zur
Psychologie
Zweyte verbesserte Auflage.
BeiAugust Wilhelm Unzer.
Jnhalt.
- Seite
- Einleitung 1
- Erster Theil. Grundlehre.
- Erstes Capitel. Von dcm Zustande der Vorstellungen
wenn sie als Kräfte wirken 9 - Zweytes Capitel. Vom Gleichgewichte und den Bewe-
gungen der Vorstellungen. 11 - Drittes Capitel. Von den Complexionen und Ver-
Schmelzungen 16 - Viertes Capitel. Bon den Vorstellungen als dem Sitze
der Gemüthszustände 26 - Fünftes Capitel. Vom Zusammenwirken mehrerer Vor-
Stellungsmassen 30 - Sechstes Capitel. Vorblicke auf die Verbindung zwi-
schen Seele und Leib 33
- Erstes Capitel. Von dcm Zustande der Vorstellungen
- Zweyter Theil. Empirische Psychologie.
- Erster Abschnitt. Von den Geistes-Vermögen,
als dem anscheinend ursprünglich und wesentlich
Mannigfaltigen im menschlichen Gemüthe.- Erstes Capitel. Ueberblick über die angenommenen Gei-
stes-Vermögen. 37 - Zweytes Capitel. Ueber die Gränzlinie zwischen den un-
tern und obern Vermögen. 46 - Drittes Capitel. Vorstellungsvermögen. 54
- Viertes Capitel. Gefühlvermögen. 75
- Fünftes Capitel. Begehrungsvermögen. 84
- Sechstes Capitel. Von der Zusammenwirkung und Aus-
bildung der Geistesvermögen. 94
- Erstes Capitel. Ueberblick über die angenommenen Gei-
- Seite
- Zweyter Abschnitt. Von den geistigen Zuständen.
- Erstes Capitel. Ueber die allgemeine Veränderlichkeit
der Zustände. 99 - Zweytes Capitel. Von den natürlichen Anlagen. 102
- Drittes Capitel. Von äußern Einwirkungen. 107
- Viertes Capitel. Von den anomalen Zuständen. 110
- Erstes Capitel. Ueber die allgemeine Veränderlichkeit
- Dritter Theil. Rationale Psychologie.
- Erster Abschnitt. Lehrsätze aus der Metaphysik.
- Erstes Capttel. Von der Seele und der Materie. 122
- Zweytes Capitel. Von den Lebenskräften. 126
- Drittes Capitel. Von der Verbindung zwischen Seele
und Leib. 129
- Zweyter Abschnitt. Erklärungen der Phänomene.
- Erstes Capitel. Von den Vorstellungen des Räumlichen
und Zeitlichen 132 - Zweytes Capitel. Von der Ausbildung der Begriffe. 143
- Drittes Capitel. Ueber unsere Auffassung der Dinge
und Unserer Selbst. 153 - Viertes Capitel. Vom unbeherrschten Spiele des psy-
chischen Mechanismus. 166 - Fünftes Capitel. Von der Selbstbeherrschung, insbe-
sondere von der Pflicht, als einem psychischen Phänomene. 181 - Sechstes Capitel. Psychologische Betrachtungen über
die Bestimmung des Menschen. 193
- Erstes Capitel. Von den Vorstellungen des Räumlichen
Einleitung.
[1]1. Jnnere Wahrnehmung, Umgang mit Menschen
auf verschiedenen Bildungsstufen, die Beobachtungen des Er-
ziehers und Staatsmannes, die Darstellungen der Reisen-
den, Geschichtschreiber, Dichter und Moralisten, endlich Er-
fahrungen an Jrren, Kranken und Thieren, geben den Stoff
der Psychologie. Sie soll diesen Stoff nicht blos sam-
meln, sondern das Ganze der innern Erfahrung begreif-
lich machen; während dasselbe in Ansehung der äußern,
mit Raumbestimmungen behafteten Erfahrung zu leisten, der
Naturphilosophie obliegt. Wie die beiden Erfahrungskreise
verschieden und doch verbunden sind, so auch die beiden Wis-
senschaften.Sie hängen in Ansehung der Grundbegriffe
gemeinschaftlich von der allgemeinen Metaphysik ab; jedoch
hat zur letztern die Psychologie das eigenthümliche Verhält-
niß, daß in ihr manche Fragen, die bey Gelegenheit der
Metaphysik sich erheben, und dort zurückgelegt werden müs-
sen, zur Beantwortung gelangen. Den Vortrag der Psy-
chologie läßt man schon deshalb gern dem Vortrage der
Metaphysik vorangehn; und sucht dabey Anfangs den meta-
physischen Begriff der Seele (der Substanz des Geistes)
zu vermeiden. Hiebey gewinnt der Anfänger gar sehr an
[2] Erleichterung; denn theils kann er länger im Erfahrungs-
kreise verweilen, theils erhöhen die mannigfaltigen Beziehun-
gen der Psychologie auf Moral, Pädagogik, Politik, Philo-
sophie der Geschichte, Kunstlehre, das Jnteresse des Stu-
diums.
2. Daß Vorstellungen durch die Sinnlichkeit gege-
ben, durch das Gedächtniß aufbewahrt, von der Ein-
bildungskraft vergegenwärtigt und neu verbunden wer-
den; daß der Verstand sich zeige im Verstehen einer Spra-
che oder Kunst, die Vernunft im Vernehmen von Grün-
den und Gegengründen: diese allgemein verbreitete Mei-
nung ist von den Psychologen weiter ausgebildet worden,
indem die Unterscheidung des Schönen und Häßlichen der
ästhetischen Urtheilskraft, die Leidenschaften dem Be-
gehrungsvermögen, die Affecten dem Gefühlvermö-
gen zugewiesen wurden u. s. f. Die Meinung ist, daß
diese Vermögen sich in jedem Menschen stets beysammen
finden. Allein über die Erklärung und Abtheilung der Ver-
mögen sind die größten Streitigkeiten entstanden; welche
längst aufmerksam machen mußten, daß die Psycho-
logie einer andern Grundlehre bedarf, worin gleich Anfangs
auf die wechselnden Zustände das Augenmerk gerichtet
wird. Diese (nicht aber jene Vermögen) erfahren
wir in uns unmittelbar.
3. Nützlich ist eine vorläufige Vergleichung der Psy-
chologie mit den drei Hauptzweigen der Naturwissenschaft.
Die Naturgeschichte zuvörderst kann von den Gegenständen,
die sie geordnet aufstellt, einzelne Exemplare vorzeigen; sie
kann die wahrgenommenen Merkmale bestimmt aufzählen.
Nun ist eine regelmäßige Abstraction möglich, welche von
der Kenntniß der Jndividuen ausgeht, und von da mit
vesten Schritten zu Arten und Gattungen aufsteigt, so daß
unzweideutig vor Augen liegt, welche Merkmale in der
[3] Abstraction bey Seite gesetzt, in der Determination hinzu-
gefügt worden. Jndem diese logischen Operationen von den
niedrigsten bis zu den höchsten Begriffen, und rückwärts,
gehörig vollzogen werden, verleiten sie Niemanden, die höch-
sten Begriffe für real zu halten; vielmehr weiß Jedermann,
daß dieselben nur Hülfsmittel des Denkens sind, welches
sie selbst erzeugte, um eine sehr große Mannigfaltigkeit von
Naturkörpern bequem überschauen zu können.
Hingegen der Psychologie liegt kein Stoff zum Grunde,
der sich klar vor Augen legen, bestimmt nachweisen, einer
regelmäßig und ohne Sprung von unten aufsteigenden Ab-
straction unterwerfen ließe. Die Selbstbeobachtung verstüm-
melt die Thatsachen des Bewußtseyns schon in der Auffas-
sung, reißt sie aus ihren nothwendigen Verbindungen und
überliefert sie einer tumultuarischen Abstraction, welche nicht
eher einen Ruhepunkt findet, als bis sie bey den höchsten
Gattungsbegriffen, dem Vorstellen, Fühlen, und Be-
gehren, angelangt ist; denen nun durch Determination
(also auf dem, für eine empirische Wissenschaft verkehrten
Wege) das beobachtete Mannigfaltige so gut es gehen will,
untergeordnet wird. Wenn nun zu den unwissenschaftlich
entstandenen Begriffen von dem, was in uns geschieht,
die Voraussetzung von Vermögen, die wir haben, hin-
zugefügt wird, so verwandelt sich die Psychologie in eine
Mythologie; von der zwar Niemand bekennen will, daß
er im Ernste daran glaube, von der man aber gleichwohl
die wichtigsten Untersuchungen dergestalt abhängig macht,
daß nichts Klares davon übrig bleibt, wenn jene Grundlage
weggenommen wird.
Anmerkung. Es ist auffallend, daß in der Psycho-
logiedie höchsten Begriffe noch die klärsten sind, die niedri-
gern aber immer schwankender werden. So ist man, zwar
seit nicht langer Zeit, darüber so ziemlich (wiewohl auch
[4]
nicht ganz) einig geworden, die drey Begriffe Vorstellen,
Fühlen, Begehren, als die höchsten Gattungen anzu-
sehen, aber die Absonderung der Affecten von den Leiden-
schaften ist späteren Ursprungs, und noch jetzt nicht ganz in
den Sprachgebrauch eingedrungen; fragt man vollends nach
den Arten des Gedächtnisses, als Orts-Gedächtniß, Namen-
Gedachtniß, Sach-Gedächtniß, u. s. w., so übernimmt Nie-
mand diese Eintheilung vollständig anzugeben; und noch we-
niger sind die poetische, die mathematische, die militärische
Einbildungskraft gehörig von einander gesondert, so offen-
bare Verschiedenheiten auch in dieser Hinsicht unter den Men-
schengesunden werden. Dieser Unbestimmtheit der niederen
Begriffe nun sieht man es gleich an, daß die ursprünglich
unbestimmte Auffassung der psychologischen Thatsachen keine
ächte Naturgeschichte des Geistes gestattet. Gleich-
wohl werden wir, schon des eingeführten Sprachgebrauchs
wegen, uns in der logischen Uebersicht der empirischen Psy-
chologie der gewohnten Namen manchmal bedienen.
4. Die empirische Physik, unbekannt mit den eigent-
lichen Naturkräften, hat gewisse Regeln gewonnen, nach
welchen die Erscheinungen sich richten. Durch Zurückfüh-
rung auf dieselben bringt sie Zusammenhang in das Man-
nigfaltigeder Erscheinungen. Experimente mit künstlichen
Werkzeugen, und Rechnung: dies sind die großen Hülfs-
mittel ihrer Entdeckungen.
Die Psychologie darf mit den Menschen nicht experi-
mentiren; und künstliche Werkzeuge giebt es für sie nicht.
Desto sorgfältiger wird die Hülfe der Rechnung zu benutzen
seyn. Jst erst hiedurch für die Grundbegriffe die wissen-
schaftliche Bestimmtheit gewonnen: dann beginnt das Ge-
schäftdes Zurückführens. Gesetzt z. B. man habe den Be-
griff von der Spannung entgegengesetzter Vorstellungen,
dann führt man auf die verschiedenen hiebey möglichen Um-
[5] stände, unter andern die Verschiedenheit der Gemüths-Zu-
stände zurück. Eben so, kennt man erst die Regeln der
Reproduction, nach welchen in den Vorstellungsreihen jede
Vorstellung zwischen andern hervortritt: dann führt man
darauf die räumliche und zeitliche Gestaltung der Sinnen-
dinge, und die logische Stellung der Begriffe zurück.
5. Die Physiologie bedient sich in der Betrachtung
des thierischen Lebens dreyer Hauptbegriffe; nämlich: Vege-
tation, Jrritabilität, und Sensibilität. Man kann versu-
chen, das Gefühlvermögen mit der Sensibilität, das Be-
gehrungsvermögen mit der Jrritabilität, das Vorstellungs-
vermögen mit der Vegetation zu vergleichen; so zeigt sich,
daß diese Analogie wenigstens in so fern einiges Licht giebt,
als die Vegetation fortdauert, während im Schlafe die Sen-
sibilität unmerklich wird, und die Jrritabilität der Muskeln
durch Erhohlung neue Kräfte gewinnt. Das Fortdauern
nämlich ist auch den Vorstellungen eigen. Sie bleiben, wenn
sie einmal zu bestimmten Kenntnissen ausgebildet wurden,
sich gleich bis ins hohe Alter, während Gefühle und Be-
gierdenwechseln und ermatten. Ferner ist die Vegetation
die Grundlage des leiblichen Lebens; dasselbe gilt von den
Vorstellungen im Geistigen. Doch darf die Analogie nicht
zu weit ausgedehnt werden. Jn den Pflanzen giebt es nur
Vegetation; keine merkliche Sensibilität und Jrritabilität,
außer in höchst seltenen und unvollkommenen Ausnahmen.
Dagegen sindet sich Vorstellen, Fühlen, Wollen stets ver-
bunden. Ueberdies ist das ganze geistige Dasein des Men-
schen ungleich veränderlicher als irgend ein Gegenstand der
Physiologie.
6. Wirft man einen, durch metaphysische Elementar-
begriffe geschärften, speculativen Blick auf den Menschen,
so stellt sich derselbe dar als ein Aggregat von Widersprü-
chen. Die innere Erfahrung hat nicht das allerge-
[6] ringste Vorrecht, wodurch sie mehr gelten könnte, als die
äußere; was auch die Schwärmerey für innere Anschauun-
gen von besonderer Wahrheit und Würde ersonnen hat, und
noch ersinnen mag, die man denen, welche einmal daran
glauben wollen, nicht entreißen kann. Dagegen aber er-
öffnet sich eine Aussicht auf Untersuchungen, wodurch der
empirische Stoff zu wahren Erkenntnissen könne verarbeitet
werden; welches freylich bey der psychologischen Empirie,
ihrer Unbestimmtheit und Unstetigkeit wegen, schwerer ist,
als bey manchen andern Theilen der menschlichen Erfahrung.
Nämlich es zeigt sich alles geistige Leben, wie wir es
an uns und an Andern beobachten, als ein zeitliches
Geschehen; als eine beständige Veränderung; als ein
Mannigfaltiges ungleichartiger Bestimmungen
in Einem; endlich als Bewußtseyn des Jch und Nicht-
Jch; welches alles zu den undenkbaren Formen der Erfah-
rung gehört. Auch selbst die Schwierigkeiten des materi-
ellenDaseyns sind hier nicht fern; denn wir können den
Geist des Menschen nur in Verbindung mit dem Leibe; und
ob die Unterscheidung des einen vom andern reale Gültigkeit
habe, kann die bloße Erfahrung nicht entscheiden.
7. Die nächste Entwickelung dieser Probleme geschieht
zwar durch die allgemeine Metaphysik; allein die weitere
Bearbeitung in psychologischer Hinsicht erfordert überdies hö-
here Mathematik, indem die Vorstellungen als Kräfte müssen
betrachtet werden, deren Wirksamkeit von ihrer Stärke, ihren
Gegensätzen und Verbindungen abhängt, welches alles Grad-
weise verschieden ist.
8. Doch in einer so leichten, fast populären Darstel-
lung, wie hier beabsichtigt wird *), kann die alte Hypothese [7] von den Seelenvermögen auch nicht ganz entbehrt werden.
Denn sie ist ein Werk langer Zeiten; und bezeichnet als sol-
chesden unvermeidlich nächsten Erfolg des natürlichen
Bestrebens, das geistige Leben des Menschen in Einem Bilde
zusammenzufassen. Sie ist eine Tradition, welche den Total-
Eindruck aller psychologischen Beobachtungen wiedergiebt.
Von ihr geleitet, werden wir die empirische Psychologie im
Umrisse zeigen, und deren auffallendste Fehler anmerken, um
das Bedürfniß einer Erklärung der Thatsachen fühlbar zu
machen.
Die ganze Abhandlung wird in folgende Haupttheile
zerfallen:
- Erster Theil: Grundlehre.
- Zweiter Theil: Empirische Psychologie.
- Dritter Theil: Rationale Psychologie.
9. Über Geschichte der Psychologie ist ein ausführliches
Werk von Carus vorhanden, welches den dritten Band
von dessen nachgelassenen Schriften ausmacht.
Anmerkung. Hier kann nur kurz gesagt, nicht im
einzelnen nachgewiesen werden, daß in den neueren Zeiten
die Psychologie vielmehr rückwärts, als vorwärts gegangen
ist. Locke und Leibnitz waren, in Rücksicht auf diese Wis-
senschaft, beide auf bessern, Wege, als auf dem wir durch
Wolff und Kant sind weiter geführt worden. Die letztge-
nannten nämlich sind die eigentlichen Absonderet der See-
lenvermögen, und müssen als solche zusammengestellt wer-
den,so weit sie auch übrigens von einander abweichen.
Das logische Geschäft, die geistigen Erscheinungen zu classi-
ficiren, ohne sich um ihre innere Möglichkeit näher zu be-
*)
[8] kümmern, war ganz in Wolffs Geiste; dabey ist er unüber-
trefflich in der Unbehutsamkeit, die größten Schwierigkeiten
mit Namen-Erklärungen zuzudecken. Kant bediente sich der
Seelenvermögen, um seine Untersuchungen der Form nach
dadurch deutlich darzustellen, daß er die menschliche Erkenntniß
in ihrem Fortgange von den Sinnen zur verständigen und ver-
nünftigen Ausbildung gleichsam begleitete; und es ist nicht
leicht, seine Kritiken von dieser Form zu entkleiden.
Von späteren Verwirrungen, da man entweder in rein-
empirischer Psychologie das, was Jeder ohnehin weiß, noch
einmal erzählen will, oder mit vorgeblicher Beobachtungs-
gabe im eignen Jnnern Entdeckungen gemacht haben will,
die Andre in sich nicht wiederfinden, oder auch der Psycho-
logie bald eine metaphysische, bald eine ethische, bald eine
religiöse, bald eine physiologische Farbe anstreicht, wobei
weder die gegenseitigen Grenzen noch die Verbindungen der
Wissenschaften beachtet werden, das Grundwesen des psychischen
Mechanismus aber gänzlich verborgen bleibt, — davon ist
hier nicht zu reden. Nur das Eine sey gesagt, daß die
Psychologie nicht ins Schöne malen darf. Sie soll nicht
bewundern, sondern erklären; nicht Seltenheiten aufzeigen,
sondern den Menschen, wie er ist, allgemein begreiflich ma-
chen; ihn weder in den Himmel erheben, noch den Geist
unauflöslich an den Staub heften; und die Wege der Un-
tersuchung nicht verschütten sondern eröffnen.
Erster Theil.
Grundlehre.
Erstes Capitel.
Von dem Zustande der Vorstellungen, wenn sie als Kräfte wirken.
10. Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander
widerstehen. Dieses geschieht, wenn ihrer mehrere entgegen-
gesetzte zusammentreffen.
Man fasse diesen Satz Anfangs so einfach als möglich.
Demnach werde dabey nicht an zusammengesetzte Vorstellun-
gen irgend einer Art gedacht, nicht an solche die irgend ein
Ding mit mehrern Merkmalen, oder etwas Zeitliches und
Räumliches bezeichnen, sondern an ganz einfache, wie roth,
blau, sauer, süß, und zwar nicht an die allgemeinen
Begriffe hievon, sondern an solche Vorstellungen, wie sie in
einer momentanen Auffassung durch die Sinne würden ent-
stehen können.
Wiederum aber gehört auch die Frage nach dem Ur-
sprunge der genannten Vorstellungen gar nicht hieher, viel
weniger darf schon jetzt auf irgend etwas anderes, das noch
sonst in der Seele seyn oder vorgehn möchte, Rücksicht ge-
nommen werden.
Der Satz sagt nun, daß die entgegengesetzten einander
widerstehen werden. Sie könnten auch nicht-entgegengesetzt
[10] seyn, wie ein Ton und eine Farbe. Es wird angenommen,
daß sie alsdann einander nicht widerstehen. (Mittelbarer
Weise kann es allerdings geschehen, wovon unten.)
Widerstand ist Kraftäußerung; dem Widerstehenden aber
ist sein Wirken ganz zufällig, es richtet sich nach der Anfechtung,
die unter Vorstellungen gegenseitig ist und durch den
Grad ihres Gegensatzes bestimmt wird. Dieser ihr Gegen-
satz also kann angesehen werden als das, wovon sie sämmt-
lich leiden. An sich selbst aber sind die Vorstellungen
nicht Kräfte.
11. Was geschieht nun durch den angegebenen Wider-
stand? Vernichten sich die Vorstellungen ganz oder theil-
weise? Oder bleiben sie unverändert, trotz dem Widerstande?
Vernichtete Vorstellungen sind so gut als gar keine.
Blieben aber die Vorstellungen, trotz der gegenseitigen An-
fechtung, ganz unveränderlich, so könnte nicht, wie wir je-
den Augenblick in uns wahrnehmen, eine von der andern
verdrängt werden. — Würde endlich das Vorgestellte
einer jeden Vorstellung durch ihren Widerstreit abgeändert,
so führte dieses nicht weiter, als ob von Anfang an ein
andres Vorgestelltes vorhanden gewesen wäre.
Das Vorstellen also muß nachgeben, ohne vernich-
tet zu werden. Daß heißt, das wirkliche Vorstellen
verwandelt sich in ein Streben vorzustellen.
Hier sagt schon der Ausdruck, daß, sobald das Hinder-
niß weicht, die Vorstellung durch ihr eigenes Streben wieder
hervortreten wird. — Darin liegt die Möglichkeit (obgleich
noch nicht für alle Fälle der einzige Grund) der Re-
production.
12. Wenn eine Vorstellung nicht ganz, sondern nur
zum Theil in ein Streben verwandelt wird, so hüte man
sich, diesen Theil für ein abgeschnittenes Stück der ganzen Vor-
stellung zu halten. Er hat zwar allemal eine bestimmte
[11] Größe (auf deren Kenntniß sehr viel ankommt), allein diese
Größe bezeichnet nur einen Grad der Verdunkelung
der ganzen Vorstellung. (Wenn in der Folge von meh-
rern solchen Theilen einer und derselben Vorstellung die Rede
seyn wird, so halte man diese Theile nicht für verschiedene
abgeschnittene Stücke, sondern man betrachte die kleinern
unter denselben als enthalten in den größeren.) Dasselbe
gilt von den Resten nach der Hemmung, d. h. von
denjenigen Theilen einer Vorstellung, die unverdunkelt bleiben,
denn auch diese Theile sind Grade, nämlich des wirk-
lichen Vorstellens.
Zweites Capitel.
Vom Gleichgewichte und den Bewegungen der Vorstellungen.
13. Vorstellungen sind im Gleichgewichte, wenn der
nothwendigen Hemmung unter ihnen gerade Genüge gesche-
hen ist. Nur allmählig kommen sie dahin; die fortgehende
Veränderung ihres Grades von Verdunkelung nenne man
ihre Bewegung.
Mit der Berechnung des Gleichgewichts und der Be-
wegung der Vorstellungen beschäfftigt sich die Statik und
Mechanik des Geistes.
14. Alle Untersuchungen der Statik des Geistes be-
ginnen mit zwei verschiedenen Größen-Bestimmungen; es
kommt nämlich dabei an auf die Summe der Hemmung
und auf das Hemmungs-Verhältniß. Jene ist gleichsam
die zu vertheilende Last, welche aus den Gegensätzen der
Vorstellungen entspringt. Weiß man sie anzugeben und
[12] kennt man das Verhältniß, in welchem die verschiedenen
Vorstellungen ihr nachgeben, so findet man durch eine leichte
Proportions-Rechnung den statischen Punkt einer jeden
Vorstellung, d. h. den Grad ihrer Verdunkelung im Gleich-
gewichte.
15. Die Summe sowohl als das Verhältniß der Hem-
mung hängt ab von der Stärke jeder einzelnen Vorstellung, —
sie leidet die Hemmung im umgekehrten Verhältnisse ihrer
Stärke, — und von dem Grade des Gegensatzes un-
ter je zweyen Vorstellungen, denn mit ihm steht ihre Wir-
kung auf einander im geraden Verhältniß.
Der Hauptgrundsatz zur Bestimmung der Hemmungs-
Summe ist, daß man sie als möglichst klein betrachten müsse,
weil alle Vorstellungen der Hemmung entgegenstreben, und
gewiß nicht mehr als nöthig davon übernehmen.
16. Durch die wirkliche Rechnung erhält man das
merkwürdige Resultat: daß zwar unter zweien Vorstellungen
eine die andre niemals ganz verdunkelt, wohl aber unter
dreyen oder mehrern sehr leicht eine ganz verdrängt, und
ungeachtet ihres fortdauernden Strebens so unwirksam ge-
macht werden kann, als ob sie gar nicht vorhanden wäre.
Ja dies kann einer wie immer großen Anzahl von Vorstel-
lungen begegnen, und zwar durch zwei, oder überhaupt durch
wenig stärkere.
Hier muß der Ausdruck: Schwelle des Bewußt-
seyns, erklärt werden, dessen wir manchmal bedürfen wer-
den. Eine Vorstellung ist im Bewußtseyn, in wiefern
sie nicht gehemmt, sondern ein wirkliches Vorstellen ist.
Sie tritt ins Bewußtseyn, wenn sie aus einem Zustande
völliger Hemmung so eben sich erhebt. Hier also ist sie
an der Schwelle des Bewußtseins. Es ist sehr wichtig,
durch Rechnung zu bestimmen, wie stark eine Vorstellung
seyn müsse, um neben zweien oder mehrern stärkeren noch
[13] gerade auf der Schwelle des Bewußtseyns stehn zu können,
so daß sie beym geringsten Nachgeben des Hindernisses so-
gleich anfangen würde, in ein wirkliches Vorstellen über-
zugehn.
Anmerkung. Der Ausdruck: eine Vorstellung
ist im Bewußtseyn, muß unterschieden werden von dem:
ich bin mir meiner Vorstellung bewußt. Zu dem
letztern gehört innere Wahrnehmung, zum erstern nicht.
Man bedarf in der Psychologie durchaus eines Worts, das
die Gesammtheit alles gleichzeitigen wirklichen
Vorstellens bezeichne. Dafür findet sich kein anderes,
als das Wort Bewußtseyn. Man wird sich hier einen
erweiterten Sprachgebrauch müssen gefallen lassen, um so
mehr, da die innere Wahrnehmung, welche man sonst zum
Bewußtseyn erfordert, keine veste Gränze hat, wo sie an-
fängt und aufhört; und da überdies der Actus des Wahr-
nehmens selbst nicht wahrgenommen wird, so daß man die-
sen, weil man sich seiner nicht bewußt ist, auch von dem
Bewußtseyn ausschließen müßte, obgleich er ein actives
Wissen, und keinesweges eine gehemmte Vorstellung ist.
17. Unter den höchst mannigfaltigen und größten-
theils sehr verwickelten Bewegungs -
Gesetzen der Vorstellun-
gen ist folgendes das einfachste:
Während die Hemmungssumme sinkt, ist
dem noch ungehemmten Quantum derselben in
jedem Augenblicke das Sinkende proportional.
Hieraus erkennt man den ganzen Verlauf des Sinkens
bis zum statischen Puncte.
Anmerkung. Jn mathematischen Ausdrücken ergiebt
sich daraus das Gesetz: σ=S (i-e-t), wo S die Hem-
mungssumme, t die abgelausene Zeit, σ das in dieser Zeit
von sämmtlichen Vorstellungen gehemmte bedeutet. Jndem
man das letztere auf die einzelnen Vorstellungen vertheilt,
[14] findet sich, daß diejenigen, welche unter die statische Schwelle
(16) fallen, sehr schnell dahin getrieben werden, während
die übrigen ihren statischen Punct in keiner endlichen Zeit
ganz genau erreichen. Wegen des letztern Umstandes sind
beym wachenden Menschen, selbst im besten Gleichmuthe,
doch immer die Vorstellungen in einem gelinden Schweben
begriffen. Dies ist auch der erste Grund, warum die innere
Wahrnehmung niemals einen Gegenstand antrifft, der ihr
ganz still hielte.
18. Wenn zu mehrern Vorstellungen, die schon ihrem
Gleichgewichte nahe waren, eine neue kommt, so entsteht
eine Bewegung, bey welcher jene auf kurze Zeit unter ihren
statischen Punct sinken, nach deren Verlauf sie sich schnell,
und ganz von selbst, wieder erheben. (Ungefähr wie eine
Flüssigkeit erst sinkt, dann steigt, wenn etwas hineingewor-
fen wird.) Hiebei kommen mehrere merkwürdige Um-
stände vor.
19. Erstlich: eine der älteren Vorstellungen kann bey
dieser Gelegenheit durch eine neue, die viel schwächer ist als
sie, auf eine Zeitlang völlig aus dem Bewußtseyn verdrängt
werden. Alsdann aber ist ihr Streben nicht als unwirksam
zu betrachten (wie in dem Falle oben, 16), sondern es
arbeitet mit ganzer Macht wider die im Bewußtseyn befind-
lichen Vorstellungen. Sie bewirkt also einen Zustand des
Bewußtseyns, während ihr Object keinesweges wirklich vor-
gestellt wird. Man benenne die Art und Weise, wie jene
Vorstellungen aus dem Bewußtseyn verdrängt und doch
darin wirksam sind, mit dem Ausdrucke: sie sind auf
der mechanischen Schwelle; die obige Schwelle (16)
heiße dagegen zum Unterschiede die statische Schwelle.
Anmerkung. Wirkten die Vorstellungen auf der
statischen Schwelle eben so, wie die auf der mechanischen
so würden wir uns unaufhörlich in dem Zustande der un-
[15]
erträglichsten
Beklemmung besinden, oder vielmehr, der
menschliche Leib würde in eine Spannung gerathen, die in
wenigen Augenblicken tödten müßte, wie schon jetzt der
Schreck zuweilen tödtlich wird. Denn alle die Vorstellun-
gen, welche, wie wir zu sagen Pflegen, das Gedächtniß auf-
bewahrt, und von denen wir wohl wissen, daß sie sich bey
der leichtesten Veranlassung reproduciren können, — sind im
unaufhörlichen Aufstreben begriffen; jedoch leidet der Zustand
des Bewußtseyns von ihnen gar nichts.
20. Zweitens: die Zeit, wahrend welcher eine oder
einige Vorstellungen auf der mechanischen Schwelle verwei-
len, kann verlängert werden, wenn eine Reihe von.neuen,
aber schwächern Vorstellungen, successiv hinzukommt.
Jn diesen Fall versetzt uns jede, nicht ganz und gar
gewohnte, anhaltende Beschäfftigung. Sie drangt die frü-
hern Vorstellungen zurück; diese aber, weil sie die stärkern
sind, bleiben gespannt, afficiren mehr und mehr den Orga-
nismus, und machen es endlich nothwendig, daß die Be-
schäftigung aufhöre; alsdann erheben sie sich schnell, mit
einem Gefühl der Erleichterung, das man Erhohlung
nennt und das zum Theil vom Organismus abhängt, ob-
gleich die erste Ursache rein psychologisch ist.
21. Drittens: wenn mehrere Vorstellungen nach ein-
ander auf die mechanische Schwelle getrieben werden, so ent-
stehen schnell hinter einander mehrere plötzliche Abän-
derungen in den Gesetzen der geistigen Bewegungen.
Auf solche Weise erklärt es sich, daß der Lauf unserer
Gedanken so oft stoßweise und springend, ja scheinbar ganz
unregelmäßig gesunden wird. Dieser Schein betriegt, so
wie das Umherirren der Planeten. Die Gesetzmäßigkeit im
menschlichen Geiste gleicht vollkommen der am Sternen-
himmel.
Anmerkung. Als ein Gegenstück zu den zugleich
[16] sinkenden Vorstellungen sind die zugleich steigenden zu
betrachten, besonders wenn sie frey steigen, d.h. wenn eine
beengende Umgebung, oder ein allgemeiner Druck, auf ein-
mal verschwindet. Mit ihrem Steigen wachst alsdann ihre
Hemmungssumme; daher von dreyen eine gleichsam zurück-
gebogen wird und unter Umständen ganz wieder auf die
Schwelle sinkt. Der Punct, bis zu welchem sie steigen,
steht beträchtlich höher, als der, auf welchen sie zugleich
sinkend sich gegenseitig würden herabgedrückt haben; weil im
Sinken die Hemmungssumme von ihrer ganzen Stärke ab-
hangt, welches im allmähligen Steigen nicht der Fall ist *)
Drittes Capitel. Von den Complexionen und Verschmelzungen.
22. Der sehr leicht begreifliche metaphysische Grund,
weswegen entgegengesetzte Vorstellungen einander widerste-
hen, ist die Einheit der Seele, deren Selbsterhaltun-
gen sie sind **)
. Eben dieser Grund erklärt ohne Mühe
die Verbindung unserer Vorstellungen; die übrigens als
Thatsache bekannt ist. Alle Vorstellungen würden nur Einen
Act der Einen Seele ausmachen, wenn sie sich nicht ihrer
Gegensätze wegen hemmten, und sie machen wirklich
nur Einen Act aus, in wiesern sie nicht durch
irgend welche Hemmungen in ein Vieles gespal-
[17] ten
sind. Vorstellungen auf der Schwelle des Bewußt-
seyns können mit andern nicht in Verbindung treten, denn
sie sind ganz und gar in ein Streben wider bestimmte an-
dere verwandelt und dadurch gleichsam isolirt. Aber im Be-
wußtseyn verknüpfen sich die Vorstellungen auf zweierley
Weise: erstlich compliciren sich die nicht-entgegengesetz-
ten (wie Ton und Farbe), so weit sie ungehemmt zusammen-
treffen; zweitens verschmelzen die entgegengesetzten, so
weit sie im Zusammentreffen weder von zufalliger fremder, noch
von der unvermeidlichen gegenseitigen Hemmung leiden. Die
Complicationen können vollkommen seyn, die Verschmel-
zungen sind ihrer Natur nach allemal unvollkommen.
Anmerkung. Von solchen Complerionen, die wenig-
stens theilweise und beynahe vollkommen sind, haben wir
merkwürdige Beyspiele an den Vorstellungen der Dinge
mitmehrern Merkmalen, und der Worte, als Zei-
chen der Gedanken. Die letztern, Gedanken und Worte,
sind in der Muttersprache so eng verbunden, daß es den
Schein gewinnt, als ob man vermittelst der Worte dächte.
Über beyde Beispiele tiefer unten ein Mehreres. Unter den
Verschmelzungen sind besonders merkwürdig theils die, wel-
che ein ästhetisches Verhältniß in sich fassen (welches,
psychologisch genommen, zugleich mit der Verschmelzung er-
zeugt wird), theils die, welche Reihenfolgen bilden, wo-
rin die Reihen formen ihren Ursprung haben.
23. Was von mehrern Vorstellungen complicirt oder
verschmolzen ist, das ergiebt eine Totalkraft, und wirkt des-
halb nach ganz andern statischen und mechanischen Gesetzen,
als wornach die einzelnen Vorstellungen sich würden gerich-
tet haben. Auch die Schwellen des Bewußtseyns ändern
sich darnach, so daß, wegen einer Verbindung, auch eine
äußerst schwache Vorstellung im Bewußtseyn bleiben und da-
rin wirken kann.
[18]
Anmerkung l. Die Rechnung für Complerionen und
Verschmelzungen beruht zwar auf den nämlichen Gründen,
wie. die für einfache Vorstellungen; allein sie ist weit ver-
wickelte, besonders weil bey unvollkommenen Verbindun-
gen sowohl die Gesammtkräfte als ihre Hemmungen zum
Theil in einander verschränkt liegen.
Anmerkung 2. Die Verbindungen der Vorstellungen
sind zwar nicht bloß zwey-
oder dreygliedrig, sondern sie ent-
halten oftmals sehr viele Glieder in sehr ungleichen Gra-
den der Complication oder Verschmelzung; und dieser Man-
nigfaltigkeit kann keine Rechnung nachkommen. Nichts desto
weniger lassen sich zum Behuf der letztern die einfachsten
Fälle herausheben und die verwickelten darnach schätzen;
und die einfachsten Gesetze sind für jede Wissenschaft die
wichtigsten.
24. Aufgabe. Von zweyen Vorstellungen P und
π sind nach der Hemmung die Reste r und ρ verschmolzen
(oder unvollkommen complicirt): man soll angeben, welche
Hülfe eine der beyden Vorstellungen, falls sie noch mehr
gehemmt wird, von der andern erhält.
Auflösung. P sey die helfende, so hilft sie mit einer
Kraft = r, allein diese Kraft kann sich π nur aneignen in
dem Verhältniß ρ=π Daher erhält π durch P die Hülfe
und eben so P von π die Hülfe .
Der Beweis liegt unmittelbar in der Auseinandersetzung
der Begriffe. Es ist klar, daß beyde Reste, r und ρ, zu-
sammengenommen den Grad der Verbindung unter beyden
Vorstellungen bestimmen. Einer davon ist die helfende Kraft,
der andre, verglichen mit der Vorstellung, welcher er angehört,
ist als Bruch eines Ganzen zu betrachten, und ergiebt von der
ganzen Hülse, die durch jenen ersten Rest konnte geleistet
werden, denjenigen Bruch, der hier zur Wirksamkeit gelangt.
[19]
25. Man merke sich noch folgende Haupt-Sätze:
a) Über den Verbindungspunct hinaus wirkt
keine Hülse. Hat die Vorstellung π mehr Klarheit im Be-
wußtseyn, als der Rest ρ anzeigt, so ist dem Streben der
Vorstellung P, welches jener zu Hülse kommen konnte,
schon mehr als Genüge geschehn, daher es für jetzt keine
Wirkung mehr äußert.
b) Je tiefer unter dem Verbindungspuncte die eine
der Vorstellungen sich befindet, desto wirksamer hilft die
andere.
Anmerkung. Dieses giebt die nachstehende Differen-
tialgleichung :
woraus durch Jntegration
Diese Gleichung enthält den Keim sehr mannigfaltiger
und tief in das Ganze der Psychologie hineingreifender Un-
tersuchungen. Sie ist freylich so einfach, wie niemals in
der Wirklichkeit sich etwas in der menschlichen Seele ereig-
nen kann; aber alle»Untersuchungen der angewandten Mathe-
matik beginnen mit so einfachen Voraussetzungen, der-
gleichen nur in der Abstraction existiren. (Man denke an
den mathematischen Hebel, an die Gesetze des Fallens im
luftleeren Raume u. s. w.) Es ist hier bloß die Wirkung
der Hülse in Betracht gezogen, welche während der Zeit t
ein Quantum ω von π ins Bewußtseyn bringen würde,
wenn alles von ihr allein abhinge. Will man daneben nur
noch auf den einzigen Umstand, daß π einer unvermeidlichen
Hemmung durch andre Vorstellungen entgegengeht, Rücksicht
nehmen, so verwickelt sich die Rechnung so sehr, daß sie
durch Jntegration einer Gleichung von folgender Form:
[20]
nur noch annäherungsweise aufgelöset wird. Daß sie um
eben so viel näher die Thatsachen ausdrückt, welche in der
Erfahrung beobachtet werden, versteht sich von selbst.
26. Das Vorstehende enthält die Grundlage der Lehre
von der mittelbaren Reproduction, die man von der
Association der Vorstellungen, nach gewöhnlicher Benen-
nung , herleitet. Bevor wir dieselbe weiter verfolgen, müssen
wir der unmittelbaren Reproduction erwähnen, das
heißt, derjenigen, welche durch eigne Kraft erfolgt, sobald
die Hindernisse weichen. Der gewöhnliche Fall ist, daß eine
neue Wahrnehmung die ältere Vorstellung des nämlichen,
oder eines ganz ähnlichen, Gegenstandes wieder hervortreten
läßt. Dieses geschieht, indem die neue Wahrnehmung alles,
der ältern gleichartigen Vorstellung entgenstehende, was eben
im Bewußtseyn vorhanden ist, zurückdrängt. Alsdann er-
hebt sich die ältere ohne Weiteres von selbst. Dabey sind
folgende Umstände zu merken, welche durch Rechnung (von
der sich jedoch hier kein Begriff geben läßt) gesunden werden:
a) Das Hervortreten richtet sich in seinem ersten
Beginnen nach dem Quadrate der Zeit, wenn die
neue Wahrnehmung plötzlich hinzukommt; aber nach dem
Kubus der Zeit, wenn die letztre (wie gewöhnlich) in
einem allmähligen und verweilenden Auffassen gebildet wird *).
b) Der Fortgang des Hervortretens richtet sich haupt-
sächlich nach der Stärke der neuen Wahrnehmung, im Ver-
hältniß zu dem entgegengesetzten, was sie zurückzudrängen hat;
aber nur unter besondern Umständen hat darauf die eigne
Stärke der hervortretenden Vorstellung Einfluß. Sie kann
gleichsam diese Stärke nur in dem freuen Raume gebrauchen,
der ihr gegeben wird.
[21]
c) Die hervortretende verschmilzt als solche mit der
ihr gleichartigen neuen Wahrnehmung. Da sie aber nicht
ganz hervortritt, so wird die Verschmelzung nicht voll-
kommen.
d) Vorzüglich wichtig ist der Umstand, daß die un-
mittelbare Reproduction sich nicht lediglich auf die ältere
ganz gleichartige Vorstellung beschränkt, sondern auf die
mehr oder weniger gleichartigen in so weit übergeht als
auch ihnen Befreyung durch die neue Wahrnehmung zu
Theil wird. Die ganze Reproduction werde nun mit dem
Namen der Wölbung bezeichnet: so folgt im Falle einer
längern Dauer, oder auf einer öftern Wiederhohlung der
neuen Wahrnehmung, noch ein zweiter wichtiger Proceß, den
wir Zuspitzung nennen. Er besteht nämlich darin, daß
die wenigen gleichartigen Vorstellungen, da sie ihr Entge-
gengesetztes mit sich ins Bewußtseyn bringen, durch die neue
Wahrnehmung wieder gehemmt werden, so daß sich die
ganz gleichartige Vorstellung zuletzt allein begünstigt findet,
und gleichsam eine Spitze bildet, wo vorher der oberste
Punct des Gewölbes war.
27. Mit dieser unmittelbaren Reproduction verbindet
sich nun, wo die Umstände es gestatten, jene mittelbare
(25). Das obige P reproducire sich unmittelbar, so kam
der ihm gegebene freye Raum als jenes r betrachtet
werden, oder als eine Kraft, welche nun auch das mit ver-
schmolzene π bis auf seinen Verschmelzungspunct ρ zu he-
ben bemüht ist.
Anmerkung. Da der freye Raum allmählig wach-
send (und wieder abnehmend) gegeben wird, so muß man
sich in der Formel für die gegenwär-
tige Betrachtung r als eine veränderliche Größe, und zwar
[22] als Function derjenigen Größen denken, wovon die Be-
stimmungen in (26) abhängen.
28. Die wichtigsten Anwendungen der bisherigen Lehren
finden sich, wenn mit verschiedenen Restenr, r‘,
r‘‘, u. s. w. einer und derselben VorstellungP,
mehrere π, π‘, π‘‘, u. s. w. verbunden sind; wobey
man der Kürze wegen die Reste der letzteren, nämlich ρ, ρ‘, ρ‘‘, u. s. w. für gleich annehmen mag; auch können π, π,
u. s. w. gleich seyn:
Eine Vorstellung wirkt auf mehrere mit ihr
verbundene in derselben Reihenfolge der Zeit
nach, worin ihre Reste, durch welche sie mit jenen
andern verbunden ist der Größe nach stehen.
Anmerkung. Dieses höchst wichtige Gesetz ist hier
in Worten nur sehr unvollkommen ausgedrückt, um große
Weitläufigkeit zu vermeiden. Besser und klärer erkennt man
es in der schon angegebenen Formel
wenn man statt des einen r darin verschiedene kleinere und
größere r, r‘, r‘‘, u. s. w. substituirt. Aber die genauere
Rechnung, deren in (25) erwähnt ist, zeigt, daß die mit
verschmolzenen π, π‘, π‘‘, u. s. w. nicht bloß steigen, son-
dern auch wieder sinken, gleichsam um einander Platz zu
machen, und zwar in der Ordnung der r, r‘, r,‘‘ u. s. w.
29. Hier entdeckt sich der Grund der treuen Re-
production, oder des Gedächtnisses, so sern es uns Rei-
hen von Vorstellungen in der nämlichen Ordnung und Fol-
ge wiederbringt, wie dieselben waren aufgefaßt worden. Um
dieses einzusehen, muß man zuerst überlegen, welche Verbin-
dung unter mehrern Vorstellungen entstehe, die successiv ge-
geben werden.
Eine Reihe a, b, c, d, ... sey in der Wahrnehmung
gegeben worden, so ist durch andere, im Bewußtseyn vor-
[23]
handene,
Vorstellungen schon a, von dem ersten Augenblicke
der Wahrnehmung an, und während deren Dauer, einer
Hemmung ausgesetzt gewesen. Jndessen nun a, schon zum
Theil im Bewußtseyn gesunken, mehr und mehr gehemntt
wurde, kam b dazu. Dieses, anfangs ungehemmt, ver-
schmolz mit dem sinkenden a. Es folgte c, und verband
sich, selbst ungehemmt, mit dem sich verdunkelnden b und
dem mehr verdunkelten a. Desgleichen folgte d, um sich
in verschiedenen Abstusungen mit a, b, c zu verknüpfen. —
Hieraus entspringt für jede von diesen Vorstellungen ein
Gesetz, wie sie, nachdem die ganze Reihe eine Zeitlang aus
dem Bewußtseyn verdrängt war, auf eigne Weise beym er-
neuerten Hervortreten jede andre Vorstellung der nämli-
chen Reihe aufzurufen bemüht ist. Angenommen, a erhebe
sich zuerst, so ist es mehr mit b, minder mit c, noch min-
der mit d u. s. w. verknüpft; rückwärts aber sind b, c, d,
sämmtlich im ungehemmten Zustande den Resten von a
verschmolzen; folglich sucht a sie alle völlig wiederum bis
zum ungehemmten Vorstellen zu bringen; aber es wirkt
am schnellen und stärksten auf b, langsamere auf c, noch
langsamere auf d, u.s. w. (wobey die feinere Untersuchung
ergiebt, daß b, wieder sinkt, indem c noch steigt; eben so c
sich senkt, während d steigt, u. s. w.); kurz, die Reihe läuft
ab, wie sie gegeben war. — Nehmen wir dagegen an, c
werde ursprünglich reproducirt, so wirkt es zwar auf d und
die nachfolgenden gerade, wie eben von a gezeigt, das heißt,
die Reihe c, d, ... läuft ihrer Ordnung gemäß allmählig
ab. Hingegen b und a erfahren einen ganz an-
dern Einfluß; mit ihren verschiedenen Resten war das
ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie
mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber
nur, um den mit ihm verbundenen Rest von a und von b
zurückzurufen, also, um einen Theil von d und einen
[24] kleinern Theil von a ins Bewußtsein zu bringen. So
geschieht es, wenn wir an irgend etwas aus der Mitte einer
uns bekannten Reihe erinnert werden; das vorhergehende
stellt sich auf einmal, in abgestufter Klarheit dar;
das nachfolgende hingegen läuft in unsern Gedanken
ab, wie die Reihenfolge es mit sich bringt. Aber niemals
läuft die Reihe rückwärts, niemals entsteht, ohne geflissent-
liches Bemühen, ein Anagramm aus einem wohl aufgefaßten
Worte*)
30. Mehrere Reihen können sich kreuzen, z. B. A, b,
c, d, e, und α, β, γ, δ, ε wo c in beyden Reihen vor-
kommt. Wird nun c allein reproducirt, so strebt es sowohl
d und e, als δ und ε hervorzurufen. Kommt aber b hinzu, so
tritt entschieden die erste Reihe hervor, wegen der zusammen-
wirkenden Hülsen von b und c. Doch haben die Gegensätze
unter den Gliedern der beyden Reihen hiebey Einfluß.
Man bemerke, daß nach dem hier gegebenen einfachen
Typus sehr verwickelte und mannigfaltige psychologische Er-
eignisse sich richten können. Das nämliche c kann in vielen
hundert Reihen als gemeinschaftlicher Durchschnittspunct ent-
halten seyn; wegen der mannigfaltigen Gegensätze in diesen
Reihen wird es keine derselben merklich heben können, aber
sobald b und aals nähere Bestimmungen des c
hinzukommen, wird die Unentschiedenheit verschwinden und
die erste obige Reihe wirklich ablaufen.
34. Das bisherige beruht auf der vorausgesetzten Ver-
schiedenheit der Reste r, r‘, r‘‘, u. s. w. (28). Allein damit
dieselbe etwas wirken könne, muß die Vorstellung, der diese
Reste angehören, weit genug im Bewußtseyn hervortreten.
[25]
Gesetzt, sie sey noch so weit gehemmt, daß ihr actives Vor-
stellen nicht mehr betrage, als der kleinste unter den Resten
r, r‘, r‘‘, u. s. w., so wirkt sie auf die ganze Reihe der
mit ihr verschmolzenen Vorstellungen gleichmäßig, so daß
ein dunkler Gesammt-Eindruck aus allen ins Be-
wußtseyn kommt. Der Grund hievon liegt in (27) verbun-
den mit (12). Die Reste sind nicht verschiedene abgeschnit-
tene Stücke einer und derselben Vorstellung; ist also von
der letzter n ein Weniges im Bewußtseyn, so darf man nicht
erst fragen, ob dieses Wenige wohl einer, und vielleicht ge-
rade der kleinste unter jenen Resten seyn möge, sondern man
muß voraussetzen, er sey es wirklich, zugleich aber sey es
auch ein Theil jedes andern größern Restes. Erhebt sich
nun aber die wirkende Vorstellung allmählig höher ins Be-
wußtseyn, alsdann gewinnen die Reste, von den kleineren zu
den größeren hin, einer nach dem andern ein eigenthümli-
ches Gesetz der Wirkung. Dadurch tritt nun der obige
dunkle Gesammt-Eindruck, in welchem eine ganze Reihe von
Vorstellungen eingewickelt lag, allmählig aus einander.
Anmerkung. Hiemit müssen unter andern die Phä-
nomene verglichen werden, die bei der Uebung und Fer-
tigkeit vorkommen. Daß übrigens nicht jeder Gedan-
kenlauf einmal gebildete Reihen treulich wiederhohlt, davon
liegt zum Theil der Grund in den Größen π und ρ (25),
auf deren mögliche Verschiedenheit wir uns hier nicht wei-
ter einlassen können. Andre hinzukommende Umstände wird
man aus dem Folgenden entnehmen können.
32. Sind frey steigende Vorstellungen (deren in der
Schluß-Anmerkung zum vorigen Capitel erwähnt worden)
abgestuft verschmolzen: so giebt es für sie andre Repro-
ductionsgesetze, die sich aus der Verschmelzung, und ver-
schieden nach deren Verschiedenheiten, erzeugen und be-
stimmen. Hieraus entspringt unter Umständen ebenfalls Rei-
[26] Henbildung
und Gestaltung; welche abweicht von der Gestal-
tung analoger Vorstellungen, falls dieselben gegeben werden
und dann sinken. Daraus erklärt sich der Conflict zwischen
den Dingen wie wir sie wahrnehmen und wie wir sie den-
ken;und hiemit die Neigung, sie anders zu formen oder
doch zu besehen, als so, wie sie sich zuerst darstellen; mithin
das Eingreifen der Selbstthätigkeit in das, was der Wahr-
nehmung vorliegt; wie es insbesondre bey Kindern, auch ohne
weitern Zweck, häufig vorkommt.
