durch die
Mark Brandenburg.
[[II]][[III]]
durch die
Mark Brandenburg.
Verlag von Wilhelm Hertz.
(Beſſerſche Buchhandlung.)
1862.
[[IV]]
Osnabrück, Kisling’ſche Buchdruckerei.
[[V]]
Vorwort.
„Erſt die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimath be-
ſitzen.“ Das hab’ ich an mir ſelber erfahren und die erſten
Anregungen zu dieſen „Wanderungen durch die Mark“ ſind
mir auf Streifereien in der Fremde gekommen. Die Anre-
gungen wurden Wunſch, der Wunſch wurde Entſchluß.
Es war in der ſchottiſchen Grafſchaft Kinroß, deren ſchön-
ſter Punkt der Leven-See iſt. Mitten im See liegt eine Inſel
und mitten auf der Inſel, hinter Eſchen halb verſteckt, erhebt
ſich ein altes Douglas-Schloß, das in Lied und Sage viel-
genannte Lochleven-Caſtle. Es ſind nur Trümmer noch, die
Kapelle liegt als ein Steinhaufen auf dem Schloßhof und
ſtatt der alten Einfaſſungs-Mauer zieht ſich Weidengeſtrüpp
um die Inſel her; aber der Rundthurm ſteht noch, in dem
Queen Mary gefangen ſaß, die Pforte iſt noch ſichtbar, durch
die Willy Douglas die Königin in das rettende Boot führte,
und das Fenſter wird noch gezeigt, über deſſen Brüſtung hin-
weg die alte Lady Douglas ſich beugte, um mit weit vor-
gehaltener Fackel dem nachſetzenden Boot den Weg und wo-
möglich die Spur der Flüchtigen zu zeigen.
[VI]
Wir kamen von der Stadt Kinroß, die am Ufer des
Leven-Sees liegt, und ruderten der Inſel zu. Unſer Boot
legte an derſelben Stelle an, an der das Boot der Königin
in jener Nacht gelegen hatte, wir ſchritten über den Hof hin,
langſam, als ſuchten wir noch die Fußſpuren in dem hoch-
aufgeſchoſſenen Graſe und lehnten uns dann über die Brüſtung,
an welcher die alte Lady Douglas geſtanden und die Jagd
der beiden Boote, das flüchtige und das nachſetzende, verfolgt
hatte. Dann umfuhren wir die Inſel und lenkten unſer
Boot nach Kinroß zurück, aber das Auge mochte ſich nicht
trennen von der Inſel, auf deren Trümmergrau die Nach-
mittagsſonne und eine wehmüthig-unnennbare Stille lag.
Nun griffen die Ruder raſcher ein, die Inſel wurde ein Strei-
fen, endlich ſchwand ſie ganz und nur als Phantaſiebild noch
ſtand eine zeitlang der Rund-Thurm vor uns auf dem Waſſer,
bis plötzlich die unſtäte Phantaſie weiter in ihre Erinnerungen
zurückgriff und ältere Bilder vor das Bild dieſes See’s und
dieſer Stunde ſchob. Es waren Bilder aus der Heimath.
Auch eine Waſſerfläche war es; aber nicht Schwarz-
tannen faßten das Ufer ein, ſondern ein Park und ein Laub-
holzwald nahmen den See in ihren Arm. Im Flachboot
ſtießen wir ab und ſo oft wir das Schilf am Ufer ſtreiften,
klang es, wie wenn eine Hand über kniſternde Seide fährt.
Zwei Schweſtern ſaßen mir gegenüber. Die ältere ſtreckte ihre
Hand in das kühle klare Waſſer des See’s und außer dem
dumpfen Schlag des Ruders vernahm ich nichts als jenes
leiſe Geräuſch, womit die Wellchen zwiſchen den Fingern der
weißen Hand hindurchplätſcherten. Nun glitt das Boot durch
Teichroſen hin, deren lange Stengel wir (ſo klar war das
Waſſer) aus dem Grunde des See’s aufſteigen ſahen, dann
lenkten wir das Boot bis an den Schilfgürtel und unter die
[VII] weitüberhängenden Zweige des Parkes zurück. Endlich legten
wir an, wo die Waſſertreppe an’s Ufer führt, und ein Schloß
ſtieg auf mit Flügeln und Thürmen, mit Hof und Treppe
und mit einem Säulengange, der Balluſtraden und Marmor-
bilder trug. Dieſer Hof und dieſer Säulengang, die Zeugen
wie vieler Luſt, wie vielen Glanzes waren ſie geweſen? Hier
über dieſen Hof hin hatte die Geige Graun’s geklungen, wenn
ſie das Flötenſpiel des prinzlichen Freundes begleitete; hier
waren Le Gaillard und Le Conſtant, die erſten Ritter des
Bayard-Ordens, auf und abgeſchritten; hier waren, in bun-
tem Spiel, in heitrer Ironie, fingirte Ambaſſaden aus aller
Herren Länder erſchienen und von hier aus endlich waren die
heiter Spielenden hinausgezogen und hatten ſich bewährt im
Ernſt des Kampfs und auf den Höhen des Lebens. Hinter dem
Säulengange glitzerten die gelben Schloßwände in aller Helle
des Tags, kein romantiſcher Farbenton miſchte ſich ein, aber
Schloß und Thurm, wohin das Auge fiel, alles trug den
breiten hiſtoriſchen Stempel — die Fundamente der Roman-
tik lagen da. Von der andern Seite des See’s her grüßte
der Obelisk, der die Geſchichte des ſiebenjährigen Krieges im
Lapidarſtyl trägt.
So war das Bild des Rheinsberger Schloſſes, das
wie eine Fata Morgana über den Leven-See hinzog, und ehe
noch unſer Boot auf den Sand des Ufers lief, trat die Frage
an mich heran: ſo ſchön dies Bild war, das die Inſel im
Leven-See vor dir entrollte, war jener Tag minder ſchön, als
du im Flachboot über den Rheinsberger See fuhrſt, die
Schöpfungen und die Erinnerungen einer großen Zeit um
dich her? und ich antwortete: nein.
Die Jahre, die ſeit jenem Tag am Leven-See vergangen
ſind, haben mich in die Heimath zurückgeführt und die Ent-
[VIII] ſchlüſſe von damals blieben unvergeſſen. Ich bin die Heimath
durchzogen und ich habe ſie reicher gefunden, als ich zu hoffen
gewagt hatte. Jeder Fußbreit Erde belebte ſich und gab Ge-
ſtalten heraus, und wenn meine Schilderungen unbefriedigt
laſſen, ſo werd’ ich der Entſchuldigung entbehren müſſen, daß
es eine Armuth war, die ich aufzuputzen oder zu vergolden
hatte. Eine Fülle, ein Reichthum ſind mir entgegen getreten,
denen gegenüber ich die beſtimmte Empfindung habe, ihrer
niemals, auch nur annähernd, Herr werden zu können; denn
das immerhin Umfangreiche, das ich in Nachſtehendem biete,
iſt auf wenig Meilen eingeſammelt: am Ruppiner See und
vor den Thoren Berlins. Und ſorglos hab’ ich es geſammelt,
nicht wie einer, der mit der Sichel zur Erndte geht, ſondern
wie ein Spaziergänger, der einzelne Aehren aus dem reichen
Felde zieht.
Es iſt ein Buntes, Mannigfaches, das ich zuſammen-
geſtellt habe: Landſchaftliches und Hiſtoriſches, Sitten- und
Charakterſchilderung, — und verſchieden wie die Dinge, ſo
verſchieden iſt auch die Behandlung, die ſie gefunden. Aber
wie abweichend in Form und Inhalt die einzelnen Kapitel
von einander ſein mögen, darin ſind ſie ſich gleich, daß ſie
aus Liebe und Anhänglichkeit an die Heimath geboren wur-
den. Möchten ſie auch in Andern jene Empfindungen wecken,
von denen ich am eignen Herzen erfahren habe, daß ſie ein
Glück, ein Troſt und die Quelle echteſter Freuden ſind.
Th. F.
[[IX]]
Inhalt.
- Die Grafſchaft Ruppin.
- Seite
- Wuſtrau 3
- Carwe 14
- Neu-Ruppin 27
- Ein Gang durch die Stadt. Die Kloſterkirche 27
- Die Grafen von Ruppin 32
- Kronprinz Friedrich in Ruppin 39
- General von Günther 52
- Schinkels Geburtshaus und ſeine Kinderjahre 63
- „Bei Guſtav Kühn in Neu-Ruppin“ 74
- Rheinsberg 78
- Einfahrt. Der Rathskeller. Das Möskefeſt 78
- Die Rheinsberger Kirche 83
- Das Schloß. Die Zimmer des Kronprinzen 90
- Prinz Heinrich. Der Rheinsberger Park 100
- Der große Obelisk 106
- Zwiſchen Boberow-Wald und Huvenow-See 111
- Der Rheinsberger Hof von 1786—1802 111
- Baron Kniphauſen und Baron Kneſebeck 121
- Die beiden Wreichs und Tauentzien 123
- Major von Kaphengſt 126
- Graf und Gräfin La Roche-Aymon 133
- Zernikow 144
- Gantzer 151
- Fehrbellin (Havelland) 162
- Das Wuſtrauer Luch 172
- Der Barnim.
- Seite
- Tegel 189
- Schloß Oranienburg 206
- Bis 1650 206
- Die Zeit Louiſe Henriettens 212
- Die Zeit Friedrichs III.217
- Die Zeit des Prinzen Auguſt Wilhelm 222
- Seit 1758 229
- Buch 235
- Blumberg 249
- Werneuchen 273
- Prenden 296
- Guſow (Land Lebus) 317
- Küſtrin (Neumark) 328
- Der Teltow.
Schloß Coepenick 341 - Bis 1550 341
- Die Zeit Joachims II.343
- Die Zeit des Kurprinzen Friedrich 346
- Die Zeit Friedrich Wilhelms I.351
- Die Zeit Henriette Marie’s 354
- Die Zeit des Grafen Schmettau 358
- Seit 1806 361
- Die Müggelsberge 364
- Der Müggelſee 372
- Das Schildhorn bei Spandau 377
- Klein-Machenow oder Machenow auf dem Sande 383
- Groß-Beeren 393
- Löwenbruch 403
- Schloß Beuthen 414
- Saalow 422
- Anmerkungen.
- Wuſtrau.
- Genealogiſches 439
- Der Rohren-Garten und das alte Rohr’ſche Haus 440
- Generalmajor v. Zieten und die Aebtiſſin 440
- Der Krückſtock des alten Zieten 441
- Zietenſche Säbel und Uniformſtücke 441
- Seite
Carwe. - Eine Revue vorm alten Fritz 442
- Das Lob des Krieges 445
- Neu-Ruppin.
- Grabſchrift über der Gruft der Grafen von Ruppin 446
- Das alte Ruppin (ein Bild in der Wuthenower Kirche) 446
- Das Palais des Prinzen Ferdinand 446
- Der Denkſtein im Gentz’ſchen Garten 447
- Rheinsberg.
- Die Inſchriften des Obelisken 447
- Grabſchrift des Prinzen Heinrich 452
- „Campagne des Prinzen Heinrich von 1778“ 453
- Zernikow.
- Donation und Verſchreibung über das Gut Zernikow für den
K. Kammerdiener Fredersdorff 453 - Gantzer.
- Generallieutenant von Wahlen-Jürgaß 455
- Schloß Oranienburg.
- Die Autorſchaft des Liedes „Jeſus meine Zuverſicht“ 457
- Bielfeld und Chaſot über Prinz Auguſt Wilhelm 458
- Kirche und Waiſenhaus in Oranienburg 460
- Prenden.
- Das Stadthaus des Feldmarſchall Sparr 461
- Das Sparr’ſche Erbbegräbniß in der Marienkirche 461
- Schloß Coepenick.
Auszüge aus den Protokollen des Coepenicker Kriegsgerichts
vom 28. Oktober 1730 465 - Loewenbruch.
- Feſtgedicht zu Ehren v. d. Kneſebeck’s 470
- Schloß Beuthen.
- Bild und Grabdenkmal Ernſt Joachims v. Goertzke in Frie-
dersdorff 472 - Saalow.
- Zwei Briefe vom alten Schadow 474
Die Grafſchaft Ruppin.
[[2]][[3]]
Wuſtrau.
Der Ruppiner See, der genau die Form eines halben Mondes
hat, ſcheidet ſich ſeinen Ufern nach in zwei ſehr verſchiedene Hälften.
Die nördliche Hälfte iſt ſandig und unfruchtbar, und, die hübſch
gelegenen Städte Alt- und Neu-Ruppin abgerechnet, ohne allen
maleriſchen Reiz; die Südhälfte aber iſt theils angebaut, theils
bewaldet und ſeit alten Zeiten her von vier hübſchen Dörfern ein-
gefaßt. Das eine dieſer Dörfer, Treskow geheißen, war bis vor
Kurzem ein altes Kämmerei-Gut der Stadt Ruppin; die drei an-
dern ſind Rittergüter. Ihre Namen ſind: Gnewkow, Carwe
und Wuſtrau. Das erſtere tritt aus dem Schilf- und Wald-Ufer
am deutlichſten hervor und iſt mit ſeinem Kirchthurm und Bauern-
häuſern eine beſondere Zierde des See’s. Es gehörte ſeit Jahr-
hunderten der Familie von Woldeck. Jetzt iſt es in andere Hände
übergegangen. Der letzte v. Woldeck, der das Erbe ſeiner Väter
inne hatte, war ein Lebemann und paſſionirter Touriſt. Seine
Excentricitäten hatten ihn in der Umgegend zu einer volksthüm-
lichen Figur gemacht; er hieß kurzweg „der Seebaron.“ Das
Wort war gut gewählt. Er hatte mit den alten „Seekönigen“ den
Wanderzug und die Abenteuer gemein.
Carwe gehört den Kneſebeck’s; Wuſtrau iſt berühmt ge-
worden als Wohnſitz des alten Zieten. Sein Sohn, der letzte
Zieten, ſtarb hier 1854 in hohem Alter.
1*
[4]
Wuſtrau beſtand bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts
aus drei Rittergütern; nur eines derſelben gehörte den Zieten, die
beiden andern (altes Beſitzthum der Familien v. Lohe und v. Güh-
len) dem General-Feldmarſchall von Doſſow. Wann die Zieten in
den (theilweiſen) Beſitz von Wuſtrau gelangten, iſt nicht mehr
ſicher feſtzuſtellen. Eben ſo wenig kennt man das Stammgut der
Familie. In der Mark Brandenburg befinden ſich neun Ortſchaften,
die den Namen Zieten, wenn auch in abweichender Schreibart, führen.
Als die Hohenzollern ins Land kamen, lagen die meiſten Beſitzungen
dieſer Familie bereits in der Grafſchaft Ruppin. Hans v. Zieten auf
Wildberg (damals ein feſter und reicher Burgflecken) war geſchworener
Rath beim letzten Grafen von Ruppin, und begleitete dieſen auf den
Reichstag zu Worms. Die Wildberger Zieten beſaßen Langen und
Kränzlin; andere Zweige der Familie hatten Lögow und Buskow inne
und einen Theil von Metzelthin. Die Wuſtrauer Zieten, ſcheint es,
waren nicht reich; ſie litten unter den Nachwehen des 30jährigen
Krieges und der Schwedenzeit. Der Vater Hans Joachim’s lebte
noch in ſehr beſchränkten Verhältniſſen. Erſt Hans Joachim ſelbſt
verſtand ſich auf Pflug und Wirthſchaft faſt ſo gut wie auf Krieg
und Säbel und machte 1766 durch Ankauf der beiden Doſſow-
ſchen Antheile ganz Wuſtrau zu einem Zieten’ſchen Beſitzthum.
Es blieb bei ſeinem Sohne, dem letzten Zieten, bis 1854. Dieſer
ernannte in ſeinem Teſtamente einen Schwerin zum Erben. Daß
dieſer der nächſte Verwandte war, ſchien weniger den Ausſchlag gegeben
zu haben, als die Vorſtellung, daß nur ein Schwerin würdig
ſei, an die Stelle eines Zieten zu treten. Albert Julius v. Schwe-
rin, der jetzige Beſitzer von Wuſtrau, wurde 1859, unter dem
Namen von Zieten-Schwerin, in den Grafenſtand erhoben.
Wuſtrau liegt an der Südſpitze des See’s. Der Boden iſt
fruchtbar und wo die Fruchtbarkeit aufhört, beginnt das Wu-
ſtrauſche Luch, eine Torfgegend, die an Ergiebigkeit mit den
Linummer Gräbereien wetteifert. Das eigentliche Dorf, ſaubere, von
Wohlſtand zeugende Bauerhäuſer, liegt etwas zurückgezogen vom
See; zwiſchen Dorf und See breitet ſich der Park aus, deſſen
[5] Baumgruppen das etwas hoch gelegene Herrenhaus überragt. Dies
Schloß oder Herrenhaus gleicht auf ein Haar den adligen Wohn-
häuſern, wie ſie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
in Städten und Dörfern hier zu Lande gebaut wurden. Unſer
Pariſer Platz zeigt zu beiden Seiten noch ein Paar Muſterſtücke
dieſer Bauart. Zwei Geſchoſſe (Parterre und Bel-Etage), ein
hohes Dach, ein Blitzableiter, 10 Fenſter Front, eine Rampe, das
Ganze gelb angeſtrichen und ein Wappen oder Namenszug als
einziges Ornament. So iſt auch das alte Herrenhaus der Zieten;
freilich hat es eine reizende Lage voraus. Vorder- und Hinter-
front geben gleich anziehende Bilder. Jene geſtattet landeinwärts
einen Blick auf Park, Dorf, Kirche und Kirchhof, ein Ueberblick,
der um ſo vollſtändiger iſt, als das leis anſteigende Terrain auch
das Fernerliegende dem Auge näher rückt. Die Hinterfront hat die
Ausſicht auf den See.
Wir kommen in einem Boote über den See, legen an einer
Waſſerbrücke an und ſpringen an’s Ufer. Ein kurzer Weg, an
Parkgrün und blühenden Linden vorbei, führt uns an den ge-
wöhnlichen Eingang des Hauſes. Der Flur iſt durch eine Glas-
thüren-Wand in zwei Theile getheilt; die eine Hälfte, nach dem
Dorf hinaus, dient als eine Art Empfangshalle und iſt mit Bil-
dern und Stichen behängt, darunter der bekannte Kupferſtich Cho-
dowiecki’s: Zieten ſitzend vor ſeinem König. Die andere Hälfte
dient als Treppenhaus. Wir ſteigen die eichene, altmodiſch-bequeme
Treppe hinauf und treten nun in die nach vornhin gelegene
Zimmerreihe ein. Es ſind fünf Räume; in der Mitte ein großer
4- oder 5fenſtriger Saal, zu beiden Seiten je zwei kleinere Zim-
mer. Die kleineren Zimmer ſind durchaus ſchmucklos; über den
Thüren befinden ſich Oelbilder, Copieen nach Niederländiſchen Mei-
ſtern; das iſt Alles. Das Zimmer, rechts vom Saal, iſt das
Sterbezimmer des letzten Zieten. Der hiſtoriſche „alte Zieten“
ſtarb in Berlin, und zwar in einem jetzt umgebauten Hauſe in
der Kochſtraße, das dem Friedrich-Wilhelms-Gymnaſium ſchräg
[6] gegenüber liegt. (Auch das alte ſtattliche Haus, Wilhelmsſtraße 9,
galt bei ſeinen früheren Bewohnern als ein Zietenſches Haus.)
Das Zimmer links vom Saal heißt das Königs-Zimmer,
ſeitdem Friedrich Wilhelm IV., etwa in der Mitte der 40er Jahre,
die Grafſchaft Ruppin durchreiſte und in Wuſtrau und Koepernitz,
wo damals noch die 70jährige Marquiſe La Roche Aymon lebte,
einen längeren Beſuch machte.
Der große Saal iſt die eigentliche Sehenswürdigkeit des
Hauſes. Alles erinnert hier an den Helden, der dieſe Stätte be-
rühmt gemacht hat. Eine Koloſſal-Vaſe, in der Mitte des Saals,
zeigt auf ihrer Rückſeite die Abbildung des Zietendenkmals auf
dem Wilhelmsplatz; rund umher aber, an den Wänden entlang,
gruppiren ſich Portraits und Büſten der allermannigfachſten Art.
Unter den Skulpturen bemerken wir zunächſt zwei Büſten des
„alten Zieten“ ſelbſt. Sie ſtehen in Wand-Niſchen, auf hohen Poſta-
menten, von einfacher aber gefälliger Form. Die eine Büſte, ein
Gips-Modell vom berühmten Bildhauer Taſſaert, iſt ein großes
Werthſtück, durchaus Portrait, das, noch bei Lebzeiten des alten
Zieten, nach der Natur gefertigt wurde. Die andre Büſte, kaum
zehn Jahre alt, iſt nichts wie die übrigens ſehr gelungene Aus-
führung des Taſſaert’ſchen Modells in Marmor. Die Arbeit dieſes
alten Meiſters iſt ganz vortrefflich, und kann der Schadow’ſche „alte
Zieten“, den wir Alle vom Wilhelmsplatz her kennen, daneben kaum
beſtehen. Die große Lebenswahrheit, die aus der Taſſaert’ſchen Büſte
ſpricht, drückt, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf, den
Schadow’ſchen alten Zieten zu einer bloßen Tendenz-Statue herab.
Schadow ſcheint davon ausgegangen zu ſein, den Huſaren quand
même, oder das Huſarenthum an ſich, darſtellen zu wollen;
er hat dies Letztere, wie mir ſcheint, als eine Idee in ſeinem Kopfe
herumgetragen und dieſem idealen Huſarenthum hinterher Ausdruck
gegeben. Von dem Moment ab, wo man den wirklichen alten
Zieten (den Taſſaert’ſchen) geſehen hat, wird einem das mit einem
Male klar. Dies übergeſchlagene Bein, dieſe Hand am Kinn, als
ſolle mal wieder ein luſtiger Huſarenſtreich erſonnen und ausge-
[7] führt werden, iſt ganz im Charakter des Huſarenthums, aber durch-
aus nicht im Charakter Zieten’s, der von Jugend auf etwas
Ernſtes, Nüchternes und durchaus Schlichtes hatte. Er hatte ein
verwegenes Huſaren-Herz, aber die Huſaren-Manieren, wie
ſie im Buche ſtehen, waren ihm fremd. Ich brauche wohl nicht
hinzuzufügen, daß mit allem dieſem kein beſonderer Tadel gegen
den Schadow’ſchen Zieten ausgeſprochen ſein ſoll. Die Taſſaert’ſche
Arbeit ſteht künſtleriſch auf einer höheren Stufe; die Schadow’ſche
hat aber ihrerſeits gedanklich große Verdienſte, ſo große, daß
die Mängel beinahe aufgewogen werden, die ihr als Portrait-
Statue unbedenklich anhaften. Die vielbetonte realiſtiſche Auf-
faſſung dieſer Statue iſt mehr ſcheinbar als wirklich.
Das Poſtament der Modell-Büſte erweiſt ſich, bei näherer
Betrachtung, als ein Schrein von weiß-lackirtem Holz; ein Schlüſ-
ſelchen öffnet die kaum bemerkbare Thür deſſelben. In dieſem ein-
fachen Schrein befindet ſich der Säbel des alten Zieten, nicht
jener Türkiſche, den ihm Friedrich II. nach dem zweiten Schleſi-
ſchen Kriege zum Geſchenk machte, ſondern ein gewöhnlicher Preu-
ßiſcher Huſaren-Säbel, wie ihn der alte Herr während des 7jährigen
Krieges trug. Er zog ihn während der ganzen Campagne
nur ein Mal, und dies eine Mal zu ſeiner perſönlichen Verthei-
digung. Am Tage vor der Schlacht von Torgau, alſo am 2. No-
vember 1760, als er in Begleitung einer einzigen Ordonnanz
recognosciren ritt, ſah er ſich plötzlich von ſechs Oeſterreichiſchen
Huſaren umſtellt. Er hieb ſich, im buchſtäblichen Sinne, durch
und ſteckte den blutigen Säbel ruhig wieder in die Scheide. Er
ſprach nie von dieſer Affaire. Die Blutflecke, ein rothbrauner Roſt,
ſind noch deutlich auf der Klinge ſichtbar.
Kaum minder intereſſant, als dieſer nur einmal gezogene
Helden-Säbel, ſind die 16 Lebensgroßen Bildniſſe, die ringsum
die Wände bedecken. Es ſind die Portraits von 16 Offizieren des
Zieten’ſchen Regiments, alle 1749, 1750 und 1751 gemalt. Die
Namen der Offiziere ſind folgende: die Rittmeiſter Langen, v. Teiffel,
v. Somogy, Calau v. Hofen, v. Horn, v. Seel, v. Wieck, v. Probſt,
[8] v. Jürgaß, v. Bader; die Lieutenants v. Reitzenſtein, v. Heinecker,
v. Troſchke, und die Cornets von Schmanowski, Petri und
v. Mahlen. Mit Ausnahme des Letzteren ſtarben ſie all’ im
Felde; v. Seel fiel als Oberſt bei Hochkirch, v. Heinecker bei
Zorndorf, v. Jürgaß bei Weiß-Coſtulitz, v. Wieck ſtarb als Com-
mandant v. Comorn in Ungarn; wie er dort hinkam — unbe-
kannt. Im erſten Augenblick, wenn man in den Saal tritt und
dieſe 16 Zieten’ſchen Rothröcke mit Schnauzbärten und Tigerfellen
auf ſich herabblicken ſieht, wird einem etwas unheimlich zu Muthe.
Sie ſehen zum Theil aus, als ſeien ſie mit Blut gemalt, und
der Rittmeiſter Langen, der vergebens trachtet, ſeinen Haſenſcharten-
Mund durch einen zwei Finger breiten Schnurrbart zu verbergen,
zeigt einem zwei weiße Vorderzähne, als wollt’ er einbeißen; dazu
die Tigerdecke, — man möchte am liebſten umkehren. Hat man
aber erſt fünf Minuten ausgehalten, ſo wird einem in dieſer Ge-
ſellſchaft ganz wohl, und man empfindet alsbald, daß eine Ruben-
ſche Bärenhatz oder ähnliche traditionelle Saal- und Hallen-Bilder
hier viel weniger am Platze ſein würden. Die alten Schnurrwichſe
fangen an, einem menſchlich näher zu treten, und man erkennt
ſchließlich, hinter all’ dem Schreckensapparat, die wohlbekannten
Märkiſch-Pommerſchen Geſichter, die nur von Dienſt wegen das
Martialiſche faſt bis zum Diaboliſchen geſteigert haben. Die Bilder,
zumeiſt von einem unbekannten Maler, Namens Haebert, herrüh-
rend, ſind gut erhalten und, mit Rückſicht auf die Zeit ihrer Ent-
ſtehung, nicht ſchlecht gemalt: das Schöne fehlt noch, aber das
Charakteriſtiſche iſt da.
Der große Saal, in dem dieſe Bilder, neben ſo manchem
anderen hiſtoriſchen Hausrath, ſich vorfinden, nimmt mit Recht un-
ſer Hauptintereſſe in Anſpruch, aber noch vieles bleibt, in den
andern Räumen des Hauſes, unſrer Aufmerkſamkeit übrig. Das
ganze Schloß gleicht einer Art Zieten-Gallerie und wenige
Zimmer treffen wir (ich erwähnte ſchon der Eintrittshalle im Erd-
geſchoß und ihres Chodowiecki), von deren Wänden uns nicht, ſei
es als Kupferſtich oder Oelbild, als Büſte oder Silhouette, das
[9] Bildniß des alten Helden grüßte. Alles in allem gerechnet, befinden
ſich wohl an 40 Zieten-Portraits im Schloß. Viele von dieſen
Bildniſſen, beſonders die Stiche, ſind allgemeiner gekannte Blätter;
nicht ſo die Oelbilder, deren wir (ohne für Vollſtändigkeit zu bür-
gen) zunächſt acht zählen, ſieben Portraits und das achte, ein
Genrebild aus der Sammlung des Markgrafen Karl von Schwedt.
Es ſtellt möglicherweiſe die Scene dar (vergl. Zietens Biographie
von Frau von Blumenthal S. 56), wie der damalige Major von
Zieten an den Oberſtlieutenant von Wurmb herantritt, um die
Remontepferde, die ihm zukommen, für ſeine Schwadron zu for-
dern, eine Scene, die bekanntlich auf der Stelle zu einem wüthen-
den Zweikampf führte. Doch iſt dieſe Auslegung nur eine muth-
maßliche, da die ganze Scenerie des Bildes anders iſt als die
Lokalität, die Frau von Blumenthal beſchreibt. Die ſieben Por-
traits, mit Ausnahme eines einzigen, ſind ſämmtlich Bilder des
„alten Zieten“ und deshalb, trotz einzelner Abweichungen in Uni-
form und Haltung, in ihren unterſcheidenden Merkmalen ſchwer
zu charakteriſiren. Nur das älteſte Portrait, das bis ins Jahr
1726 zurückgeht und den „alten Zieten,“ den wir uns ohne Run-
zeln und Huſaren-Uniform kaum denken können, als einen jungen
Offizier bei den von Wuthenow’ſchen Dragonern darſtellt, zeichnet
ſich ſchon dadurch vor allen andern Bildniſſen aus. Zieten, damals
27 Jahr alt, trägt einen Stahlküraß, wie es ſcheint, und über
demſelben eine graue Uniform (früher vielleicht weiß) mit ſchmalen
blauen Aufſchlägen. Ob das Bild ächt iſt, ſteht dahin; von Aehn-
lichkeit mit dem „alten Zieten“ natürlich keine Spur.
Wir verlaſſen nun den Saal und das Haus, paſſiren die
andere, mehr dem Dorfe zu gelegene Hälfte des Parkes, über-
ſchreiten die hübſche Dorfſtraße und ſtehen nun auf einem geräu-
migen Raſenplatze, in deſſen Mitte ſich die Dorfkirche erhebt. Das
Chor der Kirche liegt dem Herrenhauſe, der Thurm und die Giebel-
ſeite dem Kirchhofe zu. Zwiſchen Thurm und Friedhof ſteht eine
mächtige alte Linde. Die Kirche ſelbſt, in Kreuzform aufgeführt,
iſt ein Ideal von einer Dorfkirche: ſchlicht, ſauber, einladend
[10] hübſch gelegen. Im Sommer 1756, kurz vorher, ehe es in den
Krieg ging, wurde der Thurm vom Blitz getroffen. Das Innere
der Kirche unterſcheidet ſich von andern Dorfkirchen nur durch eine
ganz beſondere Sauberkeit und durch die Gefliſſentlichkeit, womit
man das patriotiſche Element gehegt und gepflegt hat. So findet
man nicht nur die übliche Gedenktafel mit den Namen derer, die
während der Befreiungskriege fielen, ſondern zu der allgemeinen
Tafel geſellen ſich noch ein paar Täfelchen, um die Sonder-
verdienſte dieſes oder jenes zu bezeichnen. Neben dem Altar hängt
ein Ebenholzkaſten mit Glasdeckel, darin ſich in ſtattlicher Reihe
die Kriegsdenkmünzen derer befinden, die ihren vorangegangenen
Brüdern von 1813 und 1814 nunmehr gefolgt ſind. An anderer
Stelle gruppiren ſich Gewehr und Büchſe, Lanze, Säbel, Trom-
mel und Flügelhorn zu einem Kriegs- und Siegeszeichen. Zwei
Denkmäler zieren die Kirche; das eine, ohne künſtleriſche Bedeutung,
zu Ehren der erſten Gemahlin Hans Joachim’s (einer geborenen
v. Jürgaß) errichtet, das andere zu Ehren des alten Zieten ſelbſt.
Dies letztere hat gleichen Anſpruch auf Lob wie Tadel. Es gleicht
in ſeinen Vorzügen und Schwächen allen andern Arbeiten des
raſch-fertigen, hyperproductiven Rode, nach deſſen Skizze es von
dem Bildhauer Meier ausgeführt wurde. Wem eine tüchtige Technik
genügt, der wird Grund zur Anerkennung finden; wer eine ſelb-
ſtändige Auffaſſung, ein Abweichen vom Alltäglichen fordert, wird
ſich nicht befriedigt fühlen. Ein Sarkophag und ein Relief-Portrait,
eine Minerva rechts und eine Urania links, das paßt ſo ziemlich
auf jeden. Es iſt das jenes gedanklich-bequeme Operiren mit über-
kommenen Typen, worin unſere Bildhauer das Unglaubliche leiſten.
Wenn irgend ein Leben, ſo hätte gerade das des alten Zieten die
beſte Gelegenheit geboten zu etwas Neuem und Eigenthümlichem.
Der Zieten aus dem Buſch, der Mann der hundert Anekdoten,
die all’ im Volksmund leben, was ſoll er mit zwei Göttinnen
thun (Einige ſagen, es ſeien ſymboliſche Figuren für Frömmigkeit
und Tapferkeit), die ihn bei Lebzeiten in die ſicherſte Verlegenheit
gebracht hätten. Vortrefflich iſt nur das Reliefportrait in weißem
[11] Marmor, das ſich an dem dunkelfarbigen Aſchenkruge des Denk-
mals befindet und außer einer Silhouette im Schloß ſelber, das
einzige Bildniß iſt, das uns den immer en face abgebildeten Kopf
des Alten, auch ’mal in ſeinen Profillinien zeigt. Daß dieſe
Linien nicht ſchön ſind, thut nichts zur Sache.
Das Marmor-Denkmal des alten Helden reicht an ihn ſelber
nicht heran; es entſpricht ihm nicht. Da lob ich mir im Gegenſatz
dazu das ſchlichte Grab, unter dem er draußen ſchläft. Das
Monument, das ihn ehren ſoll, ſteht wind- und wetter-geborgen
drinnen in der Kirche, der Alte ſelbſt aber ſchläft draußen im
Freien, zugedeckt mit einem ſchlichten Sandſtein, — ein letztes
Bivouac, wie es ſich für den alten Zieten geziemt. Dieſer Begräb-
nißplatz befindet ſich in einem der vier Winkel, die durch die
Kreuzform der Kirche gebildet werden. Der Raum, von einem
roſtigen Eiſengitter eingefaßt, war groß genug für vier Gräber.
Hier ruhen die beiden Eltern des alten Zieten, ſeine zweite Ge-
mahlin (eine geb. v. Platen) und er ſelbſt. Das Aeußere der
vier Gräber iſt wenig von einander verſchieden. Ein Unterbau von
Backſtein erhebt ſich zwei Fuß hoch über den Raſen; auf dem
Ziegel-Fundament ruht die Sandſteinplatte. Noch nichts iſt ver-
fallen; auch der gegenwärtige Beſitzer empfindet, daß er eine hiſto-
riſche Erbſchaft angetreten hat und eifert getreulich dem ſchönen
Vorbild des letzten Zieten nach, deſſen ganzes Leben eigentlich
nur ein Cultus ſeines berühmten Vaters war.
1786 ſtarb Hans Joachim von Zieten; 68 Jahre ſpäter
folgte ihm ſein Sohn, achtundachtzig Jahre alt. Wir treten jetzt
an ſein Grab. Es befindet ſich unter der ſchönen alten Linde,
die zwiſchen der Kirche und dem leis anſteigenden Kirchhof ſteht.
Hinter ſich die langen Gräberreihen der Bauern und Büdner,
macht dies Grab den Eindruck, als habe der letzte Zieten noch im
Tode den Platz behaupten wollen, der ihm gebührte, den Platz
an der Front ſeiner Wuſtrauer. Aehnliche Gedanken beſchäftigten
ihn ſicherlich, als er zehn oder zwölf Jahre vor ſeinem Tode dies
Grab zu bauen begann. Ein Hünengrab. Der letzte Zieten, klein
[12] wie er war, verlangte Raum im Tode. Er baute ein Grab nicht
für ſich, ſondern für das Geſchlecht, das mit ihm ſchlafen ging.
Mit Vorliebe entwarf er den Plan und leitete er den Bau. Eine
Gruft wurde gegraben und ausgemauert und nun ein Rieſen-
Feldſtein (wie ſich deren viele auf der Wuſtrauer Feldmark vor-
finden) auf das offene Grab gelegt. Am Fuß-Ende war die Aus-
mauerung nur halb erfolgt, ſo daß nun durch Zuſchrägung und
Fortſchaffung des Sandes eine Art Kellerfenſter gewonnen war,
durch das der alte Herr in ſeine letzte Wohnung hineinblicken
konnte. Mit Hülfe dieſer Zuſchrägung wurde auch ſpäter der Sarg
verſenkt. Als der König im Jahre 1844 den ſchon oben erwähnten
Beſuch in Wuſtrau machte, führte ihn der Graf natürlich auch
an die Linde, um ihm das eben fertig gewordene Grab zu zeigen.
Der König wies auf eine Stelle des Rieſenfeldſteins und ſagte:
„Zieten, der Stein hat einen Fehler!“ worauf der alte Herr
erwiederte: „Der drunter liegen wird, hat noch mehr.“
Dieſe Antwort iſt ſo ziemlich das Beſte, was vom letzten
Zieten auf die Nachwelt gekommen iſt. Einzelne andere Repliken
und Urtheile (z. B. über die Schadowſche Statue, ſo wie über
Bücher und Bilder, deren Held ſein Vater war) ſind unbedeutend,
oft ungerecht und faſt immer ſchief. Er ſah die Sachen zu ein-
ſeitig, zu ſehr von dem bloß Zietenſchen Standpunkt an, um
gerecht ſein zu können, ſelbſt wenn ihm ein feinerer äſthetiſcher
Sinn wenigſtens die Möglichkeit gewährt hätte, es zu ſein. Dieſer
äſthetiſche Sinn fehlte ihm aber völlig. Selber eine Curioſität,
hatte er es über die Curioſitäten-Krämerei nie hinausgebracht.
Sein Witz und Humor verſtiegen ſich nur bis zur Luſt an der
Myſtification. Den Alterthumsforſchern einen Streich zu ſpielen,
war ihm ein beſonderer Genuß. Er ließ von eigens engagirten
Steinmetzen große Feldſteine concav ausarbeiten, um ſeine
Wuſtrauer Feldmark zu einem heidniſchen Begräbnißplatz avan-
ciren zu laſſen. Am See-Ufer hing er in einem niedlichen Glocken-
häuschen eine irdene Glocke auf, der er zuvor einen Bronce-
Anſtrich hatte geben laſſen. Er wußte, daß die vorüberfahrenden
Schiffer ſie innerhalb acht Tagen ſtehlen würden. Er hatte ſich
[13] nicht verrechnet und fand nach drei Tagen ſchon die Scherben.
Solche Ueberliſtungen freuten ihn und man kann zugeben, daß
darin ein Aederchen von der Herz-Ader ſeines Vaters ſichtbar war.
Er war unfähig, zu dem Ruhme ſeines Hauſes auch nur ein
Kleinſtes hinzuzufügen, aber er fühlte ſich als Verwalter dieſes
Ruhmes und dieſes Gefühl gab ihm unter Umſtänden Bedeutung
und ſelbſt Würde. Wo er für ſich und ſeine eigenſte Perſon
eintrat, in den privaten Verhältniſſen des alltäglichen Lebens, war
er eine wenig erfreuliche Erſcheinung: kleinlich, geizig, unſchön in
faſt jeder Beziehung. Von dem Augenblick an aber, wo die Dinge
einen Charakter annahmen, daß er ſeine Perſon von dem Namen
Zieten nicht mehr trennen konnte, wurde er auf kurz oder lang
ein wirklicher Zieten. Er war nicht adlig, aber ariſtokratiſch. Dies
ariſtokratiſche Fühlen, wenn geglüht in leidenſchaftlicher Erregung,
konnte auf Momente den Lichtblick wahren Adels zeigen, wie die
Kohle, in rechter Gluth, zum Diamanten wird; aber ſolche Mo-
mente weiſt ſein langes Leben nur ſpärlich auf. Sein Beſtes war
die Liebe und Verehrung, mit der er ein halbes Jahrhundert lang
die Schleppe ſeines Vaters trug. In dieſem Dienſte verſtieg ſich
ſein Herz bis zum Poetiſchen in Gefühl und Ausdruck. Auf dem
großen Raſenplatz, der die Kirche umgiebt, etwa hundert Schritte
vom Grabe Hans Joachim’s entfernt, erhebt ſich ein hoher, zuge-
ſpitzter Feldſtein mit einer Eiſenplatte, die in den Stein eingelegt
iſt. Auf dieſer Eiſenplatte ſtehen in Goldbuchſtaben folgende Worte:
Im Jahre 1851 den 23. April stand an dieser Stelle
das Blücher’sche Husaren-Regiment, um den hier in Gott
ruhenden Helden, den berühmten General der Cavallerie
und Ahnherrn aller Husaren, Hans Joachim von
Zieten, in Anerkennung seiner hohen Verdienste durch
eine feierliche Parade zu ehren. Ruhe und Friede seiner
Asche! Preis und Ehre seinem Namen! Er war und
bleibt der Preussen Stolz.
„Ahnherr aller Huſaren“ — ein Poet hätt’ es nicht beſſer
machen können.
[[14]]
Carwe.
Unſer Weg führt uns heute nach Carwe. Es liegt am Oſtufer
des Ruppiner See’s und ein Wuſtrauer Fiſcher fährt uns in
einer halben Stunde hinüber. Die Oſtufer des See’s, wenigſtens
an ſeiner ſüdlichen Hälfte, ſind reich bewaldet und von maleriſcher,
faſt romantiſcher Wirkung. Ein beſonderer Schmuck des See’s an
dieſer Stelle iſt ſein dichter Schilfgürtel, der namentlich in Front
des Carwer Parkes wie ein Waſſerwald ſich hinzieht und hier und
da eine Breite von hundert Fuß und darüber haben mag. An
dieſes Schilfufer knüpft ſich eine Geſchichte, die uns am beſten
in das ſtarke und friſche Leben einführt, das hier ein halb Jahr-
hundert lang zu Hauſe war, und von dem ich Gelegenheit haben
werde, manchen hübſchen Zug zu erzählen.
Es war im Jahr 1785. Der Sohn des alten Zieten auf
Wuſtrau war Cornet im Leibhuſaren-Regiment ſeines Vaters und
der Sohn des alten Kneſebeck auf Carwe war Junker im In-
fanterie-Regiment von Kalkſtein, das damals in Magdeburg ſtand.
Der Zufall wollte, daß beide zu gleicher Zeit Urlaub nahmen und
auf Beſuch nach Haus kamen. Die beiden Nachbarfamilien lebten
auf dem beſten Fuß mit einander und auch die jungen Leute
unterhielten einen freundſchaftlichen Verkehr. Man ſah ſich oft und
unternahm gemeinſchaftliche Partieen. Es war im Auguſt, See
und Himmel waren blau, und der Schilfwald, der ſich im Waſſer
[15] ſpiegelte, ſtieg wie eine grüne Mauer aus dem Grunde des See’s
auf. An ſolchem Tage begegneten ſich Junker und Cornet am
Ufer, plauderten hin und her von der Strenge des Dienſtes und
von der Luſt des Krieges und kamen endlich überein, in Ermang-
lung wirklichen Kampfes, zwiſchen Carwe und Wuſtrau eine See-
ſchlacht aufzuführen. Man machte auch gleich den Plan. Die
Carwe’ſchen ſollten heftig angreifen und die Zieten’ſchen bis nach
Wuſtrau hin zurückdrängen, dann aber ſollten dieſe ſich recolli-
giren und die Kneſebeck’s in ihren Schilfwald zurückwerfen. So
war es beſchloſſen; man ſchied mit herzlichem Händeſchütteln und
freute ſich auf den andern Tag. Die Eltern nahmen auch Antheil
und beide Dörfer waren in Aufregung. Nach Ruppin hin ergingen
Einladungen an befreundete Offiziere, Pulver wurde beſchafft, und
während Cornet und Junker ihre Dispoſitionen trafen, nahmen
die Herrenhäuſer von Carwe und Wuſtrau den Charakter eines
Kriegslaboratoriums an, drin allerhand Feuerwerk, Schwärmer,
Raketen und Feuerräder in möglichſter Eile hergeſtellt wurden. So
kam der erſehnte Abend. Mit dem Schlage neun liefen beide
Flotten aus, jede ſechs Kähne ſtark, das Admiral-Boot vorauf.
Als man an einander war, begann die Schwärmer-Kanonade;
vom Ufer her ſcholl der Jubel einer dichtgedrängten Menſchenmenge,
und als ein pot à feu jetzt ſeine Leuchtkugeln in die Luft warf,
zogen ſich verabredetermaßen die Zieten’ſchen nach Wuſtrau hin
zurück. Aber nur auf kurze Diſtance. Eh’ ſie noch in die Nähe
des Hafens gekommen waren, wandten ſie ſich wieder und drei
große Raketen, faſt horizontal über das Waſſer hinſchießend, gin-
gen ſie jetzt ihrerſeits mit verdoppeltem Ruderſchlag zur Attaque
über. Die Carwe’ſchen hielten einen Augenblick Stand, dann be-
gann die Retraite immer eiliger, immer raſcher. Die Wuſtrau’ſchen
ſetzten nach und waren eben auf dem Punkt, die Fliehenden bis
in das dichte Schilf hinein zu verfolgen, als ein lautes, ſtaunendes
Ah, das vom Ufer her herüberklang, die Verfolgenden ſtutzig
machte und ihre Blicke nach rückwärts lenkte. Die Sieger waren
gefangen. Im Carwe’ſchen Schilf hatte eine ganze Flotte von
[16] Fiſcherkähnen verborgen gelegen, die der Junker vom Regimente
von Kalkſtein als Miethstruppe für dieſen Tag angeworben und
von ſeinem Taſchengelde bezahlt hatte. Es waren Fiſcherkähne aus
Alten-Frieſack, 24 an der Zahl. In langer Linie kamen ſie jetzt
aus dem Schilf hervor, jeder eine Laterne hoch am Maſt, und
legten ſich quer über den See. Das Lampenlicht war hell genug,
die Fiſchergeſtalten zu zeigen, wie ſie da ſtanden mit vorgehaltenem
Ruder, bereit, jeden Fluchtverſuch zu vereiteln. Die Wuſtrau’ſchen
machten gute Miene zum böſen Spiel und ſprangen lachend an’s
Ufer. Nie wurden Gefangene ſchmeichelhafter begrüßt. Als ſie in
den Park traten, ſahen ſie dicht vor dem Herrenhauſe eine Ehren-
pforte errichtet, an deren Spitze das von Lichtern umgebene Bild
des alten Zieten leuchtete, darunter die Unterſchrift: Voilà notre
modèle. Am andern Tage erhielt der Junker v. d. Kneſebeck eine
Einladung nach Wuſtrau. Der alte 86jährige Zieten, der gemein-
hin einen grauleinenen Kittel zu tragen pflegte, ſaß heut in voller
Uniform auf ſeinem Lehnſtuhl und rief den eintretenden Junker
zu ſich heran: „Komm her, mein Sohn, und küſſe mich. Werde
ſo ein braver Mann wie Dein Vater.“ Der Junker trat heran
und bückte ſich, um dem Alten die Hand zu küſſen. Dieſer aber
legte beide Hände auf den Kopf des Junkers und ſprach bewegt:
„Gott ſegne Dich!“ —
Das iſt die Geſchichte von der Seeſchlacht bei Carwe; ſie
kann es aufnehmen mit manchem großen Sieg. Wer aber am
Ruppiner See zu Hauſe iſt, den freut es zu ſehen, was in Dorf
und Stadt auf ſeinem ſchmalen Uferſtreifen an Männern alles
gewachſen iſt. Welche auf- und niedergehenden Sterne trafen eben
damals an den Ufern dieſes See’s zuſammen! In ſeinem Lehn-
ſtuhl Zieten, der Lieblingsheld unſeres Volks, und vor ihm ge-
bückt jener Kneſebeck, der 30 Jahre ſpäter den ſiegreichen Ge-
danken gebar, daß der Welteroberer, der durch keine menſchliche
Kraft zu beſiegende Gegner, nur durch die ſtille Macht des Rau-
mes, d. h. durch einen Ruſſiſchen Krieg, zu vernichten ſei. Um
dieſelbe Stunde aber, wo der Junker vom Regiment von Kalk-
[17] ſtein den Segen eines abſterbenden Helden empfing, ſpielte im
Superintendenten-Garten der Stadt Ruppin ein Knabe umher
und ſah leuchtenden Auges nach den Spitzen der alten Kloſterkirche
hinüber. Dann kniete er nieder und zeichnete Figuren in den
Sand. Dieſer Knabe war Karl Friedrich Schinkel. —
Auch wir kommen von Wuſtrau — minder raſch als damals
der Cornet von Zieten, aber ſicherer — und nähern uns, ohne
unſere Rückzugslinie gefährdet zu ſehen, durch eine der Straßen,
die ſich durch den Schilfwald ziehen, dem Holzſteg, an dem die
Boote anzulegen pflegen. Wir ſpringen an’s Ufer und befinden
uns in dem Park von Carwe. Er iſt ziemlich groß, mit vielem
Geſchmack und in einem einfach noblen Stiel angelegt, — das
Ganze vorwiegend eine Schöpfung unſeres „Junkers vom Regi-
ment von Kalkſtein“, des am 12. Januar 1848 verſtorbenen
Feldmarſchalls von dem Kneſebeck. Dieſer ausgezeichnete Mann
wird überhaupt den Mittelpunkt alles deſſen bilden, was ich in
Weiterem zu erzählen habe, da er, wie der Hauptträger des Ruh-
mes der Familie, ſo auch zugleich derjenige iſt, der am ſegens-
reichſten an dieſer Stelle gewirkt und den todten Dingen entweder
den Stempel ſeines Geiſtes aufgedrückt oder ihnen, durch irgend
eine Beziehung zu ſeiner Perſon, zu einem poetiſchen Leben ver-
holfen hat. —
Wir haben den Park ſeiner Länge nach paſſirt und ſtehen
jetzt vor dem Herrenhauſe. Es iſt einer jener Flügelbauten, wie
ſie dem vorigen Jahrhundert eigenthümlich waren und erinnert in
Form und Farbe an das Radziwill’ſche Palais in Berlin, das
jeder meiner Leſer kennen wird. Das letztere iſt größer und hat
mehr Roccocoſchmuck an ſeiner Façade. Auch das Eiſengitter, das
den Hofraum abſchließt und die Flügel verbindet, fehlt dem Carwe-
ſchen Herrenhauſe, das aber dafür ſeinerſeits wie in Blumen ſteht
und an ſeinem Eingange von zwei Moloſſer-Hunden in Erzguß
flankirt wird. Trotz der Blumenfülle, die den Grasplatz zwiſchen
den Flügeln überdeckt, ja trotz der Pfauenſtange, die vom Hof
her über das Dach hinwegragt, und auf deren höchſter Spitze die
2
[18] ſchönen, farbenprächtigen Thiere ſitzen, ruft das Herrenhaus einen
ernſten, beinah düſtern Eindruck hervor und macht einem, auch
ohne praktiſche Probe, die Verſicherung glaubhaft, daß es ein
Spukhaus ſei. Leider entbehrt die überlieferte Spukgeſchichte ſelbſt
aller charakteriſtiſchen Züge und paßt inſofern ſchlecht nach Carwe
hin, wo einem alles Andere plaſtiſch beſtimmt, gut motivirt und
voll feſſelnder Eigenthümlichkeit entgegentritt. Die übliche hohe
Frau, deren ſchwarze Seide durch die Zimmer rauſcht; das übliche
Poltern, Rumoren und Thürenklappen; der traditionelle Seufzer,
womit die Erſcheinung verſchwindet — nichts Beſonderes, nichts
Abweichendes. Niemand weiß, wer die ſchwarze Dame iſt, und wer
es weiß, will es vielleicht nicht wiſſen. Ihrer Erſcheinung fehlt das
beſtimmte, hiſtoriſche Fundament, jener dunkle Fleck, ohne den es
keine Geſpenſter und keine Geſpenſtergeſchichten giebt.
Carwe gehört den Kneſebeck’s in der vierten Generation. Der
Urgroßvater des jetzigen Beſitzers kaufte es im Jahre 1721 von
dem Vermögen ſeiner Frau und errichtete das Wohnhaus, das
wir, wenn auch verändert und erweitert, noch jetzt vor uns er-
blicken. Die Umſtände, die dieſen Kauf und Bau begleiteten, ſind
zu eigenthümlicher Art, um hier nicht erzählt zu werden. Der Ur-
großvater Carl Chriſtoph Johann von dem Kneſebeck, zu Wittingen
im Hannoverſchen geboren, trat früh in Preußiſche Kriegsdienſte.
Er war ein großer, ſtarker und ſtattlicher Mann, aber arm. Die
Regierungszeit Friedrich Wilhelm’s I. indeß war juſt die Zeit, wo
das Verdienſt des Großſeins die Schuld des Armſeins in Balance
zu bringen wußte und gemeinhin noch Ueberſchüſſe ergab. Carl
Chriſtoph Johann war ſehr groß und ſo erfolgte alsbald eine
Cabinets-Ordre, worin die reiche Wittwe des General-Adjutanten
v. Köppen, eine geborne v. Bredow, angewieſen wurde, den Oberſt-
Lieutenant v. d. Kneſebeck zu ehelichen. Die Hochzeit erfolgte und
Carwe wurde vom Gelde der reichen Frau gekauft. Aber die
Gnadenbezeigungen gegen den ſtattlichen Oberſt-Lieutenant hatten
hiermit ihr Ende noch nicht erreicht. Im Kopfe des Königs mochte
die Vorſtellung lebendig werden, daß eigentlich die reiche Wittwe
[19] bis dahin Alles und die Gnade Sr. Majeſtät ſehr wenig gethan
habe; ſo verſprach er denn, dem jungen Paar ihr neues Wohn-
haus in Carwe einzurichten und ſogar zum Aufbau deſſelben die
Balken und den Kalk zu liefern. Bald ſtand das Haus da, und
die innere Einrichtung, die Möblirung erfolgte mit ſo viel Muni-
ficenz, wie es dem ſparſamen und ſchlicht gewöhnten König nur
immerhin möglich war. Selbſt Königliche Familien-Portraits, zum
Theil von der Meiſterhand Pesne’s, wurden geliefert und in einem
Empfangsſaal des erſten Stockes in das Mauerwerk eingefügt.
Wir werden gleich ſehen, wie wichtig es für den neuen Beſitzer
von Carwe war, dieſe ſtattliche Bilderreihe nicht aufgehängt, ſon-
dern eingemauert zu haben. Es waren nämlich kaum einige
Monate in’s Land gegangen, als ein großer Planwagen vor dem
Kneſebeck’ſchen Hauſe erſchien und mit ihm zugleich die Ordre, das
durch Königliche Munificenz erhaltene Ameublement wieder zurück-
zuliefern. Es waren nicht die Zeiten, um ſolcher Ordre irgend-
welchen erheblichen Widerſtand entgegenzuſetzen und die Spiegel
und Tiſche und Kommoden, die der gebornen v. Bredow bereits
lieb und theuer geworden waren, verſanken alsbald zwiſchen den
Heu- und Strohbündeln des draußen harrenden Wagens. Was
zu dieſer Ordre geführt hat, ob einfach Laune oder aber die öko-
nomiſche Erwägung, „daß der von Kneſebeck nunmehro reich genug
ſei, um ſich auch ohne geſchenkte Königliche Möbel behelfen zu
können,“ iſt nie bekannt geworden. Der Planwagen kam nie wie-
der; zurückgelaſſen hatte er nur die eingemauerten Bilder und einen
alten Eichentiſch, den ſeine Unſcheinbarkeit rettete, mit deren Hülfe
er dem Kneſebeck’ſchen Hauſe bis dieſen Tag erhalten worden iſt.
Wir treten nun an den Hunden des Phidias (den Moloſſern)
vorbei, in das Haus ſelber ein. Das erſte Zimmer mit der Aus-
ſicht auf den Park iſt das Bibliothekzimmer. Auf ſchlichten Regalen
ſtehen ſchlichte Einbände, keine Goldſchnitts-Literatur zum Anſehen,
ſondern Bücher zum Leſen, „Krieger für den Werkeltag.“ Es ſind
Bücher und Broſchüren, die der alte Feldmarſchall in ſeinem
80jährigen Leben geſammelt hat und über deren Inhalt und Rich-
2*
[20] tung ſeine eigenen Worte Auskunft geben mögen: „Mit meinen
Studien in Geſchichte, Philoſophie und ſchönen Wiſſenſchaften ging
es beſſer; ſie intereſſirten mich über Alles, beſonders Geſchichte
und Lebensbeſchreibungen, zu denen auch bis ins ſpäte
Alter mir die Neigung geblieben iſt.“ Die poetiſche Grund-
anlage des alten Herrn ſpricht ſich in dieſen Worten aus; hätt’
es je eine ſchaffende dichteriſche Natur gegeben, der nicht Biogra-
phieen und Memoiren die liebſte Lectüre geweſen wären! —
Aus dem Bibliothekzimmer tritt man in das dahinter gelegene
Empfang- und Familienzimmer. Es hat die Ausſicht auf die Hof-
und Stallgebäude; Tauben ſitzen auf den Fenſterſimſen, und in
der Mitte des Hofes ſteigt die Pfauenſtange wie ein tropiſcher
Wunderbaum hoch in die Luft. Das Zimmer iſt groß und geräu-
mig und macht vor Allem den Eindruck behaglichen Geborgenſeins.
An Bildern weiſt es nichts von beſonderem Intereſſe auf, außer
einer Anſicht von Schloß Tilſen, dem alten Familienſitz (in der
Nähe von Salzwedel) der Kneſebeck’s. Die eigentliche Sehenswür-
digkeit dieſes Zimmers iſt jener alte Eichentiſch, deſſen Unſcheinbar-
keit ihn vor der Verſenkung in den Planwagen rettete. Und doch
war dies ſchlichte Wirthſchaftsſtück das eigentliche chef d’œuvre
des Ameublements, wenn auch damals nicht, ſo doch jetzt. Dieſer
Tiſch nämlich bildete einen Theil jener langen Tafel, an der die
Sitzungen des Tabaks-Collegiums gehalten wurden. Es exiſtiren
ihrer nur noch zwei, dieſer Kneſebeck’ſche in Carwe und ein Zwillings-
bruder deſſelben in Potsdam. Eine Decke von braunem ſchweren
Seidenzeug verhüllt wie billig die eichene Derbheit dieſes nicht
ſalonfähigen Möbels, deſſen Conſtruction ganz eigenthümlicher Art
iſt. Die Platte beſteht aus zwei abgeſtutzten Dreiecken und ruht
auf ſechs Füßen, deren Stellung unter einander wiederum zwei
Dreiecke bildet. Verbindungshölzer und Eiſenkrampen halten das
Ganze zuſammen und ſtellen einen Bau her, der allen Anſpruch
darauf hatte, überſehen zu werden, als die Trumeaux hinaus-
getragen wurden.
Links neben dem Empfangs-Saal befindet ſich das Arbeits-
[21] zimmer des gegenwärtigen Beſitzers. Es iſt ſehr klein, etwas
geräuſchvoll gelegen und ſelbſt zur Nachtzeit jener Ruhe entbehrend,
ohne die es kein eigentliches Studium giebt. Die Dame im
ſchwarzen Seidenkleid nämlich beginnt von hier aus ihren Rund-
gang durch das Haus, und es iſt begreiflicherweiſe nicht Jeder-
manns Sache, um die zwölfte Stunde ruhig ein Buch zu leſen,
wenn man fürchten muß, die ſchwarze Frau ſteht hinter einem
und lieſt mit, wie zwei Leute, die aus einem Geſangbuch ſingen.
Ueber dem Schreibpult im ſelben Zimmer hängt ein ſehr
gutes Crayon-Portrait des Feldmarſchalls, und auf einem Tiſchchen
daneben ſteht ein porzellanenes Schreibzeug mit einer Roſen-Guir-
lande, ein Geſchenk vom alten Gleim, der dem Feldmarſchall in
ſeinen Lieutnantstagen nah befreundet war.
Zur Rechten des Empfangszimmers iſt der Speiſeſaal. Hier
befinden ſich neben anderen Schildereien vier Familienportraits:
zunächſt der Ahnherr des Hauſes, einem Grabſtein-Relief nach-
gebildet, das ſich in der Kirche zu Hannoveriſch-Wittingen bis
dieſen Tag erhalten hat. Unmittelbar darunter hängen die Bilder
vom Urgroßvater und Großvater des jetzigen Beſitzers, von denen
wir den Erſteren als ſtattlichen, reich verheiratheten Oberſt-Lieute-
nant bei der Garde, den andern als Vater des Junkers vom
Regiment v. Kalkſtein bereits kennen gelernt haben. Er war bei
Kollin durch Arm und Leib geſchoſſen worden und derſelbe, auf
den der ſterbende Zieten die Worte bezog: „Gott ſegne Dich und
werde ſo brav wie Dein Vater.“ Unter dieſen beiden Portraits
hängt das vortrefflich ausgeführte Oelbild des Feldmarſchalls
v. d. Kneſebeck, damals (während der Befreiungskriege) noch
General-Lieutenant in der Occupations-Armee. Das Bild zeigt in
ſeiner linken Ecke den Namen: „Steuben; Paris, 1814“, kurze
Worte, die beſſer als jede Beſchreibung für den Werth des Bildes
ſprechen.
An der gegenüberliegenden Wand des Saales befindet ſich
eine Copie jenes berühmten Correggio’ſchen Chriſtuskopfes auf dem
Schweißtuche der heiligen Veronica. Das Original bildet jetzt
[22] bekanntlich eine Zierde unſeres Berliner Muſeums; früher hing
es im Eßſaal zu Carwe, an derſelben Stelle, die ſich jetzt mit der
bloßen Copie behelfen muß. Intereſſant iſt es, wie das Original
in den Beſitz der Familie kam. Der Feldmarſchall bereiſte, un-
mittelbar nach dem Kriege, Italien und kam nach Rom. Kurz
vor ſeiner Rückreiſe wurde ihm von einem Trödler ein Chriſtus-
kopf zum Verkauf angeboten, deſſen hohe Schönheit auch ſeinem
Laienauge auf der Stelle einleuchtete. Er kaufte das Bild für
eine anſehnliche Summe. Kaum war er im Beſitz deſſelben, als
ſich das Gerücht verbreitete, eins der Italieniſchen Klöſter ſei be-
raubt worden — der Correggio’ſche Chriſtuskopf auf dem Schweiß-
tuch der heiligen Veronica ſei fort. Der nächſte Tag brachte die
amtliche Beſtätigung und Belohnungen wurden ausgeſetzt für die
Wiederbeſchaffung und ſelbſt für den Nachweis des berühmten
Gemäldes. Der damalige General-Lieutenant begriff die Gefahr
und traf ſeine Vorkehrungen. Das Bild wurde in ein Wagen-
kiſſen eingenäht; der glückliche Beſitzer, der bis dahin kaum ſelbſt
gewußt haben mochte, was er beſaß, nahm auf ſeinem neuen
Schatze Platz und brachte ſo ſein ſchönes Eigenthum über die
Alpen. Ich kann nicht ſagen, wie lange das Bild in Carwe blieb;
muthmaßlich nur kurze Zeit. Das Haus Kneſebeck, das zu Anfang
des 18. Jahrhunderts von den Hohenzollern ein halbes Dutzend
Familienportraits geſchenkt erhalten hatte, nahm zu Anfang des
19. Jahrhunderts Veranlaſſung, dem Königlichen Hauſe ein Gegen-
geſchenk zu machen und warf (in aller Pietät gegen die Hohenzollern
ſei es geſagt) einen Correggio’ſchen Chriſtuskopf gegen ſechs Pesneſche
Kurfürſten ſiegreich in die Waage. Friedrich Wilhelm III. acceptirte
in Gnaden das Geſchenk ſeines General-Lieutenants und willigte
gern in Erfüllung des einen Wunſches, den Kneſebeck bei Ueber-
reichung des Bildes geäußert hatte, daß daſſelbe nämlich unwan-
delbar in der Königlichen Hauskapelle verbleiben möge. Dieſe Zu-
ſage iſt aber im Lauf der Jahre entweder vergeſſen oder aus
Hohenzollern’ſcher Humanität, die nichts Schönes für ſich allein
haben mag, abſichtlich geändert worden. Das Bild gehört nicht
[23] mehr der Hauskapelle, ſondern, wie Jedermann weiß, dem Bilder-
Muſeum an. Nur bei Gelegenheit der Taufe des jungen Prinzen,
deſſen Geburt im Februar dieſes Jahres alle loyalen Herzen in
Stadt und Land mit Freude füllte, kam auch der Correggio zu
ſeinem zugeſagten Recht und wandelte auf 24 Stunden aus den
Sälen des Muſeums in den prächtigen Kuppelbau der Schloß-
kapelle hinüber. —
Wir machen von dem Eßſaal aus noch einen Rundgang
durch die Räume des oberen Stockwerkes, inſpiciren im Hof den
hiſtoriſchen alten Kaleſchwagen, in dem der damalige Oberſt
v. Kneſebeck die berühmte Reiſe nach Petersburg antrat, um dem
Kaiſer Alexander zuzurufen: „Krieg und wieder Krieg! Die Qua-
dratmeilen Rußlands ſind die Rettung Europa’s!“ — und kehren
dann in das Empfangs- und Familienzimmer zurück, deſſen
bequeme Polſterſtühle zu einer kurzen Raſt einladen. In dieſem
Zimmer pflegte der alte Feldmarſchall, beide Hände auf dem Rücken,
den kurzen Sammetrock durch eine Schnur zuſammengehalten, mit
großen Schritten auf und ab zu ſchreiten. Hier war die Arbeits-
ſtätte ſeiner Gedanken, hier, wo er in beſten Mannesjahren ſein
Gehirn zerſonnen hatte, wie Rettung zu ſchaffen und dem Feinde
ſeines Landes, dem Feinde alles Lebens ſiegreich beizukommen ſei.
Und hier fand er es. Hören wir, was er ſelbſt darüber ſchreibt:
„Die Karte von Rußland kam nicht von meinem Pult. Ich ſah
die unermeßliche Fläche, berechnete die möglichen Märſche des Er-
oberers und ſiehe da, die beiden großen Alliirten Rußlands: der
Raum und die Zeit, traten mit einer Lebendigkeit vor meine
Seele, die mir keine Ruhe mehr ließ. Zur Gewißheit wurde es
mir: ſo iſt er zu beſiegen und ſo muß er beſiegt werden.“
Wir Alle wiſſen jetzt, wie praktiſch-richtig das poetiſch Ge-
ſchaute jener nächtlichen Stunden geweſen iſt. Das glänzendſte
Zeugniß aber ſtellte unſerem Kneſebeck ſein Gegner ſelber aus.
Dieſer hatte den Kneſebeck’ſchen Plan gekannt, aber ignorirt. Im
Frühjahr 1813 fand folgende Unterhaltung zwiſchen Napoleon
und dem Grafen St. Marſan (bis dahin Geſandter am Preu-
[24] ßiſchen Hofe) ſtatt. Der Kaiſer: Erinnern Sie ſich noch eines
Berichtes, den Sie mir im Jahre 1812 von einem gewiſſen Herrn
v. Kneſebeck geſchickt haben? St. Marſan: Ja, Ew. Majeſtät.
Der Kaiſer: Glauben Sie, daß er im gegenwärtigen Kriege
mitfechten wird? St. Marſan: Allerdings glaub’ ich das. Der
Kaiſer: Der Menſch hat richtig vorausgeſehen, und man darf
ihn nicht aus dem Auge verlieren.
So Napoleon im Frühjahr 1813. Andere Zeiten kamen, der
46jährige Oberſt von dem Kneſebeck war ein Siebziger geworden
und ſtatt der Karte von Rußland und vorausberechneter Märſche
und Schlachten, lagen nun die Memoiren derer auf dem Tiſch,
die damals mit ihm und gegen ihn die Schlachten jener Zeit ge-
ſchlagen hatten. Nach einer Epoche reichen, thatkräftigen Lebens
war auch für ihn die Zeit philoſophiſcher Betrachtung gekommen.
Die Lieutenantstage von Halberſtadt wurden ihm wieder theuer,
das Bild des alten Gleim trat wieder freundlich nickend vor ſeine
Seele, und der Mann, der zeitlebens wie ein Poet gedacht und
gefühlt hatte, fing als Greis an, auch jenem letzten zuzuſtreben,
das den Dichter macht — der Form. Aehnlich wie Wilhelm
v. Humboldt in Tegel, ſo ſaß der alte Kneſebeck auf ſeinem väter-
lichen Carwe und beſchloß ein gedankenreiches Leben mit dem Con-
cipiren und Niederſchreiben von Sinn- und Lehr-Gedichten, von
Epiſteln und Epigrammen.
Das klingt hart, aber wenn irgend einer competent war zu
urtheilen, ſo war er es. Es nimmt der Wahrheit ſeines Aus-
[25] ſpruches nichts, daß eine leiſe Bitterkeit oder ein Wort der Reſig-
nation ſeine Sentenzen gelegentlich färbte:
So ſchrieb er am Abend ſeines Lebens. Bis tief in die Nacht
hinein ſaß er an ſeinem Pult. Die ſchwarze Frau kam und ging,
aber das Kniſtern ihrer Seide ſtörte ihn nicht, eben ſo wenig wie
das Kniſtern im Kamin; er, der dem großen Geſpenſt des Jahr-
hunderts mit ſiegreichem Gedanken entgegengetreten war, war ſchuß-
feſt gegen die Geiſter. Ein Jahr vor ſeinem Tode ward er Feld-
marſchall. Drei Jahre früher war ihm ein erſter Enkel geboren
worden, zu deſſen Taufe der König verſprochen hatte, nach Carwe
zu kommen. Er kam nicht, aber ſtatt ſeiner traf ein Entſchuldi-
gungs-Brief ein, deſſen Namenszug mit Hülfe eines angehängten
Schnörkels in ein Wickelkind auslief. Vor dieſem Wickelkind, das
natürlich den kleinen Kneſebeck repräſentiren ſoll, ſteht der König
ſelbſt (ein wohlgelungenes Portrait von Königlicher Hand) und
macht dem Täufling ſeine Verbeugung; darunter die Worte: „Vivat
et crescat gens Knesebeckiana in aeternum.“
Wir verließen das Empfangszimmer und traten wieder in den
Park. An einer der ſchönſten Stellen deſſelben hatte uns die
Gärtnersfrau ein Nachmittagsmahl ſervirt: ſaure Milch mit jener
chamoisfarbenen Sahnenſchicht, die den Reſidenzler mit allem Zau-
ber der Neuheit berührt. Um uns her, als ſtumme Zeugen unſrer
Freude, ſtanden 21 Edeltannen und neigten ſich gravitätiſch im
Abendwind. Dieſe 21 Tannen pflanzte der alte Feldmarſchall im
Sommer 1821, als die Nachricht nach Carwe kam, daß Napoleon
auf St. Helena geſtorben ſei. Auch das Datum ſeines Todes
ſchuf noch eine letzte Berührung zwiſchen den alten Gegnern; der
5. Mai war der Geburtstag Kneſebeck’s, wie er der Todestag
[26] Napoleon’s war. Unter den Papieren des Feldmarſchalls aber fanden
ſich folgende Zeilen, die der Ausdruck ſeines Lebens und vielleicht
ein treffendes Motto Märkiſchen Adels ſind:
[[27]]
Neu-Ruppin.
1.
Ein Gang durch die Stadt. Die Kloſterkirche.
Wir kennen jetzt die Südufer des Ruppiner See’s, haben Carwe
und Wuſtrau durchſtreift und ſchicken uns nun an, der alten
Hauptſtadt dieſes Landestheiles unſeren Beſuch zu machen, der
Stadt Ruppin ſelbſt, die dem See, woran ſie liegt, wie der
ganzen Grafſchaft den Namen gegeben hat. In ſchräger Linie kreu-
zen wir, von Carwe aus, den an dieſer Stelle ziemlich breiten
See, laben uns, die Juli-Sonne zu unſeren Häupten, an der
feuchten Kühle des Waſſers und traben endlich, nachdem wir das
Weſtufer erreicht haben, in offnem Wagen die kahle, ſtaubige
Chauſſee entlang, unſere Regenſchirme als Schutz- und Schatten-
dächer über uns. Grau wie die Müllerthiere erreichen wir die
Stadt, ſehen, mit geblendeten Augen, wenig oder nichts, und
athmen erſt auf, als wir vor’m Gaſthof zum Deutſchen Hauſe
halten und freundlich bewillkommt in die Kühle des Flures treten.
Moſelwein und Selterwaſſer ſtellen bald unſre Lebensgeiſter wieder
her und geben uns Muth und Kraft eine erſte Promenade zu
machen und dem Pflaſter der Stadt zu trotzen. In unſeren dünn-
ſohligen Stiefeln werden wir freilich mehr denn einmal an jenen
mecklenburgiſchen Gutsbeſitzer erinnert, den ſeine revoltirenden
Hinterſaſſen auf ſpitzen Steinen hatten tanzen laſſen.
Die Stadt Ruppin hat eine ſchöne Lage — See, Gärten
[28] und der ſogenannte „Wall“ ſchließen ſie ein. Nach dem großen
Feuer, von dem ſie faſt ganz verzehrt ward (wie wenn man von
einem runden Brot die beiden Kanten übrig läßt) wurde ſie in
einer Art Reſidenzſtil wieder aufgebaut. Lange, breite Straßen
durchſchneiden die Stadt, nur unterbrochen durch ſtattliche Plätze,
auf deren Areal unſere Vorvordern ſelbſt wieder kleine Städte er-
richtet hätten. Für eine reiche Reſidenz voller Paläſte und hoher
Häuſer, voll Leben und Verkehr, mag ſolche Anlage die empfeh-
lenswertheſte ſein; für eine kleine Provinzialſtadt aber iſt ſie bedenk-
lich. Sie gleicht einem auf Auswuchs gemachten Staatsrock, in
den ſich der Betreffende nie hineinwachſen kann. Dadurch entſteht
eine Oede und Leere, die zuletzt zu dem Gefühl einer verſteinerten
Langeweile führt.
Die Billigkeit erheiſcht hinzuzufügen, daß wir es unglücklich
trafen: das Gymnaſium hatte Ferien und die Garniſon — Mobil-
machung. So fehlten denn die rothen Kragen und Aufſchläge,
die, etwa wie die zinnoberfarbenen Jacken auf allen Cuypſchen
Bildern, in unſerm farbloſen Norden dazu berufen ſcheinen, der
etwas monotonen Landſchaft Leben und Friſche zu geben. Alles
war ſtill und leer; auf dem Schulplatz wurden Betten geſonnt
— es ſah aus, als wollten ſie die ganze Stadt auffordern, ſich
ſchlafen zu legen.
Aber nicht die Oede und Stille der Stadt ſollen uns beſchäf-
tigen, ſondern ihre Sehenswürdigkeiten, klein und groß. Treten
wir unſre Wanderung an. Vor dem maleriſch im Schatten hoher
Linden gelegenen Rathhaus, in deſſen Erdgeſchoß ſich auch die
Hauptwache befindet, ruht, auf leichter Lafette, eine jüngſte Kriegs-
trophäe, ein Feldgeſchütz, das die Ruppiner Bataillone (die „Vier-
undzwanziger“) den Dresdner Inſurgenten im Kampfe abnahmen,
während, weiter abwärts, in Front des ſtattlichen Gymnaſial-
Gebäudes (mit ſeinem Laternenthurm und ſeiner Inſchrift: »Civi-
bus aevi futuri«) das Bronzebildniß König Friedrich Wilhelm’s II.
aufragt, das die Stadt ihrem Wohlthäter und Wiedererbauer er-
richtete. Es heißt, es ſei dies die einzige Statue des Königs im
[29] ganzen Preußenlande, König Friedrich Wilhelm II. beſitze kein
zweites Denkmal. Wenn dem ſo iſt, dann um ſo beſſer, daß keine
politiſche Erwägung, keine moraliſche Ueberhebung mit zu Rathe
ſaß, als vor etwa 30 Jahren bürgerliche Dankbarkeit einfach aus-
ſprach: „Wir ſchulden ihm ein Denkmal, weil er unſer Wohl-
thäter war, und gedenken dieſe Schuld zu zahlen.“ Die Statue,
in etwas mehr denn Lebensgröße, iſt eine Arbeit Friedrich Tiecks.
Gedanklich iſt ſie ziemlich unbedeutend und alltäglich; zeigt aber
doch in Form und Haltung jenes Maß und jene Einfachheit,
die, wo andre Vorzüge fehlen, ſelbſt ſchon als Vorzug gelten
mögen.
Mehr als dies Denkmal nimmt unſre Aufmerkſamkeit die
alte Kloſterkirche in Anſpruch, die ſich an der Oſtſeite der Stadt,
in unmittelbarer Nähe des See’s erhebt und das einzige Gebäude
von Bedeutung iſt, das von dem großen Feuer von 1787 ver-
ſchont wurde. Dieſe Kloſterkirche iſt ein alter, in gothiſchem Stile
aufgeführter Backſteinbau aus dem Jahre 1253; ſie gehörte zu
dem unmittelbar daneben gelegenen Dominicaner-Kloſter, von dem,
ſeit Reſtaurirung der Kirche, auch die letzten Spuren verſchwunden
ſind. Ueber dieſe Reſtaurirung giebt eine die halbe Wand des
Kirchenſchiffs bedeckende Inſchrift folgende Auskunft: „Dieſes Gottes-
haus wurde ſeit dem Jahre 1806 wiederholt durch feindliche Trup-
pen entweiht und verfiel während des Krieges dergeſtalt, daß es
über 30 Jahre nicht für den öffentlichen Gottesdienſt benutzt wer-
den konnte. Durch Königliche Gnadenwohlthat wurde dieſes erhabene
Denkmal ächt Deutſcher Kunſt und Frömmigkeit ſeiner eigentlichen
Beſtimmung zurückgegeben, indem es auf Befehl Sr. Majeſtät
Friedrich Wilhelm’s III. wiederhergeſtellt und in Gegenwart Sr.
Majeſtät unſeres jetzt regierenden Königs Friedrich Wilhelm IV.
feierlich eingeweiht wurde am 16. Mai 1841.“
Ueber dieſer Inſchrift befindet ſich eine andere aus der zweiten
Hälfte des 16. Jahrhunderts, worin die Ueberweiſung dieſer Kirche
ſeitens des Kurfürſten Joachim II. an die Stadt Ruppin ausge-
ſprochen wird. Noch andere Inſchriften, theils in Deutſcher, theils
[30] in lateiniſcher Sprache, geſellen ſich hinzu und mindern in etwas
den Eindruck äußerſter Oede und Kahlheit, an dem die ſonſt ſchöne
alte Kirche bedenklich leidet. Dies Verfahren, durch Inſchriften zu
beleben und anzuregen, ſollte überall da nachgeahmt werden, wo
man zur Reſtaurirung alter Kirchen und Baudenkmäler ſchreitet.
Ich ſah vor einigen Wochen die in früh-romaniſchem Stil erbaute,
höchſt bemerkenswerthe Kirche von Jerichow (bei Genthin); aber
die kahlen Wände des Gotteshauſes gaben über nichts Auskunft,
weder über die frühere Geſchichte dieſes intereſſanten Baues, noch
über die Art, Zeit und Umſtände ſeiner Reſtaurirung. Selbſt Leu-
ten von Fach ſind ſolche Notizen gemeinhin willkommen; dem
Laien aber geht erſt aus derartigen Inſchriften die ganze Bedeu-
tung ſolchen Baues auf. Zu den Laien gehört vor allem
die Gemeinde ſelbſt. Ohne ſolche Hinweiſe weiß ſie in der
Regel kaum, welche Schätze ſie beſitzt. Die Unkenntniß und Indiffe-
renz iſt grenzenlos und ſollte denen nachzudenken geben, die nicht
müde werden, von dem Wiſſen und der Erleuchtetheit unſerer Zeit zu
ſprechen. Erſtaunlich iſt es namentlich, wie abſolut nichts unſer Volk
von jener Periode unſrer Geſchichte weiß, die der vorlutheriſchen
Zeit angehört. Man kennt weder die Dinge, noch die Bezeichnun-
gen für die Dinge; die bloßen Worte ſind unſerer proteſtantiſchen
Sprache wie verloren gegangen. Man mache die Probe und frage
z. B. einen Märkiſchen Landbewohner, was der „Krummſtab“ ſei?
Unter Zwanzigen wird es nicht Einer wiſſen. In der Ruppiner
Kloſterkirche fragte ich die Küſtersfrau, welche Mönche hier früher
gelebt hätten? worauf ich die Antwort erhielt: „Mein Mann
weeß et; ich jlobe, et ſind kattolſche geweſen.“
Die Ruppiner Kloſterkirche wird in der oben citirten Inſchrift
ein „erhabenes Denkmal ächt Deutſcher Kunſt“ genannt. Dies iſt
richtig und falſch, je nachdem. Die Mittelmark Brandenburg, im
Gegenſatz zur Alt-Mark, iſt ſo arm an hervorragenden Bau-
denkmälern der gothiſchen Zeit, daß keine beſondere Schönheit
nöthig iſt, um mit unter den ſchönſten zu ſein.
[31]
Das Innere der Kirche, das glücklicher Weiſe den Rohziegel
ſtatt der nüchternen weißen Tünche zeigt, hat doch immer noch,
wie ſchon angedeutet, zu viel von proteſtantiſcher Kahlheit, als
daß man ſich des glücklichen Einfalls des Malers (das Decken-
gewölbe hat einen Anſtrich) nicht freuen ſollte, der, gemäß der ein-
zigen nennenswerthen Tradition, die die Kirche beſitzt, eine Maus
und Ratte erkennbar an die Decke malte. Dieſe Tradition iſt
folgende. Im Sommer 1564, wenige Tage nachdem die Kirche
dem lutheriſchen Gottesdienſte übergeben worden war, ſchritten zwei
befreundete Geiſtliche, von denen der eine bei der alten Lehre ge-
blieben war, durch das Schiff der Kirche und disputirten über die
Frage des Tages. „Eher wird eine Maus eine Ratte hier
über die Wölbung jagen,“ rief der Dominikaner, „als
daß dieſe Kirche lutheriſch bleibt.“ Dem Lutheraner wurde
die Antwort darauf erſpart; er zeigte nur an die Decke, wo ſich
das Wunder eben vollzog. Unſer Sandboden hat wenig von ſol-
chen Legenden gezeitigt und wir müſſen das Wenige werth halten,
was überhaupt da iſt. Einige local-patriotiſche Ruppiner erzählen
auch in etwas blasphemiſcher Nachahmung des Bibliſchen: „und
der Tempel zerriß,“ daß in der Sterbeſtunde Martin Luther’s das
Mittelgewölbe der Kloſterkirche geborſten ſei. Die Sache indeß iſt
entweder eine völlig müßige Erfindung, oder aber die Uebertragung
eines merkwürdigen Vorfalls von einer Kirche auf die andere.
Ruppin hatte nämlich außer der Kloſterkirche noch zwei andere
gothiſche Pfarrkirchen, die während des großen Feuers zerſtört
wurden. Die Kloſterkirche iſt eine Schöpfung Gebhardt’s von Arn-
ſtein, Grafen zu Lindow und Ruppin. Dies mag uns, im
nächſten Kapitel, zu einer kurzen Beſprechung dieſes berühmten
Geſchlechts führen.
[[32]]
2.
Die Grafen von Ruppin.
Friedrich Wilhelm III., wenn er im Auslande reiſte, liebte es,
unter dem Namen eines „Grafen von Ruppin“ ſein Incognito
zu wahren. Auch andre königliche Hohenzollern vor ihm haben
ein Gleiches gethan, Friedrich der Große z. B., als er kurz nach
ſeiner Thronbeſteigung eine Reiſe nach Baireuth und in die weſt-
phäliſchen Landestheile unternahm. Dieſe Erwägung mag es recht-
fertigen, wenn wir uns auch heute noch, nachdem der Letzte jenes
alten Grafen-Geſchlechts bereits vor drei Jahrhunderten zu ſeinen
Vätern verſammelt wurde, die Frage vorlegen: wer waren die
Grafen von Ruppin? was war es mit ihnen? wo kamen ſie
her? wie war ihr Anfang, ihr Ende?
Mit den erobernden Anhaltinern kam auch ein thüringiſch-
mansfeldiſches Grafenhaus, die Grafen von Arnſtein, in die
Marken und wurden früher oder ſpäter (die Angaben ſchwanken
hierüber) mit Lindow*) und Ruppin belehnt. Bis in’s drei-
zehnte Jahrhundert hinein nannten ſich die neubelehnten Grafen
bei ihrem alten Geſchlechtsnamen (Grafen von Arnſtein) und
nahmen ſpäter erſt den Titel der „Grafen zu Lindow“ an.
Grafen zu Ruppin wurden ſie nur ausnahmsweiſe und irr-
[33] thümlich genannt, da das Ruppiner Land eine Herrſchaft und
keine Grafſchaft war. Wir aber ohne archäologiſche Skrupel folgen
der ſpäter allgemein gewordenen Sitte und ſprechen in Nachſte-
hendem von den „Grafen zu Ruppin.“
Die Grafen zu Ruppin waren die mächtigſten Vaſallen der
brandenburgiſchen Markgrafen und auch die treuſten wohl. In
einem Zeitraum von drei Jahrhunderten ſchwankten ſie in ihrer
Loyalität nur einmal, und zwar in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts, als die Verwirrungen der bairiſch-luxembur-
giſchen Periode durch das Auftreten des falſchen Waldemar ihren
Gipfelpunkt erreichten.
Die Ruppiner Grafen waren anders wie andre im Lande.
War es der Umſtand, daß ſie als mächtigſte Lehnsträger des
Landes faſt eben ſo oft neben den Markgrafen und Kurfürſten
als unter ihnen ſtanden, oder waren es in Kraft erhaltene Tra-
ditionen, ein ererbter Segen aus dem alten Kulturlande Thü-
ringen her, gleichviel, ihre Sitte, ihr Auftreten hatte wenig gemein
mit der Haltung des halb raufluſtigen, halb bäuriſchen Landadels
um ſie her, und die Künſte des Friedens ſtanden ihnen höher
als das Waffenhandwerk, das ſich ſelber Zweck iſt, oder gar einem
fremden Intereſſe dient.
„Streitbare Grafen“ comites bellicosissimi, werden ſie
zwar gelegentlich in alten Urkunden genannt, und die Geſchichte
(wie nicht verſchwiegen werden ſoll) erzählt von einzelnen, die auf
der lombardiſchen Ebene oder auch auf den Haiden von Schonen
und Schleswig als Krieger geglänzt hätten, aber das Glück war
ihnen ſelten hold und ſchien ſie durch Nicht-Erfolge belehren zu
wollen, daß ihr Schlachtfeld ein anderes ſei. Sie waren mit am
Cremmer Damm (1331) und wurden geſchlagen; ſie unterlagen
in vielfachen Fehden mit den Pommerherzögen, und Graf Otto,
der tapferſte unter den Ruppiner Grafen, der bei Falköping an
der Seite des Schweden-Königs Albrecht gegen die „ſchwarze
Margarethe“ ſtritt, theilte das Schickſal ſeines Königlichen Freundes
(eines geborenen Herzogs von Mecklenburg) und wurde geſchlagen
3
[34] und gefangen. Nicht nur die Traditionen des Hauſes, die Natur ſelber
ſchien die Ruppiner Grafen auf ein andres Feld als das des Krieges
zu verweiſen, denn während es von den Grafen zu Pappenheim
heißt, daß ſich auf ihrer Stirn zwei blutrothe Schwerter gekreuzt
hätten, erzählt der Chroniſt von den Ruppiner Grafen nur, daß
ſie alle „mit einem Loch im Ohrläppchen geboren wurden.“ Welch
entſchiedener Hinweis auf das zartere Geſchlecht!
Sie waren nicht comites bellicosissimi, aber ſie waren
ſicherlich, wie ſie in anderen Urkunden genannt werden, viri
nobiles et generosi. Feine Sitte und wahre Frömmigkeit zeich-
neten ſie aus; ſie ſtanden feſt zur Kirche, und „Mitleid und Gut-
thätigkeit“ waren erbliche Züge. Graf Ullrich’s Sprüchwort hieß:
und als, vorher oder nachher, ein andrer Graf Ullrich hinaus ge-
tragen wurde, ſang man im ganzen Lande Ruppin:
Aber die Ruppiner Grafen gingen weiter, weit über ſo all-
gemeine Züge wie „Frömmigkeit und Gutthätigkeit,“ hinaus. Graf
Waldemar war ein paſſionirter Touriſt, wenn man ein ſo
modernes Wort will gelten laſſen, und Graf Burchardt, ein
Freund des dichteriſchen Markgrafen Otto mit dem Pfeil, dichtete
ſelbſt und turnirte mit Verſen ſo gut wie mit Lanzen. Das war
damals nicht Landesbrauch zwiſchen Elbe und Oder, und nur die
Grafen von Ruppin, in deren Adern noch das thüringiſche Blut
floß, konnten ſolch Beginnen wagen. Spärliche Zeilen aus
Burchardt’s Dichterthum ſind auf uns gekommen, Worte die er
an Eliſabeth, ſein „geliebt Gemahl“ richtet:
[35]
Alſo etwa:
Die Ruppiner Grafen waren von ihrem erſten Auftreten an
Männer von Welt, von Wiſſen, von Vorausſicht und Klugheit,
und da ſich derartige Elemente damals auf märkiſchem Boden
ſchwer betreffen ließen, ſo war ihre vorzüglichſte Wirkſamkeit in
aller Beſtimmtheit vorgezeichnet: es waren ritterliche Herren, aber
vor allem Hofleute, Diplomaten. Sie kannten und übten die
ſchwere Kunſt der Nachgiebigkeit und wußten zwiſchen Feſtigkeit
und Eigenſinn zu unterſcheiden. Daher begegnen wir ihnen oft
auf den Reichstagen in Koſtnitz und Worms, als Begleiter und
Berather ihrer markgräflichen Herren, und wo es einen Streit
zu ſchlichten gab, da waren die Ruppiner Grafen die Vertrauens-
männer beider Partheien, und das Schiedsrichteramt lag, wie erblich
faſt, in ihren Händen.
Sie waren ein bevorzugtes, hoch-vornehmes Geſchlecht, ein
Geſchlecht vom feinſten Korn, aber eines mußten ſie entbehren und
vermiſſen — die Liebe ihrer Unterthanen. Haftitius der Chroniſt
erzählt uns: „die Grafen waren fromm und demüthig und gut-
thätig, aber waren doch wenig geliebt und geachtet trotz aller Gü-
tigkeit. Denn obwohl die Herren Grafen oftmals den Rath und
die fürnehmſten Bürger zu Neuen-Ruppin mit ihren Weibern und
Kindern zu Gaſte geladen und unter den Bäumen zwiſchen Alten-
und Neuen-Ruppin haben Maien-Lauben machen und Tänze auf-
führen laſſen, ſie auch wohl traktiret und alles Liebſte und Beſte
ihnen angethan, ſo ſind doch Rath und Bürger den Herren Grafen
immer entgegen geweſen.“
Woran es lag, wer die Schuld trug — wer mag es ſagen?
kaum Vermuthungen laſſen ſich ausſprechen. Einen erſten Grund
zu Zerwürfniſſen gaben vermuthlich die Geldverhältniſſe des gräf-
lichen Hauſes, die, zumal im Lauf des 15. Jahrhunderts, von
Jahrzehnt zu Jahrzehnt zerrütteter wurden. Rath und Bürger-
3*
[36] ſchaft mußten aushelfen, die Verpfändungen begannen; ſo ging
der Glanz des Hauſes hin, und mit dem Glanz endlich Anſehn
und — Liebe. Alles ſank hin, zuletzt das Geſchlecht ſelber.
Der letzte war Graf Wichmann, geboren 1503 auf dem
alten Seeſchloß zu „Alten Ruppin.“ Kaum 4 Jahr alt, verlor
er beide Eltern, und nur die Großmutter, Anna Jacobine, eine
geb. Gräfin von Stolberg-Wernigerode, ſtand neben dem ver-
waiſten Kinde. Sie war eine ſtolze, herrſchluſtige Frau, und
während Johann von Schlabberndorf, Biſchof zu Havelberg,
nur dem Namen nach die Vormundſchaft führte, führte ſie Anna
Jacobine in Wirklichkeit. Während der Zeit dieſer Vormund-
ſchaft, im Jahre 1512, fand zu Ruppin auch jenes große mehrfach
beſchriebene Turnier ſtatt, das damals im ganzen Lande von ſich
reden machte und mit einer Pracht begangen wurde, wie ſie weder
in Berlin noch zu Cöllen an der Spree bis dahin geſehen worden
war. Kurfürſt Joachim erſchien mit einem reichen Gefolge von
bewaffneten Rittern und 300 Speer-Reitern, und mit dem Kur-
fürſten kam ſein Bruder, der Kurfürſt Albrecht von Mainz. Die
Kurfürſtin kam in einer vergoldeten, mit Atlas bedeckten Kutſche
(der erſten, deren in Norddeutſchland Erwähnung geſchieht) und
wurde von 12 andern Wagen, die mit purpurfarbenen Decken
behangen waren, in welchen „das Hof-Frauenzimmer“ ſaß, be-
gleitet. Ihnen folgten die Herzoge Heinrich und Albrecht von
Mecklenburg, Johann und Heinrich von Sachſen, Philipp von
Braunſchweig, die Biſchöfe von Havelberg und Brandenburg und
andre Fürſten mehr. Der Kurfürſt und der Herzog Albrecht von
Mecklenburg erwieſen ſich als die ſtärkſten und gewandteſten beim
Turnier. Da die Bewirthung ſo vornehmer Gäſte wohl nur kleinen
Theils durch die Stadt und vorwiegend aus dem gräflichen Säckel
erfolgte, ſo iſt es nicht unwahrſcheinlich, daß die gedachte Ehre den
finanziellen Ruin beſchleunigte.
1520 ſtarb der Biſchof von Havelberg, und der 17jährige
Wichmann wurde mündig erklärt. Der Druck großmütterlicher
Autorität hatte die raſche Entwicklung ſeiner Gaben nicht zurück-
[37] halten können, und der Kurfürſt ſelbſt war es, der dem früh
herangereiften, trotz ſeiner Minderjährigkeit, die Verwaltung des
väterlichen Erbes anvertraute. War doch der Kurfürſt ſelbſt mit
15 Jahren zur Herrſchaft über die Marken gelangt. Graf Wich-
mann nahm ſogleich den Hans von Zieten zu Wildberg zu ſeinem
geſchwornen Rath und ging 1521 im Gefolge des Kurfürſten auf
den wichtigen Reichstag zu Worms; aber der Stern des Hauſes
ſtand im Niedergang und ſein Erlöſchen war nah. Zu dem
Schwinden von Hab und Gut, zu jeder äußeren Zerrüttung ge-
ſellte ſich, wie es ſcheint, ein geſchwächter Körper, eine zerrüttete
Geſundheit. Wodurch zerrüttet, ſteht dahin. Der Graf war ein
Freund der Jagd und der Frauen, wenigſtens erklärt ſich nur
ſo die erſte Strophe des alten Liedes, das ich, weiter unten, noch
mitzutheilen gedenke.
Auf der Jagd war es auch, wo ihn die tödtliche Krankheit
befiel. Verſchiedene ſeiner Hofleute riethen zu einem Arzt, aber in
Neuen-Ruppin war keine ärztliche Hülfe zu beſchaffen (die Städte
Ruppin, Wuſterhauſen und Granſee hatten ſeit 1466 einen
gemeinſchaftlichen Bader), und einen Arzt von Berlin herbei zu
holen, dazu war man bereits zu arm. Das Fieber wuchs,
und um es zu bekämpfen (similia similibus), heizte man das
Zimmer des Kranken wie einen Backofen und gab ihm Meth und
Wein. Er ſtarb ſchon nach einigen Stunden. Die alte Gräfin,
Anna Jakobine, (geſt. 1526) die ihn, unbeſchadet ihrer Herrſch-
ſucht, von Herzen geliebt hatte, war untröſtlich über den Tod des
Enkels, und die Mönche in Ruppin beklagten den Verluſt in
folgendem Lied:
[38]
Wenige Tage nach dem Tode Graf Wichmanns erſchien
Kurprinz Joachim (der ſpätere Joachim II.), um dem Leichen-
begängniß beizuwohnen und die Unterthanen in Eid und Pflicht
zu nehmen. Das Lehn war erledigt und die Herrſchaft Ruppin
wurde als Kreis in die Kur- und Mittelmark eingereiht. Die
Hohenzollern aber geſellten von jenem Tage an zu der ſtattlichen
Reihe ihrer andern Namen und Würden auch noch den Titel
eines „Grafen von Ruppin.“
[[39]]
3.
Kronprinz Friedrich in Ruppin.
Das, der Thronbeſteigung des großen Königs vorhergehende Jahr-
zehnt, alſo der Zeitraum von 1730—1740, pflegt, nach einer Geſetz
gewordenen Annahme, in zwei ungleiche Hälften getheilt zu werden,
in die düſtern Tage von Küſtrin und in die lachenden Tage von
Rheinsberg.
Dieſe Eintheilung, die ſich noch durch den Reiz des Gegenſatzes
empfiehlt, mag der ganzen Welt ein Genüge thun, nur die Stadt
Ruppin hat ein Recht, dagegen zu proteſtiren und eine Dreithei-
lung in Vorſchlag zu bringen. Zwiſchen den Tagen von Küſtrin
und Rheinsberg liegen eben die Tage von Ruppin.
Es iſt wahr, die Ruppiner Epiſode iſt unſcheinbarer, un-
dramatiſcher; kein Bayard-Orden wird geſtiftet und kein Katt tritt
auf das Blutgerüſt, aber auch dieſe ſtilleren Tage haben ihre Be-
deutung. Verſuch’ ich es, ihnen in Nachſtehendem zu ihrem Recht
zu verhelfen, ihnen ihre Exiſtenz gleichſam zurückzuerobern.
Am 26. Februar war Kronprinz Friedrich von Küſtrin in
Berlin wieder eingetroffen; zwölf Tage ſpäter (am 10. März)
folgte ſeine Verlobung. Aller Zwieſpalt ſchien vergeſſen. „Obriſt-
lieutenant Fritz,“ über deſſen Haupt vor nicht allzu langer Zeit
das Schwert geſchwebt hatte, war wieder ein „lieber Sohn“ und
Oberſt und Chef eines Regiments. (Seit dem 29. Februar 1732.)
Dies Regiment, das bis dahin compagnieweiſe in den kleinen
Städten der Priegnitz und des Havellandes, in Perleberg, Pritz-
[40] walk, Lentzen, Wittſtock, Kyritz und Nauen in Garniſon gelegen
und nach ſeinem frühern Chef den Namen des von der Goltz’-
ſchen Regiments geführt hatte, wurde jetzt, zu größerer Bequem-
lichkeit für den Kronprinzen, oder behufs beßrer Controle, in zwei
Garniſonen, Ruppin und Nauen, concentrirt. Das Regiment
ſelbſt erhielt den Namen „Regiment Kronprinz,“ ſpäter von 1744
an „Prinz Ferdinand,“ unter welchem Namen es die Schlachten
des ſiebenjährigen Krieges, den Zug in die Champagne und end-
lich die Kataſtrophe von Jena mit durchmachte. (Bratring, in ſeiner
Geſchichte Ruppins, ſchreibt, daß im Jahre 1732 das zweite Ba-
taillon des Prinz v. Preußen Infanterie-Regiments nach Ruppin
verlegt worden ſei. Dies iſt erſichtlich falſch. Es gab damals gar
kein Prinz v. Preußen Infanterie-Regiment und konnte keins
geben, denn es gab noch keinen Prinzen von Preußen. Erſt 1744
wurde Prinz Auguſt Wilhelm zum Prinzen von Preußen ernannt
und ſeinem Regiment der entſprechende Name „Prinz von Preußen
Infanterie-Regiment“ gegeben. Sein Regiment hieß bis dahin
das Prinz Wilhelm’ſche Regiment. Dies ſtand allerdings
bis 1732 zu Neu-Ruppin in Garniſon und daher muthmaßlich
der Fehler, den Bratring macht. Es wurde aber in genanntem
Jahre von Neu-Ruppin nach Spandow verlegt, um dem einrücken-
den Regiment Kronprinz [bis dahin von der Goltz] Platz zu
machen.)
Wenn wir, wie im Nachſtehenden geſchehen ſoll, die Entſchlüſſe
und Erlaſſe des Königlichen Vaters zuſammenſtellen, die jener Zeit
der Wiederverſöhnung angehören und die ſich ſämmtlich und ganz
erſichtlich damit beſchäftigen, dem wieder angenommenen Sohne
ſein Entrée und ſein Leben in Neu-Ruppin möglichſt angenehm
zu machen, ſo wird man von der Vorſorglichkeit und einer gewiſſen
Zärtlichkeit des Vaterherzens (eines Vaters, der 18 Monate früher
mit dem Tode gedroht hatte) nicht wenig überraſcht. So ſcheint
es ihm zu Ohren gekommen zu ſein, daß Ruppin eine rußige alte
Stadt ſei und auf einem ſeiner Plätze, auf dem noch jetzt exiſti-
renden Neuen Markte, einen alten Militair-Galgen für die Deſer-
[41] teure habe. Voll feinen Gefühls erkennt er, daß ſolch’ ein Anblick,
gleich beim Eintritt in die Stadt, an die erſten Küſtriner Tage,
an den November 1730 erinnern könnte, und in folgenden Er-
laſſen trifft er Vorſorge, daß dem Auge des Sohnes ſolch Anblick
erſpart werden möge. „Der Galgen ſoll außer der Stadt heraus-
geſchafft, auch die Palliſaden an die Mauer geſetzt und alle Schlupf-
löcher zugemacht werden. Muß alles gegen den 20. Juni fertig
ſein. Auch ſoll das Haus dicht bei des Obriſten von Wreech Quar-
tier, ſo der Kronprinz zu Dero Quartier choisiret, gehörig aptiret
werden. (Potsdam Reſkript vom 24. Mai 1732.) Aber nicht nur
der häßliche Schmuck des Neuen Marktes ſoll fort, die ganze
Stadt ſoll ſich dem Einziehenden, dem neuen Mitbürger in ihrem
beſten Kleide präſentiren und ſo heißt es in einer zweiten Ordre
vom Tag darauf: „das Printz Wilhelmiſche Regiment ſoll den
1. Juni aus Neu-Ruppin ausmarſchiren. Dann ſoll gleich der
Koth aus der Stadt geſchafft und die Häuſer, ſo noch nicht abge-
putzt ſind, ſollen abgeputzt werden.“
Wir haben in Vorſtehendem feſtzuſtellen geſucht, welches Regi-
ment damals als „Regiment Cronprintz“ nach Ruppin und Nauen
hin verlegt wurde; ſchwerer iſt es, ſich zu vergewiſſern, welches
Bataillon in Ruppin und welches in Nauen lag. Wir finden dar-
über Widerſprechendes. Am 22. April (1732) erläßt der König
folgendes Reſkript an den Kriegsrath Lütkens: „Das erſte Batail-
lon des cronprinzlichen Regiments ſoll in Nauen und das andre
Bataillon in Neu-Ruppin vom 1. Juli 1732 an einquartieret
werden,“ und im Einklang mit dieſer Ordre ſchreibt derſelbe Kriegs-
rath Lütkens noch am 20. Juni an den Ruppiner Magiſtrat:
So wird denn alſo das zweite Bataillon des beſagten Regiments
am 26. Juni in Ruppin einmarſchiren. Aber der König oder der
Kronprinz müſſen plötzlich ihre Anſicht hierüber geändert haben,
denn ſchon Anfang Juli heißt es in einem Briefe aus Ruppin:
„Unſre neue Garniſon iſt eingerückt, das erſte Bataillon des Re-
giments „Cronprintz“ iſt hier, auch der Cronprintz ſelbſt, der
Obriſtwachtmeiſter ꝛc. Dieſe letztere Angabe ſtimmt auch mit Preuß
[42] überein. Ingleichen beſtätigen die Papiere, die mir zur Hand ſind,
die Angabe, daß von den 5 Compagnien des zu Nauen in Gar-
niſon liegenden Bataillons eine weggenommen und der Ruppiner
Garniſon zugetheilt wurde. In einem Reſkripte vom 30. November
1733 heißt es: „Von den 5 Compagnien des Cronprintzlichen
Regiments, die zu Nauen liegen, ſoll eine Compagnie und zwar
die des von Calebutz nach Neu-Ruppin verlegt werden.“ (Dies
geſchah, weil Nauen zu klein war für eine ſo große Garniſon.)
So viel von dem Regiment, dem der Kronprinz als Chef und
Oberſter vorgeſetzt war.
Die nächſte Frage iſt: wann traf der Kronprinz in Neu-
Ruppin ein? Preuß ſagt: „bereits im April.“ Dies ſcheint nur
in gewiſſem Sinne richtig zu ſein. Er war allerdings im April
da, aber wie wir annehmen müſſen, nur auf einen oder auf wenige
Tage, nur ausreichend, um eine paſſende Wohnung zu ſuchen.
Der König in dem oben citirten Reſkript vom 24. Mai ſchreibt:
„Die Wohnung, die der Cronprintz zu ſeinem Quartier choiſirt,
ſoll aptiret werden,“ woraus ſich mit ziemlicher Gewißheit ergiebt,
daß er (der Kronprinz) ſelber da war, um eben die Wahl, die
choix zu treffen. Aber eben ſo ſicher ſcheint es, daß er erſt Ende
Juni zu wirklichem Aufenthalte in Ruppin eintraf, denn nicht
nur, daß den Behörden (oder Privaten) die für die „Aptirung“
der Oberſt von Wreech’ſchen Wohnung Sorge zu tragen hatten,
ausdrücklich bis zum 20. Juni Zeit gelaſſen wurde, es ſchreibt
auch der Fähnrich von Buddenbrock ausdrücklich am 22. Juni:
„Die neue Garniſon wird am 26. d. erwartet und der Cronprintz
wird im Wreech’ſchen Hauſe logiren.“ Alſo er war noch nicht
da und traf erſt (muthmaßlich am gleichen Tage mit ſeinem Ba-
taillon) gegen Ende des Juni am neuen Wohnort ein.
Das Palais, das er bezog, lag in der Nähe der Stadtmauer,
nur durch einen Garten von ihr getrennt und war durch die Ver-
bindung zweier Nachbarhäuſer, der Wohnung des mehrgenannten
Obriſten von Wreech und des Obriſtlieutenants v. Möllendorff
(die bis dahin wahrſcheinlich das Prinz Wilhelm’ſche Regiment ge-
[43] führt hatten), ſo gut es die Eile geſtattete, hergeſtellt worden. An
Comfort mochte Mangel ſein und dieſer Umſtand trug gewiß das
Seine dazu bei, daß, zwei Jahre ſpäter, das Rheinsberger Schloß
gekauft und nachdem es hergerichtet war, zum entſchieden bevor-
zugten Aufenthaltsort wurde.
Suchen wir nun feſtzuſtellen, wie der Kronprinz ſeine Rup-
piner Tage zubrachte.
Was ihn nachweisbar zuerſt und zumeiſt in Anſpruch nahm,
war die Ausbildung ſeines Regiments und die Verſchö-
nerung der Stadt. Die ernſtliche Beſchäftigung mit dem „Dienſt“
fing an, ihm den Soldatenſtand lieb zu machen. Er achtete auf
Kleines und Großes; nichts erſchien ſeinem Intereſſe zu gering.
Standen Revuen vor dem Könige in Ausſicht, ſo wurden beide
Bataillone in Ruppin zuſammengezogen, um dem Regimente durch
gemeinſchaftliche Manövres eine Haltung wie aus einem Guß zu
geben. Der Kronprinz ſah ſeine Anſtrengungen belohnt. Sein
Regiment bewährte ſich gleich bei der erſten Revue ſo glänzend,
daß es durch Erſcheinung und Exercitium allgemeine Bewunderung
erregte. Die neue Uniform, in der es erſchien, war der von des
Königs Grenadier-Regimente ähnlich, aber mit ſilberner Stickerei
und carmoiſin-farbenen Aufſchlägen. *) Der ſtrenge Vater war be-
friedigt.
Kaum minder als der „Dienſt,“ beſchäftigte ihn die Ver-
ſchönerung der Stadt. Daß Ruppin bis dieſen Augenblick ſich
[44] ſeines „Walls,“ einer prächtigen, mit den ſchönſten und älteſten
Bäumen bepflanzten Promenade, erfreut, iſt des Kronprinzen Ver-
dienſt. Hier erwies er ſich, von einem richtigen Gefühl geleitet,
ausnahmsweiſe als Conſervator, während er ja im Allgemeinen
den Geſchmack ſeiner Zeit theilte, die ſich eitel darin gefiel, an die
Stelle des poëtiſch Mittelalterlichen, die Flachheit des Kaſernen-
baues, oder die Schnörkelei des Roccoco zu ſetzen. Drei Wälle
hatten in alter Zeit die Stadtmauer zu weiterem Schutz umgeben.
Schon während der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
hatte man mit Abtragung dieſer Wälle begonnen und die zuge-
ſchütteten Gräben als Gartenland parzellirt. Kaum aber war der
Kronprinz in Ruppin erſchienen, ſo erkannte er, welchen Schmuck
man auf dem Punkt ſtand, der Stadt zu rauben. Dies erkennen
und dagegen einſchreiten, war eins.
Die Miscellanea historica unſres Gewährsmannes, des
Dr. Bernhard Feldmann, geb. 1704 in Berlin, geſt. 1776 in
Neu-Ruppin, enthalten darüber folgendes: „Schon 1732 inhibirte
S. K. Hoheit die Abtragung der Wälle und conſervirte alſo die
noch übrigen, land- oder nordwärts vom Rheinsbergiſchen bis
zum Berliner Thore gelegenen, ſo noch ſtehen und mit alten
Rüſtern, Eichen, Buchen, Haſeln ꝛc. bewachſen ſind; auch ließ ſie
der Cronprinz noch mit vielerlei Sorten Bäumen bepflanzen und
an ihrem Ende (beim Berliner Thore) mit einem ſchönen Garten
zieren, wodurch der „Wall“ zum angenehmſten, beſchatteten Spatzier-
gang voll Nachtigallen geworden iſt.“
Kronprinz Friedrich hatte vier volle Jahre, von 1732—1736,
ſeinen feſten Wohnſitz in Ruppin, aber nur während des erſten
Jahres gehörte er dem Ruppiner Stillleben mit einer Art Aus-
ſchließlichkeit an. Vom Juni 1733 an drängten ſich die Ereigniſſe,
die ihn oft Monate lang und länger von „Haus und Garten,
die ihm lieb geworden waren,“ fern hielten. Seiner Vermählung
im Juni 1733 folgte, vier Monate ſpäter, die Erwerbung Rheins-
bergs und eh noch der Umbau des Rheinsberger Schloſſes, der
ohnehin ſein lebhaftes Intereſſe in Anſpruch nahm, zur Hälfte
[45] beendet war, führte die Wiedereröffnung der Feindſeligkeiten zwi-
ſchen Frankreich und dem Kaiſer (im Sommer 1734) unſern
Kronprinzen an den Rhein. Am 7. Juli war er in Wieſenthal,
wo der General-Lieutenant v. Röder mit den preußiſchen Truppen
im Lager ſtand. Aber „im Kaiſerlichen Heere war nur noch der
Schatten des großen Eugen;“ der einundſiebenzigjährige Held hatte
ſich überlebt. Philippsburg ging verloren; das thatenloſe Hin- und
Herziehen wurde unerträglich, und gegen Ende October erblicken
wir den Prinzen wieder daheim, in ſeiner „geliebten Garniſon.“
Zweierlei hatte ihm dieſer lorbeerarme Kriegszug eingetragen:
zunächſt und allgemein einen Einblick in die Schwächen der Kaiſer-
lichen Armee, daneben ſpeciell und allerperſönlichſt — einen Freund.
Dieſer Freund war Chaſot.
Wie das Jahr 1734 einen längern Aufenthalt am Rhein
gebracht hatte, ſo brachte das folgende Jahr eine mehrmonatliche
Reiſe nach Oſtpreußen. Uns aber beſchäftigen dieſe Ausflüge nicht
länger, ſondern wir halten uns innerhalb der Bannmeile von
Ruppin und ſuchen uns ein Bild dieſer ſpätern Ruppiner Tage
zu entwerfen.
Das Rheinsberger Schloß ſchmückt und erweitert ſich mehr
und mehr, aber der Tag der Ueberſiedelung iſt noch fern und die
beſcheidenen Ruppiner Räume müſſen zunächſt noch genügen. Die
Stadtwohnung läßt viel zu wünſchen übrig; aber die Sommer-
monate gehören dem „Garten am Wall.“ Hier lebt er heitere,
mußevolle Stunden, die Vorläufer jener berühmt gewordenen Tage
von Rheinsberg und Sansſouçi. Allabendlich, nach der Schwere
des Dienſtes, zieht es ihn nach ſeinem „Amalthea“ *) hinaus. Der
Weg durch die unſaubern Straßen der alten Stadt iſt ihm un-
bequem, ſo hat er denn für ein Mauerpförtchen Sorge getragen,
das ihn unmittelbar aus dem Hofe ſeines „Palais“ auf den Wall
[46] und nach kurzem Spatziergang unter den alten Eichen deſſelben
in die lachenden Anlagen ſeines Gartens führt. Da blüht es und
duftet es; Levkojen-Beete ziehen ſich an den Steigen hin, Melonen
werden gezogen und auf leiſ’ anſteigender Erhöhung, ziemlich in-
mitten des Gartens, erhebt ſich der „Tempel,“ der Vereinigungs-
ort des Kreiſes, den der Kronprinz hier allabendlich um ſich ver-
ſammelt. Das Souterain enthält eine Küche, und der „Tempel“
ſelber iſt einer jener oft abgebildeten Pavillons, die auf ſechs
korinthiſchen Säulen ein flachgewölbtes Dach tragen und in den
Parks und Gärten jener Epoche als Eßzimmer ſich einer beſon-
deren Gunſt erfreuten. Der Mond ſteht am Himmel, in dem dich-
ten Gebüſch des benachbarten Walls ſchlagen die Nachtigallen, die
Flamme der Ampel, die von der Decke herabhängt, brennt unbe-
weglich, denn kein Lüftchen regt ſich und keine froſtig abwehrende
Prinzlichkeit ſtört die Heiterkeit des Kreiſes. Noch iſt kein Voltaire
da, der ſeine Piquanterien mit graziöſer Handbewegung präſentirt,
noch fehlen die Algarotti, d’Argens und Lamettrie, all’ die berühm-
ten Namen einer ſpäteren Epoche — Offiziere ſeines Regiments
ſind es zunächſt noch, die hier der Kronprinz um ſich verſammelt:
v. Kleiſt, v. Rathenow, v. Schenkendorff, v. Groeben, v. Budden-
brock, v. Wylich, vor allem — Chaſot. *)
Das Leben, das er mit dieſen Offizieren führte, war frei
von allen Feſſeln der Etiquette, ja ein Uebermuth griff Platz, der
unſern heutigen Vorſtellungen von Anſtand und guter Sitte kaum
noch gefallen will. Fenſtereinwerfen, Liebeshändel und Schwärmer
abbrennen (zur Aengſtigung von Frauen und Landpaſtoren) zählte
zu den beliebteſten Unterhaltungsmitteln. Man war noch ſo un-
philoſophiſch wie möglich.
[47]
So kam der Auguſt 1736 heran; der Umbau des Rheins-
berger Schloſſes war beendet und der Umzug, die Ueberſiedelung
fand ſtatt. Von da ab beginnen die glänzenden, die vielgefeierten
Rheinsberger Tage. Aber dieſe ſchönen Rheinsberger Tage, die
das Ruppiner Leben verdunkelt haben, waren doch nicht ſo völlig
das Ende, der Tod des Ruppiner Interregnums, wie, einer allge-
meinen Vorſtellung nach, geglaubt wird. Vielmehr fand jetzt ein
Austauſch, eine Art Rückzahlung ſtatt und wenn von 1733 an,
die Ausflüge nach Rheinsberg Ruppin um die andauernde An-
weſenheit des Kronprinzen gebracht hatten, ſo war von jetzt an
Ruppin der Gegenſtand und das Ziel beſtändiger, freilich zum
Theil durch den „Dienſt“ gebotener Beſuche. Aber nicht nur waren
es die militairiſchen Inſpektionen, die dieſe Ausflüge nöthig machten,
auch Neigung, Gefallen an der Stadt, in der er vier glückliche
Jahre verlebt hatte, zogen ihn immer neu in die alten Kreiſe zu-
rück. Viele ſeiner Briefe geben Auskunft darüber; entweder tragen
ſie das Datum Ruppin und führen dadurch den Beweis längeren
oder kürzeren Aufenthalts daſelbſt, oder flüchtige Zeilen, von Pots-
dam, Berlin und andern Punkten aus geſchrieben, ſprechen ſeine
Sehnſucht aus nach ſeiner „geliebten Garniſon.“ So ſchreibt er
im Juni 1737 von Berlin aus an Suhm: „Den 25. gehe ich
nach „Amalthea,“ meinem Garten in Ruppin. Ich brenne vor
Ungeduld meinen Wein, meine Kirſchen und meine Melonen wieder
zu ſehn;“ und 1739 noch (am 16. Juni) heißt es in einem,
vom Ruppiner Garten aus datirten Briefe: „Ich werde morgen
nach Rheinsberg gehn um allda nach meiner kleinen Wirthſchaft
zu ſehen; hier wollen keine Melonen reif werden, ſo
gerne wie ich auch gewollt, daß ich meinem Gnädigſten Vater die
Erſtlinge des Jahres hätte ſchicken können.“
Dieſe beiden Briefe ſind in ſoweit wichtig, als ſie keinen
Zweifel darüber laſſen, daß Kronprinz Friedrich ſeinem „Amalthea“
zu Ruppin keineswegs den Rücken kehrte, vielmehr vom Auguſt
1736 an, eine Art Doppelwirthſchaft führte und an die Gär-
ten und Treibhäuſer, hier wie dort, die gleichen Anſprüche erhob.
