurch den Leuten deſto mehr einzubil-
den, es ſey ein Geſpenſt. Wenn es nun
recht ſicher geweſen waͤre, ſo waͤre es hinten
ins
[181] ins Waarenlager gegangen, und haͤtte ſich
Zucker, Koffee und dergleichen geholt.


D. Das war ſchon recht, daß ſie dich
gekriegt haben.


V. Aber ſieheſt du nun, mein Kind, wie
ſchaͤdlich die gar zu große Furcht ſey? Waͤ-
re der Diener nicht ſo beherzt geweſen, wie
viel haͤtte das Menſch den Herrn noch beſteh-
len koͤnnen! Und wie lange mag es ihn ſchon
auf dieſe Weiſe beſtohlen haben! Das war
eine Spukhiſtorie, die von Betrug und Die-
berey herruͤhrte. Und deren ſind die aller-
meiſten.


XXXVIII.
[182]

XXXVIII.
Fortſetzung des 37ſten Stuͤcks.


D. Sie wollten mir ja noch ein Paar Hi-
ſtoͤrchen erzaͤhlen.


V. O ja! liebes Kind, weil ich glaube,
daß ich dir dadurch die Geſpenſterfurcht am
beſten benehmen kann.


Erſt ein Paar luſtige. Dann ein Paar
traurige, die keinen guten Ausgang hatten.


Es war einmal ein loſer Knecht, der die
Maͤgde wollte zu fuͤrchten machen, weil die
eine ſagte: ſie fuͤrchte ſich vor nichts. Er
geht des Abends in ſeinen Stall, nimmt die
Stallkatze, und klebt ihr mit Pech unter alle
vier Fuͤße vier halbe Nußſchaalen. Darauf
ſetzt er ſie ins Haus. Doch daß ichs nicht
vergeſſe. An den Schwanz hatte er ihr noch
eine Blaſe mit Crbſen gebunden. Die Katze
konnte ihre Krallen nicht ausſtrecken, und
alſo
[183] alſo nicht klettern, ſondern fiel allerwegen zu-
ruͤck, wo ſie hinſpringen wollte. Was das
fuͤr einen Laͤrm im Hauſe gab, da ſie mit den
Nußſchaalen, Trepp auf, Trepp unter, klap-
perte, kannſt du dir vorſtellen. Nicht an-
ders, als wenn zehn Regimenter die Trep-
pen herunter geraſſelt waͤren. Denn wenn
es in der Nacht ſtille iſt, kann man alles Ge-
raͤuſch doppelt hoͤren. Die Maͤgde ſchwitzten
vor Angſt in ihrer Kammer, und keine ge-
trauete ſich herauszugehen. Des andern
Morgens wurde der Betrug entdeckt, und
der Knecht bekam einen derben Verweis, da
die Herrſchaft von einer Reiſe zuruͤckkam.
Denn es iſt nicht recht, einfaͤltige Leute zu
fuͤrchten zu machen, und ihre Einfalt zu miß-
brauchen.


Eine andere luſtige von mir ſelbſt. Ich
war einmal Bey einem Prediger auf dem Lan-
M 4de.
[184] de. *) Der Mann klagte mir des Abends,
daß ſeine Leute noch immer glaubten, einer
ſeiner alten Vorfahren gienge, als ein klei-
nes graues Maͤnnchen mit langem Barte und
ſpitzem Huthe, ſpuken, und er habe davon in
ſeiner Haushaltung vielen Schaden. Juſt
um die Zeit hoͤrte man auch von vielen Raͤu-
bern, Spitzbuben, Mordthaten, Einbruͤ-
chen und gewaltſamen Diebſtaͤhlen auf dem
Lande. Es war einige 30 Jahre vor deiner
Geburt.


Wir ſprachen den ganzen Abend von ſol-
chen Dingen, und giengen ſpaͤt zu Bette.
Ich wußte des Hauſes Gelegenheit recht gut,
und ſchlief auf dem Saale in einer Stube,
welcher gegenuͤber eine groͤßere war, auf
welcher Malz zum Brauen getrocknet wurde.
Es war heller Mondſchein. Ich lag im Bet-
te, und hatte noch meine Gedanken. Das
Bet-
[185] Bette ſtand ſeitwaͤrts von der Stubenthuͤr,
die ich nicht abgeſchloſſen hatte. Doch la-
gen ein Paar geladene Piſtolen auf dem Ti-
ſche unter dem Spiegel.


Mit einemmale hoͤrte ich, daß was ganz
langſam mit ſtarken Tritten die Treppe her-
auf kam. Dieſe war gleich vor der Stuben-
thuͤr. Da ich merkte, daß es vor der Thuͤr
ſchnob, als einer, der den Druͤcker ſuchte,
ſo richtete ich mich auf, und ſahe gerade
nach der Thuͤr, weil der Mond uͤberaus helle
in die Stube ſchien. Indem ſchlugs auf
den Druͤcker. Die Thuͤr ſprang auf, und
ein kleines graues Maͤnnchen mit langem
Barte trat zwiſchen die Thuͤr. Vor dem er-
ſten Schrecken bey ſolchen Dingen kann ſich
kein Menſch huͤten; aber man muß ſich da-
durch nur nicht ganz außer ſich ſelbſt bringen
laſſen, daß man nicht mehr weiß, wo man
iſt, oder was man thut. Ich erſchrack ſehr,
M 5weil
[186] weil mir gleich das kleine graue Maͤnnchen
des Vorfahren einfiel. Als ich mich faßte,
rief ich: wer da? was willſt du? Da gieng
das Ding zuruͤck. Die Thuͤr fiel wieder zu,
und nun hoͤrt ich es nach der andern Stube
zu ſchlarfen. Es druͤckte den Druͤcker eben
ſo hart nieder, aber die Stube war verſchloſ-
ſen. Ich dachte der Sache ein Bißchen nach,
konnte aber nicht herauskommen. Jetzt
hoͤrte ichs wieder an meiner Stubenthuͤr.
Da vergiengen mir mit einemmale die Spuk-
gedanken, und ich glaubte nun ganz gewiß,
daß es Diebe und Spitzbuben waͤren, die
nur erſt haͤtten zuſehen wollen, ob ich feſt
ſchliefe.


Ich alſo aus dem Bette heraus, nach
der einen Piſtole. Bauz zum Fenſter her-
aus. Mit der andern aber nach der Thuͤr.
Als ich die aufmachte, rathe, Dorchen, was
davor ſtand, und was ich ſahe?


D. Va-
[187]

D. Vater! das kann ich nicht; aber ich
wundere mich uͤber ihre Dreiſtigkeit. Was
war es denn?


V. So mußt du auch werden, wenn du
dich nicht vor allem Quark fuͤrchten willſt.
Es war, horche wohl zu: es war der alte
Stallziegenbock. Der hatte ſich den Abend
zuvor ins Haus geſchlichen, war nach dem
Malze auf der andern Stube gegangen, und
war erſt an meine Thuͤr unrecht gekommen.
Natuͤrlich ſahe er im Mondſchein mit ſeinem
Barte wie das mir beſchriebene graue Maͤnn-
chen aus.


Die Komoͤdie iſt noch nicht aus. Ich
war ſo boͤſe, daß ich ihn auf den Fuß nahm,
und uͤber Hals und Kopf die Treppe herun-
ter ſchmiß. Der Prediger und ſeine Frau
ſchliefen unten bey der Wohnſtube. Als ſie
den Schuß hoͤren, ſpringen ſie auf, und
nach der Thuͤr, weil ſie glauben, es ſind Die-
be
[188] be da. Und ſo wie ſie die Thuͤr aufmachten,
flog ihnen der Ziegenbock meckernd entgegen.
Da hatten die Leute einen neuen Schreck.
Das halbe Dorf kam in Allarm, und wir
hatten genug zu thun, die Leute zu beruhi-
gen. Endlich gieng alles lachend aus ein-
ander, uͤber die laͤcherliche Ziegenbocksſpuk-
hiſtorie
.


XXXIX.
Fortſetzung des 38ſten Stuͤcks.


D. Lieber Vater, die Hiſtoͤrchen ſind doch
noch nicht alle. Das weiß ich. Er-
zaͤhlen Sie doch.


V. Noch eine luſtige will ich zum Beſten
geben, wobey du ſehen ſollſt, daß man es
oft ſo wunderlich nicht denken kann, als es
ſich
[189] ſich zutraͤgt, und daß es doch ganz natuͤrlich
zugehet.


Vor einigen Jahren werden bey einer
anſehnlichen Stadt zween Pferdediebe gehan-
gen. *) Kurz nachher koͤmmt des Abends
der Laͤrm in die Stadt, die armen Suͤnder
ſchluͤgen ſich in dem Galgen, und raſſelten
gewaltig mit ihren Ketten. Anfaͤnglich ach-
tet man nicht darauf. Es kommen aber
Perſonen, die es beſchwoͤren wollen, ſelbſt
geſehen und gehoͤrt zu haben. Man paßt
noch nicht darauf. Die Poſt, die bey dem
Galgen dichte vorbey muß, und des Abends
gegen zehn Uhr kommen ſoll, koͤmmt erſt um
Mitternacht, und da der Poſtmeiſter ſchmaͤhlt,
ſo ſagt der Poſtillion: Er koͤnne nicht davor.
Er wolle auch nicht mehr dadurch fahren.
Da in dem Galgen ſey der boͤſe Geiſt los.
Die armen Suͤnder ſchluͤgen ſich, daß die
Ket-
[190] Ketten praſſelten. Seine Pferde waͤren fluͤch-
tig geworden, und mit ihm Feld ein gegan-
gen. Er danke Gott, daß er nicht den Hals
gebrochen habe. Wer weiß, ſagte der Poſt-
meiſter, was du im Kopfe gehabt haſt? Da
haſt du das Geſchwaͤtze auch gehoͤrt, und, um
dir ein Herz zu machen, der Brannteweins-
pulle brav zugeſprochen, und dann auf die
Pferde losgeſchlagen, was das Zeug halten
wollen. Da mußten ſie wohl Feld ein gehen.
O uͤber die feige Memme! Der Poſtillion be-
ſtand darauf, er ſey voͤllig nuͤchtern gewe-
ſen. Er habe ſtille gehalten, und eigentlich
zugeſehen, wie die Koͤrper gegen einander ge-
flogen waͤren. Da haͤtten ſeine Pferde ge-
ſchnoben, gepruͤſtet, hinten und vorn aus-
geſchlagen, und waͤren mit ihm von der Seite
durchgegangen.