Viertes Capitel.
Von den Vorstellungen als dem Sitze der Gemüthszustände.
33. Einer von den Einwürfen gegen die mathema-
tische Psychologie lautet so: die Mathematik bestimme nur
Quanta, die Psychologie aber habe vorzüglich auf Quali-
täten zu sehen., Es ist jetzt Zeit, diesem Einwurfe zu be-
gegnen und den Vorrath von Erklärungsgründen der Ge-
müthszustände zu sammeln, welchen uns das Vorstehende
darbietet.
Hiebey müssen wir zuvörderst bemerken, daß das eigent-
liche Streben vorzustellen (11) niemals unmittelbar
im Bewußtsein erscheint, denn gerade so weit, als die Vor-
stellungen sich in ein Streben verwandeln, sind sie aus dem
Bewußtseyn verdrängt. Auch das allmählige Sinken dersel-
ben kann nicht wahrgenommen werden. Daß Niemand sein
eignes Einschlafen zu beobachten vermag, ist hievon ein be-
sonderer Fall.
Die Seele wird Geist genannt, so sern sie vorstellt,
Gemüth, so gern sie fühlt und begehrt. Das Gemüth [27] aber hat seinen Sitz im Geiste, oder, Fühlen und
Begehren sind zunächst Zustände der Vorstellungen, und
zwar größerntheils wandelbare Zustände der letzteren.
Dies zeigen schon die Affecten. Aber auch die Erfah-
rung im Großen bestätigt es. Der Mann empfindet we-
nig von den Freuden und Leiden seiner Jugend; hingegen
was der Knabe recht lernte, das weiß noch der Greis. Jn
wiefern es dennoch eine bleibende Gemüthsart, und vor
allen Dingen einen Charakter geben könne, das werden
nach und nach die Erläuterungen des aufgestellten Haupt-
satzes zugleich mit aufklären.
34. Zuvörderst giebt es eine Verschmelzung der Vor-
stellungen nicht bloß nach der Hemmung (.22), sondern
eine davon ganz verschiedene vor der Hemmung, wofern
die Hemmungsgrade (15) dazu klein genug sind. Hierin
liegt ein Princip ästhetischer Urtheile. Die ange-
nehmen Gefühle im engsten Sinne nebst ihren Ge-
gentheilen, müssen denselben analog betrachtet werden.
(Nämlich als entspringend aus Verhältnissen sehr vieler
Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja
die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht geson-
dert können wahrgenommen werden.)
Anmerkung. Bey der Ausführung dieser Untersu-
chung bietet sich als ein Erfahrungsgegenstand die Reihe
von Tonverhältnissen dar, auf denen die Musik be-
ruht. Bey einfachen Tönen entscheidet der Hemmungsgrad
(das Jntervall der Töne) ganz allein und unmittelbar über
den ästhetischen Charakter ihres Verhältnisses. Es ist also
gewiß, daß man bloß in der Verschiedenheit der Hemmungs-
grade die psychologische Erklärung (weit verschieden von der akustischen) aller Harmonie zu suchen hat, und daß man
sie darin muß finden können. Die dazu nöthigen Rechnun-
gen sind größtentheils geliefert im zweyten Hefte des Kö-
[28] Nigsberger
Archivs für Philosophie, u. s. w. Hier kann
aus der etwas weitläuftigen Untersuchung nur der Haupt-
satz angegeben werden, den die Erfahrung entschieden be-stätigt:
Wenn die Kräfte, worin die Vorstellungen
durch ihre Gleichheit und ihre Gegensätze einan-
der zerlegen, gleich stark sind, so entsteht Dis-
harmonie. Jst aber eine dieser Kräfte gegen
die übrigen in solchem Verhältnisse, daß sie
von denselben gerade auf die statische Schwelle
(16) getrieben wird, alsdann ist ein harmoni-
sches Verhältniß vorhanden.
35. Zweytens: ein Princip des Contrastes findet
sich in den Complexionen (22), die wir hier als vollkom-
men betrachten.
Die Complerionen a+α, und b+β, sind ähnlich,
wofern a:α=b:β; wo nicht, so sind sie unähnlich. Der
Hemmungsgrad zwischen a und b sey=p; der zwischen
α und β,=π. Wenn nun p=π bey ähnlichen Com-
plexionen, alsdann, und nur dann, werden die einzelnen
Vorstellungen gerade so gehemmt, wie wennn sie in keiner
Verbindung gestanden hätten; auch entsteht alsdann kein
Gefühl des Contrastes, indem die Hemmung so von Stat-
ten geht, wie es die Gegensätze mit sich bringen. Allein
bey jeder Abweichung von dem eben aufgestellten Falle lei-
den die minder entgegengesetzten Vorstellungen durch ihre
Verbindung mit dem andern Paare; aber dadurch wird die-
sem ein Theil der Hemmung erspart; es bleibt demnach,
dem Gegensatze zum Trotz, etwas im Bewußt-
seyn, das sich widerstrebt; und hierin eben liegt das
Gefühl des Contrasts. Jst π \< p, so wird der Contrast
zwischen a und b gefühlt, nicht der zwischen α und β.
[29] Umgekehrt, wenn
π\>p. Für
π=0 ist der Contrast zwi-
schen a und b am größten.
36. Drittens: Eine Complexion a+α werde repro-
ducirt vermittelst einer neuen Wahrnehmung, die dem a
gleichartig ist (nach 26). Jndem nun auch α wegen seiner
Verbindung mit a hervortritt, treffe es im Bewußtseyn eine
ihm entgegengesetzte Vorstellung β. So wird α zu-
gleich hervorgetrieben und zurückgehalten; in
dieser Klemme ist es der Sitz eines unangeneh-
men Gefühls, welches in Begierde übergehn kann
(nämlich nach dem durch α vorgestellten Objecte), wofern
die Hemmung durch β schwächer ist als die Kraft, mit wel-
cher α hervortritt.
Dies ist der gewöhnliche Fall, wie Begierden durch
eine Erinnerung an ihre Gegenstände aufgeregt werden.
Die Stöße der Begierde erneuern sich, wenn die Erinne-
rung durch mehrere Nebenvorstellungen eine Verstärkung er-
hält; sie wechseln ab mit schmerzlichen Gefühlen der Ent-
behrung, so oft die hemmenden Vorstellungen (von den
Hindernissen, die dem Verlangen im Wege stehn) das Über-
gewicht erlangen.
37. Viertens: Eine Vorstellung trete hervor durch
eigne Kraft (etwa reproducirt nach 26), zugleich werde sie
durch mehrere Hülsen (24) hervorgerufen. Da jede der
Hülfen ihr eignes Zeitmaaß hat, in welchem sie wirkt (nach
der Formel in 25), so können die Hülfen einander wohl
verstärken (gegen ein mögliches Hinderniß), aber nicht
beschleunigen. Die Bewegung im Hervortreten geschieht
also nur mit derjenigen Geschwindigkeit, welche unter den
mehrern zusammentreffenden die größte ist; aber sie ge-
schieht zugleich begünstigt durch alle übrigen.
Diese Begünstigung ist eine Bestimmung dessen, was im Be-
wußtseyn vorgeht, aber keinesweges eine Bestimmung irgend
[30] eines Vorgestellten; sie kann also nur Gefühl heißen; ohne
Zweifel ein Lustgefühl.
Hier ist der Sitz der heitern Gemüthsstimmung, ins-
besondere der Freude an gelingender Thätigkeit. Eben da-
hin gehören mehrfache, von außen angeregte, Bewegungen,
die einander nicht beschleunigen, aber begünstigen, z. B.
Tanz und Musik. Desgleichen das Handeln nach mehrern
zusammentreffenden Motiven; ja schon die Einsicht durch
mehrere einander bestätigende Gründe.
38. Jm allgemeinen ist zu merken: daß Gefühle
und Begierden nicht im Vorstellen überhaupt,
sondern allemal in gewissen bestimmten Vorstel-
lungen ihren Sitz haben. Daher kann es mehrere
ganz verschiedene Gefühle und Begierden zugleich geben,
die sich mischen, oder gar mit einander entzweyen.
Fünftes Capitel.
Vom Zusammenwirken mehrerer, ungleich
starker, Vorstellungsmassen.
39. Es läßt sich schon aus dem Vorhergehenden eini-
germaaßen erkennen, daß, nachdem eine betrachtliche Menge
von Vorstellungen in allerlei Verbindungen vorhanden ist,
jede neue Wahrnehmung als ein Reiz wirken muß, durch
den einiges gehemmt, anderes hervorgerufen und verstärkt,
ablaufende Reihen gestört oder in Bewegung gesetzt, und
diese oder jene Gemüthszustände veranlaßt werden. Mehr
zusammengesetzt müssen diese Erscheinungen ausfallen, wenn
(wie gewöhnlich) die neue Wahrnehmung selbst ein Man-
nigfaltiges in sich schließt, das in mehrere Verbindungen
[31] und Reihen zugleich eingreift und ihnen einen Anstoß giebt,
der sie unter einander in neue Verhältnisse der Hemmung
oder Verschmelzung versetzt. Dabei wird die neue Wahr-
nehmung den älteren Vorstellungen angeeignet, und zwar
auf eine Weise, wobei sie, nachdem der erste Reiz gewirkt
hat was er konnte, sich ziemlich leidend verhalten muß, weil
die älteren Vorstellungen schon wegen ihrer Verbindungen
unter einander bey weitem stärker sind, als die einzelne,
die eben hinzukommt.
40. Wenn aber schon sehr starke, sehr vielgliedrige
Complexionen und Verschmelzungen sich gebildet haben, so
kann dasselbe Verhältniß, welches so eben zwischen älteren
Vorstellungen und neuen Wahrnehmungen angenommen wur-
de, sich im Jnnern wiederhohlen. Schwächere Vorstellun-
gen, die nach irgend welchem Gesetze im Bewußtseyn her-
vortreten, wirken als Reize auf jene Massen, und werden
von ihnen eben so aufgenommen und angeeignet (apperci-
pirt), wie es bey neuen Sinnes-Eindrücken geschieht; da-
her die innere Wahrnehmung, analog der äußern.
Vom Selbstbewußtseyn ist hier noch nicht die Rede, ob-
gleich es sich sehr häufig damit verbindet.
41. Jn dem Gesagten liegt schon, was die Erfahrung
bestätigt, daß die innere Wahrnehmung niemals ein leident-
liches Auffassen, sondern allemal (wenn auch wider Willen)
ein thätiges Eingreifen ist. Anstatt daß die appercipirten
Vorstellungen sich nach ihren eignen Gesetzen zu heben und
zu senken im Begriff sind, werden sie in ihren Bewegungen
durch die mächtigern Massen unterbrochen, welche das ihnen
Entgegengesetzte zurücktreiben, obschon es steigen mochte,
und das ihnen Gleichartige, wenn gleich es sinken sollte,
anhalten und mit sich verschmelzen.
42. Es ist der Mühe werth, zu zeigen, wie weit die-
[32] ser Unterschied unter den Vorstellungen — die man in todte
und lebendige einzutheilen geneigt seyn möchte — gehen kann.
Man erinnere sich der Vorstellungen auf der statischen
Schwelle (16). Diese sind zwar nichts weniger als todt,
aber in dem Hemmungsverhältnisse, worin sie sich befinden,
vermögen sie nicht, durch ihr eignes Streben zum Steigen
irgend etwas außzurichten. Durch die Verbindungen, in
denen sie stehn, können sie in diesem Zustande gleichwohl
reproducirt werden; und von jenen mächtigern Massen wer-
den sie oft in ganzen Haufen und Reihen hervorgezogen
und zurückgetrieben, gleichwie wenn jemand in einem Buche
blätterte.
43. Sind aber die appercipirten Vorstellungen nicht,
wenigstens nicht alle, auf der statischen Schwelle, so leiden
von ihnen die appercipirenden Massen einige Gewalt; auch
können die letztern von andern Seiten her einer Hemmung
unterworsen werden. Alsdann wird die innere Wahrneh-
mung gestört, und daraus schon wird das Unsichere und
Schwankende derselben erklärlich.
Die appercipirende Masse kann wieder durch eine andre
appercipirt werden. Allein sollte dies so fortgehn, so müß-
ten mehrere Vorstellungsmassen von beträchtlich abgestufter
Stärke vorhanden seyn. Daher ist es schon etwas seltenes,
daß die innere Wahrnehmung auf die zweyte Potenz steige;
und nur durch philosophische Begriffe wird diese Reihe als
eine solche gedacht, die ins Unendliche könnte verlängert
werden.
[33]
Sechstes Capitel.
Vorblicke auf die Verbindung zwischen Seele und Leib.
44. Bisher sind Vorstellungen in der Seele als vor-
handen betrachtet worden, ohne Frage nach ihrem Ursprunge
und nach fremdartigen Einflüssen. Dies diente zur Erleich-
terung. Jetzt muß noch theils von der sinnlichen Wahrneh-
mung, theils von physiologischen Einwirkungen bey schon
vorhandenen Vorstellungen geredet, werden.
45. Schon der Erfahrung gemäß kann man anneh-
men, daß jede Wahrnehmung (perceptio von irgend merk-
licher Stärke eine kleine Weile zu ihrer Erzeugung erfordere;
aber Erfahrung und Metaphysik zugleich lehren, daß kei-
nesweges bey längerer Verweilung die Stärke der Wahr-
nehmung der Zeit proportional anwachse, sondern: je stär-
ker die Wahrnehmung schon ist, um desto weni-
ger nimmt sie zu; und hieraus folgt, vermöge einer
leichten Rechnung, daß es eine endliche Gränze für
ihre Stärke giebt, der sich die gewonnene Vorstellung
sehr bald annähert, und die selbst durch unendlich lange
Dauer der nämlichen Wahrnehmung nicht würde überstie-
gen werden können. Dies ist das Gesetz der abneh-
menden Empfänglichkeit; und dabei ist die. Stärke
des sinnlichen Eindrucks in Hinsicht jener Gränze ganz gleich-
gültig. Die schwächste sinnliche Empfindung kann der Vor-
stellung eben so viel Stärke geben, wie die heftigste: nur
braucht sie dazu etwas längere Zeit.
46. Eigentlich besteht nun jede menschliche Vorstellung
aus unendlich vielen, unendlich kleinen, und dabey unter
einander ungleichen, elementarischen Auffassungen, die in
verschiedenen Zeittheilchen während der Dauer der Wahr-
[34] nehmung nach und nach erzeugt wurden. Diese alle müß-
ten jedoch in eine einzige und völlig ungetheilte Totalkraft
verschmelzen, wenn nicht während der Dauer der Wahrneh-
mung schon eine Hemmung durch ältere, entgegengesetzte
Vorstellungen Statt fände. Um dieser Ursache willen aber
wird die Totalkraft um ein Beträchtliches kleiner, als die
Summe aller elementarischen Auffassungen*)
.
47. Jn der ersten Kindheit wird ein ungleich größerer
Vorrath von einfachen sinnlichen Vorstellungen erzeugt, als
in dem ganzen nachfolgenden Leben, dessen Geschäfft dagegen
in dem mannigfaltigsten Verknüpfen jenes Vorraths besteht.
Obgleich nun auch späterhin die Empfänglichkeit niemals
ganz und gar erlischt, so würden doch dem Mannes-Alter
die Sinneseindrücke noch weit gleichgültiger und unfrucht-
barer werden, als sie wirklich sind, wenn nicht eine Art
von Erneuerung der Empfänglichkeit Statt fände.
Weil nämlich Vorstellungen auf der statischen Schwelle
ganz ohne Wirkung sind für das, was im Bewußtseyn vor-
geht (16), so können sie auch die Empfänglichkeit für die
ihnen gleichartigen neuen Wahrnehmungen nicht schwächen.
Hiemit wäre die Empfänglichkeit vollständig wieder her-
gestellt, wenn nicht gerade durch die neuen Wahrnehmungen
das frühere Hemmungsverhältniß geändert, und den älteren
Vorstellungen eine gewisse Freiheit gegeben würde, sich un-
mittelbar zu reproduciren (26). Jndem dies geschieht, ver-
mindert sich die Empfänglichkeit. Je mehrere nun der gleich-
artigen älteren Vorstellungen vorhanden sind, — das heißt
gewöhnlich, je länger def Mensch gelebt hat, — desto meh-
rere treten auf gegebenen Anlaß zugleich hervor. Und so
vermindert sich mit den Jahren auch diese Erneuerung der
Empfänglichkeit.
[35] 48. Das bisher Gesagte bezieht sich nicht bloß auf
völlig gleichartige Vorstellungen, sondern auf alle, deren
Hemmungsgrad ein Bruch ist. Dies läßt sich hier nicht
entwickeln, da von der Verschiedenheit der Hemmungsgrade
im Vorhergehenden nichts genaueres hat gesagt werden
können.
49. Dreyerley vorzüglich ist zu bemerken, was in
die psychischen Ereignisse von Seiten des Leibes sich ein-
mischt: sein Druck, seine Resonanz und seine Mitwir-
kung im Handeln. Darüber vorläufig folgende Andeu-
tungen:
50. Physiologischer Druck entsteht, wenn die beglei-
tenden Zustände, welche im Leibe den Veränderungen in der
Seele entsprechen sollten, nicht ungehindert erfolgen können;
daher denn das Hinderniß als solches auch in der Seele
gefühlt wird, eben weil die Bestimmungen beyder zusam-
mengehören. Dieser Druck ist gewiß oftmals nur eine ver-
zögernde Kraft, der zu gefallen die geistigen Bewegungen
langsamer gehn müssen (bey langsamen Köpfen, welche die
Zeit verlieren und durch jeden schnellen Wechsel betäubt
werden). Oft aber gleicht auch der Druck geradezu einer
hemmenden Kraft, und kann als solche, wie wenn er die
Zahl der entgegengesetzten Vorstellungen um eine oder einige
vermehrte, in Rechnung gebracht werden. Dadurch kön-
nen alle wirklichen Vorstellungen auf die statische Schwelle
getrieben werden, und man hat hier die Erklärung des
Schlafs. Derselbe wird in diesem Falle ein tieser und
vollkommener Schlaf seyn.
51. Physiologische Resonanz entsteht, indem die be-
gleitenden leiblichen Zustände schneller verlaufen, oder sich
stärker ausbilden, als nöthig wäre, um bloß den geistigen
Bewegungen kein Hinderniß zu verursachen. Alsdann wird
die Seele, wiederum den Körper begleitend, schleuniger und [36] stärker wirken. Sie wird aber auch die darauf folgenden
Abspannungen des Leibes zu theilen haben, wie nach dem
Rausch und Affect.
52. Die Zusammenwirkung der Seele und des Leibes
im äußern Handeln kann nicht ursprünglich von der Seele
ausgehn; denn der Wille weiß nicht das geringste von dem,
was er in Nerven und Muskeln eigentlich hervorbringt.
Allein in dem Kinde ist ein organisches Bedürfniß nach Be-
wegung; dies und die daraus entstandenen wirklichen Be-
wegungen begleitet Anfangs die Seele mit ihren Gefühlen;
die Gefühle aber compliciren sich mit den Wahrnehmungen
der bewegten Glieder. Wenn nun in der Folge die Vor-
stellung, die aus einer solchen Wahrnehmung entstand, als
Begierde aufstrebt (16), so regt sich auch das damit com-
plicirte Gefühl, und diesem gehören als begleitende leibliche
Zustände alle diejenigen Ereignisse in den Nerven und Mus-
keln zu, durch welche die organische Bewegung wirklich be-
stimmt wird. Auf solche Weise geschieht es, daß die Vor-
stellungen sogar als ein Ursprung mechanischer Kräfte in der
äußern Welt erscheinen.
[37]
Zweyter Theil.
Empirische Psychologie.
Erster Abschnitt.
Von den Geistes-Vermögen, als dem an-
scheinend ursprünglich und wesentlich Man-
nigfaltigen im menschlichen Gemüthe.
Erstes Capitel.
Überblick über die angenommenen Geistes-Ver-
mögen.
53. Aus der vorstehenden Grundlehre erklären sich
manche bekannte Thatsachen von selbst; viele andre bleiben
noch im Dunkeln. Es ist nicht nöthig, diesen Unterschied
gleich jetzt näher zu bestimmen. Die Frage, wie weit die
gesundenen Erklärungen reichen, mag den nachfolgenden Vor-
trag stillschweigend begleiten, bis die Thatsachen werden durch-
mustert seyn, denn alsdann wird der Faden der Untersu-
chung bequemer können wieder aufgenommen werden. Allein
die gemeinhin angenommenen Seelenvermögen
bedürfen nun
einer kritischen Beleuchtung, welche mit der Betrachtung
der Thatsachen selbst allmählig vorrücken muß.
Mit dem Bestreben, ein Mannigfaltiges zusammen-
[38] zufassen, verbindet sich natürlich ein Aussondern dessen, was
sich offenbar nicht zusammenfassen läßt, weil es entweder sich
ausschließt, oder nur in seltenen Umständen zum Vorschein kommt.
Jndem also die Seelenlehrer den menschlichen Geist
im Bilde zeigen wollten, haben sie fürs erste diejenigen Züge
weggelassen, welche das Unterscheidende, theils der Jndivi-
duen, theils der abwechselnden Gemüthszustände ausmachen.
Diese legen wir zurück für den zweyten Abschnitt, und behalten
für den ersten nur das, welches für ein ursprünglich und we-
sentlich Mannigfaltiges im menschlichen Geiste gehalten wird.
54. Jedoch gleich hier wird eine genaue Grenz-Schei-
dung durch die eigenthümliche Unbestimmtheit der psycholo-
gischen Thatsachen unmöglich gemacht. Der Mensch des Seelenlehrers ist der gesellschaftliche, der gebildete Mensch,
der auf der Höhe der ganzen, bisher abgelaufenen, Ge-
schichte seines Geschlechts steht. Jn diesem findet
sich das Mannigfaltige sichtbar beysammen, welches unter
dem Namen der Geistesvermögen als ein allgemeines Erb-
theil der Menschheit angesehen wird. Ob es in der That
ursprünglich beysammen, ob es ursprünglich ein Man-
nigfaltiges sey, davon schweigen die Thatsachen. Der
wilde Mensch und das neugeborne Kind geben uns weit
weniger Gelegenheit, den Umfang ihres Geistes zu bewun-
dern, als die edleren unter den Thieren. Die Psychologen
helfen sich hier durch die Erschleichung, alle höhere Thätig-
keit des Geistes sey — nicht bey den Thieren, aber bey den
Kindern und Wilden, — der Möglichkeit nach vorhanden,
als unentwickelte Anlage, oder als Seelenvermögen.
Und die geringfügigsten Ähnlichkeiten in dem Benehmen des
Wilden und des Kindes mit dem des gebildeten Mannes,
gelten ihnen nun für kenntliche Spuren eines erwachen-
den Verstandes, einer erwachenden Vernunft, eines erwachen-
den sittlichen Gefühls. — Uns aber darf die Bemerkung
[39] nicht entgehn, daß in dem nächstfolgenden eigentlich nur
ein besonderer, und nichts weniger als genau begränzter,
Zustand des Menschen geschildert wird, nach dem Gesammt-
Eindruck, welchen diejenigen Menschen, die wir, sehr unbe-
stimmt, Gebildete nennen, auf uns gemacht haben. Das
Höchst-Schwankende dieses Gesammt-Eindrucks läßt sich
nicht vermeiden. Es giebt keine allgemeinen Thatsachen;
die ächten psychologischen Facta liegen in den augenblicklichen
Zuständen der Jndividuen; diese sind unermeßlich weit ent-
fernt von der Höhe des allgemeinen Begriffs: Mensch
überhaupt...
55. Die eben erwähnte Vergleichung zwischen Mensch
und Thier veranlaßt nun die erste Scheidung in dem für
ursprünglich gehaltenen Mannigfaltigen. Jn wiefern der
Mensch sich aber das Thier auffallend erhebt, schreibt man
ihm obere Vermögen zu; in wiefern er den Thieren
gleicht, legt man ihm niedere Vermögen bey.
Diese Eintheilung durchkreuzt die schon oben erwähnte,
nach dem Vorstellen, Fühlen und Begehren, in eben
so viele Vermögen.
Als Hüllsmittel zur Übersicht der empirischen Psycho-
logie sind beyde Eintheilungen gleich brauchbar, und wir
werden uns beyder bedienen.
56. Da in der Psychologie alles in einander fließt, so
wollen wir, um das obere und untere Vermögen weiter
einzutheilen, nicht bey der, sehr zweydeutigen, Gränzlinie
zwischen beyden, anfangen, sondern fürs erste die entfernte-
sten Enden einander gegenüber stellen. Es wird nämlich
die Sinnlichkeit für das unterste, die Vernunft für das
oberste im menschlichen Geiste angenommen. Beyde sehn
einander darin ähnlich, daß sie in mehrern Gliedern der
zweyten Eintheilung vorkommen. Man spricht von einem
[40]sinnlichen Vorstellen, einem sinnlichen Fühlen,
und einem sinnlichen Begehren; man spricht auch von
einer theoretischen (vorstellenden)und einer praktischen
(wollenden, gebietenden) Vernunft: — nur von einer
fühlenden Vernunft pflegt nicht die Rede zu seyn, indem die
Vernunft immer als thätig, niemals als leidend gedacht
wird, da sie das Höchste im Menschen seyn soll.
Die Bedeutung der hier gebrauchten Ausdrücke ist aus
dem gemeinen Sprachgebrauch einem Jeden einigermaßen
verständlich; zu seineren Bestimmungen ist hier noch nicht
der rechte Ort. Denn eben sie sind das Streitige.
57. Gehen wir nun von den beyden äußersten Enden
gegen die Mitte hin, so finden wir zuvörderst im Vorstel-
lungsvermögen neben der Sinnlichkeit die Einbildungs-
kraft und das Gedächtniß, neben der Vernunft den
Verstand und die Urteilskraft. Dann im Gefühl-
vermögen neben den sinnlichen Gefühlen der Lust und
Unlust, die ästhetischen und moralischen Gefühle;
und die Affecten. Endlich im Begehrungsvermögen neben
den sinnlichen Begierden und Trieben, einerseits das
verständige und vernünftige Wollen, andrerseits
die Leidenschaften.
58. Noch ehe wir diesen rohen Abriß des psychologi-
schen Feldes genauer auszeichnen, müssen wir folgendes
bemerken:
a) Die Eintheilungen sind nur empirische Zusammen-
stellungen, ohne Nachweisung der Vollständigkeit, ohne vest
bestimmte und gerechtfertigte Theilungsgründe. Daher kein
Wunder, wenn bey schärferer Auffassung der Thatsachen sich
Gegenstände finden, die entweder in mehrere der gemachten
Fächer hineingehören, oder in gar kein derselben passen.
Hier ein paar Beyspiele:
Jn Wolffs Darstellung ist noch das Gefühlvermögen
[41] nicht gesondert vom Begehrungsvermögen; daher auch die
Affecten nicht von den Leidenschaften. Wir werden tiefer
unten zeigen, daß die Affecten nicht in die Klasse der Ge-
sichte (und noch weniger in die andern, folglich in gar keine
der gemachten. Klassen) gehören, obgleich Gefühle bey den
Affecten vorkommen, so wie Affecten bey den Leidenschaf-
ten -
Das Moralische und Ästhetische wird der Erfahrung gemäß gefühlt, erkannt und begehrt; dessen ungeachtet ist
man nicht geneigt, es so wie etwa die Sinnlichkeit, durch
alle drey Hauptvermögen sich erstrecken zu lassen, als ob
es moralische Gefühle, Erkenntnisse und Entschließungen ne-
ben einander mit gleicher Selbstständigkeit gäbe, — son-
dern man streitet darüber, ob das Sittliche seinen Ursprung
in einem Gebote, oder einer Erkenntniß, oder einem Ge-
fühle Habe. Fragt man die Erfahrung, so antwortet sie
unlängbar, das Sittliche werde am häufigsten gefühlt, sel-
tener richtig erkannt, und am seltensten gewollt. Damit ist
aber nichts entschieden, als nur die Unsicherheit und Schwan-
kung der empirischen Psychologie und jeder Untersuchung,
die kein besseres Fundament hat.
b) Die gemachten Eintheilungen können zwar zur er-
sten Übersicht, aber keinerwegs zu einer genauen Schilde-
rung dessen, was.im Menschen vorgeht, gebraucht werden;
denn sie zerreißen das, was in der Wirklichkeit stets verbun-
den ist. Ob es ein Vorstellen ohne Fühlen und Begehren
gebe, läßt sich in der Erfahrung nicht nachweisen; diese Re-
gungen des Gemüths laufen vielmehr unaufhörlich in ein-
ander. Daß zu jedem Fühlen ein Gefühltes, zu jedem
Begehren ein Begehrtes gehöre, leuchtet ein; ob aber
beydes in jedem Falle ein Vorgestelltes seyn müsse, läßt
sich aus der Erfahrung weder verneinen poch bejahen, weil
ein Vorgestelltes bis zur Unkenntlichkeit dunkel seyn kann:
die bejahende Antwort hat indessen das Vorurtheil für sich [42] weil sie,offenbar in dem meisten Fallen die richtige ist. Die Affecten gehören nicht in eine Klasse mit den Leiden-
schaften; dennoch kann man sich eine ganz affectlose Leiden-
schaft gar nicht denken. Wer die Geschichte auch nur einer
einzigen leidenschaftlichen Aufwallung beschreiben will, der
muß sie, mit allen dadey aufgeregten Affecten, als eine ein-
zige Begebenheit betrachten. Der continuirliche Fluß dieser
Begebenheit läßt sich gar nicht durch ein Mosaik-Gemälde
darstellen, dessen einzelne Stückchen man etwa aus den Fä-
chern der empirischen Psychologie zusammensuchen möchte.
c) Daß die abgetheilten Seelenvermögen nicht bloß
neben einander, sondern in Beziehung auf einander vorhan-
den sind, erkennt die empirische Psychologie dadurch an, daß
sie dieselbe durchgängig mit der Bearbeitung eines und
des nämlichen Stoffes beschäfftigt. Diesen Stoff soll die
Sinnlichkeit empfangen, — wobey die Frage nach dem
Cansalverhältniß zwischen der Außenwelt und dem Menschen
eintritt. Wird dasselbe geläugnet, so muß die Sinnlichkeit
vielmehr ein erzeugendes Vermögen genannt werben.
Den nämlichen Stoff soll das Gedachtniß aufbewahren;aber
unbeschadet dieser Aufbewahrung soll ihn auch die Phantasie
in neue Gestalten bringen; und wiederum diesen neuen
Gestalten unbeschadet soll der Verstand Begriffe daraus ma-
chen, auch das Begehrungsvermögen ihn in Begehrtes und
Verabscheutes verwandeln, — und wiederum sollen die Phan-
tasien, Begriffe, Begehrungen, u. s. w. vom Gedachtnisse
aufbewahrt, und gelegentlich mit frischem Stoffe-versetzt von
neuem den arbeitenden Vermögen unterworfen werden. Oder,
falls dieses unbegreiflich scheint, ist es vielleicht nur ein
Theil des Stoffes, den das Gedächtniß in seinen Vorraths-
kammern vesthält, und wird ein anderer Theil der
Phantasie übergeben, noch ein anderer dem Verstande, wie-
der ein anderer dem Begehrungsvermögen, u. s. w.? Da-
[43] rüber
fragt man die Erfahrung vergebens. Desto nothwen-
diger ist es, daß man die, hiebey unvermeidliche, metaphy-
sische Voraussetzung irgend eines mannigfaltigen und ver-
wickelten Causal-Verhaltnisses, sowohl der ver-
schiedenen Vermögen unter einander, als ihrer
aller zu dem vorgeblichen Stoffe, den sie gemein-
schaftlich bearbeiten sollen, einsehe und eingestehe.
59. Durch die Anerkennung des eben erwähnten Cau-
sal-Verhaltnisses hat sich die Psychologie bisher die Reihen-
folge ihrer Lehren bestimmen lassen. Nach dem Satze: nihil
est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu,
sind die Sinnes -
Vorstellungen zuerst abgehandelt, und von
dem Übrigen ist in solcher Ordnung geredet worden, wie es all-
mählig aus jenen hervorzugehn scheint. Die allmähligeEntwicke-
lung des einzelnen Menschen und der Völker, desgleichen der
Unterschied zwischen Thier und Mensch, giebt hier den Leitfaden.
Nun ist zwar der Erfahrung gemäß, daß wir weit all-
gemeiner die niedere Sinnlichkeit, als jedes andre geistige
Leben, dieses aber niemals ohne jene, in der Wirklichkeit
antreffen, ja daß wir große Mühe haben, mit dem Aus-
druck: reine Vernunft einen nur leidlich bestimmten Sinn
zu verbinden. Nichts desto weniger giebt es zwey sehr
wichtige psychologische Thatsachen, die wir nicht anders auf-
fassen können, denn als dem Causal-Verhältniß zwischen
Sinnlichkeit und Vernunft fremd oder widerstreitend: das
reine Selbstbewußtseyn und die sittliche Entschlie-
ßung. Was immer wir im Lause der Zeit an uns beobach-
ten, das muß, als zufallig wechselnd, von unserm wahren
Jch unterschieden werden; dieses letztere also kennen wir, so
scheint es, unabhängig selbst vom innern Sinne, durch eine so-
genannte reine Apperception. (Jm Allgemeinen heißt
Apperception soviel als das Wissen vvn dem, was in uns vorgeht.)
Und ein Entschluß zeigt sich dann am klärsten als ächt sittlich,
[44] wann er die Rücksicht auf Vortheile ober Nachtheile, wie
sie uns in der Erfahrung vor Augen liegen, verschmäht;
wann der Geist sich über die sinnlichen Gefühle erhebt, und
ihnen gerade zuwider sich bestimmt. Wodurch wird diese
Erhebung möglich? Die Antwort: durch den freyen
Willen, ist der, in solchen Fällen Statt findenden; innern
Wahrnehmung ganz angemessen; daher wird eine, von allem
Causal-Verhältnisse unabhängige, sogenannte transscen-
dentale Freyheit angenommen, ein Seitenstück zu der
reinen Apperception. — Legt man nun beydes der Vernunft
bey, als demjenigen, was im Menschen von der Sinnlich-
keit am weitesten entfernt steht, so ist die Vernunft in die-
ser Bedeutung nicht sowohl ein Höheres, sondern vielmehr
ein ganz Anderes als die Sinnlichkeit; und diese letztere
kann nun nicht länger als Grund, nicht einmal als Bedin-
gung von allem Übrigen angesehen werden.
Unter dieser Voraussetzung sollte also die Psychologie
in der Anordnung ihrer Lehren nicht einen Fortschritt von
der Sinnlichkeit zur Vernunft, sondern zwey, bey ihrem
Ursprunge parallele, Reihen von Betrachtungen darstellen,
wovon Vernunft und Sinnlichkeit die Anfangspunkte aus-
machten, das Zusammentreffen beyder aber, in seinen man-
nigfaltigen Modificationen, die oberste Gegend und gleich-
sam das Ziel seyn würde. Die empirische Psychologie kann
dieser Forderung nichts entgegensetzen. Jn der Einleitung
in die Philosophie ist aber schon gezeigt (daselbst §. 103
und 107), daß die Begriffe des Jch und der transscenden-
talen Freiheit widersprechend sind. Daher ist auch der eben
aufgestellte Begriff der Vernunft, der Wahrheit nicht gemäß.
Um nichts besser aber ist der gewöhnliche Begriff von der
Sinnlichkeit, besonders wenn sie für die Quelle des Bösen
gehalten wird. Das Böseste ist eben so wenig sinnlich, als
die Sinnlichkeit durchgehends böse.
[45]Anmerkung. Wenn man im gemeinen Leben sagen
hört, der Eine habe mehr Verstand, der Andre mehr Ge-
dächtniß, ein Dritter mehr Phantasie, ein Vierter besitze
eine gesundere Urtheilskraft, — und daneben doch im Gan-
zen kein bestimmter Grad von größerer oder geringerer gei-
stiger Gesundheit dem Einen oder dem Andern kann beyge-
legt werden: so muß die Vermuthung entstehn, alle jene
Unterscheidung der sogenannten Seelenvermögen treffe mehr
die Producte der geistigen Thätigkeit als die innere, entwe-
der gesunde oder kranke Natur der letzteren. Von den Gei-
stes – Krankheiten werden tieser unten die erfahrungsmäßig
bekannten vier Hauptbegriffe: Blödsinn, Narrheit, Tobsucht
und Wahnsinn, näher bestimmt werden; es kann aber schon
hier nützlich seyn, aus ihren Gegentheilen: Reizbarkeit,
Sammlung, Ruhe, und gegenseitige Bestimm-
barkeit aller Vorstellungen durcheinander, den
Begriff der geistigen Gesundheit zusammenzusetzen; da ein
Mangel an irgend einem dieser vier Erfodernisse in der That
viel unmittelbarer eine Annäherung an Geisteskrankheit dar-
thut, als ein Mangel an Phantasie, oder Gedächtniß, oder
Verstand, u. s. w. Es beziehen sich aber die genannten
Erfodernisse deutlich genug auf die obige Grundlehre von
den Vorstellungen als Kräften, deren Beweglichkeit durch
die geringste Veränderung in der Stärke oder Verbindung
derselben eben so sichtbar ist als ihre Tendenz zum Ruhen
im Gleichgewicht; und bey welchen die Sammlung des
Gleichartigen und des schon in Verbindung Getretenen eben
so sehr als jede Art von möglicher gegenseitiger Bestim-
mung, durch die Reproductions -
Gesetze vollkommen gesichert ist, so lange nicht eine dem Geistigen fremde Gewalt von
Seiten des Leibes sich einmischt. Jedoch das Verhältniß
des Leibes zum Geiste kann nicht ohne Erwähnung einiger
naturphilosophischer Sätze näher erwogen werden, welch [46] hier noch zu früh kommen würden. Zuvörderst muß nun
die erste der obigen Eintheilungen (55), wenn nicht von
ihrer Unbestimmtheit befreiet, so doch in ihrer Vieldeutigkeit
erkannt werden-
Zweytes Capitel.
Ueber die Grenzlinie zwischen den untern
und obern Vermögen.
60. Die Grenzlinie zwischen den untern und obern
Vermögen läuft im Vorstellungsvermögen zwischen der Ein-
bildungskraft und dem Verstande, im Gefühlvermögen zwi-
schen der Sinnenlust und dem ästhetischen Gefühl, im Be-
gehrungsvermögen zwischen den Leidenschaften und der über-
legten Wahl. Hiemit ist sie bey der Schwankung der Be-
griffe von allem diesen noch keinesweges genau gezogen;
auch sind die Psychologen zu dem Bekenntniß bereit, daß
sie sich nicht scharf ziehen lasse. (Wenigstens Wolff in
der empirischen Psychologie §. 233) Dies um so mehr,
da selbst den Thieren ein analogon rationis zugeschrieben
wird, während ihnen Niemand eine Phantasie, ähnlich der
menschlichen, einräumt. So hätten also die Thiere Antheil
am obern Vorstellungsvermögen; und dagegen sehlte ihnen
etwas an dem, was zum unteren sollte gerechnet werden.
Etwas treffender scheint zwar die Bestimmung in Ansehung
des Gefühlvermögens; da ästhetische Urtheile wohl Niemand
von Thieren erwartet; allein auch bei roheren Menschen
pflegen diese zu fehlen, und vielmehr einer höheren Bil-
dungsstufe als der menschlichen Natur eigen zu seyn. Was
endlich die Leidenschaften anlangt, so werden wir unter die-
[47] Sen auch solche, und zwar sehr bösartige finden, die gerade-
zu aus dem Edelsten, den höchsten Regionen des mensch-
lichen Gedankenkreises ihren Ursprung nehmen; so daß es
unmöglich ist, sie zum untern, auch den Thieren beizule-
genden Vermögen zu rechnen. Man muß also den Gegen-
stand anders fassen.
61. Den Thieren im Vergleich gegen die Menschen
überhaupt ein unteres Vermögen beilegen, heißt entweder,
ihr geistiges Können als mangelhaft, oder als vermin-
dert, oder als unterworfen ansehn.
Gesetzt, es sey an sich mangelhaft, im Vergleich mit
dem vollständigern, weiter reichenden Können des Menschen,
so liegen, hievon sehr deutliche Gründe in dem Mangel der
Hände und der Sprache. Denn solchergestalt bleibt ihre
Gelegenheit, sich Vorstellungen von den Dingen zu verschaf-
fen, sehr viel enger beschränkt; und während das Verstehen,
der Verstand des Menschen sich zunächst auf die Sprache
bezieht, können die Thiere höchstens zum Verständniß eini-
ger Zeichen gelangen. Das menschliche Kind aber befindet
sich nun auf seiner untersten Bildungsstufe im nämlichen
Falle, da es Anfangs sich der Hände noch eben so wenig
zu bedienen, weiß, als es Sprache gelernt hat.
Gesetzt zweitens, jenes geistige Können solle ein ver-
mindertes seyn, da es ursprünglich wohl größer seyn möchte,
so trifft auch dies bei den Thieren zu; und zwar zwiefach.
Denn erstlich tritt bey ihnen etwas Störendes in ihren Vor-
stellungskreis, welchis den Menschen nicht so sehr drückt.
Dies sind bei Thieren mit Kunsttrieben ganz deutlich die
organischen Reize, denen sie Folge leisten; bey andern kommt
die frühzeitige Pubertät in Betracht. Ueberdies aber kann
bei der verhältnißmäßigen Kleinheit ihres Gehirns wahr-
scheinlich der Organismus nicht so wie beim Menschen den
geistigen Reizen nachgeben.
[48] Gesetzt drittens, jenes geistige Können oder Vermögen
werde als ein unterworfenes angesehn, — möge dies nun
ein dienstbares oder ein besiegtes seyn sollen, so paßt zwar
dieser Begriff nicht allgemein auf die Thiere; wohl aber
auf das untere Vermögen des Menschen in so sern, als er
sich selbst beherrscht. Nur ist wiederum die Herrschaft so
sehr abhängig von der schon erlangten Bildungsstufe, —
sie schwankt der Art nach fo sehr zwischen Schlauheit und
Sittlichkeit, dem Grade nach ist ihrer der rohe und der
kranke Mensch so wenig fähig, — endlich finden sich, wenn
Ausnahmen gelten sollen, doch bey dressirten Thieren so
viele Spuren von eingeübter Enthaltsamkeit, daß ein in dem
geistigen Vermögen selbst liegender Unterschied, der wesent-
lich und allgemein veststünde, nicht nachgewiesen werden
kann, vielmehr Alles auf Unterschiede der Begünstigung oder
Verhinderung oder erworbener Bildung sich zurückführen läßt.
Wir sind demnach weder genöthigt noch berech-
tigt, den menschlichen Geist als eine Summe
von zwei specifisch verschiedenen, gleichsam an
einander gefügten, Vermögen zu betrachten.
Nur das tritt hervor, daß die geistige Regsamkeit in un-
endlich mannigfaltigen Formen und Gränzen sich ausprägt,
nach Verschiedenheit der Vorstellungen, ihrer Verbindungen
und Hemmungen. Alle diese Betrachtungen sind von der
Metaphysik unabhängig; die Frage aber, ob, wenn einmal
die Metaphysik herbeigerufen wird, sie dieselben widerlege
oder vielmehr bestätige, soll an diesem Orte nicht abgehan-
delt werden.
Dem Menschen, welcher zu höhern Bildungsstufen em-
porsteigt, werden wir dagegen erfahrungsmäßig eine nicht
bloß einfache, sondern vielfach verschiedene Fähigkeit beyle-
gen müssen, sich in der Selbstbeherrschung gleichsam in meh-
rere Theile zu spalten, und bald seine Gedanken absichtlich
[49] zu lenken,, bald seine Gefühle umzustimmen, bald Unter-
lassungen bald regelmäßige Anstrengungen sich selbst vorzu-
schreiben. Daß hievon bei den Thieren wenige oder gar
keine Spuren vorkommen, ist bekannt; in Ansehung des
menschlichen Vermögens wurde hierauf schon in der Grund-
lehre (40—43) Rücksicht genommen. Jn diesem Sinne
also werden wir ein oberes und ein unteres Vermögen an-
erkennen.
62. Wolff stellt zwischen das untere und obere Vor-
stellungsvermögen die Aufmerksamkeit (jedoch nur die
willkührliche, wahrend die unwillkührliche fast noch wichti-
ger ist). Das obere Vermögen beginnt ihm nun mit der
Deutlichkeit der Begriffe, deren Merkmale die Auf-
merksamkeit zersetzt. Diese Bestimmung ist zwar bey wei-
tem enger, als der Sprachgebrauch den Worten Verstand
und verständig ihre Sphäre zeichnet; indessen trifft sie
mit einem Theile derselben auf eine merkwürdige Weise zu-
sammen. Jndem nämlich die Aufmerksamkeit einen Begriff
verdeutlicht, hebt sie die ihm einwohnenden Theil-Vorstel-
lungen, eine nach der andern, gleichmäßig hervor; sie
ebnet gleichsam den Begriff, dessen Merkmale bisher eins
vor dem andern auf eine zufallige Art hervorragten. So ist es der Beschaffenheit des Gedachten gemäß, dem alle
seine Bestimmungen unabhängig von den Unterschieden zu-
gehören, welche das individuelle Denken dadurch hinein-
bringt, daß es gespannter ist auf dies als auf jenes Merk-
mal. Es ist also auch der anderwärts gegebenen Erklärung
des Verstandes gemäß, welche den Sinn aussagt, den der
Sprachgebrauch mit dem Worte verknüpft; nämlich: Ver-
stand sey das Vermögen, uns« Gedanken nach der Beschaf-
fenheit des Gedachten zu verknüpfen. Von dem ungleich-
mäßigen, individuellen Denken finden sich Beispiele genug
im gemeinen Leben; solche giebt das fragmentarische Wissen
[50] des Routiniers, verglichen mit der in allen Theilen gleich-
mäßig ausgearbeiteten Kenntniß des wahren Gelehrten. Die
letztere ist ohne Zweisel ein Werk fortschreitender Aufmerk-
samkeit.
63. Kant ist in Ansehung dee Grenze zwischen den
untern und obern Vermögen von dem Grundgedanken ge-
leitet worden: „Die Verbindung eines Mannigfaltigen über-
haupt könne niemals durch die Sinne in uns kommen; alle
Verbindung sey ein Actus der Spontaneität der Vorstellungs-
kraft, die man zum Unterschiede von der Sinnlichkeit Ver-
stand nennen müsse.“*)
Diese, sehr scheinbare, Behaup-
tung ist ihrer Natur nach speculativ (sie veranlaßt die im
Lehrbuche zur Einleitung in die Philosophie aufgestellte hö-
here Skepsis; man sehe daselbst §. 22—29, aber auch
ebendaselhst §. 98 — 103). Es ist ein großes Verdienst
Kants um die Speculation, diesen Gedanken mit Nachdruck
hervorgehoben zu haben, aber die höchst wichtigen, von hier
ausgehenden Untersuchungen hat er nur angefangen, keines-
weges vollendet; und so nothwendig dieselben in der Grund-
lage zur allgemeinen Metaphysik immerdar ihren Platz be-
halten müssen, eben so nothwendig muß alles, der. Kanti-
schen Behauptung ähnliche, aus den Lehrsätzen der Psycho-
logie völlig wieder verschwinden. Denn das Ende der Un-
tersuchung ist gerade das Gegentheil dessen, wohin ihr An-
fang zu weisen scheint. Die Verbindung des Mannigfalti-
gen geschieht gar nicht durch irgend etwas, das man einen
Actus nennen könnte, am wenigsten durch einen Act der
Spontaneität; — sie ist der unmittelbare Erfolg der Ein-
heit der Seele. Die Verbindung des Mannigfaltigen rich-
tet sich ferner allemal nach der Art und Weise, wie die sinn-
lichen Eindrücke zusammentreffen, — sie ist gegeben, wie
[51] schon in der Einleitung in die Philosophie nachgewiesen wor-
den. Endlich, — was eigentlich allein hieher gehört —
auf empirischem Wege kann die Behauptung Kants auch
nicht einmal scheinbar gemacht werden. Wir fühlen uns
zwar thätig im angestrengten Denken, und sind uns als-
dann zuweilen bewußt, Begriffe aus ihren Merkmalen ab-
sichtlich zusammenzusetzen. Allein da, wo wir ursprünglich
das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in den Be-
griff eines Objects vereinigen *), finden wir uns genöthigt,
das Object zu nehmen, wie es sich darstellt; wir sind darin
nur gebunden, und wissen nichts von Acten der Spon-
taneität.
Wahrend nun Thätigkeit weder das Eigne des Ver-
standes, noch der Ursprung der Verbindungen ist, hat da-
gegen der Verstand allerdings seinen Sitz in gewissen Ar-
ten der Verbindung; ja das ganze obere Vermögen greift
eben dadurch ein in Sinnlichkeit, Gedächtniß und Einbil-
dungskraft (die gewöhnlich geradehin zu den untern Ver-
mögen gerechnet werden), daß es bey dem gebildeten Men-
schen sich in so ausgebreiteten Verbindungen zeigt,
die bey dem Wilden und bey dem Thiere gar nicht zu
erwarten sind. Hieher gehört vor allem zuerst die Ausdeh-
nung der Vorstellungen des Räumlichen und Zeitlichen, weit
über die Sphäre der sinnlichen Empfindung, ja ins Unend-
liche hinaus. Daran besonders erkennt man Thierheit und
Wildheit, daß ihr der veste Blick in die Vergangenheit, und
das Voraussehen einer nur etwas entlegenen Zukunft fehlt.
Ferner ist ein großer Unterschied zwischen dem bloßen
Zusammentreffen der Merkmale eines Dinges, und
der Unerscheidung dieser Merkmale von der Substanz,
der sie bey gelegt werden; desgleichen zwischen dem bloßen
[52] Auffassen einer kurzen Reihenfolge von Begebenheiten, und
dem Ableiten derselben aus Ursachen und Kräften. Das
zweyte, aber nicht das erste, gehört zum obern Vermögen.
Diese Bemerkung, obgleich durch Kants Lehre veranlaßt,
gehört eigentlich zum Nächstfolgenden.
64. Wie wenig auch die logische Politur der Begriffe
zum Maaßstabe des Verstandes dienen kann (man denke
nur an den Verstand der Frauen, der Künstler, Staats-
männer, Kausieute), so macht sie dennoch einen Theil des
Unterschiedes aus, den wir suchen. Total-Eindrücke von
ähnlichen Gegenständen, zusammengeflossene Vorstellungen
von Bäumen, Häusern, Menschen, u. dgl. hat ohne Zwei-
fel auch der Wilde und das Thier; aber hier sehlt die Ent-
gegensetzung des Abstracten gegen das Concrete. Der
allgemeine Begriff hat sich nicht abgelöst von seinen Bey-
spielen. Diese Ablösung gehört dem obern Vermögen. Eben
so ist die Entgegensetzung zwischen dem Räumlichen und
dem Raume, dem Zeitlichen und der Zeit. Desgleichen
die Entgegensetzung zwischen unserm Jch und unsern wech-
selnden Zuständen: während gewiß schon das Thier sich un-
terscheidet von dem andern, mit dem es um die Nahrung
kämpft.
