Dichtung und Wahrheit.
Es iſt dafür geſorgt, daß die Bäume nicht in den
Himmel wachſen.
: in der J. G. Cottaiſchen Buchhandlung.
1814.
Eilftes Buch.
III. 1[[2]][[3]]Nachdem ich in jener Laube zu Seſen¬
heim meine Erzaͤhlung vollendet, in welcher
das Gemeine mit dem Unmoͤglichen anmuthig
genug wechſelte, ſah ich meine Hoͤrerinnen,
die ſich ſchon bisher ganz eigen theilnehmend
erwieſen hatten, von meiner ſeltſamen Dar¬
ſtellung aufs aͤußerſte verzaubert. Sie baten
mich inſtaͤndig, ihnen das Maͤhrchen aufzu¬
ſchreiben, damit ſie es oͤfters unter ſich und
vorleſend mit andern wiederholen koͤnnten.
Ich verſprach es um ſo lieber, als ich da¬
durch einen Vorwand zu Wiederholung des
Beſuchs und Gelegenheit zu naͤherer Verbin¬
dung mir zu gewinnen hoffte. Die Geſell¬
ſchaft trennte ſich einen Augenblick und alle
mochten fuͤhlen, daß, nach einem ſo lebhaft
vollbrachten Tag, der Abend einigermaßen
matt werden koͤnnte. Von dieſer Sorge be¬
I *[4] freyte mich mein Freund, der ſich fuͤr uns
die Erlaubniß erbat, ſogleich Abſchied neh¬
men zu duͤrfen, weil er, als ein fleißiger
und in ſeinen Studien folgerechter academi¬
ſcher Buͤrger, dieſe Nacht in Druſenheim
zuzubringen und morgen zeitig in Straßburg
zu ſeyn wuͤnſche.
Unſer Nachtquartier erreichten wir beyde
ſchweigend; ich, weil ich einen Widerhaken
im Herzen fuͤhlte, der mich zuruͤckzog, er,
weil er etwas anderes im Sinne hatte, das
er mir, als wir angelangt waren, ſo¬
gleich mittheilte. — Es iſt doch wunderlich,
fing er an, daß du gerade auf dieſes Maͤhr¬
chen verfallen biſt. Haſt du nicht bemerkt,
daß, es einen ganz beſondern Eindruck mach¬
te? — Freylich, verſetzte ich darauf; wie
haͤtte ich nicht bemerken ſollen, daß die
aͤltere bey einigen Stellen, mehr als billig,
lachte, die juͤngere den Kopf ſchuͤttelte, daß
ihr euch bedeutend anſaht, und daß du ſelbſt
[5] beynah aus deiner Faſſung gekommen waͤreſt.
Ich leugne nicht, es haͤtte mich faſt irre ge¬
macht: denn es fuhr mir durch den Kopf,
daß es vielleicht unſchicklich ſey, den guten
Kindern ſolche Fratzen zu erzaͤhlen, die ihnen
beſſer unbekannt blieben, und ihnen von den
Maͤnnern ſo ſchlechte Begriffe zu geben, als
ſie von der Figur des Abenteurers ſich noth¬
wendig bilden muͤſſen. — Keineswegs! ver¬
ſetzte jener: du erraͤthſt es nicht, und wie
ſollteſt du's errathen? Die guten Kinder ſind
mit ſolchen Dingen gar nicht ſo unbekannt als
du glaubſt: denn die große Geſellſchaft um
ſie her giebt ihnen zu manchem Nachdenken An¬
laß, und ſo iſt uͤberrhein gerade ein ſolches
Ehepaar, nie du es, nur uͤbertrieben und
maͤhrchenhaft, ſchilderſt. Er gerade ſo groß,
derb und plump, ſie niedlich und zierlich ge¬
nug, daß er ſie wohl auf der Hand tragen
koͤnnte. Ihr uͤbriges Verhaͤltniß, ihre Ge¬
ſchichte paßt ebenfalls ſo genau zu deiner Er¬
zaͤhlung, daß die Maͤdchen mich ernſtlich
[6] fragten, ob du die Perſonen kennteſt und
ſie ſchalkhaft dargeſtellt haͤtteſt? Ich verſi¬
cherte nein! und du wirſt wohl thun, das
Maͤhrchen ungeſchrieben zu laſſen. Durch
Zoͤgern und Vorwaͤnde wollen wir ſchon eine
Entſchuldigung finden.
Ich verwunderte mich ſehr: denn ich
hatte weder an ein dießrheiniſches noch an
ein uͤberrheiniſches Paar gedacht, ja ich haͤtte
gar nicht anzugeben gewußt, wie ich auf den
Einfall gekommen. In Gedanken mochte ich
mich gern mit ſolchen Spaͤßen, ohne weitere
Beziehung, beſchaͤftigen, und ſo, glaubte ich,
ſollte es auch andern ſeyn, wenn ich ſie
erzaͤhlte.
Als ich in der Stadt wieder an meine
Geſchaͤfte kam, fuͤhlte ich die Beſchwerlich¬
keit derſelben mehr als ſonſt: denn der zur
Thaͤtigkeit geborene Menſch uͤbernimmt ſich
in Planen und uͤberladet ſich mit Arbeiten.
[7] Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgend
ein phyſiſches oder moraliſches Hinderniß da¬
zutritt, um das Unverhaͤltnißmaͤßige der Kraͤfte
zu dem Unternehmen in's Klare zu bringen.
Das Juriſtiſche trieb ich mit ſo viel
Fleiß als noͤthig war, um die Promotion
mit einigen Ehren zu abſolviren; das Me¬
diciniſche reizte mich, weil es mir die Na¬
tur nach allen Seiten wo nicht aufſchloß, doch
gewahr werden ließ, und ich war daran
durch Umgang und Gewohnheit gebunden;
der Geſellſchaft mußte ich auch einige Zeit
und Aufmerkſamkeit widmen: denn in man¬
chen Familien war mir mehreres zu Lieb und
zu Ehren geſchehn. Aber alles dieß waͤre zu
tragen und fortzufuͤhren geweſen, haͤtte nicht
das was Herder mir auferlegt, unendlich auf
mir gelaſtet. Er hatte den Vorhang zerriſſen,
der mir die Armuth der deutſchen Literatur
bedeckte; er hatte mir ſo manches Vorurtheil
mit Grauſamkeit zerſtoͤrt; an dem vaterlaͤndi¬
[8] ſchen Himmel blieben nur wenige bedeutende
Sterne, indem er die uͤbrigen alle nur als vor¬
uͤberfahrende Schnuppen behandelte; ja was
ich von mir ſelbſt hoffen und waͤhnen konnte,
hatte er mir dermaßen verkuͤmmert, daß ich
an meinen eignen Faͤhigkeiten zu verzweifeln
anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riß er mich
fort auf den herrlichen breiten Weg, den er
ſelbſt zu durchwandern geneigt war, machte
mich aufmerkſam auf ſeine Lieblingsſchriftſtel¬
ler, unter denen Swift und Hamann oben
an ſtanden, und ſchuͤttelte mich kraͤftiger auf
als er mich gebeugt hatte. Zu dieſer vielfa¬
chen Verwirrung nunmehr eine angehende Lei¬
denſchaft, die, indem ſie mich zu verſchlin¬
gen drohte, zwar von jenen Zuſtaͤnden mich
abziehn, aber wohl ſchwerlich daruͤber erhe¬
ben konnte. Dazu kam noch ein koͤrperliches
Uebel, daß mir naͤmlich nach Tiſche die
Kehle wie zugeſchnuͤrt war; welches ich erſt
ſpaͤter ſehr leicht los wurde, als ich einem
rothen Wein, den wir in der Penſion ge¬
[9] woͤhnlich und ſehr gern tranken, entſagte.
Dieſe unertraͤgliche Unbequemlichkeit hatte mich
auch in Seſenheim verlaſſen, ſo daß ich mich
dort doppelt vergnuͤgt befand; als ich aber zu
meiner ſtaͤdtiſchen Diaͤt zuruͤckkehrte, ſtellte
ſie ſich zu meinem großen Verdruß ſogleich
wieder ein. Alles dieß machte mich nachdenk¬
lich und muͤrriſch, und mein Aeußeres mochte
mit dem Innern uͤbereinſtimmen.
Verdrießlicher als jemals, weil eben
nach Tiſche jenes Uebel ſich heftig eingefun¬
den hatte, wohnte ich dem Klinikum bey.
Die große Heiterkeit und Behaglichkeit wo¬
mit der verehrte Lehrer uns von Bett zu
Bett fuͤhrte, die genaue Bemerkung bedeu¬
tender Symptome, die Beurtheilung des
Gangs der Krankheit uͤberhaupt, die ſchoͤne
Hippocratiſche Verfahrungsart, wodurch ſich,
ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die
Geſtalten des Wiſſens heraufgaben, die
Schlußreden mit denen er gewoͤhnlich ſeine
[10] Stunden zu kroͤnen pflegte, das alles zog
mich zu ihm und machte mir ein fremdes
Fach, in das ich nur wie durch eine Ritze
hineinſah, um deſto reizender und lieber.
Mein Abſcheu gegen die Kranken nahm im¬
mer mehr ab, jemehr ich dieſe Zuſtaͤnde in
Begriffe verwandeln lernte, durch welche die
Heilung, die Wiederherſtellung menſchlicher
Geſtalt und Weſens als moͤglich erſchien.
Er mochte mich wohl, als einen ſeltſamen
jungen Menſchen, beſonders ins Auge gefaßt
und mir die wunderliche Anomalie, die mich
zu ſeinen Stunden hinfuͤhrte, verziehn ha¬
ben. Dießmal ſchloß er ſeinen Vortrag nicht,
wie ſonſt, mit einer Lehre, die ſich auf ir¬
gend eine beobachtete Krankheit bezogen haͤtte,
ſondern ſagte mit Heiterkeit: Meine Herren!
wir ſehen einige Ferien vor uns. Benutzen
Sie dieſelben ſich aufzumuntern; die Stu¬
dien wollen nicht allein ernſt und fleißig, ſie
wollen auch heiter und mit Geiſtesfreyheit be¬
handelt werden. Geben Sie Ihrem Koͤrper
[11] Bewegung, durchwandern Sie zu Fuß und
zu Pferde das ſchoͤne Land; der Einheimi¬
ſche wird ſich an dem Gewohnten erfreuen,
und dem Fremden wird es neue Eindruͤcke
geben und eine angenehme Erinnerung zuruͤck¬
laſſen.
Es waren unſer eigentlich nur zwey, an
welche dieſe Ermahnung gerichtet ſeyn konnte;
moͤge dem Andern dieſes Recept eben ſo ein¬
geleuchtet haben als mir! Ich glaubte eine
Stimme vom Himmel zu hoͤren, und eilte
was ich konnte, ein Pferd zu beſtellen und
mich ſauber herauszuputzen. Ich ſchickte nach
Weyland, er war nicht zu finden. Dieß
hielt meinen Entſchluß nicht auf, aber leider
verzogen ſich die Anſtalten und ich kam nicht
ſo fruͤh weg als ich gehofft hatte. So ſtark
ich auch ritt, uͤberfiel mich doch die Nacht.
Der Weg war nicht zu verfehlen und der
Mond beleuchtete mein leidenſchaftliches Un¬
ternehmen. Die Nacht war windig und
[12] ſchauerlich, ich ſprengte zu, um nicht bis
morgen fruͤh auf ihren Anblick warten zu
muͤſſen.
Es war ſchon ſpaͤt, als ich in Seſen¬
heim mein Pferd einſtellte. Der Wirth, auf
meine Frage, ob wohl in der Pfarre noch
Licht ſey, verſicherte mich, die Frauenzim¬
mer ſeyen eben erſt nach Hauſe gegangen;
er glaube gehoͤrt zu haben, daß ſie noch ei¬
nen Fremden erwarteten. Das war mir
nicht recht; denn ich haͤtte gewuͤnſcht der
einzige zu ſeyn. Ich eilte nach, um we¬
nigſtens, ſo ſpaͤt noch, als der erſte zu er¬
ſcheinen. Ich fand die beyden Schweſtern
vor der Thuͤre ſitzend; ſie ſchienen nicht ſehr
verwundert, aber ich war es, als Friedrike
Olivien ins Ohr ſagte, ſo jedoch daß ich's
hoͤrte: hab' ich's nicht geſagt? da iſt er!
Sie fuͤhrten mich ins Zimmer und ich fand
eine kleine Collation aufgeſtellt. Die Mutter
begruͤßte mich als einen alten Bekannten;
[13] wie mich aber die aͤltere bey Licht beſah,
brach ſie in ein lautes Gelaͤchter aus: denn
ſie konnte wenig an ſich halten.
Nach dieſem erſten etwas wunderlichen
Empfang ward ſogleich die Unterredung frey
und heiter, und was mir dieſen Abend verbor¬
gen blieb, erfuhr ich den andern Morgen. Frie¬
drike hatte voraus geſagt, daß ich kommen
wuͤrde; und wer fuͤhlt nicht einiges Behagen
beym Eintreffen einer Ahndung, ſelbſt einer
traurigen? Alle Vorgefuͤhle, wenn ſie durch
das Ereigniß beſtaͤtigt werden, geben dem
Menſchen einen hoͤheren Begriff von ſich ſelbſt,
es ſey nun, daß er ſich ſo zart fuͤhlend glau¬
ben kann, um einen Bezug in der Ferne zu ta¬
ſten, oder ſo ſcharfſinnig, um nothwendige
aber doch ungewiſſe Verknuͤpfungen gewahr
zu werden. — Oliviens Lachen blieb auch
kein Geheimniß; ſie geſtand, daß es ihr ſehr
luſtig vorgekommen, mich dießmal geputzt
und wohl ausſtaffirt zu ſehn; Friedrike
[14] hingegen fand es vortheilhaft, eine ſolche
Erſcheinung mir nicht als Eitelkeit auszule¬
gen, vielmehr den Wunſch, ihr zu gefallen,
darin zu erblicken.
Fruͤh bey Zeiten rief mich Friedrike
zum Spazirengehn; Mutter und Schweſter
waren beſchaͤftigt, alles zum Empfang meh¬
rerer Gaͤſte vorzubereiten. Ich genoß an der
Seite des lieben Maͤdchens der herrlichen
Sonntagsfruͤhe auf dem Lande, wie ſie uns
der unſchaͤtzbare Hebel vergegenwaͤrtigt hat.
Sie ſchilderte mir die erwartete Geſellſchaft
und bat mich, ihr beyzuſtehn, daß alle Ver¬
gnuͤgungen wo moͤglich gemeinſam und in einer
gewiſſen Ordnung moͤchten genoſſen werden.
Gewoͤhnlich, ſagte ſie, zerſtreut man ſich ein¬
zeln, Scherz und Spiel wird nur obenhin
gekoſtet, ſo daß zuletzt fuͤr den einen Theil
nichts uͤbrig bleibt, als die Karten zu er¬
greifen, und fuͤr den andern, im Tanze
ſich auszuraſen.
[15]
Wir entwarfen demnach unſern Plan,
was ror und nach Tiſche geſchehn ſollte,
machten einander wechſelſeitig mit neuen geſel¬
ligen Spielen bekannt, waren einig und ver¬
gnuͤgt, als uns die Glocke nach der Kirche
rief, wo ich denn, an ihrer Seite, eine et¬
was trockene Predigt des Vaters nicht zu
lang fand.
Zeitverkuͤrzend iſt immer die Naͤhe der
Geliebten, doch verging mir dieſe Stunde auch
unter beſonderem Nachdenken. Ich wiederholte
mir die Vorzuͤge, die ſie ſo eben auf's frey¬
ſte vor mir entwickelte: beſonnene Heiterkeit,
Naivetaͤt mit Bewußtſeyn, Frohſinn mit
Vorausſehn; Eigenſchaften, die unvertraͤglich
ſcheinen, die ſich aber bey ihr zuſammenfan¬
den und ihr Aeußeres gar hold bezeichneten.
Nun hatte ich aber auch ernſtere Betrachtun¬
gen uͤber mich ſelbſt anzuſtellen, die einer
freyen Heiterkeit eher Eintrag thaten.
[16]
Seitdem jenes leidenſchaftliche Maͤdchen
meine Lippen verwuͤnſcht und geheiligt, (denn
jede Weihe enthaͤlt ja beydes,) hatte ich mich,
aberglaͤubiſch genug, in Acht genommen, ir¬
gend ein Maͤdchen zu kuͤſſen, weil ich ſolches
auf eine unerhoͤrte geiſtige Weiſe zu beſchaͤdi¬
gen fuͤrchtete. Ich uͤberwand daher jede Luͤ¬
ſternheit, durch die ſich der Juͤngling ge¬
drungen fuͤhlt, dieſe viel oder wenig ſa¬
gende Gunſt einem reizenden Maͤdchen ab¬
zugewinnen. Aber ſelbſt in der ſittigſten Ge¬
ſellſchaft erwartete mich eine laͤſtige Pruͤfung.
Eben jene, mehr oder minder geiſtreichen,
ſogenannten kleinen Spiele, durch welche ein
munterer jugendlicher Kreis geſammelt und
vereinigt wird, ſind großentheils auf Pfaͤn¬
der gegruͤndet, bey deren Einforderung die
Kuͤſſe keinen unbedeutenden Loͤſewerth haben.
Ich hatte mir nun ein fuͤr allemal vorgenom¬
men, nicht zu kuͤſſen, und wie uns irgend ein
Mangel oder Hinderniß zu Thaͤtigkeiten auf¬
regt, zu denen man ſich ſonſt nicht hinge¬
[17] neigt haͤtte, ſo bot ich alles auf, was an
mir von Talent und Humor war, mich durch¬
zuwinden und dabey vor der Geſellſchaft und
fuͤr die Geſellſchaft eher zu gewinnen als zu
verlieren. Wenn zu Einloͤſung eines Pfandes
ein Vers verlangt werden ſollte, ſo richtete
man die Forderung meiſt an mich. Nun
war ich immer vorbereitet und wußte bey ſol¬
cher Gelegenheit etwas zum Lobe der Wir¬
thinn, oder eines Frauenzimmers, die ſich
am artigſten gegen mich erwieſen hatte, vor¬
zubringen. Traf es ſich, daß mir allenfalls
ein Kuß auferlegt wurde, ſo ſuchte ich mich
mit einer Wendung herauszuziehn, mit der
man gleichfalls zufrieden war; und da ich
Zeit gehabt hatte, vorher daruͤber nachzuden¬
ken, ſo fehlte es mir nicht an mannigfaltigen
Zierlichkeiten; doch gelangen die aus dem
Stegreife immer am beſten.
Als wir nach Hauſe kamen, ſchwirrten
die von mehreren Seiten angekommenen Gaͤſte
III. 2[18] ſchon luſtig durch einander, bis Friedrike ſie
ſammelte und zu einem Spazirgang nach je¬
nem ſchoͤnen Platze lud und fuͤhrte. Dort
fand man eine reichliche Collation und wollte
mit geſelligen Spielen die Stunde des Mit¬
tageſſens erwarten. Hier wußte ich, in Ein¬
ſtimmung mit Friedriken, ob ſie gleich mein
Geheimniß nicht ahndete, Spiele ohne Pfaͤn¬
der und Pfaͤnderloͤſungen ohne Kuͤſſe zu be¬
reiten und durchzufuͤhren.
Meine Kunſtfertigkeit und Gewandtheit
war um ſo noͤthiger, als die mir ſonſt ganz
fremde Geſellſchaft geſchwind ein Verhaͤltniß
zwiſchen mir und dem lieben Maͤdchen mochte
geahndet haben, und ſich nun ſchalkhaft alle
Muͤhe gab, mir dasjenige aufzudringen, was
ich heimlich zu vermeiden ſuchte. Denn be¬
merkt man in ſolchen Cirkeln eine angehende
Neigung junger Perſonen, ſo ſucht man ſie
verlegen zu machen oder naͤher zuſammenzubrin¬
gen, eben ſo wie man in der Folge, wenn
[19] ſich eine Leidenſchaft erklaͤrt hat, bemuͤht iſt,
ſie wieder aus einander zu ziehen; wie es
denn dem geſelligen Menſchen ganz gleichguͤl¬
tig iſt, ob er nutzt oder ſchadet, wenn er
nur unterhalten wird.
Ich konnte mit einiger Aufmerkſamkeit
an dieſem Morgen Friedrikens ganzes Weſen
gewahr werden, dergeſtalt, daß ſie mir fuͤr die
ganze Zeit immer dieſelbe blieb. Schon die
freundlichen, vorzuͤglich an ſie gerichteten Gruͤße
der Bauern gaben zu verſtehn, daß ſie ihnen
wohlthaͤtig ſey und ihr Behagen errege. Zu
Hauſe ſtand die aͤltere der Mutter bey; alles
was koͤrperliche Anſtrengung erforderte, ward
nicht von Friedriken verlangt, man ſchonte
ſie, wie man ſagte, ihrer Bruſt wegen.
Es giebt Frauensperſonen die uns im
Zimmer beſonders wohl gefallen, andere die ſich
beſſer im Freyen ausnehmen; Friedrike ge¬
hoͤrte zu den letztern. Ihr Weſen, ihre Ge¬
2 *[20] ſtalt trat niemals reizender hervor, als wenn
ſie ſich auf einem erhoͤhten Fußpfad hinbe¬
wegte; die Anmuth ihres Betragens ſchien
mit der bebluͤmten Erde, und die unver¬
wuͤſtliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem
blauen Himmel zu wetteifern. Dieſen er¬
quicklichen Aether der ſie umgab, brachte ſie
auch mit nach Hauſe und es ließ ſich bald
bemerken, daß ſie Verwirrungen auszuglei¬
chen und die Eindruͤcke kleiner unangenehmer
Zufaͤlligkeiten leicht wegzuloͤſchen verſtand.
Die reinſte Freude die man an einer ge¬
liebten Perſon finden kann, iſt die, zu ſehen,
daß ſie andere erfreut. Friedrikens Betra¬
gen in der Geſellſchaft war allgemein wohl¬
thaͤtig. Auf Spazirgaͤngen ſchwebte ſie, ein
belebender Geiſt, hin und wieder und wußte
die Luͤcken auszufuͤllen, welche hier und da
entſtehn mochten. Die Leichtigkeit ihrer Be¬
wegungen haben wir ſchon geruͤhmt, und am
allerzierlichſten war ſie, wenn ſie lief. So
[21] wie das Reh ſeine Beſtimmung ganz zu er¬
fuͤllen ſcheint, wenn es leicht uͤber die kei¬
menden Saaten wegfliegt, ſo ſchien auch ſie
ihre Art und Weiſe am deutlichſten auszu¬
druͤcken, wenn ſie, etwas Vergeſſenes zu ho¬
len, etwas Verlorenes zu ſuchen, ein ent¬
ferntes Paar herbeyzurufen, etwas Nothwen¬
diges zu beſtellen, uͤber Rain und Matten leich¬
ten Laufes hineilte. Dabey kam ſie niemals au¬
ßer Athem, und blieb voͤllig im Gleichge¬
wicht; daher mußte die allzu große Sorge der
Aeltern fuͤr ihre Bruſt manchem uͤbertrieben
ſcheinen.
Der Vater, der uns manchmal durch
Wieſen und Felder begleitete, war oͤfters
nicht guͤnſtig gepaart. Ich geſellte mich des¬
halb zu ihm, und er verfehlte nicht, ſein
Lieblingsthema wieder anzuſtimmen und mich
von dem vorgeſchlagenen Bau des Pfarrhau¬
ſes umſtaͤndlich zu unterhalten. Er beklagte
ſich beſonders, daß er die ſorgfaͤltig gefertigten
[22] Riſſe nicht wieder erhalten koͤnne, um daruͤ¬
ber nachzudenken und eine und die andere
Verbeſſerung zu uͤberlegen. Ich erwiederte
darauf, es ſey leicht ſie zu erſetzen, und erbot
mich zur Fertigung eines Grundriſſes, auf
welchen doch vorerſt alles ankomme. Er
war es wohl zufrieden, und bey der noͤthi¬
gen Ausmeſſung ſollte der Schulmeiſter an
Hand gehen, welchen aufzuregen er denn
auch ſogleich forteilte, damit ja der Fuß-
und Zollſtab morgen fruͤh bereit waͤre.
Als er hinweggegangen war, ſagte Frie¬
drike: Sie ſind recht gut, die ſchwache
Seite des lieben Vaters zu hegen und nicht,
wie die andern, die dieſes Geſpraͤch ſchon uͤber¬
druͤſſig ſind, ihn zu meiden oder davon ab¬
zubrechen. Freylich muß ich Ihnen bekennen,
daß wir uͤbrigen den Bau nicht wuͤnſchen; er
wuͤrde der Gemeine zu hoch zu ſtehn kommen
und uns auch. Neues Haus, neues Hausge¬
[23] raͤthe! Unſern Gaͤſten wuͤrde es bey uns nicht
wohler ſeyn, ſie ſind nun einmal das alte Ge¬
baͤude gewohnt. Hier koͤnnen wir ſie reichlich
bewirthen, dort faͤnden wir uns in einem wei¬
tern Raume beengt. So ſteht die Sache;
aber unterlaſſen Sie nicht, gefaͤllig zu ſeyn,
ich danke es Ihnen von Herzen.
Ein anderes Frauenzimmer, das ſich zu
uns geſellte, fragte nach einigen Romanen,
ob Friedrike ſolche geleſen habe. Sie ver¬
neinte es: denn ſie hatte uͤberhaupt wenig
geleſen; ſie war in einem heitern ſittlichen
Lebensgenuß aufgewachſen und dem gemaͤß ge¬
bildet. Ich hatte den Wakefield auf der
Zunge, allein ich wagte nicht, ihr ihn an¬
zubieten; die Aehnlichkeit der Zuſtaͤnde war
zu auffallend und zu bedeutend. — Ich leſe
ſehr gern Romane, ſagte ſie; man findet
darin ſo huͤbſche Leute, denen man wohl
aͤhnlich ſehen moͤchte.
[24]
Die Ausmeſſung des Hauſes geſchah des
andern Morgens. Sie ging ziemlich lang¬
ſam von Statten, da ich in ſolchen Kuͤnſten
ſo wenig gewandt war, als der Schulmeiſter.
Endlich kam ein leidlicher Entwurf zu Stande.
Der gute Vater ſagte mir ſeine Abſicht und
war nicht unzufrieden, als ich Urlaub nahm,
um den Riß in der Stadt mit mehr Be¬
quemlichkeit zu verfertigen. Friedrike entließ
mich froh; ſie war von meiner Neigung
uͤberzeugt, wie ich von der ihrigen, und die
ſechs Stunden ſchienen keine Entfernung mehr.
Es war ſo leicht, mit der Diligence nach
Druſenheim zu fahren und ſich durch dieſes
Fuhrwerk, ſo wie durch ordentliche und außer¬
ordentliche Boten, in Verbindung zu erhalten,
wobey Georges den Spediteur machen ſollte.
In der Stadt angelangt, beſchaͤftigte
ich mich in den fruͤheſten Stunden — denn
an langen Schlaf war nicht mehr zu denken —
mit dem Riſſe, den ich ſo ſauber als moͤg¬
[25] lich zeichnete. Indeſſen hatte ich ihr Buͤcher
geſchickt und ein kurzes freundliches Wort da¬
zu geſchrieben. Ich erhielt ſogleich Antwort
und erfreute mich ihrer leichten, huͤbſchen,
herzlichen Hand. Ebenſo war Inhalt und
Styl natuͤrlich, gut, liebevoll, von innen
heraus, und ſo wurde der angenehme Ein¬
druck, den ſie auf mich gemacht, immer erhal¬
ten und erneuert. Ich wiederholte mir die
Vorzuͤge ihres holden Weſens nur gar zu gern,
und naͤhrte die Hoffnung, ſie bald und auf
laͤngere Zeit wiederzuſehn.
Es bedurfte nun nicht mehr eines Zu¬
rufs von Seiten des braven Lehrers; er
hatte mich durch jene Worte zur rechten Zeit
ſo aus dem Grunde curirt, daß ich ihn und
ſeine Kranken nicht leicht wiederzuſehen Luſt
hatte. Der Briefwechſel mit Friedriken wurde
lebhafter. Sie lud mich ein zu einem Feſte,
wozu auch uͤberrheiniſche Freunde kommen wuͤr¬
den; ich ſollte mich auf laͤngere Zeit einrich¬
[26] ten. Ich that es, indem ich einen tuͤchti¬
gen Mantelſack auf die Diligence packte, und
in wenig Stunden befand ich mich in ihrer Naͤ¬
he. Ich traf eine große und luſtige Geſellſchaft,
nahm den Vater bey Seite, uͤberreichte ihm
den Riß, uͤber den er große Freude bezeigte;
ich beſprach mit ihm, was ich bey der Aus¬
arbeitung gedacht hatte; er war außer ſich
vor Vergnuͤgen, beſonders lobte er die Rein¬
lichkeit der Zeichnung: die hatte ich von Ju¬
gend auf geuͤbt und mir dießmal auf dem
ſchoͤnſten Papier noch beſondere Muͤhe gege¬
ben. Allein dieſes Vergnuͤgen wurde unſerm
guten Wirthe gar bald verkuͤmmert, da er,
gegen meinen Rath, in der Freude ſeines
Herzens, den Riß der Geſellſchaft vorlegte.
Weit entfernt, daran die erwuͤnſchte Theil¬
nahme zu aͤußern, achteten die einen dieſe
koͤſtliche Arbeit gar nicht; andere, die etwas
von der Sache zu verſtehn glaubten, mach¬
ten es noch ſchlimmer; ſie tadelten den Ent¬
wurf als nicht kunſtgerecht, und als der
[27] Alte einen Augenblick nicht aufmerkte, hand¬
habten ſie dieſe ſaubern Blaͤtter als Brouil¬
lons, und einer zog mit harten Bleyſtift¬
ſtrichen ſeine Verbeſſerungsvorſchlaͤge derge¬
ſtalt derb uͤber das zarte Papier, daß an Wie¬
derherſtellung der erſten Reinheit nicht zu den¬
ken war.
Den hoͤchſt verdrießlichen Mann, dem
ſein Vergnuͤgen ſo ſchmaͤhlich vereitelt worden,
vermochte ich kaum zu troͤſten, ſo ſehr ich
ihm auch verſicherte, daß ich ſie ſelbſt nur
fuͤr Entwuͤrfe gehalten, woruͤber wir ſpre¬
chen und neue Zeichnungen darauf bauen woll¬
ten. Er ging dem allen ungeachtet hoͤchſt ver¬
drießlich weg, und Friedrike dankte mir fuͤr
die Aufmerkſamkeit gegen den Vater eben ſo
ſehr als fuͤr die Geduld bey der Unart der
Mitgaͤſte.
Ich aber kannte keinen Schmerz noch Ver¬
druß in ihrer Naͤhe. Die Geſellſchaft beſtand
[28] aus jungen, ziemlich laͤrmenden Freunden, die
ein alter Herr noch zu uͤberbieten trachtete und
noch wunderlicheres Zeug angab als ſie aus¬
uͤbten. Man hatte ſchon beym Fruͤhſtuͤck den
Wein nicht geſpart; bey einem ſehr wohl
beſetzten Mittagstiſche ließ man ſich's an kei¬
nem Genuß ermangeln und allen ſchmeckte es,
nach der angreifenden Leibesuͤbung bey ziem¬
licher Waͤrme, um ſo beſſer, und wenn der
alte Amtmann des Guten ein wenig zuviel
gethan hatte, ſo war die Jugend nicht weit
hinter ihm zuruͤckgeblieben.
Ich war grenzenlos gluͤcklich an Frie¬
drikens Seite; geſpraͤchig, luſtig, geiſtreich,
vorlaut, und doch durch Gefuͤhl, Achtung
und Anhaͤnglichkeit gemaͤßigt. Sie in glei¬
chem Falle, offen, heiter, theilnehmend und
mittheilend. Wir ſchienen allein fuͤr die Geſell¬
ſchaft zu leben und lebten bloß wechſelſeitig
fuͤr uns.
[29]
Nach Tiſche ſuchte man den Schatten,
geſellſchaftliche Spiele wurden vorgenommen
und Pfaͤnderſpiele kamen an die Reihe. Bey
Loͤſung der Pfaͤnder ging alles jeder Art ins
Uebertriebene: Gebaͤrden die man verlangte,
Handlungen die man ausuͤben, Aufgaben die
man loͤſen ſollte, alles zeigte von einer ver¬
wegenen Luſt, die keine Grenzen kennt. Ich
ſelbſt ſteigerte dieſe wilden Scherze durch man¬
chen Schwank, Friedrike glaͤnzte durch man¬
chen neckiſchen Einfall; ſie erſchien mir lieb¬
licher als je; alle hypochondriſchen aberglaͤu¬
biſchen Grillen waren mir verſchwunden und
als ſich die Gelegenheit gab, meine ſo zaͤrt¬
lich Geliebte recht herzlich zu kuͤſſen, ver¬
ſaͤumte ich's nicht, und noch weniger verſagte
ich mir die Wiederholung dieſer Freude.
Die Hoffnung der Geſellſchaft auf Muſik
wurde endlich befriedigt, ſie ließ ſich hoͤren und
alles eilte zum Tanz. Die Allemanden, das
Walzen und Drehen war Anfang, Mittel und
[30] Ende. Alle waren zu dieſem Nationaltanz
aufgewachſen; auch ich machte meinen gehei¬
men Lehrmeiſterinnen Ehre genug, und Frie¬
drike, welche tanzte wie ſie ging, ſprang
und lief, war ſehr erfreut, an mir einen
geuͤbten Partner zu finden. Wir hielten meiſt
zuſammen, mußten aber bald Schicht machen,
weil man ihr von allen Seiten zuredete,
nicht weiter fortzuraſen. Wir entſchaͤdigten
uns durch einen einſamen Spazirgang Hand
in Hand, und an jenem ſtillen Platze durch
die herzlichſte Umarmung und die treulichſte
Verſicherung, daß wir uns von Grund aus
liebten.
Aeltere Perſonen die vom Spiel aufge¬
ſtanden waren, zogen uns mit ſich fort.
Bey der Abend-Collation kam man eben ſo we¬
nig zu ſich ſelbſt; es ward bis tief in die
Nacht getanzt, und an Geſundheiten ſo wie
an andern Aufmunterungen zum Trinken fehlte
es ſo wenig als am Mittag.
[31]
Ich hatte kaum einige Stunden ſehr tief
geſchlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr
gebrachtes Blut mich aufweckte. In ſolchen
Stunden und Lagen iſt es, wo die Sorge,
die Reue den wehrlos hingeſtreckten Men¬
ſchen zu uͤberfallen pflegen. Meine Einbil¬
dungskraft ſtellte mir zugleich die lebhafteſten
Bilder dar; ich ſehe Lucinden, wie ſie, nach
dem heftigen Kuſſe, leidenſchaftlich von mir zu¬
ruͤcktritt, mit gluͤhender Wange, mit funkeln¬
den Augen jene Verwuͤnſchung ausſpricht, wo¬
durch nur ihre Schweſter bedroht werden ſoll,
und wodurch ſie unwiſſend fremde Schuldloſe
bedroht. Ich ſehe Friedriken gegen ihr uͤber¬
ſtehn, erſtarrt vor dem Anblick, bleich und die
Folgen jener Verwuͤnſchung fuͤhlend, von der ſie
nichts weiß. Ich finde mich in der Mitte, ſo
wenig im Stande, die geiſtigen Wirkungen
jenes Abenteuers abzulehnen als jenen Ungluͤck
weiſſagenden Kuß zu vermeiden. Die zarte
Geſundheit Friedrikens ſchien den gedrohten
Unfall zu beſchleunigen, und nun kam mir ihre
[32] Liebe zu mir recht unſelig vor; ich wuͤnſchte
uͤber alle Berge zu ſeyn.
Was aber noch ſchmerzlicheres fuͤr mich
im Hintergrunde lag, will ich nicht verheh¬
len. Ein gewiſſer Duͤnkel unterhielt bey mir
jenen Aberglauben; meine Lippen — geweiht
oder verwuͤnſcht — kamen mir bedeutender
vor als ſonſt, und mit nicht geringer Selbſt¬
gefaͤlligkeit war ich mir meines enthaltſamen
Betragens bewußt, indem ich mir manche
unſchuldige Freude verſagte, theils um jenen
magiſchen Vorzug zu bewahren, theils um
ein harmloſes Weſen nicht zu verletzen, wenn
ich ihn aufgaͤbe.
Nunmehr aber war alles verloren und
unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen
Zuſtand zuruͤckgekehrt, ich glaubte das liebſte
Weſen verletzt, ihr unwiederbringlich geſcha¬
det zu haben; und ſo war jene Verwuͤn¬
ſchung, anſtatt daß ich ſie haͤtte los werden
[33] ſollen, von meinen Lippen in mein eignes
Herz zuruͤckgeſchlagen.
Das alles raſ'te zuſammen in meinem durch
Liebe und Leidenſchaft, Wein und Tanz auf¬
geregten Blute, verwirrte mein Denken, pei¬
nigte mein Gefuͤhl, ſo daß ich, beſonders im
Gegenſatz mit den geſtrigen behaglichen Freu¬
den, mich in einer Verzweiflung fuͤhlte, die
ohne Grenzen ſchien. Gluͤcklicherweiſe blickte
durch eine Spalte im Laden das Tagslicht
mich an, und alle Maͤchte der Nacht uͤberwin¬
dend ſtellte mich die hervortretende Sonne wie¬
der auf meine Fuͤße; ich war bald im Freyen
und ſchnell erquickt, wo nicht hergeſtellt.
Der Aberglaube, ſo wie manches andre
Waͤhnen, verliert ſehr leicht an ſeiner Ge¬
walt, wenn er, ſtatt unſerer Eitelkeit zu
ſchmeicheln, ihr in den Weg tritt, und die¬
ſem zarten Weſen eine boͤſe Stunde machen
will; wir ſehen alsdann recht gut, daß wir
III. 3[34] ihn loswerden koͤnnen, ſobald wir wollen; wir
entſagen ihm um ſo leichter, jemehr alles was
wir ihm entziehn, zu unſerm Vortheil ge¬
reicht. Der Anblick Friedrikens, das Ge¬
fuͤhl ihrer Liebe, die Heiterkeit der Umge¬
bung, alles machte mir Vorwuͤrfe, daß ich
in der Mitte der gluͤcklichſten Tage ſo trau¬
rige Nachtvoͤgel bey mir beherbergen moͤgen;
ich glaubte ſie auf ewig verſcheucht zu haben.
Des lieben Maͤdchens immer mehr annaͤhern¬
des zutrauliches Betragen machte mich durch
und durch froh und ich fand mich recht gluͤck¬
lich, daß ſie mir dießmal beym Abſchied oͤf¬
fentlich, wie andern Freunden und Verwand¬
ten, einen Kuß gab.
In der Stadt erwarteten mich gar manche
Geſchaͤfte und Zerſtreuungen, aus denen ich
mich oft, durch einen jetzt regelmaͤßig einge¬
leiteten Briefwechſel mit meiner Geliebten,
zu ihr ſammelte. Auch in Briefen blieb ſie
immer dieſelbe; ſie mochte etwas Neues er¬
[35] zaͤhlen, oder auf bekannte Begebenheiten an¬
ſpielen, leicht ſchildern, voruͤbergehend reflec¬
tiren, immer war es, als wenn ſie auch mit
der Feder gehend, kommend, laufend, ſprin¬
gend, ſo leicht auftraͤte als ſicher. Auch ich
ſchrieb ſehr gern an ſie: denn die Vergegen¬
waͤrtigung ihrer Vorzuͤge vermehrte meine
Neigung auch in der Abweſenheit, ſo daß
dieſe Unterhaltung einer perſoͤnlichen wenig
nachgab, ja in der Folge mir ſogar angeneh¬
mer, theurer wurde.
Denn jener Aberglaube hatte voͤllig wei¬
chen muͤſſen. Er gruͤndete ſich zwar auf Ein¬
druͤcke fruͤherer Jahre, allein der Geiſt des
Tags, das Raſche der Jugend, der Um¬
gang mit kalten, verſtaͤndigen Maͤnnern, al¬
les war ihm unguͤnſtig, ſo daß ſich nicht
leicht Jemand in meiner ganzen Umgebung
gefunden haͤtte, dem nicht ein Bekenntniß
meiner Grille vollkommen laͤcherlich geweſen
waͤre. Allein das Schlimmſte war, daß je¬
3 *[36] ner Wahn, indem er floh, eine wahre Be¬
trachtung uͤber den Zuſtand zuruͤckließ, in
welchem ſich immer junge Leute befinden, de¬
ren fruͤhzeitige Neigungen ſich keinen dauer¬
haften Erfolg verſprechen duͤrfen. So wenig
war mir geholfen, den Irrthum los zu ſeyn,
daß Verſtand und Ueberlegung mir nur noch
ſchlimmer in dieſem Falle mitſpielten. Meine
Leidenſchaft wuchs, jemehr ich den Werth
des trefflichen Maͤdchens kennen lernte, und
die Zeit ruͤckte heran, da ich ſo viel Liebes und
Gutes, vielleicht auf immer, verlieren ſollte.
Wir hatten eine Zeit lang zuſammen ſtill
und anmuthig fortgelebt, als Freund Wey¬
land die Schalkheit beging, den Landprieſter
von Wakefield nach Seſenheim mitzubringen
und mir ihn, da vom Vorleſen die Rede
war, unvermuthet zu uͤberreichen, als haͤtte
es weiter gar nichts zu ſagen. Ich wußte
mich zu faſſen und las ſo heiter und freymuͤ¬
thig als ich nur konnte. Auch die Geſichter
[37] meiner Zuhoͤrer erheiterten ſich ſogleich, und
es ſchien ihnen gar nicht unangenehm, aber¬
mals zu einer Vergleichung genoͤthigt zu ſeyn.
Hatten ſie zu Raymond und Meluſine comi¬
ſche Gegenbilder gefunden, ſo erblickten ſie
hier ſich ſelbſt in einem Spiegel, der keines¬
wegs verhaͤßlichte. Man geſtand ſich's nicht
ausdruͤcklich, aber man verleugnete es nicht,
daß man ſich unter Geiſtes- und Gefuͤhlsver¬
wandten bewege.
Alle Menſchen guter Art empfinden bey
zunehmender Bildung, daß ſie auf der Welt
eine doppelte Rolle zu ſpielen haben, eine
wirkliche und eine ideelle, und in dieſem Ge¬
fuͤhl iſt der Grund alles Edlen aufzuſuchen.
Was uns fuͤr eine wirkliche zugetheilt ſey, er¬
fahren wir nur allzu deutlich; was die zweyte
betrifft, daruͤber koͤnnen wir ſelten in's Klare
kommen. Der Menſch mag ſeine hoͤhere Be¬
ſtimmung auf Erden oder im Himmel, in
der Gegenwart oder in der Zukunft ſuchen,
[38] ſo bleibt er deshalb doch innerlich einem ewi¬
gen Schwanken, von außen einer immer ſtoͤ¬
renden Einwirkung ausgeſetzt, bis er ein fuͤr
allemal den Entſchluß faßt, zu erklaͤren, das
Rechte ſey das was ihm gemaͤß iſt.
Unter die laͤßlichſten Verſuche, ſich etwas
Hoͤheres anzubilden, ſich einem Hoͤheren gleich
zu ſtellen, gehoͤrt wohl der jugendliche Trieb,
ſich mit Romanenfiguren zu vergleichen. Er
iſt hoͤchſt unſchuldig, und, was man auch
dagegen eifern mag, hoͤchſt unſchaͤdlich. Er
unterhaͤlt uns in Zeiten, wo wir vor Langer¬
weile umkommen oder zu leidenſchaftlicher Un¬
terhaltung greifen muͤßten.
Wie oft wiederholt man nicht die Litaney
vom Schaden der Romane, und was iſt es
denn fuͤr ein Ungluͤck, wenn ein artiges
Maͤdchen, ein huͤbſcher junger Mann ſich an
die Stelle der Perſon ſetzt, der es beſſer
und ſchlechter geht als ihm ſelbſt? Iſt denn
[39] das buͤrgerliche Leben ſo viel werth, oder
verſchlingen die Beduͤrfniſſe des Tags den
Menſchen ſo ganz, daß er jede ſchoͤne For¬
derung von ſich ablehnen ſoll?
So ſind als kleine Nebenzweige der roman¬
tiſch-poetiſchen Fictionen, die hiſtoriſch-poe¬
tiſchen Taufnamen, die ſich an die Stelle
der heiligen, nicht ſelten zum Aergerniß der
taufenden Geiſtlichen, in die deutſche Kirche
eingedrungen, ohne Zweifel anzuſehn. Auch
dieſer Trieb, ſein Kind durch einen wohl¬
klingenden Namen, wenn er auch ſonſt nichts
weiter hinter ſich haͤtte, zu adeln, iſt loͤb¬
lich, und dieſe Verknuͤpfung einer eingebildeten
Welt mit der wirklichen verbreitet ſogar uͤber
das ganze Leben der Perſon einen anmuthi¬
gen Schimmer. Ein ſchoͤnes Kind, welches
wir mit Wohlgefallen Bertha nennen, wuͤr¬
den wir zu beleidigen glauben, wenn wir es
Urſelblandine nennen ſollten. Gewiß, einem
[40] gebildeten Menſchen, geſchweige denn einem
Liebhaber, wuͤrde ein ſolcher Name auf den
Lippen ſtocken. Der kalt und einſeitig urthei¬
lenden Welt iſt nicht zu verargen, wenn ſie
alles was phantaſtiſch hervortritt, fuͤr laͤcher¬
lich und verwerflich achtet; der denkende Ken¬
ner der Menſchheit aber muß es nach ſeinem
Werthe zu wuͤrdigen wiſſen.
Fuͤr den Zuſtand der Liebenden an dem
ſchoͤnen Ufer des Rheins war dieſe Verglei¬
chung, zu der ſie ein Schalk genoͤthigt hatte,
von den anmuthigſten Folgen. Man denkt
nicht uͤber ſich, wenn man ſich im Spiegel
betrachtet, aber man fuͤhlt ſich und laͤßt ſich
gelten. So iſt es auch mit jenen moraliſchen
Nachbildern, an denen man ſeine Sitten und
Neigungen, ſeine Gewohnheiten und Eigen¬
heiten, wie im Schattenriß erkennt und mit
bruͤderlicher Innigkeit zu faſſen und zu umar¬
men ſtrebt.
[41]
Die Gewohnheit zuſammen zu ſeyn, be¬
feſtigte ſich immer mehr; man wußte nicht
anders als daß ich dieſem Kreis angehoͤre.
Man ließ es geſchehn und gehn, ohne gera¬
de zu fragen, was daraus werden ſollte.
Und welche Aeltern finden ſich nicht genoͤthigt,
Toͤchter und Soͤhne in ſo ſchwebenden Zuſtaͤnden
eine Weile hinwalten zu laſſen, bis ſich etwas
zufaͤllig fuͤr's Leben beſtaͤtigt, beſſer als es
ein lange angelegter Plan haͤtte hervorbrin¬
gen koͤnnen.
Man glaubte ſowohl auf Friedrikens Ge¬
ſinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit,
fuͤr die man, wegen jenes wunderlichen Ent¬
haltens ſelbſt von unſchuldigen Liebkoſungen,
ein guͤnſtiges Vorurtheil gefaßt hatte, voͤllig
vertrauen zu koͤnnen. Man ließ uns unbeob¬
achtet, wie es uͤberhaupt dort und damals
Sitte war, und es hing von uns ab, in
kleinerer oder groͤßerer Geſellſchaft, die Ge¬
gend zu durchſtreifen und die Freunde der
[42] Nachbarſchaft zu beſuchen. Dieſſeits und jen¬
ſeits des Rheins, in Hagenau, Fort-Louis,
Philippsburg, der Ortenau, fand ich die Per¬
ſonen zerſtreut, die ich in Seſenheim verei¬
nigt geſehn, jeden bey ſich, als freundlichen
Wirth, gaſtfrey und ſogern Kuͤche und Keller
als Gaͤrten und Weinberge, ja die ganze
Gegend aufſchließend. Die Rheininſeln waren
denn auch oͤfters ein Ziel unſerer Waſſerfahrten.
Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die
kuͤhlen Bewohner des klaren Rheines in den
Keſſel, auf den Roſt, in das ſiedende Fett, und
haͤtten uns hier, in den traulichen Fiſcherhuͤt¬
ten, vielleicht mehr als billig angeſiedelt, haͤt¬
ten uns nicht die entſetzlichen Rheinſchnaken
nach einigen Stunden wieder weggetrieben.
Ueber dieſe unertraͤgliche Stoͤrung einer der
ſchoͤnſten Luſtpartieen, wo ſonſt alles gluͤckte,
wo die Neigung der Liebenden mit dem guten
Erfolge des Unternehmens nur zu wachſen
ſchien, brach ich wirklich, als wir zu fruͤh,
ungeſchickt und ungelegen nach Hauſe kamen,
[43] in Gegenwart des guten geiſtlichen Vaters, in
gotteslaͤſterliche Reden aus und verſicherte,
daß dieſe Schnaken allein mich von dem Ge¬
danken abbringen koͤnnten, als habe ein gu¬
ter und weiſer Gott die Welt erſchaffen.
Der alte fromme Herr rief mich dagegen
ernſtlich zur Ordnung und verſtaͤndigte mich,
daß dieſe Muͤcken und anderes Ungeziefer erſt
nach dem Falle unſerer erſten Aeltern entſtan¬
den, oder wenn deren im Paradieſe geweſen,
daſelbſt nur angenehm geſummet und nicht ge¬
ſtochen haͤtten. Ich fuͤhlte mich zwar ſogleich
beſaͤnftigt: denn ein Zorniger iſt wohl zu be¬
guͤtigen, wenn es uns gluͤckt, ihn zum Laͤ¬
cheln zu bringen; ich verſicherte jedoch, es
habe des Engels mit dem flammenden Schwerd¬
te gar nicht bedurft, um das ſuͤndige Ehe¬
paar aus dem Garten zu treiben; er muͤſſe mir
vielmehr erlauben, mir vorzuſtellen, daß dieß
durch große Schnaken des Tigris und Euphrat
geſchehn ſey. Und ſo hatte ich ihn wieder
zum Lachen gebracht; denn der gute Mann
[44] verſtand Spaß, oder ließ ihn wenigſtens vor¬
uͤbergehn.
Ernſthafter jedoch und herzerhebender war
der Genuß der Tags- und Jahreszeiten in
dieſem herrlichen Lande. Man durfte ſich nur
der Gegenwart hingeben, um dieſe Klarheit
des reinen Himmels, dieſen Glanz der rei¬
chen Erde, dieſe lauen Abende, dieſe war¬
men Naͤchte an der Seite der Geliebten oder
in ihrer Naͤhe zu genießen. Monate lang
begluͤckten uns reine aͤtheriſche Morgen, wo
der Himmel ſich in ſeiner ganzen Pracht
wies, indem er die Erde mit uͤberfluͤſſigem
Thau getraͤnkt hatte; und damit dieſes Schau¬
ſpiel nicht zu einfach werde, thuͤrmten ſich
oft Wolken uͤber die entfernten Berge, bald
in dieſer, bald in jener Gegend. Sie ſtan¬
den Tage, ja Wochen lang, ohne den
reinen Himmel zu truͤben, und ſelbſt die
voruͤbergehenden Gewitter erquickten das
Land und verherrlichten das Gruͤn, das ſchon
[45] wieder im Sonnenſchein glaͤnzte, ehe es noch
abtrocknen konnte. Der doppelte Regenbogen,
zweyfarbige Saͤume eines dunkelgrauen, bey¬
nah ſchwarzen himmliſchen Bandſtreifens wa¬
ren herrlicher, farbiger, entſchiedener, aber
auch fluͤchtiger als ich ſie irgend beobachtet.
Unter dieſen Umgebungen trat unverſehens
die Luſt zu dichten, die ich lange nicht ge¬
fuͤhlt hatte, wieder hervor. Ich legte fuͤr
Friedriken manche Lieder bekannten Melo¬
dieen unter. Sie haͤtten ein artiges Baͤnd¬
chen gegeben, wenige davon ſind uͤbrig ge¬
blieben, man wird ſie leicht aus meinen uͤbri¬
gen herausfinden.
Da ich meiner wunderlichen Studien und
uͤbrigen Verhaͤltniſſe wegen doch oͤfters nach
der Stadt, zuruͤckzukehren, genoͤthigt war, ſo
entſprang dadurch fuͤr unſere Neigung ein
neues Leben, das uns vor allem Unangeneh¬
men bewahrte, was an ſolche kleine Liebeshaͤn¬
[46] del als verdrießliche Folge ſich gewoͤhnlich
zu ſchließen pflegt. Entfernt von mir arbei¬
tete ſie fuͤr mich, und dachte auf irgend eine
neue Unterhaltung, wenn ich zuruͤckkaͤme;
entfernt von ihr beſchaͤftigte ich mich fuͤr ſie,
um durch eine neue Gabe, einen neuen Ein¬
fall ihr wieder neu zu ſeyn. Gemalte Baͤn¬
der waren damals eben erſt Mode geworden;
ich malte ihr gleich ein paar Stuͤcke und
ſendete ſie mit einem kleinen Gedicht voraus,
da ich dießmal laͤnger als ich gedacht ausblei¬
ben mußte. Um auch die dem Vater getha¬
ne Zuſage eines neuen und ausgearbeiteten
Bauriſſes noch uͤber Verſprechen zu halten,
beredete ich einen jungen Bauverſtaͤndigen,
ſtatt meiner zu arbeiten. Dieſer hatte ſo
viel Luſt an der Aufgabe als Gefaͤlligkeit ge¬
gen mich, und ward noch mehr durch die
Hoffnung eines guten Empfangs in einer ſo
angenehmen Familie belebt. Er verfertigte
Grundriß, Aufriß und Durchſchnitt des Hau¬
ſes; Hof und Garten war nicht vergeſſen;
[47] auch ein detaillirter aber ſehr maͤßiger An¬
ſchlag war hinzugefuͤgt, um die Moͤglichkeit
der Ausfuͤhrung eines weitlaͤuftigen und koſt¬
ſpieligen Unternehmens als leicht und thulich
vorzuſpiegeln.
Dieſe Zeugniſſe unſerer freundſchaftlichen
Bemuͤhungen verſchafften uns den liebreichſten
Empfang; und da der gute Vater ſah, daß
wir den beſten Willen hatten, ihm zu die¬
nen, ſo trat er mit noch einem Wunſche
hervor; es war der, ſeine zwar huͤbſche aber
einfarbige Chaiſe mit Blumen und Zieraten
ſtaffirt zu ſehn. Wir ließen uns bereitwillig
finden. Farben, Pinſel und ſonſtige Be¬
duͤrfniſſe wurden von den Kraͤmern und Apo¬
thekern der naͤchſten Staͤdte herbeygeholt. Da¬
mit es aber auch an einem Wakefield'ſchen
Mislingen nicht fehlen moͤchte, ſo bemerkten
wir nur erſt, als alles auf das fleißigſte und
bunteſte gemalt war, daß wir einen falſchen
Firniß genommen hatten, der nicht trocknen
[48] wollte: Sonnenſchein und Zugluft, reines
und feuchtes Wetter, nichts wollte fruchten.
Man mußte ſich indeſſen eines alten Rumpel¬
kaſtens bedienen, und es blieb uns nichts
uͤbrig, als die Verzierung mit mehr Muͤhe
wieder abzureiben als wir ſie aufgemalt hat¬
ten. Die Unluſt bey dieſer Arbeit vergroͤßerte
ſich noch, als uns die Maͤdchen ums Him¬
melswillen baten, langſam und vorſichtig zu
verfahren, um den Grund zu ſchonen; wel¬
cher denn doch, nach dieſer Operation, zu
ſeinem urſpruͤnglichen Glanze nicht wieder zu¬
ruͤckzubringen war.
Durch ſolche unangenehme kleine Zwiſchen¬
faͤlligkeiten wurden wir jedoch ſo wenig als
Doctor Primroſe und ſeine liebenswuͤrdige
Familie in unſerm heitern Leben geſtoͤrt: denn
es begegnete manches unerwartete Gluͤck ſo¬
wohl uns als auch Freunden und Nachbarn;
Hochzeiten und Kindtaufen, Richtung eines
Gebaͤudes, Erbſchaft, Lotteriegewinn wur¬
[49] den wechſelſeitig verkuͤndigt und mitgenoſſen.
Wir trugen alle Freude, wie ein Gemeingut,
zuſammen und wußten ſie durch Geiſt und
Liebe zu ſteigern. Es war nicht das erſte
und letzte Mal, daß ich mich in Familien,
in geſelligen Kreiſen befand gerade im Au¬
genblick ihrer hoͤchſten Bluͤte, und wenn ich
mir ſchmeicheln darf, etwas zu dem Glanz
ſolcher Epochen beygetragen zu haben, ſo
muß ich mir dagegen vorwerfen, daß ſolche
Zeiten uns eben deshalb ſchneller voruͤbergeeilt
und fruͤher verſchwunden.
Nun ſollte aber unſere Liebe noch eine
ſonderbare Pruͤfung ausſtehn. Ich will es
Pruͤfung nennen, obgleich dieß nicht das rech¬
te Wort iſt. Die laͤndliche Familie, der ich
befreundet war, hatte verwandte Haͤuſer in
der Stadt, von gutem Anſehn und Ruf und
in behaglichen Vermoͤgensumſtaͤnden. Die
jungen Staͤdter waren oͤfters in Seſenheim.
Die aͤltern Perſonen, Muͤtter und Tanten.
III. 4[50] weniger beweglich, hoͤrten ſo mancherley von
dem dortigen Leben, von der wachſenden An¬
muth der Toͤchter, ſelbſt von meinem Einfluß,
daß ſie mich erſt wollten kennen lernen, und
nachdem ich ſie oͤfters beſucht und auch bey
ihnen wohl empfangen war, uns auch alle
einmal beyſammen zu ſehen verlangten, zu¬
mal als ſie jenen auch eine freundliche Ge¬
genaufnahme ſchuldig zu ſeyn glaubten.
Lange ward hieruͤber hin und her gehan¬
delt. Die Mutter konnte ſich ſchwer von der
Haushaltung trennen, Olivie hatte einen Ab¬
ſcheu vor der Stadt, in die ſie nicht paßte,
Friedrike keine Neigung dahin; und ſo ver¬
zoͤgerte ſich die Sache, bis ſie endlich dadurch
entſchieden ward, daß es mir unmoͤglich fiel,
innerhalb vierzehn Tagen auf's Land zu kom¬
men, da man ſich denn lieber in der Stadt
und mit einigem Zwange als gar nicht ſehen
wollte. Und ſo fand ich nun meine Freun¬
dinnen, die ich nur auf laͤndlicher Scene zu
[51] ſehen gewohnt war, deren Bild mir nur auf
einem Hintergrunde von ſchwankenden Baum¬
zweigen, beweglichen Baͤchen, nickenden Blu¬
menwieſen und einem meilenweit freyen Ho¬
rizonte bisher erſchien — ich ſah ſie nun zum
erſten Mal in ſtaͤdtiſchen zwar weiten Zim¬
mern, aber doch in der Enge, in Bezug auf
Tapeten, Spiegel, Stand-Uhren und Por¬
cellanpuppen.
Das Verhaͤltniß zu dem was man liebt,
iſt ſo entſchieden, daß die Umgebung wenig
ſagen will; aber daß es die gehoͤrige, natuͤr¬
liche, gewohnte Umgebung ſey, dieß verlangt
das Gemuͤth. Bey meinem lebhaften Ge¬
fuͤhl fuͤr alles Gegenwaͤrtige konnte ich mich
nicht gleich in den Widerſpruch des Augen¬
blicks finden. Das anſtaͤndige ruhig-edle Be¬
tragen der Mutter paßte vollkommen in die¬
ſen Kreis, ſie unterſchied ſich nicht von den
uͤbrigen Frauen; Olivie dagegen bewies ſich
ungeduldig, wie ein Fiſch auf dem Strande.
4*[52] Wie ſie mich ſonſt in dem Garten anrief
oder auf dem Felde bey Seite winkte, wenn
ſie mir etwas Beſonderes zu ſagen hatte, ſo
that ſie auch hier, indem ſie mich in eine
Fenſtertiefe zog; ſie that es mit Verlegenheit
und ungeſchickt, weil ſie fuͤhlte, daß es nicht
paßte und es doch that. Sie hatte mir das
Unwichtigſte von der Welt zu ſagen, nichts
als was ich ſchon wußte: daß es ihr entſetz¬
lich weh ſey, daß ſie ſich an den Rhein,
uͤber den Rhein, ja in die Tuͤrkey wuͤnſche.
Friedrike hingegen war in dieſer Lage hoͤchſt
merkwuͤrdig. Eigentlich genommen paßte ſie
auch nicht hinein; aber dieß zeugte fuͤr ihren
Charakter, daß ſie, anſtatt ſich in dieſen Zu¬
ſtand zu finden, unbewußt den Zuſtand nach
ſich modelte. Wie ſie auf dem Lande mit
der Geſellſchaft gebarte, ſo that ſie es auch
hier. Jeden Augenblick wußte ſie zu beleben.
Ohne zu beunruhigen ſetzte ſie alles in Be¬
wegung und beruhigte gerade dadurch die Ge¬
ſellſchaft, die eigentlich nur von der Langen¬
[53] weile beunruhigt wird. Sie erfuͤllte damit
vollkommen den Wunſch der ſtaͤdtiſchen Tan¬
ten, welche ja auch einmal, von ihrem Kana¬
pee aus, Zeugen jener laͤndlichen Spiele und
Unterhaltungen ſeyn wollten. War dieſes zur
Gnuͤge geſchehn, ſo wurde die Garderobe,
der Schmuck und was die ſtaͤdtiſchen, franzoͤ¬
ſiſch gekleideten Nichten beſonders auszeichne¬
te, betrachtet und ohne Neid bewundert.
Auch mit mir machte Friedrike ſich's leicht,
indem ſie mich behandelte wie immer. Sie
ſchien mir keinen andern Vorzug zu geben,
als den, daß ſie ihr Begehren, ihre Wuͤn¬
ſche eher an mich als an einen andern richte¬
te und mich dadurch als ihren Diener aner¬
kannte.
Dieſe Dienerſchaft nahm ſie einen der fol¬
genden Tage mit Zuverſicht in Anſpruch, als
ſie mir vertraute, die Damen wuͤnſchten mich
leſen zu hoͤren. Die Toͤchter des Hauſes hat¬
[54] ten viel davon erzaͤhlt: denn in Seſenheim
las ich was und wann man's verlangte. Ich
war ſogleich bereit, nur bat ich um Ruhe
und Aufmerkſamkeit auf mehrere Stunden.
Dieß ging man ein und ich las an einem
Abend den ganzen Hamlet ununterbrochen,
in den Sinn des Stuͤcks eindringend wie
ich es nur vermochte, mit Lebhaftigkeit und
Leidenſchaft mich ausdruͤckend, wie es der
Jugend gegeben iſt. Ich aͤrndtete großen
Beyfall. Friedrike hatte von Zeit zu Zeit
tief geathmet und ihre Wangen eine fliegende
Noͤthe uͤberzogen. Dieſe beyden Symptome
eines bewegten zaͤrtlichen Herzens, bey ſchein¬
barer Heiterkeit und Ruhe von außen, waren
mir nicht unbekannt und der einzige Lohn
nach dem ich ſtrebte. Sie ſammelte den
Dank, daß ſie mich veranlaßt hatte, mit
Freuden ein und verſagte ſich, nach ihrer
zierlichen Weiſe, den kleinen Stolz nicht, in
mir und durch mich geglaͤnzt zu haben.
[55]
Dieſer Stadtbeſuch ſollte nicht lange dau¬
ern, aber die Abreiſe verzoͤgerte ſich. Frie¬
drike that das Ihrige zur geſelligen Unter¬
haltung, ich ließ es auch nicht fehlen; aber
die reichen Huͤlfsquellen, die auf dem Lande
ſo ergiebig ſind, verſiegten bald in der Stadt
und der Zuſtand ward um ſo peinlicher als
die Aeltere nach und nach ganz aus der Faſ¬
ſung kam. Die beyden Schweſtern waren
die einzigen in der Geſellſchaft, welche ſich
deutſch trugen. Friedrike hatte ſich niemals
anders gedacht und glaubte uͤberall ſo recht
zu ſeyn, ſie verglich ſich nicht; aber Olivien
war es ganz unertraͤglich, ſo maͤgdehaft aus¬
gezeichnet in dieſer vornehm erſcheinenden Ge¬
ſellſchaft einherzugehn. Auf dem Lande be¬
merkte ſie kaum die ſtaͤdtiſche Tracht an an¬
dern, ſie verlangte ſie nicht; in der Stadt
konnte ſie die laͤndliche nicht ertragen. Dieß
alles zu dem uͤbrigen Geſchicke ſtaͤdtiſcher
Frauenzimmer, zu den hundert Kleinigkeiten
[56] einer ganz entgegengeſetzten Umgebung, wuͤhl¬
te einige Tage ſo in dem leidenſchaftlichen
Buſen, daß ich alle ſchmeichelnde Aufmerk¬
ſamkeit auf ſie zu wenden hatte, um ſie, nach
dem Wunſche Friedrikens, zu beguͤtigen. Ich
fuͤrchtete eine leidenſchaftliche Scene. Ich
ſah den Augenblick, da ſie ſich mir zu Fuͤßen
werfen und mich bey allem Heiligen beſchwoͤ¬
ren werde, ſie aus dieſem Zuſtande zu retten.
Sie war himmliſch gut, wenn ſie ſich nach
ihrer Weiſe behaben konnte, aber ein ſolcher
Zwang ſetzte ſie gleich in Misbehagen und
konnte ſie zuletzt bis zur Verzweiflung trei¬
ben. Nun ſuchte ich zu beſchleunigen was
die Mutter mit Olivien wuͤnſchte und was
Friedriken nicht zuwider war. Dieſe im Ge¬
genſatze mit ihrer Schweſter zu loben, ent¬
hielt ich mich nicht; ich ſagte ihr, wie ſehr
ich mich freue, ſie unveraͤndert und auch in
dieſen Umgebungen ſo frey wie den Vogel
auf den Zweigen zu finden. Sie war artig
genug zu erwiedern, daß ich ja da ſey, ſie
[57] wolle weder hinaus noch herein, wenn ich
bey ihr waͤre.
Endlich ſah ich ſie abfahren und es fiel
mir wie ein Stein vom Herzen: denn meine
Empfindung hatte den Zuſtand von Friedriken
und Olivien getheilt; ich war zwar nicht lei¬
denſchaftlich geaͤngſtigt wie dieſe, aber ich fuͤhl¬
te mich doch keineswegs wie jene behaglich.
Da ich eigentlich nach Straßburg gegan¬
gen war, um zu promoviren, ſo gehoͤrte es
freylich unter die Unregelmaͤßigkeiten meines
Lebens, daß ich ein ſolches Hauptgeſchaͤft als
eine Nebenſache betrachtete. Die Sorge we¬
gen des Examens hatte ich mir auf eine ſehr
leichte Weiſe bey Seite geſchafft; es war
nun aber auch an die Disputation zu den¬
ken: denn von Frankfurt abreiſend hatte ich
meinem Vater verſprochen und mir ſelbſt feſt
vorgeſetzt, eine ſolche zu ſchreiben. Es iſt
der Fehler derjenigen die manches, ja viel ver¬
[58] moͤgen, daß ſie ſich alles zutrauen, und die
Jugend muß ſogar in dieſem Falle ſeyn, da¬
mit nur etwas aus ihr werde. Eine Ueber¬
ſicht der Rechtswiſſenſchaft und ihres ganzen
Fachwerks hatte ich mir ſo ziemlich verſchafft,
einzelne rechtliche Gegenſtaͤnde intereſſirten
mich hinlaͤnglich und ich glaubte, da ich mir
den braven Leyſer zum Vorbild genommen
hatte, mit meinem kleinen Menſchenverſtand
ziemlich durchzukommen. Es zeigten ſich gro¬
ße Bewegungen in der Jurisprudenz; es ſoll¬
te mehr nach Billigkeit geurtheilt werden;
alle Gewohnheitsrechte ſah man taͤglich ge¬
faͤhrdet und beſonders dem Criminalweſen
ſtand eine große Veraͤnderung bevor. Was
mich ſelbſt betraf, ſo fuͤhlte ich wohl, daß
mir zur Ausfuͤllung jener Rechts-Topik, die
ich mir gemacht hatte, unendlich vieles fehle;
das eigentliche Wiſſen ging mir ab, und kei¬
ne innere Richtung draͤngte mich zu dieſen
Gegenſtaͤnden. Auch mangelte der Anſtoß von
außen, ja mich hatte eine ganz andere Fa¬
[59] cultaͤt mit fortgeriſſen. Ueberhaupt, wenn
ich Intereſſe finden ſollte, ſo mußte ich einer
Sache irgend etwas abgewinnen, ich mußte
etwas an ihr gewahr werden, das mir frucht¬
bar ſchien und Auſſichten gab. So hatte
ich mir einige Materien wohl gemerkt, auch
ſogar darauf geſammelt, und nahm auch mei¬
ne Collectaneen vor, uͤberlegte das was ich
behaupten, das Schema, wonach ich die ein¬
zelnen Elemente ordnen wollte, nochmals,
und arbeitete ſo eine Zeit lang; allein ich
war klug genug, bald zu ſehen, daß ich nicht
fortkommen koͤnne und daß, um eine beſon¬
dere Materie abzuhandeln, auch ein beſonde¬
rer und lang anhaltender Fleiß erforderlich
ſey, ja daß man nicht einmal ein ſolches Be¬
ſondere mit Gluͤck vollfuͤhren werde, wenn
man nicht im Ganzen wo nicht Meiſter, doch
wenigſtens Altgeſelle ſey.
Die Freunde, denen ich meine Verlegen¬
heit mittheilte, fanden mich laͤcherlich, weil
[60] man uͤber Theſes eben ſo gut, ja noch beſſer
als uͤber einen Tractat disputiren koͤnne; in
Straßburg ſey das gar nicht ungewoͤhnlich.
Ich ließ mich zu einem ſolchen Ausweg ſehr
geneigt finden, allein mein Vater, dem ich
deshalb ſchrieb, verlangte ein ordentliches
Werk, das ich, wie er meynte, ſehr wohl
ausfertigen koͤnnte, wenn ich nur wollte und
nur die gehoͤrige, Zeit dazu naͤhme. Ich war
nun genoͤthigt, mich auf irgend ein Allgemei¬
nes zu werfen, und etwas zu waͤhlen, was
mir gelaͤufig waͤre. Die Kirchengeſchichte
war mir faſt noch bekannter als die Weltge¬
ſchichte, und mich hatte von jeher der Con¬
flict, in welchem ſich die Kirche, der oͤffent¬
lich anerkannte Gottesdienſt, nach zwey Sei¬
ten hin befindet und immer befinden wird,
hoͤchlich intereſſirt. Denn einmal liegt ſie in
ewigem Streit mit dem Staat, uͤber den ſie
ſich erheben, und ſodann mit den Einzelnen,
die ſie alle zu ſich verſammeln will. Der
Staat von ſeiner Seite will ihr die Ober¬
[61] herrſchaft nicht zugeſtehn, und die Einzelnen
widerſetzen ſich ihrem Zwangsrechte. Der
Staat will alles zu oͤffentlichen, allgemeinen
Zwecken, der Einzelne zu haͤuslichen, herzli¬
chen, gemuͤthlichen. Ich war von Kindheit
auf Zeuge ſolcher Bewegungen geweſen, wo
die Geiſtlichkeit es bald mit ihren Oberen,
bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte
mir daher in meinem jugendlichen Sinne feſt¬
geſetzt, daß der Staat, der Geſetzgeber, das
Recht habe, einen Cultus zu beſtimmen, nach
welchem die Geiſtlichkeit lehren und ſich be¬
nehmen ſolle, die Laien hingegen ſich aͤußer¬
lich und oͤffentlich genau zu richten haͤtten;
uͤbrigens ſollte die Frage nicht ſeyn, was
Jeder bey ſich denke, fuͤhle oder ſinne. Da¬
durch glaubte ich alle Colliſionen auf einmal
gehoben zu haben. Ich waͤhlte deshalb zu
meiner Disputation die erſte Haͤlfte dieſes
Thema's: daß naͤmlich der Geſetzgeber nicht
allein berechtigt, ſondern verpflichtet ſey, ei¬
[62] nen gewiſſen Cultus feſtzuſetzen, von welchem
weder die Geiſtlichkeit noch die Laien ſich los¬
ſagen duͤrften. Ich fuͤhrte dieſes Thema
theils hiſtoriſch, theils raiſonirend aus, in¬
dem ich zeigte, daß alle oͤffentlichen Religio¬
nen durch Heerfuͤhrer, Koͤnige und maͤchtige
Maͤnner eingefuͤhrt worden, ja daß dieſes ſo¬
gar der Fall mit der chriſtlichen ſey. Das
Beyſpiel des Proteſtantismus lag ja ganz
nahe. Ich ging bey dieſer Arbeit um ſo
kuͤhner zu Werke, als ich ſie eigentlich nur
meinen Vater zu befriedigen ſchrieb, und
nichts ſehnlicher wuͤnſchte und hoffte, als daß
ſie die Cenſur nicht paſſiren moͤchte. Ich
hatte noch von Behriſch her eine unuͤber¬
windliche Abneigung, etwas von mir gedruckt
zu ſehn, und mein Umgang mit Herdern
hatte mir meine Unzulaͤnglichkeit nur allzu¬
deutlich aufgedeckt, ja ein gewiſſes Mißtraun
gegen mich ſelbſt war dadurch voͤllig zur Rei¬
fe gekommen.
[63]
Da ich dieſe Arbeit faſt ganz aus mir
ſelbſt ſchoͤpfte, und das Latein gelaͤufig ſprach
und ſchrieb, ſo verſtoß mir die Zeit, die ich
auf die Abhandlung verwendete, ſehr ange¬
nehm. Die Sache hatte wenigſtens einigen
Grund; die Darſtellung war, redneriſch ge¬
nommen, nicht uͤbel, das Ganze hatte eine
ziemliche Rundung. Sobald ich damit zu
Rande war, ging ich ſie mit einem guten
Lateiner durch, der, ob er gleich meinen Styl
im Ganzen nicht verbeſſern konnte, doch alle
auffallenden Maͤngel mit leichter Hand ver¬
tilgte, ſo daß etwas zu Stande kam, das
ſich aufzeigen ließ. Eine reinliche Abſchrift
wurde meinem Vater ſogleich zugeſchickt, wel¬
cher zwar nicht billigte, daß keiner von den
fruͤher vorgenommenen Gegenſtaͤnden ausge¬
fuͤhrt worden ſey; jedoch mit der Kuͤhnheit
des Unternehmens als ein voͤllig proteſtan¬
tiſch Geſinnter wohl zufrieden war. Mein
Seltſames wurde geduldet, meine Anſtren¬
gung gelobt, und er verſprach ſich von der
[64] Bekanntmachung dieſes Werkchens eine vorzuͤg¬
liche Wirkung.
Ich uͤberreichte nun meine Hefte der Fa¬
cultaͤt, und dieſe betrug ſich gluͤcklicher Weiſe
ſo klug als artig. Der Decan, ein lebhafter
geſcheidter Mann, fing mit vielen Lobeser¬
hebungen meiner Arbeit an, ging dann zum
Bedenklichen derſelben uͤber, welches er nach
und nach in ein Gefaͤhrliches zu verwandeln
wußte und damit ſchloß, daß es nicht raͤth¬
lich ſeyn moͤchte, dieſe Arbeit als academiſche
Diſſertation bekannt zu machen. Der Aſpi¬
rant habe ſich der Facultaͤt als einen denken¬
den jungen Mann gezeigt, von dem ſie das
Beſte hoffen duͤrfe; ſie wolle mich gern, um
die Sache nicht aufzuhalten, uͤber Theſes
disputiren laſſen. Ich koͤnne ja in der Folge
meine Abhandlung, wie ſie vorliege oder wei¬
ter ausgearbeitet, lateiniſch oder in einer an¬
dern Sprache herausgeben; dieß wuͤrde mir,
als einem Privatmann und Proteſtanten,
[65] uͤberall leicht werden, und ich haͤtte mich des
Beyfalls um deſto reiner und allgemeiner als¬
dann zu erfreuen. Kaum verbarg ich dem
guten Manne, welchen Stein mir ſein Zu¬
reden vom Herzen waͤlzte; bey jedem neuen
Argument das er vorbrachte, um mich durch
ſeine Weigerung nicht zu betruͤben oder zu
erzuͤrnen, ward es mir immer leichter im Ge¬
muͤth, und ihm zuletzt auch, als ich ganz un¬
erwartet ſeinen Gruͤnden nichts entgegenſetzte,
ſie vielmehr hoͤchſt einleuchtend fand und ver¬
ſprach, mich in allem nach ſeinem Rath und
nach ſeiner Anleitung zu benehmen. Ich ſetz¬
te mich nun wieder mit meinem Repetenten
zuſammen. Theſes wurden ausgewaͤhlt und
gedruckt, und die Disputation ging, unter
Oppoſition meiner Tiſchgenoſſen, mit großer
Luſtigkeit ja Leichtfertigkeit voruͤber; da mir
denn meine alte Uebung, im Corpus juris
aufzuſchlagen, gar ſehr zu Statten kam, und
ich fuͤr einen wohlunterrichteten Menſchen gel¬
III. 5[66] ten konnte. Ein guter herkoͤmmlicher Schmaus
beſchloß die Feyerlichkeit.
Mein Vater war indeſſen ſehr unzufrie¬
den, daß dieſes Werkchen nicht als Disputa¬
tion ordentlich gedruckt worden war, weil er
gehofft hatte, ich ſollte bey meinem Einzuge
in Frankfurt Ehre damit einlegen. Er woll¬
te es daher beſonders herausgegeben wiſſen;
ich ſtellte ihm aber vor, daß die Materie,
die nur ſkizzirt ſey, kuͤnftig weiter ausgefuͤhrt
werden muͤßte. Er hob zu dieſem Zwecke
das Manuſcript ſorgfaͤltig auf und ich habe
es nach mehreren Jahren noch unter ſeinen
Papieren geſehn.
Meine Promotion war am 6ten Auguſt
1771 geſchehn; den Tag darauf ſtarb Schoͤpf¬
lin im fuͤnf und ſiebenzigſten Jahre. Auch
ohne naͤhere Beruͤhrung hatte derſelbe bedeu¬
tend auf mich eingewirkt: denn vorzuͤgliche
mitlebende Maͤnner ſind den groͤßeren Ster¬
[67] nen zu vergleichen, nach denen, ſo lange ſie
nur uͤber dem Horizont ſtehen, unſer Auge
ſich wendet, und ſich geſtaͤrkt und gebildet
fuͤhlt, wenn es ihm vergoͤnnt iſt, ſolche Voll¬
kommenheiten in ſich aufzunehmen. Die frey¬
gebige Natur hatte Schoͤpflinen ein vortheil¬
haftes Aeußere verliehn, ſchlanke Geſtalt,
freundliche Augen, redſeligen Mund, eine
durchaus angenehme Gegenwart. Auch Gei¬
ſtesgaben ertheilte ſie ihrem Liebling nicht
kaͤrglich, und ſein Gluͤck war, ohne daß er
ſich muͤhſam angeſtrengt haͤtte, die Folge an¬
geborner und ruhig ausgebildeter Verdienſte.
Er gehoͤrte zu den gluͤcklichen Menſchen, wel¬
che Vergangenheit und Gegenwart zu verei¬
nigen geneigt ſind, die dem Lebensintereſſe
das hiſtoriſche Wiſſen anzuknuͤpfen verſtehn.