Der Poſtmeiſter ſchuͤttelte den Kopf, und
ſagte: warte, ich will das naͤchſtemal den
Wagen-
[191] Wagenmeiſter mitſchicken. Da wirds ganz
anders kommen. Ja! alleene, ſagte der
Poſtillion, eck ok nich wedder.


Am Tage liefen viele Menſchen hinaus,
und ſagten: die armen Suͤnder ſaͤhen viel
zerlumpter aus, als vorher, und die Haare
hiengen ihnen auch weit graͤßlicher um den
Kopf herum, als ſonſt.


D. Nun, Vater, auf das Ende bin ich
begierig.


V. Als das naͤchſtemal die Poſt, die den
Wagenmeiſter des Morgens mitgenommen
hatte, des Abends wieder kommen ſollte,
giengs eben ſo, und ſie kam erſt des andern
Morgens. So hatte ſie ſich verfahren. Der
Poſtmeiſter ſprach von Pruͤgeln und Abſetzen.
Beyde aber bezeugten mit vielen Fluͤchen und
Schwuͤren, wie ſchlechte Leute zu thun pfle-
gen, daß es eben ſo gegangen waͤre, und
die Koͤrper gar greulich zuſanunengeflogen;
die
[192] die Pferde aber wieder fluͤchtig geworden
waͤren.


In der Stadt wurde der Spektakel im-
mer groͤßer. Dieß bewog den Poſtmeiſter,
bey der Garniſon zu bitten, ein Commando
Soldaten den naͤchſten Abend herauszuſchi-
cken, und die Sache genauer unterſuchen zu
laſſen. Ein Unterofficier mit ſechs Mann
wird herausgeſchickt. Als ſie in der Daͤm-
merung dem Galgen naͤher kommen, ſehen
ſie ſchon die Koͤrper gegen einander fliegen,
und hoͤren auch ein Aechzen: hau! hau! Die
Haare ſteigen ihnen zu Berge; ſie laufen al-
le davon, und berichten, was ſie geſehen ha-
ben. Des andern Abends wird ein Lieute-
nant mit zwanzig Mann und zween Unterof-
ficiers herausgeſchickt. Als ſie ankommen,
geht das Spiel ſchon vor ſich. Das Com-
mando macht Halt, und der Officier, ein
vernuͤnftiger und beherzter Mann, ſagt: hier
bleibt
[193] bleibt ſtehen, und ich will mit den Unteroffi-
cieren und ſechs Mann naͤher gehen. Er
that es, und ſahe ſehr genau, wie beyde
Koͤrper gegen einander geworfen wurden. Er
ſahe aber endlich, wie zwiſchen den Koͤrpern
ein dicker Pruͤgel wankte, und hoͤrte nun auch
das Baffen des Pruͤgels. Dieß bewog ihn,
zu rufen: Wer da: Indem hielt der Pruͤgel
ein, und es kam hinter dem einen Pfeiler ei-
ne Perſon hervor. Den Augenblick waren
die Unterofficiere mit den ſechs Mann fort.
Der Officier mochte rufen und ſchreyen wie
er wollte. Was ſollte er machen? Er muß-
te folgen, weil er verlaſſen war. Als er
ſich umſahe, lief wirklich jemand mit einer
großen Stange hinter ihm her. Daher
fieng er auch an zu laufen. So bald das
vorderſte Commando das ſahe, giengs in
vollem Gallop nach der Stadt zu; die Per-
ſon aber mit dem Pruͤgel hinter her, bis
Nins
[194] ins Thor. Da ſahe man denn, daß es
ein wirklicher Menſch war. Er wurde er-
griffen und in die Wache gebracht. Bey
weiterem Nachfragen erfuhr man, daß es
ein verruͤckter, verarmter Edelmann in der
Naͤhe war, der ſich einbildete, die armen
Suͤnder haͤtten ihn arm geſtohlen, und alle
Abende, wenns finſter wurde, hingieng, und
die Koͤrper im Galgen aus Rache pruͤgelte.


Haͤtteſt du dir wohl vorgeſtellt, daß
die Sache einen ſolchen Ausgang nehmen
wuͤrde?


XL.
[195]

XL.
Fortſetzung des 39ſten Stuͤcks.


D. Faſt fuͤrchte ich mich gar nicht mehr,
lieber Vater! je mehr ſie mir ſolche
Hiſtorien erzaͤhlen, wo alles ſo ganz natuͤr-
lich zugegangen iſt, ſo wunderbar und fuͤrch-
terlich es auch im Anfange ſchien.


V. Ja freylich, mein Kind! Lerne dar-
aus, wie viel auf eine gelaſſene und vernuͤnf-
tige Unterſuchung ſolcher Dinge ankomme,
und wie gut es ſey, daß man fruͤhzeitig die
Wirkungen natuͤrlicher Dinge kennen lerne,
welche einfaͤltige und unwiſſende Leute ſo oft
fuͤr einen Spuk anſehen.


Es war einmal ein Kloſter, in welchem
des Abends im Kreuzgange ein Hund mit feu-
rigen Augen und Fuͤßen ſpuken gehen ſollte.
Ein vernuͤnftiger Arzt paßte auf, und hatte
den hinterſten Ausgang verſchließen, den vor-
N 2der-
[196] derſten Eingang aber offen gelaſſen. Als es
Abend wurde, ſtellte er ſich an den vorder-
ſten Eingang. Da kam der Hund, und
wollte ſeinen gewoͤhnlichen Weg hinten her-
aus nehmen. Er hatte wirklich feurige Au-
gen und Fuͤße. Der Arzt machte hinter ihm
zu, und nun wurde der Hund gefangen.
Daß ſeine Augen im Finſtern leuchten, iſt
bekannt. Das thun die Katzenaugen auch.
Und wenn man eine ſchwarze Katze im Fin-
ſtern ruͤckwaͤrts ſtreicht; ſo giebt ſie Funken
und Flammen von ſich, weil dadurch eine
gewiſſe feine Materie in ihren Haaren in Be-
wegung kommt, die man elektriſche Mate-
rie
nennt, davon du ſchon manches geſe-
hen haſt.


D. Ach ja, Vater, da neulich der Mann
aus Goͤttingen hier war, und mit der Luft,
die er in die [elektriſche] Piſtole brachte, mit
einem
[197] einem Funken einen Kork herausſchoß, daß
es knallte wie Pulver. Aber was hatte denn
der Hund an den Fuͤßen, daß ſie feurig aus-
ſahen?


V. Das war recht ſehr kurioͤs. Er
hatte eine weiße klebrichte Feuchtigkeit dar-
an, welche im Finſtern leuchtete. Als dieſe
abgewiſcht wurde, ſo war auch das Leuch-
ten weg. Nun kam es darauf an, zu un-
terſuchen: was war das fuͤr eine Materie,
und woher hatte ſie der Hund an die Fuͤße
bekommen? Man ſperrte den Hund bis den
andern Abend ein; nun ließ man ihn laufen,
und folgte ihm nach. Da kam man an ei-
nen Graben, wo ein ganzer Haufen todter
Fiſche
hingeworfen war. Darinn wuͤhlte
der Hund herum. Was ihm nun an den
Fuͤßen und Maule ſitzen blieb, das leuchtete.
Als man mit einem Stocke in dem Haufen
herumruͤhrte, leuchtete der ganze Haufen,
N 3und
[198] und der Stock auch. Denn die todten fau-
len Fiſche leuchten eben ſo ſtark im Finſtern,
als das faule Holz. Da wußte man mit
einemmale die ganze Sache, den ganzen
Spuk.


D. O! das iſt allerliebſt. Das ge-
faͤllt mir.


V. Noch ein ſolches Hiſtoͤrchen will ich
dir erzaͤhlen, wie man mit bloß natuͤrlichen
Dingen andere in Furcht ſetzen und betruͤgen
kann.


Es war einmal ein Spitzbube, der in
einer großen Stadt in einem vornehmen
Wirthshauſe logirte, und merkte, daß die
Tochter des Hauſes viele Juwelen und koſt-
bare Sachen in ihrem Zimmer hatte. Er
hatte zu allen Schloͤſſern Nachſchluͤſſel. Des
Nachts kleidet er ſich aus, und nimmt Phos-
phorus mit ſich. Den kennſt du auch ſchon.
Er hemalt ſich die Finger, ſo leuchten ſie.
Die
[199] Die Schuhſchnallen, den Degen in der Hand,
und ſo gehet er in die Kammer, wo das Maͤd-
chen ſchlaͤft. Da ſtand er nun ganz feurig
vor ihr. Dieſes kriecht unter das Bette,
und vergehet bald vor Todesangſt. Mitt-
lerweile gehet er im Zimmer herum, und ma-
let Todtenkoͤpfe und andere fuͤrchterliche Fi-
guren an die Waͤnde, die alle leuchten. Da
er nun meynt recht ſicher zu ſeyn, ſo packt
er alle Koſtbarkeiten ein, und macht ſich fort.
Des andern Morgens merkte man den Be-
trug, und als es Abend wurde, leuchteten
die Stellen an der Wand noch. So leicht
kann man beſtohlen werden, wenn man al-
les fuͤr Spuk haͤlt.