65. Die ästhetischen und moralischen Auffassungen sind
bey dem Wilden selten und beschränkt, bey dem Thiere schei-
nen sie fast ganz zu fehlen. Die Wahl ist weit minder
überlegt, und scheint im Ganzen nicht so vest zu seyn, wie
beym ausgebildeten Menschen, Das Thier hat hier neben
dem Mangel des Höhern eine positive Eigenthümlichkeit,
nämlich eine sichtbar größere Abhängigkeit vom J [...]stinct,
der zum Theil periodisch ist und mit dem Organisnus in
der genauesten Verbindung steht.
66. Alles Angeführte zusammengenommen ergiebtkeine
geschlossene Reihe von vesten Unterschieden, weder zwischen [53] Menschheit und Thierheit, noch zwischen dem obern und un-
tern Vermögen. Wir haben also auch nicht Ursache, vest-
stehende Unterschiede zu fodern, wo wir der beweglichen
genug antreffen, welche sattsam erklären, wie man sich ver-
anlaßt sinden konnte, nach dem Unterschiede zu fragen, den
man für einen einzigen und überall gleichen hielt. Sollte
aber Jemand meinen, das Thier sey hier dem Menschen zu
nahe, gerückt, so gelten dagegen folgende Bemerkungen.
Wir kennen die Thiere sehr wenig. Wir unterscheiden
viel zu wenig die verschiedenen Thier-Classen. Beym Dres-
siren der Thiere, wodurch wir eine beträchtliche Biegsamkeit
ihrer Anlage kennen lernen, wird meistens ein eben so fal-
scher Begriff zum Grunde gelegt, als bey schlechter Erziehung
des menschlichen Kindes. Das Thier nimmt keine Dressur
an, außer nach den innern Gesetzen seines Wesens, und
der größte Theil des dabey angewandten Zwanges ist ohne
Zweifel grobe Mishandlung, selbst wenn derselbe nützlich seyn
sollte zur Erreichung des Zwecks, da man das Thier nur
als Thier gebrauchen will. Wer junge Thiere beobachtet
hat, dem kann die Bemerkung nicht entgangen seyn, wie
oft sie sich bemühen, ihre Vorderpfoden als Hände zu ge-
brauchen; ein vergebliches Streben, die Schranken ihrer Or-
ganisation zu überschreiten. Dem Menschen aber ist zuwei-
len statt des Ubermuths mehr Dankbarkeit für die Hülfs-
mittel der Bildung zu empfehlen, deren er sich vorzugsweise
erfreut. Übrigens, während die mannigfaltigen Unterschiede
in der geistigen Regsamkeit verschiedener Thiere uns ein Ge-
heimniß bleiben, liegt uns die Verschiedenheit der Menschen
doch etwas deutlicher vor Augen. Auf die Frage, ob sich
die Vorstellungen als Kräfte im Menschen vollständig äus-
sern können, oder ob hier villeicht auch noch etwas von der
bey den Thieren bemerkten Beschränktheit zurückbleibe? läßt
sich im Allgemeinen folgendes antworten: Die Hände des
[54] Menschen haben sich bewaffnen müssen mit unzähligen Werk-
zeugen, die Sprache hat noch der Presse bedurft; die Genies
verrathen, wie viel dem gewöhnlichen Menschen an freyer gei-
stiger Regsamkeit fehle; und die Blödsinnigen, wie leicht auch
in der menschlichen Gestalt die Bande, welche das organische Le-
ben dem geistigen anlegt, eng geschnürt werden können; endlich
die Selbstbeherrschung, ein Werk höherer Bildung, leidet noch
an allen Mängeln der Bildung und Erziehung, Es ist also klar
genug, daß die bisher bekannte menschliche Thätigkeit nicht
als eine vollständig abgeschlossene Darstellung dessen anzuse-
hen ist, was Vorstellungen als Kräfte leisten können; und die
Vermuthung liegt nahe, daß auf andern Weltkörpern, unter
andern Bedingungen der Gravitation, der Atmosphäre, der
Beleuchtung u. s. w. sich weit vortheilhaftere Organisationen
für die Entwickelungen der geistigen Regsamkeit befinden mögen.
Drittes Capitel.
Vorstellungsvermögen.
67. Was zum Vorstellungsvermögen gerechnet wird,
läßt sich unter folgende Uebersicht bringen:
- a) Production
- α) der Erfahrung.
- aa) der Materie nach.
- bb) der Form nach.
- β) der Begriffe, welche die Erfahrung überschreiten
- b) Reproduction.
Nach diesem Abrisse werden wir das Vorstellungsver-
mögen durchlaufen, und dabey die gewöhnliche Abtheilung
der angenommenen Geistesvermögen berücksichtigen.
[55]
A. Äeußerer Sinn.
68. Die Production der Materie der Erfahrung ist
hauptfächlich das Werk der äußern Sinne, des Gefühls,
Geschmacks, Geruchs, Gehörs, Gesichts
(Was Materie und Form der Erfahrung heiße, ist aus
der Einleitung in die Philosophie bekannt; vergl. daselbst
$. 25, 29).
Die angegebenen fünf Sinne werden gezählt nach den
Sinnes-Organen; der verschiedenen Klassen von Sinnes-
Empfindungen ist eine größere Zahl. Ueberdies enthalten
die Organe selbst empfindliche Flächen. also unendlich viele
empfindliche Stellen, mit der merkwürdigen Verschiedenheit,
daß bey einigen Sinnen zwar nur eine Gesammt-Em-
pfindung entsteht, bey andern aber jede einzelne
Stelle der Empfindungsfläche eine gesonderte Vorstel-
lung liefert.
69. Das Gefühl des Drucks und das der Wärme
und Kälte hat sein Organ über der ganzen Fläche des Lei-
bes verbreitet. Der Druck wird sehr mannigfaltig verschie-
den empfunden, je nachdem er gleichförmig ist oder ungleich-
förmig in denverschiedenen Theilen der Empfindungs-Fläche,
und in den, einander folgenden, Zeitmomenten wahrend der
Dauer der Empfindung. So unterscheidet man Spitziges,
Glattes, Rauhes, Elastisches, u. s. w. (Wärme und Kälte
werden vielleicht mehr in den innern Theilen der Nerven
empfunden, der Druck mehr in den äußern)
Der Tastsinn ist ursprünglich Gefühl, aber in einer
besondern Anwendung, wodurch dasselbe die Form der Er-
fahrung bestimmen hilft. Vorläusig merke man, daß zum
Tasten mehrere Finger, mehrere Theile der Zunge, über-
haupt mehrere Stellen der Empfindungsfläche behülflich sind.
70. Der Geschmack liefert sehr viele unterscheidbare
[56] Empfindungen, die aber, gleichzeitig, einander verwirren.
Die Zunge ist zugleich ein vorzüglicher Sitz des Gefühls
jeder Art. (Auch bekommt sie verschiedene Arten von
Nerven.)
71. Gerüche dringen sich auf, gleich den Tönen, aber
sie gestatten nicht gleich diesen, daß man in ihnen ein Man-
nigfaltiges unterscheide. Das Geruchs-Werkzeug ist weni-
ger, als die übrigen Organe des Sinnes, in unserer Ge-
walt; es selbst leidet sehr bei seinen Functionen. Gerüche
können tödten und ansteckende Krankheiten fortpflanzen; sie
sind meistens angenehm oder unangenehm, selten gleichgül-
tig; aber keiner wird lange empfunden, jeder stumpft schnell
das Werkzeug ab.
Der cultivirte Mensch scheint in Hinsicht dieses Sin-
nes durchaus abgestumpft im Vergleich mit dem Wilden
und mit vielen Thieren.
72. Das Gehör ist unter allen Sinnen am reichsten
in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen. Die musikali-
schen Töne lassen, selbst gleichzeitig; sich unterscheiden; von
ihnen unabhängig ist die Auffassung der Vokale, und neben
beyden findet sich die Wahrnehmung der Consonanten, die,
wie es scheint, in die Klasse des mannigfaltigen Geräusches
gehören. Merkwürdig ist das tonlose, und dennoch ver-
ständliche Sprechen des Menschen. Diesem nahe kommend
ist vielleicht die Auffassung derjenigen, die von Geburt ganz
unmusikalisch sind und dennoch sehr gut hören. (Wahr-
scheinlich hat jeder musikalische Ton seinen eignen Antheil
am Organ. Außerdem ist nicht wohl einzusehn, wie gleich-
zeitige Töne gesondert bleiben, und warum sie nicht einen
dritten gemischten Ton ergeben, welches die ästhetische Auf-
fassung der Jntervalle vernichten würde.)
73. Das Gesicht unterscheidet Farben und, von die-
sen unabhängig, die Grade der Beleuchtung. Jede Stelle [57] der Netzhaut des Auges sieht einzeln und liefert eine geson-
derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der Farbensinn
zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen.
Die höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer-
nen Gegenständen, starkem und schwachem Lichte anzupas-
sen, endlich sich mit den Augenliedern willkührlich zu be-
decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer
unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die
Auffassung der räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei-
nesweges so ursprünglich, wie sie scheint; sie wird gelernt
und durchläuft sehr verschiedene Stufen der Ausbildung)
Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von
Schärfe und Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles
bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht
auf Anschauungen, welche letztere die Vorstellung eines
Objects, gegenüber andern Objecten und dem
Subjecte, voraussetzen, und deshalb nicht viel weni-
ger als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß
die Sinnlichkeit) zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man
es nennt, im Anschauen vergißt und vertieft, der ist nahe
daran, nur noch zu empfinden.
B. Jnnerer Sinn.
74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf
einen innern Sinn; allein nach der Analogie mit den äußern
Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die Auffas-
sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech-
sel, beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für
ein besonderes Bestandstück unserer geistigen Fähigkeit hält
(denn übrigens liegt seine Erklärung schon in der Grund-
lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung
der Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er-
findung, denn sie wissen weder die Klassen von Vorstellun-
[58] gen, die er überliesere, bestimmt aufzuzählen, noch irgend
einen Schein eines Gesetzes anzuzeigen, nach welchem die
äußerste Unregelmäßigkeit seines Wirkens zu erklären wäre.
Die äußern Sinne leisten ihre Dienste, wenn sie können,
und falls sie dieselben versagen, so weiß man, warum; aber
der innere Sinn, zu Zeiten scharfsichtig, lauernd auf alles,
was in den innersten Falten des Herzens vorgehe (wohl
auch manches hineindichtend), ist zu andern Zeiten so stumpf
und träge, daß man sich zwar bewußt ist, einen Gedanken
gehabt zu haben, aber ihn wiederzufinden sich unfähig fühlt.
Absichtliche Anstrengung hält der innere Sinn nicht lange
aus; was wir in uns recht genau sehen wollen, das ver-
dunkelt sich während der Betrachtung. Uebrigens, wie schlüpf-
rig auch diejenige Materie der Erfahrung ist, welche der
innere Sinn uns liefert, so bewundernswerth zeigt sich zu-
weilen die ihm zugeschriebene geistige Thätigkeit. Nicht sel-
ten greift die Selbst-Auffassung in die heftigsten Affecten
ein und bändigt sie. Manchmal, bey der angestrengtesten
Arbeit in der Außenwelt, regiert der Mensch mitten im Ge-
dränge sich selbst, um das Werk richtig zu vollenden. Der
Schauspieler, der einen schlauen Betrüger darstellt, ist sich
erstens seiner eigenen Person bewußt, zweytens des Charak-
ters, der in seiner Rolle liegt, drittens der Verstellungs-
künste und des angenommenen Scheins, welche diesem Cha-
rakter als die Mittel des Betruges beygelegt sind. — Jn der innere Sinn steigt auf höhere Potenzen ins unbestimmte;
wir können unsre Selbstbeobachtung wieder beobachten, und
so fort.
Anmerkung. Schon in den Streitigkeiten zwischen
den Cartesianern, Locken und Leibnitzen kommt die Streit-
frage vor, ob es Vorstellungen gebe ohne Bewußtseyn?
Die leichteste und kürzeste Antwort ist, daß, wenn alles Vor-
stellen wiederum ein Vorgestelltes würde, dann der innere
[69] Sinn unaufhörlich in unendlich hoher Potenz thätig seyn
müßte. Jn Leibnitzens Lehre hing aber die Behauptung
der bewußtlosen Vorstellungen mit seinem metaphysischen
Begriffe von der Substanz zusammen. Jn Poleys Ueber-
setzung des Lockischen Werks über den menschlichen Verstand
findet sich S. 89 das Nöthigste hierüber beyeinander.
C. Reihenformen.
75. Raum und Zeit sind die Gegenstande einer sehr
falschen Lehre geworden, indem man sie für die eigenthüm-
lichen, einzigen, unabhängig von einander vorhandenen For-
men der Sinnlichkeit angesehen hat. Der Raum ist
vielmehr die einzige völlig ausgearbeitete Reihenform; er
wird vorzüglich bey Gelegenheit der Gesichts-
und Gefühls-
Empfindungen producirt; ist aber hierauf gar nicht einge-
schränkt, sondern eine ganz ahnliche Art von Production
geschieht bey manchen andern Veranlassungen, entweder voll-
ständig, oder innerhalb gewisser Grenzen; entweder
deutlich gedacht, oder undeutlich; manchmal mit charakteristi-
schen Nebenstimmungen, welche verursachen, daß man die
damit behaftete Reihenform von dem Raume unterscheidet.
Eine solche ist die Zeit. Eine andre ist die Zahl. Eine
dritte ist der Grad, oder die intensive Größe.
Minder deutlich, aber dennoch unvermeidlich, wird die
Reihenform producirt bey der Zusammenstellung der
gleichartigen Empfindungen nach der Möglich-
keit des Uebergangs aus einer in die andre. Da-
her die Tonlinie. (Wohl zu unterscheiden von der Ton-
leiter, die auf ästhetischen Bestimmungen beruht.) Jhr
ähnlich würde die Farbenfläche zwischen den drey Haupt-
farben Gelb, Roth und Blau seyn, wenn man sicher wüßte,
ob sich alle Farben auf jene drey, verbunden mit dem Grad-
unterschiede zwischen hell und dunkel (vielleicht weiß und
[60] schwarz), zurückführen lassen, oder ob nicht vielmehr das
Farbengebiet noch einer dritten Dimension bedürfe.
Anmerkung. Jn dem Unterschiede des Hellen und
Dunkeln, desgleichen bey der Tonlinie in dem Gegensatze
der hohen und tiefen Töne zeigt sich eine Vorstellung von
Succession in der Steigerung, welche verräth, daß der Pro-
ceß der Wölbung und Zuspitzung (26) bey dem Tieseren
und Dunkleren langsamer geht; dagegen schneller beym Hö-
heren und Helleren. Jn der Musik bewegt sich deshalb die
Baßstimme meistens langsamer als der Discant.
Noch minder deutlich, aber eben so unentbehrlich, ist
die Reihenform in jeder logischen Anordnung, wo die Be-
griffe der Arten einander entgegengesetzt, und, zugleich unter
dem Begriff der Gattung zusammengefaßt werden. Nicht
bloß die Ausdrücke sind hier räumliche Symbole. Es liegt
etwas in der Sache, wodurch Benennungen wie: Umfang,
oder Sphäre eines Begriffs, herbeygerufen werden; obwohl
diese Worte, in wiefern sie von dem Raume, der ausge-
arbeiteten Reihenform, entlehnt werden, nur Gleichnisse
enthalten.
Eben so nothwcndig ist in der Metaphysik die Lehre
vom intelligibeln Raume, der mit völliger Deutlichkeit, nach
allen drey Dimensionen construirt wird, bloß zum Behuf
des metaphysischen Denkens, ohne etwas sinnliches einzu-
mischen.
76. Die Vorstellung einer Reihe zeigt sich am faß-
lichsten in den Begriffen der ganzen positiven Zahlen.
Allein diese, allmählig erzeugt und erweitert (die Wil-
den und die Kinder haben damit nicht wenig Mühe), genü-
gen noch nicht, um alle Auffassungen eines Fortschritts
in dem Mehr oder Minder in sich aufzunehmen; vielmehr
geht die Production der Reihenformen schon bey den Zahlen
immer mehr ins Künstliche und Verwickelte. Zuförderst wer-
[61] den zwischen den ganzen Zahlen überall continuirliche Ueber-
gänge vermittelst der Brüche eingeschoben; und zugleich
kommt durch rückwärts gehende Verlängerung die Reihe
der negativen Zahlen hinzu. Dann entwickeln sich die
Begriffe der irrationalen Wurzeln, der Logarithmen und
Exponentialgrößen; endlich der zahllosen, durch Jntegration
zu erhaltenden Functionen, denen ein Differential, das heißt,
der Begriff einer gewissen Regel des Wachsens oder Abneh-
mens, zum Grunde liegt.
Kurz, die Arithmetik ist für den Psychologen
das merkwürdige Schauspiel einer stets sich ver-
feinernden Vorstellungsart von einer Reihe, die
man hin und her durchlaufen kann.
77. Schon nach Analogie dieser unläugbaren Thatsache
nun sollte man es wenigstens wahrscheinlich finden,
daß auch die geometrische Vorstellung des Raums, in
dessen unendlicher Größe und Theilbarkeit, nur eine allmäh-
lig zu Stande gekommene Production, keinesweges aber et-
was ursprünglich im Menschen liegendes sey. Dies um so
mehr, da die unendliche Bildsamkeit der Raumbegriffe sich
fortdauernd in demjenigen zeigt, was die stets höher aufstei-
gende Geometrie daraus macht. Zur Erklärung der Pro-
duction des Raums wird man die Principien im zweyten
Theile finden.
Hier bemerke man vorzüglich den Begriff des Zwi-
schen, mit zwey entgegengesetzten Seiten. Dieser
ist charakteristisch für alle Reihenformen. Eine Zahl liegt
zwischen Zahlen, eine Stelle im Raume zwischen andern
Stellen, ein Zeitpunkt zwischen zweyen Zeitpunkten, ein
Grad zwischen einem höhern und niedern Grade, ein Ton
zwischen Tönen, u. s. w.
Ferner bemerke man die psychologische Thatsache, daß
wir eine bestimmte Distanz, sie sey erfüllt oder leer, im [62] Raume, in der Zeit, auf der Tonlinie, einigermaaßen auch
bey der intensiven Größe, als Maaßstab fortzutragen
im Stande sind, wie beym Augenmaaße und beym Tacte
vorzüglich auffallend ist.
D. Logische Formen.
78. Es ist eine böse Gewohnheit der Philosophen, sich
in schwierigen Fällen an die Logik zu lehnen; nicht eben um
deren Vorschriften mit besonderer Sorgfalt zu befolgen,
(welches sehr löblich wäre) sondern um dem Verfahren,
welches sie selbst in ihrem wissenschaftlichen Gange beobach-
tet, etwas nachzuahmen, oder nachzubilden. (Kants Kate-
gorien, zusammen gestellt nach einer sehr fehlerhaften Tafel
der logischen Urtheilsformen, und sein kategorischer Jmpera-
tiv, der nichts anders enthielt als eine Reminiscenz an das
logische Verhältniß des Allgemeinen zum Besondern, sind
warnende Beyspiele.) So nun hat man auch in der Psy-
chologie über Begriffe, Urtheile und Schlüsse kaum mehr
zu sagen nöthig gefunden, als daß zu allen logischen Ope-
rationen ohne Zweisel die Vermögen in der Seele vor-
handen seyen; und weil die Logik, um vom Einfachern zum
Zusammengesetzten fortzugehen, zuerst von Begriffen, dann
von Urtheilen, und endlich von Schlüssen handelt, hat man
auch unbedenklich die sogenannten Vermögen zu diesen
Dingen, nämlich Verstand, Urtheilskraft und Vernunft, in
derselben Ordnung in den Psychologieen abgehandelt.
Aber mehrere factische Umstände machen schon die That-
sache zweifelhaft, ob Begriffe im strengen logischen Sinne
wirklich im menschlichen Denken vorkommen? und es fragt
sich, ob dieselben nicht vielmehr logische Jdeale seyen, de-
nen sich unser wirkliches Denken mehr und mehr
annähern soll? Diese Frage wird im zweyten Theile
bejahet werden; es wird sich überdies zeigen, daß die Urtheile
[63] es sind, wodurch die Begriffe dem Jdeal mehr und mehr
angenähert werden, daher sie den letztern in gewissem Sin-
ne vorangehen; es wird endlich klar werden, daß aus dieser
Wirksamkeit der Urtheile sehr wichtige Folgen für die me-
taphysischen Begriffe insbesondere sich ergeben.
79. Wie diejenigen Vorstellungen der Menschen, die
man Begriffe nennt, beschaffen seyn, darüber frage man die
Wörterbücher und die Sprachlehren. Jene zeigen uns für
jedes Wort einen Gedanken, der zwischen einer Menge ver-
schiedener, zuweilen kaum vereinbarer Merkmale umher-
schwankt. Diese verrathen, daß statt der allgemeinen Be-
griffe (wie Mensch, Baum) die Vorstellung von Einem
unter Vielen, die durch den unbestimmten Artikel (ein
Mensch, ein Baum) angedeutet wird, überall gebräuchlich
ist, wo nicht ausdrücklich logische Foderungen geltend ge-
macht werden. Daher ist denn kein Wunder, daß die aller-
meisten Menschen nicht einmal gute Nominal-Definitionen
in Bereitschaft haben, wenn sie gefragt werden, was sie
bey diesem oder jenem Worte denken. Anstatt also, wie es
der Logik gemäß geschehen sollte, jeden allgemeinen Begriff
zunächst bloß seinem Jnhalte nach vorzustellen, und die An-
wendung auf den Umfang als etwas dem Begriffe selbst
zufalliges zu betrachten: haben die Menschen gewisse Ge-
sammt-Eindrücke von vielen ähnlichen Gegenständen mit
Worten bezeichnet; und der Bedeutung dieser Worte, die
keinesweges vest bestimmt ist, muß im Gebrauch jedesmal
der Zusammenhang soweit nachhelfen, daß man vorzugsweise
an gewisse Merkmale eines übrigens unbestimmten Gedankens
erinnert werde.
Man sieht hieraus, mit welchem verkehrt ge-
stellten Probleme man die Psychologie belasten
würde, wenn man ihr anmuthen wollte, den Ur-
[64] Sprung ächt-allgemeiner Begriffe in der mensch-
lichen Seele zu erklären.
Dergleichen Begriffe lassen sich factisch gar nicht nach-
weisen; außer in den Wissenschaften, wo es klar vor Augen
liegt, wie sie gebildet werden; nämlich durch positive und
negative Urtheile, welche dem Worte, dessen Desinition man
sucht, allerley Merkmale zusprechen und absprechen.
80. Dagegen nun ist es eine nicht zu bezweifelnde That-
sache, daß die menschlichen Gedanken sich sehr gewöhnlich (ob-
wohl nicht immer) in die Form von Urtheilen fügen. Beyna-
he allen Redeformen in den nur einigermaaßen gebildeten Spra-
chen liegt die Verbindung eines Subjects und eines Prädicats
zum Grunde. Hiebey ist jedoch nicht zu vergessen, daß der
logischen Foderung: Subject und Prädicat sollen vest bestimmte
Begriffe seyn, in der Wirklichkeit nicht genüge Geleistet wird.
81. Die eben erwähnte Thatsache muß als eine psy-
chologische Merkwürdigkeit auffallen. Denn aus der Vor-
aussetzung, ein vorstellendes Wesen solle eine wirkliche oder
auch nur scheinbare Welt erkennen, oder selbst nur eine
solche als möglich denken, folgt gar nicht, daß dieses Den-
ken und Erkennen gerade die Form von Urtheilen anneh-
men müsse, sondern man kann in Versuchung gerathen,
einen so besondern Umstand für eine eigenthümliche Ein-
richtung der menschlichen Natur zu halten.
Das Vorstellen, als ein Abbilden der vorzustellenden
Gegenstände gedacht, sollte den Gegenständen selbst gleichen
und sich ihnen aufs genaueste anschließen. Aber das Ge-
füge der Subjecte und der (großentheils negativen) Prädi-
cate wird Niemand für eine Zusammensetzung in den Ge-
genständen halten. Und der Maler, der uns die Person,
nach der wir fragen, hinzeichnet, giebt uns eine weit ge-
nauere Kenntniß, als wer mit Worten alle die Prädicate
würde aufzählen wollen, welche in der Zeichnung mit Einem
[65] Blicke überschaut werden. Auch ist das ganze Gerüst von
Arten und Gattungen, welches wir nach Anleitung der Lo-
gik in Begriffen erbauen können, der Wirklichkeit fremd,
und nur in unserer, an die Urtheilsform gebundenen,
Erkenntniß zu gebrauchen.
Anmerkung. Schon manchem Philosophen hat das
Jdeal einer anschauenden Erkenntniß vorgeschwebt (z. B.
dem Spinoza), zu welcher freylich, wenn sie Wahrheit
gewähren sollte, eine sinnenfreye, unmittelbar auf das Wahre
gerichtete, sogenannte intellectuale Anschauung würde
erfodert werden. Was daraus wird, wenn widersprechende
Begriffe für angeschaute Gegenstände genommen, und als
solche angepriesen werden, das hat das Zeitalter zum Theil
erfahren; die Psychologie kann aber noch mit eben so trau-
rigen als mcrkwürdigen Thatsachen bereichert werden, wenn
man nicht abläßt, das cum ratione insanire kunstmäßig
zu betreiben. Verstünde man dagegen, falsche Systeme in
die Ferne zu stellen und sie aus dem rechten Standpunkte
zu betrachten: so würde man daraus lernen.
82. Die Hauptfrage, welche wir in Ansehung der
Urtheile an die speculative Psychologie zu richten haben, ist
so zu fassen: woher kommt die leidentliche Stel-
lung des Subjects, als desjenigen Gedankens
dem eine Bestimmung erst noch durch das Prädi-
cat gegeben werden müsse? Warum setzen sich
nicht Subject und Prädicat sogleich, indem sie
im Denken zusammenkommen, in das Verhalt-
niß des Substantivs und Adjectivs? Warum scheint
es, als ob wirklich ein Seelenvermögen, Urtheilskraft ge-
nannt, sie erst copuliren müßte?
Vorläufig sind hiebey in factischer Hinsicht folgende Be-
merkungen zu machen:
a) Es ist eine Erschleichung, wenn man behauptet, [66] alles menschliche Denken sey ein geheimes Urtheilen. Als
sichere Thatsache zeigt sich das Urtheilen nur im Sprechen;
gar vieles aber denkt der Mensch, das er nicht ausspre-
chen kann.
b) Auf die Entwickelung der menschlichen Gedanken
in ausgesprochenen Urtheilen hat großen Einfluß seine Nei-
gung, sich Andern mitzutheilen. Vielleicht gilt dieses auch
rückwärts: der verschlossene Mensch mag derjenige seyn, des-
sen Vorstellungen sich nicht leicht in die Form der Urtheile
fügen. — Man sieht bei Kindern schon sehr auffallende
Unterschiede der Redseligkeit und Zurückhaltung, auch wenn
die letztere nicht aus Scheu oder Trägheit entspringt.
c) Das Aussprechen ist oft Bedürfniß, und gewährt
Erleichterung. Das Urtheilen hängt hier mit Trieben und
Gefühlen zusammen.
d) Eine Hauptart der Urtheile, worin sich Subject
und Prädicat vorzüglich scharf getrennt zeigen, sind die Be-
urtheilungen, die ein Vorziehen und Verwerfen aus-
drücken. Der Hang zu diesen ist so groß, daß der Mensch
gern an Vorbedeutungen glaubt, d. h. daß er jedes Ereig-
niß als drohend oder glückverkündend zu betrachten geneigt
ist. Und aus den wiederholten Versuchen der Philosophen,
Gutes und Schlimmes auf Bejahung und Verneinung zu-
rückzuführen, läßt sich errathen: daß zwischen dem Urthei-
len auf der einen, dem Begehren und Verabscheuen auf der
andern Seite, zwar kein in der Natur außer uns gegrün-
deter, aber doch ein psychologischer Zusammenhang Statt
finden müsse.
e) Eine andre Hauptart von Urtheilen, in welchen
ebenfalls der Unterschied und die Zusammenfügung der bey-
den Bestandtheile sehr merklich wird, bietet sich dar in den
Anknüpfungen des Neuen an das Bekannte. Entweder das
Bekannte ist hier das Subject, und das Neue macht das [67] Prädicat aus, bey Veränderungen, die man an den Din-
gen bemerkt, z. B. der Baum blühet, oder das Neue ist
das Subject, und wird unter ein bekanntes Pradicat sub-
sumirt, z. B. bey allen Antworten auf die Frage: Was
ist das?
Die letztern Bemerkungen sind freylich nur particulär;
allein psychologisch gmommen ist oft das Allgemeine aus
dem Besondern zu erklären, weil sehr oft besondere Vor-
stellungsarten durch Uebertragung erweitert werden. Wie
die Begriffe der Jrrational-Größen entstehen, indem die
Vorstellung einer Zerlegung in gleiche Factoren auch auf
diejenigen Zahlen übertragen wird, die nicht aus mehrern
gleichen Factoren bestehen: so kann auch die allgemeine Ge-
wohnheit, alle Rede in die Form der Urtheile zu bringen,
einen sehr speciellen Anfang genommen haben: und es ist
keinesweges erlaubt vorauszusetzen, daß alle Gedanken, die
jetzt in der Form einer Verknüpfung von Subject und Prä-
dicat erscheinen, den Grund dazu in sich selbst enthalten.
Anmerkung. Urtheile wie A=A, oder: der Stein
ist nicht süß, sind Schul-Formeln und Schul-Beyspiele.
Wird ursprünglich geurtheilt, so verräth sich darin der Stand-
punct des Urtheilenden. Kinder urtheilen und fragen, wo
der Erwachsene seine schon zusammengefügten Substantive
und Adjective nicht mehr trennt; und wo er theils durch
Gewohnheit beschränkt ist, theils die Gränzen des mensch-
lichen Wissens kennt, theils die Dinge nur von der Ge-
schäffts-Seite sehen will.
Der Proceß der Wölbung und Zuspitzung (26) ist da
leicht zu erkennen, wo auf die Frage: was ist das? Ge-
antwortet wird, „Es ist nichts als Schnee,“ sagte ein
Kind, dem man einen Schneekuchen geschenkt hatte. Hier
war der Kuchen das Subject, dessen Auffassung die Wöl-
bung: was für ein Kuchen? veranlaßte, bis die Zuspitzung
[68] nur den Schnee übrig ließ. Die Schlußsätze: dieser Kuchen
ist nicht eßbar, er wird schmelzen, sind von ähnlicher
Art; die Prädicate kommen auch hier von/innen. Umge-
kehrt verhält es sich, wenn Derjenige, der bisher gewohnt
war, die Hunde frey laufen zu sehn, zum ersten Male sieht
und urtheilt, der Hund fahre eine Waare zu Markte.
An dem von Pferden gezogenen Wagen würde er vorüber-
gegangen seyn, ohne zu urtheilen.
Die Wölbung spannt, die Zuspitzung befriedigt; daher
eine Lust am Beurtheilen, und daher voreilige Urtheile und
Geschwätz. Dies schadet der Beobachtung sowohl als dem
Denken. Der Beobachter würde mehr bemerkt haben; er
wäre nicht durch einerley Zuspitzung befriedigt davon gegangen.
Beym Denker wäre die Wölbung vollständiger, und mehr
aus der Tiefe gekommen. Auch der Gestaltung schadet die
Lust am Urtheilen. Kritische Köpfe sind selten producirende.
Der Beobachter geht von einer Wölbung zur andern
successiv; er bildet Reihen von Urtheilen. Das bloße
Anschauen trennt die Prädicate nicht; es ist minder scharf;
weil die Wölbung mangelhaft war, ist es auch die Zu-
spitzung. Häufig folgt darauf untreues Wiedererzählen.
Hieben. wirkt die Sprache mit, durch Vieldeutigkeit der
Worte; wofern derselben nicht eine beständige Berichtigung
entgegenstrebt.
83. Die Schlüsse betrachtet die Logik als Fort-
schreitungen des Denkens. Allein hiebei bringen sich so-
gleich zwei Bemerkungen auf:
a) Setzt selten wird in gewöhnlicher Sprache eine
Fortschreitung in der Form des Syllogismus ausführlich
dargestellt; vielmehr hat der letztere fal allemal etwas Lang-
weiliges, wenn er nicht verkürzt, als Enthymen» erscheint.
Dies ist keinesweges ein Tadel für den Syllogismus (wo-
für es oft gehalten wird), sondern nur eine Erinnerung, daß
[69] Logik und Psychologie verschiedene Dinge sind. Die Vor-
stellungsreihen laufen meistens durch die Untersätze; indem
sie die Obersätze nur streifend berühren.
b) Sehr selten haben die Erzeugnisse des Denkens ur-
sprünglich (beym Erfinden) die Sicherheit des Syllogismus.
Meistens sind es Versuche, ein paar Vorstellungen, die sich
um einerley Mittelbegriff drehen, unter einander zu ver-
knüpfen, noch ehe die nöthige Quantitat der Sätze, und
die genaue Jdentität des Mittelbegriffs geprüft ist. Rich-
tiges Schließen und richtiges Messen sind nahe verwandt.
Der Mittelbegriff wie der Maaßstab, wollen genau vestge-
halten seyn.
84. Wenn daher der Vernunft das Vermögen zu
Schließen beigelegt wird, so wird hier wiederum eine un-
statthafte Abgränzung der Seelenvermögen sichtbar. Schlüsse
erzeugen, und Schlüsse prüfen und bestätigen, dies
sind zwei ganz verschiedene, in der Wirklichkeit meistens weit
getrennte Geschäffte. Das erste mag der Einbildungskraft,
das zweyte der Vernunft zugeschrieben werden.
85. Am Ende muß hier noch des logischen Bey-
falls Erwähnung geschehn, der von dem ästhetischen weit
verschieden ist. Jener besteht nicht wie dieser in einem
Vorziehn, dessen Gegentheil das Verwerfen ist, son-
dern im Anerkennen, wobey man sich übrigens den Ge-
genstand gefallen läßt wie er ist. Allein mit dem Anerken-
nen ist ein Gefühl eigner Art verbunden, worin der Zwang
der Evidenz und die Befriedigung eines Anspruches sich ver-
mischen, und von dem nur die Umstände bestimmen können,
ob es mehr angenehm oder unangenehm seyn werde. Die
Hauptsache ist hier, zu bemerken, wie die vorgeblichen Ver-
mögen des Erkennens und des Fühlens in einander fallen
oder, wie die Psychologen lieber sagen, auf einander ein-
[70] fließen, wobei sie sich um das Causalverhältniß in diesem
Einflusse nicht weiter zu kümmern pflegen.
E. Transscendente Begriffe.
86. Was zur Erfahrung gehöre, und was dieselbe
überschreite, ist nicht ganz leicht zu unterscheiden. Kant
rechnet noch die Begriffe von Substanz und Kraft mit
zu demjenigen, was in die Erfahrung, als Bestimmung der-
selben, eingehe, und es giebt bey ihm eine substantia
phaenomenon. Wir müssen hierin von ihm abweichen,
aus Gründen, die zum Theil schon die Einleitung in die
Philosophie vor Augen gelegt hat und die in der allgemei-
nen Metaphysik weiter entwickelt werden.
(Es ist nämlich der Begriff der Substanz nicht gleich
dem Begriff des Dinges, sondern aus diesem entstanden.
Ding ist eine Complerion von Merkmalen, noch ohne Frage
nach ihrer realen Einheit, die dabei blindlings vorausgesetzt
wird. Substanz ist der von allen Merkmalen verschiedene
Träger derselben; ein Begriff, der erst in so fern entsteht,
als man eingesehen hat, daß man die Merkmale von ihrer
Einheit unterscheiden müsse. Dieser Begriff ist widerspre-
chend, er muß umgebildet werden in den Begriff eines We-
sens, das vermöge der Störungen und Selbsterhaltungen
uns die Erscheinung einer Complexion von Merkmalen dar-
bietet, die ihm der Wahrheit nach gar nicht zukommen.
Der Begriff der Kraft lehnt sich an den der Substanz, und
entwickelt sich mit ihm auf beinahe gleiche Weise, aus dem
des veränderlichen Dinges; auch ist er einer ähnlichen
metaphysischen Correctur zu unterwerfen. Beyde Begriffe
entspringen also an der äußersten Gränze der Erfahrung,
als Widersprüche, die in die Metaphysik hinein treiben, das
heißt, die uns nöthigen, die Erfahrung zu überschreiten und
[71] Ueberzeugungen bey uns vestzusetzen, deren Gegenstände in
keiner Erfahrung können gegeben werden.)
87. Ausgerüstet mit den Begriffen von Substanz und
Kraft (wie dunkel und wie unrichtig sie auch übrigens noch
mögen gedacht werden) geht nun der menschliche Geist theils
in alle Weiten des Raumes und der Zeit hinaus, theils in
das Unbestimmbar-Kleine der nämlichen Reihenformen hinab,
theils gänzlich über sie hinweg, um das Höchste und Er-
habenste zu finden. So entstehn die Fragen nach der Un-
endlichkeit der Welt, nach den Bestandtheilen der Materie
(entweder Klümpchen oder Atomen), nach der Geisterwelt
und der Gottheit.
Anmerkung. Es ist höchst unzeitig, jetzt schon über
Gegenstände dieser Art psychologische Fragen erheben zu
wollen, wie man neuerlich mit einer gewissen Vorliebe ge-
than hat und mit der Einbildung, sich auf diesem Wege
wissenschaftliche Verdienste erwerben zu können. Unfehlbar
bilden sich die Begriffe von den Seelenvermögen, durch
welche diese Gegenstände sollen erkannt werden, nach den
Meinungen über die Gegenstände selbst; und erst muß man
so viel Metaphysik haben, um diese Meinungen berichtigen
zu können, ehe man nur fragen darf, welche Fähigkeit für
übersinnliche Erkenntniß dem Menschen beywohnen möge.
Konnte man falschen Speculationen zu Gefallen eine falsche
Logik ersinnen, so wagt man es auch mit der Psychologie.
Nur die Erfahrung wird sich nicht beugen lassen.
88. Noch gehören hieher die gereinigten geometri-
schen Begriffe von Körpern, als gleichförmigen Continuen,
von vollkommenen Flächen, Linien, Punkten. Auch sie über-
schreiten die Erfahrung, oder vielmehr, die Erfahrung
überschreitet sie; weil jeder sinnliche Gegenstand diesen
Begriffen etwas zumischt, wodurch er sie entstellt.
Die Frage nach den Seelenvermögen, welche die Grund-
[72] begriffe der Geometrie hergeben, ist so viel unnöthiger, weil
man auf den ersten Blick sehen kann, daß dieselben, bey
vorausgesetzter Production der Reihenformen, sich werden
aus der Erfahrung erhalten lassen, wofern es möglich ist,
zu scheiden, was die Sinne vermischt darbieten; eine Ope-
ration, welche der Erzeugung wissenschaftlicher Allgemein-
Begriffe nicht unähnlich seyn wird.
F. Reproduction.
89. Bey der Reproduction, welche sich ganz auf das
zeitliche Leben des Menschen, nämlich auf die Fortdauer
einmal erzeugter Vorstellungen bezieht, treffen wir wiederum
auf eine Sorglosigkeit der Psychologen in Ansehung dessen,
wornach zu fragen ist. Unsre Vorstellungen nämlich wei-
chen aus dem Bewußtseyn zurück, und kehren wieder; wo-
von nun soll erst der Grund gesucht werden, von dem Zu-
rückweichen, oder vom Wiederkehren? Auf jenes muß zuerst
die Frage gerichtet werden, während gewöhnlich nur vom
letztern geredet wird.
90. Zweyerley kann vorzüglich seyn an der Repro-
duction: ihre Lebhaftigkeit und ihre Treue. Jene
schreibt man der Einbildungskraft, diese dem Ge-
dächtnisse zu. So sind zwey Seelenvermögen erdichtet
für einerley Sache, die von verschiedenen Seiten betrachtet
wird. Dafür giebt es jedoch eine Entschuldigung, die in
dem gleich Folgenden leicht zu erkennen ist.
91. Die Treue und die Lebhaftigkeit der Reproduction finden
sich sehr selten in einem hohen Grade gleichmäßig
beysammen. Es beruht nämlich die Treue darauf, daß eine
Vorstellung sich in demselben Zusammenhange mit andern
erneuere, worin sie zuerst vorkam. (Mit denselben Merk-
malen Eines Dinges, denselben Umständen Einer Begeben-
heit, derselben Zeitbestimmung und örtlichen Verknüpfung
[73]u. s. w.) Diese Foderung wird selten da sehr vollständig
erfüllt werden, wo die Lebhaftigkeit der Reproduction viele,
unter einander nicht zusammenhängende Vorstellungen, bey-
nahe zugleich ins Bewußtseyn wiederkehren läßt, die sich in
ihren Nebenbestimmungen mannigfaltig durchkreuzen. So
nun findet man auch, daß Menschen von viel Phantasie
wenig Treue des Gedächtnisses zu besitzen pflegen, wiewohl
es in dieser Hinsicht Ausnahmen giebt.
Anmerkung. Mehrere Psychologen erfodern zum
Gedächtniß, Reproduction mit Erinnerung. Die letztere soll
das Urtheil seyn, man habe die nämliche Vorstellung schon
ehemals gehabt. (Hieraus wird zuweilen sehr überflüssig
noch ein eigenes Vermögen gemacht, das Erinnerungsver-
mögen.) Allein das erwähnte Urtheil kann als ein solches,
wobey sich Subject und Prädicat wirklich scheiden, nur sel-
ten nachgewiesen werden, und die ganze Bestimmung ist
dem Sprachgebrauche keinesweges angemessen. Man sagt
von demjenigen, er habe ein gutes Gedächtniß, der eine
Rede leicht auswendig lernt, und sie, ohne ihren Zu-
sammenhang zu zerreißen, mit Sicherheit hersagen
kann, wenn er schon sich während des Hersagens nicht
erinnert, es sey das dieselbe Rede, die auf dem oder
jenem Papier gedruckt oder geschrieben stehe und die er zu
der oder jener Stunde memorirt habe.
92. Ueber die Association der Vorstellungen, oder über
die Art und Weise, wie dieselben einander nicht bloß nach
einmal wahrgenommenen Verbindungen der Zeit und des
Raumes, sondern auch nach Aehnlichkeiten, ja sogar (schein-
bar) nach Contrasten hervorrufen, sind die psychologischen
Schriften voll von Bemerkungen, welche hieher zu setzen
nicht nöthig ist. Eher mag hier an den mannigfaltig ver-
schlungenen Gang zu erinnern seyn, den oft genug die Re-
production zu nehmen pflegt. Wer z. B. Kohlen und Asche
[74] in einem Walde findet, der denkt zunächst unmittelbar an
brennendes Holz, welches (weiter rückwärts) dürr im Walde
möge gelegen haben, dann (vorwärts) von Menschen die
sich dort lagerten, ergriffen und (weiter vorwärts) angezün-
det seyn. Wie aber kamen die Menschen dahin? (Diese
Frage geht rückwärts.) Wo sind sie geblieben? (vorwärts).
Welcher Brand konnte entstehn, wenn sich ein Sturm er-
hob? (Seitwärts ins Gebiet der Möglichkeit, zugleich rück-
schauend auf den Sturm und vorschauend auf den Schaden.)
Oder man findet alte Münzen in der Erde. Wie kommen
sie dahin? Aus welcher Zeit sind sie? Weshalb vergraben?
Wem gehört der Schatz? — Jedes Saamenkorn erinnert
rückwärts an das Gewächs, von dem es stammt, und vor-
wärts an das, welches daraus entstehen kann, zugleich aber
an den Gebrauch, den man vielleicht, ohne es zu pflanzen,
davon machen wird. — Zu den nützlichen Uebungen gehört
es, in vielen solchen Beyspielen die wechselnden Richtungen
und Verzweigungen des Gedankenlaufes zu beachten. Uebri-
gens ist sehr bekannt, daß bey der Verknüpfung nach Aehn-
lichkeiten vielfältig eins an die Stelle des andern gesetzt
wird, woraus neue Zusammensetzungen, Erdichtungen,
entstehen, für die man ein Dichtungsvermögen erfun-
den hat.
Anmerkung. Das Dichten, im weitesten Sinne,
ist das Wesentliche bey allem Erfinden. Zum Selbstdenken
in den Wissenschaften gehört eben so viel Phantasie, als
zu poetischen Erzeugnissen; und es ist sehr zweifelhaft, ob
Newton oder Shakespeare mehr Phantasie besessen habe.
93. Gedächtniß und Einbildungskraft kommen darin
überein, daß bey jedem Menschen ihre vorzügliche Stärke
auf gewisse Klassen von Gegenständen sich zu beschränken
pflegt. Wer sich geometrische Phantasie wünscht, der würde
ganz vergeblich sich in der, gewöhnlich sogenannten, Dicht-
[75] kunst üben, und wer die Kunstworte einer Wissenschaft, die
ihn interessirt, ohne alle Mühe behält, der hat oft ein
schlechtes Gedächtniß für Stadt -Neuigkeiten. — Hier ver-
räth es sich, daß die Reproduction, sowohl in Hinsicht ihrer
Lebhaftigkeit als ihrer Treue, mit der übrigen geistigen Thä-
tigkeit aufs engste zusammenhängt, und daß die Annahme
von eigenen, die Reproduction besorgenden, Vermögen der
Seele höchst ungeschickt ist, um die Erscheinungen auch nur
befriedigend zusammenzustellen.
94. Gedächtniß und Einbildungskraft weichen darin
von einander ab, daß jenes nur Vorgestellte und gleich-
sam todte Bilder herbeyzuführen, diese im activen Vor-
stellen beschäfftigt zu seyn scheint. Das Uebergehn der
Vorstellungen aus dem einen in den andern Zustand
ist sehr merklich beym Wiederlesen dessen, was man selbst ge-
schrieben, beym Prüfen dessen, was man selbst gedacht hat.
Viertes Capitel.
Gefühlsvermögen.
95. Wenn einmal Seelenvermögen angenommen wer-
den, so ergiebt sich die Nothwendigkeit, außer dem Vermö-
gen vorzustellen noch eins oder mehrere anzunehmen, so-
gleich daraus, daß wir durch Angabe dessen, was wir vor-
stellen, oder wie das Vorstellen in uns entstehe, bey wei-
tem nicht alles dasjenige bezeichnen können, was in uns
vorgehe. Jnsbesondre dringt es sich auf, daß ein höchst
mannigfaltiges Vorziehn und Verwerfen in uns vor-
kommt; um dessentwillen auch schon längst neben dem Vor-
stellungsvermögen noch das des Begehrens und Verabscheu-
ens ist aufgestellt worden.
[76]
96. Jn dem weiten und dunkeln Raume neben dem
Vorstellen hat man nun neuerlich die Gränze gezogen zwi-
schen Fühlen und Begehren. Allein fragt man die Psy-
chologen nach dem Ursprunge dieser Gränze, so geben sie
zwar an, das Begehren beziehe sich auf Gegenstände, das
Gefühl auf Zustände; dennoch drehen sich ihre Erklärungen
im Cirkel, oder kommen wenigstens nicht über die Frage
hinweg, ob vielleicht Fühlen und Begehren einerley Ereig-
niß sey, das wir nur in unserer Vorstellung von verschie-
denen Seiten betrachten, und deshalb mit zweyerley Namen
benennen?
Anmerkung. Maaß in dem Werke über die Ge-
fühle (S. 39 des ersten Theils) erklärt Fühlen durch Be-
gehren („ein Gefühl ist angenehm, so sern es um sei-
ner selbst willen begehrt wird“), aber eben derselbe, in
dem Werke über die Leidenschaften (S. 2 vergl. S. 7)
sagt: es sey ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was
als gut, zu verabscheuen was als böse vorgestellt werde.
Wobey die Frage entsteht, was denn gut, und was
denn böse sey? Darauf nun erhalten wir die Antwort:
die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie ange-
nehm afftcirt werde, u. s. w. Und hiemit sind wir im
Cirkel herumgeführt. — Hoffbauer, in seinem Grundrisse
der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Capitel vom Gefühl-
vermögen und Begehrungsvermögen so an: „Wir sind uns
mancher Zustände bewußt, welche wir uns bestreben her-
vorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vor-
stellungen erzeugen in uns das Bestreben, ihren Gegen-
stand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren,
u. s. w. Hier ist einerley Grund, das Bestreben, den Ge-
fühlen und Begierden untergelegt; und wenn der Unterschied
in den Gegenständen und Zuständen liegen soll, so
fragt sich, ob nicht das eigentlich Begehrte vielleicht die [77] Gefühle also die Zustände seyen, die man von den
Gegenständen erwarte? — Bey andern Autoren sieht
es in diesem wichtigen Puncte eben nicht besser aus. Eine
vortreffliche Bemerkung Lockes, in dem Werke über den
menschlichen Verstand (II, 21, §. 35), hatte man benutzen
sollen; sie erschöpft zwar den Gegenstand nicht, führt aber
auf den rechten Weg, und zeigt, daß viele Begierden (wenn
schon nicht alle) unabhängig sind von Gefühlen, wiewohl
sie deren in ihrem Gefolge haben können. Was Locke Un-
zufriedenheit nennt, ist kein Gefühl sondern die erste Re-
gung der Begierde selbst.
97. Wie nun die Thatsachen, die wir Gefühle nennen,
sich nur äußerst schwer von denjenigen absondern lassen, die
man als Begehrungen und Verabscheuungen kennt, so auch
ist es ein sehr unsicheres Unternehmen, die Arten der Ge-
fühle aufzuzählen. Dreyerley ragt hervor: sinnliches Wohl-
seyn und Schmerz; Gefühl fürs Schöne und Häßliche (wo-
bey noch des Erhabenen und des Kleinlichen zu gedenken
ist); und die Affecten, die man wenigstens jetzt gewohnt ist
bey den Gefühlen abzuhandeln. Aber damit ist der Gegen-
stand nicht erschöpft. Zuvörderst muß bemerkt werden, daß
die Gefühle sich verdoppeln in der Theilnahme an dem, was
Andre fühlen. Dann, daß jede Art von äußerer und inne-
rer Thätigkeit, je nachdem sie gelingt oder mißlingt (das
heißt, je nachdem das in Thätigkeit liegende Begehren be-
friedigt wird oder nicht), ein Wohlseyn oder Misbehagen
mit sich führt. Ferner, daß die Gefühle sich mannigfaltig
vermischen (ein streitiger Punkt, so wie der folgende).
Endlich, daß es Gefühls-Zustände giebt, die, wenn nicht
gleichgültig, doch so beschaffen sind, das an ihnen das
Behagliche oder Unbehagliche nicht charakteristisch ist
und ihre Stärke nicht darnach gemessen werden kann.