[48] Sonntags las er in Ruppin ſeine Predigt, während Des Champs
vor der Kronprinzeſſin und dem Hofe in Rheinsberg predigte.
Selbſt noch unmittelbar nach der Thronbeſteigung (im Sommer
1740) ſah die Stadt Ruppin den nunmehrigen König Friedrich II.
häufig in ihren Mauern und bis zum Spätherbſt deſſelben Jahres
blieb es zweifelhaft, ob Ruppin oder Potsdam oder Rheinsberg
der erklärte Lieblingsaufenthalt des neuen Königs werden würde.
Großartige Gartenanlagen, die eben damals entworfen wurden,
ſchienen für Ruppin zu ſprechen, aber die weite Entfernung von
der Hauptſtadt, führte endlich zu andern Entſchlüſſen. Die Ter-
raſſen von Sansſouci wuchſen empor und — Ruppin war
vergeſſen. Es iſt zweifelhaft, ob der große König in 46jähriger
Regierung es jemals wieder geſehn.
Die Frage bleibt uns zum Schluſſe übrig, was wurde aus
dieſen Schöpfungen, großen und kleinen, die die Anweſenheit des
Kronprinzen in’s Daſein rief, was haben 120 Jahre zerſtört, was
iſt geblieben?
Zunächſt das Stadt-Palais. 1744 ſchenkte es der König
an ſeinen jüngſten Bruder, den Prinzen Ferdinand, der ſchon
früher zum Chef des ehemaligen Kronprinzlichen Regiments ernannt
worden war und in der Epoche, die dem 7jährigen Kriege voraus-
ging, in Ruppin ſeine Garniſon hatte. Auch nach 1763, und
zwar bis 1787, wo das große Feuer die Stadt zerſtörte, ſcheint
ſich der Prinz, wenn nicht andauernd (er lebte zum Theil auch
in Friedrichsfelde bei Berlin), ſo doch vielfach bei ſeinem Ruppiner
Regimente aufgehalten zu haben, wenigſtens muß ich das aus der
Exiſtenz zweier Bilder ſchließen, die als einzige Ueberbleibſel aus
dem ehemalich Kronprinzlichen, ſpäter Prinz Ferdinand’ſchen Palais,
bis dieſen Augenblick in Ruppin exiſtiren. 1787 brannte dies
„Palais“ nieder und nichts wurde gerettet als zwei große Oel-
portraits, die Bildniſſe der Königin Marie Antoinette und der
Kaiſerin Catharina. Beide Bilder (einem einfachen Ruppiner Bürger
gehörig) rühren, wie aus dem hier dargeſtellten Lebensalter der
beiden Fürſtinnen unſchwer zu berechnen iſt, etwa aus dem Jahre
[49] 1780 her, denn Marie Antoinette erſcheint als eine jugendliche
Schönheit von einigen zwanzig, Catharine aber als eine mehr
denn ſtattliche Matrone von über 50 Jahr. Aus dem einfachen
Umſtande, daß das abgebrannte Palais dieſe beiden Bilder über-
haupt enthielt, zieh ich den Schluß, daß Prinz Ferdinand bis
1787 häufiger in Ruppin gelebt haben muß; denn aus der
kronprinzlichen Zeit von 1732—1740 können natürlich die
Bildniſſe zweier Fürſtinnen nicht ſtammen, von denen die eine
damals ein Kind, die andre noch gar nicht geboren war. Privat-
perſonen aber waren damals in den allerſeltenſten Fällen in der
Lage, die Wände ihres Zimmers mit den lebensgroßen Portraits
fremder Fürſtlichkeiten ſchmücken zu können. Was die Bilder ſelbſt
angeht, ſo macht das wohlerhaltene Portrait der ſchönen Habs-
burgerin einen ſehr gefälligen Eindruck, während das Bildniß der
Kaiſerin Catharine, mit dem Andreaskreuz auf der Bruſt, nicht
nur quantitativ durch Umwandlung aus einem urſprünglichen
Knieſtück in ein Bruſtſtück, ſondern weit mehr noch qualitativ
durch einen plump aufgetragenen Firniß verloren hat. Die Um-
wandlung in ein Bruſtſtück erfolgte, wie mir der Beſitzer vertrau-
lich mittheilte, durch einfache Anwendung einer großen Zuſchneide-
Scheere und war nöthig, weil die untre Parthie, bis zum Gürtel
hinauf, ſchwer gelitten hatte. Der Erzähler hatte keine Ahnung
von der Symbolik ſeiner Rede, oder von der hiſtoriſchen Gerech-
tigkeit, die die große Zuſchneide-Scheere geübt.
Das „Palais“ ſelbſt iſt niedergebrannt, aber ein apart aus-
ſehendes Haus (das ſogenannte Mollius’ſche Haus) iſt an der-
ſelben Stelle aufgeführt worden, wo 1732 die nachbarlichen Häuſer
des Obriſten Wreech und des Obriſtlieutnants Möllendorf zu
einer Art von prinzlichem Palais verbunden wurden. Die Straße,
die zu dieſem Hauſe führt, führt wie billig den Namen der Prinzen-
Straße und der prächtige alte Lindenbaum, der wie ein grüner
Schild ſeine Zweige vor dem poëtiſch dreinſchauenden grauweißen
Hauſe ausbreitet, ſchafft hier ein Bild, wie es dieſer Stelle wohl
paßt und kleidet.
4
[50]
Zwiſchen dem Hauſe und der Stadtmauer liegt jetzt ein
Gärtchen. Wir paſſiren es und ſtehen vor der Mauerpforte, die
den Kronprinzen allabendlich auf den ſchönen „Wall“ zu führen
pflegte, wenn er nach dem Dienſt und der Arbeit des Tages ſich
erhob, um im „Tempel“ den obengenannten Freundeskreis zu ver-
ſammeln.
Die Pforte iſt jetzt vermauert und es koſtet uns einen Um-
weg, um die Außenſeite der Mauer und den „Wall“ zu gewinnen.
Seine ſchattigen Gänge führen uns jetzt nach „Amalthea.“
Hier im Garten iſt noch manches wie es war. Die Einrich-
richtungen ſind verändert, allerhand Neubauten ſind entſtanden,
aber die Einfaſſungsmauer iſt geblieben und die hohen Platanen
im Hintergrunde, die über die Mauer hinweg mit den draußen
ſtehenden Bäumen Zwieſprach halten, ſind noch lebendige Zeugen
aus den fridericianiſchen Tagen her. Vor allem exiſtirt noch der
„Tempel.“ Nicht ſind es Säulen mehr, die das Kuppeldach tragen;
ein ſolides Mauerwerk, mit Thür und Fenſtern, iſt an ihre Stelle
getreten und bildet ein rundes Zimmer von mäßiger Größe, eben
ausreichend zu einem Souper von Sechs.
Wir ſind die glücklich Geladenen. Der Wein lacht in den
Gläſern, die Unterhaltung wächſt an Friſche und Leben, die Wand-
leuchter brennen und durch die offenſtehende Thür trifft Mondlicht
und Abendkühle den froh verſammelten[ ]Kreis. Es iſt als wäre die
alte Zeit wieder da und ungeſucht wird unſer Beiſammenſein zu
einer Darſtellung, zu einer Scene aus: „Kronprinz Friedrich in
Ruppin“, ein Stück, das noch geſchrieben werden ſoll. Die paſſenden
Koſtüme fehlen freilich, denn an was erinnerten unſre Reiſeröcke
weniger, als an die ſilbergeſtickten Uniformen der Offiziere des
kronprinzlichen Regiments; aber was den Koſtümen gebricht, das
wird aufgewogen durch die künſtleriſche Treue der Couliſſen und
Requiſiten. Wir haben die alte Zeit leibhaftig um uns her, nicht
völlig die Zeit des Kronprinzen Friedrich, aber doch immer die
fridericianiſche Zeit. Die Spiegel mit ihren Rähmen in Barock,
die Tiſche mit ihren ausgeſchweiften Füßen, die Atlas-Gardinen,
[51] das Deckengemälde (eine „Geburt der Venus“ darſtellend), alles
erinnert an jene reizvolle, aus proſaiſchen und poëtiſchen Elementen
wunderlich gemiſchte Zeit, die ihr Kleid in den Schlöſſern der
Ludwige, ihren Gehalt aber in den Schlöſſern der Friedriche
empfing. Und dort iſt er ſelbſt, der ſeinem Jahrhundert den Namen
gab. Aus der Niſche hervor leuchtet ſein Auge und um ihn her,
an den Wandpfeilern entlang, ſchließt ſich ein bunter Kreis von
Zeitgenoſſen: Prinz Heinrich und Voltaire, Zieten und Leſſing,
Gluck und Kant.
Unſre Gläſer klingen zuſammen. „Es lebe die alte Zeit, nicht
ſie ſelbſt, aber das, was ſie groß gemacht.“
Wir brachen auf und traten in den Garten. Die Nachtigallen
ſchlugen auf dem „Wall.“ Es klang wie ein Proteſt gegen die
„alte Zeit“ und wie ein Loblied auf Leben und Liebe.
4*
[[52]]
4.
General v. Günther.
Johann Heinrich Günther, ein ausgezeichneter Führer leichter Trup-
pen, der glorreich fortſetzte, was unter Zieten und Belling begon-
nen worden war, wurde im Sommer 1736, alſo in demſelben
Jahre, in dem Kronprinz Friedrich nach Rheinsberg überſiedelte,
zu Neu-Ruppin geboren. Er war aus bürgerlichem Stande. Sein
Vater ſtand als Feldprediger beim Regiment Kronprinz und zeich-
nete ſich durch große Kanzelgaben aus. Bald nach dem Tode des
Vaters, der bereits einige Monate vor der Geburt Johann Hein-
richs erfolgte, wurden mehrere Bände ſeiner Predigten heraus-
gegeben.
Sein Sohn, unſer General Günther, gehört unbeſtreitbar zu
den bedeutendſten Perſönlichkeiten, die aus den Mauern Neu-Rup-
pin’s hervorgegangen ſind; dennoch bin ich nicht völlig ſicher, ob
unſre Darſtellung vor dem alten Reitergeneral Halt machen und
ihm die pflichtſchuldigen Honneurs erweiſen würde, wenn nicht, im
Lauf der Zeiten, die Perſon Günthers durch das Geflüſter: „er
ſei ein illegitimer Sohn des Kronprinzen Friedrich,“
ein geſteigertes Intereſſe gewonnen hätte, oder, wie Droyſen ſich
ausdrückt, „wenn nicht das Gerücht entſtanden wäre, daß der
Kronprinz bei der ſchönen Predigersfrau in Neu-Ruppin die Rolle
des Jupiter in Amphitryos Haus geſpielt habe.“ Dies Gerücht
(wir werden zu unterſuchen haben, woraus entſtanden) war ſicher-
lich ohne alles Fundament, dennoch hat es ſich erhalten, auch
[53] jetzt noch, wo die Glaubwürdigkeit deſſelben wenigſtens ſtark er-
ſchüttert iſt. Günthers Biograph (der ſpätere Kriegsminiſter von
Boyen, der während des polniſchen Feldzuges, als Adjutant des
Generals, auch in perſönlich-nahe Beziehungen zu demſelben trat)
ſpricht von der Mutter deſſelben als von einer „guten und
frommen Frau,“ eine Bezeichnung, die er vermieden haben
würde, wenn er irgend welche Veranlaſſung gehabt hätte, jenes
Gerücht als begründet anzuſehn. Die Frage bleibt freilich: wie
konnte ſolch Gerücht überhaupt entſtehen? welche Scheingründe
waren thätig, um einer müßigen Erfindung wenigſtens das Kleid
einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit zu leihen? Es iſt wahr, man hat
von einer frappanten Aehnlichkeit zwiſchen dem General und dem
großen König geſprochen, hat in dem Aufſteigen eines Bürgerlichen
und Feldpredigerſohns bis zum Freiherrn und zum General-Lieu-
tenant den Beweis erblicken wollen, daß es mit dem alſo Aus-
gezeichneten „noch etwas Beſonderes auf ſich gehabt
haben müſſe ꝛc. ꝛc.,“ aber man hat dabei überſehn oder über-
ſehen wollen, daß eine frappirende Aehnlichkeit zwiſchen den Hohen-
zollern und den Offizieren ihrer Armee bis dieſen Augenblick eine
täglich wiederkehrende Erſcheinung iſt, und daß ferner die hohen
Auszeichnungen, deren ſich gegen das Ende ſeiner Tage hin unſer
General allerdings zu erfreuen hatte, ihm nicht vom großen Könige,
ſondern von den beiden Nachfolgern deſſelben, zumal von Friedrich
Wilhelm III., zu Theil wurden. Kurz heraus, die Sache iſt eine
Mythe, für deren Entſtehung wir, außer dem Umſtand, daß das
Oberſt v. Wreech’ſche Haus, das der Kronprinz in Ruppin be-
wohnte, allerdings durch ſeinen bloßen Namen ſchon an die kurz
vorhergegangenen intimen Beziehungen zur ſchönen Frau v. Wreech
(in Tamſel bei Küſtrin) erinnerte, keine andre Erklärung, als die
Sucht des Menſchenherzens finden können, hervorragende Perſön-
lichkeiten durch Ausſtaffirung mit ſogenannten „intereſſanten Ver-
hältniſſen“ wo möglich noch intereſſanter zu machen.
Nach dieſer Abſchweifung, die zur Aufklärung über einen oft
erwähnten Punkt nöthig war, fahr ich in Zuſammenſtellung des
[54] biographiſchen Materials fort, das ich im Stande geweſen bin
über unſern Helden zu ſammeln.
Johann Heinrich’s Jugendjahre, die er zunächſt im Hauſe
ſeiner verwittweten Mutter verlebte, ſcheinen Jahre der Entbehrung
geweſen zu ſein. Nichtsdeſtoweniger ſetzte die Mutter alles daran,
ihn für das geiſtliche Amt zu erziehn, in dem der Vater des Kna-
ben bereits Befriedigung und Auszeichnung gefunden hatte. Die
Univerſität Halle bot dazu in mehr als einem Sinne die Mittel.
Bald nach Ausbruch des ſiebenjährigen Krieges, wahrſcheinlich im
Jahre 1757, trat unſer Günther ſeine theologiſchen Studien an
der berühmten Hochſchule an. Aber dieſe Studien wurden bald
unterbrochen. War es, daß die wachſende Noth des Vaterlandes
den feſten Willen heranreifte, Gut und Blut für die Sache des
Königs einzuſetzen, oder war es — wie eine andre Lesart lautet
— die Ueberzeugung, daß vielleicht morgen ſchon ein Zwang da
eintreten würde, wo heute noch die Möglichkeit eines freiwilligen
Entſchluſſes war, gleichviel, der Eintritt in die preußiſche Armee
erfolgte.
Ernſt Moritz Arndt, in ſeinen „Wanderungen und Wande-
lungen mit dem Freiherrn v. Stein“ erzählt den Hergang nach
Mittheilungen, die er dem Geh. Kriegsrath Scheffner (in Königs-
berg) zu verdanken ſcheint, im Weſentlichen wie folgt:
„Bald nach Ausbruch des ſiebenjährigen Krieges ſtanden vier
unter einander befreundete Jünglinge in den Liſten der Hochſchule
Halle eingeſchrieben. Sie hießen Scheffner, Neumann, l’Eſtocq und
Günther. Alle vier haben ſich ſpäter auf verwandtem Felde aus-
gezeichnet. Eines Abends beim Commers führte das Geſpräch dar-
auf hin, daß ſie binnen kürzeſter Friſt für die Armee gepreßt und
eingekleidet werden würden. Nach einigem Hin- und Hererwägen
reifte der Entſchluß in ihnen, lieber gleich als Freiwillige in ein
berühmtes Huſarenregiment einzutreten. Scheffner, nachdem er
ehrenvoll gedient, lebte noch 1813 als Kriegs- und Domainen-
rath in Königsberg; Neumann wurde durch ſeine tapfre Ver-
theidigung Koſel’s, — l’Eſtocq durch ſeinen entſcheidenden Angriff
[55] in der Schlacht bei Preußiſch-Eylau berühmt; Günther aber glänzte,
zumal während des polniſchen Feldzuges von 1794, durch ſeine
organiſatoriſchen Talente und verdient in gewiſſem Sinne ein
Vor-Scharnhorſt genannt zu werden.
Boyen ſtellt den Hergang minder poëtiſch dar. Darnach war
es kein „berühmtes Huſaren-Regiment“, in das unſer Günther zu-
nächſt eintrat, ſondern das „Kommiſſariat,“ eine wichtige, aber
doch immerhin ziemlich proſaiſche Sache. Er gab dieſe unkriegeriſche
Stellung aber in Bälde auf, focht zunächſt in dem Frei-Bataillon
von Angelelly, dann im ſogenannten Trümbach’ſchen Corps und
kam erſt nach dem Schluß des Krieges als Stabs-Rittmeiſter zum
Küraſſier-Regiment Vaſold. Während des Krieges war er mehr-
fach verwundet worden. Die Beförderungen gingen jetzt langſamer
denn je, und zwanzig Jahre verfloſſen, bevor er vom Stabs-
rittmeiſter bis zum Oberſtlieutenant avancirte. Als ſolcher erhielt
er 1783 das Commando über die ſchwarzen Huſaren. Zwei Jahre
ſpäter avancirte er zum Oberſten und 1788 ernannte ihn König
Friedrich Wilhelm II. zum Chef des Bosniaken-Regiments.
Dieſe 25 Friedensjahre — der baieriſche Erbfolgekrieg war
kaum als ein Krieg zu rechnen — hatten unſerm Günther wenig
Gelegenheit gegeben, nach außen hin zu zeigen, von welchem Metall
er war. Nur in einem allerengſten Kreiſe wußte man ſchon damals,
was man an ihm beſaß. In kleinen Garniſonſtädten vergingen
ihm die Jahre; 1789 ward er General-Major. An dem Cham-
pagne-Feldzug und der Rheincampagne nahmen die Truppen, bei
denen Günther ſtand, nicht Theil und auch die letzten 10 Jahre
ſeines Lebens würden muthmaßlich ohne kriegeriſche Lorbeern für
ihn geblieben ſein, wenn nicht Kosciuszko’s Auftreten und der un-
provocirte Angriff Madalinski’s auf eine kleine ſüd-preußiſche Land-
ſtadt (am 15. März 1794) das Signal zu einem kurzen, aber
erbitterten Kampfe an den Ufern der Weichſel und des Narew
gegeben hätte. Die nun folgenden Sommermonate waren es, die
unſrem Günther Gelegenheit boten, ſich als einen Partheigänger
und Avant-Garden-Führer von ungewöhnlicher Begabung zu zeigen,
[56] als einen raſchen und kühnen Reitergeneral, wie er ſeit den Tagen
Zietens nicht dageweſen war. Droyſen, in ſeinem Leben York’s
(York war Offizier in Günther’s Corps), ſchildert unſern General
wie folgt: „An der Spitze ſeiner Bosniaken, in den haſtigen
Plötzlichkeiten des Parteigängerkrieges, war er in ſeinem Element,
er ſelbſt immer voran. Seine Schlauheit und körperliche Gewandt-
heit gaben ihm die Luſt der Gefahr; er verſtand es, ſie bei ſeinen
Leuten bis zur Tollkühnheit zu ſteigern, aber indem er es rück-
ſichtslos mit jedem Feinde aufzunehmen ſchien, lag ſeiner Kühn-
heit die beſonnenſte Berechnung zum Grunde. So verſtand er es,
den Leuten die Zuverſicht des Erfolges zu geben. Eine kurze An-
rede, — dann ging es mit niederwerfendem Ungeſtüm auf den
Feind. Kam es beſonders hart, ſo hielt er wohl eine Anſprache
wie die folgende: „Alles iſt reiflich und behutſam erwogen; auch
habe ich gethan, was zu allen Dingen den Segen bringt, habe
Gott den Herrn um ſeinen allmächtigen Beiſtand angefleht, wenn
wir aber doch nicht gewinnen, ſo hole euch verfluchte
Kerle alle der Teufel, denn dann tragt ihr allein die
Schuld.“
Nach Vorausſchickung dieſer allgemeinen Bemerkungen, die
den Mann und den Geiſt, der in ſeiner Truppe lebendig war,
ſehr anſchaulich ſchildern, wenden wir uns den Ereigniſſen ſelber
zu, die ihm Gelegenheit gaben, ſolche Anſprache zu halten.
Die polniſchen Beſitzungen Preußens (das ſogenannte Süd-
Preußen) waren damals viel ausgedehnter als jetzt und mit Rück-
ſicht auf das weite, weder durch Kunſt noch Natur befeſtigte Areal
ſehr ſchwach mit Truppen beſetzt. Die nächſte Aufgabe, die den
Truppenführern nach Ausbruch der Feindſeligkeiten zufiel, war die,
eine unendlich langgezogene Grenze mit einer Armee zu decken, die
kaum 10,000 Mann zählen mochte. Unſer Günther erhielt den
linken Flügel und hatte eine 20 Meilen lange Linie, die ſich, am
Narew und ſeinen Nebenflüſſen entlang, von Oſtrolenka bis Gra-
jewo erſtreckte, mit zehn Eskadrons und einem Bataillon zu ver-
theidigen. Es ſchien faſt unmöglich; das Land lag offen da und
[57] der an Zahl weit überlegene Feind hatte es ſichtbarlich in ſeiner
Macht, überall nach ſeinem Belieben durchzubrechen. Hier war es,
wo die Prinzipien ſich glänzend bewährten, nach denen Günther,
eine Reihe von Jahren hindurch, die ihm untergeordneten Reiter-
Regimenter im Dienſt geübt und in mehr als dem gewöhnlichen
Sinne für den Krieg vorbereitet hatte. Der Kern dieſes ſeines
Prinzips hatte nämlich darin beſtanden, die einzelnen Eskadrons,
die, von Stadt zu Stadt, in den Grenzdiſtrikten Süd- und Oſt-
Preußens in Garniſon lagen, in einer beſtändigen Kriegführung
mit und unter einander zu erhalten. Es war immer
Krieg. Wie eine Art Reiſe-General war er bald hier, bald da,
ſtellte ſich an die Spitze bald dieſer, bald jener Schwadron und
fiel, ſei’s Tag, ſei’s Nacht, über die Truppen eines andern Gar-
niſonplatzes her. Dadurch hatte er, in vieljähriger Uebung, ein
Corps von ſeltner Schlagfertigkeit ausgebildet, eine Truppe genau
der Art, wie ſie jetzt erfordert wurde, wo es darauf ankam, eine
Handvoll Leute über weite Strecken hin gleichſam wie auszu-
ſtreuen und auf ein gegebenes Zeichen im Ru wieder zu concen-
triren. Es war die Kunſt, mittelſt eines lebendigen, aus vielen
Theilen zuſammengeſetzten Gliederſtabs heut’ auf 20 Meilen hin
eine dünne Grenzlinie zu ziehn und morgen dieſen lang ausge-
zogenen Stab zu einem compacten und widerſtandsfähigen Bündel
zuſammen zu klappen. In dieſer Kunſt erwies ſich Günther
als Meiſter. Späher und eingebrachte Gefangene erhielten ihn über
alle Pläne des Feindes in beſter Kenntniß, und wo immer dieſer
den Durchbruch verſuchen mochte (um dann im Rücken das Land
zu inſurgiren), fand er entweder den Riegel feſt vorgeſchoben, oder
Günther ergriff die Offenſive, warf ſich auf die Anrückenden und
ſchlug ſie direkt oder imponirte ihnen doch genugſam, um ſie zum
Rückzug zu bewegen. Die Gefechte bei Kolno und Demniki (am
9. und 18. Juli) werden nicht nur für die Lebensgeſchichte Gün-
thers, ſondern namentlich auch für die Geſchichte des „kleinen
Kriegs“ ein paar Muſter-Beiſpiele bleiben.
Die Geſchicklichkeit, mit der General Günther operirte, konnte
[58] nicht ermangeln, an höchſter Stelle die Aufmerkſamkeit auf einen
ſo ausgezeichneten, ſo hingebenden und zu gleicher Zeit ſo vom
Erfolge gekrönten Offizier hinzulenken, und wiewohl erſt der dritte
General beim Corps, übertrug ihm der König (während die Trup-
pen in Süd-Preußen unter den Befehl des Generals Favrat ge-
ſtellt wurden) das Oberkommando über alle am rechten Weichſel-
Ufer (ſo ſchreibt Boyen; es muß aber unbedenklich das linke
heißen) ſtehenden Truppen, deren Beſtimmung es war, mit den
Ruſſen unter Suwaroff gemeinſchaftlich gegen Warſchau vorzu-
dringen und durch Einnahme der Hauptſtadt den Heerd des Auf-
ſtandes zu erſticken. So ſah ſich Günther, der bis dahin über den
Partheigänger-Krieg nicht hinausgekommen war, plötzlich an die
Spitze einer „Armee“ geſtellt und der Beſtimmung gegenüber,
ſelbſtändig und im großen Stil zu operiren. Freudig und muth-
voll erfaßte er die ihm gewordene Aufgabe und ſah im Geiſte
bereits eine zweite ruhmreiche Schlacht bei Warſchau geſchlagen,
unter deſſen Mauern die Brandenburger ſchon einmal gekämpft
und den lange ſchwankenden Kampf zur Entſcheidung gebracht
hatten. Aber es war anders beſchloſſen; noch eh’ das Corps die
Weichſel überſchreiten konnte, traf die Nachricht von der Erſtür-
mung Praga’s ein. Warſchau, zitternd vor der eiſernen Hand
Suwaroff’s, hatte ſeine Thore den Ruſſen geöffnet. Der Krieg
war zu Ende, und nach einer interimiſtiſchen Verwaltung der Pro-
vinz (Süd-Preußens) nahm der Friedensdienſt und das Garniſon-
leben in kleinen Städten auf’s Neue ſeinen Anfang. Günther
und die Bosniaken, deren Chef er blieb, kamen nach Tycoczyn.
Die Auszeichnungen drängten ſich jetzt. 1795 ward er General-
Lieutenant; zwei Jahre ſpäter erhob ihn Friedrich Wilhelm III.
(gleich nach ſeiner Thronbeſteigung) in den Freiherrnſtand; endlich
1802, nach der Revue, erhielt er den Schwarzen Adler-Orden.
Aber nur eine kurze Spanne Zeit noch blieb ihm, ſich dieſer Ehren
und Auszeichnungen zu erfreuen. Ein halbes Jahr ſpäter, am
22. April 1803, ſtarb er. Als der Adjutant bei ihm eintrat, fand
er den General am Schreibtiſch, den Kopf auf die Seite geneigt
[59] — todt. Der Tod war als ein Längſterwarteter an ihn heran-
getreten. Schon am Tage zuvor hatte er zu ſterben geglaubt und
bei einer Truppenvorſtellung, die er ſelbſt noch leitete, ſeinen Adju-
tanten gebeten, ihm zur Seite zu bleiben, um ihn auffangen zu
können, wenn er vom Pferde ſtürze. Bis zuletzt war ihm das
„Ich dien’“ ein Stolz und ein Bedürfniß geweſen.
Günther war 46 Jahre lang Soldat. Immer zeigte er ſich
treu in Erfüllung ſeiner Pflicht, immer war er ein ritterliches
Vorbild, ein organiſatoriſches und militäriſches Talent, und doch,
ohne jene kriegeriſche Epiſode am Narew, würden wir wenig oder
nichts von ihm wiſſen. Selbſt die Sage, die ſich an ſeine Geburt
knüpft, würde nicht ausgereicht haben, ihn vor dem Vergeſſen-
werden zu bewahren, denn ein pikant-anekdotiſches Element ſteigert
wohl ein ſchon vorhandenes, auf Thaten gegründetes Intereſſe,
aber iſt zu ſchwach, es zu wecken. Günther’s Ruhm und Bedeu-
tung wurzelt in den kurzen Kämpfen von 1794. Wenn trotz dieſer
Kämpfe ſein Name nicht heller glänzt, ſo liegt das in einer Ver-
kettung äußerer Umſtände, unter deren Ungunſt manche hervor-
ragende Kraft jener Zeit und ſpeciell jener polniſchen Kämpfe zu
leiden gehabt hat. Der Krieg war unpopulär, die Theilung Polens
eine Maßregel, der die Sympathieen der Völker niemals zur Seite
geſtanden hatten und die Schroffheit Suwaroff’s, die des Guten
in derſelben Weiſe zu viel that, wie die oberſte Leitung preußi-
ſcherſeits (freilich ohne Verſchulden unſres Günther) des Guten zu
wenig leiſtete, war nicht geeignet, dem ganzen Kampfe die Sym-
pathieen zu erwecken, die ihm bis dahin gefehlt hatten. Man ſchämte
ſich faſt des Krieges, man hatte keine Freude daran und die ein-
zelne Großthat litt unter dem Mißkredit, in dem das Ganze ſtand.
Dies würde alles genugſam erklären, aber was den Ausſchlag
gab, war noch ein andres. Kaum iſt es nöthig, es zu nennen.
Der Untergang des alten Preußen und die Wiederaufrichtung
eines neuen waren Welt-Ereigniſſe, die dieſen Vorgängen der
90ger Jahre auf dem Fuße folgten und die wie eine mächtige
Fluth all die Markſteine einer kleineren Geſchichtsepoche umwarfen
[60] und hinwegſpülten. Es iſt Aufgabe ſpäterer Zeiten, ſolche in Trieb-
ſand begrabenen Denkſteine neu aufzurichten. Dazu ſollten dieſe
Zeilen ein Verſuch ſein.
Günther’s eigentlichſte Bedeutung ſcheint übrigens, nach dem
übereinſtimmenden Urtheil ſeiner Zeitgenoſſen, vor allem in ſeiner
Perſönlichkeit gelegen zu haben. Boyen preiſt ihn auf jeder
Seite, und da junge Adjutanten gewöhnlich diejenigen ſind, die
ihrem alten General (oft mit gutem Grund) am allerwenigſten voll
Bewunderung entgegentreten, ſo ſind wir wohl zu dem Schluß
berechtigt, daß in dieſem Falle eine ſiegende Gewalt vorlag, die
alles Bekritteln todt machte. Das Myſteriöſe, das um und an
ihm war, ſteigerte allerdings die Macht ſeiner Perſönlichkeit nicht
wenig. Es hieß von ihm, daß er wie ein Ordensbruder die drei
Gelübde der Keuſchheit, der Armuth und des Gehorſams abgelegt
habe. Daß dies von jedem geglaubt wurde, zeigt am ehſten, wie
ſein Leben war. Es galt dafür, daß er nie ein Weib berührt
habe, drum ſei er ſo gewaltig von Körper. *) Das Gelübde der
Armuth hielt er nicht minder treu. Von ſeinem reichen Gehalt
nahm er für ſeine Perſon nur 300 [...]; was von dem Uebrigen
nicht für die Offiziertafel und für Lohn und Bedienung darauf
ging, wurde den Armen gegeben. Die Tafel war reichlich beſetzt,
aber er ſelbſt aß regelmäßig nur eine Soldatenſuppe und ein ein-
faches Stück Fleiſch. Als er einen jungen Offizier zum Nachbar
flüſtern hörte, daß der Alte ſich ſeine frugale Koſt ſehr gut ſchmecken
[61] laſſe, ward auch noch das Fleiſch aus der Suppe gethan. Wie er
an Umſicht, Raſchheit und verſchlagener Tapferkeit ein Geiſtes-
verwandter des alten Zieten war, ſo war er es auch in Schlicht-
heit, Rechtſchaffenheit, Unbeſtechlichkeit. Die Worte des Prinzen
Heinrich, die den alten Huſaren-General ſo ſchön charakteriſiren,
(„er verachtete alle diejenigen, die ſich auf Koſten unterdrückter
Völker bereicherten“) paſſen ebenſo auf Günther. Seine kurze
Verwaltung Süd-Preußens war deshalb in mehr als einer Bezie-
hung ein Segen für jene Landestheile. Seine Uneigennützigkeit
erwarb ihm die Achtung von Freund und Feind, und ſelbſt die
polniſche Bevölkerung näherte ſich ihm und unterwarf ſich in ſtrei-
tigen Fällen ſeiner Entſcheidung. Von Suwaroff, den er öfter
ſah, wurde er in ausgezeichneter Weiſe empfangen. „Ich freue
mich, heute einen wahren General kennen zu lernen“
waren die erſten Worte, womit der damals im Zenith ſeines
Ruhms ſtehende Praga-Erſtürmer unſern General begrüßte, und
als Günther mehrere Jahre ſpäter ein in Süd-Preußen zurück-
gebliebenes, völlig vergeſſenes ruſſiſches Magazin unaufgefordert
an Suwaroff zurückliefern wollte, rief dieſer verwundert aus:
„Solch’ einen Glauben hab’ ich in Iſrael nicht funden.“ Frei-
lich, es war ſo unruſſiſch wie möglich.
An Gehorſam, an Dienſttreue war ihm keiner gleich. Seine
ſtete Sorge war, daß der König ſchlecht bedient werde. In
vollem Maaße gehörte er noch jenem Krieger-Orden an, der ſich
während der Regierungszeit des großen Königs gebildet hatte,
deſſen erſte und einzige Regel lautete „im Dienſt des Vaterlandes
zu leben und zu ſterben.“ Das Opfer war Gebot, war Leiden-
ſchaft. Preußen über alles. Noch wenige Wochen vor ſeinem Tode,
als ihm erzählt wurde, daß die Grenadier-Bataillone die alten
Grenadier-Mützen wieder erhalten hätten, rief er aus: Gott gebe,
daß mit den alten Mützen auch der alte Geiſt der Gleim’ſchen
Grenadiere wieder da ſein möge, dann werden ſie und Preußen
unüberwindlich ſein.“ Der Tod erſparte ihm die bittre Erfahrung,
[62] daß der „alte Geiſt“ unwiederbringlich verloren war. Seine letzten
Momente hab ich bereits geſchildert.
Es war ihm, in einem dem Dienſt und der Pflicht gewid-
meten Leben verſagt geblieben, die höchſten Aufgaben zu löſen,
Aufgaben, zu denen er der Ausſage aller derer nach, die ihm nahe
ſtanden, wohl befähigt war. Aber wenn ihm das Höchſte verſagt
blieb, das Beſte, Edelſte lebte und webte in ihm. Mög’ es dem
Vaterlande nie an Männern fehlen, gleich ihm!
[[63]]
5.
Schinkel’s Geburtshaus und ſeine Kinderjahre.
Ein ungedruckter Schinkel’ſcher Brief.
Wenn berühmte Männer in ihren alten Tagen ſich entſchließen,
ihre Biographie zu ſchreiben, ſo iſt es nichts Seltenes, daß die
erſten Capitel, die ſich mit ihrer Kindheit beſchäftigen, die aller-
intereſſanteſten werden. Die alten Herren, nachdem ſie am Tiſch
von Fürſten und Herren geſeſſen und ſich genugſam von der
Wahrheit überzeugt haben, daß alles eitel ſei, kehren dann mit
rührender Vorliebe zu den Spielen ihrer Kindheit zurück und ver-
weilen lieber dabei, als bei dem Ordens- und Ehrenempfang ihrer
ſpäteren Jahre. Anders verhält es ſich, wenn Berühmtheiten es
verſchmähen oder vergeſſen, ihre Lebensbeſchreibung niederzuſchreiben,
und nur das zu unſerer Kenntniß kommt, was Andre von ihnen
wiſſen. Dieſe „Anderen“ wiſſen nie etwas von den Kinderjahren
des berühmten Mannes; ſie lebten damals kaum, und der
Berühmte hat die vielleicht hübſcheſten Capitel ſeines Lebens mit
in’s Grab genommen. So iſt es mit Schinkel. Er hat ſeine
Biographie nicht geſchrieben, kaum Material zu derſelben hinter-
laſſen; beſondre Unglücksfälle haben das Wenige, das da war,
abermals vermindert. Ich habe an ſeinem Geburtsort nachgeforſcht;
es leben noch Perſonen, die ihn als Kind gekannt haben, und ich
gebe in Nachſtehendem, was ich über ihn erfuhr.
Karl Friedrich Schinkel wurde am 13. März 1781 zu Neu-
Ruppin geboren. Sein Vater war daſelbſt Superintendent und
[64] ſtarb in Folge der Anſtrengungen, die er während des großen
Feuers, das im Jahre 1787 die ganze Stadt verzehrte, durch-
zumachen hatte. Auch die Superintendenten-Wohnung wurde in
Aſche gelegt, ſo daß von dem Hauſe, drin Schinkel geboren wurde,
nichts mehr exiſtirt. Es ſtand ungefähr an derſelben Stelle, an
der ſich die jetzige Superintendenten-Wohnung befindet, aber
etwas weiter vorgelegen, auf dem jetzigen Kirchplatz, nicht an
demſelben. Die Mutter Schinkel’s zog nach dem Tode ihres
Mannes in das ſogenannte Prediger-Wittwenhaus, das, damals
vom Feuer verſchont geblieben, ſich bis dieſen Tag in alter Un-
verſehrtheit erhalten hat. In dieſem Hauſe hat Schinkel ſeine
Knabenzeit vom 6. bis zum 14. Jahre zugebracht.
Aus ſeiner früheſten Jugend iſt nur folgender kleiner Zug
aufbewahrt geblieben. Sein Vater zeichnete ihm öfter allerlei Dinge
auf Papier, namentlich Vögel. Der kleine Schinkel ſaß dann
dabei, war aber nie recht zufrieden und meinte immer: „Ein
Vogel ſähe doch noch anders aus.“ Sein Charakter nahm
früh ein beſtimmtes Gepräge an; er war beſcheiden, zurückhaltend,
gemüthvoll, aber ſchnell aufbrauſend und zum Zorn geneigt. Eine
ächte Künſtlernatur. *) Auf der Schule war er nicht ausgezeichnet,
vielleicht weil jede Art der Kunſtübung ihn von früh auf feſſelte
und ein intimeres Verhältniß zu den Büchern nicht aufkommen
ließ. Seine muſikaliſche Begabung war groß; nachdem er eine
Oper gehört hatte, ſpielte er ſie faſt von Anfang bis zu Ende
auf dem Klavier nach. Theater war ſeine ganze Luſt. Seine ältre
Schweſter ſchrieb die Stücke, er malte die Figuren und ſchnitt ſie
aus; am Abend gab es dann Puppenſpiel. Seine maleriſchen
Fähigkeiten müſſen früh entwickelt geweſen ſein. Eine Zeichnung
ſeines eigenen Kopfes, die er in ſeinem 14. Jahre nach dem
[65] Spiegel gemacht hat, hab’ ich geſehen. Sie iſt in großen Umriſſen,
ſkizzenhaft mit dem Bleiſtift entworfen; die ſchärferen Striche und
angegebenen Schattenparthieen mit Dinte dazwiſchen gezogen. In
ſeinem 14. Jahre zog ſeine Mutter nach Berlin und Schinkel
kam nur noch beſuchsweiſe nach Ruppin, beſonders nach Kränzlin,
einem nahebei gelegenen Dorfe, wo er im dortigen Predigerhauſe
die Ferien bei ſeiner verheiratheten Schweſter zu verbringen pflegte.
Die Töchter dieſer Schweſter leben noch in Ruppin und entſinnen
ſich eines Zimmers im Kränzliner Predigerhauſe, das er während
ſeiner mannigfachen Beſuche ganz mit Arabesken, Blumen und
Vögeln bemalt hatte. Aus ſpäterer Zeit ſtammt eine kleine Zeich-
nung, in chineſiſcher Tuſche ausgeführt, die ſich, ſorgfältig einge-
rahmt, im Beſitz des Küſters zu Darritz, eine halbe Meile von
Kränzlin, befindet. Er war 18 Jahr alt, als er dieſe äußerſt
ſaubre Arbeit machte, denn rechts in der Ecke ſteht: „Schinkel
99 fec.“ Die Zeichnung (etwa im Verhältniß von 9 Zoll zu 5 Zoll)
ſtellt ein Familienbegräbniß, ein Mauſoleum dar, das nach zwei
Seiten hin von dunklen Baumparthieen eingeſchloſſen iſt; links hin
öffnet ſich der Blick auf eine Landſchaftsſkizze, die, ſo klein ſie iſt,
auf der Stelle an die großen Vorbilder Claudés erinnert. Die
dem Beſchauer zugekehrte Längswand trägt die Inſchrift: »Tran-
quillitati« und darunter ein ſauber ausgeführtes Basrelief: Pluto
und Proſerpina, zu deren Füßen ein Bittender kniet. Die Arbeit
iſt lehrreich und intereſſant zugleich; in Ruhe, Einfachheit und
Schönheit ſchon ganz Schinkel, aber es fehlt freilich noch die Freiheit
der Bewegung; die Schule ſeines Meiſters Gilly blickt noch durch.
Dieſe zwei Zeichnungen, von denen ich die letztere, die eine
gewiſſe kunſthiſtoriſche Bedeutung beanſpruchen darf, ausführlicher
beſchrieben habe, ſind muthmaßlich alles, was die ganze Grafſchaft
Ruppin von dem bedeutendſten Manne beſitzt, den ſie je hervor-
gebracht hat; denn wie viel Tüchtiges auch, im Lauf der Jahr-
hunderte, an den Ufern des Ruppiner See’s emporgewachſen iſt,
keiner ragt an den Superintendenten-Sohn heran, der das alte
5
[66] Berlin in eine Stadt der Schönheit umgeſchaffen und ihm hof-
fentlich für immer den Stempel ſeines Geiſtes aufgedrückt hat.
Nach Kränzlin hin adreſſirte er auch ſeine Briefe aus Italien,
wohin er im Jahre 1803 jene Reiſe antrat, die ſo nachhaltig und
entſcheidend auf ſeine Kunſtrichtung einwirkte. Er verwandte zu
dieſer Reiſe ſein väterliches Vermögen und den Ertrag eines
„Panorama’s von Palermo“, das er für Gropius gemalt hatte.
Die Aufmerkſamkeit des Königs erregte er zuerſt im Radziwill’ſchen
Hauſe, wo er bei einer der ſtattfindenden Theatervorſtellungen eine
Mondſchein-Decoration mit ſo frappanter Wahrheit aufgeſtellt hatte,
daß der König nach dem Namen des Malers fragte. Auch das
mag hier erwähnt ſein, daß er zu Gneiſenau in freundſchaft-
lichen Beziehungen ſtand und bis in’s Lager hin, über künſtle-
riſche Detailfragen mit ihm correspondirte.
Die Italieniſche Correspondence des Meiſters, jene Reihen-
folge von Briefen, die er von Rom, Neapel und Sicilien aus
an ſeine Schweſter in Kränzlin richtete, iſt bis auf einen Brief
verloren gegangen; in ähnlicher Weiſe wie die Briefe David
Hume’s an ſeine Freundin Msr. Mure verloren gegangen ſind,
(die Köchin hatte dieſe Briefe ſtatt Stroh zum Sengen der Enten
und Gänſe benutzt), ſo ſind wir um dieſe Schinkel-Correspondenz
gekommen — Dienſtmädchenhände haben Ofenfeuer damit gemacht.
Der eine Brief, den wir folgen laſſen, wird zeigen, wie beklagens-
werth der Verluſt iſt. Schinkel war, wo ſein Herz fühlte, des
Wortes in hohem Maße mächtig. Franz Kugler ſagt Folgendes
von ihm: „Wenigen Menſchen war ſo, wie ihm, das Gepräge
des Geiſtes aufgedrückt. Was in ſeiner Erſcheinung anzog und
auf wunderbare Weiſe feſſelte, darf man nicht eben als eine Mit-
gift der Natur bezeichnen. Schinkel war kein ſchöner Mann, aber
der Geiſt der Schönheit, der in ihm lebte, war ſo mächtig und
trat ſo lebendig nach außen, daß man dieſen Widerſpruch der
Form erſt bemerkte, wenn man ſeine Erſcheinung mit kalter Be-
ſonnenheit zergliederte. In ſeinen Bewegungen war ein Adel und
ein Gleichmaß, in ſeinem Munde ein Lächeln, auf ſeiner Stirn
[67] eine Klarheit, in ſeinem Auge eine Tiefe und ein Feuer, daß
man ſich ſchon durch ſeine bloße Erſcheinung zu ihm hingezogen
fühlte. Größer aber noch war die Gewalt ſeines Wortes,
wenn das, was ihn innerlich beſchäftigte, unwillkürlich
und unvorbereitet auf ſeine Lippen trat.“
Von dieſer „Gewalt des Wortes“ giebt an mehr denn einer
Stelle der in wahrhaft klaſſiſcher Sprache geſchriebene Brief
Zeugniß, den wir der Güte einer Nichte Schinkels, des Fräulein
Wagner in Ruppin, verdanken, und den wir, mit Beibehaltung
der kleinen Abweichungen der damaligen Orthographie, in Nach-
ſtehendem folgen laſſen:
Meſſina, 14. Mai 1804. „Mit günſtigem Oſt verließ
ich am 8. Mai den Hafen Neapels, als noch des Veſuv’s zwie-
geſpaltener Gipfel die frühe Sonne barg. Ein braver Capitain
und eine luſtige Schiffsgeſellſchaft ſicherten mir die Entſchädigung
für das Ungemach der Seefahrt. Wir hatten uns, mein alter
Reiſegefährter und ich, mit zweien Freunden aus Rom verbunden,
die ganze Reiſe durch Sicilien zuſammen zu machen, um durch
gegenſeitige Mittheilung ſo viel Nutzen als Vergnügen zu haben.
Mittags flog das Schiff durch die Enge von Capri’s Fels-
wänden und dem Vorgebirg von Maſſa; der Abend brachte
uns die ſchöne Ueberſicht der Küſte von Salerno und des
Golfo di Napoli, den die dämmernden Vorgebirge der Stadt
am Horizonte beſchloſſen, verſchönert durch den Sonnenuntergang,
den wir traulich auf dem Verdeck in aller Muße genoſſen. Mit
dem Grau des Morgens war jede Ausſicht auf’s Land verloren,
nur Himmel und unendliche Fluth. Später ſtiegen am Horizont
die Lipariſchen Inſeln empor, zunächſt der Strombolo, dem
wir Mittags nahe vorbeiſegelten. Sein dampfendes Haupt warf
zuckend Aſche in die Luft, und Felſen, die ſich aus des Kraters
Rande löſten, rollten rauchend über die herabgeglittene Aſche in’s
Meer. Oeſtlich zieht ein ſanftes Ufer hinauf, ein wohlbebautes
Ländchen, deſſen Bewohner, den drohenden Gipfel nicht fürchtend,
zufrieden des Weinbaues und des Fiſchfanges pflegen. — Am
5*
[68] Abend dämmerte die Küſte Siciliens. Langſam näherten wir
uns; das frühe Tageslicht zeigte uns deutlicher das gigantiſche
Ufer Kalabriens, und die mit ſanfterem Gebirg ſich vor ihm
breitende Inſel, gekrönt vom glänzenden Schneehaupt des Aetna.
In gerader Säule ſtieg aus ſeinem Gipfel der Dampf in die
Höhe und bildete hoch über ihm Wölkchen, die bald in reinem
Aether verſchwanden. Es neigte ſich der Tag, als wir die Enge
von Meſſina oder den Pharo erreichten — das Bild Homers
ſtand lebhaft vor meiner Seele, ich ſah den irrenden Odyſſeus,
wie er der brauſenden Charybdis wich, um an den ſtarrenden
Felſen der Scylla die werthen Genoſſen zu verlieren, um ſein
und der Uebrigen Leben zu retten. — Noch immer brauſet Cha-
rybdis dunkelwogend, doch iſt ſie dem großen Schiffe im Sturme
nur gefährlich. Der Fels von Scylla ragt wie das entſtürzte
Haupt des jähen Kalabriſchen Gebirges aus der Flut und wölbt
die dunklen Grotten, in denen uns Homer das raubende Unge-
heuer malt. Ein Kaſtell und Städtchen gleichen Namens
hängen an ſeinem Abgrund. Die Küſte Kalabriens iſt groß und
fürchterlich; ſanfter und freundlich zieht mit milderer Natur das
Sikuliſche Land hinan, bis zum hohen Gipfel des Aetna.
Die Nacht brach ein, gewitterhaft umwölkte ſich der Himmel und
Sturm erhob ſich in der Enge. Viermal trieb das Schiff zurück
in die ſtrudelnde Flut der Charybdis. Der Capitain, der, des
übertriebenen Preiſes wegen, den Dienſt des Lootſen ausſchlug,
hatte ſeine ganze Gegenwart nöthig, der Strandung zu entgehen.
Mit der Mitternacht liefen wir in den Hafen Meſſinas.
Kein Ort erlitt mehr durch die Revolutionen der Natur als
Meſſina. In jedem Jahrhundert vom Erdbeben zertrümmert,
trägt es den ganzen Charakter ſeines Schickſal’s. Am Hafen ſteht
die lange Reihe der Ruinen ehemaliger Paläſte, und durch die
ganze Stadt herrſcht ein beſtändiger Bau. Ein großer Theil der
Einwohner zog nach der letzten Verwüſtung aus dem Thor und
ließ auf einer Ebene ſich in niedrigen Hütten nieder, die jetzt eine
Vorſtadt bilden. Eng zuſammengebaut, gab es Gelegenheit zu
[69] manchem Liebeshandel und zu mancher Heirath. — Dieſe kleinen
Wohnungen haben den ächt patriarchaliſchen Charakter. Man lebt wie
in der frühen Zeit der Menſchheit als eine große Familie beiſammen.
Die Vegetation um Meſſina iſt außerordentlich; die Indiſche Feige,
deren Blätter nicht ſelten 2 bis 3 Fuß lang emporſtreben, und
die mächtige Aloeſtaude, deren Blüthe wie ein Baum in die Lüfte
ragt, umzäunen die Gärten des Landmannes, aus denen oft über
Orangen die hohe Palme blickt. Mit ſchöner Waldung prangend,
erhebt ſich das Gebirge hinter der Stadt und bietet bezau-
bernde Punkte für die Ueberſicht der Meerenge. Von unglaub-
licher Schönheit iſt das Spiel der Farben an der Rieſenküſte Ka-
labrien’s hinter der blauen Ebene des Meeres. Von der bekannten
Fata Morgana in der Enge von Meſſina, deren Urſache die
Naturforſcher verſchieden erklären, ſah ich nur eine ſchwache Wir-
kung; an einem gewitterſchweren Abend nach einem heißen Tage
ſah man ein ſonderbares Wellen und Schimmern der Luft, das
eine Art von Strömen aus der Küſte Kalabriens zu der Siciliens
vermuthen ließ. Figuren bildeten ſich nicht, wie man ſie manchmal
mit allen Farben und Formen vorübereilen ſieht.
Catania, 24. Mai 1804. Wiewohl man uns rieth, durch
die Thäler Vall’ Demone und Vall’ di noto bewaffnete Garden
gegen die Straßenräuber zu nehmen, ſo unterließen wir es doch,
da wir mit dem Campieri, der uns die Maulthiere zum Ritt durch
die ganze Inſel vermiethete, und ſeinem Bruder ein Geſchwader
von 6 Perſonen bildeten. Der Weg bis Taormina, das alte Tau-
rominium, verläßt die Küſte nicht, die durch herrliche Vorgebirge
beſtändige Abwechſelung gewährt.
Unfern Reggio in der Enge lagen 3 große Schiffe der
Barbareskenflotte, die uns auf dem ganzen Wege zur Seite blieben
und den Küſtenweg gefährlich machten. Die Afrikaniſchen See-
räuber beunruhigen in jedem Jahre das Geſtade der Inſel; von
Zeit zu Zeit landend, führen ſie arme Küſtenbewohner und Rei-
ſende zur Sclaverei. Es iſt zu bewundern, daß nicht mehr gegen
dieſe Einbrüche gethan wird. — Der Abend kam, als wir das
Gebirg von Taormina erreichten. Die Gigantenformen dieſer
[70] Gegend veranlaßten die Vermuthung, dies ſei der Ort, an dem
Odyſſeus das Abenteuer mit dem Cyklopen beſtand. Eine von
ungeheuren Felsblöcken umſchloſſene Bucht wird noch jetzt der
Hafen des Ulyß genannt. Wir verließen die Maulthiere und
ſtiegen auf ein Vorgebirg, das ſich gegen das Meer zu mit einer
ſenkrechten Felswand endigt, aus deren kleinſten Spalten die In-
diſche Feige üppig hervorſproßt. — Mächtiger als jemals ergriff
mich der Eintritt in das Theater von Taurominium, deſſen
Trümmer auf dem Gipfel hervorragen. Ich ſah vor mir das
Proſcenium, über ihm und durch ſeine Oeffnungen eine unendliche
Ferne. Rechts ſtürzen ſich wilde Gebirge hinab; an ihrem Fuß
liegt unter Orangen und Palmen Taormina, ein Weg windet
ſich an der Felswand empor zum Caſtell auf dem Gipfel; mit
einem Kloſter ſteigt ein langer Hügel aus der Stadt hinab in’s
Meer, das wir tief unter uns rauſchen hörten; im Hintergrund
hebt ſich der Aetna in ſeiner ganzen Majeſtät empor und ſtreckt
ſich weit hinaus in die Ebene Catanias, das Meer beſchließt
den Horizont. Es ward uns ſchwer, den bezaubernden Ort zu
verlaſſen; welchen Eindruck müßte das Schauſpiel auf einem
Theater bei ſolchen Decorationen machen! Durch die Stadt führte
uns der Weg auf einem Felspfad hinab zum Meer in’s Wirths-
haus des Oertchens Giardino, wohin wir die Thiere geſchickt
hatten. Zur Erſparung der Zeit beſchloſſen wir von hier am fol-
genden Morgen die Reiſe auf den Aetna, der von den Sicilia-
nern Monte Gibello genannt wird, zu beginnen, und dann
auf Catania hinabzuſteigen. Durch fruchtbare Ebenen führt der
Weg durch mehrere Ortſchaften langſam hinauf; Mittags erreichten
wir die erſten Lavaſtröme beim Städtchen Giarre, die von hohem
Alter mit üppigem Grün bewachſen ſind. Die Häuſer des Oert-
chens, aus der Lava erbaut, haben ein ſchwarzes trauriges Anſehn.
Bald ſahen wir die Waldregionen des Berges vor uns,
durch die ſich dunkle Lavaſtröme verwüſtend ſtürzten und hin und
wieder nur grüne Inſeln ſtehen ließen. Spät am Nachmittag ſahen
wir die großen Kaſtanien am Ende der untern Region des
Berges. Sie machten uns nicht den Eindruck, den wir uns davon
[71] verſprachen, da ſie hohl und verſtümmelt erſcheinen. Der größte
Baum, den man Castagna di cento cavalli nennt, weil in
ſeiner Höhle 100 Pferde Platz haben, beſteht jetzt aus fünf
Stücken der äußern Rinde eines Stammes, die im Kreiſe um-
herſtehen und ein Laubgewölbe über ſich bilden. Am Boden
bemerkt man, daß ſie ehemals einen Stamm bildeten. —
Der Stall eines ſchlechten Dorfes gab uns das Nachtquartier.
Ueber meilenweite Felder von Aſche und ungeheuren Lavaſchlacken
ſetzten wir am folgenden Morgen unſern Weg zum Gipfel fort.
Nachmittags erreichten wir die Region des Waldes. Ein ſelt-
ſamer Contraſt, aus der ſchwarzen, formloſen Wüſte der Lava,
deſſen ſchattenloſe Ebene der Sonnenſtrahl erhitzt, zu dem grünen
Gewölbe des ſchönen Eichenhains in der Höhe des reinen, erfriſchen-
den Aethers! Es ſchlug die Nachtigall aus jedem Wipfel, der
Kukuk rief aus der Tiefe des Waldes, und aller Zauber des
lieblichſten Frühlings umgab uns. Der Weg, der ſich ſteiler und
einſamer in die Höhe windet, führte uns nach und nach dem
Winter entgegen. Bald keimten nur die Bäume, und bald ſtanden
ſie unbelaubt. Eisluft ſtrich empfindlich vom Gipfel her, deſſen
glänzender Schnee durch die Zweige des Waldes leuchtete. Die
Sonne war entwichen, als wir den Ausgang der Waldregion
erreichten. Hier wölbt ein alter Lavaſtrom die Ziegenhöhle
(Grotta delle Capri) den Zufluchtsort der Ziegenhirten, die in der
einſamen Gegend hier zu übernachten pflegen. Unſere Thiere gingen
im Walde umher und ſuchten ſparſame Kräuter, indeß der Berg-
führer mit dem Campieri beſchäftigt war, ein helles Feuer in der
Grotte anzuzünden. Des Laubes reichlichen Abfall häuften ſie unter
dem Fels zum Nachtlager und ſchritten dann, Fleiſch zur Nachtkoſt
zu röſten. Die erwärmte Höhle und das weiche Lager des Laubes
ſchenkten uns ſanfte Ruhe. Noch vor Mitternacht weckte uns die
Stimme des Führers auf den Weg zum Gipfel des Berges, den
wir mit Aufgang der Sonne zu erreichen wünſchten. Der Mond
ſchien hell in die rauhe Gegend. Es verloren ſich nach und nach
die Bäume. Die Schlacken hervorgeflutheter Lava thürmten ſich
mächtig empor und ließen nur mit Vorſicht ſich erklimmen, tiefe
[72] Stille herrſchte ringsum, und in langen Pauſen rief der Wolf
aus untern Wäldern herauf; der Gedanke an die Unterwelt der
Alten drängt ſich in dieſer ſchwarzen nächtlichen Wüſte des Gebirges
unwiderſtehlich auf. — Nach einer Anſtrengung von mehreren
Stunden erreichten wir die Felder des Schnee’s. Ein Fels-
block, der uns in ſeiner Höhle gegen den mächtigen Sturm, der
mit ſchneidender Kälte andrang, ſchützte, lud zur Ruhe uns ein,
und wir erfriſchten die Kräfte durch Wein und kalte Küche und
arbeiteten dann weiter hinauf zum Kegel des Kraters. Die
Sonne ſtieg empor, als wir die wenigen Trümmer des ſogenann-
ten Thurms des Empedokles erreichten, den Ort, an dem
man gewöhnlich dies Schauſpiel erwartet. Ich trachte nicht, die
Empfindungen darzuſtellen, die das Gemüth an dieſem Platz er-
greifen, indem ich unnütz ſprechen würde, nur dies Wort: „Ich
glaubte, die ganze Erde unter mir mit Einem Blick zu faſſen, die
Entfernungen erſchienen ſo gering, die Breite des Meer’s bis zu
den Küſten Afrika’s, die Ausdehnung des ſüdlichen Kalabriens, die
Inſel ſelbſt, Alles lag ſo überſchaulich unter mir, daß ich mich
ſelbſt faſt außer dem Verhältniß größer glaubte. — Es zogen
Nebel herbei, und heftiger Hagel nöthigte uns zum Aufbruch,
wenn wir noch, ehe ſich die Wolken mehr um den Gipfel häuften,
den Krater ſehen wollten. Ueber Alles beſchwerlich iſt der Weg
zum Rande. Der Kegel iſt ſteil und mit einer glatten Schnee-
rinde umgeben, die bei jedem Schritte fallen macht. Die Annähe-
rung war höchſt empfindlich, ein Wind trieb den Schwefeldampf
auf alle Seiten. Es glückte uns nur auf wenige Minuten, die
beiden Verbindungen des Kraters zu überſehen. Ich habe den des
Veſuvs bei weitem größer und impoſanter gefunden. Der Aetna,
der 36 kleinere Vulkane um ſich zählt, bleibt oft bei Erup-
tionen am Gipfel vollkommen ruhig, da beim Veſuv jedesmal die
Eruption mit einem heftigen Feuer des Kraters begleitet iſt. Durch
beſchwerliche Wege ſtiegen wir, manchen merkwürdigen Ort des
Berges betrachtend, hinab und erreichten gegen Mittag die Höhle
der Ziegen wieder, die den ermüdeten Gliedern wieder eine
Stunde ſüßer Ruhe ſchenkte. Dann beſtiegen wir die Thiere und
[73] eilten durch die verſchiedenen Regionen des Berges auf Lavaſtrömen
bis zu den Thoren Catania’s, die wir bei ſpäter Nacht er-
reichten.
Syracuſa, 31. Mai 1804. Neun Tage ließ uns Sicilia-
niſche Gaſtfreundſchaft in Catania unter vortrefflichen Menſchen
froh genießen. Ein Bekannter aus Rom, der Baron von Rech-
berg, Commendator der Baieriſch-Ruſſiſchen Zunge des Malteſer-
Ordens, die jetzt in Catania den Sitz hat, dieſer gefällige
Mann widmete uns faſt ſeine ganze Zeit. Catania iſt nach der
ſchrecklichen Verwüſtung des vorigen Jahrhunderts ganz neu und
prächtig aufgebaut, zählt mehrere antike Gebäude und Cabinette
von großer Auswahl antiker Gegenſtände. Die umliegende Gegend
iſt nicht reizend, da der ſchreckliche Ausbruch alle Felder mit Lava
überſchwemmte. Unfern Catania waren die Tuneſen gelandet, und
hatten unter andern Perſonen reiſende Kapuziner gefangen, in
deren Kleidung ſie ſich ſteckten und unerkannt viel Unfug trie-
ben. Man rieth uns Vorſicht auf dem Wege nach Syrakus, der
immer an der Küſte bleibt. So begannen wir den Weg, nicht
ohne Furcht vor See- und Straßenräubern. Indeß erreichten wir
nach einem wenig intereſſanten Wege am Abend die Stadt, die
ehemals allein Athen den Rang ſtreitig machte. Ohngeachtet ſie
jetzt wohl kaum den zwanzigſten Theil des alten Umfangs hat, ſo
bleibt ihr Eindruck auf der Inſel in der weitgeſchwungenen Meer-
bucht immer noch impoſant. Wir ritten über den Theil der alten
Stadt, den man Gradina nannte; hier ſieht man Grundpläne
alter Gebäude in den Fels gehauen, dann hinab zwiſchen Orangen-
gärten in die Stadt. Viele Feſtungswerke und Brücken von
ſehr ſolidem Bau aus gehauenem Stein laſſen ein elegantes In-
nere vermuthen; aber getäuſcht empfängt ein enges unreinliches
Oertchen den Wanderer und weckt tiefes Bedauern der verwan-
delten Zeit.“
So weit der Schinkel’ſche Brief. An einzelnen Stellen iſt es,
als höre man den Vollklang Platen’ſcher Rhythmen. Verwandte
Naturen finden leicht das verwandte Wort.
[[74]]
6.
„Bei Guſtav Kühn
In Neu-Ruppin.“
Aber nicht nur Grafen und Herrn, große Baumeiſter und Kriegs-
fürſten knüpfen ihre Namen an den Namen Ruppin’s, auch be-
ſcheidenere Berühmtheiten hat es geboren.
In der Mitte der Stadt, gegenüber dem Häuſer-Viereck, drin
Schinkel und Günther das Licht der Welt erblickten, erhebt ſich
ein kleines, nur 3 Fenſter breites Häuschen, dem ein neu aufge-
ſetztes Stockwerk nur wenig zu geſteigertem Anſehn verholfen hat.
Auf dem ſchmalen Hofe aber drängen ſich die Hintergebäude und
jeder Zollbreit Erde iſt benutzt. Hier erinnert die Beſchränktheit
und zu gleicher Zeit die ängſtliche Ausnutzung des Raums an
die Einrichtung und den Geſchäftsbetrieb engliſcher Zeitungslokali-
täten. Die Aehnlichkeit iſt da; aber was ſind die Londoner Blätter
im Vergleich zu jenen bunten Blättern, die aus dieſer kleinen
Ruppiner Offizin hervorgehn? was iſt der Ruhm der Times gegen
die civiliſatoriſche Aufgabe des „Ruppiner Bilderbogens“? Die
Times, die ſich mit Recht das „Weltblatt“ nennt, ſie gleicht doch
nur dem anglikaniſchen Geiſtlichen, dem hochkirchlichen Biſchof, der,
an ſchmalen Küſtenſtrichen entlang, in den großen, reichbevölkerten
Städten unſrer Antipoden, ſeine Wohnung aufſchlägt und ſeines
Amtes wartet; der Guſtav Kühn’ſche Bilderbogen aber iſt
der Herrnhut’ſche Miſſionar, der überall hin vordringt, deſſen
Eifer mit der Gefahr wächſt, der die eine Hälfte ſeines Lebens in
[75] den Rauchhütten der Grönländer und die andre Hälfte in den
Schlammhütten der Fellah’s verbringt. Chamiſſo erzählt in ſeiner
„Reiſe um die Welt“, daß er, nach ſelbſt gemachter Erfahrung,
Kotzebue für den verbreitetſten Schriftſteller halten müſſe, denn er
ſei (wohlbemerkt ſchon 1818) auf der Inſel Taiti einem Bande
Kotzebue’ſcher Komödien begegnet; aber was will das alles ſagen
gegen die Verbreitung jener farbenbunten Bogen, die mit der
wohlbekannten Notiz: „bei Guſtav Kühn in Neu-Ruppin“
über die Welt flattern. Gebiete, die Barth und Overweg, die
Richardſon und Livingſtone erſt aufgeſchloſſen, — der Kühn’ſche
Bilderbogen war ihnen vorausgeeilt und hatte von einer Welt da
draußen erzählt. Er flieht die Gegenden, drin der Kupferſtich und
das Oelbild vorwalten, aber wo die Glaskoralle und der Zahl-
pfennig ein ſtaunendes Ach und die Begierde hervorrufen, in den
engeren und weiteren Bezirken des Königs von Dahomey — da
iſt er zu Haus. Den Maranon und den Orinocco aufwärts, wo
die Kolibris wie Blüthen und die Blüthen wie Schmetterlinge ſich
ſchaukeln, dort, wo alles Glanz und Farbe iſt, tritt er kühn und
ſiegreich auf und ſtellt die Colorirkunſt ſeiner Schablone — die
unangefochten von den neuen Geſetzen der Farbenzuſammenſtellung
ihre ehrwürdigen Traditionen fortſetzt — ſiegreich in die Zauber
der Tropennatur hinein. Auf den Inſeln der ſchottiſchen Weſtküſte
war es mir ſelbſt vergönnt, dieſe Landsleute, dieſe Boten aus der
engeren Heimath zu begrüßen. Die Wunder der Fingalshöhle, die
Geſtalt König Fingals ſelbſt, die wie ein Nebelphantom auf der
öden Klippe von Morven ſtand, war nicht mächtig genug geweſen,
dieſe Sendboten abzuhalten; — ſie waren eingezogen in die Hütten
der Maclean’s und Macdonald’s.
Lange bevor die erſte „Illuſtrirte Zeitung“ in die Welt ging,
illuſtrirte der Kühn’ſche Bilderbogen die Tagesgeſchichte und was
die Hauptſache war, die Illuſtration hinkte nicht langſam nach,
ſondern folgte den Ereigniſſen auf dem Fuß. Kaum, daß die Tran-
chéen vor Antwerpen eröffnet waren, ſo flogen in den Druck-
und Colorirſtuben zu Neu-Ruppin die Bomben und Granaten
[76] durch die Luft; kaum war Paskiewitſch in Warſchau eingezogen,
ſo breitete ſich das Schlachtfeld von Oſtrolenka mit grünen Uni-
formen und polniſchen Pelzmützen vor dem erſtaunten Blick der
Menge aus, und tief ſind meinem Gedächtniß die Dänen einge-
prägt, die in zinnoberrothen Röcken vor dem Dannewerk lagen,
während die preußiſchen Garden in Blau auf Schleswig und Schloß
Gottorp losrückten. Dinge, die keines Menſchen Auge geſehn, die
Zeichner und Coloriſten zu Neu-Ruppin haben Einblick gehabt in
alles und der „Birkenhead“, der in Flammen unterging, der
„Präſident“, der zwiſchen Eisbergen zertrümmerte, das Auge der
Kunſt hat darüber gewacht. Andre, ähnliche Unternehmungen ſind
ſeitdem ins Daſein getreten, der Münchner Bilderbogen hat ſeine
Reiſe um die Welt angetreten, Winkelmann \& Söhne haben durch
zahlreiche Abbildungen von Stauffacher, Franz Moor und der
Jungfrau von Orleans, der dramatiſchen Kunſt die Schleppe ge-
tragen, aber, was immer ihre Erfolge geweſen ſein mögen, ſie
haben ſich ſchlechter auf den Geſchmack des großen Publikums ver-
ſtanden und haben die rechte Stunde mehr denn einmal verſäumt.
Da liegt es. In jedem Augenblick klar zu erkennen, was oben
aufſchwimmt, was das eigentlichſte Tagesintereſſe bildet, das war
unausgeſetzt und durch viele Jahrzehnte hin Princip und Aufgabe
in der Ruppiner Offizin. Und dieſe Aufgabe iſt glänzend von
ihr gelöſt worden, ſo glänzend, daß ich Perſonen mit ſichtlichem
Intereſſe vor dieſen Bildern habe verweilen ſehn, die vor der
künſtleriſchen Leiſtung, wenn dieſelbe als ſolche an ſie herange-
treten wäre, einen unaffektirten Schauder empfunden haben würden;
aber die Macht des Stoffs bewährte ſich ſiegreich an ihnen und
ſie zählten (wie ich) mit leiſer Befriedigung die Leichen der gefalle-
nen Dänen, ohne ſich in ihrem künſtleriſchen Gewiſſen irgendwie
bedrückt zu fühlen.
Die Frage iſt aufgeworfen worden nach dem Recht dieſer
Bilder; ob ſie nicht den Geſchmack verwilderten, anſtatt ihn zu
bilden. Es iſt auch wohl hinzugeſetzt worden, daß Leiſtungen der
Art in künſtleriſch geſegneteren Zeiten und bei feiner gearteten
[77] Völkern eine baare Unmöglichkeit wären. Mag ſein. Nach der
künſtleriſchen Seite hin iſt man unbedenklich gezwungen, dieſe Dinge
jedem beliebigen Angriff preis zu geben, aber ſie haben eine andre,
nicht minder wichtige Seite. Sie ſind der dünne Faden, durch den
weite Strecken unſrer eignen Heimath, lithauiſche Dörfer und ma-
ſuriſche Hütten und Weiler mit der Welt da draußen zuſammen-
hängen. Die letzten 20 Jahre, mit ihrem raſch entwickelten Zei-
tungsweſen, mit ihrer in’s Unglaubliche geſteigerten Communication,
haben darin freilich viel geändert, aber noch immer giebt es abge-
legene Sumpf- und Haide-Plätze, die von Magenta und Solferino,
von Zuaven und Turco’s nichts wiſſen würden, wenn nicht der
Kühn’ſche Bilderbogen die Vermittlung übernähme. Seine
Uhr iſt noch nicht abgelaufen und das ſchmale Haus in der Rup-
piner Friedrich-Wilhelmsſtraße hat noch immer ſeine Bedeutung.
[[78]]
Rheinsberg.
1.
Die Kahlenberge. Franzöſiſche Coloniſten-Dörfer.
Einfahrt in Rheinsberg. Der Rathskeller.
Unter den Linden. Das Möskefeſt.
Die Stadt Rheinsberg von Berlin aus zu erreichen, iſt
wirklich ſchwer. Die Eiſenbahn zieht ſich auf 6 Meilen Entfer-
nung daran vorbei und nur ein geſchickt zu benutzendes Verbin-
dungsnetz von Hauderer und Fahrpoſt (die bloßen Worte ängſtigen
das Gemüth!) führt ſchließlich den Reiſenden an das erſehnte Ziel.
Dies mag es zum Theil erklären, weshalb ein Punkt unſerer
heimathlichen Mark ſo völlig unbeſucht bleibt, deſſen Naturſchön-
heiten mindeſtens nicht verächtlich zu behandeln und deſſen hiſto-
riſche Erinnerungen allererſten Ranges ſind.
Wir haben es beſſer, wenigſtens näher. Wir kommen von
dem nur 3 Meilen entfernten Ruppin und laſſen uns durch die
Sandwüſte nicht beirren, die auf der erſten Hälfte des Weges
vor uns liegt. Man paſſirt mehrere Hügelzüge, und ſo oft man
fragt, „wie heißt dieſer Platz hier?“ ſo ſchallt die Antwort zurück,
„die Kahlenberge.“ Dieſe Sandwüſte wird hier und da durch ein
Dorf aus alter, guter Zeit unterbrochen, deſſen ärmliche Stroh-
dächer ein ſpitzer Schindelthurm überragt. Vielen fehlt auch dieſer
Thurm. Einzelne dieſer Dörfer (z. B. Braunsberg), in denen,
bei ähnlichem Boden, wie ihn Teltow hat, auch die Rübenzucht
[79] noch am eheſten gedeiht, ſind von franzöſiſchen Coloniſten
bewohnt, die hier berufen waren, die Ufer der Rhone und Loire
zu vergeſſen. Harte Aufgabe. Als wir Braunsberg paſſirten, lugten
wir aus dem Wagen heraus, um „Köpfe zu ſtudiren“ und uns
an ſüdlichen Race-Geſichtern zu erfreuen. Wie heißt der Schulze
hier? fragten wir mit halber Verlegenheit, weil wir nicht recht
wußten, ob wir Deutſch oder Franzöſiſch ſprechen ſollten. „Borchardt,“
ſchallte die Antwort zurück. Nun waren wir beruhigt. Auch die
ſüdlichen Race-Geſichter ſahen gerade ſo aus, wie die Wendiſch-
Deutſche Miſchung ſonſtwo. Uebrigens kommen wirklich noch viele
Franzöſiſche Namen in dieſen Dörfern vor und „unſer Niquet“
z. B. iſt ein Braunsberger.
Die Wege, die man paſſirt, ſind im Großen und Ganzen
ſo gut, wie Sandwege ſein können; nur an manchen Stellen, wo
die Feldſteine wie eine Ausſaat über den Weg geſtreut ſind,
ſchüttelt man bedenklich den Kopf in Rückerinnrung an die
bekannte Kabinets-Ordre Friedrichs des Großen, in der er mit
Rückſicht auf dieſen Weg und auf 195 [...] 22 gr 8 ₰ zu zah-
lende Reparaturkoſten, ablehnend ſchrieb: „Die Reparation war
nicht nöthig. Ich kenne den Weg und muß mir die Kriegs-
Camer vohr ein großes Beeſt halten, um mir mit ſolches unge-
reimtes Zeug bei der Nahſe kriegen zu wollen.“ Der König hatte
Unrecht, trotzdem er den Weg kannte; mit 195 [...] war hier nicht
viel zu machen. Erſt eine halbe Meile von Rheinsberg wird es
beſſer und es beginnen ſtattlich-ſteife Pappel-Alleen, jene „Grena-
dierfronten“, wie Anaſtaſius Grün ſie genannt hat. Dabei geht
es ein wenig bergab, und unſer Kutſcher glaubt ein Uebriges thun
zu müſſen. Im Trabe nähern wir uns einem hinter reichem Laub-
holz verſteckten, immer noch räthſelhaften Etwas, und fahren end-
lich, zwiſchen Parkanlagen links und einer Sägemühle rechts, in
Stadt Rheinsberg hinein.
Wir halten vor einem reizend gelegenen Gaſthof, der noch
dazu den Namen der „Rathskeller“ führt, und da die Rheinsberger
Thurmglocke eben 12 ſchlägt und unſer guter Appetit entſchieden
[80] der Anſicht iſt, daß das Rheinsberger Schloß mit all ſeinem
Zauber doch am Ende kein Zauberſchloß ſei, das jeden Augenblick
verſchwinden könne, ſo beſchließen wir, vor unſerem Beſuch ein
ſolennes Frühſtück einzunehmen und gewiſſenhaft zu proben, ob
der Rathskeller ſeinem Namen Ehre macht oder nicht. Er thut es.
Zwar iſt er überhaupt kein Keller, ſondern ein Fachwerkhaus wie
andere Häuſer; aber eben weil er ſich jedem Vergleich mit ſeinen
Namensvettern in Lübeck und Bremen geſchickt entzieht, zwingt er
den Beſucher, alte Reminiscenzen bei Seite zu laſſen und den
Rheinsberger Keller zu nehmen, wie er iſt. Er bildet ſeine eigne
Art, und eine Art, die nicht zu verachten iſt. Wer nämlich um
die Sommerszeit beim Rathskeller vorfährt, pflegt nicht unterm
Dach des Hauſes, ſondern unter dem Blätterdach der Kaſtanien
abzuſteigen, die in wirklicher Pracht einen vor dem Hauſe gele-
genen Platz, den ſogenannten „Triangel-Platz“ umſtehen. Man
macht ſich’s bequem unter einer weiten, duftigen Laube und hat
eine Kuppel über ſich, die alsbald auch die Gewölbe des beſten
Kellers vergeſſen macht. So wenigſtens erging es uns. Linden-
und Kaſtanienblüthe über uns, ſo ſetzten wir uns zu Tiſch; zwei
Rheinsberger, an deren Kenntniß und Wohlgeneigtheit wir
empfohlen waren, geſellten ſich zu uns, und während die Vögel
über uns muſicirten und wir in erträglichem Rothwein auf das
Wohl der Stadt Rheinsberg anſtießen, machte ſich die Unter-
haltung.
„Ja,“ begann der eine, den wir den Moroſen nennen wollen,
„es thut Noth, daß man auf das Wohl Rheinsbergs anſtößt;
aber es wird wohl nichts helfen, eben ſo wenig, wie irgend etwas
geholfen, was man bisher mit uns vorgenommen hat. Wir liegen
außerhalb des großen Verkehrs, und der kleine Verkehr kann
nichts beſſern, denn was unmittelbar um uns her liegt, iſt wo
möglich noch ärmer als wir ſelbſt. Durch ein unglaubliches Ver-
ſehn leben hier zwei Maler und ein Kupferſtecher. Der Boden iſt
Sandland, Torflager giebt es nicht, und die Fiſchzucht kann nicht
[81] blühen an einem Ort, deſſen ſämmtliche Seen für 4 Thaler
Preußiſch verpachtet ſind.“
Wer weiß, wo dieſe Bekümmerniſſe endlich noch gelandet
wären, wenn nicht eine große Feſtfahne, die von einigen Kindern
eben an uns vorbeigetragen wurde, alle Klagen unterbrochen und
uns die Frage aufgedrängt hätte: was iſt das? „Das iſt die
Fahne vom Möske-Feſt, die man hat repariren laſſen,“ erwie-
derte der andere unſerer Rheinsberger Freunde, deſſen gute Laune
das Gegenſtück zu der Moroſität ſeines Nachbarn bildete, „der ſie
trägt, iſt Fähnrich Wilhelm Huth, und der ihm zur Rechten geht,
iſt General Eduard Netzeband; ſitzt ſeit Oſtern in Quarta.“ Dieſe
Aeußerungen machten uns natürlich begierig, mehr zu hören, und
wir erfuhren alsbald, was es mit dem Möske-Feſte auf ſich habe.
Da dieſe Feier der Stadt Rheinsberg eigenthümlich iſt, ſo darf
ich wohl einen Augenblick dabei verweilen. Das Möske-Feſt iſt
ein Kinderfeſt, das alljährlich am Sonntag vor Pfingſten gefeiert
wird. Möske bedeutet „Waldmeiſter“ (asperula odorata), und
in alten Zeiten lief die Feſtlichkeit darauf hinaus, daß die Stadt-
kinder frühmorgens in den Wald zogen, Waldmeiſter pflückten,
und, damit heimkehrend, den Altar und die Pfeiler der Kirche
ſchmückten. Erſt im Jahre 1757 nahm die Feier einen ſehr ver-
ſchiedenen Charakter an. Am 6. Mai war die Schlacht bei Prag
geſchlagen worden, und am 20. Mai traf die Nachricht vom Siege
in Rheinsberg ein. Es war Sonntag vor Pfingſten, alſo — der
Tag des Möske-Feſtes. Die Siegesfreude, vielleicht auch der Um-
ſtand, daß Prinz Heinrich, der damals ſchon Beſitzer von Rheins-
berg war, durch Muth und Geſchick die Schlacht zu Gunſten der
Preußen entſchieden hatte, ſchuf auf einen Schlag die bis dahin
rein kirchliche Feier in eine militäriſch-patriotiſche um. Was da-
mals Impromptu war, iſt geblieben. Das Möske-Feſt iſt eine Art
Soldatenſpiel geworden, das die Rheinsberger Jugend am Sonntag
vor Pfingſten aufführt und an dem die Alten (die alle einmal das-
ſelbe Spiel geſpielt haben) mit herzlicher Freude theilnehmen. Früh
am Morgen ſchon ziehen vier Trommler mit der Schloßpauke und
6
[82] der Stadttrommel durch die Straßen und ſchlagen Reveille. Die
Soldaten ſammeln ſich bei der Fahne. So geht’s mit Muſik vor
das Haus des „Generals.“ Hier dreimaliges Vivat, dem General
und ſeinen Angehörigen ausgebracht. Dann militäriſch in Sectionen
aufmarſchirt und nun Abmarſch durch Stadt und Schloß hindurch
nach dem ſchönen Boberow-Walde. Hier beginnt nun das Wald-
meiſterpflücken. Nachmittags kommen die jungen Mädchen und be-
ſuchen mit ihren Angehörigen die jungen Soldaten im Wald-
Bivouac. Jetzt beginnen die Turnſpiele und die Wettläufe; hinter-
her Preisvertheilung an die Sieger, dann Tanz und Rückmarſch
in die Stadt. —
Unſer Frühſtück war abgethan, und wir ſchickten uns an,
dem Schloß, deſſen gelbe Rückwände ſchon überall durch das
Baumwerk hindurchſchimmerten, unſern Beſuch zu machen. Die
vertrauliche Mittheilung beider Herren indeß, daß der alte Caſtellan
(er iſt 84, und man darf’s ihm gönnen) um dieſe Zeit ſeinen
Mittagsſchlaf zu halten pflege, beſtimmte uns, einen Umweg zu
machen und zuvor in die alte Rheinsberger Kirche hineinzuſehen.
[[83]]
2.
Die Rheinsberger Kirche.
Wir hatten bald alle Urſach, uns bei dem Mittagsſchlaf des
alten Caſtellan’s zu bedanken. Leicht möglich, daß wir ohne den-
ſelben an der Rheinsberger Kirche vorüber gegangen wären. Und
doch iſt es ein alter, in mehr als einer Beziehung intereſſanter
Bau. Die erſte Anlage deſſelben datirt weit zurück; 1568 wurde
ſie durch Achim v. Bredow (die ganze Herrſchaft Rheinsberg war
damals Bredow’ſcher Beſitz) um zwei Drittel vergrößert. Man
kann den Anbau noch jetzt von dem älteren Theil unterſcheiden.
Dieſe Kirche iſt der einzige Punkt in Rheinsberg, wo man
auf Schritt und Tritt den Bildern zweier völlig gegenſätzlicher
Epochen begegnet, und dieſen Gegenſatz als ſolchen empfindet. Die
Prinz-Heinrich-Zeit und die Bredow’ſche Vorzeit treffen hier wie
Waſſer und Oel zuſammen. In Schloß und Park ſtören die fran-
zöſiſchen Inſchriften nicht; die Baulichkeit, die Gartenanlagen, alles
erſcheint wie aus einem Guß, und entweder vergeſſen wir, dem
maleriſchen Reiz des Bildes hingegeben, überhaupt, daß es ein
preußiſches Schloß iſt, indem wir uns bewegen, oder wir finden
die Sprache gleichgültig, in der die Dinge an uns herantreten,
etwa wie es Zuhörern, die beider Sprachen mächtig ſind, von
keinem Belang iſt, ob ſie den Shakeſpeare deutſch oder engliſch
ſpielen ſehn. So iſt es in Schloß und Park, aber nicht in der
Kirche; in dieſer hat das franzöſiſche Pfropfreis den alten Stamm
6*
[84] nicht überwinden können, und muß ſich nun damit begnügen, die
Rolle des Paraſyten an und neben demſelben zu ſpielen.
Wir treten von der Seite her, durch eine Art Vorbau, ein.
Gleich dieſer Vorbau, der ſein ſpärliches Licht nur mittelſt der
offen ſtehenden Thür empfängt, durch die wir eben eintraten, zeichnet
ſich durch den angedeuteten Gegenſatz aus. Zur Linken, faſt ein
Viertheil des ganzen Raumes ausfüllend, erhebt ſich ein grau ge-
tünchtes Backſtein-Monument, das genau die Form und die Größe
jener altmodiſchen Kachelofen hat, denen man in Bauerſtuben
begegnet. Es iſt das Grabdenkmal, das Prinz Heinrich dem An-
denken ſeines Violiniſten Ludwig Chriſtoph Pitſchner (geb. 5. März
1743, geſt. 3. Dezember 1765) hat errichten laſſen und trägt
folgende Inſchrift:
Alſo etwa in freier Ueberſetzung:
So reimte man damals in Rheinsberg. Dem Pitſchner’ſchen
Monument gegenüber aber ſtehen, an der Wand entlang, ſechs auf-
gerichtete Grabſteine der Bredow’ſchen Familie, drei Männlein und
drei Fräulein, die bis vor Kurzem im Schiff der Kirche lagen und
[85] blicken mit Harniſch und Halskrauſe und mit ernſt verwunderten
Geſichtern zu dem Kachelofen hinüber, an dem ſie mit Mühe den
Namen Pitſchner entziffern. Zum Glück verſtehen ſie nicht franzö-
ſiſch, ſie würden ſonſt noch ernſthafter dreinſchauen.
Wir treten nun in die Kirche ſelbſt. Sie iſt vor Kurzem
reſtaurirt worden und gewährt einen freundlichen Anblick. Die
Hauptſehenswürdigkeit, die auch ſogleich das Auge des Eintretenden
auf ſich zieht, iſt das große Achim v. Bredow’ſche Grabmonument
(links neben dem Altar), deſſelben Achim v. Bredow, der im
Jahr 1568 die Kirche erneute und erweiterte. Es iſt ein Denkmal
von ganz ungewöhnlichen Dimenſionen, das bei wenigſtens 10 Fuß
Breite gewiß die doppelte Höhe hat. Es beginnt über der Holz-
einfaſſung des Chorſtuhls und reicht faſt bis zur Decke der Kirche
hinauf. Das Monument, das eben ſo ſehr für den Reichthum und
kirchlichen Sinn der Familie, wie für die Kunſtfertigkeit des Stein-
metzen ſpricht, der es hergeſtellt hat, beſteht aus vier klar geglie-
derten Theilen. Zuoberſt das Bredow’ſche Wappen, an beiden
Seiten von allegoriſchen Figuren eingefaßt; darunter zwei Basreliefs:
links die Auswerfung des Jonas aus dem Wallfiſchbauch, rechts
die Auferſtehung Chriſti; darunter in Lebensgröße die Bildniſſe
Achim von Bredow’s und ſeiner Gemahlin, einer gebornen Anna
von Arnim; und endlich viertens unter dieſen beiden Bildniſſen
folgende Inſchrift:
[86]
Welch’ einfach-ſchöne Worte; die ganze Schlichtheit und Ker-
nigkeit jener Zeit kann einem nicht faßbarer entgegen treten.
Wie marklos nehmen ſich daneben die franzöſiſchen Verſe
aus, die einer der Hofpoëten des Prinzen Heinrich, zu Ehren
eines Fräulein Elſener’s gedichtet und unter Einfügung eines
Aſchenkrugs in einen der gothiſchen Pfeiler, mit dünnen Buchſtaben
an die Conſole dieſes Aſchenkrugs geſchrieben hat:
Wir werden noch an andrer Stelle, zumal an den Bauten
und Büſten des Parks, ähnlichen Verſen begegnen, oft trivial, im
günſtigſten Falle ſinnig, niemals erhebend. Ein philoſophiſcher
Nothbehelf an Stelle eines freudigen Glaubens. Im Grün des
Parks, wo die alten Griechengötter von allen Seiten her durch
das Grün der Zweige blitzen, freut man ſich dieſer Betrachtungen,
weil ſie zu allem Uebrigen paſſen; hier in der Kirche aber ſtören
ſie und würden ſelbſt dann noch ſtören, wenn ſie bedeutender
wären als ſie ſind. Man erkennt deutlich, daß die Kirche der ge-
miedene Schauplatz der Voltairianer war, eine Art gothiſch gewölbter
Keller, für den es ſich nicht verlohnte, wenn wirklich mal eine
Elſener oder gar ein Pitſchner ſtarb, eine beſonderes poëtiſche An-
ſtrengung zu machen.
Die Rheinsberger Kirche enthält noch eine Reihe kleiner
Denk- und Sehenswürdigkeiten, die wir wenigſtens in Kürze nam-
haft gemacht haben möchten. Da iſt der Kryſtallglas-Kronleuchter,
den die Rheinsberger Jungfrauen hier aufhingen und zum erſten
Mal mit Lichtern ſchmückten, als im Sommer 1763, in Gegen-
[87] wart des Prinzen Heinrich, das Friedensfeſt gefeiert wurde; da iſt
der alte, aus gebranntem Thon gefertigte, mit Wappen und Male-
reien verzierte Taufſtein, den drei Geſchwiſter Sparre (Franz, Anna
und Sabina) in der Mitte des 16. Jahrhunderts der Kirche
ſchenkten, und da iſt, ziemlich aus derſelben Zeit, die alte Kanzel,
eine Stiftung der Anna Hahn’in, Jobſt v. Bredow’s getreuer
Wittwe, mit allerhand Wappen der Bredow’s, Hahn’s und
Schulenburg’s. Gegenüber dieſer Kanzel, an der ſchweren alten
Eichenthür, die von dem Eingangs beſchriebenen Vorbau in die Mitte
der Kirche führt, ſtand am Pfingſtſonntage 1737 König Friedrich
Wilhelm I., als er nach Rheinsberg gekommen war, um ſeinen Sohn,
den Kronprinzen, zu beſuchen. Er war als frommer Chriſt, der
keiner Predigt vorbei gehen wollte, lieber erſt in die Kirche getreten,
eh er den Sohn im Schloß überraſchte. Der König war ein from-
mer Herr, aber freilich, wie alle Welt wußte, auch ein ſehr geſtren-
ger Herr, und der alte Geiſtliche (Johann Roſſow), der das Glück
oder Unglück hatte, den König von früher her zu kennen, erſchrak
beim Anblick Sr. Majeſtät dermaßen, daß ihm das Wort verſagte
und er nur noch fähig war, mit zitternder Stimme den Segen
zu ſprechen. Der König drohte mit dem Stock, eine Aufmunterung,
die begreiflicherweiſe völlig ihres Zwecks verfehlte. Johann Roſſow
ſtarb bald nachher; ob in Folge des Schrecks, ſteht wie billig
dahin. Im Uebrigen muß Rheinsberg zu allen Zeiten eine geſunde
Luft gehabt haben; — von 1696 bis 1848, alſo in mehr als
150 Jahren, hat es nur vier Prediger gehabt.
Noch eines Kinder-Grabmals ſei erwähnt. Es ſtammt eben-
falls aus der Alt-Bredow’ſchen Zeit her und lehnt ſich rechtwink-
lig an das umfangreiche Monument des Achim v. Bredow’ſchen
Ehepaar’s, das ich oben beſchrieben. Ich würde dieſes kleineren
Denkmals, das die mittelmäßigen Bildniſſe zweier Kinder, eines
Mädchens und eines Knaben von 3 und 4 Jahren, zeigt, gar
nicht erwähnen, wenn nicht die in Rheinsberg gang und gebe Er-
zählung, die ſich an dieſes Denkmal knüpft, einen Beleg für die
ſagenbildende Neigung im Volke und zugleich deutliche Anhalte-
[88] punkte dafür böte, wie und woraus Geſchichten entſtehn. Es
wird einem nämlich erzählt, beide Kinder hätten am Ufer des
See’s geſpielt und wären durch einen nicht aufgeklärten Unfall
ertrunken. In der Hoffnung, näheren Aufſchluß darüber zu ge-
winnen, entzifferte ich die Umſchrift beider Steine; das Mädchen
war am 25. Februar, der Knabe am 4. März 1586, alſo acht
Tage ſpäter geſtorben. Die einfache Angabe der Sterbetage genügte
hier völlig, um die Erzählung von dem gemeinſchaftlichen
Tode im See als ein bloßes Märchen hinzuſtellen. Aber eine ein-
gehende Prüfung der Bildniſſe ſelbſt ergab mir auch bald den Ur-
ſprung der Fabel. Das lang herabhängende blonde Haar des
Mädchens ſah täuſchend aus wie halbkrauſes Lockenhaar, das im
Waſſer ſeine Lockigkeit verloren hat, und nur noch leiſe gewellt,
vom Waſſer zuſammengehalten, wie eine compacte Maſſe über den
Nacken fällt. Der Anblick dieſes Haars, das einfach deshalb ſo
vom Waſſer zuſammengehalten ausſieht, weil es der Steinmetz
nicht beſſer und natürlicher machen konnte, hat augenſcheinlich der
kleinen Erzählung, von den im See ertrunkenen Geſchwiſtern, die
Entſtehung gegeben.
Ihre größte Sehenswürdigkeit hat die Rheinsberger Kirche
ſeit etwa 15 Jahren eingebüßt: es war dies das alte Grabgewölbe,
in dem ſich die Särge der Familien von Eichſtädt und Sparre,
und beſonders der Familie v. Bredow befanden. Damals war
dieſe Gruft noch zugänglich, jetzt iſt ſie vermauert und nur am
Schall des Tritts erkennt man noch, daß der Boden hohl iſt,
über den man ſchreitet. Als die Uebermauerung vorgenommen wer-
den ſollte, lüftete man zuvor das Gewölbe, ſchaffte die alten
Särge, wohl 40 an der Zahl, an’s Tageslicht und öffnete die
Deckel. So ſtanden ſie im Schiff der Kirche wochenlang. Vor
demſelben Altar, wo die Geſtalten einiger Bredow’s in die großen
Sandſteinplatten eingegraben waren, ſtanden nun, halb aufgerichtet,
die geöffneten Särge, und die Todten blickten geſchloſſenen Auges
auf ihre eigenen Bildniſſe herab. Nach längerer Zeit war das Ge-
wölbe wieder eingerichtet, und die alten Bewohner zogen wieder
[89] ein. Den Reigen eröffnete Archim v. Bredow. Man hatte ihm
eine Flaſche mit in den Sarg gelegt, in der ſich ein Zettel befand.
Auf dieſem Zettel ſtand zunächſt, daß Träger dieſes Herr Achim
v. Bredow ſei, der in Genoſſenſchaft von vielen Bredow’s, Eich-
ſtädt’s und Sparr’s hier 300 Jahre lang geſchlummert, dann
(behufs Lüftung ſeiner alten Wohnung) vier Wochen lang im
Kirchenſchiff zu Rheinsberg ausgeſtanden und im Maimonat 1844
ſeine alte Wohnung wieder bezogen habe. Dann eine Geſchichte
der letzten drei Jahrhunderte im Lapidarſtil und darunter die
Namen von Bürgermeiſter und Rath. — Während der Zeit, daß
die geöffneten Särge im Schiff der Kirche ſtanden, trug ſich eine
Geſchichte zu, die, mit ihrem Anflug von Geſpenſtiſchem, die Gemüther
der Rheinsberger wohl auf Wochen hin beſchäftigen durfte. Unter
den Todten befand ſich auch eine Margarethe von Eichſtädt, eine
ſchöne Frau, die bei jungen Jahren geſtorben war. Die weißen
Grabgewänder waren noch wohl erhalten; um den Hals trug ſie
ein reiches Geſchmeide und einen ſchmalen Trauring am Ringfinger
der rechten Hand. Tag und Nacht hatten Wächter bei den Todten
geſtanden; als die Zeit kam, wo die Särge wieder geſchloſſen wer-
den ſollten, bemerkte man, daß der Ring am Ringfinger Marga-
rethe’s v. Eichſtädt fehle. Ein gewöhnlicher Diebſtahl konnte nicht
vorliegen; das reiche Halsgeſchmeide war unberührt geblieben, nur
der Ring fehlte. Wer trug ihn jetzt? —
[[90]]
3.
Das Schloß in Rheinsberg. Anblick vom See aus. Die
Reihenfolge der Beſitzer. Die Zimmer des Kronprinzen.
Die Zimmer des Prinzen Heinrich.
Die alte Glocke zu Rheinsberg, die in mehr charakteriſchen als
poëtiſchen Alexandrinern die Inſchrift trägt:
ſchlägt eben vier und läßt uns die Vermuthung ausſprechen, daß
ſelbſt der Nachmittagsſchlaf eines 84jährigen nunmehr am Ende
ſein könne. Unſer heiterer Freund antwortet mit einem ungläu-
bigen „wer weiß“, iſt aber nichts deſto weniger bereit, die Füh-
rung bis in’s Schloß zu übernehmen und uns ſeinem „Gevatter“
vorzuſtellen. Unterwegs warnt er uns, in humoriſtiſcher Weiſe vor
den Bilder-Erklärungen und Namens-Unterſtellungen des Alten.
„Sehen Sie, meine Herren, er hat eine Liſte, auf der die Namen
ſämmtlicher Portraits verzeichnet ſtehen; aber er nimmt es nicht
genau mit der Vertheilung dieſer Namen. Einige Portraits ſind
fortgenommen und in die Berliner Gallerieen gebracht worden;
aber Gevatter glaubt es nicht und ſtellt ihnen, nach wie vor, Per-
ſonen vor, die ſich gar nicht mehr im Schloſſe zu Rheinsberg
befinden. Prinzeß Amalie namentlich, die ſchon bei Lebzeiten ſo
viel Schweres tragen mußte, muß jede Unbill über ſich ergehen
laſſen, und jedes Frauen-Portrait, das der Wiſſenſchaft der An-
tiquare und Kunſtkenner bisher geſpottet hat, iſt ſicher, als
[91] „Schweſter Friedrichs des Großen“ genannt zu werden. Sie
werden ſie in Hof-Coſtüm, in Fantaſie-Coſtüm und in Masken-
Coſtüm kennen lernen; beſonders mach’ ich Sie auf ein Knie-
ſtück aufmerkſam, wo ſie in Federhut und ſchwarzem Muff erſcheint;
die Kehrſeite des Bildes wäre Wohlthat dagegen.“ (Dies merk-
würdige Bild wird einem allerdings als muthmaßliches Portrait
der Prinzeſſin Amalie, aus ihren alten Tagen her, gezeigt; es
iſt aber, wie ich jetzt beſtimmt weiß, das Portrait einer älteren
Schweſter und zwar der Prinzeſſin Charlotte, die an den Herzog
von Braunſchweig verheirathet war. Im Neuen Palais zu Pots-
dam befindet ſich ein Portrait der letztgenannten Prinzeſſin, das
dieſem Bildniß im Rheinsberger Schloß durchaus ähnlich iſt.)
Unter ſolchem Geplauder haben wir die der Stadt zu gele-
gene Rückſeite des Schloſſes erreicht, ſchreiten durch das Portal
hindurch, paſſiren den Schloßhof bis zum Rande des See’s,
ſpringen hier in ein bereit liegendes Boot und fahren, ohne uns
umzublicken, bis mitten auf den Waſſerſpiegel hinauf. Nun machen
wir Kehrt und haben ein Bild von nicht gewöhnlicher Schönheit
vor uns. Erſt die ſtille Fläche des See’s, an ſeinem Ufer ein
Kranz von Schilf und Waſſerroſen; dahinter anſteigend ein grüner
Garten-Raſen und endlich das Schloß ſelbſt, die Fernſicht ſchlie-
ßend. Links dehnt ſich der See in ſeiner ganzen Länge aus;
wohin wir blicken, ein Reichthum von Waſſer und Wald, die
Bäume nur hier und da gelichtet, um uns irgend ein Denkmal
auf den ſtillen Grasplätzen des Parkes, eine Marmorfigur oder
einen „Tempel“ zu zeigen.
Das Schloß war in alten Tagen ein gothiſcher Bau mit
Thurm und Giebeldach; erſt zu Anfang des vorigen Jahrhunderts
trat ein Schloßbau in franzöſiſchem Geſchmack an die Stelle der
alten Gothik und nahm 30 Jahre ſpäter, unter Knobelsdorff’s
Anleitung, im Weſentlichen die Formen an, die es noch jetzt prä-
ſentirt. Eine Beſchreibung des Schloſſes verſuche ich nur in allge-
meinſten Zügen. Es beſteht aus einem Mittelſtück (Corps de
[92] logis) und zwei Seitenflügeln und gleicht in ſeiner Grund-Anlage
dem Charlottenburger Schloſſe auf ein Haar. Das letztere iſt
größer und hat den ſtattlichen Kuppelthurm; dagegen beſitzt das
Rheinsberger Schloß, ſtatt eines bloßen Eiſengitters zwiſchen den
Flügeln, eine geſchmackvolle Colonnade, die den Bau in ſehr
gefälliger Weiſe abſchließt. Vor Allem hat das Rheinsberger
Schloß die Schönheit ſeiner Lage, Waſſer, Wald und eine Fülle
der reizendſten Fernſichten voraus. Mehr eine Eigenthümlichkeit
als eine Schönheit bilden ſeine zwei abgeſtumpften Rundthürme,
die ſich an die Seitenflügel anlehnen und deren einem es vorbe-
halten war, zu einer beſonderen Berühmtheit zu gelangen.
Langſam nähern wir uns wieder dem Ufer, befeſtigen den
Kahn an der Waſſertreppe und ſchreiten nun den Weg zurück,
den wir vor zehn Minuten mit abſichtlicher Schnelligkeit paſſirten.
Unter der Colonnade machen wir noch einmal Halt und recapi-
tuliren uns die Geſchichte des Orts. Es iſt nöthig, ſie gegen-
wärtig zu haben.
Die Herrſchaft Rheinsberg war ein altes Beſitzthum der
Bredows. Seit 1618 ſind die Hauptdaten folgende:
Jobſt v. Bredow verkauft Rheinsberg an Cuno v. Lochow,
Domherrn zu Magdeburg 1618.
Der große Kurfürſt nimmt, nach dem Erlöſchen dieſer Fa-
milie v. Lochow, Rheinsberg in Beſitz und ſchenkt es dem Ge-
neral du Hamel 1685.
General du Hamel verkauft es ſofort an den Hofrath
de Beville.
Die Bevilles beſitzen es, Vater und Sohn, bis 1734. Vom
Sohn, dem Oberſt-Lieutenannt Heinrich v. Beville, kauft es
König Friedrich Wilhelm I. und ſchenkt es an den Kron-
prinzen Friedrich 1734.
Der Kronprinz (Friedrich der Große), obſchon nur bis 1740
dort, behält es als Eigenthum bis 1744.
Im Jahre 1744 erhält es Prinz Heinrich von ſeinem
[93] Bruder als Geſchenk, ſiedelt aber erſt 1753 nach Rheinsberg
über. *)
- Prinz Heinrich von 1753 bis 1802 († 3. Auguſt.)
- Prinz Ferdinand von 1802 bis 1813 († 2. Mai.)
- Prinz Auguſt von 1813 bis 1843 († 19. Juli.)
- Seit 1843 iſt es wieder Königlicher Beſitz. —
Wir paſſiren nun den Schloßhof, treten links auf den
großen Flur und ziehen leiſe, mit der Hand des Bittſtellers, an
der Klingel des Caſtellans. Er ſchläft wirklich noch; ſeine Frau
aber, eine rüſtige Alte, nimmt unverdroſſen das große Schlüſſel-
bund von der Wand und ſchreitet treppauf vor uns her.
Wollt’ ich dem Leſer zumuthen, uns auf dieſem Gange durch
ein Labyrinth von Zimmern zu folgen, ſo würd’ ich eine chaotiſche
Verwirrung in ſeinem Kopfe anrichten und ihn die Bereicherung
ſeiner Kenntniß mit dieſem oder jenem Detail, etwas theuer be-
zahlen laſſen. Ich verfahre alſo nicht chronologiſch mit Rückſicht
auf unſeren zufälligen Marſch, ſondern chronologiſch mit Rückſicht
auf die Geſchichte ſelbſt und beſpreche vorzugsweiſe die Zimmer
des Kronprinzen Friedrich und die Zimmer des Prinzen Heinrich.
Zunächſt alſo die Zimmer des Kronprinzen, des nachmaligen
„großen Königs.“ Sie befinden ſich in beiden Flügeln, wenn
man, wie billig, den großen Concert-Saal mit hinzurechnet, in
welchem unter Leitung der beiden Graun’s und Benda’s und
unter Mitwirkung des Kronprinzen ſelbſt, die claſſiſchen Compo-
ſitionen jener Epoche aufgeführt wurden. Dieſer Concert-Saal
befindet ſich (immer vom See-Ufer aus geſehen) im linken
[94] Flügel des Schloſſes und wird nach vorn hin durch die Thurm-
zimmer begrenzt. Seine hohen Fenſter blicken nach links hin auf
den Schloßhof, nach rechts hin auf das „Cavalierhaus“ und
einen vorgeſchobenen Theil der Stadt hinaus. Der Saal, etwa
40 Fuß lang und faſt eben ſo breit, iſt vortrefflich erhalten; die
Wände ſind von Stuck und die Fenſter-Pfeiler mit Spiegeln und
Goldrahmen reich verziert. Die eigentliche Sehenswürdigkeit indeß
iſt das große Deckengemälde von Pesne, das derſelbe, nach einem
den Ovidſchen Metamorphoſen entlehnten Vorwurf, im Jahre
1739 hier ausführte. Der Grundgedanke iſt: „die aufgehende
Sonne vertreibt die Schatten der Finſterniß“ oder wie einige es
ausgelegt haben „der junge Leuchteprinz vertreibt den König
Grieſegram.“ Die Ausführung iſt vortrefflich, und wie immer
man über pausbackige Genien und halbbekleidete Göttinnen denken
mag, in dem Ganzen lebt und webt eine künſtleriſche Potenz,
gegen die es nicht gut möglich iſt, ſich zu verſchließen. — In eben
dieſem Saal fand im Sommer 1848, wo es ſchwer ward, ſolche
Geſuche abzulehnen, ein großes Ruppin-Rheinsbergiſches Geſangfeſt
ſtatt. Man vollführte einen Heidenlärm, bis plötzlich eine halbe
Stuck-Wand ſich loslöſte und mitten in den entſetzten Sängerkreis
hinein fiel. Man ſtob aus einander. Das Mauerwerk des alten
Schloſſes hatte ſich gegen die Unbill empört.
Dieſer linke Flügel enthält außer dem Concertſaal noch zehn
oder zwölf kleinere Räume, von denen einige die Zimmer der
Prinzeß Amalie heißen, während der Reſt ſich ohne allen Namen
begnügen muß. Dieſe „Namenloſen“ ſind die einzigen Räume des
Schloſſes, die noch eine praktiſche Verwendung finden. Hier logiren
der Hausminiſter und die Ober-Bau-Räthe, die dann nnd wann
hier eintreffen, um nach dem Rechten zu ſehen. Es macht einen
ganz eigenthümlichen Eindruck, wenn man auf einem langen Marſch
durch lauter unbewohnte Zimmer, die immer nur die Vorſtellung
wecken, „hier muß der und der geſtorben ſein“, plötzlich in ein
paar Räume tritt, die liebe Erinnerungen an die Tage eigenen
Chambregarnie-Lebens in uns wecken. Die kleinen Bettſtellen von
[95] Birkenmaſer-Holz, die rothen Steppdecken von allerſimpelſtem
Kattun, die Waſchtoiletten mit dem Klappdeckel und die beinah
faltenloſen Zitzgardinen, als habe das Zeug in der Breite nicht
gereicht, Alles hat den ſchlichtbürgerlichſten Charakter von der Welt
und das eitle Herz wird angenehm von der Vorſtellung berührt,
daß man in Schlöſſern ſchläft wie anderswo.
Doch vergeſſen wir über dieſem ſtille Behagen nicht die eigent-
liche Aufgabe, die uns hergeführt, und wenden wir uns nunmehr
jenem kleinen Arbeitszimmer zu, das mit größerem Recht, als
der Concertſaal, den Namen des großen Königs führt.
Dies Arbeitszimmer liegt im rechten Flügel des Schloſſes
und zwar in dem kleinen Rundthurm, der ſich hart an den Flügel
lehnt. Wir paſſiren eine lange Reihe von Zimmern, bis wir endlich
in ein kleines halbdunkles Vorgemach treten, das ſein Licht nur
durch die Glasthür eines unmittelbar vor ihm liegenden Zimmers
empfängt. Dies halbdunkle Vorgemach enthielt die kleine Biblio-
thek, die Friedrich der Große bald nach ſeiner Thronbeſteigung
nach Potsdam ſchaffen ließ; das davor liegende Zimmer aber, von
dem uns nur noch die Glasthür trennt, iſt das Arbeitszimmer
ſelbſt. Es iſt klein, höchſtens 12 Fuß im Quadrat, hat aber nach
drei Seiten hin eine entzückend ſchöne Ausſicht über Wald und
See. Vor 120 Jahren muß auch das Zimmer ſelbſt einen durch-
aus heitern und angenehmen Eindruck gemacht haben. Es iſt ein
Achteck, das mit drei Seiten nach hinten zu in der Mauer ſteckt,
während 5 Seiten frei und losgelöſt nach vorn hin liegen. Das
ganze Zimmer ſetzt ſich aus alternirenden Wand- und Glasflächen
regelrecht zuſammen; vier Pannel-Wände, drei Niſchenfenſter und
eine Glasthür. Die Fenſterniſchen ſind ſehr tief und haben Raum
genug zur Aufſtellung von Polſterbänken, die ſich an beiden Seiten
entlang ziehen. An den Pannel-Wänden ſtehen altmodiſche Lehn-
ſtühle mit verſilberten Beinen und ſchlechten, dunklen Kattun-
Ueberzügen. Ueber den Lehnſtühlen, in ziemlicher Höhe, ſind Con-
ſolen angebracht, auf denen die Büſten Cicero’s, Voltaire’s, Dide-
rot’s und Rouſſeau’s ſtehen. Die Holzbekleidung, namentlich in
[96] den Fenſterniſchen, iſt vielfach mit Spiegelglas ausgelegt; über
der Eingangsthür befinden ſich die Zeichen des Freimaurer-Ordens
und den Plafond bedeckt abermals ein Pesne’ſches Decken-Gemälde.
Es ſtellt die Ruhe beim Studiren vor; ein Genius überreicht
der ſitzenden Minerva ein Buch, auf deſſen Blättern man die
Namen Horaz und Voltaire lieſt. Das Bild hat verhältnißmäßig
gelitten, und kann überhaupt mit der glänzenden Schöpfung
deſſelben Meiſters im Concert-Saal nicht verglichen werden. In
der Mitte des Zimmers ſteht der Arbeits-Tiſch des Prinzen;
vor demſelben ein Lehnſtuhl, nicht weſentlich anders wie ſeine vier
Collegen mit den verſilberten Beinen. Der Arbeits-Tiſch nimmt
natürlich das Haupt-Intereſſe in Anſpruch. Er iſt kaum ſo groß
wie die modernen Damen-Schreibtiſche, denen man in jedem Haus-
halt begegnet. Die vergoldeten Füße ſind im Rococco-Geſchmack,
eben ſo die Schubkäſten, deren drei große und vier kleinere vor-
handen ſind. Die Schreibeplatte liegt ſchräg und kann aufgeklappt
werden. Sie war ehedem mit rothem Sammt überzogen, hat aber
nicht nur die Farbe, ſondern den ganzen Sammt-Stoff längſt
verloren. Der Sammt wird bekanntlich auf eine Unterſchicht von
feſtem Zeug aufgetragen. Dieſe Unterſchicht war noch ziemlich intact
vorhanden, als ich 1853 Rheinsberg zum erſten Mal beſuchte.
Seitdem haben ſich die Dinge ſehr zum Schlimmeren verändert.
Nicht die Hälfte mehr exiſtirt von dieſem Unterzeug, und man
kann deutlich ſehen, wie die Federmeſſer je nach der Charakter-
Anlage des Betreffenden mal größere, mal kleinere Caro’s heraus-
geſchnitten haben. Wir lieben nicht die Caſtellane, die einen durch
ihren Dienſteifer um die Möglichkeit eines ruhigen Genuſſes brin-
gen; aber eben ſo wenig mag ich jenen das Wort reden, die
in mißverſtandener Nachſicht ein Auge zudrücken, wo ſie’s auf-
machen ſollten.
Wir nehmen zögernd Abſchied von dieſem intereſſanten Zim-
mer, um uns nun den andern Räumlichkeiten des Schloſſes und
[97] zwar zunächſt den Zimmern des Prinzen Heinrich zuzuwen-
den. Sie liegen im erſten Stock des Corps de Logis und bilden
eine ununterbrochene Reihenfolge. Vor 60 Jahren waren dieſe
Zimmer noch in Gebrauch (der Prinz ſtarb erſt 1802), weshalb
man ſich nicht wundern darf, hier Alles in einem Zuſtand leid-
licher Wohlerhaltenheit zu finden. Den Anfang machen die ſoge-
nannten Prinz-Ferdinand’s-Zimmer, d. h. diejenigen Zimmer, die
Prinz Ferdinand zu bewohnen pflegte, wenn er bei ſeinem
älteren Bruder, dem Prinzen Heinrich, zum Beſuche war. Viel-
leicht auch lebte er in den Jahren 1802 bis 1813 wenigſtens
zeitweilig hier und bewohnte dann dieſe Zimmer.
Hinter dieſen ſogenannten Prinz-Ferdinand-Zimmern folgt
der Concert-Saal (nicht zu verwechſeln mit dem Kronprinz-
lichen im linken Flügel), dann der ſehr gut erhaltene Muſchel-
ſaal, endlich das Bibliothek-Zimmer. Neben der Bibliothek befindet
ſich das Schlaf- und Sterbezimmer des Prinzen Hein-
rich. Es iſt ein großes, ziemlich dunkles Gemach, durch ein Paar
Säulen in zwei Hälften getheilt. In der dunkleren Hälfte des
Zimmers, halb durch die Säulen verdeckt, ſteht das Sterbebett,
ein ſtattlicher, mit ſchweren Seidenvorhängen reich ausgeſtatteter
Bau. Alte Staatsbetten machen in der Regel einen peinlichen
Eindruck und erfüllen uns mit einem Dankgefühl, daß wir nicht
in ihnen zu ſchlafen brauchen. Nicht ſo hier; nichts von Ver-
ſchoſſenheit der Farben, von vergilbtem Weiß und dumpfer Feuchte;
Alles friſch und farbig und voll beweglich lebensvoller Falten. —
Um dies Schlaf- und Sterbezimmer herum gruppiren ſich einige
kleinere, die nur durch ihre Schildereien intereſſiren, meiſt Bilder
in chineſiſcher Tuſche von der Hand des Prinzen Heinrich ſelbſt.
Im Großen und Ganzen herrſcht Mangel an guten Bildern; nur
zwei oder drei hat man gelaſſen, um dem Auge des Beſchauers
eine Erholung zu gönnen. Unter dieſen ſind zwei Bildniſſe des
jungen Grafen Bogislaw von Tauentzien (des ſpäteren Generals
Tauentzien von Wittenberg) und ein Portrait der erſten Königin
Sophie Charlotte, bei Weitem die intereſſanteſten.
7
[98]
Auch die Zimmer im Erdgeſchoß an der rechten Seite des
Corps de Logis ſind nicht ganz ohne Intereſſe. Bilder, Büſten,
Ausſchmückungsgegenſtände, die entweder noch aus den Zeiten des
Prinzen Heinrich her ſich in dieſen Zimmern befinden oder von
Verſchönerungswegen ihren Weg aus dem obern Stockwerk in’s
untere genommen haben, feſſeln den Beſchauer auf eine halbe
Stunde. In einem Zimmer befinden ſich die Büſten des Marquis
de la Roche Aymon und ſeiner Gemahlin; daneben eine Büſte
des franzöſiſchen Schauſpielers Blainville. Der Marquis, auf
den ich in einem ſpätern Kapitel zurückkomme, war, nach Tauent-
ziens Abgang Adjutant des Prinzen und nebenbei eine Art General
en Chef des prinzlichen Heeres, d. h. jener im Sold des
Prinzen ſtehenden Leibhuſaren-Schwadron, die in Rheinsberg
ihre Garniſon und im Schloſſe den Dienſt hatte. Der Schau-
ſpieler Blainville, ein beſonderer Liebling des Prinzen, gab ſich
ſelbſt den Tod, als es der Kabale ſeiner Genoſſen gelungen war,
ihm momentan die Gunſt ſeines Herrn zu entziehen. Der Prinz
ſoll dieſen Verluſt nie verwunden haben. — Ein größerer Saal,
neben jenem büſtengeſchmückten Zimmer, macht noch den Eindruck
einer gewiſſen Wohnlichkeit, vielleicht weil er ein paar Specialitäten
enthält, die uns, etwa wie ein blankgeputzter Vogelbauer oder ein
Tiſch voll Nippſachen, die Nähe der Menſchen ſelbſt dann noch
fühlbar machen, wenn auch ein halbes Jahrhundert zwiſchen uns
und ihnen liegt. Zu dieſen Specialitäten rechne ich natürlich nicht
die ſtattliche Reihe guter Portraits, die an den Wänden hängen,
ſondern vor Allem ein würfelförmiges Poſtament von dem Umfange
eines großen Tabackskaſtens, das auf einem halb verſteckten Ecktiſch
ſteht. Dieſer Kaſten muß bei einer beſtimmten Gelegenheit als Unter-
ſatz für eine koſtbare Blume gedient haben und von dem einen
oder andern ſeiner Verehrer dem Prinzen überreicht worden ſein.
