der
Volkswirtſchaft.
Verlag der H. Laupp’ſchen Buchhandlung.
[[II]]
Alle Rechte vorbehalten!
Druck von H. Laupp jr. in Tübingen.
[[III]]
Meinem hochverehrten Freunde
Herrn Dr. Albert E. Fr. Schäffle
k. k. öſterr. Miniſter a. D.
in alter Treue gewidmet.
[[IV]][[V]]
Vorwort.
Die ſechs Vorträge, welche dieſes Bändchen umſchließt,
ſind bei verſchiedenen Gelegenheiten, wo ich vor einem nicht
ausſchließlich aus Fachgenoſſen beſtehenden Kreiſe zu ſprechen
hatte, entſtanden. Sie wollen deshalb nicht wie die Kapitel
eines Buches geleſen ſein. Jeder iſt für ſich ſelbſtändig;
ja es wiederholen ſich in ihnen bisweilen die gleichen Ge-
dankengänge, wenn auch in verſchiedener Beleuchtung.
Dennoch wird man leicht herausfinden, daß die ein-
zelnen Stücke innerlich nach Gegenſtand und Methode mit
einander zuſammenhängen und einander ergänzen. Der
Grundgedanke, welcher alle durchzieht, iſt in dem erſten
Vortrage ausgeſprochen, der darum auch den Titel für das
Ganze abgeben konnte. Derſelbe iſt, wie kaum geſagt zu
werden braucht, hier nicht in der knappen Form abgedruckt,
in der er gehalten worden iſt. Möchte er durch die Aus-
arbeitung nicht an Ueberſichtlichkeit eingebüßt haben, was
er an Genauigkeit und Materialfülle gewonnen hat!
Von den übrigen Vorträgen ſind zwei (II. und V.)
bereits früher gedruckt erſchienen, beide in Sammelwerken,
von denen das eine nicht in den Buchhandel gekommen,
[VI] das andere wenigſtens den Fachgenoſſen nicht leicht zu-
gänglich iſt. Dem Verlangen nach Sonderabzügen dieſer
Arbeiten, dem ich ſchon lange nicht mehr habe entſprechen
können, glaube ich am beſten durch den Wiederabdruck in
einem Zuſammenhange zu genügen, in den ſich beide gut
einfügen. Den Vortrag über die ſoziale Gliederung der
Frankfurter Bevölkerung im Mittelalter habe ich um ſo
lieber hier eingereiht, als er Mitteilungen aus dem II. Bande
meines Werkes über die Bevölkerung von Frankfurt a. M.
im XIV. und XV. Jahrhundert enthält, deſſen Erſcheinen
in nächſter Zeit ſich noch nicht ermöglichen läßt.
Sämtliche Vorträge beherrſcht eine einheitliche Auf-
faſſung vom geſetzmäßigen Verlaufe der wirtſchaftsgeſchicht-
lichen Entwicklung und eine gleichartige methodiſche Be-
handlung des Thatſachenmaterials. In beiden Richtungen
gebe ich nichts anderes, als was ich vom Anfang meiner
akademiſchen Lehrthätigkeit an vorgetragen habe und was
bei fortgeſetzter wiſſenſchaftlicher Arbeit ſich immer mehr
in mir befeſtigt und, wie ich hoffe, auch abgeklärt hat.
Mit der gegenwärtigen Veröffentlichung komme ich einem
von früheren Zuhörern mir öfter ausgeſprochenen Wunſche
nach in der Form, die mir zur Zeit allein möglich iſt und
deren Unzulänglichkeit ich ſelbſt am lebhafteſten empfinde.
Leipzig, den 18. April 1893.
Karl Bücher.
[]
Inhalt.
- I. Die Entſtehung der Volkswirtſchaft 1
- II. Die gewerblichen Betriebsſyſteme in ihrer geſchichtlichen
Entwickelung 79* - III. Arbeitsteilung und ſoziale Klaſſenbildung 119
- IV. Die Anfänge des Zeitungsweſens 169
- V. Die ſoziale Gliederung der Frankfurter Bevölkerung im
Mittelalter 209 - VI. Die inneren Wanderungen und das Städteweſen in ihrer
entwicklungsgeſchichtlichen Bedeutung 251
[]
Berichtigung.
- Seite 208, Zeile 12 iſt wirtſchaftlichen, nicht wiſſen-
ſchaftlichen zu leſen.
I.
Die Entſtehung der Volkswirtſchaft.
Vortrag,
gehalten beim Antritt des Lehramtes
an der Techniſchen Hochſchule zu Karlsruhe
den 13. Oktober 1890.
[[2]][[3]]
Wer das öffentliche Leben in Deutſchland während
der letzten dreißig Jahre mit Aufmerkſamkeit beobachtet hat,
dem tritt als eine der auffallendſten Thatſachen die tief-
greifende Umwälzung entgegen, welche in den Anſichten über
das Verhalten des Staates zum wirtſchaftlichen Leben ein-
getreten iſt. Noch bis tief in die ſechziger Jahre hinein
beherrſchte die Werke der Gelehrten wie die Zeitungspreſſe,
die Denkſchriften der Staatsmänner wie die Reden der
Volksvertreter gleichwie ein unantaſtbarer Grundſatz die
Meinung, daß der Staat das wirtſchaftliche Leben ſich ſelbſt
zu überlaſſen habe, und dieſelbe Anſchauung hatte das
Denken breiter Schichten der Bevölkerung gefangen genom-
men. Heute gibt es wohl keinen Gebildeten, der nicht an-
erkennt, daß dem Staate ernſte und ſchwierige Aufgaben
auf dieſem Gebiete obliegen. Mit ſtarker Hand und be-
ſonnenem Mute hat namentlich das Deutſche Reich die Löſung
dieſer Aufgaben in Angriff genommen, und unter der Ein-
wirkung großer wirtſchafts- und ſozialpolitiſcher Maßnahmen,
getragen von der Autorität eines gewaltigen Staatsmannes,
hat ſich in kurzer Zeit eine Umſtimmung der Geiſter voll-
zogen, die vielleicht in der Geſchichte beiſpiellos iſt.
1 *
[4]
Es wäre zu viel geſagt, wenn behauptet werden wollte,
daß der Anſtoß zu dieſer bedeutſamen Wandelung von der
Wiſſenſchaft gegeben worden ſei. Wohl aber wird nicht im
Ernſte beſtritten werden können, daß dieſelbe von der Wiſſen-
ſchaft vorbereitet und gefördert worden iſt. Schon ſeit den
dreißiger Jahren bemerken wir in der deutſchen National-
ökonomie ein Widerſtreben gegen die Konſequenzen, welche
aus den Theorien der „klaſſiſchen“ engliſch-franzöſiſchen
Volkswirtſchaftslehre für die Wirtſchaftspolitik gezogen wur-
den. Was anfangs bloß dunkel gefühlt wurde, gewann all-
mählich feſtere Geſtalt in einer neuen Richtung der deutſchen
Nationalökonomie, der ſog. hiſtoriſchen Schule, welche gleich-
zeitig die methodiſche Grundlage der älteren Wirtſchafts-
wiſſenſchaft anfocht und die Allgemeingültigkeit ihrer Lehren
für das praktiſche Leben beſtritt. Damit, daß ſie die volks-
wirtſchaftlichen Einrichtungen und Erſcheinungen in ihren
mancherlei geſchichtlichen Wandelungen zurückverfolgte, ge-
langte ſie dazu, die gegenwärtige Wirtſchaftsordnung nur
als eine Phaſe in der wirtſchaftlichen Geſamt-Entwickelung
der Völker zu begreifen und auch für dieſe den von Smith,
Ricardo und ihren Nachfolgern entwickelten Lehren nur be-
dingte Geltung zuzuſprechen. Sie machte gegen den extremen
Individualismus Front, der ſeit den franzöſiſchen Oekono-
miſten des vorigen Jahrhunderts die politiſchen Wiſſen-
ſchaften beherrſchte; ſie ſtellt den Lebenszwecken des Ein-
zelnen die Zwecke der Geſellſchaft als ſolche von höherer
Ordnung gegenüber. Sie ſprach den ökonomiſchen Geſetzen
[5] den Charakter von Naturgeſetzen ab und ließ ſie nur als
„ſoziale“ Geſetze gelten, deren Wirkſamkeit durch die Staats-
geſetze modifiziert werden könne und dürfe.
Das Verhältnis der beiden wiſſenſchaftlichen Richtungen
in der Nationalökonomie zu einander und das Verhalten
jeder von ihnen zur praktiſchen Wirtſchaftspolitik wird in
weiten Kreiſen noch immer unrichtig aufgefaßt. Man kann
vielfach die Anſicht hören und leſen, die hiſtoriſche Natio-
nalökonomie der Deutſchen habe die engliſch-franzöſiſche
Wirtſchaftstheorie, den „Smithianismus“ wiſſenſchaftlich
vernichtet. Einzelne unvorſichtige Vertreter der hiſtoriſchen
Richtung haben dieſe irrtümliche Auffaſſung beſtärkt, indem
ſie ſich ſo gebärdeten, als ſeien die Lehrſätze der ſogenannten
klaſſiſchen Nationalökonomie nur noch veralteter Plunder,
mit dem möglichſt raſch aufgeräumt werden müſſe.
Allein ſo einfach liegen die Dinge doch nicht. Was
der Hiſtorismus in der Nationalökonomie will, iſt im Grunde
genommen ein ganz anderes wiſſenſchaftliches Ziel als was
der Smithianismus wollte. Die hiſtoriſche Richtung will
„die Nationalökonomie zu einer Lehre von den ökonomiſchen
Entwickelungsgeſetzen der Völker umgeſtalten“; der Smithia-
nismus dagegen wollte und will die Geſetze des heutigen
volkswirtſchaftlichen Lebens ergründen. Das ſind zwei durch-
aus verſchiedene Ziele, die ſehr wohl neben einander ver-
folgt werden können. Was aber das Verhalten beider zur
Volkswirtſchaftspolitik betrifft, jenem Zweige wiſſenſchaft-
licher Arbeit, welcher die Grundſätze für das praktiſche
[6] Handeln in Geſetzgebung und Verwaltung feſtzuſtellen hat,
ſo bedingt die Verſchiedenheit der Methode und des For-
ſchungsobjektes nicht auch die Verpflichtung auf beſtimmte
grundſätzlich von einander abweichende Programme.
Der Smithianismus geht von der methodiſchen Voraus-
ſetzung des abſoluten laisser faire aus. Er verfolgt, vor-
zugsweiſe deduktiv und pſychologiſch iſolierend, die wirt-
ſchaftlichen Handlungen der Menſchen, ſo wie ſie ſich ge-
ſtalten würden, wenn der Staat die geſellſchaftlichen Kräfte
frei walten ließe und wenn Menſchen und Dinge ohne
Reibung und Widerſtand ſich in Raum und Zeit bewegten,
keiner anderen Kraft gehorchend als allein dem alles durch-
dringenden Prinzip der Wirtſchaftlichkeit. Den Epigonen
ſind allerdings faſt unwillkürlich die methodiſchen Voraus-
ſetzungen, unter welchen die Väter unſerer Wiſſenſchaft die
Sätze und Geſetze der „reinen“ Volkswirtſchaftslehre ent-
wickelt hatten, zu prinzipiellen Forderungen für die Volks-
wirtſchaftspolitik geworden, und dieſe letztere konnte eine
Zeit lang faſt als angewandte Theorie erſcheinen. Allein
dieſes Verhalten liegt nicht im Weſen des Smithianismus,
ſondern war ein Ergebnis der geſamten politiſch-ſozialen
Entwickelung.
Der Hiſtorismus ſteht ſeiner Natur nach der Wirt-
ſchaftspolitik eigentlich paſſiv gegenüber. Das Verhalten
des Staates zum wirtſchaftlichen Leben iſt für ihn bloß
Gegenſtand der Beobachtung. Höchſtens daß er aus dem
ſeitherigen Gange der Entwickelung Anhaltspunkte dafür
[7] gewinnen kann, wie ſie künftig ſich geſtalten werde, daß er
in der Gegenwart die Keime und Anſätze neuer organiſa-
toriſcher Geſtaltungen aufweiſt und ſie im Zuſammenhang mit
der geſellſchaftlichen Geſamtentwickelung zu begreifen ſucht.
Ein beſtimmtes wirtſchaftspolitiſches Programm liegt
weder in der einen noch in der anderen Richtung der Wiſſen-
ſchaft. Dasſelbe ergibt ſich vielmehr für jeden individuell
aus dem Kultur-Ideal, das er ſich gebildet hat. Es iſt in
dieſer Beziehung höchſt bezeichnend, daß gerade die wuchtig-
ſten Schläge gegen das alte Syſtem der Wirtſchaftspolitik
nicht von der ſog. hiſtoriſchen Schule, ſondern von Männern
wie Rodbertus, Marx, Schäffle, Wagner ge-
führt worden ſind, welche unter den gleichen Vorausſetzungen
der Forſchung und mit denſelben Mitteln arbeiteten wie
die klaſſiſche Nationalökonomie der Engländer und daß der
ganze moderne Sozialismus methodiſch auf dem gleichen
wiſſenſchaftlichen Boden ſteht wie das Mancheſtertum.
Gewiß hat auch die hiſtoriſche Richtung ihren Anteil
an der im Eingang erwähnten Umſtimmung der öffentlichen
Meinung. Dadurch daß ſie die gegenwärtige Wirtſchafts-
organiſation als eine hiſtoriſch gewordene nachwies, ſtellte
ſie dieſelbe auch für die Zukunft in den Fluß des Ge-
ſchehens. Sie zeigte, daß das Staatsgeſetz, welches re-
gelnd in das wirtſchaftliche Leben eingreift, nicht eine
Verſündigung iſt gegen vermeintliche ewige Geſetze, daß es
vor der Geſchichte keine „geheiligten Inſtitutionen“ der
Geſellſchaft gibt und daß was hier Beſtand haben ſoll,
[8] ſeine Zweckmäßigkeit und ſeine Uebereinſtimmung mit den
Kultur-Idealen der Zeit erwieſen haben muß. Sie lieferte
endlich ein reiches Thatſachenmaterial zur Beurteilung der
gegenwärtigen Zuſtände und namentlich ihrer Gebrechen.
Dem Einſchreiten des Staates gegen die verderblichen Wir-
kungen des ſeitherigen Syſtems war damit die Thüre geöffnet.
Haben wir mit dieſen Andeutungen die praktiſche Be-
deutung des Streites zwiſchen der neueren und der älteren
Nationalökonomie gekennzeichnet, ſo fragt es ſich nun: worin
liegt denn eigentlich der wiſſenſchaftliche Gegenſatz zwiſchen
beiden Richtungen? Offenbar kann es ſich nicht um einen
bloßen Gegenſatz der Methode handeln, der darin beſchloſſen
wäre, daß die eine Richtung pſychologiſch iſolierend und
deduktiv ſchließend, die andere morphologiſch beſchreibend
und induktiv ordnend zu Werke geht. Vielmehr handelt es
ſich zugleich um eine Verſchiedenheit des Forſchungsobjektes,
welches für die ältere Nationalökonomie durch die moderne
Volkswirtſchaft gebildet wird, für die hiſtoriſche Na-
tionalökonomie aber durch die Wirtſchaft des Menſchen-
geſchlechts überhaupt in ihrem hiſtoriſchen Ver-
laufe. Ja ich möchte ſagen: es handelt ſich ausſchließlich
um dieſe Verſchiedenheit der Objekte, während die verſchie-
denen Erkenntnismittel beiden Richtungen gemeinſam ſind.
Die heutigen Vertreter der älteren ſyſtematiſchen Schule
haben auch immer anerkannt, daß für die wiſſenſchaftliche
Erkenntnis der modernen Volkswirtſchaft eine Kombination
deduktiver und induktiver Forſchung notwendig iſt. Aber
[9] auf Seiten der hiſtoriſchen Schule hat man ſich die gleiche
Notwendigkeit noch kaum klar gemacht. Man ſcheint hier
manchmal ganz zu vergeſſen, daß alle wiſſenſchaftliche Er-
kenntnis mit der Feſtſtellung von Begriffen beginnt und
daß bloße Formbeſchreibung eines Erſcheinungsgebietes noch
nicht das Weſen der Dinge gibt.
Die erſte Frage, welche ſich der Nationalökonom zu
ſtellen hat, der die Wirtſchaft eines Volkes in einer weit
zurückliegenden Epoche verſtehen will, wird die ſein: Iſt
dieſe Wirtſchaft Volkswirtſchaft; ſind ihre Erſcheinungen
weſensgleich mit denjenigen unſerer heutigen Verkehrswirt-
ſchaft, oder ſind beide weſentlich von einander verſchieden?
Dieſe Frage aber kann nur beantwortet werden, wenn man
es nicht verſchmäht, die ökonomiſchen Erſcheinungen der
Vergangenheit mit denſelben Mitteln der begrifflichen Zer-
gliederung, der pſychologiſch-iſolierenden Deduktion zu unter-
ſuchen, die ſich an der Wirtſchaft der Gegenwart in den
Händen der Meiſter der alten „abſtrakten“ Nationalökonomie
ſo glänzend bewährt haben.
Man wird der hiſtoriſchen Schule den Vorwurf nicht
erſparen können, daß ſie, anſtatt durch derartige Unter-
ſuchungen in das Weſen früherer Wirtſchaftsepochen ein-
zudringen, faſt unbeſehen die gewohnten, von den Er-
ſcheinungen der modernen Volkswirtſchaft abſtrahierten
Kategorien auf die Vergangenheit übertragen, oder daß ſie
an den verkehrswirtſchaftlichen Begriffen ſo lange herum-
geknetet hat, bis ſie wohl oder übel für alle Wirtſchafts-
[10] epochen paſſend erſchienen. Ohne Zweifel hat ſie ſich viel-
fach damit den Weg zu einer wiſſenſchaftlichen Beherrſchung
jener hiſtoriſchen Erſcheinungen verſperrt. Das maſſenhaft
zu Tage geförderte wirtſchaftsgeſchichtliche Material iſt
darum zu einem guten Teile ein toter Schatz geblieben, der
erſt ſeiner wiſſenſchaftlichen Nutzbarmachung harrt.
Nirgends iſt dies deutlicher zu erkennen als an der
Art, wie man die Unterſchiede der gegenwärtigen Wirt-
ſchaftsweiſe der Kulturvölker von der Wirtſchaft vergangener
Epochen oder kulturarmer Völker charakteriſiert. Es ge-
ſchieht das durch die Aufſtellung ſogenannter Entwick-
lungsſtufen, in deren Bezeichnung man ſchlagwortartig
den ganzen Gang der wirtſchaftsgeſchichtlichen Entwickelung
zuſammenfaßt.
Die Aufſtellung ſolcher „Wirtſchaftsſtufen“ gehört zu
den unentbehrlichen methodiſchen Hülfsmitteln. Sie recht-
fertigt ſich dadurch, daß alle wirtſchaftlichen Erſcheinungen
und Einrichtungen einer langſamen, oft über Jahrhunderte
ſich erſtreckenden Umbildung unterliegen und daß es für
den Wirtſchaftshiſtoriker darauf ankommen muß, die Ge-
ſamtentwickelung in ihren Hauptphaſen zu erfaſſen, während
die ſogenannten Uebergangsperioden, in welchen alle Er-
ſcheinungen ſich im Fluſſe befinden, zunächſt unberückſichtigt
bleiben müſſen. Denn nur ſo iſt es möglich, die durch-
gehenden Züge oder ſagen wir kühn: die Geſetze der Ent-
wickelung zu finden.
Alle älteren derartigen Verſuche leiden an dem Uebel-
[11] ſtande, daß ſie nicht in das Weſen der Dinge hineinführen,
ſondern an der Oberfläche haften bleiben.
Am bekannteſten iſt die von Friedrich Liſt zuerſt
aufgeſtellte Stufenfolge, welche von der Hauptrichtung der
Produktion ausgeht. Sie unterſcheidet fünf aufeinander-
folgende Perioden, welche die Völker der gemäßigten Zone
bis zum ökonomiſchen Normalzuſtande durchlaufen ſollen:
1. die Periode des Jägerlebens, 2. die Periode des Hir-
tenlebens, 3. die Periode des Ackerbaus, 4. die Agri-
kultur-Manufakturperiode und 5. die Agrikultur-Manu-
faktur-Handelsperiode.
Etwas näher kommt dem Kern der Sache eine andere,
von Bruno Hildebrand erſonnene Stufenreihe, welche
den Zuſtand des Tauſchverkehrs zum Unterſcheidungsmerk-
mal macht. Sie nimmt demgemäß drei Entwickelungsſtufen
an: Naturalwirtſchaft, Geldwirtſchaft, Kreditwirtſchaft.
Beide aber ſetzen voraus, daß es zu allen Zeiten, ſo-
weit die Geſchichte zurückreicht, bloß vom „Urzuſtand“ ab-
geſehen, eine auf der Grundlage des Güteraustauſches
ruhende Volkswirtſchaft gegeben habe, nur daß die Formen
der Produktion und des Verkehrs zu verſchiedenen Zeiten
verſchiedene geweſen ſeien. Sie bezweifeln auch gar nicht,
daß die Grunderſcheinungen des wirtſchaftlichen Lebens zu
allen Zeiten im weſentlichen gleichartige ſind. Es iſt ihnen
nur darum zu thun, nachzuweiſen, daß die verſchiedenen
wirtſchaftspolitiſchen Maßregeln früherer Zeiten in der
abweichenden Art der Produktion oder des Verkehrs ihre
[12] Rechtfertigung gefunden hätten und daß auch in der Gegen-
wart verſchiedene Zuſtände verſchiedene Maßregeln er-
forderten.
Noch die neueſten zuſammenhängenden Darſtellungen
der Volkswirtſchaftslehre, welche aus den Kreiſen der hi-
ſtoriſchen Schule hervorgegangen ſind, beruhigen ſich bei
dieſer Auffaſſung, obwohl dieſelbe kaum weſentlich höher
ſteht als die bei den älteren Nationalökonomen der Eng-
länder beliebten hiſtoriſchen Konſtruktionen. Es ſei mir
geſtattet, dies mit wenigen Sätzen zu beweiſen.
Der Zuſtand, auf welchen Adam Smith und Ri-
cardo die ältere Theorie begründet haben, iſt derjenige
der arbeitsteiligen Verkehrswirtſchaft, oder ſagen wir lieber
gleich der Volkswirtſchaft im eigentlichen Sinne des
Wortes. Es iſt das derjenige Zuſtand, bei welchem jeder
Einzelne nicht die Güter erzeugt, welche er braucht, ſondern
diejenigen, welche (nach ſeiner Meinung) andere brauchen,
um dafür durch Tauſch alle die mannigfachen Dinge zu
erwerben, deren er ſelbſt bedarf, oder kürzer geſagt: der-
jenige Zuſtand, bei welchem das Zuſammenwirken Vieler
oder Aller erforderlich iſt, um den Einzelnen zu verſorgen.
Die engliſche Nationalökonomie iſt darum im weſentlichen
Verkehrstheorie. Die Erſcheinungen und Geſetze der
Arbeitsteilung, des Kapitals, des Preiſes, des Arbeitslohnes,
der Grundrente, des Kapitalprofits bilden ihren Haupt-
inhalt. Die ganze Lehre von der Produktion, namentlich
aber von der Konſumtion wird ſtiefmütterlich behandelt.
[13] Alle Aufmerkſamkeit konzentriert ſich auf die Güterzirku-
lation, in welche auch die Güterverteilung einbegriffen wird.
Daß es einmal einen Zuſtand ohne Verkehr gegeben
haben könne, kommt ihnen nicht in den Sinn; wo ſie einen
ſolchen als methodiſchen Behelf gebrauchen, greifen ſie zu
der von den Neueren ſo viel verſpotteten Fiktion der Ro-
binſonade. Gewöhnlich aber leiten ſie ſelbſt die kompli-
zierteſten Verkehrsvorgänge direkt aus dem Urzuſtande ab 1).
Adam Smith läßt dem Menſchen von Natur eine Nei-
gung zum Tauſche angeboren ſein und betrachtet ſelbſt die
Arbeitsteilung erſt als deren Folge 2). Ricardo be-
handelt an verſchiedenen Stellen den Jäger und Fiſcher
der Urzeit wie zwei kapitaliſtiſche Unternehmer. Er läßt
ſie Arbeitslohn zahlen und Kapitalprofit machen; er erörtert
das Steigen und Fallen ihrer Produktionskoſten und des
Preiſes ihrer Produkte. Um auch einen hervorragenden
Deutſchen dieſer Richtung zu nennen, ſo geht Thünen
bei ſeiner Konſtruktion des iſolierten Staates ganz von den
Vorausſetzungen der Verkehrswirtſchaft aus. Selbſt die
entfernteſte Zone, welche noch nicht die Stufe des Ackerbaus
erreicht hat, wirtſchaftet lediglich mit Rückſicht auf den Ab-
ſatz ihrer Produkte in der Zentralſtadt.
Wie weit derartige rationaliſtiſche Konſtruktionen von
den thatſächlichen Wirtſchaftsverhältniſſen primitiver Völker
abweichen, hätte die hiſtoriſche und ethnographiſche Forſchung
[14] längſt ſehen müſſen, wenn ſie nicht ſelbſt in den Vorſtellungen
der modernen Verkehrswirtſchaft befangen geweſen wäre und
dieſe auch auf die Vergangenheit übertragen hätte. Ein
eindringendes Studium, das den Lebensbedingungen der
Vergangenheit wirklich gerecht wird und die Erſcheinungen
nicht mit dem Maßſtabe der Gegenwart mißt, muß zu dem
Reſultate gelangen, daß die Volkswirtſchaft das
Produkt einer Jahrtauſende langen hiſto-
riſchen Entwickelung iſt, das nicht älter iſt
als der moderne Staat, daß vor ihrer Ent-
ſtehung die Menſchheit große Zeiträume hin-
durch ohne Tauſchverkehr oder unter For-
men des Austauſches von Produkten und
Leiſtungen gewirtſchaftet hat, die als volks-
wirtſchaftliche nicht bezeichnet werden können.
Wollen wir dieſe ganze Entwickelung unter einem Ge-
ſichtspunkte begreifen, ſo kann dies nur ein Geſichtspunkt
ſein, der mitten hinein führt in die weſentlichen Erſchei-
nungen der Volkswirtſchaft, der uns aber auch zugleich das
organiſatoriſche Moment der früheren Wirtſchaftsſtufen auf-
ſchließt. Es iſt dies kein anderer als das Verhältnis, in
welchem die Produktion der Güter zur Konſumtion derſelben
ſteht, oder genauer: die Länge des Weges, welchen die
Güter vom Produzenten bis zum Konſumenten zurücklegen.
Unter dieſem Geſichtspunkte gelangen wir dazu, die geſamte
wirtſchaftliche Entwickelung, wenigſtens für die zentral-
und weſteuropäiſchen Völker, wo ſie ſich mit hinreichender
[15] Genauigkeit hiſtoriſch verfolgen läßt, in drei Perioden
zu teilen:
1. die Periode der geſchloſſenen Haus-
wirtſchaft (reine Eigenproduktion, tauſchloſe Wirtſchaft),
in welcher die Güter in derſelben Wirtſchaft verbraucht
werden, in der ſie entſtanden ſind;
2. die Periode der Stadtwirtſchaft (Kun-
denproduktion oder Periode des direkten Austauſches), in
welcher die Güter aus der produzierenden Wirtſchaft un-
mittelbar in die konſumierende übergehen;
3. die Periode der Volkswirtſchaft (Waren-
produktion, Periode des Güterumlaufes), in welcher die
Güter in der Regel eine Reihe von Wirtſchaften paſſieren
müſſen, ehe ſie zum Verbrauch gelangen.
Wir wollen, ſoweit dies im engen Rahmen eines Vor-
trags möglich iſt, dieſe drei Wirtſchaftsſtufen zu kennzeichnen
verſuchen und zwar ſo, daß wir jede in ihrer typiſchen
Reinheit zu erfaſſen ſtreben, ohne uns durch das zufällige
Auftreten von Uebergangsbildungen oder von einzelnen Er-
ſcheinungen beirren zu laſſen, die als Nachbleibſel früherer
oder Vorläufer ſpäterer Zuſtände in eine Periode hinein-
ragen und in ihr etwa hiſtoriſch nachgewieſen werden können.
Nur wenn wir ſo verfahren, ſind wir im Stande, die tief-
greifenden Unterſchiede der drei Stufen und die einer jeden
eigentümlichen Erſcheinungen uns klar zum Bewußtſein zu
bringen.
Die Periode der geſchloſſenen Hauswirtſchaft
[16] reicht von den Anfängen der Kultur bis in das Mittelalter
hinein (etwa bis zum Beginn des zweiten Jahrtauſends
unſerer Zeitrechnung). Sie kennzeichnet ſich, wie bereits
angedeutet, dadurch, daß der ganze Kreislauf der Wirt-
ſchaft von der Produktion bis zur Konſumtion ſich im ge-
ſchloſſenen Kreiſe des Hauſes (der Familie, des Geſchlechts)
vollzieht. Jedem Hauſe iſt Art und Maß ſeiner Produktion
durch den Konſumtionsbedarf der Hausangehörigen vorge-
ſchrieben. Jedes Produkt durchläuft ſeinen ganzen Werde-
gang von der Gewinnung des Rohſtoffes bis zur Genuß-
reife in der gleichen Wirtſchaft und geht ohne Zwiſchen-
ſtufe in den Konſum über. Gütererzeugung und Güter-
verbrauch fließen in einander über; ſie bilden einen einzigen
ununterbrochenen und ununterſcheidbaren Prozeß, und ebenſo
iſt es nicht möglich, Erwerbswirtſchaft und Haushalt von
einander zu trennen. Der Erwerb jeder gemeinſam wirt-
ſchaftenden Menſchengruppe iſt eins mit dem Produkt ihrer
Arbeit, und dieſes iſt wieder eins mit ihrer Bedarfsdeckung,
ihrem Konſum.
Der Tauſch iſt urſprünglich ganz unbekannt. Der
primitive Menſch, weit entfernt eine angeborene Neigung
zum Tauſchen zu beſitzen, hat im Gegenteile eine Ab-
neigung gegen dasſelbe. Tauſchen und täuſchen iſt in
der älteren Sprache eins. Es gibt keinen allgemein aner-
kannten Wertmaßſtab. Man muß deshalb fürchten, im Tauſche
betrogen zu werden. Außerdem iſt das Arbeitsprodukt ſo-
zuſagen ein Teil des Menſchen, der es erzeugt hat. Wer
[17] es einem anderen überläßt, entäußert ſich eines Teiles ſeiner
ſelbſt und gibt den böſen Mächten Gewalt über ſich. Bis
tief in das Mittelalter hinein iſt der Tauſch unter den
Schutz der Oeffentlichkeit, des Abſchluſſes vor Zeugen, der
Anwendung ſymboliſcher Formeln geſtellt.
Eine ſolche autonome Wirtſchaft iſt zunächſt abhängig
von dem Boden, über welchen ſie verfügt. Mag der
Wirt als Jäger oder Fiſcher die freiwillig von der Natur
dargebotenen Gaben okkupieren, mag er als Nomade mit
ſeinen Herden wandern, mag er den Acker bauen, immer
wird ſein Arbeiten und Sorgen durch das Stückchen Erde
beſtimmt werden, das er ſich unterthan gemacht hat. Und
je weiter er an Einſicht und techniſchem Geſchick voran-
ſchreitet, je planvoller und reicher ſich ſeine Bedürfnisbe-
friedigung geſtaltet, um ſo größer wird dieſe Abhängigkeit,
ſodaß der Boden ſchließlich ſich den Menſchen unterwirft,
der über ihn zu herrſchen geboren iſt. Man hat dies wohl
als Verdinglichung bezeichnet; wir dürfen uns an dieſer
Stelle damit begnügen, feſtzuſtellen, daß auf dieſer Ent-
wickelungsſtufe nur der eine eigene Wirtſchaft zu führen
im Stande iſt, der aus eigenem Rechte über den Boden
verfügt. Wer nicht in dieſer Lage iſt, kann ſeine Exiſtenz
nur friſten, wenn er zum Knechte des Grundeigentümers wird.
In der geſchloſſenen Hauswirtſchaft haben die Haus-
genoſſen nicht bloß dem Boden ſeine Gaben abzugewinnen;
ſie müſſen auch alle dabei nötigen Werkzeuge und Geräte
mit eigener Arbeit herſtellen; ſie müſſen endlich die Roh-
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 2
[18] produkte durch Veredelung und Umformung zum Gebrauche
geſchickt machen. Dies alles erfordert eine ausgebreitete
techniſche Arbeitsgeſchicklichkeit, eine Vielſeitig-
keit des Könnens und Verſtehens, von der ſich der Kultur-
menſch der Neuzeit ſchwer eine rechte Vorſtellung macht.
Für die einzelnen Glieder der autonom wirtſchaftenden Haus-
gemeinſchaft kann der Umfang dieſer Arbeitsgeſchicklichkeit
nur vermindert werden, wenn ſie die Arbeit unter einander
nach Alter und Geſchlecht, nach individueller Kraft und
Anlage verteilen können.
Eine ſolche Arbeitsverteilung wird ſich in der
Regel an die innere Struktur der Familie anlehnen, ſowie
dieſelbe durch Natur, Sitte und Recht gegeben iſt. Immer-
hin würde ſie der Erweiterung des Bedürfniskreiſes und
dem Reichtum der Güterverſorgung nur geringen Spiel-
raum gewähren, wenn die Familie unſerer heutigen Familie
ähnlich organiſiert wäre, d. h. ſich auf ein Ehepaar mit
Kindern und etwa noch Dienſtboten beſchränkte; ſie würde
auch ſehr geringe Haltbarkeit und Entwickelungsfähigkeit
beſitzen, wenn in der Familie das Individuum eine ähnlich
ſelbſtändige Exiſtenz zu führen im Stande wäre wie in der
Gegenwart.
Allein von dieſer Art ſind die Familien bei primitiven
Völkern nicht. Nach den ſchönen Unterſuchungen Mor-
gan’s bilden ſie gewöhnlich größere aus mehreren Gene-
rationen blutsverwandter Perſonen beſtehende Gruppen
(Geſchlechter, Sippen, gentes, Clans, Hausgemeinſchaften),
[19] die anfangs nach dem Mutterrecht, ſpäter nach dem Vater-
recht organiſiert ſind, gemeinſames Eigentum haben, ge-
meinſame Wirtſchaft führen und einen gemeinſamen Rechts-
ſchutzverband bilden. Der Menſch außerhalb der Geſchlechts-
verbindung iſt vogelfrei; er hat keine rechtliche und wirt-
ſchaftliche Exiſtenz, keine Hülfe in der Not, keinen Rächer,
wenn er erſchlagen wird, kein Grabgeleite, wenn er zur
letzten Ruhe eingeht.
Dieſe Familienverfaſſung findet ſich regelmäßig bei
Jäger- und Hirtenvölkern; aber auch wo mit dem Fort-
ſchritte des Ackerbaus feſte Niederlaſſung notwendig wird,
erfolgt dieſelbe gewöhnlich in der Weiſe, daß die Geſchlechts-
genoſſen zuſammen große Gemeinſchaftshäuſer, Höfe, Dörfer
gründen. Im geſicherten Beſitze des Bodens lockert ſich
der Gemeinſinn; es ſcheiden ſich wohl aus dem großen
Verbande engere patriarchale Hausgemeinſchaften mit ge-
ringerer Perſonenzahl aus, wie ſie noch heute die Zadruga
der Südſlaven, die Großfamilie der Ruſſen, der Kaukaſus-
völker, der Hindu repräſentieren. Aber noch Jahrhunderte
lang beſitzen die Hausgemeinſchaften des Dorfes den Boden
im Geſamteigentum, bebauen ihn auch wohl noch eine Zeit
lang in gemeinſamer Arbeit, während jedes Haus die Früchte
geſondert verbraucht.
In ſolchen größeren Familienverbänden läßt ſich die
Arbeitsverteilung in ziemlich weitem Umfange durchführen.
Männer und Frauen, Mütter und Kinder, Väter und Groß-
väter, jede Gruppe erhält ihre beſondere Rolle in Pro-
2 *
[20] duktion und Haushalt, und wo ſich individuelle Geſchick-
lichkeit hervorthut, findet ſie in der Bethätigung für die
eigene Sippe ihre Aufgabe, aber auch ihre Schranke. Die
Gefühle der Brüderlichkeit, der kindlichen Pietät, der Ach-
tung vor dem Alter, der Unterordnung und Fügſamkeit ge-
langen in ſolcher Gemeinſchaft zur ſchönſten Entfaltung.
Wie die Sippe für den Einzelnen das Wergeld zahlt oder
eine ihm widerfahrene Unbill rächt, ſo weiht wieder der
Einzelne der Sippe ſein ganzes Leben und opfert ihr jede
Regung der Selbſtändigkeit.
Und ſelbſt wenn die Stärke dieſer Gefühle nachläßt,
tritt nicht ſofort die moderne Einzelfamilie mit voller Son-
derwirtſchaft auf. Denn ihre Entſtehung hätte eine Schwä-
chung der wirtſchaftlichen Leiſtungsfähigkeit, ein Aufgeben
der autonomen Hauswirtſchaft, vielleicht ein Zurückſinken
in die Barbarei zur ſichern Folge gehabt. Um dies zu ver-
meiden gab es zwei Mittel.
Das eine beſtand darin, daß man für ſolche Wirt-
ſchaftsaufgaben, denen die kleiner gewordene Familie nicht
mehr gewachſen war, die älteren großen Geſchlechts- oder
Stammverbände als lokale Organiſationen fortbeſtehen ließ.
Dieſe örtlichen Verbände, welche auf der Grundlage ge-
meinſamen Eigentums und gemeinſamer Nutzung desſelben
partielle Gemeinwirtſchaften bildeten, konnten unter Um-
ſtänden auch Aufgaben übernehmen, deren Wahrnehmung
in jedem einzelnen Hauſe zu unwirtſchaftlicher Kräftever-
ſchwendung geführt haben würde (z. B. das Hüten des
[21] Viehes). Aber es gab auch Wirtſchaftsaufgaben, welche
nicht alle Sonderhaushalte der lokalen Gruppe gleichmäßig
berührten und doch für den Einzelnen zu ſchwer waren.
Es ſollte ein Haus oder Schiff gebaut, ein Waldſtück ge-
rodet, ein Bach abgeleitet werden; man wollte auf größere
Entfernungen hin der Jagd oder dem Fiſchfang obliegen,
oder es hatte auch nur die Jahreszeit ein außergewöhnliches
Arbeitsbedürfnis für dieſes oder jenes Haus heraufgeführt.
In allen ſolchen Fällen bildeten ſich freiwillig temporäre Ar-
beitsgemeinſchaften, die nach Erfüllung ihrer Aufgabe wieder
verſchwanden. Manches dieſer Art hat ſich ſpäter umge-
bildet, anderes iſt erhalten. Ich erinnere an die Arbeits-
gemeinſchaften der ſlaviſchen Stämme: das Artell bei den
Ruſſen, die Tſcheta oder Družina bei den Bulgaren, die
Moba bei den Serben, an die freiwillige gegenſeitige Hülfe-
leiſtung unſerer Bauern beim Hausbau, bei der Schafſchur,
dem Flachsreffen u. ä.
Wie weit ſolche Einrichtungen immer gehen mögen,
derjenige Teil der Bedürfnisbefriedigung, welcher durch ſie
beſorgt werden kann, iſt ein verhältnismäßig geringer und
beeinträchtigt die wirtſchaftliche Autonomie des einzelnen
Hauſes ebenſowenig, wie die bei unſeren Landwirten fort-
dauernde Eigenproduktion der Herrſchaft der Tauſchwirt-
ſchaft heute Eintrag thut. Auch jene „Arbeitsgenoſſen-
ſchaften“, wie ſie Schmoller genannt hat, ſind keine
Unternehmungen ſondern Veranſtaltungen zur unmittelbaren
Bedarfsbefriedigung. Man hilft heute dieſem, morgen jenem
[22] der Teilnehmer oder verteilt das Ergebnis gemeinſamer Ar-
beit zum ſonderwirtſchaftlichen Verbrauch. Ein ſpeziell ent-
geltlicher Tauſch findet nirgends ſtatt. Ja ſelbſt dort nicht,
wo, wie in der indiſchen Dorfgemeinſchaft, eine Anzahl ge-
werblicher Arbeiter als Gemeindefunktionäre, ähnlich unſeren
Dorfhirten, ſich einſtellt. Sie arbeiten für alle und werden
dafür von allen ernährt.
Das andere Mittel, um die Nachteile der Auflöſung
der Geſchlechtsverbindung zu vermeiden, beſtand darin, daß
man künſtlich den Kreis der Familie erweiterte, bezw. weit
erhielt. Es geſchah dies durch Aufnahme und Eingliederung
fremder (nicht blutsverwandter) Elemente. So entſtanden
die Inſtitutionen der Sklaverei und der Hörigkeit.
Wir können unentſchieden laſſen, ob die Thatſache,
daß man den unterworfenen Feind unfrei machte und ihn
zur Arbeit zwang, mehr die Urſache oder die Folge der
Auflöſung der älteren Geſchlechtsgemeinſchaft war. Sicher
iſt, daß durch ſie ein Mittel gefunden war, um die ge-
ſchloſſene Hauswirtſchaft mit der gewohnten Arbeitsgliede-
rung aufrecht zu erhalten und zugleich auf dem Wege der
Erweiterung und Verfeinerung der Bedürfniſſe voranzu-
ſchreiten. Denn nun ließ ſich die Arbeit des Hauſes um
ſo mehr ſpezialiſieren, je zahlreicher die zu einem Hauſe
gehörigen Sklaven oder Hörigen waren. Es konnten ein-
zelne techniſche Verrichtungen, wie das Mahlen des Ge-
treides, das Backen, Spinnen, Weben, die Anfertigung von
Gerätſchaften, die Beſtellung des Ackers, die Beſorgung
[23] des Viehes, einzelnen Unfreien für ihr ganzes Leben über-
tragen, ſie konnten für dieſen Dienſt beſonders ausgebildet
werden. Und je angeſehener das Haus, je reicher der Herr,
je größer ſeine Wirtſchaft war, um ſo mannigfaltiger und
reicher konnte die Technik der Stoffgewinnung und Stoff-
veredelung ſich in ſeiner Wirtſchaft entfalten.
Dieſer Art war die Wirtſchaft der Griechen, der Kar-
thager, der Römer. Rodbertus, der das ſchon vor
einem Menſchenalter geſehen hat, bezeichnet ſie als Oiken-
wirtſchaft, weil der οἶκος, das Haus, die Einheit der
wirtſchaftlichen Verfaſſung bedeutet. Der οἶκος iſt nicht
bloß die Wohnſtätte, ſondern auch die gemeinſam wirt-
ſchaftende Menſchengruppe; ihre Angehörigen ſind die
οἰκέται — ein Wort, das bezeichnender Weiſe im hiſtoriſchen
Sprachgebrauch ſeine Bedeutung auf die Wirtſchaftsſklaven
einſchränkt, auf welchen damals die ganze Arbeit des Hauſes
laſtete. Einen ähnlichen Sinn hat das römiſche familia:
die Geſamtheit der famuli, der Hausſklaven, des Geſindes.
Der pater familias iſt der Sklavenherr, in deſſen Händen
der ganze Ertrag der Wirtſchaft zuſammenfließt; in der
patria potestas iſt die eheherrliche und väterliche Gewalt
mit dem Herrenrecht des Sklavenbeſitzers begrifflich ver-
ſchmolzen. Kein Hausangehöriger erwirbt für ſich ſondern
für den pater familias; gegen jeden übt er die gleiche Ge-
walt über Leben und Tod.
In dem Herrenrecht des römiſchen Hausvaters, das
ſich gleichmäßig über blutsfremde und blutsverwandte Haus-
[24] genoſſen erſtreckt, findet die geſchloſſene Hauswirtſchaft eine
viel ſtraffere Zuſammenfaſſung und größere Leiſtungsfähig-
keit, als in der matriarchalen oder ſelbſt in der älteren pa-
triarchalen Sippe, die lediglich aus Blutsverwandten beſtand,
möglich war. Alles individuelle Daſein iſt verſchwunden;
der Staat, das Recht kennen nur Familiengemeinſchaften,
Menſchengruppen; ſie regeln die Verhältniſſe von Haus zu
Haus, nicht von Menſch zu Menſch. Um das, was inner-
halb des Hauſes geſchieht, kümmern ſie ſich nicht.
Aus der wirtſchaftlichen Autonomie des ſklavenbe-
ſitzenden Hauſes erklärt ſich die ganze ſoziale und ein guter
Teil der politiſchen Geſchichte des alten Rom. Es gibt
keine produktiven Berufsſtände, keine Bauern, keine Hand-
werker. Es gibt nur große und kleine Beſitzer, Reiche
und Arme. Der Reiche drängt den Armen aus dem Be-
ſitze des Grund und Bodens und macht ihn dadurch zum
Proletarier. Der beſitzloſe Freie iſt abſolut erwerbsunfähig.
Denn es gibt kein Unternehmungskapital, das Arbeit um
Lohn kaufte; es gibt keine Induſtrie außerhalb des ge-
ſchloſſenen Hauſes. Die artifices der Quellenſchriften ſind
keine freien Gewerbetreibenden, ſondern Handwerksſklaven,
welche aus den Händen der Acker- und Hirtenſklaven das
Korn, die Wolle, das Holz empfangen, um ſie zu Brot, zu
Kleidung, zu Geräten zu verarbeiten. Omnia domi nascun-
tur, ſagt der reiche Emporkömmling bei Petron zu ſeinen
Gäſten: „Alles wird bei mir gemacht, es wird nichts ge-
kauft.“ Daher jene koloſſale Latifundienbildung, jene un-
[25] ermeßlichen Sklavenſcharen, die ſich in den Händen einzelner
Beſitzer konzentrierten und unter denen die Arbeitsgliederung
eine ſo vielſeitige war, daß ihre Erzeugniſſe und Leiſtungen
auch den verwöhnteſten Geſchmack zu befriedigen vermochten.
Der Holländer T. Popma, welcher im 17. Jahr-
hundert ein fleißiges Büchlein über die Beſchäftigungen der
Sklaven bei den Römern ſchrieb 1), zählt 146 verſchiedene
Funktionsbenennungen dieſer unfreien Arbeiter der reichen
römiſchen Häuſer auf. Heute ließe ſich aus Inſchriften
dieſe Zahl noch bedeutend vermehren. Man muß ſich in
die Einzelheiten dieſer raffinierten Arbeitsgliederung ver-
tiefen, um den Umfang und die Leiſtungsfähigkeit jener
Rieſenhaushaltungen zu verſtehen, die dem Eigentümer Güter
und Leiſtungen unbedingt zur Verfügung ſtellten, wie ſie
heute nur die zahlreichen Geſchäfte einer Großſtadt in Ver-
bindung mit den Anſtalten der Gemeinde und des Staates
zu liefern vermögen. Zugleich aber bot dieſes maſſenhafte
Menſcheneigentum ein Mittel zur Vermehrung der großen
Vermögen, das ſich nur mit den Rieſenkapitalien der mo-
dernen Millionäre vergleichen läßt. Da iſt zunächſt die
familia rustica, welche produktiven Zwecken dient: auf jedem
Landgut ein Verwalter und Unterverwalter mit einem Stab
von Aufſehern und Werkmeiſtern, welche über eine große
Schar von Feld- und Weinbergsarbeitern, Hirten und Vieh-
wärtern, Küchen- und Hausgeſinde, Spinnerinnen, Webern
[26] und Weberinnen, Walkern, Schneidern, Zimmerleuten,
Schreinern, Metallarbeitern, Arbeitern zum Betrieb der
landwirtſchaftlichen Nebengewerbe gebieten. Auf den größeren
Gütern iſt jede Arbeitergruppe wieder in Abteilungen von
je 10 (decuriae) geteilt, die einem Führer (decurio) unter-
ſtellt ſind. Die familia urbana läßt ſich in das Ver-
waltungsperſonal, das Perſonal zum inneren und äußeren
Dienſt des Hausherrn und der Herrin teilen. Da iſt zu-
nächſt der Vermögensverwalter mit dem Kaſſier, den Buch-
haltern, Miethäuſerverwaltern, Einkäufern u. dgl. Ueber-
nimmt der Herr Staatspachtungen oder treibt er Rhederei-
geſchäfte, ſo hält er dafür ein beſonderes unfreies Beamten-
und Arbeiterperſonal. Dem inneren Dienſt des Hauſes
dienen der Hausverwalter, die Thürſteher, Zimmer- und
Saalwärter, Möbelbewahrer, Silberbeſchließer, Garderobiers;
über der Verpflegung walten: der Haushofmeiſter, der Keller-
meiſter, der Aufſeher der Vorratskammer, in der Küche
drängt ſich eine große Schar von Köchen, Heizern, Brot-,
Kuchen-, Paſtetenbäckern; beſondere Tafeldecker, Vorſchneider,
Vorkoſter, Weinſchenken bedienen die Tafel, bei der eine
Schar ſchöner Knaben, Tänzerinnen, Zwerge und Poſſen-
reißer die Gäſte amuſieren. Für den perſönlichen Dienſt
des Herrn ſind angeſtellt: ein Zeremonienmeiſter, der die
Beſucher einführt, verſchiedene Kammerdiener, Badewärter,
Salber, Abreiber, Leibchirurgen, Aerzte faſt für jedes Körper-
glied, Bartſcheerer, Vorleſer, Privatſekretäre u. dgl. Man
hält ſich einen Gelehrten oder Philoſophen zum Hausge-
[27] brauch, Architekten, Maler, Bildhauer, eine Muſikkapelle;
in der Bibliothek ſind Kopiſten, Pergamentglätter, Buch-
binder beſchäftigt, durch welche der Bibliothekar die Bücher
in eigener Regie des Hauſes herſtellen läßt. Selbſt unfreie
Zeitungsſchreiber und Stenographen dürfen in einem vor-
nehmen Hauſe nicht fehlen 1). Zeigt ſich der Herr in der
Oeffentlichkeit, ſo ſchreitet ihm eine große Schar Sklaven
voraus (anteambulones), eine andere folgt ihm (pedisequi);
der Nomenclator nennt ihm die Namen der Begegnenden,
die begrüßt ſein wollen; eigene distributores und tesserarii
teilen Beſtechungen unter das Volk aus und geben die
Wahlparole ab. Es ſind die Camelots des alten Rom,
und was ſie am ſchätzbarſten macht, ſie ſind das Eigentum
des vornehmen Strebers, der ſie benutzt. Dieſes politiſche
Beeinfluſſungsſyſtem wird ergänzt durch die Veranſtaltung
von Schauſpielen, Wagenrennen, Tierkämpfen und Gladia-
torenſpielen, für welche beſondere Sklaventruppen abgerichtet
werden. Geht der Herr als Statthalter in eine Provinz
oder weilt er auf einem ſeiner Landgüter, ſo unterhalten
unfreie Kuriere und Briefboten den täglichen Verkehr mit
der Hauptſtadt. Und was ſollen wir erſt von dem Sklaven-
Hofſtaat der Herrin ſagen, über den Böttiger ein eigenes
Buch („Sabina“) geſchrieben hat, von dem unendlich ſpezia-
liſierten Wart- und Erziehungsperſonal der Kinder! Es
war eine unglaubliche Menſchenverſchwendung, die hier ge-
trieben wurde; ſchließlich aber wurde mittels dieſes viel-
[28] armigen, durch ein großartiges Züchtungs- und Erziehungs-
ſyſtem erhaltenen Organismus der geſchloſſenen Hauswirt-
ſchaft die perſönliche Kraft des Sklavenherrn vertauſendfacht,
und dieſer Umſtand trug weſentlich dazu bei, die Herrſchaft
einer Handvoll Ariſtokraten über eine halbe Welt zu er-
möglichen.
Auch der Staat ſelbſt wirtſchaftet nicht anders. In
Athen wie in Rom ſind alle unteren Beamten- und Diener-
ſtellen mit Sklaven beſetzt. Sklaven bauen die Straßen
und Waſſerleitungen, die in eigener Regie ausgeführt wurden,
arbeiten in Steinbrüchen und Bergwerken, reinigen die
Kloaken; Sklaven ſind die Polizeidiener, Scharfrichter und
Gefängnißwärter, die Ausrufer bei Volksverſammlungen,
die Austeiler bei den öffentlichen Kornſpenden, die Tempel-
und Opferdiener der Prieſterkollegien, die Staatskaſſiere,
die Schreiber, die Boten der Magiſtrate; ein Gefolge von
Staatsſklaven begleitet jeden Provinzialbeamten oder Feld-
herrn nach dem Schauplatz ſeiner Thätigkeit. Die Mittel
zur Unterhaltung dieſes Perſonals floſſen in der Haupt-
ſache aus den Staatsdomänen, den Tributen der Provinzen
(in Athen der Bundesgenoſſen), von denen Cicero ſagt, daß
ſie ſind quasi praedia populi Romani, endlich aus gebühren-
artigen Abgaben.
Die gleichen Grundzüge zeigt die Wirtſchaft der ro-
maniſchen und germaniſchen Völker im früheren Mittelalter.
Auch hier führt das Bedürfnis des ökonomiſchen Fortſchritts
zu einem weiteren Ausbau der geſchloſſenen Hauswirtſchaft,
[29] die in jenen großen Hofwirtſchaften ihren Ausdruck fand,
welche auf dem ausgedehnten Grundbeſitze der Könige, des
Adels und der Kirche mit Leibeigenen und Hörigen be-
trieben wurden. Dieſe Fronhofswirtſchaft lehnt
ſich in den Einzelheiten vielfach an die Ausgeſtaltung an,
welche die Landwirtſchaft des römiſchen Reiches in der
ſpäteren Kaiſerzeit durch den Kolonat gefunden hatte. Sie
hat aber auch manche Aehnlichkeit mit dem konzentrierten
Plantagenbetrieb, wie wir ihn aus der letzten Zeit der
römiſchen Republik vorhin geſchildert haben. Aber in einem
wichtigen Punkte unterſcheidet ſich dieſe Entwickelung der
arbeitsteiligen Großwirtſchaft von der römiſchen. In Rom
verſchlingt der große Grundbeſitz den kleinen und erſetzt
den Arm des Bauern durch den des Sklaven, um dieſen
ſpäter in den Kolonen umzuwandeln. Der wirtſchaftliche
Fortſchritt, der in der großen Oikenwirtſchaft liegt, mußte
erkauft werden mit der Proletariſierung des freien Bauern-
ſtandes. In der Fronhofsverfaſſung des Mittelalters wird
der freie Kleingrundbeſitzer zwar dinglich abhängig; aber
er wird nicht aus dem Beſitze gedrängt; er bewahrt eine
gewiſſe perſönliche und wirtſchaftliche Selbſtändigkeit und
nimmt zugleich Teil an der reicheren Güterverſorgung, die
im Syſtem der geſchloſſenen Hauswirtſchaft der Großbetrieb
gewährleiſtet.
Woher kam das?
Im alten Italien ging der kleine Bauer zu Grunde,
weil er gewiſſe öffentliche Laſten, namentlich die Heeres-
[30] pflicht, nicht tragen konnte, weil Kriegs- und Hungersnöte
ihn in die Schuldknechtſchaft und ins Elend trieben. Im
germaniſch-romaniſchen Mittelalter ſtellte er aus dem gleichen
Grunde ſeine Landſtelle unter den großen Grundherrn und
empfieng von dieſem Schutz und Unterſtützung in der Zeit
der Not.
Man wird die mittelalterliche Fronhofsverfaſſung am
beſten verſtehen, wenn man ſich die Wirtſchaft eines ganzen
Dorfes als eine Einheit vorſtellt, deren Mittelpunkt durch
den Herrenhof gebildet wird 1). In demſelben waltet der
[31] kleine Grundherr perſönlich, der große durch einen Meier
(villicus). Das unmittelbar zum Hofe gehörige Salland
wird durch dauernd mit demſelben verbundene Eigenleute
bewirtſchaftet, die in den Hofgebäuden Wohnung und Unter-
halt empfangen und in vielſeitiger landwirtſchaftlicher und
gewerblicher Arbeitsgliederung für die Produktion, den
Haushalt und den perſönlichen Dienſt der Herrſchaft Ver-
wendung finden. Das Salland liegt im Gemenge mit den
Landſtellen einer größeren oder geringeren Zahl grund-
höriger Bauern, von denen jeder ſeine Hufe ſelbſtändig
bewirtſchaftet, während alle mit dem Hofe den Genuß von
Weide, Wald und Waſſer gemein haben. Zugleich aber
verpflichtet jede Bauernſtelle ihren Inhaber zur Leiſtung
gewiſſer Dienſte und Naturalzinſen an den Hof. Die
Dienſte ſind anfangs nach Bedürfnis, ſpäter nach Zeit be-
meſſene Arbeiten, ſei es auf dem Felde zur Saat- und
Erntezeit, auf der Wieſe, im Weinberg, im Garten, im
Walde, ſei es in den Werkſtätten des Hofes oder im Frauen-
hauſe deſſelben, wo auch die unfreien Mägde mit Spinnen,
Weben, Nähen, Backen, Bierbrauen u. dgl. beſchäftigt
wurden. An den Frontagen erhalten die hörigen Arbeiter
die Koſt auf dem Hofe, wie die Eigenleute. Auch ſind ſie
verpflichtet, die Umzäunung des Hofes und ſeiner Felder
im Stande zu halten, für den Hof zu wachen, Botengänge
1)
[32] und Frachtfuhren für denſelben zu übernehmen. Die an
den Hof abzuliefernden Naturalzinſe beſtehen teils in Land-
wirtſchaftsprodukten wie Getreide aller Art, Wolle, Flachs,
Honig, Wachs, Wein, Rindvieh, Schweinen, Hühnern, Eiern,
teils in zugerichteten Hölzern, die im Markwalde gefällt
wurden: Brennholz, Bauholz, Weinbergspfählen, Kienſpänen,
Schindeln, Faßdauben, Reifen, teils in Erzeugniſſen des
gewerblichen Hausfleißes wie Wollen- und Leinentuch, Socken,
Schuhen, Brot, Bier, Tonnen, Tellern, Schüſſeln, Bechern,
Eiſen, Keſſeln, Meſſern. Das ſetzt unter den grundhörigen
Bauern, wie unter den leibeigenen Knechten der Höfe, eine
gewiſſe gewerbliche Spezialiſierung voraus, die ſich erblich
mit den betreffenden Hufen verbinden mußte und die natur-
gemäß nicht bloß der Wirtſchaft des Herrn, ſondern auch
der Güterverſorgung der Hüfner zu Gute gekommen iſt.
Zwiſchen Dienſt und Zins ſtehen gemiſchte Leiſtungen, wie
das Liefern von Miſt aus des Bauern Hofe auf den herr-
ſchaftlichen Acker, die Durchwinterung von Vieh, die Be-
wirtung der Gäſte des Fronhofes. Und umgekehrt unter-
ſtützte der letztere die Wirtſchaft der Bauern durch das
Halten des Faſelviehes, durch die Herſtellung von Fähren,
Mühlen und Backöfen für den gemeinen Gebrauch, durch
den Schutz, den er allen gewährte gegen Gewaltthat und
Rechtsbruch und durch die Beihülfen, die er bei Mißwachs
und ſonſtiger Notlage aus ſeinen Vorräten den Bauern zu
reichen verpflichtet war.
Wir haben hier einen kleinen Wirtſchaftsorganismus,
[33] der ſich vollkommen ſelbſt genügt und der eben weil er die
ſtraffe Konzentration der römiſchen Sklavenwirtſchaften ver-
meidet und die Verwendung unfreier Arbeiter auf das für
die Eigenwirtſchaft des Grundherrn im engſten Sinne 1)
notwendige Maß beſchränkt, im Stande iſt, der Maſſe
der Fronarbeiter die Führung einer eigenen Landwirtſchaft
für den Hausgebrauch ihrer Familien und damit eine ge-
wiſſe perſönliche Unabhängigkeit zu ſichern. Es iſt dies ein
ähnlicher Fall kleiner partieller Sonderwirtſchaften innerhalb
der geſchloſſenen Hauswirtſchaft, wie er — freilich in weit
geringerem Umfange — auch innerhalb der ſüdſlaviſchen
Zadruga für die einzelnen zu einer Hauskommunion ver-
einigten Ehepaare vorkommt 2). Wo die Hofgenoſſenſchaft
mit einer Markgenoſſenſchaft zuſammenfällt, iſt ſie in ge-
wiſſem Sinne nach außen wirtſchaftlich abgeſchloſſen durch
die Beſtimmungen, welche die Veräußerung von Grund-
eigentum und Marknutzungen an Nichtmärker verbieten.
Der innere Zuſammenſchluß wird hergeſtellt durch ein eigenes
Maß und Gewicht, welches aber nicht für die Sicherung
des Tauſchverkehrs, ſondern zur Meſſung der Naturalab-
gaben an den Grundherrn dient.
Denn das wird man feſthalten müſſen: das wirt-
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 3
[34] ſchaftliche Verhältnis zwiſchen Grundherren und Grund-
hörigen, ſo ſehr es unter dem allgemeinen Geſichtspunkte
von Leiſtung und Gegenleiſtung ſteht, entzieht ſich doch
vollſtändig den ökonomiſchen Kategorien, die aus der Tauſch-
wirtſchaft hervorgegangen ſind. In dieſer Wirtſchaft gibt
es keinen Preis, keinen Arbeitslohn, keinen Pacht- oder
Mietzins, keinen Kapitalprofit und demgemäß keine Unter-
nehmer und keine Lohnarbeiter. Es ſind wirtſchaftliche
Vorgänge und Erſcheinungen eigener Art, denen die hiſto-
riſche Nationalökonomie nicht Gewalt anthun darf, nachdem
ſie ſo oft beklagt hat, daß ſie ſeiner Zeit von der Juris-
prudenz vergewaltigt worden ſind.
In den Händen des Grundherrn ſammeln ſich die
Ueberſchüſſe der Fronhofswirtſchaft. Es ſind durchweg
Verbrauchsgüter, welche ſich nicht lange aufſpeichern, nicht
kapitaliſieren laſſen. Dieſelben werden auf den königlichen
Krongütern in der Regel ſo für die Bedürfniſſe des Hof-
haltes verwendet, daß der König, mit ſeinem Gefolge von
Palatium zu Palatium ziehend, ſie direkt in Anſpruch
nimmt; die großen Grundherrſchaften der kirchlichen Kor-
porationen und des hohen Adels laſſen dieſelben durch
einen organiſierten Transportdienſt der Hörigen nach ihren
Zentralſitzen befördern, wo ſie in der Regel ebenfalls in
den Konſum übergehen.
Wir haben alſo in dieſer Wirtſchaft doch mancherlei
Verkehrserſcheinungen: Maß und Gewicht, Perſonen-, Nach-
richten- und Gütertransport, Herbergsweſen, Uebertragung
[35] von Gütern und Leiſtungen; aber allen fehlt das Cha-
rakteriſtiſche des tauſchwirtſchaftlichen Verkehrs: der ſpezielle
Rapport jeder einzelnen Leiſtung mit ihrer Gegenleiſtung
und die freie Selbſtbeſtimmung der mit einander verkehren-
den Sonderwirtſchaften.
So weit ſich nun aber auch durch Eingliederung un-
freier oder höriger Arbeit die geſchloſſene Hauswirtſchaft
entwickeln mag, eine völlige, für alle Zeiten ausreichende
Anpaſſung an das menſchliche Bedarfsleben wird ſie nicht
erreichen, nicht einmal in ihren höchſten Ausgeſtaltungen,
geſchweige denn in ihren ſchwächeren Bildungen. Hier
werden Lücken der Bedarfsdeckung bleiben, dort werden
Ueberſchüſſe auftreten, die in der Wirtſchaft, in welcher
ſie entſtanden ſind, nicht konſumiert, qualifizierte Arbeits-
kräfte, die in ihr nicht völlig ausgenutzt werden können.
Daraus entſpringen wieder neue Verkehrsvorgänge
eigener Art. Der Wirt, dem die Ernte mißraten iſt, leiht
von dem Nachbar Korn und Stroh bis zur nächſten Ernte,
wo er den gleichen Betrag wiedergibt. Wer durch Brand
oder Viehſterben heimgeſucht iſt, wird von den anderen
unterſtützt mit der ſtillen Vorausſetzung, daß er ihnen im
gleichen Falle die gleiche Liebe erweiſen werde. Wer einen
Sklaven von beſonderer Geſchicklichkeit hat, leiht ihn dem
Nachbar zur Aushülfe, wobei er von dieſem beköſtigt wird,
in ähnlicher Weiſe wie man von dem andern ein Pferd,
eine Kelter oder Leiter entlehnt. Es iſt ein wechſelſeitiges
3 *
[36] Aushelfen; niemand wird ſolche Vorgänge unter die Kate-
gorie des Tauſches einreihen wollen.
Endlich aber treten auch eigentliche Tauſchhandlungen
auf. Den Uebergang bilden Vorgänge wie die folgenden:
der Sklavenherr leiht dem Nachbar ſeinen unfreien Weber
oder Zimmermann und empfängt dafür ein Quantum Wein
oder Holz, an dem der Nachbar Ueberfluß hat. Oder der
unfreie Schuſter oder Schneider wird von der Fronhofs-
verwaltung, die ſeine Arbeitskraft nicht voll ausnützen kann,
auf einer Landſtelle angeſetzt unter der Bedingung, jährlich
eine beſtimmte Zahl Tage auf dem Hofe zu arbeiten. In
Zeiten, wo er keine Frontage zu leiſten und auch in der
eigenen Wirtſchaft nicht viel zu thun hat, läßt er ſeinen
hörigen Genoſſen in den Bauernhäuſern ſeine Kunſt zu
Gute kommen, empfängt dort die Koſt und darüber ein
Quantum Brot oder Speck für die Seinen. War er früher
bloß der Knecht des Herrenhofes, ſo wird er jetzt reihum
der Knecht aller, aber für jeden nur eine kurze Zeit 1).
Endlich folgt der eigentliche Naturaltauſch zur gegenſeitigen
Ausgleichung von Mangel und Ueberfluß: Korn um Wein,
ein Pferd um Getreide, ein Stück Leinentuch um ein paar
Schafe. Dieſer Tauſchverkehr erweitert ſich durch das be-
ſchränkte Vorkommen mancher Naturgaben und die örtlich
gebundene Produktion vielbegehrter Güter. Beſtimmte Ar-
[37] tikel dieſes Verkehres werden in oft geſchilderter Weiſe zu
allgemeinen Tauſchmitteln: Pelze, Wollenzeug, Matten, Vieh,
Schmuckgegenſtände, endlich Edelmetall. Es entſteht das
Geld; der Hauſierhandel, die Märkte treten auf; es zeigen
ſich Spuren entgeltlichen Kreditverkehrs.
Aber dies alles berührt die geſchloſſene Hauswirtſchaft
nur an der Oberfläche, und ſo wenig uns auch die ſeit-
herige Litteratur über die ältere Geſchichte des Handels
und der Märkte an eine richtige Schätzung dieſer Dinge
gewöhnt hat, ſo wird doch aufs entſchiedenſte betont werden
müſſen, daß weder bei den antiken Völkern noch im früheren
Mittelalter die Gegenſtände des täglichen Bedarfs einem
regelmäßigen Austauſch unterlagen. Seltene Naturprodukte,
gewerbliche Erzeugniſſe von hohem ſpezifiſchem Wert bilden
die wenigen Handelsartikel. Gehen ſolche in den allge-
meinen Konſum über, wie im Mittelalter Wein, Salz, ge-
trocknete Fiſche, Wollenzeug, ſo werden auch Wirtſchaften
auftreten müſſen, welche eine Ueberſchußproduktion in dieſen
Dingen ſich zur Aufgabe machen, und das wird die weitere
Folge haben, daß die anderen Wirtſchaften die Tauſch-
aequivalente jener Artikel in einer den Eigenbedarf über-
ſteigenden Menge hervorbringen, wie die Nordländer ihre
Pelze und ihr Vadhmâl.
Aber die innere Struktur des Wirtſchaftslebens wird
dadurch nicht berührt. Anſtoß und Richtung empfängt jede
Einzelwirtſchaft nach wie vor durch den Eigenbedarf ihrer
Angehörigen; was ſie zur Befriedigung deſſelben ſelbſt
[38] erzeugen kann, muß ſie hervorbringen. Ihr einziger Re-
gulator iſt der Gebrauchswert. „Der Landwirt taugt
nichts“, ſagt der ältere Plinius, „der da kauft, was eigene
Wirtſchaft ihm gewähren kann“, und dieſer Grundſatz iſt
noch viele Jahrhunderte nachher in Geltung geblieben.
Man darf ſich durch die Thatſache anſcheinend reichlichen
Geldgebrauches in frühen hiſtoriſchen Perioden an der
richtigen Auffaſſung dieſer Wirtſchaftsſtufe nicht irre machen
laſſen. Geld iſt nicht bloß Tauſchmittel ſondern auch Wert-
maß, Zahlmittel und Mittel der Wertaufbewahrung. Zah-
lungen aber ergeben ſich maſſenhaft auch abſeiten des Tauſches
(Geldbußen, Tribute u. dgl.). Dazu zirkulieren alle älteren
Geldarten, lange Zeit ſelbſt das Edelmetall, in der Ge-
brauchsform, in der ſie von der einzelnen Wirtſchaft eben-
ſowohl zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung als zum
tauſchmäßigen Erwerb anderer Gebrauchsgüter verwendet
werden können. Wo ſie beſonders wertbeſtändig ſind,
dienen ſie in hervorragendem Maße der Schatzbildung.