98. Wir werden, um wenigstens Einen vesten Schei-
[78] depunkt zu haben, die Gefühle zuvörderst eintheilen in solch,
die an der Beschaffenheit des Gefühlten haften, und in an-
dere, die von zufälligen Gemüthslagen abhängen; --
wobey es noch einen dritten mittlern Fall geben kann, daß nämlich
eine gewisse Gemüthslage vorhanden seyn müsse, damit aus
der Beschaffenheit des Gefühlten wirklich das derselben an-
gemessene Gefühl sich erzeuge. Dann wird von den Mittel-
zuständen zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen zu
sprechen seyn, und zuletzt werden die Affecten an die Reihe
kommen.
A. Von Gefühlen, die an der Beschafsenheit des
Gefühlten haften.
99. Daß es solche Gefühle gebe, ist klare Thatsache.
Jeder körperliche Schmerz, als solcher, ist unangenehm, oh-
ne alle Rücksicht auf die Frage, wieviel man sich darum
kümmere, wie geduldig man ihn ertrage. Auch sind die
unangenehmen Gefühle dieser Art specifisch verschieden; Bren-
nen, Schneiden, electrische Schläge, böse Zähne, jedes die-
ser Dinge erregt seinen eigenen Schmerz, der sich von dem
andern unterscheiden läßt; obgleich ein bloß Vorgestell-
tes, das nicht angenehm noch unangenehm wäre, sich nicht
heraussondern läßt, vielmehr die Vorstellung und ihr Widriges
nur Eins sind. Süße Speisen, sanfte Töne, eine gelinde Wär-
me geben Beyspiele von angenehmen Empfindungen dieser Art,
deren Angenehmes eingestanden wird, ohne Rücksicht auf
die Frage, wie viel man Werth darauf lege, und ob man
nur geneigt sey, dabey zu verweilen und sich diesen Empfin-
dungen hinzugeben.
100. Diese Gefühle sind analog allem Aesthetischen,
von dem sie nur dadurch abweichen, daß beym letztern das
Vorgestellte sich sondern läßt von dem Prädicate, welches
Beyfall oder Tadel ausdrückt; daher das ästhetische Ge-
[79] Fühl sich in die Form des Urtheils bringen und wissen-
schaftlich behandeln laßt; ein unendlicher Vorzug in prakti-
scher Hinsicht. *)
Anmerkung. Wenn in dem Schönen die Größe
vorwiegt, so entsteht das Erhabene. Dies ist eine ächte
Species des Schönen, weil die Größenverhältnisse selbst
zu den Elementen des Schönen gehören. Aber vergebens
sucht man die Definition für das Lächerliche. Dies hat
seinen Ursprung in der Möglichkeit des Lachens, derglei-
chen sich ohne einen menschlichen Leib und dessen organi-
sche Lebens-Gefühle nicht denken läßt. Das reinste Komi-
sche würde sich für einen reinen Geist in einen bloßen Con-
trast auflösen. Das Lachen gehört zu den Affecten; wie
diese, erschüttert es den Leib, Und durch diesen rückwärts
wiederum den Geist; wie sie, ist es eine kurz dauernde Ge-
müthslage, zu der man nach Launen sich bereit findet oder
nicht. Außerdem ist das Lächerliche ein Beyspiel dessen,
was stark gefühlt wird, ohne daß die Annehmlichkeit oder
Unannehmlichkeit ein Charakter desselben wäre. Bekanntlich
giebt es ein fröhliches und ein bitteres Lachen, und zwischen
beyden eine gewisse Gleichgültigkeit gegen das Lächerliche,
wie bey dem Komiker, dem es eine ernste Angelegenheit ist,
Anderer Lachen zu erregen.
B. Von solchen Gefühlen, welche von der Ge-
müthslage abhängen.
101. Bey der vorstehenden ersten Klasse kann man
mit Recht sagen: das Gefühl ist der Ursprung und (wenig-
stens zum Theil) der Erklärungsgrund der entsprechenden Be-
gierde und Verabscheuung. Hingegen bey der jetzt folgen-
[80] den
zweyten Klasse muß das Begehren als etwas ursprüng-
liches und das Gefühl zwar mcht als Wirkung, aber doch als
das Begleitende und Nachfolgende von jenem angesehen werden.
Man erinnere sich hier zuerst der sehr zahlreichen Be-
gierden, welche von der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit
ihres Gegenstandes entweder unabhängig oder doch mit der-
selben nicht im Verhältnisse sind. Alle die Dinge, welche
heute gewünscht und morgen verschmäht werden, alles, dessen
Werth) nach individueller Laune und Liebhaberey ab und
zunimmt, liefert uns hier auffallende Beyspiele. Das Be-
gehren dieser Dinge ist nun bekanntlich von vieler Unlust,
und im Falle der Befriedigung von einer kurzen Lust beglei-
tet. Solche Lust und Unlust kann man weder sinnlich noch
vernünftig nennen; sie hängt zusammen mit der Aufregung
unserer Thätigkeit, wie auch der Gegenstand unseres Thuns
übrigens beschaffen seyn möge. Ob ein Kind einen Knoten
in einem Bande, oder ein Mathematiker ein Problem in
Zahlen und Figuren auflösen wolle, das Gefühl der An-
strengung und der vergeblichen Mühe bleibt immer gleich-
artig.
Die unruhige Thätigkeit des Menschen (entgegengesetzt
dem naturgemäßen Streben der Thiere) ist durchgehends
von dieser Art.
Hieher gehören auch die Gefühle, deren Gefühltes
ganz zu fehlen scheint, wie bey der Beklommenheit oder in
der behaglichen Ruhe.
C. Von mittleren und gemischten Gefühlen.
102. Alle Gefühle des Contrastes, und das mit
ihnen einigermaaßen verwandte Staunen, müssen als mitt-
lere Gefühle betrachtet werden, d. h. als solche, die sich
durch das Angenehme und Unangenehme, was sie etwa mit
sich führen, weder beschreiben noch messen lassen. Das Er-
[81] staunen kann eben so wohl angenehm als unangenehm seyn.
Die Contraste sind in allen schönen Künsten unentbehrlich;
und doch fallen sie nur selten mit den eigentlichen ästheti-
schen Verhältnissen zusammen; vielmehr dienen sie zunächst,
das Mannigfaltige auseinanderzuhalten, und dadurch die
Faßlichkeit jener Verhältnisse zu unterstützen.
103. Daß es gemischte Gefühle geben könne, folgt
allenfalls schon aus der Ungleichartigkeit der beyden vorer-
wähnten Klassen; die Neugierde, die etwas an sich widriges
sehen (oder überhaupt wahrnehmen) will, und die nun durch
eine ihr wirklich zu Theil gewordene unangenehme Em-
pfindung befriedigt wird, liefert dazu das Beyspiel. Oh-
nehin kann auf empirischem Wege Niemand auf
den Gedanken kommen, gemischte Gefühle läugnen
zu wollen, da die Fälle täglich vorkommen, wo ein und
dasselbe Ereigniß in verschiedener Hinsicht unsre Gefühle
aufregt, und sehr oft auf entgegengesetzte Weise.
Anmerkung. Falsche Speculationen haben es den-
noch dahin gebracht, diese einfache Thatsache zu verdunkeln.
Man meint dabey eine zwiefache Täuschung zu entdecken,
erstlich eine Verwechselung. zwischen dem Gefühle selbst und
seinen mannigfaltigen Ursachen, zweytens ein Verkennen des
Uebergangs aus einem Gefühle ins andre. Diese Bemer-
kungen können die Thatsache nicht zweifelhaft machen, am
wenigsten aber die entgegengesetzte Behauptung veststellen.
Es ist schon gezeigt worden (34 — 38), daß des Menschen
Fühlen und. Wollen in seinen Vorstellungsmassen, und kei-
nesweges unmittelbar in der Seele, begründet ist, daher
denn die Vielfachheit und der Widerstreit des Fühlens sowohl
als des Wollens eben so begreiflich als gewiß in der Erfah-
rung gegeben ist.
Anmerkung. Nur zu oft gefallen sich die Dichter
in dem. Kunststück, Gefühle zu mischen. So können sie das [82] Piquante erreichen, aber nicht das Schöne. Große Muster
mögen oft genug misverstanden werden. Shakespeare mischt
Komisches in die Tragödie, aber wenn er hiedurch eine
Spannung augenblicklich mildert, um sie desto sicherer wie-
derum zu steigern, so hütet er sich, seinen Hauptpersonen
das Lächerliche ankleben zu lassen. Schon Homer ist roman-
tisch in der Reise-Erzählung des Odysseus; aber das ist
Erzählung überstandener Leiden, und charakterisirt den Odys-
seus, von dem Niemand einen rein ernsten und treuen
Bericht erwarten soll.
D. Von den Affecten.
104. Nachdem man die Affecten (vorübergehende Ab-
weichungen von dem Zustande des Gleichmuths) von den
Leidenschaften (eingewurzelten Begierden) geschieden hat, ist
die Meinung herrschend geworden, Affecten seyen stärkere
Gefühle. Aber es giebt sehr starke, dauernde Gefühle, wel-
che aufs tiefste in die Grundlage eines menschlichen Charak-
ters hiningewachsen sind (z. B. Anhänglichkeit an die Sei-
nigen und an das Vaterland), mit denen der vollkommenste
Gleichmuth so lange besteht, als nichts Widriges hinzutritt,
das eine Reizung mit sich führt. Der Augenblick der Ge-
fahr für die Unsern und für das Vaterland kann.uns in
Affect setzen, aber dieser Affect ist von dem Gefühle selbst
weit verschieden. Eben so kann der Mensch ein starkes und
dauerndes Ehrgefühl besitzen, ohne darum beständig im Zu-
stande des Affects zu seyn. Weit entfernt, daß Affecten
selbst Gefühle wären, machen sie vielmehr das Gefühl
platt. Der Sittenlehrer und der Künstler haben gar sehr
Ursache, sich vor der Plattheit zu hüten, welche entsteht,
wenn der Mensch vor lauter Affect am Ende nicht mehr
weiß, worüber er eigentlich weint oder lacht.
105. Kants Eintheilung der Affecten in schmerzende
und rüstige verbreitet Licht über den Gegenstand. Die
[83] Abweichung vom Gleichmuthe nämlich kann nach zwey Sei-
ten geschehen, entweder es ist zu wenig oder zu vieles im
Bewußtseyn gegenwärtig. Zur ersten Klasse gehören Schreck,
Traurigkeit, Furcht, zur zweyten Freude und Zorn.
106. Die Affecten sind nicht bloß ein psychologischer,
sondern auch ein physiologischer Gegenstand. Denn sie wir-
ken auf den Leib mit merklicher, oft gefährlicher Gewalt,
und machen eben dadurch rückwärts wiederum den Geist
vom Leibe abhängig, theils von der Dauer des leiblichen
Zustandes (der nicht so schnell aufhört, wie das Gemüth
für sich allein zur Ruhe kommen würde), theils von der
Disposition des Leibes zur Nachgiebigkeit gegen den Affect
So sind Muth und Furchtsamkeit offenbar sehr abhängig
von Gesundheit und Kränklichkeit.
Merkwürdig ist noch der Umstand, daß den verschiede-
nen Affecten verschiedene leibliche Zustände zugehören. So
treibt die Schaam das Blut in die Wangen, die Furcht
macht erblassen, der Zorn und die Verzweiflung vermehren
die Muskelstärke, u. s. w.
Hieraus sieht man nun, daß es unstatthaft seyn wür-
de, die sämmtlichen möglichen Affecten nach einem bloß psy-
chologischen Princip aufzählen und unterscheiden zu wollen.
Anmerkung. Ohne hier schon die Lehre von der
Verbindung zwischen Leib und Seele naturphilosophisch vor-
zutragen, können wir sogleich die beyden vorstehenden Be-
merkungen weiter benutzen.
1) Jede allmählige Aufregung eines Systems
durch ein anderes wirkt dergestalt zurück, daß von Seiten
des aufgeregten die Unruhe in dem aufregenden verlängert
wird. Nicht bloß der Leib überhaupt versetzt, nachdem
er im Affect aufgeregt wurde, hintennach den Geist in
eine längere Unruhe: sondern dies muß in den verschie-
denen Systemen des Organismus sich eben so verhalten. [84] Geht die Aufregung von der Seele zum Gehirn, vom
Gehirn zum Rückenmark, vom Rückenmark zum Gang-
liensystem, von diesem zum Gefäßsystem, von da zu den
einzelnen Organen und bis in die Vegetation: so geht die
Rückwirkung den umgekehrten Weg; und zwar nicht plötzlich,
sondern successio, wie die Aufregung; welche hier wie
eine beschleunigende Kraft (nach dem in der Mechanik
üblichen Ausdrucke) zu betrachten ist.
2) Die partielle Wirkung auf bestimmte Organe, wo-
von die Affecten die Probe zeigen, muß auch da vorkom-
men, wo wir sie nicht bemerken. (Bey der Reproduction
der Gesichtsvorstellungen entsteht eine Reizung der Sehenerven, bey Gehörsvorstellungen eine Reizung der Gehörner-
ven u. s. w. aber bey der Vorstellung einer Bewegung wer-
den die Bewegungsnerven gereizt, so daß ein besonderer
Alt des Zurückhaltens nöthig ist, wenn die Bewegung nicht
erfolgen soll.)
Verbindet man 1) mit 2) so werden die mannigfal-
tigsten Dispositionen erklärbar; ohne daß man veranlaßt
wird, in die gemeine Verwechselung von Leben und See-
le, und hiemit in den Jrrthum des sogenannten Mate-
rialismus zu verfallen, der übrigens in Ansehung der
Materie noch verkehrter ist als in Ansehung der Seele.
Fünftes Capitel.
Begehrungsvermögen.
107. Gleich Anfangs müssen wir in Hinsicht des
Wortes: Begehren, einen falschen Sprachgebrauch berich-
tigen, der in den Psychologieen durchgehends vorkommt.
Das Vermögen zu Begehren soll, mit denen des Vorstel-
[85] lens und Fühlens zusammengenommen, eine vollständige
Einteilung ergeben; es muß also auch die Wünsche, die
Triebe, und jede Sehnsucht mit umfassen, indem man
dies alles nicht zu den Gefühlen, noch zu den Vorstellun-
gen rechnen kann. Nun findet sich aber in den Psychologie-
en die Behauptung: was man begehre, das werde als er-
reichbar vorgestellt; die Meinung des Nicht-Könnens tödte
das Begehren. Dieser Satz ist richtig vom Wollen, wel-
ches eben ein Begehren, verbunden mit der Vor-
aussetzung der Erfüllung ist. Darum ist ein großer
Unterschied zwischen starkem Wollen und starkem Begehren.
Napoleon wollte als Kaiser, und begehrte auf St. He-
lena. Der Ausdruck Begehren wird wider die Absicht
beschränkt, wenn man die Wünsche ausschließt, welche blei-
ben, ungeachtet dessen, daß sie leere, oder vielleicht soge-
nannte fromme Wünsche seyn mögen, und welche eben
darum, weil sie bleiben, den Menschen stets von neuem
zu Versuchen antreiben, durch welche der Gedanke einer
Möglichkeit immer neu erzeugt wird, trotz allen Grün-
den, welche die Unmöglichkeit darzuthun scheinen. Es gehört
sehr viel dazu, der Vorstellung von der Unerreichbarkeit des
Gewünschten Stärke genug zu geben, damit eine ruhige
Verzichtleistung an die Stelle des Verlangens trete. Der
Mensch erträumt sich eine wünschenswerthe Zukunft, wenn
er schon weiß, sie werde nie eintreten.
108. Gemäß der zuvor gemachten Eintheilung der
Gefühle, müssen wir nun auch bey den Begierden (das
Wort im weitesten Sinne genommen) diejenigen, welche ein
Angenehmes als solches (die Verabscheuungen ein Unange-
nehmes als solches), zum Gegenstande haben, unterscheiden
von andern, denen kein Gefühl, sondern bloß die eben vor-
handene Gemüthslage ihre Richtung bestimmt.
Anmerkung. Gewöhnlich wird die letztere Art der
[86] Begierden verkannt. Man meint, das Begehrte müsse noth-
wendig als ein Gut vorgestellt werden. Dies ist entweder
eine Tautologie, — nämlich wenn Gut soviel heißen soll als
Begehrtes, — oder es ist ein Jrrthum, der in empirischer
Hinsicht zu den unzählbaren Erschleichungen der Psychologen
gehört.— Jn Alexander Baumgartens Metaphysik steht
§. 665 der Satz: Quae placentia praevidens exstitura
nisu meo prasesagio, nitor producere. Quae displicentia
praevidens impendienda nisu meo praesagio, eorum op-
posita appeto. Dies wird für die lex facultatis appeti-
tivae ausgegeben. Aber als allgemeines. Gesetz betrachtet,
ist diese Lehre des sonst schätzbaren Werks in jedem Punkte
fehlerhaft. Das placere, so fern es ein Vorgefühl vom An-
genehmen oder Schönen bezeichnen soll, ist nicht nöthig.
Das praevidere ist ebenfalls erschlichen. Zwar wer sich ein
Begehren vorstellt, der entwickelt sich diese seine Vor-
stellung auf zeitliche Weise. Aber auch die untersten Thiere
begehren, und gleichwohl kann man nicht annehmen, daß sie
sich Gegenwart und Zukunft auseinandersetzen. Das: exsti-
tura nisu meo setzt eine Vorstellung vom Jch, oder wenigstens
ein Selbstgefühl voraus, das viel späteren Ursprungs ist, als
die einfachen Begierden der Thiere und der neugebornen Kinder.
109. Die wichtigste Scheidung jedoch ist die zwischen
dem untern und obern Begehrungsvermögen. Denn beyde
entzweyen sich bis zum Widerstreite; während Gefühle ne-
ben einander bestehen, oder sich mischen; und in Hinsicht
der Vorstellungen die Allermeisten, selbst der Gebildeten und
Gelehrten, auf dem sinnlichen Standpunkte bleiben, ohne
sich um den metaphysischen Streit wider die Sinne ernstlich
zu kümmern.
A. Vom untern Begehrungsvermögen.
110. Hier kommen uns zuerst die Triebe und Jnstincte ent-
[87] gegen. Von diesen hat der Mensch nur ein Bruchstück; voll-
ständiger und verschiedener erblicken wir dieselben bey den
Thieren, wo sich klar zeigt, daß dabey der organische Bau
das wesentliche und bestimmende ausmacht. Man erinnere
sich insbesondere der thierischen Kunsttriebe.
Allein der wichtigste und allgemeinste der Triebe ist der
nach Bewegung und Veränderung, die unruhige Lebendig-
keit, die sich vorzüglich bey Kindern und jungen Thieren
verräth. Das ist viel Leben bey wenig Geist; man kann
daran sich üben, um Leben und Seele unterscheiden zu ler-
nen. Da sich diese Lebendigkeit nach dem Alter richtet, und
außerdem bey den Jndividuen von Geburt an verschieden
ist, so darf man glauben, sie sey Folge des Organismus,
also vielmehr ein physiologischer als psychologischer Ge-
genstand.
111. Wie nun die Psychologen nach der Analogie des
äußern Sinnes den innern ersunden haben, so auch stellen
sie neben die organischen Triebe noch mehrere andere; als
die Selbstliebe, den Nachahmungs-
und Erweiterungs-Trieb,
die geselligen Triebe u. s. w. ja gar einen allgemei-
nen Glückseligkeits-Trieb, obgleich Niemand dieses letztern
Triebes Gegenstand bestimmt angeben kann, vielmehr derselbe
bey verschiedenen Jndividuen verschieden ist.
Hier liegt es nun am Tage, daß nichts, als nur die
psychologische Abstraction, dem ganz unbestimmten Begriffe
der Glückseligkeit eine Unterlage unter dem Namen eines
Triebes gegeben hat. Nicht besser aber steht es um die
Selbstliebe und die geselligen Triebe. Das Begehren geht
hier voran vor allem hinzugedachten Jch, Du und Er.
Die Erfahrung zeigt deutlich genug, daß sowohl die egoisti-
sche Klugheit, als die Entschließungen für andre etwas zu
opfern, sich nur allmählig bilden, so wie es sich mehr ein-
[88] prägt, welche Collisionen zwischen eigenen und fremden
Jnteressen Statt finden.
Das Erschleichen realer Kräfte, oder wenigstens beson-
derer Anlagen und natürlicher Keime, ist in der Lehre vom
Begehrungsvermögen vorzüglich häufig, weit der Mensch
sich thätig zeigt in seinem Begehren, und man überall
geneigt ist, soviel Kräfte als Klassen von wirklichen oder
scheinbaren Tätigkeiten anzunehmen.
112. Die Neigungen, oder diejenigen dauernden
Gemüthslagen, welche der Entstehung gewisser Arten von
Begierden günstig sind, — zeigen sich mehr als die soge-
nannten Triebe verschieden bey den Jndividuen. Sie sind
großentheils Folgen der Gewohnheit, die aus dem Vor-
stellungsvermögen hieher ins Begehrungsvermögen herüber-
zureichen scheint. Denn es sind zuerst die Gedanken, wel-
che, der gewohnten Richtung folgen, und welche, wenn kein
Hinderniß eintritt, vor allem merklichen Fühlen und
Begehren sogleich in Handlung übergehn; stellt
sich aber etwas in den Weg, alsdann schwillt die Begierde
an, begleitet von einem Gefühl der Mühe und der an-
gestrengten Thätigkeit.
113. Das auffallendste, und nächst dem Wahnsinn
das traurigste Schauspiel in der Psychologie geben die Lei-
denschaften. (Kant hat sie in der Anthropologie vortreff-
lich gezeichnet.) Sie sind nicht Neigungen (Gemüthslagen),
sondern selbst Begierden, und jede Begierde ohne Ausnahme,
die edelste wie die schlechteste, kann Leidenschaft werden.
Sie wird es, indem sie zu einer Herrschaft gelangt, wo-
durch die praktische Ueberlegung aus ihrer Richtung kommt.
Das Vernünfteln ist das eigentliche Kennzeichen der
Leidenschaften.
Daher kann man dieselben eigentlich nur im Gegensatze
mit der praktischen Vernunft definiren und beschreiben. Eine
[89] vollständige Eintheilung der Leidenschaften ist ganz unmög-
lich, eben darum weil jede Begierde, durch Umstände und
Gewöhnung verstärkt, der Ueberlegung einen verkehrten Lauf
zu geben vermag. Jede Eintheilung der Leidenschaften ist
zugleich eine Eintheilung der Begierden überhaupt. Jn
der Geschichte spielen die Leidenschaften eine große Rolle.
Man hüte sich, diese Rolle dem Weltgeiste aufzutragen;
er würde dadurch dem Mephistopheles zu ähnlich werden,
und endlich gleich diesem aus der Rolle fallen.
B. Vom obern Begehrungsvermögen.
114. Dem Urtheilen und dem Handeln geht Ue-
berlegung voran, wenn der Mensch, ehe er ein Prädi-
cat an ein Subject knüpft, — und ehe er die jetzige Lage
der Dinge abändert, zuvor noch andre mögliche Denk-
und Handlungsweisen vergleicht. Jn der Ueberlegung liegt Ver-
weilung und Aufschub; ferner Sammlung und Erwägung.
Sie soll dem Widerruf und der Reue vorbeugen. Sie lei-
stet dies, in wiefern sie jeder unter den möglichen Vorstellungs-
arten, jedem Begehren, das mit einem andern in Collision
kommen könnte, gestattet, ganz ins Bewußtseyn hervorzu-
treten, und so stark als möglich den übrigen entgegen, oder
mit ihnen zusammenzuwirken. Wird dabey etwas vergessen,
wird etwas während der Ueberlegung gehindert, sich gelten
zu machen, so weit es kann: so bleibt Gefahr, eine andre
Gemüthslage werde nachfolgen und die Entscheidung der
erstern verwerflich finden, — Die Ueberlegung ist demnach
ein inneres Experiment; das Resultat desselben muß mit
völliger Hingebung vernommen werden; davon hat die
Vernunft im Denken und im Handeln ihren Namen.
115. Die Vernunft ist deshalb unsprünglich nicht ge-
bietend, nicht gesetzgebend; sie ist überall keine Quelle des
Wollens. (Sie ist eben so Wenig eine Quelle von Er-
[90] kenntnissen.)
Nichtsdestoweniger wird sie als solche betrach-
tet, ja sie wird für die höchste Richterin und Gebieterin
gehalten; wie sehr natürlich erfolgen muß, indem (mit ge-
wohnter Erschleichung) die Gefahr der Reue, wenn man
dem Resultate der Ueberlegung nicht gemäß handeln würde,
als eine Drohung angesehen, und nun zu der Drohung
ein Gebot, zu dem Gebote ein Gebieter hinzu gedacht
wird.
116. Die praktische Ueberlegung wird verwickelter
durch die Verbindung zwischen Mitteln und Zwecken.
Sie hat nämlich nicht bloß ein mannigfaltiges, unmittelba-
res Begehren gegen einander abzuwägen (unter mehrern
Zwecken zu wählen), sondern auch die Reihen möglicher Er-
folge zu durchlaufen, die mit den Zwecken zusammenhängen
und deren Erreichbarkeit wahrscheinlich machen. Jn letzterer
Hinsicht schreibt man die Ueberlegung dem praktischen
Verstande zu, der das Vermögen ist, sich nach der Be-
schaffenheit des Gedachten, unabhängig von Einbildung und
Leidenschaft zu richten. Bildet diese Art von Ueberlegung
sich vollständig aus: so erzeugt sie Pläne. Das Wählen
unter Zwecken aber wird ganz eigentlich der praktischen Ver-
nunft vorbehalten.
117. Besonnenheit ist die Gemüthslage des Men-
schen in der Ueberlegung. Wird dieselbe zur Gewohnheit,
so erweitert sich die Ueberlegung fortdauernd; sie sucht end-
lich alles mögliche Begehren in Eine Erwägung zusammen-
zufassen; immer mehrere Wünsche werden beschränkt und un-
tergeordnet, es wird nach dem letzten Ziele alles mensch-
lichen Thuns und Treibens, nach dem höchsten Gute ge-
fragt. Dabey bedient sich die Ueberlegung der allgemeinen
Begriffe, es entstehen Maximen (sehr verschieden von
Plänen), und Grundsätze, und aus deren Zusammen-
stellung eine Sittenlehre.
[91]
Jn der praktischen Philosophie wird gezeigt, daß, nach
Hintansetzung aller, von der Gemüthslage abhängenden,
also wandelbaren Begierden bloß dasjenige willenlose Vor-
ziehn, und Verwerfen den höchsten Rang behaupten könne,
welches in den ästhetischen Urtheilen über den Willen ent-
halten ist.
Es ist also das Werk der Ueberlegung (oder, wenn
man will, der praktischen Vernunft), diese Urtheile, und die
aus ihnen entspringenden Jdeen der innern Freyheit,
der Vollkommenheit, des Wohlwollens, des
Rechts und der Billigkeit, aus der Vermischung mit
allem andern Denken und Wollen, worin sie anfangs ver-
steckt liegen, hervorzuziehn und sie an die Spitze aller Klug-
heit zu stellen, sämmtliche Begierden und Wünsche aber un-
ter ihnen zu beugen.
C. Von der Freyheit des Willens.
118. Jndem aus der geendigten Ueberlegung ein Ent-
schluß hervorzutreten im Begriff steht, geschieht es oftmals,
daß eine Begierde sich erhebt, und sich jenem Entschlusse
widersetzt. Alsdann weiß der Mensch nicht, was er will;
er betrachtet sich als in der Mitte stehend zwischen zwey
Kräften, die ihn nach entgegengesetzten Seiten ziehn. Jn
dieser Selbstbetrachtung stellt er sowohl die Vernunft als
die Begierde sich gegenüber, als wären es fremde Rathge-
ber, er selbst aber ein Dritter, der beyde anhörte, und
alsdann entschiede. Er findet sich frey, zu entscheiden wie
er will.
Er findet sich auch vernünftig genug, um zu fassen,
was die Vernunft ihm sage; und reizbar genug, um die
Lockungen der Begierde auf sich wirken zu lassen. Wäre
dies nicht, so würde seine Freyheit keinen Werth haben; er
[92] könnte alsdann nur blindlings sich da oder dorthin neigen,
aber nicht wählen.
Nun ist aber die Vernunft, welcher er Gehör giebt,
und die Begierde, die ihn reizt und lockt, nicht wirklich
außer ihm, sondern in ihm, und Er selbst ist kein Drit-
ter neben jenen beyden, sondern sein eignes geistiges Leben
liegt und wirkt in beyden. Wenn er nun endlich wählt, so
ist diese Wahl nichts anderes, als eine Zusammenwirkung
eben jener Vernunft und Begierde, zwischen denen er sich
frey in der Mitte stehend dachte.
Jndem nun der Mensch findet, daß Vernunft und Be-
gierde in ihrem Zusammenwirken über ihn entschieden haben;
scheint er sich unfrey, und fremden Kräften unterworfen.
Offenbar ist dies wieder eine Täuschung, und gerade
aus der nämlichen Quelle, wie die erstere. Eben darum,
weil Vernunft und Begierde nichts außer ihm sind,,und
Er nichts außer ihnen, so ist auch die Entscheidung, welche
aus jenen entspringt, keine fremde, sondern seine eigene.
Nur mit Selbstthätigkeit hat er gewählt, jedoch nicht mit
einer Kraft, die von seiner Vernunft und seiner Begierde
noch verschieden wäre, und die ein anderes Resultat, als
jene beyden, ergeben könnte.
Anmerkung. Hiemit ist der Hauptgrund der psy-
chologischen Täuschungen angegeben, welche in Hinsicht der
Freyheit Statt sinden; auf die tieferliegenden metaphysischen
und moralischen Misverständnisse, die sich dabey einmischen,
können wir hier nicht Rücksicht nehmen. Nur ganz kurz
mag erwähnt werden, daß die Schwierigkeiten, die man in
der Zurechnung findet, von allen am leichtesten zu heben
sind. Zugerechnet wird eine Handlung, so fern man sie
als Zeichen eines Wollens betrachten darf; mehr oder
minder zugerechnet, je mehr oder weniger, je schwächeren
oder vesteren Willen sie verräth. So weit ist alles klar
[93] und allgemein bekannt. Nun aber verdirbt man alles, in-
dem man den Willen selbst wieder zurechnen möchte; wel-
ches nicht besser ist, als ob man das Maaß, das alles an-
dere messen soll, selbst einer Messung unterwerfen wollte.
So geschieht es, daß man fürchtet, wenn der Wille frühere
Ursachen hätte, aus denen er unvermeidlich hervorging, so
würden diese Ursachen die Schuld tragen, indem nunmehr
ihnen sowohl der Wille, als die aus ihm entsprungenen
Handlungen zuzurechnen wären. Darum will man lieber
den Willen einer Selbstbestimmung zurechnen; woraus eine
unendliche Reihe entsteht (vergl. Einleitung in die Philosophie
§. 107). Allein jene Furcht ist ganz grundlos. Die
Zurechnung steht still, sobald sie die Handlung auf den
Willen zurückgeführt hat; denn dieser wird hiemit sogleich
einem praktischen Urtheile unterworfen, welches sich voll-
kommen gleich bleibt, was auch für Ursachen und Anlässe
des Willens man möchte angeben können. Es, kann aber
begegnen, daß die Zurechnung noch einmal von neuem an-
fängt, wenn sich findet, daß jener Wille einen frühern
Willen zur Ursache hatte. Dem Verführten, nachdem er schon
vollständig bösartig geworden ist, werden seine Verbrechen
ganz zugerechnet, dieselben aber fallen noch einmal dem
Verführer zur Last, und so rückwärts fort, wie lange sich
noch irgendwo ein Wille als Urheber jener Verbrechen nach-
weisen läßt.
Anmerkung. Die transscendentale Freyheit, welche
Kant als einen notwendigen Glaubens-Artikel, um
des kategorischen Jmperativs willen (weil er die richtige
Begründung der praktischen Philosophie verfehlt hatte), an-
genommen wissen wollte, ist in der Psychologie ein voll-
kommener Fremdling. Wer das nicht einsieht, der studire
die beyden Kantischen Kritiken ber reinen und der prakti-
schen Vernunft; und lerne daraus, diesen Gegenstand vor-
[94] sichtig zu behandeln. Kant hat sich sehr viel Mühe ge-
geben, sich über diesen Punkt eine klare Ueberzeugung zu
verschaffen; er hat dennoch eine Verwirrung hervorgebracht,
die bey ihm an dem kategorischen Jmperative haftete, bey
seinen Nachfolgern aber in ganz andre Formen überging.
119. Während nun das Bewußtseyn der Freyheit, in
wiefern sie zwischen Vernunft und Begierde in der Mitte
stehen soll, auf keinen bessern Thatsachen beruhet, als den
oben angegebenen, ergiebt sich dagegen ein anderes Resul-
tat, wenn man die Vernunft selbst als den Sitz der Frey-
heit betrachtet. Nichts ist einleuchtender, als daß der leiden-
schaftliche Mensch ein Sklave ist. Sein Unvermögen, auf
Gründe des Vortheils und der Pflicht zu achten, sein Ruin
durch eigne Schuld, liegen klar am Tage. Jm Gegensatze
mit diesem wird mit Recht der vernünftige Mensch, der seine
Begierden zurückstößt, sobald sie der guten Ueberlegung sich
widersetzen, frey genannt; und mehr und mehr frey, je stär-
ker er ist in diesem Zurückstoßen. Ob aber eine solche Stärke
ins Unendliche gehen könne, darüber vermögen keine That-
sachen zu entscheiden, die allemal nur eine begränzte Kraft
bezeugen.
Sechstes Capitel.
Von der Zusammenwirkung und Ausbildung
der Geistesvermögen.
120. Die Annahme der Vermögen hat sich schon in
der bisherigen Uebersicht als so mangelhaft verrathen, daß
der Versuch, den gegenseitigen Einfluß derselben nach allen
Combinationen zu durchmustern, als zwecklos würde erschei-
[95] nen müssen. Einige Bemerkungen werden jedoch nützlich
seyn, um die Zusammenfassung des Vorgetragenen zu erleich-
tern, bevor wir den menschlichen Geist in seinen wandelba-
ren Zustanden näher betrachten.
121. Nächst den äußern Sinnen, deren Unentbehr-
lichkeit beym ersten Blick einleuchtet (was wäre ein Mensch,
blind, taub, und ohne Hände geboren?), ist ohne Zweifel
die Reproduction, in ihren beyden Formen als Gedächtniß
und Einbildungskraft, der Hauptsitz des geistigen Lebens.
Der einzelne Augenblick giebt durch die Sinne sehr wenig;
und wir würden thierisch beschränkt seyn, bliebe uns nicht
die Vergangenheit, als ein Schatz, in den wir unaufhörlich
zurückgreifen. — Jn den Stunden, wo der Zufluß unge-
suchter Gedanken schwächer ist oder gar stockt, spürt man
am besten die Armuth der Gefühle, die Rohheit der Be-
gierden, die Unthätigkeit oder vergebliche Bemühung des
Verstandes und der Vernunft ohne die Einbildungskraft.
Bis zu vesten Producten reift das Werk der Einbil-
dungskraft in Mythen und Sagenkreisen, welche als Gegen-
stände des Glaubens von der Kunst der Darstellung er-
griffen werden.
122. Hier ist der.Ort, der Uebungen und Fer-
tigkeiten zu erwähnen. Dieser ist die Reproduction vor-
zugsweise fähig; und man kann sie nirgends sonst mit
Sicherheit nachweisen, was auch von Uebung des Verstan-
des, der Vernunft, von sittlicher Fertigkeit u. s. w. mag
gesagt werden. Denn die Thatsachen, welche man dafür
anführen mag, bezeugen gerade, daß früher gebildete Be-
griffe, Urtheile, Gefühle, Entschlüsse, eben so wohl als sinn-
liche Vorstellungen, reproducirt und hiemit in neue Wirk-
samkeit gesetzt werden; sie bezeugen, daß dies desto schneller,
sicherer und umfassender geschieht, je öfter und sorgfältiger
[96] zuvor die Beschäfftigung mit jenen Begriffen u. s. w. Statt
gefunden hatte.
Auch selbst in Hinsicht des Gedächtnisses und der Ein-
bildungskraft läßt sich, den Thatsachen gemäß, die Uebung
weit weniger auf diese Vermögen beziehn als vielmehr auf
die Vorstellungen, welche reproducirt werden. Demjenigen,
der viel auswendig lernt, wird zwar das Memoriren all-
mählig leichter, jedoch nicht anders, als nur in dem näm-
lichen Kreise von Vorstellungen, an die er gewöhnt ist.
Man gebe dem, welcher viel -
Gedachtniß hat für Musik,
eine Reihe von Namen oder Zahlen zu behalten, und man
wird sehen, wie wenig die vorige Uebung des Gedächtnisses
in diesem Felde vermag.
123. Die Ausbildung geht nach zwey Hauptrichtungen
fort; diese bestimmt der innere Sinn, und das äußere
Handeln. Mit beyden hängt die Reflexion zusammen,
von, welcher daher zuerst zu bemerken ist, daß sie (die
Zurückbeugung des Gedankenlaufs auf einen
bestimmten Punct), bald absichtlich Vorstellungen hebt
und formt (im Arbeiten), bald hervorgerufen wird in der
Apperception des Gegebenen (in der Erfahrung); daß also
im ersten Falle die Thätigkeit von ihr ausgeht und von
ihr regiert wird; im zweyten hingegen der Reiz im Gege-
benen liegt. Aber in keinem dieser Fälle ist der andre ganz
ausgeschlossen. Auch das Arbeiten schafft in jedem Augen-
blick ein neues Gegebenes, indem das Werk vorrückt und
beobachtet wird; hiedurch lenkt es selbst die Reflexion. Um-
gekehrt versetzt uns die Erfahrung im Vergleichen und Ur-
theilen, hiemit aber ins weitere Nachdenken, welches nun
den vorhandenen Begriffen oder Meinungen oder Grillen
als den Haltungspuncten der Reflexion nach der Eigenheit
eines Jeden weiter folgt. Noch anders beschaffen ist die
Reflexion über einen bloß im Denken vestgehaltenen[97] Gegenstand. Hier liegt die Bewegung in der reflectirenden
Vorstellungsmasse selbst; nicht geringe Anstrengung aber
kostet das dauernde Fixiren des bloß gedachten Gegenstan-
des, welcher der Betrachtung still halten soll.
Der innere Sinn, den man dir Aehnlichkeit wegen
neben den äußern Sinn zu stellen pflegt, wird dadurch ganz
aus seinem natürlichen Zusammenhange gehoben. Er ist
vielmehr das große Princip, das aller regelmäßigen Thätig-
keit, insbesondre der künstlerischen Phantasie und der pra-
ktischen Vernunft, zum Grunde liegt. Ohne Selbstaussassung
könnte der Mensch weder sich selbst im Ganzen, noch seine
Tätigkeiten im Einzelnen regieren.
Das äußere Handeln, welches dem Menschen seine
Gedanken verkörpert, aber zugleich vielfach entstellt, gegen-
über treten läßt, spannt unaufhörlich Begierde, Beobachtung
und Beurtheilung; es verwandelt, indem es gelingt oder
mißlingt, das Begehren in entschlossenes Wollen oder in
bloßen Wunsch, begleitet von Lust oder Unlust, wodurch zur
habituellen Stimmung des Menschen der Grund gelegt wird.
Führen neue Lebenslagen neue Anlässe zum Handeln herbey:
so erscheint der Mensch oft auf einmal verwandelt. Am
auffallendsten wird dies, wo gemeinsame Noth ein neues
gemeinsames Handeln und aus jedem Jch ein neues Wir
hervorruft. Doch vielleicht noch auffallender ist‘s, zu sehen,
wie nach einiger Zeit die scheinbar Verwandelten wieder die
Alten werden.
Das bestimmteste Gepräge giebt dem Menschen sein
äußeres Handeln alsdann, wenn es Arbeit, besonders wenn
es Berufs-Arbeit oder doch tägliche Beschäftigung wird.
Hier aber zeigt sich auch aufs deutlichste der Unterschied
und die Zusammenwirkung zwischen der herrschenden Vor-
stellungsmasse, die während der Arbeit im Bewußtseyn gleich-
mäßig veststeht, der ablaufenden Reihe, von welcher jede
[98] einzelne Thätigkeit im einzelnen Augenblicke abhängt, und
der empirischen Auffassung dessen, was gethan worden, wo-
durch der Punct, bis zu welchem das Werk vorrückte, be-
stimmt ist.
Sehr wichtige nähere Bestimmungen liegen in der Ei-
genheit des Geschäffts. Die Reihen des Gärtners und Land-
manns lausen langsam ab, mit Störungen durch Natur-
erfolge, die ihn oft zum Warten nöthigen. Die Reihen
des Musikers, Schauspielers, u. s. w. haben dagegen ihren
bestimmten Rhythmus. Wieder anders laufen die Vor-
stellungsreihen des Fechters, des Taschenspielers, u. s. w.
wo ohne bestimmten Rhythmus doch aufs Genaueste der
rechte Augenblick muß wahrgenommen werden. Für
den praktischen Erzieher und Lehrer ist es eine der wichtig-
sten Vorschriften, daß er so genau als möglich beobachte,
wie bey seinen Zöglingen die Reihen ablaufen sollen,
können, und wie sie wirklich ablaufen. Man findet hier
die größten Verschiedenheiten, und man muß sie berück-
sichtigen.
124. Aber was auch der Mensch, innerlich sinnend,
oder äußerlich handelnd, versuche, mehr und mehr heben
sich ihm aus allen wechselnden Gemüthslagen gewisse blei-
bende Gefühle hervor, die in seiner praktischen Ueberle-
gung, und folglich in seinem Verstande und in seiner Ver-
nunft, als das eigentlich Entscheidende sich gelten machen;
in wiefern nämlich überhaupt die Ueberlegung in ihm reif
und gegen die wandelbaren Begierden kräftig wird.
Jnsbesondre ist es die, einem Jeden eigene, ästhe-
tische Auffassung der Welt, — die auf die mannig-
faltigste Art einseitig, und folglich praktisch verkehrt seyn
kann, — nach welcher sich Jeder sein Verhältniß zu der
Welt anzuweisen pflegt. Dahin gehört der Eindruck, wel-
chen Familie und Vaterland, Menschheit und Menschen-
[99] Geschichte
auf das Jndividuum macht, und aus allem, was
ihm daran unwillkührlich gefällt oder mißfällt, setzt sich die-
ser Eindruck zusammen.
Deshalb wirkt alles dasjenige nachtheilig auf den in-
nersten Kern des Charakters, was den Menschen hindert,
klar zu sehen, und unbefangen zu urtheilen.
125. Am zerstörendsten wirken auf alle Ausbildung
die Leidenschaften. Vom ästhetischen Urtheile sind sie das
entgegengesetzte Aeußerste, aber auch die wandelbaren Be-
strebungen werden von ihnen getödtet; Einbildungskraft und
Verstand bekommen durch sie eine einseitige Richtung; sie
selbst endigen sich, falls sie Befriedigung finden, in Lange-
weile, in Leere deß Geistes und Herzens, und falls sie un-
befriedigt bleiben, in Gram und Krankheit. Diejenigen,
welche allerley zu rühmen wissen, was sie durch leidenschaft-
liche Aufregung wollen geworden seyn, täuschen sich selbst;
sie sollten sich freuen, in ihrem Schiffbruche nicht alles ver-
loren zu haben; und manche sind zu rühmen, daß sie ihr
gerettetes Gut nun besser benutzen, als früherhin ihren
Reichthum.
Zweyter Abschnitt.
Von den geistigen Zuständen.
Erstes Capitel.
Ueber die allgemeine Veränderlichkeit der
Zustände.
126. Genau genommen gleicht kein Zustand des mensch-
lichen Lebens vollkommen dem andern; schwebend und schwan-
[100] kend ist alles, was unserer innern Wahrnehmung sich dar-
stellt. Diese Bemerkung, welche die Unmöglichkeit einer vest-
bestimmten psychologischen Erfahrung an den Tag legt, hat
den Anfang des gegenwärtigen Vortrags gemacht; jetzt muß
sie weiter ausgeführt werden. An sie knüpft sich die Be-
trachtung der verschiedenen Lebens-Zustände, wie sie Jeder-
mann zu durchlaufen pflegt; ferner die Angabe der auffal-
lendsten Verschiedenheit menschlicher Anlagen und mensch-
licher Entwickelung unter dem Einflusse äußrer Umstände;
endlich die kurze Bezeichnung der anomalischen Geistes-Zu-
stände.
127. Die Reproduction durch Gedächtniß und Einbil-
dungskraft (47. u. s. f.) verräth zwar, daß keine einmal
erzeugte Vorstellung ganz verloren geht, und nicht leicht
ein einmal entstandenes Zusammentreffen von Vorstellun-
gen ganz ohne Folgen bleibt. Allein wenn wir mit der
Menge alles dessen, was der Geist eines erwachsenen Men-
schen eingesammelt hat, dasjenige vergleichen, dessen er sich
in jedem einzelnen beliebigen Augenblicke bewußt ist, — so
müssen wir über das Misverhältniß erstaunen zwischen jenem
Reichthum und dieser Armuth! Man möchte gleichnißweise
dem menschlichen Geiste ein Auge zuschreiben, das eine äu-
ßerst enge Pupille, dabey aber die höchste Beweglichkeit be-
säße. Die Erklärung hievon liegt unmittelbar in dem, was
oben (16, 19) über die Schwellen des Bewußtseyns ist
gelehrt worden. Uebrigens ist die äußerst kleine Zahl von
Vorstellungen, die wir auf einmal zu umfassen vermögen,
oft im schnellsten Kommen und Gehen begriffen, und da-
durch wird es dem geistvollen Menschen möglich, seine Vor-
stellungen in die mannigfaltigste Berührung zu bringen und
sie durch einander zu bestimmen.
128. Gewisse Aufregungen des Wechsels der Vorstel-
lungen durch äußere Eindrücke sind dem Menschen Bedürf-
[101] niß. Der Einsame sucht gesellschaftliche Unterhaltung, und
lange an Einem Platze zu bleiben ist peinlich wegen der
Einförmigkeit der Umgebung, wenn nicht für Hülfsmittel
gesorgt ist, um den Geist in Bewegung zu erhalten. Bleibt
dies Bedürfniß lange unbefriedigt, so schwindet allmählig
das menschliche Leben auf die gleich zu bemerkenden periodi-
schen Abwechselungen zusammen. Umgekehrt steigert sich das
Bedürfniß durch Befriedigung. Die, welche die Geschichte
machen (wie Napoleon), finden deshalb immer Menschen
genug, die zu ihrem Dienste bereit sind, weil sie nicht ru-
hen können. Auch hinter dem Ofen klagt man über leere
Zeitungen.
129. Vermöge der Einrichtung des menschlichen Lei-
bes halten Hunger und Sättigung, Wachen und Schlaf,
alle Tage ihren bekannten Umlauf; und die Jahreszeiten
kommen hinzu, mit der Mannigfaltigkeit von Befriedigun-
gen und von Vermehrungen der körperlichen Bedürfnisse.
Wieviel Anspannung und Abspannung, wieviel Ueberlegen,
Beschließen, Handeln und. Ruhen daraus weiter folgt, ist
hier nicht nöthig zu entwickeln.
Anmerkung. Von der merkwürdigen Nebenbestim-
mung des Schlafs, durch die Träume, wird bequemer un-
ten, bey den anomalischen Zuständen, etwas gesagt werden.
130. Das irdische Leben im Ganzen genommen hat
seine Perioden des Wachsthums, der vollen Stärke und der
Abnahme.
Das Kind, aus psychologischen Gründen rastlos be-
wegt, wenn es gesund ist, treibt sich umher in einfachen,
kunstlosen Phantasien und Spielen; unaufgelegt, zusammen-
hängend zu denken, aber höchst empfänglich für alles Neue.
Dabei vermag es nicht, sich aus augenblicklichen Gefühlen
hervorzuarbeiten. Der Knabe, noch im hohen Grade weich,
kann gleichwohl durch die Erziehung, ohne Vorschnelligkeit, [102] zu einem bedeutenden Grade wahrer Einsicht und Selbstbe-
herrschung gehoben werden. Der Jüngling bekommt einen
Zuwachs an Kräften, aber auch an Unruhe. Kann er nicht
handeln, so dichtet er. Der Mann, dem diese Kräfte nicht
mehr neu, dem aber die Schwierigkeiten des menschlichen
Wirkens bekannt sind, gebraucht zweckmäßig, was er hat,
wenn Kindheit und Jugend nicht verdorben wurden. Er
handelt mehr, darum dichtet er weniger. — Das spätere
Alter behält soviel Männlichkeit, als der Körper gestattet,
mit großen individuellen Verschiedenheiten. Jm besten Falle
tritt hier das Denken an die Stelle des Dichtens und des
Handelns, wenn schon zu spät. Jedes Alter büßt die
Schulden und leidet an dem Unglück aller vorhergegan-
genen.
Zweites Capitel.
Von den natürlichen Anlagen.
131. Der Verlauf des Lebens wird zuerst näher be-
stimmt durch die Verschiedenheit der Geschlechter: Diese ist
oftmals von früher Jugend an kenntlich. Mädchen werden
eher klug und sind eher geneigt, sich in den Gränzen des
Schicklichen zu halten. Dagegen ist ihre Erziehungs-
Periode kürzer, als bey den Knaben. Sie sammeln daher we-
niger geistigen Vorrath, aber sie verarbeiten ihn schneller,
und mit geringerer Mannigfaltigkeit und Zertheilung. Die
Folge zeigt sich im ganzen Leben. Das weibliche Geschlecht
hängt an seinem Gefühle; der Mann richtet sich mehr nach
Kenntnissen, Grundsätzen und Verhältnissen. Dazu kommt
[103] die Vielförmigkeit der Berufsgeschäffte, worin die Männer
sich stellen.
132. Eine andre ursprüngliche Eigenheit hat jeder
Mensch in Ansehung des sogenannten Temperaments, einer
physiologisch zu erklärenden Prädisposition in Ansehung der
Gefühle und Affecten. Auf die Gefühle beziehen sich unter
den bekannten vier Temperamenten das fröhliche und das
trübsinnige (das sanguinische und melancholische); auf die
Erregbarkeit der Affecten das reizbare und das schwer be-
wegliche (cholerische und phlegmatische). Die Möglichkeit
der Temperamente ist im Allgemeinen leicht einzusehen.
Denn das Gemeingefühl, welches der Organismus mit sich
bringt und welches den Menschen durch sein ganzes Leben
begleitet, kann nicht leicht genau in der Mitte stehn zwi-
schen dem Angenehmen und Unangenehmen; je nachdem es
aber nach dieser oder jener Seite sich hinüberneigt, ist der
Mensch sanguinisch oder melancholisch. Beydes zugleich kann
er nicht seyn, sondern er hat auf der Linie, die nach bey-
den Richtungen läuft, irgendwo seine Stelle; jedoch ist ein
schwankendes Temperament nicht bloß denkbar, sondern
auch in der Erfahrung zuweilen anzutreffen, vermöge dessen
der Mensch abwechselnd zur Fröhlichkeit und zum Trüb-
sinn, ohne besondre Ursache, aufgelegt ist. — Ferner, da
die Affecten den Organismus ins Spiel ziehn, und in ihm
gleichsam den Resonanzboden finden, durch den sie selbst
verstärkt und anhaltender gemacht werden, so muß es einen
Grad der Nachgiebigkeit des Organismus geben, vermöge
dessen dee Mensch entweder mehr cholerisch, oder mehr
phlegmatisch ist; wiederum so, daß er nicht beydes zugleich
seyn, wohl aber zwischen beyden schwanken könne.