Noch jetzt umſchließt der Kaſten einen Blumentopf, aber die Blumen
ſelbſt ſind von Papier. Die vier Wände enthalten reizende Aquarell-
Bildchen, die dieſen Kaſten, mit Ausnahme des großen Pesne’ſchen
Deckenbildes und des Portraits der Sophie Charlotte, ſo ziemlich
[99] zu dem künſtleriſch-intereſſanteſten Gegenſtand des Schloſſes
machen. Zwei Seiten weiſen mit vieler Feinheit ausgeführte Ara-
besken auf; Front- und Rückſeite aber enthalten zwei Schlachten-
bilder en miniature, von denen das eine die Inſchrift trägt:
»Condé aux lignes de Fribourg;« das andere: »Henri à la
bataille de Prague.« Die Verbindlichkeit iſt ſehr fein, die Paral-
lele gut gezogen, und was die Hauptſache iſt — die Ausführung
vortrefflich. »Condé aux lignes de Fribourg« iſt möglicherweiſe
eine Copie; ich entſinne mich dunkel, im Louvre oder in den
Sälen von Verſailles etwas nah Verwandtes geſehen zu haben.
Auf dem Frontbilde »Henri à la bataille de Prague« erhebt
der Prinz eben den Degen, und den Kopf nach rechts hin halb
zurückgewandt, um durch Wort und Blick die Nachfolgenden anzu-
feuern, führt er eben eine Grenadier-Compagnie (mit jenen Blech-
mützen, wie ſie noch jetzt von einem Theil des 1. Garde-Regiments
getragen werden) zum Sturm. Das Bild iſt voll Charakter und
Leben und ſehr glücklich in der Farbe. — Ich habe ſo lange bei
Darſtellung dieſes Blumenkaſtens verweilt, um unſere Hiſtorien-
und Geure-Maler auf dieſes bisher wenig gekannte Schatzkäſtlein
aufmerkſam gemacht zu haben.
7*
[[100]]
4.
Prinz Heinrich. Der Rheinsberger Park. Herr v. Reitzen-
ſtein und der verſchluckte Diamant. Der Freundſchafts-
Tempel. Das Theater im Grünen. Das Grabmal des
Prinzen.
Außer den im vorigen Kapitel beſchriebenen Zimmern des Kron-
prinzen und des Prinzen Heinrich enthält das Rheinsberger
Schloß nichts, was der Erwähnung werth wäre. Wenn man
wieder in’s Freie tritt, um über den Schloßhof hin dem Park
und den Seeufern zuzuſchreiten, ſo kann man die Frage nicht ab-
wehren, wie kommt es, daß dieſer kluge, geiſtvolle Prinz Heinrich,
dieſer Feldherr sans peur et sans reproche, dies von den
nobelſten Empfindungen inſpirirte Menſchenherz, ſo wenig populär
geworden iſt. Man mache die Probe in unſeren Dorfſchulen!
Jedes Tagelöhnerkind wird den Zieten, den Seidlitz, den „Schwerin
mit der Fahne“ kennen; aber der Herr Lehrer ſelbſt wird nur
ſtotternd zu ſagen wiſſen: wer denn eigentlich Prinz Heinrich
geweſen ſei. Selbſt in Rheinsberg, das der Prinz 50 Jahre lang
beſeſſen und 40 Jahre lang bewohnt hat, iſt er verhältnißmäßig
ein Fremder. Natürlich man kennt ihn, man nennt ſeinen Namen;
aber man weiß wenig von ihm. Einige Alte entſinnen ſich
ſeiner, erzählen dies und das, aber die lebende Generation lernt
Geſchichte, wie wir, d. h. lieſt lange Kapitel vom Kronprinzen
Friedrich und ſeinem Rheinsberger Aufenthalt, und hat ſich daran
gewöhnt, den Concert-Saal und das Studirzimmer als die eigent-
lichen Sehenswürdigkeiten des Schloſſes anzuſehen; die Zimmer
[101] des Prinzen Heinrich, Prinz Heinrich ſelbſt, Alles iſt bloße Zu-
gabe, Material für die Rumpelkammer. Das Loos, das dem
Prinzen bei Lebzeiten fiel, das Geſchick, „durch ein helleres Licht
verdunkelt zu werden,“ verfolgt ihn auch im Tode noch — an
derſelben Stelle, wo er ein halbes Jahrhundert lang gelebt, ge-
herrſcht, geſchaffen und geſtiftet hat, iſt er ein halb Vergeſſener,
blos weil der Stern ſeines Bruders vor ihm daſelbſt geleuchtet
hat. Ein Theil dieſes Mißgeſchickes wird bleiben; aber es iſt nicht
unwahrſcheinlich, daß die nächſten 50 Jahre Verdienſt und Klang
des Namens mehr in Harmonie bringen werden. Um es mit einem
Wort zu ſagen: dem Prinzen hat der Dichter bisher gefehlt.
Von dem Augenblick an, wo Lied, Erzählung, Schauſpiel ihn
unter ihre Geſtalten aufnehmen werden, werden ſich die Prinz-
Heinrichs-Zimmer im Rheinsberger Schloſſe neu beleben, und die
Caſtellane der Zukunft werden zu erzählen wiſſen, was in dieſer
und jener Fenſterniſche geſchah, wer den Blumenkaſten überreichte
und unter welchem Kaſtanienbaume der Prinz ſeinen Thee trank
und mit freudigem: »oh soyez le bien venu« ſich erhob, wenn
Prinz Louis am Schloßthor hielt und lachend aus dem Sattel
ſprang.
Hiſtoriſche Geſtalten theilen ganz das Schickſal von Statuen.
Die ſcheinbar begünſtigteren ſtehen, durch ein Jahrtauſend hin
immer leuchtend, immer bewundert auf dem Poſtament des Ruh-
mes; andere werden verſchüttet oder in den Fluß geworfen. Aber
es kommt der Moment ihrer Wieder-Erſtehung, und nun erſt,
neben den glücklicheren neu-aufgerichtet, erwächſt der Nachwelt die
Möglichkeit des Vergleichs. Es muß zugegeben werden, und ich
habe in dem Kapitel „die Kirche zu Rheinsberg“ in nicht mißzu-
verſtehender Weiſe darauf hingewieſen, daß etwas prononcirt Fran-
zöſiſches in Sitte, Gewöhnung und Ausdruck und das völlige
Fehlen jener churbrandenburgiſchen Derbheit, die wir an
Friedrich dem Großen ſo vorzugsweiſe in Affection genommen
haben, der Populariſirung des Prinzen Heinrich ſtets hindernd
im Wege ſtehen wird; es fehlt aber auch noch viel bis zu jenem
[102] beſcheideneren Maße, bis zu jenem engeren Zirkel von Popula-
rität, auf den er unbedingten Anſpruch hat. Seine Antworten
werden nie in dem bekannten Stile des älteren Tauentzien ſein,
als dieſer, unter Androhung, daß man das Kind im Mutterleibe
nicht ſchonen würde, aufgefordert wurde, Breslau zu übergeben.
Aber wenn ſeine Antworten auch vielleicht niemals an das Schwert
des Richard Löwenherz erinnern werden, der eine zolldicke Eiſen-
ſtange auf einen Schlag zerhieb, ſo werden ſie der Halbmondklinge
Saladin’s um ſo ähnlicher ſein, der das in die Luft geworfene
Seidentuch im Niederfallen durchſchnitt. —
Wir ſind nun in den Park getreten; er umzieht in weitem
Halbkreis die links gelegene Hälfte des See’s und geht am jen-
ſeitigen Ufer deſſelben unmittelbar in die ſchönen Laubholz-Par-
tieen des Boberow-Waldes über. Der Park iſt eine glückliche
Miſchung von franzöſiſch-engliſchem Geſchmack, — zum Theil
planvoll dadurch entſtanden, daß man die urſprünglich Le Notre’-
ſchen Anlagen durch engliſche Partieen erweiterte; zum Theil un-
abſichtlich dadurch geworden, daß ſich das zwang- und kunſtvoll
Gemachte wieder in die Natur hineingewachſen hat. Die Park-
Anlage, wie ſie ſich jetzt präſentirt, ſoll hauptſächlich ein Werk
des Herrn v. Reitzenſtein, eines beſonderen Protegé’s des Prinzen,
ſein. Die Anlagen wurden während des Krieges ausgeführt, und
Reitzenſtein kam, durch Verleumdung Anderer, in Verdacht,
unredlich gewirthſchaftet zu haben. Reitzenſtein konnte es nicht er-
tragen, dem Prinzen, deſſen Vertrauen er gemißbraucht haben
ſollte, unter die Augen zu treten, und als er von der nah bevor-
ſtehenden Rückkehr deſſelben hörte, verſchluckte er einen Diamant
und tödtete ſich auf dieſe Weiſe. So erzählt ſich das Volk. Es
liegt aber auf der Hand, daß hier der nach dem Abenteuerlichen,
dem Poëtiſch-Aparten haſchende Sinn des Volkes eine komiſche
Subſtituirung hat eintreten laſſen. Ein Diamant (die Tauben-Ei-
großen ſind bekanntlich rar) iſt gerade ſo unſchädlich wie ein
Pflaumenkern, und es ſcheint mir ziemlich ſicher, daß ſich Reitzen-
ſtein durch Essence d’Amandes (Bittermandelöl oder Blauſäure)
[103] getödtet hat, die nach dem Gleichklang und gemäß poëtiſirender
Volksneigung alsbald ein Diamant geworden iſt.
Man paſſirt, mal dicht am Seeufer hin, mal wieder ſich von
ihm entfernend, die üblichen Schauſtücke ſolcher Anlage: Säulen-
Tempel, künſtliche Ruinen, bemooste Steinbänke, Statuen (darunter
einige von großer Schönheit), und gelangt endlich, einige Partieen
zur Seite laſſend, die wir auf dem Rückwege beſuchen wollen, in
den ſogenannten Freundſchafts-Tempel, der bereits im Bobe-
row-Walde, alſo am jenſeitigen Ufer des See’s liegt. In dieſem
Freundſchafts-Tempel pflegte der Prinz zu ſpeiſen, wenn das
Wetter eine Fahrt über den See geſtattete. Es war ein kleiner
Kuppelbau, auf deſſen Haupt-Kuppel noch ein Kuppelchen ſaß; den
Eingang bildete ein Frontiſpice. Frontiſpice und Kuppeln exiſtiren
in dieſem Augenblick nicht mehr; ſie drohten Einſturz und man hat
beides abgetragen. In welcher Weiſe die Wiederherſtellung erfolgen
wird, vermag ich nicht zu ſagen. Das Innere des ganzen „Tem-
pels“ beſteht eigentlich nur aus einem einzigen achteckigen Zimmer,
um das ſich, wie die Schale um die Mandel, ein etwas größerer
achteckiger Außenbau legt. Es iſt genau ſo, wie wenn man eine
kleine Schachtel in eine große ſtellt und beide mit einem gemein-
ſchaftlichen Deckel überdeckt. Der kleinere achteckige Einſatz hat aber
vier thürbreite Einſchnitte (die Thüren ſelbſt fehlen), und durch
dieſe Einſchnitte wird es möglich, die Inſchriften zu leſen, die ſich
an der Innen wand des achteckigen Außenbaues befinden. Es ſind
ihrer 16, die ſich alle auf das Glück der Freundſchaft beziehen,
einzelne zwei, andere vier Zeilen lang und alle entweder mit S.
oder B. unterzeichnet. Ich gebe zwei derſelben:
oder:
[104]
So ſind ſie alle; kleine Niedlichkeiten ohne tiefere Bedeutung, und
doch an dieſer Stelle ebenſo anſprechend, wie ſie als Grab- und
Kirchen-Inſchriften (vgl. das Kapitel über die Rheinsberger Kirche)
uns widerſtrebend ſind. Jetzt feiern die Kinder und jungen Leute
ihr Möskefeſt an dieſer Stelle, bei welcher Gelegenheit ſicherlich
weniger philoſophiſche Betrachtungen als die vorſtehenden über
das Glück der Freundſchaft angeſtellt und die vorkommenden Fra-
gen mehr zu Gunſten des obigen, ewig im Schwunge bleibenden
»fils de la folie« entſchieden werden. Ein Möskefeſt an dieſer
Stelle iſt eine nicht üble Kritik und Ironie.
Vom Freundſchaftstempel aus, am Obelisken vorbei (den ich
in meinem Schlußcapitel beſprechen werde), ſchreiten wir in den
eigentlichen Park zurück, machen dem wohlerhaltenen „Theater im
Grünen“, das lebendige Hecken ſtatt der Couliſſen hat, unſern
Beſuch und biegen ſchließlich in allerhand ſchmale Gänge ein,
deren Windungen uns zum Grabmal des Prinzen Heinrich
führen. Es beſteht aus einer Backſtein-Pyramide, um die ſich ein
ſchlichtes Eiſengitter zieht. Der Prinz, in ſeinem Teſtament, hatte
die völlige Vermauerung dieſer Pyramide angeordnet; doch ging
man von dieſer Anordnung ab und ließ einen Eingang offen.
Im Jahre 1853 ſah ich noch deutlich den großen Zinkſarg ſtehen,
auf dem ein roſtiger Helm lag. Seitdem iſt ein brutaler Verſuch
gemacht worden, das Grab zu beſtehlen; man hoffte Gold im
Sarge zu finden und durchwühlte die Aſche des Todten. Natürlich
vergeblich. Das hat nun zu einer nachträglichen Erfüllung der
Teſtaments-Anordnung geführt, und die Pyramide iſt jetzt ver-
mauert. Wo früher der Eingang war, befindet ſich jetzt die große
Steintafel mit der von Prinz Heinrich ſelbſt verfaßten Grab-
ſchrift. Sie iſt oft gedruckt worden. Ich gebe hier nur ihre erſten
vier Zeilen, als beſonders charakteriſtiſch für den Mann und ſeine
Zeit. Sie lauten:
[105]
Den weiteren Wortlaut wird der Leſer in den Anmerkungen finden.
So dachte und ſchrieb man damals! Die „naissance“ war ein
Spiel des Zufalls, und man war es müde, „über Sclaven zu
herrſchen.“ Man denkt jetzt anders darüber. Die Phraſe iſt abge-
than, aber, Gott ſei Dank, dem Weſen der Freiheit ſind wir
näher gekommen.
[[106]]
5.
Der große Obelisk in Rheinsberg und ſeine Inſchriften.
Vielleicht die größte Sehenswürdigkeit Rheinsbergs iſt der
große Obelisk, der ſich, gegenüber dem Schloſſe, alſo am jen-
ſeitigen See-Ufer, auf einem zwiſchen dem Park und dem Boberow
gelegenen Hügel erhebt. Er wurde zu Anfang der 90er Jahre
vom Prinzen Heinrich „dem Andenken ſeines Bruders Auguſt
Wilhelm“ errichtet. Dieſer Obelisk und ſeine Inſchriften (auch
jetzt noch von ſehr wenigen gekannt) ſind zwar mehrfach beſchrieben,
aber ſelten mit kritiſchem Auge geleſen worden. Dieſe 28 gol-
denen Inſchriften, die (rund eingelegt und etwa von dem Anſehen
wie die Kehrſeiten großer Medaillen) die untere Hälfte des Obelisks
bedecken, ſind eine Geſchichte des ſiebenjährigen Krieges im Lapi-
darſtil und ſcheinen mir darin eine bis dieſen Augenblick noch nicht
hinreichend gewürdigte Bedeutung zu haben, daß ſie das Verhältniß
des Prinzen Heinrich zu ſeinem Königlichen Bruder durch aller-
eigenſte Worte des Erſteren kennzeichnen und, wenn auch in
mildeſter Form, einen der Sache nach ziemlich ſtrengen Maßſtab
prinzlicher Kritik an die Sympathieen und Antipathieen König
Friedrichs, an ſein Lob und ſeinen Tadel legen. Der umfang-
reiche, ein Werk für ſich bildende kritiſche Commentar des Prinzen
zu dem großen Geſchichtsbuch ſeines Bruders, iſt nach teſtament-
licher Beſtimmung des Erſteren unmittelbar nach ſeinem Hinſcheiden
verbrannt worden; der Obelisk aber, der ſich Jedermann zugänglich
Angeſichts des Rheinsberger Schloſſes erhebt, iſt ein kurz gefaßter
[107] Abriß aus jenem Buch, der ganz entſchieden die Meinungen des
Verfaſſers über allbekannte Vorgänge, wenn auch freilich nicht die
Gründe für dieſe Meinungen oder gar die Beweiſe giebt.
Das Errichten des Monuments ſelbſt iſt bereits ein kritiſcher
Act, eine Mißbilligung der Mißbilligung, die Prinz Auguſt Wil-
helm (der Vater Königs Friedrich Wilhelm II.) von ſeinem
Bruder, dem Könige, hinnehmen mußte; eine Ehren-Erklärung da,
wo Friedrich II. durch ſein Benehmen die Ehre abgeſchnitten hatte.
Die Vorderfront trägt das vortrefflich ausgeführte Relief-Portrait
des Prinzen, dem der Obelisk gewidmet iſt. Darunter die Worte:
Aber nicht dem Prinzen allein iſt das Monument errichtet,
auch einer langen Reihe tapferer Männer, die mit und neben ihm
gefochten haben, den „Preußiſchen Heroen“ überhaupt. Daran
reihen ſich, um das Fehlen einzelner Namen in keinem allzu
auffälligen Lichte erſcheinen zu laſſen, folgende merkwürdige Worte:
Kein Präjudiz alſo gegen alle diejenigen, die außerdem noch
an der estime publique theilnehmen. Dieſe Worte rückſichts-
voller Verwahrung ſind ganz im Geiſte des Prinzen Heinrich ge-
ſprochen. Er giebt ſeine Meinung und giebt ſie zum Theil diplo-
matiſch genug dadurch, daß er ſchweigt; aber ſelbſt dies Schweigen
erſcheint ihm noch zu verletzend, und er fügt ein milderndes „ohne
Präjudiz“ hinzu. Dies bezieht ſich auf das Fehlen beſonders
zweier Namen: v. Winterfeldt und v. Wedell. Auf der einen
[108] Seitenfront befindet ſich zwar ein „Wedell“, doch iſt dies ein
älterer General deſſelben Namens, der ſchon 1745 bei Soor fiel,
nicht der Wedell, der als Liebling und Vertrauensmann des
Königs abgeſchickt wurde, um (gegen die anrückenden Ruſſen) den
Grafen Dohna im Commando zu erſetzen, und der Tags darauf,
trotz all ſeiner Tapferkeit, bei Kay geſchlagen wurde. Alle die
„beſonderen Vertrauensmänner“ des Königs fehlen auf dem Obe-
lisk; die aber unter ſeiner Ungnade oder Ungerechtigkeit ’mal zu
leiden hatten, ſind ziemlich ſicher, hier ihr Conto in Balance ge-
bracht zu ſehen. So der Herzog v. Bewern, v. d. Marwitz, Ge-
neral Wobersnow ꝛc. Der Letztere fiel bei Kay, „wo gegen ſeine
Anſicht (Hieb gegen von Wedell und mittelbar gegen den König)
geſchlagen wurde“. Dies Lob iſt wie ein Gegenzug gegen den
Tadel des Königs, der wenige Tage vor dem Gefecht bei Kay
an Wobersnow ſchrieb: „Die Folgen Eurer übel ausgeführten
Projecte äußern ſich jetzt. Ihr hättet nicht wie die heiligen drei
Könige aus Morgenland einherziehen müſſen. Es konnte nunmehr
mit den Ruſſen ſchon aus ſein.“
Die Namen, die der Obelisk nennt, ſind die folgenden:
Vorderfront: Keith, Schwerin, Leopold von Deſſau, Prinz
Auguſt Ferdinand, Seidlitz, Zieten, Herzog von Bewern,
General von Platen († Kunersdorff).
Rechtsfront: v. Wedell (Soor), v. Hülfen, v. Tauentzien,
v. Möllendorf, v. Haucharnoi († Prag), v. Retzow (deckte
den Rückzug von Hochkirch, was auch mit feinbezüglichen
Worten geſagt wird), v. Wobersnow († Kay).
Linksfront: v. Wünſch, v. Saldern, von Prittwitz, v. Kleiſt,
v. Dieskau, v. Ingersleben, v. Henkel.
Hinterfront: v. Goltz, v. Blumenthal, v. Reder, v. d. Mar-
witz, de Quede, v. Platen († Prag, als aide de camp
Schwerins).
Prinz Heinrich bezeichnet die getroffene Wahl ſelbſt als eine
„choix d’une estime particulière.“ Neben einem Gefühl der
[109] Freundſchaft ſcheint aber noch das Gefühl beſonderer Waffen-
brüderſchaft die Wahl beſtimmt zu haben. Es iſt bekannt, welche
entſcheidende Rolle dem Prinzen während der Prager Schlacht zu-
fiel. Prag, nebſt Freiberg, wo ſein Feldherrngeſchick ſich in noch
glänzenderem Lichte zeigte, blieb ſeine Lieblings-Affaire (etwa wie
Friedrich Wilhelm III. mit Vorliebe der Schlacht von Kulm ge-
dachte), und alle diejenigen, die daran theilgenommen hatten,
ſtanden ſeinem Herzen beſonders nah. Der im Volk ſchon damals
lebende Glaube, daß „Schwerin mit der Fahne“ die Schlacht
entſchieden habe, ſcheint ihm aber im Gefühl deſſen, was er ſelbſt
geleiſtet hatte, unbequem geweſen zu ſein, und nachdem er die frü-
heren Thaten Schwerin’s mit großer Wärme des Ausdrucks auf-
gezählt hat, ſchließt er ziemlich nüchtern: „Un drapeau à la
main il fut la victime de son zèle devant Prague le 6 de
Mai 1757“. Er rühmt nur den „Eifer“, weiter nichts.
Die Inſchriften ſind alle intereſſant, aber nur zwei theile ich
noch vorzugsweiſe mit. Vom Quartiermeiſter v. d. Marwitz (Hoch-
kirch) heißt es am Schluß: „Etant mort à 36 ans en 1759
son merite et ses services seroient oubliés si ce monu-
ment n’en conservoit la mémoire.“ Darin hat ſich der Prinz
nun allerdings geirrt; man kennt Marwitz auch ohne den Rheins-
berger Obelisken.
Die ſchönſten Worte richten ſich an Zieten. Innigkeit und
wahre Verehrung ſpricht aus jeder Zeile. Der alte Huſar iſt auch
hier Sieger geblieben:
[110]
Was den weiteren Wortlaut dieſer Inſchriften (in deutſcher
Ueberſetzung) angeht, ſo verweiſ’ ich auch hier auf die Anmer-
kungen.
Es dunkelt und nur mühſam noch entziffern wir die letzten
Inſchriften; nun kehren wir im Kahn über den See zurück. Leiſe
Nebel ziehen auf und ab, in Dämmerung liegt das Schloß; aber
von den Bäumen des Parks her klingt es herüber wie leiſe
Stimmen aus alter Zeit.
[[111]]
Zwiſchen Boberow-Wald und Huvenow-See
oder
Der Rheinsberger Hof von 1786 — 1802.
In einem früheren Kapitel ſprach ich die Hoffnung aus, daß die
Prinz-Heinrich-Zeit des Rheinsberger Schloſſes, die über den
Kronprinzlichen Aufenthalt daſelbſt halb vergeſſen zu werden pflegt,
über kurz oder lang ihren Hiſtoriographen, oder wenn dies Wort
zu gewichtig klingt, ihren Erzähler finden möchte. Ich habe nun,
ſeitdem ich bei einem erſten Beſuche Rheinsbergs jene Worte nieder-
ſchrieb, ſelbſt zu ſammeln geſucht und gebe in Nachſtehendem, was
ich gefunden. Das Terrain, das dabei in Betracht kam (denn der
Rheinsberger Hof hatte ſpäter ſeine Außenwerke und Filiale) liegt
zwiſchen dem Boberow-Wald und dem Huvenow-See und
hab ich demgemäß die Ueberſchrift dieſes Kapitels gewählt.
Bis 1786 war der Aufenthalt des Prinzen Heinrich in
Rheinsberg ein vielfach unterbrochener: Kriege, Reiſen und diplo-
matiſche Miſſionen hielten ihn jahrelang fern; — erſt von 1786
an gehörte er dem „ſtillen Schloß am Boberow-Wald“ mit einer
Art Ausſchließlichkeit an, freilich auch dann erſt, nachdem er noch
einen ernſten Verſuch gemacht hatte, Paris an die Stelle von
Rheinsberg treten zu laſſen.
Dies beinah völlige Sichfernhalten von der Welt, das nun
eintrat, war nur bis zu einem gewiſſen Grade ſeine freie Wahl.
[112] Den großen König, ſeinen Bruder, hatte er nicht geliebt, aber er
hatte ihn reſpektirt; ſeit dem Tode Friedrichs indeß hatten die
Dinge eine Richtung angenommen, die ihm eine Betheiligung
daran, die wie Gutheißung ausgeſehen hätte, unmöglich machte.
Auch glaubte man ohne ihn fertig werden zu können. Man erbat
ſeinen Rath nicht länger, ſo gab er ihn auch nicht mehr. Mit
höchſter Mißbilligung ſah er auf den Einfluß der Rietz und ihres
Anhangs. „In dieſer Spelunke iſt alles infame“ ſagte er, als
er eines Tages an dem Palais der (ſpätern) Gräfin Lichtenau
vorüberkam. Ein Prinz, der, bei ſonſt großer Zurückhaltung, über
die Favoritin ein ſolches Wort zu äußern wagte, gehörte nicht
mehr an den Hof und ſprach durch ſo einſchneidende Urtheile ſeine
eigene Verbannung aus.
Die Verſtimmung des Prinzen war eine ſo tiefe, daß ihm
Rheinsberg nicht fern und abgelegen genug erſchien und der Wunſch
immer lebendiger in ihm wurde, den Reſt ſeiner Tage im Aus-
lande, in Frankreich zu verbringen. Schon 1784 hatte er ſich
ſchweren Herzens von Paris getrennt und dem Herzoge von Niver-
nois die Worte zugerufen: „ich verlaſſe nun das Land, nach dem
ich mich ein halbes Leben lang geſehnt habe und an das ich nun,
während der zweiten Hälfte meines Lebens, mit ſo viel Liebe zu-
rückdenken werde, daß ich faſt wünſchen möchte, ich hätt’ es nicht
geſehn.“ Nach dieſem Lande ſeiner Sehnſucht zog es ihn jetzt mit
verdoppelter Kraft; aber die Götter waren ſeinem Vorhaben nicht
hold, — es ſchien, daß er dem engen Kreiſe verbleiben ſollte, dem
er ſeit 40 Jahren, wenn auch mit Unterbrechungen, angehört hatte.
1787 machten politiſche Conſtellationen die Ueberſiedlung nicht mög-
lich; 1788 im Juni ging er wirklich, und dem Ankauf eines
palaisartigen Hauſes in Paris folgten Unterhandlungen wegen
Ankauf eines größeren, in der Nähe der Hauptſtadt gelegenen
Grundbeſitzes, aber eh’ ſie zum Abſchluß kamen, zogen die Wetter
der Revolution immer drohender, immer ſichtbarer herauf, und der
Prinz, der ſich nach Ruhe, nach ſtiller Betrachtung ſehnte, kehrte
[113] ſchweren Herzens in ſeine Rheinsberger Einſiedelei zurück. Von da
ab gehörte er derſelben ganz.
Meine Aufgabe, wie ſchon Eingangs angedeutet, wird darin
beſtehen, den Prinzen in dieſem ſeinem Stillleben zu ſchildern und
mit einiger Beſtimmtheit feſtzuſtellen, in welcher Weiſe und in
welcher Genoſſenſchaft er das letzte Jahrzehnt ſeines Lebens ver-
brachte.
Dieſe meine Aufgabe war in ſo weit ſchwierig, als gedruckte
Mittheilungen aus jener Epoche ſo gut wie gar nicht vorliegen;
aber wenn auf der einen Seite das Fehlen literariſcher Ueberliefe-
rungen gewiſſe Schwierigkeiten geſchaffen hat, ſo genoß ich doch
andererſeits des nicht genug zu ſchätzenden Vorzugs, mit Rückſicht
auf namentlich die letzten 10 Jahre der Rheinsberger Hofhaltung,
Perſonen zu begegnen, die jene letzten Prinz Heinrich-Tage ent-
weder noch miterlebt hatten, oder doch von dieſen Tagen, wie von
etwas eben Geſchehenem und Erlebtem, hatten erzählen hören. Es
bezieht ſich dies namentlich auf die Mittheilungen über den Ma-
jor v. Kaphengſt und den Grafen und die Gräfin La Roche-
Aymon.
Die Rheinsberger Kirche hat zwei Glocken aus dem Jahre
1780. Die kleinere von dieſen, die die Namen einer Anzahl
Rheinsberger Bürger als Inſchrift trägt, intereſſirt uns nicht,
wohl aber die größere (in einem früheren Kapitel ſchon erwähnte),
die uns beſtimmte Anhaltspunkte für die Geſchichte des Prinzen
Heinrich giebt. Die Inſchrift dieſer Glocke (augenſcheinlich ein Ge-
ſchenk des Prinzen Heinrich an die Stadt) bringt neben dem ſchon
citirten, mehr als alt-fränkiſchen Spruch:
folgende Namen: Prince Frédéric Henri Louis de Prusse,
frère du Roi. Major de Kaphengst. Baron Frédéric de
Wreich. Baron Louis de Wreich. Baron de Kniphausen.
Baron de Knesebeck. de Tauentzien. Alle dieſe waren Kava-
8
[114] liere des Prinzen. Rechnen wir hierzu den Bibliothekar und Vor-
leſer des Prinzen (erſt Francheville, dann Touſſaint), die Mit-
glieder einer franzöſiſchen Schauſpieler-Truppe und einer deutſch-
italieniſchen Kapelle, endlich eine Anzahl Kammerdiener, Lakaien
und Leibhuſaren (die ein förmliches Corps bildeten), ſo haben wir
durchaus die Elemente beiſammen, aus denen ſich 1780 der
Rheinsberger Hof zuſammenſetzte. Die obengenannten Kavaliere
wohnten im Kavalierhauſe, die Lakaien und Kammerdiener im
Schloß, endlich die Künſtler aller Art und jeden Grades in der
Stadt zur Miethe.
Einen zweiten ſicheren Anhaltepunkt, eben ſo zuverläſſig wie
die Glockeninſchrift, geben uns die „dernières dispositions“ des
Prinzen, aus denen wir erſehen, daß, der Zahl nach ſichtlich zu-
ſammengeſchmolzen, damals (1802) Graf Roeder (Hofmarſchall),
Graf La Roche-Aymon (Adjutant), Mr. Lebeauld (Kammer-Rath)
und Herr Steinert (Baurath) die Umgebung des Prinzen bildeten.
Major v. Kaphengſt, Baron Kneſebeck und Tauentzien lebten noch
und unterhielten, wenigſtens theilweis, die alten Beziehungen, ſo
daß wir, wenn wir die beſtimmt verbürgten Namen von 1780
und 1802 zuſammenthun, im Weſentlichen eine Ueberſicht über die
Perſönlichkeiten gewinnen, die während der letzten zwanzig Jahre
die Träger und Repräſentanten des Rheinsberger Hoflebens waren.
Ueber jeden der Genannten werde ich einige Worte zu ſagen,
über einzelne (Kaphengſt und La Roche-Aymon) mich ausführ-
licher zu verbreiten haben. Bevor wir aber zu dieſen Perſonalien
übergehen, ſuchen wir, in ähnlicher Weiſe wie wir eine Feſtſtellung
der Perſönlichkeiten ermöglichten, auch zunächſt in allgemeinen
Zügen feſtzuſtellen, unter welcher Benutzung der Zeit die Rheins-
berger Tage verfloſſen.
Der Vormittag gehörte der Arbeit; die zweite Hälfte des
Tages der Geſellſchaft, dem Diner, der Lektüre,*) dem Schauſpiel,
[115] der Muſik. Nur gelegentlich unterbrachen Ausflüge in die nähere
oder weitere Umgegend den vorgeſchriebenen Lauf des Tages; noch
ſeltener waren Feſtlichkeiten, ja der Zeitabſchnitt von 1790 bis
1802 weiſt von großen Feſtlichkeiten (für die der Prinz in früheren
Jahren eine entſchiedene Vorliebe hatte) vielleicht nur das eine
Feſt, „die Einweihung des Monumentes“ auf, auf das wir ſpäter
ausführlicher zurückkommen werden.
Wenden wir uns zunächſt dem Vormittage zu, der Arbeits-
zeit des Prinzen. Da er, unähnlich ſeinem großen Bruder (mit
dem er die Antipathieen gegen die Jagd gemein hatte), von der
Landwirthſchaft die allergeringſte Meinung hegte und offen
ausſprach, daß das Säen und Erndten zwar ſehr wichtig, aber
die Sache jedes Bauern ſei, ſo raubte ihm die Verwaltung ſeiner
Beſitzung, die er ſeinen Pächtern und Inſpektoren überließ, nichts
von ſeiner Zeit, die er nun ungeſtört dem Studium widmen
konnte. Unter dieſen Studien ſtand das Studium der Kriegs-
wiſſenſchaften und der ſchönen Literatur, ſoweit ſie Frankreich be-
traf, obenan. Gleicherweiſe wie ſein Bruder, der König, verfolgte
er mit nicht ermüdender Vorliebe die Werke der franzöſiſchen Phi-
loſophen, ſchwärmte für Voltaire und ſchrieb ſelber Verſe, von
denen mit ſatyriſchem Anflug bemerkt worden iſt, daß ſie lebhaft
an die Verſe ſeines Bruders erinnert hätten. Uebrigens wurden
ſeine dichteriſchen Verſuche von ſeinen franzöſiſchen Vorleſern ent-
fehlert, erſt von Francheville, dann von Touſſaint. Neben dieſen
poëtiſchen Verſuchen (z. B. eine lyriſche Bearbeitung der Alzire
des Voltaire; auch rühren vielleicht die Diſtichen im Freundſchafts-
tempel und Aehnliches von ihm her) war es eine ausgedehnte Cor-
reſpondenz, die ſeine Arbeitszeit in Anſpruch nahm und neben dieſer
Correſpondenz vor allem wiederum die Aufzeichnung ſeiner Memoiren.
Von dieſen Aufzeichnungen iſt wenig zur Kenntniß der Welt ge-
langt; ſeine Kritik des ſiebenjährigen Krieges, oder mit anderen
*)
8*
[116] Worten des Königs, wenn ſie nicht wirklich vernichtet iſt, ruht
unerbrochen und zunächſt unzugänglich in unſern Archiven; andre
ſeiner Arbeiten haben es verſchmäht, unter dem Namen ihres er-
lauchten Verfaſſers in die Welt zu treten und ſollen ſich, theilweis
wenigſtens, in den militairiſchen Schriften wiederfinden, die zwiſchen
1802 und 1804 vom Grafen La Roche-Aymon, dem letzten
Adjutanten des Prinzen, veröffentlicht wurden. Mit beſonderer Vor-
liebe, das mag ſchon hier eine Stelle finden, verfolgte er die
Kriegs- und Siegeszüge Moreau’s, den er faſt höher ſtellte als
Napoleon, wobei man freilich nicht vergeſſen darf, daß der Prinz 1802
bereits ſtarb, alſo früher als die großen Ruhmesſchlachten, die ſo
viele Staaten zertrümmerten, geſchlagen wurden. Er erlebte nur
Marengo noch. Die Gegner des Prinzen haben nichtsdeſtoweniger
aus dieſer Vorliebe für Moreau den Schluß ziehen wollen, daß
der Prinz nur ein correcter Pedant und trotz aller ſeiner Correct-
heit, oder vielleicht um derſelben willen, nicht im Stande geweſen
wäre ein wirkliches Genie zu begreifen.
Die erſten Nachmittagsſtunden gehörten dem Diner. Man aß
zur Winterzeit im Schloß, während des Sommers, ſo oft es das
Wetter erlaubte, im Freundſchafts-Tempel oder auf der Remus-
Inſel. Der Prinz war außerordentlich mäßig, und eine gebackene
Speiſe, wie ſie ſein Bruder liebte: Maccaroni, Parmeſankäſe und
Knoblauchſaft, hätte ihn getödtet. Wie er die Frauen nicht liebte,
ſo auch nicht den Wein, aber er war billig denkend genug, ſeinen
Privat-Geſchmack nicht zum allgemeinen Geſetz zu erheben und ſeine
Küche, wie ſein Keller, ließen niemanden darben. Die Unterhaltung,
wenngleich ſich innerhalb gewiſſer Formen haltend, wie ſie die Ge-
genwart eines Prinzen und noch dazu eines ſolchen erheiſchte,
war innerlich vollkommen frei. Von Krieg und Kriegführung wurde
ſelten geſprochen; es ſchien, wie etwas zum Metier Gehöriges, um
eben deshalb verpönt. Er war ſehr eitel, und ſtilvolle Huldi-
gungen, auch ſolche, die ihm als ſiegreichen Feldherrn galten, nahm
er gern entgegen, aber er ſelbſt war viel zu vornehm, um die
Unterhaltung auf ſeine Thaten und Siege hinzulenken. Daß er
[117] Geſpräche der Art vermieden wünſchte, deutete er ſchon dadurch an,
daß Niemand in Dienſtkleidung (Uniform) erſcheinen durfte;
Hof- oder Geſellſchaftskleid war Vorſchrift. Die Unterhaltung drehte
ſich um Fragen der Kunſt und Wiſſenſchaft, um philoſophiſche
Streitfragen und Dinge der Politik. Ueber letztere äußerte er ſich
mit großer Freimüthigkeit, mißbilligte den preußiſchen Krieg gegen
Frankreich, der endlich zum Basler Frieden führte und zeigte bis zuletzt
gewiſſe Sympathien mit der franzöſiſchen Revolution. Ob dieſe
Sympathien (ſo bemerkt Heinrich von Bülow) in wirklicher Vor-
liebe für freie Staatsverfaſſungen wurzelten, oder nur ein Reſultat
der Anſchauung waren, daß alles Franzöſiſche gut ſei, auch eine
franzöſiſche Revolution, — mag dahin geſtellt bleiben. In ähnlich
offner Weiſe nahm er Parthei für die Polen, und dieſelbe Thei-
lung, zu deren Vollziehung er als gehorſamer Diener ſeines Kö-
nigs (am Hofe Katharinens) mitwirkte, hielt er trotz alledem eben
ſo wenig für ein Meiſterſtück der Politik, wie für eine Handlung
der Gerechtigkeit. Mit beſonderer Vorliebe wurden philoſophiſch-
religiöſe Sätze beleuchtet und diskutirt, und alle jene wohlbekannten
Fragen, auf deren Löſung die Welt ſeitdem verzichtet hat, wurden,
unter Aufwand von Geiſt und Gelehrſamkeit, mit Citaten pro
und contra immer wieder und wieder durchgekämpft.
Dem Diner folgte, wenn auch nicht täglich, ſo doch ſo oft wie
möglich, Theater oder Concert. Ueber die Stücke, die zur Auffüh-
rung kamen, habe ich nichts Beſtimmtes erfahren können, aber
es ſcheint, daß Voltaire, wie den Kreis der Anſchauungen und
Unterhaltungen, ſo auch die Bühne beherrſchte. Auch die Namen
der Künſtler ſind bis auf wenige verſchollen: Blainville, der Lieb-
ling des Prinzen, Demoiſelle Touſſaint, eine Tochter oder Schweſter
des Vorleſers, Demoiſelle Aurore, Demoiſelle Elſener, deren Urne
wir in der Rheinsberger Kirche begegneten, ſind die einzigen, die
ſich durch das eine oder andere Ereigniß noch im Gedächtniß der
Stadt Rheinsberg erhalten haben.
Wir haben bis hierher den Durchſchnittstag des Rheinsberger
Hoflebens beſchrieben; was ihn unterbrach, waren Beſuche, die
[118] kamen, oder Ausflüge, die gemacht wurden, dann und wann, aber
ſelten, eine wirkliche Feſtlichkeit.
Zum Beſuch kamen Prinz Ferdinand, Prinzeß Amalie (noch
jetzt führen einige Zimmer ihren Namen), vor allem Prinz Louis
Ferdinand, der ein beſonderer Liebling ſeines Oheims und die
Hoffnung deſſelben war. An dieſe fürſtlichen Beſuche (unter denen
auch das Erſcheinen des Großfürſten Paul von Rußland zu nennen
iſt), ſchloß ſich der Beſuch derer, die früher als Militair oder
Hofleute, in dienſtlichen Beziehungen zum Prinzen geſtanden hatten,
Namen, auf die wir weiterhin zurückkommen werden.
Die Ausflüge gingen näher und weiter. Der Winteraufent-
halt in Berlin (im Prinz Heinrich’ſchen Palais, der jetzigen Uni-
verſität) wurde immer mehr gekürzt, aber die kleinen Reiſen in
die Umgegend, die Beſuche bei bewährten Anhängern blieben. Der
alte Zieten in Wuſtrau (bis 1786, wo er ſtarb), Prinz Ferdinand
in ſeinem Ruppiner Palais (bis 1787, wo es niederbrannte)
wurden beſucht, beſonders aber galten dieſe Ausflüge dem Grafen
Wreech auf Tamſel und dem Major v. Kaphengſt auf Meſeberg.
Auf beide kommen wir ausführlich zu ſprechen.
Der Feſtlichkeiten, an deren ſinnige und glänzende Aus-
führung der Prinz in früheren Jahren ſo großen Aufwand von
Zeit und Mitteln geſetzt hatte, wurden weniger im Lauf der Jahre,
aber ſie fanden wenigſtens bei beſonderen Gelegenheiten ſtatt. Der
Jahrestag der Freiberger Schlacht (die er mit Recht als ſein ſtra-
tegiſches Meiſterſtück anſah) wurde alljährlich gefeiert und am
6. Mai 1787 gab er, zur Erinnerung an die Schlacht bei Prag,
allen Offizieren und Gemeinen des Regiments Itzenplitz, die jenen
Siegestag unter ſeiner Führung mit durchgemacht hatten, ein
glänzendes Feſt. Er war zu dieſer Feier doppelt berechtigt, einmal
durch die That ſelbſt, zu deren Gedächtniß das Feſt gegeben
wurde, noch mehr aber dadurch, daß ſich die Neuzeit ein Anſehen
gab (der große König war ſeit kaum Jahresfriſt todt), ſolche Tha-
ten vergeſſen zu dürfen. Der Prinz kommandirte am Tage der
Prager Schlacht bekanntlich den rechten Flügel. Es war das be-
[119] rühmte Regiment Itzenplitz, das er zum Angriff führte und das
ihm feſten Schrittes folgte. Plötzlich ſtutzten die Grenadiere an
einem Waſſergraben, weil er zu tief ſchien. Prinz Heinrich warf
ſich ſogleich hinein. Die Kleinheit ſeiner Perſon vermehrte die
Größe der Aufopferung und ſteigerte die Wirkung. Alles folgte
ihm nach und ſchlug den Feind. Offiziere und Gemeine des Regi-
ments, die jenen Ruhmestag miterlebt hatten, ſaßen nun dreißig
Jahre ſpäter an der Feſtestafel ihres Führers und die begeiſterten
Lebehochs, die erſchallten, klangen laut genug, um auch das Ohr
des königlichen Neffen zu treffen. Das Feſtmahl war, neben einer
pietätsvollen Huldigung gegen die Heimgegangenen, vor allem auch
eine Demonſtration gegen Lebende; aber, wie immer auch, dieſe
Demonſtration war berechtigt.
Auch eine Demonſtration, aber zu gleicher Zeit ein ſonnigeres,
von den Strahlen der Poëſie und der Geſchichte umleuchtetes Feſt,
war die Einweihung (am 4. Juli 1791) des oftgenannten Obe-
lisken, der ſich, gegenüber dem Rheinsberger Schloß, an der an-
dern Seite des See’s, auf leis anſteigendem Terrain erhebt. Die
Inſchriften dieſes Monuments gebe ich an anderer Stelle (ſiehe
die Anmerkungen); hier nur einiges über die Feſtlichkeit ſelbſt. Es
war eine militairiſche Feier, aber zu gleicher Zeit ein Volksfeſt.
Aus allen Städten und Dörfern der Grafſchaft war man herbei-
gekommen und Tauſende umſtanden entweder den weiten Halbkreis
des See’s, oder waren Augenzeugen, von zahlloſen Böten aus,
die auf der ſtillen Waſſerfläche ihren Stand genommen hatten.
Das ſchönſte Sommerwetter begünſtigte das Feſt. Um das Denk-
mal ſelbſt herum gruppirten ſich hunderte von Offizieren, alte und
junge, theils ſolche, die die große Zeit noch mit erlebt hatten,
theils nahe Anverwandte derer, deren die Medaillon-Inſchriften des
eben enthüllten Obelisken in goldenen Buchſtaben gedachten. Weiter
den Hügel hinauf, im Halbkreis den Kreis der Offiziere umſchlie-
ßend, ſtanden die Unteroffiziere und Gemeinen der alten Regimen-
ter. Der Enthüllungsfeier ſelbſt folgte in den Sälen des Schloſſes
ein glänzendes Bankett, bei dem der Prinz eine längere, wohl-
[120] ausgearbeitete Rede hielt, auch an dieſem Tage in franzöſi-
ſcher Sprache. Es ſcheint, daß er der deutſchen Rede geradezu
nicht mächtig war. Wunderbares Reſultat einer Erziehung, die in
an und für ſich richtigem Streben nur das Deutſche gewollt
und alles Franzöſiſche verpönt hatte. Die Rede ſelbſt, die aufbe-
wahrt worden iſt und z. B. im vie privée du Prince Henri
eine Stelle gefunden hat, ſcheint auf den erſten Blick wenig mehr
zu bieten, als wohlſtyliſirte, ziemlich zopfige Phraſen und Betrach-
tungen, wie ſie damals üblich waren, aber bei mehr kritiſcher Be-
trachtung erkennt man ſofort die politiſche Seite dieſes ſcheinbar
blos oratoriſchen Uebungsſtückes. Ich gebe hier nur eine Stelle
daraus:
„Allen Bewohnern der Städte und des Landes, welche in
dieſem Kriege die Waffen trugen, gebührt ein gleiches Recht an
die Trophäen und Palmen des Sieges. Unter der Leitung ihrer
Anführer weihten ſie ihre Arme und ihr Blut ihrem Vaterlande.
Sie haben es mit Muth und Kraft aufrecht erhalten und verthei-
digt. Unſere Abſicht iſt, der preußiſchen Armee ein Zeugniß unſerer
Dankbarkeit darzulegen. Den Eingebungen unſeres Herzens zufolge
wollen wir Beweiſe der Hochachtung denjenigen geben, welche wir
perſönlich kannten. — Warum aber vermißt man Friedrich unter
der Zahl dieſer berühmten Namen? — Die von dieſem Könige
ſelbſt aufgeſetzte Geſchichte ſeines Lebens, die Lobſchrif-
ten auf ihn nach ſeinem Tode, ließen mir nichts zu
ſagen übrig; aber große, in der Dunkelheit geleiſtete Dienſte
werden nicht der Vergeſſenheit entzogen: denn die Zeit löſcht alle
Eindrücke aus, und der folgenden Generation fehlen die Zeugen
der Thaten der vorhergehenden, das Andenken der Begebenheiten
ſchwindet, die Namen gehen verloren, und die Geſchichte bleibt nur
ein unvollkommener Entwurf, oft zuſammengefügt durch Schmeiche-
lei und Trägheit.“
Dies genüge. Man muß dieſe Rede mit demſelben geſchärften
Auge leſen, wie die Medaillon-Inſchriften des Monumentes ſelbſt.
Auch dieſe Feier, wie ſchon hervorgehoben, war eine Demonſtra-
[121] tion. Der Held, deſſen Andenken der Obelisk und die Feier galt,
war Prinz Auguſt Wilhelm, der Vater des Fürſten, der eben
damals den Thron der Hohenzollern einnahm und ſeines alten
Oheims, des Rheinsberger Prinzen entrathen zu können glaubte,
der wohl Schlachten gewonnen hatte, aber kein Herz hatte — für
Frauen und Wein.
Große Feſtlichkeiten ſind dieſer Enthüllungsfeier nicht mehr
gefolgt; die Schwere des Alters fing an zu drücken, und Einſam-
keit, Stille wurden erſtes, wenn auch nicht ausſchließliches Gebot.
Bis hieher bin ich bemüht geweſen, das Leben, wie es ſich
am Rheinsberger Hofe während der letzten zehn oder funfzehn
Jahre geſtaltete, in ſeinen allgemeinen Zügen zu ſchildern; ich
gehe nun zu einer Beſprechung der einzelnen Perſönlichkeiten über,
die, während dieſer Epoche, die einen früher, die andern ſpäter,
die nächſte Umgebung des Prinzen bildeten, und hoffe dabei Ge-
legenheit zu finden, ein bisher nur in Umriſſen gegebenes Bild
durch eine Reihe von Details zu beleben.
Ich beginne mit nochmaliger Aufzählung der Perſönlichkeiten
ſelbſt. Es waren: Baron Kniphauſen, Baron Kneſebeck, zwei
Barone Wreich (auch Wreech geſchrieben), Capitain v. Tauentzien,
Major v. Kaphengſt, Baurath Steinert, Kammerrath Lebeauld,
Graf La Roche-Aymon und Graf Roeder. Von letzterem bin ich
außer Stande geweſen, irgend etwas in Erfahrung zu bringen.
(Baron Dodo von Kniphauſen) war eine Art Ehren-
Kammerherr und gehörte dem Kreiſe mehr als Volontair, wie im
Beſitz einer wirklichen Hofcharge an. Mehr noch als die Unabhän-
gigkeit ſeiner Stellung, gab ihm ſein ſcharfer Verſtand und ſeine
politiſche Bildung ein Anſehen am Rheinsberger Hofe, eine Bil-
dung, die bedeutend genug war, um die Aufmerkſamkeit Mira-
beau’s zu erregen, der der „politiſchen Hoffnungen“ erwähnt, „die
das Land an den oſtfrieſiſchen Freiherrn knüpfte.“ Was ihn an
[122] den Hof des Prinzen Heinrich führte, war, neben ſeiner nahen
Verwandtſchaft mit den beiden Baron Wreichs, die Gleichgeartet-
heit politiſcher Anſchauungen; der Prinz und er waren eins in
ihrer Mißſtimmung über das, was in Berlin geſchah, beſonders
in ihrer Abneigung gegen den Miniſter Hertzberg, eine Abneigung,
die beim Prinzen politiſche, beim Baron Kniphauſen aber, der ein
Stiefbruder des Grafen Hertzberg war, perſönliche Gründe und
Intereſſen-Motive hatte. Andere geiſtige Berührungspunkte zwiſchen
dem Prinzen und dem Freiherrn mochten fehlen. Kniphauſen war
ein paſſionirter Landwirth, eine Thätigkeit, ein Beruf, dem, wie
ſchon erwähnt, Prinz Heinrich den allerniedrigſten Rang einräumte.
Dieſe verſchiedenen Anſichten über den Werth der Landwirthſchaft
führten zu einer kleinen Anekdote, die H. v. Bülow in ſeinem
mehrerwähnten Buche erzählt. „Kniphauſen, ſo ſchreibt er, der viel
von ſeinen oſtfrieſiſchen Rindern ſprach und ſich vielleicht gelegent-
lich von Rheinsberg aus zu ihnen hinſehnen mochte, erhielt, zur
Strafe für dieſe beſtändigen Agrikultur-Geſpräche, eine Weſte vom
Prinzen geſchenkt, die mit lauter Rindern bedruckt war. Kniphauſen
dankte und trug nun die Weſte tagtäglich wie im Triumph,
bis der Prinz eine ungnädige Bemerkung machte, ungnädig, weil
er fühlte, daß ſich der Stachel der Satyre gegen ihn ſelbſt gekehrt
hatte.“
(Baron Kneſebeck), mit ſeinem vollen Namen Carl Franz
Paridam Kraft von dem Kneſebeck, war der letzte männliche Sproß
aus der Linie Tilſen (bei Salzwedel). Nach ſeinem Tode, der
erſt in dieſem Jahrhundert erfolgte, fiel das ſchöne Gut an die
Carwe’ſche Linie und der ſpätere Feldmarſchall v. d. Kneſebeck
(deſſen ich in dem Aufſatz „Carwe“ ausführlicher gedacht habe)
wurde Beſitzer des alten Familienguts. Baron Kneſebeck blieb
Kammerherr am Rheinsberger Hofe bis zum Ableben des Prinzen
und wird im Teſtament deſſelben mit folgenden Worten erwähnt:
„Dem Baron v. Mylendonk-Kneſebeck, der mir als Page und
ſpäter als Offizier in meinem Regimente gedient, auch ſpäter noch,
nachdem er den Abſchied genommen, mit unwandelbarer Treue zu
[123] meiner Perſon geſtanden hat, vermache ich eine Doſe von Lapis
Lazuli. Sie trägt einen Carneol in der Mitte und iſt oben und
unten mit Diamanten beſetzt.“ Einzelheiten aus ſeinem Rheinsberger
Leben habe ich nicht erfahren können.
(Die beiden Wreichs.) Baron Friedrich von Wreich,
der ältere Bruder, war Hofmarſchall am Rheinsberger Hofe, Baron
Ludwig war Kammerherr. Beide, auf dem reizenden Tamſel bei
Küſtrin geboren, waren die älteſten Söhne jener ſchönen Frau v.
Wreich („un teint de lis et de rose“), die den Kronprinzen
Friedrich, während ſeines Küſtriner Aufenthalts, mit einer leiden-
ſchaftlichen Zuneigung erfüllt hatte. Baron Friedrich, wegen ſeiner
Länge „der große Wreech“ geheißen, ſtarb zu Anfang der 80er
Jahre des vorigen Jahrhunderts, und Tamſel, in deſſen Beſitz er
ſich ſeit 1746 befunden hatte, ging an Baron Ludwig, den
jüngeren Bruder über. Dieſer, ſeit 1786 in den Grafenſtand er-
hoben, war einer der treuſten Anhänger des Prinzen und lebte
mehr in Rheinsberg und Berlin, als auf ſeinem ererbten Gut.
Der Sommer 1787 jedoch ſah ihn monatelang in Tamſel, um
Schloß und Park für den zugeſagten Beſuch des Prinzen Heinrich
feſtlich herzurichten. Graf Ludwig hatte lange genug in der Nähe
des Prinzen gelebt, um dieſem Meiſter im Arrangiren von Feſt-
lichkeiten wenigſtens Einiges von ſeiner Inſcenirungs-Kunſt abge-
lauſcht zu haben, und als der Prinz im Juli des genannten Jahres
nun wirklich erſchien, begrüßten ihn Arrangements, wie er ſelber
ſie nicht ſchmeichelhafter und ſtilvoller hätte herſtellen können.
Statuen und Inſchriften, wohin er blickte, Vergleiche in Reim
und Bild, Erinnerungen an ſeine Siege oder Mahnungen an
Perſonen, die ſeinem Herzen theuer geweſen waren. Halbverdeckt
unterm Raſengrün ſchimmerte ein weißer Sandſtein zum Andenken
an die ſchöne Liſette Tauentzien (erſte Gemahlin Tauentziens
v. Wittenberg, eine geborne v. Marſchall) und die eingegrabenen
Worte: „Rose, elle a vécu ce que vivent les roses — l’espace
du matin“ weckten im Herzen des Prinzen eine ſtille Erinnerung
an die zu früh aus dem Rheinsberger Kreiſe Geſchiedene. An
[124] anderer Stelle boten ſich, neben einander geſtellt, die Büſten des
großen Kurfürſten und des Prinzen, dem Auge des letzteren dar
und franzöſiſche Verſe zogen Parallelen zwiſchen jenem, der ein
Vater flüchtiger Franzoſen wurde, und zwiſchen dieſem, „der die
Herzen aller Franzoſen unter das Geſetz ſeiner geiſtigen Macht und
Schönheit zu zwingen wußte;“ die Haupt-Ueberraſchung aber
brachte der Abend.
Im Rücken von Tamſel, unmittelbar hinter dem Park, liegt
eine romantiſche Wald- und Hügel-Parthie, durch die ſich ein
Hohlweg, die Straße nach dem benachbarten Zorndorf, zieht.
Sei es, daß die Lokalität einige Züge mit dem Terrain, um
deſſen Reproducirung es ſich handelte, gemein hat, oder ſei es,
daß man einfach nahm, was man hatte, gleichviel, der Hohlweg
war auf Anordnung des Grafen Ludwig überbrückt worden, um
an dieſer Stelle die Erſtürmung des Paſſes von Gabel, eine der
glänzendſten Waffenthaten des Prinzen, noch einmal bildlich zur
Darſtellung zu bringen. Im Hohlweg ſtanden die Tamſeler und
Cüſtriner, Kopf an Kopf, um Zeuge des prächtigen Schauſpiels
zu ſein und Feuerwerk und Leuchtkugeln erhellten die Nacht, als
Graf Ludwig, von dem links gelegenen Hügel aus, den Prinzen
an den Eingang zur Brücke führte. Unter dem Jubel der Menge
überſchritt der Prinz dieſe, an deren entgegengeſetztem Ende ihm
drei Johanniter-Ritter (Graf Dönhof, v. Schack und v. Tauentzien)
in ihren rothen Ordensmänteln entgegentraten und auf die Worte
hinwieſen:
Alſo etwa:
[125]
Die Erinnerung an jenen glänzenden Abend lebt noch bis
heute bei den Tamſelern fort; die alte reiche Familie aber (ſie
beſaß eine Anzahl Güter in der Umgegend), die dieſe Feſtlichkeit
in’s Leben rief, iſt ſeitdem längſt vom Schauplatz abgetreten. 1795
ſtarb Graf Ludwig Wreech und Tamſel ging auf ſeinen Schwager,
den Grafen von Dönhoff über. Mit Friedrich Wilhelm v. Wreech,
einem Sohn oder Neffen des Grafen Ludwig, iſt ſeitdem das Ge-
ſchlecht erloſchen. Ein halbes Jahrhundert lang hatten ſie dem
Rheinsberger Hofe treulich gedient und (aus nicht völlig aufge-
klärten Gründen) ihre Lebensaufgabe darin geſetzt, den Prinzen
Heinrich auf Koſten ſeines Bruders, des Königs — den die
Wreechs geradezu haßten — zu verherrlichen.
(Bogislaw v. Tauentzien), der ſpätere Graf Tauentzien
von Wittenberg, Sohn des berühmten Vertheidigers von Breslau,
gehörte 15 Jahre lang dem Rheinsberger Hofe an. Er war ein
ganz beſonderer Liebling des Prinzen, der ſchon 1776 den damals
erſt 16jährigen Fähnrich von Tauentzien zu ſeinem Adjutanten
ernannte. Bis ganz vor Kurzem noch befand ſich ein trefflicher
alter Stich im Rheinsberger Schloß, der die Scene darſtellt, wie
der Fähnrich von Tauentzien ſeine erſte Meldung vor dem Prinzen
macht. 1778, bei Ausbruch des bairiſchen Erbfolgekrieges, folgte
Tauentzien dem Prinzen nach Sachſen und Böhmen und kehrte
mit ihm in das Rheinsberger Stillleben zurück, das nur durch
die zweimalige Reiſe des Prinzen nach Paris (1784 und 1788)
auf längere Zeit unterbrochen wurde. Auf beiden Reiſen begleitete
Tauentzien den Prinzen (1784 als Lieutenant, 1788 als Capitain)
und gedachte noch in ſpäteren Jahren dieſes Aufenthalts in der
franzöſiſchen Hauptſtadt mit Vorliebe und beſonderer Dankbarkeit.
Bis 1791, nachdem er ſchon das Jahr vorher zum Major beför-
dert worden war, blieb er in Rheinsberg; dann trat er in die
Suite des Königs und wurde in den Grafenſtand erhoben. Seine
Stellung zum Prinzen wurde dadurch eine ſehr ſchwierige; wie er
dieſer Schwierigkeiten Herr wurde, darüber laſſen ſich nur Ver-
muthungen äußern. Das Mißverhältniß zwiſchen dem König und
[126] ſeinem Onkel, dem Prinzen, war offenkundig, und die Frage drängt
ſich einem auf, wie ſtellte ſich Tauentzien zu zwei Gegnern, die
beide Anſprüche auf ſeine Treue und Dankbarkeit hatten? Wir
müſſen annehmen, daß er die Aufgabe glücklich gelöſt habe (ver-
band er doch ein glückliches Naturell mit der Klugheitsſchule des
Rheinsberger Hofes), der Prinz würde ſonſt nicht, während des
letzten Jahrzehnts ſeines Lebens, ſo viele Erinnerungszeichen an
Tauentzien um ſich geduldet und werth gehalten haben, darunter
ein treffliches Oelportrait, das bis dieſen Tag den Zimmern des
Schloſſes verblieben iſt.
(Major von Kaphengſt.) Die Rheinsberger Kirchenglocke
trägt auch den Namen „Major von Kaphengſt“ als Inſchrift;
von ihm und dem Schauplatz ſeines ſpäteren Lebens werden wir
ausführlicher zu ſprechen haben. Chriſtian Ludwig v. Kaphengſt
wurde ohngefähr im Jahre 1740 auf ſeinem väterlichen Gute
Gülitz in der Priegnitz geboren. Wann er an den Rheinsberger
Hof kam, iſt nicht genau feſtzuſtellen; wahrſcheinlich aber lernte
ihn der Prinz ſchon während des ſiebenjährigen Krieges kennen
(vielleicht als Offizier im Regimente Prinz Heinrich), fand Gefallen
an ſeiner Jugend und Schönheit und nahm ihn nach erfolgtem
Friedensſchluß mit nach Rheinsberg. Als Adjutant des Prinzen
(eine Stellung, zu der ihn ſeine geiſtigen Gaben keineswegs befä-
higten) avancirte er zum Capitain, dann zum Major und beherrſchte
in gewiſſem Sinne den Hof und den Prinzen ſelbſt, deſſen Gunſt-
bezeugungen ihn übermüthig machten. Der König, der in ſeiner
Sansſouci-Einſamkeit von allem was vorging, ſehr wohl unter-
richtet war, mißbilligte unumwunden die eben damals herrſchenden
Verhältniſſe am Hofe ſeines Bruders und beſtimmte dieſen endlich,
den Günſtling, der ſo viel Anſtoß gebe, aus ſeiner Nähe zu ent-
fernen. Aber auch dieſe Entfernung geſchah noch wieder in den
Formen einer Gunſtbezeugung. 1774 überbrachte ein Page des
Königs (v. Wülknitz) dem Prinzen Heinrich ein königliches Geſchenk
von 10,000 Stück Friedrichsd’or zugleich mit der Ordre, „daß er
nunmehr den Major v. Kaphengſt entlaſſen möge,“ eine mündliche
[127] Ordre, deren Wortlaut ſich hier der Möglichkeit der Mittheilung
entzieht. Der Prinz, der, bei aller Zuneigung zu ſeinem Günſtling,
doch andererſeits genugſam unter der Ungebildetheit und Eitelkeit
deſſelben gelitten haben mochte, gehorchte um ſo lieber, als die
freundſchaftliche Entfernung Kaphengſts, die nun erfolgte, dem be-
ſtehenden Verhältniß das Drückende unausgeſetzten Verkehrs nahm,
ohne doch das Verhältniß ſelbſt völlig zu löſen. Der Prinz fügte
den 10,000 Stück Friedrichsd’ors ſeines Bruders aus eignen Mit-
teln noch ohngefähr dieſelbe Summe hinzu und kaufte dafür, alſo
unter Anzahlung von circa 100,000 Thalern, einen drei Meilen
von Rheinsberg gelegenen Güter-Complex (die Rittergüter
Meſeberg, Baumgarten, Schönermark und Rauſchendorff), deren
Kaufcontract er bald darauf dem Major v. Kaphengſt als ein
Geſchenk überreichte.
Kaphengſt überſiedelte nunmehr nach dem am Huvenow-See
gelegenen Schloß zu Meſeberg, aber dieſe Entfernung vom Rheins-
berger Hofe ging, wie ſchon angedeutet, keineswegs mit einer Ent-
fremdung Hand in Hand, und Beſuche hüben und drüben unter-
hielten das gute Einvernehmen, das aus den Trennungen eher
Reiz und Nahrung empfing, als allmählich zur Erkaltung führte.
Aller klar zu Tage liegenden Schwächen und Schattenſeiten des
Günſtlings ungeachtet, mußte ein Etwas um und an ihm ſein,
das den alternden Prinzen, wenn nicht ſympathiſch berührte, ſo
doch mit einem gewiſſen Wohlgefallen erfüllte. Vielleicht war es
das Derbe, um nicht zu ſagen das Rohe und Gemeine, das ſo
oft um der ihm innewohnenden Natürlichkeit willen, ein Inter-
eſſe, einen Reiz bei denen weckt, denen Beruf und ſonſtige Neigung
die Richtung auf das geiſtig Verfeinerte geben. Es iſt der Zauber
des Contraſtes oder ein Sichſchadloshalten für empfundenen Zwang.
Nur ſo vermögen wir uns die Fortdauer des Verhältniſſes
zwiſchen Prinz und Günſtling zu erklären; denn, wenn die Eitel-
keit und Habſucht des letztern ſchon am Rheinsberger Hofe ihre
Proben abgelegt hatten, ſo verſchwand das alles, die ganze Wüſt-
heit ſeines früheren Lebens, gegen das, was nun in Schloß
[128] Meſeberg vor ſich ging. Debaucherieen aller Art löſten ſich unter-
einander ab und die unſinnigſte Verſchwendungsſucht (an der der
Prinz ernſthaft Anſtoß nahm, denn er war ſparſam) griff Platz.
Schloß Meſeberg war ein koſtbarer Beſitz an und für ſich,
aber in den Augen des verblendeten Günſtlings nicht koſtbar genug.
Graf Wartensleben, der durch ſeine Frau, eine Erbtochter
der dort früher angeſeſſenen Groebens, im Beſitz Meſebergs und
der andern obengenannten Güter gekommen war, hatte 1738 und
1739 an der Südſpitze des Huvenow-See’s ein Schloß aufgeführt.
Wie ein Zauberſchloß liegt es jetzt noch da. Der Reiſende, der
hier des Weges kommt und über das Sandplateau hinfährt,
deſſen weitgeſpannte Fläche nur hier und da durch einen Kirch-
thurm oder ein Birkengehölz unterbrochen wird, hat keine Ahnung
von der verſchwiegenen Thalſchlucht, mit Wald und See und
Schloß, die neben ihm liegt. Dieſer tiefgelegene Waldſee, der
Huvenow-See geheißen, iſt einer jener vielen Seen, die ſich, alle
ähnlich und doch alle verſchieden, wohl 20 oder 30 an der Zahl,
zwiſchen dem Ruppin’ſchen und dem Mecklenburgiſchen hinziehen
und die vor allem dazu beitragen, dieſem Landſtrich ſeine Schön-
heit und ſeinen Charakter zu geben. Unbedingte Stille herrſcht, die
Bäume, die das Ufer dicht einfaſſen, ſtehen windgeſchützt und rau-
ſchen leiſer als anderswo; die Glocken der feldeinwärts oder hoch
auf dem Plateau weidenden Heerden dringen mit ihrem Klange
nicht hinab in dieſe Einſamkeit, und nichts vernehmen wir, als
den Schnitt der Senſe, die neben uns das Gras mäht, oder den
kurzen Ruck, das leiſe Geräuſch, mit dem der Angler die Angel-
ſchnur aus dem Waſſer zieht. An ſo romantiſcher Stelle war es,
wo Graf Wartensleben ſein Schloß aufführte. Er that es, wie
die Sage geht, um in der Wilhelmsſtraße zu Berlin nicht ein
Gleiches thun zu müſſen, denn ein Königlicher Befehl war eben
damals erſchienen, der es jedem Edelmann von Rang und Ver-
mögen zur Pflicht machte, in der Wilhelmsſtraße ein Palais zu
bauen, falls er nicht nachweiſen könne, auf ſeinen eigenen ländlichen
Beſitzungen mit Aufführung eines ſtattlichen Schloſſes beſchäftigt
[129] zu ſein. So entſtand alſo das Wartenslebenſche Schloß in Meſe-
berg, damit ein Wartenslebenſches Palais in Berlin nicht zu
entſtehen brauchte, und die Pracht, mit der jenes Schloß am
Huvenow-See emporwuchs, übertraf bei Weitem das gleichzeitig
in Umbau begriffene Rheinsberger Schloß. Die Sandſteinſäulen,
die die Façade bildeten, wurden aus den ſächſiſchen Steinbrüchen,
die Marmor-Kamine aus Schleſien herbeigeſchafft; breite mächtige
Steintreppen ſtiegen bis in die obern Stockwerke auf, eichne Paneele
umliefen die Zimmer, während andre boiſirt waren bis an den
Plafond. Koſtbare Blumenſtücke, wahrſcheinlich von der Hand
Dubuiſſons und bis dieſen Augenblick noch in voller Schönheit
erhalten, füllten die Felder zwiſchen Decke und Thür, und eine
lateiniſche Inſchrift in einem der Kellergewölbe erzählt getreulich
von Müntherus, dem Baumeiſter, auf deſſen Anordnung hier
Eichen und Buchen zahllos in den See geworfen und die jetzigen
Parkanlagen, die in Terraſſen zum See hinabſteigen, in’s Leben
gerufen wurden. Der Bau überſtieg den Reichthum des reichen
Grafen, er verbaute ſich, der Bau hatte ihm eine Tonne
Goldes gekoſtet.*)
9
[130]
So war das Schloß, das der Günſtling des Prinzen 35 Jahre
ſpäter (1774) bezog. Aber weit entfernt, an dieſer Pracht ein
Genüge und mehr denn das zu finden, begann jetzt ein Leben,
das ſich vorgeſetzt zu haben ſchien, hinter dem Reichsgrafen nicht
zurückzubleiben und abermals eine Tonne Goldes auszugeben.
Neubauten aller Art entſtanden, aber Bauten, die zunächſt nicht
ihren Stolz darin ſetzten, das Vorhandene durch Treibhäuſer und
Orangerieen auszuſchmücken, ſondern Bauten, wie ſie dem roheren
Geſchmack und Bedürfniß des Günſtlings entſprachen. Ein voll-
ſtändiger Marſtall wurde eingerichtet, zwanzig Luxuspferde
(laut noch vorhandener Pfandbriefstaxe) wurden gehalten und auf
den Atlaskiſſen der Stühle und Sophas ſtreckten ſich die Wind-
ſpiele, während eine Meute von Jagdhunden um die Mittagszeit
ihr Geheul über den Hof ſchickte. Jagd, Spiel, Streit und Aven-
türen füllten die Zeit aus, die kaum noch in Tag und Nacht zer-
fiel, und mit untergelegten Pferden ging es in fünf Stunden
nach Berlin, wohin ihn Theater und große Oper zogen, weniger
die Oper als der Tanz und weniger der Tanz als Demoiſelle
Meroni, die Tänzerin.
Der Prinz hatte wohl Kunde von dem Allen, und wenn er
ſonſt nicht Urſache gehabt hätte den Kopf zu ſchütteln, ſo gab ihm
das Eine doch Grund vollauf, daß an ſeinen Säckel und ſeine
Großmuth in ſich endlos wiederholenden Geldverlegenheiten appellirt
wurde. Er mochte hoffen, durch eine Verheirathung ſeines einſtigen
Lieblings die Dinge zum Beſſern hin ändern zu können, und da
dieſer auf den Plan willfährig und ohne Weiteres einging (ſchon
um durch Nachgiebigkeit einen Anſpruch auf neue Forderungen zu
gewinnen), ſo kam im Jahre 1789, zu beſonderer Freude des
Prinzen, eine Vermählung zwiſchen dem Major v. Kaphengſt und
*)
[131] Demoiſelle Touſſaint zu Stande. Maria Louiſe Thereſe Touſſaint
war die Tochter des mehrgenannten Lecteurs und Bibliothekars
des Prinzen und hatte als Schauſpielerin bei den Aufführungen
auf der Rheinsberger Bühne, wie auch ſonſt wohl, ſich die Gunſt
des Prinzen in hohem Grade zu erringen gewußt. Etwa um 1780 oder
wenig ſpäter hatte ſie ſich mit einem Herrn v. Bilguer vermählt;
ſeitdem Wittwe geworden, war ihre Hand wieder frei, und als
Frau v. Kaphengſt zog ſie nun ein in das ſchöne Schloß am
Huvenow-See.
Die Erwartungen beſſerer Wirthſchaft, die der Prinz an dieſe
Parthie geknüpft hatte, erwieſen ſich als eitel und irrig, aber um-
gekehrt gingen, theilweis wenigſtens und bis zu einem gewiſſen
Zeitpunkt, die Hoffnungen in Erfüllung, die Kaphengſt an dieſe
ſeine Vermählung mit der ehemaligen Favorit-Schauſpielerin ge-
knüpft hatte. Eine neue Handhabe war gewonnen, um ſich
der Gunſt des Prinzen zu verſichern. Der jagd- und ſpiel-
liebende, ſtreit- und händelſüchtige Kaphengſt war dem Prinzen,
deſſen Schatulle ſchwer unter den Debauchen ſeines ehemaligen
Lieblings zu leiden gehabt hatte, ſchließlich unbequem geworden.
Der neue Kaphengſt, der jetzt, wo die gefeierte Touſſaint an der
Spitze ſeines Haushalts ſtand, klug genug war, die Muſen nach
ſeinem Schloß hin zu Gaſt zu laden, erſchien dem Prinzen, zu-
nächſt wenigſtens, in einem veränderten Licht. Die Säle und Zimmer
rechts neben der großen Halle des Schloſſes wurden zu einer
Bühne eingerichtet; Kaphengſt ſelbſt, muthmaßlich voll Hohn im
Herzen über die Rolle, die ihm zufiel, fungirte als Directeur du
théâtre, und unter dem Vollklang der Alexandriner vergaß der
Prinz, wie hohen Eintrittspreis er für dieſe Aufführungen zu zahlen
hatte, für ein Spiel, das eben ein Spiel war in jedem Sinne.
Noch jetzt erkennt man im Meſeberger Schloß den ehemaligen
Bühnenraum; und die kleinen Garderobezimmerchen, in denen da-
mals die Schminktöpfchen und die frivolen Bemerkungen zu Haus
waren, laſſen ſich bis dieſen Tag, freilich in eben ſo viele Wand-
9*
[132]ſchränke umgewandelt, in dem zu hinterſt gelegenen Zimmer des
Erdgeſchoſſes erkennen.
Auch für Abwechslung wußte der kluge Hausherr zu ſorgen,
klug, ſeitdem die Franzöſin die Honneurs des Hauſes machte und
die Angelegenheiten leitete. Der Prinz, nach längerer Abweſenheit
im Berliner Palais (länger als ſeit Jahren), kehrte nach Monaten
zum erſten Male wieder nach Rheinsberg zurück und traf anderen
Tages ſchon als Gaſt in Schloß Meſeberg ein. Er mochte eine
neue Aufführung, die Einlage eines neuen Tanzes, eines neuen
Muſikſtücks erwartet haben, aber eine andre Huldigung war dies-
mal vorbereitet; am Plafond der großen Speiſehalle, die zum
Empfang des hohen Gaſtes mit Blumen und Orangerie decorirt
war, hatte die raſchfertige, aber immerhin geniale Hand Bernhard
Rode’s ein großes Deckengemälde ausgeführt, das, im Geſchmack
jener Zeit, die Apotheoſe des Prinzen Heinrich darſtellte. Zur
Rechten der übliche Ruhmestempel, dem das Bild des Prinzen von
Genieen entgegengetragen wird; daneben der bekannte Götter-
apparat: Minerva, zu deren Füßen das Schwert ruht, und an
einem der Opferaltäre die Inſchrift: „vota grati animi,“ alſo
etwa: „empfange dies als die Darbringung eines dankbaren Her-
zens.“ Der Prinz, deſſen Eitelkeit leicht zu fangen war, ſo bald
die Schmeichelei nicht platt-proſaiſch, ſondern wohl ſtyliſirt und
im Gewande der Kunſt an ihn herantrat, war auf’s höchſte über-
raſcht und erwies ſich wieder, auf Monate hin, als der Hülfe-
bereite, von deſſen Gunſt und Gnade Gewinn zu ziehn, doch der
eigentliche Zweck aller dieſer Huldigungen geweſen war. (Es ent-
ging an jenem Tage dem Auge des Prinzen, was auch dem Auge
Kaphengſts entgangen war, daß Rode, ſei es aus Zufall oder aus
Malice, die Inſchrift: „vota grati animi“ nicht ausgeſchrieben,
ſondern die letzte Silbe fortgelaſſen hatte. Kaphengſt, ſpäter darauf
aufmerkſam gemacht, ließ auch noch das i übermalen, ſo daß die
Inſchrift jetzt lautet: vota grati an. In der Umgegend lachte
alle Welt darüber und nannte ihn Gratian oder Gratianus.)
Die Gunſt des Prinzen, oft erſchüttert und immer wieder
[133] befeſtigt, dauerte bis 1798; um dieſe Zeit ſcheint er ſie dem Günſt-
ling entzogen zu haben, wenigſtens müſſen wir es daraus ſchließen,
daß ſich Kaphengſt zur Deckung ſeiner immer wachſenden Schulden-
laſt genöthigt ſah, zwei ſeiner Güter, Schönermark und Rauſchen-
dorf, zu verkaufen. Das Volk erzählte ſich und erzählt ſich noch,
er habe beide in einer Nacht verſpielt. Die beiden andern, Meſe-
berg und Baumgarten, blieben ihm, wiewohl tief verſchuldet, bis
zu ſeinem Tode, der im Januar oder Februar 1800 im Schloß
zu Meſeberg erfolgte. Seine Frau überlebte ihn um viele Jahre
und ſtarb erſt im zweiten Viertel dieſes Jahrhunderts.
In der Kirche zu Meſeberg, wo die Grabſteine der Groebens
vor dem Altar liegen und von der Wand herab, in Frommen
und Treue die Bildniſſe Ludwigs v. d. Groeben und ſeiner
17 Kinder blicken, iſt nicht Stein, nicht Inſchrift, die an den
wilden Jäger erinnerten, der hier 26 Jahre lang das Land durch-
tobte; ſeine Wittwe, in richtigem Takte, mochte fühlen, daß das
Marmorbild eines Mannes, dem alles Heilige ein Spott geweſen
war, nicht in die Kirche gehöre. In einer Ecke, mit einem Fetzen
Flor umwickelt, der verblaßt und ſtaubig wie ein Stück Spinnweb
ausſieht, hängt der Galanterie-Degen des Galans und Günſtlings,
daneben ein roſtiges Sporenpaar. Die Kinder im Dorf aber, wenn
der Herbſt kommt und der Wind das abgefallene Laub auffegt,
fahren zuſammen und murmeln „Kaphengſt kommt.“
(Graf La Roche-Aymon und Koepernitz.) Es wurde
immer ſtiller in Rheinsberg. Von 1796 ab ſcheint der Kreis nur
aus 4 Perſonen beſtanden zu haben: aus dem Hofmarſchall (oder
Kammerherrn) Grafen Roeder, aus dem Adjutanten Graf La Roche-
Aymon, aus dem Kammerrath Lebeauld und aus dem Baurath
Steinert. Die beiden Wreech waren todt; Tauentzien, von Stufe
zu Stufe ſteigend, dem Kreiſe entwachſen; Kneſebeck lebte noch,
that aber keinen Dienſt mehr; Kaphengſt jagte und ſpielte in ſei-
nem Schloß am Huvenow-See, und grollte, daß der Gunſt des
Prinzen der goldne Boden ausgeſchlagen war.
[134]
Kein Wunder, daß der alternde Prinz (er war 70 geworden)
von der Einſamkeit und Stille, die ihm Bedürfniß war, zu Zeiten
mehr hatte, als ihm lieb ſein mochte, und unter dem Druck einer
gewiſſen Vereinſamung ſein Beſtreben dahin richtete, ſich die weni-
gen Treuen, die ihm geblieben waren, für den Reſt ſeiner Tage
zu erhalten. Er that dies ſeit Jahren durch Gunſtbezeugungen aller
Art. Es ſchien, er wollte nicht unter Fremden ſterben.
Baurath Steinert war ein Gegenſtand ſeines beſondern Ver-
trauens. Noch wenige Tage vor ſeinem (des Prinzen) Tode, als
ſie die Pyramide beſuchten, in der er beigeſetzt zu werden wünſchte,
ſagte er lächelnd zu dem vielbewährten Diener: „ſtellt mich ſo,
Steinert, daß ich nach dem Schloß hinüber blicke und ſagt es
den Leuten, daß ich ſo ſtehe, das wird manchen in heilſamer
Furcht halten.“
Lebeauld, — Le Bauldt de Nans, wie er in andern Büchern
genannt und geſchrieben wird — war Secretair des Prinzen;
führte aber zugleich den Titel eines Conseiller des chambres.
Zur Belohnung für langjährige Dienſte, aber zugleich auch in
dem Streben, den Beſchenkten dadurch feſter an ſeine Perſon zu
feſſeln, ſchenkte ihm der Prinz zwei der zum Amte Rheinsberg
gehörigen Erbzinsgüter: Schlaborn und Warenthin, die noch ge-
raume Zeit hindurch im Beſitz derſelben Familie waren. Seit
1850 ſind ſie zurückgekauft und wieder königlicher Beſitz.
Steinert und Lebeauld waren bewährte Diener des Prinzen,
aber doch nichts weiter; der Graf La Roche-Aymon war der
Freund ſeiner letzten Jahre. Bei der Geſchichte dieſes Mannes,
„die den Roman auf ſeinem eignen Felde ſchlägt,“ werden wir
zum Schluß noch einige Zeit zu verweilen haben.
Antoine Charles Etienne Paul Graf La Roche-Aymon war
1775 geboren. 1792, ſiebzehn Jahr alt, verließ er mit andern
Emigré’s ſein Vaterland und trat als Volontair in das Condé’ſche
Corps, nach einer andern Verſion (die ſich auf Mittheilung von
Perſonen ſtützt, die den Grafen perſönlich gekannt haben) in die
neapolitaniſche Armee. Gleichviel, 1794 erſchien ein junger
[135] Offizier, ſchlank, ſchön, von dunkelſtem Colorit und ſechs Fuß
groß, aber in bedürftigſter Garderobe, in Rheinsberg und gab bei
„Demoiſelle Aurore“, jener ſchon genannten Schauſpielerin des
prinzlichen Hoftheaters, einen Empfehlungsbrief ab. Der Brief ent-
hielt die Aufforderung, den Ueberbringer, den Grafen La Roche-
Aymon bei günſtiger Gelegenheit in die Nähe des Prinzen zu
bringen. Demoiſelle Aurore war eine echte Franzöſin, lebhaft, gut-
herzig, dabei Royaliſtin und zu Abenteuern geneigt; ſie beſtritt
eine paſſende Equipirung aus eignen Mitteln, und vor Ablauf
einer Woche war der Graf in des Prinzen Dienſt. Er bezog
Wohnung im Kavalierhaus und übernahm den Befehl über die
40 Leibhuſaren, die, als eine ſpecielle Prinz-Heinrich’ſche Truppe,
zu Rheinsberg in Garniſon lagen; kurze Zeit darauf wurde er
Adjutant des Prinzen. Schön, gewandt, liebenswürdig, ein Kava-
lier im beſten Sinne des Worts, trat er alsbald in eine Vertrauens-
ſtellung, in ein gewiſſes Herzensverhältniß zum Prinzen, wie es
dieſer, ſeit Tauentzien, nicht mehr gekannt hatte. Der Graf erſchien
ihm wie ein Geſchenk des Himmels; der Abend des Lebens war
da, aber die Sonne vor ihrem Scheiden gönnte ihm noch einmal
einen Strahl ihres belebenden Lichts. Graf La Roche-Aymon war
der letzte Adjutant des Prinzen. Seine Adjutanten, ſo weit ich
es habe in Erfahrung bringen können, waren ſeit Beginn des
ſiebenjährigen Krieges folgende: Graf Henkel (1757 und 1758);
Graf Kalkreuth in der zweiten Hälfte des Krieges; nach dem
Kriege: Kaphengſt, Tauentzien, La Roche-Aymon.
Nach dem Basler Frieden, der zugleich auch eine Art Ver-
ſöhnung zwiſchen dem Prinzen Heinrich und ſeinem Neffen, dem
König (Friedrich Wilhelm II.) herbeigeführt hatte, erſchien der
Prinz wieder in Berlin, wenn auch ohne Freudigkeit und auf
kürzere Zeit nur. Bei einer der ſtatthabenden Feſtlichkeiten war es,
wo der Graf La Roche-Aymon, der nunmehrige Adjutant des
Prinzen, ein Fräulein v. Zeuner kennen lernte und von ihrer
blendenden Schönheit hingeriſſen wurde. Er war ſeinerſeits völlig
dazu angethan, nicht blos bezaubert zu werden, ſondern ſelbſt zu
[136] bezaubern, und als der Prinz bei beginnendem Frühling nach
Rheinsberg zurückkehrte, folgten ihm Graf und Gräfin La Roche-
Aymon als eben vermähltes Paar.
Caroline Amalie v. Zeuner war die Tochter eines Herrn v.
Zeuner (ſeit 1786 Hofmarſchall und Kammerherr der Königin-
Mutter) aus ſeiner Ehe mit einer Gräfin v. Neale. Fräulein v.
Zeuner ſelbſt war Hofdame bei der Prinzeſſin Wilhelmine, als der
Graf La Roche-Aymon ſie kennen lernte. Sie war von mittlerer Figur,
voll, vom weißeſten Teint, und beſaß, als beſondere Schönheit,
eine ſolche Fülle blonden Haares, daß es, wenn aufgelöſt, bis zu
ihren Knieen herabfiel und ſie wie ein goldener Mantel überdeckte.
Niemand kannte dieſe Schönheit beſſer als ſie ſelbſt, und noch in
ſpäteren Jahren wußte ſie es ſtets ſo einzurichten, daß etwa ein-
treffender Beſuch ſie im Negligée überraſchen und das Haar bewun-
dern mußte, deſſen Fülle die Kammerjungfer kaum zu bemeiſtern
vermochte.
Wenn die Gegenwart des Grafen ſchon vorher ein Lichtblick
an dem vereinſamten Hofe des Prinzen geweſen war, ſo war es
jetzt, wo die Gräfin, wie „Prinzeſſin Goldhaar“ im Märchen, mit
ihm zurückkehrte, als ſollten die Tage alter Rheinsberger Herrlich-
keit noch einmal anbrechen. An Stelle einer halb wüſten, halb
pedantiſchen Alt-Junggeſellenwirthſchaft erſchienen wieder die hei-
teren Grazien, die auf die Dauer nur da zu Hauſe ſind, wo
jene Anregungen und jener ſüße Zwang ſich einſtellen, die un-
zertrennlich ſind von der Erſcheinung ſchöner Frauen. Seit den
Tagen Liſette Tauentziens hatte der Rheinsberger Hof dieſe An-
regung und dieſen Zwang nicht mehr gekannt.
Der Freundſchaftstempel mit ſeinen Inſchriften, die die Liebe
für eine Thorheit erklären, erſchien nun ſelber wieder wie eine
große Thorheit, und man ſpeiſte wieder mit Vorliebe auf der
Remus-Inſel, heitern, jubelnden Angedenkens aus jenen Tagen
Friedrich’s her, als dieſer noch der „Constant“ des Bayard-
Ordens und nicht der Philoſoph von Sansſouci war. Die Gräfin
mit dem blonden Haar machte die Honneurs des Hauſes; ſie war
[137] Gaſt und Wirthin zugleich und der Prinz hing nicht nur an den
graziöſen Bewegungen der ſchönen Frau, er freute ſich ihrer Ge-
genwart überhaupt und bewunderte alles an ihr — ihre Augen,
ihren Witz und ſelbſt — ihre Kochkunſt.
Ein Abenteuer trat endlich ſtörend dazwiſchen und warf einen
Schatten über dies heitere Stillleben, das dem Prinzen theurer ge-
worden war, als er ſich ſelbſt geſtehen mochte. Prinz Louis Fer-
dinand traf eben damals öfters zum Beſuch in Schloß Rheinsberg
ein, um ſeinem Oheim (den er beerben ſollte) ſeinen Reſpekt zu
bezeugen. Im Sommer 1800 kam er häufiger denn zuvor, kam
und ging, ohne daß Wünſche und Geſuche laut geworden wären,
die er ſonſt wohl vertraulich gegen den nachſichtigen Oheim zu äußern
pflegte. Ein Geplauder im Park, eine Fahrt über den See, ein
Gaſtmahl auf der Remus-Inſel, während das Schilf leiſe im
Nachmittagswinde rauſchte, ſchien alles, worauf der Sinn des
Prinzen gerichtet war. Die Gräfin ſaß neben ihm bei Tiſch und
trug einen Kranz von Teichroſen im Haar, den ihr der Prinz
unter Lachen geflochten hatte; ſie ſah aus wie eine Waſſernixe.
So kam der Abend; lautlos glitten die Kähne über den See zu-
rück, nur Flüſtern und Lachen und dann und wann ein franzö-
ſiſches Lied unterbrach die Stille. Der Prinz und die Gräfin fuhren
im ſelben Kahn; wir wiſſen nicht, was heimlich verſprochen wurde
und was nicht, nur das Bild wollen wir zu malen ſuchen, das
die nächſten Stunden brachten. Vor dem Fenſter der Gräfin liegt
ein Raſenſtück, halb beſchattet vom Blätterdach einer Platane, halb frei
und offen im weißen Schein des Vollmonds. Aus dem Schatten
heraus tritt der Graf, die Hand an den Degen gelegt; vor ihm,
auf dem erhellten Raſenſtück ſteht der Prinz; typiſche Geſtalten aus
Nord und Süd, ſo meſſen ſie ſich einander, beide gleich ſchlank,
gleich groß, aber der eine blond, der andere von dunklem Teint
und mit leuchtenden Augen. Am offnen Fenſter ſteht die Gräfin;
das herabwallende Haar ſchimmert in allen Farben und auf die
ausgeſtreckten, bittenden Arme fällt das Mondlicht. Die Degen
[138] fuhren in die Scheide zurück. Man trennte ſich mit einem „bis
auf morgen.“
Der andere Tag ſollte einen Zweikampf bringen, aber der
alte Prinz legte ſich in’s Mittel und die Sache unterblieb. Der
Vorfall wurde nicht weiter berührt, aber man mühte ſich umſonſt
ihn zu vergeſſen. Die Gräfin war das weiße Licht geweſen, deſſen
klarer, ſprühender Helle ſich jeder gefreut hatte; nun hatte das
Licht ſeinen Dieb gehabt und eine leiſe Mißſtimmung griff Platz.
Der Rheinsberger Hof hatte nie als ein Tugendhof geglänzt, aber
jeder ſah ſich ungern des Ideales beraubt, an das er geglaubt hatte.
Alles blieb, wie es geweſen war und war doch anders. Die Gräfin
war der Mittelpunkt des Kreiſes nach wie vor, aber mehr äußer-
lich, und die Blicke, die ſich auf ſie richteten, ſahen ſie mit ver-
ändertem Ausdruck an. Die letzten poëtiſchen Momente des Prinz-
Heinrich Hofes waren hin.
Nur in den Beziehungen zwiſchen dem Prinzen und ſeinem
Adjutanten änderte ſich nichts. Die kritiſch-militairiſchen Arbeiten
des Grafen weckten mehr noch als früher das lebhafteſte Intereſſe
des Prinzen, der ſich vielfach und in ſehr eingehender Weiſe daran
betheiligte. Dies Freundſchafts-Verhältniß dauerte ununterbrochen
fort, bis zum Tode des Prinzen, der noch wenige Monate vor
ſeinem Tode, in ſeinen Dernières Dispositions, die Worte nieder-
ſchrieb: „Ich bezeuge hierdurch zugleich dem Grafen La Roche-
Aymon meinen lebhaften Dank für die zarte Anhänglichkeit (ten-
dre attachement), die er mir während all der Zeit erwieſen hat,
die ich ſo glücklich war, ihn in meiner Nähe zu haben,“ ſo wie
denn auch anderweitig aus beinah jedem Paragraphen dieſer Der-
nières Dispositions hervorgeht, daß der Graf die eigentlichſte
Vertrauensperſon des Prinzen war, derjenige, der ſeinem Herzen
am nächſten ſtand. Der Prinz hatte darin ſehr richtig gewählt.
Der Graf vereinigte nach dem Zeugniß aller derer, die ihn gekannt
haben, drei ritterliche Tugenden in ausgezeichnetem Maße: Muth,
Dienſttreue und kindliche Gutherzigkeit.
Am 3. Auguſt 1802 ſtarb der Prinz; ſie trugen ihn in die
[139] Grabpyramide, die er ſich erbaut hatte, und fügten die Steinplatte
ein mit jener mehrerwähnten Inſchrift: „Jetté, par sa nais-
sance, dans ce tourbillon de vaine fumée,“ deren Wortlaut
ich in den Anmerkungen gebe.
In demſelben Jahre (1802) gelangten Graf und Gräfin
La Roche-Aymon in den Beſitz des Gutes Koepernitz, das eines
der ſechs Erbzinsgüter war, die zum Amte Rheinsberg gehörten.
Ob der Prinz erſt in ſeinem Teſtamente oder umgekehrt ſchon bei
Lebzeiten (kurz vor ſeinem Tode) dieſe Schenkung machte, habe
ich nicht mit Beſtimmtheit in Erfahrung bringen können. Wahr-
ſcheinlich fand ein Scheinkauf ſtatt, mit Hülfe von prinzlichem
Gelde, das ſchließlich in die prinzliche Kaſſe zurückfloß.
Koepernitz war nun gräfliches Beſitzthum. Es ſcheint aber
nicht, daß das gräfliche Paar auch nur vorübergehend das Gut
bezog, vielmehr eilten ſie nach Berlin, um endlich wieder zu ge-
nießen, was ſie, trotz aller Anhänglichkeit an den Prinzen, ſo
lange entbehrt hatten — das Leben der großen Stadt. Das
Gut wurde verpachtet und die Pacht-Erträge ſollten ausreichen zu
einem Leben in der Reſidenz. Das junge Paar, das große An-
ſprüche erhob, und nicht gewöhnt war, ſich Wünſche zu verſagen,
ſah bald, daß es die Rechnung ohne den Wirth gemacht hatte
und der Graf, eben ſo bedürftig nach Sold, wie nach Beſchäf-
tigung, war doppelt froh, im Jahr 1805 dem Goecking’ſchen
(ehemals Zieten’ſchen) Huſaren-Regiment als Major aggregirt zu
werden. Als ſolcher machte er die Schlacht bei Jena mit. 1807
wurde er Kommandeur des ſchwarzen Huſaren-Regiments und
zeichnete ſich an der Spitze deſſelben durch eine glänzende Attacke
bei Preußiſch-Eylau aus. Napoleon, als er nach dem Kommandeur
fragte, gerieth in heftigen Zorn, als er einen franzöſiſchen Namen
hörte. 1809 wurde der Graf Oberſt und bearbeitete das Exercier-
Reglement der Reiterei, wie er denn überhaupt vorzugsweiſe ein
glänzender Cavallerie-Führer war. Seine Bücher über dieſen Ge-
genſtand ſollen werthvoll und bis dieſen Augenblick kaum über-
troffen ſein. 1810 zum Inſpekteur der leichten Truppen ernannt,
[140] machte er die Feldzüge von 1813 und 1814 auf preußiſcher Seite
mit, ward General-Major und kehrte 1814 nach dem Sturz
Napoleons wieder nach Frankreich zurück. 1815, während der
hundert Tage, folgte er Ludwig XVIII. nach Gent, befehligte
1823 in dem cataloniſchen Heere eine Cavallerie-Brigade und
wurde General-Lieutenant. In den Beſitz aller ſeiner früheren
Güter wieder eingeſetzt, ward er (wahrſcheinlich erſt unter Louis
Philipp) Marquis und Pair von Frankreich. Kurze Zeit vor der
Februar-Revolution ſah ihn ein alter Bekannter aus den Rheins-
berger Tagen her, in der Pairskammer ſich erheben und das Wort
ergreifen; er hatte ihn in 46 Jahren nicht geſehn, ſeit jenem
Tage nicht, wo der Marquis (damals Graf) dem Sarge des Prin-
zen zur letzten Ruheſtätte gefolgt war. Der Marquis ſtarb im
Jahr darauf (1849).
Wir wenden uns zum Schluß der Gräfin zu. Sie war 1815,
nach dem völligen Niederwerfen Napoleons ihrem Gatten nach
Paris gefolgt und hatte, wiewohl ſchon über 40 hinaus, am Hofe
Ludwigs XVIII. Huldigungen entgegen genommen, die, mit Rück-
ſicht auf den Ort, wo ſie dargebracht wurden, faſt die Triumphe
ihrer Jugend in den Schatten ſtellten. Sie war noch immer eine
ſchöne Frau und Teint und Haar von altem Glanz; hatte ſie
doch ſtets das Leben leicht genommen, und im Gefühl, für die
Freude geboren zu ſein, der anklopfenden Sorge nie geöffnet.
Aber wenn ſie auch kein Naturell hatte für den Gram, ſo war
ſie doch empfindlich gegen Kränkungen und dieſe blieben nicht aus.
Sie war eitel und herrſchſüchtig, und ſo leicht es ihr wurde, die
leichte Moral der Hauptſtadt und ihres eignen Hauſes zu tragen,
ſo unerträglich war es ihr, die Herrſchaft im Hauſe mit einer
Rivalin zu theilen. Das Blatt hatte ſich gewandt und die alte
Schuld der Rheinsberger Tage wurde ſpät gebüßt. Die Marquiſe
entſchloß ſich, Paris aufzugeben, ein Vorwand wurde gefunden
(„der Pächter habe das Gut vernachläſſigt“) und 1826 zog die
Marquiſe in das ſchlichte Wohnhaus von Koepernitz ein.
Dort hat ſie noch 33 Jahre gelebt und Alt und Jung weiß
[141] von ihr zu erzählen. Sie war eine reſolute Frau, klug, umſichtig,
thätig, aber rechthaberiſch, die, weil ſie immer herrſchen wollte,
zuletzt ſchlecht zu regieren verſtand. Es lag ihr mehr daran, daß
ihr Wille, als daß das Richtige geſchah, und die Schmeichler
und Ja-ſager hatten leichtes Spiel auf Koſten derer, die es wohl
meinten. Sie hatte all die Schwächen alter Leute, die die Triumphe
ihrer Jugend nicht vergeſſen können; aber was ihr bis zuletzt die
Herzen Vieler zugethan machte, das war, daß ſie trotz aller
Schwächen und Unleidlichkeiten im Beſitz einer wirklichen Vornehm-
heit war. Sie glaubte an ſich und darauf kommt es an.
Ihre Beziehungen zum Rheinsberger Hofe und zum Prinzen
Louis, nicht minder wohl die Huldigungen, die ihr am franzöſi-
ſchen Hofe zu Theil geworden waren, gaben ihr vor der Welt
noch immer ein Anſehn, und Friedrich Wilhelm IV. kam nie in
die Grafſchaft Ruppin, ohne der Marquiſe auf Koepernitz ſeinen
Beſuch zu machen. Es traf ſich, daß ſie bei einem dieſer Beſuche,
wie zu den Zeiten der Remus-Inſel-Diners durch ihre Kochkunſt
wieder glänzen und den König durch eine Trüffel- oder Cervelat-
Wurſt (die Hiſtorie giebt hier der Phantaſie des Leſers Spiel-
raum) überraſchen konnte. Der König bat ſich davon für ſeine
Potsdamer Küche aus und zum Weihnachtsabend kam das könig-
liche Gegengeſchenk: ein Collier aus goldenen Würſtchen beſtehend,
die Speilerchen von Perlen, dazu ein verbindliches Schreiben mit
dem Motto: „Wurſt wider Wurſt.“ Geſchenk und Gegengeſchenk
wiederholten ſich mehrfach, ſo daß ſich zu dem Collier ein Armband,
zu dem Armband ein Ohrgehänge geſellte, zuletzt eine Tabatière
in Form einer kurzen, gedrungenen Zungenwurſt, die Doſe oben
und unten mit Rubinen beſetzt, äußerſt werthvoll. Die Freude
war groß, aber es war die letzte der Art. Aus den Zeitungen er-
ſah die Marquiſe bald darauf, daß einer der Hofſchlächtermeiſter
zu Potsdam, als Gegengeſchenk für eine große Feſt- oder Jubi-
läumswurſt (ſogar unter Beifügung deſſelben Motto’s: „Wurſt
wider Wurſt“) mit einer eben ſolchen Tabatière beſchenkt worden
[142] war und die Sendungen in die Königliche Küche hatten von dem
Augenblick an ihr Ende erreicht.
Ihre letzten Lebensjahre brachten ihr noch einen andern inter-
eſſanten Beſuch. Ein Neffe des verſtorbenen Marquis hatte dieſen
beerbt, und nicht zufrieden mit den franzöſiſchen Gütern, die ihm
zugefallen waren, machte er auch bei dem betreffenden Pariſer Gerichts-
hofe ein Verfahren anhängig, um ſich das Gut ſeiner alten Tante,
das alte Prinz Heinrich’ſche Koepernitz, zu erprozeſſiren. In der erſten
Inſtanz erklärten ſelbſt die franzöſiſchen Gerichte ihr „nein“; in der
zweiten und dritten aber wurde das „nein“ in ein „ja“ umgewandelt,
denn der Neffe des alten legitimiſtiſchen Marquis, war ein beſon-
derer Günſtling Napoleons III. Der Günſtling ſchickte Abge-
ſandte, um Koepernitz für ihn in Beſitz zu nehmen, und als ſich
das nicht thun laſſen wollte, erſchien er endlich ſelber. Er nahm
in Rheinsberg beſcheidentlich einen Einſpänner, umfuhr das ganze
Gut, deſſen Lage und Ausdehnung ihm wohlgefiel und fuhr dann
vor dem Wohnhauſe der alten Tante vor. Dieſe empfing ihn
auf’s artigſte, und mit ganzem Aufwand jenes Ceremoniells, worin
ſie Meiſter war; als er aber den eigentlichen Zweck ſeines Kom-
mens berührte, lachte ſie ihn ſo herzlich aus, daß er ſich artig,
aber nicht ohne Verlegenheit von der alten „ma tante“ verab-
ſchiedete. Er wurde nicht wieder geſehn. Dieſer Neffe aber, der im
Einſpänner von Rheinsberg nach Koepernitz fuhr, iſt niemand an-
ders, als der jetzige Befehlshaber der franzöſiſchen Armee in Rom
— General Goyon.
Die Marquiſe war eine ſtolze, ſelbſtbewußte Frau, voll ari-
ſtokratiſcher Vorurtheile, aber auch, wie ſchon angedeutet, voll ari-
ſtokratiſcher Tugenden. Ich mag nicht ſagen, daß ſie das wahrhaft
Adlige repräſentirte, aber doch die Vornehmheit einer nun zu
Grabe getragenen Zeit, eine Vornehmheit, die unter Umſtänden
von der Geſinnung abſtrahiren konnte und ihr Weſen in eine
meiſterhafte Behandlung des Formellen ſetzte. Oft kam es dabei,
daß ſich die Form mit dem Weſen der Vornehmheit identificirte.
Die Formen der Marquiſe waren von der gewinnendſten Art;
[143] voller Grazie, nichts Steifes, Langweiliges und innerhalb gewiſſer
Grenzlinien, voller Freiheit und ſelbſt voll Originalität. Herrſchen
und ein großes Haus machen, waren ihre zwei Leidenſchaften; je
mehr Kutſchen im Hofe, deſto wohler wurde ihr ums Herz, und
je mehr Lichter im Hauſe brannten, deſto heller ſprühte ihr Geiſt.
Dann kamen die alten Zeiten wieder zurück. Sparſam ſonſt und
eine Frau, bei der die Rechnungsbücher ſtimmen mußten, erſchrak
ſie an ſolchem Tage vor keinem Opfer, ja der Gedanke berührte
ſie keinen Augenblick, daß es überhaupt ein Opfer ſei. Nach Sitte
der Zeit, in der ſie jung geweſen war, lebte ſie in ihren Zimmern
wie in einer Arche Noäh, und vom Kakadu an bis herunter zu
Kanarienvogel und Eichhörnchen, fand ſich alles beiſammen. Katzen
und Hunde waren natürlich die Lieblinge und durften ſich alles
erlauben, ja, eintretender Beſuch pflegte, bevor die Dame vom
Hauſe ſelbſt erſchien, in nicht geringe Verlegenheit zu gerathen, wo
überhaupt Platz zu nehmen ſei. Aber mit dem Erſcheinen der alten
Marquiſe war alles vergeſſen, man ſah die Unordnung nicht mehr
und was bis dahin läſtig geweſen war, wurde eigenthümliches
und charakteriſtiſches Ornament. Ihre Rede und ihre Handbewe-
gungen machten ſie ſofort zum dirigirenden Mittelpunkt und alles
klang zu einem heitern Concert zuſammen. Wurden die Tage des
Prinzen Heinrich zum Gegenſtand der Unterhaltung, ſo vergingen
die Stunden wie im Fluge, ihr ſelbſt und andern.
Ihr Tod war wie ihr Leben; er hatte einen Roccoco-Cha-
rakter, wie das Sopha, auf dem ſie ſtarb und wie die Tabatière,
die vor ihr ſtand. Ihre Lieblingskatze hatte ſie in die Lippe ge-
biſſen, — daran ſtarb ſie, 89 Jahr alt, am 18. Mai 1859.
Mit ihr wurde die letzte Repräſentantin der Prinz-Heinrich-Zeit
zu Grabe getragen. Noch leben einzelne, die ſich aus ihren Kinder-
jahren her des Prinzen entſinnen, der „ſehr häßlich war und gar
nicht ausſah wie ein Prinz,“ aber die Marquiſe La Roche-Aymon
war die letzte, die mit auf der Bühne jener Tage thätig und eine
bewunderte Zierde derſelben geweſen war.
[[144]]
Zernikow.
werde ich ausreiten; kom doch am Fenſter,
ich wollte dihr gerne ſehn.“
Friedrich an Fredersdorff.’
In der Nähe von Boberow-Wald und Huvenow-See liegt noch
ein anderer Güter-Complex, der durch den Aufenthalt des Kron-
prinzen Friedrich in Rheinsberg mittelbar zu hiſtoriſchem Anſehn
gelangt iſt — ich meine die ſogenannten Fredersdorff’ſchen Güter,
die Friedrich der Große beinah unmittelbar nach ſeiner Thron-
beſteigung ſeinem Kammerdiener Fredersdorff zum Geſchenk machte.
Urſprünglich beſtand die Schenkung nicht aus jenen vier Beſitzun-
gen, die man jetzt wohl als „Fredersdorff’ſche Güter“ zu bezeichnen
pflegt, es war vielmehr ein einziges Gut nur, Zernikow, das
Kronprinz Friedrich am 17. März 1737 von Lieutenant Claude
Benjamin le Chenevix de Beville gekauft hatte und nach dreijäh-
rigem Beſitz (er hatte es verpachtet) unterm 26. Juni 1740 ſei-
nem Kammerdiener urkundlich vermachte. Erſt nach zehn Jahren
begann Fredersdorff elber ſein Beſitzthum durch Ankauf zu erwei-
tern; 1750 erwarb er Kelkendorf (wahrſcheinlich von „Kelke,“
d. h. Schafgarbe); 1753 Dagow und 1755 Burow. Dagow iſt
ſeitdem wieder aus der Reihe der Güter ausgeſchieden, Schulzen-
hof aber andererſeits angekauft worden, ſo daß der Beſitzſtand
nach wie vor aus vier Gütern beſteht.
Das Wenige, was man über Fredersdorff weiß, iſt oft gedruckt
[145] worden; außerdem hat Friedrich Burchardt in ſeinem Buche
„Friedrichs II. eigenhändige Briefe an ſeinen geheimen Kämmerer
Fredersdorff“ dieſen Briefen noch eine Biographie Fredersdorff’s
beigegeben. Ich verweile deshalb nicht bei Aufzählung bekannter
Thatſachen und Anekdoten (deren Verbürgtheit zum Theil ſehr
zweifelhaft iſt) und beſchränke mich darauf, bei jenem einzig neuen
Reſultat einen Augenblick ſtehn zu bleiben, welches die inzwiſchen
erfolgte Durchſicht der Gartzer Kirchenbücher hinſichtlich der Her-
ſtammung Fredersdorff’s ergeben hat.
Bekanntlich galt es bisher für zweifelhaft, ob Fredersdorff
zu Gartz in Pommern (4 Meilen von Stettin) oder in Mittel-
deutſchland geboren ſei, ja die Mehrzahl der Anſichten neigte ſich
der letztern Anſicht zu und bezeichnete ihn als einen durch Werber
aufgebrachten wohlhabenden Kaufmannsſohn aus Franken. Dieſe
Anſicht aber iſt jetzt mit Beſtimmtheit widerlegt. Im Gartzer
Kirchenbuche findet ſich die Angabe, daß ein dem Stadtmuſikus
(musicus instrumentalis) Fredersdorff geborner Sohn am 3. Juni
1708 getauft worden ſei und die Namen Michael Gabriel er-
halten habe. Da nun der Kammerdiener Fredersdorff nach über-
einſtimmenden Nachrichten wirklich Michael Gabriel hieß (ſiehe
z. B. die Schenkungs-Urkunde vom 26. Juni 1740 in den An-
merkungen) und wirklich 1708 geboren wurde, ſo kann nicht gut
ein längerer Zweifel in dieſer Streitfrage walten. Zwar findet ſich
auf Fredersdorff’s Bild in der Zernikower Kirche die Angabe:
„geboren am 6. Juni 1708“ (wonach er nicht am 3. Juni ge-
tauft ſein kann), dieſe Angabe iſt aber entweder ein geringfügiger
Irrthum, wie ſie auf derartigen Bildern ſehr häufig vorkommen,
oder es hat ſich umgekehrt bei Eintragung ins Kirchenbuch ein
Fehler, eine Unachtſamkeit eingeſchlichen. Vielleicht muß es heißen
am 13. Juni, und die Eins iſt entweder verwiſcht oder beim
Eintragen überſehn.
Fredersdorff war 18 Jahre lang, von 1740—1758, in Beſitz
von Zernikow, und wir werfen nunmehr die Frage auf, ob er
dem Dorf und ſeinen Bewohnern ein Segen war oder nicht?
10
[146] Wir müſſen die Frage durchaus zu ſeinen Gunſten beantworten.
Wie er trotz Ehrgeiz und einem unverkennbaren Verlangen nach
Anſehn und Reichthum, doch übverwiegend eine liebenswürdige und
gutgeartete Natur geweſen zu ſein ſcheint, ſo erwies er ſich auch
als Gutsherr mild, nachſichtig, hülfebereit. Seine Bauern und
Taglöhner hatten gute Tage. Wie den Bewohnern, ſo war er
dem Dorfe ſelbſt ein Segen. Die meiſten Neuerungen, ſo weit ſie
nicht blos der Verſchönerung dienen, laſſen ſich auf ihn zurück
führen. Er fand eine vernachläſſigte Sandſcholle vor und hinter-
ließ ein wohlkultivirtes Land, dem er theils durch Anlagen aller
Art, theils durch Ankauf von Wieſen und Wald das gegeben
hatte, deſſen es zumeiſt benöthigt geweſen war. Die Thätigkeit,
die er entwickelte, war groß. Koloniſten und Handwerker wurden
herangezogen und Weberei und Strohflechterei von fleißigen Hän-
den betrieben. Zu gleicher Zeit und mit Vorliebe nahm er ſich des
Seidenbau’s an. Gärten, Wege und Alleen wurden mit Maul-
beerbäumen bepflanzt, ſchon 1747 ſtanden deren 8000 und das
Jahr darauf hatte er zum erſten Mal einen Reinertrag aus der
gehaspelten Seide. Kaum daß er ein Stück guten Lehmboden auf
ſeiner Feldmark gefunden hatte, ſo entſtand eine Ziegelei, und ſchon
1746 erbaute er aus ſelbſtgebrannten Steinen das noch jetzt exi-
ſtirende Wohnhaus. Im ſelben Jahre führte er auch, eben ſo wie
in Spandau und Coepnick, große Brauerei-Gebäude auf, in denen
das ſo beliebt gewordene und nach ihm genannte „Fredersdorffer
Bier“ gebraut wurde. In allem erwies er ſich als der gelehrige
Schüler ſeines königlichen Herrn, und an der ganzen Art und
Weiſe, wie er die Dinge in Angriff nahm, ließ ſich erkennen, daß
er den organiſatoriſchen Plänen des Königs mit Verſtändniß zu
folgen und ſie als Vorbild zu verwerthen verſtand. Er mochte es
dabei, beſonders was die Mittel zur Ausführung anging, leichter
haben als mancher Andere, da ein König, der ihm ſchreiben konnte:
„Wenn ein Mittel in der Welt wäre, Dir in 2 Minuten zu
helfen, ſo wollte ich es kaufen, es möchte auch ſo theuer ſein wie
es immer wollte“ ſehr wahrſcheinlich auch bereit war, durch Ge-
[147] ſchenke und Vorſchüſſe aller Art zu helfen; es ſcheint aber doch,
daß dieſe Hülfen nur innerhalb beſchränkter Grenzen blieben und
daß die Meliorationen erſt von 1750 ab einen größeren Maßſtab
annahmen, wo ſich Fredersdorff mit Caroline Marie Eliſabeth
Daum, der reichen Erbtochter des ſchon 1743 verſtorbenen Ban-
quier Daum vermählt hatte. Wenigſtens beginnen von da ab erſt
jene Güterkäufe, deren ich ſchon oben erwähnt habe. Fredersdorff
lebte mit ſeiner jungen Frau in einer ſehr glücklichen, aber kinder-
loſen Ehe. Daß er andauernd in Zernikow geweſen ſei, iſt nicht
anzunehmen; doch ſcheint es, daß er von 1750 ab (alſo nach
ſeiner Vermählung) wenigſtens ſo oft wie möglich auf ſeinem
Gute war und namentlich die Sommermonate gern daſelbſt ver-
brachte. Daß er ſeine alchymiſtiſchen Künſte und Goldmache-Ver-
ſuche auch in ländlicher Zurückgezogenheit geübt habe, iſt nicht zu
ermitteln geweſen, auch nicht wahrſcheinlich. Er ſtarb zu Potsdam,
in demſelben Jahre (1758), das ſeinem königlichen Herrn ſo viele
ſchwere Verluſte brachte, und ſeine Leiche wurde nach Zernikow
übergeführt.
Michael Gabriel Fredersdorff war am 12. Januar 1758
geſtorben; 1760 vermählte ſich ſeine Wittwe zum zweiten Male
mit dem aus Pommern ſtammenden, Geheimen Stiftsrath zu
Quedlinburg, Hans Freiherrn v. Labes, der, urſprünglich bürger-
lich, erſt ſpäter vom Kaiſer in den Adelsſtand erhoben worden war.
Auch Freiherr v. Labes that viel zur Verſchönerung des
Guts; Linden-Alleen wurden gepflanzt, ein engliſcher Park ange-
legt und der frühere Faſanengarten zu einem Thiergarten mit
Fiſchteichen, Waſſerleitungen und Pavillons umgeſchaffen. Er ſcheint
andauernder als Fredersdorff in Zernikow gelebt zu haben und
verſchied daſelbſt am 27. Juli 1776. Frau v. Labes, nachdem ſie
durch milde Stiftungen, beſonders durch Erbauung eines Hoſpi-
tals ſegensreich gewirkt hatte, ſtarb am 10. März 1810, achtzig
Jahr alt, mehr denn 50 Jahre nach dem Tode ihres erſten Gatten.
10*
[148] Aus ihrer zweiten Ehe waren ihr zwei Kinder geboren worden,
ein Sohn und eine Tochter. Der Sohn, Geheimer Legationsrath
von Labes, vermählte ſich mit einer Tochter des Grafen Görz-
Schlitz, wurde ſelbſt in den Grafenſtand erhoben und nahm, nach
der Burg Schlitz, die er ſich im Mecklenburgiſchen erbaut hatte,
den Namen Graf Schlitz an.
Dieſer Graf Schlitz ſtarb 1831. Er hinterließ nur eine Toch-
ter, die ſich 1822 dem Grafen Baſſewitz vermählte, der ſeitdem
den Namen Graf Baſſewitz-Schlitz führte. Das einzige Kind dieſer
Ehe, eine Tochter, wurde nur 11 Jahr alt; von den Eltern ſtarb
die Mutter 1855, der Vater, Graf Baſſewitz-Schlitz, im Juli 1861.
Beide wurden auf Hohen-Demzin, einem in der Nähe von Burg
Schlitz gelegenen Familiengute beigeſetzt. Schon 1855, alſo nach
dem Tode der Gräfin, waren die Fredersdorff’ſchen Güter auf die
weibliche Linie, d. h. alſo auf die Nachkommenſchaft der Tochter
der Frau v. Labes übergegangen.