XLI.
[200]

XLI.
Fortſetzung des 40ſten Stuͤcks.


D. Aber, lieber Vater! bitte, bitte, eins
wollen ſie mir noch erklaͤren. Was
meynen denn die Leute mit dem wilden Jaͤ-
ger
, der ſich des Nachts in großen Waͤldern,
in der Luft mit Hunden, Jagdhoͤrnern, und
fuͤrchterlichen Stimmen ſoll hoͤren laſſen?


V. Das meiſte davon iſt Furcht und
Einbildung der Leute. Etwas aber iſt doch
wahr davon, und geht wieder ſehr natuͤrlich
zu. Es kam einmal ein Reiſender, ich glau-
be in Schleſien, oder wo es geweſen iſt, zu
ſeinem guten Freunde, einem Amtmann, der
nahe an einem großen Buͤchenwalde wohnte.
Des Abends ſprachen ſie von dem wilden Jaͤ-
ger und dem wuͤtenden Heere, das ihn be-
gleitete.


Der
[201]

Der Amtmann ſagte: ich weiß doch wirk-
lich noch nicht, was ich von der Sache den-
ken ſoll. Ich bin gar nicht aberglaͤubiſch;
aber was ich ohne Furcht ſelbſt geſehen und
gehoͤrt habe, laſſe ich mir nicht ausreden.
Wenn es wie jetzt bald gegen das Fruͤhjahr
geht, ſo hoͤrt man des Nachts, wenn es
recht finſter iſt, um Mitternacht uͤber dem Wal-
de ein entſetzliches Geſchrey und fuͤrchterliche
Stimmen durch einander, hu! hu! die nicht
an einem Orte bleiben, ſondern ſich weiter
ziehen. Man ſiehet auch viele Flammen,
und ſogar allerley fuͤrchterliche Figuren in der
Luft herumziehen. Das waͤhret faſt bis ge-
gen Morgen, und das hab’ ich alles mehr
als einmal mit meinen Augen geſehen.


Der Reiſende, der ein großer Naturken-
ner war, wurde ſehr aufmerkſam, und bat
ſeinen Freund, ihm Morgen Abend zu erlau-
ben, hinauszureuten, und den Spektakel
N 5mit
[202] mit anzuſehen. Ganz gern, antwortete der
Amtmann, und wir wollen erſt heute Nach-
mittag hinausreuten, um uns einen beque-
men Ort zum Anſtande auszuſuchen. Sie
waͤhlten einen ziemlich hohen Berg dichte vor
dem großen Walde; hatten ſich aber mit ein
Paar tuͤchtigen Flinten verſehen. Als es
finſter wurde, hoͤrten ſie ſchon von weitem
im Walde einzelne Stimmen: Uhu! Uhu!
Nicht lange darauf mehrere. Und nun ſa-
hen ſie auch uͤber dem Walde große ſchwarze
Figuren in der Luft ziehen, die Flammen von
ſich ſtrahlten. Hierauf gieng der Laͤrm, das
Geſchrey und das Wuͤten erſt recht an, wie
eine Jagd, da immer gerufen wird: hu, hu!
hu, hu! Der Zug kam naͤher, und die Pfer-
de wurden ſcheu. Sie ließen ſie hinter den
Berg fuͤhren. Der Amtmann wollte weg-
reuten. Ich bitte Sie gar zu ſehr, ſagte der
Reiſende, bleiben Sie hier, ganz ſtill; und
nahm
[203] nahm ſeine Flinte. Als der Zug uͤber den
Berg kam, ſchoß er drunter, und es ſtelen
ein Paar Figuren herunter, die entſetzliche
Flammen von ſich ſtrahlten. Der Reiſende
gieng naͤher, wo ſie lagen, und da ſie an der
Erde herumhuckten, ſchoß er ſie noch einmal
mit der andern Flinte. Da hoͤrten die Flam-
men auf. Nun griff er ſie an, und hob ſie
auf. Was war es wohl?


D. Das moͤcht’ ich wiſſen.


V. Du ſollſt es gleich erfahren. Es wa-
ren große Voͤgel. Sie nahmen ſie mit ſich,
und als es Tag wurde, erkannte ſie der Na-
turforſcher gleich fuͤr die groͤßte Art von
Nachteulen, die man Ubus oder Schuwe-
huthe
nennet. Ihre Augen ſind wie kleine
Teller, die im Finſtern gewaltig leuchten.
Ihre Stimmen Uhu, Uhu. Das war das
Rufen des wilden Jaͤgers. Und ihr Zug?
weil
[204] weil die Maͤnnchen im Fruͤhjahre die Weib-
chen verfolgen, daß ſie ſich paaren wollen.


Da war denn das wuͤtende Heer mit ei-
nemmale entdeckt. Der Amtmann ließ des
Morgens laͤuten, und die Dorfgemeine zu-
ſammen kommen, zeigte ihnen die Voͤgel, und
erklaͤrte den Leuten die ganze Sache, daß ſie
ſich nun nicht mehr vor dem wilden Jaͤger
und dem wuͤtenden Heere fuͤrchten duͤrften.


XLII.
Fortſetzung des 41ſten Stuͤcks.


D. Ach! wenn ich nur erſt groͤßer waͤre,
daß ich recht viel aus der Natur ler-
nen koͤnnte! Die liebe Natur! ſie iſt doch
gar zu ſchoͤn, und thut dem Menſchen ſo viel
Gutes, wenn ſie nur ſehen und hoͤren wol-
len. Aber ich erinnere mich, beſter Vater!
daß
[205] daß Sie mir noch ein Paar Hiſtorien mit trau-
rigem Ausgange
erzaͤhlen wollten.


V. Die erſte wird dir ſchon aus des
Herrn von Rochows Kinderfreunde bekannt
ſeyn. Es wollen einige Knechte in einem
Garten nahe am Kirchhofe Aepfel ſtehlen.
Der eine muß ſich ein weißes Tuch umhaͤn-
gen, und ſich auf den Leichenſtein ſetzen; in-
zwiſchen die andern deſto ſicherer ſtehlen koͤn-
nen, weil alle auf den Kirchhof kommende
vor dem weißen Geſpenſte zuruͤcklaufen. Das
treiben ſie ſo einige Abende. Endlich koͤmmt
ganz ſpaͤt ein Jaͤger uͤber den Kirchhof, und
ſieht das Geſpenſt. Er bleibt ſiehen, und
ruft es wohl dreymal an. Da es aber nicht
antwortet, ſchießt er dem Kerl die Beine voll
Schrot, daß er lange liegen, und viele
Schmerzen ausſtehen mußte.


Das ſind die Folgen von ſolchen Nar-
renſpielen, wenn man ein Geſpenſt vorſtellen,
und
[206] und andere zu fuͤrchten machen will. So
lange die Leute alle furchtſam ſind, geht es
am Wenn aber einmal ein dreiſter und
herzhafter drunter iſt, ſo nimmts gemeinig-
lich keinen guten Ausgang.


So war es auch einmal in einer Stadt
auf dem Harze. Da ſitzen die Gerberknech-
te eines Lohgerbers des Abends in der Stu-
be, und ſprechen von Geſpenſtern. Der
eine lacht die andern aus, und ſagt: er fuͤrch-
te ſich vor nichts in der Welt. Die andern
geben ſich einen Wink, und gehen vorher aus
der Stube. Draußen bereden ſie ſich, wie
ſie ihn wollen zu fuͤrchten machen. Der
Menſch muß uͤber den Hof am Waſſer weg-
gehen, wo die noch unbereiteten Kuhhaͤute
dichte an der Waſſerfuͤlle liegen, wo das
Waſſer aus dem Strom gefuͤllt wird. Da
treten die beiden hin, und ſpannen eine Kuh-
haut ſo aus, daß dem einen juſt die Hoͤrner
auf
[207] auf dem Kopfe zu ſtehen kommen, und da-
mit legen ſie ſich an die Erde. Als der an-
dere nun dichte bey der Fuͤlle iſt, ſo richten
ſie ſich auf, und treten in dieſer fuͤrchterli-
chen Geſtalt vor ihn. Der Menſch erſchrickt
dergeſtalt, daß er einen lauten Schrey thut,
und zur Seite uͤber die Fuͤlle gerade ins Waſ-
ſer ſpringt. Der große Hofhund, der dich-
te bey der Fuͤlle liegt, ſieht das, reißt ſich
von der Kette los, ſpringt dem Menſchen ins
Waſſer nach, und beißt ihm die Kehle ab.


War das nicht der traurigſte Ausgang
einer angeſtellten Spukerey? Waren die muth-
willigen Leute nicht Schuld daran, daß der
arme Menſch ſo elend ums Leben kam?