Hieraus ergeben sich nun auch die möglichen Mischun-
gen der Temperamente, nach den Combinationen jener bey-
den Reihen. Das sanguinische Temperament ist entweder [104] zugleich cholerisch oder phlegmatisch, und auch das melan-
cholische kann cholerisch seyn oder phlegmatisch. Denkbar
ist, daß Jemand weder sanguinisch noch melancholisch sey,
denn der Nullpunkt liegt zwischen beyden in der Mitte.
Aber undenkbar ist, daß Jemand in Hinsicht des choleri-
schen und phlegmatischen indifferent sey; denn gar keine Er-
regbarkeit der Affecten wäre äußerstes Phlegma; der Null-
punkt liegt hier auf einem der Extreme. Die Mitte ist die
gewöhnliche Erregbarkeit; ein arithmetisches Mittel, das
man ungefähr aus den Erfahrungen herausfindet, so wie
die mittlere Statur des menschlichen Leibes.
Anmerkung. Man kann die Namen der Tempera-
mente auch anders deuten; und wenn der Ausdruck: Cho-
lerisches Temperament, auf anhaltende Neigung zum
Zorn soll bezogen werden, so paßt das Vorstehende nicht.
Da der Gegenstand nicht rein psychologisch ist, so mag hier
eine physiologische Ansicht Platz finden. Von den drey Fa-
ctoren des thierischen Lebens mag irgend einer durch einen
verborgenen Fehler auf den Geist wirken. Jst die Jrrita-
bilität und Sensibilität unversehrt, und leidet die Vegetation
nur in so fern, als sie ein stetes Unbehagen ins Gemeinge-
fühl hineinbringt: dann mag eine cholerische Bitterkeit ent-
stehn; dergleichen wirklich in seltenen traurigen Fällen schon
an Kindern wahrzunehmen ist. Leidet die Jrritabilität: so
sieht man Gutmüthigkeit und vielleicht Talent, aber ohne
hinreichend kräftiges äußeres Leben. Leidet die Sensibilität
im Allgemeinen: so scheint das von einigen sogenannte
böotische oder Bauerntemperament hervorzugehn. Leidet nur
die Sensibilität des Gehirns verhältnißmäßig, oder deutli-
cher: überwiegt das Gangliensystem: so möchte dies den
Sanguiuicus ergeben. Sind Vegetation und Jrritabilität
zugleich schwach gegen die Sensibilität: so erblicken wir den
[105] Phlegmaticus. So angesehen sind alle merklich hervortre-
tenden Temperamente fehlerhaft.
133. Wie der Organismus die Affecten durch einen
Nachklang verstärkt, oder durch seine Unbeweglichkeit ihre
Ausbrüche dämpft, eben so mischt er sich in allen Wechsel
der Gefühle und der Gedanken, bald wie das Schwungrad,
das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine
träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht.
Wenigstens ist es eine bekannte Thatsache, daß der Menschen
Wachen nicht immer, und nicht bloß, so viel ist, als Aus-
geschlafen haben. Jene enge Pupille, die wir oben im All-
gemeinen dem menschlichen Geiste beylegten (127), ist bey
den Jndividuen enger oder weniger eng; und die Beweglich-
keit der Vorstellungen, die im Bewußtseyn kommen und
gehen, ist bey ihnen kleiner oder größer. Nehmen wir dazu
noch die besondre Aufgelegtheit mancher Personen für diese oder
jene Art des Denkens und Fühlens, so haben wir den Unter-
schied, dessen beyde äußerste Enden man Genie und Blöd-
sinn nennt. Der letztere wird zu den anomalischen Zuständen
gerechnet, weil er sich oftmals mit ihnen vermischt und gleich
ihnen, den Menschen in der Gesellschaft unbrauchbar macht.
Anmerkung. Was mit Physiognomie und Kranio-
stopie zusammenhängt, das ist zu unsicher und zu unbe-
stimmt, um bis jetzt in der Psychologie für etwas mehr als
für eine Curiosität zu gelten. Manche seltsame Thatsache
(gleichviel aus welchem Gebiete des Wissens) kann wahr
seyn; um aber wissenschaftlich wichtig zu werden, muß
sie sich auf eine zuverlässige Weise mit dem, was sonst
schon bekannt und geprüft ist, verknüpfen lassen; steht sie
einsam, so bleibt sie unfruchtbar. Die Psychologie vollends
durch Physiologie beherrschen wollen, heißt das Ver-
hältniß beyder Wissenschaften gerade umkehren; ein in neu-
ern und ältern Zeiten häusig begangener Fehler; Jm drit-
[106] ten Theile wird das wahre Verhältniß einigermaaßen kennt-
lich gemacht werden.
134. Man kann die Frage aufwerfen, wie die Mensch-
heit überhaupt angelegt sey? Es ist bekannt, daß längere
Erfahrung und sorgfältiges Studium der menschlichen Ge-
sinnungen sehr viel von der guten Meinung wegzunehmen
pflegen, die etwan die Außenseite einer gebildeten Gesell-
schaft bey dem Jünglinge erweckt, der noch nicht weiß, wie-
viel Schlechtes die Menschen in sich verstecken und heimlich
ernähren. Allein diese Thatsache beweiset weniger gegen
die Anlage der Menschheit von Natur, als gegen das grobe
Verfahren, welches bisher noch durchgehends da angewendet
wird, wo man Menschen bilden will. Jndem dieses Verfah-
ren (vorzüglich wegen der Unvollkommenheiten des Staats
und der Kirche) vorschnell auf das äußere Benehmen der
Menschen gewirkt hat (seit Jahrhunderten), ist ein Misverhältniß
entstanden zwischen Scheinen und Seyn, welches
die alten und mittlern Zeiten schwerlich in dem Grade kön-
nen gekannt haben, wie die unsrigen, da es in jenen weit
weniger von verpflanzter und nachgeahmter Cuttur gab, als
bey uns. — Uebrigens ist die Anlage der Menschheit etwas
anderes, als die Anlage einzelner Menschen. Jene geht
auf die gesellschaftliche Entwickelung im Ganzen; also ganz
vorzüglich auf das Verhältniß zwischen den seltenen großen
Geistern, die in der Geschichte Epoche machen, und der
Menge der gewöhnlichen Menschen, die nur Bildung em-
pfangen und fortleiten können. Um hierüber aus Thatsa-
chen mit einiger Sicherheit zu urtheilen, dazu ist unsre
Menschengeschichte, die nur erst wenige Jahrtausende um-
faßt, noch viel zu kurz. Ungeachtet des alten Spruches:
nichts Neues unter der Sonne! geschieht noch viel
zu viel Neues, als das man die irdische Bahn der Mensch-
heit schon überschauen könnte.
[107]
135. Zwischen die Fragen nach der Anlage der Jn-
dividuen und der Menschheit würde man die Betrachtung
der Menschenrassen in die Mitte stellen müssen, wenn
die letztere in psychologischer Hinsicht etwas sicheres ergäbe.
Allein was hierüber etwa zu sagen wäre, verbindet sich
besser mit dem nächstfolgenden Gegenstande.
Drittes Capitel.
Von äußeren Einwirkungen.
136. Auf dem empirischen Standpunkte läßt sich nicht
bestimmt entscheiden, was im Menschen angelegt, was von
außen gewirkt sey, und schon die Einleitung in die Meta-
physik warnt uns, beyden Vorstellungsstarten nicht viel zu
trauen, indem sowohl der Begriff einer Mannigfaltigkeit
von Anlagen in Einem, als der von Ursachen und Wir-
kungen jeder Art, zu denjenigen gehören, die nicht so, wie
sie sich uns zuerst vermittelst der Erfahrung darbieten, kön-
nen beybehalten werden.
Hier kann also nur das Auffallendste bemerkt werden,
was wir am Menschen nach äußern Umständen verschieden
finden.
137. Zuerst nun kommt in Anschlag der Ort, wo
der Mensch lebt, mit allen den zahlreichen und weitgreifenden
Einflüssen des Klima, der Beschaffenheit von Grund
und Boden, der Lage und Nachbarschaft. Was hieher
gehört, das pflegt in den historischen Vorträgen weitläuftig
und in vielen Beyspielen entwickelt zu werden.
138. Dann hat die Nation, zu welcher das Jndi-
viduum gehort, nicht bloß ein vorherrschendes Temperament, [108] sondern sie hat auch ihre Geschichte; und diese Geschichte
findet der Einzelne bis auf einen gewissen Punkt abgelau-
fen. Damit ist nun ein Grad der Cultur, ein nationales
Gefühl und Gewissen verbunden, wovon der Einzelne in
allen Punkten seiner Lebensbahn mächtig gelenkt, gehoben
und niedergeschlagen wird.
139. Bey jeder Nation, die sich aus der Rohheit em-
porgewunden hat, giebt es Verschiedenheit der Stände
(auf die Weiber nur verpflanzt, bey den Männern ursprüng-
lich). Diese Verschiedenheit ist theils ein Werk der Gewalt
und der Noth, theils eine Folge der natürlichen Anlagen,
theils entspringt sie aus dem Bedürfnis die Arbeit zu thei-
len. Nur in so fern kommt dem Einzelnen ein Stand zu,
wiefern ihm eingeräumt wird, er habe die Zweckmäßigkeit
seines Thuns selbst zu beurtheilen. (Nicht in wiesern er
für eigne Zwecke thätig ist, denn in dem Begriffe der Thei-
lung der Arbeit liegt es schon, daß es für Alle, oder doch
für Viele, wirkt.) Jndem nun der Mensch sein ganzes Thun
in Eine Zweckmäßigkeit zu concentriren sucht, entsteht ein
äußeres Gepräge und eine Ehre für jeden Stand, wobey
nicht nur, wie zu geschehen pflegt, die Mittel selbst den
Zweck um etwas verrücken und zum Theil vergessen machen,
sondern auch die Gedanken und die Gesinnungen des Men-
schen richten sich nach seinem Thun; sie schwinden zusam-
men auf den Kreis ihrer Brauchbarkeit, und die Bestrebun-
gen, welche übrig bleiben, scheiden sich in zwey Theile, in
einen, der dem Stande ganz angehört, und einen andern,
der trotz demselben Befriedigung sucht. Falls dieser Wi-
derstreit bedeutend wird, so. taugen der Mensch und
sein Stand nicht, für einander und sie schaden sich gegen-
seitig. —
Je weniger nun Jemand die Zweckmäßigkeit seines
Thuns selbst zu beurtheilen hat, das heißt, je mehr er der
[109] Angestellte eines Andern ist, desto weniger bekümmert er
sich darum, und desto weniger Ehre giebt es für ihn; desto
mehr Gewicht aber fallt nun auf jenen zweyten Theil der
Bestrebungen, der sich trotz der beschränkten Stellung zu
befriedigen sucht. Hiezu werden alle Gelegenheiten benutzt
und die Künste der Falschheit aufgeboten, wenn nicht eine
zugleich milde und strenge Behandlung von Seiten der An-
stellenden dem Uebel vorbeugt.
Den bessern Theil einer jeden Nation findet man in
der Regel unter denen, die einen Theil der allgemeinen
Arbeit übernommen haben und ihn nach eigenem Urtheil
besorgen.
140. Wie auf den erwachsenen Menschen sein Stand,
so wirkt auf die Tugend die Familie, der Jemand ange-
hört, und die Erziehung, die ihm zu Theil wird, nebst den
Eindrücken der Beyspiele und der ganzen Umgebung. Sel-
ten bildet sich einer im Widerstreite mit seiner Lage, nie-
mals davon unabhängig.
141. Die Hauptfrage ist: wieviel, und welche Frey-
heit dem Menschen bleibe, in der Mitte aller äußern Ein-
wirkungen?
Es ist leicht, das Vorstehende so auszuführen, daß,
indem man sich dem Eindrucke der Thatsachen überläßt, die
Ueberzeugung hervorgeht, der Mensch werde entweder alles,
was er ist, durch das Aeußere, verbunden mit der natür-
lichen Anlage, die seinem Wollen vorhergeht, — oder es
sey wenigstens der Kreis der Freyheit so klein, daß er für
unbedeutend gelten müsse.
Kant räumte sckon ein, das ganze zeitliche Daseyn des
Menschen stehe unter Gesetzen der Natur-Nothwendigkeit.
Um die Freyheit zu retten, versetzte er sie in die intelligible
Welt, als einen Glaubensartikel für den sittlichen Menschen.
Darf man sich erlauben, jemanden besser verstehen zu [110] wollen, als er sich selbst verstand, so ist sehr leicht anzuge-
ben, was Kant eigentlich wollte. Die Zurechnung sollte
gesichert seyn. Das ist sie ohne alle Freyheits-Lehre. Man
sehe die Anmerkung zu 118. Um also in praktischer Hin-
sicht das Wesentliche der Kantischen Ansicht zu erreichen,
braucht man keine Metaphysik, keine speculative Psychologie,
und eben so wenig eine Vernunftkritik, sondern nur: auf
der einen Seite, unbefangenen Blick für Thatsachen; auf
der andern, eine richtige Vorstellungsart von der praktischen
Philosophie.
Allein es ist sehr wichtig, hierüber, hinauszugehn, um
die Kraft näher kennen zu lernen, mit welcher der Mensch
oftmals, und mit großem Erfolge, an sich selbst, ja wider
sich selbst arbeitet. Besonders wichtig ist dies in dem Alter, da
man zwischen der eben geendigten Erziehung und dem bevor-
stehenden Eintritt in den künftigen Stand in der Mitte steht.
Um diese Zeit kann die Selbstbestimmung größer, wenig-
stens folgenreicher seyn, als vorher und nachher. Jm drit-
ten Theile wird sich darüber einige Aufklärung finden.
Viertes Capitel.
Von den anomalen Zuständen.
142. Am meisten niedergedrückt erblickt man den Men-
schen in seinen anomalen Zuständen; von denen der Traum
auch dem Gesunden bekannt ist, der angeborne Blödsinn
aber sich ohne bestimmte Gränze in Einfalt und Mittelmä-
ßigkeit der Anlage verliert. Auch in den andern Arten der
Geisteszerrüttung findet sich manche, eben so auffallende als
traurige Aehnlichkeit mit Jrrthümern, Affecten und Leiden-
[111] schaften, so daß es schwer wird, den gesunden Menschen
dem geisteskranken scharf entgegenzusetzen.
143. Jn allen Fallen, wo ein empirisches Mannig-
faltiges sich nicht leicht mit Genauigkeit sondern läßt, fängt
man am sichersten mit den offenbarsten Verschiedenheiten,
mit den Extremen an, und vergleicht hintennach mit ihnen
das Zwischenliegende. Aus diesem Grunde beginnen wir
hier mit den eigentlichen Geistes-Zerrüttungen, und erwäh-
nen erst später der ihnen ähnlichen Krankheitszustände, nebst
den Erscheinungen, die sich dem Schlase zugesellen.
Der Geistes-Zerrüttungen, die im Wachen und bey
(wenigstens scheinbarer) körperlicher Gesundheit sich zeigen,
zählt man vier Klassen (nach Reil und Pinel, welcher
letztere mit einiger Verschiedenheit noch eine fünfte ange-
nommen hatte): den Wahnsinn, die Wuth, die Narr-
heit und den Blödsinn.
144. Der Wahnsinn hängt an einer sogenannten
fixen Jdee, einer falschen Vorstellung, die einen Theil des
Gedankenkreises nach sich bestimmt, während übrigens das
Denken im gehörigen Gange bleibt, auch von jener Vor-
stellung an consequent fortläuft. Es versteht sich dabey von
selbst, daß die falsche Vorstellung wirklich täuschen müsse,
und nicht für einen Wahn erkannt werde; desgleichen, daß
sie einen grundlosen Jrrthum enthalte, aus welchem man
den nicht Zerrütteten mit Rücksicht auf die Kenntnisse, die
er besitzt, unsehlbar würde ziehen können.
Soll die Annahme der Seelenvermögen hiebey zuge-
zogen werden, so ist der Sitz des Wahnsinns eine kranke
Einbildungskraft, die in den meisten Fällen durch einen
schädlichen Einfluß des Begehrungsvennögens, zuweilen von
Seiten des Verstandes oder der Vernunft, manchmal wohl
auch bloß durch körperliche Ursachen, eine Verletzung erlit-
[112] ten hat. Mit der Krankheit der Einbildungskraft verbindet
sich dann noch eine Schwäche der Urteilskraft und des
Schlußvermögens, indem die offenbarsten Widerlegungen des
Wahns von dem Kranken nicht verstanden werden. Die
Krankheit wirkt weiter auf die Affecten, Begierden, Mei-
nungen, u. s. w.
Aber dieselbe kranke Einbildungskraft zeigt sich zuwei-
len sehr gesund, ja oftmals in einer genialisch erhöheten
Thätigkeit, in allem, was mit der sixen Jdee nicht zusam-
menhängt. Eben so beweisen die übrigen Seelenvermögen
oft recht klar, daß sie nicht schwach, sondern zur regelmä
ßigen
Thätigkeit wohl aufgelegt sind.
Die Verwunderung hierüber verschwindet, wenn man
die Hypothese von den Seelenvermögen bey Seite setzt.
Uebrigens werden folgende Arten des Wahnsinns be-
merkt: eingebildete Verwandlungen des Leibes oder der Per-
son; eingebildete Wirkungen des Teufels u. dgl.; eingebildete
Jnspiration, überhaupt religiöse Schwärmerey; Sucht, durch
Aufopferungen sich bekannt zu machen; fixierte Vorwürfe,
mit denen der Mensch sich quält; verliebter Wahnsinn; Le-
bensüberdruß; Todesfurcht; Furcht vor Armuth und Hun-
ger; dumpfer, und endlich rastloser Wahnsinn. Die Erklä-
rung aller dieser Erscheinungen ist nicht weit zu suchen.
Zuvörderst: die Geistes-Zerrüttung ist niemals rein geistig;
denn in dem psychischen Mechanismus findet sich kein Grund
zum starren Widerstande gegen klare Erfahrung. Ferner:
in aller Geistes-Zerrüttung ist ein Affect unverkennbar.
Dieser nun ist erstarrt im Nervensystem. Daher kann die
Vorstellungsmasse, worin der Affect seinen Sitz hat, nicht
zu solcher Veränderung übergehn, welche den Leib auf ent-
gegengesetzte Weise afficiren müßte. Aus zahllosen Geschich-
ten, welche als sehr merkwürdig verkündigt werden, lernt
der Psychologe wenig oder nichts Neues, sobald er einmal
[113] den psychischen Mechanismus und dessen mögliche Hemmun-
gen erkannt hat.
145. Die Wuth, oder Tobsucht, eigentliche Raserey,
besteht in einem Drange zu körperlichen Handlungen, ohne
Zweck, auch wohl wider Willen. Sehr gewöhnlich ist es
ein Drang zu zerstörenden Handlungen, mit äußerster
und gefährlicher Heftigkeit. Daß hiebey körperliche Krank-
heit zum Grunde liegt, ist klar genug, denn im Geistigen
findet sich kein Princip der Einheit für diese Zustände.
Gleichwohl kommt das Handeln mit Willen und
zugleich wider Willen, auch als rein psychologisches
Phänomen bey Gesunden vor *)
. Daher darf man die
Handlungen der Rasenden noch lange nicht für bloß auto-
matisch halten, wenn sie schon denselben widerstreben. Die
Schwierigkeit liegt auch hier bloß in der falschen Ansicht
von dem Willen, als einem Seelenvermögen, welches sich
selbst zu widerstreiten scheint, indem es dasselbe will
und zugleich nicht will.
Anmerkung. Die sonderbare Frage: ob es Tob-
sucht ohne Wahn geben könne? sollte wohl schon durch die
Erscheinungen an der Wasserscheu beantwortet seyn. Gewiß
kann die vom Unterleibe ausgehende stürmische Erregung
des Gefäßsystems einen Drang zu wüthenden Handlungen
hervorrufen, ohne das Gehirn gleichmäßig zu verletzen; eben
so gut als in der Cholera das Blut durch Nerveneinfluß
stockt und fast erstarrt, während die Besinnung des Ster-
benden wenig getrübt ist. Schon die Affecten veranlaßten
uns oben, der partiellen Wirkung gewisser Gemüthszustände
[114] auf bestimmte Organe zu gedenken; dasselbe gilt auch um-
gekehrt. Und die Frage ist hier nicht nach dem möglichen
Widerstande des Willens, sondern nach dem Angriffe auf
den Geist, der vom Körper ausgeht.
146. Jn der Narrheit hört der Zusammenhang der
Vorstellungen auf, während dieselben ohne alle Regel bunt
durch einander laufen. Auch hier fehlt im Geistigen jedes
Princip der Einheit: ber Grund der Abwechselung der Vor-
stellungen kann nicht mehr psychologisch, er muß physio-
logisch seyn.
Nach der Hypothese von den Seelenvermögen wäre
hier der Hauptsitz des Uebels im Verstande; und wirklich
haben die Narren Aehnlichkeit mit unverständigen Kindern.
Allein auch die Gesetzlosigkeit der übrigen Seelenver-
mögen in der Narrheit würde längst aufgefallen seyn, wenn
man jemals an eine genaue Gesetzmäßigkeit jener Ver-
mögen zu denken gewagt hätte. Das Wesentliche ist hier,
daß jede längere Vorstellungsreihe am Ablaufen gehindert
wird, weil das Nervensystem sich der Art von Spannung
widersetzt, in welche es dadurch gerathen würde. Daß eine
solche Kranfheit allgemeiner und weit gewisser unheilbar ist,
als die Erstarrung eines einzelnen Affects im Wahnsinn,
liegt deutlich vor Augen. — Die psychische Cur des eigent-
lichen Wahnsinns ist wesentlich Schonung und Verhütung,
daß der Affect nicht tobe und der Wahn nicht um sich grei-
fend eine vermehrte Gewalt erlange. Die eigentliche Hei-
lung ist leiblich, wenn auch oft bloße Naturheilung. Züch-
tigungen können pädagogisch Etwas wirken; auch die Zu-
rechnung ist in vielen Fällen nicht ganz aufgehoben, beson-
ders bei Handlungen, die nicht unmittelbar aus dem Wahn
folgen; vermindert ist jedoch die Zurechnung schon bey un-
glücklichen Verstimmungen, die noch keinen eigentlich vesten
Wahn in sich tragen. Unendlich wichtiger als alle Jrren-
[115] häuser und psychischen Curen wäre Verhütung derjenigen
Schwärmereyen, die zum Wähn führen können.
147. Der Blödsinn, der allein unter allen Geistes-
zerrüttung angeboren vorkommt, und den wir schon
oben dem Genie als das andre Extrem entgegengesetzt ha-
ben, ist allgemeine Schwäche des Geistes, ohne daß, hiebey
ein Seelenvermögen vor dem andern dürfte genannt wer-
den. Er ist nicht sowohl nach verschiedenartigen Merkma-
len, als nach Graden verschieden, und kann so weit gehn,
daß der Mensch fast nur noch einer Pflanze gleicht, als
solche aber wächst und gesund ist.
148. Die angegebenen Klassen der Geisteszerrüttun-
gen dienen nun nicht sowohl zur unmittelbaren Einteilung
der wirklichen Fälle (welche meistens etwas Mittleres und
Zusammengesetztes darstellen), als vielmehr zur Bestimmung
der einfachen Merkmale, unter welche die vorkommenden
Geistes-Krankheiten zu subsumiren sind. Wahnsinn und
Narrheit, Tobsucht und Blödsinn, sind Extreme, zwischen
denen die Mittelzustände liegen. Wahnsinn kann sich ver-
binden mit Tobsucht, und mit den geringeren Graden des
Blödsinns; Narrheit eben so. Es ist demnach hier einiger-
maaßen eine ähnliche Zusammenstellung der Begriffe, wie
bey den Temperamenten.
149. Analog den Geistes-Zerrüttungen sind nun die
allermeisten andern anomalen Zustande. Der Traum gleicht
dem Wahnsinn, besonders durch die Einbildung anhalten-
der Verlegenheit, in der man nicht von der Stelle komme;
die Raserey. im Fieber erscheint als Tobsucht; Schwindel,
Ohnmacht und was dem nahe kommt, ist ähnlich dem Blöd-
sinn; der Rausch macht den Menschen schweben zwischen
Narrheit und Tobsucht. Es ist jedoch offenbar, daß man
diese Vergleichung nicht zu weit ausdehnen darf. So ist
der Wahn des Traums weit mannigfaltiger und veränder-
[116] licher, als bey der entsprechenden Geistes-Zerrüttung. Eine
gewisse Art der Einheit besitzen gleichwohl die Träume,
nämlich Einheit des Gefühls. Einem Traume von
Dieben in der Nacht, wobey die Scene sich plötzlich in
einen Saal verwandelt, der von der Sonne erleuchtet und
von vielen Fremden angefüllt ist, welche zur Erlangung
einer hohen Würde Glück wünschen: einem solchen Traume
sieht man es an, daß er nicht wirklich geträumt, sondern
als psychologisches Beispiel ersonnen ist (vergl. Maaß über
die Leidenschaften, im ersten Theile, S. 171). Dergleichen
Sprünge aus einem peinlichen in einen sehr erwünschten
Zustand werden höchstens dann vorkommen, wann die
körperliche Disposition während des Traums sich plötzlich ändert.
Zu den merkwürdigsten Eigenheiten des Traums und
der verwandten Zustande gehören die Theilungen des Selbst-
bewußtseyns. Der Träumende schreibt oftmals Andern seine
eigenen Gedanken zu, manchmal sich schämend, daß er dies
nicht selbst gewußt oder eingesehen habe. Bey abwechseln-
den Zuständen des Traums und Wachens, der Paroxysmen
und der Jntervalle, giebt es häufig eine doppelte Persön-
lichkeit, ohne diejenige Erinnerung aus einem Zustande in
dem andern, die wir wachend vom Traume zu haben pfle-
gen. Es giebt Beyspiele eines heftigen Schrecks, nach wel-
chem Personen sich fragten, wer bin ich? und durch einen
Zufall wieder an den eigenen Namen, Stand, Beruf, u.
s. w. mußten erinnert werden.
Der Vergleichung mit den Grundformen der Geistes-
zerrüttungen scheinen sich unter den anomalen Zuständen
allein die, noch zu wenig abgeklärten, Thatsachen des soge-
annten animalischen Magnetismus zu entziehen. Diesel-
ben deuten auf eine veränderte Verbindung zwischen Leib
und Seele, deren vorige Beschaffenheit jedoch sehr schnell
wieder hergestellt werden kann (vergl. unten 121 )
[117]
Schluß-Bemerkung.
Kehrt man von den Geistes-Zerrüttungen wieder zu-
rück zu den gewöhnlichen psychologischen Erscheinungen, so
erinnert der Wahnsinn an die Leidenschaften, die Tobsucht
an die Affecten, die Narrheit an die Zerstreutheit, und der
Blödsinn an die Trägheit und Faulheit (letzterer zwar auch
an die Dummheit; allein diese ist selbst ein geringerer Grad
des Blödsinns). Leidenschaften, Affecten, Zerstreutheit und
Trägheit sind auch kranke Zustände des Geistes, nur min-
der hartnäckig, als jene Zerrüttungen desselben.
Das Gegentheil von dem Allen wird die Gesund-
heit des Geistes seyn. Demnach ist sie
als Gegentheil des Wahnsinns und der Leidenschaften:
— gegenseitige Bestimmbarkeit aller Vorstellungen
und Begehrungen durch einander (oder Freyheit von
fixen Jdeen und Begierden).
als Gegentheil der Tobsucht und der Affecten: — Ruhe und Gleichmuth.
als Gegentheil der Narrheit und Zerstreutheit: — Ver-
knüpfung und Sammlung der Gedanken.
als Gegentheil des Blödsinns und der Trägheit: — Reizbarkeit und Munterkeit.
Man pflegt aber die Gesundheit des Geistes nicht in
allen Seelenvermögen gleichmäßig zu suchen; sondern vor-
zugsweise sind dem gemeinen Sprachgebrauche bekannt: der
gesunde Verstand, die gesunde Urtheilskraft, und die gesunde
Vernunft. Was nun Vernunft, Verstand und Urtheils-
kraft eigentlich seyen, das wird sich durch Vergleichung mit
den eben angegebenen Merkmalen der geistigen Gesundheit
etwas näher erkennen lassen. Das Weitere hievon im
zweyten Theile.
Die Vergleichung zwischen dem Wahnsinne und den
Leidenschaften läßt sich noch etwas weiter führen. Am [118] meisten ähnlich sind den fixen Jdeen des ersteren die obje-
ctiven Leidenschaften, oder diejenigen, welche auf bestimmte
Gegenstände des Begehrens sich richten. Wie man diese
(mit Maaß) eintheilen kann in solche, die auf die eigene
Person, die auf andre Menschen, die auf Sachen gehn: so
auch findet man den Wahnsinn verschieden in Ansehung
der Dbjecte. Dem Stolze entsprechen die eingebildeten
Verwandlungen in Fürsten und Könige, oder gar in Per-
sonen der Gottheit; der Selbstsucht schließt sich an, die
Furcht vor dem Tode, und vor eingebildeten Widersachern
und Verfolgern; die Freyheitssucht erinnert an die Un-
bändigkeit der meisten Wahnsinnigen und an die Nothwen-
digkeit, sie mit Zwang und Auctoritat zu regieren. Liebe,
Haß, Eifersucht gehn häufig in Wahnsinn über. Ehr-
sucht, die den Verstand verliert, sucht sich durch Aufopfe-
rungen von seltsamer Art bekannt zu machen; und die
Herrschsucht erbaut sich oft genug ihren Thron im Jr-
renhause; die Genußsucht wird zuweilen eines seligen
Unsinns theilhaftig, der mit dem Himmel zu verkehren glaubt;
der Geiz dagegen verliert sich in thörichte Angst vor Ar-
muth und Hunger.
Was die subjectiven Leidenschaften anlangt, —
Lustsucht, Unlustscheu und Leerheitsscheu, nach
Maaß, — so führen schon die neuen Namen auf die Be-
merkung, daß der gewöhnliche Sprachgebrauch, der dafür
keine Worte darbot, auch die Sachen nicht eigentlich durch
den Ausdruck Leidenschaft zu bezeichnen pflegt. Wo kein
bestimmtes Object, da ist auch keine bestimmte Richtung,
sondern ein schwankender Gemüthszustand, der mit sich selbst
nicht recht einig und eben darum schwach ist, so daß,
wenn die Vernunft ihn nicht bezwingen kann, dies nicht so-
wohl von dem Widerstande herrührt, den sie findet, als
von der Unfähigkeit, auf ihr Geheiß einen vesten Entschluß
[119] zu fassen. Dem gemäß scheint es, man dürfe die vorge-
nannten Zustande nicht unter die Leidenschaften rechnen.
Allein die Begriffe der empirischen Psychologie sind zu schwan-
kend, als daß man auf solchen Bemerkungen recht vest be-
stehn könnte. Keine Leidenschaft ist eine reine Kraft und
Stärke; jede führt ihre Schwäche, ihr Elend, ihre jämmer-
lich hülflosen Zustände mit sich. Und auf der andern Seite
ist nicht zu leugnen, daß auch die Lustsucht, selbst die all-
gemeine, die mit den Gegenständen häufig wechselt, — und
eben so die Scheu vor Unlust und vor dem Gefühle der
Leerheit, — oftmals durch ihre anhaltende Stärke nur gar
zu gut die Stelle einer objectiven Leidenschaft vertreten kann.
Mannigfaltige Regungen des Begehrens nach dieser und je-
ner Lust, oder des Abscheus gegen dieses oder jenes Unbe-
hagen, sind einer Verbindung, und gleichsam einer Verdich-
tung, fähig; wobey sie sich in eine zusammengesetzte Kraft
verwandeln, die den Menschen in einer mittleren Richtung
forttreibt.
Fragt man nun auch hier nach analogen Arten des
Wahnsinns: so bemerkt man zuvörderst gleich, daß alle Lü-
ste sich frey und frech zu äußern pflegen, nachdem mit dem
Verstande die Schaam entwichen ist. Merkwürdig ist aus-
serdem der dumpfe Wahnsinn, der, falls er nicht etwa
Blödsinn wäre, sich wohl nur als eine Scheu vor unbehag-
lichen Gefühlen bey jeder Bewegung denken läßt; also als
eine höchst allgemeine Unlustscheu. Deutlicher entspricht der
Leerheitsscheu der rastlose Wahnsinn, desgleichen der Lebens-
Ueberdruß, der zum Selbstmorde führt.
Wie wir nun bisher zu den Leidenschaften die ähnli-
chen Arten des Wahnsinns suchten (indem wir der Ein-
theilung der Leidenschaften von Maaß nachgingen), so muß
es auch rückwärts gestattet seyn, zu den Arten des Wahn-
sinns die zugehörigen Arten der Leidenschaften zu erforschen.
[120]
Welche von beyden auch in einer vollständigen Tabelle er-
schöpfend dargestellt seyn möchten, dieselben würden ohne
Zweifel die vollzählige Eintheilung der andern ergeben.
Aber ein überzähliges Glied in dem einen Register wird al-
lemal einen Mangel in dem andern andeuten.
Nun finden wir unter den Arten des Wahnsinns die
eingebildeten Vorwürfe, welche der Mensch sich selbst macht,
die vermeintlichen Eingebungen des Teufels, die Verzweif-
lung an der Gnade Gottes, u. dgl. m. Was entspricht
diesen Geistes-Verirrungen in der Reihe der Leidenschaf-
ten? Sehr offenbar ein moralischer und religiöser Enthu-
siasmus, der in Selbst-Quälerey übergeht. Und dies er-
innert weiter an die politischen und gelehrten Leidenschaften,
an alle Arten des Fanatismus. Die wahre Natur dieser
Leidenschaften mußte (nicht bloß Hrn. Maaß, sondern) der
bisherigen Psychologie entgehn, sobald man die Behauptung
consequent durchführen wollte, daß die Leidenschaften zur
Sinnlichkeit gehörten und deshalb von der Ver-
nunft völlig zu scheiden seyen.*)
Man schreibt die
Erzeugung moralischer und religiöser Vorstellungen der Ver-
nunft zu; eben diese Vorstellungen und die sämmtlichen ih-
nen verwandten wissenschaftlichen Gedanken und Lehren kön-
nen Gegenstände eines leidenschaftlichen Strebens werden.
Nichts ist so heilig, daß es nicht ein menschliches Gemüth
auf eine heillose Weise sollte erhitzen können. Wie Hunger
und Durst, diese niedrigsten Bedürfnisse, den Unglücklichen
in einen Dieb, einen Räuber und Mörder verwandeln,
so kann auch der Durst des Wissens, so können höhere Be-
[121] strebungen jeder Art zu Schandthaten verleiten. Ja, die
Vernunft (wenn anders ein solches Seelenvermögen wirklich
existiert) tritt mit der leidenschaftlichen Sinnlichkeit nicht sel-
ten in eine friedliche Gemeinschaft. Dies sieht man am
klärsten bey dem Begriff des Rechts, den die Menschen
sehr gewöhnlich nur in einer beschränkten Sphäre gelten
lassen, indem sie jenseits derselben sich jede Befriedigung
ihrer Begierden erlauben. Der Räuberhauptmann verwal-
tet das Recht in seiner Bande. Der Grundsatz: haereti-
cis non est servanda fides, galt einst in der allein selig
machenden Kirche. Aehnlicher Beyspiele sindet sich im ge-
meinen Leben eine Menge, wo Menschen nur gegen Dieje-
nigen gerecht zu handeln nöthig finden, die sie für ihres
Gleichen halten, alle andern aber als Fremde, als hostes
betrachten. Wird man nun im Ernste annehmen, die Ver-
nunft habe hier, sich selbst verläugnend, einen für sie schimpf-
lichen Vergleich mit der Sinnlichkeit abgeschlossen, der sie
das ganze Fremden-Gebiet Preis gebe?
Alle diese und noch viele andere Schwierigkeiten ver-
schwinden sogleich, sobald man einsieht, wil die Vorstellun-
gen dazu kommen, sich bald als Leidenschaft, bald als Ver-
nunft zu äußern; während sie an sich weder das eine, noch
das andere sind, auch nichts dem ähnliches (also auch keine
Jdee des Rechts, noch irgend eine andere Jdee oder Kate-
gorie), als präformirten Keim enthalten.
[122]
Dritter Theil.
Rationale Psychologie.
Erster Abschnitt.
Lehrsätze aus der Metaphysik und
Naturphilosophie.
Erstes Capitel.
Von der Seele und der Materie.
150. Zuerst muß der, von einigen neuern Systemen
mit Unrecht verdächtig gemachte Begriff der Seele zurück-
gerufen werden; jedoch unter früherhin unbekannten Bestim-mungen.
Die Seele ist ein einfaches Wesen; nicht bloß ohne Theile, sondern auch ohne irgend eine Vielheit in ihrer Qualität.
Sie ist demnach nicht irgendwo. Dennoch muß sie
in dem Denken, worin sie mit andern Wesen zusammenge-
faßt wird, in den Raum, und zwar für jeden Zeitpunct
an einen bestimmten Ort gesetzt werden. Dieser Ort ist das
Einfache im Raume, oder das Nichts im Raume, ein ma-
thematischer Punct.
Anmerkung. Für gewisse naturphilosophische, also
[123] auch für physiologische, aber nicht psychologische, Lehren
giebt es nothwendige Fictionen im Wege eines gesetzmäßi-
gen Denkens, wo das Einfache betrachtet wird, als ließen
sich in ihm Theile unterscheiden. Dergleichen Fictionen müs-
sen auch auf die Seele, in Hinsicht ihrer Verbindung mit
dem Leibe, bezogen, werden, ohne daß darum der Seele
selbst irgend eine wahrhafte räumliche Beschaffenheit zuge-
schrieben würde. (Einigermaaßen ähnlich sind die Fictionen
der Geometer, wenn sie das Krumme als aus geraden Theil-
chen bestehend betrachten.)
151. Die Seele ist ferner nicht irgendwann. Den-
noch muß sie in dem Denken, worin sie mit andern We-
sen zusammengefaßt wird, in die Zeit, und zwar in die
ganze Ewigkeit gesetzt werden, ohne doch daß diese Ewig-
keit, und überhaupt die zeitliche Dauer, ein reales Prädi-
cat der Seele abgäbe (Lehrbuch zur Einleit. in die Philo-
sophie §. 115).
152. Die Seele hat gar keine Anlagen und
Vermögen, weder etwas zu empfangen, noch zu pro-
duciren.
Sie ist demnach keine tabula rasa in dem Sinne,
als ob darauf fremde Eindrücke gemacht werden könnten;
auch keine, in ursprünglicher Selbstthätigkeit begriffene, Sub-
stanz in Leibnitzens Sinne. Sie hat ursprünglich weder
Vorstellungen, noch Gefühle, noch Begierden; sie weiß nichts
von sich selbst und nichts von andern Dingen; es liegen
auch in ihr keine Formen des Anschauens und Denkens,
keine Gesetze des Wollens und Handelns; auch keinerley,
wie immer entfernte, Vorbereitungen zu dem allen.
153. Das einfache Was der Seele ist völlig unbe-
kannt, und bleibt es auf immer; es ist kein Gegenstand der
speculativen so wenig, als der empirischen Psychologie.
154. Zwischen mehrern, unter sich ungleichartigen, ein-
[124] fachen Wesen giebt es ein Verhältniß, das man mit Hülfe
eines Gleichnisses aus der Körperwelt als Druck und Ge-
gendruck bezeichnen kann. Wie nämlich der Druck eine
aufgehaltene Bewegung ist, so besteht jenes Verhältniß darin,
daß in der einfachsten Qualität jedes Wesens etwas geän-
dert werden würde durch das andre, wenn nicht ein jedes
widerstände und gegen die Störung sich selbst in seiner Qua-
lität erhielte. Dergleichen Selbsterhaltungen sind das ein-
zige, was in der Natur wahrhaft geschieht; und dies ist
die Verbindung des Geschehens mit dem Seyn.
155. Die Selbsterhaltungen der Seele sind (zum
Theil wenigstens und so weit wir sie kennen) Vorstellun-
gen, und zwar einfache Vorstellungen, weil der Act
der Selbsterhaltung einfach ist, wie das Wesen, das sich
erhält. Damit besteht aber eine unendliche Mannigfaltig-
keit von mehrern solchen Acten; sie sind nämlich verschieden,
je nachdem die Störungen es sind. Dem gemäß hat die
Mannigfaltigkeit der Vorstellungen und eine unendlich viel-
fältige Zusammensetzung derselben gar keine Schwierigkeit.
Von Gefühlen aber und Begierden ist hier noch keine
Rede. Diese scheinen zusammengesetzt aus etwas Objectivem
und aus, einem Vorziehn und Verwerfen, welches weiterhin
wird erklärt werden.
Eben so wenig ist hier schon Hie Rede vom Selbstbe-
wußtseyn, oder von irgend etwas, das zum innern Sinne
möchte gerechnet werden.
156. Der Gegensatz zwischen Seele und Materie
ist nicht ein solcher in dem Was der Wesen, sondern es ist
ein Gegensatz in der Art unsrer Auffassung. Die Materie,
als ein räumliches Reales, mit räumlichen Kräften, vorge-
stellt, wie wir sie zu denken pflegen, gehört weder in das
Reich des Seyn, noch in das des wirklichen Geschehens,
sondern sie ist eine bloße Erscheinung. Eben dieselbe Ma-
[125] terie aber ist real, als eine Summe einfacher Wesen; und
in diesen Wesen geschieht wirklich etwas, wel-
ches die Erscheinung einer räumlichen Existenz
zur Folge hat.
Die Erklärung der Materie beruhet ganz und gar da-
rauf, daß man zeige, wie den innern Zuständen der Wesen
(den Selbsterhaltungen) gewisse Raumbestimmungen, als
nothwendige Auffassungs-Weisen für den Zuschauer, zuge-
hören; die, eben weil sie nichts reales sind, sich nach jenen
innern Zuständen richten müssen, so daß ein Schein von
Attraction und Repulsion entspringe. Das Gleichgewicht
der beyden letzteren bestimmt der Materie ihren Grad von
Dichtigkeit, desgleichen ihre Elasticität, ihre Krystallform
bey freyer Verdichtung, mit einem Worte ihre wesentlichen
Eigenschaften, die solchergestalt ursprünglich in den Quali täten
der einfachen Wesen begründet sind.
Den Raum erfüllt die Materie niemals als ein geo-
metrisches Continuum (dergleichen aus einfachen Theilen
nicht kann zusammengesetzt werden), sondern mit unvoll-
kommner gegenseitiger Durchdringung ihrer benachbarten
einfachen Theile. (Wegen des Widerspruchs hierin ver-
gleiche man die Anmerkung zu 151.)
Undurchdringlich ist jede Materie nur für diejenigen
Wesen, welche das in ihr vorhandene Gleichgewicht der Attra-
ction und Repulsion nicht abzuändern vermögen. Durchdring-
lich ist eine jede für ihre Auflösungsmittel.
Anmerkung. Wegen der vorstehenden und nachfol-
genden Sätze muß auf des Verfassers Metaphysik verwiesen
werden, mit welcher die Naturphilosophie verbunden ist.
[126]
Zweytes Capitel.
Von den Lebenskräften.
157. Lebenskräfte (man nennt sie am besten im plu-
rali, weil sie einzeln weder entstehn noch wirken können)
sind nichts ursprüngliches, und es giebt nichts ihnen ähnli-
ches in dem Was der Wesen.
Nur ein System von Selbsterhaltungen in Einem und
demselben Wesen vermag sie zu erzeugen; und sie sind an-
zusehn als die innere Bildung der einfachen Wesen. Ge-
wöhnlich entstehn sie in den Elementen organischer Kör-
per, deren Einrichtung zur Hervorrufung der Systeme von
Selbsterhaltungen in den einzelnen Elementen geschickt ist.
Dies zeigt sich in der Assimilation der Nahrungsmittel.
158. Einmal erworben, bleibt einem jeden Elemente
seine Lebenskraft; auch wenn es sich trennt von dem orga-
nischen Körper, dem es angehörte. Dies zeigt sich in der
Ernährung der höhern Organismen durch die niedern, und
der Vegetabilien durch verwesete Theile anderer organischer
Körper.
Anmerkung. Eben dahin gehört alle Zeugung,
ohne Ausnahme; auch die einiger niedern Organismen
aus anscheinend roher Materie, d. h. aus solcher
Materie, die keinen organischen Bau (ein räumliches Prä-
dicat) besitzt, woraus der Mangel an Lebenskraft keineswe-
ges kann geschlossen werden. —Hierin aber eine ursprüng-
liche Lebenskraft sehen zu wollen, ist eine höchst unüber-
legte Erschleichung. Jn unserm Erfahrungskreise kommt
gar keine Materie vor, von der wir mit Sicherheit behaup-
ten könnten, sie fey roh. Die ganze Atmosphäre ist voll
von Elementen, die in irgend einem organischen Körper schon
Lebenskraft gewonnen haben; und die Menge solcher Ele-
[127] mente vermehrt sich in der Natur unaufhörlich. Ja, wir
wissen nicht, ob dergleichen nicht unter den Weltkörpern ge-
genseitig ausgetauscht wird.
159. Alle menschliche Forschung muß in der Zurück-
führung der Lebenskräfte auf die Vorsehung, nach de-
ren Zweckbegriffen sie entstanden sind, ihren Ru-
hepunct anerkennen. Weiter reicht keine Metaphysik und
keine Erfahrung; aber jeder Meinung, als ob durch einen
Natur-Proceß niedere Organismen aus roher Materie, und
höhere aus niedern entstanden wären, kann man eine Wider-
legung entgegensetzen.
160. Die Psychologie zeigt uns an dem Beyspiel der
Seele eine ganz vorzügliche innere Bildung eines einfachen
Wesens. Nach diesem Typus muß man sich die eines je-
den andern, auch unter den nicht vorstellenden Wesen, den-
ken, und damit die obige Bemerkung verbinden, daß, wo
mehrere Wesen zusammen ein materielles Ganzes ausma-
chen, sich überall der innere Zustand derselben einen ihm
angemessenen äußern, eine räumliche Lage, bestimmt. Da-
rum erscheinen die Lebenskräfte gewöhnlich als bewegende
Kräfte; aber eben darum sind sie in ihren Bewegungen
gar nicht durch chemische oder mechanische Gesetze zu verste-
hen. (Bey den letztern nämlich kommt keine innere Bildung
in Betracht.)
Hiemit ist zugleich das Verhältniß der Psychologie und
Physiologie angegeben. Jene ist die erste, die vorangehen-
de, diese, falls sie nicht bloße Erfahrungswissenschaft seyn
will, die zweyte; denn sie muß aus jener den Begriff der
innern Bildung erst verstehen lernen. Es giebt keine Real-
Definition des Lebens, außer mit Hülfe der Psychologie.
Anmerkung. Ueber die Schwierigkeit, das Leben
zu definiren, kann man unter andern Treviranus Bio-
logie (I. Band, S. 16) vergleichen. Der faßlichste empi-
[128] rische Charakter ist wohl immer die Assimilation, deren des-
halb oben zuerst gedacht wurde. Fände sich ein Organis-
mus ohne diese Eigenheit, so dürfte man zweifeln, ob er
für lebend zu halten sey; gesetzt auch, er wäre beseelt
(ein Fall, der sich im allgemeinen Begriffe sehr wohl den-
ken läßt).
161. Nach dem obigen versteht es sich von selbst, daß
die Lebenskräfte sehr verschieden seyn könen, sowohl nach
Beschaffenheiten als Graden. Denn ein System von Selbst-
erhaltungen wird in verschiedenen Wesen verschieden, es
kann in gleichartigen nach Verschiedenheit der Störungen
abgeändert ausfallen; es können endlich der dazu gehörigen
Selbsterhaltungen mehrere oder wenigere seyn.
Hieraus erklärt sich die Verschiedenheit dessen, was
aus einerley Nahrungsmitteln bereitet wird. Die Elemente,
woraus das Herz und woraus die Nerven bestehen, sind,
chemisch betrachtet, gewiß nicht so weit verschieden, als
durch ihre innere Bildung.
Das Causal-Verhältniß zwischen den verschiedenartigen
Theilen eines und desselben lebenden Körpers, desgleichen
das zwischen diesem Körper und der Außenwelt, macht im
Allgemeinen gar keine Schwierigkeit. Alle Causalität, und
insbesondre alle Cohäsion der Materie beruht auf der Un-
gleichartigkeit der Elemente. Daher kann z. B. auch die
Wirkung der Nerven auf die Muskeln keine besondre Ver-
wunderung erregen; vielweniger darf sie Hypothesen von
electrischen Strömungen, von Polaritäten u. dgl. veran-
lassen, welches leere Einfälle sind; die den neuesten Liebha-
bereyen der Physiker das Daseyn verdanken. Es könnte
etwas Wahres daran seyn, und doch blieben die wichtigsten
Fragepuncte unbeanwortet; und am Ende wäre ein Räthsel
an die Stelle des andern gesetzt.
[129]
Drittes Capitel.
Von der Verbindung zwischen Seele und Leib.
162. Die Verknüpfung zwischen Geist und Materie
in den Thieren, insbesondere aber im Menschen, hat viel
Wunderbares, das auf die Weisheit der Vorsehung muß
zurückgeführt werden; aber sie hat es nicht da, wo man es
zunächst zu suchen pflegt, weil man die Materie für real
hält, sofern sie räumlich existirt; und weil man den mensch-
lichen Geist als ein ursprüngliches Denken, Fühlen, Wollen
betrachtet: so daß zwischen beyden jedes Mittelglied fehlt.
Man suche hinter der Materie, als räumlicher Erscheinung,
die einfachen und innerlich bildsamen Wesen, aus denen diese
Erscheinung entspringt; man sehe den Geist an als die vor-
stellende Seele; man erinnere sich, daß den Vorstellungen,
als Selbsterhaltungen der Seele, andre Selbsterhaltungen
in anderen Wesen (zunächst in den Elementen des Nerven-
systems) entsprechen müssen: so wird man einsehn, daß die
Kette zusammengehöriger Selbsterhaltungen wohl noch wei-
ter, daß sie durch ein ganzes System von Wesen, die sich
zusammen als Ein Körper darstellen, fortlaufen könne; und
man wird es nicht mehr räthselhaft finden, wenn von der
Spitze des Fußes bis zum Gehirn und bis in die Seele eine
Folge von innern Zuständen, ohne Zeitverlauf und ohne alle
räumliche Bewegung, — dergleichen jedoch als begleitendes
Phänomen vorkommen kann, — sich vorwärts und rückwärts
erstreckt.