Im Badenſchen geboren, in Baſel und Stra߬
burg erzogen, gehoͤrte er dem paradieſiſchen
Rheinthal ganz eigentlich an, als einem aus¬
gebreiteten wohlgelegenen Vaterlande. Auf
hiſtoriſche und antiquariſche Gegenſtaͤnde hin¬
5 *[68] gewieſen, ergriff er ſie munter durch eine
gluͤckliche Vorſtellungskraft, und erhielt ſie
ſich durch das bequemſte Gedaͤchtniß. Lern-
und lehrbegierig wie er war, ging er einen
gleich vorſchreitenden Studien- und Lebens¬
gang. Nun emergirt und eminirt er bald
ohne Unterbrechung irgend einer Art; er ver¬
breitet ſich mit Leichtigkeit in der literariſchen
und buͤrgerlichen Welt: denn hiſtoriſche Kennt¬
niſſe reichen uͤberall hin, und Leutſeligkeit
ſchließt ſich uͤberall an. Er reiſt durch
Deutſchland, Holland, Frankreich, Italien;
kommt in Beruͤhrung mit allen Gelehrten
ſeiner Zeit; er unterhaͤlt die Fuͤrſten, und
nur, wenn durch ſeine lebhafte Redſeligkeit
die Stunden der Tafel, der Audienz verlaͤn¬
gert werden, iſt er den Hofleuten laͤſtig. Da¬
gegen erwirbt er ſich das Vertrauen der
Staatsmaͤnner, arbeitet fuͤr ſie die gruͤndlich¬
ſten Deductionen und findet ſo uͤberall einen
Schauplatz fuͤr ſeine Talente. Man wuͤnſcht
ihn an gar manchem Orte feſtzuhalten; allein
[69] er beharrt bey ſeiner Treue fuͤr Straßburg
und den franzoͤſiſchen Hof. Seine unverruͤck¬
te deutſche Redlichkeit wird auch dort aner¬
kannt, man ſchuͤtzt ihn ſogar gegen den maͤch¬
tigen Praͤtor Klingling, der ihn heimlich an¬
feindet. Geſellig und geſpraͤchig von Natur,
verbreitet er ſich wie im Wiſſen und Geſchaͤf¬
ten, ſo auch im Umgange, und man begriffe
kaum, wo er alle Zeit hergenommen, wuͤ߬
ten wir nicht, daß eine Abneigung gegen die
Frauen ihn durch ſein ganzes Leben begleitet,
wodurch er ſo manche Tage und Stunden
gewann, welche von frauenhaft Geſinnten
gluͤcklich vergeudet werden.
Uebrigens gehoͤrt er auch als Autor dem
gemeinen Weſen und als Redner der Menge.
Seine Programme, ſeine Reden und Anre¬
den ſind dem beſondern Tag, der eintreten¬
den Feyerlichkeit gewidmet, ja ſein großes
Werk Alsatia illustrata gehoͤrt dem Leben
an, indem er die Vergangenheit wieder her¬
vorruft, verblichene Geſtalten auffriſcht, den
[70] behauenen, den gebildeten Stein wieder be¬
lebt, erloſchene, zerſtuͤckte Inſchriften zum
zweyten Mal vor die Augen, vor den Sinn
des Leſers bringt. Auf ſolche Weiſe erfuͤllt
ſeine Thaͤtigkeit das Elſaß und die Nachbar¬
ſchaft ; in Baden und der Pfalz behaͤlt er bis
in's hoͤchſte Alter einen ununterbrochenen Ein¬
fluß; in Mannheim ſtiftet er die Academie
der Wiſſenſchaften und erhaͤlt ſich als Praͤſi¬
dent derſelben bis an ſeinen Tod.
Genaͤhert habe ich mich dieſem vorzuͤgli¬
chen Manne niemals als in einer Nacht, da
wir ihm ein Fackelſtaͤndchen brachten. Den
mit Linden uͤberwoͤlbten Hof des alten Stift¬
gebaͤudes erfuͤllten unſere Pechfeuer mehr mit
Rauch als daß ſie ihn erleuchtet haͤtten.
Nach geendigtem Muſikgeraͤuſch kam er herab
und trat unter uns; und hier war er recht
an ſeinem Platze. Der ſchlank- und wohlge¬
wachſene heitere Greis ſtand mit leichtem
freyen Weſen wuͤrdig vor uns und hielt uns
[71] werth genug eine wohlgedachte Rede, ohne
Spur von Zwang und Pedantismus, vaͤter¬
lich liebevoll auszuſprechen, ſo daß wir uns
in dem Augenblick etwas duͤnkten, da er uns
wie die Koͤnige und Fuͤrſten behandelte, die
er oͤffentlich anzureden ſo oft berufen war.
Wir ließen unſere Zufriedenheit uͤberlaut ver¬
nehmen, Trompeten- und Paukenſchall er¬
klang wiederholt, und die allerliebſte, hoff¬
nungsvolle academiſche Plebs verlor ſich mit
innigem Behagen nach Hauſe.
Seine Schuͤler und Studienverwandten,
Koch und Oberlin, fanden zu mir ſchon
ein naͤheres Verhaͤltniß. Meine Liebhaberey
zu alterthuͤmlichen Reſten war leidenſchaftlich.
Sie ließen mich das Muſeum wiederholt be¬
trachten, welches die Belege zu ſeinem gro¬
ßen Werke uͤber Elſaß vielfach enthielt. Eben
dieſes Werk hatte ich erſt nach jener Reiſe,
wo ich noch Alterthuͤmer an Ort und Stelle
gefunden, naͤher kennen gelernt, und nunmehr
[72] vollkommen gefoͤrdert, konnte ich mir, bey groͤ¬
ßern und kleinern Excurſionen, das Rhein¬
thal als roͤmiſche Beſitzung vergegenwaͤrtigen
und gar manchen Traum der Vorzeit mir
wachend ausmalen.
Kaum hatte ich mir hierin einigermaßen
aufgeholfen, als mich Oberlin zu den Denk¬
malen der Mittelzeit hinwies und mit den
daher noch uͤbrigen Ruinen und Reſten, Sie¬
geln und Documenten bekannt machte, ja
eine Neigung zu den ſogenannten Minneſin¬
gern und Heldendichtern einzufloͤßen ſuchte.
Dieſem wackeren Manne, ſo wie Herrn Koch,
bin ich viel ſchuldig geworden, und wenn es
ihrem Willen und Wunſche nach gegangen waͤ¬
re, ſo haͤtte ich ihnen das Gluͤck meines Le¬
bens verdanken muͤſſen. Damit verhielt es
ſich aber folgendergeſtalt.
Schoͤpflin, der ſich in der hoͤheren Sphaͤ¬
re des Staatsrechts zeitlebens bewegt hatte
[73] und den großen Einfluß wohl kannte, welchen
ſolche und verwandte Studien bey Hoͤfen und
in Cabinetten einem faͤhigen Kopfe zu ver¬
ſchaffen geeignet ſind, fuͤhlte eine unuͤberwind¬
liche ja ungerechte Abneigung gegen den Zu¬
ſtand des Civiliſten, und hatte die gleiche
Geſinnung den Seinigen eingefloͤßt. Obge¬
nannte beyde Maͤnner, Freunde von Salz¬
mann, hatten auf eine liebreiche Weiſe von
mir Kenntniß genommen. Das leidenſchaft¬
liche Ergreifen aͤußerer Gegenſtaͤnde, die Dar¬
ſtellungsart, womit ich die Vorzuͤge derſelben
herauszuheben und ihnen ein beſonderes In¬
tereſſe zu verleihen wußte, ſchaͤtzten ſie hoͤher
als ich ſelbſt. Meine geringe, ich kann wohl
ſagen nothduͤrftige Beſchaͤftigung mit dem Ci¬
vilrechte war ihnen nicht unbemerkt geblie¬
ben; ſie kannten mich genug, um zu wiſſen,
wie leicht ich beſtimmbar ſey; aus meiner Luſt
zum academiſchen Leben hatte ich auch kein
Geheimniß gemacht, und ſie dachten mich da¬
her fuͤr Geſchichte, Staatsrecht, Redekunſt,
[74] erſt nur im Voruͤbergehn, dann aber entſchie¬
dener, zu erwerben. Straßburg ſelbſt bot
Vortheile genug. Eine Ausſicht auf die deut¬
ſche Kanzley in Verſailles, der Vorgang von
Schoͤpflin, deſſen Verdienſt mir freylich uner¬
reichbar ſchien, ſollte zwar nicht zur Nachah¬
mung, doch zur Nacheiferung reizen und viel¬
leicht dadurch ein aͤhnliches Talent zur Aus¬
bildung gelangen, welches ſowohl dem, der
ſich deſſen ruͤhmen duͤrfte, erſprießlich, als
andern, die es fuͤr ſich zu gebrauchen daͤch¬
ten, nuͤtzlich ſeyn koͤnnte. Dieſe meine Goͤn¬
ner, und Salzmann mit ihnen, legten auf
mein Gedaͤchtniß und auf meine Faͤhigkeit,
den Sinn der Sprachen zu faſſen, einen gro¬
ßen Werth und ſuchten hauptſaͤchlich dadurch
ihre Abſichten und Vorſchlaͤge zu motiviren.
Wie nun aus allem dieſem nichts gewor¬
den, und wie es gekommen, daß ich wieder
von der franzoͤſiſchen Seite auf die deutſche
heruͤbergetreten, gedenk' ich hier zu entwickeln.
[75] Man erlaube mir, wie bisher, zum Ueber¬
gange einige allgemeine Betrachtungen.
Es ſind wenig Biographieen, welche ei¬
nen reinen, ruhigen, ſtaͤten Fortſchritt des
Individuums darſtellen koͤnnen. Unſer Leben
iſt, wie das Ganze in dem wir enthalten
ſind, auf eine unbegreifiiche Weiſe aus Frey¬
heit und Nothwendigkeit zuſammengeſetzt. Un¬
ſer Wollen iſt ein Vorausverkuͤnden deſſen,
was wir unter allen Umſtaͤnden thun werden.
Dieſe Umſtaͤnde aber ergreifen uns auf ihre
eigne Weiſe. Das Was liegt in uns, das
Wie haͤngt ſelten von uns ab, nach dem
Warum duͤrfen wir nicht fragen, und des¬
halb verweiſt man uns mit Recht auf's Quia.
Die franzoͤſiſche Sprache war mir von
Jugend auf lieb; ich hatte ſie in einem be¬
wegteren Leben, und ein bewegteres Leben
durch ſie kennen gelernt. Sie war mir ohne
Grammatik und Unterricht, durch Umgang
[76] und Uebung, wie eine zweyte Mutterſprache
zu eigen geworden. Nun wuͤnſchte ich mich
derſelben mit groͤßerer Leichtigkeit zu bedienen,
und zog deswegen Straßburg zum abermali¬
gen academiſchen Aufenthalt andern hohen
Schulen vor; aber leider ſollte ich dort ge¬
rade das Umgekehrte von meinen Hoffnungen
erfahren, und von dieſer Sprache, dieſen
Sitten eher ab- als ihnen zugewendet werden.
Die Franzoſen, welche ſich uͤberhaupt eines
guten Betragens befleißigen, ſind gegen Frem¬
de die ihre Sprache zu reden anfangen, nach¬
ſichtig, ſie werden Niemanden uͤber irgend ei¬
nen Fehler auslachen, oder ihn deshalb ohne
Umſchweif tadeln. Da ſie jedoch nicht wohl
ertragen moͤgen, daß in ihrer Sprache geſuͤn¬
digt wird, ſo haben ſie die Art, eben daſſel¬
be was man geſagt hat, mit einer anderen
Wendung zu wiederholen und gleichſam hoͤf¬
lich zu bekraͤftigen, ſich dabey aber des eigent¬
lichen Ausdrucks, den man haͤtte gebrauchen
[77] ſollen, zu bedienen, und auf dieſe Weiſe den
Verſtaͤndigen und Aufmerkſamen auf das
Rechte und Gehoͤrige zu fuͤhren.
So ſehr man nun, wenn es einem Ernſt
iſt, wenn man Selbſtverlaͤugnung genug hat,
ſich fuͤr einen Schuͤler zu geben, hiebey ge¬
winnt und gefoͤrdert wird, ſo fuͤhlt man ſich
doch immer einigermaßen gedemuͤthiget, und
da man doch auch um der Sache willen re¬
det, oft allzu ſehr unterbrochen ja abgelenkt,
und man laͤßt ungeduldig das Geſpraͤch fal¬
len. Dieß begegnete beſonders mir vor an¬
dern, indem ich immer etwas Intereſſantes
zu ſagen glaubte, dagegen aber auch etwas
Bedeutendes vernehmen, und nicht immer
bloß auf den Ausdruck zuruͤckgewieſen ſeyn
wollte; ein Fall der bey mir oͤfter eintrat,
weil mein Franzoͤſiſch viel buntſchaͤckiger war
als das irgend eines andern Fremden. Von
Bedienten, Cammerdienern und Schildwachen,
jungen und alten Schauſpielern, theatraliſchen
[78] Liebhabern, Bauern und Helden hatte ich
mir die Redensarten, ſo wie die Accentua¬
tionen gemerkt, und dieſes babyloniſche Idiom
ſollte ſich durch ein wunderliches Ingrediens
noch mehr verwirren, indem ich den franzoͤſi¬
ſchen reformirten Geiſtlichen gern zuhoͤrte und
ihre Kirchen um ſo lieber beſuchte, als ein
ſonntaͤgiger Spazirgang nach Bockenheim,
dadurch nicht allein erlaubt ſondern geboten
war. Aber auch hiermit ſollte es noch nicht
genug ſeyn: denn als ich in den Juͤnglings¬
jahren immer mehr auf die Deutſchheit des
ſechzehnten Jahrhundert gewieſen ward, ſo
ſchloß ich gar bald auch die Franzoſen jener
herrlichen Epoche in dieſe Neigung mit ein.
Montaigne, Amyot, Rabelais, Ma¬
rot waren meine Freunde, und erregten in
mir Antheil und Bewunderung. Alle dieſe
verſchiedenen Elemente bewegten ſich nun in
meiner Rede chaotiſch durch einander, ſo daß
fuͤr den Zuhoͤrer die Intention uͤber dem
wunderlichen Ausdruck meiſt verloren ging,
[79] ja daß ein gebildeter Franzoſe mich nicht mehr
hoͤflich zurechtweiſen, ſondern geradezu tadeln
und ſchulmeiſtern mußte. Abermals ging es
mir alſo hier wie vordem in Leipzig, nur
daß ich mich dießmal nicht auf das Recht
meiner Vatergegend, ſo gut als andere Pro¬
vinzen idiotiſch zu ſprechen, zuruͤckziehn konn¬
te, ſondern hier, auf fremdem Grund und
Boden, mich einmal hergebrachten Geſetzen
fuͤgen ſollte.
Vielleicht haͤtten wir uns auch wohl hier¬
ein ergeben, wenn uns nicht ein boͤſer Genius
in die Ohren geraunt haͤtte, alle Bemuͤhun¬
gen eines Fremden, franzoͤſiſch zu reden, wuͤr¬
den immer ohne Erfolg bleiben: denn ein ge¬
uͤbtes Ohr hoͤre den Deutſchen, den Italiaͤ¬
ner, den Englaͤnder unter ſeiner franzoͤſiſchen
Maske gar wohl heraus; geduldet werde
man, aber keineswegs in den Schooß der ein¬
zig ſprachſeligen Kirche aufgenommen.
[80]
Nur wenige Ausnahmen gab man zu.
Man nannte uns einen Herrn von Grimm,
aber ſelbſt Schoͤpflin ſollte den Gipfel nicht
erreicht haben. Sie ließen gelten, daß er
fruͤh die Nothwendigkeit, ſich vollkommen
franzoͤſiſch auszudruͤcken, wohl eingeſehn; ſie
billigten ſeine Neigung, ſich Jederman mit¬
zutheilen, beſonders aber die Großen und
Vornehmen zu unterhalten; lobten ſogar, daß
er, auf dem Schauplatz wo er ſtand, die
Landesſprache zu der ſeinigen zu machen und
ſich moͤglichſt zum franzoͤſiſchen Geſellſchafter
und Redner auszubilden geſucht. Was hilft
ihm aber das Verleugnen ſeiner Mutterſpra¬
che, das Bemuͤhen um eine fremde? Nie¬
mand kann er es recht machen. In der Ge¬
ſellſchaft will man ihn eitel finden: als wenn
ſich Jemand ohne Selbſtgefuͤhl und Selbſt¬
gefaͤlligkeit andern mittheilen moͤchte und koͤnn¬
te! Sodann verſichern die feinen Welt- und
Sprachkenner, er diſſerire und dialogire mehr,
als daß er eigentlich converſire. Jenes ward
[81] als Erb- und Grundfehler der Deutſchen,
dieſes als die Cardinaltugend der Franzoſen
allgemein anerkannt. Als oͤffentlichem Red¬
ner geht es ihm nicht beſſer. Laͤßt er eine
wohl ausgearbeitete Rede an den Koͤnig oder
die Fuͤrſten drucken, ſo paſſen die Jeſuiten
auf, die ihm, als einem Proteſtanten, gram
ſind, und zeigen das Unfranzoͤſiſche ſeiner
Wendungen.
Anſtatt uns nun hieran zu troͤſten und,
als gruͤnes Holz, dasjenige zu ertragen, was
dem duͤrren auflag, ſo aͤrgerte uns dagegen
dieſe pedantiſche Ungerechtigkeit; wir verzwei¬
feln und uͤberzeugen uns vielmehr an dieſem
auffallenden Beyſpiele, daß die Bemuͤhung
vergebens ſey, den Franzoſen durch die Sa¬
che genug zu thun, da ſie an die aͤußern Be¬
dingungen, unter welchen alles erſcheinen ſoll,
allzu genau gebunden ſind. Wir faſſen daher
den umgekehrten Entſchluß, die franzoͤſiſche
Sprache gaͤnzlich abzulehnen und uns mehr
III. 6[82] als bisher mit Gewalt und Ernſt der Mut¬
terſprache zu widmen.
Auch hiezu fanden wir im Leben Gele¬
genheit und Theilnahme. Elſaß war noch
nicht lange genug mit Frankreich verbunden,
als daß nicht noch bey Alt und Jung eine
liebevolle Anhaͤnglichkeit an alte Verfaſſung,
Sitte, Sprache, Tracht ſollte uͤbrig geblie¬
ben ſeyn. Wenn der Ueberwundene die Haͤlf¬
te ſeines Daſeyns nothgedrungen verliert, ſo
rechnet er ſich's zur Schmach, die andere
Haͤlfte freywillig aufzugeben. Er haͤlt daher
an allem feſt, was ihm die vergangene gute
Zeit zuruͤckrufen und die Hoffnung der Wie¬
derkehr einer gluͤcklichen Epoche naͤhren kann.
Gar manche Einwohner von Straßburg bil¬
deten zwar abgeſonderte, aber doch dem Sin¬
ne nach verbundene kleine Kreiſe, welche durch
die vielen Unterthanen deutſcher Fuͤrſten, die
unter franzoͤſiſcher Hoheit anſehnliche Stre¬
cken Landes beſaßen, ſtets vermehrt und re¬
[83] crutirt wurden: denn Vaͤter und Soͤhne hiel¬
ten ſich Studirens- oder Geſchaͤfts wegen
laͤnger oder kuͤrzer in Straßburg auf.
An unſerm Tiſche ward gleichfalls nichts
wie Deutſch geſprochen. Salzmann druͤckte
ſich im Franzoͤſiſchen mit vieler Leichtigkeit
und Eleganz aus, war aber unſtreitig dem
Streben und der That nach ein vollkomme¬
ner Deutſcher; Lerſen haͤtte man als Muſter
eines deutſchen Juͤnglings aufſtellen koͤnnen;
Meyer von Lindau ſchlenderte lieber auf gut
deutſch, als daß er ſich auf gut franzoͤſiſch
haͤtte zuſammennehmen ſollen, und wenn un¬
ter den uͤbrigen auch mancher zu galliſcher
Sprache und Sitte hinneigte, ſo ließen ſie
doch, ſo lange ſie bey uns waren, den allge¬
meinen Ton auch uͤber ſich ſchalten und walten.
Von der Sprache wendeten wir uns zu
den Staatsverhaͤltniſſen. Zwar wußten wir
von unſerer Reichsverfaſſung nicht viel Loͤbli¬
6 *[84] ches zu ſagen; wir gaben zu, daß ſie aus
lauter geſetzlichen Misbraͤuchen beſtehe, erhu¬
ben uns aber um deſto hoͤher uͤber die fran¬
zoͤſiſche gegenwaͤrtige Verfaſſung, die ſich in
lauter geſetzloſen Misbraͤuchen verwirre, de¬
ren Regierung ihre Energie nur am falſchen
Orte ſehen laſſe, und geſtatten muͤſſe, daß
eine gaͤnzliche Veraͤnderung der Dinge ſchon
in ſchwarzen Ausſichten oͤffentlich prophezeit
werde.
Blickten wir hingegen nach Norden, ſo
leuchtete uns von dort Friedrich, der Polar¬
ſtern, her, um den ſich Deutſchland, Europa,
ja die Welt zu drehen ſchien. Sein Ueber¬
gewicht in allem offenbarte ſich am ſtaͤrkſten,
als in der franzoͤſiſchen Armee das preußi¬
ſche Exercitium und ſogar der preußiſche Stock
eingefuͤhrt werden ſollte. Wir verziehen ihm
uͤbrigens ſeine Vorliebe fuͤr eine fremde Spra¬
che, da wir ja die Genugthuung empfanden,
daß ihm ſeine franzoͤſiſchen Poeten, Philoſo¬
[85] phen und Literatoren Verdruß zu machen fort¬
fuhren und wiederholt erklaͤrten, er ſey nur
als Eindringling anzuſehn und zu behandeln.
Was uns aber von den Franzoſen gewal¬
tiger als alles andere entfernte, war die wie¬
derholte unhoͤfliche Behauptung, daß es den
Deutſchen uͤberhaupt, ſo wie dem nach fran¬
zoͤſiſcher Cultur ſtrebenden Koͤnige, an Ge¬
ſchmack fehle. Ueber dieſe Redensart, die,
wie ein Refrain, ſich an jedes Urtheil an¬
ſchloß, ſuchten wir uns durch Nichtachtung
zu beruhigen, aufklaͤren daruͤber konnten wir
uns aber um ſo weniger, als man uns ver¬
ſichern wollte, ſchon Menage habe geſagt,
die franzoͤſiſchen Schriftſteller beſaͤßen alles,
nur nicht Geſchmack; ſo wie wir denn auch
aus dem jetzt lebenden Paris zu erfahren
hatten, daß die neuſten Autoren ſaͤmmtlich
des Geſchmacks ermangelten, und Voltaire
ſelbſt dieſem hoͤchſten Tadel nicht ganz entge¬
hen koͤnne. Schon fruͤher und wiederholt
[86] auf die Natur gewieſen, wollten wir daher
nichts gelten laſſen als Wahrheit und Auf¬
richtigkeit des Gefuͤhls, und den raſchen der¬
ben Ausdruck deſſelben.
war Looſung und Feldgeſchrey, woran ſich die
Glieder unſerer kleinen academiſchen Horde
zu erkennen und zu erquicken pflegten. Dieſe
Maxime lag zum Grunde allen unſern geſel¬
ligen Gelagen, bey welchen uns denn frey¬
lich manchen Abend Vetter Michel in ſeiner
wohlbekannten Deutſchheit zu beſuchen nicht
verfehlte.
Will man in dem bisher Erzaͤhlten nur
aͤußere zufaͤllige Anlaͤſſe und perſoͤnliche Ei¬
genheiten finden, ſo hatte die franzoͤſiſche Li¬
teratur an ſich ſelbſt gewiſſe Eigenſchaften,
welche den ſtrebenden Juͤngling mehr abſto¬
ßen als anziehn mußten. Sie war naͤmlich
[87]bejahrt und vornehm, und durch beydes
kann die nach Lebensgenuß und Freyheit um¬
ſchauende Jugend nicht ergetzt werden.
Seit dem ſechzehnten Jahrhundert hatte
man den Gang der franzoͤſiſchen Literatur nie¬
mals voͤllig unterbrochen geſehn, ja die in¬
nern politiſchen und religioſen Unruhen ſo¬
wohl als die aͤußeren Kriege beſchleunigten
ihre Fortſchritte; ſchon vor hundert Jahren
aber, ſo hoͤrte man allgemein behaupten, ſol¬
le ſie in ihrer vollen Bluͤte geſtanden haben.
Durch guͤnſtige Umſtaͤnde ſey auf einmal eine
reichliche Aerndte gereift und gluͤcklich einge¬
bracht worden, dergeſtalt, daß die groͤßten
Talente des achtzehnten Jahrhunderts ſich
nur beſcheidentlich mit einer Nachleſe begnuͤ¬
gen muͤſſen.
Indeſſen war aber doch auch gar man¬
ches veraltet, das Luſtſpiel am erſten, wel¬
ches immer wieder aufgefriſcht werden mußte,
[88] um ſich, zwar minder vollkommen, aber doch
mit neuem Intereſſe, dem Leben und den
Sitten anzuſchmiegen. Der Tragoͤdien wa¬
ren viele vom Theater verſchwunden, und
Voltaire ließ die jetzt dargebotene bedeutende
Gelegenheit nicht aus den Haͤnden, Corneil¬
le's Werke herauszugeben, um zu zeigen,
wie mangelhaft ſein Vorgaͤnger geweſen ſey,
den er, der allgemeinen Stimme nach, nicht
erreicht haben ſollte.
Und eben dieſer Voltaire, das Wunder
ſeiner Zeit, war nun ſelbſt bejahrt wie die
Literatur, die er beynah ein Jahrhundert hin¬
durch belebt und beherrſcht hatte. Neben ihm
exiſtirten und vegetirten noch, in mehr oder
weniger thaͤtigem und gluͤcklichem Alter, vie¬
le Literatoren, die nach und nach verſchwan¬
den. Der Einfluß der Societaͤt auf die
Schriftſteller nahm immer mehr uͤberhand:
denn die beſte Geſellſchaft, beſtehend aus Per¬
ſonen von Geburt, Rang und Vermoͤgen,
[89] waͤhlte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen
die Literatur, und dieſe ward dadurch ganz
geſellſchaftlich und vornehm. Standesperſo¬
nen und Literatoren bildeten ſich wechſelswei¬
ſe, und mußten ſich wechſelsweiſe verbilden:
denn alles Vornehme iſt eigentlich ablehnend,
und ablehnend ward auch die franzoͤſiſche Cri¬
tik, verneinend, herunterziehend, misredend.
Die hoͤhere Claſſe bediente ſich ſolcher Urthei¬
le gegen die Schriftſteller, die Schriftſteller,
mit etwas weniger Anſtand, verfuhren ſo un¬
ter einander, ja gegen ihre Goͤnner. Konnte
man dem Publicum nicht imponiren, ſo ſuch¬
te man es zu uͤberraſchen, oder durch De¬
muth zu gewinnen; und ſo entſprang, abge¬
ſehn davon was Kirche und Staat im In¬
nerſten bewegte, eine ſolche literariſche Gaͤh¬
rung, daß Voltaire ſelbſt ſeiner vollen Thaͤ¬
tigkeit, ſeines ganzen Uebergewichts bedurfte,
um ſich uͤber dem Strome der allgemeinen
Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß
er laut ein altes eigenwilliges Kind; ſeine
[90] unermuͤdet fortgeſetzten Bemuͤhungen betrach¬
tete man als eitles Beſtreben eines abgeleb¬
ten Alters; gewiſſe Grundſaͤtze auf denen er
ſeine ganze Lebenszeit beſtanden, deren Aus¬
breitung er ſeine Tage gewidmet, wollte man
nicht mehr ſchaͤtzen und ehren; ja ſeinen Gott,
durch deſſen Bekenntniß er ſich von allem
atheiſtiſchen Weſen loszuſagen fortfuhr, ließ
man ihm nicht mehr gelten; und ſo mußte
er ſelbſt, der Altvater und Patriarch, gerade
wie ſein juͤngſter Mitbewerber, auf den Au¬
genblick merken, nach neuer Gunſt haſchen,
ſeinen Freunden zu viel Gutes, ſeinen Fein¬
den zu viel Uebles erzeigen, und, unter dem
Schein eines leidenſchaftlich Wahrheitslieben¬
den Strebens, unwahr und falſch handeln.
War es denn wohl der Muͤhe werth, ein ſo
thaͤtiges großes Leben gefuͤhrt zu haben, wenn
es abhaͤngiger enden ſollte als es angefangen
hatte? Wie unertraͤglich ein ſolcher Zuſtand
ſey, entging ſeinem hohen Geiſte, ſeiner zar¬
ten Reizbarkeit nicht; er mochte ſich manch¬
[91] mal ſprung- und ſtoßweiſe Luft, ließ ſeiner
Laune den Zuͤgel ſchießen und hieb mit ein
paar Fechterſtreichen uͤber die Schnur, wo¬
bey ſich meiſt Freunde und Feinde unwillig
gebaͤrdeten: denn Jederman glaubte ihn zu
uͤberſehn, obſchon Niemand es ihm gleich
thun konnte. Ein Publicum, das immer nur
die Urtheile alter Maͤnner hoͤrt, wird gar zu
leicht altklug, und nichts iſt unzulaͤnglicher
als ein reifes Urtheil, von einem unreifen
Geiſte aufgenommen.
Uns Juͤnglingen, denen, bey einer deut¬
ſchen Natur und Wahrheitsliebe, als beſte
Fuͤhrerinn im Leben und Lernen, die Redlich¬
keit gegen uns ſelbſt und andere immer vor
Augen ſchwebte, ward die parteyiſche Unred¬
lichkeit Voltaire's und die Verbildung ſo vie¬
ler wuͤrdigen Gegenſtaͤnde immer mehr zum
Verdruß, und wir beſtaͤrkten uns taͤglich in
der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Re¬
ligion und die heiligen Buͤcher worauf ſie ge¬
[92] gruͤndet iſt, um den ſogenannten Pfaffen zu
ſchaden, niemals genug herabſetzen koͤnnen
und mir dadurch manche unangenehme Em¬
pfindung erregt. Da ich nun aber gar ver¬
nahm, daß er, um die Ueberlieferung einer
Suͤndfluth zu entkraͤften, alle verſteinte Mu¬
ſcheln leugnete, und ſolche nur fuͤr Natur¬
ſpiele gelten ließ, ſo verlor er gaͤnzlich mein
Vertrauen: denn der Augenſchein hatte mir
auf dem Baſchberge deutlich genug gezeigt,
daß ich mich auf altem abgetrockneten Mee¬
resgrund, unter den Exuvien ſeiner Urein¬
wohner befinde. Ja! dieſe Berge waren einſt¬
mals von Wellen bedeckt; ob vor oder waͤh¬
rend der Suͤndfluth, das konnte mich nicht
ruͤhren, genug, das Rheinthal war ein un¬
geheuerer See, eine unuͤberſehliche Bucht ge¬
weſen; das konnte man mir nicht ausreden.
Ich gedachte vielmehr in Kenntniß der Laͤn¬
der und Gebirge vorzuſchreiten, es moͤchte
ſich daraus ergeben was da wollte.
[93]
Bejahrt alſo und vornehm war an ſich
ſelbſt und durch Voltairen die franzoͤſiſche
Literatur. Laſſet uns dieſem merkwuͤrdigen
Manne noch einige Betrachtung widmen!
Auf thaͤtiges und geſelliges Leben, auf
Politik, auf Erwerb im Großen, auf das
Verhaͤltniß zu den Herren der Erde und Be¬
nutzung dieſes Verhaͤltniſſes, damit er ſelbſt
zu den Herren der Erde gehoͤre, dahin war
von Jugend auf Voltaire's Wunſch und Be¬
muͤhung gewendet. Nicht leicht hat ſich Je¬
mand ſo abhaͤngig gemacht, um unabhaͤngig
zu ſeyn. Auch gelang es ihm, die Geiſter
zu unterjochen; die Nation fiel ihm zu. Ver¬
gebens entwickelten ſeine Gegner maͤßige Ta¬
lente und einen ungeheueren Haß; nichts ge¬
reichte zu ſeinem Schaden. Den Hof zwar
konnte er nie mit ſich verſoͤhnen, aber dafuͤr
waren ihm fremde Koͤnige zinsbar. Katha¬
rina und Friedrich die Großen, Guſtav von
Schweden, Chriſtian von Daͤnemark, Po¬
[94] niatowsky von Pohlen, Heinrich von Preu¬
ßen, Carl von Braunſchweig bekannten ſich
als ſeine Vaſallen; ſogar Paͤbſte glaubten
ihn durch einige Nachgiebigkeit kirren zu muͤſ¬
ſen. Daß Joſeph der Zweyte ſich von ihm
abhielt, gereichte dieſem Fuͤrſten nicht einmal
zum Ruhme: denn es haͤtte ihm und ſeinen
Unternehmungen nicht geſchadet, wenn er, bey
ſo ſchoͤnem Verſtande, bey ſo herrlichen Ge¬
ſinnungen, etwas geiſtreicher, ein beſſerer
Schaͤtzer des Geiſtes geweſen waͤre.
Das was ich hier gedraͤngt und in eini¬
gem Zuſammenhange vortrage, toͤnte zu jener
Zeit, als Ruf des Augenblicks, als ewig
zwieſpaͤltiger Misklang, unzuſammenhaͤngend
und unbelehrend in unſeren Ohren. Immer
hoͤrte man nur das Lob der Vorfahren. Man
forderte etwas Gutes, Neues; aber immer
das Neuſte wollte man nicht. Kaum hatte
auf dem laͤngſt erſtarrten Theater ein Pa¬
triot nationalfranzoͤſiſche, herzerhebende Ge¬
[95] genſtaͤnde dargeſtellt, kaum hatte die Belage¬
rung von Calais ſich einen enthuſiaſtiſchen
Beyfall gewonnen, ſo ſollte ſchon dieſes Stuͤck,
mit ſammt ſeinen vaterlaͤndiſchen Geſellen,
hohl und in jedem Sinne verwerflich ſeyn.
Die Sittenſchilderungen des Destouches,
an denen ich mich als Knabe ſo oft ergetzt,
hieß man ſchwach, der Name dieſes Ehren¬
manns war verſchollen, und wie viel andere
Schriftſteller muͤßte ich nicht nennen, um de¬
rentwillen ich den Vorwurf, als urtheile ich
wie ein Provinzler, habe erdulden muͤſſen,
wenn ich gegen Jemand, der mit dem neu¬
ſten literariſchen Strome dahinfuhr, irgend
einen Antheil an ſolchen Maͤnnern und ihren
Werken gezeigt hatte.
So wurden wir andern deutſchen Geſel¬
len denn immer verdrießlicher. Nach unſern
Geſinnungen, nach unſerer Natureigenheit
liebten wir die Eindruͤcke der Gegenſtaͤnde feſt¬
zuhalten, ſie nur langſam zu verarbeiten, und
[96] wenn es ja ſeyn ſollte, ſie ſo ſpaͤt als moͤg¬
lich fahren zu laſſen. Wir waren uͤberzeugt,
durch treues Aufmerken, durch fortgeſetzte Be¬
ſchaͤftigung laſſe ſich allen Dingen etwas ab¬
gewinnen, und man muͤſſe durch beharrlichen
Eifer doch endlich auf einen Punct gelangen,
wo ſich mit dem Urtheil zugleich der Grund
deſſelben ausſprechen laſſe. Auch verkannten
wir nicht, daß die große und herrliche fran¬
zoͤſiſche Welt uns manchen Vortheil und Ge¬
winn darbiete: denn Rouſſeau hatte uns
wahrhaft zugeſagt. Betrachteten wir aber
ſein Leben und ſein Schickſal, ſo war er doch
genoͤthigt, den groͤßten Lohn fuͤr alles was
er geleiſtet, darin zu finden, daß er uner¬
kannt und vergeſſen in Paris leben durfte.
Wenn wir von den Encyclopaͤdiſten reden
hoͤrten, oder einen Band ihres ungeheuren
Werks aufſchlugen, ſo war es uns zu Muthe,
als wenn man zwiſchen den unzaͤhligen be¬
wegten Spuhlen und Weberſtuͤhlen einer gro¬
[97] ßen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnar¬
ren und Raſſeln, vor allem Aug' und Sin¬
ne verwirrenden Mechanismus, vor lauter
Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigſte
in einander greifenden Anſtalt, in Betrach¬
tung deſſen, was alles dazu gehoͤrt, um ein
Stuͤck Tuch zu fertigen, ſich den eignen Rock
ſelbſt verleidet fuͤhlt, den man auf dem Leibe
traͤgt.
Diderot war nahe genug mit uns ver¬
wandt; wie er denn in alle dem, weshalb
ihn die Franzoſen tadeln, ein wahrer Deut¬
ſcher iſt. Aber auch ſein Standpunct war
ſchon zu hoch, ſein Geſichtskreis zu weit, als
daß wir uns haͤtten zu ihm ſtellen und an
ſeine Seite ſetzen koͤnnen. Seine Naturkin¬
der jedoch, die er mit großer redneriſcher
Kunſt herauszuheben und zu adeln wußte, be¬
hagten uns gar ſehr, ſeine wackeren Wild¬
diebe und Schleichhaͤndler entzuͤckten uns, und
dieſes Geſindel hat in der Folge auf dem
III. 7[98] deutſchen Parnaß nur allzu ſehr gewuchert.
So war er es denn auch, der, wie Rouſſeau,
von dem geſelligen Leben einen Ekelbegriff
verbreitete, eine ſtille Einleitung zu jenen un¬
geheueren Weltveraͤnderungen, in welchen al¬
les Beſtehende unterzugehen ſchien.
Uns ziemt jedoch, dieſe Betrachtungen
noch an die Seite zu lehnen und zu bemer¬
ken, was genannte beyde Maͤnner auf Kunſt
gewirkt. Auch hier wieſen ſie, auch von ihr
draͤngten ſie uns zur Natur.
Die hoͤchſte Aufgabe einer jeden Kunſt
iſt, durch den Schein die Taͤuſchung einer
hoͤheren Wirklichkeit zu geben. Ein falſches
Beſtreben aber iſt, den Schein ſo lange zu
verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines
Wirkliche uͤbrig bleibt.
Als ein ideelles Local hatte die Buͤhne,
durch Anwendung der perſpectiviſchen Geſetze
[99] auf hinter einander geſtellten Couliſſen, den
hoͤchſten Vortheil erlangt, und nun wollte
man dieſen Gewinn muthwillig aufgeben, die
Seiten des Theaters zuſchließen und wirkliche
Stubenwaͤnde formiren. Mit einem ſolchen
Buͤhnenlocal ſollte denn auch das Stuͤck ſelbſt,
die Art zu ſpielen der Acteurs, kurz alles zu¬
ſammentreffen, und ein ganz neues Theater
dadurch entſpringen.
Die franzoͤſiſchen Schauſpieler hatten im
Luſtſpiel den Gipfel des Kunſtwahren erreicht.
Der Aufenthalt in Paris, die Beobachtung
des Aeußern der Hofleute, die Verbindung
der Acteurs und Actricen durch Liebeshaͤndel
mit den hoͤheren Staͤnden, alles trug dazu
bey, die hoͤchſte Gewandheit und Schicklich¬
keit des geſelligen Lebens gleichfalls auf die
Buͤhne zu verpflanzen, und hieran hatten die
Naturfreunde wenig auszuſetzen; doch glaub¬
ten ſie einen großen Vorſchritt zu thun, wenn
ſie ernſthafte und tragiſche Gegenſtaͤnde, de¬
7 *[100] ren das buͤrgerliche Leben auch nicht erman¬
gelt, zu ihren Stuͤcken erwaͤhlten, ſich der
Proſa gleichfalls zu hoͤherem Ausdruck be¬
dienten, und ſo die unnatuͤrlichen Verſe zu¬
gleich mit der unnatuͤrlichen Declamation und
Geſticulation allmaͤhlig verbannten.
Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt es und nicht ſo all¬
gemein beachtet, daß zu dieſer Zeit ſelbſt der
alten ſtrengen, rhythmiſchen, kunſtreichen Tra¬
goͤdie mit einer Revolution gedroht ward, die
nur durch große Talente und die Macht des
Herkommens abgelenkt werden konnte.
Es ſtellte ſich naͤmlich dem Schauſpieler
Le Cain, der ſeine Helden mit beſondrem
theatraliſchen Anſtand, mit Erholung, Erhe¬
bung und Kraft ſpielte, und ſich vom Na¬
tuͤrlichen und Gewoͤhnlichen entfernt hielt, ein
Mann gegenuͤber, mit Namen Aufresne,
der aller Unnatur den Krieg erklaͤrte und in
ſeinem tragiſchen Spiel die hoͤchſte Wahrheit
[101] auszudruͤcken ſuchte. Dieſes Verfahren moch¬
te zu dem des uͤbrigen Pariſer Theaterperſo¬
nals nicht paſſen. Er ſtand allein, jene hiel¬
ten ſich an einander geſchloſſen, und er, hart¬
naͤckig genug auf ſeinem Sinne beſtehend,
verließ lieber Paris und kam durch Stra߬
burg. Dort ſahen wir ihn die Rolle des
Auguſt im Cinna, des Mithridat und
andere dergleichen, mit der wahrſten natuͤrlich¬
ſten Wuͤrde ſpielen. Als ein ſchoͤner großer
Mann trat er auf, mehr ſchlank als ſtark,
nicht eigentlich von impoſantem, aber von ed¬
lem gefaͤlligem Weſen. Sein Spiel war
uͤberlegt und ruhig, ohne kalt zu ſeyn, und
kraͤftig genug, wo es erfordert wurde. Er
war ein ſehr geuͤbter Kuͤnſtler, und von den
wenigen, die das Kuͤnſtliche ganz in die Na¬
tur und die Natur ganz in die Kunſt zu ver¬
wandeln wiſſen. Dieſe ſind es eigentlich, de¬
ren misverſtandene Vorzuͤge die Lehre von
der falſchen Natuͤrlichkeit jederzeit veranlaſſen.
[102]
Und ſo will ich denn auch noch eines klei¬
nen aber merkwuͤrdig Epoche machenden Werks
gedenken, es iſt Rouſſeaus Pygmalion.
Viel koͤnnte man daruͤber ſagen: denn dieſe
wunderliche Production ſchwankt gleichfalls
zwiſchen Natur und Kunſt, mit dem falſchen
Beſtreben, dieſe in jene aufzuloͤſen. Wir ſe¬
hen einen Kuͤnſtler, der das Vollkommenſte
geleiſtet hat, und doch nicht Befriedigung
darin findet, ſeine Idee außer ſich, kunſtge¬
maͤß dargeſtellt und ihr ein hoͤheres Leben
verliehen zu haben; nein! ſie ſoll auch in
das irdiſche Leben zu ihm herabgezogen wer¬
den. Er will das Hoͤchſte was Geiſt und
That hervorgebracht, durch den gemeinſten
Act der Sinnlichkeit zerſtoͤren.
Alles dieſes und manches andere, recht
und thoͤrigt, wahr und halbwahr, das auf
uns einwirkte, trug noch mehr bey, die Be¬
griffe zu verwirren; wir trieben uns auf man¬
cherley Abwegen und Umwegen herum, und
[103] ſo ward von vielen Seiten auch jene deutſche
literariſche Revolution vorbereitet, von der
wir Zeugen waren, und wozu wir, bewußt
und unbewußt, willig oder unwillig, unauf¬
haltſam mitwirkten.
Auf philoſophiſche Weiſe erleuchtet und ge¬
foͤrdert zu werden, hatten wir keinen Trieb
noch Hang, uͤber religioſe Gegenſtaͤnde glaub¬
ten wir uns ſelbſt aufgeklaͤrt zu haben, und
ſo war der heftige Streit franzoͤſiſcher Phi¬
loſophen mit dem Pfaffthum uns ziemlich
gleichguͤltig. Verbotene, zum Feuer verdamm¬
te Buͤcher, welche damals großen Laͤrmen
machten, uͤbten keine Wirkung auf uns. Ich
gedenke ſtatt aller des Systême de la Natu¬
re, das wir aus Neugier in die Hand nah¬
men. Wir begriffen nicht, wie ein ſolches
Buch gefaͤhrlich ſeyn koͤnnte. Es kam uns
ſo grau, ſo cimmeriſch, ſo todtenhaft vor,
daß wir Muͤhe hatten, ſeine Gegenwart aus¬
zuhalten, daß wir davor wie vor einem Ge¬
[104] ſpenſte ſchauderten. Der Verfaſſer glaubt ſein
Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in
der Vorrede verſichert, daß er, als ein abge¬
lebter Greis, ſo eben in die Grube ſteigend,
der Mit- und Nachwelt die Wahrheit ver¬
kuͤnden wolle.
Wir lachten ihn aus: denn wir glaubten
bemerkt zu haben, daß von alten Leuten ei¬
gentlich an der Welt nichts geſchaͤtzt werde,
was liebenswuͤrdig und gut an ihr iſt. „Alte
„Kirchen haben dunkle Glaͤſer! — Wie Kir¬
„ſchen und Beeren ſchmecken, muß man Kin¬
„der und Sperlinge fragen!“ dieß waren
unſere Luſt- und Leibworte; und ſo ſchien uns
jenes Buch, als die rechte Quinteſſenz der
Greiſenheit, unſchmackhaft, ja abgeſchmackt.
Alles ſollte nothwendig ſeyn und deswegen
kein Gott. Koͤnnte es denn aber nicht auch
nothwendig einen Gott geben? fragten wir.
Dabey geſtanden wir freylich, daß wir uns
den Nothwendigkeiten der Tage und Naͤchte,
[105] der Jahreszeiten, der climatiſchen Einfluͤſſe,
der phyſiſchen und animaliſchen Zuſtaͤnde nicht
wohl entziehn koͤnnten; doch fuͤhlten wir et¬
was in uns das als vollkommene Willkuͤhr
erſchien, und wieder etwas das ſich mit die¬
ſer Willkuͤhr ins Gleichgewicht zu ſetzen ſuchte.
Die Hoffnung immer vernuͤnftiger zu wer¬
den, uns von den aͤußeren Dingen, ja von
uns ſelbſt immer unabhaͤngiger zu machen,
konnten wir nicht aufgeben. Das Wort Frey¬
heit klingt ſo ſchoͤn, daß man es nicht ent¬
behren koͤnnte, und wenn es einen Irrthum
bezeichnete.
Keiner von uns hatte das Buch hinaus¬
geleſen: denn wir fanden uns in der Erwar¬
tung getaͤuſcht, in der wir es aufgeſchlagen
hatten. Syſtem der Natur ward angekuͤn¬
digt, und wir hofften alſo wirklich etwas
von der Natur, unſerer Abgoͤttinn, zu erfah¬
ren. Phyſik und Chemie, Himmels- und
[106] Erdbeſchreibung, Naturgeſchichte und Anato¬
mie und ſo manches Andere hatte nun ſeit
Jahren und bis auf den letzten Tag uns im¬
mer auf die geſchmuͤckte große Welt hinge¬
wieſen, und wir haͤtten gern von Sonnen
und Sternen, von Planeten und Monden,
von Bergen, Thaͤlern, Fluͤſſen und Meeren
und von allem was darin lebt und webt, das
Naͤhere ſo wie das Allgemeinere erfahren.
Daß hierbey wohl manches vorkommen muͤ߬
te, was dem gemeinen Menſchen als ſchaͤd¬
lich, der Geiſtlichkeit als gefaͤhrlich, dem
Staat als unzulaͤßlich erſcheinen moͤchte, dar¬
an hatten wir keinen Zweifel, und wir hoff¬
ten, dieſes Buͤchlein ſollte nicht unwuͤrdig die
Feuerprobe beſtanden haben. Allein wie hohl
und leer ward uns in dieſer triſten atheiſti¬
ſchen Halbnacht zu Muthe, in welcher die
Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel
mit allen ſeinen Geſtirnen verſchwand. Eine
Materie ſollte ſeyn von Ewigkeit, und von
Ewigkeit her bewegt, und ſollte nun mit die¬
[107] ſer Bewegung rechts und links und nach al¬
len Seiten, ohne weiteres, die unendlichen
Phaͤnomene des Daſeyns hervorbringen. Dieß
alles waͤren wir ſogar zufrieden geweſen, wenn
der Verfaſſer wirklich aus ſeiner bewegten
Materie die Welt vor unſern Augen aufge¬
baut haͤtte. Aber er mochte von der Natur
ſo wenig wiſſen als wir: denn indem er ei¬
nige allgemeine Begriffe hingepfahlt, verlaͤßt
er ſie ſogleich, um dasjenige was hoͤher als
die Natur, oder als hoͤhere Natur in der
Natur erſcheint, zur materiellen, ſchweren,
zwar bewegten aber doch richtungs- und ge¬
ſtaltloſen Natur zu verwandeln, und glaubt
dadurch recht viel gewonnen zu haben.
Wenn uns jedoch dieſes Buch einigen
Schaden gebracht hat, ſo war es der, daß
wir aller Philoſophie, beſonders aber der
Metaphyſik, recht herzlich gram wurden und
blieben, dagegen aber aufs lebendige Wiſſen,
[108] Erfahren, Thun und Dichten uns nur deſto
lebhafter und leidenſchaftlicher hinwarfen.
So waren wir denn an der Grenze von
Frankreich alles franzoͤſiſchen Weſens auf ein¬
mal bar und ledig. Ihre Lebensweiſe fanden
wir zu beſtimmt und zu vornehm, ihre Dich¬
tung kalt, ihre Critik vernichtend, ihre Phi¬
loſophie abſtrus und doch unzulaͤnglich, ſo
daß wir auf dem Puncte ſtanden, uns der
rohen Natur wenigſtens verſuchsweiſe hinzu¬
geben, wenn uns nicht ein anderer Einfluß
ſchon ſeit langer Zeit zu hoͤheren, freyeren
und eben ſo wahren als dichteriſchen Weltan¬
ſichten und Geiſtesgenuͤſſen vorbereitet und
uns erſt heimlich und maͤßig, dann aber im¬
mer offenbarer und gewaltiger beherrſcht haͤtte.
Ich brauche kaum zu ſagen, daß hier
Shakspeare gemeynt ſey, und nachdem ich
dieſes ausgeſprochen, bedarf es keiner weitern
Ausfuͤhrung. Shakspeare iſt von den Deut¬
[109] ſchen mehr als von allen anderen Nationen,
ja vielleicht mehr als von ſeiner eignen er¬
kannt. Wir haben ihm alle Gerechtigkeit,
Billigkeit und Schonung, die wir uns unter
einander ſelbſt verſagen, reichlich zugewendet;
vorzuͤgliche Maͤnner beſchaͤftigten ſich, ſeine
Geiſtesgaben im guͤnſtigſten Lichte zu zeigen,
und ich habe jederzeit was man zu ſeiner
Ehre, zu ſeinen Gunſten, ja ihn zu entſchul¬
digen geſagt, gern unterſchrieben. Die Ein¬
wirkung dieſes außerordentlichen Geiſtes auf
mich iſt fruͤher dargeſtellt, und uͤber ſeine
Arbeiten einiges verſucht worden, welches Zu¬
ſtimmung gefunden hat; und ſo mag es hier
an dieſer allgemeinen Erklaͤrung genug ſeyn,
bis ich eine Nachleſe von Betrachtungen uͤber ſo
große Verdienſte, die ich an dieſer Stelle ein¬
zuſchalten in Verſuchung gerieth, Freunden die
mich hoͤren moͤgen, mitzutheilen im Falle bin.
Gegenwaͤrtig will ich nur die Art, wie
ich mit ihm bekannt geworden, naͤher anzei¬
[110] gen. Es geſchah ziemlich fruͤh, in Leipzig,
durch Dodd's beauties of Shakspeare. Was
man auch gegen ſolche Sammlungen ſagen
kann, welche die Autoren zerſtuͤckelt mitthei¬
len, ſie bringen doch manche gute Wirkung
hervor. Sind wir doch nicht immer ſo ge¬
faßt und ſo geiſtreich, daß wir ein ganzes
Werk nach ſeinem Werth in uns aufzuneh¬
men vermoͤchten. Streichen wir nicht in ei¬
nem Buche Stellen an, die ſich unmittelbar
auf uns beziehen. Junge Leute beſonders,
denen es an durchgreifender Bildung fehlt,
werden von glaͤnzenden Stellen gar loͤblich
aufgeregt, und ſo erinnere ich mich noch als
einer der ſchoͤnſten Epochen meines Lebens der¬
jenigen, welche gedachtes Werk bey mir be¬
zeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die
großen Spruͤche, die treffenden Schilderun¬
gen, die humoriſtiſchen Zuͤge, alles traf mich
einzeln und gewaltig.
[111]
Nun erſchien Wielands Ueberſetzung. Sie
ward verſchlungen, Freunden und Bekannten
mitgetheilt und empfohlen. Wir Deutſche
hatten den Vortheil, daß mehrere bedeutende
Werke fremder Nationen, auf eine leichte und
heitere Weiſe zuerſt heruͤber gebracht wurden.
Shakspeare proſaiſch uͤberſetzt, erſt durch Wie¬
land, dann durch Eſchenburg, konnte als eine
allgemein verſtaͤndliche und jedem Leſer ge¬
maͤße Lectuͤre ſich ſchnell verbreiten, und gro¬
ße Wirkung hervorbringen. Ich ehre den
Rhythmus wie den Reim, wodurch Poeſie
erſt zur Poeſie wird, aber das eigentlich tief
und gruͤndlich Wirkſame, das wahrhaft Aus¬
bildende und Foͤrdernde iſt dasjenige was vom
Dichter uͤbrig bleibt, wenn er in Proſe uͤber¬
ſetzt wird. Dann bleibt der reine vollkom¬
mene Gehalt, den uns ein blendendes Aeu¬
ßere oft, wenn er fehlt, vorzuſpiegeln weiß,
und wenn er gegenwaͤrtig iſt, verdeckt. Ich
halte daher, zum Anfang jugendlicher Bil¬
dung, proſaiſche Ueberſetzungen fuͤr vortheil¬
[112] hafter als die poetiſchen; denn es laͤßt ſich
bemerken, daß Knaben, denen ja doch alles
zum Scherze dienen muß, ſich am Schall
der Worte, am Fall der Sylben ergetzen,
und durch eine Art von parodiſtiſchem Muth¬
willen den tiefen Gehalt des edelſten Werks
zerſtoͤren. Deshalb gebe ich zu bedenken, ob
nicht zunaͤchſt eine proſaiſche Ueberſetzung des
Homer zu unternehmen waͤre; aber freylich
muͤßte ſie der Stufe wuͤrdig ſeyn, auf der
ſich die deutſche Literatur gegenwaͤrtig befindet.
Ich uͤberlaſſe dieß und das Vorgeſagte un¬
ſern wuͤrdigen Paͤdagogen zur Betrachtung,
denen ausgebreitete Erfahrung hieruͤber am
beſten zu Gebote ſteht. Nur will ich noch,
zu Gunſten meines Vorſchlags, an Luthers
Bibeluͤberſetzung erinnern: denn daß dieſer
treffliche Mann ein in dem verſchiedenſten
Stile verfaßtes Werk und deſſen dichteriſchen,
geſchichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns
in der Mutterſprache, wie aus einem Guſſe
uͤberlieferte, hat die Religion mehr gefoͤrdert,
[113] als wenn er die Eigenthuͤmlichkeiten des Ori¬
ginals im Einzelnen haͤtte nachbilden wollen.
Vergebens hat man nachher ſich mit dem
Buche Hiob, den Pſalmen und andern Ge¬
ſaͤngen bemuͤht, ſie uns in ihrer poetiſchen
Form genießbar zu machen. Fuͤr die Menge,
auf die gewirkt werden ſoll, bleibt eine ſchlich¬
te Uebertragung immer die beſte. Jene cri¬
tiſchen Ueberſetzungen, die mit dem Original
wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unter¬
haltung der Gelehrten unter einander.
Und ſo wirkte in unſerer Straßburger
Societaͤt Shakspeare, uͤberſetzt und im Ori¬
ginal, ſtuͤckweiſe und im Ganzen, ſtellen- und
auszugsweiſe, dergeſtalt, daß, wie man bi¬
belfeſte Maͤnner hat, wir uns nach und nach
in Shakspeare befeſtigten, die Tugenden und
Maͤngel ſeiner Zeit, mit denen er uns be¬
kannt macht, in unſeren Geſpraͤchen nachbil¬
deten, an ſeinen Quibbles die groͤßte Freude
hatten, und durch Ueberſetzung derſelben, ja
III. 8[114] durch originalen Muthwillen mit ihm wettei¬
ferten. Hiezu trug nicht wenig bey, daß ich
ihn vor allen mit großem Enthuſiasmus er¬
griffen hatte. Ein freudiges Bekennen, daß
etwas Hoͤheres uͤber mir ſchwebe, war an¬
ſteckend fuͤr meine Freunde, die ſich alle die¬
ſer Sinnesart hingaben. Wir leugneten die
Moͤglichkeit nicht, ſolche Verdienſte naͤher zu
erkennen, ſie zu begreifen, mit Einſicht zu
beurtheilen; aber dieß behielten wir uns fuͤr
ſpaͤtere Epochen vor: gegenwaͤrtig wollten wir
nur freudig theilnehmen, lebendig nachbilden,
und bey ſo großem Genuß, an dem Manne,
der ihn uns gab, nicht forſchen und maͤckeln,
vielmehr that es uns wohl, ihn unbedingt zu
verehren.
Will Jemand unmittelbar erfahren, was
damals in dieſer lebendigen Geſellſchaft ge¬
dacht, geſprochen und verhandelt worden, der
leſe den Aufſatz Herders uͤber Shaks¬
peare, in dem Hefte von deutſcher Art
[115] und Kunſt; ferner Lenzens Anmer¬
kungen uͤber's Theater, denen eine Ue¬
berſetzung von Love's labours lost hinzu¬
gefuͤgt war. Herder dringt in das Tiefere
von Shakspeare's Weſen und ſtellt es herr¬
lich dar; Lenz betraͤgt ſich mehr bilderſtuͤrme¬
riſch gegen die Herkoͤmmlichkeit des Theaters,
und will denn eben all und uͤberall nach Shaks¬
peareſcher Weiſe gehandelt haben. Da ich die¬
ſen ſo talentvollen als ſeltſamen Menſchen
hier zu erwaͤhnen veranlaßt werde, ſo iſt wohl
der Ort, verſuchsweiſe einiges uͤber ihn zu
ſagen. Ich lernte ihn erſt gegen das Ende
meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir
ſahen uns ſelten; ſeine Geſellſchaft war nicht
die meine, aber wir ſuchten doch Gelegenheit
uns zu treffen, und theilten uns einander gern
mit, weil wir, als gleichzeitige Juͤnglinge,
aͤhnliche Geſinnungen hegten. Klein, aber
nett von Geſtalt, ein allerliebſtes Koͤpfchen,
deſſen zierlicher Form niedliche etwas abge¬
ſtumpfte Zuͤge vollkommen entſprachen; blaue
8 *[116] Augen, blonde Haare, kurz ein Perſoͤnchen,
wie mir unter nordiſchen Juͤnglingen von Zeit
zu Zeit eins begegnet iſt; einen ſanften, gleich¬
ſam vorſichtigen Schritt, eine angenehme nicht
ganz fließende Sprache, und ein Betragen,
das zwiſchen Zuruͤckhaltung und Schuͤchtern¬
heit ſich bewegend, einem jungen Manne gar
wohl anſtand. Kleinere Gedichte, beſonders
ſeine eignen, las er ſehr gut vor, und ſchrieb
eine fließende Hand. Fuͤr ſeine Sinnesart
wuͤßte ich nur das engliſche Wort whimsical,
welches, wie das Woͤrterbuch ausweiſt, gar
manche Seltſamkeiten in einem Begriff zu¬
ſammenfaßt. Niemand war vielleicht eben
deswegen faͤhiger als er, die Ausſchweifungen
und Auswuͤchſe des Shakspeareſchen Genies
zu empfinden und nachzubilden. Die obenge¬
dachte Ueberſetzung giebt ein Zeugniß hievon.
Er behandelt ſeinen Autor mit großer Freyheit,
iſt nichts weniger als knapp und treu, aber er
weiß ſich die Ruͤſtung oder vielmehr die Poſ¬
ſenjacke ſeines Vorgaͤngers ſo gut anzupaſſen,
[117] ſich ſeinen Gebaͤrden ſo humoriſtiſch gleichzu¬
ſtellen, daß er demjenigen, den ſolche Dinge
anmutheten, gewiß Beyfall abgewann.
Die Abſurditaͤten der Clowns machten
beſonders unſere ganze Gluͤckſeligkeit und wir
prieſen Lenzen, als einen beguͤnſtigten Men¬
ſchen, da ihm jenes Epitaphium des von der
Prinzeſſinn geſchoſſenen Wildes folgenderma¬
ßen gelungen war:
Die Neigung zum Abſurden, die ſich frey
und unbewunden bey der Jugend zu Tage
zeigt, nachher aber immer mehr in die Tiefe
zuruͤcktritt, ohne ſich deshalb gaͤnzlich zu ver¬
lieren, war bey uns in voller Bluͤte, und wir
ſuchten auch durch Originalſpaͤße unſern gro¬
ßen Meiſter zu feyern. Wir waren ſehr glo¬
rios, wenn wir der Geſellſchaft etwas der
Art vorlegen konnten, welches einigermaßen
gebilligt wurde, wie z. B. folgendes auf einen
Rittmeiſter, der auf einem wilden Pferde zu
Schaden gekommen war:
Ueber ſolche Dinge ward ſehr ernſthaft ge¬
ſtritten, ob ſie des Clown's wuͤrdig oder nicht,
und ob ſie aus der wahrhaften reinen Narren¬
quelle gefloſſen, oder ob etwa Sinn und Ver¬
ſtand ſich auf eine ungehoͤrige und unzulaͤſſige
Weiſe mit eingemiſcht haͤtten. Ueberhaupt
aber konnten ſich dieſe ſeltſamen Geſinnungen
um ſo heftiger verbreiten und ſo mehrere wa¬
ren im Falle, daran Theil zu nehmen, als
Leſſing, der das große Vertrauen beſaß, in
ſeiner Dramaturgie eigentlich das erſte Signal
dazu gegeben hatte.
In ſo geſtimmter und aufgeregter Geſell¬
ſchaft gelang mir manche angenehme Fahrt
nach dem oberen Elſaß, woher ich aber eben
deshalb keine ſonderliche Belehrung zuruͤck¬
brachte. Die vielen kleinen Verſe, die uns
bey jeder Gelegenheit entquollen, und die wohl
eine muntere Reiſebeſchreibung ausſtatten konn¬
ten, ſind verloren gegangen. In dem Kreuz¬
gange der Abtey Molsheim bewunderten wir
[120] die farbigen Scheibengemaͤlde; in der fruchtba¬
ren Gegend zwiſchen Colmar und Schlettſtadt
ertoͤnten poſſirliche Hymnen an Ceres, indem
der Verbrauch ſo vieler Fruͤchte umſtaͤndlich
aus einander geſetzt und angeprieſen, auch die
wichtige Streitfrage uͤber den freyen oder be¬
ſchraͤnkten Handel derſelben ſehr luſtig genom¬
men wurde. In Enſisheim ſahen wir den un¬
geheuren Aërolithen in der Kirche aufgehan¬
gen, und ſpotteten, der Zweifelſucht jener Zeit
gemaͤß, uͤber die Leichtglaͤubigkeit der Men¬
ſchen, nicht vorahndend, daß dergleichen luft¬
geborene Weſen wo nicht auf unſern eignen
Acker herabfallen, doch wenigſtens in unſern
Cabinetten ſollten verwahrt werden.
Einer mit hundert, ja tauſend Glaͤubigen
auf den Ottilienberg begangenen Wallfahrt
denk' ich noch immer gern. Hier, wo das
Grundgemaͤuer eines roͤmiſchen Caſtells noch
uͤbrig, ſollte ſich in Ruinen und Steinritzen
eine ſchoͤne Grafentochter, aus frommer Nei¬
[121] gung aufgehalten haben. Ohnfern der Capel¬
le, wo ſich die Wanderer erbauen, zeigt man
ihren Brunnen und erzaͤhlt gar manches An¬
muthige. Das Bild das ich mir von ihr
machte, und ihr Name, praͤgte ſich tief bey
mir ein. Beyde trug ich lange mit mir her¬
um, bis ich endlich eine meiner zwar ſpaͤtern,
aber darum nicht minder geliebten Toͤchter da¬
mit ausſtattete, die von frommen und rei¬
nen Herzen ſo guͤnſtig aufgenommen wurde.
Auch auf dieſer Hoͤhe wiederholt ſich dem
Auge das herrliche Elſaß, immer daſſelbe und
immer neu; eben ſo wie man im Amphithea¬
ter, man nehme Platz wo man wolle, das
ganze Volk uͤberſieht, nur ſeine Nachbarn am
deutlichſten, ſo iſt es auch hier mit Buͤſchen,
Felſen, Huͤgeln, Waͤldern, Feldern, Wieſen
und Ortſchaften in der Naͤhe und in der Ferne.
Am Horizont wollte man uns ſogar Baſel zei¬
gen; daß wir es geſehen, will ich nicht be¬
ſchwoͤren, aber das entfernte Blau der
[122] Schweizergebirge uͤbte auch hier ſein Recht
uͤber uns aus, indem es uns zu ſich forderte,
und da wir nicht dieſem Triebe folgen konnten,
ein ſchmerzliches Gefuͤhl zuruͤckließ.
Solchen Zerſtreuungen und Heiterkeiten
gab ich mich um ſo lieber und zwar bis zur
Trunkenheit hin, als mich mein leidenſchaft¬
liches Verhaͤlniß zu Friedriken nunmehr zu
aͤngſtigen anfing. Eine ſolche jugendliche, auf's
Gerathewohl gehegte Neigung iſt der naͤchtlich
geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer
ſanften, glaͤnzenden Linie aufſteigt, ſich unter
die Sterne miſcht, ja einen Augenblick unter
ihnen zu verweilen ſcheint, alsdann aber ab¬
waͤrts, zwar wieder dieſelbe Bahn, nur um¬
gekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo ſie ih¬
ren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Frie¬
drike blieb ſich immer gleich; ſie ſchien nicht
zu denken noch denken zu wollen, daß dieſes
Verhaͤltniß ſich ſobald endigen koͤnne. Olivie
hingegen, die mich zwar auch ungern vermi߬
[123] te, aber doch nicht ſo viel als jene verlor, war
vorausſehender oder offener. Sie ſprach
manchmal mit mir uͤber meinen vermuthlichen
Abſchied und ſuchte uͤber ſich ſelbſt und ihre
Schweſter ſich zu troͤſten. Ein Maͤdchen das
einem Manne entſagt, dem ſie ihre Gewo¬
genheit nicht verleugnet, iſt lange nicht in der
peinlichen Lage, in der ſich ein Juͤngling be¬
findet, der mit Erklaͤrungen eben ſo weit ge¬
gen ein Frauenzimmer herausgegangen iſt.
Er ſpielt immer eine leidige Figur: denn von
ihm, als einem werdenden Manne, erwartet
man ſchon eine gewiſſe Ueberſicht ſeines Zu¬
ſtandes, und ein entſchiedener Leichtſinn will
ihn nicht kleiden. Die Urſachen eines Maͤd¬
chens, das ſich zuruͤckzieht, ſcheinen immer
guͤltig, die des Mannes niemals.
Allein wie ſoll eine ſchmeichelnde Leiden¬
ſchaft uns vorausſehn laſſen, wohin ſie uns
fuͤhren kann? Denn auch ſelbſt alsdann,
wenn wir ſchon ganz verſtaͤndig auf ſie Ver¬
[124] zicht gethan, koͤnnen wir ſie noch nicht loslaſ¬
ſen; wir ergetzen uns an der lieblichen Ge¬
wohnheit, und ſollte es auch auf eine veraͤn¬
derte Weiſe ſeyn. So ging es auch mir.
Wenn gleich die Gegenwart Friedrikens mich
aͤngſtigte, ſo wußte ich doch nichts Angeneh¬
meres, als abweſend an ſie zu denken und
mich mit ihr zu unterhalten. Ich kam ſelt¬
ner hinaus, aber unſere Briefe wechſelten de¬
ſto lebhafter. Sie wußte mir ihre Zuſtaͤnde
mit Heiterkeit, ihre Gefuͤhle mit Anmuth zu
vergegenwaͤrtigen, ſo wie ich mir ihre Ver¬
dienſte mit Gunſt und Leidenſchaft vor die
Seele rief. Die Abweſenheit machte mich
frey, und meine ganze Zuneigung bluͤhte erſt
recht auf durch die Unterhaltung in der Ferne.
Ich konnte mich in ſolchen Augenblicken ganz
eigentlich uͤber die Zukunft verblenden; zer¬
ſtreut war ich genug durch das Fortrollen der
Zeit und dringender Geſchaͤfte. Ich hatte
bisher moͤglich gemacht, das Mannigfaltigſte
zu leiſten, durch immer lebhafte Theilnahme
[125] am Gegenwaͤrtigen und Augenblicklichen; al¬
lein gegen das Ende draͤngte ſich alles gar
gewaltſam uͤber einander, wie es immer zu
gehn pflegt, wenn man ſich von einem Or¬
te losloͤſen ſoll.
Noch ein Zwiſchenereigniß nahm mir die
letzten Tage weg. Ich befand mich naͤmlich
in anſehnlicher Geſellſchaft auf einem Land¬
hauſe, von wo man die Vorderſeite des Muͤn¬
ſters und den daruͤber emporſteigenden Thurm
gar herrlich ſehn konnte. Es iſt Schade,
ſagte Jemand, daß das Ganze nicht fertig
geworden und daß wir nur den einen Thurm
haben. Ich verſetzte dagegen: es iſt mir eben
ſo leid, dieſen einen Thurm nicht ganz aus¬
gefuͤhrt zu ſehn; denn die vier Schnecken
ſetzen viel zu ſtumpf ab, es haͤtten darauf
noch vier leichte Thurmſpitzen geſollt, ſo wie
eine hoͤhere auf die Mitte, wo das plumpe
Kreuz ſteht.
[126]
Als ich dieſe Behauptung mit gewoͤhnli¬
cher Lebhaftigkeit ausſprach, redete mich ein
kleiner muntrer Mann an und fragte: wer
hat Ihnen das geſagt? — Der Thurm ſelbſt,
verſetzte ich. Ich habe ihn ſo lange und auf¬
merkſam betrachtet, und ihm ſo viel Neigung
erwieſen, daß er ſich zuletzt entſchloß, mir
dieſes offenbare Geheimniß zu geſtehn. — Er
hat Sie nicht mit Unwahrheit berichtet, ver¬
ſetzte jener; ich kann es am beſten wiſſen,
denn ich bin der Schaffner, der uͤber die Bau¬
lichkeiten geſetzt iſt. Wir haben in unſerem
Archiv noch die Originalriſſe, welche daſſelbe
beſagen, und die ich Ihnen zeigen kann. —
Wegen meiner nahen Abreiſe drang ich auf
Beſchleunigung dieſer Gefaͤlligkeit. Er ließ
mich die unſchaͤtzbaren Rollen ſehn; ich zeich¬
nete geſchwind die in der Ausfuͤhrung fehlen¬
den Spitzen durch oͤlgetraͤnktes Papier und
bedauerte, nicht fruͤher von dieſem Schatz
unterrichtet geweſen zu ſeyn. Aber ſo ſollte
es mir immer ergehn, daß ich durch An¬
[127] ſchaun und Betrachten der Dinge erſt muͤh¬
ſam zu einem Begriffe gelangen wußte, der
mir vielleicht nicht ſo auffallend und fruchtbar
geweſen waͤre, wenn man mir ihn uͤberliefert
haͤtte.
In ſolchem Drang und Verwirrung konn¬
te ich doch nicht unterlaſſen, Friedriken noch
einmal zu ſehn. Es waren peinliche Tage,
deren Erinnerung mir nicht geblieben iſt. Als
ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte,
ſtanden ihr die Thraͤnen in den Augen, und
mir war ſehr uͤbel zu Muthe. Nun ritt ich
auf dem Fußpfade gegen Druſenheim, und
da uͤberfiel mich eine der ſonderbarſten Ahn¬
dungen. Ich ſah naͤmlich, nicht mit den Au¬
gen des Leibes, ſondern des Geiſtes, mich
mir ſelbſt, denſelben Weg, zu Pferde wieder
entgegen kommen, und zwar in einem Kleide
wie ich es nie getragen: es war hechtgrau
mit etwas Gold. Sobald ich mich aus die¬
ſem Traum auſſchuͤttelte, war die Geſtalt ganz
[128] hinweg. Sonderbar iſt es jedoch, daß ich
nach acht Jahren, in dem Kleide das mir
getraͤumt hatte, und das ich nicht aus Wahl
ſondern aus Zufall gerade trug, mich auf
demſelben Wege fand, um Friedriken noch
einmal zu beſuchen. Es mag ſich uͤbrigens
mit dieſen Dingen wie es will verhalten, das
wunderliche Trugbild gab mir in jenen Au¬
genblicken des Scheidens einige Beruhigung.
Der Schmerz das herrliche Elſaß, mit allem
was ich darin erworben, auf immer zu ver¬
laſſen, war gemildert, und ich fand mich,
dem Taumel des Lebewohls endlich entflohn,
auf einer friedlichen und erheiternden Reiſe
ſo ziemlich wieder.
In Mannheim angelangt, eilte ich mit
groͤßter Begierde, den Antikenſaal zu ſehn,
von dem man viel Ruͤhmens machte. Schon
in Leipzig, bey Gelegenheit der Winkelmann¬
ſchen und Leſſingſchen Schriften, hatte ich
viel von dieſen bedeutenden Kunſtwerken re¬
[129] den hoͤren, deſto weniger aber geſehn: denn
außer Laokoon, dem Vater, und dem Faun
mit den Crotalen befanden ſich keine Abguͤſſe
auf der Academie; und was uns Oeſer bey
Gelegenheit dieſer Bildniſſe zu ſagen beliebte,
war freylich raͤthſelhaft genug. Wie will man
aber auch Anfaͤngern von dem Ende der Kunſt
einen Begriff geben?
Director Verſchaffels Empfang war
freundlich. Zu dem Saale fuͤhrte mich einer
ſeiner Geſellen, der, nachdem er mir aufge¬
ſchloſſen, mich meinen Neigungen und Be¬
trachtungen uͤberließ. Hier ſtand ich nun,
den wunderſamſten Eindruͤcken ausgeſetzt, in
einem geraͤumigen, viereckten, bey außeror¬
dentlicher Hoͤhe faſt cubiſchen Saal, in ei¬
nem durch Fenſter unter dem Geſims von
oben wohl erleuchteten Raum: die herrlichſten
Statuen des Alterthums nicht allein an den
Waͤnden gereiht, ſondern auch innerhalb der
ganzen Flaͤche durch einander aufgeſtellt; ein
III. 9[130] Wald von Statuen, durch den man ſich durch¬
winden, eine große ideale Volksgeſellſchaft,
zwiſchen der man ſich durchdraͤngen mußte.
Alle dieſe herrlichen Gebilde konnten durch
Auf- und Zuziehn der Vorhaͤnge in das vor¬
theilhafteſte Licht geſtellt werden; uͤberdieß
waren ſie auf ihren Poſtamenten beweglich
und nach Belieben zu wenden und zu drehen.
Nachdem ich die erſte Wirkung dieſer un¬
widerſtehlichen Maſſe eine Zeit lang geduldet
hatte, wendete ich mich zu denen Geſtalten,
die mich am meiſten anzogen, und wer kann
leugnen, daß Apoll von Belvedere, durch ſei¬
ne maͤßige Coloſſalgroͤße, den ſchlanken Bau,
die freye Bewegung, den ſiegenden Blick, auch
uͤber unſere Empfindung vor allen andern den
Sieg davon trage? Sodann wendete ich mich
zu Laokoon, den ich hier zuerſt mit ſeinen
Soͤhnen in Verbindung ſah. Ich vergegen¬
waͤrtigte mir ſo gut als moͤglich das, was
uͤber ihn verhandelt und geſtritten worden
[131] war, und ſuchte mir einen eignen Geſichts¬
punct; allein ich ward bald da bald dorthin
gezogen. Der ſterbende Fechter hielt mich
lange feſt, beſonders aber hatte ich der Grup¬
pe von Caſtor und Pollux, dieſen koſtbaren,
obgleich problematiſchen Reſten, die ſeligſten
Augenblicke zu danken. Ich wußte noch nicht,
wie unmoͤglich es ſey, ſich von einem genie¬
ßenden Anſchaun ſogleich Rechenſchaft zu ge¬
ben. Ich zwang mich zu reflectiren, und ſo
wenig es mir gelingen wollte, zu irgend ei¬
ner Art von Klarheit zu gelangen, ſo fuͤhlte
ich doch, daß jedes Einzelne dieſer großen
verſammelten Maſſe faßlich, ein jeder Gegen¬
ſtand natuͤrlich und in ſich ſelbſt bedeutend ſey.
Auf Laokoon jedoch war meine groͤßte Auf¬
merkſamkeit gerichtet, und ich entſchied mir
die beruͤhmte Frage, warum er nicht ſchreye,
dadurch, daß ich mir ausſprach, er koͤnne
nicht ſchreyen. Alle Handlungen und Bewe¬
gungen der drey Figuren gingen mir aus der
[132] erſten Conception der Gruppe hervor. Die
ganze ſo gewaltſame als kunſtreiche Stellung
des Hauptkoͤrpers war aus zwey Anlaͤſſen zu¬
ſammengeſetzt, aus dem Streben gegen die
Schlangen, und aus dem Fliehn vor dem au¬
genblicklichen Biß. Um dieſen Schmerz zu
mildern, mußte der Unterleib eingezogen und
das Schreyen unmoͤglich gemacht werden. So
entſchied ich mich auch, daß der juͤngere Sohn
nicht gebiſſen ſey, und wie ich mir ſonſt noch
das Kunſtreiche dieſer Gruppe auszulegen
ſuchte. Ich ſchrieb hieruͤber einen Brief an
Oeſern, der aber nicht ſonderlich auf meine
Auslegung achtete, ſondern nur meinen guten
Willen mit einer allgemeinen Aufmunterung
erwiederte. Ich aber war gluͤcklich genug, je¬
nen Gedanken feſtzuhalten und bey mir meh¬
rere Jahre ruhen zu laſſen, bis er ſich zu¬
letzt an meine ſaͤmmtlichen Erfahrungen und
Ueberzeugungen anſchloß, in welchem Sinne
ich ihn ſodann bey Herausgabe der Propy¬
laͤen mittheilte.
[133]
Nach eifriger Betrachtung ſo vieler erha¬
benen plaſtiſchen Werke, ſollte es mir auch
an einem Vorſchmack antiker Architectur nicht
fehlen. Ich fand den Abguß eines Capitaͤls
der Rotonde, und ich leugne nicht, daß beym
Anblick jener ſo ungeheuren als eleganten
Acanthblaͤtter mein Glaube an die nordiſche
Baukunſt etwas zu wanken anfing.
Dieſes große und bey mir durchs ganze
Leben wirkſame fruͤhzeitige Schauen war den¬
noch fuͤr die naͤchſte Zeit von geringen Fol¬
gen. Wie gern haͤtte ich mit dieſer Darſtel¬
lung ein Buch angefangen, anſtatt daß ich's
damit ende: denn kaum war die Thuͤre des
herrlichen Saals hinter mir zugeſchloſſen, ſo
wuͤnſchte ich mich ſelbſt wieder zu finden, ja
ich ſuchte jene Geſtalten eher, als laͤſtig, aus
meiner Einbildungskraft zu entfernen, und
nur erſt durch einen großen Umweg ſollte ich
in dieſen Kreis zuruͤckgefuͤhrt werden. Indeſ¬
ſen iſt die ſtille Fruchtbarkeit ſolcher Eindruͤcke
[134] ganz unſchaͤtzbar, die man genießend, ohne
zerſplitterndes Urtheil, in ſich aufnimmt. Die
Jugend iſt dieſes hoͤchſten Gluͤcks faͤhig, wenn
ſie nicht critiſch ſeyn will, ſondern das Vor¬
treffliche und Gute, ohne Unterſuchung und
Sonderung, auf ſich wirken laͤßt.
Zwoͤlftes Buch.
