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Effi Brieſt


[figure]

Berlin W:
F. Fontane \& Co.
1896
[][[1]]

Erſtes Kapitel.

In Front des ſchon ſeit Kurfürſt Georg Wil¬
helm von der Familie von Brieſt bewohnten Herren¬
hauſes zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenſchein
auf die mittagsſtille Dorfſtraße, während nach der
Park- und Gartenſeite hin ein rechtwinklig angebauter
Seitenflügel einen breiten Schatten erſt auf einen
weiß und grün quadrierten Flieſengang und dann
über dieſen hinaus auf ein großes in ſeiner Mitte
mit einer Sonnenuhr und an ſeinem Rande mit
Canna indica und Rhabarberſtauden beſetztes Rondell
warf. Einige zwanzig Schritte weiter, in Richtung
und Lage genau dem Seitenflügel entſprechend, lief
eine, ganz in kleinblättrigem Epheu ſtehende, nur an
einer Stelle von einer kleinen weiß geſtrichenen Eiſen¬
thür unterbrochene Kirchhofsmauer, hinter der der
Hohen-Cremmener Schindelturm mit ſeinem blitzenden,
weil neuerdings erſt wieder vergoldeten Wetterhahn
aufragte. Fronthaus, Seitenflügel und Kirchhofsmauer
Th. Fontane, Effi Brieſt. 1[2]Effi Brieſt bildeten ein einen kleinen Ziergarten umſchließendes
Hufeiſen, an deſſen offener Seite man eines Teiches
mit Waſſerſteg und angeketteltem Boot und dicht
daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren horizon¬
tal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei
Stricken hing — die Pfoſten der Balkenlage ſchon
etwas ſchief ſtehend. Zwiſchen Teich und Rondell
aber und die Schaukel halb verſteckend ſtanden ein
paar mächtige alte Platanen.


Auch die Front des Herrenhauſes — eine mit
Aloekübeln und ein paar Gartenſtühlen beſetzte Rampe
— gewährte bei bewölktem Himmel einen angenehmen
und zugleich allerlei Zerſtreuung bietenden Aufent¬
halt; an Tagen aber, wo die Sonne niederbrannte,
wurde die Gartenſeite ganz entſchieden bevorzugt,
beſonders von Frau und Tochter des Hauſes, die
denn auch heute wieder auf dem im vollen Schatten
liegenden Flieſengange ſaßen, in ihrem Rücken ein
paar offene, von wildem Wein umrankte Fenſter,
neben ſich eine vorſpringende kleine Treppe, deren
vier Steinſtufen vom Garten aus in das Hochparterre
des Seitenflügels hinaufführten. Beide, Mutter und
Tochter, waren fleißig bei der Arbeit, die der Her¬
ſtellung eines aus Einzelquadraten zuſammenzuſetzen¬
den Altarteppichs galt; ungezählte Wollſträhnen und
Seidendocken lagen auf einem großen, runden Tiſch
[3]Effi Brieſtbunt durcheinander, dazwiſchen, noch vom Lunch her,
ein paar Deſſertteller und eine mit großen, ſchönen
Stachelbeeren gefüllte Majolikaſchale. Raſch und
ſicher ging die Wollnadel der Damen hin und her,
aber während die Mutter kein Auge von der Arbeit
ließ, legte die Tochter, die den Rufnamen Effi führte,
von Zeit zu Zeit die Nadel nieder und erhob ſich,
um unter allerlei kunſtgerechten Beugungen und
Streckungen den ganzen Kurſus der Heil- und Zimmer¬
gymnaſtik durchzumachen. Es war erſichtlich, daß
ſie ſich dieſen abſichtlich ein wenig ins Komiſche ge¬
zogenen Übungen mit ganz beſonderer Liebe hingab,
und wenn ſie dann ſo daſtand und langſam die
Arme hebend, die Handflächen hoch über dem Kopf
zuſammenlegte, ſo ſah auch wohl die Mama von
ihrer Handarbeit auf, aber immer nur flüchtig und
verſtohlen, weil ſie nicht zeigen wollte, wie entzückend
ſie ihr eigenes Kind finde, zu welcher Regung mütter¬
lichen Stolzes ſie vollberechtigt war. Effi trug ein
blau und weiß geſtreiftes, halb kittelartiges Lein¬
wandkleid, dem erſt ein feſt zuſammengezogener,
bronzefarbener Ledergürtel die Taille gab; der Hals
war frei, und über Schulter und Nacken fiel ein
breiter Matroſenkragen. In allem, was ſie that,
paarte ſich Übermut und Grazie, während ihre
lachenden braunen Augen eine große, natürliche Klug¬
1*[4]Effi Brieſt heit und viel Lebensluſt und Herzensgüte verrieten.
Man nannte ſie die „Kleine“, was ſie ſich nur ge¬
fallen laſſen mußte, weil die ſchöne, ſchlanke Mama
noch um eine Hand breit höher war.


Eben hatte ſich Effi wieder erhoben, um ab¬
wechſelnd nach links und rechts ihre turneriſchen
Drehungen zu machen, als die von ihrer Stickerei
gerade wieder aufblickende Mama ihr zurief: „Effi,
eigentlich hätteſt Du doch wohl Kunſtreiterin werden
müſſen. Immer am Trapez, immer Tochter der Luft.
Ich glaube beinah, daß Du ſo was möchteſt.“


„Vielleicht, Mama. Aber wenn es ſo wäre,
wer wäre ſchuld? Von wem hab' ich es? Doch
nur von Dir. Oder meinſt Du von Papa? Da
mußt Du nun ſelber lachen. Und dann, warum
ſteckſt Du mich in dieſen Hänger, in dieſen Jungens¬
kittel? Mitunter denk' ich, ich komme noch wieder
in kurze Kleider. Und wenn ich die erſt wieder
habe, dann knix' ich auch wieder wie ein Backfiſch,
und wenn dann die Rathenower herüber kommen,
ſetze ich mich auf Oberſt Goetze's Schoß und reite
hopp, hopp. Warum auch nicht? Dreiviertel iſt er
Onkel und nur ein Viertel Kourmacher. Du biſt ſchuld.
Warum kriege ich keine Staatskleider? Warum
machſt Du keine Dame aus mir?“


„Möchteſt Du's?“


[5]Effi Brieſt

„Nein.“ Und dabei lief ſie auf die Mama zu
und umarmte ſie ſtürmiſch und küßte ſie.


„Nicht ſo wild, Effi, nicht ſo leidenſchaftlich.
Ich beunruhige mich immer, wenn ich Dich ſo ſehe . . .“
Und die Mama ſchien ernſtlich willens, in Äußerung
ihrer Sorgen und Ängſte fortzufahren. Aber ſie
kam nicht weit damit, weil in eben dieſem Augen¬
blicke drei junge Mädchen aus der kleinen, in der
Kirchhofsmauer angebrachten Eiſenthür in den Garten
eintraten und einen Kiesweg entlang auf das Rondell
und die Sonnenuhr zuſchritten. Alle drei grüßten
mit ihren Sonnenſchirmen zu Effi herüber und eilten
dann auf Frau von Brieſt zu, um dieſer die Hand
zu küſſen. Dieſe that raſch ein paar Fragen und
lud dann die Mädchen ein, ihnen oder doch wenigſtens
Effi auf eine halbe Stunde Geſellſchaft zu leiſten,
„ich habe ohnehin noch zu thun, und junges Volk
iſt am liebſten unter ſich. Gehabt Euch wohl.“ Und
dabei ſtieg ſie die vom Garten in den Seitenflügel
führende Steintreppe hinauf.


Und da war nun die Jugend wirklich allein.


Zwei der jungen Mädchen — kleine, rundliche
Perſönchen, zu deren krauſem, rotblondem Haar ihre
Sommerſproſſen und ihre gute Laune ganz vorzüglich
paßten — waren Töchter des auf Hanſa, Skandinavien
und Fritz Reuter eingeſchworenen Kantors Jahnke,
[6]Effi Brieſt der denn auch, unter Anlehnung an ſeinen mecklen¬
burgiſchen Landsmann und Lieblingsdichter und nach
dem Vorbilde von Mining und Lining, ſeinen eigenen
Zwillingen die Namen Bertha und Hertha gegeben
hatte. Die dritte junge Dame war Hulda Niemeyer,
Paſtor Niemeyer's einziges Kind; ſie war damen¬
hafter als die beiden anderen, dafür aber langweilig
und eingebildet, eine lymphatiſche Blondine, mit etwas
vorſpringenden, blöden Augen, die trotzdem beſtändig
nach 'was zu ſuchen ſchienen, weshalb denn auch Klitzing
von den Huſaren geſagt hatte: „Sieht ſie nicht aus,
als erwarte ſie jeden Augenblick den Engel Gabriel?“
Effi fand, daß der etwas kritiſche Klitzing nur zu
ſehr recht habe, vermied es aber trotzdem, einen
Unterſchied zwiſchen den drei Freundinnen zu machen.
Am wenigſten war ihr in dieſem Augenblicke danach
zu Sinn, und während ſie die Arme auf den Tiſch
ſtemmte, ſagte ſie: „Dieſe langweilige Stickerei. Gott
ſei Dank, daß Ihr da ſeid.“


„Aber Deine Mama haben wir vertrieben,“
ſagte Hulda.


„Nicht doch. Wie ſie Euch ſchon ſagte, ſie
wäre doch gegangen; ſie erwartet nämlich Beſuch,
einen alten Freund aus ihren Mädchentagen her, von
dem ich Euch nachher erzählen muß, eine Liebes¬
geſchichte mit Held und Heldin, und zuletzt mit Ent¬
[7]Effi Brieſt ſagung. Ihr werdet Augen machen und Euch wundern.
Übrigens habe ich Mamas alten Freund ſchon drüben
in Schwantikow geſehen; er iſt Landrat, gute Figur
und ſehr männlich.“


„Das iſt die Hauptſache,“ ſagte Hertha.


„Freilich iſt das die Hauptſache, ‚Weiber weib¬
lich, Männer männlich‘ — das iſt, wie ihr wißt,
einer von Papas Lieblingsſätzen. Und nun helft
mir erſt Ordnung ſchaffen auf dem Tiſch hier, ſonſt
gibt es wieder eine Strafpredigt.“


Im Nu waren die Docken in den Korb gepackt,
und als alle wieder ſaßen, ſagte Hulda: „Nun aber
Effi, nun iſt es Zeit, nun die Liebesgeſchichte mit
Entſagung. Oder iſt es nicht ſo ſchlimm?“


„Eine Geſchichte mit Entſagung iſt nie ſchlimm.
Aber ehe Hertha nicht von den Stachelbeeren ge¬
nommen, eh' kann ich nicht anfangen — ſie läßt ja
kein Auge davon. Übrigens nimm ſo viel Du willſt,
wir können ja hinterher neue pflücken; nur wirf die
Schalen weit weg oder noch beſſer, lege ſie hier auf
die Zeitungsbeilage, wir machen dann eine Tüte
daraus und ſchaffen alles bei Seite. Mama kann
es nicht leiden, wenn die Schluſen ſo überall umher
liegen, und ſagt immer, man könne dabei ausgleiten
und ein Bein brechen.“


[8]Effi Brieſt

„Glaub' ich nicht.“ ſagte Hertha, während ſie
den Stachelbeeren fleißig zuſprach.


„Ich auch nicht,“ beſtätigte Effi. „Denkt doch
'mal nach, ich falle jeden Tag wenigſtens zwei-,
dreimal, und noch iſt mir nichts gebrochen. Was
ein richtiges Bein iſt, das bricht nicht ſo leicht,
meines gewiß nicht und Deines auch nicht, Hertha.
Was meinſt Du, Hulda?“


„Man ſoll ſein Schickſal nicht verſuchen; Hoch¬
mut kommt vor dem Fall.“


„Immer Gouvernante; Du biſt doch die geborne
alte Jungfer.“


„Und hoffe mich doch noch zu verheiraten.
Und vielleicht eher als Du.“


„Meinetwegen. Denkſt Du, daß ich darauf
warte? Das fehlte noch. Übrigens, ich kriege ſchon
einen, und vielleicht bald. Da iſt mir nicht bange.
Neulich erſt hat mir der kleine Ventivegni von drüben
geſagt: Fräulein Effi, was gilt die Wette, wir ſind
hier noch in dieſem Jahre zu Polterabend und
Hochzeit.“


„Und was ſagteſt Du da?“


„Wohl möglich,“ ſagt' ich, „wohl möglich; Hulda
iſt die älteſte und kann ſich jeden Tag verheiraten.“


Aber er wollte davon nichts wiſſen und ſagte: „Nein,
bei einer anderen jungen Dame, die gerade ſo brünett
[9]Effi Brieſtiſt, wie Fräulein Hulda blond iſt.“ Und dabei ſah
er mich ganz ernſthaft an . . . „Aber ich komme
vom Hundertſten aufs Tauſendſte und vergeſſe die
Geſchichte.“


„Ja, Du brichſt immer wieder ab; am Ende
willſt Du nicht.“


„O, ich will ſchon, aber freilich, ich breche
immer wieder ab, weil es alles ein bißchen ſonderbar
iſt, ja, beinah' romantiſch.“


„Aber Du ſagteſt doch, er ſei Landrat.“


„Allerdings Landrat. Und er heißt Geert von
Innſtetten, Baron von Innſtetten.“


Alle drei lachten.


„Warum lacht Ihr?“ ſagte Effi pikiert. „Was
ſoll das heißen?“


„Ach, Effi, wir wollen Dich ja nicht beleidigen,
und auch den Baron nicht. Innſtetten ſagteſt Du?
Und Geert? So heißt doch hier kein Menſch.
Freilich, die adeligen Namen haben oft ſo 'was
Komiſches.“


„Ja, meine Liebe, das haben ſie. Dafür ſind
es eben Adelige. Die dürfen ſich das gönnen, und
je weiter zurück, ich meine der Zeit nach, deſto mehr
dürfen ſie ſich's gönnen. Aber davon verſteht Ihr
nichts, was Ihr mir nicht übel nehmen dürft.
Wir bleiben doch gute Freunde. Geert von Innſtetten
[10]Effi Brieſt alſo und Baron. Er iſt gerade ſo alt wie Mama,
auf den Tag.“


„Und wie alt iſt denn eigentlich Deine Mama?“


„Achtunddreißig.“


„Ein ſchönes Alter.“


„Iſt es auch, namentlich wenn man noch ſo
ausſieht wie die Mama. Sie iſt doch eigentlich eine
ſchöne Frau, findet Ihr nicht auch? Und wie ſie
alles ſo weg hat, immer ſo ſicher und dabei ſo fein
und nie unpaſſend wie Papa. Wenn ich ein junger
Leutnant wäre, ſo würd' ich mich in die Mama
verlieben.“


„Aber Effi, wie kannſt Du nur ſo 'was ſagen,“
ſagte Hulda. „Das iſt ja gegen das vierte Gebot.“


„Unſinn. Wie kann das gegen das vierte Ge¬
bot ſein? Ich glaube, Mama würde ſich freuen,
wenn ſie wüßte, daß ich ſo was geſagt habe.“


„Kann ſchon ſein,“ unterbrach hierauf Hertha.
„Aber nun endlich die Geſchichte.“


„Nun, gieb Dich zufrieden, ich fange ſchon
an . . . Alſo Baron Innſtetten! Als er noch keine
Zwanzig war, ſtand er drüben bei den Rathenowern
und verkehrte viel auf den Gütern hier herum, und
am liebſten war er in Schwantikow drüben bei
meinem Großvater Belling. Natürlich war es nicht
des Großvaters wegen, daß er ſo oft drüben war,
[11]Effi Brieſtund wenn die Mama davon erzählt, ſo kann jeder
leicht ſehen, um wen es eigentlich war. Und ich
glaube, es war auch gegenſeitig.“


„Und wie kam es nachher?[“]


„Nun, es kam, wie's kommen mußte, wie's
immer kommt. Er war ja noch viel zu jung, und als
mein Papa ſich einfand, der ſchon Ritterſchaftsrat
war und Hohen-Cremmen hatte, da war kein langes
Beſinnen mehr, und ſie nahm ihn und wurde Frau
von Brieſt . . . Und das andere, was ſonſt noch kam,
nun, das wißt Ihr . . . das andere bin ich.“


„Ja, das andere biſt Du, Effi,“ ſagte Bertha.
„Gott ſei Dank; wir hätten Dich nicht, wenn es
anders gekommen wäre. Und nun ſage, was that
Innſtetten, was wurde aus ihm? Das Leben hat
er ſich nicht genommen, ſonſt könntet Ihr ihn heute
nicht erwarten.“


„Nein, das Leben hat er ſich nicht genommen.
Aber ein bißchen war es doch ſo 'was.“


„Hat er einen Verſuch gemacht?“


„Auch das nicht. Aber er mochte doch nicht
länger hier in der Nähe bleiben, und das ganze
Soldatenleben überhaupt muß ihm damals wie ver¬
leidet geweſen ſein. Es war ja auch Friedenszeit.
Kurz und gut, er nahm den Abſchied und fing an,
Juriſterei zu ſtudieren, wie Papa ſagt, mit einem
[12]Effi Brieſt „wahren Biereifer“; nur als der ſiebziger Krieg
kam, trat er wieder ein, aber bei den Perlebergern
ſtatt bei ſeinem alten Regiment, und hat auch das
Kreuz. Natürlich, denn er iſt ſehr ſchneidig. Und
gleich nach dem Kriege ſaß er wieder bei ſeinen
Akten, und es heißt, Bismarck halte große Stücke
von ihm und auch der Kaiſer, und ſo kam es denn,
daß er Landrat wurde, Landrat im Keſſiner Kreiſe.“


„Was iſt Keſſin? Ich kenne hier kein Keſſin.“


„Nein, hier in unſerer Gegend liegt es nicht;
es liegt eine hübſche Strecke von hier fort, in Pommern,
in Hinterpommern ſogar, was aber nichts ſagen will,
weil es ein Badeort iſt (alles da herum iſt Bade¬
ort) und die Ferienreiſe, die Baron Innſtetten jetzt
macht, iſt eigentlich eine Vetternreiſe, oder doch etwas
Ähnliches. Er will hier alte Freundſchaft und
Verwandtſchaft wiederſehn.“


„Hat er denn hier Verwandte?“


„Ja und nein, wie man's nehmen will. Inn¬
ſtetten's giebt es hier nicht, giebt es, glaub' ich, über¬
haupt nicht mehr. Aber er hat hier entfernte Vettern
von der Mutter Seite her, und vor allem hat er wohl
Schwantikow und das Belling'ſche Haus wiederſehen
wollen, an das ihn ſo viel Erinnerungen knüpfen.
Da war er denn vorgeſtern drüben, und heute will
er hier in Hohen-Cremmen ſein.“


[13]Effi Brieſt

„Und was ſagt Dein Vater dazu?“


„Gar nichts. Der iſt nicht ſo. Und dann
kennt er ja doch die Mama. Er neckt ſie bloß.“


In dieſem Augenblick ſchlug es Mittag, und ehe es
noch ausgeſchlagen, erſchien Wilke, das alte Brieſt'ſche
Haus- und Familienfaktotum, um an Fräulein Effi
zu beſtellen: „Die gnädige Frau ließe bitten, daß
das gnädige Fräulein zu rechter Zeit auch Toilette
mache; gleich nach Eins würde der Herr Baron
wohl vorfahren.“ Und während Wilke dies noch
vermeldete, begann er auch ſchon auf dem Arbeits¬
tiſch der Damen abzuräumen und griff dabei zu¬
nächſt nach dem Zeitungsblatt, auf dem die Stachel¬
beerſchalen lagen.


„Nein, Wilke, nicht ſo; das mit den Schluſen,
das iſt unſere Sache . . . Hertha, Du mußt nun die
Tüte machen und einen Stein hinein thun, daß
alles beſſer verſinken kann. Und dann wollen wir in
einem langen Trauerzug aufbrechen und die Tüte
auf offener See begraben.“


Wilke ſchmunzelte. „Is doch ein Daus, unſer
Fräulein,“ ſo etwa gingen ſeine Gedanken; Effi aber,
während ſie die Tüte mitten auf die raſch zuſammen¬
geraffte Tiſchdecke legte, ſagte: „Nun faſſen wir alle
vier an, jeder an einem Zipfel und ſingen was
Trauriges.“


[14]Effi Brieſt

„Ja, das ſagſt Du wohl, Effi. Aber was
ſollen wir denn ſingen?“


„Irgend 'was; es iſt ganz gleich, es muß nur
einen Reim auf ‚u‘ haben; ‚u‘ iſt immer Trauer¬
vokal. Alſo ſingen wir:

Flut, Flut

Mach' alles wieder gut . . .“


und während Effi dieſe Litanei feierlich anſtimmte,
ſetzten ſich alle vier auf den Steg hin in Bewegung,
ſtiegen in das dort angekettelte Boot und ließen von
dieſem aus die mit einem Kieſel beſchwerte Tüte
langſam in den Teich niedergleiten.


„Hertha, nun iſt Deine Schuld verſenkt,“ ſagte
Effi, „wobei mir übrigens einfällt, ſo vom Boot
aus ſollen früher auch arme unglückliche Frauen ver¬
ſenkt worden ſein, natürlich wegen Untreue.“


„Aber doch nicht hier.“


„Nein, nicht hier,“ lachte Effi, „hier kommt ſo
'was nicht vor. Aber in Konſtantinopel, und Du
mußt ja, wie mir eben einfällt, auch davon wiſſen,
ſo gut wie ich, Du biſt ja mit dabei geweſen, als
uns Kandidat Holzapfel in der Geographieſtunde
davon erzählte.“


„Ja,“ ſagte Hulda, „der erzählte immer ſo was.
Aber ſo 'was vergißt man doch wieder.“


„Ich nicht. Ich behalte ſo 'was.“

[[15]]

Zweites Kapitel.

Sie ſprachen noch eine Weile ſo weiter, wobei
ſie ſich ihrer gemeinſchaftlichen Schulſtunden und
einer ganzen Reihe Holzapfel'ſcher Unpaſſendheiten
mit Empörung und Behagen erinnerten. Ja, man
konnte ſich nicht genug thun damit, bis Hulda mit
einemmale ſagte: „Nun aber iſt es höchſte Zeit,
Effi; Du ſiehſt ja aus, ja, wie ſag' ich nur, Du
ſiehſt ja aus, wie wenn Du vom Kirſchenpflücken
kämſt, alles zerknittert und zerknautſcht; das Leinen¬
zeug macht immer ſo viele Falten, und der große,
weiße Klappkragen . . . ja, wahrhaftig, jetzt hab' ich
es, Du ſiehſt aus wie ein Schiffsjunge.“


„Midſhipman, wenn ich bitten darf. Etwas
muß ich doch von meinem Adel haben. Übrigens
Midſhipman oder Schiffsjunge, Papa hat mir erſt
neulich wieder einen Maſtbaum verſprochen, hier dicht
neben der Schaukel, mit Raaen und einer Strickleiter.
Wahrhaftig, das ſollte mir gefallen, und den Wimpel
[16]Effi Brieſtoben ſelbſt anzumachen, das ließ' ich mir nicht nehmen.
Und Du, Hulda, Du kämſt dann von der anderen
Seite her herauf, und oben in der Luft wollten wir
Hurra rufen und uns einen Kuß geben. Alle
Wetter, das ſollte ſchmecken.“


„ ‚Alle Wetter . . .‘ wie das nun wieder klingt . . .
Du ſprichſt wirklich wie ein Midſhipman. Ich
werde mich aber hüten, Dir nachzuklettern, ich bin
nicht ſo waghalſig. Jahnke hat ganz recht, wenn er
immer ſagt, Du hätteſt zu viel von dem Bellingſchen
in Dir, von Deiner Mama her. Ich bin bloß ein
Paſtorskind.“


„Ach, geh' mir. Stille Waſſer ſind tief. Weißt
Du noch, wie Du damals, als Vetter Brieſt als
Kadett hier war, aber doch ſchon groß genug, wie
Du damals auf dem Scheunendach entlang rutſchteſt.
Und warum? Nun, ich will es nicht verraten.
Aber kommt, wir wollen uns ſchaukeln, auf jeder
Seite zwei; reißen wird es ja wohl nicht, oder wenn
Ihr nicht Luſt habt, denn Ihr macht wieder lange
Geſichter, dann wollen wir Anſchlag ſpielen. Eine
Viertelſtunde hab' ich noch. Ich mag noch nicht
hinein gehen, und alles bloß, um einem Landrat
guten Tag zu ſagen, noch dazu einem Landrat aus
Hinterpommern. Ältlich iſt er auch, er könnte ja
beinah' mein Vater ſein, und wenn er wirklich in
[17]Effi Brieſt einer Seeſtadt wohnt, Keſſin ſoll ja ſo 'was ſein,
nun, da muß ich ihm in dieſem Matroſenkoſtüm
eigentlich am beſten gefallen und muß ihm beinah'
wie eine große Aufmerkſamkeit vorkommen. Fürſten,
wenn ſie wen empfangen, ſo viel weiß ich von meinem
Papa her, legen auch immer die Uniform aus der
Gegend des anderen an. Alſo nur nicht ängſtlich
. . . raſch, raſch, ich fliege aus und neben der Bank
hier iſt frei.“


Hulda wollte noch ein paar Einſchränkungen
machen, aber Effi war ſchon den nächſten Kiesweg
hinauf, links hin, rechts hin, bis ſie mit einemmale
verſchwunden war. „Effi, das gilt nicht; wo biſt
Du? Wir ſpielen nicht Verſteck, wir ſpielen An¬
ſchlag,“ unter dieſen und ähnlichen Vorwürfen eilten
die Freundinnen ihr nach, weit über das Rondell
und die beiden ſeitwärts ſtehenden Platanen hinaus,
bis die Verſchwundene mit einemmale aus ihrem
Verſtecke hervorbrach und mühelos, weil ſie ſchon im
Rücken ihrer Verfolger war, mit „eins, zwei, drei“
den Freiplatz neben der Bank erreichte.


„Wo warſt Du?“


„Hinter den Rhabarberſtauden; die haben ſo
große Blätter, noch größer als ein Feigenblatt . . .“


„Pfui . . .“


„Nein, Pfui für Euch, weil Ihr verſpielt habt.
Th. Fontane, Effi Brieſt. 2[18]Effi Brieſt Hulda, mit ihren großen Augen, ſah wieder nichts,
immer ungeſchickt.“ Und dabei flog Effi von neuem
über das Rondell hin, auf den Teich zu, vielleicht
weil ſie vor hatte, ſich erſt hinter einer dort auf¬
wachſenden dichten Haſelnußhecke zu verſtecken, um
dann, von dieſer aus, mit einem weiten Umweg um
Kirchhof und Fronthaus, wieder bis an den Seiten¬
flügel und ſeinen Freiplatz zu kommen. Alles war
gut berechnet; aber freilich, ehe ſie noch halb um
den Teich herum war, hörte ſie ſchon vom Hauſe
her ihren Namen rufen, und ſah, während ſie ſich
umwandte, die Mama, die, von der Steintreppe her,
mit ihrem Taſchentuche winkte. Noch einen Augen¬
blick, und Effi ſtand vor ihr.


„Nun biſt Du doch noch in Deinem Kittel, und
der Beſuch iſt da. Nie hältſt Du Zeit.“


„Ich halte ſchon Zeit, aber der Beſuch hat
nicht Zeit gehalten. Es iſt noch nicht Eins; noch
lange nicht,“ und ſich nach den Zwillingen hin um¬
wendend (Hulda war noch weiter zurück) rief ſie
dieſen zu: „Spielt nur weiter; ich bin gleich
wieder da.“


Schon im nächſten Augenblicke trat Effi mit der
Mama in den großen Gartenſaal, der faſt den
ganzen Raum des Seitenflügels füllte.


[19]Effi Brieſt

„Mama, Du darfſt mich nicht ſchelten. Es iſt
wirklich erſt halb. Warum kommt er ſo früh?
Kavaliere kommen nicht zu ſpät, aber noch weniger
zu früh.“


Frau von Brieſt war in ſichtlicher Verlegenheit;
Effi aber ſchmiegte ſich liebkoſend an ſie und ſagte:
„Verzeih', ich will mich nun eilen; Du weißt,
ich kann auch raſch ſein, und in fünf Minuten iſt
Aſchenpuddel in eine Prinzeſſin verwandelt. So
lange kann er warten oder mit dem Papa plaudern.“


Und der Mama zunickend, wollte ſie leichten
Fußes eine kleine eiſerne Stiege hinauf, die aus dem
Saal in den Oberſtock hinauf führte. Frau von
Brieſt aber, die unter Umſtänden auch unkonventionell
ſein konnte, hielt plötzlich die ſchon forteilende Effi
zurück, warf einen Blick auf das jugendlich reizende
Geſchöpf, das, noch erhitzt von der Aufregung des
Spiels, wie ein Bild friſcheſten Lebens vor ihr ſtand,
und ſagte beinahe vertraulich: „Es iſt am Ende das
Beſte, Du bleibſt wie Du biſt. Ja, bleibe ſo. Du
ſiehſt gerade ſehr gut aus. Und wenn es auch nicht
wäre, Du ſiehſt ſo unvorbereitet aus, ſo gar nicht
zurecht gemacht, und darauf kommt es in dieſem
Augenblicke an. Ich muß Dir nämlich ſagen, meine
ſüße Effi . . .“ und ſie nahm ihres Kindes beide
Hände . . . „ich muß Dir nämlich ſagen . . .“


2 *[20]Effi Brieſt

„Aber Mama, was haſt Du nur? Mir wird
ja ganz angſt und bange.“


„. . . Ich muß dir nämlich ſagen, Effi, daß
Baron Innſtetten eben um Deine Hand angehalten hat.“


„Um meine Hand angehalten? Und im Ernſt?“


„Es iſt keine Sache, um einen Scherz daraus
zu machen. Du haſt ihn vorgeſtern geſehen, und ich
glaube, er hat Dir auch gut gefallen. Er iſt freilich
älter als Du, was alles in allem ein Glück iſt,
dazu ein Mann von Charakter, von Stellung und
guten Sitten, und wenn Du nicht ,Nein‘ ſagſt, was
ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann,
ſo ſtehſt Du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit
vierzig ſtehen. Du wirſt Deine Mama weit überholen.“


Effi ſchwieg und ſuchte nach einer Antwort.
Aber ehe ſie dieſe finden konnte, hörte ſie ſchon des
Vaters Stimme von dem angrenzenden, noch im
Fronthauſe gelegenen Hinterzimmer her, und gleich
danach überſchritt Ritterſchaftsrat von Brieſt, ein wohl
konſervierter Fünfziger von ausgeſprochener Bon¬
hommie, die Gartenſalonſchwelle — mit ihm Baron
Innſtetten, ſchlank, brünett und von militäriſcher
Haltung.


Effi, als ſie ſeiner anſichtig wurde, kam in ein
nervöſes Zittern; aber nicht auf lange, denn im
ſelben Augenblicke faſt, wo ſich Innſtetten unter
[21]Effi Brieſtfreundlicher Verneigung ihr näherte, wurden an dem
mittleren der weit offen ſtehenden und von wildem
Wein halb überwachſenen Fenſter die rotblonden
Köpfe der Zwillinge ſichtbar, und Hertha, die Aus¬
gelaſſenſte, rief in den Saal hinein: „Effi, komm.“


Dann duckte ſie ſich, und beide Schweſtern
ſprangen von der Banklehne, darauf ſie geſtanden,
wieder in den Garten hinab, und man hörte nur
noch ihr leiſes Kichern und Lachen.

[[22]]

Drittes Kapitel.

Noch an demſelben Tage hatte ſich Baron
Innſtetten mit Effi Brieſt verlobt. Der joviale
Brautvater, der ſich nicht leicht in ſeiner Feierlich¬
keitsrolle zurecht fand, hatte bei dem Verlobungs¬
mahl, das folgte, das junge Paar leben laſſen, was
auf Frau von Brieſt, die dabei der nun um kaum
achtzehn Jahre zurückliegenden Zeit gedenken mochte,
nicht ohne herzbeweglichen Eindruck geblieben war.
Aber nicht auf lange; ſie hatte es nicht ſein können,
nun war es ſtatt ihrer die Tochter — alles in
allem ebenſo gut oder vielleicht noch beſſer. Denn
mit Brieſt ließ ſich leben, trotzdem er ein wenig
proſaiſch war und dann und wann einen kleinen
frivolen Zug hatte. Gegen Ende der Tafel, das
Eis wurde ſchon herumgereicht, nahm der alte Ritter¬
ſchaftsrat noch einmal das Wort, um in einer zweiten
Anſprache das allgemeine Familien-Du zu pro¬
ponieren. Er umarmte dabei Innſtetten und gab
[23]Effi Brieſtihm einen Kuß auf die linke Backe. Hiermit war
aber die Sache für ihn noch nicht abgeſchloſſen, viel¬
mehr fuhr er fort, außer dem „Du“ zugleich intimere
Namen und Titel für den Hausverkehr zu empfehlen,
eine Art Gemütlichkeitsrangliſte aufzuſtellen, natürlich
unter Wahrung berechtigter, weil wohlerworbener
Eigentümlichkeiten. Für ſeine Frau, ſo hieß es,
würde der Fortbeſtand von „Mama“ (denn es gäbe
auch junge Mamas) wohl das Beſte ſein, während
er für ſeine Perſon, unter Verzicht auf den Ehren¬
titel „Papa“, das einfache Brieſt entſchieden bevor¬
zugen müſſe, ſchon weil es ſo hübſch kurz ſei. Und
was nun die Kinder angehe — bei welchem Wort
er ſich, Aug' in Auge mit dem nur etwa um ein
Dutzend Jahre jüngeren Innſtetten, einen Ruck geben
mußte — nun, ſo ſei Effi eben Effi und Geert
Geert. Geert, wenn er nicht irre, habe die Bedeu¬
tung von einem ſchlank aufgeſchoſſenen Stamm, und
Effi ſei dann alſo der Epheu, der ſich darum zu
ranken habe. Das Brautpaar ſah ſich bei dieſen
Worten etwas verlegen an, Effi zugleich mit einem
Ausdruck kindlicher Heiterkeit, Frau von Brieſt aber
ſagte: „Brieſt, ſprich was Du willſt und formuliere
Deine Toaſte nach Gefallen, nur poetiſche Bilder,
wenn ich Dich bitten darf, laß bei Seite, das liegt
jenſeits Deiner Sphäre.“ Zurechtweiſende Worte,
[24]Effi Brieſt die bei Brieſt mehr Zuſtimmung als Ablehnung ge¬
funden hatten. „Es iſt möglich, daß Du recht haſt,
Luiſe.“


Gleich nach Aufhebung der Tafel beurlaubte
ſich Effi, um einen Beſuch drüben bei Paſtors zu
machen. Unterwegs ſagte ſie ſich: „Ich glaube,
Hulda wird ſich ärgern. Nun bin ich ihr doch zu¬
vorgekommen — ſie war immer zu eitel und ein¬
gebildet.“ Aber Effi traf es mit ihrer Erwartung
nicht ganz; Hulda, durchaus Haltung bewahrend,
benahm ſich ſehr gut und überließ die Bezeugung
von Unmut und Ärger ihrer Mutter, der Frau
Paſtorin, die denn auch ſehr ſonderbare Bemerkungen
machte. „Ja, ja, ſo geht es. Natürlich. Wenn's
die Mutter nicht ſein konnte, muß es die Tochter
ſein. Das kennt man. Alte Familien halten immer
zuſammen, und wo 'was is, kommt 'was dazu.“
Der alte Niemeyer kam in arge Verlegenheit über
dieſe fortgeſetzten ſpitzen Redensarten ohne Bildung
und Anſtand und beklagte 'mal wieder, eine Wirt¬
ſchafterin geheiratet zu haben.


Von Paſtors ging Effi natürlich auch zu Kantor
Jahnkes; die Zwillinge hatten ſchon nach ihr aus¬
geſchaut und empfingen ſie im Vorgarten.


„Nun, Effi,“ ſagte Hertha, während alle drei
zwiſchen den rechts und links blühenden Studenten¬
[25]Effi Brieſtblumen auf- und abſchritten, „nun, Effi, wie iſt Dir
eigentlich.“


„Wie mir iſt? O, ganz gut. Wir nennen
uns auch ſchon Du und bei Vornamen. Er heißt
nämlich Geert, was ich Euch, wie mir einfällt, auch
ſchon geſagt habe.“


„Ja, das haſt Du. Mir iſt aber doch ſo bange
dabei. Iſt es denn auch der Richtige?“


„Gewiß iſt es der Richtige. Das verſtehſt Du
nicht, Hertha. Jeder iſt der Richtige. Natürlich
muß er von Adel ſein und eine Stellung haben und
gut ausſehen.“


„Gott, Effi, wie Du nur ſprichſt. Sonſt ſprachſt
Du doch ganz anders.“


„Ja, ſonſt.“


„Und biſt auch ſchon ganz glücklich?“


„Wenn man zwei Stunden verlobt iſt, iſt man
immer ganz glücklich. Wenigſtens denk' ich es mir ſo.“


„Und iſt es Dir denn gar nicht, ja, wie ſag'
ich nur, ein bißchen genant?“


„Ja, ein bißchen genant iſt es mir, aber doch
nicht ſehr. Und ich denke, ich werde darüber weg
kommen.“


Nach dieſem, im Pfarr- und Kantorhauſe ge¬
machten Beſuche, der keine halbe Stunde gedauert
hatte, war Effi wieder nach drüben zurückgekehrt, wo
[26]Effi Brieſtman auf der Gartenveranda eben den Kaffee nehmen
wollte. Schwiegervater und Schwiegerſohn gingen
auf dem Kieswege zwiſchen den zwei Platanen auf
und ab. Brieſt ſprach von dem Schwierigen einer
landrätlichen Stellung; ſie ſei ihm verſchiedentlich
angetragen worden, aber er habe jedesmal gedankt.
„So nach meinem eigenen Willen ſchalten und walten
zu können, iſt mir immer das Liebſte geweſen, jedenfalls
lieber — Pardon, Innſtetten — als ſo die Blicke be¬
ſtändig nach oben richten zu müſſen. Man hat dann
bloß immer Sinn und Merk für hohe und höchſte
Vorgeſetzte. Das iſt nichts für mich. Hier leb' ich ſo
frei weg und freue mich über jedes grüne Blatt und
über den wilden Wein, der da drüben in die Fenſter
wächſt.“


Er ſprach noch mehr dergleichen, allerhand Anti¬
beamtliches, und entſchuldigte ſich von Zeit zu Zeit
mit einem kurzen, verſchiedentlich wiederkehrenden
„Pardon, Innſtetten.“ Dieſer nickte mechaniſch zu¬
ſtimmend, war aber eigentlich wenig bei der Sache,
ſah vielmehr, wie gebannt, immer aufs neue nach
dem drüben am Fenſter rankenden wilden Wein hin¬
über, von dem Brieſt eben geſprochen, und während
er dem nachhing, war es ihm, als ſäh' er wieder die
rotblonden Mädchenköpfe zwiſchen den Weinranken und
höre dabei den übermütigen Zuruf: „Effi, komm'.“


[27]Effi Brieſt

Er glaubte nicht an Zeichen und Ähnliches, im
Gegenteil, wies alles Abergläubiſche weit zurück.
Aber er konnte trotzdem von den zwei Worten nicht
los, und während Brieſt immer weiter perorierte,
war es ihm beſtändig, als wäre der kleine Hergang
doch mehr als ein bloßer Zufall geweſen.


Innſtetten, der nur einen kurzen Urlaub ge¬
nommen, war ſchon am folgenden Tage wieder ab¬
gereiſt, nachdem er verſprochen hatte, jeden Tag
ſchreiben zu wollen. „Ja, das mußt Du,“ hatte
Effi geſagt, ein Wort, das ihr von Herzen kam, da
ſie ſeit Jahren nichts Schöneres kannte, als beiſpiels¬
weiſe den Empfang vieler Geburtstagsbriefe. Jeder
mußte ihr zu dieſem Tage ſchreiben. In den Brief
eingeſtreute Wendungen, etwa wie „Gertrud und
Klara ſenden Dir mit mir ihre herzlichſten Glück¬
wünſche“, waren verpönt; Gertrud und Klara, wenn
ſie Freundinnen ſein wollten, hatten dafür zu ſorgen,
daß ein Brief mit ſelbſtändiger Marke daläge, wo¬
möglich — denn ihr Geburtstag fiel noch in die
Reiſezeit — mit einer fremden, aus der Schweiz
oder Karlsbad.


Innſtetten, wie verſprochen, ſchrieb wirklich jeden
Tag; was aber den Empfang ſeiner Briefe ganz
beſonders angenehm machte, war der Umſtand, daß
[28]Effi Brieſter allwöchentlich nur einmal einen ganz kleinen Ant¬
wortbrief erwartete. Den erhielt er denn auch, voll
reizend nichtigen und ihn jedesmal entzückenden In¬
halts. Was es von ernſteren Dingen zu beſprechen
gab, das verhandelte Frau von Brieſt mit ihrem
Schwiegerſohne: Feſtſetzungen wegen der Hochzeit,
Ausſtattungs- und Wirtſchafts-Einrichtungsfragen.
Innſtetten, ſchon an die drei Jahre im Amt, war
in ſeinem Keſſiner Hauſe nicht glänzend, aber doch
ſehr ſtandesgemäß eingerichtet, und es empfahl ſich,
in der Korreſpondenz mit ihm, ein Bild von allem,
was da war, zu gewinnen, um nichts Unnützes an¬
zuſchaffen. Schließlich, als Frau von Brieſt über
all dieſe Dinge genugſam unterrichtet war, wurde
ſeitens Mutter und Tochter eine Reiſe nach Berlin
beſchloſſen, um, wie Brieſt ſich ausdrückte, den
trousseau“ für Prinzeſſin Effi zuſammenzukaufen.
Effi freute ſich ſehr auf den Aufenthalt in Berlin,
um ſo mehr, als der Vater darein gewilligt hatte,
im Hotel du Nord Wohnung zu nehmen. „Was
es koſte, könne ja von der Ausſtattung abgezogen
werden; Innſtetten habe ohnehin alles.“ Effi —
ganz im Gegenſatze zu der ſolche „Mesquinerien“ ein
für allemal ſich verbittenden Mama — hatte dem
Vater, ohne jede Sorge darum, ob er's ſcherz- oder
ernſthaft gemeint hatte, freudig zugeſtimmt und be¬
[29]Effi Brieſt ſchäftigte ſich in ihren Gedanken viel, viel mehr mit
dem Eindruck, den ſie beide, Mutter und Tochter,
bei ihrem Erſcheinen an der Table d'hôte machen
würden, als mit Spinn und Mencke, Goſchenhofer
und ähnlichen Firmen, die vorläufig notiert worden
waren. Und dieſen ihren heiteren Phantaſien ent¬
ſprach denn auch ihre Haltung, als die große Ber¬
liner Woche nun wirklich da war. Vetter Brieſt
vom Alexander-Regiment, ein ungemein ausgelaſſener,
junger Leutnant, der die „Fliegenden Blätter“ hielt
und über die beſten Witze Buch führte, ſtellte ſich
den Damen für jede dienſtfreie Stunde zur Ver¬
fügung, und ſo ſaßen ſie denn mit ihm bei Kranzler
am Eckfenſter oder zu ſtatthafter Zeit auch wohl im
Café Bauer und fuhren nachmittags in den Zoo¬
logiſchen Garten, um da die Giraffen zu ſehen, von
denen Vetter Brieſt, der übrigens Dagobert hieß,
mit Vorliebe behauptete: „ſie ſähen aus wie adlige
alte Jungfern.“ Jeder Tag verlief programmmäßig,
und am dritten oder vierten Tage gingen ſie, wie
vorgeſchrieben, in die Nationalgalerie, weil Vetter
Dagobert ſeiner Kouſine die „Inſel der Seligen“
zeigen wollte. „Fräulein Kouſine ſtehe zwar auf
dem Punkte, ſich zu verheiraten, es ſei aber doch
vielleicht gut, die ‚Inſel der Seligen‘ ſchon vorher
kennen gelernt zu haben.“ Die Tante gab ihm einen
[30]Effi Brieſt Schlag mit dem Fächer, begleitete dieſen Schlag aber
mit einem ſo gnädigen Blick, daß er keine Veran¬
laſſung hatte, den Ton zu ändern. Es waren himm¬
liſche Tage für alle drei, nicht zum wenigſten für
den Vetter, der ſo wundervoll zu chaperonnieren
und kleine Differenzen immer raſch auszugleichen
verſtand. An ſolchen Meinungsverſchiedenheiten
zwiſchen Mutter und Tochter war nun, wie das ſo
geht, all die Zeit über kein Mangel, aber ſie traten
glücklicherweiſe nie bei den zu machenden Einkäufen
hervor. Ob man von einer Sache ſechs oder drei
Dutzend erſtand, Effi war mit allem gleichmäßig
einverſtanden, und wenn dann auf dem Heimwege
von dem Preiſe der eben eingekauften Gegenſtände
geſprochen wurde, ſo verwechſelte ſie regelmäßig die
Zahlen. Frau von Brieſt, ſonſt ſo kritiſch, auch
ihrem eigenen geliebten Kinde gegenüber, nahm dies
anſcheinend mangelnde Intereſſe nicht nur von der
leichten Seite, ſondern erkannte ſogar einen Vorzug
darin. „Alle dieſe Dinge,“ ſo ſagte ſie ſich, „be¬
deuten Effi nicht viel. Effi iſt anſpruchslos; ſie
lebt in ihren Vorſtellungen und Träumen, und wenn
die Prinzeſſin Friedrich Karl vorüberfährt und ſie
von ihrem Wagen aus freundlich grüßt, ſo gilt ihr
das mehr als eine ganze Truhe voll Weißzeug.“


Das alles war auch richtig, aber doch nur halb.
[31]Effi Brieſt An dem Beſitze mehr oder weniger alltäglicher Dinge
lag Effi nicht viel, aber wenn ſie mit der Mama
die Linden hinauf- und hinunterging und nach
Muſterung der ſchönſten Schaufenſter in den De¬
muth'ſchen Laden eintrat, um für die gleich nach
der Hochzeit geplante italieniſche Reiſe allerlei Ein¬
käufe zu machen, ſo zeigte ſich ihr wahrer Charakter.
Nur das Eleganteſte gefiel ihr, und wenn ſie das
Beſte nicht haben konnte, ſo verzichtete ſie auf das
Zweitbeſte, weil ihr dies Zweite nun nichts mehr
bedeutete. Ja, ſie konnte verzichten, darin hatte die
Mama recht, und in dieſem Verzichtenkönnen lag
etwas von Anſpruchsloſigkeit; wenn es aber aus¬
nahmsweiſe 'mal wirklich etwas zu beſitzen galt, ſo
mußte dies immer 'was ganz Apartes ſein. Und
darin war ſie anſpruchsvoll.

[[32]]

Viertes Kapitel.

Vetter Dagobert war am Bahnhof, als die
Damen ihre Rückreiſe nach Hohen-Cremmen an¬
traten. Es waren glückliche Tage geweſen, vor
allem auch darin, daß man nicht unter unbequemer
und beinahe unſtandesgemäßer Verwandtſchaft gelitten
hatte. „Für Tante Thereſe,“ ſo hatte Effi gleich
nach der Ankunft geſagt, „müſſen wir diesmal in¬
kognito bleiben. Es geht nicht, daß ſie hier ins
Hotel kommt. Entweder Hotel du Nord oder Tante
Thereſe; beides zuſammen paßt nicht“. Die Mama
hatte ſich ſchließlich einverſtanden damit erklärt, ja
dem Lieblinge zur Beſiegelung des Einverſtändniſſes
einen Kuß auf die Stirn gegeben.


Mit Vetter Dagobert war das natürlich etwas
ganz anderes geweſen, der hatte nicht bloß den
Gardepli, der hatte vor allem auch mit Hülfe jener
eigentümlich guten Laune, wie ſie bei den Alexander¬
offizieren beinahe traditionell geworden, ſowohl Mutter
[33]Effi Brieſtwie Tochter von Anfang an anzuregen und auf¬
zuheitern gewußt, und dieſe gute Stimmung dauerte
bis zuletzt. „Dagobert,“ ſo hieß es noch beim Ab¬
ſchied, „Du kommſt alſo zu meinem Polterabend,
und natürlich mit Cortege. Denn nach den Auf¬
führungen (aber kommt mir nicht mit Dienſtmann
oder Mauſefallenhändler) iſt Ball. Und Du mußt
bedenken, mein erſter großer Ball iſt vielleicht auch
mein letzter. Unter ſechs Kameraden — natürlich
beſte Tänzer — wird gar nicht angenommen. Und
mit dem Frühzug könnt Ihr wieder zurück.“ Der
Vetter verſprach alles, und ſo trennte man ſich.


Gegen Mittag trafen beide Damen an ihrer
havelländiſchen Bahnſtation ein, mitten im Luch, und
fuhren in einer halben Stunde nach Hohen-Cremmen
hinüber. Brieſt war ſehr froh, Frau und Tochter
wieder zu Hauſe zu haben, und ſtellte Fragen über
Fragen, deren Beantwortung er meiſt nicht abwartete.
Statt deſſen erging er ſich in Mitteilung deſſen,
was er inzwiſchen erlebt. „Ihr habt mir da vorhin
von der Nationalgalerie geſprochen und von der
,Inſel der Seligen‘ — nun, wir haben hier, während
Ihr fort wart, auch ſo 'was gehabt: unſer Inſpektor
Pink und die Gärtnersfrau. Natürlich habe ich
Pink entlaſſen müſſen, übrigens ungern. Es iſt ſehr
fatal, daß ſolche Geſchichten faſt immer in die Ernte¬
Th. Fontane, Effi Brieſt. 3[34]Effi Brieſt zeit fallen. Und Pink war ſonſt ein ungewöhnlich
tüchtiger Mann, hier leider am unrechten Fleck.
Aber laſſen wir das; Wilke wird ſchon unruhig.“


Bei Tiſche hörte Brieſt beſſer zu; das gute
Einvernehmen mit dem Vetter, von dem ihm viel
erzählt wurde, hatte ſeinen Beifall, weniger das
Verhalten gegen Tante Thereſe. Man ſah aber
deutlich, daß er inmitten ſeiner Mißbilligung ſich
eigentlich darüber freute; denn ein kleiner Schaber¬
nack entſprach ganz ſeinem Geſchmack, und Tante
Thereſe war wirklich eine lächerliche Figur. Er hob
ſein Glas und ſtieß mit Frau und Tochter an.
Auch als nach Tiſch einzelne der hübſcheſten Einkäufe
vor ihm ausgepackt und ſeiner Beurteilung unter¬
breitet wurden, verriet er viel Intereſſe, das ſelbſt
noch anhielt, oder wenigſtens nicht ganz hinſtarb,
als er die Rechnung überflog. „Etwas teuer, oder
ſagen wir lieber ſehr teuer; indeſſen es thut nichts.
Es hat alles ſo viel chic, ich möchte ſagen ſo viel
Animierendes, daß ich deutlich fühle, wenn Du mir
ſolchen Koffer und ſolche Reiſedecke zu Weihnachten
ſchenkſt, ſo ſind wir zu Oſtern auch in Rom und
machen nach achtzehn Jahren unſere Hochzeitsreiſe.
Was meinſt Du, Luiſe? Wollen wir nachexerzieren?
Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt.“


Frau von Brieſt machte eine Handbewegung,
[35]Effi Brieſtwie wenn ſie ſagen wollte: „unverbeſſerlich,“ und
überließ ihn im übrigen ſeiner eigenen Beſchämung,
die aber nicht groß war.


Ende Auguſt war da, der Hochzeitstag (3. Ok¬
tober) rückte näher, und ſowohl im Herrenhauſe wie
in der Pfarre und Schule war man unausgeſetzt
bei den Vorbereitungen zum Polterabend. Jahnke,
getreu ſeiner Fritz Reuter-Paſſion, hatte ſich's als
etwas beſonders „Sinniges“ ausgedacht, Bertha und
Hertha als Lining und Mining auftreten zu laſſen,
natürlich plattdeutſch, während Hulda das Käthchen
von Heilbronn in der Hollunderbaumſzene darſtellen
ſollte, Leutnant Engelbrecht von den Huſaren als
Wetter vom Strahl. Niemeyer, der ſich den Vater
der Idee nennen durfte, hatte keinen Augenblick
geſäumt, auch die verſchämte Nutzanwendung auf
Innſtetten und Effi hinzuzudichten. Er ſelbſt war
mit ſeiner Arbeit zufrieden und hörte, gleich nach
der Leſeprobe, von allen Beteiligten viel Freund¬
liches darüber, freilich mit Ausnahme ſeines Patronats¬
herrn und alten Freundes Brieſt, der, als er die
Miſchung von Kleiſt und Niemeyer mit angehört
hatte, lebhaft proteſtierte, wenn auch keineswegs aus
litterariſchen Gründen. „Hoher Herr und immer
wieder Hoher Herr — was ſoll das? Das leitet
3 *[36]Effi Brieſt in die Irre, das verſchiebt alles. Innſtetten, unbe¬
ſtritten, iſt ein famoſes Menſchenexemplar, Mann
von Charakter und Schneid', aber die Brieſt's —
verzeih' den Berolinismus, Luiſe — die Brieſt's
ſind ſchließlich auch nicht von ſchlechten Eltern. Wir
ſind doch nun 'mal eine hiſtoriſche Familie, laß mich
hinzufügen Gott ſei Dank, und die Innſtetten's ſind
es nicht; die Innſtetten's ſind bloß alt, meinet¬
wegen Uradel, aber was heißt Uradel? Ich will
nicht, daß eine Brieſt oder doch mindeſtens eine
Polterabendfigur, in der jeder das Widerſpiel
unſerer Effi erkennen muß — ich will nicht, daß
eine Brieſt mittelbar oder unmittelbar in einem fort
von „Hoher Herr“ ſpricht. Da müßte denn doch
Innſtetten wenigſtens ein verkappter Hohenzoller ſein,
es giebt ja dergleichen. Das iſt er aber nicht, und
ſo kann ich nur wiederholen, es verſchiebt die
Situation.“


Und wirklich, Brieſt hielt mit beſonderer Zähig¬
keit eine ganze Zeit lang an dieſer Anſchauung feſt.
Erſt nach der zweiten Probe, wo das „Käthchen“,
ſchon halb im Koſtüm, ein ſehr eng anliegendes
Sammetmieder trug, ließ er ſich — der es auch ſonſt
nicht an Huldigungen gegen Hulda fehlen ließ —
zu der Bemerkung hinreißen, „das Käthchen liege
ſehr gut da,“ welche Wendung einer Waffenſtreckung
[37]Effi Brieſtziemlich gleich kam oder doch zu ſolcher hinüber
leitete. Daß alle dieſe Dinge vor Effi geheim ge¬
halten wurden, braucht nicht erſt geſagt zu werden.
Bei mehr Neugier auf Seiten dieſer Letzteren wäre
das nun freilich ganz unmöglich geweſen, aber Effi
hatte ſo wenig Verlangen, in die Vorbereitungen und ge¬
planten Überraſchungen einzudringen, daß ſie der Mama
mit allem Nachdruck erklärte, „ſie könne es abwarten“,
und wenn dieſe dann zweifelte, ſo ſchloß Effi mit
der wiederholten Verſicherung: es wäre wirklich ſo;
die Mama könne es glauben. Und warum auch
nicht? Es ſei ja doch alles nur Theateraufführung
und hübſcher und poetiſcher als „Aſchenbrödel“, das
ſie noch am letzten Abend in Berlin geſehen hätte,
hübſcher und poetiſcher könne es ja doch nicht ſein.
Da hätte ſie wirklich ſelber mitſpielen mögen, wenn
auch nur, um dem lächerlichen Penſionslehrer einen
Kreideſtrich auf den Rücken zu machen. „Und wie
reizend im letzten Akt ,Aſchenbrödel's Erwachen als
Prinzeſſin‘ oder doch wenigſtens als Gräfin; wirklich,
es war ganz wie ein Märchen.“ In dieſer Weiſe
ſprach ſie oft, war meiſt ausgelaſſener als vordem
und ärgerte ſich blos über das beſtändige Tuſcheln
und Geheimthun der Freundinnen. „Ich wollte,
ſie hätten ſich weniger wichtig und wären mehr für
mich da. Nachher bleiben ſie doch blos ſtecken, und
[38]Effi Brieſtich muß mich um ſie ängſtigen und mich ſchämen,
daß es meine Freundinnen ſind.“


So gingen Effi's Spottreden, und es war
ganz unverkennbar, daß ſie ſich um Polterabend und
Hochzeit nicht allzu ſehr kümmerte. Frau von Brieſt
hatte ſo ihre Gedanken darüber, aber zu Sorgen kam
es nicht, weil ſich Effi, was doch ein gutes Zeichen
war, ziemlich viel mit ihrer Zukunft beſchäftigte
und ſich, phantaſiereich wie ſie war, Viertelſtunden
lang in Schilderungen ihres Keſſiner Lebens erging,
Schilderungen, in denen ſich nebenher und ſehr zur
Erheiterung der Mama, eine merkwürdige Vorſtellung
von Hinterpommern ausſprach oder vielleicht auch,
mit kluger Berechnung, ausſprechen ſollte. Sie
gefiel ſich nämlich darin, Keſſin als einen halb
ſibiriſchen Ort aufzufaſſen, wo Eis und Schnee nie
recht aufhörten.


„Heute hat Goſchenhofer das Letzte geſchickt,“
ſagte Frau von Brieſt, als ſie wie gewöhnlich in
Front des Seitenflügels mit Effi am Arbeitstiſche
ſaß, auf dem die Leinen- und Wäſchevorräte be¬
ſtändig wuchſen, während der Zeitungen, die blos
Platz wegnahmen, immer weniger wurden. „Ich
hoffe, Du haſt nun alles, Effi. Wenn Du aber
noch kleine Wünſche hegſt, ſo mußt Du ſie jetzt aus¬
ſprechen, womöglich in dieſer Stunde noch. Papa
[39]Effi Brieſt hat den Raps vorteilhaft verkauft und iſt ungewöhnlich
guter Laune.“


„Ungewöhnlich? Er iſt immer in guter Laune.“


„In ungewöhnlich guter Laune,“ wiederholte
die Mama. „Und die muß benutzt werden. Sprich
alſo. Mehrmals, als wir noch in Berlin waren,
war es mir, als ob Du doch nach dem einen oder
anderen noch ein ganz beſonderes Verlangen gehabt
hätteſt.“


„Ja, liebe Mama, was ſoll ich da ſagen. Ei¬
gentlich habe ich ja alles, was man braucht, ich meine,
was man hier braucht. Aber da mir's nun 'mal
beſtimmt iſt, ſo hoch nördlich zu kommen . . . ich
bemerke, daß ich nichts dagegen habe, im Gegenteil,
ich freue mich darauf, auf die Nordlichter und auf
den helleren Glanz der Sterne . . . da mir's nun
'mal ſo beſtimmt iſt, ſo hätte ich wohl gern einen
Pelz gehabt.“


„Aber Effi, Kind, das iſt doch alles bloß leere
Thorheit. Du kommſt ja nicht nach Petersburg oder
nach Archangel.“


„Nein; aber ich bin doch auf dem Wege
dahin . . .“


„Gewiß, Kind. Auf dem Wege dahin biſt Du;
aber was heißt das? Wenn Du von hier nach
Nauen fährſt, biſt Du auch auf dem Wege nach
[40]Effi Brieſt Rußland. Im übrigen, wenn Du's wünſchſt, ſo
ſollſt Du einen Pelz haben. Nur das laß mich im
voraus ſagen, ich rate Dir davon ab. Ein Pelz
iſt für ältere Perſonen, ſelbſt Deine alte Mama iſt
noch zu jung dafür, und wenn Du mit Deinen
ſiebzehn Jahren in Nerz oder Marder auftrittſt, ſo
glauben die Keſſiner, es ſei eine Maskerade.“


Das war am 2. September, daß ſie ſo ſprachen,
ein Geſpräch, das ſich wohl fortgeſetzt hätte, wenn
nicht gerade Sedantag geweſen wäre. So aber
wurden ſie durch Trommel- und Pfeifenklang unter¬
brochen, und Effi, die ſchon vorher von dem be¬
abſichtigten Aufzuge gehört, aber es wieder vergeſſen
hatte, ſtürzte mit einemmale von dem gemein¬
ſchaftlichen Arbeitstiſche fort und an Rondell und
Teich vorüber auf einen kleinen, an die Kirchhofs¬
mauer angebauten Balkon zu, zu dem ſechs Stufen,
nicht viel breiter als Leiterſproſſen, hinaufführten.
Im Nu war ſie oben, und richtig, da kam auch ſchon
die ganze Schuljugend heran, Jahnke gravitätiſch
am rechten Flügel, während ein kleiner Tambour¬
major, weit voran, an der Spitze des Zuges mar¬
ſchierte, mit einem Geſichtsausdruck, als ob ihm ob¬
läge, die Schlacht bei Sedan noch einmal zu ſchlagen.
[41]Effi Brieſt Effi winkte mit dem Taſchentuch, und der Begrüßte
verſäumte nicht, mit ſeinem blanken Kugelſtock zu
ſalutieren.


Eine Woche ſpäter ſaßen Mutter und Tochter
wieder am alten Fleck, auch wieder mit ihrer Arbeit
beſchäftigt. Es war ein wunderſchöner Tag; der in
einem zierlichen Beet um die Sonnenuhr herum¬
ſtehende Heliotrop blühte noch, und die leiſe Briſe,
die ging, trug den Duft davon zu ihnen herüber.


„Ach, wie wohl ich mich fühle,“ ſagte Effi,
„ſo wohl und ſo glücklich; ich kann mir den Himmel
nicht ſchöner denken. Und am Ende, wer weiß, ob
ſie im Himmel ſo wundervollen Heliotrop haben.“


„Aber Effi, ſo darfſt Du nicht ſprechen; das
haſt Du von Deinem Vater, dem nichts heilig iſt, und
der neulich ſogar ſagte: Niemeyer ſähe aus wie Lot.
Unerhört. Und was ſoll es nur heißen? Erſtlich
weiß er nicht, wie Lot ausgeſehen hat, und zweitens
iſt es eine grenzenloſe Rückſichtsloſigkeit gegen Hulda.
Ein Glück, daß Niemeyer nur die einzige Tochter
hat, dadurch fällt es eigentlich in ſich zuſammen.
In einem freilich hat er nur zu ſehr recht gehabt,
in all' und jedem, was er über „Lots Frau“, unſere
gute Frau Paſtorin, ſagte, die uns denn auch wirk¬
lich wieder mit ihrer Thorheit und Anmaßung den
[42]Effi Brieſt ganzen Sedantag ruinierte. Wobei mir übrigens
einfällt, daß wir, als Jahnke mit der Schule vorbei
kam, in unſerem Geſpräche unterbrochen wurden —
wenigſtens kann ich mir nicht denken, daß der Pelz,
von dem Du damals ſprachſt, Dein einziger Wunſch
geweſen ſein ſollte. Laß mich alſo wiſſen, Schatz,
was Du noch weiter auf dem Herzen haſt?[“]


„Nichts, Mama.“


„Wirklich nichts?“


„Nein, wirklich nichts; ganz im Ernſte . . .
Wenn es aber doch am Ende was ſein ſollte . . .“


„Nun . . .“


„. . . So müßt' es ein japaniſcher Bettſchirm
ſein, ſchwarz und goldene Vögel darauf, alle mit
einem langen Kranichſchnabel . . . Und dann viel¬
leicht auch noch eine Ampel für unſer Schlafzimmer,
mit rotem Schein.“


Frau von Brieſt ſchwieg.


„Nun ſiehſt Du, Mama, Du ſchweigſt und
ſiehſt aus, als ob ich etwas beſonders Unpaſſendes
geſagt hätte.“


„Nein, Effi, nichts Unpaſſendes. Und vor
Deiner Mutter nun ſchon gewiß nicht. Denn ich
kenne Dich ja. Du biſt eine phantaſtiſche kleine
Perſon, malſt Dir mit Vorliebe Zukunftsbilder aus,
und je farbenreicher ſie ſind, deſto ſchöner und begehr¬
[43]Effi Brieſt licher erſcheinen ſie Dir. Ich ſah das ſo recht, als
wir die Reiſeſachen kauften. Und nun denkſt Du
Dir's ganz wundervoll, einen Bettſchirm mit aller¬
hand fabelhaftem Getier zu haben, alles im Halb¬
licht einer roten Ampel. Es kommt Dir vor wie
ein Märchen, und Du möchteſt eine Prinzeſſin ſein.“


Effi nahm die Hand der Mama und küßte ſie.
„Ja, Mama, ſo bin ich.“


„Ja, ſo biſt Du. Ich weiß es wohl. Aber
meine liebe Effi, wir müſſen vorſichtig im Leben ſein,
und zumal wir Frauen. Und wenn Du nun nach
Keſſin kommſt, einem kleinen Ort, wo nachts kaum
eine Laterne brennt, ſo lacht man über dergleichen.
Und wenn man bloß lachte. Die, die Dir unge¬
wogen ſind, und ſolche giebt es immer, ſprechen von
ſchlechter Erziehung, und manche ſagen auch wohl
noch Schlimmeres.“


„Alſo nichts Japaniſches und auch keine Ampel.
Aber ich bekenne Dir, ich hatte es mir ſo ſchön und
poetiſch gedacht, alles in einem roten Schimmer zu ſehen.“


Frau von Brieſt war bewegt. Sie ſtand auf
und küßte Effi. „Du biſt ein Kind. Schön und
poetiſch. Das ſind ſo Vorſtellungen. Die Wirklich¬
keit iſt anders, und oft iſt es gut, daß es ſtatt Licht
[und] Schimmer ein Dunkel giebt.“


Effi ſchien antworten zu wollen, aber in dieſem
[44]Effi Brieſt Augenblicke kam Wilke und brachte Briefe. Der eine
war aus Keſſin von Innſtetten. „Ach, von Geert,“
ſagte Effi, und während ſie den Brief bei Seite
ſteckte, fuhr ſie in ruhigem Tone fort: „Aber das
wirſt Du doch geſtatten, daß ich den Flügel ſchräg
in die Stube ſtelle. Daran liegt mir mehr als an
einem Kamin, den mir Geert verſprochen hat. Und
das Bild von Dir, das ſtell' ich dann auf eine
Staffelei; ganz ohne Dich kann ich nicht ſein. Ach,
wie werd' ich mich nach Euch ſehnen, vielleicht auf
der Reiſe ſchon und dann in Keſſin ganz gewiß.
Es ſoll ja keine Garniſon haben, nicht einmal einen
Stabsarzt, und ein Glück, daß es wenigſtens ein
Badeort iſt. Vetter Brieſt, und daran will ich mich
aufrichten, deſſen Mutter und Schweſter immer nach
Warnemünde gehen — nun, ich ſehe doch wirklich
nicht ein, warum der die lieben Verwandten nicht
auch einmal nach Keſſin hin dirigieren ſollte. Dirigieren,
das klingt ohnehin ſo nach Generalſtab, worauf er,
glaub' ich, ambiert. Und dann kommt er natürlich
mit und wohnt bei uns. Übrigens haben die Keſ¬
ſiner, wie mir neulich erſt wer erzählt hat, ein ziem¬
lich großes Dampfſchiff, das zweimal die Woche nach
Schweden hinüberfährt. Und auf dem Schiffe iſt
dann Ball (ſie haben da natürlich auch Muſik) und
er tanzt ſehr gut . . .“


[45]Effi Brieſt

„Wer?“


„Nun, Dagobert.“


„Ich dachte, Du meinteſt Innſtetten. Aber
jedenfalls iſt es an der Zeit, endlich zu wiſſen, was
er ſchreibt . . . Du haſt ja den Brief noch in der
Taſche.“


„Richtig. Den hätt' ich faſt vergeſſen.“ Und
ſie öffnete den Brief und überflog ihn.


„Nun, Effi, kein Wort? Du ſtrahlſt nicht und
lachſt nicht einmal. Und er ſchreibt doch immer ſo
heiter und unterhaltlich und gar nicht väterlich weiſe.“


„Das würd' ich mir auch verbitten. Er hat
ſein Alter, und ich habe meine Jugend. Und ich
würde ihm mit den Fingern drohen und ihm ſagen:
,Geert, überlege, was beſſer iſt‘.“


„Und dann würde er Dir antworten: ,Was
Du haſt, Effi, das iſt das Beſſere'. Denn er iſt
nicht nur ein Mann der feinſten Formen, er iſt auch
gerecht und verſtändig und weiß recht gut, was
Jugend bedeutet. Er ſagt ſich das immer und ſtimmt
ſich auf das Jugendliche hin, und wenn er in der
Ehe ſo bleibt, ſo werdet ihr eine Muſterehe führen.“


„Ja, das glaube ich auch, Mama. Aber kannſt
Du Dir vorſtellen, und ich ſchäme mich faſt, es zu
ſagen, ich bin nicht ſo ſehr für das, was man eine
Muſterehe nennt.“


[46]Effi Brieſt

„Das ſieht Dir ähnlich. Und nun ſage mir,
wofür biſt Du denn eigentlich?“


„Ich bin . . . nun, ich bin für gleich und
gleich und natürlich auch für Zärtlichkeit und Liebe. Und
wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht ſein können,
weil Liebe, wie Papa ſagt, doch nur ein Papperla¬
papp iſt (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin
ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein
ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd
kommt, auf Elchwild oder Auerhahn, oder wo der
alte Kaiſer vorfährt, und für jede Dame, auch für
die jungen, ein gnädiges Wort hat. Und wenn wir
dann in Berlin ſind, dann bin ich für Hofball und
und Galaoper, immer dicht neben der großen Mittel¬
loge.“


„Sagſt Du das ſo bloß aus Übermut und
Laune?“


„Nein, Mama, das iſt mein völliger Ernſt.
Liebe kommt zuerſt, aber gleich hinterher kommt Glanz
und Ehre. und dann kommt Zerſtreuung — ja, Zer¬
ſtreuung, immer 'was neues, immer 'was, daß ich
lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten
kann, iſt Langeweile.“


„Wie biſt Du da nur mit uns fertig geworden?“


„Ach, Mama, wie Du nur ſo 'was ſagen kannſt.
Freilich, wenn im Winter die liebe Verwandtſchaft
[47]Effi Brieſt vorgefahren kommt und ſechs Stunden bleibt oder
wohl auch noch länger, und Tante Gundel und Tante
Olga mich muſtern und mich naſeweis finden —
und Tante Gundel hat es mir auch 'mal geſagt —
ja, da macht ſich's mitunter nicht ſehr hübſch, das
muß ich zugeben. Aber ſonſt bin ich hier immer
glücklich geweſen, ſo glücklich . . .“


Und während ſie das ſagte, warf ſie ſich heftig
weinend vor der Mama auf die Knie und küßte ihre
beiden Hände!


„Steh auf, Effi. Das ſind ſo Stimmungen,
die über einen kommen, wenn man ſo jung iſt wie
Du und vor der Hochzeit ſteht und vor dem Un¬
gewiſſen. Aber nun lies mir den Brief vor, wenn
er nicht 'was ganz Beſonderes enthält oder vielleicht
Geheimniſſe.“


„Geheimniſſe,“ lachte Effi und ſprang in plötzlich
veränderter Stimmung wieder auf. „Geheimniſſe!
Ja, er nimmt immer einen Anlauf, aber das meiſte
könnt' ich auf dem Schulzenamt anſchlagen laſſen,
da, wo immer die landrätlichen Verordnungen ſtehen.
Nun, Geert iſt ja auch Landrat.“


„Lies, lies.“


„Liebe Effi . . .“ So fängt es nämlich immer
an, und manchmal nennt er mich auch ſeine ,kleine Eva‘.“


„Lies, lies . . . Du ſollſt ja leſen.“


[48]Effi Brieſt

„Alſo: Liebe Effi! Je näher wir unſrem
Hochzeitstage kommen, je ſparſamer werden Deine
Briefe. Wenn die Poſt kommt, ſuche ich immer zu¬
erſt nach Deiner Handſchrift, aber wie Du weißt
(und ich hab' es ja auch nicht anders gewollt) in
der Regel vergeblich. Im Hauſe ſind jetzt die Hand¬
werker, die die Zimmer, freilich nur wenige, für
Dein Kommen herrichten ſollen. Das beſte wird
wohl erſt geſchehen, wenn wir auf der Reiſe ſind.
Tapezierer Madelung, der alles liefert, iſt ein Original,
von dem ich Dir mit nächſtem erzähle, vor allem
aber, wie glücklich ich bin über Dich, über meine
ſüße, kleine Effi. Mir brennt hier der Boden unter
den Füßen, und dabei wird es in unſerer guten
Stadt immer ſtiller und einſamer. Der letzte Bade¬
gaſt iſt geſtern abgereiſt; er badete zuletzt bei 9 Grad
und die Badewärter waren immer froh, wenn er
wieder heil heraus war. Denn ſie fürchteten einen
Schlaganfall, was dann das Bad in Mißkredit bringt,
als ob die Wellen hier ſchlimmer wären als wo
anders. Ich juble, wenn ich denke, daß ich in vier
Wochen ſchon mit Dir von der Piazzetta aus nach
dem Lido fahre oder nach Murano hin, wo ſie Glas¬
perlen machen und ſchönen Schmuck. Und der
ſchönſte ſei für Dich. Viele Grüße den Eltern und
den zärtlichſten Kuß Dir von Deinem Geert.“


[49]Effi Brieſt

Effi faltete den Brief wieder zuſammen, um
ihn in das Kouvert zu ſtecken.


„Das iſt ein ſehr hübſcher Brief,“ ſagte Frau
von Brieſt, „und daß er in allem das richtige Maß
hält, das iſt ein Vorzug mehr.“


„Ja, das rechte Maß, das hält er.“


„Meine liebe Effi, laß mich eine Frage thun;
wünſchteſt Du, daß der Brief nicht das richtige
Maß hielte, wünſchteſt Du, daß er zärtlicher wäre,
vielleicht überſchwenglich zärtlich?“


„Nein, nein, Mama. Wahr und wahrhaftig
nicht, das wünſche ich nicht. Da iſt es doch beſſer ſo.“


„Da iſt es doch beſſer ſo. Wie das nun wieder
klingt. Du biſt ſo ſonderbar. Und daß Du vorhin
weinteſt. Haſt Du was auf Deinem Herzen? Noch
iſt es Zeit. Liebſt Du Geert nicht?“


„Warum ſoll ich ihn nicht lieben? Ich liebe
Hulda, und ich liebe Bertha, und ich liebe Hertha.
Und ich liebe auch den alten Niemeyer. Und daß
ich Euch liebe, davon ſpreche ich gar nicht erſt. Ich
liebe alle, die's gut mit mir meinen und gütig gegen
mich ſind und mich verwöhnen. Und Geert wird
mich auch wohl verwöhnen. Natürlich auf ſeine Art.
Er will mir ja ſchon Schmuck ſchenken in Venedig.
Er hat keine Ahnung davon, daß ich mir nichts aus
Schmuck mache. Ich klettre lieber und ich ſchaukle
Th. Fontane, Effi Brieſt. 4[50]Effi Brieſt mich lieber, und am liebſten immer in der Furcht,
daß es irgendwo reißen oder brechen und ich nieder¬
ſtürzen könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich
koſten.“


„Und liebſt Du vielleicht auch deinen Vetter
Brieſt?“


„Ja, ſehr. Der erheitert mich immer.“


„Und hätteſt Du Vetter Brieſt heiraten mögen?“


„Heiraten? Um Gottes Willen nicht. Er iſt
ja noch ein halber Junge. Geert iſt ein Mann, ein
ſchöner Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen
kann und aus dem was wird in der Welt. Wo
denkſt Du hin, Mama.“


„Nun, das iſt recht, Effi, das freut mich. Aber
Du haſt noch was auf der Seele.“


„Vielleicht.“


„Nun, ſprich.“


„Sieh', Mama, daß er älter iſt als ich, das
ſchadet nichts, das iſt vielleicht recht gut: er iſt ja
doch nicht alt und iſt geſund und friſch und ſo
ſoldatiſch und ſo ſchneidig. Und ich könnte beinah'
ſagen, ich wäre ganz und gar für ihn, wenn er
nur . . . ja, wenn er nur ein bißchen anders wäre.“


„Wie denn, Effi?“


„Ja, wie. Nun, du darfſt mich nicht auslachen.
Es iſt etwas, was ich erſt ganz vor kurzem auf¬
[51]Effi Brieſt gehorcht habe, drüben im Paſtorhauſe. Wir ſprachen
da von Innſtetten, und mit einemmale zog der
alte Niemeyer ſeine Stirn in Falten, aber in Re¬
ſpekts- und Bewunderungsfalten, und ſagte: ,Ja,
der Baron! Das iſt ein Mann von Charakter, ein
Mann von Prinzipien‘.“


„Das iſt er auch, Effi.“


„Gewiß. Und ich glaube, Niemeyer ſagte nach¬
her ſogar, er ſei auch ein Mann von Grundſätzen.
Und das iſt, glaub' ich, noch etwas mehr. Ach, und
ich . . . ich habe keine. Sieh', Mama, da liegt etwas,
was mich quält und ängſtigt. Er iſt ſo lieb und
gut gegen mich und ſo nachſichtig, aber . . . ich
fürchte mich vor ihm.“


4 *
[[52]]

Fünftes Kapitel.

Die Hohen-Cremmer Feſttage lagen zurück;
alles war abgereiſt, auch das junge Paar, noch am
Abend des Hochzeitstages.


Der Polterabend hatte jeden zufrieden geſtellt,
beſonders die Mitſpielenden, und Hulda war dabei
das Entzücken aller jungen Offiziere geweſen, ſowohl
der Rathenower Huſaren wie der etwas kritiſcher
geſtimmten Kameraden vom Alexander-Regiment. Ja,
alles war gut und glatt verlaufen, faſt über Erwarten.
Nur Bertha und Hertha hatten ſo heftig geſchluchzt,
daß Jahnke's plattdeutſche Verſe ſo gut wie verloren
gegangen waren. Aber auch das hatte wenig ge¬
ſchadet. Einige feine Kenner waren ſogar der Meinung
geweſen, „das ſei das Wahre; Steckenbleiben und
Schluchzen und Unverſtändlichkeit — in dieſem
Zeichen (und nun gar, wenn es ſo hübſche rotblonde
Krausköpfe wären) werde immer am entſchiedenſten
geſiegt.“ Eines ganz beſonderen Triumphes hatte
[53]Effi Brieſtſich Vetter Brieſt in ſeiner ſelbſtgedichteten Rolle
rühmen dürfen. Er war als Demuth'ſcher Kommis
erſchienen, der in Erfahrung gebracht, die junge
Braut habe vor, gleich nach der Hochzeit nach Italien
zu reiſen, weshalb er einen Reiſekoffer abliefern
wolle. Dieſer Koffer entpuppte ſich natürlich als
eine Rieſenbonbonniere von Hövel. Bis um drei
Uhr war getanzt worden, bei welcher Gelegenheit
der ſich mehr und mehr in eine höchſte Champagner¬
ſtimmung hineinredende alte Brieſt allerlei Be¬
merkungen über den an manchen Höfen immer noch
üblichen Fackeltanz und die merkwürdige Sitte des
Strumpfband-Austanzens gemacht hatte, Bemerkungen,
die nicht abſchließen wollten und ſich immer mehr
ſteigernd, am Ende ſo weit gingen, daß ihnen durch¬
aus ein Riegel vorgeſchoben werden mußte. „Nimm
Dich zuſammen, Brieſt,“ war ihm in ziemlich ernſtem
Tone von ſeiner Frau zugeflüſtert worden; „Du
ſtehſt hier nicht, um Zweideutigkeiten zu ſagen, ſondern
um die Honneurs des Hauſes zu machen. Wir
haben eben eine Hochzeit und nicht eine Jagdpartie.“
Worauf Brieſt geantwortet, „er ſähe darin keinen ſo
großen Unterſchied; übrigens ſei er glücklich.“


Auch der Hochzeitstag ſelbſt war gut verlaufen.
Niemeyer hatte vorzüglich geſprochen, und einer der
alten Berliner Herren, der halb und halb zur Hof¬
[54]Effi Brieſt geſellſchaft gehörte, hatte ſich auf dem Rückwege von
der Kirche zum Hochzeitshauſe dahin geäußert, es
ſei doch merkwürdig, wie reich geſät in einem Staate,
wie der unſrige, die Talente ſeien. „Ich ſehe darin
einen Triumph unſerer Schulen und vielleicht mehr
noch unſerer Philoſophie. Wenn ich bedenke, dieſer
Niemeyer, ein alter Dorfpaſtor, der anfangs ausſah
wie ein Hoſpitalit . . . ja, Freund, ſagen Sie ſelbſt
hat er nicht geſprochen wie ein Hofprediger. Dieſer
Takt und dieſe Kunſt der Antitheſe, ganz wie Kögel
und an Gefühl ihm noch über. Kögel iſt zu kalt.
Freilich ein Mann in ſeiner Stellung muß kalt ſein.
Woran ſcheitert man denn im Leben überhaupt?
Immer nur an der Wärme.“ Der noch unverheiratete,
aber wohl eben deshalb zum viertenmale in einem
„Verhältnis“ ſtehende Würdenträger, an den ſich
dieſe Worte gerichtet hatten, ſtimmte ſelbſtverſtändlich
zu. „Nur zu wahr, lieber Freund,“ ſagte er. „Zu
viel Wärme! . . . ganz vorzüglich . . . Übrigens
muß ich Ihnen nachher eine Geſchichte erzählen.“


Der Tag nach der Hochzeit war ein heller
Oktobertag. Die Morgenſonne blinkte; trotzdem war
es ſchon herbſtlich friſch, und Brieſt, der eben ge¬
meinſchaftlich mit ſeiner Frau das Frühſtück ge¬
[55]Effi Brieſtnommen, erhob ſich von ſeinem Platz und ſtellte
ſich, beide Hände auf dem Rücken, gegen das mehr
und mehr verglimmende Kaminfeuer. Frau von
Brieſt, eine Handarbeit in Händen, rückte gleichfalls
näher an den Kamin und ſagte zu Wilke, der gerade
eintrat, um den Frühſtückstiſch abzuräumen: „Und
nun, Wilke, wenn Sie drin im Saal, aber das geht
vor, alles in Ordnung haben, dann ſorgen Sie, daß
die Torten nach drüben kommen, die Nußtorte zu
Paſtors und die Schüſſel mit kleinen Kuchen zu
Jahnke's. Und nehmen Sie ſich mit den Gläſern
in acht. Ich meine die dünn geſchliffenen.“


Brieſt war ſchon bei der dritten Zigarette, ſah
ſehr wohl aus und erklärte, „nichts bekomme einem
ſo gut wie eine Hochzeit, natürlich die eigene aus¬
genommen.“


„Ich weiß nicht, Brieſt, wie Du zu ſolcher
Bemerkung kommſt. Mir war ganz neu, daß Du
darunter gelitten haben willſt. Ich wüßte auch
nicht warum.“


„Luiſe, Du biſt eine Spielverderberin. Aber
ich nehme nichts übel, auch nicht einmal ſo 'was.
Im übrigen, was wollen wir von uns ſprechen, die
wir nicht einmal eine Hochzeitsreiſe gemacht haben.
Dein Vater war dagegen. Aber Effi macht nun
eine Hochzeitsreiſe. Beneidenswert. Mit dem Zehn¬
[56]Effi Brieſt Uhr-Zug ab. Sie müſſen jetzt ſchon bei Regensburg
ſein, und ich nehme an, daß er ihr — ſelbſtverſtänd¬
lich ohne auszuſteigen — die Hauptkunſtſchätze der
Walhalla herzählt. Innſtetten iſt ein vorzüglicher
Kerl, aber er hat ſo 'was von einem Kunſtfex, und
Effi, Gott, unſere arme Effi, iſt ein Naturkind. Ich
fürchte, daß er ſie mit ſeinem Kunſtenthuſiasmus
etwas quälen wird.“


„Jeder quält ſeine Frau. Und Kunſtenthuſias¬
mus iſt noch lange nicht das Schlimmſte.“


„Nein, gewiß nicht; jedenfalls wollen wir darüber
nicht ſtreiten; es iſt ein weites Feld. Und dann
ſind auch die Menſchen ſo verſchieden. Du, nun ja,
Du hätteſt dazu getaugt. Überhaupt hätteſt Du
beſſer zu Innſtetten gepaßt als Effi. Schade, nun
iſt es zu ſpät.“


„Überaus galant, abgeſehen davon, daß es nicht
paßt. Unter allen Umſtänden aber, was geweſen iſt,
iſt geweſen. Jetzt iſt er mein Schwiegerſohn, und
es kann zu nichts führen, immer auf Jugendlichkeiten
zurückzuweiſen.“


„Ich habe Dich nur in eine animierte Stimmung
bringen wollen.“


„Sehr gütig. Übrigens nicht nötig. Ich bin
in animierter Stimmung.“


„Und auch in guter?“


[57]Effi Brieſt

„Ich kann es faſt ſagen. Aber Du darfſt ſie
nicht verderben. Nun, was haſt Du noch? Ich
ſehe, daß Du 'was auf dem Herzen haſt.“


„Gefiel Dir Effi? Gefiel Dir die ganze Ge¬
ſchichte ? Sie war ſo ſonderbar, halb wie ein Kind,
und dann wieder ſehr ſelbſtbewußt und durchaus
nicht ſo beſcheiden, wie ſie's ſolchem Manne gegen¬
über ſein müßte. Das kann doch nur ſo zuſammen¬
hängen, daß ſie noch nicht recht weiß, was ſie an
ihm hat. Oder iſt es einfach, daß ſie ihn nicht recht
liebt? Das wäre ſchlimm. Denn bei all' ſeinen
Vorzügen, er iſt nicht der Mann, ſich dieſe Liebe
mit leichter Manier zu gewinnen.“


Frau von Brieſt ſchwieg und zählte die Stiche
auf dem Kanevas. Endlich ſagte ſie: „Was Du da
ſagſt, Brieſt, iſt das geſcheiteſte, was ich ſeit drei
Tagen von Dir gehört habe, Deine Rede bei Tiſch
mit eingerechnet. Ich habe auch ſo meine Bedenken
gehabt. Aber ich glaube, wir können uns beruhigen.“


„Hat ſie Dir ihr Herz ausgeſchüttet?“


„So möcht' ich es nicht nennen. Sie hat wohl
das Bedürfnis zu ſprechen, aber ſie hat nicht das
Bedürfnis, ſich ſo recht von Herzen auszuſprechen,
und macht vieles in ſich ſelber ab; ſie iſt mitteilſam
und verſchloſſen zugleich, beinah' verſteckt; überhaupt
ein ganz eigenes Gemiſch.“


[58]Effi Brieſt

„Ich bin ganz Deiner Meinung. Aber wenn
ſie Dir nichts geſagt hat, woher weißt Du's?“


„Ich ſagte nur, ſie habe mir nicht ihr Herz
ausgeſchüttet. Solche Generalbeichte, ſo alles von
der Seele herunter, das liegt nicht in ihr. Es fuhr
alles ſo bloß ruckweis und plötzlich aus ihr heraus,
und dann war es wieder vorüber. Aber gerade weil
es ſo ungewollt und wie von ungefähr aus ihrer
Seele kam, deshalb war es mir ſo wichtig.“


„Und wann war es denn und bei welcher Ge¬
legenheit?“


„Es werden jetzt gerade drei Wochen ſein, und
wir ſaßen im Garten, mit allerhand Ausſtattungs¬
dingen, großen und kleinen, beſchäftigt, als Wilke
einen Brief von Innſtetten brachte. Sie ſteckte ihn
zu ſich, und ich mußte ſie eine Viertelſtunde ſpäter
erſt erinnern, daß ſie ja einen Brief habe. Dann
las ſie ihn, aber verzog kaum eine Miene. Ich be¬
kenne Dir, daß mir bang' ums Herz dabei wurde,
ſo bang', daß ich gern eine Gewißheit haben wollte,
ſo viel, wie man in dieſen Dingen haben kann.“


„Sehr wahr, ſehr wahr.“


„Was meinſt Du damit?“


„Nun, ich meine nur . . . Aber das iſt ja
ganz gleich. Sprich nur weiter; ich bin ganz Ohr.“


„Ich fragte alſo rund heraus, wie's ſtünde,
[59]Effi Brieſtund weil ich bei ihrem eigenen Charakter einen
feierlichen Ton vermeiden und alles ſo leicht wie
möglich, ja beinah' ſcherzhaft nehmen wollte, ſo warf
ich die Frage hin, ob ſie vielleicht den Vetter Brieſt,
der ihr in Berlin ſehr ſtark den Hof gemacht hatte,
ob ſie den vielleicht lieber heiraten würde . . .“


„Und?“


„Da hätteſt Du ſie ſehen ſollen. Ihre nächſte
Antwort war ein ſchnippiſches Lachen. Der Vetter
ſei doch eigentlich nur ein großer Kadett in Leutnants¬
uniform. Und einen Kadetten könne ſie nicht einmal
lieben, geſchweige heiraten. Und dann ſprach ſie
von Innſtetten, der ihr mit einemmale der Träger
aller männlichen Tugenden war.“


„Und wie erklärſt Du Dir das?“


„Ganz einfach. So geweckt und temperament¬
voll und beinahe leidenſchaftlich ſie iſt, oder viel¬
leicht auch weil ſie es iſt, ſie gehört nicht zu
denen, die ſo recht eigentlich auf Liebe geſtellt
ſind, wenigſtens nicht auf das, was den Namen
ehrlich verdient. Sie redet zwar davon, ſogar mit
Nachdruck und einem gewiſſen Überzeugungston, aber
doch nur, weil ſie irgendwo geleſen hat, Liebe ſei
nun 'mal das Höchſte, das Schönſte, das Herrlichſte.
Vielleicht hat ſie's auch bloß von der ſentimentalen
Perſon, der Hulda, gehört und ſpricht es ihr nach.
[60]Effi Brieſt Aber ſie empfindet nicht viel dabei. Wohl möglich,
daß es alles 'mal kommt, Gott verhüte es, aber noch
iſt es nicht da.“


„Und was iſt da? Was hat ſie?“


„Sie hat nach meinem und auch nach ihrem
eigenen Zeugnis zweierlei: Vergnügungsſucht und
Ehrgeiz.“


„Nun, das kann paſſieren. Da bin ich beruhigt.“


„Ich nicht. Innſtetten iſt ein Carrieremacher
— vom Streber will ich nicht ſprechen, das iſt er
auch nicht, dazu iſt er zu wirklich vornehm — alſo
Carrieremacher, und das wird Effi's Ehrgeiz be¬
friedigen.“


„Nun alſo. Das iſt doch gut.“


„Ja, das iſt gut! Aber es iſt erſt die Hälfte.
Ihr Ehrgeiz wird befriedigt werden, aber ob auch
ihr Hang nach Spiel und Abenteuer? Ich be¬
zweifle. Für die ſtündliche kleine Zerſtreuung und
Anregung, für alles, was die Langeweile bekämpft,
dieſe Todfeindin einer geiſtreichen kleinen Perſon,
dafür wird Innſtetten ſehr ſchlecht ſorgen. Er wird
ſie nicht in einer geiſtigen Öde laſſen, dazu iſt er
zu klug und zu weltmänniſch, aber er wird ſie auch
nicht ſonderlich amüſieren. Und was das Schlimmſte
iſt, er wird ſich nicht einmal recht mit der Frage
beſchäftigen, wie das wohl anzufangen ſei. Das
[61]Effi Brieſtwird eine Weile ſo gehen, ohne viel Schaden anzu¬
richten, aber zuletzt wird ſie's merken, und dann
wird es ſie beleidigen. Und dann weiß ich nicht,
was geſchieht. Denn ſo weich und nachgiebig ſie
iſt, ſie hat auch 'was Rabiates und läßt es auf alles
ankommen.“


In dieſem Augenblicke trat Wilke vom Saal her
ein und meldete, daß er alles nachgezählt und alles
vollzählig gefunden habe; nur von den feinen Wein¬
gläſern ſei eins zerbrochen, aber ſchon geſtern, als
das Hoch ausgebracht wurde — Fräulein Hulda
habe mit Leutnant Nienkerken zu ſcharf angeſtoßen.


„Verſteht ſich, von alter Zeit her immer im
Schlaf, und unterm Holunderbaum iſt es natürlich
nicht beſſer geworden. Eine alberne Perſon, und ich
begreife Nienkerken nicht.“


„Ich begreife ihn vollkommen.“


„Er kann ſie doch nicht heiraten.“


„Nein.“


„Alſo zu was?“


„Ein weites Feld, Luiſe.“


Dies war am Tage nach der Hochzeit. Drei
Tage ſpäter kam eine kleine gekritzelte Karte aus
München, die Namen alle nur mit zwei Buchſtaben
angedeutet. „Liebe Mama! Heute Vormittag die
[62]Effi Brieſt Pinakothek beſucht. Geert wollte auch noch nach dem
andern hinüber, das ich hier nicht nenne, weil ich
wegen der Rechtſchreibung in Zweifel bin, und fragen
mag ich ihn nicht. Er iſt übrigens engelsgut gegen
mich und erklärt mir alles. Überhaupt alles ſehr
ſchön, aber anſtrengend. In Italien wird es wohl
nachlaſſen und beſſer werden. Wir wohnen in den
,Vier Jahreszeiten‘, was Geert veranlaßte, mir zu
ſagen, ‚draußen ſei Herbſt, aber er habe in mir den
Frühling.‘ Ich finde es ſehr ſinnig. Er iſt über¬
haupt ſehr aufmerkſam. Freilich ich muß es auch
ſein, namentlich wenn er 'was ſagt oder erklärt. Er
weiß übrigens alles ſo gut, daß er nicht einmal
nachzuſchlagen braucht. Mit Entzücken ſpricht er von
Euch, namentlich von Mama. Hulda findet er etwas
zierig; aber der alte Niemeyer hat es ihm ganz an¬
gethan. Tauſend Grüße von Eurer ganz berauſchten,
aber auch etwas müden Effi.“


Solche Karten trafen nun täglich ein, aus Inns¬
bruck, aus Verona, aus Vicenza, aus Padua, eine
jede fing an: „Wir haben heute Vormittag die
hieſige berühmte Galerie beſucht,“ oder, wenn es nicht
die Galerie war, ſo war es eine Arena oder irgend eine
Kirche „Santa Maria“ mit einem Zunamen. Aus
Padua kam, zugleich mit der Karte, noch ein wirklicher
Brief. „Geſtern waren wir in Vicenza. Vicenza
[63]Effi Brieſt muß man ſehn wegen des Palladio; Geert ſagte
mir, daß in ihm alles Moderne wurzele. Natürlich
nur in Bezug auf Baukunſt. Hier in Padua (wo
wir heute früh ankamen) ſprach er im Hotelwagen
etliche Male vor ſich hin: ,Er liegt in Padua be¬
graben‘, und war überraſcht, als er von mir ver¬
nahm, daß ich dieſe Worte noch nie gehört hätte.
Schließlich aber ſagte er, es ſei eigentlich ganz gut
und ein Vorzug, daß ich nichts davon wüßte. Er
iſt überhaupt ſehr gerecht. Und vor allem iſt er
engelsgut gegen mich und gar nicht überheblich und
auch gar nicht alt. Ich habe noch immer das Ziehen
in den Füßen, und das Nachſchlagen und das lange
Stehen vor den Bildern ſtrengt mich an. Aber es
muß ja ſein. Ich freue mich ſehr auf Venedig. Da
bleiben wir fünf Tage, ja, vielleicht eine ganze Woche.
Geert hat mir ſchon von den Tauben auf dem Markus¬
platze vorgeſchwärmt, und daß man ſich da Tüten
mit Erbſen kauft und dann die ſchönen Tiere damit
füttert. Es ſoll Bilder geben, die das darſtellen,
ſchöne blonde Mädchen, ,ein Typus wie Hulda,‘
ſagte er. Wobei mir denn auch die Jahnke'ſchen
Mädchen einfallen. Ach, ich gäbe 'was drum, wenn
ich mit ihnen auf unſerm Hof auf einer Wagen¬
deichſel ſitzen und unſere Tauben füttern könnte.
Die Pfauentaube mit dem ſtarken Kropf dürft ihr
[64]Effi Brieſtaber nicht ſchlachten, die will ich noch wiederſehen.
Ach, es iſt ſo ſchön hier. Es ſoll ja auch das
Schönſte ſein. Eure glückliche, aber etwas müde Effi.“


Frau von Brieſt, als ſie den Brief vorgeleſen
hatte, ſagte: „Das arme Kind. Sie hat Sehnſucht.“


„Ja,“ ſagte Brieſt, „ſie hat Sehnſucht. Dieſe
verwünſchte Reiſerei . . .“


„Warum ſagſt Du das jetzt? Du hätteſt es ja
hindern können. Aber das iſt ſo Deine Art, hinter¬
her den Weiſen zu ſpielen. Wenn das Kind in den
Brunnen gefallen iſt, decken die Ratsherren den
Brunnen zu.“


„Ach, Luiſe, komme mir doch nicht mit ſolchen
Geſchichten. Effi iſt unſer Kind, aber ſeit dem
3. Oktober iſt ſie Baronin Innſtetten. Und wenn
ihr Mann, unſer Herr Schwiegerſohn, eine Hochzeits¬
reiſe machen und bei der Gelegenheit jede Galerie
neu katalogiſieren will, ſo kann ich ihn daran nicht
hindern. Das iſt eben das, was man ſich verhei¬
raten nennt.“


„Alſo jetzt giebſt Du das zu. Mir gegenüber
haſt Du's immer beſtritten, immer beſtritten, daß
die Frau in einer Zwangslage ſei.“


„Ja, Luiſe, das hab' ich. Aber wozu das
jetzt. Das iſt wirklich ein zu weites Feld.“

[[65]]

Sechſtes Kapitel.