163. Zuerst aber tritt hiemit wieder die, mit Unrecht
verworfene, Frage von dem Sitze der Seele hervor. Daß
man aus physiologischen Gründen nicht einen Ort, sondern
nur eine Gegend (im Uebergange zwischen Gehirn und
[130] Rückenmark) dafür mit Wahrscheinlichkeit nachweisen kann,
ist bekannt. Auch bedarf es keines vesten Sitzes, sondern
die Seele kann sich bewegen in einer gewissen Gegend, ohne
daß hievon in ihren Vorstellungen nur die geringste Ahn-
dung, oder bey anatomischen Nachsuchungen die geringste
Spur vorkäme; wohl aber kann man Veränderung ihres
Sitzes als eine sehr fruchtbare Hypothese zur Erklärung ih-
rer anomalischen Zustände betrachten.
Anmerkung 1. Diese Stelle hat viel Verwunderung
erregt. Möchten doch die Physiologen sich erinnern, daß
ihr Beobachtungskreis im Gebiete des Räumlichen liegt;
und möchten sie dem Metaphysiker überlassen, zu sorgen,
daß nicht dem Raume mehr zugestanden werde, als ihm zu-
kommt! Wollen sie aber seine Sorgen mit ihm theilen, so
müssen sie ernstlich Metaphysik studiren. Dann wird man
mit ihnen weiter reden können.
Anmerkung 2. Man würde ohne Grund annehmen,
daß in allen Thieren und im Menschen der Sitz der Seele
an derselben Stelle sey. Wahrscheinlich ist er bey Thieren,
besonders bey den niedern, im Rückenmarke. Noch mehr!
Man darf nicht voraussetzen, daß jedes Thier nur Eine
Seele habe. Bey Gewürmen, deren abgeschnittene Theile
fortleben, ist das Gegentheil wahrscheinlich. Jm menschli-
chen Nervensysteme mögen sich gar viele Elemente befinden,
deren innere Bildung die einer Thierseele von, der niedrigern
Art weit übertrifft. (Uebrigens darf man nie vergessen, daß
Lebenszeichen noch nicht Seelenzeichen sind. Jn
abgetrennten organischen Theilen erhält sich eine Zeitlang
Leben ohne Seele.)
Wollte man aber dem Menschen mehrere Seelen in
Einem Leibe beylegen, so müßte man erstlich sich hüten,
unter ihnen die geistigen Tätigkeiten vertheilt zu
denken, vielmehr würden dieselben in jeder Seele ganz
[131] seyn müssen; zweytens wäre alsdann die genaueste Harmo-
nie unter diesen Seelen vorauszusetzen, so daß sie für völlig
gleiche Exemplare einer Art gelten könnten; dies aber ist
im allerhöchsten Grade unwahrscheinlich, und deshalb der
ganze Gedanke verwerflich. — Wenn es dem Menschen im
Streite der Vernunft und Leidenschaft zuweilen scheint, als
hätte er mehrere Seelen, so ist dies ein psychisches Phäno-
men, dessen Erklärung tieser unten vorkommen wird, und
welches man mit dem eben erwähnten paradoxen Gedanken
gar nicht in Verbindung setzen darf.
164. Einer einzigen Seele also dient im menschlichen
Leibe das ganze Nervensystem, und vermittelst desselben ist
sie in diesen Leib hineingepflanzt, mehr ihm zur Last als
zur Hülfe, denn er lebt als Pflanze für sich, wofern ihm
Nahrung und ein zuträglicher Platz gegeben wird, welches
bey ganz Blödsinnigen zuweilen andre Menschen besorgen.
(Einige Erzählungen von gänzlich blödsinnig Gebornen
erregen den Gedanken, daß sie vielleicht wirklich nur vege-
tirende Leiber, ohne Seele, seyn mochten.)
165. Bey der engen Causalverknüpfung aller Theile
in dem ganzen Systeme, welches wir Mensch nennen,
kann nun die vielfältige Abhängigkeit des Geistes vom Leibe
auf keine Weise befremden. Desto wundervoller ist es, daß
im Ganzen das Nervensystem fast nur zur Dienstbarkeit
geschaffen zu seyn scheint, wie man mehr und mehr erken-
nen wird, wenn man sieht, wie wenig von physiologischen
Voraussetzungen nöthig ist, um die Geistes -
Zustände und
Tätigkeiten zu erklären. Doch dient das Nervensystem nur
im gesunden Menschen; in Krankheiten zeigt es sich unge-
horsam und eigenwillig, und in manchen Geistes-Zerrüttun-gen,
besonders in der Narrheit, kehrt sich das Verhältniß
zwischen den Nerven und der Seele gerade um. Dies ist
ein Fingerzeig, daß wir den gesunden Zustand nicht als
[132]
ein bloßes Naturphänomen, welches nicht anders seyn könnte,
zu betrachten, sondern in ihm eine wohlthatige Anstalt der
Vorsehung zu verehren haben.
166. Der Gemeinschaft mit der Außenwelt, welche
der menschlichen Seele durch ihren Leib gewahrt und zugleich
begrenzt wird, wäre kaum nöthig zu erwähnen, wenn nicht
in Hinsicht der jetzt sehr verbreiteten Meinung von einem
allgemeinen organischen Zusammenhange des ganzen Univer-
sums bemerkt werden müßte, daß man dieselbe mit den hier
aufgestellten Sätzen nicht in Berührung-
bringen dürfe, wo-fern man nicht ganz und gar heterogene Vorstellungsar-
ten gegenseitig durch einander verunreinigen wolle.
Anmerkung. Nicht einmal für eine allgemeine Cau-
salverbindung giebt es haltbare Gründe a priori. Und die
Erfahrung endigt hier bey dem schwachen Schimmer des
Lichts, welches entfernte Sonnen einander zusenden.
Zweyter Abschnitt.
Erklärungen der Phänomene.
Erstes Capitel.
Von den Vorstellungen des Raumlichen und
Zeitlichen.
167. Es ist zwar noch zu früh, Alles in der Psycho-
logie erklären zu wollen. Jndessen hat sich schon in dem
Vorstehenden manche Erklärung von selbst dargeboten, und [133] die Vergleichung der Thatsachen mit den aufgestellten Grund-
sätzen wird allmählig weiter führen.
Wie die Welt und wir selbst uns erscheinen, das ist
das Erste, worüber wir eines psychologischen Aufschlusses
bedürfen, besonders um den Ursprung der metaphysischen
Probleme begreisen zu lernen. Darnach wird noch von un-
serer Stellung in der Welt, in praktischer Hinsicht, die
Rede seyn müssen; vorzüglich damit das, was wir seyn kön-
nen, sich vergleichen lasse mit dem, was wir seyn sollen.
168. Warum wir die Dinge in der Welt in Ver-
hältnissen des Raums und der Zeit auffassen, dies muß
beantwortet werden mit Hülfe der Untersuchung über die
Reihen (29). Zur Vorbereitung dient Folgendes:
Jn (28) setze man anstatt der bestimmten Reste
r, r‘, r‘‘, einer einzigen Vorstellung P, die unendliche Menge
aller ihrer möglichen Reste, und denke sich dieselben ver-
schmolzen mit unendlich vielen Vorstellungen π, π‘, π‘‘,
u. s. f. So wird für die Vorstellung P eine continuirliche
Folge von Reproductionen entspringen, deren jede gleich-
wohl ihr eignes Gesetz hat, welches von ihrem r abhängt,
nach der Formel in (25).
Ferner setze man in (29) anstatt der Reihe a, b,
c, d, .... eine continuirliche Folge, deren jedes Glied,
so wie eben P, mit allen seinen möglichen Resten den an-
dern Gliedern, aber jedem auf eigenthümliche Weise, ver-
schmolzen sey.
Ueberdies denke man sich diese Folge verschmolzener
Vorstellungen nach beyden Seiten unbestimmt lang; und
endlich erinnere man sich, daß vielleicht, wenn es nicht durch
nähere Bestimmungen unmöglich gemacht wird, jedes Glied
der Folge ein solches seyn könne, worin, wie in c: (30),
sich mehrere dergleichen Folgen durchkreuzen mögen.
Wo nun auch, in diesem ganzen Systeme von Vor-
[134] stellungen, irgend eine sich nur im geringsten regt, von da pflanzt sich die Regung fort durch die nächsten, und so weiter, mit dem unverbrüchlichen Gesetz, daß, wenn von dreyen Resten r, r‘, r‘‘, einer und derselben Vorstellung, r‘ zwischen r und r‘‘ liegt, alsdann auch das mit r‘ verschmolzene π‘ zwischen π und π‘‘, als den mit r und r‘ verschmolzenen, reproducirt wird. Dieses zwischen muß immer statt sinden, wenn auch der Grad der Reproduction noch so gering wäre. Es ist aber dasselbe der allgemeine Charakter aller Reihenformen.
169. Weiter kommt es zur nähern Bestimmung darauf
an, ob die Art der Reproduction beschränkt sey, und auf
welche Weise.
A) Kann sich in der sinnlichen Wahrnehmung die
Reihe a,b,c,d, .... oder vielmehr das statt derselben
zu denkende Continuum nach allen möglichen Versetzungen
abändern (wie in a c b d: a d b c; u. s. w.), so ent-
steht jedesmal aus der wahrgenommenen Folge auch eine
neue Reproductions-Folge; hiemit aber verwickeln sich die
Gesetze für die Reproduction dergestalt, daß keine merkliche
Ordnung mehr übrig bleibt (wie wenn eine Menge kleiner
Bogen von verschiedenen Curven an einander gerückt wäre).
B) Man nehme aber an, die sinnliche Wahrnehmung
verkehre zwar b c in c d und abcd in dcba, u. s.
w., niemals aber ändere sie das zwischen für irgend eine
Vorstellung und ihre benachbarten: übrigens möge die Reihe
der Wahrnehmungen bald hier, bald dort beginnen, ohne
bestimmten Anfangspunct. Das hieraus entspringende Re-
productionsgesetz ergiebt ein räumliches Vorstellen, zum
wenigsten mit einem Fortschritt von jedem Puncte nach
zweyen entgegengesetzten Seiten.
170. Man habe einen bestimmten Anfangspunct; übri-
[135] gens sey alles wie vorhin, so entsteht die allgemeinste Form
der Vorstellung nach Art der Zahlen.
171. Man entbehre des Anfangspunctes, und dage-
gen laufe die Wahrnehmungs-Folge, ohne Umkehrung, stets
nach Einer Richtung, so kann auch die Reproduction nur
diese Eine Richtung gewinnen. Wird nun, während die
Wahrnehmung bey d ist, zugleich a reproducirt, so läuft
von da die Reihe a b c d ab; die nämliche Reihe aber
wird von d nach einem andern Gesetz im Be-
wußtseyn vestgehalten (wie, in 29, c auf b und a
zurückwirkt). Hieraus entspringt das Vorstellen des
Zeitlichen.
172. Zur Erläuterung vor allem die Bemerkung,
daß in der Seele die Vorstellung des Räumlichen nicht selbst
ausgedehnt, sondern völlig intensiv seyn muß; und daß über
dem Vorstellen des Zeitlichen die Zeit eben in sofern nicht
verfließen muß, wiefern sie soll vorgestellt werden. Was
die Zahl anlangt, so ist ihr Grundbegriff kein anderer, als
der des Mehr und Minder; das Eins, Zwey, Drey, u.
s. w. sammt den eingeschobenen Brüchen wird darauf nur
übertragen. Die Abscissenlinien der höhern Geometrie sind
das wahre und vollkommene Symbol für den Zahlbegriff
in seiner Allgemeinheit.
173. Die ursprüngliche Auffassung des Au-
ges kann nicht räumlich seyn. Denn die Wahrneh-
mungen aller farbigten Stellen fallen in die Einheit der
Seele zusammen, und hiebei geht von dem Rechts und
Links, Oben und Unten, u. s. w., welches auf der Netz-
haut des Auges Statt fand, jede Spur verloren. Dasselbe
gilt vom Tasten mit der Zunge und den Händen.
Aber beym Sehen ist das Auge in Bewegung; es ver-
rückt den Mittelpunct seiner Gesichtsfläche; hiemit ist unauf-
hörlich ein Verschmelzen der gewonnenen Vorstellungen, eine
[136] regung derer, welche durch Wahrnehmungen mehr aus der
Mitte des Gesichtsfeldes verstärkt werden, und eine zahl-
lose Menge von einander durchkreuzenden Reproductionen
verbunden, für die wir gar keine Worte würden finden kön-
nen, wenn sie uns im gebildeten Zustande noch neu wären.
Auch der Blindgeborne, der später zum Sehen gelangt,
kennt schon den Raum, denn sein Tasten bereitet ihm ähn-
liche Reproductions-Folgen, wie das Gesicht sie bequemer
und schneller liefert. Man sieht hier, wie zwey so verschie-
dene Sinne einerley Resultat ergeben können.
174. Die Vorstellung des Räumlichen erfodert eine
Succession in dem Actus des Vorstellens, denn sie beruht
auf eben jetzt geschehenden Reproductionen. Dabey ist zwey-
erley zu bemerken:
1) Die Succession im Vorstellen ist nicht eine vor-
gestellte Succession; und
2) sie bedarf keiner endlichen Dauer, sondern nur einer
unmerklich kleinen Zeit; besonders da beym Umherwandeln
des Auges in seinem Gesichtsfelde zahllose Ausfassungen des
Farbigten in jedem Augenblicke zugleich entstehen, und zu-
gleich verstärkend und aufregend auf die zuvor gewonnenen
Vorstellungen wirken. Das räumliche Sehen schließt eine
unendliche Menge von unendlich schwachen, gleichzeitigen
Reproductionen in sich, die sich mit den momentanen Auf-
fassungen vereinigen, welche letztern für sich allein nicht
räumlich seyn würden. Da nun zu diesem Behufe keine
einzelne Reproductionsfolge in einer merklichen Länge abzu-
laufen braucht, so ist auch keine endliche Zeit dazu nöthig;
und deshalb scheint es uns, als ob räumliche An-
schauungen ganz simultan, und von allem Zeit-
verlaufe frey wären.
175. Um die Wahrnehmungen des Raumlichen von [137] denen des Zeitlichen noch sicherer in ihrem Ursprunge, zu
unterscheiden, setze man folgenden Fall:
Von a mögen zwey Reihen, a, b, c, d, und a, B,
C, D, anfangen, welche beyde in der Wahrnehmung zu-
gleich gegeben werden. Hier ist bis jetzt weder etwas Räum-
liches noch Zeitliches in dem Vorgestellten; auch dann nicht,
wenn, nachdem diese ganze Folge von Wahrneh-
mungen aus dem Bewußtseyn verdrängt war,
irgend einmal a wieder erweckt wird, und alsdann beyde
Reihen zugleich reproducirt. Vielmehr ist eine solche Repro-
duction lediglich von der Art, wie man sie dem Gedächt-
nisse beyzulegen pflegt, und es wird dabey zwar Zeit ver-
braucht, aber keine Zeit und kein Raum vorgestellt. Anders
verhält sich die Sache, wenn, während D und d noch
wahrgenommen (oder gedacht) werden, sich a (et-
wa wegen einer ihm gleichartigen, eben jetzo neu gegebenen
Wahrnehmung) wieder erhebt, und seine Reihe ablaufen
läßt. Denn alsdann geschieht dies Ablaufen während eines
gleichzeitigen Gesammt-Vorstellens der ganzen Reihe, wie
in 171 bemerkt ist. Dadurch wird das Zusammenfassen
des Zeitlichen, das Ueberschauen der Zeitstrecke
vermittelt; wohingegen derjenige niemals von der Zeit etwas
wissen würde, der nicht, ihren Anfang mit ihrem Ende zu-
sammenhaltend, einen Uebergang von jenem zu diesem be-
merken könnte. — Noch ein anderes Resultat aber erhält
man, wenn a sich nicht unmittelbar wieder erhebt, dagegen
aber zwischen D und d eine Reihe ε, η, ϑ, hineintritt,
welche in der Wahrnehmung von D nach d, und auch
rückwärts geht; und wenn überdies die Wahrnehmung auch
von D durch C und B nach a, und von d durch c und b
nach a zurückkehrt. Hiedurch treten D und d aus einander,
und es verwischen sich die Unterschiede dessen, was das Er-
ste und was das Letzte war; die Reproductionsfolgen laufen
[138] nun bey jeder neuen Aufregung von allen Puncten einander
entgegen, und die Auffassung ist eine räumliche.
Beyde Sätze in 174 gelten übrigens auch vom Vor-
stellen des Zeitlichen. Um uns ein ganzes Jahr oder Jahr-
hundert vorzustellen, verbrauchen wir nur eine kleine Zeit,
wofern anders die Partial-Vorstellungen in der hiezu nö-
thigen Reihe unter einander wohl verschmolzen sind; die
Zeit aber, welche wir verbrauchen, ist in dem Vorgestellten
nicht enthalten. Wenn man sich übt, das Zeitliche mit glei-
cher Geläufigkeit rückwärts wie vorwärts zu durchlaufen: so
entsteht die Vorstellung eines Zeitraums.
176. Lange Zeitstrecken aufzufassen, ist nur dem Ge-
bildeten möglich; das Kind kann in den frühesten Jahren
nur sehr kurze Zeiträume zusammenhalten. Der Grund
liegt hauptsächlich in der hiezu nöthigen Rückwirkung der
letzten Vorstellungen auf die früheren in der Reihe (171).
Bey dem Kinde nun ist die Empfänglichkeit noch groß (47);
deshalb und weil die Complexionen und Verschmelzungen
noch wenig Stärke besitzen, wirft der Eindruck des Augen-
blicks das früher Aufgefaßte zu schnell auf die Schwellen
des Bewußtseyns nieder, und so können sich keine langen
Reihen bilden.
177. Psychologisch betrachtet, ist alles Räum-
liche und Zeitliche unendlich theilbar. Denn es
beruht auf solchen Resten einer und derselben Vorstellung,
wie r, r‘, r‘‘, u. s. w. (28). Könnte es nur eine bestimmte
Menge von dergleichen Resten geben, so wäre auch nur eine
entsprechende Anzahl verschiedener Reproductionsgesetze für
dieselbe Vorstellung möglich. Aber die ganze Vorstellung
ist keinesweges ein Compositum aus solchen Theilen, wie
jene Reste; vielmehr ist alle Verdunkelung, wodurch die Reste
entstehen, der Vorstellung zufällig, ja ihr zuwider. Da
nun hier das Ganze den Theilen vorangeht, so hat die
[139] Theilung keine Gränzen; und die Möglichkeit verschiedener
Reproductionsgesetze ist ebenfalls unbegränzt.
So geschieht es, daß für die Sinne und für die
Phantasie auch im Raume und in der Zeit das Ganze
den Theilen voranzugehn scheint; und hieraus entspringt die
Ungereimtheit im Begriffe der Materie. (Lehrbuch zur Ein-
leitung in die Philos. §. 98.)
Anmerkung 1. Auch die Geometrie vereinigt sich
hiemit; sie bedarf ihrer incommensurabeln Größen wegen
überall der unendlichen Theilbarkeit. Daraus aber ist der
Metaphysik, die unvorsichtig genug war, diese Ansicht des
Raumes für die primitive und allein-richtige zuhalten, viel
Unheil erwachsen.
Anmerkung 2. Vom Räumlichen und Zeitlichen
sind wir ausgegangen; nicht aber vom Raume und der Zeit.
Jenes von diesem abhängig zu machen, ist ein Jrrthum,
der hier nicht kann beleuchtet werden. Leere Räume wer-
den gesehen, wie man leere Zeiten (Pausen) hört, nämlich
erwartend was ausbleibt. Man trägt die schon vorhande-
nen Vorstellungen weiter fort; sie sinken aber fortwährend,
bis etwas Neues gegeben wird, das nun mit dem noch
übrigen Neste verschmilzt. — Wird das Uebertragen weiter
fortgesetzt, und überschreitet es die letzte aufgefaßte Gränze;
so findet sich keine Gränze mehr, es eröffnet sich das Un endliche.
Sehr reichen Stoff zur Untersuchung bieten nicht
bloß die gegebenen Gestalten, wenn man die Verschieden-
heit ihrer Auffassung von bestimmten Puncten aus, in Be-
tracht zieht, sondern auch die Gestaltungen durch frey stei-
gende Vorstellungen; wohin das Schaffen geometrischer Fi-
guren, das Construiren, gehört.
Anmerkung 3. Zur Erklärung des Schönen im
Raume muß man nicht bloß die Begünstigung im Repro-
duciren der sich vielfach verbindenden Reihen, sondern be-
[140] sonders auch noch das Streben zur Verschmelzung alles
Angeschauten in Eins, in Erwägung nehmen; welches letz-
tere einige Analogie hat mit der Verschmelzung vor der
Hemmung (34). Diesem entsprechen alle Gestalten, die
sich dem Runden nähern; hingegen das Eckige, Langge-
streckte, entgegengesetzt Gekrümmte, widersteht ihm. Bunte
Schnörkel gefallen eine Zeit lang; aber man kehrt zum Ein-
facheren zurück. Kunstwerke werden meistens interessant durch
ihr Sprechendes und Bedeutendes; die reinen Raum-Ver-
hältnisse, mit ihrer eigenthümlichen Schönheit, werden häu-
fig darüber vergessen.
178. Anhangsweise noch ein Wort über den Ursprung
der Vorstellungen von intensiven Größen. Die Frage
ist hier: woher nehmen wir den Maaßstab, mit welchem
vergleichend wir schon unsre einfachen Empfindungen als
stark oder schwach unmittelbar bezeichnen? Die Wiederer-
weckung der gleichartigen ältern Vorstellung reicht für sich
allein zur Erklärung nicht hin; denn eines Theils richtet
sich dieselbe nicht nach der Stärke der wiedererweckten, ob-
gleich sie durch deren eigne Kraft geschieht; andern Theils
ist der Erfolg nur Verschmelzung des Alten und Neuen,
aber nicht Messung des einen am andern. Vielmehr haben
wir hier eins von den zahlreichen Beispielen solcher psycho-
logischen Probleme, die wegen ihrer Einfachheit kaum be-
merkt werden, und dennoch in der Auflösung sehr schwierig
sind. — Der Grund scheint in dem Gesetz der Hülfen (25)
zu liegen. Diese haben ihr Maaß; nicht bloß der Zeit,
sondern auch der Stärke, bis wohin sie die ältere gleich-
artige Vorstellung zu heben bemüht sind. Jst nun die
hinzukommende neue Wahrnehmung zu schwach, um durch
Hemmung der Hindernisse jener ältern freyen Raum ge-
nug zu schaffen (26), so bleibt das Streben der Hülfen
unbefriedigt und erregt das unangenehme Gefühl des Schwa-
[141] chen,
entgegengesetzt dem angenehmen in (37). Jst die
neue Wahrnehmung stärker als hiezu nöthig wäre, so fühlt
sich der Mensch aus seinem gewohnten Kreise gehoben; denn
die Hülfen können es nun jener nicht gleich thun. Jn der
Begünstigung der letzteren liegt gleichwohl das Angenehme
dieses Gefühls. — Es bedarf kaum der Erinnerung, daß
hiebey vorausgesetzt wird, die ältere gleichartige Vorstellung
sey mit irgend welchen helfenden verbunden. Je mehrere
deren sind, und je gleichmäßiger sie zusammenwirken, desto
feiner wird die Schätzung der intensiven Größe ausfallen.
Hieher gehört auch die Untersuchung über das Zeit-
maaß.
Anmerkung. Von den drey Dimensionen des Raums,
desgleichen von der Entwickelung des Jahlbegriffs, und sei-
ner Beziehung auf die logisch allgemeinen Begriffe, wird
in den Vortragen über allgemeine Metaphysik mit einer
Ausführlichkeit gehandelt, die dort unerlaßlich ist, und die
hier nicht Platz hat.
Zusatz.
Von der Verschiedenheit der Reihen.
Schon aus dem Vorigen erhellet die Abhängigkeit der
psychischen Processi von der Form der Reihen; da dieselbe
in der Folge noch mehr hervortreten wird, so ist es zweck-
mäßig, die möglichen Unterschiede der Reihen hier im Allge-
meinen anzumerken.
1) Die Reihen sind länger oder kürzer; um diese Ver-
gleichung auf einen bestimmten Gesichtspunct zurückzuführen,
nehme man die Reihe a, b, c... p dergestalt, daß von a
noch ein Rest mit p, aber keiner mehr mit q verschmolzen
sey: so wird a noch auf p reproducirend wirken; hingegen
mag b oder c noch mit q und r verbunden seyn: so kann
zwar auf solche Weise die Reihe sich unbestimmt Verlän-
[142] gern, aber es giebt dann keinen unmittelbaren Zusammen-
hang ihres Anfangs und Endes.
2) Der Grad der Verbindung unter den Gliedern ist
stärker oder schwächer.
3) Die Reihen sind durchgehends gleichartig oder nicht;
beydes sowohl in Ansehung der Stärke ihrer Glieder als
auch des Verbindungsgrades. Die stärksten Glieder oder
Verbindungen sind entweder vorn oder mitten oder hinten.
4) Oftmals gelten viele Reihen für eine; z. B. nach
häufiger Wiederhohlung. Dadurch können die Ungleichheiten
vermindert werden; oft aber verstärken sich nur die Anfänge.
Soll dies nicht geschehen, so müssen die Reihen nicht hinten,
sondern vorn Zusätze bekommen; z.B.: cd, bcd, abcd.
5) Manche Reihen laufen in sich zurück; indem ent-
weder ihr Anfangsglied, oder eins der spätern sich wie-
derhohlt.
6) Bey ungleichartigen Reihen bilden oftmals die stär-
kern Glieder unter sich eine Reihe. Es ist dann in der
Gewalt der Reflexion, die Reihen mehr übersichtlich oder
ins Einzelne gehend zu reproduciren.
7) Bey zusammengesetzten Reihen hat oft ein Glied,
oder es haben mehrere Glieder eine Seitenreihe, d. h.
eine solche, deren Verlauf den Fortschritt in der Hauptreihe
nicht fördert. Es kann auch ein Glied viele Seitenreihen
haben; so daß von ihm aus entweder die eine oder die
andre durchlaufen wird.
8) Die Seitenreihen können auch zugleich ablaufen;
alsdann aber müssen sie, wofern sie nicht zusammenfallen
sollen, etwas drittes zwischen sich schieben; wie etwa meh-
rere Radien eines Kreises die Fläche des Sectors (welche
unzählige mögliche Linien enthält) zwischen sich haben.
9) Bey Complexionen von Merkmalen (dergleichen
alle Begriffe von Sinnengegenständen sind) kann jedes Ele-
[143] ment der Complexion (jedes sinnliche Merkmal) Anfangs-
punkt einer Reihe (z. B. von Veränderungen) seyn.
10) Es können Reihen, die einfach anfingen, weiter-
hin gleichsam einmünden in eine Complexion.
Dies mag hier genügen, um anzudeuten, wie viele
Möglichkeiten man sich stets gegenwärtig erhalten muß, wenn
man den psychischen Mechanismus genauer studiren will.
Dabey ist nicht zu übersehen, daß die Reproduction
zwischen zweyerley entgegengesetzten möglichen Einflüssen
schwebt. Entweder nämlich kann die Reflexion hinzukom-
men. Diese geht von einer mächtigeren Vorstellungsmasse
aus; gewöhnlich von frey steigenden Vorstellungen (32).
Oder es ist eine Hemmung vorhanden; wodurch entweder
die Reproduktion der Hauptreihe, oder der Seitenreihen
stockt. Jm letztern Fall verbinden wir träumend (oder fa-
belnd) Reihen, die bey klarem Wachen gar Vieles zwischen
sich schieben, wo nicht sich ganz aufheben würden; wie in
Todtengesprächen, worin Alexander, Hannibal, Cäsar, Na-
poleon sich mit einander unterreden. Was die frey steigen-
den Vorstellungen anlangt, so sind diese nicht schlechtweg
solche, fondern mit Rücksicht auf die jedesmalige Gemüths-
lage und Umgebung. — Betrachtungen dieser Art erfodern
eine Uebung, die sich nicht lehren läßt.
Zweites Capitel.
Von der Ausbildung der Begriffe.
179. Alle unsre Vorstellungen ohne Ausnahme sind
den Gesetzen der Hemmung, der Verschmelzung, u. s. w.
unterworfen; sie können den Sitz der Gefühle ausmachen,
als Begierden aufstreben, u. dgl. Wo bleiben denn nun die
Begriffe? Oder wo kommen sie her?
[144]
Schon im Anfange der Logik (Lehrb. z. Einleitung
in d. Philos. §. 34) ist gesagt, daß unsere sämmtlichen
Vorstellungen Begriffe sind in Hinsicht dessen, was
durch sie vorgestellt wird. Demnach existiren die
Begriffe, als solche, nur in unserer Abstraction;
sie sind in der Wirklichkeit eben so wenig eine besondere Art
von Vorstellungen, als der Verstand ein besonderes Vermö-
gen ist, außer und neben der Einbildungskraft, dem Ge-
dächtnisse, u. s. w. Wobey noch zu merken, daß eben da-
rum, weil alle Vorstellungen ohne Ausnahme sich als Be-
gierden und Gefühle äußern können, die Verbindung des
sogenannten praktischen Verstandes mit dem theoretischen
kein Räthsel ist, sondern sich ganz von selbst versteht; indem
hier gar nicht zweyerley vorhanden ist, das man erst noch
verbinden müßte, vielmehr der praktische sowohl als der the-
oretische Verstand ein paar Gedankendinge sind, die wir
durch unsre Abstractionen erst erschaffen und dann für etwas
wirkliches gehalten haben.
180. Die Täuschung aber, als wären die Begriffe
eine eigene Klasse von Vorstellungen, hat hauptsächlich in
den allgemeinen Begriffen ihren Sitz. (Kant, in der
Logik, setzt geradezu das Wesen der Begriffe in ihre Allge-
meinheit.) Man könnte nun auf den Gedanken gerathen,
daß vielleicht unter gewissen Umstanden die Hemmungsgesetze
der Vorstellungen eine solche Absonderung des Ungleicharti-
gen vom Gemeinschaftlichen bewirken könnten, dergleichen
die Logiker dem Abstractions-Vermögen ganz unbe-
denklich beylegen. Allein die Untersuchung lehrt, das ein
solches Vermögen nicht bloß zu den Hirngespinnsten, son-
dern zu den Unmöglichkeiten gehört. Aus einmal gebil-
deten Complexionen und Verschmelzungen kann
sich nichts ablösen; die Theilvorstellungen in denselben
tragen jede Hemmung gemeinschaftlich, und bleiben daher
[145]
stets beysammen. Und aus einfachen Empfindungen kann
man selbst in Gedanken nichts absondern, damit
etwas anderes übrig bleibe. Wie soll aus roth, blau,
gelb, u. s. w. der Gattungsbegriff Farbe entstehn? Wel-
ches sind hier die specifischen Differenzen, von denen abstra-
hirt wird? Niemand wird sie angeben können.
Allgemeine Begriffe, die bloß durch ihren Jnhalt ge-
dacht würden, ohne ein Hinabgleiten des Vorstellens in ih-
ren Umfang, sind, wie schon oben (78) bemerkt, logische
Jdeale; so wie die ganze Logik eine Moral für das
Denken ist, nicht aber eine Naturgeschichte des
Verstandes.
Daher kann man nur fragen: wie es zugehe, daß wir
uns solche Jdeale denken, und uns denselben mehr und mehr
annähern? Und die Antwort: vermittelst der Urtheile,
ist schon oben gegeben; wir müssen sie jetzt entwickeln. Da-
bey werden gewisse Gesammt-Eindrücke von ähnli-
chen Gegenständen vorausgesetzt, als rohes Material,
woraus die allgemeinen Begriffe allmählig gebildet werden;
diese Gesammt-Eindrücke sind aber nichts anders, als Com-
plexionen, worin das Aehnliche der Theilvorstellungen ein
Uebergewicht hat über dem Verschiedenartigen. Solches
Uebergewicht wird allmählig stärker, und entscheidender; es
bilden nämlich Anfangs die wiederhohlten Auffassungen ähn-
licher Gegenstände eine Zeitreihe (man erinnert sich, wann
und wo und in welcher Folge man solche Gegenstände ge-
sehen habe); wird aber die Reihe zu lang, so kann sie sich
nicht mehr evolviren; sondern das Alltägliche wird ein Be-
harrliches; dessen Vorstellung nun im Zustande der Jnvo-
lution bleibt (31). Die Hemmung unter den verschieden-
artigen Bestimmungen ist dann in dauernde Verdunkelung
derselben, wiewohl nicht in gänzliche Abtrennung vom Gleich-
artigen, übergegangen.
[146]
181. Was geschieht mit den Vorstellungen, indem sie
sich zu Urtheilen verknüpfen; und warum begeben sie sich so
häufig in diese Form?
Bloße Complicationen oder Verschmelzun-
gen können die Urtheile nicht seyn; dabey würden
sich Subject und Prädicat nicht unterscheiden, vielmehr so
zusammenfließen, daß sie als ein ungetrenntes Eins, ohne
Spur der Verknüpfung vorgestellt würden. Das Subject,
als solches, muß zuvor zwischen mehrern Bestimmungen
schweben, damit es als das Bestimmbare dem Prädicate
gegenüber stehe. Kann dieser Foderung auf mehr als eine
Weise Genüge geschehn, so giebt es einen mehrfachen Ur-
sprung der Urtheile.
182. Erstlich: jene Gesammt-Eindrücke aus ähnlichen
Wahrnehmungen schweben zwischen mehrern Bestimmungen.
Wer einen Menschen häufig sah, bald stehend, bald sitzend,
bald arbeitend, bald ruhend, der hat eine solche schwebende Ge-
sammtvorstellung; wer ihn jetzt wieder sieht, bey dem ent-
scheidet der Anblick, wie er ihn nun finde; und so bildet sich
ein Urtheil. — Eine Menge von Verneinungen (wie er ihn
nicht finde) sind hiebey kaum merklich. Aber sie werden es in
Fällen, wo der Erwartung widersprochen wird. Wer einen
Baum heute wiedersieht, dem in der letzten Nacht der Sturm
einen Ast abschlug, der urtheilt zuerst negativ: der Baum
hat seinen Ast nicht; dann positiv: er ist an der oder
jener Stelle zerbrochen, zersplittert, u. dgl.
183. Zweytens: wer eben jetzt einen ihm neuen Ge-
genstand erblickt, dem regen sich eine Menge von Vorstel-
lungen, die, wegen partieller Aehnlichkeiten mit jenem, um
ein Weniges reproducirt werden. Zwischen ihnen, als den
Bestimmungen, schwebt jenes Neue, als das Bestimmbare;
und daraus entsteht die Frage: was ist das?
184. Drittens: diejenigen Gesammt-Vorstellungen, in [147] welchen Reihen eingewickelt liegen (31), sind anzusehen als
Subjecte, deren Prädicate bey der Entwickelung nach ein-
ander hervorspringen.
185. Viertens: das Schweben zwischen verschiedenen
Gemüthszuständen giebt der Vorstellung, an welche es sich
knüpft, die Stellung des Subjects.
186. Fünftens und, hauptsächlich: jedes Wort in der
Sprache ist geeignet, Subiect eines Urtheils zu seyn, wegen
seiner Schwankung unter mehrern Bedeutungen. Ein Zei-
chen, das mehrmals an die bezeichneten Gegenstände, mit
ihren wandelbaren Nebenbestimmungen, geheftet war, führt
den Gesammt -
Eindruck der letztern mit sich; soll nun damit ein bestimmter Gegenstand benannt werden, so muß der
Gesammt-Eindruck berichtigt werden; dies geschieht durch
die Prädicate, welche jedoch durch eine gebildete Sprache
häufig in Adjective verwandelt, oder in andre anknüpfende
Redeformen eingekleidet werden, damit bloß die wichtigste
unter den Berichtigungen auch im Ausdrucke als Prädicat
hervortrete. Kinder dagegen sprechen in kurzen Sätzen; sie
kennen noch keine Perioden. Jhre Vorstellungen begeben
sich in die Urtheilsform, kurz nachdem sie die Worte gelernt
haben.
187. Wenn Jemand ein ausgesprochenes Urtheil ver-
nimmt, so giebt es für ihn zwey Fälle: entweder befindet
sich das Prädicat unter den mehrern Bestimmungen, zwi-
schen denen seine Vorstellung des Subjects schwebt,
oder nicht. Jm ersten Falle ist kein Zweifel, daß er das
Urtheil auch als ein solches verstehen werde. Den zwey-
ten Fall müssen wir weiter unterscheiden. Das Prädicat
ist mit jenen Bestimmungen entweder verträglich, oder nicht.
Wenn das erste Statt findet, so entsteht bey dem Auffassen-
den eine Verbindung von Vorstellungen, die kein Urtheil ist,
sondern schlechtweg eine neue Complexion oder Verschmel-
[148] zung. So, wenn uns etwas erzählt wird; wir setzen uns
unvermerkt die einzeln dargebotenen Züge in ein Bild zu-
sammen, ohne daran zu denken, daß der Erzähler sich der-
jenigen Redeformen bedient hat, welche man braucht, um
Subjecte mit Prädicaten zu verknüpfen. — Jst aber das
Prädicat jenen Bestimmungen entgegengesetzt, so muß noch
ein letzter Unterschied gemacht werden; es ist nämlich entwe-
der damit im Contrast, oder im bloßen Gegensatze.
Das erstere erfodert eine gewisse Art der Complexionen,
welche oben (35) bestimmt angegeben sind; und die Folge
davon ist, daß das Urtheil als ein solches, aber als ein
paradoxes oder falsches vernommen wird. Jm Falle des
bloßen Gegensatzes aber erscheint dasselbe nicht sowohl falsch,
als vielmehr sinnlos.
188. Dagegen nun muß die verständige Rede vor
allen Dingen zusammenhängen; sie muß immer einen be-
trächtlichen Theil der eben vorhandenen Vorstellungen vest-
halten. Und derjenige wird am besten verstehen, welcher
den ganzen Zusammenhang vesthält, und aller gegensei-
tigen Bestimmungen des ihm Mitgetheilten inne wird. Da-
rum gilt auch der Verstand für einen feinern Sinn; man
sagt, eine Rede habe Sinn und Verstand, sie sen sinn-
reich, u. s. w.
Anmerkung. Sehr wichtig ist der factische Umstand
daß auch in der Musik der Unterschied des Sinnlosen von
dem Verständlichen sich wiederfindet. An jenes treffen zu-
weilen diejenigen Tonsetzer, die nach Contrasten haschen.
Das verständliche aber ist noch gar nicht darum auch das
Schöne. Ueberdies gleicht die Musik so sehr der Rede
(durch ihre Perioden, ihre Vordersätze und Nachsätze), daß
Unkundige oder Schwärmer sich sehr leicht einbilden, die
Musik wolle etwas sagen, wozu ihr nur die Worte fehlen.
So gilt sie in ihrer höchsten Beredsamkeit für eine Stum-
[149] me! Aber was sie sagen will, das sagt sie vollkommen her-
aus; und es giebt dafür nur äußerst schlechte Uebersetzungen
in eine andre Sprache. Die Musik hat ihren Verstand in
sich selbst; und eben dadurch lehrt sie uns, daß wir nicht in
irgend welchen Kategorien, sondern in dem Zusammenhange
der Vorstellungen unter einander (von welcher Art dieselben
auch seyn mögen) den Verstand zu suchen haben.
189. Die Ausbildung der Begriffe ist nun der lang-
same, allmählige Erfolg des immer fortgehenden Urtheilens.
Man erinnere sich hier, daß arme Sprachen sehr viele
Metaphern zu gebrauchen scheinen, welches andeutet, daß
entferntere Aehnlichkeiten hinreichen, um ältere Vorstellungen
zu reproduciren, und sie, sammt ihrem Namen, mit den
neuen zu verschmelzen. Aus diesem Zustande geht das
menschliche Denken zu einer immer größern und feinern Zer-
theilung der Gedanken über. Die Complexion A diene
einmal als Subject b, so wird für das Prädicat a, ein andermal
für das Prädicat b, so wird im Zusammenfassen beyder
Urtheile nicht bloß der Contrast zwischen a und bgefühlt
(nach 35), sondern derselbe wird auch ausgesprochen,
oder deutlich gedacht, in den Urtheilen: diesesA ist
a, und jenesA ist b. Hier geschieht eine absichtliche
Unterscheidung in dem Vorgestellten; wobey gleichwohl
das Vorstellen keinesweges in zwey gesonderte Acte zer-
fällt, sondern der psychische Mechanismus noch immer die
aus einander gesetzten beysammen hält.
190. Eine Menge solcher Urtheile, wie: A ist a, A
ist b, A ist c, A ist d, u. s. w., wobei nicht ein und
dasselbe A, sondern mehrere mit den conträr entgegengesetz-
ten a, b, c, d, ... anzunehmen sind, — ordnen sich
von selbst in eine Reihe; indem die a, b, c, d, ...
in verschiedenen Graden, nach ihren geringeren
oder größeren Gegensätzen, verschmelzen. (Zum
[150] Beyspiel, die drey Urtheile: diese Frucht ist grün, jene gelb,
eine dritte gelblich-grün, — schmelzen so zusammen, wie
es die Ordnung der Farben, grün, gelblich-grün und gelb
mit sich bringt. Denn zwischen gelb und grün ist die Hem-
mung am stärksten, folglich die Verschmelzung am gering-
sten.) Hieraus entspringt das Verhältniß zwischen der Gat-
tungA, und ihren Arten (A welches a ist, A welches
b ist u. s. w.) Zugleich ergiebt sich zwischen diesen Arten,
vermöge ihrer Differenzen a, b, c, d, eine Menge von
Reproductionsgesetzen, und hieraus entstehn die dun-
kel gedachten Reihenformen, wie die Tonlinie und die
Farbenfläche. Dasselbe, wie hier mit a, b, c, d, ...
wird auch mit α, β, γ, δ, ...begegnen, falls die Arten
von A nicht bloß nach einer, sondern nach mehrern Reihen
von Merkmalen verschieden sind. (Man habe hiebey die Lo-
gik vor Augen; insbesondere die §§. 48 — 50 des Lehrb.
z. Einl. in d. Philos.).
Anmerkung. Die Reihenbildung ist also, pädago-
gisch betrachtet, von der größten. Wichtigkeit, da auf ihr
eben sowohl das deutliche Denken, als die Gestaltung jeder
Art, beruhet.
191. Je mehr sich nun auf diesem Wege, durch Ver-
gleichung des Aehnlichen und zum Theil Verschiedenen, die
Reihen von Merkmalen bilden und aus einander setzen, de-
sto eher wird es auch möglich, vermittelst ihrer den Jn-
halt der Complexionen zu bestimmen; oder sich den Defi-
nitionen der Begriffe anzunähern. Denn nun bekommt je-
der Bestandtheil einer Complerion, — das heißt, jedes
Merkmal eines Begriffs, — seinen Ort in einer von
den Reihen der Merkmale. Das Bemühen, diesen
Ort zu finden, zeigt sich unter andern in solchen Fragen:
wie sieht das Ding aus? wie groß ist es? wie riecht es?
wie schmeckt es? — Allein um für alle Merkmale den Ort
[151] in der entsprechenden Reihe zu finden, dazu gehört eine
Menge von Reproductionen der verschiedenen Reihen, die
der psychische Mechanismus nicht anders, als vermöge
einer herrschenden Vorstellungsmasse ergeben wird.
Welche Arbeit dies kostet, besonders bey Begriffen höherer
Art, und wie viele, theils positive, theils negative Urtheile
dazu nöthig sind, davon zeugen selbst noch die Platonischen
Dialogen. Und wie wenig diese Arbeit pflegt vollendet zu
werden, das sieht man bey den allermeisten Menschen an
der geringen Ausbildung ihrer Begriffe.
192. Auf alle Weise zeigt sich demnach, das die Be-
stimmung und Sonderung der Begriffe, das klare und deut-
liche Denken, eine Aufgabe ist, welche, der psychische Me-
chanismus nicht dadurch löset, daß er seine Complexionen
wirklich zertrennt, sondern dadurch, daß er die Bestandtheile
derselben einzeln mit schon gebildeten Reihen von Merkma-
len zusammenzuhalten gestattet. Es werden auch die allge-
meinen Begriffe niemals wirklich bloß durch ihren Jnhalt
gedacht, sondern mit Rücksicht auf ihren Umfang, aber mit
absichtlicher Unterscheidung von demselben.
193. Der Versuch aber, die Begriffe bloß, oder doch
vorzugsweise, durch ihren Jnhalt, also durch Zusammenfas-
sung der nicht mehr aus der Erfahrung unmittel-
bar, sondern aus den schon gebildeten Reihen der Merk-
male hervorgehobenen Puncte dieser Reihen zu den-
ken, — bewirkt eine merkwürdige Veränderung. Er erzeugt
das Philosophiren. Dieses macht Begriffe zu Objecten
des Denkens. Die ersten Begriffe, welchen dies begegnete,
waren die Zahlen und geometrischen Figuren. Später dehnte
sich das nämliche Verfahren auf alle logischen Allgemeinbe-
griffe aus. Jn so sern steht Platon, welcher ausführte, was
die Pythagoräer und Sokrates begonnen hatten, an der Spitze
der Philosophen. Der nächste Schritt ist alsdann Sprach-
[152] Philosophie; indem die Begriffe sich als ein Gegebenes an
die in der Sprache vorgefundenen Worte gebunden zeigen.
Aristoteles, ebenfalls eine Pythagoräische Spur verfolgend,
suchte die Kategorien, d. h. die allgemeinsten Hauptbegriffe,
in der Sprache.
Die Wirkung hievon ist dreifach.
a) Die große Mehrzahl der Gebildeten, an welche
die Philosophie wenigstens theilweise gelangt, zieht die ab-
gesonderten Begriffe wieder zurück zu den Dingen. Die Er-
fahrung wird geordnet, wissenschaftlich behandelt; und in
den Wissenschaften setzen sich Streitpunkte vest, worin ge-
fragt wird, wie die Dinge durch Begriffe richtig zu denken
und durch Worte zu bezeichnen seyen.
b) Die Philosophen gerathen durch die Anstrengung,
theils in sich selbst, theils weit mehr noch in Andern, Be-
griffe als Objecte des Denkens vestzuhalten, auf die Ueber-
treibung, daß sie die Begriffe in die Zahl der realen Ge-
genstände versetzen; wobey ihnen die Eigenthümlichkeit der
Sinnendinge, vermöge deren sie metaphysische Probleme ent-
halten, dergestalt zu Hülfe kommt, daß die Begriffe sogar in
einem weit höheren Sinne, als die Erfahrungsgegenstände
selbst, für real gehalten werden. Dies ist der, noch jetzt
wirksame Charakter der Platonischen Jdeenlehre. Daher die
Verlegenheit des Aristoteles, der die Sinnengegenstände, die
mathematischen Figuren sammt den Zahlen, und die Jdeen,
neben einander vorfand; und über deren Verhältniß nie recht
mit sich einig scheint geworden zu seyn.
c) Eine andere Täuschung ist die eigenthümliche der
Kantischen Schule, in den Kategorien Stammbegriffe des
Verstandes, als eines Seelenvermögens, zu erblicken; wo-
von die Spuren schon beym Platon, dann bey Descartes
und bey Leibnitz vorkommen.
Dadurch verdunkelt sich die Verwandschaft der Katego-
[153] rien mit den Reihenformen, welche sich gleichwohl schon
analytisch erkennen läßt. *)
Die Kategorien der innern Ap-
perception **) werden dabey vergessen.
Man bemerke die Haupt-Kategorien: Ding, Eigen-
schaft, Verhältniß, Verneintes; denen die Urtheils-
form und die Reihenform zum Grunde liegt. Der Begriff
des Verneinten, des Nein überhaupt, ist die klärste Probe
eines solchen Begriffs, der im Urtheilen aus der Erfahrung
entspringt, obgleich er in der Erfahrung keinen gegebenen
Gegenstand hat.
Drittes Capitel.
Ueber unsere Auffassung der Dinge und Unse-
rer selbst.
194. Ganz von selbst, und ohne das allergeringste,
was man eine Handlung der Synthesis nennen könnte, ver-
binden sich unsre Vorstellungen, so weit sie daran nicht
durch eine Hemmung gehindert werden. Daher giebt es
für ein Kind im zartesten Alter noch gar keine einzelnen
Dinge, sondern ganze Umgebungen, die, selbst als räum-
lich, sich nur in einem successiven Vorstellen auseinander-
setzen (174).
Das erste Chaos der Vorstellungen nun, während es
immer neue Zusätze bekommt, ist zugleich einer beständig fort-
gehenden Scheidung unterworfen. Zwar nicht, als ob ein-
mal geschlossene Verbindungen jemals zerrissen würden (180);
[154] vielmehr nimmt die Menge derselben und ihre Jnnigkeit
immer zu. Aber eines Theils wächst mit ihnen auch die
Menge der Unterscheidungen (nach 189): andern Theils
giebt es mehr häufige räumliche Trennungen dessen,
was Anfangs beysammen gesehen (oder überhaupt wahrge-
nommen) wurde. Denn die Dinge bewegen sich, und da-
durch hauptsächlich zerreißt die Umgebung; auf diese Weise
erst entsteht für das menschliche Vorstellen eine Mehrheit
von Dingen. — Anfangs scheint der Tisch mit dem Fuß-
boten Eins, sowohl wie die Tischplatte mit den Tischfüßen;
der Tisch aber wird von der Stelle gerückt, während die
Platte sich von den Füßen nicht trennt. Was sich nicht
von einander entfernt, das behält im Vorstellen seine ur-
sprüngliche Einheit.
195. Wie nun die Umgebungen allmählig in einzelne
Dinge zerlegt werden, so die Dinge wiederum in ihre Merk-
male (191). Fragt man hier: welchem Subjecte denn
eigentlich die Merkmale beygelegt werden? so ist
die Antwort: das Subject ist immer die ganze Comple-
xion eben dieser Merkmale, in wiefern der psy-
chische Mechanismus dieselben in einem einzi-
gen, ungetheilten Actus vorstellt. Dabey ist gar
keine Schwierigkeit, so lange nicht alle die Urtheile
beysammen sind, durch welche einem und dem-
selben Dinge alle seine Merkmale zugeschrieben
werden.
Allein wenn einmal (was bey den meisten Menschen
niemals geschieht) das Denken diesen Grad der Reihe er-
langt, alsdann ändert sich die Sache. Die Urtheile haben
nun die Complexion ganz aufgelöst, und die Merkmale der-
selben als ein Vieles auseinandergebreitet; dabey
wird nun noch immer Eins vorausgesetzt, als das Sub-
ject für die vielen Prädicate. Aber dieser Begriff hat sei-
[155] nen Jnhalt verloren; und hier eröffnet sich ein metaphysi-
scher Abgrund, die Frage nach der Substanz als nach ei-
nem unbekannten Etwas, dessen Voraussetzung um st noth-
wendiger ist, da es nicht bloß dasjenige Subject
seyn soll, welches nie Prädicat wird (während wirk-
lich die Urtheile ihr Subject in lauter Prädicate verwandelt
haben), sondern auch das Beharrliche, welches in al-
lem Wechsel sich selbst gleich bleibt (während in
der That die Complexion, die für das Ding (in der Sin-
nenwelt) gilt, nicht bloß simultane, sondern auch successive
Merkmale hat, und folglich keinesweges sich selbst gleich
ist).