Eben ſo weiß ich noch eine andere Ge-
ſchichte von ein Paar Buͤrgern, die des Abends
vor dem Thore in einem Wirthshauſe bis in
die ſpaͤte Nacht ſitzen. Der eine hat mit ei-
nem andern einen langen Proceß gehabt, un-
ter
[208] ter welchem dieſer letztere geſtorben, und an
demſelben Tage begraben worden iſt. Je-
ner muß des Abends, wenn er nach Hauſe
will, dichte vor ſeinem Grabe vorbey uͤber
den Gottesacker gehen. Nimm dich in Acht,
ſagt ſein Kamerad, daß dich der und der nicht
bey den Ohren kriege, oder aufhucke, wenn
du nach Hauſe geheſt. Dieſer, ein roher
halb betrunkener Menſch, vermißt ſich ſehr,
daß er keine Furcht habe. Der Kamerad
geht kurz vorher weg, und ſtellt ſich hinter
die Gottesackermauer. Als der andere
kommt, ſo ſchleicht er ihm hinten nach, und
ſpringt ihm auf den Ruͤcken, daß er ihn bis
ans Thor tragen muß. Da verlaͤßt er ihn,
und giebt ſich zu erkennen. Indeſſen war
der andere ſo ſehr erſchrocken, daß er nach
ein Paar Tagen ſtarb.


XLIII.
[209]

XLIII.
Das neugierige Kind.


Es iſt wohl recht gut, neugierig zu ſeyn,
und viel wiſſen zu wollen; aber es iſt
nicht gut, wenn Kinder allzuneugierig ſind,
und alles wiſſen wollen, was ſie nichts an-
gehet.


1) Darum, weil es ſich fuͤr ſie, als Kin-
der, noch nicht ſchickt, nach allem zu fragen.


2) Weil es ihnen noch nicht nuͤtzlich iſt,
alles zu wiſſen, und ihnen vieles ſchaden wuͤr-
de, da ſie es noch nicht beurtheilen koͤnnen.


3) Weil ſie noch nicht alles verſtehen und
begreifen koͤnnen.


4) Weil es nicht klug waͤre, ihnen ſchon
alles zu ſagen, da ſie ſelbſt noch nicht klug
genug ſind, eine Sache zu verſchweigen, und
aus kindiſcher Einfalt oft Dinge wieder aus-
ſchwatzen, die andere nicht wiſſen duͤrfen,
Owo-
[210] wodurch viel Unheil, Argwohn, Zank und
Feindſchaft entſtehen kann.


5) Weil ſie durch ihre Neugier und vie-
les Fragen andern zur Laſt werden, und ſelbſt
Gelegenheit geben, daß ihnen was weißge-
macht oder aufgebunden wird, wodurch ſie
denn am Ende ſelbſt laͤcherlich werden.


Frag nicht nach allem, ſagte der Vater
zu der allzuneugierigen Louiſe, bey der die
Neugier ſchon ein Fehler geworden war.


Wenn jemand kam, und mit dem Vater
allein ſprechen wollte, und ſie herausgewie-
ſen wurde; ſo blieb ſie vor der Thuͤr ſtehen,
und horchte, oder that, als ob ſie in der
Stube haͤtte was liegen laſſen.


Schickte ſich das wohl fuͤr das Kind,
das alles zu wiſſen, was der Vater, der ein
oͤffentliches Amt fuͤhrte, mit andern Leuten
zu reden hatte?


Es
[211]

Es kam einmal eine Frau zu ihrer Mut-
ter. Die klagte, wie ſie ſich mit ihrer Nach-
barin gezankt, und wie ſie dieſe ausgeſchol-
ten haͤtte. Louiſe fragte nach allen Umſtaͤn-
den und Scheltworten.


War ihr das wohl nuͤtzlich zu wiſſen?


Ein andermal wurde in einer Geſellſchaft
bey Tiſche vom Handel, Fabriken und andern
Dingen geſprochen. Die neugierige Louiſe
fragte alle Augenblicke dazwiſchen, daß der ei-
ne Mann immer in ſeiner Rede inne halten
mußte, und ganz verdruͤßlich wurde. Da
ſagte er endlich: Juͤngferchen, daß laͤßt nicht
fein, daß Kinder immer dazwiſchen reden,
wenn verſtaͤndige Leute mit einander ſprechen.
Bleibe ſie noch bey ihren Puppen. Das ver-
ſteht
ſie noch nicht.


Da wurde Louiſe roth, und mußte ſich
ſchaͤmen.


O 2Eines
[212]

Eines Abends kam ein Mann zu ihrem
Vater, und brachte etwas unter dem Rokelor.
Der Vater gieng allein mit ihm in die Stube,
und ſchloß die Thuͤr ab. Nach einer halben
Stunde gieng der Fremde wieder weg. Louiſe
wollte vor Neugier berſten. Sie fragte wohl
zehnmal, was brachte denn der Mann ge-
ſtern Abend? Sie bekam einen Verweis, und
mußte ſchweigen.


Endlich war ſie einmal in der Stube bey
den Aeltern, die von der Sache ſprachen,
und juſt nicht darauf achteten, daß ſie da war.
Da ſagte der Vater: es iſt mir doch lieb, daß
mir der Mann neulich Abend meine tauſend
Thaler wieder gebracht hat, die ich ſchon
verloren gegeben hatte.


Louiſe ließ ſich nichts merken, daß ſie das
gehoͤrt hatte. Sie lief gleich in die Geſinde-
ſtube, und ſagte mit großer Freude: nun weiß
ichs doch, was der Mann im Rokelor ge-
bracht
[213] bracht hat. Tauſend Thaler hat er meinem
Vater gebracht. Gleich ſchloß ſie der Vater
in ſeinen Schrank. Ich ſollte es nicht wiſ-
ſen. Heyſa! nun weiß ichs doch. Heyſa!
nun wird mir der Vater ſchon noch ein neues
Kleid kaufen.


Der eine Knecht hoͤrte das kaum, ſo
machte er ſchon einen Anſchlag auf das Geld.
Des andern Morgens war der Schrank auf-
gebrochen, und Knecht und Geld waren fort.


Iſt es wohl rathſam, daß die Kinder al-
les wiſſen? Wie groß war der Schaden, den
Louiſe durch ihre Neugier und Schwatzhaf-
tigkeit anrichtete!


Die neugierigen Leute ſind ſehr leicht-
glaͤubig, und laſſen ſich alles aufbinden. So
giengs Louiſen auch.


Sie war in der Geſindeſtube, wo zwey
mit einander heimlich ſprachen. O! wie
quaͤlte ſie die Leute, das zu wiſſen, was ſie
O 3geſpro-
[214] geſprochen haͤtten! Marie ſagte: Cathrine
haͤtte ihr was heimliches geſagt. Sie duͤrf-
te es aber keinem Menſchen wieder ſagen.
Nun wurde ſie erſt recht neugierig. Nun
gieng das Fragen und Bitten erſt recht an.
O! liebe Marie, ſage mirs doch. Ich bit-
te dich gar zu ſehr. Ich wills ja keinem
Menſchen wiederſagen.


Bey ſolchen Gelegenheiten gewoͤhnen ſich
auch Kinder das leichtſinnige Verſchwoͤren
und Vermeſſen leicht an.


Da es Marie nicht laͤnger aushalten konn-
te, ſo ſagte ſie ihr endlich heimlich ins Ohr:
Cathrine hat geſtern Abend in ihrem Bette
einen großen Schatz gefunden. Ach was
denn? fragte Louiſe noch neugieriger. Was
war es denn? Wie viel war es wohl? O ſa-
ge mirs doch. Das darf ich ſchlechterdings
nicht, antwortete Marie. Sage ſie es aber
ja
[215] ja nicht wieder. Gleich wußten es alle an-
dern Kinder.


Des Abends bey Tiſche ſagte der Vater
zu Louiſen: wie ſitzeſt du denn, als wenn du
traͤumteſt? Ach! lieber Vater, antwortete ſie,
ich kann es nicht auf dem Herzen behalten.
Cathrine hat geſtern Abend in ihrem Bette
einen großen Schatz gefunden. Der Vater
merkte gleich, daß ihr wegen ihrer Neugier
was weißgemacht war. Er gieng heraus,
fragte Cathrinen, kam wieder herein, und
ſagte: es iſt doch wirklich wahr. Wir wol-
len hingehen und den Schatz beſehen.


Cathrine mit dem Lichte voran. Alle
Kinder und der Vater hinterher. Die Kam-
mer wurde aufgeſchloſſen. Louiſe konnte ſich
vor Neugier nicht laſſen. Sie war die erſte,
die zum Bette lief, und es aufdeckte.


Da entſtand ein graͤuliches Gelaͤchter.
Die Katze hatte ins Bette geheckt, und da la-
gen fuͤnf junge Kaͤtzchen drinn.


O 4Loui-
[216]

Louiſe ſtand wie verſteinert. Siehe da!
ſagte der Vater, da iſt dir ſchon recht geſche-
hen. Auf ein andermal ſey wieder ſo neu-
gierig, und frag nach allen Poſſen. O! wie
wurde da Louiſe ausgelacht!


XLIV.
Die Einfalt.


Die Einfalt koͤmmt aus der Unwiſſenheit.
Je weniger ein Kind lernt, deſto ein-
faͤltiger iſt es. Und wenn es ſo aufwaͤchſt:
was wird denn wohl aus ihm? Es kann ſich
mit nichts behelfen. Es wird betrogen. Es
wird ſeiner Dummheit wegen von allen aus-
gelacht.


So gieng es dem einfaͤltigen Johann, der
in ſeiner Jugend gar nichts gelernt hatte. Als
ihn ein Herr aus Mitleiden im 16ten Jahre
in
[217] in Dienſte nahm, wußte er nicht, was ein
Huth, was eine Kleiderbuͤrſte, eine Lichtputze,
und dergleichen war. Von einer Taſchen-
uhr hatte er in ſeinem Leben nichts gehoͤrt.