Dies gilt namentlich vom Edelmetall, das in günſtigen Zeiten
ebenſo raſch die Form roher Prunkgeräte annahm, als es
ſie in ungünſtigen wieder verlor. Daß endlich der Wert-
meſſerdienſt durch das Metallgeld verſehen werden kann,
auch wenn thatſächlich die Umſätze in anderen Gebrauchs-
gütern erfolgen, ergibt ſich aus den zahlreichen mittelalter-
lichen Urkunden, in denen — weit über den hier ins Auge
gefaßten Zeitraum hinaus — die Preiſe zum Teil in Geld,
zum Teil in Pferden, Hunden, Wein, Getreide u. dgl. feſt-
[39] geſetzt ſind, oder wo es dem Käufer freigeſtellt wird, eine
Geldſumme zu zahlen in quo potuerit.
Wenn Lamprecht über das franzöſiſche Wirtſchafts-
leben des elften Jahrhunderts ſagt, daß man nur im Not-
falle kaufte 1), ſo gilt das in der Hauptſache auch vom Ver-
kaufe. Der Tauſch iſt ein der geſchloſſenen Hauswirtſchaft
fremdes Element, deſſen Eindringen ſie ſo lange und ſo
zäh als möglich Widerſtand entgegengeſetzt. Der Kauf iſt
regelmäßig Barkauf, an feierliche, ſchwerfällige Formen ge-
bunden. Das älteſte römiſche Stadtrecht ſchreibt vor, daß
der Kauf vor fünf mannbaren römiſchen Bürgern als Zeugen
ſtattzufinden hat: dem Verkäufer wird das Rohkupfer, in
welchem der Kaufpreis beſteht, durch einen gelernten Wag-
meiſter (libripens) zugewogen; der Käufer ergreift mit
ſolennen Worten von der gekauften Sache Beſitz. Man
halte damit zuſammen die umſtändliche Symbolik des alten
deutſchen Verkehrsrechts, und man wird ſich leicht über-
zeugen, daß in der Wirtſchaftsepoche, welche dieſen ſtarren
Rechtsformalismus geſchaffen hat, Kauf und Verkauf, Pacht
und Miete nicht Geſchäfte des täglichen Lebens ſein konnten.
In die innere Ordnung der Einzelwirtſchaft drang dem-
gemäß auch der Tauſchwert nicht beſtimmend ein; dieſe
kannte nur Bedarfsproduktion und wo ſolche nicht aus-
reichte, das Geſchenk, die freiwillige Gabe, nötigenfalls auch
den Raub. Die Ausbildung der Gaſtfreundſchaft, die Legiti-
[40] mierung des Bettelns, die Verbindung des Nomadenlebens
und des älteſten Seehandels mit dem Raub, die außer-
ordentliche Verbreitung des Feld- und Viehdiebſtahls bei rohen
Ackerbauvölkern ſind darum gewöhnliche Begleiterſcheinungen
der geſchloſſenen Hauswirtſchaft.
Nach dem Geſagten wird es klar geworden ſein, daß
bei dieſer Art der Bedürfnisbefriedigung die weſentlichen
wirtſchaftlichen Erſcheinungen ſich verſchieden geſtalten müſſen
von den Erſcheinungen der modernen Volkswirtſchaft. Be-
dürfnis, Arbeit, Produktion, Produktionsmittel, Produkt,
Gebrauchsvorrat, Gebrauchswert, Konſumtion: das ſind die
wenigen Begriffe, die im regulären Gang der Dinge den
ökonomiſchen Erſcheinungskreis erſchöpfen. Es gibt keine
volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung und darum keine Berufs-
ſtände, keine Unternehmungen, kein Kapital im Sinne eines
zu Erwerbszwecken dienenden Gütervorrats. Die Kategorien
Induſtrie- und Handelskapital, Leih- und Nutzkapital ſind
ganz ausgeſchloſſen. Will man den Ausdruck Kapital nach
verbreiteter Uebung auf Produktionsmittel ſchlechthin an-
wenden, ſo muß man ihn jedenfalls auf Werkzeuge und
Geräte (das ſog. ſtehende Kapital) beſchränken. Was man
in der neueren Theorie als umlaufendes Kapital zu be-
zeichnen pflegt, iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft ledig-
lich Gebrauchsvermögen, das der Genußreife entgegen geht:
unfertiges oder halbfertiges Produkt. Es gibt im regel-
mäßigen Verlauf der Wirtſchaft auch keine Waren, keinen
Preis, keinen Güterumlauf, keine Einkommensverteilung
[41] und demgemäß keinen Arbeitslohn, keinen Unternehmer-
gewinn, keinen Zins als beſondere Einkommensarten 1). Nur
die Grundrente beginnt bereits ſich aus dem Bodenertrage
abzuſcheiden, erſcheint aber noch nirgends rein, ſondern mit
anderen Einkommenselementen vermiſcht.
Vielleicht iſt es aber unangebracht, auf dieſer Stufe
überhaupt von Einkommen zu ſprechen. Was wir Ein-
kommen nennen, iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft die
Summe der Gebrauchsgüter, welche aus derſelben hervor-
gehen, der geſamte Wirtſchaftsertrag des Hausherrn. Dieſer
Ertrag läßt ſich aber von ſeinem Vermögen um ſo weniger
abſcheiden, je mehr die Abhängigkeit der Wirtſchaft von
elementaren Zufällen das Anſammeln von Vorräten gebietet.
Einkommen und Vermögen bilden eine ununterſcheidbare
Maſſe, von der fortwährend ein Teil in der Aufwärts-
bewegung zur Genußreife, ein anderer in der Abwärts-
bewegung zum Verbrauch ſich befindet, während ein dritter
[42] in Kaſten und Truhe, in Keller und Speicher als eine Art
Verſicherungsfonds lagert.
Zu dem letzteren gehört auch das Geld. Soweit es
im Tauſche gebraucht wird, iſt es für den Empfänger in
der Regel nicht vorläufiger, ſondern definitiver Gegenwert.
Seine Hauptrolle ſpielt es nicht auf dem Boden der Tauſch-
vermittlung, ſondern auf dem der Wertaufbewahrung, der
Wertmeſſung und Wertübertragung. Darlehen von einer
Wirtſchaft an die andere finden zwar ſtatt; aber ſie ſind
in der Regel unverzinslich und dienen konſumtiven Zwecken.
Der Produktivkredit verträgt ſich mit dieſer Wirtſchafts-
weiſe nicht. Wo ſich das verzinsliche Gelddarlehen ein-
drängt, erſcheint es als etwas Unnatürliches und zieht, wie
man aus der griechiſchen und römiſchen Geſchichte weiß,
das Verderben des Schuldners nach ſich. Das kanoniſche
Zinsverbot entſprang darum nicht moraltheologiſcher Be-
liebung, ſondern ökonomiſcher Notwendigkeit.
Wo ſich eine direkte Staatsſteuer ausgebildet hat, iſt
es regelmäßig eine außerordentliche Vermögensſteuer, meiſt
von grundſteuerartigem Charakter. So die atheniſche εἰςφορά,
das römiſche tributum civium und der mitteralterliche Schoß
oder die Bede. Die Idee der Einkommensbeſteuerung, ſo
naturgemäß und ſelbſtverſtändlich ſie uns erſcheint, würde
für unſere Vorfahren ſchlechterdings unfaßbar geweſen ſein.
Die geſchloſſene Hauswirtſchaft wird durch eine Jahr-
hunderte dauernde Umbildung übergeführt in die Wirt-
[43] ſchaft des direkten Austauſches; an die Stelle der
reinen Eigenproduktion tritt die Kundenproduktion. Wir
haben dieſe Entwicklungsſtufe als Stadtwirtſchaft be-
zeichnet, weil ſie durch die mittelalterlichen Städte in den
deutſchen und romaniſchen Ländern in typiſcher Weiſe zum
Ausdruck gebracht wird. Es darf aber dabei nicht über-
ſehen werden, daß ſich auch bereits im Altertum Anſätze
dieſer Entwicklung nachweiſen laſſen und daß dieſelben,
freilich in vielfach abweichender Geſtalt, auch ſpäter in den
vorgeſchritteneren ſlaviſchen Gebieten aufgetreten ſind.
Das Weſen dieſer Wirtſchaft liegt darin, daß die auf
den Anbau des Bodens gegründete Einzelwirtſchaft einen
Teil ihrer Selbſtändigkeit verliert, indem ſie nicht mehr im
Stande iſt, ihren geſamten Güterbedarf mit eigenen Kräften
zu erzeugen und dauernd und regelmäßig der Ergänzung
aus den Produkten anderer Wirtſchaften bedarf. Es bilden
ſich aber nicht ſofort vom Boden losgelöſte Wirtſchaften,
deren Träger etwa die induſtrielle Veredelung von Stoffen
für Andere oder die berufsmäßige Leiſtung von Dienſten
oder die Beſorgung des Austauſches zur ausſchließlichen
Erwerbsquelle machen. Vielmehr ſucht nach wie vor ein
jeder Wirt ſoweit als möglich dem Boden ſeinen Unterhalt
abzugewinnen; hat er darüber hinaus Bedürfniſſe, ſo be-
nutzt er eine beſondere Geſchicklichkeit ſeiner Hand, einen
beſonderen Produktionsvorteil ſeines Wohnorts, der in Feld,
Wald oder Waſſer ihm entgegentritt, um ein ſpezielles Er-
zeugnis im Ueberfluß hervorzubringen: der eine Getreide,
[44] der andere Wein, der dritte Salz, der vierte Fiſche, ein
Fünfter Leinwand oder ein ſonſtiges Produkt des Haus-
fleißes. Auf dieſe Weiſe entſtehen einſeitig entwickelte Sonder-
wirtſchaften, welche auf den regelmäßigen gegenſeitigen Aus-
tauſch ihrer Ueberſchußprodukte angewieſen ſind. Dieſer
Austauſch bedarf zunächſt nicht eines organiſierten Handels.
Wohl aber bedarf er leichterer Verkehrsformen, als ſie das
ältere Recht bot, und dieſe finden ſich durch die Ausbildung
des Marktweſens.
Markt iſt das Zuſammentreffen zahlreicher Käufer und
Verkäufer an einem beſtimmten Ort zu beſtimmter Zeit.
Mag derſelbe ſich an Kultfeſte und ſonſtige Volksverſamm-
lungen anſchließen, mag er der günſtigen Verkehrslage eines
Ortes ſeine Entſtehung verdanken, immer iſt er eine Ge-
legenheit, wo Produzent und Konſument mit ihren ent-
gegengeſetzten Tauſchbedürfniſſen einander gegenübertreten,
und er iſt das in der Hauptſache bis auf den heutigen Tag
geblieben. Der Markt und der ſtehende Handel ſchließen
einander aus. Wo es einen Berufsſtand von Kaufleuten
gibt, braucht man keine Märkte; wo es Märkte gibt,
braucht man keine Kaufleute.
Damit gelangen wir ſofort zur mitteralterlichen Stadt
und zu ihrer Stellung in der Wirtſchaftsordnung, die wir
als geſchloſſene Stadtwirtſchaft bezeichnet haben.
Die mittelalterliche Stadt iſt in erſter Linie eine Burg,
d. h. ein mit Mauern und Gräben befeſtigter Ort, der den
Bewohnern der umliegenden offenen Landorte als Zuflucht
[45] und Schutz dient. Jede Stadt ſetzt alſo das Beſtehen eines
Schutzverbandes voraus, der die ländlichen Anſiedelungen
eines engeren oder weiteren Umkreiſes zu einer Art mili-
täriſcher Gemeinſchaft mit beſtimmten Rechten und Pflichten
zuſammenfügt. Alle dieſer Gemeinſchaft angehörenden Orte
haben die Verpflichtung, die Befeſtigungswerke der Stadt
durch gemeinſame Arbeits- und Geſpannleiſtungen zu unter-
halten und im Kriegsfalle mit gewaffneter Hand zu ver-
teidigen. Sie haben dafür das Recht, ſich mit Weib und
Kind, mit Vieh und Fahrhabe, ſo oft es Not thut, hinter
den Mauern zu bergen. Dieſes Recht heißt Burgrecht
und der es genießt, iſt ein Burger (burgensis).
Anfangs ſind die dauernden Bewohner der Stadt auch
hinſichtlich ihrer Beſchäftigung in keiner Weiſe von den Be-
wohnern der Landorte unterſchieden. Sie treiben Land-
wirtſchaft und Viehzucht wie dieſe; ſie nutzen Wald und
Waſſer und Weide gemeinſam; ihre Wohnungen ſind, wie
noch heute an der baulichen Anlage vieler alten Städte zu
erſehen, Bauernhöfe mit Scheunen und Stallungen und weiten
Hofräumen dazwiſchen. Aber ihr Gemeindeleben erſchöpft ſich
nicht in der Regelung der Allmendnutzung und in den ſon-
ſtigen landwirtſchaftlichen Intereſſen. Sie ſind ja ſozuſagen
als eine ſtehende Beſatzung in die Burg gelegt und haben reih-
um auf Türmen und Thoren den täglichen Wachdienſt zu ver-
ſehen. Wer in der Stadt ſich dauernd niederlaſſen will, muß
darum nicht bloß Grundeigentum (zum mindeſten ein Haus)
beſitzen, er muß auch mit Wehr und Harniſch gerüſtet ſein.
[46]
Der Wachdienſt und die durch das Burgrecht gebotene
Weitläufigkeit der Stadtanlagen erforderten eine größere
Menſchenzahl, und bald reichte die Stadtmarkung nicht mehr
aus, ſie zu ernähren. Hier trat nun die vorhin beſchriebene
einſeitige Fortbildung der Sonderwirtſchaften ins Mittel:
die Stadt wurde der Sitz der Gewerbe und zugleich der
Märkte, auf denen der Bauer vom Lande ſeine Ueberſchüſſe
abſetzte und dafür erwarb, was er nicht mehr ſelbſt er-
zeugen konnte.
Das Burgrecht erfuhr in Folge deſſen eine Erweiterung.
Alle, welche es genoſſen, hatten Markt- und Zollfreiheit in
der Stadt. Das Recht des freien Kaufs und Verkaufs auf
dem ſtädtiſchen Markte iſt alſo urſprünglich ein Ausfluß
des Burgrechtes. Damit iſt aus dem militäriſchen Schutz-
verband eine territoriale Wirtſchaftsgemeinſchaft geworden,
welche auf gegenſeitigem direkten Austauſche landwirtſchaft-
licher und gewerblicher Produkte zwiſchen den jedesmaligen
Erzeugern und Verbrauchern beruht.
Alle Beſucher eines Marktes erfreuten ſich auf dem
Hin- und Rückwege eines beſonders kräftigen königlichen
Schutzes, der ſich auch auf den Markt ſelbſt und den ganzen
Marktort ausdehnte. Dieſer Marktfrieden hatte die Wirkung,
daß die Marktleute für die Dauer ihres Aufenthaltes in
der Stadt gegen gerichtliche Verfolgung wegen früher ent-
ſtandener Schuldforderungen ſicher geſtellt und daß Schädi-
gungen, die ihnen an Leib und Gut zugefügt wurden, als
qualifizierte Friedensbrüche mit doppelter Strafe bedroht
[47] wurden. Die Marktleute heißen allgemein Kaufleute,
mercatores, negotiatores, emptores1).
[48]
Da die Bewohner der Stadt ſelbſt vorzugsweiſe darauf
angewieſen waren, auf dem Markte zu kaufen und zu ver-
kaufen, ſo heftete ſich der Name der Markt- oder Kauf-
leute in dem Maße mehr an ſie an, als die Bedeutung des
Marktes für ihren Nahrungsſtand zunahm. In demſelben
Maße aber dehnte ſich das Zufuhr- und Abſatzgebiet dieſes
Marktes weiter in das Land hinein aus. Er fiel nun nicht
mehr mit dem Burgrechtsverband zuſammen, deſſen Be-
deutung für die Landbevölkerung ohnehin mit der wachſenden
Sicherheit des ganzen Landes gegen äußere Einfälle ſich
hatte abſchwächen müſſen. Auf der anderen Seite wurde
mit der Zunahme der Gewerbe die ganze Stadt, nicht bloß
1)
[49] der urſprünglich allein dafür beſtimmte abgegrenzte Raum,
zum Markte; der Marktfrieden wurde zum Stadtfrieden,
und zur Aufrechterhaltung des letzteren wurde die Stadt
als beſonderer Gerichtsbezirk aus dem Landrechtsverbande
ausgeſchieden. Es bildete ſich der Grundſatz: „Städtiſche
Luft macht frei“, und damit entſtand eine ſozialrechtliche
Kluft zwiſchen Bürger und Bauer, die man im XIII. und
XIV. Jahrhundert vergebens durch das Aus- und Pfahl-
bürgertum zu überbrücken ſuchte. Der Name Bürger be-
ſchränkte ſich ſchließlich auf die anſäſſigen Glieder der Stadt-
gemeinde, und die Zeit gab dieſem Namen einen rechtlichen
und ſittlichen Inhalt, in welchem die Staatsidee der alten
Hellenen wieder lebendig geworden zu ſein ſchien.
Uns darf hier weder die Entwicklung der Stadtver-
faſſung mit ihrer genoſſenſchaftlich abgeſtuften Selbſtver-
waltung noch die politiſche Machtſtellung weiter beſchäftigen,
zu welcher die Städte in Deutſchland, Frankreich und Italien
im ſpäteren Mittelalter gelangten. Wir haben es nur mit
der ausgereiften wirtſchaftlichen Organiſation zu thun, deren
Kernpunkte dieſe Städte bildeten.
Wenn wir eine Karte des alten Deutſchen Reiches zur
Hand nehmen und auf derſelben die Orte bezeichnen, welchen
bis zu Ende des Mittelalters Stadtrecht verliehen worden
iſt (es mögen ihrer etwa 3000 geweſen ſein), ſo erblicken
wir das ganze Land in Abſtänden von durchſchnittlich
4—5 Wegſtunden im Süden und Weſten, von 7—8 Stunden
im Norden und Oſten mit Städten überſäet. Nicht alle
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 4
[50] haben gleiche Bedeutung gehabt; aber die meiſten waren
doch zu ihrer Zeit (oder bemühten ſich wenigſtens zu ſein)
die Mittelpunkte territorialer Wirtſchaftsgebiete, welche ebenſo
ein für ſich abgeſchloſſenes Leben führten wie früher der
Fronhof. Um von der Größe dieſer Gebiete eine Vor-
ſtellung zu gewinnen, denken wir uns das geſamte Terri-
torium gleichmäßig auf die vorhandenen Stadtrechte ver-
teilt. Es kommen dann im Südweſten von Deutſchland
durchſchnittlich 2—2½ Quadratmeilen auf eine Stadt, im
mittleren und nordweſtlichen Deutſchland 3—4, im öſtlichen
5—8. Stellen wir uns die Stadt immer im Mittelpunkte
eines ſolchen Gebietsabſchnittes vor, ſo überzeugen wir uns,
daß faſt überall in Deutſchland der Bauer aus der ent-
fernteſten ländlichen Niederlaſſung den ſtädtiſchen Markt
in einem Tage erreichen und am Abend wieder zurück ſein
konnte 1).
[51]
Das ganze mittelalterliche Marktrecht, wie es in älterer
Zeit die Stadtherren, ſpäter die ſtädtiſchen Räte geregelt
haben, läuft auf die beiden Grundſätze hinaus, daß ſoweit
als irgend möglich öffentlich und aus erſter Hand ge-
kauft werden müſſe und daß alles, was in der
Stadt ſelbſt produziert werden könne, darin auch
produziert werden ſolle. Für einheimiſche Induſtrie-
produkte war der Zwiſchenhandel jedermann, auch den Hand-
werkern ſelbſt, unterſagt; für die auswärtige Zufuhr war
er nur dann geſtattet, wenn dieſelbe bereits zu Markte ge-
ſtanden hatte und unverkauft geblieben war. Das Ziel
war immer die reichliche und preiswürdige Verſorgung der
einheimiſchen Konſumenten und die volle Befriedigung der
fremden Kunden des ſtädtiſchen Gewerbes.
Zufuhr- und Abſatzgebiet des ſtädtiſchen Marktes fielen
zuſammen. Die Bewohner der Landſchaft brachten Lebens-
mittel und Rohſtoffe herein und kauften für den Erlös die
Arbeit des ſtädtiſchen Handwerkers, entweder unmittelbar
in Geſtalt des Lohnwerks oder mittelbar in Geſtalt fertiger
Produkte, die vorher ſtückweiſe beſtellt oder auf dem offenen
Markte am Stande des Preiswerkers entnommen wurden 1).
Bürger und Bauer ſtanden alſo in einem gegenſeitigen
Kundenverhältnis: was der eine erzeugte, brauchte immer
wieder der andere, und ein großer Teil dieſes Wechſel-
verkehrs vollzog ſich ohne das Dazwiſchentreten des Geldes
4 *
[52] oder ſo, daß das Geld nur zur Ausgleichung der Wert-
unterſchiede herangezogen wurde.
Das ſtädtiſche Handwerk hatte ein ausſchließliches
Abſatzrecht auf dem Markte. Handwerksprodukte aus fremden
Städten wurden nur dann zugelaſſen, wenn das betreffende
Gewerbe in der Stadt keine Vertreter hatte. Sie pflegten
von den auswärtigen Erzeugern an den Jahrmärkten zum
Verkauf gebracht zu werden, und an dieſer einen Stelle greifen
wohl die verſchiedenen ſtädtiſchen Marktgebiete in einander
über. Aber, was das weſentlichſte iſt: der direkte Abſatz
des Produzenten an den Konſumenten iſt auch hier gewahrt,
und es ſind Ausnahmefälle. War ein Gewerbe in der Stadt
nicht vertreten, das ſeinen Mann dort hätte nähren können,
ſo berief der Rat einen geſchickten Meiſter von außen und
bewog ihn durch Steuererlaß und andere Vorteile zur An-
ſiedelung. Brauchte er größeres Anlagekapital, ſo trat die
Stadt ſelbſt ins Mittel, baute Werkſtätten und Verkaufs-
läden und legte Mühlen, Schleifwerke, Tuchrahmen, Bleichen,
Färbehäuſer, Walkmühlen u. dgl. auf ihre Koſten an —
alles in der Abſicht möglichſte Vielſeitigkeit der Bedürfnis-
befriedigung durch einheimiſche Produktion zu gewährleiſten.
Wenn an ſich ſchon der direkte Verkehr des Hand-
werkers mit dem Verbraucher ſeiner Erzeugniſſe 1) das Ge-
[53] fühl der perſönlichen Verantwortung in dem erſteren rege
erhalten mußte, ſo ſuchte man dieſes ethiſche Moment doch
noch durch beſondere Maßnahmen zu ſtärken. Das Hand-
werk iſt ein Amt, das zum allgemeinen Beſten verwaltet
werden muß. Der Meiſter ſoll „gerechte“ Arbeit liefern.
Soweit der Handwerker den Kunden noch mit ſeiner per-
ſönlichen Arbeitskraft zur Verfügung ſtand, ſetzte man ihm
wol eine Taxe für das, was er auf der Stör an Taglohn
und Koſt zu beanſpruchen hatte. Wo ihm der Rohſtoff
vom Beſteller ins Haus gegeben wurde (z. B. bei Kannen-
gießern das Zinn, bei Goldſchmieden das Silber und Gold,
bei Webern das Garn), ſorgte man, daß er nicht verfälſcht
werde. Wo dagegen der Handwerksmann den Stoff lieferte,
waren öffentliche Verkaufsſtellen auf dem Markte, um die
Kirchen, an den Thoren, in einzelnen Straßen errichtet, die
oft auch als Werkſtätten dienten (Brottiſche, Fleiſchbänke,
Gewandhäuſer, Tuchgaden, Kürſchnerlauben, Schuhbänke
u. ſ. w.). Es war Marktregel, daß die Verkäufer desſelben
Produktes neben einander in gegenſeitigem offenen Wett-
bewerb und unter der Ueberwachung der Marktmeiſter und
Schaubeamten feil hielten, und dieſe Regel dehnte ſich auch
inſofern auf die Handwerker aus, welche bloß in ihren
Häuſern auf Beſtellung arbeiteten, als ſie meiſt in der
gleichen Straße neben einander wohnten. Daß außerdem
die vielfachen Vorſchriften über den zu verwendenden Roh-
ſtoff, das Arbeitsverfahren, die Länge und Breite der Tücher
[54] und direkte Preisregulierung zum Schutze des Konſumenten
dienen mußten, iſt bekannt 1).
Wie der ſtädtiſche Produzent in Stadt und Bannmeile
ein ausſchließliches Abſatzrecht auf ſeine Handwerksarbeit,
ſo hat der ſtädtiſche Konſument innerhalb dieſes Gebietes
ein ausſchließliches Kaufrecht auf die fremde Zufuhr. Das
letztere kann freilich nur Wirkung haben, wenn die Zufuhr
auch wirklich zu Markte kommt und hier die gehörige Zeit
feil ſteht. Damit dies geſchieht, iſt das Stapelrecht ein-
geführt, der Vorkauf verboten, der Verkauf an Wieder-
verkäufer, Handwerker und Fremde nur geſtattet, nachdem
die Konſumenten befriedigt ſind und auch hier gewöhnlich
mit der Einſchränkung, daß den letzteren auf Verlangen
Anteil gegeben werden muß, endlich die Wiederausfuhr ein-
mal eingebrachter Marktgüter unterſagt oder nur nach drei-
tägigem vergeblichen Feilhalten geſtattet.
Immer aber waltet gegen den fremden Verkäufer
ein tiefgewurzeltes Mißtrauen ob. Dieſem verdankt die
eigentümliche Art der Tauſchvermittlung durch obrigkeitliche
Unterkäufer, Meſſer und Wäger ihr Daſein. Heute kon-
trolliert die Stadt durch Eiche und polizeiliche Reviſionen
Maß und Gewicht und überläßt es den Tauſchluſtigen ſelbſt,
ſich gegenſeitig zu finden. Im Mittelalter fehlten die techni-
ſchen Mittel zur Herſtellung vollkommener Maße und zu
deren Sicherung. Wurden doch gewöhnliche Feldſteine (auf
[55] der Frankfurter Meſſe ſogar Holzklötze noch im XV. Ih.)
als Gewichte benutzt. Um dennoch eine ſichere Beſtimmung
der ausgetauſchten Gütermengen zu erzielen, entzog man den
Beteiligten die Handhabung der Maße und legte ſie in die
Hände beſonderer Beamten, deren Heranziehung bei jedem
Verkaufe eines Fremden obligatoriſch war. Das Amt der
Unterkäufer war es, Käufer und Verkäufer zuſammenzu-
bringen, bei der Preisbeſtimmung zu vermitteln, die Ware
auf etwaige Fehler zu prüfen, dem Käufer auszuſuchen ſo-
viel er gekauft hatte und für die richtige Lieferung beſorgt
zu ſein. Eigene Geſchäfte waren dem Unterkäufer verboten;
er durfte nicht einmal von dem fremden Verkäufer, den er
zu beherbergen pflegte, unverkauft gebliebene Warenreſte bei
der Abreiſe erwerben.
Dieſes Syſtem des direkten Austauſches findet ſich bis
auf die feinſten Einzelheiten durchgebildet, wenn auch mit
manchen lokalen Beſonderheiten, in allen mittelalterlichen
Städten. Man muß daraus ſchließen, daß die thatſächlichen
Verhältniſſe, denen ſeine Grundgedanken entſprungen ſind,
durchaus zwingender Natur waren. Wie weit es wirklich
durchführbar war, läßt ſich nur überſehen, wenn wir die
Frage beantworten können, wie weit der Handel dabei
Raum gefunden hatte.
Außer Zweifel ſteht, daß es in den Städten einen an-
ſäſſigen Kleinhandel gab. Zu ihm gehörten alle, welche
„Pfennwerte verkaufen für den armen Mann“. Um das
zu verſtehen, muß man ſich gegenwärtig halten, daß alle
[56] wohlhabenden Leute in den Städten auf den Wochen- und
Jahrmärkten direkt ihren Bedarf von den fremden Markt-
leuten zu kaufen pflegten. Der Arme konnte ſich nicht auf
längere Zeit verſorgen; er lebte, wie heute noch, „aus der
Hand in den Mund“. Für ihn übernahm darum der
Kleinhändler das Halten von Vorräten zum allmählichen
Verſchleiß.
Man kann drei Gruppen ſolcher Kleinhändler unter-
ſcheiden: Krämer, Hocken und Gewandſchneider oder Gaden-
leute. Die letzteren waren in der erſten Hälfte der Stadt-
wirtſchaftsperiode die angeſehenſten, da es in vielen Städten
keine einheimiſche Wollenweberei gab. Mit dem Heran-
wachſen einer ſolchen wurde ihre Thätigkeit auf den Ver-
trieb der feineren niederländiſchen Tücher, der Seiden- und
Baumwollſtoffe beſchränkt, oder ſie machten im Kaufhauſe
den Webern Platz.
Der Großhandel war ausſchließlich Wander- und
Markt- oder Meßhandel, und die meiſten Städte werden
bis zum Ende des Mittelalters anſäſſige Großkaufleute
nicht in ihren Mauern geſehen haben. Ihm unterlagen
nur Güter, welche in dem engeren oder weiteren Zufuhr-
gebiet einer Stadt nicht produziert wurden. Ich weiß
deren nur fünf zu nennen: 1) Gewürze und Südfrüchte,
2) getrocknete und geſalzene Fiſche, welche damals allge-
meines Volksnahrungsmittel waren, 3) Pelze, 4) feine Tücher,
5) für die norddeutſchen Städte: Wein. In einzelnen
Teilen Deutſchlands dürfte auch das Salz hierher zu rechnen
[57] ſein. Meiſt aber pflegte das der Rat im Großen direkt
von den Produktionsſtätten zu beziehen, es in eigenen Salz-
häuſern niederzulegen und mit einem Monopolaufſchlag den
Hocken oder Salzſtößern gegen Verſchleißgebühr in Vertrieb
zu geben. Die Großhändler durften gewöhnlich ihre Waren
nur in ganzen Gebinden oder nicht unter einer beſtimmten
Gewichtsmenge (bei Spezereien z. B. nicht unter 12½ Pfd.)
verkaufen. Den Verſchleiß beſorgten dann die anſäſſigen
Krämer und Hocken. Das Gleiche gilt auch von manchen
großen Produzenten, wie z. B. den Hammerſchmieden, die
das Eiſen, das ſie nicht an Schmiede und Private hatten
abſetzen können, an die Eiſenmenger verkaufen durften.
Läßt ſich auch das Zufuhr- und Abſatzgebiet des Marktes
einer mittelalterlichen Stadt nicht topographiſch genau ab-
grenzen, da es für verſchiedene Marktgüter naturgemäß ver-
ſchiedene Ausdehnung hatte, ſo war dasſelbe nichts deſto
weniger im wirtſchaftlichen Sinne ein geſchloſſenes Gebiet.
Jede Stadt bildete mit ihrer „Landſchaft“ eine autonome
Wirtſchaftseinheit, innerhalb deren ſich der ganze Kreislauf
des ökonomiſchen Lebens nach eigener Norm ſelbſtändig
vollzog. Dieſe Norm iſt gegeben durch eigne Münze, eignes
Maß und Gewicht für jedes ſtädtiſche Wirtſchaftsgebiet.
Das Verhältnis zwiſchen Stadt und Land iſt thatſächlich
ein Zwangsverhältnis wie zwiſchen Haupt und Gliedern und
offenbart ſtarke Neigungen ſich auch zu einem rechtlichen
Zwangsverhältnis zu geſtalten. Die Bannmeile, die bereits
vorkommenden Aus- und Einfuhrverbote, die Differential-
[58] zölle, die Erwerbung eigner Territorien durch die größeren
Städte weiſen deutlich darauf hin.
Soviel man auch gegen die Herleitung der Stadt-
verfaſſung aus der Hofverfaſſung einwenden kann, die
Wirtſchaftsordnung der Stadt iſt nur als Fortbildung der
Fronhofsordnung recht zu verſtehen und zu erklären. Was
in dieſer bloß in Keimpunkten und Anſätzen vorhanden war,
hat ſich zu fertigen Organen und Organſyſtemen ausge-
wachſen; was in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft in primi-
tiver Ungeſtalt beiſammen lag, iſt auf dem Wege der Tei-
lung und Verſelbſtändigung aus einander getreten. Die ge-
bundene Arbeitsteilung des Fronhofs hat ſich zu einer freien
Produktionsteilung zwiſchen Bauern und Bürgern und bei
letzteren wieder zu einer bunten Mannigfaltigkeit von Be-
rufsarten entfaltet. Der Hausfleißarbeiter des Fronhofs iſt
zum Lohnhandwerker geworden und erlangt mit der Zeit
zum eignen Werkzeug auch eigne Betriebsmittel. Die Nabel-
ſchnur iſt zwiſchen Hof- und Hübnerwirtſchaft zerſchnitten;
die Sonderwirtſchaften haben eignes Leben gewonnen; der
Verkehr unter ihnen regelt ſich nicht mehr nach dem Prinzip
der generellen, ſondern nach dem der ſpeziellen Entgeltlich-
keit von Leiſtung und Gegenleiſtung. Freilich haben ſie
ſich auch in der Stadt noch nicht völlig vom Boden los-
gelöſt 1); die Produktion ſteckt noch tief in den Feſſeln der
[59] Haushaltung; aber es haben ſich die Berufe des Landwirts,
des Handwerkers, des Händlers gebildet, welche die Wirt-
ſchaften und das Leben ihrer Träger in eine beſondere
Richtung gelenkt haben. Vom Standpunkte der modernen
Volkswirtſchaft könnte man ſagen, daß der Handwerker noch
ein halber Bauer und der Bauer in manchen Dingen auch
noch ein halber Handwerker war.
Der ganze wirtſchaftliche Erſcheinungskreis iſt gegen-
über der geſchloſſenen Hauswirtſchaft reicher und mannig-
faltiger geworden; die Sonderwirtſchaften ſind an Menſchen-
zahl kleiner; ſie ſind von einander abhängig; ſie übernehmen
gewiſſe Funktionen für einander; der Tauſchwert dringt be-
reits beſtimmend in ihr inneres Leben ein. Aber die Pro-
duktionsgemeinſchaft fällt noch immer mit der Komſumtions-
gemeinſchaft zuſammen: auch die fremden Gehilfen des Hand-
werkers und ſelbſt des Händlers ſind Glieder ſeines Haus-
haltes, ſeiner Disziplinargewalt unterworfen. Er iſt ihr
Herr, ſie ſeine „Knechte“.
Noch immer verläßt der größte Teil der Güter die
Wirtſchaft nicht, in der er entſteht. Ein kleinerer Teil tritt
auf dem Wege des Tauſches in andere Wirtſchaften über;
1)
[60] aber der Weg, den er zurücklegt, iſt ein ſehr kurzer: vom
Erzeuger zum Verbraucher. Es gibt keinen Güterumlauf.
Ausgenommen ſind die wenigen Artikel des auswärtigen
Handels und die Pfennwerte; nur ſie werden Waren; nur
ſie müſſen mehrfach die Geldform durchlaufen, ehe ſie in
dem Haushalt ihre Beſtimmung erfüllen. Aber es handelt
ſich hier um eine Ausnahme von dem Syſtem des direkten
Austauſches, nicht um ein konſtitutives Element der ganzen
Wirtſchaftsordnung.
Sind auch die Anfänge volkswirtſchaftlicher Arbeits-
teilung und Berufsgliederung vorhanden, ſo gibt es doch
noch keine ſtehenden Unternehmungen und kein Unterneh-
mungskapital. Höchſtens ließe ſich von Handelskapital
ſprechen. Das Handwerk iſt Uebernehmen von Arbeit,
kein Unternehmen. In der Form der Stör und des Heim-
werks iſt es faſt kapitallos. Es verkörpert Arbeit gegen
Lohn in fremdem Material 1), und auch wo der Handwerker
bereits mit eignen Betriebsmitteln arbeitet, vollzieht ſich die
Werterhöhung des Produktes nicht in der Weiſe, daß das-
ſelbe in der Fabrikation fortgeſetzt neue Kapitalteile einſchluckt,
ſondern ſo, daß Arbeit in ihm inveſtiert wird.
Außerordentlich gering iſt auch die Menge des Leih-
und Nutzkapitals. Ja man kann zweifeln, ob im mittel-
alterlichen Verkehr überhaupt von Kreditgeſchäften geſprochen
werden kann. Das Jugendalter der Tauſchwirtſchaft hängt
am Bargeſchäft; es gibt nicht, wo nicht zugleich praeſenter
[61] Gegenwert genommen werden kann. Faſt das ganze Kredit-
weſen kleidet ſich in die Form des Kaufes. So ſchon bei
der bäuerlichen Erbleihe und der Vergabung ſtädtiſcher Bau-
plätze gegen Grundzins, wo das Gut als Kaufpreis für die
Zinsberechtigung erſcheint 1). Ferner bei der „älteren“ Satzung,
wo das dem Geldgeber zur Nutzung überlaſſene Grundſtück
als vorläufiger Gegenwert in die Gewere des „Gläubigers“
übergeht und ihm verfällt, wenn der Schuldner das Dar-
lehen nicht zurückzahlt. Wirtſchaftlich unterſcheidet ſich dieſer
Verkehrsakt in keiner Weiſe von dem Verkauf auf Wieder-
kauf, und es iſt anerkannt, daß auch ein juriſtiſcher Unter-
ſchied zwiſchen beiden kaum mehr aufzufinden iſt. Den
gleichen Charakter trägt das gebräuchlichſte ſtädtiſche Kredit-
geſchäft: der Renten- oder Gültkauf, den ſchon der Name
als Kaufgeſchäft erweiſt. Preisgut iſt das hingegebene
Kapital, Tauſchgut iſt das Recht auf den Bezug einer jähr-
lichen Rente, welche der Empfänger des Kapitals auf ein
ihm gehöriges Haus mit der Wirkung einräumt, daß der
jedesmalige Eigentümer desſelben die Rente abzuführen hat.
Die Rente trägt Reallaſtcharakter und iſt lange unablösbar;
der Verpflichtete haftet für dieſelbe mit dem Hauſe oder
Grundſtück, auf dem ſie liegt, nicht auch mit ſeinem übrigen
Vermögen. Sie belaſtet alſo nur das Immobil, auf dem
ſie ruht, und vermindert deſſen Ertragswert um ihren Be-
trag. Der Rentenberechtigte hat den gezahlten Kaufpreis
[62] definitiv aufgegeben; der Rentenbrief, der zum Bezug der
Rente berechtigt, kann in formloſer Weiſe wie ein Inhaber-
papier übertragen werden. Es iſt alſo jede perſönliche Be-
ziehung aus dem ganzen Verhältnis ausgetilgt, und es fehlt
das Moment des Vertrauens, das dem Kredit eigentümlich
iſt. Denſelben Charakter trägt die Wiederkaufsgülte: ſie
iſt Rentenkauf mit Vorbehalt des Rückkaufs.
Wie im Immobiliarverkehr, ſo iſt auch im Mobiliar-
verkehr das Kreditgeſchäft nur eine „Abſchwächung des Bar-
geſchäfts“. Die Pfandſicherung iſt, wie Heusler ſagt,
eine proviſoriſche ſeitens des Schuldners noch auslösbare
Erſatzleiſtung (Verfallpfand), nicht eine eventuell vom Gläu-
biger in Anſpruch zu nehmende und durch Verſilberung zu
realiſierende Deckung (Verkaufspfand). Das Pfandleih-
geſchäft der Juden 1) iſt thatſächlich gleichbedeutend mit dem
modernen Rückkaufshandel, und der „Warenkredit“, den
heute Handwerker und Krämer gewähren, kleidet ſich im
Mittelalter in die Form des Kaufes gegen Pfand 2). Hält
man damit zuſammen, daß auch beim damaligen Perſonal-
kredit faſt immer der Schuldner ſich dem Pfandrecht des
Gläubigers vertragsmäßig zu unterwerfen hatte, daß er
meiſt nur unter vielfacher Bürgſchaft, mit Verpflichtung
zum Einlager und ähnlichen läſtigen Bedingungen Geld er-
halten konnte, daß der Gläubiger ſich obendrein vorbehielt,
das Geld im Verzugsfalle zu Schaden des Schuldners bei
[63] Juden aufzunehmen, daß die Mitbürger oder Hinterſaſſen
des fremden Schuldners für die Forderung gepfändet werden
konnten, ſo überzeugen wir uns leicht, daß von einem Kre-
ditweſen im modernen Sinne in der mittelalterlichen Stadt-
wirtſchaft nicht die Rede ſein konnte 1).
Zwei Dinge müſſen auf dieſem Gebiete den an den
Kategorien der modernen Volkswirtſchaft geſchulten Kopf
beſonders befremden: die Häufigkeit, mit der unkörperliche
Sachen („Verhältniſſe“) zu wirtſchaftlichen Gütern werden
und dem Verkehr unterliegen und ihre verkehrsrechtliche Be-
handlung als Immobilien. An ihnen iſt ſo recht zu ſehen,
wie die beginnende Tauſchwirtſchaft den Spielraum, den
ihr die damalige Produktionsordnung verſagte, dadurch zu
erweitern ſuchte, daß ſie in täppiſchem Zugreifen faſt alles
zum Verkehrsgut machte und ſo die Sphäre des Privatrechts
ins Ungemeſſene ausdehnte. Was hat man im Mittelalter
nicht verliehen, verſchenkt, verkauft und verpfändet! Die
herrſchaftliche Gewalt über Länder und Städte, Grafſchafts-
und Vogteirechte, Cent- und Gaugerichte, kirchliche Würden
und Patronate, Bannrechte, Fähren und Wegerechte, Münze
und Zoll, Jagd- und Fiſchereigerechtſame, Beholzungsrechte,
[64] Zehnten, Fronden, Grundzinſen und Renten, überhaupt
Reallaſten jeder Art. Wirtſchaftlich betrachtet teilen alle
dieſe Rechte und „Verhältniſſe“ mit dem Grund und Boden
die Eigentümlichkeit, nicht von dem Orte ihrer Ausübung
entfernt und nicht beliebig vermehrt werden zu können.
Einkommen und Vermögen haben ſich auch auf dieſer
Entwicklungsſtufe noch nicht klar von einander abgeſchieden.
Als im Jahre 1451 in Baſel der „neue Pfundzoll“ ein-
geführt wurde, ſchrieb man vor, daß derſelbe gezahlt werden
müſſe: 1) vom Kaufpreiſe der Handelswaren, 2) von den
Kapitalien, die im Gült- oder Rentenkauf angelegt würden
und 3) von den vereinnahmten Renten 1). Von jedem Pfund
waren 4 Pfennige zu entrichten, einerlei, ob dasſelbe als
Kaufpreis oder als Kapital oder als Zins die Hand ge-
wechſelt hatte. Im erſten Falle handelte es ſich nach
unſerer Terminologie um Roheinkommen, im zweiten um
Vermögen, im dritten um reines Einkommen, und doch
werden alle drei Fälle gleich behandelt. Aehnliche Beiſpiele
ließen ſich aus Frankfurter Bede-Ordnungen anführen.
Immerhin treten zwei unſerer modernen Einkommens-
kategorien jetzt deutlicher hervor: die Grundrente und der
Lohn. Der letztere hat freilich einen eigentümlichen Cha-
rakter; er iſt Handwerkslohn: der Entgelt für die Nutzung
der Arbeitskraft des Handwerkers von Seiten des Konſu-
menten, nicht, wie heute, der Preis, den der Unternehmer
[65] dem Lohnarbeiter zahlt. Allerdings finden ſich auch ſchon
Keime des letzteren in dem geringen Geldlohn, welchen der
Handwerker neben der freien Verpflegung ſeinem Geſellen
verabfolgt und welcher dem letzteren es ermöglicht, einen
beſchränkten Teil ſeines Bedarfs frei zu geſtalten. Unter-
nehmergewinn findet ſich faſt nur im Handel, iſt alſo,
wie dieſer, Ausnahme. Der Zins nimmt in der Regel den
Charakter der Grundrente an, und dasſelbe gilt von den
mancherlei „Gefällen“ aus den dem Tauſche unterliegenden
Rechtsverhältniſſen. Da die Kreditgeſchäfte in der Regel
ſich in die Form von Kaufgeſchäften kleiden, ſo bedeuten ſie
für den Gläubiger faſt immer die definitive Hingabe eines
Teils ſeines Vermögens, um ein jährliches Einkommen oder
eine fortgeſetzte Nutzung zu empfangen (Kanon bei der Erb-
leihe, Naturalertrag des geſetzten Grundſtücks bei der Satzung,
Grundzins, Rente beim Gültkauf). Auf dieſer Grundlage
entſteht auch der älteſte Zweig der Perſonalverſicherung
und zugleich die Hauptform des öffentlichen Kredits: die
Beſtellung von Leibrenten.
Der öffentliche Haushalt trägt noch immer vorwiegend
privatwirtſchaftlichen Charakter: Einnahmen aus Domänen,
Regalien, Zehnten, Fronden, Dienſten, Grundzinſen, Ge-
bühren wiegen im Staat, Einnahmen aus dem Marktver-
kehr und Konſumſteuern 1) in den Städten vor. Die ein-
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 5
[66] zige direkte Steuer iſt noch immer die Vermögensſteuer,
hie und da mit Elementen der Einkommensbeſteuerung ver-
miſcht. Sie wird zwar häufiger als in der vorigen Pe-
riode, immer aber noch nicht regelmäßig erhoben.
Die wirtſchaftliche Herrſchaft der Städte über das um-
liegende Land hat ſich in Deutſchland nur an einzelnen
Stellen zu einer politiſchen Herrſchaft emporgeſchwungen.
In Italien hat die gleiche Entwicklung zur Ausbildung
einer ſtädtiſchen Tyrannis geführt; in Frankreich ſind die
Anfänge zur Autonomie freier ſtädtiſcher Kommunen von
den Königen mit Hilfe des Feudaladels früh niedergetreten
worden. Das kam daher, daß in Deutſchland wie in
Frankreich alles, was außerhalb den ſtädtiſchen Mauern
lag, von lehnsrechtlichen Bildungen überdeckt war. Die
großen Grundherrſchaften hatten allerdings die Selbſtbe-
wirtſchaftung ihrer Fronhöfe längſt aufgegeben; ihr Grund-
beſitz war für den Herrn, ähnlich wie der ſtädtiſche Grund-
und Häuſerbeſitz für die Geſchlechter, zur bloßen Renten-
quelle geworden. Aber ihre anfängliche wirtſchaftliche
Macht war zu einer politiſchen Macht, aus den Grund-
herren waren Landesfürſten geworden, und im Laufe dieſes
Umwandlungsprozeſſes war eine vielverzweigte neue Klaſſe
kleiner adlicher Grundherren entſtanden, deren Intereſſe an
das der Fürſten geknüpft und ein rein agrariſches war.
Daher in Deutſchland jener ſcharfe Kampf zwiſchen Bürger-
tum und Adel, der die letzten Jahrhunderte des Mittel-
[67] alters erfüllt und in dem die Städte zwar für ſich ihre
zum größten Teil durch Kauf und uneingelöſte Pfandſchaft
von den Stadtherren erworbene politiſche Autonomie be-
haupten, in dem es ihnen aber nicht gelingt, den Bauern-
ſtand den Feudalgewalten zu entreißen.
Man kann darum ſagen, daß die ſtadtwirtſchaftliche
Entwickelung in Deutſchland und Frankreich unvollendet
blieb, daß ihr nicht gelang, was die kräftigſten Bildungen
aus der Periode der geſchloſſenen Hauswirtſchaft thatſäch-
lich erreicht hatten: das wirtſchaftliche Machtgebiet zum
ſtaatlichen Daſein zu erheben. Und es war vielleicht ein
Glück für uns. In Italien hat das ſtädtiſche Kapital weit-
hin den Bauer expropriiert, um ihn als elenden Halbpächter
bis auf den heutigen Tag auszuſaugen; in Deutſchland hat
ihn zwar der Adel zum Leibeigenen herunterzudrücken ver-
mocht; aber der hier zuerſt im Landesfürſtentum ſich durch-
ſetzende Staatsgedanke hat zu verhüten verſtanden, daß er
zum Proletarier geworden iſt.
Die Ausbildung der Volkswirtſchaft iſt im weſent-
lichen eine Frucht der politiſchen Zentraliſation, welche an
der Wende des Mittelalters mit der Entſtehung territorialer
Staatsgebilde beginnt und in der Gegenwart mit der Schöpfung
des nationalen Einheitsſtaates ihren Abſchluß findet. Die
wirtſchaftliche Zuſammenfaſſung der Kräfte geht Hand in
Hand mit der Beugung der politiſchen Sonderintereſſen
unter die höheren Zwecke der Geſamtheit.
In Deutſchland ſind es die größeren Territorialfürſten,
5 *
[68] welche die moderne Staatsidee im Kampfe mit dem Land-
adel und den Städten zum Ausdruck zu bringen ſuchen —
freilich vielfach unter großen Schwierigkeiten, namentlich wo
die Territorien arg zerſplittert waren. Schon ſeit der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts bemerken wir hier
mancherlei Anzeichen eines engeren wirtſchaftlichen Zu-
ſammenſchluſſes: die Schaffung einer Landesmünze an Stelle
der vielen ſtädtiſchen, den Erlaß von Landesordnungen über
Handel, Märkte, Gewerbebetrieb, Forſtweſen, Bergwerke,
Jagd und Fiſcherei, die allmähliche Ausbildung des fürſt-
lichen Privilegien- und Konzeſſionsweſens, den Erlaß von
Landrechten, welche größere Rechtseinheit herbeiführten, die
Entſtehung eines geordneten Staatshaushaltes.
Während aber in Deutſchland noch Jahrhunderte lang
die landſchaftlichen Intereſſen vorwiegen und an dieſen die
Anſtrengungen, welche die Reichsgewalt in der Richtung
einer nationalen Wirtſchaftspolitik machte, kläglich ſcheiterten,
ſehen wir die weſteuropäiſchen Staaten: Spanien, Por-
tugal, England, Frankreich, die Niederlande ſeit dem
XVI. Jahrhundert auch ſchon äußerlich als einheitliche
Wirtſchaftsgebiete dadurch hervortreten, daß ſie eine kraft-
volle Kolonialpolitik entfalten, um die reichen Hilfsquellen
der neuerſchloſſenen überſeeiſchen Gebiete ſich zu Nutze zu
machen.
In allen dieſen Ländern tritt, wenn auch in ver-
ſchiedener Stärke, der Kampf mit den Sondergewalten des
Mittelalters hervor: dem großen Adel, den Städten, Pro-
[69] vinzen, geiſtlichen und weltlichen Korporationen. Zunächſt
handelt es ſich ja gewiß um Vernichtung der ſelbſtändigen
Kreiſe, welche ſich der politiſchen Zuſammenfaſſung hemmend
in den Weg ſtellten. Aber im tiefſten Grunde der Be-
wegung, welche zur Ausbildung des fürſtlichen Abſolutis-
mus führte, ſchlummert doch der weltgeſchichtliche Gedanke,
daß die neuen größeren Kulturaufgaben der Menſchheit eine
einheitliche Organiſation ganzer Völker, eine große lebendige
Intereſſengemeinſchaft erforderten, und dieſe konnte erſt auf
dem Boden gemeinſamer Wirtſchaft erwachſen. Jeder Teil
des Landes, jede Gruppe der Bevölkerung mußte für den
Dienſt des Ganzen diejenigen Aufgaben übernehmen, welche
ſie ihrer Naturanlage nach am beſten zu erfüllen im Stande
waren. Es bedurfte einer durchgreifenden Teilung der Funk-
tionen, einer die ganze Bevölkerung umfaſſenden Berufs-
gliederung, und dieſe letztere ſetzte wieder ein reich ent-
wickeltes Verkehrsweſen und einen lebendigen Güteraustauſch
unter der Bevölkerung voraus. Ging im Altertum alles
wirtſchaftliche Streben auf in dem einen Ziele der auto-
nomen Bedürfnisbefriedigung des Hauſes, im ſpäteren
Mittelalter in der Verſorgung der Stadt, ſo bildet ſich
jetzt ein überaus kompliziertes und kunſtvolles Syſtem natio-
naler Bedürfnisbefriedigung.
Die Durchführung dieſes Syſtems iſt vom XVI. bis
XVIII. Jahrhundert das Ziel der Wirtſchaftspolitik aller
vorgeſchrittenen europäiſchen Staaten. Die Maßregeln,
welche zur Erreichung des Zieles angewendet wurden, ſind
[70] faſt in allen Einzelheiten der ſtädtiſchen Wirtſchaftspolitik
des Mittelalters nachgebildet1). Sie werden gewöhnlich
unter dem Namen des Merkantilſyſtems zuſammengefaßt.
Man hat das letztere lange als ein theoretiſches Lehrgebäude
angeſehen, das in dem Grundſatze gipfle, daß der Reich-
tum eines Landes in der Summe des baren Geldes be-
ſtehe, die ſich innerhalb ſeiner Grenzen befinde. Heute iſt
dieſe Auffaſſung wohl allgemein aufgegeben. Der Mer-
kantilismus iſt kein totes Dogma, ſondern die lebendige
Praxis aller bedeutenden Staatsmänner von Karl V. bis
auf Friedrich den Großen. Seine typiſche Ausprägung
hat er in der ökonomiſchen Politik Colberts gefunden.
Die Aufhebung oder Ermäßigung der Binnenzölle und
Wegegelder, die Einführung eines einheitlichen Grenzzoll-
ſyſtems, die Sicherung der Verſorgung des Landes mit
notwendigen Rohſtoffen und Nahrungsmitteln durch Aus-
fuhr-Erſchwerungen und durch Einführung des Forſtregals,
die Beförderung der großen Induſtrie durch Anpflanzung
neuer Gewerbezweige, durch Staatsunterſtützung und tech-
niſche Reglementierung derſelben, durch zollpolizeiliche Fern-
haltung fremder Konkurrenz, die Anlegung von Kunſtſtraßen,
Kanälen, Seehäfen, die Beſtrebungen zur Vereinheitlichung
des Maß- und Gewichtsweſens, die Regelung des Handels-
rechtes und des kommerziellen Nachrichtendienſtes, die Pflege
[71] der Technik, der Kunſt und Wiſſenſchaft in eigenen Staats-
anſtalten, die Ordnung des Staats- und Kommunalhaus-
haltes, die Beſeitigung der Ungleichheiten in der Steuer-
belaſtung — alles dies diente dem einen Zwecke eine nach
außen abgeſchloſſene Staatswirtſchaft zu ſchaffen,
welche alle Bedürfniſſe der Staatsangehörigen durch die
nationale Arbeit zu befriedigen im Stande ſei und durch
einen lebhaften Verkehr im Innern alle natürlichen Hilfs-
mittel des Landes und alle individuellen Kräfte des Volkes
in den Dienſt des Ganzen ſtelle. Man hat über der dem
„Colbertismus“ eigenen Begünſtigung des auswärtigen
Handels, der Marine, des Kolonialweſens nur zu oft über-
ſehen, daß dieſe Maßnahmen auch die inneren Hilfskräfte
des Landes verſtärkten und daß die Handelsbilanztheorie
in einer Zeit zur Notwendigkeit wurde, wo der Uebergang
von der noch immer vorwiegenden Eigenproduktion zur all-
gemeinen Tauſchwirtſchaft die Vermehrung der baren Um-
laufsmittel zur unerläßlichen Vorausſetzung hatte.
Freilich darf man neben den vom Staate ergriffenen
Maßregeln auch die ſozialen Kräfte nicht außer Acht laſſen,
welche in gleicher Richtung wirkten. Dieſelben nahmen
naturgemäß ihren Ausgangspunkt von den Städten. Hier
hatte ſich durch langſame Umbildung aus dem Rentkauf
das verzinsliche Darlehen entwickelt, und damit war im
Laufe des XVI. Jahrhunderts ein eigentliches Kreditweſen
entſtanden. Wir dürfen darin den Einfluß des Groß-
handels erblicken, der ſchon längſt das Geheimnis entdeckt
[72] hatte, mit Geld Geld zu erwerben. Das Vermögen der
reichen Städter erlangte durch das Freiwerden der Renten-
fonds eine bedeutend größere Beweglichkeit und Akkumula-
tionskraft; zu dem bis dahin allein vorhandenen Handels-
kapital trat das Leihkapital; beide ergänzten und ver-
ſtärkten einander in ihrer weiteren Entfaltung.
Die nächſte Folge war ein bedeutender Aufſchwung
des Handels. Einzelne Städte beginnen aus der gleich-
artigen Maſſe der mittelalterlichen Markt- und Handwer-
kerſtädte ſich als Mittelpunkte der Staatsverwaltung oder
als Handelsplätze zu erheben. In Deutſchland, das durch
den Zerfall der Hanſa und die Veränderung der Welt-
verkehrsſtraßen ſeine Bedeutung für den Zwiſchenhandel
nach dem Norden großenteils eingebüßt hatte, zeigt ſich der
Umſchwung wenigſtens in der ſteigenden Bedeutung der
großen Meſſen und in dem Zurückſinken der lokalen Märkte.
Die Frankfurter Meſſe erreicht ihren Höhepunkt im XVI.
Jahrhundert, die Leipziger noch bedeutend ſpäter. Aber
das Handelskapital begnügt ſich bald nicht mehr mit dem
Import und Umſchlag fremder Produkte; es wird zum
Verlagskapital für die einheimiſche Induſtrie und für die
Ueberſchüſſe des bäuerlichen Hausfleißes. Es entſteht die
arbeitsteilige Maſſenproduktion in Manufakturen und Fa-
briken und mit ihnen der Lohnarbeiterſtand. Es entwickelt
ſich an Stelle der mittelalterlichen Wechſelbank die mo-
derne Kreditbank. Das Transportweſen, welches früher
nur einen integrierenden Teil des Handelsbetriebs gebildet
[73] hatte, verſelbſtändigt ſich. Es entſtehen die Staatspoſten,
die Zeitungen, die nationale Handelsflotte; es bildet ſich
das Verſicherungsweſen aus. Ueberall neue Organiſationen,
welche darauf berechnet ſind, die wirtſchaftlichen Bedürfniſſe
Vieler zu befriedigen: eine nationale Induſtrie, ein nationaler
Markt, nationale Verkehrsanſtalten; überall das kapita-
liſtiſche Unternehmerprinzip des Handels.
Es iſt bekannt, wie der abſolutiſtiſche Staat dieſe Be-
wegung förderte, wie er oft genug, um die Entwickelung
zu beſchleunigen, künſtlich ins Daſein rief, was nicht aus
eigener Kraft emporkommen wollte. Trotzdem beſtand bis
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die alte ſtadtwirt-
ſchaftliche Organiſation mit ihren Zunft- und Bannrechten,
mit der ſcharfen Trennung von Stadt und Land fort,
wenn auch vielfach durch die Landesgeſetzgebung beſchränkt
— unbekümmert um das neue volkswirtſchaftliche Leben,
das ringsum aufſproßte und um die Fülle neuer Verkehrs-
erſcheinungen, die es gezeitigt hatte. Als die Phyſiokraten
und Adam Smith die letzteren zuerſt der wiſſenſchaft-
lichen Beobachtung unterwarfen, haben ſie merkwürdiger
Weiſe vollſtändig überſehen, daß es ſich nicht um ein
ſpontan gewordenes Ergebnis rein geſellſchaftlicher Be-
thätigung, ſondern mit um eine Frucht erzieheriſcher Staats-
thätigkeit handelte. Die Schranken, deren Beſeitigung ſie
verlangten, waren entweder die verſteinerten Ueberreſte der
älteren Wirtſchaftsepochen, wie die Grundlaſten, die Zünfte,
die lokalen Zwangsrechte, die Beſchränkungen der Frei-
[74] zügigkeit, oder es waren die Erziehungsmittel des Merkanti-
lismus, wie die Monopole und Privilegien, welche weg-
fallen konnten, nachdem ſie ihren Zweck erfüllt hatten.
In Beziehung auf die Entwickelung der Volkswirt-
ſchaft hat der Liberalismus der letzten hundert Jahre nur
fortgeführt was der Abſolutismus begonnen hatte. Wenn
man das ſo ausſpricht, ſo kann es leicht paradox erſcheinen.
Denn äußerlich betrachtet hat der Liberalismus nur zerſtört;
er hat die überlebten Organiſationsformen der Haus- und
Stadtwirtſchaft zerſchlagen und nichts Neues aufgebaut.
Er hat die Sonderſtellung und die Sonderrechte einzelner
Landesteile und einzelner ſozialer Gruppen beſeitigt, freie
Konkurrenz und Rechtsgleichheit an die Stelle geſetzt. Aber
wenn er ſo das Ueberkommene in ſeine Elemente aufgelöſt
hat, ſo hat er zugleich die Bahn für wirklich volks wirt-
ſchaftliche Neugeſtaltungen freigemacht, und er hat es er-
möglicht, daß gemäß dem jeweiligen Entwickelungsſtande
der Technik jede Kraft an der Stelle in den Dienſt des
Ganzen treten kann, wo ſie dieſem am meiſten nützt.
Hat der Liberalismus die ganze Fortentwicklung der
Volkswirtſchaft auf den Boden der freien geſellſchaftlichen
Bethätigung geſtellt und darum vielfach eine geradezu ſtaats-
feindliche Richtung eingehalten, ſo hat er doch nicht zu
verhindern vermocht, daß der moderne Staat als ſolcher
ſich in der Richtung weiter ausgebildet hat, welche er ſeit
dem XVI. Jahrhundert eingeſchlagen hatte: in der Richtung
eines immer engeren Zuſammenſchluſſes aller Teile des
[75] Volkes und des Staatsterritoriums zur Erfüllung immer
größerer Kulturaufgaben. Alle großen Staatsmänner haben
ſeit drei Jahrhunderten an dieſem Ziele mitgearbeitet: von
Cromwell und Colbert bis auf Cavour und Bismarck.
Die franzöſiſche Revolution hat nicht minder zentraliſierend
gewirkt wie die Staatsumwälzungen der letzten Jahrzehnte.
In der neueſten Phaſe dieſer Entwickelung iſt das Na-
tionalitätsprinzip zu einem Grundſatze von ge-
waltiger zuſammenfaſſender Kraft geworden. Die kleinen
Territorialſtaaten der älteren Zeit waren den großen wirt-
ſchaftlichen Aufgaben der Gegenwart nicht mehr gewachſen.
Sie mußten entweder untergehen in einem großen National-
ſtaat, wie in Italien, oder zu Gunſten eines Bundesſtaates
namhafte Teile ihrer Selbſtändigkeit, insbeſondere die Wirt-
ſchaftsgeſetzgebung, aufgeben, wie im Deutſchen Reiche die
Einzelſtaaten, in der Schweiz die Kantone.
Es iſt ein Irrtum, wenn man aus der im libera-
liſtiſchen Zeitalter erfolgten Erleichterung des internatio-
nalen Verkehrs ſchließen zu dürfen meint, die Periode der
Volkswirtſchaft gehe zur Neige und mache der Periode der
Weltwirtſchaft Platz. Gerade die neueſte politiſche Ent-
wickelung der europäiſchen Staaten hat ein Zurückgreifen
auf die Ideen des Merkantilismus und teilweiſe der alten
Stadtwirtſchaft zur Folge gehabt. Das Wiederaufleben
der Schutzzölle, das Feſthalten an der nationalen Währung
und der nationalen Arbeitsgeſetzgebung, die ſchon vollzogene
oder noch erſtrebte Verſtaatlichung der Verkehrsanſtalten,
[76] der Arbeiterverſicherung, des Bankweſens, die wachſende
Staatsthätigkeit auf ökonomiſchem Gebiete überhaupt: alles
dies deutet darauf hin, daß wir nach der abſolutiſtiſchen
und liberaliſtiſchen in eine dritte Periode der Volkswirt-
ſchaft eingetreten ſind. Dieſelbe trägt ein eigenartig ſoziales
Geſicht; es handelt ſich nicht mehr bloß um möglichſt
ſelbſtändige und reichliche Deckung der nationalen Bedürf-
niſſe durch nationale Produktion, ſondern um gerechte Güter-
verteilung, um eigene gemeinwirtſchaftliche Bethätigung des
Staates, mit dem Ziele, alle ſeine Angehörigen nach ihren
wirtſchaftlichen Leiſtungen an den Gütern der Kultur zu
beteiligen. Die erforderlichen Maßregeln können nur auf
großer Stufenleiter ausgeführt werden; ſie bedürfen eines
innigen Zuſammenſchluſſes aller Einzelkräfte, wie ſie nur der
große Nationalſtaat zu bieten vermag.
Damit könnte ich ſchließen. Denn um die Fülle neuer
Erſcheinungen, welche die Volkswirtſchaft gegenüber der
geſchloſſenen Haus- und Stadtwirtſchaft bietet, Ihren Augen
vorzuführen, müßte ich faſt den Inhalt eines Lehrbuchs der
Nationalökonomie wiedergeben. Aber es wird doch zum
beſſeren Verſtändnis des Ganzen beitragen, wenn ich in
vergleichender Weiſe an einigen Haupterſcheinungen noch-
mals die durchgehenden Züge der geſamten dreiſtufigen
Entwickelung zuſammenfaſſend vorführe.
Der hervorſtechendſte dieſer Züge iſt, daß im Laufe
der Geſchichte die Menſchheit ſich immer höhere wirtſchaft-
liche Ziele ſteckt und die Mittel dazu in einer fortſchreitend
[77] weiter greifenden Verteilung der Arbeitslaſt findet, die
ſchließlich das ganze Volk ergreift und ein Eintreten Aller
für Alle hervorruft. Findet bei der Hauswirtſchaft dieſes
Zuſammenwirken ſeine Grundlage in der Blutsver-
wandtſchaft, ſo hat es dieſelbe bei der Stadtwirtſchaft in
der Nachbarſchaft, bei der [Volkswirtſchaft] in der Natio-
nalität. Es iſt der Weg von der Gemeinſchaft zur Ge-
ſellſchaft, den die Menſchheit durchmißt und der, ſoweit
wir ſehen können, mit einer ſtets enger werdenden Ver-
geſellſchaftung endet. Auf dieſem Wege geſtaltet ſich die
Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen immer reicher und
mannigfaltiger, aber auch immer unſelbſtändiger und kom-
plizierter. Das Daſein und die Arbeit jedes Einzelnen
verflicht ſich mehr und mehr mit dem Daſein und der Ar-
beit vieler Anderen.
Auf der Stufe der Hauswirtſchaft wird jedes Gut
in der Wirtſchaft verbraucht wo es entſtanden iſt, auf der
Stufe der Stadtwirtſchaft geht es unmittelbar aus der
produzierenden in die konſumierende Wirtſchaft über; auf
der Stufe der Volkswirtſchaft durchläuft es ſowohl bei
ſeiner Entſtehung als auch nach ſeiner Vollendung ver-
ſchiedene Wirtſchaften: es zirkuliert. Im Verlaufe der
ganzen Entwickelung vergrößert ſich die Spannweite zwiſchen
Produktion und Konſumtion. Auf der erſten Stufe ſind alle
Produkte Gebrauchsgüter, auf der zweiten wird ſchon ein Teil
zu Tauſchgütern auf der dritten werden die meiſten Waren.
Die Einzelwirtſchaft iſt auf der erſten Stufe Pro-
[78] duktions- und Konſumtionsgemeinſchaft zugleich; auf
der Stufe der Stadtwirtſchaft iſt inſofern daran feſtgehalten,
als der Handwerksgeſelle und Bauernknecht am Haushalt
ihres Arbeitgebers Teil nehmen; in der Volkswirtſchaft
fallen Produktionsgemeinſchaft und Konſumtionsgemeinſchaft
auseinander. Die erſtere iſt Unternehmung, und in der
Regel lebt von ihrem Ertrag eine Mehrzahl von ge-
ſonderten Haushaltungen.
Wo fremde Arbeit nötig iſt, ſteht ſie auf der erſten
Stufe zum Produzenten in dauerndem Zwangsverhältnis
(Sklaven, Hörige), auf der zweiten im Dienſt-, auf der
dritten im Vertragsverhältnis. Der Konſument iſt in der
geſchloſſenen Hauswirtſchaft entweder ſelbſt Arbeiter, oder
der Arbeiter iſt ſein Eigentum; in der Stadtwirtſchaft kauft
er vom Arbeiter direkt die Arbeitsleiſtung (Lohnwerk) oder
das Arbeitsprodukt (Handwerk), in der Volkswirtſchaft ſteht er
zum Arbeiter in keiner Beziehung mehr; er kauft die Ware vom
Unternehmer oder Händler, und dieſer lohnt den Arbeiter.
Geld iſt in der geſchloſſenen Hauswirtſchaft entweder
noch gar nicht vorhanden, oder es iſt unmittelbares Ge-
brauchsgut und Mittel der Schatzbildung. In der Stadt-
wirtſchaft iſt es weſentlich Tauſchmittel; in der Volkswirt-
ſchaft wird es daneben zum Umlaufs- und Erwerbsmittel.
Die Kategorien Naturalwirtſchaft, Geldwirtſchaft, Kredit-
wirtſchaft kennzeichnen paſſend dieſe wechſelnde Rolle des
Geldes, wenn ſie dieſelbe auch nicht erſchöpfen.
Kapital gibt es auf der erſten Stufe faſt nicht, ſondern
[79] nur Gebrauchsgüter. Auf der zweiten Stufe laſſen ſich
wohl die Werkzeuge unter die übliche Kategorie des Pro-
duktionskapitals bringen, keineswegs jedoch allgemein auch
die Rohſtoffe. Eigentliches Erwerbskapital iſt da nur
das Handelskapital. Auf der dritten Stufe bildet das Er-
werbskapital das Mittel, durch welches die Güter von einer
Etappe der Arbeitsteilung zur andern emporgehoben und
durch den ganzen Zirkulationsprozeß hindurchgetrieben
werden. 1) Alles wird hier Kapital. Man könnte mit Bezug
darauf die geſchloſſene Hauswirtſchaft als kapitalloſe, die
Stadtwirtſchaft als kapitalfeindliche und die moderne Volks-
wirtſchaft als kapitaliſtiſche Wirtſchaft bezeichnen.