Mitte November — ſie waren bis Capri und
Sorrent gekommen — lief Innſtettens Urlaub ab,
und es entſprach ſeinem Charakter und ſeinen Ge¬
wohnheiten, genau Zeit und Stunde zu halten. Am
14. früh traf er denn auch mit dem Kurierzuge in
Berlin ein, wo Vetter Brieſt ihn und die Kouſine
begrüßte und vorſchlug, die zwei bis zum Abgange
des Stettiner Zuges noch zur Verfügung bleibenden
Stunden zum Beſuche des St. Privat-Panoramas zu
benutzen und dieſem Panoramabeſuch ein kleines
Gabelfrühſtück folgen zu laſſen. Beides wurde dank¬
bar acceptiert. Um Mittag war man wieder auf dem
Bahnhof und nahm hier, nachdem, wie herkömmlich,
die glücklicherweiſe nie ernſt gemeinte Aufforderung
„doch auch 'mal herüberzukommen,“ ebenſo von
Effi wie von Innſtetten ausgeſprochen worden war,
unter herzlichem Händeſchütteln Abſchied von ein¬
ander. Noch als der Zug ſich ſchon in Bewegung
Th. Fontane, Effi Brieſt. 5[66]Effi Brieſt ſetzte, grüßte Effi vom Koupee aus. Dann machte
ſie ſich's bequem und ſchloß die Augen; nur von
Zeit zu Zeit richtete ſie ſich wieder auf und reichte
Innſtetten die Hand.


Es war eine angenehme Fahrt, und pünktlich
erreichte der Zug den Bahnhof Klein-Tantow, von
dem aus eine Chauſſee nach dem noch zwei Meilen
entfernten Keſſin hinüberführte. Bei Sommerzeit,
namentlich während der Bademonate, benutzte man
ſtatt der Chauſſee lieber den Waſſerweg und fuhr,
auf einem alten Raddampfer, das Flüßchen Keſſine,
dem Keſſin ſelbſt ſeinen Namen verdankte, hinunter;
am 1. Oktober aber ſtellte der „Phönix“, von dem
ſeit lange vergeblich gewünſcht wurde, daß er in einer
paſſagierfreien Stunde ſich ſeines Namens entſinnen
und verbrennen möge, regelmäßig ſeine Fahrten ein,
weshalb denn auch Innſtetten bereits von Stettin
aus an ſeinen Kutſcher Kruſe telegraphiert hatte:
„Fünf Uhr, Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem
Wetter offener Wagen.“


Und nun war gutes Wetter, und Kruſe hielt
in offenem Gefährt am Bahnhof und begrüßte die
Ankommenden mit dem vorſchriftsmäßigen Anſtand
eines herrſchaftlichen Kutſchers.


„Nun, Kruſe, alles in Ordnung?


„Zu Befehl, Herr Landrat.“


[67]Effi Brieſt

„Dann, Effi, bitte, ſteig' ein.“ Und während
Effi dem nachkam, und einer von den Bahnhofsleuten
einen kleinen Handkoffer vorn beim Kutſcher unter¬
brachte, gab Innſtetten Weiſung, den Reſt des Gepäcks
mit dem Omnibus nachzuſchicken. Gleich danach
nahm auch er ſeinen Platz, bat, ſich populär machend,
einen der Umſtehenden um Feuer und rief Kruſe zu:
„Nun vorwärts, Kruſe.“ Und über die Schienen
weg, die vielgleiſig an der Übergangsſtelle lagen,
ging es in Schräglinie den Bahndamm hinunter und
gleich danach an einem ſchon an der Chauſſee gelegenen
Gaſthauſe vorüber, das den Namen „Zum Fürſten
Bismarck“ führte. Denn an eben dieſer Stelle gabelte
der Weg und zweigte, wie rechts nach Keſſin, ſo links
nach Varzin hin ab. Vor dem Gaſthofe ſtand ein mittel¬
großer breitſchultriger Mann in Pelz und Pelzmütze,
welch letztere er, als der Herr Landrat vorüberfuhr,
mit vieler Würde vom Haupte nahm. „Wer war
denn das?“ ſagte Effi, die durch alles, was ſie ſah,
aufs höchſte intereſſiert und ſchon deshalb bei beſter
Laune war. „Er ſah ja aus wie ein Staroſt, wo¬
bei ich freilich bekennen muß, nie einen Staroſten
geſehen zu haben.“


„Was auch nicht ſchadet, Effi. Du haſt es
trotzdem ſehr gut getroffen. Er ſieht wirklich aus
wie ein Staroſt und iſt auch ſo 'was. Er iſt näm¬
5 *[68]Effi Brieſt lich ein halber Pole, heißt Golchowski, und wenn
wir hier Wahl haben oder eine Jagd, dann iſt er
oben auf. Eigentlich ein ganz unſicherer Paſſagier,
dem ich nicht über den Weg traue, und der wohl
viel auf dem Gewiſſen hat. Er ſpielt ſich aber auf
den Loyalen hin aus und wenn die Varziner Herr¬
ſchaften hier vorüberkommen, möcht' er ſich am liebſten
vor den Wagen werfen. Ich weiß, daß er dem
Fürſten auch widerlich iſt. Aber was hilft's? Wir
dürfen es nicht mit ihm verderben, weil wir ihn
brauchen. Er hat hier die ganze Gegend in der
Taſche und verſteht die Wahlmache wie kein anderer,
gilt auch für wohlhabend. Dabei leiht er auf
Wucher, was ſonſt die Polen nicht thun; in der
Regel das Gegenteil.“


„Er ſah aber gut aus.“


„Ja, gut ausſehen thut er. Gut ausſehen thun
die meiſten hier. Ein hübſcher Schlag Menſchen.
Aber das iſt auch das Beſte, was man von ihnen
ſagen kann Eure märkiſchen Leute ſehen unſchein¬
barer aus und verdrießlicher, und in ihrer Haltung
ſind ſie weniger reſpektvoll, eigentlich gar nicht, aber
ihr Ja iſt Ja und Nein iſt Nein, und man kann
ſich auf ſie verlaſſen. Hier iſt alles unſicher.“


„Warum ſagſt Du mir das? Ich muß nun
doch hier mit ihnen leben.“


[69]Effi Brieſt

„Du nicht, Du wirſt nicht viel von ihnen hören
und ſehen. Denn Stadt und Land hier ſind ſehr
verſchieden, und Du wirſt nur unſere Städter kennen
lernen, unſere guten Keſſiner.“


„Unſere guten Keſſiner. Iſt es Spott, oder
ſind ſie wirklich ſo gut?“


„Daß ſie wirklich gut ſind, will ich nicht gerade
behaupten, aber ſie ſind doch anders als die andern;
ja, ſie haben gar keine Ähnlichkeit mit der Land¬
bevölkerung hier.“


„Und wie kommt das?“


„Weil es eben ganz andere Menſchen ſind, ihrer
Abſtammung nach und ihren Beziehungen nach. Was
Du hier landeinwärts findeſt, das ſind ſogenannte
Kaſchuben, von denen Du vielleicht gehört haſt,
ſlaviſche Leute, die hier ſchon tauſend Jahre ſitzen
und wahrſcheinlich noch viel länger. Alles aber, was
hier an der Küſte hin in den kleinen See- und
Handelsſtädten wohnt, das ſind von weither Ein¬
gewanderte, die ſich um das kaſchubiſche Hinterland
wenig kümmern, weil ſie wenig davon haben und
auf etwas ganz anderes angewieſen ſind. Worauf
ſie angewieſen ſind, das ſind die Gegenden, mit
denen ſie Handel treiben und da ſie das mit aller
Welt thun und mit aller Welt in Verbindung ſtehen,
ſo findeſt Du zwiſchen ihnen auch Menſchen aus aller
[70]Effi Brieſt Welt Ecken und Enden. Auch in unſerem guten Keſſin,
trotzdem es eigentlich nur ein Neſt iſt.“


„Aber das iſt ja entzückend, Geert. Du ſprichſt
immer von Neſt, und nun finde ich, wenn Du nicht
übertrieben haſt, eine ganz neue Welt hier. Allerlei
Exotiſches. Nicht wahr, ſo was Ähnliches meinteſt
Du doch?“


Er nickte.


„Eine ganz neue Welt, ſag' ich, vielleicht einen
Neger oder einen Türken, oder vielleicht ſogar einen
Chineſen.“


„Auch einen Chineſen. Wie gut Du raten
kannſt. Es iſt möglich, daß wir wirklich noch einen
haben, aber jedenfalls haben wir einen gehabt; jetzt
iſt er tot und auf einem kleinen eingegitterten Stück
Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn
Du nicht furchtſam biſt, will ich Dir bei Gelegenheit
'mal ſein Grab zeigen; es liegt zwiſchen den Dünen,
bloß Strandhafer drum 'rum und dann und wann
ein paar Immortellen, und immer hört man das
Meer. Es iſt ſehr ſchön und ſehr ſchauerlich.“


„Ja, ſchauerlich, und ich möchte wohl mehr
davon wiſſen. Aber doch lieber nicht, ich habe dann
immer gleich Viſionen und Träume und möchte doch
nicht, wenn ich dieſe Nacht hoffentlich gut ſchlafe,
gleich einen Chineſen an mein Bett treten ſehen.“


[71]Effi Brieſt

„Das wird er auch nicht.“


„Das wird er auch nicht. Höre, das klingt ja
ſonderbar, als ob es doch möglich wäre. Du willſt
mir Keſſin intereſſant machen, aber Du gehſt darin
ein bißchen weit. Und ſolche fremde Leute habt Ihr
viele in Keſſin?“


„Sehr viele. Die ganze Stadt beſteht aus
ſolchen Fremden, aus Menſchen, deren Eltern oder
Großeltern noch ganz wo anders ſaßen.“


„Höchſt merkwürdig. Bitte, ſage mir mehr
davon. Aber nicht wieder was Gruſeliges. Ein
Chineſe, find' ich, hat immer was Gruſeliges.“


„Ja, das hat er,“ lachte Geert. „Aber der
Reſt iſt, Gott ſei Dank, von ganz anderer Art,
lauter manierliche Leute, vielleicht ein bißchen zu ſehr
Kaufmann, ein bißchen zu ſehr auf ihren Vorteil
bedacht, und mit Wechſeln von zweifelhaftem Wert
immer bei der Hand. Ja, man muß ſich vorſehen
mit ihnen. Aber ſonſt ganz gemütlich. Und damit
Du ſiehſt, daß ich Dir nichts vorgemacht habe, will
ich Dir nur ſo eine kleine Probe geben, ſo eine Art
Regiſter oder Perſonenverzeichnis.“


„Ja, Geert, das thu'.“


„Da haben wir beiſpielsweiſe keine fünfzig
Schritt von uns, und unſere Gärten ſtoßen ſogar
zuſammen, den Maſchinen- und Baggermeiſter
[72]Effi Brieſt Macpherſon, einen richtigen Schotten und Hoch¬
länder.“


„Und trägt ſich auch noch ſo?“


„Nein, Gott ſei Dank nicht, denn es iſt ein
verhutzeltes Männchen, auf das weder ſein Clan noch
Walter Scott beſonders ſtolz ſein würden. Und
dann haben wir in demſelben Hauſe, wo dieſer
Macpherſon wohnt, auch noch einen alten Wundarzt,
Beza mit Namen, eigentlich bloß Barbier; der ſtammt
aus Liſſabon, gerade daher, wo auch der berühmte
General de Meza herſtammt, — Meza, Beza, Du
hörſt die Landesverwandtſchaft heraus. Und dann
haben wir flußaufwärts am Bollwerk, — das iſt
nämlich der Quai, wo die Schiffe liegen — einen
Goldſchmied namens Stedingk, der aus einer alten
ſchwediſchen Familie ſtammt; ja, ich glaube, es giebt
ſogar Reichsgrafen, die ſo heißen, und des weiteren,
und damit will ich dann vorläufig abſchließen, haben
wir den guten alten Doktor Hannemann, der natür¬
lich ein Däne iſt und lange in Island war und
ſogar ein kleines Buch geſchrieben hat über den
letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla.“


„Das iſt ja aber großartig, Geert. Das iſt
ja wie ſechs Romane, damit kann man ja gar nicht
fertig werden. Es klingt erſt ſpießbürgerlich und iſt
doch hinterher ganz apart. Und dann müßt ihr ja
[73]Effi Brieſt doch auch Menſchen haben, ſchon weil es eine See¬
ſtadt iſt, die nicht bloß Chirurgen oder Barbiere
ſind oder ſonſt dergleichen. Ihr müßt doch auch
Kapitäne haben, irgend einen fliegenden Holländer
oder . . .“


„Da haſt Du ganz recht. Wir haben ſogar
einen Kapitän, der war Seeräuber unter den Schwarz¬
flaggen.


„Kenn' ich nicht. Was ſind Schwarzflaggen?“


„Das ſind Leute weit dahinten in Tonkin und
an der Südſee . . . Seit er aber wieder unter
Menſchen iſt, hat er auch wieder die beſten Formen
und iſt ganz unterhaltlich.“


„Ich würde mich aber doch vor ihm fürchten.“


„Was Du nicht nötig haſt, zu keiner Zeit und
auch dann nicht, wenn ich über Land bin oder zum
Thee beim Fürſten, denn zu allem andern, was wir
haben, haben wir ja Gott ſei Dank auch Rollo . . .“


„Rollo?“


„Ja, Rollo. Du denkſt dabei, vorausgeſetzt,
daß Du bei Niemeyer oder Jahnke von dergleichen
gehört haſt, an den Normannenherzog, und unſerer
hat auch ſo 'was. Es iſt aber bloß ein Neufund¬
länder, ein wunderſchönes Tier, das mich liebt und
Dich auch lieben wird. Denn Rollo iſt ein Kenner.
Und ſo lange Du den um Dich haſt, ſo lange biſt
[74]Effi Brieſt Du ſicher und kann nichts an Dich heran, kein
Lebendiger und kein Toter. Aber ſieh' mal den
Mond da drüben. Iſt es nicht ſchön?“


Effi, die, ſtill in ſich verſunken, jedes Wort
halb ängſtlich, halb begierig eingeſogen hatte, richtete
ſich jetzt auf und ſah nach rechts hinüber, wo der
Mond, unter weißem, aber raſch hinſchwindendem
Gewölk, eben aufgegangen war. Kupferfarben ſtand
die große Scheibe hinter einem Erlengehölz und warf
ihr Licht auf eine breite Waſſerfläche, die die Keſſine
hier bildete. Oder vielleicht war es auch ſchon ein
Haff, an dem das Meer draußen ſeinen Anteil hatte.


Effi war wie benommen. „Ja, Du haſt recht,
Geert, wie ſchön; aber es hat zugleich ſo 'was Un¬
heimliches. In Italien habe ich nie ſolchen Eindruck
gehabt, auch nicht als wir von Meſtre nach Venedig
hinüberfuhren. Da war auch Waſſer und Sumpf
und Mondſchein, und ich dachte, die Brücke würde
brechen; aber es war nicht ſo geſpenſtig. Woran
liegt es nur? Iſt es doch das Nördliche?“


Innſtetten lachte. „Wir ſind hier fünfzehn
Meilen nördlicher als in Hohen-Cremmen und eh'
der erſte Eisbär kommt, mußt Du noch eine Weile
warten. Ich glaube, Du biſt nervös von der langen
Reiſe und dazu das St. Privat-Panorama und die
Geſchichte von dem Chineſen.“


[75]Effi Brieſt

„Du haſt mir ja gar keine erzählt.“


„Nein, ich hab' ihn nur eben genannt. Aber
ein Chineſe iſt ſchon an und für ſich eine Geſchichte . . .“


„Ja.“ lachte ſie.


„Und jedenfalls haſt Du's bald überſtanden.
Siehſt Du da vor Dir das kleine Haus mit dem
Licht? Es iſt eine Schmiede. Da biegt der Weg.
Und wenn wir die Biegung gemacht haben, dann
ſiehſt Du ſchon den Turm von Keſſin oder richtiger
beide . . .“


„Hat es denn zwei?“


„Ja, Keſſin nimmt ſich auf. Es hat jetzt auch
eine katholiſche Kirche.“


Eine halbe Stunde ſpäter hielt der Wagen an
der ganz am entgegengeſetzten Ende der Stadt ge¬
legenen landrätlichen Wohnung, einem einfachen,
etwas altmodiſchen Fachwerkhauſe, das mit ſeiner
Front auf die nach den Seebädern hinausführende
Hauptſtraße, mit ſeinem Giebel aber auf ein zwiſchen
der Stadt und den Dünen liegendes Wäldchen, das
die „Plantage“ hieß, hernieder blickte. Dies alt¬
modiſche Fachwerkhaus war übrigens nur Innſtettens
Privatwohnung, nicht das eigentliche Landratsamt,
welches letztere, ſchräg gegenüber, an der anderen
Seite der Straße lag.


[76]Effi Brieſt

Kruſe hatte nicht nötig, durch einen dreimaligen
Peitſchenknips die Ankunft zu vermelden; längſt hatte
man von Thür und Fenſtern aus nach den Herr¬
ſchaften ausgeſchaut, und ehe noch der Wagen heran
war, waren bereits alle Hausinſaſſen auf dem die
ganze Breite des Bürgerſteiges einnehmenden Schwell¬
ſtein verſammelt, vorauf Rollo, der im ſelben Augen¬
blicke, wo der Wagen hielt, dieſen zu umkreiſen
begann. Innſtetten war zunächſt ſeiner jungen Frau
beim Ausſteigen behilflich und ging dann, dieſer den
Arm reichend, unter freundlichem Gruß an der
Dienerſchaft vorüber, die nun dem jungen Paare in
den mit prächtigen alten Wandſchränken umſtandenen
Hausflur folgte. Das Hausmädchen, eine hübſche,
nicht mehr ganz jugendliche Perſon, der ihre ſtattliche
Fülle faſt ebenſo gut kleidete, wie das zierliche
Mützchen auf dem blonden Haar, war der gnädigen
Frau beim Ablegen von Muff und Mantel behilflich
und bückte ſich eben, um ihr auch die mit Pelz ge¬
fütterten Gummiſtiefel auszuziehen. Aber ehe ſie
noch dazu kommen konnte, ſagte Inſtetten: „Es wird
das beſte ſein, ich ſtelle Dir gleich hier unſere ge¬
ſamte Hausgenoſſenſchaft vor, mit Ausnahme der
Frau Kruſe, die ſich — ich vermute ſie wieder bei
ihrem unvermeidlichen ſchwarzen Huhn — nicht gerne
ſehen läßt.“ Alles lächelte. „Aber laſſen wir Frau
[77]Effi BrieſtKruſe . . . Dies hier iſt mein alter Friedrich, der
ſchon mit mir auf der Univerſität war . . . Nicht
wahr, Friedrich, gute Zeiten damals . . . und dies
hier iſt Johanna, märkiſche Landsmännin von Dir,
wenn Du, was aus Paſewalker Gegend ſtammt, noch
für voll gelten laſſen willſt, und dies iſt Chriſtel,
der wir mittags und abends unſer leibliches Wohl
anvertrauen, und die zu kochen verſteht, das kann ich
Dir verſichern. Und dies hier iſt Rollo. Nun, Rollo,
wie geht's?“


Rollo ſchien nur auf dieſe ſpezielle Anſprache
gewartet zu haben, denn im ſelben Augenblicke, wo
er ſeinen Namen hörte, gab er einen Freudenblaff,
richtete ſich auf und legte die Pfoten auf ſeines
Herrn Schulter.


„Schon gut, Rollo, ſchon gut. Aber ſieh da,
das iſt die Frau; ich hab' ihr von dir erzählt und
ihr geſagt, daß du ein ſchönes Tier ſeieſt und ſie
ſchützen würdeſt,“ Und nun ließ Rollo ab und ſetzte
ſich vor Innſtetten nieder, zugleich neugierig zu der
jungen Frau aufblickend. Und als dieſe ihm die
Hand hinhielt, umſchmeichelte er ſie.


Effi hatte während dieſer Vorſtellungsſzene Zeit
gefunden, ſich umzuſchauen. Sie war wie gebannt
von allem, was ſie ſah und dabei geblendet von der
Fülle von Licht. In der vorderen Flurhälfte brannten
[78]Effi Brieſt vier, fünf Wandleuchter, die Leuchter ſelbſt ſehr
primitiv, von bloßem Weißblech, was aber den Glanz
und die Helle nur noch ſteigerte. Zwei mit roten
Schleiern bedeckte Aſtrallampen, Hochzeitsgeſchenk von
Niemeyer, ſtanden auf einem zwiſchen zwei Eichen¬
ſchränken angebrachten Klapptiſch, in Front davon
das Theezeug, deſſen Lämpchen unter dem Keſſel
ſchon angezündet war. Aber noch viel, viel anderes
und zum Teil ſehr Sonderbares kam zu dem allen
hinzu. Quer über den Flur fort liefen drei, die
Flurdecke in ebenſo viele Felder teilende Balken;
an dem vorderſten hing ein Schiff mit vollen Segeln,
hohem Hinterdeck und Kanonenluken, während weiter¬
hin ein rieſiger Fiſch in der Luft zu ſchwimmen
ſchien. Effi nahm ihren Schirm, den ſie noch in
Händen hielt, und ſtieß leis an das Ungetüm an,
ſo daß es ſich in eine langſam ſchaukelnde Be¬
wegung ſetzte.


„Was iſt das, Geert?“ fragte ſie.


„Das iſt ein Haifiſch.“


„Und ganz dahinten das, was ausſieht wie eine
große Zigarre vor einem Tabaksladen?“


„Das iſt ein junges Krokodil. Aber das kannſt
Du Dir alles morgen viel beſſer und genauer an¬
ſehen; jetzt komm und laß uns eine Taſſe Thee
nehmen. Denn trotz aller Plaids und Decken wirſt
[79]Effi Brieſt Du gefroren haben. Es war zuletzt empfindlich
kalt.“


Er bot nun Effi den Arm, und während ſich
die beiden Mädchen zurückzogen und nur Friedrich
und Rollo folgten, trat man, nach links hin, in des
Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein. Effi war
hier ähnlich überraſcht wie draußen im Flur; aber
ehe ſie ſich darüber äußern konnte, ſchlug Innſtetten
eine Portiere zurück, hinter der ein zweites, etwas
größeres Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten
gelegen war. „Das, Effi, iſt nun alſo Dein. Fried¬
rich und Johanna haben es, ſo gut es ging, nach
meinen Anordnungen herrichten müſſen. Ich finde
es ganz erträglich und würde mich freuen, wenn es
Dir auch gefiele.“


Sie nahm ihren Arm aus dem ſeinigen und
hob ſich auf die Fußſpitzen, um ihm einen herzlichen
Kuß zu geben.


„Ich armes kleines Ding, wie Du mich ver¬
wöhnſt. Dieſer Flügel und dieſer Teppich, ich glaube
gar, es iſt ein türkiſcher, und das Baſſin mit den
Fiſchchen und dazu der Blumentiſch. Verwöhnung,
wohin ich ſehe.“


„Ja, meine liebe Effi, das mußt Du Dir nun
ſchon gefallen laſſen, dafür iſt man jung und hübſch
und liebenswürdig, was die Keſſiner wohl auch ſchon
[80]Effi Brieſt erfahren haben werden, Gott weiß woher. Denn
an dem Blumentiſch wenigſtens bin ich unſchuldig.
Friedrich, wo kommt der Blumentiſch her?“


„Apotheker Gieshübler . . . Es liegt auch eine
Karte bei.“


„Ah, Gieshübler, Alonzo Gieshübler,“ ſagte
Innſtetten und reichte lachend und in beinahe aus¬
gelaſſener Laune die Karte mit dem etwas fremdartig
klingenden Vornamen zu Effi hinüber. „Gieshübler,
von dem hab' ich Dir zu erzählen vergeſſen — bei¬
läufig, er führt auch den Doktortitel, hat's aber nicht
gern, wenn man ihn dabei nennt, das ärgere, ſo
meint er, die richtigen Doktors bloß, und darin wird
er wohl recht haben. Nun, ich denke, Du wirſt ihn
kennen lernen und zwar bald; er iſt unſere beſte
Nummer hier, Schöngeiſt und Original und vor
allem Seele von Menſch, was doch immer die Haupt¬
ſache bleibt. Aber laſſen wir das alles und ſetzen
uns und nehmen unſern Thee. Wo ſoll es ſein?
Hier bei Dir oder drin bei mir? Denn eine weitere
Wahl giebt es nicht. Eng und klein iſt meine
Hütte.“


Sie ſetzte ſich ohne Beſinnen auf ein kleines
Eckſofa. „Heute bleiben wir hier, heute biſt Du
bei mir zu Gaſt. Oder lieber ſo: den Thee regel¬
mäßig bei mir, das Frühſtück bei Dir; dann kommt
[81]Effi Brieſtjeder zu ſeinem Recht, und ich bin neugierig, wo
mir's am beſten gefallen wird.“


„Das iſt eine Morgen- und Abendfrage.“


„Gewiß. Aber wie ſie ſich ſtellt, oder richtiger,
wie wir uns dazu ſtellen, das iſt es eben.“


Und ſie lachte und ſchmiegte ſich an ihn und
wollte ihm die Hand küſſen.


„Nein, Effi, um Himmels willen nicht, nicht ſo.
Mir liegt nicht daran, die Reſpektsperſon zu ſein,
das bin ich für die Keſſiner. Für Dich bin ich . . .“


„Nun was?“


„Ach laß. Ich werde mich hüten, es zu ſagen.“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 6
[[82]]

Siebentes Kapitel.

Es war ſchon heller Tag, als Effi am andern
Morgen erwachte. Sie hatte Mühe, ſich zurecht¬
zufinden. Wo war ſie? Richtig, in Keſſin, im
Hauſe des Landrats von Innſtetten, und ſie war
ſeine Frau, Baronin Innſtetten. Und ſich aufrichtend,
ſah ſie ſich neugierig um; am Abend vorher war
ſie zu müde geweſen, um alles, was ſie da halb
fremdartig, halb altmodiſch umgab, genauer in Augen¬
ſchein zu nehmen. Zwei Säulen ſtützten den Decken¬
balken, und grüne Vorhänge ſchloſſen den alkoven¬
artigen Schlafraum, in welchem die Betten ſtanden,
von dem Reſt des Zimmers ab; nur in der Mitte
fehlte der Vorhang oder war zurückgeſchlagen, was
ihr von ihrem Bette aus eine bequeme Orientierung
geſtattete. Da, zwiſchen den zwei Fenſtern, ſtand
der ſchmale, bis hoch hinauf reichende Trumeau,
während rechts daneben, und ſchon an der Flurwand
hin, der große ſchwarze Kachelofen aufragte, der noch
[83]Effi Brieſt(ſo viel hatte ſie ſchon am Abend vorher bemerkt)
nach alter Sitte von außen her geheizt wurde. Sie
fühlte jetzt, wie ſeine Wärme herüberſtrömte. Wie
ſchön es doch war, im eigenen Hauſe zu ſein; ſo
viel Behagen hatte ſie während der ganzen Reiſe
nicht empfunden, nicht einmal in Sorrent.


Aber wo war Innſtetten? Alles ſtill um ſie
her, niemand da. Sie hörte nur den Ticktackſchlag
einer kleinen Pendule und dann und wann einen
dumpfen Ton im Ofen, woraus ſie ſchloß, daß vom
Flur her ein paar neue Scheite nachgeſchoben würden.
Allmählich entſann ſie ſich auch, daß Geert, am
Abend vorher, von einer elektriſchen Klingel geſprochen
hatte, nach der ſie denn auch nicht lange mehr zu
ſuchen brauchte; dicht neben ihrem Kiſſen war der
kleine weiße Elfenbeinknopf, auf den ſie nun leiſe
drückte.


Gleich danach erſchien Johanna. „Gnädige
Frau haben befohlen.“


„Ach, Johanna, ich glaube, ich habe mich ver¬
ſchlafen. Es muß ſchon ſpät ſein.“


„Eben neun.“


„Und der Herr . . .“ es wollt' ihr nicht glücken,
ſo ohne weiteres von ihrem „Manne“ zu ſprechen . . .
„der Herr, er muß ſehr leiſe gemacht haben; ich
habe nichts gehört.“


6 *[84]Effi Brieſt

„Das hat er gewiß. Und gnäd'ge Frau werden
feſt geſchlafen haben. Nach der langen Reiſe . . .“


„Ja, das hab' ich. Und der Herr, iſt er immer
ſo früh auf?“


„Immer, gnäd'ge Frau. Darin iſt er ſtreng;
er kann das lange Schlafen nicht leiden, und wenn
er drüben in ſein Zimmer tritt, da muß der Ofen
warm ſein, und der Kaffee darf auch nicht auf ſich
warten laſſen.“


„Da hat er alſo ſchon gefrühſtückt?“


„O nicht doch, gnäd'ge Frau . . . der gnäd'ge
Herr . . .“


Effi fühlte, daß ſie die Frage nicht hätte thun
und die Vermutung, Innſtetten könne nicht auf ſie
gewartet haben, lieber nicht hätte ausſprechen ſollen.
Es lag ihr denn auch daran, dieſen ihren Fehler
ſo gut es ging wieder auszugleichen, und als ſie
ſich erhoben und vor dem Trumeau Platz genommen
hatte, nahm ſie das Geſpräch wieder auf und ſagte:
„Der Herr hat übrigens ganz recht. Immer früh
auf, das war auch Regel in meiner Eltern Hauſe.
Wo die Leute den Morgen verſchlafen, da giebt es
den ganzen Tag keine Ordnung mehr. Aber der
Herr wird es ſo ſtreng mit mir nicht nehmen; eine
ganze Weile hab' ich dieſe Nacht nicht ſchlafen können
und habe mich ſogar ein wenig geängſtigt.“


[85]Effi Brieſt

„Was ich hören muß, gnäd'ge Frau! Was
war es denn?“


„Es war über mir ein ganz ſonderbarer Ton,
nicht laut, aber doch ſehr eindringlich. Erſt klang
es, wie wenn lange Schleppenkleider über die Diele
hinſchleiften, und in meiner Erregung war es mir
ein paarmal, als ob ich kleine weiße Atlasſchuhe ſähe.
Es war, als tanze man oben, aber ganz leiſe.“


Johanna, während das Geſpräch ſo ging, ſah
über die Schulter der jungen Frau fort in den
hohen ſchmalen Spiegel hinein, um die Mienen Effis
beſſer beobachten zu können. Dann ſagte ſie: „Ja,
das iſt oben im Saal. Früher hörten wir es in
der Küche auch. Aber jetzt hören wir es nicht mehr;
wir haben uns daran gewöhnt.“


„Iſt es denn etwas Beſonderes damit?“


„O Gott bewahre, nicht im geringſten. Eine
Weile wußte man nicht recht, woher es käme, und
der Herr Prediger machte ein verlegenes Geſicht,
trotzdem Doktor Gieshübler immer nur darüber lachte.
Nun aber wiſſen wir, daß es die Gardinen ſind.
Der Saal iſt etwas multrig und ſtockig und deshalb
ſtehen immer die Fenſter auf, wenn nicht gerade
Sturm iſt. Und da iſt denn faſt immer ein ſtarker
Zug oben und fegt die alten, weißen Gardinen, die
außerdem viel zu lang ſind, über die Dielen hin
[86]Effi Brieſt und her. Das klingt dann ſo wie ſeid'ne Kleider,
oder auch wie Atlasſchuhe, wie die gnäd'ge Frau
eben bemerkten.“


„Natürlich iſt es das. Aber ich begreife nur
nicht, warum dann die Gardinen nicht abgenommen
werden. Oder man könnte ſie ja kürzer machen.
Es iſt ein ſo ſonderbares Geräuſch, das einem auf
die Nerven fällt. Und nun, Johanna, bitte, geben
Sie mir noch das kleine Tuch und tupfen Sie mir
die Stirn. Oder nehmen Sie lieber den Rafraichiſſeur
aus meiner Reiſetaſche . . . Ach, das iſt ſchön und
erfriſcht mich. Nun werde ich hinübergehen. Er
iſt doch noch da, oder war er ſchon aus?“


„Der gnäd'ge Herr war ſchon aus, ich glaube
drüben auf dem Amt. Aber ſeit einer Viertelſtunde
iſt er zurück. Ich werde Friedrich ſagen, daß er
das Frühſtück bringt.“


Und damit verließ Johanna das Zimmer,
während Effi noch einen Blick in den Spiegel that
und dann über den Flur fort, der bei der Tages¬
beleuchtung viel von ſeinem Zauber vom Abend vor¬
her eingebüßt hatte, bei Geert eintrat.


Dieſer ſaß an ſeinem Schreibtiſch, einem etwas
ſchwerfälligen Cylinderbureau, das er aber, als Erb¬
ſtück aus dem elterlichen Hauſe, nicht miſſen mochte.
[87]Effi BrieſtEffi ſtand hinter ihm und umarmte und küßte ihn,
noch eh' er ſich von ſeinem Platz erheben konnte.


„Schon?“


„Schon, ſagſt Du. Natürlich um mich zu ver¬
ſpotten.“


Innſtetten ſchüttelte den Kopf. „Wie werd'
ich das?“ Effi fand aber ein Gefallen daran, ſich
anzuklagen, und wollte von den Verſicherungen ihres
Mannes, daß ſein „ſchon“ ganz aufrichtig gemeint
geweſen ſei, nichts hören. „Du mußt noch von der
Reiſe her wiſſen, daß ich morgens nie habe warten
laſſen. Im Laufe des Tages, nun ja, da iſt es
etwas anderes. Es iſt wahr, ich bin nicht ſehr
pünktlich, aber ich bin keine Langſchläferin. Darin,
denk' ich, haben mich die Eltern gut erzogen.“


„Darin? In allem, meine ſüße Effi.“


„Das ſagſt Du ſo, weil wir noch in den Flitter¬
wochen ſind, . . . aber nein, wir ſind ja ſchon heraus.
Ums Himmels willen, Geert, daran habe ich noch
gar nicht gedacht, wir ſind ja ſchon über ſechs Wochen
verheiratet, ſechs Wochen und einen Tag. Ja, das
iſt etwas anderes; da nehme ich es nicht mehr als
Schmeichelei, da nehme ich es als Wahrheit.“


In dieſem Augenblicke trat Friedrich ein und
brachte den Kaffee. Der Frühſtückſtiſch ſtand in
Schräglinie vor einem kleinen rechtwinkligen Sofa,
[88]Effi Brieſt das gerade die eine Ecke des Wohnzimmers ausfüllte.
Hier ſetzten ſich beide.


„Der Kaffee iſt ja vorzüglich,“ ſagte Effi,
während ſie zugleich das Zimmer und ſeine Ein¬
richtung muſterte. „Das iſt noch Hotel-Kaffee oder
wie der bei Bottegone, . . . erinnerſt Du Dich noch,
in Florenz, mit dem Blick auf den Dom. Davon
muß ich der Mama ſchreiben, ſolchen Kaffee haben
wir in Hohen-Cremmen nicht. Überhaupt, Geert,
ich ſehe nun erſt, wie vornehm ich mich verheiratet
habe. Bei uns konnte alles nur ſo gerade paſſieren.“


„Thorheit, Effi, ich habe nie eine beſſere Haus¬
führung geſehen als bei Euch.“


„Und dann, wie Du wohnſt. Als Papa ſich
den neuen Gewehrſchrank angeſchafft und über ſeinem
Schreibtiſch einen Büffelkopf und dicht darunter den
alten Wrangel angebracht hatte (er war nämlich 'mal
Adjutant bei dem Alten), da dacht' er Wunder, was
er gethan; aber wenn ich mich hier umſehe, daneben
iſt unſere ganze Hohen-Cremmener Herrlichkeit ja
bloß dürftig und alltäglich. Ich weiß gar nicht,
womit ich das alles vergleichen ſoll; ſchon geſtern
abend, als ich nur ſo flüchtig darüber hinſah, kamen
mir allerhand Gedanken.“


„Und welche, wenn ich fragen darf?“


„Ja, welche. Du darfſt aber nicht d'rüber lachen.
[89]Effi BrieſtIch habe 'mal ein Bilderbuch gehabt, wo ein per¬
ſiſcher oder indiſcher Fürſt (denn er trug einen
Turban) mit untergeſchlagenen Beinen auf einem
roten Seidenkiſſen ſaß, und in ſeinem Rücken war
außerdem noch eine große rote Seidenrolle, die links
und rechts ganz bauſchig zum Vorſchein kam, und
die Wand hinter dem indiſchen Fürſten ſtarrte von
Schwertern und Dolchen und Parderfellen und
Schilden und langen türkiſchen Flinten. Und ſieh,
ganz ſo ſieht es hier bei Dir aus, und wenn Du
noch die Beine unterſchlägſt, iſt die Ähnlichkeit voll¬
kommen.“


„Effi, Du biſt ein entzückendes, liebes Geſchöpf.
Du weißt gar nicht, wie ſehr ich's finde und wie
gern ich Dir in jedem Augenblicke zeigen möchte,
daß ich's finde.“


„Nun, dazu iſt ja noch vollauf Zeit; ich bin
ja erſt ſiebzehn und habe noch nicht vor, zu ſterben.“


„Wenigſtens nicht vor mir. Freilich, wenn ich
dann ſtürbe, nähme ich Dich am liebſten mit. Ich will
Dich keinem andern laſſen; was meinſt Du dazu?“


„Das muß ich mir doch noch überlegen. Oder
lieber, laſſen wir's überhaupt. Ich ſpreche nicht
gern von Tod, ich bin für Leben. Und nun ſage
mir, wie leben wir hier? Du haſt mir unterwegs
allerlei Sonderbares von Stadt und Land erzählt,
[90]Effi Brieſt aber wie wir ſelber hier leben werden, davon kein
Wort. Daß hier alles anders iſt, als in Hohen-
Cremmen und Schwantikow, das ſeh' ich wohl, aber
wir müſſen doch in dem „guten Keſſin“, wie Du's
immer nennſt, auch etwas wie Umgang und Geſell¬
ſchaft haben können. Habt Ihr denn Leute von
Familie in der Stadt?“


„Nein, meine liebe Effi; nach dieſer Seite hin
gehſt Du großen Enttäuſchungen entgegen. In der
Nähe haben wir ein paar Adlige, die Du kennen
lernen wirſt, aber hier in der Stadt iſt gar nichts.“


„Gar nichts? das kann ich nicht glauben. Ihr
ſeid doch bis zu dreitauſend Menſchen, und unter
dreitauſend Menſchen muß es doch außer ſo kleinen
Leuten wie Barbier Beza (ſo hieß er ja wohl) doch
auch noch eine Elite geben, Honoratioren oder der¬
gleichen.“


Innſtetten lachte. „Ja, Honoratioren, die giebt
es. Aber bei Lichte beſehen, iſt es nicht viel damit.
Natürlich haben wir einen Prediger und einen Amts¬
richter und einen Rektor und einen Lootſenkommandeur,
und von ſolchen beamteten Leuten findet ſich ſchließlich
wohl ein ganzes Dutzend zuſammen, aber die meiſten
davon: gute Menſchen und ſchlechte Muſikanten. Und
was dann noch bleibt, das ſind bloß Konſuln.“


„Bloß Konſuln. Ich bitte Dich, Geert, wie
[91]Effi Brieſtkannſt Du nur ſagen „bloß Konſuln“. Das iſt doch
etwas ſehr Hohes und Großes, und ich möchte bei¬
nah' ſagen Furchtbares. Konſuln, das ſind doch die
mit dem Rutenbündel, draus, glaub' ich, ein Beil
herausſah.“


„Nicht ganz, Effi. Die heißen Liktoren.“


„Richtig, die heißen Liktoren. Aber Konſuln
iſt doch auch etwas ſehr Vornehmes und Hochgeſetz¬
liches. Brutus war doch ein Konſul.“


„Ja, Brutus war ein Konſul. Aber unſere
ſind ihm nicht ſehr ähnlich und begnügen ſich damit,
mit Zucker und Kaffee zu handeln oder eine Kiſte
mit Apfelſinen aufzubrechen und verkaufen Dir dann
das Stück pro zehn Pfennige.“


„Nicht möglich.“


„Sogar gewiß. Es ſind kleine, pfiffige Kauf¬
leute, die, wenn fremdländiſche Schiffe hier einlaufen
und in irgend einer Geſchäftsfrage nicht recht aus
noch ein wiſſen, die dann mit ihrem Rate zur Hand
ſind, und wenn ſie dieſen Rat gegeben und irgend
einem holländiſchen oder portugieſiſchen Schiff einen
Dienſt geleiſtet haben, ſo werden ſie zuletzt zu be¬
glaubigten Vertretern ſolcher fremder Staaten, und
gerade ſo viele Botſchafter und Geſandte, wie wir in
Berlin haben, ſo viele Konſuln haben wir auch in
Keſſin, und wenn irgend ein Feſttag iſt, und es
[92]Effi Brieſt giebt hier viel Feſttage, dann werden alle Wimpel
gehißt, und haben wir gerad' eine grelle Morgen¬
ſonne, ſo ſiehſt Du an ſolchem Tage ganz Europa
von unſern Dächern flaggen und das Sternenbanner
und den chineſiſchen Drachen dazu.“


„Du biſt in einer ſpöttiſchen Laune, Geert, und
magſt auch wohl recht haben. Aber ich, für meine
kleine Perſon, muß Dir geſtehen, daß ich dies alles
entzückend finde, und daß unſere havelländiſchen Städte
daneben verſchwinden. Wenn ſie da Kaiſers Ge¬
burtstag feiern, ſo flaggt es immer bloß ſchwarz
und weiß und allenfalls ein bißchen rot dazwiſchen,
aber das kann ſich doch nicht vergleichen mit der
Welt von Flaggen, von der Du ſprichſt. Überhaupt,
wie ich Dir ſchon ſagte, ich finde immer wieder und
wieder, es hat alles ſo was Fremdländiſches hier,
und ich habe noch nichts gehört und geſehen, was
mich nicht in eine gewiſſe Verwunderung geſetzt hätte,
gleich geſtern abend das merkwürdige Schiff draußen
im Flur und dahinter der Haifiſch und das Krokodil
und hier Dein eigenes Zimmer. Alles ſo orien¬
taliſch, und ich muß es wiederholen, alles wie bei
einem indiſchen Fürſten . . .“


„Meinetwegen. Ich gratuliere, Fürſtin . . .“


„Und dann oben der Saal mit ſeinen langen
Gardinen, die über die Diele hinfegen.“


[93]Effi Brieſt

„Aber was weißt Du denn von dem Saal,
Effi?“


„Nichts, als was ich Dir eben geſagt habe.
Wohl eine Stunde lang, als ich in der Nacht auf¬
wachte, war es mir, als ob ich Schuhe auf der Erde
ſchleifen hörte, und als würde getanzt und faſt auch
wie Muſik. Aber alles ganz leiſe. Und das hab'
ich dann heute früh an Johanna erzählt, bloß um
mich zu entſchuldigen, daß ich hinterher ſo lange
geſchlafen. Und da ſagte ſie mir, das ſei von den
langen Gardinen oben im Saal. Ich denke, wir
machen kurzen Prozeß damit und ſchneiden die Gar¬
dinen etwas ab oder ſchließen wenigſtens die Fenſter;
es wird ohnehin bald ſtürmiſch genug werden. Mitte
November iſt ja die Zeit.“


Innſtetten ſah in einer kleinen Verlegenheit vor
ſich hin und ſchien ſchwankend, ob er auf all das
antworten ſolle. Schließlich entſchied er ſich für
Schweigen. „Du haſt ganz recht, Effi, wir wollen
die langen Gardinen oben kürzer machen. Aber es
eilt nicht damit, um ſo weniger, als es nicht ſicher
iſt, ob es hilft. Es kann auch was anderes ſein,
im Rauchfang, oder der Wurm im Holz oder ein
Iltis. Wir haben nämlich hier Iltiſſe. Jedenfalls
aber eh' wir Änderungen vornehmen, mußt Du Dich
in unſerem Hausweſen erſt umſehen, natürlich unter
[94]Effi Brieſtmeiner Führung; in einer Viertelſtunde zwingen
wir's. Und dann machſt Du Toilette, nur ein ganz
klein wenig, denn eigentlich biſt Du ſo am reizendſten,
— Toilette für unſeren Freund Gieshübler; es iſt
jetzt zehn vorüber, und ich müßte mich ſehr in ihm
irren, wenn er nicht um elf oder doch ſpäteſtens um
die Mittagsſtunde hier antreten und Dir ſeinen
Reſpekt devoteſt zu Füßen legen ſollte. Das iſt
nämlich die Sprache, d'rin er ſich ergeht. Übrigens,
wie ich Dir ſchon ſagte, ein kapitaler Mann, der
Dein Freund werden wird, wenn ich ihn und Dich
recht kenne.“

[[95]]

Achtes Kapitel.

Elf war es längſt vorüber; aber Gieshübler
hatte ſich noch immer nicht ſehen laſſen. „Ich kann
nicht länger warten,“ hatte Geert geſagt, den der
Dienſt abrief. „Wenn Gieshübler noch erſcheint, ſo
ſei möglichſt entgegenkommend, dann wird es vor¬
züglich gehen; er darf nicht verlegen werden; iſt er
befangen, ſo kann er kein Wort finden oder ſagt die
ſonderbarſten Dinge; weißt Du ihn aber in Zutrauen
und gute Laune zu bringen, dann redet er wie ein
Buch. Nun, Du wirſt es ſchon machen. Erwarte
mich nicht vor drei; es giebt drüben allerlei zu thun.
Und das mit dem Saal oben wollen wir noch über¬
legen ; es wird aber wohl am beſten ſein, wir laſſen
es beim Alten.“


Damit ging Innſtetten und ließ ſeine junge Frau
allein. Dieſe ſaß, etwas zurückgelehnt, in einem
lauſchigen Winkel am Fenſter und ſtützte ſich, während
ſie hinausſah, mit ihrem linken Arm auf ein kleines
[96]Effi Brieſt Seitenbrett, das aus dem Cylinderbureau heraus¬
gezogen war. Die Straße war die Hauptverkehrs¬
ſtraße nach dem Strande hin, weshalb denn auch
in Sommerzeit ein reges Leben hier herrſchte, jetzt
aber, um Mitte November, war alles leer und ſtill,
und nur ein paar arme Kinder, deren Eltern in
etlichen ganz am äußerſten Rande der „Plantage“
gelegenen Strohdachhäuſern wohnten, klappten in
ihren Holzpantinen an dem Innſtetten'ſchen Hauſe
vorüber. Effi empfand aber nichts von dieſer Ein¬
ſamkeit, denn ihre Phantaſie war noch immer bei den
wunderlichen Dingen, die ſie, kurz vorher, während
ihrer Umſchau haltenden Muſterung im Hauſe ge¬
ſehen hatte. Dieſe Muſterung hatte mit der Küche
begonnen, deren Herd eine moderne Konſtruktion
aufwies, während an der Decke hin, und zwar bis
in die Mädchenſtube hinein, ein elektriſcher Draht
lief, — beides vor kurzem erſt hergerichtet. Effi
war erfreut geweſen, als ihr Innſtetten davon erzählt
hatte, dann aber waren ſie von der Küche wieder in
den Flur zurück- und von dieſem in den Hof hinaus¬
getreten, der in ſeiner erſten Hälfte nicht viel mehr
als ein, zwiſchen zwei Seitenflügeln hinlaufender
ziemlich ſchmaler Gang war. In dieſen Flügeln
war alles untergebracht, was ſonſt noch zu Haushalt
und Wirtſchaftsführung gehörte, rechts Mädchenſtube,
[97]Effi BrieſtBedientenſtube, Rollkammer, links eine zwiſchen Pferde¬
ſtall und Wagenremiſe gelegene, von der Familie
Kruſe bewohnte Kutſcherwohnung. Über dieſer, in
einem Verſchlage, waren die Hühner einlogiert und
eine Dachklappe über dem Pferdeſtall bildete den Aus-
und Einſchlupf für die Tauben. All dies hatte ſich
Effi mit vielem Intereſſe angeſehen, aber dies Intereſſe
ſah ſich doch weit überholt, als ſie, nach ihrer Rück¬
kehr vom Hof ins Vorderhaus, unter Innſtettens
Führung die nach oben führende Treppe hinauf¬
geſtiegen war. Dieſe war ſchief, baufällig, dunkel;
der Flur dagegen, auf den ſie mündete, wirkte beinah'
heiter, weil er viel Licht und einen guten land¬
ſchaftlichen Ausblick hatte: nach der einen Seite hin,
über die Dächer des Stadtrandes und die „Plantage“
fort, auf eine hoch auf einer Düne ſtehende hol¬
ländiſche Windmühle, nach der anderen Seite hin auf
die Keſſine, die hier, unmittelbar vor ihrer Ein¬
mündung, ziemlich breit war und einen ſtattlichen
Eindruck machte. Dieſem Eindruck konnte man ſich
unmöglich entziehen, und Effi hatte denn auch nicht
geſäumt, ihrer Freude lebhaften Ausdruck zu geben.
„Ja, ſehr ſchön, ſehr maleriſch,“ hatte Innſtetten,
ohne weiter darauf einzugehen, geantwortet, und
dann eine mit ihren Flügeln etwas ſchief hängende
Doppelthür geöffnet, die nach rechts hin in den ſo¬
Th. Fontane, Effi Brieſt. 7[98]Effi Brieſt genannten Saal führte. Dieſer lief durch die ganze
Etage; Vorder- und Hinterfenſter ſtanden auf, und
die mehr erwähnten langen Gardinen bewegten ſich
in dem ſtarken Luftzuge hin und her. In der Mitte
der einen Längswand ſprang ein Kamin vor mit
einer großen Steinplatte, während an der Wand
gegenüber ein paar blecherne Leuchter hingen, jeder
mit zwei Lichtöffnungen, ganz ſo wie unten im Flur,
aber alles ſtumpf und ungepflegt. Effi war einiger¬
maßen enttäuſcht, ſprach es auch aus und erklärte,
ſtatt des öden und ärmlichen Saals, doch lieber die
Zimmer an der gegenübergelegenen Flurſeite ſehen
zu wollen. „Da iſt nun eigentlich vollends nichts,“
hatte Innſtetten geantwortet, aber doch die Thüren
geöffnet. Es befanden ſich hier vier einfenſtrige
Zimmer, alle gelb getüncht, gerade wie der Saal,
und ebenfalls ganz leer. Nur in einem ſtanden drei
Binſenſtühle, die durchgeſeſſen waren, und an die
Lehne des einen war ein kleines, nur einen halben
Finger langes Bildchen geklebt, das einen Chineſen
darſtellte, blauer Rock mit gelben Pluderhoſen und
einen flachen Hut auf dem Kopf. Effi ſah es und
ſagte: „Was ſoll der Chineſe?“ Innſtetten ſelber
ſchien von dem Bildchen überraſcht und verſicherte,
daß er es nicht wiſſe. „Das hat Chriſtel angeklebt
oder Johanna. Spielerei. Du kannſt ſehen, es iſt
[99]Effi Brieſt aus einer Fibel herausgeſchnitten.“ Effi fand es
auch und war nur verwundert, daß Innſtetten alles
ſo ernſthaft nahm, als ob es doch etwas ſei. Dann
hatte ſie noch einmal einen Blick in den Saal gethan
und ſich dabei dahin geäußert, wie es doch eigentlich
ſchade ſei, daß das alles leer ſtehe. „Wir haben
unten ja nur drei Zimmer, und wenn uns wer
beſucht, ſo wiſſen wir nicht aus, noch ein. Meinſt
Du nicht, daß man aus dem Saal zwei hübſche
Fremdenzimmer machen könnte. Das wäre ſo was
für die Mama; nach hinten heraus könnte ſie ſchlafen
und hätte den Blick auf den Fluß und die beiden
Moolen, und vorn hätte ſie die Stadt und die hol¬
ländiſche Windmühle. In Hohen-Cremmen haben
wir noch immer bloß eine Bockmühle. Nun ſage,
was meinſt Du dazu? Nächſten Mai wird doch
die Mama wohl kommen.“


Innſtetten war mit allem einverſtanden geweſen
und hatte nur zum Schluſſe geſagt: „Alles ganz
gut. Aber es iſt doch am Ende beſſer, wir logieren die
Mama drüben ein, auf dem Landratsamt; die ganze
erſte Etage ſteht da leer, gerade ſo wie hier, und ſie
iſt da noch mehr für ſich.“


Das war ſo das Reſultat des erſten Umgangs
im Hauſe geweſen; dann hatte Effi drüben ihre Toilette
7 *[100]Effi Brieſt gemacht, nicht ganz ſo ſchnell wie Innſtetten ange¬
nommen, und nun ſaß ſie in ihres Gatten Zimmer
und beſchäftigte ſich in ihren Gedanken abwechſelnd
mit dem kleinen Chineſen oben und mit Gieshübler,
der noch immer nicht kam. Vor einer Viertelſtunde
war freilich ein kleiner, ſchiefſchultriger und faſt ſchon
ſo gut wie verwachſener Herr in einem kurzen eleganten
Pelzrock und einem hohen ſehr glatt gebürſteten Cylinder
an der andern Seite der Straße vorbeigegangen und
hatte nach ihrem Fenſter hinübergeſehen. Aber das
konnte Gieshübler wohl nicht geweſen ſein! Nein,
dieſer ſchiefſchultrige Herr, der zugleich etwas ſo Diſtin¬
guiertes hatte, das mußte der Herr Gerichtspräſident
geweſen ſein, und ſie entſann ſich auch wirklich, in
einer Geſellſchaft bei Tante Thereſe, mal einen ſolchen
geſehen zu haben, bis ihr mit einemmale einfiel,
daß Keſſin bloß einen Amtsrichter habe.


Während ſie dieſen Betrachtungen noch nachhing,
wurde der Gegenſtand derſelben, der augenſcheinlich
erſt eine Morgen- oder vielleicht auch eine Ermuti¬
gungspromenade um die Plantage herum gemacht
hatte, wieder ſichtbar, und eine Minute ſpäter erſchien
Friedrich, um Apotheker Gieshübler anzumelden.


„Ich laſſe ſehr bitten.“


Der armen jungen Frau ſchlug das Herz, weil
es das erſte Mal war, daß ſie ſich als Hausfrau
[101]Effi Brieſtund noch dazu als erſte Frau der Stadt zu zeigen
hatte.


Friedrich half Gieshübler den Pelzrock ablegen
und öffnete dann wieder die Thür.


Effi reichte dem verlegen Eintretenden die Hand,
die dieſer mit einem gewiſſen Ungeſtüm küßte. Die
junge Frau ſchien ſofort einen großen Eindruck auf
ihn gemacht zu haben.


„Mein Mann hat mir bereits geſagt . . . Aber
ich empfange Sie hier in meines Mannes Zimmer,
. . . er iſt drüben auf dem Amt und kann jeden
Augenblick zurück ſein . . . Darf ich Sie bitten, bei
mir eintreten zu wollen?“


Gieshübler folgte der voranſchreitenden Effi ins
Nebenzimmer, wo dieſe auf einen der Fauteuils wies,
während ſie ſich ſelbſt ins Sofa ſetzte. „Daß ich
Ihnen ſagen könnte, welche Freude Sie mir geſtern
durch die ſchönen Blumen und Ihre Karte gemacht
haben. Ich hörte ſofort auf, mich hier als eine
Fremde zu fühlen, und als ich dies Innſtetten aus¬
ſprach, ſagte er mir, wir würden überhaupt gute
Freunde ſein.“


„Sagte er ſo? Der gute Herr Landrat. Ja
der Herr Landrat und Sie, meine gnädigſte Frau,
da ſind, das bitte ich ſagen zu dürfen, zwei liebe
Menſchen zu einander gekommen. Denn wie Ihr
[102]Effi Brieſt Herr Gemahl iſt, das weiß ich, und wie Sie ſind,
meine gnädigſte Frau, das ſehe ich.“


„Wenn Sie nur nicht mit zu freundlichen
Augen ſehen. Ich bin ſo ſehr jung. Und Jugend . . .“


„Ach, meine gnädigſte Frau, ſagen Sie nichts
gegen die Jugend. Die Jugend, auch in ihren
Fehlern iſt ſie noch ſchön und liebenswürdig, und
das Alter, auch in ſeinen Tugenden taugt es nicht
viel. Perſönlich kann ich in dieſer Frage freilich
nicht mitſprechen, vom Alter wohl, aber von der
Jugend nicht, denn ich bin eigentlich nie jung ge¬
weſen. Perſonen meines Schlages ſind nie jung.
Ich darf wohl ſagen, das iſt das traurigſte von der
Sache. Man hat keinen rechten Mut, man hat kein
Vertrauen zu ſich ſelbſt, man wagt kaum, eine Dame
zum Tanz aufzufordern, weil man ihr eine Verlegen¬
heit erſparen will, und ſo gehen die Jahre hin, und
man wird alt, und das Leben war arm und leer.“


Effi gab ihm die Hand. „Ach, Sie dürfen ſo
was nicht ſagen. Wir Frauen ſind gar nicht ſo
ſchlecht.“


„O, nein, gewiß nicht . . .“


„Und wenn ich mir ſo zurückrufe,“ fuhr Effi
fort, „was ich alles erlebt habe . . . viel iſt es nicht,
denn ich bin wenig herausgekommen und habe faſt
immer auf dem Lande gelebt . . . aber wenn ich es
[103]Effi Brieſtmir zurückrufe, ſo finde ich doch, daß wir immer das
lieben, was liebenswert iſt. Und dann ſehe ich doch
auch gleich, daß Sie anders ſind als andere, dafür
haben wir Frauen ein ſcharfes Auge. Vielleicht iſt
es auch der Name, der in Ihrem Falle mit wirkt.
Das war immer eine Lieblingsbehauptung unſeres
alten Paſtors Niemeyer; der Name, ſo liebte er zu
ſagen, beſonders der Taufname, habe was geheimnis¬
voll Beſtimmendes, und Alonzo Gieshübler, ſo mein'
ich, ſchließt eine ganz neue Welt vor einem auf, ja,
faſt möcht' ich ſagen dürfen, Alonzo iſt ein roman¬
tiſcher Name, ein Prezioſa-Name.“


Gieshübler lächelte mit einem ganz ungemeinen
Behagen und fand den Mut, ſeinen für ſeine Ver¬
hältniſſe viel zu hohen Cylinder, den er bis dahin
in der Hand gedreht hatte, bei Seite zu ſtellen. „Ja,
meine gnädigſte Frau, da treffen Sie's.“


„O, ich verſtehe. Ich habe von den Konſuln
gehört, deren Keſſin ſo viele haben ſoll, und in dem
Hauſe des ſpaniſchen Konſuls hat Ihr Herr Vater
mutmaßlich die Tochter eines ſeemänniſchen Capitanos
kennen gelernt, wie ich annehme irgend eine ſchöne
Andaluſierin. Andaluſierinnen ſind immer ſchön.“


„Ganz wie Sie vermuten, meine Gnädigſte.
Und meine Mutter war wirklich eine ſchöne Frau,
ſo ſchlecht es mir perſönlich zuſteht, die Beweisführung
[104]Effi Brieſt zu übernehmen. Aber als Ihr Herr Gemahl vor
drei Jahren hierher kam, lebte ſie noch und hatte
noch ganz die Feueraugen. Er wird es mir be¬
ſtätigen. Ich perſönlich bin mehr ins Gieshübler'ſche
geſchlagen, Leute von wenig Exterieur, aber ſonſt
leidlich im Stande. Wir ſitzen hier ſchon in der
vierten Generation, volle hundert Jahre, und wenn
es einen Apothekeradel gäbe . . .“


„So würden Sie ihn beanſpruchen dürfen.
Und ich meinerſeits nehme ihn für bewieſen an und
ſogar für bewieſen ohne jede Einſchränkung. Uns,
aus den alten Familien, wird das am leichteſten,
weil wir, ſo wenigſtens bin ich von meinem Vater
und auch von meiner Mutter her erzogen, jede gute
Geſinnung, ſie komme woher ſie wolle, mit Freudig¬
keit gelten laſſen. Ich bin eine geborene Brieſt und
ſtamme von dem Brieſt ab, der, am Tage vor der
Fehrbelliner Schlacht, den Überfall von Rathenow
ausführte, wovon Sie vielleicht einmal gehört
haben . . .“


„O, gewiß, meine Gnädigſte, das iſt ja meine
Spezialität.“


„Eine Brieſt alſo. Und mein Vater, da reichen
keine hundertmale, daß er zu mir geſagt hat: Effi
(ſo heiße ich nämlich) Effi, hier ſitzt es, bloß hier,
und als Froben das Pferd tauſchte, da war er von
[105]Effi BrieſtAdel, und als Luther ſagte ,hier ſtehe ich,‘ da war
er erſt recht von Adel. Und ich denke, Herr Gies¬
hübler, Innſtetten hatte ganz recht, als er mir ver¬
ſicherte, wir würden gute Freundſchaft halten.“


Gieshübler hätte nun am liebſten gleich eine
Liebeserklärung gemacht und gebeten, daß er als Cid
oder irgend ſonſt ein Campeador für ſie kämpfen und
ſterben könne. Da dies alles aber nicht ging und
ſein Herz es nicht mehr aushalten konnte, ſo ſtand
er auf, ſuchte nach ſeinem Hut, den er auch glück¬
licherweiſe gleich fand, und zog ſich, nach wiederholtem
Handkuß, raſch zurück, ohne weiter ein Wort geſagt
zu haben.

[[106]]

Neuntes Kapitel.

So war Effi's erſter Tag in Keſſin geweſen.
Innſtetten gab ihr noch eine halbe Woche Zeit, ſich
einzurichten und die verſchiedenſten Briefe nach Hohen-
Cremmen zu ſchreiben, an die Mama, an Hulda und
die Zwillinge; dann aber hatten die Stadtbeſuche
begonnen, die zum Teil (es regnete gerade ſo, daß
man ſich dieſe Ungewöhnlichkeit ſchon geſtatten konnte),
in einer geſchloſſenen Kutſche gemacht wurden. Als
man damit fertig war, kam der Landadel an die
Reihe. Das dauerte länger, da ſich, bei den meiſt
großen Entfernungen, an jedem Tage nur eine Viſite
machen ließ. Zuerſt war man bei den Borcke's in
Rothenmoor, dann ging es nach Morgnitz, Dabergotz
und Kroſchentin, wo man bei den Ahlemann's, den
Jatzkow's und den Graſenabb's den pflichtſchuldigen
Beſuch abſtattete. Noch ein paar andere folgten,
unter denen auch der alte Baron v. Güldenklee auf
Papenhagen war. Der Eindruck, den Effi empfing,
[107]Effi Brieſtwar überall derſelbe: mittelmäßige Menſchen, von
meiſt zweifelhafter Liebenswürdigkeit, die, während ſie
vorgaben, über Bismarck und die Kronprinzeſſin zu
ſprechen, eigentlich nur Effi's Toilette muſterten, die
von einigen als zu prätentiös für eine ſo jugendliche
Dame, von andern als zu wenig decent für eine Dame
von geſellſchaftlicher Stellung befunden wurde. Man
merke doch an allem die Berliner Schule: Sinn für
Äußerliches und eine merkwürdige Verlegenheit und
Unſicherheit bei Berührung großer Fragen. In
Rothenmoor bei den Borcke's und dann auch bei den
Familien in Morgnitz und Dabergotz war ſie für
„rationaliſtiſch angekränkelt“, bei den Graſenabb's in
Kroſchentin aber rundweg für eine „Atheiſtin“ er¬
klärt worden. Allerdings hatte die alte Frau von
Graſenabb, eine Süddeutſche (geborene Stiefel von
Stiefelſtein), einen ſchwachen Verſuch gemacht, Effi
wenigſtens für den Deismus zu retten; Sidonie v.
Graſenabb aber, eine dreiundvierzigjährige alte Jungfer,
war barſch dazwiſchengefahren: „Ich ſage Dir, Mutter,
einfach Atheiſtin, kein Zoll breit weniger, und dabei
bleibt es,“ worauf die Alte, die ſich vor ihrer eigenen
Tochter fürchtete, klüglich geſchwiegen hatte.


Die ganze Tournee hatte ſo ziemlich zwei Wochen
gedauert, und es war am 2. Dezember, als man, zu
ſchon ſpäter Stunde, von dem letzten dieſer Beſuche
[108]Effi Brieſt nach Keſſin zurückkehrte. Dieſer letzte Beſuch hatte
den Güldenklee’s auf Papenhagen gegolten, bei welcher
Gelegenheit Innſtetten dem Schickſal nicht entgangen
war, mit dem alten Güldenklee politiſieren zu müſſen.
„Ja, teuerſter Landrat, wenn ich ſo den Wechſel der
Zeiten bedenke! Heute vor einem Menſchenalter
oder ungefähr ſo lange, ja, da war auch ein zweiter
Dezember und der gute Louis und Napoleons-Neffe
wenn er ſo 'was war und nicht eigentlich ganz
wo anders herſtammte, — der kartätſchte damals auf
die Pariſer Kanaille. Na, das mag ihm verziehen
ſein, für ſo 'was war er der rechte Mann, und ich
halte zu dem Satze: ,Jeder hat es geradeſo gut und
ſo ſchlecht, wie er's verdient.‘ Aber daß er nachher
alle Schätzung verlor und anno 70 ſo mir nichts dir
nichts auch mit uns anbinden wollte, ſehen Sie, Baron,
das war, ja wie ſag' ich, das war eine Inſolenz. Es
iſt ihm aber auch heimgezahlt worden. Unſer Alter
da oben läßt ſich nicht ſpotten, der ſteht zu uns.“


„Ja,“ ſagte Innſtetten, der klug genug war,
auf ſolche Philiſtereien anſcheinend ernſthaft einzu¬
gehen: „der Held und Eroberer von Saarbrücken
wußte nicht, was er that. Aber Sie dürfen nicht
zu ſtreng mit ihm perſönlich abrechnen. Wer iſt am
Ende Herr in ſeinem Hauſe? Niemand. Ich richte
mich auch ſchon darauf ein, die Zügel der Regierung
[109]Effi Brieſt in andere Hände zu legen, und Louis Napoleon,
nun, der war vollends ein Stück Wachs in den
Händen ſeiner katholiſchen Frau, oder ſagen wir
lieber, ſeiner jeſuitiſchen Frau.“


„Wachs in den Händen ſeiner Frau, die ihm
dann eine Naſe drehte. Natürlich, Innſtetten, das
war er. Aber damit wollen Sie dieſe Puppe doch
nicht etwa retten? Er iſt und bleibt gerichtet. An
und für ſich iſt es übrigens noch gar nicht 'mal
erwieſen,“ und ſein Blick ſuchte bei dieſen Worten
etwas ängſtlich nach dem Auge ſeiner Ehehälfte, „ob
nicht Frauenherrſchaft eigentlich als ein Vorzug gelten
kann; nur freilich, die Frau muß danach ſein. Aber
wer war dieſe Frau? Sie war überhaupt keine
Frau, im günſtigſten Falle war ſie eine Dame, das
ſagt alles; „Dame“ hat beinah immer einen Bei¬
geſchmack. Dieſe Eugenie — über deren Verhältnis
zu dem jüdiſchen Bankier ich hier gern hingehe, denn
ich haſſe Tugendhochmut — hatte 'was vom Café
chantant
, und wenn die Stadt, in der ſie lebte,
das Babel war, ſo war ſie das Weib von Babel,
Ich mag mich nicht deutlicher ausdrücken, denn ich
weiß,“ und er verneigte ſich gegen Effi, „was ich
deutſchen Frauen ſchuldig bin. Um Vergebung, meine
Gnädigſte, daß ich dieſe Dinge vor Ihren Ohren
überhaupt berührt habe.“


[110]Effi Brieſt

So war die Unterhaltung gegangen, nachdem
man vorher von Wahl, Nobiling und Raps geſprochen
hatte, und nun ſaßen Innſtetten und Effi wieder
daheim und plauderten noch eine halbe Stunde. Die
beiden Mädchen im Hauſe waren ſchon zu Bett,
denn es war nah' an Mitternacht.


Innſtetten, in kurzem Hausrock und Saffian¬
ſchuhen, ging auf und ab; Effi war noch in ihrer
Geſellſchaftstoilette; Fächer und Handſchuhe lagen
neben ihr.


„Ja,“ ſagte Innſtetten, während er ſein Auf-
und Abſchreiten im Zimmer unterbrach, „dieſen Tag
müßten wir nun wohl eigentlich feiern, und ich weiß
nur noch nicht womit. Soll ich Dir einen Sieges¬
marſch vorſpielen oder den Haifiſch draußen in Be¬
wegung ſetzen oder Dich im Triumph über den Flur
tragen? Etwas muß doch geſchehen, denn Du mußt
wiſſen, das war nun heute die letzte Viſite.“


„Gott ſei Dank, war ſie's,“ ſagte Effi. „Aber
das Gefühl, daß wir nun Ruhe haben, iſt, denk' ich,
gerade Feier genug. Nur einen Kuß könnteſt Du
mir geben. Aber daran denkſt Du nicht. Auf dem
ganzen weiten Wege nicht gerührt, froſtig wie ein
Schneemann. Und immer nur die Zigarre.“


„Laß, ich werde mich ſchon beſſern und will
vorläufig nur wiſſen, wie ſtehſt Du zu dieſer ganzen
[111]Effi BrieſtUmgangs- und Verkehrsfrage? Fühlſt Du Dich
zu dem einen oder andern hingezogen? Haben die
Borcke's die Graſenabb's geſchlagen, oder umgekehrt,
oder hältſt Du's mit dem alten Güldenklee? Was
er da über die Eugenie ſagte, machte doch einen ſehr
edlen und reinen Eindruck.“


„Ei, ſieh, Herr von Innſtetten, auch mediſant!
Ich lerne Sie von einer ganz neuen Seite kennen.“


„Und wenn's unſer Adel nicht thut,“ fuhr
Innſtetten fort, ohne ſich ſtören zu laſſen „wie ſtehſt
Du zu den Keſſiner Stadthonoratioren? wie ſtehſt
Du zur Reſſource? Daran hängt doch am Ende
Leben und Sterben. Ich habe Dich da neulich mit
unſerem reſerveleutnantlichen Amtsrichter ſprechen
ſehen, einem zierlichen Männchen, mit dem ſich viel¬
leicht durchkommen ließe, wenn er nur endlich von
der Vorſtellung los könnte, die Wiedereroberung von
Le Bourget durch ſein Erſcheinen in der Flanke zu
ſtande gebracht zu haben. Und ſeine Frau! ſie gilt
als die beſte Boſtonſpielerin und hat auch die
hübſcheſten Anlegemarken. Alſo nochmals, Effi, wie
wird es werden in Keſſin? Wirſt Du Dich ein¬
leben? Wirſt Du populär werden und mir die
Majorität ſichern, wenn ich in den Reichstag will?
Oder biſt Du für Einſiedlertum, für Abſchluß von
der Keſſiner Menſchheit, ſo Stadt wie Land?“


[112]Effi Brieſt

„Ich werde mich wohl für Einſiedlertum ent¬
ſchließen, wenn mich die Mohrenapotheke nicht her¬
ausreißt. Bei Sidonie werd' ich dadurch freilich
noch etwas tiefer ſinken, aber darauf muß ich es
ankommen laſſen; dieſer Kampf muß eben gekämpft
werden. Ich ſteh' und falle mit Gieshübler. Es
klingt etwas komiſch, aber er iſt wirklich der einzige
mit dem ſich ein Wort reden läßt, der einzige richtige
Menſch hier.“


„Das iſt er,“ ſagte Innſtetten. „Wie gut Du
zu wählen verſtehſt.“


„Hätte ich ſonſt Dich?“ ſagte Effi und hing
ſich an ſeinen Arm.


Das war am 2. Dezember. Eine Woche ſpäter
war Bismarck in Varzin, und nun wußte Innſtetten,
daß, bis Weihnachten und vielleicht noch drüber hin¬
aus, an ruhige Tage für ihn gar nicht mehr zu
denken ſei. Der Fürſt hatte noch von Verſailles
her eine Vorliebe für ihn und lud ihn, wenn Beſuch da
war, häufig zu Tiſch, aber auch allein, denn der jugend¬
liche, durch Haltung und Klugheit gleich ausgezeichnete
Landrat ſtand ebenſo in Gunſt bei der Fürſtin.


Zum 14. erfolgte die erſte Einladung. Es lag
Schnee, weshalb Innſtetten die faſt zweiſtündige Fahrt
bis an den Bahnhof, von wo noch eine Stunde
[113]Effi BrieſtEiſenbahn war, im Schlitten zu machen vorhatte.
„Warte nicht auf mich, Effi. Vor Mitternacht kann
ich nicht zurück ſein; wahrſcheinlich wird es zwei
oder noch ſpäter. Ich ſtöre Dich aber nicht. Gehab
Dich wohl und auf Wiederſehen morgen früh.“
Und damit ſtieg er ein, und die beiden iſabellfarbenen
Graditzer jagten im Fluge durch die Stadt hin und
dann landeinwärts auf den Bahnhof zu.


Das war die erſte lange Trennung, faſt auf
zwölf Stunden. Arme Effi. Wie ſollte ſie den
Abend verbringen? Früh zu Bett, das war gefährlich,
dann wachte ſie auf und konnte nicht wieder ein¬
ſchlafen und horchte auf alles. Nein, erſt recht müde
werden und dann ein feſter Schlaf, das war das
Beſte. Sie ſchrieb einen Brief an die Mama und
ging dann zu der Frau Kruſe, deren gemütskranker
Zuſtand — ſie hatte das ſchwarze Huhn oft bis in
die Nacht hinein auf ihrem Schoß — ihr Teilnahme
einflößte. Die Freundlichkeit indeſſen, die ſich darin
ausſprach, wurde von der in ihrer überheizten Stube
ſitzenden und nur ſtill und ſtumm vor ſich hinbrüten¬
den Frau keinen Augenblick erwidert, weshalb Effi,
als ſie wahrnahm, daß ihr Beſuch mehr als Störung
wie als Freude empfunden wurde, wieder ging und
nur noch fragte, ob die Kranke etwas haben wolle.
Dieſe lehnte aber alles ab.


Th. Fontane, Effi Brieſt. 8[114]Effi Brieſt

Inzwiſchen war es Abend geworden, und die
Lampe brannte ſchon. Effi ſtellte ſich ans Fenſter
ihres Zimmers und ſah auf das Wäldchen hinaus,
auf deſſen Zweigen der glitzernde Schnee lag. Sie
war von dem Bilde ganz in Anſpruch genommen
und kümmerte ſich nicht um das, was hinter ihr in
dem Zimmer vorging. Als ſie ſich wieder umſah, be¬
merkte ſie, daß Friedrich ſtill und geräuſchlos ein Kou¬
vert gelegt und ein Kabarett auf den Sofatiſch geſtellt
hatte. „Ja ſo, Abendbrot . . . Da werd' ich mich
nun wohl ſetzen müſſen.“ Aber es wollte nicht
ſchmecken, und ſo ſtand ſie wieder auf und las den
an die Mama geſchriebenen Brief noch einmal durch.
Hatte ſie ſchon vorher ein Gefühl der Einſamkeit
gehabt, ſo jetzt doppelt. Was hätte ſie darum gegeben,
wenn die beiden Jahnke'ſchen Rotköpfe jetzt eingetreten
wären oder ſelbſt Hulda. Die war freilich immer
ſo ſentimental und beſchäftigte ſich meiſt nur mit
ihren Triumphen, aber ſo zweifelhaft und anfechtbar
dieſe Triumphe waren, ſie hätte ſich in dieſem Augen¬
blicke doch gern davon erzählen laſſen. Schließlich
klappte ſie den Flügel auf, um zu ſpielen; aber es
ging nicht. „Nein, dabei werd' ich vollends melan¬
choliſch; lieber leſen.“ Und ſo ſuchte ſie nach einem
Buche. Das erſte, was ihr zu Händen kam, war
ein dickes, rotes Reiſehandbuch, alter Jahrgang, viel¬
[115]Effi Brieſtleicht ſchon aus Innſtettens Leutnantstagen her.
„Ja, darin will ich leſen; es giebt nichts Beruhigen¬
deres als ſolche Bücher. Das Gefährliche ſind bloß
immer die Karten; aber vor dieſem Augenpulver,
das ich haſſe, werd' ich mich ſchon hüten.“ Und
ſo ſchlug ſie denn auf gut Glück auf, Seite 153.
Nebenan hörte ſie das Ticktack der Uhr und draußen
Rollo, der, ſeit es dunkel war, ſeinen Platz in der
Remiſe aufgegeben und ſich, wie jeden Abend, ſo
auch heute wieder, auf die große geflochtene Matte,
die vor dem Schlafzimmer lag, ausgeſtreckt hatte.
Das Bewußtſein ſeiner Nähe minderte das Gefühl
ihrer Verlaſſenheit, ja, ſie kam faſt in Stimmung,
und ſo begann ſie denn auch unverzüglich zu leſen.
Auf der gerade vor ihr aufgeſchlagenen Seite war
von der „Eremitage“, dem bekannten markgräflichen
Luftſchloß in der Nähe von Bayreuth, die Rede;
das lockte ſie, Bayreuth, Richard Wagner, und ſo
las ſie denn: „Unter den Bildern in der Eremitage
nennen wir noch eins, das nicht durch ſeine Schön¬
heit, wohl aber durch ſein Alter und durch die Perſon,
die es darſtellt, ein Intereſſe beanſprucht. Es iſt
dies ein ſtark nachgedunkeltes Frauenporträt, kleiner
Kopf, mit herben, etwas unheimlichen Geſichtszügen
und einer Halskrauſe, die den Kopf zu tragen ſcheint.
Einige meinen, es ſei eine alte Markgräfin aus dem
8 *[116]Effi Brieſt Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, andere ſind der
Anſicht, es ſei die Gräfin von Orlamünde; darin
aber ſind beide einig, daß es das Bildnis der Dame
ſei, die ſeither in der Geſchichte der Hohenzollern
unter dem Namen der ,weißen Frau‘ eine gewiſſe
Berühmtheit erlangt hat.“


„Das hab' ich gut getroffen,“ ſagte Effi, während
ſie das Buch bei Seite ſchob; „ich will mir die
Nerven beruhigen, und das Erſte, was ich leſe, iſt
die Geſchichte von der weißen Frau, vor der ich mich
gefürchtet habe, ſo lang' ich denken kann. Aber da nun
das Gruſeln 'mal da iſt, will ich doch auch zu Ende leſen.“


Und ſie ſchlug wieder auf und las weiter:
„. . . Eben dies alte Porträt (deſſen Original in der
Hohenzollernſchen Familiengeſchichte ſolche Rolle ſpielt)
ſpielt als Bild auch eine Rolle in der Spezial¬
geſchichte des Schloſſes Eremitage, was wohl damit
zuſammenhängt, daß es an einer dem Fremden
unſichtbaren Tapetentür hängt, hinter der ſich eine
vom Souterrain her hinaufführende Treppe befindet.
Es heißt, daß, als Napoleon hier übernachtete, die
,weiße Frau' aus dem Rahmen herausgetreten und
auf ſein Bett zugeſchritten ſei. Der Kaiſer, entſetzt
auffahrend, habe nach ſeinem Adjutanten gerufen
und bis an ſein Lebensende mit Entrüſtung von
dieſem „maudit château“ geſprochen.“


[117]Effi Brieſt

„Ich muß es aufgeben, mich durch Lektüre be¬
ruhigen zu wollen,“ ſagte Effi. Leſe ich weiter, ſo
komm ich gewiß noch nach einem Kellergewölbe, wo
der Teufel auf einem Weinfaß davongeritten iſt.
Es giebt, glaub' ich, in Deutſchland viel dergleichen,
und in einem Reiſehandbuch muß es ſich natürlich
alles zuſammenfinden. Ich will alſo lieber wieder die
Augen ſchließen und mir, ſo gut es geht, meinen Polter¬
abend vorſtellen: die Zwillinge, wie ſie vor Thränen
nicht weiterkonnten, und dazu den Vetter Brieſt,
der, als ſich alles verlegen anblickte, mit erſtaunlicher
Würde behauptete, ſolche Thränen öffneten einem das
Paradies. Er war wirklich charmant und immer
ſo übermütig . . . Und nun ich! Und gerade hier.
Ach, ich tauge doch gar nicht für eine große Dame.
Die Mama, ja, die hätte hierher gepaßt, die hätte,
wie's einer Landrätin zukommt, den Ton angegeben,
und Sidonie Graſenabb wäre ganz Huldigung gegen
ſie geweſen und hätte ſich über ihren Glauben oder
Unglauben nicht groß beunruhigt. Aber ich ...
Ich bin ein Kind und werd' es auch wohl bleiben.
Einmal hab' ich gehört, das ſei ein Glück. Aber ich
weiß doch nicht, ob das wahr iſt. Man muß doch
immer dahin paſſen, wohin man nun 'mal geſtellt iſt.“


In dieſem Augenblicke kam Friedrich, um den
Tiſch abzuräumen.


[118]Effi Brieſt

„Wie ſpät iſt es, Friedrich?“


„Es geht auf neun, gnäd'ge Frau.“


„Nun, das läßt ſich hören. Schicken Sie mir
Johanna.“


„Gnäd'ge Frau haben befohlen.“


„Ja, Johanna. Ich will zu Bett gehen. Es
iſt eigentlich noch früh. Aber ich bin ſo allein.
Bitte, thun Sie den Brief erſt ein, und wenn Sie
wieder da ſind, nun, dann wird es wohl Zeit ſein.
Und wenn auch nicht.“


Effi nahm die Lampe und ging in ihr Schlaf¬
zimmer hinüber. Richtig, auf der Binſenmatte lag
Rollo. Als er Effi kommen ſah, erhob er ſich, um
den Platz frei zu geben, und ſtrich mit ſeinem Be¬
hang an ihrer Hand hin. Dann legte er ſich wieder
nieder.


Johanna war inzwiſchen nach dem Landratsamt
hinübergegangen, um da den Brief einzuſtecken. Sie
hatte ſich drüben nicht ſonderlich beeilt, vielmehr vor¬
gezogen, mit der Frau Paaſchen, des Amtsdieners
Frau, ein Geſpräch zu führen. Natürlich über die
junge Frau.


„Wie iſt ſie denn?“ fragte die Paaſchen.


„Sehr jung iſt ſie.“


„Nun, das iſt kein Unglück, eher umgekehrt.
[119]Effi Brieſt Die Jungen, und das iſt eben das Gute, ſtehen
immer bloß vorm Spiegel und zupfen und ſtecken
ſich 'was vor und ſehen nicht viel und hören nicht
viel und ſind noch nicht ſo, daß ſie draußen immer
die Lichtſtümpfe zählen und einem nicht gönnen,
daß man einen Kuß kriegt, bloß weil ſie ſelber
keinen mehr kriegen.“


„Ja,“ ſagte Johanna, „ſo war meine vorige
Madam und ganz ohne Not. Aber davon hat unſere
Gnäd'ge nichts.“


„Iſt er denn ſehr zärtlich?“


„O ſehr. Das können Sie doch wohl denken.“


„Aber daß er ſie ſo allein läßt . . .“


„Ja, liebe Paaſchen, Sie dürfen nicht vergeſſen
. . . der Fürſt. Und dann, er iſt ja doch am Ende
Landrat. Und vielleicht will er auch noch höher.“


„Gewiß, will er. Und er wird auch noch.
Er hat ſo 'was. Paaſchen ſagt es auch immer, und
der kennt ſeine Leute.“


Während dieſes Ganges drüben nach dem Amt
hinüber war wohl eine Viertelſtunde vergangen, und
als Johanna wieder zurück war, ſaß Effi ſchon vor
dem Trumeau und wartete.


„Sie ſind lange geblieben, Johanna.“


„Ja, gnäd'ge Frau . . . Gnäd'ge Frau wollen
entſchuldigen . . . Ich traf drüben die Frau Paaſchen,
[120]Effi Brieſtund da hab' ich mich ein wenig verweilt. Es iſt
ſo ſtill hier. Man iſt immer froh, wenn man einen
Menſchen trifft, mit dem man ein Wort ſprechen
kann. Chriſtel iſt eine ſehr gute Perſon, aber ſie
ſpricht nicht, und Friedrich iſt ſo duſig und auch ſo
vorſichtig und will mit der Sprache nie recht heraus.
Gewiß, man muß auch ſchweigen können, und die
Paaſchen, die ſo neugierig und ſo ganz gewöhnlich
iſt, iſt eigentlich gar nicht nach meinem Geſchmack;
aber man hat es doch gern, wenn man 'mal 'was
hört und ſieht.“


Effi ſeufzte. „Ja, Johanna, das iſt auch das
Beſte . . .“


„Gnäd'ge Frau haben ſo ſchönes Haar, ſo lang
und ſo ſeidenweich.“


„Ja, es iſt ſehr weich. Aber das iſt nicht gut,
Johanna. Wie das Haar iſt, iſt der Charakter.“


„Gewiß, gnäd'ge Frau. Und ein weicher
Charakter iſt doch beſſer als ein harter. Ich habe
auch weiches Haar.“


„Ja, Johanna. Und Sie haben auch blondes.
Das haben die Männer am liebſten.“


„Ach, das iſt doch ſehr verſchieden, gnäd'ge Frau.
Manche ſind doch auch für das ſchwarze.“


„Freilich,“ lachte Effi, „das habe ich auch ſchon
gefunden. Es wird wohl an 'was ganz anderem
[121]Effi Brieſtliegen. Aber die, die blond ſind, die haben auch
immer einen weißen Teint, Sie auch, Johanna, und
ich möchte mich wohl verwetten, daß Sie viel Nach¬
ſtellung haben. Ich bin noch ſehr jung, aber das
weiß ich doch auch. Und dann habe ich eine Freundin,
die war auch ſo blond, ganz flachsblond, noch blon¬
der als Sie, und war eine Predigerstochter . . .“


„Ja, denn . . .“


„Aber ich bitte Sie, Johanna, was meinen Sie
mit „ja denn.“ Das klingt ja ganz anzüglich und
ſonderbar, und Sie werden doch nichts gegen Pre¬
digerstöchter haben . . . Es war ein ſehr hübſches
Mädchen, was ſelbſt unſere Offiziere — wir hatten
nämlich Offiziere, noch dazu rote Huſaren — auch
immer fanden, und verſtand ſich dabei ſehr gut auf
Toilette, ſchwarzes Sammetmieder und eine Blume,
Roſe oder auch Heliotrop, und wenn ſie nicht ſo
vorſtehende große Augen gehabt hätte . . . ach, die
hätten Sie ſehen ſollen, Johanna, wenigſtens ſo groß
(und Effi zog unter Lachen an ihrem rechten Augen¬
lid), ſo wäre ſie geradezu eine Schönheit geweſen.
Sie hieß Hulda, Hulda Niemeyer, und wir waren
nicht einmal ſo ganz intim; aber wenn ich ſie jetzt
hier hätte, und ſie da ſäße, da in der kleinen Sofa¬
ecke, ſo wollte ich bis Mitternacht mit ihr plaudern
oder noch länger. Ich habe ſolche Sehnſucht und . . .“
[122]Effi Brieſt und dabei zog ſie Johanna's Kopf dicht an ſich
heran . . . „ich habe ſolche Angſt.“


„Ach, das giebt ſich, gnäd'ge Frau, die hatten
wir alle.“


„Die hattet ihr alle? Was ſoll das heißen,
Johanna?“


„. . . Und wenn die gnäd'ge Frau wirklich
ſolche Angſt haben, ſo kann ich mir ja ein Lager
hier machen. Ich nehme die Strohmatte und kehre
einen Stuhl um, daß ich eine Kopflehne habe, und
dann ſchlafe ich hier bis morgen früh oder bis der
gnäd'ge Herr wieder da iſt.“


„Er will mich nicht ſtören. Das hat er mir
eigens verſprochen.“


„Oder ich ſetze mich bloß in die Sofaecke.“


„Ja, das ginge vielleicht. Aber nein, es geht
auch nicht. Der Herr darf nicht wiſſen, daß ich
mich ängſtige, das liebt er nicht. Er will immer,
daß ich tapfer und entſchloſſen bin, ſo wie er. Und
das kann ich nicht; ich war immer etwas anfällig . . .
Aber freilich, ich ſehe wohl ein, ich muß mich be¬
zwingen und ihm in ſolchen Stücken und überhaupt
zu Willen ſein . . . Und dann habe ich ja auch
Rollo. Der liegt ja vor der Thürſchwelle.“


Johanna nickte zu jedem Wort und zündete
dann das Licht an, das auf Effi's Nachttiſch ſtand.
[123]Effi BrieſtDann nahm ſie die Lampe. „Befehlen gnäd'ge Frau
noch etwas?“


„Nein, Johanna. Die Läden ſind doch feſt¬
geſchloſſen?“


„Bloß angelegt, gnäd'ge Frau. Es iſt ſonſt ſo
dunkel und ſo ſtickig.“


„Gut. gut.“


Und nun entfernte ſich Johanna; Effi aber
ging auf ihr Bett zu und wickelte ſich in ihre
Decken.


Sie ließ das Licht brennen, weil ſie gewillt
war, nicht gleich einzuſchlafen, vielmehr vorhatte,
wie vorhin ihren Polterabend, ſo jetzt ihre Hochzeits¬
reiſe zu rekapitulieren und alles an ſich vorüber¬
ziehen zu laſſen. Aber es kam anders, wie ſie ge¬
dacht, und als ſie bis Verona war und nach dem
Hauſe der Julia Capulet ſuchte, fielen ihr ſchon die
Augen zu. Das Stümpfchen Licht in dem kleinen
Silberleuchter brannte allmählich nieder, und nun
flackerte es noch einmal auf und erloſch.


Effi ſchlief eine Weile ganz feſt. Aber mit
einemmale fuhr ſie mit einem lauten Schrei aus
ihrem Schlafe auf, ja, ſie hörte ſelber noch den
Aufſchrei und auch wie Rollo draußen anſchlug; —
„wau, wau“ klang es den Flur entlang, dumpf und
ſelber beinah ängſtlich. Ihr war, als ob ihr das
[124]Effi Brieſt Herz ſtillſtände; ſie konnte nicht rufen, und in dieſem
Augenblicke huſchte 'was an ihr vorbei, und die nach
dem Flur hinausführende Thür ſprang auf. Aber
eben dieſer Moment höchſter Angſt war auch der
ihrer Befreiung, denn, ſtatt etwas Schrecklichem, kam
jetzt Rollo auf ſie zu, ſuchte mit ſeinem Kopf nach
ihrer Hand und legte ſich, als er dieſe gefunden,
auf den vor ihrem Bett ausgebreiteten Teppich nieder.
Effi ſelber aber hatte mit der andern Hand dreimal
auf den Knopf der Klingel gedrückt, und keine halbe
Minute, ſo war Johanna da, barfüßig, den Rock
über dem Arm und ein großes karriertes Tuch über
Kopf und Schulter geſchlagen.


„Gott ſei Dank, Johanna, daß Sie da ſind.“


„Was war denn, gnäd'ge Frau? Gnäd'ge
Frau haben geträumt.“


„Ja, geträumt. Es muß ſo 'was geweſen ſein . . .
aber es war doch auch noch 'was anderes.“


„Was denn, gnäd'ge Frau?“


„Ich ſchlief ganz feſt, und mit einemmale fuhr
ich auf und ſchrie . . . vielleicht, daß es ein Albdruck
war . . . Albdruck iſt in unſerer Familie, mein Papa
hat es auch und ängſtigt uns damit, und nur die
Mama ſagt immer, er ſolle ſich nicht ſo gehen laſſen;
aber das iſt leicht geſagt . . . ich fuhr alſo auf aus
dem Schlaf und ſchrie, und als ich mich umſah, ſo
[125]Effi Brieſtgut es eben ging in dem Dunkel, da ſtrich 'was an
meinem Bett vorbei, gerade da, wo Sie jetzt ſtehen,
Johanna, und dann war es weg. Und wenn ich
mich recht frage, was es war . . .“


„Nun was denn, gnäd'ge Frau?“


„Und wenn ich mich recht frage . . . ich mag
es nicht ſagen, Johanna . . . aber ich glaube der
Chineſe.“


„Der von oben?“ und Johanna verſuchte zu
lachen, „unſer kleiner Chineſe, den wir an die Stuhl¬
lehne geklebt haben, Chriſtel und ich. Ach, gnäd'ge
Frau haben geträumt, und wenn Sie ſchon wach
waren, ſo war es doch alles noch aus dem Traum.“


„Ich würd' es glauben. Aber es war genau
derſelbe Augenblick, wo Rollo draußen anſchlug, der
muß es alſo auch geſehen haben, und dann flog die
Thür auf, und das gute, treue Tier ſprang auf mich
los, als ob es mich zu retten käme. Ach, meine
liebe Johanna, es war entſetzlich. Und ich ſo allein,
und ſo jung. Ach, wenn ich doch wen hier hätte,
bei dem ich weinen könnte. Aber ſo weit von
Hauſe . . . Ach, von Hauſe . . .“


„Der Herr kann jede Stunde kommen.“


„Nein, er ſoll nicht kommen; er ſoll mich ſo
nicht ſehen. Er würde mich vielleicht auslachen, und
das könnt' ich ihm nie verzeihen. Denn es war ſo
[126]Effi Brieſt furchtbar, Johanna . . . Sie müſſen nun bleiben . . .
Aber laſſen Sie Chriſtel ſchlafen und Friedrich auch.
Es ſoll es keiner wiſſen.“


„Oder vielleicht kann ich auch die Frau Kruſe
holen; die ſchläft doch nicht, die ſitzt die ganze
Nacht da.“


„Nein, nein, die iſt ſelber ſo 'was. Das mit
dem ſchwarzen Huhn, das iſt auch ſo 'was; die darf
nicht kommen. Nein, Johanna, Sie bleiben allein
hier. Und wie gut, daß Sie die Läden nur an¬
gelegt. Stoßen Sie ſie auf, recht laut, daß ich einen
Ton höre, einen menſchlichen Ton, . . . ich muß es
ſo nennen, wenn es auch ſonderbar klingt . . . und
dann machen Sie das Fenſter ein wenig auf, daß
ich Luft und Licht habe.“


Johanna that, wie ihr geheißen, und Effi fiel
in ihre Kiſſen zurück und bald danach in einen
lethargiſchen Schlaf.

[[127]]

Zehntes Kapitel.

Innſtetten war erſt ſechs Uhr früh von Varzin
zurückgekommen und hatte ſich, Rollos Liebkoſungen
abwehrend, ſo leiſe wie möglich in ſein Zimmer
zurückgezogen. Er machte ſich's hier bequem und
duldete nur, daß ihn Friedrich mit einer Reiſedecke
zudeckte. „Wecke mich um neun.“ Und um dieſe
Stunde war er denn auch geweckt worden. Er ſtand
raſch auf und ſagte: „Bringe das Frühſtück.“


„Die gnädige Frau ſchläft noch.“


„Aber es iſt ja ſchon ſpät. Iſt etwas paſſiert?“


„Ich weiß es nicht; ich weiß nur, Johanna
hat die Nacht über im Zimmer der gnädigen Frau
ſchlafen müſſen.“


„Nun, dann ſchicke Johanna.“


Dieſe kam denn auch. Sie hatte denſelben
roſigen Teint wie immer, ſchien ſich alſo die Vorgänge
der Nacht nicht ſonderlich zu Gemüte genommen zu
haben.


[128]Effi Brieſt

„Was iſt das mit der gnäd'gen Frau? Friedrich
ſagt mir, es ſei 'was paſſiert und Sie hätten drüben
geſchlafen.“


„Ja, Herr Baron. Gnäd'ge Frau klingelte drei¬
mal ganz raſch hinter einander, daß ich gleich dachte,
es bedeutet 'was. Und ſo war es auch. Sie hat
wohl geträumt oder vielleicht war es auch das
andere.“


„Welches andere?“


„Ach, der gnäd'ge Herr wiſſen ja.“


„Ich weiß nichts. Jedenfalls muß ein Ende damit
gemacht werden. Und wie fanden Sie die Frau?“


„Sie war wie außer ſich und hielt das Halsband
von Rollo, der neben dem Bett der gnäd'gen Frau
ſtand, feſt umklammert. Und das Tier ängſtigte
ſich auch.“


„Und was hatte ſie geträumt oder, meinetwegen
auch, was hatte ſie gehört oder geſehen? Was
ſagte ſie?


„Es ſei ſo hingeſchlichen, dicht an ihr vorbei.“


„Was? Wer?“


„Der von oben. Der aus dem Saal oder aus
der kleinen Kammer.“


„Unſinn, ſag' ich. Immer wieder das alberne
Zeug; ich mag davon nicht mehr hören. Und dann
blieben Sie bei der Frau?“


[129]Effi Brieſt

„Ja, gnäd'ger Herr. Ich machte mir ein Lager
an der Erde dicht neben ihr. Und ich mußte ihre
Hand halten, und dann ſchlief ſie ein.“


„Und ſie ſchläft noch?“


„Ganz feſt.“


„Das iſt mir ängſtlich, Johanna. Man kann
ſich geſund ſchlafen, aber auch krank. Wir müſſen
ſie wecken, natürlich vorſichtig, daß ſie nicht wieder
erſchrickt. Und Friedrich ſoll das Frühſtück nicht
bringen; ich will warten, bis die gnäd'ge Frau da
iſt. Und machen Sie's geſchickt.“


Eine halbe Stunde ſpäter kam Effi. Sie ſah
reizend aus, ganz blaß, und ſtützte ſich auf Johanna.
Als ſie aber Innſtetten's anſichtig wurde, ſtürzte ſie
auf ihn zu und umarmte und küßte ihn. Und dabei
liefen ihr die Thränen übers Geſicht. „Ach, Geert,
Gott ſei Dank, daß Du da biſt. Nun iſt alles wieder
gut. Du darfſt nicht wieder fort, Du darfſt mich
nicht wieder allein laſſen.“


„Meine liebe Effi . . . ſtellen Sie hin, Friedrich,
ich werde ſchon alles zurecht machen . . . meine liebe
Effi, ich laſſe Dich ja nicht allein aus Rückſichts¬
loſigkeit oder Laune, ſondern weil es ſo ſein muß;
ich habe keine Wahl, ich bin ein Mann im Dienſt,
Th. Fontane, Effi Brieſt. 9[130]Effi Brieſtich kann zum Fürſten oder auch zur Fürſtin nicht
ſagen: Durchlaucht, ich kann nicht kommen, meine
Frau iſt ſo allein, oder meine Frau fürchtet ſich.
Wenn ich das ſagte, würden wir in einem ziemlich
komiſchen Lichte daſtehen, ich gewiß, und Du auch.
Aber nimm erſt eine Taſſe Kaffee.“


Effi trank, was ſie ſichtlich belebte. Dann ergriff
ſie wieder ihres Mannes Hand und ſagte: „Du
ſollſt recht haben; ich ſehe ein, das geht nicht. Und
dann wollen wir ja auch höher hinauf. Ich ſage
wir, denn ich bin eigentlich begieriger danach als
Du . . .“


„So ſind alle Frauen,“ lachte Innſtetten.