Da der Herr auf einer Reiſe im Wirths-
hauſe ſchlief, ſagte er zu ihm: bleib dieſe
Nacht hier in der Stube, und gieb auf mei-
ne Sachen Achtung. Er legte ſich zu Bette,
und die Beinkleider auf den Stuhl vors Bet-
te. Als es ſtille wurde, hoͤrte Johann die
Uhr in den Hoſen picken. Er ſchlich ſich ſach-
te hin, und horchte. Da pickte es noch ſtaͤr-
ker. Halt, ſagte er, dich will ich kriegen,
ergriff den Stiefelknecht, und ſchlug tuͤchtig
drauf los. Er hielt wieder das Ohr hin, und
es pickte nur noch ſachte. Bav, bav, giengs
wieder drauf zu. Und nun war alles ſtille.
Harre, ſagte er, kannſt du nun ſtille ſeyn?


Von dem letzten Schlagen erwachte der
Herr, und fragte: was er vorhaͤtte. Er
O 5ant-
[218] antwortete: er haͤtte da in den Hoſen eine
Maus todt geſchlagen. Kerl, ſprach der Herr,
biſt du toll? Das wird gewiß meine Uhr ſeyn.
Er ſtand auf und ſahe bey dem Nachtlicht ſei-
ne Uhr in tauſend Stuͤcken. Der dumme
einfaͤltige Menſch!


So gehts, wenn man die bekannteſten
Dinge des menſchlichen Lebens nicht weiß.


XLV.
Von Kindern, die ſich vor alles
fuͤrchten.


Ach Dorchen! ich bin entſetzlich erſchro-
cken, ſagte Fritze. Wovor denn?
antwortete jenes. Vor einer Maus, die
mir uͤber die Hand lief. Ich dachte gar! er-
wiederte D. Wie kannſt du dich vor einem ſol-
chen unſchuldigen Thierchen ſo fuͤrchten, das
keinem was zu Leide thut? Ich fuͤrchte mich
gar
[219] gar nicht davor. Ich kann ſie angreifen,
uͤbers Fell fahren, beym Schwanze nehmen:
nur wenn ſie lebendig ſind, nehme ich mich
in Acht, daß ſie mich nicht beißen.


Wie machſt du denn das, daß du dich
nicht davor fuͤrchteſt? Ich ekle mich davor,
ſprach Fritze. Das hat mich mein Vater ge-
lehrt, ſprach D. Er ließ mich die Ratzen
und Maͤuſe anfaſſen, da ich kaum zwey Jahr
alt war, und noch nicht wußte, daß man
ſich davor fuͤrchten koͤnnte. So auch leben-
dige Froͤſche. Er that es ſelbſt, da that ichs
nach. Als ich groͤßer wurde, durfte keiner
aufſchreyen, und ſich erſchrocken anſtellen,
wenn er eine Maus, Ratze oder Froſch ſahe.
Denn davon kommt unſre Furcht davor al-
lein her, wenn ſich Vater oder Mutter, oder
die Maͤgde anſtellen, als ob das Haus im
Feuer ſtuͤnde, ſobald ſie ſo was ſehen. Se-
hen wir Kinder nun ſo was mit an, ehe
wirs
[220] wirs beſſer verſtehen, ſo wird uns die Furcht
natuͤrlich.


Ja, Dorchen, ſo iſt es auch. Du haſt
recht. Daher hab’ ich meine Furcht. Bloß
von der Kindermuhme. Die ſchrie ſo entſetz-
lich auf, wenn ſie eine Maus ſahe, daß ich
zuſammenfuhr. Dann zeigte ſie auf das
Thierchen, und ſagte: ba, ba, ein haͤßli-
ches, giftiges Thier. Lief auch wohl mit
mir zur Stube heraus. Nun will ich doch
ſehen, ob ich das nicht laſſen kann, da du
die Maͤuſe ſogar beym Schwanze kriegſt.
Der iſt ja aber giftig.


Nein, Fritzchen! das iſt er nicht, ſagte
Dorchen. Das ſagen die Leute nur ſo, weil
ſie es nicht beſſer wiſſen. Mein Vater ſagt
aber ganz anders. Er iſt ganz voll Sta-
cheln und Haare, beſonders bey den Ratzen.
Ach ich habe einmal ein Stuͤckchen Haut von
einem ſolchen Schwanze unter des Vaters
Ver-
[221] Vergroͤßerungsglaſe geſehen. Stacheln, wie
große Baͤume. Die braucht die Ratze zum
Klettern. Drum kann ſie an der Wand hin-
auflaufen. Da nimmt ſie den Schwanz un-
ter ſich nach dem Kopfe hin. Dann ſtechen
die Stacheln in den Kalk, und ſie kann ſich
daran feſthalten. So hat mirs der Vater
erklaͤrt. Iſt das nicht artig?


Ja freylich iſt es das. Bald fuͤrchte ich
mich nicht mehr davor. Aber vor den Spin-
nen moͤcht’ ich in den Keller laufen. Die ſol-
len erſchrecklich giftig ſeyn.


Nein! Kind, das ſind ſie auch nicht, er-
wiederte Dorchen. Sie ſind nicht ſo haͤß-
lich, wie du dir vorſtellſt. Einige haben die
ſchoͤnſten Farben, und ich ſtehe oft ganze
Stunden vor einem Spinnennetze, und wer-
fe Fliegen hinein. Da faͤhrt denn die Spin-
ne wie ein Blitz darauf los, und wickelt die
Fliege mit ihrem Faden ein, als wenn dein
klei-
[222] kleines Schweſterchen gewickelt wird. Her-
nach ſchleppt ſie ſolche in ihr Loch, und ſaugt
ſie aus. Es ſieht charmant aus. Eine
Spinnenzange ſollteſt du unter dem Vergroͤſ-
ſerungsglaſe ſehen. Schoͤners kann man
faſt nichts ſehen. Fuͤrchte dich nicht davor.
Ich kann ſie auch angreifen.


Aber, liebes Dorchen, hat dir der Va-
ter nichts von Kroͤten geſagt? Die Leute krie-
gen ja dicke Haͤnde, wenn ſie einen anhauchen.


Ja, mein Fritzchen, war Dorchens Ant-
wort, der Vater hat mich davor gewarnt,
daß nichts von ihrem Urin an mich kaͤme.
Der waͤre ſcharf, und zoͤge Blaſen. Das
Anhauchen ſey falſch. Und die Kroͤte ſey
ein bloßer Landfroſch. Giftig aber waͤren
ſie nicht. Ich habe oft zugeſehen, wenn
der Vater welche aufgeſchnitten hat. Sie
ſehen inwendig accurat wie ein Froſch aus.
Du darfſt dich nicht vor ihnen fuͤrchten. Sie
thun
[223] thun dir nichts zu Leide. Ich habe immer
Mitleiden mit den armen Thieren, wenn ſie
die grauſamen Jungen ſo aufſpießen, und
elendiglich verhungern laſſen.


Kinder, die ſich vor ſolchen Dingen gar
zu aͤngſtlich fuͤrchten, muͤſſen manchen ſchoͤ-
nen Sommerabend wegen der Froͤſche, Kroͤ-
ten und Spinnen entbehren, und gar zu Hau-
ſe bleiben, wenn andere Kinder auf der an-
genehmen Wieſe ſpazieren gehen.


XLVI.
Etwas Nuͤtzliches.


Es iſt uͤberaus gut, Kinder fruͤhzeitig
mit allen Dingen des menſchlichen Le-
bens bekannt zu machen.


Es raucht ſchon wieder in der Stube,
ſagte der Vater zu der Mutter. Ich fuͤhle
es
[224] es an meinen Augen. Hole mir doch, mei-
ne Liebe, ein Paar faule Aepfel.


Was wollen Sie denn damit, liebſter
Vater? ſagte Dorchen; doch nicht eſſen?


B. Das ſollſt du gleich ſehen, wenn der
Ofen nur etwas kaͤlter iſt. Du weißt, daß
ich immer geklagt habe, daß man keinen fe-
ſten Ofenkitt habe, und daß der Leim beſtaͤn-
dig abfalle, womit die Ritzen verſchmiert
ſind. Dann rauchts, und du klagſt ſelbſt
oft uͤber die Augen. Ein ſolcher feiner Rauch
iſt den Augen ſehr ſchaͤdlich.


D. Was wollen Sie denn mit den fau-
len Aepfeln?


V. Einen Ofenkitt machen. Dazu habt
ihr Kinder mir ſelbſt Gelegenheit gegeben.
Wenn ihr Borſtorferaͤpfel in die heiße Roͤhre
legt, ſo braten ſie, und wenn ſie platzen, ſo
laͤuft der Saft heraus. Wenn der ans Ei-
ſen antrocknet, ſo wird er ſo feſt, daß man
ihn
[225] ihn mit dem Meſſer nicht abſchrapen kann.
Siehe zu, nun will ich den Ofen verſchmie-
ren. Erſt ſtreiche ich die Ritzen dicke voll
weichen Apfel, und dann Leim druͤber. Her-
nach heize ich ſcharf ein, daß der Apfel an-
backt. Dann faͤllt es nicht wieder ab, ſon-
dern haͤlt ſehr feſt, und wir haben keinen
Rauch in der Stube.