196. Die Widersprüche im Begriffe des Dinges mit
mehrern Merkmalen, und in der Veränderung, sind be-
kannt (Lehrb. zur Einleit. in d. Philos. §. 101 — 113).
Hier haben wir nur zu erklären, wie es zugehe, daß der
gemeine Verstand diese Widersprüche nicht merkt. Der ein-
fache Aufschluß hierüber ist dieser: Gerade die Einheit, wel-
che der Metaphysiker beym Anfange seiner Untersuchung
vermißt, und deren er wegen der Form der Erfahrung be-
darf, während die Materie eben der nämlichen Erfah-
rung (das Viele der simultanen, und der Gegensatz der
successiven Merkmale) sie ihm.nicht gestattet, — diese Ein-
heit besitzt der psychische Mechanismus ursprünglich und
ganz von selbst. Um ein sinnliches Ding vorzustellen, da-
zu brauchen wir keinesweges so viele Vorstellungen als sinn-
liche Merkmale, sondern die Einheit des Acts im Vorstel-
len, welche eben die Natur der Complexionen ausmacht,
läßt bey dem gemeinen Verstande gar keine Frage aufkom-
men nach der Einheit im Vorgestellten. Diese Frage nur
zu verstehen, ist und bleibt den Menschen noch immer schwer,
selbst nachdem die Urtheile schon längst die Complexionen
[156] zersetzt haben. So betrügt der psychische Mechanismus fort-
dauernd selbst manche Philosophen.
Anmerkung. Es würde eine ganz leere Hoffnung
seyn, daß die Metaphysik etwa im Fortgange der Wissen-
schaften einen bequemern Zugang bekommen möchte, als den
durch die Widersprüche in der Form der Erfahrung. Die
Einheit der Seele selbst ist der tiefe Grund, aus welchem
in unser Vorstellen diejenige Einheit kommt, die wir hinten-
nach im Vorgestellten vermissen. Hierin, und in der ge-
nauen Bestimmtheit derjenigen Reproductionsgesetze, die sich
nach 168 bilden, liegt nun auch die Antwort auf die Fra-
ge: wie die Formen der Erfahrung können gege-
ben seyn? (Lehrbuch zur Einleitung in d. Philos. §. 22 —
29, und §. 98 — 102.)
197. Um uns der schwierigen Lehre vom Selbstbe-
wußtseyn nähern zu können, müssen wir zuvor einiger der
wichtigsten Verschiedenheiten in der menschlichen Auffassung
der Dinge erwähnen.
Bewegte Gegenstände beschäfftigen den Zuschauer un-
gleich mehr als ruhende. Denn die Beobachtung ei-
nes Bewegten ist ein unaufhörlicher Wechsel
aufgeregter und befriedigter Begierde. Das Be-
wegte sey an irgend einer Stelle: die Vorstellung desselben
verschmilzt mit denen der Umgebung. Es verlasse jetzt diese
Stelle, so wird anstatt seiner etwas von dem Hintergrunde
wahrgenommen, vor welchem es verübergeht. Diese Wahr-
nehmung hemmt jene Vorstellung des Bewegten; zu glei-
cher Zeit aber wird die letztere hervorgetrieben durch die
Vorstellungen der Umgebung, welche noch eben so erscheint
wie Anfangs. Auch ist das Hervortreiben meistens viel stär-
ker wie die Hemmung, denn es rührt her von einer weit
größern Summe von Vorstellungen, als die Hemmung, die
nur von dem Anblick eines kleinen Theils des Hintergrun-
[157] des entsteht. Folglich ist die Vorstellung des Bewegten in
dem Zustande der Begierde (36). Diese Begierde aber
wird befriedigt, denn das Bewegte ist nicht aus dein Ge-
sichtsfelde (oder dem Wahrnehmungskreise) entwichen, son-
dern nur etwa aus dem Mittelpunkte des Gesichtsfeldes;
und die volle Befriedigung wird durch eine kaum merkliche
Drehung des Auges erreicht. So geht nun die Auffassung
des Bewegten (von der wir hier das Differential beschrieben
haben) immer fort.
Daß nun das Bewegte nicht bloß mehr beschäfftigt,
sondern sich auch tiefer einprägt, als das Ruhende,
liegt in der Menge von kleinen Hülfen, welche von jeder
Umgebung, in der es sich gezeigt hat, übrig bleibt.
198. Da das Lebendige, vorzüglich das Empfindende,
in ungleich mehreren und mannigfaltigeren Bewegungen ge-
sehen wird als das Todte, so läßt sich schon hieraus begrei-
fen, weshalb schon in der frühesten Periode des Daseyns
nicht bloß der Mensch, sondern auch das Thier sich um das
Todte viel weniger bekümmert als um jenes Erstere. Hie-
bey ist aber zu bemerken, daß ursprünglich die Dinge nicht
für todt, sondern für empfindend gehalten werden. Denn
auf den Anblick eines Körpers, der gestoßen oder geschlagen
wird, überträgt sich die Erinnerung an eignes Gefühl bey
ähnlichem Leiden des eignen Leibes. Wo dies ausbleibt,
da ists ein Zeichen von Stumpfsinn; je lebendiger der
Mensch, desto mehr Leben setzt er vor näherer Prüfung
überall voraus.
Anmerkung. Es war ein gewaltsam erzeugter, und
eben so gewaltsam vestgehaltener Jrrthum des Jdealismus,
das Jch setze sich ein Nicht-Jch entgegen, — als ob die
Dinge ursprünglich mit der Negation des Jch behaftet wä-
ren. Auf die Weise würde nimmer ein Du und ein Er
entstehn, — nimmer eine andre Persönlichkeit, außer der eig-
[158] nen, anerkannt werden. Vielmehr, was innerlich empfun-
den war, das wird, wo irgend möglich, auf das Aeußere
übertragen. Daher bildet sich mit dem Jch zugleich das
Du; undfast gleichzeitig mit beyden das Wir, welches
der Jdealismus vergaß, und vergessen mußte, wenn er nicht
aus seinen Träumen geweckt seyn wollte. Denn die Vor-
stellung des Wir ist ganz offenbar abhängig von den Um-
ständen; sie erzeugt sich bald in größern, bald in kleinern
Kreisen; und zwar immer so, daß sie zugleich das Jch in
sich aufnimmt. Dieser Gegenstand liegt einer analytischen
Betrachtung weit offener vor Augen, als das geheimnißvolle
Jch. Wie Platon den Staat als eine Schrift mit groißen
Buchstaben, lesbar für schwache Augen, zuerst betrachtete,
um kleinere Schrift bequemer aufzufassen, so hätte man
auch früher das Wir als das Jch untersuchen sollen, um
für das schwerere Problem eine nützliche Vorbereitung zu
gewinnen.
199. Woher aber die Vorstellung von einer Vor-
stellung? und von vorstellenden Dingen? Diese
Frage muß man zuvörderst einfach genug fassen. Wie es
möglich sey, daß mit dem räumlich-Ausgedehnten und
dessen übrigen Merkmalen auch ein Vorstellen verknüpft,
ja mit ihm Ein Ding sey, das überlegt kaum einmal der
gebildete Mensch, vielweniger der rohe. Aber daß es Dinge
giebt, denen Vorstellungen inwohnen, weiß selbst das Thier.
Es lernt es, indem es sieht, daß diese Dinge sich nach an-
dern, auch ohne Berührung, richten.
Der gemeine Verstand ist geneigt zu glauben, die Na-
del wisse vom Magnet. Auf dieselbe Weise ist Jeder über-
zeugt, A enthalte in sich die Beschaffenheit von B, wenn
sich jenes genau bestimmt zeigt durch dieses. Die Beschaf-
fenheit von B, ohne dessen Realität, ist das Bild von B,
oder, mit einem andern Worte, die Vorstellung desselben.
[159] Findet sich nun A bestimmt durch die Beschaffenheiten (Be-
wegungen u. s. w.) von B, C, D, und so ferner, in der
ganzen Umgebung, so hat A deshalb das Prädicat eines
Vorstellenden; und hieraus wird unter nähern Bestimmun-
gen das Prädicat, daß Asehe, höre, rieche, u. s. f.
Anmerkung. Von den Kategorien der innern Apper-
ception zu handeln, --
vom Objecte, welches eintretend
in die Umgebung den mit Auffassung derselben in Wechsel-
wirkung begriffenen Gedankenlauf unterbricht, und ferner
bey häufiger Wiederhohlung zurückweisend auf sein Voraus-
gehendes eingreift in die involoirte Zeitlinie der Gefühle,
woraus die Vorstellung des Subjects entsteht: — dies
ist fast zu schwer für den Zweck des vorliegenden Lehrbuchs.
Genug wenn nur bemerkt wird, daß die Vermengungen des
Jdealismus gehoben werden müssen durch Unterscheidung
des bloßen Subjects, als Zeitwesens, vom Jch, wiewohl
letzteres mit jenem nothwendig zusammenhängt; indem es,
abgesondert gedacht, auf Ungereimtheiten führt.
Das allmählige Eindringen der Empfindungen in alle
Nerven (wie wenn das Kind eine würzig süße Frucht ge-
nießt, der Mann sein Gläschen leert), desgleichen das Ein-
dringen vernommener Worte oder angeschauter Begebenhei-
ten in alle Vorstellungsmassen, — dieses Nachtönen im Jn-
nern — hebt nicht die Jchheit sondern das Subject ins Be-
wußtseyn hervor. Anders ist es bey absichtlicher Hingebung
an die Empfindung, wo der Genuß eintritt, nachdem und
indem er gesucht wird.
200. Jn den allermeisten Fällen der eben erwähnten
Art sind A und B, das Vorstellende und Vorgestellte, offen-
bar zwey Verschiedene, die räumlich einander gegenüber
stehn. Es fällt aber ins Auge, daß falls beyde auf irgend
eine Weise als Eins und dasselbe erscheinen, dann die Vor-
stellung eines Wissens von Sich selbst entstehen muß.
[160]
Hiebey frage man nicht, wie es möglich sey, die bey-
den Entgegengesetzten, Vorstellendes und Vorgestelltes, als
Eins und dasselbe aufzufassen? Dieses schwere metaphy-
sische Problem ist, im psychologischen Sinne ebenso
leicht, als das obige, wie die Auffassungen mehrerer
Merkmale zusammen die Vorstellung Eines Dinges
ausmachen, oder das noch frühere, wie die endlichen Raum-
größen als unendlich theilbar erscheinen können? Jn der
Seele stießt überall Vieles Vorgestellte in Ein. Vorstellen
zusammen, sobald die Hemmungen es nicht hindern; ob
aber das Vorgestellte also werde bleiben können, wann irgend
einmal die zerlegenden Urtheile (191) dazu kommen und ein
metaphysisches Denken hervorrufen: wie sollte davon die ge-
ringste Ahndung ursprünglich der Seele beywohnen?
Jemand besehe oder betaste seine eignen Gliedmaaßen,
der gegenüberstehende Zuschauer sagt alsdann nach gemei-
nem Sprachgebrauche: Er hat sich selbst gesehen, sich selbst
betastet. Die Jdentität in diesem Selbst ist offenbar keine
wahre, denn das Auge und die tastende Hand sind verschie-
den von dem Arme, der gesehen und betastet wurde. Den-
noch ist im ursprünglichen psychologischen Sinne Jdentität
vorhanden; denn der ganze Leib gilt für Eins, weil alle
Theil-Vorstellungen von demselben innigst verscholzen sind.
Sich selbst sehen, oder fühlen ist übrigens nur ein besonde-
rer Fall des: Von Sich Wissen.
201. Dies alles ist jedoch nur noch Vorbereitung zur
Erklärung des Selbstbewußtseyns. Jn dem nächst Vorher-
gehenden liegt nur der Anfang der Vorstellung von irgend
einem Jch; hievon ist die Vorstellung von Mir, d. h. von
meinem Jch, noch verschieden. Jene ist indessen doch die
Grundlage von dieser, wie die Erfahrung bestätigt, denn
das Kind spricht zuerst von Sich in der dritten Person.
Hingegen die erste Person, als die Erste, ist An-
[161] fangspunct einer Reihe, und muß nach Art der Rei-
henformen erklärt werden (168 —177).
Der Mensch, sobald seine räumlichen Auffassungen eini-
germaaßen zur Reife kommen, findet sich als den bewegli-
chen Mittelpunct der Dinge, von wo aus nicht bloß die
Entfernungen, sondern auch die Schwierigkeiten wachsen,
das Begehrte zu erreichen, und zu welchem hin sich allemal
das Erreichte bewegt, indem es die Begierden befriedigt.
So ist der Egoismus nicht der Grund der Begierden,
sondern er ist eine Vorstellungsart, die zu densel-
ben hinzugedacht wird. Gebrochen aber wird der
Egoismus schon einigermaaßen dadurch, wenn der Mensch
einen andern Mittelpunct der Dinge faßt; zu diesem fühlt
er sich alsdann unfehlbar hingezogen, wie im Sinnlichen zu
der Hauptstadt des Landes, im Geistigen zu der Gottheit.
Anmerkung. Von der größten moralischen und über-
haupt praktischen Wichtigkeit ist die Vorstellung des Wir,
welche auf der Voraussetzung gemeinschaftlicher Empfindung
und Auffassung beruhet. Dem eigentlichen Egoismus giebt
sie ein natürliches Gegengewicht; auch ist sie natürlich, denn
kein Mensch weiß eigentlich, wer er ganz allein seyn würde.
Jn dem Kreise des Wir erzeugt sich, während er in ein
mehrfaches Jch aufgelöset wird, die Rechtlichkeit und der
Ehrtrieb. Aber dem Wir stellt sich ein Jhr und Sie ent-
gegen, mit allen Uebeln des Corporations-Geistes. Das
Sonderbarste ist, daß Wir selbst bald diese bald jene Ge-
sellschaft sind; die Menschen sind nämlich in diesem Puncte
Freunde, in jenem Feinde. Hier beklagt sich der Unter-
gebene beym Obern, dort klagen sie gemeinschaftlich über
den Obern.
202. Die Complexion, welche das eigne Selbst eines
Jeden ausmacht, bekommt im Laufe des Lebens unaufhör-
[162] lich Zusätze, die mit ihr, sogleich indem sie eintreffen, aufs
innigste verschmelzen. (Geschähe dieses nicht, so würde die
Einheit der Person verloren gehn, welches sich in man-
chen Arten des Wahnsinns wirklich ereignet, indem sich
aus einer gewissen Masse von Vorstellungen, die abgeson-
dert wirkt, ein neues Jch erzeugt, woraus, wenn die Mas-
sen abwechselnd, und zufolge eines Wechsels im Organis-
mus, ins Bewußtseyn treten, auch eine wechselnde Persön-
lichkeit entsteht.)
Die Zusätze nun sind verhältnißmäßig weit weniger
neue Auffassungen des eignen Leibes, wofür die Empfäng-
lichkeit (45) bald sehr gering wird, als vielmehr innere
Wahrnehmungen (40) der Vorstellungen, Begierden und
Gefühle. Daher neigt sich die Vorstellung des Jch immer
mehr zu dem Begriff eines Geistes; der sich vollends
abscheidet, indem das Jch gedacht wird als übrig und unver-
letzt bleibend bey Verstümmelungen des Leibes, während
der Veränderung der Lebensperioden, und selbst nach dem
Tode.
Bey jedem Menschen erzeugt sich das Jch vielfach in
verschiedenen Vorstellungsmassen; und wiewohl daraus bey
dem geistig Gesunden kein vielfaches Jch entsteht, so
ist doch diese Vielheit nicht unbedeutend für Charakterbil-
dung überhaupt und für Moralitat insbesondere. Der Kna-
be, der ein Anderer ist zu Hause, ein Anderer in der
Schule, ein Anderer unter seinen Spielgenossen: dieser
schwebt in Gefahr. Der Mann, der einen verschiedenen
Ton hat für Vornehme, Freunde, und Geringe, steht mo-
ralisch nicht so sicher als der einfache sich stets gleichblei-
bende. Unter verschiedenen Menschen ist übrigens die Un-
gleichheit unvermeidlich, daß der eine sich mehr im Genuß,
der andre mehr im Leiden fühlt; ein dritter mehr im Thun,
und zwar entweder im innern Thun, oder in äußerer Wirk-
[163] samkeit.
Jenes ist oft vorbildend für diese. Am weitesten
treten hier die Mystiker und die Freiheitslehrer auseinander;
jene meinen, das eigne Wollen ertödten, das eigene Jch
aufgeben zu müssen; diese predigen absolute Selbstständig-
keit des Jch. Am seltsamsten aber ist die Selbsttäuschung.
Derer, welche mitten in der Mystik noch ihre persönliche
Freyheit behaupten wollen, um ja Alles, was einen guten
Klang hat, zu vereinigen. Es hilft nichts, solchen Leuten
von der richtigen Mitte zu reden; sie haben den rechten
Weg von Anfang an verfehlt, und müßten ganz rückwärts
gehn, um ihn wiederzufinden.
203. Durch den Begriff der Seele nicht aber un-
mittelbar durch den so eben erklärten des Jch, bekommen
wir eine richtige Kenntniß von uns selbst. Der letztere
nämlich muß in jenen erstern umgebildet werden. Denn das
Jch des gemeinen Verstandes enthalt lauter zufällige Merk-
male, welches sich vermittelst der zerlegenden Urtheile (der
Antworten auf die Frage: Wer bin ich?) verräth, ge-
rade so wie die Vorstellungen der sinnlichen Dinge sich durch
die Urtheile (195) in lauter Prädicate zersetzen, deren Sub-
ject lange blindlings vorausgesetzt, endlich aber vermißt
wird. Von dem Jch lassen nun die Urtheile, indem sie alles
Jndividuelle absondern, nichts übrig, als den Begriff der
Jdentität des Objects und Subjects; einen wi-
dersprechenden Begriff, dessen Umbildung in jenen der
Seele ein Geschäfft der allgemeinen Metaphysik ausmacht,
eben sowohl wie dieselbe die Begriffe von Substanzen, Kräf-
ten (196), von räumlichen und zeitlichen Dingen (177)
in die Lehre von einfachen Wesen und von deren Störun-
gen und Selbsterhaltungen umarbeitet.
Anmerkung. Der widersprechende Begriff des rei-
nen Jch ist das metaphysische Princip, aus welchem alle
die systematischen Untersuchungen geflossen sind, die dem [164] gegenwärtigen Vortrage zum Grunde liegen. Von allen
Unterschieden, die in dem wirklichen Jch angetroffen werden,
je nachdem der Mensch sich gedrückt oder gehoben fühlt,
und in seinen Anstrengungen entweder vorrückt oder ermat-
tet, weiß und enthält das Jch, als metaphysisches Princip,
nicht das Mindeste. Fragt man, wie denn diese Unterschiede
hineinkommen, so ist die Antwort: die Untersuchung selbst,
angetrieben von dem Princip, fodert solche Mannigfaltigkeit
und solche Gegensätze; und leitet auf die Bahn, darnach zu
suchen. Das ist die Eigenheit wahrer metaphysischer Princi-
pien, daß sie über sich selbst hinaus, und eben damit in
den Zusammenhang der Erfahrung zurückweisen. Kennte
man durch bloße Erfahrung auch schon den Zusammenhang
in der Erfahrung: so wäre keine Metaphysik nöthig; und
eine solche Wissenschaft wäre überall nicht entstanden. Die
Bewegung des Denkens aber, welche die Metaphysik
herbeyführt, ist bey verschiedenen Problemen nur dem aller-
kleinsten Theile nach gleichartig; sie fodert daher eine sehr
mannigfaltige Uebung. Mit den Verwöhnungen, Alles in
den viereckigen Kasten der sogenannten Kategorien, oder in
den dreyeckigen der Thesis, Antithesis und Synthesis hin-
einzukünsteln, wird der Untersuchungsgeist nicht gefördert
sondern verdorben. Die eine dieser Manieren ist soviel werth
wie die andre.
204. Jetzt erst ist es möglich zu erklären, was An-
schauen heiße, ein Ausdruck, mit welchem ein heilloser
Mißbrauch vielfältig ist getrieben worden.
Anschauen heißt: ein Object, indem es gegeben wird,
als ein solches und kein anderes auffassen.
Das Object muß dem Subjecte und andern Objecten
gegenüberstehen; es so zu finden ist erst möglich, nachdem
das Jch, als erste Person, sich auf räumliche Weise als
Mittelpunct der Dinge hervorgehoben hat. Gewöhnlich wird
[165] das Object eine Complexion von Merkmalen, nach Art der
sinnlichen Dinge, seyn; diese aber muß sich erst aus der
ganzen Umgebung ausgeschieden haben (194), damit die
Auffassung das Object als ein solches und kein anderes be-
gränzen könne. Hiebey, erscheint das Object gleichsam auf
einem Hintergrunde früherer Vorstellungen, die es zugleich
reproducirt und hemmt; es selbst erhält dadurch bestimmte
Umrisse, sowohl in räumlicher, als in jeder andern Hinsicht.
Eben deshalb hat jede Anschauung (sehr ungleich der blo-
ßen Empfindung) die Tendenz, in eine Menge von Urthei-
len zugleich auszubrechen (wie in 182), die sich jedoch
meistens gegenseitig ersticken, theils wegen der Hemmung
unter ihren Prädicaten, andern Theils weil sie nicht alle
zugleich Worte finden können; oftmals auch, weil die Auf-
fassung von einem Gegenstande zum andern fortrückt.
Die Anschauung ist demnach ein sehr verwickelter Pro-
ceß, der durch viele frühere Productionen vorbereitet
seyn muß (nicht durch irgend welche, im Gemüthe vorhan-
dene Formen), und der alsdann mit psychologischer Noth-
wendigkeit so erfolgt, wie er kann, gleichviel ob dadurch
ein realer Gegenstand, oder eine täuschende Gestalt vorge-
bildet wnd. Dies zu prüfen ist die Sache des Denkens,
und der Entscheidung desselben kann keine Anschauung vor-
greifen, man mag ihr Namen geben, welche man will.
Endlich die Passivität im Anschauen (welche durch das
Wort Auffassen, nämlich eines Gegebenen, ausge-
drückt wird), ist nicht unmittelbar ein leidender Zustand der
Seele, von welcher vielmehr die Anschauung producirt
wird, obgleich ohne irgend ein Bewußtseyn der Thätigkeit.
Sondern leidend verhalten sich diejenigen Vorstellungen,
auf denen, als dem Hintergrunde, die Wahrnehmung ihre
Umrisse zeichnet, oder ohne Vild, welche vermöge des Gleich-
artigen, das sie mit der Wahrnehmung gemein habe von [166] ihr reproducirt, vermöge des Ungleichattigen aber durch sie
gehemmt werden.
Dies Verhältniß im Anschauen, vermöge dessen die äl-
teren Vorstellungen leiden von der neuen Wahrneh-
mung, kann jedoch, wenn nicht eine längere Folge von An-
schauungen den Geist in seiner passiven Lage vesthält, sich
leicht und schnell in das entgegengesetzte verkehren; was als-
dann geschieht, ist schon (in 39) angegeben. Das Anschauen
ist dann zu Ende, statt seiner beginnt die Erinnerung,
das Phantasiren und das Denken.
Viertes Capitel.
Vom unbeherrschten Spiel des psychischen Me-
chanismus.
205. Der Kürze wegen, in welche dies Lehrbuch sich
einschließen muß, werden wir an den praktisch wichtigen
Gegensatz der Selbstbeherrschung und des Mangels dersel-
ben Verschiedenes anknüpfen, das in einem ausführlichen
Vortrage würde mehr gesondert zu betrachten seyn.
Unabhängig von einer im Jnnern begründeten Herr-
schaft, kann die geistige Regsamkeit entweder in den Vor-
stellungen selbst, oder in dem Organismus, oder in äu-
ßern Eindrücken ihren Ursprung haben.
206. Sich selbst überlassen, würde eine kleine Anzahl
von Vorstellungen sich sehr bald ihrem statischen Puncte nä-
hern, und nur noch eine sehr geringe Bewegung zu dem-
selben hm übrig behalten, durch welche er niemals ganz
vollkommen erreicht werden könnte (17).
Allein bey der äußerst großen Menge und den höchst-
[167] verwickelten Verbindungen der Vorstellungen, die der Mensch
im Laufe der Zeit erlangt, ändert sich dies beträchtlich.
207. Eine Reihe von Vorstellungen sey eben jetzt im
Ablaufen begriffen, so ändert sich in jedem.Augenblicke die
Hemmung, welche die gänzlich oder beynahe aus dem Be-
wußtsein verdrängten Vorstellungen erleiden. Einige kön-
nen sich von selbst regen, weil sie nun minder zurückgehal-
ten sind; andre werden reproducirt durch solche Glieder der
ablaufenden Reihe, denen sie gleichartig sind. Aber die re-
producirten mögen selbst ihre Reihen haben, die nun auch
anfangen abzulaufen, so verwickeln sich diese Reihen in ein-
ander, und mit jener erstern; es entstehn bald Hemmungen,
bald Verschmelzungen und Complicationen. Durch solche
neue Verbindungen aber bilden sich neue Totalkräfte (23)
und die statischen Puncte werden dadurch verrückt, folglich
neue Bewegungsgesetze herbeygeführt.
Em mannigfaltiger Wechsel von Gemüthszuständen
(33 — 38) kann hiebey kaum ausbleiben. Ein solcher zieht
allemal den Organismus ins Spiel, durch dessen Einmischung
(die wir hier nicht weiter erwägen wollen) die Sache noch
verwickelter wird.
Mit diesem Phantasiren (denn das ist es, mehr
oder minder lebhaft) verbinden sich sehr oft Handlungen in
der Außenwelt und hievon ist das laute Aussprechen der Ge_ danken
nur eine Species. Bey Kindern, die noch nicht ge_ lernt
haben, sich zurückzuhalten, sind dergleichen Aeußerun-
gen dessen, was innerlich vorgeht, in der Regel. Da kommt
alsdann die Wahrnehmung des Products der Aeußerung
hinzu und wirkt mit auf den Verlauf des psychologischen
Ereignisses.
208. Der Lauf der menschlichen Wahrnehmungen läßt
alsdann, wenn er einigermaßen rasch ist, den Vorstellungen,
die er bringt, nicht Zeit, sich unter einander ins Gleichge-
[168] wicht
zu setzen; die vorangehenden werden durch die nach-
kommenden auf die mechanische Schwelle gcworfen, ohne
in diejenigen Verbindungen, deren sie fähig waren, getreten
zu seyn; und aus der mechanischen Schwelle wird gar bald
die statische, wofern der Zufluß neuer Vorstellungen noch
länger dauert. Vermöge dieser übereilten Hemmungen sam-
melt sich eine Menge unverdauten Stoffes, der erst allmäh-
lig verarbeitet wird, wenn ihn nachmalige Reproductionen
wieder ins Bewußtseyn zurückführen.
209. Die spätere Verarbeitung des früher gesammel-
ten Stoffes ist um desto wichtiger, weil die älteren Vor-
stellungen gewöhnlich die stärkeren sind, wegen der abneh-
menden Empfänglichkeit. Diese Verarbeitung wird jedoch,
je später, desto schwieriger, weil durch den steten Zufluß
neuer Wahrnehmungen sich die Gemüthslage, nebst der ent-
sprechenden Disposition des Leibes, fortdauernd ändert, so
daß die älteren Vorstellungen mit ihren früher eingegange-
nen Verbindungen immer weniger dazu passen, folglich die
Reproduction derselben größere Hindernisse antrifft. Hierin
liegt der Grund, weshalb dasjenige, woran nicht manchmal
durch Wiederhohlungen erinnert wird, mehr und mehr in Ver-
gessenheit geräth. Genau genommen aber geht in der Seele
nichts verloren.
210. Die Zweckmäßigkeit der Verarbeitung wird be-
stimmt durch die Zweckmäßigkeit der Reproduction. Denn
welche Vorstellungen zugleich reproducirt werden, diese
eben, und keine andern, gerathen dadurch in neue und inni-
gere Verbindung.
Anmerkung. Hiemit hängen einige von den päda-
gogischen Hauptbegriffen zusammen. Zuvörderst die Unter-
scheidung des analytischen und synthetischen Unter-
richts. Jener geschieht durch zweckmäßige Reproduction;
dieser sorgt dafür, neue Vorstellungen gleich Anfangs in
[169] zweckmäßiger Verbindung herbeyzuführen. Ferner gehört
hieher die allgemeine Foderung, daß Vertiefung und
Besinnung, gleich einer geistigen Respiration, stets mit
einander abwechseln sollen. Die Vertiefung geschieht, in-
dem einige Vorstellungen nach einander in gehöriger Stärke
und Reinheit (möglichst frey von Hemmmungen) ins Be-
wußtseyn gebracht werden. Die Besinnung ist Sammlung
und Verbindung dieser Vorstellungen. Beydes findet Statt
sowohl beym analytischen, als beym synthetischen Unterrichte.
Je vollkommener und je sauberer diese Operationen vollzo-
gen werden, desto besser gedeiht der Unterricht.
(Zu vergleichen ist des Verfassers allgemeine Pädago-
gik, im Anfange und gegen das Ende des zweyten Buchs.)
211. Während nun aus den vorbemerkten Ursachen
die Vorstellungen, indem sie stets der Tendenz zum Gleich-
gewichte folgen, eben dadurch aus einer Bewegung in die
andere gerathen: verweben sie sich immer vester und vielfäl-
tiger, so daß mehr und mehr jede Aufregung einer einzigen
unter ihnen sich durch die übrigen fortpflanzt, und da-
durch selbst ihrer Rückwirkung ausgesetzt ist.
Mit andern Worten: das Phantasiren geht mehr und mehr
ins Denken über, und der Mensch wird immer verstän-
diger. Denn in diesem allgemeinen Zusammenhange der
Vorstellungen unter einander, nicht aber in den Begriffen
und Urtheilen einzeln genommen, hat der Verstand seinen
Sitz (188). Jedoch ist hiemit eine allmählige Ausbildung
der Begriffe und Urtheile verbunden, indem dabey die Um-
stände eintreten, welche oben (179 — 192) sind erwogen
worden.
212. Da kein Mensch einzeln lebt, vielmehr die Hu-
manität in der Gesellschaft vorhanden ist, so gehört es hie-
her, zu bemerken, daß das Gespräch der gewöhnliche Reiz
für das Phantasiren, die Sitten aber und die gemei-
[170] nen Meinungen die gewöhnlichen Haltungs-Puncte sind,
in welchen sich die Vorstellungen so durchkreuzen und ver-
flechten, daß von da aus jede ihrer Bewegungen eine Be-
stimmung erhält: oder wie man auch sagen kann, der ge-
meine Verstand auf der gemeinen Meinung beruht, die
übrigens grundlos und unwahr, also in einem höhern Sinne
des Worts dem Verstaube sehr zuwider seyn kann.
213. Von dem Phantasiren und Denken eines Men-
schen hängt ab sein Anschauen und Merken, überhaupt
sein Jnteresse. Jeder Mensch hat seine eigne Welt, auch
bey gleicher Umgebung.
Die Aufmerksamkeit ist theils unwillkührlich und
passiv, theils willkührlich und activ. Von der letztern
ist hier noch nicht die Rede, denn sie hängt mit der Selbst-
beherrschung zusammen. Die erstere hat ihren Grund zum
Theil in der augenblicklichen Lage des Geistes
während des Merkens; andern Theils wird sie bestimmt
durch die älteren Vorstellungen, welche das Gemerkte re-
producirt.
a) Bey der Geisteslage während des Merkens kom-
men vier Umstände in Betracht: die Stärke des Eindrucks,
die Frische der Empfänglichkeit, der Grad des Gegensatzes
gegen schon im Bewußtseyn vorhandene Vorstellungen, und
der Grad des mehr oder minder zuvor beschäffigten Ge-
müths*)
b) Was die Mitwirkung älterer reproducirter Vor-
stellungen anlangt, so können dieselben sowohl durch ein
Zuviel, als durch ein Zuwenig, dem unwillkührlichen Mer-
ken ungünstig seyn, indem in beyden Fällen es dem Neu-
Aufgefaßten unmöglich wird, die Gemüthslage nach sich zu
bestimmen. Findet nämlich das Neue nichts Altes, oder
[171] dessen Zuwenig vor, mit dem es sich verbinden könnte, so
ist es für sich allein meistens zu schwach, um nicht von an-
dern Vorstellungen erstickt zu werden, die sich schon mehr
gesammelt und verbunden haben. Tritt aber des gleichar-
tigen Alten Zuviel hervor, so schwächt es die Empfänglich-
keit für das Neue. Dagegen wird das Merken hauptsäch-
lich durch zwey Umstände begünstigt, erstlich, wenn es mit
dem Alten contrastirt, wobey die Reproduction stark genug
zur Anknüpfung ist, ohne durch ein Uebermaaß der Em-
pfänglichkeit bedeutend zu schaden; — zweytens, wenn durch
das Neue eine Entwickelung älterer Vorstellungen befördert
wird, wornach dieselben ohnehin schon strebten. Jn diesem
Falle stiftet es neue Verbindungen, indem es zugleich eine
Begierde befriedigt, oder doch ein angenehmes Gefühl her-
vorbringt. Das geschieht besonders bey zuvor erregter Er-
wartung.
Anmerkung. Merken und Erwarten, als die bey-
den Stufen des Jnteresse, gehören gleichfalls zu den Grund-
begriffen der allgemeinen Pädagogik. (Jn dem vorerwähn-
ten Buche des Verf. über diesen Gegenstand muß das zweyte
Capitel des zweyten Theils mit den hier aufgestellten Sätzen
verglichen und erläutert werden.)
214. Unter denjenigen Aufregungen des psychischen
Mechanismus, welche im Organismus ihren Ursprung ha-
ben, mag es erlaubt seyn, solche hier zu übergehen, die
offenbar mehr physiologische als psychologische Phänomene
darstellen; wohin die körperlichen Bedürfnisse zu rechnen
sind.
Jm Allgemeinen aber ist sehr klar, daß jedes Körper-
gefühl im Stande ist, die mit ihm complicirten Vorstel-
lungsreihen ins Bewußtseyn mitzubringen; und daß diese
ich um so gewisser entwickeln werden, weil mit allen an-
dern Vorstellungen andere (wenn auch noch so schwache) [172] Körpergefühle zusammenhängen, denen andere körperliche Zu-
stände entsprechen,, welche sich eben jetzt nicht hervorbringen
lassen. Aus diesem Grunde sollte man eher eine noch grö-
ßere als eine geringere Abhängigkeit des Geistes vom Leibe
erwarten, wie die, welche die Erfahrung zeigt.
2l5. Auch den Veränderungen der Gemüthslage,
und dem Ablaufen und Jneinandergreifen der Vorstellungs-
reihen müssen Veränderungen im leiblichen Zustande ent-
sprechen. Hiebey kann schon das Zeitmaaß und die Ge-
schwindigkeit der geistigen Veränderung eine ihr entwe-
der günstige oder ungünstige Disposition des Körpers an-
treffen welches hinreicht, um die abwechselnde Lust und Nei-
gung zu dieser oder jener Beschäfftigung zu erklären, wo-
fern nicht noch außerdem rein psychologische Gründe mit
einwirken.
Anmerkung. Dasjenige Spiel des psychischen Me-
chanismus ist vorzüglich ein unbeherrschtes oder doch schwer
zu beherrschendes, welches entsteht, wenn die Geschwin-
digkeit in der Veränderung körperlicher Zustände unge-
wöhnlich wächst, und dadurch den entsprechenden Lauf der
Vorstellungen beschleunigt. Dergleichen geschieht beym Ueber-
gehn aus Krankheit in Gesundheit, während der Ausbildung
der Pubertät, in manchen Krankheitszuständen, u. f. w.
Die Phantasie entläuft alsdann dem Verstande, — mit
andern Worten, die Schnelligkeit der sich entwickelnden Vor-
stellungen vermehrt die Gewalt, womit sie diejenigen aus
dem Bewußtseyn verdrängen, die ihnen Widerstand leisten
könnten.
216. Das Vorstehende erlangt eine weit größere pra-
ktische Wichtigkeit, wenn man versucht, hinter der vielfachen
und veränderlichen Färbung des Jch (wovon in 202 die
Rede war) die bleibende Jndividualität des Men-
schen, die besonders dem praktischen Erzieher sich entgegen-
[173] stellt, die aber von jener sehr schwer zu unterscheiden ist,
richtig zu durchschauen. Hieher gehört Folgendes:
a) Die von einem System zum andern fortlaufende
Affection des Leibes (106) sollte bei vollkommener Ge-
sundheit, wenigstens des reifen männlichen Körpers, entwe-
der gar nicht, oder doch höchst beschränkt vorkommen; so
daß kein Einfluß geistiger Thätigkeit z. B. auf die Ver-
dauung und Blutbewegung, also auch nicht umgekehrt, statt
fände; wie denn in der That die Unerschrockenheit des Krie-
gers mitten in der Gefahr, nicht ohne Grund Kaltblü-
tigkeit genannt wird.
b) Dagegen liegt in jedem menschlichen Organismus
ein System möglicher Affecten prädisponirt; dergestalt, daß
eine sorgfältige Erziehung das Ausbrechen dieser Affecten
mehr aufschiebt, als beseitigt und in seinen nachtheiligen
Folgen vermeidet. Deshalb kann sie Niemanden die Erfah-
rungen, denen er entgegengeht, weil er sie sich selbst zuzieht,
ganz ersparen.
c) Zu erklären, wie vielfach verschieden der physiolo-
gische Druck (50) aus den Organen und Systemen des
Leibes entspringe, ist den Physiologen anheim zu stellen;
aber was dieser Druck in den geistigen Thätigkeiten ver-
ändern könne, das muß aus der Kenntniß des psychischen
Mechanismus und seiner mannigfaltig möglichen Hemmun-
gen beurtheilt werden. Das Leichteste hievon ist Folgendes:
α) Statt der unmittelbaren Reproduction (26) ent-
steht unter dem Einflüsse jenes Drucks zunächst Verdü-
sterung, indem die neuen Wahrnehmungen nicht sowohl
den älteren gleichartigen freyen Raum schaffen, als viel-
mehr die schon vorhandenen Vorstellungen, welche sich mit
dem Drucke ins Gleichgewicht gesetzt hatten, in der Gegen-
wirkung schwächen; so daß nun die Wirkung des Druckes
zunimmt, und die älteren Vorstellungen, welche das Neue
[174] aufnehmen und sich aneignen sollten, nur kümmerlich her-
vortreten. Daher sehr oft ein dumpfes Erstaunen, wo leb-
haftes Jnteresse erwartet wurde.
β) Der nämliche Druck verkümmert noch weit leich-
ter die Wölbung, folglich auch die Zuspitzung; daher die
Vorstellungen nicht scharf, wohl aber nackt hervortreten; wie
bey Menschen, die nichts errathen, nichts in seiner vollen
Beziehung auffassen, kein feines Gefühl haben; während sie
vielleicht mechanisch fleißig lernen.
γ) Bey Manchen ist der Druck nicht stets wirksam;
er kommt nur in Folge der von der geistigen Thätigkeit
ausgehenden Spannung als Reaction vor. Solche Köpfe
sind lebhaft und leichtfertig, aber ohne Tiefe und Zusam-
enhang. Denn ihre Gedanken werden jeden Augenblick
zerschnitten; sie können nur kurze Reihen bilden. Sie mö-
gen nicht allein seyn, weil es ihnen nicht gelingt einen Ge-
danken zu verfolgen.
δ) Wirkt ein beharrlicher Druck auf frey steigende
Vorstellungen (32): so bringt er deren Bewegung in Un-
ordnung, indem er mit den stärksten derselben, da sie am
höchsten steigen sollten, in einen Conflict tritt, wodurch die
schwächern Freyheit gewinnen, abwechselnd mit jenen ins
Bewußtseyn zu kommen. Unter solchen Umständen zeigen
sich selbst thätige und energische Köpse rhapsodisch in ihrem
Thun; sie glänzen vielleicht, aber ihre Bildung hat Risse
und Sprünge, wofern nicht sehr sorgfältig dagegen gear-
beitet wurde.
ε) Sehr verschieden findet man überhaupt den Rhyth-
mus der geistigen Bewegungen, daher Manche besser das
erreichen, was schnell, Andre, was langsam gethan seyn will.
Diese Andeutungen sehr verwickelter Untersuchungen
mögen hier genügen.
217. Von äußern Eindrücken der Umgebung hängen
[175] die verschiedenen Vorstellungs-Massen ab. Jede neue Um-
gebung, vollends jede neue Lebenslage bringt ihre eigene,
von den übrigen zwar nicht ganz, aber großentheils geson-
derte Masse. Bey weitem nicht immer entsteht unter die-
sen Massen das rechte, zur Selbstbeherrschung nöthige Ver-
hältniß. Hier hat der Unterricht, und die ganze absichtliche
Ausbildung, eine große Aufgabe. Allein zunächst werden
wir nicht die innere Wechselwirkung der Vorstellungsmas-
sen unter einander, sondern das äußere Verhältniß des Men-
schen zu seiner Umgebung in Betracht ziehn.
218. Die Außenwelt, in wiefern sie zur Aufregung
des geistigen Lebens beyträgt, betrachten wir hier als die
Sphäre des Handelns und als den Sitz der Hinder-
nisse desselben, nachdem oben schon der Reiz, den neue
Wahrnehmungen hervorbringen, ist erwogen worden. Jetzt
muß zuvörderst der Zusammenhang zwischen Vorstellen,
Handeln, Begehren, Wollen (die Worte stehn ab-
sichtlich in dieser Ordnung) genauer als zuvor entwickelt
werden.
Bewegungen der Gliedmaßen des Leibes und die Ge-
fühle davon sind zusammenhängende Zustände des Leibes
und der Seele Jst mit dem Gefühl noch irgend eine Vor-
stellung, etwa des bewegten Gliedes, oder auch nur eines
äußern Gegenstandes complicirt, so bewirkt jede Regung
dieser Vorstellung, falls nicht ein Hinderniß eintritt, un-
mittelbar eine Reproduction jenes Gefühls und der zugehö-
rigen Bewegung. Zu der letztern wird also nicht einmal
erfodert, daß die Vorstellung im Zustande des Begehrens
sey, sondern sie wird ohne weiteres begleitet vom Handeln.
(So bey Thieren und bey Kindern; erst der Erwachsene
weiß sich zurückzuhalten durch die Einwirkung anderer Vor-
stellungsmassen.) Die fernere Untersuchung muß nun auf
die Lehre von den Vorstellungs -Reihen zurückgehn.
[176]
219. Die eben erwähnte, von einem Handeln unmit-
telbar begleitete Vorstellung sey d, in einer Reihe a, b,
c, d, ...; findet nun die Handlung in der Außenwelt kein
Hinderniß, so geschieht sie unbemerkt, und die Reihe läuft
im Bewußtseyn weiter fort zu e, f, u. s. w., als ob kein
Handeln geschehen wäre. So bey den Bewegungen des
Augapfels, großentheils auch der Sprach-Organe, wäh-
rend die Bewegungen der Arme und Beine, wegen der
Schwere und Trägheit dieser Gliedmaßen, schon einiger-
maaßen zum folgenden Falle gehören.
Es finde die Handlung ein Hinderniß m der Außen-
welt, so hemmt dasselbe das zu der Handlung gehörige Ge-
fühl, und vermittelst dessen die Vorstellung d. Da nun
d mit einem Reste von c, einem kleinern Reste von b,
einem noch kleinern von a verschmolzen ist, da ferner nach
der Größe dieser Reste auch die, einem jeden derselben
eigenthümliche, Geschwindigkeit ihres Wirkens verschieden ist,
so gewinnen jetzt, während das Ablaufen der Reihe stockt,
auch die kleineren Reste Zeit, um als Hülfen für d mit-
wirken, und sich unter einander verstärken zu können. Wäre
kein Hinderniß gewesen, so würde c am schnellsten auf d
gewirkt haben und die kleineren Reste hätten keinen Einfluß
gehabt, weil das, was sie wirken können, ohne sie schon
wäre gethan gewesen. Weicht das Hinderniß auf die Mit-
wirkung von b, so gelangt a nicht zum Helfen; weicht es
noch nicht, so wird allmählig jedes Glied, wie viele deren
zu der Reihe gehören mögen, zu der allgemeinen Tätig-
keit seinen Beytrag geben. Wie lange dies dauert, so lange
befinden sich alle Glieder der Reihe bis auf d im Zustande
der Begierde; in dem Augenblicke aber, wo die ganze Kraft
aller vereinigten Hülfen angespannt ist, geht die Begierde,
wofern das Hinderniß noch immer nicht überwunden ist, in
ein unangenehmes Gefühl über.
[177]
Dies alles ist sehr leicht in der Erfahrung wieder zu
erkennen. Eine uns geläufige Handlung des gemeinen Le-
bens, z. B. die Eröffnung einer Thüre, geschieht, wenn
kein besonderes Hinderniß sich einmischt, fast unbemerkt und
ohne unsern Gedankenlauf zu stören. Widersetzt sich aber
irgend eine Reibung, so strengen wir allmählig mehr Kraft
an, wir begehren immer stärker, daß die Thür sich öffne,
bis dies wirklich geschieht; ist aber die Bemühung vergeb-
lich, so läßt die Begierde einem Unbehagen Raum, das we-
nigstens so lange dauert, bis eine neue Gedankenreihe dazu
kommt, die außer dem Kreise dieser Untersuchung liegt.
220. Die Stelle eines Hindernisses vertritt oftmals
ein bloßer Mangel in einer gewohnten Umgebung. Einer
Reihe von Vorstellungen a, b, c, d, e, entspreche die
Reihe der Anschauungen a, b, c, e, worin d fehlt, so
wird dasselbe vermißt, weil die übrigen Vorstellungen
nicht damit zu Stande kommen können, den Grad von un-
gehemmter Klarheit, in welchem d mit ihnen verschmolzen
war, wieder herzustellen; wozu gehören würde, daß sie nicht
bloß in der Seele, sondern auch im Sinnesorgan die zu-
sammengehörigen Zustande, des wirklichen Anschauens her-
vorbrächten. Das Vermissen wird zum Sehnen, wenn
die Reihe a, b, c... stark genug und der Geist in sie ver-
tieft ist.
221. Man setze hier an die Stelle einer Reihe nun
ein Gewebe vieler Reihen, die. sich sogar durch den ganzen
Gedankenkreis des Menschen erstrecken können, so wird eine
allgemein durchdringende Sehnsucht nach dem vermißten
Gegenstande das ganze Gemüth erfüllen. Dies ist der
Grundzug der Liebe, der ihr Gegenstand unentbehrlich ist,
und die jede mögliche Ahndung von räumlich oder geisti-
ger Trennung verabscheut. Es ist bekannt daß sie durch
ihre mancherley Veranlassungen näher bestimmt wird, auch
[178] daß sie viele Beymischungen, zum Theil von sinnlichen Ge-
fühlen in sich aufnimmt; ihre einfachste Gestalt aber zeigt
sie da, wo sie aus bloßer Gewöhnung entsteht. (Zu ver-
gleichen ist des Verfassers allgemeine praktische Philosophie,
S. 360.)
222. Was und wie der Mensch liebt, — von den
zerstreuenden Liebhabereyen bis zu der Liebe als verzehren-
der Leidenschaft, — das ergiebt das erste Wesentliche seines
Charakters. Doch hiebey kommen mancherley formale
Bestimmungen in Betracht, die an den Begriff des Wil-
lens müssen geknüpft werden. (Die ersten vier Capitel des
dritten Buchs der allgemeinen Pädagogik stehn damit in
Verbindung.)
223. Wille ist Begierde, mit der, Voraus-
setzung der Erlangung des Begehrten. Diese Vor-
aussetzung verknüpft sich mit der Begierde, sobald in ähn-
lichen Fällen die Anstrengung des Handelns (219) von
Erfolg gewesen ist. Denn alsdann associirt sich gleich mit
dem Anfange eines neuen, gleichartigen Handelns, die Vor-
stellung eines Zeitverlaufs, den die Befriedigung der Be-
gierde beschließen werde. Hiebey entsteht ein Blick in die
Zukunft, der sich immer mehr erweitert, je mehr Mittel
zum Zwecke der Mensch voranschicken lernt. Eine Reihe
α, β, γ, δ, habe sich in früherer Auffassung des Verlaufs
einer Begebenheit gebildet. Jetzo sey die Vorstellung δ im
Zustande der Begierde. Obgleich sie als solche wider eine
Hemmung aufstrebt, so können doch die Hülfen, welche sie
den Vorstellungen γ, β, α zusendet, ungehindert wirken,
falls die eben bezeichneten keine Hemmung im Bewußtseyn
antreffen. Es werden also γ, β, α, in gehöriger Abstu-
fung reproducirt (wie b und a in 143 gegen das Ende),
und wofern eine dieser Vorstellungen mit einem Handeln
complicirt ist (218), so geschieht eine solche Handlung;
[179] wodurch unter günstigen äußern Umständen der ehemalige
Verlauf der Begebenheit sich wirklich erneuern kann, derge-
stalt, daß α, β, γ sich wie Mittel zum Zwecke δ ver-
halten.
224. Der Wille hat seine Phantasie und sein
Gedächtniß, und er ist um desto entschiedener,
je mehr er dessen besitzt. Denn eine Reproduction,
wie die eben erwähnte, kann durch sehr lange, sehr ver-
flochtene Reihen, nach vielen Selten hin fortlaufen und in
irgend einem entfernten Gliede eine Handlung hervorrufen.
Auch die Anstrengung in dieser Handlung erklärt sich leicht,
wenn man annimmt, daß jenes δ (in 223) eine und die-
selbe Vorstellung sey mit d (in 219), so daß in der Zu-
sammenwirkung von a, b, c, d, die Starke des Wollens
liege, durch welche γ, β, u. s. w. bis zu der Handlung,
welche Mittel zum Zwecke ist, aufgeregt werden. Die ent-
schiedene Voraussetzung aber, man werde den Zweck errei-
chen, ist um so gewisser und vester, je mehr der Mittel zu
Gebote stehn, das heißt, je weiter umher die eben bezeich-
neten Reproductionen sich erstrecken.
225. Der Wille stärkt sich auch durch Bekanntschaft
mit Gefahren und durch Entsagungen.
Zwar die Gefahr ist dadurch, daß man sie kennt, an
sich nicht weniger furchtbar, aber die Vorstellung derselben
bewirkt keine so starke Hemmung, wenn sie mit den an-
dern Vorstellungen verschmolzen ist. Auch wird alsdann
nicht sowohl der Zweck, als vielmehr der Versuch gewollt,
jenen zu erreichen. Die Entsagungen aber lösen vollends
das Gemüth ab von Besorgnissen und Rücksichten, welche
den Willen schwankend machen könnten.
226. Giebt es in mehreren Puncten des Gedanken-
kreises solche Stellen, in welchen Vorstellungen als Begier-
den aufstreben, so können sie sich bey den Reproductionen,
[180] durch welche die Ueberlegung der Mittel und Hindemisse
geschieht, leicht begegnen und einander widerstreiten. Das
Schwanken in diesem Widerstreite ist die praktische
Ueberlegung, welche geendigt wird in der Wahl.