„Alſo abgemacht; Du nimmſt die Einladungen
an nach wie vor, und ich bleibe hier und warte auf
meinen ,hohen Herrn‘, wobei mir Hulda unterm
Holunderbaum einfällt. Wie's ihr wohl gehen
mag?“


„Damen, wie Hulda, geht es immer gut. Aber
was wollteſt Du noch ſagen?“


„Ich wollte ſagen, ich bleibe hier und auch
allein, wenn es ſein muß. Aber nicht in dieſem
Hauſe. Laß uns die Wohnung wechſeln. Es giebt
ſo hübſche Häuſer am Bollwerk, eins zwiſchen Konſul
Martens und Konſul Grützmacher und eins am
Markt, gerade gegenüber von Gieshübler; warum
[131]Effi Brieſtkönnen wir da nicht wohnen? Warum gerade hier?
Ich habe, wenn wir Freunde und Verwandte zum
Beſuch hatten, oft gehört, daß in Berlin Familien
ausziehen wegen Klavierſpiel oder wegen Schwaben
oder wegen einer unfreundlichen Portiersfrau; wenn
das um ſolcher Kleinigkeit willen geſchieht . . .“


„Kleinigkeiten? das ſage nicht . . .“


„Wenn das um ſolcher Dinge willen möglich
iſt, ſo muß es doch auch hier möglich ſein, wo Du
Landrat biſt und die Leute Dir zu Willen ſind und
viele ſelbſt zu Dank verpflichtet. Gieshübler würde
uns gewiß dabei behülflich ſein, wenn auch nur um
meinetwegen, denn er wird Mitleid mit mir haben.
Und nun ſage, Geert, wollen wir dies verwunſchene
Haus aufgeben, dies Haus mit dem . . .“


„. . . Chineſen willſt Du ſagen. Du ſiehſt,
Effi, man kann das furchtbare Wort ausſprechen,
ohne daß er erſcheint. Was Du da geſehen haſt
oder was da, wie Du meinſt, an Deinem Bette
vorüberſchlich, das war der kleine Chineſe, den die
Mädchen oben an die Stuhllehne geklebt haben; ich
wette, daß er einen blauen Rock an hatte und einen
ganz flachen Deckelhut mit einem blanken Knopf
oben.“


Sie nickte.


„Nun ſiehſt Du, Traum, Sinnestäuſchung.
9 *[132]Effi BrieſtUnd dann wird Dir Johanna wohl geſtern Abend
'was erzählt haben, von der Hochzeit hier oben . . .“


„Nein.“


„Deſto beſſer.“


„Kein Wort hat ſie mir erzählt. Aber ich ſehe
doch aus dem allen, daß es hier etwas Sonderbares
giebt. Und dann das Krokodil; es iſt alles ſo un¬
heimlich hier.“


„Den erſten Abend, als Du das Krokodil ſahſt,
fandeſt Du's märchenhaft . . .“


„Ja, damals . . .“


„ . . . Und dann, Effi, kann ich hier nicht gut
fort, auch wenn es möglich wäre, das Haus zu ver¬
kaufen oder einen Tauſch zu machen. Es iſt damit
ganz wie mit einer Abſage nach Varzin hin. Ich
kann hier in der Stadt die Leute nicht ſagen laſſen,
Landrat Innſtetten verkauft ſein Haus, weil ſeine
Frau den aufgeklebten kleinen Chineſen als Spuk an
ihrem Bette geſehen hat. Dann bin ich verloren,
Effi. Von ſolcher Lächerlichkeit kann man ſich nie
wieder erholen.“


„Ja, Geert, biſt Du denn ſo ſicher, daß es ſo
'was nicht giebt?“


„Will ich nicht behaupten. Es iſt eine Sache,
die man glauben und noch beſſer nicht glauben kann.
Aber angenommen, es gäbe dergleichen, was ſchadet
[133]Effi Brieſt es? Daß in der Luft Bacillen herumfliegen, von
denen Du gehört haben wirſt, iſt viel ſchlimmer und
gefährlicher als dieſe ganze Geiſtertummellage. Vor¬
ausgeſetzt, daß ſie ſich tummeln, daß ſo 'was wirk¬
lich exiſtiert. Und dann bin ich überraſcht, ſolcher
Furcht und Abneigung gerade bei Dir zu begegnen,
bei einer Brieſt. Das iſt ja, wie wenn Du aus
einem kleinen Bürgerhauſe ſtammteſt. Spuk iſt ein
Vorzug, wie Stammbaum und dergleichen, und ich
kenne Familien, die ſich ebenſo gern ihr Wappen
nehmen ließen als ihre ,weiße Frau‘, die natürlich
auch eine ſchwarze ſein kann.“


Effi ſchwieg.


„Nun, Effi. Keine Antwort?“


„Was ſoll ich antworten? Ich habe Dir nach¬
gegeben und mich willig gezeigt, aber ich finde doch,
daß Du Deinerſeits teilnahmsvoller ſein könnteſt.
Wenn Du wüßteſt, wie mir gerade danach verlangt.
Ich habe ſehr gelitten, wirklich ſehr, und als ich
Dich ſah, da dacht' ich, nun würd' ich frei werden
von meiner Angſt. Aber Du ſagſt mir bloß, daß
Du nicht Luſt hätteſt, Dich lächerlich zu machen,
nicht vor dem Fürſten und auch nicht vor der Stadt.
Das iſt ein geringer Troſt. Ich finde es wenig und
um ſo weniger, als Du Dir ſchließlich auch noch
widerſprichſt, und nicht bloß perſönlich an dieſe Dinge
[134]Effi Brieſt zu glauben ſcheinſt, ſondern auch noch einen adligen
Spukſtolz von mir forderſt. Nun, den hab' ich nicht.
Und wenn Du von Familien ſprichſt, denen ihr
Spuk ſo viel wert ſei wie ihr Wappen, ſo iſt das
Geſchmacksſache; mir gilt mein Wappen mehr. Gott
ſei Dank haben wir Brieſt's keinen Spuk. Die
Brieſt's waren immer ſehr gute Leute, und damit
hängt es wohl zuſammen.“


Der Streit hätte wohl noch angedauert und
vielleicht zu einer erſten ernſtlichen Verſtimmung ge¬
führt, wenn Friedrich nicht eingetreten wäre, um der
gnädigen Frau einen Brief zu überreichen. „Von
Herrn Gieshübler. Der Bote wartet auf Antwort.“


Aller Unmut auf Effi's Antlitz war ſofort ver¬
ſchwunden ; ſchon bloß Gieshübler's Namen zu hören,
that Effi wohl, und ihr Wohlgefühl ſteigerte ſich,
als ſie jetzt den Brief muſterte. Zunächſt war es
gar kein Brief, ſondern ein Billet, die Adreſſe „Frau
Baronin von Innſtetten, geb. von Brieſt“ in wunder¬
voller Kanzleihandſchrift, und ſtatt des Siegels ein
aufgeklebtes rundes Bildchen, eine Lyra, darin ein
Stab ſteckte. Dieſer Stab konnte aber auch ein
Pfeil ſein. Sie reichte das Billet ihrem Manne,
der es ebenfalls bewunderte.


[135]Effi Brieſt

„Nun lies aber.“


Und nun löſte Effi die Oblate und las: „Hoch¬
verehrteſte Frau, gnädigſte Frau Baronin! Geſtatten
Sie mir, meinem reſpektvollſten Vormittagsgruß eine
ganz gehorſamſte Bitte hinzufügen zu dürfen. Mit
dem Mittagszuge wird eine vieljährige liebe Freundin
von mir, eine Tochter unſerer guten Stadt Keſſin,
Fräulein Marietta Trippelli, hier eintreffen und bis
morgen früh unter uns weilen. Am 17. will ſie
in Petersburg ſein, um daſelbſt bis Mitte Januar
zu konzertieren. Fürſt Kotſchukoff öffnet ihr auch dies¬
mal wieder ſein gaſtliches Haus. In ihrer immer gleichen
Güte gegen mich hat die Trippelli mir zugeſagt, den
heutigen Abend bei mir zubringen und einige Lieder
ganz nach meiner Wahl (denn ſie kennt keine
Schwierigkeiten) vortragen zu wollen. Könnten ſich
Frau Baronin dazu verſtehen, dieſem Muſikabende
beizuwohnen? ſieben Uhr. Ihr Herr Gemahl, auf
deſſen Erſcheinen ich mit Sicherheit rechne, wird
meine gehorſamſte Bitte unterſtützen. Anweſend nur
Paſtor Lindequiſt (der begleitet) und natürlich die
verwitwete Frau Paſtorin Trippel. In vorzüglicher
Ergebenheit A. Gieshübler.“


„Nun —“ ſagte Innſtetten, „ja oder nein?“


„Natürlich ja. Das wird mich herausreißen.
Und dann kann ich doch meinem lieben Gieshübler
[136]Effi Brieſtnicht gleich bei ſeiner erſten Einladung einen Korb
geben.“


„Einverſtanden. Alſo Friedrich, ſagen Sie
Mirambo, der doch wohl das Billet gebracht haben
wird, wir würden die Ehre haben.“


Friedrich ging. Als er fort war, fragte Effi:
„Wer iſt Mirambo?“


„Der echte Mirambo iſt Räuberhauptmann in
Afrika . . . Tanganika-See, wenn Deine Geographie
ſo weit reicht . . . unſerer aber iſt bloß Gieshübler's
Kohlenproviſor und Faktotum und wird heute abend
in Frack und baumwollenen Handſchuhen ſehr wahr¬
ſcheinlich aufwarten.“


Es war ganz erſichtlich, daß der kleine Zwiſchen¬
fall auf Effi günſtig eingewirkt und ihr ein gut
Teil ihrer Leichtlebigkeit zurückgegeben hatte, Inn¬
ſtetten aber wollte das Seine thun, dieſe Rekonvales¬
zenz zu ſteigern. „Ich freue mich, daß Du ja ge¬
ſagt haſt und ſo raſch und ohne Beſinnen, und nun
möcht' ich Dir noch einen Vorſchlag machen, um
Dich ganz wieder in Ordnung zu bringen. Ich ſehe
wohl, es ſchleicht Dir noch von der Nacht her etwas
nach, das zu meiner Effi nicht paßt, das durchaus
wieder fort muß, und dazu giebt es nichts beſſeres
als friſche Luft. Das Wetter iſt prachtvoll, friſch
und milde zugleich, kaum daß ein Lüftchen geht;
[137]Effi Brieſtwas meinſt Du, wenn wir eine Spazierfahrt machten,
aber eine lange, nicht bloß ſo durch die Plantage hin,
und natürlich im Schlitten und das Geläut auf und
die weißen Schneedecken, und wenn wir dann um
vier zurück ſind, dann ruhſt Du Dich aus, und um
ſieben ſind wir bei Gieshübler und hören die
Trippelli.“


Effi nahm ſeine Hand. „Wie gut Du biſt,
Geert, und wie nachſichtig. Denn ich muß Dir ja
kindiſch oder doch wenigſtens ſehr kindlich vorgekommen
ſein; erſt das mit meiner Angſt und dann hinterher,
daß ich Dir einen Hausverkauf, und was noch
ſchlimmer iſt, das mit dem Fürſten anſinne. Du
ſollſt ihm den Stuhl vor die Thür ſetzen — es iſt
zum Lachen. Denn ſchließlich iſt er doch der Mann,
der über uns entſcheidet. Auch über mich. Du glaubſt
gar nicht, wie ehrgeizig ich bin. Ich habe Dich
eigentlich bloß aus Ehrgeiz geheiratet. Aber Du
mußt nicht ſolch ernſtes Geſicht dabei machen. Ich
liebe Dich ja . . . wie heißt es doch, wenn man
einen Zweig abbricht und die Blätter abreißt? Von
Herzen, mit Schmerzen, über alle Maßen.“


Und ſie lachte hell auf. „Und nun ſage mir,“
fuhr ſie fort, als Innſtetten noch immer ſchwieg,
„wo ſoll es hingehen?“


„Ich habe mir gedacht, nach der Bahnſtation,
[138]Effi Brieſt aber auf einem Umwege, und dann auf der Chauſſee
zurück. Und auf der Station eſſen wir oder noch
beſſer bei Golchowski, in dem Gaſthofe „Zum Fürſten
Bismarck“, dran wir, wenn Du Dich vielleicht er¬
innerſt, am Tage unſerer Ankunft vorüber kamen.
Solch Vorſprechen wirkt immer gut, und ich habe
dann mit dem Staroſten von Effi's Gnaden ein
Wahlgeſpräch, und wenn er auch perſönlich nicht viel
taugt, ſeine Wirtſchaft hält er in Ordnung und ſeine
Küche noch beſſer. Auf Eſſen und Trinken verſtehen
ſich die Leute hier.“


Es war gegen elf, daß ſie dies Geſpräch führten.
Um zwölf hielt Kruſe mit dem Schlitten vor der
Thür, und Effi ſtieg ein. Johanna wollte Fußſack
und Pelze bringen, aber Effi hatte nach allem, was
noch auf ihr lag, ſo ſehr das Bedürfnis nach friſcher
Luft, daß ſie alles zurückwies und nur eine doppelte
Decke nahm. Innſtetten aber ſagte zu Kruſe: „Kruſe,
wir wollen nun alſo nach dem Bahnhof, wo wir
zwei beide heute früh ſchon 'mal waren. Die Leute
werden ſich wundern, aber es ſchadet nichts. Ich
denke, wir fahren hier an der Plantage lang und
dann links auf den Kroſchentiner Kirchturm zu.
Laſſen Sie die Pferde laufen. Um eins müſſen wir
am Bahnhof ſein.“


Und ſo ging die Fahrt. Über den weißen
[139]Effi Brieſt Dächern der Stadt ſtand der Rauch, denn die Luft¬
bewegung war gering. Auch Utpatel's Mühle drehte
ſich nur langſam, und im Fluge fuhren ſie daran
vorüber, dicht am Kirchhofe hin, deſſen Berberitzen¬
ſträucher über das Gitter hinauswuchſen und mit
ihren Spitzen Effi ſtreiften, ſo daß der Schnee auf
ihre Reiſedecke fiel. An der anderen Seite des Wegs
war ein eingefriedeter Platz, nicht viel größer als ein
Gartenbeet, und innerhalb nichts ſichtbar als eine
junge Kiefer, die mitten daraus hervorragte.


„Liegt da auch wer begraben?“ fragte Effi.


„Ja. Der Chineſe.“


Effi fuhr zuſammen; es war ihr wie ein Stich.
Aber ſie hatte doch Kraft genug, ſich zu beherrſchen
und fragte mit anſcheinender Ruhe: „Unſerer?“


„Ja, unſerer. Auf dem Gemeindekirchhof war
er natürlich nicht unterzubringen, und da hat denn
Kapitän Thomſen, der ſo 'was wie ſein Freund war,
dieſe Stelle gekauft und ihn hier begraben laſſen.
Es iſt auch ein Stein da mit Inſchrift. Alles
natürlich vor meiner Zeit. Aber es wird noch immer
davon geſprochen.“


„Alſo es iſt doch 'was damit. Eine Geſchichte.
Du ſagteſt ſchon heute früh ſo 'was. Und es wird
am Ende das beſte ſein, ich höre, was es iſt. So
lang' ich es nicht weiß, bin ich, trotz aller guten
[140]Effi Brieſt Vorſätze, doch immer ein Opfer meiner Vorſtellungen.
Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann
mich nicht ſo quälen wie meine Phantaſie.“


„Bravo, Effi. Ich wollte nicht davon ſprechen.
Aber nun macht es ſich ſo von ſelbſt, und das iſt
gut. Übrigens iſt es eigentlich gar nichts.“


„Mir gleich; gar nichts oder viel oder wenig.
Fange nur an.“


„Ja, das iſt leicht geſagt. Der Anfang iſt
immer das ſchwerſte, auch bei Geſchichten. Nun, ich
denke, ich beginne mit Kapitän Thomſen.“


„Gut, gut.“


„Alſo Thomſen, den ich Dir ſchon genannt habe,
war viele Jahre lang ein ſogenannter Chinafahrer,
immer mit Reisfracht zwiſchen Shanghai und Singa¬
pore und mochte wohl ſchon ſechzig ſein, als er hier
ankam. Ich weiß nicht, ob er hier geboren war
oder ob er andere Beziehungen hier hatte. Kurz
und gut, er war nun da und verkaufte ſein Schiff,
einen alten Kaſten, draus er nicht viel heraus ſchlug
und kaufte ſich ein Haus, dasſelbe, drin wir jetzt
wohnen. Denn er war draußen in der Welt ein
vermögender Mann geworden. Und von daher
ſchreibt ſich auch das Krokodil und der Haifiſch und
natürlich auch das Schiff . . . Alſo Thomſen war
nun da, ein ſehr adretter Mann (ſo wenigſtens hat
[141]Effi Brieſt man mir geſagt) und wohl gelitten. Auch beim
Bürgermeiſter Kirſtein, und vor allem bei dem da¬
maligen Paſtor in Keſſin, einem Berliner, der kurz
vor Thomſen auch hierher gekommen war und viel
Anfeindung hatte.“


„Glaub' ich. Ich merke das auch; ſie ſind hier
ſo ſtreng und ſelbſtgerecht. Ich glaube, das iſt
pommerſch.“


„Ja und nein, je nachdem. Es giebt auch
Gegenden, wo ſie gar nicht ſtreng ſind und wo's
drunter und drüber geht . . . Aber ſieh' nur, Effi,
da haben wir gerade den Kroſchentiner Kirchturm
dicht vor uns. Wollen wir nicht den Bahnhof auf¬
geben und lieber bei der alten Frau von Graſenabb
vorfahren? Sidonie, wenn ich recht berichtet
bin, iſt nicht zu Hauſe. Wir könnten es alſo
wagen . . .“


„Ich bitte Dich, Geert, wo denkſt Du hin?
Es iſt ja himmliſch, ſo hinzufliegen, und ich fühle
ordentlich, wie mir ſo frei wird und wie alle Angſt
von mir abfällt. Und nun ſoll ich das alles auf¬
geben, bloß um den alten Leuten eine Stippviſite zu
machen und ihnen ſehr wahrſcheinlich eine Verlegen¬
heit zu ſchaffen. Um Gotteswillen nicht. Und dann
will ich vor allem auch die Geſchichte hören. Alſo
wir waren bei Kapitän Thomſen, den ich mir als
[142]Effi Brieſt einen Dänen oder Engländer denke, ſehr ſauber, mit
weißen Vatermördern und ganz weißer Wäſche . . .“


„Ganz richtig. So ſoll er geweſen ſein. Und
mit ihm war eine junge Perſon von etwa zwanzig,
von der einige ſagen, ſie ſei ſeine Nichte geweſen,
aber die meiſten ſagen ſeine Enkelin, was übrigens
den Jahren nach kaum möglich. Und außer der
Enkelin oder der Nichte war da auch noch ein Chineſe,
derſelbe, der da zwiſchen den Dünen liegt und an
deſſen Grab wir eben vorüber gekommen ſind.“


„Gut, gut.“


„Alſo dieſer Chineſe war Diener bei Thomſen,
und Thomſen hielt ſo große Stücke auf ihn, daß
er eigentlich mehr Freund als Diener war. Und
das ging ſo Jahr und Tag. Da mit einemmal
hieß es, Thomſens Enkelin, die, glaub' ich, Nina hieß,
ſolle ſich, nach des Alten Wunſche, verheiraten, auch
mit einem Kapitän. Und richtig, ſo war es auch. Es
gab eine große Hochzeit im Hauſe, der Berliner Paſtor
that ſie zuſammen, und Müller Utpatel, der ein
Konventikler war, und Gieshübler, dem man in der
Stadt in kirchlichen Dingen auch nicht recht traute,
waren geladen, und vor allem viele Kapitäne mit
ihren Frauen und Töchtern. Und wie man ſich
denken kann, es ging hoch her. Am Abend aber war
Tanz, und die Braut tanzte mit jedem und zuletzt
[143]Effi Brieſtauch mit dem Chineſen. Da mit einemmal hieß
es, ſie ſei fort, die Braut nämlich. Und ſie war
auch wirklich fort, irgend wohin, und niemand weiß,
was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen ſtarb
der Chineſe; Thomſen kaufte die Stelle, die ich Dir
gezeigt habe, und da wurd' er begraben. Der Berliner
Paſtor aber ſoll geſagt haben: Man hätte ihn auch
ruhig auf dem chriſtlichen Kirchhof begraben können,
denn der Chineſe ſei ein ſehr guter Menſch geweſen
und gerade ſo gut wie die anderen. Wen er mit
den ‚anderen‘ eigentlich gemeint hat, ſagte mir Gies¬
hübler, das wiſſe man nicht recht.“


„Aber ich bin in dieſer Sache doch ganz und gar
gegen den Paſtor; ſo 'was darf man nicht ausſprechen,
weil es gewagt und unpaſſend iſt. Das würde ſelbſt
Niemeyer nicht geſagt haben.“


„Und iſt auch dem armen Paſtor, der übrigens
Trippel hieß, ſehr verdacht worden, ſo daß es eigentlich
ein Glück war, daß er drüber hin ſtarb, ſonſt hätte
er ſeine Stelle verloren. Denn die Stadt, trotzdem
ſie ihn gewählt, war doch auch gegen ihn, gerade
ſo wie Du, und das Konſiſtorium natürlich erſt
recht.“


„Trippel ſagſt Du? Dann hängt er am Ende
mit der Frau Paſtor Trippel zuſammen, die wir
heute abend ſehen ſollen?“


[144]Effi Brieſt

„Natürlich hängt er mit der zuſammen. Er
war ihr Mann und iſt der Vater von der Trippelli.“


Effi lachte. „Von der Trippelli! Nun ſehe ich
erſt klar in allem. Daß ſie in Keſſin geboren, ſchrieb
ja ſchon Gieshübler; aber ich dachte, ſie ſei die
Tochter von einem italieniſchen Konſul. Wir haben
ja ſo viele fremdländiſche Namen hier. Und nun
iſt ſie gut deutſch und ſtammt von Trippel. Iſt ſie
denn ſo vorzüglich, daß ſie wagen konnte, ſich ſo zu
italieniſieren?“


„Dem Mutigen gehört die Welt. Übrigens iſt
ſie ganz tüchtig. Sie war ein paar Jahr lang in
Paris bei der berühmten Viardot, wo ſie auch den
ruſſiſchen Fürſten kennen lernte, denn die ruſſiſchen
Fürſten ſind ſehr aufgeklärt, über kleine Standes¬
vorurteile weg, und Kotſchukoff und Gieshübler —
den ſie übrigens ‚Onkel‘ nennt, und man kann faſt
von ihm ſagen, er ſei der geborne Onkel — dieſe
beiden ſind es recht eigentlich, die die kleine Marie
Trippel zu dem gemacht haben, was ſie jetzt iſt.
Gieshübler war es, durch den ſie nach Paris kam,
und Kotſchukoff hat ſie dann Trippelli trans¬
poniert.“


„Ach, Geert, wie reizend iſt das alles und
welch Alltagsleben habe ich doch in Hohen-Cremmen
geführt! Nie was Apartes.“


[145]Effi Brieſt

Innſtetten nahm ihre Hand und ſagte: „So
darfſt Du nicht ſprechen, Effi. Spuk, dazu kann man
ſich ſtellen wie man will. Aber hüte Dich vor dem
Aparten oder was man ſo das Aparte nennt. Was
Dir ſo verlockend erſcheint — und ich rechne auch
ein Leben dahin, wie's die Trippelli führt — das
bezahlt man in der Regel mit ſeinem Glück. Ich
weiß wohl, wie ſehr Du Dein Hohen-Cremmen liebſt
und daran hängſt, aber Du ſpotteſt doch auch oft
darüber und haſt keine Ahnung davon, was ſtille
Tage, wie die Hohen-Cremmner, bedeuten.“


„Doch, doch,“ ſagte ſie. „Ich weiß es wohl.
Ich höre nur gern einmal von etwas anderem, und
dann wandelt mich die Luſt an, mit dabei zu ſein.
Aber Du haſt ganz recht. Und eigentlich hab' ich
doch eine Sehnſucht nach Ruh' und Frieden.“


Innſtetten drohte ihr mit dem Finger. „Meine
einzig liebe Effi, das denkſt Du Dir nun auch wieder
ſo aus. Immer Phantaſien, 'mal ſo, 'mal ſo.“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 10
[[146]]

Elftes Kapitel.

Die Fahrt verlief ganz wie geplant. Um ein
Uhr hielt der Schlitten unten am Bahndamm vor
dem Gaſthauſe „Zum Fürſten Bismarck“, und
Golchowski, glücklich, den Landrat bei ſich zu ſehen,
war befliſſen, ein vorzügliches Dejeuner herzurichten.
Als zuletzt das Deſſert und der Ungarwein aufge¬
tragen wurden, rief Innſtetten den von Zeit zu Zeit
erſcheinenden und nach der Ordnung ſehenden Wirt
heran und bat ihn, ſich mit an den Tiſch zu ſetzen
und ihnen 'was zu erzählen. Dazu war Golchowski
denn auch der rechte Mann; auf zwei Meilen in
der Runde wurde kein Ei gelegt, von dem er nicht
wußte. Das zeigte ſich auch heute wieder. Sidonie
Graſenabb, Innſtetten hatte recht vermutet, war, wie
vorige Weihnachten, ſo auch diesmal wieder auf vier
Wochen zu „Hofpredigers“ gereiſt; Frau von Palleske,
ſo hieß es weiter, habe ihre Jungfer wegen einer
fatalen Geſchichte Knall und Fall entlaſſen müſſen,
[147]Effi Brieſt und mit dem alten Fraude ſteh' es ſchlecht — es
werde zwar in Kurs geſetzt, er ſei bloß ausgeglitten,
aber es ſei ein Schlaganfall geweſen, und der Sohn,
der in Liſſa bei den Huſaren ſtehe, werde jede Stunde
erwartet. Nach dieſem Geplänkel war man dann,
zu Ernſthafterem übergehend, auf Varzin gekommen.
„Ja,“ ſagte Golchowski, „wenn man ſich den Fürſten
ſo als Papiermüller denkt! Es iſt doch alles ſehr
merkwürdig; eigentlich kann er die Schreiberei nicht
leiden, und das bedruckte Papier erſt recht nicht,
und nun legt er doch ſelber eine Papiermühle an.“


„Schon recht, lieber Golchowski,“ ſagte Innſtetten,
„aber aus ſolchen Widerſprüchen kommt man im Leben
nicht heraus. Und da hilft auch kein Fürſt und keine
Größe.“


„Nein, nein, da hilft keine Größe.“


Wahrſcheinlich, daß ſich dies Geſpräch über den
Fürſten noch fortgeſetzt hätte, wenn nicht in eben
dieſem Augenblicke die von der Bahn her herüber¬
klingende Signalglocke einen bald eintreffenden Zug
angemeldet hätte. Innſtetten ſah nach der Uhr.


„Welcher Zug iſt das, Golchowski?“


„Das iſt der Danziger Schnellzug; er hält
hier nicht, aber ich gehe doch immer hinauf und
zähle die Wagen, und mitunter ſteht auch einer am
Fenſter, den ich kenne. Hier gleich hinter meinem
10 *[148]Effi BrieſtHofe führt eine Treppe den Damm hinauf, Wärter¬
haus 417 . . .“


„O, das wollen wir uns zu Nutze machen,“
ſagte Effi. „Ich ſehe ſo gern Züge . . .“


„Dann iſt es die höchſte Zeit, gnäd'ge Frau.“


Und ſo machten ſich denn alle drei auf den
Weg und ſtellten ſich, als ſie oben waren, in einem
neben dem Wärterhauſe gelegenen Gartenſtreifen auf,
der jetzt freilich unter Schnee lag, aber doch eine
frei geſchaufelte Stelle hatte. Der Bahnwärter ſtand
ſchon da, die Fahne in der Hand. Und jetzt jagte
der Zug über das Bahnhofsgeleiſe hin und im
nächſten Augenblick an dem Häuschen und an dem
Gartenſtreifen vorüber. Effi war ſo erregt, daß ſie
nichts ſah und nur dem letzten Wagen, auf deſſen
Höhe ein Bremſer ſaß, ganz wie benommen nach¬
blickte.


„Sechs Uhr fünfzig iſt er in Berlin,“ ſagte
Innſtetten, „und noch eine Stunde ſpäter, ſo können
ihn die Hohen-Cremmner, wenn der Wind ſo ſteht,
in der Ferne vorbeiklappern hören. Möchteſt Du
mit, Effi?“


Sie ſagte nichts. Als er aber zu ihr hinüber¬
blickte, ſah er, daß eine Thräne in ihrem Auge
ſtand.


[149]Effi Brieſt

Effi war, als der Zug vorbeijagte, von einer
herzlichen Sehnſucht erfaßt worden. So gut es ihr
ging, ſie fühlte ſich trotzdem wie in einer fremden
Welt. Wenn ſie ſich eben noch an dem einen oder
andern entzückt hatte, ſo kam ihr doch gleich nachher
zum Bewußtſein, was ihr fehlte. Da drüben lag
Varzin, und da nach der anderen Seite hin blitzte der
Kroſchentiner Kirchturm auf, und weithin der Morge¬
nitzer, und da ſaßen die Graſenabb's und die Borcke's,
nicht die Belling's und nicht die Brieſt's. „Ja,
die!“ Innſtetten hatte ganz recht gehabt mit dem
raſchen Wechſel ihrer Stimmung, und ſie ſah jetzt
wieder alles, was zurücklag, wie in einer Verklärung.
Aber ſo gewiß ſie voll Sehnſucht dem Zuge nach¬
geſehen, ſie war doch andererſeits viel zu beweglichen
Gemüts, um lange dabei zu verweilen und ſchon
auf der Heimfahrt, als der rote Ball der nieder¬
gehenden Sonne ſeinen Schimmer über den Schnee
ausgoß, fühlte ſie ſich wieder freier; alles erſchien
ihr ſchön und friſch, und als ſie, nach Keſſin zurück¬
gekehrt, faſt mit dem Glockenſchlage ſieben in den
Gieshüblerſchen Flur eintrat, war ihr nicht bloß
behaglich, ſondern beinah übermütig zu Sinn, wozu
die das Haus durchziehende Baldrian- und Veilchen¬
wurzel-Luft das ihrige beitragen mochte.


Pünktlich waren Innſtetten und Frau erſchienen,
[150]Effi Brieſtaber trotz dieſer Pünktlichkeit immer noch hinter den
anderen Geladenen zurückgeblieben; Paſtor Lindequiſt,
die alte Frau Trippel und die Trippelli ſelbſt waren
ſchon da. Gieshübler — im blauen Frack mit matt¬
goldenen Knöpfen, dazu Pincenez an einem breiten
ſchwarzen Bande, das wie ein Ordensband auf der
blendendweißen Piquéweſte lag — Gieshübler konnte
ſeiner Erregung nur mit Mühe Herr werden. „Darf
ich die Herrſchaften mit einander bekannt machen;
Baron und Baronin Innſtetten, Frau Paſtor Trippel,
Fräulein Marietta Trippelli.“ Paſtor Lindequiſt,
den alle kannten, ſtand lächelnd bei Seite.


Die Trippelli, Anfang der Dreißig, ſtark männlich
und von ausgeſprochen humoriſtiſchem Typus, hatte
bis zu dem Momente der Vorſtellung den Sofa-
Ehrenplatz inne gehabt. Nach der Vorſtellung aber
ſagte ſie, während ſie auf einen in der Nähe ſtehenden
Stuhl mit hoher Lehne zuſchritt: „Ich bitte Sie
nunmehro, gnäd'ge Frau, die Bürden und Fährlich¬
keiten Ihres Amtes auf ſich nehmen zu wollen.
Denn von ,Fährlichkeiten‘ — und ſie wies auf das
Sofa — wird ſich in dieſem Falle wohl ſprechen
laſſen. Ich habe Gieshübler ſchon vor Jahr und
Tag darauf aufmerkſam gemacht, aber leider ver¬
geblich; ſo gut er iſt, ſo eigenſinnig iſt er auch.“


„Aber Marietta . . .“


[151]Effi Brieſt

„Dies Sofa nämlich, deſſen Geburt um wenig¬
ſtens fünfzig Jahre zurückliegt, iſt noch nach einem
altmodiſchen Verſenkungsprinzip gebaut, und wer ſich
ihm anvertraut, ohne vorher einen Kiſſenturm unter¬
geſchoben zu haben, ſinkt ins Bodenloſe, jedenfalls
aber gerade tief genug, um die Kniee wie ein Monu¬
ment aufragen zu laſſen.“ All dies wurde ſeitens
der Trippelli mit eben ſo viel Bonhommie wie
Sicherheit hingeſprochen, in einem Tone, der aus¬
drücken ſollte: ,Du biſt die Baronin Innſtetten, ich
bin die Trippelli.‘


Gieshübler liebte ſeine Künſtlerfreundin en¬
thuſiaſtiſch und dachte hoch von ihren Talenten; aber
all ſeine Begeiſterung konnte ihn doch nicht blind
gegen die Thatſache machen, daß ihr von geſell¬
ſchaftlicher Feinheit nur ein beſcheidenes Maß zu
teil geworden war. Und dieſe Feinheit war gerade
das, was er perſönlich kultivierte. „Liebe Marietta,“
nahm er das Wort, „Sie haben eine ſo reizend
heitere Behandlung ſolcher Fragen; aber was mein
Sofa betrifft, ſo haben Sie wirklich unrecht, und
jeder Sachverſtändige mag zwiſchen uns entſcheiden.
Selbſt ein Mann wie Fürſt Kotſchukoff . . .“


„Ach, ich bitte Sie, Gieshübler, laſſen Sie doch
den. Immer Kotſchukoff. Sie werden mich bei
der gnäd'gen Frau hier noch in den Verdacht bringen,
[152]Effi Brieſt als ob ich bei dieſem Fürſten — der übrigens nur
zu den Kleineren zählt und nicht mehr als tauſend
Seelen hat, das heißt hatte (früher wo die Rech¬
nung noch nach Seelen ging) — als ob ich ſtolz
wäre, ſeine tauſend und einſte Seele zu ſein. Nein,
es liegt wirklich anders; „immer frei weg“, Sie
kennen meine Deviſe, Gieshübler. Kotſchukoff iſt ein
guter Kamerad und mein Freund, aber von Kunſt
und ähnlichen Sachen verſteht er gar nichts, von
Muſik gewiß nicht, wiewohl er Meſſen und Oratorien
komponiert — die meiſten ruſſiſchen Fürſten, wenn
ſie Kunſt treiben, fallen ein bißchen nach der geiſt¬
lichen oder orthodoxen Seite hin —, und zu den
vielen Dingen, von denen er nichts verſteht, gehören
auch unbedingt Einrichtungs- und Tapezierfragen.
Er iſt gerade vornehm genug, um ſich alles als
ſchön aufreden zu laſſen, was bunt ausſieht und viel
Geld koſtet.“


Innſtetten amüſierte ſich, und Paſtor Lindequiſt
war in einem allerſichtlichſten Behagen. Die gute
alte Trippel aber geriet über den ungenierten Ton
ihrer Tochter aus einer Verlegenheit in die andere,
während Gieshübler es für angezeigt hielt, eine ſo
ſchwierig werdende Unterhaltung zu coupieren. Dazu
waren etliche Geſangspiecen das beſte. Daß Marietta
Lieder von anfechtbarem Inhalt wählen würde, war
[153]Effi Brieſt nicht anzunehmen, und ſelbſt wenn dies ſein ſollte,
ſo war ihre Vortragskunſt ſo groß, daß der Inhalt
dadurch geadelt wurde. „Liebe Marietta,“ nahm er
alſo das Wort, „ich habe unſer kleines Mahl zu
acht Uhr beſtellt. Wir hätten alſo noch dreiviertel
Stunden, wenn Sie nicht vielleicht vorziehen, während
Tiſch ein heitres Lied zu ſingen oder vielleicht erſt,
wenn wir von Tiſch aufgeſtanden ſind . . .“


„Ich bitte Sie, Gieshübler! Sie, der Mann
der Äſthetik. Es giebt nichts Unäſthetiſcheres, als
einen Geſangsvortrag mit vollem Magen. Außer¬
dem — und ich weiß, Sie ſind ein Mann der aus¬
geſuchten Küche, ja, Gourmand — außerdem ſchmeckt
es beſſer, wenn man die Sache hinter ſich hat. Erſt
Kunſt und dann Nußeis, das iſt die richtige Reihen¬
folge.“


„Alſo ich darf Ihnen die Noten bringen,
Marietta?“


„Noten bringen. Ja, was heißt das, Gies¬
hübler? Wie ich Sie kenne, werden Sie ganze
Schränke voll Noten haben, und ich kann Ihnen
doch nicht den ganzen Bock und Bote vorſpielen.
Noten! Was für Noten, Gieshübler, darauf kommt
es an. Und dann das es richtig liegt, Altſtimme . . .“


„Nun ich werde ſchon bringen.“


Und er machte ſich an einem Schranke zu
[154]Effi Brieſt ſchaffen, ein Fach nach dem andern herausziehend,
während die Trippelli ihren Stuhl weiter links um
den Tiſch herum ſchob, ſo daß ſie nun dicht neben
Effi ſaß.


„Ich bin neugierig, was er bringen wird,“
ſagte ſie. Effi geriet dabei in eine kleine Ver¬
legenheit.


„Ich möchte annehmen,“ antwortete ſie be¬
fangen, „etwas von Gluck, etwas ausgeſprochen
Dramatiſches . . . Überhaupt, mein gnädigſtes Fräu¬
lein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, ich
bin überraſcht, zu hören, daß Sie lediglich Konzert¬
ſängerin ſind. Ich dächte, daß Sie, wie wenige, für
die Bühne berufen ſein müßten. Ihre Erſcheinung,
Ihre Kraft, Ihr Organ . . . ich habe noch ſo wenig
derart kennen gelernt, immer nur auf kurzen Be¬
ſuchen in Berlin . . . und dann war ich noch ein
halbes Kind. Aber ich dächte Orpheus oder Chrim¬
hild oder die Veſtalin.“


Die Trippelli wiegte den Kopf und ſah in Ab¬
gründe, kam aber zu keiner Entgegnung, weil eben
jetzt Gieshübler wieder erſchien und ein halbes
Dutzend Notenhefte vorlegte, die ſeine Freundin in
raſcher Reihenfolge durch die Hand gleiten ließ.
,Erlkönig‘ . . . ah, bah; ‚Bächlein laß' dein Rauſchen
ſein . . .‘ Aber Gieshübler, ich bitte Sie, Sie ſind
[155]Effi Brieſtein Murmeltier, Sie haben ſieben Jahre lang ge¬
ſchlafen . . . Und hier Löwe'ſche Balladen; auch
nicht gerade das Neueſte. ‚Glocken von Speier‘ . . .
Ach dies ewige Bim Bam, das beinah' einer Ku¬
liſſenreißerei gleich kommt, iſt geſchmacklos und ab¬
geſtanden. Aber hier ‚Ritter Olaf‘ . . . nun das geht.“


Und ſie ſtand auf, und während der Paſtor
begleitete, ſang ſie den Olaf mit großer Sicherheit
und Bravour und erntete allgemeinen Beifall.


Es wurde dann noch ähnlich Romantiſches ge¬
funden, einiges aus dem fliegenden Holländer und
aus Zampa, dann der Heideknabe, lauter Sachen,
die ſie mit eben ſo viel Virtuoſität wie Seelenruhe
vortrug, während Effi von Text und Kompoſition
wie benommen war.


Als die Trippelli mit dem Heideknaben fertig war,
ſagte ſie: „Nun iſt es genug,“ eine Erklärung, die ſo
beſtimmt von ihr abgegeben wurde, daß weder Gies¬
hübler noch ein anderer den Mut hatte, mit weiteren
Bitten in ſie zu dringen. Am wenigſten Effi. Dieſe
ſagte nur, als Gieshübler's Freundin wieder neben
ihr ſaß: „Daß ich Ihnen doch ſagen könnte, mein
gnädigſtes Fräulein, wie dankbar ich Ihnen bin!
Alles ſo ſchön, ſo ſicher, ſo gewandt. Aber eines,
wenn Sie mir verzeihen, bewundere ich faſt noch
mehr, das iſt die Ruhe, womit Sie dieſe Sachen
[156]Effi Brieſt vorzutragen wiſſen. Ich bin ſo leicht Eindrücken
hingegeben, und wenn ich die kleinſte Geſpenſter¬
geſchichte höre, ſo zittere ich und kann mich kaum
wieder zurecht finden. Und Sie tragen das ſo
mächtig und erſchütternd vor und ſind ſelbſt ganz
heiter und guter Dinge.“


„Ja, meine gnädigſte Frau, das iſt in der Kunſt
nicht anders. Und nun gar erſt auf dem Theater,
vor dem ich übrigens glücklicher Weiſe bewahrt ge¬
blieben bin. Denn ſo gewiß ich mich perſönlich
gegen ſeine Verſuchungen gefeit fühle — es verdirbt
den Ruf, alſo das beſte, was man hat. Im übrigen
ſtumpft man ab, wie mir Kolleginnen hundertfach
verſichert haben. Da wird vergiftet und erſtochen,
und der toten Julia flüſtert Romeo einen Kalauer
ins Ohr oder wohl auch eine Malice, oder er drückt
ihr einen kleinen Liebesbrief in die Hand.“


„Es iſt mir unbegreiflich. Und um bei dem
ſtehen zu bleiben, was ich Ihnen dieſen Abend ver¬
danke, beiſpielsweiſe bei dem Geſpenſtiſchen im Olaf,
ich verſichere Ihnen, wenn ich einen ängſtlichen Traum
habe, oder wenn ich glaube, über mir hörte ich ein
leiſes Tanzen oder Muſizieren, während doch niemand
da iſt, oder es ſchleicht wer an meinem Bette vorbei,
ſo bin ich außer mir und kann es Tage lang nicht
vergeſſen.“


[157]Effi Brieſt

„Ja, meine gnädigſte Frau, was Sie da ſchildern
und beſchreiben, das iſt auch etwas anderes, das iſt
ja wirklich oder kann wenigſtens etwas Wirkliches
ſein. Ein Geſpenſt, das durch die Ballade geht, da
graule ich mich gar nicht, aber ein Geſpenſt, das
durch meine Stube geht, iſt mir, gerade ſo wie
andern, ſehr unangenehm. Darin empfinden wir
alſo ganz gleich.“


„Haben Sie denn dergleichen auch einmal erlebt?“


„Gewiß. Und noch dazu bei Kotſchukoff. Und
ich habe mir auch ausbedungen, daß ich diesmal
anders ſchlafe, vielleicht mit der engliſchen Gouver¬
nante zuſammen. Das iſt nämlich eine Quäkerin,
und da iſt man ſicher.“


„Und Sie halten dergleichen für möglich?“


„Meine gnädigſte Frau, wenn man ſo alt iſt
wie ich und viel 'rumgeſtoßen wurde und in Ru߬
land war und ſogar auch ein halbes Jahr in Ru¬
mänien, da hält man alles für möglich. Es giebt
ſo viel ſchlechte Menſchen, und das andere findet
ſich dann auch, das gehört dann ſo zu ſagen mit
dazu.“


Effi horchte auf.


„Ich bin,“ fuhr die Trippelli fort, „aus einer
ſehr aufgeklärten Familie (bloß mit Mutter war es
immer nicht ſo recht), und doch ſagte mir mein
[158]Effi Brieſt Vater, als das mit dem Pſychographen aufkam:
„Höre Marie, das iſt 'was.“ Und er hat recht
gehabt, es iſt auch 'was damit. Überhaupt, man iſt
links und rechts umlauert, hinten und vorn. Sie
werden das noch kennen lernen.“


In dieſem Augenblicke trat Gieshübler heran
und bot Effi den Arm, Innſtetten führte Marietta,
dann folgte Paſtor Lindequiſt und die verwitwete
Trippel. So ging man zu Tiſch.

[[159]]

Zwölftes Kapitel.

Es war ſpät, als man aufbrach. Schon bald
nach Zehn hatte Effi zu Gieshübler geſagt: „es ſei
nun wohl Zeit; Fräulein Trippelli, die den Zug
nicht verſäumen dürfe, müſſe ja ſchon um ſechs von
Keſſin aufbrechen,“ die daneben ſtehende Trippelli
aber, die dieſe Worte gehört, hatte mit der ihr
eigenen ungenierten Beredſamkeit gegen ſolche zarte
Rückſichtsnahme proteſtiert. „Ach, meine gnädigſte
Frau, Sie glauben, daß unſereins einen regelmäßigen
Schlaf braucht, das trifft aber nicht zu; was wir
regelmäßig brauchen, heißt Beifall und hohe Preiſe.
Ja, lachen Sie nur. Außerdem, (ſo 'was lernt man,)
kann ich auch im Coupé ſchlafen, in jeder Situation
und ſogar auf der linken Seite und brauche nicht
einmal das Kleid aufzumachen. Freilich bin ich auch
nie eingepreßt; Bruſt und Lunge müſſen immer frei
ſein, und vor allem das Herz. „Ja, meine gnädigſte
Frau, das iſt die Hauptſache. Und dann das Kapitel
[160]Effi Brieſt Schlaf überhaupt, — die Menge thut es nicht, was
entſcheidet, iſt die Qualität; ein guter Nicker von
fünf Minuten iſt beſſer als fünf Stunden unruhige
'Rumdreherei, 'mal links, 'mal rechts. Übrigens
ſchläft man in Rußland wundervoll, trotz des ſtarken
Thees. Es muß die Luft machen oder das ſpäte
Diner oder weil man ſo verwöhnt wird. Sorgen
giebt es in Rußland nicht; darin — im Geldpunkt
ſind beide gleich — iſt Rußland noch beſſer als
Amerika.“


Nach dieſer Erklärung der Trippelli hatte Effi
von allen Mahnungen zum Aufbruch Abſtand ge¬
nommen, und ſo war Mitternacht herangekommen.
Man trennte ſich heiter und herzlich und mit einer
gewiſſen Vertraulichkeit.


Der Weg von der Mohrenapotheke bis zur
landrätlichen Wohnung war ziemlich weit; er kürzte
ſich aber dadurch, daß Paſtor Lindequiſt bat, Inn¬
ſtetten und Frau eine Strecke begleiten zu dürfen;
ein Spaziergang unterm Sternenhimmel ſei das
beſte, um über Gieshübler's Rheinwein hinweg¬
zukommen. Unterwegs wurde man natürlich nicht
müde, die verſchiedenſten Trippelliana heranzuziehen;
Effi begann mit dem, was ihr in Erinnerung ge¬
blieben, und gleich nach ihr kam der Paſtor an die
Reihe. Dieſer, ein Ironikus, hatte die Trippelli,
[161]Effi Brieſt wie nach vielem ſehr Weltlichen, ſo ſchließlich auch
nach ihrer kirchlichen Richtung gefragt und dabei
von ihr in Erfahrung gebracht, daß ſie nur eine
Richtung kenne, die orthodoxe. Ihr Vater ſei frei¬
lich ein Rationaliſt geweſen, faſt ſchon ein Freigeiſt,
weshalb er auch den Chineſen am liebſten auf dem
Gemeindekirchhof gehabt hätte; ſie ihrerſeits ſei aber
ganz entgegengeſetzter Anſicht, trotzdem ſie perſönlich
des großen Vorzugs genieße, gar nichts zu glauben.
Aber ſie ſei ſich in ihrem entſchiedenen Nichtglauben
doch auch jeden Augenblick bewußt, daß das ein
Spezialluxus ſei, den man ſich nur als Privatperſon
geſtatten könne. Staatlich höre der Spaß auf, und
wenn ihr das Kultusminiſterium oder gar ein Kon¬
ſiſtorialregiment unterſtünde, ſo würde ſie mit un¬
nachſichtiger Strenge vorgehen. „Ich fühle ſo 'was
von einem Torquemada in mir.“


Innſtetten war ſehr erheitert und erzählte ſeiner¬
ſeits, daß er etwas ſo Heikles, wie das Dogmatiſche,
gefliſſentlich vermieden, aber dafür das Moraliſche
deſto mehr in den Vordergrund geſtellt habe. Haupt¬
thema ſei das Verführeriſche geweſen, das beſtändige
Gefährdetſein, das in allem öffentlichen Auftreten
liege, worauf die Trippelli leichthin und nur mit
Betonung der zweiten Satzhälfte geantwortet habe:
„Ja, beſtändig gefährdet; am meiſten die Stimme.“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 11[162]Effi Brieſt

Unter ſolchem Geplauder war, ehe man ſich
trennte, der Trippelli-Abend noch einmal an ihnen
vorübergezogen und erſt drei Tage ſpäter hatte ſich
Gieshübler's Freundin durch ein von Petersburg aus
an Effi gerichtetes Telegramm noch einmal in Er¬
innerung gebracht. Es lautete: Madame la Ba¬
ronne d'Innstetten, née de Briest. Bien arrivée.
Prince K. à la gare. Plus épris de moi que
jamais. Mille fois merci de votre bon accueil.
Compliments empressés à Monsieur le Baron.
Marietta Trippelli.


Innſtetten war entzückt und gab dieſem Ent¬
zücken lebhafteren Ausdruck als Effi begreifen konnte.


„Ich verſtehe Dich nicht, Geert.“


„Weil Du die Trippelli nicht verſtehſt. Mich
entzückt die Echtheit; alles da, bis auf das Pünktchen
überm i.“


„Du nimmſt alſo alles als eine Komödie.“


„Aber als was ſonſt? Alles berechnet für dort
und für hier, für Kotſchukoff und für Gieshübler.
Gieshübler wird wohl eine Stiftung machen, viel¬
leicht auch bloß ein Legat für die Trippelli.“


Die muſikaliſche Soiree bei Gieshübler hatte
Mitte Dezember ſtattgefunden, gleich danach begannen
die Vorbereitungen für Weihnachten, und Effi, die
ſonſt ſchwer über dieſe Tage hingekommen wäre,
[163]Effi Brieſt ſegnete es, daß ſie ſelber einen Hausſtand hatte,
deſſen Anſprüche befriedigt werden mußten. Es galt
nachſinnen, fragen, anſchaffen, und das alles ließ
trübe Gedanken nicht aufkommen. Am Tage vor
Heiligabend trafen Geſchenke von den Eltern aus
Hohen-Cremmen ein, und mit in die Kiſte waren
allerhand Kleinigkeiten aus dem Kantorhauſe gepackt:
wunderſchöne Reinetten von einem Baum, den Effi
und Jahnke vor mehreren Jahren gemeinſchaftlich
okuliert hatten, und dazu braune Puls- und Knie¬
wärmer von Bertha und Hertha. Hulda ſchrieb
nur wenige Zeilen, weil ſie, wie ſie ſich entſchuldigte,
für X. noch eine Reiſedecke zu ſtricken habe. „Was
einfach nicht wahr iſt,“ ſagte Effi. „Ich wette, X.
exiſtiert gar nicht. Daß ſie nicht davon laſſen kann,
ſich mit Anbetern zu umgeben, die nicht da ſind!“


Und ſo kam Heiligabend heran.


Innſtetten ſelbſt baute auf für ſeine junge Frau,
der Baum brannte und ein kleiner Engel ſchwebte
oben in Lüften. Auch eine Krippe war da mit
hübſchen Tranſparenten und Inſchriften, deren eine
ſich, in leiſer Andeutung, auf ein dem Innſtetten'¬
ſchen Hauſe für nächſtes Jahr bevorſtehendes Er¬
eignis bezog. Effi las es und errötete. Dann ging
ſie auf Innſtetten zu, um ihm zu danken, aber eh'
ſie dies konnte, flog, nach altpommerſchem Weihnachts¬
11 *[164]Effi Brieſt brauch, ein Julklapp in den Hausflur: eine große
Kiſte, drin eine Welt von Dingen ſteckte. Zuletzt
fand man die Hauptſache, ein zierliches, mit allerlei
japaniſchen Bildchen überklebtes Morſellenkäſtchen,
deſſen eigentlichem Inhalt auch noch ein Zettelchen
beigegeben war. Es hieß da:


Drei Könige kamen zum Heiligenchriſt,

Mohrenkönig einer geweſen iſt; —

Ein Mohrenapothekerlein

Erſcheinet heute mit Spezerein,

Doch ſtatt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle,

Bringt er Piſtazien- und Mandel-Morſelle.

Effi las es zwei-, dreimal und freute ſich dar¬
über. „Die Huldigungen eines guten Menſchen haben
doch etwas beſonders Wohlthuendes. Meinſt Du
nicht auch, Geert?“


„Gewiß meine ich das. Es iſt eigentlich das
einzige, was einem Freude macht oder wenigſtens
Freude machen ſollte. Denn jeder ſteckt noch ſo
nebenher in allerhand dummem Zeuge drinn. Ich
auch. Aber freilich, man iſt wie man iſt.“


Der erſte Feiertag war Kirchtag, am zweiten
war man bei Borcke's draußen, alles zugegen, mit
Ausnahme von Graſenabb's, die nicht kommen wollten,
„weil Sidonie nicht da ſei“, was man als Ent¬
ſchuldigung allſeitig ziemlich ſonderbar fand. Einige
[165]Effi Brieſt tuſchelten ſogar: „Umgekehrt; gerade deshalb hätten
ſie kommen ſollen.“ Am Sylveſter war Reſſourcen¬
ball, auf dem Effi nicht fehlen durfte und auch nicht
wollte, denn der Ball gab ihr Gelegenheit, endlich
einmal die ganze Stadtflora beiſammen zu ſehen.
Johanna hatte mit den Vorbereitungen zum Ball¬
ſtaate für ihre Gnäd'ge vollauf zu thun, Gieshübler,
der, wie alles, ſo auch ein Treibhaus hatte, ſchickte
Kamelien, und Innſtetten, ſo knapp bemeſſen die
Zeit für ihn war, fuhr am Nachmittage noch über
Land nach Papenhagen, wo drei Scheunen abgebrannt
waren.


Es war ganz ſtill im Hauſe. Chriſtel, be¬
ſchäftigungslos, hatte ſich ſchläfrig eine Fußbank an
den Herd gerückt, und Effi zog ſich in ihr Schlaf¬
zimmer zurück, wo ſie ſich, zwiſchen Spiegel und
Sofa, an einen kleinen, eigens zu dieſem Zweck zu¬
recht gemachten Schreibtiſch ſetzte, um von hier aus
an die Mama zu ſchreiben, der ſie für Weihnachts¬
brief und Weihnachtsgeſchenke bis dahin bloß in einer
Karte gedankt, ſonſt aber ſeit Wochen keine Nachricht
gegeben hatte.


„Keſſin, 31. Dezember. Meine liebe Mama!
Das wird nun wohl ein langer Schreibebrief werden,
denn ich habe — die Karte rechnet nicht — lange
nichts von mir hören laſſen. Als ich das letztemal
[166]Effi Brieſt ſchrieb, ſteckte ich noch in den Weihnachtsvorbereitungen,
jetzt liegen die Weihnachtstage ſchon zurück. Inn¬
ſtetten und mein guter Freund Gieshübler hatten
alles aufgeboten, mir den heiligen Abend ſo angenehm
wie möglich zu machen, aber ich fühlte mich doch ein
wenig einſam und bangte mich nach Euch. Über¬
haupt, ſo viel Urſache ich habe, zu danken und froh
und glücklich zu ſein, ich kann ein Gefühl des Allein¬
ſeins nicht ganz los werden, und wenn ich mich
früher, vielleicht mehr als nötig, über Hulda's ewige
Gefühlsthräne moquiert habe, ſo werde ich jetzt da¬
für beſtraft und habe ſelber mit dieſer Thräne zu
kämpfen. Denn Innſtetten darf es nicht ſehen. Ich
bin aber ſicher, daß das alles beſſer werden wird,
wenn unſer Hausſtand ſich mehr belebt, und das
wird der Fall ſein, meine liebe Mama. Was ich
neulich andeutete, das iſt nun Gewißheit, und Inn¬
ſtetten bezeugt mir täglich ſeine Freude darüber.
Wie glücklich ich ſelber im Hinblick darauf bin, brauche
ich nicht erſt zu verſichern, ſchon weil ich dann Leben
und Zerſtreuung um mich her haben werde oder,
wie Geert ſich ausdrückt, „ein liebes Spielzeug“.
Mit dieſem Worte wird er wohl recht haben, aber
er ſollte es lieber nicht gebrauchen, weil es mir
immer einen kleinen Stich giebt und mich daran er¬
innert, wie jung ich bin, und daß ich noch halb in
[167]Effi Brieſtdie Kinderſtube gehöre. Dieſe Vorſtellung verläßt
mich nicht (Geert meint, es ſei krankhaft), und bringt
es zu Wege, daß das, was mein höchſtes Glück ſein
ſollte, doch faſt noch mehr eine beſtändige Verlegen¬
heit für mich iſt. Ja, meine liebe Mama, als die
guten Flemming'ſchen Damen ſich neulich nach allem
Möglichen erkundigten, war mir zu Mut, als ſtünd'
ich ſchlecht vorbereitet in einem Examen, und ich
glaube auch, daß ich recht dumm geantwortet habe.
Verdrießlich war ich auch. Denn manches, was wie
Teilnahme ausſieht, iſt doch bloß Neugier und wirkt
um ſo zudringlicher, als ich ja noch lange, bis in
den Sommer hinein, auf das frohe Ereignis zu
warten habe. Ich denke, die erſten Julitage. Dann
mußt Du kommen oder noch beſſer, ſobald ich
einigermaßen wieder bei Wege bin, komme ich,
nehme hier Urlaub und mache mich auf nach Hohen-
Cremmen. Ach, wie ich mich darauf freue und auf
die havelländiſche Luft — hier iſt es faſt immer
rauh und kalt — und dann jeden Tag eine Fahrt
ins Luch, alles rot und gelb, und ich ſehe ſchon,
wie das Kind die Hände danach ſtreckt, denn es wird
doch wohl fühlen, daß es eigentlich da zu Hauſe iſt.
Aber das ſchreibe ich nur Dir. Innſtetten darf
nicht davon wiſſen, und auch Dir gegenüber muß
ich mich wie entſchuldigen, daß ich mit dem Kinde
[168]Effi Brieſt nach Hohen-Cremmen will und mich heute ſchon
anmelde, ſtatt Dich, meine liebe Mama, dringend und
herzlich nach Keſſin hin einzuladen, das ja doch
jeden Sommer fünfzehnhundert Badegäſte hat und
Schiffe mit allen möglichen Flaggen und ſogar ein
Dünenhotel. Aber daß ich ſo wenig Gaſtlichkeit
zeige, das macht nicht, daß ich ungaſtlich wäre, ſo
ſehr bin ich nicht aus der Art geſchlagen, das
macht einfach unſer landrätliches Haus, das, ſo viel
Hübſches und Apartes es hat, doch eigentlich gar
kein richtiges Haus iſt, ſondern nur eine Wohnung
für zwei Menſchen, und auch das kaum, denn wir
haben nicht einmal ein Eßzimmer, was doch genant
iſt, wenn ein paar Perſonen zu Beſuch ſich ein¬
ſtellen. Wir haben freilich noch Räumlichkeiten im
erſten Stock, einen großen Saal und vier kleine
Zimmer, aber ſie haben alle etwas wenig Einladendes,
und ich würde ſie Rumpelkammern nennen, wenn
ſich etwas Gerümpel darin vorfände; ſie ſind aber
ganz leer, ein paar Binſenſtühle abgerechnet, und
machen, das Mindeſte zu ſagen, einen ſehr ſonder¬
baren Eindruck. Nun wirſt Du wohl meinen, das
alles ſei ja leicht zu ändern. Aber es iſt nicht zu
ändern; denn das Haus, das wir bewohnen, iſt . . .
iſt ein Spukhaus; da iſt es heraus. Ich beſchwöre
Dich übrigens, mir auf dieſe meine Mitteilung nicht
[169]Effi Brieſt zu antworten, denn ich zeige Innſtetten immer Eure
Briefe, und er wäre außer ſich, wenn er erführe, daß
ich Dir das geſchrieben. Ich hätte es auch nicht
gethan und zwar um ſo weniger, als ich ſeit vielen
Wochen in Ruhe geblieben bin und aufgehört habe,
mich zu ängſtigen; aber Johanna ſagt mir, es käme
immer 'mal wieder, namentlich wenn wer Neues im
Hauſe erſchiene. Und ich kann Dich doch einer ſolchen
Gefahr oder, wenn das zu viel geſagt iſt, einer
ſolchen eigentümlichen und unbequemen Störung nicht
ausſetzen! Mit der Sache ſelber will ich Dich heute
nicht behelligen, jedenfalls nicht ausführlich. Es iſt
eine Geſchichte von einem alten Kapitän, einem ſo¬
genannten Chinafahrer, und ſeiner Enkelin, die mit
einem hieſigen jungen Kapitän eine kurze Zeit verlobt
war und an ihrem Hochzeitstage plötzlich verſchwand.
Das möchte hingeh'n. Aber was wichtiger iſt, ein
junger Chineſe, den ihr Vater aus China mit
zurückgebracht hatte und der erſt der Diener und
dann der Freund des Alten war, der ſtarb kurze Zeit
danach und iſt an einer einſamen Stelle neben dem
Kirchhof begraben worden. Ich bin neulich da vor¬
über gefahren, wandte mich aber raſch ab und ſah
nach der andern Seite, weil ich glaube, ich hätte ihn
ſonſt auf dem Grabe ſitzen ſehen. Denn ach, meine
liebe Mama, ich habe ihn einmal wirklich geſehen,
[170]Effi Brieſtoder es iſt mir wenigſtens ſo vorgekommen, als ich
feſt ſchlief und Innſtetten auf Beſuch beim Fürſten
war. Es war ſchrecklich; ich möchte ſo 'was nicht
wieder erleben. Und in ein ſolches Haus, ſo hübſch
es ſonſt iſt (es iſt ſonderbarer Weiſe gemütlich und
unheimlich zugleich), kann ich Dich doch nicht gut
einladen. Und Innſtetten, trotzdem ich ihm ſchließlich
in vielen Stücken zuſtimmte, hat ſich dabei, ſo viel
möcht' ich ſagen dürfen, auch nicht ganz richtig be¬
nommen. Er verlangte von mir, ich ſolle das alles
als alten Weiberunſinn anſehen und darüber lachen,
aber mit einemmal ſchien er doch auch wieder
ſelber daran zu glauben, und ſtellte mir zugleich
die ſonderbare Zumutung, einen ſolchen Hausſpuk
als etwas Vornehmes und Altadliges anzuſehen. Das
kann ich aber nicht und will es auch nicht. Er
iſt in dieſem Punkte, ſo gütig er ſonſt iſt, nicht gütig
und nachſichtig genug gegen mich. Denn daß es etwas
damit iſt, das weiß ich von Johanna und weiß es
auch von unſerer Frau Kruſe. Das iſt nämlich
unſere Kutſcherfrau, die mit einem ſchwarzen Huhn
beſtändig in einer überheizten Stube ſitzt. Dies
allein ſchon iſt ängſtlich genug. Und nun weißt
Du, warum ich kommen will, wenn es erſt ſo weit
iſt. Ach, wäre es nur erſt ſo weit. Es ſind ſo viele
Gründe, warum ich es wünſche. Heute abend haben
[171]Effi Brieſt wir Sylveſterball, und Gieshübler — der einzig
nette Menſch hier, trotzdem er eine hohe Schulter
hat, oder eigentlich ſchon etwas mehr — Gieshübler
hat mir Kamelien geſchickt. Ich werde doch vielleicht
tanzen. Unſer Arzt ſagt, es würde mir nichts
ſchaden, im Gegenteil. Und Innſtetten, was mich
faſt überraſchte, hat auch eingewilligt. Und nun
grüße und küſſe Papa und all' die andern Lieben.
Glückauf zum neuen Jahr. Deine Effi.“

[[172]]

Dreizehntes Kapitel.

Der Sylveſterball hatte bis an den frühen
Morgen gedauert, und Effi war ausgiebig bewundert
worden, freilich nicht ganz ſo anſtandslos wie das
Kamelienboukett, von dem man wußte, daß es aus
dem Gieshübler'ſchen Treibhauſe kam. Im übrigen
blieb auch nach dem Sylveſterball alles beim alten,
kaum daß Verſuche geſellſchaftlicher Annäherung ge¬
macht worden wären, und ſo kam es denn, daß der
Winter als recht lange dauernd empfunden wurde.
Beſuche ſeitens der benachbarten Adelsfamilien fanden
nur ſelten ſtatt, und dem pflichtſchuldigen Gegen¬
beſuche ging in einem halben Trauertone jedesmal
die Bemerkung voraus: „Ja, Geert, wenn es durch¬
aus ſein muß, aber ich vergehe vor Langerweile.“
Worte, denen Innſtetten nur immer zuſtimmte.
Was an ſolchen Beſuchsnachmittagen über Familie,
Kinder, auch Landwirtſchaft geſagt wurde, mochte
gehen; wenn dann aber die kirchlichen Fragen an
[173]Effi Brieſt die Reihe kamen und die mitanweſenden Paſtoren
wie kleine Päpſte behandelt wurden, oder ſich auch
wohl ſelbſt als ſolche anſahen, dann riß Effi der Faden
der Geduld, und ſie dachte mit Wehmut an Nie¬
meyer, der immer zurückhaltend und anſpruchslos
war, trotzdem es bei jeder größeren Feierlichkeit
hieß, er habe das Zeug, an den „Dom“ berufen zu
werden. Mit den Borcke's, den Flemming's, den
Graſenabb's, ſo freundlich die Familien, von Sidonie
Graſenabb abgeſehen, geſinnt waren — es wollte
mit allen nicht ſo recht gehen, und es hätte mit
Freude, Zerſtreuung und auch nur leidlichem ſich
behaglich-fühlen manchmal recht ſchlimm geſtanden,
wenn Gieshübler nicht geweſen wäre. Der ſorgte
für Effi, wie eine kleine Vorſehung, und ſie wußte
es ihm auch Dank. Natürlich war er, neben allem
anderen, auch ein eifriger und aufmerkſamer Zeitungs¬
leſer, ganz zu geſchweigen, daß er an der Spitze
des Journalzirkels ſtand, und ſo verging denn faſt
kein Tag, wo nicht Mirambo ein großes, weißes
Kouvert gebracht hätte, mit allerhand Blättern und
Zeitungen, in denen die betreffenden Stellen an¬
geſtrichen waren, meiſt eine kleine, feine Bleiſtiftlinie,
mitunter aber auch dick mit Blauſtift und ein Aus¬
rufungs- oder Fragezeichen daneben. Und dabei
ließ er es nicht bewenden; er ſchickte auch Feigen
[174]Effi Brieſt und Datteln, Chokoladentafeln in Satineepapier und
ein rotes Bändchen drum, und wenn etwas be¬
ſonders Schönes in ſeinem Treibhaus blühte, ſo
brachte er es ſelbſt und hatte dann eine glückliche
Plauderſtunde mit der ihm ſo ſympathiſchen jungen
Frau, für die er alle ſchönen Liebesgefühle durch-
und nebeneinander hatte, die des Vaters und Onkels,
des Lehrers und Verehrers. Effi war gerührt von
dem allen und ſchrieb öfters darüber nach Hohen-
Cremmen, ſo daß die Mama ſie mit ihrer „Liebe
zum Alchymiſten“ zu necken begann; aber dieſe wohl¬
gemeinten Neckereien verfehlten ihren Zweck, ja be¬
rührten ſie beinahe ſchmerzlich, weil ihr, wenn auch un¬
klar, dabei zum Bewußtſein kam, was ihr in ihrer
Ehe eigentlich fehlte: Huldigungen, Anregungen, kleine
Aufmerkſamkeiten. Innſtetten war lieb und gut,
aber ein Liebhaber war er nicht. Er hatte das Ge¬
fühl, Effi zu lieben, und das gute Gewiſſen, daß es
ſo ſei, ließ ihn von beſonderen Anſtrengungen abſehen.
Es war faſt zur Regel geworden, daß er ſich, wenn
Friedrich die Lampe brachte, aus ſeiner Frau Zimmer
in ſein eigenes zurückzog. „Ich habe da noch eine
verzwickte Geſchichte zu erledigen.“ Und damit ging
er. Die Portiere blieb freilich zurückgeſchlagen, ſo
daß Effi das Blättern in dem Aktenſtück oder das
Kritzeln ſeiner Feder hören konnte, aber das war auch
[175]Effi Brieſtalles. Rollo kam dann wohl und legte ſich vor ſie
hin auf den Kaminteppich, als ob er ſagen wolle:
„Muß nur 'mal wieder nach Dir ſehen; ein anderer
thut's doch nicht.“ Und dann beugte ſie ſich nieder
und ſagte leiſe: „Ja, Rollo, wir ſind allein.“ Um
neun erſchien dann Innſtetten wieder zum Thee,
meiſt die Zeitung in der Hand, ſprach vom Fürſten,
der wieder viel Ärger habe, zumal über dieſen Eugen
Richter, deſſen Haltung und Sprache ganz un¬
qualifizierbar ſeien, und ging dann die Ernennungen
und Ordensverleihungen durch, von denen er die
meiſten beanſtandete. Zuletzt ſprach er von den
Wahlen, und daß es ein Glück ſei, einem Kreiſe
vorzuſtehen, in dem es noch Reſpekt gäbe. War er
damit durch, ſo bat er Effi, daß ſie 'was ſpiele, aus
Lohengrin oder aus der Walküre, denn er war ein
Wagner-Schwärmer. Was ihn zu dieſem hinüber¬
geführt hatte, war ungewiß; einige ſagten ſeine Nerven,
denn ſo nüchtern er ſchien, eigentlich war er nervös;
andere ſchoben es auf Wagner's Stellung zur Juden¬
frage. Wahrſcheinlich hatten beide recht. Um zehn
war Innſtetten dann abgeſpannt und erging ſich in
ein paar wohlgemeinten, aber etwas müden Zärtlich¬
keiten, die ſich Effi gefallen ließ, ohne ſie recht zu
erwidern.


[176]Effi Brieſt

So verging der Winter, der April kam, und in
dem Garten hinter dem Hofe begann es zu grünen,
worüber ſich Effi freute; ſie konnte gar nicht ab¬
warten, daß der Sommer komme mit ſeinen Spazier¬
gängen am Strand und ſeinen Badegäſten. Wenn
ſie ſo zurückblickte, der Trippelli- Abend bei Gies¬
hübler und dann der Sylveſterball, ja, das ging,
das war etwas Hübſches geweſen; aber die Monate,
die dann gefolgt waren, die hatten doch viel zu
wünſchen übrig gelaſſen, und vor allem waren ſie ſo
monoton geweſen, daß ſie ſogar 'mal an die Mama
geſchrieben hatte: „Kannſt Du Dir denken, Mama,
daß ich mich mit unſrem Spuk beinah' ausgeſöhnt
habe? Natürlich die ſchreckliche Nacht, wo Geert
drüben beim Fürſten war, die möcht' ich nicht noch
einmal durchmachen, nein, gewiß nicht; aber immer
das Alleinſein und ſo gar nichts erleben, das hat
doch auch ſein Schweres, und wenn ich dann in der
Nacht aufwache, dann horche ich mitunter hinauf,
ob ich nicht die Schuhe ſchleifen höre, und wenn
alles ſtill bleibt, ſo bin ich faſt wie enttäuſcht und
ſage mir: wenn es doch nur wiederkäme, nur nicht
zu arg und nicht zu nah.“


Das war im Februar, daß Effi ſo ſchrieb, und
nun war beinahe Mai. Drüben in der Plantage
belebte ſich's ſchon wieder, und man hörte die Finken
[177]Effi Brieſt ſchlagen. Und in derſelben Woche war es auch,
daß die Störche kamen, und einer ſchwebte langſam
über ihr Haus hin und ließ ſich dann auf einer
Scheune nieder, die neben Utpatel's Mühle ſtand.
Das war ſeine alte Raſtſtätte. Auch über dies Er¬
eignis berichtete Effi, die jetzt überhaupt häufiger nach
Hohen-Cremmen ſchrieb, und es war in demſelben
Briefe, daß es am Schluſſe hieß: „Etwas, meine liebe
Mama, hätte ich beinah' vergeſſen: den neuen Land¬
wehrbezirkskommandeur, den wir nun ſchon beinah'
vier Wochen hier haben. Ja, haben wir ihn wirklich?
Das iſt die Frage, und eine Frage von Wichtigkeit
dazu, ſo ſehr Du darüber lachen wirſt und auch
lachen mußt, weil Du den geſellſchaftlichen Notſtand
nicht kennſt, in dem wir uns nach wie vor befinden.
Oder wenigſtens ich, die ich mich mit dem Adel hier
nicht gut zurecht finden kann. Vielleicht meine Schuld.
Aber das iſt gleich. Thatſache bleibt: Notſtand, und
deshalb ſah ich, durch all' dieſe Winterwochen hin,
dem neuen Bezirkskommandeur wie einem Troſt- und
Rettungsbringer entgegen. Sein Vorgänger war ein
Greuel, von ſchlechten Manieren und noch ſchlechteren
Sitten, und zum Überfluß auch noch immer ſchlecht
bei Kaſſe. Wir haben all' die Zeit über unter ihm
gelitten, Innſtetten noch mehr als ich, und als wir
Anfang April hörten, Major von Crampas ſei da,
Th. Fontane, Effi Brieſt. 12[178]Effi Brieſt das iſt nämlich der Name des neuen, da fielen wir
uns in die Arme, als könne uns nun nichts Schlimmes
mehr in dieſem lieben Keſſin paſſieren. Aber, wie
ſchon kurz erwähnt, es ſcheint, trotzdem er da iſt,
wieder nichts werden zu wollen. Crampas iſt ver¬
heiratet, zwei Kinder von zehn und acht Jahren,
die Frau ein Jahr älter als er, alſo ſagen wir
fünfundvierzig. Das würde nun an und für ſich
nicht viel ſchaden, warum ſoll ich mich nicht mit
einer mütterlichen Freundin wundervoll unterhalten
können? Die Trippelli war auch nahe an Dreißig,
und es ging ganz gut. Aber mit der Frau von
Crampas, übrigens keine Geborne, kann es nichts
werden. Sie iſt immer verſtimmt, beinahe melan¬
choliſch (ähnlich wie unſere Frau Kruſe, an die ſie
mich überhaupt erinnert) und das alles aus Eifer¬
ſucht. Er, Crampas, ſoll nämlich ein Mann vieler
Verhältniſſe ſein, ein Damenmann, etwas was mir
immer lächerlich iſt und mir auch in dieſem Falle
lächerlich ſein würde, wenn er nicht, um eben ſolcher
Dinge willen, ein Duell mit einem Kameraden ge¬
habt hätte. Der linke Arm wurde ihm dicht unter
der Schulter zerſchmettert, und man ſieht es ſofort,
trotzdem die Operation, wie mir Innſtetten erzählt
(ich glaube, ſie nennen es Reſektion, damals noch
von Wilms ausgeführt), als ein Meiſterſtück der
[179]Effi Brieſt Kunſt gerühmt wurde. Beide, Herr und Frau von
Crampas, waren vor vierzehn Tagen bei uns, um
uns ihren Beſuch zu machen; es war eine ſehr
peinliche Situation, denn Frau von Crampas be¬
obachtete ihren Mann ſo, daß er in eine halbe und
ich in eine ganze Verlegenheit kam. Daß er ſelbſt
ſehr anders ſein kann, ausgelaſſen und übermütig,
davon überzeugte ich mich, als er vor drei Tagen
mit Innſtetten allein war, und ich, von meinem
Zimmer her, dem Gang ihrer Unterhaltung folgen
konnte. Nachher ſprach auch ich ihn. Vollkommener
Kavalier, ungewöhnlich gewandt. Innſtetten war
während des Krieges in derſelben Brigade mit ihm,
und ſie haben ſich im Norden von Paris bei Graf
Gröben öfter geſehen. Ja, meine liebe Mama, das
wäre nun alſo etwas geweſen, um in Keſſin neues
Leben beginnen zu können; er, der Major, hat auch
nicht die pommerſchen Vorurteile, trotzdem er in
Schwediſch-Pommern zu Hauſe ſein ſoll. Aber die
Frau! Ohne ſie geht es natürlich nicht, und mit
ihr erſt recht nicht.“


Effi hatte ganz recht gehabt, und es kam wirklich zu
keiner weiteren Annäherung mit dem Crampas'ſchen
Paare. Man ſah ſich 'mal bei der Borcke'ſchen Familie
draußen, ein andermal ganz flüchtig auf dem Bahn¬
12 *[180]Effi Brieſt hof und wenige Tage ſpäter auf einer Boot- und
Vergnügungsfahrt, die nach einem am Breitling
gelegenen großen Buchen- und Eichenwalde, der „der
Schnatermann“ hieß, gemacht wurde; es kam aber
über kurze Begrüßungen nicht hinaus, und Effi war
froh, als Anfang Juni die Saiſon ſich ankündigte.
Freilich fehlte es noch an Badegäſten, die vor Johanni
überhaupt nur in Einzelexemplaren einzutreffen
pflegten, aber ſchon die Vorbereitungen waren eine
Zerſtreuung. In der Plantage wurden Karuſſell und
Scheibenſtände hergerichtet, die Schiffersleute kalfater¬
ten und ſtrichen ihre Boote, jede kleine Wohnung
erhielt neue Gardinen, und die Zimmer, die feucht
lagen, alſo den Schwamm unter der Diele hatten,
wurden ausgeſchwefelt und dann gelüftet.


Auch in Effi's eigener Wohnung, freilich um
eines anderen Ankömmlings als der Badegäſte willen,
war alles in einer gewiſſen Erregung; ſelbſt Frau
Kruſe wollte mitthun, ſo gut es ging. Aber davor er¬
ſchrak Effi lebhaft und ſagte: „Geert, daß nur die Frau
Kruſe nichts anfaßt; da kann nichts werden, und ich
ängſtige mich ſchon gerade genug.“ Innſtetten ver¬
ſprach auch alles, Kriſtel und Johanna hätten ja
Zeit genug, und um ſeiner jungen Frau Gedanken
überhaupt in eine andere Richtung zu bringen, ließ
er das Thema der Vorbereitungen ganz fallen und
[181]Effi Brieſt fragte ſtatt deſſen, ob ſie denn ſchon bemerkt habe,
daß drüben ein Badegaſt eingezogen ſei, nicht gerade
der erſte, aber doch einer der erſten.


„Ein Herr?“


„Nein, eine Dame, die ſchon früher hier war,
jedesmal in derſelben Wohnung. Und ſie kommt
immer ſo früh, weil ſie's nicht leiden kann, wenn
alles ſchon ſo voll iſt.“


„Das kann ich ihr nicht verdenken. Und wer
iſt es denn?


„Die verwitwete Regiſtrator Rode.“


„Sonderbar. Ich habe mir Regiſtratorwitwen
immer arm gedacht.“


„Ja,“ lachte Innſtetten, „das iſt die Regel.
Aber hier haſt Du eine Ausnahme. Jedenfalls hat
ſie mehr als ihre Witwenpenſion. Sie kommt
immer mit viel Gepäck, unendlich viel mehr als ſie
gebraucht, und ſcheint überhaupt eine ganz eigene
Frau, wunderlich, kränklich und namentlich ſchwach
auf den Füßen. Sie mißtraut ſich deshalb auch
und hat immer eine ältliche Dienerin um ſich, die
kräftig genug iſt, ſie zu ſchützen oder ſie zu tragen,
wenn ihr 'was paſſiert. Diesmal hat ſie eine neue.
Aber doch auch wieder eine ganz ramaſſierte Perſon,
ähnlich wie die Trippelli, nur noch ſtärker.“


„O, die hab' ich ſchon geſehen. Gute braune
[182]Effi Brieſt Augen, die einen treu und zuverſichtlich anſehen.
Aber ein klein bißchen dumm.“


„Richtig, das iſt ſie.“


Das war Mitte Juni, daß Innſtetten und Effi
dies Geſpräch hatten. Von da ab brachte jeder Tag
Zuzug, und nach dem Bollwerk hin ſpazieren gehen,
um daſelbſt die Ankunft des Dampfſchiffes abzuwarten,
wurde, wie immer um dieſe Zeit, eine Art Tages¬
beſchäftigung für die Keſſiner. Effi freilich, weil
Innſtetten ſie nicht begleiten konnte, mußte darauf ver¬
zichten, aber ſie hatte doch wenigſten die Freude, die
nach dem Strand und dem Strandhotel hinaus¬
führende, ſonſt ſo menſchenleere Straße ſich beleben
zu ſehen, und war denn auch, um immer wieder
Zeuge davon zu ſein, viel mehr als ſonſt in ihrem
Schlafzimmer, von deſſen Fenſtern aus ſich alles am
beſten beobachten ließ. Johanna ſtand dann neben
ihr und gab Antwort auf ziemlich alles, was ſie
wiſſen wollte; denn da die meiſten alljährlich wieder¬
kehrende Gäſte waren, ſo konnte das Mädchen nicht
bloß die Namen nennen, ſondern mitunter auch eine
Geſchichte dazu geben.


Das alles war unterhaltlich und erheiternd für
Effi. Grade am Johannistage aber traf es ſich,
[183]Effi Brieſt daß kurz vor elf Uhr Vormittags, wo ſonſt der Ver¬
kehr vom Dampfſchiff her am bunteſten vorüber¬
flutete, ſtatt der mit Ehepaaren, Kindern und Reiſe¬
koffern beſetzten Droſchken, aus der Mitte der Stadt
her ein ſchwarz verhangener Wagen (dem ſich zwei
Trauerkutſchen anſchloſſen) die zur Plantage führende
Straße herunter kam und vor dem der landrätlichen
Wohnung gegenüber gelegenen Hauſe hielt. Die
verwitwete Frau Regiſtratur Rode war nämlich drei
Tage vorher geſtorben, und nach Eintreffen der in
aller Kürze benachrichtigten Berliner Verwandten,
war ſeitens eben dieſer beſchloſſen worden, die Tote
nicht nach Berlin hin überführen, ſondern auf dem
Keſſiner Dünenkirchhof begraben zu wollen. Effi
ſtand am Fenſter und ſah neugierig auf die ſonder¬
bar feierliche Szene, die ſich drüben abſpielte. Die
zum Begräbnis von Berlin her Eingetroffenen waren
zwei Neffen mit ihren Frauen, alle gegen Vierzig,
etwas mehr oder weniger, und von beneidenswert
geſunder Geſichtsfarbe. Die Neffen, in gut ſitzenden
Fracks, konnten paſſieren, und die nüchterne Geſchäfts¬
mäßigkeit, die ſich in ihrem geſamten Thun aus¬
drückte, war im Grunde mehr kleidſam als ſtörend.
Aber die beiden Frauen! Sie waren ganz erſichtlich
bemüht, den Keſſinern zu zeigen, was eigentlich
Trauer ſei, und trugen denn auch lange, bis an die
[184]Effi Brieſt Erde reichende ſchwarze Kreppſchleier, die zugleich
ihr Geſicht verhüllten. Und nun wurde der Sarg,
auf dem einige Kränze und ſogar ein Palmenwedel
lagen, auf den Wagen geſtellt, und die beiden Ehepaare
ſetzten ſich in die Kutſchen. In die erſte — gemein¬
ſchaftlich mit dem einen der beiden leidtragenden
Paare — ſtieg auch Lindequiſt, hinter der zweiten
Kutſche aber ging die Hauswirtin, und neben dieſer
die ſtattliche Perſon, die die Verſtorbene zur Aus¬
hülfe mit nach Keſſin gebracht hatte. Letztere war
ſehr aufgeregt und ſchien durchaus ehrlich darin,
wenn dies Aufgeregtſein auch vielleicht nicht gerade
Trauer war; der ſehr heftig ſchluchzenden Hauswirtin
aber, einer Witwe, ſah man dagegen faſt allzu
deutlich an, daß ſie ſich beſtändig die Möglichkeit
eines Extrageſchenkes berechnete, trotzdem ſie in der
bevorzugten und von anderen Wirtinnen auch ſehr
beneideten Lage war, die für den ganzen Sommer
vermietete Wohnung noch einmal vermieten zu können.


Effi, als der Zug ſich in Bewegung ſetzte, ging
in ihren hinter dem Hofe gelegenen Garten, um
hier, zwiſchen den Buchsbaumbeeten, den Eindruck des
Lieb- und Lebloſen, den die ganze Scene drüben auf
ſie gemacht hatte, wieder los zu werden. Als dies
aber nicht glücken wollte, kam ihr die Luſt, ſtatt
ihrer eintönigen Gartenpromenade lieber einen weiteren
[185]Effi BrieſtSpaziergang zu machen, und zwar um ſo mehr,
als ihr der Arzt geſagt hatte, viel Bewegung im
Freien ſei das beſte, was ſie, bei dem, was ihr
bevorſtände, thun könne. Johanna, die mit im
Garten war, brachte ihr denn auch Umhang, Hut und
Entoutcas, und mit einem freundlichen „Guten Tag“
trat Effi aus dem Hauſe heraus und ging auf das
Wäldchen zu, neben deſſen breitem chauſſierten
Mittelweg ein ſchmalerer Fußſteig auf die Dünen
und das am Strand gelegene Hotel zulief. Unter¬
wegs ſtanden Bänke, von denen ſie jede benutzte,
denn das Gehen griff ſie an, und um ſo mehr, als
inzwiſchen die heiße Mittagsſtunde herangekommen
war. Aber wenn ſie ſaß und von ihrem bequemen
Platz aus die Wagen und die Damen in Toilette
beobachtete, die da hinausfuhren, ſo belebte ſie ſich
wieder. Denn Heiteres ſehen, war ihr wie Lebens¬
luft. Als das Wäldchen aufhörte, kam freilich noch
eine allerſchlimmſte Wegſtelle, Sand und wieder
Sand und nirgends eine Spur von Schatten; aber
glücklicherweiſe waren hier Bohlen und Bretter ge¬
legt, und ſo kam ſie, wenn auch erhitzt und müde,
doch in guter Laune bei dem Strandhotel an.
Drinnen im Saal wurde ſchon gegeſſen, aber hier
draußen um ſie her war alles ſtill und leer, was
ihr in dieſem Augenblicke denn auch das liebſte war.
[186]Effi BrieſtSie ließ ſich ein Glas Sherry und eine Flaſche
Biliner Waſſer bringen und ſah auf das Meer hin¬
aus, das im hellen Sonnenlichte ſchimmerte, während
es am Ufer in kleinen Wellen brandete. „Da drüben
liegt Bornholm und dahinter Wisby, wovon mir
Jahnke vor Zeiten immer Wunderdinge vorſchwärmte.
Wisby ging ihm faſt noch über Lübeck und Wullen¬
weber. Und hinter Wisby kommt Stockholm, wo
das Stockholmer Blutbad war, und dann kommen
die großen Ströme und dann das Nordkap, und
dann die Mitternachtsſonne.“ Und im Augenblick
erfaßte ſie eine Sehnſucht, das alles zu ſehen. Aber
dann gedachte ſie wieder deſſen, was ihr ſo nahe
bevorſtand, und ſie erſchrak faſt. „Es iſt eine Sünde,
daß ich ſo leichtſinnig bin und ſolche Gedanken habe
und mich wegträume, während ich doch an das nächſte
denken müßte. Vielleicht beſtraft es ſich auch noch,
und alles ſtirbt hin, das Kind und ich. Und der
Wagen und die zwei Kutſchen, die halten dann nicht
drüben vor dem Hauſe, die halten dann bei uns . . .
Nein, nein, ich mag hier nicht ſterben, ich will hier
nicht begraben ſein, ich will nach Hohen-Cremmen.
Und Lindequiſt, ſo gut er iſt — aber Niemeyer iſt
mir lieber; er hat mich getauft und eingeſegnet und
getraut, und Niemeyer ſoll mich auch begraben.“
Und dabei fiel eine Thräne auf ihre Hand. Dann
[187]Effi Brieſtaber lachte ſie wieder. „Ich lebe ja noch und bin
erſt ſiebzehn, und Niemeyer iſt ſiebenundfünfzig.“


In dem Eßſaal hörte ſie das Geklapper des
Geſchirrs. Aber mit einemmale war es ihr, als ob
die Stühle geſchoben würden; vielleicht ſtand man
ſchon auf, und ſie wollte jede Begegnung vermeiden.
So erhob ſie ſich auch ihrerſeits raſch wieder von
ihrem Platz, um auf einem Umweg nach der Stadt
zurückzukehren. Dieſer Umweg führte ſie dicht an
dem Dünenkirchhof vorüber, und weil der Thorweg
des Kirchhofs gerade offen ſtand, trat ſie ein. Alles
blühte hier, Schmetterlinge flogen über die Gräber
hin, und hoch in den Lüften ſtanden ein paar Möven.
Es war ſo ſtill und ſchön, und ſie hätte hier gleich
bei den erſten Gräbern verweilen mögen; aber weil
die Sonne mit jedem Augenblick heißer niederbrannte,
ging ſie höher hinauf, auf einen ſchattigen Gang
zu, den Hängeweiden und etliche an den Gräbern
ſtehende Trauereſchen bildeten. Als ſie bis an das
Ende dieſes Ganges gekommen, ſah ſie zur Rechten
einen friſch aufgeworfenen Sandhügel, mit vier, fünf
Kränzen darauf, und dicht daneben eine ſchon außer¬
halb der Baumreihe ſtehende Bank, darauf die gute,
robuſte Perſon ſaß, die, an der Seite der Haus¬
wirtin, dem Sarge der verwitweten Regiſtratorin als
letzte Leidtragende gefolgt war. Effi erkannte ſie
[188]Effi Brieſt ſofort wieder und war in ihrem Herzen bewegt, die
gute, treue Perſon, denn dafür mußte ſie ſie halten‚
in ſengender Sonnenhitze hier vorzufinden. Seit
dem Begräbnis waren wohl an zwei Stunden ver¬
gangen.


„Es iſt eine heiße Stelle, die Sie ſich da aus¬
geſucht haben,“ ſagte Effi, „viel zu heiß. Und wenn
ein Unglück kommen ſoll, dann haben Sie den
Sonnenſtich.“


„Das wär' auch das beſte.“


„Wie das?“


„Dann wär' ich aus der Welt.“


„Ich meine, das darf man nicht ſagen, auch
wenn man unglücklich iſt oder wenn einem wer ge¬
ſtorben iſt, den man lieb hatte. Sie hatten ſie wohl
ſehr lieb?“


„Ich? Die? I, Gott bewahre.“


„Sie ſind aber doch ſehr traurig. Das muß
doch einen Grund haben.“


„Den hat es auch, gnädigſte Frau.“


„Kennen Sie mich?“


„Ja. Sie ſind die Frau Landrätin von drüben.
Und ich habe mit der Alten immer von Ihnen ge¬
ſprochen. Zuletzt konnte ſie nicht mehr, weil ſie
keine rechte Luft mehr hatte, denn es ſaß ihr hier
und wird wohl Waſſer geweſen ſein; aber ſo lange
[189]Effi Brieſtſie noch reden konnte, redete ſie immerzu. Es war
'ne richtige Berlin'ſche . . .“


„Gute Frau?“


„Nein; wenn ich das ſagen wollte, müßt' ich
lügen. Da liegt ſie nun, und man ſoll von einem
Toten nichts Schlimmes ſagen, und erſt recht nicht,
wenn er ſo kaum ſeine Ruhe hat. Na, die wird ſie
ja wohl haben! Aber ſie taugte nichts und war
zänkiſch und geizig, und für mich hat ſie auch nicht
geſorgt. Und die Verwandtſchaft, die da geſtern von
Berlin gekommen . . . gezankt haben ſie ſich bis in
die ſinkende Nacht . . . na, die taugt auch nichts,
die taugt erſt recht nichts. Lauter ſchlechtes Volk,
happig und gierig und hartherzig, und haben mir
barſch und unfreundlich und mit allerlei Redens¬
arten meinen Lohn ausgezahlt, bloß weil ſie mußten
und weil es bloß noch ſechs Tage ſind bis zum
Vierteljahrserſten. Sonſt hätte ich nichts gekriegt,
oder bloß halb oder bloß ein Viertel. Nichts aus
freien Stücken. Und einen eingeriſſenen Fünfmark¬
ſchein haben ſie mir gegeben, daß ich nach Berlin
zurückreiſen kann; na, es reicht ſo gerade für die
vierte Klaſſe, und ich werde wohl auf meinem Koffer
ſitzen müſſen. Aber ich will auch gar nicht; ich will
hier ſitzen bleiben und warten, bis ich ſterbe . . .
Gott, ich dachte nun 'mal Ruhe zu haben und hätte
[190]Effi Brieſt auch ausgehalten bei der Alten. Und nun iſt es
wieder nichts und ſoll mich wieder 'rumſtoßen laſſen.
Und kattolſch bin ich auch noch. Ach, ich hab' es
ſatt und läg' am liebſten, wo die Alte liegt, und ſie
könnte meinetwegen weiter leben . . . Sie hätte gerne
noch weiter gelebt; ſolche Menſchenſchikanierer, die
nich 'mal Luft haben, die leben immer am liebſten.“


Rollo, der Effi begleitet hatte, hatte ſich mittler¬
weile vor die Perſon hingeſetzt, die Zunge weit heraus,
und ſah ſie an. Als ſie jetzt ſchwieg, erhob er ſich, ging
einen Schritt vor und legte ſeinen Kopf auf ihre Kniee.


Mit einemmale war die Perſon wie verwandelt.
„Gott, das bedeutet mir 'was. Da is ja 'ne Kreatur,
die mich leiden kann, die mich freundlich anſieht und
ihren Kopf auf meine Kniee legt. Gott, das iſt
lange her, daß ich ſo 'was gehabt habe. Nu, mein
Alterchen, wie heißt du denn? Du biſt ja ein
Prachtkerl.“


„Rollo,“ ſagte Effi.


„Rollo; das iſt ſonderbar. Aber der Name
thut nichts. Ich habe auch einen ſonderbaren Namen,
das heißt Vornamen. Und einen andern hat unſer¬
eins ja nicht.“


„Wie heißen Sie denn?“


„Ich heiße Roswitha.“


„Ja, das iſt ſelten, das iſt ja . . .“


[191]Effi Brieſt

„Ja, ganz recht, gnädige Frau, das iſt ein
kattolſcher Name. Und das kommt auch noch dazu,
daß ich eine Kattolſche bin. Aus'n Eichsfeld. Und
das Kattolſche, das macht es einem immer noch
ſchwerer und ſaurer. Viele wollen keine Kattolſche,
weil ſie ſo viel in die Kirche rennen. ,Immer in
die Beichte; und die Hauptſache ſagen ſie doch nich'
— Gott, wie oft hab' ich das hören müſſen, erſt
als ich in Giebichenſtein im Dienſt war und dann
in Berlin. Ich bin aber eine ſchlechte Katholikin
und bin ganz davon abgekommen, und vielleicht geht
es mir deshalb ſo ſchlecht; ja, man darf nich von
ſeinem Glauben laſſen und muß alles ordentlich
mitmachen.“


„Roswitha,“ wiederholte Effi den Namen und
ſetzte ſich zu ihr auf die Bank. „Was haben Sie
nun vor?“


„Ach, gnäd'ge Frau, was ſoll ich vor haben.
Ich habe gar nichts vor. Wahr und wahrhaftig,
ich möchte hier ſitzen bleiben und warten, bis ich tot
umfalle. Das wär' mir das liebſte. Und dann
würden die Leute noch denken, ich hätte die Alte ſo
geliebt wie ein treuer Hund, und hätte von ihrem
Grabe nicht weg gewollt und wäre da geſtorben.
Aber das iſt falſch, für ſolche Alte ſtirbt man nicht;
ich will bloß ſterben, weil ich nicht leben kann.“


[192]Effi Brieſt

„Ich will Sie 'was fragen, Roswitha. Sind
Sie, was man ſo ,kinderlieb‘ nennt? Waren Sie
ſchon 'mal bei kleinen Kindern?“


„Gewiß, war ich. Das iſt ja mein beſtes und
ſchönſtes. Solche alte Berlin'ſche — Gott verzeih'
mir die Sünde, denn ſie iſt nun tot und ſteht vor
Gottes Thron und kann mich da verklagen — ſolche
Alte, wie die da, ja, das iſt ſchrecklich, was man da
alles thun muß, und ſteht einem hier vor Bruſt
und Magen, aber ſolch' kleines, liebes Ding, ſolch'
Dingelchen wie 'ne Puppe, das einen mit ſeinen
Guckäugelchen anſieht, ja, das iſt 'was, da geht einem
das Herz auf. Als ich in Halle war, da war ich
Amme bei der Frau Salzdirektorin, und in Giebichen¬
ſtein, wo ich nachher hinkam, da hab' ich Zwillinge
mit der Flaſche groß gezogen; ja, gnäd'ge Frau, das
verſteh' ich, da drin bin ich wie zu Hauſe.“


„Nun, wiſſen Sie was, Roswitha, Sie ſind
eine gute, treue Perſon, das ſeh' ich Ihnen an, ein
bißchen gradezu, aber das ſchadet nichts, das ſind
mitunter die beſten, und ich habe gleich ein Zu¬
trauen zu Ihnen gefaßt. Wollen Sie mit zu mir
kommen? Mir iſt, als hätte Gott Sie mir geſchickt.
Ich erwarte nun bald ein Kleines, Gott gebe mir
ſeine Hülfe dazu, und wenn das Kind da iſt, dann
muß es gepflegt und abgewartet werden und vielleicht
[193]Effi Brieſt auch gepäppelt. Man kann das ja nicht wiſſen, wie¬
wohl ich es anders wünſche. Was meinen Sie,
wollen Sie mit zu mir kommen? Ich kann mir
nicht denken, daß ich mich in Ihnen irre.“


Roswitha war aufgeſprungen und hatte die
Hand der jungen Frau ergriffen und küßte ſie mit
Ungeſtüm. „Ach, es iſt doch ein Gott im Himmel,
und wenn die Not am größten iſt, iſt die Hülfe am
nächſten. Sie ſollen ſehn, gnäd'ge Frau, es geht;
ich bin eine ordentliche Perſon und habe gute Zeugniſſe.
Das können Sie ſehn, wenn ich Ihnen mein Buch
bringe. Gleich den erſten Tag, als ich die gnäd'ge
Frau ſah, da dacht' ich: ‚ja, wenn Du 'mal ſolchen
Dienſt hätteſt.‘ Und nun ſoll ich ihn haben. O Du
lieber Gott, o Du heil'ge Jungfrau Maria, wer mir
das geſagt hätte, wie wir die Alte hier unter der
Erde hatten, und die Verwandten machten, daß ſie
wieder fortkamen und mich hier ſitzen ließen.“


„Ja, unverhofft kommt oft, Roswitha, und
mitunter auch im Guten. Und nun wollen wir
gehen. Rollo wird ſchon ungeduldig und läuft immer
auf das Thor zu.“


Roswitha war gleich bereit, trat aber noch einmal
an das Grab, brummelte 'was vor ſich hin und machte
ein Kreuz. Und dann gingen ſie den ſchattigen Gang
hinunter und wieder auf das Kirchhofsthor zu.