Dieſe Tochter war ſeit 1777 an den Freiherrn Joachim
Erdmann v. Arnim vermählt, ſtarb aber ſchon im Jahre 1781
in Folge ihrer zweiten Entbindung, nachdem ſie dem ſpäter berühmt
gewordenen Achim von Arnim das Leben gegeben hatte. Sie
hinterließ zwei Söhne: Carl Otto Ludwig von Arnim, geb. am
1. Auguſt 1779 und Carl Friedrich Joachim Ludwig von Arnim
(Achim von Arnim), geb. am 26. Januar 1781.
Von dieſen beiden Brüdern ſtarb der jüngere bekanntlich ſchon
am 21. Januar 1831; der ältere (gemeinhin Pitt-Arnim geheißen)
ererbte die Fredersdorff’ſchen Güter nach dem 1855 erfolgten Tode
der Gräfin Baſſewitz-Schlitz. Er iſt 6 Jahre lang im Beſitz der
Güter geblieben, bis zu ſeinem am 9. Februar 1861 erfolgten
Tode. Da er kinderlos verſtarb, ſo waren ſeine Neffen und Nichten,
die Kinder Achims von Arnim und der Bettina Brentano die
nächſten Erben. Dieſe Kinder, drei Söhne und drei Töchter, ſind
jetzt die Beſitzer von Zernikow.
[149]
Zernikow beſitzt neben einer ſehenswerthen Kirche, in der ſich
— eben ſo wie im Herrenhauſe daſelbſt — die Portraits von
Fredersdorff, dem v. Labes’ſchen Ehepaar und von deren Tochter,
der 1781 verſtorbenen Frau v. Arnim befinden, auch ein mit
Geſchmack und Munificenz hergeſtelltes Grabgewölbe, das Frau v.
Labes bald nach dem Tode ihres zweiten Gemahls errichten ließ.
Es trägt an ſeiner Front die Inſchrift: „Fredersdorff’ſches Erb-
begräbniß, errichtet von deſſen hinterlaſſenen Wittwe, gebornen Caro-
line Marie Eliſabeth Daum, nachmals verehelichten v. Labes. Anno
1777.“ Darunter in goldnen Buchſtaben folgende verſchlungene
Namenszüge: MGF (Michael Gabriel Fredersdorff) und CMED
(Caroline Marie Eliſabeth Daum). Sofort nach der Vollendung
dieſes Grabgewölbes nahm Frau v. Labes in daſſelbe die ſterb-
lichen Ueberreſte ihrer Ehegatten Fredersdorff und von Labes
auf, welche ſich bisher in einer Gruft unter der Kirche zu Zerni-
kow befunden hatten.
Der mit Leder überzogene und mit vergoldeten Füßen und
Handhaben verſehene Sarg Fredersdorff’s, auf dem ſich noch die
Patrontaſche befindet, die derſelbe während ſeines Militärdienſtes
im Schwerin’ſchen Regiment getragen hat, ſteht an der rechten
Seitenwand; der Sarg des Freiherrn von Labes unmittelbar
dahinter.
Vier Jahre ſpäter geſellte ſich zu dieſen beiden Särgen ein
dritter. Noch nicht zwanzig Jahr alt, war die mehrgenannte Frei-
frau Amalie Caroline v. Arnim, einzige Tochter der verwittweten
Frau v. Labes, im Januar oder Februar 1781 zu Berlin geſtor-
ben und wurde von dort nach Zernikow übergeführt. Ihr Sarg,
in deſſen Deckel ein kleines Fenſter befindlich iſt (eine unſchöne
Aeußerung der Pietät, der man in jener Zeit öfters begegnet) ſteht
an der Hinterwand des Gewölbes und noch jetzt finden ſich auf
demſelben Kränze und Gedichte, die von der Hand der Mutter
geſchrieben ſind. Am 10. März 1810 entſchlief die alte Freifrau
ſelber und nahm, ihrem letzten Willen gemäß, nach Freud und
Leid dieſer Welt, ihren letzten Ruheplatz an der Seite derer ein,
[150] die ihr das Theuerſte geweſen waren. Auch auf dem Deckel ihres
überaus prachtvollen Sarges iſt ein kleines Fenſter angebracht,
durch das man die entſeelte Hülle der alten Freifrau erblickt. Auf
allen vier Särgen befinden ſich die Familienwappen; auf drei
derſelben auch Name, Geburts- und Todestag.
Ueber 50 Jahre vergingen, eh ein neuer Ankömmling vor
der Gitterthür hielt und Raum in der Familiengruft beanſpruchte.
Alles, was den Namen Graf Schlitz angenommen hatte, hatte ſich
auch im Tode noch von Zernikow, dem urſprünglichen Familiengut,
geſchieden und dem Graf Schlitz’ſchen Mauſoleum auf Hohen
Demzin den Vorzug gegeben; — nicht ſo der älteſte Sohn der
Tochter der Frau von Labes. Am 16. Februar 1861 öffneten
ſich die ſchweren Gitterthüren des Fredersdorff’ſchen Erbbegräb-
niſſes noch einmal und der Sarg des Oberſt-Schenk Carl Otto
Ludwigs von Arnim wurde neben Mutter und Großmutter bei-
geſetzt. Seine Inſchrift lautet:
Sein jüngerer Bruder, Achim von Arnim, iſt auf dem Fami-
liengut Wiepersdorf bei Dahme begraben; auch Bettina (geſt.
1859 zu Berlin) ruht ebendaſelbſt.
[[151]]
Gantzer.
Nach längerem Verweilen im Norden der Grafſchaft Ruppin,
auf jenem Stück Land zwiſchen Boberow-Wald und Huvenow-
See, das durch die Prinz-Heinrich-Zeit und mehr noch durch den
vorübergehenden Aufenthalt des Kronprinzen Friedrich, ein hiſto-
riſcher Boden geworden iſt, kehren wir nach dem Süden der
Grafſchaft zurück, in die Nähe des Ruppiner See’s, von wo aus
wir unſere Reiſe begannen.
Das Dorf Gantzer, ein alter Beſitz der Familie Wahlen-
Jürgaß, liegt 2 Meilen weſtlich von dem Alt-Zietenſchen Wuſtrau
und die Beziehungen, die zwiſchen dieſen beiden alten Familien
(nun beide ausgeſtorben) ſeit drei Jahrhunderten geherrſcht haben,
das Anſehn, das namentlich ſeit den Tagen Hans Joachims v. Zie-
ten, die Jürgaſſe durch ihr langjähriges Verſippt- und Verſchwä-
gertſein mit der berühmteren Nachbar-Familie gewonnen haben,
dieſe Beziehungen ſind es, die unſere Schritte nach Dorf Gantzer
lenken, um Umſchau zu halten nach allem, was von den Jürgaſſes
geblieben iſt, nach Haus und Hof, oder — nach Grab und Kreuz.
Beide Familien, die Zieten und die Jürgaß, waren recht
eigentlich Ruppinſche Geſchlechter, ſeßhafte Leute, die durch die Jahr-
hunderte hin ſchlicht gelebt und treu gedient und den Boden ihrer
[152] Väter in Ehren gehalten hatten. Hans Zieten zu Wildberg (nur
eine Viertelmeile von Gantzer), war geſchworner Rath des letzten
Grafen zu Ruppin und begleitete ihn nach Worms auf den gro-
ßen Reichstag (1517); um dieſelbe Zeit aber ſaßen auch ſchon die
Jürgaß auf Gantzer und werden 1525 urkundlich genannt. Von
da ab gehen beide Nachbar-Familien in Leid und Freude mit und
neben einander, um ſchließlich auch, wie ein altes Paar, gemein-
ſchaftlich in den Tod zu gehen. Um anzudeuten, wie vielfach beide
Familien verſchwägert waren, ſtehe hier nur Folgendes. Die Mut-
ter des berühmten alten Zieten war Ilſabe Catharina von Jürgaß
aus dem Hauſe Gantzer (geb. 1666) und die erſte Frau des
alten Zieten war wiederum eine Jürgaß (Leopoldine Judith, ge-
boren 1703). Aus dieſer Ehe, zwiſchen Hans von Zieten und Ju-
dith von Jürgaß, wurde eine Tochter geboren, Fräulein Johanna
von Zieten, die ſich mit Rudolf von Jürgaß vermählte, der ſelbſt
wieder ein Sohn Joachims von Jürgaß aus ſeiner Ehe mit Luiſe
von Zieten war.
Man wird an dieſem einen Beiſpiel erkennen, daß die Ver-
wandtſchaft zwiſchen den beiden Familien eine oft 5- und 6-fache
und in ihren verſchiedenen Graden nicht mehr zu verfolgen war.
Es waren nur noch zwei Familien dem Namen nach, während
längſt daſſelbe Blut in den Adern hüben wie drüben floß.
Gantzer, der alte Herrenſitz der Wahlen-Jürgaß, iſt um eben
dieſer Familie willen ein Dorf von einem gewiſſen ſpecial-hiſtori-
ſchen Belang, aber nicht minder faſt gewährt es, rein äußerlich,
durch Erſcheinung und Bauart ein topographiſches Intereſſe.
Es iſt nämlich ein noch übrig gebliebenes Muſterſtück aus jener
Zeit her, wo ein Dorf nicht aus einem Rittergute, ſondern in
den meiſten Fällen aus zwei und vier und ſelbſt ſechs Edelhöfen
beſtand, die dann freilich ihrer Ausdehnung, wie ihrer Erſcheinung
nach, mehr einem Bauernhofe als einem Rittergute glichen. Auch
Gantzer gehörte in alter Zeit 4 Familien: von Jürgaß, von Rohr,
von Kröcher und von Wuthenow, aber aus dieſer Viertheilung
wurde ſpäter eine Zweitheilung, indem der ganze Grundbeſitz durch
[153] Kauf oder Tauſch oder Erbſchaft an die Rohr und die Jürgaß
überging. Das war ohngefähr zu Anfang des vorigen Jahrhun-
derts und das Dorf nahm allmälig den Charakter eines zweige-
theilten Beſitzes an. Dieſen Charakter hat es ſich bis dieſen Tag
in einer ſo markanten und zugleich ſo maleriſchen Weiſe gewahrt,
wie mir kein zweites Beiſpiel in der Grafſchaft bekannt geworden iſt.
Wir halten vor der breiten Dorfgaſſe und ſchwanken, ob wir
unſer Fuhrwerk nach links oder rechts lenken ſollen, denn einander
gegenüber ſtehen zwei Krugwirthſchaften, beide mit dem üblichen
Vorbau, beide mit Stehkrippen und beide mit einem Wirth in der
Thür. Wir entſcheiden uns endlich für links und ſind, ohne es
zu wiſſen, auf der Rohr’ſchen Seite gelandet.
Die Dorfgaſſe macht die Grenze, was links liegt, iſt alter
Rohr’ſcher, was rechts liegt, alter Jürgaß’ſcher Beſitz. Jede Seite
hat ihren Krug, ihr Herrenhaus, ihren Park, nur die Dorfgaſſe
iſt das Gemeinſchaftliche und Kirche und Kirchhof.
Wir haben im Krug ein Geſpräch angeknüpft und über die
beiden alten Herren von Jürgaß (es waren zwei Brüder) zu plau-
dern geſucht, die nun ſeit zwanzig Jahren und drüber das Zeit-
liche geſegnet haben, aber ſei es, daß unſer Wirth, als „Rohr-
ſcher,“ ſich um die Jürgaſſe von drüben niemals recht gekümmert
hat, oder ſei es, daß 25 Ausſaaten und Erndten, die zwiſchen
jetzt und damals liegen, die Bilder der beiden alten Herren in
ſeiner Erinnerung abgeblaßt haben, gleichviel, ſeine Mittheilungen
beſchränken ſich darauf, „dat de een en beten ſtreng wör“ und
„dat de anner et ümmer weer good machen un ’nen Daler gewen
däht, wenn de Broder to ſtreng weſt wor.“ „Aber — ſo ſchloß
er — he däht et ſo, dat de Broder niſcht merken kunnt.“
Wir verabſchieden uns nun und treten in die maleriſche Dorf-
gaſſe hinaus. Prächtige alte Bäume: Pappeln und Eichen, Kaſta-
nien und Rüſtern, dazwiſchen Ebreſchenbäume mit ihren lachenden
rothen Beeren, faſſen den Weg ein und geben Schatten. Links
vom Wege, von hohen Ulmen und Linden rings umſtellt, ſchim-
mern die weißen Wände des alten Rohrſchen Herrenhauſes zu uns
[154] herüber, ein weitſchichtiger, ungeſchlachter Fachwerkbau, mit ſchwer-
fälligen Flügeln und Doppeldach, halb gemüthlich, halb ſpukhaft,
je nach der Stimmung, in der man ſich ihm nähert, oder je nach
der Beleuchtung, die um die Kronen der alten Ulmen ſpielt. Dem
Rohrſchen Herrenhauſe folgen Kirche und Kirchhof, ebenfalls zur
Linken des Wegs und von der Dorfſtraße etwas zurück gelegen.
Schulhaus und Predigerhaus flankiren die Kirche nach vornhin,
zwiſchen den beiden Häuſern aber breitet ſich ein Garten aus, der,
nach hinten zu leiſe anſteigend, ſich zwiſchen den Gräbern des
Kirchhofs verliert. Dazu Baumesrauſchen und Bienenſummen, —
träumeriſch verfolgt man die Steige des Gartens, bis man plötz-
lich, ſtatt zwiſchen Beeten zwiſchen Gräbern ſteht. Unwiſſentlich,
ohne eine Grenze bemerkt zu haben, hat man den Schritt aus
Leben in Tod gethan.
Die Kirche, die mit dem Chor nach der Straße zu ſteht, iſt
ein alter gothiſcher Bau mit einem Schindelthurm aus ſpäterer
Zeit; eingehüllt in Ephen und hier und da von Geisblatt um-
rankt, ſteht ſie da, eine echte alte Dorfkirche, wie ſie Sinn und
Herz erfreut. Das Innere iſt einfach und erhält nur durch die
Zweitheilung wieder einen beſtimmten Charakter, dem man beim
Eintreten ſofort begegnet. Links die Rohr’ſche, rechts die Jürgaß-
ſche Seite; links ein paar Rohr’ſche Galanterie-Degen aus der
Zeit der Zöpfe und Perrücken, rechts ein Jürgaß’ſcher Säbel und
Federhut aus der Zeit der Freiheitskriege; links eine Rohr’ſche
Familiengruft, rechts eine Jürgaß’ſche. Die Jürgaß’ſche Gruft iſt
mehr eine Grabkammer in gleicher Höhe mit dem Kirchenſchiff, ſo
daß man durch ein Fenſterchen die aufgeſchichteten Särge erblickt;
nirgends Bild oder Schmuck. Anders die Rohr’ſche Gruft; ober-
halb der Thür iſt die Marmorbüſte eines Rohr aufgerichtet, eine
treffliche Arbeit (vielleicht von Glume), die wohl verdient hätte,
durch eine andre Inſchrift, als die folgende, eingefaßt zu werden:
„Bedaure und verehre billiger Wandersmann hier noch die Aſche
eines Ruhmwürdigen, eines im Leben Gerechten, im Tode Unver-
zagten, deſſen Rath Land und Leuten treulich gerathen, aber
[155] wider des Todes allgemeinen Einbruch als eines Landraths (d. h.
trotzdem er ein Landrath war) nichts vermochte. Seine Schwach-
heit und Stärke ſiegen zugleich. Seine Stärke durch weiſen Rath
wider die Unſterblichkeit. Darum ſtößt die Fama durch Poſaunen
noch ſeinen Ruhm aus und die flüchtige Zeit kann ſeine ruhm-
würdigen Thaten nicht verbergen noch zernichten. Sein Lorbeer-
kranz grünt mitten unter Cypreſſen und ſein Palmbaum trägt
Früchte in Apollens Garten, wo Mars ihm von ferne ſteht und
den Zutritt ſcheuet wie ein Unbekannter. Die Schwachheit ſiegt
durch’s Alter und trägt die Krone des Lebens im Glauben davon
am Ende.“ *)
Die Jürgaß’ſche Gruft iſt ohne Schmuck und Bild, aber
draußen auf dem Kirchhof, zwiſchen Blumen und Gräbern, ſteht
ein mächtiges Monument, das nicht einem einzelnen Todten, ſon-
dern dem ganzen aus dieſem Leben geſchiedenen Geſchlechte er-
richtet iſt. Die beiden letzten Jürgaße (de ſtrenge un de gode
Herr) wieſen in ihrem Teſtamente eine bedeutende Summe zur
[156] Aufführung dieſes Monumentes an, und mit Gewiſſenhaftigkeit
ſind die Teſtaments-Vollſtrecker dieſem letzten Willen nachgekommen.
Es iſt kein Grabmal, ſondern ein Monument („dem Andenken
der Familie von Jürgaß errichtet“) und ſtellt eine nach allen vier
Seiten hin geöffnete Niſche dar, in der geſenkten Blickes ein Engel
des Friedens ſteht. Der ganze Bau beſteht aus drei Etagen, aus
einem hohen Poſtament von Sandſtein, das zunächſt einen Eiſen-
würfel, und auf dem Würfel die Engelsgeſtalt und die gothiſche
Niſche trägt. Der Eiſenwürfel iſt mit Inſchriften überdeckt. Was
im Durchleſen dieſer Inſchriften am meiſten überraſcht, iſt das,
daß die beiden letzten Jürgaße einer überaus zahlreichen Familie
angehörten (es waren 8 Brüder und eine Schweſter), daß aber
alle 8 Brüder ſtarben ohne Kinder hinterlaſſen zu haben; — ein
neuer Beweis, daß der Proceß des Lebens nach friſchem Blut
verlangt.
Von den Inſchriften mögen hier nur die beiden ſtehen, die,
auf lang oder kurz hin die Namen der beiden letzten Jürgaße der
Nachwelt erhalten werden.
Auf dem Seitenfeld zur Linken leſen wir wie folgt: Herr
Alexander Conſtantin Maximilian von Wahlen-Jürgaß, Königlich
Preußiſcher General-Lieutenant von der Cavallerie, Droſt zu Stück-
hauſen, Ritter vieler hohen Orden, Erbherr auf Trieglitz, geboren
den 15. Junius 1758 zu Gantzer, focht von 1778 bis 1816 in
allen Preußiſchen Kriegen, wohnte 26 Schlachten und Haupt-
gefechten bei, ward bei Hainau durch den Schenkel und bei Ligny
durch die Bruſt geſchoſſen. Ein Muſter der Tapferkeit und der
Herzensgüte, geehrt und geliebt von ſeinem Könige und von
jedermann, ſtarb er zu Gantzer den 8. November 1833. (Dies
iſt „de gode Herr.“ Weitere biographiſche Notizen, namentlich
über ſeine militäriſche Laufbahn, gebe ich in den Anmerkungen.
Uebrigens bemerke ich ſchon hier, daß das obengenannte Familien-
gut Trieglitz und nicht Trieplatz heißt, wie man gelegentlich ge-
druckt findet. Trieplatz iſt ein alt-Rohrſches Nachbargut.)
Auf dem Seitenfelde zur Rechten begegnen wir einer doppelten
[157] Grabſchrift, und zwar der des letzten Jürgaß und ſeiner Ge-
mahlin, der letzten Zieten. Die erſte Inſchrift lautet: Franz
Carl Wilhelm Rudolf von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Gantzer
und Trieglitz, ward geboren den 14. Sept. 1752 zu Gantzer, und
verſtarb daſelbſt, im 82. Jahre, den 26. Juni 1834, als das
letzte Glied ſeiner Familie. Er war der treuſte Freund ſeiner
Freunde, und alle, die ihn näher kannten, ſchätzten ihn hoch.
(Dies iſt der ältere Bruder, „de en beten ſtreng wor.“) Die an-
dere Inſchrift lautet: „Frau Johanna Chriſtiana Sophie von
Wahlen-Jürgaß geborne von Zieten aus dem Hauſe Wuſtrau,
ward geboren den 23. Januar 1747 und ehelich verbunden am
23. October 1776 mit Rudolf von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf
Gantzer und Trieglitz. Ein Muſter weiblicher Tugenden und Größe
entſchlief ſie ſanft den 7. Juni 1829.“
Dieſe Frau, dieſe letzte Zieten iſt es, die uns nach Gantzer
geführt, und voll der Erwartung, in dem Dorfe, dem ſie ſo lange
angehört, noch ihrem Andenken zu begegnen, treten wir jetzt von
dem Kirchhof aus in die Dorfgaſſe zurück und ſetzen unſere Wan-
derung bis zum alten Herrenhauſe der Jürgaß fort. Ein Hecken-
zaun trennt das Haus von der Gaſſe, rechts lehnen ſich die
Wirthſchaftsgebäude und links die Bäume des Parks ſo dicht wie
möglich an die Giebel und geben ein freundliches Bild, aber zu-
gleich ein Bild äußerſter Schlichtheit. Wären nicht die Edeltannen
des Parks, und die Malven, die in allen Farben ein Stück eng-
liſchen Raſen umſtehn, man würde eine einfache Pachterswohnung,
aber keinen Edelhof hinter dieſem Heckenzaun vermuthen. Eine
Pachterswohnung iſt es nun freilich jetzt. Wir treten ein und
werden beſtens bewillkommt; die junge Frau vom Hauſe kommt
unſrer Neugier freundlich entgegen, zeigt uns Küch’ und Keller,
und das Zimmer, wo General Blücher geſchlafen, *) und führt
[158] uns endlich in den Park hinaus, auf deſſen ſonnigem Raſenplatz
die Schatten der leiſe bewegten Zweige hin und her tanzen. Wir
nehmen Platz unter einer breitblättrigen Platane, wo Tiſch und
Bank zum Plaudern einladen, und während (ich habe ſolche Wahl
getroffen) Milch und Blaubeeren auf den Tiſch geſtellt werden,
geſellt ſich eine Anverwandte des Hauſes zu uns, eine ſchlanke
Dame von nah an vierzig, mit dunklen Augen und feingeformtem
Mund. Die junge Frau, die bis dahin die Koſten der Unterhal-
tung mühſam beſtritten hat, iſt augenſcheinlich froh über den ein-
treffenden Succurs, und mit einem „Tante Helene weiß alles“
den Rückzug antretend, eilt ſie in’s Haus, um nach dem Rechten
zu ſehn. Da ſtehen wir denn nun, „Tante Helene, die alles weiß“
und ich, der ich wenigſtens etwas wiſſen möchte, und begrüßen
uns lächelnd und nehmen Platz. Es iſt ein feines Geſicht mir
gegenüber, mit jenem leiſen Zug des Leidens, der ſo zum Herzen
ſpricht. Sie nimmt den breiten Sommerhut ab, vielleicht, weil
wir im Schatten ſitzen, vielleicht auch, um die Fülle ihres
ſchönen ſchwarzen Haares zu zeigen, und während ſie mit dem
rothen Band des Hutes ſpielt, beginnen meine Fragen. Aber
wir verirren uns immer wieder im Geſpräch, bald ſind wir
in Wuſtrau bei den Zietens, bald in Trieplatz bei den Rohrs,
und endlich reicht ſie mir die Hand über den Tiſch und ſagt mit
gewinnender Freundlichkeit: „plaudern wir weiter heut’, wie Zufall
und Zunge es wollen; ich ſchreib’ Ihnen, — ſeien Sie unbeſorgt,
ich halte Wort.“
Und ſie hielt Wort; nach Ablauf einer Woche erhielt ich fol-
genden Brief: „Ich habe ſie gut gekannt, die Frau von Jürgaß,
beſſer vielleicht als irgend wer. Sie nahm mich zu ſich, als ich
eine Waiſe geworden war; ſo kam ich aus dem Pfarrhaus, darin
ich geboren war, in’s Herrenhaus hinüber. Meine Mutter habe
ich nie gekannt; ſie ſtarb bei meiner Geburt, aber hätte ich ſie
auch gekannt, ich hätte ihre Liebe nicht vermiſſen können, ſo gut
wie die gnädige Frau war! Sie war ſehr klein und ſehr häßlich
(denn ſie war eine Zieten und die Zietens ſind immer häßlich
[159] geweſen), aber man mußte ſich erſt ordentlich fragen, ob ſie hübſch
oder häßlich ſei, ſonſt ſah man’s nicht, weil ſie ſo freundlich war.
Sie hatte kleine blaue Augen, gelbe Löckchen und eine Adlernaſe,
und auf den Löckchen ſaß eine Haube wie ein Thurm; es iſt wahr,
ſie ſah altfränkiſch und beinah komiſch aus, aber wer ſie kannte,
der lachte nicht, dazu war ſie zu gut und zu geſcheudt. Sie hatte
aber auch eine Schönheit, perlenweiße Zähne, die ſie bis zuletzt
behielt, und kleine weiße Hände, die mit Ringen überdeckt waren.
Ich fühlte mich immer geehrt, wenn ich eine dieſer Hände küſſen
durfte. Außer der hohen Haube auf ihrem Kopf trug ſie Hacken-
ſchuhe mit hohen Abſätzen. Mitunter, wenn ich die hohe Haube
und die hohen Abſätze ſah, zwiſchen denen ſich die kleine Frau
bewegte, kam ſie mir noch kleiner vor als ſie wirklich war. Sie
liebte ihren Mann und verehrte ihren Schwager, den alten General,
und beide vergalten es ihr und trugen ſie auf Händen. Es war
ein Leben, wie ich es nie wieder geſehn habe und ich habe doch
viele Menſchen und viele Häuſer geſehn. In Winterzeit, wenn die
Wege verſchneit und die Freunde ausgeblieben waren, dann ſaßen
wir oben im Eckſaal und ſpielten „Geſellſchaft.“ Frau von Jürgaß
nahm Platz auf dem Sopha, die doppelarmigen Leuchter wurden
angezündet und ich durfte neben ihr ſitzen auf einem Fußkiſſen,
darauf der alte Fritz geſtickt war. War alles vorbereitet, ſo gab
ſie mir ein Zeichen oder klingelte; dann mußte ich aufſpringen und
den General von Jürgaß anmelden. Der alte General trat dann
wirklich herein oder er erhob ſich von ſeinem Stuhl, auf dem er
bis dahin geſeſſen hatte und küßte der Gnädigen die Hand, fragte
nach ihrem Befinden und nach ihres Bruders Befinden drüben in
Wuſtrau, und ehe zwei Minuten um waren, waren ſie im leb-
hafteſten Geſpräch über die alte Zeit, und alle Ereigniſſe, die ſie
ſeit 50 Jahren zuſammen durchlebt hatten, wurden durchgeſprochen
wie etwas Neues, Fremdes, wovon man die Mittheilung wie eine
Ehre anſehn und mit Dank und Theilnahme entgegen nehmen
müſſe. Dann brachen ſie plötzlich ab, lachten herzlich, ſchüttelten
ſich die Hände und holten das Dambrett herbei, um Schlagdame
[160] oder Toccadille zu ſpielen. Ich ängſtigte mich damals mitunter,
wenn ich auf dem Kiſſen ſaß und die beiden alten Leute ſo cere-
moniell mit einander ſprechen hörte; ich will nicht leugnen, ich
dachte mitunter ſie wären todt, und ihre Geſpenſter kämen zuſam-
men, um an alter Stelle nach alter Weiſe zu ſprechen; aber ich
habe ſpäter in andern Häuſern oft gedacht: „wenn hier doch Mann
und Frau oder Frau und Schwager ein ähnliches Geſellſchaftsſpiel
ſpielen wollten,“ und mir fiel dann das Wort ein, das Frau von
Jürgaß einſt zu mir geſagt hatte: „gute Gewohnheiten wollen
geübt ſein; ſie roſten ſonſt ein und verſagen den Dienſt.“ Dies
ceremonielle Weſen ſchloß aber Freiheit und raſchen Witz nicht aus,
und ich bewunderte ſie aufrichtig, wenn ſie die Honneurs des
Hauſes machte, ſobald Beſuch von den Gütern oder gar aus der
Hauptſtadt eingetroffen war. Sie war dann ganz die Tochter des
alten Zieten, die unter dem großen König mit „zu Hofe“ gegangen
war. Sie überſah die beiden alten Herren an Witz und Wiſſen,
und ſie hätte es leicht gehabt, auf ihre Koſten die unterhaltende
Wirthin zu machen, aber, wenn beim Souper die alten Anekdoten
von Hainau und Katzbach und Vater Blücher zum wer weiß wie
vielſten Male erzählt wurden, ſo hörte ſie aufmerkſam zu und
ſuchte nur durch eine geſchickte Wendung der alten Geſchichte eine
neue Pointe zu geben, ſo daß die Gäſte doch auch ihre Rechnung
fanden. Sie war ganz ihres Vaters Tochter: klein, unanſehnlich
und unſchön, aber fromm und muthig und pflichttreu wie er,
und wie ihr Vater, ſo ſtarb ſie auch, ruhig, hochbetagt, ohne die
Bitterkeit des Todes zu empfinden. Sie ſchlief hinüber. Sie hat
mir einen jener Ringe vermacht, mit dem ich als Kind ſpielen
durfte, wenn ich neben ihr auf dem geſtickten Kiſſen ſaß; aber es
hätte dieſes Zeichens nicht bedurft, um ihrer immer in Dankbar-
keit zu gedenken.“
Am 7. Juni 1829 ſtarb des alten Zieten Tochter, am
29. Juni 1854 ſtarb des alten Zieten Sohn, der letzte Zieten
[161] der Linie Wuſtrau. Ein Feldſtein von der Wuſtrauer Feldmark
deckt ſein Grab, das ein Lindenbaum überſchattet, — eine Inſchrift
fehlt; das Monument aber, das zu Ehren des letzten Jürgaß und
ſeines mit ihm ausgeſtorbenen Geſchlechtes errichtet iſt, zeigt auf
dem ſchmalen Eiſenſtreifen, der die vier Pfeiler der Niſche trägt,
den ſchönen Spruch: „Der Herr hat ſie zu einem beßren Leben
berufen, wo ſie ſich der Herrlichkeit unſres Erlöſers erfreun.“
11
[[162]]
Fehrbellin.
an den Rhin,
Das war ein heißes Streiten am Tag von
Fehrbellin.
Julius Minding.’
Schon im Havelland, aber unmittelbar an der Grenze der Graf-
ſchaft Ruppin (kaum eine Viertelſtunde davon entfernt), liegt Fehr-
bellin und ſein berühmtes Schlachtfeld. Es iſt fraglich, ob uns
unſere Wanderungen ſo bald wieder in dieſe Gegenden führen, ſo
ſei es denn geſtattet, die Nachbarſtadt, die ſchon jenſeits der Peri-
pherie des Kreiſes liegt, an dieſer Stelle mit in den Kreis hinein-
zuziehn.
Wir kommen von Wuſtrau her, fahren am Nordrande des
durch ſeine Torflager berühmten Rhinluches (an dieſer Stelle das
Wuſtrauer Luch geheißen) entlang und erreichen nach kurzer Fahrt
einen langen mit Weiden beſetzten Damm, der uns raſch dem
Städtchen Fehrbellin, der Hauptſtadt des kleinen „Ländchens Bel-
lin“ entgegenführt. Dies Ländchen Bellin, jetzt dem Havellande
einverleibt, iſt ein ſchmaler Streifen Land am Rhinfluß entlang,
und ſo glau und ſauber, wie der Name „Bellin“ iſt, ſo hübſch iſt
das Ländchen ſelbſt.
Fehrbellin liegt am Ausgange des Dammes, an der Südſeite
des Rhin. Die Einfahrt in die Stadt iſt reizend, beſonders der
Blick von der Rhinbrücke aus, die wir eben paſſiren. Zur Linken,
[163] im Schmucke hoher Silberpappeln, ſtreckt ſich vom jenſeitigen Ufer
her eine Halbinſel in das ſchilfige Flüßchen hinein und giebt dem
Ganzen den Charakter einer in’s Waſſer vorgeſchobenen Parkanlage.
Die Attribute kleinſtädtiſchen Lebens geben dem Bilde mehr, als
ſie ihm nehmen, und wir entbehren gern das Schwanenhaus und
den Vogel Leda’s um der Enten- und Gänſeſchaaren willen, die
das Schlammufer von allen Seiten umſpielen und umſchnattern.
Die Stadt iſt, wie kleine märkiſche Städte zu ſein pflegen, ſchlicht,
freundlich, in der Front abgeputzt und zwei Linden vor der Thür,
ganz wie die Mädchen, die in dieſen Städtchen wohnen. Alles
ſtattlich Damenhafte fehlt; ſie ſtricken, haben Leſekränzchen und
kichern verlegen, wenn ein Fremder zu ihnen ſpricht, aber ihre
lachende Freundlichkeit thut wohl.
An den Namen Fehrbellins knüpft ſich allerhand Liebes und
Gutes. Hier wirkte Friedrich Bolte, einer unſerer heimiſchen Poeten
aus der alten märkiſchen Schule, die nicht voll ſo ſchlecht war,
wie die Olympier in Weimar es wahr haben wollten; hier wurde
unſer Thierbildner Friedrich Wilhelm Wolff geboren, der ſich den
auszeichnenden Namen der „Thier-Wolff“ erworben hat, und hier
endlich, um das Beſte nicht zu vergeſſen, wurde die berühmte
Schlacht geſchlagen, die vor beinahe zwei Jahrhunderten den Grund
zu der Selbſtändigkeit und Größe unſerer Monarchie legte.
Dieſem Schlachtfelde gilt unſer Beſuch. Es liegt noch eine
halbe Meile jenſeits Fehrbellin, dicht an der Straße, die ſich wie
eine Grenzlinie zwiſchen dem Luch und der Höhe hinzieht. Zunächſt
erreicht man das Dorf Tornow, dann das Dorf Hakenberg,
wo das Höhenterrain beinahe ſenkrecht in das Luch hinein abfällt.
In unmittelbarer Nähe des letzt genannten Dorfes fand das be-
rühmte Reitergefecht ſtatt, das indeß, zum Glück für alle preußi-
ſchen Poeten, ſtatt des Namens „Gefecht bei Hakenberg,“ den ſchö-
nen Namen der Schlacht von Fehrbellin erhalten hat. Jeder,
der ſich in der Welt der Reime umhergetummelt hat, wird ſich der
Verlegenheiten entſinnen, die ihm die Sylben „berg“ und „burg“
11*
[164] bereitet haben. Vollklang und Reimfülle aber ſtehen wie lachende
Genien neben dem Wort „Fehrbellin.“
Unmittelbar hinter dem Dorf, bereits auf hiſtoriſch verbürg-
tem Schlachtgrund, befindet ſich die Mühle des Müllers Conrad
und dicht daneben das Monument, das, zum Andenken an die
Schlacht, im Jahre 1800 errichtet und im Jahre 1857 erneuert
worden iſt. Das Denkmal, einfach aus Sandſtein aufgeführt, iſt
ein Oblong, auf deſſen oberem Theil eine Schale oder Urne ſteht.
Der Hinweis auf dieſe Schlichtheit ſoll dem Monument kein Vor-
wurf ſein, im Gegentheil. Es werden jetzt ſo viele Denkmäler er-
richtet, bei deren Errichtung man nicht weiß, wer und was eigent-
lich verherrlicht werden ſoll, ob der Held, dem das Denkmal gilt,
oder die Zeit, die ſo erleuchtet iſt, jenem Helden ein Monument
zu ſetzen, oder endlich der Künſtler ſelbſt, der ſelber wieder zum
Helden wird und gleichſam den Lorbeerkranz von der Stirn ſeiner
eigenen Schöpfung nimmt. Solchem Gebahren gegenüber, für das
die Beiſpiele nahe liegen, erfreut man ſich doppelt beim Anblick
jener einfacheren Gedenkſteine, die nicht der Mode und der Eitel-
keit, ſondern der Geſinnung und dem Eifer eines Einzelnen ihre
Entſtehung verdanken. Es kommt nicht immer auf den Kunſt-
werth deſſen an, was zu uns ſpricht; der Appell an unſer Herz
bleibt immer die Hauptſache. Das gekritzelte Briefchen von der
Hand unſerer verſtorbenen Mutter hat als Erinnerungszeichen den-
ſelben Werth für uns wie das Portrait im Roccocorahmen, das
über unſerem Sopha hängt. Einen künſtleriſchen Genuß kann das
Sandſteinoblong, das neben der Mühle des Müllers Conrad ſteht,
freilich nicht gewähren, aber man lieſt nicht ohne freudige Bewe-
gung die ſchlichten Worte, die in daſſelbe eingegraben ſind, und
nimmt eine mangelhafte Accuſativform, anderer Stileigenthümlich-
keiten zu geſchweigen, als ein Zeichen der Aechtheit aufrichtig dank-
bar mit in den Kauf.
Dieſe Worte ſind folgende: „Hier legten die braven Branden-
burger den Grund zu Preußens Größe. Das Andenken an den
Held und ſeiner Getreuen erneuert dankbar mit jedem Freunde
[165] des Vaterlands Friedrich Eberhard von Rochow auf Rekahn, 1800.“
— Die andern Seiten des Monuments zeigen die Namen derje-
nigen Offiziere, die ſich am Schlachttage beſonders ausgezeichnet
haben. Sie lauten: Dörflinger, v. Görtzke, v. Lütke, v. Götz,
v. Canofsky, v. Mörner, Froben, Friedrich Landgraf von Heſſen,
v. Treffenfeld, v. Straus, v. Sydow, v. Zabeltitz. Ein Eiſengitter
faßt das Denkmal ein; an den Frontſtäben deſſelben befindet ſich
ein herzförmiges Täfelchen mit der Inſchrift: „Erneuert und be-
wehrt durch den Kriegerverein zu Fehrbellin 1857.“
Die unmittelbare Umgebung des Denkmals iſt wenig poetiſch
und wird den Erwartungen derer wenig entſprechen, denen das
ſchöne Wort „Fehrbellin“ verführeriſch im Ohre klingt, oder die
den „Prinzen von Heſſen-Homburg“ unſeres Heinrich von Kleiſt
begeiſtert im Herzen tragen. Die Umgebung iſt ſchlicht-märkiſch,
aber nicht fehrbelliniſch. Ein Kartoffelfeld ſchließt das Denkmal
ein, und die einzige Hoffnung, die dem Beſucher bleibt, knüpft
ſich an die Lehre von der Fruchtfolge. Eine liebenswürdige Dame,
die als Prinzeſſin Clotilde im Kleiſt’ſchen Drama ihren erſten
Bühnentriumph gefeiert, hatte mir den Auftrag gegeben, ihr Blu-
men vom Fehrbelliner Schlachtfeld mitzubringen. Lebhaft und
phantaſievoll, wie ſie war, hatte ſie ſich die Umgegend von Haken-
berg wie einen Roſengarten gedacht. Da ſtand ich nun und ſuchte
umher; Schafgarbe, Winde und Glockenblume war alles, wozu
ſich die Natur hier zuſammenraffte. Ich gab es auf, einen Strauß
an dieſer Stelle zu pflücken, und borgte von einem Nachbarfelde
drei Haferhalme, die ich ſpäter mit folgenden Zeilen überreichte:
[166]
An dieſem Siegesdenkmal findet alljährlich am 18. Juni,
dem Jahrestage der Fehrbelliner Schlacht, eine hübſche Feier ſtatt,
die ſich ohngefähr aus folgenden Theilen zuſammenſetzt. Am Mor-
gen des Tages ſchleppt Müller Conrad ſechsunddreißig roſtige
Kanonenkugeln, die er und ſeine Väter auf dem Schlachtfelde ge-
funden haben, an das Denkmal und beginnt die Ausſchmückung
deſſelben. Eine Stunde ſpäter beleben ſich alle Landſtraßen, die
nach Hakenberg führen, und die Schützengilden von Linum *) und
Fehrbellin, namentlich aber die Schuljugend aller benachbarten
Dörfer, von Brunne, Dechtow und Karweſee kommen von links
und rechts herbei und marſchiren dem gemeinſchaftlichen Sammel-
platze, dem Hakenberger Kirchhofe zu. Hier begrüßt man ſich; Pre-
diger und Magiſtrate ſtellen ſich an die Spitze, und gegen tauſend
Mann ſtark, darunter ſechshundert Kinder, geht es mit Sang und
Klang nach dem Denkmal hinaus. Vor demſelben wird Kreis ge-
ſchloſſen, der Hakenberger Geiſtliche tritt in die Mitte und hält
eine kurze Anſprache an die Kinder, worin er ſie auffordert, gute
[167] Preußen und gute Brandenburger zu ſein, und wenn es Noth
thut, an jedem Tag im Jahre ſo brav und tapfer zu Land und
Thron zu ſtehen, wie am 18. Juni 1675 ihre Väter hier geſtan-
den haben. Dann giebt es ein Hurrah und Mützenſchwenken, und
Muſik vorauf, gemeinhin nach den Klängen des „alten Deſſauers“
marſchiren nun Alt und Jung über das eigentliche Schlachtfeld
hinweg, jener Hügelreihe zu, die nach Süd-Oſten hin, den ziem-
lich ſchmalen Streifen, auf dem gekämpft wurde, begränzt. Die
höchſte dieſer Hügelkuppen, kahl und unſcheinbar und nur im
Hintergrunde von einigen Pappeln überragt, heißt der Kurfürſten-
berg, weil von ihm aus der Kurfürſt den Angriff und die Bewe-
gungen der Schlacht leitete. Auf dieſem und dem benachbarten
Froben-Hügel macht man Halt, und unter allerhand Turner-
ſpielen, mit Ringen und Laufen, Springen und Klettern verbringt
die Jugend den Tag, bis ſpät am Nachmittag der Rückzug in
die Städte und Dörfer beginnt.
Das iſt ein Volksfeſt im beſten Sinne des Worts, beſſer
als unſere großſtädtiſchen Feſtzüge, denen jeder geiſtige Mittelpunkt
(wenn ſie ihn jemals hatten) längſt abhanden gekommen iſt. Es
gibt nichts kläglicheres, als die Volksluſtbarkeiten unſerer Reſidenzen,
als der „Stralauer Fiſchzug“ und alles, was ihm ähnlich ſieht.
In unſern kleinen Städten aber ſteckt noch ein guter und ge-
ſunder Reſt von Volks- und Kinderfeſten, und jeder, der ihnen
beiwohnt, wird ſich erheitert und gehoben fühlen. Man wirft un-
ſerem norddeutſchen Leben vor, daß es nüchtern ſei und des poe-
tiſchen Schwunges entbehre. Das iſt in gewiſſem Sinne wahr.
Es fehlt uns das Bunte der Coſtüme und das Couliſſenwerk einer
Wald- und Bergnatur, und weil wir dieſer Requiſiten entbehren,
mag bis zu einem gewiſſen Grade die Luſt und die Fähigkeit in
uns verkümmert ſein, ein Schauſpiel im großen Stile aufzuführen.
Es fehlt uns außerdem die katholiſche Kirche, die große Lehr-
meiſterin der Feſtzüge und Proceſſionen. Zugegeben das. Aber ein
neues Volk, wie wir ſind, deſſen Traditionen über den Tag von
Fehrbellin kaum hinausreichen, hat ſich hierzulande eben alles
[168] abweichend von dem ſonſt Ueblichen geſtaltet, und mit einem ganz
neuen Lebensinhalt iſt eine neue Art von Volkspoeſie, mit dieſer
Poeſie aber eine neue Art von Volksfeſten geſchaffen worden.
Das Soldatiſche hat ſich zum poetiſchen Inhalt unſeres
Volkslebens ausgebildet. Wir feiern Dennewitz und Groß-
beeren, und wenn wir an maleriſchem Effekt und an gutem Humor
hinter den Volksfeſten des Rheins und der Donau zurück bleiben
mögen, ſo haben wir vielleicht einen beſtimmteren Inhalt, einen
geiſtigeren Mittelpunkt vor ihnen voraus. Es iſt ein Unterſchied,
ob man in hundert lang beſpannten Wagen auf die Thereſien-
wieſe fährt, um den König Gambrinus und vor allem ſich ſelber
leben zu laſſen, oder ob man ernſt und ſchmucklos ſich auf den
Kunersdorfer Höhen lagert, um den Jahrestag einer unglücklichen
Schlacht zu begehen und die Stelle aufzuſuchen, wo Prittwitz den
ſchon verlorenen König in die Mitte ſeiner Huſaren nahm. Wir
verachten den König Gambrinus und ſeine Feier nicht, aber man
ſoll auch unſere Art und Weiſe gelten laſſen.
Wir verließen nun das Denkmal, beſchrieben auf dem Rück-
wege zunächſt einen Bogen, um vom Kurfürſtenberge aus noch-
mals einen Ueberblick über das Schlachtfeld zu haben, und begaben
uns dann nach Dorf Hakenberg, wo unſer hiſtoriſcher Forſcher-
eifer den Geiſtlichen, von deſſen Freundlichkeit wir allerhand Auf-
ſchlüſſe und Anekdoten erwarteten, bei Tiſche unterbrach. Er ließ
uns dieſe Störung nicht entgelten und war ſogar freundlich genug,
das, was er an hiſtoriſchen „Koſthäppchen“ uns beim beſten Willen
nicht bieten konnte, durch eine freundliche Einladung zum Mittag-
eſſen ausgleichen zu wollen. Wir lehnten ab und machten ſtatt
deſſen einen Spaziergang über den reizend gelegenen Hügelkirchhof,
auf deſſen höchſter Spitze ſich der Backſteinbau einer alten gothi-
ſchen Kirche mit halb eingeſtürztem Dach erhebt. Dieſe Kirche, wie
wir ſpäter vernahmen, geht einem gründlichen Umbau entgegen,
der mit beſonderer Rückſichtnahme auf den Fehrbelliner Schlachttag
geleitet werden ſoll. Der Thurm wird weſentlich erhöht und nach
Art alter Caſtellthürme mit vier Seitenthürmchen geſchmückt wer-
[169] den, die wie eben ſo viele Ausluge (look-outs) aus der Mauer-
zinne hervorſpringen ſollen. Von dieſen Thürmchen aus wird man
dann nach allen Seiten hin einen prächtigen Ueberblick über das
Luch und das Höhenland haben, bis Cremmen und Oranienburg,
bis Nauen und Ruppin. Auch das Innere der Kirche wird mit
beſonderer Rückſicht auf den Schlachttag reſtaurirt und mit Votiv-
und Erinnerungstafeln geſchmückt werden. Wenn ich nicht irre,
ſind auf dem Hakenberger Kirchhof einige hervorragende Führer,
die bald nach der Schlacht ihren Wunden erlagen, begraben wor-
den, und ein gemeinſchaftliches Grabmonument zu Ehren dieſer
würde vielleicht die beſte Gelegenheit zu einer Inſchrift und Mah-
nung bieten. Kommt dieſer Plan zur Ausführung, ſo wird die
Kirche zu Hakenberg über kurz oder lang zu einem Wallfahrts-
platz unſerer Mark, zu einem Zielpunkt für Turnerfahrten und
Schulexcurſionen werden. Fehrbellin und das Luch, der alte Fried-
hof und ſeine Kirche, der Kurfürſtenberg und das Denkmal, dar-
aus baut ſich ſchon ein Stück Intereſſe auf, und die Marmor-
tafeln, die dann beim Eintritt in die Kirche von Derffling und
Froben, von Treffenfeld und dem Prinzen von Heſſen-Homburg
melden werden, werden aus dem kleinen Sagenkreis einen Zauber-
kreis für junge Herzen ſchaffen.
Ich mag nicht ſchließen, ohne meiner Schilderung eine kurze
Legende hinzugefügt zu haben, die, an den Fehrbelliner Schlacht-
tag anknüpfend, zugleich den Hang zum Legendenhaften zeigt,
der, wie die Freude am Mährchen und an der Sage, im Herzen
jedes unverbrauchten Volkes lebt.
In alten Zeiten, wo innerhalb der Kirche das ganze geiſtige
Leben des Volkes lag, wuchs auch die Legende nur auf kirchlichem
Boden, und der Heiland und ſeine Jünger, die Heiligen und
fromme Mönche hatten das ſchöne Vorrecht, die Träger einer
ſolchen Legende zu ſein. Der märkiſche Boden hat nicht Zeit ge-
habt, ſolche Legenden zu zeitigen, denn die katholiſche Kirche hat
es nie zu einer Glanz- und Blüthenzeit auf dieſem Boden ge-
bracht. Kaum ſiegreich über die heidniſchen Wenden, kaum feſt
[170] geworden in ihrem Beſitz, ſah ſie ſchon die Zeit des Verfalls kom-
men, die unmöglich Blumen hervorbringen konnte, wie ſie immer
nur auf dem Boden des Glaubens und eines unerſchütterten Ver-
trauens gewachſen ſind. Die Marken, wenn man den Ausdruck
geſtatten will, wurden um ihre Legendenzeit betrogen, wie manche
Kinder um ihre Jugend betrogen werden; aber in derſelben Weiſe,
wie Kinder, die nie Kinder ſein durften, in ſpäteren Lebensjahren
ein rührendes Verlangen zeigen, ſpielen und „dalbern“ zu können,
in derſelben Weiſe, ſcheint es, haben die Brandenburger ſich ſchad-
los zu halten geſucht.
Sie haben ihre Lieblingsfürſten unter den Hohenzollern zu
halb ſagenhaften Geſtalten ausgebildet und ſie zu Trägern lieb-
licher Legenden gemacht. Die Geſchichte von Froben gehört theil-
weis hieher; ſie iſt eine Sage, die nur da entſtehen konnte, wo
die „Treue“ wie eine Pflicht und ein Bedürfniß im Herzen des
Volks empfunden wurde. Die Geſchichte vom Hakenberger Bauern-
kind aber geht noch einen Schritt weiter und nimmt völlig den
Charakter und die Formen einer Legende an.
Der Kurfürſt, als er zur Schlacht ritt, ſo erzählt die Legende,
kam durch Hakenberg. Das Dorf war ausgeſtorben und leer, nur auf
der Schwelle eines Hauſes ſaß ein dreijähriger Blondkopf, den die
fliehenden Dörfler, in der Haſt und Unruhe des Augenblicks im Dorf
zurückgelaſſen hatten. Er ſtreckte die Händchen nach dem Fürſten aus.
Der Kurfürſt hielt ſein Pferd an, bückte ſich tief, hob das Kind auf
und ſetzte es vorn auf ſeinen Sattel. „Wirſt ſchon jemand finden,“
dachte er, „der ſich ſeiner annimmt.“ So ritt er aus dem Dorf.
Aber da war niemand, der Luſt gehabt hätte, ſich des Kleinen
anzunehmen; die ſchwediſchen Geſchütze ſchickten bereits Kugel auf
Kugel herüber und der Kurfürſt ſelbſt vergaß des Kindes, das
ruhig und furchtlos auf der Sattelkruppe ſaß. Das Regiment
Mörner kam eben vorüber und der Kurfürſt ſetzte ſich an ſeine
Spitze. Die Brandenburger hieben ſich wacker durch das Regiment
Dalwigk hindurch und die Schweden flohen. Als der Kampf vor-
über war und Kurfürſt Friedrich Wilhelm ſich im Sattel hob,
[171] um aufathmend dem Gott der Schlachten für dieſen Sieg zu dan-
ken, ſah er den Blondkopf, der, mit beiden Händen am Riemen-
werk des Panzers ſich feſthaltend, furchtlos zu ſeinem Retter auf-
blickte. Hier bricht die Legende ab. Der Kurfürſt hatte das Kind
und das Kind hatte den Kurfürſten gerettet, denn der Blondkopf,
der auf der Schwelle des Bauernhauſes ſaß, war deutungsreich
— der Schutzgeiſt der Hohenzollern.
[[172]]
Das Wuſtrauer Tuch.
Auf dieſe ſumpfgewordne Urwald-Stätte,
Wo ungeſtört das Leben mit dem Tod
Jahrtauſendlang gekämpfet um die Wette.
Lenau.’
Die große norddeutſche Ebene iſt reich an erlen-beſtandenen
Sumpfſtrecken, die entweder an den Ufern der Flüſſe oder inſel-
artig zwiſchen den Armen und Verzweigungen derſelben ſich hin-
ziehen und gemeinhin Brüche oder Bruchland genannt werden.
Jeder kennt das Weichſel- und das Oder-Bruch, — Fluß-Niede-
rungen, die durch die Fruchtbarkeit ihres Bodens und einen ent-
ſprechenden Reichthum ihrer Bewohner berühmt geworden ſind.
Das Havelland, — d. h. jene nach drei Seiten hin von
der Havel, im Norden aber vom Rhin-Fluß eingeſchloſſene Havel-
inſel, die das Herz der Brandenburgiſchen Lande bildet, — beſaß
ebenfalls ſolche erlenbeſtandene Sumpfſtrecken, die ſich aber bis
dieſen Tag, und zwar trotz der mannichfachſten Veränderungen
und Umbildungen eine Sonderbenennung erhalten haben. Sie führen
den Namen „das Luch“ und haben in der That vollen Anſpruch
auf eine unterſcheidende Bezeichnung, da ſie in Form und Art
von den fruchtbaren Flußniederungen anderer Gegenden vielfach
abweichen und z. B. ſtatt des Weizens und der Gerſte nur ein
mittelmäßiges Heu produciren. Im Großen und Ganzen darf man
vom „Luche“ ſagen, daß es weniger ſeine Producte, als vielmehr
[173]ſich ſelbſt zu Markte bringt — den Torf. Denn das Luch beſteht
großentheils aus Torf. Seitdem es aufgehört hat ein bloßer Sumpf
zu ſein, iſt es ein großes Gras- und Torfland geworden. Linum,
der Hauptſitz der Torfgräbereien, iſt das Newcaſtle unſerer Reſidenz.
Wie das Havelland den Mittelpunkt Alt-Brandenburgs bildet,
ſo bildet das Luch wiederum den Mittelpunkt des Havellandes.
Das letztere (d. h. alſo der Weſt- und Oſthavelländiſche Kreis)
iſt ohngefähr 50 Q.-Meilen groß; in dieſen 50 Q.-Meilen ſtecken
die 22 Q.-Meilen des Luch’s wie ein Kern in der Schale. Die
Form dieſes Kerns iſt aber nicht rund, auch nicht oval oder
elliptiſch, ſondern pilzförmig. Ich werde gleich näher beſchreiben,
wie dieſe etwas ungewöhnliche Bezeichnung zu verſtehen iſt. Jeder
meiner Leſer kennt jene Pilzarten mit kurzem dicken Stengel, die
ein breites ſchirmförmiges Dach und eine große kugelförmige Wurzel
haben. Man nehme den Längsdurchſchnitt eines ſolchen Pilzes und
klebe ihn auf ein kleines Quartblatt Papier, ſo wird man ein
ziemlich deutliches Bild gewinnen, welche Form „das Luch“ inner-
halb des Havellandes einnimmt. Gleich der erſte Blick wird dem
Beſchauer zeigen, daß das Luch aus zwei Hälften, aus einer
ſchirmförmig-nördlichen und einer kugelförmig-ſüdlichen beſteht, die
beide da, wo der kurze Strunk des Pilzes läuft, nah zuſammen-
treffen. Die ſchirmförmige Hälfte heißt das Rhin-Luch, die kugel-
förmige das Havelländiſche Luch. Das Verbindungsſtück zwi-
ſchen beiden hat keinen beſonderen Namen. Dies verhältnißmäßig
ſchmale, dem Strunk des Pilzes entſprechende Verbindungsſtück iſt
dadurch entſtanden, daß ſich von rechts und links her Sand-
plateau’s in den Luchgrund hineingeſchoben haben. Dieſe Sand-
plateau’s führen wohlgekannte Namen; das öſtliche iſt das im
vorigen Kapitel ſchon genannte „Ländchen Bellin,“ das weſtliche
heißt „Ländchen Frieſack.“ Dieſe beiden „Ländchen“ ſind alte
Sitze der Cultur, und ihre Hauptſtädte, Fehrbellin und Frieſack,
wurden ſchon genannt, als beide Luche, das Rhin-Luch wie das
Havelländiſche, noch einem See glichen, der in Sommerzeit zu
einem ungeſunden, unſicheren Sumpfland zuſammentrocknete.
[174]
Klöden hat den früheren Zuſtand dieſer Luchgegenden ſehr
ſchön und mit poetiſcher Anſchaulichkeit geſchildert. Er ſchreibt:
„es war eine wilde Urgegend, wie die Hand der Natur ſie gebildet
hatte, ein Seitenſtück zu den Urwäldern Südamerika’s, nur kleiner
und nicht Wald, ſondern Luch. Es zeigte damals in großer Aus-
dehnung, was kleinere Bruchflächen der Mark noch jetzt zeigen.
Weit und breit bedeckte ein Raſen aus zuſammengefilzter Wurzel-
decke von bräunlich-grüner Farbe die waſſergleiche Ebene, deren
kurze Grashalme beſonders den Riedgräſern angehören. In jedem
Frühjahr quoll der Boden durch das hervordringende Grundwaſſer
auf, die Raſendecke hob ſich in die Höhe, bildete eine ſchwimmende,
elaſtiſche Fläche, welche bei jedem Schritt unter den Füßen einſank,
während ſich ringsum ein flach trichterförmig anſteigender Abhang
bildete. Andere Stellen, die ſich nicht in die Höhe heben konnten,
ſogenannte Lanken, wurden überſchwemmt, und ſo glich das Luch
in jedem Frühjahr einem weiten See, über welchem jene Raſen-
ſtellen wie grüne, ſchwimmende Inſeln hervorragten, während an
anderen Stellen Weiden, Erlen und Birkengebüſch ſich im Waſſer
ſpiegelten, oder da, wo ſie auf einzelnen Sandhügeln, den ſoge-
nannten Horſten, gewachſen waren, kleine Wald-Eilande darſtell-
ten. Solcher Horſten gab es mehrere, von denen einige mitten im
Havelländiſchen Luche lagen. Die umliegenden Ortſchaften verſuchten
es, dem Luche dadurch einigen Nutzen abzugewinnen, daß ſie ihre
Kühe darin weiden ließen und das freilich ſchlechte und ſaure
Gras, ſo gut es ging, mäheten. Beides war nur mit großer Müh-
ſeligkeit zu erreichen. Das Vieh mußte häufig durch die Lanken
ſchwimmen, um Grasſtellen zu finden, oder es ſank in die weiche
Decke tief ein, zertrat dieſelbe, daß bei jedem Fußtritt der braune
Moderſchlamm hervorquoll, ja daß es ſich oft nur mit großer
Mühe wieder herausarbeitete. Oft blieb eine Kuh im Moraſte
ſtecken und ward nach unſäglicher Mühe kalt, kraftlos und krank
wieder heraus gebracht, oder wenn dies zu ſchwer hielt, an dem
Orte, wo ſie verſunken war, geſchlachtet und zerſtückt heraus-
getragen. Nur im hohen Sommer und bei trockener Witterung
[175] war der größte Theil des Luch’s zu paſſiren; dann mähte man
das Gras, allein nur an wenigen Stellen konnte es mittels Wagen
herausgebracht werden; an den meiſten mußte man es bis in den
Winter in Haufen ſtehen laſſen, um bei gefrornem Boden es ein-
zufahren. Unter allen Umſtänden war das Gras ſchlecht und eine
kümmerliche Nahrung. So wenig nutzbar dieſes Bruch für den
Menſchen und ſein Hausvieh war, ſo vortrefflich war es für das
Wild geeignet. In früheren Zeiten hauſten hier ſelbſt Thiere,
welche jetzt in der Mark nicht mehr vorkommen, wie Luchſe, Bären
und Wölfe. Beſonders aber waren es die Sumpfvögel, Kraniche und
Störche, welche hochbeinig in dieſem Paradieſe der Fröſche einher-
ſtolzirten und mit ihnen bewohnte die Waſſer ein unendliches
Heer von Enten aller Art, nebſt einer Unzahl anderer Waſſervögel.
Kibitze, Rohrſänger, Birkhähne, alles war da und in den Flüſſen
fanden ſich Schildkröten, wie allerhand Schlangen in dem mitten
im Luch gelegenen Zotzenwald.“
Im Rhin-Luch änderten ſich dieſe Dinge ſchon zu Anfang
des 16. Jahrhunderts; Gräben wurden gezogen, das Waſſer floß
ab und die Herſtellung eines Dammes quer durch’s Luch hindurch
wurde möglich. Wo ſonſt die Fehrbelliner Fähre, über Sumpf
und See hin, auf- und abgefahren war, erſtreckte ſich jetzt der
Fehrbelliner Damm. Das Jahr genau zu beſtimmen, wann dieſer
Damm gebaut wurde, iſt nicht mehr möglich; doch exiſtirt ſchon
aus dem Jahre 1582 eine Verordnung, in der von Seiten des
Kurfürſten Johann Georg „dem Capitul zu Cölln an der Spree,
den von Bredows zu Kremmen und Frieſack, den Bellins zu
Bellin und allen Zietens zu Dechtow und Brunne kund und zu
wiſſen gethan wird, daß der Bellin’ſche Fährdamm ſehr böſe
ſei und zu mehrerer Beſtändigkeit mit Steinen belegt
werden ſolle.“
Das große Havelländiſche Luch blieb in ſeinem Urzuſtand
bis 1718, wo unter Friedrich Wilhelm I. die Entwäſſerung
begann. Vorſtellungen von Seiten der zunächſt Betheiligten, die
ihren eigenen Vortheil, wie ſo oft, nicht einzuſehen vermochten,
[176] wurden ignorirt oder abgewieſen und im Sommer deſſelben Jahres
begannen die Arbeiten. Im Mai 1719 waren ſchon über 1000
Arbeiter beſchäftigt und der König betrieb die Canaliſirung des
Luch’s mit ſolchem Eifer, daß ihm ſelbſt ſeine vielgeliebten Soldaten
nicht zu gut dünkten, um mit Hand anzulegen. Zweihundert Gre-
nadiere, unter Leitung von zwanzig Unteroffizieren, waren hier in
der glücklichen Lage, ihren Sold durch Tagelohn erhöhen zu kön-
nen. Im Jahre 1720 war die Hauptarbeit bereits gethan, aber
noch fünf Jahre lang wurde an der völligen Trockenlegung
des Luch’s gearbeitet. Nebengräben wurden gezogen, Brücken und
Stau-Schleuſen angelegt, Dämme gebaut und an allen trocken
gelegten Stellen das Holz- und Strauchwerk ausgerodet. Die
Arbeiten waren zum großen Theil unter Anleitung holländiſcher
Werkführer und nach holländiſchen Plänen vor ſich gegangen.
Dies mochte den Wunſch in dem König anregen, mit Hülfe der
’mal vorhandenen Arbeitskräfte, aus dem ehemaligen Sumpf- und
Seelande überhaupt eine reiche, fruchtbare Colonie zu machen.
Der Plan wurde ausgeführt und das „Amt Königshorſt“ entſtand
an dem Nordrande des kreisförmigen Havelländiſchen Luch’s, ohn-
gefähr da, wo das vom Rhin-Luch abzweigende Verbindungsſtück
in das Havelländiſche Luch einmündet. Die Fruchtbarkeit freilich,
die dem eben gewonnenen Grund und Boden von Natur aus ab-
ging, hat kein Königlicher Erlaß ihm geben können; aber in allem
andern hat der „Soldatenkönig“ ſeinen Willen glücklich durchgeführt:
Königshorſt mit ſeinen platten, unabſehbaren Grasflächen, ſeinen
Gräben, Deichen und Alleen, erinnert durchaus an die hollän-
diſchen Landſchaften des Rhein-Delta. Hier wie dort iſt die grüne
Ebene der Wieſen und Weiden belebt von Viehheerden, die hier
gemiſchter Raçe ſind: Schweizer, Holländer, Oldenburger und Hol-
ſteiner.
Die Gewinnung guter Milch und Butter war von Anfang
an ein Hauptzweck geweſen, und es wurde demgemäß eine förm-
liche Lehr-Anſtalt für die Kunſt des Butterns und Käſemachens
eingerichtet, wohin die Beamten der Kurmärkiſchen Aemter eine
[177] Anzahl von Bauertöchtern, für deren gute Führung ſie verant-
wortlich waren, als Mägde zu ſchicken hatten. Dieſe Mägde wur-
den während eines zweijährigen Dienſtes in allem Nöthigen unter-
wieſen. Dann mußten ſie ohne Hülfe der Holländerin eine Probe
guter Butter bereiten, die der König ſelbſt zu prüfen nicht ver-
ſchmähte. Fiel die Prüfung zu Gunſten der betreffenden Magd
aus, ſo verlieh ihr der König einen Brautſchatz im Betrage von
100 Thlr. Dieſe Einrichtung hat bis zum Tode des Königs be-
ſtanden und zu ihrer Zeit reiche Früchte getragen, die noch heut
zu Tage nachwirkend ſind. Auch Friedrich II. widmete dem Amte
Königshorſt eine beſondere perſönliche Aufmerkſamkeit. Anfänglich
ließ er den größten Theil der dortigen Ländereien zu Fettweiden
benutzen, um die Einfuhr von ausländiſchem Schlachtvieh für den
Berliner Markt entbehrlich zu machen; in ſpäteren Regierungs-
jahren aber kehrte er ganz zu dem Benutzungsplan des Gründers
von Königshorſt zurück und ſtellte das von ſeinem Vater begrün-
dete Lehrinſtitut als „eine — wie der König in einem Erlaß vom
13. Mai 1780 ſich ausdrückte — ordentliche Akademie des Buter-
nachens“ wieder her. Bis dieſen Tag gilt die Königshorſter Butter
(Horſtbutter) in Berlin als die beſte. Eines fehlt ihr vielleicht —
das Aroma. Das Luchgras, was immer auch die Cultur zu ſeiner
Verbeſſerung gethan haben mag, kann nicht wetteifern mit dem
ſüßen, ſaftigen, kräuterreichen Gras der Nordſee-Marſchen. Noch
weniger iſt es geglückt, das Sandland der alten Horſten (Sand-
ſtellen im Sumpf) zu einem fruchtbaren Boden umzugeſtalten;
nur mühſam wird das Getreide gewonnen, das zum Unterhalt des
Viehſtandes nöthig iſt. Von der Bedeutung jener Entwäſſerungs-
arbeiten aber, die durch König Friedrich Wilhelm I. eingeleitet
wurden, wird man ſich am eheſten eine Vorſtellung machen können,
wenn man erfährt, daß die Geſammtlänge der im Luche befind-
lichen Gräben und Canäle über 71 Meilen beträgt. —
12
[178]
Das Havelländiſche Luch gehört, wie ſein Name bereits
angiebt, ganz und gar dem Havellande an, das Rhin-Luch zum
größten Theil. Nur alles, was nördlich vom Rhin liegt, darunter
vor allem das Wuſtrauer Luch, gehört noch dem Ruppinſchen
zu, und eben dieſem Wuſtrauer Luch gilt heute unſer Beſuch.
Wir beſchloſſen, vom Hakenberger Kirchhof aus, deſſen Hügel-
kuppe einen weiten Umblick geſtattet, in’s Wuſtrauſche Luch
hinabzuſteigen und daſſelbe, in nördlicher Richtung, bis zu dem
reichen Dorfe Langen, eine halbe Meile von Wuſtrau, zu durch-
ſchneiden. Fußwanderung und Kahnfahrt ſollten unter einander
abwechſeln.
Wir begannen mit einem kurzen Marſch bis zur nächſten
„Factorei.“ Es war ein heißer Tag und der blaue Himmel fing
an, kleine grauweiße Wölkchen zu zeigen, die immer nur verſchwan-
den, um an anderer Stelle wiederzukehren. Auf einem ſchmalen
Damm, der wenig mehr als die Breite eines Wagens haben
mochte, ſchritten wir hin. Alles mahnte an Torf. Ein feiner,
ſchnupftabakfarbener Staub umwirbelte uns; ſchwarze undurchſich-
tige Lache ſtand in den Gräben; die weite grüne Raſenfläche dehnte
ſich rechts und links, nur von Torfpyramiden unterbrochen; ja
ſelbſt die kümmerlichen Sträucher, darunter Ginſter und Beſen-
kraut, ſahen aus, als hätten ſie ſich gehorſamſt in die Farben
ihrer Herrſchaft gekleidet. Das Ganze machte den Eindruck eines
plötzlich an’s Licht geförderten Bergwerks, und ehe zehn Minuten
um waren, ſahen wir aus wie die Veteranen einer Knappſchaft.
Wir mochten eine halbe Stunde gewandert ſein, als wir bei
der „Factorei“ ankamen, deren rothe Dächer wir lange vor uns
gehabt hatten, ohne ſie erreichen zu können. Ich weiß nicht, ob
dieſe Etabliſſements, deren wohl zehn oder zwölf im Wuſtrauer
und Linum’ſchen Luche ſein mögen, wirklich den Namen Factoreien
führen, oder ob ſie ſich noch immer mit der alten Bezeichnung
Torfhütte behelfen müſſen. Jedenfalls ſind es „Factoreien“ und
drückt dieſes Wort am beſten die Art und Weiſe einer ſolchen
Luch-Colonie aus. Die Factorei, vor der wir uns jetzt befanden,
[179] lag wie auf einer Inſel, die von Gräben und Canälen, deren drei
oder vier hier zuſammentrafen, gebildet wurde. Sie beſtand aus
einem Wohnhaus, allerhand Stall- und Wirthſchaftsgebäuden, die
ſich darum gruppirten, und aus einer Reihe von Strohhütten, die
ſich, etwa 20 an der Zahl, an dem Hauptgraben entlang zogen.
Nach flüchtiger Begrüßung des Obermanns ſchritten wir zunächſt
dieſen Hütten zu. Sie bilden, nebſt hunderten ähnlicher Behauſun-
gen, die ſich hier und anderswo im Luche finden, die temporären
Wohnplätze für jene Tauſende von Arbeitern, die um die Sommer-
zeit die Höhendörfer der Umgegend verlaſſen, um auf etwa vier
Monate in’s Luch hinabzuſteigen und dort beim Torfſtechen ein
hohes Tagelohn zu verdienen. Die Dörfer, aus denen ſie kommen,
liegen leider viel zu weit vom Luch entfernt, als daß es den
Arbeitern möglich wäre, nach der Hitze und Mühe des Tages auch
noch heimzuwandern, und ſo iſt es denn Sitte geworden, zeit-
weilige Luchdörfer aufzubauen, eigenthümliche Sommerwohnungen,
in denen die Arbeiter die Torf-Saiſon verbringen. An dieſe Woh-
nungen, ſo viel deren dieſe eine Colonie aufweiſt, treten wir jetzt
heran.
Die Hütten ſtehen, behufs Lüftung, alle auf und geſtatten
uns einen Einblick. Es ſind große, vielleicht 30 Fuß lange Stroh-
dächer von verhältnißmäßiger Höhe. An der Giebelſeite, wo die
Dachluke hingehören würde, befindet ſich die Eingangsthür; gegen-
über, am andern Ende der Hütte, gewahren wir ein offen ſtehendes
Fenſterchen. Zwiſchen Thür und Fenſterchen läuft ein ſchmaler,
tennenartiger Gang, der etwa dem gemeinſchaftlichen Hausflur eines
Hauſes entſpricht. An dieſen Flur grenzen von jeder Seite vier
Wohnungen, d. h. vier niedrige, kaum einen Fuß hohe Hürden
oder Einfriedigungen, die mit Stroh beſtreut ſind und als Schlaf-
und Wohnplätze für die Torfarbeiter dienen. Wie viele Perſonen
in ſolcher Hürde Platz finden, vermag ich nicht beſtimmt zu ſagen,
jedenfalls aber genug, um auch bei Nachtzeit ein Offenſtehen von
Thür und Fenſter als ein dringendes Gebot erſcheinen zu laſſen.
Es war um die Mittagsſtunde, und wir fanden ein halbes Dutzend
12*
[180] Leute, die theils ſich ausruhten, theils ihr Mittagsmahl verzehrten.
Wir knüpften ein Geſpräch an und erfuhren Folgendes. Die Arbeit
iſt ſchwer und ungeſund, aber einträglich, beſonders für geübte
Arbeiter, die mittels ihrer Geſchicklichkeit das Accord-Quantum
täglich überſchreiten und ihre Arbeits-Ueberſchüſſe bezahlt bekommen.
Drei Arbeiter bilden immer eine Einheit und als das Durchſchnitts-
quantum, das ſie täglich zu liefern haben, gelten 13000 Stück
Torf. Leiſten ſie das, ſo haben ſie einen mittleren Tagelohn ver-
dient, der aber immer noch beträchtlich über das hinausgeht, was
für Feldarbeit in den Dörfern bezahlt zu werden pflegt. Gute
Arbeiter aber (immer jene drei als Einheit gerechnet) bringen es
bis zu 20,000 Stück, was, den Tag zu 10 Arbeitsſtunden feſt-
geſetzt, etwa 2 Secunden für die Gewinnung eines Stückes Torf
ergiebt. Ueber dieſe Producirung ſei noch ein Wort geſagt. Man
hat es eine Zeit lang mit Maſchinen verſucht, iſt aber längſt zur
Handarbeit, als zu dem raſcheren und einträglicheren (auch für die
Unternehmer) zurückgekommen. Das Verfahren iſt außerordentlich
einfach. Drei Perſonen und drei verſchiedene Inſtrumente ſind
nöthig: ein Schneide-eiſen, ein Grabſcheit und eine Gabel. Das
Schneide-eiſen iſt die Hauptſache; es gleicht einem Grabſcheit, das
zwei kurz vorſpringende Flügel hat, ſo daß man beim Eindrücken
deſſelben drei Schnitte a tempo macht. Die Arbeiter ſtehen nun
vor einem langen Torfgraben, deſſen Wand glatt und ſteil abfällt.
Zwei Arbeiter ſtehen in dem Graben; der dritte, mit dem Schneide-
eiſen, auf der Wandung deſſelben. Dieſer ſetzt nun das Eiſen ein,
drückt von oben her das Torfmeſſer in den Grabenrand und
ſchneidet dadurch ein fix und fertiges Torfſtück heraus, das nur
noch nach unten zu feſthaftet. In demſelben Augenblick, wo er das
Schneide-eiſen wieder hebt, um es dicht daneben in den Boden zu
drücken, ſticht der im Graben ſtehende Mann mit dem Grabſcheit
das Stück Torf los und präſentirt es, wie ein vom Teller gelöſtes
Stück Kuchen, dem dritten. Dieſer ſpießt es mit einer großen
Eiſengabel auf und legt es ſchichtweis bei Seite, ſo daß ſich binnen
Kurzem die bekannte Torfpyramide aufbaut.
[181]
Wir ſchritten nun zu dem eigentlichen Factorei-Gebäude zu-
rück; es theilt ſich in zwei Hälften, in ein Bureau und eine Art
Bauernwirthſchaft. An der Spitze des Comtoirs ſteht ein Geſchäfts-
führer, ein Vertrauensmann der „Torflords,“ der die Wochen-
löhne zu zahlen und das Kaufmänniſche des Betriebs zu leiten
hat. Er iſt nur ein Sommergaſt an dieſer Stelle, eben ſo wie die
Arbeiter, und kehrt, wenn der Herbſt die Arbeiten unterbricht, für
die Wintermonate nach Linum oder Fehrbellin zurück. Nicht ſo
der Obermann, der Torfmeier, dem Haus und Hof gehören, in
das wir ſo eben wieder eingetreten ſind. Er iſt hier zu Haus,
jahraus, jahrein, und nimmt ſeine Chancen, je nachdem ſie fallen,
gut oder ſchlecht. Der Novemberſturm deckt ihm vielleicht das Dach
ab, der Winter ſchneit ihn ein, der Frühling bringt ihm Waſſer
ſtatt Blumen und macht ſein Gehöft zu einer Inſel im See; aber
was auch kommen mag, der Obermann trägt es in Geduld und
freut ſich auf den Sommer, wie ſich Kinder auf Weihnachten
freuen. Dabei liebt er das Luch; er ſpricht von Weizenfeldern,
wie wir von Italien ſprechen, er bewundert ſie als etwas Hohes
und Großes; aber ſein Herz hängt nur am Luch und an der wei-
ten, grünen Ebene, auf der, wie ein Lagerplatz, den die Unter-
irdiſchen verlaſſen haben, der Torf in ſchwarzen Zelten ſteht.
Der Obermann hieß uns zum zweiten Mal willkommen und
rief ſeine Frau, die uns freundlich-verlegen die Hand ſchüttelte.
Beide Leute, wiewohl eher hübſch als häßlich, zeigten jene leder-
farbene Magerkeit, die mir ſchon früher in Sumpfgegenden, nament-
lich auch bei den Bewohnern des Spreewaldes, aufgefallen war.
Die blanke, ſtraffe Haut ſah aus, als wäre ſie über das Geſicht
geſpannt. Die Frau verließ uns wieder, um in der Küche nach
dem Rechten zu ſehen, und ließ uns Zeit, das Zimmer zu muſtern,
in dem wir uns befanden. Es war, wie Märkiſche Bauerſtuben
zu ſein pflegen: zwei Silhouetten von Mann und Frau unter
gemeinſchaftlichem Glas und Rahmen; zwei Preußiſche Prinzen
daneben und ein rother Huſar darunter; — die Katze machte einen
krummen Rücken und ſtreifte mit ihrem Fell an allen vier Tiſch-
[182] beinen vorbei; der flachsköpfige Sohn verbarg ſeine Verlegenheit
hinter dem Kachelofen, und die Wanduhr, auf deren großem Ziffer-
blatt Amor und Pſyche vertraulich nebeneinander lehnten, unter-
brach einzig und allein die langen Pauſen der Unterhaltung. Denn
der Obermann war kein Sprecher.
Endlich trat die Magd ein, um den Tiſch zu decken. Sie
öffnete die kleinen Fenſter, und zugleich mit der Sonne drangen
jetzt Hahnenſchrei und Entengeſchnatter in’s Zimmer; war doch
das Flügelvolk des Hofes ſeit lange daran gewöhnt, ein dankbares
Hoch auszubringen, ſo bald das rothe Halstuch der Köchin an
Thür oder Fenſter ſichtbar wurde. Nun kam auch der Flachskopf
aus ſeinem Verſteck hervor und ſtellte Stühle um den Tiſch herum;
eine Flaſche Wein aus unſerem Reiſeſack vollendete die Vorberei-
tungen. Das Mahl ſelbſt war ganz im Charakter des Luchs: erſt
Kibitz-Eier, dann wilde Enten und ſchließlich ein Kuchen aus
Haidemehl, deſſen Buchweizen auf den Sandſtellen des Luches
ſelbſt gewachſen war. Wir ließen den Obermann leben und wünſch-
ten ihm guten Torf und gute Kinder. Aber kein Glück iſt voll-
kommen; als wir um ein Glas Waſſer baten, brachte man uns
ein Glas Milch; das Luch ſteckt zu tief im Waſſer, um — Trink-
waſſer haben zu können.
Bald nach Tiſch nahmen wir Abſchied und ſtiegen in ein
bereit liegendes Boot, um unſere Waſſerreiſe durch das Herz des
Luches anzutreten. Der Himmel, der bis dahin zwiſchen grau und
blau gekämpft hatte, wie Einer, der ſchwankt, ob er lachen oder
böſe werden ſoll, hatte ſich inzwiſchen völlig grau umzogen und
drohte unſerer Waſſerfahrt einen ausgedehnteren und allgemeineren
Charakter zu geben, als uns lieb ſein konnte. Dennoch verbot ſich
ein längeres Zögern, und unter Hut- und Mützenſchwenken ging
es dahin. Es war eine Vorſpann-Reiſe: kein Ruderſchlag fiel
in’s Waſſer, keine Bootmannskunſt wurde geübt; Ruderer und
Steuermann waren durch einen graukitteligen, hochſtiefligen Torf-
arbeiter vertreten, der ein Riemenzeug um den Leib trug und mit-
tels eines am Maſt befeſtigten Strickes uns raſch und ſicher die
Waſſerſtraße hinaufzog. Gemeinhin trabte er links von uns den gras-
[183] bewachſenen, niedrigen Damm entlang; ſo oft wir aber in einen
rechts hin abzweigenden Graben einbiegen mußten, ließ er das
Boot links auflaufen, ſprang hinein, ſetzte ſich als ſein eigener
Fährmann über und trat dann am anderen Ufer die Weiterreiſe
an. Eine andere Unterbrechung machten die Brücken. Dieſelben
ſind zahlreich im Luch, wie ſich bei 71 Meilen Canal-Verbindung
denken läßt, und von allereinfachſter aber zweckentſprechendſter Con-
ſtruction. Ein dicker, mächtiger Baumſtamm unterhält die Verbin-
dung zwiſchen beiden Ufern und würde wirklich ohne alle weitere
Zuthat die ganze Ueberbrückung ausmachen, wenn nicht die vielen
mit Maſt und Segel des Weges kommenden Torfkähne es nöthig
machten, daß man den im Wege liegenden Brückenbalken auch ohne
Mühe beſeitigen könne. Zu dieſem Behuf ruhen die Balken auf
einer Art Drehſcheibe, und die Kraft zweier Hände reicht völlig
aus, den Brückenbaum nach rechts oder links hin aus dem Wege
zu ſchaffen.
Die unzähligen Waſſerarme, die das Grün durchſchneiden,
geben der Landſchaft viel von dem Charakter des Spreewaldes
und erinnern uns mehr denn einmal an das Netz von Gräben
und Canälen, das die fruchtbaren Landſtriche zwiſchen Lehde und
Leipe, den beiden Dörfern des Spreewaldes, durchzieht. Aber bei
aller Aehnlichkeit haben das Luch und der Spreewald doch ihre
Sonderzüge, die beide Sumpfgegenden wieder weſentlich von ein-
ander ſcheiden. Der Spreewald iſt bunter, reicher, ſchöner; in ſei-
ner Grundanlage dem Luch allerdings verwandt, hat das Leben doch
überall Beſitz von ihm genommen und hat ſeine heiteren Bilder
in den einfach grünen Teppich eingewoben. Dörfer tauchen auf,
bunte Kähne gleiten den Fluß entlang, Blumen ranken ſich um
Haus und Hütte, und weidende Heerden und ſingende Menſchen
unterbrechen die Stille, die auf der Landſchaft liegt. Nicht ſo im
Luch. Der einfach grüne Grund des Teppichs iſt noch ganz er
ſelbſt geblieben; das Leben iſt nur ein Gaſt hier, und der Menſch,
ein paar Torfhütten und ihre Bewohner abgerechnet, ſtieg in die-
ſen Moorgrund nur hinab, um ihn auszunutzen, nicht um auf
ihm zu leben. Einſamkeit iſt der Charakter des Luch’s. Nur vom
[184] Horizont her, faſt wie Wolkengebilde, blicken Dörfer und Thürme
in die grüne Oede hinein; Gräben, Gras und Torf dehnen ſich
endlos in’s Weite, und nichts Lebendes unterbricht die Stille des
Orts, als die unheimlichen Pelotons der von rechts und links in’s
Waſſer ſpringenden Fröſche, oder das Kreiſchen der wilden Gänſe,
die über das Luch hinziehen. Von Zeit zu Zeit ſperrt ein Torf-
kahn den Weg ab und weicht endlich mürriſch zur Seite, um unſer
Boot vorbei zu laſſen. Kein Schiffer wird ſichtbar, eine räthſel-
hafte Hand lenkt das Steuer des Kahns, und wir fahren mit
ſtillem Grauen an dem häßlichen alten Schuppen-Thier vorbei, als
ſei es ein Torf-Ichthyoſaurus, ein alter Beherrſcher dieſes Luch’s,
der ſich noch beſönne, ob er der neuen Zeit und dem Menſchen
das Feld räumen ſolle oder nicht.
So waren wir bis in die Mitte des Luch’s gekommen. Die
Kirchthürme an der Südſeite waren uns aus dem Geſicht ver-
ſchwunden und die Dörfer, die am Nordrand liegen, ließen noch
auf ſich warten. Da brach das Gewitter los, das ſeit drei Stun-
den um das Luch herum ſeine Kreiſe gezogen und geſchwankt hatte,
ob es auf der Höhe bleiben, oder in die Niederung des Luch’s
hinabſteigen ſollte. Die Luch-Gewitter erfreuen ſich des beſten Rufs;
ſie kommen ſelten aber gut. Ein ſolches Wetter entlud ſich jetzt
über uns. Kein Haus, kein Baum, kein Strauch in Näh’ und
Ferne: ſo war es das Beſte, die Reiſe fortzuſetzen, als läge
Sonnenſchein rundum. Der Regen fiel in Strömen, unſer einge-
ſchirrter Torfarbeiter that ſein Beſtes und trabte gegen Wind und
Wetter an. Der Boden wurde immer glitſchiger und mehr denn
einmal ſank er in die Knie; aber raſch war er wieder auf und
unverdroſſen ging es weiter. Wir ſaßen derweilen ſchweigſam da,
bemaßen das Waſſer im Boot, das von Minute zu Minute ſtieg
und blickten alsbald nicht ohne Neid auf den vor uns her traben-
den Graukittel, der in der Luſt des Kampfs Gefahr und Noth
vergeſſen mochte, während wir in der Lage von Reſerve-Bataillonen
waren, die Gewehr bei Fuß daſtehen müſſen, wenn die Kugeln
einſchlagen und ihre Wirkung thun.
Jeder hat ſolche Situation durchgemacht und kennt die faſt
[185] gemüthliche Reſignation, die ſchließlich über einen kommt. Mit dem
Moment, wo man die letzte trockne Stelle naß werden fühlt, fühlt
man auch, daß das Wetter ſeinen letzten Pfeil verſchoſſen hat und
daß es nur beſſer werden kann, aber nicht ſchlimmer. Lächelnd
ſaßen wir jetzt da, nichts vor uns, als den grünen Streifen des
Luch’s, der mit dem Grau von Regen und Himmel in eins ver-
ſchwamm, und ſahen dem Tropfentanze zu, als ſtänden wir am
Fenſter und freuten uns der Waſſerblaſen auf Teich und Tümpel.
Endlich hielten wir; wir hatten den Nordrand des Luch’s erreicht,
und die Sonne, die eben ſich wieder durchkämpfte und ihren
Friedensbogen über das Luch warf, vergoldete den hübſchen
Thurm des Dorfes Langen und zeigte uns den Weg. In weni-
gen Minuten hatten wir das Wirthshaus erreicht, beſtellten, in
faſt beſchwörendem Ton, „einen allerbeſten Kaffee,“ und baten um
die Erlaubniß, am Küchenfeuer Platz nehmen und unſere Garde-
robe ſtückweiſe trocknen zu dürfen. Wir traten in die große, alt-
modiſche Küche mit dem rieſigen Herd, dem offenen Feuer und
dem Hängekeſſel über demſelben. Der Rauchfang war mit kupfer-
nem Geſchirr und die rothen Wände mit Fliegen bedeckt. Die
Sonne ſtand jetzt brennend über dem Haus und drückte von Zeit
zu Zeit den Rauch in die Küche hinein. Wir achteten deſſen wenig;
von Minute zu Minute ward uns beſſer. Eine braune weitbäuchige
Kanne ſtand bereits auf dem Herd, und die Alte, die, eine große
Kaffeemühle zwiſchen den Knieen, mit wunderbarem Ernſt die
Kurbel gedreht und Kreiſe beſchrieben hatte, erhob ſich jetzt von
ihrem Schemel, um das braune Pulver in den Trichter zu ſchüt-
ten. Die Magd mit dem Hängekeſſel war zur Hand, und im näch-
ſten Augenblick ziſchte das Waſſer und trieb die braunen Schaum-
blaſen hoch über den Rand. Wir ſtanden umher und ſogen begierig
den aromatiſchen Duft ein. Alles Fröſteln war vorbei, und Taſſe
und Herdfeuer vor uns, auf Stuhl und Schemel uns wiegend,
plauderten wir vom Luch, als wären wir eben den Kanſas-River
hinauf gefahren oder hätten die ungeheure Prairie in ihrer ganzen
Länge durchritten.
[[186]][[187]]
Der Barnim.
[[188]][[189]]
Tegel.
Unter den vielen hübſch gelegenen Dörfern, die den Stadtrayon
von Berlin nach allen Seiten hin umzirken, ſteht das Dörfchen
Tegel, ſowohl ſeiner reizenden Lage wie ſeiner hiſtoriſchen Erinne-
rungen halber, vielleicht oben an. Jeder kennt es als das Beſitz-
thum der Familie Humboldt. Das berühmte Brüderpaar, das
dieſem Fleckchen märkiſchen Sandes auf Jahrhunderte hin eine
Bedeutung leihen und es zur Pilgerſtätte für Tauſende machen
wird, ruht dort gemeinſchaftlich zu Füßen einer granitenen Säule,
von deren Höhe die Geſtalt der „Hoffnung“ auf die Gräber beider
hernieder blickt.
Tegel liegt anderthalb Meilen nördlich von Berlin. Wer ſei-
nen Füßen einigermaßen vertrauen kann, thut gut, die ganze Tour
zu Fuß zu machen. Die erſte Hälfte des Weges führt durch die
volkreichſte und vielleicht intereſſanteſte der Berliner Vorſtädte, durch
die ſogenannte Oranienburger Vorſtadt, die ſich, weite Strecken
Landes bedeckend, aus Bahnhöfen und Kaſernen, aus Kirchhöfen
und Eiſengießereien zuſammenſetzt. Dieſe vier heterogenen Elemente
drücken dem ganzen Stadttheil ihren Stempel auf; das Privat-
haus iſt nur in ſo weit gelitten, als es jenen vier Machthabern
dient. Leichenzüge und Bataillone mit Sang und Klang folgen
ſich in raſchem Wechſel oder begrüßen ſich einander; dazwiſchen
[190] gellt der Pfiff der Locomotive und über den Schloten und Schorn-
ſteinen weht die bekannte ſchwarze Fahne. Hier befinden ſich, neben
der Königlichen Eiſengießerei, die großen Etabliſſements von Egels
und Borſig, und während dem Vorübergehenden die endloſe Menge
der Bauten imponirt, verweilt er mit Staunen und Freude zu-
gleich bei dem feinen Geſchmack, bei dem Sinn für das Schöne,
der es nicht verſchmäht hat, hier in den Dienſt des Nützlichen zu
treten.
So zieht ſich die Oranienburger Vorſtadt bis zur Panken-
brücke; jenſeits derſelben verändert die Vorſtadt ihren Namen und
ihren Charakter. Der ſogenannte „Wedding“ beginnt und an die
Stelle der Fülle, des Reichthums, des Unternehmungsgeiſtes treten
die Bilder jener proſaiſchen Dürftigkeit, wie ſie dem märkiſchen
Sande urſprünglich eigen ſind. Kunſt, Wiſſenſchaft, Bildung haben
in dieſem armen Lande einen ſchwereren Kampf gegen die wider-
ſtrebende Natur zu führen gehabt, als vielleicht irgend wo anders,
und in geſteigerter Dankbarkeit gedenkt man jener Reihenfolge or-
ganiſatoriſcher Fürſten, die ſeit anderthalb Jahrhunderten Land
und Leute umgeſchaffen, den Sumpf und den Sand in ein Frucht-
land verwandelt und die Rohheit und den Ungeſchmack zur Sitte
und Bildung herangezogen haben. Aber die alten, urſprünglichen
Elemente leben noch überall, grenzen noch an die Neuzeit oder
drängen ſich in die Schöpfungen derſelben ein, und wenige Punkte
möchten ſich hierlandes finden, die ſo völlig dazu geeignet wären,
den Unterſchied zwiſchen dem Sonſt und Jetzt, zwiſchen dem Ur-
ſprünglichen und dem Gewordenen, ſo auf einen Schlag zu zeigen,
als die Stadttheile dieſſeits und jenſeits des Flüßchens, das wir
ſo eben überſchritten haben.
Die Oranienburger Vorſtadt in ihrer jetzigen Geſtalt iſt das
Kind einer neuen Zeit und eines neuen Geiſtes; der „Wedding“
aber, der nun vor und neben uns liegt, iſt noch im Einklang mit
dem alten nationalen Bedürfniß, mit den landesüblichen Anforde-
rungen einer früheren Epoche gebaut. Was auf faſt eine halbe
Meile hin dieſen ganzen Stadttheil charakteriſirt, das iſt die völlige
[191] Abweſenheit alles deſſen, was wohlthut, was gefällt. In erſchrecken-
der Weiſe fehlt der Sinn für das Maleriſche. Die Häuſer ſind
meiſt in gutem Stand; nirgends die Zeichen ſchlechter Wirthſchaft
und des Verfalls; die Dachziegel weiſen keine Lücke auf und keine
angeklebten Streifen Papier verkürzen dem Glaſer ſein Recht und
ſeinen Verdienſt; das Holzgitter, das Haupt- und Nebengebäude
umzieht, iſt wohl erhalten und der junge Baum, der in der Nähe
der Hausthür ſteht, hat ſeinen Pfoſten, daran er ſich lehnt, und
ſeinen Baſt, der ihn hält. Ueberall ein Geiſt mäßiger Ordnung,
mäßiger Sauberkeit, überall das Beſtreben, ſich nach der Decke zu
ſtrecken und durch Fleiß und Sparſamkeit ſich weiter zu bringen,
aber nirgends das Bedürfniß, das Schöne, das erhebt und erfreut,
in etwas anderem zu ſuchen, als in der Neuheit eines Anſtrichs,
oder in der Geradlinigkeit eines Zauns. Man will keine Schwalbe
am Sims — ſie bringen Ungeziefer; man will keinen Epheu am
Haus — er ſchädigt das Mauerwerk; man will keine Bäume in
Hof und Garten — ſie machen feucht und halten das Licht ab;
man will nicht Laube, nicht Veranda — was ſollte man damit?
Nützlichkeit und Nüchternheit herrſchen ſouverain und nehmen der
Erſcheinung des Lebens allen Reiz und alle Farbe. Grün und
gelb und roth wechſeln die Häuſer und liegen doch da wie einge-
taucht in ein allgemeines, troſtloſes Grau.
Den kläglichſten Anblick aber gewähren die ſogenannten Ver-
gnügungsörter. Man erſchrickt bei dem Gedanken, daß es möglich
ſein ſoll, an ſolchen Plätzen das Herz zu erlaben und zu neuer
Wochenarbeit zu ſtärken. Wie Ironie tragen einige die Inſchrift:
„Zum freundlichen Wirth.“ Man glaubt ſolcher Inſchrift nicht;
wer könnte freundlich ſein in ſolcher Behauſung und Umgebung?
An der Eingangsthür hängen zwei Wirthshausſchildereien von der
bekannten Genrebilderart, die mehr an die Götzen und Kunſt-
zuſtände der Sandwichsinſeln, als an die Nachbarſchaft Berlins
erinnern, und als einziger Anklang an Spiel und Heiterkeit zieht
ſich am Holzgitter des Hauſes eine Kegelbahn entlang, deren küm-
merliches und ausgebleichtes Lattenwerk daſteht wie das Skelett
eines Vergnügens.
[192]
Auf halbem Wege nach Tegel ſind wir endlich bis an die
letzten Ausläufer der Stadt gelangt, und eine Tannenheide nimmt
uns jetzt auf, die uns, ziemlich ununterbrochen, bis an den Ort
unſerer Beſtimmung führt. Noch ein weiter freier Platz, der uns
nach links hin einen Blick auf den See und das Dörfchen Tegel
geſtattet, dann eine Waſſermühle, hübſch, wie alle Waſſermühlen,
unter Bäumen gelegen, und eine Ahorn- und Ulmenallee liegt
ſüdlich vor uns, an deren entgegengeſetztem Ende wir bereits die
hellen Wände von Schloß Tegel ſchimmern ſehen.
Schloß Tegel, urſprünglich ein Jagdſchloß des großen Kur-
fürſten, kam, wenige Jahre nach dem Hubertsburger Frieden, in
Beſitz der Familie Humboldt. Alexander Georg von Humboldt,
einem adeligen pommerſchen Geſchlechte angehörig, das im Fürſten-
thum Cammin und im Neuſtettiner Kreiſe ſeine Beſitzungen hatte,
brachte es im Jahr 1765 durch Kauf an ſich. *) 1767 wurde
Wilhelm, 1769 Alexander von Humboldt geboren, aber
nicht in Tegel, ſondern in Berlin, wo der Vater aller Wahr-
ſcheinlichkeit nach in Garniſon ſtand. Nach dem Tode der
Eltern wurde Schloß und Rittergut Tegel gemeinſchaftliches Eigen-
thum der beiden Brüder und blieb es, bis es im Jahr 1802
in den alleinigen Beſitz Wilhelms von Humboldt (damals Ge-
[193] ſandten in Rom) überging. Alexander von Humboldt hat ſich im-
mer nur beſuchsweiſe in Schloß Tegel aufgehalten, und die hiſto-
riſche Bedeutung des Orts wurzelt überwiegend in dem vieljährigen
Aufenthalte Wilhelms von Humboldt daſelbſt, der die letzten
fünfzehn Jahre ſeines Lebens (von 1820 bis 1835), zurückgezogen
von Hof und Politik, aber in immer wachſender Vertrautheit mit
der Muſe und den Wiſſenſchaften, auf dieſer ſeiner Beſitzung zu-
brachte.
Die Kunſtſchätze, die Schloß Tegel bis dieſen Augenblick um-
ſchließt, gehören (wie ich bei Aufzählung derſelben noch weiter
hervorheben werde) nicht unweſentlichen Theils in das Gebiet des
Familienporträts. Wilhelm von Humboldt ſelbſt, ſeine Gemahlin,
ſeine drei Töchter (jüngerer, in Rom verſtorbener Kinder zu ge-
ſchweigen) haben alle, ſei es in Stein oder Farbe, eine ſo mannig-
fache Darſtellung gefunden, daß es nöthig ſein wird, behufs beſ-
ſerer Orientirung, dem Leſer einen kurzen Ueberblick über die
Familienverhältniſſe Wilhelms von Humboldt zu geben.
Wilhelm von Humboldt war mit Caroline Friederike von
Dacheroeden (geb. am 23. Februar 1766, geſt. am 26. März
1829) vermählt. Aus dieſer Ehe wurden ihm, mit Ausſchluß der
früh verſtorbenen Kinder, drei Töchter und ein Sohn geboren.
Der Sohn erhielt die Ottmachauſchen Güter in Schleſien; die
Töchter erhielten Tegel. Die älteſte Tochter, Caroline von Hum-
boldt, blieb unverheirathet und überlebte ihren Vater um kaum
zwei Jahre. Die zweite Tochter, Adelheid von Humboldt, war
mit dem Generallieutenant von Hedemann vermählt und beſaß
Schloß Tegel als väterliches Erbtheil von 1835 bis zu ihrem
Tode 1856. Nach ihrem Tode (ſie ſtarb kinderlos) ging Tegel
nunmehr auf die noch lebende dritte Schweſter, Gabriele von
Humboldt, Wittwe des ehemaligen Geſandten in London und
Staatsminiſters von Bülow, über. Dieſe dritte Schweſter iſt die
zeitige Beſitzerin des Schweſternerbes; nach ihrem Tode, da auch
ſie keine Kinder hat, fällt Tegel an die männliche Linie, d. h. an
die Beſitzer der großen ſchleſiſchen Güter (Ottmachau) zurück.
13
[194]
Wir haben inzwiſchen die Ahorn- und Ulmenallee durch-
ſchritten und ſtehen nunmehr rechts einbiegend unmittelbar vor dem
alten Schloß. Die räumlichen Verhältniſſe ſind ſo unbedeutend
und die hellgelben Wände, zumal an der Frontſeite, von ſolcher
Schmuckloſigkeit, daß man dem Volksmunde Recht geben muß, der
ſich weigert von „Schloß Tegel“ zu ſprechen und dieſen Dimi-
nutivbau „das Schlößchen“ zu nennen pflegt. Man erkennt deut-
lich noch die beſcheidenen Umriſſe des alten Jagdſchloſſes, deſſen
einzig charakteriſtiſcher Zug, neben einem größeren Seitenthurm,
in zwei erkerartig vorſpringenden Thürmchen oder Ausbuchtungen
beſtand. Dieſe Erkerthürmchen ſind dem Neubau, der 1822 unter
Schinkels Leitung begonnen wurde, verblieben, während der große
Seitenthurm das hübſche Motiv zur Reſtaurirung des Ganzen ab-
gegeben hat. An den vier Ecken des alten Hauſes erheben ſich
jetzt vier Thürme von mäßiger Höhe, die derart eingefügt und
unter einander verbunden ſind, daß ſie im Innern nach allen
Seiten hin die Zimmerreihen erweitern, während ſie nach außen
hin dem Ganzen zu einer Stattlichkeit verhelfen, die es bis dahin
nicht beſaß.
Wir treten nun ein und befinden uns auf dem niedrigen,
aber ziemlich geräumigen Hausflur, der ganz im Charakter eines
Atriums gehalten iſt. Kurze doriſche Säulen tragen Decke und
Gebälke, eine einfach gemuſterte Steinmoſaik füllt den Fußboden
und Basreliefs aller Art und Größe ſchmücken zu beiden Seiten
die Wand. Ziemlich in der Mitte des Atriums befindet ſich, auf
einem Sockel oder Fußgeſtell, die eigentliche Sehenswürdigkeit deſ-
ſelben: eine antike, mit bacchiſchen Reliefs verzierte Brunnen-
mündung, die ſich vormals in der Kirche St. Caliſto in Traſte-
vere zu Rom befand. Der Sage nach ſoll der heilige Calixtus in
dieſer marmornen Brunnenmündung ertränkt worden ſein, weßhalb
das Waſſer, das aus derſelben geſchöpft wurde, lange Zeit für
wunderthätig galt. Wilhelm von Humboldt, während ſeines lang-
jährigen Aufenthalts in Rom, brachte dieſes intereſſante Curioſum
käuflich an ſich und ſchmückte daſſelbe mit folgender lateiniſcher
[195] Inſchrift: „Puteal, sacra bacchica exhibens, idem illud, in
quo, ad martyrium patiendum, circa A. C. C. XXIII, S.
Calistus immersus traditur, ex ejusdem S. Calisti aede
Romana Transtiberina emptionis jure huc devectum. (Alſo
etwa: Dieſe Brunnenmündung, einen Bacchuszug auf ihrer Außen-
ſeite darſtellend, iſt dieſelbe, in welcher, einer Sage nach, der hei-
lige Calixtus ertränkt wurde und das Martyrium erduldete, etwa
223 nach Chriſtus. In der Kirche des heiligen Calixtus zu Tra-
ſtevere bei Rom käuflich erſtanden, wurde ſie (die Brunnenmün-
dung) hierher gebracht.)
Zu beiden Seiten des Atriums befinden ſich verſchiedene
Räumlichkeiten, die alle ohne Bedeutung ſind, mit Ausnahme des
nach rechts hin gelegenen Studirzimmers Wilhelms von Humboldt.
Vieles darin erinnert noch an ſeinen ehemaligen Bewohner, der
hier die reifſten ſeiner Arbeiten überdachte und niederſchrieb. Hier
entſtanden, ſeiner Familie ſelbſt ein Geheimniß und nach ſeinem
Tode erſt aufgefunden, jene Sonette, die Alexander von Humboldt
gewiß mit Recht „die Selbſtbiographie, die Charakteriſtik des theuren
Bruders“ genannt hat. Hier traten, in mitternächtiger Stunde,
jene ſtillen Klagen und Bekenntniſſe an’s Licht, zu deren ſorglicher
Concipirung und Geſtaltung ihm die Arbeit des Tages keine
Muße gegönnt hatte; hier ſchrieb er in Dankbarkeit gegen die
Stille und Verſchwiegenheit der Nacht:
ſtille, durch poetiſche Innigkeit ausgezeichnete Bekenntniſſe, an denen
ſich glücklicherweiſe die beſcheidene Hoffnung des Dichters:
13*
[196]
und nicht die Reſignation der zwei folgenden Zeilen erfüllt hat:
In der Nähe der Fenſterwand ſteht der Schreibtiſch, kein
elegantes Tiſchchen, ſondern ein ſchwerer, maſſiver Bau von Maha-
goniholz, erſichtlich „ein Krieger für den Werkeltag.“ Auf dem
Tiſch, und zwar in der Mitte deſſelben, ſteht eine antike Doppel-
herme, rechts daneben ein Torſo, links aber die berühmte, vom
Maler Asmus Carſtens herrührende Statuette einer Parze, die
am Sockel die Namensinſchrift des Künſtlers und die Jahreszahl
1795 trägt. An der gegenüber liegenden Wand, ſo daß das Auge
des Schreibers, ſo oft er aufblickte, darauf fallen mußte, befinden
ſich die Statuen der kapitoliniſchen Venus und der Venus von
Milo, zwiſchen beiden ein Panorama von Rom und die Conſtan-
tinsſchlacht, nach dem berühmten Raphaeliſchen Bilde. Die Ge-
ſammtheit der in dieſem Zimmer vorhandenen Kunſtſchätze auf-
zählen zu wollen, hieße den Leſer ermüden; nur einer Kreidezeich-
nung Thorwaldſens, „Bacchus, welcher dem Amor zu trinken gibt,“
ſei noch, ihrer beſonderen Lieblichkeit und Grazie halber, erwähnt.
Von den Bildern und Statuen hinweg treten wir jetzt an
die Glas- und Bücherſchränke heran, die ihrem Inhalte nach,
wenigſtens theilweiſe, der Humboldtſchen Zeit angehören und uns
ſomit Gelegenheit geben, einen Einblick in die privateren Studien,
ſelbſt in die Unterhaltungslectüre des Gelehrten zu thun. Da haben
wir Byrons Life and works in 17 Bänden, und Adam Smiths
„Wealth of Nations“ in drei; Loudons Encyclopaedia of
Gardening und Cooks Reiſen um die Welt; Schleiermachers
Predigten in acht und die Schriften der Rahel in drei Bänden;
Voltaire und Rouſſeau in zuſammen 74 Halbfranzbänden friedlich
neben einander; Goethe in einer Ausgabe von 1817; Bulwers Eugen
[197] Aram und Rienzi in großem Originalformat und Adelungs Wörter-
buch in vier mächtigen Schweinslederbänden. Beſcheiden in einer
Ecke lehnen zwei der berühmteſten Werke Wilhelms von Humboldt
ſelbſt und führen, in Goldbuchſtaben auf Dunkelblau, ihre wohl-
bekannten Titel: „Ueber die Kawi-Sprache auf der Inſel Java,“
und „über die Verſchiedenheit des menſchlichen Sprachbaus.“
Neben dem Arbeitszimmer befindet ſich das ehemalige Schlaf-
kabinet Wilhelms von Humboldt, in dem er am 8. April 1835
ſtarb. Der überaus kleine Raum iſt gegenwärtig unbenutzt und
dient nur zur Aufſtellung zweier weiblicher Torſen aus pariſchem
Marmor, die zur Zeit des egyptiſchen Feldzugs (1799) durch einen
franzöſiſchen Offizier von Athen nach Rom gebracht und an den
Kunſthändler Antonini daſelbſt verkauft wurden. Von dieſem er-
ſtand ſie Wilhelm von Humboldt. Nach dem einmüthigen Urtheil
aller Sachverſtändigen gehören dieſe Torſen zu dem Schönſten,
was wir an weiblichen Körpern von griechiſcher Kunſt beſitzen.
Profeſſor Waagen iſt der Meinung, daß beide einer Gruppe von
Grazien angehören, deren dritten Torſo er in der Sculpturen-
ſammlung des Herrn Blundell Weld in der Nähe von Liverpool
entdeckt zu haben glaubt.
Wir verlaſſen nun die untern Räume und ſteigen vom Atrium
aus treppauf, um den obern Zimmern unſern Beſuch zu machen.
Die Treppe ſelbſt indeß, vor allem die Art und Weiſe, wie Schinkel
(der auch hier den Umbau leitete) alle entgegenſtehenden Schwie-
rigkeiten glücklich überwunden hat, feſſelt uns noch auf Augen-
blicke. Die Enge des Raums ſchrieb ihm Verhältniſſe vor, die
etwas Kleines und Puppenſtubenhaftes nicht vermeiden konnten,
und doch glückte es ihm, durch Wölbungen hier, durch Mauer-
einſchnitte dort, dem Ganzen den Eindruck einer lichthellen Heiter-
keit zu leihen und endlich durch Farbe und Ornamentik dieſen
Eindruck bis zum Schönen und Gefälligen zu ſteigern. Die einzelnen
Decken und Rundbögen, deren Dimenſionen mehr an das Modell
eines Hauſes als an ein wirkliches Haus erinnern, ſind mit Stern-
chen auf dunkelblauem Grunde geſchmückt und zwei in die Wand-
[198] fläche des Treppenabſatzes gemalte Kandelaber (es war kein Raum
da, um wirkliche aufzuſtellen) gelten für Meiſterſtücke guten Ge-
ſchmacks und correkter Zeichnung.
Die oberen Räume, ein Empfangszimmer, ein Saal, ein
Wohnzimmer und zwei Thurmgemächer, bilden ein völliges Muſeum
und ſind zu reich ausgeſtattet mit Kunſtſchätzen und Sehenswür-
digkeiten aller Art, als daß mehr wie eine bloße Aufzählung des
Vorhandenen an dieſer Stelle geſtattet ſein könnte. Und ſelbſt dieſe
Aufzählung werde ich auf die Hauptſehenswürdigkeiten, d. h. alſo
auf Originalwerke zu beſchränken haben, und ſo unterſcheiden wir
denn, ohne auf die Art der Placirung Rückſicht zu nehmen, neben
den Werken der Antike, die Arbeiten Thorwaldſens, Rauchs und
Friedrich Tiecks; von Werken der Maler aber verſchiedene von
Gottlieb Schick, Carl Philipp Fohr, Carl Steuben und Wilhelm
Wach herrührende Bilder und Porträts.
Antiken. Die Statue der Nymphe Anchyrrhoe mit einem
Waſſergefäß, gefunden vor Ponte Molle bei der Oſteria la Finocchia.
Ihren Namen (Anchyrrhoe) hat dieſe Statue nach einer Bezeich-
nung, welche Ennio Quirino Visconti auf einem andern, lebens-
großen, jetzt im Louvre befindlichen Exemplar derſelben Statue,
von übrigens viel geringerer Arbeit gefunden hat. Dieſe Statue
hingegen zeichnet ſich eben ſo ſehr durch das graziöſe Motiv, wie
durch die vortreffliche Arbeit aus.
Die Statuette einer tanzenden Bacchantin mit dem Thyrſus
(der Kopf modern). — Das Fragment einer antiken Sarkophag-
ſculptur, welche den Raub der Proſerpina darſtellt. — Der thro-
nende Jupiter, ein Relief aus dem Palaſt Rondanini. — Vulcan,
ein Relief, ebendaher. — Ein Rund, auf deſſen einer Seite ſich
der Kopf des Jupiter Ammon, auf der andern eine opfernde Bac-
chantin befindet. — Die antike Statue des Bacchus aus penteli-
ſchem Marmor. (Der Kopf, nach Angaben von Rauch, ergänzt.)
— Die drei Parzen, ein antikes Basrelief in Marmor. Dieſes
[199] Relief iſt beſonders durch die Art der Auffaſſung merkwürdig. Die
ſitzende Klotho ſpinnt, und die in der Mitte ſtehende Atropos
ſchneidet den Lebensfaden ab; die Lacheſis aber ſteht an einem
Globus und bezeichnet an demſelben das menſchliche Geſchick.
Hieran ſchließen ſich, bevor wir zu den Arbeiten neuer Mei-
ſter übergehen, jene werthvollen, wenigſtens zum Theil der Antike
angehörigen Geſchenke, die von Seiten Pius VII., als Zeichen
des Danks für wichtige, auf dem Wiener Congreß und ſpäter in
Paris ihm geleiſtete Dienſte, an Wilhelm von Humboldt überreicht
wurden. Dieſe Geſchenke ſind folgende: „Eine Säule von orienta-
liſchem Granit, die eine moderne Copie, in grünem Porphyr, von
dem berühmten Kopfe der Meduſa aus dem Hauſe Rondanini
trägt, deren Original ſich in der Glyptothek zu München befindet.
— Zwei andere Säulen aus rosso antico von großer Schön-
heit, die zwei zierliche Vaſen aus jener Marmorart tragen, die den
Namen giallo antico führt. — Alle drei Säulen tragen, aufge-
hängt an einem Kettchen, das in Erz gegoſſene und vergoldete
Wappen Pius VII. Es beſteht aus drei Feldern, in deren größe-
rem ſich das päpſtliche Doppelkreuz und die Inſchrift Pax befindet,
während die zwei kleineren Felder drei Sternchen und drei Köpfe
zeigen. Ueber jedem einzelnen Wappen kreuzen ſich die Schlüſſel
Petri. Dieſe werthvollen Geſchenke wurden an Wilhelm von Hum-
boldt mit folgendem Schreiben überreicht:
„An den Herrn Baron von Humboldt der Papſt Pius VII.“
„Der ſo nachdrückliche Beiſtand, welchen Sie dem Ritter Ca-
nova *) zu dem glücklichen Ausgang ſeines Auftrags haben ange-
deihen laſſen, hat Uns nicht überraſcht, denn da Wir Sie zur
Genüge kennen, verſahen Wir Uns mit Gewißheit, daß Sie ſich
der Sache Roms und Unſerer Perſon mit Nachdruck annehmen
würden. Nichtsdeſtoweniger fühlen Wir uns, nachdem Wir ver-
[200] nommen, wie viel Sie zu der Rückkehr der antiken Denkmale,
Handſchriften und anderer koſtbaren Gegenſtände beigetragen haben,
verpflichtet, Ihnen in eigener Perſon Unſern Dank zu erkennen zu
geben. Rom hatte ſicherlich Urſache, Sie nicht zu vergeſſen, der
Sie ſich, während Ihres Aufenthaltes daſelbſt, ſo viel Liebe und
Achtung erworben, es wird aber fortan noch einen andern gewich-
tigen Grund haben, Ihrer als des wohlverdienten Freundes des
Sitzes der ſchönen Künſte zu gedenken.“
„Wir werden Ihnen ein dankbares Andenken für dasjenige
bewahren, was Sie in dieſer bedeutenden Angelegenheit gewirkt
haben, wie Wir Ihnen ein Gleiches für alles dasjenige bewahren,
welches Sie zu Unſerm Frommen in Wien gethan, wie der Car-
dinal Conſalvi Uns berichtet hat.“
„Wir werden mit der größten Freude jede Gelegenheit er-
greifen, um Ihnen Unſer beſonderes Wohlwollen und Unſere Ach-
tung zu bezeugen, und werden den Höchſten bitten, daß es ihm
gefallen möge, über Sie ſeine Gaben und ſeine himmliſche Er-
leuchtung in Fülle auszugießen und Ihnen die vollkommenſte Glück-
ſeligkeit zu beſcheren.“
„Gegeben zu Caſtel Gandolfo den 26. October 1815, im
16ten Jahre Unſeres Pontificats.
Pius. P. P. VII.“
Ich fahre nun fort in der Aufzählung der in Tegel vorhan-
denen Originalwerke der Sculptur ſowohl wie der Malerei.
Zunächſt von Thorwaldſen. Die Statue der „Hoffnung“
im Styl der altgriechiſchen Kunſt, mit der Lotosblume in der
Rechten. Eine Copie dieſer Statue, von Friedrich Tieck herrührend,
krönt die Säule auf dem mehrgenannten Begräbnißplatz der Fa-
milie. — Die Marmorbüſte der Frau von Humboldt. — Die
Marmorbüſte Wilhelms von Humboldt. — Zwei Kreidezeichnungen:
Maria mit dem Kinde und dem kleinen Johannes, und Maria
und das Chriſtuskind, welche ſich liebkoſen. Die erſte Zeichnung
[201] trägt die Unterſchrift: Albertus Thorwaldsen in. et del.; die
zweite: Roma, 23 Febbrajo 1818, A. Thorwaldsen f.
Von Rauch. Venus, welche dem Mars ihre vom Diomedes
verwundete Hand zeigt. (Marmorrelief in einem Rund ausgeführt.)
Eine der früheſten und reizendſten Arbeiten des Meiſters. — Die
ſitzende Statue eines jungen Mädchens, durch den Schmetterling
in ihrer Rechten als Pſyche bezeichnet (zu gleicher Zeit Porträt-
ſtatue der damals (1810) zehnjährigen Adelheid von Humboldt.)
— Die Marmorbüſte Alexanders von Humboldt. — Die Büſten
der als Kinder verſtorbenen Guſtav und Louiſe von Humboldt.
Von Friedrich Tieck. Die Statuen des Odyſſeus, des
Achill, der Omphale und der Iphigenie. — Reliefbild Alexanders
von Humboldt. — Reliefbild des Grafen Guſtav von Schlaberndorf.
Von Gottlieb Schick. Adelheid und Gabriele von Hum-
boldt als Kinder (Oelporträts auf Einem Bilde), eines der vor-
züglichſten Werke dieſes leider ſo früh verſtorbenen Künſtlers.
Durch das offene, weinumrankte Fenſter ſieht man auf Berg und
See einer ſtill heitern italieniſchen Landſchaft hinaus. Die ſchlichten,
einfachen Kleidchen verhüllen nur eben die jugendlichen Körper der
beiden Mädchen, von denen die jüngere träumeriſch mit Blumen
ſpielt. — Das Bildniß Carolinas von Humboldt, der älteren
Schweſter der beiden eben genannten. In Größe, Farbe und Auf-
faſſung dem vorigen Bilde ſehr ähnlich, aber nicht ganz von dem-
ſelben Reiz.
Von Carl Philipp Fohr (1818 in Rom ertrunken). Hagen
im Geſpräch mit den Donaunixen (Federzeichnung).
Von Carl Steuben. Das Bildniß Alexanders von Hum-
boldt, damals (1812) 42 Jahre alt, in lebensgroßer Figur. Vorn
Baſaltſäulen, im Hintergrunde der Chimboraſſo. Höchſt brillant
gemacht, aber nicht ohne Anflug von Manier.