D. Wieder was gelernt.


XLVII.
Von Kindern, die alles ruiniren.


Jettchen aͤſtimirte auch gar nichts, was
ſie von ihren Aeltern bekam. Sie rui-
nirte gleich alles. Waren es ein Paar neue
Schuhe, ſo gieng ſie damit in den tiefſten
Koth. War es ein neues Kleid, ſo ſahe es
den andern Tag aus, als waͤre ſie damit in
Peiner
[226] einer Fleiſcherbude geweſen. Von Spielſa-
chen ſchonte ſie gar nichts. Die niedlich-
ſten Sachen lagen kurz und klein in der Stu-
be herum. In einem Tage brauchte ſie wohl
ſechs Schieferſtifte. Kurz, ſie war eine rech-
te Verwuͤſterin aller guten Sachen, und wur-
de ihren Aeltern dadurch viel koſtbarer, als
drey andere Kinder, die ihre Sachen zu Ra-
the hielten, und ſchonten.


Das iſt der erſte Grund zur Verſchwen-
dung
, wenn ſie groͤßer werden, und keiner
Sache zu ſchonen gelernt haben. Kinder
wiſſen noch nicht, was eine Sache koſtet,
und wie ſauer es den Aeltern wird, das al-
les zu verdienen, was ſie gebrauchen.


Jettchen wurde deshalb oft beſtraft;
aber es wollte nichts helfen. Es war ſchon
zu weit eingeriſſen, und ſie hatte es zu oft
gethan, ohne daß ſie daruͤber Unwillen ge-
habt haͤtte. Das beſte Mittel waͤre gewe-
ſen,
[227] ſen, ihr von allem, was ſie ruinirt haͤtte,
nichts wieder zu geben, bis ſie ihre Sachen
beſſer haͤtte ſchonen gelernt; ſollte ſie auch
eine Zeit lang ohne Schuhe haben gehen muͤſ-
ſen, und in Jahr und Tag kein Spielzeug
wieder geſehen haben.


Als Jettchen groß wurde, und heyrathe-
te, gieng ihre Haushaltung bald zu Grun-
de. Der Mann konnte nicht ſo viel an-
ſchaffen, als ſie ruinirte oder verderben ließ.
Das Geſinde konnte ebenfalls machen, was
es wollte: zerbrechen, verthun, drauf ge-
hen laſſen; ſie ſagte ihm nichts daruͤber.
Denn ſie machte es ſelbſt nicht beſſer. Und
ihre Kinder? die machten es noch viel aͤrger.


So wurde Jettchen nach vielen Jahren
durch ihren eigenen Fehler geſtraft, den ſie
ſich in der Kindheit angewoͤhnt hatte, daß
ſie alles ruinirte. Sie wurde arm, und
P 2muß-
[228] mußte, da der Mann ſich todtgegraͤmt hat-
te, mit ihren Kindern betteln gehn.


Dorchen hatte ſich das Ding auch an-
gewoͤhnt. Kaum hatte ſie einige ſchoͤne
Spielſachen bekommen; ſo waren ſie zerriſ-
ſen, verdorben, ruinirt. Alle Tage war ein
Rechenſtift hin. Sie gewoͤhnte ſich aber das
Ding eben ſo geſchwind wieder ab.


Es kam ein armes Kind, und dat ſie um
einen Pfennig. Was willſt du damit, ſag-
te ſie? Ach, antwortete der Kleine: ich will
mir einen Rechenſtift kaufen, weil ich gar zu
große Luſt habe, in der Schule zu ſchreiben,
und meine Aeltern koͤnnen mir keinen kaufen;
ſo arm ſind ſie.


Sie gab ihm den Pfennig. Geſchwind
lief der Knabe fort, und holte ſich den Re-
chenſtift. Als er ihn in der Schule gebraucht
hatte, wickelte er ihn ſorgfaͤltig in Papier,
und ſteckte ihn in die Taſche. Nach vier Wo-
chen
[229] chen hatte er ihn noch, und in einem halben
Jahre auch noch; da Dorchen in der Zeit
viele zerſchmiſſen hatte.


Das jammerte ſie. Sie dachte immer
an das arme Kind, dem ein Pfennig und
ein Ding, das nur einen Pfennig koſtete, ſo
lieb war, weil es nicht mehr hatte. Wie
gut haſt du es vor einem ſolchen armen Kin-
de!
ſagte ſie oft bey ſich ſelbſt. Nun will
ich auch nichts mehr ruiniren. Davon koͤnn-
ten viele arme Kinder leben.


XLVIII.
[230]

XLVIII.
Die beſtrafte Vermeſſenheit.


Von Leuten, die ſich mehr auf die Hoͤr-
ner nehmen, als ſie leiſten koͤnnen,
pflegt man zu ſagen, daß ſie vermeſſen oder
zu verwaͤgen ſind. Und das laͤuft dann
manchmal ſchlecht ab. Denn wer ſich in
Gefahr begiebt, koͤmmt gemeiniglich darin-
nen um.


Ja! lieber Vater, da haben ſie wohl
Recht, ſagte Lorchen, Wilhelm iſt abſcheu-
lich vermeſſen. Er klettert auf die ſteilſten
Leitern: kriecht unter den Daͤchern nach den
Sperlingsneſtern herum, geht uͤber die
ſchmaͤleſten Bruͤcken, und will alles koͤn-
nen. Wenn er nur nicht einmal ungluͤck-
lich iſt.


V. Wenn ein Kind oder ein großer
Menſch vermeſſen iſt, ſo denkt er nicht dar-
an,
[231] an, wie die Folgen beſchaffen ſind, oder wie
die Sache wohl kommen koͤnne. Daher iſt
gemeiniglich das Ende traurig, oder, wie
man zu ſagen pflegt: die Vermeſſenheit ſtraft
ſich ſelbſt.


Davon will ich dir ein Paar Hiſtoͤrchen
erzaͤhlen.


Es waren einmal einige ſehr verwaͤgene
Leute, wo? das weiß ich nicht recht mehr,
mir daͤucht, in England. Einer wollte im-
mer mehr koͤnnen als der andere. Bruder,
ſagte der eine, willſt du wetten, ich gehe die-
ſen Abend ganz allein in die Kirche, in das
große Gewoͤlbe, wo die vielen Saͤrge ſtehen,
und nagle zum Zeichen, daß ich da geweſen
bin, dieſen Nagel mit einem Bande an den
erſten Sarg. Der andere geht die Wette
ein. Hierauf gehen ſie zum Kuͤſter, und laſ-
ſen ſich den Schluͤſſel geben. Der erſte
nimmt eine Laterne, einen Hammer und den
P 4Na-
[232] Nagel. Als er herunter koͤmmt in das Tod-
tengewoͤlbe, ſo nagelt er den Nagel feſt an
den einen Sarg. Die andern lauern oben
bey dem Kuͤſter einige Stunden. Er koͤmmt
nicht wieder. Endlich gehen ſie zuſammen
herunter. Da liegt er todt neben dem
Sarge.


Als ſie ihn aufheben wollen, finden ſie,
daß er ſich unten aus Verſehen den Rockzi-
pfel mit angenagelt hat. So wie er nun
hat fortgehen wollen, bleibt er haͤngen. Er
glaubt nicht anders, als der Todte halte ihn
feſt. Das macht ihm einen ſolchen Schreck,
daß das Blut erſtarrt, und er in Ohumacht
faͤllt. Als ſie ihn an die friſche Luft brin-
gen, und er wieder zu ſich ſelber koͤmmt, hat
er bekannt, daß es ihm ſo ergangen ſey.
Durch eine ſolche natuͤrliche Kleinigkeit wur-
de ſeine Vermeſſenheit beſtraft. Was hatte
er des Nachts bey den Todten zu thun? Die
Tod-
[233] Todten ſelbſt konnten ihm nichts thun; aber
ſeine ganze Seele war doch voll heimlicher
Furcht und Schrecken. Dazu durſte ein
kleiner aͤußerlicher Umſtand kommen; ſo war
er des Todes, wie auch hier geſchahe.


Eine andere Geſchichte iſt noch trauri-
ger. Auf einer Univerſitaͤt war das Haus
eines Baͤckers ſehr beruͤchtiget, daß es dar-
innen gewaltig ſpuke. Das Spukeding kam
allezeit in einer gewiſſen Stube aus der
Wand, ließ ſich vor vielen ſehen, gieng das
ganze Haus durch, und erſchien bald in die-
ſer, bald in jener Geſtalt. Alle Studenten
zogen aus. Der Mann litt ſehr in ſeiner
Nahrung, und mußte zuletzt ſelbſt ausziehen,
und das Haus ſtehen laſſen.


Die Sache kam vor die Obrigkeit, und
es wurde eine große Belohnung verſprochen,
wenn ſich einer finden wuͤrde, der die Sa-
P 5che
[234] che unterſuchen wollte. Anfaͤnglich war
niemand, der Herz genug hatte, das zu
thun. Endlich fand ſich ein Student. Der
ſagte: ich wills thun; doch mit der Bedin-
gung, daß man mir erlaube, zu ſchießen und
zu ſtechen, und daß man mir zu Huͤlfe kom-
me, wenn ich ſchieße oder rufe. Geſchieht
ein Ungluͤck, daß ich keine Verantwortung
davon habe.


Dies wurde ihm verſprochen. Er gieng
alſo des Abends in das Haus, und in des
Nachbars Hauſe waren einige Mann Mache.
Er ſetzte ſich auf die Stube, gerade gegen
die Wand uͤber, aus der das Spukeding im-
mer kam. Es waren aber Tapeten an der
Wand. Vor ſich auf dem Tiſche hatte er
einen blanken Degen, einen Hirſchfaͤnger,
und zwey Paar ſcharf geladene Piſtolen,
nebſt zwey Lichtern und gutem Feuerzeuge.
Er
[235] Er trank dabey eine Bouteille Wein, und
war gutes Muths.