[[136]][[137]]Der Wanderer war nun endlich geſuͤnder
und froher nach Hauſe gelangt als das erſte
Mal, aber in ſeinem ganzen Weſen zeigte
ſich doch etwas Ueberſpanntes, welches nicht
voͤllig auf geiſtige Geſundheit deutete. Gleich
zu Anfang brachte ich meine Mutter in den
Fall, daß ſie zwiſchen meines Vaters rechtli¬
chem Ordnungsgeiſt und meiner vielfachen Ex¬
centricitaͤt die Vorfaͤlle in ein gewiſſes Mittel
zu richten und zu ſchlichten beſchaͤftigt ſeyn
mußte. In Maynz hatte mir ein harfeſpie¬
lender Knabe ſo wohl gefallen, daß ich ihn,
weil die Meſſe gerade vor der Thuͤre war,
nach Frankfurt einlud, ihm Wohnung zu ge¬
ben und ihn zu befoͤrdern verſprach. In die¬
ſem Ereigniß trat wieder einmal diejenige Ei¬
genheit hervor, die mich in meinem Leben ſo
[138] viel gekoſtet hat, daß ich naͤmlich gern ſehe,
wenn juͤngere Weſen ſich um mich verſammeln
und an mich anknuͤpfen, wodurch ich denn
freylich zuletzt mit ihrem Schickſal belaſtet
werde. Eine unangenehme Erfahrung nach
der andern konnte mich von dem angebornen
Trieb nicht zuruͤckbringen, der noch gegen¬
waͤrtig, bey der deutlichſten Ueberzeugung, von
Zeit zu Zeit mich irre zu fuͤhren droht. Mei¬
ne Mutter, klaͤrer als ich, ſah wohl voraus,
wie ſonderbar es meinem Vater vorkommen
muͤßte, wenn ein muſicaliſcher Meßlaͤufer, von
einem ſo anſehnlichen Hauſe her, zu Gaſthoͤ¬
fen und Schenken ginge, ſein Brod zu ver¬
dienen; daher ſorgte ſie in der Nachbarſchaft
fuͤr Herberge und Koſt deſſelben; ich empfahl
ihn meinen Freunden, und ſo befand ſich das
Kind nicht uͤbel. Nach mehreren Jahren ſah
ich ihn wieder, wo er groͤßer und toͤlpiſcher
geworden war, ohne in ſeiner Kunſt viel zu¬
genommen zu haben. Die wackere Frau,
mit dem erſten Probeſtuͤck des Ausgleichens
[139] und Vertuſchens wohl zufrieden, dachte nicht,
daß ſie dieſe Kunſt in der naͤchſten Zeit durch¬
aus noͤthig haben wuͤrde. Der Vater, in ſei¬
nen verjaͤhrten Liebhabereyen und Beſchaͤfti¬
gungen ein zufriedenes Leben fuͤhrend, war
behaglich, wie einer, der trotz allen Hinder¬
niſſen und Verſpaͤtungen, ſeine Plane durch¬
ſetzt. Ich hatte nun promovirt, der erſte
Schritt zu dem fernern buͤrgerlichen, ſtufen¬
weiſen Lebensgange war gethan. Meine Dis¬
putation hatte ſeinen Beyfall, ihn beſchaͤftig¬
te die naͤhere Betrachtung derſelben und man¬
che Vorbereitung zu einer kuͤnftigen Heraus¬
gabe. Waͤhrend meines Aufenthalts im El¬
ſaß hatte ich viel kleine Gedichte, Aufſaͤtze,
Reiſebemerkungen und manches fliegende Blatt
geſchrieben. Dieſe zu rubriciren, zu ordnen,
die Vollendung zu verlangen unterhielt ihn,
und ſo war er froh in der Erwartung, daß
meine bisher unuͤberwundene Abneigung, et¬
was dieſer Dinge gedruckt zu ſehn, ſich naͤch¬
ſtens verlieren werde. Die Schweſter hatte
[140] einen Kreis von verſtaͤndigen und liebenswuͤr¬
digen Frauenzimmern um ſich verſammelt.
Ohne herriſch zu ſeyn, herrſchte ſie uͤber alle,
indem ihr Verſtand gar manches uͤberſehn
und ihr guter Wille vieles ausgleichen konnte,
ſie auch uͤberdieß in dem Fall war, eher die
Vertraute als die Rivalinn zu ſpielen. Von
aͤltern Freunden und Bekannten fand ich an
Horn den unveraͤnderlich treuen Freund und
heiteren Geſellſchafter; mit Rieſe ward ich
auch vertraut, der meinen Scharfſinn zu uͤben
und zu pruͤfen nicht verfehlte, indem er, durch
anhaltenden Widerſpruch, einem dogmatiſchen
Enthuſiasmus, in welchen ich nur gar zu
gern verfiel, Zweifel und Verneinung entge¬
genſetzte. Andere traten nach und nach zu
dieſem Kreis, deren ich kuͤnftig gedenke; je¬
doch ſtanden unter den Perſonen, die mir den
neuen Aufenthalt in meiner Vaterſtadt ange¬
nehm und fruchtbar machten, die Gebruͤder
Schloſſer allerdings oben an. Der aͤltere,
Hieronymus, ein gruͤndlicher und elegan¬
[141] ter Rechtsgelehrter, hatte als Sachwalter ein
allgemeines Vertrauen. Unter ſeinen Buͤchern
und Acten, in Zimmern wo die groͤßte Ord¬
nung herrſchte, war ſein liebſter Aufenthalt;
dort hab' ich ihn niemals anders als heiter
und theilnehmend gefunden. Auch in groͤße¬
rer Geſellſchaft erwies er ſich angenehm und
unterhaltend: denn ſein Geiſt war, durch eine
ausgebreitete Lectuͤre, mit allem Schoͤnen der
Vorwelt geziert. Er verſchmaͤhte nicht, bey
Gelegenheit, durch geiſtreiche lateiniſche Ge¬
dichte die geſelligen Freuden zu vermehren;
wie ich denn noch verſchiedene ſcherzhafte Di¬
ſtichen von ihm beſitze, die er unter einige
von mir gezeichnete Portraite ſeltſamer, all¬
gemein bekannter Frankfurter Caricaturen ge¬
ſchrieben hatte. Oefters berieth ich mich mit
ihm uͤber meinen einzuleitenden Lebens- und
Geſchaͤftsgang, und haͤtten mich nicht hun¬
dertſaͤltige Neigungen, Leidenſchaften und Zer¬
ſtreuungen von dieſem Wege fortgeriſſen, er
wuͤrde mir der ſicherſte Fuͤhrer geworden ſeyn.
[142]
Naͤher an Alter ſtand mir ſein Bruder
Georg, der ſich von Treptow, aus den
Dienſten des Herzogs Eugen von Wuͤrtem¬
berg wieder zuruͤckgezogen hatte. An Welt¬
kenntniß, an practiſchem Geſchick vorgeſchrit¬
ten, war er in ſeiner Ueberſicht der deutſchen
und auswaͤrtigen Literatur auch nicht zuruͤck
geblieben. Er ſchrieb, wie vormals, gern in
allen Sprachen, regte mich aber dadurch nicht
weiter an, da ich mich dem Deutſchen aus¬
ſchließlich widmend, die uͤbrigen nur in ſo
weit cultivirte, daß ich die beſten Autoren im
Original einigermaßen zu leſen im Stande
war. Seine Rechtſchaffenheit zeigte ſich im¬
mer als dieſelbe, ja die Bekanntſchaft mit
der Welt mochte ihn veranlaßt haben, ſtren¬
ger, ſogar ſtarrer auf ſeinen wohlmeynenden
Geſinnungen zu beharren.
Durch dieſe beyden Freunde ward ich denn
auch gar bald mit Merk bekannt, dem ich
durch Herdern, von Straßburg aus, nicht
[143] unguͤnſtig angekuͤndigt war. Dieſer eigne
Mann, der auf mein Leben den groͤßten Ein¬
fluß gehabt, war von Geburt ein Darm¬
ſtaͤdter. Von ſeiner fruͤheren Bildung wuͤßte
ich wenig zu ſagen. Nach vollendeten Stu¬
dien fuͤhrte er einen Juͤngling nach der Schweiz,
wo er eine Zeit lang blieb, und beweibt zu¬
ruͤckkam. Als ich ihn kennen lernte, war er
Kriegszahlmeiſter in Darmſtadt. Mit Ver¬
ſtand und Geiſt geboren, hatte er ſich ſehr
ſchoͤne Kenntniſſe, beſonders der neueren Lite¬
raturen, erworben, und ſich in der Welt- und
Menſchengeſchichte nach allen Zeiten und Ge¬
genden umgeſehn. Treffend und ſcharf zu ur¬
theilen war ihm gegeben. Man ſchaͤtzte ihn
als einen wackern entſchloſſenen Geſchaͤftsmann
und fertigen Rechner. Mit Leichtigkeit trat
er uͤberall ein, als ein ſehr angenehmer Ge¬
ſellſchafter fuͤr die, denen er ſich durch bei¬
ßende Zuͤge nicht furchtbar gemacht hatte. Er
war lang und hager von Geſtalt, eine her¬
vordringende ſpitze Naſe zeichnete ſich aus,
[144] hellblaue, vielleicht graue Augen gaben ſei¬
nem Blick, der aufmerkend hin und wieder
ging, etwas Tigerartiges. Lavaters Phyſio¬
gnomik hat uns ſein Profil aufbewahrt. In
ſeinem Character lag ein wunderbares Mi߬
verhaͤltniß: von Natur ein braver, edler, zu¬
verlaͤſſiger Mann, hatte er ſich gegen die
Welt erbittert, und ließ dieſen grillenkranken
Zug dergeſtalt in ſich walten, daß er eine un¬
uͤberwindliche Neigung fuͤhlte, vorſaͤtzlich ein
Schalk, ja ein Schelm zu ſeyn. Verſtaͤndig,
ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es
ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke
ihre Hoͤrner hervorſtreckt, irgend etwas zu
thun, was einen andern kraͤnkte, verletzte, ja
was ihm ſchaͤdlich ward. Doch wie man
gern mit etwas Gefaͤhrlichem umgeht, wenn
man ſelbſt davor ſicher zu ſeyn glaubt, ſo
hatte ich eine deſto groͤßere Neigung mit ihm
zu leben und ſeiner guten Eigenſchaften zu
genießen, da ein zuverſichtliches Gefuͤhl mich
ahnden ließ, daß er ſeine ſchlimme Seite
[145] nicht gegen mich kehren werde. Wie er ſich
nun, durch dieſen ſittlich unruhigen Geiſt,
durch dieſes Beduͤrfniß, die Menſchen haͤmiſch
und tuͤckiſch zu behandeln, von einer Seite
das geſellige Leben verdarb, ſo widerſprach
eine andere Unruhe, die er auch recht ſorg¬
faͤltig in ſich naͤhrte, ſeinem innern Behagen.
Er fuͤhlte naͤmlich einen gewiſſen dilettantiſchen
Productionstrieb, dem er um ſo mehr nach¬
hing, als er ſich in Proſa und Verſen leicht
und gluͤcklich ausdruͤckte, und unter den ſchoͤ¬
nen Geiſtern jener Zeit eine Rolle zu ſpielen
gar wohl wagen durfte. Ich beſitze ſelbſt
noch poetiſche Epiſteln von ungemeiner Kuͤhn¬
heit, Derbheit und Swiſtiſcher Galle, die
ſich durch originelle Anſichten der Perſonen
und Sachen hoͤchlich auszeichnen, aber zugleich
mit ſo verletzender Kraft geſchrieben ſind, daß
ich ſie nicht einmal gegenwaͤrtig publiciren
moͤchte, ſondern ſie entweder vertilgen, oder
als auffallende Documente des geheimen Zwie¬
ſpalts in unſerer Literatur der Nachwelt auf¬
III. 10[146] bewahren muß. Daß er jedoch bey allen ſei¬
nen Arbeiten verneinend und zerſtoͤrend zu
Werke ging, war ihm ſelbſt unangenehm, und
er ſprach es oft aus, er beneide mich um mei¬
ne unſchuldige Darſtellungsluſt, welche aus
der Freude an dem Vorbild und dem Nach¬
gebildeten entſpringe.
Uebrigens haͤtte ihm ſein literariſcher Di¬
lettantismus eher Nutzen als Schaden ge¬
bracht, wenn er nicht den unwiderſtehlichen
Trieb gefuͤhlt haͤtte, auch im techniſchen und
mercantiliſchen Fach aufzutreten. Denn wenn
er einmal ſeine Faͤhigkeiten zu verwuͤnſchen an¬
fing, und außer ſich war, die Anſpruͤche an
ein ausuͤbendes Talent nicht genialiſch genug
befriedigen zu koͤnnen, ſo ließ er bald die bil¬
dende, bald die Dichtkunſt fahren und ſann
auf fabrikmaͤßige kaufmaͤnniſche Unternehmun¬
gen, welche Geld einbringen ſollten, indem
ſie ihm Spaß machten.
[147]
In Darmſtadt befand ſich uͤbrigens eine
Geſellſchaft von ſehr gebildeten Maͤnnern.
Geheimerath von Heß, Miniſter des Land¬
grafen, Profeſſor Peterſen, Rector Wenk
und andere waren die Einheimiſchen, zu de¬
ren Werth ſich manche fremde Benachbarte
und viele Durchreiſende abwechſelnd geſellten.
Die Geheimeraͤthinn von Heß und ihre
Schweſter, Demoiſelle Flachsland, waren
Frauenzimmer von ſeltenen Verdienſten und
Anlagen, die letztre, Herders Braut, doppelt
intereſſant durch ihre Eigenſchaften und ihre
Neigung zu einem ſo vortrefflichen Manne.
Wie ſehr dieſer Kreis mich belebte und foͤr¬
derte, waͤre nicht auszuſprechen. Man hoͤrte
gern die Vorleſung meiner gefertigten oder
angefangenen Arbeiten, man munterte mich
auf, wenn ich offen und umſtaͤndlich erzaͤhlte,
was ich eben vorhatte, und ſchalt mich, wenn
ich bey jedem neuen Anlaß das Fruͤherbegon¬
nene zuruͤckſetzte. Fauſt war ſchon vorgeruckt,
10 *[148]Goetz von Berlichingen baute ſich nach
und nach in meinem Geiſte zuſammen, das
Studium des fuͤnfzehnten und ſechzehnten
Jahrhunderts beſchaͤftigte mich, und jenes
Muͤnſtergebaͤude hatte einen ſehr ernſten Ein¬
druck in mir zuruͤckgelaſſen, der als Hinter¬
grund zu ſolchen Dichtungen gar wohl daſtehn
konnte.
Was ich uͤber jene Baukunſt gedacht und
gewaͤhnt hatte, ſchrieb ich zuſammen. Das
Erſte worauf ich drang war, daß man ſie
deutſch und nicht gothiſch nennen, nicht
fuͤr auslaͤndiſch, ſondern fuͤr vaterlaͤndiſch hal¬
ten ſolle; das Zweyte, daß man ſie nicht mit
der Baukunſt der Griechen und Roͤmer ver¬
gleichen duͤrfe, weil ſie aus einem ganz ande¬
ren Princip entſprungen ſey. Wenn jene, un¬
ter einem gluͤcklicheren Himmel, ihr Dach auf
Saͤulen ruhen ließen, ſo entſtand ja ſchon an
und fuͤr ſich eine durchbrochene Wand. Wir
aber, die wir uns durchaus gegen die Witte¬
[149] rung ſchuͤtzen, und mit Mauern uͤberall umge¬
ben muͤſſen, haben den Genius zu verehren,
der Mittel fand, maſſiven Waͤnden Mannig¬
faltigkeit zu geben, ſie dem Scheine nach zu
durchbrechen und das Auge wuͤrdig und erfreu¬
lich auf, der großen Flaͤche zu beſchaͤftigen.
Daſſelbe galt von den Thuͤrmen, welche nicht,
wie die Kuppeln, nach innen einen Himmel
bilden, ſondern außen gen Himmel ſtreben,
und das Daſeyn des Heiligthums, das ſich
an ihre Baſe gelagert, weit umher den Laͤn¬
dern verkuͤnden ſollten. Das Innere dieſer
wuͤrdigen Gebaͤude wagte ich nur durch poe¬
tiſches Anſchauen und durch fromme Stim¬
mung zu beruͤhren.
Haͤtte ich dieſe Anſichten, denen ich ihren
Werth nicht abſprechen will, klar und deut¬
lich, in vernehmlichem Stil abzufaſſen be¬
liebt, ſo haͤtte der Druckbogen von deut¬
ſcher BaukunſtD. M. Erwini a Stein¬
bach ſchon damals als ich ihn herausgab,
[150] mehr Wirkung gethan und die vaterlaͤndiſchen
Freunde der Kunſt fruͤher aufmerkſam gemacht;
ſo aber verhuͤllte ich, durch Hamans und Her¬
ders Beyſpiel verfuͤhrt, dieſe ganz einfachen
Gedanken und Betrachtungen in eine Staub¬
wolke von ſeltſamen Worten und Phraſen,
und verfinſterte das Licht das mir aufgegan¬
gen war, fuͤr mich und andere. Demunge¬
achtet wurden dieſe Blaͤtter gut aufgenom¬
men und in dem Herderſchen Heft von
deutſcher Art und Kunſt nochmals ab¬
gedruckt.
Wenn ich mich nun, theils aus Neigung,
theils zu dichteriſchen und andern Zwecken,
mit vaterlaͤndiſchen Alterthuͤmern ſehr gern
beſchaͤftigte und ſie mir zu vergegenwaͤrtigen
ſuchte; ſo ward ich durch die bibliſchen Stu¬
dien und durch religioͤſe Anklaͤnge von Zeit zu
Zeit wieder abgelenkt, da ja Luthers Leben
und Thaten, die in dem ſechzehnten Jahrhun¬
dert ſo herrlich hervorglaͤnzen, mich immer
[151] wieder zu den heiligen Schriften und zu Be¬
trachtung religioͤſer Gefuͤhle und Meynungen
hinleiten mußten. Die Bibel als ein zuſam¬
mengetragenes, nach und nach entſtandenes,
zu verſchiedenen Zeiten uͤberarbeitetes Werk an¬
zuſehn, ſchmeichelte meinem kleinen Duͤnkel,
indem dieſe Vorſtellungsart noch keineswegs
herrſchend, viel weniger in dem Kreis aufge¬
nommen war, in welchem ich lebte. Was
den Hauptſinn betraf, hielt ich mich an Lu¬
thers Ausdruck, im Einzelnen ging ich wohl
zur Schmidtiſchen woͤrtlichen Ueberſetzung,
und ſuchte mein weniges Hebraͤiſch dabey ſo
gut als moͤglich zu benutzen. Daß in der Bi¬
bel ſich Widerſpruͤche finden, wird jetzt Nie¬
mand in Abrede ſeyn. Dieſe ſuchte man da¬
durch auszugleichen, daß man die deutlichſte
Stelle zum Grunde legte, und die widerſpre¬
chende, weniger klare jener anzuaͤhnlichen be¬
muͤht war. Ich dagegen wollte durch Pruͤ¬
fung herausfinden, welche Stelle den Sinn
der Sache am meiſten ausſpraͤche; an dieſe
[152] hielt ich mich und verwarf die anderen als un¬
tergeſchoben.
Denn ſchon damals hatte ſich bey mir eine
Grundmeynung feſtgeſetzt, ohne daß ich zu
ſagen wuͤßte, ob ſie mir eingefloͤßt, ob ſie bey
mir angeregt worden, oder ob ſie aus eignem
Nachdenken entſprungen ſey. Es war naͤm¬
lich die: bey allem was uns uͤberliefert, be¬
ſonders aber ſchriftlich uͤberliefert werde, kom¬
me es auf den Grund, auf das Innere, den
Sinn, die Richtung des Werks an; hier lie¬
ge das Urſpruͤngliche, Goͤttliche, Wirkſame,
Unantaſtbare, Unverwuͤſtliche, und keine Zeit,
keine aͤußere Einwirkung noch Bedingung koͤn¬
ne dieſem innern Urweſen etwas anhaben,
wenigſtens nicht mehr als die Krankheit des
Koͤrpers einer wohlgebildeten Seele. So ſey
nun Sprache Dialect, Eigenthuͤmlichkeit, Stil
und zuletzt die Schrift als Koͤrper eines je¬
den geiſtigen Werks anzuſehn; dieſer, zwar
nah genug mit dem Innern verwandt, ſey
[153] jedoch der Verſchlimmerung, dem Verderbniß
ausgeſetzt: wie denn uͤberhaupt keine Ueber¬
lieferung ihrer Natur nach ganz rein gegeben,
und wenn ſie auch rein gegeben wuͤrde, in der
Folge jederzeit vollkommen verſtaͤndlich ſeyn
koͤnnte, jenes wegen Unzulaͤnglichkeit der Or¬
gane, durch welche uͤberliefert wird, dieſes
wegen des Unterſchieds der Zeiten, der Orte,
beſonders aber wegen der Verſchiedenheit
menſchlicher Faͤhigkeiten und Denkweiſen; wes¬
halb denn ja auch die Ausleger ſich niemals
vergleichen werden.
Das Innere, Eigentliche einer Schrift,
die uns beſonders zuſagt, zu erforſchen, ſey
daher eines Jeden Sache, und dabey vor al¬
len Dingen zu erwaͤgen, wie ſie ſich zu un¬
ſerm eignen Innern verhalte, und in wie fern
durch jene Lebenskraft die unſrige erregt und
befruchtet werde; alles Aeußere hingegen, was
auf uns unwirkſam, oder einem Zweifel un¬
terworfen ſey, habe man der Critik zu uͤber¬
[154] laſſen, welche, wenn ſie auch im Stande ſeyn
ſollte, das Ganze zu zerſtuͤckeln und zu zer¬
ſplittern, dennoch niemals dahin gelangen
wuͤrde, uns den eigentlichen Grund, an dem
wir feſthalten, zu rauben, ja uns nicht einen
Augenblick an der einmal gefaßten Zuverſicht
irre zu machen.
Dieſe aus Glauben und Schauen entſprun¬
gene Ueberzeugung, welche in allen Faͤllen, die
wir fuͤr die wichtigſten erkennen, anwendbar
und ſtaͤrkend iſt, liegt zum Grunde meinem
ſittlichen ſowohl als literariſchen Lebensbau,
und iſt als ein wohl angelegtes und reichlich
wucherndes Capital anzuſehn, ob wir gleich
in einzelnen Faͤllen zu fehlerhafter Anwendung
verleitet werden koͤnnen. Durch dieſen Be¬
griff ward mir denn die Bibel erſt recht zu¬
gaͤnglich. Ich hatte ſie, wie bey dem Reli¬
gionsunterricht der Proteſtanten geſchieht, mehr¬
mals durchlaufen, ja mich mit derſelben ſprung¬
weiſe, von vorn nach hinten und umgekehrt,
[155] bekannt gemacht. Die derbe Natuͤrlichkeit des
alten Teſtaments und die zarte Naivetaͤt des
neuen hatte mich im Einzelnen angezogen;
als ein Ganzes wollte ſie mir zwar niemals
recht entgegentreten, aber die verſchiedenen
Character der verſchiedenen Buͤcher machten
mich nun nicht mehr irre: ich wußte mir ihre
Bedeutung der Reihe nach treulich zu verge¬
genwaͤrtigen und hatte uͤberhaupt zuviel Ge¬
muͤth an dieſes Buch verwandt, als daß ich
es jemals wieder haͤtte entbehren ſollen. Eben
von dieſer gemuͤthlichen Seite war ich gegen
alle Spoͤttereyen geſchuͤtzt, weil ich deren Un¬
redlichkeit ſogleich einſah. Ich verabſcheute
ſie nicht nur, ſondern ich konnte daruͤber in
Wuth gerathen, und ich erinnere mich noch
genau, daß ich in kindlich fanatiſchem Eifer,
Voltairen, wenn ich ihn haͤtte habhaft wer¬
den koͤnnen, wegen ſeines Sauls gar wohl
erdroſſelt haͤtte. Jede Art von redlicher For¬
ſchung dagegen ſagte mir hoͤchlich zu, die Auf¬
klaͤrungen uͤber des Orients Localitaͤt und
[156] Coſtuͤm, welche immer mehr Licht verbreite¬
ten, nahm ich mit Freuden auf, und fuhr
fort, allen meinen Scharfſinn an den ſo wer¬
then Ueberlieferungen zu uͤben.
Man weiß, wie ich ſchon fruͤher mich in
den Zuſtand der Urwelt, die uns das erſte
Buch Moſis ſchildert, einzuweihen ſuchte.
Weil ich nun ſchrittweiſe und ordentlich zu
verfahren dachte, ſo griff ich, nach einer lan¬
gen Unterbrechung, das zweyte Buch an. Al¬
lein welch ein Unterſchied! Gerade wie die
kindliche Fuͤlle aus meinem Leben verſchwun¬
den war, ſo fand ich auch das zweyte Buch
von dem erſten durch eine ungeheure Kluft
getrennt. Das voͤllige Vergeſſen vergangener
Zeit ſpricht ſich ſchon aus in den wenigen be¬
deutenden Worten: „Da kam ein neuer Koͤ¬
nig auf in Aegypten, der wußte nichts von
Joſeph.“ Aber auch das Volk, wie die Ster¬
ne des Himmels unzaͤhlbar, hatte beynah den
Ahnherrn vergeſſen, dem Jehovah gerade die¬
[157] ſes nunmehr erfuͤllte Verſprechen unter dem
Sternenhimmel gethan hatte. Ich arbeitete
mich mit unſaͤglicher Muͤhe, mit unzulaͤngli¬
chen Huͤlfsmitteln und Kraͤften durch die fuͤnf
Buͤcher und gerieth dabey auf die wunderlich¬
ſten Einfaͤlle. Ich glaubte gefunden zu haben,
daß nicht unſere Zehn-Gebote auf den Tafeln
geſtanden, daß die Israeliten keine vierzig
Jahre, ſondern nur kurze Zeit durch die Wuͤſte
gewandert, und eben ſo bildete ich mir ein,
uͤber den Character Moſis ganz neue Aufſchluͤſ¬
ſe geben zu koͤnnen.
Auch das neue Teſtament war vor meinen
Unterſuchungen nicht ſicher; ich verſchonte es
nicht mit meiner Sonderungsluſt, aber aus
Liebe und Neigung ſtimmte ich doch in jenes
heilſame Wort mit ein: „Die Evangeliſten moͤ¬
gen ſich widerſprechen, wenn ſich nur das
Evangelium nicht widerſpricht.“ — Auch in
dieſer Region glaubte ich allerhand Entdeckun¬
gen zu machen. Jene Gabe der Sprachen,
[158] am Pfingſtfeſte in Glanz und Klarheit ertheilt,
deutete ich mir auf eine etwas abſtruſe Weiſe,
nicht geeignet ſich viele Theilnehmer zu ver¬
ſchaffen.
In eine der Hauptlehren des Lutherthums,
welche die Bruͤdergemeine noch geſchaͤrft hatte,
das Suͤndhafte im Menſchen als vorwaltend
anzuſehn, verſuchte ich mich zu ſchicken, ob¬
gleich nicht mit ſonderlichem Gluͤck. Doch hat¬
te ich mir die Terminologie dieſer Lehre ſo
ziemlich zu eigen gemacht, und bediente mich
derſelben in einem Briefe, den ich unter der
Maske eines Landgeiſtlichen an einen neuen
Amtsbruder zu erlaſſen beliebte. Das Haupt¬
thema deſſelbigen Schreibens war jedoch die
Looſung der damaligen Zeit, ſie hieß Tole¬
ranz, und galt unter den beſſeren Koͤpfen
und Geiſtern.
Solche Dinge, die nach und nach entſtan¬
den, ließ ich, um mich an dem Publicum zu
[159] verſuchen, im folgenden Jahre auf meine Ko¬
ſten drucken, verſchenkte ſie, oder gab ſie der
Eichenbergiſchen Buchhandlung, um ſie ſo gut
als moͤglich zu verhoͤcken, ohne daß mir da¬
durch einiger Vortheil zugewachſen waͤre. Hier
und da gedenkt eine Recenſion derſelben, bald
guͤnſtig, bald unguͤnſtig, doch gleich waren ſie
verſchollen. Mein Vater bewahrte ſie ſorgfaͤl¬
tig in ſeinem Archiv, ſonſt wuͤrde ich kein
Exemplar davon beſitzen. Ich werde ſie, ſo
wie einiges Ungedruckte der Art, was ich noch
vorgefunden, der neuen Ausgabe meiner Wer¬
ke hinzufuͤgen.
Da ich mich nun ſowohl zu dem Sibyl¬
liniſchen Stil ſolcher Blaͤtter als zu der Her¬
ausgabe derſelben eigentlich durch Haman hat¬
te verleiten laſſen, ſo ſcheint mir hier eine
ſchickliche Stelle, dieſes wuͤrdigen einflußrei¬
chen Mannes zu gedenken, der uns damals
ein eben ſo großes Geheimniß war, als er es
immer dem Vaterlande geblieben iſt. Seine
[160]Socratiſchen Denkwuͤrdigkeiten er¬
regten Aufſehen, und waren ſolchen Perſonen
beſonders lieb, die ſich mit dem blendenden
Zeitgeiſte nicht vertragen konnten. Man ahn¬
dete hier einen tiefdenkenden gruͤndlichen Mann,
der mit der offenbaren Welt und Literatur
genau bekannt, doch auch noch etwas Gehei¬
mes, Unerforſchliches gelten ließ, und ſich dar¬
uͤber auf eine ganz eigne Weiſe ausſprach.
Von denen die damals die Literatur des Tags
beherrſchten, ward er freylich fuͤr einen ab¬
ſtruſen Schwaͤrmer gehalten, eine aufſtrebende
Jugend aber ließ ſich wohl von ihm anziehn.
Sogar die Stillen im Lande, wie ſie halb im
Scherz, halb im Ernſt genannt wurden, jene
frommen Seelen, welche, ohne ſich zu irgend
einer Geſellſchaft zu bekennen, eine unſicht¬
bare Kirche bildeten, wendeten ihm ihre Auf¬
merkſamkeit zu, und meiner Klettenberg, nicht
weniger ihrem Freunde Moſer, war der Ma¬
gus aus Norden eine willkommene Er¬
ſcheinung. Man ſetzte ſich um ſo mehr mit
[161] ihm in Verhaͤltniß, als man erfahren hatte,
daß er von knappen haͤuslichen Umſtaͤnden ge¬
peinigt, ſich dennoch dieſe ſchoͤne und hohe
Sinnesweiſe zu erhalten verſtand. Bey dem
großen Einfluſſe des Praͤſidenten von Moſer
waͤre es leicht geweſen, einem ſo genuͤgſamen
Manne ein leidliches und bequemes Daſeyn
zu verſchaffen. Die Sache war auch einge¬
leitet, ja man hatte ſich ſo weit ſchon verſtaͤn¬
digt und genaͤhert, daß Haman die weite
Reiſe von Koͤnigsberg nach Darmſtadt unter¬
nahm. Als aber der Praͤſident zufaͤllig ab¬
weſend war, kehrte jener wunderliche Mann,
aus welchem Anlaß weiß man nicht, ſogleich
wieder zuruͤck; man blieb jedoch in einem
freundlichen Briefverhaͤltniß. Ich beſitze noch
zwey Schreiben des Koͤnigsbergers an ſeinen
Goͤnner, die von der wunderſamen Großheit
und Innigkeit ihres Verfaſſers Zeugniß ab¬
legen.
III. 11[162]
Aber ein ſo gutes Verſtaͤndniß ſollte nicht
lange dauern. Dieſe frommen Menſchen hat¬
ten ſich jenen auch nach ihrer Weiſe fromm
gedacht, ſie hatten ihn als den Magus aus
Norden mit Ehrfurcht behandelt, und glaub¬
ten daß er ſich auch ſofort in ehrwuͤrdigem
Betragen darſtellen wuͤrde. Allein er hatte
ſchon durch die Wolken, ein Nachſpiel So¬
cratiſcher Denkwuͤrdigkeiten, einigen Anſtoß
gegeben, und da er nun gar die Kreuzzuͤge
des Philologen herausgab, auf deren
Titelblatt nicht allein das Ziegenprofil eines
gehoͤrnten Pans zu ſehen war, ſondern auch
auf einer der erſten Seiten ein großer in Holz
geſchnittener Hahn, tactgebend jungen Haͤhn¬
chen, die mit Noten in den Krallen vor ihm
da ſtanden, ſich hoͤchſt laͤcherlich zeigte, wo¬
durch gewiſſe Kirchenmuſiken, die der Verfaſ¬
ſer nicht billigen mochte, ſcherzhaft durchge¬
zogen werden ſollten; ſo entſtand unter den
Wohl- und Zartgeſinnten ein Misbehagen,
welches man dem Verfaſſer merken ließ, der
[163] denn auch dadurch nicht erbaut, einer enge¬
ren Vereinigung ſich entzog. Unſere Aufmerk¬
ſamkeit auf dieſen Mann hielt jedoch Herder
immer lebendig, der mit ſeiner Braut und
uns in Correſpondenz bleibend, alles was von
jenem merkwuͤrdigen Geiſte nur ausging, ſo¬
gleich mittheilte. Darunter gehoͤrten denn
auch ſeine Recenſionen und Anzeigen, einge¬
ruͤckt in die Koͤnigsberger Zeitung, die alle
einen hoͤchſt ſonderbaren Character trugen.
Ich beſitze eine meiſt vollſtaͤndige Sammlung
ſeiner Schriften und einen ſehr bedeutenden
handſchriftlichen Aufſatz uͤber Herders Preis¬
ſchrift, den Urſprung der Sprache betreffend,
worin er dieſes Herderſche Probeſtuͤck, auf die
eigenſte Art, mit wunderlichen Schlaglichtern
beleuchtet.
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, eine
Herausgabe der Hamanſchen Werke entweder
ſelbſt zu beſorgen, oder wenigſtens zu befoͤr¬
dern, und alsdann, wenn dieſe wichtigen Do¬
11 *[164] cumente wieder vor den Augen des Publicums
liegen, moͤchte es Zeit ſeyn, uͤber den Verfaſ¬
ſer, deſſen Natur und Weſen das Naͤhere zu
beſprechen; inzwiſchen will ich doch einiges
hier ſchon beybringen, um ſo mehr als noch
vorzuͤgliche Maͤnner leben, die ihm auch ihre
Neigung geſchenkt, und deren Beyſtimmung
oder Zurechtweiſung mir ſehr willkommen ſeyn
wuͤrde. Das Princip, auf welches die ſaͤmmt¬
lichen Aeußerungen Hamans ſich zuruͤckfuͤhren
laſſen, iſt dieſes: „Alles was der Menſch zu
leiſten unternimmt, es werde nun durch That
oder Wort oder ſonſt hervorgebracht, muß
aus ſaͤmmtlichen vereinigten Kraͤften entſprin¬
gen; alles Vereinzelte iſt verwerflich." Eine
herrliche Maxime! aber ſchwer zu befolgen.
Von Leben und Kunſt mag ſie freylich gel¬
ten; bey jeder Ueberlieferung durch's Wort
hingegen, die nicht gerade poetiſch iſt, findet
ſich eine große Schwierigkeit: denn das Wort
muß ſich abloͤſen, es muß ſich vereinzeln, um
etwas zu ſagen, zu bedeuten. Der Menſch,
[165] indem er ſpricht, muß fuͤr den Augenblick ein¬
ſeitig werden; es giebt keine Mittheilung,
keine Lehre, ohne Sonderung. Da nun aber
Haman ein fuͤr allemal dieſer Trennung wi¬
derſtrebte, und wie er in einer Einheit em¬
pfand, imaginirte, dachte, ſo auch ſprechen
wollte, und das Gleiche von andern verlang¬
te; ſo trat er mit ſeinem eignen Stil und
mit allem was die andern hervorbringen konn¬
ten, in Widerſtreit. Um das Unmoͤgliche zu
leiſten, greift er daher nach allen Elementen;
die tiefſten geheimſten Anſchauungen, wo ſich
Natur und Geiſt im Verborgenen begegnen,
erleuchtende Verſtandesblitze, die aus einem
ſolchen Zuſammentreffen hervorſtrahlen, bedeu¬
tende Bilder, die in dieſen Regionen ſchwe¬
ben, andringende Spruͤche der heiligen und
Profanſcribenten, und was ſich ſonſt noch
humoriſtiſch hinzufuͤgen mag, alles dieſes bil¬
det die wunderbare Geſammtheit ſeines Stils,
ſeiner Mittheilungen. Kann man ſich nun in
der Tiefe nicht zu ihm geſellen, auf den Hoͤ¬
[166] hen nicht mit ihm wandeln, der Geſtalten,
die ihm vorſchweben, ſich nicht bemaͤchtigen,
aus einer unendlich ausgebreiteten Literatur
nicht gerade den Sinn einer nur angedeute¬
ten Stelle herausfinden; ſo wird es um uns
nur truͤber und dunkler jemehr wir ihn ſtu¬
diren, und dieſe Finſterniß wird mit den Jah¬
ren immer zunehmen, weil ſeine Anſpielungen
auf beſtimmte, im Leben und in der Litera¬
tur augenblicklich herrſchende Eigenheiten vor¬
zuͤglich gerichtet waren. Unter meiner Samm¬
lung befinden ſich einige ſeiner gedruckten Bo¬
gen, wo er an dem Rande eigenhaͤndig die
Stellen citirt hat, auf die ſich ſeine Andeu¬
tungen beziehn. Schlaͤgt man ſie auf, ſo
giebt es abermals ein zweydeutiges Doppel¬
licht, das uns hoͤchſt angenehm erſcheint, nur
muß man durchaus auf das Verzicht thun,
was man gewoͤhnlich verſtehen nennt. Sol¬
che Blaͤtter verdienen auch deswegen Sibylli¬
niſch genannt zu werden, weil man ſie nicht
an und fuͤr ſich betrachten kann, ſondern auf
[167] Gelegenheit warten muß, wo man etwa zu
ihren Orakeln ſeine Zuflucht naͤhme. Jedes¬
mal wenn man ſie aufſchlaͤgt, glaubt man et¬
was Neues zu finden, weil der einer jeden
Stelle inwohnende Sinn uns auf eine viel¬
fache Weiſe beruͤhrt und aufregt.
Perſoͤnlich habe ich ihn nie geſehn, auch
kein unmittelbares Verhaͤltniß zu ihm durch
Briefe gehabt. Mir ſcheint er in Lebens-
und Freundſchaftsverhaͤltniſſen hoͤchſt klar ge¬
weſen zu ſeyn und die Bezuͤge der Menſchen
unter einander und auf ihn ſehr richtig ge¬
fuͤhlt zu haben. Alle Briefe die ich von ihm
ſah, waren vortrefflich und viel deutlicher als
ſeine Schriften, weil hier der Bezug auf Zeit
und Umſtaͤnde ſo wie auf perſoͤnliche Ver¬
haͤltniſſe klarer hervortrat. Soviel glaubte
ich jedoch durchaus zu erſehn, daß er die Ue¬
berlegenheit ſeiner Geiſtesgaben aufs naivſte
fuͤhlend, ſich jederzeit fuͤr etwas weiſer und
kluͤger gehalten als ſeine Correſpondenten, de¬
[168] nen er mehr ironiſch als herzlich begegnete.
Gaͤlte dieß auch nur von einzelnen Faͤllen, ſo
war es fuͤr mich doch die Mehrzahl und Ur¬
ſache, daß ich mich ihm zu naͤhern niemals
Verlangen trug.
Zwiſchen Herdern und uns waltete dage¬
gen ein gemuͤthlich literariſches Verkehr hoͤchſt
lebhaft fort, nur Schade, daß es ſich niemals
ruhig und rein erhalten konnte. Aber Her¬
der unterließ ſein Necken und Schelten nicht;
Merken brauchte man nicht viel zu reizen, der
mich denn auch zur Ungeduld aufzuregen wu߬
te. Weil nun Herder unter allen Schrift¬
ſtellern und Menſchen Swiften am meiſten
zu ehren ſchien, ſo hieß er unter uns gleich¬
falls der Dechant, und dieſes gab abermals
zu mancherley Irrungen und Verdrießlichkei¬
ten Anlaß.
Demungeachtet freuten wir uns hoͤchlich,
als wir vernahmen, daß er in Buͤckeburg
[169] ſollte angeſtellt werden, welches ihm doppelt
Ehre brachte: denn ſein neuer Patron hatte
den hoͤchſten Ruf als ein einſichtiger, tapferer,
obwohl ſonderbarer Mann gewonnen. Tho¬
mas Abt war in dieſen Dienſten bekannt
und beruͤhmt geworden, dem Verſtorbenen
klagte das Vaterland nach und freute ſich an
dem Denkmal, das ihm ſein Goͤnner geſtif¬
tet. Nun ſollte Herder an der Stelle des zu
fruͤh Verblichenen alle diejenigen Hoffnungen
erfuͤllen, welche ſein Vorgaͤnger ſo wuͤrdig er¬
regt hatte.
Die Epoche worin dieſes geſchah, gab ei¬
ner ſolchen Anſtellung doppelten Glanz und
Werth; denn mehrere deutſche Fuͤrſten folgten
ſchon dem Beyſpiel des Grafen von der
Lippe, daß ſie nicht bloß gelehrte und eigent¬
lich geſchaͤftsfaͤhige, ſondern auch geiſtreiche
und vielverſprechende Maͤnner in ihre Dienſte
aufnahmen. Es hieß: Klopſtock ſey von dem
Markgrafen Carl von Baden berufen
[170] worden, nicht zu eigentlichem Geſchaͤftsdienſt,
ſondern um, durch ſeine Gegenwart, Anmuth
und Nutzen der hoͤheren Geſellſchaft mitzu¬
theilen. So wie nun hierdurch das Anſehn
auch dieſes vortrefflichen Fuͤrſten wuchs, der
allem Nuͤtzlichen und Schoͤnen ſeine Aufmerk¬
ſamkeit ſchenkte, ſo mußte die Verehrung fuͤr
Klopſtock gleichfalls nicht wenig zunehmen.
Lieb und werth war alles was von ihm aus¬
ging; ſorgfaͤltig ſchrieben wir die Oden ab
und die Elegieen, wie ſie ein Jeder habhaft
werden konnte. Hoͤchſt vergnuͤgt waren wir
daher, als die große Landgraͤfinn Caroline
von Heſſendarmſtadt eine Sammlung
derſelben veranſtaltete, und eins der wenigen
Exemplare in unſere Haͤnde kam, das uns in
Stand ſetzte, die eignen handſchriftlichen
Sammlungen zu vervollzaͤhligen. Daher ſind
uns jene erſten Lesarten lange Zeit die lieb¬
ſten geblieben, ja wir haben uns noch oft an
Gedichten, die der Verfaſſer nachher verwor¬
fen, erquickt und erfreut. So wahr iſt, daß
[171] das aus einer ſchoͤnen Seele hervordringende
Leben nur um deſto freyer wirkt, je weniger
es durch Critik in das Kunſtfach heruͤberge¬
zogen erſcheint.
Klopſtock hatte ſich und andern talentvol¬
len Maͤnnern, durch ſeinen Character und ſein
Betragen, Anſehn und Wuͤrde zu verſchaffen
gewußt; nun ſollten ſie ihm aber auch wo
moͤglich die Sicherung und Verbeſſerung ihres
haͤuslichen Beſtandes verdanken. Der Buch¬
handel naͤmlich bezog ſich in fruͤherer Zeit
mehr auf bedeutende, wiſſenſchaftliche Facul¬
laͤtswerke, auf ſtehende Verlagsartikel, welche
maͤßig honorirt wurden. Die Production von
poetiſchen Schriften aber wurde als etwas
Heiliges angeſehn, und man hielt es beynah
fuͤr Simonie, ein Honorar zu nehmen oder
zu ſteigern. Autoren und Verleger ſtanden
in dem wunderlichſten Wechſelverhaͤltniß. Bey¬
de erſchienen, wie man es nehmen wollte, als
Patrone und als Clienten. Jene, die neben
[172] ihrem Talent, gewoͤhnlich als hoͤchſt ſittliche
Menſchen vom Publicum betrachtet und ver¬
ehrt wurden, hatten einen geiſtigen Rang und
fuͤhlten ſich durch das Gluͤck der Arbeit be¬
lohnt; dieſe begnuͤgten ſich gern mit der zwey¬
ten Stelle und genoſſen eines anſehnlichen
Vortheils: nun aber ſetzte die Wohlhabenheit
den reichen Buchhaͤndler wieder uͤber den ar¬
men Poeten, und ſo ſtand alles in dem ſchoͤn¬
ſten Gleichgewicht. Wechſelſeitige Großmuth
und Dankbarkeit war nicht ſelten: Breitkopf
und Gottſched blieben lebenslang Hausgenoſ¬
ſen; Knickerey und Niedertraͤchtigkeit, beſon¬
ders der Nachdrucker, waren noch nicht im
Schwange.
Demungeachtet war unter den deutſchen
Autoren eine allgemeine Bewegung entſtan¬
den. Sie verglichen ihren eignen, ſehr maͤ¬
ßigen, wo nicht aͤrmlichen Zuſtand mit dem
Reichthum der angeſehenen Buchhaͤndler, ſie
betrachteten, wie groß der Ruhm eines Gel¬
[173] lert, eines Rabener ſey, und in welcher haͤus¬
lichen Enge ein allgemein beliebter deutſcher
Schriftſteller ſich behelfen muͤſſe, wenn er ſich
nicht durch ſonſt irgend einen Erwerb das Le¬
ben erleichterte. Auch die mittleren und ge¬
ringern Geiſter fuͤhlten ein lebhaftes Verlan¬
gen, ihre Lage verbeſſert zu ſehn, ſich von
Verlegern unabhaͤngig zu machen.
Nun trat Klopſtock hervor und bot ſeine
Gelehrtenrepublik auf Subſcription an. Ob¬
gleich die ſpaͤtern Geſaͤnge des Meſſias, theils
ihres Inhalts, theils der Behandlung wegen,
nicht die Wirkung thun konnten wie die fruͤ¬
hern, die, ſelbſt rein und unſchuldig, in eine
reine und unſchuldige Zeit kamen; ſo blieb
doch die Achtung gegen den Dichter immer
gleich, der ſich, durch die Herausgabe ſeiner
Oden, die Herzen, Geiſter und Gemuͤther vie¬
ler Menſchen zugewendet hatte. Viele wohl¬
denkende Maͤnner, darunter mehrere von gro¬
ßem Einfluß, erboten ſich, Vorausbezahlung
[174] anzunehmen, die auf einen Louisd'or geſetzt
war, weil es hieß, daß man nicht ſowohl das
Buch bezahlen, als den Verfaſſer, bey dieſer
Gelegenheit, fuͤr ſeine Verdienſte um das Va¬
terland belohnen ſollte. Hier draͤngte ſich nun
Jederman hinzu, ſelbſt Juͤnglinge und Maͤd¬
chen, die nicht viel aufzuwenden hatten, er¬
oͤffneten ihre Sparbuͤchſen; Maͤnner und Frau¬
en, der obere, der mittlere Stand trugen zu
dieſer heiligen Spende bey, und es kamen
vielleicht tauſend Praͤnumeranten zuſammen.
Die Erwartung war aufs hoͤchſte geſpannt,
das Zutrauen ſo groß als moͤglich.
Hiernach mußte das Werk, bey ſeiner Er¬
ſcheinung, den ſeltſamſten Erfolg von der Welt
haben; zwar immer von bedeutendem Werth,
aber nichts weniger als allgemein anſprechend.
Wie Klopſtock uͤber Poeſie und Literatur dach¬
te, war in Form einer alten deutſchen Drui¬
denrepublik dargeſtellt, ſeine Maximen uͤber
das Aechte und Falſche in laconiſchen Kern¬
[175] ſpruͤchen angedeutet, wobey jedoch manches
Lehrreiche der ſeltſamen Form aufgeopfert wur¬
de. Fuͤr Schriftſteller und Literatoren war
und iſt das Buch unſchaͤtzbar, konnte aber
auch nur in dieſem Kreiſe wirkſam und nuͤtz¬
lich ſeyn. Wer ſelbſt gedacht hatte, folgte
dem Denker, wer das Aechte zu ſuchen und
zu ſchaͤtzen wußte, fand ſich durch den gruͤnd¬
lichen braven Mann belehrt; aber der Lieb¬
haber, der Leſer ward nicht aufgeklaͤrt, ihm
blieb das Buch verſiegelt, und doch hatte
man es in alle Haͤnde gegeben, und indem
Jederman ein vollkommen brauchbares Werk
erwartete, erhielten die meiſten ein ſolches,
dem ſie auch nicht den mindeſten Geſchmack
abgewinnen konnten. Die Beſtuͤrzung war
allgemein, die Achtung gegen den Mann aber
ſo groß, daß kein Murren, kaum ein leiſes
Murmeln entſtand. Die junge ſchoͤne Welt
verſchmerzte den Verluſt und verſchenkte nun
ſcherzend die theuer erworbenen Exemplare.
[176] Ich erhielt ſelbſt mehrere von guten Freun¬
dinnen, deren keines aber mir geblieben iſt.
Dieſe dem Autor gelungene, dem Publi¬
cum aber mislungene Unternehmung hatte die
boͤſe Folge, daß nun ſobald nicht mehr an
Subſkription und Praͤnumeration zu denken
war; doch hatte ſich jener Wunſch zu allge¬
mein verbreitet, als daß der Verſuch nicht
haͤtte erneuert werden ſollen. Dieſes nun im
Großen und Ganzen zu thun, erbot ſich die
Deſſauiſche Verlagshandlung. Hier ſollten
Gelehrte und Verleger, in geſchloſſenem Bund,
des zu hoffenden Vortheils beyde verhaͤltni߬
maͤßig genießen. Das ſo lange peinlich em¬
pfundene Beduͤrfniß erweckte hier abermals ein
großes Zutrauen, das ſich aber nicht lange
erhalten konnte, und leider ſchieden die Theil¬
haber nach kurzen Bemuͤhungen mit wechſel¬
ſeitigem Schaden aus einander.
[177]
Eine raſche Mittheilung war jedoch unter
den Literaturfreunden ſchon eingeleitet; die
Muſenalmanache verbanden alle jungen Dich¬
ter, die Journale den Dichter mit den uͤbri¬
gen Schriftſtellern. Meine Luſt am Hervor¬
bringen war grenzenlos; gegen mein Hervor¬
gebrachtes verhielt ich mich gleichguͤltig; nur
wenn ich es mir und andern in geſelligem
Kreiſe froh wieder vergegenwaͤrtigte, erneute
ſich die Neigung daran. Auch nahmen viele
gern an meinen groͤßern und kleinern Arbei¬
ten Theil, weil ich einen Jeden, der ſich
nur einigermaßen zum Hervorbringen geneigt
und geſchickt fuͤhlte, etwas in ſeiner eignen
Art unabhaͤngig zu leiſten, dringend noͤthigte,
und von allen gleichfalls wieder zu neuem
Dichten und Schreiben aufgefordert wurde.
Dieſes wechſelſeitige, bis zur Ausſchweifung
gehende Hetzen und Treiben gab Jedem nach
ſeiner Art einen froͤhlichen Einfluß, und aus
dieſem Quirlen und Schaffen, aus dieſem Le¬
ben und Lebenlaſſen, aus dieſem Nehmen und
III. 12[178] Geben, welches mit freyer Bruſt, ohne ir¬
gend einen theoretiſchen Leitſtern, von ſo viel
Juͤnglingen, nach eines jeden angebornem Cha¬
racter, ohne Ruͤckſichten getrieben wurde, ent¬
ſprang jene beruͤhmte, berufene und verrufene
Literarepoche, in welcher eine Maſſe junger
genialer Maͤnner, mit aller Muthigkeit und
aller Anmaßung, wie ſie nur einer ſolchen
Jahreszeit eigen ſeyn mag, hervorbrachen,
durch Anwendung ihrer Kraͤfte manche Freude,
manches Gute, durch den Misbrauch derſel¬
ben manchen Verdruß und manches Uebel ſtif¬
teten; und gerade die aus dieſer Quelle ent¬
ſpringenden Wirkungen und Gegenwirkungen
ſind das Hauptthema dieſes Bandes.
Woran ſollen aber junge Leute das hoͤchſte
Intereſſe finden, wie ſollen ſie unter ihres¬
gleichen Intereſſe erregen, wenn die Liebe ſie
nicht beſeelt, und wenn nicht Herzensangele¬
genheiten, von welcher Art ſie auch ſeyn moͤ¬
gen, in ihnen lebendig ſind? Ich hatte im
[179] Stillen eine verlorene Liebe zu beklagen; dieß
machte mich mild und nachgiebig, und der Ge¬
ſellſchaft angenehmer als in glaͤnzenden Zeiten,
wo mich nichts an einen Mangel oder einen
Fehltritt erinnerte, und ich ganz ungebunden
vor mich hinſtuͤrmte.
Die Antwort Friedrikens auf einen ſchrift¬
lichen Abſchied zerriß mir das Herz. Es war
dieſelbe Hand, derſelbe Sinn, daſſelbe Gefuͤhl,
die ſich zu mir, die ſich an mir herangebildet
hatten. Ich fuͤhlte nun erſt den Verluſt den
ſie erlitt, und ſah keine Moͤglichkeit ihn zu
erſetzen, ja nur ihn zu lindern. Sie war mir
ganz gegenwaͤrtig; ſtets empfand ich, daß ſie
mir fehlte, und was das Schlimmſte war,
ich konnte mir mein eignes Ungluͤck nicht ver¬
zeihen. Gretchen hatte man mir genommen,
Annette mich verlaſſen, hier war ich zum er¬
ſten Mal ſchuldig; ich hatte das ſchoͤnſte Herz
in ſeinem Tiefſten verwundet, und ſo war die
Epoche einer duͤſteren Reue, bey dem Man¬
12 *[180] gel einer gewohnten erquicklichen Liebe, hoͤchſt
peinlich, ja unertraͤglich. Aber der Menſch
will leben; daher nahm ich aufrichtigen Theil
an andern, ich ſuchte ihre Verlegenheiten zu
entwirren, und was ſich trennen wollte zu ver¬
binden, damit es ihnen nicht ergehen moͤchte
wie mir. Man pflegte mich daher den Ver¬
trauten zu nennen, auch, wegen meines
Umherſchweifens in der Gegend, den Wan¬
derer. Dieſer Beruhigung fuͤr mein Ge¬
muͤth, die mir nur unter freyem Himmel, in
Thaͤlern, auf Hoͤhen, in Gefilden und Waͤl¬
dern zu Theil ward, kam die Lage von Frank¬
furt zu ſtatten, das zwiſchen Darmſtadt und
Homburg mitten inne lag, zwey angenehmen
Orten, die durch Verwandtſchaft beyder Hoͤfe
in gutem Verhaͤltniß ſtanden. Ich gewoͤhnte
mich, auf der Straße zu leben, und wie ein
Bote zwiſchen dem Gebirg und dem flachen
Lande hin und her zu wandern. Oft ging
ich allein oder Geſellſchaft durch meine Va¬
terſtadt, als wenn ſie mich nichts anginge,
[181] ſpeiſte in einem der großen Gaſthoͤfe in der
Fahrgaſſe und zog nach Tiſche meines Wegs
weiter fort. Mehr als jemals war ich gegen
offene Welt und freye Natur gerichtet. Un¬
terwegs ſang ich mir ſeltſame Hymnen und
Dithyramben, wovon noch eine, unter dem
Titel Wanderers Sturmlied, uͤbrig iſt.
Ich ſang dieſen Halbunſinn leidenſchaftlich vor
mich hin, da mich ein ſchreckliches Wetter un¬
terweges traf, dem ich entgegen gehn mußte.
Mein Herz war ungeruͤhrt und unbeſchaͤf¬
tigt: ich vermied gewiſſenhaft alles naͤhere Ver¬
haͤltniß zu Frauenzimmern, und ſo blieb mir
verborgen, daß mich Unaufmerkſamen und Un¬
wiſſenden ein liebevoller Genius heimlich um¬
ſchwebe. Eine zarte liebenswuͤrdige Frau heg¬
te im Stillen eine Neigung zu mir, die ich
nicht gewahrte, und mich eben deswegen in
ihrer wohlthaͤtigen Geſellſchaft deſto heiterer
und anmuthiger zeigte. Erſt mehrere Jahre
[182] nachher, ja erſt nach ihrem Tode, erfuhr ich
das geheime himmliſche Lieben, auf eine Wei¬
ſe, die mich erſchuͤttern mußte; aber ich war
ſchuldlos und konnte ein ſchuldloſes Weſen
rein und redlich betrauren, und um ſo ſchoͤ¬
ner, als die Entdeckung gerade in eine Epo¬
che fiel, wo ich, ganz ohne Leidenſchaft, mir
und meinen geiſtigen Neigungen zu leben das
Gluͤck hatte.
Aber zu der Zeit, als der Schmerz uͤber
Friedrikens Lage mich beaͤngſtigte, ſuchte ich,
nach meiner alten Art, abermals Huͤlfe bey
der Dichtkunſt. Ich ſetzte die hergebrachte
poetiſche Beichte wieder fort, um durch dieſe
ſelbſtquaͤleriſche Buͤßung einer innern Abſolu¬
tion wuͤrdig zu werden. Die beyden Marieen
in Goetz von Berlichingen und Clavigo, und
die beyden ſchlechten Figuren, die ihre Liebha¬
ber ſpielen, moͤchten wohl Reſultate ſolcher
reuigen Betrachtungen geweſen ſeyn.
[183]
Wie man aber Verletzungen und Krank¬
heiten in der Jugend raſch uͤberwindet, weil
ein geſundes Syſtem des organiſchen Lebens
fuͤr ein krankes einſtehen und ihm Zeit laſſen
kann auch wieder zu geſunden, ſo traten koͤr¬
perliche Uebungen gluͤcklicher Weiſe, bey man¬
cher guͤnſtigen Gelegenheit, gar vortheilhaft
hervor, und ich ward zu friſchem Ermannen,
zu neuen Lebensfreuden und Genuͤſſen vielfaͤl¬
tig aufgeregt. Das Reiten verdraͤngte nach
und nach jene ſchlendernden, melancholiſchen,
beſchwerlichen und doch langſamen und zweck¬
loſen Fußwanderungen; man kam ſchneller,
luſtiger und bequemer zum Zweck. Die juͤn¬
gern Geſellen fuͤhrten das Fechten wieder ein;
beſonders aber that ſich, bey eintretendem Win¬
ter, eine neue Welt vor uns auf, indem ich
mich zum Schlittſchuhfahren, welches ich nie
verſucht hatte, raſch entſchloß, und es in kur¬
zer Zeit, durch Uebung, Nachdenken und Be¬
harrlichkeit, ſo weit brachte, als noͤthig iſt,
[184] um eine frohe und belebte Eisbahn mitzuge¬
nießen, ohne ſich gerade auszeichnen zu wollen.
Dieſe neue frohe Thaͤtigkeit waren wir
denn auch Klopſtocken ſchuldig, ſeinem Enthu¬
ſiasmus fuͤr dieſe gluͤckliche Bewegung, den
Privatnachrichten beſtaͤtigten, wenn ſeine Oden
davon ein unverwerfliches Zeugniß ablegen.
Ich erinnere mich ganz genau, daß an einem
heiteren Froſtmorgen, ich aus dem Bette ſprin¬
gend mir jene Stellen zurief:
froh,
gemacht
gleich,
Mein zaudernder und ſchwankender Entſchluß
war ſogleich beſtimmt, und ich flog ſtraͤcklings
dem Orte zu, wo ein ſo alter Anfaͤnger mit
einiger Schicklichkeit ſeine erſten Uebungen an¬
ſtellen konnte. Und fuͤrwahr! dieſe Kraftaͤu¬
ßerung verdiente wohl von Klopſtock empfoh¬
len zu werden, die uns mit der friſcheſten
Kindheit in Beruͤhrung ſetzt, den Juͤngling
ſeiner Gelenkheit ganz zu genießen aufruft,
und ein ſtockendes Alter abzuwehren geeignet
iſt. Auch hingen wir dieſer Luſt unmaͤßig
nach. Einen herrlichen Sonnentag ſo auf
dem Eiſe zu verbringen, genuͤgte uns nicht;
wir ſetzten unſere Bewegung bis ſpaͤt in die
Nacht fort. Denn wie andere Anſtrengun¬
gen den Leib ermuͤden, ſo verleiht ihm dieſe
eine immer neue Schwungkraft. Der uͤber
den naͤchtlichen, weiten, zu Eisfeldern uͤber¬
frorenen Wieſen aus den Wolken hervortre¬
tende Vollmond, die unſerm Lauf entgegen¬
ſaͤuſelnde Nachtluft, des bey abnehmendem
Waſſer ſich ſenkenden Eiſes ernſthafter Don¬
[186] ner, unſerer eigenen Bewegungen ſonderbarer
Nachhall, vergegenwaͤrtigten uns Oſſianſche
Scenen ganz vollkommen. Bald dieſer bald
jener Freund ließ in declamatoriſchem Halb¬
geſange eine Klopſtockiſche Ode ertoͤnen, und
wenn wir uns im Daͤmmerlichte zuſammen¬
fanden, erſcholl das ungeheuchelte Lob des
Stifters unſerer Freuden.
Solchen Dank verdient ſich ein Mann, der
irgend ein irdiſches Thun durch geiſtige An¬
regung zu veredeln und wuͤrdig zu verbreiten
weiß!
Und ſo wie talentreiche Kinder, deren Gei¬
ſtesgaben ſchon fruͤh wunderſam ausgebildet
ſind, ſich, wenn ſie nur duͤrfen, den einfach¬
ſten Knabenſpielen wieder zuwenden, verga¬
[187] ßen wir nur allzu leicht unſeren Beruf zu ern¬
ſteren Dingen; doch regte gerade dieſe oft ein¬
ſame Bewegung, dieſes gemaͤchliche Schweben
im Unbeſtimmten, gar manche meiner innern
Beduͤrfniſſe wieder auf, die eine Zeitlang ge¬
ſchlafen hatten, und ich bin ſolchen Stunden
die ſchnellere Ausbildung aͤlterer Vorſaͤtze ſchul¬
dig geworden.
Die dunkleren Jahrhunderte der deutſchen
Geſchichte hatten von jeher meine Wißbegier¬
de und Einbildungskraft beſchaͤftigt. Der Ge¬
danke, den Goetz von Berlichingen in ſeiner
Zeitumgebung zu dramatiſiren, war mir hoͤch¬
lich lieb und werth. Ich las die Hauptſchrift¬
ſteller fleißig; dem Werke De Pace publica
von Datt widmete ich alle Aufmerkſamkeit;
ich hatte es emſig durchſtudirt, und mir jene
ſeltſamen Einzelnheiten moͤglichſt veranſchau¬
licht. Dieſe zu ſittlichen und poetiſchen Abſich¬
ten hingerichteten Bemuͤhungen konnte ich auch
nach einer anderen Seite brauchen, und da
[188] ich nunmehr Wetzlar beſuchen ſollte, war ich
geſchichtlich vorbereitet genug: denn das Cam¬
mergericht war doch auch in Gefolge des Land¬
friedens entſtanden, und die Geſchichte deſſel¬
ben konnte fuͤr einen bedeutenden Leitfaden
durch die verworrenen deutſchen Ereigniſſe gel¬
ten. Giebt doch die Beſchaffenheit der Ge¬
richte und der Heere die genauſte Einſicht in
die Beſchaffenheit irgend eines Reichs. Die
Finanzen ſelbſt, deren Einfluß man fuͤr ſo
wichtig haͤlt, kommen viel weniger in Be¬
tracht: denn wenn es dem Ganzen fehlt, ſo
darf man dem Einzelnen nur abnehmen, was
er muͤhſam, zuſammengeſcharrt und gehalten
hat, und ſo iſt der Staat immer reich genug.
Was mir in Wetzlar begegnete, iſt von
keiner großen Bedeutung, aber es kann ein
hoͤheres Intereſſe einfloͤßen, wenn man eine
fluͤchtige Geſchichte Cammergerichts nicht
verſchmaͤhen will, um ſich den unguͤnſtigen
[189] Augenblick zu vergegenwaͤrtigen, in welchem
ich daſelbſt anlangte.
Die Herren der Erde ſind es vorzuͤglich
dadurch, daß ſie, wie im Kriege die Tapfer¬
ſten und Entſchloſſenſten, ſo im Frieden die
Weiſeſten und Gerechteſten um ſich verſam¬
meln koͤnnen. Auch zu dem Hofſtaat eines
deutſchen Kaiſers gehoͤrte ein ſolches Gericht,
das ihn, bey ſeinen Zuͤgen durch das Reich,
immer begleitete. Aber weder dieſe Sorgfalt
noch das Schwabenrecht, welches im ſuͤdlichen
Deutſchland, das Sachſenrecht, welches im
noͤrdlichen galt, weder die zu Aufrechthaltung
derſelben beſtellten Richter, noch die Austraͤ¬
ge der Ebenbuͤrtigen, weder die Schiedsrich¬
ter, durch Vertrag anerkannt, noch guͤtliche
Vergleiche, durch die Geiſtlichen geſtiftet, nichts
konnte den aufgereizten ritterlichen Fehdegeiſt
ſtillen, der bey den Deutſchen durch innern
Zwiſt, durch fremde Feldzuͤge, beſonders aber
durch die Kreuzfahrten, ja durch Gerichtsge¬
[190] braͤuche ſelbſt aufgeregt, genaͤhrt und zur Sit¬
te geworden. Dem Kaiſer ſo wie den maͤch¬
tigern Staͤnden waren die Plackereyen hoͤchſt
verdrießlich, wodurch die kleinen einander ſelbſt,
und wenn ſie ſich verbanden, auch den groͤ¬
ßern laͤſtig wurden. Gelaͤhmt war alle Kraft
nach außen, wie die Ordnung nach innen ge¬
ſtoͤrt; uͤberdieß laſtete noch das Vehmgericht
auf einem großen Theile des Vaterlands, von
deſſen Schreckniſſen man ſich einen Begriff
machen kann, wenn man denkt, daß es in
eine geheime Polizey ausartete, die ſogar zu¬
letzt in die Haͤnde von Privatleuten gelangte.
Dieſen Unbilden einigermaßen zu ſteuern,
ward vieles umſonſt verſucht, bis endlich die
Staͤnde ein Gericht aus eignen Mitteln drin¬
gend in Vorſchlag brachten. Dieſer, ſo wohl
gemeynt er auch ſeyn mochte, deutete doch
immer auf Erweiterung der ſtaͤndiſchen Be¬
fugniſſe, auf eine Beſchraͤnkung der kaiſerli¬
chen Macht. Unter Friedrich dem dritten ver¬
[191] zoͤgert ſich die Sache; ſein Sohn Maximi¬
lian, von außen gedraͤngt, giebt nach. Er
beſtellt den Oberrichter, die Staͤnde ſenden die
Beyſitzer. Es ſollten ihrer vierundzwanzig
ſeyn, anfangs begnuͤgt man ſich mit zwoͤlfen.
Ein allgemeiner Fehler, deſſen ſich die
Menſchen bey ihren Unternehmungen ſchuldig
machen, war auch der erſte und ewige Grund¬
mangel des Cammergerichts: zu einem großen
Zwecke wurden unzulaͤngliche Mittel angewen¬
det. Die Zahl der Aſſeſſoren war zu klein;
wie ſollte von ihnen die ſchwere und weitlaͤuf¬
tige Aufgabe geloͤſt werden! Allein wer ſollte
auf eine hinlaͤngliche Einrichtung dringen?
Der Kaiſer konnte eine Anſtalt nicht beguͤn¬
ſtigen, die mehr wider als fuͤr ihn zu wir¬
ken ſchien; weit groͤßere Urſache hatte er ſein
eignes Gericht, ſeinen eignen Hofrath auszu¬
bilden. Betrachtet man dagegen das Intereſ¬
ſe der Staͤnde, ſo konnte es ihnen eigentlich
nur um Stillung des Bluts zu thun ſeyn
[192] ob die Wunde geheilt wuͤrde, lag ihnen nicht
ſo nah; und nun noch gar ein neuer Koſten¬
aufwand! Man mochte ſich's nicht ganz deut¬
lich gemacht haben, daß durch dieſe Anſtalt
jeder Fuͤrſt ſeine Dienerſchaft vermehre, frey¬
lich zu einem entſchiedenen Zwecke, aber wer
giebt gern Geld fuͤr's Nothwendige? Jeder¬
man waͤre zufrieden, wenn er das Nuͤtzliche
um Gotteswillen haben koͤnnte.
Anfangs ſollten die Beyſitzer von Spor¬
teln leben, dann erfolgte eine maͤßige Bewil¬
ligung der Staͤnde; beydes war kuͤmmerlich.
Aber dem großen und auffallenden Beduͤrfniß
abzuhelfen, fanden ſich willige, tuͤchtige, ar¬
beitſame Maͤnner, und das Gericht ward ein¬
geſetzt. Ob man einſah, daß hier nur von
Linderung, nicht von Heilung des Uebels die
Rede ſey, oder ob man ſich, wie in aͤhnli¬
chen Faͤllen, mit der Hoffnung ſchmeichelte,
mit Wenigem Vieles zu leiſten, iſt nicht zu
entſcheiden; genug das Gericht diente mehr
[193] zum Vorwande, die Unruhſtifter zu beſtrafen,
als daß es gruͤndlich dem Unrecht vorgebeugt
haͤtte. Allein es iſt kaum, beyſammen, ſo er¬
waͤchſt ihm eine Kraft aus ſich ſelbſt, es fuͤhlt
die Hoͤhe auf die es geſtellt iſt, es erkennt
ſeine große politiſche Wichtigkeit. Nun ſucht
es ſich durch auffallende Thaͤtigkeit ein ent¬
ſchiedneres Anſehn zu erwerben; friſch arbei¬
ten ſie weg alles was kurz abgethan werden
kann und muß, was uͤber den Augenblick ent¬
ſcheidet, oder was ſonſt leicht beurtheilt wer¬
den kann, und ſo erſcheinen ſie im ganzen
Reiche wirkſam und wuͤrdig. Die Sachen von
ſchwererem Gehalt hingegen, die eigentlichen
Rechtshaͤndel, blieben im Ruͤckſtand, und es
war kein Ungluͤck. Dem Staate liegt nur
daran, daß der Beſitz gewiß und ſicher ſey;
ob man mit Recht beſitze, kann ihn weniger
kuͤmmern. Deswegen erwuchs aus der nach
und nach aufſchwellenden ungeheuren Anzahl
von verſpaͤteten Proceſſen dem Reiche kein
Schade. Gegen Leute die Gewalt brauchten
III. 13[194] war ja vorgeſehn, und mit dieſen konnte man
fertig werden; die uͤbrigen, die rechtlich um
den Beſitz ſtritten, ſie lebten, genoſſen oder
darbten wie ſie konnten; ſie ſtarben, verdar¬
ben, verglichen ſich; das alles war aber nur
Heil oder Unheil einzelner Familien, das Reich
ward nach und nach beruhigt. Denn dem
Cammergericht war ein geſetzliches Fauſtrecht
gegen die Ungehorſamen in die Haͤnde gege¬
ben; haͤtte man den Bannſtrahl ſchleudern
koͤnnen, dieſer waͤre wirkſamer geweſen.
Jetzo aber, bey der bald vermehrten, bald
verminderten Anzahl der Aſſeſſoren, bey man¬
chen Unterbrechungen, bey Verlegung des Ge¬
richts von einem Ort an den andern, mußten
dieſe Reſte, dieſe Acten ins Unendliche an¬
wachſen. Nun fluͤchtete man in Kriegsnoth
einen Theil des Archivs von Speyer nach
Aſchaffenburg, einen Theil nach Worms, der
dritte fiel in die Haͤnde der Franzoſen, welche
ein Staatsarchiv erobert zu haben glaubten,
[195] und hernach geneigt geweſen waͤren, ſich die¬
ſes Papierwuſts zu entledigen, wenn nur Je¬
mand die Fuhren haͤtte daran wenden wollen.
Bey den weſtphaͤliſchen Friedensunterhand¬
lungen ſahen die verſammelten tuͤchtigen Maͤn¬
ner wohl ein, was fuͤr ein Hebel erfordert
werde, um jene Siſyphiſche Laſt vom Platze
zu bewegen. Nun ſollten funfzig Aſſeſſoren
angeſtellt werden, dieſe Zahl iſt aber nie er¬
reicht worden: man begnuͤgte ſich abermals
mit der Haͤlfte, weil der Aufwand zu groß
ſchien; allein haͤtten die Intereſſenten ſaͤmmt¬
lich ihren Vortheil bey der Sache geſehn, ſo
waͤre das Ganze gar wohl zu leiſten geweſen.
Um fuͤnfundzwanzig Beyſitzer zu beſolden, wa¬
ren ohngefaͤhr einhunderttauſend Gulden noͤ¬
thig; wie leicht haͤtte Deutſchland das Dop¬
pelte herbeygeſchafft. Der Vorſchlag, das
Cammergericht mit eingezogenen geiſtlichen Guͤ¬
tern auszuſtatten, konnte nicht durchgehn: denn
wie ſollten ſich beyde Religionstheile zu dieſer
13 *[196] Aufopferung verſtehn? Die Catholiken wollten
nicht noch mehr verlieren, und die Proteſtan¬
ten das Gewonnene jeder zu innern Zwecken
verwenden. Die Spaltung des Reichs in
zwey Religionsparteyen hatte auch hier, in
mehrerem Betracht, den ſchlimmſten Einfluß.
Nun verminderte ſich der Antheil der Staͤnde
an dieſem ihren Gericht immer mehr: die
maͤchtigern ſuchten ſich von dem Verbande
loszuloͤſen; Freybriefe, vor keinem obern Ge¬
richtshofe belangt zu werden, wurden immer
lebhafter geſucht; die groͤßeren blieben mit den
Zahlungen zuruͤck, und die kleineren, die ſich
in der Matrikel ohnehin bevortheilt glaubten,
ſaͤumten ſo lange ſie konnten.
Wie ſchwer war es daher, den zahltaͤgi¬
gen Bedarf zu den Beſoldungen aufzubringen.
Hieraus entſprang ein neues Geſchaͤft, ein
neuer Zeitverluſt fuͤr das Cammergericht; fruͤ¬
her hatten die jaͤhrlichen ſogenannten Viſita¬
tionen dafuͤr geſorgt. Fuͤrſten in Perſon, oder
[197] ihre Raͤthe, begaben ſich nur auf Wochen oder
Monate an den Ort des Gerichts, unterſuch¬
ten die Caſſen, erforſchten die Reſte und uͤber¬
nahmen das Geſchaͤft, ſie beyzutreiben. Zu¬
gleich, wenn etwas in dem Rechts- und Ge¬
richtsgange ſtocken, irgend ein Misbrauch ein¬
ſchleichen wollte, waren ſie befugt, dem ab¬
zuhelfen. Gebrechen der Anſtalt ſollten ſie
entdecken und heben, aber perſoͤnliche Verbre¬
chen der Glieder zu unterſuchen und zu beſtra¬
fen, ward erſt ſpaͤter ein Theil ihrer Pflicht.
Weil aber Proceſſirende den Lebenshauch ih¬
rer Hoffnungen immer noch einen Augenblick
verlaͤngern wollen, und deshalb immer hoͤhere
Inſtanzen ſuchen und hervorrufen; ſo wurden
dieſe Viſitatoren auch ein Reviſionsgericht, vor
dem man erſt in beſtimmten, offenbaren Faͤl¬
len Wiederherſtellung, zuletzt aber in allen
Aufſchub und Verewigung des Zwiſts zu fin¬
den hoffte: wozu denn auch die Berufung an
den Reichstag, und das Beſtreben beyder
Religionsparteyen, ſich einander wo nicht auf¬
[198] zuwiegen, doch im Gleichgewicht zu erhalten,
das Ihrige beytrugen.
Denkt man ſich aber was dieſes Gericht
ohne ſolche Hinderniſſe, ohne ſo ſtoͤrende und
zerſtoͤrende Bedingungen, haͤtte ſeyn koͤnnen;
ſo kann man es ſich nicht merkwuͤrdig und
wichtig genug ausbilden. Waͤre es gleich an¬
fangs mit einer hinreichenden Anzahl von
Maͤnnern beſetzt geweſen, haͤtte man dieſen
einen zulaͤnglichen Unterhalt geſichert; unuͤber¬
ſehbar waͤre bey der Tuͤchtigkeit deutſcher
Maͤnner, der ungeheure Einfluß geworden,
zu dem dieſe Geſellſchaft haͤtte gelangen koͤn¬
nen. Den Ehrentitel Amphictyonen, den man
ihnen nur redneriſch zutheilte, wuͤrden ſie wirk¬
lich verdient haben; ja ſie konnten ſich zu ei¬
ner Zwiſchenmacht erheben, beydes dem Ober¬
haupt und den Gliedern ehrwuͤrdig.
Aber weit entfernt von ſo großen Wirkun¬
gen, ſchleppte das Gericht, außer etwa eine
[199] kurze Zeit unter Carl dem fuͤnften und vor
dem dreyßigjaͤhrigen Kriege, ſich nur kuͤmmer¬
lich hin. Man begreift oft nicht, wie ſich
nur Maͤnner finden konnten zu dieſem undank¬
baren und traurigen Geſchaͤft. Aber was der
Menſch taͤglich treibt, laͤßt er ſich, wenn er
Geſchick dazu hat, gefallen, ſollte er auch
nicht gerade ſehen, daß etwas dabey heraus¬
komme. Der Deutſche beſonders iſt von einer
ſolchen ausharrenden Sinnesart, und ſo ha¬
ben ſich drey Jahrhunderte hindurch die wuͤr¬
digſten Maͤnner mit dieſen Arbeiten und Ge¬
genſtaͤnden beſchaͤftigt. Eine characteriſtiſche
Galerie ſolcher Bilder wuͤrde noch jetzt An¬
theil erregen und Muth einfloͤßen.
Denn gerade in ſolchen anarchiſchen Zeiten
tritt der tuͤchtige Mann am feſteſten auf, und
der das Gute will, findet ſich recht an ſeinem
Platze. So ſtand z. B. das Directorium
Fuͤrſtenbergs noch immer in geſegnetem
Andenken, und mit dem Tode dieſes vortreff¬
[200] lichen Manns beginnt die Epoche vieler ver¬
derblichen Misbraͤuche.
Aber alle dieſe ſpaͤteren und fruͤheren Ge¬
brechen entſprangen aus der erſten, einzigen
Quelle, aus der geringen Perſonenzahl. Ver¬
ordnet war, daß die Beyſitzer in einer ent¬
ſchiedenen Folge und nach beſtimmter Ordnung
vortragen ſollten. Ein Jeder konnte wiſſen,
wann die Reihe ihn treffen werde, und wel¬
chen ſeiner ihm obliegenden Proceſſe; er konn¬
te darauf hinarbeiten, er konnte ſich vorberei¬
ten. Nun haͤuften ſich aber die unſeligen Re¬
ſte; man mußte ſich entſchließen, wichtigere
Rechtshaͤndel auszuheben und außer der Reihe
vorzutragen. Die Beurtheilung der Wichtig¬
keit einer Sache vor der andern iſt, bey dem
Zudrang von bedeutenden Faͤllen, ſchwer, und
die Auswahl laͤßt ſchon Gunſt zu; aber nun
trat noch ein anderer bedenklicher Fall ein.
Der Referent quaͤlte ſich und das Gericht mit
einem ſchweren verwickelten Handel, und zu¬
[201] letzt fand ſich Niemand der das Urtheil ein¬
loͤſen wollte. Die Parteyen hatten ſich ver¬
glichen, auseinander geſetzt, waren geſtorben,
hatten den Sinn geaͤndert. Daher beſchloß
man nur diejenigen Gegenſtaͤnde vorzunehmen,
welche erinnert wurden. Man wollte von der
fortdauernden Beharrlichkeit der Parteyen uͤber¬
zeugt ſeyn, und hiedurch ward den groͤßten
Gebrechen die Einleitung gegeben: denn wer
ſeine Sache empfiehlt, muß ſie doch Jemand
empfehlen, und wem empfoͤhle man ſie beſſer,
als dem der ſie unter Haͤnden hat. Dieſen,
ordnungsgemaͤß, geheim zu halten ward un¬
moͤglich: denn bey ſo viel mitwiſſenden Sub¬
alternen, wie ſollte derſelbe verborgen bleiben?
Bittet man um Beſchleunigung, ſo darf man
ja wohl auch um Gunſt bitten: denn eben
daß man ſeine Sache betreibt, zeigt ja an,
daß man ſie fuͤr gerecht haͤlt. Geradezu wird
man es vielleicht nicht thun, gewiß aber am
erſten durch Untergeordnete; dieſe muͤſſen ge¬
[202] wonnen werden, und ſo iſt die Einleitung zu
allen Intriguen und Beſtechungen gegeben.
Kaiſer Joſeph, nach eignem Antriebe und
in Nachahmung Friedrichs, richtete zuerſt ſei¬
ne Aufmerkſamkeit auf die Waffen und die
Juſtiz. Er faßte das Cammergericht ins Au¬
ge; herkoͤmmliche Ungerechtigkeiten, eingefuͤhr¬
te Misbraͤuche waren ihm nicht unbekannt ge¬
blieben. Auch hier ſollte aufgeregt, geruͤttelt
und gethan ſeyn. Ohne zu fragen, ob es
ſein kaiſerlicher Vortheil ſey, ohne die Moͤg¬
lichkeit eines gluͤcklichen Erfolgs vorauszuſehn,
brachte er die Viſitation in Vorſchlag, und
uͤbereilte ihre Eroͤffnung. Seit hundert und
ſechs und ſechzig Jahren hatte man keine or¬
dentliche Viſitation zu Stande gebracht; ein
ungeheurer Wuſt von Acten lag aufgeſchwol¬
len und wuchs jaͤhrlich, da die ſiebzehn Aſ¬
ſeſſoren nicht einmal im Stande waren, das
Laufende wegzuarbeiten. Zwanzigtauſend Pro¬
ceſſe hatten ſich aufgehaͤuft, jaͤhrlich konnten
[203] ſechzig abgethan werden, und das Doppelte
kam hinzu. Auch auf die Viſitatoren wartete
keine geringe Anzahl von Reviſionen, man
wollte ihrer funfzigtauſend zaͤhlen. Ueberdieß
hinderte ſo mancher Misbrauch den Gerichts¬
gang; als das Bedenklichſte aber von allem
erſchienen im Hintergrunde die perſoͤnlichen
Verbrechen einiger Aſſeſſoren.