Vielleicht verlohnt es ſich, und zwar ſpeciell im Hinblick auf
die zuletzt genannten Porträts, die ganze reiche Sammlung noch
ein zweites mal kurz an uns vorüber ziehen zu laſſen, lediglich in
der Abſicht, uns mit der Thatſache vertraut zu machen, daß neben
[202] einem Cultus der Schönheit, der unbeſtritten hier ſtattfand, zu
gleicher Zeit ein Familienſinn, ein alle Glieder umſchlin-
gendes Liebesband hier thätig war, das, wie in manchem
andern, ſo auch namentlich in der reichen Anſammlung von Fami-
lienporträts einen ſprechenden Ausdruck gefunden hat. Die Zahl
dieſer Porträts (mit Umgehung geringfügigerer Arbeiten) iſt ſiebzehn.
Alexander von Humboldt: Zwei große Oelbilder von
Steuben und einem Ungenannten, vielleicht Wach oder Krüger;
eine Porträt-Büſte von Rauch; ein Relief-Porträt von Friedrich Tieck.
Wilhelm von Humboldt: Eine Büſte von Thorwaldſen;
ein Relief von Martin Klauer in Rom; ein Kreideporträt von
Franz Krüger.
Frau von Humboldt: Ein Oelporträt von Schick; eine
Marmorbüſte von Thorwaldſen; ein Kreideporträt von Wilhelm
Wach.
Caroline von Humboldt: Oelbild von Schick.
Adelheid von Humboldt: Oelbild von Schick; Marmor-
ſtatue (als Pſyche) von Rauch.
Gabriele von Humboldt: Oelbild von Schick.
Guſtav und Louiſe von Humboldt: Zwei Büſten von
Rauch.
Thereſe von Bülow: Büſte von Rauch.
Außer den fünf Zimmern, die alle dieſe Kunſtſchätze von
Meiſterhand enthalten, befinden ſich im obern Stockwerk noch einige
andere Räume, die nicht eigentlich zu den Sehenswürdigkeiten des
Schloſſes gehören, aber, unter dem Einfluß des Contraſtes, bei
jedem, der zu ihrem Beſuch zugelaſſen wird, ein lebhaftes Intereſſe
wecken werden. Hier in den Zimmern, die nach außen hin nichts
zu bedeuten, nichts zu repräſentiren haben, hängen die erſten An-
fänge kurbrandenburgiſcher Malerkunſt, wie eben ſo viele grob ge-
tuſchte Bilderbogen an Wand und Pfeiler, und zwingen ſelbſt
dem preußenſtolzeſten Herzen ein mitleidiges Lächeln ab. Sinn und
Seele noch tief erfüllt vom Anblick idealer Schönheit, die in hun-
dert Geſtalten und doch immer als dieſelbe eine, eben erſt zu
[203] uns ſprach, werden wir, Angeſichts dieſer blaurothen Soldateska,
irre an allem, was uns bis dahin die Aufgabe einer neuen Zeit,
als Ziel einer neuen Richtung gegolten hat, und verlegen treten
wir ſeitwärts, um des Anblicks von Dreimaſter und Bortenrock
nach Möglichkeit überhoben zu ſein. Mit Unrecht; nicht die Rich-
tung iſt es, die uns verdrießt, nur das niedrige Kunſtmaß inner-
halb derſelben. Ein Modell der Rauch’ſchen Friedrichsſtatue, eine
Menzel’ſche Hochkirchſchlacht würden uns auch vielleicht frappirt,
aber noch im Augenblicke der Ueberraſchung, durch den Eindruck
auf unſer Gemüth, uns ihre Ebenbürtigkeit bewieſen haben.
Wir verlaſſen nun das Haus und ſeine bildgeſchmückten
Zimmerreihen, um der vielleicht eigenthümlichſten und feſſelndſten
Stätte dieſer an Beſonderem und Abweichendem ſo reichen Beſitzung
zuzuſchreiten — der Begräbnißſtätte. Der Geſchmack der Hum-
boldtſchen Familie (vielleicht auch ein Höheres noch als das) hat
es verſchmäht, in langen Reihen eichener Särge den Tod gleichſam
überdauern und die Aſche der Erde vorenthalten zu wollen. Des
Fortlebens im Geiſte ſicher, durfte ihr Wahlſpruch ſein „Erde zu
Erde.“ Kein Mauſoleum, keine Kirchenkrypta nimmt hier die irdi-
ſchen Ueberreſte auf; ein Hain von Edeltannen friedigt die Be-
gräbnißſtätte ein und in märkiſch-tegelſchem Sande ruhen die Mit-
glieder einer Familie, die, wie kaum eine zweite, dieſen Sand zu
Ruhm und Anſehen gebracht.
Zwei Wege führen vom Schloß aus zu dieſem inmitten
eines Hügelabhangs gelegenen Friedhof hin. Wir wählen die
Lindenallee, die geradlienig durch den Park läuft und zuletzt in
leiſer Biegung zum Tannenwäldchen hinanſteigt. Unmerklich haben
uns die Bäume des Weges bergan geführt, und ehe uns noch
die Frage gekommen, ob und wo wir den Friedhof finden werden,
ſtehen wir bereits inmitten ſeiner Einfriedigung, von dicht und
wandartig ſich erhebenden Tannen nach allen vier Seiten hin
überragt. Das Ganze berührt uns mit jenem ſtillen Zauber, den
[204] wir empfinden, wenn wir plötzlich aus dem Dunkel des Waldes
auf eine Waldwieſe treten, über die abwechſelnd die Schatten und
Lichter des Himmels ziehen. Die Bergwand, die den Platz gegen
Norden und Oſten hin umlehnt, ſchützt ihn gegen den Wind und
ſchafft eine ſelten unterbrochene Stille. Die Form des Ganzen iſt
ein Oblong, etwa dreißig bis 40 Schritte lang und halb ſo breit.
Der ganze Raum theilt ſich in zwei Hälften, in eine Gartenanlage
und in den eigentlichen Friedhof. Dieſer beſteht aus einem einge-
gitterten Viereck, an deſſen äußerſtem Ende ſich eine dreißig Fuß
hohe Granitſäule auf Quaderſtufen erhebt. Von dem joniſchen
Kapitäl der Säule blickt die Marmorſtatue der „Hoffnung“ auf
die Gräber herab. Blumenbeete ſchließen das Eiſengitter ein.
Die Zahl der Gräber, wenn ich richtig gezählt, beläuft ſich
auf zwölf, und wenig Raum iſt gelaſſen für neu hinzukommende.
Die Grabſteine, die ſich der Säule zunächſt befinden (darunter
Wilhelm von Humboldt, ſeine Gemahlin und die älteſte Tochter
Caroline), haben keine Inſchriften, ſondern Name, Geburts- und
Todesjahr der Heimgegangenen ſind in die Quadern des Poſta-
ments eingegraben. Die mehr am andern Ende des Gitters gele-
genen Hügel aber weiſen kleine Marmortäfelchen auf, die einfach
den Namen und die Daten tragen und in ihrer Schlichtheit an
die Stäbchen erinnern, die der Gärtner dort in die Erde ſteckt,
wo er um die Herbſtzeit ein Samenkorn für den Frühling ge-
pflanzt hat. Alle Gräber ſind mit Epheu dicht überwachſen; nur
eines, der Gitterthür und dem Beſchauer zunächſt, entbehrt noch
der friſchen, dunkelgrünen Decke. Fahl gewordene Tannenreiſer
bedecken die Stätte, aber auf den Reiſern liegen Lorbeer- und
Eichenkränze und verrathen leicht, wer unter ihnen ſchläft.
Wenn ich den Eindruck bezeichnen ſoll, mit dem ich von dieſer
Begräbnißſtätte ſchied, ſo war es der, einer entſchiedenen Vor-
nehmheit begegnet zu ſein. Ein Lächeln ſpricht aus allem und
das reſignirte Bekenntniß: wir wiſſen nicht, was kommen wird,
und müſſen’s — erwarten. Deutungsreich blickt die Geſtalt der
Hoffnung auf dieſe Gräber hernieder. Im Herzen deſſen, der dieſen
[205] Friedhof ſchuf, war eine unbeſtimmte Hoffnung lebendig, aber
kein beſtimmter ſiegesgewiſſer Glaube. Ein Geiſt der Liebe
und Humanität ſchwebt über dem Ganzen, aber nirgends eine
Hindeutung auf das Kreuz, nirgends der Ausdruck eines uner-
ſchütterlichen Vertrauens. Das ſollen nicht Splitterrichter-Worte
ſein, am wenigſten Worte der Anklage; ſie würden dem nicht
ziemen, der ſelbſt lebendiger iſt in der Hoffnung als im Glauben;
aber ich durfte den einen Punkt nicht unberührt und ungenannt
laſſen, der, unter allen märkiſchen Edelſitzen, dieſes Schloß und
dieſen Friedhof zu einem Unicum macht. Die märkiſchen Schlöſſer,
wenn nicht ausſchließlich feſte Burgen altlutheriſcher Confeſſion,
haben abwechſelnd den Glauben und den Unglauben in ihren
Mauern geſehen; ſtraffe Kirchlichkeit und laxe Freigeiſterei haben
ſich innerhalb derſelben abgelöſt. Nur Schloß Tegel hat ein
drittes Element in ſeinen Mauern beherbergt, gleich weit entfernt
von Orthodoxie wie von Frivolität, jenen Geiſt, der ſich inmitten
der Antike und Claſſicität langſam, aber ſicher auszubilden pflegt,
und lächelnd über die Kämpfe und Befehdungen beider Extreme,
das Dieſſeits genießt und auf das räthſelvolle Jenſeits hofft.
[[206]]
Schloß Oranienburg.
Die ſtille klare Havel, mit jener Fülle von Seen, die ſie an
ihrem blauen Bande aufreiht, iſt mir immer wie ein Strom vor-
gekommen, dem eigens die Aufgabe zugefallen ſei, als Spiegel für
unſere königlichen Schlöſſer, für Pfaueninſel und Glienicke, für
Babelsberg und Marmorpalais zu dienen. Die Schönheit wider-
ſpiegelnd, verdoppelt ſie den Reiz.
So erſcheint die Havel auf ihrem Mittellauf, zwiſchen Tegel
und Brandenburg. Aber nicht überall iſt ſie ſie ſelbſt; ſchlicht,
ſchmal, ein Wäſſerchen wie andere, tritt ſie aus dem Mecklenbur-
giſchen in die Mark, um dann auf ihrem ganzen Oberlauf ein
Flüßchen zu bleiben, das nicht Inſeln wie Nymphaeenblätter trägt,
ſondern ſich theilen muß, um eine Inſel zu bilden, oder ein
Stück Land mit dünnen Armen zu umſpannen. Nicht das Waſſer
der Sieger, ſondern das Land.
So iſt die Havel bei Oranienburg, dem unſere heutige
Wanderung gilt. Bei leis ſtäubendem Regen verlaſſen wir die
Reſidenz. Unſer Weg führt uns zunächſt durch den Wedding, dann,
rechts an Tegel vorbei, bis nach dem romantiſchen Sandkrug, wo
[207] die Stehkrippen von unſeren zwei Braunen, die den Weg zu
kennen ſcheinen, mit lebhaftem Pruſten begrüßt werden. Der Sand-
krug verdient den Beinamen, den wir ihm ſo eben gegeben, denn
die dunklen Forſten, die ihn einfaſſen, ſind faſt der einzige Punkt
noch in der Umgegend Berlins, darin ſich ein Stückchen roman-
tiſcher Wegelagerei erhalten hat, freilich von jener unpoetiſcheren
Art, die ſtatt des lauten Angriffs in Stahl und Eiſen die Schoß-
kelle leiſe beſchleicht und ſich damit begnügt, ſtatt der Hälſe —
die Koffer abzuſchneiden.
Der Sandkrug iſt halber Weg; noch eine anderthalbſtündige
Fahrt an Tannenholz und Dörfern vorbei und wir halten auf
einem großſtädtiſch angelegten Platz, über dem ſich eben der präch-
tigſte Regenbogen wölbt. Das iſt der Schloßplatz von Oranien-
burg. Das Wetter klärt ſich auf; die Sonne iſt da. Das Haus,
das uns aufnehmen ſoll, verbirgt ſich faſt hinter den Linden-
bäumen, die es umſtehen, und erweckt, neben manchem Anderen,
unſere günſtigſten Vorurtheile auch dadurch, daß wir vernehmen,
es ſei Rathhaus und Gaſthaus zugleich. Wo Juſtiz und Gaſtlich-
keit ſo nahe zuſammen wohnen, da iſt es gut ſein. In alten Zei-
ten war das häufiger; unſere Altvodern verſtanden ſich beſſer auf
Gemüthlichkeit als wir.
Die Luft iſt warm und weich und ladet uns ein, unſern
Nachmittagskaffee im Freien zu nehmen. Da ſitzen wir denn auf
der Treppe des Hauſes, die ſich nach rechts und links hin zu einer
Art Veranda erweitert, und freuen uns der Stille und der balſa-
miſchen Luft, die uns umgeben. Die Kronen der Lindenbäume
ſind unmittelbar über uns, und ſo oft ein Luftzug über den Platz
weht, ſchüttelt er aus dem dichten Blattwerk einzelne Regentropfen
auf uns nieder. Zu unſerer Linken, ziemlich in der Mitte des
Platzes, ragt die Statue der hohen Frau auf, die dieſer Stadt
den Namen und, über ihren engſten Kreis hinaus, zuerſt ein An-
ſehen in der Geſchichte unſeres Landes gab; dahinter, zwiſchen den
Stäben eines Gitterthors, ſchimmern die Bäume des Parks hervor,
unmittelbar vor uns aber, nur durch die Breite des Platzes von
[208] uns getrennt, ragt der alte Schloßbau ſelbſt auf, deſſen Bild und
deſſen Geſchichte uns heut beſchäftigen ſoll.
Wir haben die Front des Schloſſes in aller Klarheit vor
uns, aber doch iſt es nur die kleinere Hälfte, deren wir von un-
ſerem Platz aus anſichtig werden. Die Form des Oranienburger
Schloſſes in ſeiner Blüthezeit war die eines lateiniſchen H, oder
mit anderen Worten, es beſtand aus einem Haupt- oder Mittel-
ſtück (corps de logis), an das ſich zwei Vorder- und zwei Hinter-
flügel lehnten. Die beiden Hinterflügel exiſtiren noch, entziehen ſich
aber unſerem Blick; von den Vorderflügeln wurde der eine (der
rechts gelegene) durch Feuer zerſtört.
Schloß Oranienburg, wenn wir dieſe Bezeichnung zunächſt
unterſchiedlos und mit einer Art rückwirkender Kraft feſthalten
wollen, iſt ein alter Schloß- und Burgbau, der ſich an derſelben
Stelle, d. h. alſo auf der kleinen vor uns gelegenen Havelinſel, ſeit
nahe an 700 Jahren erhebt. Wir haben hier, wie bei verſchiedenen
andern hohenzollernſchen Schlöſſern, drei Epochen zu unterſcheiden,
drei Epochen, die ſich in aller Kürze durch drei beſtimmte Worte bezeich-
nen laſſen: Burg, Jagdhaus, Schloß. Erſt das „Schloß“ (wir
werden bald ſehen, aus welcher Veranlaſſung) empfing den Namen
Oranienburg, während Burg und Jagdhaus den Namen Bötzow,
d. h. den Namen jenes uralten wendiſchen Dorfes führten, den
die vordringenden Deutſchen bei ihrer Eroberung des Landes be-
reits vorfanden. Die Geſchichte kennt alſo bis in die Mitte des
17. Jahrhunderts hinein nur eine „Burg Bötzow,“ reſp. ein
„Jagdhaus zu Bötzow;“ erſt von den Tagen der Oranierin an,
die hier ein „Schloß,“ einen verhältnißmäßig prächtigen Neubau,
an alter Stelle erſtehen ließ, exiſtirt ein Oranienburg.
(Burg und Jagdhaus Bötzow von 1200—1650.)
Wann Burg Bötzow gegründet wurde, iſt nicht genau erſichtlich,
wahrſcheinlich zwiſchen 1170 und 1200, von einem der unmittel-
baren Nachfolger Albrecht des Bären. 1217 iſt urkundlich von
einer Feldmark zu Bötzow die Rede, aber freilich erſt 1288 von
einer Burg zu Bötzow. Nichtsdeſtoweniger iſt der Schluß berech-
[209] tigt, daß ſie ſchon volle hundert Jahre früher exiſtirte. Oefter ge-
nannt wird die Burg zu den Zeiten des Markgrafen Waldemar;
Leben und Farbe indeß erhalten die Ueberlieferungen erſt zu An-
fang des 15. Jahrhunderts während der Quitzow-Zeit.
Verſuch ich es, in kurzen Zügen ein Bild jener Epoche zu
geben.
1402 war Bötzow eine markgräfliche oder kurfürſtliche Burg,
die durch einen Burgvoigt im Namen des Markgrafen Jobſt von
Mähren, oder vielleicht auch ſeines Statthalters, Günther von
Schwarzburg, gehalten wurde. Das Elend des Landes ſtand da-
mals auf ſeiner Höhe; wie ein hingeworfener Fetzen lag es da,
von dem jeder Nachbar, ja jeder ehrgeizige Vaſall im Lande ſelbſt,
glaubte nehmen zu dürfen, was ihm gut erſchien. Sie hatten es
ſammt und ſonders leicht genug; um aber noch ſicherer und be-
quemer zu gehen, vereinigten ſie ſich zu gemeinſchaftlichen Angriffen,
nachdem die Vertheilung der Beute zuvor feſtgeſetzt worden war.
Im genannten Jahre (1402) kam es zu einer Art von nordiſchem
Bündniß gegen die offen daliegende Mark, zu einer Ligue, die
aus den Herzögen von Mecklenburg und Pommern, ſo wie aus
den Ruppin’ſchen Grafen beſtand, deren Seele jedoch die Quitzow’s
waren. Die letztern, wiewohl ſelber Lehnsträger des Markgrafen,
verfolgten, politiſch genommen, den richtigen und gut zu heißen-
den Plan, ſich in dem immer herrenloſer werdenden Lande ſchließ-
lich ſelber zum Herrn zu machen, und die Bündniſſe, die ſie ſchloſſen
dienten ihnen nur als Mittel zum Zweck. Die Völker der Ligue
fielen endlich in die Mark ein, ſengten und plünderten, wohin ſie
kamen, erſtürmten Burg Bötzow und legten an Stelle der märki-
ſchen nunmehr eine pommerſche Beſatzung in die Burg. Die
Mark, nachdem die kurfürſtliche Autorität durch dieſe Vorgänge,
beſonders aber in Folge der Gefangennahme des Statthalters
Günther von Schwarzburg (durch die Quitzows 1404), einen
Schlag nach dem andern erfahren hatte, ſuchte endlich eine Aus-
ſöhnung mit ihren gefährlichſten Gegnern, den Quitzows, herbei-
zuführen und war in ihren Verhandlungen — vielleicht eben des-
14
[210] halb, weil die beiden Brüder ein eben ſo feines wie kühnes Spiel
ſpielten — glücklich genug, dieſe ſelbſt und ihren nächſten Anhang
auf ihre Seite zu ziehen. Burg Bötzow wurde nun abermals ge-
ſtürmt, diesmal von den Märkern, und die gefangenen Pom-
mern im Triumph nach Berlin geführt; eine Quitzow’ſche Be-
ſatzung aber (keine kurfürſtliche) ward in die Burg gelegt.
Von da ab, auf faſt zehn Jahre hin, blieb Bötzow eine
Quitzow’ſche Burg, bis zum endlichen Untergang der Familie. In
dieſer Zeit wird die Burg vielfach genannt. Nach Burg Bötzow
war es, wohin die Quitzows den Herzog Johann von Mecklenburg-
Stargard (1407) als Gefangenen abführten, nachdem er zuvor in
ihrer Burg Plaue geſeſſen hatte; in denſelben Thurm ſetzten ſie
14 Monate ſpäter den Berliner Rathsherrn Nicolaus Wins, den
ſie, mit andern Berliner Bürgern, bei der Tegeler Mühle
(3. September 1410) geſchlagen hatten, und noch 1414, als der
Stern des Hauſes bereits im Niedergange ſtand, geſchah es, daß
ihr Hauptmann, Werner von Holzendorff, dem ſie die Vertheidi-
gung der Burg anvertraut hatten, den Boten Kurfürſt Friedrichs I.
(der die Aufforderung zur Uebergabe brachte) in den Thurm wer-
fen und mit Ruthen ſtreichen ließ. Aber das war das letzte Auf-
flackern; das kecke, kriegeriſche Leben hier ging ſeinem Ende raſch
entgegen. Klugheit und Politik traten an die Stelle der Sturm-
leitern, und ohne Schwertſtreich hielten alsbald die Hohenzollern
ihren Einzug. An die Zeit der Quitzows aber erinnert der „Quitzen-
(Quitzow-) Steig,“ der bei dem nahe gelegenen Havelhauſen vor-
beiführt.
Von da ab iſt die Geſchichte Burg Bötzows ſtumm; Ver-
pfändungen und Einlöſungen folgten einander, bis endlich um
1550 die Burg ſelbſt verſchwindet und ein „Jagdhaus“ an ſeine
Stelle tritt. Aber auch über dieſem Jagdhaus liegen Dunkel und
Schweigen. Wir irren wohl nicht, wenn wir uns einen Bau mit
Eckthürmen und gothiſchem Dache denken; *) aber kein Bild des
[211] alten kurfürſtlichen Hauſes iſt auf uns gekommen, noch weniger
ein Bericht von Vorgängen innerhalb ſeiner Mauern. Kurfürſt
Joachim gab den Spreeforſten den Vorzug und das Jagdhaus
zu Bötzow kam, dem Favorit-Jagdſchloß zu Koepenick gegenüber,
nur ausnahmweiſe zu Ehren, wenn ſich dem Reiz der Jagd über-
haupt noch der Reiz der Abwechſelung hinzugeſellen ſollte. Burg
und Jagdhaus Bötzow ſind ſpurlos verſchwunden; nur bei dem
Umbau, dem, in jüngſter Zeit erſt, Schloß Oranienburg unter-
worfen wurde, ſtieß man auf gewölbte Feldſtein-Fundamente, die
zweifellos wohl der alten Zeit von Burg Bötzow angehörten und
bei weiterer [Nachforſchung] (die ſich leider nicht ermöglichte) vielleicht
einzelne Aufſchlüſſe über die Vorgeſchichte dieſes Punktes gegeben
hätten.
(Schloß Oranienburg.) So kam das Jahr 1650. Die
Kurfürſtin Louiſe Henriette, geborene Prinzeſſin von Oranien (ſeit
dem 7. December 1646 dem großen Kurfürſten vermählt), pflegte
ihren Gemahl auf ſeinen Jagdausflügen zu begleiten. Einer dieſer
Ausflüge führte das junge Paar im Laufe des Sommers 1650
auch in die Nähe von Bötzow, und hier war es, wo die junge
Fürſtin beim Anblick der lachenden Wieſen, die den Lauf der Havel
einfaßten, ſich lebhaft in die fruchtbaren Niederungen ihrer hollän-
diſchen Heimath zurückverſetzt fühlte und der Freude darüber den
unverkennbarſten Ausdruck gab. Der Kurfürſt, deſſen Herz Liebe
und Verehrung gegen die ſchöne, an Gaben des Geiſtes und Ge-
müthes gleich ausgezeichnete Frau war, ergriff mit Eifer die Ge-
legenheit, ihr ein erneutes Zeichen dieſer Liebe zu geben und
ſchenkte ihr das „Amt Bötzow mit allen dazu gehörigen Dörfern
und Mühlen, Triften und Weiden, Seen und Teichen.“ Die
Schenkung wurde dankbar angenommen, und an die Stelle des
alten Jagdhauſes aus der Zeit Joachims II. trat jetzt ein Schloß,
*)
14*
[212] das im Jahre 1652, in Huldigung gegen die Oranierin, deren
Eigenthum und Lieblingsſitz es inzwiſchen geworden war, den
Namen „die Oranienburg“ erhielt. In kürzeſter Friſt that auch
die zu Füßen des Schloſſes gelegene Stadt ihren alten Namen
Bötzow bei Seite und nahm den Namen Oranienburg an.
Das Jahr 1650 (eigentlich 52) bezeichnet alſo einen Wendepunkt;
bis dahin Burg und Stadt Bötzow, von da ab Schloß und
Stadt Oranienburg.
Auch die Geſchichte von Schloß Oranienburg, der wir uns
jetzt zuwenden, ſondert ſich in drei bemerkenswerthe Gruppen; in
die Zeit der Kurfürſtin Louiſe Henriette von 1650—1667, in die
Zeit ihres Sohnes, des erſten Königs, von 1688—1713 und in
die Zeit des Prinzen Auguſt Wilhelm, von 1744—1758. Alles
Andere wird nur in Kürze zu erwähnen ſein.
(Die Zeit Louiſe Henriettens von 1650—1667.)
Kaum war die Schenkungsurkunde ausgeſtellt, ſo begann auch die
Thätigkeit der hohen Frau, die durch den Anblick friſcher Wieſen
nicht nur an die Bilder ihrer Heimath erinnert, die auch vor Allem
einen Wohlſtand, wie ihn die Niederlande ſeit lange kannten,
hier in’s Daſein rufen und nach Möglichkeit die Wunden heilen
wollte, die der 30jährige Krieg dieſen ſchwer geprüften Landes-
theilen geſchlagen hatte. Koloniſten wurden in’s Land gezogen,
Häuſer gebaut, Vorwerke angelegt und alle zur Landwirthſchaft
gehörigen Einzelheiten alsbald mit Emſigkeit betrieben. Eine Meierei
entſtand und Gärten und Anlagen faßten alsbald das Schloß ein,
in denen der Gemüſebau, die Baum- und Blumenzucht das Inter-
eſſe der Kurfürſtin und die Arbeit der Koloniſten gleichzeitig in
Anſpruch nahmen. Sie war eine ſehr fromme Frau (ihr Leben
und ihre Lieder zeugen in gleicher Weiſe dafür) aber ihre Fröm-
migkeit war nicht von der blos beſchaulichen Art und neben dem
„bete“ ſtand ihr das „arbeite.“ Mild und wohlwollend wie ſie
war, duldete ſie doch keine Nachläſſigkeit, und in dieſem Sinne
[213] ſchrieb ſie z, B. am 27. April 1657 nach Oranienburg, daß es
ſchimpflich für alle Beamten und geradezu unverantwortlich ſei,
daß in allen Gärten nicht ſo viel Hopfen gewonnen werde, wie
zum Brauen erforderlich und könne davon nichts als eine ſchänd-
liche Faulheit die Schuld ſein.
Eine Muſterwirthſchaft nach Holländiſchem Vorbild ſollte hier
entſtehn, aber die Hauptaufmerkſamkeit der hohen Frau war doch
dem Schloßbau, der Gründung eines Waiſenhauſes und der Auf-
führung einer Kirche zugewendet. Von dem Schloßbau werden wir
ausführlicher zu ſprechen haben; nur der Kirche ſei ſchon hier in
aller Kürze erwähnt. Mit großer Munifizenz ausgeſtattet, war ſie
nur wenig über hundert Jahr eine Zierde der Stadt. Im Jahre
1788 brannte ſie nieder und nichts blieb übrig oder wurde aus
dem Trümmerhaufen gerettet als ein kleiner Sandſtein, der als
Inſchrift die Buchſtaben trägt: L. C. Z. B. G. P. V. O., M,
D. C. L. VIII. (Louiſe, Churfürſtin zu Brandenburg, geborene
Prinzeſſin von Oranien 1658). Dieſen Sandſtein hat man bei
Aufführung des kümmerlichen Neubaues, der ſeitdem an die Stelle
der alten Kirche getreten iſt, in die Außenwand, nahe dem Ein-
gang, eingefügt. Inſoweit gewiß mit Unrecht, als er nunmehr die
irrige Vorſtellung weckt, daß dieſer Bau es ſei, den die fromme
Werkthätigkeit der Kurfürſtin habe entſtehen laſſen.
Waiſenhaus und Kirche entſtanden unter der chriſtlichen Für-
ſorge Louiſe Henriettens, aber früher als beide, entſtand ihr Wohn-
ſitz, das Schloß ſelber. Die Frage drängt ſich uns auf: wie war
dies Schloß? Es war, nach allgemeiner Annahme, ein drei Stock
hohes, fünf Fenſter breites Gebäude von Würfelform, das nur
mittelſt eines ſtattlichen Frontiſpice’s den Character eines Schloſſes
erhielt. Dies Frontiſpice war drei Fenſter breit und vier Stock
hoch, ſo daß es nicht nur das Hauptſtück der ganzen Front bil-
dete, ſondern auch den übrigen Theil des Gebäudes thurmartig
überragte. Auf dem flachen Dache befand ſich ein mit einer Gallerie
umgebener Altan, auf dem ſich in der Mitte ein hoher und an
jeder der vier Ecken ein kleinerer Thurm erhob. Der Schloßhof
[214] war mit einem bedeckten Gange umgeben, auf deſſen Plattform
zur Sommerzeit zahlreiche Orangenbäume ſtanden. So war Schloß
Oranienburg in den Jahren, die ſeiner Gründung unmittelbar
folgten. Nichts davon iſt der Gegenwart geblieben, und wir wür-
den, da keine gleichzeitigen Pläne und Beſchreibungen exiſtiren,
darauf verzichten müſſen, uns eine Vorſtellung von dem damaligen
Anblick des Schloſſes zu machen, wenn nicht in dem Waiſenhauſe
ein großes für die Local-Geſchichte Oranienburgs höchſt werthvolles
Gemälde exiſtirte, das, früher den Prachtzimmern des Schloſſes
ſelber angehörig, ſpäter ein Unterkommen im Waiſenhauſe fand
und in Ermangelung anderer Anhaltepunkte am eheſten geeignet
iſt, uns über die Geſtalt der damaligen Oranienburg annähernden
oder doch muthmaßlichen Aufſchluß zu geben. Dies wandgroße
Bild (etwa 11 Fuß im Quadrat) von dem ſich eine gleichzeitige
Copie als Plafond-Gemälde in einem der Säle, wahrſcheinlich in
einem der Pavillon-Zimmer befand, ſtellt, unter Benutzung der
alten Dido-Sage, die Gründung Oranienburgs dar.
In der Mitte des Bildes erkennen wir das kurfürſtliche Paar,
angethan mit allen Abzeichen ihrer Würde; Louiſe Henriette als
Dido. Hinter dem Kurfürſten, den Speer in der Hand, ſteht der
Oberſt La Cave, während die Gräfin von Blumenthal, eine ſchöne,
ſtattliche Dame, die Schleppe der Kurfürſtin trägt. Weiter zurück,
der Gräfin Blumenthal zunächſt, erblicken wir den Oberjägermeiſter
von Hertefeld und einen von Rochow (die Angaben fehlen, welchen).
Alle die Genannten füllen die linke Seite des Bildes, während
zur Rechten des Kurfürſten der Geheimrath Otto von Schwerin
ſteht, in wenig ſchmeichelhafter Weiſe mit zurückgeſchlagenen Hemds-
ärmeln und im günſtigſten Fall in der Rolle eines behäbigen
Gerbermeiſters. Er hält eine Kuhhaut (mit der Inſchrift plus
outre, „immer mehr“) in der Linken, während er mit der Rechten
bemüht iſt, die Haut in Streifen zu ſchneiden. Dieſe Streifen
werden von drei oder vier geſchäftigen Dienern zur Abſteckung
einer weiten, ſich im Hintergrund markirenden Feldfläche benutzt,
aus deren Mitte ſich in grauweißer Farbe ein Schloß erhebt; nur
[215] ſkizzirt, aber doch deutlich genug erkennbar, um ein verſtändliches,
anſchauliches Bild zu geben. Dieſe Skizze, deren Details mit
Frontiſpice und Thürmen ich weiter oben beſchrieben habe, iſt der
einzige Anhaltepunkt, den wir für die damalige Form von Schloß
Oranienburg haben, ein Anhaltepunkt, deſſen Stichhaltigkeit aller-
dings ziemlich gerechtfertigten Bedenken unterliegt. *)
Schloß Oranienburg, wie es jetzt vor uns liegt, zeigt nichts
mehr von dem Bau, den ich vorſtehend beſchrieben habe; weder
Frontiſpice noch Säulengänge, weder Altan noch Thürme bieten
[216] ſich gegenwärtig dem Auge dar, und die Umwandlung, die im
Laufe von zwei Jahrhunderten erfolgte, iſt eine ſo vollſtändige ge-
weſen, daß es zweifelhaft bleibt, ob auch nur eine einzige Außen-
wand des oraniſchen Schloſſes ſtehen geblieben und dem Neubau,
der 1688 begann, zu gute gekommen iſt. Ein ähnliches Schickſal
hat über Allem gewaltet, was die fromme Oranierin mit ſo viel
Liebe und Eifer in’s Daſein rief. Von der Kirche ſprach ich ſchon,
ſie brannte nieder; ein gleiches Schickſal traf das Waiſenhaus, ſo
daß Alles, was die Kurfürſtin hier entſtehen ließ, wohl in Wort
und Weſen, aber nicht in ſeiner urſprünglichen Form auf
uns gekommen iſt. Das Schloß, die Kirche, das Waiſenhaus von
heute, ſie ſind nicht das Schloß, die Kirche, das Waiſenhaus von
damals, und ſeit wir nunmehr (ich verweiſe auf die vorſtehende
Anmerkung) aus der Lebensbeſchreibung Auguſtin Terweſtens mit
Beſtimmtheit wiſſen, daß das große, im Waiſenhauſe aufbewahrte
Bild nicht zwölf Jahre vor dem Tode Louiſe Henriettens, wohl
aber fünfundzwanzig Jahre nach dem Tode derſelben gemalt wor-
den iſt, ſo exiſtirt, mit alleiniger Ausnahme eines angeblichen Por-
traits der Kurfürſtin, das ebenfalls im Waiſenhausſaale aufbewahrt
wird, in Stadt und Schloß Oranienburg nichts mehr, was ſich
mit einiger Beſtimmtheit auf die Epoche der Oranierin zurückführen
ließe. Aber leider ſind auch gegen die Aechtheit dieſes eben genann-
ten Portraits begründete Zweifel zu erheben, begründet ſchon da-
durch, daß dieſes Bruſtbildniß nicht die geringſte Aehnlichkeit mit
jener wirklichen und hiſtoriſch beglaubigten Louiſe Henriette zeigt,
der wir auf dem Terweſten’ſchen Bilde begegnen. Dies Bruſtbild
(übrigens vortrefflich gemacht) iſt ſehr wahrſcheinlich das Portrait
einer ganz anderen fürſtlichen Dame und zwar, wenn mein Ge-
dächtniß mich nicht täuſcht, das Porträt der Königin Marie von
England, der Gemahlin Wilhelms von Oranien, älteſten Tochter
des vertriebenen Jacobs II. Es iſt wahr, ſie trägt einen Orange-
blüten-Zweig (ich bin nicht völlig ſicher mehr, ob in Haar oder
Hand), aber wenn dieſer Schmuck überhaupt mehr als ein Zufall
und wirklich, was noch dahin ſteht, von ſinnbildlicher Bedeutung
[217] iſt, ſo konnte ihr dieſe Huldigung allenfalls eben ſo gut als Ge-
mahlin des Oraniers, wie als einer gebornen Prinzeſſin von
Oranien dargebracht werden. Kein Kupferſtich exiſtirt, der uns dieſe
oder auch nur verwandte Züge als das Bildniß Louiſe Henriettens
überlieferte, und ſo war es in der That wohlgethan, daß unſer
Bildhauer Friedrich Wilhelm Wolff, als ihm der Auftrag wurde,
das Standbild Louiſe Henriettens für die Stadt Oranienburg zu
fertigen, an dem Reiz dieſes Bildes (es iſt ein ſehr anſprechendes
Geſicht) vorüberging und die Züge der Kurfürſtin nach jenem
minder reizvollen Kopf modellirte, dem wir auf dem großen Bilde
Terweſtens begegnen. Wolff, ein geborner Fehrbelliner und halb
Nachbarskind von Oranienburg, unterzog ſich der ihm gewordenen
Aufgabe mit Liebe und Geſchick, und ſeit dem Herbſte 1858 er-
hebt ſich auf dem Schloßplatz zu Oranienburg das überlebens-
große Erzbildniß der frommen Frau, die beide, Schloß wie Stadt,
mit ihrem Namen und ihrer eignen Geſchichte auf immer verwob.
„Der hohen Wiederbegründerin dieſer Stadt, Louiſe Henriette,
Kurfürſtin von Brandenburg, geb. Prinzeſſin von Oranien, zum
dauernden Gedächtniß die dankbare Bürgerſchaft Oranienburgs,“
ſo lautet die Inſchrift. Was ſie ſchuf, es hat das Kleid gewechſelt
ſeitdem, aber die Dinge blieben, der Segen lebt fort und mit ihm
der Name und das Gedächtniß der Gründerin.
(Die Zeit FriedrichsIII.von 1688—1713.) Schloß
Oranienburg war, wie wir es geſchildert haben, ein Bau von
mäßigen Dimenſionen (nur fünf Fenſter breit), als 1688, nach
dem Tode des großen Kurfürſten, der prachtliebende Friedrich III.
zur Regierung kam. Es war eine Zeit für die bildenden Künſte
in unſerem Lande, wie vielleicht keine zweite, *) zumal wenn man
die verhältnißmäßig beſcheidenen Mittel in Anſchlag bringt, die
[218] dem fürſtlichen Bauherrn zur Verfügung ſtanden. Schloß Koepenick,
wo der Kurfürſt die letzten Jahre vor ſeiner Thronbeſteigung zu-
gebracht hatte, wurde zuerſt beendet; dann folgte, mit einer Muni-
ficenz, die noch weit über das hinausging, was in Koepenick ge-
leiſtet worden war, der Ausbau des Oranienburger Schloſſes. Ob
der Kurfürſt damals die Abſicht hatte, das Schloß an der Ober-
Havel zu ſeinem bevorzugten Aufenthalt zu machen, oder ob er
ſeiner Stiefmutter, der holſtein’ſchen Dorothea, in nicht mißzuver-
ſtehender Weiſe zeigen wollte, wie heilig, wie werth ihm die
Schöpfung und Hinterlaſſenſchaft ſeiner rechten Mutter ſei; gleich-
viel, Schloß Oranienburg wuchs alsbald aus ſeiner engen Um-
grenzung heraus und ein Prachtbau ſtieg empor, wie die Marken
damals, mit alleiniger Ausnahme des Schloſſes zu Cölln an der
Spree, keinen zweiten aufzuweiſen hatten. Von 1688 bis 1704
dauerte der Bau, und das Schloß nahm im Weſentlichen die Ge-
ſtalt und Dimenſionen an, worin wir es noch jetzt erblicken. An
ein reich ornamentirtes Mittelſtück (corps de logis) lehnten ſich
zwei Vorder- und zwei Hinterflügel, zwiſchen denen ein nach einer
Seite hin geöffneter Hofraum lag. Ganz wie jetzt. Am Ende jedes
der vier Flügel erhob ſich ein Pavillon und das corps de logis
trug zwiſchen dem Dach und den Fenſtern des dritten Stockes die
Frontal-Inſchrift: A Ludovica princip. Auriac. matre optima
exstruct. et nom. gentis insignit. aedes Friedericus Tertius
Elector in memoriam Parentis piissimae ampliavit, ornavit,
auxit MDCXC. (Dies von der beſten Mutter, der Prinzeſſin
von Oranien, Louiſe, gebaute und durch den Namen ihres Ge-
ſchlechts ausgezeichnete Schloß hat der Kurfürſt Friedrich III. zum
Gedächtniß der frömmſten Mutter erweitert und geſchmückt im Jahre
1690.) Dieſe Inſchrift exiſtirt noch.
Es kann nicht Zweck dieſer Zeilen ſein, mit Hülfe noch vor-
handener Aufzeichnungen den Leſer durch eine lange Reihe von
Prachtzimmern und Gallerien, von Sälen und Porzellan-Cabinetten
zu führen, von denen, mit Ausnahme weniger Zimmer, die ich
gegen den Schluß des Aufſatzes hin zu beſchreiben gedenke, auch
[219] jede Spur verloren gegangen iſt; nur Einiges werde ich hervor-
zuheben haben, um wenigſtens eine Andeutung von dem Reich-
thum zu geben, der innerhalb dieſer Mauern heimiſch war. In
dem Treppenhaus, das faſt die halbe Breite des corps de logis
einnahm, ſprang eine Fontaine und trieb den Waſſerſtrahl bis in
das dritte Stock hinauf; die Treppe ſelbſt aber war unten mit
vier Jaspis- und weiter oben mit vier Marmorſäulen geſchmückt.
An der gewölbten Decke waren die vier Laſter des Hofes: Gleis-
nerei, Verleumdung, Neid und Habſucht dargeſtellt, wie ſie von
eben ſo vielen Engeln aus dem Himmel geſtürzt werden. Decken-
gemälde, zum Theil ähnlichen ſymboliſchen Inhalts, befanden ſich
in faſt allen größern Sälen. Im Vorzimmer des Königs befand
ſich (an den Plafond gemalt) eine Copie des großen, vielerwähn-
ten Terweſten’ſchen Bildes, während im ſogenannten „Orangeſaal“
ein anderes großes Deckengemälde die Verherrlichung des Orani-
ſchen Hauſes ſymboliſch darſtellte. In der Mitte deſſelben erblickte
man eine weibliche Figur mit dem Oraniſchen Wappen und einem
Orange-Bouquet im Haar, während ſie zugleich eine Schnur mit
Medaillons in Händen hielt, wodurch die Geſchlechtsfolge des Hau-
ſes Oranien veranſchaulicht werden ſollte. Neid und Verrätherei
mühen ſich, die Schnur zu zerreißen, aber ein Blitzſtrahl aus den
Wolken fährt zwiſchen ſie.
In demſelben Saale befanden ſich die Bildniſſe der Fürſten
von Oranien von 1382 ab, daneben aber das Porträt König
Friedrichs I. ſelbſt, mit dem bekannten Diſtichon als Unterſchrift,
durch das einſt der Königsberger Dichter Bödecker die Geburt
Friedrichs verherrlicht und ſeine künftige Königſchaft vorhergeſagt
hatte:
(Königsberg heißt die Geburtsſtadt des Prinzen Friedrich; was folgt
draus?
Muſen kündet es laut: König wird Friedrich uns ſein.)
[220]
So waren Säle und Treppenhaus; faſt noch prächtiger war
die Capelle: die Wände waren mit Marmor bekleidet und die Decke
mit Kirchenbildern geziert, während der Altartiſch auf vier vergol-
deten Adlern ruhte. Biſchof Urſinus hielt hier 1704 die Einwei-
hungsrede. Nun iſt Alles hin, Alles verweht und zerſtoben; nur
Orgel, Kanzel und königliche Loge exiſtiren noch; ſie ſind nach
Franzöſiſch-Buchholz hin verpflanzt worden und zieren dort die
Kirche bis dieſen Tag.
So war Schloß Oranienburg in den Tagen, die der orani-
ſchen Prinzeſſin unmittelbar folgten. Wir fragen weiter, wie war
das Leben in dieſen Räumen? Darüber liegen leider wenige
Aufzeichnungen vor und wir müſſen auf Umwegen und durch
Schlüſſe zu einem Reſultat zu gelangen ſuchen. Daß der Kurfürſt
häufig hier verweilte, geht weniger aus der Reichthumsfülle hervor,
mit der er das Schloß ausſtattete (eine prächtige Ausſtattung ver-
räth noch keine perſönliche Theilnahme, keine Herzensbeziehungen),
als aus dem Eifer, mit dem er die Herrſchaft Oranienburg zu er-
weitern und die einzelnen Dörfer, wie vorgeſchobene Poſten, in
Einklang mit dem Schloſſe ſelbſt zu bringen ſuchte. Dieſe
ſorgliche Faſſung, die er dem ſchönen Steine gab, bewies am
beſten, wie ſehr er an dem Steine ſelber hing. So wurden Grabs-
dorf und Lehnitz, Coſſebant und Perwenitz, vier in der Nähe ge-
legene Güter, angekauft und in Vorwerke oder Koloniedörfer um-
gewandelt. Grabsdorf erhielt ein Jagdſchloß, das innerhalb ſeiner
ſchmuckloſen Mauern bis dieſen Augenblick noch die eiförmigen
Zimmer zeigt, die, nach damaliger Mode, ihm gegeben wurden.
Dabei wurde der Name Grabsdorf, der an unbequeme Dinge
erinnern mochte, bei Seite gethan und in „Friedrichsthal“ umge-
wandelt, unter welcher Bezeichnung Dorf und Jagdſchloß bis die-
ſen Tag noch vorhanden ſind. Auch Coſſebant verlor ſeinen alten
Namen und trat die Erbſchaft des vakant gewordenen Namen
„Bötzow“ an. Das heutige Bötzow hat alſo nichts gemein mit
Burg und Stadt Bötzow, die bis 1650 an Stelle des jetzigen
[221] Oranienburg zu finden waren, ſondern iſt ein in der Nähe gele-
genes Dorf, das bis 1694 den Namen Coſſebant führte.
Dieſe Neuſchöpfungen, mit denen der Kurfürſt Schloß Ora-
nienburg umgab, beweiſen genugſam, daß dies Havelſchloß, dies
Vermächtniß von der Mutter her, ein bevorzugter Aufenthalt des
Kurfürſten und ſpätern Königs war, aber auch einzelne Berichte
ſind uns zur Hand, die uns, trotz einer gewiſſen Dürftigkeit der
Details, den Kurfürſten (damals ſchon König) direct an dieſer
Stelle zeigen. „Im Sommer 1708,“ ſo erzählt Poellnitz, „riethen
die Aerzte dem Könige, das Karlsbad in Böhmen zu gebrauchen,
wohin er ſich im Laufe des Sommers auch wirklich begab. Vor-
her war er in Oranienburg und hatte auf dem dortigen Schloſſe
eine Zuſammenkunft mit dem regierenden Herzog von Mecklenburg-
Schwerin (Friedrich Wilhelm). Dieſe Zuſammenkunft war nicht
ohne Bedeutung: ſie hatte zunächſt nur eine Erneuerung und Be-
ſtätigung des alten Erbfolgevergleichs im Auge, der im Jahre
1442, zu Wittſtock, zwiſchen Friedrich II. (dem Eiſernen) und den
Herzögen von Mecklenburg, geſchloſſen worden war, mußte aber
natürlich, da man Gefallen an einander fand, einige Monate ſpäter
die Schritte weſentlich erleichtern, die (im November 1708) zu
einer dritten Vermählung des Königs, und zwar mit Luiſa Do-
rothee, der Schweſter des regierenden Herzogs von Mecklenburg
führten. „Am 24. November,“ ſo fährt unſere Quelle fort, „traf
die neue Königin in Oranienburg ein und wurde daſelbſt vom
Könige und dem ganzen Hofe empfangen. Nachdem die Vorſtellung
aller Prinzen und Prinzeſſinnen ſtattgefunden hatte, verließ man
das Schloß und begab ſich nach Berlin, wo am 27. deſſelben
Monats die Königin ihren feierlichen Einzug hielt.“ Der König,
trotz ſeiner Jahre, war anfänglich von der Königin bezaubert;
keine Ahnung beſchlich ſein Herz, daß vier Jahre ſpäter dieſelbe
Prinzeſſin geiſtesgeſtört, wie eine Mahnung des Todes, an ihn
herantreten werde. Das war im Berliner Schloß, in den Januar-
tagen 1713. Der König, krank ſchon, ruhte auf einem Armſtuhl
und war eben eingeſchlummert, als er ſich plötzlich angefaßt und
[222] aus dem Schlaf gerüttelt fühlte. Die geiſteskranke Königin, die
eine Glasthür erbrochen hatte, ſtand weißgekleidet und mit bluten-
den Händen vor ihm. Der König verſuchte ſich aufzurichten, aber
er ſank in ſeinen Stuhl zurück. „Ich habe die weiße Frau ge-
ſehen.“ Wenige Wochen ſpäter hatte ſich die alte Prophezeihung
ſeines Hauſes an ihm erfüllt. Nicht zu ſeinem Glück hatte die
mecklenburgiſche Prinzeſſin das Land und als erſte Stufe zum
Thron, die Marmortreppe von Schloß Oranienburg betreten.
(Die Zeit des Prinzen Auguſt Wilhelm von 1744 bis
1758.) Der Tod König Friedrichs I. traf keinen Punkt des
Landes härter als Oranienburg; bis dahin ein Lieblingsſitz, wurde
es jetzt von der Liſte der Reſidenzen ſo gut wie geſtrichen. Dem
Soldatenkönige, deſſen Sinn auf andere Dinge gerichtet war als
auf Springbrunnen und künſtliche Grotten, genügte es nicht, die
Schöpfung ſeines Vaters ſich ſelbſt zu überlaſſen; er griff, voll
feſten und praktiſchen Sinnes, ſelbſtändig mit ein, um die, in ſei-
nen Augen halb nutzloſe, halb koſtſpielige Hinterlaſſenſchaft nach
Möglichkeit zu verwerthen. Bauten wurden abgebrochen und die
Materialien verkauft; die Faſanerie, das Einzige, woran er als
Jäger ein Intereſſe hatte, kam nach Potsdam; die 1029 Stück
eiſerne Röhren aber, die der Waſſerkunſt im Schloſſe das Waſſer
zugeführt hatten, wurden auf neun Oderkähnen nach Stettin ge-
ſchafft.
Schloß und Park verwilderten. Wie das Schloß im Mär-
chen, eingeſponnen in undurchdringliches Grün, lag Oranienburg
da, als 31 Jahre nach dem Tode des erſten Königs ſein Name
wieder genannt wurde. Im Jahre 1744 war es, wo Friedrich II.,
in Betreff ſeiner Brüder, allerhand Ernennungen und Entſchei-
dungen traf. Prinz Heinrich erhielt Rheinsberg, Prinz Ferdinand
das Palais und den Garten in Neu-Ruppin; der älteſte Bruder
Auguſt Wilhelm aber, unter gleichzeitiger Erhebung zum Prinzen
von Preußen, wurde mit Schloß Oranienburg belehnt.
[223]
Ueber die baulichen Veränderungen, die in dieſe Epoche von
1744 bis 58 fallen, wiſſen wir nichts; muthmaßlich waren ſie
allergeringfügigſter Natur; aber einzelne Berichte von Bielefeld und
namentlich von Poellnitz ſind auf uns gekommen, die uns zum
erſten Mal Gelegenheit geben, die bis hierher nur äußerlich be-
ſchriebenen Prachträume, auch mit Geſtalten und Scenen zu be-
leben. Der Prinz bewohnte nur einen einzigen Flügel, alſo unge-
fähr den fünften Theil des Schloſſes, aber die entſprechenden Zim-
mer genügten vollſtändig, zumal zur Sommerzeit, wo der Park
und ſeine Laubengänge aushelfen konnte. Bielefeld entwirft von
dieſem Park folgende anſprechende Schilderung: „Den großen, nach
Le Notre’s Plan angelegten Garten, fand ich, durch die Verwil-
derung, zu der die lange Zeit von 1713—44 vollauf Gelegenheit
gegeben hatte, wunderbarerweiſe verſchönt. Die ſeit 1713 nicht
mehr verſchnittenen Buchenhecken haben ſich verwachſen und ver-
ſchlungen und bilden einen Gang, der ſo dicht jetzt iſt, daß weder
Sonne noch Wind hindurchdringen kann. In der größten Mittags-
hitze gewährt er Kühlung und Schatten und Abends ſpeiſt man
darin, ohne daß die Luft die Kerzen auslöſcht. Ein geſchickter
Gärtner, der die Verwilderung benutzte, hat viele geſchmackvolle
Gartenhäuſer aus der Erde wachſen laſſen.“ Dieſe Schilderung
paßt noch heut’; nur die Gartenhäuſer ſind ſeitdem wieder ver-
ſchwunden.
Prinz Auguſt Wilhelm lebte nur zeitweilig in Oranienburg;
ſein Regiment (das Regiment Prinz von Preußen) ſtand zu Span-
dau in Garniſon und die Pflichten des Dienſtes feſſelten ihn an
den Standort ſeines Regiments. Aber die Sommermonate führten
ihn ſo oft und ſo lange wie möglich nach dem benachbarten, durch
Stille und Schönheit einladenden Oranienburg, und hier war es
auch, wo er im April 1745 den Beſuch ſeiner Mutter, der ver-
wittweten Königin Sophie Dorothee empfing. Ueber dieſen Beſuch
liegt uns die Schilderung eines Augenzeugen vor, — unverkennbar
Poellnitz ſelber, wenn ſein Name auch nicht ausdrücklich genannt iſt.
Am 14. April, ſo heißt es darin, brach die Königin Mutter
[224] von Berlin auf und traf am Nachmittag deſſelben Tages in Ora-
nienburg ein. Ihr Hofſtaat folgte ihr in einer langen Reihe von
Karoſſen, wohl dreißig an der Zahl. Die Prinzeſſin Amalie ſaß
im Wagen der Königin. Sobald dem Prinzen Auguſt Wilhelm
das Herannahen des Zuges gemeldet war, eilte er die große Allee
hinauf, dem Zuge entgegen, ſprang angeſichts des Wagens der
Königin Mutter vom Pferde und begrüßte ſie, indem er entblößten
Hauptes an den Schlag des Wagens trat. Dann ſchwang er ſich
raſch wieder in den Sattel und eilte dem Zuge in geſtrecktem
Galopp vorauf, um vor dem Eingang des Schloſſes die Honneurs
machen zu können. Ihm zur Seite ſtanden ſeine Gemahlin die
Prinzeſſin von Preußen (eine geborne Prinzeſſin von Braunſchweig),
die Prinzen Heinrich und Ferdinand, außerdem die Hofdamen von
Wollden, von Henckel, von Wartensleben, von Kamecke, von Hacke,
von Pannewitz und von Kannenberg. Die Königin umarmte ihre
Söhne auf’s zärtlichſte, begrüßte die Umſtehenden und wurde dann
die große Treppe hinauf in das für ſie beſtimmte Schlafgemach
geführt, daſſelbe, das König Friedrich I. bei ſeinen Beſuchen in
Schloß Oranienburg zu bewohnen pflegte. Die Königin fand in
dieſem Zimmer ein Staatsbett von rothem Dammaſt vor, eben ſo
einen Fauteuil, einen Ofenſchirm und vier Tabourets von demſel-
ben Stoff und derſelben Farbe. Bald, nachdem die hohe Frau ſich
eingerichtet und an dem Anblick von Park und Landſchaft erfreut
hatte, erſchien der Prinz, um ihr drei ſchöne Figuren von Dresdner
Porzellan zu überreichen, an denen die Königin Mutter, wie der
Prinz wußte, eine beſondere Freude zu haben pflegte. Aber die
Königin Mutter war es nicht allein, an die ſich die Aufmerkſam-
keiten dieſes liebenswürdigen Prinzen richteten, auch Baron von
Poellnitz wurde einer ähnlichen Aufmerkſamkeit gewürdigt. Seine
Königliche Hoheit kannten ſehr wohl die Vorliebe des alten Barons
(v. Poellnitz) für alle Antiquitäten und Curioſitäten aus der Zeit
König Friedrichs I. her, der ihm immer ein guter und gnädiger
Herr geweſen war, und eingedenk dieſer Vorliebe, überreichten
Seine Königliche Hoheit dem alten Baron eine reich mit Gold
[225] geſtickte Morgenmütze und ein Paar Pantoffeln, deren ſich König
Friedrich I. bei ſeinen Beſuchen in Oranienburg zu bedienen pflegte
und die nun ſeit über 32 Jahren unbeachtet und ungewürdigt in
einer halb vergeſſenen Truhe geſteckt hatten. Nach Sonnenunter-
gang folgten Promenaden in den Park; dann wurden Spieltiſche
arrangirt, bis gegen 10 die willkommene Nachricht, daß das Souper
angerichtet ſei, das Spiel unterbrach. Welche Feinheiten und Ueber-
raſchungen aus dem Bereich der Küche, welche hochqualificirten
Weine, welch’ Frohſinn, welche Heiterkeit der Gäſte! Und doch zu-
letzt vollzog ſich das Unvermeidliche, was ſchon König Dagobert
ſeinerzeit ſo bitter beklagt hat, daß auch die beſte Geſellſchaft ihr
Ende habe und ſich trennen müſſe.
Das war am 14. April. Früh am andern Morgen und
früher faſt als uns lieb war, weckten uns ungewohnte Klänge;
der Hirt trieb ſeine Heerde, am Schloß vorbei, auf die friſchen
Felder hinaus. Den Beſchluß machte ein Stier von ſo extra-
eleganter Schönheit, daß er kein anderer als der wohlbekannte
glückliche Liebhaber der Jungfrau Europa ſein konnte, ja die Art,
wie er ſich trug, dazu die Kraft ſeiner Bruſttöne, ſchienen andeuten
zu wollen, daß er ein Erſcheinen unſerer Damen an den verſchiedenen
Fenſtern des Schloſſes erwartet habe; aber er ſah ſich getäuſcht,
unſere Damen, die die Geſchichte geleſen haben mochten, fürchteten
ſich und hielten ſich zurück, um ſich und ihre Reize nicht ähn-
lichen Gefahren auszuſetzen. Wie dem immer ſei, der Morgen-
ſchlummer war geſtört und an die Stelle des Schlafs, der nicht
wieder kommen wollte, traten Promenaden in leichtem, flatterndem
Morgenkoſtüm, und nach eingenommenem Frühſtück, die gegen-
ſeitigen Beſuche. Die Prinzeſſin Amalie empfing die Huldigungen,
die ihrer Schönheit dargebracht wurden; ſie trug ein Corſet von
ſchwarzem Atlas, das mit weißer Seide geſteppt war und darunter
ein ſilber-geſticktes Kleid mit natürlichen Blumen aufgenommen.
In dieſem Koſtüm ſtand ſie da und übte ſich im Flötenſpiel:
Euterpe ſelbſt hätte ſie beneiden können.
Nach Tiſch empfing die Königin Mutter alle anweſenden
15
[226] Damen in ihrem Bettzimmer; diejenigen, die eine Handarbeit dem
Kartenſpiel vorzogen, ſetzten ſich auf Tabourets, um die Königin
her, während Baron Poellnitz ſeinen Platz als Vorleſer einnahm
und in der Lektüre von „La Mouche oder die Abenteuer des Mr.
Bigaud“ fortfuhr. Die Königin folgte der Vorleſung und zog
Goldfäden aus (se mit à effiler de l’or). Den Beſchluß des
Tages machte ein Ball in dem hell erleuchteten Tanzſaal, woran
ſich ein Souper in dem Staatszimmer, am Ausgang der Porzellan-
Gallerie, anſchloß. Als die Königin eben in das Staatszimmer
eintrat, bemerkte ſie durch die hohen, gegenübergelegenen Fenſter-
flügel, wie es plötzlich, inmitten des dunklen Parks, wie ein Flam-
menbaum aus der Erde wuchs. Immer deutlicher geſtaltete ſich
das Bild, bis es endlich wie ein feuriger Laubengang daſtand, der
an höchſter Stelle eine Krone und darunter die Worte: „Vivat
Sophia Dorothea“ trug.
So lebte man 1745 in Oranienburg. Sechs Wochen ſpäter
wurde die Schlacht bei Hohenfriedberg geſchlagen, an welcher Prinz
Auguſt Wilhelm, der eben noch Zeit zu Geplauder und Feuerwerk
gehabt hatte, einen rühmlichen Antheil nahm.
Die Beziehungen der drei jüngern Prinzen (Auguſt Wilhelm,
Heinrich und Ferdinand) zu ihrem älteren Bruder, dem Könige,
waren damals noch kaum getrübt. Es iſt wahr, ſie lebten, zumal
wenn ſie in Potsdam, alſo in ſeiner unmittelbaren Nähe waren,
unter einem gewiſſen Druck, aber man fand dieſen Druck gleichſam
in der Ordnung; er war der älteſte, der begabteſte und — der
König. Dabei ließ er es ſeinerſeits, um ſtrengen Forderungen ein
Gegengewicht zu geben, an Huldigungen nicht fehlen und beſonders
war es der „Prinz von Preußen,“ für den er die zarteſten Auf-
merkſamkeiten hatte. Er widmete ihm ſein großes Gedicht „die
Kriegskunſt,“ er widmete ihm ferner „die Geſchichte ſeines Hauſes“
und ſprach es in der meiſterhaften Widmung dieſes Werkes vor
der ganzen Welt und vor der Zukunft aus, warum er dieſen
ſeinen Bruder, der ihn einſt beerben ſolle, als Freund und
Fürſten beſonders liebe. „Die Milde, die Humanität Ihres
[227] Charakters iſt es, die ich ſo hoch ſchätze; ein Herz, das der Freund-
ſchaft offen iſt, iſt über niedern Ehrgeiz erhaben; Sie kennen kein
anderes Gebot, als das der Gerechtigkeit, und keinen andern
Willen, als den Wunſch, die Hochſchätzung der Weiſen zu ver-
dienen.“
So war das Verhältniß zwiſchen den beiden Brüdern, als
die ſchweren Tage, die dem Unglückstage von Kollin folgten, dieſem
ſchönen Einvernehmen plötzlich ein Ziel ſetzten. Prinz Auguſt Wil-
helm erhielt bekanntlich den Oberbefehl über diejenigen Truppen,
die ihren Rückzug nach der Lauſitz nehmen ſollten; Winterfeldt
wurde ihm beigegeben. Die Sachen gingen ſchlecht und bei end-
licher Wiederbegegnung der beiden Brüder fand jene furchtbare
Scene ſtatt, die Graf Schwerin, der Adjutant Winterfeldt’s, mit
folgenden Worten beſchrieben hat: „Ein Parolekreis wurde ge-
ſchloſſen, in dem der Prinz und alle ſeine Generale ſtanden. Nicht
der König trat in den Kreis, ſondern Winterfeldt ſtatt ſeiner.
Im Auftrage des Königs mußte er ſagen: „Sie hätten Alle
verdient, daß über ihr Betragen ein Kriegsrath gehalten würde,
wo ſie dann dem Spruch nicht entgehen könnten, die Köpfe zu
verlieren; indeß wolle der König es nicht ſo weit treiben, weil er
im General auch den Bruder nicht vergeſſe.“ „Der König ſtand
unweit des Kreiſes,“ ſo fährt Graf Schwerin fort, „und horchte,
ob Winterfeldt ſich auch ſtrikte der ihm anbefohlenen Ausdrücke
bediene. Winterfeldt that es, aber mit Schaudern, und
er konnte den Eindruck ſeiner Worte ſogleich ſehen, denn der Prinz
trat augenblicklich aus dem Kreiſe und ritt, ohne den König zu
ſprechen, nach Bautzen.“
Im Spätherbſt deſſelben Jahres finden wir den Prinzen wie-
der in Oranienburg, an ſelbiger Stelle, wo er uns zuerſt als
liebenswürdiger und aufmerkſamer Sohn und geübt in den feinen
Künſten der Ueberraſchung, entgegentrat. Aber wir finden ihn jetzt
in Einſamkeit und gebrochenen Herzens. Ob er ſich in ſeiner Liebe
zum König oder in ſeiner eignen Ehre ſchwerer getroffen fühlte, iſt
ſchwer zu ſagen. Gleichviel, unheilbare Krankheit hatte ſich ſeiner
15*
[228] bemächtigt und er litt an Leib und Seele. Ueber die letzten Mo-
mente ſeines Lebens iſt nichts Beſtimmtes aufgezeichnet, doch ver-
dank’ ich den Mittheilungen einer Dame, die noch den Hof des
Prinzen Heinrich und dieſen ſelbſt gekannt hat, allerlei Züge und
Andeutungen, aus denen genugſam erhellt, daß der Ausgang ſo
erſchütternd wie möglich war. Die Gemüthskrankheit hatte ſchließ-
lich die Form eines nervöſen Fiebers angenommen und die Bilder
von Perſonen und Scenen, die ſeine Seele ſeit jenem Unglücks-
tage nicht los geworden war, traten jetzt aus ſeiner Seele heraus,
nahmen Geſtalt an und ſtellten ſich wie faßbar und leibhaftig an
ſein Lager. Den Schatten Winterfeldt’s rief er an, und als ſich
die Geſtalt nicht bannen ließ, ſprang er auf, um vor dem Gehaßten
und Gefürchteten zu fliehen. Das waren die letzten Momente Prinz
Auguſt Wilhelms; er ſtarb im Fieber, am 12. Juni 1758, im
Schloſſe zu Oranienburg. Der König war bei der Nachricht von
ſeinem Tode tiefgebeugt; im Volke hieß es, er ſei vor Gram ge-
ſtorben. 1790 errichtete ihm ſein jüngerer Bruder Heinrich den
oft beſchriebenen Obelisken, gegenüber dem Rheinsberger Schloß,
nachdem die ſterblichen Ueberreſte des Prinzen ſchon früher im
Rheinsberger Parke beigeſetzt worden waren. Dieſer Punkt iſt in
Dunkel gehüllt, weshalb ich hier — damit Eingeweihtere entſchei-
den mögen — die alte Verſion und meine eignen Aufzeichnungen
aus dem Rheinsberger Park zuſammenſtelle. Prediger Ballhorn in
ſeiner Geſchichte Oranienburgs ſchreibt: „Seine Leiche wurde zuerſt
in einem Gewölbe der hieſigen Kirche aufbewahrt, dann aber am
10. Juli von ſeinem Regimente nach Berlin abgeführt. Prinz
Heinrich widmete ihm zu Rheinsberg ein prachtvolles Monument,
das zugleich die Urne umſchließt, in welcher ſein Herz
aufbewahrt wird.“ Zwei Dinge erſcheinen hierin unrichtig: erſt-
lich ſtand das Regiment des Prinzen von Preußen damals im
Felde (Friedrich der Große ſchreibt eigens: „der Anblick des prinz-
lichen Regiments erneuert mir jedesmal den Schmerz um ihn“)
und zweitens befindet ſich die Urne nicht eingeſchloſſen im Monu-
ment, ſondern ſteht frei und offen an einer ganz andern Stelle
[229] des Parks. Dieſe Stelle, in unmittelbarer Nähe des „bekannten
Theaters im Grünen“ gelegen, zeigt unter einer Baumgruppe zwei
Marmorarbeiten: eine große Urne auf einem Piedeſtal und zweitens
eine Art Herme, die aber ſtatt des Hermenkopfes die trefflich aus-
geführte Büſte des Prinzen Auguſt Wilhelm trägt. Beide Arbeiten
ſtehen ſich, in Entfernung von etwa ſechs Schritt, einander gegen-
über. Das Piedeſtal der Urne trägt die Inſchrift: „Hic cineres
Marmor exhibit,“ und darunter: August Gullielm, Princeps
Prussiae Natus Erat IX Die Mens. Aug. Ann. 1722. Obiit
Die XII Mens Jun. Anno 1758.“ Die Inſchrift unter der
Büſte aber lautet: „Hic Venustum Os Viri, veritatis, virtu-
tis, patriae amantissimi.“ (Hier das freundliche Antlitz des
Lieblings der Wahrheit, der Tugend, des Vaterlands.)
Die erſte dieſer Inſchriften: „Hic eineres Marmor ex-
hibit,“ alſo: „dieſe Urne umſchließt ſeine Aſche,“ ſchafft die eigent-
liche Streitfrage. Ruht der Prinz Auguſt Wilhelm, ſo müſſen wir
nunmehr fragen, im Dom zu Berlin, oder ruht er (laut vor-
ſtehender Inſchrift) im Rheinsberger Park? Vielleicht müßte die
Inſchrift lauten: „Dieſe Urne umſchließt die Aſche ſeines Her-
zens.“ Dann hätte Paſtor Ballhorn in der Hauptſache Recht,
nur nicht hinſichtlich der Aufſtellung der Urne.
An jenem Tage, als der Prinz Auguſt Wilhelm aus dem
Schloßportal getragen wurde und 50 Bürger dem Sarge folgten,
um ihm bis Havelhauſen das Geleit zu geben, an jenem Tage
ſchloß das Leben in Schloß Oranienburg überhaupt. Auf ein
Jahrhundert voll Glanz und lachender Farben folgte ein anderes
voll Oede und Verwahrloſung. Andere Zeiten kamen; der Ge-
ſchmack ging andere Wege, — Schloß Oranienburg war vergeſſen.
1802 wurde der prächtige alte Bau, deſſen zahlreiche Decken-
gemälde allein ein bedeutendes, wenn auch freilich todtes Capital
repräſentirten, für 12000 Thaler mit all und jeglichem Zubehör
verkauft und der Käufer nur zur Herausgabe der Eingangs er-
[230] wähnten vier Jaſpis- und vier Marmorſäulen (im Treppenhauſe)
verpflichtet. Schloß Oranienburg wurde eine Kattun-Manu-
faktur. Wo die Edeldamen auf Tabourets von rothem Dammaſt
geſeſſen und der Vorleſung des alten Poellnitz gelauſcht hatten,
während die Königin-Mutter Goldfäden aus alten Brokaten zog,
klapperten jetzt die Webſtühle und lärmte der alltägliche Betrieb.
Aber noch triſtere Tage kamen, Krieg und Feuer, bis endlich in
den zwanziger Jahren ein chemiſches Laboratorium, eine Schwefel-
ſäure-Fabrik, hier einzog. Die Schwefeldämpfe ätzten und beitz-
ten den letzten Reſt alter Herrlichkeit hinweg. Ich entſinne mich
der Jahre, wo ich als Kind dieſes Weges kam und von Platz
und Brücke aus ängſtlich nach dem unheimlichen alten Bau her-
überblickte, der, grau und rußig, in Qualm und Rauch dalag,
wie ein Gefängniß oder Landarmenhaus, aber nicht wie der Lieb-
lingsſitz Friedrichs I.
Nun iſt das alte Schloß der Kolben und Retorten wieder
los und ledig und friſch und neu, beinahe ſonntäglich blickt es
wieder drein. Aber es iſt das moderne Allerweltskleid, das es
trägt; die Borten und Kanten ſind abgetrennt und der Königs-
mantel iſt ein Bürgerrock geworden. Noch wenig Wochen und das
alte Schloß von ehedem wird neue Gäſte empfangen; wie Schloß
Koepenick iſt es beſtimmt, als Schullehrer-Seminar in ſein
drittes Jahrhundert einzutreten. Sei es. In den neuen Bewoh-
nern wird wenigſtens ein Bewußtſein davon zu wecken ſein, welcher
Stelle ſie angehören, und leiſe berührt von der Macht und dem
Zauber hiſtoriſcher Punkte werden ſie ſpäter den Namen und die
Geſchichte Schloß Oranienburgs in die Kreiſe ihres Berufs hinaus-
tragen. So wird die alte Fabel immer wieder neu und Leben
durchdringt den Stein.
Unter den Linden des Gaſthofes, während der Sommerwind
die Tropfen von den Bäumen ſchüttelte, hab’ ich dem Leſer die
Geſchichte des alten Schloſſes erzählt, die Bilder aufgerollt ſeines
[231] Glanzes und ſeines Verfalls. Die Frage bleibt noch übrig: haben
die letzten hundert Jahre Alles zerſtört? Haben Krieg und Feuer,
Retorte und Siedepfanne von dem alten Glanze auch keine Ahnung
übrig gelaſſen? Iſt Alles hin, bis auf die letzte Spur? Der Pie-
tät des hohen Herrn, der nun vor’m Altar ſeiner Friedenskirche
in Frieden ruht, der Pietät Friedrich Wilhelms IV., dem es ſo
oft zum Verbrechen angerechnet wurde, daß er das wahren und
halten wollte, was des Wahrens und Haltens werth war, dieſem
hohen Liebesſinne, der auf das Erhalten gerichtet war, haben
wir allein es zu danken, daß wir der aufgeworfenen Frage mit
einem „Nein“ entgegentreten können, — es iſt nicht Alles hin,
es exiſtiren noch Spuren, gerettete Ueberbleibſel aus alter Zeit her
und ihnen gilt zum Schluß unſer Beſuch.
Wir verweilen nicht bei zerſtreuten Einzelheiten, die da, wo
ſie zufällig verloren gingen, auch zufällig aufgeleſen und in die
Wand oder den Fußboden des einen oder andern Zimmers wie
ein Basrelief oder ein Moſaikſtück eingelegt wurden, — wir gehen
an dieſen Einzelheiten ohne Aufenthalt vorüber und treten in den
nach Weſt und Norden zu gelegenen Hinterflügel ein, wo wir noch
— auf Anordnung Friedrich Wilhelm IV. vor der nivellirenden
Hand des Seminar-Nutz-Baues gerettet — einer zuſammenhängen-
den Zimmerreihe aus der Zeit König Friedrichs I. begegnen. (Dar-
aus, daß das vorzüglichſte dieſer Zimmer an den vier Ecken des
Plafonds mit eben ſo vielen Sternen des Hoſenbandordens
geſchmückt iſt, ein Orden, auf deſſen Beſitz König Friedrich I. be-
kanntlich einen ganz beſonders hohen Werth legte, würde ſich mit
ziemlicher Beſtimmtheit ableiten laſſen, wann dieſe Zimmerreihe
überhaupt angelegt wurde.) Es ſind ſechs Zimmer, von denen zu-
nächſt zwei durch ihre Ausſchmückung unſer Intereſſe in Anſpruch
nehmen. Sie bilden die beiden Grenzpunkte der ganzen Reihe, ſo
daß das eine (das kleinere) dem corps de logis, dem großen
Mittelpunkt des Schloſſes zu, gelegen iſt, während das andere am
äußerſten Ende des Flügels liegt und den Blick ins Freie auf
Fluß und Wieſen hat. Das kleinere Zimmer bildete entweder einen
[232] Theil der ſeinerzeit viel berühmten und von Touriſten jener Epoche
oft beſchriebenen Porzellan-Gallerie, oder war ein Empfangs- und
Geſellſchafts-Zimmer, wo die fürſtlichen Perſonen in Geſellſchaft
ihres Hofſtaats den Thee einzunehmen pflegten. Das Decken-
Gemälde, das ich gleich näher beſchreiben werde, ſcheint mit ſeinen
vielen Porzellangeräthſchaften zunächſt für die erſtere Annahme zu
ſprechen; ein ſchärferes Eingehen aber macht es beinah zweifellos,
daß es das Theezimmer war. In der Mitte des Deckenbildes
erblicken wir nämlich eine ſtarke, blühend ausſehende Frauens-
perſon mit rothen Roſen im Haar; in ihrer ganzen Erſcheinung
einer holländiſchen Theeſchenkerin ſehr ähnlich. Mit der linken
Hand drückt ſie eine blau und weiß gemuſterte Theebüchſe feſt ans
Herz, während ſie mit der Rechten einen eben ſo gemuſterten por-
zellanenen Theetopf einer gleichfalls wohlbeleibten, blonden, hoch-
roth gekleideten Dame entgegenſtreckt. Dieſe ihrerſeits (durch die
Schlange, die ſich um ihren weißen Arm ringelt, als Hygea charak-
teriſirt) hält der Theeſchenkerin einen Spiegel entgegen, als ob
ſie ihr zurufen wolle: „erkenne dich ſelbſt und ſchrick zurück vor
dir ſelber, wenn du dich als Lügnerin, d. h. deinen Thee als
ſchlecht und unecht erkennſt.“
Die Malerei iſt vortrefflich (man merkt durchaus die gute
holländiſche Schule) und viele unſerer Maler werden von Glück
ſagen können, wenn ihre Deckengemälde ſich nach mehr als 150 Jah-
ren noch ähnlich gut präſentiren. Auch die dieſen Bildern zu
Grunde liegenden Ideen, denen es an Humor und Selbſtperſiflage
gar nicht fehlt, ſind leichter zu verſpotten, als beſſer zu machen.
Es ſind doch immerhin Ideen, mit denen total gebrochen zu haben
wir häufig zur Unzeit ſtolz ſind.
Das am entgegengeſetzten Ende liegende Zimmer iſt aller
Wahrſcheinlichkeit nach das ehemalige Wohn- und Lieblingszimmer
Friedrichs I., daſſelbe, in das (wie ich oben beſchrieben habe) am
15. April 1745 die Königin Sophie Dorothea eintrat und im
Eintreten durch das prächtige Feuerwerk überraſcht wurde, das im
ſelben Moment wie eine Flammenlaube mitten aus dem Dunkel
[233] des Parks emporwuchs. Dies Zimmer, das nach drei Seiten hin
Balkone hat, von denen aus man nach Gefallen den Park, das
offene Feld oder den Hofraum überblickt, iſt ſehr geräumig (dreißig
Fuß im Quadrat) und mit acht marmorirten Säulen derart um-
ſtellt, daß ſich an den vier Wänden entlang eine Art deutlich mar-
kirter Gang bildet, der nun das kleiner gewordene Viereck des
Saals wie eine Colonnade umſpannt. Der Zweck dieſer Einrich-
tung iſt ſchwer abzuſehen. Vielleicht diente das Zimmer auch als
Tanzſaal und die Tänzer und Tänzerinnen hatten den innern
Raum für ſich, während die plaudernden oder ſich ausruhenden
Paare wohlgeborgen unter dem Säulengange ſtanden. Das Wich-
tigſte iſt auch hier das Deckengemälde. Ich ſchicke zunächſt die
bloße Beſchreibung vorauf. In der Mitte des Bildes befindet ſich
eine weiße, hochbuſige Schönheit mit pechſchwarzem Haar, welches
letztere von Perlenſchnüren durchzogen iſt; in der Linken hält ſie
eine Art Zauberlaterne, in der Rechten einen kleinen Oelkrug.
Allerhand pausbackige Genien halten Tafelgeräth und Kannen em-
por, andere entſchweben mit leeren Schüſſeln, noch andre kommen
mit Theegeſchirr herbei und gießen den Thee in kleine Schälchen.
Dieſe Scenen füllen zwei Drittel des Bildes. Links in der Ecke
hält Apoll mit ſeinen Sonnenroſſen. Vor den Roſſen her ſchwebt
bereits Aurora; das Haupt des Sonnengottes ſelbſt aber ſtrahlt
nicht, ſondern iſt von einer dunklen Scheibe umhüllt. Es iſt nun
allerdings fraglich, ob das Schwinden des Tages und das volle
Platzgreifen von Abend und Nacht, oder umgekehrt, das Schwin-
den der bis dahin herrſchenden Nacht vor dem hereinbrechenden
Tage angedeutet ſein ſoll. Das Letztere iſt aber das Wahrſchein-
lichere.
Neben dieſem Staatszimmer, demſelben, das den Stern des
Hoſenbandordens in ſeinen vier Ecken zeigt, befindet ſich ein ſehr
kleines Gemach, nicht viel größer als ein altmodiſches Himmelbett.
Dies iſt das Sterbezimmer des Prinzen Auguſt Wilhelm. Die
Wände ſind ſchmucklos, eben ſo die Decke, nur an der Hohlkante
zwiſchen beiden zieht ſich eine ſchmale Borte von geſchnitztem,
[234]ſchwarzen Holz entlang. Sie iſt wie ein Trauerrand, der dieſes
Zimmer einfaßt, und mahnt deutlich an die letzten, halb in Dunkel
gehüllten Stunden eines liebenswürdigen und unglücklichen Prinzen.
Aus dieſem engen Raum, der ſo trübe Bilder weckt, treten
wir (da die übrigen Zimmer unſerer Betrachtung nichts bieten)
wieder in den Corridor hinaus und über den noch immer impo-
ſanten Vorflur endlich in’s Freie.
Der Ball der untergehenden Sonne hängt am Horizont, leiſe
Schleier liegen über dem Park und die Abendkühle weht vom Fluß
und den Wieſen her zu uns herüber. Wir ſitzen wieder auf der
Treppe des Gaſthofs und blicken durch die Umrahmung der Bäume
in das Bild abendlichen Friedens hinein. Muſikanten ziehen ge-
ſchäftig am Hauſe vorbei, über die Havelbrücke weg, hinein in die
Vorſtadt; — den Beſchluß macht wie immer der Baß. Hinter
den Muſikanten her folgt allerlei Volk. Was iſt es? „Das Theater
fängt an,“ ſo lautet die Antwort, „die Stadtkapelle macht ſich auf
den Weg, um mit dabei zu ſein.“ Wir leſen jetzt erſt den Theater-
zettel, der, in gleicher Höhe mit uns, an einen der Baumſtämme
geklebt iſt. „Das Teſtament des großen Churfürſten, Schauſpiel
in fünf Aufzügen.“ Wir lieben das Stück, aber — wir kennen
es eben, und während die Sonne hinter Schloß und Park ver-
ſinkt, ziehen wir es vor, in Bilder und Träume gewiegt, auf
„Schloß Oranienburg“ zu blicken, eine jener wirklichen
Schaubühnen, auf der die Geſtalten jenes Stücks mit ihrem Haß
und ihrer Liebe heimiſch waren.
[[235]]
Buch.
Nun iſt es worden Sünde,
Was fang’ ich an!
Th. Storm.’
Zwei Meilen nordöſtlich von Berlin liegt das Dorf Buch, reich
an jenen ſtillen, aber anziehenden Landſchaftsbildern, wie ſie un-
ſere Mark ſo vielfach bietet, noch reicher aber an hiſtoriſchen Erin-
nerungen. Einer unſerer Luſtgarten-Omnibuſſe führt den Reiſe-
luſtigen über Pankow und Schönhauſen, deſſen Villen und Gärten
wie im Fluge mitgenommen werden, bis nach Franzöſiſch-Buchholtz,
von wo aus das Wandern beginnt und die Füße das Beſte thun
müſſen.
Wir unſererſeits, in jenem ſtolzen Reiſegefühl, das ſich nach
Strapatzen ſehnt und jeden Schweißtropfen mit einem Lächeln der
Zufriedenheit begleitet, hatten den Omnibus verſchmäht und trafen,
nach gewiſſenhafter Abſuchung einiger Dorfkirchhöfe, erſt mit der
untergehenden Sonne in Buch ein. Gleich der Eintritt in’s Dorf
iſt maleriſch und anziehend. Eine Feldſteinbrücke wölbt ſich über
ein Wäſſerchen, das ſchäumend einen Bergabhang hernieder kommt;
die Häuſer ſteigen in leiſer Schlangenlinie bergan; links hin, das
Dorf in ſeinen Arm nehmend, zieht ſich der waldartige Park,
während zur Rechten ſich Wieſen und Felder dehnen, deren Stille
nur von Zeit zu Zeit das Raſſeln und Stampfen der vorüber-
fahrenden Eiſenbahnzüge unterbricht.
[236]
Wir haben die Feldſteinbrücke paſſirt und die Gaſſe führt
uns an freundlichen Wohnungen vorbei bis in die Mitte des
Dorfs. Hier begegnen wir endlich auch dem Anblick, den Herz und
Auge ſeit einer halben Stunde herbeigewünſcht haben. Krippen
lehnen ſich an die Wand, ein Planwagen ſteht zur Seite, auf dem
ein Spitz die Wache hält, und von der Thür des Hauſes her
grüßt uns das Wörtchen „Gaſthaus“ mit ſeinem einladenden Klang.
Die Stufen führen uns in den Flur und der Flur in die Küche.
Auf dem großen Herde loht es und kniſtert es, und das Waſſer,
das überkocht, fährt ziſchend in die Flamme. Wir zählen im Nu
ſieben Töpfe, die ſich dicht um die Flamme gruppiren, und un-
klare Vorſtellungen von einem „hier iſt es gut ſein“ ziehen durch
unſer Gemüth. Wir tragen der Wirthin unſer Anliegen vor: ein
Abendbrod, ein Zimmer, ein paar Betten, und verfolgen nicht ohne
Bangen den Ausdruck der Verlegenheit, der auf dem freundlichen
Geſicht der jungen Frau den Vortrag unſerer Wünſche begleitet.
Die Verlegenheit findet endlich Worte. Ein Abendbrod wird zu
beſchaffen ſein, aber Zimmer und Betten ſind vergeben; anderer
Beſuch kam uns zuvor. Wir bitten und beſchwören, alles vergeb-
lich; endlich führen wir die letzten Reſerven unſerer Liebenswür-
digkeit in’s Feld und der verzweifelte Stand unſerer Angelegen-
heiten beſſert ſich wenigſtens in ſo weit, daß uns ein Strohlager
und zwei Deckbetten zugeſtanden werden. Ultra posse nemo
obligatur; wir danken der Wirthin für ihren guten Willen, be-
urlauben uns auf eine halbe Stunde und machen unſern erſten
Gang in den Park.
Die Zeit des Sonnenuntergangs und die Dämmerungsviertel-
ſtunde, die ihm folgt, iſt gewiß die geeignetſte, dieſen ſchönen Park
zu durchſchreiten. Die grauen Schleier des Abends ſind es, die
ihm kleiden. Es giebt andere Parks, die man bei Sonnenlicht be-
ſuchen muß. Wo Springquellen hoch in die Luft ſteigen und des
Lichts bedürfen, um in Farben zu ſchillern, wo Blumenſtücke in
den Raſen eingewoben ſind oder Statuen in den grünen Niſchen
ſtehen, da iſt es gerathen, in Morgenfrühe auf und ab zu ſchrei-
[237] ten und des heitern Bildes voll Klang und Farbe ſich zu freuen.
Aber ein ſolcher Park iſt es nicht, in den wir eben eingetreten
ſind. Nicht Cascaden und Fontainen ſind hier zu Haus, ſie ſind
zu laut, zu geräuſchvoll; kein Bach rieſelt und plätſchert hier über
Steine hinweg, als liefen ſpielende Kinder durch den Garten; ein
breiter Graben durchſchneidet ſtatt ſeiner die ganze Quere des Parks
und dehnt ſich aus mit der dunkeln Stille eines Teichs. Die
Buche iſt hier zu Haus, deren Zweige in das Waſſer niederhängen,
und vor allem die Edeltanne, die ihre Schuppenäpfel über die
Kiesgänge ſtreut. Alles Bunte fehlt. Die dichten Rüſternalleen, die
ſich hoch oben wie Kirchenſchiffe wölben, erſcheinen nicht wie Gänge
in die Natur hinaus, ſondern wie Gitter und Spalier gegen den
Andrang derſelben. Dieſer Park hat zu lachen verlernt; wenn die
Sonne auf ihn fällt und ſeine Züge erheitern will, iſt es wie
eine Wittwe, die man mit Bändern und Blumen ſchmückt.
Wir waren eine halbe Stunde lang die dunkeln Gänge auf
und ab geſchritten und kehrten nun ins Wirthshaus zurück. Das
Abendeſſen harrte unſer bereits und Schwarzbrod und Bernauer
Bier halfen über alle ſonſtigen Mängel hinweg. Die Magd er-
ſchien inzwiſchen, um unſer Nachtlager herzurichten. Zwei umge-
kehrte Stühle (die vier Beine nach oben) gaben die Schrägung
her; zwei Bündel Stroh wurden ausgebreitet und das rothe Deck-
bett vollendete den Bau. Einer dicken, wulſtigen Päonie nicht un-
ähnlich lag es da, in deren Faltenfülle wir endlich verſchwanden.
Müdigkeit ſorgte für Schlaf. Statt unſerer Träume ſei die Ge-
ſchichte Buchs erzählt; ſie wird uns andern Tages zu ſtatten kom-
men, wenn wir Schloß und Kirche beſuchen.
Als die Hohenzollern in’s Land kamen, gehörte Buch der
Familie von Roebel; dieſelbe blieb faſt volle drei Jahrhunderte
im Beſitz des Gutes und verkaufte es erſt um 1675 an den Frei-
herrn Gerhardt Bernhardt von Poellnitz. Wir werden weiter
unten von ihm hören. — Die Familie von Poellnitz beſaß Buch
nur kurze Zeit. Die Söhne des Freiherrn veräußerten es bereits
1724 an den Staatsminiſter von Viereck. Nach Ableben des
[238] letzteren ging das Gut an ſeinen Schwiegerſohn, den nachherigen
Staatsminiſter von Voß über, deſſen Nachkommen es noch jetzt
beſitzen. Der gegenwärtige Beſitzer iſt der Graf von Voß-Buch.
Vier Familien in vier Jahrhunderten: die Roebel, Poellnitz,
Viereck, Voß. Den drei letztgenannten werden wir auf unſerem
Umgang noch mannichfach begegnen; nicht ſo dem Namen der Roe-
bel. Alles was Schloß und Kirche bieten, iſt aus „nach ihrer
Zeit,“ mit Ausnahme eines werthvollen Beſitzthums im Kirchen-
archiv, das den Namen dieſer Familie wenigſtens mittelbar zu
ehrendem Gedächtniß aufbewahrt. Es ſind dies die zehn Tomi
Wittenbergenses Lutheri, die dem Joachim von Roebel, einem
begeiſterten Anhänger der neuen Lehre, von Philipp Melanchthon,
der eigens nach Buch gekommen war, um zwei Kinder Joachims
über die Taufe zu halten, zum Geſchenk gemacht wurden. In den
zehnten Band hat der Reformator ſelbſt einen Pauliniſchen Spruch
aus dem Brief an die Coloſſer (Kapitel 3, Vers 16) eingetragen,
der da lautet: „Laſſet das Wort Chriſti unter euch reichlich woh-
nen in aller Weisheit, lehret und vermahnet euch ſelbſt mit Pſal-
men und Lobgeſängen und geiſtlichen lieblichen Liedern, und ſinget
dem Herrn in eurem Herzen.“ Darunter das Datum und die
Jahreszahl 1559.
Die Sonne weckt uns bei guter Zeit. Das rothe Deckbett,
trotz aller Schwere, hat leicht wie eine Feder auf uns gelegen,
und aufſpringend, ſo gut es die gewichtige Maſſe geſtattet, eilen
wir an’s Fenſter und laſſen den Sommermorgen ein. Das Früh-
ſtück wird aufgetragen und die Lindenbäume draußen ſorgen für
Duft und Klang. Ein Blick noch auf das Strohlager, den Schau-
platz unſeres ſtillen Muths, und wir treten in die Dorfgaſſe hin-
aus, um zunächſt dem Schloſſe, deſſen weißgelbe Wände zwiſchen
den Baumſtämmen hindurch ſchimmern, unſern Beſuch zu machen.
Das Schloß iſt ein Flügelbau von jener einfachen Art, wie
ihrer das vorige Jahrhundert auf unſern märkiſchen Rittergütern
ſo viele entſtehen ſah. Sie haben untereinander eine große Familien-
ähnlichkeit. Wenn ſich Buch von ähnlichen Bauten unterſcheidet,
[239] ſo iſt es nur durch eine noch größere Einfachheit. Aller Schmuck
ſcheint gefliſſentlich vermieden. Keine Säulen, die Balcon oder
Porticus tragen, kein Fries, kein Fenſterſims, nicht Thurm, nicht
Erker; ſelbſt die Rampe fehlt, die ſonſt wohl den Eindruck der
Stattlichkeit ſchafft oder ſteigert. Ein paar dünne Arabesken ſchnör-
keln ſich um die Thür und ein halbes Dutzend Orangenbäume
faſſen den Kiesplatz ein, der zwiſchen dem Hauſe und dem Grün
des Parkes liegt. Und doch hat man das beſtimmte Gefühl, daß
hier Reichthum und adelige Geſinnung wohnen. Das Haus gleicht
einem einfachen Kleide, einfach und altmodiſch dazu, aber der Park,
der das Ganze umzirkt, iſt wie ein reicher Mantel von niederlän-
diſchem Tuch, der die Frage nach dem Rockſchnitt verſtummen und
vergeſſen macht.
Der Eintritt in das Schloß wird uns freundlich geſtattet.
Die Eindrücke, die das Aeußere gemacht, wiederholen ſich hier.
Der bürgerliche Comfort, die kleinen Niedlichkeiten, in deren Her-
vorbringung die Neuzeit ſo erfinderiſch geweſen iſt, ſie fehlen hier;
aber dieſe Nippes fehlen entweder, weil das Herz des Beſitzers an
andern Dingen hing, oder weil er in fein äſthetiſchem Sinn em-
pfand, daß der moderne Kram zu dem hiſtoriſch Ueberlieferten nicht
paſſen würde. Wir ſind nicht unempfindlich gegen das heitere Neue,
wir laſſen es nicht nur gelten, wir freuen uns auch deſſelben;
aber jene todten Dinge, die, je älter ſie werden, mehr und mehr
in wirkliches Leben hinein zu wachſen ſcheinen, an ihnen haftet
doch immer der wahre Reiz, und die Pflege dieſes Ueberlieferten
iſt der Zug wirklichſter Vornehmheit, dem man in Schlöſſern und
Häuſern begegnen kann. So auch hier.
Die Roccocozeit, draußen in der Welt ſeit hundert Jahren
begraben, hier tritt ſie uns in aller Aechtheit entgegen, und könn-
ten die Geſtalten aus ihren Rahmen heraustreten, ſie würden ſich
nicht verwundert umſchauen in dieſen Räumen, in denen Stoff
und Form, Schmuck und Kunſt, alles beim Alten geblieben. Por-
zellanornamente, mit denen der Geſchmack unſerer Urgroßväter die
Zimmereinrichtung zu verzieren liebte, haften noch in Geſtalt von
[240] Knöpfchen und Täfelchen, von Blatt und Figur an Tiſchen und
Käſten und in den obern Zimmern theilen ſich ſchwere Kachelöfen
auf Eichenfüßen ruhend und große Himmelbetten mit Zitzgardinen
in die Herrſchaft des Raums. Aber nicht bloß in allgemeinen Um-
riſſen tritt die alte Zeit an uns heran, auch das Beſondere iſt da,
Porträts und Schildereien, die auf beſtimmte Perſonen hindeuten,
die ſeit hundert Jahren hier gingen und kamen.
Wir haben unſern Umgang durch die ſtillen Räume des
Schloſſes vollendet und treten wieder in den Park hinaus. Einer
der vielen Laubengänge deſſelben führt uns bis an die nahe ge-
legene Kirche. Dieſe Kirche iſt ein ſehr merkwürdiger Bau. In
einer alten Beſchreibung Berlins und ſeiner Umgegend wird ſie
die „ſchöne Kirche zu Buch“ genannt. Dieſer Ausſpruch mag ſtatt-
haft geweſen ſein, als es in der ganzen Mark Brandenburg keine
zehn Menſchen gab, die eine häßliche Kirche von einer ſchönen
unterſcheiden konnten, in jener Epoche allgemeiner Geſchmacksver-
irrung, wo man durch Laternenthürme und Kuppeln wie Butter-
glocken die einfach nobeln Formen der frühen Gothik, wie ſie ſich
ganz beſonders in den Feldſteinkirchen unſerer Dörfer erhalten hatte,
erſetzen zu können glaubte. Die Kirche zu Buch iſt nicht ſchön,
nur eigenthümlich iſt ſie, dabei ſtattlich, und von gewiſſer Entfer-
nung aus geſehen, nicht ohne maleriſchen Reiz. Die Grundform
iſt ein griechiſches Kreuz, aus deſſen Mitte ſich eine merkwürdige
Miſchung von Kuppel- und Etagenthurm erhebt. Suchen wir dieſe
Bauart zu beſchreiben. Jeder kennt jene Garten- und Speiſe-
pavillons, die ſich in den Parkanlagen des vorigen Jahrhunderts
ſo vielfach finden, und die aus ſechs oder acht korinthiſchen Säulen
beſtehen, die ein gewölbtes Dach tragen. Denkt ſich der Leſer drei
ſolcher Pavillons, der eine immer kleiner als der andere, auf ein-
ander geſtellt und den Säulenbau des unterſten kreuzartig erwei-
tert, ſo hat er ziemlich genau ein Bild der Bucher Kirche. Weiß-
getünchte Säulen und Pfeiler wiederholen ſich in gleicher, nur
verkleinerter Form von Etage zu Etage, deren jede eine ſchindel-
gedeckte Kuppel trägt. Der Raum zwiſchen den Säulen iſt überall
[241] ausgefüllt und mit dunkelrother Farbe angeſtrichen, ſo daß drei
roth und weiß geſtreifte Etagen drei ſchwarze Kuppeldächer tragen
und ein Ganzes herſtellen, das am eheſten vielleicht an die hollän-
diſchen Bauten aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts er-
innert.
Ehe wir in die Kirche ſelbſt eintreten, ſteigen wir einige
Treppenſtufen hinab in die Gruft der Kirche, die ſich wenige Fuß
tief unter dem Oſtflügel der Kirche befindet und in mehr als einer
Beziehung ein lebhaftes Intereſſe in Anſpruch nimmt. Dieſe Gruft,
wenigſtens ein Theil derſelben, iſt wahrſcheinlich ein Ueberreſt der
alten Kirche, die hier ſtand, eine Vorausſetzung, die darin ihre
Berechtigung findet, daß ſich ein Sarg aus dem Jahr 1679
in derſelben vorfindet, während die Kirche ſelbſt nicht vor 1727
beendigt war. Die Gruft beſteht aus zwei gewölbten Räumen, die
durch eine offene Thür mit einander in Verbindung ſtehen. Der
hintere Raum iſt wahrſcheinlich der ältere Theil des Gewölbes und
empfängt ſo wenig Licht, daß man eine Kerze anzünden muß, um
irgend etwas ſehen zu können. Der andere Raum iſt hell und ge-
räumig. Beide Theile der Gruft haben übrigens das gemeinſam,
daß die darin aufgeſtellten Todten zu Mumien werden. Die
hintere Gruftkammer beherbergt nur einen einzigen Sarg, in dem
andern Gewölberaum aber befinden ſich einundzwanzig Särge, von
denen vierzehn zur Linken und ſieben zur Rechten ſtehen; zwiſchen
beiden ein Gang. In den vierzehn Särgen zur Linken ſind Mit-
glieder der Familie Viereck (darunter der Miniſter und ſeine beiden
Frauen) beigeſetzt; die ſieben Särge zur Rechten aber umſchließen
Mitglieder der Familie Voß. *)
Wodurch dieſe Mumificirung erfolgt, iſt noch nicht aufgeklärt.
Es herrſcht keine Spur von Luftzug, aber es fehlt auch jene
16
[242] dumpfe Feuchte, die ſonſt an ſolchen Orten heimiſch iſt. Vielleicht
iſt es dieſe Trockenheit der Luft, die die Erſcheinung erklärt. Die
mumificirten Körper ſehen weiß aus, ſind verhältnißmäßig wenig
eingetrocknet und zeigen noch eine gewiſſe Elaſticität von Haut und
Fleiſch. Der hier zuletzt Beigeſetzte iſt der Staatsminiſter Otto
Karl Friedrich von Voß. In den Sargdeckel iſt eine Metalltafel
eingelegt, die einfach den Namen und die Titel des Verſtorbenen
und die nöthigſten Daten (geb. den 8. Juni 1755 ꝛc.) trägt. Es
iſt dies derſelbe Otto Karl Friedrich von Voß, der zur Zeit der
Hardenbergſchen Verwaltung, namentlich in den Jahren, die den
Befreiungskriegen folgten, ſo entſchieden die Principien und In-
tereſſen einer conſervativen Politik vertrat. Unmittelbar nach dem
Tode Hardenbergs wurde Voß Präſident des Staatsraths und
des Staatsminiſteriums. Er überarbeitete ſich, erkältete ſich wäh-
rend einer Feuersbrunſt, die gerade damals in Buch ausbrach,
und zog ſich einen Rückfall zu, als er ſeinen erſten Vortrag beim
Könige hielt, zu dem er nicht anders als in Schuhen und
Strümpfen hatte gehen wollen. Sein Tod war die Folge;
er ſtarb am 30. Januar 1823.
Der ſchwere eichene Sarg, der ſich in dem dunkeln Hinter-
gewölbe befindet, ſteht gemeinhin offen. Der daneben befindliche
Deckel iſt mit tauſenden von ſchwarzen Nägelchen beſchlagen, die
ſich bei näherer Unterſuchung zugleich als eine Inſchrift des Sarges
ergeben. Die Entzifferung iſt ſchwierig und ich kann nur für die
annähernde Richtigkeit derſelben bürgen. Die Inſchrift lautet: „Der
Hoch-Hochwohlgeborne Herr Herr Gerhard Bernhard Freiherr von
Poellnitz, Erbherr auf Reſchau (in Preußen), auf Buch, Caro und
Birkholz (in der Mark), churfürſtlich brandenburgiſcher Geheimer
Kriegsrath, General-Wachtmeiſter und Oberſtallmeiſter, Oberſter im
Dragoner-Regiment Goerner (oder Moerner) reſidirte in Berlin,
Cöln und Friedrichswerder, geboren 1617, geſtorben den 2. Auguſt
1679.“ Der völlig mumificirte Körper, der am eheſten einem mit
einer dicken elaſtiſchen Ledermaſſe überzogenen Skelette gleicht, iſt
völlig unbekleidet und nur mit einem graumelirten Domino oder
[243] Reiſemantel zugedeckt, an dem noch hunderte von Flittern wie auf-
genähte Silberſchuppen glitzern. Der Schädel iſt groß und prächtig
geformt, das Geſicht aber klein und von feinen Formen. Die
Stirn zeigt eine Fraktur des Schädelknochens, wie es heißt in
Folge eines Säbelhiebes, den der Freiherr in einer der Schlachten
des dreißigjährigen Krieges empfing. Die Naſenſpitze iſt abgeſchlagen.
Das geſchah bei folgender Gelegenheit. Die Franzoſen, kurze Zeit
nach der Jenaer Schlacht, kamen auch nach Buch und quartierten
ſich in die Kirche ein. Voll Uebermuth ſchleppten ſie den Mumien-
körper des Freiherrn aus der Gruft nach oben und begannen fri-
vole Spiele mit ihm. Bei der Gelegenheit fiel er um und brach
das Naſenbein. *) Es iſt in der That ein mehr denn fragliches
Glück, der Nachwelt in dieſer Form erhalten zu werden, und wir
begreifen völlig die Empfindung einiger Mitglieder der Voß’ſchen
Familie, die ihrem letzten Willen den Wunſch hinzugefügt haben:
„Nur nicht in unſere Gruft!“ Gebhard Bernhard von Poellnitz
übrigens, deſſen Mumie in ſo wenig neidenswerther Weiſe eine
Sehenswürdigkeit der Bucher Kirche geworden, iſt durchaus nicht
(wie ſo oft geſchieht) mit dem Touriſten, Kammerherrn und Me-
moirenſchreiber Karl Ludwig von Poellnitz zu verwechſeln, den
Friedrich der Große durch die Worte: „ein infamer Kerl, dem
16*
[244] man nicht trauen muß; divertiſſant beim Eſſen, hernach einſperren,“
ziemlich zutreffend charakteriſirt hat und deſſen Memoiren gegenüber
doch der Ausſpruch wahr bleibt: „ſie ſind leichter zu tadeln als
zu entbehren.“ In dem Aufſatze „Schloß Oranienburg“ hab’ ich
ſeiner ausführlich erwähnt. Gebhard Bernhard von Poellnitz war
der Großvater des Memoirenſchreibers und, wie es ſich für einen
General und Oberſtallmeiſter geziemt, mehr ausgezeichnet mit dem
Degen als mit der Feder.
Ein Zweifel, den nichts deſto weniger der Freiherr Truchſeß
von Waldburg gegen den Muth und die ſoldatiſche Ehre des
Oberſtallmeiſters erhob, führte zu einem der ſeltſamſten Duelle, die
je gefochten worden. Die beiden Gegner trafen ſich (1664) auf
dem ſogenannten „Ochſengrieß,“ einer Wieſe in der Nähe von
Wien. Sie hatten beide von Berlin aus dieſe Reiſe machen müſſen,
weil die vielen Duelle, die damals am brandenburgiſchen Hofe
vorkamen, zu den allerſchärfſten Erlaſſen gegen den Zweikampf ge-
führt hatten. Das Duell ſollte zu Pferde ſtattfinden und die
Kugeln in möglichſter Nähe a tempo gewechſelt werden. Der Ober-
ſtallmeiſter ritt an den Freiherrn Truchſeß heran und fragte ihn,
ob er geſagt habe: er habe ihn (den Poellnitz) coujonirt und keine
Satisfaction bekommen können. Truchſeß antwortete: „Ja, das
habe ich geſagt.“ Darauf wurden die Piſtolen abgefeuert und in
Gegenwart der Secundanten friſch geladen. Poellnitz fragte voll Cour-
toiſie: „ob man die Pferde wechſeln wolle,“ was Truchſeß ablehnte.
Man ritt nun in lebhaftem Schritt an einander heran und ſchoß
auf nächſte Diſtance. Die Kugel des Truchſeß ſtreifte den Ober-
ſtallmeiſter über den Bauch, die Kugel des letzteren aber traf den
Truchſeß tödtlich. Er ſank zur Seite und hielt ſich mühſam im
Sattel. Poellnitz fragte ihn jetzt: „Müſſet Ihr nunmehro nicht
zugeſtehen, daß Ihr mir Unrecht gethan und meine Ehre ohne
Grund gekränkt habt?“ worauf Truchſeß erwiederte: „Ich habe
euch Unrecht gethan und bitte, daß Ihr mir vergeben wollt.“
Man nahm den Truchſeß nun vom Pferde und legte ihn auf den
Raſen. Der Oberſtallmeiſter kniete an ſeiner Seite nieder und
[245] ſprach dem Sterbenden aus Gottes Wort chriſtlichen Troſt zu, bis
er verſchied.
Wir verlaſſen nun die Gruft und treten in die Kirche ein.
— Sie iſt geräumig, lichtvoll und von einer einfachen Schönheit
der Verhältniſſe, die nach der bunten Ueberladenheit der Façaden
doppelt überraſcht. Es fehlt aller Schmuck, namentlich alle Ver-
goldung; aber das Eichenſchnitzwerk an Kanzel und Altar, an
Chor und Kirchenſtühlen leiht dem Ganzen etwas Gediegenes,
wenn auch freilich der Eindruck proteſtantiſcher Nüchternheit bleibt.
In der Mitte wölbt ſich die Kuppel, nicht ohne eine gewiſſe Statt-
lichkeit, aber der Bilderſchmuck, den man innerhalb derſelben ver-
ſucht hat, hebt die günſtige Wirkung zum Theil wieder auf. Ein
Moſes mit den zwei Sinaitafeln auf ſeinen Knien und eine
büßende Magdalena, die ihren Fuß auf Drachen und Todtenkopf
ſetzt, ſind Leiſtungen, die auf eine mehr denn kindliche Stufe
vaterländiſcher Kunſt zurückweiſen.
Der Oſtflügel der Kirche bildet eine Art hohen Chor; Altar
und Kanzel trennen ihn von dem Haupttheil völlig ab und nur
zwei Treppen zur Rechten und Linken des Altars unterhalten die
nöthige Verbindung. Es ſcheint, daß es die Abſicht des Baumei-
ſters war, hier Raum für eine Art Campo Santo, für eine mar-
morne Gedächtnißhalle zu ſchaffen, eine Annahme, die dadurch be-
ſtätigt wird, daß ſich die bereits beſchriebene Gruft unter dieſem
Theil der Kirche befindet. Den Intentionen des Baumeiſters iſt
aber nur Einmal entſprochen worden. Ein einziges, allerdings ſehr
reiches und prächtiges Grabmonument erhebt ſich an dieſer Stelle,
das von Glume herrührende Marmordenkmal des Miniſters von
Viereck. Zieht man den Geſchmack jener Zeit in Erwägung, der in
dem Hange nach geiſtreicher Symbolik vielleicht nicht weſentlich ein-
ſeitiger war, als wir es mit unſerem Glauben an den allein ſelig-
machenden Realismus ſind, ſo muß man zugeſtehen, daß es eine
ganz vortreffliche Arbeit iſt. Die Geſtalten, aus denen ſich das
Ganze zuſammenſetzt, ſind zum Theil die üblichen: der Tod mit
der Sichel und ein Engel mit dem Palmzweig, wozu ſich, von
[246] der andern Seite her, eine weibliche Figur mit einer weit geöffne-
ten Leuchte geſellt, unzweifelhaft um das helle „Licht der Aufklä-
rung“ ſymboliſch anzudeuten, das damals überall und natürlich
auch im Kopfe des fridericianiſchen Cultusminiſters zu finden war.
Eine Büſte des Miniſters krönt das Ganze; unter der Büſte ſein
und ſeiner beiden Frauen Wappen; unter den Wappen eine latei-
niſche Inſchrift in Goldbuchſtaben, die, wie ſich denken läßt, nur
bei den Verdienſten des Viri illustrissimi et excellentissimi
verweilt und keinen Nachklang enthält von jener Reprimande König
Friedrich Wilhelms I., die da lautete: „Geheimer Rath von Viereck
ſoll ſich meritirt machen, nicht zu viel à l’Hombre ſpielen, diligent
und prompt in ſeiner Arbeit ſein, nicht ſo langſam und faul,
wie er bisher geweſen.“ — Der Unterſchied zwiſchen preußi-
ſchen Cabinetsordres und Grabſchriften war immer groß.
Noch eine Stelle bleibt uns übrig, an die wir heran zu tre-
ten haben. Unter der Kuppel, genau in der Mitte der Kirche, be-
merken wir eine Vertiefung im Fußboden, als ſeien hier die Ziegel,
womit der Fußboden gepflaſtert iſt, zu einem beſtimmten Zweck
herausgenommen und ſpäter wieder eingemauert worden. Wir be-
merken nun auch, daß die Vertiefung die ohngefähre Länge und
Breite eines Grabſteins hat, als ſei es Abſicht geweſen, hier eine
Steintafel einzulegen. Wir ſtehen in der That an einem Grabe.
Hier an dieſer unſcheinbaren Stelle wurde die ſchöne Julie von
Voß, bekannt unter dem Namen Gräfin Ingenheim,*) in aller
[247] Stille beigeſetzt. Ihr letzter Wunſch war geweſen, nicht in die
Mumiengruft der Familie geſtellt zu werden. Ihr Wunſch wurde
erfüllt. Hier unter der Kuppel der Kirche ruht die ſchöne Frau in
einſamer Gruft, ſicher vor dem Auge zudringlicher Neugier, ja
ſelbſt der Theilnahme derer entzogen, die an dieſer Stelle vorüber-
gehen und keine Ahnung haben, was die Vertiefung in den Steinen
des Fußbodens bedeutet.
Ueberall in Buch, in Kirche, Schloß und Park, begegnet der
Beſucher den Spuren der ſchönen Gräfin, allerhand Zeichen und
Gegenſtänden, die leiſe an ſie mahnen, aber nirgends ihrem
Namen. Wie in Familien, wo das Lieblingskind ſtirbt, Eltern
und Geſchwiſter ſtillſchweigend übereinkommen, den Namen des
theuren Hingeſchiedenen nie mehr auszuſprechen, ſo auch hier. Eine
Gruft iſt da, aber es fehlt der Stein; aus reichem goldenen Rah-
men heraus blickt in den Wohnzimmern des Schloſſes ein Frauen-
bild, auffallend durch Schönheit und ſtille Majeſtät der Züge, aber
die Kaſtellanin nennt den Namen nicht und nur das Wappen zu
*)
[248] Füßen des Bildes gibt andeutungsweiſe Aufſchluß.*) Wir treten
von dem Bilde hinweg und in den Park hinaus. Die eine der
dunkeln Alleen führt uns an einen abgelegenen Platz, ſtiller, dunkler
noch als der Park überhaupt. Edeltannen umſchreiben ein Oval
und ſcheiden es ab von dem Reſt des Parks. Inmitten dieſes
dunkeln Eilands, das die Tannen bilden, erhebt ſich ein Monu-
ment, deſſen eine Seite ein ſinniges Reliefbild trägt: der Engel
des Todes hüllt eine Sterbende in ſein Gewand; ihr Antlitz
lächelt, während ein Kranz von Roſen ihrer Hand entſinkt. „Soror
optima, amica patriae,“ ſo lautet die Inſchrift. Aber der Name
der geliebten Schweſter fehlt.
[[249]]
Blumberg.
Sind all’ hinüber, ſind alle fern.
Die Loeben, die Burgsdorf, die Canitz ſind
ſtumm
Aber Frühling iſt wieder und jubelt
ringsum.
*
Zu Blumberg iſt mein Sitz, wo nach der
alten Weiſe,
Mit dem, was Gott beſcheert, ich mich geſegnet
preiſe.
Canitz an Euſebius von Brand (1692.)’
Ein Frühlingstag führt uns nach Blumberg hinaus, einem
Arnimſchen Gut in der Nähe von Berlin, und nach raſcher Fahrt,
an lachenden Dörfern vorbei, biegen wir aus der ſtaubigen Pappel-
Allee in die windgeſchützte, ſtille Dorfgaſſe ein. Es iſt Mittags-
ſtunde, der Sonnenſchein liegt blendend auf den neugedeckten, ro-
then Dächern, die Bäume ſtehen im erſten Grün und auf dem
hohen Schornſtein des Herrenhauſes, aus deſſen Seitenöffnungen
der weiße Rauch phantaſtiſch emporwirbelt, erhebt ſich eben ein
Storchenpaar in ſeinem Neſt und unterbricht die Mittagsſtille durch
ſein raſches und eifriges Geklapper. Es klingt als würde eine
Senſe gewetzt, oder als ginge eine Mühle unten im Garten.
Blumberg, an der Stettiner Steinſtraße gelegen, iſt ein gro-
ßes und freundliches Dorf, faſt ſo freundlich wie ſein Name und
gerade groß genug, um uns die Verſicherung alter Urkunden glau-
ben zu machen, „daß Blumberg vordem ein Städtchen, ein oppi-
[250] dum geweſen ſei.“ Ein großes Dorf war es gewiß, aber vor
allem auch reich und fruchtbar genug, um das Auge der Kirche,
die immer ſcharf blickte in ſolchen Dingen, auf ſich zu ziehen. So
geſchah denn, was nicht ausbleiben konnte, und bald, nachdem
ſich die Nachfolger Albrecht des Bären zu Herren im Teltow und
Barnim gemacht hatten, wurde Blumberg Kirchengut und zwar
Beſitzthum der reichen Biſchöfe zu Brandenburg.
Blumberg blieb biſchöfliches Gut bis zur Reformationszeit,
bis zu jenen Tagen, wo Joachim II. den Kampf in ſeinem Herzen
ausgekämpft und ſein chriſtlich Gewiſſen über die feierliche Zuſage
geſetzt hatte (über die Zuſage, auszuharren beim alten Glauben),
die er ſeinem Vater auf dem Todbette hatte leiſten müſſen. Vieles
wurde nun anders im Lande; die Einziehung der Kirchengüter
drohte von Tag zu Tag und die klugen Herren zu Brandenburg,
die nicht Luſt hatten, ſich überraſchen zu laſſen, veräußerten recht-
zeitig allerlei Beſitzthum, das über kurz oder lang doch zerrinnen
mußte, — viele Güter wurden verkauft, darunter Blumberg.
Der Käufer war Hans von Krummenſee. Die Krummen-
ſee waren damals eine der reichſten Familien im Lande; ſie be-
ſaßen die Stadt Alt-Landsberg, die ziemlich in der Mitte des
Geſammt-Areales lag, das ſie durch Kauf und Erbſchaft im Laufe
der Jahrhunderte an ſich gebracht hatten. Jetzt, durch den Ankauf
von Blumberg, dehnten ſie ihren Beſitz bis an die Bernauer Feld-
mark und bis an die Grenzen jenes andern großen Güterkomplexes
aus, der, nördlich von Berlin, ſich in den Händen der reichen und
angeſehenen Familie von Roebel*) befand; aber mit der Erwer-
bung von Blumberg war plötzlich dem wachſenden Reichthume der
Krummenſee ein Ziel geſteckt. Von da ab ging es rückwärts; der
30jährige Krieg that das Seine, Gut auf Gut ging verloren,
1701 das letzte — Schöneiche. Ihrem reichen Beſitze iſt ſeitdem
[251] das Geſchlecht ſelbſt gefolgt. Der letzte war Carl Aegidius Ludwig
von Krummenſee, geſtorben 1827 als Canonikus zu St. Nicolai
in Magdeburg.
Blumberg beſaßen die Krummenſee nur etwa 80 Jahre.
Eine Sandſteinplatte vor dem Altar der alten Blumberger Kirche
bewahrt ihren Namen. Die Inſchrift des Steines lautet in der
ſchlichten, herzhaften Sprache jener Zeit: „Im 58ten Jahre und
3 Wochen, iſt meine liebe Hausfrau Katarina Moerner allhier be-
graben und iſt mein, Hans Krummenſee’s, allerliebſt Ge-
mahl geweſt. 1596.“
1602 verkaufte Hans von Krummenſee ſein Gut Blumberg,
ſo wie die Güter Dahlwitz, Eiche und Helmsdorf an den kurfürſt-
lichen Kanzler Hans von Loeben, bei deſſen Nachkommen Blum-
berg ein volles Jahrhundert blieb. Die Kirche, in die wir eben
eingetreten ſind und an deren Wänden wir eine beträchtliche An-
zahl alter Bildwerke erblicken, giebt uns die beſte Gelegenheit, die
zum Theil hiſtoriſchen Geſtalten jenes Jahrhunderts in raſchem
Wechſel an uns vorüberziehen zu laſſen; unſer erſter Blick aber
gehört der Kirche ſelbſt.
Es iſt ein alter Bau, an dem auch das Auge des Laien zwei
verſchiedene Epochen ohne Mühe unterſcheiden kann: einen älteſten
Theil mit Pfeilern und Kreuzgewölben aus der Zeit der Branden-
burger Biſchöfe, und einen Anbau mit Altar und Kanzel aus
der Zeit etwa des erſten Königs. Die Bilder, die die Kirche ent-
hält, ſind im Einklang damit gruppirt; Alles, was älter iſt, als
der Anbau, befindet ſich auch in dem alten Theile der Kirche;
was ſpäter hinzugekommen (Bilder und Denkmäler), ſchmückt die
Wände des Anbaues.