Einkommen und Vermögen bilden in der ge-
ſchloſſenen Hauswirtſchaft eine ungetrennte und untrennbare
Maſſe; doch zeigen ſich bereits Anfänge der Grundrente.
In der Stadtwirtſchaft nimmt auch der Zins meiſt die
Form der Grundrente an; ein Unternehmergewinn ergibt
ſich faſt nur im Handel; Hauptform des Arbeitslohns iſt
der vom Konſumenten gezahlte Handwerkerlohn. Aber noch
immer tritt der größte Teil der Güter nicht aus der Wirt-
ſchaft, die ſie erzeugt, in fremde Wirtſchaften über. Reines
Einkommen kann nur der erlangen, der im Rentenkauf
Vermögen definitiv aufgibt. Auf der Stufe der Volks-
wirtſchaft treten die vier Einkommenszweige deutlich aus-
einander. Faſt der ganze Produktionsertrag wird im Ver-
kehr liquidiert. Im Vermögen ſcheiden ſich die Renten-
[80] und Erwerbsfonds von den Gebrauchsvorräten und die
letzteren werden auf das denkbar knappſte Maß beſchränkt,
da der Handel den Privatwirtſchaften das Halten von Vor-
räten abnimmt. Auf der andern Seite werden die unver-
brauchten Einkommensüberſchüſſe, welche auf der erſten
und zweiten Stufe notwendig dem Gebrauchsvermögen ver-
bleiben, jetzt entweder direkt dem Geſchäftskapital zuge-
ſchlagen oder durch Sparkaſſen und Banken in zinsbare
Darlehen verwandelt, alſo auf alle Fälle kapitaliſiert.
Die Arbeitsteilung iſt auf der Stufe der Haus-
wirtſchaft eine häusliche, auf der Stufe der Stadtwirtſchaft
iſt ſie entweder ſtädtiſche Berufsbildung und Berufsteilung
oder Produktionsteilung zwiſchen Stadt und Land; auf der
Stufe der Volkswirtſchaft nehmen fortgeſetzte Produktions-
teilung, Arbeitszerlegung in der einzelnen Unternehmung
und Arbeitsverſchiebung von Unternehmung zu Unterneh-
mung den Vorrang ein 1).
Ein Gewerbe als ſelbſtändige Berufsart gibt es auf
der erſten Stufe nicht; die ganze Stoffumwandlung iſt
bloßer Hausfleiß. In der Stadtwirtſchaft finden wir wohl
gewerbliche Berufsarbeiter, aber keine Unternehmer: das
Gewerbe iſt Lohnwerk oder Handwerk; wer es ausüben
will, muß es verſtehen. In der Volkswirtſchaft herrſcht
die Fabrik- und Verlagsinduſtrie vor, welche einen kauf-
männiſch gebildeten Unternehmer und großes Kapital vor-
[73 *[73*]] ausſetzt. Techniſche Beherrſchung des Produktionsprozeſſes
iſt für den Unternehmer nicht unerläßlich 1).
In ähnlicher Weiſe ändern ſich die Betriebsformen
des Handels. Der geſchloſſenen Hauswirtſchaft entſpricht
der Wanderhandel, der Stadtwirtſchaft der Markthandel,
der Volkswirtſchaft der ſtehende Handel. Iſt der Handel
auf den beiden erſten Entwicklungsſtufen bloßer Lücken-
büßer einer ſonſt autonomen Produktion, ſo wird er in
der Volkswirtſchaft zum notwendigen Mittelgliede zwiſchen
Produktion und Konſumtion. Er trennt ſich vom Trans-
port, und der letztere erlangt eine ſelbſtändige Bedeutung
und Organiſation.
Freilich an Verkehrsdienſten fehlt es auch in der
antiken Sklaven- und der mitteralterlichen Fronhofswirtſchaft
nicht; ſie waren beſonderen Sklaven oder Hörigen über-
tragen. Im Mittelalter finden wir Stadtboten, die zu-
nächſt bloß im Dienſte des Rates ſtanden, dann aber auch die
Briefbeförderung für Private übernahmen. An der Schwelle
der Neuzeit ſteht die Poſt, anfangs bloß für die Zwecke des
Staates, ſpäter auch für das Publikum. In dieſem Jahr-
hundert folgen die Eiſenbahnen, Telegraphen, Fernſprecher,
Dampferlinien, bei denen der Staat im Intereſſe der Wirt-
ſchaftlichkeit eingreift und daneben die mannichfachſten privaten
Verkehrsunternehmungen. 2) Auf allen Stufen aber ſind
5 †
[74 *[74*]] gewiſſe Verkehrsdienſte durch die oberſte Wirtſchaftsleitung,
und zwar zunächſt immer nur für den eigenen Bedarf, or-
ganiſiert worden.
Der Kredit iſt auf der erſten Stufe reiner Konſumtiv-
kredit; er wird nur erlangt durch Verpfändung der Perſon
und ihres ganzen Eigentums. Auf der zweiten Stufe
ſchwächt ſich im Perſonalkredit die Schuldknechtſchaft zum
Einlager ab. Neben dem Konſumtivkredit tritt eine Art
von Immobiliarerwerbskredit auf, der ſich aber in die Form
des Kaufes kleidet, welche überhaupt als die reguläre Kredit-
form der Stadtwirtſchaft zu gelten hat. Die ſpezifiſche
Kreditform der Neuzeit, der Geſchäfts- oder Produktivkredit
entwickelt ſich zuerſt im Handel und dehnt ſich von da auf alle
Wirtſchaftsgebiete aus. Der Staatskredit tritt in den antiken
Staaten naturgemäß als Zwangsanleihe auf, in den mittel-
alterlichen Städten als Leibrentenverkauf und Wiederkaufs-
gülte, in den modernen Staaten als Plazierung ewiger
Renten oder einlösbarer verzinslicher Schuldverſchreibungen.
Auch auf dem Gebiete der öffentlichen Leiſtungen
laſſen ſich ähnliche Stufenfolgen aufweiſen. Der Rechts-
ſchutz iſt zuerſt Sache der Sippe, ſpäter des Grundherrn;
im Mittelalter bilden die Städte eximierte Gerichtsbezirke,
in der Gegenwart ſind Rechtspflege und Sicherheitspolizei
ſtaatliche Funktionen. Aehnlich das Unterrichtsweſen.
Auf der erſten Stufe liegt es dem Hauſe ob, wie noch
heute in Island. Der römiſche paedagogus iſt ein Sklave.
Im Mittelalter organiſieren zuerſt autonome Hausge-
[75 *[75*]] noſſenſchaften, die Klöſter, das Bildungsweſen; ſpäter
kommen die Stadt- und Domſchulen auf; der Neuzeit eigen-
tümlich iſt die Konzentration und Spezifikation des Unter-
richtsweſens in ſtaatlichen Anſtalten. Noch deutlicher tritt
dieſe Entwicklung an den Verteidigungseinrichtungen
hervor. Bei vielen Völkern, die noch jetzt auf der Stufe
der iſolierten Wirtſchaft ſtehen, iſt jedes einzelne Haus be-
feſtigt (Pfahlbauten der Malayen, der Polyneſier), im
frühern Mittelalter iſt der Fronhof mit Wall und Graben
geſchützt. Auf der zweiten Wirtſchaftsſtufe iſt jede Stadt
eine Feſtung. Auf der dritten ſichern wenige Grenz-
feſtungen den ganzen Staat, und es iſt bezeichnend ge-
nug, daß Louvois, der Schöpfer des erſten Grenzbefeſti-
gungsſyſtems, ein Zeitgenoſſe Colberts war, des Begründers
der neueren franzöſiſchen Volkswirtſchaft.
Dieſe Parallelen ließen ſich noch lange fortſetzen. Wie
in einer neubezogenen Wohnung es ſich zunächſt darum
handeln wird, eine vorläufige Ordnung herzuſtellen, ſo wird
auch bei dem Gegenſtande dieſes Vortrags kein Billigdenkender
erwarten, daß alles erſchöpft und jede Einzelheit an ihren
gehörigen Platz geſtellt ſei. Ich fühle ſelbſt am beſten, wie
ungenügend durchgearbeitet noch die Erſcheinungskreiſe der
beiden älteren Entwicklungsſtufen ſind und wie ſehr ihr
ökonomiſcher Begriffsinhalt noch der genaueren Feſtſtellung
bedarf. Aber es mag für diesmal genügen, wenn die Ge-
ſetzmäßigkeit der Entwickelung im Ganzen und Einzelnen
klar zu Tage getreten iſt.
[76 *[76*]]
Nur eins möchte ich noch beſonders betonen. Haus-
wirtſchaft—Stadtwirtſchaft—Volkswirtſchaft bezeichnen nicht
einen Stufengang, deſſen Glieder einander völlig ausſchließen.
Es hat immer eine Art des Wirtſchaftens vorgeherrſcht;
ſie war in den Augen der Zeitgenoſſen das Normale. Auch
in die Gegenwart ragen noch manche Elemente der Stadt-
wirtſchaft und ſelbſt der geſchloſſenen Hauswirtſchaft herein.
Noch heute tritt ein ſehr beträchtlicher Teil der nationalen
Güterproduktion nicht in die volkswirtſchaftliche Zirkulation
ein, ſondern wird in denjenigen Sonderwirtſchaften ver-
braucht, welche ihn erzeugt haben; ein anderer hat ſeinen
Lauf vollendet, wenn er aus einer Wirtſchaft in die andere
übergegangen iſt.
Es ſcheint darnach faſt, als ob diejenigen Unrecht
hätten, welche die Aufgabe der Volkswirtſchaftslehre darin
erblicken, das Weſen und den Zuſammenhang der Verkehrs-
vorgänge klarzulegen, und als ob diejenigen im Rechte wären,
welche ſich mit der Beſchreibung der Wirtſchaftsformen und
ihrer hiſtoriſchen Umbildungen begnügen.
Und doch wäre das ein verhängnisvoller Irrtum,
welcher gleichbedeutend wäre mit der Preisgabe der wiſſen-
ſchaftlichen Arbeit von mehr als einem Jahrhundert, gleich-
bedeutend auch mit einer völligen Verkennung unſerer wirt-
ſchaftlichen Gegenwart. Es wird heute auch in dem ent-
legenſten Bauernhofe kein Sack Waizen mehr produziert
ohne Zuſammenhang mit dem Ganzen des volkswirtſchaft-
lichen Verkehrs. Wird er auch im Hauſe des Produzenten
[77 *[77*]] konſumiert, ſo iſt doch ein guter Teil der Produktionsmittel
(der Pflug, die Senſe, die Dreſchmaſchine, der künſtliche
Dünger, das Zugtier ꝛc.) verkehrsmäßig erworben, und die
Selbſtkonſumtion findet nur ſtatt, wenn ſie nach den Markt-
verhältniſſen wirtſchaftlich erſcheint. Auch der Sack Waizen
iſt mit einem feſten Faden an das große kunſtvolle Gewebe
des volkswirtſchaftlichen Verkehrs angeknüpft. Und ſo ſind
wir es alle mit unſerem wirtſchaftlichen Thun und Denken.
Es iſt darum mit großer Genugthuung zu begrüßen,
wenn nach einer Periode emſiger Stoffſammlung in neueſter
Zeit die Probleme der modernen Verkehrswirtſchaft mit
Eifer wieder aufgenommen worden ſind und wenn die Be-
richtigung und der weitere Ausbau des alten Syſtems auf
demſelben Wege verſucht wird, auf dem dieſes entſtanden
iſt, nur mit Benutzung eines viel reicheren Thatſachenmate-
rials. Denn es gibt in der That keine andere Forſchungs-
methode, mit welcher man der komplizierten Verurſachung
der Verkehrsvorgänge nahe kommen kann, als die iſolierende
Abſtraktion und die logiſche Deduktion. Das einzige in-
duktive Verfahren, welches daneben in Frage kommen kann,
das ſtatiſtiſche, iſt für die meiſten hierher gehörigen Pro-
bleme nicht fein und eindringend genug und kann nur als
ergänzendes oder kontrollierendes Hilfsmittel herangezogen
werden.
Auch für die Wirtſchaftsperioden der Vergangenheit
wird die Aufgabe keine andere ſein. Zunächſt wird es ſich
hier freilich noch in erhöhtem Maße darum handeln, die
[78 *[78*]] Thatſachen zu ſammeln und morphologiſch darzuſtellen; dann
aber werden die Erſcheinungen in ihrem Weſen richtig be-
grifflich feſtgeſtellt, logiſch analyſiert und auf ihren Kauſal-
zuſammenhang unterſucht werden müſſen. Man wird alſo
mit der gleichen Methode vorzudringen haben, welche die
„klaſſiſche Nationalökonomie“ auf die Wirtſchaft der Gegen-
wart angewendet hat. Für einige Seiten der antiken Oiken-
wirtſchaft iſt dies in meiſterhafter Weiſe ſchon durch
Rodbertus geſchehen; für die Wirtſchaft des Mittelalters
war Aehnliches bis jetzt kaum verſucht. Gelingen kann das
Unternehmen nur, wenn ſich Forſcher finden, welche ſich
ganz in die thatſächlichen Vorausſetzungen vergangener Wirt-
ſchaftsepochen und in das ökonomiſche Denken der Vor-
fahren zu verſenken vermögen; niemals aber, wenn die
halb erkannten, halb rationaliſtiſch rekonſtruierten Wirtſchafts-
zuſtände der Vergangenheit ſich fortgeſetzt in den Kategorien
der modernen Verkehrslehre beſpiegeln.
Nur auf dieſem Wege ſcheint mir die wirtſchafts-
geſchichtliche Forſchung für die Theorie der heutigen Volks-
wirtſchaft und dieſe für die Wirtſchaftsgeſchichte fruchtbar
werden zu können; nur ſo dürfte die Geſetzmäßigkeit der
wirtſchaftlichen Entwicklung und des volkswirtſchaftlichen
Geſchehens zugleich der Erkenntnis näher gebracht werden.
[]
II.
Die
gewerblichen Betriebslyſteme
in ihrer
geſchichtſichen Entwickſung.
Vortrag,
gehalten auf Veranlaſſung der Gehe-Stiftung in Dresden
den 4. Januar 1892.
[][[81]]
Die meiſten Menſchen haben in volkswirtſchaftlichen
und ſozialen Dingen eine ſehr beſtimmte Meinung über
das, was ſein ſoll, viel beſtimmter oft als über das,
was iſt. Was nach ihrem Bedünken ſein ſollte, braucht
durchaus nicht ein Idealzuſtand, ein nie Wirklichkeit ge-
weſenes Phantaſiegebilde zu ſein. Sehr oft iſt es viel-
mehr eine Vorſtellung, die dem Thatſachenkreiſe einer näheren
oder entfernteren Vergangenheit entnommen iſt und die
durch lange Gewöhnung für uns den Charakter des Nor-
malen angenommen hat.
So geht es, wenn ich mich nicht täuſche, vielen unſerer
Zeitgenoſſen auch mit dem, was wir Handwerk nennen
und mit der ſog. Handwerkerfrage. Wir haben uns einmal
daran gewöhnt, das Handwerk als die normale gewerbliche
Betriebsform zu betrachten, nachdem dasſelbe in Deutſch-
land über ein halbes Jahrtauſend das Leben des Bürger-
ſtandes beherrſcht hat. Das Sprichwort ſagt: Handwerk
hat einen goldenen Boden, und die Beobachtung lehrt, daß
dieſer Boden heute nicht mehr golden iſt. Wir fragen uns,
wie jener glückliche Zuſtand zurückgeführt, das Handwerk
„wiederbelebt“ werden könne.
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 6
[82]
Aber welches Recht haben wir, das Handwerk als
normale Betriebsform zu betrachten und ſo gleichſam einem
Ideale nachzuſtreben, deſſen Verwirklichung in der Ver-
gangenheit liegt?
Die älteren Nationalökonomen ſtellen uns das Hand-
werk als die Urform der gewerblichen Produktion dar.
„In einem Jäger- oder Hirtenſtamme“, ſagt Adam Smith,
„findet ſich ein Menſch, der Bogen und Pfeile mit größerer
Geſchicklichkeit verfertigt als alle anderen. Er tauſcht ſie
gegen Vieh oder Wildpret bei ſeinen Genoſſen um und
findet ſchließlich, daß er ſich dabei beſſer ſteht, als wenn
er ſelbſt auf die Jagd ginge. Zuletzt macht er die An-
fertigung von Schießgerät zu ſeiner Hauptbeſchäftigung und
wird zu einer Art Waffenſchmied.“ Verfolgen wir dieſe
hiſtoriſche Konſtruktion zwei Schritte weiter, ſo wird das
Urbild des Handwerkers wahrſcheinlich nach einiger Zeit
einen Lehrling nehmen und wenn dieſer ausgelernt hat,
einen zweiten, während der erſte ſein Geſelle wird. Die
ſpätere Entwickelung findet beim beſten Willen nichts mehr
hinzuzuſetzen. Wenn wir heute vom Handwerker ſprechen,
ſo denken wir uns einen kleinen Unternehmer, der in wohl-
geordneter Stufenfolge vom Lehrling zum Geſellen, vom
Geſellen zum Meiſter geworden iſt, der mit eigener Hand
und eigenem Kapital für einen örtlich begrenzten Kunden-
kreis produziert und dem der ganze Arbeitsertrag unge-
ſchmälert zufließt. Alles, was man von einer Wirtſchafts-
ordnung verlangen kann, die der Gerechtigkeit entſpricht,
[83] ſcheint in dem Daſein eines normalen Handwerkerſtandes
verwirklicht: allmähliches ſoziales Aufſteigen, Selbſtändigkeit,
ein Einkommen nach Verdienſt. Und diejenigen Betriebs-
formen der Stoffumwandlung, welche von dieſem Urbilde
abweichen, Hausinduſtrie und Fabrik, erſcheinen dann leicht
als das Nichtnormale; die ſoziale Perſonengliederung, die
Einkommensverteilung, welche ſie bedingen, ſcheinen der Idee
der wirtſchaftlichen Gerechtigkeit nicht zu entſprechen.
Auch die neueren Nationalökonomen entfernen ſich
ſelten weit von dieſer populären Anſchauungsweiſe. Wo
ſie die drei bei ihnen anerkannten Betriebsſyſteme: Hand-
werk, Hausinduſtrie, Fabrik einander gegenüberſtellen, ent-
nehmen ſie faſt unwillkürlich den Grundeinrichtungen des
Handwerks die Normen zur Beurteilung der übrigen. Die
Hausinduſtrie war bis vor kurzem vielen von ihnen eine
bloße Ausartung des Handwerks oder eine Uebergangs-
bildung, die Fabrik ein notwendiges Uebel des Maſchinen-
zeitalters. Unter dieſer Befangenheit des Urteils litt ſelbſt
die wiſſenſchaftliche Erkenntnis der modernen Betriebs-
weiſen, welche doch der Beobachtung unmittelbar ſich darbieten.
Eine hiſtoriſch aufbauende Betrachtung, wie ſie hier
vorgelegt werden ſoll, muß ſich zu allererſt von der Auf-
faſſung losmachen, daß irgend ein Betriebsſyſtem eines
Wirtſchaftszweiges etwas für alle Zeiten und Völker Nor-
males bedeuten könne. Auch das Handwerk iſt ihr nur
eine in den Fluß der Geſchichte geſtellte Erſcheinung, deren
Entſtehen, Beſtehen und Gedeihen an beſtimmte volkswirt-
6 *
[84] ſchaftliche Vorausſetzungen geknüpft iſt. Es iſt weder die
urſprüngliche noch überhaupt eine entwickelungsgeſchichtlich
notwendige Form der gewerblichen Gütererzeugung. Das
heißt: es iſt ebenſo wenig notwendig, daß die Induſtrie
eines Landes das Betriebsſyſtem des Handwerks durch-
laufen hat, ehe ſie zur Hausinduſtrie oder Fabrik gelangt,
als es notwendig iſt, daß jedes Volk vorher Jäger- und
Nomadenvolk geweſen iſt, ehe es zum ſeßhaften Ackerbau
übergeht. Dem Handwerk ſind bei uns andere Betriebs-
ſyſteme der Stoffumwandlung vorausgegangen, ja ſie be-
ſtehen zum Teil noch jetzt, ſelbſt in europäiſchen Ländern.
Dieſe primitiven induſtriellen Betriebsſyſteme ſind in
ihrer großen entwickelungsgeſchichtlichen Bedeutung bis jetzt
kaum beachtet worden, obwohl ſie Jahrtauſende hindurch
das Wirtſchaftsleben der Völker beſtimmt und in ihrer
ſozialen Organiſation tiefe Spuren eingeprägt haben. Nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil der Gewerbegeſchichte, der-
jenige, welcher in dem geſchriebenen Rechte die Quellen
ſeiner Erkenntnis uns hinterlaſſen hat, iſt bis jetzt einiger-
maßen aufgehellt, und dieſer auch viel mehr nach ſeiner
formalen Ordnung als nach ſeinem inneren Leben, ſeiner
Betriebsweiſe. Selbſt das Zunfthandwerk des Mittelalters,
dem in neuerer Zeit ſo viel ausdauernde und eindringende
wiſſenſchaftliche Arbeit gewidmet worden iſt, iſt nach der
Seite des Betriebs kaum genauer unterſucht worden. Will-
kürliche rationaliſtiſche Konſtruktionen, bei denen mit den
Vorausſetzungen und Kategorien der modernen Verkehrs-
[85] wirtſchaft argumentiert wird, beherrſchen noch weithin
dieſes Gebiet.
Allerdings hat unſere „hiſtoriſche“ Nationalökonomie
ein reiches Material zur Wirtſchaftsgeſchichte der klaſſiſchen
und der modernen Völker geſammelt. Aber es iſt noch
kaum recht beachtet worden, daß die Bedingungen, unter
denen die Wirtſchaften der Völker des Altertums und des
Mittelalters ſtanden, bei der Kompliziertheit aller ſozialen
Erſcheinungen für den modernen Beobachter ebenſo ſchwer
rekonſtruierbar ſind, als die Konſequenzen eines ſozialiſtiſchen
Zukunftsſtaates, auch bei der lebhafteſten und geſtaltungs-
kräftigſten Phantaſie, erfaßt werden können. Das Ver-
ſtändnis ganzer weit zurückliegender Epochen der Wirt-
ſchaftsgeſchichte wird ſich uns erſt erſchließen, wenn wir
primitive und kulturarme Völker der Gegenwart nach der
wirtſchaftlichen Seite ihrer Exiſtenz mit der gleichen Sorg-
falt beobachten werden, wie heute die Engländer und Nord-
amerikaner. Statt zu den letzteren ſollten wir unſere jungen
Nationalökonomen eher zu den Ruſſen, Rumänen oder
Südſlaven auf Studienreiſen ſchicken; wir ſollten die Völker
unſerer neugewonnenen Kolonien nach dieſer Seite erforſchen,
ehe gerade die charakteriſtiſchen Seiten primitiver Wirt-
ſchaftsweiſe und Rechtsanſchauung unter dem Einfluß des
europäiſchen Handels bei ihnen verſchwinden.
Es iſt faſt als ein Glück zu bezeichnen, daß derartige
fremde Einflüſſe ſelten ſehr tief in das eigentliche Volks-
leben dringen, ſondern daß ſie ſich meiſt auf die bevor-
[86] zugten Klaſſen beſchränken. So kommt es, daß wir noch
heute in großen Gebieten des öſtlichen und nördlichen
Europas, die der achtloſe Reiſende mit der Eiſenbahn durch-
fliegt, bei der Landbevölkerung uralte Formen der Be-
dürfnisbefriedigung beobachten können, welche durch die
Einwirkungen des modernen Verkehrs kaum hie und da
eine leiſe Abänderung erlitten haben.
Wenn im Folgenden der Verſuch gemacht wird, das,
was wir von der induſtriellen Produktion derartiger „zu-
rückgebliebener“ Volksſtämme wiſſen 1), mit den Ergeb-
niſſen der ſeitherigen gewerbegeſchichtlichen Forſchung zu
einem überſichtlichen Geſamtbilde zu vereinigen, ſo kann es
ſich nur darum handeln, die Hauptſtufen der Entwickelung
in feſt umriſſener Zeichnung vorzuführen. Um durch die
verwirrende Mannigfaltigkeit und den Formenreichtum der
[87] ethnographiſchen Einzelbeobachtungen einen Leitfaden zu ge-
winnen, iſt es durchaus erforderlich, das Typiſche von dem
Zufälligen zu ſondern, von Nebenformen und Uebergangs-
bildungen abzuſehen und nur da einen neuen Abſchnitt der
Entwickelung beginnen zu laſſen, wo die veränderte Be-
triebsweiſe der Stoffumwandlung volkswirtſchaftliche Er-
ſcheinungen hervorruft, die eine weſentliche Veränderung
in der Gliederung der Geſellſchaft bedingen. Wir gelangen
auf dieſe Weiſe zu fünf Hauptbetriebsſyſtemen des Ge-
werbes. Es ſind in hiſtoriſcher Aufeinanderfolge:
- 1) der Hausfleiß,
- 2) das Lohnwerk,
- 3) das Handwerk,
- 4) das Verlagsſyſtem („Hausinduſtrie“),
- 5) die Fabrik.
Zunächſt wird es ſich darum handeln, die charakte-
riſtiſchen wirtſchaftlichen Eigentümlichkeiten dieſer Betriebs-
ſyſteme in knapper morphologiſcher Darſtellung hervorzu-
heben, die ſozialgeſchichtliche Tragweite der ganzen Entwicke-
lung aber bloß anzudeuten. Etwaige Lücken auszufüllen
und die Uebergänge von einer zur anderen Betriebsweiſe
klar zu legen, kann der Detailforſchung überlaſſen werden.
Naturgemäß wird unſere Darſtellung am längſten bei den
beiden älteren, dem Handwerk vorausgegangenen Betriebs-
ſyſtemen verweilen müſſen, während für die ſpäteren eine
kurze Charakteriſtik genügen dürfte. Wir beginnen mit dem
Hausfleiße.
[88]
Das Wort Hausfleiß iſt erſt in den letzten fünf-
zehn Jahren in Deutſchland üblich geworden. Es iſt zu
uns aus Norwegen und Dänemark verpflanzt worden, wo
es für gewiſſe häusliche Beſchäftigungen der Familien-
glieder, wie Spinnen, Weben, Nähen, die Anfertigung von
Holzgerätſchaften u. dgl. gebraucht wird. Es iſt die in
jenen Gegenden ſeit alter Zeit heimiſche, durch Klima und
Beſiedelungsweiſe begünſtigte Uebung gewerblicher Technik,
durch welche das Bauernhaus die Verarbeitung der in Feld
und Wald erzeugten Rohſtoffe für den eigenen Bedarf ſelbſt
vollzieht. Da dieſe Technik unter dem Einfluſſe der mo-
dernen Verkehrswirtſchaft in Verfall zu geraten drohte, ſo
hat man in Dänemark und Norwegen geglaubt, ſie durch
ſchulmäßige Unterweiſung neu beleben zu ſollen, und dieſe
Einrichtung hat dann bei uns als Handfertigkeitsunterricht
— freilich mit etwas verändertem Charakter — Aufnahme
gefunden.
Wohl wenige der Beförderer dieſes neuen Unterrichts-
zweiges, dem ſeine pädagogiſche Bedeutung nicht abgeſprochen
werden ſoll, haben ſich eine klare Vorſtellung von dem ge-
bildet, was eigentlich der Hausfleiß für die nordiſchen
Völker urſprünglich bedeutete und noch jetzt teilweiſe be-
deutet. Hie und da hat man, namentlich im Anfang, den
Handfertigkeitsunterricht für ein Mittel gehalten, neue Hausin-
duſtrien anzupflanzen. Hausfleiß und Hausinduſtrie aber ſind
entwickelungsgeſchichtlich zwei (wenigſtens bei uns) um Jahr-
hunderte auseinanderliegende gewerbliche Betriebsſyſteme.
[89]
Hausfleiß iſt gewerbliche Produktion im Hauſe für
das Haus aus ſelbſterzeugten Rohſtoffen. In ſeiner ur-
ſprünglichen und reinſten Geſtalt ſetzt er voraus, daß kein
Tauſch beſteht, ſondern daß jede Einzelwirtſchaft alle Be-
dürfniſſe ihrer Angehörigen durch eigene Arbeit befriedigt.
Jedes Gut durchläuft alle Stadien der Produktion in der-
ſelben Wirtſchaft, in welcher es konſumiert werden ſoll.
Die Produktion wird demgemäß immer nur nach Maßgabe
des eigenen Bedarfs unternommen. Es gibt noch keinen
Güterumlauf und kein Kapital. Das Haus hat nur Ge-
brauchsvermögen auf verſchiedenen Stufen der Genußreife:
Korn, Mehl und Brot, Flachs, Garn, Gewebe und Kleider;
es hat auch Hülfsmittel der Produktion: die Handmühle,
die Axt, die Spindel, den Webſtuhl, aber keine Güter,
durch welche es auf verkehrsmäßigem Wege andere Güter
gewinnen könnte. Alles verdankt es eigener Arbeit, und
kaum iſt es möglich, die Verrichtungen des Haushalts von
denen der Produktion zu trennen.
In der Form des Hausfleißes iſt das Gewerbe älter
als die Landwirtſchaft. Ueberall, wo die Entdecker neuer
Länder auf primitive Völker ſtießen, fanden ſie mancherlei
gewerbliche Kunſtfertigkeit: die Anfertigung von Bogen und
Pfeil, das Flechten von Matten und Gefäßen aus Binſen,
Baſt und zähen Wurzeln, eine urwüchſige Töpferei, das
Gerben der Felle, das Mahlen mehlhaltiger Körner auf
der Handmühle, das Schmelzen des Eiſens in Erdgruben,
das Bauen von Häuſern. Die Jägervölker Nordamerikas,
[90] wie die Nomadenhorden Sibiriens und die Negerſtämme
Afrikas üben ſo noch heute mancherlei gewerbliche Technik,
ohne eigene Handwerker zu beſitzen. Meiſtens ſind es die
Frauen, denen überhaupt auf niederen Kulturſtufen der
größte Teil der produktiven Arbeit aufgebürdet iſt, welche
dieſe Techniken von Geſchlecht zu Geſchlecht fortpflanzen;
oft aber teilen ſie ſich auch mit den Männern in die nötigen
Arbeiten.
Beim Uebergang zum Ackerbau verliert dieſe Thätig-
keit mehr und mehr den Charakter des Zufälligen; die
ganze Wirtſchaft nimmt eine feſte Ordnung an; die gute
Jahreszeit muß der Rohſtoffgewinnung und der Arbeit im
Freien gewidmet werden; im Winter vereinigt die Stoff-
verarbeitung die Glieder des Hauſes am Herd. Es bildet
ſich eine feſte Regel für jede Art der Arbeit; jede wird
nach den ſich von ſelbſt aufdrängenden Forderungen der
Wirtſchaftlichkeit in das häusliche Leben eingefügt; die
Sitte umſpinnt ſie mit ihren feinen ethiſchen Goldfäden;
ſie bereichert und veredelt das Daſein der Menſchen, unter
denen ſie von Geſchlecht zu Geſchlecht mit ihrer einfachen
Technik und ihren urwüchſigen Formen ſich überträgt. Da
man nur für den eigenen Gebrauch arbeitet, ſo überdauert
das Intereſſe des Produzenten an ſeiner Hände Werk weit
die Arbeitsperiode. Er verkörpert in demſelben ſein beſtes
techniſches Vermögen und ſeinen ganzen Kunſtſinn. Gerade
deshalb ſind auch die Erzeugniſſe des nationalen Haus-
[91] fleißes für unſer kunſtgewerbliches Zeitalter eine ſo reiche
Fundgrube volkstümlicher Stilmuſter geworden.
Der norwegiſche Bauer iſt nicht bloß, wie der weſt-
fäliſche Hofſchulze in Immermanns „Münchhauſen,“ ſein
eigener Schmied und Schreiner; er baut auch ſein Holz-
haus ſelbſt, fertigt ſeine Ackergeräte, Wagen und Schlitten,
gerbt das Leder, ſchnitzt mancherlei hölzernes und ſchmiedet
ſelbſt metallenes Hausgerät 1). In Island ſind ſogar die
Bauern ſehr geſchickte Silberarbeiter. In Hochſchottland
war noch am Ende des vorigen Jahrhunderts jeder ſein
eigener Weber, Walker, Gerber und Schuſter. In Galizien,
in der Bukowina, in vielen Teilen von Ungarn und Sieben-
bürgen, in Rumänien, bei den ſüdſlaviſchen Völkerſchaften
gab es bis auf die neuere Zeit kaum einen anderen Hand-
werker, als den Schmied, und der iſt meiſt ein Zigeuner.
In Griechenland und vielen anderen Teilen der Balkan-
halbinſel kamen nur etwa noch wandernde Bauarbeiter
hinzu 2). Zahlloſe ähnliche Beiſpiele ließen ſich von anderen
[92] Völkern anführen; insbeſondere wird die wunderbare An-
ſtelligkeit und Handfertigkeit der ruſſiſchen und ſchwediſchen
Bauern auf ihre vielſeitige techniſche Bethätigung in der
eigenen Wirtſchaft zurückzuführen ſein 1). Die gewerblichen
Frauenarbeiten, das Spinnen, Weben, Brotbacken ꝛc. ſind
aus alter und neuer Zeit zu ſehr bekannt, als daß es
darüber weiterer Worte bedürfte.
Um von dem ganzen Reichtum hauswirtſchaftlicher
Geſchicklichkeit, die das Leben kulturarmer Völker auszeichnet,
eine Vorſtellung zu gewinnen, bedürfte es einer eingehenden
Schilderung eben dieſes Lebens ſelbſt. Dazu fehlt uns
leider hier der Raum. Es wird aber genügen, wenn fol-
gende Sätze aus einer Darſtellung des Hausfleißes in der
Bukowina hier wiedergegeben werden 2).
„Im kleinen Kreiſe der Familie oder doch nur inner-
halb der engen Dorfgrenzen beſorgt der Bukowinaer Land-
2)
[93] bewohner ſich alle ſeine Lebensbedürfniſſe ſelbſt. Beim
Bau des Hauſes verſteht es der Mann in der Regel, die
Arbeiten des Zimmermanns, Dachdeckers u. dgl. zu ver-
ſehen, während das Weib das Bemörteln der geflochtenen
und geſtockten Wände oder das Dichten der Blockwand-
fugen mit Moos, das Stampfen des Fußbodens und viele
andere einſchlägige Arbeiten übernehmen muß. Vom Anbau
der Geſpinnſtpflanze oder der Aufzucht des Schafes an bis
zur Fertigſtellung der Bett- und Kleidungsſtücke aus Leinen,
Wolle oder Pelzwerk, Leder, Filz oder Strohgeflecht er-
zeugt ferner das Bukowinaer Landvolk alles, ſelbſt die
Farbſtoffe aus eigens gezogenen Pflanzen, ſowie die nötigen,
allerdings höchſt primitiven Handwerkzeuge. Und ſo iſt es
im allgemeinen auch mit der Nahrung. Mit Aufwand
ziemlich bedeutender Mühe pflegt der Bauer ſein Maisfeld,
ſtellt auf der Handmühle das Kukuruzmehl her, das er zum
Backen ſeiner Hauptkoſt (Mamaliga, der Polenta ähnlich)
verwendet. Auch ſeine einfachen Ackerwerkzeuge, die Ge-
fäße und Geräte für die Wirtſchaft und die Küche weiß
er ſelbſt herzuſtellen, oder es verſteht das wenigſtens ein
Autodidakt im Dorfe. Nur die Bearbeitung des Eiſens,
welches Material die eingeborene Bevölkerung in äußerſt
geringen Mengen verbraucht, überläßt er im allgemeinen
den im Lande zerſtreut lebenden Zigeunern.“
So reich ſich aber auch die gewerbliche Kunſtfertigkeit
des ſich ſelbſt genügenden Hauſes entwickeln mag, immer-
hin müßte eine ſolche Art der Güterverſorgung ſich ſchließlich
[94] als unzulänglich erweiſen, wenn das Haus bloß auf die
engere blutsverwandte Gemeinſchaft, die wir Familie nennen,
angewieſen wäre. Allerdings iſt der ältere Familienver-
band ein weiterer, als die jetzige Familie; aber bei vielen
Völkern löst ſich gerade in der Zeit, wo die Bedürfniſſe
ſich vermehren und verfeinern, die Sippe auf und benimmt
ſo dem Hauſe die Möglichkeit einer weitergehenden Arbeits-
teilung unter ſeinen Gliedern. Der Uebergang zur berufs-
mäßigen Geſtaltung der Produktion und zur Tauſchwirt-
ſchaft wäre hier unvermeidlich, wenn es nicht gelänge, durch
die Aufnahme von Sklaven oder die Anſetzung von Hörigen
künſtlich den Kreis des Hauſes zu erweitern. Je größer
die Zahl dieſer unfreien Hausgenoſſen wird, um ſo leichter
wird es, eine vielſeitige Arbeitsteilung unter ihnen einzu-
führen und den Einzelnen für die Ausübung einer beſtimmten
gewerblichen Technik auszubilden. So finden wir ſchon
unter den Hausſklaven der reichen Griechen und Römer
induſtrielle Arbeiter von mancherlei Art, und Karl der
Große ſchreibt in der berühmten Anweiſung über die Ver-
waltung ſeiner Landgüter genau vor, welcherlei Arten von
unfreien Arbeitern auf jeder Villa gehalten werden ſollen.
„Ein jeder Vogt,“ heißt es da, „ſoll in ſeinem Dienſte
haben gute Werkleute, als da ſind Schmiede, Gold- oder
Silberarbeiter, Schuhmacher, Drechsler, Zimmerleute, Schild-
macher, Fiſcher, Vogelſteller, Seifenſieder, Methbrauer (sice-
ratores), Bäcker und Netzſtricker.“ Zahlreiche ähnliche Nach-
richten liegen von den Fronhöfen der anderen Großen und
[95] den Klöſtern vor. Die Handwerksleute, welche ſie halten,
ſtehen nur in ihrem Dienſte; ſie ſind bald bloßes Hofge-
ſinde, das in den Gebäuden des Fronhofes Wohnung und
Koſt empfängt, bald ſind ſie auf eigenen Landſtellen ange-
ſiedelt, gewinnen darauf ihren Lebensunterhalt und leiſten
dafür in ihrer ſpeziellen Kunſt Fronarbeit. Zum Zeichen,
daß ſie dem Hofe mit ihrer Geſchicklichkeit verpflichtet ſind,
führen ſie den Namen officiales, officiati, d. h. Amtleute.
Wie man ſieht, hat hier der Hausfleiß eine umfaſſende
Organiſation gefunden, welche dem Herrn des Fronhofes
eine verhältnismäßig reiche und vielſeitige Konſumtion auch
von Induſtrieprodukten erlaubt.
Aber der Hausfleiß bleibt nicht reine Bedarfsproduktion.
Schon bei den alten Griechen ließen reiche Sklavenbeſitzer
eine größere Zahl ihrer unfreien Arbeiter, die ſie nicht in
der eigenen Wirtſchaft brauchten, für eine beſtimmte In-
duſtrie abrichten und produzierten dann für den Markt.
Noch häufiger iſt es, daß die Bauernfamilien Ueberſchüſſe
ihrer Hausfleißproduktion in ähnlicher Weiſe in den Aus-
tauſch bringen wie die Ueberſchüſſe ihrer Landwirtſchaft
und Viehzucht. So hat in vielen Teilen Deutſchlands die
ländliche Bevölkerung ſeit dem Mittelalter auf den ſtädtiſchen
Märkten und Meſſen ihr Leinentuch abgeſetzt, und im
vorigen Jahrhundert hat man in Schleſien und Weſtfalen
ſtaatliche Einrichtungen getroffen, um die Hausleinwand
exportfähig zu machen. So iſt in den Oſtſeeländern das
grobe Wollenzeug, welches noch heute dort die Bauern-
[96] frauen weben, das Vadhmâl, im Mittelalter einer der
verbreitetſten Handelsartikel geworden und hat geradezu als
Geld gedient. Aehnlich ſind bei manchen Völkern Afrikas
Matten und allerlei Baſtgeflechte allgemeine Tauſchmittel.
In den japaniſchen Dörfern wird faſt in jedem Hauſe aus
der auf den eigenen Feldern gewonnenen Baumwolle Garn
geſponnen und Zeug gewoben, von dem ein Teil in den
Austauſch kommt. In Schweden durchwandern die Weſt-
goten und Smaländer faſt das ganze Land, um die zu
Hauſe gewobenen baumwollenen oder wollenen Zeuge zum
Verkaufe auszubieten. In Ungarn, Galizien, Rumänien
und den ſüdſlaviſchen Ländern trifft man überall auf den
ſtädtiſchen Wochenmärkten Bauern, welche ihre Thon- und
Holzwaaren, Bäuerinnen welche neben Gemüſe und Eiern
die ſelbſtgefertigten Schürzen, die geſtickten Bänder und
Spitzen auslegen. Namentlich wenn ſich der Grundbeſitz
zerſplittert und zum Unterhalte einer Familie nicht mehr
ausreicht, verlegt ſich ein Teil der Bauern auf einen be-
ſonderen Zweig des Hausfleißes und produziert dann in
ähnlicher Weiſe für den Markt, wie unſere ſüddeutſchen
Kleinbauern Wein, Hopfen oder Tabak erzeugen. Der
nötige Rohſtoff wird anfangs noch auf dem eigenen Felde
oder aus dem Gemeindewalde gewonnen, ſpäter auch wohl
gekauft. Allerlei verwandte Produktionen ſchließen ſich an,
und ſo bildet ſich, wie in vielen Teilen Rußlands, aus
dem Hausfleiß ein unendlich formenreiches bäuerliches Klein-
gewerbe.
[97]
Aber die Entwickelung kann auch anders verlaufen,
und dann entſteht ein ſelbſtändiger gewerbetreibender Be-
rufsarbeiterſtand und damit unſer zweites gewerbliches Be-
triebsſyſtem: das Lohnwerk. Während ſeither alle ge-
werbliche Technik in enger Verbindung mit dem Grund-
beſitz und der Urproduktion ausgeübt wurde, löst ſich
nunmehr der geſchickte Hausfleißarbeiter von dieſer Ver-
bindung ab und begründet gerade auf dieſe ſeine techniſche
Geſchicklichkeit eine eigene, vom Grundbeſitz unabhängige
Exiſtenz. Aber er hat bloß ſein einfaches Werkzeug, kein
Betriebskapital. Er bethätigt deshalb ſeine Kunſt immer
an fremdem Rohſtoff, den ihm der Erzeuger dieſes Roh-
ſtoffes, der zugleich der Konſument der fertigen Produkte
iſt, liefert.
Dabei ſind wieder zwei verſchiedene Formen dieſes
Verhältniſſes möglich. Entweder wird der Lohnwerker
zeitweiſe in das Haus genommen, erhält Koſt und wenn
er nicht am Orte anſäßig iſt, auch Wohnung, ſowie einen
Taglohn und bleibt nur ſo lange, bis die Bedürfniſſe ſeines
Kunden befriedigt ſind. Wir nennen das in Süddeutſch-
land auf die Stör gehen und können darnach die
ganze Betriebsform Stör, den ſo arbeitenden Gewerbe-
treibenden einen Störer nennen. Die Schneiderinnen
und Näherinnen, welche vielerorts die Frauen in’s Haus
zu nehmen pflegen, können die Sache veranſchaulichen.
Oder der Lohnwerker hat eine eigene Betriebsſtätte,
und es wird ihm der Rohſtoff hinausgegeben. Für die
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 7
[98] Bearbeitung deſſelben erhält er Stücklohn. Der Leinen-
weber, der Müller und der Lohnbäcker auf dem Lande ſind
Beiſpiele. Wir wollen dieſe Form als Heimwerk be-
zeichnen. Sie findet ſich hauptſächlich bei Gewerben, welche
feſtſtehender, ſchwer transportierbarer Produktionsmittel
(Mühlen, Backöfen, Webſtühle, Feuereſſen u. dgl.) bedürfen.
Beide Formen des Lohnwerkes ſind noch jetzt ſehr
häufig in allen Teilen der Erde. Es ließen ſich Beiſpiele
aus Indien und Japan, aus Marokko und dem Sudan
und faſt aus allen Ländern Europas anführen. Das Syſtem
läßt ſich von Homer ab durch das ganze Altertum und
Mittelalter bis auf die neueſte Zeit in der Litteratur ver-
folgen. Die ganze Auffaſſung, in welcher die griechiſchen
und römiſchen Rechtsquellen das Verhältnis des Kunden
zum ſelbſtändigen (perſönlich freien oder unfreien) Hand-
werker ſehen, beruht auf dem Lohnwerk; zahlreiche Be-
ſtimmungen des mittelalterlichen Zunftrechts finden nur aus
ihm ihre Erklärung.
Noch heute iſt es in den Alpenländern die vorherr-
ſchende Betriebsweiſe auf dem Lande. Der ſteiriſche Schrift-
ſteller P. K. Roſegger hat in einem anziehenden Buche 1)
ſeine Erlebniſſe als Lehrling eines in den Bauernhöfen um-
herziehenden Schneiders geſchildert. „Die Bauernhand-
werker,“ ſagt er in der Vorrede, „als der Schuſter, der
Schneider, der Weber, der Böttcher (anderwärts auch der
Sattler, der Schreiner, überhaupt alle Bauhandwerker)
[99] ſind in vielen Alpengegenden eine Art Nomadenvolk. Sie
haben wohl irgend eine beſtimmte Wohnung, entweder im
eigenen Häuschen oder in der gemieteten Stube eines Bauern-
hofes, wo ihre Familie lebt, wo ſie ihre Habſeligkeiten
bergen und wo ſie ihre Sonn- und Feiertage zubringen;
am Montagmorgen aber nehmen ſie ihr Werkzeug auf den
Rücken oder in die Seitentaſche und gehen auf die Ster,
d. h. ſie gehen auf Arbeit aus und heimſen ſich im Bauern-
hauſe, wohin ſie beſtellt ſind, ſo lange ein, bis ſie die be-
ſtimmte Arbeit, den Hausbedarf, verfertigt haben. Dann
wenden ſie ſich wieder zu einem anderen Hof. Der Hand-
werker wird in ſeinem Sterhauſe wie zur Familie gehörig
betrachtet;“ zum Uebernachten für ihn hat jeder Bauernhof
eine eigene Stube mit einem „Handwerkerbett;“ wo er in
der Woche gearbeitet hat, wird er am Sonntag zu Tiſche
geladen.
Faſt mit den gleichen Ausdrücken werden uns die ge-
werblichen Verhältniſſe auf dem Lande in Schweden und
manchen Teilen Norwegens geſchildert. In Rußland und
den ſüdſlaviſchen Ländern ſind Hunderttauſende von Lohn-
werkern, namentlich den Bau- und Bekleidungsgewerben
angehörig, welche ein ſtändiges Wanderleben führen und
wegen der großen Entfernungen oft ein halbes Jahr und
mehr von ihrer Heimat fortbleiben.
Volkswirtſchaftlich betrachtet iſt das Weſentliche an
dieſem Betriebsſyſtem, daß es kein Betriebskapital gibt.
Weder der Rohſtoff noch das fertige Gewerbeprodukt wird
7 *
[100] für ſeinen Erzeuger jemals ein Mittel des Gütererwerbs.
Art und Umfang der Produktion beſtimmt noch immer der
Grundbeſitzer, der den Rohſtoff erzeugt; er leitet auch den
ganzen Produktionsprozeß. Der Bauer erzeugt den Roggen,
driſcht und reinigt ihn und gibt dann das Korn dem Müller
gegen Naturallohn (Molter) zum Vermahlen; das Mehl
erhält der Bäcker und liefert gegen den Backlohn und Er-
ſatz des Heizmaterials eine Anzahl Brotlaibe daraus. Vom
Momente der Ausſaat bis zum Augenblick des Brotgenuſſes
iſt das Produkt niemals Kapital geweſen, ſondern immer
nur Gebrauchsgut auf dem Weg zur Genußreife. An das
fertige Produkt heften ſich keine Unternehmergewinne und
Zinſenzuſchläge oder Austauſchprofite, ſondern nur Arbeits-
löhne.
Es iſt dies unter gewiſſen Kulturzuſtänden und bei
ſehr einfachen Bedürfniſſen eine überaus wirtſchaftliche Pro-
duktionsweiſe, die wie der Hausfleiß eine völlige Anpaſſung
der Gütererzeugung an den Bedarf ſichert. Im Mittelalter
hat ſie die Befreiung der Handwerker aus der Hörigkeit
und dem Hofrecht unendlich erleichtert, da ſie für den Be-
ginn eines ſelbſtändigen Gewerbebetriebs kein nennenswertes
eigenes Vermögen vorausſetzt. Mit großem Unrecht wird
noch immer der zünftige Handwerkerſtand des Mittelalters
als ein Stand kleiner Kapitaliſten angeſehen. Er war viel-
mehr im weſentlichen ein gewerblicher Arbeiterſtand, der
ſich von den heutigen Arbeitern dadurch unterſchied, daß
er für viele Konſumenten, nicht für einen einzelnen Unter-
[101] nehmer arbeitete. Die Materiallieferung durch den Be-
ſteller herrſcht faſt bei allen mittelalterlichen Handwerken
vor; ja ſie dauert bei vielen ſelbſt dann noch Jahrhunderte
hindurch fort, als der Beſteller den Rohſtoff nicht mehr
in eigener Wirtſchaft erzeugte, ſondern ihn kaufen mußte,
wie das Leder für den Schuſter, das Tuch für den Schneider.
Nur ſehr langſam bürgert ſich die Materialſtellung durch
den Meiſter ein, anfangs bloß für die ärmeren Kunden,
ſpäter auch für die vermögenden. So entſteht das Hand-
werk in dem Sinne, in welchem es heute gewöhnlich ver-
ſtanden wird.
Von den beiden Formen des Lohnwerks geht in den
Städten zuerſt die Stör unter. Dieſer Untergang wird
durch das Eingreifen der Zünfte weſentlich beſchleunigt 1).
Die Stör erinnerte zu ſehr an die alte Hörigkeit. Der
Gewerbetreibende iſt bei ihr ſozuſagen nur eine beſondere
Art von Taglöhner, der ſich einer fremden Hausordnung
zeitweiſe fügen muß. Daher finden wir ſeit dem XIV. Jahr-
hundert in den Zunftordnungen zahlreiche Verbote, daß die
Meiſter in den Häuſern arbeiten. Aus derſelben Urſache
[102] ſchreibt ſich der Haß, den die ſtädtiſchen gegen die Land-
handwerker bethätigen; denn dieſen ließ ſich das Arbeiten
auf der Stör nicht wohl verbieten. Schließlich wird Stö-
rer oder Bönhaſe zum allgemeinen Schimpfwort für
diejenigen, welche ohne zünftige Gewerbeberechtigung arbeiten.
In den norddeutſchen Städten nahmen die Zunftmeiſter
das Recht für ſich in Anſpruch, die Störer in den Häuſern
ihrer Kunden aufzuſpüren und ſie zur Verantwortung zu
ziehen (die ſog. Bönhaſenjagd), und die öffentliche Gewalt
war manchmal ſchwach genug, ihnen dieſen Bruch des bürger-
lichen Hausfriedens nachzuſehen.
Freilich wurde die Verdrängung des einen Betriebs-
ſyſtems durch das andere den Zünften nicht überall ſo leicht
gemacht. Schon am Ende des XV. Jahrhunderts tritt
ihnen die fürſtliche Landeshoheit energiſch entgegen. In der
churſächſiſchen Landesordnung von 1482 werden Schuſter,
Schneider, Kürſchner, Tiſchler, Glaſer und andere Hand-
werker, welche ſich ohne hinreichenden Grund im Kunden-
hauſe zu arbeiten weigern ſollten, mit der für damalige
Verhältniſſe hohen Strafe von 3 Gulden bedroht. In
Baſel wurde 1526 zur Aufrechterhaltung „alten löblichen
Brauchs“ eine genaue Ordnung für die Hausſchneider ge-
geben. In zahlreichen deutſchen Territorien wurden für
die verſchiedenen Arten von Lohnwerkern genaue Taxord-
nungen aufgeſtellt. So hat ſich in manchen Gewerben,
namentlich bei den Bauhandwerken, das Lohnwerk bis in
dieſes Jahrhundert erhalten.
[103]
Bei der Mehrzahl aber trat an ſeine Stelle dasjenige
Betriebsſyſtem, welches man heute als Handwerk zu be-
zeichnen pflegt und das ich bereits im Eingang gekennzeichnet
habe. Man könnte es auch Preiswerk nennen, um
den Gegenſatz gegen das Lohnwerk zu markieren. Denn
der Handwerker unterſcheidet ſich von dem Lohnwerker nur
dadurch, daß er im Beſitze ſämtlicher Produktionsmittel iſt
und daß er das fertige Produkt, welches aus dem von ihm
gelieferten Rohſtoff und der darin verkörperten Arbeit zu-
ſammengeſetzt iſt, um einen beſtimmten Preis verkauft,
während der Lohnwerker bloß Vergütung für ſeine Arbeit
empfängt.
Alle wichtigen Eigentümlichkeiten des Handwerks laſſen
ſich in das eine Wort zuſammenfaſſen: Kundenpro-
duktion. Die Art des Abſatzes iſt es, die dieſes Be-
triebsſyſtem vor allen ſpäteren auszeichnet. Der Hand-
werker arbeitet immer für den Konſumenten ſeines Pro-
dukts, ſei es, daß dieſer durch Beſtellung einzelner Stücke
ihm dazu die Anregung gibt, ſei es, daß beide auf dem
Wochen- oder Jahrmarkte ſich treffen. In der Regel iſt
das Abſatzgebiet ein lokales: die Stadt und ihre nähere
Umgebung. Der Kunde kauft aus der erſten, der Hand-
werker liefert an die letzte Hand. Dies ſichert Anpaſſung
an den Bedarf und gibt dem ganzen Verhältnis einen
ethiſchen Zug: der Produzent fühlt ſich dem Konſumenten
gegenüber verantwortlich für ſeine Arbeit.
Mit dem Aufkommen des Handwerks geht ſozuſagen
[104] ein breiter Riß durch den volkswirtſchaftlichen Produktions-
prozeß. Hatte ſeither der Grundeigentümer dieſen ganzen
Prozeß geleitet, wenn auch mit Zuhülfenahme fremder Lohn-
arbeiter, ſo gibt es jetzt zwei Arten von Wirtſchaften, von
denen jede nur einen Teil des Produktionsprozeſſes voll-
zieht: die eine erzeugt das Rohprodukt, die andere das
Fabrikat. Durch die Gewinnung eines eigenen Betriebs-
kapitals wird der Handwerkerſtand aus einer bloß lohn-
erwerbenden Arbeiterklaſſe zu einem beſitzenden Produzen-
tenſtand, und der bewegliche Beſitz, der ſich jetzt, losgelöst
vom Grundbeſitz, in ſeiner Hand ſammelt, wird die Grund-
lage einer eigenen ſozialen und politiſchen Berechtigung, die
in dem Bürgerſtande verkörpert iſt.
Das direkte Verhältnis des Handwerkers zu den Kon-
ſumenten ſeiner Produkte bedingt die Kleinhaltung des Be-
triebs. Droht ein Handwerksbetrieb zu groß zu werden,
ſo ſplittern ſich neue Handwerke ab, die einen Teil ſeines
Produktionsgebietes übernehmen. Das iſt die Arbeitsteilung
des Mittelalters 1), die immer neue ſelbſtändige Exiſtenzen
ſchafft und die ſpäter zu jener eiferſüchtigen Abgrenzung
der Arbeitsgebiete führte, welche einen guten Teil der Kraft
des Zunftweſens in inneren Streitigkeiten aufzehrte.
Das Handwerk iſt eine ſpezifiſch ſtädtiſche Er-
ſcheinung. Völker, die wie die Ruſſen kein eigentliches
[105] Städteweſen ausgebildet haben, kennen auch kein nationales
Handwerk. Darin liegt aber auch, daß mit der Ausbildung
größerer zentraliſierter Staatsweſen und einheitlicher Ver-
kehrsgebiete das Handwerk zurückgehen mußte. Es bildete
ſich im XVII. und XVIII. Jahrhundert ein neues Betriebs-
ſyſtem, das nicht mehr auf den lokalen, ſondern auf den
nationalen und internationalen Markt begründet war. Unſere
Vorfahren haben dasſelbe mit dem Doppelnamen Manu-
fakturen und Fabriken bezeichnet, ohne zwiſchen bei-
den Ausdrücken einen Unterſchied zu machen. Näher be-
ſehen handelt es ſich eigentlich um zwei verſchiedene Be-
triebsſyſteme. Das eine hat man ſeither mit dem mißver-
ſtändlichen Worte Hausinduſtrie belegt; wir wollen
es Verlagsſyſtem nennen; das andere iſt unſere Fa-
brik. Beide Syſteme ſtellen ſich die Aufgabe, ein weites
Marktgebiet mit Induſtrieprodukten zu verſorgen; beide
bedürfen dazu einer größeren Zahl von Arbeitern; ver-
ſchieden nur ſind dieſelben in der Art, wie ſie jene Aufgabe
löſen und die Arbeiter organiſieren.
Am einfachſten verfährt dabei das Verlagsſyſtem.
Es läßt die ſeitherige Produktionsweiſe zunächſt ganz un-
berührt und beſchränkt ſich darauf, den Abſatz zu or-
ganiſieren. Der Verleger iſt ein kaufmänniſcher Unter-
nehmer, der regelmäßig eine größere Zahl von Arbeitern
außerhalb ſeiner eigenen Betriebsſtätte in ihren Wohnungen
beſchäftigt. Dieſe Arbeiter ſind entweder ehemalige Hand-
werker, welche fortan anſtatt für viele Konſumenten für
[106] den einen Händler produzieren. Oder ſie ſind ehemalige
Lohnwerker, welche jetzt den Rohſtoff, den ſie verarbeiten,
nicht mehr vom Konſumenten, ſondern vom Kaufmann em-
pfangen. Oder es ſind Bauernfamilien, welche ehemalige
Hausfleißprodukte jetzt als Marktware erzeugen, die durch
den Verleger in den Welthandel gebracht wird.
Verleger kommt von Verlag = Vorlage, Vorſchuß.
Der Verleger ſchießt den kleinen Produzenten, die anfangs
noch eine ziemlich ſelbſtändige Stellung haben, bald bloß
den Kaufpreis ihrer Produkte vor, bald liefert er ihnen
auch den Rohſtoff und zahlt dann Stücklohn, bald gehört
ihm ſogar das Hauptwerkzeug (der Webſtuhl, die Stick-
maſchine ꝛc.). Nach und nach ſinken die kleinen Produ-
zenten, da ſie nur einen Abnehmer haben, in immer
tiefere Abhängigkeit herunter; der Verleger wird ihr Ar-
beitgeber, und ſie ſind Arbeiter, auch wenn ſie formell den
Rohſtoff ſelbſt liefern.
Es dürfte nicht nötig ſein, hier das Verlagsſyſtem und
ſein Arbeitsverhältnis, die Hausinduſtrie, des näheren zu
ſchildern. Wir haben Beiſpiele genug in den deutſchen
Gebirgsgegenden: die Strohflechterei, die Uhren- und Bürſten-
fabrikation im Schwarzwald, die oberbayeriſche Schnitzerei,
die Spielwarenfabrikation im Meininger Oberland, die
voigtländiſche Stickerei, die erzgebirgiſche Spitzenklöppelei
u. ſ. w. Die Geſchichte und die gegenwärtige Lage dieſer
Induſtrien iſt in neuerer Zeit vielfach unterſucht worden.
Ich kann darauf ebenſowenig eingehen, wie auf den
[107] großen Formenreichtum, den gerade dieſes Betriebsſyſtem
aufweiſt.
Das Weſentliche iſt und bleibt bei demſelben immer,
daß das gewerbliche Produkt, ehe es in den Konſum ge-
langt, Warenkapital, d. h. Erwerbsmittel für eine oder
mehrere kaufmänniſche Zwiſchenperſonen wird. Mag der
Verleger das Produkt auf den Weltmarkt bringen, mag er
in der Stadt ein Verkaufsmagazin halten, mag er die Ware
fertig zum Verſchleiß vom Hausarbeiter empfangen, mag
er ſie einer letzten Appretur unterwerfen; mag der Arbeiter
ſich Meiſter nennen und Geſellen halten, mag er nebenbei
Landwirtſchaft treiben — immer wird der Hausinduſtrielle
von dem eigentlichen Markte ſeines Produkts und von der
Kenntnis der Marktverhältniſſe weit entfernt ſein, und
darin liegt die Haupturſache ſeiner troſtloſen Schwäche.
Hat beim Verlag das Kapital ſich bloß des Vertriebs
der Produkte bemächtigt, ſo ergreift dasſelbe bei der Fab-
rik den ganzen Produktionsprozeß. Der Verlag rafft,
um die ihm vorliegende Produktionsaufgabe zu bewältigen,
eine große Zahl gleichartiger Arbeitskräfte loſe zuſammen,
beſtimmt die Richtung ihrer Produktion, die für jede an-
nähernd die gleiche iſt und läßt ihr Arbeitsprodukt wie in
ein großes Reſervoir zuſammenfließen, ehe er es in alle
Welt verſchickt. Die Fabrik organiſiert den ganzen Pro-
duktionsprozeß; ſie faßt verſchiedenartige Arbeiter in gegen-
ſeitiger Ueber- und Unterordnung zu einer einheitlichen
wohldisziplinierten Körperſchaft zuſammen, vereinigt ſie in
[108] eigener Betriebsſtätte, ſtattet ſie mit einem großen viel-
gliedrigen Apparat mechaniſcher Produktionsmittel aus und
ſteigert dadurch in eminentem Maße ihre Leiſtungsfähigkeit.
Die Fabrik unterſcheidet ſich vom Verlagsſyſtem wie das
wohlgeordnete, einheitlich bewaffnete Kriegsheer der Linie
vom bunt zuſammengewürfelten Landſturm.
Wie in einem ſchlagfertigen Armeekorps Truppen ver-
ſchiedener Ausbildung und Bewaffnung: Infanterie-, Ka-
vallerie- und Artillerieregimenter, Pioniere, Trains, Mu-
nitions- und Proviantkolonnen zu einer Einheit zuſammen-
gefügt ſind, ganz ſo vereinigt die Fabrik Arbeitergruppen
von verſchiedener Ausbildung und Ausrüſtung und be-
wältigt damit die ſchwerſten Produktionsaufgaben.
Das Geheimnis ihrer Stärke als Produktionsanſtalt
liegt alſo in der zweckmäßigen Arbeitsverwen-
dung. Um dieſe zu erzielen, ſchlägt ſie einen eigentüm-
lichen Weg ein, der auf den erſten Blick ein Umweg zu
ſein ſcheint. Sie zerlegt die geſamte in einem Produktions-
prozeß nötige Arbeit möglichſt in ihre einfachſten Elemente,
trennt die ſchwere von der leichten, die mechaniſche von
der geiſtigen, die qualifizierte von der rohen Arbeit. Da-
durch gelangt ſie zu einem Syſtem aufeinander folgender
Verrichtungen und wird in den Stand geſetzt, Menſchen-
kräfte der verſchiedenſten Art: gelernte und ungelernte,
Männer, Frauen und Kinder, Hand- und Kopfarbeiter,
techniſch, artiſtiſch und kaufmänniſch gebildete, neben und
nach einander zu beſchäftigen. Die Beſchränkung jedes
[109] Einzelnen auf einen kleinen Teil des Arbeitsprozeſſes be-
wirkt eine gewaltige Steigerung der Geſamtleiſtung. Hun-
dert Fabrikarbeiter leiſten in dem gleichen Produktions-
prozeß mehr als hundert ſelbſtändige Handwerksmeiſter,
obwohl von den letzteren jeder das ganze Arbeitsverfahren
beherrſcht, von den erſteren jeder nur einen kleinen Teil
deſſelben. Soweit der Kampf des Handwerks mit der
Fabrik auf techniſchem Gebiete liegt, iſt er ein Beweis, wie
der Schwache den Starken überwindet, wenn er von über-
legener Geiſteskraft geführt wird.
Die Maſchine iſt nicht das Weſentliche bei der Fabrik;
aber die eben geſchilderte Arbeitszerlegung hat, in-
dem ſie die Arbeitsleiſtung in einfache Bewegungen auflöſte,
die Maſchinenverwendung unendlich gefördert und ver-
mannigfaltigt. Maſchinen hat man ſeit alter Zeit im Ge-
werbe beſchäftigt, Arbeits- und Kraftmaſchinen. Für die
Fabrik aber hat ihre Verwendung erſt die heutige Be-
deutung erlangt, als es gelungen war, eine ununterbrochen
gleichmäßig wirkende, überall anwendbare Triebkraft, den
Dampf, einzuſpannen, und auch hier nur im Zuſammen-
hang mit dem eigentümlichen Arbeitsſyſtem der Fabrik.
Ein Beiſpiel mag das Geſagte verdeutlichen. Im
Jahre 1787 hatte der Kanton Zürich 34000 Handſpinner
und Spinnerinnen, welche Baumwollgarn erzeugten; nach
der Einführung der engliſchen Spinnmaſchinen produzierten
wenige Fabriken das gleiche oder ein größeres Quantum
Garn, und die Zahl ihrer Arbeiter (meiſt Frauen und
[110] Kinder) betrug kaum ein Drittel der vorigen. Wie kam
das? Durch die Maſchinen!? Aber war denn das Spinn-
rad keine Maſchine? Gewiß, und zwar eine ſehr kunſtreiche.
Alſo war Maſchine durch Maſchine verdrängt worden. Oder
vielmehr, was ſeither die Handſpinnerin mit ihrem Rade
geleiſtet hatte, das wurde jetzt durch die aufeinanderfolgende
Arbeit einer ganzen Reihe verſchiedenartiger Arbeiter und
verſchiedener Maſchinen geleiſtet. Der ganze Spinnprozeß
war in ſeine einfachſten Elemente zerlegt worden; es waren
ganz neue Manipulationen entſtanden, zu deren Ausführung
zum Teil auch unreife Arbeitskräfte noch brauchbar waren.
Aus der Arbeitszerlegung gehen die weiteren Eigen-
tümlichkeiten der Fabrik hervor: die Notwendigkeit des
Großbetriebs, das bedeutende Kapitalerfordernis, die wirt-
ſchaftliche Unſelbſtändigkeit der Arbeiter.
In Beziehung auf die beiden letzten Punkte offenbart
ſich uns leicht ein wichtiger Unterſchied zwiſchen Fabrik-
und Verlagsſyſtem. Das große ſtehende Kapital
ſichert der Fabrik einen ſtetigeren Betrieb. Der Verleger
kann ſeine Hausinduſtriellen jederzeit außer Beſchäftigung
ſetzen, ohne ſelbſt Kapitalverluſte zu riskieren; aber der
Fabrikant muß in einem ſolchen Falle weiter produzieren,
weil er den Zinsverluſt und die Wertverminderung des
ſtehenden Kapitales fürchtet und ſeinen eingeſchulten Ar-
beiterſtamm nicht verlieren darf. Darum wird ſich voraus-
ſichtlich das Verlagsſyſtem in den Induſtriezweigen von
[111] raſch wechſelnder Nachfrage und großer Mannigfaltigkeit
der Artikel noch lange neben der Fabrik behaupten.
Wollen wir zum Schluſſe die fünf gewerblichen Be-
triebsſyſteme mit wenigen Worten charakteriſieren, ſo können
wir ſagen: Hausfleiß iſt gewerbliche Eigenproduktion, Lohn-
werk iſt Kundenarbeit, Handwerk iſt Kundenproduktion,
Verlag iſt bezentraliſierte und Fabrik zentraliſierte Waren-
produktion. Und wie keine volkswirtſchaftliche Erſcheinung
iſoliert daſteht, ſo iſt auch jedes dieſer induſtriellen Be-
triebsſyſteme nur ein Ausſchnitt aus einer großen Wirt-
ſchafts- und Sozialordnung. Der Hausfleiß iſt die Stoff-
umformung der autonomen Hauswirtſchaft, das Lohnwerk
gehört in die Zeit des Uebergangs von der geſchloſſenen
Haus- zur Stadtwirtſchaft, die Blüte des Handwerks fällt
in die Periode der ausgebildeten Stadtwirtſchaft, das Ver-
lagsſyſtem leitet von der Stadtwirtſchaft zur National- oder
Volkswirtſchaft (geſchloſſenen Staatswirtſchaft) hinüber, und
die Fabrik iſt das Betriebsſyſtem der ausgebildeten Volks-
wirtſchaft.
Es würde zu weit führen, hier auseinanderzuſetzen,
wie jedes induſtrielle Betriebsſyſtem ſich organiſch in die
Produktionsordnung ſeiner Zeit einfügt und wie es ſich
mit einer Reihe verwandter Erſcheinungen auf dem Gebiete
der Urproduktion, der perſönlichen Dienſte, des Handels,
des Transports wechſelſeitig bedingt. Das wäre die Auf-
gabe einer univerſellen Wirtſchaftsgeſchichte auf ethno-
[112] graphiſch vergleichender Grundlage, für die heute noch nicht
die Zeit gekommen iſt.