Als ich nach Wetzlar gehn ſollte, war die
Viſitation ſchon einige Jahre im Gange, die
Beſchuldigten ſuspendirt, die Unterſuchung weit
vorgeruͤckt; und weil nun die Kenner und
Meiſter des deutſchen Staatsrechts dieſe Ge¬
legenheit nicht vorbeylaſſen durften, ihre Ein¬
ſichten zu zeigen und ſie dem gemeinen Be¬
ſten zu widmen, ſo waren mehrere gruͤndliche
wohlgeſinnte Schriften erſchienen, aus denen
ſich, wer nur einige Vorkenntniſſe beſaß, gruͤnd¬
lich unterrichten konnte. Ging man bey die¬
ſer Gelegenheit in die Reichsverfaſſung und
die von derſelben handelnden Schriften zuruͤck,
[204] ſo war es auffallend, wie der monſtroſe Zu¬
ſtand dieſes durchaus kranken Koͤrpers, der
nur durch ein Wunder am Leben erhalten ward,
gerade den Gelehrten am meiſten zuſagte.
Denn der ehrwuͤrdige deutſche Fleiß, der mehr
auf Sammlung und Entwickelung von Ein¬
zelnheiten als auf Reſultate losging, fand
hier einen unverſiegenden Anlaß zu immer
neuer Beſchaͤftigung, und man mochte nun
das Reich dem Kaiſer, die kleinern den groͤ¬
ßern Staͤnden, die Catholiken den Proteſtan¬
ten entgegenſetzen, immer gab es, nach dem
verſchiedenen Intereſſe, nothwendig verſchiede¬
ne Meynungen, und immer Gelegenheit zu
neuen Kaͤmpfen und Gegenreden.
Da ich mir alle dieſe aͤltern und neuern
Zuſtaͤnde moͤglichſt vergegenwaͤrtigt hatte, konn¬
te ich mir von meinem Wetzlarſchen Aufent¬
halt unmoͤglich viel Freude verſprechen. Die
Ausſicht war nicht reizend, in einer zwar
wohl gelegenen, aber kleinen und uͤbelgebau¬
[205] ten Stadt eine doppelte Welt zu finden: erſt
die einheimiſche alte hergebrachte, dann eine
fremde neue, jene ſcharf zu pruͤfen beauftragt,
ein richtendes und ein gerichtetes Gericht;
manchen Bewohner in Furcht und Sorge, er
moͤchte auch noch mit in die verhaͤngte Un¬
terſuchung gezogen werden; angeſehene, ſo lan¬
ge fuͤr wuͤrdig geltende Perſonen der ſchaͤnd¬
lichſten Miſſethaten uͤberwieſen und zu ſchimpf¬
licher Beſtrafung bezeichnet: das alles zuſam¬
men machte das traurigſte Bild und konnte
nicht anreizen tiefer in ein Geſchaͤft einzuge¬
hen, das an ſich ſelbſt verwickelt nun gar
durch Unthaten ſo verworren erſchien.
Daß mir, außer dem deutſchen Civil- und
Staatsrechte, hier nichts Wiſſenſchaftliches
ſonderlich begegnen, daß ich aller poetiſchen
Mittheilung entbehren wuͤrde, glaubte ich vor¬
aus zu ſehn, als mich, nach einigem Zoͤgern,
die Luſt meinen Zuſtand zu veraͤndern, mehr
als der Trieb nach Kenntniſſen, in dieſe Ge¬
[206] gend hinfuͤhrte. Allein wie verwundert war
ich, als mir anſtatt einer ſauertoͤpfiſchen Ge¬
ſellſchaft, ein drittes academiſches Leben ent¬
gegenſprang. An einer großen Wirthstafel
traf ich beynah ſaͤmmtliche Geſandtſchaftsun¬
tergeordnete, junge muntere Leute, beyſam¬
men; ſie nahmen mich freundlich auf, und
es blieb mir ſchon den erſten Tag kein Ge¬
heimniß, daß ſie ihr mittaͤgiges Beyſammen¬
ſeyn durch eine romantiſche Fiction erheitert
hatten. Sie ſtellten naͤmlich, mit Geiſt und
Munterkeit, eine Rittertafel vor. Obenan
ſaß der Heermeiſter, zur Seite deſſelben der
Kanzler, ſodann die wichtigſten Staatsbeam¬
ten; nun folgten die Ritter, nach ihrer An¬
ciennetaͤt; Fremde hingegen die zuſprachen,
mußten mit den unterſten Plaͤtzen vorlieb neh¬
men, und fuͤr ſie war das Geſpraͤch meiſt un¬
verſtaͤndlich, weil ſich in der Geſellſchaft die
Sprache, außer den Ritterausdruͤcken, noch
mit manchen Anſpielungen bereichert hatte.
Einem Jeden war ein Rittername zugelegt,
[207] mit einem Beyworte. Mich nannten ſie Goetz
von Berlichingen, den Redlichen. Jenen ver¬
diente ich mir durch meine Aufmerkſamkeit
fuͤr den biedern deutſchen Altvater, und die¬
ſen durch die aufrichtige Neigung und Erge¬
benheit gegen die vorzuͤglichen Maͤnner die ich
kennen lernte. Dem Grafen von Kiel¬
mannsegg bin ich bey dieſem Aufenthalt
vielen Dank ſchuldig geworden. Er war der
ernſteſte von allen, hoͤchſt tuͤchtig und zuver¬
laͤſſig. Von Goué, ein ſchwer zu entziffern¬
der und zu beſchreibender Mann, eine derbe,
breite, hannoͤvriſche Figur, ſtill in ſich gekehrt.
Es fehlte ihm nicht an Talenten mancher Art.
Man hegte von ihm die Vermuthung, daß
er ein natuͤrlicher Sohn ſey; auch liebte er
ein gewiſſes geheimnißvolles Weſen, und ver¬
barg ſeine eigenſten Wuͤnſche und Vorſaͤtze un¬
ter mancherley Seltſamkeiten, wie er denn
die eigentliche Seele des wunderlichen Ritter¬
bundes war, ohne daß er nach der Stelle des
Heermeiſters geſtrebt haͤtte. Vielmehr ließ er,
[208] da gerade zu der Zeit dieß Haupt der Ritter¬
ſchaft abging, einen andern waͤhlen und uͤbte
durch dieſen ſeinen Einfluß. So wußte er
auch manche kleine Zufaͤlligkeiten dahin zu len¬
ken, daß ſie bedeutend erſchienen und in fa¬
belhaften Formen durchgefuͤhrt werden konn¬
ten. Bey dieſem allen aber konnte man kei¬
nen ernſten Zweck bemerken; es war ihm bloß
zu thun, die Langeweile, die er und ſeine
Collegen bey dem verzoͤgerten Geſchaͤft empfin¬
den mußten, zu erheitern, und den leeren
Raum, waͤre es auch nur mit Spinnegewebe,
auszufuͤllen. Uebrigens wurde dieſes fabelhaf¬
te Fratzenſpiel mit aͤußerlichem großen Ernſt
betrieben, ohne daß Jemand laͤcherlich finden
durfte, wenn eine gewiſſe Muͤhle als Schloß,
der Muͤller als Burgherr behandelt wurde,
wenn man die vier Haimons-Kinder fuͤr ein
canoniſches Buch erklaͤrte und Abſchnitte dar¬
aus, bey Ceremonien, mit Ehrfurcht vorlas.
Der Ritterſchlag ſelbſt geſchah mit hergebrach¬
ten, von mehreren Ritterorden entlehnten
[209] Symbolen. Ein Hauptanlaß zum Scherze
war ferner der, daß man das Offenbare als
ein Geheimniß behandelte; man trieb die
Sache oͤffentlich, und es ſollte nicht davon
geſprochen werden. Die Liſte der ſaͤmmtlichen
Ritter ward gedruckt, mit ſo viel Anſtand
als ein Reichstagscalender; und wenn Fami¬
lien daruͤber zu ſpotten, und die ganze Sache
fuͤr abſurd und laͤcherlich zu erklaͤren wagten,
ſo ward, zu ihrer Beſtrafung, ſo lange in¬
triguirt, bis man einen ernſthaften Ehemann,
oder nahen Verwandten, beyzutreten und den
Ritterſchlag anzunehmen bewogen hatte; da
denn uͤber den Verdruß der Angehoͤrigen eine
herrliche Schadenfreude entſtand.
In dieſes Ritterweſen verſchlang ſich noch
ein ſeltſamer Orden, welcher philoſophiſch und
myſtiſch ſeyn ſollte, und keinen eigentlichen
Namen hatte. Der erſte Grad hieß der Ue¬
bergang, der zweyte des Uebergangs Ueber¬
gang, der dritte des Uebergangs Uebergang
III. 14[210] zum Uebergang, und der vierte des Ueber¬
gangs Uebergang zu des Uebergangs Ueber¬
gang. Den hohen Sinn dieſer Stufenfolge
auszulegen, war nun die Pflicht der Einge¬
weihten, und dieſes geſchah nach Maaßgabe
eines gedruckten Buͤchelchens, in welchem jene
ſeltſamen Worte auf eine noch ſeltſamere Wei¬
ſe erklaͤrt, oder vielmehr amplificirt waren.
Die Beſchaͤftigung mit dieſen Dingen war
der erwuͤnſchteſte Zeitverderb. Behriſchens
Thorheit und Lenzens Verkehrtheit ſchienen
ſich hier vereinigt zu haben; nur wiederhole
ich, daß auch nicht eine Spur von Zweck hin¬
ter dieſen Huͤllen zu finden war.
Ob ich nun gleich zu ſolchen Poſſen ſehr
gern beyrieth, auch zuerſt die Pericopen aus
den vier Haimons-Kindern in Ordnung brach¬
te, und Vorſchlaͤge that, wie ſie bey Feſten
und Feyerlichkeiten vorgeleſen werden ſollten,
auch ſelbſt ſie mit großer Emphaſe vorzutra¬
gen verſtand; ſo hatte ich mich doch ſchon
[211] fruͤher an ſolchen Dingen muͤde getrieben, und
als ich daher meine Frankfurter und Darm¬
ſtaͤdter Umgebung vermißte, war es mir hoͤchſt
lieb, Gottern gefunden zu haben, der ſich
mit aufrichtiger Neigung an mich ſchloß, und
dem ich ein herzliches Wohlwollen erwiederte.
Sein Sinn war zart, klar und heiter, ſein
Talent geuͤbt und geregelt; er befleißigte ſich
der franzoͤſiſchen Eleganz und freute ſich des
Theils der engliſchen Literatur, der ſich mit
ſittlichen und angenehmen Gegenſtaͤnden be¬
ſchaͤftigt. Wir brachten viele vergnuͤgte Stun¬
den zuſammen zu, in denen wir uns wechſel¬
ſeitig unſere Kenntniſſe, Vorſaͤtze und Neigun¬
gen mittheilten. Er regte mich zu manchen
kleinen Arbeiten an, zumal da er, mit den
Goͤttingern in Verhaͤltniß ſtehend, fuͤr Boie's
Almanach auch von meinen Gedichten etwas
verlangte.
Dadurch kam ich mit jenen in einige Be¬
ruͤhrung, die ſich, jung und talentvoll, zu¬
14 *[212] ſammenhielten, und nachher ſo viel und man¬
nigfaltig wirkten. Die beyden Grafen Stol¬
berg, Buͤrger, Voß, Hoͤlty und ande¬
re waren im Glauben und Geiſte um Klop¬
ſtock verſammelt, deſſen Wirkung ſich nach
allen Seiten hin erſtreckte. In einem ſolchen,
ſich immer mehr erweiternden deutſchen Dich¬
terkreiſe entwickelte ſich zugleich, mit ſo man¬
nigfaltigen poetiſchen Verdienſten, auch noch
ein anderer Sinn, dem ich keinen ganz ei¬
gentlichen Namen zu geben wuͤßte. Man
koͤnnte ihn das Beduͤrfniß der Unabhaͤngigkeit
nennen, welches immer im Frieden entſpringt,
und gerade da, wo man eigentlich nicht ab¬
haͤngig iſt. Im Kriege ertraͤgt man die rohe
Gewalt ſo gut man kann, man fuͤhlt ſich
wohl phyſiſch und oͤconomiſch verletzt, aber
nicht moraliſch; der Zwang beſchaͤmt Nieman¬
den, und es iſt kein ſchimpflicher Dienſt, der
Zeit zu dienen; man gewoͤhnt ſich, von Feind
und Freund zu leiden, man hat Wuͤnſche und
keine Geſinnungen. Im Frieden hingegen
[213] thut ſich der Freyheitsſinn der Menſchen im¬
mer mehr hervor, und je freyer man iſt, de¬
ſto freyer will man ſeyn. Man will nichts
uͤber ſich dulden; wir wollen nicht beengt ſeyn,
Niemand ſoll beengt ſeyn, und dieß zarte ja
kranke Gefuͤhl erſcheint in ſchoͤnen Seelen un¬
ter der Form der Gerechtigkeit. Dieſer Geiſt
und Sinn zeigte ſich damals uͤberall, und ge¬
rade da nur wenige bedruckt waren, wollte
man auch dieſe von zufaͤlligem Druck befreyn,
und ſo entſtand eine gewiſſe ſittliche Befeh¬
dung, Einmiſchung der Einzelnen ins Regi¬
ment, die mit loͤblichen Anfaͤngen, zu unab¬
ſehbar ungluͤcklichen Folgen hinfuͤhrte.
Voltaire hatte durch den Schutz, den er
der Familie Calas angedeihen ließ, großes
Aufſehn erregt und ſich ehrwuͤrdig gemacht.
Fuͤr Deutſchland faſt noch auffallender und
wichtiger war das Unternehmen Lavaters ge¬
gen den Landvogt geweſen. Der aͤſthetiſche
Sinn, mit dem jugendlichen Muth verbun¬
[214] den, ſtrebte vorwaͤrts, und da man noch vor
kurzem ſtudirte, um zu Aemtern zu gelangen,
ſo fing man nun an den Aufſeher der Beam¬
ten zu machen, und die Zeit war nah, wo
der Theater- und Romanendichter ſeine Boͤſe¬
wichter am liebſten unter Miniſtern und Amt¬
leuten aufſuchte. Hieraus entſtand eine halb
eingebildete halb wirkliche Welt von Wirkung
und Gegenwirkung, in der wir ſpaͤterhin die
heftigſten Angebereyen und Verhetzungen er¬
lebt haben, welche ſich die Verfaſſer von Zeit¬
ſchriften und Tagblaͤttern, mit einer Art von
Wuth, unter dem Schein der Gerechtigkeit
erlaubten, und um ſo unwiderſtehlicher dabey
zu Werke gingen, als ſie das Publicum glau¬
ben machten, vor ihm ſey der wahre Gerichts¬
hof: thoͤricht! da kein Publicum eine executi¬
ve Gewalt hat, und in dem zerſtuͤckten
Deutſchland die oͤffentliche Meynung Nieman¬
den nutzte oder ſchadete.
[215]
Unter uns jungen Leuten ließ ſich zwar
nichts von jener Art ſpuͤren, welche tadelns¬
werth geweſen waͤre; aber eine gewiſſe aͤhn¬
liche Vorſtellung hatte ſich unſrer bemaͤchtigt,
die aus Poeſie, Sittlichkeit und einem edlen
Beſtreben zuſammengefloſſen, zwar unſchaͤdlich
aber doch fruchtlos war.
Durch die Hermanns-Schlacht und
die Zueignung derſelben an Joſeph den Zwey¬
ten hatte Klopſtock eine wunderbare Anregung
gegeben. Die Deutſchen, die ſich vom Druck
der Roͤmer befreyten, waren herrlich und
maͤchtig dargeſtellt, und dieſes Bild gar wohl
geeignet, das Selbſtgefuͤhl der Nation zu er¬
wecken. Weil aber im Frieden der Patrio¬
tismus eigentlich nur darin beſteht, daß Jeder
vor ſeiner Thuͤre kehre, ſeines Amts warte,
auch ſeine Lection lerne, damit es wohl im
Hauſe ſtehe; ſo fand das von Klopſtock er¬
regte Vaterlandsgefuͤhl keinen Gegenſtand, an
dem es ſich haͤtte uͤben koͤnnen. Friedrich
[216] hatte die Ehre eines Theils der Deutſchen
gegen eine verbundene Welt gerettet, und es
war jedem Gliede der Nation erlaubt, durch
Beyfall und Verehrung dieſes großen Fuͤrſten,
Theil an ſeinem Siege zu nehmen; aber wo
denn nun hin mit jenem erregten kriegeriſchen
Trotzgefuͤhl? welche Richtung ſollte es neh¬
men, und welche Wirkung hervorbringen?
Zuerſt war es bloß poetiſche Form, und die
nachher ſo oft geſcholtenen, ja laͤcherlich ge¬
fundenen Bardenlieder haͤuften ſich durch die¬
ſen Trieb, durch dieſen Anſtoß. Keine aͤuße¬
ren Feinde waren zu bekaͤmpfen; nun bildete
man ſich Tyrannen, und dazu mußten die
Fuͤrſten und ihre Diener ihre Geſtalten erſt
im Allgemeinen, ſodann nach und nach im
Beſondern hergeben; und hier ſchloß ſich die
Poeſie an jene oben geruͤgte Einmiſchung in
die Rechtspflege mit Heftigkeit an, und es iſt
merkwuͤrdig, Gedichte aus jener Zeit zu ſehn,
die ganz in einem Sinne geſchrieben ſind,
[217] wodurch alles Obere, es ſey nun monarchiſch
oder ariſtocratiſch, aufgehoben wird.
Was mich betraf, ſo fuhr ich fort, die
Dichtkunſt zum Ausdruck meiner Gefuͤhle und
Grillen zu benutzen. Kleine Gedichte, wie
der Wanderer, fallen in dieſe Zeit; ſie
wurden in den Goͤttinger Muſenalmanach auf¬
genommen. Was aber von jener Sucht in
mich eingedrungen ſeyn mochte, davon ſtrebte
ich mich kurz nachher im Goetz von Ber¬
lichingen zu befreyn, indem ich ſchilderte,
wie in wuͤſten Zeiten der wohldenkende brave
Mann allenfalls an die Stelle des Geſetzes
und der ausuͤbenden Gewalt zu treten ſich
entſchließt, aber in Verzweiflung iſt, wenn er
dem anerkannten verehrten Oberhaupt zwey¬
deutig, ja abtruͤnnig erſcheint.
Durch Klopſtocks Oden war denn auch
in die deutſche Dichtkunſt nicht ſowohl die
nordiſche Mythologie, als vielmehr die No¬
[218] menclatur ihrer Gottheiten eingeleitet, und
ob ich gleich mich ſonſt gern alles deſſen be¬
diente, was mir gereicht ward; ſo konnte ich
es doch nicht von mir gewinnen, mich derſel¬
ben zu bedienen, und zwar aus folgenden Ur¬
ſechen. Ich hatte die Fabeln der Edda ſchon
laͤngſt aus der Vorrede zu Mallet's Daͤni¬
ſcher Geſchichte kennen gelernt, und mich derſel¬
ben ſogleich bemaͤchtigt; ſie gehoͤrten unter die¬
jenigen Maͤhrchen, die ich, von einer Geſell¬
ſchaft aufgefordert, am liebſten erzaͤhlte. Her¬
der gab mir den Reſenius in die Haͤnde,
und machte mich mit den Heldenſagen mehr be¬
kannt. Aber alle dieſe Dinge, wie werth ich
ſie hielt, konnte ich nicht in den Kreis mei¬
nes Dichtungsvermoͤgens aufnehmen; wie herr¬
lich ſie mir auch die Einbildungskraft anreg¬
ten, entzogen ſie ſich doch ganz dem ſinnlichen
Anſchaun, indeſſen die Mythologie der Grie¬
chen, durch die groͤßten Kuͤnſtler der Welt in
ſichtliche leicht einzubildende Geſtalten verwan¬
delt, noch vor unſern Augen in Menge da¬
[219] ſtand. Goͤtter ließ ich uͤberhaupt nicht viel
auftreten, weil ſie mir noch außerhalb der
Natur, die ich nachzubilden verſtand, ihren
Wohnſitz hatten. Was haͤtte mich nun gar
bewegen ſollen, Wodan fuͤr Jupiter,
und Thor fuͤr Mars zu ſetzen, und ſtatt
der ſuͤdlichen genau umſchriebenen Figuren,
Nebelbilder, ja bloße Wortklaͤnge in meine
Dichtungen einzufuͤhren? Von einer Seite
ſchloſſen ſie ſich vielmehr an die Oſſianſchen
gleichfalls formloſen Helden, nur derber und
rieſenhafter an, von der andern lenkte ich ſie
nach dem heiteren Maͤhrchen hin: denn der
humoriſtiſche Zug, der durch die ganze nor¬
diſche Mythe durchgeht, war mir hoͤchſt lieb
und bemerkenswerth. Sie ſchien mir die ein¬
zige, welche durchaus mit ſich ſelbſt ſcherzt,
einer wunderlichen Dynaſtie von Goͤttern aben¬
teuerliche Rieſen, Zauberer und Ungeheuer
entgegenſetzt, die nur beſchaͤftigt ſind, die
hoͤchſten Perſonen waͤhrend ihres Regiments
zu irren, zum Beſten zu haben, und hinter¬
[220] drein mit einem ſchmaͤhlichen, unvermeidlichen
Untergang zu bedrohen.
Ein aͤhnliches wo nicht gleiches Intereſſe
gewannen mir die indiſchen Fabeln ab, die ich
aus Dappers Reiſen zuerſt kennen lernte,
und gleichfalls mit großer Luſt in meinen
Maͤhrchenvorrath hineinzog. Der Altar des
Ram gelang mir vorzuͤglich im Nacherzaͤhlen,
und ungeachtet der großen Mannigfaltigkeit
der Perſonen dieſes Maͤhrchens, blieb doch
der Affe Hannemann der Liebling meines
Publicums. Aber auch dieſe unfoͤrmlichen und
uͤberfoͤrmlichen Ungeheuer konnten mich nicht
eigentlich poetiſch befriedigen; ſie lagen zu
weit von dem Wahren ab, nach welchem mein
Sinn unablaͤſſig hinſtrebte.
Doch gegen alle dieſe kunſtwidrigen Ge¬
ſpenſter ſollte mein Sinn fuͤr das Schoͤne
durch die herrlichſte Kraft geſchuͤtzt werden.
Gluͤcklich iſt immer die Epoche einer Literatur,
[221] wenn große Werke der Vergangenheit wieder
einmal aufthauen und an die Tagesordnung
kommen, weil ſie alsdann eine vollkommen
friſche Wirkung hervorbringen. Auch das Ho¬
meriſche Licht ging uns neu wieder auf, und
zwar recht im Sinne der Zeit, die ein ſolches
Erſcheinen hoͤchſt beguͤnſtigte: denn das beſtaͤn¬
dige Hinweiſen auf Natur bewirkte zuletzt,
daß man auch die Werke der Alten von die¬
ſer Seite betrachten lernte. Was mehrere
Reiſende zu Aufklaͤrung der heiligen Schrif¬
ten gethan, leiſteten andere fuͤr den Homer.
Durch Guys ward man eingeleitet, Wood
gab der Sache den Schwung. Eine Goͤttin¬
ger Recenſion des anfangs ſehr ſeltenen Ori¬
ginals machte uns mit der Abſicht bekannt,
und belehrte uns, wie weit ſie ausgefuͤhrt
worden. Wir ſahen nun nicht mehr in jenen
Gedichten ein angeſpanntes und aufgedunſenes
Heldenweſen, ſondern die abgeſpiegelte Wahr¬
heit einer uralten Gegenwart, und ſuchten
uns dieſelbe moͤglichſt heranzuziehen. Zwar
[222] wollte uns zu gleicher Zeit nicht voͤllig in den
Sinn, wenn behauptet wurde, daß, um die
Homeriſchen Naturen recht zu verſtehn, man
ſich mit den wilden Voͤlkern und ihren Sit¬
ten bekannt machen muͤſſe, wie ſie uns die
Reiſebeſchreiber der neuen Welten ſchildern:
denn es ließ ſich doch nicht leugnen, daß ſo¬
wohl Europaͤer als Aſiaten, in den Homeri¬
ſchen Gedichten ſchon auf einem hohen Grade
der Cultur dargeſtellt worden, vielleicht auf
einem hoͤhern, als die Zeiten des Trojaniſchen
Kriegs mochten genoſſen haben. Aber jene
Maxime war doch mit dem herrſchenden Na¬
turbekenntniß uͤbereinſtimmend, und in ſo fern
mochten wir ſie gelten laſſen.
Bey allen dieſen Beſchaͤftigungen, die ſich
auf Menſchenkunde im hoͤheren Sinne, ſo wie
auf Dichtkunſt im naͤchſten und lieblichſten be¬
zogen, mußte ich doch jeden Tag erfahren,
daß ich mich in Wetzlar aufhielt. Das Ge¬
ſpraͤch uͤber den Zuſtand des Viſitations-Ge¬
[223] ſchaͤftes, und ſeiner immer wachſenden Hin¬
derniſſe, die Entdeckung neuer Gebrechen klang
ſtuͤndlich durch. Hier war nun abermals das
heilige roͤmiſche Reich verſammelt, nicht bloß
zu aͤußerlichen Feyerlichkeiten, ſondern zu ei¬
nem ins Allertiefſte greifenden Geſchaͤfte. Aber
auch hier mußte mir jener halbleere Speiſe¬
ſaal am Kroͤnungstage einfallen, wo die ge¬
ladenen Gaͤſte außen blieben, weil ſie zu vor¬
nehm waren. Hier hatten ſie ſich zwar ein¬
gefunden, aber man mußte noch ſchlimmere
Symptome gewahr werden. Der Unzuſam¬
menhalt des Ganzen, das Widerſpiel der Thei¬
le kamen fortwaͤhrend zum Vorſchein, und es
war kein Geheimniß geblieben, daß Fuͤrſten
unter einander ſich die Abſicht vertraulich mit¬
getheilt hatten: man muͤſſe ſehn, ob man
nicht, bey dieſer Gelegenheit, dem Oberhaupt
etwas abgewinnen koͤnne?
Welchen uͤblen Eindruck das kleine Detail
aller Anecdoten von Nachlaͤſſigkeiten und Ver¬
[224] ſaͤumniſſen, Ungerechtigkeiten und Beſtechun¬
gen, auf einen jungen Menſchen machen mu߬
te, der das Gute wollte, und ſein Inneres
in dieſem Sinne bearbeitete, wird jeder Red¬
liche mitfuͤhlen. Wo ſoll unter ſolchen Um¬
ſtaͤnden Ehrfurcht vor dem Geſetz und dem
Richter entſpringen? Aber haͤtte man auch auf
die Wirkungen der Viſitation das groͤßte Zu¬
trauen geſetzt, haͤtte man glauben koͤnnen,
daß ſie voͤllig ihre hohe Beſtimmung erfuͤllen
werde; fuͤr einen frohen vorwaͤrts ſchreitenden
Juͤngling war doch hier kein Heil zu finden.
Die Foͤrmlichkeiten dieſes Proceſſes an ſich
gingen alle auf ein Verſchleifen; wollte man
einigermaßen wirken und etwas bedeuten, ſo
mußte man nur immer demjenigen dienen, der
Unrecht hatte, ſtets dem Beklagten, und in
der Fechtkunſt der verdrehenden und auswei¬
chenden Streiche recht gewandt ſeyn.
Ich verlor mich daher einmal uͤber das
andre, da mir, in dieſer Zerſtreuung, keine
[225] aͤſthetiſchen Arbeiten gelingen wollten, in aͤſthe¬
tiſche Speculationen; wie denn alles Theo¬
retiſiren auf Mangel oder Stockung von Pro¬
ductionskraft hindeutet. Fruͤher mit Merken,
nunmehr manchmal mit Gottern, machte ich
den Verſuch, Maximen auszufinden, wonach
man beym Hervorbringen zu Werke gehn koͤnn¬
te. Aber weder mir noch ihnen wollte es ge¬
lingen. Merk war Zweifler und Eklektiker,
Gotter hielt ſich an ſolche Beyſpiele, die ihm
am meiſten zuſagten. Die Sulzerſche Theo¬
rie war angekuͤndigt, mehr fuͤr den Liebhaber
als fuͤr den Kuͤnſtler. In dieſem Geſichts¬
kreiſe werden vor allem ſittliche Wirkungen
gefordert, und hier entſteht ſogleich ein Zwie¬
ſpalt zwiſchen der hervorbringenden und be¬
nutzenden Claſſe; denn ein gutes Kunſtwerk
kann und wird zwar moraliſche Folgen haben,
aber moraliſche Zwecke vom Kuͤnſtler fordern,
heißt ihm ſein Handwerk verderben.
III. 15[226]
Was die Alten uͤber dieſe wichtigen Ge¬
genſtaͤnde geſagt, hatte ich ſeit einigen Jah¬
ren fleißig, wo nicht in einer Folge ſtudirt,
doch ſprungweiſe geleſen. Ariſtoteles, Cicero,
Quinctilian, Longin, keiner blieb unbeachtet,
aber das half mir nichts: denn alle dieſe Maͤn¬
ner ſetzten eine Erfahrung voraus, die mir
abging. Sie fuͤhrten mich in eine an Kunſt¬
werken unendlich reiche Welt, ſie entwickelten
die Verdienſte vortrefflicher Dichter und Red¬
ner, von deren meiſten uns nur die Namen
uͤbrig geblieben ſind, und uͤberzeugten mich
nur allzu lebhaft, daß erſt eine große Fuͤlle
von Gegenſtaͤnden vor uns liegen muͤſſe, ehe
man daruͤber denken koͤnne, daß man erſt
ſelbſt etwas leiſten, ja daß man fehlen muͤſſe,
um ſeine eignen Faͤhigkeiten und die der an¬
dern kennen zu lernen. Meine Bekanntſchaft
mit ſo vielem Guten jener alten Zeiten war
doch immer nur ſchul- und buchmaͤßig und
keineswegs lebendig, da es doch, beſonders
bey den geruͤhmteſten Rednern, auffiel, daß
[227] ſie ſich durchaus im Leben gebildet hatten, und
daß man von den Eigenſchaften ihres Kunſt¬
characters niemals ſprechen konnte, ohne ih¬
ren perſoͤnlichen Gemuͤthscharacter zugleich mit¬
zuerwaͤhnen. Bey Dichtern ſchien dieß weni¬
ger der Fall; uͤberall aber trat Natur und
Kunſt nur durch Leben in Beruͤhrung, und
ſo blieb das Reſultat von allem meinen Sin¬
nen und Trachten jener alte Vorſatz, die in¬
nere und aͤußere Natur zu erforſchen, und in
liebevoller Nachahmung ſie eben ſelbſt walten
zu laſſen.
Zu dieſen Wirkungen, welche weder Tag
noch Nacht in mir ruhten, lagen zwey große,
ja ungeheure Stoffe vor mir, deren Reich¬
thum ich nur einigermaßen zu ſchaͤtzen brauch¬
te, um etwas Bedeutendes hervorzubringen.
Es war die aͤltere Epoche, in welche das Le¬
ben Goetzens von Berlichingen faͤllt, und die
neuere, deren ungluͤckliche Bluͤte im Werther
geſchildert iſt.
15*[228]
Von der hiſtoriſchen Vorbereitung zu der
erſten Arbeit habe ich bereits geſprochen; die
ethiſchen Anlaͤſſe zu der zweyten ſollen gegen¬
waͤrtig eingeleitet werden.
Jener Vorſatz, meine innere Natur nach
ihren Eigenheiten gewaͤhren, und die aͤußere
nach ihren Eigenſchaften auf mich einfließen
zu laſſen, trieb mich an das wunderliche Ele¬
ment, in welchem Werther erſonnen und ge¬
ſchrieben iſt. Ich ſuchte mich innerlich von
allem Fremden zu entbinden, das Aeußere lie¬
bevoll zu betrachten, und alle Weſen, vom
menſchlichen an, ſo tief hinab als ſie nur fa߬
lich ſeyn moͤchten, jedes in ſeiner Art auf
mich wirken zu laſſen. Dadurch entſtand eine
wunderſame Verwandtſchaft mit den einzelnen
Gegenſtaͤnden der Natur, und ein inniges
Anklingen, ein Mitſtimmen ins Ganze, ſo
daß ein jeder Wechſel, es ſey der Ortſchaften
und Gegenden, oder der Tags- und Jahres¬
zeiten, oder was ſonſt ſich ereignen konnte,
[229] mich aufs innigſte beruͤhrte. Der maleriſche
Blick geſellte ſich zu dem dichteriſchen, die
ſchoͤne laͤndliche, durch den freundlichen Fluß
belebte Landſchaft vermehrte meine Neigung
zur Einſamkeit, und beguͤnſtigte meine ſtillen
nach allen Seiten hin ſich ausbreitenden Be¬
trachtungen.
Aber ſeitdem ich jenen Familienkreis zu
Seſenheim und nun wieder meinen Freundes¬
zirkel zu Frankfurt und Darmſtadt verlaſſen,
war mir eine Leere im Buſen geblieben, die
ich auszufuͤllen nicht vermochte; ich befand
mich daher in einer Lage, wo uns die Nei¬
gung, ſobald ſie nur einigermaßen verhuͤllt
auftritt, unverſehens uͤberſchleichen und alle
guten Vorſaͤtze vereiteln kann.
Und indem nun der Verfaſſer zu dieſer
Stufe ſeines Unternehmens gelangt, fuͤhlt er
ſich zum erſten Mal bey der Arbeit leicht ums
Herz: denn von nun an wird dieſes Buch
[230] erſt was es eigentlich ſeyn ſoll. Es hat ſich
nicht als ſelbſtaͤndig angekuͤndigt; es iſt viel¬
mehr beſtimmt die Luͤcken eines Autorlebens
auszufuͤllen, manches Bruchſtuͤck zu ergaͤnzen
und das Andenken verlorner und verſchollener
Wagniſſe zu erhalten. Was aber ſchon ge¬
than iſt, ſoll und kann nicht wiederholt wer¬
den; auch wuͤrde der Dichter jetzt die verduͤ¬
ſterten Seelenkraͤfte vergebens aufrufen, um¬
ſonſt von ihnen fordern, daß ſie jene liebli¬
chen Verhaͤltniſſe wieder vergegenwaͤrtigen
moͤchten, welche ihm den Aufenthalt im Lahn¬
thale ſo hoch verſchoͤnten. Gluͤcklicherweiſe
hatte der Genius ſchon fruͤher dafuͤr geſorgt,
und ihn angetrieben, in vermoͤgender Jugend¬
zeit das naͤchſt Vergangene feſtzuhalten, zu
ſchildern und kuͤhn genug zur guͤnſtigen Stun¬
de oͤffentlich aufzuſtellen. Daß hier das Buͤch¬
lein Werther gemeint ſey, bedarf wohl kei¬
ner naͤhern Bezeichnung; von den darin auf¬
gefuͤhrten Perſonen aber, ſo wie von den
[231] dargeſtellten Geſinnungen wird nach und nach
einiges zu eroͤffnen ſeyn.
Unter den jungen Maͤnnern, welche der
Geſandſchaft zugegeben, ſich zu ihrem kuͤnfti¬
gen Dienſtlauf voruͤben ſollten, fand ſich einer
den wir kurz und gut den Braͤutigam zu nen¬
nen pflegten. Er zeichnete ſich aus durch ein
ruhiges gleiches Betragen, Klarheit der An¬
ſichten, Beſtimmtheit im Handeln und Reden.
Seine heitere Thaͤtigkeit, ſein anhaltender
Fleiß empfahl ihn dergeſtalt den Vorgeſetzten,
daß man ihm eine baldige Anſtellung verſprach.
Hiedurch berechtigt, unternahm er ſich mit
einem Frauenzimmer zu verloben, das ſeiner
Gemuͤthsart und ſeinen Wuͤnſchen voͤllig zu¬
ſagte. Nach dem Tode ihrer Mutter, hatte
ſie ſich als Haupt einer zahlreichen juͤngeren
Familie hoͤchſt thaͤtig erwieſen und den Vater
in ſeinem Wittwerſtand allein aufrecht erhal¬
ten, ſo daß ein kuͤnftiger Gatte von ihr das
Gleiche fuͤr ſich und ſeine Nachkommenſchaft
[232] hoffen und ein entſchiedenes haͤusliches Gluͤck
erwarten konnte. Ein Jeder geſtand, auch
ohne dieſe Lebenszwecke eigennuͤtzig fuͤr ſich im
Auge zu haben, daß ſie ein wuͤnſchenswer¬
thes Frauenzimmer ſey. Sie gehoͤrte zu de¬
nen, die, wenn ſie nicht heftige Leidenſchaf¬
ten einfloͤßen, doch ein allgemeines Gefallen
zu erregen geſchaffen ſind. Eine leicht aufge¬
baute, nett gebildete Geſtalt, eine reine ge¬
ſunde Natur und die daraus entſpringende
frohe Lebensthaͤtigkeit, eine unbefangene Be¬
handlung des taͤglich Nothwendigen, das alles
war ihr zuſammen gegeben. In der Betrach¬
tung ſolcher Eigenſchaften ward auch mir im¬
mer wohl, und ich geſellte mich gern zu de¬
nen die ſie beſaßen; und wenn ich nicht im¬
mer Gelegenheit fand ihnen wirkliche Dienſte
zu leiſten, ſo theilte ich mit ihnen lieber als
mit andern den Genuß jener unſchuldigen Freu¬
den, die der Jugend immer zur Hand ſind
und ohne große Bemuͤhung und Aufwand er¬
griffen werden. Da es nun ferner ausge¬
[233] macht iſt, daß die Frauen ſich nur fuͤr einan¬
der putzen und untereinander den Putz zu ſtei¬
gern unermuͤdet ſind; ſo waren mir diejenigen
die liebſten, welche mit einfacher Reinlichkeit
dem Freunde, dem Braͤutigam, die ſtille Ver¬
ſicherung geben, daß es eigentlich nur fuͤr ihn
geſchehen, und daß ohne viel Umſtaͤnde und
Aufwand ein ganzes Leben ſo fortgefuͤhrt wer¬
den koͤnne.
Solche Perſonen ſind nicht allzu ſehr mit
ſich ſelbſt beſchaͤftigt: ſie haben Zeit die Au¬
ßenwelt zu betrachten, und Gelaſſenheit genug
ſich nach ihr zu richten, ſich ihr gleich zu ſtel¬
len; ſie werden klug und verſtaͤndig ohne An¬
ſtrengung, und beduͤrfen zu ihrer Bildung
wenig Buͤcher. So war die Braut. Der
Braͤutigam, bey ſeiner durchaus rechtlichen
und zutraulichen Sinnesart, machte Jeden,
den er ſchaͤtzte, bald mit ihr bekannt, und
ſah gern, weil er den groͤßten Theil des Ta¬
ges den Geſchaͤften eifrig oblag, wenn ſeine
[234] Verlobte, nach vollbrachten haͤuslichen Bemuͤ¬
hungen, ſich ſonſt unterhielt und ſich geſellig
auf Spaziergaͤngen und Landpartieen mit
Freunden und Freundinnen ergetzte. Lotte —
denn ſo wird ſie denn doch wohl heißen —
war anſpruchslos in doppeltem Sinne: erſt
ihrer Natur nach, die mehr auf ein allgemei¬
nes Wohlwollen als auf beſondere Neigungen
gerichtet war, und dann hatte ſie ſich ja fuͤr
einen Mann beſtimmt, der, ihrer werth, ſein
Schickſal an das ihrige fuͤr's Leben zu knuͤpfen
ſich bereit erklaͤren mochte. Die heiterſte Luft
wehte in ihrer Umgebung. Ja, wenn es
ſchon ein angenehmer Anblick iſt, zu ſehen,
daß Eltern ihren Kindern eine ununterbroche¬
ne Sorgfalt widmen, ſo hat es noch etwas
ſchoͤneres, wenn Geſchwiſter Geſchwiſtern das
Gleiche leiſten. Dort glauben wir mehr Na¬
turtrieb und buͤrgerliches Herkommen, hier
mehr Wahl und freyes Gemuͤth zu erblicken.
[235]
Der neue Ankoͤmmling, voͤllig frey von
allen Banden, ſorglos in der Gegenwart ei¬
nes Maͤdchens, das, ſchon verſagt, den ge¬
faͤlligſten Dienſt nicht als Bewerbung ausle¬
gen und ſich deſto eher daran erfreuen konnte,
ließ ſich ruhig gehen, war aber bald derge¬
ſtalt eingeſponnen und gefeſſelt, und zugleich
von dem jungen Paare ſo zutraulich und
freundlich behandelt, daß er ſich ſelbſt nicht
mehr kannte. Muͤſſig und traͤumeriſch, weil
ihm keine Gegenwart genuͤgte, fand er das
was ihm abging in einer Freundinn, die, in¬
dem ſie fuͤr's ganze Jahr lebte, nur fuͤr den
Augenblick zu leben ſchien. Sie mochte ihn
gern zu ihrem Begleiter; er konnte bald ihre
Naͤhe nicht miſſen, denn ſie vermittelte ihm
die Alltagswelt, und ſo waren ſie, bey einer
ausgedehnten Wirthſchaft, auf dem Acker und
den Wieſen, auf dem Krautland wie im Gar¬
ten, bald unzertrennliche Gefaͤhrten. Erlaub¬
ten es dem Braͤutigam ſeine Geſchaͤfte, ſo
war er an ſeinem Theil dabey; ſie hatten ſich
[236] alle drey an einander gewoͤhnt ohne es zu
wollen, und wußten nicht, wie ſie dazu ka¬
men, ſich nicht entbehren zu koͤnnen. So
lebten ſie, den herrlichen Sommer hin, eine
aͤcht deutſche Idylle, wozu das fruchtbare Land
die Proſa, und eine reine Neigung die Poe¬
ſie hergab. Durch reife Kornfelder wandernd
erquickten ſie ſich am thaureichen Morgen;
das Lied der Lerche, der Schlag der Wachtel
waren ergetzliche Toͤne; heiße Stunden folg¬
ten, ungeheure Gewitter brachen herein, man
ſchloß ſich nur deſtomehr aneinander, und
mancher kleine Familien-Verdruß war leicht
ausgeloͤſcht durch fortdauernde Liebe. Und ſo
nahm ein gemeiner Tag den andern auf, und
alle ſchienen Feſttage zu ſeyn; der ganze Ca¬
lender haͤtte muͤſſen roth gedruckt werden. Ver¬
ſtehen wird mich, wer ſich erinnert, was von
dem gluͤcklich-ungluͤcklichen Freunde der neuen
Heloiſe geweiſſagt worden: „Und zu den Fuͤ¬
ßen ſeiner Geliebten ſitzend, wird er Hanf
brechen, und er wird wuͤnſchen Hanf zu bre¬
[337[237]] chen, heute, morgen und uͤbermorgen, ja ſein
ganzes Leben.“
Nur wenig, aber gerade ſoviel als noͤthig
ſeyn mag, kann ich nunmehr von einem jun¬
gen Manne ſagen, deſſen Name in der Fol¬
gezeit nur allzu oft genannt worden. Es war
Jeruſalem, der Sohn des frey und zart
denkenden Gottesgelehrten. Auch er war bey
einer Geſandſchaft angeſtellt: ſeine Geſtalt ge¬
faͤllig, mittlerer Groͤße, wohlgebaut; ein mehr
rundes als laͤngliches Geſicht; weiche ruhige
Zuͤge und was ſonſt noch einem huͤbſchen blon¬
den Juͤngling zukommen mag; blaue Augen
ſodann, mehr anziehend als ſprechend zu nen¬
nen. Seine Kleidung war die unter den Nie¬
derdeutſchen, in Nachahmung der Englaͤnder,
hergebrachte: blauer Frack, ledergelbe Weſte
und Unterkleider, und Stiefeln mit braunen
Stolpen. Der Verfaſſer hat ihn nie beſucht,
auch nicht bey ſich geſehen; manchmal traf er
ihn bey Freunden. Die Aeußerungen des
[238] jungen Mannes waren maͤßig, aber wohlwol¬
lend. Er nahm an den verſchiedenſten Pro¬
ductionen Theil; beſonders liebte er ſolche
Zeichnungen und Skizzen, in welchen man
einſamen Gegenden ihren ſtillen Character ab¬
gewonnen hatte. Er theilte bey ſolchen Ge¬
legenheiten Gesnerſche Radirungen mit, und
munterte die Liebhaber auf, darnach zu ſtu¬
diren. An allem jenen Ritterweſen und Mum¬
menſpiel nahm er wenig oder keinen Antheil,
lebte ſich und ſeinen Geſinnungen. Man
ſprach von einer entſchiedenen Leidenſchaft zu
der Gattinn eines Freundes. Oeffentlich ſah
man ſie nie miteinander. Ueberhaupt wußte
man wenig von ihm zu ſagen, außer daß er
ſich mit der engliſchen Literatur beſchaͤftige.
Als der Sohn eines wohlhabenden Man¬
nes brauchte er ſich weder aͤngſtlich Geſchaͤften
zu widmen, noch um baldige Anſtellung drin¬
gend zu bewerben.
[239]
Jene Gesnerſchen Radirungen vermehrten
die Luſt und den Antheil an laͤndlichen Ge¬
genſtaͤnden, und ein kleines Gedicht, welches
wir in unſern engern Kreis mit Leidenſchaft
aufnahmen, ließ uns von nun an nichts an¬
ders mehr beachten. Das deserted village
von Goldſmith, mußte Jederman auf jener
Bildungsſtufe, in jenem Geſinnungskreiſe, hoͤch¬
lich zuſagen. Nicht als lebendig oder wirk¬
ſam, ſondern als ein vergangenes verſchwun¬
denes Daſeyn, ward alles das geſchildert was
man ſo gern mit Augen ſah, was man lieb¬
te, ſchaͤtzte, in der Gegenwart leidenſchaftlich
aufſuchte, um jugendlich munter Theil daran
zu nehmen. Feſt- und Feyertage auf dem Lan¬
de, Kirchweihen und Jahrmaͤrkte, dabey un¬
ter der Dorflinde erſt die ernſte Verſammlung
der Aelteſten, verdraͤngt von der heftigern
Tanzluſt der Juͤngern, und wohl gar die Theil¬
nahme gebildeter Staͤnde. Wie ſchicklich er¬
ſchienen dieſe Vergnuͤgungen, gemaͤßigt durch
einen braven Landgeiſtlichen, der auch dasje¬
[240] nige was allenfalls uͤbergriff, was zu Haͤn¬
deln und Zwiſt Anlaß geben konnte, gleich zu
ſchlichten und abzuthun verſtand. Auch hier
fanden wir unſern ehrlichen Wakefield wie¬
der, in ſeinem wohlbekannten Kreiſe, aber
nicht mehr wie er leibte und lebte, ſondern
als Schatten, zuruͤckgerufen durch des elegi¬
ſchen Dichters leiſe Klagetoͤne. Schon der
Gedanke dieſer Darſtellung iſt einer der gluͤck¬
lichſten, ſobald einmal der Vorſatz gefaßt iſt,
ein unſchuldiges Vergangene mit anmuthiger
Trauer wieder heranzufordern. Und wie ge¬
lungen iſt in jedem Sinne dem Englaͤnder
dieſes gemuͤthliche Vorhaben! Ich theilte den
Enthuſiasmus fuͤr dieſes allerliebſte Gedicht
mit Gottern, dem die von uns beyden unter¬
nommene Ueberſetzung beſſer als mir gegluͤckt
iſt: denn ich hatte allzu aͤngſtlich die zarte
Bedeutſamkeit des Originals in unſerer Spra¬
che nachzubilden getrachtet, und war daher
wohl mit einzelnen Stellen, nicht aber mit
dem Ganzen uͤbereingekommen.
[241]
Ruht nun, wie Man ſagt, in der Sehn¬
ſucht das groͤßte Gluͤck, und darf die wahre
Sehnſucht nur auf ein Unerreichbares gerich¬
tet ſeyn; ſo traf wohl alles zuſammen, um
den Juͤngling, den wir gegenwaͤrtig auf ſeinen
Irrgaͤngen begleiten, zum gluͤcklichſten Sterb¬
lichen zu machen. Die Neigung zu einer ver¬
ſagten Braut, das Beſtreben Meiſterſtuͤcke
fremder Literatur der unſrigen zu erwerben
und anzueignen, die Bemuͤhung Naturgegen¬
ſtaͤnde nicht nur mit Worten, ſondern auch
mit Griffel und Pinſel, ohne eigentliche Tech¬
nik, nachzuahmen: jedes einzeln waͤre ſchon
hinreichend geweſen, das Herz zu ſchwellen
und die Bruſt zu beklemmen. Damit aber
der ſo ſuͤß leidende aus dieſen Zuſtaͤnden ge¬
riſſen und ihm zu neuer Unruhe neue Ver¬
haͤltniſſe bereitet wuͤrden, ſo ergab ſich fol¬
gendes.
In Gießen befand ſich Hoͤpfner, Pro¬
feſſor der Rechte. Er war als tuͤchtig in ſei¬
III. 16[242] nem Fach, als denkender und wackerer Mann,
von Merken und Schloſſern anerkannt und
hoͤchlich geehrt. Schon laͤngſt hatte ich ſeine
Bekanntſchaft gewuͤnſcht, und nun, als jene
beyden Freunde bey ihm einen Beſuch abzu¬
ſtatten gedachten, um uͤber literariſche Gegen¬
ſtaͤnde zu unterhandeln, ward beliebt, daß ich,
bey dieſer Gelegenheit, mich gleichfalls nach
Gießen begeben ſollte. Weil wir aber, wie
es in dem Uebermuth froher und friedlicher
Zeiten zu geſchehn pflegt, nicht leicht etwas
auf geradem Wege vollbringen konnten, ſon¬
dern, wie wahrhafte Kinder, auch dem Noth¬
wendigen irgend einen Scherz abzugewinnen
ſuchten; ſo ſollte ich, als der Unbekannte, in
fremder Geſtalt erſcheinen, und meiner Luſt
verkleidet aufzutreten, hier abermals Genuͤge
thun. An einem heiteren Morgen, vor Son¬
nenaufgang, ſchritt ich daher von Wetzlar an
der Lahn hin, das liebliche Thal hinauf;
ſolche Wanderungen machten wieder mein
groͤßtes Gluͤck. Ich erfand, verknuͤpfte, ar¬
[243] beitete durch, und war in der Stille mit mir
ſelbſt heiter und froh; ich legte mir zurecht,
was die ewig widerſprechende Welt mir un¬
geſchickt und verworren aufgedrungen hatte.
Am Ziele meines Weges angelangt, ſuchte ich
Hoͤpfners Wohnung und pochte an ſeine Stu¬
dirſtube. Als er mir herein! gerufen hatte,
trat ich beſcheidentlich vor ihn, als ein Stu¬
dirender, der von Academieen ſich nach Hau¬
ſe verfuͤgen und unterwegs die wuͤrdigſten
Maͤnner wollte kennen leinen. Auf ſeine Fra¬
gen nach meinen naͤheren Verhaͤltniſſen war
ich vorbereitet; ich erzaͤhlte ein glaubliches pro¬
ſaiſches Maͤhrchen, womit er zufrieden ſchien,
und als ich mich hierauf fuͤr einen Juriſten
angab, beſtand ich nicht uͤbel: denn ich kann¬
te ſein Verdienſt in dieſem Fach und wußte,
daß er ſich eben mit dem Naturrecht beſchaͤf¬
tigte. Doch ſtockte das Geſpraͤch einige Mal,
und es ſchien, als wenn er einem Stamm¬
buch oder meiner Beurlaubung entgegenſaͤhe.
Ich wußte jedoch immer zu zaudern, indem
16 *[244] ich Schloſſern gewiß erwartete, deſſen Puͤnct¬
lichkeit mir bekannt war. Dieſer kam auch
wirklich, ward von ſeinem Freund bewillkomm¬
net, und nahm, als er mich von der Seite
angeſehn, wenig Notiz von mir. Hoͤpfner
aber zog mich ins Geſpraͤch und zeigte ſich
durchaus als einen humanen wohlwollenden
Mann. Endlich empfahl ich mich und eilte
nach dem Wirthshauſe, wo ich mit Merken
einige fluͤchtige Worte wechſelte und das Wei¬
tere verabredete.
Die Freunde hatten ſich vorgenommen,
Hoͤpfnern zu Tiſche zu bitten und zugleich je¬
nen Philipp Heinrich Schmidt, der in dem
deutſchen Literarweſen zwar eine ſehr unterge¬
ordnete, aber doch eine Rolle ſpielte. Auf
dieſen war der Handel eigentlich angelegt, und
er ſollte fuͤr manches was er geſuͤndigt hatte,
auf eine luſtige Weiſe beſtraft werden. Als
die Gaͤſte ſich in dem Speiſeſaale verſammelt
hatten, ließ ich durch den Kellner fragen, ob
[245] die Herren mir erlauben wollten mitzuſpeiſen?
Schloſſer, dem ein gewiſſer Ernſt gar wohl
zu Geſicht ſtand, widerſetzte ſich, weil ſie ihre
freundſchaftliche Unterhaltung nicht durch einen
Dritten wollten geſtoͤrt wiſſen. Auf das An¬
dringen des Kellners aber und die Fuͤrſprache
Hoͤpfners, der verſicherte, daß ich ein leidli¬
cher Menſch ſey, wurde ich eingelaſſen, und
betrug mich zu Anfang der Tafel beſcheiden
und verſchaͤmt. Schloſſer und Merk thaten
ſich keinen Zwang an, und ergingen ſich uͤber
manches ſo offen, als wenn kein Fremder da¬
bey waͤre. Die wichtigſten literariſchen An¬
gelegenheiten ſo wie die bedeutendſten Maͤn¬
ner kamen zur Sprache. Ich erwies mich
nun etwas kuͤhner, und ließ mich nicht ſtoͤ¬
ren, wenn Schloſſer mir manchmal ernſtlich,
Merk ſpoͤttiſch etwas abgab; doch richtete ich
auf Schmidten alle meine Pfeile, die ſeine
mir wohlbekannten Bloͤßen ſcharf und ſicher
trafen.
[246]
Ich hatte mich bey meinem Roͤßel Tiſch¬
wein maͤßig verhalten; die Herren aber ließen
ſich beſſeren reichen, und ermangelten nicht,
auch mir davon mitzutheilen. Nachdem viele
Angelegenheiten des Tags durchgeſprochen wa¬
ren, zog ſich die Unterhaltung in's Allgemei¬
ne, und man behandelte die Frage, die, ſo
lange es Schriftſteller giebt, ſich immer wie¬
derholen wird, ob naͤmlich die Literatur im
Auf- oder Abſteigen, Vor- oder Ruͤck¬
ſchritt begriffen ſey? Dieſe Frage, woruͤber
ſich beſonders Alte und Junge, Angehende
und Abtretende ſelten vergleichen, ſprach man
mit Heiterkeit durch, ohne daß man gerade
die Abſicht gehabt haͤtte, ſich daruͤber entſchie¬
den zu verſtaͤndigen. Zuletzt nahm ich das
Wort und ſagte: „die Literaturen, ſcheint es
mir, haben Jahrszeiten, die mit einander
abwechſelnd, wie in der Natur, gewiſſe Phaͤ¬
nomene hervorbringen, und ſich der Reihe
nach wiederholen. Ich glaube daher nicht,
daß man irgend eine Epoche einer Literatur
[247] im Ganzen loben oder tadeln koͤnne; beſon¬
ders ſehe ich nicht gerne, wenn man gewiſſe
Talente, die von der Zeit hervorgerufen wer¬
den, ſo hoch erhebt und ruͤhmt, andere dage¬
gen ſchilt und niederdruͤckt. Die Kehle der
Nachtigall wird durch das Fruͤhjahr aufgeregt,
zugleich aber auch die Gurgel des Guckuks.
Die Schmetterlinge, die dem Auge ſo wohl
thun, und die Muͤcken, welche dem Gefuͤhl
ſo verdrießlich fallen, werden durch eben die
Sonnenwaͤrme hervorgerufen; beherzigte man
dieß, ſo wuͤrde man dieſelbigen Klagen nicht
alle zehn Jahre wieder erneuert hoͤren, und
die vergebliche Muͤhe, dieſes und jenes Mis¬
faͤllige auszurotten, wuͤrde nicht ſo oft ver¬
ſchwendet werden.“ Die Geſellſchaft ſah mich
mit Verwunderung an, woher mir ſo viele
Weisheit und ſo viele Toleranz kaͤme? Ich
aber fuhr ganz gelaſſen fort, die literariſchen
Erſcheinungen mit Naturproducten zu verglei¬
chen, und ich weiß nicht, wie ich ſogar auf
die Melusken kam, und allerley Wunderliches
[248] von ihnen herauszuſetzen wußte. Ich ſagte,
es ſeyen dieß Geſchoͤpfe, denen man zwar eine
Art von Koͤrper, ja ſogar eine gewiſſe Ge¬
ſtalt, nicht ableugnen koͤnne; da ſie aber kei¬
ne Knochen haͤtten, ſo wuͤßte man doch nichts
rechts mit ihnen anzufangen, und ſie ſeyen
nichts beſſeres als ein lebendiger Schleim;
jedoch muͤſſe das Meer auch ſolche Bewohner
haben. Da ich das Gleichniß uͤber die Ge¬
buͤhr fortſetzte, um den gegenwaͤrtigen Schmidt
und dieſe Art der characterloſen Literatoren
zu bezeichnen, ſo ließ man mich bemerken,
daß ein zu weit ausgedehntes Gleichniß zuletzt
gar nichts mehr ſey. — „So will ich auf
die Erde zuruͤckkehren! verſetzte ich, und vom
Epheu ſprechen. Wie jene keine Knochen, ſo
hat dieſer keinen Stamm, mag aber gern
uͤberall, wo er ſich anſchmiegt, die Hauptrolle
ſpielen. An alte Mauern gehoͤrt er hin, an
denen ohnehin nichts mehr zu verderben iſt,
von neuen Gebaͤuden entfernt man ihn billig;
die Baͤume ſaugt er aus, und am aller un¬
[249] ertraͤglichſten iſt er mir, wenn er an einem
Pfahl hinaufklettert und verſichert, hier ſey
ein lebendiger Stamm, weil er ihn umlaubt
habe.“
Ungeachtet man mir abermals die Dun¬
kelheit und Unanwendbarkeit meiner Gleich¬
niſſe vorwarf, ward ich immer lebhafter ge¬
gen alle paraſitiſche Creaturen, und machte,
ſo weit meine damaligen Naturkenntniſſe reich¬
ten, meine Sachen noch ziemlich artig. Ich
ſang zuletzt ein Vivat allen ſelbſtaͤndigen
Maͤnnern, ein Pereat den Andringlingen, er¬
griff nach Tiſche Hoͤpfners Hand, ſchuͤttelte
ſie derb, erklaͤrte ihn fuͤr den bravſten Mann
von der Welt, und umarmte ihn ſo wie die
andern zuletzt recht herzlich. Der wackere
neue Freund glaubte wirklich zu traͤumen, bis
endlich Schloſſer und Merk das Raͤthſel auf¬
loͤſten, und der entdeckte Scherz eine allge¬
meine Heiterkeit verbreitete, in welche Schmidt
ſelbſt mit einſtimmte, der durch Anerkennung
[250] ſeiner wirklichen Verdienſte, und durch unſere
Theilnahme an ſeinen Liebhabereyen, wieder
beguͤtigt wurde.
Dieſe geiſtreiche Einleitung konnte nicht
anders als den literariſchen Congreß beleben
und beguͤnſtigen, auf den es eigentlich ange¬
ſehn war. Merk, bald aͤſthetiſch, bald lite¬
rariſch bald kaufmaͤnniſch thaͤtig, hatte den
wohldenkenden, unterrichteten, in ſo vielen
Faͤchern kenntnißreichen Schloſſer angeregt, die
Frankfurter gelehrten Anzeigen in
dieſem Jahr herauszugeben. Sie hatten ſich
Hoͤpfnern und andere Academiker in Gießen,
in Darmſtadt einen verdienten Schulmann,
den Rector Wenk, und ſonſt manchen wacke¬
ren Mann zugeſellt. Jeder hatte in ſeinem
Fach hiſtoriſche und theoretiſche Kenntniſſe ge¬
nug, und der Zeitſinn ließ dieſe Maͤnner nach
Einem Sinne wirken. Die zwey erſten Jahr¬
gaͤnge dieſer Zeitung (denn nachher kam ſie
in andere Haͤnde) geben ein wunderſames
[251] Zeugniß, wie ausgebreitet die Einſicht, wie
rein die Ueberſicht, wie redlich der Wille der
Mitarbeiter geweſen. Das Humane und Welt¬
buͤrgerliche wird befoͤrdert; wackere und mit
Recht beruͤhmte Maͤnner werden gegen Zu¬
dringlichkeit aller Art geſchuͤtzt; man nimmt
ſich ihrer an gegen Feinde, beſonders auch ge¬
gen Schuͤler, die das Ueberlieferte nun zum
Schaden ihrer Lehrer misbrauchen. Am in¬
tereſſanteſten ſind beynah die Recenſionen uͤber
andere Zeitſchriften, die Berliner Bibliothek,
den deutſchen Mercur; wo man die Gewand¬
heit in ſo vielen Faͤchern, die Einſicht ſo wie
die Billigkeit mit Recht bewundert.
Was mich betrifft, ſo ſahen ſie wohl ein,
daß mir nicht mehr als alles zum eigentlichen
Recenſenten fehle. Mein hiſtoriſches Wiſſen
hing nicht zuſammen, die Geſchichte der Welt,
der Wiſſenſchaften, der Literatur hatte mich
nur epochenweis, die Gegenſtaͤnde ſelbſt aber
nur theil- und maſſenweis angezogen. Die
[252] Moͤglichkeit, mir die Dinge auch außer ihrem
Zuſammenhange lebendig zu machen und zu
vergegenwaͤrtigen, ſetzte mich in den Fall, in
einem Jahrhundert, in einer Abtheilung der
Wiſſenſchaft voͤllig zu Hauſe zu ſeyn, ohne
daß ich weder von dem Vorhergehenden noch
von dem Nachfolgenden irgend unterrichtet
geweſen waͤre. Eben ſo war ein gewiſſer theo¬
retiſch-practiſcher Sinn in mir aufgegangen,
daß ich von den Dingen, mehr wie ſie ſeyn
ſollten als wie ſie waren, Rechenſchaft geben
konnte, ohne eigentlichen philoſophiſchen Zu¬
ſammenhang, aber ſprungweiſe treffend. Hie¬
zu kam eine ſehr leichte Faſſungskraft und
ein freundliches Aufnehmen der Meynungen
anderer, wenn ſie nur nicht mit meinen Ue¬
berzeugungen in geradem Widerſpruch ſtanden.
Jener literariſche Verein ward uͤberdieß
durch eine lebhafte Correſpondenz und, bey
der Naͤhe der Ortſchaften, durch oͤftere per¬
ſoͤnliche Unterhandlungen beguͤnſtigt. Wer das
[253] Buch zuerſt geleſen hatte, der referirte, manch¬
mal fand ſich ein Correferent; die Angelegen¬
heit ward beſprochen, an verwandte ange¬
knuͤpft, und hatte ſich zuletzt ein gewiſſes Re¬
ſultat ergeben, ſo uͤbernahm Einer die Re¬
daction. Dadurch ſind mehrere Recenſionen
ſo tuͤchtig als lebhaft, ſo angenehm als be¬
friedigend. Mir fiel ſehr oft die Rolle des
Protocollfuͤhrers zu; meine Freunde erlaubten
mir auch innerhalb ihrer Arbeiten zu ſcherzen,
und ſodann bey Gegenſtaͤnden, denen ich mich
gewachſen fuͤhlte, die mir beſonders am Her¬
zen lagen, ſelbſtaͤndig aufzutreten. Verge¬
bens wuͤrde ich unternehmen, darſtellend oder
betrachtend, den eigentlichen Geiſt und Sinn
jener Tage wieder hervorzurufen, wenn nicht
die beyden Jahrgaͤnge gedachter Zeitung mir
die entſchiedenſten Documente ſelbſt anboͤten.
Auszuͤge von Stellen, an denen ich mich wie¬
der erkenne, moͤgen mit aͤhnlichen Aufſaͤtzen
kuͤnftig am ſchicklichen Orte erſcheinen.
[254]
Bey einem ſo lebhaften Austauſch von
Kenntniſſen, Meynungen, Ueberzeugungen,
lernte ich Hoͤpfnern ſehr bald naͤher kennen
und gewann ihn lieb. Sobald wir allein wa¬
ren, ſprach ich mit ihm uͤber Gegenſtaͤnde
ſeines Fachs, welches ja auch mein Fach ſeyn
ſollte, und fand eine ſehr natuͤrlich zuſammen¬
haͤngende Aufklaͤrung und Belehrung. Ich
war mir damals noch nicht deutlich bewußt,
daß ich wohl aus Buͤchern und im Geſpraͤch,
nicht aber durch den zuſammenhaͤngenden Ca¬
theder-Vortrag etwas lernen konnte. Das
Buch erlaubte mir, bey einer Stelle zu ver¬
weilen, ja ruͤckwaͤrts zu ſehen, welches der
muͤndliche Vortrag und der Lehrer nicht ge¬
ſtatten konnte. Manchmal ergriff mich zu
Anfang der Stunde ein Gedanke dem ich
nachhing, daruͤber das Folgende verlor und
ganz aus dem Zuſammenhang geriet. Und
ſo war es mir auch in den juriſtiſchen Colle¬
gien ergangen, weshalb ich gar manchen An¬
laß nehmen konnte, mich mit Hoͤpfnern zu
[255] beſprechen, der denn ſehr gern in meine Zwei¬
fel und Bedenken einging, auch manche Luͤcken
ausglich, ſo daß in mir der Wunſch entſtand,
in Gießen bey ihm zu verweilen, um mich
an ihm zu unterrichten, ohne mich doch von
meinen Wetzlariſchen Neigungen allzu weit zu
entfernen. Gegen dieſen meinen Wunſch ar¬
beiteten die beyden Freunde erſt unwiſſend,
ſodann wiſſentlich: denn beyde eilten nicht al¬
lein ſelbſt von hier wegzukommen, ſondern
beyde hatten ſogar ein Intereſſe, mich aus
dieſer Gegend wegzubringen.
Schloſſer entdeckte mir, daß er erſt in
ein freundſchaftliches, dann in ein naͤheres
Verhaͤltniß zu meiner Schweſter gekommen
ſey, und daß er ſich nach einer baldigen An¬
ſtellung umſehe, um ſich mit ihr zu verbin¬
den. Dieſe Erklaͤrung machte mich einiger¬
maßen betroffen, ob ich ſie gleich in meiner
Schweſter Briefen ſchon laͤngſt haͤtte finden
ſollen; aber wir gehen leicht uͤber das hinweg.
[256] was die gute Meynung, die wir von uns
ſelbſt hegen, verletzen koͤnnte, und ich bemerk¬
te nun erſt, daß ich wirklich auf meine Schwe¬
ſter eiferſuͤchtig ſey: eine Empfindung, die ich
mir um ſo weniger verbarg, als ſeit meiner
Ruͤckkehr von Straßburg unſer Verhaͤltniß
noch viel inniger geworden war. Wie viel
Zeit hatten wir nicht gebraucht, um uns wech¬
ſelſeitig die kleinen Herzensangelegenheiten,
Liebes- und andere Haͤndel mitzutheilen, die
in der Zwiſchenzeit vorgefallen waren! und
hatte ſich nicht auch im Felde der Einbildungs¬
kraft vor mir eine neue Welt aufgethan, in
die ich ſie doch auch einfuͤhren mußte? Meine
eignen kleinen Machwerke, eine weit ausge¬
breitete Weltpoeſie, mußten ihr nach und nach
bekannt werden. So uͤberſetzte ich ihr aus
dem Stegreife ſolche Homeriſche Stellen, an
denen ſie zunaͤchſt Antheil nehmen konnte.
Die Clarkeſche woͤrtliche Ueberſetzung las ich
deutſch, ſo gut es gehen wollte, herunter,
mein Vortrag verwandelte ſich gewoͤhnlich in
[257] metriſche Wendungen und Endungen, und die
Lebhaftigkeit, womit ich die Bilder gefaßt
hatte, die Gewalt womit ich ſie ausſprach,
hoben alle Hinderniſſe einer verſchraͤnkten Wort¬
ſtellung; dem was ich geiſtreich hingab, folg¬
te ſie mit dem Geiſte. Manche Stunden des
Tags unterhielten wir uns auf dieſe Weiſe;
verſammelte ſich hingegen ihre Geſellſchaft, ſo
wurden der Wolf Fenris und der Affe Hanne¬
mann einſtimmig hervorgerufen, und wie oft
habe ich nicht die beruͤhmte Geſchichte, wie
Thor und ſeine Begleiter von den zauberiſchen
Rieſen geaͤfft werden, umſtaͤndlich wiederholen
muͤſſen! Daher iſt mir auch von allen dieſen
Dichtungen ein ſo angenehmer Eindruck ge¬
blieben, daß ſie noch immer unter das Wer¬
theſte gehoͤren, was meine Einbildungskraft
ſich hervorrufen mag. In mein Verhaͤltniß
zu den Darmſtaͤdtern hatte ich meine Schwe¬
ſter auch hineingezogen, und ſogar meine Wan¬
derungen und Entfernungen mußten unſer
Band feſter knuͤpfen, da ich mich von allem
lll. 17[258] was mir begegnete, brieflich mit ihr unter¬
hielt, ihr jedes kleine Gedicht, wenn es auch
nur ein Ausrufungszeichen geweſen waͤre, ſo¬
gleich mittheilte, und ihr zunaͤchſt alle Briefe
die ich erhielt, und alle Antworten die ich
darauf ertheilte, ſehen ließ. Alle dieſe lebhaf¬
te Regung hatte ſeit meiner Abreiſe von Frank¬
furt geſtockt, mein Aufenthalt zu Wetzlar war
zu einer ſolchen Unterhaltung nicht ausgiebig
genug, und dann mochte die Neigung zu Lot¬
ten den Aufmerkſamkeiten gegen meine Schwe¬
ſter Eintrag thun; genug, ſie fuͤhlte ſich al¬
lein, vielleicht vernachlaͤſſigt, und gab um ſo
eher den redlichen Bemuͤhungen eines Ehren¬
manns Gehoͤr, welcher ernſt und verſchloſſen,
zuverlaͤſſig und ſchaͤtzenswerth, ihr ſeine Nei¬
gung, mit der er ſonſt ſehr kargte, leiden¬
ſchaftlich zugewendet hatte. Ich mußte mich
nun wohl darein ergeben, und meinem Freun¬
de ſein Gluͤck goͤnnen, indem ich mir jedoch
heimlich mit Selbſtvertrauen zu ſagen nicht
unterließ, daß wenn der Bruder nicht abwe¬
[259] ſend geweſen waͤre, es mit dem Freunde ſo
weit nicht haͤtte gedeihen koͤnnen.
Meinem Freund und vermuthlichen Schwa¬
ger war nun freylich ſehr daran gelegen, daß
ich nach Hauſe zuruͤckkehrte, weil durch meine
Vermittelung ein freyerer Umgang moͤglich
ward, deſſen das Gefuͤhl dieſes von zaͤrtlicher
Neigung unvermuthet getroffenen Mannes
aͤußerſt zu beduͤrfen ſchien. Er nahm daher,
als er ſich bald entfernte, von mir das Ver¬
ſprechen, daß ich ihm zunaͤchſt folgen wollte.
Von Merken, der eben freye Zeit hatte,
hoffte ich nun, daß er ſeinen Aufenthalt in
Gießen verlaͤngern wuͤrde, damit ich einige
Stunden des Tags mit meinem guten Hoͤpf¬
ner zubringen koͤnnte, indeſſen der Freund
ſeine Zeit an die Frankfurter gelehrten Anzei¬
gen wendete; allein er war nicht zu bewegen,
und wie meinen Schwager die Liebe, ſo trieb
dieſen der Haß von der Univerſitaͤt hinweg.
17 *[260] Denn wie es angeborene Antipathieen giebt,
ſo wie gewiſſe Menſchen die Katzen nicht lei¬
den koͤnnen, andern dieſes oder jenes in der
Seele zuwider iſt, ſo war Merk ein Todfeind
aller academiſchen Buͤrger, die nun freylich
zu jener Zeit in Gießen ſich in der tiefſten
Rohheit gefielen. Mir waren ſie ganz recht:
ich haͤtte ſie wohl auch als Masken in eins
meiner Faſtnachtsſpiele brauchen koͤnnen; aber
ihm verdarb ihr Anblick bey Tage, und des
Nachts ihr Gebruͤll, jede Art von gutem Hu¬
mor. Er hatte die ſchoͤnſte Zeit ſeiner jungen
Tage in der franzoͤſiſchen Schweiz zugebracht
und nachher den erfreulichen Umgang von
Hof-, Welt- und Geſchaͤftsleuten und gebilde¬
ten Literatoren genoſſen; mehrere Militaͤrper¬
ſonen, in denen ein Streben nach Geiſtescul¬
tur rege geworden, ſuchten ihn auf, und ſo
bewegte er ſein Leben in einem ſehr gebilde¬
ten Zirkel. Daß ihn daher jenes Unweſen
aͤrgerte, war nicht zu verwundern; allein ſei¬
ne Abneigung gegen die Studioſen war wirk¬
[261] lich leidenſchaftlicher als es einem geſetzten
Mann geziemte, wiewohl er mich durch ſeine
geiſtreichen Schilderungen ihres ungeheuerli¬
chen Ausſehns und Betragens ſehr oft zum
Lachen brachte. Hoͤpfners Einladungen und
mein Zureden halfen nichts, ich mußte bald
moͤglichſt mit ihm nach Wetzlar wandern.
Kaum konnte ich erwarten, bis ich ihn
bey Lotten eingefuͤhrt; allein ſeine Gegenwart
in dieſem Kreiſe gerieth mir nicht zum Ge¬
deihen: denn wie Mephiſtopheles, er mag
hintreten wohin er will, wohl ſchwerlich Se¬
gen mitbringt; ſo machte er mir, durch ſeine
Gleichguͤltigkeit gegen dieſe geliebte Perſon,
wenn er mich auch nicht zum Wanken brach¬
te, doch wenigſtens keine Freude. Ich konn¬
te es wohl vorausſehen, wenn ich mich erin¬
nert haͤtte, daß gerade ſolche ſchlanke zierliche
Perſonen, die eine lebendige Heiterkeit um
ſich her verbreiten, ohne weitere Anſpruͤche zu
machen, ihm nicht ſonderlich gefielen. Er zog
[262] ſehr ſchnell die Junoniſche Geſtalt einer ihrer
Freundinnen vor, und da es ihm an Zeit ge¬
brach, ein naͤheres Verhaͤltniß anzuknuͤpfen;
ſo ſchalt er mich recht bitter aus, daß ich
mich nicht um dieſe praͤchtige Geſtalt bemuͤht,
um ſo mehr, da ſie frey, ohne irgend ein
Verhaͤltniß ſich befinde. Ich verſtehe eben
meinen Vortheil nicht, meynte er, und er ſehe
hoͤchſt ungern auch hier meine beſondere Lieb¬
haberey, die Zeit zu verderben.
Wenn es gefaͤhrlich iſt, einen Freund mit
den Vorzuͤgen ſeiner Geliebten bekannt zu ma¬
chen, weil er ſie wohl auch reizend und be¬
gehrenswuͤrdig finden moͤchte; ſo iſt die um¬
gekehrte Gefahr nicht geringer, daß er uns
durch ſeine Abſtimmung irre machen kann.
Dieſes war zwar hier der Fall nicht: denn
ich hatte mir das Bild ihrer Liebenswuͤrdig¬
keit tief genug eingedruckt, als daß es ſo leicht
auszuloͤſchen geweſen waͤre; aber ſeine Gegen¬
wart, ſein Zureden beſchleunigte doch den Ent¬
[263] ſchluß, den Ort zu verlaſſen. Er ſtellte mir
eine Rheinreiſe, die er eben mit Frau und
Sohn zu machen im Begriff ſey, ſo reizend
vor, und erregte die Sehnſucht, diejenigen
Gegenſtaͤnde endlich mit Augen zu ſehn, von
denen ich ſo oft mit Neid hatte erzaͤhlen hoͤ¬
ren. Nun, als er ſich entfernt hatte, trennte
ich mich von Charlotten zwar mit reinerem
Gewiſſen als von Friedriken, aber doch nicht
ohne Schmerz. Auch dieſes Verhaͤltniß war
durch Gewohnheit und Nachſicht leidenſchaft¬
licher als billig von meiner Seite geworden;
ſie dagegen und ihr Braͤutigam hielten ſich
mit Heiterkeit in einem Maaße, das nicht
ſchoͤner und liebenswuͤrdiger ſeyn konnte, und
die eben hieraus entſpringende Sicherheit ließ
mich jede Gefahr vergeſſen. Indeſſen konnte
ich mir nicht verbergen, daß dieſem Abenteuer
ſein Ende bevorſtehe: denn von der zunaͤchſt¬
erwarteten Befoͤrderung des jungen Mannes
hing die Verbindung mit dem liebenswuͤrdi¬
gen Maͤdchen ab; und da der Menſch, wenn
[264] er einigermaßen reſolut iſt, auch das Noth¬
wendige ſelbſt zu wollen uͤbernimmt, ſo faßte
ich den Entſchluß, mich freywillig zu entfer¬
nen, ehe ich durch das Unertraͤgliche vertrie¬
ben wuͤrde.
Dreyzehntes Buch.
[[266]][[267]]Mit Merk war verabredet, daß wir uns
zur ſchoͤnen Jahrszeit in Coblenz bey Frau
von Laroche treffen wollten. Ich hatte
mein Gepaͤck nach Frankfurt, und was ich
unterwegs brauchen koͤnnte, durch eine Gele¬
genheit die Lahn hinunter geſendet, und wan¬
derte nun dieſen ſchoͤnen, durch ſeine Kruͤm¬
mungen lieblichen, in ſeinen Ufern ſo man¬
nigfaltigen Fluß hinunter, dem Entſchluß nach
frey, dem Gefuͤhle nach befangen, in einem
Zuſtande, in welchem uns die Gegenwart der
ſtummlebendigen Natur ſo wohlthaͤtig iſt.
Mein Auge, geuͤbt die maleriſchen und uͤber¬
maleriſchen Schoͤnheiten der Landſchaft zu ent¬
decken, ſchwelgte in Betrachtung der Naͤhen
und Fernen, der bebuſchten Felſen, der ſon¬
nigen Wipfel, der feuchten Gruͤnde, der thro¬
[268] nenden Schloͤſſer und der aus der Ferne lo¬
ckenden blauen Bergreihen.
Ich wanderte auf dem rechten Ufer des
Fluſſes, der in einiger Tiefe und Entfernung
unter mir, von reichem Weidengebuͤſch zum
Theil verdeckt, im Sonnenlicht hingleitete.
Da ſtieg in mir der alte Wunſch wieder auf,
ſolche Gegenſtaͤnde wuͤrdig nachahmen zu koͤn¬
nen. Zufaͤllig hatte ich ein ſchoͤnes Taſchen¬
meſſer in der linken Hand, und in dem Au¬
genblicke trat aus dem tiefen Grunde der See¬
le gleichſam befehlshaberiſch hervor: ich ſoll¬
te dieß Meſſer ungeſaͤumt in den Fluß ſchleu¬
dern. Saͤhe ich es hineinfallen, ſo wuͤrde
mein kuͤnſtleriſcher Wunſch erfuͤllt werden;
wuͤrde aber das Eintauchen des Meſſers durch
die uͤberhaͤngenden Weidenbuͤſche verdeckt, ſo
ſollte ich Wunſch und Bemuͤhung fahren laſ¬
ſen. So ſchnell als dieſe Grille in mir auf¬
ſtieg, war ſie auch ausgefuͤhrt. Denn ohne
auf die Brauchbarkeit des Meſſers zu ſehn,
[269] das gar manche Geraͤthſchaften in ſich verei¬
nigte, ſchleuderte ich es mit der Linken, wie
ich es hielt, gewaltſam nach dem Fluſſe hin.
Aber auch hier mußte ich die truͤgliche Zwey¬
deutigkeit der Orakel, uͤber die man ſich im
Alterthum ſo bitter beklagt, erfahren. Des
Meſſers Eintauchen in den Fluß ward mir
durch die letzten Weidenzweige verborgen, aber
das dem Sturz entgegenwirkende Waſſer ſprang
wie eine ſtarke Fontaine in die Hoͤhe, und
war mir vollkommen ſichtbar. Ich legte die¬
ſe Erſcheinung nicht zu meinen Gunſten aus,
und der durch ſie in mir erregte Zweifel war
in der Folge Schuld, daß ich dieſe Uebungen
unterbrochner und fahrlaͤſſiger anſtellte, und
dadurch ſelbſt Anlaß gab, daß die Deutung
des Orakels ſich erfuͤllte. Wenigſtens war
mir fuͤr den Augenblick die Außenwelt verlei¬
det, ich ergab mich meinen Einbildungen und
Empfindungen, und ließ die wohlgelegenen
Schloͤſſer und Ortſchaften Weilburg, Lim¬
burg, Diez und Naſſau nach und nach
[270] hinter mir, meiſtens allein, nur manchmal
auf kurze Zeit mich zu einem andern geſellend.