Th. Fontane, Effi Brieſt. 13[194]Effi Brieſt

Drüben lag die eingegitterte Stelle, deren weißer
Stein in der Nachmittagsſonne blinkte und blitzte.
Effi konnte jetzt ruhiger hinſehen. Eine Weile noch
führte der Weg zwiſchen Dünen hin, bis ſie, dicht
vor Utpatel's Mühle, den Außenrand des Wäldchens
erreichte. Da bog ſie links ein, und unter Be¬
nutzung einer ſchräg laufenden Allee, die die „Reeper¬
bahn“ hieß, ging ſie mit Roswitha auf die land¬
rätliche Wohnung zu.

[[195]]

Vierzehntes Kapitel.

Keine Viertelſtunde, ſo war die Wohnung er¬
reicht. Als beide hier in den kühlen Flur traten,
war Roswitha beim Anblick all des Sonderbaren,
das da umher hing, wie befangen; Effi aber ließ
ſie nicht zu weiteren Betrachtungen kommen und
ſagte: „Roswitha, nun gehen Sie da hinein. Das
iſt das Zimmer, wo wir ſchlafen. Ich will erſt zu
meinem Manne nach dem Landratsamt hinüber —
das große Haus da neben dem kleinen, in dem Sie
gewohnt haben — und will ihm ſagen, daß ich Sie
zur Pflege haben möchte bei dem Kinde. Er wird
wohl mit allem einverſtanden ſein, aber ich muß doch
erſt ſeine Zuſtimmung haben. Und wenn ich die
habe, dann müſſen wir ihn ausquartieren, und Sie
ſchlafen mit mir in dem Alkoven. Ich denke, wir
werden uns ſchon vertragen.“


Innſtetten, als er erfuhr, um was ſich's handle,
ſagte raſch und in guter Laune: „Das haſt Du recht
13 *[196]Effi Brieſtgemacht, Effi, und wenn ihr Geſindebuch nicht zu
ſchlimme Sachen ſagt, ſo nehmen wir ſie auf ihr
gutes Geſicht hin. Es iſt doch, Gott ſei Dank,
ſelten, daß einen das täuſcht.“


Effi war ſehr glücklich, ſo wenig Schwierigkeiten
zu begegnen, und ſagte: „Nun wird es gehen. Ich
fürchte mich jetzt nicht mehr.“


„Um was, Effi?“


„Ach, Du weißt ja . . . Aber Einbildungen
ſind das ſchlimmſte, mitunter ſchlimmer als alles.“


Roswitha zog in ſelbiger Stunde noch mit
ihren paar Habſeligkeiten [in] das landrätliche Haus
hinüber und richtete ſich in dem kleinen Alkoven ein.
Als der Tag um war, ging ſie früh zu Bett und
ſchlief, ermüdet wie ſie war, gleich ein.


Am andern Morgen erkundigte ſich Effi — die
ſeit einiger Zeit (denn es war gerade Vollmond) wieder
in Ängſten lebte — wie Roswitha geſchlafen und
ob ſie nichts gehört habe?


„Was?“ fragte dieſe.


„O, nichts. Ich meine nur ſo; ſo 'was wie
wenn ein Beſen fegt oder wie wenn einer über die
Diele ſchlittert.“


Roswitha lachte, was auf ihre junge Herrin
einen beſonders guten Eindruck machte. Effi war
[197]Effi Brieſtfeſt proteſtantiſch erzogen und würde ſehr erſchrocken
geweſen ſein, wenn man an und in ihr 'was Ka¬
tholiſches entdeckt hätte; trotzdem glaubte ſie, daß der
Katholizismus uns gegen ſolche Dinge „wie da oben“
beſſer ſchütze; ja, dieſe Betrachtung hatte bei dem
Plane, Roswitha ins Haus zu nehmen, ganz er¬
heblich mitgewirkt.


Man lebte ſich ſchnell ein, denn Effi hatte ganz
den liebenswürdigen Zug der meiſten märkiſchen
Landfräulein, ſich gern allerlei kleine Geſchichten er¬
zählen zu laſſen, und die verſtorbene Frau Regi¬
ſtratorin und ihr Geiz und ihre Neffen und deren
Frauen boten einen unerſchöpflichen Stoff. Auch
Johanna hörte dabei gerne zu.


Dieſe, wenn Effi bei den draſtiſchen Stellen
oft laut lachte, lächelte freilich und verwunderte ſich
im ſtillen, daß die gnädige Frau an all dem dummen
Zeuge ſo viel Gefallen finde; dieſe Verwunderung
aber, die mit einem ſtarken Überlegenheitsgefühle
Hand in Hand ging, war doch auch wieder ein Glück
und ſorgte dafür, daß keine Rangſtreitigkeiten auf¬
kommen konnten. Roswitha war einfach die komiſche
Figur, und Neid gegen ſie zu hegen, wäre für
Johanna nichts anderes geweſen, wie wenn ſie Rollo
um ſeine Freundſchaftsſtellung beneidet hätte.


So verging eine Woche, plauderhaft und beinahe
[198]Effi Brieſt gemütlich, weil Effi dem, was ihr perſönlich bevor¬
ſtand, ungeängſtigter als früher entgegen ſah. Auch
glaubte ſie nicht, daß es ſo nahe ſei. Den neunten
Tag aber war es mit dem Plaudern und den Gemütlich¬
keiten vorbei; da gab es ein Laufen und Rennen,
Innſtetten ſelbſt kam ganz aus ſeiner gewohnten
Reſerve heraus, und am Morgen des 3. Juli ſtand
neben Effi's Bett eine Wiege. Doktor Hannemann
patſchelte der jungen Frau die Hand und ſagte:
„Wir haben heute den Tag von Königgrätz; ſchade,
daß es ein Mädchen iſt. Aber das andere kann ja
nachkommen, und die Preußen haben viele Sieges¬
tage.“ Roswitha mochte wohl Ähnliches denken,
freute ſich indeſſen vorläufig ganz uneingeſchränkt
über das, was da war, und nannte das Kind ohne
weiteres „Lütt-Annie“, was der jungen Mutter als
ein Zeichen galt. „Es müſſe doch wohl eine Ein¬
gebung geweſen ſein, daß Roswitha gerade auf dieſen
Namen gekommen ſei.“ Selbſt Innſtetten wußte
nichts dagegen zu ſagen, und ſo wurde ſchon von
Klein-Annie geſprochen, lange bevor der Tauftag da
war. Effi, die von Mitte Auguſt an bei den Eltern in
Hohen-Cremmen ſein wollte, hätte die Taufe gern bis
dahin verſchoben. Aber es ließ ſich nicht thun; Inn¬
ſtetten konnte nicht Urlaub nehmen, und ſo wurde
denn der 15. Auguſt, trotzdem es der Napoleonstag
[199]Effi Brieſt war (was denn auch von ſeiten einiger Familien
beanſtandet wurde), für dieſen Taufakt feſtgeſetzt,
natürlich in der Kirche. Das ſich anſchließende Feſt¬
mahl, weil das landrätliche Haus keinen Saal hatte,
fand in dem großen Reſſourcen-Hotel am Bollwerk
ſtatt, und der geſamte Nachbaradel war geladen und
auch erſchienen. Paſtor Lindequiſt ließ Mutter und
Kind in einem liebenswürdigen und allſeitig be¬
wunderten Toaſte leben, bei welcher Gelegenheit
Sidonie v. Graſenabb zu ihrem Nachbar, einem
adligen Aſſeſſor von der ſtrengen Richtung, bemerkte:
„Ja, ſeine Kaſualreden, das geht. Aber ſeine Pre¬
digten kann er vor Gott und Menſchen nicht ver¬
antworten; er iſt ein Halber, einer von denen, die
verworfen ſind, weil ſie lau ſind. Ich mag das
Bibelwort hier nicht wörtlich zitieren.“ Gleich danach
nahm auch der alte Herr v. Borcke das Wort, um
Innſtetten leben zu laſſen. „Meine Herrſchaften,
es ſind ſchwere Zeiten, in denen wir leben, Auf¬
lehnung, Trotz, Indisziplin, wohin wir blicken.
Aber ſo lange wir noch Männer haben, und ich
darf hinzuſetzen, Frauen und Mütter (und hierbei
verbeugte er ſich mit einer eleganten Handbewegung
gegen Effi) . . . ſo lange wir noch Männer haben
wie Baron Innſtetten, den ich ſtolz bin meinen
Freund nennen zu dürfen, ſo lange geht es noch,
[200]Effi Brieſtſo lange hält unſer altes Preußen noch. Ja, meine
Freunde, Pommern und Brandenburg, damit zwingen
wir's und zertreten dem Drachen der Revolution das
giftige Haupt. Feſt und treu, ſo ſiegen wir. Die
Katholiken, unſere Brüder, die wir, auch wenn wir
ſie bekämpfen, achten müſſen, haben den Felſen Petri,
wir aber haben den Rocher de Bronze. Baron Inn¬
ſtetten, er lebe hoch!“ Innſtetten dankte ganz kurz,
Effi ſagte zu dem neben ihr ſitzenden Major v.
Crampas: Das mit dem ‚Felſen Petri‘ ſei wahr¬
ſcheinlich eine Huldigung gegen Roswitha geweſen;
ſie werde nachher an den alten Juſtizrat Gadebuſch
herantreten und ihn fragen, ob er nicht ihrer Meinung
ſei. Crampas nahm, dieſe Bemerkung unerklärlicher¬
weiſe für Ernſt und riet von einer Anfrage bei
dem Juſtizrat ab, was Effi ungemein erheiterte.
„Ich habe Sie doch für einen beſſeren Seelenleſer
gehalten.“


„Ach, meine Gnädigſte, bei ſchönen, jungen
Frauen, die noch nicht achtzehn ſind, ſcheitert alle
Leſekunſt.“


„Sie verderben ſich vollends, Major. Sie
können mich eine Großmutter nennen, aber An¬
ſpielungen darauf, daß ich noch nicht achtzehn bin,
das kann Ihnen nie verziehen werden.“


Als man von Tiſch aufgeſtanden war, kam der
[201]Effi BrieſtSpätnachmittags-Dampfer die Keſſine herunter und
legte an der Landungsbrücke, gegenüber dem Hotel,
an. Effi ſaß mit Crampas und Gieshübler beim
Kaffee, alle Fenſter auf, und ſah dem Schauſpiel
drüben zu. „Morgen früh um neun führt mich das¬
ſelbe Schiff den Fluß hinauf, und zu Mittag bin
ich in Berlin, und am Abend bin ich in Hohen-
Cremmen, und Roswitha geht neben mir und hält
das Kind auf dem Arme. Hoffentlich ſchreit es nicht.
Ach, wie mir ſchon heute zu Mute iſt! Lieber Gies¬
hübler, ſind Sie auch 'mal ſo froh geweſen, Ihr
elterliches Haus wiederzuſehen?“


„Ja, ich kenne das auch, gnädigſte Frau. Nur
bloß ich brachte kein Anniechen mit, weil ich keins
hatte.“


„Kommt noch,“ ſagte Crampas. „Stoßen Sie
an, Gieshübler; Sie ſind der einzige vernünftige
Menſch hier.“


„Aber, Herr Major, wir haben ja bloß noch den
Cognac.“


„Deſto beſſer.“

[[202]]

Fünfzehntes Kapitel.

Mitte Auguſt war Effi abgereiſt, Ende Sep¬
tember war ſie wieder in Keſſin. Manchmal in den
zwiſchenliegenden ſechs Wochen hatte ſie's zurück¬
verlangt; als ſie aber wieder da war und in den
dunklen Flur eintrat, auf den nur von der Treppen¬
ſtiege her ein etwas fahles Licht fiel, wurde ihr mit
einemmal wieder bang, und ſie ſagte leiſe: „Solch
fahles, gelbes Licht giebt es in Hohen-Cremmen
gar nicht.“


Ja, ein paarmal, während ihrer Hohen-Cremmer
Tage, hatte ſie Sehnſucht nach dem „verwunſchenen
Hauſe“ gehabt, alles in allem aber war ihr doch
das Leben daheim voller Glück und Zufriedenheit
geweſen. Mit Hulda freilich, die's nicht verwinden
konnte, noch immer auf Mann oder Bräutigam
warten zu müſſen, hatte ſie ſich nicht recht ſtellen
können, deſto beſſer dagegen mit den Zwillingen,
und mehr als einmal, wenn ſie mit ihnen Ball
[203]Effi Brieſt oder Krocket geſpielt hatte, war ihr's ganz aus dem
Sinn gekommen, überhaupt verheiratet zu ſein. Das
waren dann glückliche Viertelſtunden geweſen. Am
liebſten aber hatte ſie wie früher auf dem durch die
Luft fliegenden Schaukelbrett geſtanden, und in dem
Gefühle: ,jetzt ſtürz' ich', etwas eigentümlich prickeln¬
des, einen Schauer ſüßer Gefahr empfunden. Sprang
ſie dann ſchließlich von der Schaukel ab, ſo be¬
gleitete ſie die beiden Mädchen bis an die Bank vor
dem Schulhauſe und erzählte, wenn ſie da ſaßen,
dem alsbald hinzukommenden alten Jahnke von ihrem
Leben in Keſſin, das halb hanſeatiſch und halb
ſkandinaviſch und jedenfalls ſehr anders als in
Schwantikow und Hohen-Cremmen ſei.


Das waren ſo die täglichen kleinen Zerſtreuungen,
an die ſich gelegentlich auch Fahrten in das ſommer¬
liche Luch ſchloſſen, meiſt im Jagdwagen; allem
voran aber ſtanden für Effi doch die Plaudereien,
die ſie beinahe jeden Morgen mit der Mama hatte.
Sie ſaßen dann oben in der luftigen, großen Stube,
Roswitha wiegte das Kind und ſang in einem
thüringiſchen Platt allerlei Wiegenlieder, die niemand
recht verſtand, vielleicht ſie ſelber nicht; Effi und
Frau von Brieſt aber rückten ans offene Fenſter
und ſahen, während ſie ſprachen, auf den Park hin¬
unter, auf die Sonnenuhr oder auf die Libellen, die
[204]Effi Brieſt beinahe regungslos über dem Teich ſtanden, oder
auch auf den Flieſengang, wo Herr von Brieſt neben
dem Treppenvorbau ſaß und die Zeitungen las.
Immer wenn er umſchlug, nahm er zuvor den
Kneifer ab und grüßte zu Frau und Tochter hinauf.
Kam dann das letzte Blatt an die Reihe, das in
der Regel der „Anzeiger für's Havelland“ war, ſo
ging Effi hinunter, um ſich entweder zu ihm zu
ſetzen oder um mit ihm durch Garten und Park zu
ſchlendern. Einmal, bei ſolcher Gelegenheit, traten
ſie, von dem Kieswege her, an ein kleines, zur Seite
ſtehendes Denkmal heran, das ſchon Brieſt's Gro߬
vater zur Erinnerung an die Schlacht von Waterloo
hatte aufrichten laſſen, eine verroſtete Pyramide mit
einem gegoſſenen Blücher in Front und einem dito
Wellington auf der Rückſeite.


„Haſt Du nun ſolche Spaziergänge auch in
Keſſin,“ ſagte Brieſt, „und begleitet Dich Innſtetten
auch und erzählt Dir allerlei?“


„Nein, Papa, ſolche Spaziergänge habe ich nicht.
Das iſt ausgeſchloſſen, denn wir haben bloß einen
kleinen Garten hinter dem Hauſe, der eigentlich kaum
ein Garten iſt, bloß ein paar Buchsbaumrabatten
und Gemüſebeete mit drei, vier Obſtbäumen drin.
Innſtetten hat keinen Sinn dafür und denkt wohl
auch nicht ſehr lange mehr in Keſſin zu bleiben.“


[205]Effi Brieſt

„Aber Kind, Du mußt doch Bewegung haben
und friſche Luft, daran biſt Du doch gewöhnt.“


„Hab' ich auch. Unſer Haus liegt an einem
Wäldchen, das ſie die Plantage nennen. Und da
geh' ich denn viel ſpazieren und Rollo mit mir.“


„Immer Rollo,“ lachte Brieſt. „Wenn man's
nicht anders wüßte, ſo ſollte man beinah' glauben,
Rollo ſei Dir mehr ans Herz gewachſen als Mann
und Kind.“


„Ach, Papa, das wäre ja ſchrecklich, wenn's auch
freilich — ſo viel muß ich zugeben — eine Zeit
gegeben hat, wo's ohne Rollo gar nicht gegangen
wäre. Das war damals . . . nun, Du weißt ſchon . . .
Da hat er mich ſo gut wie gerettet oder ich habe
mir's wenigſtens eingebildet, und ſeitdem iſt er mein
guter Freund und mein ganz beſonderer Verlaß.
Aber er iſt doch bloß ein Hund. Und erſt kommen
doch natürlich die Menſchen.“


„Ja, das ſagt man immer, aber ich habe da
doch ſo meine Zweifel. Das mit der Kreatur, da¬
mit hat's doch ſeine eigene Bewandtnis, und was da
das Richtige iſt, darüber ſind die Akten noch nicht
geſchloſſen. Glaube mir, Effi, das iſt auch ein weites
Feld. Wenn ich mir ſo denke, da verunglückt einer
auf dem Waſſer oder gar auf dem ſchülbrigen Eis,
und ſolch ein Hund, ſagen wir ſo einer wie Dein
[206]Effi BrieſtRollo, iſt dabei, ja, der ruht nicht eher, als bis er
den Verunglückten wieder an Land hat. Und wenn
der Verunglückte ſchon tot iſt, dann legt er ſich
neben den Toten hin und blafft und winſelt ſo
lange, bis wer kommt, und wenn keiner kommt, dann
bleibt er bei dem Toten liegen bis er ſelber tot
iſt. Und das thut ſolch' Tier immer. Und nun
nimm dagegen die Menſchheit! Gott, vergieb mir
die Sünde, aber mitunter iſt mir's doch, als ob
die Kreatur beſſer wäre als der Menſch.“


„Aber, Papa, wenn ich das Innſtetten wieder
erzählte . . .“


„Nein, das thu' lieber nicht. Effi . . .“


„Rollo würde mich ja natürlich retten, aber
Innſtetten würde mich auch retten. Er iſt ja ein
Mann von Ehre.“


„Das iſt er.“


„Und liebt mich.“


„Verſteht ſich, verſteht ſich. Und wo Liebe iſt,
da iſt auch Gegenliebe. Das iſt nun 'mal ſo. Mich
wundert nur, daß er nicht 'mal Urlaub genommen
hat und 'rübergeflitzt iſt. Wenn man eine ſo junge
Frau hat . . .“


Effi errötete, weil ſie gerade ſo dachte. Sie
mochte es aber nicht einräumen. Innſtetten iſt ſo
gewiſſenhaft und will, glaub' ich, gut angeſchrieben
[207]Effi Brieſt ſein, und hat ſo ſeine Pläne für die Zukunft; Keſſin
iſt doch bloß eine Station. Und dann am Ende,
ich lauf' ihm ja nicht fort. Er hat mich ja. Wenn
man zu zärtlich iſt . . . und dazu der Unterſchied der
Jahre . . . da lächeln die Leute bloß.“


„Ja, daß thun ſie, Effi. Aber darauf muß
man's ankommen laſſen. Übrigens ſage nichts dar¬
über, auch nicht zu Mama. Es iſt ſo ſchwer,
was man thun und laſſen ſoll. Das iſt auch ein
weites Feld.“


Geſpräche, wie dieſe, waren während Effi's Be¬
ſuch im elterlichen Hauſe mehr als einmal geführt
worden, hatten aber glücklicherweiſe nicht lange nach¬
gewirkt, und ebenſo war auch der etwas melancholiſche
Eindruck raſch verflogen, den das erſte Wiederbetreten
ihres Keſſiner Hauſes auf Effi gemacht hatte. Inn¬
ſtetten zeigte ſich voll kleiner Aufmerkſamkeiten, und
als der Thee genommen und alle Stadt- und Liebes¬
geſchichten in heiterſter Stimmung durchgeſprochen
waren, hing ſich Effi zärtlich an ſeinen Arm, um
drüben ihre Plaudereien mit ihm fortzuſetzen und noch
einige Anekdoten von der Trippelli zu hören, die
neuerdings wieder mit Gieshübler in einer lebhaften
Korreſpondenz geſtanden hatte, was immer gleichbe¬
deutend mit einer neuen Belaſtung ihres nie aus¬
[208]Effi Brieſt geglichenen Kontos war. Effi war bei dieſem Ge¬
ſpräch ſehr ausgelaſſen, fühlte ſich ganz als junge
Frau und war froh, die nach der Geſindeſtube hin
ausquartierte Roswitha auf unbeſtimmte Zeit los
zu ſein.


Am anderen Morgen ſagte ſie: „Das Wetter
iſt ſchön und mild und ich hoffe, die Veranda nach
der Plantage hinaus iſt noch in gutem Stande, und
wir können uns ins Freie ſetzen und da das Früh¬
ſtück nehmen. In unſere Zimmer kommen wir ohne¬
hin noch früh genug, und der Keſſiner Winter iſt
wirklich um vier Wochen zu lang.“


Innſtetten war ſehr einverſtanden. Die Veranda,
von der Effi geſprochen, und die vielleicht richtiger
ein Zelt genannt worden wäre, war ſchon im Sommer
hergerichtet worden, drei, vier Wochen vor Effi's
Abreiſe nach Hohen-Cremmen, und beſtand aus einem
großen gedielten Podium, vorn offen, mit einer
mächtigen Marquiſe zu Häupten, während links und
rechts breite Leinwandvorhänge waren, die ſich mit
Hülfe von Ringen an einer Eiſenſtange hin und her
ſchieben ließen. Es war ein reizender Platz, den
ganzen Sommer über von allen Badegäſten, die hier
vorüber mußten, bewundert.


Effi hatte ſich in einen Schaukelſtuhl gelehnt
und ſagte, während ſie das Kaffeebrett von der Seite
[209]Effi Brieſt her ihrem Manne zuſchob: „Geert, Du könnteſt
heute den liebenswürdigen Wirt machen; ich für mein
Teil find' es ſo ſchön in dieſem Schaukelſtuhl, daß
ich nicht aufſtehen mag. Alſo ſtrenge Dich an, und
wenn Du Dich recht freuſt, mich wieder hier zu
haben, ſo werd' ich mich auch zu revanchieren wiſſen.“
Und dabei zupfte ſie die weiße Damaſtdecke zurecht
und legte ihre Hand darauf, die Innſtetten nahm
und küßte.


„Wie biſt Du nur eigentlich ohne mich fertig
geworden?“


„Schlecht genug, Effi.“


„Das ſagſt Du ſo hin und machſt ein betrübtes
Geſicht, und iſt doch eigentlich alles nicht wahr.“


„Aber Effi . . .“


„Was ich Dir beweiſen will. Denn wenn Du
ein bißchen Sehnſucht nach Deinem Kinde gehabt
hätteſt — von mir ſelber will ich nicht ſprechen,
was iſt man am Ende ſolchem hohen Herrn, der ſo
lange Jahre Junggeſelle war und es nicht eilig
hatte . . .“


„Nun?“


„Ja, Geert, wenn Du nur ein bißchen Sehn¬
ſucht gehabt hätteſt, ſo hätteſt Du mich nicht ſechs
Wochen mutterwindallein in Hohen-Cremmen ſitzen
laſſen wie eine Witwe, und nichts da als Niemeyer
Th. Fontane, Effi Brieſt. 14[210]Effi Brieſt und Jahnke und 'mal die Schwantikower. Und von
den Rathenowern iſt niemand gekommen, als ob ſie
ſich vor mir gefürchtet hätten oder als ob ich zu alt
geworden ſei.“


„Ach, Effi, wie Du nur ſprichſt. Weißt Du,
daß Du eine kleine Kokette biſt?“


„Gott ſei Dank, daß Du das ſagſt. Das iſt
für Euch das beſte, was man ſein kann. Und Du
biſt nichts anderes als die anderen, wenn Du auch
ſo feierlich und ehrſam thuſt. Ich weiß es recht gut,
Geert . . . Eigentlich biſt Du . . .“


„Nun, was?“


„Nun, ich will es lieber nicht ſagen. Aber ich
kenne Dich recht gut; Du biſt eigentlich, wie der
Schwantikower Onkel 'mal ſagte, ein Zärtlichkeits¬
menſch und unterm Liebesſtern geboren, und Onkel
Belling hatte ganz recht, als er das ſagte. Du willſt
es bloß nicht zeigen und denkſt, es ſchickt ſich nicht
und verdirbt einem die Karriere. Hab' ich's ge¬
troffen?“


Innſtetten lachte. „Ein bißchen getroffen haſt
Du's. Weißt Du was, Effi, Du kommſt mir ganz
anders vor. Bis Anniechen da war, warſt Du ein
Kind. Aber mit einemmal . . .“


„Nun?“


Mit einemmal biſt Du wie vertauſcht. Aber
[211]Effi Brieſt es ſteht Dir, Du gefällſt mir ſehr, Effi. Weißt
Du was?“


„Nun?“


„Du haſt 'was Verführeriſches.“


„Ach, mein einziger Geert, das iſt ja herrlich,
was Du da ſagſt; nun wird mir erſt recht wohl
ums Herz . . . Gieb mir noch eine halbe Taſſe . . .
Weißt Du denn, daß ich mir das immer gewünſcht
habe. Wir müſſen verführeriſch ſein, ſonſt ſind wir
gar nichts . . .“


„Haſt Du das aus Dir?“


„Ich könnt' es wohl auch aus mir haben. Aber
ich hab' es von Niemeyer . . .“


„Von Niemeyer! O du himmliſcher Vater, iſt
das ein Paſtor. Nein, ſolche giebt es hier nicht.
Aber wie kam denn der dazu? Das iſt ja, als ob
es irgend ein Don Juan oder Herzensbrecher ge¬
ſprochen hätte.“


„Ja, wer weiß,“ lachte Effi . . . „Aber kommt
da nicht Crampas? Und vom Strand her. Er
wird doch nicht gebadet haben? Am 27. Sep¬
tember . . .“


„Er macht öfter ſolche Sachen. Reine Renom¬
miſterei.“


Derweilen war Crampas bis in nächſte Nähe
gekommen und grüßte.


14 *[212]Effi Brieſt

„Guten Morgen,“ rief Innſtetten ihm zu. „Nur
näher, nur näher.“


Crampas trat heran. Er war in Zivil und
küßte der in ihrem Schaukelſtuhl ſich weiter wiegenden
Effi die Hand. „Entſchuldigen Sie mich, Major,
daß ich ſo ſchlecht die Honneurs des Hauſes mache;
aber die Veranda iſt kein Haus und zehn Uhr früh
iſt eigentlich gar keine Zeit. Da wird man formlos,
oder wenn Sie wollen intim. Und nun ſetzen Sie
ſich und geben Sie Rechenſchaft von Ihrem Thun.
Denn an Ihrem Haar, ich wünſchte Ihnen, daß es
mehr wäre, ſieht man deutlich, daß Sie gebadet
haben.“


Er nickte.


„Unverantwortlich,“ ſagte Innſtetten, halb ernſt-,
halb ſcherzhaft. „Da haben Sie nun ſelber vor vier
Wochen die Geſchichte mit dem Bankier Heinersdorf
erlebt, der auch dachte, das Meer und der grandioſe
Wellenſchlag würden ihn um ſeiner Million willen
reſpektieren. Aber die Götter ſind eiferſüchtig unter¬
einander, und Neptun ſtellte ſich ohne weiteres gegen
Pluto oder doch wenigſtens gegen Heinersdorf.“


Crampas lachte. „Ja, eine Million Mark!
Lieber Innſtetten, wenn ich die hätte, da hätt' ich es
am Ende nicht gewagt; denn ſo ſchön das Wetter
iſt, das Waſſer hatte nur neun Grad. Aber unſereins
[213]Effi Brieſtmit ſeiner Million Unterbilanz, geſtatten Sie mir
dieſe kleine Renommage, unſereins kann ſich ſo 'was
ohne Furcht vor der Götter Eiferſucht erlauben.
Und dann muß einen das Sprichwort tröſten: ,Wer
für den Strick geboren iſt, kann im Waſſer nicht
umkommen‘.“


„Aber, Major, Sie werden ſich doch nicht etwas
ſo Urproſaiſches, ich möchte beinah' ſagen an den
Hals reden wollen. Allerdings glauben manche,
daß . . . ich meine das, wovon Sie eben geſprochen
haben . . . daß ihn jeder mehr oder weniger verdiene.
Trotzdem, Major . . . für einen Major . . .“


„. . . Iſt es keine herkömmliche Todesart. Zu¬
gegeben, meine Gnädigſte. Nicht herkömmlich und
in meinem Falle auch nicht einmal ſehr wahr¬
ſcheinlich — alſo alles bloß Citat oder noch richtiger
façon de parler. Und doch ſteckt etwas Aufrichtig¬
gemeintes dahinter, wenn ich da eben ſagte, die See
werde mir nichts anhaben. Es ſteht mir nämlich
feſt, daß ich einen richtigen und hoffentlich ehrlichen
Soldatentod ſterben werde. Zunächſt bloß Zigeuner¬
prophezeiung, aber mit Reſonanz im eigenen Ge¬
wiſſen.“


Innſtetten lachte. „Das wird ſeine Schwierig¬
keiten haben, Crampas, wenn Sie nicht vorhaben,
beim Großtürken oder unterm chineſiſchen Drachen
[214]Effi Brieſt Dienſte zu nehmen. Da ſchlägt man ſich jetzt herum.
Hier iſt die Geſchichte, glauben Sie mir, auf dreißig
Jahre vorbei, und wer ſeinen Soldatentod ſterben
will . . .“


„. . . Der muß ſich erſt bei Bismarck einen
Krieg beſtellen. Weiß ich alles, Innſtetten. Aber
das iſt doch für Sie eine Kleinigkeit. Jetzt haben
wir Ende September; in zehn Wochen ſpäteſtens iſt
der Fürſt wieder in Varzin, und da er ein liking
für Sie hat — mit der volkstümlicheren Wendung
will ich zurückhalten, um nicht direkt vor Ihren
Piſtolenlauf zu kommen — ſo werden Sie einem
alten Kameraden von Vionville her doch wohl ein
bißchen Krieg beſorgen können. Der Fürſt iſt auch
nur ein Menſch, und Zureden hilft.“


Effi hatte während dieſes Geſprächs einige
Brotkügelchen gedreht, würfelte damit und legte ſie
zu Figuren zuſammen, um ſo anzuzeigen, daß ihr
ein Wechſel des Themas wünſchenswert wäre. Trotz¬
dem ſchien Innſtetten auf Crampas ſcherzhafte Be¬
merkungen antworten zu wollen, was denn Effi
beſtimmte, lieber direkt einzugreifen. „Ich ſehe nicht
ein, Major, warum wir uns mit Ihrer Todesart
beſchäftigen ſollen; das Leben iſt uns näher und
zunächſt auch eine viel ernſtere Sache.“


Crampas nickte.


[115 [215]]Effi Brieſt

„Das iſt recht, daß Sie mir recht geben. Wie
ſoll man hier leben? Das iſt vorläufig die Frage,
das iſt wichtiger als alles andere. Gieshübler hat
mir darüber geſchrieben, und wenn es nicht indiskret
und eitel wäre, denn es ſteht noch allerlei nebenher
darin, ſo zeigte ich Ihnen den Brief . . . Innſtetten
braucht ihn nicht zu leſen, der hat keinen Sinn für
dergleichen . . . beiläufig eine Handſchrift wie ge¬
ſtochen und Ausdrucksformen, als wäre unſer Freund
ſtatt am Keſſiner Alten-Markt an einem altfranzö¬
ſiſchen Hofe erzogen. Und daß er verwachſen iſt
und weiße Jabots trägt wie kein anderer Menſch
mehr — ich weiß nur nicht, wo er die Plätterin
hernimmt — das paßt alles ſo vorzüglich. Nun,
alſo Gieshübler hat mir von Plänen für die Reſ¬
ſourcenabende geſchrieben und von einem Entrepreneur,
Namens Crampas. Sehen Sie, Major, das gefällt
mir beſſer als der Soldatentod oder gar der andere.“


„Mir perſönlich nicht minder. Und es muß
ein Prachtwinter werden, wenn wir uns der Unter¬
ſtützung der gnädigen Frau verſichert halten dürfen.
Die Trippelli kommt . . .“


„Die Trippelli? Dann bin ich überflüſſig.“


„Mit nichten, gnädigſte Frau. Die Trippelli
kann nicht von Sonntag bis wieder Sonntag ſingen,
es wäre zu viel für ſie und für uns; Abwechslung
[216]Effi Brieſtiſt des Lebens Reiz, eine Wahrheit, die freilich jede
glückliche Ehe zu widerlegen ſcheint.“


„Wenn es glückliche Ehen giebt, die meinige
ausgenommen . . .“ und ſie reichte Innſtetten die Hand.


„Abwechslung alſo,“ fuhr Crampas fort. „Und
dieſe für uns und unſere Reſſource zu gewinnen,
deren Vizevorſtand zu ſein ich zur Zeit die Ehre
habe, dazu braucht es aller bewährten Kräfte. Wenn
wir uns zuſammenthun, ſo müſſen wir das ganze
Neſt auf den Kopf ſtellen. Die Theaterſtücke ſind
ſchon ausgeſucht: Krieg im Frieden, Monſieur Her¬
kules, Jugendliebe von Wilbrandt, vielleicht auch
Euphroſine von Genſichen. Sie die Euphroſine, ich
der alte Goethe. Sie ſollen ſtaunen, wie gut ich den
Dichterfürſten tragiere . . . wenn ‚tragieren‘ das
richtige Wort iſt.“


„Kein Zweifel. Hab' ich doch inzwiſchen aus
dem Briefe meines alchymiſtiſchen Geheimkorreſpon¬
denten erfahren, daß Sie, neben vielem anderen, ge¬
legentlich auch Dichter ſind. Anfangs habe ich mich
gewundert . . .“


„Denn Sie haben es mir nicht angeſehen.“


„Nein. Aber ſeit ich weiß, daß Sie bei neun
Grad baden, bin ich anderen Sinnes geworden . . .
neun Grad Oſtſee, das geht über den kaſtaliſchen
Quell . . .“


[217]Effi Brieſt

„Deſſen Temperatur unbekannt iſt.“


„Nicht für mich; wenigſtens wird mich niemand
widerlegen. Aber nun muß ich aufſtehen. Da kommt
ja Roswitha mit Lütt-Annie.“


Und ſie erhob ſich raſch und ging auf Roswitha
zu, nahm ihr das Kind aus dem Arm und hielt es
ſtolz und glücklich in die Höhe.

[[218]]

Sechzehntes Kapitel.

Die Tage waren ſchön und blieben es bis in
den Oktober hinein. Eine Folge davon war, daß
die halb zeltartige Veranda draußen zu ihrem Rechte
kam, ſo ſehr, daß ſich wenigſtens die Vormittags¬
ſtunden regelmäßig darin abſpielten. Gegen elf kam
dann wohl der Major, um ſich zunächſt nach dem
Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen und mit
ihr ein wenig zu mediſieren, was er wundervoll ver¬
ſtand, danach aber mit Innſtetten einen Ausritt zu
verabreden, oft landeinwärts, die Keſſine hinauf bis
an den Breitling, noch häufiger auf die Molen zu.
Effi, wenn die Herren fort waren, ſpielte mit dem
Kind oder durchblätterte die von Gieshübler nach
wie vor ihr zugeſchickten Zeitungen und Journale,
ſchrieb auch wohl einen Brief an die Mama oder
ſagte: „Roswitha, wir wollen mit Annie ſpazieren
fahren,“ und dann ſpannte ſich Roswitha vor den
Korbwagen und fuhr, während Effi hinterherging, ein
[219]Effi Brieſt paar hundert Schritt in das Wäldchen hinein, auf
eine Stelle zu, wo Kaſtanien ausgeſtreut lagen, die
man nun auflas, um ſie dem Kinde als Spielzeug
zu geben. In die Stadt kam Effi wenig; es war
niemand recht da, mit dem ſie hätte plaudern können,
nachdem ein Verſuch, mit der Frau von Crampas
auf einen Umgangsfuß zu kommen, aufs neue
geſcheitert war. Die Majorin war und blieb
menſchenſcheu.


Das ging ſo wochenlang, bis Effi plötzlich den
Wunſch äußerte, mit ausreiten zu dürfen; ſie habe
nun 'mal die Paſſion und es ſei doch zu viel ver¬
langt, bloß um des Geredes der Keſſiner willen, auf
etwas zu verzichten, das einem ſo viel wert ſei. Der
Major fand die Sache kapital und Innſtetten, dem
es augenſcheinlich weniger paßte — ſo wenig, daß
er immer wieder hervorhob, es werde ſich kein Damen¬
pferd finden laſſen — Innſtetten mußte nachgeben,
als Crampas verſicherte, „das ſolle ſeine Sorge ſein“.
Und richtig, was man wünſchte, fand ſich auch, und
Effi war ſelig, am Strande hinjagen zu können,
jetzt wo „Damenbad“ und „Herrenbad“ keine ſcheiden¬
den Schreckensworte mehr waren. Meiſt war auch
Rollo mit von der Partie, und weil es ſich ein
paarmal ereignet hatte, daß man am Strande zu
raſten oder auch eine Strecke Wegs zu Fuß zu
[220]Effi Brieſtmachen wünſchte, ſo kam man überein, ſich von
entſprechender Dienerſchaft begleiten zu laſſen, zu
welchem Behufe des Majors Burſche, ein alter Trep¬
tower Ulan, der Knut hieß, und Innſtetten's Kutſcher
Kruſe zu Reitknechten umgewandelt wurden, aller¬
dings ziemlich unvollkommen, indem ſie, zu Effi's
Leidweſen, in eine Phantaſie-Livree geſteckt wurden,
darin der eigentliche Beruf beider noch nachſpukte.


Mitte Oktober war ſchon heran, als man, ſo
herausſtaffiert, zum erſtenmal in voller Kavalkade
aufbrach, in Front Innſtetten und Crampas, Effi
zwiſchen ihnen, dann Kruſe und Knut und zuletzt
Rollo, der aber bald, weil ihm das Nachtrotten mi߬
fiel, allen vorauf war. Als man das jetzt öde
Strandhotel paſſiert und bald danach, ſich rechts
haltend, auf dem von einer mäßigen Brandung über¬
ſchäumten Strandwege den diesſeitigen Molendamm
erreicht hatte, verſpürte man Luſt, abzuſteigen und
einen Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu
machen. Effi war die erſte aus dem Sattel. Zwiſchen
den beiden Steindämmen floß die Keſſine breit und
ruhig dem Meere zu, das wie eine ſonnenbeſchienene
Fläche, darauf nur hier und da eine leichte Welle
träufelte, vor ihnen lag.


Effi war noch nie hier draußen geweſen, denn
als ſie vorigen November in Keſſin eintraf, war
[221]Effi Brieſt ſchon Sturmzeit, und als der Sommer kam, war ſie
nicht mehr im ſtande, weite Gänge zu machen. Sie
war jetzt entzückt, fand alles groß und herrlich, er¬
ging ſich in kränkenden Vergleichen zwiſchen dem
Luch und dem Meer und ergriff, ſo oft die Gelegen¬
heit dazu ſich bot, ein Stück angeſchwemmtes Holz,
um es nach links hin in die See oder nach rechts
hin in die Keſſine zu werfen. Rollo war immer
glücklich, im Dienſte ſeiner Herrin ſich nachſtürzen
zu können; mit einemmal aber wurde ſeine Auf¬
merkſamkeit nach einer ganz anderen Seite hin ab¬
gezogen, und ſich vorſichtig, ja beinahe ängſtlich vor¬
wärts ſchleichend, ſprang er plötzlich auf einen in
Front ſichtbar werdenden Gegenſtand zu, freilich ver¬
geblich, denn im ſelben Augenblicke glitt von einem
ſonnenbeſchienenen und mit grünem Tang überwachſenen
Stein eine Robbe glatt und geräuſchlos in das nur
etwa fünf Schritt entfernte Meer hinunter. Eine
kurze Weile noch ſah man den Kopf, dann tauchte
auch dieſer unter.


Alle waren erregt, und Crampas phantaſierte
von Robbenjagd und daß man das nächſte Mal die
Büchſe mitnehmen müſſe, „denn die Dinger haben
ein feſtes Fell.“


„Geht nicht,“ ſagte Innſtetten; „Hafenpolizei.“


„Wenn ich ſo 'was höre,“ lachte der Major.
[222]Effi Brieſt„Hafenpolizei! Die drei Behörden, die wir hier
haben, werden doch wohl untereinander die Augen
zudrücken können. Muß denn alles ſo furchtbar
geſetzlich ſein? Alle Geſetzlichkeiten ſind langweilig.“


Effi klatſchte in die Hände.


„Ja, Crampas, Sie kleidet das, und Effi, wie
Sie ſehen, klatſcht Ihnen Beifall. Natürlich; die
Weiber ſchreien ſofort nach einem Schutzmann, aber
von Geſetz wollen ſie nichts wiſſen.“


„Das iſt ſo Frauenrecht von alter Zeit her,
und wir werden's nicht ändern, Innſtetten.“


„Nein,“ lachte dieſer, „und ich will es auch nicht.
Auf Mohrenwäſche laſſe ich mich nicht ein. Aber einer
wie Sie, Crampas, der unter der Fahne der Disziplin
groß geworden iſt und recht gut weiß, daß es ohne
Zucht und Ordnung nicht geht, ein Mann wie Sie,
der ſollte doch eigentlich ſo 'was nicht reden, auch
nicht einmal im Spaß. Indeſſen, ich weiß ſchon,
Sie haben einen himmliſchen Kehrmichnichtdran und
denken, der Himmel wird nicht gleich einſtürzen.
Nein, gleich nicht. Aber 'mal kommt es.“


Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil
er glaubte, das alles ſei mit einer gewiſſen Abſicht
geſprochen, was aber nicht der Fall war. Innſtetten
hielt nur einen ſeiner kleinen moraliſchen Vorträge,
zu denen er überhaupt hinneigte. „Da lob' ich mir
[223]Effi Brieſt Gieshübler,“ ſagte er einlenkend, „immer Kavalier
und dabei doch Grundſätze.“


Der Major hatte ſich mittlerweile wieder zurecht¬
gefunden und ſagte in ſeinem alten Ton: „Ja, Gieshübler;
der beſte Kerl von der Welt und, wenn möglich, noch
beſſere Grundſätze. Aber am Ende woher? warum?
Weil er einen „Verdruß“ hat. Wer gerade gewachſen
iſt, iſt für Leichtſinn. Überhaupt ohne Leichtſinn
iſt das ganze Leben keinen Schuß Pulver wert.“


„Nun hören Sie, Crampas, gerade ſoviel kommt
mitunter dabei heraus.“ Und dabei ſah er auf des
Majors linken, etwas verkürzten Arm.


Effi hatte von dieſem Geſpräche wenig gehört.
Sie war dicht an die Stelle getreten, wo die Robbe
gelegen, und Rollo ſtand neben ihr. Dann ſahen
beide, von dem Stein weg, auf das Meer und warteten,
ob die ‚Seejungfrau‘ noch einmal ſichtbar werden würde.


Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was
Innſtetten hinderte, ſich ferner an den Ausflügen
zu beteiligen, und auch Crampas und Effi hätten
jetzt um der lieben Keſſiner willen wohl verzichten
müſſen, wenn nicht Knut und Kruſe als eine Art
Ehrengarde geweſen wären. So kam es, daß ſich
die Spazierritte bis in den November hinein fortſetzten.


Ein Wetterumſchlag war freilich eingetreten, ein
[224]Effi Brieſtandauernder Nordweſt trieb Wolkenmaſſen heran,
und das Meer ſchäumte mächtig, aber Regen und
Kälte fehlten noch, und ſo waren dieſe Ausflüge bei
grauem Himmel und lärmender Brandung faſt noch
ſchöner, als ſie vorher bei Sonnenſchein und ſtiller
See geweſen waren. Rollo jagte vorauf, dann und
wann von dem Giſcht überſpritzt, und der Schleier
von Effi's Reithut flatterte im Winde. Dabei zu
ſprechen, war faſt unmöglich; wenn man dann aber,
vom Meere fort, in die ſchutzgebenden Dünen oder
noch beſſer in den weiter zurückgelegenen Kiefernwald
einlenkte, ſo wurd' es ſtill, Effi's Schleier flatterte
nicht mehr, und die Enge des Wegs zwang die beiden
Reiter dicht nebeneinander. Das war dann die Zeit,
wo man — ſchon um der Knorren und Wurzeln
willen im Schritt reitend — die Geſpräche, die der
Brandungslärm unterbrochen hatte, wieder aufnehmen
konnte. Crampas, ein guter Cauſeur, erzählte dann
Kriegs- und Regimentsgeſchichten, auch Anekdoten
und kleine Charakterzüge von Innſtetten, der mit
ſeinem Ernſt und ſeiner Zugeknöpftheit in den über¬
mütigen Kreis der Kameraden nie recht hineingepaßt
habe, ſo daß er eigentlich immer mehr reſpektiert als
geliebt worden ſei.“


„Das kann ich mir denken,“ ſagte Effi, „ein
Glück nur, daß der Reſpekt die Hauptſache iſt.“


[225]Effi Brieſt

„Ja, zu ſeiner Zeit. Aber er paßt doch nicht
immer. Und zu dem allen kam noch ſeine myſtiſche
Richtung, die mitunter Anſtoß gab, einmal weil
Soldaten überhaupt nicht ſehr für derlei Dinge ſind,
und dann weil wir die Vorſtellung unterhielten, viel¬
leicht mit Unrecht, daß er doch nicht ganz ſo dazu
ſtände, wie er's uns einreden wollte.“


„Myſtiſche Richtung?“ ſagte Effi. „Ja, Major,
was verſtehen Sie darunter? Er kann doch keine
Konventikel abgehalten und den Propheten geſpielt
haben. Auch nicht einmal den aus der Oper . . . ich
habe ſeinen Namen vergeſſen.“


„Nein, ſo weit ging er nicht. Aber es iſt viel¬
leicht beſſer, davon abzubrechen. Ich möchte nicht
hinter ſeinem Rücken etwas ſagen, was falſch aus¬
gelegt werden könnte. Zudem ſind es Dinge, die
ſich ſehr gut auch in ſeiner Gegenwart verhandeln
laſſen, Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht,
zu 'was Sonderbarem aufgebauſcht werden, wenn er
nicht dabei iſt und nicht jeden Augenblick eingreifen
und uns widerlegen oder meinetwegen auch auslachen
kann.“


„Aber das iſt ja grauſam, Major. Wie können
Sie meine Neugier ſo auf die Folter ſpannen. Erſt
iſt es 'was und dann iſt es wieder nichts. Und
Myſtik! Iſt er denn ein Geiſterſeher?“


Th. Fontane, Effi Brieſt, 15[226]Effi Brieſt

„Ein Geiſterſeher! Das will ich nicht gerade
ſagen. Aber er hatte eine Vorliebe, uns Spukgeſchichten
zu erzählen. Und wenn er uns dann in große Auf¬
regung verſetzt und manchen auch wohl geängſtigt
hatte, dann war es mit einemmale wieder, als habe
er ſich über alle die Leichtgläubigen bloß moquieren
wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, daß ich
ihm auf den Kopf zuſagte: ,Ach was, Innſtetten,
das iſt ja alles bloß Komödie. Mich täuſchen Sie
nicht. Sie treiben Ihr Spiel mit uns. Eigentlich
glauben Sie's grad ſo wenig wie wir, aber Sie
wollen ſich intereſſant machen und haben eine Vor¬
ſtellung davon, daß Ungewöhnlichkeiten nach oben hin
beſſer empfehlen. In höheren Karrieren will man
keine Alltagsmenſchen. Und da Sie ſo 'was vorhaben,
ſo haben Sie ſich 'was Apartes ausgeſucht und ſind
bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.‘“


Effi ſagte kein Wort, was dem Major zu¬
letzt bedrücklich wurde. „Sie ſchweigen, gnädigſte
Frau.“


„Ja.“


„Darf ich fragen warum? Hab' ich Anſtoß
gegeben? Oder finden Sie's unritterlich, einen ab¬
weſenden Freund, ich muß das trotz aller Ver¬
wahrungen einräumen, ein klein wenig zu hecheln?
Aber da thun Sie mir trotz alledem Unrecht. Das
[227]Effi Brieſt alles ſoll ganz ungeniert ſeine Fortſetzung vor ſeinen
Ohren haben, und ich will ihm dabei jedes Wort
wiederholen, was ich jetzt eben geſagt habe.“


„Glaub' es.“ Und nun brach Effi ihr Schweigen
und erzählte, was ſie alles in ihrem Hauſe erlebt
und wie ſonderbar ſich Innſtetten damals dazu geſtellt
habe. „Er ſagte nicht ja und nicht nein, und ich
bin nicht klug aus ihm geworden.“


„Alſo ganz der Alte,“ lachte Crampas. „So
war er damals auch ſchon, als wir in Liancourt
und dann ſpäter in Beauvais mit ihm in Quartier
lagen. Er wohnte da in einem alten biſchöflichen
Palaſt — beiläufig, was Sie vielleicht intereſſieren
wird, war es ein Biſchof von Beauvais, glücklicher¬
weiſe „Cochon“ mit Namen, der die Jungfrau von
Orleans zum Feuertod verurteilte — und da verging
denn kein Tag, das heißt keine Nacht, wo Innſtetten
nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich immer nur
ſo halb. Es konnte auch nichts ſein. Und nach
dieſem Prinzip arbeitet er noch, wie ich ſehe.“


„Gut, gut. Und nun ein ernſtes Wort, Crampas,
auf das ich mir eine ernſte Antwort erbitte: wie er¬
klären Sie ſich dies alles?“


„Ja, meine gnädigſte Frau . . .“


„Keine Ausweichungen, Major. Dies alles iſt
ſehr wichtig für mich. Er iſt Ihr Freund und ich
15 *[228]Effi Brieſtbin Ihre Freundin. Ich will wiſſen, wie hängt
dies zuſammen? Was denkt er ſich dabei?“


„Ja, meine gnädigſte Frau, Gott ſieht ins Herz,
aber ein Major vom Landwehrbezirks-Kommando,
der ſieht in gar nichts. Wie ſoll ich ſolche pſycho¬
logiſchen Rätſel löſen? Ich bin ein einfacher Mann.“


„Ach, Crampas, reden Sie nicht ſo thöricht.
Ich bin zu jung, um eine große Menſchenkennerin
zu ſein; aber ich müßte noch vor der Einſegnung
und beinah' vor der Taufe ſtehen, um Sie für einen
einfachen Mann zu halten. Sie ſind das Gegen¬
teil davon, Sie ſind gefährlich . . .“


„Das Schmeichelhafteſte, was einem guten Vier¬
ziger, mit einem a. D. auf der Karte, geſagt werden
kann. Und nun alſo, was ſich Innſtetten dabei
denkt . . .“


Effi nickte.


„Ja, wenn ich durchaus ſprechen ſoll, er denkt
ſich dabei, daß ein Mann, wie Landrat Baron Inn¬
ſtetten, der jeden Tag Miniſterial-Direktor oder der¬
gleichen werden kann (denn glauben Sie mir, er iſt
hoch hinaus), daß ein Mann wie Baron Innſtetten
nicht in einem gewöhnlichen Hauſe wohnen kann,
nicht in einer ſolchen Kate, wie die landrätliche
Wohnung, ich bitte um Vergebung, gnädigſte Frau,
doch eigentlich iſt. Da hilft er denn nach. Ein
[229]Effi BrieſtSpukhaus iſt nie 'was Gewöhnliches . . . Das iſt
das Eine.“


„Das Eine? mein Gott, haben Sie noch
etwas?“


„Ja.“


„Nun denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es
ſein kann, laſſen Sie's 'was Gutes ſein.“


„Deſſen bin ich nicht ganz ſicher. Es iſt etwas
Heikles, beinah Gewagtes, und ganz beſonders vor
Ihren Ohren, gnädigſte Frau.“


„Das macht mich nur um ſo neugieriger.“


„Gut denn. Alſo Innſtetten, meine gnädigſte
Frau, hat außer ſeinem brennenden Verlangen, es
koſte was es wolle, ja, wenn es ſein muß unter
Heranziehung eines Spuks, ſeine Karriere zu machen,
noch eine zweite Paſſion: er operiert nämlich immer
erzieheriſch, iſt der geborene Pädagog, und hätte,
links Baſedow und rechts Peſtalozzi (aber doch kirch¬
licher als beide) eigentlich nach Schnepfenthal oder
Bunzlau hingepaßt.“


„Und will er mich auch erziehen? Erziehen
durch Spuk?“


„Erziehen iſt vielleicht nicht das richtige Wort.
Aber doch erziehen auf einem Umweg.“


„Ich verſtehe Sie nicht.“


„Eine junge Frau iſt eine junge Frau, und ein
[230]Effi Brieſt Landrat iſt ein Landrat. Er kutſchiert oft im Kreiſe
umher, und dann iſt das Haus allein und unbewohnt.
Aber ſolch Spuk iſt wie ein Cherub mit dem
Schwert . . .“


„Ah, da ſind wir wieder aus dem Walde heraus,“
ſagte Effi. „Und da iſt Utpatel's Mühle. Wir
müſſen nur noch an dem Kirchhof vorüber.“


Gleich danach paſſierten ſie den Hohlweg zwiſchen
dem Kirchhof und der eingegitterten Stelle, und Effi
ſah nach dem Stein und der Tanne hinüber, wo
der Chineſe lag.

[[231]]

Siebzehntes Kapitel.

Es ſchlug zwei Uhr, als man zurück war.
Crampas verabſchiedete ſich und ritt in die Stadt
hinein, bis er vor ſeiner am Marktplatz gelegenen
Wohnung hielt. Effi ihrerſeits kleidete ſich um und
verſuchte zu ſchlafen; es wollte aber nicht glücken,
denn ihre Verſtimmung war noch größer als ihre
Müdigkeit. Daß Innſtetten ſich ſeinen Spuk parat
hielt, um ein nicht ganz gewöhnliches Haus zu be¬
wohnen, das mochte hingehen, das ſtimmte zu ſeinem
Hange, ſich von der großen Menge zu unterſcheiden;
aber das andere, daß er den Spuk als Erziehungs¬
mittel brauchte, das war doch arg und beinahe be¬
leidigend. Und „Erziehungsmittel“, darüber war ſie
ſich klar, ſagte nur die kleinere Hälfte; was Crampas
gemeint hatte, war viel, viel mehr, war eine Art
Angſtapparat aus Kalkül. Es fehlte jede Herzens¬
güte darin und grenzte ſchon faſt an Grauſamkeit.
Das Blut ſtieg ihr zu Kopf, und ſie ballte ihre
[232]Effi Brieſtkleine Hand und wollte Pläne ſchmieden; aber mit
einemmale mußte ſie wieder lachen. „Ich Kindskopf!
Wer bürgt mir denn dafür, daß Crampas recht hat!
Crampas iſt unterhaltlich, weil er mediſant iſt, aber
er iſt unzuverläſſig und ein bloßer Haſelant, der
ſchließlich Innſtetten nicht das Waſſer reicht.“


In dieſem Augenblick fuhr Innſtetten vor, der
heute früher zurück kam, als gewöhnlich. Effi ſprang
auf, um ihn ſchon im Flur zu begrüßen, und war
um ſo zärtlicher, je mehr ſie das Gefühl hatte, etwas
gut machen zu müſſen. Aber ganz konnte ſie das,
was Crampas geſagt hatte, doch nicht verwinden,
und inmitten ihrer Zärtlichkeiten, und während ſie
mit anſcheinendem Intereſſe zuhörte, klang es in ihr
immer wieder: „alſo Spuk aus Berechnung, Spuk,
um dich in Ordnung zu halten.“


Zuletzt indeſſen vergaß ſie's und ließ ſich un¬
befangen von ihm erzählen.


Inzwiſchen war Mitte November herangekommen,
und der bis zum Sturm ſich ſteigernde Nordweſter
ſtand anderthalb Tag lang ſo hart auf die Molen,
daß die mehr und mehr zurückgeſtaute Keſſine das
Bollwerk überſtieg und in die Straßen trat. Aber
nachdem ſich's ausgetobt, legte ſich das Unwetter,
[233]Effi Brieſt und es kamen noch ein paar ſonnige Spätherbſttage.
„Wer weiß, wie lange ſie dauern,“ ſagte Effi zu
Crampas, und ſo beſchloß man, am nächſten Vor¬
mittage noch einmal auszureiten; auch Innſtetten,
der einen freien Tag hatte, wollte mit. Es ſollte
zunächſt wieder bis an die Mole gehen; da wollte
man dann abſteigen, ein wenig am Strande prome¬
nieren und ſchließlich im Schutze der Dünen, wo's
windſtill war, ein Frühſtück nehmen.


Um die feſtgeſetzte Stunde ritt Crampas vor
dem landrätlichen Hauſe vor; Kruſe hielt ſchon das
Pferd der gnädigen Frau, die ſich raſch in den Sattel
hob und noch im Aufſteigen Innſtetten entſchuldigte,
der nun doch verhindert ſei: letzte Nacht wieder
großes Feuer in Morgenitz — das dritte ſeit drei
Wochen, alſo angelegt — da habe er hingemußt,
ſehr zu ſeinem Leidweſen, denn er habe ſich auf
dieſen Ausritt, der wohl der letzte in dieſem Herbſte
ſein werde, wirklich gefreut.


Crampas ſprach ſein Bedauern aus, vielleicht
nur um 'was zu ſagen, vielleicht aber auch aufrichtig,
denn ſo rückſichtslos er im Punkte chevaleresker
Liebesabenteuer war, ſo ſehr war er auch wieder
guter Kamerad. Natürlich, alles ganz oberflächlich.
Einem Freunde helfen und fünf Minuten ſpäter ihn
betrügen, waren Dinge, die ſich mit ſeinem Ehrbegriffe
[234]Effi Brieſt ſehr wohl vertrugen. Er that das eine und das
andere mit unglaublicher Bonhommie.


Der Ritt ging wie gewöhnlich durch die Plan¬
tage hin. Rollo war wieder vorauf, dann kamen
Crampas und Effi, dann Kruſe. Knut fehlte.


„Wo haben Sie Knut gelaſſen?“


„Er hat einen Ziegenpeter.“


„Merkwürdig,“ lachte Effi. „Eigentlich ſah er
ſchon immer ſo aus.“


„Sehr richtig. Aber Sie ſollten ihn jetzt ſehen!
Oder doch lieber nicht. Denn Ziegenpeter iſt an¬
ſteckend, ſchon bloß durch Anblick.“


„Glaub' ich nicht.“


„Junge Frauen glauben vieles nicht.“


„Und dann glauben ſie wieder vieles, was ſie
beſſer nicht glaubten.“


„An meine Adreſſe?“


„Nein.“


„Schade.“


„Wie dies „Schade“ Sie kleidet. Ich glaube wirk¬
lich, Major, Sie hielten es für ganz in der Ordnung,
wenn ich Ihnen eine Liebeserklärung machte.“


„So weit will ich nicht gehen. Aber ich möchte
den ſehen, der ſich dergleichen nicht wünſchte. Ge¬
danken und Wünſche ſind zollfrei.“


„Das fragt ſich. Und dann iſt doch immer
[235]Effi Brieſt noch ein Unterſchied zwiſchen Gedanken und Wünſchen.
Gedanken ſind in der Regel etwas, das noch im
Hintergrunde liegt, Wünſche aber liegen meiſt ſchon
auf der Lippe.“


„Nur nicht gerade dieſen Vergleich!“


„Ach, Crampas, Sie ſind . . . Sie ſind . . .“


„Ein Narr.“


„Nein. Auch darin übertreiben Sie wieder.
Aber Sie ſind etwas anderes. In Hohen-Cremmen
ſagten wir immer, und ich mit, das Eitelſte, was es
gäbe, das ſei ein Huſarenfähnrich von achtzehn . . .“


„Und jetzt?“


„Und jetzt ſag' ich, das Eitelſte, was es giebt,
iſt ein Landwehr-Bezirksmajor von zweiundvierzig.“


„ . . . Wobei die zwei Jahre, die Sie mir
gnädigſt erlaſſen, alles wieder gut machen, — küſſ'
die Hand.“


„Ja, küſſ' die Hand. Das iſt ſo recht das
Wort, das für Sie paßt. Das iſt wieneriſch. Und
die Wiener, die hab' ich kennen gelernt, in Karlsbad,
vor vier Jahren, wo ſie mir vierzehnjährigem Dinge
den Hof machten. Was ich da alles gehört habe!“


„Gewiß nicht mehr als recht war.“


„Wenn das zuträfe, wäre das, was mir ſchmeicheln
ſoll, ziemlich ungezogen . . . Aber ſehen Sie da die
Bojen, wie die ſchwimmen und tanzen. Die kleinen
[236]Effi Brieſt roten Fahnen ſind eingezogen. Immer, wenn ich
dieſen Sommer, die paarmal wo ich mich bis an den
Strand hinauswagte, die roten Fahnen ſah, ſagt' ich
mir: da liegt Vineta, da muß es liegen, das ſind
die Turmſpitzen . . .“


„Das macht, weil Sie das Heine'ſche Gedicht
kennen.“


„Welches?“


„Nun, das von Vineta.“


„Nein, das kenne ich nicht; ich kenne überhaupt
nur wenig. Leider.“


„Und haben doch Gieshübler und den Journal¬
zirkel! Übrigens hat Heine dem Gedicht einen anderen
Namen gegeben, ich glaube „Seegeſpenſt“ oder ſo
ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint. Und er ſelber
— verzeihen Sie, wenn ich Ihnen ſo ohne weiteres den
Inhalt hier wiedergebe — der Dichter alſo, während
er die Stelle paſſiert, liegt auf einem Schiffsdeck
und ſieht hinunter, und ſieht da ſchmale, mittelalter¬
liche Straßen und trippelnde Frauen in Kapothüten,
und alle haben ein Geſangbuch in Händen und
wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und
als er das hört, da faßt ihn eine Sehnſucht, auch
mit in die Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der
Kapothüte willen, und vor Verlangen ſchreit er auf
und will ſich hinunterſtürzen. Aber im ſelben Augen¬
[237]Effi Brieſt blicke packt ihn der Kapitän am Bein und ruft ihm
zu: Doktor, ſind Sie des Teufels?“


„Das iſt ja allerliebſt. Das möcht' ich leſen.
Iſt es lang.“


„Nein, es iſt eigentlich kurz, etwas länger als
,Du haſt Diamanten und Perlen‘ oder ,Deine weichen
Lilienfinger‘ . . .“ und er berührte leiſe ihre Hand.
„Aber lang oder kurz, welche Schilderungskraft,
welche Anſchaulichkeit! Er iſt mein Lieblingsdichter,
und ich kann ihn auswendig, ſo wenig ich mir ſonſt,
trotz gelegentlich eigener Verſündigungen, aus der
Dichterei mache. Bei Heine liegt es aber anders:
Alles iſt Leben, und vor allem verſteht er ſich auf
die Liebe, die doch die Hauptſache bleibt. Er iſt
übrigens nicht einſeitig darin . . . “


„Wie meinen Sie das?“


„Ich meine, er iſt nicht bloß für die Liebe . . .“


„Nun, wenn er dieſe Einſeitigkeit auch hätte, das
wäre am Ende noch nicht das ſchlimmſte. Wofür
iſt er denn ſonſt noch?“


„Er iſt auch ſehr für das Romantiſche, was
freilich gleich nach der Liebe kommt und nach Meinung
einiger ſogar damit zuſammenfällt. Was ich aber
nicht glaube. Denn in ſeinen ſpäteren Gedichten, die
man denn auch die „romantiſchen“ genannt hat, oder
eigentlich hat er es ſelber gethan, in dieſen romantiſchen
[238]Effi Brieſt Dichtungen wird in einem fort hingerichtet, allerdings
vielfach aus Liebe. Aber doch meiſt aus anderen
gröberen Motiven, wohin ich in erſter Reihe die
Politik, die faſt immer gröblich iſt, rechne. Karl Stuart
zum Beiſpiel trägt in einer dieſer Romanzen ſeinen
Kopf unterm Arm, und noch fataler iſt die Geſchichte
vom Vitzliputzli . . .“


„Von wem?“


„Vom Vitzliputzli. Vitzliputzli iſt nämlich ein
mexikaniſcher Gott, und als die Mexikaner zwanzig
oder dreißig Spanier gefangen genommen hatten,
mußten dieſe zwanzig oder dreißig dem Vitzliputzli
geopfert werden. Das war da nicht anders, Landesſitte,
Kultus, und ging auch alles im Handumdrehen,
Bauch auf, Herz 'raus . . .“


„Nein, Crampas, ſo dürfen Sie nicht weiter
ſprechen. Das iſt indecent und degoutant zugleich.
Und das alles ſo ziemlich in demſelben Augenblicke,
wo wir frühſtücken wollen.“


„Ich für meine Perſon ſehe mich dadurch un¬
beeinflußt und ſtelle meinen Appetit überhaupt nur
in Abhängigkeit vom Menu.“


Während dieſer Worte waren ſie, ganz wie's
das Programm wollte, vom Strand her bis an eine
ſchon halb im Schutze der Dünen aufgeſchlagene
Bank, mit einem äußerſt primitiven Tiſch davor, ge¬
[239]Effi Brieſt kommen, zwei Pfoſten mit einem Brett darüber.
Kruſe, der vorauf geritten, hatte hier bereits ſerviert;
Theebrötchen und Aufſchnitt von kaltem Braten,
dazu Rotwein und neben der Flaſche zwei hübſche
zierliche Trinkgläſer, klein und mit Goldrand, wie
man ſie in Badeörtern kauft oder von Glashütten
als Erinnerung mitbringt.


Und nun ſtieg man ab. Kruſe, der die Zügel
ſeines eigenen Pferdes um eine Krüppelkiefer ge¬
ſchlungen hatte, ging mit den beiden anderen Pferden
auf und ab, während ſich Crampas und Effi, die
durch eine ſchmale Dünenöffnung einen freien Blick
auf Strand und Mole hatten, vor dem gedeckten
Tiſche niederließen.


Über das von den Sturmtagen her noch be¬
wegte Meer goß die ſchon halb winterliche November¬
ſonne ihr fahles Licht aus, und die Brandung ging
hoch. Dann und wann kam ein Windzug und trieb
den Schaum bis dicht an ſie heran. Strandhafer
ſtand umher, und das helle Gelb der Immortellen
hob ſich, trotz der Farbenverwandtſchaft, von dem
gelben Sande, darauf ſie wuchſen, ſcharf ab. Effi
machte die Wirtin. „Es thut mir leid, Major,
Ihnen dieſe Brötchen in einem Korbdeckel präſen¬
tieren zu müſſen . . .“


„Ein Korbdeckel iſt kein Korb . . .“


[240]Effi Brieſt

„ . . . Indeſſen Kruſe hat es ſo gewollt. Und
da biſt Du ja auch, Rollo. Auf Dich iſt unſer
Vorrat aber nicht eingerichtet. Was machen wir
mit Rollo?“


„Ich denke, wir geben ihm alles; ich meiner¬
ſeits ſchon aus Dankbarkeit. Denn ſehen Sie, teuerſte
Effi . . .“


Effi ſah ihn an.


„ . . . Denn ſehen Sie, gnädigſte Frau, Rollo
erinnert mich wieder an das, was ich Ihnen noch
als Fortſetzung oder Seitenſtück zum Vitzliputzli er¬
zählen wollte, — nur viel pikanter, weil Liebes¬
geſchichte. Haben Sie 'mal von einem gewiſſen Pedro
dem Grauſamen gehört?“


„So dunkel.“


„ . . . Eine Art Blaubartskönig.“


„Das iſt gut. Von ſo einem hört man immer
am liebſten, und ich weiß noch, daß wir von meiner
Freundin Hulda Niemeyer, deren Namen Sie ja
kennen, immer behaupteten: ſie wiſſe nichts von Ge¬
ſchichte, mit Ausnahme der ſechs Frauen von Hein¬
rich dem Achten, dieſem engliſchen Blaubart, wenn
das Wort für ihn reicht. Und wirklich, dieſe ſechs
kannte ſie auswendig. Und dabei hätten Sie hören
ſollen, wie ſie die Namen ausſprach, namentlich den
von der Mutter der Eliſabeth, — ſo ſchrecklich ver¬
[241]Effi Brieſt legen, als wäre ſie nun an der Reihe . . . Aber
nun bitte, die Geſchichte von Don Pedro . . .“


„Nun alſo, an Don Pedro's Hofe war ein
ſchöner, ſchwarzer ſpaniſcher Ritter, der das Kreuz
von Kalatrava — was ungefähr ſo viel bedeutet,
wie ſchwarzer Adler und pour le mérite zuſammen
genommen — auf ſeiner Bruſt trug. Dies Kreuz
gehörte mit dazu, das mußten ſie immer tragen, und
dieſer Kalatrava-Ritter, den die Königin natürlich
heimlich liebte . . .“


„Warum natürlich?“


„Weil wir in Spanien ſind.“


„Ach ſo.“


„Und dieſer Kalatrava-Ritter, ſag' ich, hatte
einen wunderſchönen Hund, einen Neufundländer,
wiewohl es die noch gar nicht gab, denn es war
grade hundert Jahre vor der Entdeckung von Amerika.
Einen wunderſchönen Hund alſo, ſagen wir wie
Rollo . . .“


Rollo ſchlug an, als er ſeinen Namen hörte,
und wedelte mit dem Schweif.


„Das ging ſo manchen Tag. Aber das mit
der heimlichen Liebe, die wohl nicht ganz heimlich
blieb, das wurde dem Könige doch zu viel, und weil
er den ſchönen Kalatrava-Ritter überhaupt nicht
recht leiden mochte, — denn er war nicht bloß grau¬
Th. Fontane, Effi Brieſt. 16[242]Effi Brieſt ſam, er war auch ein Neidhammel, oder wenn das
Wort für einen König und noch mehr für meine
liebenswürdige Zuhörerin, Frau Effi, nicht recht
paſſen ſollte, wenigſtens ein Neidling — ſo beſchloß
er, den Kalatrava-Ritter für die heimliche Liebe
heimlich hinrichten zu laſſen.“


„Kann ich ihm nicht verdenken.“


„Ich weiß doch nicht, meine Gnädigſte. Hören
Sie nur weiter. Etwas geht ſchon, aber es war zu
viel, der König, find' ich, ging um ein Erkleckliches
zu weit. Er heuchelte nämlich, daß er dem Ritter
wegen ſeiner Kriegs- und Heldenthaten ein Feſt ver¬
anſtalten wolle, und da gab es denn eine lange,
lange Tafel, und alle Granden des Reichs ſaßen an
dieſer Tafel, und in der Mitte ſaß der König, und
ihm gegenüber war der Platz für den, dem dies
alles galt, alſo für den Kalatrava-Ritter, für den
an dieſem Tage zu Feiernden. Und weil Der, trotz¬
dem man ſchon eine ganze Weile ſeiner gewartet
hatte, noch immer nicht kommen wollte, ſo mußte
ſchließlich die Feſtlichkeit ohne ihn begonnen werden,
und es blieb ein leerer Platz — ein leerer Platz
gerade gegenüber dem König.“


„Und nun?“


„Und nun denken Sie, meine gnädigſte Frau,
wie der König, dieſer Pedro, ſich eben erheben will,
[243]Effi Brieſtum gleißneriſch ſein Bedauern auszuſprechen, daß
ſein ‚lieber Gaſt‘ noch immer fehle, da hört man
auf der Treppe draußen einen Aufſchrei der entſetzten
Dienerſchaften, und ehe noch irgend wer weiß, was
geſchehen iſt, jagt etwas an der langen Feſtestafel
entlang, und nun ſpringt es auf den Stuhl und
ſetzt ein abgeſchlagenes Haupt auf den leergebliebenen
Platz, und über eben dieſes Haupt hinweg ſtarrt
Rollo auf ſein Gegenüber, den König. Rollo hatte
ſeinen Herrn auf ſeinem letzten Gange begleitet und
im ſelben Augenblicke, wo das Beil fiel, hatte das
treue Tier das fallende Haupt gepackt, und da war
er nun, unſer Freund Rollo, an der langen Feſtes¬
tafel und verklagte den königlichen Mörder.“


Effi war ganz ſtill geworden. Endlich ſagte
ſie: „Crampas, das iſt in ſeiner Art ſehr ſchön, und
weil es ſehr ſchön iſt, will ich es Ihnen verzeihen.
Aber Sie könnten doch Beſſ'res und zugleich mir
Lieberes thun, wenn Sie mir andere Geſchichten er¬
zählten. Auch von Heine. Heine wird doch nicht
bloß von Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem
Rollo — denn meiner hätte ſo 'was nicht gethan
— gedichtet haben. Komm, Rollo! Armes Tier, ich
kann dich gar nicht mehr anſehen, ohne an den
Kalatrava-Ritter zu denken, den die Königin heim¬
lich liebte . . . Rufen Sie, bitte, Kruſe, daß er die
16 *[244]Effi BrieſtSachen hier wieder in die Halfter ſteckt, und wenn
wir zurückreiten, müſſen Sie mir 'was anderes er¬
zählen, ganz 'was anderes.“


Kruſe kam. Als er aber die Gläſer nehmen
wollte, ſagte Crampas: „Kruſe, das eine Glas, das
da, das laſſen Sie ſtehen. Das werde ich ſelber
nehmen.“


„Zu Befehl, Herr Major.“


Effi, die dies mit angehört hatte, ſchüttelte den
Kopf. Dann lachte ſie. „Crampas, was fällt Ihnen
nur eigentlich ein? Kruſe iſt dumm genug, über
die Sache nicht weiter nachzudenken, und wenn er
darüber nachdenkt, ſo findet er glücklicherweiſe nichts.
Aber das berechtigt Sie doch nicht, dies Glas . . .
dies Dreißigpfennig-Glas aus der Joſefinenhütte . . .“


„Daß Sie ſo ſpöttiſch den Preis nennen, läßt
mich ſeinen Wert um ſo tiefer empfinden.“


„Immer derſelbe. Sie haben ſo viel von einem
Humoriſten, aber doch von ganz ſonderbarer Art.
Wenn ich Sie recht verſtehe, ſo haben Sie vor —
es iſt zum Lachen, und ich geniere mich faſt, es aus¬
zuſprechen — ſo haben Sie vor, ſich vor der Zeit
auf den König von Thule hin auszuſpielen.“


Er nickte mit einem Anfluge von Schelmerei.


„Nun denn, meinetwegen. Jeder trägt ſeine
Kappe; Sie wiſſen, welche. Nur das muß ich Ihnen
[245]Effi Brieſt doch ſagen dürfen, die Rolle, die Sie mir dabei zu¬
diktieren, iſt mir zu wenig ſchmeichelhaft. Ich mag
nicht als Reimwort auf Ihren König von Thule
herumlaufen. Behalten Sie das Glas, aber bitte,
ziehen Sie nicht Schlüſſe daraus, die mich kompro¬
mittieren. Ich werde Innſtetten davon erzählen.“


„Das werden Sie nicht thun, meine gnädigſte
Frau.“


„Warum nicht?“


„Innſtetten iſt nicht der Mann, ſolche Dinge ſo
zu ſehen, wie ſie geſehen ſein wollen.“


Sie ſah ihn einen Augenblick ſcharf an. Dann
aber ſchlug ſie verwirrt und faſt verlegen die Augen
nieder.

[[246]]

Achtzehntes Kapitel.

Effi war unzufrieden mit ſich und freute ſich,
daß es nunmehr feſtſtand, dieſe gemeinſchaftlichen
Ausflüge für die ganze Winterdauer auf ſich be¬
ruhen zu laſſen. Überlegte ſie, was während all'
dieſer Wochen und Tage geſprochen, berührt und
angedeutet war, ſo fand ſie nichts, um deſſentwillen
ſie ſich direkte Vorwürfe zu machen gehabt hätte.
Crampas war ein kluger Mann, welterfahren, humo¬
riſtiſch, frei, frei auch im guten, und es wäre klein¬
lich und kümmerlich geweſen, wenn ſie ſich ihm
gegenüber aufgeſteift und jeden Augenblick die Regeln
ſtrengen Anſtandes befolgt hätte. Nein, ſie konnte
ſich nicht tadeln, auf ſeinen Ton eingegangen zu
ſein, und doch hatte ſie ganz leiſe das Gefühl einer
überſtandenen Gefahr und beglückwünſchte ſich, daß
das alles nun mutmaßlich hinter ihr läge. Denn
an ein häufigeres Sichſehen en famille war nicht
wohl zu denken, das war durch die Crampas'ſchen
[247]Effi Brieſt Hauszuſtände ſo gut wie ausgeſchloſſen, und Be¬
gegnungen bei den benachbarten adligen Familien,
die freilich für den Winter in Sicht ſtanden, konnten
immer nur ſehr vereinzelt und ſehr flüchtige ſein.
Effi rechnete ſich dies alles mit wachſender Be¬
friedigung heraus und fand ſchließlich, daß ihr der
Verzicht auf das, was ſie dem Verkehr mit dem
Major verdankte, nicht allzu ſchwer ankommen würde.
Dazu kam noch, daß Innſtetten ihr mitteilte, ſeine
Fahrten nach Varzin würden in dieſem Jahre fort¬
fallen: der Fürſt gehe nach Friedrichsruh, das ihm
immer lieber zu werden ſcheine; nach der einen Seite
hin bedauere er das, nach der anderen ſei es ihm
lieb — er könne ſich nun ganz ſeinem Hauſe widmen,
und wenn es ihr recht wäre, ſo wollten ſie die
italieniſche Reiſe, an der Hand ſeiner Aufzeichnungen,
noch einmal durchmachen. Eine ſolche Rekapitulation
ſei eigentlich die Hauptſache, dadurch mache man ſich
alles erſt dauernd zu eigen, und ſelbſt Dinge, die
man nur flüchtig geſehen und von denen man kaum
wiſſe, daß man ſie in ſeiner Seele beherberge, kämen
einem durch ſolche nachträglichen Studien erſt voll
zu Bewußtſein und Beſitz. Er führte das noch
weiter aus und fügte hinzu, daß ihn Gieshübler,
der den ganzen „italieniſchen Stiefel“ bis Palermo
kenne, gebeten habe, mit dabei ſein zu dürfen. Effi,
[248]Effi Brieſtder ein ganz gewöhnlicher Plauderabend ohne den
„italieniſchen Stiefel“ (es ſollten ſogar Photographien
herumgereicht werden) viel, viel lieber geweſen wäre,
antwortete mit einer gewiſſen Gezwungenheit; Inn¬
ſtetten indeſſen, ganz erfüllt von ſeinem Plane, merkte
nichts und fuhr fort: „Natürlich iſt nicht bloß Gies¬
hübler zugegen, auch Roswitha und Annie müſſen
dabei ſein, und wenn ich mir dann denke, daß wir
den Canal grande hinauf fahren und hören dabei
ganz in der Ferne die Gondoliere ſingen, während
drei Schritte von uns Roswitha ſich über Annie
beugt und „Buhküken von Halberſtadt“ oder ſo 'was
Ähnliches zum beſten giebt, ſo können das ſchöne
Winterabende werden, und Du ſitzeſt dabei und ſtrickſt
mir eine große Winterkappe. Was meinſt Du dazu,
Effi?“


Solche Abende wurden nicht bloß geplant, ſie
nahmen auch ihren Anfang, und ſie würden ſich,
aller Wahrſcheinlichkeit nach, über viele Wochen hin
ausgedehnt haben, wenn nicht der unſchuldige harm¬
loſe Gieshübler, trotz größter Abgeneigtheit gegen
zweideutiges Handeln, dennoch im Dienſte zweier
Herren geſtanden hätte. Der eine, dem er diente,
war Innſtetten, der andere war Crampas, und wenn
er der Innſtetten'ſchen Aufforderung zu den italieni¬
ſchen Abenden, ſchon um Effi's willen, auch mit auf¬
[249]Effi Brieſt richtigſter Freude Folge leiſtete, ſo war die Freude,
mit der er Crampas gehorchte, doch noch eine größere.
Nach einem Crampas'ſchen Plane nämlich ſollte noch
vor Weihnachten „Ein Schritt vom Wege“ auf¬
geführt werden, und als man vor dem dritten
italieniſchen Abend ſtand, nahm Gieshübler die Ge¬
legenheit wahr, mit Effi, die die Rolle der Ella
ſpielen ſollte, darüber zu ſprechen.


Effi war wie elektriſiert; was wollten Padua,
Vicenza daneben bedeuten! Effi war nicht für Auf¬
gewärmtheiten; Friſches war es, wonach ſie ſich
ſehnte, Wechſel der Dinge. Aber als ob eine Stimme
ihr zugerufen hätte: „ſieh' Dich vor!“ ſo fragte ſie
doch, inmitten ihrer freudigen Erregung: „Iſt es
der Major, der den Plan aufgebracht hat?“


„Ja. Sie wiſſen, gnädigſte Frau, daß er ein¬
ſtimmig in das Vergnügungskomitee gewählt wurde.
Wir dürfen uns endlich einen hübſchen Winter in
der Reſſource verſprechen. Er iſt ja wie geſchaffen
dazu.“


„Und wird er auch mitſpielen?“


„Nein, das hat er abgelehnt. Ich muß ſagen,
leider. Denn er kann ja alles und würde den Arthur
von Schmettwitz ganz vorzüglich geben. Er hat nur
die Regie übernommen.“


„Deſto ſchlimmer.“


[250]Effi Brieſt

„Deſto ſchlimmer?“ wiederholte Gieshübler.


„O, Sie dürfen das nicht ſo feierlich nehmen;
das iſt nur ſo eine Redensart, die eigentlich das
Gegenteil bedeutet. Auf der anderen Seite freilich,
der Major hat ſo 'was Gewaltſames, er nimmt einem
die Dinge gern über den Kopf fort. Und man muß
dann ſpielen, wie er will, und nicht, wie man ſelber will.“


Sie ſprach noch ſo weiter und verwickelte ſich
immer mehr in Widerſprüche.


* * *

Der „Schritt vom Wege“ kam wirklich zu ſtande,
und gerade weil man nur noch gute vierzehn Tage
hatte (die letzte Woche vor Weihnachten war aus¬
geſchloſſen), ſo ſtrengte ſich alles an, und es ging
vorzüglich; dir Mitſpielenden, vor allem Effi, ernteten
reichen Beifall. Crampas hatte ſich wirklich mit
der Regie begnügt, und ſo ſtreng er gegen alle
anderen war, ſo wenig hatte er auf den Proben in
Effi's Spiel hineingeredet. Entweder waren ihm von
ſeiten Gieshübler's Mitteilungen über das mit Effi
gehabte Geſpräch gemacht worden, oder er hatte es
auch aus ſich ſelber bemerkt, daß Effi befliſſen war,
ſich von ihm zurückzuziehen. Und er war klug und
Frauenkenner genug, um den natürlichen Entwicklungs¬
gang, den er nach ſeinen Erfahrungen nur zu gut
kannte, nicht zu ſtören.


[251]Effi Brieſt

Am Theaterabend in der Reſſource trennte man
ſich ſpät, und Mitternacht war vorüber, als Inn¬
ſtetten und Effi wieder zu Hauſe bei ſich eintrafen.
Johanna war noch auf, um behülflich zu ſein, und
Innſtetten, der auf ſeine junge Frau nicht wenig
eitel war, erzählte Johanna, wie reizend die gnädige
Frau ausgeſehen und wie gut ſie geſpielt habe.
Schade, daß er nicht vorher daran gedacht, Kriſtel
und ſie ſelber und auch die alte Unke, die Kruſe,
hätten von der Muſikgalerie her ſehr gut zuſehen
können; es ſeien viele da geweſen. Dann ging
Johanna, und Effi, die müde war, legte ſich nieder.
Innſtetten aber, der noch plaudern wollte, ſchob einen
Stuhl heran und ſetzte ſich an das Bett ſeiner Frau,
dieſe freundlich anſehend und ihre Hand in der ſeinen
haltend.


„Ja, Effi, das war ein hübſcher Abend. Ich
habe mich amüſiert über das hübſche Stück. Und
denke Dir, der Dichter iſt ein Kammergerichtsrat,
eigentlich kaum zu glauben. Und noch dazu aus
Königsberg. Aber worüber ich mich am meiſten ge¬
freut, das war doch meine entzückende kleine Frau,
die allen die Köpfe verdreht hat.“


„Ach, Geert, ſprich nicht ſo. Ich bin ſchon
gerade eitel genug.“


„Eitel genug, das wird wohl richtig ſein. Aber
[252]Effi Brieſt doch lange nicht ſo eitel wie die anderen. Und das
iſt zu Deinen ſieben Schönheiten . . .“


„Sieben Schönheiten haben alle.“


„. . . Ich habe mich auch bloß verſprochen;
Du kannſt die Zahl gut mit ſich ſelbſt multipli¬
zieren.“


„Wie galant Du biſt, Geert. Wenn ich Dich
nicht kennte, könnt' ich mich fürchten. Oder lauert
wirklich 'was dahinter?“


„Haſt Du ein ſchlechtes Gewiſſen? Selber hinter
der Thür geſtanden?“


„Ach, Geert, ich ängſtige mich wirklich.“ Und
ſie richtete ſich im Bett in die Höh' und ſah ihn
ſtarr an. „Soll ich noch nach Johanna klingeln,
daß ſie uns Thee bringt? Du haſt es ſo gern vor
dem Schlafengehen.“


Er küßte ihr die Hand. „Nein, Effi. Nach
Mitternacht kann auch der Kaiſer keine Taſſe Thee
mehr verlangen, und Du weißt, ich mag die Leute
nicht mehr in Anſpruch nehmen, als nötig. Nein,
ich will nichts als Dich anſehen und mich freuen,
daß ich Dich habe. So manchmal empfindet man's
doch ſtärker, welchen Schatz man hat. Du könnteſt
ja auch ſo ſein wie die arme Frau Crampas; das
iſt eine ſchreckliche Frau, gegen keinen freundlich,
und Dich hätte ſie vom Erdboden vertilgen mögen.“


[253]Effi Brieſt

„Ach, ich bitte Dich, Geert, das bildeſt Du Dir
wieder ein. Die arme Frau! Mir iſt nichts auf¬
gefallen.“


„Weil Du für derlei keine Augen haſt. Aber
es war ſo wie ich Dir ſage, und der arme Crampas
war wie befangen dadurch und mied Dich immer
und ſah Dich kaum an. Was doch ganz unnatürlich
iſt; denn erſtens iſt er überhaupt ein Damenmann,
und nun gar Damen wie Du, das iſt ſeine beſondere
Paſſion. Und ich wette auch, daß es keiner beſſer
weiß, als meine kleine Frau ſelber. Wenn ich daran
denke, wie, Pardon, das Geſchnatter hin und her
ging, wenn er morgens in die Veranda kam oder
wenn wir am Strande ritten oder auf der Mole
ſpazieren gingen. Es iſt, wie ich Dir ſage, er traute
ſich heute nicht, er fürchtete ſich vor ſeiner Frau.
Und ich kann es ihm nicht verdenken. Die Majorin
iſt ſo etwas wie unſere Frau Kruſe, und wenn ich
zwiſchen beiden wählen müßte, ich wüßte nicht wen.“


„Ich wüßt' es ſchon; es iſt doch ein Unterſchied
zwiſchen den beiden. Die arme Majorin iſt un¬
glücklich, die Kruſe iſt unheimlich.“


„Und da biſt Du doch mehr für das Unglück¬
liche?“


„Ganz entſchieden.“


„Nun höre, das iſt Geſchmackſache. Man merkt,
[254]Effi Brieſtdaß Du noch nicht unglücklich warſt. Übrigens hat
Crampas ein Talent, die arme Frau zu eskamo¬
tieren. Er erfindet immer etwas, ſie zu Hauſe zu
laſſen.“


„Aber heute war ſie doch da.“


„Ja, heute. Da ging es nicht anders. Aber
ich habe mit ihm eine Partie zu Oberförſter Ring
verabredet, er, Gieshübler und der Paſtor, auf den
dritten Feiertag, und da hätteſt Du ſehen ſollen, mit
welcher Geſchicklichkeit er bewies, daß ſie, die Frau,
zu Hauſe bleiben müſſe.“


„Sind es denn nur Herren?“


„O bewahre. Da würd' ich mich auch bedanken.
Du biſt mit dabei und noch zwei, drei andere
Damen, die von den Gütern ungerechnet.“


„Aber dann iſt es doch auch häßlich von ihm,
ich meine von Crampas, und ſo 'was beſtraft ſich
immer.“


„Ja, 'mal kommt es. Aber ich glaube, unſer
Freund hält zu denen, die ſich über das, was kommt,
keine grauen Haare wachſen laſſen.“


„Hältſt Du ihn für ſchlecht?“


„Nein, für ſchlecht nicht. Beinah' im Gegen¬
teil, jedenfalls hat er gute Seiten. Aber er iſt ſo'n
halber Pole, kein rechter Verlaß, eigentlich in nichts,
am wenigſten mit Frauen. Eine Spielernatur. Er
[255]Effi Brieſt ſpielt nicht am Spieltiſch, aber er hazardiert im
Leben in einem fort, und man muß ihm auf die
Finger ſehen.“


„Es iſt mir doch lieb, daß Du mir das ſagſt.
Ich werde mich vorſehen mit ihm.“


„Das thu'. Aber nicht zu ſehr; dann hilft es
nichts. Unbefangenheit iſt immer das beſte, und
natürlich das allerbeſte iſt Charakter und Feſtigkeit
und, wenn ich ſolch' ſteifleinenes Wort brauchen
darf, eine reine Seele.“


Sie ſah ihn groß an. Dann ſagte ſie: „Ja,
gewiß. Aber nun ſprich nicht mehr, und noch dazu
lauter Dinge, die mich nicht recht froh machen können.
Weißt Du, mir iſt, als hörte ich oben das Tanzen.
Sonderbar, daß es immer wieder kommt. Ich dachte,
Du hätteſt mit dem allen nur ſo geſpaßt.“


„Das will ich doch nicht ſagen, Effi. Aber ſo
oder ſo, man muß nur in Ordnung ſein und ſich
nicht zu fürchten brauchen.“


Effi nickte und dachte mit einemmale wieder
an die Worte, die ihr Crampas über ihren Mann
als „Erzieher“ geſagt hatte.


Der heilige Abend kam und verging ähnlich
wie das Jahr vorher; aus Hohen-Cremmen kamen
[256]Effi BrieſtGeſchenke und Briefe; Gieshübler war wieder mit
einem Huldigungsvers zur Stelle, und Vetter Brieſt
ſandte eine Karte: Schneelandſchaft mit Telegraphen¬
ſtangen, auf deren Draht geduckt ein Vögelchen ſaß.
Auch für Annie war aufgebaut: ein Baum mit
Lichtern, und das Kind griff mit ſeinen Händchen
danach. Innſtetten, unbefangen und heiter, ſchien
ſich ſeines häuslichen Glücks zu freuen und beſchäftigte
ſich viel mit dem Kinde. Roswitha war erſtaunt,
den gnädigen Herrn ſo zärtlich und zugleich ſo auf¬
geräumt zu ſehen. Auch Effi ſprach viel und lachte
viel, es kam ihr aber nicht aus innerſter Seele. Sie
fühlte ſich bedrückt und wußte nur nicht, wen ſie
dafür verantwortlich machen ſollte, Innſtetten oder
ſich ſelber. Von Crampas war kein Weihnachtsgruß
eingetroffen; eigentlich war es ihr lieb, aber auch
wieder nicht, ſeine Huldigungen erfüllten ſie mit
einem gewiſſen Bangen, und ſeine Gleichgültigkeiten
verſtimmten ſie; ſie ſah ein, es war nicht alles ſo,
wie's ſein ſollte.


„Du biſt ſo unruhig,“ ſagte Innſtetten nach
einer Weile.


„Ja. Alle Welt hat es ſo gut mit mir gemeint,
am meiſten Du; das bedrückt mich, weil ich fühle,
daß ich es nicht verdiene.“


„Damit darf man ſich nicht quälen, Effi. Zuletzt
[257]Effi Brieſtiſt es doch ſo: was man empfängt, das hat man auch
verdient.“


Effi hörte ſcharf hin, und ihr ſchlechtes Gewiſſen
ließ ſie ſich ſelber fragen, ob er das abſichtlich in ſo
zweideutiger Form geſagt habe.


Spät gegen Abend kam Paſtor Lindequiſt, um
zu gratulieren und noch wegen der Partie nach der
Oberförſterrei Uvagla hin anzufragen, die natürlich
eine Schlittenpartie werden müſſe. Crampas habe
ihm einen Platz in ſeinem Schlitten angeboten, aber
weder der Major noch ſein Burſche, der wie alles,
auch das Kutſchieren übernehmen ſolle, kenne den
Weg, und ſo würde es ſich vielleicht empfehlen, die
Fahrt gemeinſchaftlich zu machen, wobei dann der
landrätliche Schlitten die Tête zu nehmen und der
Crampas'ſche zu folgen hätte. Wahrſcheinlich auch
der Gieshübler'ſche. Denn mit der Wegkenntnis
Mirambo's, dem ſich unerklärlicherweiſe Freund
Alonzo, der doch ſonſt ſo vorſichtig, anvertrauen
wolle, ſtehe es wahrſcheinlich noch ſchlechter als mit
der des ſommerſproſſigen Treptower Ulanen. Inn¬
ſtetten, den dieſe kleinen Verlegenheiten erheiterten,
war mit Lindequiſt's Vorſchlage durchaus einverſtanden
und ordnete die Sache dahin, daß er pünktlich um zwei
Uhr über den Marktplatz fahren und ohne alles Säumen
die Führung des Zuges in die Hand nehmen werde.


Th. Fontane, Effi Brieſt. 17[258]Effi Brieſt

Nach dieſem Übereinkommen wurde denn auch
verfahren, und als Innſtetten punkt zwei Uhr den
Marktplatz paſſierte, grüßte Crampas zunächſt von
ſeinem Schlitten aus zu Effi hinüber und ſchloß ſich
dann dem Innſtetten'ſchen an. Der Paſtor ſaß neben
ihm. Gieshübler's Schlitten, mit Gieshübler ſelbſt
und Doktor Hannemann, folgte, jener in einem elegan¬
ten Büffelrock mit Marderbeſatz, dieſer in einem Bären¬
pelz, dem man anſah, daß er wenigſtens dreißig
Dienſtjahre zählte. Hannemann war nämlich in ſeiner
Jugend Schiffschirurgus auf einem Grönlandfahrer
geweſen. Mirambo ſaß vorn, etwas aufgeregt wegen
Unkenntnis im Kutſchieren, ganz wie Lindequiſt ver¬
mutet hatte.


Schon nach zwei Minuten war man an Utpatel's
Mühle vorbei.


Zwiſchen Keſſin und Uvagla (wo, der Sage
nach, ein Wendentempel geſtanden) lag ein nur etwa
tauſend Schritt breiter, aber wohl anderthalb Meilen
langer Waldſtreifen, der an ſeiner rechten Längsſeite
das Meer, an ſeiner linken, bis weit an den Horizont
hin, ein großes, überaus fruchtbares und gut an¬
gebautes Stück Land hatte. Hier, an der Binnen¬
ſeite, flogen jetzt die drei Schlitten hin, in einiger
Entfernung ein paar alte Kutſchwagen vor ſich, in
denen, aller Wahrſcheinlichkeit nach, andere nach der
[259]Effi Brieſt Oberförſterei hin eingeladene Gäſte ſaßen. Einer
dieſer Wagen war an ſeinen altmodiſch hohen Rädern
deutlich zu erkennen, es war der Papenhagen'ſche.
Natürlich. Güldenklee galt als der beſte Redner des
Kreiſes (noch beſſer als Borcke, ja ſelbſt beſſer als
Graſenabb) und durfte bei Feſtlichkeiten nicht leicht
fehlen.


Die Fahrt ging raſch — auch die herrſchaft¬
lichen Kutſcher ſtrengten ſich an und wollten ſich
nicht überholen laſſen — ſo daß man ſchon um
drei vor der Oberförſterei hielt. Ring, ein ſtatt¬
licher, militäriſch dreinſchauender Herr von Mitte
fünfzig, der den erſten Feldzug in Schleswig noch
unter Wrangel und Bonin mitgemacht und ſich bei
Erſtürmung des Danewerks ausgezeichnet hatte, ſtand
in der Thür und empfing ſeine Gäſte, die, nachdem
ſie abgelegt und die Frau des Hauſes begrüßt hatten,
zunächſt vor einem langgedeckten Kaffeetiſche Platz
nahmen, auf dem kunſtvoll aufgeſchichtete Kuchen¬
pyramiden ſtanden. Die Oberförſterin, eine von Natur
ſehr ängſtliche, zum mindeſten aber ſehr befangene
Frau, zeigte ſich auch als Wirtin ſo, was den
überaus eitlen Oberförſter, der für Sicherheit und
Schneidigkeit war, ganz augenſcheinlich verdroß. Zum
Glück kam ſein Unmut zu keinem Ausbruch, denn
von dem, was ſeine Frau vermiſſen ließ, hatten ſeine
17 *[260]Effi Brieſt Töchter deſto mehr, bildhübſche Backfiſche von vier¬
zehn und dreizehn, die ganz nach dem Vater ſchlugen.
Beſonders die ältere, Cora, kokettierte ſofort mit Inn¬
ſtetten und Crampas, und beide gingen auch darauf
ein. Effi ärgerte ſich darüber und ſchämte ſich dann
wieder, daß ſie ſich geärgert habe. Sie ſaß neben
Sidonie von Graſenabb und ſagte: „Sonderbar, ſo
bin ich auch geweſen, als ich vierzehn war.“


Effi rechnete darauf, daß Sidonie dies beſtreiten
oder doch wenigſtens Einſchränkungen machen würde.
Statt deſſen ſagte dieſe: „Das kann ich mir denken.“


„Und wie der Vater ſie verzieht,“ fuhr Effi
halb verlegen, und nur, um doch 'was zu ſagen, fort.


Sidonie nickte. „Da liegt es. Keine Zucht. Das
iſt die Signatur unſerer Zeit.“


Effi brach nun ab.