Wenden wir den Blick auf das engere Gebiet der Ge-
werbegeſchichte zurück, ſo kann es hier dem aufmerkſamen
Auge kaum entgehen, daß alle Keime der hier in ihren
wichtigſten Etappen geſchilderten Entwickelung in der Ur-
zelle der Geſellſchaft, der Familie oder, um wirtſchaftlich
zu ſprechen, in der Produktionsordnung des geſchloſſenen
Hauſes liegen. Von dieſer uralten lebenſtrotzenden Ge-
meinſchaft, in der alles individuelle Daſein verſchwand,
haben ſich auf dem Wege der Differenzierung und Inte-
gration fortgeſetzt Teile abgelöst und immer mehr ver-
ſelbſtändigt. Das Lohnwerk iſt nur ein Wurzelſchößling
am Baume der geſchloſſenen Hauswirtſchaft; das Hand-
werk bedarf noch ihres Schirmes, um zu gedeihen; der
Verlag macht den Vertrieb der Produkte zu einer eigenen
Unternehmung, während die Produktion faſt auf die erſte
Entwickelungsſtufe zurückſinkt; die Fabrik dagegen durch-
dringt den ganzen Produktionsprozeß mit dem Unternehmer-
prinzip: ſie iſt eine ſelbſtändige, von allen konſumtiven
Elementen befreite Wirtſchaft, ſachlich und örtlich vom Haus-
halt der Beteiligten getrennt.
Und ähnlich ändert ſich die Stellung des Arbeiters.
Mit dem Beginn des Lohnwerkes trennt ſich der Induſtrie-
arbeiter perſönlich von der geſchloſſenen Hauswirtſchaft des
Grundeigentümers; mit dem Uebergang zum Handwerk wird
er durch die Herausziehung der Betriebsmittel auch ſachlich
[113] frei und ſelbſtändig. Durch das Verlagsſyſtem tritt er
perſönlich in eine neue Abhängigkeit: in die Klientel des kapi-
talbeſitzenden Händlers; im Fabrikſyſtem wird er auch ſachlich
von demſelben abhängig. Auf vier Etappen der Entwick-
lung gelangt er von der Hofhörigkeit zur Fabrikhörigkeit.
Es iſt ein gewiſſer Parallelismus in dieſer Entwick-
lung. Die Stellung des unfreien Hausfleißarbeiters zum
antiken Grundherrn hat eine gewiſſe Verwandtſchaft mit
derjenigen des Fabrikarbeiters zum modernen Unternehmer,
und ähnlich wie der Lohnwerker zur Wirtſchaft des Grund-
eigentümers verhält ſich der Hausinduſtrielle zum Handels-
betriebe des Verlegers. In der Mitte dieſer auf- und
abſteigenden Reihe ſteht das Handwerk als Grund- und
Eckſtein derſelben. Vom Hausfleiß bis zum Handwerk all-
mähliche Emanzipation des Arbeiters vom Grund und
Boden und Bildung des Kapitals; vom Handwerk bis zur
Fabrik allmähliche Loslöſung des Kapitals von der Arbeit
und Unterwerfung des Arbeiters unter das Kapital. Auf
der Stufe des Hausfleißes gibt es noch kein Kapital, ſon-
dern nur Gebrauchsgüter auf verſchiedenen Stufen der Ge-
nußreife. Alles gehört dem Hauſe: Rohſtoff, Werkzeug,
Fabrikat, oft ſelbſt der Arbeiter. Beim Lohnwerk iſt nur
das Werkzeug Kapital in der Hand des Arbeiters; Roh-
und Hülfsſtoffe ſind Vorräte des Hauſes, die noch nicht
genußreif ſind; die Betriebsſtätte gehört entweder ebenfalls
dem Hauſe, welches das fertige Produkt verbrauchen will
(Stör), oder dem Arbeiter, der es herſtellt (Heimwerk).
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 8
[114] Im Handwerk ſind Werkzeug, Betriebsſtätte und Rohſtoff
Kapital im Eigentum des Arbeiters; der letztere wird Herr
des Produkts, ſetzt dieſes aber immer nur an den un-
mittelbaren Konſumenten ab. Im Verlagsſyſtem wird auch
das Produkt Kapital, aber nicht des Arbeiters, ſondern
einer ganz neu auf dem Plane erſcheinenden Perſon, des
kaufmänniſchen Unternehmers; der Arbeiter behält entweder
ſämtliche Produktionsmittel, oder er verliert zunächſt das Stoff-
kapital, dann auch das Werkzeugkapital. So ſammeln ſich alle
Kapitalbeſtandteile ſchließlich in der Hand des Fabrikunter-
nehmers, der auf ihrem Grunde die gewerbliche Produktion
neu organiſiert. In ſeinen Händen wird ſelbſt der Anteil des
Arbeiters am Produkt zu einem Teil des Betriebskapitals.
Dieſer Anteil des Arbeiters beſteht auf der Stufe des
Hausfleißes im Mitgenuß der erzeugten Produkte, beim
Lohnwerk in der Koſt nebſt Zeit- oder Stücklohn, welcher
bereits eine Vergütung für die Abnutzung der Werkzeuge
mit enthält, beim Handwerk in dem vollen Produktionsertrag.
Beim Verlagsſyſtem nimmt der Verleger einen Teil dieſes
letzteren im Gewinne ſeines Betriebskapitals vorweg; beim
Fabrikſyſtem werden alle kapitaliſierbaren Produktions-
elemente zu Kryſtalliſationspunkten für Kapitalprofite; dem
Arbeiter bleibt nur der vertragsmäßige Arbeitslohn.
Man darf ſich die geſchichtliche Entwickelung der in-
duſtriellen Betriebsſyſteme aber nicht ſo denken, als ob jede
neue Betriebsart die vorhergehende ältere verdränge und
vollſtändig überflüſſig mache. Es iſt das ebenſowenig der
[115] Fall, wie etwa durch ein neues Verkehrsmittel die älteren
verdrängt werden. Die Eiſenbahnen haben weder das
Fuhrwerk auf freier Straße noch den Transport auf Schiffen,
Saumtieren und dem Menſchenrücken beſeitigt; ſie haben
nur jeder dieſer älteren Transportweiſen diejenige Stellung
angewieſen, in der ſie ihre eigentümlichen Vorzüge am
meiſten entfalten kann, und wahrſcheinlich werden heute in
unſeren Kulturſtaaten mehr Pferde und Menſchen mit Trans-
portdienſten beſchäftigt, als im Jahre 1830.
Ganz dieſelben Urſachen, welche dieſe gewaltige Stei-
gerung des Verkehrs hervorgebracht haben, wirken in der
Induſtrie und nehmen für dieſelbe trotz fortwährender Ver-
vollkommnung der mechaniſchen Produktionsmittel in allen
Ländern eine ſtets wachſende Menſchenzahl in Anſpruch.
Von zwei Seiten aber empfängt das Produktionsgebiet des
Gewerbes immer neuen Zuwachs:
- 1. von Seiten der alten Haus- und Landwirtſchaft,
von denen ſich immer noch Teile ablöſen und zu
ſelbſtändigen Gewerbezweigen werden und - 2. durch ſtete Vervollkommnung 1) und Vermehrung der
Güterwelt, welche zur Befriedigung unſerer Be-
dürfniſſe dient.
Wenn man das ganze Quantum von Induſtriepro-
8 *
[116] dukten, das jährlich in Deutſchland hervorgebracht wird,
dergeſtalt ſtatiſtiſch zuſammenfaſſen könnte, daß man zu
ſcheiden im Stande wäre, was in Fabriken, was in der
Hausinduſtrie, durch das Handwerk, das Lohnwerk, den
Hausfleiß erzeugt iſt, ſo würde man ohne Zweifel finden,
daß der größere Teil der Fabrikwaren Güter umfaßt, welche
niemals von einem anderen Betriebsſyſtem erzeugt worden
ſind und daß das Handwerk abſolut heute eine größere
Produktenmenge hervorbringt als jemals früher. Gewiß
haben Verlags- und Fabrikſyſtem einige kleinere Handwerke
vollſtändig aufgeſogen und viele andere um Teile ihres
Produktionsgebietes geſchmälert. Aber alle großen Zunft-
handwerke, welche am Ende des vorigen Jahrhunderts be-
ſtanden haben — vielleicht mit einziger Ausnahme der
Weberei — beſtehen auch heute noch. Es findet eine fort-
geſetzte Zurückdrängung des Handwerks durch die voll-
kommeneren Betriebsſyſteme ſtatt, ähnlich wie im Mittel-
alter durch das Handwerk Hausfleiß und Lohnwerk zurück-
gedrängt wurden, nur weniger gewaltſam, auf dem Boden
des freien Wettbewerbs. Und dieſe Konkurrenz aller mit
allen, unterſtützt durch ein vervollkommnetes Transport-
und Verkehrsſyſtem, erzwingt vielfach den Uebergang von
der Kunden- zur Warenproduktion, auch wo techniſch die
erſtere vielleicht noch länger möglich wäre. Viele ſelbſt-
ſtändige Meiſter treten in die Klientel des Verlags oder
der Fabrik in ähnlicher Weiſe, wie ihre Vorläufer vor
einem Jahrtauſend in der Klientel des Fronhofs ſtanden.
[117]
So iſt das Handwerk wirtſchaftlich und ſozial in die
zweite Stelle gerückt; aber es iſt damit noch lange nicht
vernichtet, und es wird auch gewiß ebenſowenig verſchwinden,
wie Lohnwerk und Hausfleiß verſchwunden ſind. Was es der
Geſellſchaft in einer Zeit allgemeiner Feudaliſierung gewon-
nen hat, eine widerſtandsfähige Klaſſe vom Boden unabhäng-
iger Leute, deren Exiſtenz auf perſönlicher Tüchtigkeit und
einem kleinen beweglichen Beſitztum beruhte, eine Heimſtätte
bürgerlicher Zucht und Ehrbarkeit, das wird und muß ihr er-
halten bleiben, wenn auch wahrſcheinlich die künftigen Träger
dieſer Tugenden ihr Daſein auf anderer Baſis friſten werden.
Es iſt in letzter Zeit mit ſeltſamer Dringlichkeit der
Ruf nach Beſeitigung der älteren induſtriellen Betriebs-
ſyſteme erhoben worden 1). Das Handwerk, die Hausin-
duſtrie, überhaupt alle Kleinbetriebsformen, ſagt man, lähmten
die nationale Produktivkraft; ſie ſeien „rückſtändige, über-
wundene, rohe, um nicht zu ſagen ſozial hemmende Pro-
duktionsmethoden“, die im eigenſten Intereſſe derjenigen,
welche ſie ausüben, durch eine „vernünftige und zweck-
mäßige Gliederung und Regelung der menſchlichen Thätig-
keiten im Großen“ erſetzt werden müßten, wenn nicht auch
ferner die thatſächliche Nationalproduktion hinter der tech-
niſch möglichen weit zurückbleiben ſolle.
Dieſe kurzſichtige wirtſchaftspolitiſche Studierſtuben-
[118] logik iſt nicht neu. Es gab eine Zeit, in der man jeden
Bauernſchuſter, der ſeine Kartoffeln und ſeinen Kohl ſelber
baute, als eine Art Feind des höchſtmöglichen National-
reichtums anſah und ihn am liebſten von Polizei wegen
gezwungen hätte, bei ſeinem Leiſten zu bleiben, ſelbſt auf
die Gefahr hin, daß er dabei verhungerte. Es iſt ja immer viel
leichter geweſen, die Dinge zu meiſtern als ſie zu verſtehen.
Wenn man an die Stelle derartigen Abſprechens eine
unbefangene Unterſuchung der Exiſtenzbedingungen jener an-
geblich überlebten älteren Produktionsſyſteme hätte treten
laſſen wollen, ſo würde man ſich bald überzeugt haben, daß
dieſelben in den meiſten Fällen da, wo ſie heute noch fort-
dauern, wirtſchaftlich und ſozial berechtigt ſind, und man
würde die Mittel zur Beſeitigung der vorhandenen Uebel-
ſtände auf dem Boden ſuchen, in welchem jene Induſtrie-
formen wurzeln, anſtatt an ihnen die Kurmethode des Doktor
Eiſenbart zu erproben. Man würde ſo die Vorzüge, die
jedes dieſer Betriebsſyſteme unzweifelhaft beſitzt, erhalten
und nur ihre Nachteile zu beſeitigen ſtreben.
Denn das iſt ja ſchließlich das tröſtliche Reſultat aller
ernſteren Geſchichtsbetrachtung, daß kein einmal in das Leben
der Menſchen eingeführtes Kulturelement verloren geht, ſon-
dern daß jedes, auch wenn die Uhr ſeiner Vorherrſchaft
abgelaufen iſt, an beſcheidenerer Stelle mitzuwirken fortfährt
an dem großen Ziele, an das wir alle glauben, dem Ziele,
die Menſchheit immer vollkommneren Daſeinsformen ent-
gegenzuführen.
[[119]]
III.
Arbeitsteilung
und
ſoziale Klaſſenbildung.
Vortrag,
gehalten beim Antritt des Lehramtes
an der Univerſität Leipzig
den 5. November 1892.
[[120]][[121]]
In den meiſten Wiſſenſchaften gibt es heutzutage po-
puläre Wahrheiten. In der Regel handelt es ſich dabei
um Lehrſätze von allgemeinerer Bedeutung, denen gleich bei
ihrer Entſtehung von ihren Urhebern eine ſolche äußere und
innere Vollendung gegeben worden iſt, daß ſie als geſicherte
Errungenſchaft menſchlicher Erkenntnis dem Schatze unſeres
Wiſſens gleichſam unverrückbar und unverlierbar hinzugefügt
werden zu dürfen ſchienen. Mit oft überraſchender Schnellig-
keit gehen ſolche Sätze in den allgemeinen Gedankeninhalt
der Gebildeten über. Das handliche Gepräge, das ihnen
von Anfang an eigen iſt, macht ſie zu Münzen des geiſtigen
Verkehrs, die weit über das Wiſſensgebiet hinaus Kurs
erlangen, für das ſie urſprünglich geprägt worden ſind.
Und dieſer Uebergang in den Wiſſens- und Sprachſchatz
der gebildeten Welt dient auf der anderen Seite wieder
dazu, ihre Geltung innerhalb des engeren Forſchungsgebietes,
dem ſie entſtammen, zu befeſtigen. Iſt die Erkenntnis auf
dieſem Gebiete in raſcher Entwickelung begriffen, ſo er-
eignet es ſich dann wohl, daß jene populär gewordenen
Sätze unangetaſtet beſtehen bleiben, während das ganze
übrige Lehrgebäude dem Abbruch und Neubau unterliegt;
[122] ſie ſind wie unorganiſche Körper, die von einem in üppigem
Wachstum begriffenen Organismus überwallt und einge-
kapſelt werden.
Aehnlich verhält es ſich, wenn ich mich nicht täuſche,
auch mit der nationalökonomiſchen Lehre von der Arbeits-
teilung. In ihrer jetzigen Geſtalt geht dieſelbe auf Adam
Smith zurück, und zu ihrer Popularität hat wohl der
äußere Umſtand nicht wenig beigetragen, daß ſie im erſten
Kapitel des erſten Buches ſeines klaſſiſchen Werkes vorge-
tragen wird, wo ſie auch der großen Schar derjenigen nicht
entgehen konnte, welche die Bücher bloß „anleſen.“ Adam
Smith iſt freilich nicht der Urheber jener Lehre. Er ent-
lehnt dieſelbe in weſentlichen Punkten dem Essay on the
history of civil society ſeines Landsmannes Adam Fer-
guſon, welcher 1767 erſchienen war. Allein in der an-
mutigen Form, in welcher Smith ſie vortrug, iſt die Lehre
von allen Späteren übernommen worden; ſie iſt in dieſer
Form auch in andere Wiſſenſchaften übergegangen und in
ihr jedem Gebildeten geläufig geworden.
Ich darf alſo darauf rechnen, mich in einem meinen
Hörern geläufigen Gedankenkreiſe zu bewegen, wenn ich heute
verſuche, die nationalökonomiſche Lehre von der Arbeits-
teilung einer kritiſchen Prüfung zu unterwerfen und wenn
ich in dieſe Prüfung mit einbeziehe die Anwendung, welche
dieſe Lehre ganz neuerdings auf ſoziologiſchem Gebiete ge-
funden hat. Denn dieſe letztere Anwendung bezeichnet zu-
gleich einen der wenigen Verſuche, welche die wiſſenſchaftliche
[123] Nationalökonomie gemacht hat, in dieſem Kapitel über Adam
Smith hinauszugehen. Im übrigen hat man ſich darauf
beſchränkt, die Smith’ſche Lehre in Nebenpunkten zu korri-
gieren, ſie dogmengeſchichtlich in die Vergangenheit bis zu
den alten Griechen zurückzuverfolgen, die Erläuterungsbei-
ſpiele den techniſchen Fortſchritten der Gegenwart anzupaſſen
und neben den Lichtſeiten auch die Schattenſeiten der Arbeits-
teilung hervorzuheben. Im Ganzen aber gilt von der Lehre
von der Arbeitsteilung, was ich vorhin allgemein von populär
gewordenen wiſſenſchaftlichen Lehrſätzen geſagt habe: ſie iſt
unangetaſtet ſtehen geblieben, während ringsum an dem
Gebäude der ökonomiſchen Theorie eifrig um- und weiter-
gebaut worden iſt, und noch vor kurzem hat ein angeſehener
volkswirtſchaftlicher Schriftſteller in einem kritiſchen Ueber-
blick über die Entwickelung der Nationalökonomie ſeit Adam
Smith die Behauptung drucken laſſen, der Gegenſtand ſei
erſchöpft; man könne von ihm nur kurz wiederholen, was
andere bereits geſagt hätten 1).
Unter dieſen Umſtänden wird es genügen, wenn ich
meine Erörterungen unmittelbar an die Darſtellung des be-
rühmten Schotten anknüpfe. Aus Rückſicht auf die Kürze
der Zeit werde ich ſie aber nicht auf das ganze Gebiet aus-
dehnen, ſondern nur die beiden Fragen zu beantworten ſuchen:
was iſt Arbeitsteilung? und wie wirkt die-
ſelbe auf die Gliederung der Geſellſchaft ein?
[124]
Was die Arbeitsteilung ſei, wird von Adam Smith
nirgends geſagt. Er erläutert den Vorgang, den er mit
dieſem Namen bezeichnet, nur an einzelnen Beiſpielen und
deduziert aus ihnen direkt den Satz, den man als das
„Geſetz“ der Arbeitsteilung bezeichnet hat, und den man
kurz in die Worte zuſammenfaſſen kann, daß in jedem Ge-
werbe die Produktivität der Arbeit proportional der Aus-
dehnung der Arbeitsteilung wächſt 1).
Jene Beiſpiele aber bezeichnen, wenn man ſie näher
anſieht, durchaus nicht die gleichen ökonomiſchen Vorgänge.
Da iſt zuerſt die berühmte Darſtellung der Steck-
nadelmanufaktur. Smith ſtellt hier den gewöhnlichen Ar-
beiter, der auf den ſpeziellen Produktionszweig nicht be-
ſonders eingeübt iſt und bei höchſtem Fleiße in einem
ganzen Tag vielleicht kaum eine, ſicher aber nicht zwanzig
Stecknadeln anfertigen könnte, gegenüber der Fabrik, in
welcher eine größere Zahl von Arbeitern das gleiche Fa-
brikat in geteilter Arbeit herſtellt. „Der Eine zieht den
Draht aus, der Andere ſtreckt ihn, ein Dritter ſchneidet ihn,
ein Vierter ſpitzt ihn, ein Fünfter ſchleift das obere Ende
für die Aufnahme des Knopfes zu; die Anfertigung des
Knopfes erfordert wieder zwei beſondere Operationen“
u. ſ. w. So ergeben ſich bis zur Vollendung der Nadel
[125] achtzehn verſchiedene Manipulationen, von denen jede einem
beſonderen Arbeiter übertragen werden kann. Smith findet,
daß in einer derartig kooperierenden Arbeitergruppe die
Leiſtung jedes Einzelnen gegenüber derjenigen des iſoliert
das ganze Produkt herſtellenden Arbeiters ſich verhundert-
facht, ja vertauſendfacht.
Dieſes Beiſpiel iſt bis zum Ueberdruß wiederholt
worden; es iſt zum klaſſiſchen Paradigma der Arbeits-
teilung überhaupt geworden, und die meiſten vermögen ſich
dieſelbe nur unter dieſem einen Bilde vorzuſtellen, dem
Bilde einer Fabrik, in welcher die zur Herſtellung des Fa-
brikats notwendige Geſamtarbeit in möglichſt viele einfache
Verrichtungen zerlegt iſt, die gleichzeitig von verſchiedenen
Perſonen in derſelben Wirtſchaft vorgenommen werden 1).
Aber Adam Smith hat ſich auf dieſes Beiſpiel nicht
beſchränkt. Er nennt es auch Arbeitsteilung, wenn in einem
Lande ein Produkt von der Gewinnung des Rohſtoffes bis
zur Genußreife verſchiedene Wirtſchaften paſſieren muß, wie
z. B. die Wolle die Wirtſchaften des Schafzüchters, des
Spinners, des Webers, des Färbers. In einem roheren
Zuſtande der Geſellſchaft ſei dies alles die Arbeit eines
[126] Einzigen; in einem vorgeſchritteneren Lande dagegen ſei
der Landwirt gewöhnlich nichts als Landwirt, der Fabri-
kant nichts als Fabrikant, und auch die Arbeit, welche zur
Hervorbringung eines vollendeten Fabrikats notwendig ſei,
finde ſich faſt immer unter eine große Zahl von Händen
geteilt.
Smith macht zwiſchen beiden Arten der Arbeitsteilung
keinen Unterſchied und ſchreibt beiden die gleichen Wirkungen
zu. Aber es bedarf keines langen Nachdenkens, um zu
erkennen, daß wir es mit verſchiedenartigen Vorgängen zu
thun haben. Im Falle der Erzeugung von Wollentuch
zerfällt ein ganzer Produktionsprozeß in verſchiedene Ab-
ſchnitte; jeder Produktionsabſchnitt wird zu einem ſelbſtändigen
Wirtſchaftsorganismus, und ein Gut, das zu ſeiner Vollen-
dung gelangen ſoll, muß von der Entſtehung des Rohſtoffs
ab auf dem Wege des entgeltlichen Beſitzwechſels eine Reihe
von Wirtſchaften durchlaufen, ehe es zum Gebrauche bereit
geſtellt werden kann. In dem Falle der Stecknadelmanu-
faktur dagegen bildet das Objekt der Teilung nicht ein
ganzer Produktionsprozeß, ſondern ein einzelner Produktions-
abſchnitt. Denn ihr Rohſtoff, der Draht, iſt bereits ein
ziemlich vorgeſchrittenes Halbfabrikat. Das Ergebnis der
Teilung iſt nicht eine Reihe neuer Wirtſchaften, ſondern
eine Kette unſelbſtändiger Arbeitsverrichtungen, die zu ihrer
Wahrnehmung unter unſeren Verhältniſſen die Exiſtenz von
Lohnarbeitern bedingen, welche durch einen Unternehmer
zuſammengehalten werden. Das Produkt paſſiert zwar
[127] eine größere Zahl von Händen, als vorher, bis zu ſeiner
Vollendung; aber es wechſelt nicht den Eigentümer.
Zwei ſo durchaus verſchiedene wirtſchaftliche Vorgänge
erfordern auch verſchiedene Namen. Wir wollen die Teilung
eines ganzen Produktionsprozeſſes in mehrere ſelbſtändige
Abſchnitte als Produktionsteilung bezeichnen, wäh-
rend wir die Auflöſung eines Produktionsabſchnittes in
einfache, für ſich nicht ſelbſtändige Arbeitselemente Ar-
beitszerlegung nennen.
Endlich führt Adam Smith noch ein drittes Beiſpiel
an, das weder Produktionsteilung noch Arbeitszerlegung
iſt. Er ſtellt drei Schmiede einander gegenüber: einen ge-
wöhnlichen Grobſchmied, der wohl den Hammer führen kann,
aber nicht gewohnt iſt Nägel zu machen, einen anderen
Schmied, der wohl Nägel machen kann, dies aber nicht zu
ſeiner einzigen oder hauptſächlichen Beſchäftigung macht
und endlich einen Nagelſchmied, der nie etwas anderes ge-
macht hat als Nägel. Er findet, daß, wenn alle drei eine
beſtimmte Zeit Nägel machen, die Arbeitsleiſtung in dem
Maße wächſt, als ſich der Arbeiter auf die Herſtellung dieſes
einen Produkts beſchränkt, und eben dieſe Beſchränkung
auf die ausſchließliche Erzeugung einer einzelnen Güter-
ſpezies nennt er Arbeitsteilung.
Man wird nicht ſofort die Berechtigung dieſer Be-
nennung einſehen. Was iſt denn hier geteilt worden?
Und wo ſind die Teile?
Offenbar denkt ſich Smith als den Gegenſtand der
[128] Teilung den vollen Gewerbebetrieb eines Schmiedes, der
nach alter Art ebenſowohl Hufeiſen, Pflugſcharen, Rad-
reifen als auch Meſſer, Riegel und Nägel anfertigt. Aus
dieſem umfänglichen Produktionsgebiete wird eine Art von
Produkten ausgeſchieden und ihre Erzeugung von einem
beſonderen Arbeiter übernommen, eben dem Nagelſchmied,
während der Reſt der Produkte auch fernerhin der Arbeit
des Schmiedes verbleibt. Die Produkte, welche ſeither
ſämtlich in der einen Wirtſchaft des Schmiedes erzeugt
worden ſind, werden künftig in zwei verſchiedenen Wirt-
ſchaften hergeſtellt. Aus einem Gewerbe ſind zwei gewor-
den, und jedes bildet für einen Menſchen eine beſondere
Lebensaufgabe, einen Beruf.
Es iſt klar, daß es ſich in dieſem Falle weder um
die Zerſchneidung eines größeren Produktionsprozeſſes in
verſchiedene Abſchnitte handelt noch um die Zerlegung eines
Produktionsabſchnittes in ſeine einfachſten Arbeitselemente.
Denn, wie Smith ſelbſt hervorhebt, das Arbeitsverfahren
iſt beim Nagelſchmied kein kürzeres und kein weniger um-
ſtändliches als beim Schmied: jeder bewegt ſelbſt den Blaſe-
balg, ſchürt das Feuer, glüht das Eiſen und ſchmiedet das
Produkt aus. Nur das eine hat ſich geändert, daß jeder
dieſes Verfahren auf eine geringere Zahl von Güterſpezies
anwendet. Die erzeugten Güter ſelbſt aber paſſieren jedes
für ſich unter dem Syſtem der geteilten Arbeit nicht mehr
Hände als vorher. Wir wollen dieſe dritte Art von Ar-
[129] beitsteilung als Spezialiſation oder Berufstei-
lung bezeichnen.
Wie ſich die Berufsteilung von der Arbeitszerlegung
unterſcheidet, iſt leicht einzuſehen. Jene iſt eine Teilung
der geſamten Produktionsaufgabe zwiſchen verſchiedenen
Wirtſchaften; dieſe vollzieht ſich innerhalb einer einzelnen
Unternehmung. Schwieriger vielleicht iſt es auf den erſten
Anſchein hin, Produktionsteilung und Berufsteilung aus-
einanderzuhalten. Bei der Produktionsteilung werden ſo-
zuſagen Querſchnitte durch einen längeren Produktionsprozeß
gezogen, bei der Berufsteilung wird ein ſolcher der Länge
nach durchgeſpalten.
Um ein einfaches Beiſpiel vorzuführen, ſo erfolgt ur-
ſprünglich die Erzeugung lederner Gebrauchsgegenſtände in
einer einzigen Wirtſchaft. Der ſibiriſche Nomade, der ſüd-
ſlaviſche Bauer gewinnen noch jetzt die Häute im eigenen
Haushalt, gerben ſie und machen daraus Fußbekleidung,
Pferdegeſchirr u. ſ. w. In den weſteuropäiſchen Ländern
entſtanden ſchon im frühen Mittelalter die Gewerbe des
Gerbers und des Lederers. Die Lederartikel paſſierten
nunmehr bis zur Vollendung drei Wirtſchaften: diejenige
des Häuteproduzenten, des Gerbers und des Lederers.
Das war Produktionsteilung. Aus dem großen Gewerbe
des Lederers ſpalten ſich mit der Zeit die Spezialhandwerke
des Schuhmachers, Sattlers, Riemers, Beutlers ꝛc. ab, von
denen jedes eine beſondere Art von ledernen Gebrauchs-
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 9
[130] gütern annähernd mit dem gleichen Arbeitsverfahren erzeugt.
Das iſt Berufsteilung oder Spezialiſation.
Bei der Produktionsteilung wird — um ein Bild zu
gebrauchen — der ganze Strom der Gütererzeugung von
Zeit zu Zeit durch Wehrbauten aufgeſtaut, bei der Berufs-
teilung wird er in zahlreiche kleine Kanäle und Bächlein
auseinandergeleitet.
Weiter geht Smith in ſeinen erläuternden Beiſpielen
nicht, und auch wir wollen vorläufig hier Halt machen
und uns die Frage vorlegen: was veranlaßte den „Vater
der Nationalökonomie“ drei ſo verſchiedenartige Vorgänge
wie die Produktionsteilung, die Arbeitszerlegung und die
Berufsteilung unter dem einen Namen der Arbeitsteilung
zuſammenzufaſſen? Worin ſind dieſe Vorgänge, deren tief-
greifende Verſchiedenheiten wir nur kurz andeuten konnten,
weſensgleich?
Die richtige Beantwortung dieſer Frage wird uns zu-
gleich die einfachſte und allgemeinſte Definition der Arbeits-
teilung liefern — eine Definition, die von allen anerkannt
werden muß, welche ſich in dieſem Punkte dem Adam Smith
angeſchloſſen haben, d. h. von der ganzen wiſſenſchaftlichen
Nationalökonomie 1).
[131]
Offenbar haben nun jene drei verſchiedenen Arten der
volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung nur das Folgende mit
einander gemein: alle drei ſind volkswirtſchaftliche Ent-
wicklungsvorgänge, die durch menſchliche Willens-
akte herbeigeführt werden und bei welchen eine
wirtſchaftliche Leiſtung von einer Perſon, der ſie
bis dahin oblag, auf mehrere Perſonen übertragen
wird, dergeſtalt, daß jede der letzteren fürderhin
nur einen differenten Teil der ſeitherigen Geſamt-
arbeit verrichtet. Es wird ſich demnach jede Arbeits-
teilung darin dokumentieren, daß die Zahl der Arbeitskräfte
wächſt, welche zur Erreichung eines beſtimmten Wirtſchafts-
zweckes notwendig ſind, und daß zugleich eine Differenzierung
der Arbeit ſtattfindet. Die Wirtſchaftsaufgaben werden ver-
einfacht; ſie werden der Beſchränktheit der menſchlichen Fähig-
keiten beſſer angepaßt, gleichſam individualiſiert. Arbeits-
teilung iſt darum auch immer Arbeitsgliederung, Organi-
1)
9 *
[132] ſation der Arbeit nach dem Prinzip der Wirtſchaftlichkeit;
ihr Ergebnis iſt immer das Zuſammenwirken verſchieden-
artiger Kräfte zu einem gemeinſamen Ziele.
Halten wir dies feſt und durchmuſtern wir daraufhin den
ganzen Erſcheinungskreis der volkswirtſchaftlichen Arbeits-
verwendung, ſo wie dieſe ſich hiſtoriſch entwickelt hat und
täglich weiter entwickelt, ſo erkennen wir bald, daß mit den
typiſchen Beiſpielen des Adam Smith und den drei daraus
von uns abgeleiteten Arten der Arbeitsteilung das Bereich
der letzteren keineswegs erſchöpft iſt. Wir finden vielmehr
noch einen vierten und einen fünften Typus der Arbeits-
teilung, von denen wir den einen als Berufsbildung, den
andern als Arbeitsverſchiebung bezeichnen wollen.
Was zunächſt die Berufsbildung betrifft, ſo
wäre dieſelbe eigentlich vor jeder andern Art der Arbeits-
teilung zu nennen geweſen. Denn ſie ſteht an der Spitze
jeder volkswirtſchaftlichen Entwicklung. Zu ihrem Ver-
ſtändnis iſt davon auszugehen, daß vor der Entſtehung der
Volkswirtſchaft allgemein die Völker einen Zuſtand reiner
Eigenwirtſchaft durchmachen, wo jedes Haus durch die
Arbeit ſeiner Angehörigen alles erzeugen muß, was es bedarf.
Dieſe Arbeit kann unter den Hausgenoſſen nach Alter,
Geſchlecht und Körperkraft, ſowie nach ihrer Stellung zum
Hausvater mannigfach verteilt ſein. Aber dieſe Arbeits-
verteilung iſt keine volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung; ihre
Wirkungen bleiben auf die Einzelwirtſchaft beſchränkt und
greifen nicht organbildend in andere Wirtſchaften oder
[133] klaſſenbildend in die Geſellſchaft über. Es gibt darum
auf dieſer Stufe wohl allerlei landwirtſchaftliche und ge-
werbliche Technik, aber es gibt keine Landwirtſchaft, kein
Gewerbe, keinen Handel als beſondere Erwerbszweige, keine
Bauern, keine Induſtriellen, keine Kaufleute als ſoziale
Berufsgruppen.
Dieſer Zuſtand ändert ſich, ſobald einzelne Arbeiten
aus dieſer vielſeitigen Wirtſchaft ſich ausſondern und zum
Gegenſtand eines Berufes, zur Unterlage einer ſpeziellen
Erwerbsthätigkeit werden. Vorbereitet wird dieſer Fort-
ſchritt durch die Arbeitsverteilung der großen Sklaven- und
Frönerwirtſchaften, mit der wir uns indeſſen hier nicht be-
ſchäftigen können 1). Das Stück, welches ſich aus dem
Thätigkeitsgebiete der autonomen Hauswirtſchaft ausſcheidet
und in einem beſondern Berufe verſelbſtändigt, iſt bald
ein ganzer Produktionsprozeß, z. B. die Töpferei, bald ein
einzelner Produktionsabſchnitt, z. B. das Walken des Tuches,
das Mahlen des Getreides, bald eine Art perſönlicher Dienſt-
leiſtung, z. B. das Heilen von Wunden. In der Regel
aber wird durch die Berufsbildung der produktive Teil der
häuslichen Wirtſchaftsaufgaben geſchmälert, und im Laufe
der Jahrhunderte werden letztere immer mehr auf das
konſumtive Gebiet zurückgedrängt. Auf der andern Seite
entſtehen die verſchiedenen Produktionszweige und Gewerbe,
die ſich dann durch Produktions- und Berufsteilung ins
Unendliche vervielfältigen.
[134]
Man würde irren, wenn man meinte, dieſer Prozeß
der Berufsbildung, der bei uns bereits im frühen Mittel-
alter beginnt, ſei längſt zum Abſchluß gelangt. Noch immer
bröckeln Teile der alten Hauswirtſchaft ab, langſam auf
dem Lande, ſchneller in den Städten, und jedes ſtädtiſche
Adreßbuch kann uns eine Reihe ſelbſtändiger Gewerbe auf-
weiſen, welche erſt im Laufe dieſes Jahrhunderts durch
Abſplitterung früherer hauswirtſchaftlicher Thätigkeiten ent-
ſtanden ſind.
Freilich wäre es ein Irrtum anzunehmen, daß alle
Berufsbildung auf Teilung der Arbeit zwiſchen Haushalt
und neuen Erwerbswirtſchaften zurückzuführen ſei. Eine
Kautſchukfabrik, eine Galvaniſieranſtalt, ein Elektrizitäts-
werk, eine Eisfabrik, ein photographiſches Atelier ſind Ge-
werbebetriebe, welche nicht der Arbeitsteilung, ſondern dem
Aufkommen ganz neuer Güterarten ihre Entſtehung ver-
danken. Immerhin ſtehen auch ſie nicht außerhalb der
Einwirkung der Arbeitsteilung, indem ſie von Anfang an
den von dieſer geſchaffenen Produktionsformen ſich anbe-
quemen. Und vor allem iſt ihre Zahl verhältnismäßig
gering, ſodaß ſie als Ausnahmen angeſehen werden müſſen.
Aber vielleicht werden Sie mir hier den Einwurf machen,
daß doch die Zahl der neuen Erfindungen in unſerem Zeit-
alter eine ſo überaus große ſei und mich ſpeziell an die
unendlich reiche Produktion von Maſchinen und ſonſtigen
Hilfsmitteln der Arbeit erinnern. Allein gerade bei dieſen
letzteren haben wir es unzweifelhaft mit einer Art der
[135] Arbeitsteilung zu thun, und zwar einer ſehr intereſſanten:
eben jener Arbeitsverſchiebung, welche ich an fünfter
Stelle genannt habe.
Wenn in einem Produktionszweige eine neuerfundene
Maſchine eingeführt wird, ſo tritt eine völlige Verſchiebung
der ſeitherigen Arbeitsorganiſation ein. In der Regel
übernimmt der Mechanismus nur einzelne Bewegungen, die
bis dahin durch Menſchenhand ausgeführt wurden, und in
dem Betriebe, welcher die neue Maſchine verwendet, mag
ſich zunächſt nichts weiter ändern, als daß der Arbeiter,
welcher vorher jene Muskelbewegungen ausführte, zur
Bedienung der Maſchine verwendet wird, die andere Muskel-
bewegungen von ihm fordert. So arbeitet z. B. nach Ein-
führung der Nähmaſchine der Arbeiter in der Schneider-
werkſtätte mit Hand und Fuß, während er vorher bloß
mit der Hand thätig war und mit dieſer auch in anderer
Weiſe.
Aber um einen Rock zu produzieren ſind auch ſchon
vorher weit mehr Perſonen thätig geweſen als der Schneider.
Da ſind zunächſt die Produzenten der Stoffe, welche der
Schneider verwendet: der Wollproduzent, der Spinner, der
Weber, der Färber ꝛc., dann die Produzenten ſeiner Werk-
zeuge: der Nadelfabrikant, der Scheerenſchmied und viele
andere. Alle dieſe Produzenten bleiben auch noch nach
Einführung der Nähmaſchine in Thätigkeit. Dazu kommt
aber noch ein neuer: der Maſchinenfabrikant oder, da die
Maſchine auf dem Wege der Arbeitszerlegung hergeſtellt
[136] wird, gleich eine ganze Anzahl: der Maſchinenſchloſſer, der
Gießer, der Metalldrechsler, der Modellſchreiner, der Mon-
teur, der Lackierer u. ſ. f. Es iſt, wenn wir den ganzen
Produktionsprozeß ins Auge faſſen, ein Teil der Geſamt-
arbeit aus einem ſpätern in ein früheres Stadium zurück-
geſchoben, die Schneiderarbeit iſt teilweiſe aus der Schneider-
werkſtätte in die Maſchinenfabrik verlegt worden.
Der ganze Vorgang iſt typiſch und trägt unzweifelhaft
die Züge der Arbeitsteilung. Wenn wir dafür den Aus-
druck Arbeitsverſchiebung anwenden, ſo muß derſelbe in
örtlichem und zeitlichem Sinne verſtanden werden. Oertlich
bedeutet die Arbeitsverſchiebung die teilweiſe Verlegung einer
Arbeitsleiſtung aus einer Produktionsſtätte in eine andere;
zeitlich iſt ſie Erſetzung unmittelbarer durch vorgethane Ar-
beit, Zurückſchiebung eines Teils der Arbeit, welche ſeither
auf die Herſtellung des Gebrauchsguts verwendet wurde,
auf die Erzeugung des Produktionsmittels. Es iſt dabei
aber durchaus nicht notwendig, daß ſich eine neue Wirtſchaft
(Unternehmung) bildet, in welcher berufsmäßig das neue
Arbeitsinſtrument hergeſtellt wird, wie denn im Falle der
Nähmaſchine ſehr wohl eine bereits vorhandene Maſchinen-
fabrik ihre Anfertigung übernehmen kann. Das Weſentliche
iſt, daß das neue Verfahren der Kleiderproduktion eine
größere Zahl differenter Arbeitsverrichtungen enthält und
demgemäß mehr Arbeitskräfte in Anſpruch nimmt.
Wir haben nunmehr fünf verſchiedene Arten volks-
wirtſchaftlicher Vorgänge kennen gelernt, die unter den Be-
[137] griff der Arbeitsteilung fallen und die ſich noch täglich vor
unſern Augen abſpielen. Damit iſt freilich über ihre rela-
tive Bedeutung in dem modernen Wirtſchaftsleben noch ſehr
wenig geſagt. Denn das letztere iſt das Ergebnis eines
langen Entwicklungsprozeſſes, und wer es mit dem Auge
des Geſchichtsforſchers betrachtet, der findet überall Aelteſtes
und Jüngſtes neben einander: das erſte mit beſcheidener,
das andere mit breit hervortretender Wirkungsſphäre. Die
Menſchheit hat auf ihrem langen Entwicklungsgange von
der iſolierten zur ſozialen Wirtſchaft immer neue Weiſen
der Arbeitsorganiſation geſucht und gefunden. Aber ſie
hat darum die alten nicht fallen gelaſſen und wird ſie nicht
fallen laſſen, ſo lange ſie ihre Rolle nicht vollſtändig aus-
geſpielt haben. Denn auch in dieſem Punkte waltet das
große Geſetz der Wirtſchaftlichkeit: es geht nichts verloren,
das an irgend einer Stelle noch mit Nutzen Verwendung
finden kann.
Das gilt auch von den verſchiedenen Formen der Arbeits-
teilung. Mögen auch Arbeitszerlegung und Arbeitsver-
ſchiebung in der Gegenwart an Bedeutung die Berufs- und
Produktionsteilung weit überragen, mag die Berufsbildung
als Form der Arbeitsteilung kaum mehr in Betracht kommen,
erloſchen iſt darum keines dieſer volkswirtſchaftlichen Organi-
ſationsprinzipien; ſondern jedes wirkt an den Stellen fort,
wo es ſeine Kraft noch bewähren kann.
In der Wirtſchaftsgeſchichte hat jedes von ihnen eine
Periode der Vorherrſchaft gehabt. Die Berufsbildung
[138] kommt bei uns im frühen Mittelalter auf; die Hauptwirk-
ſamkeit der Berufsteilung fällt mit der Blüte des Städte-
weſens zuſammen. Gleichzeitig beginnt die Produktions-
teilung; ihre ganze Kraft entfaltet die letztere aber erſt nach
dem Aufkommen der Arbeitszerlegung und der Arbeits-
verſchiebung, welche beide ſich kaum über das XVII. Jahr-
hundert zurückverfolgen laſſen.
Ich verzichte nur ungern darauf, Ihnen die hiſtoriſche
Bedingtheit jeder einzelnen, die Urſachen und die Folgen
ihres Auftretens ausführlich darzulegen, und dies um ſo
mehr, als die von mir vorgenommene ſchärfere Unterſcheidung
der einzelnen Vorgänge erſt in dieſen Punkten ihre volle
Rechtfertigung, die ſeitherige abſtrakte Behandlung der ganzen
Erſcheinung ihre Widerlegung finden kann. Ich muß jedoch
mit wenigen Worten auf Urſache und Wirkung der Arbeits-
teilung im allgemeinen eingehen. Denn die Unterſcheidung
jener fünf Arten derſelben müßte als wiſſenſchaftlich be-
deutungslos oder als müßiges Spiel des Scharfſinns er-
ſcheinen, wenn alle auf- und abwärts in dem gleichen
Kauſalitätsverhältnis zu den übrigen volkswirtſchaftlichen
Erſcheinungen ſtünden.
Adam Smith führt alle Arbeitsteilung auf einen ge-
meinſamen Urſprung zurück: die dem Menſchen ange-
borene Neigung zum Tauſche, von der er unentſchieden
läßt, ob ſie inſtinktiv oder auf Grund bewußt wirkender
Ueberlegung auftrete. Er verzichtet alſo auf eine ſcharfe
pſychologiſche Analyſe des wirtſchaftlichen Handelns und
[139] begnügt ſich damit, die Wurzeln der Arbeitsteilung in die
dunkeln Tiefen des Trieblebens zu verſenken.
Dadurch gerät er aber mit ſeinen eignen Beiſpielen in
Widerſpruch. Geht die Arbeitsteilung aus einem dem
Menſchen von jeher innewohnenden Triebe hervor, ſo iſt
ſie eine abſolute ökonomiſche Kategorie. Sie muß ſich
überall, wo Menſchen ſind und zu allen Zeiten geltend
machen. Nun aber ſtellen die Beiſpiele des Adam Smith
dem Zuſtande der geteilten Arbeit regelmäßig einen Zuſtand
der ungeteilten Arbeit gegenüber und laſſen den erſteren
aus letzterem hervorgehen. Das erfordert ja auch der dyna-
miſche Gebrauch des Wortes Teilung. Thatſächlich hat,
wie wir bereits wiſſen, ein Zuſtand ohne volkswirtſchaftliche
Arbeitsteilung Jahrhunderte lang beſtanden, und die einzelnen
Arten der letzteren laſſen ſich nach ihrer Entſtehungszeit
ziemlich genau beſtimmen. Es iſt alſo die volkswirtſchaft-
liche Arbeitsteilung überhaupt eine hiſtoriſche Kategorie,
keine elementare Wirtſchaftserſcheinung.
Und dasſelbe gilt vom Tauſche. Wie es Perioden ohne
volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung gegeben hat, ſo gab es
auch Perioden ohne Tauſch. Die erſten Tauſchhandlungen
treten nicht gleichzeitig mit der Arbeitsteilung auf, ſondern
gehen derſelben lange voraus. Sie dienen dem Zwecke,
zufällige Ueberſchüſſe und Ausfälle, die ſich in ſonſt auto-
nomen Wirtſchaften eingeſtellt haben, gegen einander aus-
zugleichen. Der Tauſch iſt hier etwas Zufälliges, nichts im
Weſen der Wirtſchaft Begründetes. Und auch wenn mit
[140] der Berufsbildung die volkswirtſchaftliche Arbeitsteilung
beginnt, ſo bewegt ſie ſich noch lange in Formen, denen
man die Abſicht anmerkt, den Tauſch möglichſt auszuſchließen.
Der Bauer der alten Zeit mahlt ſein Getreide auf der
Handmühle und ſeine Frau backt aus dem ſo erzeugten
Mehle das Brot. Nachdem ſich die Gewerbe des Müllers
und des Bäckers gebildet haben, wird das Getreide dem
Müller zum Vermahlen hinausgegeben und der Bäcker erhält
darauf das Mehl, um Brot daraus herzuſtellen. Vom Roh-
material bis zum fertigen Produkt wechſelt das neu ent-
ſtehende Gebrauchsgut niemals ſeinen Eigentümer. Für
ihre Mühe werden Müller und Bäcker mit einem Teile
ihres Produkts abgefunden, den ſie zurückbehalten. Das
iſt in dem ganzen arbeitsteiligen Produktionsprozeß der
einzige tauſchähnliche Vorgang.
Man erkennt daraus leicht, daß jener angebliche Tauſch-
trieb des Adam Smith nur ein Auskunftsmittel der Ver-
legenheit iſt. Wir können uns näheres Eingehen auf dieſen
Punkt um ſo eher erſparen, als die neueren Nationalökonomen
darin ihrem engliſchen Meiſter nicht gefolgt ſind. Die letzteren
ſind eher geneigt, den Tauſch als die unbeabſichtigte Folge
der Arbeitsteilung anzuſehen, und wir können dies mit der
Einſchränkung gelten laſſen, daß der Tauſch bei geteilter
Arbeit zur Notwendigkeit wird, wenn der Produzent zu-
gleich Eigentümer aller Produktionsmittel iſt. Er wird
dann zum Lebenselement jeder Wirtſchaft und jeder Fort-
ſchritt der Arbeitsteilung vermehrt von dieſem Punkte ab
[141] die Menge der notwendigen Tauſchakte. Bis aber dieſe
Phaſe der Entwicklung erreicht iſt, vergehen vom erſten
Entſtehen der volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung wieder
Jahrhunderte. Auch heute iſt z. B. der Zuſtand, wo der
Müller Eigentümer des Getreides, der Bäcker Eigentümer
des Mehles iſt und das Brot darum nur auf Grund drei-
maligen Tauſches in die Hände der Konſumenten gelangen
kann, auf dem Lande noch keineswegs die Regel.
Wenn ſonach bei den volkswirtſchaftlichen Entwicklungs-
vorgängen der Arbeitsteilung der Tauſch bloß eine ſekundäre
Erſcheinung iſt, ſo werden wir von ſelbſt genötigt, für das
auf Teilung der Arbeit gerichtete menſchliche Handeln eine
andere Motivierung zu ſuchen.
Wir werden dabei unmittelbar auf die Grundthatſachen
der Wirtſchaft zurückgeführt: die Unbegrenztheit der menſch-
lichen Bedürfniſſe und die Beſchränktheit ihrer Befriedigungs-
mittel. Die menſchlichen Bedürfniſſe ſind einer unendlichen
Vermehrung und Verfeinerung fähig; ſie ruhen niemals;
ſie ſteigern ſich intenſiv und extenſiv im Laufe der Kultur-
entwicklung. Die für menſchliche Zwecke verfügbare Materie
iſt beſchränkt und ebenſo die menſchliche Arbeitskraft, die
ihr Güterqualität verleiht und ihren Vorrat vermehrt. Mit
der wachſenden Zahl der Menſchen wird das Verhältnis
des Geſamtbedarfs zu der Menge des wirtſchaftlich ver-
wertbaren Rohſtoffs, den die Natur zu bieten vermag, ein
immer ungünſtigeres. Die zur Produktion des Geſamt-
bedarfs erforderliche Arbeitsmenge wächſt ſomit aus einem
[142] doppelten Grunde: es ſollen mehr und beſſere Güter pro-
duziert werden, und ſie ſollen unter ungünſtigeren Beding-
ungen hervorgebracht werden. Dies alles zwingt zu möglichſt
wirtſchaftlicher Einrichtung der Arbeitsverwendung.
Nun lehrt die einfache Beobachtung, daß nicht jeder für
jede Arbeit von Natur gleich geeignet iſt. Die verſchiedenen
körperlichen und geiſtigen Anlagen der Individuen bedingen
bedeutende Unterſchiede des Arbeitserfolges, die bei fort-
ſchreitender geſellſchaftlicher Entwicklung, oder, was dasſelbe
iſt, bei ſteigender Vielſeitigkeit der Arbeitsaufgaben immer
wichtiger werden.
Dazu kommt ein Zweites. Jede neue Arbeitsaufgabe
findet in unſerem Weſen Widerſtände, die bei fortgeſetzter
Gewöhnung ſich ſtark reduzieren und endlich faſt ganz
verſchwinden.
Alles dies läßt es als Gebot der Wirtſchaftlichkeit er-
ſcheinen, die Arbeitsaufgaben zu verengern, ſie möglichſt
individuell zu geſtalten, um jede Art der Begabung aus-
nutzen zu können. Wir finden aber in den meiſten Produk-
tionsprozeſſen ſehr verſchiedenartige Arbeitsaufgaben ver-
einigt: Hand- und Kopfarbeit, Operationen, die große
Muskelkraft erfordern, neben ſolchen, bei welchen die Ge-
lenkigkeit der Finger, die Feinheit des Gefühls, die Schärfe
des Auges in Frage kommen, Verrichtungen, die eine durch
Lehre und Uebung erworbene Fertigkeit beanſpruchen und
ſolche, die auch der Ungeübte vorzunehmen im Stande iſt.
Die alte Zeit, welche dieſe verſchiedenen Arbeitsaufgaben
[143] in eine Hand legte, trieb eine große Verſchwendung mit
ihren qualifizierten Arbeitskräften und ſchränkte den produk-
tiven Teil der Bevölkerung ein auf diejenigen, welche irgend
eine Technik in allen ihren Teilen beherrſchten. Dadurch,
daß die Arbeitsteilung die qualitativ ungleichen Arbeits-
elemente von einander ſcheidet, gelingt es ihr, die ſtärkſten
wie die ſchwächſten Arbeitskräfte zu verwenden und zur
Ausbildung der höchſten ſpeziellen Arbeitsgeſchicklichkeit an-
zureizen.
So iſt die Arbeitsteilung ſchließlich nichts anderes als
einer jener Anpaſſungsvorgänge, welche in der Entwicklungs-
geſchichte der ganzen belebten Welt eine ſo große Rolle
ſpielen: Anpaſſung der Arbeitsaufgaben an die Verſchieden-
artigkeit der menſchlichen Kräfte, Anpaſſung der Arbeits-
kräfte an die Arbeitsaufgaben, fortgeſetzte Differenzierung
der einen und der andern. Und damit rückt der ganze Vor-
gang aus der Dämmerung des Trieblebens in das helle
Licht wohl motivierten menſchlichen Handelns.
Mehr aber läßt ſich auch über die allgemeine Entſtehungs-
urſache der Arbeitsteilung nicht ſagen. Auf die beſonderen
Entſtehungsbedingungen, unter welchen die einzelnen Arten
oder Formen derſelben auftreten, ſoll an anderer Stelle noch
kurz eingegangen werden.
Ebenſo können wir die wirtſchaftlichen Folgen
der Arbeitsteilung an dieſer Stelle nur flüchtig berühren,
obwohl gerade an dieſem Punkte die verſchiedenen Formen
am weiteſten auseinandergehen.
[144]
Adam Smith kennt nur eine Wirkung der Arbeits-
teilung: die vermehrte Produktivität der Arbeit. Er be-
ſchränkt alſo ihren Einfluß auf das Gebiet der Güter-
erzeugung. So eng dieſe Auffaſſung erſcheint, ſo iſt ſie
doch gewiß berechtigter als die ungemeſſene Ausdehnung,
welche manche neuere Nationalökonomen den Wirkungen
der Arbeitsteilung geben, wenn ſie unſere ganze heutige
Wirtſchaftsorganiſation unmittelbar aus der Arbeitsteilung
ableiten und dieſelbe mit dem Schlagwort der „arbeitsteiligen
Wirtſchaft“ genügend zu kennzeichnen vermeinen.
Die Wahrheit iſt, daß die wichtigſten volkswirtſchaftlichen
Erſcheinungen in ihrer heutigen Geſtalt und Wirkungsweiſe
durch die Arbeitsteilung beſtimmt werden, daß ſie ſozuſagen
das Knochengerüſt liefert, das den volkswirtſchaftlichen Or-
ganismus trägt. Und zwar verhalten ſich die einzelnen
Formen der Arbeitsteilung dazu ſehr verſchieden. Auf der
Berufsbildung beruht die Entſtehung ſpezieller wirtſchaftlicher
Lebensaufgaben. Sie löſt das Daſein eines Teiles der
Menſchen vom Boden los, auf deſſen Beſitz es ſich bis
dahin allein gegründet hatte. Sie ſchafft neben der bäuer-
lichen die bürgerliche Nahrung. Die Berufsteilung vermehrt
die Zahl der Erwerbsgelegenheiten; ſie gibt den Rahmen,
innerhalb deſſen höhere mechaniſche Geſchicklichkeit zur Ent-
faltung kommt. Die Produktionsteilung erzeugt den Güter-
umlauf. Sie läßt die Stoffe der Gütererzeugung zu einer
neuen Art von Erwerbsmitteln werden, zum flüſſigen Kapital.
Die Arbeitsverſchiebung dehnt die Kapitaleigenſchaft auch
[145] auf die ſtehenden Produktionsmittel aus, und die Arbeits-
zerlegung läßt einen dauernd abhängigen Arbeiterſtand ent-
ſtehen. Sie gibt der „kapitaliſtiſchen Produktionsweiſe“
erſt den rechten Aufſchwung, und ſie vernichtet auf allen
Gebieten, denen ſie zugänglich iſt, vielfach wieder, was
vorher Berufsbildung und Berufsteilung geſchaffen hatten:
die Selbſtändigkeit der kleinen wirtſchaftlichen Exiſtenzen.
Ihr bevorzugtes Wirkungsfeld iſt der Großbetrieb in der
Fabrik und im Verlagsſyſtem.
Damit dürfte genügend angedeutet ſein, daß der Arbeits-
teilung allein jene vielfache wechſelſeitige Abhängigkeit zu
danken iſt, in welcher die Sonderwirtſchaften bei unſerem
ökonomiſchen Syſtem zu einander ſtehen, daß ſie aber zu-
gleich auch die Kooperation vieler Einzelkräfte vorausſetzt
und ſich die mancherlei Verbindungsorgane ſchafft, welche
die zahlloſen verſchiedenartigen Wirtſchaften und Menſchen
zu einer lebensvollen Einheit von wunderbarer Feinheit des
Gliederbaus zuſammenfügen.
Haben wir ſo in der Arbeitsteilung ein gewaltiges
ökonomiſches Entwicklungsprinzip von großer organbildender
Kraft zu erblicken, ſo treten doch für den gewöhnlichen
Beobachter ihre ſozialen Wirkungen weit mehr in
den Vordergrund. Denn von ihnen wird jeder Einzelne
perſönlich berüht; jeder hat ſich, wenn er nicht anders ein
unnützes Glied der menſchlichen Geſellſchaft ſein will, einer
ſpeziellen Arbeitsaufgabe anzupaſſen, und je vollkommener
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 10
[146] ihm das gelingt, um ſo verſchiedener werden die Menſchen
ſelbſt in ihrem ganzen Thun und Denken.
Die deutſche Berufsſtatiſtik von 1882 unterſchied allein
in der Induſtrie 4785, im Handel, Verkehr und Beher-
bergungsweſen 1674 Berufsſpezialitäten. Dies ergibt zu-
ſammen 6459 eigene Berufsbezeichnungen oder, wenn wir
für Doppelnamen einen entſprechenden Abzug machen, etwa
6000 ſelbſtändige Berufsarten. Dazu kommen die verſchie-
denen Zweige der Urproduktion, des öffentlichen Dienſtes
und der liberalen Berufsarten, ferner die zahlreichen Sonder-
arbeiten, welche innerhalb der einzelnen Betriebe durch
Arbeitszerlegung entſtanden und Spezialarbeitern dauernd
übertragen ſind, ſo daß wir im ganzen vielleicht 10 000
Arten menſchlicher Thätigkeit zu unterſcheiden haben, von
denen jede zur Lebensaufgabe werden und die ganze Per-
ſönlichkeit ſich unterwerfen kann.
Und fortwährend bilden ſich neue Berufsſpezialitäten.
Jedes neue Produktionsverfahren, jeder Fortſchritt der
Technik und Wiſſenſchaft wird der allgemeinen Arbeitsteilung
unterworfen und zwingt denkende und fühlende Menſchen
in den engen Kreis kleinſter und kleinlichſter Berufsintereſſen.
Die Zeit, welche Ferguſon kommen ſah, wo auch das
Denken zu einem beſondern Geſchäft wird, iſt längſt erreicht.
Das Bereich des Allgemein-Menſchlichen verengert ſich in
dem Maße als die Sonderintereſſen der zahlloſen Lebens-
ſphären auseinandergehen und als der Kampf ums Daſein
ſchwieriger wird.
[147]
Die natürliche und kulturelle Verſchiedenheit der Menſchen
kommt zweifellos dieſem Auseinandergehen in die verſchie-
denſten Lebensrichtungen zu Hilfe; aber ich glaube doch in
viel geringerem Grade, als oft angenommen wird. Freilich
wie ein Jockey von einem Laſtträger, ein Bierbrauer von
einem Schneider, eine Tänzerin von einer Sängerin, ein
Poet von einem Kaufmann ſich unterſcheiden muß, um
ſeinem Berufe gewachſen zu ſein, weiß jedermann. Welche
Naturanlage aber den einen zum Trichinenſchauer, den
andern zum Buchbinder, den dritten zum Hühneraugen-
operateur oder Zigarrenfabrikanten prädeſtiniert erſcheinen
laſſen, das dürfte ebenſo ſchwer zu ſagen ſein, wie ſich der
Erfolg in irgend einer liberalen Berufsart für das einzelne
Individuum vorausbeſtimmen läßt. Wenn ſonach auch
manche Berufsarten eine beſondere Naturanlage zur höchſten
Entfaltung zu bringen geeignet ſind, ſo wird bei vielen
andern das Vorhandenſein einer ſolchen von keiner erkenn-
baren Bedeutung ſein. Alle aber werden durch fortgeſetzte
Uebung und Gewöhnung eine gewiſſe Differenzierung der
Menſchen hervorbringen, die ſich ihnen widmen: gewiſſe
Organe werden durch Nichtgebrauch verkümmern, während
andere durch ſteten Gebrauch ſich zu großer Vollkommenheit
entwickeln; es wird, entſprechend der ſpeziellen Arbeitsauf-
gabe, das Individuum körperlich, geiſtig und ſittlich auf
einen beſtimmten Ton geſtimmt; es wird ihm durch den
Beruf ein beſonderes, oft ſchon äußerlich erkennbares Ge-
präge aufgedrückt. Wir alle erkennen das an, wenn wir
10 *
[148] unwillkürlich Unbekannte, mit denen wir zuſammentreffen,
im Stillen nach Berufstypen klaſſifizieren.
Mit dieſer perſönlichen Differenzierung aber überträgt
ſich die wirtſchaftliche Gliederung auch auf die Geſellſchaft.
Gleiche Lebensaufgabe und Lebensanſchauung, gleiche wirt-
ſchaftliche Stellung und ſoziale Gewohnheit führen zu einer
neuen ſozialen Gruppenbildung. Sie erzeugen die Berufs-
ſtände, und die Intereſſengemeinſchaft, welche ſie bis in
ihre feinſten Verzweigungen hinein beherrſcht, iſt ſtark
genug, um die überkommenen Unterſchiede der Geburts-
ſtände zu überdecken oder ſie bis zur Bedeutungsloſigkeit
herabzudrücken. Wir haben es ſelbſt erlebt, wie dieſe neuen
ſozialen Maſſenzuſammenhänge über die Grenzen der politi-
ſchen Nationalität hinausgreifen und wie die auf der Be-
rufsgliederung beruhenden ſozialen Intereſſen und Gemein-
ſchaftsgefühle die auf die Gleichheit des Blutes zurück-
gehenden nationalen überwuchern.
Unter dieſen Umſtänden durfte die ſchon durch die neuere
Biologie nahe gelegte Frage erhoben werden, ob und wie
weit die durch die Arbeitsteilung hervorgebrachten perſön-
lichen Verſchiedenheiten ſich unter den Menſchen vererben.
Es handelt ſich dabei nicht bloß um beruflich verwertbare
natürliche Anlagen, bei denen die Möglichkeit der Vererbung
— aber auch nicht mehr — ohne Weiteres zuzugeben iſt.
Es handelt ſich um die ganze körperliche und geiſtige Dis-
poſition für einen Beruf, um die durch Anpaſſung an eine
begrenzte Arbeitsaufgabe erworbene Geſchicklichkeit, um das
[149] durch dieſelbe bedingte geiſtige Niveau, um die durch die Be-
rufsſtellung erzeugte Lebensauffaſſung und Willensrichtung.
Nach der letzten Seite iſt in der Dichtung ſeit Shake-
ſpeares Wintermärchen das Problem oft behandelt worden,
gewöhnlich ſo, daß man Erziehungseinflüſſe wirkſam werden
läßt, die dem Charakter und den Lebensverhältniſſen der
Eltern entgegengeſetzt ſind. Die Anſichten über den Aus-
gang haben im Laufe des letzten Jahrhunderts vielfach
gewechſelt, und es wäre gewiß eine lohnende Aufgabe für
einen Litterarhiſtoriker, die Abhängigkeit der Dichtung vom
Zeitgeiſte und von der Lebensſtellung der Dichter an dieſem
Erziehungs- und Vererbungs-Problem näher zu unterſuchen 1).
Während Lindau („Gräfin Lea“) die Tochter des Wucherers,
trotz der väterlichen Erziehung, zu einem Ausbund von
Edelſinn werden läßt, bleibt in einem Roman von Arſène
Houſſaye (Les trois Duchesses) von drei gleich nach der
Geburt verwechſelten Kindern der Sohn der Bäuerin an
Verſtand und Sinnesart ein Bauer, obwohl er als Prinz
erzogen wird, die Tochter der leichtſinnigen Schauſpielerin
wird zur Courtiſane, und die Tochter der Herzogin zeigt
auch in niederer Umgebung die angeborene Hoheit der
Geſinnung.
Auch in der ernſteren Litteratur iſt die Frage vielfach
geſtreift worden. Noch vor kurzem hat W. H. Riehl
[150] in ſeinen „Kulturgeſchichtlichen Charakterköpfen“ die „be-
ſchränkten Bauernjungen“, welche das Gymnaſium mit beſter
Note abſolvieren, den „geiſtig ſehr angeregten Söhnen ge-
bildeter Eltern“ gegenübergeſtellt, denen ſich Klaſſe für
Klaſſe eine unüberſpringliche Mauer vorſchiebe. Die erſteren,
meint er, würden auf der Univerſität mittelmäßige Studenten,
die der „gebildete Sohn gebildeter Eltern“, wenn er über-
haupt zur Univerſität gekommen wäre, bald überholt haben
würde. Zuletzt werde der ehemalige Bauernjunge nur „ein
höchſt mittelmäßiger, aber immer noch bureaugerechter Be-
amter“. Was aus dem Sohne gebildeter Eltern wird, „dem
die mannigfachen Bildungsintereſſen ſchon im Elternhauſe
angeflogen waren“, bleibt uns leider verſchwiegen.
Mit dem Anſpruche ſtreng wiſſenſchaftlicher Behandlung,
der hier wohl nicht erhoben wird, hat erſt G. Schmoller
den Gegenſtand erörtert und in ſehr zuverſichtlicher Weiſe da-
hin entſchieden, „die Anpaſſung der Individuen an ver-
ſchiedene Thätigkeiten, in erblicher Weiſe durch Jahrhunderte
und Jahrtauſende geſteigert, habe immer individuellere,
verſchiedenere Menſchen erzeugt.“ Alle höhere Geſellſchafts-
organiſation beruhe auf fortgeſetzter durch die Arbeitsteilung
hervorgebrachter Differenzierung. „Die Kaſten, die Ariſto-
kratien der Prieſter, der Krieger, der Händler, das Zunft-
weſen, die ganze heutige Arbeitsverfaſſung ſeien nur die
zeitlich verſchiedenen Formen, welche die Arbeitsteilung und
Differenzierung der Geſellſchaft aufgeprägt habe, und jeder
einzelne ſei zu der ihm eigentümlichen Funktion nicht bloß
[151] durch individuelles Geſchick und Schickſal gekommen, ſondern
mit durch ſeine körperliche und geiſtige Verfaſſung, ſeine
Nerven, ſeine Muskeln, welche auf erblicher Veranlagung
beruhen, durch eine Kauſalkette von vielen Generationen
beſtimmt ſind. Nur eine ſekundäre Folge der
ſozialen Differenzierung ſei die Verſchie-
denheit des ſozialen Ranges und Beſitzes
der Ehre und des Einkommens“ 1).
Sie werden vielleicht erwarten, daß der Beweis für
dieſe überraſchenden Sätze auf biologiſchem Wege zu führen
verſucht worden ſei. Allein abgeſehen von einer flüchtigen
Berührung biologiſcher Analogien wird dieſe Bahn ver-
mieden. Und doch wäre es gewiß ratſam geweſen, ſie
weiter zu verfolgen, weil ſie unausbleiblich zu einem Punkte
hätte führen müſſen, wo der Begriff der Vererbung defi-
niert und ſein Gebiet gegen das der Nachahmung und
Erziehung abgegrenzt werden mußte 2).
Auch wir werden darum dieſen Weg zu vermeiden haben
und uns auf eine Prüfung des großen hiſtoriſchen und
ethnographiſchen Materials einlaſſen müſſen, das Schmoller
für ſeine Behauptungen anführt.
[152]
Es iſt eine eigene Sache um ſolche hiſtoriſche Beweiſe.
Dem Auge des Rückwärtsſchauenden verſchieben ſich die
Dinge. Urſache und Wirkung erſcheinen ihm zeitlich gleich
nahe. Er befindet ſich in ähnlicher Lage wie der Mann,
der in die räumliche Ferne blickt und einen Kirchturm,
welcher weit hinter einer Häuſergruppe ſich erhebt, unmit-
telbar über dem vorderſten Gebäude emporſteigen ſieht.
So fürchte ich, daß auch Schmoller in den ausſchlag-
gebenden Fällen ſeiner weitausgreifenden Unterſuchungen das
Kauſalitätsverhältnis der hiſtoriſchen Vorgänge in einer gegen
die Wirklichkeit umgekehrten Folge erblickt hat. Soweit jene
Vorgänge nicht in Zeiten zurückreichen, die ſich der geſchicht-
lichen Forſchung entziehen, wie die Entſtehung des Prieſter-
tums und des älteſten Adels, möchte ich glauben, daß man den
auffallenden Schlußſatz Schmollers unbedenklich umkehren und
ſagen kann: die Verſchiedenheit des Beſitzes und Einkommens
iſt nicht die Folge der Arbeitsteilung ſondern ihre Haupturſache.
Für die Vergangenheit, ſoweit ſie unſerem Auge offen
liegt, läßt ſich das mit vollkommener Sicherheit darthun.
Die ungleiche Größe und Beſitzweiſe des Grundeigentums
bildet bei den alten Griechen und Römern und auch bei
unſerem Volke vom frühen Mittelalter ab die Grundlage
der Ständegliederung. Der Adel, der Bauernſtand, der
Stand der Hörigen und Unfreien ſind zunächſt bloße Be-
ſitzſtände und werden erſt mit der Zeit zu einer Art von
Berufsſtänden 1). Als im Mittelalter mit dem Aufkommen
[153] des Handwerkerſtandes die eigentliche Berufsbildung einſetzt,
geht ſie wieder von der Beſitzverteilung aus. Die Knechte
des Fronhofs, die Hörigen ohne Grundbeſitz, welche eine
gewerbliche Kunſt gelernt haben, beginnen auf eigene Hand
ihre Arbeitsgeſchicklichkeit zu verwerten. Die Betriebsweiſe
des Gewerbes muß ſich ihrer Armut anpaſſen; ſie iſt reines
Lohnwerk, bei dem der Gewerbetreibende den Rohſtoff vom
Beſteller erhält. Erſt ſpäter kommt es zur eigentlichen
Produktionsteilung zwiſchen Landwirt und Handwerker.