Nach einer ſo angenehmen Wanderung
von einigen Tagen, gelangte ich nach Ems,
wo ich einige Male des ſanften Bades ge¬
noß, und ſodann auf einem Kahne den Fluß
hinabwaͤrts fuhr. Da eroͤffnete ſich mir der
alte Rhein, die ſchoͤne Lage von Oberlahn¬
ſtein entzuͤckte mich; uͤber alles aber herrlich
und majeſtaͤtiſch erſchien das Schloß Ehren¬
breitſtein, welches in ſeiner Kraft und
Macht, vollkommen geruͤſtet daſtand. In
hoͤchſt lieblichem Contraſt lag an ſeinem Fuß
das wohlgebaute Oertchen Thal genannt,
wo ich mich leicht zu der Wohnung des Ge¬
heimenraths von Laroche finden konnte.
Angekuͤndigt von Merk, ward ich von dieſer
edlen Familie ſehr freundlich empfangen, und
geſchwind als ein Glied derſelben betrachtet.
Mit der Mutter verband mich mein belle¬
triſtiſches und ſentimentales Streben, mit dem
[271] Vater ein heiterer Weltſinn, und mit den
Toͤchtern meine Jugend.
Das Haus, ganz am Ende des Thals,
wenig erhoͤht uͤber dem Fluß gelegen, hatte
die freye Ausſicht den Strom hinabwaͤrts.
Die Zimmer waren hoch und geraͤumig, und
die Waͤnde galerieartig mit aneinander¬
ſtoßenden Gemaͤlden behangen. Jedes Fen¬
ſter, nach allen Seiten hin, machte den Rah¬
men zu einem natuͤrlichen Bilde, das durch
den Glanz einer milden Sonne ſehr lebhaft
hervortrat; ich glaubte nie ſo heitere Mor¬
gen und ſo herrliche Abende geſehn zu haben.
Nicht lange war ich allein der Gaſt im
Hauſe. Zu dem Congreß, der hier theils im
artiſtiſchen, theils im empfindſamen Sinne
gehalten werden ſollte, war auch Leuchſen¬
ring beſchieden, der von Duͤſſeldorf herauf¬
kam. Dieſer Mann, von ſchoͤnen Kenntniſ¬
ſen in der neuern Literatur, hatte ſich auf ver¬
[272] ſchiedenen Reiſen, beſonders aber bey einem
Aufenthalte in der Schweiz, viele Bekannt¬
ſchaften, und da er angenehm und einſchmei¬
chelnd war, viele Gunſt erworben. Er fuͤhrte
mehrere Chatoullen bey ſich, welche den ver¬
trauten Briefwechſel mit mehreren Freunden
enthielten: denn es war uͤberhaupt eine ſo all¬
gemeine Offenherzigkeit unter den Menſchen,
daß man mit keinem Einzelnen ſprechen, oder
an ihn ſchreiben konnte, ohne es zugleich als
an mehrere gerichtet zu betrachten. Man ſpaͤhte
ſein eigen Herz aus und das Herz der andern,
und bey der Gleichguͤltigkeit der Regierungen
gegen eine ſolche Mittheilung, bey der durch¬
greifenden Schnelligkeit der Taxiſchen Poſten,
der Sicherheit des Siegels, dem leidlichen
Porto, griff dieſer ſittliche und literariſche Ver¬
kehr bald weiter um ſich.
Solche Correſpondenzen, beſonders mit be¬
deutenden Perſonen, wurden ſorgfaͤltig geſam¬
melt und alsdann, bey freundſchaftlichen Zu¬
[273] ſammenkuͤnften, auszugsweiſe vorgeleſen; und
ſo ward man, da politiſche Discurſe wenig
Intereſſe hatten, mit der Breite der morali¬
ſchen Welt ziemlich bekannt.
Leuchſenrings Chatoullen enthielten in die¬
ſem Sinne manche Schaͤtze. Die Briefe einer
Julie Bondeli wurden ſehr hochgeach¬
tet; ſie war, als Frauenzimmer von Sinn
und Verdienſt, und als Rouſſeau's Freundinn,
beruͤhmt. Wer mit dieſem außerordentlichen
Manne nur irgend in Verhaͤltniß geſtanden
hatte, genoß Theil an der Glorie, die von
ihm ausging, und in ſeinem Namen war eine
ſtille Gemeinde weit und breit ausgeſaͤet.
Ich wohnte dieſen Vorleſungen gerne bey,
indem ich dadurch in eine unbekannte Welt
verſetzt wurde, und das Innere mancher kurz
vergangenen Begebenheit kennen lernte. Frey¬
lich war nicht alles gehaltreich; und Herr
von Laroche, ein heiterer Welt- und Geſchaͤfts¬
III. 18[274] mann, der ſich, obgleich Katholik, ſchon in
Schriften uͤber das Moͤnch- und Pfaffthum
luſtig gemacht hatte, glaubte auch hier eine
Verbruͤderung zu ſehen, wo mancher Ein¬
zelne ohne Werth, ſich durch Verbindung
mit bedeutenden Menſchen aufſtutze, wobey
am Ende wohl er, aber nicht jene gefoͤrdert
wuͤrden. Meiſtens entzog ſich dieſer wackere
Mann der Geſellſchaft, wenn die Chatoullen
eroͤffnet wurden. Hoͤrte er auch wohl einmal
einige Briefe mit an, ſo konnte man eine
ſchalkhafte Bemerkung erwarten. Unter an¬
dern ſagte er einſtens, er uͤberzeuge ſich bey
dieſer Correſpondenz noch mehr von dem was
er immer geglaubt habe, daß Frauenzimmer
alles Siegellack ſparen koͤnnten, ſie ſollten nur
ihre Briefe mit Stecknadeln zuſtecken und
duͤrften verſichert ſeyn, daß ſie uneroͤffnett an
Ort und Stelle kaͤmen. Auf gleiche Weiſe
pflegte er mit allem was außer dem Lebens-
und Thaͤtigkeitskreiſe lag, zu ſcherzen und folg¬
te hierin der Sinnesart ſeines Herrn und
[275] Meiſters, des Grafen Stadion, Chur¬
maynziſchen Miniſters, welcher gewiß nicht
geeignet war, den Welt- und Kaltſinn des
Knaben durch Ehrfurcht vor irgend einem
Ahndungsvollen in's Gleichgewicht zu ſetzen.
Eine Anecdote von dem großen practiſchen
Sinne des Grafen hingegen moͤge hier Platz
finden. Als er den verwaiſten Laroche lieb
gewann und zu ſeinem Zoͤgling erkohr, for¬
derte er von dem Knaben gleich die Dienſte
eines Secretairs. Er gab ihm Briefe zu be¬
antworten, Depeſchen auszuarbeiten, die denn
auch von ihm mundirt, oͤfter ſchiffrirt, geſie¬
gelt und uͤberſchrieben werden mußten. Die¬
ſes dauerte mehrere Jahre. Als der Knabe
zum Juͤngling herangereift war und dasjenige
wirklich leiſtete, was er ſich bisher nur ein¬
gebildet hatte, fuͤhrte ihn der Graf an einen
großen Schreibtiſch, in welchem ſaͤmmtliche
Briefe und Paquete, unerbrochen, als Exerci¬
tien der erſtern Zeit, aufbewahrt lagen.
18 *[276]
Eine andere Uebung die der Graf ſeinem
Zoͤgling zumuthete, wird nicht ſo allgemeinen
Beyfall finden. Laroche naͤmlich hatte ſich
uͤben muͤſſen, die Hand ſeines Herrn und
Meiſters aufs genauſte nachzuahmen, um ihn
dadurch der Qual des Selbſtſchreibens zu
uͤberheben. Allein nicht nur in Geſchaͤften
ſollte dieſes Talent genutzt werden, auch in
Liebeshaͤndeln hatte der junge Mann die Stel¬
le ſeines Lehrers zu vertreten. Der Graf
war leidenſchaftlich einer hohen und geiſtrei¬
chen Dame verbunden. Wenn er in deren
Geſellſchaft bis tief in die Nacht verweilte,
ſaß indeſſen ſein Secretair zu Hauſe und
ſchmiedete die heißeſten Liebesbriefe; darunter
waͤhlte der Graf und ſendete noch gleich zur
Nachtzeit das Blatt an ſeine Geliebte, wel¬
che ſich denn doch wohl daran von dem un¬
verwuͤſtlichen Feuer ihres leidenſchaftlichen An¬
beters uͤberzeugen mußte. Dergleichen fruͤhe
Erfahrungen mochten denn freylich dem Juͤng¬
[277] ling nicht den beſten Begriff von ſchriftlichen
Liebesunterhaltungen gegeben haben.
Ein unverſoͤhnlicher Haß gegen das Pfaff¬
thum hatte ſich bey dieſem Manne, der zwey
geiſtlichen Churfuͤrſten diente, feſtgeſetzt, wahr¬
ſcheinlich entſprungen aus der Betrachtung des
rohen, geſchmackloſen, geiſtverderblichen Fra¬
tzenweſens, welches die Moͤnche in Deutſch¬
land an manchen Orten zu treiben pflegten,
und dadurch eine jede Art von Bildung hin¬
derten und zerſtoͤrten. Seine Briefe uͤber
das Moͤnchsweſen machten großes Auf¬
ſehen; ſie wurden von allen Proteſtanten und
von vielen Katholiken mit großem Beyfall
aufgenommen.
Wenn ſich aber Herr von Laroche gegen
alles was man Empfindung nennen koͤnnte,
auflehnte, und wenn er ſelbſt den Schein der¬
ſelben entſchieden von ſich abhielt, ſo verhehl¬
te er doch nicht eine vaͤterlich zarte Neigung
[278] zu ſeiner aͤlteſten Tochter, welche freylich nicht
anders als liebenswuͤrdig war: eher klein als
groß von Geſtalt, niedlich gebaut; eine freye
anmuthige Bildung, die ſchwaͤrzeſten Augen
und eine Geſichtsfarbe, die nicht reiner und
bluͤhender gedacht werden konnte. Auch ſie
liebte ihren Vater und neigte ſich zu ſeinen
Geſinnungen. Ihm, als thaͤtigem Geſchaͤfts¬
mann, war die meiſte Zeit durch Berufsar¬
beiten weggenommen, und weil die einkehren¬
den Gaͤſte eigentlich durch ſeine Frau und
nicht durch ihn angezogen wurden, ſo konnte
ihm die Geſellſchaft wenig Freude geben.
Bey Tiſche war er heiter, unterhaltend, und
ſuchte wenigſtens ſeine Tafel von der empfind¬
ſamen Wuͤrze frey zu halten.
Wer die Geſinnungen und die Denkweiſe
der Frau von Laroche kennt, — und ſie iſt
durch ein langes Leben und viele Schriften
einem jeden Deutſchen ehrwuͤrdig bekannt ge¬
worden, — der moͤchte vielleicht vermuthen,
[279] daß hieraus ein haͤusliches Misverhaͤltniß haͤt¬
te entſtehn muͤſſen. Aber keineswegs! Sie
war die wunderbarſte Frau, und ich wuͤßte
ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und
zart gebaut, eher groß als klein, hatte ſie bis
in ihre hoͤheren Jahre eine gewiſſe Eleganz
der Geſtalt ſowohl als des Betragens zu er¬
halten gewußt, die zwiſchen dem Benehmen
einer Edeldame und einer wuͤrdigen buͤrger¬
lichen Frau gar anmuthig ſchwebte. Im An¬
zuge war ſie ſich mehrere Jahre gleich geblie¬
ben. Ein nettes Fluͤgelhaͤubchen ſtand dem
kleinen Kopfe und dem feinen Geſichte gar
wohl, und die braune oder graue Kleidung
gab ihrer Gegenwart Ruhe und Wuͤrde. Sie
ſprach gut, und wußte dem was ſie ſagte durch
Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr
Betragen war gegen Jederman vollkommen
gleich. Allein durch dieſes alles iſt noch nicht
das Eigenſte ihres Weſens ausgeſprochen; es
zu bezeichnen iſt ſchwer. Sie ſchien an allem
Theil zu nehmen, aber im Grunde wirkte
[280] nichts au ſie. Sie war mild gegen alles und
konnte alles dulden ohne zu leiden; den Scherz
ihres Mannes, die Zaͤrtlichkeit ihrer Freunde,
die Anmuth ihrer Kinder, alles erwiderte ſie
auf gleiche Weiſe, und ſo blieb ſie immer ſie
ſelbſt, ohne daß ihr in der Welt durch Gu¬
tes und Boͤſes, oder in der Literatur durch
Vortreffliches und Schwaches waͤre, beyzukom¬
men geweſen. Dieſer Sinnesart verdankt ſie
ihre Selbſtaͤndigkeit bis in ein hohes Alter,
bey manchen traurigen, ja kuͤmmerlichen Schick¬
ſalen. Doch um nicht ungerecht zu ſeyn, muß
ich erwaͤhnen, daß ihre beyden Soͤhne, da¬
mals Kinder von blendender Schoͤnheit, ihr
manchmal einen Ausdruck ablockten, der ſich
von demjenigen unterſchied, deſſen ſie ſich zum
taͤglichen Gebrauch bediente.
So lebte ich in einer neuen wunderſam
angenehmen Umgebung eine Zeitlang fort, bis
Merk mit ſeiner Familie herankam. Hier
entſtanden ſogleich neue Wahlverwandtſchaften:
[281] denn indem die beyden Frauen ſich einander
naͤherten, hatte Merk mit Herrn von Laroche
als Welt- und Geſchaͤftskenner, als unterrich¬
tet und gereiſt, naͤhere Beruͤhrung. Der
Knabe geſellte ſich zu den Knaben, und die
Toͤchter fielen mir zu, von denen die aͤlteſte
mich gar bald beſonders anzog. Es iſt eine
ſehr angenehme Empfindung, wenn ſich eine
neue Leidenſchaft in uns zu regen anfaͤngt,
ehe die alte noch ganz verklungen iſt. So
ſieht man bey untergehender Sonne gern auf
der entgegengeſetzten Seite den Mond aufgehn
und erfreut ſich an dem Doppelglanze der
beyden Himmelslichter.
Nun fehlte es nicht an reicher Unterhal¬
tung in und außer dem Hauſe. Man durch¬
ſtrich die Gegend; Ehrenbreitſtein dieſſeits,
die Carthauſe jenſeits wurden beſtiegen. Die
Stadt, die Moſelbruͤcke, die Faͤhre die uns
uͤber den Rhein brachte, alles gewaͤhrte das
mannichfachſte Vergnuͤgen. Noch nicht erbaut
[282] war das neue Schloß; man fuͤhrte uns an
den Platz wo es ſtehn ſollte, man ließ uns
die vorſchlaͤgigen Riſſe davon ſehen.
In dieſem heitren Zuſtande entwickelte ſich
jedoch innerlich der Stoff der Unvertraͤglich¬
keit, der in gebildeten wie in ungebildeten
Geſellſchaften gewoͤhnlich ſeine unfreundlichen
Wirkungen zeigt. Merk, zugleich kalt und
unruhig, hatte nicht lange jene Briefwechſel
mit angehoͤrt, als er uͤber die Dinge von de¬
nen die Rede war, ſo wie uͤber die Perſonen
und ihre Verhaͤltniſſe, gar manchen ſchalkhaf¬
ten Einfall laut werden ließ, mir aber im
Stillen die wunderlichſten Dinge eroͤffnete, die
eigentlich darunter verborgen ſeyn ſollten. Von
politiſchen Geheimniſſen war zwar keineswegs
die Rede, auch nicht von irgend etwas, das
einen gewiſſen Zuſammenhang gehabt haͤtte;
er machte mich nur auf Menſchen aufmerk¬
ſam, die ohne ſonderliche Talente, mit ei¬
nem gewiſſen Geſchick, ſich perſoͤnlichen Ein¬
[283] fluß zu verſchaffen wiſſen, und durch die Be¬
kanntſchaft mit vielen, aus ſich ſelbſt etwas
zu bilden ſuchen; und von dieſer Zeit an hat¬
te ich Gelegenheit dergleichen mehr zu bemer¬
ken. Da ſolche Perſonen gewoͤhnlich den Ort
veraͤndern, und als Reiſende bald hier bald
da eintreffen, ſo kommt ihnen die Gunſt der
Neuheit zu Gute, die man ihnen nicht be¬
neiden noch verkuͤmmern ſollte: denn es iſt
dieſes eine herkoͤmmliche Sache, die jeder Rei¬
ſende zu ſeinem Vortheil, jeder Bleibende zu
ſeinem Nachtheil oͤfters erfahren hat.
Dem ſey nun wie ihm wolle, genug wir
naͤhrten von jener Zeit an eine gewiſſe unru¬
hige, ja neidiſche Aufmerkſamkeit auf derglei¬
chen Leute, die auf ihre eigne Hand hin und
wieder zogen, ſich in jeder Stadt vor Anker
legten, und wenigſtens in einigen Familien
Einfluß zu gewinnen ſuchten. Einen zarten
und weichen dieſer Zunftgenoſſen habe ich im
Pater Brey, einen andern, tuͤchtigern und
[284] derbern, in einem kuͤnftig mitzutheilenden Faſt¬
nachtsſpiele, das den Titel fuͤhrt: Satyros,
oder der vergoͤtterte Waldteufel, wo
nicht mit Billigkeit, doch wenigſtens mit gu¬
tem Humor dargeſtellt.
Indeſſen wirkten die wunderlichen Elemen¬
te unſerer kleinen Geſellſchaft noch ſo ganz
leidlich auf einander; wir waren theils durch
eigne Sitte und Lebensart gebaͤndigt, theils
aber auch durch jene beſondere Weiſe der
Hausfrau gemildert, welche von dem was um
ſie vorging, nur leicht beruͤhrt, ſich immer ge¬
wiſſen ideellen Vorſtellungen hingab, und in¬
dem ſie ſolche freundlich und wohlwollend zu
aͤußern verſtand, alles Scharfe was in der
Geſellſchaft hervortreten mochte, zu mildern
und das Unebne auszugleichen wußte.
Merk hatte noch eben zur rechten Zeit
zum Aufbruch geblaſen, ſo daß die Geſell¬
ſchaft in dem beſten Verhaͤltniß aus einander
[285] ging. Ich fuhr mit ihm und den Seinigen
auf einer nach Maynz ruͤckkehrenden Jacht
den Rhein aufwaͤrts, und obſchon dieſes an
ſich ſehr langſam ging, ſo erſuchten wir noch
uͤberdieß den Schiffer, ſich ja nicht zu uͤber¬
eilen. So genoſſen wir mit Muße der un¬
endlich mannigfaltigen Gegenſtaͤnde, die bey
dem herrlichſten Wetter, jede Stunde an
Schoͤnheit zuzunehmen und ſowohl an Groͤße
als an Gefaͤlligkeit immer neu zu wechſeln
ſcheinen; und ich wuͤnſche nur, indem ich die
Namen Rheinfels und St. Goar, Ba¬
charach, Bingen, Elfeld und Bibe¬
rich ausſpreche, daß jeder meiner Leſer im
Stande ſey, ſich dieſe Gegenden in der Er¬
innerung hervorzurufen.
Wir hatten fleißig gezeichnet, und uns
wenigſtens dadurch die tauſendfaͤltige Abwech¬
ſelung jenes herrlichen Ufers feſter eingedruckt;
aber auch unſer Verhaͤltniß verinnigte ſich durch
dieſes laͤngere Zuſammenſeyn, durch die ver¬
[286] trauliche Mittheilung uͤber ſo mancherley Din¬
ge, dergeſtalt, daß Merk einen großen Ein¬
fluß uͤber mich gewann, und ich ihm als ein
guter Geſell zu einem behaglichen Daſeyn un¬
entbehrlich ward. Mein durch die Natur ge¬
ſchaͤrfter Blick warf ſich wieder auf die Kunſt¬
beſchauung, wozu mir die ſchoͤnen Frankfurter
Sammlungen an Gemaͤlden und Kupferſtichen
die beſte Gelegenheit gaben, und ich bin der
Neigung der Herren Etling, Ehrenreich,
beſonders aber dem braven Nothnagel ſehr
viel ſchuldig geworden. Die Natur in der
Kunſt zu ſehen, ward bey mir zu einer Lei¬
denſchaft, die in ihren hoͤchſten Augenblicken
andern, ſelbſt paſſionirten Liebhabern faſt wie
Wahnſinn erſcheinen mußte; und wie konnte
eine ſolche Neigung beſſer gehegt werden, als
durch eine fortdauernde Betrachtung der treff¬
lichen Werke der Niederlaͤnder. Damit ich
mich aber auch mit dieſen Dingen werkthaͤtig
bekannt machen moͤchte, raͤumte mir Noth¬
nagel ein Cabinett ein, wo ich alles fand,
[287] was zur Oelmalerey noͤthig war, und ich
malte einige einfache Stilleben nach dem Wirk¬
lichen, auf deren einem ein Meſſerſtiel von
Schildpat mit Silber eingelegt, meinen Mei¬
ſter, der mich erſt vor einer Stunde beſucht
hatte, dergeſtalt uͤberraſchte, daß er behaupte¬
te, es muͤſſe waͤhrend der Zeit einer von ſei¬
nen untergeordneten Kuͤnſtlern bey mir gewe¬
ſen ſeyn.
Haͤtte ich geduldig fortgefahren mich an
ſolchen Gegenſtaͤnden zu uͤben, ihnen Licht und
Schatten und die Eigenheiten ihrer Oberflaͤche
abzugewinnen, ich haͤtte mir eine gewiſſe
Praxis bilden und zum Hoͤheren den Weg
bahnen koͤnnen; ſo aber verfolgte mich der
Fehler aller Dilettanten, mit dem Schwer¬
ſten anzufangen, ja ſogar das Unmoͤgliche lei¬
ſten zu wollen, und ich verwickelte mich bald
in groͤßere Unternehmungen, in denen ich
ſtecken blieb, ſowohl weil ſie weit uͤber meine
techniſchen Faͤhigkeiten hinauslagen, als weil
[288] ich die liebevolle Aufmerkſamkeit und den ge¬
laſſenen Fleiß, durch den auch ſchon der An¬
faͤnger etwas leiſtet, nicht immer rein und
wirkſam erhalten konnte.
Auch wurde ich zu gleicher Zeit abermals
in eine hoͤhere Sphaͤre geriſſen, indem ich
einige ſchoͤne Gypsabguͤſſe antiker Koͤpfe an¬
zuſchaffen Gelegenheit fand. Die Italiaͤner
naͤmlich, welche die Meſſen beziehn, brachten
manchmal dergleichen gute Exemplare mit, und
verkauften ſie auch wohl, nachdem ſie eine
Form daruͤber genommen. Auf dieſem Wege
ſtellte ich mir ein kleines Muſeum auf, in¬
dem ich die Koͤpfe des Laokoon, ſeiner Soͤh¬
ne, der Niobe Toͤchter allmaͤhlich zuſammen¬
brachte, nicht weniger die Nachbildungen der
bedeutendſten Werte des Alterthums im Klei¬
nen, aus der Verlaſſenſchaft eines Kunſtfreun¬
des ankaufte, und ſo mir jenen großen Ein¬
druck, den ich in Mannheim gewonnen hatte,
moͤglichſt wieder zu beleben ſuchte.
[289]
Indem ich nun alles was von Talent,
Liebhaberey, oder ſonſt irgend einer Neigung
in mir leben mochte, auszubilden, zu naͤhren
und zu unterhalten ſuchte, verwendete ich eine
gute Zeit des Tages, nach dem Wunſch mei¬
nes Vaters, auf die Advocatur, zu deren
Ausuͤbung ich zufaͤlliger Weiſe die beſte Gele¬
genheit fand. Nach dem Tode des Großva¬
ters war mein Oheim Textor in den Rath
gekommen, und uͤbergab mir die kleineren
Sachen, denen ich gewachſen war; welches
die Gebruͤder Schloſſer auch thaten. Ich
machte mich mit den Acten bekannt, mein
Vater las ſie ebenfalls mit vielem Vergnuͤgen,
da er ſich, durch Veranlaſſung des Sohns,
wieder in einer Thaͤtigkeit ſah, die er lange
entbehrt hatte. Wir beſprachen uns daruͤber,
und mit großer Leichtigkeit machte ich alsdann
die noͤthigen Aufſaͤtze. Wir hatten einen treff¬
lichen Copiſten zur Hand, auf den man ſich
zugleich wegen aller Canzleyfoͤrmlichkeiten ver¬
laſſen konnte; und ſo war mir dieſes Geſchaͤft
III. 19[290] eine um ſo angenehmere Unterhaltung, als
es mich dem Vater naͤher brachte, der mit
meinem Benehmen in dieſem Puncte voͤllig
zufrieden, allem Uebrigen was ich trieb, ger¬
ne nachſah, in der ſehnlichen Erwartung, daß
ich nun bald auch ſchriftſtelleriſchen Ruhm
einaͤrndten wuͤrde.
Weil nun in jeder Zeitepoche alles zuſam¬
menhaͤngt, indem die herrſchenden Meynun¬
gen und Geſinnungen ſich auf die vielfachſte
Weiſe verzweigen, ſo befolgte man in der
Rechtslehre nunmehr auch nach und nach alle
diejenigen Maximen, nach welchen man Re¬
ligion und Moral behandelte. Unter den
Sachwaltern als den juͤngern, ſodann unter
den Richtern als den aͤltern, verbreitete ſich
der Humanismus, und alles wetteiferte, auch
in rechtlichen Verhaͤltniſſen hoͤchſt menſchlich
zu ſeyn. Gefaͤngniſſe wurden gebeſſert, Ver¬
brechen entſchuldigt, Strafen gelindert, die
Legitimationen erleichtert, Scheidungen und
[291] Misheiraten befoͤrdert, und einer unſerer vor¬
zuͤglichen Sachwalter erwarb ſich den hoͤchſten
Ruhm, als er einem Scharfrichterſohne den
Eingang in das Collegium der Aerzte zu er¬
fechten wußte. Vergebens widerſetzten ſich
Gilden und Koͤrperſchaften; ein Damm nach
dem andern ward durchbrochen. Die Duld¬
ſamkeit der Religionsparteyen gegen einander
ward nicht bloß gelehrt, ſondern ausgeuͤbt,
und mit einem noch groͤßern Einfluſſe ward die
buͤrgerliche Verfaſſung bedroht, als man Duld¬
ſamkeit gegen die Juden, mit Verſtand, Scharf¬
ſinn und Kraft, der gutmuͤthigen Zeit anzu¬
empfehlen bemuͤht war. Dieſe neuen Gegen¬
ſtaͤnde rechtlicher Behandlung, welche außer¬
halb des Geſetzes und des Herkommens la¬
gen und nur an billige Beurtheilung, an ge¬
muͤthliche Theilnahme Anſpruch machten, for¬
derten zugleich einen natuͤrlicheren und lebhaf¬
teren Stil. Hier war uns, den Juͤngſten,
ein heiteres Feld eroͤffnet, in welchem wir
uns mit Luſt herumtummelten, und ich erin¬
19 *[292] nere mich noch gar wohl, daß ein Reichshof¬
rathsagent mir, in einem ſolchen Falle, ein
ſehr artiges Belobungsſchreiben zuſendete. Die
franzoͤſiſchen plaidoyés dienten uns zu Mu¬
ſtern und zur Anregung.
Und ſomit waren wir auf dem Wege, beſ¬
ſere Redner als Juriſten zu werden, worauf
mich der ſolide Georg Schloſſer einſtmals ta¬
delnd aufmerkſam machte. Ich hatte ihm er¬
zaͤhlt, daß ich meiner Partey eine mit vieler
Energie zu ihren Gunſten abgefaßte Streit¬
ſchrift vorgeleſen, woruͤber ſie mir große Zu¬
friedenheit bezeigt. Hierauf erwiederte er mir:
du haſt dich in dieſem Fall mehr als Schrift¬
ſteller, denn als Advocat bewieſen. Man
muß niemals fragen wie eine ſolche Schrift
dem Clienten, ſondern wie ſie dem Richter
gefallen koͤnne.
Wie nun aber Niemand noch ſo ernſte
und dringende Geſchaͤfte haben mag, denen
[293] er ſeinen Tag widmet, daß er nicht demun¬
geachtet Abends ſo viel Zeit faͤnde, das Schau¬
ſpiel zu beſuchen; ſo ging es auch mir, der
ich, in Ermangelung einer vorzuͤglichen Buͤh¬
ne, uͤber das deutſche Theater zu denken nicht
aufhoͤrte, um zu erforſchen, wie man auf
demſelben allenfalls thaͤtig mitwirken koͤnnte.
Der Zuſtand deſſelben in der zweyten Haͤlfte
des vorigen Jahrhunderts iſt bekannt genug,
und Jederman, der ſich davon zu unterrich¬
ten verlangt, findet uͤberall bereite Huͤlfsmittel.
Ich denke deswegen hier nur einige allgemei¬
ne Bemerkungen einzuſchalten.
Das Gluͤck der Buͤhne beruhte mehr auf
der Perſoͤnlichkeit der Schauſpieler als auf
dem Werthe der Stuͤcke. Dieß war beſon¬
ders bey halb oder ganz extemporirten Stuͤcken
der Fall, wo alles auf den Humor und das
Talent der comiſchen Schauſpieler ankam.
Der Stoff ſolcher Stuͤcke muß aus dem ge¬
meinſten Leben genommen ſeyn, den Sitten
[294] des Volks gemaͤß, vor welchem man ſpielt.
Aus dieſer unmittelbaren Anwendbarkeit ent¬
ſpringt der große Beyfall, deſſen ſie ſich je¬
derzeit zu erfreuen haben. Dieſe waren im¬
mer im ſuͤdlichen Deutſchland zu Hauſe, wo
man ſie bis auf den heutigen Tag beybehaͤlt,
und nur von Zeit zu Zeit dem Character der
poſſenhaften Masken einige Veraͤnderung zu
geben, durch den Perſonenwechſel genoͤthigt
iſt. Doch nahm das deutſche Theater, dem
ernſten Character der Nation gemaͤß, ſehr
bald eine Wendung nach dem Sittlichen, wel¬
che durch eine aͤußere Veranlaſſung noch mehr
beſchleunigt ward. Unter den ſtrengen Chri¬
ſten entſtand naͤmlich die Frage, ob das Thea¬
ter zu den ſuͤndlichen und auf alle Faͤlle zu
vermeidenden Dinge gehoͤre, oder zu den
gleichguͤltigen, welche dem Guten gut, und
nur dem Boͤſen boͤs werden koͤnnten. Stren¬
ge Eiferer verneinten das Letztere, und hiel¬
ten feſt daruͤber, daß kein Geiſtlicher je ins
Theater gehen ſolle. Nun konnte die Gegen¬
[295] rede nicht mit Nachdruck gefuͤhrt werden, als
wenn man das Theater nicht allein fuͤr un¬
ſchaͤdlich, ſondern ſogar fuͤr nuͤtzlich angab.
Um nuͤtzlich zu ſeyn, mußte es ſittlich ſeyn,
und dazu bildete es ſich im noͤrdlichen Deutſch¬
land um ſo mehr aus, als durch einen ge¬
wiſſen Halbgeſchmack die luſtige Perſon ver¬
trieben ward, und obgleich geiſtreiche Koͤpfe
fuͤr ſie einſprachen, dennoch weichen mußte,
da ſie ſich bereits von der Derbheit des deut¬
ſchen Hanswurſts gegen die Niedlichkeit
und Zierlichkeit der italiaͤniſchen und franzoͤ¬
ſiſchen Harlekine gewendet hatte. Selbſt
Scapin und Crispin verſchwanden nach
und nach; den letztern habe ich zum letzten
Mal von Koch, in ſeinem hohen Alter ſpie¬
len ſehn.
Schon die Richardſonſchen Romane
hatten, die buͤrgerliche Welt auf eine zartere
Sittlichkeit aufmerkſam gemacht. Die ſtren¬
gen und unausbleiblichen Folgen eines weib¬
[296] lichen Fehltritts waren in der Clariſſe auf
eine grauſame Weiſe zergliedert. Leſſings
Miß Sara Sampſon behandelte daſſelbe
Thema. Nun ließ der Kaufmann von
London einen verfuͤhrten Juͤngling in der
ſchrecklichſten Lage ſehen. Die franzoͤſiſchen
Dramen hatten denſelben Zweck, verfuhren
aber maͤßiger und wußten durch Vermittelung
am Ende zu gefallen. Diderot's Hausva¬
ter, der ehrliche Verbrecher, der Eſ¬
ſighaͤndler, der Philoſoph ohne es
zu wiſſen, Eugenie und mehr dergleichen
Werke waren dem ehrbaren Buͤrger- und
Familienſinn gemaͤß, der immer mehr ebzu¬
walten anfing. Bey uns gingen der dank¬
bare Sohn, der Deſerteur aus Kin¬
desliebe und ihre Sippſchaft denſelben
Weg. Der Miniſter, Clementine und
die uͤbrigen Gehleriſchen Stuͤcke, der deut¬
ſche Hausvater von Gemmingen, alle
brachten den Werth des mittleren ja des un¬
teren Standes zu einer gemuͤthlichen Anſchau¬
[297] ung, und entzuͤckten das große Publicum.
Eckhoff durch ſeine edle Perſoͤnlichkeit, die
dem Schauſpielerſtand eine gewiſſe Wuͤrde
mittheilte, deren er bisher entbehrte, hob die
erſten Figuren ſolcher Stuͤcke ungemein, in¬
dem der Ausdruck von Rechtlichkeit ihm, als
einem rechtlichen Manne, vollkommen gelang.
Indem nun das deutſche Theater ſich
voͤllig zur Verweichlichung hinneigte, ſtand
Schroͤder als Schriftſteller und Schauſpieler
auf, und bearbeitete, durch die Verbindung
Hamburgs mit England veranlaßt, engliſche
Luſtſpiele. Er konnte dabey den Stoff der¬
ſelben nur im Allgemeinſten brauchen: denn
die Originale ſind meiſtens formlos, und wenn
ſie auch gut und planmaͤßig anfangen, ſo ver¬
lieren ſie ſich doch zuletzt ins Weite. Es
ſcheint ihren Verfaſſern nur darum zu thun,
die wunderlichſten Scenen anzubringen, und
wer an ein gehaltenes Kunſtwerk gewoͤhnt iſt,
ſieht ſich zuletzt ungern ins Grenzenloſe ge¬
[298] trieben. Ueberdieß geht ein wildes und un¬
ſittliches, gemein-wuͤſtes Weſen bis zum Un¬
ertraͤglichen ſo entſchieden durch, daß es ſchwer
ſeyn moͤchte, dem Plan und den Charactern
alle ihre Unarten zu benehmen. Sie ſind
eine derbe und dabey gefaͤhrliche Speiſe, die
bloß einer großen und halbverdorbenen Volks¬
maſſe zu einer gewiſſen Zeit genießbar und
verdaulich geweſen ſeyn mag. Schroͤder hat
an dieſen Dingen mehr gethan als man ge¬
woͤhnlich weiß; er hat ſie von Grund aus
veraͤndert, dem deutſchen Sinne angeaͤhnlicht,
und ſie moͤglichſt gemildert. Es bleibt ihnen
aber immer ein herber Kern, weil der Scherz
gar oft auf Mishandlung von Perſonen be¬
ruht, ſie moͤgen es verdienen oder nicht. In
dieſen Darſtellungen, welche ſich gleichfalls auf
dem Theater verbreiteten, lag alſo ein heim¬
liches Gegengewicht jener allzu zarten Sittlich¬
keit, und die Wirkung beyder Arten gegen
einander hinderte gluͤcklicher Weiſe die Eintoͤ¬
nigkeit, in die man ſonſt verfallen waͤre.
[299]
Der Deutſche, gut und großmuͤthig von
Natur, will Niemand gemishandelt wiſſen.
Weil aber kein Menſch, wenn er auch noch
ſo gut denkt, ſicher iſt, daß man ihm nicht
etwas gegen ſeine Neigung unterſchiebe, auch
das Luſtſpiel uͤberhaupt immer etwas Scha¬
denfreude bey dem Zuſchauer vorausſetzt oder
erweckt, wenn es behagen ſoll; ſo gerieth man,
auf einem natuͤrlichen Wege, zu einem bisher
fuͤr unnatuͤrlich gehaltenen Benehmen: dieſes
war, die hoͤheren Staͤnde herabzuſetzen und
ſie mehr oder weniger anzutaſten. Die pro¬
ſaiſche und poetiſche Satyre hatte ſich bisher
immer gehuͤtet, Hof und Adel zu beruͤhren.
Rabener enthielt ſich nach jener Seite hin
alles Spottes, und blieb in einem niederen
Kreiſe. Zachariaͤ beſchaͤftigt ſich viel mit Land¬
edelleuten, ſtellt ihre Liebhabereyen und Eigen¬
heiten comiſch dar, aber ohne Misachtung.
Thuͤmmels Wilhelmine, eine kleine
geiſtreiche Compoſition, ſo angenehm als kuͤhn,
erwarb ſich großen Beyfall, vielleicht auch
[300] mit deswegen, weil der Verfaſſer, ein Edel¬
mann und Hofgenoſſe, die eigne Claſſe nicht
eben ſchonend behandelte. Den entſchiedenſten
Schritt jedoch that Leſſing in der Emilia
Galotti, wo die Leidenſchaften und raͤnke¬
vollen Verhaͤltniſſe der hoͤheren Regionen ſchnei¬
dend und bitter geſchildert ſind. Alle dieſe
Dinge ſagten dem aufgeregten Zeitſinne voll¬
kommen zu, und Menſchen von weniger Geiſt
und Talent glaubten das Gleiche, ja noch
mehr thun zu duͤrfen; wie denn Großmann
in ſechs unappetitlichen Schuͤſſeln alie
Leckerſpeiſen ſeiner Poͤbelkuͤche dem ſchadenfro¬
hen Publicum auftiſchte. Ein redlicher Mann,
Hofrath Reinhard, machte bey dieſer un¬
erfreulichen Tafel den Haushofmeiſter, zu
Troſt und Erbauung ſaͤmmtlicher Gaͤſte. Von
dieſer Zeit an waͤhlte man die theatraliſchen
Boͤſewichter immer aus den hoͤheren Staͤn¬
den; doch mußte die Perſon Cammerjunker
oder wenigſtens Geheimſecretair ſeyn, um ſich
einer ſolchen Auszeichnung wuͤrdig zu machen.
[301] Zu den allergottloſeſten Schaubildern aber er¬
kohr man die oberſten Chargen und Stellen
des Hof- und Civiletats im Adreßcalender, in
welcher vornehmen Geſellſchaft denn doch noch
die Juſtiziarien, als Boͤſewichter der erſten
Inſtanz, ihren Platz fanden.
Doch indem ich ſchon fuͤrchten muß, uͤber
die Zeit hinausgegriffen zu haben, von der
hier die Rede ſeyn kann, kehre ich auf mich
ſelbſt zuruͤck, um des Dranges zu erwaͤhnen,
den ich empfand, mich in freyen Stunden mit
den einmal ausgeſonnenen theatraliſchen Pla¬
nen zu beſchaͤftigen.
Durch die fortdauernde Theilnahme an
Shakspeares Werken hatte ich mir den Geiſt
ſo ausgeweitet, daß mir der enge Buͤhnen¬
raum und die kurze, einer Vorſtellung zuge¬
meſſene Zeit keineswegs hinlaͤnglich ſchienen,
um etwas Bedeutendes vorzutragen. Das
Leben des biedern Goetz von Berlichingen,
[302] von ihm ſelbſt geſchrieben, trieb mich in die
hiſtoriſche Behandlungsart, und meine Ein¬
bildungskraft dehnte ſich dergeſtalt aus, daß
auch meine dramatiſche Form alle Theater¬
grenzen uͤberſchritt, und ſich den lebendigen
Ereigniſſen mehr und mehr zu naͤhern ſuchte.
Ich hatte mich davon, ſo wie ich vorwaͤrts
ging, mit meiner Schweſter umſtaͤndlich unter¬
halten, die an ſolchen Dingen mit Geiſt und
Gemuͤth Theil nahm, und ich erneuerte dieſe
Unterhaltung ſo oft, ohne nur irgend zum
Werke zu ſchreiten, daß ſie zuletzt ungeduldig
und wohlwollend dringend bat, mich nur nicht
immer mit Worten in die Luft zu ergehn,
ſondern endlich einmal das was mir ſo gegen¬
waͤrtig waͤre, auf das Papier feſtzubringen.
Durch dieſen Antrieb beſtimmt, fing ich eines
Morgens zu ſchreiben an, ohne daß ich einen
Entwurf oder Plan vorher aufgeſetzt haͤtte.
Ich ſchrieb die erſten Scenen, und Abends
wurden ſie Cornelien vorgeleſen. Sie ſchenk¬
te ihnen vielen Beyfall, jedoch nur bedingt,
[303] indem ſie zweifelte, daß ich ſo fortfahren wuͤr¬
de, ja ſie aͤußerte ſogar einen entſchiedenen
Unglauben an meine Beharrlichkeit. Dieſes
reizte mich nur um ſo mehr, ich fuhr den
naͤchſten Tag fort, und ſo den dritten; die
Hoffnung wuchs bey den taͤglichen Mitthei¬
lungen, auch mir ward alles von Schritt zu
Schritt lebendiger, indem mir ohnehin der
Stoff durchaus eigen geworden; und ſo hielt
ich mich ununterbrochen ans Werk, das ich
geradeswegs verfolgte, ohne weder ruͤckwaͤrts,
noch rechts, noch links zu ſehn, und in et¬
wa ſechs Wochen hatte ich das Vergnuͤgen,
das Manuſcript geheftet zu erblicken. Ich
theilte es Merken mit, der verſtaͤndig und
wohlwollend daruͤber ſprach; ich ſendete es
Herdern zu, der ſich unfreundlich und hart
dagegen aͤußerte, und nicht ermangelte, in ei¬
nigen gelegentlichen Schmaͤhgedichten mich des¬
halb mit ſpoͤttiſchen Namen zu bezeichnen.
Ich ließ mich dadurch nicht irre machen, ſon¬
dern faßte meinen Gegenſtand ſcharf ins Au¬
[304] ge, der Wurf war einmal gethan, und es
fragte ſich nur, wie man die Steine im Brett
vortheilhaft ſetzte. Ich ſah wohl, daß mir
auch hier Niemand rathen wuͤrde, und als
ich nach einiger Zeit mein Wert wie ein frem¬
des betrachten konnte, ſo erkannte ich freylich
daß ich, bey dem Verſuch auf die Einheit
der Zeit und des Orts Verzicht zu thun, auch
der hoͤheren Einheit, die um deſto mehr ge¬
fordert wird, Eintrag gethan hatte. Da ich
mich, ohne Plan und Entwurf, bloß der Ein¬
bildungskraft und einem innern Trieb uͤber¬
ließ, ſo war ich von vorne herein ziemlich bey
der Klinge geblieben, und die erſten Acte
konnten fuͤr das was ſie ſeyn ſollten, gar fuͤglich
gelten; in den folgenden aber, und beſonders
gegen das Ende, riß mich eine wunderſame
Leidenſchaft unbewußt hin. Ich hatte mich,
indem ich Adelheid liebenswuͤrdig zu ſchil¬
dern trachtete, ſelbſt in ſie verliebt, unwill¬
kuͤhrlich war meine Feder nur ihr gewidmet,
das Intereſſe an ihrem Schickſal nahm uͤber¬
[305] hand, und wie ohnehin gegen das Ende Goetz
außer Thaͤtigkeit geſetzt iſt, und dann nur zu
einer ungluͤcklichen Theilnahme am Bauern¬
kriege zuruͤckkehrt, ſo war nichts natuͤrlicher,
als daß eine reizende Frau ihn bey dem Au¬
tor ausſtach, der die Kunſtfeſſeln abſchuͤttelnd,
in einem neuen Felde ſich zu verſuchen dachte.
Dieſen Mangel, oder vielmehr dieſen tadelhaf¬
ten Ueberfluß, erkannte ich gar bald, da die
Natur meiner Poeſie mich immer zur Einheit
hindraͤngte. Ich hegte nun, anſtatt der Le¬
bensbeſchreibung Goetzens und der deutſchen
Alterthuͤmer, mein eignes Werk im Sinne,
und ſuchte ihm immer mehr hiſtoriſchen und
nationalen Gehalt zu geben, und das was
daran fabelhaft oder bloß leidenſchaftlich war,
auszuloͤſchen; wobey ich freylich manches auf¬
opferte, indem die menſchliche Neigung der
kuͤnſtleriſchen Ueberzeugung weichen mußte.
So hatte ich mir z. B. etwas Rechts zu Gu¬
te gethan, indem ich in einer grauſerlich naͤcht¬
lichen Zigeunerſcene Adelheid auftreten und
III. 20[306] ihre ſchoͤne, Gegenwart, Wunder thun ließ.
Eine naͤhere Pruͤfung verbannte ſie, ſo wie
auch der im vierten und fuͤnften Acte um¬
ſtaͤndlich ausgefuͤhrte Liebeshandel zwiſchen
Franzen und ſeiner gnaͤdigen Frau ſich ins
Enge zog, und nur in ſeinen Hauptmomen¬
ten hervorleuchten durfte.
Ohne alſo an dem erſten Manuſcript ir¬
gend etwas zu veraͤndern, welches ich wirk¬
lich noch in ſeiner Urgeſtalt beſitze, nahm ich
mir vor, das Ganze umzuſchreiben, und lei¬
ſtete dieß auch mit ſolcher Thaͤtigkeit, daß in
wenigen Wochen ein ganz erneutes Stuͤck vor
mir lag. Ich ging damit um ſo raſcher zu
Werke, je weniger ich die Abſicht hatte, die¬
ſe zweyte Bearbeitung jemals drucken zu laſ¬
ſen, ſondern ſie gleichfalls nur als Voruͤbung
anſah, die ich kuͤnftig, bey einer mit mehre¬
rem Fleiß und Ueberlegung anzuſtellenden
neuen Behandlung, abermals zum Grunde
legen wollte.
[307]
Als ich nun mancherley Vorſchlaͤge, wie
ich dieß anzufangen gedaͤchte, Merken vorzu¬
tragen anfing, ſpottete er mein und fragte,
was denn das ewige Arbeiten und Umarbei¬
ten heißen ſolle? Die Sache werde dadurch
nur anders und ſelten beſſer; man muͤſſe ſehn,
was das Eine fuͤr Wirkung thue, und dann
immer wieder was Neues unternehmen. —
„Bey Zeit auf die Zaͤun’, ſo trocknen die Win¬
deln“! rief er ſpruͤchwoͤrtlich aus; das Saͤu¬
men und Zaudern mache nur unſichere Men¬
ſchen. Ich erwiederte ihm dagegen, daß es
mir unangenehm ſeyn wuͤrde, eine Arbeit, an
die ich ſo viele Neigung verwendet, einem
Buchhaͤndler anzubieten, und mir vielleicht
gar eine abſchlaͤgliche Antwort zu holen: denn
wie ſollten ſie einen jungen, namenloſen und
noch dazu verwegenen Schriftſteller beurthei¬
len? Schon meine Mitſchuldigen, auf die ich
etwas hielt, haͤtte ich, als meine Scheu vor
der Preſſe nach und nach verſchwand, gern
20 *[308] gedruckt geſehn; allein ich fand keinen geneig¬
ten Verleger.
Hier ward nun meines Freundes techniſch¬
mercantiliſche Luſt auf einmal rege. Durch
die Frankfurter Zeitung hatte er ſich ſchon mit
Gelehrten und Buchhaͤndlern in Verbindung
geſetzt, wir ſollten daher, wie er meynte, die¬
ſes ſeltſame und gewiß auffallende Werk auf
eigne Koſten herausgeben, und es werde da¬
von ein guter Vortheil zu ziehen ſeyn; wie
er denn, mit ſo vielen andern, oͤfters den
Buchhaͤndlern ihren Gewinn nachzurechnen
pflegte, der bey manchen Werken freylich groß
war, beſonders wenn man außer Acht ließ,
wie viel wieder an anderen Schriften und
durch ſonſtige Handelsverhaͤltniſſe verloren geht.
Genug, es ward ausgemacht, daß ich das
Papier anſchaffen, er aber fuͤr den Druck ſor¬
gen ſolle; und ſomit ging es friſch ans Werk,
und mir gefiel es gar nicht uͤbel, meine wil¬
de dramatiſche Skizze nach und nach in ſau¬
[309] bern Aushaͤngebogen zu ſehen: ſie nahm ſich
wirklich reinlicher aus, als ich ſelbſt gedacht.
Wir vollendeten das Werk, und es ward in
vielen Packeten verſendet. Nun dauerte es
nicht lange, ſo entſtand uͤberall eine große
Bewegung; das Aufſehn das es machte,
ward allgemein. Weil wir aber, bey unſern
beſchraͤnkten Verhaͤltniſſen, die Exemplare nicht
ſchnell genug nach allen Orten zu vertheilen
vermochten, ſo erſchien ploͤtzlich ein Nachdruck;
und da uͤberdieß gegen unſere Ausſendungen
freylich ſobald keine Erſtattung, am allerwe¬
nigſten eine baare, zuruͤckerfolgen konnte: ſo
war ich, als Hausſohn, deſſen Caſſe nicht in
reichlichen Umſtaͤnden ſeyn konnte, zu einer
Zeit, wo man mir von allen Seiten her viel
Aufmerkſamkeit, ja ſogar vielen Beyfall er¬
wies, hoͤchſt verlegen, wie ich nur das Pa¬
pier bezahlen ſollte, auf welchem ich die Welt
mit meinem Talent bekannt gemacht hatte.
Merk, der ſich ſchon eher zu helfen wußte,
hegte dagegen die beſten Hoffnungen, daß ſich
[310] naͤchſtens alles wieder in's Gleiche ſtellen
wuͤrde; ich bin aber nichts davon gewahr
worden.
Schon bey den kleinen Flugſchriften, die
ich ungenannt herausgab, hatte ich das Pu¬
blicum und die Recenſenten auf meine eignen
Koſten kennen lernen, und ich war auf Lob
und Tadel ſo ziemlich vorbereitet, beſonders
da ich ſeit mehreren Jahren immer nachging
und beobachtete, wie man die Schriftſteller
behandle, denen ich eine vorzuͤgliche Auf¬
merkſamkeit gewidmet hatte.
Hier konnte ich ſelbſt in meiner Unſicher¬
heit deutlich bemerken, wie doch ſo vieles
grundlos, einſeitig und willkuͤhrlich in den
Tag hinein geſagt wurde. Mir begegnete
nun daſſelbe, und wenn ich nicht ſchon eini¬
gen Grund gehabt haͤtte, wie irre haͤtten
mich die Widerſpruͤche gebildeter Menſchen
machen muͤſſen! So ſtand z. B. im deut¬
[311] ſchen Merkur eine weitlaͤuftige wohlgemeynte
Recenſion, verfaßt von irgend einem be¬
ſchraͤnkten Geiſte. Wo er tadelte, konnte ich
nicht mit ihm einſtimmen, noch weniger wenn
er angab, wie die Sache haͤtte koͤnnen an¬
ders gemacht werden. Erfreulich war es mir
daher, wenn ich unmittelbar hinterdrein eine
heitere Erklaͤrung Wielands antraf, der im
Allgemeinen dem Recenſenten widerſprach und
ſich meiner gegen ihn annahm. Indeſſen war
doch jenes auch gedruckt, ich ſah ein Bey¬
ſpiel von der dumpfen Sinnesart unterrichte¬
ter und gebildeter Maͤnner, wie mochte es
erſt im großen Publicum ausſehn!
Das Vergnuͤgen, mich mit Merken uͤber
ſolche Dinge zu beſprechen und aufzuklaͤren,
war von kurzer Dauer: denn die einſichts¬
volle Landgraͤfinn von Heſſendarmſtadt nahm
ihn, auf ihrer Reiſe nach Petersburg, in
ihr Gefolge. Die ausfuͤhrlichen Briefe die
er mir ſchrieb, gaben mir eine weitere Aus¬
[312] ſicht in die Welt, die ich mir um ſo mehr
zu eigen machen konnte, als die Schilderun¬
gen von einer bekannten und befreundeten
Hand gezeichnet waren. Allein ich blieb dem¬
ungeachtet dadurch auf laͤngere Zeit ſehr ein¬
ſam, und entbehrte gerade in dieſer wichtigen
Epoche ſeiner aufklaͤrenden Theilnahme, deren
ich denn doch ſo ſehr bedurfte.
Denn wie man wohl den Entſchluß faßt
Soldat zu werden und in den Krieg zu ge¬
hen, ſich auch muthig vorſetzt, Gefahr und
Beſchwerlichkeiten zu ertragen, ſo wie auch
Wunden und Schmerzen ja den Tod zu er¬
dulden, aber ſich dabey keineswegs die beſon¬
deren Faͤlle vorſtellt, unter welchen dieſe im
Allgemeinen erwarteten Uebel uns aͤußerſt un¬
angenehm uͤberraſchen koͤnnen: ſo ergeht es
einem Jeden der ſich in die Welt wagt, und
beſonders dem Autor, und ſo ging es auch
mir. Da der groͤßte Theil des Publicums
mehr durch den Stoff als durch die Behand¬
[313] lung angeregt wird, ſo war die Theilnahme
junger Maͤnner an meinen Stuͤcken meiſtens
ſtoffartig. Sie glaubten daran ein Panier
zu ſehn, unter deſſen Vorſchritt alles was in
der Jugend Wildes und Ungeſchlachtes lebt,
ſich wohl Raum machen duͤrfte, und gerade
die beſten Koͤpfe, in denen ſchon vorlaͤufig et¬
was aͤhnliches ſpukte, wurden davon hinge¬
riſſen. Ich beſitze noch von dem trefflichen
und in manchem Betracht einzigen Buͤrger
einen Brief, ich weiß nicht an wen, der als
wichtiger Beleg deſſen gelten kann, was jene
Erſcheinung damals gewirkt und aufgeregt
hat. Von der Gegenſeite tadelten mich ge¬
ſetzte Maͤnner, daß ich das Fauſtrecht mit
zu guͤnſtigen Farben geſchildert habe, ja ſie
legten mir die Abſicht unter, daß ich jene
unregelmaͤßigen Zeiten wieder einzufuͤhren ge¬
daͤchte. Noch andere hielten mich fuͤr einen
grundgelehrten Mann, und verlangten, ich
ſollte die Originalerzaͤhlung des guten Goetz
neu mit Noten herausgeben; wozu ich mich
[314] keineswegs geſchickt fuͤhlte, ob ich es mir
gleich gefallen ließ, daß man meinen Namen
auf den Titel des friſchen Abdrucks zu ſetzen
beliebte. Man hatte, weil ich die Blumen
eines großen Daſeyns abzupfluͤcken verſtand,
mich fuͤr einen ſorgfaͤltigen Kunſtgaͤrtner ge¬
halten. Dieſe meine Gelahrtheit und gruͤnd¬
liche Sachkenntniß wurde jedoch wieder von
andern in Zweifel gezogen. Ein angeſehener
Geſchaͤftsmann macht mir ganz unvermuthet
die Viſite. Ich ſehe mich dadurch hoͤchſt ge¬
ehrt, und um ſo mehr, als er ſein Geſpraͤch
mit dem Lobe meines Goetz von Berlichingen
und meiner guten Einſichten in die deutſche
Geſchichte anfaͤngt; allein ich finde mich doch
betroffen als ich bemerke, er ſey eigentlich
nur gekommen um mich zu belehren, daß
Goetz von Berlichingen kein Schwager von
Franz von Sickingen geweſen ſey, und daß
ich alſo durch dieſes poetiſche Ehebuͤndniß gar
ſehr gegen die Geſchichte verſtoßen habe. Ich
ſuchte mich dadurch zu entſchuldigen, daß
[315] Goetz ihn ſelber ſo nenne; allein mir ward
erwiedert, daß dieſes eine Redensart ſey, wel¬
che nur ein naͤheres freundſchaftliches Ver¬
haͤltniß ausdruͤcke, wie man ja in der neue¬
ren Zeit die Poſtillone auch Schwager nen¬
ne, ohne daß ein Familienband ſie an uns
knuͤpft. Ich dankte ſo gut ich konnte fuͤr
dieſe Belehrung und bedauerte nur, daß dem
Uebel nicht mehr abzuhelfen ſey. Dieſes
ward von ſeiner Seite gleichfalls bedauert,
wobey er mich freundlichſt zu fernerem Stu¬
dium der deutſchen Geſchichte und Verfaſſung
ermahnte, und mir dazu ſeine Bibliothek an¬
bot, von der ich auch in der Folge guten Ge¬
brauch machte.
Das Luſtigſte jedoch, was mir in dieſer
Art begegnete, war der Beſuch eines Buch¬
haͤndlers, der mit einer heiteren Freymuͤthig¬
keit, ſich ein Dutzend ſolcher Stuͤcke ausbat,
und ſie gut zu honoriren verſprach. Daß wir
uns daruͤber ſehr luſtig machten, laͤßt ſich
[316] denken, und doch hatte er im Grunde ſo un¬
recht nicht: denn ich war ſchon im Stillen
beſchaͤftigt, von dieſem Wendepunct der deut¬
ſchen Geſchichte mich vor und ruͤckwaͤrts zu
bewegen und die Hauptereigniſſe in gleichem
Sinn zu bearbeiten. Ein loͤblicher Vorſatz,
der, wie ſo manche andere, durch die fluͤch¬
tig vorbeyrauſchende Zeit vereitelt worden.
Jenes Schauſpiel jedoch beſchaͤftigte bis¬
her den Verfaſſer nicht allein, ſondern, waͤh¬
rend es erſonnen, geſchrieben, umgeſchrieben,
gedruckt und verbreitet wurde, bewegten ſich
noch viele andere Bilder und Vorſchlaͤge in
ſeinem Geiſte. Diejenigen welche dramatiſch
zu behandeln waren, erhielten den Vorzug
am oͤfterſten durchgedacht und der Vollendung
angenaͤhert zu werden; allein zu gleicher Zeit
entwickelte ſich ein Uebergang zu einer andern
Darſtellungsart, welche nicht zu den drama¬
tiſchen gerechnet zu werden pflegt und doch
mit ihnen große Verwandtſchaft hat. Dieſer
[317] Uebergang geſchah hauptſaͤchlich durch eine
Eigenheit des Verfaſſers, die ſogar das Selbſt¬
geſpraͤch zum Zwiegeſpraͤch umbildete.
Gewoͤhnt am liebſten ſeine Zeit in Ge¬
ſellſchaft zuzubringen, verwandelte er auch das
einſame Denken zur geſelligen Unterhaltung,
und zwar auf folgende Weiſe. Er pflegte
naͤmlich, wenn er ſich allein ſah, irgend eine
Perſon ſeiner Bekanntſchaft im Geiſte zu ſich
zu rufen. Er bat ſie, nieder zu ſitzen, ging
an ihr auf und ab, blieb vor ihr ſtehen, und
verhandelte mit ihr den Gegenſtand, der ihm
eben im Sinne lag. Hierauf antwortete ſie
gelegentlich, oder gab durch die gewoͤhnliche
Mimik ihr Zu- oder Abſtimmen zu erkennen;
wie denn jeder Menſch hierin etwas Eignes
hat. Sodann fuhr der Sprechende fort,
dasjenige was dem Gaſte zu gefallen ſchien,
weiter auszufuͤhren, oder was derſelbe mis¬
billigte, zu bedingen, naͤher zu beſtimmen,
und gab auch wohl zuletzt ſeine Theſe gefaͤl¬
[318] lig auf. Das Wunderlichſte war dabey, daß
er niemals Perſonen ſeiner naͤheren Bekannt¬
ſchaft waͤhlte, ſondern ſolche die er nur ſel¬
ten ſah, ja mehrere, die weit in der Welt
entfernt lebten, und mit denen er nur in ei¬
nem voruͤbergehenden Verhaͤltniß geſtanden;
aber es waren meiſt Perſonen, die, mehr
empfaͤnglicher als ausgebender Natur, mit
reinem Sinne einen ruhigen Antheil an Din¬
gen zu nehmen bereit ſind, die in ihrem Ge¬
ſichtskreiſe liegen, ob er ſich gleich manchmal
zu dieſen dialectiſchen Uebungen widerſprechen¬
de Geiſter herbeyrief. Hiezu bequemten ſich
nun Perſonen beyderley Geſchlechts, jedes
Alters und Standes, und erwieſen ſich ge¬
faͤllig und unmuthig, da man ſich nur von
Gegenſtaͤnden unterhielt, die ihnen deutlich
und lieb waren. Hoͤchſt wunderbar wuͤrde
es jedoch manchen vorgekommen ſeyn, wenn
ſie haͤtten erfahren koͤnnen, wie oft ſie zu
dieſer ideellen Unterhaltung berufen wurden,
[319] da ſich manche zu einer wirklichen wohl ſchwer¬
lich eingefunden haͤtten.
Wie nahe ein ſolches Geſpraͤch im Geiſte
mit dem Briefwechſel verwandt ſey, iſt klar
genug, nur daß man hier ein hergebrachtes
Vertrauen erwiedert ſieht, und dort ein neues,
immer wechſelndes, unerwiedertes ſich ſelbſt zu
ſchaffen weiß. Als daher jener Ueberdruß zu
ſchildern war, mit welchem die Menſchen,
ohne durch Noth gedrungen zu ſeyn, das Le¬
ben empfinden, mußte der Verfaſſer ſogleich
darauf fallen, ſeine Geſinnung in Briefen
darzuſtellen: denn jeder Unmuth iſt eine Ge¬
burt, ein Zoͤgling der Einſamkeit; wer ſich
ihm ergiebt, flieht allen Widerſpruch, und
was widerſpricht ihm mehr, als jede heitere
Geſellſchaft? Der Lebensgenuß anderer iſt
ihm ein peinlicher Vorwurf, und ſo wird er
durch das was ihn aus ſich ſelbſt herauslo¬
cken ſollte, in ſein Innerſtes zuruͤckgewieſen
Mag er ſich allenfalls daruͤber aͤußern, ſo
[320] wird es durch Briefe geſchehn: denn einem
ſchriftlichen Erguß, er ſey froͤhlich oder ver¬
drießlich, ſetzt ſich doch Niemand unmittelbar
entgegen; eine mit Gegengruͤnden verfaßte
Antwort aber giebt dem Einſamen Gelegen¬
heit, ſich in ſeinen Grillen zu befeſtigen, ei¬
nen Anlaß, ſich noch mehr zu verſtocken.
Jene in dieſem Sinne geſchriebenen Werthe¬
riſchen Briefe haben nun wohl deshalb einen
ſo mannigfaltigen Reiz, weil ihr verſchiede¬
ner Inhalt erſt in ſolchen ideellen Dialogen
mit mehreren Individuen durchgeſprochen wor¬
den, ſie ſodann aber in der Compoſition ſelbſt,
nur an einen Freund und Theilnehmer ge¬
richtet erſcheinen. Mehr uͤber die Behand¬
lung des ſo viel beſprochenen Werkleins zu
ſagen, moͤchte kaum raͤthlich ſeyn; uͤber den
Inhalt jedoch laͤßt ſich noch einiges hinzu¬
fuͤgen.
Jener Ekel vor dem Leben hat ſeine phy¬
ſiſchen und ſeine ſittlichen Urſachen, jene wol¬
[321] len wir dem Arzt, dieſe dem Moraliſten zu
erforſchen uͤberlaſſen, und bey einer ſo oft
durchgearbeiteten Materie, nur den Haupt¬
punct beachten, wo ſich jene Erſcheinung am
deutlichſten ausſpricht. Alles Behagen am
Leben iſt auf eine regelmaͤßige Wiederkehr der
aͤußeren Dinge gegruͤndet. Der Wechſel von
Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der Bluͤ¬
ten und Fruͤchte, und was uns ſonſt von
Epoche zu Epoche entgegentritt, damit wir es
genießen koͤnnen und ſollen, dieſe ſind die ei¬
gentlichen Triebfedern des irdiſchen Lebens.
Je offener wir fuͤr dieſe Genuͤſſe ſind, deſto
gluͤcklicher fuͤhlen wir uns; waͤlzt ſich aber
die Verſchiedenheit dieſer Erſcheinungen vor
uns auf und nieder, ohne daß wir daran
Theil nehmen, ſind wir gegen ſo holde An¬
erbietungen unempfaͤnglich: dann tritt das
groͤßte Uebel, die ſchwerſte Krankheit ein,
man betrachtet das Leben als eine ekelhafte
Laſt. Von einem Englaͤnder wird erzaͤhlt,
er habe ſich aufgehangen, um nicht mehr
III. 21[322] taͤglich ſich aus- und anzuziehn. Ich kannte
einen wackeren Gaͤrtner, den Aufſeher einer
großen Parkanlage, der einmal mit Verdruß
ausrief: ſoll ich denn immer dieſe Regenwol¬
ken von Abend gegen Morgen ziehen ſehn!
Man erzaͤhlt von einem unſerer trefflichſten
Maͤnner, er habe mit Verdruß das Fruͤhjahr
wieder aufgruͤnen geſehn, und gewuͤnſcht, es
moͤchte zur Abwechſelung einmal roth erſchei¬
nen. Dieſes ſind eigentlich die Symptome des
Lebensuͤberdruſſes, der nicht ſelten in den
Selbſtmord auslaͤuft, und bey denkenden in
ſich gekehrten Menſchen haͤufiger war als
man glauben kann.
Nichts aber veranlaßt mehr dieſen Ueber¬
druß, als die Wiederkehr der Liebe. Die er¬
ſte Liebe, ſagt man mit Recht, ſey die ein¬
zige: denn in der zweyten und durch die
zweyte geht ſchon der hoͤchſte Sinn der Liebe
verloren. Der Begriff des Ewigen und Un¬
endlichen, der ſie eigentlich hebt und traͤgt,
[323] iſt zerſtoͤrt, ſie erſcheint vergaͤnglich wie alles
Wiederkehrende. Die Abſonderung des Sinn¬
lichen vom Sittlichen, die in der verflochte¬
nen cultivirten Welt die liebenden und begeh¬
renden Empfindungen ſpaltet, bringt auch hier
eine Uebertriebenheit hervor, die nichts Gu¬
tes ſtiften kann.
Ferner wird ein junger Mann, wo nicht
gerade an ſich ſelbſt, doch an andern bald ge¬
wahr, daß moraliſche Epochen eben ſo gut
wie die Jahreszeiten wechſeln. Die Gnade
der Großen, die Gunſt der Gewaltigen, die
Foͤrderung der Thaͤtigen, die Neigung der
Menge, die Liebe der Einzelnen, alles wan¬
delt auf und nieder, ohne daß wir es feſthal¬
ten koͤnnen, ſo wenig als Sonne, Mond und
Sterne; und doch ſind dieſe Dinge nicht blo¬
ße Naturereigniſſe: ſie entgehen uns durch
eigne oder fremde Schuld, durch Zufall oder
Geſchick, aber ſie wechſeln, und wir ſind ih¬
rer niemals ſicher.
21 *[324]
Was aber den fuͤhlenden Juͤngling am
meiſten aͤngſtigt, iſt die unaufhaltſame Wie¬
derkehr unſerer Fehler: denn wie ſpaͤt lernen
wir einſehen, daß wir, indem wir unſere
Tugenden ausbilden, unſere Fehler zugleich mit
anbauen. Jene ruhen auf dieſen wie auf ih¬
rer Wurzel, und dieſe verzweigen ſich insge¬
heim eben ſo ſtark und ſo mannigfaltig als jene
im offenbaren Lichte. Weil wir nun unſere
Tugenden meiſt mit Willen und Bewußtſeyn
ausuͤben, von unſeren Fehlern aber unbewußt
uͤberraſcht werden, ſo machen uns jene ſelten
einige Freude, dieſe hingegen beſtaͤndig Noth
und Qual. Hier liegt der ſchwerſte Punct
der Selbſterkenntniß, der ſie beynah unmoͤglich
macht. Denke man ſich nun hiezu ein ſiedend
jugendliches Blut, eine durch einzelne Ge¬
genſtaͤnde leicht zu paralyſirende Einbildungs¬
kraft, hiezu die ſchwankenden Bewegungen des
Tags, und man wird ein ungeduldiges Stre¬
ben, ſich aus einer ſolchen Klemme zu befreyen,
nicht unnatuͤrlich finden.
[325]
Solche duͤſtere Betrachtungen jedoch, wel¬
che denjenigen, der ſich ihnen uͤberlaͤßt, ins
Unendliche fuͤhren, haͤtten ſich in den Gemuͤ¬
thern deutſcher Juͤnglinge nicht ſo entſchieden
entwickeln koͤnnen, haͤtte ſie nicht eine aͤußere
Veranlaſſung zu dieſem traurigen Geſchaͤft an¬
geregt und gefoͤrdert. Es geſchah dieſes durch
die engliſche Literatur, beſonders durch die
poetiſche, deren große Vorzuͤge ein ernſter
Truͤbſinn begleitet, welchen ſie einem Jeden
mittheilt, der ſich mit ihr beſchaͤftigt. Der
geiſtreiche Britte ſieht ſich von Jugend auf von
einer bedeutenden Welt umgeben, die alle ſeine
Kraͤfte anregt; er wird fruͤher oder ſpaͤter ge¬
wahr, daß er allen ſeinen Verſtand zuſammen¬
nehmen muß, um ſich mit ihr abzufinden.
Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der
Jugend ein loſes und rauſchendes Leben ge¬
fuͤhrt, und ſich fruͤh berechtigt gefunden, die
irdiſchen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie
viele derſelben haben ſich in den Weltgeſchaͤften
verſucht, und im Parlament, bey Hofe, im
[326] Miniſterium, auf Geſandtſchaftspoſten, theils
die erſten:, theils untere Rollen geſpielt, und
ſich bey inneren Unruhen, Staats- und Re¬
gierungsveraͤnderungen mitwirkend erwieſen,
und wo nicht an ſich ſelbſt, doch an ihren Freun¬
den und Goͤnnern oͤfter traurige als erfreuli¬
che Erfahrungen gemacht! Wie viele ſind ver¬
bannt, vertrieben, im Gefaͤngniß gehalten,
an ihren Guͤtern beſchaͤdigt worden!
Aber auch nur Zuſchauer von ſo großen
Ereigniſſen zu ſeyn, fordert den Menſchen
zum Ernſt auf, und wohin kann der Ernſt
weiter fuͤhren, als zur Betrachtung der Ver¬
gaͤnglichkeit und des Unwerths aller irdiſchen
Dinge. Ernſthaft iſt auch der Deutſche,
und ſo war ihm die engliſche Poeſie hoͤchſt
gemaͤß, und, weil ſie ſich aus einem hoͤheren
Zuſtande herſchrieb, impoſant. Man fin¬
det in ihr durchaus einen großen, tuͤchti¬
gen, weltgeuͤbten Verſtand, ein tiefes, zar¬
tes Gemuͤth, ein vortreffliches Wollen, ein
[327] leidenſchaftliches Wirken: die herrlichſten Ei¬
genſchaften, die man von geiſtreichen gebil¬
deten Menſchen ruͤhmen kann; aber das alles
zuſammengenommen macht noch keinen Poe¬
ten. Die wahre Poeſie kuͤndet ſich dadurch
an, daß ſie, als ein weltliches Evangelium,
durch innere Heiterkeit, durch aͤußeres Beha¬
gen, uns von den irdiſchen Laſten zu befreyen
weiß, die auf uns druͤcken. Wie ein Luft¬
ballon hebt ſie uns mit dem Ballaſt der uns
anhaͤngt, in hoͤhere Regionen, und laͤßt die
verwirrten Irrgaͤnge der Erde in Vogelper¬
ſpective vor uns entwickelt daliegen. Die mun¬
terſten wie die ernſteſten Werke haben den
gleichen Zweck, durch eine gluͤckliche geiſtreiche
Darſtellung ſo Luſt als Schmerz zu maͤßigen.
Man betrachte nun in dieſem Sinne die
Mehrzahl der engliſchen meiſt moraliſch-di¬
dactiſchen Gedichte, und ſie werden im Durch¬
ſchnitt nur einen duͤſtern Ueberdruß des Le¬
bens zeigen. Nicht Youngs Nachtgedan¬
ken allein, wo dieſes Thema vorzuͤglich durch¬
[328] gefuͤhrt iſt, ſondern auch die uͤbrigen betrach¬
tenden Gedichte, ſchweifen, eh man ſich's ver¬
ſieht, in dieſes traurige Gebiet, wo dem Ver¬
ſtande eine Aufgabe zugewieſen iſt, die er
zu loͤſen nicht hinreicht, da ihn ja ſelbſt die
Religion, wie er ſich ſolche allenfalls erbauen
kann, im Stiche laͤßt. Ganze Baͤnde koͤnnte
man zuſammendrucken, welche als ein Com¬
mentar zu jenem ſchrecklichen Texte gelten
koͤnnen:
Was ferner die engliſchen Dichter noch
zu Menſchenhaſſern vollendet und das unan¬
genehme Gefuͤhl von Widerwillen gegen alles
uͤber ihre Schriften verbreitet, iſt, daß ſie
ſaͤmmtlich, bey den vielfachen Spaltungen ih¬
res Gemeinweſens, wo nicht ihr ganzes Le¬
[329] ben, doch den beſten Theil deſſelben, einer
oder der andern Partey widmen muͤſſen. Da
nun ein ſolcher Schriftſteller die Seinigen
denen er ergeben iſt, die Sache der er an¬
haͤngt, nicht loben und herausſtreichen darf,
weil er ſonſt nur Neid und Widerwillen er¬
regen wuͤrde; ſo uͤbt er ſein Talent, indem
er von den Gegnern ſo uͤbel und ſchlecht als
moͤglich ſpricht, und die ſatyriſchen Waffen,
ſo ſehr er nur vermag, ſchaͤrft ja vergiftet.
Geſchieht dieſes nun von beyden Theilen, ſo
wird die dazwiſchen liegende Welt zerſtoͤrt
und rein aufgehoben, ſo daß man in einem
großen, verſtaͤndig thaͤtigen Volksverein zum
allergelindeſten nichts als Thorheit und Wahn¬
ſinn entdecken kann. Selbſt ihre zaͤrtlichen
Gedichte beſchaͤftigen ſich mit traurigen Ge¬
genſtaͤnden. Hier ſtirbt ein verlaſſenes Maͤd¬
chen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber,
oder wird, ehe er voreilig ſchwimmend ſeine
Geliebte erreicht, von einem Hayfiſche gefreſ¬
ſen; und wenn ein Dichter wie Gray ſich
[330] auf einem Dorfkirchhofe lagert, und je¬
ne bekannten Melodieen wieder anſtimmt, ſo
kann er verſichert ſeyn, eine Anzahl Freunde
der Melancholie um ſich zu verſammeln. Mil¬
ton's Allegro muß erſt in heftigen Verſen
den Unmuth verſcheuchen, ehe er zu einer ſehr
maͤßigen Luſt gelangen kann, und ſelbſt der
heitere Goldſmith verliert ſich in elegiſche
Empfindungen, wenn uns ſein Deserted Vil¬
lage ein verlorenes Paradies, das ſein Tra¬
veller auf der ganzen Erde wiederſucht, ſo
lieblich als traurig darſtellt.
Ich zweifle nicht, daß man mir auch
muntre Werke, heitere Gedichte werde vor¬
zeigen und entgegenſetzen koͤnnen; allein die
meiſten und beſten derſelben gehoͤren gewiß in
die aͤltere Epoche, und die neueren die man
dahin rechnen koͤnnte, neigen ſich gleichfalls
gegen die Satyre, ſind bitter und beſonders
die Frauen verachtend.
[331]
Genug, jene oben im Allgemeinen erwaͤhn¬
ten, ernſten und die menſchliche Natur unter¬
grabenden Gedichte waren die Lieblinge, die
wir uns vor allen andern ausſuchten, der ei¬
ne, nach ſeiner Gemuͤthsart, die leichtere ele¬
giſche Trauer, der andere die ſchwer laſtende,
alles aufgebende Verzweiflung ſuchend. Son¬
derbar genug beſtaͤrkte unſer Vater und Leh¬
rer Shakspeare, der ſo reine Heiterkeit zu
verbreiten weiß, ſelbſt dieſen Unwillen. Ham¬
let und ſeine Monologen blieben Geſpenſter,
die durch alle jungen Gemuͤther ihren Spuk
trieben. Die Hauptſtellen wußte ein Jeder
auswendig und recitirte ſie gern, und Jeder¬
man glaubte, er duͤrfe eben ſo melancholiſch
ſeyn, als der Prinz von Daͤnemark, ob er
gleich keinen Geiſt geſehn und keinen koͤnigli¬
chen Vater zu raͤchen hatte.
Damit aber ja allem dieſem Truͤbſinn nicht
ein vollkommen paſſendes Local abgehe, ſo hat¬
te uns Oſſian bis ans letzte Thule gelockt,
[332] wo wir denn auf grauer, unendlicher Haide,
unter vorſtarrenden bemooſten Grabſteinen
wandelnd, das durch einen ſchauerlichen Wind
bewegte Gras um uns, und einen ſchwer be¬
woͤlkten Himmel uͤber uns erblickten. Bey
Mondenſchein ward dann erſt dieſe caledoni¬
ſche Nacht zum Tage; untergegangene Hel¬
den, verbluͤhte Maͤdchen umſchwebten uns,
bis wir zuletzt den Geiſt von Loda wirklich in
ſeiner furchtbaren Geſtalt zu erblicken glaubten.
In einem ſolchen Element, bey ſolcher
Umgebung, bey Liebhabereyen und Studien
dieſer Art, von unbefriedigten Leidenſchaften
gepeinigt, von außen zu bedeutenden Hand¬
lungen keineswegs angeregt, in der einzigen
Ausſicht, uns in einem ſchleppenden, geiſtlo¬
ſen, buͤrgerlichen Leben hinhalten zu muͤſſen,
befreundete man ſich, in unmuthigem Ueber¬
muth, mit dem Gedanken, das Leben, wenn
es einem nicht mehr anſtehe, nach eignem
Belieben allenfalls verlaſſen zu koͤnnen, und
[333] half ſich damit uͤber die Unbilden und Lange¬
weile der Tage nothduͤrftig genug hin. Die¬
ſe Geſinnung war ſo allgemein, daß eben
Werther deswegen die große Wirkung that,
weil er uͤberall anſchlug und das Innere ei¬
nes kranken jugendlichen Wahns oͤffentlich und
faßlich darſtellte. Wie genau die Englaͤnder
mit dieſem Jammer bekannt waren, beweiſen
die wenigen bedeutenden, vor dem Erſcheinen
Werthers geſchriebenen Zeilen:
Der Selbſtmord iſt ein Ereigniß der menſch¬
lichen Natur, welches, mag auch daruͤber ſchon
ſo viel geſprochen und gehandelt ſeyn als da
will, doch einen jeden Menſchen zur Theil¬
nahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder ein¬
mal verhandelt werden muß. Montesquieu
ertheilt ſeinen Helden und großen Maͤnnern
[334] das Recht, ſich nach Befinden den Tod zu
geben, indem er ſagt, es muͤſſe doch einem je¬
den freyſtehen, den fuͤnften Act ſeiner Tragoͤ¬
die da zu ſchließen, wo es ihm beliebe. Hier
aber iſt von ſolchen Perſonen nicht die Rede,
die ein bedeutendes Leben thaͤtig gefuͤhrt, fuͤr
irgend ein großes Reich oder fuͤr die Sache
der Freyheit ihre Tage verwendet, und denen
man wohl nicht verargen wird, wenn ſie die
Idee die ſie beſeelt, ſobald dieſelbe von der
Erde verſchwindet, auch noch jenſeits zu ver¬
folgen denken. Wir haben es hier mit ſolchen
zu thun, denen eigentlich aus Mangel von
Thaten, in dem friedlichſten Zuſtande von der
Welt, durch uͤbertriebene Forderungen an ſich
ſelbſt das Leben verleidet. Da ich ſelbſt in
dem Fall war, und am beſten weiß, was fuͤr
Pein ich darin erlitten, was fuͤr Anſtrengung
es mir gekoſtet, ihr zu entgehn; ſo will
ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich
uͤber die verſchiedenen Todesarten, die man
waͤhlen koͤnnte, wohlbedaͤchtig angeſtellt.