Diese letztre ist ursprünglich nicht ein Werk der prak-
tischen Grundsätze, sie macht vielmehr dergleichen erst
möglich, indem aus oft wiederhohltem Wählen in ähnlichen
Fällen allmählig ein allgemeines Wollen entsteht, und
gerade so durch hinzukommende Urtheile ausgebildet wird,
wie die allgemeinen Begriffe (179—192).
Hier aber ist schon der Uebergang in die Betrachtun-
gen des folgenden Capitels.
Anmerkung. Zu unterscheiden von dem allgemeinen
Wollen, aber gleichfalls vorbereitend auf das folgende Ca-
pitel, ist der Umstand, daß, je mehrere Vorstellungsmassen
sich in dem Menschen schon gebildet haben, desto mehrere
einstimmig zusammen zu wirken pflegen, wenn eine Begierde
als Wille in Handlung übergeht. Oft ist dagegen in einer
Vorstellungsmasse alles fertig zum Wollen, aber die andern
hindern es. So geht Unzufriedenheit der Empörung lange
voran.
227. Umstände des äußern Lebens hindern oft den
Menschen, seines ganzen Wollens inne zu werden, seinen
Charakter zu entwickeln. Ein andermal ist ihre Gunst zu
groß für die Kleinheit seines Gedankenkreises.
Der. erste Fall ist bei weitem der häufigste. Daher
besonders unter drückender Staats-Regierung, eine gefähr-
liche Verschlossenheit ungekannter Kräfte.. Daher die poli-
tische Nothwendigkeit, der menschlichen Thätigkeit eine ge-
ordnete Freyheit zu gewähren.
[181]
Fünftes Capitel.
Von der Selbstbeherrschung, insbesondere von
der Pflicht, als einem psychischen Phänomene.
228. Man unterscheide die wirkliche Selbstbeherr-
schung von derjenigen, welche der Mensch sich selbst
anmuthet, und diese wiederum von der, welche er sich
anmuthen soll.
229. Fast unbemerkt, und ohne noch mit den Schwie-
rigkeiten der Sache bekannt zu seyn, beschließt über sich
selbst das Kind, indem es eine Handlung, die für ein Mit-
tel zum Zwecke gilt, sich vorbehält und vorsetzt auf eine
künftige Zeit. Hintennach, wann die Zukunft zur Gegen-
wart geworden ist, findet sich, daß auch jetzt noch gewollt
wird, daß der frühere Augenblick nicht über den jetzigen
entscheiden konnte, und daß es sich fragt, ob denn auch
der jetzige Wille einerley sey mit dem vorigen, — an wel-
chen vielleicht kaum noch gedacht wird. Erst allmählig er-
fährt der Mensch, wie leicht er sich selbst ungetreu seyn
könne.
230. Erfahrungen dieser Art sind im Großen auf-
fallender und schädlicher als im Kleinen. Lange bevor der
Mensch das psychologische Bedürfniß anerkennt, sich selbst
eine Regel zu setzen und sich daran zu binden, giebt es
Gesetze in der bürgerlichen Gesellschaft; und diese sind das
Vorbild alles dessen, was weiterhin die Moral von Sitten-
gesetzen zu sagen pflegt*)
.
[182]
Je roher der Mensch, desto rücksichtloser sind die Ge-
setze. Hingegen je weniger Gefahr, man werde die Aus-
nahme zur Regel machen, desto mehr neigt sich die Gesetz-
gebung selbst dahin, die Fälle seiner zu unterscheiden; und
je mehr Zutrauen zu der Jntegrität und Einsicht der Rich-
ter, desto mehr wird ihrem Ermessen überlassen. Doch
bleibt es Kennzeichen eines guten Gesetzes, vor dem Er-
eigniß, auf das es angewendet wird, vestge-
stellt zu seyn; denn darin, daß der Gesetzgeber den ein-
zelnen, noch ungeschehenen Fall nicht wissen konnte, liegt
allein die Bürgschaft der gefoderteu völligen Unparthey-
lichen.
231. Aus dem Selbstbewußtseyn folgt das Gewis-
sen; denn indem der Mensch sich selber ein Schauspiel
ist, fällt er auch Urtheile über sich selbst. — Die innere
Wahrnehmung aber kann auf die zweyte Potenz steigen;
dann beurtheilt der Mensch seine Art, sich selbst zu beur-
theilen.
Hier nun entsteht die Frage: ob auch der innere Rich-
ter partheyisch sey? Und es bedarf nur einer kurzen Reihe
innerer Wahrnehmungen, um die Gefahr eines unlautern
Selbsturtheils kennen zu lernen.
Als nothwendiges Sicherheits-Mittel gegen solche Par-
theylichkeit wird demnach auch für das eigne Jnnere des
Menschen, so wie für die bürgerliche Gesellschaft, ein be-
stehendes Gesetz gefodert, das den zu beurtheilenden Fällen
vorangehe. Die Strenge der Vorschrift wird auch hier all-
mählig milder, und mehr der Verschiedenartigkeit der Fälle
angepaßt, bis eine übertriebene Milde wiederum zur Schär-
fung der Regel zurückführt.
232. Hiebey ist über den Jnhalt der Selbst-Gesetz-
gebung noch nichts vestgesetzt. Dem Bedürfnisse derselben
kommt das allgemeine Wollen (226) entgegen; dieses aber
[183] ist höchst verschieden bey den Jndividuen, daher auch An-
fangs die praktischen Grundsätze individuel sind. Vestsetzun-
gen dessen, was man lieber wolle, oder was man minder
erträglich finde, verbunden mit empirischen Klugheits-Regeln,
dies ergiebt den größten Theil der ersten Moral, wel-
che durch einen Begriff von wahrer und dauernder Glückse-
ligkeit die Launen zu regieren, die Leidenschaften zu däm-
pfen sucht.
233. Jn der praktischen Philosophie wird gezeigt, daß
die Pflicht auf den praktischen Jdeen beruht. Diese
besitzen eine ewige Jugend; dadurch scheiden sie sich allmäh-
lig von den ermattenden Wünschen und Genießungen als
das einzig Unveränderliche, was dem Bedürfnisse eines Ge-
setzes für den innern Menschen (231) entsprechen kann;
sie tragen überdies den Stempel eines unvermeidlichen
Verhängnisses an sich, weil der Mensch derjenigen Be-
urtheilung, wovon sie die allgemeine Form bezeichnen,
schlechterdings nicht entgehen kann. Darum findet sich in
ihnen der notwendige Jnhalt, welcher die Form der allge-
meinen Selbst-Gesetzgebung ausfüllen muß.
Anmerkung. Hiemit ist nun erklärt, was für eine
Art von Selbstbeherrschung der Mensch sich anmuthen
soll (228), und zwar noch ohne Frage, wieviel er davon
ausführen könne; welches letztere im Allgemeinen unbe-
stimmt, und überdies dem Jndividuum stets unbekannt
ist, indem Niemand sich selbst psychologisch genau zu durch-
schauen vermag. Daß nun eine so einfache Vorstellung
von der Pflicht für den gemeinen Gebrauch der Moralisten
nicht nachdrucksvoll genug erscheint, daß sie bald reizende,
bald imponirende Zusätze versuchen, um eindringlicher predi-
gen zu können, ist gar kein Wunder, und in manchen Fäl-
len, wenn es nicht übertrieben wird, sehr zu billigen.
Verwundern aber muß man sich, wenn einige Philosophen
[184] ihre metaphysischen Meinungen mit zu Hülfe nehmen, um
die Nothwendigkeit der Pflicht noch nothwendiger zu machen.
Deun Meinung allein kann hier in Betracht kommen, da
man vom metaphysischen Wissen die Gebundenheit aller
Menschen an die Pflicht wohl nicht wird abhangig machen
wollen. Auf diesem Wege dürfte am Ende wohl noch die
Ewigkeit der Höllenstrafen in die philosophische Moral zu-
rückkehren; eine gewiß wirksame, und mit gehöriger Er-
klärung und Einschränkung sogar aus psychologischen Grün-
den wahrscheinliche Meinung, wie man am Ende dieses Bu-
ches sehen wird. — Eine Sittenlehre aber (die fteylich nicht
schlaff seyn darf) muß ihre Schärfe in sich selbst haben.
Und diese Schärfe beruht nicht auf gewissen schneidenden
Ausdrücken vom unbedingten Sollen, u. dgl., sondern allein
auf der Klarheit und Deutlichkeit der Begriffe von dem
Verwerflichen, gegenüber dem Löblichen. Unwiderstehlich ist
derjenige Tadel, der keine Ausrede gestattet; wenn aber
Jemand entschlossen ist, solchen Tadel zu ertragen, so wirkt
auf ihn keine Sittenlehre mehr, er ist ein Kranker, den
Leiden zur Heilung, das heißt, zur Buße bringen müssen.
Der Tadel thut das Seinige, wenn er die Leidenschaften
beschämt. Deutliche Auseinandersetzung der praktischen Jdeen,
die den letzten eigentlichen Gehalt und Sinn aller morali-
schen Vorschriften ausmachen, ist die beste Schärsung des
Gewissens.
234. Die wirkliche Selbstbeherrschung und die
Möglichkeit, daß der Mensch das ausführe, was er sich
anmuthet und anmuthen soll, — beruhet im Allgemeinen auf
dem Zusammenwirken mehrerer Vorstellungsmassen. Hiebey
äußert besonders das allgemeine Wollen, wenn ein
solches sich schon gebildet hat (226), und alsdann hat es
allemal seinen Sitz in irgend einer Voistellungsmasse, —
eine große Gewalt, die man in jeder zweckmäßigen Thätig-
[185] keit
erkennen kann. Man rufe sich in dieser Hinsicht den
Begriff der Arbeit zurück (123). Jede Art von Arbeit
erfodert, daß das Wollen des Zwecks veststehe, während
diejenigen Willensacte, welche einen Theil der Arbeit nach
dem andern in gehöriger Ordnung vollziehen, in und mit
einer Reihe von Vorstellungen im Bewußtseyn ablaufen (zu-
weilen mit Verzögerungen und Anstrengungen, wie in 219).
Nun aber setzt sich die planmäßige Thätigkeit eines gebil-
deten Mannes aus vielen und verschiedenen Arbeiten zusam-
men, die selbst eine Reihe von höherer Art ausmachen.
Je verwickelter nun eine solche Thätigkeit ist, desto offen-
barer erhellet die Macht derjenigen herrschenden Vor-
stellungsmasse, in welcher das Wollen der Haupt-Ab-
sicht seinen Sitz hat, über die sämmtlichen, in verschiedenen
Abstufungen ihr untergeordneten. Auch fehlt es nicht an
Thatsachen, welche viel starker, als nöthig ist, beweisen,
wie tyrannisch das herrschende Wollen oftmals alle kleineren
Wünsche aufopfert, so daß ein einziges Vorurtheil oder eine
einzige Leidenschaft das ganze Gemüth gleichsam zu veröden
und zu verwüsten vermag.
Denn man muß sich wohl hüten, die Selbstbeherr-
schung, bloß als solche, schon für etwas Sittlich-Gutes zu
halten. Soll ihr dieser Ruhm zukommen, so muß die Qua-
lität, und nicht bloß die Stärke der herrschenden Vorstel-
lungsmasse sie dazu eignen.
Anmerkung. Wem es Ernst ist, sich selbst so viel
möglich in seine Gewalt zu bekommen, der hüte sich vor
allem vor der Verblendung durch falsche Theorien, welche ihm
seine eigene Freyheit größer darstellen, als sie ist. Diese ver-
mögen nicht, frey zu machen; sie stürzen vielmehr in alle
Gefahren falscher Sicherheit. Dagegen gestehe sich Jeder
seine schwachen Seiten; diese suche er zu bevestigen. Das
geschieht nun nicht bloß durch unmittelbare Wachsamkeit; [186] sondern hiebey kommt im wirklichen Leben die ganze Wech-
selwirkung des Menschen und seiner Umgebung in Betracht.
Wie das Wollen ursprünglich aus dem Gedankenkreise her-
vorging, so leitet es hinwiederum die fernere Bildung des-
selben durch die Wahl der Beschäfftigungen und Hülfsmittel.
Bibel und Gesangbuch sind unendlich wichtige Stützen
der Selbstbeherrschung. Manchem auch kommt Horaz oder
Cicero zu Hülfe. Gegen Abspannungen des Geistes wirkt
Diät, Bewegung, das Bad und der Gesundbrunnen. Den
gebildeten Klassen könnten die Künste, insbesondre das Thea-
ter viel leisten; ginge nur nicht die Kunst nach Brod! Zwar
wenn man sieht, daß große Dichter, bey aller Liebhaberey
für das Theater, doch nicht ihre poetische. Laune in die Be-
dingungen theatralischer Darstellung fügen mochten, so kann
man nur den Mangel an deutscher Selbstständigkeit bedau-
ern, die, von französischer Peinlichkeit zurückgestoßen, sich
nicht bloß der Bewunderung, sondern auch der Nachahmung
Shakespeares hingab. Aber der eigentliche Fehler des Thea-
ters liegt im Speculiren auf die Börsen der Reichen, und
auf die Schaulust der Masse. Jn die Schlingen der Geld-
Aristokratie sich zu verstricken, — das ist allgemein die Ge-
fahr, welche das Zeitalter läuft bey seinen Bestrebungen nach
Freyheit. Man blicke auf England und Amerika.
235. Allemal ist die Selbstbeherrschung ein. streng ge-
setzmäßiges psychologisches Ereigniß, und die Gewalt, die
sie ausübt, hat eine endliche Größe, jedoch so, daß
man niemals behaupten kann, diejenige Stärke der Selbst-
beherrschung, die ein bestimmtes Jndividuum in einem be-
stimmten Augenblicke besitzt, sey die größte, zu der irgend
Jemand, oder zu der auch jenes Jndividuum selbst hätte
gelangen können. Darum setzt mit Recht die Sittenlehre
im Allgemeinen voraus: jede Leidenschaft könne be-
zwungen werden, und wenn irgend Jemand seine Lei-
[187] denschaften nicht beherrschen kann, so ttifft ihn eben dieser
Schwäche wegen, nach der Jdee der Vollkommenheit (man
sehe allgem. prakt. Philosophie im zweyten Capitel des ersten
Buchs) ein gerechter Tadel ohne Ausrede.
Anmerkung l. Diejenigen, welche eine trans-
scendentale Freyheit des Willens annehmen, müssen, wenn
sie nicht gegen die Consequenz gröblich fehlen wollen, der-
selben eine unendliche Größe der Kraft gegen die Lei-
denschaften beylegen. Denn das Wort transscendental
bezeichnet in diesem Zusammenhange einen Gegensatz gegen
alle Caufalität der Natur; daher denn die Naturgewalt der
Leidenschaften gegen eine solche Freyheit gar Nichts ver-
mögen würde. Es verhält sich aber Nichts zu Etwas, wie
Etwas zum Unendlich-Großen, so daß, wenn die Gewalt
der Leidenschaften für Etwas soll gerechnet werden, die
transscendentale Freyheit für unendlich stark muß genommen
werden. Daß sie nun hiebey, vermöge ihres eigenen Wir-
kens, wieder in dasselbe Causal-Verhältniß hinein geräth,
von welchem sie frey seyn sollte, ist hier nicht nöthig weiter
auszuführen.
Anmerkung 2. Eine kurze Erwähnung der Fra-
gen über den Gemüthszustand der Verbrecher, welche zuwei-
len von Richtern an Aerzte ergehen, kann das Vorherge-
hende und das Folgende deutlicher machen. Die Frage be-
absichtigt nicht Belehrung über das Wesen freyer Handlun-
gen; sondern der Richter setzt voraus, daß, wenn der Ver-
brecher, im Alter der Pubertät, gesund war, er die schäd-
lichen Folgen seiner Handlung kannte; daß er eine solche
Handlung, falls sie gegen ihn selbst begangen würde, nicht
wollen würde; daß er den allgemeinen Begriff dieses Nicht-
Wollens in sich ausgebildet habe; und daß er wisse, die
bürgerliche Gesellschaft leide dergleichen nicht. Hiedurch
mußte er von der Handlung abgehalten werden, wenn er
[188] ein ehrlicher Mann war; ist er es nicht, so wird er um
desto gewisser gestraft, je vester sein böser Charakter ist,
und je gewisser aus dieser Bosheit auch böse Handlun-
gen bey jeder Gelegenheit hervorgehn. Die Frage ist also
bloß: war der Mensch krank? und zwar dergestalt, daß
man glauben könne, er habe wie ein Träumender gehan-
delt? Konnte z. B. der jugendliche Brandstifter durch eine
krankhafte Feuerlust dergestalt hingerissen werden, daß die
Reproduction bey ihm nicht bis zu der Vorstellung der Ge-
fahr für die Bewohner durchdrang? Oder daß die allgemeine
Maxime, Niemanden in Gefahr zu bringen (die höhere Vor-
stellungsmasse) in ihrem Wirken gehemmt wurde? Und end-
lich, daß die Besinnung an die bürgerliche Ordnung, an
Recht und Gesetz, verloren ging? Jm letztern Falle war
der Verbrecher ähnlich dem unbesonnenen Kinde, und die
Straffälligkeit wird geringer.
236. Die Bedingungen der Selbstbeherrschung, folg-
lich auch die Bestimmung ihrer endlichen Größe, — liegen
in dem Verhältnisse der herrschenden zu den untergeord-
neten Vorstellungsmassen. Dies ist zwar im Allgemeinen
klar, doch mögen noch folgende etwas mehr specielle Be-
merkungen, theils über die Herrschaft der Begierden und
Leidenschaften, theils über die moralische Selbstbeherrschung
hinzukommen.
Wie eine Begierde allmählig um sich greife, läßt sich
leicht aus 223 und 224 erkennen. Der Fluß der Vor-
stellungen stockt, und schwillt an bey dem Puncte, der be-
gehrt und nicht sogleich erreicht wird. Die von ihm erweck-
ten Reproductionen sammeln sich, Anfangs ungeordnet, als
Phantasien; allein das Phantasiren geht allmählig ins Den-
ken über (211), und es bilden sich mehr und mehr Be-
griffe und Urtheile in Beziehung auf die Begierde und im
Dienste derselben. Dies drückt man unrichtig aus, wenn
[189] man sagt: die Leidenschaft setze den Verstand in
Bewegung. Nicht ein ganzes Seelenvermögen wird hier
in einseitige Thätigkeit gesetzt, sondern ein gewisses Denken,
das man verständig nennen kann, in wiefern Verstand
bloß ein Gattungsbegriff für gewisse Arten der Regsamkeit
der Vorstellungen ist, — erzeugt sich in der Gedankenmasse,
welche sich um die Begierde herum angehäuft hat. Rohe
Menschen, und vollends Wilde, haben beynahe keinen an-
dern Verstand, als den ihrer Leidenschaften. Aber bey Ge-
bildeten giebt es andere, auch bis zum verständigen Denken
ausgearbeitete Vorstellungsmassen, und hier kommt nun zu
jenem partiellen Verstande der Leidenschaften noch ein an-
deres Phänomen, das man eben so unrichtig so ausdrückt:
die Leidenschaft unterdrücke den Verstand. Näm-
lich, entweder treten die andern verständigen Vorstellungs-
massen zu spät hervor, nachdem die Leidenschaft befriedigt
und der durch sie gehemmte Fluß der Vorstellungen wieder
hergestellt wurde, alsdann sagt man mit Recht: der Mensch
hat sich übereilt; auch klagt er wohl selbst, er könne
seine Uebereilung nicht begreifen; denn sein voriges Thun
schwebt ihm jetzt wie ein todtes Bild vor und nur diejeni-
gen Vorstellungsmassen sind lebendig welche auf jene an-
dern tadelnd herabschauen. — Oder aber, zugleich mit
dem Verstande der Leidenschaft ist auch der bessere Verstand
im Bewußtseyn erwacht, allein er ist nicht stark oder nicht
aufgeregt genug; daraus entsteht dann die noch weit un-
glücklichere Folge, daß diejenige, Verbindung von Vorstellun-
gen, worin er seinen Sitz hat, verunreinigt unh verdorben
wird durch die.Begriffe, der Leidenschaft, weiche letztere je
öfter dies geschieht, um so mehr Herrschaft erlangt und sich
des Namens der Leidenschaft um so würdiger beweist.
Wir haben hier von mehr als einem Verstande ge-
sprochen, und so muß es geschehn, falls man sich den Ver-
[190] stand als eine Kraft; oder als ein Vermögen denken
will. Denn die Wirksamkeit, dle geistige Energie, liegt nir-
gends anders als in gewissen Vorstellungsmassen; und die-
ser giebt es gar viele und höchst verschiedene, die alle als
Verstand wirken tonnen. Dasselbe gilt von der Einbil-
dungskraft, vom Gebächtniß, von der Vernunft, — mit
einem Worte, von allen sogenannten Seelenvermögen. Aber
wenn man sich auch eine solche Neuerung im Sprachge-
brauche wollte gefallen lassen, so würde sie zur gewöhnlichen
Anwendung nicht einmal zu empfehlen seyn. Denn wer von
mehreren Verständen, von mehreren Einbildungskräften, u.
dergl. redete, der würde scheinen anzudeuten, daß die meh-
reren als entschieden getrennt zu betrachten seyen. Es sind
aber die verschiedenen Vörstellungsmassen, auf welche dies
alles hinweiset, gar nicht so scharf zu sondern, vielmehr ent-
stehn bey jedem Zusammenwirken derselben immer neue,
wenn gleich oft nur schwache, Verschmelzungen der gleichar-
tigen Vorstellungen, aus welchen, als ihren Bestandtheilen,
sie zusammengesetzt sind. — Die eben gebrauchte Art zu
Leben ist also nur Ausnahme, und es bleibt dabey, daß der
Mensch nur einen Verstand, eine Einbildungskraft, u. s.
w. besitzt; dieses aber sind man nicht Kräfte, nicht Vermö-
gen, überhaupt nichts Reales, sondern bloß logische Gat-
tungsnamen zur vorläufigen Classification der psychischem
Phänomene.
237. Es folgt die Betrachtung der sittlichen Selbst-
beherrschung. Als Vorbereitung dazu mussen wir das mo-
ralische Gefühl begreiflich machen. Dies ist in der kan-
tischen Philosophie für untauglich zur Begründung der Sit-
tenlehre erklärt woren, und zwar mit Recht; denn man
darf es keinesweges verwechseln mit den moralischen (oder,
mit dem allgemeinen Namen, ästhetischen) Urtheilen, auf
welchen, wie in der praktischen Philosophie gezeigt wird,
[191] die praktischen Jdeen beruhen. Eine solche Verwechselung
würde den Grund mit der Folge vermischen. Das mo-
ralische Gefühl entsteht aus den sittlichen Ur-
theilen, es ist die nächste Wirkung derselben auf
die sämmtlichen im Bewußtseyn vorhandenen
Vorstellungen. Die genannten Urtheile haben ihren Sitz
nur in wenigen, und zwar in solchen Vorstellungen, die mit
einander ein ästhetisches Verhältniß bilden. Sie entstehn
allemal und unausbleiblich bey jedem Zusammentreffen der
letzteren, wofern und in wie weit eine Verschmelzung
derselben durch den übrigen Lauf der Vorstellungen nicht
unmöglich gemacht wird. Jndem sie entstehn thun sie die
nämliche Wirkung, als wo plötzlich etwas Angenehmes oder
Unangenehmes ins Bewußtseyn träte (nämlich je nachdem
sie Beyfall oder Tadel enthalten). Dadurch begünstigen
sie entweder den vorhandenen Gedankenlauf oder sie halten
ihn auf, wobey wohl manchmal auch Wirkungen nuf den
Organismus (z. B. Schaamröthe) und Rückwirkungen des-
selben eintreten.
Bevor wir weiter gehtt, kann schon hier bemerkt wer-
den, daß in dem eben erwähnten Einfluß der sittlichen Ur-
theile auf das übrige Vorstellen, also in dem moralischen
Gefühle, die specifische Verschiedenheit jener Urtheile sich we-
nig oder gar nicht offenbaren werde. Ob eine Unbilligkeit
oder eine Unrechtlichkeit, oder ein Uebelwollen, oder eine
Feigheit, oder was sonst für eine sittliche Verkehrtheit ge-
fühlt werde, diejenige Störung, welche dadurch der eben
ablaufende Gebankenfaden scheiden mag, wird in allen die-
sen Fällen so ziemlich die gleiche seyn. Jn dieser Hinsicht
wird weit mehr darauf ankommen, wie sich übrigens die
eben im Bewußtseyn vorhandenen Vorstellungen zu einan-
der verhalten, wie schnell ihre Reihen ablaufen u. s. w.
Nun aber ist es die wesentlichste Aufgabe der praktischen
[192] Philosophie, den specifischen Unterschied der verschiedenen
sittlichen Grund-Urtheile völlig klar zu machen. Folglich
kann das moralische Gefühl, welches diesen Unterschied nicht
angiebt, auch nicht jener Wissenschaft ihre Principien dar-
bieten.
Angenommen nun, eine Begierde entwerfe so eben ihre
Pläne (nach 236.), und indem ein Mittel zu ihrer Befrie-
digung ersonnen ist, werde die moralische Verkehrtheit die-
ses Mittels gefühlt; so wirkt das Gefühl wie ein Hinderniß,
und es stockt der Lauf der Vorstellungen gerade wie wenn
eine Handlung in der äußern Welt nicht gelingt. (219).
Während dieses Stillstandes nun geschieht zweyerley zu-
gleich. Erstlich schwellen die Vorstellungen, welche von der
Begierde ausgehn, starker an aber zweytens gewinnt auch
das sittliche Urtheil Zeit, hervorzutreten. Es fragt sich jetzt,
ob dieses Urtheil mit einer starken Gedankenmasse zusam-
menhängt, die, indem sie sich mehr und mehr im Bewußt-
seyn ausbreitet, allmählig jene anschwellende Begierde nie-
derdrückt, ohne ihrerseits von dem unangenehmen Gefühl,
in das sich die gepreßte Begierde verwandelt, in ihrer Ent-
wickelung zu leiden? Kann diese Frage bejahet werden, so
ist Selbstbeherrschung vorhanden.
238. Eine durchgreifende in allem Thun und Lassen
gleichförmige für die untergeordneten Jnteressen und Wün-
sche möglichst schonend, ächt-sittliche Selbstbeherrschung ist
ein Jdeal, welches man mit dem Namen eines psychi-
schen Organismus belegen kann. Denn es gehört dazu
eine solche Verknüpfung und Subordination der Vorstellun-
gen, welche nicht nur in den kleinsten wie in den größten
Verbindungen durchaus zweckmäßig, sondern auch fähig sey,
alle neu hinzukommenden, äußeren Eindrücke sich zweckmäßig
anzueignen. Dies ist das Ziel der Erziehung und der Selbst-
bildung. Wie nahe der Mensch diesem Ziele kommen könne, [193] läßt sich im Allgemeinen nicht bestimmen, und eben deshalb
ist das Streben dahin unbegränzt.
239. Wie nun die Kraft der Selbstbeherrschung nie-
mals das Werk eines Augenblicks, vielmehr ein Resultat
des ganzen verflossenen Lebens ist, so kann auch nicht jede
Zeit des Lebens in Ansehung derselben gleich entscheidend
seyn. Ein bedeutender Vorrath von Gedanken und Gefüh-
len, der keine verhältnißmäßig großen Zusätze mehr zu er-
warten hat (man erinnere sich der abnehmenden Empfäng-
lichkeit), muß erst vorhanden seyn, ehe eine so durchgrei-
fende Sammlung des Gemüths Statt haben kann, daß der
Mensch mit Erfolg über sich selbst im Allgemeinen zu be-
schließen vermöchte. Dann aber, wenn diese Bedingung
erfüllt ist (in der Regel am Ende der Erziehungsjahre),
ist es Zeit zu der tiefsten Besinnung, zu der umfassendsten
praktischen Ueberlegung. Denn von der Jnnigkeit der Ver-
bindung, welche die Vorstellungen nun eingehen, von der
genauen Kunde über seine innersten Wünsche, welche der
Mensch nun erlangt, von der rechten Stellung in der Außen-
welt, die er jetzo sich selbst bereitet, hängt sowohl die
Stärke als die Richtigkeit der Führung ab, die er fortan
sich geben wird, und eben davon hängt auch die rechte
Aufnahme alles Neuen ab, welches der Lauf des Lebens
noch ferner herbeyführen wird.
Sechstes Capitel.
Psychologische Betrachtungen über die Bestim-
mung des Menschen.
240. Die Psychologie bleibt immer einseitig, so lange
sie den Menschen als allein stehend betrachtet. Denn theils
[194] lebt er in Gesellschaft, und nicht bloß für diese Erde; theils
veranlaßt beydes mancherley Versuche, Jdeale zu zeichnen,
deren Anziehendes sie zu einer wirklichen geistigen Macht
erhebt.
Jn dem Ganzen jeder Gesellschaft verhalten sich die
einzelnen Personen fast so, wie die Vorstellungen in der
Seele des Einzelnen, wenn die geselligen Verknüpfungen
eng genug sind, um den gegenseitigen Einfluß vollständig
zu vermitteln. Die streitenden Jnteressen treten an die
Stelle des Gegensatzes unter den Vorstellungen; die Nei-
gungen und Bedürfnisse der Anschließung ergeben das, was
aus dem Vorigen unter dem Namen der Complexionen
und Verschmelzungen bekannt ist. Daß Viele von einer
Minderzahl bis zum Verlust geselliger Bedeutung herab-
gedrückt, daß in der Minderzahl selbst nur Wenige eines
hervorragenden Ansehens theilhaftig werden, daß jede Ge-
sellschaft im Zustande des natürlichen Gleichgewichts eine
nach oben zugespitzte Form annimmt, dies sind die un-
mittelbaren Folgen des psychischen Mechanismus, der sich
hier im Großen gelten macht; und dessen Bewegungsgesetze
eben so wenig hier als im Einzelnen einen vollkommenen
Stillstand dulden; aber auch Reproductionen dessen, was
schon verschwunden schien, herbeyführen, die oft genug durch
lange Reihen geselliger Verbindungen hindurchwirken. Vor-
gänge solcher Art liegen der Apperception durch die Gebil-
deten auf höhern Standpuncten sogar noch weit offener
vor Augen, als im Jnnern das Verhältniß der untergeord-
neten zu den höhern Vorstellungsmassen; wofern nämlich
nicht etwa die Einzelnen selbst schon gewarnt und wachsam
genug sind, um sich vor lauten und sichtbaren Aeußerungen
zu hüten. Denn vor roher Gewalt freylich, falls eine solche
an der Spitze steht, pflegen sie sich zu verstecken; oder wenn
irgendwo der Thron zum Ruhebette wird, so geht es in
[195] der Gesellschaft wie in solchen Einzelnen, die keine Aussicht
über sich selbst führen.
241. Man denke sich Betrachtungen dieser Art voll-
ständig ausgeführt: so ergeben sie eine politische Grundlehre
nach Art des ersten Theils dieses Vortrags. Alsdann wird
eine empirische Zusammenstellung dessen folgen können, was
in der Geschichte der Staaten als das Bleibende und Ver-
änderliche mag unterschieden werden. Die Stelle der See.-
lenvermögen wird, mit gleichem Anlaß zur Kritik, die Ab-
sonderung der drey vorgeblichen Gewalten, der gesetzgeben-
den, ausführenden, richterlichen — einnehmen; wenn man
nicht etwa vorzieht, die verschiedenen Stände und Gesell-
schaftskreise im Staate neben einander zu betrachten. Von
den Zuständen der Staaten aber wird die Geschichte selbst
reden. Um endlich der rationalen Psychologie ein Gegenbild
zu geben, wird zuerst nach Art der Statistik der Leib des
Staats, — sein Grund.und Boden sammt dem darauf
stattfindenden Verkehr — und die Wechselwirkung desselben
mit dem Geiste, d. h. den geselligen Gesinnungen und Ein-
sichten, zu schildern seyn; darauf aber wird endlich der Auf-
schluß über den wahren Zusammenhang der Begebenheiten
von der Philosophie der Geschichte zu erwarten seyn.
242. Das Vorstehende erinnert daran, daß die Philo-
sophie der Geschichte von der Psychologie abhängt; und daß
sie sich nicht anmaaßt, die Wege der Vorsehung zu erfor-
schen, welche ungeachtet der oft vernommenen Reden vom
Weltgeiste, dennoch stets dunkel sind und bleiben. Es
finden nämlich hier ähnliche Täuschungen statt, wie in der
Naturphilosophie, wenn in dieser das Zweckmäßige der Na-
tur mit der Möglichkeit der Lebens-Erscheinungen so ver-
mengt wird, als ob einerley Untersuchung beydes zugleich
umfassen, ja gar durch Zusammenstellung dessen, was auf [196] der Erde unter unsern Augen geschieht, den Typus eines
allgemein-nothwendigen Naturlaufs entdecken könnte.
So gewiß es ist, daß keine Geschichte der bekannten
Staaten und Nationen jemals eine Weltgeschichte im
eigentlichen Sinne, oder auch nur Etwas damit in irgend
einem angeblichen Verhältnisse Stehendes liefern kann; so
gewiß ferner keinerley Theorie davon mit einigem Schein
der Wahrheit einen Begriff zu geben vermag; so gewiß viel-
mehr jeder, auch noch so entfernte Versuch dieser Art ein
thörichtes Vergessen der irdischen Beschränktheit zur Schau
stellt: eben so gewiß soll die Philosophie der Geschichte sich
hüten, in die verschiedenen Gestalten, worin die historisch
bekannten Ereignisse und Gesellschaften sich zeigen, eine
systematische Totalitat hineinzukünsteln, als ob eine die noth-
wendige Ergänzung der andern, und alle verbunden eine
Gesammtdarstellung des Menschengeistes auszumachen be-
stimmt wären. Alle bisherige Geschichte ist ein Anfang,
dessen Fortgang Niemand prophezeihen kann; und der heu-
tige Zustand der Dinge ist eben so wenig ein Stand allge-
meiner Sündhaftigkeit als Vollendung.
Wie aber die Psychologie die sinkenden und schon ge-
sunkenen Vorstellungen sammt deren Verbindungen im Auge
behält, um nicht über das erneuerte Emporsteigen derselben
sich wundern zu müssen: so auch soll die Philosophie der
Geschichte den herabgedrückten Kräften, und den hierin ver-
borgenen Keimen des Besseren und Schlechteren nachspü-
ren; damit klar werde, unter welchen Bedingungen das
Gute emporkommen, und das Schlechte überwunden wer-
den konnte. Denn darüber verlangt jedes Zeitalter Beleh-
rung, damit es wisse, was es zu thun und zu vermeiden
habe. Was der Erzieher von der Psychologie, das fodert
der Staatsmann zunächst von der Philosophie der Geschichte.
Für Beyde sind eiserne Nothwendigkeit, die nichts anneh-
[197] men, und absolute Freyheit, die nichts vesthalten würde,
ein gleich schädlicher Wahn. Bewegliche und lenksame
Kräfte, die jedoch unter Umständen eine bestimmte Form,
und allmählig einen dauerhaften Charakter gewinnen, sind
die Voraussetzungen der Pädagogik und der Politik. Solche
Kräfte sind im Vorhergehenden nachgewiesen worden.
243. Einen nützlichen Ueberblick über das, wornach
die Philosophie der Geschichte für jeden Zeitpunkt bey jedem
Staate zu fragen, und nach dessen Sicherstellung und Be-
gründung sie zu forschen hat, gewähren die schon bekannten
Bedingungen der geistigen Gesundheit, welche sich hier in
Gesundheit des bürgerlichen Lebens verwandelt. Zwar wenn
man das Toben der Neuerungssucht, den durch keine Er-
fahrung heilbaren Wahn der Partheyen, die eigensinnige
Lossagung einzelner Stände, Communen, Provinzen von
dem Bande der allgemeinen Ordnung und unvermeidlichen
Wechselwirkung, das schlaffe und blinde Dulden solcher ein-
reißenden Verkehrtheiten, parallelisiren wollte mit Tobsucht,
Wahnsinn, Narrheit und Blödsinn: so möchte eine solche
Vergleichung, da sie nicht genau durchgeführt werden kann,
zu hart und zu wenig belehrend erscheinen. Aber gewiß
finden Gleichmuth, Erregbarkeit, Sammlung und gegensei-
tiges Bestimmen aller Vorstellungen durch einander, ihr Ge-
genbild in dem gesunden und wohlgeordneten Staate; wo
Jeder mit Ruhe seinem Geschäffte obliegt, Jeder dennoch
aufmerkt und rege wird beym Rufe des allgemeinen Be-
dürfnisses, Alle zusammen das Nöthige vollziehen, aber auch
das Ganze den Antrieb aller Theile empfängt. Der letzte
Punkt mag am schwierigsten erscheinen; gewiß aber ist das
öffentliche Leben nicht gesund, wo es von den Angelegen-
heiten der kleinern Kreise sich losreißt, anstatt ihre Opfer
nach Möglichkeit zu vergüten.
244. Aehnlich diesen Grundzügen bilden sich die Men-
[198] schen das Jdeal der Gesellschaft ohne Zweifel öfter, als so,
wie es nach Anleitung der praktischen Philosophie eigentlich
geschehen sollte. Denn was an der Zusammenwirkung der
Kräfte in der Gesellschaft fehlt, was darin sich drangt,
stößt, unnütz aufreibt; das wird leicht bemerkt, und als un-
geschickt getadelt.
Wie aber auch zu dem Mangelhaften ein Besseres möge
hinzugedacht werden: in der Gesellschaft, wie sie seyn sollte,
weiset der Mensch sich den Platz an, den er darin einneh-
men würde. Diesen einzunehmen, denkt er sich als seine
Bestimmung. Als Annäherung dazu gilt ihm sein Be-
ruf, oder die Stellung und Wirksamkeit, welche in der
wirklichen Gesellschaft der Bestimmung möglichst ähnlich ist.
Hier, wo alle Pläne sich nach Möglichkeit vereinigen,
liegt der Einheitspunct seines Charakters; wiewohl mit gro-
ßen Verschiedenheiten. Denn nicht immer besitzen die Vor-
stellungsmassen, welche sich hier concentriren, eine sichere
Herrschaft. Manche können nur in Augenblicken einer be-
sondern Erhebung überhaupt an ihre Bestimmung denken.
Soll aber ein Charakter ganz zur Reise kommen: so muß
eine Hauptrichtung des Wollens da seyn, welcher alles ein-
zelne Wollen sich fügt. Der Begriff des Menschen von seiner
Bestimmung in der Gesellschaft wird in diesem Falle gleichsam
die Seele jenes psychischen Organismus (238). Wie vielfach
verschieden das Verhältniß der Vorstellungsmassen hievon ab-
weicht, so verschieden sind die Formen des Charakters.
Allein es kommt dabey noch der große Unterschied zwi-
schen Plänen und Maximen in Betracht. Menschen,
die einmal ihre Sphäre gefunden, ihre Bestimmung nach
eigner Ansicht erreicht haben, richten sich nun, ohne mehr
zu verlangen, nach Regeln der Klugheit, der Ordnung, der
Sitte, des Rechts, der Pficht; und dies ohne Ausnahme
pünctlich zu thun, ist der Grund ihrer innern Zufriedenheit.
[199]
Sowohl psychologisch als moralisch betrachtet sind diese
Charaktere weit verschieden von jenen, die nach herrschenden
Plänen leben, folglich entweder etwas zu suchen oder doch
dergestalt zu hüten haben, daß es ihnen durchaus nicht ver-
loren gehn dürfe. Es ist zwar keineswegs in der vorherr-
chenden Pünctlichkeit allemal eine ganz lautere Sittlichkeit
zu finden; vielmehr ist der Jnhalt der angenommenen Maxi-
men gar mannigfaltig verschieden. Auch ist andererseits der
Begriff der Bestimmung und des Berufs, von wo die Pläne
ausgehn, keineswegs immer der Sittlichkeit fremd, vielmehr
kann der richtigste und reinste Werth der Gesellschaft die
Grundlage dieses Begriffs ausmachen. Aber Pläne mögen
seyn welche sie wollen: sie können fehlschlagen, und wer
einzig daran hangt, der kann zu Grunde gehen. Folglich
um nicht zu Grunde zu gehn, kann er in den Fall kom-
men, schlechte Mittel anzuwenden. Wenigstens kann er den
Gedanken daran nicht vermeiden, und hiedurch wird er min-
destens beunruhigt werden. Also müssen wir, alles Uebrige
gleichgesetzt, bekennen: Charaktere mit herrschenden
Plänen sind energischer; Charaktere mit herr-
schenden Maximen sind reiner.
245. Dennoch kann man es nicht tadeln, daß der
Mensch den Zusammenhang seiner Pläne durch den Begriff
seiner Bestimmung, und diesen gemäß seiner Jdee der Ge-
sellschaft vestsetze. Denn wie nothwendig auch die mora-
lische Beherrschung seines Jnnern, sie ist ihm als Hauptge-
schäfft zu klein. Der einzelne Mensch ist in seinen eignen
Augen, so wie er sich als irdisches gebrechliches Wesen kennt,
losgetrennt von der Gesellschaft, zu wenig, zu gering. Er
bedarf mindestens der Familie; aber auch sie füllt nicht seinen
Gesichtskreis. Hingegen seine gesellige Bestimmung ist der
höchste Zielpunct, den er noch deutlich sehen kann; diesen
nicht zu sehen, wäre Beschränktheit.
[200]
Hiemit kommt jedoch selbst in die stärksten Charaktere
ein Zug des Leidens. Mögen sie immerhin durch Maxi-
men und Grundsätze noch über allen Plänen moralisch vest-
steh: leiden müssen sie, sobald der Gang der Gesellschaft
sie von ihrer Bestimmung ablenkt; ja schon dadurch, daß
dieselbe, anstatt sich der Jdee zu nähern, vielmehr sich da-
von entfernt. Unter solchen Umständen schaut der Mensch
noch höher hinauf; er schaut in die dunkelste Ferne, und
versucht, ob dorthin noch, ohne Schwärmerey, sich ein Ge-
dankenbild zeichnen lasse.
246. Die Bestimmung des einzelnen Menschen kann
nicht auf das irdische Leben beschränkt seyn, da die Seele
ewig ist. Gänzlich unbekannt mit den Veranstaltungen der
Vorsehung für die entlegnere Zukunft, können wir dennoch
fragen, was ohne alle weitere Einwirkung, bloß nach psycho-
logischen Gesetzen, geschehen müsse, wann die leibliche Hülle
sich löst und ihre ungleichartigen Elemente sich zerstreuen.
Es verschwinden zuvörderst die besondern Einflüsse,
welche der Leib eben in dem Alter, das der Mensch erreicht
hatte, auszuüben geeignet war; es verschwindet also ein
Hinderniß, wodurch die ältesten Vorstellungen, die an sich
die stärksten sind, in der Lebhaftigkeit ihres Wirkens be-
schränkt waren. Der Tod ist demnach zuerst überhaupt Verjüngung, ohne doch die Kindheit zurückzuführen; denn
keine von den allmählig geknüpften Verbindungen der Vor-
stellungen kann wieder aufgelöst werden. Jndessen setzt sich
die letzte Gegenwart des Erdenlebens mit ihren Lasten und
Sorgen ins Gleichgewicht mit der ganzen Vergangenheit.
247. Während nun im Allgemeinen das Streben zum
Gleichgewichte die Bewegungen aller Vorstellungen bestimmt,
können doch sehr große Revolutionen unter denselben nöthig
seyn, damit sie dahin gelangen. Denn es ist gezeigt,
wie aus den Bewegungen neue Bewegungsgesetze entsprin-
[201] gen (207), und wie die tumultuarische Anhäufung der Vor-
stellungen während des Lebens (208) eine spätere Verar-
beitung nothwendig macht. Daß diese ganz anders nach
dem Tode, als während des Treibens in der sinnlichen
Mitte der irdischen Dinge ausfallen müsse, leuchtet unmit-
telbar ein. Auch der Traum kann damit gar keine Aehn-
lichkeit haben. Denn die Sinne zwar werden durch den
Schlaf verschlossen, aber eben derselbe drückt auf die Vor-
stellungen, so daß die Gesetze ihres Zusammenhangs nur
theilweise wirken, woraus eben die Zerrbilder des Traums
entstehen (216). Nach dem Tode aber, frey vom Leibe,
muß die Seele vollkommener wachen, als jemals im Leben.
248. Das Product jedoch, welches die zum Gleich-
gewichte hinstrebenden Vorstellungen nach und nach ergeben,
kann nicht bey zweyen menschlichen Seelen vollkommen gleich
ausfallen, vielmehr alle Verschiedenheiten des irdischen Da-
seyns müssen darauf Einfluß haben. Während die Vorstel-
lungen des früh gestorbenen Kindes sich sehr bald ihrem
allgemeinen Gleichgewichte nähern, und wahrend die Ge-
danken des in seinem Gewissen ruhigen, in seinem Handeln
und Wünschen einfachen Mannes keiner großen Umwälzun-
gen fähig sind, kann dagegen kein unruhiges, weitgreifendes,
von der Welt gefesseltes, und plötzlich derselben entrissenes,
Gemüth die Stille der Ewigkeit anders, als nach einem
Durchgange durch heftige Umwandlungen erreichen, die we-
gen des gänzlich veränderten Zustandes leicht noch stürmischer
und peinlicher seyn mögen, als diejenigen, von denen der
leidenschaftliche Mensch bey uns so häufig geplagt wird.
249. Endlich aber, nach irgend einem Verlause dessen,
was wir Stunden, Tage, Jahre nennen, muß für jede
Seele, wie tief und verworren auch ihre Unordnung gewe-
sen sey, eine solche Bewegung der Vorstellungen eintreten,
die sich immer gelinder, immer schwächer dem allgemeinen
[202] Gleichgewichte nähere, doch ohne es jemals vollkommen zu
erreichen. Alsdann erstirbt für den Gestorbenen die Zeit;
doch geschieht selbst dieses noch auf zeitliche Weise: ein un-
endlich sanftes Schweben der Vorstellungen, eine unendlich
schwache Spur dessen, was wir Leben nennen, ist das ewi-
ge Leben.
250. Ohne Regung, aber im klarsten Wachen, weiß
und fühlt von nun an die Seele das ganze Edle oder Un-
edle ihres vormaligen Wandels auf Erden, den sie als die
unvergängliche Bestimmung ihres Jch, und eben darum als
ein unablösliches Wohl oder Wehe, in sich trägt, unfähig,
auch nur zu begehren, nur zu wünschen, daß ihr Zustand
ein anderer seyn möchte.
Doch hier darf man nicht übersehen, daß in den un-
geordneten Seelen, nach ihren großen inneren Umwälzungen,
unmöglich noch das ganze Unheil bestehen könne, welches
sie in der leiblichen Hülle sich zugezogen hatten. Gerade
das Gegentheil! Die Gegenstände der Begierden und die
kurze Verblendung, welche dadurch unterhalten wurde, sammt
der Verstimmung des leiblichen Zustandes durch heftige
Affecten, alles dieses ist nun längst entflohen; der kindliche
Friede ist zwar nicht ganz, doch zum Theil zurückgekehrt
und hat die verwundeten Gefühle gemildert und den Wahn-
witz der Leidenschaften geheilt. Wie die Täuschung weicht,
tritt die Wahrheit hervor. Lauter und reiner spricht das
Gewissen; endlich spricht es allein, der Sünder ist bekehrt
und die Reue verliert ihren Stachel.
251. Die Vorsehung hat gestattet, daß ein sehr ver-
schiedenes Loos den Menschen auf Erden bereitet werde. Uns
scheint die Verschiedenheit groß und wichtig, einige Jahre
nach dem Tode kann sie sehr vermindert seyn. Die ein-
fachen sinnlichen Wahrnehmungen, dieses erste Material des
geistigen Daseyns, — sind für Alle die nämlichen; und schon
[203] das kurze Leben des sprachlosen Kindes nimmt bey seiner großen
Empfänglichkeit eine bedeutende Menge desselben an sich.
Viele Verbindungen dieses rohen Stoffes, welche das Erden-
leben durch seine Erfahrungen nicht herbeygeführt hatte, wird
die Zukunft nachbringen, zwar nicht um neue Kenntnisse zu
verschaffen (wenigstens möchte dies im Allgemeinen schwer nach-
zuweisen seyn), aber doch um ein ruhiges Wohlseyn zu erzeu-
gen. Wenn nun gleich etwas von der Verschiedenheit der irdi-
schen Loose sich in die Ewigkeit fortpflanzt, immer noch den
bessern Menschen von dem schlechtern unterscheidend, so kann
doch für Alle das Leben zweckmäßig seyn, und in jedem Ein-
zelnen, wenn er für sich allein, ohne alle Vergleichung mit
den Uebrigen betrachtet wird, kann sich die Vorsehung dar-
über, daß sie ihn ins irdische Daseyn eintreten ließ, gerecht-
fertigt finden. —
252. So erscheint die ferne Zukunft, gesehen von dem
Standpunkte der Wissenschaft, deren Grundlage keine andere
ist, als unsere gemeine menschliche Erfahrung. Behaupten
kann man auf diese Weise nichts. Wahrscheinlich ist Alles noch
anders eingerichtet, schon bloß darum, weil überhaupt irgend
eine göttliche Einrichtung wahrscheinlich ist, im Vorhergehen-
den aber nur das erwogen wurde, was ohne alle Veran-
staltung von selbst erfolgen möchte. Will man diese
letztere Frage schärfer untersuchen, so wird die Möglichkeit sol-
cher Untersuchung sich erweitern mit den Fortschritten der Statik
und Mechanik des Geistes. Allein, wie alle Metaphysik aus
der Erfahrung entspringt, und wie keine Erfahrung ohne Me-
taphysik eine ächte Erkenntniß gewährt, so vermag hinwie-
derum die Metaphysik nicht einen einzigen Schritt über die
Gränzen hinaus zu thun, an welchen die nothwendige Ent-
wicklung der Erfahrungsbegriffe sich endigt.
[[204]][[205]][[206]][[207]][[208]]
nächst auf des Verfassers Lehrbuch zur Einleitung in die Philoso-
den Titel hat: Psychologie als Wissenschaft,neugegrün-
det auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik.
unvollkommen, und läßt sich viel weiter führen.
Worte Psychologie wird hier und in folgenden Citaten das
größere Werk des Verfassers verstanden.
82 und 97.
sehung des Zurücksinkens der frühern Glieder noch
mangelhaft. Doch lassen sich die neuern Verbesserungen hier
nicht anzeigen.
insbesondere die ganze Einleitung.
paradoxo, edi interdum ab homine actiones voluntarias, ipso
non solum invito, verum adeo reluctante; in dessen nachge-
lassenen philosophischen Schriften.
von Maaß über die Leidenschaften; wo eine Streitfrage vor-
kommt, die beyde Partheyen auf die Verkehrtheit der Lehre von
den Seelenvermögen hinweisen konnte.
auch Rechte. Dem zufolge hat man auch gewisse natürliche, an-
geborne Rechte ersonnen. Diese, in wiefern sie eine Anlage in
der menschlichen Seele bezeichnen sollen, gehören zu den psycho-
logischen Erschleichungen. Vergl. Allg. prakt. Philos. S. 174.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Herbart, Johann Friedrich. Lehrbuch zur Psychologie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjs4.0