Der letztere erlangt ein eigenes Betriebskapital. Wie gering
dieſes aber noch iſt, geht daraus am beſten hervor, daß in
der Regel der Handwerker nur auf Stückbeſtellung arbeitet
und daß der ganze induſtrielle Umwandlungsprozeß, den ein
Rohprodukt durchmachte, in einer Hand lag 1). Die Ge-
1)
[154] werbebetriebe waren ausſchließlich Kleinbetriebe. Wo ein
Handwerk infolge des großen Umfangs ſeines Produktions-
gebietes größeres Kapital erforderlich machte, da griff man
nicht zum Großbetrieb mit Arbeitszerlegung, ſondern zur
Berufsteilung, durch welche das Kapitalerfordernis be-
ſchränkt, der Betrieb klein erhalten wurde.
Wie man ſieht iſt jeder Schritt, den die mittelalterliche
Arbeitsteilung im Gewerbe machte, vom Vermögensbeſitz
abhängig. Und nicht anders iſt es mit dem Handel. Der
mittelalterliche Handelsſtand entſteht aus dem Stande der
ſtädtiſchen Grundeigentümer, die durch Einführung der
Häuſerleihe und des Rentkaufs zu Beſitzern mobilen
Kapitals geworden waren. Aus dieſem Stande von ſtädti-
ſchen Rentnern und Handelsherren geht ſeit dem XVII. Jahr-
hundert der heutige Fabrikantenſtand hervor. Dadurch, daß
dieſelben den Gewerbebetrieb mit ihren Kapitalien befruchten,
entſtehen die beiden neuen Formen der Arbeitsteilung:
Arbeitszerlegung und Arbeitsverſchiebung und die Produk-
tionsteilung gelangt erſt jetzt zu ihrer vollen Wirkſamkeit.
Jetzt erſt wandern halbfertige Produkte in Maſſen von
Werkſtatt zu Werkſtatt; in jedem Betriebe werden ſie Kapital,
in jedem wird an ihnen verdient; von Produktionsabſchnitt
zu Produktionsabſchnitt werden neue Zinſen und Speſen
hinzugeſchlagen, werden Kapitalprofite an ihnen gemacht 1).
[155] Die Arbeitszerlegung ſetzt einen Stand von beſitzloſen Lohn-
arbeitern voraus. Er geht hervor aus dem durch die kapi-
taliſtiſche Geſtaltung der Arbeitsteilung konkurrenzunfähig
gewordenen Teile des Handwerkerſtandes und aus der land-
loſen bäuerlichen Bevölkerung.
Gerade beim Gewerbe wird die Abhängigkeit der Ar-
beitsteilung vom Beſitze beſonders ſichtbar. Im Mittel-
alter vermehrte jeder Fortſchritt der induſtriellen Arbeits-
teilung die Zahl der ſtädtiſchen „Nahrungen“, weil er das
Betriebskapital verringerte; in der Gegenwart vermindert
der Fortſchritt der Arbeitsteilung die Zahl der Selbſtändigen,
weil er das Anlage- oder das Betriebskapital oder beides
vermehrt. Im Mittelalter ſuchte man jedes gewerbliche
Produkt möglichſt lange in einem Betriebe feſtzuhalten, um
möglichſt viel Arbeit darin zu verkörpern; in der Gegen-
wart wird das Betriebskapital vermöge der Arbeitszerlegung
möglichſt raſch durch den einzelnen Produktionsabſchnitt
hindurchgetrieben, um das Verhältnis zwiſchen ausgelegtem
Zins und erzieltem Kapitalprofit möglichſt günſtig zu ge-
ſtalten. Im Mittelalter zwang die Kapitalarmut zur Be-
rufsteilung, in der Gegenwart treibt der Kapitalreichtum
zur Arbeitszerlegung und Arbeitsverſchiebung.
So haben die großen Züge unſerer ſozialen Berufs-
gliederung ſich hiſtoriſch aus der verſchiedenen Verteilung
des Eigentums entwickelt, und ſie ruhen fortgeſetzt auf
dieſer Grundlage, die durch unſere heutige Wirtſchafts-
organiſation immer mehr befeſtigt wird. Das letztere er-
[156] klärt ſich ſehr einfach aus folgenden zwei Umſtänden: 1. jeder
Beruf wirft unter unſerer Wirtſchaftsorganiſation ein Ein-
kommen ab, und nur der Beſitzende iſt im Stande, ſich
die bevorzugten Stellen des Einkommenserwerbs innerhalb
der allgemeinen Arbeitsgliederung auszuſuchen, während der
Beſitzloſe mit den ſchlechteren Stellen vorlieb nehmen muß;
2. der Beſitz ſelbſt liefert vermöge ſeiner kapitaliſtiſchen
Natur ein Einkommen und überträgt ſich erblich mit dieſer
Fähigkeit. Soweit unſere Beſitzklaſſen auch ſoziale Berufs-
ſtände ſind, ſind ſie es nicht deshalb, weil der Beruf Beſitz
ſchafft, ſondern vielmehr deshalb, weil der Beſitz die Be-
rufswahl bedingt und weil in der Regel das Einkommen,
das der Beruf abwirft, ſich in ähnlicher Weiſe abſtuft, wie
der Beſitz, auf welchen der Beruf ſich gründet.
Was ich damit ausſpreche, iſt durchaus nichts Neues.
Ein jeder von uns handelt nach dieſer Auffaſſung, die ihm
die tägliche Erfahrung an die Hand gibt, und auch die
wiſſenſchaftliche Nationalökonomie hat ſie immer anerkannt.
Geht doch die ganze Theorie des Arbeitslohns von der
Vorausſetzung aus, daß der Sohn des Arbeiters nichts
anders werden kann als wieder ein Arbeiter, und daß dies
eine Folge ſei ſeiner Armut, nicht der ererbten beruflichen
Anpaſſung. Und muß man denn wirklich erſt noch beweiſen,
daß Berufsarten, zu deren Beginn und Betrieb Kapital
nötig iſt oder deren Erlernung große Auslagen erfordert,
dem Beſitzloſen ſo gut als verſchloſſen ſind? Die vielge-
rühmte „Freiheit der Berufswahl“ beſteht alſo nur zwiſchen
[157] ſehr engen Grenzen. In ſeltenen Ausnahmefällen werden
die letzteren wohl einmal überſchritten; in der Regel aber
wird jedem nicht der ſpezielle Beruf, wohl aber die ſoziale
Berufsklaſſe1), der er anzugehören hat, durch die
Vermögensausſtattung des elterlichen Hauſes zugewieſen.
Der „ſoziale Rang“ aber, welcher der einzelnen Berufsklaſſe
in der Schätzung der Menſchen zu Teil wird, läßt ſich
ohne die entſprechende Vermögensausſtattung ſchwer aufrecht
erhalten — ein Beweis, daß auch er in letzter Linie nicht
„eine ſekundäre Folge der ſozialen (auf Arbeitsteilung be-
ruhenden) Differenzierung“, ſondern ein Kind der Vernunft-
ehe von Beſitz und Beruf iſt.
Wie viele ſoziale Berufsklaſſen man auch unterſcheiden
mag, in jeder werden immer noch ſehr verſchiedenartige
Berufszweige vertreten ſein, und zwiſchen den letzteren wird
ein fortwährender Austauſch von Arbeitskräften ſtattfinden.
Dieſer Austauſch reicht ſo weit, als die Berufsarten an-
nähernd die gleiche Vermögensausſtattung erfordern und
deshalb in dem gleichen „ſozialen Rang“ ſtehen. Man
könnte auch ſagen: als die Menſchen unter einander heiraten
oder regelmäßig geſellig verkehren oder als annähernd das
gleiche Bildungsniveau vorhanden iſt. Alle dieſe Dinge
ſtehen mit einander in Wechſelbeziehung. Es iſt eine all-
[158] tägliche Erſcheinung, wenn ein hoher Staatsbeamter ſeinen
Sohn zur Landwirtſchaft beſtimmt, um ihm ſpäter ein
Rittergut zu kaufen, wenn der Sohn des Großgrundbeſitzers
oder Fabrikanten die akademiſche Laufbahn einſchlägt, der
Sohn des Pfarrers Ingenieur wird, der Sohn des In-
genieurs Arzt, der Sohn des Arztes Kaufmann, der Sohn
des Kaufmanns Juriſt oder Architekt. Und eben ſo leicht
und häufig iſt der Uebergang vom Bauern zum Schullehrer
oder Bierbrauer, vom Bäcker zum Uhrmacher, vom Schmied
zum Buchbinder, vom Bergmann zum Fabrikarbeiter, vom
ländlichen Taglöhner zum Bahnwärter oder Droſchken-
kutſcher u. ſ. w. Wir alle finden dieſe Uebergänge, trotz
der großen Verſchiedenheiten der Arbeitstechnik, ſozial durch-
aus angemeſſen und wirtſchaftlich unbedenklich, obwohl es
doch kaum verſchiedenartiger durch die Arbeitsteilung „dif-
ferenzierte“ Menſchen geben kann als einen Staatsminiſter
und einen Landwirt, einen Fabrikanten und einen Profeſſor,
einen Kaufmann und einen Architekten und was dergleichen
mehr iſt. Und wenn der Sohn des Fabrikanten wieder
Fabrikant wird, der Sohn des Bauern wieder Bauer, ſo
wiſſen wir, daß in vielen Fällen der einmal auf dieſen
Beruf zugeſchnittene Vermögensbeſtand den Beruf diktiert
hat, ohne Rückſicht darauf, ob die aufgezwungene Rolle für
das betreffende Individuum angemeſſen iſt oder nicht.
Dieſer Blick auf das praktiſche Leben muß uns abhalten,
die Schmoller’ſche Theorie von der Vererbung der durch
die Arbeitsteilung hervorgebrachten perſönlichen Differen-
[159] zierung in allzu engem Sinne aufzufaſſen. Daß der Sohn
des Schuſters vermöge ererbter Anpaſſung beſſer im Stande
ſein ſolle, Schuhe zu produzieren, als etwa Bilderrahmen,
daß der Sohn des Pfarrers, auch wenn ſein Vater ihm
am Tage ſeiner Geburt entriſſen worden wäre, unter allen
Berufsarten wieder für den geiſtlichen Beruf die größte
natürliche Anlage aufweiſen werde, kann jene Theorie un-
möglich beſagen wollen, ſelbſt wenn in dem letzterwähnten
Falle die Ahnen des Pfarrers von Generation zu Gene-
ration ſeit zwei Jahrhunderten das geiſtliche Amt einander
übertragen hätten. Denn wenn wir den biologiſchen Verer-
bungsbegriff feſthalten, ſo würde von Geſchlecht zu Geſchlecht
die berufliche Anpaſſung ſich ſteigern, es würden immer voll-
kommenere berufliche Leiſtungen zu Tage treten müſſen.
Es wird aber im Ernſte ſchwerlich jemand behaupten wollen,
daß die zahlreichen Pfarrersfamilien des evangeliſchen
Deutſchland, welche in der eben erwähnten Lage ſich befinden,
heute relativ beſſere Kanzelredner und wirkſamere Seelſorger
lieferten als im XVII. Jahrhundert.
Auf dem Gebiete des zünftigen Handwerks unſerer
Städte haben ſich infolge der engherzigen Abſchließung der
einzelnen Gewerbe vom XVI. bis zum XVIII. Jahrhundert
die Meiſterſtellen thatſächlich mit verſchwindenden Ausnahmen
vom Vater auf den Sohn vererbt. Die Technik hat ſich
dabei nicht nur nicht vervollkommnet, ſondern ſie iſt kläglich
zurückgegangen und verkümmert, wie Schmoller in einer
[160] älteren Schrift ſelbſt nachgewieſen hat 1). Die Söhne haben,
weit entfernt die techniſchen Errungenſchaften ihrer Väter
zu mehren, die von jenen erreichte Höhe beruflicher An-
paſſung nicht einmal feſtzuhalten vermocht.
Wir werden alſo, wenn wir der neuen Theorie nicht
Unrecht thun wollen, ſie auf die Vererbung körper-
licher und geiſtiger Eigenſchaften unter den
Angehörigen der ſozialen Berufsklaſſen be-
ziehen müſſen. Da aber dieſe Berufsklaſſen in der Regel
auch Vermögens- und Einkommensklaſſen ſind, da durch
das Vermögen und Einkommen die Höhe der (materiellen
und geiſtigen) Lebenshaltung bedingt wird, ſo wird man
von dem Urheber jener Theorie fordern müſſen, daß er
ſcheide zwiſchen dem, was Folge der durch den Beſitz für
jede Berufsklaſſe ermöglichten Ernährungs- und Erziehungs-
weiſe und was ererbter beruflicher Anpaſſung zu verdanken
ſei. Wird eine ſolche Trennung der möglichen und wahr-
ſcheinlichen Urſachen nicht vorgenommen, wird unbeſehen
der Arbeitsteilung zugeſchrieben, was mit größerer Wahr-
ſcheinlichkeit auf die Vermögensverteilung zurückgeführt wer-
den kann, ſo wird ſich die ganze Theorie bei der unleug-
baren Schwäche des „hiſtoriſchen Beweiſes“ gefallen laſſen
müſſen, als eine ſchiefe Darwiniſtiſche Analogie, als eine
beweislos aufgeſtellte Theſe behandelt zu werden.
Daß innerhalb einer ganzen ſozialen Berufsklaſſe eine
[161] Uebertragung der „körperlichen und geiſtigen Verfaſſung“,
der „Nerven und Muskeln“ von einer Generation auf die
andere ſtattfinde, hat wohl noch niemand bezweifelt. Man
mag das immerhin Vererbung nennen, darf aber dabei
nicht überſehen, daß jede neue Generation durch Lehre und
Erziehung auf das geiſtige und ſittliche Niveau der Eltern
gehoben werden muß. Wenn ihr dabei die Bildungselemente
nach dem treffenden Ausdruck von Riehl „anfliegen“, wenn
ſie das Beiſpiel ihrer Umgebung zur Nachahmung reizt,
wenn vieles mühelos angeeignet wird, was der unter andern
Verhältniſſen Aufwachſende erſt mit Anſtrengung erlernen
muß, ſo handelt es ſich trotzdem immer um Erworbenes,
nicht um Angeborenes. Das gilt bis zu gewiſſem Grade
ſogar von der körperlichen Verfaſſung, ſoweit ſie auf der
Art der Ernährung und Erziehung beruht, von den „Nerven
und Muskeln“ 1).
Elemente der beruflichen Anpaſſung können auf den
angedeuteten Wegen des „Anfliegens“ und der Nachahmung
ſich gewiß ebenſo gut übertragen wie andere Bildungs-
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 11
[162] elemente. Aber dieſer Vorgang iſt grundverſchieden von
der Vererbung im biologiſchen Sinne 1). Was in dieſem
Sinne vererblich ſein ſoll, muß auch dann zur Erſcheinung
kommen, wenn die Nachkommen vom Moment der Geburt
ab dem Einfluſſe ihrer Erzeuger gänzlich entrückt ſind.
Ich weiß nicht, ob es Leute giebt, welche die körper-
lichen und geiſtigen Eigentümlichkeiten, die das Kulturniveau
unſerer ſechs oder acht ſozialen Berufsklaſſen ausmachen,
in dem Sinne für vererblich halten, daß ſie bei den Nach-
kommen jeder Klaſſe auch dann auftreten müßten, wenn
ſie innerhalb einer andern Klaſſe aufgezogen würden. Das
praktiſche Leben bietet immer nur vereinzelte Fälle dieſer
Art, und noch niemand hat ſich die Mühe genommen, ſie
zu ſammeln. Meiſt handelt es ſich dabei um Kinder aus
niederen Ständen, welche von Angehörigen einer höhern
Berufsklaſſe erzogen oder förmlich adoptiert werden. Es
wird ſchwerlich jemand ſo kühn ſein, zu behaupten, daß
dieſe künſtlich einer höherſtehenden ſozialen Gruppe ange-
gliederten Perſonen von den durch Geburt dieſer Gruppe
Zugehörenden ſich ſpäter durch geringere berufliche Tüchtig-
keit oder ein tieferes Kulturniveau unterſchieden.
Eine weitere Reihe hierher gehöriger Beobachtungen
bieten die Fälle, in welchen Nachkommen einer Berufsklaſſe
[163] ſich aus eigener Kraft in eine höhere Berufsklaſſe empor-
ſchwingen. Jeder weiß, welche Schwierigkeiten im Zeit-
alter der kapitaliſtiſchen Produktionsweiſe einem ſolchen
Verſuche entgegenſtehen und wie oft er mißlingt. Jeder
auch vergegenwärtigt ſich leicht das Bild des „Emporkömm-
lings“, dem es bei aller beruflich-techniſchen Tüchtigkeit
nicht gelingt, das geiſtig-ſittliche Niveau ſeiner neuen Be-
rufsklaſſe zu erreichen. Iſt darin nicht ſchon die Thatſache
eingeſchloſſen, daß die durch die Arbeitsteilung gebotene
Anpaſſung an den Beruf von jedem individuell und nicht
allzuſchwer vollzogen wird, während die durch das Kultur-
niveau der Berufsklaſſe geforderte ſittliche und allgemein
geiſtige Anpaſſung nur langſam in der geeigneten Um-
gebung reift?
Ein ſtrikter Beweis gegen die Schmoller’ſche Ver-
erbungstheorie läßt ſich ebenſo wenig führen, als ein ſolcher
für dieſelbe geführt worden iſt. Man müßte etwa die
großen Männer eines Volkes nach dem Berufe ihrer Eltern
durchgehen und feſtſtellen, wie viele davon aus niederen
Berufsſtänden hervorgegangen ſind; man müßte zugleich
für die einzelnen Berufsklaſſen den Grad der Wahrſchein-
lichkeit beſtimmen können, den ihre Angehörigen haben, zu
einer bevorzugten Stellung zu gelangen, in der ſie allein
hohe Befähigung zur Geltung zu bringen im Stande ſind.
Und man müßte endlich vergleichen, wie die thatſächliche Quote
der aus jedem Berufsſtande hervorgegangenen führenden
Geiſter ſich zu der durch Wahrſcheinlichkeitsrechnung ermit-
11 *
[164] telten verhielte. Es braucht nicht ausgeführt zu werden,
daß für eine derartige Unterſuchung alle Vorausſetzungen
fehlen.
Wohl aber darf behauptet werden, daß die neue Theorie
der auf der Beobachtung vieler Generationen beruhenden
Auffaſſung der modernen Kulturvölker widerſpricht.
Wie oft iſt es beklagt worden, daß ſo manches Talent
unter der Ungunſt der äußeren Verhältniſſe verkümmere!
Und wenn dieſem Satze der andere entgegengeſtellt worden
iſt, daß jedes wahre Talent ſich Bahn breche, ſo mag eine
ſolche Formel wohl dem Selbſtgefühle glücklicher Streber
ſchmeicheln, in der Wirklichkeit findet ſie nur zu oft keine
Beſtätigung.
Unſere ganze ſozialrechtliche Entwicklung ſeit der fran-
zöſiſchen Revolution ſteht unter der Vorausſetzung, daß der
Zugang zu jedem freien Berufe und zu allen Staatsämtern,
in denen wir doch immer den Höhepunkt der Berufsgliede-
rung erblicken, jedermann offen ſtehen müſſe. Dieſer Grund-
ſatz der „freien Berufswahl“, deſſen Anerkennung nach
ſchweren Kämpfen errungen wurde, wäre ein großer Irrtum,
jede Bemühung zu ſeiner Verwirklichung verlorene Arbeit,
wenn ſeiner Durchführung außer der Ungleichheit der Ver-
mögensverteilung auch noch die Vererblichkeit beruflicher
Anpaſſung im Wege ſtünde.
Auch manche unſerer älteſten akademiſchen Einrichtungen
würden im Lichte dieſer Theorie als Verirrungen erſcheinen
müſſen. Ihnen, meine Herren Kommilitonen, die Sie ſich
[165] einem liberalen Berufe widmen wollen, brauche ich ja nicht
zu ſagen, in wie hohem Maße die Koſtſpieligkeit der Vor-
bereitung den Zugang zu den bevorzugten Poſitionen des
Berufslebens verengert. Sie wiſſen aber auch, daß man
von jeher darin eine große Gefahr für die Leiſtungsfähigkeit
des Beamten- und Gelehrtenſtandes erblickt und dieſer Ge-
fahr durch Stipendien, Freitiſche, Stundungen und ähnliche
Einrichtungen, die den Unbemittelten das Studium ermög-
lichen ſollen, vorzubeugen geſucht hat. Man wird über
die praktiſchen Erfolge dieſer Einrichtungen ſtreiten können.
Aber bei ihrer Beurteilung ſollte man doch nie überſehen,
daß das Fortkommen in einer bevorzugten Berufsart nicht
allein von der perſönlichen Tüchtigkeit, ſondern auch von
der ſozialen Erziehung des Einzelnen, von ſeiner Befähigung,
die eigene Kraft zur Geltung zu bringen, abhängt, daß in
dieſer unvollkommenen Welt die beſcheidene Zurückhaltung
des Tüchtigen hinter dem dreiſten Vordrängen der Mittel-
mäßigkeit nur zu leicht zurückſtehen muß, daß es demjenigen,
der die ſoziale Stufenleiter von unten an zu erklimmen
ſucht, ſchwerer werden muß, ihre Spitze zu erreichen, als
demjenigen, der ſchon aus halber Höhe emporſteigt. Die
deutſche Sprache hat für die Auszeichnung in einer beruf-
lichen Laufbahn einen bezeichnenden Ausdruck, mit welchem
ſie den Anteil des perſönlichen Auftretens am [Erfolge] glück-
lich charakteriſiert. Er heißt: ſich hervorthun. So
mögen denn auch jene „ſtudierten Bauernſöhne“ Riehl’s
wohl kaum deshalb ſpäter nicht in ihrem Berufsleben be-
[166] ſonders hervorgetreten ſein, weil ſie nichts Hervorragendes
zu leiſten im Stande waren, ſondern manche gewiß auch
deshalb, weil ſie es nicht verſtanden haben, ſich am rechten
Orte „hervorzuthun“, ihre Perſönlichkeit zur Geltung zu
bringen.
Die ganze Vererbungstheorie trägt — ihrem Urheber
gewiß unbewußt — die unerfreulichen Geſichtszüge einer
Sozialphiloſophie der beati possidentes. Sie ruft dem
Niedriggeborenen, der in ſich die Kraft zu verſpüren meint,
eine höhere Stellung des Berufslebens auszufüllen, zu:
„Laß alle Hoffnung ſchwinden; deine körperliche und geiſtige
Verfaſſung, deine Nerven, deine Muskeln, die Kauſalkette
von vielen Generationen hält dich am Boden feſt. Deine
Vorfahren ſind ſeit Jahrhunderten Leibeigene geweſen, dein
Vater und Großvater waren Taglöhner, du biſt zu einem
ähnlichen Berufe beſtimmt.“ Ich brauche nicht auszuführen,
wie ſehr die Konſequenzen dieſer neuen Lehre unſerem ſitt-
lichen Bewußtſein, unſerem Ideal der ſozialen Gerechtigkeit
ins Geſicht ſchlagen.
In dem Stadium der unbewieſenen Theſis, in welchem
ſie ſich zur Zeit befindet, wird ſie meines Erachtens ſchon
durch die doch nicht allzu ſelten zu machende Beobachtung
hinfällig, daß innerhalb einer einzigen Generation der ganze
Weg vom Nullpunkt bis zum Höhepunkt der modernen
Kultur, von der unterſten bis zur höchſten Stufe der
Arbeitsteilung, vom Fuße bis zur Spitze der ſozialen Leiter
zurückgelegt wird und umgekehrt. Man muß ſich eigentlich
[167] wundern, daß eine ſolche Lehre in einem Volke entſtehen
konnte, das unter ſeinen Geiſtesheroen einen Luther zählt,
den Sohn eines Bergmanns, einen Kant, den Sohn eines
Sattlers, einen Fichte, den Sohn eines armen Dorfleine-
webers, einen Gauß, den Sohn eines Gärtners, um von
vielen andern zu geſchweigen.
Es gibt eine alte Anekdote von einem Kardinal, deſſen
Vater die Schweine gehütet hatte und von einem adelsſtolzen
franzöſiſchen Geſandten. In einer ſchwierigen Unterhand-
lung, in welcher der Kardinal mit Geſchick und Hartnäckigkeit
die Intereſſen der Kirche vertrat, ließ ſich der Geſandte
hinreißen, jenem ſeinen Urſprung vorzuwerfen. Der Kardinal
antwortete: „Es iſt richtig, daß mein Vater die Schweine
gehütet hat; aber wenn Ihr Vater ſie gehütet hätte, ſo
würden Sie ſie auch hüten“.
Dieſe kleine Erzählung hat vielleicht beſſer ausgeſprochen,
als eine lange Auseinanderſetzung es vermöchte, was die
Beobachtung vieler Generationen beſtätigt hat, daß Tugenden,
welche die Väter emporbringen, ſich nicht in der Regel
auf Enkel und Urenkel fortſetzen und daß, wenn der Beruf
ſich auch forterbt, doch die Fähigkeit zu ſeiner Ausübung
ſchwindet. Jede Ariſtokratie, mag ſie Beſitzes- oder Berufs-
ariſtokratie ſein, entartet im Laufe der Zeit, wie die Pflanze
entartet, die in zu üppigem Boden wächſt. Es braucht
dabei noch gar nicht einmal an ein ſittliches Verkommen
gedacht zu werden; es genügt, daß die körperlichen und
geiſtigen Kräfte abnehmen, daß die Prokreation ſchwächer
[168] wird, um die Zuführung unverdorbenen Blutes, das aus
den unteren Schichten des Berufslebens in die höheren auf-
ſteigt, als eine Hauptbedingung geſunden ſozialen Stoff-
wechſels erſcheinen zu laſſen. Gerade darin haben wir ja
immer das große Problem dieſes Jahrhunderts erblickt,
daß ein allmähliches ſoziales Aufſteigen ermöglicht werde,
daß eine fortgeſetzte Regeneration der höheren Berufsklaſſen
ſtattfinde, und in dem Kaſtenweſen, das eine notwendige
Konſequenz der Vererbungstheorie ſein würde, haben wir
immer den Anfang, nicht das Ende der Kulturentwicklung
geſehen.
Wir wollen uns in dieſer Auffaſſung nicht irre machen
laſſen. Die Löſung des eben erwähnten Problems iſt für
die modernen Kulturvölker eine Exiſtenzfrage. Denn wenn
die Geſchichte etwas eindringlich gelehrt hat, ſo iſt es das:
Ein Volk, das aus der friſchen Quelle urſprünglicher Körper-
und Geiſteskraft, die in den untern Klaſſen ſtrömt, ſich
nicht mehr zu erneuern vermag, von dem gilt, was B. G.
Niebuhr einſt mit Bezug auf England und Holland ſagte:
das Mark iſt ihm ausgenommen, es iſt unrettbar dem
Verfall geweiht.
[[169]]
IV.
Die Anfänge
des
Zeitungsweſens.
Vortrag,
gehalten im Profeſſoren-Verein zu Leipzig
den 3. Dezember 1892.
[[170]][[171]]
Die enge Verbindung, welche in Deutſchland zwiſchen
wiſſenſchaftlicher Forſchung und Univerſitäts-Unterricht be-
ſteht, hat neben manchen unverkennbaren Lichtſeiten doch
auch einen großen Nachteil. Dieſer beſteht darin, daß ſolche
Gebiete des Wiſſens, welche nicht die Grundlage einer aka-
demiſchen Laufbahn bilden können, auch von der Forſchung
vernachläſſigt werden. Unter dieſem Schickſal hat auch der
Gegenſtand zu leiden, auf den ich jetzt Ihre Aufmerkſamkeit
lenken möchte: das Zeitungsweſen, und ich muß faſt um
Entſchuldigung bitten, daß ich es wage, einen Fremdling
in dieſen Kreis einzuführen, der das akademiſche Bürger-
recht nicht genießt. Während in Frankreich und England
die Geſchichte des Zeitungsweſens eine außerordentlich reich
entwickelte Litteratur aufzuweiſen hat, beſitzen wir in
Deutſchland auf dieſem Gebiete nur zwei erwähnenswerte
Verſuche, von denen einer die Anfänge, der andere die
neuere Entwicklung der Tagespreſſe in recht fragmentariſcher
Weiſe behandelt.
Bei dieſer Lage der Dinge würde es wenig helfen, zu
unterſuchen, welcher der beſtehenden wiſſenſchaftlichen Dis-
ziplinen die ſeither vernachläſſigte Aufgabe eigentlich zu-
[172] falle. Eine ſo komplexe Erſcheinung wie das Zeitungsweſen
läßt ſich von ſehr verſchiedenen Geſichtspunkten aus frucht-
bar behandeln: vom politiſch-hiſtoriſchen, dem litterarhiſto-
riſchen, dem bibliographiſchen, dem juriſtiſchen, ſelbſt dem
philologiſchen. Am nächſten liegt der Gegenſtand zweifellos
dem Nationalökonomen. Denn die Zeitung iſt in erſter
Linie eine Verkehrseinrichtung, und ſie bildet eines der
wichtigſten Stützorgane der heutigen Volkswirtſchaft. Aber
Sie werden in den Lehrbüchern der Nationalökonomie oder
ſelbſt des Verkehrsweſens im engern Sinne vergebens nach
einem Abſchnitte über die Tagespreſſe ſuchen. Wenn ich
unter dieſen Umſtänden es wage, über die Anfänge des
Zeitungsweſens in einem knapp zuſammenfaſſenden Vortrage
zu handeln, ſo bin ich mir ſelbſt am meiſten bewußt, daß
ich Ihnen nur Unvollkommenes bieten kann und daß ich
vielleicht auch inſofern noch Ihre Erwartungen zu täuſchen
genötigt ſein werde, als die nationalökonomiſche Betrach-
tungsweiſe nicht im Stande iſt, die Materie nach allen
Seiten zu erſchöpfen.
Die Frage nach den Anfängen des Zeitungsweſens wird
ſich verſchieden beantworten, je nach dem, was man unter
einer Zeitung verſteht. Wenn man aber zehn verſchiedenen
Perſonen die Frage vorlegt, was eine Zeitung ſei, ſo wird
man vielleicht zehn verſchiedene Antworten erhalten. Da-
gegen wird niemand ſich lange bedenken, wenn er nach den
Mitteln gefragt wird, durch welche das große Gewebe der
geiſtigen und materiellen Wechſelwirkungen hervorgebracht
[173] wird, das die moderne Menſchheit zur Einheit der Geſell-
ſchaft verbindet, die Zeitung in erſter Linie neben Poſt,
Eiſenbahn und Telegraphen zu nennen.
In der That bildet die Zeitung ein Glied in der Kette
der modernen Verkehrsmittel, d. h. der Einrichtungen, durch
welche der Austauſch geiſtiger und materieller Güter in der
Geſellſchaft bewirkt wird. Aber ſie iſt kein Verkehrsmittel
in dem Sinne wie die Poſt oder die Eiſenbahn, welche
den Transport von Perſonen, Gütern und Nachrichten be-
wirken, ſondern ein Verkehrsmittel wie der Brief und das
Zirkular, welche die Nachrichten erſt transportfähig machen,
indem ſie dieſelben mittels Schrift und Druck ſozuſagen
von ihrem Urheber loslöſen und körperlich übertragbar
machen.
So groß uns auch heute der Unterſchied zwiſchen Brief,
Zirkular und Zeitung erſcheinen mag, ſo zeigt doch ein
wenig Nachdenken, daß alle drei weſentlich gleichartige Pro-
dukte ſind, entſprungen aus dem Bedürfnis der Nachrichten-
mitteilung und aus der Verwendung der Schrift zur
Befriedigung dieſes Bedürfniſſes. Nur darin liegt der
Unterſchied, daß der Brief ſich an einzelne wendet, das
Zirkular an mehrere beſtimmte Perſonen, die Zeitung an
viele unbeſtimmte Perſonen. Oder mit anderen Worten:
Brief und Zirkular ſind Mittel privater Nachrichtenmit-
teilung, die Zeitung iſt ein Mittel der Nachrichtenpublikation.
Wir ſind freilich heute gewöhnt, daß die Zeitung regel-
mäßig gedruckt iſt und daß ſie in kurzen Zeitfriſten
[174] periodiſch erſcheint. Allein beides ſind keine weſentlichen
Merkmale der Zeitung als Nachrichtenpublikationsmittel;
ja wir werden nachher ſehen, daß die Urzeitung, aus der
jenes mächtige moderne Verkehrsmittel hervorgegangen iſt,
weder gedruckt war noch periodiſch erſchien, ſondern daß
ſie dem Briefe noch ſehr nahe ſtand, ja faſt gar nicht von
demſelben zu unterſcheiden war. Allerdings liegt das Wieder-
erſcheinen in kurzen Zeitfriſten in der Natur der Nach-
richtenpublikation. Denn Nachrichten haben nur Wert, ſo-
lange ſie neu ſind, und um ihnen den Reiz der Neuheit
zu erhalten, muß die Veröffentlichung derſelben den Ereig-
niſſen auf dem Fuße folgen. Wir werden jedoch bald
ſehen, daß die Periodizität dieſer Zeitfriſten, ſoweit ſie
im Kindesalter des Zeitungsweſens hervortritt, auf der
Periodizität der Nachrichtentransportgelegenheiten beruhte,
keineswegs aber mit der eigentlichen Natur der Zeitung
zuſammenhing.
Die regelmäßige Sammlung und Verſendung von Nach-
richten ſetzt ein räumlich weit verbreitetes Intereſſe an den
öffentlichen Dingen oder ein größeres Verkehrsgebiet mit
zahlreichen wirtſchaftlichen Beziehungen und Intereſſenver-
knüpfungen voraus oder beides zugleich. Ein ſolches Intereſſe
aber bildet ſich erſt, wenn die Menſchen durch ein größeres
Staatsweſen zu einer gewiſſen Gemeinſamkeit der Lebens-
ſchickſale verbunden ſind. Die antiken Stadtrepubliken be-
durften keiner Zeitung; ihre geſamten Publikationsbedürf-
niſſe konnten durch den Herold und gelegentlich durch In-
[175] ſchriften befriedigt werden. Erſt als die römiſche Herrſchaft
ſich über ſämtliche Mittelmeerländer ausgedehnt oder doch
dieſelben ihrem Einfluß unterworfen hatte, bedurfte es eines
Mittels, welches die als Beamte, Steuerpächter und Kauf-
leute nach den Provinzen gegangenen Mitglieder des herr-
ſchenden Standes über die hauptſtädtiſchen Vorgänge auf
dem Laufenden erhielt. Es iſt bezeichnend, daß Caeſar, der
Schöpfer der römiſchen Militärmonarchie und der Zentrali-
ſation der Verwaltung, auch als der Begründer der erſten
zeitungsähnlichen Einrichtung angeſehen wird 1).
Ich ſage zeitungsähnlichen Einrichtung; denn einen
Journalismus in unſerem Sinne hat es bei den Römern
nicht gegeben, und wenn Mommſen von einem „römiſchen
Intelligenzblatt“ ſpricht, ſo iſt das eine ſeiner vielen ſchiefen
Moderniſierungen. Was Caeſar Neues brachte, war eher
den Bulletins und „Waſchzetteln“ zu vergleichen, welche die
litterariſchen Bureaux unſerer heutigen Regierungen den
Journaliſten zur Benützung liefern, als unſeren heutigen
Zeitungen. Es handelte ſich alſo für ihn nicht um Be-
gründung des Zeitungsweſens, ſondern um Beeinfluſſung
der bereits beſtehenden Zeitungen.
[176]
Schon lange vor Caeſars Konſulat war nämlich die
Sitte aufgekommen, daß die in den Provinzen befindlichen
Römer ſich in der Hauptſtadt einen oder mehrere Korre-
ſpondenten hielten, welche ihnen über den Gang der politi-
ſchen Bewegung und über die ſonſtigen Vorkommniſſe des
Tages brieflich Bericht erſtatteten. Dieſer Korreſpondent
war gewöhnlich ein intelligenter Sklave oder Freigelaſſener,
der in den Verhältniſſen der Hauptſtadt genau Beſcheid
wußte und manchmal auch die Berichterſtattung für Mehrere
gewerbsmäßig übernahm — alſo eine Art antiker Reporter,
die ſich nur darin von den heutigen unterſchieden, daß ſie
nicht für ein Zeitungsunternehmen, ſondern direkt für die
Leſer ſchrieben. Dieſe Berichterſtatter genoſſen auf Für-
ſprache ihrer Auftraggeber zuweilen ſogar Zutritt zu den
Senatsverhandlungen. Antonius hielt ſich einen ſolchen
Mann, der ihm nicht bloß über die Beſchlüſſe des Senats,
ſondern auch über die Reden und die Abſtimmung der
Senatoren berichten mußte. Cicero empfing als Prokonſul
durch ſeinen Freund M. Caelius die Berichte eines gewiſſen
Chreſtus, ſcheint aber von den Aufzeichnungen desſelben
über Gladiatorenſpiele, Gerichtsverhandlungen und allerlei
Stadtklatſch nicht beſonders befriedigt geweſen zu ſein.
Wie in dieſem Falle, ſo erſtreckten ſich wohl immer jene
Korreſpondenzen nur auf Grob-Thatſächliches und bedurften
der Ergänzung durch die Briefe der Parteifreunde des
Abweſenden, welche, wie wir aus Ciceros Briefwechſel
wiſſen, die eigentlichen politiſchen Stimmungsberichte lieferten.
[177]
Das Neue, was nun Caeſar dieſer Einrichtung hinzu-
fügte, beſtand darin, daß er die Veröffentlichung eines
kurzen Protokolls der Senatsverhandlungen und Beſchlüſſe
anordnete und ebenſo die Verhandlungen der Volksver-
ſammlungen, ſowie andere wichtige öffentliche Vorgänge
publizieren ließ.
Das erſtere waren die Acta senatus, das letztere die
Acta diurna populi Romani. Die Veröffentlichung geſchah
auf einer mit Gyps überſtrichenen weißen Tafel, auf welche
die Schrift aufgemalt war. Die Tafel wurde öffentlich
ausgeſtellt, war alſo für die Bewohner der Hauptſtadt das,
was wir heute ein Plakat nennen. Für die Auswärtigen
nahmen zahlreiche Schreiber davon Abſchriften und ver-
ſandten ſie an ihre Auftraggeber. Nach Verlauf einiger
Zeit kam das Original in das Staatsarchiv.
Wie Sie ſehen, war dieſer römiſche Staatsanzeiger an
ſich keine Zeitung; er erlangte aber die Bedeutung einer
ſolchen durch die für unſere Begriffe etwas ſchwerfällige
Einrichtung der privaten Provinzialkorreſpondenzen.
Die Acta senatus wurden nur kurze Zeit publiziert;
ſchon Auguſtus unterdrückte ſie. Dagegen bürgerten ſich die
Acta diurna populi Romani bald ſo ein, daß ihr Inhalt
bedeutend erweitert werden konnte und daß ſie einen großen
Teil der Kaiſerzeit hindurch fortdauerten. Allerdings wurden
ſie hier mehr und mehr zu einer Art Hofbericht und
näherten ſich in ihrem Inhalt demjenigen, was die offiziellen
oder offiziöſen Blätter mancher europäiſchen Hauptſtädte
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 12
[178] heute ihren Leſern vorſetzen. Im ganzen beſchränkten ſie
ſich auf die Mitteilung von Thatſachen; eine Tendenz kam
nur inſofern zum Ausdruck, als man Unliebſames verſchwieg.
Nach wie vor gelangte der Inhalt auf dem Wege der
Korreſpondenz in die Provinzen, und, wie Tacitus berichtet,
verſtand man es dort, nicht bloß auf dasjenige zu achten,
was der Staatsanzeiger enthielt, ſondern auch auf das,
was er verſchwieg: man las zwiſchen den Zeilen.
Wir haben heute nicht die Zeit, näher auf dieſe Dinge
einzugehen; ich berühre ſie überhaupt nur, um der weit-
verbreiteten Annahme entgegenzutreten, als ob wir in den
Acta diurna der Römer ſchon eine Art offizieller Zeitung
vor uns hätten. Wie lange die ganze Einrichtung beſtanden
hat, wiſſen wir nicht. Wahrſcheinlich iſt ſie nach der Ueber-
ſiedelung des Hofes nach Konſtantinopel allmählich ein-
gegangen.
Die germaniſchen Völker, welche nach den Römern
die Leitung der Geſchicke Europas übernahmen, waren
weder nach ihrer Kulturſtufe, noch nach ihrer politiſchen
Organiſation imſtande und hatten auch nicht das Bedürfnis,
eine ähnliche Organiſation des Nachrichtendienſtes aufrecht
zu erhalten. Im ganzen Mittelalter bewegte ſich das Leben
der Menſchen politiſch und ſozial in engen geſchloſſenen
Kreiſen; die Pflege der Bildung zog ſich zurück in die
Klöſter; ſie berührte Jahrhunderte lang nur die Spitzen
der Geſellſchaft. Ein wirtſchaftliches Intereſſe, das über
die engen Mauern der Stadt oder der Herrſchaft, der man
[179] angehörte, die Menſchen mit einander verbunden hätte, be-
ſtand nicht. In den ſpäteren Jahrhunderten des Mittel-
alters treten allerdings wieder größere ſoziale Zuſammen-
hänge hervor. Es iſt zunächſt die Kirche mit ihrer alle
Länder des germaniſch-romaniſchen Kulturkreiſes umſpan-
nenden Hierarchie, ſodann das Bürgertum mit ſeinen Städte-
bünden und gemeinſamen Handelsintereſſen und endlich als
Gegenwirkung dazu die weltlichen Territorialgewalten, welche
allmählich zu einem Zuſammenſchluß gelangen. Im XII.
und XIII. Jahrhundert bemerken wir die erſten Spuren
einer Organiſation des Nachrichtendienſtes und der Brief-
beförderung in den Boten der Klöſter, der Univerſitäten
und der ſonſtigen geiſtlichen Würdenträger; im XIV. und
XV. Jahrhundert kommt eine umfaſſende, faſt poſtähnliche
Einrichtung ſtädtiſcher Botenanſtalten für den Briefverkehr
des Handels und der ſtädtiſchen Obrigkeiten hinzu. Und
jetzt vernehmen wir auch zum erſtenmal das Wort Zeitung.
Dasſelbe bedeutet urſprünglich: was in der Zeit ge-
ſchieht, ein Ereignis der Gegenwart, ſodann eine Nachricht
über ein ſolches Ereignis, eine Botſchaft, einen Bericht,
eine Neuigkeit.
Namentlich finden wir dasſelbe im Gebrauch für Mit-
teilungen über die politiſchen Zeitläufte, wie ſie die ſtädtiſchen
Kanzleien von anderen Städten oder einzelnen befreundeten
Ratsperſonen derſelben in Briefen oder Beilagen zu ſolchen
empfiengen und noch jetzt vielfach in ihren Archiven ver-
wahren. So beſitzt das Stadtarchiv in Frankfurt a. M.
12 *
[180] nicht weniger als 188 Briefe, welche ſich auf die Armagnaken-
züge in den erſten vierziger Jahren des XV. Jahrhunderts
beziehen — meiſtens Leidensſchilderungen und Hilferufe von
Städten aus dem Elſaß und der Schweiz. Darunter ſind
nicht weniger als drei Erzählungen der Schlacht von
St. Jacob, eine von Zürich, eine von Straßburg und eine
vom Rate zu Baſel 1).
Dieſe Berichterſtattung iſt eine freiwillige und beruht
auf Gegenſeitigkeit. Sie entſprang dem gemeinſamen Inter-
eſſe, welches die Städte gegenüber dem Adel und den Ter-
ritorialgewalten verband; ſie fand in den zahlreichen ſtädti-
ſchen Boten, welche in regelmäßigen Kurſen (daher Ordinari-
[181] Boten) die Verbindung zwiſchen Ober- und Niederdeutſch-
land unterhielten, eine wirkſame Unterſtützung.
Gegen Ende des XV. Jahrhunderts finden wir einen
ähnlichen brieflichen Austauſch von Nachrichten zwiſchen
hochgeſtellten Perſonen, Fürſten, Staatsmännern, Pofeſſoren
an Univerſitäten, der namentlich in der Reformationszeit
den größten Aufſchwung nimmt. Wir bemerken bereits,
wie man einander nicht mehr bloß bei zufälligen Anläſſen
über die Not und Bedrängnis der Zeit unterrichtet, ſondern
wie man auf planmäßiges Sammeln von Nachrichten aus-
geht. Beſonders waren es die großen Verkehrsmittelpunkte
und Handelsſtädte, die Knotenpunkte des Botenlaufs und
die Sitze der gelehrten Bildung, an welchen Nachrichten
aus aller Welt zuſammenſtrömten, um von da zuſammen-
geſtellt und redigiert in Briefen und Briefbeilagen nach
allen Richtungen hin auseinander zu fließen. Durchweg
führen dieſe geſchriebenen Nachrichten den Namen Zeitungen
oder neue Zeitungen.
Der größte Teil dieſer Korreſpondenz iſt privaten
Charakters. Männer im Mittelpunkt der politiſchen und
kirchlichen Ereigniſſe ſchrieben einander die bei ihnen ein-
gelaufenen Nachrichten zu. Es war ein gegenſeitiges Geben
und Nehmen, was nicht ausſchloß, daß Leute mit ſehr
lebhafter Korreſpondenz ihre neuen Zeitungen vervielfältigen
ließen, um ſie mehreren Briefen an Verſchiedene beizulegen
und daß die Empfänger ſie in Abſchriften weiter beförderten
oder unter ihren Bekannten zirkulieren ließen. Fürſten
[182] hielten ſich auch wohl ſchon an den Hauptverkehrsplätzen
eigene bezahlte Korreſpondenten.
In das Volk drangen dieſe geſchriebenen Zeitungen
zunächſt nicht. Die Kreiſe, auf welche dieſelben berechnet
waren, ſind:
- 1) die Fürſten und Staatsmänner, ſowie die ſtädti-
ſchen Räte, - 2) die Univerſitätslehrer und die ihnen nahe ſtehenden
Männer des öffentlichen Dienſtes in Schule und
Kirche, - 3) die Börſenmänner der Zeit, die Großkaufleute.
Faſt alle Reformatoren und Humaniſten ſind eifrige
Zeitungskorreſpondenten und regelmäßige Empfänger von
Zeitungsnachrichten. So namentlich Melanchthon,
deſſen zahlreiche Verbindungen in allen Teilen Deutſchlands
und der Nachbarländer ihm fortwährend ein reichen Schatz
neuer Nachrichten zuführten, mit denen er wieder ſeine
Freunde und namentlich verſchiedene Fürſten verſorgte.
Neben ihm iſt Luthers und Zwinglis Briefwechſel
verhältnismäßig arm an ähnlichem Stoff. Dagegen waren
die Straßburger Johann und Jakob Sturm, Bucer, Capito,
die Basler Oecolampadius und Beatus Rhenanus, die
Augsburger Hätzer und Urbanus Rhegius, Hier. Baum-
gartner in Nürnberg, Joachim Camerarius, Bugenhagen
u. A. auf dieſem Gebiete ſehr fleißig thätig.
Die Quellen für ihre Nachrichten ſind ſehr mannig-
faltige. Neben mündlichen oder ſchriftlichen Mitteilungen
[183] von Freunden werden uns genannt: Erzählungen von zu-
reiſenden Kaufleuten, insbeſondere von Buchhändlern, welche
die Meſſe in Frankfurt beſucht hatten, Ausſagen von
Briefboten, Berichte von Landsknechten, die aus Feldzügen
heimkehrten, Mitteilungen von durchreiſenden Fremden und
Gaſtfreunden, ſpeziell auch von Studenten, die aus fremden
Ländern kamen, um die deutſchen Hochſchulen zu beſuchen,
endlich auch was man von zufällig durchgekommenen Ge-
ſandten fremder Höfe, von Kanzlern, Sekretären und Agenten
hochgeſtellter Perſonen vernommen hatte.
Natürlich waren ſolche gelegentlich geſammelten münd-
lichen Nachrichten von ſehr verſchiedenem Werte und mußten
von dem Zeitungskorreſpondenten, der ſie weitergab, erſt
einer redaktionellen Kritik unterworfen werden. Weit wich-
tiger waren die brieflich bezogenen, und es dürfte von
einigem Intereſſe ſein, an Handen des Briefwechſels von
Melanchthon ihren Quellen etwas nachzugehen 1).
Da erkennen wir denn bald, daß es eine Reihe be-
ſtimmter Sammelpunkte für die verſchiedenen Arten von
Nachrichten gab. Im Vordergrunde des Intereſſes ſtand
damals die orientaliſche Frage, d. h. die Bedrohung der
mitteleuropäiſchen Länder durch die Türken. Nachrichten
über die Kämpfe mit ihnen kamen entweder aus Ungarn
über Wien, Krakau oder Breslau oder aus Konſtantinopel
zur See über Venedig. Die Berichterſtatter ſind meiſt
Geiſtliche, welche der neuen Lehre anhiengen.
[184]
Ueber die Verhältniſſe des Südens kamen Nachrichten
aus Rom, Venedig, Genua, auch wohl von gelehrten Freun-
den aus Padua und Bologna.
Nachrichten aus Frankreich und Spanien kamen über
Lyon, Genua und Straßburg, aus England und den Nieder-
landen über Antwerpen und Köln, aus den nordiſchen
Ländern über Bremen, Hamburg und Lübeck, aus dem
Nord-Oſten über Königsberg und Riga.
Innerhalb Deutſchlands war Nürnberg der Haupt-
ſammelpunkt für Nachrichten, einesteils wegen ſeiner zent-
ralen Lage, andernteils wegen ſeiner weitreichenden Handels-
verbindungen. Wer ſich ſicher und genau über die Welt-
händel unterrichten wollte, ſchrieb nach Nürnberg oder
ſchickte einen Geſandten dorthin. Fürſten, wie Herzog
Albrecht von Preußen und Chriſtian III. von Dänemark
hielten dort ihre ſtändigen Korreſpondenten, welche ihnen
die einlaufenden Neuigkeiten zuſammenzuſtellen und zu be-
richten hatten. Beamte der Stadt, Ratsherren und Stadt-
ſchreiber, angeſehene Kaufleute übernahmen häufig ein ſolches
Amt. Neben Nürnberg kamen noch in Betracht: Frankfurt,
Augsburg, Regensburg, Worms und Speier.
Die Zeitungen, welche Melanchthon aus dieſen ver-
ſchiedenartigen Quellen zuſammenſetzte, ſind einfache hiſto-
riſche Referate, zwar nicht ohne Kritik ausgewählt, aber
höchſt ſelten mit Erörterungen politiſcher Art — häufiger
ſchon mit allerlei Klagen und Befürchtungen, Wünſchen und
Hoffnungen durchflochten. Neben den wichtigen Nachrichten
[185] vom Hofe des Kaiſers, von den verſchiedenen Kriegsſchau-
plätzen, über den Fortgang der Reformation finden wir
auch ſolche, welche die ganze Naivetät und Leichtgläubigkeit
der Zeit widerſpiegeln: Mitteilungen über politiſche Weis-
ſagungen, Naturwunder, Mißgeburten, Erdbeben, Blutregen,
Kometen und andere Geſichte am Himmel.
In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts nahm
dieſe Art der Nachrichtenvermittlung eine regelmäßige Form
und zweckmäßige Organiſation an und zwar nicht nur in
Deutſchland, ſondern, wie es ſcheint, noch etwas früher in
Italien, namentlich in Venedig und Rom.
Venedig hat lange Zeit für den Ort gegolten, welcher
zuerſt die Zeitung im modernen Sinne des Wortes erfunden
hat. Man ſtützte ſich dabei auf die bei den romaniſchen
Völkern ziemlich allgemein verbreitete Benennung gazetta,
gazette für Zeitung, die ſich am früheſten in Venedig
findet und zwar als Name einer kleinen Münze. Ich will
hier nicht auf die zum Teil ziemlich abenteuerlichen Erzäh-
lungen eingehen, welche die an ſich unwahrſcheinliche Her-
leitung des Namens der Zeitung von dem Namen der
Münze rechtfertigen ſollen 1).
An und für ſich aber hat die Vermutung ſehr vieles
für ſich, daß das Zeitungsweſen, ſo wie ich es vorhin ge-
ſchildert habe, zuerſt in Venedig eine berufsmäßige Aus-
bildung erfahren hat. Als Vermittlerin des Verkehrs
zwiſchen Orient und Occident, als Sitz einer Regierung,
[186] welche zuerſt das Geſandtſchaftsweſen im modernen Sinne
und den politiſchen Nachrichtendienſt organiſiert hat, bildete
die alte Lagunenſtadt von ſelbſt einen Sammelpunkt, an
welchem wichtige Nachrichten von allen Ländern der be-
kannten Welt zuſammenfloſſen. Schon früh im XV. Jahr-
hundert hatte der Rat von Venedig, wie die Forſchungen
Valentinellis, des Konſervators der Markus-Bibliothek ge-
zeigt haben, Zuſammenſtellungen von Nachrichten über Vor-
gänge, die ſich entweder in der Republik ereignet hatten
oder von Geſandten, Konſuln und Beamten, von Schiffs-
kapitänen, Kaufleuten und dergl. berichtet worden waren,
anfertigen und in Zirkulardepeſchen an ſeine auswärtigen
Geſandten ſchicken laſſen, um ſie über den Gang der inter-
nationalen Angelegenheiten auf dem Laufenden zu erhalten.
Man nannte dieſe Nachrichtenſammlungen fogli d’avvisi.
Später wurden von dieſen offiziellen Zuſammenſtellungen
Abſchriften genommen, aber offenbar nicht zur Verbreitung
unter das große Publikum, ſondern bloß für die angeſehenen
Venetianer, welche bei ihren Handelsoperationen davon
Nutzen ziehen mochten, auch wohl ſie ihren Geſchäftsfreunden
in anderen Ländern brieflich mitteilten.
Dieſes Anhängen politiſcher Nachrichten an die Ge-
ſchäftskorreſpondenz oder das Beilegen derſelben auf be-
ſonderen Blättern finden wir bald ebenſo auch bei den
großen Handelsherren von Augsburg, Nürnberg und den
übrigen deutſchen Städten. Mit der Zeit verfielen einzelne
Perſonen darauf, das Sammeln und briefliche Zuſenden
[187] von Nachrichten zur Quelle des Erwerbs zu machen. Im
XVI. Jahrhundert finden wir auf dem Rialto zu Venedig
zwiſchen den Buden der Wechsler und Goldſchmiede ein
eignes kaufmänniſches Nachrichtenbureau, welches ein Ge-
ſchäft daraus machte, politiſche und Handelsnachrichten,
Nachweiſungen über ein- und ausgelaufene Schiffe, über
Warenpreiſe, über die Sicherheit der Straßen, auch über
politiſche Ereigniſſe einzuziehen und ſie an Intereſſenten
in Abſchriften zu verkaufen 1). Ja es bildete ſich eine ganze
Zunft von scrittori d’avvisi, und bald finden wir die
gleichen Leute auch in Rom, wo ſie den Namen novellanti
oder gazettanti führen. Hier ſcheint ihre Thätigkeit der
Curie bald unbequem geworden zu ſein, ſei es, daß ſie
unangenehme Thatſachen verbreiteten, ſei es, daß ſie die-
ſelben mit eigenen Urteilen begleitet hatten. Im Jahre
1572 wurden nicht weniger als zwei päpſtliche Bullen gegen
ſie erlaſſen (Pius V. und Gregor XIII.); das Aviſenſchreiben
wurde ihnen ſtreng verboten und die Fortſetzung desſelben
mit Brandmarkung und Galeerenſtrafe bedroht. Trotzdem
finden wir auch noch weiterhin zahlreiche Spuren eines
von Rom ausgehenden Nachrichtendienſtes nach den ober-
italieniſchen Städten und nach Deutſchland.
Auch in Deutſchland war inzwiſchen das Zeitungs-
ſchreiben ein Gewerbe geworden, welches eine eigne für die
damaligen Verkehrsverhältniſſe wunderbar zu nennende Or-
ganiſation angenommen hatte. Dieſelbe hängt einerſeits
[188] zuſammen mit der weiteren Ausbildung der Botenkurſe,
anderſeits mit der Einrichtung der Poſt von den öſter-
reichiſchen Niederlanden nach der Hauptſtadt Wien durch
Kaiſer Maximilian, welche den regelmäßigen Bezug von
Nachrichten ungemein erleichtert hatte. So finden wir denn
in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts an verſchie-
denen Orten eigene Korreſpondenzbureaux, welche Nach-
richten ſammeln und ſie ihren Abonnenten brieflich mit-
teilen. Es ſind mehrere Sammlungen ſolcher brieflicher
Zeitungen erhalten, u. A. eine von 1582—1591 auf der
großherzoglichen Bibliothek in Weimar und zwei auf der
Univerſitäts-Bibliothek in Leipzig aus den 80er und 90er
Jahren des XVI. Jahrhunderts 1).
Sie geſtatten mir, bei dem älteſten Jahrgang der Leip-
ziger Sammlung etwas zu verweilen. Derſelbe trägt die
Aufſchrift:
Neüetzeittüng ſoüil dero von Nornbergk von dem
26. Octobris Anno 87 bis auff den 26. Octobris
Anno 88 einkommen.
Es folgen dann in ſelbſtändigen Zuſammenſtellungen
Abſchriften von Nachrichten, welche regelmäßig wöchentlich
von Rom, Venedig, Antwerpen und Köln auf dem Komptoir
des Nürnberger Handelshauſes Reiner Volckhardt und Flo-
rian von der Bruckh eingelaufen waren und von da
entweder durch dieſes Haus oder durch einen beſonderen
[189] Herausgeber weiter verbreitet worden waren. Der Empfänger
unſerer Sammlung war wahrſcheinlich der Leipziger Ober-
ſchöppenſchreiber Ludwig Trüb.
Die römiſchen Korreſpondenzen ſind gewöhnlich um
6 Tage früher datiert als die Venetianiſchen, und die
Antwerpener um 5 Tage früher als die Kölniſchen. Alle
vier Orte lagen an den großen Poſtrouten von Italien
und den Niederlanden nach Deutſchland. Zuweilen treten
neben dieſen regelmäßigen auch gelegentliche Korreſpondenzen
auf. So aus Prag, Breslau und beſonders oft aus
Frankfurt a. M.
Sehen wir uns den Inhalt dieſer Nachrichten näher
an, ſo erkennen wir bald, daß wir es nicht mit Vorkomm-
niſſen zu thun haben, welche in Rom, Venedig, Antwerpen ꝛc.
ſich ereignet hatten, ſondern mit Berichten, welche an dieſen
Orten geſammelt worden waren. Demgemäß enthält die
Antwerpener Korreſpondenz nicht bloß Nachrichten aus den
Niederlanden, ſondern auch aus Frankreich, England und
Dänemark; über Rom kamen nicht nur Nachrichten aus
Italien, ſondern auch aus Spanien und Südfrankreich,
über Venedig aus dem Orient. Der Ton der Berichte iſt
ein objektiv nüchterner, geſchäftsmäßiger. Die politiſchen
Nachrichten überwiegen; ſeltener treten Mitteilungen über
Handel und Verkehr auf. Von den beliebten Wunder- und
Spukgeſchichten iſt keine Spur zu finden.
Wie war nun der Nachrichtendienſt an jenen vier großen
Sammelpunkten organiſiert? Wer waren die Sammler und
[190] Vermittler? Wie wurden ſie honoriert? Aus welchen
Quellen ſchöpften ſie? Leider können wir nur auf einen
Teil dieſer Fragen Antwort geben.
Was zunächſt die Quellen betrifft, aus welchen die
Verfaſſer jener Korreſpondenzen ſchöpften, ſo berufen ſie
ſich ſelbſt bisweilen auf die letzte Poſt oder auf den regel-
mäßigen Botenverkehr (Ordinari). So heißt es in einer
Kölner Korreſpondenz vom 28. Februar 1591: „Die Brief
von Holl- und Seeland, alſo auch aus dem welſchen Quar-
tier ſind noch nicht erſchienen.“ In einer ſolchen aus Rom
vom 17. Februar 1590 wird mitgeteilt, daß der dortige
Poſtmeiſter ſich dem Papſt gegenüber verpflichtet habe,
wöchentlich eine Poſt von und nach Lyon laufen zu laſſen
und am Schluſſe heißt es: „Dergeſtalt werden wir alle
Wochen Aviſo aus Frankreich haben.“
Mehr iſt aus der Sammlung ſelbſt nicht zu ermitteln.
Wenn wir aber gleichzeitig in einer Reihe von deutſchen
Städten bemerken, daß es vorzugsweiſe die ſtädtiſchen
Botenmeiſter und die kaiſerlichen Poſtmeiſter ſind, welche
ſich mit dem gewerbsmäßigen Verfaſſen und Verſenden von
neuen Zeitungen abgeben, ſo gewinnt die Vermutung große
Wahrſcheinlichkeit, daß die Nachrichtenſammlung im engſten
Anſchluß an die damaligen Nachrichtentransportanſtalten
bewerkſtelligt worden ſei. Wahrſcheinlich haben die Boten-
und Poſtmeiſter die von ihnen geſammelten Nachrichten
regelmäßig unter einander ausgetauſcht, um dann ihre
[191] Privatkunden damit zu verſorgen. Doch bedarf die ganze
Angelegenheit noch ſehr der näheren Unterſuchung.
Etwas klarer ſehen wir in die Beziehungen des Groß-
handels zum Zeitungsweſen. Wie die vorhin erwähnten
Nürnberger Kaufleute, ſo hatten auch an andern Orten
einzelne große Handelshäuſer den Nachrichtendienſt auf
eigene Hand organiſiert. So namentlich die Welſer und
Fugger, deren Nachrichten wir neben den Nürnbergern
in dem berühmten Briefbuche des Nürnberger Rechtsge-
lehrten Chriſtoph Scheurl finden 1). In der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts ließen die Fugger die aus
allen Teilen der Welt bei ihnen einlaufenden Nachrichten
regelmäßig zuſammenſtellen und, wie es ſcheint, auch publi-
zieren. Der Titel der regelmäßig erſcheinenden Nummern
war Ordinari-Zeittungen. Daneben gab es Beilagen mit
dem Allerneueſten: Extraordinari-Zeittungen. Der Preis
einer Nummer war 4 Kreuzer; der ganze Jahrgang koſtete
in Augsburg einſchließlich der Zuſtellung 25 fl., die Ordi-
nari-Zeittungen allein 14 fl. Eine Sammlung dieſes ſehr
reichhaltigen Publikations-Organs von 1568—1604 befindet
ſich in der Wiener Bibliothek.
Die Fuggerzeitungen enthalten regelmäßig Nachrichten
aus den verſchiedenen Teilen Europas und dem Orient,
aber auch darüber hinaus aus Perſien, China, Japan,
[192] Amerika. Neben den politiſchen Nachrichten findet man
häufig Ernteberichte und Preisnotizen, hie und da ſelbſt
annoncenartige Mitteilungen und ein langes Verzeichnis
von Wiener Firmen (wie und wo alle Dinge jetzt in Wien
zu kaufen ſind). Sogar litterariſche Nachrichten treten auf
über neue und merkwürdige Bücher, ja es wird ſelbſt
über die Aufführung eines neuen Schauſpiels berichtet 1).
Die Fuggerzeitungen ſind zweifellos eine ſinguläre
Erſcheinung, die ſich nur aus der eigenartigen Stellung
dieſes Hauſes, die derjenigen der heutigen Rothſchilde ähn-
lich war, erklären läßt. An allen wichtigen Plätzen hatten
die Fugger ihre Agenten; ſie ſtanden mit den bedeutendſten
Handelshäuſern der Welt in ſtändiger Korreſpondenz, ihre
Anlehensgeſchäfte brachten ſie mit den Regierungen in Ver-
bindung; mit den Jeſuiten, die ſich ſchon damals in allen
Ländern ausbreiteten, lebten ſie auf ſehr vertrautem Fuße.
Neben der organiſierten Nachrichtenvermittlung der
Boten- und Poſtmeiſter, ſowie der großen Handelsfirmen
treffen wir bald hier bald da in Deutſchland einzelne
Aviſenſchreiber (Zeitunger, Novelliſten), welche im Dienſte
von Fürſten oder Städten das Zeitungsſchreiben betrieben.
So ſchloß 1609 der Kurfürſt Chriſtian II. von Sachſen
[193] mit Joh. Rudolf Ehinger von Balzheim in Ulm einen
Vertrag, nach welchem dieſer es übernahm, gegen ein jähr-
liches Honorar von 100 fl. Bericht zu erſtatten über die
Vorgänge in der Schweiz, in Frankreich und natürlich auch
in Schwaben. Im Jahre 1613 bezog Hans Zeidler in
Prag für dasſelbe Amt vom ſächſiſchen Hofe ein Jahres-
gehalt von 300 fl. nebſt 3319 Thalern 6 g. Gr. für Aus-
lagen, die er beim Sammeln ſeiner Nachrichten gehabt
hatte 1). Zu gleicher Zeit ließ ſich der Fürſtbiſchof von
Bamberg von einem Dr. Gugel in Nürnberg gegen ein
Honorar von 20 fl. die Zeitungen einſenden. Im Jahre
1625 zahlte die Stadt Halle dem Aviſenſchreiber Hierony-
mus Teuthorn in Leipzig die Summe von 2 Schock 8 Gr.
als vierteljährliches Honorar, und noch 1662 war der Rat
von Delitzſch auf eine Leipziger Zeitungskorreſpondenz abon-
niert für vierteljährlich 2 Thaler. Etwas beſſer ſcheinen
die Poſt- und Botenmeiſter für ihre auch wohl wertvolleren
Dienſte bezahlt geweſen zu ſein. Wenigſtens wiſſen wir,
daß im Jahre 1615 der Frankfurter Poſtmeiſter Johann
von der Birghden, der eine große Zahl von deutſchen
Fürſten mit Aviſen verſorgte 2), vom kurmainziſchen Hofe
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 13
[194] für die wöchentliche Einſendung der Zeitungen jährlich
60 fl. empfieng 1).
In größere Kreiſe ſcheinen die geſchriebenen Zeitungen
auch noch im XVII. Jahrhundert nicht gedrungen zu ſein.
Dafür waren ſie doch noch zu teuer.
Wie in Deutſchland und Italien, ſo finden wir auch
in Frankreich und England am Schluſſe des XVI. und XVII.
Jahrhunderts die geſchriebenen Zeitungen. In Frankreich
heißen ſie Nouvelles à la main, in England News letters.
In beiden Ländern ſind ſie ſpezifiſch hauptſtädtiſche Er-
ſcheinungen.
Am intereſſanteſten geſtaltet ſich die Entwickelung in
Paris; ja man kann wohl ſagen, daß die eigentliche Ur-
zeitung, diejenige, welche der geſchriebenen Zeitung noch
vorausgieng, ſich dort findet. Es iſt die erzählte oder ge-
ſprochene Zeitung 2).
In den aufgeregten Zeiten des XVI. und XVII. Jahr-
hunderts bildeten ſich allabendlich an den Straßenecken,
auf dem Pont neuf und an den öffentlichen Plätzen ganze
Gruppen von Pariſer Bürgern, welche ſich die Tagesneuig-
keiten zutrugen und dieſelben gloſſierten. Wie leicht be-
greiflich, waren unter dieſen Gruppen einzelne, die es im
Sammeln und Wiedererzählen von Neuigkeiten zur Vir-
tuoſität brachten. Allmählich kam Organiſation in die
[195] Sache; die ſog. Nouvellistes hielten regelmäßige Zuſammen-
künfte, tauſchten ihre Nachrichten gegen einander aus, kom-
mentierten dieſelben, politiſierten und machten Projekte.
Die Schriftſteller der Zeit behandeln dieſe Zirkel mit un-
erſchöpflicher Satire, die Luſtſpieldichter bemächtigen ſich
des dankbaren Stoffs, und noch Montesquieu widmet ihnen
eine der ergötzlichſten ſeiner Lettres Persanes1).
Was Anfangs ein bloßer Zeitvertreib für Neuigkeiten-
jäger und Müßiggänger geweſen war, wurde für ſpekulative
Köpfe bald ein Gewerbe. Dieſelben übernahmen es, Leuten
von Rang und Anſehen regelmäßig die Neuigkeiten zuzutragen.
Große Herren hielten ſich einen Nouvelliste, wie ſie ſich
einen Haarkräusler oder Leibſchneider hielten. Der Herzog
von Mazarin zahlte beiſpielsweiſe einem ſolchen monatlich
10 Livres.
Bald fiengen die Nouvelliſtenzirkel an, auch Kunden in
den Provinzen aufzuſuchen, die natürlich nur ſchriftlich be-
dient werden konnten. Jeder Zirkel hatte ſein beſonderes
Redaktions- und Kopierbureau und ſeine beſonderen Quellen
für Hof- und Regierungsnachrichten. Die Abonnenten
zahlten eine feſte Summe, die ſich nach der Zahl der Seiten
richtete, welche ſie wöchentlich verlangten. Dies iſt der
Urſprung der berühmten Nouvelles à la main, die unter
manchen Verfolgungen von ſeiten der Regierung bis gegen
das Ende des vorigen Jahrhunderts fortdauerten und zum
13 *
[196] Teil auch ins Ausland verſchickt wurden 1). Was ihnen
aber neben den gedruckten Zeitungen Beſtand gab, war
einerſeits der Umſtand, daß ſie das Geheimhaltungsſyſtem
der Regierung vielfach illuſoriſch machten, und daß ſie ſich
hin und wieder auch eine Kritik der öffentlichen Zuſtände
erlaubten 2).