[335]
Es iſt etwas ſo Unnatuͤrliches, daß der
Menſch ſich von ſich ſelbſt losreiße, ſich nicht
allein beſchaͤdige, ſondern vernichte, daß er
meiſtentheils zu mechaniſchen Mitteln greift,
um ſeinen Vorſatz ins Werk zu richten. Wenn
Ajax in ſein Schwerdt faͤllt, ſo iſt es die
Laſt ſeines Koͤrpers, die ihm den letzten Dienſt
erweiſet. Wenn der Krieger ſeinen Schildtraͤ¬
ger verpflichtet, ihn nicht in die Haͤnde der
Feinde gerathen zu laſſen, ſo iſt es auch eine
aͤußere Kraft, deren er ſich verſichert, nur
eine moraliſche ſtatt einer phyſiſchen. Frau¬
en ſuchen im Waſſer die Kuͤhlung ihres Ver¬
zweifelns, und das hoͤchſt mechaniſche Mittel
des Schießgewehrs ſichert eine ſchnelle That
mit der geringſten Anſtrengung. Des Er¬
haͤngens erwaͤhnt man nicht gern, weil es
ein unedler Tod iſt. In England kann es
am erſten begegnen, weil man dort von Ju¬
gend auf ſo manchen haͤngen ſieht, ohne daß
die Strafe gerade entehrend iſt. Durch Gift,
durch Oeffnung der Adern gedenkt man nur
[336]
langſam vom Leben zu ſcheiden, und der raf¬
finirteſte, ſchnellſte, ſchmerzenloſeſte Tod durch
eine Natter war einer Koͤniginn wuͤrdig, die
ihr Leben in Glanz und Luſt zugebracht hat¬
te. Alles dieſes aber ſind aͤußere Behelfe,
ſind Feinde, mit denen der Menſch gegen
ſich ſelbſt einen Bund ſchließt.
Wenn ich nun alle dieſe Mittel uͤberlegte,
und mich ſonſt in der Geſchichte weiter um¬
ſah, ſo fand ich unter allen denen die ſich
ſelbſt entleibt, keinen, der dieſe That mit
ſolcher Großheit und Freyheit des Geiſtes
verrichtet, als Kaiſer Otto. Dieſer, zwar
als Feldherr im Nachtheil, aber doch keines¬
wegs aufs Aeußerſte gebracht, entſchließt ſich
zum Beſten des Reichs, das ihm gewiſſer¬
maßen ſchon angehoͤrte, und zur Schonung
ſo vieler Tauſende, die Welt zu verlaſſen.
Er begeht mit ſeinen Freunden ein heiteres
Nachtmahl, und man findet am anderen
Morgen, daß er ſich einen ſcharfen Dolch
[337] mit eigner Hand in das Herz geſtoßen.
Dieſe einzige That ſchien mir nachahmungs¬
wuͤrdig und ich uͤberzeugte mich, daß wer
nicht hierin handeln koͤnne wie Otto, ſich
nicht erlauben duͤrfe, freywillig aus der Welt
zu gehn. Durch dieſe Ueberzeugung rettete
ich mich nicht ſowohl von dem Vorſatz als
von der Grille des Selbſtmords, welche ſich
in jenen herrlichen Friedenszeiten bey einer
muͤßigen Jugend eingeſchlichen hatte. Unter
einer anſehnlichen Waffenſammlung, beſaß ich
auch einen koſtbaren wohlgeſchliffenen Dolch.
Dieſen legte ich mir jederzeit neben das Bet¬
te, und ehe ich das Licht ausloͤſchte, ver¬
ſuchte ich, ob es mir wohl gelingen moͤchte,
die ſcharfe Spitze ein paar Zoll tief in die
Bruſt zu ſenken. Da dieſes aber niemals
gelingen wollte, ſo lachte ich mich zuletzt ſelbſt
aus, warf alle hypochondriſche Fratzen hin¬
weg, und beſchloß zu leben. Um dieß aber
mit Heiterkeit thun zu koͤnnen, mußte ich ei¬
ne dichteriſche Aufgabe zur Ausfuͤhrung brin¬
III. 22[338] gen, wo alles was ich uͤber dieſen wichti¬
gen Punct empfunden, gedacht und gewaͤhnt,
zur Sprache kommen ſollte. Ich verſammel¬
te hierzu die Elemente, die ſich ſchon ein
paar Jahre in mir herumtrieben, ich verge¬
genwaͤrtige mir die Faͤlle, die mich am mei¬
ſten gedraͤngt und geaͤngſtigt; aber es wollte
ſich nichts geſtalten: es fehlte mir eine Be¬
gebenheit, eine Fabel, in welcher ſie ſich ver¬
koͤrpern koͤnnten.
Auf einmal erfahre ich die Nachricht von
Jeruſalems Tode, und unmittelbar nach dem
allgemeinen Geruͤchte, ſogleich die genauſte
und umſtaͤndlichſte Beſchreibung des Vor¬
gangs, und in dieſem Augenblick war der
Plan zu Werthern gefunden, das Ganze
ſchoß von allen Seiten zuſammen und ward
eine ſolide Maſſe, wie das Waſſer im Ge¬
ſaͤß, das eben auf dem Puncte des Gefrie¬
rens ſteht, durch die geringſte Erſchuͤtterung
ſogleich in ein feſtes Eis verwandelt wird.
[339] Dieſen ſeltſamen Gewinn feſtzuhalten, ein
Werk von ſo bedeutendem und mannigfalti¬
gem Inhalt mir zu vergegenwaͤrtigen, und in
allen ſeinen Theilen auszufuͤhren war mir
um ſo angelegener, als ich ſchon wieder in
eine peinliche Lage gerathen war, die noch
weniger Hoffnung ließ als die vorigen, und
nichts als Unmuth, wo nicht Verdruß weiſ¬
ſagte.
Es iſt immer ein Ungluͤck in neue Ver¬
haͤltniſſe zu treten, in denen man nicht her¬
gekommen iſt; wir werden oft wider unſern
Willen zu einer falſchen Theilnahme gelockt,
uns peinigt die Halbheit ſolcher Zuſtaͤnde,
und doch ſehen wir weder ein Mittel ſie zu
ergaͤnzen noch ihnen zu entſagen.
Frau von Laroche hatte ihre aͤlteſte Toch¬
ter nach Frankfurt verheiratet, kam oft ſie
zu beſuchen, und konnte ſich nicht recht in
den Zuſtand finden, den ſie doch ſelbſt aus¬
22*[340] gewaͤhlt hatte. Anſtatt ſich darin behaglich
zu fuͤhlen, oder zu irgend einer Veraͤnderung
Anlaß zu geben, erging ſie ſich in Klagen, ſo
daß man wirklich denken mußte, ihre Tochter
ſey ungluͤcklich, ob man gleich, da ihr nichts
abging, und ihr Gemahl ihr nichts verwehr¬
te, nicht wohl einſah, worin das Ungluͤck
eigentlich beſtuͤnde. Ich war indeſſen in dem
Hauſe gut aufgenommen und kam mit dem
ganzen Cirkel in Beruͤhrung, der aus Per¬
ſonen beſtand, die theils zur Heirat beyge¬
tragen, theils derſelben einen gluͤcklichen Er¬
folg wuͤnſchten. Der Dechant von St. Leon¬
hard Dumeix faßte Vertrauen ja Freund¬
ſchaft zu mir. Er war der erſte catholiſche
Geiſtliche, mit dem ich in naͤhere Beruͤhrung
trat, und der, weil er ein ſehr hellſehender
Mann war, mir uͤber den Glauben, die
Gebraͤuche, die aͤußern und innern Verhaͤlt¬
niſſe der aͤlteſten Kirche ſchoͤne und hinrei¬
chende Aufſchluͤſſe gab. Der Geſtalt einer
wohlgebildeten obgleich nicht jungen Frau, mit
[341] Namen Servières, erinnere ich mich noch
genau. Ich kam mit der Aloſino-Schwei¬
zeriſchen und andern Familien gleichfalls in
Beruͤhrung, und mit den Soͤhnen in Ver¬
haͤltniſſe, die ſich lange freundſchaftlich fort¬
ſetzten, und ſah mich auf einmal in einem
fremden Cirkel einheimiſch, an deſſen Be¬
ſchaͤftigungen, Vergnuͤgungen, ſelbſt Religi¬
onsuͤbungen ich Antheil zu nehmen veranlaßt,
ja genoͤthigt wurde. Mein fruͤheres Verhaͤlt¬
niß zur jungen Frau, eigentlich ein geſchwi¬
ſterliches, ward nach der Heirat fortgeſetzt;
meine Jahre ſagten den ihrigen zu, ich war
der einzige in dem ganzen Kreiſe, an dem
ſie noch einen Widerklang jener geiſtigen Toͤne
vernahm, an die ſie von Jugend auf ge¬
woͤhnt war. Wir lebten in einem kindlichen
Vertrauen zuſammen fort, und ob ſich gleich
nichts Leidenſchaftliches in unſern Umgang
miſchte, ſo war er doch peinigend genug,
weil ſie ſich auch in ihre neue Umgebung nicht
zu finden wußte und, obwohl mit Gluͤcks¬
[342] guͤtern geſegnet, aus dem heiteren Thal Eh¬
renbreitſtein und einer froͤhlichen Jugend in
ein duͤſter gelegenes Handelshaus verſetzt, ſich
ſchon als Mutter von einigen Stiefkindern
benehmen ſollte. In ſo viel neue Familien¬
verhaͤltniſſe war ich ohne wirklichen Antheil,
ohne Mitwirkung eingeklemmt. War man
mit einander zufrieden, ſo ſchien ſich das von
ſelbſt zu verſtehn; aber die meiſten Theilneh¬
mer wendeten ſich in verdrießlichen Faͤllen an
mich, die ich durch eine lebhafte Theilnahme
mehr zu verſchlimmern als zu verbeſſern pfleg¬
te. Es dauerte nicht lange, ſo wurde mir
dieſer Zuſtand ganz unertraͤglich, aller Lebens¬
verdruß der aus ſolchen Halbverhaͤltniſſen her¬
vorzugehn pflegt, ſchien doppelt und dreyfach
auf mir zu laſten, und es bedurfte eines
neuen gewaltſamen Entſchluſſes, mich auch
hiervon zu befreyen.
Jeruſalems Tod, der durch die ungluͤckli¬
che Neigung zu der Gattinn eines Freundes
[343] verurſacht ward, ſchuͤttelte mich aus dem
Traum, und weil ich nicht bloß mit Beſchau¬
lichkeit das was ihm und mir begegnet, be¬
trachtete, ſondern das Aehnliche was mir im
Augenblicke ſelbſt widerfuhr, mich in leiden¬
ſchaftliche Bewegung ſetzte; ſo konnte es nicht
fehlen, daß ich jener Production die ich
eben unternahm, alle die Gluth einhauchte,
welche keine Unterſcheidung zwiſchen dem Dich¬
teriſchen und dem Wirklichen zulaͤßt. Ich
hatte mich aͤußerlich voͤllig iſolirt, ja die
Beſuche meiner Freunde verbeten, und ſo
legte ich auch innerlich alles bey Seite, was
nicht unmittelbar hierher gehoͤrte. Dagegen
faßte ich alles zuſammen, was einigen Be¬
zug auf meinen Vorſatz hatte, und wieder¬
holte mir mein naͤchſtes Leben, von deſſen
Inhalt ich noch keinen dichteriſchen Gebrauch
gemacht hatte. Unter ſolchen Umſtaͤnden,
nach ſo langen und vielen geheimen Vorberei¬
tungen, ſchrieb ich den Werther in vier Wochen,
ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die
[344] Behandlung eines Theils irgend vorher waͤre
zu Papier gebracht geweſen.
Das nunmehr fertige Manuſcript lag im
Concept, mit wenigen Correcturen und Abaͤn¬
derungen, vor mir. Es ward ſogleich gehef¬
tet: denn der Band dient der Schrift un¬
gefaͤhr wie der Rahmen einem Bilde: man
ſieht viel eher, ob ſie denn auch in ſich
wirklich beſtehe. Da ich dieſes Werklein
ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler aͤhn¬
lich, geſchrieben hatte, ſo verwunderte ich
mich ſelbſt daruͤber, als ich es nun durch¬
ging, um daran etwas zu aͤndern und zu
beſſern. Doch in Erwartung daß nach eini¬
ger Zeit, wenn ich es in gewiſſer Entfer¬
nung beſaͤhe, mir manches beygehen wuͤrde,
das noch zu ſeinem Vortheil gereichen koͤnnte,
gab ich es meinen juͤngeren Freunden zu le¬
ſen, auf die es eine deſto groͤßere Wir¬
kung that, als ich, gegen meine Gewohn¬
heit, vorher Niemanden davon erzaͤhlt, noch
[345] meine Abſicht entdeckt hatte. Freylich war
es hier abermals der Stoff, der eigentlich die
Wirkung hervorbrachte, und ſo waren ſie ge¬
rade in einer der meinigen entgegengeſetzten
Stimmung: denn ich hatte mich durch dieſe
Compoſition, mehr als durch jede andere,
aus einem ſtuͤrmiſchen Elemente gerettet, auf
dem ich durch eigne und fremde Schuld,
durch zufaͤllige und gewaͤhlte Lebensweiſe, durch
Vorſatz und Uebereilung, durch Hartnaͤckig¬
keit und Nachgeben, auf die gewaltſamſte
Art hin und wieder getrieben worden. Ich
fuͤhlte mich, wie nach einer Generalbeichte,
wieder froh und frey, und zu einem neuen
Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war
mir dießmal vortrefflich zu ſtatten gekommen.
Wie ich mich nun aber dadurch erleichtert
und aufgeklaͤrt fuͤhlte, die Wirklichkeit in
Poeſie verwandelt zu haben, ſo verwirrten
ſich meine Freunde daran, indem ſie glaub¬
ten, man muͤſſe die Poeſie in Wirklichkeit
verwandeln, einen ſolchen Roman nachſpie¬
[346] ten und ſich allenfalls ſelbſt erſchießen; und
was hier im Anfang unter wenigen vorging,
ereignete ſich nachher im großen Publicum,
und dieſes Buͤchlein, was mir ſo viel genuͤtzt
hatte, ward als hoͤchſt ſchaͤdlich verrufen.
Allen den Uebeln jedoch und dem Ungluͤck,
das es hervorgebracht haben ſoll, waͤre zu¬
faͤlliger Weiſe beynahe vorgebeugt worden,
als es, bald nach ſeiner Entſtehung, Ge¬
fahr lief vernichtet zu werden; und damit
verhielt ſich's alſo. Merk war ſeit kurzem
von Petersburg zuruͤckgekommen. Ich hatte
ihn, weil er immer beſchaͤftigt war, nur
wenig geſprochen, und ihm von dieſem Wer¬
ther, der mir am Herzen lag, nur das All¬
gemeinſte eroͤffnen koͤnnen. Einſt beſuchte er
mich, und als er nicht ſehr geſpraͤchig ſchien,
bat ich ihn, mir zuzuhoͤren. Er ſetzte ſich
auf's Canapee, und ich begann, Brief vor
Brief, das Abenteuer vorzutragen. Nach¬
dem ich eine Weile ſo fortgefahren hatte,
[347] ohne ihm ein Beyfallszeichen abzulocken, griff
ich mich noch pathetiſcher an, und wie ward
mir zu Muthe, als er mich, da ich eine
Pauſe machte, mit einem: Nun ja! es iſt
ganz huͤbſch, auf das ſchrecklichſte niederſchlug,
und ſich, ohne etwas weiter hinzuzufuͤgen,
entfernte. Ich war ganz außer mir: denn
wie ich wohl Freude an meinen Sachen,
aber in der erſten Zeit kein Urtheil uͤber ſie
hatte, ſo glaubte ich ganz ſicher, ich habe
mich im Sujet, im Ton, im Stil, die denn
freylich alle bedenklich waren, vergriffen, und
etwas ganz Unzulaͤſſiges verfertigt. Waͤre ein
Caminfeuer zur Hand geweſen, ich haͤtte das
Werk ſogleich hineingeworfen; aber ich er¬
mannte mich wieder und verbrachte ſchmerzli¬
che Tage, bis er mir endlich vertraute, daß
er in jenem Moment ſich in der ſchrecklichſten
Lage befunden, in die ein Menſch gerathen
kann. Er habe deswegen nichts geſehn
noch gehoͤrt, und wiſſe gar nicht wovon in
meinem Manuſcripte die Rede ſey. Die
[348] Sache hatte ſich indeſſen, in ſo fern ſie ſich
herſtellen ließ, wieder hergeſtellt, und Merk
war in den Zeiten ſeiner Energie der Mann,
ſich ins Ungeheure zu ſchicken; ſein Humor
fand ſich wieder ein, nur war er noch bitte¬
rer geworden als vorher. Er ſchalt meinen
Vorſatz den Werther umzuarbeiten mit der¬
ben Ausdruͤcken, und verlangte ihn gedruckt
zu ſehn wie er lag. Es ward ein ſauberes
Manuſcript davon beſorgt, das nicht lange
in meinen Haͤnden blieb: denn zufaͤlliger
Weiſe an demſelben Tage, an dem meine
Schweſter ſich mit Georg Schloſſer verheira¬
tete, und das Haus, von einer freudigen
Feſtlichkeit bewegt, glaͤnzte, traf ein Brief
von Weygand aus Leipzig ein, mich um ein
Manuſcript zu erſuchen. Ein ſolches Zuſam¬
mentreffen hielt ich fuͤr ein guͤnſtiges Omen,
ich ſendete den Werther ab, und war ſehr
zufrieden, als das Honorar das ich dafuͤr
erhielt, nicht ganz durch die Schulden ver¬
ſchlungen wurde, die ich um des Goetz von
[349] Berlichingen willen zu machen genoͤthigt ge¬
weſen.
Die Wirkung dieſes Buͤchleins war groß,
ja ungeheuer, und vorzuͤglich deshalb, weil
es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie
es nur eines geringen Zuͤndkrauts bedarf, um
eine gewaltige Mine zu entſchlaͤudern, ſo war
auch die Exploſion welche ſich hierauf im Pu¬
blicum ereignete, deshalb ſo maͤchtig, weil
die junge Welt ſich ſchon ſelbſt untergraben
hatte, und die Erſchuͤtterung deswegen ſo
groß, weil ein Jeder mit ſeinen uͤbertriebenen
Forderungen, unbefriedigten Leidenſchaften und
eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam.
Man kann von dem Publicum nicht verlan¬
gen, daß es ein geiſtiges Werk geiſtig auf¬
nehmen ſolle. Eigentlich ward nur der In¬
halt, der Stoff beachtet, wie ich ſchon an
meinen Freunden erfahren hatte, und dane¬
ben trat das alte Vorurtheil wieder ein, ent¬
ſpringend aus der Wuͤrde eines gedruckten
[350] Buchs, daß es naͤmlich einen didactiſchen
Zweck haben muͤſſe. Die wahre Darſtellung
aber hat keinen. Sie billigt nicht, ſie tadelt
nicht, ſondern ſie entwickelt die Geſinnungen
und Handlungen in ihrer Folge und dadurch
erleuchtet und belehrt ſie.
Von Recenſionen nahm ich wenig Notiz.
Die Sache war fuͤr mich voͤllig abgethan,
jene guten Leute mochten nun auch ſehn, wie
ſie damit fertig wurden. Doch verfehlten meine
Freunde nicht, dieſe Dinge zu ſammeln, und
weil ſie in meine Anſichten ſchon mehr einge¬
weiht waren, ſich daruͤber luſtig zu machen.
Die Freuden des jungen Werther,
mit welchen Nicolai ſich hervorthat, gaben uns
zu mancherley Scherzen Gelegenheit. Die¬
ſer uͤbrigens brave, verdienſt- und kennt¬
nißreiche Mann hatte ſchon angefangen, alles
niederzuhalten und zu beſeitigen, was nicht
zu ſeiner Sinnesart paßte, die er, geiſtig
ſehr beſchraͤnkt, fuͤr die aͤchte und einzige
[351] hielt. Auch gegen mich mußte er ſich ſogleich
verſuchen, und jene Broſchuͤre kam uns bald
in die Haͤnde. Die hoͤchſt zarte Vignette
von Chodowiecki machte mir viel Vergnuͤgen;
wie ich denn dieſen Kuͤnſtler uͤber die
Maßen verehrte. Das Machwerk ſelbſt war
aus der rohen Hausleinwand zugeſchnitten,
welche recht derb zu bereiten der Menſchen¬
verſtand in ſeinem Familienkreiſe ſich viel zu
ſchaffen, macht. Ohne Gefuͤhl, daß hier nichts
zu vermitteln ſey, daß Werthers Jugendbluͤ¬
the ſchon von vorn herein als vom toͤdlichen
Wurm geſtochen erſcheine, laͤßt der Verfaſſer
meine Behandlung bis Seite 214 gelten,
und als der wuͤſte Menſch ſich zum toͤdlichen
Schritte vorbereitet, weiß der einſichtige pſy¬
chiſche Arzt ſeinem Patienten eine mit Huͤh¬
nerblut geladene Piſtole unterzuſchieben, wo¬
raus denn ein ſchmutziger Spectakel, aber
gluͤcklicher Weiſe kein Unheil hervorgeht. Lotte
wird Werthers Gattinn, und die ganze Sa¬
che endigt ſich zu Jedermans Zufriedenheit.
[352]
So viel wuͤßte ich mich davon zu erin¬
nern: denn es iſt mir nie wieder unter die
Augen gekommen. Die Vignette hatte ich
ausgeſchnitten und unter meine liebſten Kupfer
gelegt. Dann verfaßte ich, zur ſtillen und
unverfaͤnglichen Rache, ein kleines Spottge¬
dicht, Nicolai auf Werthers Grabe,
welches ſich jedoch nicht mittheilen laͤßt. Auch
die Luſt alles zu dramatiſiren, ward bey die¬
ſer Gelegenheit abermals rege. Ich ſchrieb
einen proſaiſchen Dialog zwiſchen Lotte und
Werther, der ziemlich neckiſch ausfiel. Wer¬
ther beſchwert ſich bitterlich, daß die Erloͤſung
durch Huͤhnerblut ſo ſchlecht abgelaufen. Er
iſt zwar am Leben geblieben, hat ſich aber
die Augen ausgeſchoſſen. Nun iſt er in Ver¬
zweiflung, ihr Gatte zu ſeyn und ſie nicht
ſehen zu koͤnnen, da ihm der Anblick ihres
Geſammtweſens faſt lieber waͤre, als die fuͤ¬
ßen Einzelnheiten, deren er ſich durchs Ge¬
fuͤhl verſichern darf. Lotten, wie man ſie
kennt, iſt mit einem blinden Manne auch
[353] nicht ſonderlich geholfen, und ſo findet ſich
Gelegenheit, Nicolai's Beginnen hoͤchlich zu
ſchelten, daß er ſich ganz unberufen in frem¬
de Angelegenheiten miſche. Das Ganze war
mit gutem Humor geſchrieben, und ſchilderte
mit freyer Vorahndung jenes ungluͤckliche duͤn¬
kelhafte Beſtreben Nicolai's, ſich mit Dingen
zu befaſſen, denen er nicht gewachſen war,
wodurch er ſich und andern in der Folge viel
Verdruß machte, und daruͤber zuletzt, bey ſo
entſchiedenen Verdienſten, ſeine literariſche
Achtung voͤllig verlor. Das Originalblatt
dieſes Scherzes iſt niemals abgeſchrieben wor¬
den und ſeit vielen Jahren verſtoben. Ich
hatte fuͤr die kleine Production eine beſondere
Vorliebe. Die reine heiße Neigung der bey¬
den jungen Perſonen war durch die comiſch
tragiſche Lage, in die ſie ſich verſetzt fanden,
mehr erhoͤht als geſchwaͤcht. Die groͤßte Zaͤrt¬
lichkeit waltete durchaus, und auch der Geg¬
ner war nicht bitter, nur humoriſtiſch behan¬
delt. Nicht ganz ſo hoͤflich ließ ich das Buͤch¬
III. 23[354] lein ſelber ſprechen, welches, einen alten Reim
nachahmend, ſich alſo ausdruͤckte:
Vorbereitet auf alles was man gegen den
Werther vorbringen wuͤrde, fand ich ſo viele
Widerreden keineswegs verdrießlich; aber dar¬
an hatte ich nicht gedacht, daß mir durch
theilnehmende, wohlwollende Seelen eine un¬
leidliche Qual bereitet ſey: denn anſtatt daß
mir jemand uͤber mein Buͤchlein wie es lag,
etwas Verbindliches geſagt haͤtte, ſo wollten
ſie ſaͤmmtlich ein fuͤr allemal wiſſen, was
denn eigentlich an der Sache wahr ſey? wo¬
[355] ruͤber ich denn ſehr aͤrgerlich wurde, und mich
meiſtens hoͤchſt unartig dagegen aͤußerte. Denn
dieſe Frage zu beantworten, haͤtte ich mein
Werkchen, an dem ich ſo lange geſonnen, um
ſo manchen Elementen eine poetiſche Einheit
zu geben, wieder zerrupfen und die Form zer¬
ſtoͤren muͤſſen, wodurch ja die wahrhaften Be¬
ſtandtheile ſelbſt wo nicht vernichtet, wenig¬
ſtens zerſtreut und verzettelt worden waͤren.
Naͤher betrachtet konnte ich jedoch dem Pu¬
blicum die Forderung nicht veruͤblen. Jeru¬
ſalems Schickſal hatte großes Aufſehen ge¬
macht. Ein gebildeter, liebenswerther, unbe¬
ſcholtener junger Mann, der Sohn eines der
erſten Gottesgelahrten und Schriftſtellers, ge¬
ſund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne
bekannte Veranlaſſung, aus der Welt. Jeder¬
man fragte nun, wie das moͤglich geweſen?
und als man von einer ungluͤcklichen Liebe
vernahm, war die ganze Jugend, als man
von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in vor¬
nehmerer Geſellſchaft begegnet, ſprach, der
23*[356] ganze Mittelſtand aufgeregt, und Jederman
wuͤnſchte das Genauere zu erfahren. Nun
erſchien im Werther eine ausfuͤhrliche Schil¬
derung, in der man das Leben und die Sin¬
nesart des genannten Juͤnglings wieder zu
finden meynte. Localitaͤt und Perſoͤnlichkeit
trafen zu, und bey der großen Natuͤrlichkeit
der Darſtellung glaubte man ſich nun voll¬
kommen unterrichtet und befriedigt. Dage¬
gen aber, bey naͤherer Betrachtung, paßte
wieder ſo vieles nicht, und es entſtand fuͤr
die welche das Wahre ſuchten, ein unertraͤg¬
liches Geſchaͤft, indem eine ſondernde Critik
hundert Zweifel erregen muß. Auf den Grund
der Sache war aber gar nicht zu kommen:
denn was ich von meinem Leben und Leiden
der Compoſition zugewendet hatte, ließ ſich
nicht entziffern, indem ich, als ein unbemerk¬
ter junger Menſch, mein Weſen zwar nicht
heimlich, aber doch im Stillen getrieben hatte.
[357]
Bey meiner Arbeit war mir nicht unbe¬
kannt, wie ſehr beguͤnſtigt jener Kuͤnſtler ge¬
weſen, dem man Gelegenheit gab, eine Ve¬
nus aus mehreren Schoͤnheiten herauszuſtudi¬
ren, und ſo nahm ich mir auch die Erlaub¬
niß, an der Geſtalt und den Eigenſchaften
mehrerer huͤbſchen Kinder meine Lotte zu bil¬
den, obgleich die Hauptzuͤge von der geliebte¬
ſten genommen waren. Das forſchende Pu¬
blicum konnte daher Aehnlichkeiten von ver¬
ſchiedenen Frauenzimmern entdecken, und den
Damen war es auch nicht ganz gleichguͤltig,
fuͤr die rechte zu gelten. Dieſe mehreren Lot¬
ten aber brachten mir unendliche Qual, weil
Jederman der mich nur anſah, entſchieden zu
wiſſen verlangte, wo denn die eigentliche
wohnhaft ſey? Ich ſuchte mir wie Nathan
mit den drey Ringen durchzuhelfen, auf ei¬
nem Auswege, der freylich hoͤheren Weſen
zukommen mag, wodurch ſich aber weder das
glaͤubige, noch das leſende Publicum will be¬
friedigen laſſen. Dergleichen peinliche For¬
[358] ſchungen hoffte ich in einiger Zeit loszuwer¬
den; allein ſie begleiteten mich durch's ganze
Leben. Ich ſuchte mich davor auf Reiſen
durch's Incognito zu retten, aber auch dieſes
Huͤlfsmittel wurde mir unverſehens vereitelt,
und ſo war der Verfaſſer jenes Werkleins,
wenn er ja etwas Unrechtes und Schaͤdliches
gethan, dafuͤr genugſam, ja uͤbermaͤßig durch
ſolche unausweichliche Zudringlichkeiten beſtraft.
Auf dieſe Weiſe bedraͤngt, ward er nur
allzu ſehr gewahr, daß Autoren und Publicum
durch eine ungeheuere Kluft getrennt ſind,
wovon ſie, zu ihrem Gluͤck, beyderſeits kei¬
nen Begriff haben. Wie vergeblich daher alle
Vorreden ſeyen, hatte er ſchon laͤngſt einge¬
ſehen: denn jemehr man ſeine Abſicht klar zu
machen gedenkt, zu deſto mehr Verwirrung
giebt man Anlaß. Ferner mag ein Autor be¬
vorworten ſo viel er will, das Publicum wird
immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu
machen, die er ſchon abzulehnen ſuchte. Mit
[359] einer verwandten Eigenheit der Leſer, die uns
beſonders bey denen welche ihr Urtheil drucken
laſſen, ganz comiſch auffaͤllt, ward ich gleich¬
falls fruͤh bekannt. Sie leben naͤmlich in dem
Wahn, man werde, indem man etwas leiſtet,
ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit
zuruͤck hinter dem was ſie eigentlich wollten
und wuͤnſchten, ob ſie gleich kurz vorher, ehe
ſie unſere Arbeit geſehn, noch gar keinen Be¬
griff hatten, daß ſo etwas vorhanden oder
nur moͤglich ſeyn koͤnnte. Alles dieſes bey
Seite geſetzt, ſo war nun das groͤßte Gluͤck
oder Ungluͤck, daß Jederman von dieſem ſelt¬
ſamen jungen Autor, der ſo unvermuthet und
ſo kuͤhn hervorgetreten, Kenntniß gewinnen
wollte. Man verlangte ihn zu ſehen, zu
ſprechen, auch in der Ferne etwas von ihm
zu vernehmen, und ſo hatte er einen hoͤchſt
bedeutenden, bald erfreulichen, bald unerquick¬
lichen, immer aber zerſtreuenden Zudrang zu
erfahren. Denn es lagen angefangene Arbei¬
ten genug vor ihm, ja es waͤre fuͤr einige
[360] Jahre hinreichend zu thun geweſen, wenn er
mit hergebrachter Liebe ſich daran haͤtte hal¬
ten koͤnnen; aber er war aus der Stille, der
Daͤmmerung, der Dunkelheit, welche ganz
allein die reinen Productionen beguͤnſtigen
kann, in den Laͤrmen des Tageslichts hervor¬
gezogen, wo man ſich in anderen verliert, wo
man irre gemacht wird durch Theilnahme wie
durch Kaͤlte, durch Lob und durch Tadel, weil
dieſe aͤußern Beruͤhrungen niemals mit der
Epoche unſerer innern Cultur zuſammentreffen,
und uns daher, da ſie nicht foͤrdern koͤnnen,
nothwendig ſchaden muͤſſen.
Doch mehr als alle Zerſtreuungen des
Tags, hielt den Verfaſſer von Bearbeitung
und Vollendung groͤßerer Werke die Luſt ab,
die uͤber jene Geſellſchaft gekommen war, al¬
les was im Leben einigermaßen bedeutendes
vorging, zu dramatiſiren. Was dieſes
Kunſtwort, (denn ein ſolches war es, in je¬
ner productiven Geſellſchaft) eigentlich bedeu¬
[361] tete, iſt hier auseinander zu ſetzen. Durch
ein geiſtreiches Zuſammenſeyn an den heiterſten
Tagen aufgeregt, gewoͤhnte man ſich, in au¬
genblicklichen kurzen Darſtellungen alles das¬
jenige zu zerſplittern, was man ſonſt zuſam¬
mengehalten hatte, um groͤßere Compoſitionen
daraus zu erbauen. Ein einzelner einfacher
Vorfall, ein gluͤcklich naives, ja ein albernes
Wort, ein Misverſtand, eine Paradoxie, eine
geiſtreiche Bemerkung, perſoͤnliche Eigenheiten
oder Angewohnheiten, ja eine bedeutende
Miene, und was nur immer in einem bun¬
ten rauſchenden Leben vorkommen mag, alles
ward in Form des Dialogs, der Catechiſa¬
tion, einer bewegten Handlung, eines Schau¬
ſpiels dargeſtellt, manchmal in Proſa, oͤfters
in Verſen.
An dieſer genialiſch-leidenſchaftlich durch¬
geſetzten Uebung beſtaͤtigte ſich jene eigentlich
poetiſche Denkweiſe. Man ließ naͤmlich Ge¬
genſtaͤnde, Begebenheiten, Perſonen an und
[362] fuͤr ſich, ſo wie in allen Verhaͤltniſſen beſte¬
hen, man ſuchte ſie nur deutlich zu faſſen
und lebhaft abzubilden. Alles Urtheil, billi¬
gend oder misbilligend, ſollte ſich vor den
Augen des Beſchauers in lebendigen Formen
bewegen. Man koͤnnte dieſe Productionen
belebte Sinngedichte nennen, die ohne Schaͤr¬
fe und Spitzen, mit treffenden und entſchei¬
denden Zuͤgen reichlich ausgeſtattet waren.
Das Jahrmarktsfeſt iſt ein ſolches, oder
vielmehr eine Sammlung ſolcher Epigramme.
Unter allen dort auftretenden Masken ſind
wirkliche, in jener Societaͤt lebende Glieder,
oder ihr wenigſtens verbundene und einiger¬
maßen bekannte Perſonen gemeynt; aber der
Sinn des Raͤthſels blieb den meiſten verbor¬
gen, alle lachten, und wenige wußten, daß
ihnen ihre eigenſten Eigenheiten zum Scherze
dienten. Der Prolog zu Barths neue¬
ſten Offenbarungen gilt fuͤr einen Be¬
leg anderer Art; die kleinſten finden ſich un¬
ter den gemiſchten Gedichten, ſehr viele ſind
[363] zerſtoben und verloren gegangen, manche noch
uͤbrige laſſen ſich nicht wohl mittheilen. Was
hiervon im Druck erſchienen, vermehrte nur
die Bewegung im Publicum, und die Neu¬
gierde auf den Verfaſſer; was handſchriftlich
mitgetheilt wurde, belebte den naͤchſten Kreis,
der ſich immer erweiterte. Doctor Barth,
damals in Gießen, beſuchte mich, ſcheinbar
hoͤflich und zutraulich; er ſcherzte uͤber den
Prolog, und wuͤnſchte ein freundliches Ver¬
haͤltniß. Wir jungen Leute aber fuhren fort
kein geſelliges Feſt zu begehen, ohne mit ſtil¬
ler Schadenfreude uns der Eigenheiten zu er¬
freuen, die wir an andern bemerkt und gluͤck¬
lich dargeſtellt hatten.
Misfiel es nun dem jungen Autor keines¬
wegs, als ein literariſches Meteor angeſtaunt
zu werden; ſo ſuchte er mit freudiger Be¬
ſcheidenheit den bewaͤhrteſten Maͤnnern des
Vaterlands ſeine Achtung zu bezeigen, unter
denen vor allen andern der herrliche Juſtus
[364] Moͤſer zu nennen iſt. Dieſes unvergleich¬
lichen Mannes kleine Aufſaͤtze, ſtaatsbuͤrger¬
lichen Inhalts, waren ſchon ſeit einigen Jah¬
ren in den Osnabruͤcker Intelligenzblaͤttern ab¬
gedruckt, und mir durch Herder bekannt ge¬
worden, der nichts ablehnte was irgend wuͤr¬
dig, zu ſeiner Zeit, beſonders aber im Druck
ſich hervorthat. Moͤſers Tochter, Frau von
Voigt, war beſchaͤftigt, dieſe zerſtreuten Blaͤt¬
ter zu ſammeln. Wir konnten die Heraus¬
gabe kaum erwarten, und ich ſetzte mich mit
ihr in Verbindung, um mit aufrichtiger Theil¬
nahme zu verſichern, daß die fuͤr einen be¬
ſtimmten Kreis berechneten wirkſamen Auf¬
ſaͤtze, ſowohl der Materie als der Form nach,
uͤberall zum Nutzen und Frommen dienen
wuͤrden. Sie und ihr Vater nahmen dieſe
Aeußerung eines nicht ganz unbekannten Fremd¬
lings gar wohl auf, indem eine Beſorgniß
die ſie gehegt, durch dieſe Erklaͤrung vorlaͤu¬
fig gehoben worden.
[365]
An dieſen kleinen Aufſaͤtzen, welche, ſaͤmmt¬
lich in Einem Sinne verfaßt, ein wahrhaft
Ganzes ausmachen, iſt die innigſte Kenntniß
des buͤrgerlichen Weſens im hoͤchſten Grade
merkwuͤrdig und ruͤhmenswerth. Wir ſehen
eine Verfaſſung auf der Vergangenheit ruhn,
und noch als lebendig beſtehn. Von der ei¬
nen Seite haͤlt man am Herkommen feſt, von
der andern kann man die Bewegung und
Veraͤnderung der Dinge nicht hindern. Hier
fuͤrchtet man ſich vor einer nuͤtzlichen Neue¬
rung, dort hat man Luſt und Freude am
Neuen, auch wenn es unnuͤtz ja ſchaͤdlich waͤ¬
re. Wie vorurtheilsfrey ſetzt der Verfaſſer
die Verhaͤltniſſe der Staͤnde aus einander, ſo
wie den Bezug, in welchem die Staͤdte, Fle¬
cken und Doͤrfer wechſelſeitig ſtehn. Man
erfaͤhrt ihre Gerechtſame zugleich mit den
rechtlichen Gruͤnden, es wird uns bekannt,
wo das Grundcapital des Staats liegt und
was es fuͤr Intereſſen bringt. Wir ſehen
den Beſitz und ſeine Vortheile, dagegen aber
[366] auch die Abgaben und Nachtheile verſchiede¬
ner Art, ſodann den mannigfaltigen Erwerb;
hier wird gleichfalls die aͤltere und neuere
Zeit einander entgegengeſetzt.
Osnabruͤck, als Glied der Hanſe, fin¬
den wir in der aͤltern Epoche in großer Han¬
delsthaͤtigkeit. Nach jenen Zeitverhaͤltniſſen
hat es eine merkwuͤrdige und ſchoͤne Lage; es
kann ſich die Producte des Landes zueignen,
und iſt nicht allzu weit von der See entfernt,
um auch dort ſelbſt mitzuwirken. Nun aber,
in der ſpaͤteren Zeit, liegt es ſchon tief in
der Mitte des Landes, es wird nach und
nach vom Seehandel entfernt und ausgeſchloſ¬
ſen. Wie dieß zugegangen, wird von vielen
Seiten dargeſtellt. Zur Sprache kommt der
Conflict Englands und der Kuͤſten, der Haͤ¬
fen und des Mittellandes; hier werden die
großen Vortheile derer welche der See an¬
wohnen herausgeſetzt, und ernſtliche Vorſchlaͤ¬
ge gethan, wie die Bewohner des Mittellan¬
[367] des ſich dieſelben gleichfalls zueignen koͤnnten.
Sodann erfahren wir gar manches von Ge¬
werben und Handwerken, und wie ſolche durch
Fabriken uͤberfluͤgelt, durch Kraͤmerey unter¬
graben werden; wir ſehen den Verfall, als
den Erfolg von mancherley Urſachen, und die¬
ſen Erfolg wieder als die Urſache neuen Ver¬
falls, in einem ewigen ſchwer zu loͤſenden Cir¬
kel; doch zeichnet ihn der wackere Staatsbuͤr¬
ger auf eine ſo deutliche Weiſe hin, daß man
noch glaubt, ſich daraus retten zu koͤnnen.
Durchaus laͤßt der Verfaſſer die gruͤndlichſte
Einſicht in die beſonderſten Umſtaͤnde ſehen.
Seine Vorſchlaͤge, ſein Rath, nichts iſt aus
der Luft gegriffen, und doch ſo oft nicht aus¬
fuͤhrbar, deswegen er auch die Sammlung
Patriotiſche Phantaſieen genannt, ob¬
gleich alles ſich darin an das Wirkliche und
Moͤgliche haͤlt.
Da nun aber alles Oeffentliche auf dem
Familienweſen ruht, ſo wendet er auch dahin
[368] vorzuͤglich ſeinen Blick. Als Gegenſtaͤnde ſei¬
ner ernſten und ſcherzhaften Betrachtungen
finden wir die Veraͤnderung der Sitten und
Gewohnheiten, der Kleidungen, der Diaͤt,
des haͤuslichen Lebens, der Erziehung. Man
muͤßte eben alles was in der buͤrgerlichen und
ſittlichen Welt vorgeht, rubriciren, wenn man
die Gegenſtaͤnde erſchoͤpfen wollte, die er be¬
handelt. Und dieſe Behandlung iſt bewun¬
dernswuͤrdig. Ein vollkommener Geſchaͤfts¬
mann ſpricht zum Volke in Wochenblaͤttern,
um dasjenige, was eine einſichtige wohlwollen¬
de Regierung ſich vornimmt oder ausfuͤhrt, ei¬
nem Jeden von der rechten Seite faßlich zu
machen; keineswegs aber lehrhaft, ſondern in
den mannigfaltigſten Formen, die man poe¬
tiſch nennen koͤnnte, und die gewiß in dem
beſten Sinn fuͤr rhetoriſch gelten muͤſſen. Im¬
mer iſt er uͤber ſeinen Gegenſtand erhaben,
und weiß uns eine heitere Anſicht des Ern¬
ſteſten zu geben; bald hinter dieſer bald hin¬
ter jener Maske halb verſteckt, bald in eig¬
[369] ner Perſon ſprechend, immer vollſtaͤndig und
erſchoͤpfend, dabey immer froh, mehr oder
weniger ironiſch, durchaus tuͤchtig, rechtſchaf¬
fen, wohlmeinend, ja manchmal derb und
heftig, und dieſes alles ſo abgemeſſen, daß
man zugleich den Geiſt, den Verſtand, die
Leichtigkeit. Gewandheit, den Geſchmack und
Character des Schriftſtellers bewundern muß.
In Abſicht auf Wahl gemeinnuͤtziger Ge¬
genſtaͤnde, auf tiefe Einſicht, freye Ueberſicht,
gluͤckliche Behandlung, ſo gruͤndlichen als fro¬
hen Humor, wuͤßte ich ihm Niemand als
Franklin zu vergleichen.
Ein ſolcher Mann imponirte uns unend¬
lich und hatte den groͤßten Einfluß auf eine
Jugend, die auch etwas Tuͤchtiges wollte,
und im Begriff ſtand, es zu erfaſſen. In
die Formen ſeines Vortrags glaubten wir uns
wohl auch finden zu koͤnnen; aber wer durfte
hoffen, ſich eines ſo reichen Gehalts zu be¬
III. 24[370] maͤchtigen, und die widerſpaͤnſtigſten Gegen¬
ſtaͤnde mit ſo viel Freyheit zu handhaben?
Doch das iſt unſer ſchoͤnſter und ſuͤßeſter
Wahn, den wir nicht aufgeben duͤrfen, ob
er uns gleich viel Pein im Leben verurſacht,
daß wir das was wir ſchaͤtzen und verehren,
uns auch wo moͤglich zueignen, ja aus uns
ſelbſt hervorbringen und darſtellen moͤchten.
Vierzehntes Buch.
24*[[372]][[373]]Mit jener Bewegung nun, welche ſich
im Publicum verbreitete, ergab ſich eine an¬
dere, fuͤr den Verfaſſer vielleicht von groͤßerer
Bedeutung, indem ſie ſich in ſeiner naͤchſten
Umgebung ereignete. Aeltere Freunde, wel¬
che jene Dichtungen, die nun ſo großes Auf¬
ſehen machten, ſchon im Manuſcript gekannt
hatten, und ſie deshalb zum Theil als die
ihrigen anſahen, triumphirten uͤber den gu¬
ten Erfolg, den ſie, kuͤhn genug, zum vor¬
aus geweiſſagt. Zu ihnen fanden ſich neue
Theilnehmer, beſonders ſolche, welche ſelbſt
eine productive Kraft in ſich ſpuͤrten, oder zu
erregen und zu hegen wuͤnſchten.
Unter den erſtern that ſich Lenz am leb¬
hafteſten und gar ſonderbar hervor. Das
[374] Aeußerliche dieſes merkwuͤrdigen Menſchen iſt
ſchon umriſſen, ſeines humoriſtiſchen Talents
mit Liebe gedacht: nun will ich von ſeinem
Character mehr in Reſultaten als ſchildernd
ſprechen, weil es unmoͤglich waͤre, ihn durch
die Umſchweife ſeines Lebensganges zu be¬
gleiten, und ſeine Eigenheiten darſtellend zu
uͤberliefern.
Man kennt jene Selbſtquaͤlerey, welche,
da man von außen und von andern keine
Noth hatte, an der Tagesordnung war, und
gerade die vorzuͤglichſten Geiſter beunruhigte.
Was gewoͤhnliche Menſchen, die ſich nicht
ſelbſt beobachten, nur voruͤbergehend quaͤlt,
was ſie ſich aus dem Sinne zu ſchlagen ſu¬
chen, das ward von den beſſeren ſcharf be¬
merkt, beachtet, in Schriften, Briefen und
Tagebuͤchern aufbewahrt. Nun aber geſellten
ſich die ſtrengſten ſittlichen Forderungen an
ſich und andere zu der groͤßten Fahrlaͤſſigkeit
im Thun, und ein aus dieſer halben Selbſt¬
[375] kenntniß entſpringender Duͤnkel verfuͤhrte zu
den ſeltſamſten Angewohnheiten und Unarten.
Zu einem ſolchen Abarbeiten in der Selbſtbe¬
obachtung berechtigte jedoch die aufwachende
empiriſche Pſychologie, die nicht gerade alles
was uns innerlich beunruhigt, fuͤr boͤs und
verwerflich erklaͤren wollte, aber doch auch
nicht alles billigen konnte; und ſo war ein
ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬
ſen zu fuͤhren und zu unterhalten uͤbertraf
nun Lenz alle uͤbrigen Un- oder Halbbeſchaͤf¬
tigten, welche ihr Inneres untergruben, und
ſo litt er im Allgemeinen von der Zeitgeſin¬
nung, welche durch die Schilderung Werther's
abgeſchloſſen ſeyn ſollte; aber ein individueller
Zuſchnitt unterſchied ihn von allen uͤbrigen,
die man durchaus fuͤr offene redliche Seelen
anerkennen mußte. Er hatte naͤmlich einen
entſchiedenen Hang zur Intrigue, und zwar
zur Intrigue an ſich, ohne daß er eigentliche
Zwecke, verſtaͤndige, ſelbſtiſche, erreichbare
Zwecke dabey gehabt haͤtte; vielmehr pflegte
[376] er ſich immer etwas Fratzenhaftes vorzuſetzen,
und eben deswegen diente es ihm zur beſtaͤn¬
digen Unterhaltung. Auf dieſe Weiſe war er
Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, ſeine
Liebe wie ſein Haß waren imaginaͤr, mit ſei¬
nen Vorſtellungen und Gefuͤhlen verfuhr er
willkuͤhrlich, damit er immer fort etwas zu
thun haben moͤchte. Durch die verkehrteſten
Mittel ſuchte er ſeinen Neigungen und Ab¬
neigungen Realitaͤt zu geben, und vernichtete
ſein Werk immer wieder ſelbſt; und ſo hat er
Niemanden den er liebte, jemals genuͤtzt, Nie¬
manden den er haßte, jemals geſchadet, und
im Ganzen ſchien er nur zu ſuͤndigen, um
ſich ſtrafen, nur zu intriguiren, um eine
neue Fabel auf eine alte pfropfen zu koͤnnen.
Aus wahrhafter Tiefe, aus unerſchoͤpfli¬
cher Productivitaͤt ging ſein Talent hervor, in
welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfin¬
digkeit mit einander wetteiferten, das aber,
bey aller ſeiner Schoͤnheit, durchaus kraͤnkelte,
[377] und gerade dieſe Talente ſind am ſchwerſten
zu beurtheilen. Man konnte in ſeinen Ar¬
beiten große Zuͤge nicht verkennen; eine lieb¬
liche Zaͤrtlichkeit ſchleicht ſich durch zwiſchen
den albernſten und barockeſten Fratzen, die
man ſelbſt einem ſo gruͤndlichen und anſpruch¬
loſen Humor, einer wahrhaft komiſchen Gabe
kaum verzeihen kann. Seine Tage waren aus
lauter Nichts zuſammengeſetzt, dem er durch
ſeine Ruͤhrigkeit eine Bedeutung zu geben
wußte, und er konnte um ſo mehr viele
Stunden verſchlendern, als die Zeit die er
zum Leſen anwendete, ihm, bey einem gluͤck¬
lichen Gedaͤchtniß, immer viel Frucht brachte,
und ſeine originelle Denkweiſe mit mannigfal¬
tigem Stoff bereicherte.
Man hatte ihn mit lieflaͤndiſchen Cavalie¬
ren nach Straßburg geſendet, und einen
Mentor nicht leicht ungluͤcklicher waͤhlen koͤnnen.
Der aͤltere Baron ging fuͤr einige Zeit ins
Vaterland zuruͤck, und hinterließ eine Ge¬
[378] liebte, an die er feſt geknuͤpft war. Lenz,
um den zweyten Bruder, der auch um die¬
ſes Frauenzimmer warb, und andere Liebha¬
ber zuruͤckzudraͤngen, und das koſtbare Herz
ſeinem abweſenden Freunde zu erhalten, be¬
ſchloß nun ſelbſt ſich in die Schoͤne verliebt
zu ſtellen, oder, wenn man will, zu verlie¬
ben. Er ſetzte dieſe ſeine Theſe mit der hart¬
naͤckigſten Anhaͤnglichkeit an das Ideal, das
er ſich von ihr gemacht hatte, durch, ohne
gewahr werden zu wollen, daß er ſo gut als
die uͤbrigen ihr nur zum Scherz und zur Unter¬
haltung diene. Deſto beſſer fuͤr ihn! denn
bey ihm war es auch nur Spiel, welches
deſto laͤnger dauern konnte als ſie es ihm
gleichfalls ſpielend erwiederte, ihn bald anzog,
bald abſtieß, bald hervorrief, bald hintan¬
ſetzte. Man ſey uͤberzeugt, daß wenn er
zum Bewußtſeyn kam, wie ihm denn das
zuweilen zu geſchehen pflegte, er ſich zu ei¬
nem ſolchen Fund recht behaglich Gluͤck ge¬
wuͤnſcht habe.
[379]
Uebrigens lebte er, wie ſeine Zoͤglinge,
meiſtens mit Officieren der Garniſon, wobey
ihm die wunderſamen Anſchauungen, die er
ſpaͤter in dem Luſtſpiel die Soldaten auf¬
ſtellte, moͤgen geworden ſeyn. Indeſſen hatte
dieſe fruͤhe Bekanntſchaft mit dem Militair
die eigene Folge fuͤr ihn, daß er ſich fuͤr ei¬
nen großen Kenner des Waffenweſens hielt;
auch hatte er wirklich dieſes Fach nach und
nach ſo im Detail ſtudirt, daß er, einige
Jahre ſpaͤter, ein großes Memoire an den
franzoͤſiſchen Kriegsminiſter aufſetzte, wovon
er ſich den beſten Erfolg verſprach. Die Ge¬
brechen jenes Zuſtandes waren ziemlich gut
geſehn, die Heilmittel dagegen laͤcherlich und
unausfuͤhrbar. Er aber hielt ſich uͤberzeugt,
daß er dadurch bey Hofe großen Einfluß ge¬
winnen koͤnne, und wußte es den Freunden
ſchlechten Dank, die ihn, theils durch Gruͤnde,
theils durch thaͤtigen Widerſtand, abhielten,
dieſes phantaſtiſche Werk, das ſchon ſauber
abgeſchrieben, mit einem Briefe begleitet,
[380] couvertirt und foͤrmlich adreſſirt war, zuruͤck¬
zuhalten, und in der Folge zu verbrennen.
Muͤndlich und nachher ſchriftlich hatte er
mir die ſaͤmmtlichen Irrgaͤnge ſeiner Kreuz-
und Querbewegungen, in Bezug auf jenes
Frauenzimmer vertraut. Die Poeſie die er
in das Gemeinſte zu legen wußte, ſetzte mich
oft in Erſtaunen, ſo daß ich ihn dringend
bat, den Kern dieſes weitſchweifigen Aben¬
teuers geiſtreich zu befruchten, und einen
kleinen Roman daraus zu bilden; aber es
war nicht ſeine Sache, ihm konnte nicht wohl
werden, als wenn er ſich grenzenlos im Ein¬
zelnen verfloß und ſich an einem unendlichen
Faden ohne Abſicht hinſpann. Vielleicht wird
es dereinſt moͤglich, nach dieſen Praͤmiſſen,
ſeinen Lebensgang, bis zu der Zeit da er ſich
in Wahnſinn verlor, auf irgend eine Weiſe
anſchaulich zu machen; gegenwaͤrtig halte ich
mich an das Naͤchſte, was eigentlich hierher
gehoͤrt.
[381]
Kaum war Goetz von Berlichingen er¬
ſchienen, als mir Lenz einen weitlaͤuftigen
Aufſatz zuſendete, auf geringes Conceptpapier
geſchrieben, deſſen er ſich gewoͤhnlich bediente,
ohne den mindeſten Rand weder oben noch
unten, noch an den Seiten zu laſſen. Die¬
ſe Blaͤtter waren betitelt: Ueber unſere
Ehe, und ſie wuͤrden, waͤren ſie noch vor¬
handen, uns gegenwaͤrtig mehr aufklaͤren als
mich damals, da ich uͤber ihn und ſein We¬
ſen noch ſehr im Dunkeln ſchwebte. Das
Hauptabſehen dieſer weitlaͤuftigen Schrift war,
mein Talent und das ſeinige neben einander
zu ſtellen; bald ſchien er ſich mir zu ſubordi¬
niren, bald ſich mir gleich zu ſetzen; das al¬
les aber geſchah mit ſo humoriſtiſchen und
zierlichen Wendungen, daß ich die Anſicht,
die er mir dadurch geben wollte, um ſo lie¬
ber aufnahm, als ich ſeine Gaben wirklich
ſehr hoch ſchaͤtzte und immer nur darauf drang,
daß er aus dem formloſen Schweifen ſich zu¬
ſammenziehen, und die Bildungsgabe, die
[382] ihm angeboren war, mit kunſtgemaͤßer Faſ¬
ſung benutzen moͤchte. Ich erwiederte ſein
Vertrauen freundlichſt, und weil er in ſeinen
Blaͤttern auf die innigſte Verbindung drang
(wie denn auch ſchon der wunderliche Titel
andeutete), ſo theilte ich ihm von nun an al¬
les mit, ſowohl das ſchon Gearbeitete als
was ich vorhatte; er ſendete mir dagegen
nach und nach ſeine Manuſcripte, den Hof¬
meiſter, den neuen Menoza, die Sol¬
daten, Nachbildungen des Plautus, und
jene Ueberſetzung des engliſchen Stuͤcks als
Zugabe zu den Anmerkungen uͤber das
Theater.
Bey dieſen war es mir einigermaßen auf¬
fallend, daß er in einem laconiſchen Vorbe¬
richte ſich dahin aͤußerte, als ſey der Inhalt
dieſes Aufſatzes, der mit Heftigkeit gegen das
regelmaͤßige Theater gerichtet war, ſchon vor
einigen Jahren, als Vorleſung, einer Geſell¬
ſchaft von Literaturfreunden bekannt geworden,
[383] zu der Zeit alſo, wo Goetz noch nicht geſchrie¬
ben geweſen. In Lenzens Straßburger Ver¬
haͤltniſſen ſchien ein literariſcher Cirkel den ich
nicht kennen ſollte, etwas problematiſch; allein
ich ließ es hingehen, und verſchaffte ihm zu
dieſer wie zu ſeinen uͤbrigen Schriften bald
Verleger, ohne auch nur im mindeſten zu ahn¬
den, daß er mich zum vorzuͤglichſten Gegen¬
ſtande ſeines imaginaͤren Haſſes, und zum Ziel
einer abenteuerlichen und grillenhaften Ver¬
folgung auserſehn hatte.
Voruͤbergehend will ich nur, der Folge
wegen, noch eines guten Geſellen gedenken,
der, obgleich von keinen außerordentlichen Ga¬
ben, doch auch mitzaͤhlte. Er hieß Wagner,
erſt ein Glied der Straßburger, dann der
Frankfurter Geſellſchaft; nicht ohne Geiſt, Ta¬
lent und Unterricht. Er zeigte ſich als ein
Strebender, und ſo war er willkommen. Auch
hielt er treulich an mir, und weil ich aus al¬
lem was ich vorhatte kein Geheimniß machte,
[384] ſo erzaͤhlte ich ihm wie andern meine Abſicht
mit Fauſt, beſonders die Cataſtrophe von Gret¬
chen. Er faßte das Suͤjet auf, und benutzte
es fuͤr ein Trauerſpiel, die Kindesmoͤrde¬
rinn. Es war das erſte Mal, daß mir Je¬
mand etwas von meinen Vorſaͤtzen wegſchnapp¬
te; es verdroß mich, ohne daß ich's ihm nach¬
getragen haͤtte. Ich habe dergleichen Gedan¬
kenraub und Vorwegnahmen nachher noch oft
genug erlebt, und hatte mich, bey meinem
Zaudern und Beſchwaͤtzen ſo manches Vorge¬
ſetzten und Eingebildeten, nicht mit Recht zu
beſchweren.
Wenn Redner und Schriftſteller, in Be¬
tracht der großen Wirkung welche dadurch her¬
vorzubringen iſt, ſich gern der Contraſte be¬
dienen, und ſollten ſie auch erſt aufgeſucht
und herbeygeholt werden; ſo muß es dem
Verfaſſer um ſo angenehmer ſeyn, daß ein
entſchiedener Gegenſatz ſich ihm anbietet, in¬
dem er nach Lenzen von Klingern zu ſpre¬
[385] chen hat. Beyde waren gleichzeitig, beſtreb¬
ten ſich in ihrer Jugend mit und neben ein¬
ander. Lenz jedoch, als ein voruͤbergehen¬
des Meteor, zog nur augenblicklich uͤber den
Horizont der deutſchen Literatur hin und ver¬
ſchwand ploͤtzlich, ohne im Leben eine Spur zu¬
ruͤckzulaſſen; Klinger hingegen, als einflußrei¬
cher Schriftſteller, als thaͤtiger Geſchaͤftsmann,
erhaͤlt ſich noch bis auf dieſe Zeit. Von ihm
werde ich nun ohne weitere Vergleichung, die
ſich von ſelbſt ergiebt, ſprechen, in ſo fern es
noͤthig iſt, da er nicht im Verborgenen ſo
manches geleiſtet und ſo vieles gewirkt, ſon¬
dern beydes, in weiterem und naͤherem Kreiſe,
noch in gutem Andenken und Anſehn ſteht.
Klingers Aeußeres — denn von dieſem
beginne ich immer am liebſten — war ſehr
vortheilhaft. Die Natur hatte ihm eine
große, ſchlanke, wohlgebaute Geſtalt und eine
regelmaͤßige Geſichtsbildung gegeben; er hielt
auf ſeine Perſon, trug ſich nett, und man
III. 25[386] konnte ihn fuͤr das huͤbſcheſte Mitglied der
ganzen kleinen Geſellſchaft anſprechen. Sein
Betragen war weder zuvorkommend noch ab¬
ſtoßend, und, wenn es nicht innerlich ſtuͤrmte,
gemaͤßigt.
Man liebt an dem Maͤdchen was es iſt,
und an dem Juͤngling was er ankuͤndigt,
und ſo war ich Klingers Freund, ſobald ich
ihn kennen lernte. Er empfahl ſich durch eine
reine Gemuͤthlichkeit, und ein unverkennbar
entſchiedener Character erwarb ihm Zutrauen.
Auf ein ernſtes Weſen war er von Jugend
auf hingewieſen; er, nebſt einer eben ſo ſchoͤ¬
nen und wackern Schweſter, hatte fuͤr eine
Mutter zu ſorgen, die, als Wittwe, ſol¬
cher Kinder bedurfte, um ſich aufrecht zu er¬
halten. Alles was an ihm war, hatte er
ſich ſelbſt verſchafft und geſchaffen, ſo daß
man ihm einen Zug von ſtolzer Unabhaͤngig¬
keit, der durch ſein Betragen durchging,
nicht verargte. Entſchiedene natuͤrliche Anla¬
[387] gen, welche allen wohlbegabten Menſchen ge¬
mein ſind, leichte Faſſungskraft, vortreffli¬
ches Gedaͤchtniß, Sprachengabe beſaß er in
hohem Grade; aber alles ſchien er weniger
zu achten als die Feſtigkeit und Beharrlich¬
keit, die ſich ihm, gleichfalls angeboren, durch
Umſtaͤnde voͤllig beſtaͤtigt hatten.
Einem ſolchen Juͤngling mußten Rouſſeau's
Werke vorzuͤglich zuſagen. Emil war ſein
Haupt- und Grundbuch, und jene Geſin¬
nungen fruchteten um ſo mehr bey ihm, als
ſie uͤber die ganze gebildete Welt allgemeine
Wirkung ausuͤbten, ja bey ihm mehr als
bey andern. Denn auch er war ein Kind der
Natur, auch er hatte von unten auf ange¬
fangen; das was andere wegwerfen ſollten,
hatte er nie beſeſſen, Verhaͤltniſſe, aus wel¬
chen ſie ſich retten ſollten, hatten ihn nie be¬
engt; und ſo konnte er fuͤr einen der reinſten
Juͤnger jenes Naturevangeliums angeſehen
werden, und in Betracht ſeines ernſten Be¬
25 *[388] ſtrebens, ſeines Betragens als Menſch und
Sohn recht wohl ausrufen: alles iſt gut,
wie es aus den Haͤnden der Natur kommt! —
Aber auch den Nachſatz: alles verſchlimmert
ſich unter den Haͤnden der Menſchen! draͤngte
ihm eine widerwaͤrtige Erfahrung auf. Er
hatte nicht mit ſich ſelbſt, aber außer ſich
mit der Welt des Herkommens zu kaͤmpfen,
von deren Feſſeln der Buͤrger von Genf uns
zu erloͤſen gedachte. Weil nun, in des Juͤng¬
lings Lage, dieſer Kampf oft ſchwer und ſau¬
er ward, ſo fuͤhlte er ſich gewaltſamer in ſich
zuruͤckgetrieben, als daß er durchaus zu einer
frohen und freudigen Ausbildung haͤtte gelan¬
gen koͤnnen: vielmehr mußte er ſich durch¬
ſtuͤrmen, durchdraͤngen; daher ſich ein bitte¬
rer Zug in ſein Weſen ſchlich, den er in der
Folge zum Theil gehegt und genaͤhrt, mehr
aber bekaͤmpft und beſiegt hat.
In ſeinen Productionen, in ſo fern ſie
mir gegenwaͤrtig ſind, zeigt ſich ein ſtrenger
[389] Verſtand, ein biederer Sinn, eine rege Ein¬
bildungskraft, eine gluͤckliche Beobachtung der
menſchlichen Mannigfaltigkeit, und eine charac¬
teriſtiſche Nachbildung der generiſchen Unter¬
ſchiede. Seine Maͤdchen und Knaben ſind
frey und lieblich, ſeine Juͤnglinge gluͤhend,
ſeine Maͤnner ſchlicht und verſtaͤndig, die Fi¬
guren die er unguͤnſtig darſtellt, nicht zu ſehr
uͤbertrieben; ihm fehlt es nicht an Heiterkeit
und guter Laune, Witz und gluͤcklichen Ein¬
faͤllen; Allegorieen und Symbole ſtehen ihm
zu Gebot; er weiß uns zu unterhalten und
zu vergnuͤgen, und der Genuß wuͤrde noch
reiner ſeyn, wenn er ſich und uns den heitern
bedeutenden Scherz nicht durch ein bitteres
Miswollen hier und da verkuͤmmerte. Doch
dieß macht ihn eben zu dem was er iſt, und
dadurch wird ja die Gattung der Lebenden
und Schreibenden ſo mannigfaltig, daß ein
Jeder, theoretiſch, zwiſchen Erkennen und
Irren, practiſch, zwiſchen Beleben und Ver¬
nichten hin und wieder wogt.
[390]
Klinger gehoͤrt unter die, welche ſich aus
ſich ſelbſt, aus ihrem Gemuͤthe und Verſtande
heraus zur Welt gebildet hatten. Weil nun
dieſes mit und in einer groͤßeren Maſſe ge¬
ſchah, und ſie ſich unter einander einer ver¬
ſtaͤndlichen, aus der allgemeinen Natur und
aus der Volks-Eigenthuͤmlichkeit herfließenden
Sprache mit Kraft und Wirkung bedienten;
ſo waren ihnen fruͤher und ſpaͤter alle Schul¬
formen aͤußerſt zuwider, beſonders wenn ſie,
von ihrem lebendigen Urſprung getrennt, in
Phraſen ausarteten, und ſo ihre erſte friſche
Bedeutung gaͤnzlich verloren. Wie nun gegen
neue Meinungen, Anſichten, Syſteme, ſo er¬
klaͤren ſich ſolche Maͤnner auch gegen neue Er¬
eigniſſe, hervortretende bedeutende Menſchen,
welche große Veraͤnderungen ankuͤndigen oder
bewirken: ein Verfahren, das ihnen keines¬
wegs ſo zu verargen iſt, weil ſie dasjenige von
Grund aus gefaͤhrdet ſehen, dem ſie ihr eig¬
nes Daſeyn und Bildung ſchuldig geworden.
[391]
Jenes Beharren eines tuͤchtigen Charac¬
ters aber, wird um deſto wuͤrdiger, wenn
es ſich durch das Welt- und Geſchaͤftsleben
durcherhaͤlt, und wenn eine Behandlungsart
des Vorkoͤmmlichen, welche manchem ſchroff,
ja gewaltſam ſcheinen moͤchte, zur rechten Zeit
angewandt, am ſicherſten zum Ziele fuͤhrt.
Dieß geſchah bey ihm, da er ohne Biegſam¬
keit (welches ohnedem die Tugend der gebo¬
renen Reichsbuͤrger niemals geweſen,) aber
deſto tuͤchtiger, feſter und redlicher, ſich zu
bedeutenden Poſten erhob, ſich darauf zu erhal¬
ten wußte, und mit Beyfall und Gnade ſei¬
ner hoͤchſten Goͤnner fortwirkte, dabey aber
niemals weder ſeine alten Freunde, noch den
Weg den er zuruͤckgelegt, vergaß. Ja er ſuchte
die vollkommenſte Stetigkeit des Andenkens,
durch alle Grade der Abweſenheit und Tren¬
nung, hartnaͤckig zu erhalten; wie es denn
gewiß angemerkt zu werden verdient, daß er,
als ein anderer Willigis, in ſeinem durch
Ordenszeichen geſchmuͤckten Wappen, Merk¬
[392] male ſeiner fruͤheſten Zeit zu verewigen nicht
verſchmaͤhte.
Es dauerte nicht lange, ſo kam ich auch
mit Lavatern in Verbindung. Der Brief
des Paſtors an ſeinen Collegen hatte ihm
ſtellenweiſe ſehr eingeleuchtet: denn manches
traf mit ſeinen Geſinnungen vollkommen uͤber¬
ein. Bey ſeinem unablaͤſſigen Treiben ward
unſer Briefwechſel bald ſehr lebhaft. Er
machte ſo eben ernſtliche Anſtalten zu ſeiner
groͤßern Phyſiognomik, deren Einleitung ſchon
fruͤher in das Publicum gelangt war. Er
forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen,
Schattenriſſe, beſonders aber Chriſtusbilder
zu ſchicken, und ob ich gleich ſo gut wie gar
nichts leiſten konnte, ſo wollte er doch von
mir ein fuͤr allemal auch einen Heiland ge¬
zeichnet haben, wie ich mir ihn vorſtellte.
Dergleichen Forderungen des Unmoͤglichen ga¬
ben mir zu mancherley Scherzen Anlaß, und
ich wußte mir gegen ſeine Eigenheiten nicht
[393] anders zu helfen, als daß ich die meinigen
hervorkehrte.
Die Anzahl derer, welche keinen Glau¬
ben an die Phyſiognomik hatten, oder doch
wenigſtens ſie fuͤr ungewiß und truͤglich hiel¬
ten, war ſehr groß, und ſogar viele die es
mit Lavatern gut meinten, fuͤhlten einen Ki¬
tzel, ihn zu verſuchen und ihm wo moͤglich
einen Streich zu ſpielen. Er hatte ſich in
Frankfurt, bey einem nicht ungeſchickten Ma¬
ler, die Profile mehrerer namhaften Men¬
ſchen beſtellt. Der Abſender erlaubte ſich den
Scherz, Bahrdts Portrait zuerſt ſtatt des
meinigen abzuſchicken, wogegen eine zwar mun¬
tere aber donnernde Epiſtel zuruͤckkam, mit
allen Truͤmpfen und Betheurungen, daß dieß
mein Bild nicht ſey, und was Lavater ſonſt
alles, zu Beſtaͤtigung der phyſiognomiſchen
Lehre, bey dieſer Gelegenheit mochte zu ſagen
haben. Mein wirkliches nachgeſendetes ließ
er eher gelten; aber auch hier ſchon that ſich
[394] der Widerſtreit hervor, in welchem er ſich
ſowohl mit den Malern als mit den Indivi¬
duen befand. Jene konnten ihm niemals
wahr und genau genug arbeiten, dieſe, bey
allen Vorzuͤgen welche ſie haben mochten, blie¬
ben doch immer zu weit hinter der Idee zu¬
ruͤck, die er von der Menſchheit und den
Menſchen hegte, als daß er nicht durch das
Beſondere, wodurch der einzelne zur Perſon
wird, einigermaßen haͤtte abgeſtoßen werden
ſollen.
Der Begriff von der Menſchheit, der
ſich in ihm und an ſeiner Menſchheit heran¬
gebildet hatte, war ſo genau mit der Vor¬
ſtellung verwandt, die er von Chriſto leben¬
dig in ſich trug, daß es ihm unbegreiflich ſchien,
wie ein Menſch leben und athmen koͤnne,
ohne zugleich ein Chriſt zu ſeyn. Mein Ver¬
haͤltniß zu der chriſtlichen Religion lag bloß
in Sinn und Gemuͤth, und ich hatte von je¬
ner phyſiſchen Verwandſchaft, zu welcher
[395] Lavater ſich hinneigte, nicht den mindeſten
Begriff. Aergerlich war mir daher die hef¬
tige Zudringlichkeit eines ſo geiſt- als herz¬
vollen Mannes, mit der er auf mich ſo wie
auf Mendelsſohn und andere losging, und
behauptete, man muͤſſe entweder mit ihm ein
Chriſt, ein Chriſt nach ſeiner Art werden,
oder man muͤſſe ihn zu ſich hinuͤberziehn,
man muͤſſe ihn gleichfalls von demjenigen uͤber¬
zeugen, worin man ſeine Beruhigung finde.
Dieſe Forderung, ſo unmittelbar dem libera¬
len Weltſinn, zu dem ich mich nach und nach
auch bekannte, entgegen ſtehend, that auf
mich nicht die beſte Wirkung. Alle Bekeh¬
rungsverſuche, wenn ſie nicht gelingen, ma¬
chen denjenigen, den man zum Proſelyten
auserſah, ſtarr und verſtockt, und dieſes war
um ſo mehr mein Fall, als Lavater zuletzt mit
dem harten Dilemma hervortrat: „Entweder
Chriſt, oder Atheiſt!“ Ich erklaͤrte darauf,
daß wenn er mir mein Chriſtenthum nicht
laſſen wollte, wie ich es bisher gehegt haͤtte,
[396] ſo koͤnnte ich mich auch wohl zum Atheismus
entſchließen, zumal da ich ſaͤhe, daß Niemand
recht wiſſe, was beydes eigentlich heißen ſolle.
Dieſes Hin- und Wiederſchreiben, ſo hef¬
tig es auch war, ſtoͤrte das gute Verhaͤltniß
nicht. Lavater hatte eine unglaubliche Ge¬
duld, Beharrlichkeit, Ausdauer; er war ſei¬
ner Lehre gewiß, und bey dem entſchiedenen
Vorſatz, ſeine Ueberzeugung in der Welt aus¬
zubreiten, ließ er ſich's gefallen, was nicht
durch Kraft geſchehen konnte, durch Abwar¬
ten und Milde durchzufuͤhren. Ueberhaupt
gehoͤrte er zu den wenigen gluͤcklichen Men¬
ſchen, deren aͤußerer Beruf mit dem innern
vollkommen uͤbereinſtimmt, und deren fruͤheſte
Bildung, ſtetig zuſammenhaͤngend mit der
ſpaͤtern, ihre Faͤhigkeiten naturgemaͤß entwi¬
ckelt. Mit den zarteſten ſittlichen Anlagen
geboren, beſtimmte er ſich zum Geiſtlichen.
Er genoß des noͤthigen Unterrichts und zeig¬
te viele Faͤhigkeiten, ohne ſich jedoch zu jener
[397] Ausbildung hinzuneigen, die man eigentlich
gelehrt nennt. Denn auch er, um ſo viel
fruͤher geboren als wir, ward von dem Frey¬
heits- und Naturgeiſt der Zeit ergriffen, der
Jedem ſehr ſchmeichleriſch in die Ohren raun¬
te: man habe, ohne viele aͤußere Huͤlfsmittel,
Stoff und Gehalt genug in ſich ſelbſt, alles
komme nur darauf an, daß man ihn gehoͤrig
entfalte. Die Pflicht des Geiſtlichen, ſittlich
im taͤglichen Sinne, religioͤs im hoͤheren, auf
die Menſchen zu wirken, traf mit ſeiner Denk¬
weiſe vollkommen uͤberein. Redliche und from¬
me Geſinnungen, wie er ſie fuͤhlte, den Men¬
ſchen mitzutheilen, ſie in ihnen zu erregen,
war des Juͤnglings entſchiedenſter Trieb, und
ſeine liebſte Beſchaͤftigung, wie auf ſich ſelbſt,
ſo auf andere zu merken. Jenes ward ihm
durch ein inneres Zartgefuͤhl, dieſes durch ei¬
nen ſcharfen Blick auf das Aeußere erleich¬
tert, ja aufgedrungen. Zur Beſchaulichkeit
war er jedoch nicht geboren, zur Darſtellung
im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe:
[398] er fuͤhlte ſich vielmehr mit allen ſeinen Kraͤf¬
ten zur Thaͤtigkeit, zur Wirkſamkeit gedraͤngt,
ſo daß ich Niemand gekannt habe, der un¬
unterbrochener handelte als er. Weil nun
aber unſer inneres ſittliches Weſen in aͤuße¬
ren Bedingungen verkoͤrpert iſt, es ſey nun
daß wir einer Familie, einem Stande, einer
Gilde, einer Stadt, oder einem Staate an¬
gehoͤren; ſo mußte er zugleich, in ſo fern er
wirken wollte, alle dieſe Aeußerlichkeiten be¬
ruͤhren und in Bewegung ſetzen, wodurch denn
freylich mancher Anſtoß, manche Verwickelung
entſprang, beſonders, da das Gemeinweſen,
als deſſen Glied er geboren war, in der ge¬
nauſten und beſtimmteſten Beſchraͤnkung einer
loͤblichen hergebrachten Freyheit genoß. Schon
der republicaniſche Knabe gewoͤhnt ſich, uͤber
das oͤffentliche Weſen zu denken und mitzu¬
ſprechen. In der erſten Bluͤte ſeiner Tage
ſieht ſich der Juͤngling, als Zunftgenoſſe, bald
in dem Fall, ſeine Stimme zu geben und zu
verſagen. Will er gerecht und ſelbſtaͤndig
[399] urtheilen, ſo muß er ſich von dem Werth ſei¬
ner Mitbuͤrger vor allen Dingen uͤberzeugen,
er muß ſie kennen lernen, er muß ſich nach
ihren Geſinnungen, nach ihren Kraͤften um¬
thun, und ſo, indem er andere zu erforſchen
trachtet, immer in ſeinen eignen Buſen zu¬
ruͤckkehren.
In ſolchen Verhaͤltniſſen uͤbte ſich Lavater
fruͤh, und eben dieſe Lebensthaͤtigkeit ſcheint
ihn mehr beſchaͤftigt zu haben als Sprachſtu¬
dien, als jene ſondernde Critik, die mit ih¬
nen verwandt, ihr Grund ſo wie ihr Ziel
iſt. In ſpaͤteren Jahren, da ſich ſeine Kennt¬
niſſe, ſeine Einſichten unendlich weit ausge¬
breitet hatten, ſprach er doch im Ernſt und
Scherz oft genug aus, daß er nicht gelehrt
ſey; und gerade einem ſolchen Mangel von
eindringendem Studium muß man zuſchrei¬
ben, daß er ſich an den Buchſtaben der Bi¬
bel ja der Bibeluͤberſetzung hielt, und frey¬
lich fuͤr das was er ſuchte und beabſichtigte
[400] hier genugſame Nahrung und Huͤlfsmittel
fand.
Aber gar bald ward jener zunft- und gil¬
demaͤßig langſam bewegte Wirkungskreis dem
lebhaften Naturell zu enge. Gerecht zu ſeyn
wird dem Juͤngling nicht ſchwer, und ein
reines Gemuͤth verabſcheut die Ungerechtigkeit,
deren es ſich ſelbſt noch nicht ſchuldig gemacht
hat. Die Bedruͤckungen eines Landvogts la¬
gen offenbar vor den Augen der Buͤrger,
ſchwerer waren ſie vor Gericht zu bringen.
Lavater geſellt ſich einen Freund zu, und bey¬
de bedrohen, ohne ſich zu nennen, jenen ſtraf¬
wuͤrdigen Mann. Die Sache wird ruchbar,
man ſieht ſich genoͤthigt, ſie zu unterſuchen.
Der Schuldige wird beſtraft, aber die Ver¬
anlaſſer dieſer Gerechtigkeit werden getadelt,
wo nicht geſcholten. In einem wohleingerich¬
teten Staate ſoll das Rechte ſelbſt nicht auf
unrechte Weiſe geſchehn.
[401]
Auf einer Reiſe die Lavater durch Deutſch¬
land macht, ſetzt er ſich mit gelehrten und
wohldenkenden Maͤnnern in Beruͤhrung; al¬
lein er befeſtigt ſich dabey nur mehr in ſei¬
nen eignen Gedanken und Ueberzeugungen; nach
Hauſe zuruͤckgekommen, wirkt er immer freyer
aus ſich ſelbſt. Als ein edler guter Menſch,
fuͤhlt er in ſich einen herrlichen Begriff von
der Menſchheit, und was dieſem allenfalls
in der Erfahrung widerſpricht, alle die un¬
leugbaren Maͤngel, die einen Jeden von der
Vollkommenheit ablenken, ſollen ausgeglichen
werden durch den Begriff der Gottheit, die
ſich, in der Mitte der Zeiten, in die menſch¬
liche Natur herabgeſenkt, um ihr fruͤheres
Ebenbild vollkommen wiederherzuſtellen.
Soviel vorerſt von den Anfaͤngen dieſes
merkwuͤrdigen Mannes, und nun vor allen
Dingen eine heitere Schilderung unſeres per¬
ſoͤnlichen Zuſammentreffens und Beyſammen¬
ſeyns. Denn unſer Briefwechſel hatte nicht
lll. 26[402] lange gedauert, als er mir und andern an¬
kuͤndigte, er werde bald, auf einer vorzuneh¬
menden Rheinreiſe, in Frankfurt einſprechen.
Sogleich entſtand im Publicum die groͤßte
Bewegung; alle waren neugierig, einen ſo
merkwuͤrdigen Mann zu ſehn; viele hofften
fuͤr ihre ſittliche und religioͤſe Bildung zu ge¬
winnen; die Zweifler dachten ſich mit bedeu¬
tenden Einwendungen hervorzuthun, die Ein¬
bildiſchen waren gewiß, ihn durch Argumente,
in denen ſie ſich ſelbſt beſtaͤrkt hatten, zu ver¬
wirren und zu beſchaͤmen, und was ſonſt al¬
les Williges und Unwilliges einen bemerkten
Menſchen erwartet, der ſich mit dieſer ge¬
miſchten Welt abzugeben gedenkt.
Unſer erſtes Begegnen war herzlich; wir
umarmten uns aufs freundlichſte, und ich fand
ihn gleich wie mir ihn ſo manche Bilder ſchon
uͤberliefert hatten. Ein Individuum, einzig,
ausgezeichnet wie man es nicht geſehn hat
und nicht wieder ſehn wird, ſah ich lebendig
[403] und wirkſam vor mir. Er hingegen verrieth
im erſten Augenblick durch einige ſonderbare
Ausrufungen, daß er mich anders erwartet
habe. Ich verſicherte ihm dagegen, nach mei¬
nem angeborenen und angebildeten Realismus,
daß, da es Gott und der Natur nun einmal
gefallen habe, mich ſo zu machen, wir es
auch dabey wollten bewenden laſſen. Nun
kamen zwar ſogleich die bedeutendſten Puncte
zur Sprache, uͤber die wir uns in Briefen
am wenigſten vereinigen konnten; allein die¬
ſelben ausfuͤhrlich zu behandeln ward uns
nicht Raum gelaſſen, und ich erfuhr was mir
noch nie vorgekommen.