Der Kaffee war bald genommen, und man
ſtand auf, um noch einen halbſtündigen Spaziergang
in den umliegenden Wald zu machen, zunächſt auf
ein Gehege zu, drin Wild eingezäunt war. Cora
öffnete das Gatter, und kaum, daß ſie eingetreten,
ſo kamen auch ſchon die Rehe auf ſie zu. Es war
eigentlich reizend, ganz wie ein Märchen. Aber die
Eitelkeit des jungen Dinges, das ſich bewußt war,
ein lebendes Bild zu ſtellen, ließ doch einen reinen
Eindruck nicht aufkommen, am wenigſten bei Effi.
[261]Effi Brieſt „Nein,“ ſagte ſie zu ſich ſelber, „ſo bin ich doch
nicht geweſen. Vielleicht hat es mir auch an Zucht
gefehlt, wie dieſe furchtbare Sidonie mir eben an¬
deutete, vielleicht auch anderes noch. Man war zu
Haus zu gütig gegen mich, man liebte mich zu ſehr.
Aber das darf ich doch wohl ſagen, ich habe mich
nie geziert. Das war immer Hulda's Sache. Darum
gefiel ſie mir auch nicht, als ich dieſen Sommer ſie
wieder ſah.“


Auf dem Rückwege vom Walde nach der Ober¬
förſtern begann es zu ſchneien. Crampas geſellte
ſich zu Effi und ſprach ihr ſein Bedauern aus, daß
er noch nicht Gelegenheit gehabt habe, ſie zu be¬
grüßen. Zugleich wies er auf die großen, ſchweren
Schneeflocken, die fielen, und ſagte: „Wenn das ſo
weiter geht, ſo ſchneien wir hier ein.“


„Das wäre nicht das Schlimmſte. Mit dem
Eingeſchneitwerden verbinde ich von langer Zeit her
eine freundliche Vorſtellung, eine Vorſtellung von
Schutz und Beiſtand.“


„Das iſt mir neu, meine gnädigſte Frau.“


„Ja,“ fuhr Effi fort und verſuchte zu lachen,
„mit den Vorſtellungen iſt es ein eigen Ding, man
macht ſie ſich nicht bloß nach dem, was man perſönlich
erfahren hat, auch nach dem, was man irgendwo
gehört oder ganz zufällig weiß. Sie ſind ſo beleſen,
[262]Effi Brieſt Major, aber mit einem Gedichte — freilich keinem
Heine'ſchen, keinem ‚Seegeſpenſt‘ und keinem ,Vitzli¬
putzli‘ — bin ich Ihnen, wie mir ſcheint, doch voraus.
Dies Gedicht heißt die ‚Gottesmauer‘, und ich hab'
es bei unſerm Hohen-Cremmner Paſtor vor vielen,
vielen Jahren, als ich noch ganz klein war, aus¬
wendig gelernt.“


„Gottesmauer,“ wiederholte Crampas. „Ein
hübſcher Titel, und wie verhält es ſich damit?“


„Eine kleine Geſchichte, nur ganz kurz. Da war
irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte
Witwe, die ſich vor dem Feinde mächtig fürchtete,
betete zu Gott, er möge doch ,eine Mauer um ſie
bauen‘, um ſie vor dem Landesfeinde zu ſchützen.
Und da ließ Gott das Haus einſchneien, und der
Feind zog daran vorüber.“


Crampas war ſichtlich betroffen und wechſelte
das Geſpräch.


Als es dunkelte, waren alle wieder in der Ober¬
förſterei zurück.

[[263]]

Neunzehntes Kapitel.

Gleich nach ſieben ging man zu Tiſch, und
alles freute ſich, daß der Weihnachtsbaum, eine mit
zahlloſen Silberkugeln bedeckte Tanne, noch einmal
angeſteckt wurde. Crampas, der das Ring'ſche Haus
noch nicht kannte, war helle Bewunderung. Der
Damaſt, die Weinkühler, das reiche Silbergeſchirr,
alles wirkte herrſchaftlich, weit über oberförſterliche
Durchſchnittsverhältniſſe hinaus, was darin ſeinen
Grund hatte, daß Ring's Frau, ſo ſcheu und ver¬
legen ſie war, aus einem reichen Danziger Korn¬
händlerhauſe ſtammte. Von da her rührten auch
die meiſten der rings umher hängenden Bilder: der
Kornhändler und ſeine Frau, der Marienburger
Remter und eine gute Kopie nach dem berühmten
Memling'ſchen Altarbilde in der Danziger Marien¬
kirche. Kloſter Oliva war zweimal da, einmal in
Öl und einmal in Kork geſchnitzt. Außerdem befand
ſich über dem Büffet ein ſehr nachgedunkeltes Porträt
[264]Effi Brieſtdes alten Nettelbeck, das noch aus dem beſcheidenen
Mobiliar des erſt vor anderthalb Jahren verſtorbenen
Ring'ſchen Amtsvorgängers herrührte. Niemand
hatte damals, bei der wie gewöhnlich ſtattfindenden
Auktion, das Bild des Alten haben wollen, bis Inn¬
ſtetten, der ſich über dieſe Mißachtung ärgerte, dar¬
auf geboten hatte. Da hatte ſich denn auch Ring
patriotiſch beſonnen, und der alte Colbergverteidiger
war der Oberförſterei verblieben.


Das Nettelbeck-Bild ließ ziemlich viel zu wünſchen
übrig; ſonſt aber verriet alles, wie ſchon angedeutet,
eine beinahe an Glanz ſtreifende Wohlhabenheit,
und dem entſprach denn auch das Mahl, das auf¬
getragen wurde. Jeder hatte mehr oder weniger
ſeine Freude daran, mit Ausnahme Sidoniens. Dieſe
ſaß zwiſchen Innſtetten und Lindequiſt und ſagte,
als ſie Cora's anſichtig wurde: „Da iſt ja wieder
dies unausſtehliche Balg, dieſe Cora. Sehen Sie
nur, Innſtetten, wie ſie die kleinen Weingläſer prä¬
ſentiert, ein wahres Kunſtſtück, ſie könnte jeden
Augenblick Kellnerin werden. Ganz unerträglich.
Und dazu die Blicke von Ihrem Freunde Crampas!
Das iſt ſo die rechte Saat! Ich frage Sie, was
ſoll dabei herauskommen?“


Innſtetten, der ihr eigentlich zuſtimmte, fand
trotzdem den Ton, in dem das alles geſagt wurde,
[265]Effi Brieſt ſo verletzend herbe, daß er ſpöttiſch bemerkte: „Ja,
meine Gnädigſte, was dabei herauskommen ſoll?
Ich weiß es auch nicht“ — worauf ſich Sidonie
von ihm ab- und ihrem Nachbar zur Linken zu¬
wandte : „Sagen Sie, Paſtor, iſt dieſe vierzehnjährige
Kokette ſchon im Unterricht bei Ihnen?“


„Ja, mein gnädigſtes Fräulein.“


„Dann müſſen Sie mir die Bemerkung ver¬
zeihen, daß Sie ſie nicht in die richtige Schule ge¬
nommen haben. Ich weiß wohl, es hält das heutzutage
ſehr ſchwer, aber ich weiß auch, daß die, denen die
Fürſorge für junge Seelen obliegt, es vielfach an
dem rechten Ernſte fehlen laſſen. Es bleibt dabei,
die Hauptſchuld tragen die Eltern und Erzieher.“


Lindequiſt, denſelben Ton anſchlagend wie Inn¬
ſtetten, antwortete, daß das alles ſehr richtig, der
Geiſt der Zeit aber zu mächtig ſei.


„Geiſt der Zeit!“ ſagte Sidonie. „Kommen
Sie mir nicht damit. Das kann ich nicht hören,
das iſt der Ausdruck höchſter Schwäche, Bankrutt¬
erklärung. Ich kenne das; nie ſcharf zufaſſen wollen,
immer dem Unbequemen aus dem Wege gehen. Denn
Pflicht iſt unbequem. Und ſo wird nur allzu leicht
vergeſſen, daß das uns anvertraute Gut auch 'mal von
uns zurückgefordert wird. Eingreifen, lieber Paſtor,
Zucht. Das Fleiſch iſt ſchwach, gewiß; aber . . .“


[266]Effi Brieſt

In dieſem Augenblicke kam ein engliſches Roaſt¬
beef, von dem Sidonie ziemlich ausgiebig nahm, ohne
Lindequiſt's Lächeln dabei zu bemerken. Und weil
ſie's nicht bemerkte, ſo durfte es auch nicht Wunder
nehmen, daß ſie mit vieler Unbefangenheit fortfuhr:
„Es kann übrigens alles, was Sie hier ſehen, nicht
wohl anders ſein; alles iſt ſchief und verfahren von
Anfang an. Ring, Ring — wenn ich nicht irre,
hat es drüben in Schweden oder da herum 'mal
einen Sagenkönig dieſes Namens gegeben. Nun
ſehen Sie, benimmt er ſich nicht, als ob er von dem
abſtamme, und ſeine Mutter, die ich noch gekannt
habe, war eine Plättfrau in Cöslin.“


„Ich kann darin nichts ſchlimmes finden.“


„Schlimmes finden? Ich auch nicht. Und
jedenfalls giebt es ſchlimmeres. Aber ſo viel muß
ich doch von Ihnen, als einem geweihten Diener der
Kirche, gewärtigen dürfen, daß Sie die geſellſchaft¬
lichen Ordnungen gelten laſſen. Ein Oberförſter iſt
ein bißchen mehr als ein Förſter, und ein Förſter
hat nicht ſolche Weinkühler und ſolch' Silberzeug;
das alles iſt ungehörig und zieht dann ſolche Kinder
groß, wie dies Fräulein Cora.“


Sidonie, jedesmal bereit, irgend 'was Schreck¬
liches zu prophezeien, wenn ſie, vom Geiſt über¬
kommen, die Schalen ihres Zornes ausſchüttete, würde
[267]Effi Brieſt ſich auch heute bis zum Kaſſandrablick in die Zukunft
geſteigert haben, wenn nicht in eben dieſem Augen¬
blicke die dampfende Punſchbowle — womit die
Weihnachtsréunions bei Ring immer abſchloſſen —
auf der Tafel erſchienen wäre, dazu Krausgebackenes,
das, geſchickt über einander getürmt, noch weit über
die vor einigen Stunden aufgetragene Kaffeekuchen¬
pyramide hinauswuchs. Und nun trat auch Ring
ſelbſt, der ſich bis dahin etwas zurückgehalten hatte,
mit einer gewiſſen ſtrahlenden Feierlichkeit in Aktion
und begann die vor ihm ſtehenden Gläſer, große
geſchliffene Römer, in virtuoſem Bogenſturz zu füllen,
ein Einſchenkekunſtſtück, das die ſtets ſchlagfertige
Frau von Padden, die heute leider fehlte, 'mal als
,Ring'ſche Füllung en cascade‘ bezeichnet hatte.
Rotgolden wölbte ſich dabei der Strahl, und kein
Tropfen durfte verloren gehen. So war es auch
heute wieder. Zuletzt aber, als jeder, was ihm zu¬
kam, in Händen hielt — auch Cora, die ſich mittler¬
weile mit ihrem rotblonden Wellenhaar auf „Onkel
Crampas'“ Schoß geſetzt hatte — erhob ſich der alte
Papenhagner, um, wie herkömmlich bei Feſtlichkeiten
derart, einen Toaſt auf ſeinen lieben Oberförſter
auszubringen. Es gäbe viele Ringe, ſo etwa begann
er, Jahresringe, Gardinenringe, Trauringe, und was
nun gar — denn auch davon dürfe ſich am Ende
[268]Effi Brieſtwohl ſprechen laſſen — die Verlobungsringe angehe,
ſo ſei glücklicherweiſe die Gewähr gegeben, daß einer
davon in kürzeſter Friſt in dieſem Hauſe ſichtbar
werden und den Ringfinger (und zwar hier in einem
doppelten Sinne den Ringfinger) eines kleinen
hübſchen Pätſchelchens zieren werde . . .“


„Unerhört,“ raunte Sidonie dem Paſtor zu.


„Ja, meine Freunde,“ fuhr Güldenklee mit ge¬
hobener Stimme fort, „viele Ringe giebt es, und es
giebt ſogar eine Geſchichte, die wir alle kennen,
die die Geſchichte von den ,drei Ringen‘ heißt, eine
Judengeſchichte, die, wie der ganze liberale Krims¬
krams, nichts wie Verwirrung und Unheil geſtiftet
hat und noch ſtiftet. Gott beſſere es. Und nun
laſſen Sie mich ſchließen, um Ihre Geduld und
Nachſicht nicht über Gebühr in Anſpruch zu nehmen.
Ich bin nicht für dieſe drei Ringe, meine Lieben,
ich bin vielmehr für einen Ring, für einen Ring,
der ſo recht ein Ring iſt wie er ſein ſoll, ein Ring,
der alles Gute, was wir in unſrem altpommerſchen
Keſſiner Kreiſe haben, alles, was noch mit Gott für
König und Vaterland einſteht — und es ſind ihrer
noch einige (lauter Jubel) — an dieſem ſeinem gaſt¬
lichen Tiſch vereinigt ſieht. Für dieſen Ring bin
ich. Er lebe hoch!“


Alles ſtimmte ein und umdrängte Ring, der,
[269]Effi Brieſtſo lange das dauerte, das Amt des ‚Einſchenkens
en cascade‘ an den ihm gegenüber ſitzenden Crampas
abtreten mußte; der Hauslehrer aber ſtürzte von
ſeinem Platz am unteren Ende der Tafel an das
Klavier und ſchlug die erſten Takte des Preußenliedes
an, worauf alles ſtehend und feierlich einfiel: „Ich
bin ein Preuße . . . will ein Preuße ſein.“


„Es iſt doch etwas Schönes,“ ſagte gleich nach
der erſten Strophe der alte Borcke zu Innſtetten,
„ſo 'was hat man in anderen Ländern nicht.“


„Nein,“ antwortete Innſtetten, der von ſolchem
Patriotismus nicht viel hielt, „in anderen Ländern
hat man 'was anderes.“


Man ſang alle Strophen durch, dann hieß es,
die Wagen ſeien vorgefahren, und gleich darnach
erhob ſich alles, um die Pferde nicht warten zu
laſſen. Denn dieſe Rückſicht „auf die Pferde“ ging
auch im Kreiſe Keſſin allem anderen vor. Im Haus¬
flur ſtanden zwei hübſche Mägde, Ring hielt auf
dergleichen, um den Herrſchaften beim Anziehen ihrer
Pelze behülflich zu ſein. Alles war heiter angeregt,
einige mehr als das, und das Einſteigen in die ver¬
ſchiedenen Gefährte ſchien ſich ſchnell und ohne Störung
vollziehen zu ſollen, als es mit einemmal hieß, der
Gieshübler'ſche Schlitten ſei nicht da. Gieshübler
ſelbſt war viel zu artig, um gleich Unruhe zu zeigen
[270]Effi Brieſt oder gar Lärm zu machen; endlich aber, weil doch
wer das Wort nehmen mußte, fragte Crampas, „was
es denn eigentlich ſei?“


„Mirambo kann nicht fahren,“ ſagte der Hofe¬
knecht; „das linke Pferd hat ihn beim Anſpannen
vor das Schienbein geſchlagen. Er liegt im Stall
und ſchreit.“


Nun wurde natürlich nach Dr. Hannemann
gerufen, der denn auch hinausging und nach fünf
Minuten mit echter Chirurgenruhe verſicherte: „Ja,
Mirambo müſſe zurückbleiben; es ſei vorläufig in der
Sache nichts zu machen, als ſtill liegen und kühlen.
Übrigens von Bedenklichem keine Rede.“ Das war
nun einigermaßen ein Troſt, aber ſchaffte doch die
Verlegenheit, wie der Gieshübler'ſche Schlitten zurück¬
zufahren ſei, nicht aus der Welt, bis Innſtetten er¬
klärte, daß er für Mirambo einzutreten und das
Zwiegeſtirn von Doktor und Apotheker perſönlich
glücklich heimzuſteuern gedenke. Lachend und unter
ziemlich angeheiterten Scherzen gegen den verbind¬
lichſten aller Landräte, der ſich, um hülfreich zu ſein,
ſogar von ſeiner jungen Frau trennen wolle, wurde
dem Vorſchlage zugeſtimmt, und Innſtetten, mit
Gieshübler und dem Doktor im Fond, nahm jetzt
wieder die Tête. Crampas und Lindequiſt folgten
unmittelbar. Und als gleich danach auch Kruſe mit
[271]Effi Brieſt dem landrätlichen Schlitten vorfuhr, trat Sidonie
lächelnd an Effi heran und bat dieſe, da ja nun
ein Platz frei ſei, mit ihr fahren zu dürfen. „In
unſerer Kutſche iſt es immer ſo ſtickig; mein Vater liebt
das. Und außerdem, ich möchte ſo gerne mit Ihnen
plaudern. Aber nur bis Quappendorf. Wo der
Morgnitzer Weg abzweigt, ſteig' ich aus und muß
dann wieder in unſern unbequemen Kaſten. Und
Papa raucht auch noch.“


Effi war wenig erfreut über dieſe Begleitung
und hätte die Fahrt lieber allein gemacht; aber ihr
blieb keine Wahl, und ſo ſtieg denn das Fräulein
ein, und kaum daß beide Damen ihre Plätze genommen
hatten, ſo gab Kruſe den Pferden auch ſchon einen
Peitſchenknips und von der oberförſterlichen Rampe
her, von der man einen prächtigen Ausblick auf das
Meer hatte, ging es, die ziemlich ſteile Düne hinunter,
auf den Strandweg zu, der, eine Meile lang, in
beinahe gerader Linie bis an das Keſſiner Strand¬
hotel, und von dort aus, rechts einbiegend, durch die
Plantage hin, in die Stadt führte. Der Schneefall
hatte ſchon ſeit ein paar Stunden aufgehört, die Luft
war friſch, und auf das weite dunkelnde Meer fiel
der matte Schein der Mondſichel. Kruſe fuhr hart
am Waſſer hin, mitunter den Schaum der Brandung
durchſchneidend, und Effi, die etwas fröſtelte, wickelte
[272]Effi Brieſt ſich feſter in ihren Mantel und ſchwieg noch immer
und mit Abſicht. Sie wußte recht gut, daß das mit
der „ſtickigen Kutſche“ bloß Vorwand geweſen und
daß ſich Sidonie nur zu ihr geſetzt hatte, um ihr
etwas Unangenehmes zu ſagen. Und das kam immer
noch früh genug. Zudem war ſie wirklich müde,
vielleicht von dem Spaziergang im Walde, vielleicht
auch von dem oberförſterlichen Punſch, dem ſie, auf
Zureden der neben ihr ſitzenden Frau v. Flemming,
tapfer zugeſprochen hatte. Sie that denn auch, als
ob ſie ſchliefe, ſchloß die Augen und neigte den Kopf
immer mehr nach links.


„Sie ſollten ſich nicht ſo ſehr nach links beugen,
meine gnädigſte Frau. Fährt der Schlitten auf
einen Stein, ſo fliegen Sie hinaus. Ihr Schlitten
hat ohnehin kein Schutzleder und, wie ich ſehe, auch
nicht einmal die Haken dazu.“


„Ich kann die Schutzleder nicht leiden; ſie haben
ſo 'was Proſaiſches. Und dann, wenn ich hinaus
flöge, mir wär' es recht, am liebſten gleich in die
Brandung. Freilich ein etwas kaltes Bad, aber was
thut's . . . Übrigens hören Sie nichts?“


„Nein.“


„Hören Sie nicht etwas wie Muſik?“


„Orgel?“


„Nein, nicht Orgel. Da würd' ich denken, es ſei
[273]Effi Brieſt das Meer. Aber es iſt etwas anderes, ein unendlich
feiner Ton, faſt wie menſchliche Stimme . . .“


„Das ſind Sinnestäuſchungen,“ ſagte Sidonie,
die jetzt den richtigen Einſetzemoment gekommen glaubte.
„Sie ſind nervenkrank. Sie hören Stimmen. Gebe
Gott, daß Sie auch die richtige Stimme hören.“


„Ich höre . . . nun, gewiß, es iſt Thorheit, ich
weiß, ſonſt würd' ich mir einbilden, ich hätte die
Meerfrauen ſingen hören . . . Aber, ich bitte Sie,
was iſt das? Es blitzt ja bis hoch in den Himmel
hinauf. Das muß ein Nordlicht ſein.“


„Ja,“ ſagte Sidonie. „Gnädigſte Frau thun
ja, als ob es ein Weltwunder wäre. Das iſt es
nicht. Und wenn es dergleichen wäre, wir haben
uns vor Naturkultus zu hüten. Übrigens ein wahres
Glück, daß wir außer Gefahr ſind, unſern Freund
Oberförſter, dieſen eitelſten aller Sterblichen, über
dies Nordlicht ſprechen zu hören. Ich wette, daß
er ſich einbilden würde, das thue ihm der Himmel
zu Gefallen, um ſein Feſt noch feſtlicher zu machen.
Er iſt ein Narr. Güldenklee konnte beſſeres thun,
als ihn feiern. Und dabei ſpielt er ſich auf den
Kirchlichen aus und hat auch neulich eine Altardecke
geſchenkt. Vielleicht, daß Cora daran mitgeſtickt hat.
Dieſe Unechten ſind ſchuld an allem, denn ihre
Weltlichkeit liegt immer oben auf und wird Denen
Th Fontane, Effi Brieſt. 18[274]Effi Brieſt mit angerechnet, die's ernſt mit dem Heil ihrer Seele
meinen.“


„Es iſt ſo ſchwer, ins Herz zu ſehen!“


„Ja. Das iſt es. Aber bei manchem iſt es
auch ganz leicht.“ Und dabei ſah ſie die junge Frau
mit beinahe ungezogener Eindringlichkeit an.


Effi ſchwieg und wandte ſich ungeduldig zur
Seite.


„Bei manchem, ſag' ich, iſt es ganz leicht,“
wiederholte Sidonie, die ihren Zweck erreicht hatte
und deshalb ruhig lächelnd fortfuhr: „und zu dieſen
leichten Rätſeln gehört unſer Oberförſter. Wer ſeine
Kinder ſo erzieht, den beklag' ich, aber das eine
gute hat es, es liegt bei ihm alles klar da. Und wie
bei ihm ſelbſt, ſo bei den Töchtern. Cora geht nach
Amerika und wird Millionärin oder Methodiſten¬
predigerin; in jedem Fall iſt ſie verloren. Ich habe
noch keine Vierzehnjährige geſehen . . .“


In dieſem Augenblicke hielt der Schlitten, und
als ſich beide Damen umſahen, um in Erfahrung
zu bringen, was es denn eigentlich ſei, bemerkten ſie,
daß rechts von ihnen, in etwa dreißig Schritt Ab¬
ſtand, auch die beiden anderen Schlitten hielten —
am weiteſten nach rechts der von Innſtetten geführte,
näher heran der Crampas'ſche.


„Was iſt?“ fragte Effi.


[275]Effi Brieſt

Kruſe wandte ſich halb herum und ſagte: „Der
Schloon, gnäd'ge Frau.“


„Der Schloon? Was iſt das? Ich ſehe nichts.“


Kruſe wiegte den Kopf hin und her, wie wenn
er ausdrücken wollte, daß die Frage leichter geſtellt
als beantwortet ſei. Worin er auch recht hatte.
Denn was der Schloon ſei, das war nicht ſo mit
drei Worten zu ſagen. Kruſe fand aber in ſeiner
Verlegenheit alsbald Hülfe bei dem gnädigen Fräulein,
das hier mit allem Beſcheid wußte und natürlich
auch mit dem Schloon.


„Ja, meine gnädigſte Frau,“ ſagte Sidonie,
„da ſteht es ſchlimm. Für mich hat es nicht viel
auf ſich, ich komme bequem durch; denn wenn erſt
die Wagen heran ſind, die haben hohe Räder, und
unſere Pferde ſind außerdem daran gewöhnt. Aber
mit ſolchem Schlitten iſt es 'was anderes; die ver¬
ſinken im Schloon, und Sie werden wohl oder übel
einen Umweg machen müſſen.“


„Verſinken! Ich bitte Sie, mein gnädigſtes
Fräulein, ich ſehe noch immer nicht klar. Iſt denn
der Schloon ein Abgrund oder irgend 'was, drin
man mit Mann und Maus zu Grunde gehen muß?
Ich kann mir ſo 'was hier zu Lande gar nicht
denken.“


„Und doch iſt es ſo 'was, nur freilich im kleinen;
18 *[276]Effi Brieſt dieſer Schloon iſt eigentlich bloß ein kümmerliches
Rinnſal, das hier rechts vom Gothener See her
herunter kommt und ſich durch die Dünen ſchleicht.
Und im Sommer trocknet es mitunter ganz aus, und
Sie fahren dann ruhig drüber hin und wiſſen es
nicht einmal.“


„Und im Winter?“


„Ja, im Winter, da iſt es 'was anderes; nicht
immer, aber doch oft. Da wird es dann eine Soog.“


„Mein Gott, was ſind das nur alles für Namen
und Wörter!


„. . . Da wird es ein Soog, und am ſtärkſten
immer dann, wenn der Wind nach dem Lande hin
ſteht. Dann drückt der Wind das Meerwaſſer in
das kleine Rinnſal hinein, aber nicht ſo, daß man
es ſehen kann. Und das iſt das ſchlimmſte von der
Sache, darin ſteckt die eigentliche Gefahr. Alles geht
nämlich unterirdiſch vor ſich, und der ganze Strand¬
ſand iſt dann bis tief hinunter mit Waſſer durchſetzt
und gefüllt. Und wenn man dann über ſolche Sand¬
ſtelle weg will, die keine mehr iſt, dann ſinkt man
ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.“


„Das kenn' ich,“ ſagte Effi lebhaft. „Das iſt
wie in unſrem Luch,“ und inmitten all' ihrer Ängſt¬
lichkeit wurde ihr mit einemmale ganz wehmütig¬
freudig zu Sinn.


[277]Effi Brieſt

Während das Geſpräch noch ſo ging und ſich
fortſetzte, war Crampas aus ſeinem Schlitten aus¬
geſtiegen und auf den am äußerſten Flügel haltenden
Gieshübler'ſchen zugeſchritten, um hier mit Innſtetten
zu verabreden, was nun wohl eigentlich zu thun ſei.
Knut, ſo vermeldete er, wolle die Durchfahrt riskieren,
aber Knut ſei dumm und verſtehe nichts von der
Sache; nur ſolche, die hier zu Hauſe ſeien, müßten
die Entſcheidung treffen. Innſtetten — ſehr zu
Crampas' Überraſchung — war auch fürs „Riskieren“,
es müſſe durchaus noch 'mal verſucht werden . . . er
wiſſe ſchon, die Geſchichte wiederhole ſich jedesmal:
die Leute hier hätten einen Aberglauben und vorweg
eine Furcht, während es doch eigentlich wenig zu
bedeuten habe. Nicht Knut, der wiſſe nicht Beſcheid,
wohl aber Kruſe ſolle noch einmal einen Anlauf
nehmen und Crampas derweilen bei den Damen ein¬
ſteigen (ein kleiner Rückſitz ſei ja noch da), um bei der
Hand zu ſein, wenn der Schlitten umkippe. Das
ſei doch ſchließlich das ſchlimmſte, was geſchehen könne.


Mit dieſer Innſtetten'ſchen Botſchaft erſchien
jetzt Crampas bei den beiden Damen und nahm,
als er lachend ſeinen Auftrag ausgeführt hatte, ganz
nach empfangener Ordre den kleinen Sitzplatz ein,
der eigentlich nichts als eine mit Tuch überzogene
Leiſte war, und rief Kruſe zu: „Nun, vorwärts, Kruſe.“


[278]Effi Brieſt

Dieſer hatte denn auch die Pferde bereits um
hundert Schritte zurück gezoppt und hoffte, ſcharf
anfahrend, den Schlitten glücklich durchbringen zu
können; im ſelben Augenblick aber, wo die Pferde
den Schloon auch nur berührten, ſanken ſie bis über
die Knöchel in den Sand ein, ſo daß ſie nur mit
Mühe nach rückwärts wieder heraus konnten.


„Es geht nicht,“ ſagte Crampas, und Kruſe
nickte.


Während ſich dies abſpielte, waren endlich auch
die Kutſchen heran gekommen, die Graſenabb'ſche
vorauf, und als Sidonie, nach kurzem Dank gegen
Effi, ſich verabſchiedet und dem ſeine türkiſche Pfeife
rauchenden Vater gegenüber ihren Rückplatz ein¬
genommen hatte, ging es mit dem Wagen ohne
weiteres auf den Schloon zu; die Pferde ſanken tief
ein, aber die Räder ließen alle Gefahr leicht überwinden,
und ehe eine halbe Minute vorüber war, trabten auch
ſchon die Graſenabb's drüben weiter. Die andern
Kutſchen folgten. Effi ſah ihnen nicht ohne Neid
nach. Indeſſen nicht lange, denn auch für die Schlitten¬
fahrer war in der zwiſchenliegenden Zeit Rat geſchafft
worden, und zwar einfach dadurch, daß ſich Innſtetten
entſchloſſen hatte, ſtatt aller weiteren Forcierung, das
friedlichere Mittel eines Umwegs zu wählen. Alſo
genau das, was Sidonie gleich anfangs in Sicht
[279]Effi Brieſt geſtellt hatte. Vom rechten Flügel her klang des
Landrats beſtimmte Weiſung herüber, vorläufig dies¬
ſeits zu bleiben und ihm durch die Dünen hin bis
an eine weiter hinauf gelegene Bohlenbrücke zu folgen.
Als beide Kutſcher, Knut und Kruſe, ſo verſtändigt
waren, trat der Major, der, um Sidonie zu helfen,
gleichzeitig mit dieſer ausgeſtiegen war, wieder an Effi
heran und ſagte: „Ich kann Sie nicht allein laſſen,
gnäd'ge Frau.“


Effi war einen Augenblick unſchlüſſig, rückte
dann aber raſch von der einen Seite nach der anderen
hinüber, und Crampas nahm links neben ihr Platz.


All' dies hätte vielleicht mißdeutet werden können,
Crampas ſelbſt aber war zu ſehr Frauenkenner, um
es ſich bloß in Eitelkeit zurechtzulegen. Er ſah deut¬
lich, daß Effi nur that, was, nach Lage der Sache,
das einzig Richtige war. Es war unmöglich für ſie,
ſich ſeine Gegenwart zu verbitten. Und ſo ging es
denn im Fluge den beiden anderen Schlitten nach,
immer dicht an dem Waſſerlaufe hin, an deſſen
anderem Ufer dunkle Waldmaſſen aufragten. Effi
ſah hinüber und nahm an, daß ſchließlich an dem
landeinwärts gelegenen Außenrande des Waldes hin
die Weiterfahrt gehen würde, genau alſo den Weg
entlang, auf dem man in früher Nachmittagsſtunde
gekommen war. Innſtetten aber hatte ſich inzwiſchen
[280]Effi Brieſt einen andern Plan gemacht, und im ſelben Augen¬
blicke, wo ſein Schlitten die Bohlenbrücke paſſierte,
bog er, ſtatt den Außenweg zu wählen, in einen
ſchmaleren Weg ein, der mitten durch die dichte
Waldmaſſe hindurch führte. Effi ſchrak zuſammen.
Bis dahin waren Luft und Licht um ſie her geweſen,
aber jetzt war es damit vorbei, und die dunklen
Kronen wölbten ſich über ihr. Ein Zittern überkam
ſie, und ſie ſchob die Finger feſt in einander, um ſich
einen Halt zu geben. Gedanken und Bilder jagten
ſich und eines dieſer Bilder war das Mütterchen in
dem Gedichte, das die „Gottesmauer“ hieß, und wie
das Mütterchen, ſo betete auch ſie jetzt, daß Gott
eine Mauer um ſie her bauen möge. Zwei, drei
Male kam es auch über ihre Lippen, aber mit einem¬
mal fühlte ſie, daß es tote Worte waren. Sie
fürchtete ſich und war doch zugleich wie in einem
Zauberbann und wollte auch nicht heraus.


„Effi,“ klang es jetzt leis an ihr Ohr, und ſie
hörte, daß ſeine Stimme zitterte. Dann nahm er
ihre Hand und löſte die Finger, die ſie noch immer
geſchloſſen hielt, und überdeckte ſie mit heißen Küſſen.
Es war ihr, als wandle ſie eine Ohnmacht an.


Als ſie die Augen wieder öffnete, war man
aus dem Walde heraus, und in geringer Entfernung
vor ſich hörte ſie das Geläut der vorauf eilenden
[281]Effi Brieſt Schlitten. Immer vernehmlicher klang es, und als
man, dicht vor Utpatel's Mühle, von den Dünen
her in die Stadt einbog, lagen rechts die kleinen
Häuſer mit ihren Schneedächern neben ihnen.


Effi blickte ſich um, und im nächſten Augenblicke
hielt der Schlitten vor dem landrätlichen Hauſe.

[[282]]

Zwanzigſtes Kapitel.

Innſtetten, der Effi, als er ſie aus dem Schlitten
hob, ſcharf beobachtet, aber doch ein Sprechen über
die ſonderbare Fahrt zu zweien vermieden hatte,
war am anderen Morgen früh auf und ſuchte ſeiner
Verſtimmung, die noch nachwirkte, ſo gut es ging
Herr zu werden.


„Du haſt gut geſchlafen?“ ſagte er, als Effi
zum Frühſtück kam.


„Ja.“


„Wohl Dir. Ich kann dasſelbe von mir nicht
ſagen. Ich träumte, daß Du mit dem Schlitten im
Schloon verunglückt ſeiſt, und Crampas mühte ſich,
Dich zu retten; ich muß es ſo nennen, aber er ver¬
ſank mit Dir.“


„Du [ſprichſt] das alles ſo ſonderbar, Geert. Es
verbirgt ſich ein Vorwurf dahinter, und ich ahne
weshalb.“


„Sehr merkwürdig.“


[283]Effi Brieſt

„Du biſt nicht einverſtanden damit, daß Crampas
kam und uns ſeine Hülfe anbot.“


„Uns?“


„Ja, uns. Sidonien und mir. Du mußt durch¬
aus vergeſſen haben, daß der Major in Deinem Auf¬
trage kam. Und als er mir erſt gegenüber ſaß, bei¬
läufig jämmerlich genug auf der elenden ſchmalen Leiſte,
ſollte ich ihn da ausweiſen, als die Graſenabb's kamen
und mit einemmale die Fahrt weiter ging? Ich hätte
mich lächerlich gemacht, und dagegen biſt Du doch ſo
empfindlich. Erinnere Dich, daß wir unter Deiner Zu¬
ſtimmung viele Male gemeinſchaftlich ſpazieren geritten
ſind, und nun ſollte ich nicht gemeinſchaftlich mit ihm
fahren? Es iſt falſch, ſo hieß es bei uns zu Haus,
einem Edelmanne Mißtrauen zu zeigen.“


„Einem Edelmanne,“ ſagte Innſtetten mit Be¬
tonung.


„Iſt er keiner? Du haſt ihn ſelbſt einen Kavalier
genannt, ſogar einen perfekten Kavalier.“


„Ja,“ fuhr Innſtetten fort, und ſeine Stimme
wurde freundlicher, trotzdem ein leiſer Spott noch
darin nachklang. „Kavalier, das iſt er, und ein
perfekter Kavalier, das iſt er nun ſchon ganz gewiß.
Aber Edelmann! Meine liebe Effi, ein Edelmann
ſieht anders aus. Haſt Du ſchon etwas Edles an
ihm bemerkt? Ich nicht.“


[284]Effi Brieſt

Effi ſah vor ſich hin und ſchwieg.


„Es ſcheint, wir ſind gleicher Meinung. Im
übrigen, wie Du ſchon ſagteſt, ich bin ſelber ſchuld;
von einem faux pas mag ich nicht ſprechen, das
iſt in dieſem Zuſammenhange kein gutes Wort. Alſo
ſelber ſchuld, und es ſoll nicht wieder vorkommen,
ſo weit ich's hindern kann. Aber auch Du, wenn
ich Dir raten darf, ſei auf Deiner Hut. Er iſt ein
Mann der Rückſichtsloſigkeiten und hat ſo ſeine An¬
ſichten über junge Frauen. Ich kenne ihn von früher.“


„Ich werde mir Deine Worte geſagt ſein laſſen.
Nur ſo viel, ich glaube, Du verkennſt ihn.“


„Ich verkenne ihn nicht.“


„Oder mich,“ ſagte ſie mit einer Kraftanſtrengung
und verſuchte ſeinem Blicke zu begegnen.


„Auch Dich nicht, meine liebe Effi. Du biſt
eine reizende kleine Frau, aber Feſtigkeit iſt nicht
eben Deine Spezialität.“


Er erhob ſich, um zu gehen. Als er bis an
die Thür gegangen war, trat Friedrich ein, um ein
Gieshübler'ſches Billet abzugeben, das natürlich an
die gnädige Frau gerichtet war.


Effi nahm es. „Eine Geheimkorreſpondenz mit
Gieshübler,“ ſagte ſie; „Stoff zu neuer Eiferſucht
für meinen geſtrengen Herrn. Oder nicht?“


„Nein, nicht ganz, meine liebe Effi. Ich be¬
[285]Effi Brieſt gehe die Thorheit, zwiſchen Crampas und Gieshübler
einen Unterſchied zu machen. Sie ſind ſo zu ſagen
nicht von gleichem Karat; nach Karat berechnet man
nämlich den reinen Goldeswert, unter Umſtänden
auch der Menſchen. Mir perſönlich, um auch das
noch zu ſagen, iſt Gieshübler's weißes Jabot, trotz¬
dem kein Menſch mehr Jabots trägt, erheblich lieber
als Crampas' rotblonder Sappeurbart. Aber ich
bezweifle, daß dies weiblicher Geſchmack iſt.“


„Du hältſt uns für ſchwächer, als wir ſind.“


„Eine Tröſtung von praktiſch außerordentlicher
Geringfügigkeit. Aber laſſen wir das. Lies lieber.“


Und Effi las: „Darf ich mich nach der gnäd'gen
Frau Befinden erkundigen? Ich weiß nur, daß Sie
dem Schloon glücklich entronnen ſind: aber es blieb
auch durch den Wald hin immer noch Fährlichkeit
genug. Eben kommt Dr. Hannemann von Uvagla
zurück und beruhigt mich über Mirambo; geſtern
habe er die Sache für bedenklicher angeſehen, als
er uns habe ſagen wollen, heute nicht mehr. Es
war eine reizende Fahrt. — In drei Tagen feiern
wir Sylveſter. Auf eine Feſtlichkeit, wie die vor¬
jährige, müſſen wir verzichten; aber einen Ball haben
wir natürlich, und Sie erſcheinen zu ſehen, würde
die Tanzwelt beglücken und nicht am wenigſten Ihren
reſpektvollſt ergebenen Alonzo G.“


[286]Effi Brieſt

Effi lachte. „Nun, was ſagſt Du?“


„Nach wie vor nur das eine, daß ich Dich
lieber mit Gieshübler als mit Crampas ſehe.“


„Weil Du den Crampas zu ſchwer und den
Gieshübler zu leicht nimmſt.“


Innſtetten drohte ihr ſcherzhaft mit dem Finger.


Drei Tage ſpäter war Sylveſter. Effi erſchien
in einer reizenden Balltoilette, einem Geſchenk, das
ihr der Weihnachtstiſch gebracht hatte; ſie tanzte
aber nicht, ſondern nahm ihren Platz bei den alten
Damen, für die, ganz in der Nähe der Muſikempore,
die Fauteuils geſtellt waren. Von den adligen Familien,
mit denen Innſtetten's vorzugsweiſe verkehrten, war
niemand da, weil kurz vorher ein kleines Zerwürfnis
mit dem ſtädtiſchen Reſſourcenvorſtand, der, nament¬
lich ſeitens des alten Güldenklee, 'mal wieder „de¬
ſtruktiver Tendenzen“ beſchuldigt worden war, ſtatt¬
gefunden hatte; drei, vier andere adlige Familien
aber, die nicht Mitglieder der Reſſource, ſondern
immer nur geladene Gäſte waren und deren Güter
an der anderen Seite der Keſſine lagen, waren aus
zum Teil weiter Entfernung über das Flußeis ge¬
kommen und freuten ſich, an dem Feſte teilnehmen
zu können. Effi ſaß zwiſchen der alten Ritterſchafts¬
[287]Effi Brieſt rätin von Padden und einer etwas jüngeren Frau
von Titzewitz. Die Ritterſchaftsrätin, eine vorzügliche
alte Dame, war in allen Stücken ein Original und
ſuchte das, was die Natur, beſonders durch ſtarke
Backenknochenbildung, nach der wendiſch-heidniſchen
Seite hin für ſie gethan hatte, durch chriſtlich-
germaniſche Glaubensſtrenge wieder in Ausgleich zu
bringen. In dieſer Strenge ging ſie ſo weit, daß
ſelbſt Sidonie von Graſenabb eine Art esprit fort
neben ihr war, wogegen ſie freilich — vielleicht weil
ſich die Radegaſter und die Swantowiter Linie des
Hauſes in ihr vereinigten — über jenen alten Padden¬
humor verfügte, der, von langer Zeit her, wie ein
Segen auf der Familie ruhte, und jeden, der mit
derſelben in Berührung kam, auch wenn es Gegner
in Politik und Kirche waren, herzlich erfreute.


„Nun, Kind,“ ſagte die Ritterſchaftsrätin, „wie
geht es Ihnen denn eigentlich?“


„Gut, gnädigſte Frau; ich habe einen ſehr aus¬
gezeichneten Mann.“


„Weiß ich. Aber das hilft nicht immer. Ich
hatte auch einen ausgezeichneten Mann. Wie ſteht
es hier? Keine Anfechtungen?“


Effi erſchrak und war zugleich wie gerührt.
Es lag etwas ungemein Erquickliches in dem freien
und natürlichen Ton, in dem die alte Dame ſprach,
[288]Effi Brieſtund daß es eine ſo fromme Frau war, das machte
die Sache nur noch erquicklicher.


„Ach, gnädigſte Frau . . .“


„Da kommt es ſchon. Ich kenne das. Immer
daſſelbe. Darin ändern die Zeiten nichts. Und
vielleicht iſt es auch recht gut ſo. Denn worauf es
ankommt, meine liebe junge Frau, das iſt das Kämpfen.
Man muß immer ringen mit dem natürlichen Menſchen.
Und wenn man ſich dann ſo unter hat und beinah'
ſchreien möchte, weil's weh thut, dann jubeln die
lieben Engel!“


„Ach, gnädigſte Frau. Es iſt oft recht ſchwer.“


„Freilich iſt es ſchwer. Aber je ſchwerer, deſto
beſſer. Darüber müſſen Sie ſich freuen. Das mit
dem Fleiſch, das bleibt, und ich habe Enkel und
Enkelinnen, da ſeh' ich es jeden Tag. Aber im
Glauben ſich unterkriegen, meine liebe Frau, darauf
kommt es an, das iſt das Wahre. Das hat uns
unſer alter Martin Luther zur Erkenntnis gebracht,
der Gottesmann. Kennen Sie ſeine Tiſchreden?“


„Nein, gnädigſte Frau.“


„Die werde ich Ihnen ſchicken.“


In dieſem Augenblicke trat Major Crampas an
Effi heran und bat, ſich nach ihrem Befinden er¬
kundigen zu dürfen. Effi war wie mit Blut über¬
goſſen, aber ehe ſie noch antworten konnte, ſagte
[289]Effi Brieſt Crampas: „Darf ich Sie bitten gnädigſte Frau, mich
den Damen vorſtellen zu wollen?“


Effi nannte nun Crampas' Namen, der ſeiner¬
ſeits ſchon vorher vollkommen orientiert war und
in leichtem Geplauder alle Paddens und Titzewitze,
von denen er je gehört hatte, Revue paſſieren ließ.
Zugleich entſchuldigte er ſich, den Herrſchaften jenſeits
der Keſſine noch immer nicht ſeinen Beſuch gemacht
und ſeine Frau vorgeſtellt zu haben; aber es ſei
ſonderbar, welche trennende Macht das Waſſer habe.
Es ſei dasſelbe wie mit dem Canal La Manche . . .“


„Wie?“ fragte die alte Titzewitz.


Crampas ſeinerſeits hielt es für unangebracht,
Aufklärungen zu geben, die doch zu nichts geführt
haben würden, und fuhr fort: „Auf zwanzig Deutſche,
die nach Frankreich gehen, kommt noch nicht einer,
der nach England geht. Das macht das Waſſer;
ich wiederhole, das Waſſer hat eine ſcheidende Kraft.“


Frau von Padden, die darin mit feinem Inſtinkt
etwas Anzügliches witterte, wollte für das Waſſer
eintreten, Crampas aber ſprach mit immer wachſendem
Redefluß weiter und lenkte die Aufmerkſamkeit der
Damen auf ein ſchönes Fräulein von Stojentin, „das
ohne Zweifel die Ballkönigin“ ſei, wobei ſein Blick
übrigens Effi bewundernd ſtreifte. Dann empfahl er
ſich raſch unter Verbeugung gegen alle drei.


Th. Fontane, Effi Brieſt. 19[290]Effi Brieſt

„Schöner Mann,“ ſagte die Padden. „Verkehrt
er in Ihrem Hauſe?“


„Flüchtig.“


„Wirklich,“ wiederholte die Padden, „ein ſchöner
Mann. Ein bißchen zu ſicher. Und Hochmut kommt
vor dem Fall . . . Aber ſehen Sie nur, da tritt er
wirklich mit der Grete Stojentin an. Eigentlich iſt
er doch zu alt; wenigſtens Mitte vierzig.“


„Er wird vierundvierzig.“


„Ei, ei, Sie ſcheinen ihn ja gut zu kennen.“


Es kam Effi ſehr zu paß, daß das neue Jahr,
gleich in ſeinem Anfang, allerlei Aufregungen brachte.
Seit Sylveſternacht ging ein ſcharfer Nordoſt, der
ſich in den nächſten Tagen faſt bis zum Sturm
ſteigerte, und am dritten Januar nachmittags hieß
es, daß ein Schiff draußen mit der Einfahrt nicht
zuſtande gekommen und hundert Schritt vor der Mole
geſcheitert ſei; es ſei ein engliſches, von Sunderland
her, und ſo weit ſich erkennen laſſe, ſieben Mann
an Bord; die Lotſen könnten beim Ausfahren, trotz
aller Anſtrengung, nicht um die Mole herum, und
vom Strande aus ein Boot abzulaſſen, daran ſei
nun vollends nicht zu denken, die Brandung ſei viel
zu ſtark. Das klang traurig genug. Aber Johanna,
die die Nachricht brachte, hatte doch auch Troſt bei
[291]Effi Brieſt der Hand: Konſul Eſchrich, mit dem Rettungsapparat
und der Raketenbatterie, ſei ſchon unterwegs, und es
würde gewiß glücken; die Entfernung ſei nicht voll
ſo weit wie Anno 75, wo's doch auch gegangen,
und ſie hätten damals ſogar den Pudel mit gerettet,
und es wäre ordentlich rührend geweſen, wie ſich
das Tier gefreut und die Kapitänsfrau und das liebe,
kleine Kind, nicht viel größer als Anniechen, immer
wieder mit ſeiner roten Zunge geleckt habe.


„Geert, da muß ich mit hinaus, das muß ich
ſehen,“ hatte Effi ſofort erklärt, und beide waren
aufgebrochen, um nicht zu ſpät zu kommen, und
hatten denn auch den rechten Moment abgepaßt;
denn im Augenblick, als ſie, von der Plantage her,
den Strand erreichten, fiel der erſte Schuß, und ſie
ſahen ganz deutlich, wie die Rakete mit dem Fangſeil
unter dem Sturmgewölk hinflog und über das Schiff
weg jenſeits niederfiel. Alle Hände regten ſich ſofort
an Bord, und nun holten ſie, mit Hülfe der kleinen
Leine, das dickere Tau ſamt dem Korb heran, und
nicht lange, ſo kam der Korb in einer Art Kreislauf
wieder zurück, und einer der Matroſen, ein ſchlanker,
bildhübſcher Menſch mit einer wachsleinenen Kappe,
war geborgen an Land und wurde neugierig aus¬
gefragt, während der Korb aufs neue ſeinen Weg
machte, zunächſt den Zweiten und dann den Dritten
19 *[292]Effi Brieſt heranzuholen und ſo fort. Alle wurden gerettet,
und Effi hätte ſich, als ſie nach einer halben Stunde
mit ihrem Manne wieder heim ging, in die Dünen
werfen und ſich ausweinen mögen. Ein ſchönes
Gefühl hatte wieder Platz in ihrem Herzen gefunden,
und es beglückte ſie unendlich, daß es ſo war.


Das war am dritten geweſen. Schon am
fünften kam ihr eine neue Aufregung, freilich ganz
anderer Art. Innſtetten hatte Gieshübler, der
natürlich auch Stadtrat und Magiſtratsmitglied war,
beim Herauskommen aus dem Rathauſe getroffen
und im Geſpräche mit ihm erfahren, daß ſeitens des
Kriegsminiſteriums angefragt worden ſei, wie ſich
die Stadtbehörden eventuell zur Garniſonsfrage zu
ſtellen gedächten? Bei nötigem Entgegenkommen,
alſo bei Bereitwilligkeit zu Stall- und Kaſernen¬
bauten, könnten ihnen zwei Schwadronen Huſaren
zugeſagt werden. „Nun, Effi, was ſagſt Du dazu?“
— Effi war wie benommen. All' das unſchuldige
Glück ihrer Kinderjahre ſtand mit einemmal wieder
vor ihrer Seele, und im Augenblick war es ihr, als
ob rote Huſaren — denn es waren auch rote wie
daheim in Hohen-Cremmen — ſo recht eigentlich
die Hüter von Paradies und Unſchuld ſeien. Und
dabei ſchwieg ſie noch immer.


„Du ſagſt ja nichts, Effi.“


[293]Effi Brieſt

„Ja, ſonderbar, Geert. Aber es beglückt mich
ſo, daß ich vor Freude nichts ſagen kann. Wird es
denn auch ſein? Werden ſie denn auch kommen?“


„Damit hat's freilich noch gute Wege, ja, Gies¬
hübler meinte ſogar, die Väter der Stadt, ſeine
Kollegen, verdienten es gar nicht. Statt einfach über
die Ehre, und wenn nicht über die Ehre, ſo doch
wenigſtens über den Vorteil einig und glücklich zu
ſein, wären ſie mit allerlei ‚Wenns‘ und ,Abers‘
gekommen und hätten geknauſert wegen der neuen
Bauten; ja, Pfefferküchler Michelſen habe ſogar
geſagt, es verderbe die Sitten der Stadt, und wer
eine Tochter habe, der möge ſich vorſehen und Gitter¬
fenſter anſchaffen.“


„Es iſt nicht zu glauben. Ich habe nie
manierlichere Leute geſehen als unſere Huſaren;
wirklich, Geert. Nun, Du weißt es ja ſelbſt. Und
nun will dieſer Michelſen alles vergittern. Hat er
denn Töchter?“


„Gewiß; ſogar drei. Aber ſie ſind ſämtlich
hors concours.“


Effi lachte ſo herzlich, wie ſie ſeit lange nicht
mehr gelacht hatte. Doch es war von keiner Dauer,
und als Innſtetten ging und ſie allein ließ, ſetzte
ſie ſich an die Wiege des Kindes, und ihre Thränen
fielen auf die Kiſſen. Es brach wieder über ſie
[294]Effi Brieſt herein, und ſie fühlte, daß ſie wie eine Gefangene
ſei und nicht mehr heraus könne.


Sie litt ſchwer darunter und wollte ſich befreien.
Aber wiewohl ſie ſtarker Empfindungen fähig war,
ſo war ſie doch keine ſtarke Natur; ihr fehlte die
Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen
wieder vorüber. So trieb ſie denn weiter, heute,
weil ſie's nicht ändern konnte, morgen, weil ſie's
nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnis¬
volle hatte ſeine Macht über ſie.


So kam es, daß ſie ſich, von Natur frei und
offen, in ein verſtecktes Komödienſpiel mehr und mehr
hinein lebte. Mitunter erſchrack ſie, wie leicht es
ihr wurde. Nur in einem blieb ſie ſich gleich: ſie
ſah alles klar und beſchönigte nichts. Einmal trat
ſie ſpät abends vor den Spiegel in ihrer Schlafſtube;
die Lichter und Schatten flogen hin und her, und Rollo
ſchlug draußen an, und im ſelben Augenblicke war es
ihr, als ſähe ihr wer über die Schulter. Aber ſie
beſann ſich raſch. „Ich weiß ſchon, was es iſt; es
war nicht der,“ und ſie wies mit dem Finger nach
dem Spukzimmer oben. „Es war 'was anderes . . .
mein Gewiſſen . . . Effi, Du biſt verloren.“


Es ging aber doch weiter ſo, die Kugel war
im Rollen, und was an einem Tage geſchah, machte
das Thun des andern zur Notwendigkeit.


[295]Effi Brieſt

Um die Mitte des Monats kamen Einladungen
aufs Land. Über die dabei inne zu haltende Reihen¬
folge hatten ſich die vier Familien, mit denen Inn¬
ſtettens vorzugsweiſe verkehrten, geeinigt: die Borcke's
ſollten beginnen, die Flemming's und Graſenabb's
folgten, die Güldenklee's ſchloſſen ab. Immer eine
Woche dazwiſchen. Alle vier Einladungen kamen am
ſelben Tage; ſie ſollten erſichtlich den Eindruck des
Ordentlichen und Wohlerwogenen machen, auch wohl
den einer beſonderen freundſchaftlichen Zuſammen¬
gehörigkeit.


„Ich werde nicht dabei ſein, Geert, und Du
mußt mich der Kur halber, in der ich nun ſeit
Wochen ſtehe, von vornherein entſchuldigen.“


Innſtetten lachte. „Kur. Ich ſoll es auf die
Kur ſchieben. Das iſt das Vorgebliche; das Eigent¬
liche heißt: Du willſt nicht.“


„Nein, es iſt doch mehr Ehrlichkeit dabei als
Du zugeben willſt. Du haſt ſelbſt gewollt, daß ich
den Doktor zu Rate ziehe. Das hab' ich gethan,
und nun muß ich doch ſeinem Rate folgen. Der
gute Doktor, er hält mich für bleichſüchtig, ſonderbar
genug, und Du weißt, daß ich jeden Tag von dem
Eiſenwaſſer trinke. Wenn Du Dir ein Borcke'ſches
Diner dazu vorſtellſt, vielleicht mit Preßkopf und
Aal in Aſpic, ſo mußt Du den Eindruck haben, es
[296]Effi Brieſt wäre mein Tod. Und ſo wirſt Du Dich doch zu
Deiner Effi nicht ſtellen wollen. Freilich mitunter
iſt es mir . . .“


„Ich bitte Dich, Effi . . .“


„. . . Übrigens freu' ich mich, und das iſt das
einzige Gute dabei, Dich jedesmal, wenn Du fährſt,
eine Strecke Wegs begleiten zu können, bis an die
Mühle gewiß oder bis an den Kirchhof oder auch
bis an die Waldecke, da, wo der Morgnitzer Quer¬
weg einmündet. Und dann ſteig' ich ab und ſchlendere
wieder zurück. In den Dünen iſt es immer am
ſchönſten.“


Innſtetten war einverſtanden, und als drei Tage
ſpäter der Wagen vorfuhr, ſtieg Effi mit auf und
gab ihrem Manne das Geleit bis an die Waldecke.
„Hier laß halten, Geert. Du fährſt nun links
weiter, ich gehe rechts bis an den Strand und durch
die Plantage zurück. Es iſt etwas weit, aber doch
nicht zu weit. Doktor Hannemann ſagt mir jeden
Tag, Bewegung ſei alles, Bewegung und friſche Luft.
Und ich glaube beinah', daß er recht hat. Empfiehl
mich all' den Herrſchaften; nur bei Sidonie kannſt
Du ſchweigen.“


Die Fahrten, auf denen Effi ihren Gatten bis
an die Waldecke begleitete, wiederholten ſich all¬
wöchentlich; aber auch in der zwiſchenliegenden Zeit
[297]Effi Brieſt hielt Effi darauf, daß ſie der ärztlichen Verordnung
ſtreng nachkam. Es verging kein Tag, wo ſie nicht
ihren vorgeſchriebenen Spaziergang gemacht hätte,
meiſt nachmittags, wenn ſich Innſtetten in ſeine
Zeitungen zu vertiefen begann. Das Wetter war
ſchön, eine milde, friſche Luft, der Himmel bedeckt.
Sie ging in der Regel allein und ſagte zu Roswitha:
„Roswitha, ich gehe nun alſo die Chauſſee hinunter
und dann rechts an den Platz mit dem Karuſſell;
da will ich auf Dich warten, da hole mich ab. Und
dann gehen wir durch die Birkenallee oder durch die
Reeperbahn wieder zurück. Aber komme nur, wenn
Annie ſchläft. Und wenn ſie nicht ſchläft, ſo ſchicke
Johanna. Oder laß es lieber ganz; es iſt nicht
nötig, ich finde mich ſchon zurecht.“


Den erſten Tag, als es ſo verabredet war,
trafen ſie ſich auch wirklich. Effi ſaß auf einer an
einem langen Holzſchuppen ſich hinziehenden Bank
und ſah nach einem niedrigen Fachwerkhauſe hinüber,
gelb mit ſchwarz geſtrichenen Balken, einer Wirtſchaft
für kleine Bürger, die hier ihr Glas Bier tranken
oder Solo ſpielten. Es dunkelte noch kaum, die
Fenſter aber waren ſchon hell, und ihr Lichtſchimmer
fiel auf die Schneemaſſen und etliche zur Seite
ſtehende Bäume. „Sieh', Roswitha, wie ſchön das
ausſieht.“


[298]Effi Brieſt

Ein paar Tage wiederholte ſich das. Meiſt
aber, wenn Roswitha bei dem Karuſſell und dem
Holzſchuppen ankam, war niemand da, und wenn ſie
dann zurückkam und in den Hausflur eintrat, kam
ihr Effi ſchon entgegen und ſagte: „Wo Du nur
bleibſt, Roswitha, ich bin ſchon lange wieder
hier.“


In dieſer Art ging es durch Wochen hin. Das
mit den Huſaren hatte ſich wegen der Schwierigkeiten,
die die Bürgerſchaft machte, ſo gut wie zerſchlagen;
aber da die Verhandlungen noch nicht geradezu ab¬
geſchloſſen waren und neuerdings durch eine andere
Behörde, das Generalkommando, gingen, ſo war
Crampas nach Stettin berufen worden, wo man
ſeine Meinung in dieſer Angelegenheit hören wollte.
Von dort ſchrieb er den zweiten Tag an Innſtetten:
„Pardon, Innſtetten, daß ich mich auf franzöſiſch
empfohlen. Es kam alles ſo ſchnell. Ich werde
übrigens die Sache hinauszuſpinnen ſuchen, denn
man iſt froh, einmal draußen zu ſein. Empfehlen
Sie mich der gnädigen Frau, meiner liebenswürdigen
Gönnerin.“


Er las es Effi vor. Dieſe blieb ruhig. Endlich
ſagte ſie: „Es iſt recht gut ſo.“


„Wie meinſt Du das?“


„Daß er fort iſt. Er ſagt eigentlich immer
[299]Effi Brieſtdasſelbe. Wenn er wieder da iſt, wird er wenigſtens
vorübergehend 'was Neues zu ſagen haben.“


Innſtetten's Blick flog ſcharf über ſie hin. Aber
er ſah nichts, und ſein Verdacht beruhigte ſich wieder.
„Ich will auch fort,“ ſagte er nach einer Weile, „ſogar
nach Berlin; vielleicht kann ich dann, wie Crampas,
auch mal 'was Neues mitbringen. Meine liebe Effi
will immer gern 'was Neues hören; ſie langweilt
ſich in unſerm guten Keſſin. Ich werde gegen acht
Tage fort ſein, vielleicht noch einen Tag länger.
Und ängſtige Dich nicht . . . es wird ja wohl nicht
wiederkommen . . . Du weißt ſchon, das da oben . . .
Und wenn doch, Du haſt ja Rollo und Roswitha.“


Effi lächelte vor ſich hin, und es miſchte ſich
etwas von Wehmut mit ein. Sie mußte des Tages
gedenken, wo Crampas ihr zum erſtenmal geſagt
hatte, daß er mit dem Spuk und ihrer Furcht eine
Komödie ſpiele. Der große Erzieher! Aber hatte
er nicht recht? War die Komödie nicht am Platz?
Und allerhand Widerſtreitendes, Gutes und Böſes,
ging ihr durch den Kopf.


Den dritten Tag reiſte Innſtetten ab.


Über das, was er in Berlin vorhabe, hatte er
nichts geſagt.

[[300]]

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Innſtetten war erſt vier Tage fort, als Crampas
von Stettin wieder eintraf und die Nachricht brachte,
man hätte höheren Orts die Abſicht, zwei Schwadronen
nach Keſſin zu legen, endgültig fallen laſſen; es gäbe
ſo viele kleine Städte, die ſich um eine Kavallerie-
Garniſon, und nun gar um Blücher'ſche Huſaren,
bewürben, daß man gewohnt ſei, bei ſolchem Aner¬
bieten einem herzlichen Entgegenkommen, aber nicht
einem zögernden zu begegnen. Als Crampas dies
mitteilte, machte der Magiſtrat ein ziemlich verlegenes
Geſicht; nur Gieshübler, weil er der Philiſterei ſeiner
Kollegen eine Niederlage gönnte, triumphierte. Seitens
der kleinen Leute griff, beim Bekanntwerden der Nach¬
richt, eine gewiſſe Verſtimmung Platz, ja ſelbſt einige
Konſuls mit Töchtern waren momentan unzufrieden;
im Ganzen aber kam man raſch über die Sache hin,
vielleicht weil die nebenherlaufende Frage, „was Inn¬
ſtetten in Berlin vorhabe,“ die Keſſiner Bevölkerung
[301]Effi Brieſt oder doch wenigſtens die Honoratiorenſchaft der Stadt
mehr intereſſierte. Dieſe wollte den überaus wohl¬
gelittenen Landrat nicht gern verlieren, und doch
gingen darüber ganz ausſchweifende Gerüchte, die
von Gieshübler, wenn er nicht ihr Erfinder war,
wenigſtens genährt und weiter verbreitet wurden.
Unter anderem hieß es, Innſtetten würde als Führer
einer Geſandtſchaft nach Marokko gehn und zwar
mit Geſchenken, unter denen nicht bloß die herkömm¬
liche Vaſe mit Sansſouci und dem neuen Palais,
ſondern vor allem auch eine große Eismaſchine ſei.
Das letztere erſchien, mit Rückſicht auf die marokkani¬
ſchen Temperaturverhältniſſe, ſo wahrſcheinlich, daß
das Ganze geglaubt wurde.


Effi hörte auch davon. Die Tage, wo ſie ſich
darüber erheitert hätte, lagen noch nicht allzu weit
zurück; aber in der Seelenſtimmung, in der ſie ſich
ſeit Schluß des Jahres befand, war ſie nicht mehr
fähig, unbefangen und ausgelaſſen über derlei Dinge
zu lachen. Ihre Geſichtszüge hatten einen ganz
anderen Ausdruck angenommen und das halb rührend,
halb ſchelmiſch Kindliche, was ſie noch als Frau
gehabt hatte, war hin. Die Spaziergänge nach dem
Strand und der Plantage, die ſie, während Crampas
in Stettin war, aufgegeben hatte, nahm ſie nach ſeiner
Rückkehr wieder auf und ließ ſich auch durch un¬
[302]Effi Brieſt günſtige Witterung nicht davon abhalten. Es wurde
wie früher beſtimmt, daß ihr Roswitha bis an den
Ausgang der Reeperbahn oder bis in die Nähe des
Kirchhofs entgegenkommen ſolle, ſie verfehlten ſich
aber noch häufiger als früher. „Ich könnte Dich
ſchelten, Roswitha, daß Du mich nie findeſt. Aber
es hat nichts auf ſich; ich ängſtige mich nicht mehr,
auch nicht einmal am Kirchhof, und im Walde bin
ich noch keiner Menſchenſeele begegnet.“


Es war am Tage vor Innſtetten's Rückkehr von
Berlin, daß Effi das ſagte. Roswitha machte nicht
viel davon und beſchäftigte ſich lieber damit, Guir¬
landen über den Thüren anzubringen; auch der
Haifiſch bekam einen Fichtenzweig und ſah noch
merkwürdiger aus als gewöhnlich. Effi ſagte: „Das
iſt recht, Roswitha; er wird ſich freuen über all'
das Grün, wenn er morgen wieder da iſt. Ob ich
heute wohl noch gehe? Doktor Hannemann beſteht
darauf und meint in einem fort, ich nähme es nicht
ernſt genug, ſonſt müßte ich beſſer ausſeh'n; ich habe
aber keine rechte Luſt heut, es nieſelt und der Himmel
iſt ſo grau.“


„Ich werde der gnäd'gen Frau den Regen¬
mantel bringen.“


„Das thu'! Aber komme heute nicht nach, wir
treffen uns ja doch nicht,“ und ſie lachte. „Wirklich,
[303]Effi Brieſt Du biſt gar nicht findig, Roswitha. Und ich mag
nicht, daß Du Dich erkälteſt und alles um nichts.“


Roswitha blieb denn auch zu Haus, und weil
Annie ſchlief, ging ſie zu Kruſe's, um mit der Frau
zu plaudern. „Liebe Frau Kruſe,“ ſagte ſie, „Sie
wollten mir ja das mit dem Chineſen noch erzählen.
Geſtern kam die Johanna dazwiſchen, die thut immer
ſo vornehm, für die iſt ſo 'was nicht. Ich glaube
aber doch, daß es 'was geweſen iſt, ich meine mit
dem Chineſen und mit Thomſen's Nichte, wenn es
nicht ſeine Enkelin war.“


Die Kruſe nickte.


„Entweder,“ fuhr Roswitha fort, „war es eine
unglückliche Liebe (die Kruſe nickte wieder), oder es
kann auch eine glückliche geweſen ſein und der Chineſe
konnte es bloß nicht aushalten, daß es alles mit
einemmal ſo wieder vorbei ſein ſollte. Denn die
Chineſen ſind doch auch Menſchen, und es wird
wohl alles ebenſo mit ihnen ſein, wie mit uns.“


„Alles,“ verſicherte die Kruſe und wollte dies
eben durch ihre Geſchichte beſtätigen, als ihr Mann
eintrat und ſagte: „Mutter, Du könnteſt mir die
Flaſche mit dem Lederlack geben; ich muß doch das
Sielenzeug blank haben, wenn der Herr morgen
wieder da iſt; der ſieht alles und wenn er auch
nichts ſagt, ſo merkt man doch, daß er's geſehn hat.“


[304]Effi Brieſt

„Ich bring' es Ihnen 'raus, Kruſe,“ ſagte Ros¬
witha. „Ihre Frau will mir bloß noch 'was er¬
zählen; aber es is gleich aus, und dann komm' ich
und bring' es.“


Roswitha, die Flaſche mit dem Lack in der
Hand, kam denn auch ein paar Minuten danach auf
den Hof hinaus und ſtellte ſich neben das Sielen¬
zeug, das Kruſe eben über den Gartenzaun gelegt
hatte. „Gott,“ ſagte er, während er ihr die Flaſche
aus der Hand nahm, „viel hilft es ja nicht, es
nieſelt in einem weg, und die Blänke vergeht doch
wieder. Aber ich denke, alles muß ſeine Ordnung
haben.“


„Das muß es. Und dann, Kruſe, es iſt ja
doch auch ein richtiger Lack, das kann ich gleich ſehn,
und was ein richtiger Lack iſt, der klebt nicht lange,
der muß gleich trocknen. Und wenn es dann morgen
nebelt oder naß fällt, dann ſchadet es nich' mehr.
Aber das muß ich doch ſagen, das mit dem Chineſen
is eine merkwürdige Geſchichte.“


Kruſe lachte. „Unſinn is es, Roswitha. Und
meine Frau, ſtatt aufs Richtige zu ſehen, erzählt
immer ſo 'was, un' wenn ich ein reines Hemd an¬
ziehen will, fehlt ein Knopp. Un' ſo is es nu' ſchon
ſo lange wir hier ſind. Sie hat immer bloß ſolche
Geſchichten in ihrem Kopp und dazu das ſchwarze
[305]Effi BrieſtHuhn. Un' das ſchwarze Huhn legt nich' 'mal Eier.
Un' am Ende wovon ſoll es auch Eier legen? Es
kommt ja nich' 'raus und von's bloße Kikeriki kann
doch ſo 'was nich' kommen. Das is von keinem
Huhn nich' zu verlangen.“


„Hören Sie, Kruſe, das werde ich Ihrer Frau
wieder erzählen. Ich habe Sie immer für einen
anſtändigen Menſchen gehalten, und nun ſagen Sie
ſo 'was wie das da von Kikeriki. Die Mannsleute
ſind doch immer noch ſchlimmer als man denkt. Un'
eigentlich müßt' ich nu' gleich den Pinſel hier nehmen
und Ihnen einen ſchwarzen Schnurrbart anmalen.“


„Nu' von Ihnen, Roswitha, kann man ſich
das ſchon gefallen laſſen,“ und Kruſe, der meiſt den
Würdigen ſpielte, ſchien in einen mehr und mehr
ſchäkrigen Ton übergehen zu wollen, als er plötzlich
der gnädigen Frau anſichtig wurde, die heute von der
anderen Seite der Plantage herkam und in eben
dieſem Augenblicke den Gartenzaun paſſierte.


„Guten Tag, Roswitha, Du biſt ja ſo aus¬
gelaſſen. Was macht denn Annie?“


„Sie ſchläft, gnäd'ge Frau.“


Aber Roswitha, als ſie das ſagte, war doch rot
geworden und ging, raſch abbrechend, auf das Haus
zu, um der gnädigen Frau beim Umkleiden behülflich
zu ſein. Denn ob Johanna da war, das war die
Th. Fontane, Effi Brieſt. 20[306]Effi BrieſtFrage. Die ſteckte jetzt viel auf dem ‚Amt‘ drüben,
weil es zu Haus weniger zu thun gab und Friedrich
und Chriſtel waren ihr zu langweilig und wußten
nie 'was.


Annie ſchlief noch. Effi beugte ſich über die
Wiege, ließ ſich dann Hut und Regenmantel ab¬
nehmen und ſetzte ſich auf das kleine Sofa in ihrer
Schlafſtube. Das feuchte Haar ſtrich ſie langſam
zurück, legte die Füße auf einen niedrigen Stuhl,
den Roswitha heran geſchoben, und ſagte, während
ſie ſichtlich das Ruhebehagen nach einem ziemlich
langen Spaziergange genoß: „Ich muß Dich darauf
aufmerkſam machen, Roswitha, daß Kruſe ver¬
heiratet iſt.“


„Ich weiß, gnäd'ge Frau.“


„Ja, was weiß man nicht alles und handelt
doch, als ob man es nicht wüßte. Das kann nie
'was werden.“


„Es ſoll ja auch nichts werden, gnäd'ge Frau . . .“


„Denn wenn Du denkſt, ſie ſei krank, da machſt
Du die Rechnung ohne den Wirt. Die Kranken
leben am längſten. Und dann hat ſie das ſchwarze
Huhn. Vor dem hüte Dich, das weiß alles und
plaudert alles aus. Ich weiß nicht, ich habe einen
Schauder davor. Und ich wette, daß das alles da
oben mit dem Huhn zuſammenhängt.“


[307]Effi Brieſt

„Ach, das glaub' ich nicht. Aber ſchrecklich iſt
es doch. Und Kruſe, der immer gegen ſeine Frau
iſt, kann es mir nicht ausreden.“


„Was ſagte der?“


„Er ſagte, es ſeien bloß Mäuſe.“


„Nun, Mäuſe, das iſt auch gerade ſchlimm
genug. Ich kann keine Mäuſe leiden. Aber ich ſah
ja deutlich, wie Du mit dem Kruſe ſchwatzteſt und
vertraulich thateſt, und ich glaube ſogar, Du wollteſt
ihm einen Schnurrbart anmalen. Das iſt doch ſchon
ſehr viel. Und nachher ſitzeſt Du da. Du biſt ja
noch eine ſchmucke Perſon und haſt ſo 'was. Aber
ſieh' Dich vor, ſo viel kann ich Dir bloß ſagen. Wie
war es denn eigentlich das erſte Mal mit Dir? Iſt
es ſo, daß Du mir's erzählen kannſt?“


„Ach, ich kann ſchon. Aber ſchrecklich war es.
Und weil es ſo ſchrecklich war, d'rum können gnäd'ge
Frau auch ganz ruhig ſein, von wegen dem Kruſe.
Wem es ſo gegangen iſt wie mir, der hat genug
davon und paßt auf. Mitunter träume ich noch
davon, und dann bin ich den andern Tag wie zer¬
ſchlagen. Solche grauſame Angſt . . .“


Effi hatte ſich aufgerichtet und ſtützte den Kopf
auf ihren Arm. „Nun erzähle. Wie kann es denn
geweſen ſein? Es iſt ja mit Euch, das weiß ich
noch von Hauſe her, immer dieſelbe Geſchichte . . .“


20 *[308]Effi Brieſt

„Ja, zuerſt is es wohl immer daſſelbe, und ich
will mir auch nicht einbilden, daß es mit mir 'was
Beſonderes war, ganz und gar nicht. Aber wie ſie's
mir dann auf den Kopf zuſagten und ich mit einem¬
male ſagen mußte: ‚ja, es iſt ſo,' ja, das war
ſchrecklich. Die Mutter, na, das ging noch, aber
der Vater, der die Dorfſchmiede hatte, der war ſtreng
und wütend, und als er's hörte, da kam er mit
einer Stange auf mich los, die er eben aus dem
Feuer genommen hatte, und wollte mich umbringen.
Und ich ſchrie laut auf und lief auf den Boden und
verſteckte mich, und da lag ich und zitterte und kam
erſt wieder nach unten, als ſie mich riefen und ſagten,
ich ſolle nur kommen. Und dann hatte ich noch
eine jüngere Schweſter, die wies immer auf mich hin
und ſagte ,Pfui‘. Und dann, wie das Kind kommen
ſollte, ging ich in eine Scheune nebenan, weil ich
mir's bei uns nicht getraute. Da fanden mich fremde
Leute halb tot und trugen mich ins Haus und in
mein Bett. Und den dritten Tag nahmen ſie mir
das Kind fort, und als ich nachher fragte, wo es ſei,
da hieß es, es ſei gut aufgehoben. Ach, gnädigſte
Frau, die heil'ge Mutter Gottes bewahre Sie vor
ſolchem Elend.“


Effi fuhr auf und ſah Roswitha mit großen
Augen an. Aber ſie war doch mehr erſchrocken als
[309]Effi Brieſt empört. „Was Du nur ſprichſt! Ich bin ja doch
eine verheiratete Frau. So 'was darfſt Du nicht
ſagen, das iſt ungehörig, das paßt ſich nicht.“


„Ach, gnädigſte Frau . . .“


„Erzähle mir lieber, was aus Dir wurde. Das
Kind hatten ſie Dir genommen. So weit warſt Du . . .“


„Und dann, nach ein paar Tagen, da kam wer
aus Erfurt, der fuhr bei dem Schulzen vor und
fragte, ,ob da nicht eine Amme ſei‘. Da ſagte der
Schulze ,ja.‘ Gott lohne es ihm, und der fremde
Herr nahm mich gleich mit, und von da an hab' ich
beſſ're Tage gehabt; ſelbſt bei der Regiſtratorin war
es doch immer noch zum Aushalten, und zuletzt bin ich
zu Ihnen gekommen, gnädige Frau. Und das war das
beſte, das allerbeſte.“ Und als ſie das ſagte, trat
ſie an das Sofa heran und küßte Effi die Hand.


„Roswitha, Du mußt mir nicht immer die Hand
küſſen, ich mag das nicht. Und nimm Dich nur in
acht mit dem Kruſe. Du biſt doch ſonſt eine ſo
gute und verſtändige Perſon . . . Mit einem Ehe¬
manne . . . das thut nie gut.“


„Ach, gnäd'ge Frau, Gott und ſeine Heiligen
führen uns wunderbar, und das Unglück, das uns
trifft, das hat doch auch ſein Glück. Und wen es
nicht beſſert, dem is nich' zu helfen . . . Ich kann
eigentlich die Mannsleute gut leiden . . .“


[310]Effi Brieſt

„Siehſt Du, Roswitha, ſiehſt Du.“


„Aber wenn es 'mal wieder ſo über mich käme,
mit dem Kruſe, das is ja nichts, und ich könnte
nicht mehr anders, da lief ich gleich ins Waſſer.
Es war zu ſchrecklich. Alles. Und was nur aus
dem armen Wurm geworden is? Ich glaube nicht,
daß es noch lebt; ſie haben es umkommen laſſen,
aber ich bin doch ſchuld.“ Und ſie warf ſich vor
Annie's Wiege nieder und wiegte das Kind hin und
her und ſang in einem fort ihr ,Buhküken von
Halberſtadt'.


„Laß,“ ſagte Effi. „Singe nicht mehr; ich habe
Kopfweh. Aber bringe mir die Zeitungen. Oder
hat Gieshübler vielleicht die Journale geſchickt?“


„Das hat er. Und die Modezeitung lag oben
auf. Da haben wir drin geblättert, ich und Johanna
eh' ſie 'rüber ging. Johanna ärgert ſich immer,
daß ſie ſo 'was nicht haben kann. Soll ich die
Modezeitung bringen?“


„Ja, die bringe und bring' auch die Lampe.“


Roswitha ging, und Effi, als ſie allein war,
ſagte: „Womit man ſich nicht alles hilft? Eine
hübſche Dame mit einem Muff und eine mit einem
Halbſchleier; Modepuppen. Aber es iſt das beſte,
mich auf andre Gedanken zu bringen.“


[311]Effi Brieſt

Im Laufe des andern Vormittags kam ein
Telegramm von Innſtetten, worin er mitteilte, daß
er erſt mit dem zweiten Zuge kommen, alſo nicht
vor Abend in Keſſin eintreffen werde. Der Tag
verging in ewiger Unruhe; glücklicherweiſe kam Gies¬
hübler im Laufe des Nachmittags und half über
eine Stunde weg. Endlich um ſieben Uhr fuhr
der Wagen vor, Effi trat hinaus, und man begrüßte
ſich. Innſtetten war in einer ihm ſonſt fremden
Erregung, und ſo kam es, daß er die Verlegenheit
nicht ſah, die ſich in Effi's Herzlichkeit miſchte.
Drinnen im Flur brannten die Lampen und Lichter
und das Theezeug, das Friedrich ſchon auf einen
der zwiſchen den Schränken ſtehenden Tiſche geſtellt
hatte, reflektierte den Lichterglanz.


„Das ſieht ja ganz ſo aus wie damals, als
wir hier ankamen. Weißt Du noch, Effi?“


Sie nickte.


„Nur der Haifiſch mit ſeinem Fichtenzweig ver¬
hält ſich heute ruhiger, und auch Rollo ſpielt den
Zurückhaltenden und legt mir nicht mehr die Pfoten
auf die Schulter. Was iſt das mit Dir, Rollo?“


Rollo ſtrich an ſeinem Herrn vorbei und wedelte.


„Der iſt nicht recht zufrieden, entweder mit mir
nicht oder mit andern. Nun, ich will annehmen,
mit mir. Jedenfalls laß uns eintreten.“ Und er
[312]Effi Brieſttrat in ſein Zimmer und bat Effi, während er ſich
aufs Sofa niederließ, neben ihm Platz zu nehmen.
„Es war ſo hübſch in Berlin, über Erwarten; aber
in all' meiner Freude habe ich mich immer zurück¬
geſehnt. Und wie gut Du ausſiehſt! Ein bißchen blaß
und auch ein bißchen verändert, aber es kleidet Dich.“


Effi wurde rot.


„Und nun wirſt Du auch noch rot. Aber es
iſt, wie ich Dir ſage. Du hatteſt ſo 'was von einem
verwöhnten Kind, mit einemmal ſiehſt Du aus wie
eine Frau.“


„Das hör' ich gern, Geert, aber ich glaube,
Du ſagſt es nur ſo.“


„Nein, nein, Du kannſt es Dir gut ſchreiben,
wenn es etwas Gutes iſt . . .“


„Ich dächte doch.“


„Und nun rate, von wem ich Dir Grüße bringe.“


„Das iſt nicht ſchwer, Geert. Außerdem, wir
Frauen, zu denen ich mich, ſeitdem Du wieder da
biſt, ja rechnen darf (und ſie reichte ihm die Hand
und lachte), wir Frauen wir raten leicht. Wir ſind
nicht ſo ſchwerfällig wie Ihr.“


„Nun von wem?“


„Nun natürlich von Vetter Brieſt. Er iſt ja
der Einzige, den ich in Berlin kenne, die Tanten
abgerechnet, die Du nicht aufgeſucht haben wirſt und
[313]Effi Brieſtdie viel zu neidiſch ſind, um mich grüßen zu laſſen.
Haſt Du nicht auch gefunden, alle alten Tanten ſind
neidiſch.“


„Ja, Effi, das iſt wahr. Und daß Du das ſagſt,
das iſt ganz meine alte Effi wieder. Denn Du
mußt wiſſen, die alte Effi, die noch ausſah, wie ein
Kind, nun, die war auch nach meinem Geſchmack.
Grad' ſo wie die jetzige gnäd'ge Frau.“


„Meinſt Du? Und wenn Du Dich zwiſchen
beiden entſcheiden ſollteſt . . .“


„Das iſt eine Doktorfrage, darauf laſſe ich mich
nicht ein. Aber da bringt Friedrich den Thee. Wie
hat's mich nach dieſer Stunde verlangt! Und hab'
es auch ausgeſprochen, ſogar zu Deinem Vetter Brieſt,
als wir bei Dreſſel ſaßen und in Champagner Dein
Wohl tranken . . . Die Ohren müſſen Dir geklungen
haben . . . Und weißt Du, was Dein Vetter dabei ſagte?“


„Gewiß etwas Albernes. Darin iſt er groß“


„Das iſt der ſchwärzeſte Undank, den ich all'
mein Lebtag erlebt habe. ,Laſſen wir Effi leben,‘
ſagte er, ,meine ſchöne Couſine . . . Wiſſen Sie,
Innſtetten, daß ich Sie am liebſten fordern und tot¬
ſchießen möchte? Denn Effi iſt ein Engel, und Sie
haben mich um dieſen Engel gebracht'. Und dabei
ſah er ſo ernſt und wehmütig aus, daß man's bei¬
nah hätte glauben können.“


[314]Effi Brieſt

„O, dieſe Stimmung kenn' ich an ihm. Bei der
wievielten wart Ihr?“


„Ich hab' es nicht mehr gegenwärtig, und viel¬
leicht hätte ich es auch damals nicht mehr ſagen
können. Aber das glaub' ich, daß es ihm ganz ernſt
war. Und vielleicht wäre es auch das Richtige
geweſen. Glaubſt Du nicht, daß Du mit ihm hätteſt
leben können?“


„Leben können? Das iſt wenig, Geert. Aber
beinah möchte ich ſagen, ich hätte auch nicht einmal
mit ihm leben können.“


„Warum nicht? Er iſt wirklich ein liebens¬
würdiger und netter Menſch und auch ganz geſcheidt.“


„Ja, das iſt er . . .“


„Aber . . .“


„Aber er iſt dalbrig. Und das iſt keine Eigen¬
ſchaft, die wir Frauen lieben, auch nicht einmal dann,
wenn wir noch halbe Kinder ſind, wohin Du mich
immer gerechnet haſt und vielleicht, trotz meiner
Fortſchritte, auch jetzt noch rechneſt. Das Dalbrige,
das iſt nicht unſre Sache. Männer müſſen Männer
ſein.“


„Gut, daß Du das ſagſt. Alle Teufel, da muß
man ſich ja zuſammennehmen. Und ich kann von
Glück ſagen, daß ich von ſo 'was, das wie Zuſammen¬
nehmen ausſieht, oder wenigſtens ein Zuſammen¬
[315]Effi Brieſtnehmen in Zukunft fordert, ſo gut wie direkt her¬
komme . . . Sage, wie denkſt Du Dir ein Miniſterium?“


„Ein Miniſterium? Nun, das kann zweierlei
ſein. Es können Menſchen ſein, kluge, vornehme
Herren, die den Staat regieren, und es kann auch
bloß ein Haus ſein, ein Palazzo, ein Palazzo Strozzi
oder Pitti oder, wenn die nicht paſſen, irgend ein
andrer. Du ſiehſt, ich habe meine italieniſche Reiſe
nicht umſonſt gemacht.“


„Und könnteſt Du Dich entſchließen, in ſolchem
Palazzo zu wohnen? Ich meine in ſolchem Mini¬
ſterium?“


„Um Gotteswillen, Geert, ſie haben Dich doch
nicht zum Miniſter gemacht? Gieshübler ſagte ſo
'was. Und der Fürſt kann alles. Gott, der hat es
am Ende durchgeſetzt, und ich bin erſt achtzehn.“


Innſtetten lachte. „Nein, Effi, nicht Miniſter,
ſo weit ſind wir noch nicht. Aber vielleicht kommen
noch allerhand Gaben in mir heraus, und dann iſt
es nicht unmöglich.“


„Alſo jetzt noch nicht, noch nicht Miniſter?“


„Nein. Und wir werden, die Wahrheit zu ſagen,
auch nicht einmal in einem Miniſterium wohnen, aber
ich werde täglich ins Miniſterium gehen, wie ich jetzt
in unſer Landratsamt gehe, und werde dem Miniſter
Vortrag halten und mit ihm reiſen, wenn er die
[316]Effi Brieſt Provinzialbehörden inſpiziert. Und Du wirſt eine
Miniſterialrätin ſein und in Berlin leben, und in
einem halben Jahre wirſt Du kaum noch wiſſen,
daß Du hier in Keſſin geweſen biſt und nichts
gehabt haſt, als Gieshübler und die Dünen und die
Plantage.“


Effi ſagte kein Wort, und nur ihre Augen
wurden immer größer; um ihre Mundwinkel war
ein nervöſes Zucken, und ihr ganzer zarter Körper
zitterte. Mit einemmale aber glitt ſie von ihrem
Sitze vor Innſtetten nieder, umklammerte ſeine Knie
und ſagte in einem Tone, wie wenn ſie betete: „Gott
ſei Dank!“


Innſtetten verfärbte ſich. Was war das? Etwas,
was ſeit Wochen flüchtig, aber doch immer ſich
erneuernd über ihn kam, war wieder da und ſprach ſo
deutlich aus ſeinem Auge, daß Effi davor erſchrak.
Sie hatte ſich durch ein ſchönes Gefühl, das nicht viel
'was andres als ein Bekenntnis ihrer Schuld war, hin¬
reißen laſſen und dabei mehr geſagt, als ſie ſagen
durfte. Sie mußte das wieder ausgleichen, mußte 'was
finden, irgend einen Ausweg, es koſte, was es wolle.


„Steh' auf, Effi. Was haſt Du?“


Effi erhob ſich raſch. Aber ſie nahm ihren
Platz auf dem Sofa nicht wieder ein, ſondern ſchob
einen Stuhl mit hoher Lehne heran, augenſcheinlich,
[317]Effi Brieſtweil ſie nicht Kraft genug fühlte, ſich ohne Stütze
zu halten.


„Was haſt Du?“ wiederholte Innſtetten. „Ich
dachte, Du hätteſt hier glückliche Tage verlebt. Und
nun rufſt Du „Gott ſei Dank“, als ob Dir hier
alles nur ein Schrecknis geweſen wäre. War ich der
ein Schrecknis? Oder war es 'was andres? Sprich.“


„Daß Du noch fragen kannſt, Geert,“ ſagte ſie,
während ſie mit einer äußerſten Anſtrengung das
Zittern ihrer Stimme zu bezwingen ſuchte. „Glück¬
liche Tage! Ja, gewiß, glückliche Tage, aber doch auch
andre. Nie bin ich die Angſt hier ganz los ge¬
worden, nie. Noch keine vierzehn Tage, daß es mir
wieder über die Schulter ſah, daſſelbe Geſicht, der¬
ſelbe fahle Teint. Und dieſe letzten Nächte, wo Du
fort warſt, war es auch wieder da, nicht das Ge¬
ſicht, aber es ſchlurrte wieder, und Rollo ſchlug
wieder an, und Roswitha, die's auch gehört, kam an
mein Bett und ſetzte ſich zu mir, und erſt, als es
ſchon dämmerte, ſchliefen wir wieder ein. Es iſt ein
Spukhaus, und ich hab' es auch glauben ſollen, das
mit dem Spuk, — denn Du biſt ein Erzieher.
Ja, Geert, das biſt Du. Aber laß es ſein, wie's
will, ſo viel weiß ich, ich habe mich ein ganzes
Jahr lang und länger in dieſem Hauſe gefürchtet,
und wenn ich von hier fortkomme, ſo wird es,
[318]Effi Brieſtdenk' ich, von mir abfallen, und ich werde wieder
frei ſein.“


Innſtetten hatte kein Auge von ihr gelaſſen
und war jedem Worte gefolgt. Was ſollte das
heißen: „Du biſt ein Erzieher?“ und dann das
andre, was vorausging: „und ich hab' es auch glauben
ſollen, das mit dem Spuk.“ Was war das alles?
Wo kam das her? Und er fühlte ſeinen leiſen
Argwohn ſich wieder regen und feſter einniſten.
Aber er hatte lange genug gelebt, um zu wiſſen, daß
alle Zeichen trügen und daß wir in unſrer Eifer¬
ſucht, trotz ihrer hundert Augen, oft noch mehr in
die Irre gehen, als in der Blindheit unſres Ver¬
trauens. Es konnte ja ſo ſein, wie ſie ſagte. Und
wenn es ſo war, warum ſollte ſie nicht ausrufen:
„Gott ſei Dank!“


Und ſo, raſch alle Möglichkeiten ins Auge
faſſend, wurde er ſeines Argwohns wieder Herr und
reichte ihr die Hand über den Tiſch hin: „Verzeih'
mir, Effi, aber ich war ſo ſehr überraſcht von dem
allen. Freilich wohl meine Schuld. Ich bin immer
zu ſehr mit mir beſchäftigt geweſen. Wir Männer
ſind alle Egoiſten. Aber das ſoll nun anders werden.
Ein Gutes hat Berlin gewiß: Spukhäuſer giebt es
da nicht. Wo ſollen die auch herkommen? Und
nun laß uns hinüber gehen, daß ich Annie ſehe;
[319]Effi Brieſt Roswitha verklagt mich ſonſt als einen unzärtlichen
Vater.“


Effi war unter dieſen Worten allmählich ruhiger
geworden und das Gefühl, aus einer ſelbſtgeſchaffenen
Gefahr ſich glücklich befreit zu haben, gab ihr ihre
Spannkraft und gute Haltung wieder zurück.

[[320]]

Zweiundzwanzigſtes Kapitel.

Am andern Morgen nahmen beide gemein¬
ſchaftlich ihr etwas verſpätetes Frühſtück. Innſtetten
hatte ſeine Mißſtimmung und Schlimmeres über¬
wunden, und Effi lebte ſo ganz dem Gefühl ihrer
Befreiung, daß ſie nicht bloß die Fähigkeit einer ge¬
wiſſen erkünſtelten guten Laune, ſondern faſt auch
ihre frühere Unbefangenheit wieder gewonnen hatte.
Sie war noch in Keſſin, und doch war ihr ſchon
zu Mute, als läge es weit hinter ihr.


„Ich habe mir's überlegt, Effi,“ ſagte Inn¬
ſtetten, „Du haſt nicht ſo ganz unrecht mit allem,
was Du gegen unſer Haus hier geſagt haſt. Für
Kapitän Thomſen war es gerade gut genug, aber
nicht für eine junge verwöhnte Frau; alles alt¬
modiſch, kein Platz. Da ſollſt Du's in Berlin beſſer
haben, auch einen Saal, aber einen andern als hier,
und auf Flur und Treppe hohe bunte Glasfenſter,
Kaiſer Wilhelm mit Szepter und Krone oder auch
[321]Effi Brieſt was Kirchliches, heilige Eliſabeth oder Jungfrau
Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das ſind wir
Roswitha ſchuldig.“


Effi lachte. „So ſoll es ſein. Aber wer ſucht
uns eine Wohnung? Ich kann doch nicht Vetter
Brieſt auf die Suche ſchicken. Oder gar die Tanten!
Die finden alles gut genug.“


„Ja, das Wohnungſuchen. Das macht einem
keiner zu Dank. Ich denke, da mußt Du ſelber hin.“


„Und wann meinſt Du?“


„Mitte März.“


„O, das iſt viel zu ſpät, Geert, dann iſt ja
alles fort. Die guten Wohnungen werden ſchwerlich
auf uns warten!“


„Iſt ſchon recht. Aber ich bin erſt ſeit geſtern
wieder hier und kann doch nicht ſagen ,reiſe morgen‘.
Das würde mich ſchlecht kleiden und paßte mir auch
wenig; ich bin froh, daß ich Dich wieder habe.“


„Nein,“ ſagte ſie, während ſie das Kaffeegeſchirr,
um eine aufſteigende Verlegenheit zu verbergen, ziem¬
lich geräuſchvoll zuſammenrückte, „nein, ſo ſoll's auch
nicht ſein, nicht heut und nicht morgen, aber doch
in den nächſten Tagen. Und wenn ich etwas finde,
ſo bin ich raſch wieder zurück. Aber noch eins, Ros¬
witha und Annie müſſen mit. Am ſchönſten wär'
es, Du auch. Aber ich ſehe ein, das geht nicht
Th. Fontane, Effi Brieſt. 21[322]Effi Brieſt Und ich denke, die Trennung ſoll nicht lange dauern.
Ich weiß auch ſchon, wo ich miete . . .“


„Nun?“


„Das bleibt mein Geheimnis. Ich will auch
ein Geheimnis haben. Damit will ich Dich dann
überraſchen.“


In dieſem Augenblick trat Friedrich ein, um
die Poſtſachen abzugeben. Das meiſte war Dienſt¬
liches und Zeitungen. „Ah, da iſt auch ein Brief
für Dich,“ ſagte Innſtetten. „Und wenn ich nicht
irre, die Handſchrift der Mama.“


Effi nahm den Brief. „Ja, von der Mama.
Aber das iſt ja nicht der Frieſacker Poſtſtempel;
ſieh nur, das heißt ja deutlich Berlin.“


„Freilich,“ lachte Innſtetten „Du thuſt, als
ob es ein Wunder wäre. Die Mama wird in
Berlin ſein und hat ihrem Liebling von ihrem Hotel
aus einen Brief geſchrieben.“


„Ja,“ ſagte Effi, „ſo wird es ſein. Aber ich
ängſtige mich doch beinah und kann keinen rechten
Troſt darin finden, daß Hulda Niemeyer immer
ſagte: wenn man ſich ängſtigt, iſt es beſſer, als wenn
man hofft. Was meinſt Du dazu?“


„Für eine Paſtorstochter nicht ganz auf der
Höhe. Aber nun lies den Brief. Hier iſt ein
Papiermeſſer.“


[323]Effi Brieſt

Effi ſchnitt das Kouvert auf und las: Meine
liebe Effi. Seit 24 Stunden bin ich hier in Berlin;
Konſultationen bei Schweigger. Als er mich ſieht,
beglückwünſcht er mich, und als ich erſtaunt ihn
frage, wozu, erfahr' ich, daß Miniſterialdirektor
Wüllersdorf eben bei ihm geweſen und ihm erzählt
habe: Innſtetten ſei ins Miniſterium berufen. Ich
bin ein wenig ärgerlich, daß man dergleichen von
einem Dritten erfahren muß. Aber in meinem Stolz
und meiner Freude ſei Euch verziehen. Ich habe
es übrigens immer gewußt (ſchon als I. noch bei
den Rathenowern war), daß etwas aus ihm werden
würde. Nun kommt es Dir zu gute. Natürlich
müßt Ihr eine Wohnung haben und eine andere
Einrichtung. Wenn Du, meine liebe Effi, glaubſt,
meines Rates dabei bedürfen zu können, ſo komme,
ſo raſch es Dir Deine Zeit erlaubt. Ich bleibe
acht Tage hier in Kur, und wenn es nicht anſchlägt,
vielleicht noch etwas länger; Schweigger drückt ſich
unbeſtimmt darüber aus. Ich habe eine Privat¬
wohnung in der Schadowſtraße genommen; neben
dem meinigen ſind noch Zimmer frei. Was es mit
meinem Auge iſt, darüber mündlich; vorläufig be¬
ſchäftigt mich nur Eure Zukunft. Brieſt wird un¬
endlich glücklich ſein, er thut immer ſo gleichgültig
gegen dergleichen, eigentlich hängt er aber mehr
21 *[324]Effi Brieſtdaran als ich. Grüße Innſtetten, küſſe Annie, die
Du vielleicht mitbringſt. Wie immer Deine Dich
zärtlich liebende Mutter Luiſe von B.


Effi legte den Brief aus der Hand und ſagte
nichts. Was ſie zu thun habe, das ſtand bei ihr
feſt; aber ſie wollte es nicht ſelber ausſprechen, Inn¬
ſtetten ſollte damit kommen, und dann wollte ſie
zögernd ja ſagen.