(Der Anbau. Philipp Ludwig von Canſtein und
ſeine „hochbetrübteſte Wittwe.“) Dieſe Bildwerke des An-
baues, theils Grabdenkmäler, theils Oelbilder und Reliefs, ſind es
nicht eigentlich, die uns nach Blumberg und in die Blumberger
Kirche geführt haben; dennoch verweilen wir einen Augenblick bei
denſelben, wenigſtens bei den hervorragendſten.
[252]
Da iſt zunächſt das beinahe pomphaft ausgeführte Denkmal
des Oberſten Philipp Ludwig von Canſtein, eines jüngeren Bru-
ders Carl Hildebrandt’s von Canſtein, jenes frommen Mitarbeiters
am Werke Francke’s und Spener’s, deſſen Name und Wirken in
der Canſteinſchen Bibelanſtalt zu Halle dauernd fortlebt. Der
Oberſt von Canſtein ererbte Blumberg bei jungen Jahren; aber
der Beſitz des ſchönen Gutes war ihm nur kurze Zeit gegönnt.
Die blutigen Schlachten des ſpaniſchen Erbfolgekrieges, die (zumal
bei Turin und Malplaquet) auch brandenburgiſcherſeits ſo ſchwere
Opfer heiſchten, rafften auch ihn hinweg. Das Denkmal, das ihm
von Seiten ſeiner Wittwe noch im Jahre ſeines Todes errichtet
wurde, iſt ganz im Geſchmack jener Zeit und auf ſeinen Kunſt-
werth geprüft, nichts weiter als eine mit Munificenz ausgeführte
Dutzendarbeit. Auf dem Steinſarkophag ſteht wie immer die Büſte
des Hingeſchiedenen, Kriegstrophäen und Wappenſchilde gruppiren
ſich drum herum; ein Genius preßt den Lorbeerkranz auf die
Allongenperrücke, und die vergoldete Front des Marmorſarges trägt
in Schnörkelſchrift die üblich ſtyliſirte Inſchrift. Dieſe Inſchrift
wiederzugeben, iſt hier nöthig, weil ſie eine irrthümliche Angabe
über den Todestag des tapferen Oberſten beſeitigt. Er fiel nämlich
nicht bei Malplaquet, wie immer gedruckt wird, ſondern ein Jahr
früher bei Oudenarde. Die Inſchrift lautet:
Dem Hochwohlgebornen Herrn, Herrn Philipp Ludwig
Freiherrn von Canſtein, Herrn der Herrſchaft Canſtein, Schön-
berg, Neukirch, Blumberg, Eiche und Helmsdorf, Seiner Kö-
niglichen Majeſtät in Preußen Obriſten zu Roß der Gens-
darmes, welcher geboren A. D. 1669 den 11. April, durch
Geſchlecht und Tugend, durch Gottesfurcht und Tapferkeit
Ehr’ und Lob verdienet und erworben, und im Treffen bei
Oudenarde wider die Franzoſen, im Lauf des glücklich erfolg-
ten Sieges durch einen tödtlichen Schuß rühmlich und auf
dem Bette der Ehren verſtorben, im Jahre des Heils 1708
den 11. Juli, des Alters 39 Jahr und drei Monat, — hat
dieſes Denkmal zum Zeichen beſtändiger Liebe und Treue
[253] ſetzen laſſen, deſſen hochbetrübteſte Wittwe, Ehrengard Maria
Freifrau von Canſtein, geborne v. d. Schulenburg, 1708.
Die „hochbetrübteſte Wittwe“ indeß war ein Kind ihrer Zeit,
d. h. ſie verheirathete ſich wieder und zwar in kürzeſter Friſt. Sie
wurde dann abermals eine Wittwe, aber nur um ſich bald darauf
zum dritten Mal zu vermählen. Das war damals Landesbrauch
in den Marken, und wir werden noch im Lauf dieſes Aufſatzes
die Bekanntſchaft eines hervorragenden Mannes jener Epoche machen,
der außer ſeinem Vater und Schwiegervater zwei Stiefväter und
zwei Stiefſchwiegerväter hatte, alſo ſechs Väter im Ganzen.
(Der große Kurfürſt war zweimal, der alte Derfflinger zweimal,
König Friedrich I. dreimal verheirathet; ſo viele Andere noch.) Es
war damals, als ob Alles, was lebte, ſich einen Zuſtand der Ehe-
loſigkeit nicht denken konnte, und einzelne Ausnahmefälle abgerech-
net, ſprach ſich in dem Allen viel weniger eine Frivolität, als eine
Fülle des Lebens aus. Man hielt das Trauerjahr und war in
aller Aufrichtigkeit ein tief betrübter Wittwer, oder eine „hochbe-
trübteſte Wittwe.“ Aber ſobald die Trauerkleider fielen, gehörte
man wieder dem Leben; das Blut, das voll zum Herzen drang,
forderte ſein Recht. Das ſinnliche Leben überwog noch das geiſtige,
und die Welt feinen Empfindens war noch wenig erſchloſſen. Aber
freilich auch die Irrwege nicht, zu denen die Feinheit der Empfin-
dung ſo leicht verführt.
Auch von der betrübten Wittwe unſeres tapferen Obriſten
findet ſich ein Bildwerk im Anbau der Kirche vor; kein Grabdenk-
mal, nichts von Senſenmann und Sarkophag, vielmehr ihr Oel-
porträt in ganzer Figur, friſch, blühend, voll. Es iſt ein ſehr
intereſſantes Bild, einmal als künſtleriſche Leiſtung überhaupt, un-
gleich mehr aber durch die ingeniöſe Art, wie der Maler es ver-
ſtanden hat, die drei Ehemänner der noch ſtattlichen Frau halb
huldigend, halb decorativ zu verwenden. Wie Macbeth in der be-
kannten Hexenkeſſel-Scene die Könige Schottlands an ſich vorüber
ziehen ſieht und zwar ſo, daß die letzten, die der Zeit nach am
weiteſten von ihm entfernt ſind, immer kleiner und blaſſer werden,
[254] ſo hier die 3 Ehemänner. Den noch lebenden (oder jüngſt ver-
ſtorbenen) hält ſie, als Medaillonporträt, mit dem Ausdruck ruhi-
gen Beſitzes, feſt in ihrer Rechten; der zweite, noch klar erkennbar,
zieht ſich bereits in den Hintergrund des Bildes zurück; unſer
Freund der Oberſt aber, deſſen ganze Schuld darin beſtand, ſchon
20 Jahre vor Entſtehung dieſes Bildes den Heldentod geſtorben
zu ſein, verliert ſich völlig in nebelhafter Ferne und wirkt nur
noch mit, um das Enſemble und die ſymmetriſche Anordnung des
Ganzen nicht zu ſtören. Möglich, daß ſolche Bilder öfter ſich vor-
finden, mir war es das erſte der Art.
(Johann von Loeben.) Der Anbau der Kirche enthält
noch manches andere von Bildwerken und Denkmälern, wir treten
aber, von dem Bildniß der ſtattlichen Frau hinweg, in den alten
Theil der Kirche zurück, wo wir, genau an der Stelle, wo Be-
hufs des Anbaues die alte Giebelwand durchbrochen wurde, an
den pfeilerartig ſtehen gebliebenen Mauerreſten, verſchiedenen alten
Porträts aus dem Anfang und Schluß des 17. Jahrhunderts be-
gegnen, Porträts, die, wenn man den Ausdruck geſtatten will, der
eigentlichen Zeit Blumbergs, ſeinem hiſtoriſchen Jahrhundert
(eben dem 17.) angehören. Dieſe Bilder geleiten uns durch drei
(genauer genommen vier) Generationen einer und derſelben Fa-
milie, aber es iſt weibliche Deſcendenz und ſo wechſeln die Na-
men: Loeben, Burgsdorf, Canitz.
Da haben wir zunächſt, halb verſteckt unter einem Behang
von Spinnweb, die Bildniſſe Johann von Loebens und ſeines
Ehegemahls. Er iſt ein alter Herr und die ſpaniſche Tracht von
ſchwarzem Sammt, dazu die goldne Kanzlerkette, würden keinen
Zweifel über die Vornehmheit des Mannes laſſen, wenn auch die
Züge weniger Entſchloſſenheit und die großen hellen Augen minder
Würde und Leutſeligkeit ausdrückten. Die Umſchrift des Bildes
lautet: „Johann von Loeben, Kurfürſtlich Brandenburgiſcher Ge-
heimer Rath und Kanzler hat 1602 die Güter Blumberg, Eiche,
Dalwitz und Helmstorff erkauft, chriſtlich und weislich ſolchen vor-
geſtanden und regieret 34 Jahr, und iſt geweſen ein weiſer und
[255] vortrefflicher Mann von ſeinem Geſchlecht.“ Unmittelbar vor dem
Bilde hängt das alte Banner der Familie, von der Decke herab,
das in goldner Schrift die Angaben des Bildes theils beſtätigt,
theils erweitert: „Der hochedle, geſtrenge und hochbenannte Herr
Johann von Loeben (Ihrer Churfürſtlichen Durchlaucht zu Bran-
denburg, Joachim Friedrich, hochlöbſeligſten Gedächtniſſes, vorneh-
mer Geheimer Rath und Kanzler) auf Blumberg, Dalwitz, Eiche
und Falkenberg, iſt allhier zu Blumberg ſelig im Herrn entſchlafen,
den 26. Juli anno 1636, ſeines Alters 75 Jahr.“ Ueber dieſer
Inſchrift, ſtark nachgedunkelt, aber immer noch deutlich erkennbar,
zeigt ſich das alte Loeben’ſche Wappen: ein Schachbrett mit der
Prinzeſſin aus Mohrenland. Schon 723 war ein Loeben (die Ge-
ſchichte verſchweigt ſeinen weiteren Namen) in die üble Lage gekommen,
mit einer Prinzeſſin aus Mohrenland auf Tod und Leben Schach
ſpielen zu müſſen. Glücklicherweiſe gewann er die Parthie, ein Umſtand,
den wir nicht hoch genug anſchlagen können, weil wir ohne den-
ſelben um die ganze Erzählung gekommen wären; Schachbrett und
Prinzeſſin aber kamen in’s Loeben’ſche Wappen. Ob die edle Kunſt
des Schachſpiels ſeitdem in der Familie gehegt und gepflegt wurde,
mag dahin geſtellt bleiben, nur unſer alter Kanzler war jedenfalls
ſeines Ur-Ahnen werth; auch er war ein Meiſter im Spiel und
that gute und ſichre Züge auf dem diplomatiſchen Schachbrett.
Dabei liebte er ehrlich Spiel, keine Finten, keine Hinterhalte. Der
Kurfürſt ſetzte ein unbegrenztes Vertrauen in ſeine Klugheit und
Redlichkeit, und als er (der Kurfürſt) an die Gründung eines
permanenten „Geheimen Rathes“*) ging (die nächſte Veranlaſ-
ſung dazu gab eine längere Anweſenheit des Kurfürſten im Her-
zogthum Preußen), war es ſelbſtverſtändlich, daß Johann von
[256] Loeben als erſter Rath in dieſen Regentſchafts-Körper berufen
wurde. Aus dieſem damals gegründeten „Geheimen Rath“ ging
ſpäter der „Staats-Rath“ hervor. Johann von Loeben wurde
Kanzler (bei jungen Jahren noch) und ſtieg ſo hoch wie ein Diener
ſteigen mag im Dienſt und in der Liebe ſeines Herrn, aber Leid
und Bitterkeit des Lebens erreichten auch ihn. Wie er die höchſte
fürſtliche Gnade kennen gelernt hatte, ſo kam Ungnade über ihn,
wie der Dieb in der Nacht. Faſt unmittelbar nach Joachim Fried-
richs Tode (1609) ſchied er aus dem Staatsdienſt, um „procul
negotiis“ in der heitern Umgebung Blumberg’s, die Freuden und
Leiden glänzenderer Tage zu vergeſſen. 1629, in mitten der Wirren
des 30jährigen Krieges wurde er noch einmal auf den Schauplatz
berufen, um der ſchwachen und haltloſen Politik George Wil-
helms Halt und Richtung zu geben, aber wo keine Kraft der Aus-
führung war, da wogen der Rath des Weiſen und das Wort des
Thoren gleich ſchwer und nach kurzem Verweilen am kurfürſtlichen
Hofe zog er ſich zum zweiten Mal in die Stille ſeines Landguts
zurück. Nur als Beobachter folgte er den Begebenheiten, und die
letzten Jahre ſeines Lebens, verbittert durch ſo manche Erfahrung,
brachten ihm wenigſtens die eine Freude noch, daß ihm vergönnt
war, den Stern ſeines Schwiegerſohns, Conrads von Burgs-
dorf, glänzend aufgehen zu ſehen.
(Frau von Burgsdorf.) Die Bildniſſe des alten Kanzlers
und ſeines Ehegemahls blicken, dem Anbau und der Kanzel abge-
wendet, in das alte Kirchenſchiff hinein; an der Innen-Seite der
beiden Pfeiler aber, ſo daß ſie ſich einander in’s Auge ſehen, hin-
gen bis vor Kurzem zwei andre intereſſante Porträts, die Bildniſſe
der alten Frau von Burgsdorf (der Tochter Johanns von Loeben)
und ihres Enkels, des Poeten Canitz. Dies tête à tête zwiſchen
Großmutter und Enkel iſt neuerdings geſtört worden; die Kirchen-
vorſtände haben das Bildniß des Poeten in unerklärlicher Ver-
blendung für eine kaum nennenswerthe Summe verkauft. Es iſt
dies um ſo beklagenswerther, als die Kirche jedes andern Bildes
eher entbehrt haben könnte als dieſes einen. Denn die eigentliche
[257] Glanzzeit Blumbergs fällt nicht nur in die Tage, wo Canitz hier
dichtete und heitre Gaſtfreundſchaft übte, nein ſelbſt der Name des
Dorfes würde nie über ſeine nächſte Umgebung hinaus bekannt
geworden ſein, wenn ihm nicht die Alexandriner des märkiſchen
Poeten zu einem Plätzchen in der Literatur-Geſchichte und zu einem
ähnlich guten Klange verholfen hätten, wie ihn Wandsbeck, oder
Gohlis oder Alten-Gleichen haben.
Das Bildniß der alten Frau von Burgsdorf, dem wir uns
jetzt zuwenden, iſt wohl erhalten und trägt folgende Inſchrift:
„Die Verwittwete Frau Oberkammerherrin von Burgsdorf, geborne
von Loeben, bekommt nach Abſterben ihrer Frau Mutter alle
Güter, ſo ihr Herr Vater, der Herr Kanzler von Loeben in Beſitz
gehabt; ſtehet ſolchen mit beſondrem Ruhm und Leutſeligkeit vor;
aus Liebe für die Blumberg’ſchen und Eichiſchen Unterthanen,
legirt ſie in ihrem Teſtament den Armen von beiden Gütern ein
Capital von 500 Thalern. Sie ſetzet annoch bei ihrem Leben den
klugen Staatsminiſter Freiherrn von Canitz als ihren einzigen
Enkel, zum Erben ihrer Güter ein. Erlanget von dem Höchſten
die Verheißung langen Lebens und bringet ſolches auf 77 Jahr.“
Das Bild (wie wir aus der Unterſchrift ſchließen müſſen,
erſt nach dem Tode der alten Dame gemalt) iſt wahrſcheinlich die
Copie nach einem früheren Gemälde, das bereits bei ihren Leb-
zeiten exiſtirte, denn der lebensvolle Kopf, der, aus dem ſchlichten
Holzrahmen heraus, hier zu uns ſpricht, iſt nicht der Kopf einer
77 jährigen Greiſin, ſondern der Kopf einer Frau in den beſten
Jahren, deren Embonpoint ſie ſiegreich ſchützt gegen die verrätheri-
ſche Furchenſchrift der erſten 50er Jahre, und deren lang herab-
hängende dunkle Locken noch den Vorſatz der Trägerin ausſprechen,
nicht alt ſein zu wollen.
Das Koſtüm iſt ſo ziemlich daſſelbe, wie unſere Damen jetzt
es tragen. Das Kleid iſt weit ausgeſchnitten, aber ein reiches
Kantenhemd umſchließt den Nacken bis hoch herauf, und allerhand
Schnüre und Borten ziehen ſich decent über den geſtickten Bruſt-
latz hin. Die Aermel ſind kurz und weit und überdecken kaum zur
17
[258] Hälfte den reichen Unterärmel von Brüſſeler Spitzen. Der Ausdruck
des Kopfes iſt der einer ſelbſtbewußten, herrſchgewohnten Frau,
deren natürliche Gutmüthigkeit ſich gegen die Regungen des Stolzes
eben ſo ſehr wie gegen die harten Schläge des Schickſals behauptet
hat. Nichts Weichliches, nichts Sinnliches in den Zügen; die ganze
Erſcheinung ſtreng und wohlwollend zugleich. Von ſchweren und
harten Schlägen, die ſo leicht eine angeborne Milde in Herbigkeit
umwandeln, war ſie freilich vielfach betroffen worden. Wenn das
Leben ihres Vaters Gegenſätze geboten hatte, ſo bot das ihre deren
mehr. Sie hatte die Tage ſeltenen Glückes geſehen, aber auch Tage
tiefen Falles. Ihr Ehgemahl, eine genialiſche Natur, halb Held,
halb Libertin, hatte ſich nicht begnügt, wie ihr Vater, der Kanzler,
als erſter Diener neben dem Thron des Fürſten zu ſtehen; nicht
der Diener ſeines Herrn, ſeines Herrn Herr hatte er zu ſein
geſtrebt, war er in Wirklichkeit geweſen. Daß er es hatte bleiben
wollen, das hatte ihn geſtürzt. Was Kurfürſt Friedrich Wilhelm
tragen konnte, als er, faſt ein Knabe noch, in’s Land kam, in
ein Land, das der ſchlane Muth Konrad’s von Burgsdorf ihm
ſchrittweis erſt erſchließen mußte, das mußte allmälig zur Verſtim-
mung und endlich zum Bruche führen, als der jugendliche Fürſt
„der große Kurfürſt“ zu werden begann. Der kluge Günſtling,
der ſo Vieles ſah, ſah dieſen Wechſel nicht, wollte ihn vielleicht
nicht ſehen, und an dieſem Irrthum oder Eigenſinn ging er zu
Grunde. Seine Gegner hatten leichtes Spiel. Die Wüſtheit ſeines
Lebens kam ihnen zu Hülfe, und die Verbannung vom Hofe
wurde ausgeſprochen. Er ging nach Blumberg; aber der Haß
ſeiner Feinde ſchwieg auch jetzt noch nicht. Man bangte vor ſeiner
Rückkehr, und hundert geſchäftige Zungen trugen es durch die
Stadt, „daß der geſtürzte Günſtling 18 Maß Wein tagtäglich bei
Tafel getrunken habe und ein gewaltiger Courmacher und Sere-
nadenbringer geweſen ſei.“ Man wußte wohl, was man that, daß
man dieſe Dinge in Umlauf ſetzte und keine andern; denn Kur-
fürſtin Henriette Louiſe war eine fromme Frau, der alles Laſter-
leben ein Greuel war, und nachdem Unzucht und Völlerei ſo lange
[259] ihr wüſtes Haupt auf den Tiſch gelegt hatten, wurde eben damals
die Sitte erſtes Gebot. Konrad von Burgsdorf ſtarb bald; es
heißt, daß er ſinn- und troſtlos geendet habe; ſein ehlich Gemahl
aber, deren Bild jetzt eben von der Pfeilerwand auf uns hernieder-
blickt, überlebte den Sturz ihres Mannes um faſt volle dreißig
Jahre. Blumberg, der Ort ihrer Kindheit, drin ihr Vater und
dann ſpäter ihr Gatte vor der ſchneidenden Eisluft der Ungnade
Zuflucht geſucht hatten, blieb ihr lieb, weil die Geſchichte ihres Le-
bens mit ihm verwachſen, und die Stille ſeiner Felder ihr mehr
und mehr ein Bedürfniß geworden war. Aber freilich der Frieden
des Gemüths, nach dem ſie rang, blieb ihr im Alter verſagt, wie er
ihr in der Jugend verſagt geweſen war. Neue Kränkungen geſellten
ſich zu alter Bitterkeit, Kränkungen, die dadurch nicht geringer
wurden, daß ſie unbeabſichtigt waren. Den Kummer ihres Alters
ſchuf ihre eigene Tochter, ihr einziges Kind. Dieſe ſchien ganz
ihres Vaters Kind zu ſein, von dem wir bereits wiſſen, daß er
zu ſeiner Zeit „ein gewaltiger Courmacher und Serenadenbringer“
geweſen war. Dreimal verheirathete ſich dieſe Tochter. Ihr erſter
Mann, ein Freiherr von Canitz, ſtarb, — das war ein Unglück;
von ihrem zweiten Manne, einem General v. d. Goltz, ließ ſie
ſich ſcheiden — das war nicht hübſch, indeß es war erträglich;
daß ſie ſich aber zum dritten Male verheirathete, und dieſen dritten
Mann, einen alten Franzoſen, den ſie nie geſehen hatte, aus
Paris ſich ſchicken ließ, das war mehr, als die Oberkammer-
herrin von Burgsdorf, die ein halbes Jahrhundert lang erſt als
die Tochter und dann als die Gattin des vornehmſten Mannes
in Kurmark Brandenburg gelebt hatte, ertragen konnte. Dieſe
Heirath zehrte an ihrem Herzen und vergällte ihr das letzte Jahr-
zehnt ihres Lebens; die Ehe ſelbſt aber, die zu dieſer Verbitterung
Anlaß gab, bildet einen zu charakteriſtiſchen Zug für die Sitten-
geſchichte jener Zeit, als daß ich es mir verſagen könnte, den Her-
gang derſelben hier ausführlicher zu erzählen.
Frau von der Goltz (geborene von Burgsdorf, verwittwete
von Canitz, geſchiedene von der Goltz) war kaum von ihrem zwei-
17*
[260] ten Manne getrennt, als ſie den Vorſatz faßte, ſich zum dritten
Male zu verheirathen, und da ihr, bei ihrer Schwärmerei für
alles Franzöſiſche, jeder Franzoſe in ganz beſtimmter nationaler
Vollkommenheit erſchien, ſo kam auf die Wahl im Beſonderen
nicht eben viel an. Frau von der Goltz entſchloß ſich raſch; ſie
ſchrieb ihrem Pariſer Commiſſionär, der ſich bis dahin durch ſeinen
feinen und guten Geſchmack in der Ueberſendung von Coiffüren
und Modeartikeln bewährt hatte, ihr einen Mann zum Heirathen
zu ſchicken, der jung, hübſch, rüſtig, fein und geiſtvoll und ſelbſt-
verſtändlich auch von Adel ſei. Der Auftrag wurde prompt aus-
geführt. Nach etwa vier Wochen traf in Berlin ein Franzoſe von
über fünfzig Jahren ein und meldete ſich bei Frau von der Goltz
als derjenige, den ſie gewünſcht habe. Sein Name war Peter von
Larrey, Baron von Brunbosc, aus einer alten Familie in der
Normandie. Die Ehe kam wirklich zu Stande, und war glücklich.
Frau von Burgsdorf konnte aber über die Kränkung, die ihr dieſer
abenteuerliche Vorgang bereitet hatte, nicht hinweg; die Partie mit
dem normanniſchen Baron, der vielleicht keiner war, zehrte an
ihrem Leben, und ſie ſtarb, nachdem ſie längſt vorher mit Um-
gehung ihrer Tochter, den Sohn dieſer Tochter aus erſter Ehe,
den Freiherrn von Canitz, zum Erben all ihrer Güter, das ſchöne
Blumberg mit eingeſchloſſen, eingeſetzt hatte.
(Freiherr von Canitz.) Und dieſem Freiherrn von Canitz
wenden wir uns nun ausführlicher zu. Sein Bildniß fehlt jetzt
zwar an dem breiten Mauerpfeiler, an dem es früher hing und
Großmutter und Enkel, das Lächeln des einen, der herbe Geſichts-
ausdruck der andern, begegnen ſich nicht länger an dieſer Stelle;
aber das Totalbild des „Poeten,“ ſeinen Charakter wie ſeine Er-
ſcheinung, hat uns eine zeitgenöſſiſche Feder aufbewahrt und mit
Hülfe dieſer Aufzeichnung erneuern wir auf Momente das Bild
und führen es an dem Auge unſerer Leſer vorüber.
„Canitz der Poet“ war von mittlerer, wohlgewachſener Ge-
[261] ſtalt, in den ſpäteren Jahren etwas unterſetzt und ſtark; ſein Ge-
ſicht voll, offen, wohlgebildet, ſeine blauen Augen lebhaft, ſein
Anſehn männlich. Bei einer weißen Haut und freien Stirn hatte
er einen freundlichen Mund, der ſich nur manchmal eines ſpötti-
ſchen Lächelns nicht erwehren und ſeine angeborene Nei-
gung zur Satire nicht ganz verbergen konnte.
So ſchildert ihn ſein Biograph, und dieſe Züge mochte das
Bildniß zeigen, das einſt hier hing, aber am letzten Sonntage des
Monats Juni 1699, als er zum letzten Male in dieſen Chorſtuhl
uns zur Rechten eintrat, um andächtiglich der Rede des Geiſtlichen
zu folgen, zuckte kein ſpöttiſches Lächeln mehr um ſeinen Mund
und die „angeborene Neigung zur Satire“ hatte längſt einem beſ-
ſeren Platz gemacht. Er wußte, daß ein anderes Leben ſeiner harre,
und von Todesgewißheit erfüllt, hatte er in tiefer Rührung zu
Spener die Worte geſprochen: „wenn Gott mich wieder aufrichtet,
ſo will ich dem eitlen Weſen dieſer Welt mich ganz entziehn und
mich dem widmen, was das allein Nothwendige iſt.“ Canitz wußte,
daß er nur noch Wochen zu leben habe (die Aerzte hatten es ihm
geſagt, weil er es zu wiſſen verlangt hatte), und die Textesworte,
die eben jetzt geleſen wurden, trafen ſein Herz. „Es wird geſäet
verweslich und wird auferſtehen unverweslich; es wird geſäet in
Unehre und wird auferſtehen in Herrlichkeit.“ Die Worte trafen
ſein Herz, aber die Bilder des Todes, die vor ihn hintraten, er-
ſchreckten ihn nicht. Ruhig folgte er dem Gang der Predigt.
Nun iſt die Predigt vorüber und an der Sakriſteithür dem
Geiſtlichen freundlich und zuſtimmend die Hand drückend, ſchreitet
er über die Gräber hinweg und durch das hollunderüberwachſene
Kirchhofsthor, dem Herrenhauſe zu, das von der andern Seite der
Dorfſtraße her, zwiſchen Pappeln und Linden hindurch, freundlich
ſeinen Herrn grüßt. Der Junimorgen, ſo friſch und ſo warm zu-
gleich, macht ihn aufathmen wie in alter Luſt und Fülle des Le-
bens, und ſtatt in die Kühle des Hauſes einzutreten, tritt er in
den lachenden Park. Wir folgen ihm leiſe. An dem Birkenwäldchen
vorbei, den erhöhten Kiesweg entlang, der bald die Windungen des
[262] Bachs begleitet, bald ſie kreuzt und überbrückt, — ſo hat er end-
lich die hochgelegene Lieblingsbank am Rande des Parks erreicht,
die, von Buchenzweigen weit überſchattet, nach vorn hin einen Blick
gönnt auf Felder und wogendes Korn. Er läßt ſich nieder hier
und Figuren in den Sand zeichnend, ziehen die wechſelnden Bilder
ſeines Lebens an ihm vorüber.
Das ſind die ſonnigen Tage ſeiner Jugend. Die krainiſchen
Alpen liegen hinter ihm, eine kurze Meerfahrt iſt überſtanden und
um die Spitze des Lido herum, biegt er ein in die Lagunenſtadt.
Welche Welt thut ſich vor ihm auf; die Thürme und Kuppeln
blinken im Sonnenlicht, und als zöge man hinaus, um feſtlich
einen Fürſten einzuholen, ſo ſchwimmt die Königin der Meere auf
hundert Barken ihm entgegen. Aber was wie ein Wunder ſcheint,
iſt nur ein glückliches Ohngefähr; die heiteren Reiſegötter führen
ihn in die Lagunenſtadt, juſt am Tage der Meervermählung, wo
der Doge im Bucentauro hinausgleitet, um den Ring, das Zeug-
niß und die Beſieglung des Bundes, in das Meer zu ſenken.
Die Bilder Venedigs verſinken hinter ihm, aber der Kahn
des Traumes führt ihn weiter, jetzt zurück auf die hohe See,
jetzt an dem Küſtenbogen entlang, der zwiſchen Sorrent und Neapel
ſich ſpannt, jetzt den Rhein hinunter und jetzt die Themſe hinauf,
hinauf bis an die Londonbrücke, wo die Schiffe den Strom ſperren
und die Maſten im Fluß und die Thürme am Ufer den Blick be-
zaubern und verwirren. Die alte Landungstreppe ſteigt er hinan,
die abgetreten und ausgewaſchen zum Quai hinaufführt, und das
Geräuſch der City nimmt ihn auf. Immer wachſendes Gedränge
umwogt ihn hier, und endlich Stand nehmend auf der Hügelkuppe
von Ludgate Hill, wo eben die Quaderſteine geſchnitten werden,
aus denen dereinſt die neue Paulskirche ſich aufrichten ſoll, ſieht
er jetzt, von einem der hohen Steinblöcke aus, die Lordmayors-
Prozeſſion in alterthümlichem Pomp an ſich vorüberziehen. Die
Themſeſchiffer in rothen Röcken eröffnen den Zug, dann ſchmettern
Pauken und Trompeten, bis endlich all der muſikaliſche Lärm in
dem Jubelgeſchrei des Volkes erſtickt, denn ſchwerfällig, aus Eichen-
[263] holz geſchnitzt, die Kutſcherperrücken ſteif und wulſtig, und die Be-
dientenröcke ſchwer von Golde, ſo ſchwankt die Lordmayorskutſche
eben jetzt vorüber und der erwählte Cityherrſcher grüßt mit gravi-
tätiſchem Kopfnicken nach rechts und links.
Vereinzelte Rufe eines Kuckuks klingen jetzt leiſe herüber, wie
aus weiter Ferne her, und der kranke Poet unterbricht ſich in ſei-
nem Figurenzeichnen und horcht auf. Aber wie unſre Seele gern
wieder anknüpft an Träume, die ihr lieb geworden, ſo fällt er
bald in altes Sinnen und Träumen zurück.
Immer lachendere Bilder tauchen auf. Es iſt wieder ein Feſt-
zug, eine Prozeſſion, aber diesmal auf heimiſchem, auf eignem
Boden und der Gefeierte iſt er ſelbſt. Ein Junitag iſt’s wie heute,
aber ſo viel heiterer und ſchöner, als die Augen damals heller
leuchteten, die in den Tag hineinſahen, denn neben ihm auf dem
breiten Sitz des Wagens, in dem er ſo eben einfährt in die feſt-
geſchmückte, mit Laubgewinden überſpannte Dorfgaſſe, ſitzt ſeine
heißgeliebte Braut, ſeit geſtern ſein Gemahl. Sie iſt keine leuch-
tende Schönheit, aber ſie hat jenen blendenden Teint, der der
Schönheit nahe kommt, der wie ein Schleier iſt, hinter dem die
Unregelmäßigkeit der Züge ſich lieblich verſteckt oder in Zauber und
Reiz ſich verwandelt. Die blühenden Wangen wurden roſiger von
der Fahrt und das rothblonde Scheitelhaar flattert halb losgelöſt
im Winde. Die blauen Augen leuchten wie der Himmel über
ihnen und der Ausdruck jedes Zuges iſt Liebe und Güte, iſt Glück
und Genügen. Die Bauern, zu Pferde und mit bebänderten
Hüten, folgen dem Zuge, die Frauen im Sonntagsſtaat ſtehen in
den Thüren oder am Heck und heben die Kinder in die Höh, die
Störche klappern auf allen Dächern, als hätten ſie ein Wort mit
zu reden bei ſolchem Einzug, und die Feldlerchen begleiten von
draußen her den Zug und erzählen ſich jubelnd hoch oben von
dem Glück, das ſie dort unten geſehen.
Und ein volles Glück war es, das ſie ſahn, nicht ſpärlich zu-
gemeſſen, wie ſonſt wohl. Nicht über kurze Tage, über ſorgloſe
Jahre hin dehnte ſich die Zeit der Flitterwochen, und Blumberg,
[264] wie es der tägliche Zeuge ehelichen Glückes, innigſten Zuſammen-
lebens war, ſo wurde es auch ein gefeierter Sitz edler Gaſtfreund-
ſchaft, ein Mittelpunkt geiſtigen Lebens, dichteriſchen Schaffens,
wie damals kein zweiter in Mark Brandenburg zu finden war.
Johann von Beſſer, Euſebius von Brand waren oft und gern
geſehene Gäſte und von hier aus ergingen an den vielbewährten
Jugendfreund und Studiengenoſſen unſres Poeten, an den Kirchen-
rath Zapfe in Zeitz, in Vers und Proſa die oft wiederholten
Einladungen, „das Harfenſpiel wieder von der Wand zu nehmen
und das Hoflager in Blumberg zu beziehen.“ Briefe gingen hin-
über und herüber, und als die Schilderungen ehelichen Glückes,
die Canitz regelmäßig mit einem „nun gehe hin und thue des-
gleichen“ zu ſchließen pflegte, endlich ihren Einfluß geübt und den
ehrbaren Magiſter und Kirchenrath auch an den Altar geführt
hatten, da ging von Blumberg ein Gratulationsbrief folgenden
Inhalts nach Zeitz:
„Deine Heirath und die Art derſelben gefällt mir ſehr
wohl; weil Du mir aber die Sache ohne ſonderliche Um-
ſtände ſchlechthin berichtet, ſo will ich auch Dir wieder nur
mit ein paar Worten, doch von Herzen, tauſend Glück und
Vergnügen wünſchen und daß Deine Liebſte, wo nicht ein
fruchtbarer Weinſtock, doch ein immergrüner Tannenbaum ſei,
dem es an Zapfen niemals fehlen möge.“
So gingen die Tage. Ein volles Glück war es, ein Glück
über Jahre hin und doch zu kurz für das beneidete und benei-
denswerthe Paar, deſſen Herzen in ſelt’nem Gleichklang zuſammen-
ſtimmten. Der alte Neider Tod trat zwiſchen ſie, und die Erinne-
rung an jene bitteren Tage ſcheucht auch in dieſem Augenblicke
noch die heiteren Träume von der Seele unſeres Poeten, und
trübe Bilder ziehen herauf. Das Zimmer iſt dunkel verhangen,
und an dem Lager einer Sterbenden kniet der Tiefgebeugte. „Daß
Du bleiben könnteſt!“ klingt es bittend von ſeinen Lippen; ſie
aber ſchüttelt den Kopf und ſpricht: „Du biſt ſo oft von mir ge-
[265] gangen, nun gehe ich von Dir; ſehet, ich ſchlafe ſchon.“ Dann
entſchlief ſie wirklich, ohne Zucken, ohne Schmerz.
Das einförmige Rufen des Kuckuk klang lauter und näher
jetzt herüber, und Canitz richtete ſich auf, als wolle er die Rufe
zählen; da ſchwieg der Kuckuk. Ein Lächeln, halb Freude, halb
Schmerz, zuckte um ſeine Lippe, dann ſchritt er durch die Gänge
des Parks in den ſtillen Schloßhof zurück.
Das war am letzten Juniſonntage 1699. Am 11. Auguſt
deſſelben Jahres begegnen wir ihm noch einmal. Seine Kräfte
waren ſchwächer geworden, und das heitere Poetenherz, das einſt
durch tauſend große und kleine Wünſche an das Leben gekettet
war, es hatte nur noch einen Wunſch: zu ſterben, wie die Theure,
Heimgegangene, geſtorben war. Und dieſer letzte Wunſch ward ihm
erfüllt. Am frühen Morgen des genannten Tages ſtand er auf,
ließ ſich völlig ankleiden und trat an das Fenſter, welches er öff-
nete, um friſche Luft zu ſchöpfen. Die Sonne ging eben auf, und
mit freudigem Staunen genoß er den Anblick der wundervollen
Pracht. Als er eine Weile unverwandt hinausgeſchaut, ſagte er zu
einer Verwandten, die ihn ſtützte: „Ei, wie ſchön iſt heut’ der
Himmel!“ und ſank, von einem Schlagfluß getroffen, todt in ihre
Arme.
So ſtarb „Canitz, der Poet.“ Schon am Tage darauf wurde
er in der Marienkirche beigeſetzt. Acht Tage darauf hielt Spener
in der Nikolaikirche ihm eine Gedächtnißpredigt; den Inhalt ſeines
Lebens aber ſtellen wir zu folgender Grabſchrift zuſammen:
„Friedrich Rudolf von Canitz, Sr. churfürſtlichen Durch-
laucht zu Brandenburg wohlbeſtallter Geheime-Rath und
Staatsminiſter, geb. zu Berlin (nach anderen zu Linden-
berg bei Berlin) den 27. November 1654, geſt. den 11. Auguſt
1699, im 45. Jahre ſeines Alters. Was das Leben erhöht
und verſchönt, das übte und pflegte er. Er liebte die Kunſt
und die Menſchen; die Freundſchaft hielt er hoch, die Treue
am höchſten. Er war klug ohne Arg; ein männlicher Sinn,
[266] ein kindliches Herz. Er liebte die Welt, aber er empfand ihre
Eitelkeit; Glaube und Sehnſucht wuchſen in ſeinem Herzen
und trugen ihn aufwärts.“*)
Ich habe in Vorſtehendem den Menſchen Canitz, eine lie-
benswürdige, fein und innerlich angelegte Natur zu ſchildern ver-
ſucht, es bleibt noch die Frage übrig nach ſeiner politiſchen
Bedeutung, nach ſeinem poetiſchen Werth. War er ein Staats-
mann? war er ein Poet? Das Erſtere gewiß, das Zweite kaum
minder.
Die Natur ſchien ihn für die diplomatiſche Laufbahn wie im
Voraus gebildet zu haben, und ſeine Erziehung, ſeine Lebens-
umſtände, ja die eigenthümlichen Verhältniſſe ſeiner Familie (ich
beziehe dies auf die Stiefväter und Stiefſchwiegerväter, denn auch
die Mutter ſeiner Frau war dreimal verheirathet), hatten von
Jugend auf dahin gewirkt, dieſe natürliche Anlage auszubilden.
Eine Schilderung ſeines Weſens und Charakters, die uns aufbe-
wahrt worden iſt, zeigt am beſten, wie außerordentlich geeignet er
für eine Laufbahn war, in der damals, ungleich mehr noch als
jetzt, alles an dem Erkennen und an der richtigen Benutzung von
Perſönlichkeiten gelegen war. „Er war geſprächig, höflich, frei
von Eigenſinn und Widerſpruchsgeiſt, für Jedermann ge-
[267] fällig und aufmerkſam, Fähigkeiten und Neigungen leicht durch-
ſchauend, jedem Gegenſtande, wie jeder Perſönlichkeit und jedem
Verhältniſſe ſich leicht bequemend — ein vollkommener Mann
von Welt.“ Seine Rechtſchaffenheit, ſein Haß gegen Lüge und
Zweideutigkeit unterſtützten ihn eher, als daß ſie ſein Auftreten
gehemmt, ſeine Erfolge behindert hätten. Bei großer Leichtigkeit
war er von vorſichtiger Haltung; er wußte Ernſt und Sanftmuth
zu vereinen, um zu überreden und zu gewinnen. „Im Frieden-
ſtiften, Vermitteln, Verſöhnen beſaß er ein einziges
Talent.“ Die Inſchrift unter dem Bildniß der alten Frau von
Burgsdorf hatte alſo völlig Recht, von ihm als von dem „klugen
Staatsminiſter von Canitz“ zu ſprechen, aber er ſuchte, wie ſchon
angedeutet, dieſe Klugheit nicht in jenem Intriguenſpiel und in
jener Kunſt der Täuſchung, die damals an den Höfen blühte. Er
kannte dies Spiel und war ihm gewachſen, aber ſein redlicher und
reiner Sinn lehnte ſich gegen dieſe Kampfesweiſe auf. Deshalb
zog es ihn immer wieder in die Stille und Unabhängigkeit des
Landlebens und in einfach natürliche Verhältniſſe zurück. „Der
Hof — ſo ſchrieb er bald nach dem Tode des großen Kurfürſten
— hat wenig Reiz für mich, und ich betrachte die Würden und
Aemter, die Andere ſo eifrig ſuchen, nur als eben ſo viele Feſſeln,
die mich am Genuſſe meiner Freiheit hindern, der Freiheit, die
über alle Schätze der Erde geht und deren echten Werth zu wür-
digen, den gemeinen Seelen verſagt iſt.“ Er kannte dieſen „echten
Werth der Freiheit“ wohl, aber die Verhältniſſe geſtatteten ihm
nicht, ſich dieſer Freiheit ſo völlig zu freuen, wie es ſeinen Wün-
ſchen entſprochen hätte. Es geſchah, was ſo oft geſchieht, man
ſuchte die Dienſte desjenigen, der, im Gefühl ſeines Werths, dieſe
Dienſte anzubieten verſchmähte, und wie oft er auch, um ſeinen
eigenen Ausdruck zu gebrauchen, die Erfahrung gemacht haben
mochte, „daß Andere die goldenen Aepfel auflaſen, wäh-
rend er beim heißen Lauf ſich abmühte,“ ſo war doch Ge-
horſam und Nachgiebigkeit in allen jenen Fällen geboten, wo Wei-
gerung den Vorwurf des Undanks oder doch der Gleichgültigkeit
[268] gegen die allgemeinen Intereſſen auf ſich geladen hätte. Canitz
drängte ſich nicht zu Dienſten, aber ſo oft er ſie übernahm, zeigte
er ſich ihnen gewachſen. Leicht und gewiſſenhaft zugleich, ging er
an die Löſung empfangener Aufgaben, und die graziöſe Hand,
mit der er die Fragen berührte, pflegte zugleich eine glückliche Hand
zu ſein. Faſt an allen deutſchen Höfen war er eine wohlgekannte
und wohlgelittene Perſönlichkeit, und Kaiſer Leopold bezeugte ihm
vielfach ſeine Gnade und ſein beſonderes Wohlwollen.
Canitzen’s letztes und vielleicht bedeutendſtes diplomatiſches
Auftreten war im Haag, wo damals die Minen gelegt wurden,
um den Ryßwicker Friedensſchluß, der ſo viele Intereſſen verletzte
und ſo viele Gefahren heraufbeſchwor, wieder zu ſprengen. Canitz
zeichnete ſich auch hier durch jene Klugheit und feine Beſonnenheit
aus, die, weil ſie gefliſſentlich leiſe die Fäden zu ſchürzen oder zu
entwirren weiß, gemeinhin auf den Beifall zu verzichten hat, der
ſo leicht da ſich einſtellt, wo ein Diplomat ſo undiplomatiſch wie
möglich den Knoten zerhaut. Das herausfordernde Wort Deſſen,
deſſen Punktum bereits ein erſter Kanonenſchuß iſt, wird jubelnd
aufbewahrt, während die kluge Haltung Deſſen, der eine heranziehende
Gefahr beſchwört, gemeinhin unbeachtet bleibt. Das Laute, das
Sichtbare, das ſich zu einem beſtimmten Bilde abrundet, iſt immer
im Vortheil über das Stille und Unplaſtiſche, das ſich leiſe voll-
zieht, und jener Erich Chriſtoph v. Plotho, der zu Regensburg
mit jenem berühmt gewordenen: „was! inſinuiren??“ den kaiſer-
lichen Notar, Dr. April, die Treppe hinunterwarf, hat ein ganzes
Dutzend Diplomaten in Schatten geſtellt.*) Ueberall da, wo das
[269] Wort Friedrichs des Großen gilt: „Mach’ Er nur, ich ſtehe mit
200,000 Mann hinter Ihm!“ iſt es nicht ſchwer, dem guten Ruf
der Kraft auch den der Klugheit hinzuzufügen, und das Achſel-
zucken, das unſere preußiſchen Diplomaten ſo oft hinnehmen müſ-
ſen, hat in ganz anderen Dingen ſeinen Grund, als in Mangel
an Einſicht und ſtaatsmänniſcher Bildung.
Canitz Verdienſte als Diplomat ſind unbeſtritten, ſeine Ver-
dienſte als Poet ſind kaum geringer. Wer auf gut Glück hin und
ohne den Vorſatz liebevolleren Eingehens, den Band ſeiner Dich-
tungen aufſchlägt und (übrigens in einem an Schönheiten reichen
Gedichte) folgende Anfangsſtrophe findet:
[270]
wer ſolche und ähnliche Strophen findet, wird freilich zunächſt den
Kopf ſchütteln und ſeine Ungläubigkeit ausdrücken, daß es mit
ſolchen zopfigen Alexandrinern irgend etwas auf ſich habe. In
gewiſſem Sinne mit Recht. Wir dürfen dieſe Dinge aber nicht
mit einem Maßſtabe meſſen, den wir dem gegenwärtigen Stande
unſerer Literatur entnehmen, ſondern wir müſſen uns die Frage
vorlegen: was waren dieſe Gedichte in und zu ihrer Zeit? Sie
waren zu ihrer Zeit ſehr viel. Wenn ihnen jetzt, wie das gele-
gentlich geſchieht, mit herablaſſender Miene zugeſtanden wird, daß
ſie das Verdienſt der gewählten Sprache, der Reinheit und Eleganz
hätten, ſo genügt dieſe Anerkennung keineswegs; denn es iſt das
ein Zugeſtändniß, das ſo ziemlich jedem modernen Dichter gemacht
werden kann, während unter all’ unſeren zeitgenöſſiſchen Poeten
dennoch nur wenige ſind, die für unſere Zeit das Maß von
Bedeutung beanſpruchen dürfen, was Canitz für ſeine Zeit beſaß.
Er war einer von denen, denen die Aufgabe zufiel, uns erſt eine
Sprache und innerhalb derſelben ein Geſetz zu geben. Dies Ge-
ſchenk, dieſe Hinterlaſſenſchaft iſt nicht hoch genug zu ſchätzen. Wir
ſtehen auf den Schultern derer, die damals thätig waren, und
wenn Canitz auch nicht in die Reihe der epochemachenden, literari-
ſchen Reformatoren jener Zeit gehört, die ſich (wie namentlich
Opitz) für die Geſammtentwicklung deutſcher Sprache und Dich-
tung von nachhaltiger Bedeutung erwieſen haben, ſo war er
dennoch das für unſre Mark, was andre für weiter gezogene
Kreiſe waren. Er zeigte zuerſt, daß die Mark und die Muſen nicht
völlige Gegenſätze wären.
Aber die Verdienſte der Canitz’ſchen Gedichte ſind keineswegs
nur ſprachlicher Natur; ſie haben auch ihren dichteriſchen
Werth. Es iſt wahr, daß er das Dichten zum Theil wie andre
*)
[271] angenehme Unterhaltung trieb, wie Spiel und Zeitvertreib (er ſelbſt
nannte es in ſeinen Briefen „die Kurzweil des Reimens“), aber
wir würden ſehr Unrecht thun, wenn wir nach jenen zahlreichen,
ſcherzhaften Reimereien, wie ſie bei Feſtſpielen, den ſogenannten
„Wirthſchaften“, damals Mode waren, den Werth ſeiner Dichtun-
gen überhaupt abſchätzen wollten. Gewiß, er trieb das Dichten wie
Tagewerk, aber er trieb es auch, und zwar im beſten Sinne, wie
man ein poetiſches Tagebuch führt, darin er Allem zu einem
dichteriſchen Ausdruck verhalf, was der Lauf des Tages brachte.
Der Tag brachte Vieles, Großes und Kleines, Abſonderliches und
Alltägliches, und dieſen Wechſel zeigen auch ſeine Dichtungen, aber
ſie ſind einig in dem einen, daß ſie, ob groß, ob klein, ein Er-
lebtes wiederſpiegeln; ſie ſind nicht Fiktion, ſie ſind wirklich, ſie
haben einen realen Inhalt; dieſer Inhalt iſt nicht immer poetiſch,
weder in ſich, noch in der Art, wie er ſich giebt, aber es fehlt
auch überall die Gefahr, ſich in’s Nichts zu verflüchtigen. Der
alte Bodmer ſagte von dieſen Gedichten: „Canitz legete nichts
Fremdes in dieſelben, was nicht zuvor in ſeinem Sinn und
Herzen geweſen wäre.“ Das iſt ſehr richtig und der Stempel des
Aechten, Wahrhaftigen, an ſich ſelbſt Erfahrenen (auch da, wo es
ſich um bloße Reflexionen handelt) hält ſchadlos für den fehlenden
Hochflug, auch für einen gewiſſen Mangel an Kraft, Tiefe und
Originalität, den wir nicht in Abrede ſtellen wollen.
Ein einziges Gedicht rührt von ihm her, das an Sprache,
Form und namentlich an Innerlichkeit Alles weit zurückläßt,
was er außerdem geſchrieben hat, und nicht nur einen relativen,
ſondern einen abſoluten und unbedingten poetiſchen Werth bean-
ſpruchen darf. Es iſt dies das Gedicht: „An Doris“, oder: „Ueber
den Tod ſeiner erſten Gemahlin“, wie es in einer älteren Ausgabe
genannt wird. Es gilt von dieſem Gedicht etwas Aehnliches, wie
Schlegel von Bürger’s „Lenore“ geſagt hat: „daß es allein ſchon
ausreichen würde, den Namen des Dichters der Nachwelt zu über-
liefern.“ Die Zeiten ändern ſich freilich und es wird Manchem
jetzt pedantiſch erſcheinen, 27 Trauerſtrophen (noch dazu die Arbeit
[272] von Jahren) auf den Tod einer hingeſchiedenen, geliebten Frau
gedichtet zu ſehen; aber das Lächeln über die altfränkiſche Mode
iſt unberechtigt. Es iſt mit einem ſolchen Gedicht, wie mit einem
Bildhauer, der ſeine Frau verliert und ihr ein Monument errich-
ten will. Er hat ſie ſelbſt am beſten gekannt, trägt ihr Bild am
treuſten in der Seele, und ſo geht er freudig und gutes Muthes
an die Arbeit. Die Arbeit iſt mühevoll und koſtet ihm Jahre,
aber endlich hat er’s erreicht und Niemand tritt jetzt heran und
wundert ſich, daß er Jahre gebraucht hat zu einer Schöpfung der
Liebe und Pietät. So muß man eine ſolche „Trauer-Ode“ auf-
faſſen, die damals gemeißelt wurde, wie in Stein. Wir geſtat-
ten jetzt nur eine hingeworfene Skizze, einen lyriſchen Ausruf, als
Ausdruck des Gefühls. Aber Beides kann neben einander beſtehen,
jedes iſt eine berechtigte Art und es iſt falſch, einfach zu ſagen,
die alten Poeten von damals, weil ſie weder in Deſperation, noch
in Melancholie dichteten, hätten überhaupt nichts empfunden. Man
leſe die Dinge ohne Vorurtheil, und man wird an der Wirkung
auf das eigene Herz wahrnehmen, daß ein Herz in dieſen zopfigen
Strophen ſchlägt.
[[273]]
Werneuchen.
Nun bald die Lindenknospen ſchwellen,
Wenn Vögel in den Ahorn-Hecken
Die weißen Eierchen verſtecken,
Dann kommſt Du, unfres Glückes froh,
Im Hute von geflochtnem Stroh,
Zu athmen hier voll Veilchenduft
Werneuchen’s reine Frühlingsluft.
Schmidt von Werneuchen.’
Inmitten des alten Landes Barnim, halben Wegs zwiſchen Ber-
lin und Neuſtadt-Eberswalde, liegt das Städtchen Werneuchen.
Ich ſage Städtchen, um dem Local-Patriotismus einzelner ſeiner
Bewohner nicht zu nahe zu treten, die das Beiwort „Stadt“ für
ironiſche Uebertreibung und die Bezeichnung „Flecken“ als Mangel
an Reſpect anſehen möchten. Ich hüte mich weislich vor jeder
Partei-Ergreifung in dieſer delicaten Frage und verweigere mit
gleicher Entſchiedenheit, an dem Kampfe Theil zu nehmen, der über
die Ableitung des Wortes „Werneuchen“ tobt. Die ganze Erbitte-
rung, die auf dem Felde der vergleichenden Sprachforſchung nur
jemals zu Tage trat, hat ſich auch hier bewährt, und die Partei
„Bernau“ (wiewohl mehrmals geſchlagen) ſteht der Partei „War-
now“ noch immer voll ungebrochenen Muthes gegenüber. Wer-
neuchen iſt Klein-Bernau, ſagen die Einen und deduciren etwa wie
folgt: Klein-Bernau = Bernäuchen, und Bernäuchen = Werneu-
chen. Mit nichten, erwidern die Andern; Werneuchen iſt Klein-
18
[274] Warnow, Klein-Warnow = Warnowichen und Warnowichen =
Werneuchen.
Werneuchen gehörte zu jenen bevorzugten Oertern (wie Zoſ-
ſen, Trebbin, Baruth u. a. m.), die, ohne beſonderes Verdienſt,
ſich in jener kurzen Epoche, die zwiſchen dem Sandweg und der
Eiſenbahn liegt und die man das Chauſſee-Interregnum nennen
könnte, zu einer gewiſſen Reputation emporarbeiteten. Vielleicht war
es dieſe Empfindung, die, als das eherne Zeitalter der Eiſenbahnen
wirklich anbrach, den Ruin Werneuchens gekommen glaubte und
vor ſeiner Zukunft (denn die Bahn nahm eine andere Richtung)
zitterte. Man hatte ſich daran gewöhnt, Werneuchen und Paſſagier-
ſtube als identiſche Dinge anzuſehen; nun ſtrich man die Paſſagier-
ſtube und die Frage trat an jedes Herz: „was bleibt noch übrig?“
Aber die Dinge kamen anders, als man gedacht hatte; die Furcht
war, wie immer, ſchlimmer geweſen, als die Sache ſelbſt, und
Werneuchen blieb im Weſentlichen, was es geweſen war. Die
Fruchtbarkeit der Aecker und der Fleiß der Bewohner deckten als-
bald das Deficit, wenn überhaupt ein ſolches entſtand, und der
freundlichen Häuschen mit Ziegeldach und grünen Jalouſieen wur-
den nicht weniger, ſondern mehr. Das Städtchen wächſt und ge-
deiht, und wem die Ziegeldächer und die Jalouſieen als Beweis
nicht genügen, der richte ſich an der neu entſtandenen „Schützen-
gilde“ auf, die ſeit dem April 1849 ihre Schüſſe in’s Schwarze
und gelegentlich auch wohl — in’s Blaue thut.
Werneuchen gewährt jetzt den Anblick eines ſauberen an Wohl-
habenheit wachſenden Städtchens, aber es iſt nicht das heutige
Klein-Warnow oder Klein-Bernau, wohin ich den Leſer zu führen
gedenke, vielmehr gehen wir um 50 Jahre zurück und rüſten uns
zu einem Beſuche in dem alten Werneuchen, wie es zu Anfang
dieſes Jahrhunderts war.
Auch damals war es ein freundlicher Ort, aber die Chauſſee,
die noch gar nicht exiſtirte oder doch erſt im Bau begriffen war,
hatte noch nicht Zeit gehabt, die Fenſterladen mit dem eingeſchnit-
tenen Herzen durch grüne Jalouſieen zu verdrängen, und die
[275] Strohdächer mit Storchenneſt und ſchief ſtehendem Schornſtein
überhoben den Beſucher, trotz der zwei Bürgermeiſter, die Wer-
neuchen damals beſaß, der heiklen Frage, ob „Dorf, ob Stadt.“
Keine uniformirte Schützengilde paradirte mit Sang und Klang
durch die Straßen, und wenn draußen in Wald oder Feld ein
Schuß fiel, ſo wußte man, daß es die Büchſe des Förſters ſei,
der am Gamen-Grund, wo der Weg nach Freienwalde hin ab-
zweigt, ſein in Tannen geborgenes Häuschen hatte.
Keine Schützengilde gab es damals, auch keinen Veteranen-
Verein (denn all die Schlachten, die zwiſchen Groß-Görſchen und
Belle-Alliance liegen, waren noch ungeſchlagen); aber etwas An-
deres gab es dafür im Dorf, eine Curioſität, eine Reſtchen Vehm-
gericht, das ſich aus unvordenklicher Zeit, allen Einflüſſen des
nivellirenden vorigen Jahrhunderts zum Trotz, an dieſem ſtillen
Ort erhalten hatte. Dies Vehmgericht im Kleinen war die ſoge-
nannte „Wröh.“ Zu feſtgeſetzten Zeiten (aber nur im Sommer)
verſammelten ſich die Bürger-Bauern des Orts auf einem von
alten Linden überſchatteten Platz, der ziemlich in der Mitte zwiſchen
dem Pfarrhaus und der Kirchhofsmauer lag. Unter den Bäumen
dieſes Platzes, nach der Kirchhofs-Seite zu, lagen vier große ab-
geplattete Feldſteine, die man durch aufgelegte Bretter zu eben ſo
vielen Bänken machte, wenn eine „Wröh“ abgehalten werden
ſollte. Was in alten Zeiten in dieſen Geſchwornen-Gerichten be-
ſprochen und beſtimmt wurde, ob jemals ein Werneuchener Bürger-
Bauer das bekannte Meſſer in den Baum am Kreuzweg gebohrt
hat oder nicht, wird nie mehr zur Kunde der Nachwelt gelangen,
unſere Kenntniß über die Sitzungen der Werneuchener „Wröh“
datirt erſt aus den unromantiſchen Zeiten des Allgemeinen Land-
rechts her, wo ganz Werneuchen und natürlich auch die „Wröh“
unter die ſtille Superintendenz eines Magiſtrats und zweier
Bürgermeiſter gekommen war. Die Gerichtsbarkeit der „Wröh“
war eine enge geworden und beſchränkte ſich darauf, in wöchent-
lichen oder monatlichen Sitzungen den Schadenerſatz feſtzuſtellen,
den das Vieh des einen Bürgers oder Bauern den Feldern oder
18*
[276] dem ſonſtigen Beſitzthum des andern zugefügt hatte. Stimmen-
mehrheit entſchied und ohne Streit oder weiteren Appell wurden
die Dinge geregelt. Die letzten 20 Jahre haben uns in den
„Schiedsgerichten“ etwas Aehnliches wiedergebracht; aber was die-
ſer trefflichen Neuſchöpfung fehlt, iſt, im Vergleich zu jener alten,
die fremd und myſtiſch klingende Bezeichnung und wir begreifen
den Stolz eines Werneucheners, der von den Zeiten der „Wröh“
ſpricht, wie ein Lübecker von der Hanſa und ihren Kriegen.
Im Sommer 1809 hatte Werneuchen noch ſeinen Linden-
platz zwiſchen Pfarrhaus und Kirchhof, auch noch die vier Feld-
ſteine und ſeine „Wröh“; wir kommen aber nicht in heißer Juni-
ſchwüle von Berlin, um einer Sitzung des letzten Ausläufers der
Vehme in Schweigen und Ehrerbietung beizuwohnen, wir haben
ein anderes Ziel vor Augen, einen Beſuch im Pfarrhauſe ſelber.
Dorf Blumberg liegt längſt hinter uns; nun haben wir auch See-
feld und Löhme im Rücken, zwei Zwillingsdörfer, die von hüben
und drüben ihre völlig gleichen Kirchthurmſpitzen im Waſſer des
Lohme-See’s ſpiegeln, — aber der Werneucher Kirchthurm neckt
uns noch immer, und wenn wir ihm näher zu ſein glauben, ent-
zieht er ſich wieder unſerem Blick. Wir halten ermüdet inne, ſtützen
uns, nach hinten übergebogen, auf unſeren Stock und lüften mit
der Linken die Mütze, um uns die Stirne vom Winde kühlen zu
laſſen; da iſt es uns plötzlich, als hörten wir hinter uns etwas
wie Peitſchenknall und Pferdeſchnaufen, und zurückblickend bemerken
wir einen offenen Wagen, der, den Sand des Weges zu einer
tüchtigen Wolke aufwirbelnd, in raſchem Trabe uns folgt. Im
nächſten Augenblicke ſchon iſt er uns zur Seite und wir zählen
ſeine Inſaſſen. Es ſind ihrer fünf. Vorn der Kutſcher mit zwei
blondköpfigen Jungen von zehn oder elf Jahren; dahinter, auf der
eigentlichen Sitzbank des Wagens, die in vier Lederriemen hängt
und bei jeder Bewegung hin- und herſchaukelt, ein wohlgenährtes
Ehepaar, allem Anſcheine nach zwiſchen dreißig und vierzig. Die
Frau hält einen aufgeſpannten Regenſchirm in der Hand, den ſie
mit vielem Geſchick à deux mains zu gebrauchen weiß, indem ſie
[277] nämlich das rothe Dach als Schutz gegen die Sonne, den Griff
aber gleichzeitig als Krückſtock benutzt, um die beiden Jungen in
Ordnung zu halten, die des engzugemeſſenen Raumes halber in
beſtändiger Fehde ſind und, aller Controle ungeachtet, einen ſtillen
erbitterten Kampf mit den Ellenbogen führen. Zwiſchen der Sitz-
bank und dem ſchrägen Hintertheil des Wagenkorbes iſt noch ein
leerer Raum, und unſere Kenntniß ähnlicher Fuhrwerke läßt uns
ſofort errathen, daß hier ein Häckſel- oder Futterſack verborgen ſein
muß, der nichts dagegen haben würde, wenn wir etwa entſchloſſen
ſein ſollten, die letzte Viertelmeile auf ſeinem Polſter zurückzulegen.
Wir ſind in der That gewillt, den Reſt des Weges als blinde
Paſſagiere mitzumachen, ſchwingen uns von hinten her in den
Wagen hinein, und unſere Tarnkappe hervorziehend, die uns unſichtbar
macht und ſelbſtverſtändlich zu unſeren unerläßlichſten Reiſe-Neceſſaires
zählt, ſitzen wir jetzt unbemerkt auf dem Häckſelſack hinten im Wagen,
während wir zu glücklichen Zeugen all der kleinen Erziehungs-
und Unterhaltungs-Scenen werden, die ſich mehr und mehr zu
einer gemüthlichen Familien-Komödie abrunden.
Unmittelbar vor uns, auf dem ſchmalen Plätzchen, das für
unſere Füße frei geblieben, liegt ein Kinder-Spielzeug, jenes mit
Glöckchen und Schellen behängte Blech-Inſtrument, das unter dem
Namen „die Janitſchar“ oder der „halbe Mond“ das Entzücken
aller Kinderherzen bildet. Der Raum iſt ſo eng, daß wir’s trotz
äußerſter Vorſicht nicht vermeiden können, die Glöckchen gelegent-
lich zu berühren, und jedesmal, wenn es klingelt und tingelt, drehen
ſich alle fünf Köpfe nach der Hinterſeite des Wagens um, als
hätten ſie eine leiſe Ahnung davon, daß auf dem Häckſelſack nicht
alles richtig ſei. Dieſe Kopfwendungen, die der ſtarken Frau mit
dem Regenſchirm jedesmal äußerſt ſchwer werden, geben uns eine
erwünſchte Gelegenheit, unſere nunmehrige Reiſegeſellſchaft auch en
face kennen zu lernen und uns über den Ausdruck des Behagens,
als charakteriſtiſchen Familienzugs, zu vergewiſſern. Die beiden
Jungen auf der Kutſcherbank ſcheinen Zwillinge zu ſein, wenigſtens
ſehen ſie einander ſo ähnlich, wie die beiden ſchon genannten
[278] Kirchthürme zu Seefeld und Löhme, die ſich im Lohme-See ſpie-
geln; der Mutter, einer hübſchen blonden Frau, die ihr Embon-
point wie ihr Schickſal trägt, rollen die Schweißtropfen wie
Freudenthränen von der Stirn, und ihr Ehegemahl zur Rechten
hat jenes wohlbekannte, aus Würde und Sonnenbrand zuſammen-
geſetzte Geſicht, das alle Beamte auf dem Lande zu haben pflegen,
denen der Dienſt in der Amts- und Gerichtsſtube die Zeit zu Enten-
und Schnepfenjagd nur unweſentlich verkürzt. Nach dieſen Andeu-
tungen fehlt nur noch die namentliche Vorſtellung; es iſt der
Amts-Actuarius Bernhard aus Löhme, nebſt Frau und Familie,
die ſich gleich nach Tiſch auf den Weg gemacht haben, um dem
befreundeten Pfarrhauſe in Werneuchen (wo heute Geburtstag iſt)
einen Beſuch zu machen.
Die beiden Braunen traben tüchtig weiter (man merkt, daß
es Amtspferde ſind), der kleine Streit zwiſchen dem Ehepaar, ob
Pathe Ulrich heute 8 oder 9 Jahr geworden ſei, iſt endlich ſelbſt-
verſtändlich zu Gunſten der Frauenanſicht entſchieden, und der
Kutſcher, der ſeit einer Viertelſtunde ſeine Peitſche „Gewehr bei
Fuß“ neben ſich hatte, nimmt ſie jetzt wieder in die Hand, um,
angethan mit allen Abzeichen ſeiner Würde, in Werneuchen einzu-
fahren. Schon holpert und ſtolpert der Wagen auf dem tiefaus-
gefahrenen Steinpflaſter, der Kutſcher knallt oder ſtreicht mit be-
merkenswerther Eleganz die Stechfliegen von dem Hals der Pferde,
das rothe Dach des Regenſchirms wird eingezogen; nur einmal
noch fährt die Schirmkrücke mit einem energiſchen „Sitz gerade,“
in den Rücken des linken Jungen, und in demſelben Augenblick,
wo der Getroffene zuſammenfährt, hält der Wagen vor dem Wer-
neuchener Pfarrhaus.
Aus unſerm Wagenverſteck hervor haben wir Zeit, das Haus
zu muſtern, während die beiden Jungen herunterklettern. Es iſt ein
einfaches Fachwerkhaus mit gelbem Anſtrich und kleinen Fenſtern,
ſein einziger Schmuck der geräumige Vordergiebel, der über der
Hausthür aufragt, und neben der Thür ein paar alte Kaſtanien-
bäume, deren hohe Kronen das ganze Haus in Schutz zu nehmen
[279] ſcheinen. Die Hausthür ſteht offen und gönnt einen Blick auf den
kühlen flieſengedeckten Vorflur; aber Niemand tritt aus der Thür
heraus, um die Gäſte willkommen zu heißen. Die beiden Jungen
haben endlich das Terrain recognoscirt und kommen jetzt mit einer
barfüßigen alten Frau zurück, die ſie hinten im Garten mit Un-
krautjäten beſchäftigt fanden. Der Amtsactuarius poltert in dienſt-
lichem Ton ein paar Fragen heraus; aber es ergiebt ſich aus
einer Handbewegung, die die alte Frau macht, daß ſie nicht hören
kann, und daß es gerathener iſt, ihr ohne Weiteres die Geſammt-
koſten der Unterhaltung zuzuſchieben, als durch ungeduldiges Fragen
ſie zu verwirren. „Alles ausgeflogen, — Alles in’n Wald, —
Ulekens Geburtstag.“ Dieſe Worte, die mit einer wiederholten
Handbewegung begleitet werden, um die Richtung anzugeben, wo
der Wald und vielleicht auch „Uleken,“ das Geburtstagskind, zu
finden ſei, genügen völlig; unſer Amtsactuarius iſt lange genug
in der Werneuchener Pfarre aus- und eingegangen, um zu wiſſen,
wo der Wald zu finden iſt und wo der Pfarrer von Werneuchen
ſeine Lieblingsplätze hat. Er winkt nun auch ſeinerſeits der Alten
mit der Hand, ruft ihr mit lauter Stimme, wie zum Zeichen völ-
ligen Eingeweihtſeins, den Räthſelnamen „Uleken“ zu und läßt im
nächſten Augenblicke weiter traben. Als die Pferde anrücken, fallen
wir auf dem Häckſelſack nach hinten über und ſtoßen dabei ſo ſtark
an die Janitſchar, daß alle Glocken zu klingen anfangen; aber
Alles iſt bereits in ſolcher Aufregung, daß Niemand mehr darauf
achtet, welcher Mittagsſpuk da hinten ſein Weſen treibt.
Bis zum Gamen-Grund, dem Weſtſtück jener reizenden Wald-
partie, die den Namen das „Blumenthal“ führt, iſt eine halbe
Stunde. Wir ſind in die Fahrſtraße eingebogen, die nach Freien-
walde hin abzweigt, und halten jetzt an einem Waldweg, deſſen
Windungen wir durch das Gehölz hin verfolgen können. Quellen
ſickern im Moos, Elſen und anderes Laubholz miſcht ſich unter
die Tannen und erfriſchende Kühle weht uns an.
„Da ſingen ſie ſchon; wußt’ ich doch, daß wir ſie hier finden
würden,“ — mit dieſen Worten, die wie eine Selbſtgratulation
[280] klingen, hat ſich der Amts-Actuar rechts aus dem Wagen geſchwun-
gen und eilt zur Linken, um bei der Landung ſeiner Ehehälfte,
ein Manöver, das ſeine Schwierigkeiten hat, nach Kräften behülf-
lich zu ſein. Im Vertrauen auf die Gutgeartetheit der Pferde wird
ſtatt des directen Weges über das linke Vorderrad der kleine Um-
weg über den Deichſeltritt gewählt; wir aber, ſobald wir die Vor-
kehrungen zu dieſer Landung glücklich getroffen ſehn, ſchwingen
uns, die linke Hand auf den Wagenkorb geſtützt, mit raſchem
Ruck aus dem Wagen in den Fahrweg hinein und eilen voraus,
immer dem Geſange nach, der, friſch wie der Wald ſelber, uns
aus der dunklen Tiefe entgegen klingt.
Da haben wir ſie. Hinaustretend auf einen Waldrain, den
hochſtämmige Tannen nicht nur einſchließen, ſondern auch nach
oben hin faſt überdecken, ſcheinen die Elfen an hellem lichtem Tage
ihre Spiele zu treiben. Ein Dutzend Kinder, groß und klein, mit
allerhand Kränzen im Haar und die Köpfchen voll Uebermuth in
den Nacken geworfen, tanzen den Ringelreihen, und inmitten des
Kreiſes auf einem alten Elſenſtumpf ſteht ein Blondkopf, ein Junge
mit langen Locken, und zeigt mit ſeiner Weidenruthe hierhin, dort-
hin, als wär’ es ein Zauberſtab. Seitabwärts in einer Vertiefung
unter den Bäumen qualmt und kniſtert ein Feuer, an deſſen Rande
neben anderem Topfwerk eine jener weitbauchigen braunen Kannen
ſteht, die den Namen ihrer ſchleſiſchen Vaterſtadt ruhmreich über
die Welt getragen haben; hinter dem Feuer aber, auf der natür-
lichen Bank, die die Erdvertiefung hier geſchaffen, ſitzt pastor
loci (kenntlich durch Haltung und Sammtkäpſel) und reicht ſeiner
neben ihm ſtehenden jungen Frau, die mit geübtem Auge Feuer
und Kannen und Kinder controlirt, zum Zeichen des Einverſtänd-
niſſes die Hand. „Es iſt gut ſo,“ ſcheint ſeine freundliche Miene
zu ſagen, und die glückliche Frau, glücklich im Beſitz des beſten
Mannes, neigt ſich zu ihm nieder und küßt ihm die Stirn, auf
einen kurzen Augenblick wenigſtens unbekümmert um Kannen und
Kinder und um das brodelnde Waſſer, das eben ziſchend in die
Flamme fährt. Wir ſtehen noch wie im Bann dieſer reizenden
[281] Scene, da knickt es dicht neben uns im Unterholz, und das raſche,
laut-ängſtliche Athmen eines Kurzathmigen läßt keinen Zweifel dar-
über, wer im Anzug iſt; — ihre beiden Zwillinge vorauf, den
Ehegemahl mit der Janitſchar hinter ſich, iſt die Frau Amts-
actuarius auf die Waldwieſe herausgetreten, und vor ihrer Erſchei-
nung iſt der Zauber entflohen. Der Ringelreihen ſchweigt und die
Werneuchner Dorfjugend hat ihr Elfenthum abgeſtreift. Das junge
Volk (Kinder aus dem Pfarrhaus und deren Geſpielen aus dem
Dorfe) ſtürzt mit Jubelgeſchrei und in wildem Durcheinander den
Ankommenden entgegen.
Wir ſind nicht Augenzeugen der Begrüßungsſcene, die folgt,
wir ſehen auch nicht, wie der reizende Blondkopf, der noch eben
auf dem Elſenſtumpfe ſtand, das bewunderte Geſchenk aus den
Händen ſeines Pathen empfängt; wir betheiligen uns auch nicht
an „Hirſch und Jäger,“ das nun zur Aufführung kommt und
zwiſchen den Horatiern und Curiatiern von Werneuchen und Loehme
zu einer Art Wettkampf führt, — wir gönnen der Gruppe am
Feuer ihr Geplauder und den Kindern im Wald ihre Spiele, und
geſellen uns erſt wieder zu ihnen, als ſie um die Abendſtunde,
unermüdet vom Singen und Springen, den Heimmarſch antreten.
Halben Weges zwiſchen dem Gamen-Grund und Werneuchen,
deſſen Kirchthurm eben jetzt im Scheine der untergehenden Sonne
blinkt, begegnen wir dem Völkchen wieder und laſſen den phanta-
ſtiſchen Zug an uns vorüberziehen. Voran Klein-Ulrich, der Held
des Tages; er hält ſein Geburtstagsgeſchenk in beiden Händen
und immer, wenn er den halben Mond hin und her ſchüttelt,
ſchüttelt er unwillkürlich auch den Kopf und ſeine Locken tanzen
hin und her nach dem Tacte der Glöckchen und Schellen. Unmit-
mittelbar hinter „Uleken“ folgen die Zwillinge, — als Ehrengäſten
gebührt ihnen mindeſtens der zweite Platz; der eine bläſt auf dem
Kaffeetrichter, während der andere den Deckel der Milchkanne gegen
den blechernen Boden ſchlägt. Nun kommt der Fahnenträger, das
iſt Heinrich, „Ulekens“ älteſter Bruder; er trägt eine junge Birke,
hinter deren Blättern ſich ſein Geſicht verſteckt. Dicht aufmarſchirt
[282] folgen die Anderen mit zinnernen Bechern und blechernen Löffeln,
und Alles ſingt und lacht und klappt mit den Bechern zuſammen,
das Ganze ein Bacchuszug ohne Satyrn und ohne Panther, ein
Feſtzug aus jenen Regionen, wo das Beſingkraut an die Stelle
des Weinlaubes tritt.
Neben dem Zuge her mahlt der Loehmer Amtswagen durch
den Sand; unſere ſtattliche Freundin, die ſeit der ſtillen Abend-
promenade, auf der ſie ſich verlobte, nicht mehr ſpazieren gegangen
iſt, thront mit dem Ausdruck wachſenden Behagens auf ihrem
Sitz, und gelegentliche Zurufe, die ſich die Erziehung der Zwil-
linge, auch auf nicht abzureichende Diſtancen hin, noch immer an-
gelegen ſein laſſen, geben ihr mehr Befriedigung als Verdruß.
Funfzig Schritt hinter dem Wagen folgen die Männer in lebhaf-
tem Geſpräch. Der Amts-Actuar, der die Berliner Zeitung hält,
rectificirt die Aufſtellung des rechten Flügels bei Wagram, „die
er dem Erzherzog Karl nie zugetraut hätte“ — während in kurzer
Entfernung hinter den politiſirenden Freunden, eben ſo unange-
fochten durch die Fehler bei Wagram, wie durch den Aerger des
Amts-Actuars, Boncoeur, der Vertraute und Liebling der Kinder,
einhertrottet, mit einem ſo ehrlichen Pudelgeſicht, als habe er’s
jedem Einzelnen verſprochen, für verlorene Tücher und Schuh-
bänder mit der Sicherheit ſeiner eignen Perſon aufkommen zu
wollen.
Dämmerung liegt auf dem Dorf, als der Zug in die Dorf-
ſtraße einzieht; die Spielgefährten, die zu Geburtstag in’s Pfarr-
haus geladen worden waren, ſchlüpfen rechts und links in die
offenſtehenden Thüren, unſere Freunde aber halten alsbald unter
den alten Pfarrhaus-Kaſtanien und „Paſtor Schmidt von Wer-
neuchen“ (denn er iſt es) vorantretend, lüftet nunmehr im Haus-
flur ſein ſchwarzes Käppchen und dem nach ihm eintretenden Paare
ſeine Hand entgegenſtreckend, begrüßt er ſie mit einem herzlichen:
„geſegnet ſei euer Eingang.“ Dann ſchließen ſich Thür und Laden,
nur flüchtig ſchimmert noch Licht und klingen noch Stimmen.
Die Sterne ziehen herauf und es iſt ſtill in Dorf und Haus.
[283]
So ſah es im Sommer 1809 in Werneuchen und ſeinem
Pfarrhaus aus. Ich glaubte, den Mann, dem dieſe Darſtellung
gilt, nicht beſſer einführen zu können, als durch eine Schilderung,
die ihn uns in Wald und Feld und im Kreiſe der Seinen zeigt.
Eine kindliche Natur, hing ſein Herz an dem Stillleben des Kin-
derherzens und der Natur.
Bevor ich dazu übergehe, eine eingehendere Charakteriſtik des
Mannes und ſeiner Werke zu verſuchen, ſchick’ ich eine Zuſammen-
ſtellung der biographiſchen Notizen vorauf, die ich über den äußer-
lichen Gang ſeines Lebens erhalten konnte.
Friedrich Wilhelm Auguſt Schmidt, genannt Schmidt von
Werneuchen, wurde am 23. März (nicht Mai) 1764 in dem
reizend gelegenen Dorfe Fahrland bei Potsdam geboren. Sein
Vater war Pfarrer daſelbſt. Von den glücklichen Tagen ſeiner
Kindheit erzählt uns eine ſeiner gelungenſten Idyllen: „An das
Dorf Fahrland“:
Es ſcheint, daß er ſeine Eltern, wenigſtens den Vater, früh-
zeitig verlor; denn er kam ſchon um 1775 auf das Schindler’ſche
Waiſenhaus nach Berlin, wo der ſpätere, auch als Dichter ausge-
zeichnete Staatsrath Friedrich Auguſt v. Staegemann (eines Ucker-
märkiſchen Predigers Sohn) ſein Mitſchüler war. Ob er, wie
dieſer, auf dem „grauen Kloſter“ oder aber auf einer anderen
Schule ſeine Gymnaſial-Bildung vollendete, iſt nicht zu erſehen.
Etwa um 1785 ging er nach Halle, um daſelbſt Theologie zu
ſtudiren. Seine Lage muß damals eine ziemlich bedrängte geweſen
ſein, wie die Anfangszeilen einer poetiſchen Epiſtel an ſeinen Freund
Chriſtian Heinrich Schultze (Prediger in Döbritz) vermuthen laſſen.
Dieſe lauten:
[284]
Zu Anfang der 90er Jahre ſcheint er die Stellung als
Prediger am Berliner Invalidenhauſe erhalten zu haben. In dieſe
Zeit fällt ſeine Verlobung mit ſeiner geliebten, in vielen Liedern
gefeierten Henriette, mit der er 1795 die glücklichſte Ehe ſchloß.
1796 erhielt er die Werneuchner Pfarre. Die Jahre unmittelbar
vor und nach ſeiner Verheirathung umfaſſen auch die Epoche ſeines
eigentlichen, ſeines friſcheſten poetiſchen Schaffens. Die zahlreichen
Lieder an „Henriette“ gehören ſelbſtverſtändlich dieſer Zeit an, aber
auch ſeine Vorliebe für das Beſchreibende, für die Naturſchilde-
rung zeigte ſich ſchon damals, der charakteriſtiſche Hang für das
Abmalen jener Natur, die ihm ſo zu ſagen vor der Thür lag,
die er, Tag um Tag, um ihre Eigenart befragen konnte. Den
Wunſch, ſeine Werneuchner Pfarre mit einer anderen zu vertauſchen,
ſcheint er nie gehabt zu haben. Sein Weſen war Genügſamkeit,
Zufriedenheit mit dem Looſe, das ihm gefallen war. Eine Reihe
von Kindern wurde ihm geboren; ſie waren der Sonnenſchein des
Hauſes. Den jüngſten Knaben (Ulrich) verlor er frühzeitig; kurz
vorher oder nachher ſtarb auch die Mutter. Mit ihnen begrub er
die Freudigkeit ſeines Herzens. Eine Reihe von Liedern verräth
uns, wie tief er ihren Tod beklagte. Später vermählte er ſich
zum zweiten Male. Seine zweite Gattin überlebte ihn und errich-
tete ihm das Denkmal (ein gußeiſernes Kreuz) auf dem Werneuch-
ner Kirchhof, das, von einem ſchlichten Holzgitter eingefaßt, fol-
gende Inſchrift trägt: „F. W. A. Schmidt, Prediger zu Wer-
neuchen und Freudenberg, geb. den 23. März 1764, geſt. den
26. April 1838. Rückſeite: „Ich will euch wiederſehen und euer
Herz ſoll ſich freuen und eure Freude ſoll Niemand von euch
nehmen.“ Ihm zur Seite ruhen, unter überwachſenen Epheuhügeln,
ſeine erſte Gattin (Henriette) und ſein Lieblingsſohn Ulrich.
Dieſen kurzen biographiſchen Notizen laß ich eine Reihe kleiner
Mittheilungen folgen, die ich der Freundlichkeit derer verdanke, die
dem Hingeſchiedenen im Leben am nächſten ſtanden. Es ſind be-
ſonders Aufzeichnungen ſeines noch lebenden Sohnes. Sie werden
am eheſten geeignet ſein, das Charakterbild des Mannes, wie ich
[285] es Eingangs zu zeichnen ſuchte, durch eine Reihenfolge kleiner Züge
zu vervollſtändigen. Ich gebe die Mittheilungen, wie ſie mir zuge-
gangen ſind, ohne weitere Zuthat meinerſeits, als die einer über-
ſichtlichen Gruppirung.
Den Pfarracker hatte er verpachtet, weil er nicht „verbauern“
wollte. Aber wenn er auch ſeine Ehre und ſeine Aufgabe darin
ſetzte, nicht ſelbſt ein Bauer zu werden, ſo liebte er doch die Land-
leute ſehr und ſprach gern und eingehend mit ihnen. Die Land-
wirthſchaft, als ein Großes und Ganzes, hatte er bei Seit’ gethan,
aber ſein Garten war ſeine tägliche Freude. Er hätte ohne dieſe
tägliche Berührung mit dem Leben der Natur nicht ſein können.
Der Garten lag unmittelbar hinter dem Hauſe, rechts von der
Kirchhofsmauer (über die die Grabkreuze hinwegragten), links von
Nachbarsgärten eingefaßt; nach hinten zu blickte der Garten in’s
Feld. Schneeball- und Hollunder-Bosquets empfingen den Be-
ſucher, der aus der geräumigen Küche, mit ihren blank geſcheuerten
Keſſeln, in den unmittelbar dahinter gelegenen Garten eintrat. Die
eigentliche Sehenswürdigkeit des Gartens war ein alter Birnbaum
(der noch jetzt exiſtirt und der ſchon damals als der größte und
reichſte in den Brandenburgiſchen Marken galt); ſein Schmuck und
ſeine Schönheit aber waren die vier Lauben, die, die eine immer
ſchöner als die andere, an der Peripherie des Gartens ſtanden.
Drei davon, die dem Hauſe zunächſt lagen, waren Fliederlauben,
in denen, je nach der Tageszeit und dem Stand der Sonne, die
Beſuche empfangen und der Kaffee getrunken wurde; die vierte
aber, die mehr eine hohe, kreisrunde Blühdornhecke, als eine
eigentliche Laube war, erhob ſich auf einer kleinen Anhöhe am
äußerſten Ende des Gartens und führte den Namen „Sieh dich
um.“ In dieſe Hecke waren kleine Fenſteröffnungen hineingeſchnit-
ten, die nun, je nachdem man den Stand nahm, die reizendſten
Blicke auf Kirchhof, Gärten oder blühende Felder geſtatteten.
Rothe und weiße Roſen faßten überall die Steige ein; die eine
der Lauben aber, die ſich an die Kirchhofsmauer lehnte, führte
deutungsreich den Namen „Henrietten’s Ruh.“
[286]
In dieſem Garten arbeiten war unſeres Freundes Luſt. Mit
Befriedigung konnte er ſich aufrichten und ſeinem Sohne zurufen:
„Heut thut mir der Rücken weh vom Bücken.“ Sperlinge und
Hühner vom Garten abzuhalten, war die immer gern erfüllte
Pflicht der Kinder.
Der Sommer war ſchön, aber der ſchönſte Monat des Jah-
res war doch der December. Das Weihnachtsgefühl, die hohe
Vorfreude des Feſtes in uns zu wecken (ſo erzählt der Sohn),
verſtand er vortrefflich. Er that es in lockender, die Einbildungs-
kraft anregender Weiſe, theils durch Töne von Kinderinſtrumenten,
theils durch Proben von Weihnachtsgebäck, welches von bepelzter
Hand durch die knapp geöffnete und im Hui wieder geſchloſſene
Thür in die Kinderſtube geworfen wurde. Ließ einmal Knecht
Ruprecht gar nichts von ſich hören und ſehen, ſo baten wir ſin-
gend an der hoffnungsreichen Pforte um ſein Erſcheinen und
ſeine Gaben. Waren wir artig geweſen, ſo gewährte er; andern-
falls praſſelten Nußſchalen oder faule Aepfel durch die Thür-
öffnung herein. Den Jubel am heiligen Abend hat er in einem
ſeiner populärſten Gedichte ſelbſt beſchrieben:
[287]
Das Leben auf der Pfarre war ein ziemlich bewegliches. Mit
einigen Predigern in der Nachbarſchaft war er von früher her
bekannt; dieſe beſuchte er, wenn er auf geiſtige Anknüpfungspunkte
rechnen konnte, ſonſt ſchwerlich. Unter den befreundeten Amtsbrü-
dern befand ſich auch der Probſt Gloerfeld in dem benachbarten
Bernau. Dieſer würdige und allgemein hochgeachtete Geiſtliche
hatte einen ſchönen Tod. Er war ein großer Gartenfreund, wie die
meiſten Geiſtlichen in jener geldarmen Zeit (zwiſchen 1806 und 13)
und empfing dann und wann Beſuche von Perſonen, die ſeinen
ſchönen Garten ſehen wollten. Einmal erſchien auch eine junge,
durchreiſende Dame und als er ſich bückte, um ihr eine Roſe zu
pflücken, ſank er todt zwiſchen die Blumenbeete nieder.
Schmidt’s Gedichte geben über den Kreis ſeiner Bekanntſchaft die
beſte Auskunft; es lag in der Natur ſeiner Muſe, die einen durch-
aus häuslichen Charakter hatte und das Leben mehr erheitern als
auf ſeine Höhen treiben wollte, daß er Dinge (alſo z. B. Einla-
dungen) in Verſen abmachte, die ſich in Proſa eben ſo gut hätten
ſagen laſſen. So lernen wir denn beim Leſen ſeiner Gedichte auch
die Freunde und Bekannte aus Näh’ und Ferne kennen: Paſtor
Schultz aus Döbritz (im Havelland), Amtsactuarius Bernhard aus
Loehme (unſer alter Freund aus dem Gamen-Grund her), Prediger
Dapp in Klein-Schöneberg, Rudolf Agrikola, Frau Oberſt von
Valentini, Maler Heuſinger und Andere mehr; meiſt Perſonen, die
mit mehr oder minder Dringlichkeit aufgefordert werden, der
Werneuchner Pfarre, „die, im Grunde genommen, viel hübſcher
ſei als die Berliner Paläſte“, ihren Beſuch zu machen. Beſonders
nah ſtand ihm der Paſtor Ahrendts in dem nur eine Meile ent-
fernten Beyersdorf. Mit dieſem hatte er zuſammen ſtudirt, beide
waren Prediger (in unmittelbarer Aufeinanderfolge) im Berliner
Invalidenhauſe geweſen, beide hatten zu Ende des vorigen Jahr-
hunderts ihre benachbarten Landpfarren erhalten und waren auf
denſelben bis zu ihrem Tode verblieben, nachdem beide ihr 50jäh-
riges Jubiläum gefeiert hatten, Schmidt 1837, Ahrendts 1838.
Unter den gelegentlich Einſprechenden waren auch einzelne
[288] Berliner Geiſtliche von der ſtrengeren Richtung, wie Held und
Hennefuß. Er theilte die Anſichten dieſer Herren nicht und hatte
deſſen kein Hehl, war aber in der Art, wie er ernſte Geſpräche
führte, von ſo feinen und anziehenden Formen, daß die Beſuche
weit öfter wiederholt wurden, als man hätte erwarten ſollen. Alle
dieſe Beſuche von Freunden und Geiſtlichen erfreuten ihn lebhaft,
denn ſie boten ihm geiſtige Nahrung und Anregung; aber höchſt
unbequem waren ihm die affectirten Leute aus der großen Stadt,
die ſich aus Neugier oder aus Sentimentalität bei ihm blicken
ließen, um hinterher von den „hohen Vorzügen des Landlebens“
ſchwärmen zu können, und eines ſeiner Gedichte, nachdem er dieſe
Zudringlichen zuvor beſchrieben, ſchließt mit dem Anruf an
Fortuna:
Dies erinnert an ähnliche Niedlichkeiten Mörike’s, deſſen
Humor freilich um vieles mächtiger iſt.
Unter den claſſiſchen Dichtern war ihm, neben Homer, Virgil
der liebſte; ſeine Bukolika ſtanden ihm außerordentlich hoch und
mögen ſein eigenes Dichten beeinflußt haben. Als der größte Dich-
ter aller Zeiten aber erſchien ihm Shakeſpeare, den er mit
Paſſion las und deſſen kühne und erhabene Bilder ihn immer
wieder begeiſterten.
Die Angriffe, die ſein eigenes Dichten erfuhr, machten gar
keinen Eindruck auf ihn, ergötzten ihn vielmehr. Es lag wohl
darin, daß er eine durch und durch beſcheidene Natur und niemals
von dem eitlen Vermeſſen erfüllt war, neben den Heroen jener
Epoche ebenbürtig daſtehen zu wollen. Er wollte wenig ſein, aber
daß er dies Wenige auch wirklich war, davon war er
feſt durchdrungen; er hielt den Beweis davon in Händen,
und dieſe Ueberzeugung (die nebenher wiſſen mochte, daß ein
[289] kleines Blättchen vom Lorbeerkranz ihm früher oder ſpäter noth-
wendig zufallen müſſe) nahm ſeinem Auftreten jede Empfindlichkeit.
Das bekannte gegen ihn gerichtete Goethe’ſche Spottgedicht:
las er ſeinen Kindern vor und ſcherzte darüber mit ihnen. Seine
Hochſchätzung Goethe’s wurde durch dieſen Angriff in nichts ge-
mindert, und ſeine Kinder mußten um dieſelbe Zeit, als jenes
Spottgedicht erſchienen war, Goethe’ſche Lieder und Balladen aus-
wendig lernen.
Bis hierher hat uns der Menſch beſchäftigt, wir wenden uns
nun dem Dichter zu. War er ein ſolcher überhaupt? Gewiß,
und trotz einer ſtarken proſaiſchen Beimiſchung weit mehr, als ge-
meinhin geglaubt wird. Die Anerkennung, die ihm ſeiner Zeit ge-
zollt wurde, pflegte in ihrem Tone der Art und Weiſe zu gleichen,
in der wohl, in Vor-Claus-Grothſchen Tagen, von unſeren platt-
deutſchen Dichtern, zumal von unſerem Altmärkiſchen Landsmann
Bornemann geſprochen wurde. In den Dichtungen des Einen wie
des Anderen vermißte man Idealität (die dem Volksgeiſt nicht
mit Unrecht als das entſcheidende Merkmal für „ob Dichter oder
nicht“ erſcheint), und ließ beide Poeten als bloße Dichter-Abarten
gelten, als heitere, derbe, humoriſtiſche Erzählertalente, die zufällig
in Reim ſtatt in Proſa erzählten.
Es liegt in dieſer ganzen Auffaſſung, auch namentlich in dem
Zuſammenwerfen Schmidt’s von Werneuchen mit den plattdeutſchen
Dichtern der alten Schule, viel Wahres und Richtiges; viel
Wahres, in das ſich nur inſoweit eine gewiſſe Unbilligkeit gegen
unſeren Werneuchener Poeten mit einmiſcht, als er anderer Klänge,
als der zumeiſt bekannt gewordenen, ſehr wohl fähig war.
Die unbeſtreitbare Popularität der Zeilen:
19
[290]
ich ſage, die Popularität dieſer und ähnlicher Zeilen hat unſer
Dichter mit dem beſſeren Theil ſeines Ruhmes bezahlen müſſen.*)
Dieſer Aufſatz ſoll kein literar-hiſtoriſcher ſein, er würde ſich ſonſt
die Aufgabe ſtellen, eine gewiſſe Verwandtſchaft Schmidt’s von
Werneuchen mit Platen und ſeiner Schule und eine ſehr große
mit Freiligrath nachzuweiſen.
Schmidt von Werneuchen handhabte Vers und Reim mit
großer Leichtigkeit und zählte zu den productivſten Lyrikern jener
Epoche. Man muß freilich hinzuſetzen, er that des Guten zu viel.
In dem kurzen Zeitraume von ſechs Jahren erſchien er mit fünf
Bänden „Gedichte“ vor dem Publicum, Gedichte, die ſich unter
einander zum Theil ſo ähnlich ſehen, daß es ſchwer hält, ſie in
der Vorſtellung von einander zu trennen. Sie erſchienen in folgen-
der Reihenfolge: „Kalender der Muſen und Grazien,“
1796; „Gedichte,“ erſter Band, bei Haude und Spener, 1797;
„Gedichte,“ zweiter Band, bei Oehmigke jun., 1798; „Roman-
tiſch-ländliche Gedichte,“ bei Oehmigke jun., 1798; „Alma-
nach der Muſen und Grazien“ (Fortſetzung des „Kalenders
der Muſen und Grazien“), bei Oehmigke jun., 1802. Dies iſt
Alles, was ich aus der Epoche von 1796 bis 1802 von ſeinen
Veröffentlichungen in Händen gehabt habe; doch möchte ich faſt
bezweifeln, daß die gegebene Aufzählung die Geſammtheit ſeiner
damaligen Productionen umfaßt. Die Kluft zwiſchen 1798 bis
[291] 1802 iſt zu weit. Nach dem Jahre 1802 ſcheint er ſein Harfen-
ſpiel an die Wand gehängt zu haben; nur aus dem Jahre 1815
begegnen wir noch ſchließlich einem ſchmalen Büchelchen, das den
Titel „Neueſte Gedichte“ führt und in zwei Sonettenkränzen
(eine Form, in der er ſich auch früher ſchon verſuchte) den Tod
ſeiner erſten Gattin Henriette und das frühe Hinſcheiden ſeines Lieb-
lingsſohnes Ulrich beklagt. Ich erwähnte dieſer Lieder ſchon weiter oben.
Sehen wir von dem Jahrgang des Erſcheinens ab und be-
trachten wir den Inhalt ſo vieler Bände zunächſt als ein Gan-
zes, das wir nicht äußerlich nach Namen und Datum, ſondern
nach ſeinem inneren Gehalt zu theilen haben, ſo ergeben ſich drei
Hauptgruppen: 1) Sonette, 2) Balladen und 3) Naturbeſchrei-
bungen, vom kurzen Lied an bis zum ausgeführten Idyll.
Ueber die erſte und zweite Gruppe (Sonette und Balladen)
gehen wir ſo ſchnell wie möglich hinweg. Er hatte weder von dem
Einen, noch von dem Andern auch nur eine Ahnung, und wäh-
rend ihm, dem Sonett gegenüber, trotz ſeiner großen Gewandtheit
in Handhabung des Reims, die Grazie, die leichte Sicherheit in
Form und Gedanken fehlte, ſuchte er, die ſchwächeren und ſchwäch-
ſten Sachen Bürger’s zum Vorbild nehmend, das Weſen der Bal-
lade im Mordhaft-ſchauerlichen, in einem Geſpenſter-Apparate, der
Niemand in Schrecken ſetzen konnte, weil er ſelber keinen Augen-
blick an das wirkliche Lebendigſein ſeiner Figuren glaubte. So
kam es, daß er in dieſer Dichtungsart beſtändig den bekannten
einen Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen that und Karri-
katuren ſtatt Geſtalten auf die poetiſche Bühne führte. Um wenig-
ſtens eine Belagsſtelle für dies mein Urtheil zu citiren, laß ich
hier die erſte Strophe der Spuk-Ballade „Graf Königsmark und
ſein Verwalter“ folgen:
19*
[292]
Dies genüge. Dieſelbe Ballade enthält übrigens viel ſchlimmere
Strophen. Keine Dichtungsart vielleicht kann die Verwechslung
von Einfach-natürlichem mit Hausbacken-proſaiſchem ſo
wenig ertragen, wie die Ballade.
Schmidt von Werneuchen war kein Sonettiſt und noch weni-
ger faſt ein Minſtrel, der es verſtanden hätte, bei den Feſtmahlen
alter Häuptlinge die heroiſchen Sagen des Clan’s zu ſingen, aber
er war ein Naturbeobachter und Naturbeſchreiber trotz einem; nicht
die Geßner’ſche Idylle war ſeine Force, bei den Niederländern
ſchien er in die Schule gegangen zu ſein, und wenn Friedrich
Wilhelm I. ausrufen durfte: „ich hab’ ein treu-Holländiſch Herz,“
ſo durfte Schmidt von Werneuchen ſagen: „ich habe ein gut-Hol-
ländiſches Auge.“ Jetzt, wo man es liebt, die Künſtler dadurch zu
charakteriſiren, daß man ſie mit hervorragenden Erſcheinungen einer
verwandten Kunſt vergleicht, möcht’ es geſtattet ſein, Schmidt von
Werneuchen einen märkiſchen Teniers zu nennen. Beide haben in
„Bauernhochzeiten“ excellirt.
Aber dieſe „Bauernhochzeiten“ unſers märkiſchen Poeten, und
was ihnen ähnlich ſieht, waren doch, der Geſammtheit ſeines
Schaffens gegenüber, nur die Staffage; er konnte ein Genre-
maler ſein, wenn ihm der Sinn darnach ſtand, vor Allem aber
war er ein Landſchafter, oft ein grober Realiſt, der die Natur
nur äußerlich abſchrieb, oft aber auch ein feinfühliger Künſtler,
der ſich auf die leiſeſten landſchaftlichen Stimmungen, auf den
Ton und alle ſeine Nüancen verſtand. Er war nicht immer der
gereimte Proſaiker, der mit Freude und Behagen niederſchreiben
konnte:
[293]
er konnte ſich auch ſehr weſentlich über dieſe Spielereien, über dies
rein äußerlich Beſchreibende erheben und trotz der Anklänge an
Bürger’s „Pfarrerstochter zu Taubenhayn“ zählen wir z. B. fol-
gende Strophe zu den gelungenſten Schilderungen einer herbſt-
lichen Landſchafts-Stimmung:
Am vorzüglichſten war er da, wo er in claſſiſcher Einfachheit
und in nie zu bekrittelnder Wahrheit die märkiſche Natur be-
ſchrieb und den Ton ſchlichter, gemüthlicher Wahrhaftigkeit traf,
ohne in Trivialität oder Sentimentalität zu verfallen.
Unter ſeinen früheren Sachen finden ſich nicht wenige, die dieſen
Charakter tragen, und wer ſich der Mühe unterziehen wollte, die
Spreu vom Weizen zu ſondern, der würde im Stande ſein, dem
Publicum ein Büchelchen zu bieten, das die gang und gäben An-
ſichten über den Dorfpoeten von Werneuchen ſehr weſentlich modi-
ficiren würde. Ich gebe nur eine ſolche Stelle, und zwar aus dem
ſchon früher erwähnten Gedichte: „An das Dorf Fahrland,“ jenes
Dorf, in dem er geboren war.
Und weiter dann:
[294]
Dies genüge. Wer den Sinn für Naturbeſchreibung hat,
wird in dieſen wenigen Zeilen Züge von ganz ungewöhnlicher
Feinheit finden (z. B. die Schilderung des Sperlings in der
zweit- und drittletzten Zeile) und nicht länger Luſt haben, den
Schmidt von Werneuchen zu den bloßen Reimſchmieden zu werfen.
Uebrigens muß er zu ſeiner Zeit, trotz aller Gegnerſchaft,
auch zahlreiche Freunde und Verehrer gehabt haben; ſelbſt die
Goethe’ſchen Spottverſe, die wohl nicht geſchrieben worden wären,
wenn nicht der Dichter, gegen den ſie ſich richteten, einer gewiſſen
Popularität genoſſen hätte, deuten durch ihr bloßes Vorhandenſein
darauf hin. Deutlicher ſpricht dafür die äußere Ausſtattung, in
der dieſe Gedichte damals vor das Publicum traten: beneidenswerth
ſchöner Druck, und die beiden erſten Sammlungen von der Hand
Chodowiecki’s und ſeiner beſten Schüler illuſtrirt. Solche koſtſpie-
lige Ausſtattung wagten die Verleger wohl nur, wo das Anſehen
des Poeten, oder wenigſtens ſeine locale Popularität, einen ſichern
Abſatz in Ausſicht ſtellte.
Eine locale Bedeutung hatte er allerdings, und wer das
Weſen der Märker, inſonderheit auch der Berliner, näher kennt,
wird ſich über dieſe Popularität, die ihm entgegen getragen wurde,
nicht wundern. Denn die Märker lieben es, hinter ironiſcher Neckerei
ihre Liebe zu verſtecken, und während ſie ſich anſchicken, über die
eigene Heimath, über die „Streuſandbüchſe“ und die kahlen Pla-
teau’s, die „nichts als Gegend“ ſind, die ſpöttiſchſten und über-
triebenſten Bemerkungen zu machen, horchen ſie doch mit inner-
licher Befriedigung auf, wenn Jemand den Muth hat, für „Sumpf
[295] und Sand“ und für die Schönheit des Märkiſchen Föhrenwaldes
in die Schranken zu treten. Und dies hat Schmidt von Werneuchen
ehrlich gethan. Er that es zuerſt und that es immer wieder.
Sein ganzes Dichten, Kleines und Großes, Gelungenes und Miß-
lungenes, iſt in dem einen Punkte einig, daß es überall die Liebe
zur Heimath athmet und dieſe Liebe wecken will. Und deshalb ein
Hoch auf den alten Schmidt von Werneuchen!
[[296]]
Prenden.
(Ein Capitel vom alten Sparr.)
In dieſen Lüften, die ſich leiſe regen.
Platen.’
Unſer Weg führt uns heut in das alte „Sparren Land.“
Der ausgedehnte Landſtrich, auf dem dieſe längſt vom hiſtoriſchen
Schauplatz abgetretene Familie einſt angeſeſſen war, hat zwar nur
noch ſehr bedingungsweiſe Anſpruch auf jenen auszeichnenden
Namen; aber in Huldigung gegen den Ruhm des alten Geſchlechts,
ſprechen wir auch heute noch von einem „Sparren Land“, wie-
wohl kein einziges Gut mehr des ehemaligen Sparr’ſchen Beſitzes
in Sparr’ſchen Händen iſt und der berühmte Name ſelbſt nur
noch von einem Ueberlebenden (und ſeinen minorennen Kindern)
getragen wird.
Die Sparr’s oder die Sparren ſcheinen unter den erſten
Askaniern in die Mark gekommen zu ſein; ſchon um 1300 ſahen
wir ſie im Mittelpunkt des Landſtrichs, der binnen Kurzem ihren
ausgedehnten Beſitz umſchließen ſollte. Unter den Hohenzollern
treten ſie uns von Anfang an als Anhänger der neuen Landes-
herrn in beſonderen Vertrauensſtellungen entgegen, und noch vor
Ablauf deſſelben Jahrhunderts, das die Burggrafen in’s Land
führte, ſehen wir die raſch zu Anſehen und Reichthum gelangte
Familie der Sparr’s im Vollbeſitz ihrer Macht. Das Sparren
Land iſt da.
[297]
Welcher Art iſt es? und wo haben wir es zu ſuchen?
Schräg durch den Barnim hin und in der Richtung von
Südweſt nach Nordoſt verlaufend, erſtreckt ſich ein breiter Gürtel
von Sand und Sumpf und Ackerland bis in’s Ukermärkiſche
hinein, ein Landſtreifen, der etwa die Gegend von Neuſtadt-Ebers-
walde als Mittelpunkt, und Bernau und Angermünde als linken und
rechten Flügel hat. Die jetzige Stettiner Eiſenbahn zieht genau einen
Längsſchnitt durch dies alte Sparren Land und theilt es in eine
nördliche und ſüdliche Hälfte. Der Geſammtbeſitz beſtand zur Zeit
des höchſten Reichthums der Familie (der ihrem hiſtoriſchen
Glanze um ein Jahrhundert vorausging) aus mehr als zwanzig
Gütern, die ſich eben ſo in drei Gruppen ſonderten, wie ſich die
Familie ſelbſt in drei Zweige geſpalten hatte.
Dieſe Zweige waren die Sparr’s von Lichterfelde, von Pren-
den und von Greiffenberg. Die Lichterfelde’ſchen Sparr’s hatten
das Centrum inne, die Gegend von Neuſtadt; die Prenden’ſchen
ſaßen am linken Flügel zwiſchen Bernau und Bieſenthal; die
Greiffenberg’ſchen am rechten Flügel, nördlich von Angermünde.
Alle drei Linien haben — und zwar in demſelben Jahr-
hundert — je einen ausgezeichneten Soldaten (alle drei Artillerie-
Generale) hervorgebracht; die Prenden’ſche Linie den Ernſt Georg
(1654 Reichsgraf, geſt. 1666 zu Berlin); die Greiffenberg’ſche den
Georg Friedrich (neunmal verwundet bei der Belagerung von
Candia; Reichsgraf 1670, geſt. 1677); die Lichterfeldeſche den
Otto Chriſtoph v. Sparr. Dieſer letztere nur, dem es als dem
Letzten der Lichterfeldeſchen Sparrs vorbehalten war, den Namen
der Familie zu höchſtem Ruhm zu führen, ſoll uns an dieſer Stelle
beſchäftigen. Er überragte ſeine Vettern vielleicht an militäriſcher
Bedeutung, gewiß (wenn wir unſern Blick auf den Ausgang
ſeines Lebens richten) an Innerlichkeit des Gemüths und an Lau-
terkeit des Wandels, und genoß, im Gegenſatz zu ihnen, der Aus-
zeichnung, die inhaltsreichere Hälfte ſeines Lebens dem Dienſte
ſeiner engeren Heimath widmen zu können. Er ſtarb als der erſte
Brandenburgiſche Feldmarſchall, einer der ausgezeichnetſten unter
Allen, die dieſe hohe Würde getragen haben.
[298]
Er war ein Lichterfeldiſcher Sparr. Wenn dieſer Aufſatz
dennoch den Namen des Nachbargutes als Ueberſchrift trägt, ſo
geſchieht es, weil Prenden mehr als irgend ein anderes Beſitz-
thum der Sparr’s mit dem Leben Otto Chriſtoph’s verbunden
iſt. Er wurde hier geboren und ſtarb hier, wie denn auch Prenden
und das benachbarte Trampe diejenigen Güter ſind, die, nachdem
das Elend des 30jährigen Krieges der Familie ihren alten Beſitz
geraubt hatte, zuerſt wieder als ein Kurfürſtliches Geſchenk in die
Hände eines Sparren und zwar unſeres Otto Chriſtoph’s von
Lichterfelde gelegt wurden.
Meinem Beſuch in Prenden ſchick ich aber erſt eine kurze
Biographie Otto Chriſtoph’s voraus.
Otto Chriſtoph v. Sparr wurde muthmaßlich am 13.
November 1599 zu Prenden geboren. Abweichende Anſichten
neuerer Forſchung, die mich nicht völlig überzeugt haben, übergehe
ich hier. Sein Vater, Arend v. Sparr, Erbherr auf Lichterfelde,
war Mitbeſitzer von Prenden, was den Umſtand erklären
mag, daß ein Lichterfeldiſcher Sparr, ſtatt im Schloſſe zu Lichterfelde,
im Herrenhauſe zu Prenden geboren wurde.
Arend Sparr hatte ſich am 10. Juni 1598 mit der kaum
18jährigen Edell v. Sparr (eine Däniſche Sparr, geb. zu Ko-
penhagen am 9. November 1581) vermählt, und ſo floß denn,
von Vater und Mutter Seite her, alt Sparreſches Blut in den
Adern Otto Chriſtoph’s. Seine Geburt koſtete der ſchönen Edell
Sparr das Leben; ſie wurde am 11. December 1599 auf dem
Kirchhofe zu Prenden begraben.
Die Jugend Otto Chriſtoph’s hüllt ſich in Dunkel. Ob er
ſich im Parke zu Lichterfelde oder im Garten zu Prenden umher-
tummelte, ob er im Hauſe des Vaters oder in der benachbarten
Hauptſtadt erzogen wurde, was und wo er war, als die erſten
jener Gewitterwolken heraufzogen, die dann 30 Jahre lang über
dem unglücklichen Lande ſtehen ſollten — darüber verlautet nichts
[299] und wird muthmaßlich nichts mehr verlauten; denn es war eine eiſerne
Zeit, die wenig ſchrieb und am wenigſten bei Jugendgeſchichten
verweilte. Annehmen aber dürfen wir, daß die Erziehung unſeres
Sparr eine ſorgfältige war, da wir im Lauf unſerer Darſtellung
zu zeigen haben werden, daß er keineswegs nur jenen abenteuern-
den Naturen zugehörte, die, ausgerüſtet mit Muth und Rückſichts-
loſigkeit, auf dem Boden des Krieges wie von ſelber raſch empor-
wuchſen, ſondern ganz entgegengeſetzt vielfache Kenntniſſe einer
höheren Gattung beſaß, die ihn befähigten, Befeſtigungen zu leiten
und Feldzugspläne zu entwerfen. Ein im Auftrage des Kurfürſten
von ihm entworfenes Memorial über „Kriegsführung gegen die
Türken“ iſt ein Meiſterſtück einfach klarer Darſtellung, und unter
den verſchiedenen Städten, an deren Befeſtigung er erfolgreich ge-
arbeitet, werden Peitz, Hamm, Berlin und Magdeburg vornehmlich
genannt. König rühmt von ihm, daß er fortgeſetzt habe, was in
der Kriegsbaukunſt 70 oder 80 Jahre früher von Rochus von
Lynar begonnen wurde.
Wahrſcheinlich um 1626 trat er, wie ſo viele andere Adlige
aus Brandenburgiſchen Landen, in die Dienſte des Kaiſers. Die
42 Jahre, die ihm von da ab noch zu leben beſchieden waren,
theilen wir in zwei beinahe gleiche Abſchnitte, in eine Kaiſerliche
und in eine Kurfürſtliche Dienſtzeit, von denen die letztere Epoche
wieder in eine Zeit als Kurbrandenburgiſcher Feldzeugmeiſter und
in eine andere als Kurbrandenburgiſcher Feldmarſchall zerfällt.
Den gelehrten Forſchungen Theodor’s v. Moerner iſt es in
allerneueſter Zeit geglückt, auch über jene erſte Epoche, alſo über
Sparr’s Verweilen in Kaiſerlichem Dienſt, ein ausreichendes Licht
zu verbreiten und unſeren Otto Chriſtoph, zumal in dem letzten
Jahrzehent des dreißigjährigen Krieges, auf ſeinen Kreuz- und Quer-
zügen in Pommern, in der Mark, im Weſtfäliſchen und am Rhein
zu begleiten. Wir leiſten aber darauf Verzicht, jenen Forſchungen
an dieſer Stelle zu folgen, und begnügen uns damit, hervorzu-
heben, daß unſer Sparr die Lützener Schlacht, wahrſcheinlich als
Kaiſerlicher Hauptmann, mitmachte. Fünf Jahre ſpäter erblicken
[300] wir ihn, beſtimmter faßbar, bei einem verſuchten, aber mißglückten
Sturm auf Stargard, und im ſelben Jahre noch (1637) als
Commandant von Landsberg a. W. Der Klagen über ihn, na-
mentlich von Seiten der Küſtriner Regierung, waren damals viele:
„Er habe (ſo hieß es) die Regalien angetaſtet, ſich des Kurfürſt-
lichen Metzkorns angemaßt, ohne Zahlung zu leiſten, habe die Zoll-
rolle bedroht, den Mühlenmeiſter unſchuldig in Ketten gelegt und
1000 Schafe aus der Kurfürſtlichen Schäferei zu Kartzig wegge-
trieben.“ Anklagen, die bei der ſicherlich nicht angebornen Rauf-
und Raubluſt unſeres Sparr nur zeigen, wie der Krieg ſeine eige-
nen Geſetze hat, zumal der dreißigjährige, der ja Zeit hatte, ſeinen
Codex zu ſchreiben und einzubürgern.
Endlich kam der Weſtfäliſche Frieden und Deutſchland ſuchte
ſich wieder an einen Segen zu gewöhnen, an den es kaum noch
geglaubt hatte.
Kurfürſt Friedrich Wilhelm, deſſen Jugend- und erſte Regie-
rungsjahre in das wildeſte Toben des Krieges gefallen waren,
nahm aus den Wunden und Wirren jener Zeit eine Lehre mit in
den Frieden hinüber, — die Lehre: „daß ein Land verloren ſei,
das ſich nicht ſelbſt zu ſchützen wiſſe,“ und mit dieſer Lehre zu-
gleich die Ueberzeugung, daß dieſer geſegnete Schutz nur aus Einem
hervorwachſe, aus einem ſchlagfertigen und zuverläſſigen Heere.
Unter dieſem Geſichtspunkte begann er den Wiederaufbau ſeines
verwüſteten Landes. An Soldaten und Rekruten war kein Mangel.
Der ſtockende Handel, die wüſt gelegten Felder boten, auch nach-
dem die großen Waſſer des Krieges ſelbſt verlaufen waren, an
Menſchenmaterial vollauf; aber dies Material war mehr eine Laſt
als ein Segen, ſo lange die Führer fehlten, die ihm Halt und
Ordnung, und durch ihre kriegeriſchen Talente das Gefühl des
Sieges zu geben verſtanden. Dieſe Einſicht führte von Seiten des
Kurfürſten zur Anwerbung von Generalen, die ſich im ſchwediſchen
oder kaiſerlichen Dienſt ausgezeichnet hatten; Joachim Haſſe von
Schaplow (der Schwiegervater Derfflinger’s), Derfflinger ſelbſt,
Joachim von Goertzke, Otto Chriſtoph von Sparr, — Alle traten
[301] ziemlich zu gleicher Zeit in brandenburgiſche Dienſte über und ver-
blieben darin, reich geehrt durch ihren Kriegs- und Landesherrn,
bis an ihr Lebensende. Die Schickſale Goertzke’s und Sparr’s
bieten ſehr viel Uebereinſtimmendes. Beide im Lande Barnim aus
reich begüterten Familien geboren, verloren dieſen Beſitz während
der Kriegslaäufte jener Zeiten völlig; beide kehrten, nach 20- oder
30jähriger Abweſenheit in fremdem Dienſt, in die Dienſte ihres
Landesherrn zurück und brachten es, faſt an derſelben Stelle, wo
ſie geboren waren, zu neuem reichen Beſitz und zu immer wach-
ſenden Ehren. Nur ihre Stammgüter waren Beiden für immer
verloren.
Die Unterhandlungen mit Sparr begannen 1649 und führten
raſch zum Ziele, aber erſt 1651 erfolgte ſein wirklicher Eintritt in
die Armee ſeines Landesherrn. Die nun folgende Epoche ſeines
kurfürſtlichen Dienſtes läßt ſich wieder, wie ſchon Eingangs hervor-
gehoben, in zwei beſtimmte Gruppen ſondern, in eine kriegeriſche
Epoche, die mit ſeiner Ernennung zum Feldmarſchall (1657) ab-
ſchließt, und in eine beinahe 11jährige Friedenszeit bis zu ſeinem
Tode, die nur einmal, um 1664, durch die Theilnahme an einem
Türkenzuge unterbrochen wird.
Der Mittelpunkt jener kriegeriſchen Epoche von 1651 bis
1657 iſt der polniſch-ſchwediſche Krieg und in demſelben die
dreitägige Schlacht von Warſchau. Wir werden bei den Ereig-
niſſen, die zu dieſem Kriege führten, wie namentlich auch bei der
berühmten Schlacht ſelbſt, einen Augenblick zu verweilen haben.