Wir andern, wenn wir uns uͤber Ange¬
legenheiten des Geiſtes und Herzens unter¬
halten wollten, pflegten uns von der Menge,
ja von der Geſellſchaft zu entfernen, weil es,
bey der vielfachen Denkweiſe und den ver¬
ſchiedenen Bildungsſtufen, ſchon ſchwer faͤllt
ſich auch nur mit wenigen zu verſtaͤndigen.
26 *[404] Allein Lavater war ganz anders geſinnt; er
liebte ſeine Wirkungen in's Weite und Brei¬
le auszudehnen, ihm ward nicht wohl als in
der Gemeine, fuͤr deren Belehrung und Un¬
terhaltung er ein beſonderes Talent beſaß, wel¬
ches auf jener großen phyſiognomiſchen Gabe
ruhte. Ihm war eine richtige Unterſcheidung
der Perſonen und Geiſter verliehen, ſo daß
er einem Jeden geſchwind anſah, wie ihm
allenfalls zu Muthe ſeyn moͤchte. Fuͤgte ſich
hiezu nun ein aufrichtiges Bekenntniß, eine
treuherzige Frage, ſo wußte er aus der gro¬
ßen Fuͤlle innerer und aͤußerer Erfahrung, zu
Jedermans Befriedigung, das Gehoͤrige zu
erwiedern. Die tiefe Sanftmuth ſeines Blicks,
die beſtimmte Lieblichkeit ſeiner Lippen, ſelbſt
der durch ſein Hochdeutſch durchtoͤnende treu¬
herzige Schweizerdialect, und wie manches
Andere was ihn auszeichnete, gab allen zu
denen er ſprach, die angenehmſte Sinnesbe¬
ruhigung; ja ſeine, bey flacher Bruſt, etwas
vorgebogene Koͤrperhaltung, trug nicht wenig
[405] dazu bey, die Uebergewalt ſeiner Gegenwart
mit der uͤbrigen Geſellſchaft auszugleichen.
Gegen Anmaßung und Duͤnkel wußte er ſich
ſehr ruhig und geſchickt zu benehmen: denn
indem er auszuweichen ſchien, wendete er auf
einmal eine große Anſicht, auf welche der be¬
ſchraͤnkte Gegner niemals denken konnte, wie
einen diamantnen Schild hervor, und wußte
denn doch das daher entſpringende Licht ſo
angenehm zu maͤßigen, daß dergleichen Men¬
ſchen, wenigſtens in ſeiner Gegenwart, ſich
belehrt und uͤberzeugt fuͤhlten. Vielleicht hat
der Eindruck bey manchen fortgewirkt: denn
ſelbſtiſche Menſchen ſind wohl zugleich auch
gut; es kommt nur darauf an, daß die har¬
te Schale, die den fruchtbaren Kern um¬
ſchließt, durch gelinde Einwirkung aufgeloͤſt
werde.
Was ihm dagegen die groͤßte Pein ver¬
urſachte, war die Gegenwart ſolcher Perſo¬
nen, deren aͤußere Haͤßlichkeit ſie zu entſchie¬
[406] denen Feinden jener Lehre von der Bedeutſam¬
keit der Geſtalten unwiderruflich ſtempeln mu߬
te. Sie wendeten gewoͤhnlich einen hinrei¬
chenden Menſchenverſtand, ja ſonſtige Gaben
und Talente, leidenſchaftlich miswollend und
kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu ent¬
kraͤften, die fuͤr ihre Perſoͤnlichkeit beleidigend
ſchien: denn es fand ſich nicht leicht Jemand
ſo großdenkend wie Socrates, der gerade ſei¬
ne fauniſche Huͤlle zu Gunſten einer erworbe¬
nen Sittlichkeit gedeutet haͤtte. Die Haͤrte,
die Verſtockung ſolcher Gegner war ihm fuͤrch¬
terlich, ſein Gegenſtreben nicht ohne Leiden¬
ſchaft, ſo wie das Schmelzfeuer die wider¬
ſtrebenden Erze als laͤſtig und feindſelig an¬
fauchen muß.
Unter ſolchen Umſtaͤnden war an ein ver¬
trauliches Geſpraͤch, an ein ſolches das Be¬
zug auf uns ſelbſt gehabt haͤtte, nicht zu den¬
ken, ob ich mich gleich durch Beobachtung
der Art, wie er die Menſchen behandelte,
[407] ſehr belehrt, jedoch nicht gebildet fand: denn
meine Lage war ganz von der ſeinigen ver¬
ſchieden. Wer ſittlich wirkt, verliert keine
ſeiner Bemuͤhungen: denn es gedeiht davon
weit mehr, als das Evangelium vom Saͤ¬
manne allzu beſcheiden eingeſteht; wer aber
kuͤnſtleriſch verfaͤhrt, der hat in jedem Werke
alles verloren, wenn es nicht als ein ſolches
anerkannt wird. Nun weiß man, wie unge¬
duldig meine lieben theilnehmenden Leſer mich
zu machen pflegten, und aus welchen Urſachen
ich hoͤchſt abgeneigt war, mich mit ihnen zu
verſtaͤndigen. Nun fuͤhlte ich den Abſtand
zwiſchen meiner und der Lavaterſchen Wirk¬
ſamkeit nur allzu ſehr: die ſeine galt in der
Gegenwart, die meine in der Abweſenheit;
wer mit ihm in der Ferne unzufrieden war, be¬
freundete ſich ihm in der Naͤhe; und wer mich
nach meinen Werken fuͤr liebenswuͤrdig hielt,
fand ſich ſehr getaͤuſcht, wenn er an einen ſtar¬
ren ablehnenden Menſchen anſtieß.
[408]
Merk, der von Darmſtadt ſogleich heruͤber¬
gekommen war, ſpielte den Mephiſtopheles,
ſpottete beſonders uͤber das Zubringen der Weib¬
lein, und als einige derſelben die Zimmer die
man dem Propheten eingeraͤumt, und beſonders
auch das Schlafzimmer, mit Aufmerkſamkeit
unterſuchten, ſagte der Schalk: die frommen
Seelen wollten doch ſehen, wo man den Herrn
hingelegt habe. — Mit alle dem mußte er
ſich ſo gut wie die andern exorciſiren laſſen:
denn Lips, der Lavatern begleitete, zeichnete
ſein Profil ſo ausfuͤhrlich und brav, wie die
Bildniſſe bedeutender und unbedeutender Men¬
ſchen, welche dereinſt in dem großen Werke
der Phyſiognomik angehaͤuft werden ſollten.
Fuͤr mich war der Umgang mit Lavatern
hoͤchſt wichtig und lehrreich: denn ſeine drin¬
genden Anregungen brachten mein ruhiges
kuͤnſtleriſch beſchauliches Weſen in Umtrieb;
freylich nicht zu meinem augenblicklichen Vor¬
theil, indem die Zerſtreuung die mich ſchon
[409] ergriffen hatte, ſich nur vermehrte; allein es
war ſo viel unter uns zur Sprache gekom¬
men, daß in mir die groͤßte Sehnſucht ent¬
ſtand, dieſe Unterhaltung fortzuſetzen. Da¬
her entſchloß ich mich, ihn, wenn er nach
Ems gehen wuͤrde, zu begleiten, um unter¬
wegs, im Wagen eingeſchloſſen und von der
Welt abgeſondert, diejenigen Gegenſtaͤnde,
die uns wechſelſeitig am Herzen lagen, frey
abzuhandeln.
Sehr merkwuͤrdig und folgereich waren
mir indeſſen die Unterhaltungen Lavaters und
der Fraͤulein von Klettenberg. Hier ſtanden
nun zwey entſchiedene Chriſten gegen einander
uͤber, und es war ganz deutlich zu ſehen,
wie ſich eben daſſelbe Bekenntniß nach den
Geſinnungen verſchiedener Perſonen umbildet.
Man wiederholte ſo oft in jenen toleranten
Zeiten, jeder Menſch habe ſeine eigne Reli¬
gion, ſeine eigne Art der Gottesverehrung.
Ob ich nun gleich dieß nicht geradezu behaup¬
[410] tete, ſo konnte ich doch im gegenwaͤrtigen Fall
bemerken, daß Maͤnner und Frauen einen
verſchiedenen Heiland beduͤrfen. Fraͤulein von
Klettenberg verhielt ſich zu dem ihrigen wie
zu einem Geliebten, dem man ſich unbedingt
hingiebt, alle Freude und Hoffnung auf ſeine
Perſon legt, und ihm ohne Zweifel und Be¬
denken das Schickſal des Lebens anvertraut.
Lavater hingegen behandelte den ſeinigen als
einen Freund, dem man neidlos und liebe¬
voll nacheifert, ſeine Verdienſte anerkennt, ſie
hochpreiſt, und eben deswegen ihm aͤhnlich
ja gleich zu werden bemuͤht iſt. Welch ein
Unterſchied zwiſchen beyderley Richtung! wo¬
durch im Allgemeinen die geiſtigen Beduͤrf¬
niſſe der zwey Geſchlechter ausgeſprochen wer¬
den. Daraus mag es auch zu erklaͤren ſeyn,
daß zaͤrtere Maͤnner ſich an die Mutter Got¬
tes gewendet, ihr, als einem Ausbund weib¬
licher Schoͤnheit und Tugend, wie Sanna¬
zar gethan, Leben und Talente gewidmet,
[411] und allenfalls nebenher mit dem goͤttlichen
Knaben geſpielt haben.
Wie meine beyden Freunde zu einander
ſtanden, wie ſie gegen einander geſinnt wa¬
ren, erfuhr ich nicht allein aus Geſpraͤchen,
denen ich beywohnte, ſondern auch aus Er¬
oͤffnungen, welche mir beyde ingeheim thaten.
Ich konnte weder dem einen nach dem andern
voͤllig zuſtimmen: denn mein Chriſtus hatte
auch ſeine eigne Geſtalt nach meinem Sinne
angenommen. Weil ſie mir aber den meini¬
gen gar nicht wollten gelten laſſen, ſo quaͤl¬
te ich ſie mit allerley Paradoxien und Extre¬
men, und wenn ſie ungeduldig werden woll¬
ten, entfernte ich mich mit einem Scherze.
Der Streit zwiſchen Wiſſen und Glauben
war noch nicht an der Tagesordnung, allein
die beyden Worte und die Begriffe die man
damit verknuͤpft, kamen wohl auch gelegent¬
lich vor, und die wahren Weltveraͤchter be¬
[412] haupteten, eins ſey ſo unzuverlaͤſſig als das
andere. Daher beliebte es mir, mich zu
Gunſten beyder zu erklaͤren, ohne jedoch den
Beyfall meiner Freunde gewinnen zu koͤnnen.
Beym Glauben, ſagte ich, komme alles da¬
rauf an, daß man glaube; was man glau¬
be, ſey voͤllig gleichguͤltig. Der Glaube ſey
ein großes Gefuͤhl von Sicherheit fuͤr die
Gegenwart und Zukunft, und dieſe Sicher¬
heit entſpringe aus dem Zutrauen auf ein
uͤbergroßes, uͤbermaͤchtiges und unerforſchli¬
ches Weſen. Auf die Unerſchuͤtterlichkeit die¬
ſes Zutrauens komme alles an; wie wir uns
aber dieſes Weſen denken, dieß haͤnge von
unſern uͤbrigen Faͤhigkeiten, ja von den Um¬
ſtaͤnden ab, und ſey ganz gleichguͤltig. Der
Glaube ſey ein heiliges Gefaͤß, in welches
ein Jeder ſein Gefuͤhl, ſeinen Verſtand, ſei¬
ne Einbildungskraft, ſo gut als er vermoͤge,
zu opfern bereit ſtehe. Mit dem Wiſſen ſey
es gerade das Gegentheil; es komme gar
nicht darauf an, daß man wiſſe, ſondern
[413]was man wiſſe, wie gut und wie viel
man wiſſe. Daher koͤnne man uͤber das Wiſ¬
ſen ſtreiten, weil es ſich berichtigen, ſich er¬
weitern und verengern laſſe. Das Wiſſen
fange vom Einzelnen an, ſey endlos und ge¬
ſtaltlos, und koͤnne niemals, hoͤchſtens nur
traͤumeriſch, zuſammengefaßt werden, und
bleibe alſo dem Glauben geradezu entgegen¬
geſetzt.
Dergleichen Halbwahrheiten und die da¬
raus entſpringenden Irrſale moͤgen, poetiſch
dargeſtellt, aufregend und unterhaltend ſeyn,
im Leben aber ſtoͤren und verwirren ſie das
Geſpraͤch. Ich ließ daher Lavatern gern mit
allen denjenigen allein, die ſich an ihm und
mit ihm erbauen wollten, und fand mich fuͤr
dieſe Entbehrung genugſam entſchaͤdigt durch
die Reiſe, die wir zuſammen nach Ems an¬
traten. Ein ſchoͤnes Sommerwetter begleitete
uns, Lavater war heiter und allerliebſt.
Denn bey einer religioͤſen und ſittlichen, kei¬
[414] neswegs aͤngſtlichen Richtung ſeines Geiſtes,
blieb er nicht unempfindlich, wenn durch Le¬
bensvorfaͤlle die Gemuͤther munter und luſtig
aufgeregt wurden. Er war theilnehmend,
geiſtreich, witzig, und mochte das Gleiche gern
an andern, nur daß es innerhalb der Gren¬
zen bliebe, die ſeine zarten Geſinnungen ihm
vorſchrieben. Wagte man ſich allenfalls da¬
ruͤber hinaus, ſo pflegte er einem auf die
Achſel zu klopfen, und den Verwegenen durch
ein treuherziges Biſch guet! zur Sitte auf¬
zufordern. Dieſe Reiſe gereichte mir zu man¬
cherley Belehrung und Belebung, die mir
aber mehr in der Kenntniß ſeines Characters
als in der Reglung und Bildung des meini¬
gen zu Theil ward. In Ems ſah ich ihn
gleich wieder von Geſellſchaft aller Art um¬
ringt, und kehrte nach Frankfurt zuruͤck,
weil meine kleinen Geſchaͤfte gerade auf der
Bahn waren, ſo daß ich ſie kaum verlaſſen
durfte.
[415]
Aber ich ſollte ſobald nicht wieder zur
Ruhe kommen: denn Baſedow traf ein,
beruͤhrte und ergriff mich von einer andern
Seite. Einen entſchiedneren Contraſt konnte
man nicht ſehen als dieſe beyden Maͤnner.
Schon der Anblick Baſedow's deutete auf das
Gegentheil. Wenn Lavaters Geſichtszuͤge ſich
dem Beſchauenden frey hergaben, ſo waren
die Baſedowiſchen zuſammengepackt und wie
nach innen gezogen. Lavaters Auge klar und
fromm, unter ſehr breiten Augenlidern, Ba¬
ſedow's aber tief im Kopfe, klein, ſchwarz,
ſcharf, unter ſtruppigen Augenbrauen, hervor¬
blinkend, dahingegen Lavaters Stirnknochen
von den ſanfteſten braunen Haarbogen einge¬
faßt erſchien. Baſedow's heftige rauhe Stim¬
me, ſeine ſchnellen und ſcharfen Aeußerungen,
ein gewiſſes hoͤhniſches Lachen, ein ſchnelles
Herumwerfen des Geſpraͤchs, und was ihn
ſonſt noch bezeichnen mochte, alles war den
Eigenſchaften und dem Betragen entgegenge¬
ſetzt, durch die uns Lavater verwoͤhnt hatte.
[416] Auch Baſedow ward in Frankfurt ſehr ge¬
ſucht, und ſeine großen Geiſtesgaben bewun¬
dert; allein er war nicht der Mann, weder
die Gemuͤther zu erbauen, noch zu lenken.
Ihm war einzig darum zu thun, jenes große
Feld, das er ſich bezeichnet hatte, beſſer an¬
zubauen, damit die Menſchheit kuͤnftig be¬
quemer und naturgemaͤßer darin ihre Woh¬
nung nehmen ſollte; und auf dieſen Zweck
eilte er nur allzu gerade los.
Mit ſeinen Planen konnte ich mich nicht
befreunden, ja mir nicht einmal ſeine Abſich¬
ten deutlich machen. Daß er allen Unter¬
richt lebendig und naturgemaͤß verlangte, konn¬
te mir wohl gefallen; daß die alten Spra¬
chen an der Gegenwart geuͤbt werden ſollten,
ſchien mir lobenswuͤrdig, und gern erkannte
ich an, was in ſeinem Vorhaben, zu Be¬
foͤrderung der Thaͤtigkeit und einer friſcheren
Weltanſchauung lag: allein mir misfiel, daß
die Zeichnungen ſeines Elementarwerks noch
[417] mehr als die Gegenſtaͤnde ſelbſt zerſtreuten,
da in der wirklichen Welt doch immer nur
das Moͤgliche beyſammenſteht, und ſie des¬
halb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und
ſcheinbarer Verwirrung, immer noch in allen
ihren Theilen etwas Geregeltes hat. Jenes
Elementarwerk hingegen zerſplittert ſie ganz
und gar, indem das was in der Weltan¬
ſchauung keineswegs zuſammentrifft, um der
Verwandtſchaft der Begriffe willen neben ein¬
ander ſteht; weswegen es auch jener ſinnlich¬
methodiſchen Vorzuͤge ermangelt, die wir aͤhn¬
lichen Arbeiten des Amos Comenius zu¬
erkennen muͤſſen.
Viel wunderbarer jedoch, und ſchwerer zu
begreifen als ſeine Lehre, war Baſedow's
Betragen. Er hatte bey dieſer Reiſe die Ab¬
ſicht, das Publicum durch ſeine Perſoͤnlich¬
keit fuͤr ſein philanthropiſches Unternehmen zu
gewinnen, und zwar nicht etwa die Gemuͤ¬
ther, ſondern geradezu die Beutel aufzuſchlie¬
III. 27[418] ßen. Er wußte von ſeinem Vorhaben groß
und uͤberzeugend zu ſprechen, und Jederman
gab ihm gern zu was er behauptete. Aber
auf die unbegreiflichſte Weiſe verletzte er die
Gemuͤther der Menſchen, denen er eine Bey¬
ſteuer abgewinnen wollte, ja er beleidigte ſie
ohne Noth, indem er ſeine Meynungen und
Grillen uͤber religioͤſe Gegenſtaͤnde nicht zu¬
ruͤckhalten konnte. Auch hierin erſchien Ba¬
ſedow als das Gegenſtuͤck von Lavatern.
Wenn dieſer die Bibel buchſtaͤblich und mit
ihrem ganzen Inhalte, ja Wort vor Wort,
bis auf den heutigen Tag fuͤr geltend an¬
nahm und fuͤr anwendbar hielt, ſo fuͤhlte
jener den unruhigſten Kitzel alles zu verneuen,
und ſowohl die Glaubenslehren als die aͤu¬
ßerlichen kirchlichen Handlungen nach eignen
einmal gefaßten Grillen umzumodeln. Am
unbarmherzigſten jedoch, und am unvorſich¬
tigſten verfuhr er mit denjenigen Vorſtellun¬
gen, die ſich nicht unmittelbar aus der Bibel,
ſondern von ihrer Auslegung herſchreiben,
[419] mit jenen Ausdruͤcken, philoſophiſchen Kunſt¬
worten, oder ſinnlichen Gleichniſſen, womit
die Kirchenvaͤter und Concilien ſich das Un¬
ausſprechliche zu verdeutlichen, oder die Ke¬
tzer zu beſtreiten geſucht haben. Auf eine
harte und unverantwortliche Weiſe erklaͤrte er
ſich vor Jederman als den abgeſagteſten
Feind der Dreyeinigkeit, und konnte gar
nicht fertig werden, gegen dieß allgemein zu¬
geſtandene Geheimniß zu argumentiren. Auch
ich hatte im Privatgeſpraͤch von dieſer Unter¬
haltung ſehr viel zu leiden, und mußte mir
die Hypoſtaſis und Ouſia, ſo wie das Pro¬
ſopon immer wieder vorfuͤhren laſſen. Da¬
gegen griff ich zu den Waffen der Paradoxie,
uͤberfluͤgelte ſeine Meynungen und wagte, das
Verwegne mit Verwegnerem zu bekaͤmpfen.
Dieß gab meinem Geiſte wieder neue Anre¬
gung, und weil Baſedow viel beleſener war,
auch die Fechterſtreiche des Disputirens ge¬
wandter als ich Naturaliſt zu fuͤhren wußte,
ſo hatte ich mich immer mehr anzuſtrengen,
27 *[420] je wichtigere Puncte unter uns abgehandelt
wurden.
Eine ſo herrliche Gelegenheit mich wo
nicht aufzuklaͤren, doch gewiß zu uͤben, konn¬
te ich nicht kurz voruͤbergehen laſſen. Ich
vermochte Vater und Freunde, die nothwen¬
digſten Geſchaͤfte zu uͤbernehmen, und fuhr
nun, Baſedow begleitend, abermals von
Frankfurt ab. Welchen Unterſchied empfand
ich aber, wenn ich der Anmuth gedachte,
die von Lavatern ausging! Reinlich wie er
war, verſchaffte er ſich auch eine reinliche
Umgebung. Man ward jungfraͤulich an ſei¬
ner Seite, um ihn nicht mit etwas Widri¬
gem zu beruͤhren. Baſedow hingegen, viel
zu ſehr in ſich gedraͤngt, konnte nicht auf
ſein Aeußeres merken. Schon daß er unun¬
terbrochen ſchlechten Taback rauchte, fiel aͤu¬
ßerſt laͤſtig, um ſo mehr als er einen unrein¬
lich bereiteten, ſchnell Feuer fangenden, aber
haͤßlich dunſtenden Schwamm, nach ausge¬
[421] rauchter Pfeife, ſogleich wieder aufſchlug, und
jedesmal mit den erſten Zuͤgen die Luft un¬
ertraͤglich verpeſtete. Ich nannte dieſes Praͤ¬
parat Baſedowſchen Stinkſchwamm, und
wollte ihn unter dieſem Titel in der Natur¬
geſchichte eingefuͤhrt wiſſen; woran er großen
Spaß hatte, mir die widerliche Bereitung,
recht zum Ekel, umſtaͤndlich auseinanderſetzte,
und mit großer Schadenfreude ſich an mei¬
nem Abſcheu behagte. Denn dieſes war eine
von den tiefgewurzelten uͤblen Eigenheiten des
ſo trefflich begabten Mannes, daß er gern
zu necken und die Unbefangenſten tuͤckiſch an¬
zuſtechen beliebte. Ruhen konnte er Niemand
ſehn; durch grinſenden Spott mit heiſerer
Stimme reizte er auf, durch eine uͤberra¬
ſchende Frage ſetzte er in Verlegenheit, und
lachte bitter, wenn er ſeinen Zweck erreicht
hatte, war es aber wohl zufrieden, wenn
man, ſchnell gefaßt, ihm etwas dagegen
abgab.
[422]
Um wie viel groͤßer war nun meine
Sehnſucht nach Lavatern. Auch er ſchien ſich
zu freuen, als er mich wieder ſah, vertrau¬
te mir manches bisher Erfahrne, beſonders
was ſich auf den verſchiedenen Character der
Mitgaͤſte bezog, unter denen er ſich ſchon
viele Freunde und Anhaͤnger zu verſchaffen
gewußt. Nun fand ich ſelbſt manchen alten
Bekannten, und an denen die ich in Jahren
nicht geſehn, fing ich an die Bemerkung zu
machen, die uns in der Jugend lange ver¬
borgen bleibt, daß die Maͤnner altern, und
die Frauen ſich veraͤndern. Die Geſellſchaft
nahm taͤglich zu. Es ward unmaͤßig getanzt,
und weil man ſich in den beyden großen Ba¬
dehaͤuſern ziemlich nahe beruͤhrte, bey guter
und genauer Bekanntſchaft, mancherley Scherz
getrieben. Einſt verkleidete ich mich in einen
Dorfgeiſtlichen, und ein namhafter Freund
in deſſen Gattinn; wir fielen der vornehmen
Geſellſchaft durch allzu große Hoͤflichkeit ziem¬
lich zur Laſt, wodurch denn Jederman in
[423] guten Humor verſetzt wurde. An Abend-
Mitternacht- und Morgenſtaͤndchen fehlte es
auch nicht, und wir Juͤngeren genoſſen des
Schlafs ſehr wenig.
Im Gegenſatze zu dieſen Zerſtreuungen,
brachte ich immer einen Theil der Nacht mit
Baſedow zu. Dieſer legte ſich nie zu Bette,
ſondern dictirte unaufhoͤrlich. Manchmal warf
er ſich auf’s Lager und ſchlummerte, indeſſen
ſein Tiro, die Feder in der Hand, ganz ru¬
hig ſitzen blieb, und ſogleich bereit war fort¬
zuſchreiben, wenn der Halberwachte ſeinen
Gedanken wieder freyen Lauf gab. Dieß al¬
les geſchah in einem dichtverſchloſſenen, von
Tabacks- und Schwammdampf erfuͤllten Zim¬
mer. So oft ich nun einen Tanz ausſetzte,
ſprang ich zu Baſedow hinauf, der gleich
uͤber jedes Problem zu ſprechen und zu dis¬
putiren geneigt war, und, wenn ich nach
Verlauf einiger Zeit wieder zum Tanze hin¬
eilte, noch eh ich die Thuͤre hinter mir an¬
[424] zog, den Faden ſeiner Abhandlung ſo ruhig
dictirend aufnahm, als wenn weiter nichts
geweſen waͤre.
Wir machten dann zuſammen auch man¬
che Fahrt in die Nachbarſchaft, beſuchten die
Schloͤſſer, beſonders adlicher Frauen, welche
durchaus mehr als die Maͤnner geneigt wa¬
ren, etwas Geiſtiges und Geiſtliches aufzuneh¬
men. Zu Naſſau, bey Frau von Stein,
einer hoͤchſtehrwuͤrdigen Dame, die der allge¬
meinſten Achtung genoß, fanden wir große
Geſellſchaft. Frau von Laroche war gleichfalls
gegenwaͤrtig, an jungen Frauenzimmern und
Kindern fehlte es auch nicht. Hier ſollte nun
Lavater in phyſiognomiſche Verſuchung gefuͤhrt
werden, welche meiſt darin beſtand, daß man
ihn verleiten wollte, Zufaͤlligkeiten der Bil¬
dung fuͤr Grundform zu halten; er war aber
beaugt genug, um ſich nicht taͤuſchen zu laſ¬
ſen. Ich ſollte nach wie vor die Wahrhaf¬
tigkeit der Leiden Werthers und den Wohn¬
[425] ort Lottens bezeugen, welchem Anſinnen ich
mich nicht auf die artigſte Weiſe entzog, da¬
gegen die Kinder um mich verſammelte, um
ihnen recht ſeltſame Maͤhrchen zu erzaͤhlen,
welche aus lauter bekannten Gegenſtaͤnden zu¬
ſammengeſonnen waren; wobey ich den gro¬
ßen Vortheil hatte, daß kein Glied meines
Hoͤrkreiſes mich etwa zudringlich gefragt haͤt¬
te, was denn wohl daran fuͤr Wahrheit oder
Dichtung zu halten ſeyn moͤchte.
Baſedow brachte das Einzige vor das
Noth ſey, naͤmlich eine beſſere Erziehung der
Jugend; weshalb er die Vornehmen und
Beguͤterten zu anſehnlichen Beytraͤgen auffor¬
derte. Kaum aber hatte er, durch Gruͤnde
ſowohl als durch leidenſchaftliche Beredſam¬
keit, die Gemuͤther wo nicht ſich zugewendet,
doch zum guten Willen vorbereitet, als ihn
der boͤſe antitrinitariſche Geiſt ergriff, und
er, ohne das mindeſte Gefuͤhl wo er ſich be¬
finde, in die wunderlichſten Reden ausbrach,
[426] in ſeinem Sinne hoͤchſt religioͤs, nach Ueber¬
zeugung der Geſellſchaft hoͤchſt laͤſterlich. La¬
vater, durch ſanften Ernſt, ich, durch ablei¬
tende Scherze, die Frauen, durch zerſtreuende
Spazirgaͤnge, ſuchten Mittel gegen dieſes Un¬
heil; die Verſtimmung jedoch konnte nicht
geheilt werden. Eine chriſtliche Unterhaltung,
die man ſich von Lavaters Gegenwart ver¬
ſprechen, eine paͤdagogiſche, wie man ſie von
Baſedow erwartete, eine ſentimentale, zu
der ich mich bereit finden ſollte, alles war
auf einmal geſtoͤrt und aufgehoben. Auf dem
Heimwege machte Lavater ihm Vorwuͤrfe, ich
aber beſtrafte ihn auf eine luſtige Weiſe. Es
war heiße Zeit, und der Tabacksdampf moch¬
te Baſedow's Gaumen noch mehr getrocknet
haben; ſehnlichſt verlangte er nach einem
Glaſe Bier, und als er an der Landſtraße
von weitem ein Wirthshaus erblickte, befahl
er hoͤchſt gierig dem Kutſcher, dort ſtille zu
halten. Ich aber, im Augenblicke daß der¬
ſelbe anfahren wollte, rufe ihm mit Gewalt
[427] gebieteriſch zu, er ſolle weiter fahren! Baſe¬
dow, uͤberraſcht, konnte kaum mit heiſerer
Stimme das Gegentheil hervorbringen. Ich
trieb den Kutſcher nur heftiger an, der mir
gehorchte. Baſedow verwuͤnſchte mich, und
haͤtte gern mit Faͤuſten zugeſchlagen; ich aber
erwiederte ihm mit der groͤßten Gelaſſenheit:
Vater, ſeyd ruhig! Ihr habt mir großen
Dank zu ſagen. Gluͤcklicher Weiſe ſaht Ihr
das Bierzeichen nicht! Es iſt aus zwey ver¬
ſchraͤnkten Triangeln zuſammengeſetzt. Nun
werdet Ihr uͤber Einen Triangel gewoͤhnlich
ſchon toll; waͤren Euch die beyden zu Ge¬
ſicht gekommen, man haͤtte Euch muͤſſen an
Ketten legen. Dieſer Spaß brachte ihn zu
einem unmaͤßigen Gelaͤchter, zwiſchendurch
ſchalt und verwuͤnſchte er mich, und Lavater
uͤbte ſeine Geduld an dem alten und jungen
Thoren.
Als nun in der Haͤlfte des Juli Lavater
ſich zur Abreiſe bereitete, fand Baſedow
[428] ſeinen Vortheil, ſich anzuſchließen, und
ich hatte mich in dieſe bedeutende Geſell¬
ſchaft ſchon ſo eingewohnt, daß ich es nicht
uͤber mich gewinnen konnte, ſie zu verlaſſen.
Eine ſehr angenehme, Herz und Sinn er¬
freuende Fahrt hatten wir die Lahn hinab.
Beym Anblick einer merkwuͤrdigen Burgruine
ſchrieb ich jenes Lied: „Hoch auf dem alten
Thurme ſteht“ in Lipſens Stammbuch, und
als es wohl aufgenommen wurde, um, nach
meiner boͤſen Art, den Eindruck wieder zu
verderben, allerley Knittelreime und Poſſen
auf die naͤchſten Blaͤtter. Ich freute mich
den herrlichen Rhein wiederzuſehn, und er¬
getzte mich an der Ueberraſchung derer, die
dieſes Schauſpiel noch nicht genoſſen hatten.
Nun landeten wir in Coblenz; wohin wir
traten, war der Zudrang ſehr groß, und je¬
der von uns dreyen erregte nach ſeiner Art
Antheil und Neugierde. Baſedow und ich
ſchienen zu wetteifern, wer am unartigſten
ſeyn koͤnnte; Lavater benahm ſich vernuͤnftig
[429] und klug, nur daß er ſeine Herzensmeynun¬
gen nicht verbergen konnte, und dadurch, mit
dem reinſten Willen, allen Menſchen vom
Mittelſchlag hoͤchſt auffallend erſchien.
Das Andenken an einen wunderlichen
Wirthstiſch in Coblenz habe ich in Knittel¬
verſen aufbewahrt, die nun auch, mit ihrer
Sippſchaft, in meiner neuen Ausgabe ſtehn
moͤgen. Ich ſaß zwiſchen Lavater und Baſe¬
dow; der erſte belehrte einen Landgeiſtlichen
uͤber die Geheimniſſe der Offenbarung Johan¬
nis, und der andere bemuͤhte ſich vergebens,
einem hartnaͤckigen Tanzmeiſter zu beweiſen,
daß die Taufe ein veralteter und fuͤr unſere
Zeiten gar nicht berechneter Gebrauch ſey.
Und wie wir nun fuͤrder nach Coͤlln zogen,
ſchrieb ich in irgend ein Album:
Gluͤcklicher Weiſe hatte dieſes, Weltkind
auch eine Seite die nach dem Himmliſchen
deutete, welche nun auf eine ganz eigne Weiſe
beruͤhrt werden ſollte. Schon in Ems hatte
ich mich gefreut, als ich vernahm, daß wir in
Coͤlln die Gebruͤder Jacobi treffen ſollten,
welche mit andern vorzuͤglichen und aufmerkſa¬
men Maͤnnern ſich jenen beyden merkwuͤrdigen
Reiſenden entgegen bewegten. Ich an meinem
Theile hoffte von ihnen Vergebung wegen klei¬
ner Unarten zu erhalten, die aus unſerer gro¬
ßen, durch Herders ſcharfen Humor veranla߬
ten Unart entſprungen waren. Jene Briefe
und Gedichte, worin Gleim und Georg Jacobi
ſich oͤffentlich an einander erfreuten, hatten
uns zu mancherley Scherzen Gelegenheit ge¬
geben, und wir bedachten nicht, daß eben ſo
viel Selbſtgefaͤlligkeit dazu gehoͤre, andern die
ſich behaglich fuͤhlen, wehe zu thun, als ſich
ſelbſt oder ſeinen Freunden uͤberfluͤſſiges Gute
zu erzeigen. Es war dadurch eine gewiſſe
Mishelligkeit zwiſchen dem Ober- und Unter¬
[431] rhein entſtanden, aber von ſo geringer Be¬
deutung, daß ſie leicht vermittelt werden
konnte, und hierzu waren die Frauen vor¬
zuͤglich geeignet. Schon Sophie Laroche gab
uns den beſten Begriff von dieſen edlen Bruͤ¬
dern; Demoiſelle Fahlmer, von Duͤſſel¬
dorf nach Frankfurt gezogen, und jenem Kreiſe
innig verwandt, gab durch die große Zart¬
heit ihres Gemuͤths, durch die ungemeine
Bildung des Geiſtes, ein Zeugniß von dem
Werth der Geſellſchaft in der ſie herangewach¬
ſen. Sie beſchaͤmte uns nach und nach durch
ihre Geduld mit unſerer grellen oberdeutſchen
Manier, ſie lehrte uns Schonung, indem ſie
uns fuͤhlen ließ, daß wir derſelben auch wohl
beduͤrften. Die Treuherzigkeit der juͤngern
Jacobiſchen Schweſter, die große Heiterkeit
der Gattinn von Fritz Jacobi, leiteten unſern
Geiſt und Sinn immer mehr und mehr nach
jenen Gegenden. Die letztgedachte war ge¬
eignet, mich voͤllig einzunehmen: ohne eine
Spur von Sentimentalitaͤt richtig fuͤhlend
[432] ſich munter ausdruͤckend, eine herrliche Nie¬
derlaͤnderinn, die, ohne Ausdruck von Sinn¬
lichkeit, durch ihr tuͤchtiges Weſen an die
Rubensiſchen Frauen erinnerte. Genannte
Damen hatten, bey laͤngerem und kuͤrzerem
Aufenthalt in Frankfurt, mit meiner Schweſter
die engſte Verbindung geknuͤpft, und das
ernſte, ſtarre, gewiſſermaßen liebloſe Weſen
Corneliens aufgeſchloſſen und erheitert, und
ſo war uns denn ein Duͤſſeldorf, ein Pempel¬
fort, dem Geiſt und Herzen nach in Frank¬
furt zu Theil geworden.
Unſer erſtes Begegnen in Coͤlln konnte
daher ſogleich offen und zutraulich ſeyn: denn
jener Frauen gute Meynung von uns hatte
gleichfalls nach Hauſe gewirkt; man behan¬
delte mich nicht, wie bisher auf der Reiſe,
bloß als den Dunſtſchweif jener beyden gro¬
ßen Wandelſterne, ſondern man wendete ſich
auch beſonders an mich, um mir manches
Gute zu ertheilen, und ſchien geneigt, auch
[433] von mir zu empfangen. Ich war meiner bis¬
herigen Thorheiten und Frechheiten muͤde,
hinter denen ich doch eigentlich nur den Un¬
muth verbarg, daß fuͤr mein Herz, fuͤr mein
Gemuͤth auf dieſer Reiſe ſo wenig geſorgt
werde; es brach daher mein Inneres mit
Gewalt hervor, und dieß mag die Urſache
ſeyn, warum ich mich der einzelnen Vor¬
gaͤnge wenig erinnere. Das was man ge¬
dacht, die Bilder die man geſehn, laſſen
ſich in dem Verſtand und in der Einbildungs¬
kraft wieder hervorrufen; aber das Herz iſt
nicht ſo gefaͤllig, es wiederholt uns nicht die
ſchoͤnen Gefuͤhle, und am wenigſten ſind wir
vermoͤgend, uns enthuſiaſtiſche Momente wie¬
der zu vergegenwaͤrtigen; man wird unvorbe¬
reitet davon uͤberfallen und uͤberlaͤßt ſich ihnen
unbewußt. Andere die uns in ſolchen Augen¬
blicken beobachten, haben deshalb davon eine
klarere und reinere Anſicht als wir ſelbſt.
III. 28[434]
Religioͤſe Geſpraͤche hatte ich bisher ſachte
abgelehnt, und verſtaͤndige Anfragen ſelten
mit Beſcheidenheit erwiedert, weil ſie mir
gegen das was ich ſuchte, nur allzu beſchraͤnkt
ſchienen. Wenn man mir ſeine Gefuͤhle, ſeine
Meynungen uͤber meine eignen Productionen
aufdringen wollte, beſonders aber wenn man
mich mit den Forderungen des Alltagsver¬
ſtandes peinigte und mir ſehr entſchieden vor¬
trug, was ich haͤtte thun und laſſen ſollen,
dann zerriß der Geduldsfaden, und das Ge¬
ſpraͤch zerbrach oder zerbroͤckelte ſich, ſo daß
Niemand mit einer ſonderlich guͤnſtigen Mey¬
nung von mir ſcheiden konnte. Viel natuͤrli¬
cher waͤre mir geweſen, mich freundlich und
zart zu erweiſen; aber mein Gemuͤth wollte
nicht geſchulmeiſtert, ſondern durch freyes
Wohlwollen aufgeſchloſſen, und durch wahre
Theilnahme zur Hingebung angeregt ſeyn.
Ein Gefuͤhl aber, das bey mir gewaltig uͤber¬
hand nahm, und ſich nicht wunderſam ge¬
[435] nug aͤußern konnte, war die Empfindung der
Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine
Anſchauung, die etwas Geſpenſtermaͤßiges in
die Gegenwart brachte. Sie iſt in vielen
meiner groͤßern und kleinern Arbeiten ausge¬
druͤckt, und wirkt im Gedicht immer wohl¬
thaͤtig, ob ſie gleich im Augenblick, wo ſie
ſich unmittelbar am Leben und im Leben ſelbſt
ausdruͤckte, Jederman ſeltſam, unerklaͤrlich,
vielleicht unerfreulich ſcheinen mußte.
Coͤlln war der Ort, wo das Alterthum
eine ſolche unzuberechnende Wirkung auf mich
ausuͤben konnte. Die Ruine des Doms (denn
ein nichtfertiges Werk iſt einem zerſtoͤrten
gleich) erregte die von Straßburg her ge¬
wohnten Gefuͤhle. Kunſtbetrachtungen konnte
ich nicht anſtellen, mir war zu viel und zu
wenig gegeben, und Niemand fand ſich, der
mir aus dem Labyrinth des Geleiſteten und
Beabſichtigten, der That und des Vorſatzes,
28 *[436] des Erbauten und Angedeuteten haͤtte heraus¬
helfen koͤnnen, wie es jetzt wohl durch unſere
fleißigen beharrlichen Freunde geſchieht. In
Geſellſchaft bewunderte ich zwar dieſe merk¬
wuͤrdigen Hallen und Pfeiler, aber einſam
verſenkte ich mich in dieſes, mitten in ſeiner
Erſchaffung, fern von der Vollendung ſchon
erſtarrte Weltgebaͤude, immer mismuthig.
Hier war abermals ein ungeheuerer Gedanke
nicht zur Ausfuͤhrung gekommen! Scheint es
doch, als waͤre die Architectur nur da, um
uns zu uͤberzeugen, daß durch mehrere Men¬
ſchen, in einer Folge von Zeit, nichts zu lei¬
ſten iſt, und daß in Kuͤnſten und Thaten
nur dasjenige zu Stande kommt, was, wie
Minerva, erwachſen und geruͤſtet aus des
Erfinders Haupt hervorſpringt.
In dieſen mehr druͤckenden als herzerhe¬
benden Augenblicken ahndete ich nicht, daß
mich das zarteſte und ſchoͤnſte Gefuͤhl ſo ganz
[437] nah erwartete. Man fuͤhrte mich in Jap¬
pachs Wohnung, wo mir das was ich
ſonſt nur innerlich zu bilden pflegte, wirklich
und ſinnlich entgegentrat. Dieſe Familie moch¬
te laͤngſt ausgeſtorben ſeyn, aber in dem Un¬
tergeſchoß, das an einen Garten ſtieß, fan¬
den wir nichts veraͤndert. Ein durch braun¬
rothe Ziegelrauten regelmaͤßig verziertes Eſtrich,
hohe geſchnitzte Seſſel mit ausgenaͤhten Sitzen
und Ruͤcken, Tiſchblaͤtter, kuͤnſtlich eingelegt,
auf ſchweren Fuͤßen, metallene Haͤngeleuchter,
ein ungeheueres Camin und dem angemeſſenes
Feuergeraͤthe, alles mit jenen fruͤheren Ta¬
gen uͤbereinſtimmend und in dem ganzen
Raume nichts neu, nichts heutig als wir ſel¬
ber. Was nun aber die hiedurch wunderſam
aufgeregten Empfindungen uͤberſchwenglich ver¬
mehrte und vollendete, war ein großes Fami¬
liengemaͤlde uͤber dem Camin. Der ehmali¬
ge reiche Inhaber dieſer Wohnung ſaß mit
ſeiner Frau, von Kindern umgeben, abgebil¬
[438] det: alle gegenwaͤrtig, friſch und lebendig wie
von geſtern, ja von heute, und doch waren
ſie ſchon alle voruͤbergegangen. Auch dieſe
friſchen rundbaͤckigen Kinder hatten gealtert,
und ohne dieſe kunſtreiche Abbildung waͤre kein
Gedaͤchtniß von ihnen uͤbrig geblieben. Wie
ich, uͤberwaͤltigt von dieſen Eindruͤcken, mich
verhielt und benahm, wuͤßte ich nicht zu ſa¬
gen. Der tiefſte Grund meiner menſchlichen
Anlagen und dichteriſchen Faͤhigkeiten ward
durch die unendliche Herzensbewegung aufge¬
deckt, und alles Gute und Liebevolle was in
meinem Gemuͤthe lag, mochte ſich aufſchlie¬
ßen und hervorbrechen: denn von dem Au¬
genblick an ward ich, ohne weitere Unterſu¬
chung und Verhandlung, der Neigung, des
Vertrauens jener vorzuͤglichen Maͤnner fuͤr
mein Leben theilhaft.
In Gefolg von dieſem Seelen- und Gei¬
ſtesverein, wo alles was in einem Jeden lebte
[439] zur Sprache kam, erbot ich mich, meine
neuſten und liebſten Balladen zu recitiren.
Der Koͤnig von Thule, und „Es war ein
Bube frech genung“ thaten gute Wirkung,
und ich trug ſie um ſo gemuͤthlicher vor, als
meine Gedichte mir noch ans Herz geknuͤpft
waren, und nur ſelten uͤber die Lippen ka¬
men. Denn mich hinderten leicht gewiſſe ge¬
genwaͤrtige Perſonen, denen mein uͤberzartes
Gefuͤhl vielleicht unrecht thun mochte; ich
ward manchmal mitten im Recitiren irre und
konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie
oft bin ich nicht deshalb des Eigenſinns und
eines wunderlichen grillenhaften Weſens ange¬
klagt worden!
Ob mich nun gleich die dichteriſche Dar¬
ſtellungsweiſe am meiſten beſchaͤftigte, und
meinem Naturell eigentlich zuſagte, ſo war
mir doch auch das Nachdenken uͤber Gegen¬
ſtaͤnde aller Art nicht fremd, und Jacobi's
[440] originelle, ſeiner Natur gemaͤße Richtung ge¬
gen das Unerforſchliche hoͤchſt willkommen und
gemuͤthlich. Hier that ſich kein Widerſtreit
hervor, nicht ein chriſtlicher wie mit Lavater,
nicht ein didactiſcher wie mit Baſedow. Die
Gedanken die mir Jacobi mittheilte, entſpran¬
gen unmittelbar aus ſeinem Gefuͤhl, und wie
eigen war ich durchdrungen, als er mir, mit
unbedingtem Vertrauen, die tiefſten Seelen¬
forderungen nicht verhehlte. Aus einer ſo
wunderſamen Vereinigung von Beduͤrfniß,
Leidenſchaft und Ideen, konnten auch fuͤr
mich nur Vorahndungen entſpringen deſſen,
was mir vielleicht kuͤnftig deutlicher werden
ſollte. Gluͤcklicher Weiſe hatte ich mich auch
ſchon von dieſer Seite wo nicht gebildet, doch
bearbeitet und in mich das Daſeyn und die
Denkweiſe eines außerordentlichen Mannes auf¬
genommen, zwar nur unvollſtaͤndig und wie
auf den Raub, aber ich empfand davon doch
ſchon bedeutende Wirkungen. Dieſer Geiſt,
[441] der ſo entſchieden auf mich wirkte, und der
auf meine ganze Denkweiſe ſo großen Ein¬
fluß haben ſollte, war Spinoza. Nach¬
dem ich mich naͤmlich in aller Welt um ein
Bildungsmittel meines wunderlichen Weſens
vergebens umgeſehn hatte, gerieth ich endlich
an die Ethik dieſes Mannes. Was ich
mir aus dem Werke mag herausgeleſen,
was ich in daſſelbe mag hineingeleſen haben,
davon wuͤßte ich keine Rechenſchaft zu geben,
genug ich fand hier eine Beruhigung meiner
Leidenſchaften, es ſchien ſich mir eine große
und freye Ausſicht uͤber die ſinnliche und ſitt¬
liche Welt aufzuthun. Was mich aber be¬
ſonders an ihn feſſelte, war die grenzenloſe
Uneigennuͤtzigkeit, die aus jedem Satze her¬
vorleuchtete. Jenes wunderliche Wort: „Wer
Gott recht liebt, muß nicht verlangen, daß
Gott ihn wieder liebe“ mit allen den Vor¬
derſaͤtzen worauf es ruht, mit allen den Fol¬
gen die daraus entſpringen, erfuͤllte mein
[442] ganzes Nachdenken. Uneigennuͤtzig zu ſeyn in
allem, am uneigennuͤtzigſten in Liebe und
Freundſchaft, war meine hoͤchſte Luſt, meine
Maxime, meine Ausuͤbung, ſo daß jenes
freche ſpaͤtere Wort „Wenn ich dich liebe,
was geht's dich an?“ mir recht aus dem
Herzen geſprochen iſt. Uebrigens moͤge auch
hier nicht verkannt werden, daß eigentlich die
innigſten Verbindungen nur aus dem Entge¬
gengeſetzten folgen. Die alles ausgleichende
Ruhe Spinoza's contraſtirte mit meinem alles
aufregenden Streben, ſeine mathematiſche Me¬
thode war das Widerſpiel meiner poetiſchen
Sinnes- und Darſtellungsweiſe, und eben
jene geregelte Behandlungsart, die man ſitt¬
lichen Gegenſtaͤnden nicht angemeſſen finden
wollte, machte mich zu ſeinem leidenſchaftli¬
chen Schuͤler, zu ſeinem entſchiedenſten Ver¬
ehrer. Geiſt und Herz, Verſtand und Sinn
ſuchten ſich mit nothwendiger Wahlverwand¬
ſchaft, und durch dieſe kam die Vereinigung
der verſchiedenſten Weſen zu Stande.
[443]
Noch war aber alles in der erſten Wir¬
kung und Gegenwirkung, gaͤhrend und ſie¬
dend. Fritz Jacobi, der erſte, den ich in
dieſes Chaos hineinblicken ließ, er, deſſen
Natur gleichfalls im Tiefſten arbeitete, nahm
mein Vertrauen herzlich auf, erwiederte daſ¬
ſelbe und ſuchte mich in ſeinen Sinn einzu¬
leiten. Auch er empfand ein unausſprechli¬
ches geiſtiges Beduͤrfniß, auch er wollte es
nicht durch fremde Huͤlfe beſchwichtigt, ſon¬
dern aus ſich ſelbſt herausgebildet und aufge¬
klaͤrt haben. Was er mir von dem Zuſtan¬
de ſeines Gemuͤthes mittheilte, konnte ich
nicht faſſen, um ſo weniger, als ich mir kei¬
nen Begriff von meinem eignen machen konn¬
te. Doch er, der in philoſophiſchem Den¬
ken, ſelbſt in Betrachtung des Spinoza, mir
weit vorgeſchritten war, ſuchte mein dunkles
Beſtreben zu leiten und aufzuklaͤren. Eine
ſolche reine Geiſtesverwandſchaft war mir neu,
und erregte ein leidenſchaftliches Verlangen
[444] fernerer Mittheilung. Nachts, als wir uns
ſchon getrennt und in die Schlafzimmer zu¬
ruͤckgezogen hatten, ſuchte ich ihn nochmals
auf. Der Mondſchein zitterte uͤber dem brei¬
ten Rheine, und wir, am Fenſter ſtehend,
ſchwelgten in der Fuͤlle des Hin- und Wie¬
dergebens, das in jener herrlichen Zeit der
Entfaltung ſo reichlich aufquillt.
Doch wuͤßte ich von jenem Unausſprechli¬
chen gegenwaͤrtig keine Rechenſchaft zu lie¬
fern; deutlicher iſt mir eine Fahrt nach dem
Jagdſchloſſe Bensberg, das, auf der rech¬
ten Seite des Rheins gelegen, der herrlich¬
ſten Ausſicht genoß. Was mich daſelbſt uͤber
die Maßen entzuͤckte, waren die Wandverzie¬
rungen durch Weenix. Wohlgeordnet la¬
gen alle Thiere, welche die Jagd nur liefern
kann, rings umher wie auf dem Sockel ei¬
ner großen Saͤulenhalle; uͤber ſie hinaus ſah
man in eine weite Landſchaft. Jene entleb¬
[445] ten Geſchoͤpfe zu beleben, hatte der außeror¬
dentliche Mann ſein ganzes Talent erſchoͤpft,
und in Darſtellung des mannigfaltigſten thie¬
riſchen Ueberkleides, der Borſten, der Haare,
der Federn, des Geweihes, der Klauen, ſich
der Natur gleichgeſtellt, in Abſicht auf Wir¬
kung ſie uͤbertroffen. Hatte man die Kunſt¬
werke im Ganzen genugſam bewundert, ſo
ward man genoͤthigt, uͤber die Handgriffe
nachzudenken, wodurch ſolche Bilder ſo geiſt¬
reich als mechaniſch hervorgebracht werden
konnten. Man begriff nicht, wie ſie durch
Menſchenhaͤnde entſtanden ſeyen und durch
was fuͤr Inſtrumente. Der Pinſel war nicht
hinreichend; man mußte ganz eigne Vorrich¬
tungen annehmen, durch welche ein ſo Man¬
nigfaltiges moͤglich geworden. Man naͤherte,
man entfernte ſich mit gleichem Erſtaunen:
die Urſache war ſo bewundernswerth als die
Wirkung.
[446]
Die weitere Fahrt rheinabwaͤrts ging froh
und gluͤcklich von ſtatten. Die Ausbreitung
des Fluſſes ladet auch das Gemuͤth ein, ſich
auszubreiten und nach der Ferne zu ſehen.
Wir gelangten nach Duͤſſeldorf und von da
nach Pempelfort, dem angenehmſten und hei¬
terſten Aufenthalt, wo ein geraͤumiges Wohn¬
gebaͤude an weite wohlunterhaltene Gaͤrten
ſtoßend, einen ſinnlichen und ſittigen Kreis
verſammelte. Die Familienglieder waren zahl¬
reich und an Fremden fehlte es nie, die ſich
in dieſen reichlichen und angenehmen Verhaͤlt¬
niſſen gar wohl gefielen.
In der Duͤſſeldorfer Gallerie konnte mei¬
ne Vorliebe fuͤr die niederlaͤndiſche Schule
reichliche Nahrung finden. Der tuͤchtigen,
derben, von Naturfuͤlle glaͤnzenden Bilder
fanden ſich ganze Saͤle, und wenn auch nicht
eben meine Einſicht vermehrt wurde, meine
Kenntniß ward doch bereichert und meine Lieb¬
haberey beſtaͤrkt.
[447]
Die ſchoͤne Ruhe, Behaglichkeit und Be¬
harrlichkeit, welche den Hauptcharacter dieſes
Familienvereins bezeichneten, belebten ſich gar
bald vor den Augen des Gaſtes, indem er
wohl bemerken konnte, daß ein weiter Wir¬
kungskreis von hier ausging und anderwaͤrts
eingriff. Die Thaͤtigkeit und Wohlhabenheit
benachbarter Staͤdte und Ortſchaften trug nicht
wenig bey, das Gefuͤhl einer inneren Zufrie¬
denheit zu erhoͤhen. Wir beſuchten Elber¬
feld und erfreuten uns an der Ruͤhrigkeit
ſo mancher wohlbeſtellten Fabriken. Hier fan¬
den wir unſern Jung, genannt Stilling, wie¬
der, der uns ſchon in Coblenz entgegengekom¬
men war, und der den Glauben an Gott
und die Treue gegen die Menſchen immer zu
ſeinem koͤſtlichen Geleit hatte. Hier ſahen
wir ihn in ſeinem Kreiſe und freuten uns
des Zutrauens, das ihm ſeine Mitbuͤrger
ſchenkten, die mit irdiſchem Erwerb beſchaͤf¬
tigt, die himmliſchen Guͤter nicht außer Acht
[448] ließen. Die betriebſame Gegend gab einen
beruhigenden Anblick, weil das Nuͤtzliche hier
aus Ordnung und Reinlichkeit hervortrat.
Wir verlebten in dieſen Betrachtungen gluͤck¬
liche Tage.
Kehrte ich dann wieder zu meinem Freun¬
de Jacobi zuruͤck, ſo genoß ich des entzuͤcken¬
den Gefuͤhls einer Verbindung durch das in¬
nerſte Gemuͤth. Wir waren beyde von der
lebendigſten Hoffnung gemeinſamer Wirkung
belebt, dringend forderte ich ihn auf, alles
was in ihm ſich rege und bewege, in irgend
einer Form kraͤftig darzuſtellen. Es war das
Mittel, wodurch ich mich aus ſo viel Ver¬
wirrungen herausgeriſſen hatte, ich hoffte, es
ſolle auch ihm zuſagen. Er ſaͤumte nicht, es
mit Muth zu ergreifen, und wie viel Gutes,
Schoͤnes, Herzerfreuendes hat er nicht ge¬
leiſtet! Und ſo ſchieden wir endlich in der
ſeligen Empfindung ewiger Vereinigung, ganz
[449] ohne Vorgefuͤhl, daß unſer Streben eine ent¬
gegengeſetzte Richtung nehmen werde, wie es
ſich im Laufe des Lebens nur allzu ſehr offen¬
barte.
Was mir ferner auf dem Ruͤckwege rhein¬
aufwaͤrts begegnet, iſt mir ganz aus der Er¬
innerung verſchwunden, theils weil der zwey¬
te Anblick der Gegenſtaͤnde in Gedanken mit
dem erſten zu verfließen pflegt, theils auch,
weil ich, in mich gekehrt, das Viele was ich
erfahren hatte, zurecht zu legen, das was
auf mich gewirkt, zu verarbeiten trachtete.
Von einem wichtigen Reſultat, das mir eine
Zeit lang viel Beſchaͤftigung gab, indem es
mich zum Hervorbringen aufforderte, gedenke
ich gegenwaͤrtig zu reden.
Bey meiner uͤberfreyen Geſinnung, bey
meinem voͤllig zweck- und planloſen Leben und
Handeln, konnte mir nicht verborgen bleiben,
III. 29[450] daß Lavater und Baſedow geiſtige, ja geiſt¬
liche Mittel zu irdiſchen Zwecken gebrauchten.
Mir, der ich mein Talent und meine Tage
abſichtslos vergeudete, mußte ſchnell auffallen,
daß beyde Maͤnner, jeder auf ſeine Art, in¬
dem ſie zu lehren, zu unterrichten und zu
uͤberzeugen bemuͤht waren, doch auch gewiſſe
Abſichten im Hinterhalte verbargen, an deren
Befoͤrderung ihnen ſehr gelegen war. Lavater
ging zart und klug, Baſedow heftig, frevel¬
haft, ſogar plump zu Werke; auch waren bey¬
de von ihren Liebhabereyen, Unternehmungen
und von der Vortrefflichkeit ihres Treibens ſo
uͤberzeugt, daß man ſie fuͤr redliche Maͤnner
halten, ſie lieben und verehren mußte. Lava¬
tern beſonders konnte man zum Ruhme nach¬
ſagen, daß er wirklich hoͤhere Zwecke hatte
und, wenn er weltklug handelte, wohl glau¬
ben durfte, der Zweck heilige die Mittel.
Indem ich nun beyde beobachtete, ja ihnen
frey heraus meine Meynung geſtand, und die
[451] ihrige dagegen vernahm, ſo wurde der Ge¬
danke rege, daß freylich der vorzuͤgliche Menſch
das Goͤttliche was in ihm iſt, auch außer
ſich verbreiten moͤchte. Dann aber trifft er
auf die rohe Welt, und um auf ſie zu wir¬
ken, muß er ſich ihr gleichſtellen; hierdurch
aber vergiebt er jenen hohen Vorzuͤgen gar
ſehr, und am Ende begiebt er ſich ihrer
gaͤnzlich. Das Himmliſche, Ewige wird in
den Koͤrper irdiſcher Abſichten eingeſenkt und
zu vergaͤnglichen Schickſalen mit fortgeriſſen.
Nun betrachtete ich den Lebensgang beyder
Maͤnner aus dieſem Geſichtspunct, und ſie
ſchienen mir eben ſo ehrwuͤrdig als bedauerns¬
werth: denn ich glaubte vorauszuſehn, daß
beyde ſich genoͤthigt finden koͤnnten, das Obere
dem Unteren aufzuopfern. Weil ich nun aber
alle Betrachtungen dieſer Art bis aufs Aeu¬
ßerſte verfolgte, und uͤber meine enge Erfah¬
rung hinaus, nach aͤhnlichen Faͤllen in der
Geſchichte mich umſah; ſo entwickelte ſich bey
29 *[452] mir der Vorſatz, an dem Leben Maho¬
mets, den ich nie als einen Betruͤger hatte
anſehn koͤnnen, jene von mir in der Wirklich¬
keit ſo lebhaft angeſchauten Wege, die an¬
ſtatt zum Heil, vielmehr zum Verderben fuͤh¬
ren, dramatiſch darzuſtellen. Ich hatte kurz
vorher das Leben des orientaliſchen Prophe¬
ten mit großem Intereſſe geleſen und ſtudirt,
und war daher, als der Gedanke mir auf¬
ging, ziemlich vorbereitet. Das Ganze naͤ¬
herte ſich mehr der regelmaͤßigen Form, zu
der ich mich ſchon wieder hinneigte, ob ich
mich gleich der dem Theater einmal errunge¬
nen Freyheit, mit Zeit und Ort nach Be¬
lieben ſchalten zu duͤrfen, maͤßig bediente.
Das Stuͤck fing mit einer Hymne an, wel¬
che Mahomet allein unter dem heiteren Nacht¬
himmel anſtimmt. Erſt verehrt er die un¬
endlichen Geſtirne als eben ſo viele Goͤtter;
dann ſteigt der freundliche Stern Gad (un¬
ſer Jupiter) hervor, und nun wird dieſem,
[453] als dem Koͤnig der Geſtirne, ausſchließliche
Verehrung gewidmet. Nicht lange, ſo be¬
wegt ſich der Mond herauf und gewinnt Aug'
und Herz des Anbetenden, der ſodann, durch
die hervortretende Sonne herrlich erquickt und
geſtaͤrkt, zu neuem Preiſe aufgerufen wird.
Aber dieſer Wechſel, wie erfreulich er auch ſeyn
mag, iſt dennoch beunruhigend, das Gemuͤth
empfindet, daß es ſich nochmals uͤberbieten
muß; es erhebt ſich zu Gott, dem Einzigen,
Ewigen, Unbegrenzten, dem alle dieſe begrenz¬
ten herrlichen Weſen ihr Daſeyn zu verdanken
haben. Dieſe Hymne hatte ich mit viel Lie¬
be gedichtet; ſie iſt verloren gegangen, wuͤr¬
de ſich aber zum Zweck einer Cantate wohl
wieder herſtellen laſſen, und ſich dem Muſi¬
ker durch die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks
empfehlen. Man muͤßte ſich aber, wie es
auch damals ſchon die Abſicht war, den An¬
fuͤhrer einer Carawane mit ſeiner Familie und
dem ganzen Stamme denken, und ſo wuͤrde
[454] fuͤr die Abwechſelung der Stimmen und die
Macht der Choͤre wohl geſorgt ſeyn.
Nachdem ſich alſo Mahomet ſelbſt bekehrt,
theilt er dieſe Gefuͤhle und Geſinnungen den
Seinigen mit; ſeine Frau und Ali fallen ihm
unbedingt zu. Im zweyten Act verſucht er
ſelbſt, heftiger aber Ali, dieſen Glauben in
dem Stamme weiter auszubreiten. Hier zeigt
ſich Beyſtimmung und Widerſetzlichkeit, nach
Verſchiedenheit der Character. Der Zwiſt be¬
ginnt, der Streit wird gewaltſam, und Ma¬
homet muß entfliehn. Im dritten Act be¬
zwingt er ſeine Gegner, macht ſeine Religion
zur oͤffentlichen, reinigt die Kaaba von den
Goͤtzenbildern; weil aber doch nicht alles durch
Kraft zu thun iſt, ſo muß er auch zur Liſt
ſeine Zuflucht nehmen. Das Irdiſche waͤchſt
und breitet ſich aus, das Goͤttliche tritt zu¬
ruͤck und wird getruͤbt. Im vierten Acte ver¬
folgt Mahomet ſeine Eroberungen, die Lehre
[455] wird mehr Vorwand als Zweck, alle denkba¬
ren Mittel muͤſſen benutzt werden; es fehlt
nicht an Grauſamkeiten. Eine Frau, deren
Mann er hat hinrichten laſſen, vergiftet ihn.
Im fuͤnften fuͤhlt er ſich vergiftet. Seine
große Faſſung, die Wiederkehr zu ſich ſelbſt,
zum hoͤheren Sinne, machen ihn der Be¬
wunderung wuͤrdig. Er reinigt ſeine Lehre,
befeſtigt ſein Reich und ſtirbt.
So war der Entwurf einer Arbeit, die
mich lange im Geiſt beſchaͤftigte: denn ge¬
woͤhnlich mußte ich erſt etwas im Sinne bey¬
ſammen haben, eh ich zur Ausfuͤhrung ſchritt.
Alles was das Genie durch Character und
Geiſt uͤber die Menſchen vermag, ſollte dar¬
geſtellt werden, und wie es dabey gewinnt
und verliert. Mehrere einzuſchaltende Ge¬
ſaͤnge wurden vorlaͤufig gedichtet, von denen
iſt allein noch uͤbrig, was uͤberſchrieben Ma¬
homets Geſang, unter meinen Gedich¬
[456] ten ſteht. Im Stuͤcke ſollte Ali, zu Ehren
ſeines Meiſters, auf dem hoͤchſten Puncte des
Gelingens dieſen Geſang vortragen, kurz vor
der Umwendung, die durch das Gift geſchieht.
Ich erinnere mich auch noch der Intentionen
einzelner Stellen, doch wuͤrde mich die Ent¬
wickelung derſelben hier zu weit fuͤhren.
Funfzehntes Buch.
[[458]][[459]]Von ſo vielfachen Zerſtreuungen, die doch
meiſt zu ernſten, ja religioͤſen Betrachtungen
Anlaß gaben, kehrte ich immer wieder zu
meiner edlen Freundinn von Klettenberg zu¬
ruͤck, deren Gegenwart meine ſtuͤrmiſchen,
nach allen Seiten hinſtrebenden Neigungen
und Leidenſchaften, wenigſtens fuͤr einen Au¬
genblick beſchwichtigte, und der ich von ſol¬
chen Vorſaͤtzen, nach meiner Schweſter, am
liebſten Rechenſchaft gab. Ich haͤtte wohl
bemerken koͤnnen, daß von Zeit zu Zeit ihre
Geſundheit abnahm, allein ich verhehlte mir's,
und durfte dieß um ſo eher, als ihre Heiter¬
keit mit der Krankheit zunahm. Sie pflegte
nett und reinlich am Fenſter in ihrem Seſſel
zu ſitzen, vernahm die Erzaͤhlungen meiner
Ausfluͤge mit Wohlwollen, ſo wie dasjenige
[460] was ich ihr vorlas. Manchmal zeichnete ich
ihr auch etwas hin, um die Gegenden leich¬
ter zu beſchreiben, die ich geſehn hatte. Ei¬
nes Abends, als ich mir eben mancherley
Bilder wieder hervorgerufen, kam, bey un¬
tergehender Sonne, ſie und ihre Umgebung
mir wie verklaͤrt vor, und ich konnte mich
nicht enthalten, ſo gut es meine Unfaͤhigkeit
zuließ, ihre Perſon und die Gegenſtaͤnde des
Zimmers in ein Bild zu bringen, das unter
den Haͤnden eines kunſtfertigen Malers, wie
Kerſting, hoͤchſt anmuthig geworden waͤre.
Ich ſendete es an eine auswaͤrtige Freundinn
und legte als Commentar und Supplement
ein Lied hinzu.
Wenn ich mich in dieſen Strophen, wie
auch ſonſt wohl manchmal geſchah, als einen
Auswaͤrtigen, Fremden, ſogar als einen Hei¬
den gab, war ihr dieſes nicht zuwider, viel¬
mehr verſicherte ſie mir, daß ich ihr ſo lieber
ſey als fruͤher, da ich mich der chriſtlichen
Terminologie bedient, deren Anwendung mir
nie recht habe gluͤcken wollen; ja es war
ſchon hergebracht, wenn ich ihr Miſſionsbe¬
richte vorlas, welche zu hoͤren ihr immer
ſehr angenehm war, daß ich mich der Voͤl¬
ker gegen die Miſſionarien annehmen, und
[462] ihren fruͤheren Zuſtand dem neuern vorziehen
durfte. Sie blieb immer freundlich und ſanft,
und ſchien meiner und meines Heils wegen
nicht in der mindeſten Sorge zu ſeyn.
Daß ich mich aber nach und nach immer
mehr von jenem Bekenntniß entfernte, kam
daher, weil ich daſſelbe mit allzu großem Ernſt,
mit leidenſchaftlicher Liebe zu ergreifen geſucht
hatte. Seit meiner Annaͤherung an die Bruͤ¬
dergemeine hatte meine Neigung zu dieſer Ge¬
ſellſchaft, die ſich unter der Siegesfahne Chriſti
verſammelte, immer zugenommen. Jede poſi¬
tive Religion hat ihren groͤßten Reiz wenn ſie
im Werden begriffen iſt; deswegen iſt es ſo
angenehm, ſich in die Zeiten der Apoſtel zu
denken, wo ſich alles noch friſch und unmit¬
telbar geiſtig darſtellt, und die Bruͤdergemeine
hatte hierin etwas Magiſches, daß ſie jenen
erſten Zuſtand fortzuſetzen, ja zu verewigen
ſchien. Sie knuͤpfte ihren Urſprung an die fruͤh¬
ſten Zeiten an, ſie war niemals fertig geworden,
[463] ſie hatte ſich nur in unbemerkten Ranken
durch die rohe Welt hindurchgewunden; nun
ſchlug ein einzelnes Auge, unter dem Schutz
eines frommen vorzuͤglichen Mannes, Wurzel,
um ſich abermals aus unmerklichen, zufaͤllig¬
ſcheinenden Anfaͤngen, weit uͤber die Welt
auszubreiten. Der wichtigſte Punct hierbey
war der, daß man die religioͤſe und buͤrger¬
liche Verfaſſung unzertrennlich in eins zuſam¬
menſchlang, daß der Lehrer zugleich als Ge¬
bieter, der Vater zugleich als Richter daſtand;
ja, was noch mehr war, das goͤttliche Ober¬
haupt, dem man in geiſtlichen Dingen einen
unbedingten Glauben geſchenkt hatte, ward
auch zu Lenkung weltlicher Angelegenheiten
angerufen, und ſeine Antwort, ſowohl was
die Verwaltung im Ganzen, als auch was
jeden Einzelnen beſtimmen ſollte, durch den
Ausſpruch des Looſes mit Ergebenheit ver¬
nommen. Die ſchoͤne Ruhe, wie ſie wenig¬
ſtens das Aeußere bezeugte, war hoͤchſt ein¬
ladend, indem von der andern Seite, durch
[464] den Miſſions-Beruf, alle Thatkraft die in
dem Menſchen liegt, in Anſpruch genommen
wurde. Die trefflichen Maͤnner die ich auf
dem Synodus zu Marienborn, wohin mich
Legationsrath Moritz, Geſchaͤftstraͤger der
Grafen von Iſenburg, mitnahm, kennen
lernte, hatten meine ganze Verehrung ge¬
wonnen, und es waͤre nur auf ſie angekom¬
men, mich zu dem Ihrigen zu machen. Ich
beſchaͤftigte mich mit ihrer Geſchichte, mit ih¬
rer Lehre, der Herkunft und Ausbildung der¬
ſelben, und fand mich in dem Fall, davon
Rechenſchaft zu geben, und mich mit Theil¬
nehmenden daruͤber zu unterhalten. Ich mu߬
te jedoch bemerken, daß die Bruͤder ſo we¬
nig als Fraͤulein von Klettenberg, mich fuͤr
einen Chriſten wollten gelten laſſen, welches
mich anfangs beunruhigte, nachher aber meine
Neigung einigermaßen erkaͤltete. Lange konnte
ich jedoch den eigentlichen Unterſcheidungsgrund
nicht auffinden, ob er gleich ziemlich am Tage
lag, bis er mir mehr zufaͤllig als durch For¬
[465] ſchung entgegendrang. Was mich naͤmlich von
der Bruͤdergemeine ſo wie von andern wer¬
then Chriſtenſeelen abſonderte, war daſſelbige,
woruͤber die Kirche ſchon mehr als einmal in
Spaltung gerathen war. Ein Theil behaup¬
tete, daß die menſchliche Natur durch den
Suͤndenfall dergeſtalt verdorben ſey, daß auch
bis in ihren innerſten Kern nicht das mindeſte
Gute an ihr zu finden, deshalb der Menſch
auf ſeine eignen Kraͤfte durchaus Verzicht zu
thun, und alles von der Gnade und ihrer
Einwirkung zu erwarten habe. Der andere
Theil gab zwar die erblichen Maͤngel der
Menſchen ſehr gern zu, wollte aber der Na¬
tur inwendig noch einen gewiſſen Keim zuge¬
ſtehn, welcher, durch goͤttliche Gnade belebt,
zu einem frohen Baume geiſtiger Gluͤckſelig¬
keit emporwachſen koͤnne. Von dieſer letztern
Ueberzeugung war ich auf's innigſte durchdrun¬
gen, ohne es ſelbſt zu wiſſen, obwohl ich
mich mit Mund und Feder zu dem Gegenthei¬
le bekannt hatte; aber ich daͤmmerte ſo hin,
III. 30[466] das eigentliche Dilemma hatte ich mir nie
ausgeſprochen. Aus dieſem Traume wurde
ich jedoch einſt ganz unvermuthet geriſſen,
als ich dieſe meine, wie mir ſchien, hoͤchſt
unſchuldige Meynung, in einem geiſtlichen
Geſpraͤch ganz unbewunden eroͤffnete, und
deshalb eine große Strafpredigt erdulden mu߬
te. Dieß ſey eben, behauptete man mir ent¬
gegen, der wahre Pelagianismus, und gerade
zum Ungluͤck der neueren Zeit, wolle dieſe
verderbliche Lehre wieder um ſich greifen.
Ich war hieruͤber erſtaunt, ja erſchrocken.
Ich ging in die Kirchengeſchichte zuruͤck, be¬
trachtete die Lehre und die Schickſale des Pe¬
lagius naͤher, und ſah nun deutlich, wie
dieſe beyden unvereinbaren Meynungen durch
Jahrhunderte hin und hergewogt, und von
den Menſchen, je nachdem ſie mehr thaͤtiger
oder leidender Natur geweſen, aufgenommen
und bekannt worden.
[467]
Mich hatte der Lauf der vergangenen
Jahre unablaͤſſig zu Uebung eigner Kraft auf¬
gefordert, in mir arbeitete eine raſtloſe Thaͤ¬
tigkeit, mit dem beſten Willen, zu moraliſcher
Ausbildung. Die Außenwelt forderte, daß
dieſe Thaͤtigkeit geregelt und zum Nutzen
anderer gebraucht werden ſollte, und ich hatte
dieſe große Forderung in mir ſelbſt zu verar¬
beiten. Nach allen Seiten hin war ich an
die Natur gewieſen, ſie war mir in ihrer
Herrlichkeit erſchienen; ich hatte ſo viel wak¬
kere und brave Menſchen kennen gelernt, die
ſich's in ihrer Pflicht, um der Pflicht willen,
ſauer werden ließen; ihnen, ja mir ſelbſt zu
entſagen, ſchien mir unmoͤglich; die Kluft
die mich von jener Lehre trennte ward mir
deutlich, ich mußte alſo auch aus dieſer Ge¬
ſellſchaft ſcheiden, und da mir meine Neigung
zu den heiligen Schriften ſo wie zu dem
Stifter und den fruͤheren Bekennern nicht ge¬
raubt werden konnte, ſo bildete ich mir ein
Chriſtenthum zu meinem Privatgebrauch, und
30 *[468] ſuchte dieſes durch fleißiges Studium der Ge¬
ſchichte, und durch genaue Bemerkung der¬
jenigen die ſich zu meinem Sinne hingeneigt
hatten, zu begruͤnden und aufzubauen.
Weil nun aber alles was ich mit Liebe in
mich aufnahm, ſich ſogleich zu einer dichteri¬
ſchen Form anlegte, ſo ergriff ich den wun¬
derlichen Einfall, die Geſchichte des ewi¬
gen Juden, die ſich ſchon fruͤh durch die
Volksbuͤcher bey mir eingedruͤckt hatte, epiſch
zu behandeln, um an dieſem Leitfaden die her¬
vorſtehenden Puncte der Religions- und Kir¬
chengeſchichte nach Befinden darzuſtellen. Wie
ich mir aber die Fabel gebildet, und welchen
Sinn ich ihr untergelegt, gedenke ich nun¬
mehr zu erzaͤhlen.
In Jeruſalem befand ſich ein Schuſter,
dem die Legende den Namen Ahasverus
giebt. Zu dieſem hatte mir mein Dresdner
Schuſter die Grundzuͤge geliefert. Ich hatte
[469] ihn mit eines Handwerksgenoſſen, mit Hans
Sachſens Geiſt und Humor beſtens ausge¬
ſtattet, und ihn durch eine Neigung zu Chriſto
veredelt. Weil er nun, bey offener Werk¬
ſtatt, ſich gern mit den Vorbeygehenden un¬
terhielt, ſie neckte und, auf Socratiſche
Weiſe, Jeden nach ſeiner Art anregte; ſo
verweilten die Nachbarn und andre vom Volk
gern bey ihm, auch Phariſaͤer und Saddu¬
zaͤer ſprachen zu, und, begleitet von ſeinen
Juͤngern, mochte der Heiland ſelbſt wohl auch
manchmal bey ihm verweilen. Der Schu¬
ſter, deſſen Sinn bloß auf die Welt gerichtet
war, faßte doch zu unſerem Herrn eine be¬
ſondere Neigung, die ſich hauptſaͤchlich da¬
durch aͤußerte, daß er den hohen Mann, deſ¬
ſen Sinn er nicht faßte, zu ſeiner eignen
Denk- und Handelsweiſe bekehren wollte.
Er lag daher Chriſto ſehr inſtaͤndig an, doch
aus der Beſchaulichkeit hervorzutreten, nicht
mit ſolchen Muͤßiggaͤngern im Lande herum¬
zuziehn, nicht das Volk von der Arbeit hin¬
[470] weg an ſich in die Einoͤde zu locken: ein ver¬
ſammeltes Volk ſey immer ein aufgeregtes,
und es werde nichts Gutes daraus entſtehn.
Dagegen ſuchte ihn der Herr von ſeinen
hoͤheren Anſichten und Zwecken ſinnbildlich zu
belehren, die aber bey dem derben Manne
nicht fruchten wollten. Daher, als Chriſtus
immer bedeutender, ja eine oͤffentliche Per¬
ſon ward, ließ ſich der wohlwollende Hand¬
werker immer ſchaͤrfer und heftiger vernehmen,
ſtellte vor, daß hieraus nothwendig Unruhen
und Aufſtaͤnde erfolgen, und Chriſtus ſelbſt
genoͤthigt ſeyn wuͤrde, ſich als Parteyhaupt
zu erklaͤren, welches doch unmoͤglich ſeine Ab¬
ſicht ſey. Da nun der Verlauf der Sache
wie wir wiſſen erfolgt, Chriſtus gefangen
und verurtheilt iſt, ſo wird Ahasverus noch
heftiger aufgeregt, als Judas, der ſchein¬
bar den Herrn verrathen, verzweifelnd in
die Werkſtatt tritt, und jammernd ſeine mis¬
lungene That erzaͤhlt. Er ſey naͤmlich, ſo
[471] gut als die kluͤgſten der uͤbrigen Anhaͤnger,
feſt uͤberzeugt geweſen, daß Chriſtus ſich als
Regent und Volkshaupt erklaͤren werde, und
habe das bisher unuͤberwindliche Zaudern des
Herrn mit Gewalt zur That noͤthigen wollen,
und deswegen die Prieſterſchaft zu Thaͤtlich¬
keiten aufgereizt, welche auch dieſe bisher nicht
gewagt. Von der Juͤnger Seite ſey man
auch nicht unbewaffnet geweſen, und wahr¬
ſcheinlicher Weiſe waͤre alles gut abgelaufen,
wenn der Herr ſich nicht ſelbſt ergeben
und ſie in den traurigſten Zuſtaͤnden zuruͤckge¬
laſſen haͤtte. Ahasverus, durch dieſe Erzaͤh¬
lung keineswegs zur Milde geſtimmt, verbit¬
tert vielmehr noch den Zuſtand des armen
Exapoſtels, ſo daß dieſem nichts uͤbrig bleibt,
als in der Eile ſich aufzuhaͤngen.
Als nun Jeſus vor der Werkſtatt des
Schuſters vorbey zum Tode gefuͤhrt wird,
ereignet ſich gerade dort die bekannte Scene,
daß der Leidende unter der Laſt des Kreuzes
[472] erliegt, und Simon von Cyrene daſſelbe wei¬
ter zu tragen gezwungen wird. Hier tritt
Ahasverus hervor, nach hartverſtaͤndiger Men¬
ſchen Art, die, wenn ſie Jemand durch eigne
Schuld ungluͤcklich ſehn, kein Mitleid fuͤhlen,
ja vielmehr durch unzeitige Gerechtigkeit ge¬
drungen, das Uebel durch Vorwuͤrfe vermeh¬
ren; er tritt heraus und wiederholt alle fruͤ¬
heren Warnungen, die er in heftige Beſchul¬
digungen verwandelt, wozu ihn ſeine Nei¬
gung fuͤr den Leidenden zu berechtigen ſcheint.