Innſtetten ging auch wirklich in die Falle. „Nun,
Effi, Du bleibſt ſo ruhig.“


„Ach, Geert, es hat alles ſo ſeine zwei Seiten.
Auf der einen Seite beglückt es mich, die Mama
wiederzuſehen und vielleicht ſogar ſchon in wenig
Tagen. Aber es ſpricht auch ſo vieles dagegen.“


„Was?“


„Die Mama, wie Du weißt, iſt ſehr beſtimmt
und kennt nur ihren eignen Willen. Dem Papa
gegenüber hat ſie alles durchſetzen können. Aber
ich möchte gern eine Wohnung haben, die nach
meinem Geſchmack iſt, und eine neue Einrichtung,
die mir gefällt.“


Innſtetten lachte. „Und das iſt alles?“


„Nun, es wäre grade genug. Aber es iſt nicht
alles.“ Und nun nahm ſie ſich zuſammen und ſah
ihn an und ſagte: „Und dann, Geert, ich möchte
nicht gleich wieder von Dir fort.“


[325]Effi Brieſt

„Schelm, das ſagſt Du ſo, weil Du meine
Schwäche kennſt. Aber wir ſind alle ſo eitel, und
ich will es glauben. Ich will es glauben und doch
zugleich auch den Heroiſchen ſpielen, den Entſagenden.
Reiſe, ſobald Du's für nötig hältſt und vor Deinem
Herzen verantworten kannſt.“


„So darfſt Du nicht ſprechen, Geert. Was heißt
das ,vor meinem Herzen verantworten‘. Damit ſchiebſt
Du mir, halb gewaltſam, eine Zärtlichkeitsrolle zu, und
ich muß Dir dann aus reiner Koketterie ſagen: ,Ach,
Geert, dann reiſe ich nie.‘ Oder doch ſo etwas Ähnliches.“


Innſtetten drohte ihr mit dem Finger. „Effi,
Du biſt mir zu fein. Ich dachte immer, Du wärſt
ein Kind, und ſehe nun, daß Du das Maß haſt
wie alle andern. Aber laſſen wir das, oder wie
Dein Papa immer ſagte: ,das iſt ein zu weites
Feld‘. Sage lieber, wann willſt Du fort?“


„Heute haben wir Dienstag. Sagen wir alſo
Freitag Mittag mit dem Schiff. Dann bin ich am
Abend in Berlin.“


„Abgemacht. Und wann zurück?“


„Nun‚ ſagen wir Montag Abend. Das ſind
dann drei Tage.“


„Geht nicht. Das iſt zu früh. In drei Tagen
kannſt Du's nicht zwingen. Und ſo raſch läßt Dich
die Mama auch nicht fort.“


[326]Effi Brieſt

„Alſo auf Diskretion.“


„Gut.“


Und damit erhob ſich Innſtetten, um nach dem
Landratsamte hinüber zu gehen.


Die Tage bis zur Abreiſe vergingen wie im
Fluge. Roswitha war ſehr glücklich. „Ach, gnädigſte
Frau, Keſſin, nun ja . . ., aber Berlin iſt es nicht.
Und die Pferdebahn. Und wenn es dann ſo klingelt
und man nicht weiß, ob man links oder rechts ſoll,
und mitunter iſt mir ſchon geweſen, als ginge alles
grad über mich weg. Nein, ſo was iſt hier nicht.
Ich glaube, manchen Tag ſehen wir keine ſechs
Menſchen. Und immer bloß die Dünen und draußen
die See. Und das rauſcht und rauſcht, aber weiter
iſt es auch nichts.“


„Ja, Roswitha, Du haſt recht. Es rauſcht und
rauſcht immer, aber es iſt kein richtiges Leben. Und
dann kommen einem allerhand dumme Gedanken.
Das kannſt Du doch nicht beſtreiten, das mit dem
Kruſe war nicht in der Richtigkeit.“


„Ach, gnädigſte Frau . . .“


„Nun, ich will nicht weiter nachforſchen. Du
wirſt es natürlich nicht zugeben. Und nimm nur
nicht zu wenig Sachen mit. Deine Sachen kannſt
Du eigentlich ganz mitnehmen und Annie's auch.“


[327]Effi Brieſt

„Ich denke, wir kommen noch 'mal wieder.“


„Ja, ich. Der Herr wünſcht es. Aber Ihr
könnt vielleicht da bleiben, bei meiner Mutter. Sorge
nur, daß ſie Anniechen nicht zu ſehr verwöhnt.
Gegen mich war ſie mitunter ſtreng, aber ein Enkel¬
kind . . .“


„Und dann iſt Anniechen ja auch ſo zum An¬
beißen. Da muß ja jeder zärtlich ſein.“


Das war am Donnerstag, am Tage vor der
Abreiſe. Innſtetten war über Land gefahren und
wurde erſt gegen Abend zurückerwartet. Am Nach¬
mittag ging Effi in die Stadt, bis auf den Markt¬
platz, und trat hier in die Apotheke und bat um
eine Flaſche Sal volatile. „Man weiß nie, mit
wem man reiſt,“ ſagte ſie zu dem alten Gehülfen,
mit dem ſie auf dem Plauderfuße ſtand und der ſie
anſchwärmte wie Gieshübler ſelbſt.


„Iſt der Herr Doktor zu Hauſe?“ fragte ſie
weiter, als ſie das Fläſchchen eingeſteckt hatte.


„Gewiß, gnädigſte Frau; er iſt hier nebenan
und lieſt die Zeitungen.“


„Ich werde ihn doch nicht ſtören?“


„O, nie.“


Und Effi trat ein. Es war eine kleine, hohe
Stube, mit Regalen rings herum, auf denen allerlei
Kolben und Retorten ſtanden; nur an der einen
[328]Effi Brieſt Wand befanden ſich alphabetiſch geordnete, vorn mit
einem Eiſenringe verſehene Käſten, in denen die
Rezepte lagen.


Gieshübler war beglückt und verlegen. „Welche
Ehre. Hier unter meinen Retorten. Darf ich die
gnädige Frau auffordern, einen Augenblick Platz zu
nehmen?“


„Gewiß, lieber Gieshübler. Aber auch wirklich
nur einen Augenblick. Ich will Ihnen Adieu ſagen.“


„Aber meine gnädigſte Frau, Sie kommen ja
doch wieder. Ich habe gehört, nur auf drei, vier
Tage . . .“


„Ja, lieber Freund, ich ſoll wiederkommen, und
es iſt ſogar verabredet, daß ich ſpäteſtens in einer
Woche wieder in Keſſin bin. Aber ich könnte doch
auch nicht wiederkommen. Muß ich Ihnen ſagen,
welche tauſend Möglichkeiten es giebt . . . Ich ſehe,
Sie wollen mir ſagen, daß ich noch zu jung ſei . . .,
auch Junge können ſterben. Und dann ſo vieles
andere noch. Und da will ich doch lieber Abſchied
nehmen von Ihnen, als wär' es für immer.“


„Aber meine gnädigſte Frau . . .“


„Als wär' es für immer. Und ich will Ihnen
danken, lieber Gieshübler. Denn Sie waren das
beſte hier; natürlich, weil Sie der Beſte waren.
Und wenn ich hundert Jahr alt würde, ſo werde
[329]Effi Brieſt ich Sie nicht vergeſſen. Ich habe mich hier mit¬
unter einſam gefühlt, und mitunter war mir ſo
ſchwer ums Herz, ſchwerer als Sie wiſſen können;
ich habe es nicht immer richtig eingerichtet; aber wenn
ich Sie geſehen habe, vom erſten Tage an, dann
habe ich mich immer wohler gefühlt und auch beſſer.“


„Aber meine gnädigſte Frau.“


„Und dafür wollte ich Ihnen danken. Ich habe
mir eben ein Fläſchchen mit Sal volatile gekauft;
im Coupé ſind mitunter ſo merkwürdige Menſchen
und wollen einem nicht 'mal erlauben, daß man ein
Fenſter aufmacht; und wenn mir dann vielleicht —
denn es ſteigt einem ja ordentlich zu Kopf, ich meine
das Salz — die Augen übergehen, dann will ich
an Sie denken. Adieu, lieber Freund, und grüßen
Sie Ihre Freundin, die Trippelli. Ich habe in den
letzten Wochen öfter an ſie gedacht und an Fürſt
Kotſchukoff. Ein eigentümliches Verhältnis bleibt es
doch. Aber ich kann mich hineinfinden . . . Und
laſſen Sie einmal von ſich hören. Oder ich werde
ſchreiben.“


Damit ging Effi. Gieshübler begleitete ſie bis
auf den Platz hinaus. Er war wie benommen, ſo
ſehr, daß er über manches Rätſelhafte, was ſie ge¬
ſprochen, ganz hinwegſah.


[330]Effi Brieſt

Effi ging wieder nach Haus. „Bringen Sie
mir die Lampe, Johanna,“ ſagte ſie, „aber in mein
Schlafzimmer. Und dann eine Taſſe Thee. Ich
hab' es ſo kalt und kann nicht warten, bis der Herr
wieder da iſt.“


Beides kam. Effi ſaß ſchon an ihrem kleinen
Schreibtiſch, einen Briefbogen vor ſich, die Feder in
der Hand. „Bitte, Johanna, den Thee auf den
Tiſch da.“


Als Johanna das Zimmer wieder verlaſſen
hatte, ſchloß Effi ſich ein, ſah einen Augenblick in
den Spiegel und ſetzte ſich dann wieder. Und nun
ſchrieb ſie: „Ich reiſe morgen mit dem Schiff, und
dies ſind Abſchiedszeilen. Innſtetten erwartet mich
in wenig Tagen zurück, aber ich komme nicht
wieder . . . Warum ich nicht wiederkomme, Sie
wiſſen es . . . Es wäre das beſte geweſen, ich hätte
dies Stück Erde nie geſehen. Ich beſchwöre Sie,
dies nicht als einen Vorwurf zu faſſen; alle Schuld
iſt bei mir. Blick' ich auf Ihr Haus . . ., Ihr
Thun mag entſchuldbar ſein, nicht das meine. Meine
Schuld iſt ſehr ſchwer. Aber vielleicht kann ich noch
heraus. Daß wir hier abberufen wurden, iſt mir
wie ein Zeichen, daß ich noch zu Gnaden angenommen
werden kann. Vergeſſen Sie das Geſchehene, ver¬
geſſen Sie mich. Ihre Effi.“


[331]Effi Brieſt

Sie überflog die Zeilen noch einmal, am
fremdeſten war ihr das „Sie“; aber auch das
mußte ſein; es ſollte ausdrücken, daß keine Brücke
mehr da ſei. Und nun ſchob ſie die Zeilen in ein
Kouvert und ging auf ein Haus zu, zwiſchen dem
Kirchhof und der Waldecke. Ein dünner Rauch ſtieg
aus dem halb eingefallenen Schornſtein. Da gab
ſie die Zeilen ab.


Als ſie wieder zurück war, war Innſtetten ſchon
da, und ſie ſetzte ſich zu ihm und erzählte ihm von
Gieshübler und dem Sal volatile.


Innſtetten lachte. „Wo haſt Du nur Dein
Latein her, Effi?“


Das Schiff, ein leichtes Segelſchiff (die Dampf¬
boote gingen nur Sommers), fuhr um zwölf. Schon
eine Viertelſtunde vorher waren Effi und Innſtetten
an Bord; auch Roswitha und Annie.


Das Gepäck war größer, als es für einen, auf
ſo wenig Tage geplanten Ausflug geboten erſchien.
Innſtetten ſprach mit dem Kapitän; Effi, in einem
Regenmantel und hellgrauen Reiſehut, ſtand auf dem
Hinterdeck, nahe am Steuer, und muſterte von hier
aus das Bollwerk und die hübſche Häuſerreihe, die
dem Zuge des Bollwerks folgte. Gerade der Landungs¬
brücke gegenüber lag Hoppenſack's Hotel, ein drei
[332]Effi Brieſt Stock hohes Gebäude, von deſſen Giebeldach eine
gelbe Flagge, mit Kreuz und Krone darin, ſchlaff
in der ſtillen, etwas nebeligen Luft hernieder hing.
Effi ſah eine Weile nach der Flagge hinauf, ließ
dann aber ihr Auge wieder abwärts gleiten und
verweilte zuletzt auf einer Anzahl von Perſonen, die
neugierig am Bollwerk umher ſtanden. In dieſem
Augenblicke wurde geläutet. Effi war ganz eigen zu
Mut, das Schiff ſetzte ſich langſam in Bewegung,
und als ſie die Landungsbrücke noch einmal muſterte,
ſah ſie, daß Crampas in vorderſter Reihe ſtand. Sie
erſchrak bei ſeinem Anblick und freute ſich doch auch.
Er ſeinerſeits, in ſeiner ganzen Haltung verändert,
war ſichtlich bewegt und grüßte ernſt zu ihr hinüber,
ein Gruß, den ſie ebenſo, aber doch zugleich in
großer Freundlichkeit, erwiderte; dabei lag etwas
Bittendes in ihrem Auge. Dann ging ſie raſch auf
die Kajüte zu, wo ſich Roswitha mit Annie ſchon
eingerichtet hatte. Hier, in dem etwas ſtickigen Raume
blieb ſie, bis man aus dem Fluß in die weite
Bucht des Breitling eingefahren war; da kam Inn¬
ſtetten und rief ſie nach oben, daß ſie ſich an dem
herrlichen Anblick erfreue, den die Landſchaft gerade
an dieſer Stelle bot. Sie ging dann auch hinauf.
Über dem Waſſerſpiegel hingen graue Wolken, und
nur dann und wann ſchoß ein halb umſchleierter
[333]Effi BrieſtSonnenblick aus dem Gewölk hervor. Effi gedachte
des Tages, wo ſie, vor jetzt gerade Fünfvierteljahren,
im offenen Wagen am Ufer eben dieſes Breitlings
hin entlang gefahren war. Eine kurze Spanne Zeit,
und das Leben oft ſo ſtill und einſam. Und doch,
was war alles ſeitdem geſchehen!


So fuhr man die Waſſerſtraße hinauf und war
um zwei an der Station oder doch ganz in Nähe
derſelben. Als man gleich danach das Gaſthaus des
‚Fürſten Bismarck‘ paſſierte, ſtand auch Golchowski
wieder in der Thür und verſäumte nicht, den Herrn
Landrat und die gnädige Frau bis an die Stufen
der Böſchung zu geleiten. Oben war der Zug noch
nicht angemeldet, und Effi und Innſtetten ſchritten
auf dem Bahnſteig auf und ab. Ihr Geſpräch drehte
ſich um die Wohnungsfrage; man war einig über
den Stadtteil, und daß es zwiſchen dem Tiergarten
und dem Zoologiſchen Garten ſein müſſe. „Ich
will den Finkenſchlag hören und die Papageien auch,“
ſagte Innſtetten, und Effi ſtimmte ihm zu.


Nun aber hörte man das Signal und der Zug
lief ein; der Bahnhofsinſpektor war voller Entgegen¬
kommen, und Effi erhielt ein Coupé für ſich.


Noch ein Händedruck, ein Wehen mit dem Tuch,
und der Zug ſetzte ſich wieder in Bewegung.

[[334]]

Dreiundzwanzigſtes Kapitel.

Auf dem Friedrichſtraßen-Bahnhofe war ein
Gedränge; aber trotzdem, Effi hatte ſchon vom Coupé
aus die Mama erkannt und neben ihr den Vetter
Brieſt. Die Freude des Wiederſehens war groß, das
Warten in der Gepäckhalle ſtellte die Geduld auf
keine allzu harte Probe, und nach wenig mehr als
fünf Minuten rollte die Droſchke neben dem Pferde¬
bahngeleiſe hin, in die Dorotheenſtraße hinein und
auf die Schadowſtraße zu, an deren nächſtgelegener
Ecke ſich die ‚Penſion‘ befand. Roswitha war ent¬
zückt und freute ſich über Annie, die die Händchen
nach den Lichtern ausſtreckte.


Nun war man da. Effi erhielt ihre zwei
Zimmer, die nicht, wie erwartet, neben denen der
Frau von Brieſt, aber doch auf demſelben Korridor
lagen, und als alles ſeinen Platz und Stand hatte,
und Annie in einem Bettchen mit Gitter glücklich
untergebracht war, erſchien Effi wieder im Zimmer
[335]Effi Brieſt der Mama, einem kleinen Salon mit Kamin, drin
ein ſchwaches Feuer brannte; denn es war mildes, bei¬
nah warmes Wetter. Auf dem runden Tiſche mit
grüner Schirmlampe waren drei Kouverts gelegt,
und auf einem Nebentiſchchen ſtand das Theezeug.


„Du wohnſt ja reizend, Mama,“ ſagte Effi,
während ſie dem Sofa gegenüber Platz nahm, aber
nur um ſich gleich danach an dem Theetiſch zu
ſchaffen zu machen. „Darf ich wieder die Rolle des
Theefräuleins übernehmen?“


„Gewiß, meine liebe Effi. Aber nur für Dago¬
bert und Dich ſelbſt. Ich meinerſeits muß verzichten,
was mir beinah ſchwer fällt.“


„Ich verſteh', Deiner Augen halber. Aber nun
ſage mir, Mama, was iſt es damit? In der
Droſchke, die noch dazu ſo klapperte, haben wir immer
nur von Innſtetten und unſerer großen Karriere
geſprochen, viel zu viel, und das geht nicht ſo weiter;
glaube mir, Deine Augen ſind mir wichtiger, und
in einem finde ich ſie, Gott ſei Dank, ganz unver¬
ändert, Du ſiehſt mich immer noch ſo freundlich an
wie früher.“ Und ſie eilte auf die Mama zu und
küßte ihr die Hand.


„Effi, Du biſt ſo ſtürmiſch. Ganz die alte.“


„Ach nein, Mama. Nicht die alte. Ich wollte,
es wäre ſo. Man ändert ſich in der Ehe.“


[336]Effi Brieſt

Vetter Brieſt lachte. „Couſine, ich merke nicht
viel davon; Du biſt noch hübſcher geworden, das iſt
alles. Und mit dem Stürmiſchen wird es wohl auch
noch nicht vorbei ſein.“


„Ganz der Vetter,“ verſicherte die Mama; Effi
ſelbſt aber wollte davon nichts hören und ſagte:
„Dagobert, Du biſt alles, nur kein Menſchenkenner.
Es iſt ſonderbar. Ihr Offiziere ſeid keine guten
Menſchenkenner, die jungen gewiß nicht. Ihr guckt
Euch immer nur ſelber an oder Eure Rekruten, und
die von der Kavallerie haben auch noch ihre Pferde.
Die wiſſen nun vollends nichts.“


„Aber Couſine, wo haſt Du denn dieſe ganze
Weisheit her? Du kennſt ja keine Offiziere. Keſſin,
ſo habe ich geleſen, hat ja auf die ihm zugedachten
Huſaren verzichtet, ein Fall, der übrigens einzig in
der Weltgeſchichte daſteht. Und willſt Du von alten
Zeiten ſprechen? Du warſt ja noch ein halbes Kind,
als die Rathenower zu Euch herüberkamen.“


„Ich könnte Dir erwidern, daß Kinder am beſten
beobachten. Aber ich mag nicht, das ſind ja alles
bloß Allotria. Ich will wiſſen, wie's mit Mama's
Augen ſteht.“


Frau von Brieſt erzählte nun, daß es der
Augenarzt für Blutandrang nach dem Gehirn aus¬
gegeben habe. Daher käme das Flimmern. Es
[337]Effi Brieſtmüſſe mit Diät gezwungen werden; Bier, Kaffee,
Thee — alles geſtrichen und gelegentlich eine lokale
Blutentziehung, dann würde es bald beſſer werden.
„Er ſprach ſo von vierzehn Tagen. Aber ich kenne
die Doktorangaben; vierzehn Tage heißt ſechs Wochen,
und ich werde noch hier ſein, wenn Innſtetten kommt
und Ihr in Eure neue Wohnung einzieht. Ich will
auch nicht leugnen, daß das das beſte von der Sache
iſt und mich über die mutmaßlich lange Kurdauer
ſchon vorweg tröſtet. Sucht Euch nur recht 'was
Hübſches. Ich habe mir Landgrafen- oder Keith¬
ſtraße gedacht, elegant und doch nicht allzu teuer.
Denn Ihr werdet Euch einſchränken müſſen. Inn¬
ſtetten's Stellung iſt ſehr ehrenvoll, aber ſie wirft
nicht allzuviel ab. Und Brieſt klagt auch. Die
Preiſe gehen herunter, und er erzählt mir jeden Tag,
wenn nicht Schutzzölle kämen, ſo müſſ' er mit einem
Bettelſack von Hohen-Cremmen abziehen. Du weißt,
er übertreibt gern. Aber nun lange zu, Dagobert,
und wenn es ſein kann, erzähle uns 'was Hübſches.
Krankheitsberichte ſind immer langweilig, und die
liebſten Menſchen hören bloß zu, weil es nicht anders
geht. Effi wird wohl auch gern eine Geſchichte
hören, etwas aus den Fliegenden Blättern oder aus
dem Kladderadatſch. Er ſoll aber nicht mehr ſo
gut ſein.“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 22[338]Effi Brieſt

„O, er iſt noch ebenſo gut wie früher. Sie
haben immer noch Strudelwitz und Prudelwitz, und
da macht es ſich von ſelber.“


„Mein Liebling iſt Karlchen Mießnick und
Wippchen von Bernau.“


„Ja, das ſind die beſten. Aber Wippchen, der
übrigens — Pardon, ſchöne Couſine — keine
Kladderadatſchfigur iſt, Wippchen hat gegenwärtig
nichts zu thun, es iſt ja kein Krieg mehr. Leider.
Unſereins möchte doch auch 'mal an die Reihe kommen
und hier dieſe ſchreckliche Leere,“ und er ſtrich vom
Knopfloch nach der Achſel hinüber, „endlich los werden.“


„Ach, das ſind ja bloß Eitelkeiten. Erzähle lieber.
Was iſt denn jetzt dran?“


„Ja, Couſine, das iſt ein eigen Ding. Das iſt nicht
für jedermann. Jetzt haben wir nämlich die Bibelwitze.“


„Die Bibelwitze? Was ſoll das heißen? . . .
Bibel und Witze gehören nicht zuſammen.“


„Eben deshalb ſagte ich, es ſei nicht für jeder¬
mann. Aber ob zuläſſig oder nicht, ſie ſtehen jetzt
hoch im Preiſe. Modeſache, wie Kibitzeier.“


„Nun, wenn es nicht zu toll iſt, ſo gieb uns
eine Probe. Geht es?“


„Gewiß geht es. Und ich möchte ſogar hinzu¬
ſetzen dürfen, Du triffſt es beſonders gut. Was
jetzt nämlich kurſiert, iſt etwas hervorragend Feines,
[339]Effi Brieſt weil es als Kombination auftritt und in die einfache
Bibelſtelle noch das dativiſch Wrangel'ſche mit ein¬
miſcht. Die Frageſtellung — alle dieſe Witze treten
nämlich in Frageform auf — iſt übrigens in vor¬
liegendem Falle von großer Simplizität und lautet:
,Wer war der erſte Kutſcher?‘ Und nun rate.“


„Nun vielleicht Apollo.“


„Sehr gut. Du biſt doch ein Daus, Effi. Ich
wäre nicht darauf gekommen. Aber trotzdem, Du
triffſt damit nicht ins Schwarze.“


„Nun, wer war es denn?“


„Der erſte Kutſcher war ,Leid‘. Denn ſchon
im Buche Hiob heißt es: ,Leid ſoll mir nicht wider¬
fahren,‘ oder auch ,wieder fahren‘ in zwei Wörtern
und mit einem e.“


Effi wiederholte kopfſchüttelnd den Satz, auch
die Zubemerkung, konnte ſich aber trotz aller Mühe
nicht d'rin zurechtfinden; ſie gehörte ganz aus¬
geſprochen zu den Bevorzugten, die für derlei Dinge
durchaus kein Organ haben, und ſo kam denn Vetter
Brieſt in die nicht beneidenswerte Situation, immer
erneut erſt auf den Gleichklang und dann auch wieder
auf den Unterſchied von ‚widerfahren‘ und ‚wieder
fahren‘ hinweiſen zu müſſen.


„Ach, nun verſteh' ich. Und Du mußt mir verzeihen,
daß es ſo lange gedauert. Aber es iſt wirklich zu dumm.“


22*[340]Effi Brieſt

„Ja, dumm iſt es,“ ſagte Dagobert kleinlaut.


„Dumm und unpaſſend und kann einem Berlin
ordentlich verleiden. Da geht man nun aus Keſſin
fort, um wieder unter Menſchen zu ſein, und das
Erſte, was man hört, iſt ein Bibelwitz. Auch Mama
ſchweigt, und das ſagt genug. Ich will Dir aber
doch den Rückzug erleichtern . . .“


„Das thu', Couſine.“


„ . . . den Rückzug erleichtern und es ganz
ernſthaft als ein gutes Zeichen nehmen, daß mir,
als erſtes hier, von meinem Vetter Dagobert geſagt
wurde: ,Leid ſoll mir nicht widerfahren‘. Sonderbar,
Vetter, ſo ſchwach die Sache als Witz iſt, ich bin
Dir doch dankbar dafür.“


Dagobert, kaum aus der Schlinge heraus, ver¬
ſuchte über Effi's Feierlichkeit zu ſpötteln, ließ aber
ab davon, als er ſah, daß es ſie verdroß.


Bald nach zehn Uhr brach er auf und verſprach
am anderen Tage wiederzukommen, um nach den
Befehlen zu fragen.


Und gleich, nachdem er gegangen, zog ſich auch
Effi in ihre Zimmer zurück.


Am andern Tage war das ſchönſte Wetter,
und Mutter und Tochter brachen früh auf, zunächſt
nach der Augenklinik, wo Effi im Vorzimmer verblieb
[341]Effi Brieſt und ſich mit dem Durchblättern eines Albums be¬
ſchäftigte. Dann ging es nach dem Tiergarten und
bis in die Nähe des ‚Zoologiſchen‘, um dort herum
nach einer Wohnung zu ſuchen. Es traf ſich auch
wirklich ſo, daß man in der Keithſtraße, worauf
ſich ihre Wünſche von Anfang an gerichtet hatten,
etwas durchaus Paſſendes ausfindig machte, nur daß
es ein Neubau war, feucht und noch unfertig. „Es
wird nicht gehen, liebe Effi,“ ſagte Frau von Brieſt,
„ſchon einfach Geſundheitsrückſichten werden es ver¬
bieten. Und dann ein Geheimrat iſt kein Trocken¬
wohner.“


Effi, ſo ſehr ihr die Wohnung gefiel, war umſo
einverſtandener mit dieſem Bedenken, als ihr an einer
raſchen Erledigung überhaupt nicht lag, ganz im
Gegenteil: ,Zeit gewonnen, alles gewonnen‘, und ſo
war ihr denn ein Hinausſchieben der ganzen An¬
gelegenheit eigentlich das liebſte, was ihr begegnen
konnte. „Wir wollen dieſe Wohnung aber doch im
Auge behalten, Mama, ſie liegt ſo ſchön und iſt im
Weſentlichen das, was ich mir gewünſcht habe.“ Dann
fuhren beide Damen in die Stadt zurück, aßen im
Reſtaurant, das man ihnen empfohlen, und waren
am Abend in der Oper, wozu der Arzt unter der
Bedingung, daß Frau von Brieſt mehr hören als
ſehen wolle, die Erlaubnis gegeben hatte.


[342]Effi Brieſt

Die nächſten Tage nahmen einen ähnlichen Ver¬
lauf; man war aufrichtig erfreut, ſich wieder zu
haben und nach ſo langer Zeit wieder ausgiebig
mit einander plaudern zu können. Effi, die ſich
nicht bloß auf Zuhören und Erzählen, ſondern, wenn
ihr am wohlſten war, auch auf Mediſieren ganz vor¬
züglich verſtand, geriet mehr als einmal in ihren
alten Übermut, und die Mama ſchrieb nach Hauſe,
wie glücklich ſie ſei, das ‚Kind‘ wieder ſo heiter und
lachluſtig zu finden; es wiederhole ſich ihnen allen
die ſchöne Zeit von vor faſt zwei Jahren, wo man
die Ausſtattung beſorgt habe. Auch Vetter Brieſt ſei
ganz der Alte. Das war nun auch wirklich der
Fall, nur mit dem Unterſchiede, daß er ſich ſeltener
ſehen ließ, als vordem, und auf die Frage nach dem
‚Warum‘ anſcheinend ernſthaft verſicherte: „Du biſt
mir zu gefährlich, Couſine.“ Das gab dann jedes¬
mal ein Lachen bei Mutter und Tochter, und Effi
ſagte: „Dagobert, Du biſt freilich noch ſehr jung, aber
zu ſolcher Form des Courmachens doch nicht mehr
jung genug.“


So waren ſchon beinah vierzehn Tage vergangen.
Innſtetten ſchrieb immer dringlicher und wurde ziem¬
lich ſpitz, faſt auch gegen die Schwiegermama, ſo daß
Effi einſah, ein weiteres Hinausſchieben ſei nicht mehr
gut möglich, und es müſſe nun wirklich gemietet
[343]Effi Brieſtwerden. Aber was dann? Bis zum Umzuge nach
Berlin waren immer noch drei Wochen, und Inn¬
ſtetten drang auf raſche Rückkehr. Es gab alſo nur
ein Mittel: ſie mußte wieder eine Komödie ſpielen,
mußte krank werden.


Das kam ihr aus mehr als einem Grunde nicht
leicht an; aber es mußte ſein, und als ihr das feſt¬
ſtand, ſtand ihr auch feſt, wie die Rolle, bis in die
kleinſten Einzelheiten hinein, geſpielt werden müſſe.


„Mama, Innſtetten, wie Du ſiehſt, wird über
mein Ausbleiben empfindlich. Ich denke, wir geben
alſo nach und mieten heute noch. Und morgen
reiſe ich. Ach, es wird mir ſo ſchwer, mich von Dir
zu trennen.“


Frau von Brieſt war einverſtanden. „Und
welche Wohnung wirſt Du wählen?“


„Natürlich die erſte, die in der Keithſtraße, die
mir von Anfang an ſo gut gefiel und Dir auch.
Sie wird wohl noch nicht ganz ausgetrocknet ſein,
aber es iſt ja das Sommerhalbjahr, was einiger¬
maßen ein Troſt iſt. Und wird es mit der Feuchtig¬
keit zu arg und kommt ein bißchen Rheumatismus,
ſo hab' ich ja ſchließlich immer noch Hohen-Cremmen.“


„Kind, beruf' es nicht; ein Rheumatismus iſt
mitunter da, man weiß nicht wie.“


Dieſe Worte der Mama kamen Effi ſehr zu paß.
[344]Effi Brieſt Sie mietete denſelben Vormittag noch und ſchrieb
eine Karte an Innſtetten, daß ſie den nächſten Tag
zurückwolle. Gleich danach wurden auch wirklich
die Koffer gepackt und alle Vorbereitungen getroffen.
Als dann aber der andere Morgen da war, ließ
Effi die Mama an ihr Bett rufen und ſagte: „Mama,
ich kann nicht reiſen. Ich habe ein ſolches Reißen
und Ziehen, es ſchmerzt mich über den ganzen Rücken
hin, und ich glaube beinah, es iſt ein Rheumatismus.
Ich hätte nicht gedacht, daß das ſo ſchmerzhaft ſei.“


„Siehſt Du, was ich Dir geſagt habe; man
ſoll den Teufel nicht an die Wand malen. Geſtern
haſt Du noch leichtſinnig darüber geſprochen, und
heute iſt es ſchon da. Wenn ich Schweigger ſehe,
werde ich ihn fragen, was Du thun ſollſt.“


„Nein, nicht Schweigger. Der iſt ja ein Spezialiſt.
Das geht nicht und er könnt' es am Ende übelnehmen,
in ſo was anderem zu Rate gezogen zu werden.
Ich denke, das beſte iſt, wir warten es ab. Es kann
ja auch vorübergehen. Ich werde den ganzen Tag
über von Thee und Sodawaſſer leben, und wenn
ich dann transpiriere, komm' ich vielleicht d'rüber hin.“


Frau von Brieſt drückte ihre Zuſtimmung aus,
beſtand aber darauf, daß ſie ſich gut verpflege. Daß
man nichts genießen müſſe, wie das früher Mode
war, das ſei ganz falſch und ſchwäche bloß; in dieſem
[345]Effi Brieſt Punkte ſtehe ſie ganz zu der jungen Schule: tüchtig
eſſen.


Effi ſog ſich nicht wenig Troſt aus dieſen An¬
ſchauungen, ſchrieb ein Telegramm an Innſtetten,
worin ſie von dem „leidigen Zwiſchenfall“ und einer
ärgerlichen, aber doch nur momentanen Behinderung
ſprach, und ſagte dann zu Roswitha: „Roswitha,
Du mußt mir nun auch Bücher beſorgen; es wird
nicht ſchwer halten, ich will alte, ganz alte.“


„Gewiß, gnäd'ge Frau. Die Leihbibliothek iſt
ja gleich hier nebenan. Was ſoll ich beſorgen?“


„Ich will es aufſchreiben, allerlei zur Auswahl,
denn mitunter haben ſie nicht das eine, was man
grade haben will.“ Roswitha brachte Bleiſtift und
Papier, und Effi ſchrieb auf: Walter Scott, Ivanhoe
oder Quentin Durward; Cooper, Der Spion; Dickens,
David Copperfield; Willibald Alexis, Die Hoſen des
Herrn von Bredow.


Roswitha las den Zettel durch und ſchnitt in
der anderen Stube die letzte Zeile fort; ſie genierte
ſich ihret- und ihrer Frau wegen, den Zettel in
ſeiner urſprünglichen Geſtalt abzugeben.


Ohne beſondere Vorkommniſſe verging der Tag.
Am andern Morgen war es nicht beſſer und am
dritten auch nicht.


„Effi, das geht ſo nicht länger. Wenn ſo 'was
[346]Effi Brieſt einreißt, dann wird man's nicht wieder los; wovor
die Doktoren am meiſten warnen und mit Recht,
das ſind ſolche Verſchleppungen.“


Effi ſeufzte. „Ja, Mama, aber wen ſollen wir
nehmen? Nur keinen jungen; ich weiß nicht, aber
es würde mich genieren.“


„Ein junger Doktor iſt immer genant, und
wenn er es nicht iſt, deſto ſchlimmer. Aber Du
kannſt Dich beruhigen; ich komme mit einem ganz
alten, der mich ſchon behandelt hat, als ich noch in
der Hecker'ſchen Penſion war, alſo vor etlichen zwanzig
Jahren. Und damals war er nah an Fünfzig und
hatte ſchönes graues Haar, ganz kraus. Er war
ein Damenmann, aber in den richtigen Grenzen.
Ärzte, die das vergeſſen, gehen unter, und es kann
auch nicht anders ſein; unſere Frauen, wenigſtens
die aus der Geſellſchaft, haben immer noch einen
guten Fond.“


„Meinſt Du? ich freue mich immer, ſo 'was
Gutes zu hören. Denn mitunter hört man doch
auch andres. Und ſchwer mag es wohl oft ſein.
Und wie heißt denn der alte Geheimrat? Ich nehme
an, daß es ein Geheimrat iſt.“


„Geheimrat Rummſchüttel.“


Effi lachte herzlich. „Rummſchüttel! Und als
Arzt für jemanden, der ſich nicht rühren kann.“


[347]Effi Brieſt

„Effi, Du ſprichſt ſo ſonderbar. Große Schmerzen
kannſt Du nicht haben.“


„Nein, in dieſem Augenblicke nicht; es wechſelt
beſtändig.“


Am andern Morgen erſchien Geheimrat Rumm¬
ſchüttel. Frau von Brieſt empfing ihn, und als er
Effi ſah, war ſein erſtes Wort: „Ganz die Mama.“


Dieſe wollte den Vergleich ablehnen und meinte,
zwanzig Jahre und drüber ſeien doch eine lange
Zeit; Rummſchüttel blieb aber bei ſeiner Behauptung,
zugleich verſichernd: nicht jeder Kopf präge ſich ihm
ein, aber wenn er überhaupt erſt einen Eindruck
empfangen habe, ſo bleibe der auch für immer. „Und
nun, meine gnädigſte Frau von Innſtetten, wo fehlt
es, wo ſollen wir helfen?“


„Ach, Herr Geheimrat, ich komme in Verlegen¬
heit, Ihnen auszudrücken, was es iſt. Es wechſelt
beſtändig. In dieſem Augenblick iſt es wie weg¬
geflogen. Anfangs habe ich an Rheumatiſches ge¬
dacht, aber ich möchte beinah glauben, es ſei eine
Neuralgie, Schmerzen den Rücken entlang, und dann
kann ich mich nicht aufrichten. Mein Papa leidet
an Neuralgie, da hab' ich es früher beobachten
können. Vielleicht ein Erbſtück von ihm.“


„Sehr wahrſcheinlich,“ ſagte Rummſchüttel, der
[348]Effi Brieſt den Puls gefühlt und die Patientin leicht, aber doch
ſcharf beobachtet hatte. „Sehr wahrſcheinlich, meine
gnädigſte Frau.“ Was er aber ſtill zu ſich ſelber
ſagte, das lautete: „Schulkrank und mit Virtuoſität
geſpielt; Evastochter comme il faut.“ Er ließ jedoch
nichts davon merken, ſondern ſagte mit allem wünſchens¬
werten Ernſt: „Ruhe und Wärme ſind das beſte,
was ich anraten kann. Eine Medizin, übrigens
nichts Schlimmes, wird das weitere thun.“


Und er erhob ſich, um das Rezept aufzuſchreiben:
Aqua Amygdalarum amararum eine halbe Unze,
Syrupus florum Aurantii zwei Unzen. „Hiervon,
meine gnädigſte Frau, bitte ich Sie, alle zwei Stunden
einen halben Theelöffel voll nehmen zu wollen. Es
wird Ihre Nerven beruhigen. Und worauf ich noch
dringen möchte: keine geiſtigen Anſtrengungen, keine
Beſuche, keine Lektüre.“ Dabei wies er auf das
neben ihr liegende Buch.


„Es iſt Scott.“


„O, dagegen iſt nichts einzuwenden. Das beſte
ſind Reiſebeſchreibungen. Ich ſpreche morgen wieder
vor.“


Effi hatte ſich wundervoll gehalten, ihre Rolle
gut durchgeſpielt. Als ſie wieder allein war —
die Mama begleitete den Geheimrat —, ſchoß ihr
trotzdem das Blut zu Kopf; ſie hatte recht gut be¬
[349]Effi Brieſt merkt, daß er ihrer Komödie mit einer Komödie be¬
gegnet war. Er war offenbar ein überaus lebens¬
gewandter Herr, der alles recht gut ſah, aber nicht
alles ſehen wollte, vielleicht weil er wußte, daß der¬
gleichen auch 'mal zu reſpektieren ſein könne. Denn
gab es nicht zu reſpektierende Komödien, war nicht
die, die ſie ſelber ſpielte, eine ſolche?


Bald danach kam die Mama zurück, und Mutter
und Tochter ergingen ſich in Lobeserhebungen über
den feinen alten Herrn, der trotz ſeiner beinah Siebzig
noch etwas Jugendliches habe. „Schicke nur gleich
Roswitha nach der Apotheke . . . Du ſollſt aber
nur alle drei Stunden nehmen, hat er mir draußen
noch eigens geſagt. So war er ſchon damals, er
verſchrieb nicht oft und nicht viel; aber immer
Energiſches, und es half auch gleich.“


Rummſchüttel kam den zweiten Tag und dann
jeden dritten, weil er ſah, welche Verlegenheit ſein
Kommen der jungen Frau bereitete. Dies nahm ihn
für ſie ein, und ſein Urteil ſtand ihm nach dem
dritten Beſuche feſt: „Hier liegt etwas vor, was
die Frau zwingt, ſo zu handeln, wie ſie handelt.“
Über ſolche Dinge den Empfindlichen zu ſpielen, lag
längſt hinter ihm.


Als Rummſchüttel ſeinen vierten Beſuch machte,
[350]Effi Brieſtfand er Effi auf, in einem Schaukelſtuhl ſitzend, ein
Buch in der Hand, Annie neben ihr.


„Ah, meine gnädigſte Frau! Hocherfreut. Ich
ſchiebe es nicht auf die Arznei; das ſchöne Wetter,
die hellen, friſchen Märztage, da fällt die Krankheit
ab. Ich beglückwünſche Sie. Und die Frau Mama?“


„Sie iſt ausgegangen, Herr Geheimrat, in die
Keithſtraße, wo wir gemietet haben. Ich erwarte nun
innerhalb weniger Tage meinen Mann, den ich mich,
wenn in unſerer Wohnung erſt alles in Ordnung
ſein wird, herzlich freue, Ihnen vorſtellen zu können.
Denn ich darf doch wohl hoffen, daß Sie auch in
Zukunft ſich meiner annehmen werden.“


Er verbeugte ſich.


„Die neue Wohnung,“ fuhr ſie fort, „ein Neu¬
bau, macht mir freilich Sorge. Glauben Sie, Herr
Geheimrat, daß die feuchten Wände . . .“


„Nicht im geringſten, meine gnädigſte Frau.
Laſſen Sie drei, vier Tage lang tüchtig heizen und
immer Thüren und Fenſter auf, da können Sie's
wagen, auf meine Verantwortung. Und mit Ihrer
Neuralgie, das war nicht von ſolcher Bedeutung.
Aber ich freue mich Ihrer Vorſicht, die mir Gelegen¬
heit gegeben hat, eine alte Bekanntſchaft zu erneuern
und eine neue zu machen.“


Er wiederholte ſeine Verbeugung, ſah noch Annie
[351]Effi Brieſt freundlich in die Augen und verabſchiedete ſich unter
Empfehlungen an die Mama.


Kaum daß er fort war, ſo ſetzte ſich Effi an
den Schreibtiſch und ſchrieb: „Lieber Innſtetten!
Eben war Rummſchüttel hier und hat mich aus der
Kur entlaſſen. Ich könnte nun reiſen, morgen etwa;
aber heut' iſt ſchon der 24., und am 28. willſt Du
hier eintreffen. Angegriffen bin ich ohnehin noch.
Ich denke, Du wirſt einverſtanden ſein, wenn ich
die Reiſe ganz aufgebe. Die Sachen ſind ja ohnehin
ſchon unterwegs, und wir würden, wenn ich käme,
in Hoppenſack's Hotel wie Fremde leben müſſen.
Auch der Koſtenpunkt iſt in Betracht zu ziehen, die
Ausgaben werden ſich ohnehin häufen; unter anderem
iſt Rummſchüttel zu honorieren, wenn er uns auch
als Arzt verbleibt. Übrigens ein ſehr liebenswürdiger
alter Herr. Er gilt ärztlich nicht für erſten Ranges,
‚Damendoktor‘ ſagen ſeine Gegner und Neider. Aber
dies Wort umſchließt doch auch ein Lob; es kann
eben nicht jeder mit uns umgehen. Daß ich von
den Keſſinern nicht perſönlich Abſchied nehme, hat
nicht viel auf ſich. Bei Gieshübler war ich. Die
Frau Majorin hat ſich immer ablehnend gegen mich
verhalten, ablehnend bis zur Unart; bleibt nur noch
der Paſtor und Dr. Hannemann und Crampas.
Empfiehl mich letzterem. An die Familien auf dem
[352]Effi BrieſtLande ſchicke ich Karten; Güldenklee's, wie Du mir
ſchreibſt, ſind in Italien (was ſie da wollen, weiß
ich nicht), und ſo bleiben nur die drei andern.
Entſchuldige mich, ſo gut es geht. Du biſt ja der
Mann der Formen und weißt das richtige Wort zu
treffen. An Frau von Padden, die mir am Sylveſter¬
abend ſo außerordentlich gut gefiel, ſchreibe ich viel¬
leicht ſelber noch und ſpreche ihr mein Bedauern
aus. Laß mich in einem Telegramm wiſſen, ob Du
mit allem einverſtanden biſt. Wie immer Deine Effi.“


Effi brachte ſelber den Brief zur Poſt, als ob
ſie dadurch die Antwort beſchleunigen könne, und
am nächſten Vormittage traf denn auch das erbetene
Telegramm von Innſtetten ein: „Einverſtanden mit
allem.“ Ihr Herz jubelte, ſie eilte hinunter und auf
den nächſten Droſchkenſtand zu. „Keithſtraße 1 c.“
Und erſt die Linden und dann die Tiergartenſtraße
hinunter flog die Droſchke, und nun hielt ſie vor
der neuen Wohnung.


Oben ſtanden die den Tag vorher eingetroffenen
Sachen noch bunt durcheinander, aber es ſtörte ſie
nicht, und als ſie auf den breiten aufgemauerten
Balkon hinaustrat, lag jenſeits der Kanalbrücke der
Tiergarten vor ihr, deſſen Bäume ſchon überall einen
grünen Schimmer zeigten. Darüber aber ein klarer
blauer Himmel und eine lachende Sonne.


[353]Effi Brieſt

Sie zitterte vor Erregung und atmete hoch
auf. Dann trat ſie, vom Balkon her, wieder über
die Thürſchwelle zurück, erhob den Blick und faltete
die Hände.


„Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es ſoll
anders werden.“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 23
[[354]]

Vierundzwanzigſtes Kapitel.

Drei Tage danach, ziemlich ſpät, um die
neunte Stunde, traf Innſtetten in Berlin ein.
Alles war am Bahnhof, Effi, die Mama, der
Vetter; der Empfang war herzlich, am herzlichſten
von ſeiten Effi's, und man hatte bereits eine Welt
von Dingen durchgeſprochen, als der Wagen, den
man genommen, vor der neuen Wohnung in der
Keithſtraße hielt. „Ach, da haſt Du gut gewählt,
Effi,“ ſagte Innſtetten, als er in das Veſtibul eintrat,
„kein Haifiſch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein
Spuk.“


„Nein, Geert, damit iſt es nun vorbei. Nun
bricht eine andere Zeit an, und ich fürchte mich nicht
mehr und will auch beſſer ſein als früher und Dir
mehr zu Willen leben.“ Alles das flüſterte ſie ihm
zu, während ſie die teppichbedeckte Treppe bis in den
zweiten Stock hinanſtiegen. Der Vetter führte die
Mama.


[355]Effi Brieſt

Oben fehlte noch manches, aber für einen wohn¬
lichen Eindruck war doch geſorgt, und Innſtetten
ſprach ſeine Freude darüber aus. „Effi, Du biſt doch
ein kleines Genie,“ aber dieſe lehnte das Lob ab und
zeigte auf die Mama, die habe das eigentliche Ver¬
dienſt. „Hier muß es ſtehen,“ ſo hab' es unerbittlich
geheißen, und immer habe ſie's getroffen, wodurch
natürlich viel Zeit geſpart und die gute Laune nie
geſtört worden ſei. Zuletzt kam auch Roswitha, um
den Herrn zu begrüßen, bei welcher Gelegenheit ſie
ſagte: „Fräulein Annie ließe ſich für heute ent¬
ſchuldigen“ — ein kleiner Witz, auf den ſie ſtolz war
und mit dem ſie auch ihren Zweck vollkommen er¬
reichte.


Und nun nahmen ſie Platz um den ſchon ge¬
deckten Tiſch, und als Innſtetten ſich ein Glas Wein
eingeſchenkt und „auf glückliche Tage“ mit allen an¬
geſtoßen hatte, nahm er Effi's Hand und ſagte:
„Aber Effi, nun erzähle mir, was war das mit
Deiner Krankheit?“


„Ach, laſſen wir doch das, nicht der Rede wert;
ein bißchen ſchmerzhaft und eine rechte Störung,
weil es einen Strich durch unſere Pläne machte.
Aber mehr war es nicht, und nun iſt es vorbei.
Rummſchüttel hat ſich bewährt, ein feiner, liebens¬
würdiger, alter Herr, wie ich Dir, glaub' ich, ſchon
23 *[356]Effi Brieſt ſchrieb. In ſeiner Wiſſenſchaft ſoll er nicht gerade
glänzen, aber Mama ſagt, das ſei ein Vorzug. Und
ſie wird wohl recht haben wie in allen Stücken.
Unſer guter Dr. Hannemann war auch kein Licht
und traf es doch immer. Und nun ſage, was macht
Gieshübler und die anderen alle?“


„Ja, wer ſind die anderen alle? Crampas
läßt ſich der gnäd'gen Frau empfehlen . . .“‛


„Ah, ſehr artig.“


„Und der Paſtor will Dir desgleichen empfohlen
ſein; nur die Herrſchaften auf dem Lande waren
ziemlich nüchtern und ſchienen auch mich für Deinen
Abſchied ohne Abſchied verantwortlich machen zu
wollen. Unſere Freundin Sidonie war ſogar ſpitz,
und nur die gute Frau von Padden, zu der ich eigens
vorgeſtern noch hinüberfuhr, freute ſich aufrichtig über
Deinen Gruß und Deine Liebeserklärung an ſie. ‚Du
ſeiſt eine reizende Frau,‘ ſagte ſie, ‚aber ich ſollte Dich gut
hüten.‘ Und als ich ihr erwiderte: ‚Du fändeſt ſchon, daß
ich mehr ein ‚Erzieher‘ als ein Ehemann ſei,‘ ſagte ſie
halblaut und beinahe wie abweſend: ‚Ein junges
Lämmchen weiß wie Schnee.‘ Und dann brach ſie ab.“


Vetter Brieſt lachte. „‚Ein junges Lämmchen
weiß wie Schnee . . .‘ Da hörſt Du's, Couſine.“
Und er wollte ſie zu necken fortfahren, gab es aber
auf, als er ſah, daß ſie ſich verfärbte.


[357]Effi Brieſt

Das Geſpräch, das meiſt zurückliegende Verhält¬
niſſe berührte, ſpann ſich noch eine Weile weiter,
und Effi erfuhr zuletzt aus dieſem und jenem, was
Innſtetten mitteilte, daß ſich von dem ganzen Keſſiner
Hausſtande nur Johanna bereit erklärt habe, die
Überſiedelung nach Berlin mitzumachen. Sie ſei
natürlich noch zurückgeblieben, werde aber in zwei,
drei Tagen mit dem Reſt der Sachen eintreffen; er
ſei froh über ihren Entſchluß, denn ſie ſei immer die
brauchbarſte geweſen und von einem ausgeſprochenen
großſtädtiſchen Chic. Vielleicht ein bißchen zu ſehr.
Kriſtel und Friedrich hätten ſich beide für zu alt
erklärt, und mit Kruſe zu verhandeln, habe ſich von
vorn herein verboten. „Was ſoll uns ein Kutſcher
hier?“ ſchloß Innſtetten, „Pferd und Wagen, das
ſind tempi passati, mit dieſem Luxus iſt es in
Berlin vorbei. Nicht einmal das ſchwarze Huhn
hätten wir unterbringen können. Oder unterſchätz'
ich die Wohnung?“


Effi ſchüttelte den Kopf, und als eine kleine
Pauſe eintrat, erhob ſich die Mama; es ſei bald elf,
und ſie habe noch einen weiten Weg, übrigens ſolle
ſie niemand begleiten, der Droſchkenſtand ſei ja nah
— ein Anſinnen, das Vetter Brieſt natürlich ab¬
lehnte. Bald darauf trennte man ſich, nachdem noch
Rendez-vous für den andern Vormittag verabredet war.


[358]Effi Brieſt

Effi war ziemlich früh auf und hatte — die
Luft war beinahe ſommerlich warm — den Kaffee¬
tiſch bis nahe an die geöffnete Balkonthür rücken
laſſen, und als Innſtetten nun auch erſchien, trat
ſie mit ihm auf den Balkon hinaus und ſagte: „Nun,
was ſagſt Du? Du wollteſt den Finkenſchlag aus
dem Tiergarten hören und die Papageien aus dem
Zoologiſchen. Ich weiß nicht, ob beide Dir den Ge¬
fallen thun werden, aber möglich iſt es. Hörſt Du
wohl? Das kam von drüben, drüben aus dem
kleinen Park. Es iſt nicht der eigentliche Tiergarten,
aber doch beinah'.“


Innſtetten war entzückt und von einer Dankbar¬
keit, als ob Effi ihm das alles perſönlich heran¬
gezaubert habe. Dann ſetzten ſie ſich, und nun kam
auch Annie. Roswitha verlangte, daß Innſtetten eine
große Veränderung an dem Kinde finden ſolle, was
er denn auch ſchließlich that. Und dann plauderten
ſie weiter, abwechſelnd über die Keſſiner und die in
Berlin zu machenden Viſiten, und ganz zuletzt auch
über eine Sommerreiſe. Mitten im Geſpräch aber
mußten ſie abbrechen, um rechtzeitig beim Rendez-vous
erſcheinen zu können.


Man traf ſich, wie verabredet, bei Helms,
gegenüber dem roten Schloß, beſuchte verſchiedene
[359]Effi BrieſtLäden, aß bei Hiller und war bei guter Zeit wieder
zu Haus. Es war ein gelungenes Beiſammenſein
geweſen, Innſtetten herzlich froh, das großſtädtiſche
Leben wieder mitmachen und auf ſich wirken laſſen
zu können. Tags darauf, am 1. April, begab er
ſich in das Kanzlerpalais, um ſich einzuſchreiben (eine
perſönliche Gratulation unterließ er aus Rückſicht),
und ging dann aufs Miniſterium, um ſich da zu
melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem es
ein geſchäftlich und geſellſchaftlich ſehr unruhiger Tag
war, ja, ſah ſich ſeitens ſeines Chefs durch be¬
ſonders entgegenkommende Liebenswürdigkeit aus¬
gezeichnet. „Er wiſſe, was er an ihm habe und ſei
ſicher, ihr Einvernehmen nie geſtört zu ſehen.“


Auch im Hauſe geſtaltete ſich alles zum guten.
Ein aufrichtiges Bedauern war es für Effi, die
Mama, nachdem dieſe, wie gleich anfänglich vermutet,
faſt ſechs Wochen lang in Kur geweſen, nach Hohen-
Cremmen zurückkehren zu ſehen, ein Bedauern, das
nur dadurch einigermaßen gemildert wurde, daß ſich
Johanna denſelben Tag noch in Berlin einſtellte.
Das war immerhin 'was, und wenn die hübſche
Blondine dem Herzen Effi's auch nicht ganz ſo nahe
ſtand wie die ganz ſelbſtſuchtsloſe und unendlich gut¬
mütige Roswitha, ſo war ſie doch gleichmäßig an¬
geſehen, ebenſo bei Innſtetten wie bei ihrer jungen
[360]Effi Brieſt Herrin, weil ſie ſehr geſchickt und brauchbar und
der Männerwelt gegenüber von einer ausgeſprochenen
und ſelbſtbewußten Reſerviertheit war. Einem Keſſiner
on dit zufolge ließen ſich die Wurzeln ihrer Exiſtenz
auf eine längſt penſionierte Größe der Garniſon
Paſewalk zurückführen, woraus man ſich auch ihre
vornehme Geſinnung, ihr ſchönes blondes Haar und
die beſondere Plaſtik ihrer Geſamterſcheinung erklären
wollte. Johanna ſelbſt teilte die Freude, die man
allerſeits über ihr Eintreffen empfand, und war
durchaus einverſtanden damit, als Hausmädchen und
Jungfer, ganz wie früher, den Dienſt bei Effi zu
übernehmen, während Roswitha, die der Kriſtel in
beinahe Jahresfriſt ihre Kochkünſte ſo ziemlich ab¬
gelernt hatte, dem Küchendepartement vorſtehen ſollte.
Annie's Abwartung und Pflege fiel Effi ſelber zu,
worüber Roswitha freilich lachte. Denn ſie kannte
die jungen Frauen.


Innſtetten lebte ganz ſeinem Dienſt und ſeinem
Haus. Er war glücklicher als vordem in Keſſin,
weil ihm nicht entging, daß Effi ſich unbefangener
und heiterer gab. Und das konnte ſie, weil ſie ſich
freier fühlte. Wohl blickte das Vergangene noch in
ihr Leben hinein, aber es ängſtigte ſie nicht mehr,
oder doch um vieles ſeltener und vorübergehender,
und alles, was davon noch in ihr nachzitterte, gab
[361]Effi Brieſt ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem,
was ſie that, lag etwas Wehmütiges wie eine Abbitte,
und es hätte ſie glücklich gemacht, dies alles noch
deutlicher zeigen zu können. Aber das verbot ſich
freilich.


Das geſellſchaftliche Leben der großen Stadt
war, als ſie während der erſten Aprilwochen ihre
Beſuche machten, noch nicht vorüber, wohl aber im
Erlöſchen, und ſo kam es für ſie zu keiner rechten Teil¬
nahme mehr daran. In der zweiten Hälfte des Mai
ſtarb es dann ganz hin, und mehr noch als vorher war
man glücklich, ſich in der Mittagsſtunde, wenn Inn¬
ſtetten von ſeinem Miniſterium kam, im Tiergarten
treffen oder nachmittags einen Spaziergang nach dem
Charlottenburger Schloßgarten machen zu können.
Effi ſah ſich, wenn ſie die lange Front zwiſchen dem
Schloß und den Orangeriebäumen auf und ab ſchritt,
immer wieder die maſſenhaft dortſtehenden römiſchen
Kaiſer an, fand eine merkwürdige Ähnlichkeit zwiſchen
Nero und Titus, ſammelte Tannenäpfel, die von den
Trauertannen gefallen waren, und ging dann, Arm
in Arm mit ihrem Manne, bis auf das nach der
Spree hin einſam gelegene „Belvedere“ zu.


„Da drin ſoll es auch einmal geſpukt haben,“
ſagte ſie.


„Nein, bloß Geiſtererſcheinungen.“


[362]Effi Brieſt

„Das iſt daſſelbe.“


„Ja, zuweilen,“ ſagte Innſtetten. „Aber eigentlich
iſt doch ein Unterſchied. Geiſtererſcheinungen werden
immer gemacht — wenigſtens ſoll es hier in dem
‚Belvedere‘ ſo geweſen ſein, wie mir Vetter Brieſt
erſt geſtern noch erzählte — Spuk aber wird nie
gemacht, Spuk iſt natürlich.“


„Alſo glaubſt Du doch dran?“


„Gewiß glaub' ich dran. Es giebt ſo 'was.
Nur an das, was wir in Keſſin davon hatten, glaub'
ich nicht recht. Hat Dir denn Johanna ſchon ihren
Chineſen gezeigt?“


„Welchen?“


„Nun, unſern. Sie hat ihn, eh' ſie unſer altes
Haus verließ, oben von der Stuhllehne abgelöſt und
ihn ins Portemonnaie gelegt. Als ich mir neulich
ein Markſtück bei ihr wechſelte, hab' ich ihn geſehen.
Und ſie hat es mir auch verlegen beſtätigt.“


„Ach, Geert, das hätteſt Du mir nicht ſagen
ſollen. Nun iſt doch wieder ſo 'was in unſerm
Hauſe.“


„Sag' ihr, daß ſie ihn verbrennt.“


„Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft
auch nichts. Aber ich will Roswitha bitten . . .“


„Um was? Ah, ich verſtehe ſchon, ich ahne,
was Du vorhaſt. Die ſoll ein Heiligenbild kaufen
[363]Effi Brieſt und es dann auch ins Portemonnaie thun. Iſt es
ſo 'was?“


Effi nickte.


„Nun, thu' was Du willſt. Aber ſag' es
niemandem.“


Effi meinte dann ſchließlich, es lieber doch laſſen
zu wollen, und unter allerhand kleinem Geplauder, in
welchem die Reiſepläne für den Sommer mehr und
mehr Platz gewannen, fuhren ſie bis an den großen
Stern zurück und gingen dann durch die Korſo-Allee
und die breite Friedrich-Wilhelmsſtraße auf ihre
Wohnung zu.


Sie hatten vor, ſchon Ende Juli Urlaub zu
nehmen und ins bayeriſche Gebirge zu gehen, wo
gerade in dieſem Jahre wieder die Oberammergauer
Spiele ſtattfanden. Es ließ ſich aber nicht thun;
Geheimrat von Wüllersdorf, den Innſtetten ſchon
von früher her kannte und der jetzt ſein Spezialkollege
war, erkrankte plötzlich, und Innſtetten mußte bleiben
und ihn vertreten. Erſt Mitte Auguſt war alles
wieder beglichen und damit die Reiſemöglichkeit ge¬
geben; es war aber nun zu ſpät geworden, um noch
nach Oberammergau zu gehen, und ſo entſchied man
ſich für einen Aufenthalt auf Rügen. „Zunächſt
natürlich Stralſund, mit Schill, den Du kennſt, und
[364]Effi Brieſtmit Scheele, den Du nicht kennſt und der den Sauer¬
ſtoff entdeckte, was man aber nicht zu wiſſen braucht.
Und dann von Stralſund nach Bergen und dem
Rugard, von wo man, wie mir Wüllersdorf ſagte,
die ganze Inſel überſehen kann, und dann zwiſchen
dem Großen und Kleinen Jaſmunder Bodden hin,
bis nach Saßnitz. Denn nach Rügen reiſen heißt
nach Saßnitz reiſen. Binz ginge vielleicht auch noch,
aber da ſind — ich muß Wüllersdorf noch einmal
zitieren — ſo viele kleine Steinchen und Muſchel¬
ſchalen am Strande, und wir wollen doch baden.“


Effi war einverſtanden mit allem, was von
ſeiten Innſtetten's geplant wurde, vor allem auch
damit, daß der ganze Hausſtand auf vier Wochen
aufgelöſt werden und Roswitha mit Annie nach
Hohen-Cremmen, Johanna aber zu ihrem etwas
jüngeren Halbbruder reiſen ſollte, der bei Paſewalk
eine Schneidemühle hatte. So war alles gut unter¬
gebracht. Mit Beginn der nächſten Woche brach
man denn auch wirklich auf, und am ſelben Abende
noch war man in Saßnitz. Über dem Gaſthauſe
ſtand „Hotel Fahrenheit“. „Die Preiſe hoffentlich
nach Réaumur,“ ſetzte Innſtetten, als er den Namen
las, hinzu, und in beſter Laune machten beide noch
einen Abendſpaziergang an dem Klippenſtrande hin
und ſahen von einem Felſenvorſprung aus auf die
[365]Effi Brieſt ſtille, vom Mondſchein überzitterte Bucht. Effi war
entzückt. „Ach, Geert, das iſt ja Capri, das iſt ja
Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber natürlich nicht
im Hotel; die Kellner ſind mir zu vornehm, und
man geniert ſich, um eine Flaſche Sodawaſſer zu
bitten . . .“


„Ja, lauter Attachés. Es wird ſich aber wohl
eine Privatwohnung finden laſſen.“


„Denk' ich auch. Und wir wollen gleich morgen
danach ausſehen.“


Schön wie der Abend war der Morgen, und
man nahm das Frühſtück im Freien. Innſtetten
empfing etliche Briefe, die ſchnell erledigt werden
mußten, und ſo beſchloß Effi, die für ſie frei ge¬
wordene Stunde ſofort zur Wohnungsſuche zu be¬
nutzen. Sie ging erſt an einer eingepferchten Wieſe,
dann an Häuſergruppen und Haferfeldern vorüber
und bog zuletzt in einen Weg ein, der ſchluchtartig
auf das Meer zulief. Da, wo dieſer Schluchtenweg
den Strand traf, ſtand ein von hohen Buchen über¬
ſchattetes Gaſthaus, nicht ſo vornehm wie das Fahren¬
heit'ſche, mehr ein bloßes Reſtaurant, in dem, der
frühen Stunde halber, noch alles leer war. Effi
nahm an einem Ausſichtspunkte Platz, und kaum daß
ſie von dem Sherry, den ſie beſtellt, genippt hatte,
ſo trat auch ſchon der Wirt an ſie heran, um halb
[366]Effi Brieſtaus Neugier und halb aus Artigkeit ein Geſpräch
mit ihr anzuknüpfen.


„Es gefällt uns ſehr gut hier,“ ſagte ſie, „meinem
Manne und mir; welch' prächtiger Blick über die
Bucht, und wir ſind nur in Sorge wegen einer
Wohnung.“


„Ja, gnädigſte Frau, das wird ſchwer halten . . .“


„Es iſt aber ſchon ſpät im Jahr . . .“


„Trotzdem. Hier in Saßnitz iſt ſicherlich nichts
zu finden, dafür möcht' ich mich verbürgen; aber
weiterhin am Strand, wo das nächſte Dorf anfängt,
Sie können die Dächer von hier aus blinken ſehen,
da möcht' es vielleicht ſein.“


„Und wie heißt das Dorf?“


„Crampas.“


Effi glaubte, nicht recht gehört zu haben.
„Crampas,“ wiederholte ſie mit Anſtrengung. „Ich
habe den Namen als Ortsnamen nie gehört . . .
Und ſonſt nichts in der Nähe?“


„Nein, gnädigſte Frau. Hier herum nichts.
Aber höher hinauf, nach Norden zu, da kommen
noch wieder Dörfer, und in dem Gaſthauſe, das dicht
neben Stubbenkammer liegt, wird man Ihnen gewiß
Auskunft geben können. Es werden dort von ſolchen,
die gerne noch vermieten wollen, immer Adreſſen
abgegeben.“


[367]Effi Brieſt

Effi war froh, das Geſpräch allein geführt zu
haben, und als ſie bald danach ihrem Manne Bericht
erſtattet und nur den Namen des an Saßnitz an¬
grenzenden Dorfes verſchwiegen hatte, ſagte dieſer:
„Nun, wenn es hier herum nichts giebt, ſo wird
es das beſte ſein, wir nehmen einen Wagen (wodurch
man ſich beiläufig einem Hotel immer empfiehlt)
und überſiedeln ohne weiteres da höher hinauf, nach
Stubbenkammer hin. Irgend 'was Idylliſches mit
einer Geisblattlaube wird ſich da wohl finden laſſen,
und finden wir nichts, ſo bleibt uns immer noch
das Hotel ſelbſt. Eins iſt ſchließlich wie das andere.“


Effi war einverſtanden, und gegen Mittag ſchon
erreichten ſie das neben Stubbenkammer gelegene
Gaſthaus, von dem Innſtetten eben geſprochen, und
beſtellten daſelbſt einen Imbiß. „Aber erſt nach
einer halben Stunde; wir haben vor, zunächſt noch
einen Spaziergang zu machen und uns den Hertha¬
ſee anzuſehen. Ein Führer iſt doch wohl da?“


Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren
Jahren trat alsbald an unſere Reiſenden heran.
Er ſah ſo wichtig und feierlich aus, als ob er min¬
deſtens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienſt ge¬
weſen wäre.


Der von hohen Bäumen umſtandene See lag
ganz in der Nähe, Binſen ſäumten ihn ein, und
[368]Effi Brieſtauf der ſtillen, ſchwarzen Waſſerfläche ſchwammen
zahlreiche Mummeln.


„Es ſieht wirklich nach ſo 'was aus.“ ſagte Effi.
„nach Herthadienſt“.


„Ja, gnäd'ge Frau . . . Deſſen ſind auch noch
die Steine Zeugen.“


„Welche Steine?“


„Die Opferſteine.“


Und während ſich das Geſpräch in dieſer Weiſe
fortſetzte, traten alle drei vom See her an eine ſenkrecht
abgeſtochene Kies- und Lehmwand heran, an die ſich
etliche glatt polierte Steine lehnten, alle mit einer flachen
Höhlung und etlichen nach unten laufenden Rinnen.


„Und was bezwecken die?“


„Daß es beſſer abliefe, gnäd'ge Frau.“


„Laß uns gehen,“ ſagte Effi, und den Arm
ihres Mannes nehmend, ging ſie mit ihm wieder
auf das Gaſthaus zurück, wo nun, an einer Stelle
mit weitem Ausblick auf das Meer, das vorher be¬
ſtellte Frühſtück aufgetragen wurde. Die Bucht lag
im Sonnenlichte vor ihnen, einzelne Segelboote glitten
darüber hin, und um die benachbarten Klippen
haſchten ſich die Möven. Es war ſehr ſchön, auch
Effi fand es, aber wenn ſie dann über die
glitzernde Fläche hinwegſah, bemerkte ſie, nach Süden
zu, wieder die hell aufleuchtenden Dächer des lang¬
[369]Effi Brieſt geſtreckten Dorfes, deſſen Name ſie heute früh ſo
ſehr erſchreckt hatte.


Innſtetten, wenn auch ohne Wiſſen und Ahnung
deſſen, was in ihr vorging, ſah doch deutlich, daß es
ihr an aller Luſt und Freude gebrach. „Es thut mir
leid, Effi, daß Du der Sache hier nicht recht froh
wirſt. Du kannſt den Herthaſee nicht vergeſſen und
noch weniger die Steine.“


Sie nickte. „Es iſt ſo wie Du ſagſt. Und
ich muß Dir bekennen, ich habe nichts in meinem
Leben geſehen, was mich ſo traurig geſtimmt hätte.
Wir wollen das Wohnungsſuchen ganz aufgeben;
ich kann hier nicht bleiben.“


„Und geſtern war es Dir noch der Golf von
Neapel und alles mögliche Schöne.“


„Ja, geſtern.“


„Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?“


„Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur;
es iſt Sorrent, als ob es ſterben wollte.“


„Gut dann, Effi,“ ſagte Innſtetten und reichte
ihr die Hand. „Ich will Dich mit Rügen nicht
quälen, und ſo geben wir's denn auf. Abgemacht.
Es iſt nicht nötig, daß wir uns an Stubbenkammer
anklammern oder an Saßnitz oder da weiter hinunter.
Aber wohin?“


„Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und
Th. Fontane, Effi Brieſt. 24[370]Effi Brieſt warten das Dampfſchiff ab, das, wenn ich nicht irre,
morgen von Stettin kommt und nach Kopenhagen
hinüberfährt. Da ſoll es ja ſo vergnüglich ſein, und
ich kann Dir gar nicht ſagen, wie ſehr ich mich nach
etwas Vergnüglichem ſehne. Hier iſt mir, als ob
ich in meinem ganzen Leben nicht mehr lachen könnte
und überhaupt nie gelacht hätte, und Du weißt
doch, wie gern ich lache.“


Innſtetten zeigte ſich voll Teilnahme mit ihrem
Zuſtand, und das um ſo lieber, als er ihr in vielem
recht gab. Es war wirklich alles ſchwermütig, ſo
ſchön es war.


Und ſo warteten ſie denn das Stettiner Schiff
ab und trafen am dritten Tage in aller Frühe in
Kopenhagen ein, wo ſie auf Kongens Nytorv Wohnung
nahmen. Zwei Stunden ſpäter waren ſie ſchon im
Thorwaldſen-Muſeum, und Effi ſagte: „Ja, Geert,
das iſt ſchön, und ich bin glücklich, daß wir uns
hierher auf den Weg gemacht haben.“ Bald danach
gingen ſie zu Tiſch und machten an der Table
d'hote die Bekanntſchaft einer ihnen gegenüber
ſitzenden jütländiſchen Familie, deren bildſchöne
Tochter, Thora von Penz, ebenſo Innſtetten's, wie
Effi's beinah bewundernde Aufmerkſamkeit ſofort in
Anſpruch nahm. Effi konnte ſich nicht ſatt ſehen
an den großen, blauen Augen und dem flachsblonden
[371]Effi Brieſt Haar, und als man ſich nach anderthalb Stunden
von Tiſch erhob, wurde ſeitens der Penz'ſchen Familie
— die leider, denſelben Tag noch, Kopenhagen
wieder verlaſſen mußte — die Hoffnung ausgeſprochen,
das junge preußiſche Paar mit nächſtem in Schloß
Aggerhuus (eine halbe Meile vom Limfjord) begrüßen
zu dürfen, eine Einladung, die von den Innſtetten's
auch ohne langes Zögern angenommen wurde. So
vergingen die Stunden im Hotel. Aber damit war
es nicht genug des Guten an dieſem denkwürdigen
Tage, von dem Effi denn auch verſicherte, daß er im
Kalender rot angeſtrichen werden müſſe. Der Abend
brachte, das Maß des Glücks voll zu machen, eine
Vorſtellung im Tivoli-Theater: eine italieniſche Panto¬
mime, Arlequin und Colombine. Effi war wie be¬
rauſcht von den kleinen Schelmereien, und als ſie
ſpät am Abend nach ihrem Hotel zurückkehrten, ſagte
ſie: „Weißt Du, Geert, nun fühl' ich doch, daß ich
allmählich wieder zu mir komme. Von der ſchönen
Thora will ich gar nicht erſt ſprechen; aber wenn
ich bedenke, heute Vormittag Thorwaldſen und heute
Abend dieſe Colombine . . .“


„. . . Die Dir im Grunde doch noch lieber war
als Thorwaldſen . . .“


„Offen geſtanden, ja. Ich habe nun 'mal den
Sinn für dergleichen. Unſer gutes Keſſin war ein
24 *[372]Effi Brieſt Unglück für mich. Alles fiel mir da auf die Nerven.
Rügen beinah auch. Ich denke, wir bleiben noch
ein paar Tage hier in Kopenhagen, natürlich mit
Ausflug nach Fredericksborg und Helſingör, und dann
nach Jütland hinüber; ich freue mich aufrichtig, die
ſchöne Thora wiederzuſehen, und wenn ich ein Mann
wäre, ſo verliebte ich mich in ſie.“


Innſtetten lachte. „Du weißt noch nicht, was
ich thue.“


„Wär' mir ſchon recht. Dann giebt es einen
Wettſtreit, und Du ſollſt ſehen, dann hab' ich auch
noch meine Kräfte.“


„Das brauchſt Du mir nicht erſt zu verſichern.“


So verlief denn auch die Reiſe. Drüben in
Jütland fuhren ſie den Limfjord hinauf, bis Schloß
Aggerhuus, wo ſie drei Tage bei der Penz'ſchen
Familie verblieben, und kehrten dann mit vielen
Stationen und kürzeren und längeren Aufenthalten
in Viborg, Flensburg, Kiel, über Hamburg (das
ihnen ungemein gefiel) in die Heimat zurück — nicht
direkt nach Berlin in die Keithſtraße, wohl aber vorher
nach Hohen-Cremmen, wo man ſich nun einer wohl¬
verdienten Ruhe hingeben wollte. Für Innſtetten
bedeutete das nur wenige Tage, da ſein Urlaub ab¬
[373]Effi Brieſt gelaufen war, Effi blieb aber noch eine Woche länger
und ſprach es aus, erſt zum dritten Oktober, ihrem
Hochzeitstage, wieder zu Haus eintreffen zu wollen.


Annie war in der Landluft prächtig gediehen,
und was Roswitha geplant hatte, daß ſie der Mama
in Stiefelchen entgegen laufen ſollte, das gelang auch
vollkommen. Brieſt gab ſich als zärtlicher Gro߬
vater, warnte vor zu viel Liebe, noch mehr vor zu
viel Strenge, und war in allem der alte. Eigent¬
lich aber galt all' ſeine Zärtlichkeit doch nur Effi,
mit der er ſich in ſeinem Gemüt immer beſchäftigte,
zumeiſt auch, wenn er mit ſeiner Frau allein war.


„Wie findeſt Du Effi?“


„Lieb und gut wie immer. Wir können Gott
nicht genug danken, eine ſo liebenswürdige Tochter
zu haben. Und wie dankbar ſie für alles iſt und
immer ſo glücklich, wieder unter unſerm Dach zu ſein.“


„Ja,“ ſagte Brieſt, „ſie hat von dieſer Tugend
mehr als mir lieb iſt. Eigentlich iſt es, als wäre
dies hier immer noch ihre Heimſtätte. Sie hat doch
den Mann und das Kind, und der Mann iſt ein
Juwel und das Kind iſt ein Engel, aber dabei thut
ſie als wäre Hohen-Cremmen immer noch die
Hauptſache für ſie, und Mann und Kind kämen
gegen uns beide nicht an. Sie iſt eine prächtige
Tochter, aber ſie iſt es mir zu ſehr. Es ängſtigt
[374]Effi Brieſtmich ein bißchen. Und iſt auch ungerecht gegen
Innſtetten. Wie ſteht es denn eigentlich damit?“


„Ja, Brieſt, was meinſt Du?“


„Nun, ich meine, was ich meine, und Du weißt
auch was. Iſt ſie glücklich? Oder iſt da doch irgend
'was im Wege? Von Anfang an war mir's ſo,
als ob ſie ihn mehr ſchätze als liebe. Und das iſt
in meinen Augen ein ſchlimm Ding. Liebe hält auch
nicht immer vor, aber Schätzung gewiß nicht. Eigent¬
lich ärgern ſich die Weiber, wenn ſie wen ſchätzen
müſſen; erſt ärgern ſie ſich, und dann langweilen
ſie ſich, und zuletzt lachen ſie.“


„Haſt Du ſo 'was an Dir ſelber erfahren?“


„Das will ich nicht ſagen. Dazu ſtand ich
nicht hoch genug in der Schätzung. Aber ſchrauben
wir uns nicht weiter, Luiſe. Sage, wie ſteht es?“


„Ja, Brieſt, Du kommſt immer auf dieſe Dinge
zurück. Da reicht ja kein dutzendmal, daß wir dar¬
über geſprochen und unſere Meinungen ausgetauſcht
haben, und immer biſt Du wieder da mit Deinem
Alles-wiſſen-wollen und fragſt dabei ſo ſchrecklich naiv,
als ob ich in alle Tiefen ſähe. Was haſt Du nur
für Vorſtellungen von einer jungen Frau und ganz
ſpeziell von Deiner Tochter? Glaubſt Du, daß das
alles ſo plan da liegt? Oder daß ich ein Orakel bin
(ich kann mich nicht gleich auf den Namen der Perſon
[375]Effi Brieſt beſinnen) oder daß ich die Wahrheit ſofort klipp und
klar in den Händen halte, wenn mir Effi ihr Herz aus¬
geſchüttet hat? Oder was man wenigſtens ſo nennt.
Denn was heißt ausſchütten? Das Eigentliche bleibt
doch zurück. Sie wird ſich hüten, mich in ihre
Geheimniſſe einzuweihen. Außerdem, ich weiß nicht,
von wem ſie's hat, ſie iſt . . . ja, ſie iſt eine ſehr
ſchlaue kleine Perſon, und dieſe Schlauheit an
ihr iſt um ſo gefährlicher, weil ſie ſo ſehr liebens¬
würdig iſt.“


„Alſo das giebſt Du doch zu . . . liebenswürdig.
Und auch gut?“


„Auch gut. Das heißt voll Herzensgüte. Wie's
ſonſt ſteht, da bin ich mir doch nicht ſicher; ich glaube,
ſie hat einen Zug, den lieben Gott einen guten
Mann ſein zu laſſen und ſich zu tröſten, er werde
wohl nicht allzu ſtreng mit ihr ſein.“


„Meinſt Du?“


„Ja, das mein' ich. Übrigens glaube ich, daß
ſich vieles gebeſſert hat. Ihr Charakter iſt wie er
iſt, aber die Verhältniſſe liegen ſeit ihrer Überſiedlung
um vieles günſtiger, und ſie leben ſich mehr und
mehr in einander ein. Sie hat mir ſo 'was geſagt,
und was mir wichtiger iſt, ich hab' es auch beſtätigt
gefunden, mit Augen geſehen.“


„Nun, was ſagte ſie?“


[376]Effi Brieſt

„Sie ſagte: Mama, es geht jetzt beſſer. Inn¬
ſtetten war immer ein vortrefflicher Mann, ſo einer,
wie's nicht viele giebt, aber ich konnte nicht recht an
ihn heran, er hatte ſo 'was Fremdes. Und fremd
war er auch in ſeiner Zärtlichkeit. Ja, dann am
meiſten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor
fürchtete.“


„Kenn' ich, kenn' ich.“


„Was ſoll das heißen, Brieſt? Soll ich mich
gefürchtet haben oder willſt Du Dich gefürchtet haben?
Ich finde beides gleich lächerlich . . .“


„Du wollteſt von Effi erzählen.“


„Nun alſo, ſie geſtand mir, daß dies Gefühl
des Fremden ſie verlaſſen habe, was ſie ſehr glücklich
mache. Keſſin ſei nicht der rechte Platz für ſie
geweſen, das ſpukige Haus und die Menſchen da,
die einen zu fromm, die andern zu platt, aber ſeit
ihrer Überſiedlung nach Berlin fühle ſie ſich ganz
an ihrem Platz. Er ſei der beſte Menſch, etwas zu
alt für ſie und zu gut für ſie, aber ſie ſei nun über
den Berg. Sie brauchte dieſen Ausdruck, der mir
allerdings auffiel.“


„Wie ſo? Er iſt nicht ganz auf der Höhe,
ich meine der Ausdruck. Aber . . .“


„Es ſteckt etwas dahinter. Und ſie hat mir
das auch andeuten wollen.“


[377]Effi Brieſt

„Meinſt Du?“


„Ja, Brieſt; Du glaubſt immer, ſie könne kein
Waſſer trüben. Aber darin irrſt Du. Sie läßt ſich
gern treiben, und wenn die Welle gut iſt, dann iſt
ſie auch ſelber gut. Kampf und Widerſtand ſind
nicht ihre Sache.“


Roswitha kam mit Annie, und ſo brach das
Geſpräch ab.


Dies Geſpräch führten Brieſt und Frau an dem¬
ſelben Tage, wo Innſtetten von Hohen-Cremmen nach
Berlin hin abgereiſt war, Effi auf wenigſtens noch
eine Woche zurücklaſſend. Er wußte, daß es nichts
Schöneres für ſie gab, als ſo ſorglos in einer
weichen Stimmung hinträumen zu können, immer
freundliche Worte zu hören und die Verſicherung,
wie liebenswürdig ſie ſei. Ja, das war das, was
ihr vor allem wohl that, und ſie genoß es auch
diesmal wieder in vollen Zügen und aufs dankbarſte,
trotzdem jede Zerſtreuung fehlte; Beſuch kam ſelten,
weil es ſeit ihrer Verheiratung, wenigſtens für die
junge Welt, an dem rechten Anziehungspunkte gebrach,
und ſelbſt die Pfarre und die Schule waren nicht
mehr das, was ſie noch vor Jahr und Tag geweſen
waren. Zumal im Schulhauſe ſtand alles halb leer.
Die Zwillinge hatten ſich im Frühjahr an zwei
[378]Effi BrieſtLehrer in der Nähe von Genthin verheiratet, große
Doppelhochzeit mit Feſtbericht im „Anzeiger fürs
Havelland“, und Hulda war in Frieſack zur Pflege
einer alten Erbtante, die ſich übrigens, wie gewöhnlich
in ſolchen Fällen, um ſehr viel langlebiger erwies,
als Niemeyers angenommen hatten. Hulda ſchrieb
aber trotzdem immer zufriedene Briefe, nicht weil ſie
wirklich zufrieden war (im Gegenteil), ſondern weil
ſie den Verdacht nicht aufkommen laſſen wollte, daß
es einem ſo ausgezeichneten Weſen anders als ſehr
gut ergehen könne. Niemeyer, ein ſchwacher Vater,
zeigte die Briefe mit Stolz und Freude, während
der ebenfalls ganz in ſeinen Töchtern lebende Jahnke
ſich herausgerechnet hatte, daß beide junge Frauen
am ſelben Tage, und zwar am Weihnachtsheiligabend,
ihre Niederkunft halten würden. Effi lachte herzlich
und drückte dem Großvater in spe zunächſt den
Wunſch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter geladen
zu werden, ließ dann aber die Familienthemata fallen
und erzählte von „Kjöbenhavn“ und Helſingör, vom
Limfjord und Schloß Aggerhuus, und vor allem von
Thora von Penz, die, wie ſie nur ſagen könne, „typiſch
ſkandinaviſch“ geweſen ſei, blauäugig, flachſen und
immer in einer roten Plüſchtaille, wobei ſich Jahnke
verklärte und einmal über das andere ſagte: „Ja, ſo
ſind ſie; rein germaniſch, viel deutſcher als die Deutſchen.“


[379]Effi Brieſt

An ihrem Hochzeitstage, dem dritten Oktober,
wollte Effi wieder in Berlin ſein. Nun war es der
Abend vorher, und unter dem Vorgeben, daß ſie
packen und alles zur Rückreiſe vorbereiten wolle,
hatte ſie ſich ſchon verhältnismäßig früh auf ihr Zimmer
zurückgezogen. Eigentlich lag ihr aber nur daran,
allein zu ſein; ſo gern ſie plauderte, ſo hatte ſie doch
auch Stunden, wo ſie ſich nach Ruhe ſehnte.


Die von ihr im Oberſtock bewohnten Zimmer
lagen nach dem Garten hinaus; in dem kleineren
ſchlief Roswitha und Annie, die Thür nur angelehnt,
in dem größeren, das ſie ſelber inne hatte, ging ſie
auf und ab; die unteren Fenſterflügel waren geöffnet,
und die kleinen weißen Gardinen bauſchten ſich in
dem Zuge, der ging, und fielen dann langſam über
die Stuhllehne, bis ein neuer Zugwind kam und ſie
wieder frei machte. Dabei war es ſo hell, daß
man die Unterſchriften unter den über dem Sofa
hängenden und in ſchmale Goldleiſten eingerahmten
Bildern deutlich leſen konnte: „Der Sturm auf
Düppel, Schanze V“, und daneben: „König Wilhelm
und Graf Bismarck auf der Höhe von Lipa“. Effi
ſchüttelte den Kopf und lächelte. „Wenn ich wieder
hier bin, bitt' ich mir andere Bilder aus; ich kann
ſo 'was Kriegeriſches nicht leiden.“ Und nun ſchloß
ſie das eine Fenſter und ſetzte ſich an das andere,
[380]Effi Brieſtdeſſen Flügel ſie offen ließ. Wie that ihr das alles
ſo wohl. Neben dem Kirchturm ſtand der Mond
und warf ſein Licht auch auf den Raſenplatz mit
der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles
ſchimmerte ſilbern, und neben den Schattenſtreifen
lagen weiße Lichtſtreifen, ſo weiß, als läge Leinwand
auf der Bleiche. Weiterhin aber ſtanden die hohen
Rhabarberſtauden wieder, die Blätter herbſtlich gelb,
und ſie mußte des Tages gedenken, nun erſt wenig
über zwei Jahre, wo ſie hier mit Hulda und den
Jahnke'ſchen Mädchen geſpielt hatte. Und dann war
ſie, als der Beſuch kam, die kleine Steintreppe neben
der Bank hinaufgeſtiegen, und eine Stunde ſpäter
war ſie Braut.


Sie erhob ſich und ging auf die Thür zu und
horchte; Roswitha ſchlief ſchon und Annie auch.


Und mit einemmale, während ſie das Kind ſo
vor ſich hatte, traten ungerufen allerlei Bilder aus
den Keſſiner Tagen wieder vor ihre Seele: das land¬
rätliche Haus mit ſeinem Giebel und die Veranda
mit dem Blick auf die Plantage, und ſie ſaß im
Schaukelſtuhl und wiegte ſich; und nun trat Crampas
an ſie heran, um ſie zu begrüßen, und dann kam
Roswitha mit dem Kinde, und ſie nahm es und hob
es hoch in die Höhe und küßte es.


„Das war der erſte Tag; da fing es an.“ Und
[381]Effi Brieſt während ſie dem nachhing, verließ ſie das Zimmer,
drin die beiden ſchliefen, und ſetzte ſich wieder an
das offene Fenſter und ſah in die ſtille Nacht hinaus.


„Ich kann es nicht los werden,“ ſagte ſie. „Und
was das ſchlimmſte iſt und mich ganz irre macht
an mir ſelbſt . . .“


In dieſem Augenblicke ſetzte die Turmuhr drüben
ein, und Effi zählte die Schläge.


„Zehn . . . Und morgen um dieſe Stunde bin
ich in Berlin. Und wir ſprechen davon, daß unſer
Hochzeitstag ſei, und er ſagt mir Liebes und Freund¬
liches und vielleicht Zärtliches. Und ich ſitze dabei
und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.“


Und ſie ſtützte den Kopf auf ihre Hand und
ſtarrte vor ſich hin und ſchwieg.


„Und habe die Schuld auf meiner Seele,“
wiederholte ſie. „Ja, da hab' ich ſie. Aber
laſtet ſie auch auf meiner Seele? Nein. Und
das iſt es, warum ich vor mir ſelbſt erſchrecke. Was
da laſtet, das iſt etwas ganz anderes — Angſt, Todes¬
angſt und die ewige Furcht: es kommt doch am
Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angſt . . .
Scham. Ich ſchäme mich. Aber wie ich nicht die rechte
Reue habe, ſo hab' ich auch nicht die rechte Scham.
Ich ſchäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug
und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich
[382]Effi Brieſtnicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche,
lügen iſt ſo gemein, und nun habe ich doch immer
lügen müſſen, vor ihm und vor aller Welt, im großen
und im kleinen, und Rummſchüttel hat es gemerkt
und hat die Achſeln gezuckt, und wer weiß was er
von mir denkt, jedenfalls nicht das beſte. Ja, Angſt
quält mich und dazu Scham über mein Lügenſpiel.
Aber Scham über meine Schuld, die hab' ich nicht
oder doch nicht ſo recht oder doch nicht genug, und
das bringt mich um, daß ich ſie nicht habe. Wenn
alle Weiber ſo ſind, dann iſt es ſchrecklich, und wenn
ſie nicht ſo ſind, wie ich hoffe, dann ſteht es ſchlecht
um mich, dann iſt etwas nicht in Ordnung in meiner
Seele, dann fehlt mir das richtige Gefühl. Und
das hat mir der alte Niemeyer in ſeinen guten Tagen
noch, als ich noch ein halbes Kind war, 'mal geſagt:
auf ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und
wenn man das habe, dann könne einem das ſchlimmſte
nicht paſſieren, und wenn man es nicht habe, dann
ſei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man
den Teufel nenne, das habe dann eine ſichere Macht
über uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen, ſteht
es ſo mit mir.“


Und ſie legte den Kopf in ihre Arme und weinte
bitterlich.


Als ſie ſich wieder aufrichtete, war ſie ruhiger
[383]Effi Brieſt geworden und ſah wieder in den Garten hinaus.
Alles war ſo ſtill, und ein leiſer, feiner Ton, wie
wenn es regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr.


So verging eine Weile. Herüber von der Dorf¬
ſtraße klang ein Geplärr: der alte Nachtwächter
Kulicke rief die Stunden ab, und als er zuletzt ſchwieg,
vernahm ſie von fernher, aber immer näher kommend,
das Raſſeln des Zuges, der, auf eine halbe Meile
Entfernung, an Hohen-Cremmen vorüber fuhr. Dann
wurde der Lärm wieder ſchwächer, endlich erſtarb er
ganz, und nur der Mondſchein lag noch auf dem
Grasplatz, und nur auf die Platanen rauſchte es
nach wie vor wie leiſer Regen nieder.


Aber es war nur die Nachtluft, die ging.

[[384]]

Fünfundzwanzigſtes Kapitel.

Am andern Abend war Effi wieder in Berlin,
und Innſtetten empfing ſie am Bahnhof, mit ihm
Rollo, der, als ſie plaudernd durch den Tiergarten
hinfuhren, nebenher trabte.


„Ich dachte ſchon, Du würdeſt nicht Wort halten.“


„Aber Geert, ich werde doch Wort halten, das
iſt doch das erſte.“


„Sage das nicht. Immer Wort halten, iſt ſehr
viel. Und mitunter kann man auch nicht. Denke
doch zurück. Ich erwartete Dich damals in Keſſin,
als Du die Wohnung mieteteſt, und wer nicht kam,
war Effi.“


„Ja, das war 'was anderes.“


Sie mochte nicht ſagen „ich war krank,“ und
Innſtetten hörte drüber hin. Er hatte ſeinen Kopf
auch voll anderer Dinge, die ſich auf ſein Amt und
ſeine geſellſchaftliche Stellung bezogen. „Eigentlich,
Effi, fängt unſer Berliner Leben nun erſt an. Als
[385]Effi Brieſt wir im April hier einzogen, damals ging es mit
der Saiſon auf die Neige, kaum noch daß wir unſere
Beſuche machen konnten, und Wüllersdorf, der einzige,
dem wir näher ſtanden — nun, der iſt leider Jung¬
geſelle. Von Juni an ſchläft dann alles ein, und
die heruntergelaſſenen Rouleaux verkünden einem
ſchon auf hundert Schritt ,Alles ausgeflogen‘; ob
wahr oder nicht, macht keinen Unterſchied . . . Ja,
was blieb da noch? Mal mit Vetter Brieſt ſprechen,
'mal bei Hiller eſſen, das iſt kein richtiges Berliner
Leben. Aber nun ſoll es anders werden. Ich habe
mir die Namen aller Räte notiert, die noch mobil
genug ſind, um ein Haus zu machen. Und wir
wollen es auch, wollen auch ein Haus machen,
und wenn der Winter dann da iſt, dann ſoll es im
ganzen Miniſterium heißen: ,Ja, die liebenswürdigſte
Frau, die wir jetzt haben, das iſt doch die Frau von
Innſtetten‘.“


„Ach, Geert, ich kenne Dich ja gar nicht wieder,
Du ſprichſt ja wie ein Courmacher.“


„Es iſt unſer Hochzeitstag, und da mußt Du
mir ſchon 'was zu gute halten.“


Innſtetten war ernſthaft gewillt, auf das ſtille
Leben, das er in ſeiner landrätlichen Stellung ge¬
führt, ein geſellſchaftlich angeregteres folgen zu laſſen,
Th. Fontane, Effi Brieſt. 25[386]Effi Brieſtum ſeinet- und noch mehr um Effi's willen; es ließ
ſich aber anfangs nur ſchwach und vereinzelt damit
an, die rechte Zeit war noch nicht gekommen, und das
beſte, was man zunächſt von dem neuen Leben hatte,
war genau ſo wie während des zurückliegenden
Halbjahres, ein Leben im Hauſe. Wüllersdorf kam
oft, auch Vetter Brieſt, und waren die da, ſo ſchickte
man zu Gizicki's hinauf, einem jungen Ehepaare,
das über ihnen wohnte. Gizicki ſelbſt war Land¬
gerichtsrat, ſeine kluge, aufgeweckte Frau ein Fräu¬
lein von Schmettau. Mitunter wurde muſiziert,
kurze Zeit ſogar ein Whiſt verſucht; man gab es
aber wieder auf, weil man fand, daß eine Plauderei
gemütlicher wäre. Gizicki's hatten bis vor kurzem
in einer kleinen oberſchleſiſchen Stadt gelebt, und
Wüllersdorf war ſogar, freilich vor einer Reihe von
Jahren ſchon, in den verſchiedenſten kleinen Neſtern
der Provinz Poſen geweſen, weshalb er denn auch
den bekannten Spottvers:

Schrimm

Iſt ſchlimm,

Rogaſen

Zum Raſen,

Aber weh' dir nach Samter

Verdammter —

mit ebenſo viel Emphaſe wie Vorliebe zu zitieren
pflegte. Niemand erheiterte ſich dabei mehr als Effi,
[387]Effi Brieſtwas dann meiſtens Veranlaſſung wurde, kleinſtädtiſche
Geſchichten in Hülle und Fülle folgen zu laſſen.
Auch Keſſin mit Gieshübler und der Trippelli, mit
Oberförſter Ring und Sidonie Graſenabb — kam
dann wohl an die Reihe, wobei ſich Innſtetten, wenn
er guter Laune war, nicht leicht genug thun konnte.
„Ja,“ ſo hieß es dann wohl, „unſer gutes Keſſin!
Das muß ich zugeben, es war eigentlich reich an
Figuren, obenan Crampas, Major Crampas, ganz
Beau und halber Barbaroſſa, den meine Frau, ich
weiß nicht, ſoll ich ſagen unbegreiflicher oder be¬
greiflicher Weiſe, ſtark in Affektion genommen hatte . . .“
— „Sagen wir begreiflicher Weiſe,“ warf Wüllers¬
dorf ein, „denn ich nehme an, daß er Reſſourcen¬
vorſtand war und Komödie ſpielte, Liebhaber oder
Bonvivants. Und vielleicht noch mehr, vielleicht war
er auch ein Tenor.“ Innſtetten beſtätigte das eine
wie das andere, und Effi ſuchte lachend darauf ein¬
zugehen, aber es gelang ihr nur mit Anſtrengung,
und wenn dann die Gäſte gingen und Innſtetten
ſich in ſein Zimmer zurückzog, um noch einen Stoß
Akten abzuarbeiten, ſo fühlte ſie ſich immer aufs
neue von den alten Vorſtellungen gequält, und es
war ihr zu Sinn, als ob ihr ein Schatten nachginge.


Solche Beängſtigungen blieben ihr auch. Aber
ſie kamen doch ſeltener und ſchwächer, was bei der
25 *[388]Effi BrieſtArt, wie ſich ihr Leben geſtaltete, nicht Wunder
nehmen konnte. Die Liebe, mit der ihr nicht nur
Innſtetten, ſondern auch fernerſtehende Perſonen be¬
gegneten, und nicht zum wenigſten die beinah zärt¬
liche Freundſchaft, die die Miniſterin, eine ſelbſt noch
junge Frau, für ſie an den Tag legte — all' das
ließ die Sorgen und Ängſte zurückliegender Tage
ſich wenigſtens mindern, und als ein zweites Jahr
ins Land gegangen war und die Kaiſerin, bei Ge¬
legenheit einer neuen Stiftung, die „Frau Geheim¬
rätin“ mit ausgewählt und in die Zahl der Ehren¬
damen eingereiht, der alte Kaiſer Wilhelm aber auf
dem Hofball gnädige, huldvolle Worte an die ſchöne,
junge Frau, „von der er ſchon gehört habe“, gerichtet
hatte, da fiel es allmählich von ihr ab. Es war
einmal geweſen, aber weit, weit weg, wie auf einem
andern Stern, und alles löſte ſich wie ein Nebelbild
und wurde Traum.


Die Hohen-Cremmener kamen dann und wann
auf Beſuch und freuten ſich des Glücks der Kinder,
Annie wuchs heran — „ſchön wie die Großmutter,“
ſagte der alte Brieſt — und wenn es an dem klaren
Himmel eine Wolke gab, ſo war es die, daß es, wie
man nun beinahe annehmen mußte, bei Klein-Annie
ſein Bewenden haben werde; Haus Innſtetten (denn
es gab nicht einmal Namensvettern) ſtand alſo
[389]Effi Brieſtmutmaßlich auf dem Ausſterbeetat. Brieſt, der den
Fortbeſtand anderer Familien obenhin behandelte,
weil er eigentlich nur an die Brieſt's glaubte, ſcherzte
mitunter darüber und ſagte: „Ja, Innſtetten, wenn
das ſo weiter geht, ſo wird Annie ſeiner Zeit wohl
einen Bankier heiraten (hoffentlich einen chriſtlichen,
wenn's deren dann noch giebt) und mit Rückſicht
auf das alte freiherrliche Geſchlecht der Innſtetten
wird dann Seine Majeſtät Annie's Haute finance-
Kinder unter dem Namen ,von der Innſtetten‘ im
Gothaiſchen Kalender, oder was weniger wichtig iſt,
in der preußiſchen Geſchichte fortleben laſſen“ —
Ausführungen, die von Innſtetten ſelbſt immer mit
einer kleinen Verlegenheit, von Frau von Brieſt mit
Achſelzucken, von Effi dagegen mit Heiterkeit auf¬
genommen wurden. Denn ſo adelsſtolz ſie war, ſo
war ſie's doch nur für ihre Perſon, und ein eleganter
und welterfahrener und vor allem ſehr, ſehr reicher
Bankierſchwiegerſohn wäre durchaus nicht gegen ihre
Wünſche geweſen.