Auch in England erhalten ſich die News letters, die
hier vorwiegend den Landadel mit hauptſtädtiſchen und
Hof-Nachrichten verſorgen, bis tief ins vorige Jahrhundert
hinein; ja die damals gedruckten Zeitungen bequemten ſich
dieſer Einrichtung noch inſofern an, als ſie mit zwei ge-
druckten Seiten und zwei Seiten weißen Papiers erſchienen,
damit die Abonnenten ſie mit handſchriftlichen Zuſätzen
weiter befördern konnten 3).
So ſehen wir ziemlich gleichzeitig in allen Kulturländern
[197] Europas als — freilich noch recht beſchränktes — Nach-
richtenpublikationsmittel die geſchriebene Zeitung entſtehen
und ſich mehr als zwei Jahrhunderte hindurch erhalten.
Was aber das Merkwürdigſte an der Sache iſt, beſteht
darin, daß eine gewerbsmäßige Herſtellung dieſer handſchrift-
lichen Nachrichtenblätter ſich nirgends über die Zeit der Er-
findung der Buchdruckerkunſt zurückverfolgen läßt. Mit
dieſer Beobachtung drängt ſich von ſelbſt die Frage auf,
warum man nicht die Druckerpreſſe in den Dienſt der regel-
mäßigen Nachrichtenpublikation nahm.
Die Frage beantwortet ſich einfach aus der Beobach-
tung, daß auch in jungen Kolonialländern mit einer euro-
päiſchen Bevölkerung, die in ihrer Heimat bereits an ge-
druckte Zeitungen gewöhnt geweſen war, die geſchriebenen
Nachrichtenblätter den gedruckten vorausgehen. So in den
Vereinigten Staaten von Amerika noch im Anfang des
XVIII. Jahrhunderts 1), ſo in der Kolonie Weſt-Auſtralien
noch im Jahre 1830 2). Dieſe Thatſache beweiſt, daß es
viel weniger der Druck der Zenſur geweſen ſein kann,
welcher die Verwendung der Preſſe zur Nachrichtenpubli-
kation ſolange verhindert hat, als der Mangel eines ge-
nügend großen Leſerkreiſes, welcher den für den Erſatz der
Druckkoſten nötigen Abſatz garantiert hätte.
Allerdings ſind einzelne Nummern jener geſchriebenen
[198] Zeitungen, für welche nach ihrem Inhalt ein Intereſſe in
weiteren Kreiſen vorausgeſetzt werden konnte, ſchon ſeit dem
Ende des XV. Jahrhunderts vielfach gedruckt worden. Es
ſind das jene Einblattdrucke, welche unter dem Namen
„Newe Zeitung“ von ſpekulativen Verlegern herausgegeben
und auf Meſſen und Märkten verkauft wurden und von
denen ſich Sammlungen in jeder älteren Bibliothek finden 1).
Die älteſte derſelben iſt ein Bericht über das Leichenbegäng-
nis Kaiſer Friedrichs III. aus dem Jahre 1493. Von da
ab ziehen ſie ſich durch das ganze XVI. Jahrhundert hin,
um im XVII. Jahrhundert mit dem Aufkommen periodiſcher
gedruckter Nachrichtenblätter ſeltener zu werden und erſt
im XVIII. zu verſchwinden. Die älteſten derſelben tragen
entweder gar keinen Titel, oder ſie entnehmen die Ueberſchrift
dem Inhalt. Der Name Zeitung tritt zum erſtenmal
für ein ſolches fliegendes Blatt 1505 auf. Daneben finden
wir aber noch mancherlei andere Benennungen, wie Brief,
Relation, Mär, Nachricht, Beſchreibung,
Bericht, Aviſo, Poſt, Poſtillon, Kurier,
Fama, Depeſche, Felleiſen — oft auch mit allerlei
adjektiviſchen Zuſätzen, wie Umbſtändliche Nachricht,
Warhaffte und eigentliche Beſchreibung,
Wolbedenkliche Beſchreibung, Warhaffte
Relation, Vberſchlag und Inhalt, Hiſtori-
ſcher Diſcurs und ausführliche Erklärung;
[199] ſehr häufig Neue und warhaffte Zeitung, War-
hafftige und erſchrockenliche Zeitung, Wun-
derbarliche, erſchreckliche und erbärmliche
Zeitung, — in England: Newes, Newe Newes, Thiding
Woful Newes, Wonderful and strange Newes, Lamentable
News und ähnlich in Frankreich: Discours, Mémorable
discours, Nouvelles, Récit, Courrier, Messager, Postillon,
Mercure etc.
Wie man ſieht, ſind die Titel reklamenhaft und markt-
ſchreieriſch. Der Inhalt iſt ſehr mannigfaltig. In der
großen Mehrzahl der Fälle beſteht er aus politiſchen Nach-
richten; durchweg tritt das Raiſonnement zurück. Die ge-
ſchriebenen Neuigkeitsbriefe ſind zwar nicht die einzige
Quelle dieſer flüchtigen Erzeugniſſe der Druckerpreſſe, wohl
aber die Hauptquelle. Gewöhnlich ſind dieſe Einzeldruck-
blätter unabhängig von einander; nur vereinzelt laſſen ſich
am Ende des XVI. Jahrhunderts mehrere auf einander
folgende Nummern nachweiſen, ohne daß man noch an ein
periodiſches Erſcheinen denken darf. Jedenfalls aber be-
reiten dieſe fliegenden Blätter formell und inhaltlich der
eigentlichen periodiſch erſcheinenden gedruckten Zeitung den
Weg und dies auch inſofern, als ſie im Volke den Sinn
für Ereigniſſe weckten, die über die bloßen Kirchturms-
intereſſen hinausgiengen.
Die erſten gedruckten periodiſchen Nachrichtenſammlungen
beginnen noch im XVI. Jahrhundert. Und zwar ſind es
Jahrespublikationen, die ſog. Poſtreuter, deren Inhalt
[200] ſich etwa mit den politiſchen Jahresüberſichten unſerer Volks-
kalender vergleichen läßt 1).
Daran ſchließen ſich halbjährliche Nachrichtenzuſammen-
ſtellungen, die ſog. Relationes semestrales oder
Meßrelationen. Sie ſind in den 80er Jahren des
XVI. Jahrhunderts von Michael von Aitzing begründet
worden und bildeten mehr als zwei Jahrhunderte hindurch
einen der Hauptvertriebsartikel der Frankfurter und ſpäter
auch der Leipziger Frühjahrs- und Herbſtmeſſe 2). Die
erſte gedruckte Wochenzeitung, von welcher wir Kunde
haben, iſt ein Straßburger Blatt, von dem ſich der Jahr-
gang 1609 auf der Heidelberger Univerſitätsbibliothek be-
findet, während Reſte ſpäterer Jahrgänge auf der Züricher
Bürgerbibliothek ſich erhalten haben 3). Sie entſpricht nach
Inhalt und Form genau den Ordinari-Aviſen, welche die
Poſt allwöchentlich aus den Hauptſammelplätzen des Nach-
richtenverkehrs brachte. Das Beiſpiel fand ſehr bald Nach-
ahmung; beſonders raſch vermehrte ſich nach dem Beginne
[201] des dreißigjährigen Krieges die Zahl der gedruckten Wochen-
zeitungen. Aus den zwanziger und dreißiger Jahren des
XVII. Jahrhunderts laſſen ſich deren in verſchiedenen deutſchen
Städten etwa zwei Dutzend nachweiſen. Die Unternehmer
waren meiſt Buchdrucker; an einigen Orten nahm jedoch
die Poſt das Recht, Aviſen im Druck erſcheinen zu laſſen,
als einen Ausfluß ihres Regals in Anſpruch — freilich
mit verſchiedenem Erfolg. Während in Frankfurt, Leipzig,
München, Köln, Hamburg die alte Verbindung zwiſchen
Poſt und Zeitung ſich noch längere Zeit erhielt, gieng an
vielen andern Orten die Nachrichtenpublikation völlig in den
Geſchäftsbetrieb der Buchdruckereien über, und dies war für
ihre fernere Entwicklung von der größten Bedeutung.
Deutſchland iſt das erſte Land, welches in regelmäßigen
kurzen Friſten erſcheinende gedruckte Zeitungen aufzuweiſen
hat. Die Anſprüche, welche früher von den Engländern
und den Niederländern auf die Ehre erhoben wurden, die
erſten gedruckten Wochenzeitungen hervorgebracht zu haben,
ſind jetzt wohl aufgegeben. England kann nichts dem ähn-
liches vor dem Jahre 1622 namhaft machen; das erſte franzö-
ſiſche Wochenblatt begann 1631 zu erſcheinen.
Es wird vielleicht auffallend erſcheinen, daß man von
den Halbjahrsberichten ſofort zu Wochenpublikationen über-
gieng, ohne die Zwiſchenſtufe der Monatsberichte durchgemacht
zu haben. Man muß jedoch nicht vergeſſen, daß ſich ebenſo-
wohl die Sammlung der Nachrichten, als auch die Ver-
breitung der Nachrichtenblätter den der Zeit eigentümlichen
[202] Verkehrsgelegenheiten anzupaſſen hatten. Die wichtigſten
derſelben aber waren die Meſſen und die Poſten. Die
halbjährlichen Meſſen boten die Möglichkeit, von einem großen
Zentrum des Warenhandels und Menſchenverkehrs aus die
gedruckten Nachrichten nach allen Richtungen bis in die
entfernteſten Gegenden zu verbreiten. Die Poſten aber
giengen auf den Hauptverkehrsrouten wöchentlich einmal und
kamen wöchentlich einmal an. Der Sprung von den Halb-
jahrsberichten zu den Wochenberichten lag alſo in der Natur
der Dinge.
Mit den Wochenzeitungen war der Anſtoß zur eigent-
lichen modernen Entwicklung des Zeitungsweſens gegeben.
Immerhin dauerte es noch ziemlich lange bis zum Auftreten
der erſten Tagesblätter. Dasſelbe erfolgte in Deutſchland
1660 (Leipziger Zeitung), in England 1702 (Daily Courant),
in Frankreich 1777 (Journal de Paris).
Es liegt mir fern, Sie auf dieſem Wege weiter führen
zu wollen bis auf die dreimal täglich erſcheinenden Welt-
blätter der Gegenwart. Was ſie unterſcheidet von der
geſchriebenen Zeitung des XVI. Jahrhunderts iſt weniger
die Großartigkeit der Organiſation der Nachrichtenvermitt-
lung und die Schnelligkeit der Nachrichtenbeförderung als
die Umgeſtaltung des Inhalts, ſpeziell das Annoncenweſen
und der Einfluß, den ſie auf die öffentliche Meinung und
dadurch auf den Gang der Geſchicke der Völker ausüben.
Großartig war zweifellos für das XVI. Jahrhundert
das Netz der regelmäßigen Nachrichtenſammlung, welches
[203] wir vorhin kennen gelernt haben. Es geht durch ſie ſozu-
ſagen ein moderner Zug, der Zug der Zuſammenfaſſung
der Einzelkräfte in geteilter Arbeit, aber in vereintem Wirken.
Auf dem Gebiete der Nachrichten ſammlung ſind ſeit
dem XVI. Jahrhundert kaum Fortſchritte gemacht worden.
Die ganze Weiterentwicklung, welche die Zeitung in dieſer
Richtung erfahren hat, beruht auf der Trennung der Nach-
richtenſammlung von der Nachrichtenbeförderung (Poſt) und
auf der unternehmungsweiſen Geſtaltung der erſteren in
den Korreſpondenzbureaux und telegraphiſchen Agenturen.
An die letzteren iſt die Rolle der ehemaligen Poſtmeiſter
und Aviſenſchreiber übergegangen, nur mit dem Unterſchiede,
daß dieſelben nicht mehr direkt für den Zeitungsleſer arbeiten,
ſondern daß ſie nur Halbfabrikate für einen Publikations-
unternehmer liefern und ſich dabei der vervollkommneten
Verkehrsmittel der Neuzeit bedienen.
Sodann hat ſich die Nachrichten publikation auf
dem Boden, auf welchen ſie ſich ſeit der Benutzung der
Druckerpreſſe geſtellt ſah, eigentümlich weiter entwickelt.
Im Anfang war der Herausgeber einer gedruckten periodiſch
erſcheinenden Zeitung nichts anders als der Verleger eines
ſonſtigen Preßerzeugniſſes, etwa einer Flugſchrift oder eines
Buches: der Vervielfältiger und Verkäufer eines litterariſchen
Produkts, über deſſen Inhalt er keine Gewalt übte. Der
Zeitungsverleger brachte die Ordinari-Aviſen der Poſt ge-
druckt auf den Markt, wie ein anderer Verleger ein Kräuter-
[204] buch oder die Ausgabe eines alten Schriftſtellers dem Pub-
likum darbot.
Aber das änderte ſich bald. Man entdeckte leicht, daß
der Inhalt einer Zeitungsnummer doch nicht in dem Sinne
ein geſchloſſenes Ganzes bildet, wie der Inhalt eines Buches
oder einer Flugſchrift. Die dort vereinigten, aus verſchie-
denen Quellen geſchöpften Nachrichten waren von verſchie-
dener Zuverläſſigkeit. Sie mußten mit Auswahl und Kritik
benutzt werden; es ließ ſich dabei leicht eine politiſche oder
kirchliche Tendenz zum Ausdruck bringen. Noch in erhöhtem
Maße war das der Fall, als man anfieng, politiſche Tages-
fragen in den Zeitungen zu beſprechen und ſie als Mittel
zur Ausbreitung von Parteimeinungen zu benutzen.
Es geſchah dies zuerſt in England während des langen
Parlaments und der Revolution von 1649. Später folgten
die Niederlande und ein Teil der deutſchen Reichsſtädte.
In Frankreich vollzog ſich der Umſchwung erſt zur Zeit
der großen Revolution, in den meiſten andern Staaten in
dieſem Jahrhundert. Die Zeitungen wurden aus bloßen
Nachrichtenpublikationsanſtalten auch Träger und Leiter der
öffentlichen Meinung und Kampfmittel der Parteipolitik.
Dies hatte für die innere Organiſation der Zeitungs-
unternehmung die Folge, daß ſich zwiſchen die Nachrichten-
ſammlung und die Nachrichtenpublikation ein neues Glied
einſchob: die Redaktion. Für den Zeitungsverleger
aber hatte es die Bedeutung, daß er aus einem Verkäufer
[205] neuer Nachrichten zugleich zu einem Händler mit öffentlicher
Meinung wurde.
Das hatte zunächſt kein weiteres Bedenken, als daß
der Verleger in den Stand geſetzt wurde, das Riſiko ſeiner
Unternehmung zum Teil auf eine Parteiorganiſation, eine
Intereſſentengruppe, eine Regierung abzuwälzen. Gefiel
die Tendenz des Blattes den Leſern nicht, ſo hörten ſie
auf, es zu kaufen; ihr Bedürfnis blieb alſo doch in letzter
Linie für den Inhalt der Zeitungen maßgebend.
Die allmählich fortſchreitende Verbreitung der gedruckten
Zeitungen führte jedoch bald auch ihre Benutzung zu öffent-
lichen Bekanntmachungen der Behörden herbei, und daran
ſchloß ſich im erſten Viertel des vorigen Jahrhunderts die
Ausbildung des privaten Annoncenweſens. Dasſelbe
hat gegenwärtig durch die ſog. Annoncen-Expeditionen eine
ähnliche Organiſation erlangt, wie die politiſche Nachrichten-
ſammlung durch die Korreſpondenzbureaux.
Durch die Aufnahme des Inſeratenweſens geriet die
Zeitung in eine eigentümliche Zwitterſtellung. Sie bringt
für den Abonnementspreis nicht mehr bloß Nachrichten und
Anſichten zur Veröffentlichung, an die ſich ein allgemeines
Intereſſe knüpft, ſondern ſie dient auch dem Privatverkehr
und dem Privatintereſſe durch Anzeigen jeder Art, welche
ihr ſpeziell vergolten werden. Sie verkauft neue Nachrichten
an ihre Leſer, und ſie verkauft ihren Leſerkreis an jedes
zahlungsfähige Privatintereſſe. Auf demſelben Blatte, oft
auf derſelben Seite, wo die höchſten Intereſſen der Menſch-
[206] heit Vertretung finden oder doch finden ſollten, treiben
Käufer und Verkäufer in niedriger Gewinnſucht ihr Weſen,
und für den Uneingeweihten iſt es oft ſchwer genug zu
unterſcheiden, wo das öffentliche Intereſſe aufhört und wo
das private anfängt.
Das iſt um ſo gefährlicher, als ſich im Laufe dieſes
Jahrhunderts der Inhalt des redaktionellen Teiles der
Zeitungen faſt über das ganze Gebiet allgemein menſchlicher
Intereſſen ausgedehnt hat. Die hohe Politik, die ſtaatliche
und kommunale Verwaltung, die Rechtspflege, die Kunſt
in allen ihren Aeußerungen, die Technik, das wirtſchaft-
liche, das ſoziale Leben in ſeinen mannigfachen Ausſtrah-
lungen ſpiegeln ſich in der Tagespreſſe ab; auch ein guter
Teil der ſchöngeiſtigen und ſelbſt der wiſſenſchaftlichen
Produktion mündet ſeit der Ausbildung des Feuilletons in
dieſen großen Strom des ſozialen Geiſteslebens der Gegen-
wart aus. Die Publikationsform des Buches — darüber
dürfen wir uns am wenigſten täuſchen — verliert von
Jahr zu Jahr an Boden.
Ich kann und darf auf dieſe Dinge heute nicht weiter
eingehen. Was ich mit dieſem flüchtigen Ausblick auf die
moderne Geſtaltung des Zeitungsweſens allein beabſichtigt
habe, war, die Anfänge des Zeitungsweſens entwicklungs-
geſchichtlich in den rechten Zuſammenhang zu rücken, und
Ihnen zu zeigen, wie die Organiſation der Nachrichten-
vermittlung zu jeder Zeit bedingt iſt durch die geſamte
Wirtſchaftsweiſe.
[207]
Die römiſche Zeitung iſt ein Glied in der autonomen
Güterverſorgung des reichen ariſtokratiſchen Hauſes. Man
hält ſich einen Zeitungsſchreiber, wie man ſich einen Leib-
arzt oder Bibliothekar hält. Er iſt in den meiſten Fällen
das Eigentum des Zeitungsleſers, ſein Sklave, der nach
den Anweiſungen des Herrn arbeitet.
In der geſchriebenen Zeitung des XVI. Jahrhunderts
waltet der handwerksmäßige Betrieb, der damals alle Zweige
höherer wirtſchaftlicher Thätigkeit beherrſchte. Der Aviſen-
ſchreiber liefert auf Beſtellung die von ihm geſammelten Nach-
richten unmittelbar gegen beſonderen Entgelt an einen Kreis
von Kunden und richtet ſich gewiß auch im Ausmaß des Stoffes
nach den Bedürfniſſen derſelben. Er iſt Reporter, Redakteur
und Verleger in einer Perſon.
Die moderne Zeitung iſt eine kapitaliſtiſche Unter-
nehmung, ſozuſagen eine Neuigkeitenfabrik, in welcher in
mannigfach geteilter Arbeit eine große Zahl von Perſonen
(Korreſpondenten, Redakteure, Schriftſetzer, Korrektoren,
Maſchinenperſonal, Annoncenſammler, Expeditionsgehilfen,
Boten ꝛc.) unter einheitlicher Leitung gegen Lohn beſchäftigt
werden und die für einen unbekannten Leſerkreis, von dem
ſie oft noch durch Zwiſchenglieder (Kolporteure, Poſtanſtalten)
getrennt iſt, Ware erzeugt. Nicht mehr das einfache Be-
dürfnis des Leſers oder des Kundenkreiſes iſt für die
Qualität dieſer Ware maßgebend, ſondern die ſehr kompli-
zierten Konkurrenzverhältniſſe des Publizitätsmarktes. Auf
dieſem Markte ſpielen aber, wie auf den Großhandels-
[208] märkten überhaupt, die Warenkonſumenten, die Zeitungs-
leſer nicht direkt mit; ausſchlaggebend für die Güte der
Ware ſind die Großhändler und Spekulanten der Publizität:
die Regierungen, die von ihnen abhängigen Telegraphen-
bureaux, die autographierten Korreſpondenzen, die politiſchen
Parteien, die künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Cliquen,
die Börſenmänner und zuletzt, aber nicht am wenigſten,
die Annoncenagenturen und einzelne große Inſerenten.
Jede Nummer eines großen Tagesblattes, die heute
erſcheint, iſt ein Wunderwerk der kapitaliſtiſch organiſierten
volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung und der maſchinellen
Technik, ein Mittel des geiſtigen und wiſſenſchaftlichen Ver-
kehrs, in dem ſich die Wirkungen aller andern Verkehrs-
mittel: der Eiſenbahn, der Poſt, des Telegraphen und des
Fernſprechers wie in einem Brennpunkte vereinigen. Aber
wie auf keiner Stelle, wo der Kapitalismus ſich mit dem
Geiſtesleben berührt, unſer Auge mit Befriedigung verweilen
mag, ſo können wir uns auch dieſer Errungenſchaft der
modernen Kultur nur mit halbem Herzen freuen, und es
wird uns ſchwer zu glauben, daß die Zeitung in ihrer
heutigen Ausgeſtaltung die höchſte und letzte Form der
Nachrichtenvermittlung zu bilden beſtimmt ſei.
[[209]]
V.
Die ſoziale Gliederung
der
Frankfurter Bevölkerung
im Mittelalter.
Vortrag,
gehalten auf Veranlaſſung des Freien deutſchen Hochſtifts
zu Frankfurt a. M. den 20. März 1887.
[[210]][[211]]
Will man die ſoziale Gliederung einer mittelalterlichen
Stadtbevölkerung begreifen, ſo muß man ſich zuvörderſt des
großen Unterſchieds bewußt werden, welcher zwiſchen Staat
und Geſellſchaft im Mittelalter und in der Neuzeit beſteht.
Jenes weite Gebiet menſchlicher Maſſenzuſammenhänge
und Wechſelwirkungen, welches uns die moderne Geſellſchaft
darſtellt, iſt im Mittelalter ebenſo wenig vorhanden, als
die allumfaſſende Machtfülle und Einheit des gegenwärtigen
Staates. Beide fehlten, weil es an der zuſammenfaſſenden
Kraft gebrach, welche in den gemeinſamen Intereſſen eines
gleichartigen Verkehrslebens liegt.
Für den Staat bedarf dies keines langen Beweiſes.
Hat doch ſchon längſt der wiſſenſchaftliche Sprachgebrauch,
wenn er von einer „deutſchen Kaiſergeſchichte“ ſpricht, wo
früher von einer „Reichsgeſchichte“ die Rede war, aner-
kannt, daß die zuſammenfaſſende Kraft des alten Reiches
in der Perſönlichkeit des Kaiſers lag. Wiſſen wir doch
Alle, daß das Reich zerfiel, wenn der Kaiſer ein ſchwacher
Mann war, daß es wieder erſtarkte, wenn kraftvolle Herr-
ſcher an die Spitze traten, welche überall perſönlich er-
14 *
[212] ſcheinend die Regierung — Sie geſtatten einem National-
ökonomen dieſen Ausdruck — als Wanderberuf ausübten.
Wie ganz anders gefeſtigt ſteht doch der moderne Staat
da, wie unabhängig vom Kommen und Gehen auch des
hervorragendſten Fürſten! Es bedarf darüber heute keiner
Auseinanderſetzung, wo uns das jüngſte politiſche Gemein-
weſen Europas, Bulgarien, belehrt, daß es ſeine ſtaatliche
Exiſtenz auch unter den ſchwierigſten Verhältniſſen aufrecht
erhalten kann.
Was ſodann die Geſellſchaft betrifft, ſo iſt ſchon die
Feſtigkeit des modernen Staates nicht denkbar ohne eine
engere Lebensgemeinſchaft und vielfache Wechſelwirkungen
unter ſämtlichen Staatsangehörigen. Dazu kommt aber
noch, daß die wunderbare Entwicklung des Verkehrs die
ſozialen Maſſenzuſammenhänge weit über die einzelſtaatlichen
Grenzen ausgedehnt hat. Sie hat einen Weltmarkt und
Weltinduſtrien geſchaffen, eine internationale Arbeitsteilung
und internationale Kundſchaften; ja die Gleichartigkeit der
wirtſchaftlichen Verhältniſſe hat ſelbſt unter den Berufs-
und Beſitzklaſſen der verſchiedenen Länder eine Gemeinſam-
keit der Intereſſen wachgerufen, die uns vor Augen ſchwebt,
wenn wir von einer roten und einer goldenen Internatio-
nale ſprechen.
Im Mittelalter dagegen bewegt ſich das geſellſchaft-
liche Leben in engbegrenzten Gemeinſchaften; die Kirchturms-
intereſſen kleiner örtlicher Gruppen überwiegen; nur wenige
ſoziale Zuſammenhänge erreichen die Grenzen des eignen
[213] Staatsgebietes; die einzige ſoziale Organiſation von inter-
nationalem Charakter iſt die Kirche.
Und jener Staat ſelbſt wieder, wie ärmlich, wie ſchwach
nimmt er ſich aus gegenüber der reichen Machtfülle des
modernen Staates! Gar vieles, was heute der Zwangs-
gewalt der politiſchen Gemeinſchaft unterworfen iſt, war
im Mittelalter der freien Selbſtbethätigung der Geſellſchaft
überlaſſen. Die wichtigſten Gemeinſchaftszwecke mußten
engumgrenzten lokalen Verbänden zur Erfüllung anheim-
gegeben werden. Ja dieſe kleinen organiſierten ſozialen
Gruppen gewinnen oft eine Kraftfülle und Bedeutung, die
Viele verleitet, ſie als politiſche Geſtaltungen, als Staaten
im Staate anzuſehen, was ſie, wenigſtens urſprünglich,
durchaus nicht ſind.
Dies gilt in vollem Maße von den Städten.
Urſprünglich nichts anderes als bäuerliche Nieder-
laſſungen, welche ſich von den Dörfern nur durch ihre Be-
feſtigung unterſcheiden, werden ſie bald der Sitz der Märkte
und des freien Verkehrs und im Anſchluß an dieſen auch
der bürgerlichen Freiheit. Sie werden der Zufluchtsort
der tüchtigeren Elemente der hörigen Landbevölkerung, und
ſie entwickeln in ihrem Schooße raſch nach einander zwei
neue Berufsſtände, welche der Geſellſchaft bis dahin gefehlt
hatten, den Handwerker- und den Handelsſtand. Sie bilden
neben dem Grundbeſitz, wenn auch nicht unabhängig von
ihm, eine neue Art von Vermögen aus, das mobile Kapital.
So ſind die Städte durch und durch ſoziale Bildungen:
[214] Schutz- und Zufluchtsorte der Landbevölkerung, Mittelpunkte
des wirtſchaftlichen Verkehrs, Konzentrationsſtätten des Ge-
werbebetriebs, Oaſen der Geldzirkulation innerhalb einer
von der Naturalwirtſchaft beherrſchten Zeit.
Es iſt genugſam bekannt, zu welcher bedeutenden
politiſchen Machtſtellung die deutſchen Städte auf dieſer
ſozialen Grundlage ſich erhoben, wie ſie im ſpätern Mittel-
alter über die Mehrzahl der vielen kleinen Territorialherr-
ſchaften, in die ſich das römiſche Reich deutſcher Nation
aufgelöſt hatte, hervorragten, wie ſie gegenüber den Landes-
fürſten und dem Kaiſer mit der Zeit zu einer ſelbſtändigen
Bedeutung gelangten, wie ſie mit kräftiger Hand den Adel
niederwarfen und den Landfrieden ſicherten und wie ſie
ſchließlich die Anerkennung ihrer reichsſtändiſchen Stellung
erzwangen.
Was war es, das ihnen dieſe politiſche Bedeutung
verlieh? War es ihre große Volkszahl? War es die
demokratiſche Verfaſſung, welcher die Zünfte in langem
Kampfe mit den alten grundbeſitzenden Geſchlechtern zum
Durchbruch verholfen hatten? War es ihr Geldreichtum,
ihre Söldnerheere?
Ich glaube, keines von allen dieſen Momenten, oder
doch keines allein. Ihre Hauptſtärke ruhte vielmehr in
der glücklichen ſozialen Gliederung und Organiſation ihrer
Bevölkerung, welche ihnen erlaubte, im Falle der Gefahr
eine einheitliche, zuſammengeſchloſſene Volkskraft in die
[215] Wagſchale zu werfen, wie ſie keiner der damals in Frage
kommenden Mächte zu Gebote ſtand.
Nehmen wir das XIV. und XV. Jahrhundert, die
Zeit des Höhepunktes der ſtädtiſchen Entwicklung, die Zeit
zugleich, für welche die neuere Forſchung genügend Auf-
ſchlüſſe bietet, als maßgebend für unſere Betrachtung an,
ſo ſtoßen wir gleich auf ſehr beſcheidene Bevölke-
rungsziffern. Selbſt ſo weit berühmte Städte wie
Nürnberg und Straßburg gehen nicht über 20000 Ein-
wohner hinaus, Zürich, Baſel und Frankfurt haben ſchwer-
lich 10000 in dieſer Zeit erheblich überſchritten, Mainz
hatte etwa 6000, Dresden und Leiden 5000 und Meißen
2000. Alle waren alſo nach heutigen Begriffen Kleinſtädte,
und es mutet uns jetzt ſonderbar an, wie man nur ſo lange
an Bevölkerungsziffern von 60-, 80- ja 120000 hat glauben
können, an Volksmaſſen, zu deren Ernährung die damalige
extenſive Landwirtſchaft gar nicht imſtande geweſen ſein
würde.
Und auf jener geringen Höhe der Population ver-
mochten ſich die meiſten dieſer Städte nicht einmal dauernd
zu behaupten. Alle paar Jahre dezimierte eine Peſt, eine
Hungersnot, eine Fehde, eine Belagerung die Bevölkerung,
manchmal ſtarb in wenigen Sommermonaten ein Zehntel,
ein Sechstel, ein Viertel der Menſchen hinweg. Von 1326
bis 1400 zählte man 32 Peſtjahre, von 1400 bis 1500
etwa 40. Jenes fortwährende Anwachſen der Städte,
welches ſeit Jahrzehnten den Gegenſtand unſeres Staunens
[216] und unſerer Sorge bildet, kannte das Mittelalter nicht. Aller-
dings fehlte es nicht an einer maſſenhaften Einwanderung.
Die glücklichen Erwerbsverhältniſſe in der Stadt einerſeits,
verbunden mit dem Genuß der perſönlichen Freiheit, die
dauernde Rechtsunſicherheit außerhalb der ſtädtiſchen Mauern
anderſeits, die Bedrückung der Hörigen auf dem Lande
trieben Jahr für Jahr Scharen von Zuwanderern herbei.
Und in den Städten nahm man ſie gerne auf, um die durch
den Tod geriſſenen Lücken auszufüllen und die Aufrecht-
erhaltung der getroffenen Schutz- und Verteidigungsein-
richtungen möglich zu machen. Nach ein paar Jahren ge-
deihlichen Wachstums kam ein neuer Rückſchlag, und man
mußte froh ſein, wenn man die Volkszahl durch große
Zeiträume im Ganzen ſtabil erhalten konnte.
Nirgends iſt dieſer Gang der Bevölkerungsbewegung
deutlicher zu beobachten als an der Stadt Frankfurt
am Main, auf die wir die folgenden Betrachtungen be-
ſchränken wollen. Eine ſolche Beſchränkung empfiehlt ſich
aus doppeltem Grunde. Ein glückliches Geſchick hat dem
hieſigen Stadtarchiv einen ſo reichen Schatz von Verwal-
tungsakten und Urkunden erhalten, daß ſich an der Frank-
furter Bevölkerung des XIV. und XV. Jahrhunderts
ſtatiſtiſche Forſchungen in einem Umfange anſtellen laſſen,
wie es für keine zweite Stadt Deutſchlands möglich ſein
dürfte. Und auf der andern Seite iſt die hervorragende
Stellung dieſer Stadt im Mittelalter eine ſo unverkennbare
und unbezweifelte, daß man den bei der Unterſuchung ihrer
[217] Bevölkerung gewonnenen Ergebniſſen allgemeinere Gültig-
keit für die bedeutenderen deutſchen Binnenſtädte zuſchreiben
darf — wenigſtens inſolange, als ſie nicht durch exakte
Forſchungen über die Bevölkerung eines andern hervor-
ragenden Platzes widerlegt ſind.
Nun läßt ſich in Frankfurt die Bewegung der Ein-
wohnerziffer an den erhaltenen Steuerliſten (Bedebüchern)
von der Mitte des XIV. bis zum Ende des XV. Jahr-
hunderts genau verfolgen. Denn da dieſe Liſten ſämtliche
Steuerpflichtigen (die Armen und Zahlungsunfähigen mit
eingeſchloſſen) enthalten, ſo geſtattet das Steigen und Fallen
der aus ihnen ermittelten Zahlen einen ziemlich ſichern
Rückſchluß auf die jedesmalige Größe der Bevölkerung.
Da wir letztere außerdem für die Jahre 1387 und 1440
aus erhaltenen Bürgerverzeichniſſen berechnen können, ſo
läßt ſich durch Kombinierung der erſten dieſer Berechnungen
mit den ihr zeitlich nahe ſtehenden Steuerliſten auch das
ungefähre Verhältnis der Zahl der Steuerpflichtigen zur
Geſamtzahl der Einwohner feſtſtellen. Darnach betrug
| im Jahre: | die Zahl der Steuerpflichtigen: | die ungefähre Einwohnerzahl: |
| 1354 | 2669 | 7800 |
| 1359 | 3135 | 9200 |
| 1365 | 3072 | 9000 |
| 1370 | 2749 | 8100 |
| 1375 | 3051 | 9000 |
| 1380 | 3060 | 9000 |
| im Jahre: | die Zahl der Steuerpflichtigen: | die ungefähre Einwohnerzahl: |
| 1385 | 3405 | 10000 |
| 1389 | 3256 | 9600 |
| 1394 | 2624 | 7700 |
| 1399 | 2676 | 7800 |
| 1406 | 2397 | 7000 |
| 1410 | 2461 | 7200 |
| 1420 | 2382 | 7000 |
| 1428 | 2431 | 7100 |
| 1463 | 2595 | 7600 |
| 1475 | 2817 | 8300 |
| 1484 | 2527 | 7400 |
| 1495 | 2621 | 7700 |
| 1499 | 2583 | 7600 |
Die Zahlen ſchwanken alſo zwiſchen 2400 und 3400
Steuerpflichtigen oder zwiſchen 7000 und 10000 Seelen 1).
[219] Ihren Höhepunkt erreicht die Bevölkerurg um 1385, un-
mittelbar vor der Cronberger Schlacht. In den folgenden
hundert Jahren ſchwankt ſie auf und ab zwiſchen ſieben
Zehntel und neun Zehntel der damals erreichten Zahl,
ohne ſie wieder zu erreichen. Im Jahre 1499 beträgt ſie
nur 7600 Seelen. Und doch ſind von 1385 bis 1499
über 5300 Neubürger eingewandert — faſt doppelt ſo
viel, als am Anfang dieſer Periode vorhanden geweſen
waren. Die Bevölkerung hätte alſo am Ende derſelben
allein durch den äußeren Zuwachs ſich nahezu verdreifachen
müſſen, vorausgeſetzt, daß in ihrer inneren Bewegung die
Geburten regelmäßig das erſetzt hätten, was durch den
Tod in Abrechnung gekommen war. Statt deſſen betrug
ſie nur drei Viertel der anfänglich vorhandenen Zahl.
Nimmt man an, die Einwohnerſchaft hätte von 1385 bis
1499 ſich im dem Verhältniſſe der Bevölkerungszunahme
des modernen Frankfurt in den letzten 50 Jahren vermehrt,
ſo hätte ſie um 1500 etwa 100000 Seelen betragen müſſen.
Bei dieſem ſchwankenden Bevölkerungsſtand erinnert
man ſich lebhaft der beweglichen Worte, mit welchen in
zahlloſen mittelalterlichen Urkunden der Vergänglichkeit und
Unſicherheit aller menſchlichen Dinge gedacht wird. Mit
dem eigentümlichen Verlauf des Bevölkerungswechſels hängt
es aber auch zuſammen, daß die natürliche Schich-
tung der ſtädtiſchen Geſellſchaft nach Alter, Geſchlecht und
Geſundheitsverhältniſſen eine äußerſt ungünſtige war.
Wir können eine Bevölkerung, welche ſich aus ſich
[220] ſelbſt raſch vermehrt, in der alſo die jüngeren Altersklaſſen
ſtark beſetzt ſind, als eine junge Bevölkerung bezeichnen,
eine ſolche mit langſamer Vermehrung nennen wir eine
alte Bevölkerung. Deutſchland und die Vereinigten Staaten
mit ihrem großen Kinderreichtum haben junge, Frankreich
hat eine alte Bevölkerung. Das Durchſchnittsalter beträgt
in Frankreich 31, in Deutſchland 27, in den Vereinigten
Staaten noch nicht 24 Jahre.
In dieſem Sinne waren die mittelalterlichen Stadt-
bevölkerungen alte Bevölkerungen.
Wenn wir ſtatiſtiſche Ermittlungen, die wir von Nürn-
berg und Baſel aus der Mitte des XV. Jahrhunderts be-
ſitzen, mit ſolchen aus Frankfurt zuſammenhalten, ſo drängt
ſich uns der Schluß auf, daß allgemein in den mittelalter-
lichen Städten die Zahl der Kinder, im Vergleiche zu den
übrigen Altersklaſſen, eine geringere geweſen ſein müſſe als
heutzutage.
Allerdings iſt nach allem, was wir darüber wiſſen,
die Fruchtbarkeit der Ehen im Mittelalter eine ſehr große.
Allein infolge der Unvollkommenheit der ärztlichen Kunſt
giengen viele Kinder ſchon beim Eintritt ins Leben zu
Grunde 1); außerdem mußte die Taufe, welche bereits im
Laufe des erſten Tages nach der Geburt in der Kirche
ſtattfand, manchen verderblich werden, ähnlich wie noch
heute in Rußland; endlich richteten Kinderkrankheiten in
[221] den ungeſunden Wohnungen große Verheerungen an. Mit
aller Wahrſcheinlichkeit darf man ſonach die Zahl der Tot-
geborenen und der in den erſten Lebensjahren Geſtorbenen
als überaus groß annehmen.
Wer einmal die Geſchichte einer hervorragenden Frank-
furter Familie im Mittelalter verfolgt hat, der wird die
Beobachtung gemacht haben, daß die Geſchlechter trotz ſehr
kinderreicher Ehen ſich faſt immer nur in 1 bis 2 Gliedern
forterhalten und daß ſie ſelten das zweite Jahrhundert
ihres Beſtehens überleben. So wurden in der Familie
Rorbach vom Ende des XIV. bis zum Ende des XVI.
Jahrhunderts etwa 65 Kinder geboren, (ohne Totgeburten);
von dieſen überlebten nur 18 ihre Väter und nur 12 ge-
langten zur Verheiratung 1). Wenn wir nun bei den an-
geſehenſten und wohlhabendſten Familien ein ſo raſches
Hinſterben beobachten, wie mag es erſt den Kindern der
Handwerker und der Armen ergangen ſein!
In der That die Städte bedurften auch ohne Seuchen
und Hungersnöte jener ſtarken Einwanderung vom Lande,
wenn ſie nur ihre Bevölkerung ſtabil erhalten wollten.
Nicht minder ungünſtig als der Altersaufbau iſt die
[222]Gliederung der Bevölkerung nach dem Ge-
ſchlechte.
Iſt ſchon heute der Ueberſchuß des weiblichen über
das männliche Geſchlecht unter den Erwachſenen ein ſo
bedenklicher, daß er zu den vielen ſozialen Fragen der
Gegenwart auch eine „Frauenfrage“ erzeugt hat, ſo kann
man im Mittelalter geradezu von einem Frauennotſtand
reden. Allerdings vermag ich für die Geſamtbevölkerung
Frankfurts keine genauen Ziffern zu geben. Ich führe nur
an, daß in dem Bedebuche der Oberſtadt für 1385 das
Verhältnis der männlichen zu den weiblichen Steuerpflich-
tigen ſich wie 1000:1100, in demjenigen der Nieder- und
Neuſtadt für 1475 wie 1000:1140 ſtellt, und daß in den
Zunftverzeichniſſen die große Zahl der Witwen auffällt.
Dagegen wiſſen wir von Nürnberg, daß 1449 auf 1000
erwachſene Männer 1207 Frauen kamen: unter der über
vierzehnjährigen Bevölkerung zweier Basler Kirchſpiele kamen
1454 auf 1000 männliche 1246 weibliche Perſonen und
noch 1576 trafen in Roſtock auf 1000 erwachſene Männer
1295 Frauen.
Allerdings finden wir ähnliche abnorme Zahlenver-
hältniſſe auch in den modernen Städten 1). Aber bei der
Ausſchließlichkeit, mit der die Wirtſchaftsordnung des Mittel-
alters die Frauen auf das Haus verwies, konnten unlieb-
ſame ſoziale und ſittliche Folgen noch weniger ausbleiben
[223] als heutzutage, und ſie drängten bei der Enge der ſtädtiſchen
Verhältniſſe zu Abhilfemaßregeln, denen man eine gewiſſe
Planmäßigkeit und geſunde Ueberlegung ſchwerlich wird ab-
ſprechen können. Als ſolche nenne ich die Errichtung von
Frauenklöſtern, die Gründung von Verſorgungsanſtalten
für alleinſtehende weibliche Perſonen und die Beſchäftigung
zahlreicher Frauen in den Gewerben. Jene Verſorgungs-
anſtalten ſind die Bekinen- oder Gotteshäuſer — Stiftungen
wohlhabender Bürger, welche ein Haus zur Wohnung für
eine Anzahl Frauen, oft auch Renten und ſonſtige Ein-
künfte zu ihrem Unterhalt beſtimmt hatten. In Frankfurt
ſind deren 57 namentlich bekannt, welche etwa 300 Bekinen
faſſen konnten, während die beiden Frauenklöſter (Katharinen
und Weißfrauen) gegen 60 Nonnen aufzunehmen vermochten 1).
Was die Teilnahme der Frauen an der Erwerbsarbeit
betrifft, ſo finden wir ſie faſt in allen Berufsarten, auch
im zünftigen Handwerk, ſoweit es für Weiberhände geeignete
Beſchäftigung bot, und wenn ſich auch in Frankfurt nicht,
wie in andern Städten, eigene Frauenzünfte nachweiſen
laſſen, ſo konnten ſie doch auch hier als Meiſterinnen zu
eigenem Rechte in einzelne Zünfte Aufnahme finden. Be-
ſonders häufig ſind ſie in der Textilinduſtrie und im Klein-
handel. Ja wir ſehen ſie ſelbſt in Gewerben, in denen
wir ſie heute nicht mehr zu erblicken gewohnt ſind, wie in
Bade- und Raſierſtuben. Zwiſchen 1389 und 1497 laſſen
[224] ſich nicht weniger als 15 Aerztinnen nachweiſen; im Jahre
1368 ſind von den 11 konzeſſionierten Wechſelſtuben 6 in
weiblichen Händen; wir finden eine Frau als Pächterin
des Leinwandzolles, eine andere als Aufſeherin in der
Stadtwage.
Dieſe Beiſpiele ſind ſehr lehrreich. Sie zeigen uns
einerſeits, zu welchen Auskunftsmitteln die Menge unver-
ſorgter Frauen trieb, anderſeits wie man bei der geringen
Menſchenzahl der Städte genötigt war, alle irgend verfüg-
baren Kräfte, ſelbſt die ſchwächſten, im Dienſte des Gemein-
weſens einzuſpannen.
Aber noch in einer dritten Beziehung geſtaltete ſich
die Gliederung der mittelalterlichen Stadtbevölkerung un-
günſtig: in Hinſicht auf den Geſundheitszuſtand.
Die Zahl der mit dauernden körperlichen und geiſtigen
Gebrechen Behafteten war eine außerordentlich große.
In erſter Linie ſtehen die Ausſätzigen oder Son-
derſiechen, die ihr entſetzliches Uebel zur Ausſtoßung
aus der Geſellſchaft verurteilte. Wie verbreitet die furcht-
bare Krankheit gerade im XIV. und XV. Jahrhundert ge-
weſen iſt, läßt ſich nur ungefähr an der Zahl und Aus-
dehnung der Leproſenhäuſer ermeſſen, die auch in der
kleinſten Stadt nicht fehlen durften. In Frankfurt diente
dieſem Zwecke der außerhalb der Mauer gelegene Gutleuthof.
Seine Inſaſſen müſſen zahlreich geweſen ſein, da ſie ſogar
eine eigene Weinſtube hielten.
Auch die Zahl der Lahmen, Blinden, Tauben und
[225] Geiſteskranken war verhältnismäßig eine weit größere als
heutzutage.
Was die letzteren betrifft, ſo weiß ich wohl, daß unter
den Statiſtikern und wohl auch in der Pſychiatrie die An-
ſicht vorherrſcht, die moderne Zeit mit ihrem raſchen Ver-
brauch der Lebenskraft, ihrer aufregenden Haſt und ihren
ſchroffen ſozialen Gegenſätzen ſei der Zunahme der Geiſtes-
kranken beſonders günſtig geweſen. Allein wenn man
mit kritiſchem Sinne die dafür angeführten Zahlen prüft,
ſo muß man ſich ſagen, daß der Beweis für dieſe Behaup-
tung keineswegs erbracht iſt. Vielmehr ſpricht vieles da-
für, daß die ſteigenden Ergebniſſe der Zählungen auf die
wachſende Genauigkeit derſelben zurückzuführen ſind. Und
wenn man denn einmal in der Aetiologie der Geiſteskrank-
heiten phyſiſche und pſychiſche Faktoren neben einander
gelten läßt, ſo überzeugt uns geringes Nachdenken, daß in
beiden Beziehungen das Mittelalter größere Gefahren bot
als die Gegenwart. Die ſchroffſten Wechſelfälle lagen im
Leben der Menſchen hart neben einander: Ueberfluß und
Mangel, Völlerei und Darben, Genuß und Entſagung.
Der Anblick blutiger Greuelſzenen, Gewaltakte aller Art,
Belagerungen, Hinrichtungen, Bürgerzwiſte, Peſtzeiten,
Hungersnöte — all das verbunden mit religiöſer Super-
ſtition und einer grauſamen, oft ungerechten Juſtiz mußte
die Gemüter der Menſchen aufs tiefſte erſchüttern. Das
ruhige Behagen einer in feſten Linien ſich bewegenden
ſtetigen Entwicklung war dem Mittelalter fremd.
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 15
[226]
Welche Folgen dieſe Dinge für den Geiſteszuſtand der
Menſchen hatten — wer möchte wagen, das zu ermeſſen?
Wenn wir aber bei den Chroniſten leſen, wie in den letzten
Jahrhunderten des Mittelalters wahre Geiſtesepidemien
ganze Schichten der Bevölkerung ergriffen, wenn wir von
dem Eindruck hören, den der ſchwarze Tod auf die Gemüter
machte, von den Kinderkreuzzügen, den Geißlerfahrten, den
Judenſchlächtereien, der Tanzwut in den rheiniſchen Städten:
ſo können wir nicht umhin, zwiſchen dieſen zwei Erſchei-
nungsreihen einen Zuſammenhang zu ſuchen. Und damit
ſtimmt es, daß wir in den Frankfurter Verwaltungsakten
von nichts häufiger leſen, als von den „Thoren“, von denen
die „nit wol bei Sinnen“ geweſen; an dreißig verſchiedene
Ausdrücke kommen für den Begriff geiſteskrank vor. In
den Stadtrechenbüchern bilden die Koſten für die Verſorgung
einheimiſcher und die Austreibung fremder Irrſinniger einen
ſtehenden Poſten. Die erſteren wurden in Türmen, öffent-
lichen oder privaten Gefängniſſen eingeſperrt; 1477 wurde
ſogar beim Spital ein beſonderes Gebäude für ſie auf-
geführt.
Zahlen vermag ich Ihnen freilich für die Verbreitung
des Uebels nicht anzugeben; ebenſo wenig kann ich ſagen,
ob Irrſinn oder Blödſinn damals häufiger geweſen.
Auch von den Lahmen, den Tauben, den Taub-
ſtummen und Epileptiſchen kann ich nicht mehr
ſagen, als daß ſie oft erwähnt werden.
Bezüglich der Blinden bin ich dagegen in der günſti-
[227] gen Lage, Zahlen von einiger Zuverläſſigkeit geben zu können.
Da die Häufigkeit dieſes Gebrechens bei unſern Volkszäh-
lungen ermittelt wird, ſo will ich zunächſt erwähnen, daß
nach den neueſten Aufnahmen auf 10000 Einwohner in
Deutſchland und Frankreich 7—8, in Oeſterreich und Eng-
land 9, in Italien 10, in Spanien 11 und in Norwegen
13 Blinde kommen. Im mittelalterlichen Frankfurt da-
gegen, wo ſich für zehn verſchiedene Jahre zwiſchen 1399
und 1499 die Zahl der Blinden annähernd ermitteln ließ,
war dieſelbe ſo hoch, daß die Rechnung auf 10000 Menſchen
20—42 Blinde ergeben würde (heute nur 5). Dieſe Höhe
erreicht die Blindenhäufigkeit gegenwärtig nur noch bei
einem Volke in Europa, dem finniſch-eſtniſchen: in Finn-
land kommen auf 10000 Einwohner 69, in Eſtland 46
Blinde.
Das Mittelalter dachte nicht daran, für dieſe verſchie-
denen Arten von Gebrechlichen eigene Heilanſtalten zu er-
richten, da man ihr Unglück als eine unabwendbare Schickung
der Vorſehung betrachtete. So weit ſie rüſtig und unge-
fährlich waren, wurden ſie mit mancherlei Arbeiten be-
ſchäftigt — freilich zuweilen ſehr ungeeigneten. Hatte doch
1440 der Rat eine Anzahl Blinder als Thorhüter und
Nachtwächter in ſeinen Dienſten. Die meiſten waren jedoch
für ihren Unterhalt auf den Bettel angewieſen, und dieſer
Umſtand iſt für unſere Frage nicht ohne Wert. Denn wie
noch heute die Bettler in Rußland Artele bilden, ſo ſchloſſen
jene Krüppel und Gebrechlichen im Mittelalter zur gegen-
15 *
[228] ſeitigen Unterſtützung kirchliche Brüderſchaften, deren wir
auch eine zu Frankfurt finden: die Brüderſchaft der Blinden
und Lahmen zu den Karmelitern. Die Verbreitung dieſer
Brüderſchaften iſt ein Beweis mehr für die Häufigkeit der
ſchweren Gebrechen und Sinnesfehler.
Nach dieſer Darlegung wird man eingeſtehen müſſen,
daß nicht leicht eine Bevölkerung von Natur ungünſtiger
zuſammengeſetzt ſein konnte, als diejenige unſerer mittel-
alterlichen Stadt. Die Ueberzahl der Frauen muß als eine
Belaſtung der Wirtſchaft aufgefaßt werden, ſoweit dieſelben
nicht bei Haus- und Erwerbsarbeit Verwendung finden
konnten. Die Maſſe der erwerbsunfähigen Gebrechlichen
aber bedeutete geradezu eine negative Größe für die Wirt-
ſchaft; denn ſie erforderten nicht bloß Unterhalt, ſondern
auch noch einen beſonderen Arbeitsaufwand für Pflege und
Ueberwachung von Seiten der Geſunden. Nur die geringe
Zahl der Kinder, ſo ſehr ſie in populationiſtiſcher Hinſicht
ihre Bedenken hatte, geſtaltet ſich vom ökonomiſchen Geſichts-
punkte aus nicht ganz ſo unvorteilhaft. Kinder ſind reine
Konſumenten der Volkswirtſchaft, von der ſie Unterhalts-
und Erziehungsaufwand fordern. Kinderarme Familien
können unter ſonſt gleichen Verhältniſſen mehr erarbeiten,
mehr erſparen, als kinderreiche. Aber dieſer Geſichtspunkt,
der ſich uns in der Gegenwart gebieteriſch aufdrängt, konnte
im Mittelalter, wo es nicht an Erwerbsgelegenheit, wohl
aber an Händen fehlte, keine Rolle ſpielen. Für eine
mittelalterliche Stadt war Kinderarmut ein großes Unglück.
[229]
Wenden wir uns nunmehr der ſozialen Gliede-
rung der Bevölkerung im engeren Sinne zu, ſo fallen
für eine oberflächliche Betrachtung allerdings die politiſchen
Geburtsſtände und Standesunterſchiede am meiſten ins Auge.
Allein dieſelben ſind im XIV. und XV. Jahrhundert, wie
wir gleich ſehen werden, von ſehr geringer Bedeutung.
Für unſere Zwecke ſcheiden wir am beſten die ganze
Bevölkerung in zwei Teile: die dauernd anſäßige
und die fluktuierende Bevölkerung. Von der
erſteren heben ſich wieder zwei abgeſchloſſene Gruppen
ab, die wir zunächſt bei Seite laſſen: die Geiſtlichkeit
und die Juden. Der Reſt der dauernd Anſäſſigen zer-
fällt politiſch in Bürger und Nichtbürger oder Bei-
ſaſſen. Die Zahl der letzteren iſt ſehr klein, da der
Rat den Grundſatz befolgte, wiſſentlich niemanden in der
Stadt zu dulden, der nicht Bürger wäre. Wir ſchenken
deshalb auch dieſem Unterſchiede keine weitere Beachtung.
Die Bürgerſchaft zerfällt bis zum Ende des XIV. Jahr-
hunderts in zwei faſt gleich ſtarke Gruppen: die Gemeinde
und die Zünfte oder die organiſierten Handwerke. An
der Spitze der Gemeinde ſtehen die Geſchlechter, in
ſpäteren Jahrhunderten auch wohl Patrizier genannt. Sie
hatten vermutlich auch in Frankfurt früher allein das Stadt-
regiment mit den königlichen Beamten geführt, hatten aber
ſchon in einer uns unbekannten Zeit den Zünften ein Drittel
der Ratsſtellen eingeräumt. Ihre Zahl iſt gering; gewöhn-
lich umfaßt ſie nicht mehr als 20—30 Familien mit 60
[230] bis 100 Haushaltungen; ja ſie würde bald noch tiefer ge-
ſunken ſein, wenn nicht von Zeit zu Zeit aus der übrigen
Bürgerſchaft und aus der Fremde friſches Blut zugeführt wor-
den wäre.
Im Uebrigen hat der Unterſchied zwiſchen Gemeinde
und Zünften keine ſoziale Tragweite; namentlich iſt er nicht
gleichbedeutend mit einer Scheidung der Bürger in Ge-
werbetreibende und ſolche, die andern Erwerbsarten obliegen.
Ebenſo hat eine im XV. Jahrhundert wohl vorkommende
Dreiteilung in Geſchlechter, Zünftige und Unzünftige vor-
wiegend politiſche Bedeutung.
Weit wichtiger iſt für unſeren Zweck die Gliede-
rung der Bürgerſchaft nach Berufsarten.
Wenn wir dieſe nunmehr ins Auge faſſen, ſo müſſen wir
uns zuerſt von der oft gehegten Vorſtellung los machen,
als ob die Zahl der Zünfte oder ihrer Mitglieder
uns einen zutreffenden Maßſtab für die Berufsthätigkeit
der ſtädtiſchen Bevölkerung geben könnte. Sie iſt nicht
einmal für das gewerbliche Leben im engeren Sinne richtig.
In Frankfurt finden wir Angehörige ſehr verſchiedener
Handwerke in denſelben Zünften, nicht ſelten auch ſolche,
die überhaupt kein Handwerk trieben. Ferner giebt es
Zünfte, deren Mitglieder gar keine Gewerbetreibende waren,
ſondern ſich mit dem Garten- und Weinbau, dem Handel
und der Handelsvermittlung beſchäftigten oder gar im
ſtädtiſchen Dienſte ſtanden. Endlich iſt die Zahl der Hand-
[231] werker, die ſich außerhalb der Zunftorganiſation befanden,
nicht unbedeutend.
Wir müſſen deshalb einen andern Weg einſchlagen,
wenn wir über die Zuſammenſetzung der Bürgerſchaft nach
dem Berufe Aufſchluß gewinnen wollen: wir müſſen in
der Weiſe der modernen Statiſtik die Bürger nach dem
Berufe ordnen, den ein jeder wirklich getrieben hat. Allein
eine ſolche Arbeit bietet für das Mittelalter außerordentliche
Schwierigkeiten. Sie iſt auch bei dem reichen Material
des Frankfurter Stadtarchivs nur für ein einziges Jahr,
1440, möglich geweſen.
Sie geſtatten, daß ich mich hier auf eine kurze Mit-
teilung der Hauptergebniſſe dieſer mittelalterlichen Berufs-
ſtatiſtik beſchränke, indem ich für das Einzelne auf die aus-
führliche gedruckt vorliegende Darſtellung verweiſe 1).
Im Ganzen zählen wir 1440 rund 1800 ſelbſtändig
erwerbende männliche Perſonen. Dieſelben verteilen ſich
auf nicht weniger als 191 Berufszweige. Dies iſt indes
nicht die Geſamtzahl aller im mittelalterlichen Frankfurt
vorkommenden Erwerbsarten. Vielmehr erhalten wir, wenn
wir auch die ſonſt noch im XIV. und XV. Jahrhundert
vereinzelt auftretenden Berufsarten hinzurechnen, eine Liſte
von über 340 Zweigen ſelbſtändiger männlicher Thätigkeit.
Dabei iſt zu beachten, daß es ſich überall nur um den
Hauptberuf handelt, d. h. diejenige dauernd ausgeübte
[232] Thätigkeit, welche hauptſächlich den Lebensunterhalt der
Familie lieferte.
Dieſe große Zahl von Berufsarten iſt eins der wich-
tigſten Momente in der ſozialen Gliederung der ſtädtiſchen
Bevölkerung. Sie gibt uns einen Maßſtab für die Ent-
wicklung der mittelalterlichen Arbeitsteilung
und iſt nur dann in ihrer vollen Bedeutung zu würdigen,
wenn wir die eigentümliche Natur dieſer mittelalterlichen
Arbeitsteilung und die damalige Betriebsweiſe der Gewerbe
im Auge behalten.
Die moderne Betriebsweiſe in den Gewerben
iſt eine kapitaliſtiſche; ſie beruht darauf, Geld in Ware und
Ware in mehr Geld zu verwandeln. Der Unternehmer
kauft Rohſtoffe, Werkzeuge, Maſchinen, Arbeitsleiſtungen
und verkauft die durch das Zuſammenwirken dieſer Betriebs-
Elemente entſtandenen Produkte mit Gewinn. Der letztere
iſt um ſo größer, je höher die Auslage, je raſcher der
Kapitalumſchlag.
Die moderne Arbeitsteilung iſt vorzugsweiſe
Arbeitszerlegung. Bei ihr handelt es ſich darum, daß viele
verſchieden qualifizierte Hände in derſelben Produktionsſtätte
bei der Fertigſtellung einer Ware zuſammenwirken, meiſt
noch unterſtützt durch mechaniſche Triebwerke und Arbeits-
maſchinen. Jeder Fortſchritt der Arbeitsteilung bedingt
eine Vergrößerung des Betriebs, eine Vermehrung des
notwendigen Betriebs- und gewöhnlich auch des Anlage-
kapitals.
[233]
Der mittelalterliche Gewerbebetrieb iſt in
der Regel ein bloßer Arbeitsbetrieb. Der Gewerbetreibende
bedarf bei der Einfachheit der Werkzeuge eine umfaſſende
Arbeitsgeſchicklichkeit. Die Rohſtoffe werden ihm gewöhn-
lich vom Beſteller geliefert, der das Werk ſeiner Hände in
eigner Wirtſchaft verbrauchen will. Was der Handwerker
dabei verdient, iſt Arbeitslohn, und dieſer fällt in dem
Maße reicher aus, als das Werk kunſtvoller ſich geſtaltet.
Die mittelalterliche Arbeitsteilung iſt
vorzugsweiſe Berufsteilung. Sie läuft darauf hinaus, aus
einem Berufszweige mehrere zu machen. Auf demſelben
Arbeitsgebiete, das früher ein Meiſter allein beherrſcht
hatte, finden dann mehrere, unabhängig von einander, ihre
Nahrung. Nur ſo kann die Technik fortſchreiten, daß das
Arbeitsverfahren, welches ſeither auf eine verwandte Gruppe
von Produkten angewendet wurde, einer Spielart der letzteren
beſonders angepaßt wird, daß die Werkzeuge für dieſe eigens
eingerichtet, daß ihre Erzeugung für einen neuen Hand-
werker Lebensaufgabe wird. Und da der Anſtoß zur Pro-
duktion immer vom Konſumenten ausgeht, der den Hand-
werker zeitweilig in ſeinen Dienſt nimmt, ſo tritt der Produ-
zent der einen Güterart zu ſeinen Kunden in das gleiche
Verhältnis wie vorher der Produzent der ganzen Güter-
gattung.
Vielleicht wird ein Beiſpiel den Vorgang am beſten
erläutern. Der Schneider alten Stils ſcheert das Tuch,
näht und ſtickt Kleider und Weißzeug, fertigt Kappen, Hüte
[234] und Pelzwaren, Männer- und Frauengewänder. Im XIV.
und XV. Jahrhundert haben ſich aus dem einen Schneider-
gewerbe als beſondere Berufszweige entwickelt: die Hand-
werke des Tuchſcheerers, des Seidenſtickers, des Hutmachers,
des Kürſchners und des Flickſchneiders; die Weißzeugnäherei
und die Anfertigung der Frauenkleider wird weiblichen
Händen überlaſſen.
Noch heute läßt ſich auf ſolchen Arbeitsgebieten, welche
einen kapitaliſtiſchen Betrieb nicht zulaſſen, der gleiche Vor-
gang beobachten, z. B. in der Wiſſenſchaft und bei den
perſönlichen Dienſtleiſtungen. Es ſei nur auf den ärztlichen
Beruf verwieſen und ſeine immer zahlreicher werdenden
Spezialiſten. Was die letzteren für die Ausbildung der
Technik leiſten, iſt nichts anderes, als was das mittelalter-
liche Gewerbe auf dem gleichen Wege erſtrebte und erreichte.
Höchſte individuelle Geſchicklichkeit war für den ſtädtiſchen
Meiſter der alten Zeit und iſt für den Spezialarzt der
Gegenwart dasſelbe, was für den modernen Fabrikanten
ſeine patentierten Maſchinen und Verfahrungsweiſen, ſeine
wohldisziplinierten Arbeiterſcharen ſind.
Während bei der modernen Arbeitsteilung jeder Fort-
ſchritt es den Arbeitern ſchwieriger macht zur Selbſtändig-
keit zu gelangen, während ſie mit Notwendigkeit das Aus-
einanderfallen von Arbeit und Kapital bedingt, wurde durch
die mittelalterliche Berufsteilung die Zahl der ſelbſtändigen
Betriebe vermehrt und die Bedeutung der Arbeit für das
perſönliche Fortkommen geſteigert.
[235]
Wir können hier unmöglich auf die Einzelheiten der
Berufsgliederung näher eingehen. Nach großen Gruppen
geſondert entfielen von unſeren 1800 ſelbſtändig Erwerben-
den auf
| Perſonen. | Prozent. | |
| die Gewerbe im engeren Sinne | 1050 | 58,3 |
| die Urproduktion | 330 | 18,3 |
| Handel, Verkehr und Gaſtwirtſchaft | 230 | 12,8 |
| Lohnarbeit unbeſtimmter Art | 60 | 3,3 |
| Oeffentlichen Dienſt | 60 | 3,3 |
| Liberale Berufsarten | 30 | 1,7 |
| Verſchiedene | 40 | 2,3 |
Dieſe Zahlen wollen nicht angeſehen ſein, wie die An-
gaben einer modernen Berufsſtatiſtik. Sie ordnen die
Bürger nur nach dem Hauptberufe ein, ohne zu be-
rückſichtigen, daß die meiſten einen Teil ihres Unterhalts
noch aus einem oder gar mehreren andern Berufszweigen
gewannen, die ſie nebenbei ausübten. Die Folge dieſer
zahlreichen kombinierten Exiſtenzen iſt, daß manche Pro-
duktionsgebiete nicht in ihrer wahren Bedeutung hervortreten.
So haben wir unter den Urproduzenten nur 130 reine
Landwirte eingerechnet; in Wirklichkeit trieb im XIV.
und XV. Jahrhundert noch faſt jeder Bürger Landwirt-
ſchaft oder doch Garten- und Weinbau in der Stadtmark
oder auf den Dorffluren der Umgegend. Ebenſo nahm
der ſtädtiſche Dienſt weit mehr als 60 Perſonen in
Anſpruch; aber vielleicht iſt die Zahl 60 noch zu hoch für
[236] diejenigen, welche wirklich von den Einkünften ihrer Aemtchen
leben konnten. Dazu kommt noch das bedeutende Perſonal,
welches die Stadt zur Bewachung der Pforten, Türme,
Erker, Warten und Schläge bedurfte — meiſt ärmere
Handwerker, die ihr urſprüngliches Gewerbe im Dienſte
weiter trieben, ferner die zahlreichen Halbbeamten für den
Markthandel und Verkehr, endlich die Gewerbetreibenden
im ſtädtiſchen Dienſt, wie der Stadtbaumeiſter, der Stadt-
ſchmied, der Stadtkoch, der Müller in der Stadtmühle, der
Bäcker im ſtädtiſchen Backhaus, ſodaß wir insgeſamt auf
gegen 200 ſtädtiſche Angeſtellte kommen ohne die Söldner.
Nicht ſelten wurden auch mehrere Aemtchen in einer Hand
vereinigt, und ebenſolche Berufsvereinigungen finden wir
bei den bürgerlichen Gewerben.
Die auffallendſte Eigentümlichkeit der ſtädtiſchen Be-
rufsgeſtaltung iſt aber das Zurücktreten des Handels.
Dasſelbe erklärt ſich einfach daraus, daß im Mittelalter
der Handel nur da eingreifen konnte, wo die einheimiſche
Produktion verſagte, und daß auf dem ſtädtiſchen Markte,
ſoweit irgend möglich, der Konſument direkt auch mit dem
auswärtigen Produzenten verkehren ſollte. Nur daß das
Mittelalter im Intereſſe der Verkehrsſicherheit zwiſchen beide
ein Heer von beeideten Maklern (Unterkäufern), Meſſern
und Wiegern als ſachkundige Vermittler einſchob. Von
den 230 in Handel, Verkehr und Gaſtwirtſchaft beſchäftigten
Perſonen, welche ich vorhin genannt habe, gehören nur
70 dem Kleinhandel und der Höckerei an und 15 dem
[237] Großhandel. Aber dieſe wenigen Großhändler ſind nicht,
wie man das ſich gewöhnlich vorſtellt, reiche Handelsherren
mit ſtehenden Geſchäften. Es ſind Angehörige der rats-
fähigen Geſchlechter, welche, wie auch heute wohl ein reicher
Mann einmal an der Börſe ſpekuliert, einen Teil ihres
großenteils in Grundeigentum, Renten und Gülten be-
ſtehenden Vermögens auf einige Jahre in kompagnieweiſe
betriebenen Handelsgeſchäften anlegten, und man weiß wirk-
lich nicht, ob man dieſe Leute lieber unter die Rentner oder
unter die Landwirte oder unter die Kaufleute einreihen ſoll.
Auch wenn wir das letztere thun, ſo umfaßt doch der
geſamte Handel im modernen Sinne noch nicht 5 % der
ſelbſtändig erwerbenden Bevölkerung, während er heute
faſt 25 % derſelben in Anſpruch nimmt.
Dagegen gehören im Mittelalter den unmittelbar pro-
duktiven Berufsarten in den Gewerben und der Urproduktion
80 % und heute nur 38 % der Bevölkerung an.
Darin, daß vier Fünftel der Bevölkerung mit eigener
Hand, mit eigenem Werkzeug und oft auch Material in
Werkſtätten, auf den Feldern, in Gärten und Weinbergen
güterſchaffend wirken, daß ihnen der Ertrag ihrer Arbeit
voll und ganz zufällt, liegt ein zweites Moment der Stärke
der mittelalterlichen Stadtwirtſchaft. Jenes paraſitiſche
Ueberwuchern der distributiven Berufsarten, das die Gegen-
wart beklagt, fand in dieſer Geſellſchaft keinen Raum.
Im Anſchluß an die Berufsgliederung wollen wir
noch zweier dauernd anſäßigen Beſtandteile der Bevölkerung
[238] gedenken, welche in ſozialer Hinſicht eine Sonderſtellung
einnehmen. Es ſind die Perſonen geiſtlichen Standes und
die Juden.
Der geiſtliche Stand umfaßte im XIV. und
XV. Jahrhundert 85—100 Weltgeiſtliche, 80—100 Mönche,
40—50 Kloſterfrauen und 35—55 Vertreter fremder Ritter-
orden, Klöſter und Stifte, alſo im ganzen 240—300 Per-
ſonen. Da die Exiſtenz dieſes zahlreichen Perſonals durch
feſte Pfründeneinkünfte und Stiftungen geſichert war und
nur etwa die Bettelorden zeitweiſe die Bürgerſchaft in An-
ſpruch nahmen, ſo belaſteten ſie die ſtädtiſche Wirtſchaft
keineswegs in dem Maße, wie es auf den erſten Blick
ſcheinen könnte. Auf der anderen Seite aber trugen ſie
auch nichts bei zu den ſtädtiſchen Ausgaben wegen ihrer
Steuerfreiheit, wie ſie es wohl nach ihrem Vermögen ge-
konnt hätten.