Als es zwoͤlfe ſchlug, hoͤrte er in der
Wand ein Geraͤuſch. Mit einemmale oͤffne-
ten ſich die Tapeten, und es trat eine tod-
tenbleiche Perſon mit langem Barte und ei-
nem weißen Todtenkleide herein. Sogleich
ſchoß er die eine Piſtole auf das Ding ab.
Die Kugel pritſchte ab, und flog zur Seite.
Da merkte er Unrath, und das Ding gieng
etwas zuruͤck. Harre, ſagte er, biſt du ſo
beſchaffen? Er ſprang auf, und ſtieß im-
mer mit dem Degen drauf zu. Endlich
mochte er einen weichen Fleck treffen. Bauz,
lag die Perſon zu Boden, und das Blut floß
wie ein Strom.


Auf den Schuß kam die Wache aus dem
benachbarten Hauſe, und ſahe das Spuke-
ding in ſeinem Blute liegen. Die Furcht
vergieng, und da man es entkleidete, war
es
[236] es ein Jude, der ſich uͤber und uͤber verpan-
ſtert hatte. Daher hatte auch die Kugel
nicht durchgehen koͤnnen. Dieſer boͤſe Menſch
hatte das Haus kaufen wollen, und es in
uͤblen Ruf gebracht, um es deſto wohlfeiler
zu kriegen.


Er mußte aber ſeine Vermeſſenheit mit
dem Leben bezahlen.


XLIX.
[237]

XLIX.
Das veraͤnderliche Kind.


Im April iſt das Wetter ſehr veraͤnderlich.
In einer Stunde regnet es, ſchneyet,
und die Sonne ſcheint. Daher ſagt man
von veraͤnderlichen Menſchen, daß ſie ſo un-
beſtaͤndig ſind, wie das Aprilwetter.


Ludwig war erſtaunend veraͤnderlich.
Nicht eine Viertelſtunde konnte er bey einer
Sache bleiben. In einer Stunde mußte al-
les Spielzeug herbey. Kaum hatte er ein
Stuͤck in die Hand genommen, ſo ſchmiß er
es ſchon wieder weg. Nun wieder ein an-
deres. Alles wurde er den Augenblick ſatt
und uͤberdruͤßig.


So machte er es aber auch bey dem Ler-
nen. Jetzt ſchrieb er. Nun wollte er wie-
der
[238] der leſen. Erſt in dem Buche. Nun wie-
der das. Dann weg damit, und rechnen.
In der Schule ſaß er keine Minute ſtille, ſon-
dern war wie ein Uhrwerk, daß der Lehrer
Noth genug mit ihm hatte.


Andern Kindern verdarb er bey ihrem
Spiel manche Luſt. Wenn ſie kaum ein
Spiel angefangen hatten; ſo ſchmiß er alles
durch einander. Nein! was anders. Und
ſo gieng es beſtaͤndig mit ihm.


O! was that ihm das veraͤnderliche We-
ſen fuͤr Schaden! Als er groß wurde, und
nun was werden ſollte, wußte er ſelber nicht,
was er wollte. Erſt ein Kaufmann. Er
lief aber bald aus der Lehre. Dann ein Apo-
theker. Er hielt keine vier Wochen aus.
Nun ein Buchdrucker. Aber wie lange? Kei-
ne vierzehn Tage. Und ſo laͤuft er noch in
der
[239] der Welt herum, von einem Orte zum
andern.


Hat ſich Ludwig nicht durch ſeine gar
zu große Veraͤnderlichkeit ungluͤcklich ge-
macht?


L.
Das eigenſinnige Kind.


Durch nichts kann ſich ein Kind abſcheu-
licher und verhaßter machen, als durch
den Eigenſinn. Und was macht die Kin-
der eigenſinnig? Was anders als wenn ſie
von Kindheit auf in allen Stuͤcken ihren
Willen gehabt haben? Koͤmmt nun einmal
der Fall, daß ſie ihren Willen nicht haben
koͤnnen und ſollen; ſo ſehe man einmal den
Spektakel, wie ſich ein eigenſinniges Kind
anſtellt,
[240] anſtellt, wie es ſich gebaͤrdet, wie es mit
den Fuͤßen ſtampft, mit den Haͤnden kratzt,
die Augen verkehrt, wie es ſchreyt, ſich er-
boſt und trotzt, daß man die Augen zuhal-
ten, und davon laufen moͤchte. Wie ein
toller Hund ſtellen ſich manche an, den man
an die Kette legen muß.


Man ſieht es ſchon bey kleinen Kindern,
die noch kein Jahr alt ſind, daß ſie eigen-
ſinnig werden, wenn ihnen dies oder jenes
nicht nach Willen geht. Die Waͤrterin ſteht
z. E. mit ihnen vor dem Spiegel oder vor
Bildern, oder vor dem Lichte, das ſie ger-
ne ſehen moͤgen. Sie kehrt ſich um, und
will gehen. Das Kind will noch nicht weg.
Wie ſtuppt es, wie baͤumt es ſich zuruͤck,
wie ſchreyt es! Tritt man mit ihm dahin,
wo es hin will, ſo wirds ruhig. Daher
iſt das beſte Mittel wider den Eigenſinn, Kin-
dern
[241] dern von dieſem Alter ſchlechterdings nicht
allen ihren Willen zu thun. Wollen ſie da-
hin, ſo kehre man gleich um. Man gebe
ſie oft vielen fremden Perſonen auf den Arm,
daß ſie nicht immer bey einer bleiben. Und
wenn ſie zwey oder drey Jahre alt werden;
ſo fordere man in allen Dingen ſtrengen Ge-
horſam, ohne daß ſie fragen duͤrfen, war-
um? Genug, der Vater oder die Mutter,
oder der Lehrer, wills ſo haben. Wenn ſie
auf irgend einer Sache beſtehen, ſo thue man
es ſchlechterdings nicht, ſo leicht man es
auch thun koͤnnte, bloß weil ſie es haben
wollen, und auf ihrem Kopfe beſtehen. So
werden ſie das Gehorchen und Nachgeben
bald gewohnt. Koͤmmt der Verſtand mit
den Jahren, ſo ſehen ſie es ſelber ein, wie
gut es ſey, wie gut man es mit ihnen ge-
meynt habe. Sie wiſſen nichts von Eigen-
ſinn, und wenn ſie einmal ein recht eigen-
Qſinni-
[242] ſiuniges Kind ſehen, ſo iſt ihnen der Anblick
abſcheulich. Das iſt das beſte Mittel, dem
Eigenſinn zu ſteuren. Laͤßt man ſie aber
darinn erſt bis ins dritte oder vierte Jahr
aufwachſen, ſo iſt es nicht zu beſchreiben,
was ſie dadurch oͤfters den Aeltern fuͤr Noth,
Aerger und Verdruß machen, zumal wenn
Fremde da ſind. Denn da ſind ſie gemei-
niglich am eigenſinnigſten, wenn ſie erſt wiſ-
ſen, daß die Aeltern ihnen nachgeben, und
ſie durch ihren Eigenſinn alles erhalten
koͤnnen.


Noch eins faͤllt mir hierbey ein. Iſt
ein Kind eigenſinnig, und will abſolut dieß
oder jenes haben; ſo verſpielen die Aeltern
allemal gegen das Kind, wenn ſie es erſt
ſtrafen, und hernach doch ſeinen Willen
thun. Manche Kinder wiſſen ſich ſchon ſo
zu verſtellen, und, wie man zu ſagen pflegt,
den
[243] den Aeltern durch Schmeicheln die weiche
Seite abzugehen, daß ſie ihren darunter ver-
ſteckten Eigenſinn nicht merken, ſondern nach-
geben, und die Kinder in ihrem eigenen Wil-
len beſtaͤrken.


Nichts iſt abſcheulicher anzuſehen, als
ein recht eigenſinniges Kind. Ich war neu-
lich einmal auf dem Lande bey einem Amt-
mann. Er hatte ein Maͤdchen von fuͤnf bis
ſechs Jahren. Schon vor Tiſche trieb es
allerley Muthwillen. Es legte die Serviet-
ten und Meſſer durch einander. Laß das
dleiben, ſagte die zu gefaͤllige Mutter. Auf
dieß Verbot trieb es Karoline noch aͤrger,
daß ſie ſich genoͤthiget ſahe, ſie auf die Fin-
ger zu ſchlagen. Nun gieng das Boͤlken an.
Gehe heraus, hieß es. Nein! ich will
nicht, abſolut nicht. Sie ſtampfte mit den
Fuͤßen, und als die Mutter ſie beym Arme
Q 2neh-
[244] nehmen und herausfuͤhren wollte, lief ſie hin-
ter den Ofen und heulte erſchrecklich. Die
Mutter ließ ſie ſtehen, und gieng ihrer Ge-
ſchaͤfte wegen heraus. Da wurde Karoline
ſtille, kam wieder vor, und ſchien ganz an-
ders zu ſeyn. Gleichſam als haͤtte ſie es der
Mutter nur zum Torte gethan.


Was denkt ihr, was empfindet ihr hier-
bey, ihr artigen, beſcheidenen, folgſamen
und gehorſamen Kinder?


Das Eſſen wurde aufgetragen; man
wollte ſich ſetzen, und Karoline ſollte an ei-
nem Nebentiſche ſitzen, weil der Tiſch beſetzt
war. Die Magd ſollte ihr die Serviette
vorthun. Da haͤtte man das Leben ſehen
ſollen. Sie riß ſie der Magd aus der Hand,
warf ſie an die Erde, und trat ſie mit Fuͤſ-
ſen. Karoline, rief die Mutter, ſey ver-
nuͤnf-
[245] nuͤnftig. Du ſollſt ja alles haben. Du
ſiehſt ja, es iſt kein Platz am Tiſche. Nein!
ich will hier nicht ſitzen, ich will an Tiſch.
O ſey nicht eigenſinnig. Was moͤgen die
Fremden denken?