Ja, Effi nahm die Erbfolgefrage leicht, wie
junge, reizende Frauen das thun; als aber eine
lange, lange Zeit — ſie waren ſchon im ſiebenten
Jahre in ihrer neuen Stellung — vergangen war,
wurde der alte Rummſchüttel, der auf dem Gebiete
der Gynäkologie nicht ganz ohne Ruf war, durch
[390]Effi Brieſt Frau von Brieſt doch ſchließlich zu Rate gezogen.
Er verordnete Schwalbach. Weil aber Effi ſeit
letztem Winter auch an katarrhaliſchen Affektionen
litt und ein paarmal ſogar auf Lunge hin behorcht
worden war, ſo hieß es abſchließend: „Alſo zunächſt
Schwalbach, meine Gnädigſte, ſagen wir drei Wochen
und dann ebenſo lange Ems. Bei der Emſer Kur
kann aber der Geheimrat zugegen ſein. Bedeutet
mithin alles in allem drei Wochen Trennung. Mehr
kann ich für Sie nicht thun, lieber Innſtetten.“


Damit war man denn auch einverſtanden, und
zwar ſollte Effi, dahin ging ein weiterer Beſchluß, die
Reiſe mit einer Geheimrätin Zwicker zuſammen
machen, wie Brieſt ſagte „zum Schutze dieſer letzteren,“
worin er nicht ganz unrecht hatte, da die Zwicker,
trotz guter vierzig, eines Schutzes erheblich be¬
dürftiger war als Effi. Innſtetten, der wieder viel
mit Vertretung zu thun hatte, beklagte, daß er, von
Schwalbach gar nicht zu reden, wahrſcheinlich auch
auf gemeinſchaftliche Tage in Ems werde verzichten
müſſen. Im übrigen wurde der 24. Juni (Johannis¬
tag) als Abreiſetag feſtgeſetzt, und Roswitha half
der gnädigen Frau beim Packen und Aufſchreiben
der Wäſche. Effi hatte noch immer die alte Liebe
für ſie, war doch Roswitha die einzige, mit der ſie
von all' dem Zurückliegenden, von Keſſin und
[391]Effi Brieſt Crampas, von dem Chineſen und Kapitän Thomſen's
Nichte frei und unbefangen reden konnte.


„Sage, Roswitha, Du biſt doch eigentlich katho¬
liſch. Gehſt Du denn nie zur Beichte?“


„Nein.“


„Warum nicht?“


„Ich bin früher gegangen. Aber das richtige
hab' ich doch nicht geſagt.“


„Das iſt ſehr unrecht. Dann freilich kann es
nicht helfen.“


„Ach, gnädigſte Frau, bei mir im Dorfe machten
es alle ſo. Und welche waren, die kicherten bloß.“


„Haſt Du denn nie empfunden, daß es ein
Glück iſt, wenn man etwas auf der Seele hat, daß
es 'runter kann?“


„Nein, gnädigſte Frau. Angſt habe ich wohl
gehabt, als mein Vater damals mit dem glühenden
Eiſen auf mich los kam; ja, das war eine große
Furcht, aber weiter war es nichts.“


„Nicht vor Gott?“


„Nicht ſo recht, gnädigſte Frau. Wenn man
ſich vor ſeinem Vater ſo fürchtet, wie ich mich ge¬
fürchtet habe, dann fürchtet man ſich nicht ſo ſehr
vor Gott. Ich habe bloß immer gedacht, der liebe
Gott ſei gut und werde mir armem Wurm ſchon
helfen.“


[392]Effi Brieſt

Effi lächelte und brach ab und fand es auch
natürlich, daß die arme Roswitha ſo ſprach, wie ſie
ſprach. Sie ſagte aber doch: „Weißt Du, Roswitha,
wenn ich wiederkomme, müſſen wir doch noch 'mal
ernſtlich drüber reden. Es war doch eigentlich eine
große Sünde.“


„Das mit dem Kinde, und daß es verhungert
iſt? Ja, gnädigſte Frau, das war es. Aber ich
war es ja nicht, das waren ja die anderen . . .
Und dann iſt es auch ſchon ſo ſehr lange her.“

[[393]]

Sechsundzwanzigſtes Kapitel.

Effi war nun ſchon in die fünfte Woche fort
und ſchrieb glückliche, beinahe übermütige Briefe,
namentlich ſeit ihrem Eintreffen in Ems, wo man
doch unter Menſchen ſei, das heißt unter Männern,
von denen ſich in Schwalbach nur ausnahmsweiſe was
gezeigt habe. Geheimrätin Zwicker, ihre Reiſegefährtin,
habe freilich die Frage nach dem Kurgemäßen dieſer
Zuthat aufgeworfen und ſich aufs entſchiedenſte da¬
gegen ausgeſprochen, alles natürlich mit einem
Geſichtsausdrucke, der ſo ziemlich das Gegenteil
verſichert habe; die Zwicker ſei reizend, etwas frei,
wahrſcheinlich ſogar mit einer Vergangenheit, aber
höchſt amüſant, und man könne viel, ſehr viel von
ihr lernen; nie habe ſie ſich, trotz ihrer fünfund¬
zwanzig, ſo als Kind gefühlt, wie nach der Bekannt¬
ſchaft mit dieſer Dame. Dabei ſei ſie ſo beleſen,
auch in fremder Litteratur, und als ſie, Effi, beiſpiels¬
weiſe neulich von Nana geſprochen und dabei gefragt
[394]Effi Brieſt habe, „ob es denn wirklich ſo ſchrecklich ſei,“ habe die
Zwicker geantwortet: „Ach, meine liebe Baronin, was
heißt ſchrecklich? Da giebt es noch ganz anderes?“
„Sie ſchien mich auch,“ ſo ſchloß Effi ihren Brief,
„mit dieſem ,anderen‘ bekannt machen zu wollen.
Ich habe es aber abgelehnt, weil ich weiß, daß Du
die Unſitte unſerer Zeit aus dieſem und ähnlichem
herleiteſt, und wohl mit Recht. Leicht iſt es mir
aber nicht geworden. Dazu kommt noch', daß
Ems in einem Keſſel liegt. Wir leiden hier außer¬
ordentlich unter der Hitze.“


Innſtetten hatte dieſen letzten Brief mit geteilten
Empfindungen geleſen, etwas erheitert, aber doch auch
ein wenig mißmutig. Die Zwicker war keine Frau
für Effi, der nun 'mal ein Zug innewohnte, ſich nach
links hin treiben zu laſſen; er gab es aber auf,
irgend was in dieſem Sinne zu ſchreiben, einmal
weil er ſie nicht verſtimmen wollte, mehr noch, weil
er ſich ſagte, daß es doch nichts helfen würde. Dabei
ſah er der Rückkehr ſeiner Frau mit Sehnſucht ent¬
gegen und beklagte des Dienſtes nicht bloß „immer
gleichgeſtellte“, ſondern jetzt, wo jeder Miniſterialrat
fort war oder fort wollte, leider auch auf Doppel¬
ſtunden geſtellte Uhr.


Ja, Innſtetten ſehnte ſich nach Unterbrechung
von Arbeit und Einſamkeit, und verwandte Gefühle
[395]Effi Brieſt hegte man draußen in der Küche, wo Annie, wenn
die Schulſtunden hinter ihr lagen, ihre Zeit am
liebſten verbrachte, was inſoweit ganz natürlich war,
als Roswitha und Johanna nicht nur das kleine
Fräulein in gleichem Maße liebten, ſondern auch
unter einander nach wie vor auf dem beſten Fuße
ſtanden. Dieſe Freundſchaft der beiden Mädchen
war ein Lieblingsgeſpräch zwiſchen den verſchiedenen
Freunden des Hauſes, und Landgerichtsrat Gizicki
ſagte dann wohl zu Wüllersdorf: „Ich ſehe darin
nur eine neue Beſtätigung des alten Weisheitsſatzes:
,Laßt fette Leute um mich ſein‘; — Cäſar war eben
ein Menſchenkenner und wußte, daß Dinge, wie Be¬
haglichkeit und Umgänglichkeit, eigentlich nur beim
Embonpoint ſind.“ Von einem ſolchen ließ ſich denn
nun bei beiden Mädchen auch wirklich ſprechen, nur
mit dem Unterſchiede, daß das in dieſem Falle nicht
gut zu umgehende Fremdwort bei Roswitha ſchon
ſtark eine Beſchönigung, bei Johanna dagegen einfach
die zutreffende Bezeichnung war. Dieſe letztere durfte
man nämlich nicht eigentlich korpulent nennen, ſie
war nur prall und drall und ſah jederzeit mit einer
eigenen, ihr übrigens durchaus kleidenden Siegermiene
gradlinig und blauäugig über ihre Normalbüſte fort.
Von Haltung und Anſtand getragen, lebte ſie ganz in
dem Hochgefühl, die Dienerin eines guten Hauſes
[396]Effi Brieſt zu ſein, wobei ſie das Überlegenheitsbewußtſein über
die halb bäueriſch gebliebene Roswitha in einem ſo
hohen Maße hatte, daß ſie, was gelegentlich vorkam,
die momentan bevorzugte Stellung dieſer nur be¬
lächelte. Dieſe Bevorzugung, — nun ja, wenn's
dann 'mal ſo ſein ſollte, war eine kleine liebens¬
würdige Sonderbarkeit der gnädigen Frau, die man
der guten alten Roswitha mit ihrer ewigen Geſchichte
„von dem Vater mit der glühenden Eiſenſtange“ ſchon
gönnen konnte. „Wenn man ſich beſſer hält, ſo kann
dergleichen nicht vorkommen.“ Das alles dachte ſie,
ſprach's aber nicht aus. Es war eben ein freund¬
liches Miteinanderleben. Was aber wohl ganz
beſonders für Frieden und gutes Einvernehmen
ſorgte, das war der Umſtand, daß man ſich, nach
einem ſtillen Übereinkommen, in die Behandlung
und faſt auch Erziehung Annie's geteilt hatte.
Roswitha hatte das poetiſche Departement, die
Märchen- und Geſchichtenerzählung, Johanna da¬
gegen das des Anſtands, eine Teilung, die hüben
und drüben ſo feſt gewurzelt ſtand, daß Kompetenz¬
konflikte kaum vorkamen, wobei der Charakter Annie's,
die eine ganz entſchiedene Neigung hatte, das vor¬
nehme Fräulein zu betonen, allerdings mithalf, eine
Rolle, bei der ſie keine beſſere Lehrerin als Johanna
haben konnte.


[397]Effi Brieſt

Noch einmal alſo: Beide Mädchen waren gleich¬
wertig in Annie's Augen. In dieſen Tagen aber,
wo man ſich auf die Rückkehr Effi's vorbereitete,
war Roswitha der Rivalin 'mal wieder um einen
Pas voraus, weil ihr, und zwar als etwas ihr Zu¬
ſtändiges, die ganze Begrüßungsangelegenheit zu¬
gefallen war. Dieſe Begrüßung zerfiel in zwei
Hauptteile: Guirlande mit Kranz und dann, ab¬
ſchließend, Gedichtvortrag. Kranz und Guirlande, —
nachdem man über „W.“ oder „E. J.“ eine
zeitlang geſchwankt, — hatte zuletzt keine ſonder¬
lichen Schwierigkeiten gemacht („W.“, in Vergi߬
meinnicht geflochten, war bevorzugt worden), aber
deſto größere Verlegenheit ſchien die Gedichtfrage
heraufbeſchwören zu ſollen und wäre vielleicht
ganz unbeglichen geblieben, wenn Roswitha nicht
den Mut gehabt hätte, den von einer Gerichts¬
ſitzung heimkehrenden Landgerichtsrat auf der zweiten
Treppe zu ſtellen und ihm mit einem auf einen
„Vers“ gerichteten Anſinnen mutig entgegenzu¬
treten. Gizicki, ein ſehr gütiger Herr, hatte
ſofort alles verſprochen, und noch am ſelben
Spätnachmittage war ſeitens ſeiner Köchin der
gewünſchte Vers und zwar folgenden Inhalts
abgegeben worden:


[398]Effi Brieſt
Mama, wir erwarten Dich lange ſchon,

Durch Wochen und Tage und Stunden,

Nun grüßen wir Dich von Flur und Balkon

Und haben Kränze gewunden.

Nun lacht Papa voll Freudigkeit,

Denn die gattin- und mutterloſe Zeit

Iſt endlich von ihm genommen,

Und Roswitha lacht und Johanna dazu,

Und Annie ſpringt aus ihrem Schuh

Und ruft: willkommen, willkommen.

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Strophe
noch an demſelben Abend auswendig gelernt, aber
doch nebenher auch auf ihre Schönheit, beziehungsweiſe
Nicht-Schönheit kritiſch geprüft worden war. Das Be¬
tonen von Gattin und Mutter, ſo hatte ſich Johanna
geäußert, erſcheine zunächſt freilich nur in der Ordnung;
aber es läge doch auch etwas darin, was Anſtoß
erregen könne, und ſie perſönlich würde ſich als
„Gattin und Mutter“ dadurch verletzt fühlen. Annie,
durch dieſe Bemerkung einigermaßen geängſtigt, ver¬
ſprach, das Gedicht am andern Tage der Klaſſen¬
lehrerin vorlegen zu wollen und kam mit dem Bemerken
zurück: „Das Fräulein ſei mit ,Gattin und Mutter‘
durchaus einverſtanden, aber deſto mehr gegen ,Ros¬
witha und Johanna‘ geweſen,“ — worauf Roswitha
erklärt hatte: „Das Fräulein ſei eine dumme Gans;
das käme davon, wenn man zuviel gelernt habe.“


[399]Effi Brieſt

Es war an einem Mittwoch, daß die Mädchen
und Annie das vorſtehende Geſpräch geführt und
den Streit um die bemängelte Zeile beigelegt hatten.
Am andern Morgen — ein erwarteter Brief Effi's
hatte noch den mutmaßlich erſt in den Schluß der
nächſten Woche fallenden Ankunftstag feſtzuſtellen —
ging Innſtetten auf das Miniſterium. Jetzt war
Mittag heran, die Schule aus, und als Annie, ihre
Mappe auf dem Rücken, eben vom Kanal her auf
die Keithſtraße zuſchritt, traf ſie Roswitha vor ihrer
Wohnung.


„Nun laß ſehen,“ ſagte Annie, „wer am eheſten
von uns die Treppe heraufkommt.“ Roswitha wollte
von dieſem Wettlauf nichts wiſſen, aber Annie jagte
voran, geriet, oben angekommen, ins Stolpern und
fiel dabei ſo unglücklich, daß ſie mit der Stirn auf
den dicht an der Treppe befindlichen Abkratzer aufſchlug
und ſtark blutete. Roswitha, mühevoll nachkeuchend,
riß jetzt die Klingel, und als Johanna das etwas
verängſtigte Kind hineingetragen hatte, beratſchlagte
man, was nun wohl zu machen ſei. „Wir wollen
nach dem Doktor ſchicken, . . . wir wollen nach dem
gnädigen Herrn ſchicken . . . des Portiers Lene muß
ja jetzt auch aus der Schule wieder da ſein.“ Es
wurde aber alles wieder verworfen, weil es zu lange
dauere, man müſſe gleich 'was thun, und ſo packte
[400]Effi Brieſtman denn das Kind aufs Sofa und begann, mit
kaltem Waſſer zu kühlen. Alles ging auch gut, ſo daß
man ſich zu beruhigen begann. „Und nun wollen
wir ſie verbinden,“ ſagte ſchließlich Roswitha. „Da
muß ja noch die lange Binde ſein, die die gnädige
Frau letzten Winter zuſchnitt, als ſie ſich auf dem
Eiſe den Fuß verknickt hatte . . .“ „Freilich, freilich,“
ſagte Johanna, „bloß wo die Binde hernehmen? . . .
Richtig, da fällt mir ein, die liegt im Nähtiſch. Er
wird wohl zu ſein, aber das Schloß iſt Spielerei;
holen Sie nur das Stemmeiſen, Roswitha, wir wollen
den Deckel aufbrechen.“ Und nun wuchteten ſie auch
wirklich den Deckel ab und begannen, in den Fächern
umherzukramen, oben und unten, die zuſammengerollte
Binde jedoch wollte ſich nicht finden laſſen. „Ich weiß
aber doch, daß ich ſie geſehn habe,“ ſagte Roswitha,
und während ſie halb ärgerlich immer weiter ſuchte,
flog alles, was ihr dabei zu Händen kam, auf das
breite Fenſterbrett: Nähzeug, Nadelkiſſen, Rollen mit
Zwirn und Seide, kleine vertrocknete Veilchenſträußchen,
Karten, Billets, zuletzt ein kleines [Konvolut] von Briefen,
das unter dem dritten Einſatz gelegen hatte, ganz unten,
mit einem roten Seidenfaden umwickelt. Aber die
Binde hatte man noch immer nicht.


In dieſem Augenblicke trat Innſtetten ein.


„Gott,“ ſagte Roswitha und ſtellte ſich erſchreckt
[401]Effi Brieſt neben das Kind. „Es iſt nichts, gnädiger Herr;
Annie iſt auf das Kratzeiſen gefallen . . . Gott,
was wird die gnädige Frau ſagen. Und doch iſt
es ein Glück, daß ſie nicht mit dabei war.“


Innſtetten hatte mittlerweile die vorläufig auf¬
gelegte Kompreſſe fortgenommen und ſah, daß es
ein tiefer Riß, ſonſt aber ungefährlich war. „Es iſt
nicht ſchlimm,“ ſagte er; „trotzdem, Roswitha, wir
müſſen ſehen, daß Rummſchüttel kommt. Lene kann
ja gehen, die wird jetzt Zeit haben. Aber was in
aller Welt iſt denn das da mit dem Nähtiſch?“


Und nun erzählte Roswitha, wie ſie nach der
gerollten Binde geſucht hätten; aber ſie woll' es
nun aufgeben und lieber eine neue Leinwand ſchneiden.


Innſtetten war einverſtanden und ſetzte ſich, als
bald danach beide Mädchen das Zimmer verlaſſen
hatten, zu dem Kinde. „Du biſt ſo wild, Annie,
das haſt Du von der Mama. Immer wie ein Wirbel¬
wind. Aber dabei kommt nichts heraus oder höchſtens
ſo 'was.“ Und er wies auf die Wunde und gab
ihr einen Kuß. „Du haſt aber nicht geweint, das
iſt brav, und darum will ich Dir die Wildheit ver¬
zeihen . . . . Ich denke, der Doktor wird in einer
Stunde hier ſein; thu' nur alles, was er ſagt, und
wenn er Dich verbunden hat, ſo zerre nicht und rücke
und drücke nicht dran, dann heilt es ſchnell, und
Th. Fontane, Effi Brieſt. 26[402]Effi Brieſtwenn die Mama dann kommt, dann iſt alles wieder
in Ordnung oder doch beinah'. Ein Glück iſt es
aber doch, daß es noch bis nächſte Woche dauert,
Ende nächſter Woche, ſo ſchreibt ſie mir; eben habe
ich einen Brief von ihr bekommen; ſie läßt Dich
grüßen und freut ſich, Dich wiederzuſehen.“


„Du könnteſt mir den Brief eigentlich vorleſen,
Papa.“


„Das will ich gern.“


Aber eh' er dazu kam, kam Johanna, um zu
ſagen, daß das Eſſen aufgetragen ſei. Annie, trotz
ihrer Wunde, ſtand mit auf, und Vater und Tochter
ſetzten ſich zu Tiſch.

[[403]]

Siebenundzwanzigſtes Kapitel.

Innſtetten und Annie ſaßen ſich eine Weile
ſtumm gegenüber; endlich als ihm die Stille peinlich
wurde, that er ein paar Fragen über die Schul¬
vorſteherin und welche Lehrerin ſie eigentlich am
liebſten habe. Annie antwortete auch, aber ohne
rechte Luſt, weil ſie fühlte, daß Innſtetten wenig bei
der Sache war. Es wurde erſt beſſer, als Johanna,
nach dem zweiten Gericht, ihrem Anniechen zuflüſterte,
es gäbe noch 'was. Und wirklich, die gute Ros¬
witha, die dem Liebling an dieſem Unglückstage 'was
ſchuldig zu ſein glaubte, hatte noch ein übriges ge¬
than und ſich zu einer Omelette mit Apfelſchnitten
aufgeſchwungen.


Annie wurde bei dieſem Anblicke denn auch
etwas redſeliger, und ebenſo zeigte ſich Innſtetten's
Stimmung gebeſſert, als es gleich danach klingelte
und Geheimrat Rummſchüttel eintrat. Ganz zufällig.
Er ſprach nur vor, ohne jede Ahnung, daß man
nach ihm geſchickt und um ſeinen Beſuch gebeten
26 *[404]Effi Brieſt habe. Mit den aufgelegten Kompreſſen war er zu¬
frieden. „Laſſen Sie noch etwas Bleiwaſſer holen
und Annie morgen zu Hauſe bleiben. Überhaupt
Ruhe.“ Dann frug er noch nach der gnädigen Frau
und wie die Nachrichten aus Ems ſeien; er werde
den andern Tag wieder kommen und nachſehen.


Als man von Tiſch aufgeſtanden und in das
nebenan gelegene Zimmer — dasſelbe, wo man mit
ſo viel Eifer und doch vergebens nach dem Verband¬
ſtück geſucht hatte —, eingetreten war, wurde Annie
wieder auf das Sofa gebettet. Johanna kam und
ſetzte ſich zu dem Kinde, während Innſtetten die zahl¬
loſen Dinge, die bunt durcheinander gewürfelt noch
auf dem Fenſterbrett umherlagen, wieder in den
Nähtiſch einzuräumen begann. Dann und wann
wußte er ſich nicht recht Rat und mußte fragen.


„Wo haben die Briefe gelegen, Johanna?“


„Ganz zu unterſt,“ ſagte dieſe „hier in dieſem Fach.“


Und während ſo Frage und Antwort ging, be¬
trachtete Innſtetten etwas aufmerkſamer als vorher
das kleine, mit einem roten Faden zuſammen¬
gebundene Paket, das mehr aus einer Anzahl zuſammen¬
gelegter Zettel, als aus Briefen zu beſtehen ſchien.
Er fuhr, als wäre es ein Spiel Karten, mit dem
Daumen und Zeigefinger an der Seite des Päckchens
[405]Effi Brieſt hin und einige Zeilen, eigentlich nur vereinzelte Worte,
flogen dabei an ſeinem Auge vorüber. Von deut¬
lichem Erkennen konnte keine Rede ſein, aber es kam
ihm doch ſo vor, als habe er die Schriftzüge ſchon
irgendwo geſehen. Ob er nachſehen ſolle?


„Johanna, Sie könnten uns den Kaffee bringen.
Annie trinkt auch eine halbe Taſſe. Der Doktor hat's
nicht verboten, und was nicht verboten iſt, iſt erlaubt.“


Als er das ſagte, wand er den roten Faden ab
und ließ, während Johanna das Zimmer verließ,
den ganzen Inhalt des Päckchens raſch durch die
Finger gleiten. Nur zwei, drei Briefe waren adreſſiert:
„An Frau Landrat von Innſtetten.“ Er erkannte
jetzt auch die Handſchrift; es war die des Majors.
Innſtetten wußte nichts von einer Korreſpondenz
zwiſchen Crampas und Effi, und in ſeinem Kopfe
begann ſich alles zu drehen. Er ſteckte das Paket
zu ſich und ging in ſein Zimmer zurück. Etliche
Minuten ſpäter und Johanna, zum Zeichen, daß der
Kaffee da ſei, klopfte leis an die Thür. Innſtetten
antwortete auch, aber dabei blieb es; ſonſt alles ſtill.
Erſt nach einer Viertelſtunde hörte man wieder ſein
Auf- und Abſchreiten auf dem Teppich. „Was nur
Papa hat?“ ſagte Johanna zu Annie. „Der Doktor
hat ihm doch geſagt, es ſei nichts.“


[406]Effi Brieſt

Das Auf- und Abſchreiten nebenan wollte kein
Ende nehmen. Endlich erſchien Innſtetten wieder
im Nebenzimmer und ſagte: „Johanna, achten Sie
auf Annie und daß ſie ruhig auf dem Sofa bleibt.
Ich will eine Stunde gehen oder vielleicht zwei.“


Dann ſah er das Kind aufmerkſam an und
entfernte ſich.


„Haſt Du geſehen, Johanna, wie Papa ausſah?“


„Ja, Annie. Er muß einen großen Ärger ge¬
habt haben. Er war ganz blaß. So hab ich ihn
noch nie geſehen.“


Es vergingen Stunden. Die Sonne war ſchon
unter, und nur ein roter Widerſchein lag noch über
den Dächern drüben, als Innſtetten wieder zurück
kam. Er gab Annie die Hand, fragte wie's ihr
gehe und ordnete dann an, daß ihm Johanna die
Lampe in ſein Zimmer bringe. Die Lampe kam auch.
In dem grünen Schirm befanden ſich halb durch¬
ſichtige Ovale mit Photographieen, allerlei Bildniſſe
ſeiner Frau, die noch in Keſſin, damals als man
den Wichert'ſchen „Schritt vom Wege“ aufgeführt
hatte, für die verſchiedenen Mitſpielenden angefertigt
waren. Innſtetten drehte den Schirm langſam von
links nach rechts und muſterte jedes einzelne Bildnis.
Dann ließ er davon ab, öffnete, weil er es ſchwül
fand, die Balkonthür und nahm ſchließlich das Brief¬
[407]Effi Brieſt paket wieder zur Hand. Es ſchien, daß er, gleich
beim erſten Durchſehen, ein paar davon ausgewählt
und obenauf gelegt hatte. Dieſe las er jetzt noch
einmal mit halblauter Stimme.


„Sei heute nachmittag wieder in den Dünen,
hinter der Mühle. Bei der alten Adermann können
wir uns ruhig ſprechen, das Haus iſt abgelegen genug.
Du mußt Dich nicht um alles ſo bangen. Wir haben
auch ein Recht. Und wenn Du Dir das eindringlich
ſagſt, wird, denk ich, alle Furcht von Dir abfallen.
Das Leben wäre nicht des Lebens wert, wenn das
alles gelten ſollte, was zufällig gilt. Alles beſte
liegt jenſeits davon. Lerne Dich daran freuen.“


„. . . Fort, ſo ſchreibſt Du, Flucht. Unmöglich.
Ich kann meine Frau nicht im Stich laſſen, zu allem
andern auch noch in Not. Es geht nicht, und wir
müſſen es leicht nehmen, ſonſt ſind wir arm und
verloren. Leichtſinn iſt das beſte, was wir haben.
Alles iſt Schickſal. Es hat ſo ſein ſollen. Und
möchteſt Du, daß es anders wäre, daß wir uns nie
geſehen hätten?“


Dann kam der dritte Brief.


„. . . Sei heute noch einmal an der alten Stelle.
Wie ſollen meine Tage hier verlaufen ohne Dich!
In dieſem öden Neſt. Ich bin außer mir, und nur
darin haſt Du recht: es iſt die Rettung, und wir
[408]Effi Brieſtmüſſen ſchließlich doch die Hand ſegnen, die dieſe
Trennung über uns verhängt.“


Innſtetten hatte die Briefe kaum wieder beiſeite
geſchoben, als draußen die Klingel ging. Gleich danach
meldete Johanna: „Geheimrat Wüllersdorf.“


Wüllersdorf trat ein und ſah auf den erſten
Blick, daß etwas vorgefallen ſein müſſe.


„Pardon, Wüllersdorf,“ empfing ihn Innſtetten,
„daß ich Sie gebeten habe, noch gleich heute bei mir
vorzuſprechen. Ich ſtöre niemand gern in ſeiner
Abendruhe, am wenigſten einen geplagten Miniſterial¬
rat. Es ging aber nicht anders. Ich bitte Sie,
machen Sie ſich's bequem. Und hier eine Cigarre.“


Wüllersdorf ſetzte ſich. Innſtetten ging wieder
auf und ab und wäre bei der ihn verzehrenden Un¬
ruhe gern in Bewegung geblieben, ſah aber, daß das
nicht gehe. So nahm er denn auch ſeinerſeits eine
Cigarre, ſetzte ſich Wüllersdorf gegenüber und ver¬
ſuchte ruhig zu ſein.


„Es iſt,“ begann er, „um zweier Dinge willen,
daß ich Sie habe bitten laſſen: erſt um eine Forderung
zu überbringen und zweitens um hinterher, in der
Sache ſelbſt, mein Sekundant zu ſein; das eine iſt
nicht angenehm und das andere noch weniger. Und
nun Ihre Antwort.“


„Sie wiſſen, Innſtetten, Sie haben über mich
[409]Effi Brieſt zu verfügen. Aber eh' ich die Sache kenne, verzeihen
Sie mir die naive Vorfrage: muß es ſein? Wir
ſind doch über die Jahre weg, Sie, um die Piſtole
in die Hand zu nehmen, und ich, um dabei mit¬
zumachen. Indeſſen mißverſtehen Sie mich nicht,
alles dies ſoll kein „nein“ ſein. Wie könnte ich Ihnen
etwas abſchlagen. Aber nun ſagen Sie, was iſt es?“


„Es handelt ſich um einen Galan meiner Frau,
der zugleich mein Freund war oder doch beinah.“


Wüllersdorf ſah Innſtetten an. „Innſtetten,
das iſt nicht möglich.“


„Es iſt mehr als möglich, es iſt gewiß. Leſen
Sie.“


Wüllersdorf flog drüber hin. „Die ſind an
Ihre Frau gerichtet?“


„Ja. Ich fand ſie heut in ihrem Nähtiſch.“


„Und wer hat ſie geſchrieben?“


„Major Crampas.“


„Alſo Dinge, die ſich abgeſpielt, als Sie noch
in Keſſin waren?“


Innſtetten nickte.


„Liegt alſo ſechs Jahre zurück oder noch ein
halb Jahr länger.“


„Ja.“


Wüllersdorf ſchwieg. Nach einer Weile ſagte
Innſtetten: „Es ſieht faſt ſo aus, Wüllersdorf, als
[410]Effi Brieſtob die ſechs oder ſieben Jahre einen Eindruck auf
Sie machten. Es giebt eine Verjährungstheorie,
natürlich, aber ich weiß doch nicht, ob wir hier einen
Fall haben, dieſe Theorie gelten zu laſſen.“


„Ich weiß es auch nicht,“ ſagte Wüllersdorf.
„Und ich bekenne Ihnen offen, um dieſe Frage ſcheint
ſich hier alles zu drehen.“


Innſtetten ſah ihn groß an. „Sie ſagen das
in vollem Ernſt?“


„In vollem Ernſt. Es iſt keine Sache, ſich in
jeu d'esprit oder in dialektiſchen Spitzfindigkeiten
zu verſuchen.“


„Ich bin neugierig, wie Sie das meinen. Sagen
Sie mir offen, wie ſtehen Sie dazu?“


„Innſtetten, Ihre Lage iſt furchtbar, und Ihr
Lebensglück iſt hin. Aber wenn Sie den Liebhaber
totſchießen, iſt Ihr Lebensglück ſo zu ſagen doppelt
hin, und zu dem Schmerz über empfangenes Leid
kommt noch der Schmerz über gethanes Leid. Alles
dreht ſich um die Frage, müſſen Sie's durchaus
thun? Fühlen Sie ſich ſo verletzt, beleidigt, empört,
daß einer weg muß, er oder Sie? Steht es ſo?“


„Ich weiß es nicht.“


„Sie müſſen es wiſſen.“


Innſtetten war aufgeſprungen, trat ans Fenſter
und tippte voll nervöſer Erregung an die Scheiben.
[411]Effi Brieſt Dann wandte er ſich raſch wieder, ging auf Wüllers¬
dorf zu und ſagte: „Nein, ſo ſteht es nicht.“


„Wie ſteht es dann?“


„Es ſteht ſo, daß ich unendlich unglücklich bin;
ich bin gekränkt, ſchändlich hintergangen, aber trotz¬
dem, ich bin ohne jedes Gefühl von Haß oder gar
von Durſt nach Rache. Und wenn ich mich frage,
warum nicht? ſo kann ich zunächſt nichts anderes
finden, als die Jahre. Man ſpricht immer von un¬
ſühnbarer Schuld; vor Gott iſt es gewiß falſch, aber
vor den Menſchen auch. Ich hatte nie geglaubt, daß
die Zeit, rein als Zeit, ſo wirken könne. Und
dann als zweites: ich liebe meine Frau, ja, ſeltſam
zu ſagen, ich liebe ſie noch, und ſo furchtbar ich
alles finde, was geſchehen, ich bin ſo ſehr im Bann ihrer
Liebenswürdigkeit, eines ihr eignen heiteren Charmes,
daß ich mich, mir ſelbſt zum Trotz, in meinem letzten
Herzenswinkel zum Verzeihen geneigt fühle.“


Wüllersdorf nickte. „Kann ganz folgen, Inn¬
ſtetten, würde mir vielleicht ebenſo gehen. Aber wenn
Sie ſo zu der Sache ſtehen und mir ſagen: ‚Ich
liebe dieſe Frau ſo ſehr, daß ich ihr alles verzeihen
kann,‘ und wenn wir dann das andere hinzunehmen,
daß alles weit, weit zurückliegt, wie ein Geſchehnis
auf einem andern Stern, ja, wenn es ſo liegt, Inn¬
ſtetten, ſo frage ich, wozu die ganze Geſchichte?“


[412]Effi Brieſt

„Weil es trotzdem ſein muß. Ich habe mir's
hin und her überlegt. Man iſt nicht bloß ein ein¬
zelner Menſch, man gehört einem Ganzen an, und
auf das Ganze haben wir beſtändig Rückſicht zu
nehmen, wir ſind durchaus abhängig von ihm. Ging'
es, in Einſamkeit zu leben, ſo könnt' ich es gehen
laſſen; ich trüge dann die mir aufgepackte Laſt, das
rechte Glück wäre hin, aber es müſſen ſo viele leben
ohne dies „rechte Glück“, und ich würde es auch
müſſen und — auch können. Man braucht nicht
glücklich zu ſein, am allerwenigſten hat man einen
Anſpruch darauf, und den, der einem das Glück ge¬
nommen hat, den braucht man nicht notwendig aus
der Welt zu ſchaffen. Man kann ihn, wenn man
weltabgewandt weiter exiſtieren will, auch laufen
laſſen. Aber im Zuſammenleben mit den Menſchen
hat ſich ein Etwas ausgebildet, das nun 'mal da iſt
und nach deſſen Paragraphen wir uns gewöhnt haben,
alles zu beurteilen, die andern und uns ſelbſt. Und
dagegen zu verſtoßen, geht nicht; die Geſellſchaft ver¬
achtet uns, und zuletzt thun wir es ſelbſt und können
es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch
den Kopf. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen ſolche
Vorleſung halte, die ſchließlich doch nur ſagt, was
ſich jeder ſelber hundertmal geſagt hat. Aber freilich,
wer kann 'was neues ſagen! Alſo noch einmal,
[413]Effi Brieſt nichts von Haß oder dergleichen, und um eines
Glückes willen, das mir genommen wurde, mag ich
nicht Blut an den Händen haben; aber jenes, wenn
Sie wollen, uns tyranniſierende Geſellſchafts-Etwas,
das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe
und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl.
Ich muß.“


„Ich weiß doch nicht, Innſtetten . . .“


Innſtetten lächelte. „Sie ſollen ſelbſt entſcheiden,
Wüllersdorf. Es iſt jetzt zehn Uhr. Vor ſechs
Stunden, dieſe Konzeſſion will ich Ihnen vorweg
machen, hatt' ich das Spiel noch in der Hand, konnt'
ich noch das eine und noch das andere, da war noch
ein Ausweg. Jetzt nicht mehr, jetzt ſtecke ich in einer
Sackgaſſe. Wenn Sie wollen, ſo bin ich ſelber ſchuld
daran; ich hätte mich beſſer beherrſchen und bewachen,
alles in mir verbergen, alles im eignen Herzen aus¬
kämpfen ſollen. Aber es kam mir zu plötzlich, zu
ſtark, und ſo kann ich mir kaum einen Vorwurf
machen, meine Nerven nicht geſchickter in Ordnung
gehalten zu haben. Ich ging zu Ihnen und ſchrieb
Ihnen einen Zettel, und damit war das Spiel aus
meiner Hand. Von dem Augenblicke an hatte mein
Unglück und, was ſchwerer wiegt, der Fleck auf
meiner Ehre einen halben Mitwiſſer, und nach den
erſten Worten, die wir hier gewechſelt, hat es einen
[414]Effi Brieſt ganzen. Und weil dieſer Mitwiſſer da iſt, kann ich
nicht mehr zurück.“


„Ich weiß doch nicht,“ wiederholte Wüllersdorf.
„Ich mag nicht gerne zu der alten abgeſtandenen
Phraſe greifen, aber doch läßt ſich's nicht beſſer
ſagen: Innſtetten, es ruht alles in mir wie in einem
Grabe.“


„Ja, Wüllersdorf, ſo heißt es immer. Aber es
giebt keine Verſchwiegenheit. Und wenn Sie's wahr
machen und gegen andere die Verſchwiegenheit ſelber
ſind, ſo wiſſen Sie es, und es rettet mich nicht vor
Ihnen, daß Sie mir eben Ihre Zuſtimmung aus¬
gedrückt und mir ſogar geſagt haben: ich kann Ihnen
in allem folgen. Ich bin, und dabei bleibt es, von
dieſem Augenblicke an ein Gegenſtand Ihrer Teil¬
nahme (ſchon nicht etwas ſehr Angenehmes), und
jedes Wort, das Sie mich mit meiner Frau wechſeln
hören, unterliegt Ihrer Kontrolle, Sie mögen wollen
oder nicht, und wenn meine Frau von Treue ſpricht
oder, wie Frauen thun, über eine andere zu Gericht
ſitzt, ſo weiß ich nicht, wo ich mit meinen Blicken
hin ſoll. Und ereignet ſich's gar, daß ich in irgend
einer ganz alltäglichen Beleidigungsſache zum guten
rede, ,weil ja der dolus fehle‘ oder ſo 'was Ähn¬
liches, ſo geht ein Lächeln über Ihr Geſicht, oder
es zuckt wenigſtens darin, und in Ihrer Seele klingt
[415]Effi Brieſt es: ,der gute Innſtetten, er hat doch eine wahre
Paſſion, alle Beleidigungen auf ihren Beleidigungs¬
gehalt chemiſch zu unterſuchen, und das richtige
Quantum Stickſtoff findet er nie. Er iſt noch nie
an einer Sache erſtickt' . . . Habe ich recht, Wüllers¬
dorf, oder nicht?“


Wüllersdorf war aufgeſtanden. „Ich finde es
furchtbar, daß Sie recht haben, aber Sie haben
recht. Ich quäle Sie nicht länger mit meinem ,muß
es ſein‘. Die Welt iſt einmal wie ſie iſt, und die
Dinge verlaufen nicht wie wir wollen, ſondern wie
die andern wollen. Das mit dem ,Gottesgericht‘,
wie manche hochtrabend verſichern, iſt freilich ein
Unſinn, nichts davon, umgekehrt, unſer Ehrenkultus
iſt ein Götzendienſt, aber wir müſſen uns ihm unter¬
werfen, ſo lange der Götze gilt.“


Innſtetten nickte.


Sie blieben noch eine Viertelſtunde miteinander,
und es wurde feſtgeſtellt, Wüllersdorf ſolle noch den¬
ſelben Abend abreiſen. Ein Nachtzug ging um zwölf.


Dann trennten ſie ſich mit einem kurzen: „Auf
Wiederſehen in Keſſin.“

[[416]]

Achtundzwanzigſtes Kapitel.

Am andern Abend, wie verabredet, reiſte Inn¬
ſtetten. Er benutzte denſelben Zug, den am Tage
vorher Wüllersdorf benutzt hatte und war bald nach
fünf Uhr früh auf der Bahnſtation, von wo der
Weg nach Keſſin links abzweigte. Wie immer, ſo
lange die Saiſon dauerte, ging auch heute, gleich
nach Eintreffen des Zuges das mehrerwähnte Dampf¬
ſchiff, deſſen erſtes Läuten Innſtetten ſchon hörte,
als er die letzten Stufen der vom Bahndamm hinab¬
führenden Treppe erreicht hatte. Der Weg bis zur
Anlegeſtelle war keine drei Minuten; er ſchritt
darauf zu und begrüßte den Kapitän, der etwas
verlegen war, alſo im Laufe des geſtrigen Tages
von der ganzen Sache ſchon gehört haben mußte,
und nahm dann ſeinen Platz in der Nähe des
Steuers. Gleich danach löſte ſich das Schiff vom
Brückenſteg los; das Wetter war herrlich, helle
Morgenſonne, nur wenig Paſſagiere an Bord. Inn¬
[417]Effi Brieſt ſtetten gedachte des Tages, als er, mit Effi von der
Hochzeitsreiſe zurückkehrend, hier am Ufer der Keſſine
hin in offenem Wagen gefahren war, — ein grauer
Novembertag damals, aber er ſelber froh im Herzen;
nun hatte ſich's verkehrt: das Licht lag draußen,
und der Novembertag war in ihm. Viele, viele
Male war er dann des Weges hier gekommen, und
der Frieden, der ſich über die Felder breitete, das
Zuchtvieh in den Koppeln, das aufhorchte, wenn
er vorüberfuhr, die Leute bei der Arbeit, die Frucht¬
barkeit der Äcker, das alles hatte ſeinem Sinne
wohlgethan, und jetzt, in hartem Gegenſatz dazu,
war er froh, als etwas Gewölk heranzog und den
lachenden blauen Himmel leiſe zu trüben begann.
So fuhren ſie den Fluß hinab, und bald, nachdem
ſie die prächtige Waſſerfläche des „Breitling“ paſſiert,
kam der Keſſiner Kirchturm in Sicht und gleich danach
auch das Bollwerk und die lange Häuſerreihe mit
Schiffen und Booten davor. Und nun waren ſie
heran. Innſtetten verabſchiedete ſich von dem Kapitän
und ſchritt auf den Steg zu, den man, bequemeren
Ausſteigens halber, herangerollt hatte. Wüllersdorf
war ſchon da. Beide begrüßten ſich, ohne zunächſt
ein Wort zu ſprechen, und gingen dann, quer über den
Damm, auf den Hoppenſack'ſchen Gaſthof zu, wo ſie
unter einem Zeltdach Platz nahmen.


Th. Fontane, Effi Brieſt. 27[418]Effi Brieſt

„Ich habe mich geſtern früh hier einquartiert,“
ſagte Wüllersdorf, der nicht gleich mit den Sachlich¬
keiten beginnen wollte. „Wenn man bedenkt, daß
Keſſin ein Neſt iſt, iſt es erſtaunlich, ein ſo
gutes Hotel hier zu finden. Ich bezweifle nicht,
daß mein Freund, der Oberkellner, drei Sprachen
ſpricht; ſeinem Scheitel und ſeiner ausgeſchnittnen
Weſte nach können wir dreiſt auf vier rechnen . . .
Jean, bitte, wollen Sie uns Kaffee und Cognac
bringen.“


Innſtetten begriff vollkommen, warum Wüllers¬
dorf dieſen Ton anſchlug, war auch damit einverſtanden,
konnte aber ſeiner Unruhe nicht ganz Herr werden
und zog unwillkürlich die Uhr.


„Wir haben Zeit,“ ſagte Wüllersdorf. „Noch
anderthalb Stunden oder doch beinah. Ich habe den
Wagen auf 8¼ beſtellt; wir fahren nicht länger als
zehn Minuten.“


„Und wo?“


„Crampas ſchlug erſt ein Waldeck vor, gleich
hinter dem Kirchhof. Aber dann unterbrach er ſich
und ſagte: ,Nein, da nicht.‘ Und dann haben wir
uns über eine Stelle zwiſchen den Dünen geeinigt.
Hart am Strand; die vorderſte Düne hat einen
Einſchnitt, und man ſieht aufs Meer.“


Innſtetten lächelte. „Crampas ſcheint ſich einen
[419]Effi Brieſt Schönheitspunkt ausgeſucht zu haben. Er hatte immer
die Allüren dazu. Wie benahm er ſich?“


„Wundervoll.“


„Übermütig? frivol?“


„Nicht das eine und nicht das andere. Ich be¬
kenne Ihnen offen, Innſtetten, daß es mich erſchütterte.
Als ich Ihren Namen nannte, wurde er totenblaß
und rang nach Faſſung, und um ſeine Mundwinkel
ſah ich ein Zittern. Aber all' das dauerte nur einen
Augenblick, dann hatte er ſich wieder gefaßt, und
von da ab war alles an ihm wehmütige Reſignation.
Es iſt mir ganz ſicher, er hat das Gefühl, aus der
Sache nicht heil herauszukommen, und will auch
nicht. Wenn ich ihn richtig beurteile, er lebt gern
und iſt zugleich gleichgültig gegen das Leben. Er
nimmt alles mit und weiß doch, daß es nicht viel
damit iſt.“


„Wer wird ihm ſekundieren? Oder ſag' ich
lieber, wen wird er mitbringen?“


„Das war, als er ſich wieder gefunden hatte,
ſeine Hauptſorge. Er nannte zwei, drei Adlige aus
der Nähe, ließ ſie dann aber wieder fallen, ſie ſeien
zu alt und zu fromm, er werde nach Treptow hin
telegraphieren an ſeinen Freund Buddenbrook. Und
der iſt auch gekommen, famoſer Mann, ſchneidig und
doch zugleich wie ein Kind. Er konnte ſich nicht
27 *[420]Effi Brieſtberuhigen und ging in größter Erregung auf und ab.
Aber als ich ihm alles geſagt hatte, ſagte er gerade
ſo wie wir: ‚Sie haben recht, es muß ſein!‘“


Der Kaffee kam. Man nahm eine Cigarre, und
Wüllersdorf war wieder darauf aus, das Geſpräch
auf mehr gleichgültige Dinge zu lenken.


„Ich wundere mich, daß keiner von den Keſſinern
ſich einfindet, Sie zu begrüßen. Ich weiß doch, daß
Sie ſehr beliebt geweſen ſind. Und nun gar Ihr
Freund Gieshübler . . .“


Innſtetten lächelte. „Da verkennen Sie die
Leute hier an der Küſte; halb ſind es Philiſter und
halb Pfiffici, nicht ſehr nach meinem Geſchmack; aber
eine Tugend haben ſie, ſie ſind alle ſehr manierlich.
Und nun gar mein alter Gieshübler. Natürlich weiß
jeder, um was ſich's handelt, aber eben deshalb hütet
man ſich, den Neugierigen zu ſpielen.“


In dieſem Augenblicke wurde von links her ein
zurückgeſchlagener Chaiſewagen ſichtbar, der, weil es
noch vor der beſtimmten Zeit war, langſam herankam.


„Iſt das unſer?“ fragte Innſtetten.


„Mutmaßlich.“


Und gleich danach hielt der Wagen vor dem
Hotel, und Innſtetten und Wüllersdorf erhoben ſich.


Wüllersdorf trat an den Kutſcher heran und
ſagte: „Nach der Mole.“


[421]Effi Brieſt

Die Mole lag nach der entgegengeſetzten Strand¬
ſeite, rechts ſtatt links, und die falſche Weiſung wurde
nur gegeben, um etwaigen Zwiſchenfällen, die doch
immerhin möglich waren, vorzubeugen. Im übrigen,
ob man ſich nun weiter draußen nach rechts oder
links zu halten vor hatte, durch die Plantage mußte
man jedenfalls, und ſo führte denn der Weg un¬
vermeidlich an Innſtettens alter Wohnung vorüber.
Das Haus lag noch ſtiller da als früher; ziemlich
vernachläſſigt ſah's in den Parterreräumen aus; wie
mocht es erſt da oben ſein! Und das Gefühl des
Unheimlichen, das Innſtetten an Effi ſo oft bekämpft
oder auch wohl belächelt hatte, jetzt überkam es ihn
ſelbſt, und er war froh, als ſie dran vorüber
waren.


„Da hab' ich gewohnt,“ ſagte er zu Wüllersdorf.


„Es ſieht ſonderbar aus, etwas öd' und ver¬
laſſen.“


„Mag auch wohl. In der Stadt galt es als
ein Spukhaus, und wie's heute da liegt, kann ich
den Leuten nicht unrecht geben.“


„Was war es denn damit?“


„Ach, dummes Zeug: alter Schiffskapitän mit
Enkelin oder Nichte, die eines ſchönen Tages ver¬
ſchwand, und dann ein Chineſe, der vielleicht ein
Liebhaber war, und auf dem Flur ein kleiner Haifiſch
[422]Effi Brieſt und ein Krokodil, beides an Strippen und immer
in Bewegung. Wundervoll zu erzählen, aber nicht
jetzt. Es ſpukt einem doch allerhand anderes im
Kopf.“


„Sie vergeſſen, es kann auch alles glatt ab¬
laufen.“


„Darf nicht. Und vorhin, Wüllersdorf, als
Sie von Crampas ſprachen, ſprachen Sie ſelber
anders davon.“


Bald danach hatte man die Plantage paſſiert,
und der Kutſcher wollte jetzt rechts einbiegen auf
die Mole zu. „Fahren Sie lieber links. Das mit
der Mole kann nachher kommen.“


Und der Kutſcher bog links in eine breite Fahr¬
ſtraße ein, die hinter dem Herrenbade grad auf den
Wald zulief. Als ſie bis auf dreihundert Schritt
an dieſen heran waren, ließ Wüllersdorf den Wagen
halten, und beide gingen nun, immer durch mahlenden
Sand hin, eine ziemlich breite Fahrſtraße hinunter,
die die hier dreifache Dünenreihe ſenkrecht durchſchnitt.
Überall zur Seite ſtanden dichte Büſchel von Strand¬
hafer, um dieſen herum aber Immortellen und ein
paar blutrote Nelken. Innſtetten bückte ſich und
ſteckte ſich eine der Nelken ins Knopfloch. „Die
Immortellen nachher.“


So gingen ſie fünf Minuten. Als ſie bis an
[423]Effi Brieſtdie ziemlich tiefe Senkung gekommen waren, die
zwiſchen den beiden vorderſten Dünenreihen hinlief,
ſahen ſie, nach links hin, ſchon die Gegenpartei:
Crampas und Buddenbrook und mit ihnen den
guten Dr. Hannemann, der ſeinen Hut in der
Hand hielt, ſo daß das weiße Haar im Winde
flatterte.


Innſtetten und Wüllersdorf gingen die Sand¬
ſchlucht hinauf, Buddenbrook kam ihnen entgegen.
Man begrüßte ſich, worauf beide Sekundanten bei¬
ſeite traten, um noch ein kurzes ſachliches Geſpräch
zu führen. Es lief darauf hinaus, daß man a tempo
avancieren und auf zehn Schritt Diſtance feuern ſolle.
Dann kehrte Buddenbrook an ſeinen Platz zurück;
alles erledigte ſich raſch; und die Schüſſe fielen.
Crampas ſtürzte.


Innſtetten, einige Schritt zurücktretend, wandte
ſich ab von der Szene. Wüllersdorf aber war auf
Buddenbrook zugeſchritten, und beide warteten jetzt
auf den Ausſpruch des Doktors, der die Achſeln
zuckte. Zugleich deutete Crampas durch eine Hand¬
bewegung an, daß er etwas ſagen wollte. Wüllersdorf
beugte ſich zu ihm nieder, nickte zuſtimmend zu
den paar Worten, die kaum hörbar von des
Sterbenden Lippen kamen, und ging dann auf
Innſtetten zu.


[424]Effi Brieſt

„Crampas will Sie noch ſprechen, Innſtetten.
Sie müſſen ihm zu Willen ſein. Er hat keine drei
Minuten Leben mehr.“


Innſtetten trat an Crampas heran.


„Wollen Sie . . .“ das waren ſeine letzten
Worte.


Noch ein ſchmerzlicher und doch beinah freund¬
licher Schimmer in ſeinem Antlitz, und dann war
es vorbei.

[[425]]

Neunundzwanzigſtes Kapitel.

Am Abend desſelben Tages traf Innſtetten
wieder in Berlin ein. Er war mit dem Wagen, den
er innerhalb der Dünen an dem Querwege zurück¬
gelaſſen hatte, direkt nach der Bahnſtation gefahren,
ohne Keſſin noch einmal zu berühren, dabei den
beiden Sekundanten die Meldung an die Behörden
überlaſſend. Unterwegs (er war allein im Coupé)
hing er, alles noch 'mal überdenkend, dem Geſchehenen
nach; es waren dieſelben Gedanken wie zwei Tage
zuvor, nur daß ſie jetzt den umgekehrten Gang gingen
und mit der Überzeugtheit von ſeinem Recht und
ſeiner Pflicht anfingen, um mit Zweifeln daran auf¬
zuhören. „Schuld, wenn ſie überhaupt 'was iſt, iſt
nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht
hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld
verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Ver¬
jährung iſt etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum
mindeſten 'was Proſaiſches.“ Und er richtete ſich
[426]Effi Brieſt an dieſer Vorſtellung auf und wiederholte ſich's, daß
es gekommen ſei, wie's habe kommen müſſen. Aber
im ſelben Augenblicke, wo dies für ihn feſtſtand,
warf er's auch wieder um. „Es muß eine Ver¬
jährung geben, Verjährung iſt das einzig Vernünftige;
ob es nebenher auch noch proſaiſch iſt, iſt gleichgültig;
das Vernünftige iſt meiſt proſaiſch. Ich bin jetzt
fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig
Jahre ſpäter gefunden hätte, ſo war ich ſiebzig. Dann
hätte Wüllersdorf geſagt: ,Innſtetten, ſeien Sie kein
Narr.‘ Und wenn es Wüllersdorf nicht geſagt hätte,
ſo hätt' es Buddenbrook geſagt, und wenn auch der
nicht, ſo ich ſelbſt. Dies iſt mir klar. Treibt man
etwas auf die Spitze, ſo übertreibt man und hat die
Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an?
Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch
ein Duell, und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren
oder vielleicht ſchon bei zehnundeinhalb heißt es
Unſinn. Die Grenze, die Grenze. Wo iſt ſie?
War ſie da? War ſie ſchon überſchritten? Wenn
ich mir ſeinen letzten Blick vergegenwärtige, reſigniert
und in ſeinem Elend doch noch ein Lächeln, ſo hieß
der Blick: ,Innſtetten, Prinzipienreiterei . . . Sie
konnten es mir erſparen und ſich ſelber auch.‘ Und
er hatte vielleicht recht. Mir klingt ſo 'was in der
Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem Haß geweſen
[427]Effi Brieſt wäre, wenn mir hier ein tiefes Rachegefühl geſeſſen
hätte . . . Rache iſt nichts Schönes, aber 'was
Menſchliches und hat ein natürlich menſchliches Recht.
So aber war alles einer Vorſtellung, einem Begriff
zu Liebe, war eine gemachte Geſchichte, halbe Komödie.
Und dieſe Komödie muß ich nun fortſetzen und muß
Effi wegſchicken und ſie ruinieren, und mich mit . . .
Ich mußte die Briefe verbrennen, und die Welt
durfte nie davon erfahren. Und wenn ſie dann kam,
ahnungslos, ſo mußt' ich ihr ſagen: ,Da iſt Dein
Platz,‘ und mußte mich innerlich von ihr ſcheiden.
Nicht vor der Welt. Es giebt ſo viele Leben, die
keine ſind, und ſo viele Ehen, die keine ſind . . .
dann war das Glück hin, aber ich hätte das Auge mit
ſeinem Frageblicke und mit ſeiner ſtummen leiſen An¬
klage nicht vor mir.“


Kurz vor zehn hielt Innſtetten vor ſeiner
Wohnung. Er ſtieg die Treppen hinauf und zog
die Glocke; Johanna kam und öffnete.


„Wie ſteht es mit Annie?“


„Gut, gnäd'ger Herr. Sie ſchläft noch nicht . . .
Wenn der gnäd'ge Herr . . .“


„Nein, nein, das regt ſie bloß auf. Ich ſehe
ſie lieber morgen früh. Bringen Sie mir ein Glas
Thee, Johanna. Wer war hier?“


[428]Effi Brieſt

„Nur der Doktor.“


Und nun war Innſtetten wieder allein. Er
ging auf und ab, wie er's zu thun liebte. „Sie
wiſſen ſchon alles; Roswitha iſt dumm, aber Johanna
iſt eine kluge Perſon. Und wenn ſie's nicht mit
Beſtimmtheit wiſſen, ſo haben ſie ſich's zurecht
gelegt und wiſſen es doch. Es iſt merkwürdig, was
alles zum Zeichen wird und Geſchichten ausplaudert,
als wäre jeder mit dabei geweſen.“


Johanna brachte den Thee. Innſtetten trank.
Er war nach der Überanſtrengung todmüde und
ſchlief ein.


Innſtetten war zu guter Zeit auf. Er ſah
Annie, ſprach ein paar Worte mit ihr, lobte ſie, daß
ſie eine gute Kranke ſei und ging dann aufs Miniſterium,
um ſeinem Chef von allem Vorgefallenen Meldung zu
machen. Der Miniſter war ſehr gnädig. „Ja, Inn¬
ſtetten, wohl dem, der aus allem, was das Leben
uns bringen kann, heil heraus kommt; Sie hat's
getroffen.“ Er fand alles, was geſchehen, in der
Ordnung und überließ Innſtetten das weitere.


Erſt ſpät nachmittags war Innſtetten wieder in
ſeiner Wohnung, in der er ein paar Zeilen von
Wüllersdorf vorfand. „Heute früh wieder eingetroffen.
Eine Welt von Dingen erlebt; Schmerzliches, Rührendes,
[429]Effi Brieſt Gieshübler an der Spitze. Der liebenswürdigſte
Pucklige, den ich je geſehen. Von Ihnen ſprach er
nicht allzu viel, aber die Frau, die Frau! Er konnte
ſich nicht beruhigen, und zuletzt brach der kleine
Mann in Thränen aus. Was alles vorkommt. Es
wäre zu wünſchen, daß es mehr Gieshübler gäbe.
Es giebt aber mehr andere. Und dann die Szene
im Hauſe des Majors . . . furchtbar. Kein Wort
davon. Man hat wieder 'mal gelernt: aufpaſſen.
Ich ſehe Sie morgen. Ihr W.“


Innſtetten war ganz erſchüttert, als er geleſen.
Er ſetzte ſich und ſchrieb ſeinerſeits ein paar Briefe.
Als er damit zu Ende war, klingelte er: „Johanna,
die Briefe in den Kaſten.“


Johanna nahm die Briefe und wollte gehen.


„. . . Und dann, Johanna, noch eins: die Frau
kommt nicht wieder. Sie werden von anderen er¬
fahren, warum nicht. Annie darf nichts wiſſen,
wenigſtens jetzt nicht. Das arme Kind. Sie müſſen
es ihr allmählich beibringen, daß ſie keine Mutter
mehr hat. Ich kann es nicht. Aber machen Sie's
geſcheidt. Und daß Roswitha nicht alles verdirbt.“


Johanna ſtand einen Augenblick ganz wie be¬
nommen da. Dann ging ſie auf Innſtetten zu und
küßte ihm die Hand.


Als ſie wieder draußen in der Küche war, war
[430]Effi Brieſt ſie von Stolz und Überlegenheit ganz erfüllt, ja bei¬
nahe von Glück. Der gnädige Herr hatte ihr nicht
nur alles geſagt, ſondern am Schluſſe auch noch
hinzugeſetzt „und daß Roswitha nicht alles verdirbt“.
Das war die Hauptſache, und ohne daß es ihr an
gutem Herzen und ſelbſt an Teilnahme mit der Frau
gefehlt hätte, beſchäftigte ſie doch, über jedes andere
hinaus, der Triumph einer gewiſſen Intimitätsſtellung
zum gnädigen Herrn.


Unter gewöhnlichen Umſtänden wäre ihr denn
auch die Herauskehrung und Geltendmachung dieſes
Triumphes ein Leichtes geweſen, aber heute traf ſich's
ſo wenig günſtig für ſie, daß ihre Rivalin, ohne
Vertrauensperſon geweſen zu ſein, ſich doch als die
Eingeweihtere zeigen ſollte. Der Portier unten hatte
nämlich, ſo ziemlich um dieſelbe Zeit, wo dies ſpielte,
Roswitha in ſeine kleine Stube hineingerufen und
ihr gleich beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum Leſen
zugeſchoben. „Da, Roswitha, das iſt 'was für Sie;
Sie können es mir nachher wieder 'runter bringen.
Es iſt bloß das Fremdenblatt: aber Lene iſt ſchon
hin und holt das Kleine Journal. Da wird wohl
ſchon mehr drin ſtehen; die wiſſen immer alles.
Hören Sie, Roswitha, wer ſo 'was gedacht hätte.“


Roswitha, ſonſt nicht allzu neugierig, hatte ſich
doch nach dieſer Anſprache ſo raſch wie möglich die
[431]Effi Brieſt Hintertreppe hinaufbegeben und war mit dem Leſen
gerade fertig, als Johanna dazu kam.


Dieſe legte die Briefe, die ihr Innſtetten eben
gegeben, auf den Tiſch, überflog die Adreſſen oder
that wenigſtens ſo (denn ſie wußte längſt, an wen
ſie gerichtet waren) und ſagte mit gut erkünſtelter
Ruhe: „Einer iſt nach Hohen-Cremmen.“


„Das kann ich mir denken,“ ſagte Roswitha.


Johanna war nicht wenig erſtaunt über dieſe
Bemerkung. „Der Herr ſchreibt ſonſt nie nach
Hohen-Cremmen.“


„Ja, ſonſt. Aber jetzt . . . Denken Sie ſich,
das hat mir eben der Portier unten gegeben.“


Johanna nahm das Blatt und las nun halblaut
eine mit einem dicken Tintenſtrich markierte Stelle:
„Wie wir kurz vor Redaktionsſchluß von gut unter¬
richteter Seite her vernehmen, hat geſtern früh in
dem Badeorte Keſſin, in Hinterpommern, ein Duell
zwiſchen dem Miniſterialrat v. J. (Keithſtraße) und
dem Major von Crampas ſtattgefunden. Major
von Crampas fiel. Es heißt, daß Beziehungen
zwiſchen ihm und der Rätin, einer ſchönen und noch
ſehr jungen Frau, beſtanden haben ſollen.“


„Was ſolche Blätter auch alles ſchreiben,“ ſagte
Johanna, die verſtimmt war, ihre Neuigkeit überholt
zu ſehen. „Ja,“ ſagte Roswitha. „Und das leſen
[432]Effi Brieſtnun die Menſchen und verſchimpfieren mir meine
liebe, arme Frau. Und der arme Major. Nun iſt
er tot.“


„Ja, Roswitha, was denken Sie ſich eigentlich.
Soll er nicht tot ſein? Oder ſoll lieber unſer
gnädiger Herr tot ſein?“


„Nein, Johanna, unſer gnäd'ger Herr, der ſoll
auch leben, alles ſoll leben. Ich bin nicht für tot¬
ſchießen und kann nicht 'mal das Knallen hören.
Aber bedenken Sie doch, Johanna, das iſt ja nun
ſchon eine halbe Ewigkeit her, und die Briefe, die
mir gleich ſo ſonderbar ausſahen, weil ſie die rote
Strippe hatten und drei- oder viermal umwickelt und
dann eingeknotet und keine Schleife — die ſahen ja
ſchon ganz gelb aus, ſo lange iſt es her. Wir ſind
ja nun ſchon über ſechs Jahre hier, und wie kann
man wegen ſolcher alten Geſchichten . . .“


„Ach, Roswitha, Sie reden, wie Sie's verſtehen.
Und bei Lichte beſehen, ſind Sie ſchuld. Von den
Briefen kommt es her. Warum kamen Sie mit dem
Stemmeiſen und brachen den Nähtiſch auf, was man
nie darf; man darf kein Schloß aufbrechen, was ein
anderer zugeſchloſſen hat.“


„Aber, Johanna, das iſt doch wirklich zu ſchlecht
von Ihnen, mir ſo 'was auf den Kopf zuzuſagen,
und Sie wiſſen doch, daß Sie ſchuld ſind und daß
[433]Effi Brieſt Sie wie närriſch in die Küche ſtürzten und mir
ſagten, der Nähtiſch müſſe aufgemacht werden, da
wäre die Bandage drin, und da bin ich mit dem
Stemmeiſen gekommen, und nun ſoll ich ſchuld ſein.
Nein, ich ſage . . .“


„Nun, ich will es nicht geſagt haben, Roswitha.
Nur Sie ſollen mir nicht kommen und ſagen: der
arme Major. Was heißt der arme Major! Der
ganze arme Major taugte nichts; wer ſolchen rot¬
blonden Schnurrbart hat und immer wribbelt, der
taugt nie 'was und richtet bloß Schaden an. Und
wenn man immer in vornehmen Häuſern gedient
hat . . . aber das haben Sie nicht, Roswitha, das
fehlt Ihnen eben . . . dann weiß man auch, was
ſich paßt und ſchickt und was Ehre iſt, und weiß
auch, daß, wenn ſo 'was vorkommt, dann geht es
nicht anders, und dann kommt das, was man eine
Forderung nennt, und dann wird einer totgeſchoſſen.“


„Ach, das weiß ich auch; ich bin nicht ſo dumm,
wie Sie mich immer machen wollen. Aber wenn es
ſo lange her iſt . . .“


„Ja, Roswitha, mit Ihrem ewigen ,ſo lange
her'; daran ſieht man ja eben, daß Sie nichts davon
verſtehen. Sie erzählen immer die alte Geſchichte
von Ihrem Vater mit dem glühenden Eiſen und wie
er damit auf Sie losgekommen, und jedesmal, wenn
Th. Fontane, Effi Brieſt. 28[434]Effi Brieſt ich einen glühenden Bolzen einthue, muß ich auch
wirklich immer an Ihren Vater denken, und ſehe
immer, wie er Sie wegen des Kindes, das ja nun
tot iſt, tot machen will. Ja, Roswitha, davon
ſprechen Sie in einem fort, und es fehlt bloß noch,
daß Sie Anniechen auch die Geſchichte erzählen, und
wenn Anniechen eingeſegnet wird, dann wird ſie's
auch gewiß erfahren, und vielleicht denſelben Tag
noch; und das ärgert mich, daß Sie das alles erlebt
haben, und Ihr Vater war doch bloß ein Dorfſchmied
und hat Pferde beſchlagen oder einen Radreifen gelegt,
und nun kommen Sie und verlangen von unſerm
gnäd'gen Herrn, daß er ſich das alles ruhig gefallen
läßt, bloß weil es ſo lange her iſt. Was heißt lange
her? Sechs Jahre iſt nicht lange her. Und unſre
gnäd'ge Frau — die aber nicht wiederkommt, der
gnäd'ge Herr hat es mir eben geſagt — unſre gnäd'ge
Frau wird erſt ſechſundzwanzig, und im Auguſt iſt
ihr Geburtstag, und da kommen Sie mir ,mit lange
her'. Und wenn ſie ſechsunddreißig wäre, ich ſage
Ihnen, bei ſechsunddreißig muß man erſt recht auf¬
paſſen, und wenn der gnäd'ge Herr nichts gethan
hätte, dann hätten ihn die vornehmen Leute ,ge¬
ſchnitten‘. Aber das Wort kennen Sie gar nicht,
Roswitha, davon wiſſen Sie nichts.“


„Nein, davon weiß ich nichts, will auch nicht;
[435]Effi Brieſt aber das weiß ich, Johanna, daß Sie in den
gnäd'gen Herrn verliebt ſind.“


Johanna ſchlug eine krampfhafte Lache auf.


„Ja, lachen Sie nur. Ich ſeh' es ſchon lange.
Sie haben ſo 'was. Und ein Glück, daß unſer
gnäd'ger Herr keine Augen dafür hat . . . Die arme
Frau, die arme Frau.“


Johanna lag daran, Frieden zu ſchließen.
‚Laſſen Sie's gut ſein, Roswitha. Sie haben
wieder Ihren Koller; aber ich weiß ſchon, den
haben alle vom Lande.“


„Kann ſchon ſein.“


„Ich will jetzt nur die Briefe forttragen und
unten ſehen, ob der Portier vielleicht ſchon die andere
Zeitung hat. Ich habe doch recht verſtanden, daß
er Lene danach geſchickt hat? Und es muß auch mehr
darin ſtehen; das hier iſt ja ſo gut wie gar nichts.“


28 *
[[436]]

Dreißigſtes Kapitel.

Effi und die Geheimrätin Zwicker waren ſeit
faſt drei Wochen in Ems und bewohnten daſelbſt
das Erdgeſchoß einer reizenden kleinen Villa. In
ihrem zwiſchen ihren zwei Wohnzimmern gelegenen
gemeinſchaftlichen Salon mit Blick auf den Garten
ſtand ein Polyſanderflügel, auf dem Effi dann und
wann eine Sonate, die Zwicker dann und wann
einen Walzer ſpielte; ſie war ganz unmuſikaliſch und
beſchränkte ſich im weſentlichen darauf, für Niemann
als Tannhäuſer zu ſchwärmen.


Es war ein herrlicher Morgen; in dem kleinen
Garten zwitſcherten die Vögel, und aus dem an¬
grenzenden Hauſe, drin ſich ein ,Lokal‛ befand, hörte
man, trotz der frühen Stunde, bereits das Zuſammen¬
ſchlagen der Billardbälle. Beide Damen hatten ihr
Frühſtück nicht im Salon ſelbſt, ſondern auf einem
ein paar Fuß hoch aufgemauerten und mit Kies be¬
ſtreuten Vorplatz eingenommen, von dem aus drei
[437]Effi Brieſt Stufen nach dem Garten hinunter führten; die
Marquiſe, ihnen zu Häupten, war aufgezogen, um
den Genuß der friſchen Luft in nichts zu beſchränken,
und ſowohl Effi wie die Geheimrätin waren ziemlich
emſig bei ihrer Handarbeit. Nur dann und wann
wurden ein paar Worte gewechſelt.


„Ich begreife nicht,“ ſagte Effi, „daß ich ſchon
ſeit vier Tagen keinen Brief habe; er ſchreibt ſonſt
täglich. Ob Annie krank iſt? Oder er ſelbſt?“


Die Zwicker lächelte: „Sie werden erfahren,
liebe Freundin, daß er geſund iſt, ganz geſund.“


Effi fühlte ſich durch den Ton, in dem dies
geſagt wurde, wenig angenehm berührt und ſchien
antworten zu wollen, aber in eben dieſem Augen¬
blicke trat das aus der Umgegend von Bonn ſtammende
Hausmädchen, das ſich von Jugend an daran ge¬
wöhnt hatte, die mannigfachſten Erſcheinungen des
Lebens an Bonner Studenten und Bonner Huſaren
zu meſſen, vom Salon her auf den Vorplatz hinaus,
um hier den Frühſtückstiſch abzuräumen. Sie hieß
Afra.


„Afra,“ ſagte Effi, „es muß doch ſchon neun
ſein; war der Poſtbote noch nicht da?“


„Nein, noch nicht, gnäd'ge Frau.“


„Woran liegt es?“


„Natürlich an dem Poſtboten; er iſt aus dem
[438]Effi Brieſt Siegen'ſchen und hat keinen Schneid. Ich hab's ihm
auch ſchon geſagt, das ſei die ,reine Lodderei‘. Und
wie ihm das Haar ſitzt; ich glaube, er weiß gar
nicht, was ein Scheitel iſt.“


„Afra, Sie ſind 'mal wieder zu ſtreng. Denken
Sie doch: Poſtbote, und ſo Tag aus Tag ein bei
der ewigen Hitze . . .“


„Iſt ſchon recht, gnäd'ge Frau. Aber es giebt
doch andere, die zwingen's; wo's drin ſteckt, da geht
es auch.“ Und während ſie noch ſo ſprach, nahm ſie
das Tablett geſchickt auf ihre fünf Fingerſpitzen und
ſtieg die Stufen hinunter, um durch den Garten hin
den näheren Weg in die Küche zu nehmen.


„Eine hübſche Perſon,“ ſagte die Zwicker. „Und
ſo quick und kaſch, und ich möchte faſt ſagen von
einer natürlichen Anmut. Wiſſen Sie, liebe Baronin,
daß mich dieſe Afra . . . übrigens ein wundervoller
Name, und es ſoll ſogar eine heilige Afra gegeben
haben, aber ich glaube nicht, daß unſere davon ab¬
ſtammt . . .“


„Und nun, liebe Geheimrätin, vertiefen Sie ſich
wieder in Ihr Nebenthema, das diesmal Afra heißt,
und vergeſſen darüber ganz, was Sie eigentlich ſagen
wollten . . .“


„Doch nicht, liebe Freundin, oder ich finde mich
wenigſtens wieder zurück. Ich wollte ſagen, daß
[439]Effi Brieſt mich dieſe Afra ganz ungemein an die ſtattliche Perſon
erinnert, die ich in Ihrem Hauſe . . .“


„Ja, Sie haben recht. Es iſt eine Ähnlichkeit
da. Nur unſer Berliner Hausmädchen iſt doch er¬
heblich hübſcher und namentlich ihr Haar viel ſchöner
und voller. Ich habe ſo ſchönes flachſenes Haar,
wie unſere Johanna hat, überhaupt noch nicht ge¬
ſehen. Ein bißchen davon ſieht man ja wohl, aber
ſolche Fülle . . .“


Die Zwicker lächelte. „Das iſt wirklich ſelten,
daß man eine junge Frau mit ſolcher Begeiſterung
von dem flachſenen Haar ihres Hausmädchens ſprechen
hört. Und nun auch noch von der Fülle! Wiſſen
Sie, daß ich das rührend finde. Denn eigentlich iſt
man doch bei der Wahl der Mädchen in einer be¬
ſtändigen Verlegenheit. Hübſch ſollen ſie ſein, weil
es jeden Beſucher, wenigſtens die Männer, ſtört,
eine lange Stakete mit grieſem Teint und ſchwarzen
Rändern in der Thüröffnung erſcheinen zu ſehen,
und ein wahres Glück, daß die Korridore meiſtens
ſo dunkel ſind. Aber nimmt man wieder zu viel
Rückſicht auf ſolche Hausrepräſentation und den ſo¬
genannten erſten Eindruck und ſchenkt man wohl
gar noch einer ſolchen hübſchen Perſon eine weiße
Tändelſchürze nach der andern, ſo hat man eigentlich
keine ruhige Stunde mehr und fragt ſich, wenn man
[440]Effi Brieſt nicht zu eitel iſt und nicht zu viel Vertrauen zu
ſich ſelber hat, ob da nicht Remedur geſchaffen werden
müſſe. Remedur war nämlich ein Lieblingswort
von Zwicker, womit er mich oft gelangweilt hat;
aber freilich, alle Geheimräte haben ſolche Lieblings¬
worte.“


Effi hörte mit ſehr geteilten Empfindungen zu.
Wenn die Geheimrätin nur ein bißchen anders ge¬
weſen wäre, ſo hätte dies alles reizend ſein können,
aber da ſie nun 'mal war wie ſie war, ſo fühlte
ſich Effi wenig angenehm von dem berührt, was ſie
ſonſt vielleicht einfach erheitert hätte.


„Das iſt ſchon recht, liebe Freundin, was Sie
da von den Geheimräten ſagen. Innſtetten hat ſich
auch dergleichen angewöhnt, lacht aber immer, wenn
ich ihn darauf hin anſehe und entſchuldigt ſich hinter¬
her wegen der Aktenausdrücke. Ihr Herr Gemahl
war freilich ſchon länger im Dienſt und überhaupt
wohl älter . . .“


„Um ein geringes,“ ſagte die Geheimrätin ſpitz
und ablehnend.


„Und alles in allem kann ich mich in Be¬
fürchtungen, wie Sie ſie ausſprechen, nicht recht zu¬
rechtfinden. Das, was man gute Sitte nennt, iſt
doch immer noch eine Macht . . .“


„Meinen Sie?“


[441]Effi Brieſt

„. . . Und ich kann mir namentlich nicht denken,
daß es gerade Ihnen, liebe Freundin, beſchieden ge¬
weſen ſein ſollte, ſolche Sorgen und Befürchtungen
durchzumachen. Sie haben, Verzeihung, daß ich dieſen
Punkt hier ſo offen berühre, gerade das, was die
Männer einen ‚Charme‘ nennen, Sie ſind heiter,
feſſelnd, anregend und, wenn es nicht indiskret iſt,
ſo möcht' ich, angeſichts dieſer Ihrer Vorzüge, wohl
fragen dürfen, ſtützt ſich das, was Sie da ſagen,
auf allerlei Schmerzliches, das Sie perſönlich erlebt
haben?“


„Schmerzliches?“ ſagte die Zwicker. „Ach, meine
liebe, gnädigſte Frau, Schmerzliches, das iſt ein zu
großes Wort, auch dann noch, wenn man vielleicht
wirklich manches erlebt hat. Schmerzlich iſt einfach
zu viel, viel zu viel. Und dann hat man doch
ſchließlich auch ſeine Hülfsmittel und Gegenkräfte.
Sie dürfen dergleichen nicht zu tragiſch nehmen.“


„Ich kann mir keine rechte Vorſtellung von dem
machen, was Sie anzudeuten belieben. Nicht, als
ob ich nicht wüßte, was Sünde ſei, das weiß ich
auch; aber es iſt doch ein Unterſchied, ob man ſo
hineingerät in allerlei ſchlechte Gedanken oder ob
einem derlei Dinge zur halben oder auch wohl zur
ganzen Lebensgewohnheit werden. Und nun gar im
eigenen Hauſe . . .“


[442]Effi Brieſt

„Davon will ich nicht ſprechen, das will ich
nicht ſo direkt geſagt haben, obwohl ich, offen ge¬
ſtanden, auch nach dieſer Seite hin voller Mißtrauen
bin, oder, wie ich jetzt ſagen muß, war; denn es
liegt ja alles zurück. Aber da giebt es Außengebiete.
Haben Sie von Landpartien gehört?“


„Gewiß. Und ich wollte wohl, Innſtetten hätte
mehr Sinn dafür . . .“


„Überlegen Sie ſich das, liebe Freundin. Zwicker
ſaß immer in Saatwinkel. Ich kann Ihnen nur
ſagen, wenn ich das Wort höre, giebt es mir noch
jetzt einen Stich ins Herz. Überhaupt dieſe Ver¬
gnügungsörter in der Umgegend unſeres lieben, alten
Berlin! Denn ich liebe Berlin trotz alledem. Aber
ſchon die bloßen Namen der dabei in Frage kommen¬
den Ortſchaften umſchließen eine Welt von Angſt und
Sorge. Sie lächeln. Und doch, ſagen Sie ſelbſt,
liebe Freundin, was können Sie von einer großen
Stadt und ihren Sittlichkeitszuſtänden erwarten, wenn
Sie beinah' unmittelbar vor den Thoren derſelben
(denn zwiſchen Charlottenburg und Berlin iſt kein
rechter Unterſchied mehr), auf kaum tauſend Schritte
zuſammengedrängt, einem Pichelsberg, einem Pichels¬
dorf und einem Pichelswerder begegnen. Dreimal
Pichel iſt zu viel. Sie können die ganze Welt ab¬
ſuchen, das finden Sie nicht wieder.“


[443]Effi Brieſt

Effi nickte.


„Und das alles,“ fuhr die Zwicker fort, „ge¬
ſchieht am grünen Holze der Havelſeite. Das alles
liegt nach Weſten zu, da haben Sie Kultur und
höhere Geſittung. Aber nun gehen Sie, meine
Gnädigſte, nach der andern Seite hin, die Spree
hinauf. Ich ſpreche nicht von Treptow und Stralau,
das ſind Bagatellen, Harmloſigkeiten, aber wenn Sie
die Spezialkarte zur Hand nehmen wollen, da be¬
gegnen Sie neben mindeſtens ſonderbaren Namen
wie Kiekebuſch, wie Wuhlheide . . . Sie hätten hören
ſollen, wie Zwicker das Wort ausſprach . . . Namen
von geradezu brutalem Charakter, mit denen ich Ihr
Ohr nicht verletzen will. Aber natürlich ſind das
gerade die Plätze, die bevorzugt werden. Ich haſſe
dieſe Landpartieen, die ſich das Volksgemüt als eine
Kremſerpartie mit ‚Ich bin ein Preuße‘ vorſtellt, in
Wahrheit aber ſchlummern hier die Keime einer
ſozialen Revolution. Wenn ich ſage ſoziale Revolution,
ſo meine ich natürlich moraliſche Revolution, alles
andere iſt bereits wieder überholt, und ſchon Zwicker
ſagte mir noch in ſeinen letzten Tagen: ‚Glaube mir,
Sophie, Saturn frißt ſeine Kinder.‘ Und Zwicker,
welche Mängel und Gebrechen er haben mochte, das
bin ich ihm ſchuldig, er war ein philoſophiſcher
Kopf und hatte ein natürliches Gefühl für hiſtoriſche
[444]Effi BrieſtEntwickelung . . . Aber ich ſehe, meine liebe Frau
von Innſtetten, ſo artig ſie ſonſt iſt, hört nur noch
mit halbem Ohr zu; natürlich, der Poſtbote hat ſich
drüben blicken laſſen, und da fliegt denn das Herz
hinüber und nimmt die Liebesworte vorweg aus dem
Briefe heraus . . . Nun, Böſelager, was bringen Sie?“


Der Angeredete war mittlerweile bis an den
Tiſch herangetreten und packte aus: mehrere Zeitungen,
zwei Friſeuranzeigen und zuletzt auch einen großen
eingeſchriebenen Brief an Frau Baronin von Inn¬
ſtetten, geb. von Brieſt.


Die Empfängerin unterſchrieb, und nun ging
der Poſtbote wieder. Die Zwicker aber überflog die
Friſeuranzeigen und lachte über die Preisermäßigung
von Shampooing.


Effi hörte nicht hin; ſie drehte den ihrerſeits
empfangenen Brief zwiſchen den Fingern und hatte
eine ihr unerklärliche Scheu, ihn zu öffnen. Ein¬
geſchrieben und mit zwei großen Siegeln geſiegelt
und ein dickes Couvert. Was bedeutete das? Poſt¬
ſtempel : „Hohen-Cremmen“, und die Adreſſe von der
Handſchrift der Mutter. Von Innſtetten, es war
der fünfte Tag, keine Zeile.


Sie nahm eine Stickſchere mit Perlmuttergriff
und ſchnitt die Längsſeite des Briefes langſam auf.
Und nun harrte ihrer eine neue Überraſchung. Der
[445]Effi Brieſt Briefbogen, ja das waren eng geſchriebene Zeilen
von der Mama, darin eingelegt aber waren Geld¬
ſcheine mit einem breiten Papierſtreifen drum herum,
auf dem mit Rotſtift, und zwar von des Vaters
Hand, der Betrag der eingelegten Summe verzeichnet
war. Sie ſchob das Konvolut zurück und begann
zu leſen, während ſie ſich in den Schaukelſtuhl zurück¬
lehnte. Aber ſie kam nicht weit, die Zeilen entfielen
ihr, und aus ihrem Geſicht war alles Blut fort.
Dann bückte ſie ſich und nahm den Brief wieder auf.


„Was iſt Ihnen, liebe Freundin? Schlechte
Nachrichten?“


Effi nickte, gab aber weiter keine Antwort und
bat nur, ihr ein Glas Waſſer reichen zu wollen.
Als ſie getrunken, ſagte ſie: „Es wird vorüber gehen,
liebe Geheimrätin, aber ich möchte mich doch einen
Augenblick zurückziehen . . . Wenn Sie mir Afra
ſchicken könnten.“


Und nun erhob ſie ſich und trat in den Salon
zurück, wo ſie ſichtlich froh war, einen Halt gewinnen
und ſich an dem Polyſanderflügel entlang fühlen zu
können. So kam ſie bis an ihr nach rechts hin ge¬
legenes Zimmer, und als ſie hier, tappend und ſuchend,
die Thür geöffnet und das Bett an der Wand gegen¬
über erreicht hatte, brach ſie ohnmächtig zuſammen.

[[446]]

Einunddreißigſtes Kapitel.

Minuten vergingen. Als Effi ſich wieder erholt
hatte, ſetzte ſie ſich auf einen am Fenſter ſtehenden
Stuhl und ſah auf die ſtille Straße hinaus. Wenn
da doch Lärm und Streit geweſen wäre; aber nur
der Sonnenſchein lag auf dem chauſſierten Wege
und dazwiſchen die Schatten, die das Gitter und
die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinſeins in
der Welt überkam ſie mit ſeiner ganzen Schwere.
Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling
aller, die ſie kannten, und nun ausgeſtoßen. Sie
hatte nur erſt den Anfang des Briefes geleſen, aber
genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.
Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch
war ſie voll tiefer Sehnſucht, aus dem herauszukommen,
was ſie hier umgab, alſo fort von dieſer Geheimrätin,
der das alles bloß ein „intereſſanter Fall“ war,
und deren Teilnahme, wenn etwas davon exiſtierte,
ſicher an das Maß ihrer Neugier nicht heran reichte.


[447]Effi Brieſt

„Wohin?“


Auf dem Tiſche vor ihr lag der Brief; aber
ihr fehlte der Mut, weiter zu leſen. Endlich ſagte
ſie: „Wovor bange ich mich noch? Was kann noch
geſagt werden, das ich mir nicht ſchon ſelber ſagte?
Der, um den all' dies kam, iſt tot, eine Rückkehr in
mein Haus giebt es nicht, in ein paar Wochen wird
die Scheidung ausgeſprochen ſein, und das Kind
wird man dem Vater laſſen. Natürlich. Ich bin
ſchuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht
erziehen. Und wovon auch? Mich ſelbſt werde ich wohl
durchbringen. Ich will ſehen, was die Mama darüber
ſchreibt, wie ſie ſich mein Leben denkt.“


Und unter dieſen Worten nahm ſie den Brief
wieder, um auch den Schluß zu leſen.


„. . . Und nun Deine Zukunft, meine liebe
Effi. Du wirſt Dich auf Dich ſelbſt ſtellen müſſen,
und darfſt dabei, ſo weit äußere Mittel mitſprechen,
unſerer Unterſtützung ſicher ſein. Du wirſt am beſten
in Berlin leben (in einer großen Stadt verthut ſich
dergleichen am beſten) und wirſt da zu den vielen
gehören, die ſich um freie Luft und lichte Sonne
gebracht haben. Du wirſt einſam leben, und wenn
Du das nicht willſt, wahrſcheinlich aus Deiner Sphäre
herabſteigen müſſen. Die Welt, in der Du gelebt
haſt, wird Dir verſchloſſen ſein. Und was das
[448]Effi Brieſt Traurigſte für uns und für Dich iſt (auch für Dich,
wie wir Dich zu kennen vermeinen) — auch das
elterliche Haus wird Dir verſchloſſen ſein; wir können
Dir keinen ſtillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten,
keine Zuflucht in unſerem Hauſe, denn es hieße das,
dies Haus von aller Welt abſchließen, und das zu
thun, ſind wir entſchieden nicht geneigt. Nicht weil
wir zu ſehr an der Welt hingen und ein Abſchied¬
nehmen von dem, was ſich ,Geſellſchaft‘ nennt, uns
als etwas unbedingt Unerträgliches erſchiene; nein,
nicht deshalb, ſondern einfach weil wir Farbe bekennen,
und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht
erſparen, unſere Verurteilung Deines Thuns, des
Thuns unſeres einzigen und von uns ſo ſehr geliebten
Kindes ausſprechen wollen . . .“


Effi konnte nicht weiter leſen; ihre Augen
füllten ſich mit Thränen, und nachdem ſie vergeblich
dagegen angekämpft hatte, brach ſie zuletzt in ein
heftiges Schluchzen und Weinen aus, darin ſich ihr
Herz erleichterte.


Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf
Effi's „Herein“ erſchien die Geheimrätin.


„Darf ich eintreten?“


„Gewiß, liebe Geheimrätin,“ ſagte Effi, die
jetzt, leicht zugedeckt und die Hände gefaltet, auf dem
[449]Effi Brieſt Sofa lag. „Ich bin erſchöpft und habe mich hier
eingerichtet, ſo gut es ging. Darf ich Sie bitten,
ſich einen Stuhl zu nehmen.“


Die Geheimrätin ſetzte ſich ſo, daß der Tiſch,
mit einer Blumenſchale darauf, zwiſchen ihr und
Effi war. Effi zeigte keine Spur von Verlegenheit
und änderte nichts in ihrer Haltung, nicht einmal
die gefalteten Hände. Mit einemmale war es ihr
vollkommen gleichgültig, was die Frau dachte; nur
fort wollte ſie.


„Sie haben eine traurige Nachricht empfangen,
liebe, gnädigſte Frau . . .“


„Mehr als traurig,“ ſagte Effi. „Jedenfalls
traurig genug, um unſerem Beiſammenſein ein raſches
Ende zu machen. Ich muß noch heute fort.“


„Ich möchte nicht zudringlich erſcheinen, aber
iſt es etwas mit Annie?“


„Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen
überhaupt nicht aus Berlin, es waren Zeilen meiner
Mama. Sie hat Sorgen um mich, und es liegt
mir daran, ſie zu zerſtreuen, oder wenn ich das nicht
kann, wenigſtens an Ort und Stelle zu ſein.“


„Mir nur zu begreiflich, ſo ſehr ich es beklage,
dieſe letzten Emſer Tage nun ohne Sie verbringen
zu ſollen. Darf ich Ihnen meine Dienſte zur Ver¬
fügung ſtellen?“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 29[450]Effi Brieſt

Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra
ein und meldete, daß man ſich eben zum Lunch
verſammle. Die Herrſchaften ſeien alle ſehr in
Aufregung: der Kaiſer käme wahrſcheinlich auf drei
Wochen, und am Schluß ſeien große Manöver, und
die Bonner Huſaren kämen auch.


Die Zwicker überſchlug ſofort, ob es ſich verlohnen
würde, bis dahin zu bleiben, kam zu einem entſchiedenen
„Ja“ und ging dann, um Effi's Ausbleiben beim
Lunch zu entſchuldigen.


Als gleich danach auch Afra gehen wollte, ſagte
Effi: „Und dann, Afra, wenn Sie frei ſind, kommen
Sie wohl noch eine Viertelſtunde zu mir, um mir
beim Packen behülflich zu ſein. Ich will heute noch
mit dem Sieben-Uhr-Zuge fort.“


„Heute noch? Ach, gnädigſte Frau, das iſt
doch aber ſchade. Nun fangen ja die ſchönen Tage
erſt an.“


Effi lächelte.


Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte,
hatte ſich nur mit Mühe beſtimmen laſſen, der „Frau
Baronin“ beim Abſchiede nicht das Geleit zu geben.
„Auf einem Bahnhofe,“ ſo hatte Effi verſichert, „ſei
man immer ſo zerſtreut und nur mit ſeinem Platz
und ſeinem Gepäck beſchäftigt; gerade Perſonen, die
[451]Effi Brieſt man lieb habe, von denen nähme man gern vorher
Abſchied.“ Die Zwicker beſtätigte das, trotzdem ſie
das Vorgeſchützte darin ſehr wohl herausfühlte; ſie
hatte hinter allen Thüren geſtanden und wußte gleich,
was echt und unecht war.


Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ ſich
feſt verſprechen, daß die Frau Baronin im nächſten
Sommer wiederkommen wolle; wer 'mal in Ems
geweſen, der komme immer wieder. Ems ſei das
ſchönſte, außer Bonn.


Die Zwicker hatte ſich mittlerweile zum Brief¬
ſchreiben niedergeſetzt, nicht an dem etwas wackligen
Rokokoſekretär im Salon, ſondern draußen auf der
Veranda, an demſelben Tiſch, an dem ſie kaum zehn
Stunden zuvor mit Effi das Frühſtück genommen
hatte.


Sie freute ſich auf den Brief, der einer be¬
freundeten, zur Zeit in Reichenhall weilenden Berliner
Dame zu gute kommen ſollte. Beider Seelen hatten
ſich längſt gefunden und gipfelten in einer der ganzen
Männerwelt geltenden ſtarken Skepſis; ſie fanden
die Männer durchweg weit zurückbleibend hinter dem,
was billigerweiſe gefordert werden könne, die ſo¬
genannten „forſchen“ am meiſten. „Die, die vor
Verlegenheit nicht wiſſen, wo ſie hinſehen ſollen, ſind,
nach einem kurzen Vorſtudium, immer noch die beſten,
29 *[452]Effi Brieſtaber die eigentlichen Don Juans erweiſen ſich jedes¬
mal als eine Enttäuſchung. Wo ſoll es am Ende
auch herkommen.“ Das waren ſo Weisheitsſätze, die
zwiſchen den zwei Freundinnen ausgetauſcht wurden.


Die Zwicker war ſchon auf dem zweiten Bogen
und fuhr in ihrem mehr als dankbaren Thema, das
natürlich „Effi“ hieß, eben wie folgt fort: „Alles in
allem war ſie ſehr zu leiden, artig, anſcheinend offen,
ohne jeden Adelsdünkel (oder doch groß in der Kunſt,
ihn zu verbergen) und immer intereſſiert, wenn man
ihr etwas Intereſſantes erzählte, wovon ich, wie ich
Dir nicht zu verſichern brauche, den ausgiebigſten
Gebrauch machte. Nochmals alſo, reizende junge
Frau, fünfundzwanzig oder nicht viel mehr. Und
doch hab' ich dem Frieden nie getraut und traue
ihm auch in dieſem Augenblicke noch nicht, ja, jetzt
vielleicht am wenigſten. Die Geſchichte heute mit
dem Briefe — da ſteckt eine wirkliche Geſchichte da¬
hinter. Deſſen bin ich ſo gut wie ſicher. Es wäre
das erſte Mal, daß ich mich in ſolcher Sache geirrt
hätte. Daß ſie mit Vorliebe von den Berliner Mode¬
predigern ſprach und das Maß der Gottſeligkeit jedes
einzelnen feſtſtellte, das, und der gelegentliche Gretchen¬
blick, der jedesmal verſicherte, kein Wäſſerchen trüben
zu können — alle dieſe Dinge haben mich in meinem
Glauben . . . Aber da kommt eben unſere Afra, von
[453]Effi Brieſt der ich Dir, glaub' ich, ſchon ſchrieb, eine hübſche
Perſon, und packt mir ein Zeitungsblatt auf den
Tiſch, das ihr, wie ſie ſagt, unſere Frau Wirtin für
mich gegeben habe; die blau angeſtrichene Stelle.
Nun verzeih', wenn ich dieſe Stelle erſt leſe . . .


Nachſchrift. Das Zeitungsblatt war intereſſant
genug und kam wie gerufen. Ich ſchneide die blau
angeſtrichene Stelle heraus und lege ſie dieſen Zeilen
bei. Du ſiehſt daraus, daß ich mich nicht geirrt
habe. Wer mag nur der Crampas ſein? Es iſt
unglaublich — erſt ſelber Zettel und Briefe ſchreiben
und dann auch noch die des anderen aufbewahren!
Wozu giebt es Öfen und Kamine? So lange
wenigſtens wie dieſer Duellunſinn noch exiſtiert, darf
dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Ge¬
ſchlechte kann dieſe Briefſchreibepaſſion (weil dann
gefahrlos geworden) vielleicht freigegeben werden.
Aber ſo weit ſind wir noch lange nicht. Übrigens
bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und
finde, eitel wie man nun 'mal iſt, meinen einzigen
Troſt darin, mich in der Sache ſelbſt nicht getäuſcht
zu haben. Und der Fall lag nicht ſo ganz gewöhn¬
lich. Ein ſchwächerer Diagnoſtiker hätte ſich doch
vielleicht hinters Licht führen laſſen. Wie immer
Deine Sophie.“

[[454]]

Zweiunddreißigſtes Kapitel.

Drei Jahre waren vergangen, und Effi be¬
wohnte ſeit faſt eben ſo langer Zeit eine kleine
Wohnung in der Königgrätzerſtraße, zwiſchen As¬
kaniſchem Platz und Halleſchem Thor: ein Vorder-
und Hinterzimmer, und hinter dieſem die Küche mit
Mädchengelaß, alles ſo durchſchnittsmäßig und all¬
täglich wie nur möglich. Und doch war es eine
apart hübſche Wohnung, die jedem, der ſie ſah, an¬
genehm auffiel, am meiſten vielleicht dem alten Ge¬
heimrat Rummſchüttel, der, dann und wann vor¬
ſprechend, der armen jungen Frau nicht bloß die nun
weit zurückliegende Rheumatismus- und Neuralgie-
Komödie, ſondern auch alles, was ſeitdem ſonſt noch
vorgekommen war, längſt verziehen hatte, wenn es
für ihn der Verzeihung überhaupt bedurfte. Denn
Rummſchüttel kannte noch ganz anderes. Er war
jetzt ausgangs ſiebzig, aber wenn Effi, die ſeit einiger
Zeit ziemlich viel kränkelte, ihn brieflich um ſeinen
Beſuch bat, ſo war er am anderen Vormittag auch
[455]Effi Brieſt da und wollte von Entſchuldigungen, daß es ſo hoch
ſei, nichts wiſſen. „Nur keine Entſchuldigungen, meine
liebe, gnädigſte Frau; denn erſtens iſt es mein Metier,
und zweitens bin ich glücklich und beinahe ſtolz, die
drei Treppen ſo gut noch ſteigen zu können. Wenn
ich nicht fürchten müßte, Sie zu beläſtigen — denn
ich komme doch ſchließlich als Arzt und nicht als
Naturfreund und Landſchaftsſchwärmer —, ſo käme
ich wohl noch öfter, bloß um Sie zu ſehen und mich
hier etliche Minuten an Ihr Hinterfenſter zu ſetzen.
Ich glaube, Sie würdigen den Ausblick nicht genug.“


„O doch, doch,“ ſagte Effi; Rummſchüttel aber ließ
ſich nicht ſtören und fuhr fort: „Bitte, meine gnädigſte
Frau, treten Sie hier heran, nur einen Augenblick, oder
erlauben Sie mir, daß ich Sie bis an das Fenſter
führe. Wieder ganz herrlich heute. Sehen Sie doch
nur die verſchiedenen Bahndämme, drei, nein vier,
und wie es beſtändig darauf hin und her gleitet . . .
und nun verſchwindet der Zug da wieder hinter einer
Baumgruppe. Wirklich herrlich. Und wie die Sonne
den weißen Rauch durchleuchtet! Wäre der Matthäi¬
kirchhof nicht unmittelbar dahinter, ſo wäre es ideal.“


„Ich ſehe gern Kirchhöfe.“


„Ja, Sie dürfen das ſagen. Aber unſerein! Unſer¬
einem kommt unabweislich immer die Frage, könnten
hier nicht vielleicht einige weniger liegen? Im übrigen,
[456]Effi Brieſtmeine gnädigſte Frau, bin ich mit Ihnen zufrieden und
beklage nur, daß Sie von Ems nichts wiſſen wollen;
Ems, bei Ihren katarrhaliſchen Affektionen, würde
Wunder . . .“


Effi ſchwieg.