Dieſer antwortet nicht, aber im Augenblicke
bedeckt die liebende Veronika des Heilands
Geſicht mit dem Tuche, und da ſie es weg¬
nimmt, und in die Hoͤhe haͤlt, erblickt Ahas¬
verus darauf das Antlitz des Herrn, aber
keineswegs des in Gegenwart leidenden, ſon¬
dern eines herrlich Verklaͤrten, und himmli¬
ſches Leben Ausſtrahlenden. Geblendet von
dieſer Erſcheinung wendet er die Augen weg,
und vernimmt die Worte: Du wandelſt auf
Erden, bis du mich in dieſer Geſtalt wieder
[473] erblickſt. Der Betroffene kommt erſt einige
Zeit nachher zu ſich ſelbſt zuruͤck, findet, da
alles ſich zum Gerichtsplatz gedraͤngt hat, die
Straßen Jeruſalems oͤde, Unruhe und Sehn¬
ſucht treiben ihn fort, und er beginnt ſeine
Wanderung.
Von dieſer und von dem Ereigniß, wo¬
durch das Gedicht zwar geendigt, aber nicht
abgeſchloſſen wird, vielleicht ein andermal.
Der Anfang, zerſtreute Stellen, und der
Schluß waren geſchrieben; aber mir fehlte
die Sammlung, mir fehlte die Zeit, die noͤ¬
thigen Studien zu machen, daß ich ihm haͤt¬
te den Gehalt den ich wuͤnſchte, geben koͤn¬
nen, und es blieben die wenigen Blaͤtter um
deſto eher liegen, als ſich eine Epoche in mir
entwickelte, die ſich ſchon als ich den Wer¬
ther ſchrieb, und nachher deſſen Wirkungen
ſah, nothwendig anſpinnen mußte.
[474]
Das gemeine Menſchenſchickſal, an wel¬
chem wir alle zu tragen haben, muß denje¬
nigen am ſchwerſten aufliegen, deren Geiſtes¬
kraͤfte ſich fruͤher und breiter entwickeln. Wir
moͤgen unter dem Schutz von Aeltern und
Verwandten emporkommen, wir moͤgen uns
an Geſchwiſter und Freunde anlehnen, durch
Bekannte unterhalten, durch geliebte Perſo¬
nen begluͤckt werden; ſo iſt doch immer das
Final, daß der Menſch auf ſich zuruͤckgewieſen
wird, und es ſcheint, es habe ſogar die Gott¬
heit ſich ſo zu dem Menſchen geſtellt, daß ſie
deſſen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe nicht
immer, wenigſtens nicht grade im dringenden
Augenblick, erwiedern kann. Ich hatte jung
genug gar oft erfahren, daß in den huͤlfsbe¬
duͤrftigſten Momenten uns zugerufen wird:
„Arzt hilf dir ſelber!“ und wie oft hatte ich
nicht ſchmerzlich ausſeufzen muͤſſen: „ich trete
die Kelter allein!“ Indem ich mich alſo nach
Beſtaͤtigung der Selbſtaͤndigkeit umſah, fand
ich als die ſicherſte Baſe derſelben mein pro¬
[475] ductives Talent. Es verließ mich ſeit eini¬
gen Jahren keinen Augenblick; was ich wa¬
chend am Tage gewahr wurde, bildete ſich
ſogar oͤfters Nachts in regelmaͤßige Traͤume,
und wie ich die Augen aufthat, erſchien mir
entweder ein wunderliches neues Ganze, oder
der Theil eines ſchon Vorhandenen. Ge¬
woͤhnlich ſchrieb ich alles zur fruͤhſten Ta¬
geszeit; aber auch Abends, ja tief in die
Nacht, wenn Wein und Geſelligkeit die Le¬
bensgeiſter erhoͤhten, konnte man von mir
fordern was man wollte; es kam nur auf
eine Gelegenheit an, die einigen Character
hatte, ſo war ich bereit und fertig. Wie ich
nun uͤber dieſe Naturgabe nachdachte und
fand, daß ſie mir ganz eigen angehoͤre und
durch nichts Fremdes weder beguͤnſtigt noch
gehindert werden koͤnne, ſo mochte ich gern
hierauf mein ganzes Daſeyn in Gedanken
gruͤnden. Dieſe Vorſtellung verwandelte ſich
in ein Bild, die alte mythologiſche Figur des
Prometheus fiel mir auf, der, abgeſon¬
[476] dert von den Goͤttern, von ſeiner Werkſtaͤtte
aus eine Welt bevoͤlkerte. Ich fuͤhlte recht
gut, daß ſich etwas Bedeutendes nur produ¬
ciren laſſe, wenn man ſich iſolire. Meine
Sachen, die ſo viel Beyfall gefunden hat¬
ten, waren Kinder der Einſamkeit, und ſeit¬
dem ich zu der Welt in einem breitem Ver¬
haͤltniß ſtand, fehlte es nicht an Kraft und
Luſt der Erfindung, aber die Ausfuͤhrung
ſtockte, weil ich weder in Proſa noch in Ver¬
ſen eigentlich einen Stil hatte, und bey ei¬
ner jeden neuen Arbeit, je nachdem der Ge¬
genſtand war, immer wieder von vorne ta¬
ſten und verſuchen mußte. Indem ich nun
hierbey die Huͤlfe der Menſchen abzulehnen
ja auszuſchließen hatte, ſo ſonderte ich mich,
nach Prometheiſcher Weiſe, auch von den
Goͤttern ab, um ſo natuͤrlicher, als bey mei¬
nem Character und meiner Denkweiſe Eine
Geſinnung jederzeit die uͤbrigen verſchlang und
abſtieß.
[477]
Die Fabel des Prometheus ward in mir
lebendig. Das alte Titanengewand ſchnitt
ich mir nach meinem Wuchſe zu, und fing,
ohne weiter nachgedacht zu haben, ein Stuͤck
zu ſchreiben an, worin das Misverhaͤltniß
dargeſtellt iſt, in welches Prometheus zu dem
Zeus und den neuen Goͤttern geraͤth, indem
er auf eigne Hand Menſchen bildet, ſie durch
Gunſt der Minerva belebt, und eine dritte
Dynaſtie ſtiftet. Und wirklich hatten die jetzt
regierenden Goͤtter ſich zu beſchweren voͤllig
Urſache, weil man ſie als unrechtmaͤßig zwi¬
ſchen die Titanen und Menſchen eingeſchobene
Weſen betrachten konnte. Zu dieſer ſeltſamen
Compoſition gehoͤrt als Monolog jenes Ge¬
dicht, das in der deutſchen Literatur bedeu¬
tend geworden, weil dadurch veranlaßt, Leſ¬
ſing uͤber wichtige Puncte des Denkens und
Empfindens ſich gegen Jacobi erklaͤrte. Es
diente zum Zuͤndkraut einer Exploſion, welche
die geheimſten Verhaͤltniſſe wuͤrdiger Maͤnner
aufdeckte und zur Sprache brachte: Verhaͤlt¬
[478] niſſe, die ihnen ſelbſt unbewußt, in einer
ſonſt hoͤchſt aufgeklaͤrten Geſellſchaft ſchlum¬
merten. Der Riß war ſo gewaltſam, daß
wir daruͤber, bey eintretenden Zufaͤlligkeiten,
einen unſerer wuͤrdigſten Maͤnner, Mendels¬
ſohn, verloren.
Ob man nun wohl, wie auch geſchehn,
bey dieſem Gegenſtande philoſophiſche, ja re¬
ligioͤſe Betrachtungen anſtellen kann, ſo ge¬
hoͤrt er doch ganz eigentlich der Poeſie. Die
Titanen ſind die Folie des Polytheïsmus, ſo
wie man als Folie des Monotheïsmus den
Teufel betrachten kann; doch iſt dieſer ſo wie
der einzige Gott, dem er entgegenſteht, keine
poetiſche Figur. Der Satan Milton's, brav
genug gezeichnet, bleibt immer in dem Nach¬
theil der Subalternitaͤt, indem er die herr¬
liche Schoͤpfung eines oberen Weſens zu zer¬
ſtoͤren ſucht, Prometheus hingegen im Vor¬
theil, der, zum Trutz hoͤherer Weſen, zu
ſchaffen und zu bilden vermag. Auch iſt es
[479] ein ſchoͤner, der Poeſie zuſagender Gedanke,
die Menſchen nicht durch den oberſten Welt¬
herrſcher, ſondern durch eine Mittelfigur her¬
vorbringen zu laſſen, die aber doch, als Ab¬
koͤmmling der aͤlteſten Dynaſtie, hierzu wuͤr¬
dig und wichtig genug iſt; wie denn uͤber¬
haupt die griechiſche Mythologie einen uner¬
ſchoͤpflichen Reichthum goͤttlicher und menſch¬
licher Symbole darbietet.
Der Titaniſch-gigantiſche, himmelſtuͤrmen¬
de Sinn jedoch verlieh meiner Dichtungsart
keinen Stoff. Eher ziemte ſich mir, darzu¬
ſtellen jenes friedliche, plaſtiſche, allenfalls dul¬
dende Widerſtreben, das die Obergewalt an¬
erkannt, aber ſich ihr gleichſetzen moͤchte. Doch
auch die kuͤhneren jenes Geſchlechts, Tanta¬
lus, Ixion, Siſyphus, waren meine Heili¬
gen. In die Geſellſchaft der Goͤtter aufge¬
nommen, mochten ſie ſich nicht untergeordnet
genug betragen, als uͤbermuͤthige Gaͤſte ih¬
res wirthlichen Goͤnners Zorn verdient und
[480] ſich eine traurige Verbannung zugezogen ha¬
ben. Ich bemitleidete ſie, ihr Zuſtand war
von den Alten ſchon als wahrhaft tragiſch
anerkannt, und wenn ich ſie als Glieder ei¬
ner ungeheuren Oppoſition im Hintergrunde
meiner Iphigenie zeigte, ſo bin ich ihnen
wohl einen Theil der Wirkung ſchuldig, wel¬
che dieſes Stuͤck hervorzubringen das Gluͤck
hatte.
Zu jener Zeit aber ging bey mir das Dich¬
ten und Bilden unaufhaltſam miteinander.
Ich, zeichnete die Portraite meiner Freunde
im Profil auf grau Papier mit weißer und
ſchwarzer Kreide. Wenn ich dictirte oder
mir vorleſen ließ, entwarf ich die Stellungen
der Schreibenden und Leſenden, mit ihrer Um¬
gebung; die Aehnlichkeit war nicht zu verken¬
nen und die Blaͤtter wurden gut aufgenom¬
men. Dieſen Vortheil haben Dilettanten im¬
mer, weil ſie ihre Arbeit umſonſt geben.
Das Unzulaͤngliche dieſes Abbildens jedoch
[481] fuͤhlend, griff ich wieder zu Sprache und
Rhythmus, die mir beſſer zu Gebote ſtan¬
den. Wie munter, froh und raſch ich dabey
zu Werke ging, davon zeugen manche Ge¬
dichte, welche die Kunſtnatur und die Na¬
turkunſt enthuſiaſtiſch verkuͤndend, im Augen¬
blicke des Entſtehens ſowohl mir als meinen
Freunden immer neuen Muth befoͤrderten.
Als ich nun einſt in dieſer Epoche und
ſo beſchaͤftigt, bey geſperrtem Lichte in mei¬
nem Zimmer ſaß, dem wenigſtens der Schein
einer Kuͤnſtlerwerkſtatt hierdurch verliehen war,
uͤberdieß auch die Waͤnde mit halbfertigen
Arbeiten beſteckt und behangen das Vorur¬
theil einer großen Thaͤtigkeit gaben; ſo trat
ein wohlgebildeter ſchlanker Mann bey mir
ein, den ich zuerſt in der Halbdaͤmmerung
fuͤr Fritz Jacobi hielt, bald aber meinen
Irrthum erkennend als einen Fremden be¬
gruͤßte. An ſeinem freyen anſtaͤndigen Be¬
tragen war eine gewiſſe militairiſche Haltung
III. 31[482] nicht zu verkennen. Er nannte mir ſeinen
Namen von Knebel, und aus einer kur¬
zen Eroͤffnung vernahm ich, daß er, im preu¬
ßiſchen Dienſte, bey einem laͤngern Aufent¬
halt in Berlin und Potzdam, mit den dorti¬
gen Literatoren und der deutſchen Literatur
uͤberhaupt ein gutes und thaͤtiges Verhaͤltniß
angeknuͤpft habe. An Ramlern hatte er ſich
vorzuͤglich gehalten und deſſen Art, Gedichte
zu recitiren, angenommen. Auch war er ge¬
nau mit allem bekannt, was Goͤtz geſchrie¬
ben, der unter den Deutſchen damals noch
keinen Namen hatte. Durch ſeine Veran¬
ſtaltung war die Maͤdchen-Inſel dieſes Dich¬
ters in Potzdam abgedruckt worden und ſo¬
gar dem Koͤnig in die Haͤnde gekommen,
welcher ſich guͤnſtig daruͤber geaͤußert ha¬
ben ſoll.
Kaum hatten wir dieſe allgemein deutſchen
literariſchen Gegenſtaͤnde durchgeſprochen, als
ich zu meinem Vergnuͤgen erfuhr, daß er ge¬
[483] genwaͤrtig in Weimar angeſtellt und zwar
dem Prinzen Conſtantin zum Begleiter
beſtimmt ſey. Von den dortigen Verhaͤltniſſen
hatte ich ſchon manches Guͤnſtige vernommen:
denn es kamen viele Fremde von daher zu uns,
die Zeugen geweſen waren, wie die Herzoginn
Amalia zu Erziehung ihrer Prinzen die
vorzuͤglichſten Maͤnner berufen; wie die Aca¬
demie Jena durch ihre bedeutenden Lehrer zu
dieſem ſchoͤnen Zweck gleichfalls das Ihrige
beygetragen; wie die Kuͤnſte nicht nur von
gedachter Fuͤrſtinn geſchuͤtzt, ſondern ſelbſt
von ihr gruͤndlich und eifrig getrieben wuͤrden.
Auch vernahm man, daß Wieland in vorzuͤg¬
licher Gunſt ſtehe; wie denn auch der deut¬
ſche Merkur, der die Arbeiten ſo mancher
auswaͤrtigen Gelehrten verſammelte, nicht we¬
nig zu dem Rufe der Stadt beytrug, wo er
herausgegeben wurde. Eins der beſten deut¬
ſchen Theater war dort eingerichtet, und be¬
ruͤhmt durch Schauſpieler ſowohl als Autoren,
die dafuͤr arbeiteten. Dieſe ſchoͤnen Anſtalten
31 *[484] und Anlagen ſchienen jedoch durch den ſchreckli¬
chen Schloßbrand, der im May deſſelben Jah¬
res ſich ereignet hatte, geſtoͤrt und mit einer
langen Stockung bedroht; allein das Zu¬
trauen auf den Erbprinzen war ſo groß, daß
Jederman ſich uͤberzeugt hielt, dieſer Schade
werde nicht allein bald erſetzt, ſondern auch
deſſen ungeachtet jede andere Hoffnung reich¬
lich erfuͤllt werden. Wie ich mich nun, gleich¬
ſam als ein alter Bekannter, nach dieſen Perſo¬
nen und Gegenſtaͤnden erkundigte und den
Wunſch aͤußerte, mit den dortigen Verhaͤlt¬
niſſen naͤher bekannt zu ſeyn; ſo verſetzte der
Ankoͤmmling gar freundlich: es ſey nichts
leichter als dieſes, denn ſo eben lange der
Erbprinz mit ſeinem Herrn Bruder, dem
Prinzen Conſtantin, in Frankfurt an, wel¬
che mich zu ſprechen und zu kennen wuͤnſchten.
Ich zeigte ſogleich die groͤßte Bereitwilligkeit
ihnen aufzuwarten, und der neue Freund ver¬
ſetzte, daß ich damit nicht ſaͤumen ſolle, weil
der Aufenthalt nicht lange dauern werde. Um
[485] mich hiezu anzuſchicken, fuͤhrte ich ihn zu
meinen Eltern, die uͤber ſeine Ankunft und
Botſchaft hoͤchſt verwundert, mit ihm ſich
ganz vergnuͤglich unterhielten. Ich eilte nun¬
mehr mit demſelben zu den jungen Fuͤrſten,
die mich ſehr frey und freundlich empfingen,
ſo wie auch der Fuͤhrer des Erbprinzen,
Graf Goͤrtz, mich nicht ungern zu ſehen
ſchien. Ob es nun gleich an literariſcher Un¬
terhaltung nicht fehlte, ſo machte doch ein
Zufall die beſte Einleitung, daß ſie gar bald
bedeutend und fruchtbar werden konnte.
Es lagen naͤmlich Moͤſers patriotiſche
Phantaſieen und zwar der erſte Theil, friſch
geheftet und unaufgeſchnitten, auf dem Tiſche.
Da ich ſie nun ſehr gut, die Geſellſchaft ſie
aber wenig kannte, ſo hatte ich den Vortheil,
davon eine ausfuͤhrliche Relation liefern zu
koͤnnen; und hier fand ſich der ſchicklichſte
Anlaß zu einem Geſpraͤch mit einem jungen
Fuͤrſten, der den beſten Willen und den feſten
[486] Vorſatz hatte, an ſeiner Stelle entſchieden
Gutes zu wirken. Moͤſers Darſtellung, ſo
dem Inhalt als dem Sinne nach, muß ei¬
nem jeden Deutſchen hoͤchſt intereſſant ſeyn.
Wenn man ſonſt dem deutſchen Reiche Zer¬
ſplitterung, Anarchie und Ohnmacht vorwarf,
ſo erſchien aus dem Moͤſeriſchen Standpunkte
gerade die Menge kleiner Staaten als hoͤchſt¬
erwuͤnſcht zu Ausbreitung der Kultur im Ein¬
zelnen, nach den Beduͤrfniſſen welche aus
der Lage und Beſchaffenheit der verſchiedenſten
Provinzen hervorgehn; und wenn Moͤſer von
der Stadt, vom Stift Osnabruͤck ausgehend
und uͤber den weſtphaͤliſchen Kreis ſich ver¬
breitend, nunmehr deſſen Verhaͤltniß zu dem
ganzen Reiche zu ſchildern wußte, und bey
Beurtheilung der Lage, das Vergangene mit
dem Gegenwaͤrtigen zuſammenknuͤpfend, dieſes
aus jenem ableitete und dadurch, ob eine Ver¬
aͤnderung lobens- oder tadelnswuͤrdig ſey, gar
deutlich auseinander ſetzte: ſo durfte nur jeder
Staatsverweſer, an ſeinem Ort, auf gleiche
[487] Weiſe verfahren, um die Verfaſſung ſeines
Umkreiſes und deren Verknuͤpfung mit Nach¬
barn und mit dem Ganzen aufs beſte kennen
zu lernen, und ſowohl Gegenwart als Zukunft
zu beurtheilen.
Bey dieſer Gelegenheit kam manches auf's
Tapet, was den Unterſchied der Ober- und
Niederſaͤchſiſchen Staaten betraf, und wie ſo¬
wohl die Naturproducte als die Sitten, Ge¬
ſetze und Gewohnheiten ſich von den fruͤheſten
Zeiten her anders gebildet und, nach der Re¬
gierungsform und der Religion, bald auf die
eine bald auf die andere Weiſe gelenkt hat¬
ten. Man verſuchte die Unterſchiede von bey¬
den etwas genauer herauszuſetzen, und es
zeigte ſich gerade daran, wie vortheilhaft es
ſey, ein gutes Muſter vor ſich zu haben,
welches, wenn man nicht deſſen Einzelnhei¬
ten, ſondern die Methode betrachtet nach
welcher es angelegt iſt, auf die verſchiedenſten
[488] Faͤlle angewendet und eben dadurch dem Ur¬
theil hoͤchſt erſprießlich werden kann.
Bey Tafel wurden dieſe Geſpraͤche fortge¬
ſetzt, und ſie erregten fuͤr mich ein beſſeres
Vorurtheil als ich vielleicht verdiente. Denn
anſtatt daß ich diejenigen Arbeiten, die ich
ſelbſt zu liefern vermochte, zum Gegenſtand
des Geſpraͤchs gemacht, fuͤr das Schauſpiel,
fuͤr den Roman eine ungetheilte Aufmerkſam¬
keit gefordert haͤtte; ſo ſchien ich vielmehr in
Moͤſern ſolche Schriftſteller vorzuziehen, de¬
ren Talent aus dem thaͤtigen Leben ausging
und in daſſelbe unmittelbar nuͤtzlich ſogleich
wieder zuruͤckkehrte, waͤhrend eigentlich poeti¬
ſche Arbeiten, die uͤber dem Sittlichen und
Sinnlichen ſchweben, erſt durch einen Um¬
ſchweif und gleichſam nur zufaͤllig nuͤtzen koͤn¬
nen. Bey dieſen Geſpraͤchen ging es nun wie
bey den Maͤhrchen der tauſend und einen
Nacht: es ſchob ſich eine bedeutende Materie
in und uͤber die andere, manches Thema
[489] klang nur an, ohne daß man es haͤtte ver¬
folgen koͤnnen; und ſo ward, weil der Auf¬
enthalt der jungen Herrſchaften in Frankfurt
nur kurz ſeyn konnte, mir das Verſprechen
abgenommen, daß ich nach Maynz folgen
und dort einige Tage zubringen ſollte, wel¬
ches ich denn herzlich gern ablegte und mit
dieſer vergnuͤgten Nachricht nach Hauſe eilte,
um ſolche meinen Eltern mitzutheilen.
Meinem Vater wollte es jedoch keines¬
wegs gefallen: denn nach ſeinen reichsbuͤrger¬
lichen Geſinnungen hatte er ſich jederzeit
von den Großen entfernt gehalten, und ob¬
gleich mit den Geſchaͤftstraͤgern der umliegen¬
den Fuͤrſten und Herren in Verbindung,
ſtand er doch keineswegs in perſoͤnlichen Ver¬
haͤltniſſen zu ihnen; ja es gehoͤrten die Hoͤfe
unter die Gegenſtaͤnde, woruͤber er zu ſcher¬
zen pflegte, auch wohl gern ſah, wenn man
ihm etwas entgegenſetzte, nur mußte man
ſich dabey, nach ſeinem Beduͤnken, geiſtreich
[490] und witzig verhalten. Hatten wir ihm das
Procul a Jove procul a fulmine gelten
laſſen, doch aber bemerkt, daß beym Blitze
nicht ſowohl vom Woher als vom Wohin
die Rede ſey; ſo brachte er das alte Spruͤch¬
lein, mit großen Herren ſey Kirſcheſſen nicht
gut, auf die Bahn. Wir erwiederten, es
ſey noch ſchlimmer, mit genaͤſchigen Leuten
aus Einem Korbe ſpeiſen. Das wollte er
nicht leugnen, hatte aber ſchnell einen ande¬
ren Spruchreim zur Hand, der uns in Ver¬
legenheit ſetzen ſollte. Denn da Spruͤchworte
und Denkreime vom Volke ausgehn, welches,
weil es gehorchen muß, doch wenigſtens gern
reden mag, die Oberen dagegen durch die
That ſich zu entſchaͤdigen wiſſen; da ferner
die Poeſie des ſechzehnten Jahrhunderts faſt
durchaus kraͤftig didactiſch iſt: ſo kann es in
unſerer Sprache an Ernſt und Scherz nicht
fehlen, den man von unten nach oben hin¬
auf ausgeuͤbt hat. Und ſo uͤbten wir Juͤnge¬
ren uns nun auch von oben herunter, indem
[491] wir uns was Großes einbildend, auch die Par¬
tey der Großen zu nehmen beliebten; von wel¬
chen Reden und Gegenreden ich einiges ein¬
ſchalte.
A.
Lang bey Hofe, lang bey Hoͤll!
B.
Dort waͤrmt ſich mancher gute Geſell!
A.
So wie ich bin, bin ich mein eigen;
Mir ſoll Niemand eine Gunſt erzeigen.
B.
Was willſt du dich der Gunſt denn ſchaͤmen?
Willſt du ſie geben, mußt du ſie nehmen.
A.
Willſt du die Noth des Hofes ſchauen:
Da wo dich's juckt, darfſt du nicht trauen!
[492]
B.
Wenn der Redner zum Volke ſpricht,
Da wo er kraut, da juckt's ihn nicht.
A.
Hat einer Knechtſchaft ſich erkohren,
Iſt gleich die Haͤlfte des Lebens verloren;
Ergeb' ſich was da will, ſo denk' er
Die andere Haͤlft' geht auch zum Henker.
B.
Wer ſich in Fuͤrſten weiß zu ſchicken,
Dem wird's heut oder morgen gluͤcken;
Wer ſich in den Poͤbel zu ſchicken ſucht,
Der hat ſein ganzes Jahr verflucht.
A.
Wenn dir der Waizen bey Hofe bluͤht,
So denke nur, daß nichts geſchieht;
Und wenn du denkſt, du haͤtteſt 's in der Scheuer,
Da oben iſt es nicht geheuer.
[493]
B.
Und bluͤht der Waizen ſo reiſt er auch,
Das iſt immer ſo ein alter Brauch;
Und ſchlaͤgt der Hagel die Aerndte nieder,
'S andre Jahr traͤgt der Boden wieder.
A.
Wer ganz will ſein eigen ſeyn,
Schließe ſich in's Haͤuschen ein,
Geſelle ſich zu Frau und Kindern,
Genieße leichten Rebenmoſt
Und uͤberdieß frugale Koſt,
Und nichts wird ihn am Leben hindern.
B.
Du willſt dem Herrſcher dich entziehn ?
So ſag', wohin willſt du denn fliehn?
O nimm es nur nicht ſo genau!
Denn es beherrſcht dich deine Frau,
Und die beherrſcht ihr dummer Bube,
So biſt du Knecht in deiner Stube.
[494]
So eben da ich aus alten Denkblaͤttchen
die vorſtehenden Reime zuſammenſuche, fal¬
len mir mehr ſolche luſtige Uebungen in die
Haͤnde, wo wir alte deutſche Kernworte am¬
plificirt und ihnen ſodann andere Spruͤchlein,
welche ſich in der Erfahrung eben ſo gut be¬
wahrheiten, entgegengeſetzt hatten. Eine Aus¬
wahl derſelben mag dereinſt als Epilog der
Puppenſpiele zu einem heiteren Denken An¬
laß geben.
Durch alle ſolche Erwiederungen ließ ſich
jedoch mein Vater von ſeinen Geſinnungen nicht
abwendig machen. Er pflegte gewoͤhnlich ſein
ſtaͤrkſtes Argument bis zum Schluſſe der Un¬
terhaltung aufzuſparen, da er denn Voltaire's
Abenteuer mit Friedrich dem Zweyten umſtaͤnd¬
lich ausmalte: wie die uͤbergroße Gunſt, die
Familiaritaͤt, die wechſelſeitigen Verbindlich¬
keiten auf einmal aufgehoben und verſchwun¬
den, und wir das Schauſpiel erlebt, daß je¬
ner außerordentliche Dichter und Schriftſteller,
[495] durch Frankfurter Stadtſoldaten, auf Requi¬
ſition des Reſidenten Freytag und nach Be¬
fehl des Burgemeiſters von Fichard, arretirt
und eine ziemliche Zeit im Gaſthof zur Roſe
auf der Zeil gefaͤnglich angehalten worden.
Hierauf haͤtte ſich zwar manches einwenden
laſſen, unter andern, daß Voltaͤre ſelbſt nicht
ohne Schuld geweſen; aber wir gaben uns
aus kindlicher Achtung jedesmal gefangen.
Da nun auch bey dieſer Gelegenheit, auf
ſolche und aͤhnliche Dinge angeſpielt wurde,
ſo wußte ich kaum, wie ich mich benehmen
ſollte: denn er warnte mich unbewunden und
behauptete, die Einladung ſey nur, um mich
in eine Falle zu locken, und wegen jenes ge¬
gen den beguͤnſtigten Wieland veruͤbten Muth¬
willens Rache an mir zu nehmen. Wie ſehr
ich nun auch vom Gegentheil uͤberzeugt war,
indem ich nur allzu deutlich ſah, daß eine vor¬
gefaßte Meynung durch hypochondriſche Traum¬
bilder aufgeregt, den wuͤrdigen Mann beaͤng¬
[496] ſtige; ſo wollte ich gleichwohl nicht gerade
wider ſeine Ueberzeugung handeln, und konn¬
te doch auch keinen Vorwand finden, unter
dem ich, ohne undankbar und unartig zu er¬
ſcheinen, mein Verſprechen wieder zuruͤck¬
nehmen durfte. Leider war unſere Freundinn
von Klettenberg bettlaͤgrig, auf die wir in
aͤhnlichen Faͤllen uns zu berufen pflegten.
An ihr und meiner Mutter hatte ich zwey
vortreffliche Begleiterinnen; ich nannte ſie nur
immer Rath und That: denn wenn jene
einen heitern ja ſeligen Blick uͤber die irdi¬
ſchen Dinge warf, ſo entwirrte ſich vor ihr
gar leicht was uns andere Erdenkinder ver¬
wirrte, und ſie wußte den rechten Weg ge¬
woͤhnlich anzudeuten, eben weil ſie ins Laby¬
rinth von oben herabſah und nicht ſelbſt da¬
rin befangen war; hatte man ſich aber ent¬
ſchieden, ſo konnte man ſich auf die Bereit¬
willigkeit und auf die Thatkraft meiner Mut¬
ter verlaſſen. Wie jener das Schauen, ſo
kam dieſer der Glaube zu Huͤlfe, und weil
[497] ſie in allen Faͤllen ihre Heiterkeit behielt,
fehlte es ihr auch niemals an Huͤlfsmitteln,
das Vorgeſetzte oder Gewuͤnſchte zu bewerk¬
ſtelligen. Gegenwaͤrtig wurde ſie nun an die
kranke Freundinn abgeſendet, um deren Gut¬
achten einzuholen, und da dieſes fuͤr meine
Seite guͤnſtig ausfiel, ſodann erſucht, die
Einwilligung des Vaters zu erlangen, der
denn auch, obgleich unglaͤubig und ungern,
nachgab.
Ich gelangte alſo in ſehr kalter Jahres¬
zeit zur beſtimmten Stunde nach Maynz,
und wurde von den jungen Herrſchaften und
ihren Begleitern, der Einladung gemaͤß, gar
freundlich aufgenommen. Der in Frankfurt
gefuͤhrten Geſpraͤche erinnerte man ſich, die
begonnenen wurden fortgeſetzt, und als von
der neueſten deutſchen Literatur und von ihren
Kuͤhnheiten die Rede war, fuͤgte es ſich ganz na¬
tuͤrlich, daß auch jenes famose Stuͤck, Goͤtter,
Helden und Wieland, zur Sprache kam;
III. 32[498] wobey ich gleich anfangs mit Vergnuͤgen be¬
merkte, daß man die Sache heiter und luſtig
betrachtete. Wie es aber mit dieſer Poſſe,
welche ſo großes Aufſehn erregt, eigentlich
zugegangen, war ich zu erzaͤhlen veranlaßt,
und ſo konnte ich nicht umhin, vor allen
Dingen einzugeſtehn, daß wir, als wahr¬
haft oberrheiniſche Geſellen, ſowohl der Nei¬
gung als Abneigung keine Graͤnzen kannten.
Die Verehrung Shakespears ging bey uns
bis zur Anbetung. Wieland hatte hingegen,
bey der entſchiedenen Eigenheit ſich und ſei¬
nen Leſern das Intereſſe zu verderben und
den Enthuſiasmus zu verkuͤmmern, in den
Noten zu ſeiner Ueberſetzung gar manches an
dem großen Autor getadelt, und zwar auf
eine Weiſe, die uns aͤußerſt verdroß und in
unſern Augen das Verdienſt dieſer Arbeit
ſchmaͤlerte. Wir ſahen Wielanden, den wir
als Dichter ſo hoch verehrten, der uns als
Ueberſetzer ſo großen Vortheil gebracht, nun¬
mehr als Critiker, launiſch, einſeitig und un¬
[499] gerecht. Hiezu kam noch, daß er ſich auch
gegen unſere Abgoͤtter, die Griechen, erklaͤrte
und dadurch unſern boͤſen Willen gegen ihn
noch ſchaͤrfte. Es iſt genugſam bekannt, daß
die griechiſchen Goͤtter und Helden nicht auf
moraliſchen, ſondern auf verklaͤrten phyſiſchen
Eigenſchaften ruhen, weshalb ſie auch dem
Kuͤnſtler ſo herrliche Geſtalten anbieten. Nun
hatte Wieland in der Alceſte Helden und
Halbgoͤtter nach moderner Art gebildet; wo¬
gegen denn auch nichts waͤre zu ſagen gewe¬
ſen, weil ja einem Jeden freyſteht, die poe¬
tiſchen Traditionen nach ſeinen Zwecken und
ſeiner Denkweiſe umzuformen. Allein in den
Briefen, die er uͤber gedachte Oper in den
Merkur einruͤckte, ſchien er uns dieſe Be¬
handlungsart allzu parteyiſch hervorzuheben
und ſich an den trefflichen Alten und ihrem
hoͤhern Stil unverantwortlich zu verſuͤndigen,
indem er die derbe geſunde Natur, die jenen
Productionen zum Grunde liegt, keinesweges
anerkennen wollte. Dieſe Beſchwerden hatten
32 *[500] wir kaum in unſerer kleinen Societaͤt leiden¬
ſchaftlich durchgeſprochen, als die gewoͤhnliche
Wuth alles zu dramatiſiren mich eines Sonn¬
tags Nachmittags anwandelte, und ich bey
einer Flaſche guten Burgunders, das ganze
Stuͤck wie es jetzt daliegt, in Einer Sitzung
niederſchrieb. Es war nicht ſobald meinen
gegenwaͤrtigen Mitgenoſſen vorgeleſen und von
ihnen mit großem Jubel aufgenommen wor¬
den, als ich die Handſchrift an Lenz nach
Straßburg ſchickte, welcher gleichfalls davon
entzuͤckt ſchien und behauptete, es muͤſſe auf
der Stelle gedruckt werden. Nach einigem
Hin- und Wiederſchreiben geſtand ich es zu,
und er gab es in Straßburg eilig unter die
Preſſe. Erſt lange nachher erfuhr ich, daß
dieſes einer von Lenzens erſten Schritten ge¬
weſen, wodurch er mir zu ſchaden und mich
beym Publikum in uͤblen Ruf zu ſetzen die
Abſicht hatte; wovon ich aber zu jener Zeit
nichts ſpuͤrte noch ahndete.
[501]
Und ſo hatte ich meinen neuen Goͤnnern
mit aller Naivetaͤt dieſen argloſen Urſprung
des Stuͤcks, ſo gut wie ich ihn ſelbſt wußte,
vorerzaͤhlt und, um ſie voͤllig zu uͤberzeugen,
daß hiebey keine Perſoͤnlichkeit noch eine an¬
dere Abſicht obwalte, auch die luſtige und
verwegene Art mitgetheilt, wie wir uns unter¬
einander zu necken und zu verſpotten pflegten.
Hierauf ſah ich die Gemuͤther voͤllig erheitert,
und man bewunderte uns beynah, daß wir
eine ſo große Furcht hatten, es moͤge irgend
Jemand auf ſeinen Lorbeern einſchlafen. Man
verglich eine ſolche Geſellſchaft jenen Flibu¬
ſtiers, welche ſich in jedem Augenblick der
Ruhe zu verweichlichen fuͤrchteten, weshalb
der Anfuͤhrer, wenn es keine Feinde und
nichts zu rauben gab, unter den Gelagtiſch
eine Piſtole losſchoß, damit es auch im Frie¬
den nicht an Wunden und Schmerzen fehlen
moͤge. Nach manchen Hin- und Wiederreden
uͤber dieſen Gegenſtand ward ich endlich ver¬
anlaßt, Wielanden einen freundlichen Brief
[502] zu ſchreiben, wozu ich die Gelegenheit ſehr
gern ergriff, da er ſich ſchon im Merkur uͤber
dieſen Jugendſtreich ſehr lieberal erklaͤrt und,
wie er es in literariſchen Fehden meiſt ge¬
than, geiſtreich abſchließend benommen hatte.
Die wenigen Tage des Maynzer Aufent¬
halts verſtrichen ſehr angenehm: denn wenn
die neuen Goͤnner durch Viſiten und Gaſtmaͤ¬
ler außer dem Hauſe gehalten wurden, blieb
ich bey den Ihrigen, portraitirte manchen
und fuhr auch wohl Schlittſchuh, wozu die
eingefrornen Feſtungsgraben die beſte Gelegen¬
heit verſchafften. Voll von dem Guten was
mir dort begegnet war, kehrte ich nach
Hauſe zuruͤck und ſtand im Begriff beym
Eintreten mir durch umſtaͤndliche Erzaͤhlung
das Herz zu erleichtern; aber ich ſah nur
verſtoͤrte Geſichter und es blieb mir nicht
lange verborgen, daß unſere Freundinn Klet¬
tenberg von uns geſchieden ſey. Ich war
hieruͤber ſehr betroffen, weil ich ihrer grade
[503] in meiner gegenwaͤrtigen Lage mehr als je¬
mals bedurfte. Man erzaͤhlte mir zu meiner
Beruhigung, daß ein frommer Tod ſich an
ein ſeliges Leben angeſchloſſen und ihre glaͤu¬
bige Heiterkeit ſich bis ans Ende ungetruͤbt
erhalten habe. Noch ein anderes Hinderniß
ſtellte ſich einer freyen Mittheilung entgegen:
mein Vater, anſtatt ſich uͤber den guten Aus¬
gang dieſes kleinen Abenteuers zu freuen, ver¬
harrte auf ſeinem Sinne und behauptete, die¬
ſes alles ſey von jener Seite nur Verſtellung,
und man gedenke vielleicht in der Folge et¬
was ſchlimmeres gegen mich auszufuͤhren.
Ich war daher mit meiner Erzaͤhlung zu den
juͤngern Freunden hingedraͤngt, denen ich
denn freilich die Sache nicht umſtaͤndlich ge¬
nug uͤberliefern konnte. Aber auch hier ent¬
ſprang aus Neigung und gutem Willen eine
mir hoͤchſt unangenehme Folge: denn kurz
darauf erſchien eine Flugſchrift, Prome¬
theus und ſeine Recenſenten, gleich¬
falls in dramatiſcher Form. Man hatte darin
[504] den neckiſchen Einfall ausgefuͤhrt, anſtatt der
Perſonen-Namen, kleine Holzſchnitt-Figu¬
ren zwiſchen den Dialog zu ſetzen, und durch
allerley ſatyriſche Bilder diejenigen Critiker zu
bezeichnen, die ſich uͤber meine Arbeiten und
was ihnen verwandt war, oͤffentlich hatten
vernehmen laſſen. Hier ſtieß der Altonaer
Poſtreiter ohne Kopf ins Horn, hier brummte
ein Baͤr, dort ſchnatterte eine Gans; der
Merkur war auch nicht vergeſſen, und man¬
ches wilde und zahme Geſchoͤpf ſuchte den
Bildner in ſeiner Werkſtatt irre zu machen,
welcher aber, ohne ſonderlich Notiz zu neh¬
men, ſeine Arbeit eifrig fortſetzte und dabey
nicht verſchwieg, wie er es uͤberhaupt zu hal¬
ten denke. Dieſer unerwartet hervorbrechende
Scherz fiel mir ſehr auf, weil er dem Stil
und Ton nach von Jemand aus unſerer Ge¬
ſellſchaft ſeyn mußte, ja man haͤtte das Werk¬
lein fuͤr meine eigene Arbeit halten ſollen.
Am unangenehmſten aber war mir, daß Pro¬
metheus Einiges verlauten ließ, was ſich auf
[505] den Maynzer Aufenthalt und die dortigen
Aeußerungen bezog, und was eigentlich Nie¬
mand als ich wiſſen ſollte. Mir aber bewies
es, daß der Verfaſſer von denjenigen ſey, die
meinen engſten Kreis bildeten und mich jene
Ereigniſſe und Umſtaͤnde weitlaͤuftig hatten
erzaͤhlen hoͤren. Wir ſahen einer den andern
an, und Jeder hatte die uͤbrigen im Ver¬
dacht; der unbekannte Verfaſſer wußte ſich
gut zu verſtellen. Ich ſchalt ſehr heftig auf
ihn, weil es mir aͤußerſt verdrießlich war,
nach einer ſo guͤnſtigen Aufnahme und ſo be¬
deutender Unterhaltung, nach meinem an Wie¬
land geſchriebenen zutraulichen Briefe hier
wieder Anlaͤſſe zu neuem Mißtrauen und fri¬
ſche Unannehmlichkeiten zu ſehen. Die Unge¬
wißheit hieruͤber dauerte jedoch nicht lange:
denn als ich in meiner Stube auf und ab¬
gehend mir das Buͤchlein laut vorlas, hoͤrte
ich an den Einfaͤllen und Wendungen ganz
deutlich die Stimme Wagners, und er war
es auch. Wie ich naͤmlich zur Mutter hinun¬
[506] ter ſprang, ihr meine Entdeckung mitzutheilen,
geſtand ſie mir, daß ſie es ſchon wiſſe. Der
Autor, beaͤngſtigt uͤber den ſchlimmen Erfolg
bey einer, wie ihm daͤuchte, ſo guten und
loͤblichen Abſicht, hatte ſich ihr entdeckt und
um Fuͤrſprache gebeten, damit meine aus¬
geſtoßene Drohung, ich wuͤrde mit dem Ver¬
faſſer, wegen misbrauchten Vertrauens, kei¬
nen Umgang mehr haben, an ihm nicht er¬
fuͤllt werden moͤchte. Hier kam ihm nun ſehr
zu ſtatten, daß ich es ſelbſt entdeckt hatte
und durch das Behagen, wovon ein jedes ei¬
gene Gewahrwerden begleitet wird, zur Ver¬
ſoͤhnung geſtimmt war. Der Fehler war ver¬
ziehen, der zu einem ſolchen Beweis meiner
Spuͤrkraft Gelegenheit gegeben hatte. In¬
deſſen war das Publikum ſo leicht nicht zu
uͤberzeugen, daß Wagner der Verfaſſer ſey,
und daß ich keine Hand mit im Spiel ge¬
habt habe. Man traute ihm dieſe Vielſeitig¬
keit nicht zu, weil man nicht bedachte, daß
er alles was in einer geiſtreichen Geſellſchaft
[507] ſeit geraumer Zeit beſcherzt und verhandelt
worden, aufzufaſſen, zu merken und in einer
bekannten Manier wohl darzuſtellen vermochte,
ohne deshalb ein ausgezeichnetes Talent zu
beſitzen. Und ſo hatte ich nicht allein meine
eigenen Thorheiten, ſondern auch den Leicht¬
ſinn, die Uebereilung meiner Freunde dießmal
und in der Folge ſehr oft zu buͤßen.
Erinnert durch mehrere zuſammentreffende
Umſtaͤnde, will ich noch einiger bedeutenden
Maͤnner gedenken, die zu verſchiedener Zeit
voruͤber reiſend, theils in unſerm Hauſe ge¬
wohnt, theils freundliche Bewirthung ange¬
nommen haben. Klopſtock ſteht hier billig
abermals oben an. Ich hatte ſchon mehrere
Briefe mit ihm gewechſelt, als er mir an¬
zeigte, daß er nach Carlsruh zu gehen und
daſelbſt zu wohnen eingeladen ſey; er werde
zur beſtimmten Zeit in Friedberg eintreffen,
und wuͤnſche, daß ich ihn daſelbſt abhole.
Ich verfehlte nicht, zur rechten Stunde mich
[508] einzufinden; allein er war auf ſeinem Wege
zufaͤllig aufgehalten worden, und nachdem ich
einige Tage vergebens gewartet, kehrte ich nach
Hauſe zuruͤck, wo er denn erſt nach einiger
Zeit eintraf, ſein Außenbleiben entſchuldigte
und meine Bereitwilligkeit ihm entgegen zu
kommen ſehr wohl aufnahm. Er war klein
von Perſon, aber gut gebaut, ſein Betragen
ernſt und abgemeſſen, ohne ſteif zu ſeyn, ſei¬
ne Unterhaltung beſtimmt und angenehm. Im
Ganzen hatte ſeine Gegenwart etwas von der
eines Diplomaten. Ein ſolcher Mann unter¬
windet ſich der ſchweren Aufgabe, zugleich
ſeine eigene Wuͤrde und die Wuͤrde eines Hoͤ¬
heren, dem er Rechenſchaft ſchuldig iſt, durch¬
zufuͤhren, ſeinen eigenen Vortheil neben dem
viel wichtigern eines Fuͤrſten, ja ganzer Staa¬
ten zu befoͤrdern, und ſich in dieſer bedenkli¬
chen Lage vor allen Dingen den Menſchen
gefaͤllig zu machen. Und ſo ſchien ſich auch
Klopſtock als Mann von Werth und als
Stellvertreter hoͤherer Weſen, der Religion,
[509] der Sittlichkeit und Freyheit, zu betragen.
Eine andere Eigenheit der Weltleute hatte er
auch angenommen, naͤmlich nicht leicht von
Gegenſtaͤnden zu reden, uͤber die man gerade
ein Geſpraͤch erwartet und wuͤnſcht. Von
poetiſchen und literariſchen Dingen hoͤrte man
ihn ſelten ſprechen. Da er aber an mir und
meinen Freunden leidenſchaftliche Schlittſchuh¬
fahrer fand, ſo unterhielt er ſich mit uns
weitlaͤuftig uͤber dieſe edle Kunſt, die er
gruͤndlich durchgedacht und was dabey zu ſu¬
chen und zu meiden ſey, ſich wohl uͤberlegt
hatte. Ehe wir jedoch ſeiner geneigten Be¬
lehrung theilhaft werden konnten, mußten wir
uns gefallen laſſen, uͤber den Ausdruck ſelbſt,
den wir verfehlten, zurecht gewieſen zu wer¬
den. Wir ſprachen naͤmlich auf gut Ober¬
deutſch von Schlittſchuhen, welches er durch¬
aus nicht wollte gelten laſſen: denn das
Wort komme keinesweges von Schlitten, als
wenn man auf kleinen Kufen dahin fuͤhre,
ſondern von Schreiten, indem man, den Ho¬
[510] meriſchen Goͤttern gleich, auf dieſen gefluͤgel¬
ten Sohlen uͤber das zum Boden gewordene
Meer hinſchritte. Nun kam es an das Werk¬
zeug ſelbſt; er wollte von den hohen hohlge¬
ſchliffenen Schrittſchuhen nichts wiſſen, ſon¬
dern empfahl die niedrigen breiten flachge¬
ſchliffenen Frieslaͤndiſchen Staͤhle, als welche
zum Schnelllaufen die dienlichſten ſeyen. Von
Kunſtſtuͤcken, die man bey dieſer Uebung zu ma¬
chen pflegt, war er kein Freund. Ich ſchaff¬
te mir nach ſeinem Gebot ſo ein paar flache
Schuhe mit langen Schnaͤbeln, und habe ſol¬
che, obſchon mit einiger Unbequemlichkeit, vie¬
le Jahre gefuͤhrt. Auch vom Kunst-Reiten,
und ſogar vom Bereiten der Pferde wußte er
Rechenſchaft zu geben und that es gern; und
ſo lehnte er, wie es ſchien vorſaͤtzlich, das
Geſpraͤch uͤber ſein eigen Metier gewoͤhnlich
ab, um uͤber fremde Kuͤnſte, die er als Lieb¬
haberey trieb, deſto unbefangener zu ſprechen.
Von dieſen und andern Eigenthuͤmlichkeiten
des außerordentlichen Mannes wuͤrde ich noch
[511] manches erwaͤhnen koͤnnen, wenn nicht Per¬
ſonen, die laͤnger mit ihm gelebt, uns be¬
reits genugſam hievon unterrichtet haͤtten; aber
einer Betrachtung kann ich mich nicht erweh¬
ren, daß naͤmlich Menſchen, denen die Na¬
tur außerordentliche Vorzuͤge gegeben, ſie aber
in einen engen oder wenigſtens nicht verhaͤlt¬
nißmaͤßigen Wirkungskreis geſetzt, gewoͤhnlich
auf Sonderbarkeiten verfallen, und weil ſie
von ihren Gaben keinen directen Gebrauch
zu machen wiſſen, ſie auf außerordentlichen
und wunderlichen Wegen geltend zu machen
verſuchen.
Zimmermann war gleichfalls eine Zeit
lang unſer Gaſt. Dieſer, groß und ſtark
gebaut, von Natur heftig und gerade vor ſich
hin, hatte doch ſein Aeußeres und ſein Be¬
tragen voͤllig in der Gewalt, ſo daß er im
Umgang als ein gewandter weltmaͤnniſcher
Arzt erſchien, und ſeinem innerlich ungebaͤn¬
digten Charakter nur in Schriften und im
[512] vertrauteſten Umgang einen ungeregelten Lauf
ließ. Seine Unterhaltung war mannichfaltig
und hoͤchſt unterrichtend; und konnte man
ihm nachſehen, daß er ſich, ſeine Perſoͤnlich¬
keit, ſeine Verdienſte, ſehr lebhaft vorem¬
pfand, ſo war kein Umgang wuͤnſchenswer¬
ther zu finden. Da mich nun uͤberhaupt das
was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte,
und ich mir dagegen auch wieder eitel zu ſeyn
erlaubte, das heißt, dasjenige unbedenklich
hervorkehrte, was mir an mir ſelbſt Freude
machte; ſo kam ich mit ihm gar wohl uͤber¬
ein, wir ließen uns wechſelsweiſe gelten und
ſchalten, und weil er ſich durchaus offen und
mittheilend erwies, ſo lernte ich in kurzer
Zeit ſehr viel von ihm.
Beurtheil' ich nun aber einen ſolchen
Mann, dankbar, wohlwollend und gruͤndlich,
ſo darf ich nicht einmal ſagen, daß er eitel
geweſen. Wir Deutſchen mißbrauchen das
Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich fuͤhrt
[513] es den Begriff von Leerheit mit ſich, und
man bezeichnet damit billiger Weiſe nur ei¬
nen der die Freude an ſeinem Nichts, die
Zufriedenheit mit einer hohlen Exiſtenz nicht
verbergen kann. Bey Zimmermann war ge¬
rade das Gegentheil, er hatte große Ver¬
dienſte und kein inneres Behagen; wer ſich
aber an ſeinen Naturgaben nicht im Stillen
erfreuen kann, wer ſich bey Ausuͤbung der¬
ſelben nicht ſelbſt ſeinen Lohn dahin nimmt,
ſondern erſt darauf wartet und hofft, daß
Andere das Geleiſtete anerkennen und es ge¬
hoͤrig wuͤrdigen ſollen, der findet ſich in einer
uͤbeln Lage; weil es nur allzu bekannt iſt,
daß die Menſchen den Beyfall ſehr ſpaͤrlich
austheilen, daß ſie das Lob verkuͤmmern, ja
wenn es nur einigermaßen thunlich iſt, in
Tadel verwandeln. Wer ohne hierauf vorbe¬
reitet zu ſeyn, oͤffentlich auftritt, der kann
nichts als Verdruß erwarten: denn wenn er
das was von ihm ausgeht, auch nicht uͤber¬
III. 33[514] ſchaͤtzt, ſo ſchaͤtzt er es doch unbedingt, und
jede Aufnahme die wir in der Welt erfahren,
wird bedingt ſeyn; und ſodann gehoͤrt ja fuͤr
Lob und Beyfall auch eine Empfaͤnglichkeit,
wie fuͤr jedes Vergnuͤgen. Man wende die¬
ſes auf Zimmermann an, und man wird auch
hier geſtehen muͤſſen: was einer nicht ſchon
mitbringt, kann er nicht erhalten.
Will man dieſe Entſchuldigung nicht gel¬
ten laſſen, ſo werden wir dieſen merkwuͤrdi¬
gen Mann wegen eines andern Fehlers noch
weniger rechtfertigen koͤnnen, weil das Gluͤck
anderer dadurch geſtoͤrt, ja vernichtet worden.
Es war das Betragen gegen ſeine Kinder.
Eine Tochter die mit ihm reiſte, war, als
er ſich in der Nachbarſchaft umſah, bey uns
geblieben. Sie konnte etwa ſechszehn Jahr
alt ſeyn. Schlank und wohlgewachſen, trat
ſie auf ohne Zierlichkeit; ihr regelmaͤßiges Ge¬
ſicht waͤre angenehm geweſen, wenn ſich ein
[515] Zug von Theilnahme darin aufgethan haͤtte;
aber ſie ſah immer ſo ruhig aus wie ein
Bild, ſie aͤußerte ſich ſelten, in der Gegen¬
wart ihres Vaters nie. Kaum aber war ſie
einige Tage mit meiner Mutter allein, und
hatte die heitere liebevolle Gegenwart dieſer
theilnehmenden Frau in ſich aufgenommen,
als ſie ſich ihr mit aufgeſchloſſenem Herzen zu
Fuͤßen warf und unter tauſend Thraͤnen bat,
ſie da zu behalten. Mit dem leidenſchaftlich¬
ſten Ausdruck erklaͤrte ſie: als Magd, als
Sklavin wolle ſie zeitlebens im Hauſe blei¬
ben, nur um nicht zu ihrem Vater zuruͤck
zu kehren, von deſſen Haͤrte und Tyranney
man ſich keinen Begriff machen koͤnne. Ihr
Bruder ſey uͤber dieſe Behandlung wahnſin¬
nig geworden; ſie habe es mit Noth ſo lan¬
ge getragen, weil ſie geglaubt, es ſey in je¬
der Familie nicht anders, oder nicht viel beſ¬
ſer; da ſie aber nun eine ſo liebevolle, heitere,
zwangloſe Behandlung erfahren, ſo werde ihr
33 *[516] Zuſtand zu einer wahren Hoͤlle. Meine Mut¬
ter war ſehr bewegt, als ſie mir dieſen leiden¬
ſchaftlichen Erguß hinterbrachte, ja ſie ging
in ihrem Mitleiden ſo weit, daß ſie nicht un¬
deutlich zu verſtehen gab, ſie wuͤrde es wohl
zufrieden ſeyn das Kind im Hauſe zu behal¬
ten, wenn ich mich entſchließen koͤnnte, ſie
zu heiraten. — Wenn es eine Waiſe waͤre,
verſetzt' ich, ſo ließe ſich daruͤber denken und
unterhandeln, aber Gott bewahre mich vor
einem Schwiegervater, der ein ſolcher Vater
iſt! Meine Mutter gab ſich noch viel Muͤhe
mit dem guten Kinde, aber es ward dadurch
nur immer ungluͤcklicher. Man fand zuletzt
noch einen Ausweg, ſie in eine Penſion zu
thun. Sie hat uͤbrigens ihr Leben nicht hoch
gebracht.
Dieſer tadelnswuͤrdigen Eigenheit eines ſo
verdienſtvollen Mannes wuͤrde ich kaum er¬
waͤhnen, wenn dieſelbe nicht ſchon oͤffentlich
[517] waͤre zur Sprache gekommen, und zwar als
man nach ſeinem Tode der unſeligen Hypo¬
chondrie gedachte, womit er ſich und Andere
in ſeinen letzten Stunden gequaͤlt. Denn
auch jene Haͤrte gegen ſeine Kinder war Hy¬
pochondrie, ein partieller Wahnſinn, ein fort¬
dauerndes moraliſches Morden, das er, nach¬
dem er ſeine Kinder aufgeopfert hatte, zuletzt
gegen ſich ſelbſt kehrte. Wir wollen aber be¬
denken, daß dieſer ſo ruͤſtig ſcheinende Mann
in ſeinen beſten Jahren leidend war, daß ein
Leibesſchaden unheilbar den geſchickten Arzt
quaͤlte, ihn der ſo manchem Kranken gehol¬
fen hatte und half. Ja dieſer brave Mann
fuͤhrte bey aͤußerem Anſehen, Ruhm, Ehre,
Rang und Vermoͤgen, das traurigſte Leben,
und wer ſich davon, aus vorhandenen Druck¬
ſchriften, noch weiter unterrichten will, der
wird ihn nicht verdammen, ſondern be¬
dauern.
[518]
Erwartet man nun aber, daß ich von der
Wirkung dieſes bedeutenden Mannes auf mich
naͤhere Rechenſchaft gebe, ſo muß ich im All¬
gemeinen jener Zeit abermals gedenken. Die
Epoche in der wir lebten, kann man die
fordernde nennen: denn man machte, an
ſich und Andere, Forderungen, auf das was
noch kein Menſch geleiſtet hatte. Es war
naͤmlich vorzuͤglichen, denkenden und fuͤhlen¬
den Geiſtern ein Licht aufgegangen, daß die
unmittelbare originelle Anſicht der Natur und
ein darauf gegruͤndetes Handeln das Beſte
ſey, was der Menſch ſich wuͤnſchen koͤnne,
und nicht einmal ſchwer zu erlangen. Erfah¬
rung war alſo abermals das allgemeine Lo¬
ſungswort, und Jederman that die Augen
auf ſo gut er konnte; eigentlich aber wa¬
ren es die Aerzte, die am meiſten Urſache
hatten, darauf zu dringen und Gelegenheit
ſich darnach umzuthun. Hier leuchtete ihnen
nun aus alter Zeit ein Geſtirn entgegen, wel¬
[519] ches als Beyſpiel alles Wuͤnſchenswerthen gel¬
ten konnte. Die Schriften die uns unter dem
Namen Hippocrates zugekommen waren,
gaben das Muſter, wie der Menſch die Welt
anſchauen und das Geſehene, ohne ſich ſelbſt
hinein zu miſchen, uͤberliefern ſollte. Allein
Niemand bedachte, daß wir nicht ſehen koͤn¬
nen wie die Griechen, und daß wir niemals
wie ſie dichten, bilden und heilen werden.
Zugegeben aber auch, daß man von ihnen
lernen koͤnne, ſo war unterdeſſen unendlich
viel und nicht immer ſo rein erfahren wor¬
den, und gar oft hatten ſich die Erfahrungen
nach den Meinungen gebildet. Dieſes aber
ſollte man auch wiſſen, unterſcheiden und ſich¬
ten; abermals eine ungeheure Forderung;
dann ſollte man auch perſoͤnlich umher bli¬
ckend und handelnd, die geſunde Natur ſelbſt
kennen lernen, eben als wenn ſie zum erſten¬
mal beachtet und behandelt wuͤrde; hiebey
ſollte denn nur das Aechte und Rechte ge¬
[520] ſchehen. Allein weil ſich die Gelahrtheit uͤber¬
haupt nicht wohl ohne Polyhiſtorie und Pe¬
danterie, die Praxis aber wohl ſchwerlich oh¬
ne Empirie und Charlatanerie denken laͤßt; ſo
entſtand ein gewaltiger Conflict, indem man
den Mißbrauch vom Gebrauch ſondern und
der Kern die Oberhand uͤber die Schale ge¬
winnen ſollte. Wie man nun auch hier zur
Ausuͤbung ſchritt, ſo ſah man, am kuͤrzeſten
ſey zuletzt aus der Sache zu kommen, wenn
man das Genie zu Huͤlfe riefe, das durch
ſeine magiſche Gabe den Streit ſchlichten und
die Forderungen leiſten wuͤrde. Der Verſtand
miſchte ſich indeſſen auch in die Sache, alles
ſollte auf klare Begriffe gebracht und in lo¬
giſcher Form dargelegt werden, damit jedes
Vorurtheil beſeitigt und aller Aberglaube zer¬
ſtoͤrt werde. Weil nun wirklich einige außeror¬
dentliche Menſchen, wie Boerhaave und Hal¬
ler, das Unglaubliche geleiſtet, ſo ſchien man
ſich berechtigt, von ihren Schuͤlern und Nach¬
[521] koͤmmlingen noch mehr zu fordern. Man be¬
hauptete, die Bahn ſey gebrochen, da doch in
allen irdiſchen Dingen ſelten von Bahn die
Rede ſeyn kann: denn wie das Waſſer das
durch ein Schiff verdraͤngt wird, gleich hin¬
ter ihm wieder zuſammenſtuͤrzt, ſo ſchließt
ſich auch der Irrthum, wenn vorzuͤgliche Gei¬
ſter ihn bey Seite gedraͤngt und ſich Platz ge¬
macht haben, hinter ihnen ſehr geſchwind wie¬
der naturgemaͤß zuſammen.
Aber hievon wollte ſich der brave Zim¬
mermann ein fuͤr allemal keinen Begriff ma¬
chen; er wollte nicht eingeſtehen, daß das
Abſurde eigentlich die Welt erfuͤlle. Bis zur
Wuth ungeduldig ſchlug er auf alles los, was
er fuͤr unrecht erkannte und hielt. Ob er ſich
mit dem Krankenwaͤrter oder mit Paracelſus,
mit einem Harnpropheten oder Chymiſten balg¬
te, war ihm gleich; er hieb ein wie das
andre Mal zu, und wenn er ſich außer Athem
[522] gearbeitet hatte, war er hoͤchlich erſtaunt, daß
die ſaͤmmtlichen Koͤpfe dieſer Hydra, die er mit
Fuͤßen zu treten geglaubt, ihm ſchon wieder
ganz friſch von unzaͤhligen Haͤlſen die Zaͤhne
wieſen.
Wer ſeine Schriften, beſonders ſein tuͤch¬
tiges Werk uͤber die Erfahrung lieſt,
wird beſtimmter einſehen, was zwiſchen die¬
ſem trefflichen Manne und mir verhandelt
worden; welches auf mich um ſo kraͤftiger
wirken mußte, da er zwanzig Jahr aͤlter war
denn ich. Als beruͤhmter Arzt war er vor¬
zuͤglich in den hoͤhern Staͤnden beſchaͤftigt,
und hier kam die Verderbniß der Zeit, durch
Verweichlichung und Uebergenuß, jeden Augen¬
blick zur Sprache; und ſo draͤngten auch ſeine
aͤrztlichen Reden, wie die der Philoſophen
und meiner dichteriſchen Freunde, mich wie¬
der auf die Natur zuruͤck. Seine leidenſchaft¬
liche Verbeſſerungswuth konnte ich vollends
[523] nicht mit ihm theilen. Ich zog mich vielmehr,
nachdem wir uns getrennt, gar bald wieder
in mein eigenthuͤmliches Fach zuruͤck und ſuch¬
te die von der Natur mir verliehenen Gaben
mit maͤßiger Anſtrengung anzuwenden, und
in heiterem Widerſtreit gegen das was ich
mißbilligte, nur einigen Raum zu verſchaffen,
unbeſorgt wie weit meine Wirkungen reichen
und wohin ſie mich fuͤhren koͤnnten.
Von Salis, der in Marſchlins die
große Penſionsanſtalt errichtete, ging eben¬
falls bey uns voruͤber, ein ernſter verſtaͤndi¬
ger Mann, der uͤber die genialiſchtolle Le¬
bensweiſe unſerer kleinen Geſellſchaft gar wun¬
derliche Anmerkungen im Stillen wird ge¬
macht haben. Ein Gleiches mag Sulzern,
der uns auf ſeiner Reiſe nach dem ſuͤdlichen
Frankreich beruͤhrte, begegnet ſeyn; wenigſtens
ſcheint eine Stelle ſeiner Reiſebeſchreibung,
worin er mein gedenkt, dahin zu deuten.
[524]
Dieſe ſo angenehmen als foͤrderlichen Be¬
ſuche waren aber auch mit ſolchen durchwebt,
die man lieber abgelehnt haͤtte. Wahrhaft
Duͤrftige und unverſchaͤmte Abenteurer wende¬
ten ſich an den zutraulichen Juͤngling, ihre
dringenden Forderungen durch wirkliche wie
durch vorgebliche Verwandtſchaften oder Schick¬
ſale unterſtuͤtzend. Sie borgten mir Geld ab,
und ſetzten mich in den Fall wieder borgen zu
muͤſſen, ſo daß ich mit beguͤterten und wohl¬
wollenden Freunden daruͤber in das unange¬
nehmſte Verhaͤltniß gerieth. Wuͤnſchte ich
nun ſolche Zudringlinge allen Raben zur Beu¬
te, ſo fuͤhlte ſich mein Vater gleichfalls in der
Lage des Zauberlehrlings, der wohl ſein Haus
gerne rein gewaſchen ſaͤhe, ſich aber entſetzt,
wenn die Flut uͤber Schwellen und Stufen
unaufhaltſam einhergeſtuͤrzt kommt. Denn es
ward durch das allzu viele Gute der maͤßige
Lebensplan, den ſich mein Vater fuͤr mich
ausgedacht hatte, Schritt fuͤr Schritt ver¬
[525] ruͤckt, verſchoben und von einem Tag zum
andern wider Erwarten umgeſtaltet. Der
Aufenthalt zu Regensburg und Wien war ſo
gut als aufgegeben, aber doch ſollte auf dem
Wege nach Italien eine Durchreiſe ſtatt fin¬
den, damit man wenigſtens eine allgemeine
Ueberſicht gewoͤnne. Dagegen aber waren an¬
dere Freunde, die einen ſo großen Umweg
ins thaͤtige Leben zu gelangen, nicht billigen
konnten, der Meynung, man ſolle den Au¬
genblick, wo ſo manche Gunſt ſich aufthat,
benutzen und an eine bleibende Einrichtung
in der Vaterſtadt denken. Denn ob ich gleich
erſt durch den Großvater, ſodann aber durch
den Oheim, von dem Rathe ausgeſchloſſen
war; ſo gab es doch noch manche buͤrgerliche
Stellen, an die man Anſpruch machen, ſich
einſtweilen feſtſetzen und die Zukunft erwarten
konnte. Manche Agentſchaften gaben zu thun
genug, und ehrenvoll waren die Reſidenten-
Stellen. Ich ließ mir davon vorreden und
[526] glaubte wohl auch, daß ich mich dazu ſchicke,
ohne mich gepruͤft zu haben, ob eine ſolche
Lebens- und Geſchaͤftsweiſe, welche fordert,
daß man am liebſten in der Zerſtreuung zweck¬
maͤßig thaͤtig ſey, fuͤr mich paſſen moͤchte;
und nun geſellte ſich zu dieſen Vorſchlaͤgen
und Vorſaͤtzen noch eine zarte Neigung, wel¬
che zu beſtimmter Haͤuslichkeit aufzufordern
und jenen Entſchluß zu beſchleunigen ſchien.
Die fruͤher erwaͤhnte Geſellſchaft naͤmlich
von jungen Maͤnnern und Frauenzimmern,
welche meiner Schweſter wo nicht den Ur¬
ſprung doch die Conſiſtenz verdankte, war
nach ihrer Verheiratung und Abreiſe noch im¬
mer beſtanden, weil man ſich einmal an ein¬
ander gewoͤhnt hatte, und einen Abend in
der Woche nicht beſſer als in dieſem freund¬
ſchaftlichen Cirkel zuzubringen wußte. Auch
jener wunderliche Redner, den wir ſchon aus
dem ſechſten Buche kennen, war noch man¬
[527] cherley Schickſalen geſcheidter und verkehrter
zu uns zuruͤckgewandert, und ſpielte abermals
den Geſetzgeber des kleinen Staats. Er hat¬
te ſich in Gefolg von jenen fruͤhern Scherzen
etwas Aehnliches ausgedacht: es ſollte naͤmlich
alle acht Tage gelooſt werden, nicht um, wie
vormals, liebende Paare, ſondern wahrhafte
Ehegatten zu beſtimmen. Wie man ſich ge¬
gen Geliebte betrage, das ſey uns bekannt
genug; aber wie ſich Gatte und Gattinn in
Geſellſchaft zu nehmen haͤtten, das ſey uns
unbewußt und muͤſſe nun, bey zunehmenden
Jahren, vor allen Dingen gelernt werden.
Er gab die Regeln an im Allgemeinen, wel¬
che bekanntlich darin beſtehen, daß man thun
muͤſſe, als wenn man einander nicht angehoͤ¬
re; man duͤrfe nicht neben einander ſitzen,
nicht viel mit einander ſprechen, vielweniger
ſich Liebkoſungen erlauben: dabey aber habe
man nicht allein alles zu vermeiden, was
wechſelſeitig Verdacht und Unannehmlichkeit
III. 34[528] erregen koͤnnte, ja man wuͤrde im Gegentheil
das groͤßte Lob verdienen, wenn man ſeine
Gattinn auf eine ungezwungene Weiſe zu ver¬
binden wiſſe.
Das Loos wurde hierauf zur Entſcheidung
herbeygeholt, uͤber einige barocke Paarungen,
die es beliebt, gelacht und geſcherzt, und die
allgemeine Eheſtands-Komoͤdie mit gutem Hu¬
mor begonnen und jedesmal am achten Tage
wiederum erneuert.
Hier traf es ſich nun wunderbar genug,
daß mir das Loos gleich von Anfang eben
daſſelbe Frauenzimmer zweymal beſtimmte, ein
ſehr gutes Weſen, gerade von der Art, die
man ſich als Frau gerne denken mag. Ihre
Geſtalt war ſchoͤn und regelmaͤßig, ihr Ge¬
ſicht angenehm, und in ihrem Betragen wal¬
tete eine Ruhe, die von der Geſundheit ih¬
res Koͤrpers und ihres Geiſtes zeugte. Sie
[529] war ſich zu allen Tagen und Stunden voͤllig
gleich. Ihre haͤusliche Thaͤtigkeit wurde hoͤch¬
lich geruͤhmt. Ohne daß ſie geſpraͤchig gewe¬
ſen waͤre, konnte man an ihren Aeußerungen
einen geraden Verſtand und eine natuͤrliche
Bildung erkennen. Nun war es leicht einer
ſolchen Perſon mit Freundlichkeit und Ach¬
tung zu begegnen; ſchon vorher war ich ge¬
wohnt es aus allgemeinem Gefuͤhl zu thun,
jetzt wirkte bey mir ein herkoͤmmliches Wohl¬
wollen als geſellige Pflicht. Wie uns nun
aber das Loos zum dritten Male zuſammen
brachte, ſo erklaͤrte der neckiſche Geſetzgeber
feyerlichſt: der Himmel habe geſprochen, und
wir koͤnnten nunmehr nicht geſchieden werden.
Wir ließen es uns beyderſeits gefallen, und
fuͤgten uns wechſelsweiſe ſo huͤbſch in die of¬
fenbaren Eheſtands-Pflichten, daß wir wirk¬
lich fuͤr ein Muſter gelten konnten. Da nun,
nach der allgemeinen Verfaſſung, die ſaͤmmt¬
lichen fuͤr den Abend vereinten Paare ſich auf
34 *[530] die wenigen Stunden mit Du anreden mu߬
ten; ſo waren wir dieſer traulichen Anrede
durch eine Reihe von Wochen ſo gewohnt,
daß auch in der Zwiſchenzeit, wenn wir uns
begegneten, das Du gemuͤthlich hervorſprang.
Die Gewohnheit iſt aber ein wunderliches
Ding: wir beyde fanden nach und nach nichts
natuͤrlicher als dieſes Verhaͤltniß; ſie ward
mir immer werther, und ihre Art mit mir
zu ſeyn zeugte von einem ſchoͤnen ruhigen
Vertrauen, ſo daß wir uns wohl gelegentlich,
wenn ein Prieſter zugegen geweſen waͤre, oh¬
ne vieles Bedenken auf der Stelle haͤtten zu¬
ſammen geben laſſen.
Weil nun bey jeder unſerer geſelligen Zu¬
ſammenkuͤnfte etwas Neues vorgeleſen wer¬
den mußte, ſo brachte ich eines Abends, als
ganz friſche Neuigkeit, das Memoire des
Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit.
Es erwarb ſich ſehr vielen Beyfall; die Be¬
[531] merkungen zu denen es auffordert, blieben
nicht aus, und nachdem man viel daruͤber
hin und wieder geſprochen hatte, ſagte mein
lieber Partner: wenn ich Deine Gebieterinn
und nicht deine Frau waͤre, ſo wuͤrde ich
Dich erſuchen, dieſes Memoire in ein Schau¬
ſpiel zu verwandeln, es ſcheint mir ganz da¬
zu geeignet zu ſeyn. — Damit Du ſiehſt,
meine Liebe, antwortete ich, daß Gebieterinn
und Frau auch in Einer Perſon vereinigt
ſeyn koͤnnen; ſo verſpreche ich, heute uͤber acht
Tage den Gegenſtand dieſes Heftes als The¬
aterſtuͤck vorzuleſen, wie es jetzt mit dieſen
Blaͤttern geſchehen. Man verwunderte ſich
uͤber ein ſo kuͤhnes Verſprechen, und ich ſaͤum¬
te nicht es zu erfuͤllen. Denn was man in
ſolchen Faͤllen Erfindung nennt, war bey mir
augenblicklich; und gleich, als ich meine Titu¬
lar-Gattinn nach Hauſe fuͤhrte, war ich ſtill;
ſie fragte, was mir ſey. — Ich ſinne, ver¬
ſetzte ich, ſchon das Stuͤck aus und bin mitten
[532] drin; ich wuͤnſche Dir zu zeigen, daß ich Dir
gerne etwas zu Liebe thue. Sie druͤckte mir
die Hand, und als ich ſie dagegen eifrig kuͤßte,
ſagte ſie: Du mußt nicht aus der Rolle fallen!
Zaͤrtlich zu ſeyn, meynen die Leute, ſchicke ſich
nicht fuͤr Ehegatten. — Laß ſie meynen, ver¬
ſetzte ich, wir wollen es auf unſere Weiſe
halten.
Ehe ich, freilich durch einen großen Um¬
weg, nach Hauſe kam, war das Stuͤck ſchon
ziemlich heran gedacht; damit dieß aber nicht
gar zu großſprecheriſch ſcheine, ſo will ich ge¬
ſtehen, daß ſchon beym erſten und zweyten Le¬
ſen, der Gegenſtand mir dramatiſch ja thea¬
traliſch vorgekommen, aber ohne eine ſolche
Anregung waͤre das Stuͤck, wie ſo viele ande¬
re, auch bloß unter den moͤglichen Geburten
geblieben. Wie ich dabey verfahren, iſt be¬
kannt genug. Der Boͤſewichter muͤde, die aus
Rache, Haß oder kleinlichen Abſichten ſich ei¬
[533] ner edlen Natur entgegenſetzen und ſie zu
Grunde richten, wollt' ich in Carlos den rei¬
nen Weltverſtand mit wahrer Freundſchaft ge¬
gen Leidenſchaft, Neigung und aͤußere Be¬
draͤngniß wirken laſſen, um auch einmal auf
dieſe Weiſe eine Tragoͤdie zu motiviren. Be¬
rechtigt durch unſern Altvater Shakespear,
nahm ich nicht einen Augenblick Anſtand die
Hauptſcene und die eigentlich theatraliſche
Darſtellung woͤrtlich zu uͤberſetzen. Um zu¬
letzt abzuſchließen, entlehnt' ich den Schluß
einer engliſchen Ballade, und ſo war ich im¬
mer noch eher fertig als der Freytag heran¬
kam. Die gute Wirkung, die ich beym Vor¬
leſen erreichte, wird man mir leicht zugeſte¬
hen. Meine gebietende Gattinn erfreute ſich
nicht wenig daran, und es war, als wenn
unſer Verhaͤltniß, wie durch eine geiſtige Nach¬
kommenſchaft, durch dieſe Production ſich en¬
ger zuſammen zoͤge und befeſtigte.
[534]
Mephiſtopheles Merk aber that mir zum
erſten Mal hier einen großen Schaden. Denn
als ich ihm das Stuͤck mittheilte, erwiederte
er: ſolch einen Quark mußt Du mir kuͤnftig
nicht mehr ſchreiben; das koͤnnen die Andern
auch. Und doch hatt' er hierin Unrecht.
Muß ja doch nicht alles uͤber alle Begriffe
hinausgehen die man nun einmal gefaßt hat;
es iſt auch gut, wenn manches ſich an den
gewoͤhnlichen Sinn anſchließt. Haͤtte ich da¬
mals ein Dutzend Stuͤcke der Art geſchrieben,
welches mir bey einiger Aufmunterung ein
leichtes geweſen waͤre; ſo haͤtten ſich vielleicht
drey oder vier davon auf dem Theater erhal¬
ten. Jede Direction, die ihr Repertorium
zu ſchaͤtzen weiß, kann ſagen, was das fuͤr
ein Vortheil waͤre.
Durch ſolche und andre geiſtreiche Scherze
ward unſer wunderliches Mariage-Spiel wo
nicht zum Stadt-doch zum Familien-Maͤhr¬
[535] chen, das den Muͤttern unſerer Schoͤnen gar
nicht unangenehm in die Ohren klang. Auch
meiner Mutter war ein ſolcher Zufall nicht
zuwider: ſie beguͤnſtigte ſchon fruͤher das Frau¬
enzimmer, mit dem ich in ein ſo ſeltſames
Verhaͤltniß gekommen war, und mochte ihr
zutrauen, daß ſie eine eben ſo gute Schwie¬
gertochter als Gattinn werden koͤnnte. Je¬
nes unbeſtimmte Rumoren, in welchem ich
mich ſchon ſeit geraumer Zeit herumtrieb,
wollte ihr nicht behagen, und wirklich hatte
ſie auch die groͤßte Beſchwerde davon. Sie
war es, welche die zuſtroͤmenden Gaͤſte reich¬
lich bewirthen mußte, ohne ſich fuͤr die lite¬
rariſche Einquartirung anders als durch die
Ehre, die man ihrem Sohne anthat ihn zu
beſchmauſen, entſchaͤdigt zu ſehen. Ferner
war es ihr klar, daß ſo viele junge Leute,
ſaͤmmtlich ohne Vermoͤgen, nicht allein zum
Wiſſen und Dichten, ſondern auch zum luſti¬
gen Leben verſammelt, ſich unter einander und
[536] zuletzt am ſicherſten mir, deſſen leichtſinnige
Freygebigkeit und Verbuͤrgungsluſt ſie kannte,
zur Laſt und zum Schaden gereichen wuͤrden.
Sie hielt daher die ſchon laͤngſt bezweckte
italiaͤniſche Reiſe, die der Vater wieder in An¬
regung brachte, fuͤr das ſicherſte Mittel alle
dieſe Verhaͤltniſſe auf einmal durchzuſchneiden.
Damit aber ja nicht wieder in der weiten Welt
ſich neues Gefaͤhrliche anſchließen moͤge, ſo
dachte ſie vorher die ſchon eingeleitete Verbin¬
dung zu befeſtigen, damit eine Ruͤckkehr ins
Vaterland wuͤnſchenswerther und eine endliche
Beſtimmung entſchieden werde. Ob ich ihr
dieſen Plan nur unterlege, oder ob ſie ihn
deutlich, vielleicht mit der ſeligen Freundinn,
entworfen, moͤchte ich nicht entſcheiden: genug,
ihre Handlungen ſchienen auf einen bedachten
Vorſatz gegruͤndet. Denn ich hatte manchmal
zu vernehmen, unſer Familienkreis ſey nach
Verheiratung Corneliens doch gar zu eng;
[537] man wollte finden, daß mir eine Schweſter,
der Mutter eine Gehuͤlfinn, dem Vater ein
Lehrling abgehe; und bey dieſen Reden blieb
es nicht. Es ergab ſich wie von ungefaͤhr, daß
meine Aeltern jenem Frauenzimmer auf einem
Spazirgang begegneten, ſie in den Garten ein¬
luden und ſich mit ihr laͤngere Zeit unterhielten.
Hieruͤber ward nun beym Abendtiſche geſcherzt,
und mit einem gewiſſen Behagen bemerkt,
daß ſie dem Vater wohlgefallen, indem ſie die
Haupteigenſchaften, die er als ein Kenner von
einem Frauenzimmer fordere, ſaͤmmtlich beſitze.
Hierauf ward im erſten Stock eins und
das andere veranſtaltet, eben als wenn man
Gaͤſte zu erwarten habe, das Leinwandgeraͤte
gemuſtert, und auch an einigen bisher ver¬
nachlaͤſſigten Hausrat gedacht. Da uͤberraſch¬
te ich nun einſt meine Mutter, als ſie in einer
Bodenkammer die alten Wiegen betrachtete,
worunter eine uͤbergroße von Nußbaum, mit
[538] Elfenbein und Ebenholz eingelegt, die mich
ehmals geſchwenkt hatte, beſonders hervor¬
ſtach. Sie ſchien nicht ganz zufrieden, als ich
ihr bemerkte, daß ſolche Schaukelkaſten nun¬
mehr voͤllig aus der Mode ſeyen, und daß man
die Kinder mit freyen Gliedern in einem arti¬
gen Koͤrbchen, an einem Bande uͤber die
Schulter, wie andre kurze Waare, zur Schau
trage.
Genug, dergleichen Vorboten zuerneuernder
Haͤuslichkeit zeigten ſich oͤfter, und da ich mich
dabey ganz leidend verhielt; ſo verbreitete ſich,
durch den Gedanken an einen Zuſtand der fuͤr's
Leben dauern ſollte, ein ſolcher Friede uͤber un¬
ſer Haus und deſſen Bewohner, dergleichen es
lange nicht genoſſen hatte.
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- TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Aus meinem Leben. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjt4.0