In Schweden war Karl Guſtav von Pfalz-Zweibrücken der
Königin Chriſtine als erwählter König gefolgt und nahm mit
Leidenſchaft die Idee auf, die ſeit faſt einem halben Jahrhundert
die ſchwediſche Politik beſtimmt hatte: die Gründung eines
Baltiſchen Reiches. Pommern, Preußen und die jetzt ſpeciell
ſogenannten Oſtſeeprovinzen, ſollten theils erſt erobert, theils feſter dem
ſchwediſchen Reich eingefügt werden. Es war eine Macht-Erweiterung
vor Allem auf Koſten Polens, und Karl Guſtav ſuchte ſich
dazu des brandenburgiſchen Beiſtandes zu verſichern. Der Kurfürſt
[302] lehnte jedoch, ſo lange er noch freie Hand hatte, das ihm zuge-
muthete Bündniß ab und zog in ſeinen preußiſchen Provinzen ein
Heer zuſammen, deſſen nächſter Zweck eine bewaffnete Neutralität
war; in der Wirklichkeit aber kam die Aufſtellung dieſes Heeres
einem Bündniß mit Polen gegen Schweden gleich. Das Heer
ſelbſt war anſehnlich; es beſtand aus 26,800 Mann mit 34 Ge-
ſchützen und hatte in Otto Chriſtoph von Sparr ſeinen oberſten
Befehlshaber.
So ſtanden die Dinge im Sommer 1656. Wenige Monate
änderten die Sachlage völlig. Dem raſchen Vordringen Karl Guſtav’s
hatte ſich das ſchlecht gerüſtete Polen faſt ohne Widerſtand unter-
worfen. Johann Caſimir war aus Warſchau geflohen, und die
ſchwediſche Kriegswelle, wenig geneigt, ſich in ihrem Siegeslaufe
aufhalten zu laſſen, ſchickte ſich eben an, auch die Provinz Preußen
zu überſchwemmen. Jetzt war für Brandenburg der Moment gege-
ben, den Kampf gegen das herausfordernde Schweden aufzuneh-
men; aber der Kurfürſt, vielleicht voll Mißtrauen in ſeine und
des Landes Kraft, das damals noch keine glänzende Kriegsprobe
beſtanden hatte, vermied den angebotenen Kampf und löſte das
ſtille Bündniß mit Polen, um dafür ein offenes Bündniß mit
Schweden gegen Polen einzugehen. Was der Kurfürſt ein Jahr
vorher den ſchwediſchen Bitten abgeſchlagen hatte, das gewährte er
jetzt raſch und ohne Rückhalt den ſchwediſchen Drohungen. Er gab
dabei dem Gebot der Klugheit nach, vielleicht in ſtiller Vorausſicht,
daß die Stunde der Rückzahlung kommen und alte und neue
Kränkung quitt machen werde.
Von ſeinem Standpunkt aus war es gerechtfertigt, das
Bündniß mit Schweden zu ſchließen; die Polen, von ihrem Stand-
punkt aus, hatten mindeſtens ein gleiches Recht, dies Bündniß
als Abfall anzuklagen. Und war es nun Entrüſtung, oder das
Gefühl einer wachſenden Gefahr, daſſelbe Volk, das ſich faſt wider-
ſtandslos niedergeworfen hatte, als der Kriegsſturm Karl Guſtav’s
über das Land hingezogen war, ſtand jetzt plötzlich aufrecht da,
wie ein Aehrenfeld, das ſich dem Sturm gebeugt hat, ohne ge-
[303] brochen zu ſein. Schweden und Brandenburg vereint ſahen ſich
einem ſtärkeren Feinde gegenüber, als Polen vor ſeiner Nieder-
werfung geweſen war. Johann Caſimir kehrte nach Warſchau zu-
rück und ſammelte ein Heer in unmittelbarer Nähe der Hauptſtadt,
zwiſchen Bug und Weichſel. Die Zahl deſſelben wird verſchieden
angegeben und ſchwankt zwiſchen 40,000 und 200,000. Wahr-
ſcheinlich waren es 50,000 Mann, eher mehr als weniger. Am
18. Juli 1656 kam es zu der berühmten dreitägigen Schlacht
von Warſchau.
Verſuch’ ich es, aus dem zum Theil widerſprechenden Mate-
rial, das mir über dieſe Schlacht vorliegt, unter Fortlaſſung von
Nebenſächlichem und Ausgleichung von Widerſprüchen, ein einiger-
maßen überſichtliches Schlachtbild zu entwerfen.
Die Polen, ſo ſcheint es, hatten eine befeſtigte Hügel-Poſition
inne, zahlreiche Artillerie in der Front ihrer Stellung, einiges
Fußvolk am linken und rechten Flügel und zahlreiche Reiterabthei-
lungen (einige Schriftſteller ſprechen von 20,000) im Centrum
auf einem die ganze Stellung beherrſchenden Plateau. Dies Pla-
teau bildete den Schlüſſel zur Poſition; aber es erſchien äußerſt
ſchwierig, ſich dieſes Schlüſſels zu bemächtigen, da, abgeſehen von
der Feſtigkeit, die die Hügelſtellung an und für ſich bot, ein An-
griff an dieſer Stelle auch dadurch erſchwert wurde, daß ſich am
Abhange des Plateau’s ein Gehölz hinzog, das mit den beſten
polniſchen Fußtruppen beſetzt war. Gehölz und Plateau deckten
und unterſtützten ſich gegenſeitig. Nur drei Wege erſchienen für
den Angriff möglich: ein Frontal-Angriff gegen die beiden Flügel,
oder aber eine Umgehung der feindlichen Stellung überhaupt, oder
drittens eine Durchbrechung des Centrums. Alle drei Wege wur-
den verſucht.
Das ſchwediſch-brandenburgiſche Heer, wahrſcheinlich um etwas
ſchwächer, als das Heer Johann Caſimir’s, ſtand in entſprechender
Dreitheilung dieſer formidablen Poſition der Polen gegenüber. Der
Angriff war beſchloſſen. Am rechten Flügel commandirte Karl
Guſtav die Schweden, am linken der Kurfürſt eine aus Schweden
[304] und Brandenburgern gemiſchte Truppe; im Centrum hielt General-
feldzeugmeiſter v. Sparr mit zwei ſchwediſchen und fünf branden-
burgiſchen Regimentern und mit der geſammten Artillerie. Unter
ihm commandirten Graf Joſias v. Waldeck und Joachim Rüdiger
v. d. Goltz. Die Schweden trugen zur Unterſcheidung ein Büſchel
Stroch am Hut, und das Feldgeſchrei war: In Gottes Namen!
So begann die Schlacht.
Am erſten Tage (18. Juli) ſchritten der rechte und linke
Flügel zum Angriff. Aber beide Angriffe, wiewohl mit größter
Bravour und unter perſönlicher Anführung von König und Kur-
fürſt ausgeführt, wurden zurückgeſchlagen. Die feindliche Hügel-
ſtellung, durch Redouten doppelt feſt, ſchien uneinnehmbar.
Am zweiten Tage verſuchten die Schweden und Branden-
burger eine Umgehung; aber die Polen kamen den Angreifern zu-
vor und nachdem, in veränderter Schlachtſtellung, um eine Dorf-
gaſſe entſcheidungslos gekämpft worden war, kehrten beide Armeen
in die alten Poſitionen zurück. So viele vereitelte Anſtrengungen
von Seite der Verbündeten mochten den Muth der Polen heben,
die ſich ohnehin des Sieges ſicher hielten, und ihre zahlreiche
Cavallerie ging jetzt zum Angriff über. Vom Plateau herabſauſend,
an dem Gehölz vorüber, das den Haupttheil ihrer Infanterie ver-
barg, ſuchten ſie die Schlachtreihe der Verbündeten zu durchbrechen.
Aber dieſer Angriff wurde von dem Centrum derſelben zurück-
geſchlagen und ſcheiterte alſo in gleicher Weiſe, wie am Tage vor-
her der ſchwediſch-brandenburgiſche Angriff auf die feindlichen
Flügel-Poſitionen geſcheitert war.
So kam der dritte Tag. Das Operiren mit den Flügeln
war zweimal mißglückt; es blieb nur noch übrig, wenn man Ver-
brauchtes nicht wiederholen wollte, den Feind an ſeiner ſtärkſten
Stelle zu faſſen und ſein Centrum zu attakiren. Um dieſen Angriff
überhaupt zu ermöglichen, war es, wie ſich aus dem Eingangs
Geſagten ergeben haben wird, durchaus nöthig, ſich zuvörderſt in
Beſitz des Gehölzes zu ſetzen, das ſich am Fuße des dominirenden
Plateau’s hinzog. Dieſer Angriff war nahezu ein Verzweiflungs-
[305] Coup; denn abgeſehen davon, daß das Gehölz ſelbſt den heftigſten
Widerſtand entgegenſetzen konnte, ſo beſtrichen auch die Geſchütze
des feindlichen Flügels, je nachdem man links oder rechts vor-
ging, die anrückenden Truppen der Verbündeten, während, wenn die
Kanonade ſchwieg, die Kavallerie jeden Augenblick in die in Un-
ordnung gerathenen Regimenter einbrechen konnte. Sparr erkannte
die ganze Schwierigkeit; dennoch rückte er vor und führte die
Sache ſiegreich hinaus. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß er den im
Walde verſteckten Feind zuerſt durch concentriſches Geſchützfeuer
in’s Schwanken brachte und endlich ihn zwang, ſich hügelanwärts
aus dem Walde herauszuziehen. Dieſen Moment des Rückzuges
benutzte er jetzt zu einem allgemeinen Angriff: die nachrückenden
Infanterie-Regimenter ſäuberten das Gehölz, während die Kaval-
lerie (fünf Schwadronen brandenburgiſche Küraſſiere) bergan ſtürmte
und die durch ihre eigene Infanterie bereits in Unordnung ge-
rathene polniſche Reiterei nach kurzem Kampf über den Haufen
warf. Einmal aus ihrer unangreifbar geglaubten Poſition, und
zwar an der allerſtärkſten Stelle, herausgeworfen, wandten ſich die
Polen zur Flucht und wurden theils in einen Moraſt, theils in
die Weichſel gejagt. Viele ertranken. Die Verbündeten hielten an-
dern Tags ihren Einzug in Warſchau.
Es war dies, beinahe 20 Jahre vor dem Tage von Fehr-
bellin, die erſte große Waffenthat der Brandenburger. Sie waren
von dieſem Tage an, mehr als hundert Jahre lang, nämlich vom
18. Juli 1656 bis zum 18. Juni 1757 immer ſiegreich; erſt
der Tag von Kollin brachte die Demüthigung einer Niederlage.
Wenn dieſe erſte Ruhmesſchlacht der Brandenburger verhält-
nißmäßig wenig im Herzen unſeres Volkes lebt, und z. B. was
Popularität des Namens angeht, trotz ihrer dreitägigen Dauer mit
der dreiſtündigen Schlacht von Fehrbellin gar nicht verglichen wer-
den kann, ſo hat das zunächſt darin ſeinen Grund, daß alle Siege,
bei denen kleinere Völker an der Seite eines größeren auftreten,
immer nur dem letzteren als kriegeriſche Großthat angerechnet wer-
den. Die Stärkeren verfahren dabei ſyſtematiſch-abſprechend und
20
[306] behaupten ihre Sätze ſo oft und ſo beharrlich, daß das kleinere Volk
ſchließlich ſelber glaubt, es habe eigentlich wenig oder gar nichts
gethan. Es kommt aber in dem vorliegenden Fall noch ein anderer
Grund hinzu, und zwar der, daß auch in dieſen Dingen das
Local-Intereſſe das maßgebende iſt. Fehrbellin liegt uns nah
und Warſchau liegt uns fern. Bis dieſen Tag, das ſtehe hier zur
Beſtätigung, feiern wir Großbeeren und Dennewitz auf Koſten ent-
ſcheidungsreicherer Tage, nur weil uns an beiden Tagen allerper-
ſönlichſt das Feuer auf den Nägeln brannte. Die Menſchen ſind
Egoiſten in allen Stücken, auch in dieſen.
Die Beſchreibungen der Schlacht von Warſchau pflegen des
entſcheidenden Angriffs Sparr’s nur obenhin zu erwähnen; andere
verſchweigen ihn ganz. Es kann das, aus ſchon angeführtem
Grunde, nicht verwundern; in den Augen der Welt ſtanden wir
neben dem damaligen Schweden natürlich in zweiter Reihe, und
im eigenen Lande entbehrten wir der Chroniſten, die ſich unſerer
angenommen hätten. Pufendorf’s Darſtellung dieſer Vorgänge
(De rebus a Carolo Gustavo gestis) kam den Schweden, nicht
uns zu Gute. Es könnte ſomit immerhin fraglich erſcheinen, ob die
Entſcheidung an jenem glorreichen Tage in der That durch Sparr
herbeigeführt wurde oder nicht, wenn nicht die Auszeichnungen,
die ihm faſt unmittelbar darauf von Seiten des Kurfürſten zu
Theil wurden, darüber kaum noch einen Zweifel ließen. Am 26.
Juni 1657 wurde er zum General-Feldmarſchall (der erſte in
Brandenburg) ernannt und ſein Gehalt auf eine für die damalige
Zeit überraſchende Höhe feſtgeſetzt. Er erhielt 800 Thlr. monat-
lich, Futter für 40 Pferde und Verpflegung für eine zahlreiche
Dienerſchaft. *) Auch Karl Guſtav, unter deſſen Augen er bei
Warſchau gekämpft hatte, beſtätigte, freilich ebenfalls nur mittel-
bar, das Entſcheidende des Sparr’ſchen Angriffs, indem er kurz
[307] nach der Schlacht von ihm ſagte: „Dieſer alte Vater Sparr hat
ſich als ein recht kriegskundiger General erwieſen, ſeines Amtes
unerſchrocken gewaltet und Alles weislich hinausgeführt.“
Der ſchwediſch-polniſche Krieg verlief nicht plötzlich; wir ver-
folgen unſern Otto Chriſtoph aber nicht weiter auf ſeinen Zügen
durch Preußen und Littauen, durch Pommern und Mecklenburg
bis nach Holſtein und Jütland hinauf, ſondern fahren in unſerer
Darſtellung mit jenem letzten Abſchnitte ſeines Lebens fort, der
dem Frieden von Oliva (am 1. Mai 1660) folgte.
Ruhmgekrönt kehrte Sparr in die Heimath zurück. Er war
der erſte Mann im Lande und nahm an Rang und Anſehen die-
ſelbe Stellung ein, die etwa 15 Jahre ſpäter die volksthümlicher
gewordene Figur des alten Derfflinger bekleidete. Er war Feld-
marſchall, Oberſt-Commandirender über die brandenburgiſche Armee,
der Beirath und Vertraute ſeines Fürſten; dazu beſaß er Schlöſſer
und Häuſer, und im Lande Barnim die Güter: Prenden, Trampe,
Lancke, Utzdorf, Hackelberg, Dannenberg und Tiefenſee. In Berlin
bewohnte er das ehemalige Haus des Kaufmann Peter Engels in
der Spandauer Straße, das jetzt dem großen Poſtgebäude mit zuge-
hört; in den Sommermonaten aber bezog er ſein Prendener
Schloß. Es war wohl der dem Menſchenherzen innewohnende Zug
nach der Stelle, die uns geboren.
Auch dieſe acht Friedensjahre, die zwiſchen dem Frieden von
Oliva und dem Hinſcheiden des Feldmarſchalls liegen, verliefen
nicht ganz ohne Kriegslärm. Sparr, an der Spitze eines branden-
burgiſchen Hülfsheers, entſchied am Tage von St. Gotthardt, als
Verbündeter des Kaiſerlichen Heeres, in ähnlicher Weiſe den Sieg
über die Türken, wie er als Verbündeter des ſchwediſchen Heeres
den Tag von Warſchau entſchieden hatte; aber wir verweilen nicht
länger bei dieſen Kriegs- und Siegeszügen, auch nicht bei neuen
Ernennungen (Kaiſerlicher Feldmarſchall, Reichsfreiherr ꝛc.)
ſondern begleiten ihn auf dem ſtillen Gang durch ſeine letzten
Lebens-, zugleich ſeine einzigen Friedensjahre. Denn 42 Jahre
lang hatte er nur den Krieg geſehn.
20*
[308]
Wenn wir dieſe letzten Jahre ſeines Lebens um ihren Inhalt
befragen, wie er in Bauten und Geſchenken, in Gaben und Stif-
tungen aller Art zu uns ſpricht, ſo erkennen wir nicht ohne eine
gewiſſe Bewegung, wie das Herz des alten Kriegsmannes in wenig
Friedensjahren nachholen will, was ein Leben voll Krieg und
Unruhe und Zerſtörung verſäumt hat. Aus Allem ſpricht das tiefe
Verlangen nach Auferbauen, nach Stiften, Gründen, die Sehn-
ſucht nach Sammlung, nach Ruhe in ſich und nach Frieden mit
Gott. Unſer Sparr iſt nicht länger mehr der Oberſt Sparr, über
den die Küſtriner Kammer klagt, daß er den Mühlenknecht in
Ketten gelegt und das Volk gedrückt habe; er, deſſen Schaaren ſo
manche Kirche erbrochen, ſtellt ſein Herz jetzt auf die Tröſtungen
der Kirche und ſucht ihre Gnaden durch Demuth, Wohlthun und
frommen Wandel zu verdienen. Wenn es noch ein Andres dane-
ben giebt, ein mehr auf dieſe Welt Gerichtetes, ſo iſt es der
verzeihliche Wunſch, ſein eigenes Leben zu einer Abrundung zu
bringen und ſeinen und ſeines Geſchlechtes Ruhm der Nachwelt zu
überliefern. Die Stiftung eines Familien-Fideicommiſſes und die
Herſtellung eines prachtvollen Erbbegräbniſſes beſchäftigen ihn;
aber ſeine reichen Mittel und ſeine Sorgen gehören immer mit
Vorliebe dem Allgemeinen. Er baut Kirchen und Thürme, ſchenkt
Glasmalereien und Glocken (z. B. zu Trampe, Hackelberg und
Prenden); vor Allem aber iſt es die Marienkirche zu Berlin, die
ſich in jeglicher Weiſe ſeiner Hülfe in Noth und Gefahr erfreut.
Im Jahre 1661 traf der Blitz die Thurmſpitze und die auf-
ſchlagenden Flammen machten alsbald die Befürchtung rege, daß
die Kirche ſelbſt ein Raub der Flammen werden würde. Der alte
Feldzeugmeiſter aber wußte Rath und mit einer damals im ganzen
Lande angeſtaunten Kühnheit und Geſchicklichkeit, ließ er die bren-
nende Thurmſpitze herunterſchießen. War er ſo der Retter der
Kirche geworden, ſo war es jetzt nicht minder ſein Stolz, auch der
Wiedererbauer des zertrümmerten Thurmes zu werden. Er ſchien
dies zu einer Ehrenaufgabe ſeiner letzten Lebensjahre machen zu
wollen, überſchätzte aber ſeine Mittel und führte ſeinen eigenen
[309] Ruin herbei, ohne ſeinen Lieblingswunſch erfüllt zu ſehen. Seine
Erben hatten ſpäter ihrer Mißbilligung dieſes frommen Eifers kein
Hehl und ließen nach dem Tode des Feldmarſchalls auf eine
Kupfertafel die Worte des Evangeliſten Lucas (Capitel 14, Vers
28—31) ſchreiben: Wer iſt aber unter Euch, der einen Thurm
bauen will, und ſitzet nicht zuvor und überſchlägt die Koſten, ob
er’s habe hinauszuführen? Auf daß nicht, wo er den Grund
geleget hat und kann’s nicht hinausführen, alle, die es ſehen,
fangen an ſeiner zu ſpotten, und ſagen: dieſer Menſch hub an zu
bauen und kann’s nicht hinausführen. Oder, welcher König will
ſich begeben in einen Streit wider einen andern König, und ſitzet
nicht zuvor und rathſchlaget, ob er könne mit zehntauſend begeg-
nen dem, der über ihn kommt mit zwanzigtauſend?“
Hand in Hand mit dem Thurmbau, der ſeine Mittel ver-
zehrte und Armuth hinterließ, wo Reichthum geweſen war, ging
die Erbauung des Sparr’ſchen Erbbegräbniſſes, deſſen ich ſchon
erwähnt habe, — bis dieſen Augenblick eine Zierde der Marien-
kirche und zugleich ihre größte Sehenswürdigkeit. Ob es ihm ver-
gönnt war, ſein gebeugt Gemüth an der Schönheit des prächtigen
Marmorbildes aufzurichten, das (muthmaßlich von der Hand des
Artus Quellinus) den Eingang zur eigentlichen Gruft umgiebt,
oder ob er hinſtarb, eh dies Bildwerk *) — das bei Weitem
ſchönſte, das Berlin aus jener Vor-Schlüterſchen Zeit aufzuweiſen
hat — vollendet war, ſind Fragen, die wir unentſchieden laſſen
müſſen. Krank an Körper und Seele verließ er im Frühjahr 1668
die Hauptſtadt, um ſie mit Augen nicht wieder zu ſehen. Er mochte
fühlen, daß ſein Ende nahe ſei. Am 3. Mai vermachte er der
Freifrau Luiſe Hedwig v. Blumenthal, der Tochter ſeines Freun-
des Otto v. Schwerin, ſein Stadthaus in der Spandauer Straße;
ſechs Tage ſpäter ſchied er aus dieſer Welt, am 9. Mai 1668
auf ſeinem Lieblingsſchloß zu Prenden. Der reiche Mann, der
[310] hochgeſtellte Diener ſeines Fürſten, ſtarb in Armuth. Die Leichen-
predigt, die Probſt Andreas Müller hielt, konnte wegen Mangels
an Geld nicht gedruckt werden und noch 1675, alſo 7 Jahre nach
ſeinem Tode, bat der Probſt bei den Sparr’ſchen Erben um Zah-
lung gehabter Unkoſten und Auslagen. Die Beiſetzung der Leiche
erfolgte, wie das alte Kirchenbuch von St. Marien beſagt, „am
12. Mai, Abends in der Still’, im Beiſein vornehmer Leute.“
Thurm und Erbbegräbniß, die beiden Denkmale, die ſich der Feld-
marſchall bei Lebzeiten geſetzt, hatten ihn zum armen Manne ge-
macht. Aber was ihn erniedrigte, hat ihn auch erhöht: Thurm
und Erbbegräbniß ſind es, die ſeinen Namen in der Erinnerung
der Nachwelt feſtgehalten haben und bis dieſen Tag von einem
Ruhme erzählen, der ohne das ernſte, halb räthſelvolle Steinbild
des Artus Quellinus vergeſſener wäre, als er es iſt.
Die Geſchichte vom alten Sparr hatte, ſeit ich zuerſt von ihm
hörte, immer den Zauber jener unbeſtimmten Linien für mich ge-
habt, die mehr ahnen laſſen als geben, und, ſo ſeltſam es klingen
mag, ich machte mich auf den Weg nach Prenden mit einer ge-
wiſſen Gehobenheit der Stimmung, als wanderte ich in altes
romantiſches Land.
Es iſt auch ein romantiſches Land, märkiſch-romantiſch.
Ich begann meine Wanderung von dem Städtchen Bieſenthal aus,
das ſeinerſeits wie eine holprige Idylle in der Thalrinne des
Finow-Fluſſes liegt. Von Bieſenthal bis Prenden iſt noch eine
halbe Meile und dieſe halbe Meile führt durch eine Art Muſter-
ſtück märkiſcher Landſchaft. Wie Linien, die über ein Blatt gezogen
ſind, laufen zahlreiche Hügelreihen von Oſt nach Weſt, und da
unſer Weg uns in ſenkrechter Linie nach Norden führt, ſo haben
wir in vollkommener Wellenbewegung das Hügel- und Thalland
zu durchſchreiten. Die Hügel ſind von einer äußerſten Sterilität,
kaum eine Moosſchicht hat ſich darauf niedergelaſſen und ihre
ganze Erſcheinung erinnert lebhaft an die Sanddünen der Oſtſee;
[311] zwiſchen den Hügeln aber dehnt ſich jedes Mal ein grüner Streifen
(Sumpfland, das von Riedgras überwachſen iſt) und mitten im
Grün ruht eine kaum gekräuſelte Waſſerfläche, die mal dunkel wie
ein Teich, mal blau wie ein See zu uns aufblickt. Alles Leben-
dige ſcheint dieſe Oede zu meiden, keine Lerche wiegt ſich in Lüf-
ten, kein Storch ſtolzirt am Sumpf entlang, nur eine Krähe fliegt
gleichgültig über die Landſchaft hin, wie ein Bote zwiſchen dem vor
uns liegenden Wald und dem Bieſenthaler Kirchthurm in unſerm
Rücken. Die Krähe paſſirt dieſe Gegenden wie wir, ſie wohnt nicht darin.
Ein halbſtündiger Gang (es watet ſich ſchwer im mahlenden
Sande) hat uns endlich an eine tiefere Thalſchlucht geführt, und
die andre Seite derſelben hinaufſteigend, treten wir ein in die
Stille des Waldes. Das Wellen-Terrain bleibt daſſelbe, aber der
Boden iſt anders geworden und die rothen Fichtenſtämme ſteigen
in ſchlanker Schönheit auf, während das Fehlen alles Unterholzes
einen Blick weit waldeinwärts geſtattet und den grünen Moos-
teppich in überraſchender Friſche zeigt. Der Forſt iſt von großer
Längenausdehnung, aber von wenig Tiefe; ſo ſehen wir denn
bald es lichter werden zwiſchen den Bäumen und fühlen jenen
veränderten Luftzug, der den Ausgang des Waldes verräth. Eh’
wir ihn erreicht haben, hören wir ein leiſes Geräuſch zu unſrer
Linken, und einen hohen Brombeerbuſch paſſirend, der eben noch
unſren Blick in den Wald hinein begrenzte, gewahren wir einen
Alten, der Reiſig ſammelt und die zerbrochenen Zweige auf
ſeine Karre wirft. Neben ihm liegt ein alter Spaten am Boden,
vielleicht um Wurzeln auszugraben, und an der oberſten Karren-
ſproſſe hängt ein Korb, drin er die gelben Pfefferlinge und die
ſchönen fleiſchfarbigen Reizker ſammelt, die ihm ſein gutes Glück
als Zugabe in den Weg führt.
Der Alte ſelbſt trägt Strohhut und Leinwandjacke, und ſein
Geſicht verräth nichts Auffälliges, als das Fehlen jeder Spur von
Oberlippe, ſo daß mich die Frage beſchleicht: wo blieb der Schnur-
bart, wenn er jemals einen hatte? Inzwiſchen haben wir uns
guten Tag geboten, und ich frag’ ihn, ob er aus Prenden ſei?
[312]
Jo, ick bin ut Pren’n.
Iſt es noch weit, Papa?
Ne, jliks wenn Se ’rut komen; man ſehen künn Se’t nich,
et liegt deep in’ne Grunn.
Iſt ein Krug da?
Jo, jliks vöran, wo Oll-Sparren ſin Schlott ſtejen deiht.
Iſt noch was zu ſehen vom Schloß?
Veel nich. As ick int Dörp käm (ick bin nich bürtig von
Pren’n), do ſtunn noch veel; aberſcht nu nich mehr; ick hebb’
min’n Zickenſtall von Oll-Sparren ſin Schlott buu’t.
Iſt noch ein Denkmal in der Kirche?
Nich dat ick weeten däh.
Erzählen ſich die Leute noch vom alten Sparr?
Jo, de vertellen noch veel von em. Mine Fru is von Pren-
nen, un de grote Steen dicht an unſern Tuun (ſo ſeggt ſe), det
is Sparren ſin Steen. Vördem ſtunn do en Linnenboom un un-
ner den Boom leeg de grote Steen, un mine Fru ſeggt, in olle
Tiden ſinn ooch vöör iſerne Krampen anweſt un an jede Kramp’
wör ne iſerne Kett un an jede Kett wör een von Oll-Sparr ſine
Sklaven. Aber nu is de Linn’ wech, un de Krampen ſinn ooch
wech; man bloß den groten Steen hebben ſe liggen laten — he
möcht’ wol en beeten to ſwer ſinn.
Sonſt nichts, Papa?
Jo, ſe vertellen noch allerhann anner dumm Tüüch. Se
dohn binah, as wenn Oll-Sparr de Düvel ſelber weſt wär. Se
ſeggen, he föhr nich geren durch’n Sann, un wenn he ſinen
Mantel antrecken däht, denn war et mit eens, wie en Wind, und
Kutſch un Peerd un allens jing dörch de Luft. Mal eens verlör de
Kutſcher ſin Pietſch un woll ſich bücken, aberſcht Oll-Spaar heel
em von hinnen feſt un ſeggt’ bloß: „vergett nich, min Söhn, wo
Du biſt,“ un as de Kutſcher den anneren Dag durch Bieſenthal
torügge föhr, do ſach he, wie ſin Pietſch an’n Bieſenthalſchen
Kirchthurm hängen däht. Ick glöb et nich; — ick bin nich bürtig
von Prennen.
[313]
Ich glaub’ es auch nicht, aber man kann doch nicht wiſſen.
Ne, weeten kann man et nich. De ſeggen ooch, Oll-Sparr
ſpökt hier, hier in diſſen Wald. Ick hebb’ ooch all ſo watt hürt
hier, Pietſchenknallen un Pruſten und as ob een’ lachen däht, —
ne, weeten kann man et nich.
Adieu Papa, und ſeht Euch vor.
Wovör?
Vor’m alten Sparr.
Er lachte und rief mir freundlich nach: Nee, nee; he kümmt
nich an’n hellen lichten Dag. *)
Es war, wie der Alte geſagt hatte, Prenden verſteckte ſich
tief im Grunde, und als ich aus dem Walde trat, lag zunächſt
noch ein Plateau vor mir, deſſen fruchtbarer Boden zu beiden
Seiten beackert war. In ziemlicher Ferne drehte ſich eine Mühle
langſam im Winde; dort mußte es ſein.
[314]
Und dort war es wirklich. Kaum, daß ich die Mühle im
Rücken hatte, ſo ſtand ich abermals an einem jener vielen Thal-
einſchnitte, die hier das Hügelland durchziehen, und ſah über die
Kronen der untenſtehenden Bäume hinweg in Dorf Prenden hin-
ein. Ich werde dieſes Anblicks nicht leicht vergeſſen. Nach rechts
hin dehnte ſich ein ſtiller, graublauer See mit breitem Sandufer,
die Ufer hüben und drüben mit anſteigendem Fichtenwald eingefaßt;
nach links hin plätſcherte ein Fließ durch Gartenland und beſtellte
Aecker, bis es ſich in Wald und Wieſe verlor; zwiſchen den beiden
Landſchaftsbildern aber, dem Lauf des Thales nicht folgend, ſon-
dern die Längslinie deſſelben quer durchſchneidend, lag, wie eine
Haſelruthe, die ſich den Biegungen anſchmiegt, Dorf Prenden ſelbſt,
an ſeinen zwei höchſten Punkten Schloß und Kirche tragend, das
Schloß am Eingang, die Kirche am Ausgang des Dorfes. Die
ſtillen Farben eines erſten Herbſttages lagen über dem Bilde und
ſteigerten ſeinen Reiz.
Ich paſſirte das Dorf in ſeiner ganzen Länge, um zuerſt die
Kirche nach ihren etwaigen Schätzen zu befragen. Ich erwartete
nicht viel, aber ich fand noch weniger, als ich erwartet hatte.
Konnte nicht Edell Sparr, die Mutter des Feldmarſchalls, ein
Grabmal in der Kirche, einen Denkſtein auf dem Friedhof haben?
Konnte nicht irgendwo in das alte Mauerwerk ein Stein, eine
Tafel eingelaſſen ſein, um wenigſtens den Namen des berühmten
Geſchlechtes feſtzuhalten, das hier Jahrhunderte lang zu eigenem
Anſehen und endlich (vor ſeinem Hinſcheiden) zum Ruhme des
Landes ſelbſt gelebt? Die Erwartung war gerechtfertigt, aber ſo
natürlich ſie war, ſie blieb unerfüllt. Ich habe ſelten einen freud-
loſeren Platz betreten. Maleriſch hatte mich die Kirche von der
andern Seite des Hügels aus gegrüßt; nun ſah ich, daß ſie eine
bloße Landſchafts-Couliſſe geweſen war. Das Innere kahl, der
Kirchhof verödet — kein Andenken da, als das eine, das ſich der
Feldmarſchall ſelber geſtiftet: zwei ſchöne Glocken, deren Inſchriften
unter einer Kruſte von Schwalben-Guano meiner Entzifferungs-
[315] kunſt ſpotteten. Nur „Fudit me Nicolaus Schmidichen 1657“
konnte ich leſen.
Ich war enttäuſcht, aber ich war nicht verſtimmt, — ganz
neue Bilder hatten zu mir geſprochen. Ich hatte Einblick in eine
Kirche gethan, deren geſammter Kunſt-Schmuck ein vernachläſſigtes
Stück Altar-Schnitzwerk und deren hiſtoriſche Glanzſeite eine ein-
zige Kriegsdenkmünze aus dem Jahre 1813 war. Kirche und Kirch-
hof waren Muſterſtücke in ihrer Art.
Ich ſchlenderte die Dorfgaſſe zurück und hatte die Oede, aus
der ich kam, bald vergeſſen. Es iſt ein poetiſches Dorf, dies Pren-
den, um ſo poetiſcher, als leiſe jenes Verfall- und Tod athmende
Etwas über dem Ganzen liegt, das in Kirche und Kirchhof ſeinen
unſchönen Ausdruck gefunden hat. Der Verfall, wo er die Vor-
ſtellung von Schuld und Vernachläſſigung weckt, verletzt uns;
aber der Verfall, in dem wir den Vollzug eines Naturgeſetzes
ahnen, beſchleicht unſer Herz mit unnennbarem Zauber. Es blühte
nichts mehr in Prenden; ich ſah nicht Aſter, nicht Georgine, am
wenigſten meine Lieblingsblume, die Malve; an hohen Stangen
hingen die Saatbohnen für nächſtes Jahr, und der eigentliche
Baum des Dorfes war der Hollunderbaum, aus deſſen dunklen
Kronen überall die ſchwarzrothen Beerenbüſchel in die Dorfgaſſe
hineinhingen. Die Zäune ſchienen mehr in graue Flechten als in
grünes Moos gekleidet und der Rauch ſtieg langſam und mühe-
voll auf, als läge ein Druck auf den Dächern.
So kam ich an den Krug, der genau an der Stelle liegt,
wo die alte Einfahrt auf den Schloßhof war. Die Krügerin er-
zählte mir Aehnliches wie der alte Reiſigſammler im Walde, und
fuhr dann fort, indem ſie mich an die Küchenthür führte: Hier,
ſo weit das Kohlfeld reicht, waren die Karpfenteiche, und weiter-
hin, wo Sie den Türkiſchen Weizen ſehen, fing der Obſtgarten
an. Dies alles hier war Hof. Mein Mann hat alles gekauft,
Krug und Schloß und Garten und Feld mit allem, was auf und
in der Erde iſt. Auf meine Frage, „ob viel in der Erde ſei,“
antwortete ſie zuſtimmend, und ich erfuhr, daß nicht nur des alten
[316] Reiſigſammlers Ziegenſtall, als Zahlung für bei’m Sprengen und
Ausgraben geleiſtete Dienſte, ſondern auch die Wirthſchaftsgebäude
des Krügers ſelber aus dem bequemen Steinbruch des alten
Sparren-Schloſſes gebaut ſeien. Ich trat nun in den Garten, um
die noch vorhandenen Reſte, die der Spreng- und Grabekunſt der
Prendener bisher geſpottet haben, in Augenſchein zu nehmen. An-
fangs erſchien mir Alles als eine unentwirrbare Maſſe, bald aber
fand ich mich zurecht und konnte mit Hülfe der nach zwei Seiten
hin völlig intact erhaltenen Fundamente, die Grundform des alten
Schloſſes leicht erkennen. Es ſcheint ein Gebäude von 50 Fuß
Länge und halb ſo viel Tiefe geweſen zu ſein, an das ſich nach
der Hofſeite hin ein Thurm, wahrſcheinlich der Treppenthurm, an-
lehnte. Die ſchön gewölbten Keller ſind theilweis noch im Gebrauch;
bis vor Kurzem ließ ſich das ganze Souterrain durchſchreiten, und
Küche und Waſchküche (mit dem eingemauerten Keſſel) waren un-
verkennbar. Die Feſtigkeit dieſer Fundamente iſt ihr Schutz, ſonſt
würden ſie bald verſchwunden ſein, um als Stallgebäude wieder
aufzuwachſen. Ein theilweiſer Schutz mag ihnen auch das ſein,
daß ſie hoch mit Erdreich überſchüttet ſind, ſo daß Birnbäume
darauf wachſen und Hagebuttenſträucher eine Art lebendiger Hecke
bilden.
Ich pflückte einen Zweig ab, an dem bereits die rothen Beeren
hingen, ſteckte ihn an den Hut und trat meinen Rückmarſch an.
Als ich wieder auf der Höhe des Hügels war und noch einmal
in das verſchleiert daliegende Dorf zurückblickte, das jetzt, wo eben
die Sonne unterging, in wunderbaren Farben ſchwamm, klang
von der andern Hügelſeite her die Betglocke zu mir herüber. Es
waren die alten Sparrſchen Glocken, und es war mir, als riefen
ſie mir ihren Gruß nach und einen Dank für freundliches Gedenken.
Als ich in den Forſt trat, dunkelte es ſchon und die Fichten-
kronen neigten ſich tief im Abendwind. Ein Rauſchen ging voll
und wachſend durch den Wald. Ich zuckte zuſammen, halb in
Lächeln und halb in Bangen, und murmelte vor mich hin:
„Sparr kümmt, — man kann et nich weeten.“
[[317]]
Guſow.*)
‘Die Stettiner hatten ſich unterfangen,
Eine Scheere ausgehangen
Dem Feldmarſchall nur zum Hohn,
„Wart’, ich will euch auf der Stelle
Nehmen Maaß mit meiner Elle,
Kreuzmillionſchockſchwernoth.“’
(Lied vom Derfflinger.)
Unſer Weg führt uns heute öſtlich, über das Plateau des Bar-
nim hinweg, bis an den Südrand des Oderbruchs. Wir finden
hier Land und Leute weſentlich verſchieden von dem, was wir bis
jetzt beſchrieben haben; alles iſt reicher, urſprünglicher, ungezähmter,
das Leben hier pulst voller. Ob es ein ſtärkerer Beiſatz von ſla-
viſchem Blute iſt, der hier eine Reihe abweichender Erſcheinungen
ſchafft, oder ob es einfach die größere Fruchtbarkeit des Bodens
iſt, die hier das Leben üppiger, ſaftvoller geſtaltet — es ſei dahin
geſtellt. Es ſcheint als ob die Civiliſation hier jüngeren Datums
ſei und noch nicht Zeit gehabt habe, das kaum eingefangene Step-
penpferd zu zügeln und zu zähmen.
Das Oderbruch iſt ein etwa zwei bis drei Meilen breiter
und ſieben Meilen langer Uferſtreifen, der ſich an der linken Seite
[318] der Oder zwiſchen Lebus und Oderberg entlang zieht, ein Marſch-
land, eine Niederung, die nach Weſten hin von einem Höhenzuge,
nach Oſten hin vom Fluſſe ſelber begrenzt wird. In alten Zeiten
waren dieſe Niederungen Sumpf, ein Spiel- und Tummelplatz
des Fluſſes, der ſich auf ihnen, ſo oft ihn die Laune anwandelte,
mit breitem Behagen erging. Vor etwa hundert Jahren aber zog
die Hand des Menſchen zwiſchen Fluß und Sumpf einen viele
Meilen langen Damm hin und wandelte dadurch das wüſte, erlen-
beſtandene Sumpfland in ein großes Fruchtland um, das heutige
Oderbruch. Man unterſcheidet ein Nieder-, Ober- und Mittelbruch,
von denen das Niederbruch (zwiſchen Oderberg und Freienwalde)
durch die Schönheit ſeiner Wieſen, das Mittelbruch aber durch die
beſondere Fruchtbarkeit ſeiner Aecker ausgezeichnet iſt. Unſer Beſuch
heut gilt weder dem einen noch dem andern, ſondern dem ſüdlichſt
gelegenen Theile des Bruchs, dem Oberbruch, von deſſen Hügel-
wand wir nach zwei Seiten hin das Bruch und das im Vorder-
grunde gelegene Dorf Guſow überblicken. Doch ich greife unſerer
Reiſe vor.
Eine Nachtfahrt hat uns an Rüdersdorf und Müncheberg
vorbei bis in das Städtchen Selow geführt. Wir gönnen uns
eine Stunde Raſt und fahren nun, bei Morgenſonne und Lerchen-
jubel, der nach Norden hin gelegenen Niederung zu. Auf halbem
Wege, wo das Plateau abzufallen beginnt und eine Pappelallee,
von Guſow aus, ihre Vorpoſten hoch hinauf ſchickt, um uns in
Empfang zu nehmen, halten wir, um uns an dem Landſchafts-
bilde zu erfreuen, das jetzt in prachtvoller, überraſchender Schön-
heit vor uns liegt. Der Gottesſegen berührt hier das Herz mit
einem ganz eigenthümlichen Zauber, mit einer fromm geſtimmten
Freude, wie ſie die Patriarchen empfinden mochten, wenn ſie in-
mitten menſchenleerer Gegenden den gottgeſchenkten Segen ihres
Hauſes und den Reichthum ihrer Heerden zählten. Wo die Hand
des Menſchen in harter, nie raſtender Arbeit der ärmlichen Scholle
ein paar ärmliche Halme abgewinnt, da kann die Vorſtellung in
ihm Platz gewinnen, als ſei er es, der dieſen armen Segen ge-
[319] ſchaffen habe; wo aber die Erde hundertfältige Frucht treibt und
aus jedem eingeſtreuten Korn einen Reichthum ſchafft, da fühlt ſich
das Menſchenherz der Gnade Gottes direkt gegenüber und begiebt
ſich aller Selbſtgenügſamkeit. Ein Blick von dieſer Selower Höhe
läßt uns in ſolchen Gottesſegen ſchauen. Die ohnehin dicht gele-
genen Dörfer rücken im endloſen Couliſſenbilde näher und dichter
zuſammen und alles verſchmilzt zu einer weitläuftig gebauten Rieſen-
ſtadt, zwiſchen deren einzelnen Quartieren die Fruchtfelder wie
üppige Gärten blühen. Wer hier um die Pfingſtzeit ſeines Weges
kommt, wenn die Rapsfelder in Blüthe ſtehen und ihr Gold und
ihren Duft über das Bruchland ausſtreuen, der glaubt ſich wie
auf Zauberſchlag in ferne Wunderländer verſetzt, von denen er als
Kind geträumt und geleſen. Unvergeßlich aber wird der Eindruck
für den, den ein glückliches Ohngefähr an einem heiligen Pfingſt-
abend (wie es mir vor einer Reihe von Jahren vergönnt war)
zum erſten Mal an dieſen Höhenrand führt. Die Feuchte des
Bruchs lag wie ein dünner Schleier über der Landſchaft, alles
war Frieden, Farbe, Duft, und der ferne, halb erſterbende Klang
von dreißig Kirchthürmen vermählte ſich in der Luft, als läute der
Himmel ſelber die Pfingſten des nächſten Morgens ein.
Die Pappelallee geleitet uns bergab und macht erſt am Fuße
des Hügels einem breiten Kaſtanienwege Platz, der uns bis an
den Eingang des Dorfes führt. Guſow iſt ein großes und reiches
Dorf, das bis in die Mitte des ſiebzehnten Jahrhunderts ein
Beſitzthum der Familie von Schapelow war. Um 1646 vermählte
ſich Georg Derfflinger, damals noch in ſchwediſchen Dienſten,
mit einem Fräulein von Schapelow und brachte ſich dadurch in
den Beſitz der betreffenden Familiengüter, zu denen außer Guſow
noch das benachbarte, etwas weiter in’s Bruch hinein gelegene
Platikow gehört. In einem viel geſungenen Liede heißt es, daß
ſich der alte Reitergeneral, auf eine Anfrage ſeines kurfürſtlichen
Herren, dieſe ſchönen Güter als Kriegs- und Siegeslohn erbeten
habe; dieſe Angabe iſt aber falſch; Guſow und Platikow fielen
ihm als Frauenerbe zu.
[320]
Platikow, um dieſe kurze Notiz unſerem Beſuche in Guſow
voraus zu ſchicken, beſaß bis ganz vor kurzem in der ſogenannten
„Theerbutte des alten Derfflinger“ eine Art von Sehenswürdig-
keit, die mehr als manches Wichtigere, den Namen des berühmten
Feldmarſchalls im Volke lebendig erhielt. Mit dieſer Theerbutte
hat es folgende Bewandtniß. Auf der Spitze des Kirchthurms,
wo ſich ſonſt die Wetterfahne zu drehen pflegt, befand ſich ein
ziemlich räthſelhaftes Ding von der Form eines großen Hutes,
das allerdings einer Theerbutte nicht unähnlich ſah. Es hieß (viel-
leicht um die Verwegenheit des alten Reitergenerals, vielleicht auch
nur, um die Niedrigkeit des Kirchthurms zu charakteriſiren), des
alten Derfflingers Pferde ſeien ſcheu geworden; er aber, um die
Widerſpenſtigen zu ſtrafen und zu zähmen, ſei über den Kirchthurm
weggefahren, bei welcher Gelegenheit die Theerbutte des Wagens
an der Kirchthurmſpitze hängen geblieben ſei. So weit die Sage.
Noch vor fünf Jahren exiſtirte beides, der Thurm und die Butte
oben auf. Jetzt aber haben ſich die Platikower einen neuen Kirch-
thurm bauen laſſen und zur Aufbringung der Koſten ihren alten
Thurmſchmuck, der ſich als ein kupferner Cylinder auswies, mit
daran gegeben. Ein Kupferſchmied in Selow hat alles an ſich ge-
bracht, und die hiſtoriſche Theerbutte für drei Thaler und
fünfzehn Silbergroſchen nach Pfund und Loth meiſtbietend
erſtanden. Das nennt man hiſtoriſchen Sinn.
Guſow ſelbſt, nach dem wir uns jetzt zurückwenden, war bei-
nahe fünfzig Jahre lang (von 1646 — 1695) Georg Derfflinger-
ſcher Beſitz; aber der alte Reitergeneral pflegte nur beſuchsweiſe
auf ſeinem Gut zu reſidiren und bewohnte gemeiniglich das Ber-
liner Palais, das ihm der Kurfürſt geſchenkt hatte, das jetzige
d’Heureuſe’ſche Haus am Kölniſchen Fiſchmarkt. *) Erſt von 1687
[321] ab, wo der Herzog und Marſchall von Schomberg zum Genera-
liſſimus in den Marken ernannt worden war, eine Ernennung,
die einer Penſionirung Derfflingers ziemlich gleich kam, wurde
Guſow die dauernde und ausſchließliche Reſidenz des letzteren. Der
Kurfürſt hatte ihm dieſe Ernennung des Herzog-Marſchalls eigen-
händig angezeigt und in verbindlichſter Weiſe geſchrieben, „er werde
ſicher als einer ſeiner liebſten, älteſten und treueſten Diener
dieſe ſeine gefaßte Reſolution in Unterthänigkeit approbiren.“ Der
alte, ſchwer gekränkte Herr aber konnte nicht umhin, in nicht zu
mißverſtehender Weiſe darauf zu erwiedern, „daß ſeine treu gelei-
ſteten, unterthänigſten, langwierigen Dienſte, wozu er auch den
Reſt ſeines Lebens gänzlich gewidmet habe, wohl hätten
gnädigſt conſiderirt werden mögen.“ Die Empfindlichkeiten nach die-
ſer Seite hin bleiben immer dieſelben; dem alten Zieten war es,
achtzig Jahre ſpäter, auch nicht recht, daß er den Erbfolgekrieg
nicht mehr mitmachen ſollte, und das beſtgemeinte „ſchon’ er ſich“
wird immer wie ein Stachel und eine Kränkung empfunden.
Derfflinger war 81 Jahr alt, als er ſich für den Reſt ſeiner
Tage nach Guſow zurückzog; er lebte noch acht Jahre daſelbſt in
ungeſtörter Ruhe und ſtarb endlich im neunzigſten Jahre ſeines
bunten, vielbewegten Lebens. Die berühmteſten preußiſchen Reiter-
generale ſind alle alt geworden: Derfflinger 89, Zieten 87, Blü-
cher 77; Seidlitz, ſcheinbar eine Ausnahme, war durch wüſtes
Leben an ſeinem frühen Tode Schuld.
Derfflinger und Zieten haben ſehr viel mit einander gemein:
*)
21
[322] ihre Frömmigkeit, *) Ehrlichkeit und Derbheit, ihre beſondere Popu-
larität, ihre bevorzugte, ſehr markirte Stellung zu den zwei größten
Hohenzollern und das Ausſterben ihrer Familie in der nächſten
Generation. Freiherr von Poellnitz ſagt in ſeinen Memoiren vom
alten Derfflinger: „Das elende Handwerk eines Hoffmanns war
ihm fremd; Eigennutz und Prachtliebe haßte er gleich ſtark;“ und
die mehr erwähnten Worte am Rheinsberger Obelisken, in die
Prinz Heinrich die Charakteriſtik Zietens zuſammenfaßte, lauten
beinah im Gleichklang mit obigem: „Was ihn mehr auszeichnete
als ſein raſcher Blick und ſein hoher Muth, das waren ſeine
Rechtſchaffenheit und Unintereſſirtheit (désintéressement) und
ſeine Verachtung gegen alle diejenigen, die ſich auf Koſten unter-
drückter Völker bereicherten.“ Man erkennt leicht die völlige Ueber-
einſtimmung. Auch darin ſind ſie ſich ähnlich, daß beide (wie übri-
gens viele unſerer preußiſchen Generale) gute Landwirthe, überhaupt
gute Wirthe waren und etwas vor ſich brachten.
Wir fragen nun nach den Sehenswürdigkeiten Guſows. Be-
merkenswerth ſind das Schloß, der Park und die Kirche.
Das Schloß, ein ziemlich einfaches Gebäude ohne Schönheit
oder nennenswerthe Eigenthümlichkeit, beſteht aus einem Corps de
Logis, das noch von Derfflinger ſelbſt herrühren ſoll, und aus zwei
Vorderflügeln. Seine Lage am Rande des Parks iſt ſehr anmuthig.
Ein breiter Graben umgiebt den Bau nach allen vier Seiten hin, ſo
daß er wie auf einer künſtlichen Inſel liegt, zu der zwei Brücken führen.
Die Hinterfront gewährt eine ſchöne Ausſicht in die weiten Anlagen
des Parks hinein. Das Innere des Schloſſes bietet nichts von hiſto-
riſchem Intereſſe, vielleicht mit Ausnahme einiger Böller, die in der
Halle ſtehen und aller Wahrſcheinlichkeit nach der Derfflingerſchen
Zeit, oder der nächſtfolgenden, angehören; wenigſtens ſind es Fal-
[323] konets von der Art, wie ſie während der Schwedenzeit ſo vielfach
in Gebrauch waren. Manches, was früher von intereſſantem alten
Hausrath im Schloſſe vorhanden war, hat inzwiſchen, als nicht
länger ſalonfähig, das Feld räumen und im Dorfe ein Unter-
kommen ſuchen müſſen. So befindet ſich im Hausflur des Guſower
Gaſthofes ein altes Bild, das ein Reitergefecht zwiſchen Schweden
und Brandenburgern darſtellt. Die Klinge eines märkiſchen Dra-
goners fährt ſeinem Gegner durch die Bruſt, und ſo erbärmlich die
Pinſelei iſt, ſo erweckt ſie doch dadurch Intereſſe, daß ſie höchſt
wahrſcheinlich die Illuſtrirung eines Vorgangs aus dem Leben des
alten Feldmarſchalls iſt.
Der Park iſt ungewöhulich groß und neben den ſchönſten
Baumpartien auch reich an jenen gepflegten Raſenplätzen, die die
Engländer „Lawn“ nennen. Der alte Derfflinger, dem Guſow,
wie ſo vieles andere, auch dieſen Park verdankt, war beſonders
darauf aus, ſüdliche Bäume, Cedern und Cypreſſen, großzuziehen.
Die Cedern, wohl zwanzig an der Zahl, bilden eine Gruppe, eine
Parkpartie für ſich, die den Namen „Libanon“ führt. Die Haupt-
zierde aber iſt eine mehr denn ſechzig Fuß hohe Cypreſſe von drei
Fuß Durchmeſſer, von der es heißt, daß ſie der ſchönſte derartige
Baum in den Marken ſei, ein Prachtſtück, das König Friedrich
Wilhelm IV. vergeblich bemüht war für Schloß Sansſouci zu
erwerben. Nach meiner botaniſchen Kenntniß iſt es übrigens keine
Cypreſſe, ſondern ein Taxodium.
Die Kirche iſt ein alter Bau aus wahrſcheinlich vorlutheri-
ſcher Zeit; dafür ſpricht das reliefartig in Holz geſchnittene und
übermalte Altarbild. Derfflinger aber erweiterte und renovirte die
Kirche, und zwar, wie eine Inſchrift hinter dem Altarbilde beſagt,
von 1666 bis 1670, nach dem Tode ſeiner zweiten Frau, „ſeiner
ſeligen, hochadligen, herzliebſten Barbara, Roſina von Behren.“
Rechts und links vom Altar befinden ſich Kirchenſtühle mit den
Wappen folgender Familien: v. Schapelow, v. Berfeld, v. Rilicher,
v. Promnitzer, v. Stoſch, v. Haubitz, v. Löben, v. Hacke, v. Re-
dern, v. Schulenburg, v. Röbel, v. Winkſtern. Die gewöhnliche
21*
[324] Kriegs- und Gedenktafel, die ebenfalls in der Nähe des Altars
ihren Platz hat, zeigt, daß die Guſower 1813—1815 des alten
Derfflingers würdig gefochten haben. Von 42, die auszogen, blie-
ben 24, nur 18 kehrten heim.
Die eigentlichen Sehenswürdigkeiten der Kirche ſind das
Grabmonument und das Grabgewölbe des alten Feldmar-
ſchalls.
Das Grabmonument, wenn ich nicht irre, in gewöhnlichem
Kalkſtein ausgeführt, befindet ſich rechts vom Altar, ziemlich in
der Mitte der Kirche. Es hat ſehr gelitten und bedarf der Reno-
virung. Einige Stücke ſitzen ſo loſe, daß die Kirchgänger, Ange-
ſichts einer immer drohenden Gefahr, die Plätze unter dem Monu-
ment vermeiden. Zwei Standarten bilden eine Art Einfaſſung des
Ganzen. Sie ſind von ſchwerer, hellblauer Seide und führen,
nach mühevoll vorgenommener Entzifferung, den Bannerſpruch:
„Agere fuit pati fortiora.“ Es heißt, es ſeien ſchwediſche Fah-
nen, doch iſt das jedenfalls ein Irrthum. Die Metallſpitze der
einen Standarte zeigt deutlich ein F. III. (Friedrich III.), was
wohl kaum einen Zweifel darüber läßt, daß es brandenburgiſche
Feldzeichen ſind, wahrſcheinlich Standarten von Derfflingers eigenen
Regimentern. Zwei Kavallerieregimenter und ein Fußregiment führ-
ten ſeinen Namen.
Das Monument ſelbſt beſteht, wie alle derartigen Arbeiten,
aus einem Steinſarkophag, über dem ſich die Büſte und unter
dem ſich das Wappen Derfflingers befindet. Die Büſte iſt, mit
Rückſicht auf die Zeit und das ſchlechte Material, keine verächtliche
Arbeit; ein ausdrucksvolles Geſicht, ziemlich mager, die einzelnen
Theile eher klein als groß, eigenes, faſt gekräuſeltes Haar und ein
kleiner, bürſtenartiger Schnurrbart; der ganze Kopf den kleinen
Kupferſtichporträts des alten Helden, denen man mitunter in Bil-
derkalendern begegnet, wenig ähnlich, aber lebhaft an den Geſichts-
ausdruck unſeres „alten Wrangel“ erinnernd, deſſen Ahnherrn er
bei Fehrbellin beſiegte. Der Sarkophag iſt ein ſchlichter, ausge-
höhlter Steinkaſten, in dem der zerbrochene Feldmarſchallsſtab des
[325] Alten liegt. Der Stab iſt von Eichenholz, an beiden Enden mit
ſtarkem Goldblech und der Länge nach mit kleinen vergoldeten
Nägeln beſchlagen. An der Front des Sarkophags befindet ſich
folgende Inſchrift: „Der Hochwohlgeborne Herr, Herr George,
Reichsfreiherr von Derfflinger, Sr. Kurfürſtlichen Durchlaucht zu
Brandenburg Hochbeſtallter Geheimer-Kriegsrath, Statthalter des
Herzogthums Hinterpommern und Fürſtenthums Camin, General-
Feldmarſchall über dero Armee und Obergouverneur aller Feſtun-
gen ꝛc. Herr auf Guſow, Platikow, Wulkow, Cleſſin, Hermers-
dorf, Schildberg und der Quitteiniſchen Güter in Preußen ꝛc. iſt
auf dieſe Welt geboren Anno 1606 den 10. Marty (März) zu
Neuhofen in Ober-Oeſtreich im Lande ob der Ens und auf ſeinem
Gute Guſow ſelig im Herrn entſchlafen Anno 1695 den 4. Fe-
bruar. Sein Alter 89 Jahr weniger 1 Monat.“ Die vier letzten
Zeilen dieſer Inſchrift widerlegen einzelne Irrthümer, denen man,
vielleicht geſtützt auf die Pöllnitzſchen Memoiren, noch immer hie
und da begegnet. Pöllnitz bezeichnet Böhmen als Derfflingers
Heimath und giebt an, daß er in Berlin geſtorben ſei. Beide
Angaben werden durch dieſe Grabſchrift am eheſten berichtigt.
Das Grabgewölbe Derfflingers befindet ſich links vom
Altar, unter den Sitzbänken eines Kirchenſtuhls. Eine einfache
Fallthür, wie ſie in alten Häuſern vom Wohnzimmer aus in den
Keller zu führen pflegt, überdeckt hier das Gewölbe und Eiſen-
krampe und Vorlegeſchloß thun das übrige. Der Schlüſſel, wenn
man um die Erlaubniß bittet, in das Gewölbe hinabſteigen zu
dürfen, iſt nie zu finden. Der Küſter verweiſt auf die Kaſtellanin,
die Kaſtellanin auf den Rendanten, der Rendant auf den Predi-
ger und der Prediger wieder auf den Küſter; ſo daß man, nach-
dem man das halbe Dorf durchlaufen hat, ſich ſchließlich überzeugt,
daß der Schlüſſel nicht gefunden werden ſoll. Das erſte Gefühl
iſt ein Gefühl des Aergers und der Verſtimmung; man glaubt,
es werde einem ein gutes Recht vorenthalten, das Recht, an den
Sarg eines Mannes treten zu dürfen, der dem Lande, unſerer
Geſchichte und unſerem eigenen Herzen angehört. Dieſe erſte Ver-
[326] ſtimmung indeß mindert ſich einigermaßen, ſobald wir erfahren,
welchen Unbilden die irdiſchen Ueberreſte des alten Helden viele
Jahre hindurch ausgeſetzt geweſen ſind. Der alte Feldmarſchall, ſo
erzählt man uns, war im vollen Staat beigeſetzt worden. So
ſchlief er ein volles Jahrhundert lang in ſeiner Gruft zu Guſow,
ohne daß ſich Freund oder Feind um ihn gekümmert hätte; erſt
als vor dreißig oder vierzig Jahren der Sinn für das Heimiſche
in unſerem Volk zu erwachen begann, fanden ſich Reiſende ein
von nah und fern, die den alten Derfflinger ſehen wollten. Mit
der Zeit wurde es völlig Mode und Unterhaltungsſache, neben dem
ſchönen Guſower Park auch die Gruft des alten Feldmarſchalls zu
beſuchen. Eine Miſchung von Frivolität und Curioſitätenkrämerei
fing an ihr Spiel zu treiben, und ehe eine Dutzend Jahre um
war, lag der alte Feldmarſchall nackt, entkleidet in ſeinem halb er-
brochenen Sarge, nur angethan mit zwei großen Reiterſtiefeln, die man
ihm wie zur Verhöhnung gelaſſen hatte. Eine zufällige Meldung
davon gab an höchſter Stelle Anſtoß, und der Wunſch wurde
ausgeſprochen, den alten Feldmarſchall ehrlich gebettet und vor
profaner Neugier geborgen zu ſehen. Solcher Wunſch war Befehl.
Der offen ſtehende, zerbrochene und zernagte Holzkaſten, der nur dem
Oberkörper des alten Helden noch ein Ruhebett gegönnt hatte, wurde
jetzt ſammt dem Todten in einen ſchweren Eichenſarg geſetzt und
der Deckel ein für alle Mal geſchloſſen. — Die irdiſchen Ueber-
reſte des alten Feldmarſchalls, die ſo viele Jahre lang eine Sehens-
würdigkeit der Guſower Kirche waren, haben ſeitdem aufgehört eine
ſolche zu ſein; der Leib ſelbſt iſt feſt verwahrt und nur an den
geſchloſſenen Sarg des alten Helden kann überhaupt noch ein
Beſucher treten. Aber dieſer Sarg und die Gruft, wo er ſteht,
ſollten wenigſtens zugänglich ſein. Kann man doch, in der
Potsdamer Garniſonkirche, an die Särge unſerer zwei größten
Könige treten und wird jeder, der auf dieſem engen Raume zwi-
ſchen dem Zinnſarg Friedrichs des Großen und der ſchwarzen
Marmortruhe Friedrich Wilhelms I. ſtand, dieſes Augenblicks nicht
leicht vergeſſen. Wir begreifen und wir billigen alles, was in der
[327] Guſower Kirche geſchehen iſt, um vor weiterer Profanirung zu
ſchützen; aber wir können andererſeits den Wunſch nicht unter-
drücken, daß alle diejenigen, die nach dieſer Kirche pilgern, um den
Begräbnißplatz des alten Derfflinger zu ſehen, nicht darauf ange-
wieſen ſein möchten, ſich mit dem Anblick von Fallthür und Vor-
legeſchloß zu begnügen. Wenn man früher mehr zeigte, als
nöthig war, ſo zeigt man jetzt zu wenig. Das Motiv iſt in
beiden Fällen daſſelbe — Indifferenz. Früher äußerte ſie ſich
darin, daß man jeden, der wollte, durch die Kellerthür hinabſteigen
ließ, jetzt dadurch, daß man die Kellerthür ein für allemal ver-
ſchloſſen hält. Der Beſucher an dieſer Stelle hat ein Gefühl, daß
nicht alles ſo iſt, wie es ſein ſollte. Der alte Derfflinger müßte
in Guſow deutlicher, leibhaftiger zu dem Reiſenden ſprechen, wenn
nicht als Mumie (worauf wir Verzicht leiſten), ſo doch in Erz
oder Stein. Was da iſt, genügt nicht. Die ſchöne, monumenten-
reiche Kirche im benachbarten Friedensdorff (einem Beſitzthum der
alten Familie von der Marwitz) zeigt am beſten, wie man eine
hiſtoriſche Vergangenheit zu conſerviren hat. Ein Volk, deſſen beſte
Kraft in ſeinem Patriotismus ſteckt, hat in gewiſſem Sinne ein
Anrecht an ſeine großen Männer, und es iſt Pflicht, eine Em-
pfindung zu pflegen und zu nähren, an die der Ernſt kommender
Zeiten immer wieder ſich wenden wird.
[[328]]
Küſtrin.
An der großen Heerſtraße zwiſchen Oſt und Weſt, in der Mitte
der Monarchie, liegt die alte Oderfeſtung Küſtrin. Seine Ge-
ſchichte, in Gutem und Böſem, zählt zu den intereſſanteſten Städte-
geſchichten der Mark. Es ſah viele Dinge geſchehen. Seine Bela-
gerungen, leider keine leuchtenden Edelſteine im Wappenſchilde
preußiſcher Ehre, ſind berühmt geworden; vor allem aber iſt der
Name Küſtrins mit der Jugendgeſchichte Friedrichs II. für immer
verwoben und dadurch überall ein bekannter Klang geworden, wo
man den Namen des großen Königs nennt. *)
Die Glanzzeit Küſtrins indeß gehört einer früheren Epoche
an. Als der ſterbende Kurfürſt Joachim Neſtor ſeinen Sohn zu
[329] ſich berief und ihn ſchwören ließ: „der alten Lehre treu zu blei-
ben“, als die Schmalkaldiſchen zum Heereszug gegen den Kaiſer
ſich rüſteten und ſpäter noch, als Kurfürſt Moritz gegen den Sieg
bei Mühlberg den Zug gegen Insbruck in die Wage warf, da-
mals, in den Tagen des Markgrafen Johann, blühte Küſtrin.
„Markgraf Hans“, der jüngere Sohn Joachim Neſtors, war nach
dem Tode des Vaters (der ältere Bruder erhielt die Kur) mit
der Neumark, d. h. mit dem Lande jenſeits der Oder belehnt
worden. Er reſidirte in Küſtrin, der neumärkiſchen Hauptſtadt,
baute ein Schloß und ſchuf einen Glanz um ſich her, den die
Stadt weder vorher gekannt hatte, noch nachher wieder erreichte.
Auch die Befeſtigungen ſind ſein Werk. Es iſt wahrſcheinlich, daß
die Arbeiten um 1535 begannen und daß der italieniſche Bau-
meiſter Giromella, dem auch die erſte Befeſtigung Spandaus zuge-
ſchrieben wird, daran das Beſte that. Markgraf Hans war treu,
tapfer und gut lutheriſch. So lang es ſein konnte, ſtand er zum
Kaiſer. Vom ſchmalkaldiſchen Bunde hielt er ſich fern und trug
auf ſeiner Fahne den Spruch: „Gebet dem Kaiſer was des Kai-
ſers iſt, und Gott was Gottes iſt.“ Als er aber 1548 das pro-
teſtanten-feindliche Augsburgiſche Interim, das der Kaiſer zum
Reichsgeſetz erheben wollte, unterzeichnen ſollte, gewann ſein luthe-
riſch Herz die Oberhand, und mit den Worten: „Nimmermehr
werd’ ich dieß giftige Gemengſel annehmen; lieber Blut als
Tinte!“ warf er die Feder fort. Der Kaiſer ſah ihn zornig an
und gebot ihm, die Verſammlung zu verlaſſen. Er ging nach
Küſtrin zurück und ſchrieb an ſeine Stubenthür folgende Worte:
[330]
Küſtrin verdankt ihm ſeine ganze Bedeutung; Feſtung,
Schloß, alles ſtammt aus ſeiner Zeit. Auch für Kanonen ſorgte
er, die ein Rebhuhn als Zeichen und darunter die Inſchrift
führten:
Von dieſen Kanonen exiſtiren noch einige im Berliner Zeughaus.
Markgraf Hans konnte das alles ſchaffen, denn er war ſehr reich.
In einer alten Soldiniſchen Chronik befinden ſich folgende An-
gaben: „Der Durchlauchtigſte Fürſt Herr Johannes Markgraf zu
Brandenburg hat bei ſeinem Abſterben 1571 an baarem Gelde
vierundzwanzig Wispel alte Düttchens hinterlaſſen. Jedes
Düttchen hat jener und dieſer Zeit gegolten zwei gute Reichsgro-
ſchen und drei Pfennige; eine Metze geſtrichen Geld alte Düttchen
macht demnach 528 Thaler, macht ein Scheffel 8448 und ein
Wispel 202,752 Thaler. Summa der ganzen Hinterlaſſenſchaft
(24 Wispel) 4,866,048 Thaler. Dieß war die Glanzzeit Küſtrins.
Die Neumark fiel an die Kur zurück; von da ab ging es rück-
wärts. Der dreißigjährige Krieg kam, dann der ſiebenjährige, der
das alte Küſtrin vernichtete.
Am 15. Auguſt 1758 rückten die Ruſſen vor die Stadt.
Man ließ ihnen Zeit, ihre Batterien in unmittelbarer Nähe aufzu-
fahren, und innerhalb zwei Stunden war alles ein Aſchenhaufen.
Verrath und Feigheit waren nicht mit im Spiel, aber Ungeſchick
und Unſchlüſſigkeit hatten viel verſchuldet. Oberſt Schack von
Wuthenow wollte ſeine gemachten Fehler gegen den König ent-
ſchuldigen. „Schweig’ Er!“ antwortete dieſer; „ich bin ſchuld;
warum hab’ ich ihn zum Commandanten gemacht?“
Das Jahr 1758 hatte die Stadt Küſtrin vernichtet, aber
[331] der Feſtung Küſtrin war ihre militäriſche Ehre geblieben, ſie war
nicht übergeben worden. Fünfzig Jahre ſpäter ſollte auch dieſe
verloren gehen. Oberſt von Ingersleben hatte am 24. Oktober
1806 dem König verſichert: „die Feſtung halten zu wollen,
bis ihm das Schnupftuch in der Taſche brenne;“ am
31. Oktober übergab er die faſt uneinnehmbare Feſtung (Napoleon
nannte ſie une forteresse formidable) an 250 Franzoſen.
Frau von Ingersleben, eine geborne von Maſſow, ſpie vor
ihrem Gemahl aus und trennte ſich auf immer von ihm. Nach
einer andern Lesart warf ſie ihm, als er, bei den Vorbereitungen zur
Flucht, von ihr ein Sitzkiſſen forderte, ſtatt des Kiſſens eine Schlaf-
mütze hin. Ingersleben ſelbſt, als er in franzöſiſche Dienſte treten
wollte, erhielt den Beſcheid: „der Kaiſer könne keinen Soldaten
brauchen, der ſeinen Kriegsherrn verrathen habe.“ Der beklagens-
werthe Mann ſtarb erſt viele Jahre ſpäter, elend und vergeſſen,
auf einem Dorf in der Nähe von Wittenberg. *)
Die denkwürdigſte, die am meiſten hiſtoriſch gewordene Zeit
Küſtrins iſt unbeſtritten das Jahr 1730 bis 1731, die Zeit des
Kronprinzen Fritz. Ehe wir zu einer Beſprechung derſelben über-
gehen, iſt es nöthig noch einmal auf den 15. Auguſt 1758 zurück-
zukommen. Das Bombardement durch die Ruſſen nämlich und die
Einäſcherung der Stadt in Folge deſſelben, iſt Schuld daran, daß
[332] ſich die Geſchichtſchreibung über verſchiedene Dinge, die in naher
und nächſter Beziehung zu dem Aufenthalte des Kronprinzen ſtehen,
namentlich alſo über die Lokalitäten, die er Anfangs bewohnte,
durchaus nicht mit der Klarheit und Sicherheit verbreiten kann,
die wünſchenswerth wäre und die man bei einem ſo viel durch-
forſchten Gegenſtande, der wenig über hundert Jahre zurückliegt,
faſt erwarten ſollte.
Vom alten Küſtrin überlebten mit Ausnahme des Schloſſes,
deſſen dicke Außenwände ſtehen blieben, nur drei Gebäude das
Bombardement: ein Thorthurm, die Hauptwache und die Garni-
ſonskirche. Die beiden erſteren ſind ſeitdem verſchwunden; die
letztere exiſtirt noch und befindet ſich bis dieſen Tag im Stadtſiegel
Küſtrins, von fliegenden Bomben überſchüttet, aber zugleich von
der Sonne beſchienen, mit der Umſchrift: ex ruinis den 15. Auguſt
1758. Dieſer alten Garniſonskirche gilt zunächſt unſer Beſuch. Sie
dient jetzt als Magazin, als „Schirrhaus,“ wie die Küſtriner
ſagen, und iſt auf Baſtion Philipp gelegen, von wo aus man
das Oder- und Warthebruch in ihrer üppigen Fruchtbarkeit über-
blickt. Mit Ausnahme einer Schwellentreppe, die aus alten Grab-
ſteinen mühelos zuſammengeſetzt iſt, zeigt ſich nicht das Geringſte,
das Veranlaſſung geben könnte, dieſen ärmlichen Bau für ein
Gotteshaus zn halten. Vier Wände, ein Dach und ein Dutzend
kleine, vergitterte Fenſter — jedes Privathaus iſt ein Prachtbau
dagegen. Dieſe ärmliche Kirche gab nichtsdeſtoweniger zu einem
Prozeſſe Veranlaſſung, der über hundert Jahre ſchwebte und einem
als ein „Viel Lärm um Nichts“ erſcheinen könnte, wenn es in
Fragen des Rechts etwas Kleines und Geringfügiges gäbe. Küſtrin
focht in dieſem Streit mit der Ausdauer eines John Hampden
und blieb ſchließlich Sieger. Der Streit, der kaum umhin kann,
zu allerhand Betrachtungen über Sonſt und Jetzt zu führen, war
in aller Kürze der. Die Küſtriner Bürger hatten ſich in alter Zeit
auf dem Wallgang eine Kirche gebaut. Die Kirche war unbeſtritten
ihr Eigenthum. Zur Zeit des großen Kurfürſten ſuchte der Kom-
mandant bei der Stadtbehörde nach, ſeine Soldaten zum Gottes-
[333] dienſt in die Wallgangskirche ſchicken zu können; wurde gewährt.
Etwa vierzig Jahre ſpäter, zur Zeit des „Soldatenkönigs,“ zeigte
das Feſtungskommando dem Magiſtrate an, daß die Kirche Gar-
niſonskirche ſei und daß die Küſtriner Bürgerſchaft nicht länger
Verfügung über dieſelbe haben könne. Allgemeine Auflehnung.
Der Kommandant droht mit Gewalt, ſo bleibt nichts anderes
übrig, als eine Klage beim König. Vergeblich; der König fragt
an bei der Kommandantur, erhält Beſcheid und entſcheidet den
Streit durch folgende Kabinetsordre: „Mein lieber Oberſt von
Reichmann, was Ihr mir wegen des Zuſtandes der dortigen Gar-
niſonskirche, als worüber der Magiſtrat ſich eine Jurisdiction an-
maßen will, berichtet, ſolches habe ich mit mehrerem aus Eurem
Schreiben vom 17. d. erſehen; und habt Ihr ſolches in’s Künf-
tige dem Magiſtrat auf keine Weiſe zu verſtatten, ſondern es ſoll
ſolche Kirche von dem Gouvernement dependiren. Ihr habt alſo
Eure Gerechtſame zu mainteniren. Ich werde Euch dabei auf alle
Weiſe zu ſouteniren wiſſen. Ich bin Ew. wohlaffektionirter König
Friedrich Wilhelm.“ Der Kommandant, begreiflicher Weiſe ermu-
thigt durch dieſe Ordre, begann jetzt ein ſtädtiſches Thor- und
Brückengeld zu erheben, um einen Prediger und Cantor für ſeine
eroberte Soldatenkirche beſolden zu können. So mußten die Küſtri-
ner noch für das bezahlen, was man ihnen genommen hatte. Mit
einem Muth, der in der Zeit des abſoluten „Nicht raiſonniren!“
aller Achtung werth war, proteſtirte die Bürgerſchaft gegen alle
Uebergriffe und bezeichnete die Kabinetsordre als einen baren Ge-
waltſtreich. Zur Zeit Friedrichs des Großen wurde der Streit wie-
der aufgenommen, aber, wie ſich denken läßt, mit demſelben Erfolg;
eben ſo unter ſeinem Nachfolger. Erſt Friedrich Wilhelm III., mit
jenem unverbrüchlichen Rechtsſinn, der für Soldat und Bürger
die Geſetze gleicher Billigkeit anerkannte, befahl eine Reviſion des
Prozeſſes und verhalf der Stadt zu ihrem Recht. Nachdem die
Rechtsfrage erledigt war, kamen die ſtreitenden Parteien leicht zu
einer Verſöhnung. Die Stadt trat die Kirche ab und empfängt
dafür, bis dieſen Tag, einen jährlichen Zins.
[334]
Seit der Franzoſenzeit hat kein Gottesdienſt mehr in dieſer
Kirche ſtattgefunden, und man könnte ſich verſucht halten, dieſe
vier grauen Mauern für einen Bau anzuſehen, der von Uranfang
an eine Remiſe war und weiter nichts, wenn man nicht in jüng-
ſter Zeit unterhalb der Kirche ein weites Gewölbe mit verſchiednen
Särgen entdeckt hätte. Der am beſten erhaltene dieſer Särge, mit
einem Kupfereinſatz, trug die Aufſchrift: „Hildebrand von Kracht,
Oberſt und Kommandant von Küſtrin.“ Man öffnete den Sarg
und fand einen echten Kracht. Die Krachte ſagen nämlich von
jedem Familienmitglied, das unter ſechs Fuß lang iſt: „Der iſt aus
der Art geſchlagen.“ Dieſer maß drei Zoll darüber.
Um dieſe alte Kirche her befand ſich ein Kirchhof. Auf die-
ſem Kirchhof wurde Katt beerdigt. Erſt auf die Bitten ſei-
nes Vaters, des Generallieutenants von Katt, wurde der Sarg
wieder ausgegraben und nach Wuſt bei Jerichow (im Altmär-
kiſchen, dicht an der Havelländiſchen Grenze) in das Erbbegräbniß
der Familie gebracht. Dort ſteht der Sarg noch; das Skelett iſt
wohlerhalten.
Der Name Katts führt uns wieder auf die Fridericianiſche
Zeit, auf das Jahr 1730. Die oft erzählten Ereigniſſe wiederhole
ich nicht. Am 5. September war Kronprinz Friedrich unter Escorte
in Küſtrin eingetroffen, am Morgen des 6. Novembers fiel Katts
Haupt. Jeder, der nach Küſtrin kommt, wird den Wunſch haben,
die betreffende Lokalität kennen zu lernen. Ich theile hier mit, was
ich davon geſehen und großentheils durch die Güte des Herrn
Kommandanten ſelbſt, habe in Erfahrung bringen können.
Nach der Oderſeite hinaus, hart am Ufer des Fluſſes, liegt
Baſtion Brandenburg. Auf der Höhe dieſer Baſtion erhebt ſich
das alte markgräfliche Schloß, das unter den erſten Königen vom
Kommandanten bewohnt wurde, jetzt aber als Kaſerne (Schloß-
kaſerne) dient. Es bildet ein Viereck und war früher von mehreren
Thürmen flankirt. Von dieſen Thürmen exiſtiren nur noch zwei:
ein niedriger Rundthurm an der Weſtecke und ein hoher acht-
eckiger Thurm an der Oſtſeite. Es ſteht feſt, daß Kronprinz Fried-
[335] rich in dieſem ehemaligen Schloſſe gefangen ſaß und daß Lieute-
nant Katt auf dem Wallgang der Baſtion in Front des Schloſſes
enthauptet wurde. Einige Hiſtoriker ſprechen zwar von einem „Hof,“
auf dem die Hinrichtung erfolgt ſein ſoll, dieſe Angabe indeß
ſcheint auf einem Irrthum zu beruhen. Katts Haupt fiel auf dem
Wallgang; aber an welcher Stelle fiel es und von welchem
Fenſter aus war „der entlaufene Obriſtlieutenant Fritz“ gezwun-
gen, dem furchtbaren Schauſpiele zuzuſehen? Ueber den erſten
Punkt, alſo über die Stelle, wo die Hinrichtung ſtattfand, ſcheinen
ſich die gegneriſchen Parteien neuerdings geeinigt zu haben, nicht ſo
über das Fenſter, an welchem der Kronprinz ſtand.
Die in Frage kommende Lokalität iſt folgende. Die Oſtecke
des Schloſſes hat einen zwei Fenſter breiten Anbau, aber ſo, daß
dieſes angebaute Stück um etwa ſechs Schritt zurück liegt und
dadurch einen kleinen hakenförmigen Platz ſchafft, der nach vorn
hin offen iſt, nach hinten zu aber von der Giebelſeite des Haupt-
gebäudes und der Frontſeite des Anbaus geſchloſſen wird. Auf
dieſem Platze erfolgte, wie man jetzt allgemein annimmt, die Hin-
richtung, und zwar zehn Schritt von den zwei Frontfenſtern des
Anbaus, und etwa achtzehn Schritt von dem Seitenfenſter des
Schloſſes entfernt. An dieſer Hinrichtungsſtelle befindet ſich jetzt
eine Art Gartenhaus, das aus einem runden, thurmartigen, maſ-
ſiven Unterbau und aus einem viel ſpäteren Fachwerkaufſatz be-
ſteht. Der Unterbau (etwa zehn Fuß hoch bei zwanzig Fuß Durch-
meſſer) macht entſchieden den Eindruck eines alten Mauerwerks,
wodurch die Hypotheſe an Wahrſcheinlichkeit gewinnt, daß die
Plattform dieſes hohen Fundaments ſchon vor 1730 als allge-
meine Exekutionsſtätte gedient habe. Gleichviel indeß, ob Katt auf
dieſem permanenten Schaffott (wenn es ein ſolches war) oder aber
auf einem eigens an dieſer Stelle errichteten „ſchwarzen Gerüſt“
vom Leben zum Tode gebracht wurde, jedenfalls bekundet es einen
eigenthümlichen Geſchmack, daß dieſe Hinrichtungsſtätte, wie geſche-
hen, zum Ausbau eines Gartenhäuschens mit Wohn- und Schlaf-
zimmer gewählt werden konnte. Die Ausſicht iſt entzückend und
[336] die Blumen an den Fenſtern nehmen ſich freundlich genug aus;
an jedem 6. November aber und auch ſonſt wohl, wenn der
Sturm über „Baſtion Brandenburg“ hinpfeift, muß man das
„Gruſeln“ an dieſer Stelle trefflich lernen können, an einer Stelle,
die zwiſchen Schaffot und Pavillon nur mühſam die Mitte hält.
„Blut iſt ein ganz beſonderer Saft.“ Die Sache wird nicht we-
ſentlich anders dadurch, daß man den alten Unterbau ſelbſt zu
einem Kartoffelkeller eingerichtet hat.
Ueber die Hinrichtungsſtätte iſt man einig, nicht ſo über das
Fenſter, von dem aus der Kronprinz Zeuge jenes blutigen Vor-
gangs war. Der Streit wird auch ſchwerlich noch geſchlichtet wer-
den und Beſucher von Baſtion Brandenburg haben deßhalb die
Verpflichtung, zwei Lokalitäten ſtatt Einer in Augenſchein zu neh-
men. Das ſcheint unzweifelhaft, daß nur von den drei vorhandenen
Parterrefenſtern die Rede ſein kann, da aus allen Schilderungen
mit großer Gewißheit hervorgeht, daß der Kronprinz den furcht-
baren Hergang unmittelbar und zwar in gerader Linie vor
Augen hatte. Hätte er von den Zimmern des erſten Stocks aus
(wie auch gelegentlich verſichert worden iſt) der Hinrichtung beige-
wohnt, ſo würde er, bei der Enge des Raums, gezwungen geweſen
ſein — man verzeihe den Ausdruck — wie in einen Topf hinein-
zublicken. Daß dieſe Anſicht überhaupt ausgeſprochen werden konnte,
hat wohl darin ſeinen Grund, daß das Schloß ein bewohntes
Souterrain beſitzt und die Parterrefenſter ziemlich hoch liegen.
Das jetzt zugemauerte Giebelfenſter (achtzehn Schritt vom
Schaffot) gehört einer weiß getünchten Kammer an, wo die Töch-
ter des Kaſinowirths ihre Garderobe aufbewahren. In langer Reihe
und muſterhafter Ordnung hängen die geſtärkten Kleider an der
Wand entlang, ausgerüſtet mit einer Miene unendlicher Friedlich-
keit und in nichts an die Worte erinnernd: »Pardonnez, mon
cher Katte! Wollte Gott, ich könnte an Ihrer Stelle ſein!“ Nur
eine Minorität von Stimmen hat ſich übrigens für dieſes Zimmer
und das zugemauerte Fenſter entſchieden.
Die beiden andern Fenſter (im Anbau) gehörten bis vor
[337] kurzem den beiden Kaſernenſtuben Nr. 21 und 22 zu. Als der
alte Wrangel vor einigen Jahren in Küſtrin war und die Garni-
ſon inſpicirte, wurden ihm auch jene beiden Zimmer gezeigt. Er
äußerte die Anſicht, daß es ſich geziemen dürfte, dieſen hiſtoriſchen
Zimmern eine andere Beſtimmung zu geben und ſie nicht länger
als bloße Kaſernenſtuben zu benutzen. Dieſe Anſicht kam lang ge-
hegten Wünſchen entgegen. Aus den zwei Zimmern iſt inzwiſchen
eines geworden, ein hübſch ausgeſchmückter Caſinoſaal, in dem die
Offiziere der Garniſon zu Mittag ſpeiſen und an Balltagen ihre
Damen zum Walzer führen. An den beiden Fenſtern hin, an
deren einem aller Wahrſcheinlichkeit nach der Kronprinz ſtand, läuft
jetzt eine Art Eſtrade, auf der die Muſici zum Tanze ſpielen. Die
grauen Nebel jenes finſtern Novembermorgens ſind längſt verflogen.
Der Lebende hat Recht. Nichts mehr erinnert an die Friedericia-
niſche Zeit, mit Ausnahme eines hochlehnigen Lederſtuhls, auf dem
der Kronprinz bald nach ſeiner Befreiung ſaß und arbeitete, wenn
er als jüngſter Kriegsrath den Sitzungen des Regierungscollegiums
beiwohnte. Die Ruſſen nahmen 1758 dieſen Stuhl mit nach Pe-
tersburg, fünfzig Jahre ſpäter kam er nach Frankfurt a. O. zu-
rück, von wo aus ihn die Küſtriner ſich als Geſchenk erbaten und
erhielten. *) Dieſer Stuhl indeſſen genügt nicht. Auge und Herz
verlangen mehr. Ein hiſtoriſches Bild gehört an die Hauptwand
des Saals, den beiden Fenſtern gegenüber. Nimmt man Anſtand,
eine Scene aus der Katt’ſchen Tragödie ſelbſt als Vorwurf zu
wählen, ſo wähle man irgend einen andern Moment aus dem
momentreichen Leben des großen Königs. Uebrigens wäre ein Bild-
niß Katts (auch wohl vom Standpunkt militäriſcher Gewiſſenhaf-
tigkeit aus) nicht eben verwerflich. Dieſe Vorgänge ſind ja längſt
Geſchichte geworden und können auf bedenkliche Sympathien oder
Deſertionsverherrlichung nicht länger gedeutet werden. Für den
22
[338] Fall, daß dieſer Vorſchlag Anklang findet, ſtehe hier die Notiz, daß
ſich im Charlottenburger Schloß, über der Thür, die aus dem
Arbeitszimmer des verſtorbnen Königs in ſein Schlafzimmer führt,
ein gutes Porträt Katts befindet, und zwar in der Uniform des
damaligen Regiments Gensdarmes.
Im Februar 1732 verließ Kronprinz Friedrich Küſtrin. Er
ſah es erſt am 22. Auguſt 1758 wieder, drei Tage vor der Zorn-
dorfer Schlacht. Die Stadt lag in Trümmern. Der Gedanke
mochte in ihm aufſteigen: dies iſt nicht der Ort deiner Freuden.
Wenn er zur Beſichtigung der Truppen kam, wohnte er in der
„kurzen Vorſtadt;“ die Stadt ſelbſt betrat er nie wieder. Die
Geſtalt ſeines Freundes ſtand am Thor und wehrte ihn ab.
[[339]]
Der Teltow.
[[340]][[341]]
Schloß Coepenick.
Schloß Coepenick iſt eines der vielen hohenzollerſchen Schlöſſer,
die ſich unter den mannigfachſten Namen, deutſchen wie franzöſi-
ſchen, im Spree- und Havellande vorfinden und von deren Noch-
vorhandenſein die wenigſten unter uns eine Kenntniß haben. Wir ent-
ſinnen uns in der Regel, von dieſem und jenem Schloß in dieſem oder
jenem Geſchichtsbuch geleſen zu haben, aber die unklare Vorſtellung, die
halbe Erwartung pflegt ſich daran zu knüpfen, daß dieſe Schlöſſer mit
verſchwunden ſeien, als die Perſonen vom Schauplatz abtraten, die
ihnen zuerſt ein hiſtoriſches Leben liehen. Die Anſtrengungen
unſerer Phantaſie, wenn wir von Königlichen Schlöſſern ſprechen
hören, gehen gemeinhin nicht viel über die Bilder von Sansſouci
und Charlottenburg hinaus und einem glücklichen Zufall bleibt es
vorbehalten, uns durch Augenſchein oder Erzählung zu belehren,
daß auch Schwedt, Küſtrin und Rheinsberg, Wuſterhauſen und
Oranienburg, noch ihre wirklichen Schlöſſer haben. Zu dieſen
ſeitab gelegenen und verſchollenen Reſidenzen, die ihre Exiſtenz
immer neu beweiſen müſſen, gehört auch Schloß Coepenick.
Schloß Coepenick liegt an der Einmündung der wendiſchen
Spree (auch Dahme genannt) in die eigentliche Spree. Lange
bevor ſich hier eine Stadt erhob (das jetzige Coepenick) ſtand hier
[342] bereits eine Burg und beherrſchte das Land. Die natürliche
Sicherheit, die ein Netz von Seen und Flußarmen der großen
Waldinſel giebt, an deren äußerſter Weſtecke Schloß Coepenick ge-
legen iſt, mußte in älteſten Zeiten ſchon dahin führen, eine „Burg“
hier zu errichten, eine weit hinaus lugende Veſte zur Vertheidi-
gung der Spree-Territorien, des „Gau’s Spriavana.“ Die Lage
von Stadt und Schloß iſt der des weiter flußabwärts gelegenen
Spandau in vielen Stücken ſo verwandt, daß man ſich faſt wun-
dern muß, die von der Natur gebotene Gelegenheit zur Anlage
einer Spree-Feſtung, auch in der rechten Flanke der Hauptſtadt,
ſo gar nicht benutzt zu ſehen.
Keine Feſtung, aber drei verſchiedene Schlöſſer haben
ſich im Lauf der Jahrhunderte auf der Sumpf- und Wald-Inſel
erhoben, die von der wendiſchen und der eigentlichen Spree an
dieſer Stelle gebildet wird und haben dadurch drei beſtimmte
Perioden in der Geſchichte Schloß Coepenicks vorgezeichnet. Wir
unterſcheiden ein altes Schloß Coepenick bis 1550; ein mittle-
res Schloß Coepenick bis 1677, und ein neues Schloß Coepenick
von 1677 bis auf dieſen Tag. Von den beiden ältren Schlöſſern
werden wir in aller Kürze, vom neuen Schloß aber ausführlicher
zu ſprechen haben.
Das alte Schloß Coepenick ſtand ſchon, als die erobernden
Deutſchen ins Land kamen. Jatzko oder Jaſſo, der letzte Wen-
denfürſt, an deſſen Bekehrung die ſchöne Schildhornſage anknüpft,
reſidirte daſelbſt. Nach ſeiner Unterwerfung wurde die alte Wen-
denveſte eine markgräfliche Burg und endlich ein kurfürſtliches
Schloß. Ob askaniſche Markgrafen und hohenzollernſche Kurfürſten
einfach in das alte Steinneſt einzogen, das Jatzko ihnen leer
gelaſſen hatte, oder ob die Jahrhunderte ſiegreich vordringenden
Deutſchthum’s aus der alten heidniſchen Veſte einen gothiſchen
Schloßbau ſchufen, muß dahin geſtellt bleiben; wir wiſſen es nicht.
Unſere Archive geben uns Aufſchluß über die Beſitzverhältniſſe des
alten Schloſſes; aber nicht Bild, nicht Beſchreibung ſind auf uns
gekommen, die uns veranſchaulichen könnten, wie Schloß Coepe-
[343] nick war. Es muß uns genügen, daß es war. Auch ſeine Ge-
ſchichte verſchwimmt in blaſſen und characterloſen Zügen, und
alles, was mit beſtimmtem Gepräge an uns herantritt, iſt das
eine, daß es an dieſer Stelle, im alten Schloſſe zu Coepenick
war, wo ein Otterſtedt an die Thür ſeines kurfürſtlichen Herren
die Worte ſchreiben konnte:
Das alte Schloß Coepenick ſtand bis 1550; da trat ein
neuer Bau an die Stelle des alten. Kurfürſt JoachimII., ein
leidenſchaftlicher Jäger, deſſen Waidmannsluſt ihn oft in die dich-
ten Forſten um Coepenick herum führte und dem das alte Schloß
zu eng verwachſen ſein mochte mit dem Otterſtedt’ſchen Reim-
ſpruch, ließ den alten Bau niederreißen und ein Jagdſchloß an
Stelle deſſelben aufführen.
Dies Jagdſchloß Joachim’sII., das mittlere Schloß
Coepenick, wie wir es Eingangs genannt haben, ſtand wenig über
100 Jahre, aber ſeine Geſchichte tritt ſchon in beſtimmteren Um-
riſſen an uns heran und die Merian’ſche Topographie, dies inter-
eſſante und verdienſtvolle Werk, dem wir, neben ſo vielem andern,
auch eine bildliche Darſtellung des alten Berlin verdanken, hat uns
unter ſeinen zahlreichen Blättern auch ein Bild des damaligen Jagd-
ſchloſſes zu Coepenick (wie ſich daſſelbe im Jahre 1640 präſentirte)
aufbewahrt. Nach dieſem Bilde ſtellte das Ganze ein regelmäßiges
Viereck dar, das zur Hälfte aus zwei rechtwinklig auf einander
ſtoßenden Flügeln, zur andern Hälfte aus zwei niedrigen, aber
das Viereck abſchließenden Mauern beſtand; der ganze Bau von
fünf Thürmen überragt, vier an den Außenecken, der fünfte
innerhalb des Schloßhofs, in dem von den beiden Flügeln gebil-
deten rechten Winkel.
JoachimII. weilte gern in Schloß Coepenick. Sein Hof-
[344] und Jagdgeſinde war dann um ihn her, auch die Söhne wohl,
die ihm Anna Sydow „die ſchöne Gießerin“, geboren hatte. In
früheren Jahren hatte die ſchöne Gießerin ſelbſt bei dieſen Luſtbar-
keiten nicht gefehlt, bis ein an und für ſich geringfügiger Vorfall
einen tiefen Eindruck auf des Kurfürſten Herz machte. Die Bauern
ſahen, bei einer der Jagden, Anna Sydow ſammt ihren Kin-
dern neben dem Kurfürſten ſtehen und fragten ſich einander: „iſt
das unſres gnädigſten Herrn unrechte Frau? ſind das die unrech-
ten Kinder? wie darf er’s thun und wir nicht?“ Der Kur-
fürſt hörte alles und flüſterte der Gießerin zu: „Du ſollteſt bei
Seite gehn.“ Seitdem mied ſie die öffentlichen Feſte.
In dieſem Jagdſchloß zu Coepenick, das ſich JoachimII.
um 1550 erbaut hatte, ſtarb er, zwanzig Jahre ſpäter, am 3.
Januar 1571. Eine Wolfsjagd ſollte abgehalten werden, trotz der
bittren Kälte, die herrſchte, und der ſechsundſechzigjährige Joachim
freute ſich noch einmal des edlen Waidwerks, dran zeitlebens ſein
Herz gehangen hatte. Gegen Abend kehrte er aus den Müggelſee-
Forſten nach Schloß Coepenick zurück und verſammelte ſeine Räthe
und Diener um ſich her; — Diſtelmeier der Kanzler, Mat-
thias von Saldern, Albrecht von Thümen, der General-
Superintendent Musculus, alle waren zugegen. Man ſetzte ſich
zu Tiſch und ſpeiſ’te in chriſtlicher Fröhlichkeit. Der Kurfürſt
empfand nur ein leiſes Unbehagen. Der Diskurs ging bald von
geiſtlichen Dingen und der Page wurde beauftragt, Dr. Lutheri
Predigt über die Weiſſagung des alten Simeon (Paul Luther,
ein Sohn des Reformators, war Leibarzt des Kurfürſten) vorzu-
leſen. Nach der Vorleſung wurde viel von Chriſti Tod und Auf-
erſtehung geſprochen, von ſeiner großen Liebe und ſeinen bittren
Leiden; dabei zeichnete der Kurfürſt ein Crucifix auf den Tiſch,
betrachtete es andächtiglich und ging dann zu Bett. Als er indeſſen
kaum einige Stunden geruht, überfiel ihn eine Preſſung auf der
Bruſt, mit einer ſtarken Ohnmacht. Der Kanzler und die Räthe
wurden geweckt, aber das Uebel wuchs raſch und nach einigen
[345] Minuten verſchied der Kurfürſt mit den Worten: „das iſt gewiß-
lich wahr.“ *)
Wir hören vom Schloß Coepenick (demſelben Jagdſchloß, das
JoachimII. erbaut hatte) erſt wieder als im Jahre 1631 König
Guſtav Adolph ſein Hauptquartier in eben dieſem Schloſſe
nahm, und an den ſchwankenden Kurfürſten George Wilhelm
die Aufforderung ſchickte, ihm die Feſtungen Cüſtrin und Spandau
ohne Weiteres einzuräumen. Dieſer Brief führte zu jener bekann-
ten Zuſammenkunft im Gehölz bei Coepenick, die von dem ent-
ſchloſſenen, keine Halbheit duldenden Guſtav Adolph mit den
Worten abgebrochen wurde: „Ich rathe Eurer churfürſtlichen
Durchlaucht Ihre Parthei zu ergreifen, denn ich muß Ihnen ſagen,
die Meinige iſt ſchon ergriffen.“
Neun Jahre ſpäter machte der Regierungsantritt des „großen
Kurfürſten“ dem Elend des Landes ein Ende, aber Schloß Coepe-
nick ſank an Anſehn und Bedeutung. Eine neue Zeit und ein
neuer Geſchmack waren gekommen; die Zeit des franzöſiſchen Ein-
fluſſes begann, und die alten Jagdſchlöſſer mit gothiſchen Thürmen
und Giebeln, mit ſchmalen Treppen und niedrigen Zimmern, konn-
[346] ten ſich neben der Pracht und Stattlichkeit der Renaiſſance nicht
länger behaupten. Sie ſchienen nicht ebenbürtig mehr und räumten
das Feld. 1658 wurde ein alchymiſtiſches Laboratorium, eine
Goldmache-Werkſtatt in denſelben Zimmern eingerichtet, drin Kur-
fürſt Joachim kaum 100 Jahre früher, den ſelbſterlegten Hirſch
auf reichbeſetzter Tafel gehabt hatte und endlich 1677 fiel das
alte Jagdſchloß gänzlich, um einem Neubau, dem dritten alſo,
der ſich an dieſer Stelle erhob, Platz zu machen.
Dieſem dritten Schloß Coepenick, einer Schöpfung Rütger’s
von Langenfeld, der es um die angegebene Zeit für den Kur-
prinzen Friedrich erbaute, gilt nunmehr unſer Beſuch.
Wir benutzen den Omnibus, der zwiſchen Berlin und Coepe-
nick fährt, haben, ähnlich wie auf einer Fahrt nach Charlottenburg,
ein ſauberes, ſorglich gepflegtes Gehölz zu beiden Seiten und rollen
an einem klaren Herbſttage die Chauſſee entlang, in das Wäldchen
hinein. Die Bäume um uns her ſind noch jung, kaum älter als
wir ſelbſt, aber ſie führen uns doch an Plätzen hiſtoriſcher Erinne-
rung vorbei, zunächſt an jener Waldwieſe, wo einige Heißſporns
vom ſchwer beleidigten märkiſchen Adel den jugendlichen Joachim
aufzuheben gedachten, dann um jenes oben erwähnte Rendezvous
herum, wo Guſtav Adolph und Kurfürſt George Wilhelm zu-
ſammentrafen und ſo wenig befriedigt von einander ſchieden. In
raſchem Trabe geht es dahin, die Pferde werfen die Köpfe und
ziehen die Luft mit einem Behagen ein, als freuten ſie ſich der
Herbſtesfriſche. Die Eichen und Birken, die eingeſprengt im Tannicht
ſtehn, laſſen die Landſchaft in allen Farben ſchillern und der herbe
Duft des Eichenlaubes dringt zu uns in den Wagen hinein. Jetzt
aber trifft uns ein Luftzug mit ſeiner feuchten Kühle, der dem
Reiſenden ein Waſſer ankündigt, auch bevor er es geſehen, und
im nächſten Augenblick haben wir ein breites Strombett vor uns,
an deſſen jenſeitigem Ufer, aus hohen Pappeln hervor, ein grau-
gelber Schloßbau ragt. Ueber die Brücke hin rollt der Wagen,
[347] verkündigt ſeine Ankunft durch lautes Glockenläuten, als hielte
eine Abtheilung Feuerwehr ihren Einzug in die Stadt, und hält
jetzt auf einem unregelmäßigen, ziemlich geräumigen Platz, der zwi-
ſchen dem Schloß und der Stadt Coepenick liegt. Wir ſteigen aus,
werfen nach links hin einen Blick in eine leiſ’ gebogene Straße
hinein, deren beſchnittene Lindenbäume dem Ganzen ein freund-
liches Anſehn leihn, wenden uns aber, nach kurzem Aufenthalt, ſo-
fort wieder nach rechts hin, wo unmittelbar vor uns Schloß Coe-
penick mit allen ſeinen Dependenzien emporſteigt. Wir paſſiren die
Brücke des Schloßgrabens, dann das dahinter gelegene Sandſtein-
portal und befinden uns nun auf einem viereckigen, vielfach mit
Blumenbeeten eingefaßten Platz, der nach rechts und links hin von
Schloß und Schloßkapelle, nach vorn und hinten zu von den alten
Bäumen des Parks und dem Sandſteinportal, das wir eben paſ-
ſirten, gebildet wird. Wir blicken einen Augenblick in die ſchattigen
Gänge des Parks hinein, auf deſſen thaufeuchtem Raſen ſchon
mehr abgefallenes Laub als heitrer Sonnenſchein liegt, dann aber
machen wir eine Schwenkung nach rechts und haben die Haupt-
front des Schloſſes, den alten ſtattlichen Bau vor uns, den Rüt-
ger von Langenfeld 1677 an dieſer Stelle begann und 1682
beendete.
Das gegenwärtige Schloß Coepenick hat drei Stockwerke
und beſteht aus einem Corps de Logis und zwei Seitenflügeln.
Die Stellung dieſer Seitenflügel iſt eigenthümlich, indem dieſelben
nicht nach einer Seite hin (wie gewöhnlich), ſondern nach vorn
und hinten zu kurz vorſpringen und dadurch den übrigens beab-
ſichtigten Eindruck verſtärken, daß das Schloß zwei Fronten habe,
die eine nach dem Platz hinaus, auf dem wir ſtehen, die andere
nach dem Fluſſe hin, deſſen lange, höchſt maleriſche Brücke wir bei
unſerer Ankunft paſſirten. Das Ganze unverkennbar eine venetia-
niſche Reminiscenz: die Façaden ziemlich einfach und ſchmucklos
und nur das Frontispice mit Reliefs und Statuen geſchmückt.
Dabei der Dachfirſt zu einem Baluſtradengange, zu einer Art Co-
[348] lonade abgeflacht. *) Das Aeußere des Schloſſes, ſtattlich wie es
iſt, deutet doch in nichts auf die Pracht und Munificenz hin, die
man bei Herrichtung ſeiner inneren Räume hat walten laſſen. Nir-
gends ein Geizen mit dem Raum, die Treppen breit, die Flure
und Corridore hell und licht, die Zimmer hoch, luftig, geräumig;
— es iſt, als habe der Baumeiſter nichts ſo ängſtlich vermeiden
wollen, als die Enge und Gedrücktheit der Thurm- und Erker-
ſtuben, die ſonſt hier heimiſch waren. Nirgends ein Geizen mit dem
Raum, aber auch nirgends ein Geizen mit dem, was unterhält,
erheitert und ſchmückt. Wohin wir blicken, eine Fülle von Orna-
menten, die vielleicht den Eindruck der Ueberladung machen würden,
wenn nicht die Macht des Raumes ſiegreich über allem ſchwebte
und ein ſich Vordrängen des Einzelnen unmöglich machte. Die
Karyatiden, die Pfeiler und Säulen mit reichgegliedertem Capitell
treten dienend in den Hintergrund zurück, und die ſchweren Stuck-
Ornamente, die an den Decken hängen, verlieren ihre Schwere
und fügen ſich wie leichtgeſchwungene Arabesken in das Bild des
Ganzen ein. Zu den Stuck-Ornamenten geſellen ſich Plafond-Bilder,
die durch alle Säle des Schloſſes hin, den Jagdzug der Diana,
ihren Zorn über Aktäon und ihre Liebe zum Endymion darſtellen,
aber wenige von dieſen Gemälden, wahrſcheinlich Schöpfungen eines
italieniſchen oder franzöſiſchen Meiſters, ſind bis auf unſere Zeit
gekommen, und dieſe wenigen verbergen ihre Exiſtenz hinter einer
ſorglich aufgetragenen Bekleidung von Mörtel und Gips. Sie war-
ten auf die Stunde, wo das alte Schloß, das ſeit 50 Jahren
und darüber der triſteſten Proſa oder doch der bloßen Nützlichkeit
[349] hat dienen müſſen, die poetiſchen Tage alter königlicher Pracht neu
in ſeinen Mauern erblicken wird, um dann auch ihrerſeits aus
ihrer Hülle herauszutreten und den neu einziehenden Glanz ſelbſt
in altem Glanz zu begrüßen. Dies gilt namentlich von dem im
erſten Stockwerk gelegenen „Königsſaal“, der eine Fülle der ſchön-
ſten Bilder- und Plafond-Ornamente hinter einer Ueberkleidung ver-
bergen ſoll.
Wir haben in dem Beſtehn Schloß Coepenick’s drei Perioden
unterſchieden und in Erinnerung an die mannigfachen Bauten, die
hier ſtanden, von einem alten, einem mittleren und einem neuen
Schloß Coepenick geſprochen. Aber auch dies neue Schloß Coepe-
nick, das wir eben in ſeiner Totalerſcheinung zu beſchreiben ſuchten,
theilt ſein 200 jähriges Leben wieder in verſchiedene Stadien, in
alte und neue Perioden ein, unter denen wir mit Umgehung gleich-
gültigerer Jahrzehnte, vier Hauptepochen unterſcheiden.
Dieſe vier Hauptepochen des neuen Schloß Coepenick’s ſind
die folgenden: Erſtens die Zeit des Kurprinzen Friedrich von
1682—1688; zweitens die Zeit Friedrich WilhelmsI., in-
ſonderheit das Jahr 1730; drittens die Zeit Henriette Ma-
ria’s, gebornen Markgräfin von Brandenburg-Schwedt, von
1749—1782, und viertens die Zeit des Grafen von Schmet-
tau, von 1804—1806. An eine Beſprechung dieſer 4 Haupt-
epochen wird ſich ſchließlich noch eine kurze Darſtellung der Schick-
ſale zu knüpfen haben, die Schloß Coepenick ſeitdem erfuhr.
(Die Zeit des Kurprinzen Friedrich von 1682 bis
1688.) In welchem Jahre Kurprinz Friedrich ſeinen Einzug in
Schloß Coepenick hielt, iſt nicht genau mehr feſtzuſtellen, wahr-
ſcheinlich um 1680. Der Schloßbau wurde zwar erſt um 1681
beendet und das mehrerwähnte Sandſteinportal, durch das wir in
den Schloßhof eintraten, trägt ſogar die Jahreszahl 1682, es iſt
indeß nicht unwahrſcheinlich, daß Kurprinz Friedrich die Vollen-
dung des ganzen Bau’s nicht erſt abwartete und ſich, zwei Jahre
[350] früher bereits, mit dem begnügte, was fertig war. Die Verhält-
niſſe zwangen ihn faſt dazu. Seiner alten Feindſchaft mit ſeiner
Stiefmutter, der holſteiniſchen Dorothea, war im Jahre 1679,
bei Gelegenheit ſeiner Vermählung mit der heſſiſchen Prinzeſſin,
zwar eine Verſöhnungsſcene gefolgt, aber dieſe Verſöhnung hatte
die Abneigung der Mutter und das Mißtrauen des Sohnes um
nichts gebeſſert. Todesfälle und plötzliche Erkrankungen regten den
Verdacht und die alten Befürchtungen wieder an und nachdem
Kurprinz Friedrich ſelbſt bei Gelegenheit eines Feſtmahls, das
ihm die Stiefmutter gab, von einem heftigen Kolikanfall heim-
geſucht worden war, ſteigerten ſich ſeine Befürchtungen bis zu ſol-
chem Grade, daß er ſeinen Vater um die Erlaubniß bat, ſich nach
Schloß Coepenick zurückziehen zu dürfen. Nicht in Freuden zog er
in die ſchönen Räume ein, die zum Theil noch ihrer Vollendung
entgegen ſahn; das Schloß, das ihn aufnahm, war mehr ret-
tendes Aſyl als eine Stätte heitrer Flitterwochen und die Ueber-
ſiedlung ſelbſt glich mehr einer ängſtlichen Flucht, als ruhiger Wahl
und Ueberlegung. Troſtloſe Tage müſſen dieſe erſten Tage des
neuen Schloſſes geweſen ſein, troſtloſer, trüber, als die alten
Schlöſſer, die vordem hier heimiſch waren, ſie jemals gekannt hat-
ten, trüber als die Tage, in denen Otterſtedt ſeinen Reimſpruch
an die Thür des churfürſtlichen Zimmers ſchrieb, und trüber als
der Winterabend, an dem der todesahnende Joachim gläubig
und ergeben das Crucifix auf die ſchwere, eichene Tiſchplatte malte.
In Bangen und Einſamkeit vergingen dem Prinzen hier die Tage
ſelbſtgewählter Verbannung. Sein ſchwacher Körper verbot ihm die
Freuden der Jagd und lauter Luſtbarkeit. Die Decken-Gemälde,
die Jagdzüge Diana’s, die um ihn her entſtanden, erinnerten ihn
nur an alles, was ihm gebrach. Gleichförmig öde ſpannen ſich
Wochen und Monde in Schloß Coepenick ab und was die Gleich-
förmigkeit unterbrach, waren jene froſtigen Feſte, die dem Tod zu
Ehren gefeiert wurden. Am 7. Juli 1683 ſtarb des Kurprinzen
Gemahlin; die alten Verdächtigungen wurden laut; nichts änderte
ſich, die bleierne Schwere blieb. Da kam Sonnenſchein. Das
[351] Trauerjahr war um, der Flor fiel, Hochzeit gab es wieder und
bunte Fahnen, — Sophie Charlotte hielt ihren Einzug in die
Marken. Zwanzig Jahre lang ſtand die helle Sonne dieſer Frau
über dem dunklen Tannen-Lande, und gab ihm eine Heiterkeit,
die es bis dahin nicht gekannt hatte, aber ihr lachendes Auge,
das über ſo Vielem leuchtete, leuchtete nicht über Schloß Coepenick.
Waren ihr die Zimmer zu hoch, die Bäume zu dunkel, die Tra-
ditionen zu triſt, — gleichviel, ſie vermied Schloß Coepenick, wo
die heſſiſche Prinzeſſin, die erſte Gemahlin des Kurprinzen, ihre
Tage hinweg geängſtigt hatte und die ſonnenbeſchienenen Abhänge
des Dorfes Lützow, die ein glückliches Ohngefähr ſie hatte kennen
lernen, entſprachen mehr ihrem heitern Sinn. Schloß Coepenick
verödete, wurde ſtiller, verlaſſener als es je geweſen war und
Schloß Charlottenburg mit funkelnder Kuppel und goldnen Figu-
ren wuchs ſtatt ſeiner empor.
(Die Zeit Friedrich WilhelmsI.) Schloß Coepenick
ſtand leer, an die zwanzig Jahre und drüber, bis der ſoldatiſche
Sohn Sophie Charlottens wieder neues Leben in die ausgeſtor-
benen Mauern trug. Die Jagdpaſſion kam wieder zu Ehren; Tage
brachen wieder an, wie ſie Kurfürſt Joachim nicht wilder, nicht
waidmänniſcher gekannt hatte, und die Dianenbilder an Plafonds
und Simſen, die dreißig Jahre lang wie ein Hohn im neuen
Jagdſchloß zu Coepenick geweſen waren, kamen jetzt zum erſten
Mal, ſeit Rütger von Langenfeld dieſe Säle und Corridore
mit ihnen geſchmückt hatte, zu ihrer Bedeutung und ihrem Recht.
Jagd tobte wieder um Coepenick her wie in alter Zeit und Fang-
eiſen und Hörner waren wieder im Schloſſe zu Haus.
Dieſe Jagden zeichneten ſich durch die Gefahren aus, die es für
guten Ton galt, lieber aufzuſuchen als zu vermeiden. Züge eigen-
thümlicher Ritterlichkeit machten ſich geltend, die an den Hof
FranzI. erinnert haben würden, wenn nicht an Stelle galanten
Minnedienſtes jene kurbrandenburgiſche Derbheit vorgeherrſcht hätte,
der zu allen Zeiten ein Kraftwort weit über das beſte Wortſpiel
ging. Bei dieſen Jagden, wie Schloß Coepenick ſie damals häufig
[352] ſah, wurde faſt jedesmal der eine oder andere getödtet oder ſchwer
verwundet. In ein viereckiges Gehege von 600 bis 700 Schritten,
das von Leinen eingeſchloſſen war, ließ man oft zwei- oder drei-
hundert wilde Schweine von jedem Alter und jeder Größe ein-
laufen. Hier erwarteten ſie die Jäger, je zwei und zwei, um die
wild hereinbrechenden auflaufen zu laſſen. Verfehlten ſie das Thier
oder zerbrach das Fangeiſen, ſo wurden ſie oft über den Haufen
geſtoßen und von dem verwundeten Wildſchwein übel zugerichtet.
Zuweilen nöthigte der König auch wohl ſeine Jäger und Pagen
die größten Keiler bei den Ohren zu faſſen und mit Gefahr ihres
Lebens ſo lange feſtzuhalten, bis er ſelbſt herbei kam, um ſie ab-
zufangen. Wer ſich zu ſolchem Dienſte weigerte, galt für feige.
Der König ſelbſt wurde auf einer dieſer Jagdpartieen, in unmit-
telbarer Nähe von Coepenick, ſtark verwundet, und würde ſein Le-
ben eingebüßt haben, wenn ihm nicht einer ſeiner Jäger recht-
zeitig beigeſprungen wäre.
Blutend ſchaffte man ihn nach Coepenick. Das war am
15. Januar 1729. Das nächſte Jahr aber brachte gewichtigere
Tage, Tage, die den Namen Schloß Coepenick’s mit einer der
intereſſanteſten Epiſoden unſerer Geſchichte für immer verwoben
haben. Am 28. October 1730 trat hier das Kriegsgericht zuſam-
men, das über den Lieutenant Katt vom Regiment Gensd’armes,
ſo wie über den „deſertirten Obriſtlieutenant Fritz“ Urtheil ſprechen
ſollte. Dieſe höchſt denkwürdige Sitzung fand in dem bereits er-
wähnten Wappenſaale ſtatt, deſſen eingehendere Beſchreibung
wir zunächſt hier folgen laſſen. Unter den vielen Sälen des
Schloſſes iſt er nicht nur der hiſtoriſch intereſſanteſte, ſondern auch
dadurch vor allen andern bemerkenswerth, daß er in ſeiner Ein-
richtung und Ausſchmückung weder bedeutend gelitten, noch auch,
hinter einer Gips- und Mörtelverkleidung (wie der Königsſaal)
ſeine Vorzüge verborgen hat. Dieſer Wappenſaal (der jetzt, wegen
einer in ihm aufgeſtellten Orgel, den Namen „Orgelſaal“ führt)
iſt zwei Treppen hoch gelegen und blickt mit ſeinen Fenſtern auf
die wendiſche Spree hinaus. Im Verhältniß zu ſeiner Tiefe iſt die
[353] Decke etwas niedrig und würde bei ihrer reichen Ornamentik noch
viel mehr den Eindruck davon machen, wenn nicht die hellen
Farbentöne, die in dem ganzen Saale vorherrſchen (weiß und
lila) eine gewiſſe Luftigkeit wieder herſtellten. Die völlig weiß ge-
haltene Decke wird anſcheinend von etwa zwanzig Karyatiden ge-
ſtützt, die alle vier Seiten des Saales umſtehen und auf ihrer
Bruſt die Wappenſchilder der verſchiedenen kurbrandenburgiſchen
Länder jener Epoche tragen. Eine beſtimmte Reihenfolge nach den
Provinzen iſt bei Aufſtellung derſelben nicht beobachtet worden und
Caſſuben und Wenden, Jägerndorf und Minden, Ravensberg und
Gützkow, Ruppin, Camin, Mark, Croſſen, Barth, Pommern, Cleve
u. ſ. w. folgen ſich bunt auf einander. An den beiden Längs-
wänden befinden ſich ein paar große Kamine, reich verziert mit
allerhand Emblemen und Wappenfiguren; alles weißer Stuck, wie
der ganze Reſt der Ausſchmückung überhaupt. Das Ganze, ohne
ſchön zu ſein, hat ein entſchieden hiſtoriſches Gepräge und macht
es einem glaublich, daß hier an langer Tafel das Kriegsgericht
ſaß, das über Tod und Leben eines Prinzen und ſeiner Gefähr-
ten aburtheilen ſollte.