„Ems würde Wunder thun. Aber da Sie's
nicht mögen (und ich finde mich darin zurecht), ſo
trinken Sie den Brunnen hier. In drei Minuten
ſind Sie im Prinz Albrecht'ſchen Garten, und wenn
auch die Muſik und die Toiletten und all' die
Zerſtreuungen einer regelrechten Brunnenpromenade
fehlen, der Brunnen ſelbſt iſt doch die Hauptſache.“


Effi war einverſtanden, und Rummſchüttel nahm
Hut und Stock. Aber er trat noch einmal an das
Fenſter heran. „Ich höre von einer Terraſſierung
des Kreuzbergs ſprechen, Gott ſegne die Stadt¬
verwaltung, und wenn dann erſt die kahle Stelle
da hinten mehr in Grün ſtehen wird . . . Eine
reizende Wohnung. Ich könnte Sie faſt beneiden . . .
Und was ich ſchon längſt einmal ſagen wollte, meine
gnädige Frau, Sie ſchreiben mir immer einen ſo
liebenswürdigen Brief. Nun, wer freute ſich deſſen
nicht? Aber es iſt doch jedesmal eine Mühe . . .
Schicken Sie mir doch einfach Roswitha.“


Effi dankte ihm, und ſo ſchieden ſie.


[457]Effi Brieſt

„Schicken Sie mir doch einfach Roswitha . . .“
hatte Rummſchüttel geſagt. Ja, war denn Roswitha
bei Effi? war ſie denn ſtatt in der Keith- in der
Königgrätzerſtraße? Gewiß war ſie's und zwar ſehr
lange ſchon, gerade ſo lange, wie Effi ſelbſt in der
Königgrätzerſtraße wohnte. Schon drei Tage vor
dieſem Einzug hatte ſich Roswitha bei ihrer lieben
gnädigen Frau ſehen laſſen, und das war ein großer
Tag für beide geweſen, ſo ſehr, daß dieſes Tages
hier noch nachträglich gedacht werden muß.


Effi hatte damals, als der elterliche Abſagebrief
aus Hohen-Cremmen kam und ſie mit dem Abend¬
zuge von Ems nach Berlin zurückreiſte, nicht gleich
eine ſelbſtändige Wohnung genommen, ſondern es
mit einem Unterkommen in einem Penſionate ver¬
ſucht. Es war ihr damit auch leidlich geglückt. Die
beiden Damen, die dem Penſionate vorſtanden, waren
gebildet und voll Rückſicht und hatten es längſt ver¬
lernt, neugierig zu ſein. Es kam da ſo vieles zu¬
ſammen, daß ein Eindringenwollen in die Geheim¬
niſſe jedes einzelnen viel zu umſtändlich geweſen
wäre. Dergleichen hinderte nur den Geſchäftsgang.
Effi, die die mit den Augen angeſtellten Kreuzverhöre
der Zwicker noch in Erinnerung hatte, fühlte ſich
denn auch von dieſer Zurückhaltung der Penſions¬
damen ſehr angenehm berührt, als aber vierzehn
[458]Effi Brieſt Tage vorüber waren, empfand ſie doch deutlich, daß
die hier herrſchende Geſamtatmoſphäre, die phyſiſche
wie die moraliſche, nicht wohl ertragbar für ſie ſei.
Bei Tiſch waren ſie zumeiſt zu ſieben, und zwar
außer Effi und der einen Penſionsvorſteherin (die
andere leitete draußen das Wirtſchaftliche) zwei die
Hochſchule beſuchende Engländerinnen, eine adelige
Dame aus Sachſen, eine ſehr hübſche galiziſche Jüdin,
von der niemand wußte, was ſie eigentlich vorhatte,
und eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern,
die Malerin werden wollte. Das war eine ſchlimme
Zuſammenſetzung, und die gegenſeitigen Überheblich¬
keiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdiger¬
weiſe nicht abſolut obenan ſtanden, ſondern mit der
vom höchſten Malergefühl erfüllten Polzinerin um
die Palme rangen, waren unerquicklich; dennoch wäre
Effi, die ſich paſſiv verhielt, über den Druck, den
dieſe geiſtige Atmoſphäre übte, hinweggekommen, wenn
nicht, rein phyſiſch und äußerlich, die ſich hinzu¬
geſellende Penſionsluft geweſen wäre. Woraus ſich
dieſe eigentlich zuſammenſetzte, war vielleicht überhaupt
unerforſchlich, aber daß ſie der ſehr empfindlichen
Effi den Atem raubte, war nur zu gewiß, und
ſo ſah ſie ſich, aus dieſem äußerlichen Grunde, ſehr
bald ſchon zur Aus- und Umſchau nach einer anderen
Wohnung gezwungen, die ſie denn auch in verhältnis¬
[459]Effi Brieſt mäßiger Nähe fand. Es war dies die vorgeſchilderte
Wohnung in der Königgrätzerſtraße. Sie ſollte die¬
ſelbe zu Beginn des Herbſtvierteljahrs beziehen, hatte
das Nötige dazu beſchafft und zählte während der
letzten Septembertage die Stunden bis zur Erlöſung
aus dem Penſionat.


An einem dieſer letzten Tage — ſie hatte ſich
eine Viertelſtunde zuvor aus dem Eßzimmer zurück¬
gezogen und gedachte ſich eben auf einem mit einem
großblumigen Wollſtoff überzogenen Seegras-Sofa
auszuruhen —, wurde leiſe an ihre Thür geklopft.


„Herein.“


Das eine Hausmädchen, eine kränklich ausſehende
Perſon von Mitte Dreißig, die, durch beſtändigen
Aufenthalt auf dem Korridor des Penſionats, den
hier lagernden Dunſtkreis überall hin in ihren Falten
mitſchleppte, trat ein und ſagte: „Die gnädige Frau
möchte entſchuldigen, aber es wolle ſie jemand
ſprechen.“


„Wer?“


„Eine Frau.“


„Und hat ſie ihren Namen genannt?“


„Ja. Roswitha.“


Und ſiehe da, kaum daß Effi dieſen Namen ge¬
hört hatte, ſo ſchüttelte ſie den Halbſchlaf von ſich
ab und ſprang auf und lief auf den Korridor hinaus,
[460]Effi Brieſt um Roswitha bei beiden Händen zu faſſen und in
ihr Zimmer zu ziehen.


„Roswitha. Du. Iſt das eine Freude. Was
bringſt Du? Natürlich 'was Gutes. Ein ſo gutes
altes Geſicht kann nur 'was Gutes bringen. Ach,
wie glücklich ich bin, ich könnte Dir einen Kuß geben;
ich hätte nicht gedacht, daß ich noch ſolche Freude
haben könnte. Mein gutes altes Herz, wie geht es
Dir denn? Weißt Du noch, wie's damals war, als
der Chineſe ſpukte? Das waren glückliche Zeiten.
Ich habe damals gedacht, es wären unglückliche,
weil ich das Harte des Lebens noch nicht kannte.
Seitdem habe ich es kennen gelernt. Ach, Spuk iſt
lange nicht das ſchlimmſte! Komm, meine gute
Roswitha, komm, ſetze Dich hier zu mir und erzähle
mir . . . Ach, ich habe ſolche Sehnſucht. Was macht
Annie?“


Roswitha konnte kaum reden und ſah ſich in
dem ſonderbaren Zimmer um, deſſen grau und ver¬
ſtaubt ausſehende Wände in ſchmale Goldleiſten ge¬
faßt waren. Endlich aber fand ſie ſich und ſagte,
daß der gnädige Herr nun wieder aus Glatz zurück
ſei; der alte Kaiſer habe geſagt, „ſechs Wochen in
ſolchem Falle ſei gerade genug,“ und auf den Tag,
wo der gnädige Herr wieder da ſein würde, darauf
habe ſie bloß gewartet, wegen Annie, die doch eine
[461]Effi Brieſt Aufſicht haben müſſe. Denn Johanna ſei wohl eine
ſehr propre Perſon, aber ſie ſei doch noch zu hübſch
und beſchäftige ſich noch zu viel mit ſich ſelbſt und
denke vielleicht Gott weiß was alles. Aber nun, wo
der gnädige Herr wieder aufpaſſen und in allem
nach dem Rechten ſehen könne, da habe ſie ſich's
doch anthun wollen und 'mal ſehen, wie's der gnädigen
Frau gehe . . .


„Das iſt recht, Roswitha . . .“


. . Und habe 'mal ſehen wollen, ob der gnädigen
Frau was fehle und ob ſie ſie vielleicht brauche,
dann wolle ſie gleich hier bleiben und beiſpringen
und alles machen und dafür ſorgen, daß es der
gnädigen Frau wieder gut ginge.


Effi hatte ſich in die Sofaecke zurückgelehnt und
die Augen geſchloſſen. Aber mit eins richtete ſie
ſich auf und ſagte: „Ja, Roswitha, was Du da
ſagſt, das iſt ein Gedanke; das iſt 'was. Denn Du
mußt wiſſen, ich bleibe hier nicht in dieſer Penſion,
ich habe da weiterhin eine Wohnung gemietet und
auch Einrichtung beſorgt und in drei Tagen will
ich da einziehen. Und wenn ich da mit Dir ankäme
und zu Dir ſagen könnte: ,Nein, Roswitha, da
nicht, der Schrank muß dahin und der Spiegel da‘,
ja, das wäre 'was, das ſollte mir ſchon gefallen.
Und wenn wir dann müde von all' der Plackerei
[462]Effi Brieſt wären, dann ſagte ich: ‚Nun, Roswitha, gehe da
hinüber und hole uns eine Karaffe Spatenbräu,
denn wenn man gearbeitet hat, dann will man doch
auch trinken, und wenn Du kannſt, ſo bring' uns
auch etwas Gutes aus dem Habsburger Hof mit,
Du kannſt ja das Geſchirr nachher wieder herüber
bringen, —' ja, Roswitha, wenn ich mir das denke,
da wird mir ordentlich leichter ums Herz. Aber ich
muß Dich doch fragen, haſt Du Dir auch alles
überlegt? Von Annie will ich nicht ſprechen, an
der Du doch hängſt, ſie iſt ja faſt wie Dein eigen
Kind, — aber trotzdem, für Annie wird ſchon ge¬
ſorgt werden, und die Johanna hängt ja auch an
ihr. Alſo davon nichts. Aber bedenke, wie ſich alles
verändert hat, wenn Du wieder zu mir willſt. Ich
bin nicht mehr wie damals; ich habe jetzt eine ganz
kleine Wohnung genommen, und der Portier wird
ſich wohl nicht ſehr um Dich und um mich bemühen.
Und wir werden eine ſehr kleine Wirtſchaft haben,
immer das, was wir ſonſt unſer Donnerstag-Eſſen
nannten, weil da rein gemacht wurde. Weißt Du
noch? Und weißt Du noch, wie der gute Gieshübler
'mal dazu kam und ſich zu uns ſetzen mußte, und
wie er dann ſagte: ‚So 'was Delikates habe er noch
nie gegeſſen.' Du wirſt Dich noch erinnern, er war
immer ſo ſchrecklich artig, denn eigentlich war er
[463]Effi Brieſt doch der einzige Menſch in der Stadt, der von Eſſen
'was verſtand. Die andern fanden alles ſchön.“


Roswitha freute ſich über jedes Wort und ſah
ſchon alles in beſtem Gange, bis Effi wieder ſagte:
„Haſt Du Dir das alles überlegt? Denn Du biſt
doch — ich muß das ſagen, wiewohl es meine eigne
Wirtſchaft war —, Du biſt doch nun durch viele
Jahre hin verwöhnt, und es kam nie darauf an,
wir hatten es nicht nötig, ſparſam zu ſein; aber
jetzt muß ich ſparſam ſein, denn ich bin arm und
habe nur, was man mir giebt, Du weißt von
Hohen-Cremmen her. Meine Eltern ſind ſehr gut
gegen mich, ſo weit ſie's können, aber ſie ſind nicht
reich. Und nun ſage, was meinſt Du?“


„Daß ich nächſten Sonnabend mit meinem
Koffer anziehe, nicht am Abend, ſondern gleich am
Morgen, und daß ich da bin, wenn das Einrichten
losgeht. Denn ich kann doch ganz anders zufaſſen,
wie die gnädige Frau.“


„Sage das nicht, Roswitha. Ich kann es auch.
Wenn man muß, kann man alles.“


„Und dann, gnädige Frau, Sie brauchen ſich
wegen meiner nicht zu fürchten, als ob ich 'mal
denken könnte: ,für Roswitha iſt das nicht gut ge¬
nug.‘ Für Roswitha iſt alles gut, was ſie mit der
gnädigen Frau teilen muß, und am liebſten, wenn
[464]Effi Brieſt es 'was Trauriges iſt. Ja, darauf freue ich mich
ſchon ordentlich. Dann ſollen Sie 'mal ſehen, das
verſtehe ich. Und wenn ich es nicht verſtünde, dann
wollte ich es ſchon lernen. Denn, gnädige Frau, das
hab' ich nicht vergeſſen, als ich da auf dem Kirchhof
ſaß, mutterwindallein und bei mir dachte, nun wäre
es doch wohl das beſte, ich läge da gleich mit in
der Reihe. Wer kam da? Wer hat mich da bei
Leben erhalten? Ach, ich habe ſo viel durchzumachen
gehabt. Als mein Vater damals mit der glühenden
Stange auf mich los kam . . .“


„Ich weiß ſchon, Roswitha . . .“


„Ja, das war ſchlimm genug. Aber als ich da
auf dem Kirchhof ſaß, ſo ganz arm und verlaſſen,
das war doch noch ſchlimmer. Und da kam die
gnädige Frau. Und ich will nicht ſelig werden,
wenn ich das vergeſſe.“


Und dabei ſtand ſie auf und ging aufs Fenſter
zu. „Sehen Sie, gnädige Frau, den müſſen Sie
doch auch noch ſehen.“


Und nun trat auch Effi heran.


Drüben, auf der anderen Seite der Straße, ſaß
Rollo und ſah nach den Fenſtern der Penſion hinauf.


Wenige Tage danach bezog Effi, von Roswitha
[465]Effi Brieſt unterſtützt, ihre Wohnung in der Königgrätzerſtraße,
darin es ihr von Anfang an gefiel. Umgang fehlte
freilich, aber ſie hatte während ihrer Penſionstage
von dem Verkehr mit Menſchen ſo wenig Erfreuliches
gehabt, daß ihr das Alleinſein nicht ſchwer fiel,
wenigſtens anfänglich nicht. Mit Roswitha ließ ſich
allerdings kein äſthetiſches Geſpräch führen, auch
nicht 'mal ſprechen über das, was in der Zeitung
ſtand, aber wenn es einfach menſchliche Dinge be¬
traf und Effi mit einem ,ach Roswitha, mich ängſtigt
es wieder . . .‘ ihren Satz begann, dann wußte die
treue Seele jedesmal gut zu antworten und hatte
immer Troſt und meiſt auch Rat.


Bis Weihnachten ging es vorzüglich; aber der
Heiligabend verlief ſchon recht traurig, und als das
neue Jahr herankam, begann Effi ganz ſchwermütig
zu werden. Es war nicht kalt, nur grau und
regneriſch, und wenn die Tage kurz waren, ſo waren
die Abende deſto länger. Was thun? Sie las, ſie
ſtickte, ſie legte Patience, ſie ſpielte Chopin, aber
dieſe Nocturnes waren auch nicht angethan, viel
Licht in ihr Leben zu tragen, und wenn Roswitha
mit dem Theebrett kam und außer dem Theezeug
auch noch zwei Tellerchen mit einem Ei und einem
in kleine Scheiben geſchnittenen Wiener Schnitzel auf
den Tiſch ſetzte, ſagte Effi, während ſie das Pianino
Th. Fontane, Effi Brieſt. 30[466]Effi Brieſt ſchloß: „Rücke heran, Roswitha. Leiſte mir Ge¬
ſellſchaft.“


Roswitha kam denn auch. „Ich weiß ſchon,
die gnädige Frau haben wieder zu viel geſpielt;
dann ſehen Sie immer ſo aus und haben rote Flecke.
Der Geheimrat hat es doch verboten.“


„Ach, Roswitha, der Geheimrat hat leicht ver¬
bieten, und Du haſt es auch leicht, all' das nachzu¬
ſprechen. Aber was ſoll ich denn machen? Ich
kann doch nicht den ganzen Tag am Fenſter ſitzen
und nach der Chriſtuskirche hinüberſehen. Sonntags,
beim Abendgottesdienſt, wenn die Fenſter erleuchtet
ſind, ſehe ich ja immer hinüber; aber es hilft mir
auch nichts, mir wird dann immer noch ſchwerer
ums Herz.“


„Ja, gnädige Frau, dann ſollten Sie 'mal
hineingehen. Einmal waren Sie ja ſchon drüben.“


„O ſchon öfters. Aber ich habe nicht viel da¬
von gehabt. Er predigt ganz gut und iſt ein ſehr
kluger Mann, und ich wäre froh, wenn ich das
Hundertſte davon wüßte. Aber es iſt doch alles bloß,
wie wenn ich ein Buch leſe; und wenn er dann ſo
laut ſpricht und herumficht und ſeine ſchwarzen Locken
ſchüttelt, dann bin ich aus meiner Andacht heraus.“


„Heraus?“


Effi lachte. „Du meinſt, ich war noch gar nicht
[467]Effi Brieſt drin. Und es wird wohl ſo ſein. Aber an wem
liegt das? Das liegt doch nicht an mir. Er ſpricht
immer ſo viel vom alten Teſtament. Und wenn es
auch ganz gut iſt, es erbaut mich nicht. Überhaupt
all' das Zuhören; es iſt nicht das rechte. Sieh',
ich müßte ſo viel zu thun haben, daß ich nicht ein
noch aus wüßte. Das wäre 'was für mich. Da
giebt es ſo Vereine, wo junge Mädchen die Wirt¬
ſchaft lernen oder Nähſchulen oder Kindergärtnerinnen.
Haſt Du nie davon gehört?“


„Ja, ich habe 'mal davon gehört. Anniechen
ſollte 'mal in einen Kindergarten.“


„Nun ſiehſt Du, Du weißt es beſſer als ich.
Und in ſolchen Verein, wo man ſich nützlich machen
kann, da möchte ich eintreten. Aber daran iſt gar
nicht zu denken; die Damen nehmen mich nicht an
und können es auch nicht. Und das iſt das ſchreck¬
lichſte, daß einem die Welt ſo zu iſt und daß es ſich
einem ſogar verbietet, bei Gutem mit dabei zu ſein.
Ich kann nicht 'mal armen Kindern eine Nachhülfe¬
ſtunde geben . . .“


„Das wäre auch nichts für Sie, gnädige Frau;
die Kinder haben immer ſo fettige Stiefel an, und
wenn es naſſes Wetter iſt, — das iſt dann ſolch'
Dunſt und Schmook, das halten die gnädige Frau
gar nicht aus.“


30 *[468]Effi Brieſt

Effi lächelte. „Du wirſt wohl recht haben,
Roswitha; aber es iſt ſchlimm, daß Du recht haſt,
und ich ſehe daran, daß ich noch zu viel von dem
alten Menſchen in mir habe und daß es mir noch
zu gut geht.“


Davon wollte aber Roswitha nichts wiſſen.
„Wer ſo gut iſt, wie gnädige Frau, dem kann es
gar nicht zu gut gehen. Und Sie müſſen nur nicht
immer ſo 'was Trauriges ſpielen, und mitunter denke
ich mir, es wird alles noch wieder gut und es wird
ſich ſchon 'was finden.“


Und es fand ſich auch 'was. Effi, trotz der
Kantorstochter aus Polzin, deren Künſtlerdünkel ihr
immer noch als etwas Schreckliches vorſchwebte,
wollte Malerin werden, und wiewohl ſie ſelber dar¬
über lachte, weil ſie ſich bewußt war, über eine
unterſte Stufe des Dilettantismus nie hinauskommen
zu können, ſo griff ſie doch mit Paſſion danach, weil
ſie nun eine Beſchäftigung hatte, noch dazu eine, die,
weil ſtill und geräuſchlos, ganz nach ihrem Herzen
war. Sie meldete ſich denn auch bei einem ganz
alten Malerprofeſſor, der in der märkiſchen Ariſto¬
kratie ſehr bewandert und zugleich ſo fromm war,
daß ihm Effi von Anfang an ans Herz gewachſen
erſchien. Hier, ſo gingen wohl ſeine Gedanken, war
eine Seele zu retten, und ſo kam er ihr, als ob ſie
[469]Effi Brieſt ſeine Tochter geweſen wäre, mit einer ganz beſonderen
Liebenswürdigkeit entgegen. Effi war ſehr glücklich
darüber, und der Tag ihrer erſten Malſtunde be¬
zeichnete für ſie einen Wendepunkt zum Guten. Ihr
armes Leben war nun nicht ſo arm mehr, und
Roswitha triumphierte, daß ſie recht gehabt und ſich
nun doch etwas gefunden habe.


Das ging ſo Jahr und Tag und darüber hinaus.
Aber daß ſie nun wieder eine Berührung mit den
Menſchen hatte, wie ſie's beglückte, ſo ließ es auch
wieder den Wunſch in ihr entſtehen, daß dieſe Be¬
rührungen ſich erneuern und mehren möchten. Sehn¬
ſucht nach Hohen-Cremmen erfaßte ſie mitunter mit
einer wahren Leidenſchaft, und noch leidenſchaftlicher
ſehnte ſie ſich danach, Annie wiederzuſehen. Es war
doch ihr Kind, und wenn ſie dem nachhing und
ſich dabei gleichzeitig der Trippelli erinnerte, die 'mal
geſagt hatte: ,die Welt ſei ſo klein und in Mittel¬
afrika könne man ſicher ſein, plötzlich einem alten
Bekannten zu begegnen,‘ ſo war ſie mit Recht ver¬
wundert, Annie noch nie getroffen zu haben. Aber
auch das ſollte ſich eines Tages ändern. Sie kam
aus der Malſtunde, dicht am Zoologiſchen Garten,
und ſtieg, nahe dem Halteplatz, in einen die lange
Kurfürſtenſtraße paſſierenden Pferdebahnwagen ein.
Es war ſehr heiß, und die herabgelaſſenen Vorhänge,
[470]Effi Brieſt die bei dem ſtarken Luftzuge, der ging, hin und her
bauſchten, thaten ihr wohl. Sie lehnte ſich in die
dem Vorderperron zugekehrte Ecke und muſterte eben
mehrere in eine Glasſcheibe eingebrannte Sofas, blau
mit Quaſten und Puſcheln daran, als ſie — der
Wagen war gerade in einem langſamen Fahren —
drei Schulkinder aufſpringen ſah, die Mappen auf
dem Rücken, mit kleinen ſpitzen Hüten, zwei blond
und ausgelaſſen, die dritte dunkel und ernſt. Es
war Annie. Effi fuhr heftig zuſammen, und eine
Begegnung mit dem Kinde zu haben, wonach ſie ſich
doch ſo lange geſehnt, erfüllte ſie jetzt mit einer
wahren Todesangſt. Was thun? Raſch entſchloſſen
öffnete ſie die Thür zu dem Vorderperron, auf dem
niemand ſtand, als der Kutſcher, und bat dieſen, ſie
bei der nächſten Halteſtelle vorn abſteigen zu laſſen.
„Is verboten, Fräulein,“ ſagte der Kutſcher; ſie gab
ihm aber ein Geldſtück und ſah ihn ſo bittend an,
daß der gutmütige Menſch anderen Sinnes wurde
und vor ſich hin ſagte: „Sind ſoll es eigentlich nich;
aber es wird ja woll 'mal gehn.“ Und als der
Wagen hielt, nahm er das Gitter aus, und Effi
ſprang ab.


Noch in großer Erregung kam Effi nach Hauſe.


„Denke Dir, Roswitha, ich habe Annie geſehen.“
Und nun erzählte ſie von der Begegnung in dem
[471]Effi Brieſt Pferdebahnwagen. Roswitha war unzufrieden, daß
Mutter und Tochter keine Wiederſehensſzene gefeiert
hatten und ließ ſich nur ungern überzeugen, daß
das, in Gegenwart ſo vieler Menſchen, nicht wohl
angegangen ſei. Dann mußte Effi erzählen, wie
Annie ausgeſehen habe, und als ſie das mit mütter¬
lichem Stolze gethan, ſagte Roswitha: „Ja, ſie iſt
ſo halb und halb. Das Hübſche und, wenn ich es
ſagen darf, das Sonderbare, das hat ſie von der
Mama; aber das Ernſte, das iſt ganz der Papa.
Und wenn ich mir ſo alles überlege, iſt ſie doch
wohl mehr wie der gnädige Herr.“


„Gott ſei Dank!“ ſagte Effi.


„Na, gnäd'ge Frau, das iſt nu doch auch noch
die Frage. Und da wird ja wohl mancher ſein, der
mehr für die Mama iſt.“


„Glaubſt Du, Roswitha? Ich glaube es nicht.“


„Na, na, ich laſſe mir nichts vormachen, und
ich glaube, die gnädige Frau weiß auch ganz gut,
wie's eigentlich iſt und was die Männer am liebſten
haben.“


„Ach, ſprich nicht davon, Roswitha.“


Damit brach das Geſpräch ab und wurde auch
nicht wieder aufgenommen. Aber Effi, wenn ſie's
auch vermied, grade über Annie mit Roswitha zu
ſprechen, konnte die Begegnung in ihrem Herzen doch
[472]Effi Brieſtnicht verwinden und litt unter der Vorſtellung, vor
ihrem eigenen Kinde geflohen zu ſein. Es quälte
ſie bis zur Beſchämung, und das Verlangen nach
einer Begegnung mit Annie ſteigerte ſich bis zum
Krankhaften. An Innſtetten ſchreiben und ihn darum
bitten, das war nicht möglich. Ihrer Schuld war
ſie ſich wohl bewußt, ja, ſie nährte das Gefühl
davon mit einer halb leidenſchaftlichen Gefliſſentlichkeit;
aber inmitten ihres Schuldbewußtſeins fühlte ſie ſich
andererſeits auch von einer gewiſſen Auflehnung
gegen Innſtetten erfüllt. Sie ſagte ſich: er hatte
recht und noch einmal und noch einmal, und zuletzt
hatte er doch unrecht. Alles Geſchehene lag ſo weit
zurück, ein neues Leben hatte begonnen, — er hätte
es können verbluten laſſen, ſtatt deſſen verblutete der
arme Crampas.


Nein, an Innſtetten ſchreiben, das ging nicht;
aber Annie wollte ſie ſehen und ſprechen und an
ihr Herz drücken, und nachdem ſie's tagelang überlegt
hatte, ſtand ihr feſt, wie's am beſten zu machen ſei.


Gleich am andern Vormittage kleidete ſie ſich
ſorgfältig in ein decentes Schwarz und ging auf
die Linden zu, ſich hier bei der Miniſterin melden
zu laſſen. Sie ſchickte ihre Karte hinein, auf der
nur ſtand: Effi von Innſtetten geb. von Brieſt.
Alles andere war fortgelaſſen, auch die Baronin.
[473]Effi Brieſt „Excellenz laſſen bitten,“ und Effi folgte dem Diener
bis in ein Vorzimmer, wo ſie ſich niederließ und
trotz der Erregung, in der ſie ſich befand, den Bilder¬
ſchmuck an den Wänden muſterte. Da war zunächſt
Guido Reni's Aurora, gegenüber aber hingen engliſche
Kupferſtiche, Stiche nach Benjamin Weſt, in der
bekannten Aquatinta-Manier von viel Licht und
Schatten. Eines der Bilder war König Lear im
Unwetter auf der Heide.


Effi hatte ihre Muſterung kaum beendet, als
die Thür des angrenzenden Zimmers ſich öffnete
und eine große ſchlanke Dame von einem ſofort für
ſie einnehmenden Ausdruck auf die Bittſtellerin zutrat
und ihr die Hand reichte. ‚Meine liebe, gnädigſte
Frau,“ ſagte ſie, „welche Freude für mich, Sie wieder¬
zuſehen . . .“


Und während ſie das ſagte, ſchritt ſie auf das
Sofa zu und zog Effi, während ſie ſelber Platz
nahm, zu ſich nieder.


Effi war bewegt durch die ſich in allem
ausſprechende Herzensgüte. Keine Spur von Über¬
heblichkeit oder Vorwurf, nur menſchlich ſchöne Teil¬
nahme. „Womit kann ich Ihnen dienen?“ nahm die
Miniſterin noch einmal das Wort.


Um Effi's Mund zuckte es. Endlich ſagte ſie:
„Was mich herführt, iſt eine Bitte, deren Erfüllung
[474]Effi Brieſt Exzellenz vielleicht möglich machen. Ich habe eine
zehnjährige Tochter, die ich ſeit drei Jahren nicht
geſehen habe und gern wiederſehen möchte.“


Die Miniſterin nahm Effi's Hand und ſah ſie
freundlich an.


„Wenn ich ſage, in drei Jahren nicht geſehen,
ſo iſt das nicht ganz richtig. Vor drei Tagen habe
ich ſie wiedergeſehen.“ Und nun ſchilderte Effi mit
großer Lebendigkeit die Begegnung, die ſie mit Annie
gehabt hatte. „Vor meinem eigenen Kinde auf der
Flucht. Ich weiß wohl, man liegt, wie man ſich
bettet, und ich will nichts ändern in meinem Leben.
Wie es iſt, ſo iſt es recht; ich habe es nicht anders
gewollt. Aber das mit dem Kinde, das iſt doch zu
hart, und ſo habe ich denn den Wunſch, es dann
und wann ſehen zu dürfen, nicht heimlich und
verſtohlen, ſondern mit Wiſſen und Zuſtimmung
aller Beteiligten.“


„Unter Wiſſen und Zuſtimmung aller Beteiligten,“
wiederholte die Miniſterin Effi's Worte. „Das heißt
alſo unter Zuſtimmung Ihres Herrn Gemahls. Ich
ſehe, daß ſeine Erziehung dahin geht, das Kind von
der Mutter fernzuhalten, ein Verfahren, über das ich
mir kein Urteil erlaube. Vielleicht, daß er recht hat;
verzeihen Sie mir dieſe Bemerkung, gnädige Frau.“


Effi nickte.


[475]Effi Brieſt

„Sie finden ſich ſelbſt in der Haltung Ihres
Herrn Gemahls zurecht und verlangen nur, daß
einem natürlichen Gefühle, wohl dem ſchönſten unſerer
Gefühle (wenigſtens wir Frauen werden uns darin
finden), ſein Recht werde. Treff' ich es darin?“


„In allem.“


„Und ſo ſoll ich denn die Erlaubnis zu ge¬
legentlichen Begegnungen erwirken, in Ihrem Hauſe,
wo Sie verſuchen können, ſich das Herz Ihres Kindes
zurückzuerobern.“


Effi drückte noch einmal ihre Zuſtimmung aus,
während die Miniſterin fortfuhr: „Ich werde alſo
thun, meine gnädigſte Frau, was ich thun kann.
Aber wir werden es nicht eben leicht haben. Ihr
Herr Gemahl, verzeihen Sie, daß ich ihn nach wie
vor ſo nenne, iſt ein Mann, der nicht nach Stim¬
mungen und Laune, ſondern nach Grundſätzen handelt
und dieſe fallen zu laſſen oder auch nur momentan
aufzugeben, wird ihm hart ankommen. Läg' es
nicht ſo, ſo wäre ſeine Handlungs- und Erziehungs¬
weiſe längſt eine andere geweſen. Das, was hart
für Ihr Herz iſt, hält er für richtig.“


„So meinen Exzellenz vielleicht, es wäre beſſer,
meine Bitte zurückzunehmen?“


„Doch nicht. Ich wollte nur das Thun Ihres
Herrn Gemahls erklären, um nicht zu ſagen recht¬
[476]Effi Brieſt fertigen, und wollte zugleich die Schwierigkeiten an¬
deuten, auf die wir, aller Wahrſcheinlichkeit nach,
ſtoßen werden. Aber ich denke, wir zwingen es trotz¬
dem. Denn wir Frauen, wenn wir's klug einleiten,
und den Bogen nicht überſpannen, wiſſen mancherlei
durchzuſetzen. Zudem gehört Ihr Herr Gemahl zu
meinen beſonderen Verehrern, und er wird mir eine
Bitte, die ich an ihn richte, nicht wohl abſchlagen.
Wir haben morgen einen kleinen Zirkel, auf dem ich
ihn ſehe, und übermorgen früh haben Sie ein paar
Zeilen von mir, die Ihnen ſagen werden, ob ich's
klug, das heißt glücklich eingeleitet oder nicht. Ich
denke, wir ſiegen in der Sache, und Sie werden
Ihr Kind wiederſehen und ſich ſeiner freuen. Es
ſoll ein ſehr ſchönes Mädchen ſein. Nicht zu ver¬
wundern.“

[[477]]

Dreiunddreißigſtes Kapitel.

Am zweitfolgenden Tage trafen, wie verſprochen,
einige Zeilen ein, und Effi las: „Es freut mich,
liebe gnädige Frau, Ihnen gute Nachricht geben
zu können. Alles ging nach Wunſch; Ihr Herr
Gemahl iſt zu ſehr Mann von Welt, um einer Dame
eine von ihr vorgetragene Bitte abſchlagen zu können;
zugleich aber — auch das darf ich Ihnen nicht
verſchweigen, — ich ſah deutlich, daß ſein „ja“ nicht
dem entſprach, was er für klug und recht hält. Aber
kritteln wir nicht, wo wir uns freuen ſollen. Ihre
Annie, ſo haben wir es verabredet, wird über Mittag
kommen, und ein guter Stern ſtehe über Ihrem
Wiederſehen.“


Es war mit der zweiten Poſt, daß Effi dieſe
Zeilen empfing, und bis zu Annie's Erſcheinen waren
mutmaßlich keine zwei Stunden mehr. Eine kurze
Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi ſchritt in
Unruhe durch beide Zimmer und dann wieder in die
[478]Effi Brieſt Küche, wo ſie mit Roswitha von allem Möglichen
ſprach, von dem Epheu drüben an der Chriſtuskirche,
nächſtes Jahr würden die Fenſter wohl ganz zu¬
gewachſen ſein, von dem Portier, der den Gashahn
wieder ſo ſchlecht zugeſchraubt habe (ſie würden doch
noch nächſtens in die Luft fliegen), und daß ſie das
Petroleum doch lieber wieder aus der großen Lampen¬
handlung Unter den Linden als aus der Anhaltſtraße
holen ſolle, — von allem Möglichen ſprach ſie, nur
von Annie nicht, weil ſie die Furcht nicht aufkommen
laſſen wollte, die trotz der Zeilen der Miniſterin,
oder vielleicht auch um dieſer Zeilen willen, in
ihr lebte.


Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt,
ſchüchtern, und Roswitha ging, um durch das Guck¬
loch zu ſehen. Richtig, es war Annie. Roswitha
gab dem Kinde einen Kuß, ſprach aber ſonſt kein
Wort, und ganz leiſe, wie wenn ein Kranker im
Hauſe wäre, führte ſie das Kind vom Korridor her
erſt in die Hinterſtube und dann bis an die nach
vorn führende Thür.


„Da geh' hinein, Annie.“ Und unter dieſen
Worten, ſie wollte nicht ſtören, ließ ſie das Kind
allein und ging wieder auf die Küche zu.


Effi ſtand am andern Ende des Zimmers, den
Rücken gegen den Spiegelpfeiler, als das Kind ein¬
[479]Effi Brieſt trat. „Annie!“ Aber Annie blieb an der mir an¬
gelehnten Thür ſtehen, halb verlegen, aber halb auch
mit Vorbedacht, und ſo eilte denn Effi auf das Kind
zu, hob es in die Höhe und küßte es.


„Annie, mein ſüßes Kind, wie freue ich mich.
Komm', erzähle mir,“ und dabei nahm ſie Annie bei
der Hand und ging auf das Sofa zu, um ſich da
zu ſetzen. Annie ſtand aufrecht und griff, während
ſie die Mutter immer noch ſcheu anſah, mit der
Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tiſch¬
decke. „Weißt Du wohl, Annie, daß ich Dich einmal
geſehen habe.“


„Ja, mir war es auch ſo.“


„Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß
Du geworden biſt! Und das iſt die Narbe da;
Roswitha hat mir davon erzählt. Du warſt immer
ſo wild und ausgelaſſen beim Spielen. Das haſt
Du von Deiner Mama, die war auch ſo. Und in
der Schule? ich denke mir, Du biſt immer die Erſte,
Du ſiehſt mir ſo aus, als müßteſt Du eine Muſter¬
ſchülerin ſein und immer die beſten Zenſuren nach
Hauſe bringen. Ich habe auch gehört, daß Dich das
Fräulein von Wedelſtädt ſo gelobt haben ſoll. Das
iſt recht; ich war auch ſo ehrgeizig, aber ich hatte
nicht ſolche gute Schule. Mythologie war immer
mein beſtes. Worin biſt Du denn am beſten?“


[480]Effi Brieſt

„Ich weiß es nicht.“


„O, Du wirſt es ſchon wiſſen. Das weiß man.
Worin haſt Du denn die beſte Zenſur?“


„In der Religion.“


„Nun, ſiehſt Du, da weiß ich es doch. Ja, das
iſt ſehr ſchön; ich war nicht ſo gut darin, aber es
wird wohl auch an dem Unterricht gelegen haben.
Wir hatten bloß einen Kandidaten.“


„Wir hatten auch einen Kandidaten.“


„Und der iſt fort?“


Annie nickte.


„Warum iſt er fort?“


„Ich weiß es nicht. Wir haben nun wieder
den Prediger.“


„Den Ihr alle ſehr liebt.“


„Ja; zwei aus der erſten Klaſſe wollen auch
übertreten.“


„Ah, ich verſtehe; das iſt ſchön. Und was
macht Johanna?“


„Johanna hat mich bis vor das Haus be¬
gleitet . . .“


„Und warum haſt Du ſie nicht mit herauf¬
gebracht?“


„Sie ſagte, ſie wolle lieber unten bleiben und
an der Kirche drüben warten.“


„Und da ſollſt Du ſie wohl abholen?“


[481]Effi Brieſt

„Ja.“


„Nun, ſie wird da hoffentlich nicht ungeduldig
werden. Es iſt ein kleiner Vorgarten da und die
Fenſter ſind ſchon halb von Epheu überwachſen, als
ob es eine alte Kirche wäre.“


„Ich möchte ſie aber doch nicht gerne warten
laſſen.“


„Ach, ich ſehe, Du biſt ſehr rückſichtsvoll, und
darüber werde ich mich wohl freuen müſſen. Man
muß es nur richtig einteilen . . . Und nun ſage
mir noch, was macht Rollo?“


„Rollo iſt ſehr gut. Aber Papa ſagt, er würde
ſo faul; er liegt immer in der Sonne.“


„Das glaub' ich. So war er ſchon, als Du
noch ganz klein warſt . . . Und nun ſage mir,
Annie, — denn heute haben wir uns ja bloß ſo
'mal wiedergeſehen, — wirſt Du mich öfter be¬
ſuchen ?“


„O gewiß, wenn ich darf.“


„Wir können dann in dem Prinz Albrecht'ſchen
Garten ſpazieren gehen.“


„O gewiß, wenn ich darf.“


„Oder wir gehen zu Schilling und eſſen Eis,
Ananas- oder Vanilleneis; das aß ich immer am
liebſten.“


„O gewiß, wenn ich darf.“


Th. Fontane, Effi Brieſt. 31[482]Effi Brieſt

Und bei dieſem dritten „wenn ich darf“ war
das Maß voll; Effi ſprang auf, und ein Blick, in
dem es wie Empörung aufflammte, traf das Kind.
„Ich glaube, es iſt die höchſte Zeit, Annie; Johanna
wird ſonſt ungeduldig.“ Und ſie zog die Klingel.
Roswitha, die ſchon im Nebenzimmer war, trat gleich
ein. „Roswitha, gieb Annie das Geleit bis drüben
zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat
ſie ſich nicht erkältet. Es ſollte mir leid thun.
Grüße Johanna.“


Und nun gingen beide.


Kaum aber, daß Roswitha draußen die Thür
ins Schloß gezogen hatte, ſo riß Effi, weil ſie zu
erſticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in ein
krampfhaftes Lachen. „So alſo ſieht ein Wiederſehen
aus,“ und dabei ſtürzte ſie nach vorn, öffnete die
Fenſterflügel und ſuchte nach etwas, das ihr beiſtehe.
Und ſie fand auch 'was in der Not ihres Herzens.
Da neben dem Fenſter war ein Bücherbrett, ein paar
Bände von Schiller und Körner darauf, und auf
den Gedichtbüchern, die alle gleiche Höhe hatten, lag
eine Bibel und ein Geſangbuch. Sie griff danach,
weil ſie 'was haben mußte, vor dem ſie knieen und
beten konnte, und legte Bibel und Geſangbuch auf
den Tiſchrand, gerade da, wo Annie geſtanden hatte,
und mit einem heftigen Ruck warf ſie ſich davor
[483]Effi Brieſt nieder und ſprach halblaut vor ſich hin: „O Du Gott
im Himmel, vergieb mir, was ich gethan; ich war
ein Kind . . . Aber nein, nein, ich war kein Kind,
ich war alt genug, um zu wiſſen, was ich that. Ich
hab es auch gewußt, und ich will meine Schuld
nicht kleiner machen, . . . aber das iſt zuviel. Denn
das hier, mit dem Kind, das biſt nicht Du, Gott,
der mich ſtrafen will, das iſt er, bloß er! Ich habe
geglaubt, daß er ein edles Herz habe, und habe mich
immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich,
daß er es iſt, er iſt klein. Und weil er klein iſt,
iſt er grauſam. Alles, was klein iſt, iſt grauſam.
Das hat er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeiſter
war er immer, Crampas hat ihn ſo genannt, ſpöttiſch
damals, aber er hat recht gehabt. ,O gewiß, wenn
ich darf.‛ Du brauchſt nicht zu dürfen; ich will
Euch nicht mehr, ich haſſ' Euch, auch mein eigen Kind.
Was zu viel iſt, iſt zu viel. Ein Streber war er,
weiter nichts. — Ehre, Ehre, Ehre . . . und dann
hat er den armen Kerl totgeſchoſſen, den ich nicht
einmal liebte und den ich vergeſſen hatte, weil
ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und
nun Blut und Mord, Und ich ſchuld. Und nun
ſchickt er mir das Kind, weil er einer Miniſterin
nichts abſchlagen kann, und ehe er das Kind ſchickt,
richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm
31 *[484]Effi Brieſt die Phraſe bei ,wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich
gethan; aber was mich noch mehr ekelt, das iſt Eure
Tugend. Weg mit Euch. Ich muß leben, aber ewig
wird es ja wohl nicht dauern.“


Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden,
das Geſicht abgewandt, wie leblos.

[[485]]

Vierunddreißigſtes Kapitel.

Rummſchüttel, als er gerufen wurde, fand Effi's
Zuſtand nicht unbedenklich. Das Hektiſche, das er
ſeit Jahr und Tag an ihr beobachtete, trat ihm aus¬
geſprochener als früher entgegen, und, was ſchlimmer
war, auch die erſten Zeichen eines Nervenleidens
waren da. Seine ruhig freundliche Weiſe aber, der
er einen Beiſatz von Laune zu geben wußte, that
Effi wohl, und ſie war ruhig, ſo lange Rummſchüttel
um ſie war. Als er ſchließlich ging, begleitete Ros¬
witha den alten Herrn bis in den Vorflur und ſagte:
„Gott, Herr Geheimrat, mir iſt ſo bange; wenn es nu
'mal wiederkommt, und es kann doch; Gott, — da hab'
ich ja keine ruhige Stunde mehr. Es war aber doch
auch zuviel, das mit dem Kind. Die arme gnädige
Frau. Und noch ſo jung, wo manche erſt anfangen.“


„Laſſen Sie nur, Roswitha. Kann noch alles
wieder werden. Aber fort muß ſie. Wir wollen
ſchon ſehen. Andere Luft, andere Menſchen.“


[486]Effi Brieſt

Den zweiten Tag danach traf ein Brief in
Hohen-Cremmen ein, der lautete: „Gnädigſte Frau!
Meine alten freundſchaftlichen Beziehungen zu den
Häuſern Brieſt und Belling, und nicht zum wenigſten
die herzliche Liebe, die ich zu Ihrer Frau Tochter
hege, werden dieſe Zeilen rechtfertigen. Es geht
ſo nicht weiter. Ihre Frau Tochter, wenn nicht
etwas geſchieht, das ſie der Einſamkeit und dem
Schmerzlichen ihres nun ſeit Jahren geführten Lebens
entreißt, wird ſchnell hinſiechen. Eine Dispoſition zu
Phtiſis war immer da, weshalb ich ſchon vor Jahren
Ems verordnete; zu dieſem alten Übel hat ſich nun
ein neues geſellt: ihre Nerven zehren ſich auf. Dem
Einhalt zu thun, iſt ein Luftwechſel nötig. Aber
wohin? Es würde nicht ſchwer ſein, in den
ſchleſiſchen Bädern eine Auswahl zu treffen, Salz¬
brunn gut, und Reinerz, wegen der Nervenkomplikation,
noch beſſer. Aber es darf nur Hohen-Cremmen ſein.
Denn, meine gnädigſte Frau, was Ihrer Frau Tochter
Geneſung bringen kann, iſt nicht Luft allein; ſie
ſiecht hin, weil ſie nichts hat als Roswitha. Diener¬
treue iſt ſchön, aber Elternliebe iſt beſſer. Verzeihen
Sie einem alten Manne dies Sicheinmiſchen in Dinge,
die jenſeits ſeines ärztlichen Berufes liegen. Und
doch auch wieder nicht, denn es iſt ſchließlich auch
der Arzt, der hier ſpricht und ſeiner Pflicht nach,
[487]Effi Brieſt verzeihen Sie dies Wort, Forderungen ſtellt . . .
Ich habe ſo viel vom Leben geſehen . . . aber nichts
mehr in dieſem Sinne. Mit der Bitte, mich Ihrem
Herrn Gemahl empfehlen zu wollen, in vorzüglicher
Ergebenheit Dr. Rummſchüttel.“


Frau von Brieſt hatte den Brief ihrem Manne
vorgeleſen; beide ſaßen auf dem ſchattigen Steinflieſen¬
gange, den Gartenſaal im Rücken, das Rondell mit
der Sonnenuhr vor ſich. Der um die Fenſter ſich
rankende wilde Wein bewegte ſich leis in dem Luft¬
zuge, der ging, und über dem Waſſer ſtanden ein
paar Libellen im hellen Sonnenſchein.


Brieſt ſchwieg und trommelte mit dem Finger
auf dem Theebrett.


„Bitte, trommle nicht; ſprich lieber.“


„Ach, Luiſe, was ſoll ich ſagen. Daß ich
trommle, ſagt gerade genug. Du weißt ſeit Jahr
und Tag, wie ich darüber denke. Damals als Inn¬
ſtetten's Brief kam, ein Blitz aus heiterem Himmel,
damals war ich Deiner Meinung. Aber das iſt
nun ſchon wieder eine halbe Ewigkeit her; ſoll ich
hier bis an mein Lebensende den Großinquiſitor
ſpielen? Ich kann Dir ſagen, ich hab' es ſeit lange
ſatt . . .“


„Mache mir keine Vorwürfe, Brieſt; ich liebe
ſie ſo wie Du, vielleicht noch mehr; jeder hat ſeine
[488]Effi Brieſt Art. Aber man lebt doch nicht bloß in der Welt,
um ſchwach und zärtlich zu ſein und alles mit Nach¬
ſicht zu behandeln, was gegen Geſetz und Gebot iſt
und was die Menſchen verurteilen und, vorläufig
wenigſtens, auch noch — mit Recht verurteilen.“


„Ach was. Eins geht vor.“


„Natürlich, eins geht vor; aber was iſt das eine?“


„Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Und wenn
man gar bloß eines hat . . . “


„Dann iſt es vorbei mit Katechismus und
Moral und mit dem Anſpruch der ,Geſellſchaft‘.“


„Ach, Luiſe, komme mir mit Katechismus ſo viel
Du willſt; aber komme mir nicht mit ,Geſellſchaft'.“


„Es iſt ſehr ſchwer, ſich ohne Geſellſchaft zu
behelfen.“


„Ohne Kind auch. Und dann glaube mir, Luiſe,
die ,Geſellſchaft', wenn ſie nur will, kann auch ein
Auge zudrücken. Und ich ſtehe ſo zu der Sache:
kommen die Rathenower, ſo iſt es gut, und kommen
ſie nicht, ſo iſt es auch gut. Ich werde ganz einfach
telegraphieren: ,Effi komm.‘ Biſt Du einverſtanden?“


Sie ſtand auf und gab ihm einen Kuß auf die
Stirn. „Natürlich bin ich's. Du ſollteſt mir nur keinen
Vorwurf machen. Ein leichter Schritt iſt es nicht. Und
unſer Leben wird von Stund an ein anderes.“


„Ich kann's aushalten. Der Raps ſteht gut,
[489]Effi Brieſt und im Herbſt kann ich einen Haſen hetzen. Und
der Rotwein ſchmeckt mir noch. Und wenn ich das
Kind erſt wieder im Hauſe habe, dann ſchmeckt er
mir noch beſſer . . . Und nun will ich das Telegramm
ſchicken.“


Effi war nun ſchon über ein halbes Jahr in
Hohen-Cremmen; ſie bewohnte die beiden Zimmer
im erſten Stock, die ſie ſchon früher, wenn ſie zu
Beſuch da war, bewohnt hatte; das größere war für
ſie perſönlich hergerichtet, nebenan ſchlief Roswitha.
Was Rummſchüttel von dieſem Aufenthalt und all'
dem andern Guten erwartet hatte, das hatte ſich auch
erfüllt, ſo weit ſich's erfüllen konnte. Das Hüſteln
ließ nach, der herbe Zug, der das ſo gütige Geſicht
um ein gut Teil ſeines Liebreizes gebracht hatte,
ſchwand wieder hin, und es kamen Tage, wo ſie
wieder lachen konnte. Von Keſſin und allem, was
da zurück lag, wurde wenig geſprochen, mit alleiniger
Ausnahme von Frau von Padden und natürlich
von Gieshübler, für den der alte Brieſt eine lebhafte
Vorliebe hatte. „Dieſer Alonzo, dieſer Precioſa-
Spanier, der einen Mirambo beherbergt und eine
Trippelli großzieht, — ja, das muß ein Genie ſein,
das laß ich mir nicht ausreden.“ Und dann mußte
ſich Effi bequemen, ihm den ganzen Gieshübler, mit
[490]Effi Brieſt dem Hut in der Hand und ſeinen endloſen Artigkeits¬
verbeugungen vorzuſpielen, was ſie, bei dem ihr eigenen
Nachahmungstalent, ſehr gut konnte, trotzdem aber
ungern that, weil ſie's allemal als ein Unrecht gegen
den guten und lieben Menſchen empfand. — Von
Innſtetten und Annie war nie die Rede, wiewohl
feſtſtand, daß Annie Erbtochter ſei, und Hohen-
Cremmen ihr zufallen würde.


Ja, Effi lebte wieder auf, und die Mama, die,
nach Frauenart, nicht ganz abgeneigt war, die ganze
Sache, ſo ſchmerzlich ſie blieb, als einen intereſſanten
Fall anzuſehen, wetteiferte mit ihrem Manne in
Liebes- und Aufmerkſamkeitsbezeugungen.


„Solchen guten Winter haben wir lange nicht
gehabt,“ ſagte Brieſt. Und dann erhob ſich Effi von
ihrem Platz und ſtreichelte ihm das ſpärliche Haar
aus der Stirn. Aber ſo ſchön das alles war, auf
Effi's Geſundheit hin angeſehen, war es doch alles
nur Schein, in Wahrheit ging die Krankheit weiter
und zehrte ſtill das Leben auf. Wenn Effi — die
wieder, wie damals an ihrem Verlobungstage mit
Innſtetten, ein blau und weißgeſtreiftes Kittelkleid
mit einem loſen Gürtel trug — raſch und elaſtiſch
auf die Eltern zutrat, um ihnen einen guten Morgen
zu bieten, ſo ſahen ſich dieſe freudig verwundert an,
freudig verwundert, aber doch auch wehmütig, weil
[491]Effi Brieſt ihnen nicht entgehen konnte, daß es nicht die helle
Jugend, ſondern eine Verklärtheit war, was der
ſchlanken Erſcheinung und den leuchtenden Augen
dieſen eigentümlichen Ausdruck gab. Alle, die ſchärfer
zuſahen, ſahen dies, nur Effi ſelbſt ſah es nicht und
lebte ganz dem Glücksgefühle, wieder an dieſer für
ſie ſo freundlich friedreichen Stelle zu ſein, in Ver¬
ſöhnung mit denen, die ſie immer geliebt hatte und
von denen ſie immer geliebt worden war, auch in
den Jahren ihres Elends und ihrer Verbannung.


Sie beſchäftigte ſich mit allerlei Wirtſchaftlichem
und ſorgte für Ausſchmückung und kleine Verbeſſerungen
im Haushalt. Ihr Sinn für das Schöne ließ ſie darin
immer das Richtige treffen. Leſen aber und vor
allem die Beſchäftigung mit den Künſten hatte ſie
ganz aufgegeben. „Ich habe davon ſo viel gehabt,
daß ich froh bin, die Hände in den Schoß legen zu
können.“ Es erinnerte ſie auch wohl zu ſehr an ihre
traurigen Tage. Sie bildete ſtatt deſſen die Kunſt
aus, ſtill und entzückt auf die Natur zu blicken, und
wenn das Laub von den Platanen fiel, wenn die
Sonnenſtrahlen auf dem Eis des kleinen Teiches
blitzten oder die erſten Krokus aus dem noch halb
winterlichen Rondell aufblühten, — das that ihr
wohl, und auf all das konnte ſie ſtundenlang
blicken und dabei vergeſſen, was ihr das Leben
[492]Effi Brieſtverſagt, oder richtiger wohl, um was ſie ſich ſelbſt
gebracht hatte.


Beſuch blieb nicht ganz aus, nicht alle ſtellten
ſich gegen ſie; ihren Hauptverkehr aber hatte ſie doch
in Schulhaus und Pfarre.


Daß im Schulhaus die Töchter ausgeflogen
waren, ſchadete nicht viel, es würde nicht mehr ſo
recht gegangen ſein; aber zu Jahnke ſelbſt — der
nicht bloß ganz Schwediſch-Pommern, ſondern auch
die Keſſiner Gegend als ſkandinaviſches Vorland
anſah und beſtändig darauf bezügliche Fragen
ſtellte —, zu dieſem alten Freunde ſtand ſie beſſer
denn je. „Ja, Jahnke, wir hatten ein Dampfſchiff,
und wie ich Ihnen, glaub' ich, ſchon einmal ſchrieb
oder vielleicht auch ſchon 'mal erzählt habe, beinahe
wär' ich wirklich 'rüber nach Wisby gekommen.
Denken Sie ſich, beinahe nach Wisby. Es iſt komiſch,
aber ich kann eigentlich von vielem in meinem Leben
ſagen ‚beinah‘.“


„Schade, ſchade,“ ſagte Jahnke.


„Ja, freilich ſchade. Aber auf Rügen bin ich
wirklich umhergefahren. Und das wäre ſo 'was für
Sie geweſen, Jahnke. Denken Sie ſich, Arkona mit
einem großen Wenden-Lagerplatz, der noch ſichtbar
ſein ſoll; denn ich bin nicht hingekommen; aber nicht
allzu weit davon iſt der Hertha-See mit weißen und
[493]Effi Brieſt gelben Mummeln. Ich habe da viel an Ihre Hertha
denken müſſen . . .“


„Nun, ja, ja, Hertha . . . Aber Sie wollten
von dem Hertha-See ſprechen . . .“


„Ja, das wollt' ich . . . Und denken Sie ſich,
Jahnke, dicht an dem See ſtanden zwei große Opfer¬
ſteine, blank und noch die Rinnen drin, in denen
vordem das Blut ablief. Ich habe von der Zeit an
einen Widerwillen gegen die Wenden.“


„Ach, gnäd'ge Frau verzeihen. Aber das waren
ja keine Wenden. Das mit den Opferſteinen und
mit dem Hertha-See, das war ja ſchon wieder viel,
viel früher, ganz vor Christum natum; reine
Germanen, von denen wir alle abſtammen . . .“


„Verſteht ſich,“ lachte Effi, „von denen wir alle
abſtammen, die Jahnke's gewiß und vielleicht auch
die Brieſt's.“


Und dann ließ ſie Rügen und den Hertha-See
fallen und fragte nach ſeinen Enkeln und welche ihm
lieber wären die von Bertha oder die von Hertha.


Ja, Effi ſtand gut zu Jahnke. Aber trotz ſeiner
intimen Stellung zu Hertha-See, Skandinavien und
Wisby, war er doch nur ein einfacher Mann, und
ſo konnte es nicht wohl ausbleiben, daß der verein¬
ſamten jungen Frau die Plaudereien mit Niemeyer
um vieles lieber waren. Im Herbſt, ſo lange ſich
[494]Effi Brieſtim Parke promenieren ließ, hatte ſie denn auch die
Hülle und Fülle davon; mit dem Eintreten des
Winters aber kam eine mehrmonatliche Unterbrechung,
weil ſie das Predigerhaus ſelbſt nicht gern betrat;
Frau Paſtor Niemeyer war immer eine ſehr un¬
angenehme Frau geweſen und ſchlug jetzt vollends
hohe Töne an, trotzdem ſie, nach Anſicht der Ge¬
meinde, ſelber nicht ganz einwandsfrei war.


Das ging ſo den ganzen Winter durch, ſehr zu
Effi's Leidweſen. Als dann aber, Anfang April, die
Sträucher einen grünen Rand zeigten und die Park¬
wege raſch abtrockneten, da wurden auch die Spazier¬
gänge wieder aufgenommen.


Einmal gingen ſie auch wieder ſo. Von fern
her hörte man den Kuckuck, und Effi zählte, wie
vielemale er rief. Sie hatte ſich an Niemeyer's Arm
gehängt und ſagte: „Ja, da ruft der Kuckuck. Ich
mag ihn nicht befragen. Sagen Sie, Freund, was
halten Sie vom Leben?“


„Ach, liebe Effi, mit ſolchen Doktorfragen darfſt
Du mir nicht kommen. Da mußt Du Dich an einen
Philoſophen wenden oder ein Ausſchreiben an eine
Fakultät machen. Was ich vom Leben halte? Viel
und wenig. Mitunter iſt es recht viel und mitunter
iſt es recht wenig.“


„Das iſt recht, Freund, das gefällt mir; mehr
[495]Effi Brieſt brauch' ich nicht zu wiſſen.“ Und als ſie das ſo
ſagte, waren ſie bis an die Schaukel gekommen.
Sie ſprang hinauf, mit einer Behendigkeit wie in
ihren jüngſten Mädchentagen, und ehe ſich noch der
Alte, der ihr zuſah, von ſeinem halben Schreck erholen
konnte, huckte ſie ſchon zwiſchen den zwei Stricken
nieder und ſetzte das Schaukelbrett durch ein geſchicktes
Auf- und Niederſchnellen ihres Körpers in Bewegung.
Ein paar Sekunden noch, und ſie flog durch die
Luft, und bloß mit einer Hand ſich haltend, riß ſie
mit der andern ein kleines Seidentuch von Bruſt
und Hals und ſchwenkte es wie in Glück und Über¬
mut. Dann ließ ſie die Schaukel wieder langſam gehen
und ſprang herab und nahm wieder Niemeyer's Arm.


„Effi, Du biſt doch noch immer wie Du früher
warſt.“


„Nein. Ich wollte, es wäre ſo. Aber es liegt
ganz zurück, und ich hab' es nur noch einmal ver¬
ſuchen wollen. Ach, wie ſchön es war, und wie mir die
Luft wohlthat; mir war, als flög' ich in den Himmel.
Ob ich wohl hineinkomme? Sagen Sie mir's, Freund,
Sie müſſen es wiſſen. Bitte, bitte . . .“


Niemeyer nahm ihren Kopf in ſeine zwei alten
Hände und gab ihr einen Kuß auf die Stirn und
ſagte: „Ja, Effi, Du wirſt.“

[[496]]

Fünfunddreißigſtes Kapitel.

Effi war den ganzen Tag draußen im Park,
weil ſie das Luftbedürfnis hatte: der alte Frieſacker
Dr. Wieſike war auch einverſtanden damit, gab ihr
aber in dieſem Stücke doch zuviel Freiheit, zu thun,
was ſie wolle, ſo daß ſie ſich während der kalten
Tage im Mai heftig erkältete: ſie wurde fiebrig,
huſtete viel, und der Doktor, der ſonſt jeden dritten
Tag herüber kam, kam jetzt täglich und war in Ver¬
legenheit, wie er der Sache beikommen ſolle, denn die
Schlaf- und Huſtenmittel, nach denen Effi verlangte,
konnten ihr des Fiebers halber nicht gegeben werden.


„Doktor,“ ſagte der alte Brieſt, „was wird aus
der Geſchichte? Sie kennen ſie ja von klein auf,
haben ſie geholt. Mir gefällt das alles nicht; ſie
nimmt ſichtlich ab, und die roten Flecke und der
Glanz in den Augen, wenn ſie mich mit einemmale
ſo fragend anſieht. Was meinen Sie? Was wird?
Muß ſie ſterben?“


[497]Effi Brieſt

Wieſike wiegte den Kopf langſam hin und her.
„Das will ich nicht ſagen, Herr von Brieſt. Daß ſie ſo
fiebert, gefällt mir nicht. Aber wir werden es ſchon
wieder 'runter kriegen, dann muß ſie nach der Schweiz
oder nach Mentone. Reine Luft und freundliche
Eindrücke, die das Alte vergeſſen machen . . .“


„Lethe, Lethe.“


„Ja, Lethe,“ lächelte Wieſike. „Schade, daß uns
die alten Schweden, die Griechen, bloß das Wort
hinterlaſſen haben und nicht zugleich auch die Quelle
ſelbſt . . .“


„Oder wenigſtens das Rezept dazu; Wäſſer
werden ja jetzt nachgemacht. Alle Wetter, Wieſike,
das wär' ein Geſchäft, wenn wir hier ſo ein
Sanatorium anlegen könnten: Frieſack als Ver¬
geſſenheitsquelle. Nun, vorläufig wollen wir's mit
der Riviera verſuchen. Mentone iſt ja wohl Riviera?
Die Kornpreiſe ſind zwar in dieſem Augenblicke wieder
ſchlecht, aber was ſein muß, muß ſein. Ich werde
mit meiner Frau darüber ſprechen.“


Das that er denn auch und fand ſofort ſeiner
Frau Zuſtimmung, deren in letzter Zeit — wohl
unter dem Eindruck zurückgezogenen Lebens — ſtark
erwachte Luſt, auch mal den Süden zu ſehen, ſeinem
Vorſchlage zu Hülfe kam. Aber Effi ſelbſt wollte
nichts davon wiſſen. „Wie gut Ihr gegen mich ſeid.
Th. Fontane, Effi Brieſt. 32[498]Effi BrieſtUnd ich bin egoiſtiſch genug, ich würde das Opfer
auch annehmen, wenn ich mir etwas davon verſpräche.
Mir ſteht es aber feſt, daß es mir bloß ſchaden würde.“


„Das redeſt Du Dir ein, Effi.“


„Nein. Ich bin ſo reizbar geworden; alles
ärgert mich. Nicht hier bei Euch. Ihr verwöhnt
mich und räumt mir alles aus dem Wege. Aber
auf einer Reiſe, da geht das nicht, da läßt ſich das
Unangenehme nicht ſo bei Seite thun; mit dem
Schaffner fängt es an, und mit dem Kellner
hört es auf. Wenn ich mir die ſuffiſanten Geſichter
bloß vorſtelle, ſo wird mir ſchon ganz heiß. Nein,
nein, laßt mich hier. Ich mag nicht mehr weg von
Hohen-Cremmen, hier iſt meine Stelle. Der Heliotrop
unten auf dem Rondell, um die Sonnenuhr herum,
iſt mir lieber als Mentone.“


Nach dieſem Geſpräch ließ man den Plan wieder
fallen, und Wieſike, ſo viel er ſich von Italien
verſprochen hatte, ſagte: „Das müſſen wir reſpektieren,
denn das ſind keine Launen; ſolche Kranken haben
ein ſehr feines Gefühl und wiſſen, mit merkwürdiger
Sicherheit, was ihnen hilft und was nicht. Und
was Frau Effi da geſagt hat von Schaffner und
Kellner, das iſt doch auch eigentlich ganz richtig,
und es giebt keine Luft, die ſo viel Heilkraft hätte,
den Hotelärger (wenn man ſich überhaupt darüber
[499]Effi Brieſt ärgert) zu balanzieren. Alſo laſſen wir ſie hier;
wenn es nicht das beſte iſt, ſo iſt es gewiß nicht
das ſchlechteſte.“


Das beſtätigte ſich denn auch. Effi erholte ſich,
nahm um ein Geringes wieder zu (der alte Brieſt
gehörte zu den Wiegefanatikern) und verlor ein gut
Teil ihrer Reizbarkeit. Dabei war aber ihr Luft¬
bedürfnis in einem beſtändigen Wachſen, und zumal
wenn Weſtwind ging und graues Gewölk am Himmel
zog, verbrachte ſie viele Stunden im Freien. An
ſolchen Tagen ging ſie wohl auch auf die Felder
hinaus und ins Luch, oft eine halbe Meile weit,
und ſetzte ſich, wenn ſie müde geworden, auf einen
Hürdenzaun und ſah, in Träume verloren, auf die
Ranunkeln und roten Ampferſtauden, die ſich im
Winde bewegten.


„Du gehſt immer ſo allein,“ ſagte Frau von
Brieſt. „Unter unſeren Leuten biſt Du ſicher; aber
es ſchleicht auch ſo viel fremdes Geſindel umher.“


Das machte doch einen Eindruck auf Effi, die
an Gefahr nie gedacht hatte, und als ſie mit Roswitha
allein war, ſagte ſie: „Dich kann ich nicht gut
mitnehmen, Roswitha; Du biſt zu dick und nicht
mehr feſt auf den Füßen.“


„Nu, gnäd'ge Frau, ſo ſchlimm iſt es doch
noch nicht. Ich könnte ja doch noch heiraten.“


32 *[500]Effi Brieſt

„Natürlich,“ lachte Effi. „Das kann man immer
noch. Aber weißt Du, Roswitha, wenn ich einen
Hund hätte, der mich begleitete. Papas Jagdhund
hat gar kein Attachement für mich, Jagdhunde ſind
ſo dumm, und er rührt ſich immer erſt, wenn der
Jäger oder der Gärtner die Flinte vom Riegel
nimmt. Ich muß jetzt oft an Rollo denken.“


„Ja,“ ſagte Roswitha, „ſo 'was wie Rollo haben
ſie hier gar nicht. Aber damit will ich nichts gegen
‚hier‘ geſagt haben. Hohen-Cremmen iſt ſehr gut.“


Es war drei, vier Tage nach dieſem Geſpräche
zwiſchen Effi und Roswitha, daß Innſtetten um eine
Stunde früher in ſein Arbeitszimmer trat als ge¬
wöhnlich. Die Morgenſonne, die ſehr hell ſchien,
hatte ihn geweckt, und weil er fühlen mochte, daß er
nicht wieder einſchlafen würde, war er aufgeſtanden,
um ſich an eine Arbeit zu machen, die ſchon ſeit ge¬
raumer Zeit der Erledigung harrte.


Nun war es eine Viertelſtunde nach acht, und
er klingelte. Johanna brachte das Frühſtückstablett,
auf dem, neben der Kreuzzeitung und der Nord¬
deutſchen Allgemeinen, auch noch zwei Briefe lagen.
Er überflog die Adreſſen und erkannte an der Hand¬
ſchrift, daß der eine vom Miniſter war. Aber der
[501]Effi Brieſt andere? Der Poſtſtempel war nicht deutlich zu
leſen, und das „Sr. Wohlgeboren Herrn Baron von
Innſtetten“ bezeugte eine glückliche Unvertrautheit
mit den landesüblichen Titulaturen. Dem entſprachen
auch die Schriftzüge von ſehr primitivem Charakter.
Aber die Wohnungsangabe war wieder merkwürdig
genau: W. Keithſtraße 1c, zwei Treppen hoch.


Innſtetten war Beamter genug, um den Brief
von ‚Exzellenz‘ zuerſt zu erbrechen. „Mein lieber
Innſtetten! Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu
können, daß Seine Majeſtät Ihre Ernennung zu
unterzeichnen geruht haben und gratuliere Ihnen auf¬
richtig dazu.“ Innſtetten war erfreut über die liebens¬
würdigen Zeilen des Miniſters, faſt mehr als über
die Ernennung ſelbſt. Denn was das Höherhinauf¬
klimmen auf der Leiter anging, ſo war er ſeit dem
Morgen in Keſſin, wo Crampas mit einem Blick,
den er immer vor Augen hatte, Abſchied von ihm
genommen, etwas kritiſch gegen derlei Dinge geworden.
Er maß ſeitdem mit anderem Maße, ſah alles anders
an. Auszeichnung, was war es am Ende? Mehr
als einmal hatte er, während der ihm immer freud¬
loſer dahin fließenden Tage, einer halb vergeſſenen
Miniſterialanekdote aus den Zeiten des älteren Laden¬
berg her, gedenken müſſen, der, als er nach langem
Warten den roten Adlerorden empfing, ihn wütend
[502]Effi Brieſt und mit dem Ausrufe beiſeite warf: „Da liege, bis
du ſchwarz wirſt.“ Wahrſcheinlich war er dann
hinterher auch „ſchwarz“ geworden, aber um viele
Tage zu ſpät und ſicherlich ohne rechte Befriedigung
für den Empfänger. Alles, was uns Freude machen
ſoll, iſt an Zeit und Umſtände gebunden, und was
uns heute noch beglückt, iſt morgen wertlos. Inn¬
ſtetten empfand das tief, und ſo gewiß ihm an
Ehren und Gunſtbezeugungen von oberſter Stelle
her lag, wenigſtens gelegen hatte, ſo gewiß ſtand
ihm jetzt feſt, es käme bei dem glänzenden Schein
der Dinge nicht viel heraus, und das, was man ‚das
Glück‘ nenne, wenn's überhaupt exiſtiere, ſei 'was
anderes als dieſer Schein. „Das Glück, wenn mir
recht iſt, liegt in zweierlei: darin, daß man ganz da
ſteht, wo man hin gehört (aber welcher Beamte kann
das von ſich ſagen), und zum zweiten und beſten in
einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen,
alſo darin, daß man ausgeſchlafen hat und daß einen
die neuen Stiefel nicht drücken. Wenn einem die
720 Minuten eines zwölfſtündigen Tages ohne be¬
ſonderen Ärger vergehen, ſo läßt ſich von einem
glücklichen Tage ſprechen.“ In einer Stimmung, die
derlei ſchmerzlichen Betrachtungen nachhing, war
Innſtetten auch heute wieder. Er nahm nun den
zweiten Brief. Als er ihn geleſen, fuhr er über
[503]Effi Brieſt ſeine Stirn und empfand ſchmerzlich, daß es ein
Glück gebe, daß er es gehabt, aber daß er es nicht
mehr habe und nicht mehr haben könne.


Johanna trat ein und meldete: „Geheimrat
Wüllersdorf.“


Dieſer ſtand ſchon auf der Thürſchwelle. „Gratu¬
liere, Innſtetten.“


„Ihnen glaub' ich's; die anderen werden ſich
ärgern. Im übrigen . . .“


„Im übrigen. Sie werden doch in dieſem
Augenblicke nicht kritteln wollen.“


„Nein. Die Gnade Seiner Majeſtät beſchämt
mich, und die wohlwollende Geſinnung des Miniſters,
dem ich das alles verdanke, faſt noch mehr.“


„Aber . . .“


„Aber ich habe mich zu freuen verlernt. Wenn
ich es einem anderen als Ihnen ſagte, ſo würde
ſolche Rede für redensartlich gelten. Sie aber, Sie
finden ſich darin zurecht. Sehen Sie ſich hier um;
wie leer und öde iſt das alles. Wenn die Johanna
eintritt, ein ſogenanntes Juwel, ſo wird mir angſt
und bange. Dieſes Sich-in-Szene-ſetzen (und Inn¬
ſtetten ahmte Johanna's Haltung nach), dieſe halb
komiſche Büſtenplaſtik, die wie mit einem Spezial¬
anſpruch auftritt, ich weiß nicht, ob an die Menſch¬
heit oder an mich — ich finde das alles ſo triſt
[504]Effi Brieſt und elend, und es wäre zum Totſchießen, wenn es
nicht ſo lächerlich wäre.“


„Lieber Innſtetten, in dieſer Stimmung wollen
Sie Miniſterialdirektor werden?“


„Ah, bah. Kann es anders ſein? Leſen Sie;
dieſe Zeilen habe ich eben bekommen.“


Wüllersdorf nahm den zweiten Brief mit dem
unleſerlichen Poſtſtempel, amüſierte ſich über das
,Wohlgeboren‘ und trat dann ans Fenſter, um be¬
quemer leſen zu können.


„Gnäd'ger Herr! Sie werden ſich wohl am
Ende wundern, daß ich Ihnen ſchreibe, aber es iſt
wegen Rollo. Anniechen hat uns ſchon voriges Jahr
geſagt: Rollo wäre jetzt ſo faul; aber das thut hier
nichts, er kann hier ſo faul ſein wie er will, je
fauler je beſſer. Und die gnäd'ge Frau möchte es
doch ſo gern. Sie ſagt immer, wenn ſie ins Luch
oder über Feld geht: ,Ich fürchte mich eigentlich,
Roswitha, weil ich da ſo allein bin; aber wer ſoll
mich begleiten? Rollo, ja, das ginge; der iſt mir
auch nicht gram. Das iſt der Vorteil, daß ſich die
Tiere nicht ſo drum kümmern.‘ Das ſind die Worte
der gnäd'gen Frau, und weiter will ich nichts ſagen,
und den gnäd'gen Herrn bloß noch bitten, mein Annie¬
chen zu grüßen. Und auch die Johanna. Von Ihrer
treu ergebenſten Dienerin Roswitha Gellenhagen.“


[505]Effi Brieſt

„Ja,“ ſagte Wüllersdorf, als er das Papier
wieder zuſammenfaltete, „die iſt uns über.“


„Finde ich auch.“


„Und das iſt auch der Grund, daß Ihnen alles
andere ſo fraglich erſcheint.“


„Sie treffen's. Es geht mir ſchon lange durch
den Kopf, und dieſe ſchlichten Worte mit ihrer ge¬
wollten oder vielleicht auch nicht gewollten Anklage
haben mich wieder vollends aus dem Häuschen ge¬
bracht. Es quält mich ſeit Jahr und Tag ſchon,
und ich möchte aus dieſer ganzen Geſchichte heraus;
nichts gefällt mir mehr; je mehr man mich aus¬
zeichnet, je mehr fühle ich, daß dies alles nichts iſt.
Mein Leben iſt verpfuſcht, und ſo hab' ich mir im
Stillen ausgedacht, ich müßte mit all' den Strebungen
und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr zu thun
haben, und mein Schulmeiſtertum, was ja wohl
mein Eigentlichſtes iſt, als ein höherer Sittendirektor
verwenden können. Es hat ja dergleichen gegeben.
Ich müßte alſo, wenn's ginge, ſolche ſchrecklich be¬
rühmte Figur werden, wie beiſpielsweiſe der Doktor
Wichern im Rauhen Hauſe zu Hamburg geweſen iſt,
dieſer Mirakelmenſch, der alle Verbrecher mit ſeinem
Blick und ſeiner Frömmigkeit bändigte . . .“


„Hm, dagegen iſt nichts zu ſagen; das würde
gehen.“


[506]Effi Brieſt

„Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht 'mal.
Mir iſt eben alles verſchloſſen. Wie ſoll ich einen
Totſchläger an ſeiner Seele packen? Dazu muß
man ſelber intakt ſein. Und wenn man's nicht mehr
iſt und ſelber ſo 'was an den Fingerſpitzen hat,
dann muß man wenigſtens vor ſeinen zu bekehrenden
Confratres den wahnſinnigen Büßer ſpielen und eine
Rieſenzerknirſchung zum beſten geben können.“


Wüllersdorf nickte.


„ . . . Nun ſehen Sie, Sie nicken. Aber das
alles kann ich nicht mehr. Den Mann im Büßer¬
hemd bring' ich nicht mehr heraus, und den Derwiſch
oder Fakir, der unter Selbſtanklagen ſich zu Tode
tanzt, erſt recht nicht. Und da hab' ich mir denn,
weil das alles nicht geht, als ein beſtes heraus¬
geklügelt: weg von hier, weg und hin unter lauter
pechſchwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts
wiſſen. Dieſe Glücklichen! Denn gerade das, dieſer
ganze Krimskrams iſt doch an allem ſchuld. Aus
Paſſion, was am Ende gehen möchte, thut man der¬
gleichen nicht. Alſo bloßen Vorſtellungen zuliebe . . .
Vorſtellungen! . . . Und da klappt denn einer zu¬
ſammen, und man klappt ſelber nach. Bloß noch
ſchlimmer.“


„Ach was, Innſtetten, das ſind Launen, Ein¬
fälle. Quer durch Afrika, was ſoll das heißen?
[507]Effi Brieſt Das iſt für 'nen Leutnant, der Schulden hat. Aber
ein Mann wie Sie! Wollen Sie mit einem roten
Fez einem Palawer präſidieren oder mit einem
Schwiegerſohn von König Mteſa Blutfreundſchaft
ſchließen? Oder wollen Sie ſich in einem Tropen¬
helm, mit ſechs Löchern oben, am Kongo entlang
taſten, bis Sie bei Kamerun oder da herum wieder
heraus kommen? Unmöglich!“


„Unmöglich? Warum? Und wenn unmög¬
lich, was dann?“


„Einfach hier bleiben und Reſignation üben.
Wer iſt denn unbedrückt? Wer ſagte nicht jeden
Tag: ,eigentlich eine ſehr fragwürdige Geſchichte.‘
Sie wiſſen, ich habe auch mein Päckchen zu tragen,
nicht gerade das Ihrige, aber nicht viel leichter. Es
iſt Thorheit mit dem im Urwald-Umherkriechen oder
in einem Termitenhügel nächtigen; wer's mag, der
mag es, aber für unſerein iſt es nichts. In der
Breſche ſtehen und aushalten, bis man fällt, das iſt
das beſte. Vorher aber im kleinen und kleinſten ſo
viel herausſchlagen wie möglich, und ein Auge dafür
haben, wenn die Veilchen blühen oder das Luiſen¬
denkmal in Blumen ſteht oder die kleinen Mädchen
mit hohen Schnürſtiefeln über die Korde ſpringen.
Oder auch wohl nach Potsdam fahren und in die
Friedenskirche gehen, wo Kaiſer Friedrich liegt, und
[508]Effi Brieſt wo ſie jetzt eben anfangen, ihm ein Grabhaus zu
bauen. Und wenn Sie da ſtehen, dann überlegen
Sie ſich das Leben von dem, und wenn Sie dann
nicht beruhigt ſind, dann iſt Ihnen freilich nicht zu
helfen.“


„Gut, gut. Aber das Jahr iſt lang, und jeder
einzelne Tag . . . und dann der Abend.“


„Mit dem iſt immer noch am eheſten fertig zu
werden. Da haben wir ,Sardanapal‘ oder ,Coppelia‘
mit der del Era, und wenn es damit aus iſt, dann
haben wir Siechen. Nicht zu verachten. Drei
Seidel beruhigen jedesmal. Es giebt immer noch
viele, ſehr viele, die zu der ganzen Sache nicht anders
ſtehen wie wir, und einer, dem auch viel verquer
gegangen war, ſagte mir 'mal: ‚Glauben Sie mir,
Wüllersdorf, es geht überhaupt nicht ohne ,Hülfs¬
konſtruktionen‘.‘ Der das ſagte, war ein Baumeiſter
und mußt' es alſo wiſſen. Und er hatte recht mit
ſeinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich nicht
an die ‚Hülfskonſtruktionen‘ gemahnte.“


Wüllersdorf, als er ſich ſo expektoriert, nahm
Hut und Stock. Innſtetten aber, der ſich bei dieſen
Worten ſeines Freundes ſeiner eigenen voraufge¬
gangenen Betrachtungen über das ,kleine Glück‘ er¬
innert haben mochte, nickte halb zuſtimmend und
lächelte vor ſich hin.


[509]Effi Brieſt

„Und wohin gehen Sie nun, Wüllersdorf? Es
iſt noch zu früh für das Miniſterium.“


„Ich ſchenk' es mir heute ganz. Erſt noch eine
Stunde Spaziergang am Kanal hin bis an die
Charlottenburger Schleuſe und dann wieder zurück.
Und dann ein kleines Vorſprechen bei Huth, Pots¬
damerſtraße, die kleine Holztreppe vorſichtig hinauf.
Unten iſt ein Blumenladen.“


„Und das freut Sie? Das genügt Ihnen?“


„Das will ich nicht gerade ſagen. Aber es
hilft ein bißchen. Ich finde da verſchiedene Stamm¬
gäſte, Frühſchoppler, deren Namen ich klüglich ver¬
ſchweige. Der eine erzählt dann vom Herzog von
Ratibor, der andere vom Fürſtbiſchof Kopp und der
dritte wohl gar von Bismarck. Ein bißchen fällt
immer ab. Dreiviertel ſtimmt nicht, aber wenn es
nur witzig iſt, krittelt man nicht lange dran herum
und hört dankbar zu.“


Und damit ging er.

[[510]]

Sechsunddreißigſtes Kapitel.

Der Mai war ſchön, der Juni noch ſchöner,
und Effi, nachdem ein erſtes ſchmerzliches Gefühl,
das Rollo's Eintreffen in ihr geweckt hatte, glücklich
überwunden war, war voll Freude, das treue Tier
wieder um ſich zu haben. Roswitha wurde belobt,
und der alte Brieſt erging ſich, ſeiner Frau gegen¬
über, in Worten der Anerkennung für Innſtetten,
der ein Kavalier ſei, nicht kleinlich, und immer das
Herz auf dem rechten Fleck gehabt habe. „Schade,
daß die dumme Geſchichte dazwiſchen fahren mußte.
Eigentlich war es doch ein Muſterpaar.“ Der Ein¬
zige, der bei dem Wiederſehen ruhig blieb, war Rollo
ſelbſt, weil er entweder kein Organ für Zeitmaß hatte
oder die Trennung als eine Unordnung anſah, die
nun einfach wieder behoben ſei. Daß er alt geworden,
wirkte wohl auch mit dabei. Mit ſeinen Zärtlich¬
keiten blieb er ſparſam, wie er beim Wiederſehen
ſparſam mit ſeinen Freudenbezeugungen geweſen war,
[511]Effi Brieſt aber in ſeiner Treue war er womöglich noch ge¬
wachſen. Er wich ſeiner Herrin nicht von der Seite.
Den Jagdhund behandelte er wohlwollend, aber doch
als ein Weſen auf niederer Stufe. Nachts lag er
vor Effi's Thür auf der Binſenmatte, morgens, wenn
das Frühſtück im Freien genommen wurde, neben
der Sonnenuhr, immer ruhig, immer ſchläfrig, und
nur wenn ſich Effi vom Frühſtückstiſch erhob und
auf den Flur zuſchritt und hier erſt den Strohhut
und dann den Sonnenſchirm vom Ständer nahm,
kam ihm ſeine Jugend wieder, und ohne ſich darum
zu kümmern, ob ſeine Kraft auf eine große oder kleine
Probe geſtellt werden würde, jagte er die Dorfſtraße
hinauf und wieder herunter und beruhigte ſich erſt,
wenn ſie zwiſchen den erſten Feldern waren. Effi,
der freie Luft noch mehr galt, als landſchaftliche
Schönheit, vermied die kleinen Waldpartieen und hielt
meiſt die große, zunächſt von uralten Rüſtern und
dann, wo die Chauſſee begann, von Pappeln beſetzte
große Straße, die nach der Bahnhofsſtation führte,
wohl eine Stunde Wegs. An allem freute ſie ſich,
atmete beglückt den Duft ein, der von den Raps-
und Kleefeldern herüber kam, oder folgte dem Auf¬
ſteigen der Lerchen und zählte die Ziehbrunnen und
Tröge, daran das Vieh zur Tränke ging. Dabei
klang ein leiſes Läuten zu ihr herüber. Und dann
[512]Effi Brieſt war ihr zu Sinn, als müſſe ſie die Augen ſchließen
und in einem ſüßen Vergeſſen hinübergehen. In
Nähe der Station, hart an der Chauſſee, lag eine
Chauſſeewalze. Das war ihr täglicher Raſteplatz,
von dem aus ſie das Treiben auf dem Bahndamm
verfolgen konnte; Züge kamen und gingen, und
mitunter ſah ſie zwei Rauchfahnen, die ſich einen
Augenblick wie deckten und dann nach links und
rechts hin wieder auseinandergingen, bis ſie hinter
Dorf und Wäldchen verſchwanden. Rollo ſaß dann
neben ihr, an ihrem Frühſtück teilnehmend, und wenn
er den letzten Biſſen aufgefangen hatte, fuhr er, wohl
um ſich dankbar zu bezeigen, irgend eine Ackerfurche
wie ein Raſender hinauf und hielt nur inne, wenn
ein paar beim Brüten geſtörte Rebhühner dicht neben
ihm aus einer Nachbarfurche aufflogen.


„Wie ſchön dieſer Sommer! Daß ich noch ſo
glücklich ſein könnte, liebe Mama, vor einem Jahre
hätte ich's nicht gedacht,“ — das ſagte Effi jeden
Tag, wenn ſie mit der Mama um den Teich ſchritt
oder einen Frühapfel vom Zweig brach und tapfer
einbiß. Denn ſie hatte die ſchönſten Zähne. Frau
von Brieſt ſtreichelte ihr dann die Hand und ſagte:
„Werde nur erſt wieder geſund, Effi, ganz geſund;
[513]Effi Brieſt das Glück findet ſich dann; nicht das alte, aber ein
neues. Es giebt Gott ſei Dank viele Arten von
Glück. Und Du ſollſt ſehen, wir werden ſchon etwas
finden für Dich.“


„Ihr ſeid ſo gut. Und eigentlich hab' ich doch
auch Euer Leben geändert und Euch vor der Zeit
zu alten Leuten gemacht.“


„Ach, meine liebe Effi, davon ſprich nicht. Als
es kam, da dacht' ich ebenſo. Jetzt weiß ich, daß
unſere Stille beſſer iſt als der Lärm und das laute
Getriebe von vordem. Und wenn Du ſo fortfährſt,
können wir noch reiſen. Als Wieſike Mentone vor¬
ſchlug, da warſt Du krank und reizbar und hatteſt,
weil Du krank warſt, ganz recht mit dem, was Du
von den Schaffnern und Kellnern ſagteſt; aber wenn
Du wieder feſtere Nerven haſt, dann geht es, dann
ärgert man ſich nicht mehr, dann lacht man über
die großen Allüren und das gekräuſelte Haar. Und
dann das blaue Meer und weiße Segel und die
Felſen ganz mit rotem Kaktus überwachſen, — ich
habe es noch nicht geſehen, aber ich denke es mir ſo.
Und ich möchte es wohl kennen lernen.“


So verging der Sommer, und die Sternſchnuppen¬
nächte lagen ſchon zurück. Effi hatte während dieſer
Nächte bis über Mitternacht hinaus am Fenſter ge¬
ſeſſen und ſich nicht müde ſehen können. „Ich war
Th. Fontane, Effi Brieſt. 33[514]Effi Brieſt immer eine ſchwache Chriſtin; aber ob wir doch
vielleicht von da oben ſtammen und, wenn es hier
vorbei iſt, in unſere himmliſche Heimat zurückkehren,
zu den Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich
weiß es nicht, ich will es auch nicht wiſſen, ich habe
nur die Sehnſucht.“


Arme Effi, Du hatteſt zu den Himmelwundern
zu lange hinaufgeſehen und darüber nachgedacht, und
das Ende war, daß die Nachtluft und die Nebel,
die vom Teich her aufſtiegen, ſie wieder aufs Kranken¬
bett warfen, und als Wieſike gerufen wurde und ſie
geſehen hatte, nahm er Brieſt beiſeite und ſagte:
„Wird nichts mehr; machen Sie ſich auf ein baldiges
Ende gefaßt.“


Er hatte nur zu wahr geſprochen, und wenige
Tage danach, es war noch nicht ſpät und die zehnte
Stunde noch nicht heran, da kam Roswitha nach
unten und ſagte zu Frau von Brieſt: „Gnädigſte
Frau, mit der gnädigen Frau oben iſt es ſchlimm;
ſie ſpricht immer ſo ſtill vor ſich hin, und mitunter
iſt es, als ob ſie bete, ſie will es aber nicht wahr
haben, und ich weiß nicht, mir iſt, als ob es jede
Stunde vorbei ſein könnte.“


„Will ſie mich ſprechen?“


„Sie hat es nicht geſagt. Aber ich glaube, ſie
möchte es. Sie wiſſen ja, wie ſie iſt; ſie will Sie
[515]Effi Brieſt nicht ſtören und ängſtlich machen. Aber es wäre
doch wohl gut.“


„Es iſt gut, Roswitha,“ ſagte Frau von Brieſt,
„ich werde kommen.“


Und ehe die Uhr noch einſetzte, ſtieg Frau
von Brieſt die Treppe hinauf und trat bei Effi ein.
Das Fenſter ſtand auf, und ſie lag auf einer
Chaiſelongue, die neben dem Fenſter ſtand.


Frau von Brieſt ſchob einen kleinen ſchwarzen
Stuhl mit drei goldenen Stäbchen in der Ebenholz¬
lehne heran, nahm Effi's Hand und ſagte:


„Wie geht es Dir, Effi? Roswitha ſagt, Du
ſeieſt ſo fiebrig.“


„Ach, Roswitha nimmt alles ſo ängſtlich. Ich
ſah ihr an, ſie glaubt, ich ſterbe. Nun, ich weiß
nicht. Aber ſie denkt, es ſoll es jeder ſo ängſtlich
nehmen wie ſie ſelbſt.“


„Biſt Du ſo ruhig über Sterben, liebe Effi?“


„Ganz ruhig, Mama.“


„Täuſchſt Du Dich darin nicht? Alles hängt
am Leben und die Jugend erſt recht. Und Du biſt
noch ſo jung, liebe Effi.“


Effi ſchwieg eine Weile. Dann ſagte ſie: „Du
weißt, ich habe nicht viel geleſen, und Innſtetten
wunderte ſich oft darüber, und es war ihm nicht recht.“


Es war das erſte Mal, daß ſie Innſtetten's
33 *[516]Effi BrieſtNamen nannte, was einen großen Eindruck auf die
Mama machte und dieſer klar zeigte, daß es zu
Ende ſei.


„Aber ich glaube,“ nahm Frau von Brieſt das
Wort, „Du wollteſt mir 'was erzählen.“


„Ja, das wollte ich, weil Du davon ſprachſt,
ich ſei noch ſo jung. Freilich bin ich noch jung.
Aber das ſchadet nichts. Es war noch in glücklichen
Tagen, da las mir Innſtetten abends vor; er hatte
ſehr gute Bücher, und in einem hieß es: es ſei wer
von einer fröhlichen Tafel abgerufen worden, und am
anderen Tage habe der Abgerufene gefragt, wie's
denn nachher geweſen ſei. Da habe man ihm ge¬
antwortet: ,Ach, es war noch allerlei; aber eigentlich
haben Sie nichts verſäumt.‘ Sieh', Mama, dieſe
Worte haben ſich mir eingeprägt — es hat nicht
viel zu bedeuten, wenn man von der Tafel etwas
früher abgerufen wird.“


Frau von Brieſt ſchwieg. Effi aber ſchob ſich
etwas höher hinauf und ſagte dann: „Und da ich
nun 'mal von alten Zeiten und auch von Innſtetten
geſprochen habe, muß ich Dir doch noch etwas ſagen,
liebe Mama.“


„Du regſt Dich auf, Effi.“


„Nein, nein; etwas von der Seele herunter
ſprechen, das regt mich nicht auf, das macht ſtill.
[517]Effi Brieſt Und da wollt' ich Dir denn ſagen: ich ſterbe mit
Gott und Menſchen verſöhnt, auch verſöhnt mit ihm.“


„Warſt Du denn in Deiner Seele in ſo großer
Bitterkeit mit ihm? Eigentlich, verzeihe mir, meine
liebe Effi, daß ich das jetzt noch ſage, eigentlich haſt
Du doch Euer Leid heraufbeſchworen.“


Effi nickte. „Ja, Mama. Und traurig, daß
es ſo iſt. Aber als dann all' das Schreckliche kam,
und zuletzt das mit Annie, Du weißt ſchon, da hab'
ich doch, wenn ich das lächerliche Wort gebrauchen
darf, den Spieß umgekehrt und habe mich ganz ernſt¬
haft in den Gedanken hinein gelebt, er ſei ſchuld, weil
er nüchtern und berechnend geweſen ſei und zuletzt
auch noch grauſam. Und da ſind Verwünſchungen
gegen ihn über meine Lippen gekommen.“


„Und das bedrückt Dich jetzt?“


„Ja. Und es liegt mir daran, daß er erfährt,
wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch
faſt meine ſchönſten geweſen ſind, wie mir hier klar
geworden, daß er in allem recht gehandelt. In der
Geſchichte mit dem armen Crampas — ja, was
ſollt' er am Ende anders thun? Und dann, womit
er mich am tiefſten verletzte, daß er mein eigen Kind
in einer Art Abwehr gegen mich erzogen hat, ſo hart
es mir ankommt und ſo weh' es mir thut, er hat
auch darin recht gehabt. Laß ihn das wiſſen, daß
[518]Effi Brieſt ich in dieſer Überzeugung geſtorben bin. Es wird
ihn tröſten, aufrichten, vielleicht verſöhnen. Denn er
hatte viel Gutes in ſeiner Natur und war ſo edel,
wie jemand ſein kann, der ohne rechte Liebe iſt.“


Frau von Brieſt ſah, daß Effi erſchöpft war
und zu ſchlafen ſchien oder [ſchlafen] wollte. Sie
erhob ſich leiſe von ihrem Platz und ging. Indeſſen
kaum, daß ſie fort war, erhob ſich auch Effi und
ſetzte ſich an das offene Fenſter, um noch einmal die
kühle Nachtluft einzuſaugen. Die Sterne flimmerten,
und im Parke regte ſich kein Blatt. Aber je länger
ſie hinaus horchte, je deutlicher hörte ſie wieder, daß
es wie ein feines Rieſeln auf die Platanen niederfiel.
Ein Gefühl der Befreiung überkam ſie. „Ruhe, Ruhe.“


Es war einen Monat ſpäter, und der September
ging auf die Neige. Das Wetter war ſchön, aber
das Laub im Parke zeigte ſchon viel Rot und Gelb,
und ſeit den Äquinoktien, die drei Sturmtage gebracht
hatten, lagen die Blätter überall hin ausgeſtreut.
Auf dem Rondell hatte ſich eine kleine Veränderung
vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der
Stelle, wo ſie geſtanden hatte, lag ſeit geſtern eine
weiße Marmorplatte, darauf ſtand nichts als „Effi
Brieſt“ und darunter ein Kreuz. Das war Effi's
[519]Effi Brieſtletzte Bitte geweſen: „Ich möchte auf meinem Stein
meinen alten Namen wieder haben; ich habe dem
andern keine Ehre gemacht.“ Und es war ihr
verſprochen worden.


Ja, geſtern war die Marmorplatte gekommen
und aufgelegt worden, und angeſichts der Stelle
ſaßen nun wieder Brieſt und Frau und ſahen darauf
hin und auf den Heliotrop, den man geſchont, und
der den Stein jetzt einrahmte. Rollo lag daneben,
den Kopf in die Pfoten geſteckt.


Wilke, deſſen Gamaſchen immer weiter wurden,
brachte das Frühſtück, und die Poſt, und der alte
Brieſt ſagte: „Wilke, beſtelle den kleinen Wagen.
Ich will mit der Frau über Land fahren.“


Frau von Brieſt hatte mittlerweile den Kaffee
eingeſchenkt und ſah nach dem Rondell und ſeinem
Blumenbeete. „Sieh', Brieſt, Rollo liegt wieder vor
dem Stein. Es iſt ihm doch noch tiefer gegangen
als uns. Er frißt auch nicht mehr.“


„Ja, Luiſe, die Kreatur. Das iſt ja, was ich
immer ſage. Es iſt nicht ſo viel mit uns, wie wir
glauben. Da reden wir immer von Inſtinkt. Am
Ende iſt es doch das beſte.“


„Sprich nicht ſo. Wenn Du ſo philoſophierſt . . .
nimm es mir nicht übel, Brieſt, dazu reicht es
bei Dir nicht aus. Du haſt Deinen guten
[520]Effi Brieſt Verſtand, aber Du kannſt doch nicht an ſolche
Fragen . . .“


„Eigentlich nicht.“


„Und wenn denn ſchon überhaupt Fragen geſtellt
werden ſollen, da giebt es ganz andere, Brieſt, und
ich kann Dir ſagen, es vergeht kein Tag, ſeit das
arme Kind da liegt, wo mir ſolche Fragen nicht
gekommen wären . . .“


„Welche Fragen?“


„Ob wir nicht doch vielleicht ſchuld ſind?“


„Unſinn, Luiſe. Wie meinſt Du das?“


„Ob wir ſie nicht anders in Zucht hätten
nehmen müſſen. Gerade wir. Denn Niemeyer iſt
doch eigentlich eine Null, weil er alles in Zweifel
läßt. Und dann, Brieſt, ſo leid es mir thut . . . Deine
beſtändigen Zweideutigkeiten . . . und zuletzt, womit
ich mich ſelbſt anklage, denn ich will nicht ſchuldlos
ausgehen in dieſer Sache, ob ſie nicht doch vielleicht
zu jung war?“


Rollo, der bei dieſen Worten aufwachte, ſchüttelte
den Kopf langſam hin und her, und Brieſt ſagte
ruhig: „Ach, Luiſe, laß . . . das iſt ein zu weites
Feld.“

Appendix A

Druck von Oskar Bonde in Altenburg.

[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 1. Effi Briest. Effi Briest. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjt0.0