Ja! Sie dachten auch ihr Theil.


Die ganze Geſellſchaft mußte des unge-
zogenen Maͤdchens wegen uͤber eine halbe
Stunde warten. Was geſchahe, da ſich
Karoline abſolut an den kleinen Tiſch ſetzen
ſollte, ſtieß ſie aus Bosheit den ganzen Tiſch
um. Die Mutter wurde blaß, und ſagte:
nehmen ſie es doch nicht uͤbel. Es iſt ein
kleines eigenſinniges Ding. Es iſt heute ein
Bißchen ſpaͤt aufgeſtanden. Dann iſt es
immer ſo. Nun ſo komm denn nur her.
Wir wollen zuſammenruͤcken. Dieß ge-
ſchahe. Aber was das Maͤdchen da noch
Q 3am
[246] am Tiſche ausgeuͤbt hat, daran will ich alle
mein Tage denken. Lieber wollte ich kuͤnf-
tig unter Ruſſen und Koſaken ſeyn, als bey
einem ſolchen Kinde.


Wie werden zu nachgebende Aeltern durch
den Eigenſinn eines ſolchen Kindes ſelbſt ge-
ſtraft und proſtituirt! Und wie abſcheulich
und verhaßt macht ſich ein ſolches Kind bey
allen Menſchen!


Denkt ihr denn nicht, ihr eigenſinnigen
Kinder, daß ihr euch dadurch an eurer Ge-
ſundheit ſchadet? Dorchen wollte ſich des
Abends immer nicht von einer andern Magd
ausziehen laſſen, wenn das Kindermaͤdchen
keine Zeit hatte. Als das die Aeltern erfuh-
ren, ließen ſie es gar nicht ausziehen, ſon-
dern es ſollte die Nacht in ſeinen Kleidern
allein in der Stube ſitzen bleiben, und nicht
zu
[247] zu Bette gehen. Daruͤber ſchrie ſie, und
erboſte ſich ſo, daß ſie krank wurde. Das
that alles der Eigenſinn. Die andern Kin-
der hatten ſich ausziehen laſſen, und ſchlie-
fen ruhig und vergnuͤgt. Was iſt nun beſ-
ſer, eigenſinnig, oder folgſam und gelaſſen
zu ſeyn?


Wie manche Freude koͤnnten die Kinder
mehr haben, wenn ſie nicht eigenſinnig waͤ-
ren! Durch den Eigenſinn geht manche ver-
loren. Fritze, Lottchen, Karl und Dor-
chen ſollten ſpazieren gehen. Lottchen woll-
te abſolut ein anderes Kleid anziehen. Du
ſollſt nicht, ſagte die Mutter. Das iſt gut
genug. Das muß ich wiſſen. Nun gieng
das Schreyen an. Aber die Mutter ſagte:
Kommt, Kinder, und ſie mußte zu Hauſe blei-
ben. Das hatte ſie von ihrem Eigenſinn.


Q 4Das
[248]

Das beſte Mittel, den Eigenſinn zu bre-
chen, iſt, gerade das nicht zu thun, was
ſie haben wollen. Darinn aber muͤſſen ſich
Aeltern immer gleich bleiben. Auch ſogar
dann nicht, wenn die Kinder krank ſind.
Das verdirbt ſie auf ihre geſunden Tage de-
ſto mehr.


LI.
[249]

LI.
Fortſetzung des 50ſten Stuͤcks.


Lieber Vater, ſagte Dorchen, ich kann Ih-
nen nicht genug danken, daß ſie mir mei-
nen Eigenſinn abgewoͤhnt haben. Wie ru-
hig, wie vergnuͤgt kann ich leben, wenn ich
alles thue, was meine lieben Aeltern haben
wollen! Ich weiß, daß ſie nichts anders ha-
ben wollen, als was mir gut iſt. Wollen
Sie mir des Abends nichts mehr zu eſſen ge-
ben, ſo ſchlafe ich deſto beſſer. Soll ich
nicht ausgehen, oder das nicht haben, wor-
aus ich mir eine Freude machte; ſo muͤſſen
ſie dazu ihre Urſachen haben. Ich erfahre
es auch oft genug, daß es mir gut gewe-
ſen, daß ich dieß oder jenes nicht bekam,
was ich haben wollte. Ich frage auch nun
gar nicht mehr, warum? denn ich weiß, es
Q 5iſt
[250] iſt alles gut, alles gut, was meine Aeltern
fuͤr mich thun.


V. O liebes Kind! komm her, laß dich
kuͤſſen fuͤr deine guten Geſinnungen. Du
biſt es werth. Du machſt mir Freude. Wenn
doch alle Kinder ſo daͤchten! Bleibe ja dabey.
Es wird dir deine ganze Lebenszeit gut thun.


D. Wiſſen Sie wohl, daß bey der Frau
von * alles Geſinde wegzieht?


V. Bekuͤmmere dich nicht, mein Kind,
um andere Leute. Sie werden wohl nicht
haben gut thun wollen.


D. Nein, lieber Vater! es ſind gute,
recht gute Leute. Wir kommen ja oft hin.
Die Frau von * iſt auch ſehr mit ihnen zu-
frieden. Wiſſen Sie aber, warum?


V. Wenn es dich nichts angeht, ſage
ich noch einmal, ſo bekuͤmmere dich nicht dar-
um.
[251] um. Es giebt das nur Gelegenheit zu ver-
druͤßlichen Klatſchereyen, wenn man ſich
um andere Leute und ihr Geſinde zu viel be-
kuͤmmert.


D. Nein, Vater! das thue ich nicht.
Weil aber die Sache von Kindern herkoͤmmt,
ſo dachte ich, ich duͤrfte es Ihnen wohl
ſagen.


V. Nun, was iſt es denn?


D. Bloß Fraͤulein Liſabeth und Junker
Ludwigs Eigenſinn. Der iſt ſo abſcheulich,
daß die Leute lieber in der Tuͤrkey dienen
wollen. Ich habe es ein Paarmal mit an-
geſehen. Es iſt nicht auszuſprechen, was
ſie den Leuten fuͤr Tort thaten. Nein! das
iſt unmoͤglich. Das kann keiner aus-
halten.


V. Sieſt
[252]

V. Siehſt du wohl, wie leicht ſich zu
den Eigenſinn Tuͤcke, Bosheit, Schaden-
freude, Luͤgen und dergleichen, geſellet? Iſt
es nicht erſchrecklich, daß Kinder durch ih-
ren Eigenſinn eine ganze Haushaltung zer-
ſtoͤren, und das Geſinde vertreiben koͤnnen?


Ich will dir davon noch eine Geſchichte
erzaͤhlen.


Es war einmal ein kleines Maͤdchen,
das auch ſo eigenſinnig war, und immer auf
ſeinem Kopfe beſtand. Als ſie groß wurde
und heyrathete: was ſtand da der Mann,
das Geſinde mit der Frau aus! Ihre Kin-
der wurden noch aͤrger als die Mutter. Der
arme Mann graͤmte ſich bald zu Tode. Und
ihr gieng es klaͤglich. Weil niemand mit ihr
auskommen konnte; ſo war ſie auch von al-
len Menſchen verlaſſen.


Franz
[253]

Franz war der eigenſinnigſte Junge von
der Welt. Als er in die große Schule gieng;
ſo lernte er nichts, weil er den Lehrern nicht
folgen wollte. Auf der Univerſitaͤt hatte er
wegen ſeines Eigenſinnes tauſenderley Ver-
druß. Denn das merke dir, eine boͤſe Ge-
wohnheit wird mit den Jahren immer aͤrger.
Was man oft uͤbt, darinnen bringt man es
zur Fertigkeit: wie im Guten, ſo im Boͤſen.


Endlich konnte niemand mehr mit dem
eigenſinnigen Franz fertig werden. Alle Au-
genblicke mußte er ausziehen, weil ihn kein
Wirth mehr behalten wollte. Mit der Waͤ-
ſcherinn, mit dem Traiteur, mit dem Fri-
ſeur, mit allen Leuten hatte er Laͤrm, Kla-
gen, Proceſſe. Dieß machte ihn ſo deſpe-
rat, daß er unter die Soldaten gieng. Hat-
te er es da beſſer? Der Stock konnte ihm den
Eigenſinn bald aus dem Kopfe bringen. Es
gieng
[254] gieng aber doch Jahr und Tag hin, ehe er
ihn ganz ablegte. Taͤglich bekam er Pruͤgel.
Als er nach ſechs Jahren wieder los kam,
war er ein ganz anderer und beſſerer Menſch.


Iſt es aber nicht beſſer, wenn man von
Kindheit an nicht eigenſinnig iſt, als daß
man ſich erſt durch ſolche Mittel muß den Ei-
genſinn abgewoͤhnen laſſen?


[][][][][]
Notes
*)
Bey dieſer Gelegenheit beziehe ich mich auf das
Salzmanniſche Elementarbuch S. 10. 11.
Ein beſſeres Buch, nebſt den uͤbrigen vortreffli-
chen Schriften dieſes geſalbten Mannes, koͤnnen
Aeltern ihren Kindern gar nicht in die Haͤnde
geben.
*)
Eine wahre Geſchichte.
*)
Abermals eine wahre Geſchichte.

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TextGrid Repository (2025). Goeze, Johann August Ephraim. Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjv0.0