Die Judengemeinde hat vor 1360—1500 nie-
mals 30 Familien erreicht; ſie wechſelt in dieſer ganzen
Zeit, wo wir ſie Jahr für Jahr nach den Steuerliſten
zählen können, ſtark in ihrem Beſtand; um 1440 zählt ſie
nur 6—9 Haushaltungen. Ihr einziges Gewerbe iſt das
Geld- und Pfandleihgeſchäft; Warenhandel hat im mittel-
alterlichen Frankfurt nie ein Jude getrieben.
Wir kommen zur fluktuierenden Bevölkerung,
der Arbeiterklaſſe, wie wir heute ſagen würden, den Knechten
und Mägden, wie das Mittelalter ſich ausdrückte. Einen
einheimiſchen, ſeßhaften Arbeiterſtand, wie die Gegenwart,
[239] kannte das Mittelalter nicht, oder doch nur in Geſtalt einer
beſchränkten Zahl von Taglöhnern und Weinbergsarbeitern.
Was die Zahl der fremden Handwerksgeſellen, Bauern-
knechte und weiblichen Dienſtboten betrifft, ſo vermögen
wir ſie aus einheimiſchen Quellen nicht zu beſtimmen. Ich
habe ſie für 1440 auf 15—1600 Perſonen (nach Nürn-
berger Muſter) angenommen, und vielleicht iſt das noch zu
hoch. Wenn man im Durchſchnitt auf 3 Meiſter 2 fremde
Geſellen und Lehrlinge rechnet und auf 2 Haushaltungen
einen weiblichen Dienſtboten, ſo wird man nach allem, was
wir über dieſe Dinge wiſſen, der Wahrheit ziemlich nahe
kommen.
Nachdem wir nunmehr die Zuſammenſetzung der ge-
ſamten Bevölkerung nach dem Berufe und damit die Grund-
lage der wirtſchaftlichen Bethätigung derſelben kennen ge-
lernt haben, werfen wir einen Blick auf das Reſultat der-
ſelben, die Vermögensverteilung.
Allerdings vermögen wir dieſe nicht direkt zu ermitteln;
aber wir ſind durch die in Frankfurt beſtehende Vermögens-
ſteuer, (Bede), für welche die Liſten uns faſt ſämtlich er-
halten ſind, wenigſtens in den Stand geſetzt, uns ein un-
gefähres Bild derſelben zu machen. Wählen wir nun eine
dem Jahre 1440 nahe liegende, vollſtändig erhaltene Steuer-
liſte, diejenige von 1420, für unſere Betrachtung aus, ſo
haben wir uns zuvörderſt zu merken, daß die Steuer ſich
aus einem fixen Satz (Heerdſchilling) von 12 Schilling
(Mk. 4,20), den jede Haushaltung zahlen mußte und aus
[240] einer nach den einzelnen Vermögensobjekten abgeſtuften
veränderlichen Abgabe zuſammenſetzte, welche bei beweglichem
Vermögen 1,3 %, bei liegendem Gute die enorme Höhe
von faſt 7 % erreichte. Außerdem iſt zu beachten, daß
ein reichlich bemeſſener Teil des Vermögens — eine Art
Exiſtenzminimum — ſteuerfrei gelaſſen wurde, nämlich der
dritte Teil des Wohnhauſes, ein Pferd, eine Kuh, Hausrat
und Kleider, zwei ſilberne Becher für jede Familie, ſowie
ein Jahresvorrat von Brotfrucht, Wein, Brennholz, Vieh-
futter und Stroh.
Unter dieſen Umſtänden waren von 2382 Steuer-
pflichtigen im Jahre 1420:
| Steuerpflichtige. | Prozent. | |
| Steuerfrei aus Armut oder andern Gründen . . . . . . . . | 94 | 3,9 |
| Beſteuert bis zum Betrag von 10 β (= Mk. 3,50) . . . . . . | 387 | 16,3 |
| Beſteuert mit über 10 β bis 1 ℔ (Mk. 3,50—7) . . . . . . | 1219 | 51,2 |
| Beſteuert mit über 1 bis 10 ℔ (Mk. 7—70) . . . . . . . | 533 | 22,4 |
| Beſteuert mit über 10 bis 50 ℔ (Mk. 70—350) . . . . . . | 132 | 5,5 |
| Beſteuert mit über 50 ℔ (Mk. 350) | 17 | 0,7 |
Ueber 100 ℔ zahlen nur 7 Perſonen. Den höchſten
Steuerbetrag, nämlich 145 ℔ oder in unſerem Gelde 1015 Mk.
[241] entrichten 2 Perſonen (Johann von Holzhauſen und Heinrich
Wiſſe zum Wiſſen).
Sie ſehen, das ſind ſehr anſtändige Steuerbeträge,
ſelbſt wenn wir den höheren Geldwert des Mittelalters
ganz außer Berückſichtigung laſſen. Worin ſich aber die
in der Steuerverteilung von 1420 ausgeſprochene Vermögens-
und Einkommensverteilung von der heutigen unterſcheidet,
das läßt ſich mit wenigen Worten ausſprechen: durch das
Ueberwiegen der kleinen und mittleren
Vermögen, durch die geringe Zahl der
Steuerunfähigen und der ganz großen Be-
ſitzer. Im Jahre 1879/80 betrug die Zahl derjenigen,
welche wegen eines Einkommens unter 420 Mk. in Frank-
furt ſteuerfrei waren, 20 %, die Zahl derjenigen, welche
von einem Einkommen von 12000—14400 Mk. und mehr
über 1000 Mk. Einkommenſteuer zahlten, etwa 1 Prozent.
Im Mittelalter fehlen die letzteren und die erſteren be-
tragen noch nicht 4 %. 1879 war der höchſte Steuerbetrag
(Mk. 171288) 38600mal größer als der niedrigſte, 1420
nur etwa 2000mal. Allerdings beträgt die Zahl derjenigen,
welche über den Unterhaltsbedarf hinaus Vermögen beſitzen,
1420 nur 35 %; aber das iſt doch faſt dreimal mehr als
heute Einkommenſteuer in Frankfurt zahlen, alſo ein Ein-
kommen von über 3000 Mk. beſitzen. Dazu kommt nun
noch die große Maſſe derjenigen, welche den Hausſchilling
zahlten und ſich zweifellos meiſt in auskömmlicher Lage
befanden. Denn wer eine Kuh im Stalle hatte und ein
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 16
[242] Pferd nebſt Heu, Hafer und Stroh für beide bis Martini,
dazu Kleider und Hausrat nebſt Brot, Wein und Holz bis
zur nächſten Ernte, der war kein armer Mann, der ſtand
ſich, zumal wenn er die Arme noch zu Handwerksverdienſt
frei hatte, im Mittelalter relativ beſſer, als heute die Mehr-
zahl derjenigen, welche in Frankfurt zur Klaſſenſteuer ver-
anlagt ſind.
Daß aber der Vermögensbeſitz im Mittelalter ſich
durchaus nicht etwa auf die Grundbeſitzer beſchränkt, geht
zur Genüge daraus hervor, daß die Verteilung der Hand-
werker auf die verſchiedenen Steuerſtufen ganz ähnlich ſich
geſtaltet wie diejenige der Geſamtbevölkerung, nur daß bei
ihnen die niederſte Stufe ſchwächer beſetzt iſt und die höchſte
gewöhnlich fehlt. Doch ſind Meiſter mit 30 und 40 ℔
Steuer gar nichts Seltenes, und wenn man auf das da-
malige Frankfurter Gewerbe im allgemeinen den alten Satz
anwenden wollte, daß Handwerk einen goldenen Boden
habe, die Bedebücher würden dem nicht widerſprechen.
Allerdings hat jede Vergleichung mittelalterlicher und
moderner Steuerverhältniſſe mit drei faſt unüberwindlichen
Schwierigkeiten zu kämpfen: 1) der Ungleichheit der Steuerſy-
ſteme, indem im Mittelalter das Vermögen, in der Gegenwart
das Einkommen die Bemeſſungsgrundlage der direkten Haupt-
ſteuer bildet, 2) der Verſchiedenheit des Geldwertes im
Mittelalter und in der Neuzeit und 3) der Unmöglichkeit,
die hinter den mittelalterlichen Steuerſätzen ſtehenden Ver-
mögenswerte in Geld abzuſchätzen. Die letztere Schwierig-
[243] keit hebt ſich erſt am Ende der von uns ins Auge gefaßten
Periode, im Jahre 1495, wo die Vermögensſteuer zu einer
regelmäßig wiederkehrenden nach gleichbleibendem Fuße auf
das ganze in Geld eingeſchätzte Vermögen gelegten Steuer
wird. Allein offenbar iſt die Ausführung dieſer durchaus
modernen Art der Vermögensbeſteuerung im Anfang eine
höchſt mangelhafte, und wenn ich trotzdem Ihnen noch
einige Ziffern über die Verteilung des Vermögens unter
der ſtädtiſchen Bevölkerung mitteile, wie ſie ſich bei der
erſten nach dieſem Syſtem erfolgten Einſchätzung im Jahre
1495 ergab, ſo bitte ich im Auge zu behalten, daß wir es
jedenfalls mit Minimalziffern zu thun haben. Von je 100
Steuerpflichtigen beſaßen damals
| ſteuerbares Vermögen | bei der | bei den | |
| in Goldgulden: | nach heutiger Währung in Goldmark. | Geſamtbevölkerung. | Handwerkern. |
| unter 20 | unter 140 | 45,7 | 32,7 |
| 20—100 | 140—700 | 26,8 | 32,6 |
| 100—200 | 700—1400 | 8,2 | 12,5 |
| 200—400 | 1400—2800 | 5,9 | 10,6 |
| 400—600 | 2800—4200 | 2,9 | 4,3 |
| 600—1000 | 4200—7000 | 3,2 | 4,3 |
| 1000—2000 | 7000—14000 | 2,2 | 2,0 |
| 2000—5000 | 14000—35000 | 2,3 | 0,8 |
| 5000—10000 | 35000—70000 | 1,1 | — |
| über 10000 | über 70000 | 1,7 | 0,2 |
[244]
Auch hier zeichnen ſich die Handwerker durch erhöhte
Verhältnisziffern in den mittleren Vermögensſtufen aus.
Allein man würde wahrſcheinlich in die Irre gehen, wenn
man dieſe weite Verbreitung eines beſcheidenen Wohlſtandes
allein auf Rechnung eines ſchwunghaften Gewerbebetriebs
ſetzen und bei den Meiſtern der damaligen Zeit im Durch-
ſchnitt ein erhebliches Geſchäftskapital vermuten wollte. Bei
einer Anzahl derſelben, wie den Wollwebern, den Metzgern,
teilweiſe auch den Bäckern, hat ſich freilich der Uebergang
vom bloßen Lohnwerk zum Preiswerk längſt vollzogen; ſie
bedürfen eigner Betriebsmittel, wenn ſie vorwärts kommen
wollen. Das gleiche gilt von den meiſten Metallhandwerkern,
einigen Ledergewerben, den Holzſchuhmachern und ähnlichen,
die weit umher in den Städten bis nach Fulda und Nörd-
lingen die Märkte zu beziehen pflegten. Aber die große
Maſſe der Handwerker war, wie wir aus den ſtädtiſchen
Rechnungen erſehen können, darauf angewieſen, daß bei
jedem größeren Stück Arbeit die Kunden ihnen das Material
lieferten.
Dagegen beſtand ein erheblicher Teil der Handwerker
aus Grund- und Häuſerbeſitzern. Das letztere geht aus
einem uns erhaltenen Häuſerkataſter von 1438 hervor, das
für eine ſtatiſtiſche Bearbeitung leider der nötigen Voll-
ſtändigkeit entbehrt, und wenn auch die meiſten jener Hand-
werkerhäuſer klein und mit Grundzinſen, Gülten und Renten
belaſtet waren, ſo gaben ſie doch der wirtſchaftlichen Exi-
ſtenz ihrer Beſitzer einen ſicheren Rückhalt. Noch mehr
[245] gilt das von dem Grundbeſitz, der nicht bloß in der Frank-
furter Gemarkung, ſondern faſt in allen umliegenden Dörfern
bis in die Wetterau hinein zerſtreut lag und durchweg im
Eigenbau genutzt wurde. Die meiſten Frankfurter gewannen
alſo damals ihren Lebensunterhalt zu einem großen Teile
noch aus der Landwirtſchaft, und die bürgerlichen Gewerbe
lieferten ihnen nur einen willkommenen Zuſchuß baren
Geldes. Gerade dieſe doppelte wirtſchaftliche Grundlage
gab dem Leben des Städters in jenen unruhigen Zeiten
eine verhältnismäßig große Sicherheit, von der auch die-
jenigen nicht ganz unberührt bleiben konnten, welche bloß
von ihrer Hände Arbeit ihr Daſein friſteten.
Wir ſind am Ende unſerer Wanderung. Richten wir
von dem zuletzt erreichten Punkte den Blick rückwärts, ſo
erkennen wir, daß bei aller Ungunſt in der natürlichen
Schichtung der Bevölkerung ihre ſoziale Zuſammenſetzung
nach Berufsſtänden und Vermögensklaſſen ein durchaus
geſundes Gepräge zeigt. Die ſtädtiſche Wirtſchaft verhalf
einem großen Teil der Bürger zur Selbſtändigkeit; ſie be-
günſtigte die produktiven Berufsſtände; ſie ließ ſchroffe Unter-
ſchiede in der Vermögens- und Einkommensverteilung nicht
aufkommen.
Der Wert dieſer Verhältniſſe kommt uns erſt voll
zum Bewußtſein, wenn wir unſere Augen über die Ring-
mauern der Stadt hinaus auf das platte Land ſchweifen
laſſen.
Auf dem Lande bildet noch der Grundbeſitz die einzige
[246] Form des Vermögens, die Landwirtſchaft den einzigen Beruf.
Aber der Grundbeſitz iſt in den Händen des Adels und
der Kirche zu wenigen großen Maſſen vereinigt; die land-
wirtſchaftliche Arbeit ruht auf den Schultern dinglich und
oft auch perſönlich unfreier Bauern — einer unbeweg-
lichen, des Waffendienſts entwöhnten, jammervoll gedrückten
Klaſſe.
In den Städten hat man zwar die Exiſtenz noch nicht
ganz von der Bebauung des Bodens losgelöſt; aber neben
dem Ackerbau, der hier ſchon die intenſiven Formen der
Spatenkultur annimmt, iſt ein vielfach verzweigtes, in
wunderbarer Mannigfaltigkeit entwickeltes Gebiet von ſelb-
ſtändigen Berufsthätigkeiten aufgeblüht, das Gewerbe. Dieſes
Gewerbe iſt ſeiner Natur nach auf den Kleinbetrieb ange-
wieſen. Er ſchafft einen kräftigen Stand freier, unab-
hängiger, arbeitſamer Leute, die etwas gelten, weil ſie etwas
können. Der Produzent arbeitet mit eigener Hand; er
arbeitet mit eigenem Werkzeug, zuweilen auch ſchon mit
eigenen Betriebsmitteln; er arbeitet in der Regel nicht für
einen weiten Markt, ſondern für den engen Kundenkreis
ſeiner Mitbürger und der umwohnenden Landbevölkerung;
kein Schwarm gewinnſüchtiger Zwiſchenhändler ſchiebt ſich
zwiſchen ihn und den Konſumenten ſeiner Erzeugniſſe.
Wo das Gewerbe nicht mehr ausreicht, da greift der
Handel ein, zunächſt in der charakteriſtiſchen Form des
Marktumſatzes. Das mittelalterliche Marktweſen bedarf
einer verhältnismäßig großen Zahl halbamtlicher Mittels-
[247] perſonen. Da ſind die vielen geſchworenen Unterkäufer,
die Salz-, Kohlen- und Leinwandmeſſer, die Sackträger
und Stangenträger, die Wagemeiſter, die Viſierer, die
Schröder, Weinſticher und Weinknechte, die Kärcher und
Heizeler, die Boten und Schiffleute; da hat der Wechsler
ſeinen Tiſch und der Stuhlſchreiber ſeine Schreibkiſte auf-
geſtellt, um für die zahlreichen Analphabeten das Abfaſſen
von Schriftſtücken zu beſorgen. Und wenn auch vielleicht
die meiſten dieſer Leute einen Teil des Jahres kärglich
leben; alle ſechs Monate kommt einmal die Meſſe, und da-
zwiſchen gibt es wohl auch ein Turnier, eine Reichsver-
ſammlung, eine Kaiſerwahl, die Vielen reichlich Beſchäftigung
und Brot geben. Namentlich muß das Vermieten von
Wohn- und Geſchäftsräumen während der Meſſe und das
Beherbergen der zahlreichen Fremden für die Frankfurter
damals eine außerordentliche wirtſchaftliche Bedeutung ge-
habt haben.
Wen eine Erwerbsart nicht völlig nährt, der ver-
bindet mehrere, oder er ergreift eine andere. Denn noch
iſt das Erwerbsleben nicht in Zunftformeln erſtarrt und
verknöchert; noch entſtehen fortwährend neue Berufsarten,
und wo einmal ein altes Handwerk zu egoiſtiſcher Ab-
ſchließung Miene macht, da tritt der Rat dazwiſchen und
zieht die gemeinſchädlichen Satzungen ein.
Und auf dieſer wirtſchaftlichen und ſozialen Grundlage
hat das Mittelalter eine in ihrer Art vollendete Organi-
ſation der Arbeit und der politiſchen Gemeinſchaft aufge-
[248] baut. Zwei Ideen beherrſchen die erſtere: die Idee des
gemeinen Beſten und die Idee, daß jeder Arbeiter auf dem
Gewerbe, das er mit eigener Hand betrieb, ſeine Mannes-
nahrung finden ſolle. Eine Konſequenz der erſten dieſer
Ideen war es, daß das Recht zum Gewerbetrieb in der
Stadt als ein Amt angeſehen wurde, das die Geſamtheit
dem einzelnen Meiſter wie der ganzen Zunft verlieh und
das ihnen Pflichten auferlegte; eine Konſequenz der zweiten
war die allgemeine Gleichheit und Brüderlichkeit, welche
von den Genoſſen des gleichen Berufes gefordert wurde.
Mit dieſen die Stadtwirtſchaft beherrſchenden Gedanken
kreuzen ſich zwei verwandte auf politiſchem Gebiete: der
Gedanke, daß die Geſamtheit jeden Bürger ſchütze und
ſchirme und „verantworte“ und der Gedanke, daß jeder
Einzelne mit Gut und Blut für die Stadt einzutreten habe.
Aus dem erſteren entſprang die Solidarität der Bürgertums,
aus dem letzteren die allgemeine Wehr- und Steuerpflicht.
Dieſe Solidarität, jene allgemeine Brüderlichkeit, ſie
machte nicht Halt bei den zahlreichen kleinen Genoſſen-
ſchaften, den Zünften, Stuben, Brüderſchaften, in welchen
die Geſchlechter, die Handwerker, die Geſellen ſich enger
verbunden hatten. Sie umſchloß alle Bürger der Stadt
als eine geſchworene Einung, in der Alle entſchloſſen waren,
„Liebe und Leid mit einander zu dulden bei der Stadt
und wo es Not wäre.“
In dieſer auf der feſten Grundlage befriedigender
[249] Wirtſchaftsverhältniſſe ruhenden Organiſation der Geſell-
ſchaft lag die Stärke der mittelalterlichen Städte.
Sie waren dem platten Lande überlegen trotz ihrer
unbedeutenden Bevölkerungsziffern, weil in ihnen der Mann
etwas wert war, weil er mehr wert war als auf dem
Lande und weil das Individuum ſich freiwillig in den
Dienſt der Geſamtheit ſtellte nach dem Grundſatze: Alle
für Einen, Einer für Alle.
Aber nichts deſto weniger iſt es eine einſeitig voraus-
eilende, in gewiſſem Sinne egoiſtiſche Entwicklung, mit der
wir es hier zu thun haben. Sie war nur möglich durch
immer ſchroffere Ausbildung des ſozialen Unterſchieds zwiſchen
Stadt und Land und dadurch, daß die erſtere das letztere
wirtſchaftlich in weitem Umkreiſe von ſich abhängig machte.
Den Schlußſtein dieſer Entwicklung hätte die politiſche Ab-
hängigkeit der Landſchaft von der Stadt bilden müſſen,
die Begründung von Stadtſtaaten wie in Italien und
teilweiſe auch in der ſchweizeriſchen Eidgenoſſenſchaft.
Frankfurt gehört zu den wenigen deutſchen Städten,
welche in der Erwerbung von Landgemeinden bewußt dieſem
Ziele zuſteuerten — freilich ohne es ganz zu erreichen.
Darin aber, daß in Deutſchland die ſtädtiſche Entwick-
lung einſeitig und unvollendet blieb, lag m. E. die Haupt-
urſache, weshalb dieſelbe für das Reich nicht, wie es an-
fangs den Anſchein hatte, ein bindendes, ſondern ein auf-
löſendes Element mehr wurde, weshalb ſie im XVII. und
[250]XVIII. Jahrhundert raſcher wieder von ihrer Höhe herunter-
ſank, als ſie dieſelbe erklommen hatte.
Heute iſt die Stadt nicht mehr ein für ſich abge-
ſchloſſenes Ganzes; ſie iſt ein dienendes Glied eines großen
Organismus, der ſtaatlich geordneten Geſellſchaft. Und
wenn ſie als ſolches die glanzvollſten Reſultate der geſell-
ſchaftlichen Arbeit in ſich vereinigt, ſo wollen wir doch
nicht vergeſſen, daß ſie auch die ſozialen Gegenſätze dieſer
Geſellſchaft, ihre Unruhe und Unbefriedigung am ſchroffſten
ausgeprägt hat, und wir wollen wünſchen, daß es dieſer
modernen Geſellſchaft gelingen möge, eine Organiſation der
Arbeit auszubilden, welche dem Einzelnen und der Geſamt-
heit in gleichem Maße gerecht wird, wie für ihre Zeit die
ſoziale Organiſation der mittelalterlichen Stadt.
[[251]]
VI.
Die inneren
Wanderungen und das Städteweſen
in ihrer
entwickſungsgeſchichtſichen Bedeutung.
Neubearbeitet mit Benutzung eines Vortrags,
gehalten bei der Jahresverſammlung der Schweizeriſchen
ſtatiſtiſchen Geſellſchaft zu Baſel
den 22. September 1886.
[[252]][[253]]
Alle prähiſtoriſche Forſchung, ſoweit ſie ſich auf die
Erſcheinungen der belebten Welt bezieht, verliert ſich in der
Hypotheſe der Wanderung. Die Verbreitung der Pflanzen,
der Tiere, der Menſchen über die Räume der Erdoberfläche,
die verwandtſchaftlichen Beziehungen der Sprachen, der
religiöſen Vorſtellungen, der Märchen und Sagen, der
Sitten und ſozialen Einrichtungen ſcheinen in dieſer einen
Annahme ihre gemeinſame Erklärung zu finden.
In der Menſchheitsgeſchichte iſt man freilich heute von
der Anſicht zurückgekommen, welche die nomadiſierende
Lebensweiſe als eine allgemeine Kulturphaſe angeſehen wiſſen
wollte, die jedes Volk vor der feſten Niederlaſſung einmal
durchgemacht haben müſſe und die mit der Zähmung der
Haustiere den Menſchen „naturgemäß“ vom Jägerleben
zum Ackerbau hinüberleite. Die ethnographiſche Forſchung
hat uns genügend darüber aufgeklärt, daß alle Natur-
völker leicht und aus oft ſehr geringfügigen Urſachen ihre
Sitze wechſeln, und daß es bei ihnen außerordentlich viele
Zwiſchenſtufen zwiſchen ſchweifendem und ſeßhaftem Leben
gibt, welches auch immer die wirtſchaftlichen Grundlagen
[254] ihrer Exiſtenz ſein mögen 1). Die Nord- und Südränder
der bewohnten Erde ſind noch heute ganz von Menſchen
ohne feſten Wohnſitz bevölkert und auch im Innern der-
ſelben finden ſich weite Länderräume, in denen ein Zuſtand
permanenter Völkerwanderung herrſcht. Die meiſten Kul-
turvölker haben Sagen oder geſchichtliche Ueberlieferungen
eines ſolchen Zuſtandes.
Auch in unſerer Sprache hat dieſe längſt verfloſſene
Periode allgemeiner Beweglichkeit tiefe Spuren hinterlaſſen.
Geſund heißt urſprünglich wegfertig (von ſenden-gehen,
reiſen); Geſinde, was heute die dienenden Hausgenoſſen
bedeutet, iſt in der älteren Sprache das Reiſegefolge; der
Gefährte und die Gefährtin bezeichnen im ſtrengen
Wortſinne die Fahrtgenoſſen. Erfahrung iſt, was man
auf der Fahrt erlangt hat und bewandert iſt derjenige,
welcher viel auf der Wanderſchaft war. Die Liſte ſolcher
Ausdrücke iſt noch lange nicht erſchöpft; in der allgemeinen
Bedeutung, deren ſie ſich heute erfreuen, drückt ſich die
Allgemeinheit des konkreten Anſchauungs- und Beobachtungs-
kreiſes aus, dem ſie zuerſt entſprungen ſind.
Es iſt ein nahe liegender Schluß, daß jener Zuſtand
der allgemeinen Wanderbewegung mit ſeinen eingewurzelten
Wanderſitten nicht plötzlich zur Ruhe gekommen ſein könne,
daß vielmehr der ganze Gang der Weiterentwicklung bis
auf den heutigen Tag ein Prozeß allmähligen Seßhaft-
[255] werdens und eines immer engeren Anſchluſſes an das
Fleckchen Erde geweſen ſei, an dem der Menſch ins Leben tritt.
Mancherlei Anzeichen ſprechen für dieſe Auffaſſung.
Das Haus wird bei unſern Vorfahren zur Fahrhabe ge-
rechnet, und nachweisbar haben viele Ortſchaften in hiſto-
riſcher Zeit ihre Stellen gewechſelt. Trotz des Mangels
an Kunſtſtraßen und bequemen Verkehrsmitteln erſcheint
noch im Mittelalter der Einzelne viel beweglicher als in
der ſpäteren Zeit. Dafür ſprechen die zahlreichen Wall-
fahrten, die ſich bis St. Jago in Spanien erſtreckten, die
Kreuzzüge, die großen Scharen der fahrenden Leute, das
Wanderleben des Königs und ſeines Hofes, das Gäſterecht
der Markweistümer, das ausgebildete Geleitsweſen.
Jeder neue Fortſchritt in der Kultur hebt ſozuſagen
wieder mit einer neuen Wanderperiode an. Der älteſte
Ackerbau iſt ein nomadiſcher mit jährlichem Wechſel der
Feldflur; der älteſte Handel iſt Wanderhandel; die erſten
Gewerbe, welche ſich als berufsmäßige Thätigkeit Einzelner
von der Hauswirtſchaft ablöſen, werden im Umherziehen
betrieben. Die großen Religionsſtifter, die älteſten Dichter
und Philoſophen, die Muſiker und darſtellenden Künſtler
der früheren Perioden ſind überall große Wanderer. Und
zieht nicht noch heute der Erfinder, der Prediger einer neuen
Lehre, der Virtuoſe von Ort zu Ort, um Anhänger und
Bewunderer zu ſuchen — trotz der gewaltigen Entwicklung
des modernen Nachrichtenverkehrs?
Aeltere Geſittung iſt ſeßhaft. Der Grieche war ſeß-
[256] hafter als der Phönizier, der Römer ſeßhafter als der
Grieche, weil Einer immer der Kulturerbe des Andern war.
Noch heute bemerken wir Aehnliches. Der Germane iſt
beweglicher als der Romane, der Slave beweglicher als
der Germane. Der Franzoſe klebt an der heimatlichen
Scholle, der Ruſſe verläßt ſie leichten Gemüts, um an an-
deren Stellen ſeines weiten Vaterlandes beſſere Erwerbs-
gelegenheiten zu ſuchen. Selbſt der Fabrikarbeiter iſt dort
nur ein periodiſch wandernder Bauer.
Zu allem was ſich empiriſch für den Satz anführen
läßt, daß die Menſchheit im Laufe ihrer Geſchichte immer
ſeßhafter geworden ſei, kommt noch eine aprioriſtiſche Er-
wägung doppelter Art. Fürs Erſte wächſt mit fortſchrei-
tender Kultur der Umfang der Kapitalfixierungen: der
Produzent wird immobil mit ſeinen Produktionsmitteln.
Der wandernde Schmied der ſüdſlaviſchen Länder und das
weſtfäliſche Eiſenwerk, die Saumpferde des mittelalterlichen
Kaufmannes und das Großmagazin unſerer Städte, der
Thespiskarren und das ſtehende Theater bezeichnen An-
fangs- und Endpunkte dieſer Entwicklung. Und fürs Zweite
hat die Ausbildung der modernen Verkehrsmittel den Güter-
transport in weit höherem Grade erleichtert als den Per-
ſonentransport. Die örtlich gegebene Verteilung der Ar-
beitskräfte erlangt dadurch höhere Wichtigkeit als die na-
türliche Verbreitung der Produktionsmittel; die letzteren
ziehen vielfach den erſteren nach, wo früher der umgekehrte
Fall ſtattfand.
[257]
Dem Geſagten widerſtreiten freilich einige andere Er-
wägungen und Thatſachen. Zunächſt die Gebundenheit des
Menſchen an die Scholle in der älteren agrariſchen Periode,
die Verdinglichung aller wirtſchaftsrechtlichen Beziehungen
im Gegenſatze zu der modernen Freiheit der Perſon und
des Eigentums. Sodann und damit zuſammenhängend die
Entſtehung zahlreicher Berufszweige in der neueren Zeit,
welche bloß auf das bewegliche Kapital oder die perſönliche
Arbeitsgeſchicklichkeit ſich gründen. Ferner die zunehmende
Mobiliſierung des Grundbeſitzes, welche heute dem Bauern
erlaubt, in kurzer Zeit Haus und Hof zu Geld zu machen,
um jenſeits des Ozeans ſich eine neue Exiſtenz zu gründen,
während der mittelalterliche Landwirt höchſtens als Pfahl-
bürger ſich einer benachbarten Stadt anſchließen konnte,
von der aus er ſeine Wirtſchaft auf dem Dorfe entweder
ſelbſt weiter betrieb oder ſie in irgend einer Form gegen
eine jährliche Naturalrente einem andern überließ. Weiter
die große Erleichterung des Perſonenverkehrs, welche durch
die Erfindung neuer Verkehrsmittel hervorgebracht worden
iſt. Endlich die Beobachtung eines wachſenden Zuſtroms
der Landbevölkerung nach den Städten, die ſich ſeit einigen
Jahrzehnten in einer außerordentlich raſchen Bevölkerungs-
zunahme der letzteren und in einer ſtellenweiſen Stagnation
oder gar Abnahme der Landbevölkerung kund gibt. Mit
Rückſicht auf alle dieſe Umſtände halten ſich manche für
berechtigt, von einer ſtets ſteigenden Mobiliſierung der Ge-
ſellſchaft zu reden.
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 17
[258]
Wie ſind dieſe beiden Erſcheinungsreihen mit einander
zu vereinbaren? Handelt es ſich um zwei einander ent-
gegengeſetzte Entwicklungsprinzipien? Oder ſind vielleicht
die modernen Wanderungen von ganz anderer Art als
diejenigen früherer Jahrhunderte?
Faſt möchte man das letztere glauben. Die Wande-
rungen, welche vor Anfang der Geſchichte der europäiſchen
Menſchheit ſtehen, ſind Völkerwanderungen: ein Jahrhun-
derte langes Schieben und Drängen kollektiver Geſamtheiten
von Oſten nach Weſten. Die Wanderungen des Mittel-
alters ergreifen immer nur einzelne Stände: die Ritter in
den Kreuzzügen, die Kaufleute, die Lohnhandwerker, die
Handwerksgeſellen, die Gaukler und Spielleute, die Hörigen,
welche Schutz hinter den ſtädtiſchen Mauern ſuchen. Die
modernen Wanderungen ſind dagegen in der Regel eine
Sache der Individuen, die ſich dabei von den verſchieden-
artigſten Beweggründen leiten laſſen. Sie ſind faſt immer
unorganiſiert, und der täglich tauſendfach ſich wiederholende
Vorgang wird nur durch das eine Merkmal zuſammenge-
halten, daß es ſich überall um eine Ortsveränderung von
Perſonen handelt, welche günſtigere Lebensbedingungen
aufſuchen.
Und doch würde eine ſolche Unterſcheidung dem Weſen
der modernen und auch der mittelalterlichen Wanderungen
nicht ganz gerecht werden. Wollen wir ihre wahre ent-
wicklungsgeſchichtliche Bedeutung erfaſſen, ſo müſſen wir
erſt Lichtung bringen in das wirre Dickicht trüber Tages-
[259] meinungen, welches den ganzen Gegenſtand noch immer
umgibt, trotz aller Bemühungen der Statiſtik und der Na-
tionalökonomie.
Unter allen Maſſenerſcheinungen des ſozialen Lebens,
welche der Statiſtik zugänglich ſind, gibt es freilich kaum
eine, welche von vornherein ſo ſehr unter das allgemeine
Geſetz der Kauſalität zu fallen ſcheint als die Wanderungen,
kaum eine aber auch, über deren nächſte Verurſachung ſo
unklare Vorſtellungen herrſchen als dieſe.
Spricht man doch nicht bloß in den Kreiſen des großen
Publikums und in der Preſſe ſondern ſogar in wiſſen-
ſchaftlichen Werken vom Wandertriebe und ſtellt damit
jene Bewegungen der Menſchen von Ort zu Ort außerhalb
des Bereiches bewußten Handelns. Ja ein Statiſtiker hat
einen in der Zeitſchrift des preußiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus
von 1873 erſchienenen Aufſatz überſchrieben: „Heimatſinn
und Wandertrieb der preußiſchen Bevölkerung“ — gleich
als ob das Verharren in der Heimat auf bloßer Natur-
anlage, das Verlaſſen derſelben auf einem unwiderſtehlichen
inſtinktiven Drange beruhte, der dem einen Volke mehr,
dem andern weniger zukomme.
Damit ſteht es denn freilich in ſeltſamem Widerſpruche,
daß, während die große Maſſe der amtlichen ſtatiſtiſchen
Arbeiten in weiteren Kreiſen unbeachtet bleibt, die öffent-
liche Meinung auf die Publikation der Auswanderungs-
ziffern meiſt ſehr lebhaft ſich äußert. An ihr Steigen und
Fallen knüpfen ſich Furcht und Hoffnung, Beifall und
17 *
[260] Mißfallen, Leitartikel und Parlamentsreden. Da iſt dann
natürlich von Wandertrieb und Heimatſinn weniger zu ver-
nehmen 1); man hat ein dunkles Gefühl, daß hinter jenen
Schwankungserſcheinungen ſehr konkrete Urſachen ſtehen.
Wie wenig man aber über die Natur der letzteren im Klaren
iſt, mag beiſpielsweiſe daraus erſehen werden, daß vor
einigen Jahren im deutſchen Reichstage allen Ernſtes dar-
über geſtritten wurde, ob die Leute auswanderten, weil
es ihnen gut gehe oder weil es ihnen ſchlecht gehe.
Man wird nicht ſagen können, daß die Statiſtik bis
jetzt dahin gelangt ſei, aus den trüben Wogen verwirrter
Tagesmeinungen ſich zu den ſicheren Ergebniſſen exakter
Beobachtungen emporzuſchwingen. Für ſie iſt ja allerdings
von vorn herein das Wandern eine wirtſchaftlich und ſozial
bedingte Maſſenerſcheinung; aber ſie hat es m. E. zu früh
aufgegeben, ihre Urſachen mit den ihr eigentümlichen Mitteln
aufzudecken und zur Enquête gegriffen, ehe ſie die Mittel
der numeriſchen Methode erſchöpft hatte.
Wenn man die nichts weniger als tiefſinnigen Be-
merkungen lieſt, mit welchen Quetelet2) das Phänomen
der Auswanderung begleitet, ſo überzeugt man ſich leicht,
daß ſeine Erklärung desſelben ſich kaum über die ver-
[261] breitetſten Gemeinplätze erhebt. Muſtert man dann aber
die amtlichen Publikationen der neueſten Zeit, ſo begegnet
man zwar nicht ſelten ausführlichen Frageſchematen über
die „Urſachen“ oder „Gründe“ der Auswanderung, bei
denen auch die Armen am Geiſte unter den zur Beant-
wortung aufgerufenen Gemeindebeamten nicht in Verlegen-
heit geraten können; aber man ſagt ſich ſofort, daß mit
derartigen Suggeſtivfragen eine Reihe ſubjektiver Voraus-
ſetzungen die Stelle objektiver Forſchungsreſultate okkupiert.
Bevor man aber zu einem ſolchen Auskunftsmittel
greift, das nur in die Zahlen hineininterpretiert, was nicht
von ſelbſt aus ihnen hervorgeht, wäre doch wohl die Auf-
gabe geweſen, die Wanderungserſcheinungen ſelbſt in ihren
verſchiedenen Arten nach ihrer numeriſchen Geſetzmäßigkeit
feſtzuſtellen, ſie mit andern der Statiſtik zugänglichen ört-
lichen und zeitlichen Maſſenerſcheinungen (z. B. der Dichtig-
keit der Bevölkerung, ihrer Berufsgliederung, der Vertei-
lung des Grundeigentums, der Höhe des Arbeitslohnes,
der Preisbewegung der Lebensmittel) in Beziehung zu
ſetzen — alſo das ſtatiſtiſche Experiment der Paralleliſierung
iſolierter Zahlenreihen vorzunehmen.
Von dieſen erſten Schritten auf dem Wege eines
exakten Verfahrens ſind wir aber noch weit entfernt. Das
geſamte Gebiet der Wanderungen iſt noch nirgends plan-
mäßig der ſtatiſtiſchen Beobachtungsarbeit unterworfen wor-
den; immer waren es nur auffallende einzelne Erſcheinungen
derſelben, denen ausſchließliche Aufmerkſamkeit zugewendet
[262] wurde. Selbſt an einer ſozialwiſſenſchaftlich rationellen
Klaſſifikation der Wanderungen fehlt es zur Stunde noch.
Dieſelbe hätte auszugehen von dem populatio-
niſtiſchen Reſultat der Wanderungen. Darnach
würden letztere in drei Gruppen zerfallen:
- 1. Wanderungen mit ſteter Ortsveränderung.
- 2. Wanderungen mit temporärer Umſiedelung,
- 3. Wanderungen mit dauernder Umſiedelung.
Zur erſten Gruppe gehört das Zigeunerleben, der
Betrieb von Wanderhandel und Wandergewerben, das Va-
gantentum.
Zur zweiten: das Wandern der Handwerksgeſellen,
der Dienſtboten, der Gewerbetreibenden, welche die günſtigſte
Stelle zu temporären Unternehmungen aufſuchen; der Be-
amten, welchen eine beſtimmte Stellung auf Zeit übertragen
wird; der Schüler, die fremde Lehranſtalten aufſuchen u. ä.
Zur dritten: die Umzüge von Ort zu Ort innerhalb
deſſelben Landes (Staates) und nach dem Auslande, nament-
lich über See.
Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen der erſten und zweiten
Gruppe nehmen die periodiſchen Wanderungen ein.
Dahin gehören die Wanderungen der ländlichen Arbeiter
zur Zeit der Ernte, der Zuckerarbeiter zur Zeit der Cam-
pagne, der oberitalieniſchen und ticineſiſchen Maurer, Erd-
arbeiter, Kaminfeger, Kaſtanienbrater ꝛc., welche ſich in be-
ſtimmten Jahreszeiten wiederholen.
Bei dieſer Einteilung iſt allerdings von dem Einfluſſe
[263] der natürlichen und politiſchen Abgrenzung der Länderge-
biete abgeſehen. Es ſoll damit nicht verkannt werden, daß
die ſtaatliche Zugehörigkeit für das Ziel der Wanderungen
in dem Zeitalter des Nationalitätsprinzips und des Schutzes
der nationalen Arbeit eine gewiſſe Bedeutung hat. Wir
wollen ihr vielmehr gerecht werden durch eine zweite Ein-
teilung, bei welcher wir das politiſch-geographiſche Er-
ſtreckungsgebiet der Wanderungen zur Grundlage nehmen.
Darnach zerfallen dieſelben in innere und äußere
Wanderungen.
Innere Wanderungen ſind ſolche, deren An-
fangs- und Endpunkte innerhalb deſſelben Staatsgebietes
liegen; äußere ſolche, die ſich darüber hinaus erſtrecken.
Die letzteren ſind wieder entweder international-euro-
päiſche oder außereuropäiſche (gewöhnlich als
überſeeiſche bezeichnet). Man kann aber auch ſämtliche
Wanderungen, welche den Boden des Erdteils nicht ver-
laſſen, im weiteren Sinne als innere Wanderungen be-
zeichnen und ihnen die Auswanderung κατ’ ἐξοχήν, d. h.
die Ueberſiedelung nach fremden Erdteilen gegenüberſtellen.
Von allen dieſen mannigfach verſchiedenen Arten des
Wanderns iſt bisher nur die überſeeiſche Auswanderung
regelmäßig Gegenſtand der amtlichen Statiſtik geweſen, und
auch dieſe iſt von ihr, was keinem Kundigen fremd ſein
dürfte, bisher nur unvollkommen erfaßt worden. Ab und
zu hat man gelegentlich einmal die periodiſchen Arbeiter-
wanderungen und das Hauſierweſen zum Gegenſtande der
[264] Erhebung gemacht — meiſt mit dem Nebenzwecke einer be-
ſchränkenden Geſetzgebung. Nur die italieniſche Regierung
beſtrebt ſich ſeit längerer Zeit, die periodiſchen Wanderungen
eines Teiles der Bevölkerung nach dem europäiſchen Aus-
lande durch Lokalerhebungen, Zählkartentauſch und Kon-
ſularberichte aufzuhellen.
Die Wanderungen mit dauernder und temporärer Um-
ſiedelung zwiſchen den verſchiedenen Staaten Europas
werden nur ſehr unvollkommen durch die Gebürtigkeits-
und Staatsangehörigkeitsangaben der Volkszählungs-Publi-
kationen berückſichtigt; die inneren Wanderungen ſind nur
ganz vereinzelt einmal ernſtlich beachtet worden.
Und doch ſind dieſe Wanderungen von Ort zu Ort
innerhalb deſſelben Staatsgebietes ungleich zahlreicher und
in ihren Erfolgen ungleich bedeutſamer als alle anderen
Arten der Wanderung zuſammengenommen.
Von der geſamten Bevölkerung des Königreichs Bel-
gien waren nach den Ergebniſſen der Volkszählung vom
31. Dezember 1880 nicht weniger als 32,8 Prozent außer-
halb der Gemeinde geboren, in welcher ſie ihren zeitigen
Wohnſitz hatten 1). Von der ortsanweſenden Bevölkerung
Preußens waren am 1. Dezember 1880
| geboren | Perſonen | Prozent |
| 1. in der Zählungsgemeinde | 15721588 | 57,6 |
| 2. ſonſt im Zählungskreiſe | 4599664 | 16,9 |
| 3. „ in der Zählungsprovinz | 4556124 | 16,7 |
| geboren | Perſonen | Prozent |
| 4. ſonſt im preußiſchen Staate | 1658187 | 6,1 |
| 5. „ im Deutſchen Reiche | 526037 | 1,9 |
| 6. „ im Reichsauslande | 212021 | 0,8 |
Von 27279111 Perſonen waren 11552033 oder
42,4 Prozent außerhalb der Gemeinde geboren, in der ſie
ihren Wohnſitz hatten 1). Ueber zwei Fünftel der Be-
völkerung hatten wenigſtens einmal während ihres Lebens
die Wohngemeinde gewechſelt! Von der Bevölkerung der
Schweiz waren am 1. Dezember 1888 geboren: in der
Wohngemeinde 56,4, in einer anderen Gemeinde des Wohn-
kantons 25,7, in anderen Kantonen 11,5, im Auslande
6,4 Prozent 2). Und dabei bezeichnet die Gemeinde ſchon eine
adminiſtrative Einheit, welche in manchen Teilen des Staates
mehrere Wohnplätze umfaßt. Die mitgeteilten Ziffern ſchließen
alſo eine zahlreiche Art von Wanderungen, diejenigen von
Ort zu Ort innerhalb der Zählungsgemeinde, vollſtändig aus.
Dieſe letztere Art von inneren Wanderungen ſind
m. W. nur einmal Gegenſtand der Ermittlung geweſen:
in der bayeriſchen Gebürtigkeitsſtatiſtik von
1871 3). Darnach waren von der geſamten ortsanweſen-
den Bevölkerung Bayerns
[266]
| geboren | Perſonen | Prozent |
| 1. am Zählungsorte | 2975146 | 61,2 |
| 2. ſonſt in der Zählungsgemeinde | 143186 | 3,0 |
| 3. „ im Zählungsamte | 677752 | 13,9 |
| 4. „ ſonſt in Bayern | 944101 | 19,4 |
| 5. „ im Deutſchen Reiche | 78241 | 1,6 |
| 6. „ im Auslande | 44150 | 0,9 |
Die bayeriſche Bevölkerung von 1871 erſcheint danach
etwas ſeßhafter als die preußiſche von 1880 und die
ſchweizeriſche von 1888, was vielleicht von dem früheren
Jahre der Zählung herrührt. Aber auch hier waren faſt
⅖ der Einwohner (1888000 von 4863000) nicht an dem
Orte geboren, an dem ſie wohnten, alſo zu irgend einer
Zeit dahin eingewandert. In den unmittelbaren Städten
betrug die Zahl der Fremdbürtigen gar 54,5 Prozent, in
den kleinen Landſtädten 43,2 Prozent; ſelbſt in den Ge-
meinden des platten Landes ſank ſie bloß auf 35,6 Prozent.
Wir haben es alſo hier mit koloſſalen Maſſenbe-
wegungen zu thun, und wenn es erlaubt iſt, eine Schätzung
zu wagen, deren thatſächliche Anhaltspunkte aus Rückſicht
auf den beſchränkten Raum nicht im Einzelnen mitgeteilt
werden können, ſo glaube ich behaupten zu dürfen, daß
die Zahl der Bewohner Europas, welche ihren zeitigen
Wohnort nicht der Geburt ſondern der Wanderung ver-
danken, weit über hundert Millionen beträgt. Wie
[267] winzig erſcheinen neben einer ſolchen Zahl die vielberufenen
Ziffern der überſeeiſchen Auswanderung. 1)
Daß ſo gewaltige Bewegungen der Bevölkerung tief-
greifende Folgen nach ſich ziehen müſſen, liegt auf
der Hand.
Dieſe Folgen ſind hauptſächlich wirtſchaftliche und
ſoziale.
Der wirtſchaftliche Erfolg aller Arten von
Wanderungen iſt die Herbeiführung eines lokalen Aus-
tauſches von Arbeitskräften und vielfach auch, da die Men-
ſchen von ihrer ökonomiſchen Ausſtattung nicht zu trennen
ſind, die Uebertragung von Kapitalien, oder, da wir auch
in dieſen Dingen Zweckmäßigkeit vorausſetzen müſſen: die
Bewirkung einer zweckmäßigeren Arbeits- und Kapital-Ver-
teilung und -Vereinigung auf der ganzen bewohnten Erde,
ſei es nun daß die Arbeit dem Kapital oder den Natur-
gaben nachzieht, ſei es daß das Kapital beſchäftigungsloſe
Hände aufſucht.
Ihr ſozialer Erfolg ſind große Verſchiebungen
der Bevölkerung, die ſich mit nie ruhender Wellenbewegung
ins Gleichgewicht zu ſetzen ſucht mit den vorhandenen Er-
werbsvorteilen. Sie bewirken demgemäß Aufhalten des
Anwachſens der Menſchenzahl an den einen, Beſchleunigung
[268] ihrer Vermehrung an anderen Punkten: Lichtung und An-
häufung zugleich. Sie durchbrechen in dieſer Hinſicht die
örtliche Verteilung der Bevölkerung, wie ſie durch das na-
türliche organiſche Wachstum derſelben in Folge des Ge-
burtenüberſchuſſes gegeben erſcheint.
Allein gerade in dieſer Hinſicht iſt für den einzelnen
Staat ein bedeutender Unterſchied zwiſchen den inneren
Wanderungen und der Auswanderung.
Die unmittelbaren Wirkungen der Auswanderung auf
das Mutterland ſind einſeitige: ſie lichten die Bevölkerung;
ſie ſchaffen für die Zurückbleibenden Ellenbogenraum. Daß
ſie zugleich die Bevölkerung und Exploitierung menſchen-
armer Kolonialländer beſchleunigen, wird für die Heimat
nur indirekt ſpürbar, wenn ſie dazu dienen, durch den Be-
trieb der Landwirtſchaft auf jungfräulichem Boden der
heimiſchen Agrarproduktion eine gefährliche Konkurrenz zu
bereiten oder durch Uebertragung induſtrieller Geſchicklich-
keit und Produktionsmittel ins Ausland der vaterländiſchen
Induſtrie den Abſatz abzuſchneiden.
Die Wirkungen der inneren Wanderungen dagegen
ſind immer zweiſeitige: ſolche, die ſich an den Ausgangs-
punkten geltend machen und ſolche, welche an ihren End-
punkten fühlbar werden. Dort lockern ſie die Bevölkerung
auf, hier verdichten ſie dieſelbe. Sie erzeugen ſo gleichſam
eine Scheidung der Wohnplätze und Landesteile in men-
ſchenproduzierende und menſchenkonſumierende. Die men-
ſchenproduzierenden Wohnplätze ſind bei uns gewöhnlich
[269] die Landorte und kleinen Städte, die menſchenkonſumieren-
den die großen Städte und Induſtriebezirke. Die letzteren
nehmen an Bevölkerung über das natürliche Maß des
Geburtenüberſchuſſes zu; die erſteren bleiben dahinter er-
heblich zurück. Im Jahresdurchſchnitt des achtzehnjährigen
Zeitraums von 1867—1885 hat die Geſamtbevölkerung des
Deutſchen Reiches um 0,86 % der mittleren Bevölkerung
zugenommen 1). Aber es betrug die durchſchnittliche jähr-
liche Zunahme ſpeziell in den
- Großſtädten (über 100000 Einw.) 2,6 %
- Mittelſtädten (20000—100000 Einw.) 2,4 „
- Kleinſtädten (5000—20000 Einw.) 1,8 „
- Landſtädten (2000—5000 Einw.) 1,0 „
- Dörfern (unter 2000 Einw.) 0,2 „
Freilich ſo einfach und durchſichtig, wie dieſe Ziffernreihe
die Erſcheinung der inneren Wanderungen darſtellt, iſt ſie
in Wirklichkeit nicht. Sie illuſtriert gewiß in ſehr dra-
ſtiſcher Weiſe das Schlagwort vom „Zug nach den
Städten“; aber dieſes Schlagwort gibt nur die halbe
Wahrheit. Es überſieht die große Zahl innerer Wande-
rungen, welche ſich gegenſeitig kompenſieren, alſo in einer
Veränderung der Einwohnerzahl der Wohnplätze keinen
Ausdruck finden können.
Faſſen wir ſämtliche inneren Wanderungen eines
größeren Landes, ohne Rückſicht auf die durch ſie
[270] bewirkte Verteilung der Einwohner über die Bodenfläche
ins Auge, ſo erſcheinen uns die Zugsrichtungen derſelben
wie ein dichtes buntgemuſtertes Gewebe, in welchem die
Fäden in vielfältigem Wechſel hinüber- und herüberſchießen.
Durch den ziemlich einfachen Zettel, der von den Land-
orten und kleinen Städten nach den großen Städten und
Induſtriebezirken geſpannt iſt, legt ſich ein vielfarbiger Ein-
ſchlag, deſſen Fäden zwiſchen den kleineren Wohnplätzen
hin und her laufen. Oder, um ein anderes Bild zu ge-
brauchen, es iſt nicht bloß die breite mächtig wogende Ober-
ſtrömung vorhanden, welche wir allein bemerken: unter
derſelben treiben zahlreiche kleine Wellen ihr eigenes Spiel.
Dieſe letzteren ſind bis jetzt kaum beachtet, jedenfalls
nicht nach Gebühr gewürdigt worden, auch wo ſie aus-
nahmsweiſe einmal ſtatiſtiſch feſtgeſtellt waren. Von der
bayeriſchen Bevölkerung von 1871 waren
| in den | am Zählungsorte geboren | zugewandert | zuſammen |
| unmittelbaren Städten | 301494 | 361899 | 663393 |
| übrigen Städten mit über 2000 Einw. | 205887 | 157000 | 362887 |
| Zuſammen | 507381 | 518899 | 1026280 |
| in den Landgemeinden | 2467765 | 1357981 | 3825746 |
| Ueberhaupt | 2975146 | 1876880 | 4852026 |
Woraus ſich deutlich ergibt, daß die Zahl der wäh-
rend des letzten Menſchenalters in den Landgemeinden Ein-
gewanderten abſolut weit mehr als doppelt ſo groß war
als diejenige der ſtädtiſchen Zuzügler. Und das gleiche
[271] Verhältnis wird ſich in allen größeren Staaten wiederholen.
Allein nicht darin liegt das Bedeutſame, daß die länd-
lichen Wohnplätze ſich in Bezug auf den Bevölkerungsaus-
tauſch ebenſowohl nehmend als gebend verhalten, ſondern
in zwei anderen Momenten. Das Eine drückt ſich darin
aus, daß dieſelben mehr Bevölkerung abgeben, als ſie em-
pfangen, das Andere darin, daß ihr Zuzug ſich vorzugs-
weiſe aus den nächſten ländlichen Gemeinden rekrutiert,
während ihr Abzug ſich zum Teil nach den entfernteren
Städten wendet. Der Ueberſchuß des Abzugs über den
Zuzug kommt alſo örtlichen Gemeinſchaften höherer Ord-
nung zu Gute; er rückt in eine andere wirtſchaftlich-ſoziale
Lebensſphäre ein.
Nennen wir die geſamte Bevölkerung, welche an einem
Orte geboren iſt und ſich innerhalb des Landes irgendwo
aufhält, ſeine Geburtsbevölkerung, ſo wird nach
den eben angegebenen Austauſchverhältniſſen der Bevölke-
rung die Geburtsbevölkerung der Landorte größer ſein als
ihre Zählbevölkerung (ortsanweſende Bev.), in den Städten
kleiner. So betrug nach der Zählung von 1871 in den
bayeriſchen Bezirksämtern (Landdiſtrikten) die Geburtsbe-
völkerung 103,5 Prozent der Zählbevölkerung, in den un-
mittelbaren Städten nur 61 Prozent 1). Im Großherzogtum
Oldenburg 2) erreichte nach der Zählung vom 1. Dez. 1880
[272]
| in den Städten Perſonen: | auf dem Lande Perſonen: | |
| der Zuzug aus anderen Orten | 25370 | 57366 |
| der Abzug nach anderen Orten | 10208 | 72528 |
Die Bilanz der inneren Wanderungen ergibt ſomit
für die Städte einen Ueberſchuß, für die Landgemeinden
einen Fehlbetrag von 15162 Perſonen. Beide ergänzen
einander in ihrem Bevölkerungshaushalte wie die Wirt-
ſchaften zweier ungleichen Brüder, von denen der Eine
regelmäßig aufbraucht, was der Andere ſparſam erübrigt
hat. Inſoweit iſt es alſo völlig begründet, wenn wir die
Städte als menſchenkonſumierende, die Landgemeinden als
menſchenproduzierende Sozialgebilde bezeichneten.
Allein die geſamte übrige Menſchen-Ausgabe der Land-
gemeinden überragt den an die Städte abgelieferten Ueber-
ſchuß ſelbſt in dem eben angeführten Beiſpiele eines kleinen
Staates faſt um das Vierfache. Und ebenſo hoch beläuft
ſich die Einnahme, welche ſie von einander empfangen.
So groß dieſer gegenſeitige Bevölkerungsaustauſch auch er-
ſcheinen mag, ſo knüpft ſich an ihn doch ein verhältnis-
mäßig nur beſchränktes geſellſchaftswiſſenſchaftliches Inter-
eſſe. Denn wir haben es hier mit einer Art von Wande-
rungen zu thun, welche der lokalen Beſchränktheit der länd-
lichen Wohnplätze entſpringt und die darum um ſo mehr
Bedeutung gewinnt, je kleiner die Gemeinden ſind. Im
ganzen Großherzogtum Oldenburg 1) betrug die Zahl
[273] der nicht in der Aufenthaltsgemeinde Geborenen (Zuge-
wanderten):
- in den Gemeinden unter 500 Einw. 55,0 %
- „ „ „ mit 500—1000 „ 37,4 „
- „ „ „ „ 1000—1500 „ 41,7 „
- „ „ „ „ 1500—2000 „ 40,4 „
- „ „ „ „ 2000—3000 „ 28,7 „
- „ „ „ „ 3000—4000 „ 22,2 „
- „ „ „ „ 4000—5000 „ 20,6 „
- „ „ „ über 5000 „ 29,4 „
Es ergibt ſich daraus, daß in den kleineren Gemein-
den (bis 4000 Einw.) mit der wachſenden Größe der Ge-
meinden der auswärtige Zuzug gegenüber den Eingeborenen
relativ abnimmt, während er in den größeren wächſt.
Dasſelbe hat Mayr für Bayern nachgewieſen. Dort
betrug 1871 in den größeren ländlichen Gemeinden (mit
2000 und mehr Einwohnern) die Zahl der Ortsgebürtigen
66,9 Prozent, in den kleineren Gemeinden aber nur 64,4 Pro-
zent 1), während ſich in den Städten genau der umgekehrte
Fall ergab. In den unmittelbaren Städten wurden näm-
lich 45,5 Prozent als am Zählungsorte geboren ermittelt,
in den übrigen (kleineren) Städten 56,8 Prozent. Mayr
ſtellt darnach den Satz auf, daß in den Städten die
Ortsgebürtigkeit der Bevölkerung mit deren
Größe abnimmt, in den ländlichen Gemein-
den dagegen zunimmt.
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 18
[274]
Die Erklärung dieſer Erſcheinung für das Land liegt
ſehr nahe. Wo wegen der geringen Einwohnerzahl ſeines
Wohnorts der Bauer in der Auswahl ſeiner Dienſtboten
am Orte allzu beſchränkt iſt, müſſen einander die benach-
barten Gemeinden ergänzen. Und ebenſo werden die An-
gehörigen der kleinen Orte häufiger unter einander heiraten
als an größeren Orten, wo ſich unter den Einheimiſchen
reichere Auswahl findet. Damit iſt der Anlaß zu ſehr
zahlreichen Wanderungen auf geringe Entfernungen hin
gegeben. Dieſe Wanderungen bewirken aber bloß einen
lokalen Austauſch ſozial verwandter Elemente.
Dies wird wieder ſehr deutlich durch die mehrfach
erwähnte ausgezeichnete Arbeit über die Gebürtigkeit der
oldenburgiſchen Bevölkerung erwieſen. In derſelben wird
die Herkunft der fremdbürtigen Bevölkerung dreier beliebig
herausgegriffenen Gemeinden, Waddewarden, Holle und
Cappeln nach Entfernungszonen ihrer Geburtsorte darge-
ſtellt 1). Es betrug in
| Waddewarden | Holle | Cappeln | |
| die Geſamtzahl der Einw. | 861 | 1298 | 1423 |
| davon waren Zugezogene | 270 | 445 | 388 |
| 258 | 267 | 324 |
| 95,6 | 60,1 | 83,5 | |
| 12 | 178 | 64 |
| 4,4 | 39,9 | 16,5 |
| Woddewarden | Holle | Cappeln | |
| die Zahl der Fortgezogenen | 400 | 544 | 387 |
| 332 | 490 | 332 |
| 83,0 | 90,0 | 85,9 | |
| 68 | 54 | 55 |
| 17,0 | 10,0 | 14,1 |
Wie ganz anders geſtalten ſich in dieſer Hinſicht die
Verhältniſſe der Hauptſtadt Oldenburg, die mit ihren
20575 Einwohnern doch auch nur als kleine Stadt be-
zeichnet werden kann! Von der geſamten fremdbürtigen
Bevölkerung derſelben (13364 Perſonen oder 64,9 %)
ſtammten
| Perſonen | Prozent | |
| aus einer Entfernung von unter 2 Meilen | 2916 | 21,8 |
| von 2—10 Meilen | 5625 | 42,1 |
| von über 10 Meilen | 4823 | 36,1 |
Hier iſt der größte Teil der Zuwanderung Fern-
wanderung; hier bedeutet der Eintritt des Fremdbürtigen
in ein neues Gemeinweſen zugleich den Eintritt in neue
ſoziale Verhältniſſe und eine veränderte Wirtſchaftsweiſe.
Und jenes Gemeinweſen gibt nicht etwa ebenſo viel von
ſeiner Geburtsbevölkerung an andere Gegenden ab, als es
von ihnen empfängt 1). Es ſaugt vielmehr aus einem
18 *
[276] weiten Umkreiſe den Ueberfluß der Auswanderung über die
Einwanderung auf, um ihn nur zu einem ſehr kleinen
Teile wieder zurückzugeben.
Das iſt die Signatur der modernen Städte, und wenn
wir zunächſt die Verhältniſſe dieſer ſowie der in Bezug
auf die Einwirkung der inneren Wanderungen ihnen un-
gefähr gleichſtehenden Fabrikbezirke in den Vordergrund
der Betrachtung ſtellen, ſo darf dies wohl genügend durch
den Umſtand gerechtfertigt erſcheinen, daß an dieſer Gruppe
von Niederlaſſungen das Ergebnis der inneren Bevölke-
rungsverſchiebungen am klarſten zum Ausdrucke gelangt.
Hier, wo die eingewanderten Elemente am zahlreichſten
ſind, entwickelt ſich zwiſchen ihnen und den Eingeborenen
ein ſozialer Kampf — ein Kampf um die beſten Erwerbs-
bedingungen oder, wenn man will, ums Daſein, der mit
der Anpaſſung des einen an den anderen Teil, vielleicht
auch mit der ſchließlichen Ueberwindung des einen durch
den anderen endet. So hatte nach Schliemann 1) die
Stadt Smyrna im Jahre 1846 80000 türkiſche und
8000 griechiſche Einwohner; im Jahre 1881 dagegen gab
es nur noch 23000 Türken, aber 76000 Griechen. Die
türkiſche Bevölkerung hatte alſo in 35 Jahren um 71 Pro-
zent abgenommen, während zugleich die griechiſche ſich ver-
neunfacht hatte.
Nicht überall werden freilich dieſe Kämpfe ſich zu
einem derartigen allgemeinen Verdrängungsprozeß geſtalten,
[277] aber im Einzelnen wird ſich unzählige Mal innerhalb eines
Landes der Fall wiederholen, daß das ſtärkere, beſſer aus-
gerüſtete Element das ſchwächere, ſchlecht ausgerüſtete zum
Weichen bringt.
So lebten 1871 in München rund 86000 Bayern,
welche nicht daſelbſt geboren waren, während gleichzeitig
etwa 18000 geborene Münchener an anderen Orten Bayerns
gefunden wurden. Noch auffallender iſt die aus dem eng-
liſchen Cenſus von 1881 ſich ergebende Thatſache, daß in
England und Wales ungefähr halb ſo viele Perſonen lebten,
die in London geboren waren, als England und Wales
ſelbſt an London abgegeben hatten 1).
Wir haben hier alſo einen Vorgang, wie er ſich in
[278] der Natur ſo häufig vollzieht: auf demſelben Boden, wo
eine höher organiſierte Pflanze oder ein Tier nicht mehr
Nahrungsſpielraum genug findet, ſiedeln ſich andere, ge-
nügſamere an und finden fröhliches Gedeihen. Ja die An-
ſiedlung dieſer iſt nicht ſelten gerade die Urſache, weshalb
jene verſchwinden und ſich auf günſtigere Standorte zu-
rückziehen.
Dieſer Vorgang muß aber in der Sozialwelt nicht
gerade ein Verdrängungsprozeß ſein, nicht eine Folge von
ſchwächerer Ausrüſtung der heimiſchen und Ueberlegenheit
der fremden Elemente.
Der umgekehrte Fall wird vielleicht ebenſo häufig vor-
kommen und iſt wahrſcheinlich in den angeführten Beiſpielen
der gewöhnliche. Bei der unendlichen Differenzierung der
Arbeitskräfte in der modernen Volkswirtſchaft finden manch-
mal gerade die qualifizierten Arbeiter da am ſchwerſten
eine entſprechende Verwendung und Vergütung ihrer Lei-
ſtungen, wo ſie entſtanden und ausgebildet worden ſind,
weil auch hier die Konkurrenz am größten iſt. Sie wandern
aus und ſuchen günſtigere Erwerbsbedingungen, beſſere
Konkurrenzverhältniſſe, während gleichzeitig an ihrem Aus-
gangspunkte die minder qualifizierte Arbeitskraft geſucht
ſein kann und durch äußeren Zuzug beſchafft werden muß.
Dieſe letztere kann aber in ihrer eigenen Heimat ſelbſt
wieder das ſtärkere, beſſer ausgerüſtete Element ausmachen;
ſie kann hier ebenfalls des Spielraumes zur nutzbringenden
Verwertung ihrer Kräfte entbehren; ſie kann aber auch
[279] eine Lücke laſſen, welche durch nichts ausgefüllt zu werden
vermag.
So iſt vielleicht niemals die Auswanderung höher ge-
bildeter techniſcher Kräfte aus den Städten bedeutender
geweſen als in der Zeit des ſogenannten wirtſchaftlichen
Aufſchwungs in den erſten 70er Jahren. Zu gleicher Zeit
aber nahmen dieſelben Städte eine maſſenhafte Arbeiter-
bevölkerung vom Lande auf, und der Abzug der letzteren
wieder bewirkte in den bäuerlichen Diſtrikten einen em-
pfindlichen Mangel an landwirtſchaftlichen Arbeitern, ein
Steigen der Arbeitslöhne und ſtellenweiſe eine wirkliche
Notlage der Landwirtſchaft.
Ueberall waren hier die relativ Stärkeren gewandert,
die relativ Schwächeren zurückgeblieben; von einer gegen-
ſeitigen Verdrängung konnte nicht die Rede ſein.
Noch viel weniger wird eine ſolche Betrachtungsweiſe
Platz greifen dürfen bei denjenigen inneren Wanderungen,
welche nicht dem Streben nach einem beſſeren Erwerbsort
ſondern dem Aufſuchen günſtiger Konſumtionsbedingungen
ihre Entſtehung verdanken. Der penſionierte Beamte und
Militär, welcher die teure Großſtadt verläßt, um das Land
oder eine billige Kleinſtadt aufzuſuchen, der mühelos reich
gewordene Spekulant, welcher die flüchtigen Börſenwerte
mit einem ſoliden Landgut vertauſcht hat, der Pariſer Klein-
händler, welcher ſein etwas mühſamer erworbenes Ver-
mögen in der Ruhe ſeines beſcheidenen Landhäuschens ver-
zehrt, wie auch umgekehrt der wolhabend gewordene jüdiſche
[280] Viehhändler, welcher die Stadt aufſucht, um an der Börſe
zu ſpekulieren, der von Fritz Reuter ſo trefflich geſchilderte
mecklenburgiſche „Fetthammel“, d. h. der reiche Bauer,
welcher nach der Gutsübergabe die Stadtfreuden genießen
will, die arme Pfarrerswitwe, welche in die Stadt zieht,
um ihren Kindern einen beſſeren Unterricht und ihrer kärg-
lichen Penſion durch Halten von Penſionären eine Auf-
beſſerung zu Teil werden zu laſſen: ſie alle treten an ihren
neuen Wohnorten nicht als gefährliche Mitbewerber der
eingeborenen Arbeiterbevölkerung auf.
Und doch ſpielen ſich an den Zielpunkten der Wande-
rung auch in ſolchen Fällen, wo keine Verdrängungsgefahr
in Frage kommen kann, zahlloſe Kämpfe und Reibungen
ab, welche alle auf den ſozialen Amalgamierungsprozeß zu-
rückzuführen ſind, der hier immer zwiſchen eingeborener
und eingewanderter Bevölkerung ſtattfindet. Der Fremde
hat ſich den vorhandenen Lebensbedingungen, der eigentüm-
lichen örtlichen Wirtſchaftsweiſe, der Sitte, der Mundart,
den politiſchen, kirchlichen, ſozialen Einrichtungen ſeines
neuen Wohnortes anzupaſſen. Und die Bevölkerung des
letzteren ſelbſt wieder, ſo gefeſtigt und eigenartig ſie in ſich
daſtehen mag, kann ſich den zahlreichen fremden Einflüſſen,
welche auf ſie einſtürmen, nicht vollſtändig entziehen. Be-
deutet für ſie dieſe Einwirkung manchmal eine Steigerung
der Arbeitsenergie, eine Erweiterung des Geſichtskreiſes,
einen friſchen Luftzug in verrottete örtliche Zuſtände, ſo
wird vielleicht noch viel häufiger ein Verluſt an guter alter
[281] Sitte, an ſolider Wirtſchaftlichkeit, an bürgerlichem Ge-
meinſinn, vor allem und immer aber an ſozialer Eigenart
die Folge ſein.
Es kann nun keinem Zweifel unterliegen, daß dieſe
wechſelſeitigen Anpaſſungskämpfe in ihrer Geſtaltung und
ihrem Verlaufe ſehr verſchieden ausfallen werden, je nach-
dem ſie unter einander ähnlichen oder von einander ver-
ſchiedenen Elementen ſich vollziehen.
Gerade aus dieſem Grunde reicht der von der Städte-
ſtatiſtik zur Kennzeichnung dieſer Verhältniſſe benutzte Un-
terſchied zwiſchen ortsgebürtiger und ortsanweſender Be-
völkerung für feinere ſozialſtatiſtiſche Unterſuchungen nicht aus.
Denn wenn man z. B. von der Stadt München er-
mittelt hat, daß die Zahl der Ortsgebürtigen 37,5 Prozent
beträgt und von Hamburg, daß dieſelbe 50,9 Prozent
ausmacht 1), ſo iſt mit der bloßen Thatſache, daß dort
13,4 Prozent Fremdbürtige mehr in der Bevölkerung ent-
halten ſind, noch nicht bewieſen, daß die Münchener Be-
völkerung um ſo viel ungleichartiger iſt als die Hamburger
und daß dort der Prozeß der gegenſeitigen ſozialen An-
paſſung mit heftigeren Reibungen und Kämpfen verbunden
ſein muß als hier. Und ebenſo iſt damit, daß zwei Städte
(z. B. Altona und Dresden) das gleiche Verhältnis der
Fremdbürtigen zu den Ortsgebürtigen aufweiſen, noch nicht
geſagt, daß in beiden dieſer Prozeß den gleichen Verlauf
nehmen wird. Es iſt recht wohl denkbar, daß die Fremden
[282] in der einen Stadt unter ſich und mit der eingeborenen
Bevölkerung eine größere Gleichartigkeit der Sitte und
Mundart, der wirtſchaftlichen Energie und der ſozialen
Gewohnheit zeigen, weil ſie aus einer näheren ſtammver-
wandten Umgebung kommen, während in der anderen
Stadt heterogene Elemente aus entfernteren Gegenden ſich
miſchen. Im erſten Falle wird das ſchließliche Reſultat
der wechſelſeitigen Anpaſſung fremd- und heimbürtiger Be-
völkerung ein ganz anderes ſein als in dem letzten.
Während dort Einzelne und Gruppen von annähernd gleicher
ökonomiſcher Ausrüſtung und ähnlichem ſozialem Charakter
ſich friedlich in die vorhandenen Erwerbsbedingungen teilen,
überwindet hier vielleicht der lebenskräftigere, energiſchere,
genügſamere Stamm den abgelebten, ſchwächeren, anſpruchs-
volleren in ſeinen ererbten Sitzen oder verdrängt ihn doch
aus den zur Zeit günſtigſten Gebieten des Erwerbs. Na-
mentlich kann eine niedrigere Stufe der Lebenshaltung dem
eingewanderten Arbeiter über den eingeborenen eine Ueber-
legenheit im Konkurrenzkampfe ſichern, welche für den
letzteren die beklagenswerteſten Folgen hat. Die Einwan-
derung der polniſchen Arbeiter in den altpreußiſchen Provin-
zen, der Italiener in der Schweiz und Süddeutſchland, der
Chineſen in den Städten der nordamerikaniſchen Union
ſind dafür bekannte Beiſpiele.
Aber auch wo die wirtſchaftliche und ſoziale Aſſimi-
lation ſich ohne ernſtere Kämpfe vollzieht, können zwiſchen
Eingewanderten und Eingeborenen Unterſchiede beſtehen
[283] bleiben, welche ſchlechterdings unausgleichbar ſind und welche
die frühere Geſchloſſenheit der Bevölkerung eines Gemein-
weſens in ſtörender Weiſe durchbrechen. Ich denke hier
namentlich an Unterſchiede der Konfeſſion, der Mutterſprache
und der politiſchen Zugehörigkeit. Die beiden größten
ſchweizeriſchen Städte, Genf und Baſel, die man beide
als Hochburgen des Proteſtantismus zu betrachten gewohnt
iſt, haben heute in Folge der Zuwanderung in ihrer Be-
völkerung über ein Drittel Ausländer. In Genf haben
dazu etwa 20 % der Bevölkerung eine andere Mutterſprache
als das Franzöſiſche. Endlich ſind in Baſel ſeit 1837 die
Katholiken von 15 auf 30 Prozent der Bevölkerung ge-
ſtiegen, und in Genf haben ſie 42 Prozent erreicht. Auch
wer die innere Geſchichte dieſer kleinen Gemeinweſen nicht
genauer kennt, wird ſich ſagen müſſen, daß ſolche Gegen-
ſätze zwiſchen Eingeborenen und Eingewanderten nicht un-
gefährlich ſind.
Haben uns dieſe Darlegungen gezeigt, daß keines-
wegs die Mehrzahl der inneren Wanderungen in den Städten
ihren Ruhepunkt findet, ſo hat ſich aus ihnen doch auch
ergeben, daß der Zug nach den großen Bevölkerungsmittel-
punkten allein eine größere ſoziale und wirtſchaftliche Be-
deutung in Anſpruch nehmen kann. Er bringt eine ver-
änderte Verteilung der Bevölkerung auf dem Staatsterri-
torium hervor und erzeugt an ſeinen Ausgangs- und Ziel-
punkten Schwierigkeiten, um deren Ueberwindung Geſetz-
gebung und Verwaltung bis jetzt mit meiſt ſehr mäßigem
[284] Erfolge ſich bemüht haben. Er verſetzt zahlreiche Menſchen
faſt plötzlich aus einer vorzugsweiſe naturalwirtſchaftlichen
in die geld- und kreditwirtſchaftliche Lebensſphäre und führt
dadurch Folgen für die Lebenshaltung und die ſozialen Ge-
wohnheiten der handarbeitenden Klaſſen herbei, welche den
Menſchenfreund mit ſchweren Sorgen erfüllen müſſen.
Viele halten dieſen maſſenhaften Zuſtrom der Land-
bevölkerung nach den Städten und das allgemeine raſche
Wachstum der letzteren für eine durchaus neue Erſcheinung.
Und ſie haben in gewiſſem Sinne Recht. Das vorige Jahr-
hundert kennt ihn noch nicht, wenigſtens in Deutſchland.
Dem großen Begründer der Bevölkerungsſtatiſtik, J. P. Süß-
milch iſt es nicht gelungen, eine durchgehende Geſetzmäßig-
keit der Bevölkerungsbewegung in den Städten zu finden.
Er meint, daß ſie nach dem Willen des Herrn in ihrer
Menſchenzahl bald ſteigen und bald wieder fallen. „So
leiht der große Regierer der Welt den Ländern und Städten
Macht, Reichtum und Herrlichkeit. Er nimmt ſie auch
wieder und gibt ſie andern nach ſeinem Rat. Er ſtürzet
die Gewaltigen vom Thron und erhebet die Niedrigen 1)“.
Auch J. H. G. v. Juſti hält es kaum für möglich, eine
Stadt zu vergrößern, wenn nicht den neuen Anſiedlern
beſondere Vorteile zugeſtanden würden 2). Damit ſtimmt
[285] was wir an Bevölkerungszahlen 1) von der zweiten Hälfte
des XVII. Jahrhunderts bis etwa 1820 für einzelne Städte
auftreiben können: ſie zeigen bald Rückgang, bald Wachs-
tum in regelloſem Wechſel. In Frankreich dagegen ſcheint
die moderne Bewegung ſchon um etwa 150 Jahre früher
eingeſetzt zu haben; dort ſpricht man ſchon im vorigen
Jahrhundert in ſchlagwortartiger Weiſe von der „Ent-
völkerung des platten Landes“ 2).
Gehen wir dagegen weiter in der Geſchichte der euro-
päiſchen Menſchheit zurück, ſo finden wir zwei Perioden,
welche in großer Ausdehnung die gleiche Erſcheinung auf-
weiſen: das Altertum, insbeſondere die römiſche Kaiſerzeit
und das ſpätere Mittelalter, namentlich das XIV. und
XV. Jahrhundert. Dazwiſchen liegen große Zeiträume
des Rückgangs und Verfalls oder doch des Stillſtandes.
Wie ſind nun jene früheren Perioden der ſtädtiſchen
Zuwanderung entwicklungsgeſchichtlich aufzufaſſen? Sind
ſie verfrühte Anläufe, ein Ziel zu erreichen, das die Ge-
ſchichte erſt unſerer Zeit mit ihren vervollkommneten Ver-
kehrsmitteln vorbehalten hat? Oder folgten ſie anderen An-
trieben als die entſprechende Bewegung in der Gegenwart
und lieferten darum auch andere Ergebniſſe? Vor allem
war ihr populationiſtiſches Reſultat und ihr wirtſchaftlicher
Charakter der gleiche?
[286]
Für das Altertum ſcheint trotz der Unſicherheit der
überlieferten Bevölkerungsziffern als Ergebnis des Zuſtroms
der Landbevölkerung zu den Städten ein unverhältnis-
mäßiges Anwachſen der letzteren angenommen werden zu
müſſen 1). Allein es darf nicht überſehen werden, daß nur
ein Teil jener Zuwanderung freier Entſchließung folgte:
nämlich die freien Leute. Der andere, weit größere Teil
derſelben, die Sklaven, wurde von ihren Herren in den
Städten zuſammengezogen oder durch den Menſchenhandel
dahin geliefert.
Wo die Freien das Land verließen, thaten ſie es ge-
wöhnlich nicht deshalb, weil ihnen in den Städten ein
beſſeres wirtſchaftliches Fortkommen in Ausſicht ſtand, ſon-
dern weil ſie durch das Vordringen der großen Sklaven-
wirtſchaft ihres Grundbeſitzes enteignet waren. In den
Städten fanden ſie zwar auch alle lohnenden Erwerbsge-
biete in den Händen von Sklaven und Freigelaſſenen; aber
ſie brauchten hier weniger das Verhungern zu fürchten,
weil die ſtädtiſchen Proletariermaſſen, in die ſie einrückten,
durch öffentliche und private Largitionen erhalten wurden.
Die großen Städte des Altertums ſind weſentlich Kon-
ſumtionsgemeinſchaften. Sie verdanken ihre Größe der
politiſchen Centraliſation, welche die Ueberſchüſſe der Pri-
[287] vatwirtſchaften weiter Ländergebiete auf dem einen Punkte
zuſammenzog, wo die herrſchende Klaſſe ihren Wohnſitz
hatte. Sie ſind Reichs- oder wenigſtens Provinzialhaupt-
ſtädte. Sie entſtehen darum zuerſt in der Diadochenzeit
und erreichen den Höhepunkt in der römiſchen Kaiſerzeit.
Die Hauptſtadt Rom ſelbſt begründet ihre Verproviantie-
rung auf die Naturalſteuern der Provinzen und ebenſo
ſpäter Konſtantinopel 1). Es iſt ein kommuniſtiſch-imperia-
liſtiſches Verſorgungsſyſtem, wie es die Welt nicht zum
zweiten Male geſehen hat: die Erpreſſungen der Beamten,
die Steuerpachtungen, die Wuchergeſchäfte, der große durch
Sklaven bewirtſchaftete Grundbeſitz der reichen Privaten,
die ſtaatlich anerkannte Verpflichtung zu Brot-, Fleiſch-
und Weinſpenden an die große Maſſe ſtellten die produktive
Arbeit einer halben Welt in den Dienſt der Hauptſtadt
und ließen dort höchſtens das Gebiet der perſönlichen
Dienſtleiſtungen dem privaten Erwerb offen. Was wir
von den größeren Provinzialſtädten wiſſen, läßt dort auf
ähnliche Verhältniſſe ſchließen 2).
[288]
Ein günſtiger Markt für freie Arbeit, eine Stätte
qualifizierter Produktion zum verkehrsmäßigen Vertrieb
über entfernte Konſumtionsgebiete war die antike Großſtadt
nicht. Was von fabrikähnlicher Induſtrie vorkommt, be-
ruht, wie der landwirtſchaftliche Großbetrieb auf Sklaven-
arbeit. Unter den Motiven, welche die alten Schriftſteller
für den Drang der freien ländlichen Bevölkerung nach den
Städten anführen, ſpielt darum gerade das keine Rolle,
welches jetzt das gewöhnliche iſt: die Ausſicht auf beſſere
Arbeitslöhne. „Betrachte doch dieſe Menſchenmenge“, ſchreibt
Seneca 1) an ſeine Mutter; „kaum reichen die Häuſer der
unermeßlichen Stadt für ſie aus. Aus Municipien und
Kolonien, ja aus dem ganzen Erdkreiſe ſind ſie zuſammen-
geſtrömt. Einige hat der Ehrgeiz hergeführt, andere der
Zwang eines öffentlichen Amtes, andere eine ihnen aufer-
legte Geſandtſchaft, andere die Schwelgerei, die einen glän-
zenden, für die Laſter bequemen Tummelplatz ſucht, andere
das Studium der Wiſſenſchaften, andere die Schauſpiele;
einige hat die Freundſchaft herbeigezogen, andere die Be-
triebſamkeit, welche hier ausgedehnte Gelegenheit findet,
perſönliche Vorzüge zur Geltung zu bringen 2); einige bieten
ihre Schönheit feil, andere ihre Beredſamkeit. Da iſt
keine Art von Menſchen, die nicht in der Stadt zuſammen-
[289] ſtrömte, wo Tugenden und Laſtern hohe Preiſe ausge-
ſetzt ſind.“
Ganz anders die ſtädtiſche Zuwanderung des Mittel-
alters. Sie iſt, im Ganzen genommen, vielleicht nicht
weniger maſſenhaft als diejenige der römiſchen Kaiſerzeit;
aber ihr Ergebnis waren nicht wenige Zentralpunkte der
Konſumtion, ſondern eine große Zahl ziemlich gleichmäßig
über das Land verteilter feſter Orte, welche alle nicht an
den Boden gebundene Berufsthätigkeit hinter ihren Mauern
vereinigten. Die mittelalterlichen Städte ſind urſprünglich
nichts weiter als Burgen, d. h. Zufluchtsorte für die
umwohnende Landbevölkerung; ihre ſtändigen Inſaſſen ſind
die Bürger oder Burgleute. In dieſem Punkte liegt
das, was ſie anfangs allein von den übrigen Wohnplätzen
der Menſchen unterſchied und ſie zugleich mit denſelben zu
größeren Verbänden vereinigte. Die Dörfer der Umgebung
waren verpflichtet, die Befeſtigungswerke der Stadt im
Stand halten zu helfen, und dieſer Pflicht entſprach das
Recht, in Kriegszeiten mit Hab und Gut hinter den Mauern
ſich zu bergen. Alles andere: der Markt, der Gewerbe-
betrieb, der Geldverkehr, die perſönliche Freiheit der Stadt-
bewohner, ihr ausgeſonderter Gerichtsſtand ſind erſt die
ſpäteren Folgen jener vorörtlich-militäriſchen Stellung der
Städte. Aus dem urſprünglichen landſchaftlichen Schutz-
verband wurde im Laufe der Zeit ein territorial begrenzter
Wirtſchaftsverband, für welchen die Stadt das Verkehrs-
Bücher, Die Entſtehung der Volkswirtſchaft. 19
[290] zentrum und der Sitz aller berufsmäßig entwickelten Ar-
beit war.
Dem entſprechend weiſen die mittelalterlichen Städte 1)
unter einander eine große Gleichartigkeit in der ſozialen und
wirtſchaftlichen Gliederung ihrer Bevölkerung und, ſoweit
wir ſehen können, nur geringe Unterſchiede in der Ein-
wohnerzahl auf. Die Zuwanderung der Landbevölkerung
ſcheint bei der erſten Gründung vielfach keine freiwillige
geweſen zu ſein; ſie zog ſpäterhin ihre Hauptnahrung
aus der größeren Sicherheit für Perſon und Eigentum
und aus der reicheren Erwerbsgelegenheit, welche die Städte
für landloſe Freie und Hörige boten. Die ganze Ent-
wicklung aber war wirtſchaftlich und populationiſtiſch in
dem Momente abgeſchloſſen, wo in den Städten alle Hand-
werke, die das beſchränkte Abſatzgebiet zu ernähren ver-
mochte, vertreten und mit der genügenden Meiſterzahl be-
ſetzt waren. Bis dahin herrſchte auf Seiten der Städte
volle Freizügigkeit und faſt ungehinderter Zugang zum Zunft-
und Bürgerrecht, wogegen die Grundherren auf dem Lande
ſich durch Abzugsbeſchränkungen gegen den Verluſt ihrer
Hörigen zu ſichern ſuchten. Als die Städte aus dem
inneren Zuwachs ihrer Bevölkerung alle Erwerbsgebiete zu
[291] füllen im Stande waren, entſtand auch bei ihnen das Be-
ſtreben nach Hemmung des Zuzugs von außen und jene
zahlreichen Erſchwerungen der Niederlaſſung und des Zu-
gangs zum Gewerbebetrieb, welche bis auf die neuere
Zeit fortgedauert haben. Es bildete ſich eine ſcharfe
Trennung von Stadt und Land. Ab- und Zuwanderung
fand wohl auch ferner noch ſtatt; aber ſie beſchränkte ſich
in der Hauptſache auf den Austauſch von Arbeitskräften
unter den Städten ſelbſt. Die ſtädtiſche Entwickelung war
in eine Art von Erſtarrung verfallen, aus der ſie erſt
durch den Uebergang zu einer neuen Wirtſchaftsordnung
erlöſt werden konnte.
Wir ſind in der Lage, das Geſagte an einigen Punkten
ſtatiſtiſch zu beweiſen. Es ſind eingehende Unterſuchungen
über die Herkunft der Bevölkerung von Frankfurt a. M. 1)
und neuerdings auch ſolche über einzelne Teile der Kölner
Bevölkerung 2) im Mittelalter angeſtellt worden. Aus
dieſen hat ſich ergeben, daß die Mehrzahl der in beiden
Städten während des XIV. und XV. Jahrhunderts zu
Bürgern aufgenommenen Perſonen vom Lande zugewandert
war. Von je 100 Neubürgern ſtammten nämlich
19 *
[292]
| in den Städten: | Periode: | aus Städten: | aus Dörfern u. Flecken: |
| Köln | 1356—1479 | 37,4 | 62,6 |
| Frankfurt | 1311—1400 | 28,2 | 71,8 |
| „ | 1401—1500 | 43,9 | 56,1 |
Es ergibt ſich daraus, daß in den beiden letzten Jahr-
hunderten des Mittelalters die Bewegung der Bevölkerung
vom Lande nach den Städten zwar noch fortdauerte, daß
ſie aber in der Abnahme begriffen war, während die Bei-
miſchung ſtädtiſcher Elemente unter den Neubürgern ſich
verſtärkte. Im XV. Jahrhundert ergänzten ſich einzelne
Schichten der Bevölkerung Frankfurts ſchon vorzugsweiſe
aus ſtädtiſchen Zuwanderern. Von den zugezogenen Juden
ſtammten 90 Prozent und von den Mitgliedern einer Ge-
ſellenbrüderſchaft der Metallhandwerker 79,3 Prozent aus
Städten. Das Material, aus welchem die letzte Verhält-
nisziffer gewonnen iſt, umfaßt freilich noch das erſte Viertel
des XVI. Jahrhunderts.
Leider liegen weitere Zahlen aus dem XVI. und
XVII. Jahrhundert nicht vor. Dagegen kann ich für die
Zeit vom Anfang des XVIII. bis über die Mitte dieſes
Jahrhunderts einige Ziffern mitteilen, aus denen hervor-
geht, daß es eine Periode gab, wo das ſtädtiſche Hand-
werk ſeine Arbeiter faſt nur noch aus anderen Städten
empfieng. Das Frankfurter Stadtarchiv beſitzt nämlich
eine Anzahl von Herbergsbüchern der Buchbinder, in welche
alle Geſellen dieſes Handwerks, die von 1712—1867 in
[293] Frankfurt zugereiſt waren (zuſammen 14342), ihre Namen
und ihre Herkunftsorte eingetragen haben. Ich habe vor
Jahren dieſes außerordentlich wertvolle Material ſtatiſtiſch
bearbeitet und gefunden, daß von je 100 zugereiſten Buch-
bindergeſellen ſtammten
| Perioden: | aus Städten: | aus Dörfern u. Flecken |
| 1712—1750 | 97,5 | 2,5 |
| 1751—1800 | 94,3 | 5,7 |
| 1801—1835 | 89,2 | 10,8 |
| 1836—1850 | 86,0 | 14,0 |
| 1851—1867 | 81,2 | 18,8 |
Wir ſehen hier, wie ſich in einem ſpezifiſch ſtädtiſchen
Gewerbe innerhalb eines Zeitraums von reichlich anderthalb
Jahrhunderten die Beimiſchung ländlicher Arbeitskräfte
fortgeſetzt vermehrt hat. Hätte die Unterſuchung bis auf
die Gegenwart fortgeführt werden können, ſo würde ſich
für die Zeit nach 1867 ohne Zweifel ein noch ſtärkeres
Hervortreten der aus Dörfern ſtammenden Geſellen er-
geben haben.
In der ſtädtiſchen Zuwanderung der Gegenwart ſcheint
wieder eine ähnliche Miſchung von Stadt und Land Platz
gegriffen zu haben, wie wir ſie für das XV. Jahrhundert
feſtgeſtellt haben 1). Von je 100 Perſonen der auswärts
geborenen Bevölkerung hatten
[294]
| Städte: | Zählungsjahr | ſtädtiſche Geburtsorte: | ländliche Geburtsorte: |
| Leipzig | 1885 | 50,6 | 49,4 |
| Baſel | 1888 | 23,5 | 76,5 |
Und ähnlich wie im Mittelalter nimmt das ſtädtiſche
Element mit der Entfernung der Geburtsorte von dem Ziel
der Wanderung relativ zu und das ländliche in gleichem
Maße ab. Die verſchiedenen Bevölkerungsklaſſen weiſen
in dieſer Hinſicht nur geringe Unterſchiede auf. Im all-
gemeinen haben die Berufsarten, welche eine beſondere
Ausbildung erfordern, eine ſtärkere Beimiſchung ſtädtiſcher
Elemente als die Gebiete der gemeinen Handarbeit.
Es iſt ſehr zu bedauern, daß ähnliche ſtatiſtiſche Un-
terſuchungen nicht für eine größere Zahl moderner Städte
durchgeführt worden ſind. Aus dem, was bis jetzt vor-
liegt, ſcheint der Schluß gezogen werden zu müſſen, daß
die Zahl der Zuwanderer ſtädtiſcher Herkunft in den Groß-
ſtädten relativ größer iſt als in den Mittel- und Klein-
ſtädten 1). Die Erklärung dieſer Erſcheinung liegt nahe.
1)
[295] Eine Großſtadt übt auf die Bevölkerung der kleineren
Städte dieſelbe Anziehungskraft aus wie die letzteren auf
die Bevölkerung des platten Landes. Die Uebergänge aus
einem Sozial- und Wirtſchaftskreiſe in den andern geſtalten
ſich auf dieſe Weiſe weniger ſchroff, und es findet ſo eine
allmähliche Hebung der wandernden Maſſen und eine von
Generation zu Generation fortſchreitende Vorbereitung für
die Anforderungen des großſtädtiſchen Lebens ſtatt, welche
im Bereiche des letzteren die unvermeidlichen Anpaſſungs-
kämpfe mildern muß.
Wenn die Städte nach dem Geſagten heute einen ähn-
lichen Neuverteilungsprozeß der Bevölkerung zum Ausdruck
bringen, wie er ſich bereits einmal im Mittelalter vollzogen
hat, ſo iſt die Aehnlichkeit zwiſchen beiden Vorgängen doch
nur eine äußerliche. Handelte es ſich im XIV. und XV.
Jahrhundert um die letzten Stadien einer Entwickelung,
deren Endziel die Ausbildung zahlreicher kleiner autonomer
Wirtſchaftsgebiete war, von denen eines dem andern in
harmoniſcher Ausgeſtaltung der Produktion durchaus ähnlich
war, ſo handelt es ſich im XIX. Jahrhundert um eine
ſteigende Differenzierung der einzelnen Wohnplätze, ent-
ſprechend den Zwecken eines größeren Ganzen: der ſtaatlich
geordneten Volkswirtſchaft.
Dieſer Prozeß beginnt mit der Ausbildung des mo-
dernen Staates und der modernen Staatsverwaltung.
Während bis dahin jede Stadt alle Zweige des ſtädtiſchen
Lebens in ſich ausgebildet hatte, ſoweit dieſelben nicht von
[296] der natürlichen Lage abhängig waren, wird jetzt die eine
Stadt zur ſtehenden Reſidenz des Fürſten, andere werden
zu Sitzen von Bezirks- und Provinzialverwaltungen, von
Gefängniſſen, höheren Unterrichtsanſtalten und allerlei Spe-
zialverwaltungen, andere zu Garniſonſtädten, Grenzfeſtungen,
Meßplätzen, Badeorten, Knotenpunkten des Verkehrs u. ſ. w.
Sie übernehmen beſtimmte Funktionen für das ganze Land
und für alle anderen Städte; aber dieſe Funktionen ſind
nicht immer ſpezifiſch ſtädtiſcher Natur. Sie können auch
an ländliche Wohnplätze ſich anknüpfen. Namentlich tritt
dies hervor ſeit der Ausbildung der modernen Großin-
duſtrie und ſeit der außerordentlichen Vermehrung und
Vervollkommnung der Verkehrsmittel. Von da ab ſucht
die geſamte nationale Produktion ſich über das Wirtſchafts-
gebiet ſo zu verteilen, daß jeder Zweig derſelben den für
ihn günſtigſten Standort gewinnt. Es entſtehen Fabrik-
und Hausinduſtriebezirke, indem einzelne Thäler und ganze
Gegenden ein halb ſtädtiſches Weſen annehmen. Einzelne
Städte bringen ſpezielle Induſtrie- und Handelszweige zu
einer das örtliche, ja oft das nationale Bedürfnis weit
überragenden Entfaltung. In anderen wieder verkümmert
alle Induſtrie und Handelsthätigkeit; ſie ſinken auf das
Niveau von Dörfern herunter, und das hiſtoriſche Stadt-
recht, das ſich an ihre Namen knüpft, tritt in ſchneidenden
Widerſpruch zu ihrem Nahrungsſtand, ihrer Bevölkerungs-
zahl. Die Unterſchiede zwiſchen Stadt und Land verwiſchen
ſich: in der Nähe der aufblühenden Induſtrie-Städte durch
[297] die Hinausſchiebung der Gewerbeanlagen und Arbeiter-
wohnungen in die Vor- und Außenorte, in der Nähe der
ſinkenden „Ackerſtädte“ durch Annäherung der letzteren an
die umliegenden Landorte und durch das Aufkommen volk-
reicher Induſtriedörfer. Im Ganzen aber iſt heute die
Zahl der Bevölkerungszentren und der Zielpunkte für die
inneren Wanderungen relativ eine weit geringere als in der
zweiten Hälfte des Mittelalters 1).
Aber noch in einem anderen Punkte unterſcheidet ſich
die Neuverteilung der Bevölkerung, welche durch die inneren
Wanderungen der Gegenwart hervorgebracht wird, von
derjenigen welche unſere Vorfahren vom X. bis zum XV.
Jahrhundert erlebten. In Folge der größeren Sicherheit
des Lebensunterhaltes und einer umfaſſenden Fürſorge für
[298] die Geſundheit des Volkes iſt die Volksvermehrung heute
eine raſchere und ſtetigere als im Mittelalter. Sie bleibt
bewahrt von jenen ſchweren Rückſchlägen, welche Mißernten,
Seuchen, Hungersnöte damals ſo häufig hervorbrachten.
Die Wanderungen nach den großen Städten und Induſtrie-
bezirken ſaugen darum vielfach nur einen Bevölkerungs-
überſchuß auf, der an den Orten wo er entſtanden iſt,
nicht Nahrungsſpielraum genug finden würde. Sie ver-
langſamen an dieſen Stellen die Verdichtung der Be-
völkerung oder hindern ſie vollſtändig, während auf der
anderen Seite in den Agglomerationspunkten ſich ihrer
fortgeſetzten raſchen Vermehrung wirtſchaftliche Hinderniſſe
nicht entgegenſetzen. Im Mittelalter dagegen verteilte ſich
die Zuwanderung auf eine außerordentlich große Zahl über
das ganze Land in gewiſſen Abſtänden zerſtreuter um-
mauerter Wohnplätze. Sie dauerte überall nur ſo lange,
bis eine Stadt voll war. Hatte ſie ſo viel Einwohner,
als ſie zur Beſetzung ihrer Mauern und Türme und zur
Füllung aller Nahrungszweige brauchte, ſo konnten andere
nicht mehr Platz finden. Stadterweiterungen ſind aller-
dings auch im Mittelalter vielfach vorgekommen; ſie hängen
mit der zunehmenden Berufsbildung und Berufsteilung zu-
ſammen; aber Großſtädte hat das Mittelalter nicht aus-
gebildet und bei ſeiner Wirtſchafts- und Verkehrsordnung
nicht ausbilden können. Es hat dem Lande oftmals die
Bevölkerung entzogen, die es zur Bebauung des Bodens
bedurfte, um dann doch bei den häufigen großen Be-
[299] völkerungsverluſten die Einwohnerzahl der Städte nur ſtabil
zu erhalten.
Nach dem Geſagten muß es ungewiß bleiben, ob die
inneren Wanderungen, welche die Ausbildung der mittel-
alterlichen Stadtwirtſchaft begleiteten, verhältnismäßig zahl-
reicher geweſen ſind als die entſprechenden räumlichen Be-
wegungen und Verſchiebungen der Bevölkerung, welche
heute die volkswirtſchaftliche Geſtaltung des Niederlaſſungs-
weſens hervorruft. Dagegen ſteht außer Zweifel, daß die
Anziehungskraft, welche die modernen Großſtädte auf die
Bevölkerung der kleinen Städte und des Landes ausüben,
räumlich in weiteren Kreiſen zu verſpüren iſt, als die An-
ziehungskraft der mittelalterlichen Städte auf ihre Um-
gebung. Man wird jedoch nicht behaupten dürfen, daß
das Rekrutierungsgebiet der Bevölkerung einer Stadt ſeit
dem Beginn der neuen Zeit ſich in geradem Verhältnis zu
ihrer Einwohnerzahl weiter ausgedehnt hat. Im Gegen-
teile muß es unſer Staunen erregen, wie wenig die Ver-
vollkommnung unſerer Verkehrsmittel und die Einführung
der Freizügigkeit auf das Erſtreckungsgebiet der regelmäßigen
inneren Wanderungen Einfluß geübt hat.
Einige Zahlen werden das veranſchaulichen. Von je
100 der zugewanderten Bevölkerung waren gekommen aus
einer Entfernung von
(Tab. ſ. folgende Seite!)
[300]
| Städte: | Bevölkerungs- gruppe: | Zeit: | 0 — 2 Meilen: | 2 — 10 Meilen: | über 10 Meilen: |
| Frankfurt | Neubürger | XIV. Ihrh. | 46,7 | 39,3 | 14,0 |
| „ | „ | XV. „ | 23,1 | 52,7 | 24,2 |
| „ | Metallarb. | XV. u. XVI. Jahrh. | 2,7 | 45,0 | 52,3 |
| Oldenburg |
| 1880 | 21,8 | 42,1 | 36,1 |
| Baſel | 1888 | 16,7 | 50,2 | 33,1 | |
| „ | Handwksgeſ. | „ | 13,9 | 40,0 | 46,1 |
| „ | Fabrikarb. | „ | 17,1 | 59,6 | 23,3. |
Von den hier unterſchiedenen drei Zonen der Zu-
wanderung hat bei der Geſamtbevölkerung die
äußerſte in der Gegenwart ein größeres, die innerſte ein
geringeres Gewicht als im Mittelalter. Es beruht dies
jedoch vermutlich allein auf dem Umſtande, daß gegen-
wärtig die Bevölkerung der näheren Umgebung einer Stadt
von den Vorteilen des ſtädtiſchen Arbeitsmarktes Nutzen
zieht, ohne in der Stadt Wohnſitz zu nehmen, ſei es daß
ſie mit Arbeiterzügen oder andern bequemen Verkehrsge-
legenheiten ſich täglich nach den ſtädtiſchen Arbeitsſtellen
begibt, ſei es daß die ſtädtiſche Großinduſtrie in den Nach-
barorten ihre Betriebsſtätten aufſchlägt. Das Zuwande-
rungsgebiet der Handwerksgeſellen hat ſich gegen
das Mittelalter eher verengert als erweitert, was damit
zuſammenhängt, daß dieſe Arbeiterklaſſe ſich jetzt zu drei
Vierteln vom Lande rekrutiert, während am Ende des
Mittelalters noch nicht ein Viertel derſelben aus Dörfern
[301] und Flecken ſtammte. Von den Geſellen der Frankfurter
Metallhandwerker im XV. und XVI. Jahrhundert hatten
nur 20,7 % ihre Heimat auf dem Lande; von den Basler
Bäckern und Metzgern dagegen hatten 1888: 78,7 %, von
den übrigen Handwerksgeſellen 75,2 % ländliche Geburts-
orte. Immerhin wandern die Handwerksgeſellen auch jetzt
noch in weit größerer Zahl und auf größere Entfernungen
als die typiſche Arbeiterkategorie der Gegenwart, die Fa-
brikarbeiter. Von den Basler Fabrikarbeitern waren
1888: 25,8 %, von den Handwerksgeſellen nur 16,3 %
in der Stadt ſelbſt geboren. Wie viele von ihnen in der
nächſten Umgebung geboren und anſäßig waren, iſt leider
nicht ermittelt worden. Aber die ganze neuere Induſtrie-
entwickelung läuft darauf hinaus, einen feſten Arbeiterſtand
heranzuziehen, der ſchon jetzt wegen der frühzeitigen Ver-
heiratung viel weniger beweglich iſt als die Geſellen des
alten Handwerks und der in Zukunft zweifellos ebenſo feſt
an der Fabrik haften wird, wie der hörige Arbeiterſtand
des mittelalterlichen Großgrundbeſitzes an der Scholle haf-
tete 1). Wenn wir gegenwärtig dies weniger bemerken, ſo
rührt dies daher, daß bis jetzt die meiſten Großinduſtrien
das Ziel ihres Wachstums noch nicht erreicht haben und
[302] daß ſie, ſo lange ſie ihre Anlagen noch ausdehnen, den
Mehrbedarf an Arbeitern durch weitere Heranziehung des
Bevölkerungsüberſchuſſes aus den Landbezirken decken müſſen.
Aus dem Geſagten ergibt ſich, daß von einer ſteigen-
den Mobiliſierung der Geſellſchaft als Folge der Schaffung
eines dichten Verkehrsnetzes und der Erfindung vollkom-
mener Verkehrsmittel nicht die Rede ſein kann. Wir be-
finden uns vielmehr in einer Uebergangsperiode, in welcher
die noch nicht vollendete Umwandlung der ſtädtiſchen und
territorialen Wirtſchaftsordnung in eine nationale fortge-
ſetzte Verſchiebungen der Grenzen der Arbeitsteilung und der
Standorte der einzelnen Produktionszweige nach ſich zieht
und damit auch Verſchiebungen der arbeitenden Bevölkerung.
Nach einer jahrhundertelangen Periode wirtſchaftlicher und
ſozialer Verknöcherung, in welcher Umzugs- und Nieder-
laſſungsbeſchränkungen jeder Art die Bevölkerung an den
von den Vorfahren eingenommenen Sitzen feſthielten, haben
die territorialen Maſſenbewegungen der Gegenwart für
Viele etwas Beängſtigendes. Sie erſcheinen leicht als Rück-
fall in die Urzeit der allgemeinen Wanderung. Aber man
überſieht dabei, daß nur ein Teil der Bevölkerung mobiler
geworden iſt: die Landbewohner, von denen eine große
Zahl bis in den Beginn dieſes Jahrhunderts an die Scholle
gefeſſelt war. Der Kaufmann, der Handwerker, der Ge-
lehrte iſt heute weit weniger beweglich als etwa in der
Reformationszeit, und die Induſtriearbeiter wandern heute
verhältnismäßig ſeltener und auf kürzere Entfernungen als
[303] noch im vorigen Jahrhundert. Nur ihre Zahl iſt viel
größer geworden; ſie iſt fortwährend noch in der Ver-
mehrung begriffen, und dieſes Wachstum der Induſtrie
rückt die Landarbeiter zum Teil von ihrer gewohnten Stelle,
an der ſie nichts feſthält als das Intereſſe derjenigen, welche
von ihrer Hilfloſigkeit Nutzen ziehen. Aus dem ferneren
Verlauf dieſer Bewegung dürfte ſich vielleicht ſchon nach
wenigen Jahrzehnten ergeben, daß die Menſchheit im Ganzen
doch im Laufe ihrer Entwicklung ſeßhafter geworden iſt.
Wir dürfen darum abſchließend ſagen: In dem maſſen-
haften Zudrang zu den Städten und ihren Vororten er-
leben wir heute wieder, was unſere Vorfahren in der zweiten
Hälfte des Mittelalters ſchon einmal erlebt haben: den
Uebergang zu einer neuen Wirtſchafts-, Sozial- und Nie-
derlaſſungsordnung. Leitete damals jene Bewegung die
Periode der Stadtwirtſchaft und der ſcharfen Trennung
von Stadt und Land ein, ſo iſt auch diejenige Bewegung,
in der wir uns jetzt befinden, das äußere Zeichen, daß
wir in eine neue Entwickelungsperiode eingetreten ſind:
die Periode organiſcher Geſtaltung des Niederlaſſungs-
weſens, die Periode der nationalen Arbeitsteilung und
volkswirtſchaftlichen Güterverſorgung, in welcher die Un-
terſchiede zwiſchen ſtädtiſchen und ländlichen Wohnplätzen
durch zahlreiche Uebergangsbildungen ausgeglichen werden.
Die Statiſtik hat dies längſt anerkannt, indem ſie den hi-
ſtoriſch-rechtlichen Stadtbegriff fallen gelaſſen und einen
[304] ſtatiſtiſchen an die Stelle geſetzt hat, der die Wohnplätze
nur noch nach der Einwohnerzahl unterſcheidet.
Jedes Uebergangszeitalter führt ſeine Unbequemlich-
keiten und Schmerzen mit ſich. Aber auch die moderne
Bewegung der Bevölkerung, ſoweit ſie ſich in dem Zu-
drang zu den Städten ausprägt, wird, wie die mittelalterliche,
ihr Ziel erreichen und dann zur Ruhe kommen. Dieſes Ziel
aber kann kein anderes ſein als das: jeder einzelnen Kraft
und jeder örtlichen Gruppe von Menſchen diejenige Stelle
und diejenige Rolle in dem Ganzen des nationalen Lebens
und der nationalen Wirtſchaft anzuweiſen, wo ſie nach
ihrer Veranlagung und unter den veränderten techniſchen
Bedingungen der Wirtſchaft am meiſten beitragen kann zum
allgemeinen Beſten.
So dürfen wir auch aus der Betrachtung der inneren
Wanderungen, trotz ihrer vielfach unerfreulichen Begleit-
erſcheinungen, die Gewißheit ſchöpfen, daß auch ſie im großen
Ganzen einen Fortſchritt bedeuten zu höheren, beſſeren
Formen des ſozialen Daſeins, und zwar ebenſowohl für
den Einzelnen als auch für die Geſamtheit.
flexions § 2 ff.
novissima. Amstelodami 1672.
denen Grundherren verpflichtet waren und zahlreiche Fronhöfe, zu
welchen Bauernſtellen aus verſchiedenen Dörfern geſchlagen waren, ſo
muß doch der im Texte angenommene Fall als der normale ange-
ſehen werden. Wir dürfen dabei nicht vergeſſen, daß das meiſte Quellen-
material, das wir über dieſe Dinge beſitzen, ſich auf den Streubeſitz
der Klöſter bezieht, für welchen die Fronhöfe die Kryſtalliſationspunkte
abgaben, während wir für die Gutshöfe der großen und namentlich
der kleinen weltlichen Grundherren aus älterer Zeit faſt kein Material
haben. Bei dieſen aber iſt unſer Fall als der regelmäßige anzuſehen,
ſoweit die Dörfer durch Anſetzung von Koloniſten um einen Einzelhof
entſtanden waren. Für den Zweck unſerer Darſtellung dürfen wir
auch die mancherlei Unterſchiede in der rechtlichen Stellung der Zins-
und Dienſtpflichtigen, namentlich den Unterſchied von Hof- und Mark-
hörigen bei Seite laſſen. Auch die letzteren waren durch das Ober-
eigentum des Herrn an der Allmende in den Wirtſchaftsorganismus
des Fronhofes hineingezogen. Endlich verkenne ich zwar nicht den
Unterſchied zwiſchen der Villenverfaſſung Karls d. Gr. und der ſpäteren
Verwaltungsorganiſation der großen Grundherren, meine aber, daß
derſelbe die Wirtſchaft des einzelnen Gutshofes nur an der Oberfläche
berührt. Für alles Weitere muß auf Maurer, Geſch. der Fron-
herrſchaften in Deutſchland und Lamprecht, Deutſches Wirtſchafts-
leben im MA., beſonders I, S. 719 ff. verwieſen werden.
auf die Bewirtſchaftung der Beunden oder gutsherrlichen Bifänge in
der Allmende verwendet worden, während die unfreien Hofknechte nur
für die Bewirtſchaftung des Sallandes gebraucht wurden.
vgl. meine Ausführungen im „Handwörterbuch der Staatswiſſen-
ſchaften“, Bd. III, S. 927. 929 f.
Deutſches Wirtſchaftsleben im Mittelalter, II, S. 374 ff.
griechiſchen und lateiniſchen Sprache an Ausdrücken. Sie müſſen ent-
weder umſchrieben oder mit ſehr allgemeinen Worten bezeichnet werden.
Das gilt zunächſt ſchon von dem Begriff Einkommen. Das la-
teiniſche reditus bezeichnet das, was vom Acker zurückkommt. Einer
ähnlichen Uebertragung bedient ſich Tacitus Ann. IV, 6, 3, wenn
er die Staatseinkünfte als fructus publici bezeichnet. Man vergleiche
damit die zahlreichen, fein unterſcheidenden Ausdrücke für den Begriff
Vermögen! Merces heißt ſowohl Lohn als Pachtzins, Miet-
zins, Kapitalzins, Preis. Aehnlich das griechiſche μισϑός. Für
die Ausdrücke Beruf, Geſchäft, Unternehmung, Gewerbe
haben beide klaſſiſche Sprachen nichts Entſprechendes.
verfaſſung hat die ſehr weite Bedeutung des Wortes Kaufmann
überſehen und die zahlloſen Städte, welche auf dem Boden des Deutſchen
Reiches gegen Ende des Mittelalters beſtanden, von Köln und Augs-
burg bis Medebach und Radolfzell, mit Kaufleuten im modernen Sinne,
alſo einem berufsmäßig entwickelten Stande von Händlern bevölkert,
die man ſich in der Regel noch als Großhändler vorzuſtellen pflegt.
Die ganze Wirtſchaftsgeſchichte empört ſich gegen dieſe Auffaſſung.
Womit haben denn dieſe Leute gehandelt und womit haben ſie ihre
Waren bezahlt? Und erſt der Sprachgebrauch! Das hervorſtechendſte
Merkmal des Berufs-Kaufmanns in ſeinem Verhältnis zum Publikum
iſt nicht ſeine Gewohnheit zu kaufen ſondern zu verkaufen. Und
doch iſt der mittelalterliche „Kaufmann“ nach dem Kaufen be-
nannt! Und doch ſprechen die Urkunden Ottos III. für Dortmund von
990 und 1000 von den emptores Trotmanniae, deren Recht gleich
dem von Köln und Mainz für andere Städte als Muſter gelten ſoll,
in demſelben Zuſammenhang wie andere Urkunden von den merca-
tores oder negotiatores. Wenn 1075 der Abt von Reichenau mit
einem Federſtrich die Bauern von Allensbach und ihre Nachkommen
in Kaufleute verwandeln kann (ut ipsi et eorum posteri sint mer-
catores), ſo iſt keine Interpretationskunſt der Welt im Stande, das
zu erklären, wenn man an den berufsmäßigen Händler denkt. Daß
in der That unter dem Kaufmann jeder, der mit ſeiner Ware zu
Markte ſtand, verſtanden wurde, einerlei ob er ſie ſelbſt produziert
oder im Großen gekauft hatte, zeigt z. B. noch eine (ungedruckte)
Klärung des Frankfurter Rats von 1420 über den Zoll, den man
Marktrecht nannte (im Geſetzbuch No. 3 des Stadtarchivs, Fol. 80).
Dort heißt es im Eingang, dieſen Zoll habe zu entrichten: „ein iglich
kauffmann, der da ſteet uff der ſtraſſen mit ſiner kauffmanſchafft,
wilcherley die iſt.“ Dann folgen in ausführlicher Spezifikation die
einzelnen „Kaufleute“ oder die „Kaufmannſchaft“, die den Zoll zu
hoben: die Altgewänder, die Köche, die Hocken, die Seiler, die Haſel-
nüſſe feil haben, die Eier- und Käſekarren, Körbe mit Hühnern, die
man auf dem Rücken trägt, Fremde, die über ein Malter Käſe haben,
die Flickſchuſter, die Wechſeler, die Bäcker, die unter den Hallen ſtehen,
fremde Brotkarren, Gänſe, Wagen mit Wicken, Stroh, Heu, Kohlen,
alle, die Leinwand, Flachs, Hanf oder Garn feil haben, die auf der
Straße ſtehen. Das ſind alſo in buntem Durcheinander: ſtädtiſche
Kleinhändler, Handwerker, Bauern. — Daß auf dem Markte Ver-
käufer und Käufer als Kaufleute bezeichnet wurden, geht u. a. aus
einer Frankfurter Ordnung von c. 1425 über den Vieh-Unterkauf
hervor (Stadtarchiv, Eidbuch A No. 12), wo es heißt: „Wann die
underkeuffere die kaufflude zuſammenbracht han und ſo die umb
die kauffmanſchafft zu gebode kommen ſin“ ꝛc. Es handelt
ſich, wie aus dem Zuſammenhang hervorgeht, um Verkäufe von Ochſen,
Kühen, Schweinen, Schafen, Geißen zwiſchen Viehzucht treibenden
Einwohnern oder dieſen und fremden Bauern. Es ließen ſich noch
weitere Stellen anführen, nach denen man ſogar vorzugsweiſe an den
Einkäufer gedacht zu haben ſcheint, wenn man vom Kaufmann ſprach.
loren, andere dasſelbe neu gewonnen haben, ſo gibt doch die Zahl
der Orte, welche heute noch den Namen Stadt führen eine ungefähr
richtige Vorſtellung. Im Durchſchnitt kommen gegenwärtig auf eine
Stadt Quadratkilometer: in Baden 132, in Württemberg 134, in
Elſaß-Lothringen 137, in Heſſen 118, im Königr. Sachſen 105, in
Heſſen-Naſſau 145, in der Rheinprovinz 193, in Weſtfalen 196, in
der Provinz Sachſen 175, in Brandenburg 291, im Königr. Bayern
328, in Hannover 341, in Schleswig-Holſtein 350, in Pommern 412,
in Weſtpreußen 473 und in Oſtpreußen 552. — Das Stadtgründungs-
fieber, das im Mittelalter bei vielen Territorialherren beobachtet werden
kann, hat lebensunfähige Städte genug ins Daſein gerufen. Bekannt-
lich verbietet der Sachſenſpiegel: „Man enmuz cheinen markt buwen
deme andern einer mîle nah.“ WeiskeIII, 66 § 1.
einmal die Frau des Handwerkers ihn beim Verkaufe vertreten durfte.
Vgl. Gramich, Verf. u. Verw. d. St. Würzburg vom XIII. bis
XV. Ih. S. 38 f.
d. Ihb. f. N.-Ö. u. Statiſtik XXVII, S. 91 ff.
und Cameralwiſſenſchaft“ I, S. 93 erzählt J. Beckmann: „Bei
Errichtung der Univerſität Göttingen waren hier Land- und Stadt-
werker nicht allein Gartenland, ſondern auch meiſtens Getreideland
beſaß und ſelbſt bauete. Damals waren von Schuſtern keine Schuhe,
von Schneidern keine Kleider zu erhalten, wenn beide zu ackern hatten.
Um ein neues Publikum zu befriedigen, mußte man zum Teil neue
Handwerker anſetzen.“ Ueber das Mittelalter vgl. meine Bevölkerung
von Frankfurt I, S. 259—293.
A. Heusler, Inſtitutionen des deutſchen Privatrechts II, S. 128 ff.
griechiſche Kreditweſen und ſeine Rechtsformen. Auch bei dieſem fließen
Kauf und Darlehen in einander über, und die Sprache iſt nicht dazu
gelangt, die Begriffe kaufen, verpfänden, pachten, dingen ſcharf zu
ſcheiden. Das griechiſche Pfandrecht ſtimmt in allen wichtigeren Punkten
mit dem älteren deutſchen überein. Vgl. K. F. Hermann, Lehrbuch
der griech. Privataltertümer mit Einſchluß der Rechtsaltertümer § 67
und 68.
XIV. und XV. Ih., S. 267.
Ungeld und Geld. Letzteres iſt der allgemeine Ausdruck für die
Kaufrente. Geld iſt alſo eine vergoltene, Ungeld eine nicht vergoltene
jährliche Einnahme.
trefflich dargeſtellt von Schmoller im Ihb. f. Geſetzgeb., Verw.
u. Volksw. VIII (1884) S. 22 ff.
trag IV.
Litteratur, zum Teil durch beſondere Fragebogen geſammelt worden,
welche bald direkt, bald durch Vermittlung von Freunden und früheren
Schülern in die verſchiedenen Länder geſandt wurden. Zu einer um-
faſſenden wiſſenſchaftlichen Darſtellung reicht das aufgekommene Ma-
terial noch bei weitem nicht aus. Nachdem jedoch äußere Veran-
laſſungen mich genötigt haben, mit den Ergebniſſen meiner Forſchungen
hervorzutreten, mag die vorliegende kurze Darſtellung, welche nur das
Wichtigſte in allgemein verſtändlicher Form zuſammenfaßt, hie und da
als Leitfaden für ähnliche Studien vielleicht willkommen ſein. Von
ausführlichen Litteraturangaben mußte abgeſehen werden. Das Not-
wendigſte findet man in meinen Aufſätzen im „Handwörterbuch der
Staatswiſſenſchaften“, Artikel Gewerbe, und im öſterr. „Handels-
muſeum“ Ihrg. 1890 Nr. 31—33.
— Blom, Das Königreich Norwegen, Leipzig 1843, S. 237. Th.
Foreſter, Norwegen und ſein Volk, überſetzt von M. B. Lindau,
S. 74. E. Sidenbladh, Schweden, Statiſtiſche Mitteilungen zur
Wiener Weltausſtellung 1873.
Oeſterreichs. Ein Kommentar zur hausinduſtriellen Abteilung auf der
allgemeinen land- und forſtwirtſchaftlichen Ausſtellung zu Wien 1890.
Redigiert von W. Exner. Ferner Oeſterreichiſche Monatsſchrift für
Geſellſchaftswiſſenſchaft IV, 90 ff. VIII, 22. IX, 98 und 331. A.
Riegl, Textile Hausinduſtrie in Oeſterreich in den „Mitteilungen
reichs, S. 159 ff. vgl. H. Wiglitzky, Die Bukowinaer Hausinduſtrie
und die Mittel und Wege zur Hebung derſelben. Czernowitz 1888.
und Krejcſi, Der Hausfleiß in Ungarn, Leipzig 1886. Schwicker,
Statiſtik des Königreichs Ungarn, Seite 403 ff., 411, 426 ff. J. Paget,
Ungarn und Siebenbürgen, Leipzig 1842, II. S. 163. 173. 264. 269.
— Franz Joſeph Prinz von Battenberg, Die volkswirtſchaftliche
Entwickelung Bulgariens, Leipzig 1891. Ueber die anderen Länder
der Balkanhalbinſel: Reports from her Majestys diplomatic and
consular agents abroad, respecting the condition of the industrial
classes in foreign countries. London 1870—72.
hinzuweiſen, daß bei Abgrenzung der zünftigen Gewerbegerechtſame
auch der alte Hausfleiß in Mitleidenſchaft gezogen worden war. In
ſehr vielen Zunftordnungen findet ſich die Beſtimmung, daß der Nicht-
zünftige wohl Handwerksprodukte verfertigen darf, aber nur ſoviel er
in ſeinem Hauſe braucht, nicht für den Verkauf. Es war damit die
oben S. 95 f. geſchilderte Ueberſchußproduktion des Hauſes für den
Markt unmöglich gemacht.
Frankfurt a. M. im XIV. und XV. Jahrhundert“ I, S. 228. Vergl.
auch die Vorträge I und III.
d’Économie politique vom November 1892, (p. 1228 Anmerkung)
will ich nicht unterlaſſen, denſelben hier dahin zu präziſieren, daß ich
nicht die Verbeſſerung der Qualität bereits vorhandener Güterſpezies
darunter verſtehe ſondern die Erſetzung vorhandener Güter durch
ſolche, welche dem Bedürfnis beſſer und billiger entſprechen.
rufsgliederung, Leipzig 1892 und bezüglich der Hausinduſtrie von
W. Sombart in Braun’s Archiv f. ſoz. Geſetzg. und Statiſtik IV,
S. 144 ff. und im „Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften“ IV, S. 435.
Smith, Paris 1890, I, S. 433.
folgenden Worten des erſten Kapitels: The division of labor, so far
as it can be introduced, occasions, in every art, a proportionable
increase of the productive powers of labor.
diſſertation), S. 38 f. definiert Arbeitsteilung: ubi plures operarii
simul opus quoddam conficiunt, singuli vero continue eadem
operis parte sunt occupati, ut, si aliquid perfecerint, eandem rem
de novo aggrediantur. Und doch hatte ſchon Ferguſon ſein Ka-
pitel über die Arbeitsteilung überſchrieben: On the separation of
arts and professions.
nicht mehr definieren. Die meiſten neueren Definitionen überſehen das
Kauſative in dem Verbum teilen und ſetzen an Stelle des Vorgangs
der Teilung den Zuſtand des Geteiltſeins. Schmoller z. B. ver-
ſteht unter Arbeitsteilung „die dauernde individuelle das ganze Leben
ergreifende und beherrſchende Anpaſſung an eine ſpezialiſierte Lebens-
der Teilung unter, was erſt ihre Folge ſein kann. E. v. Philip-
povich, Grundriß der Polit. Oek. I, 50: „Arbeitsteilung iſt die That-
ſache getrennter Durchführung von Arbeiten zu gemeinſamem Zweck.
Sie ſetzt, wie jede Teilung, eine Einheit voraus, von deren Stand-
punkt die Arbeit des Einzelnen nicht als etwas in ſich Abgeſchloſſenes,
für ſich Beſtehendes, ſondern als Teil eines größeren Ganzen erſcheint.
Dieſe Einheit iſt entweder durch das Ganze der Geſellſchaft oder durch
irgend eine Teilorganiſation derſelben gegeben“ ꝛc. Aber warum dieſes
Ganze erſt konſtruieren? Warum nicht von ihm ausgehen? Die Ge-
ſellſchaft, die Unternehmung ſind doch nicht geteilt worden; ſie ſind
erſt Ergebniſſe der Teilung der Arbeit.
Ganghofer’s Roman „Der Kloſterjäger.“ Stuttgart 1893. Sie
iſt ſo geſund und feinſinnig wie kaum eine andere.
Jahrbuch XIII, S. 1003—1074. XIV, S. 45—105 und eine kurze
Zuſammenfaſſung des Ergebniſſes in den Preußiſchen Jahrbüchern,
Bd. LXIX, S. 464.
genug ausgefallen iſt, bei Felix, Entwickelungsgeſchichte des Eigen-
tums I, S. 130 ff.
Betriebskapital, deſſen der einzelne Produzent bedarf, um ſo größer
aber auch die Arbeitsmenge, die das vollendete Produkt enthält. Im
Mittelalter war, um ein ſehr bekanntes Beiſpiel anzuführen, der Schuſter
vielfach auch Gerber. Der ganze induſtrielle Umwandlungsprozeß von
der rohen Haut bis zur fertigen Fußbekleidung lag alſo in einer
Hand. Nehmen wir nun an, das Gerben der Haut erforderte die
Hälfte der Arbeitszeit, welche zu ihrer Umwandlung in Schuhwerk not-
wendig war, ſo würde ein Schuſter, der bloß hätte gerben wollen
dreimal ſo viel Betriebskapital gebraucht haben, als der Gerber, der
zugleich Schuhe machte. Hätte er aber bloß bereits gegerbtes Leder
zu Schuhen verarbeiten wollen, ſo hätte ſein Betriebskapital das
anderthalbfache des früheren zuzüglich des Arbeitslohns und Ge-
ſchäftsgewinns des Gerbers betragen müſſen.
gegangen wäre.
Rodbertus („Aus dem litter. Nachlaß“ II, S. 255 ff.) in meiſter-
hafter Weiſe dargelegt; aber er hat dabei die verſchiedenen Arten der
Arbeitsteilung nicht genügend unterſchieden.
ſein von Beſitz und Beruf zum Ausdruck zu bringen verſuchte, lange
ehe ich die Schmoller’ſche Arbeit kannte, vergl. meine „Bevölkerung
des Kantons Baſel-Stadt“, S. 70.
S. 14. 667 ff.
nennt das die phyſiſche Seite der Pädagogik. Er ſagt: „Die phy-
ſiſche Erziehung jeder neuen Generation und die Einſchulung in die
leiblichen Fertigkeiten der Eltern, bezw. Voreltern kommt als eine
gewaltige Arbeit zur geſchlechtlichen Fortpflanzungsthätigkeit hinzu. …
Die phyſiſche Ausſtattung durch Zeugung und Geburt bleibt ein toter
Schatz, wenn nicht die Schule des Lebens und eine oft langwierige
bewußte Arbeit der Erziehung den Schatz angeborener Leibesanlagen
zu heben beſtrebt iſt. In dieſem zweiten Akte werden körperliche An-
paſſungen erlangt, die den eigenen Eltern fremd waren.“
Preuß. Ihb. 69 S. 464 deutlich ausſpricht. Der ſoziologiſche
Begriff der Vererbung, welchen Schäffle a. a. O. II S. 208 ff.
konſtruiert hat, kommt für ihn nicht in Frage, obwohl manche ſeiner
Ausführungen an ihn erinnern.
Lieberkühn, De diurnis Romanorum actis, Vimar. 1840.
A. Schmidt, Das Staatszeitungsweſen der Römer in ſ. Ztſchr. f.
Geſchichtsw. I, S. 303 ff. Zell, Ueber die Zeitungen der alten
Römer und die Dodwell’ſchen Fragmente in ſ. Ferienſchriften S. 1 ff.
109 ff. Hübner, De senatus populique Romani actis in Fleck-
eiſen’s Ihb. f. Philol. Suppl. III, S. 564 ff. Heinze, De spuriis
diurnorum actorum fragmentis. Greifsw. 1860.
Armagnaken: im Neujahrsblatt des Vereins für Geſch. und Altertumsk.
zu Frankfurt a. M. für d. I. 1873. — Ueber den folgenden Abſchnitt
vergleiche man: Hatin, Historie politique et littéraire de la presse
en France, Paris 1859—1861, vol. I p. 28 ff. Hatin, Biblio-
graphie historique et critique de la presse périodique française,
précédé d’un Essai historique et statistique sur la naissance et
progrès de la presse périodique dans les Deux Mondes, Paris 1866
p. XLVII sqq. Leber, De l’état réel de la presse et des pamphlets
depuis François I jusqu’à Louis XIV, Paris 1834. Alex. An-
drews, The history of British Journalism, London 1859, vol. I
p. 12 sqq. Ottino, La stampa periodica, il commercio dei libri
e la tipografia in Italia, Milano 1875, p. 7. Rob. Prutz,
Geſchichte des deutſchen Journalismus, Hannover 1845, Bd. I.
J. Winckler, Die periodiſche Preſſe Öſterreichs, Wien 1845, S. 19 ff.
Graßhoff, Die briefliche Zeitung des XVI. Jahrhunderts. Leip-
zig 1877.
im Archiv für die Geſch. des deutſchen Buchhandels, Bd. III (1879).
ſchichte der Reformation und ihrer Zeit, herausg. von Sooden und
Knaake. Potsdam 1867/72.
naeum français vom 2. Sept. 1854 iſt mir leider nicht zugänglich.
Ich benutze den Auszug bei Hatin a. a. O. p. L, der übrigens den
Angaben jenes Aufſatzes ſehr ungläubig gegenüberſteht. Auch ich habe
manche Bedenken, namentlich gegen die Annahme einer allgemeinen
Zugänglichkeit der Fuggerzeitungen.
Leipz. 1860, S. 5 f. Derartige Zeitungs-Agenten unterhielt der
ſächſiſche Hof um 1629 in Wien, Berlin, Braunſchweig, Augsburg,
Ulm, Breslau, Hamburg, Lübeck, Prag, Amſterdam, Haag und in
Ungarn.
f. Frankf. Geſch. und Kunſt N. F. X) S. 31. 60 ff.
Gazette de la Régence, Janvier 1715—Juin 1719, publiée d’après le
manuscrit inédit conservé à la Bibliothèque royale de La Haye
par Le Comte E. de Barthélemy. Paris 1887.
Preſſe Öſterreichs, Wien 1875, S. 28 f.
I, S. 14 ff. Hatin a. a. O. S. 51. — Joachim von Schwarz-
kopf, Ueber Zeitungen, Frankf. a. M. 1795 erzählt (S. 9), daß auch
in Deutſchland „bei einigen, dem Inhalt und der Form nach hand-
ſchriftlichen Zeitungen (zu Mainz, Regensburg) wegen der größeren
Anzahl der Abonnenten der Druck bisweilen zu Hilfe“ genommen
worden ſei. Außerdem nennt er Wien, München, Berlin, Hannover
als Orte, von welchen mit geheimen inländiſchen Nachrichten angefüllte
Blätter verſchickt würden.
from 1690 to 1830, New-York 1873, p. 51 ff.
Zeitungen. Nachtrag dazu in der „Germania“ XXVI, 106.
des XVI. Ih. aufgekommen.
Meßrelationen und insbeſondere über deren Begründer Frhrn. Michael
von Aitzing: Abh. der k. bayer. Akad. d. Wiſſ. III. Cl. XVI, 1.
München 1881. Vergl. auch Orth, Ausführl. Abhandlung von den
berühmten zwoen Reichsmeſſen, ſo in der Reichsſtadt Frankfurt a. M.
jährlich abgehalten werden. Fkf. 1765, S. 714 ff. Prutz a. a. O.
S. 188 ff. J. von Schwarzkopf, Ueber politiſche und gelehrte
Zeitungen in Frankfurt a. M. 1802.
reſultate angeſehen ſein. Sie dienen lediglich der Veranſchaulichung.
— Ich habe es ſeither vermieden, auf die Einwürfe zu antworten,
welche R. Höniger in Schmollers Ihb. f. Geſetzg. Verw. und
Volksw. XV, S. 110 ff. gegen meine Frankfurter Bevölkerungsbe-
rechnungen erhoben hat. Mich will bedünken, daß die letzteren durch
die vorſtehend mitgeteilte Ziffernreihe für die Steuerpflichtigen hin-
reichend beſtätigt ſind. So lange man gegen ein methodiſches ſtatiſtiſches
Verfahren nichts weiter einzuwenden weiß als urkundliche Zahlenüber-
lieferungen und eigene Konjekturenweisheit, halte ich eine erneute
Diskuſſion für nutzlos. Ich könnte nur wiederholen, was ich ſchon
einmal in der Zeitſchr. für die geſ. Staatswiſſenſchaft XLI (1881)
S. 436 ff. auseinandergeſetzt babe.
Geſch. der Heilkunde in Frankfurt a. M. 1847, S. 81.
ſeinen Scharfſinn geübt. Da er mich aber ſagen läßt, was mir nicht
in den Sinn gekommen iſt zu ſagen, ſo konnte ihm der Sieg in der
von ihm konſtruierten Streitfrage nicht ausbleiben. Die Schwäche
der Argumente ſteht freilich in ſeltſamem Gegenſatz zur Stärke des
angeſchlagenen Tones.
S. 385 ff.
Tübingen 1882.
Lebens und ihre Urſachen bei den Naturvölkern, Leipzig 1891, S. 33 ff.
Artikeln angeſehener Zeitungen die hübſchen Schlagwörter: Aus-
wanderungsſucht, Wanderfieber, Heimatmüdig-
keit, Heimatüberdruß, Europamüdigkeit, Hang
zur Auswanderung zuſammengeleſen.
lage I, S. 46 f.
von Dr. G. Mayr (XXXII. Heft der Beiträge zur Statiſtik des
Königr. Bayern), S. 10.
Vereinigten Staaten von Amerika aus ſämtlichen europäiſchen Staaten
10385443 Einwanderer empfangen. Gothaer Hofkalender von 1884,
S. 530.
S. 518.
Heft XIX, S. 64.
Landes 8725 Bewohner empfangen und nur 1925 an dieſelben abge-
geben: a. a. O., S. 212.
geboren
| Perſonen | Prozent der Be- völkerung | |
| in London | 2401955 | 62,9 |
| in der nächſten Umgebung | 384871 | 10,1 |
| in andern Teilen von Eng- land und Wales | 787699 | 20,6 |
| in Schottland | 49554 | 1,3 |
| in Irland | 80778 | 2,1 |
| in andern Ländern | 111626 | 2,9 |
deren Teilen von England und Wales gezählt. Für je 100 Perſonen,
welche ſich aus dieſem Gebiete in London anſäßig gemacht, hatten
alſo 51 in London Geborene der Rieſenſtadt den Rücken gekehrt.
Nach der Ztſchr. des preuß. ſtatiſt. Bureaus XXVI (1886), Statiſtiſche
Korreſpondenz S. XVIII.
melte politiſche und Finanzſchriften III, S. 449 ff.
Sternegg im Handwörterbuch d. Staatsw. II, S. 433 ff.
mérations urbaines et l’Émigration rurale, Marseille 1870, S. 8 ff.
Ueberbevölkerung der antiken Großſtädte im Zuſammenhange mit der
Geſamtentwicklung ſtädtiſcher Civiliſation. Leipzig 1884. Außerdem
Roſcher, Syſtem der Volksw. III zu Anfang.
in der ſpäteren Kaiſerzeit. Leipzig 1874 und E. Gebhardt, Stu-
dien über das Verpflegungsweſen von Rom und Konſtantinopel in der
ſpäteren Kaiſerzeit. Dorpat 1881. Dazu Rodbertus, Zur Geſch.
der röm. Tributſteuern in den Ihb. f. R.-Ö. u. Stat. VIII, beſ.
S. 400 ff.
miſchen Reichs I, S. 46 ff. läßt auf eine ähnliche Organiſation der
cura annonae wie in der Hauptſtadt ſchließen.
teriam. Es iſt das Strebertum gemeint, nicht die „Induſtrie“, wie
Pöhlmann a. a. O. S. 17 unbegreiflicher Weiſe überſetzt.
iſt eine eigentümliche methodiſche Verirrung, wenn man heute das Weſen
der mittelalterlichen Stadt vorzugsweiſe an ſolchen Orten zu demon-
ſtrieren ſucht, die es nie zu einer wahren ſtädtiſchen Exiſtenz gebracht
haben und die keinen andern Anſpruch auf den Namen Stadt gel-
tend zu machen vermögen als die Verleihung des Stadtrechtes.
521 ff. 591 ff. 627 ff.
des Mittelalters (in Schmollers Forſchungen XII, 2), Anhang I.
ſuchungen gegeben werden. Das Nähere wolle man in meiner „Be-
völkerung des Kantons Baſel-Stadt am 1. Dez. 1888“, S. 62 ff.
eine ſoeben erſchienene eingehende Darſtellung der Zu- und Abwan-
derung von Frankfurt a. M. i. J. 1891, welche Dr.Bleicher
in den „Beitr. zur Statiſtik der St. Frkf.“ II, S. 29 ff. veröffentlicht
hat, für dieſe Thatſache intereſſante Aufſchlüſſe.
vom 1. Dez. 1885 in d. Stadt Leipzig,“ II. Teil, S. 7 ff. verwieſen.
Die höhere Ziffer der ländlichen Zuwanderung für Baſel erklärt ſich
daraus, daß bei der betr. Aufſtellung die Grenze zwiſchen Stadt und
Land erſt bei 3000 Einwohnern gezogen worden iſt.
Darunter waren 26 mit mehr als 100000 E., 22 mit 50—100000 E.,
104 mit 20—50000 E. und 169 mit 10—20000 E. Außerdem gab
es aber 56 Dörfer und vorörtliche Gemeinden mit 10—50000 E.,
darunter 11 mit mehr als 20000 E. — Wie tief die alten Städte
zum Teil heruntergekommen ſind, zeigen folgende Notizen über das
Großherzogtum Baden. Dort zählte man 1885: 114 „Städte“,
darunter nur 63 mit mehr als 2000 und 9 mit mehr als 10000 Einw.
Von den übrigen 51 „Städten“ hatten 42: 1—2000 E., 4: 500 bis
1000 und 5: unter 500 E. (darunter Kleinlaufenburg 441, Neufrei-
ſtett 427, Blumenfeld 349, Fürſtenberg 341, Hauenſtein 157). Auf
eine Stadt entfielen im Durchſchnitt 14 Dörfer. Dagegen hatten im
Ganzen 129 Gemeinden mehr als 2000 Einwohner, und es waren
darunter 66 Dörfer. Von den alten Städten entſprechen ſomit nur
noch 55 % dem modernen Stadtbegriff, und von den Dörfern ſind
4 % ſtatiſtiſch zu den Städten zu rechnen.
nehmungen, mögen ſie in das Eigentum der Arbeiter übergehen oder
an dieſelben vermietet werden, erzeugt ſchon jetzt eine Art Fabrik-
hörigkeit, welche mit der alten Grundhörigkeit eine verzweifelte
Aehnlichkeit hat. Vgl. meinen Aufſatz über die belgiſche Sozialge-
ſetzgebung in Brauns Archiv f. ſoz. Geſetzg. u. Stat. IV, S. 484 f.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die Entstehung der Volkswirtschaft. Die Entstehung der Volkswirtschaft. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjsz.0