Der Tag, an dem die Kriegsgerichtsſitzung im „Wappen-
ſaale zu Coepenick“ ſtattfand, war, wie bereits erwähnt, der
28. October 1730 und die Mitglieder derſelben waren die folgen-
den: der Generallieutenant von der Schulenburg als Vor-
ſitzender; die General-Majors von Schwerin, von Dönhoff,
von Linger; die Oberſten von Derſchau, von Stedingk,
von Wachholz; die Oberſtlieutenants von Schenk, von Wey-
her, von Milagsheim; die Majors von Einſiedel, von Leſt-
witz und von Lüderitz; ſchließlich die Capitains von Itzen-
plitz, von Jeetz und von Podewils. Am Tage vor dem
Kriegsgericht, am 27. October 1730, verſammelten ſich dieſe fünf
Gruppen (Generale, Oberſten, Oberſtlieutenants, Majors und Ca-
pitains), jede beſonders, und gaben nach geſchehener Berathung jede
ſchriftlich ihr Votum ab. Dieſe fünf ſchriftlichen Vota wurden dem
vorſitzenden General-Lieutenant v. d. Schulenburg übergeben,
23
[354] der darauf für ſich ebenfalls ſchriftlich ein Votum entwarf. Am
folgenden Tage, den 28. October, traten darauf ſämmtliche 15 Per-
ſonen mit ihrem Vorſitzenden zuſammen und fällten das Urtheil,
worüber drei verſchiedene Protocolle aufgenommen wurden, die außer
den genannten 16 Perſonen noch von Mylius, General-Auditeur-
Lieutenant, und G. J. Gerbett unterſchrieben wurden. Dies
Schlußvotum lautete bekanntlich dahin, daß das Kriegsgericht einen
Rechtsſpruch über den Kronprinzen ablehnte, den Lieutenant v. Katte
aber zu lebenslänglichem Feſtungsarreſt verurtheilte. Der König
ſtieß dies Urtheil um. Manche Punkte in Betreff aller dieſer Vor-
gänge waren bis in die neueſte Zeit hinein nicht völlig aufgeklärt,
ſo wie denn z. B. die Angaben von Preuß und Förſter in man-
chen Stücken unter einander abweichen; ſo viel aber hat immer
feſtgeſtanden, daß jene denkwürdige Kriegsgerichtsſitzung vom 28.
October wirklich im großen Wappenſaale zu Coepenick ſtattgefunden
hat. Vielleicht wäre es angebracht, wo nicht ein hiſtoriſches Bild,
das den Vorgang darſtellt, doch wenigſtens eine Gedächtnißtafel
aufzurichten, die die Erinnerung an jenen Tag an dieſer Stelle
wahren möchte. (Vgl. die Anmerkungen an betreffender Stelle, die
mehrere Auszüge aus der ſeitdem erſchienenen kleinen Schrift:
„Vollſtändige Protokolle des Köpenicker Kriegsgerichts ꝛc.“ enthalten.)
(Die Zeit Henriette Marie’s von 1749—1782.) Hen-
riette Marie geb. Prinzeſſin von Brandenburg-Schwedt, hatte
ſich mit 14 Jahren bereits an den Herzog von Würtemberg-Teck
vermählt und war mit 29 Jahren Wittwe geworden. Sie lebte
als ſolche in Berlin und erſchien während der letzten Regierungs-
jahre Friedrich WilhelmsI. bei allen Hoffeſten, auch unter dem
großen König noch. So gingen die Dinge bis 1749, in welchem
Jahre ihr Schloß Coepenick als Wittwenſitz angewieſen wurde. Es
hieß damals, „ſie ſei verbannt“; auch ſcheint ſie von jenem Zeit-
punkt ab am Berliner Hofe (wenn damals von einem ſolchen die
Rede ſein konnte) nicht länger erſchienen zu ſein. Welche Gründe
den König zu dieſer Verbannung vermochten, iſt nur zu muth-
maßen, nicht nachzuweiſen. Es heißt, daß FriedrichII. an dem
[355] wenig correkten Lebenswandel der Prinzeſſin Anſtoß genommen
habe, doch iſt es nicht unwahrſcheinlich, daß andere Empfindungen
mit in’s Spiel kamen und den Ausſchlag gaben. Die Seitenlinie
Brandenburg-Schwedt, die, zum wenigſten was ihre Beſitzverhält-
niſſe anging, erſt den Einflüſterungen und Machinationen der zwei-
ten Gemahlin des großen Kurfürſten ihre Entſtehung verdankte,
wurde vom großen König mit demſelben Mangel an Sympathie
betrachtet, den ſein Vater und namentlich ſein Großvater (Fried-
richI.) gegen dieſelbe unterhalten hatte und „wie es in den Wald
hinein ſchallte, ſo ſchallte es, aller Wahrſcheinlichkeit nach, wieder
heraus.“ So groß jene Zeit in vielen Stücken war, ſo war ſie
es doch keineswegs in allen und Klatſch, Intrigue und Chro-
nique ſcandaleuſe hatten ein unglaublich großes Feld. Wir werden
kaum irren, wenn wir annehmen, daß Prinzeſſin Henriette Ma-
rie ihre Zunge weniger im Zaum gehalten habe, als wünſchens-
werth geweſen wäre und daß dieſer Umſtand zur unfreiwilligen
Muße von Coepenick führte: um über Schweigens Weisheit nach-
zudenken. Daß die Prinzeſſin dem nachgekommen ſei und in Schloß
Coepenick dreißig Jahre lang die Kunſt des Schweigens geübt
habe, haben wir nicht die geringſte Urſach anzunehmen, gegentheils
ſcheint es, daß man ſich die einſamen Tage in Coepenick durch
pikante Plaudereinen nach Möglichkeit vertrieben und die Mesquine-
rieen eines kleinen Hofes, als beſtes Mittel die Zeit hinzubringen,
mit leidlicher Virtuoſität geübt habe. Ueber das damalige Leben in
Schloß Coepenick (die Zeiten der Wolfsjagden und der Kriegs-
gerichte waren vorüber) geben einige Notizen Aufſchluß, denen wir
in einer Biographie des Freiherrn von Krohne, der ſich König-
lich Polniſcher Wirklicher Geheimerath nannte, begegnen. Dieſer
Abenteurer, der überall im Trüben zu fiſchen und an kleinen Hö-
fen ſein „Fortune“ zu machen ſuchte, kam auch an den Hof des
Markgrafen Friedrich Wilhelm von Schwedt, des regieren-
den Bruders unſrer Henriette Marie, deren Hofſtaat der Mark-
graf aus den Revenuen ſeines Schwedter Markgrafenthums zu
unterhalten hatte. Prinzeſſin-Schweſter brauchte mehr als Mark-
23*
[356] graf-Bruder zu zahlen liebte und ſo wurde denn Freiherr von
Krohne, der eben ſeine Dienſte angeboten hatte, an den Coepe-
nicker Hof geſchickt, vorgeblich um der Prinzeſſin als Kammerherr
zu Dienſten zu ſein, in Wahrheit aber um die Ausgaben, zu denen
ihre Freigiebigkeit oder ihre Verſchwendung führte, zu controliren.
Freiherr von Krohne traf ein, debütirte mit Geſchick, wußte einen
Hofrath, der ihm in Schwedt als Hauptträger des Verſchwendungs-
Syſtems bezeichnet worden war, glücklich zu entfernen und ſtand
bereits auf dem Punkt, ſich als erſter Miniſter und Plenipotentiair
am Hofe zu Coepenick zu etabliren, als die beiden alten Günſt-
linge der Prinzeſſin, die bis dahin auf gegneriſchem Fuße geſtanden
und einander die Waage gehalten hatten, ſich zum Untergang des
Eindringlings verſchworen. Kammerherr von Wangenheim und
Hofprediger St. Aubin*) ſchloſſen Frieden, entlarvten den immer
mächtiger werdenden Freiherrn als eine Kreatur des Schwedter
Hofes und ſtürzten ihn auf der Stelle. Kammerherr von Wan-
genheim, von dem eigends hervorgehoben wird, daß er ein ſehr
ſtarker Mann geweſen ſei, übernahm zu größerer Sicherheit die
Executive ſeiner eigenen Maßregeln und ſchaffte den geſtürzten
[357] Nebenbuhler bis vor das Portal des Schloſſes. So lebte man
damals in Schloß Coepenick. Klein und bedeutungslos vergingen
die Tage, die ſelbſt in der Ausſtattung und Einrichtung des
Schloſſes nichts geändert zu haben ſcheinen. Wie konnten ſie auch!
Der prinzeßliche Hof zu Coepenick war ein bloßes Filial des mark-
gräflichen Hofes zu Schwedt, der doch ſeinerſeits auch nur wieder
ein Filial, eine bedeutungsloſe Abzweigung des wirklichen Hofes
war, wie er zu Berlin oder Potsdam exiſtirte.
Das dreißigjährige Leben einer Prinzeſſin in Schloß Coepe-
nick hat keine Spur daſelbſt zurückgelaſſen, aber was ihr Leben
nicht vermochte, das hat ihr Tod gekonnt. Henriette Marie
ſtarb in Schloß Coepenick und iſt in der Schloßkapelle, einem
äußerlich unſcheinbaren Gebäude, das dem Schloſſe ſelbſt gegenüber
liegt, begraben worden. In der jedem Beſucher zugänglichen Gruft
der Kapelle ſteht ein ſchwerer Eichenſarg, der auf ſeinem oberſten
Brett ein vergilbtes ſeidenes Kiſſen und auf dem Kiſſen eine Krone
von dünnem, verbogenen Goldblech trägt. Hebt man den Deckel
ab, ſo erblickt man die in ihrem achtzigſten Jahre verſtorbene Prin-
zeſſin als Mumie. Sie iſt wohlerhalten, aber viel aufgetrockneter
als z. B. die Mumien in der Kirche zu Buch (in Nieder Barnim).
Tüllhaube und Seidenband legen ſich noch um Stirn und
Kinn und das ſchwere gelbe Brokatkleid zeigt noch ſeine Falten
und raſchelt und kniſtert, als wäre es geſtern gemacht. Wir ſchlie-
ßen den Deckel wieder und ſteigen hinauf in die Kapelle. Eine
hohe, reich verzierte Decke wölbt ſich über uns und macht den
Eindruck des Freundlichen ohne den des Feierlichen vermiſſen zu
laſſen; links vom Altar aber, in einen Fenſterpfeiler eingelaſſen,
erblicken wir eine prächtige Tafel von polirtem ſchwarzem Marmor,
auf der wir in Goldbuchſtaben die Worte leſen: „Dieſe Gruft
umſchließt die verweslichen Ueberreſte der durchlauchtigſten Fürſtin
und Frau, Henriette Marie, geborene Prinzeſſin von Preußen
und Brandenburg, vermählte Erbprinzeſſin und Herzogin von Wür-
temberg und Teck. Sie war geboren den 11. März 1702, ver-
mählt den 8. December 1716 mit dem Erbprinzen Friedrich
[358] Ludwig von Würtemberg, ward Wittwe den 23. November 1731,
entſchlief in dem Herrn den 7. Mai 1782. Dieſes Denkmal ſetzet
ihr ihre einzige Tochter Louiſe Friederike, Herzogin von Mek-
lenburg-Schwerin, geborene Herzogin von Würtemberg und Teck.“
Schwerlich ahnte die Tochter, als ſie in gebotener Pietät die-
ſes Denkmal aufrichten ließ, daß nach ſo kurzer Zeit ſchon dieſe
Marmortafel das einzige Zeichen ſein würde, das wenigſtens die
Stelle angiebt, wo ihre Mutter gelebt.
(Die Zeit des Grafen Schmettau von 1804—1806.)
Nach dem Tode Henriette Marie’s wurde Schloß Coepenick völlig
vernachläſſigt und endlich im Jahre 1804 an den Grafen von
Schmettau (Friedrich Wilhelm Carl) verkauft. Dieſer Graf
Schmettau, ein beſonderer Liebling Friedrich’s II., iſt derſelbe,
der von Seiten des großen Königs zum Adjutanten ſeines jüngſten
Bruders, des Prinzen Ferdinand von Preußen, ernannt wurde
und in dieſer intimen Stellung zu einer Fülle pikanter Anekdoten
und on dit’s Veranlaſſung gab, an denen das preußiſche Hofleben
jener Zeit ſo reich war. Zu unterſuchen, wie viel Wahrheit oder
überhaupt ob irgendwelche Wahrheit dieſen anekdotiſchen Ueber-
lieferungen zu Grunde liegt, liegt jenſeits unſerer Aufgabe; wir
begnügen uns damit, das zu conſtatiren, worüber Freunde und
Feinde des Grafen (wenn er Feinde hatte) zu jeder Zeit einig
waren, ſeine Gelehrſamkeit und ſeine weltmänniſche Bildung, ſeine
militäriſchen Kenntniſſe und ſeine Tapferkeit. Als der Krieg mit
Frankreich mehr und mehr unvermeidlich zu werden drohte, gehörte
er zu denen, denen Armee und Volk das meiſte Vertrauen ent-
gegentrugen. Beim Ausbruch der Feindſeligkeiten führte er als
Generallieutenant ſeine Diviſion nach Thüringen und trat unter
den Oberbefehl des Herzogs von Braunſchweig. Beide theilten we-
nige Tage ſpäter daſſelbe Schickſal.
Bei unſerem heutigen Beſuche in Schloß Coepenick indeß
lernen wir den Grafen Schmettau weder als Cavalier und
Weltmann, noch als Kriegsmann und Heerführer kennen; ſinnig,
ein heitrer Philoſoph, ein Freund der Wiſſenſchaft und aller
[359] Künſte des Friedens, ſo tritt er an uns heran. Nur zwei kurze
Jahre waren ihm an dieſer Stelle gegönnt, aber ſie genügten ihm,
um überall eine Spur ſeines Wirkens, den charakteriſtiſchen Stem-
pel ſeines Geiſtes zurückzulaſſen. Wir übergehen kleinere Dinge,
Urnen und Inſchriften, die ſich in den ſchattigen Gängen des Par-
kes vorfinden und treten im erſten Stock des Schloſſes, nachdem
wir eine Reihe von Gemächern und Corridoren paſſirt haben, an
ein nach Süd-Oſten hin gelegenes Eckzimmer, deſſen eines Fenſter
auf den Park, das andere auf die wendiſche Spree herniederblickt.
Eine Doppelthür bildet den Eingang. Es iſt nicht leicht möglich,
beim Durchſtöbern alter Schlöſſer einem überraſchenderen Anblick
zu begegnen, als ihn dieſes Zimmer bietet. Der ganze Raum iſt
zeltartig mit weißer und gelber Gaze ausgeſchlagen und zwar ſo,
daß die obere Gaze-Drapirung die Decke in zwei gleiche Hälften
theilt. An jeder der beiden Stellen, wo die Gaze wie zu einer Art
Betthimmel zuſammengefaltet iſt, befindet ſich ein Deckengemälde
allegoriſchen Inhalts. Auf dem erſten, mehr dem Fenſter zu gele-
genen Bilde bringt Mercur der Minerva eine Pergamentrolle,
auf der der Name Roßbach ſteht; Minerva ihrerſeits hält einen
Lorbeerkranz in der Rechten, bereit ihn gegen die Siegesbotſchaft
auszutauſchen. Das zweite Bild, ungleich beſſer in Compoſition
und Farbe als das erſte, ſtellt eine Apotheoſe des großen Königs
dar. Auf einer Felſenburg zur Linken ſtehen Bewaffnete und
blicken einer Anzahl davon eilender Genien nach, die das gold-
umrahmte Bildniß Friedrichs in ihrer Mitte tragen und mit ihrer
Laſt dem Tempel des Ruhmes zuſchweben. Zur Rechten ragt der
Tempel ſelber auf, an deſſen Stufen die hohe Göttin ſteht, be-
reit, das Bildniß des Königs mit ihrem Sternen-Diadem zu
krönen. Von Mobiliar keine Spur in dieſen vier Wänden. Seit
Schmettau vor mehr als 50 Jahren dieſe Zimmer verließ, ſind
ſie unbewohnt geblieben und dieſe Dekoration von Gaze und
Spinnweb, dieſes Durcheinander von Farbenfriſche und blinden
Fenſterſcheiben, von Apotheoſe und Staub, macht eine Wirkung,
der ſich wenige Beſucher werden entziehen können. Höchſtes und
[360] Niedrigſtes, das Ewigſte und Hinfälligſte, durch die Wunderhand
von Zeit und Zufall hier zuſammengeſtellt. Alles Mobiliar fehlt,
aber ein eigenthümlicher Zimmerſchmuck iſt dennoch dieſen Mull-
und Gazewänden geblieben. Die ganze hintere Hälfte des Zimmers
iſt mit großen Schlachtplänen dekorirt, die wohl ziemlich un-
zweifelhaft von der Hand des Grafen ſelbſt herrühren dürften.
Graf Schmettau geſellte nämlich zu ſeinen übrigen Gaben und
Talenten auch die eines glänzenden Topographen und Karten-
zeichners und die berühmte General-Karte des preußiſchen Staats,
die bis dieſen Augenblick in dem Kartenſaal des Kriegsmini-
ſteriums aufbewahrt wird, bewahrt gleichzeitig den Namen
Schmettau’s in ehrendem Andenken. Die Aufſchrift dieſer
General-Karte, die auch ſchlechtweg den Namen der Schmettau’
ſchen Karte führt, lautet, wie folgt: „Tableau aller durch
den Königlich Preußiſchen Oberſten Grafen von Schmettau
von 1767 bis 1787 aufgenommenen und zuſammengetragenen
Länder.“ Dieſelbe geſchickte Hand, die dieſes berühmte „Tableau“
zuſammentrug, hat ſehr wahrſcheinlich auch die ſieben Schlacht-
pläne gezeichnet, denen wir in dieſem abgelegenſten und ungekann-
teſten Zimmer des Coepnicker Schloſſes begegnen. Nur die Sie-
gesſchlachten des großen Königs haben hier Aufnahme gefunden
und die Inſchriften der verſchiedenen Blätter lauten wie folgt:
Bataille und Belagerung von Prag; Schlacht bei Roßbach; Ba-
taille bei Lowoſitz; Schlacht bei Zorndorf; Schlacht bei Liegnitz;
Schlacht bei Torgau und Schlacht bei Leuthen. Die einzelnen
Tableaux ſind von verſchiedener Größe (namentlich die Bataille
und Belagerung von Prag ſehr ausgeführt und größer als die
übrigen), aber alle verrathen dieſelbe Meiſterhand und tragen
ſämmtlich, ſtatt der üblichen Holzeinfaſſung einen künſtlichen Lor-
beerkranz als Umrahmung.
Wie billig drängt ſich dem Beſucher Schloß Coepenicks die
Frage auf: was war die Bedeutung dieſes Zimmers? Die Ant-
wort iſt nicht ſchwer; es war die Stätte eines loyalen Cultus,
ein Andachtsplatz, an den ſich, in Zeitläuften, die jedes andere
[361] Gepräge eher als das des großen Königs trugen, die ſchwärmeri-
ſche Verehrung für den Hingeſchiedenen zurückzog, um einer großen
Zeit zu gedenken, die nicht mehr war. Wir billigen dieſen
Cultus nicht, denn es ſteht geſchrieben: „Du ſollſt keine andern
Götter haben neben mir“, aber wir begreifen ihn.
In dieſem Zimmer ſicherlich war es, wo Graf Schmettau
die letzten Augenblicke zubrachte, bevor ihn die Ereigniſſe des Jah-
res 1806 aus der Stille von Schloß Coepenick wieder in den
Lärm des Krieges riefen. Und was er an dieſer Stelle gelobt
hatte, das hielt er. Am Unglückstage von Auerſtädt (unglücklich
nicht durch ſeine Schuld) erſtürmte er, an der Spitze ſeiner Ba-
taillone, die Höhen von Haſſenhauſen, die der Feind unter’m
Schutz eines herbſtlichen Morgennebels ſchon vor ihm beſetzt hatte.
Zweimal nahm er ſie und zweimal war er gezwungen, ſie wieder
aufzugeben. Als er ſich zum dritten Angriff anſchickte, um den
entſcheidenden Stoß zu thun und die mehr und mehr in Unord-
nung gerathenden Franzoſen in das Saalthal hinabzudrängen,
traf ihn eine Kartätſchenkugel und warf ihn tödtlich verwundet
vom Pferde. Vier Tage nach der Schlacht verſchied er, am
18. Oktober 1806. So ſtarb Friedrich Wilhelm Karl Graf
von Schmettau; nicht an Glück, aber an kriegeriſchen Tugen-
den, ſo wie an jeglichen Gaben des Herzens und Verſtandes jenen
Schmettau’s gleich, die unter Eugen und Marlborough
zuerſt die Schlachtfelder Europa’s betraten und unter dem großen
König ſiegreich kämpfend, den Ruhm ihrer Familie begründeten.
Schloß Coepenick war wieder verwaiſt. Die Krone kaufte im
Jahre 1811 den Beſitz zurück, aber Zimmer und Treppen blieben
öde. Das Laub an Ulmen und Ahornplatanen kam und ging,
ohne daß die Gänge und Grasplätze des Parks ein anderes Leben
geſehen hätten, als die laute Heiterkeit der Schuljugend, die hier
ein prächtiges, Geſtrüpp-durchwachſenes Terrain fand für ihre
Spiele, für „Hirſch und Jäger“ und „Wanderer und Stadtſoldat.“
[362]
Jahrzehnte vergingen, da zog wieder Leben ein in Schloß
Coepenick, aber welch ein Leben! Die Fenſter, die nach dem Waſſer
hinaus lagen, wurden mit Holz bekleidet, und nur ein ſchmaler
Streifen blieb offen, der dem Lichtſtrahl von oben her einen Ein-
gang geſtattete. Geſchloſſene Wagen rollten über die Brücke, Alles
war in Dunkel und Geheimniß gehüllt, „es ging ein finſtrer Geiſt
durch dieſes Haus.“ Die hohen Schwarzpappeln, die alten Wächter
am Portal, ſtanden unheimlicher da denn je zuvor und in den
Gängen des Parks klang das Rufen und Lachen nicht mehr, das
die Knabenſpiele früherer Jahre ſo laut und herzlich begleitet hatte.
Hunderte hatten Platz gefunden hinter den Gitterfenſtern, die doch
keine Fenſter mehr waren, aber nichts unterbrach die Stille und
Oede des Orts; wie das Licht, ſo ſchien auch der Klang von
ſeinen Mauern ausgeſchloſſen zu ſein. Das war in den 20er Jah-
ren dieſes Jahrhunderts; eine trübe Zeit. Uebermuth hatte gefehlt,
und Mangel an Muth hatte zu Gericht geſeſſen; waghalſige Schwär-
merei, mißleitete Begeiſterung, büßten hart für den eitlen Irrthum
einer Stunde. *)
Und wieder andre Zeiten kamen. Wie einen ſchweren Traum
ſchüttelte Schloß Coepenick ſeine jüngſte Vergangenheit ab. Die
Fenſter blitzten wieder, wenn die Morgenſonne darauf fiel, das
Geſtrüpp verſchwand, das den Park zu einer halben Wildniß ge-
macht hatte, und auf dem Platz, der zwiſchen Schloß und Schloß-
kapelle liegt, entſtand ein Garten; — Blumen blühten wieder
in Schloß Coepenick. Heitere Jugend hielt ihren Einzug in die
Säle und Corridore, aber ſie kam nicht, um für Eitelkeit und
Uebermuth zu büßen (wenn auch zu ſtreng), ſie kam, um in
Demuth und Beſcheidenheit zu lernen. Und dieſe Jugend weilt
noch darin. Allabendlich, wenn um die Dämmerſtunde die Orgel
zu Geſang und Andacht ruft, und Lehrer und Schüler ſich im
alten Wappenſaal des Schloſſes verſammeln, iſt es, als würde der
[363] alte Spuk aufgejagt, der einſtens hier zu Hauſe war, und huſchte
wieder ängſtlich hin und her; aber die leiſen Klageworte des Kur-
prinzen, der hier Schutz und Zuflucht ſuchte, das Kriegsgerichts-
urtheil, das hier geſprochen wurde, die Seufzer derer, die hier
nach Licht und Freiheit bangten, Alles verklingt zuletzt wie eine
leiſe Diſſonanz in dem vollen Brauſen des Orgelchors, der eben
jetzt das große Vertrauenslied in die ewigen Rathſchlüſſe des Him-
mels anſtimmt, das Kraft- und Troſteslied: Ein’ feſte Burg
iſt unſer Gott.
[[364]]
Die Müggelsberge.
träumt,
Nur je zuweilen kniſtert’s in den Föhren,
Die Nadel fällt, — es ruht der Wald.
Scherenberg.’
Inmitten des quadratmeilengroßen Wald- und Inſeldreiecks, das
Spree und Dahme kurz vor ihrer Vereinigung bei Schloß Coepe-
nick bilden, ſteigen die höchſten Berge unſerer Mark, die „Müg-
gelsberge,“ unvermuthet und unvermittelt aus dem Flachland auf.
Sie liegen da wie der todte Rumpf eines fabelhaften Waſſerthieres,
das hier in ſumpfiger Tiefe zurückblieb, als ſich die großen Flu-
then der Vorzeit verliefen.
Die Müggelsberge ſind alter hiſtoriſcher Grund und Boden.
Sie ſtanden da, als das „hohe Schloß“ des Landes, lange be-
vor die erſten Wendenfürſten in dieſe Gegenden kamen, lange be-
vor Burg Brennibor ſich an der Havel erhob. In vorſlawiſcher
Zeit, in Zeiten, die nicht Burg, nicht Veſte kannten, waren ſie die
naturgebaute, waſſerumgürtete Reſidenz, deren höchſte Punkte die
Häuptlinge altgermaniſchen Stammes bewohnten; — der Sumpf
ihr Schutz, der Wald ihr Haus.
Carl Blechen, unſer Märkiſcher Landsmann und „der Vater
Deutſcher Landſchaftsmalerei“, wie er gelegentlich genannt worden
iſt, hat in einem ſeiner bedeutendſten Bilder die Müggelsberge zu
malen verſucht. Sein Verſuch iſt glänzend geglückt. In feinem
[365] Sinn für das Charakteriſtiſche, das er in bloßer Wiedergabe des
Alleräußerlichſten, in Darſtellung halb knorriger, halb ſchlank ma-
jeſtätiſcher Fichtenſtämme nicht finden konnte, ſchuf er die Land-
ſchaft zu einem hiſtoriſchen Bilde um. Was ihm dabei dienen
mußte, war kein Zufälliges, kein Willkürliches; er wählte das,
was ſeiner Phantaſie als das einzig Richtige erſchien und griff in
die alten Traditionen der Müggelsberge zurück. Die höchſte Kuppe
iſt ein Semnonen-Lager. Schilde und Speere ſind zuſammenge-
ſtellt; ein Feuer flackert auf, und unter den hohen Fichtenſtämmen,
angeglüht von dem Dunkelroth der Flamme, lagern die alten Ur-
bewohner des Landes mit einem wunderbar gelungenen Miſchaus-
druck von Wildheit und Behagen. Wer die Müggelsberge geſehen
hat, wird das richtige Empfinden unſeres genialen Malers bewun-
dern — er gab dieſer Landſchaft die Staffage, die ihr einzig ge-
bührt. Ein Reifrock und ein Abbé in die verſchnittenen Gänge
eines Roccoco-Schloſſes; eine Proceſſion in das Portal einer go-
thiſchen Kirche, — aber ein Semnonen-Lager in das Waldrevier
der Müggelsberge.
Ihnen gilt jetzt unſer Beſuch. Wir kommen von Schloß
Coepenick, haben Stadt und Vorſtadt glücklich paſſirt und ſchreiten
nunmehr dem Tannenholze zu, das bis über die Müggelsberge
hinaus das ganze Terrain bedeckt. Es iſt eine Haide wie andere
mehr; der Fahrweg mit tiefgefurchtem Geleiſe zieht ſich wie ein
braunes Band neben uns her, Moos und Fichtennadeln haben
dem Fußpfad eine elaſtiſche Weiche gegeben und nur die Baum-
wurzeln, die in grotesken Geſtalten überall hervorlugen und uns
wie böswillige Gnomen ein Bein zu ſtellen ſuchen, mahnen zur
Vorſicht. Eine rechte Herbſtesfriſche weht durch den Wald. Der
herbe Duft des Eichenlaubes miſcht ſich mit dem Harzgeruch der
Tannen und wie ſtille Waldmuſik umklingt es uns, wenn die
Eichkätzchen von einem Baum zum andern ſpringen und die Zweige
mit leiſem Knick zerbrechen. Dann und wann klappert es, vom
Fahrweg her, durch Baum und Buſch zu uns herüber, mit jenem
unverkennbaren Raſſel- und Klinkerton, der einem Märkiſchen
[366] Bauerwagen eigenthümlich iſt. Die Halskette der beiden magern
Braunen raſſelt am Deichſelhaken; die Sproſſen klappern in den
Leiterbäumen, die Leiterbäume klappern an den vier Wagenrungen
und gegen die Wagenrungen ſchrammt das Rad. Dazwiſchen das
Hüh! und Hoh! des Kutſchers, lange Röcke und kurze Pfeifen,
Schwamm anpinken und Tabacksdampf — und das Begegnungs-
bild iſt fertig, wie es die Märkiſche Haide zu bieten pflegt. Schon
mehrere ſolcher Fuhrwerke haben wir paſſirt und die Inſaſſen ha-
ben jedesmal unſern Gruß erwiedert in trägen, unverſtändlichen
Lauten, wie einer, der aus dem Schlafe ſpricht. Jetzt aber ver-
laſſen wir die große Fahrſtraße, die ſich unmittelbar an der Süd-
weſtecke des hinter Tannen verſteckten Müggelſees entlang zieht,
und biegen, nach rechts hin, in ſchmalere Pfade und Gänge ein,
die, kaum bemerkbar hergan ſteigend, uns tiefer in die weiten
Waldreviere hineinführen, die den Fuß der Müggelsberge umſte-
hen. Bald iſt völlige Waldesſtille um uns her; wir haben in un-
ſeren Gedanken von Menſchen und Menſchenantlitz Abſchied ge-
nommen und fahren drum erſchreckt zuſammen, als wir plötzlich
vor drei alten Frauengeſtalten ſtehen, die, mit halbem Auge von
ihrer Arbeit zu uns aufblickend, langſam-geſchäftig fortfahren, das
abgefallene Laub zuſammen zu harken. Die grauen, weit von ein-
ander geſtellten Elſen, unter denen ſie auf- und abſchreiten, ſehen
aus, wie die Frauen ſelbſt, und ein banges, geſpenſtiſches Gefühl
kommt über uns, als wäre kein Unterſchied zwiſchen den beiden,
als raſteten die einen nur, um über kurz oder lang vorzutreten
und die andern bei ihrer Arbeit abzulöſen. Wir fragen endlich,
„ob dies der Weg ſei nach den Müggelsbergen“, und ohne
Antwort zu geben, deuten die Frauen mit gemeinſchaftlicher Hand-
bewegung waldeinwärts. Wir ſtutzen einen Augenblick, als wären
es die wohlbekannten Drei von der Schottiſchen Haide, deren
Wink oder Zuruf nur in die Irre führen kann; aber uns ſchnell
erinnernd, daß die Thürme Berlins nur zwei Meilen in unſerem
Rücken liegen, folgen wir unter raſchem Dank und ſcheuem Kopf-
nicken der Richtung, die uns die Handbewegung der Harkefrauen
[367] angegeben. Noch hundert Schritte, und es lichtet ſich der Wald:
ein Sumpf- und Wieſenplan liegt vor uns, deſſen Anblick uns
an die Stelle bannt, an der wir ſtehen. Tannen und Eichen um-
zirken einen Platz, in deſſen Mitte, halb Teich, halb See, ein
tiefſtilles Waſſer ruht, während im Hintergrunde eine Bergwand
ſteil aufſteigt, in deren ſonnenbeſchienenem Tannengrün das Gelb
der Birken in hundert Schattirungen ſchimmert.
Der See unmittelbar vor uns heißt der „Teufelsſee.“ Er
hat den unheimlichen Charakter aller jener ſtillen Waſſer, die ſich
an Bergabhängen ablagern und ein Stück Moorland als Unter-
grund haben. Die Oberfläche iſt kaum gekräuſelt, das Waſſer
leuchtend-ſchwarz, große braunrothe Nymphäenblätter ziehen ihren
Kreis am Ufer entlang und hellgrünes, verwaſchenes Sternmoos
überzieht den breiten Sumpfgürtel, der den Zugang zum See zu
verwehren ſcheint. Er will ungeſtört ſein in ſeiner Stille und
nichts aufnehmen, als das Schattenbild, das die dunkle Wand
der Müggelsberge auf ſeinen Spiegel wirft. Der Teufelsſee hat
auch ſeine Sage, von einem untergegangenen Schloß und einer
Prinzeſſin, die in der Johannisnacht aufſteigt, an’s Ufer kommt
und die gelben Teichroſen des See’s an den Saum ihres ſchwar-
zen Kleides ſteckt. Die Kuhjungen aus Müggelsheim, die hier
herum ihre Heerden durch Wald und Sumpf treiben, haben das
Alles mehr denn einmal geſehen und das Rauſchen ihres Seiden-
kleides gehört; wir aber, die wir die Johannisnacht verſäumt ha-
ben und erſt um die Mitte Oktober in dieſe Gegenden kommen,
müſſen froh ſein, den drei harkenden Frauen begegnet zu ſein, die
ſo trefflich zur Herbſtlandſchaft ſtimmten und ſpukhaft genug wald-
einwärts zeigten.
Hinter dem Teufelsſee erheben ſich die Müggelsberge, eine
ſteile Wand. Wir verſchmähen den bequemen Weg, der ſich hin-
aufſchlängelt, und nehmen den Berg auf geradeſtem Wege, wie im
Sturm. Oft zurückgleitend, wo die abgefallenen Kiennadeln am
dichteſten liegen, und im Zurückgleiten eine junge Tanne faſſend,
um wieder Halt zu gewinnen, ſo dringen wir muthig vor, jede
[368] Stelle preiſend, wo raſchelndes Eichenlaub ſtatt der glatten Nadeln
zu unſern Füßen liegt. Endlich ſind wir durch; das Erdreich wird
feuchter, Treppeneinſchnitte und Raſenbänke geben Raſt und feſten
Halt, und endlich eine dichte Tannenhecke durchbrechend, die am
Rücken des Berges entlang läuft, haben wir das Ziel unſerer
Wanderſchaft erreicht — die Kuppen der Müggelsberge ſind um
uns her.
Dieſe Müggelsberge ſind ein höchſt eigenthümliches Stück
Natur, ganz abweichend von den Bergformationen, denen wir ſonſt
wohl in unſerem Sand- und Flachlande begegnen. Unſere Märki-
ſchen Berge (wenn man uns dieſe ſtolze Bezeichnung geſtatten
will) ſind entweder Plateau-Abhänge oder einfache Kegel. Nicht
ſo die Müggelsberge; ſie ſind wie das Modell eines Gebirges, als
habe die Natur in müſſiger Stunde, in heiterer Laune verſuchen
wollen, ob nicht auch eine Urgebirgsform aus Märkiſchem Sande
herzuſtellen ſei. Alles en miniature, aber nichts iſt vergeſſen.
Ein Stock des Gebirges, ein langgeſtreckter Grat, Ausläufer,
Schluchten, Kuppen und Kulme, Alles iſt da — das Ganze wie
eine Reliefkarte im großen Styl vor die Thore Berlins gelegt, um
die flachländiſche Reſidenzjugend hinausführen und über Gebirgs-
Formationen ad oculos demonſtriren zu können.
Wir haben den Grat des Berges ohngefähr in ſeiner Mitte
erreicht, wo er mehr eine leiſe muldenartige Vertiefung als eine
Erhöhung zeigt. Die Kuppen, die den Bergrücken überragen und
deren wohl ein halbes Dutzend vorhanden ſind, befinden ſich an
den vorgeſchobenſten Punkten, ſo daß der ganze Berg einem lang-
geſtreckten, alten Schloßbau gleicht, der hohe Erker und Altane an
ſeinen mannichfach vorſpringenden Fronten, vor Allem aber zwei
abgeſtutzte Eckthürme an ſeinen zwei Giebelſeiten trägt. Die Weſt-
und Oſtkuppe der Müggelsberge ſind die höchſten und geſtatten
die weiteſte Ausſicht in’s Land hinein, beſonders die Weſtkuppe.
Ueber den Rücken des Berges hin ſchreiten wir ihr zu. Der Weg
führt durch dichtes Gehölz, das wie ein grüner Wandſchirm daſteht
und nach keiner Seite hin einen Durchblick geſtattet. Die Bäume
[369] ſelbſt ſind jung, und nur alle funfzig Schritte begegnen wir eini-
gen halberſtorbenen Eichenbäumen, von denen es ſchwer zu ſagen
iſt, was ſie vor der Axt des Holzſchlägers gerettet haben mag, ihr
hohes Alter, ihre maleriſche Schönheit, oder eine abergläubiſch-
pietätsvolle Rückſicht gegen das Geſchlecht der Spechte, die darin
wohnen und auf den Kuppen der Müggelsberge in ähnlicher Weiſe
heimiſch ſind, wie die Raben und Dohlen auf den Kirchthürmen
alter Städte. Sie zimmern ſich mit geſchäftigem Schnabel ihre
ſoliden Neſter in das harte Holz der Eichen hinein und machen,
vielleicht aus Geſelligkeitstrieb, jeden einzelnen Stamm zu einer
Art Familienhaus. Oft fünfzig Neſter in einem Baum. Ueberall
huſcht es heraus und hinein, pickt und kreiſcht, und im Vorüber-
gehen grüßen wir ein paar alte Spechte, die aus den Löchern her-
vorlugen, neugierig, zu erfahren, ob Freund oder Feind im An-
zuge ſei.
So erreichen wir nach kurzem Gange die Weſtkuppe, ein
kahles, kreisrundes Plateau, das wie eine Warte in’s Land hinaus
ſieht. In der Mitte liegen verkohlte Scheite von einem Feuer, das
erſt geſtern gebrannt zu haben ſcheint; ſonſt Alles Sand und
Kiennadeln und dicht am Abhange eine einzige Diſtel. Die Tannen
und Fichten, die eben noch als dichtes Gebüſch zu beiden Seiten
des Weges ſtanden, den wir paſſirten, — hier haben ſie ſich, an
den Abhang des Berges, nach unten zu zurückgezogen und ragen
nur mit ihren Gipfeln noch handhoch über das Plateau hinweg.
Wie ein Rieſenkranz von dunklen Nadeln bewegt ſich’s um uns
her; nur eine einzige Fichte, ein ſchlanker, hellrother Stamm, der
ſtolz wie eine Pinie daſteht, ragt wie ein Flaggenſtock hoch auf und
ſtreckt ſeine grüne Krone wie ein Wahrzeichen weit in’s Land
hinein.
Wir lehnen uns an den ſchlanken Stamm des ſchönen Bau-
mes und blicken, nach Weſten zu, in die Bilder modernen Lebens
und lachender Gegenwart hinein. Die Sand- und Sumpfwüſte
früherer Jahrhunderte wurde hier längſt zu einem Park- und
24
[370] Gartenlande umgeſchaffen, und Dörfer und Städte, überall einge-
ſtreut in die Landſchaft, wachſen heiter mit ihren rothen Dächern
und Giebeln aus allen Schattirungen des Grün hervor. Die
Thürme der Hauptſtadt leuchten im Schein der untergehenden
Sonne; die graugelbe Wand des Coepenicker Schloſſes ſchimmert
zwiſchen den Pappeln hervor; Fabrikſchornſteine begleiten den Lauf
des Fluſſes, und hoch über den weißen Segeln der Kähne, die
geräuſchlos ſtromabwärts ziehen, ſteht bewegungslos die ſchwarze
Wolke der Schlote und Eſſen. Leben überall, kein Fuß breit Lan-
des, der nicht die Pflege der Menſchenhand verriethe.
Wir haben das heitere Bild in Auge und Seele aufgenom-
men, wenden uns jetzt und blicken nach entgegengeſetzter Seite hin,
in die halb im Dämmer liegende öſtliche Landſchaft hinein.
Welcher Gegenſatz! Die Spree zu unſerer Linken zieht den Müg-
gelſee wie einen breiten Spiegelkryſtall an ihrem ſchmalen, blauen
Bande auf, und der Dahmefluß zu unſerer Rechten buchtet ſich
immer weiter und breiter landeinwärts und ſchafft Inſeln und
Halbinſeln, ſo weit unſer Auge reicht. Auf Quadratmeilen hin
nur Waſſer und Wald. Nichts, was an die Hand der Cultur
erinnert, nicht Dorf, nicht Stadt, nicht Weg, nicht Steg; keine
andere Fahrſtraße ſichtbar, als See und Fluß, die ihr verwirren-
des Netz durch die weiten Waldreviere ziehen. Kein Dach blitzt
durch die Zweige, kein Hüttenrauch ſteigt auf, keine Heerde weidet
an den Sumpfufern entlang, nur eine Fiſchmöve ſchwebt ſatt und
langſam über dem Müggelſee. Sand und Sumpf, Waſſer und
Wald; — es iſt hier, wie es immer war, und während jetzt die
Abendnebel von den Seen her aufſteigen und ihre leiſen Schleier
auch um den Rand der Kuppe legen, auf der wir ſtehen, iſt es,
als ſtiege die alte Zeit mit ihnen aus der Tiefe herauf. Es braut
und quirlt und kommt und ſchwindet, bis endlich das Bild in
klaren Umriſſen neu vor uns ſteht. Die Bäume ſind wieder hoch
aufgeſchoſſen und ragen im Halbkreis in die Luft. An den knorri-
gen Aeſten hängen Schilde, wie Mulden geformt, und lange Speere
aus Eſchenholz ſtehen daneben, in Gruppen zuſammengeſtellt. Die
[371] verkohlten Scheite ſind nicht länger verkohlt, ſie treiben wieder
Flammen; und um die brennenden Scheite herum lagern, ihre
rothbraunen Leiber mit Fellen leicht geſchürzt, die Geſtalten unſers
Malers und Meiſters — die Semnonen.
Wie gebannt haften unſere Augen an dem Bilde, — da
gellt es wie ein gedämpfter Schrei durch die Luft, und unſer
Auge richtet ſich nach oben, von wo der ſeltſame Laut zu kommen
ſchien. Ein Vogel, der über uns in dem Zweigewerk der Fichte
geſeſſen hatte, war aufgeſtiegen, und ſein Geſchrei von Zeit zu
Zeit wiederholend, flog er jetzt dem dichteren Gehölz des Berges
zu. Es war ein Pirol, der nordiſche Wundervogel. Sein gelbes
Gefieder fing die letzten Strahlen der Abendſonne auf; dann ſtieg
er in das Dunkel der Tannen hinab.
Das Nebelbild war hin, die Ausſicht wieder frei, die Scheite
wieder verkohlt; von den Dörfern her aber klang die Betglocke,
die den Abend einläutete.
24*
[[372]]
Der Müggelſee.
So ſtill als ob ſie ſchliefe,
Der Abend ruht wie dunkles Blut
Rings auf der finſtern Tiefe;
Die Binſen im Kreiſe nur leiſe
Flüſtern verſtohlener Weiſe.
Schnezler.’
Die Spree, auf ihrem Unterlauf, ſobald ſie ſich angeſichts der
Müggelsberge befindet, bildet (oder durchfließt) ein weites Waſſer-
becken; — dies Waſſerbecken heißt der Müggelſee, oder die
Müggel. Ob erſt die Spree war und auf ihrem Laufe dieſen
See ſchuf, oder ob beide zu gleicher Zeit geboren wurden und
die Spree nur als bloßer Paſſant, ihren Lauf durch das nahm,
was ſchon da war, muß ich dahingeſtellt ſein laſſen. Genug, die
Müggel iſt einer der größten unter allen märkiſchen Seen und ein
eigner Zauber webt um ihn her. Man kann ſeine Ufer und das
Waldland, das ihn einfaßt, nicht durchwandern, ohne an Sinn und
Herz zu empfinden, daß dies ein Boden iſt, der ſeine Sagen ge-
tragen haben muß.
Wo die Spree in den Müggelſee tritt und wo ſie ihn wieder
verläßt, alſo durch die ganze Länge des See’s (faſt eine Meile)
von einander getrennt, erheben ſich die beiden einzigen Dörfer die-
ſes weiten See-Diſtrikts, Rahnsdorf und Friedrichshagen,
jenes ein altes Dorf, das muthmaßlich bis in die Wendenzeit
zurückreicht, dies eine Colonie aus der Zeit des großen Königs,
[373] der es ſich zur Aufgabe ſtellte, die bis dahin unbewohnten Müggel-
forſten, die große Waldinſel zwiſchen der deutſchen und wendiſchen
Spree, zu coloniſiren.
Rahnsdorf und Friedrichshagen blicken mit ihren ſchmucken
rothen Dächern auf den See hinaus, aber es ſind nicht eigent-
liche See-Dörfer; ſie liegen am Ufer der Spree, nicht am Ufer
der Müggel. Am Müggelſee ſelber, den nichts wie Sandſtreifen
und anſteigende Fichtenwaldungen einfaſſen, erhebt ſich nur ein
einziges Haus: die Müggelbude. Dieſe Müggelbude auf einer
vorſpringenden Sanddüne gelegen, die ſich vom Weſtufer aus wie
eine kurze Landzunge in die Müggel hinein erſtreckt, iſt der geeig-
netſte Punkt, um den See und ſeine Ufer zu überblicken. Den
See in Front, den Wald im Rücken, ſo liegt die Müggelbude da,
Fährhaus und Gaſthaus zugleich und in dunklen Sturm-Nächten
ein Leuchthurm für die geängſtigten Schiffer. Denn die Müggel
iſt ein gefürchtetes Waſſer und im November, wenn die Sturm-
zeit kommt, oder im Frühjahr, wenn das Eis aufgeht, werden
hier Abenteuer beſtanden, die wohl Anſpruch darauf hätten, ihren
Erzähler zu finden. Ein See-Roman in der Mark!
Die Müggelbude, nach der von Coepenick aus ein reizender
Spatziergang durch den Wald führt, *) iſt Leuchthurm, Fiſcher-
wohnung und Fährhaus zugleich, aber vor allem iſt ſie doch
[374]Gaſthaus. Sie iſt es nach jenem Naturgeſetz, das in unwirth-
baren Gegenden aus jedem Hauſe ein Gaſthaus macht. Die oft
angerufene und oft gewährte Hülfe, führt ſchließlich dazu, die
Hülfe zu einem Geſchäft zu machen. So auch die Müggelbude.
Aber es iſt ein wild-verwogenes Geſchlecht, das hier anpocht, um
Unterkommen oder Hülfe zu finden, und der Fährmann, der erfah-
ren haben mag, daß das Unglück nicht nur zu ſeltſamen Schlaf-
kameraden führt, ſondern auch umgekehrt ſeltſame Schlafkameraden
bringt, hat wohlweislich Vorkehrungen getroffen, um ſein Haus
vor ihnen ſicher zu ſtellen. Seine Müggelbude oben auf geborge-
ner Düne, iſt „Gaſthaus erſter Klaſſe“, für die Unbekannten und
Schlecht-Legitimirten aber hat er am Fuß der Düne, auf dem
ſchmalen Streifen zwiſchen See und Berg, eine Art Schiffer-
Ghetto aufgeführt. Hier auf einem Terrain, das ſich See und
Sand beſtändig ſtreitig machen, erheben ſich Holzhütten mit etwas
gewölbtem Dach, die ſich bei näherer Beſichtigung als ausrangirte
Schiffskajüten zu erkennen geben. Durch die halb offen ſtehende
Thür gewinnt man Einblick in das Innere: auf vier hohen Pfo-
ſten ruht ein roh zuſammengenagelter Kaſten, groß genug für
zwei oder drei Schläfer, und mit nichts ausgeſtattet, als mit
etwas niedergelegenem Stroh. Das iſt Alles, was die Gaſtlichkeit
der Müggelbude bietet, und doch muß es hier ein wunderbares
Schlafen ſein, wenn in Winternächten die glitzernden Sterne
durch die halbhandbreiten Ritzen in dies Schlafgemach hineinblicken
und der See, als wolle er ſich warm ſchlagen in der bittern
Kälte, ſeine Wellen bis unter das Bett der Schlafenden ſchickt.
Nur ſchade, die Schiffer, die hier des Weges kommen, ſind wohl
die letzten ſich dieſes Zaubers zu freuen.
Die Müggelbude ſteht hoch; unmittelbar daneben flachen ſich
die Ufer ab und bilden einen kaum 10 Fuß hohen Sandgürtel,
der nach vorn hin, wie eine Mauer ſteil abfallend, den See in
ſeiner ganzen Ausdehnung umzirkt. Auf dieſem Sandgürtel neh-
men wir Platz und eine knorrige Fichte im Rücken, deren vorge-
beugter Schirm ſchon halb über dem Waſſer ſchwebt, ſitzen wir
[375] jetzt auf einer Art Moos- oder Erdbank und blicken auf die
weite Waſſerfläche hinaus, die wie in leiſer Brandung ihre Well-
chen bis unter unſre Füße ſchickt. Der See iſt wie ein Haff und
ſo oft die Wellen zurückrinnen, blinken die weißen Muſcheln, die
der See an’s Ufer geworfen.
Es iſt wie Märchenklang ſo an der Müggel zu ſitzen und
die leiſe Muſik von Wald und Waſſer um ſich her, die Stunden
zu verträumen. Die Sonne neigt ſich zum Untergang und das
Bild, das beim erſten Anblick nur durch ſeine Monotonie auf
uns wirkte, gewinnt mehr und mehr Gewalt über uns und ſpinnt
uns, unter leiſem Schauer in den alten Müggel-Zauber hinein.
Die Kähne mit ihrer weißen Kalkſteinladung, deren aufgeſchichtete
Blöcke das Kajütendach zu einem kleinen Kaſtell machen, ziehen
geräuſchlos vorüber; die rothen Dächer des gegenüberliegenden
Dorfes (Rahnsdorf) glühen noch einmal auf und der See ſelber
wechſelt von Minute zu Minute ſeine Stimmung und ſeine Farbe.
Aber mit halbem Auge nur verfolgen wir die Farbenſpiele; unſer
Auge richtet ſich immer wieder nach rechts hin, wo die Müggel-
berge aufſteigen, die ihre wachſenden Schatten bis weit in den
See hineinwerfen. Ein dünner Nebel ſpielt um den Berg und
wenn es dann und wann aufblitzt, ſo fahren wir zuſammen, als
wüßten wir „nun kommt ſie“ und blicken nach der Prinzeſſin aus,
von der es heißt, daß ſie um die Abendſtunde mit vier goldfarbe-
nen Pferden von den Müggelbergen bis an den Müggelſee hinab-
fährt, um ihre Pferde im See zu tränken. Die Prinzeſſin kommt
freilich nicht und auch der große Heuwagen bleibt aus, der, von
vier weißen Mäuſen gezogen, der Prinzeſſin entgegenfährt, um ihr
den Weg zu ſperren, aber eingewiegt in phantaſtiſches Träumen
könnten alle Wunder der Märchenwelt vor uns ausgeſchüttet wer-
den, wir würden ſie hinnehmen wie ſelbſtverſtändlich, — die
Müggel und ihre Ufer ſind Zauberland.
Noch einmal fährt ein Gluthſtreifen der untergehenden Sonne
wie ein Feuerſchwert über den See; nun iſt die Sonne unter,
beinah plötzlich bricht die Dämmerung herein und bleifarben liegt
[376] die weite Waſſerfläche da. In ſeiner Mitte beginnt es wie ein
Kreiſen, wie ein Quirlen und Tanzen; ſind es Nebel, die auf-
ſteigen? oder ſind es die alten Müggelhexen, die lebendig werden
ſobald das Licht aus der Welt iſt.
Der Fährmann von der Müggelbude hat ſich zu mir geſetzt
und ich dringe jetzt in ihn mich über den See zu fahren, aber
ſtatt jeder Antwort zeigt er nur auf eine grauweiße Säule, die
mit wachſender Haſt auf uns zukommt. Wie zornige Schwäne
fahren die Wellen der Müggel vor ihr her und während ich mei-
nen Arm feſter um die Fichte lege, bricht der Sturm vom See
her in den Wald hinein und jagt mit Geklaff und Gepfeif durch
die Kronen der Bäume hin. Einen Augenblick nur und die Ruhe
iſt wieder da, — aber die Bäume zittern noch nach, und auf dem
See, der den Anfall erſt halb überwunden, jagen und haſchen
ſich noch die Wellen, als flöge ein Zug weißer Möwen dicht über
die Oberfläche hin.
Die Müggel iſt bös; es iſt als wohnten noch die alten
Heiden-Götter darin, deren Bilder und Altäre die leuchtende Hand
des Chriſtenthums von den Müggelbergen herab in den See
warf. Die alten Mächte ſind beſiegt, aber nicht todt, und in der
Dämmerſtunde ſteigen ſie herauf und denken ihre Zeit ſei wieder da.
[[377]]
Das Schildhorn bei Spandau.
Spandau iſt eine der älteſten Städte der Mark und ſeine Lokal-
geſchichte zählt zu den intereſſanteren. Hier an den Ufern der Havel
entſchieden ſich die Kämpfe zwiſchen Chriſten und Wenden, hier
faßte die Reformation zuerſt feſten Fuß in brandenburgiſchen Lan-
den und hier war es, wo der junge Friedrich Wilhelm (der ſpätre
„große Kurfürſt“) nach einer Zeit voll Elend und Erniedrigung,
ſiegreich ſeinen Einzug hielt, in dieſelbe Feſtung, die Auguſt Moritz
v. Rochow vorgab, als kaiſerlicher Oberſt für den Kaiſer und
gegen den Kurfürſten und Landesherrn halten zu müſſen.
Aber dieſe Vorgänge, die theils einen Ruhm der Stadt bil-
den, theils ihr ein hiſtoriſch poetiſches Intereſſe leihen, liegen weit
zurück und ſind erſtorben im Bewußtſein der Gegenwart. Das
Spandau, das wir kennen, an das ſich gewiſſe Schreckensvorſtel-
lungen unſerer Jugend knüpfen, war, bis in die neueſte Zeit hin-
ein, ein höchſt unpoetiſcher Ort. Die Stadt ſelbſt, mit ihren ver-
ſchnittenen Lindenbäumen und gelb getünchten Häuſern, nahm ſich
an und für ſich um kein Haarbreit unfreundlicher aus, als andere
märkiſche Städte, aber die Heiterkeit der Farben konnte an keinem
Ort zur Geltung kommen, den man ſich gewöhnt hatte nur mit
der Nachtſeite menſchlicher Dinge in Verbindung zu bringen.
Feſtungsgräben mit Militairſträflingen, Kaſematten mit politiſchen
[378] Gefangenen, Correctionshäuſer und Strafanſtalten aller Art —
daneben verſchwand das arme Grün der Lindenbäume, und die
Vorſtellung des Unheimlichen ſetzte ſich auf viele Jahre hin feſt.
Zum Ueberfluß ſuchte noch die Reſidenz Berlin die nachbarliche
Schweſterſtadt zum nicht beneidenswerthen Schauplatz für die Voll-
ſtreckung letzter Urtheile zu machen, und was dem Maß der
Schrecken bis dahin gefehlt hatte, war nun erfüllt. Das Haupt
Tſchechs fiel auf der Spandauer Feldmark und die Stadtchronik
jener Epoche iſt mit Blut geſchrieben.
Aber auch dieſes Spandau, das Spandau unſerer Jugend,
hat ſich überlebt und einem neuen Platz gemacht. Der helle Pfiff
der Lokomotive hat die dunkeln Wolken, die über der Stadt hin-
gen, wie mit leuchtendem Schwert vertrieben; die Stille, die
Stagnation, die ſo leicht zum Brütwinkel alles Finſtern und Un-
heimlichen werden, ſind dem Leben und der Bewegung gewichen,
bunte Menſchenſtröme kommen und gehen, und Fabrikgebäude und
Sommerhäuſer haben in lachenden Farben einen heitern Kranz um
den alten Griesgram gezogen. Dampfſchiffe beleben den ſchönen
breiten Strom, und der dunkle Hintergrund, der auch jetzt noch
dem Bilde geblieben, ſchreckt nicht mehr ab, ſondern ſteigert nur
den Reiz.
Weder Spandau ſelbſt indeß noch ſeine Geſchichte haben uns
heut in die alte Havelfeſtung geführt, ſondern lediglich der Wunſch,
einen Ausflug in ſeine nächſte Umgebung zu machen, flußabwärts
jenem maleriſchen Punkte zu, der den Namen „das Schildhorn“
führt. Wir ſchwanken einen Augenblick, ob wir mit Dampf oder
Ruder die Fahrt verſuchen ſollen, und endlich, das Segelboot als
gefälliges Auskunftsmittel wählend, treiben wir jetzt mit Strom
und Wind, zunächſt an Wieſen und Dörfern, dann aber an
prächtigen Waldpartien vorüber, dem Ziel unſerer Reiſe zu. Wie
unverdient iſt der Spott, der unſere märkiſche Landſchaft zu ver-
folgen pflegt, wenigſtens hier! Die breite, blaue Waſſerſtraße theilt
ſich und einigt ſich wieder und ſchafft eine ununterbrochene Kette
von Inſeln und Seen. Die Eilande ſelbſt wechſeln in ihrem
[379] Charakter; neben dem fruchtbaren Grasland des einen, auf dem
die Häuſer und Heerden den Wohlſtand ſeiner Bewohner verrathen,
erheben ſich die Sandberge einer zweiten und dritten Inſel, kahl
an ihren Abhängen, aber tannenbedeckt auf ihrer Höhe. Auf- und
abwärts gleiten die Elb- und Oberkähne, die noch immer den
großen Handel zwiſchen Oſt- und Nordſee vermitteln, und der
Wind, plötzlich die Richtung wechſelnd, klappt das eben noch voll-
gebauſchte Segel mit dumpfem Schlag an den Maſt. Reuſen und
Netze durchziehen die ſchmaleren Arme des Stromes und ſperren
ihn faſt; nur vereinzelte Schwäne (die Havel hat deren tauſende)
gleiten unaufgehalten ihres Wegs. Die rechts gelegenen Ufer ſind
ziemlich unmaleriſch, zur Linken aber auf hohem Plateau, das
bald ſich rundet und buchtet, bald Landzungen weit in den breiten
Strom hinein ſtreckt, erheben ſich die prächtigen Tannen des
Grunewalds und ſpannen ihre dunkelgrünen Schirme aus. Die
Stämme ſind hoch und ſchlank und alles Unterholz fehlt; ſo blickt
man durch den Rahmen der rothbraunen Stämme bis tief in den
Wald hinein und belauſcht das Wild, das, gehegt und gepflegt in
jenen weiten Jagdrevieren, wie in paradieſiſcher Sicherheit den
Forſt durchſchreitet und von den vorſpringenden Kuppen aus neu-
gierig auf den Fluß und ſein Treiben hernieder blickt. Sei es die
Pflege, die dieſem ſchönen Walde zu Theil wird, oder ſei es die
Nähe des Waſſers, das mit feuchter Kühle die Nadeln labt und
leiſe Nebel um ſeine Kronen ſpinnt, gleichviel, die Tannen erſchei-
nen ſchöner und edler hier als irgendwo anders und ſtehen da,
als fühlten ſie ſich als die eingeborenen Herren dieſes Landes.
Das heimathliche Volkslied hat dieſe ſchönen Havelforſten oft ge-
feiert, und wer ſie jemals wandernd durchzogen hat, der ſtimmt
gern mit ein in die alte Weiſe:
[380]
Wir ſind mit voller Gunſt des Windes eine Stunde gefah-
ren und die letzten Werder- und Inſelgruppen liegen hinter uns.
Mit halb eingezogenen Segeln biegen wir eben um eine vorſprin-
gende Waldecke herum in die volle Stromesbreite hinein, als wir
in der Entfernung einer guten Viertelmeile einer Landzunge an-
ſichtig werden, die von der linken Uferſeite her weit in den Fluß
hinein ragt und die Hälfte ſeines Bettes dämmt und abſperrt.
Die Landzunge iſt nicht flach, ſondern ein hoher Sanddamm, ein
Molo, der auf ſeinem Rücken niedrige Tannenbäume, an ſeiner
vorderſten Spitze aber ein grauſchwarzes, wunderliches Bildwerk
trägt, das halb an Telegraphenpfoſten, halb an Fabrikſchornſteine
mahnt und doch durch allerhand Schnörkel und Ornamente keinen
Zweifel darüber läßt, daß es keines von beiden ſei.
Wir haben uns inzwiſchen der Landzunge mehr und mehr
genähert und die Formen nehmen beſtimmtere Geſtalt an. Wir
erkennen deutlich eine Säule, die in der Mitte ihres Schaftes
einen Schild und auf der Höhe des Ganzen ein Kreuz trägt.
Unſer Boot legt an und wir erklimmen den Damm, der nach
vorn hin ziemlich abſchüſſig in den Fluß fällt. Dieſer Vorſprung,
die hohe Sandklippe, auf der wir uns nunmehr befinden, iſt das
Ziel unſerer Reiſe, „das Schildhorn.“ Der Vorgang, der ihm
dieſen Namen gab, iſt der folgende.
Brennibor (Brandenburg) war endlich nach langer Belage-
rung von Albrecht dem Bären erſtürmt und das Wendenthum,
ſeit lange von der Elbe zurückgedrängt, ſchien auch das Havelland
nicht länger halten zu können. Aber Jaczko, der Wendenfürſt, war
wenigſtens gewillt, die alten Sitze ſeiner Väter nicht ohne Schwert-
ſtreich aufzugeben, und noch einmal ſammelte er die Seinen zum
Kampf. Bei Spandau kam es zu einer letzten Schlacht. Jaczko
unterlag, und hinfliehend am rechten Havelufer, von den ſieges-
trunkenen Deutſchen verfolgt, ſah er kein anderes Heil mehr, als
den Fluß und das jenſeitige Ufer. Gegenüber dem jetzigen Schild-
horn, wo die weit vorſpringende Landzunge die Breite der Havel
faſt halbirt, gab er ſeinem Pferd die Sporen und ſetzte in den
[381] Fluß. Aber ſein Pferd war matt und müde vom Kampf, und ehe
es die rettende Landzunge halb erreicht hatte, empfand ſein Reiter
die ſchwindende Kraft des treuen Thiers. Da Angeſichts des To-
des warf das Herz des Wendenfürſten die alten Heidengötter von
ſich, und die Hand, die den Schild hielt, hoch gen Himmel erhe-
bend, rief er den Gott der Chriſten an, ihm zu helfen in ſeiner
Noth. Da war es ihm, als faßte eine Hand den erhobenen Schild
und hielte ihn mit leiſer, aber ſicherer Macht über dem Waſſer;
dem ſinkenden Pferde kehrten die Kräfte zurück und der Vorſprung
war erreicht. Jaczko hielt, was er gelobt, und wurde Chriſt. Sei-
nen Schild aber, den der Finger Gottes berührt, ließ er dem
Ort, wo das Wunder ſich vollzogen hatte. Der Schild des Hei-
den war ihm zum Glaubensſchild geworden.
Dies ſind die Elemente, die man zur Hand hatte, als es
ſich darum handelte, zur Erinnerung an jenen Tag der Bekehrung
und zur Feſtigung und Neubelebung der alten Tradition, auf dem
Schauplatz derſelben, dem Schildhorn, ein Denkmal zu errich-
ten. Man hat bei Ausführung dieſes Planes in nicht gut zu hei-
ßender Weiſe auf den maleriſchen Effekt Verzicht geleiſtet. Es wäre
ausreichend geweſen, auf hoher griechiſcher Säule einen Schild
aufzurichten und dieſen Schild mit einem Kreuz von mäßiger
Größe zu krönen. Das würde ein weithin erkenntliches Bild in
durchaus beſtimmten Umriſſen gegeben und „den Sieg des Kreu-
zes über das Heidenthum“, dieſen ſelbſtverſtändlichen und durchaus
berechtigten Gedanken in aller Klarheit dargeſtellt haben. Archäo-
logiſcher Uebereifer aber glaubte ein Uebriges thun zu müſſen
und hat ſeinen Sieg auf Koſten des guten Geſchmacks gefeiert.
Man hat den Stamm einer alten knorrigen Eiche in Sand-
ſtein nachgebildet und dadurch eine ohnehin ſchwerverſtändliche
Figur geſchaffen; der inmitten des Stammes aufgehängte Schild
aber, der wie eine Scheibe an einem Pfoſten klebt, ſchafft, aus der
Ferne geſehen, vollends eine durchaus unklare und räthſelhafte
Figur. Eben ſo unklar und verworren nimmt das Kreuz ſich aus,
das den Oberbau der Säule krönt. Etwas Apartes iſt gewonnen,
[382] nichts Schönes, das der eigenthümlichen Schönheit der Landſchaft
entſpräche. Möglich, daß jene Apartheit Zweck war; ſie ſichert aller-
dings dieſer Säule einen Eindruck, deſſen ſie vielleicht entbehrte,
wenn ſie ſchöner und mehr im Einklang mit dem Ueblichen wäre.
Der Sagenſchatz der Mark iſt arm; das mag es erklären,
daß ſich unſere heimiſchen Dichter und Künſtler mit Vorliebe der
Behandlung eines Stoffes zugewandt haben, der, wenn auch kei-
neswegs ohne Reiz überhaupt, doch ſchon in ſeiner Entlegenheit
allerhand Schwierigkeiten bietet. Unſere Lokalpoeten ſind denn auch
meiſt an dieſer Schwierigkeit geſcheitert, und die einfache ſchlichte
Ueberlieferung wird der poetiſchen Verſion, deren eigene Zuthat
ſchwach iſt, gemeinhin und mit vollem Rechte vorgezogen.
Eine glücklichere Hand hatten unſere Maler, beſonders Pro-
feſſor von Kloeber, einer der Altmeiſter unſerer Kunſt. Er malte
den Gegenſtand zweimal, als ausgeführte Farbenſkizze und ſpäter
in Lebensgröße. Eins der Bilder befindet ſich im Schloß. Am rechten
Havelufer erblickt man die Gruppe der Kämpfenden; Jaczko ſchwimmt
bereits inmitten der Havel und hat bittend Haupt und Schild
erhoben. Ueber ihm ſchwebt die Geſtalt eines Engels und deutet
auf den aufragenden Vorſprung, der Rettung verſpricht. Die Ar-
beit iſt verdienſtlich, wenn auch nicht eben mehr.
Aber ſind auch Kunſt und Dichtung bisher umſonſt bemüht
geweſen, eine goldene Frucht von dem Baume der alten Tradition
zu brechen, die Sage ſelbſt wird fortleben von Mund zu Mund,
und jeder, der das Schildhorn beſucht und den ſtillen Zauber
auf ſich wirken läßt, den die immer wechſelnden Bilder von Wald
und Fluß, die weißen Segel über dem Waſſer und die „Segler
in den Lüften“ hier leiſe zuſammenſpinnen, der wird, in aufkei-
mendem romantiſchen Bedürfniß, ſich das Weſtufer des Fluſſes
plötzlich mit allerhand Geſtalten beleben und den Wendenfürſten
ſelbſt, den umleuchteten Schild zu ſeinen Häupten, auf dem ge-
kräuſelten Waſſer ſehen. Ein Lächeln wird dem Traumbild folgen,
aber eine dankbare Erinnerung wird ihm bleiben an das märkiſche
Landſchaftsbild, das das Schildhorn vor ihm entrellte.
[[383]]
Klein-Machenow
oder
Machenow auf dem Sande.
Klein-Machenow iſt ein reizend gelegenes Dorf, das ſich an einem
vom Teltefließ gebildeten See entlang zieht. Die Häuſer (aus
Lehm mit Strohdach) ſind ärmlich; ſchöne Kaſtanienalleen aber
wie ſie im Lauf des vorigen Jahrhunderts faſt überall in den
Nachbardörfern Berlins entſtanden, geben dem Ganzen ein ſehr
maleriſches Anſehn.
Das Dorf iſt alter Beſitz der v. Hakes. Dieſe Familie, die
3 Gemshörner (Haken) im Wappen führt, war früher wie im
Havellande ſo auch im Teltow reich begütert, beſitzt aber, in
letztrem Kreiſe, nach Einbuße von Genshagen und Heinersdorf,
nur noch Klein-Machenow und das Patronat über das angren-
zende Stansdorf. — Am Nordufer des ſchon genannten See’s
erhebt ſich der Seeberg, von deſſen weſtlichem Abhang aus man
einen koſtbaren Blick ins Land hat, die Thürme von Potsdam
am Horizont.
Bevor wir uns im Dorfe ſelbſt und zumal in ſeiner alten
[384] Kirche umſehn, ſei noch ein orientirendes Vorwort geſtattet, über
die Hake’s und Hacke’s. Hinſichtlich dieſer beiden Familien
herrſcht nämlich, was die Rechtſchreibung ihrer Namen angeht,
eine große Verwirrung, die ſchließlich zu Verwechſelungen aller
Art geführt hat. Erſt neuerdings ſcheint man ſich dahin geeinigt
zu haben, nicht abwechſelnd und nach Laune Hake, Haake, Haacke,
Hacke ꝛc. zu ſchreiben, ſondern im Einklang damit, daß es zwei
beſtimmt geſchiedene Familien giebt, auch zwei beſtimmt geſchiedene
Namen anzunehmen: die Hake’s und die Hacke’s.
Die Hacke’s ſind, aller Wahrſcheinlichkeit nach, aus Franken
und zwar in verhältnißmäßig ſpäter Zeit in die Mark gekommen.
Ihnen gehört vor allem Hans Chriſtoph Friedrich v. Hacke, ge-
nannt der „lange Hacke“ der bekannte Liebling Friedrich Wil-
helms I. an. Er war Oberſt und Generaladjutant des Königs
und derſelbe, an den ſich der bereits ſterbende Monarch, als er
die Stallknechte unten auf dem Hof eine falſche Schabracke aufle-
gen ſah, mit der bekannten Aufforderung wandte: „Gehen Sie
doch hinunter Hacke und prügeln Sie die Schurken.“
Dieſer Oberſt v. Hacke wurde par ordre des Königs, allen
Einwendungen des künftigen Schwiegervaters ungeachtet, mit des
Miniſters v. Creutz Erb-Tochter im Jahre 1732 vermählt und
1740 durch Friedrich den Großen in den Grafenſtand erhoben.
Durch ſeine Frau in den Beſitz eines bedeutenden Vermögens und
großer Gütercomplexe in Pommern und der Ukermark gelangt,
baute er, etwa um 1750, den Haackſchen Markt, der eigentlich
der Hacke’ſche Markt heißen müßte und durch den irrthümlichen
Namen, den er führt, nicht wenig zu der herrſchenden Verwirrung
über die Namen Hake und Hacke beigetragen hat. Graf Hacke,
der Erbauer des Haackſchen (Hacke’ſchen) Marktes, war der erſte,
der den gleich nach dem Regierungs-Antritt Friedrichs II. geſtif-
teten Orden pour le merite empfing. Er ſtarb 1754 als Ge-
neral-Lieutenant, Commandant von Berlin und Ritter des ſchwar-
zen Adler-Ordens. Er hinterließ keine Nachkommenſchaft. Da es
aber nichtsdeſtoweniger Graf Hacke’s bis dieſe Stunde giebt, ſo iſt
[385] anzunehmen, daß das Geſchlecht durch Adoption fortgepflanzt
wurde. Ein Graf Hacke kam, zu Anfang dieſes Jahrhunderts,
durch Vermählung mit einer v. Marſchall, in Beſitz der Güter
Dahlwitz, Tasdorf, Rahnsdorf (am Müggelſee) und Alt-Ranft,
ſämmtlich in Barnim gelegen. Der gegenwärtige Graf Edwin v.
Hacke beſitzt nur noch Alt-Ranft. — So viel über die Hacke’s.
In gar keiner Beziehung zu denſelben ſtehen die Hake’s. *)
Sie haben ſeit 500 Jahren immer als einfache Edelleute in der
Mark gelebt und ſeit dreihundert Jahren das Erbſchenken-Amt
der Kurmark Brandenburg bekleidet. (Der gegenwärtige Erbſchenk
iſt Wilhelm Joachim Friedrich von Hake, Generalmajor a. D.)
In allen Kriegen, die Brandenburg-Preußen ſeit den Tagen des
großen Kurfürſten geführt, haben zahlreiche Mitglieder dieſer Fa-
milie auf den Schlachtfeldern ihres Landes gekämpft und geblutet,
beſonders zahlreich zur Zeit der Türkenkriege und des ſpaniſchen
Erbfolgekrieges. Ein General der Infanterie und zwei General-
Lieutenants gingen aus ihnen hervor. Von den General-Lieutenants
machte Ernſt Ludwig v. Hake (geboren 1651 zu Klein-Mache-
now) den ſpaniſchen Erbfolgekrieg, als Oberſt bei der Leib-
garde, mit; Levin Friedrich v. Hake (geb. zu Genshagen) focht in
den ſchleſiſchen und im 7jährigen Kriege; endlich Albrecht
George Ernſt Carl v. Hake (geb. am 8. Auguſt 1769 zu Flatow)
zeichnete ſich während der Befreiungskriege aus, wurde 1819
25
[386] Kriegsminiſter und 1825 General der Infanterie. Er ſtarb 1835
zu Castel a Mare. Dieſe drei Hake’s, die es nahzu zu den
höchſten militairiſchen Ehren brachten, repräſentiren, wie die drei
großen Kriegsepochen unſerer Geſchichte, ſo auch drei verſchiedene
Zweige ihres eignen Geſchlechts und zwar die Häuſer: Klein-
Machenow, Genshagen, Flatow. Alle drei waren unverheirathet
oder kinderlos; zwei von ihnen waren Ritter des ſchwarzen
Adler-Ordens.
Sie alle aber, brav und ruhmreich wie ſie waren, werden
muthmaßlich von einem ihrer erſten Vorfahren, von Hans v.
Hake, gemeinhin Hake von Stülpe genannt, überlebt werden.
Dieſer Hake von Stülpe war es, der auf der Golm-Haide zwi-
ſchen Jüterbogk und Trebbin den Ablaßkrämer Tetzel überfiel und
ihm unter der höhniſchen Vorhaltung „den Ablaßzettel für erſt
noch zu begehende Sünden geſtern von ihm gekauft zu haben“
die ganze Barſchaft abnahm und den Kaſten bergab in den Schnee
rollte. Der Kaſten wird bekanntlich noch in der Kirche zu Jüter-
bogk aufbewahrt; Hake von Stülpe aber (auch Willibald Alexis
hat ihm in ſeinem Roman der „Wärwolf“ einen Abſchnitt gewid-
met) wird als eine jener Figuren wie ſie das Volk gern hat, in
der Geſchichte unſeres Landes fortleben. Der gute Humor, der
Uebermuth und der Streich, der dem Ablaßkram geſpielt wurde,
haben von jeher dafür geſorgt, daß man die That mehr auf ihre
humoriſtiſche Derbheit als auf ihren ſittlichen Gehalt geprüft hat.
Iſt es doch ein Hergang, der, wohl oder übel, etwas Leben und
Farbe in die ziemlich farbloſe Frühgeſchichte unſrer Marken bringt.
Wir kehren nach dieſen Vorbemerkungen an den Eingang
des Dorfs zurück und ſchreiten nun, den Laubholz-umſtandenen,
ſtillen See zu unſrer Rechten, die blühende Kaſtanien-Allee der
Dorfgaſſe hinauf. Von Bemerkenswerthem finden wir das Herren-
haus, das alte Schloß, die Waſſermühle und die Kirche.
Das Herrenhaus, von den Gebrüdern v. Hake bewohnt,
[387] iſt ein moderner Bau aus den letzten Jahren des vorigen Jahr-
hunderts. Nach der Gartenſeite hin hat es einen halbkreisförmigen,
von hohen ioniſchen Säulen getragenen Vorbau, der dem Ganzen
etwas Stattliches leiht. Die Auffahrt auf den ſehr geräumigen
Hof erfolgt durch ein altes Sandſteinportal, das nach außen hin
einen Meduſenkopf und auf dieſem eine Minerva zeigt. Die Leute
im Dorf betrachten den Meduſenkopf als das Portrait eines hart-
herzigen Vorbeſitzers, der ſchließlich von den Schlangen verzehrt
worden ſei. *)
Das alte Schloß, in unmittelbarer Nähe des jetzigen
25*
[388] Herrenhauſes, iſt eins der wenigen alten Schloßgebäude, die ſich
bis auf dieſen Tag in unſerer Mark erhalten haben. Es beſteht
aus einem ſchmuckloſen Viereck, an deſſen Nordſeite ſich ein ſechs-
eckiger Treppenthurm erhebt. Dieſer Thurm überragt das Haupt-
gebäude nur um wenige Fuß und trägt ein Dach von eigenthüm-
licher und ſchwer zu beſchreibender Form. In der Mitte des Erd-
geſchoſſes befindet ſich ein ſtarker ſechs- oder achteckiger Pfeiler,
der das Obergeſchoß zu tragen ſcheint. Welcher Zeit dieſer Pfeiler
angehört, mag dahingeſtellt bleiben. Bei der Seltenheit derartiger
alter Schloßbauten in der Mark iſt es vielleicht gerechtfertigt, die
Aufmerkſamkeit unſrer märkiſchen Archäologen darauf hinzulenken.
Von hiſtoriſchen Erinnerungen knüpft ſich nichts an dieſen Bau.
Gemeinhin hat hierlandes die Geſchichte eines Orts den Ort ſelbſt
überdauert; wir wiſſen von dieſer und jener Burg und von die-
ſem und jenem was drin geſchah, nur die Burg ſelbſt iſt
hin; in Klein-Machenow iſt es umgekehrt, die Burg iſt da, aber
die Geſchichte fehlt. Dies hat zum Theil wohl ſeinen Grund darin,
daß Klein-Machenow, nach dem Ausſterben der Machenow’ſchen
Hake’s, etwa um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Beſitz
einer Nebenlinie kam (der Hake’s von Flatow im Havellande),
wodurch die lebendige Tradition unterbrochen wurde.
Die Waſſermühle. Ein ſchöner, maſſiver Bau, durch die
Gebrüder von Hake im Jahre 1856 neu aufgeführt. Eine In-
ſchriftstafel der alten Mühle hat man in die Frontwand des Neu-
baues wieder eingefügt. Die alte Inſchrift lautet: „Anno 1695
hat Herr Ernſt Ludwig v. Hake, Seiner churfürſtlichen Durch-
laucht zu Brandenburg Friderici III Oberſter bei der Garde zu
Fuß, dieſe adlige Freymühle hinwiederumb ganz neue aus dem
Grunde erbauet, weilen die alte gantz zerfallen.“ Dieſer Mache-
now’ſchen oder Hake’ſchen Waſſermühle wird in alten Urkunden
oft erwähnt; doch iſt ſie nicht mit der noch älteren Waſſermühle
bei Potsdam, kurz vor’m Einfluß der Nuthe in die Havel zu
verwechſeln, die eigens den Namen Hakemühle (früher Hacken-
mohle) führt. Sie iſt viel älter als die Hake’s und wird ſchon
[389] 993 genannt, in welchem Jahre König Otto III. ſeiner Tante,
der Aebtiſſin Mathilde von Quedlinburg, den Ort Potsdam ſchenkt.
Die alte Kirche. Gegenüber der Einfahrt mit dem Medu-
ſenkopf liegt die Kirche. Eh wir ſie erreichen, paſſiren wir ein
Steinkreuz, hart an der Straße, zum Andenken eines Schlabern-
dorf errichtet, der hier in einem Duell mit einem v. Hake, auf
offener Dorfſtraße getödtet wurde. Sporen und Degen des Gefal-
lenen ſind in der Kirche aufgehängt. Nicht immer waren die Hake’s
Sieger bei ſolchen Vorfällen. Auf einem anderen Hake’ſchen Gute
kam es zu einem Duell zwiſchen einem Hake und einem v. Born-
ſtaedt. Man ſchoß ſich in der großen Halle des Hauſes und Hake
fiel. Urſach war ein Stückchen niedergetretenes Erbſenfeld.
Man war damals raſch bei der Hand.
Wir ſind nun an die Kirche herangetreten. Es iſt ein über-
raſchend gefälliger, beinah feinſtyliſirter Backſteinbau aus dem 16.
Jahrhundert, (vielleicht aus dem 15.) reizend zwiſchen Bäumen
und Epheugräbern gelegen und von einer Steinmauer eingefaßt.
Die eine Kirchenwand trägt zwar die Inſchrift: „Casparus Jacke,
Maurermeiſter zu Potsdam, 1597“ doch hat er die Kirche mög-
licherweiſe nur reſtaurirt; gewiſſe Ornamente ſcheinen mir nämlich
auf eine frühere Zeit zu deuten. Der Unterbau (bis zum Beginn
der Fenſter) iſt jedenfalls viel älter und die erſichtlich verſchiedenen
Steine haben zu der Sage geführt, daß zwei Schweſtern die
Kirche gebaut und helle und dunkle Ziegel genommen hätten, um
ihren Antheil unterſcheiden zu können.
Unter den verſchiedenen Grabſteinen und Denkmälern, die die
Kirche aufweiſt, iſt vorzugsweiſe der Gedenktafel zu erwähnen, die
Ernſt Ludwig von Hake, obengenannter Oberſter in Fried-
richs III. Leibgarde zu Fuß, im Jahre 1696 zu ehrendem Ge-
dächtniß ſeiner Eltern und Geſchwiſter hat errichten laſſen.
Dieſe Gedenktafel giebt zunächſt die Namen ſeiner (Ernſt
Ludwigs) Eltern — Otto von Hake † 1682 und Anna Maria
von Pfuhlin † 1682 — und demnächſt die ſeiner 14 Geſchwiſter,
[390] 9 Brüder und 5 Schweſtern. Aus der langen Reihe von Namen
und Daten mögen hier folgende ſtehn:
Gürge Bertram von Hake. Geb. 1641; Leutnant im
K. K. hochlöblichen ſpaniſchen Regiment zu Fuß; gefallen am 20.
Juni 1662 bei Erſtürmung von Serimvar durch die Türken.
Otto Sigismund v. H. Geboren 1643; Kaiſerlicher Ca-
pitain-Leutnant im Götzſchen Dragoner-Regiment, gefallen 1664
im Paſſe Kirment in Ungarn.
Heino Friedrich v. H. Geboren 1644; geſtorben im Zipſer
Land 1667, war Leutnant im ſpaniſchen Regiment zu Fuß.
Adolph Heinrich v. H. Geboren 1652; Leutnant im
Terzky’ſchen Regiment zu Fuß, geſtorben zu Zwoll in Holland.
Chriſtoph Ehrenreich v. H. Geboren 1656; Capitain im
brandenburgiſchen Leibregiment Dragoner, gefallen 1686 bei Be-
ſtürmung und Eroberung der Feſtung Ofen.
Die einfachen Angaben dieſer Gedenktafel zeigen deutlich den
Geiſt, der damals in der Familie lebendig war. Die Mark gehörte
noch zum „Reich“ und die Kämpfe Habsburgs waren noch die
Kämpfe Brandenburgs. Vier der Otto v. Hakeſchen Söhne dienten
in öſtreichiſchen Regimentern, zwei fielen im Türkenkrieg, zwei er-
lagen der Krankheit. Der fünfte und jüngſte war Capitain in
einem brandenburgiſchen Regiment, focht aber (in dem vom
General v. Schöning kommandirten Contingent) für dieſelbe Sache
und fiel im Kampfe gegen den Erbfeind.
Der mehrerwähnte Ernſt Ludwig v. Hake ſcheint übrigens
gleichzeitig, zu ehrendem Gedächtniß ſeiner vor ihm heimgegangenen
Brüder, die Kirche zu Machenow mit zehn Fahnen ausgeſchmückt
zu haben, von denen jede einen Banner- oder Sinnſpruch trug,
deſſen Anfangsbuchſtaben dem Tauf- und Familien-Namen
des zu Feiernden entſprachen. Drei von dieſen Fahnen exiſtiren
noch; die andern ſieben ſind zerfetzt und zeigen wenig mehr als
die Stöcke. Die Sinnſprüche der noch vorhandenen 3 Fahnen ſind
die folgenden:
[391]
Außerdem befindet ſich noch ein Denkmal des 1704 bei
Höchſtädt auf den Tod verwundeten und zu Nördlingen begrabe-
nen Ehrenreich von Hake, ſo wie ferner ein elftes Banner in der
Kirche, das Hedwig Margarethe v. Hake (eine Schweſter der oben
angeführten kaiſerlichen und churbrandenburgiſchen Offiziere) zu
Ehren ihres bei Fehrbellin gefallenen Bräutigams aufrichten ließ.
Dies Banner führt folgende Inſchrift: „Dem Herrn Ernſt von
Schlabrendorf, Obriſt-Wachtmeiſter in des Obriſtleutnants von
Grumkow Esquadron-Dragoner, gefallen 1675 bei Fehrbellin und
in der Dalim’ſchen Kirche beigeſetzt.“ Dies Banner iſt in ſo fern
nicht ohne Intereſſe, als man ſelbſt in unmittelbarer Nähe des
Fehrbelliner Schlachtfelds, alſo in Hakenberg, Linum, Karweſee ꝛc.
wenig oder nichts findet, was ſich mit Sicherheit auf jenen Tag
oder auch nur auf jene Zeit zurückführen ließe.
Die Forſten von Klein-Machenow grenzen an den Grunewald
und das Potsdamer Jagdrevier. Es war deshalb den jagdlieben-
den Hohenzollern von jeher daran gelegen, die Jagdgerechtigkeit auf
dem Machenow’ſchen Territorium zu haben. Die Gebrüder v. Hake
beſitzen aus dem Ende des 17. und dem Anfang des 18. Jahr-
hunderts eine ziemliche Anzahl von Verpachtungs-Urkunden, in
denen das Verhältniß zwiſchen den eigentlichen Beſitzern und dem
fürſtlichen Jagdpächter geregelt wird. In einer dieſer Urkunden
heißt es: „Seine Kurfürſtliche Durchlaucht (Friedrich III.) wollen
Ihnen, Denen von Hake und ihren Successoribus, bei vorfallen-
den „Ausrichtungen“, als Hochzeiten, Kindtaufen und Begräb-
niſſen, etwas an rothem Wildbret, auf ihr unterthänigſtes Anſuchen
ohne Entgelt reichen laſſen.“ (Die hohe Jagd war nämlich für
etwa 500 Thlr. an den Kurfürſten verpachtet und nur die niedre
Jagd war den Hake’s verblieben.) Der Wortlaut dieſer Urkunde,
die 150 Jahre lang unbeachtet im Familien-Archiv gelegen haben
mochte, wurde 1848 von dem Aſſeſſor v. Hake zu einer Eingabe
[392] an die Potsdamer Regierung benutzt. In genanntem Jahre wurde
nämlich Herrn v. Hake ſein erſtes Töchterchen geboren und behufs
einer „Ausrichtung“, wie ſie die Urkunde vorgeſehen hat, wurde
nun um ein Stück „rothes Wildbret“ petitionirt. Die Regierung
beeilte ſich dem wohlbegründeten Geſuch nachzukommen und ein
tüchtiger Hirſch wurde zur Taufe des kleinen Fräulein v. Hake
in die gutsherrliche Küche geliefert. „Leider — ſo erzählt Herr v.
Hake — hatte es bei dieſem einen Hirſch ſein Bewenden; noch
andre Kinder ſind mir ſeitdem geboren worden, aber die Aufhebung
des Jagdrechts hat inzwiſchen meine alte Wildbrets-Urkunde zu
einem todten Stück Papier gemacht.“
Machenow auf dem Sande iſt nur eine gute halbe Stunde
vom Wannen- und Schlachten-See und von vielen andern
jener Wald- und Waſſer-Parthieen des Grunewalds entfernt, die,
wenn jetzt gehegte Wünſche und Projekte in Erfüllung gehn, mit
Hülfe einer Havel-Eiſenbahn bald vor die Thore Berlins gerückt
ſein werden. Dann wenn die ſteil abfallende Hügelreihe, die das
weite Becken des Wannenſees im Südoſten begrenzt, zu einem
Quai für heitre, von wildem Wein umlaubte Villen geworden
und Forſt und Fluß nach allen Seiten durchſtreift werden wird,
dann wird auch das ſchöne Dorf am Telte-Fließ ſeine Beſucher
und ſeine Verehrer finden. Mögen ſie dann an der alten, epheu-
verſteckten Kirche und an dem Steinkreuz des gefallenen Schlabren-
dorf nicht vorübergehn.
[[393]]
Geiſt von Beeren.
Zwei Meilen ſüdlich von Berlin liegen die berühmten Felder
von Groß-Beeren. Freund und Feind kennen den Namen. Wer
häufiger die Eiſenbahn benutzt hat, die an Groß-Beeren vorbei
in’s Anhaltiſche und Sächſiſche führt, wird es nicht ſelten erlebt
haben, daß Fremde, die bis dahin leſend oder plaudernd in der
Ecke ſaßen, plötzlich ſich aufrichten und mit dem Finger auf die
weite Ebene deutend halb zuverſichtlich halb frageweiſe die Worte
ſprechen: Ah c’est le champ de bataille de Gross-Beeren!
Iſt doch die franzöſiſche Sprache noch immer die Allerweltsmünze,
die ſicher ſein darf, acceptirt und ausgewechſelt zu werden.
Es iſt nicht Zweck dieſer Zeilen, an den Schlachttag von
Groß-Beeren zu erinnern oder ſeine Geſchichte noch einmal zu er-
zählen; wenn ſchon andererſeits nicht geleugnet werden ſoll, daß
ich die Feldmark und die Gaſſen des Dorfes in der Hoffnung be-
trat, dem Einen oder Anderen zu begegnen, das auch nach der
Seite hin einer Aufzeichnung werth ſein möchte. Aber nichts der
Art war zu finden. Mit Mühe trieb ich einen Tagelöhner auf,
der den Schlachttag wenigſtens mit erlebt und aus ſeinem Verſteck
heraus ein paar Czakos oder Bajonettſpitzen geſehen hatte. Das
war Alles. Ueber die allergleichgültigſten Details hinaus war ſei-
nem Gedächtniß nichts verblieben. Vollends verloren iſt aber der-
[394] jenige, der von den beiden Invaliden, die ein freundliches Häus-
chen neben Kirche und Kirchhof innehaben, irgend welchen Aufſchluß
erwartet. Sie wiſſen abſolut nichts von jenem Schlachtfeld, das
jahraus jahrein zu ihren Füßen liegt und deſſen beſtellte Wächter
ſie ſind; nichts von jenem Kirchhof, um deſſen Beſitz ſo heiß gekämpft
wurde und den ſie ſelber nun bewohnen. Ein wahres Glück iſt
es, daß Beide taub ſind, der Eine halb, der Andere ganz. Wenn
Fremde kommen und ihre Fragen unbeantwortet finden, ſo werden
ſie’s auf die Schwerhörigkeit der beiden Alten ſchieben und viel-
leicht die freundliche Vorſtellung mit heim nehmen, daß der
„Schlachtendonner“ die Trommelfelle der beiden Helden für immer
zum Schweigen gebracht habe. Wir ſollten es aber doch auf ſo
freundliche Interpretationen nicht ankommen laſſen.
Aber noch einmal, das Schlachtfeld von Groß-Beeren iſt
es nicht, auf das ich heute vorhabe, den Leſer hinauszuführen.
Auch die neue Kirche, nach einem Schinkel’ſchen Plane gefällig,
aber nüchtern erbaut, ſoll uns nicht feſſeln; eben ſo wenig das
gußeiſerne Monument, das ſich rechts am Eingange des Dorfes
erhebt und die Inſchrift trägt: „Die gefallenen Helden ehrt dank-
bar König und Vaterland.“ Der Punkt, dem wir heute zuſchrei-
ten, liegt vielmehr der Kirche ſchräg gegenüber an der andern Seite
der Dorfgaſſe, wo wir, über die Feldſteinmauer hinweg, ein ſau-
beres gut erhaltenes Wohnhaus ſchimmern ſehen, das ſeine weißen
Wände hinter einer Baumgruppe des Gartens nur halb verbirgt.
Hier hauſte vor ſechszig Jahren der „Geiſt von Beeren.“
Das klingt geſpenſtiſch und darf ſo klingen, wenn zwiſchen Ge-
ſpenſtern und Kobolden irgend welche Verwandtſchaft iſt. „Geiſt
von Beeren“ war ein Kobold; nebenher war er auch Beſitzer von
Groß- und Klein-Beeren und der Letzte aus jenem alten Geſchlecht
der Beeren oder Berne, das vier Jahrhunderte lang die ge-
nannten beiden Güter inne hatte.
Von dieſem Hans Heinrich Arnold v. Beeren, dem
Letzten ſeines Geſchlechts, will ich erzählen.
Um’s Jahr 1785 hatte er beim Könige die Erlaubniß nach-
[395] geſucht, ſeinem alten Namen „v. Beeren“ den Namen „Geiſt“
hinzufügen zu dürfen. Die Erlaubniß war ihm ertheilt worden.
Seitdem hieß er „Geiſt v. Beeren“ oder kürzer „der tolle Geiſt.“
Er war ein kleiner, ſchmächtiger, lebhafter Mann: witzig, ſarkaſtiſch,
hämiſch. Zwietracht anſtiften, zanken und ſtreiten, opponiren und
proceſſiren war ſeine Luſt. Von ſeinen unzähligen Schnurren,
Injurien und Proceſſen lebt noch Einzelnes in der Erinnerung
des Volkes. Ich zähle auf, was ich habe erfahren können. Die
meiſten dieſer Geiſt’ſchen Schnurren ſetzen ſich aus Albernheit,
Uebermuth und hämiſchem Weſen zuſammen, manches aber iſt doch
wirklich gut und treffend und alles entſprach jedenfalls dem nicht
ſehr verfeinerten Bedürfniß ſeiner Zeit und ſeiner Umgebung.
Zwei Gruppen von Perſonen waren es beſonders, mit denen
der ſtreitluſtige Geiſt eine unausgeſetzte Fehde unterhielt: ſeine
Gutsnachbarn und die Regierungsbeamten. Unter den Erſteren
hatte er ſich beſonders den Herrn v. Hake auf Genshagen zum
Gegenſtand nicht enden wollender Angriffe und Verhöhnungen
auserſehen.
Die Correſpondenz, die er mit dieſem ſeinem Nachbar in einem
Zeitraum von 25 Jahren geführt hat, ſoll ein wahrer Anekdoten-
ſchatz und für die Freunde des Hake’ſchen Hauſes eine unerſchöpf-
liche Quelle der Erheiterung geweſen ſein. Leider iſt dieſe Corres-
pondenz verbrannt. Zwei Geſchichten indeß aus der langen Reihe
dieſer gutsnachbarlichen Rancünen und Streitigkeiten exiſtiren noch.
Geiſt, im Uebrigen kein Freund der Jagd, ließ ſich eine Jagd-
und Schießhütte bauen, wenig Schritte von dem Punkte entfernt,
wo ſeine eigene Feldmark mit der Genshagener Forſt zuſammen-
ſtieß. Die Front der Hütte ging auf feindliches Gebiet hinaus,
und die Abſicht lag klar zu Tage. Hier ſaß er halbe Nächte lang
und ſchoß von ſeinem Territorium aus dem Herrn v. Hake die
Rehe todt — ein Wilddieb aus purer Malice. Als Hake Be-
ſchwerde führte und auf Abbrechen der Hütte antrug, antwortete
Geiſt: Die Hütte habe keinen offenſiven Charakter; er (Geiſt) habe
von Jugend auf immer rückwärts geſchoſſen und müſſe es ab-
[396] lehnen, in ſeinen alten Tagen nach einem neuen Princip auf Jagd
zu gehen.
Bei anderer Gelegenheit beſchwerte ſich Herr v. Hake, daß er
bei Paſſirung einer Brücke, für deren Inſtandhaltung Geiſt Sorge
tragen mußte, mit ſeinem Juſtitiarius Buchholz eingebrochen ſei.
Geiſt replicirte: „über die Brücke würden täglich 26 ſeiner ſchwer-
ſten Ochſen getrieben, und niemals habe er gehört, daß einer der-
ſelben irgendwie Schaden genommen hätte; es ſei mindeſtens eine
auffallende Erſcheinung, daß gerade Herr v. Hake mit ſeinem Ju-
ſtitiarius durchgebrochen ſei.“ Herr v. Hake hatte nicht Luſt, den
Streit ruhen zu laſſen und ging an die Gerichte. Als Geiſt eine
Vorladung empfing, erſchien er mit der Brücke, die er abtragen
und als corpus delicti auf einen Holzwagen hatte laden laſſen,
vor’m Kammergericht in Berlin und erſuchte die Räthe, ſich durch
Ocular-Inſpection von der Richtigkeit ſeiner Ausſagen zu über-
zeugen! —
Einen viel lebhafteren Groll unterhielt er gegen Alles, was
ſich „Regierung“ oder „Behörde“ nannte und mit der Miene der
Autorität gegen ihn auftreten wollte. Die alte Regiſtratur des
Kammergerichts, das er in ſeinen Eingaben gelegentlich „hochpreis-
liches Jammergericht“ anzureden liebte, ſoll davon zu erzählen
wiſſen. Seine Fehden mit dem Pupillen-Collegium (deſſen
Namen er nicht müde wurde in der wunderlichſten Weiſe zu kürzen
und zu verunſtalten!) ſind theils bekannt geworden, theils liegen
ſie jenſeit aller Mittheilungsmöglichkeit — wiewohl man dem
humoriſtiſchen Uebermuth gegenüber, der ſich in allen ſeinen Schnur-
ren zu erkennen giebt, eigentlich jedes Anſtandsbedenken aufgeben
und der derben Laune ſich freuen ſollte.
Neben dem Pupillen-Collegium hatte Niemand mehr als die
Potsdamer Regierung unter ſeinen Sarkasmen zu leiden. Jede
Schwäche, jedes Verſehen fand einen unerbittlichen Kritiker in ihm.
Bei Abſchätzung ſeines Gutes hatte er den Bodenwerth oder die
Ertragsfähigkeit deſſelben zu hoch oder zu niedrig taxirt. Die Re-
gierung, den Streit endlich zu ſchlichten, ſchickte eine Unterſuchungs-
[397] und Begutachtungs-Commiſſion. Die Zeit (Mitte December) war
allerdings nicht günſtig gewählt, und Geiſt faßte in ſeinem näch-
ſten Schreiben an die Regierung, was er zu ſagen hatte, dahin
zuſammen:
Zu den Perſonen, gegen die er ſeine Sarkasmen zu richten
liebte, gehörte auch der Reformator unſerer Landwirthſchaft, der
berühmte Thaer. Die Prinzipien, die dieſer einzuführen trachtete,
erfreuten ſich nicht der Zuſtimmung unſeres Geiſt von Beeren, und
er machte ſeinem Unmuth und ſeiner Malice in einer kleinen Bro-
chüre Luft, die den Titel führte: „die preußiſche Landwirthſchaft
ohne Theer.“ Alles lachte. Der kleine Tückebold hatte ſich aber
diesmal verrechnet und es erſchien eine Gegenſchrift: „die preußiſche
Landwirthſchaft ohne Geiſt.“ Solchem Reparti war er nicht ge-
wachſen und er gab die Fortſetzung des Kampfes auf.
Sein beſter, weil treffendſter Streich, war vielleicht der fol-
gende. Es war ein Kienraupenjahr und die Forſthaiden der Mark
waren im traurigſten Zuſtand. Die Potsdamer Regierung ſah ſich
veranlaßt, eine Verfügung zu treffen, worin ſie angab, wie den
Raupen am beſten beizukommen und weiterer Schaden zu vermei-
den ſei. Die Verfügung ſchmeckte etwas nach „grünem Tiſch“ und
war unpraktiſch. Geiſt antwortete wenige Tage ſpäter: „Proba-
tum est! Ich bin in den Wald gegangen, habe den Kienraupen
das Reſcript einer Königl. Regierung vorgeleſen und ſiehe da, die
Raupen haben ſich ſämmtlich todt gelacht.“
Solche Repliken gingen alsbald von Mund zu Mund und
machten ihn beim Landvolk, auch wohl bei manchem Gutsbeſitzer
beliebt, die, um ſolcher Schnurren und Abfertigungen willen, gern
vergaßen, was ſonſt wohl gegen den „tollen Geiſt“ zu ſagen war.
[398] Denn der Landmann unterhält eine natürliche Abneigung gegen
den Städter, deſſen überhebliches Weſen ihn verdrießt und deſſen
Erlaſſen und Geſetzen er mißtraut. „Der Städter weiß nichts vom
Land,“ das iſt ein Satz, der ſich von Vater auf Sohn vererbt.
Bis in ſein hohes Mannesalter blieb Geiſt v. Beeren un-
verheirathet und führte ein wüſtes, ſittenloſes Leben. Er hielt
einen völligen Harem um ſich her. Von ſeiner „Favoritin“ hatte
er einen Sohn, der des Vaters würdig war und zwei Mal das
ganze Gehöft anzündete und in Aſche legte. Geiſt v. Beeren indeß
nahm keinen Anſtoß daran (vielleicht weil er ſich ſelbſt in dem
Allen wieder erkannte) und ging damit um, dieſen Sohn zu
adoptiren. Dazu war die Einwilligung ſeines (des alten Geiſt)
einzigen Bruders nöthig, der als General in preußiſchen Dienſten
ſtand und in Erſcheinung und Sinnesart die volle Kehrſeite un-
ſeres Helden und Kobolds bildete. Er kommandirte die ſpätern
brandenburger Küraſſiere, nach ihm „von Beeren-Küraſſiere“ ge-
nannt. Der General verweigerte ſeine Einwilligung. Geiſt von
Beeren war nicht der Mann, das ruhig hinzunehmen. Er beſchloß
jetzt, ſich zu verheirathen, lediglich ſeinem Bruder zum Tort. Der
Harem wurde mit großen Koſten aufgelöſt; dann vermählte ſich
Geiſt mit einem Fräulein v. Eyſſenhardt, mit der er jedoch nur
wenige Jahre verheirathet war. Er ſelbſt ſtarb 1812 und hinter-
ließ eine einzige Tochter. Auch ſie ſtarb jung. Das plötzliche Er-
löſchen der Familie, wie aller Unſegen, der theils vor, theils nach
dem Tode des alten Geiſt alle Angehörigen des Hauſes betraf,
wird mit folgender Familienſage in Verbindung gebracht. Es iſt
das die Sage vom „Allerhühnchen.“
Vor mehreren Hundert Jahren war eine Frau von Beeren
eines Kindleins glücklich geneſen. In einem großen Himmelbett,
deſſen Gardinen halb geöffnet waren, lag die junge Frau, neben
ſich die Wiege mit dem Kinde, und verfolgte in träumeriſchem
Spiel die Schatten, die in dem ſpärlich erleuchteten Zimmer an
Wand und Decke auf und ab tanzten. Plötzlich bemerkte ſie, daß
es unter dem Kachelofen, der auf vier ſchweren Holzfüßen ſtand,
[399] hell wurde, und als ſie ſich aufrichtete, ſah ſie deutlich, daß ein
Theil der Diele wie eine kleine Kellerthür aufgehoben war. Aus
der Oeffnung ſtiegen allerhand zwergenhafte Geſtalten, von denen
die vorderſten kleine Lichtchen trugen, während andere die Hon-
neurs machten und die nach ihnen Kommenden willkommen hießen.
Sie waren Alle geputzt und ſchienen ſehr heiter. Ehe ſich die Wöch-
nerin von ihrem Staunen erholen konnte, ordneten ſich die Kleinen
zu einem Zuge und marſchirten zu zwei und zwei vor das Bett
der jungen Frau. Die zwei Vorderſten baten um die Erlaubniß,
ein Familienfeſt feiern zu dürfen, zu dem ſie ſich unter dem Ofen
verſammelt hätten. Frau v. Beeren war eine liebenswürdige Frau;
ihr guter Humor gewann die Oberhand und ſie nickte bejahend
mit dem Kopf. Die Kleinen kehrten nun unter den Ofen zurück
und begannen ihr Feſt. Aus der Kelleröffnung wurden Tiſchchen
heraufgebracht, andere deckten weiße Tücher darüber, Lichterchen
wurden aufgeſtellt, und ehe zwei Minuten um waren, ſaßen die
Kleinen an ihren Tiſchen und ließen ſich’s ſchmecken. Frau von
Beeren konnte die Züge der Einzelnen nicht unterſcheiden, aber ſie
ſah die lebhaften Bewegungen und erkannte deutlich, daß alle heiter
waren. Nach dem Eſſen wurde getanzt. Eine leiſe Muſik, als ob
Violinen im Traum geſpielt würden, klang durch das ganze Zim-
mer. Als der Tanz vorüber war, ordneten ſich alle wieder zu einem
Zuge und erſchienen abermals vor dem Bett der jungen Frau.
Sie dankten für freundliche Aufnahme, legten ein Angebinde auf
die Wiege des Kindes nieder und baten die Mutter, des Geſchenkes
wohl Acht zu haben: die Familie werde blühen, ſo lange man
das Geſchenk in Ehren halte, aber werde vergehen und verderben,
ſobald man es mißachte. Dann kehrten ſie unter den Ofen zurück;
die Lichterchen erloſchen und alles war wieder dunkel und ſtill.
Als Frau v. Beeren, unſicher, ob ſie gewacht oder geträumt,
nach dem Angebinde ſich umſah, lag es auf der Wiege des Kin-
des. Es war eine kleine Bernſteinpuppe mit menſchenähnlichem
Kopfe, etwa zwei Zoll lang und der untere Theil in einen Fiſch-
ſchwanz auslaufend. Dieſes Püppchen, das Leute, die zu Anfang
[400] dieſes Jahrhunderts lebten, noch geſehen haben wollen, führte den
Namen das „Allerhühnchen“ (Alräunchen) und galt als Talisman
der Familie. Es vererbte ſich von Vater auf Sohn und wurde
ängſtlich bewahrt und gehütet. Geiſt von Beeren kümmerte ſich
aber natürlich wenig um das wunderliche Familien-Erbſtück; er
war kein Freund von Sagen und Geſchichten, von Tand und
Märchenſchnack, und was ſeiner Seele ſo ziemlich am meiſten fehlte,
das war Pietät und der Sinn für das Geheimnißvolle.
Allerhühnchen hatte lang im Schrank gelegen, ohne daß ſeiner
erwähnt worden wäre. Da führte das Weihnachtsfeſt eine luſtige
Geſellſchaft bei Geiſt v. Beeren zuſammen, und der Zufall wollte,
daß einer der Gäſte vom „Allerhühnchen“ ſprach. „Was iſt’s da-
mit?“ hieß es von allen Seiten. Die Geſchichte wurde erzählt und
das Allerhühnchen herbeigeholt. Geiſt von Beeren ließ es rundum
gehen, witzelte und ſpöttelte und — warf es dann in’s Feuer.
Von dem Augenblick an brach das Unheil herein und jene
Schläge kamen, deren ich theilweis ſchon erwähnte. Zweimal brach
Feuer aus, Krieg und Mißwachs zerſtörten die Ernten und raſche
Todesfälle rafften die Glieder der Familie fort. Der General ſtarb
plötzlich, bald darauf die beiden Söhne deſſelben, endlich Geiſt v.
Beeren ſelbſt. Die junge Wittwe, welche Geiſt hinterließ, verlobte
ſich zwei Jahre ſpäter mit dem Hauptmann Willmer *), einem
liebenswürdigen Mann, und die Hochzeit ſtand nahe bevor. Da
gerieth Willmer in Streit mit einem Kameraden, einem Herrn v.
Dolfs von den Garde-Küraſſieren, und in der Haide von Wulkow
kam es zum Duell. Willmer wurde erſchoſſen. Sein Grab befindet
[401] ſich auf dem Kirchhof von Groß-Beeren. Neben ihm ruht die Toch-
ter des „tollen Geiſt,“ die ebenfalls auf räthſelhafte Weiſe ſtarb.
Sie war in Berlin im Penſionat und fuhr nach Groß-Beeren
hinaus, um ihre Mutter zu beſuchen. Als der Wagen vor dem
Hauſe hielt, ſchien das Fräulein feſt und ruhig zu ſchlafen —
ſie war todt. Frau v. Geiſt verkaufte endlich die Beſitzung; aber
der Unſegen dauerte fort. Nichts gedieh, nichts wollte vorwärts.
Der nächſte Beſitzer verlor ſein Vermögen; der folgende führte
ein wüſtes, unſtätes Leben und verſcholl; der dritte hielt ſich und
behauptete das Terrain, aber Streit und Hader verbitterten ſeine
Tage.
Der Unſegen blieb — aber es blieb auch ein Geiſt’ſches
Element an dieſer Stelle lebendig, ein halb räthſelhaftes Verlan-
gen, es ihm an Tollheiten nachzuthun. Man kann hieran Studien
machen über die Macht und die nachwirkende Kraft eines Origi-
nals. Alle Nachfolger des „tollen Geiſt“ hatten einen Zug von
ihm; der letzte Beſitzer, ein Rittmeiſter Brieſen, am meiſten.
Sein größter Verehrer aber, zugleich ſein begeiſtertſter Nachahmer
in allen Dingen, die ſich nachahmen ließen, war ein Herr von
Beier, der Groß-Beeren von 1827 bis 1837 beſaß. Als eines
Abglanzes Geiſt’ſcher Herrlichkeit ſei ſeiner am Schluß dieſer
Skizze gedacht. Es lag ihm daran, dem Herrenhauſe zu Groß-
Beeren den Ruf von etwas Apartem zu erhalten. Als er erfuhr,
daß in Zoſſen ein alter Mann lebe, der zur Zeit des „tollen
Geiſt“ eine Art Kammerdiener bei dieſem geweſen war, ließ er
ſich’s angelegen ſein, dieſen zu engagiren. Der alte Mann kam
und wurde ausgefragt, wie ſein Gehalt, ſeine Beſchäftigung und
vor Allem ſeine Kleidung geweſen ſei. Kniehoſen, Puderperrücke,
Silberborten und Schuhſchnallen, Alles wurde beſchafft, wie es in
alten Zeiten geweſen war, und wenn Beſuch kam, wurde der Die-
ner des tollen Geiſt präſentirt, als ob es dieſer ſelbſt geweſen
wäre. Herr von Beier war verheirathet, aber ſeine Ehe war nicht
glücklich und wurde getrennt. Bald nach der Trennung verließ er
Groß-Beeren, beſtellte einen Verwalter und ging nach Oeſterreich.
26
[402] Hier trat er als Lieutenant bei Walmoden-Küraſſieren ein. Das
Regiment lag damals in Ungarn in Garniſon, und Beier verliebte
ſich in eine vornehme ungariſche Dame. Da der Vater derſelben
die Partie nicht wünſchte, ſo ſah ſich v. Beier bemüßigt, die lie-
beskranke Dame in der Rolle eines berühmten Arztes zu beſuchen.
Die Krankheit zog ſich aber in die Länge, bis der Vater ſchließlich
froh war, „ja“ ſagen zu können. Nun nahm v. Beier ſeinen Abſchied
und führte die junge Frau im Triumph nach Groß-Beeren. Wenn
bis dahin Alles im Stil des „tollen Geiſt“ geweſen war, ſo wurde
nun Alles ungariſch eingerichtet. Pferde, Tabak, Wein, Diener, Koch,
Kammermädchen, — Alles aus Ungarn. Die Leute im Ort ſagten,
ihr Herr ſei ein Türke geworden; Alles war ungariſch geworden,
und die Wirthſchaft — polniſch dazu. 1837 verkaufte er das
Gut und ging in die Welt. Seitdem iſt er verſchollen.
In der Erinnerung der Dörfler hat er nur ſchwache Spuren
zurückgelaſſen; aber das Bild des alten „Neck- und Feuerteufels“
lebt fort von Geſchlecht zu Geſchlecht. Auch das Volk hat künſt-
leriſche Inſtincte und unterſcheidet Copie und Original.
Wenn Jung und Alt Abends beim Biere ſitzt und von alten
Zeiten plaudert, von der Zeit ihrer Väter und Großväter, verweilen
ſie am liebſten bei dem kleinen Kobold, „der keine Furcht kannte,“
und erzählen mit nie weichendem Behagen die Schnurren und
Schabernack-Streiche vom tollen „Geiſt von Beeren.“
[[403]]
Löwenbruch.
Eine Meile hinter Großbeeren, ſeine hochgelegenen fruchtbaren
Aecker an einem Stück Bruchland entlang ziehend, liegt das Dorf
Löwenbruch. Wir finden hier, durch die Jahrhunderte hindurch,
eine Reihenfolge guter märkiſcher Namen: die von Thümen, von
Otterſtedt, von Boytin, von Alvensleben, von Gröben und v. d.
Kneſebeck. Die Boytin’s (ein ausgeſtorbenes Geſchlecht) haben
noch ein paar große Grabſteine auf dem Kirchhof mit allerhand
Figuren und Inſchriften, die freilich unter der Kruſte von Moos
und Flechten kaum noch zu entziffern ſind. Eins dieſer Gräber iſt
leer geblieben. Mit Schaudern erzählte mir der Küſter des Dorfes,
wie er, eines Abends über die Grabſteine hinſchreitend, den einen
Stein unter ſeinen Füßen nachgeben und ſich ſelber in die Gruft
verſinken fühlte. Er kam mit dem bloßen Schrecken davon.
Von den Alvenslebens, die ihren Gutsantheil im Jahre
1749 an die Gröbens verkauften, findet ſich noch Mancherlei. Es
exiſtirt unter Anderm das Haus, und zwar völlig unverändert,
das ſie bewohnten, — ein ſchlichter Fachwerkbau, der am beſten
zeigt, wie gering, wenigſtens nach dieſer Seite hin, die Anſprüche
waren, die der märkiſche Adel vor hundert Jahren noch erhob.
26*
[404] Jeder wohlhabende Bauer wohnt jetzt beſſer. Es ſcheint, man legte
damals Gewicht auf andere Dinge, auch auf andere äußerliche
Dinge. Ein höchſt intereſſantes Sopha, das ſich in den Damen-
zimmern des jetzigen Herrenhauſes vorfindet, übernimmt den Be-
weis dafür. Als vor 10 oder 15 Jahren das alte Alvenslebenſche
Fachwerkhaus zu einer Wohnung für den Meier oder Verwalter
des Gutes eingerichtet werden ſollte, entdeckte man auf einem der
ſpinnenwebverhangenen Böden einen alten Deckelkaſten, der ſich
alsbald als eine Truhe zu erkennen gab. Dieſer Fund erſchien
Anfangs gleichgültig genug; als man aber den Kaſten an’s Licht
gebracht und von der Verſtaubung eines Jahrhunderts geſäubert
hatte, erkannte man eine Truhe, die es mit den modernſten Weiß-
zeugſpinden unſerer Möbelmagazine kühnlich aufnehmen darf. Die
Vorderſeite des Kaſtens war in vier Felder getheilt und jedes
Feld beſtand aus allerhand buntem, reich vergoldetem Schnitzwerk,
in deſſen Mitte ſich ein ſorglich gemaltes Wappenſchild präſentirte.
Es waren die vier Wappen der Alvensleben, Redern, Hake und
Bredow. Der gegenwärtige Beſitzer Löwenbruchs wußte aus die-
ſem glücklichen Funde etwas zu machen. Er ließ von geſchickter
Hand, die das Schnitzwerk der Original-Truhe zum Muſter neh-
men mußte, eine Rückenlehne anfertigen, ſchmückte dieſe Lehne mit
ſeinem eigenen Wappen und erzielte auf dieſe Weiſe ein Original-
Sopha, das nach Erſcheinung und Entſtehungs-Geſchichte nicht
leicht ein Seitenſtück finden wird. Die alten Alvensleben hatten
ein ſchlichtes Haus; aber ſie hatten eine reiche, adlige Truhe, und
der Inhalt derſelben blieb muthmaßlich hinter dem vergoldeten
Schnitzwerk nicht zurück. Ihren Reichthum zeigt auch die ſchön-
geſchnitzte Kanzel, die Achatz v. Alvensleben der Löwenbrucher Kirche
zum Geſchenk machte.
Die Gröbens führen uns bis in dies Jahrhundert hinein.
Die letzten dieſer Familie, die Löwenbruch beſaßen, waren zwei
Brüder, die ohne männliche Descendenz verſtarben. Der jüngere
von beiden, der unter Friedrich dem Großen Rittmeiſter im Regiment
Gend’armes geweſen war, war der eigentliche Beſitzer. Er that
[405] viel zur Hebung des Guts, baute das jetzige Herrenhaus, ſtarb
aber früher als ſein älterer Bruder, dem nun, da keine Kinder
da waren, die ſchöne Beſitzung zufiel. Dieſer Bruder war ein
Original, geſcheidt, tapfer, nüchtern und phantaſtiſch zugleich. Er
war Major bei den „gelben Reitern“ geweſen, die in Zehdenick
ſtanden, hatte aber den Dienſt quittirt, theils ſeiner ſchweren Bleſ-
ſuren, vorzüglich aber ſeiner Studien halber, denen er ſich ruhiger
und ausſchließlicher widmen wollte, als es der Dienſt geſtattete.
Er ſtudirte den Kant und correſpondirte mit ihm. 1800 übernahm
er Löwenbruch. Er war die abſolute Bedürfnißloſigkeit, eine völlig
auf das Geiſtige geſtellte Natur — unſere Tage des Materialis-
mus würden ihm ſchwerlich gefallen haben. Er trug jahraus jahr-
ein einen Leinwand-Anzug (auch der alte Zieten in Wuſtrau war
ſo gekleidet), den er nur ablegte, wenn er ſich auf Beſuch nach
Berlin begab. Dies geſchah alle Jahr ein Mal und zwar auf 4
Wochen. Er ſtieg dann in Krauſe’s Kaffeehaus ab (dem jetzigen
Hotel de Brandebourg) und verbrachte die ganze Zeit mit Conver-
ſation und Schachſpiel. Nach dieſer Berührung mit der Welt, zu
der er ſich eigentlich nur entſchloß, um ſein großes Geſchick im
Schachſpiel nicht einroſten zu laſſen, begab er ſich wieder in ſeine
Einſamkeit zurück, um ſich an Büchern und — Waſſer auf’s
Neue aufzurichten. Er war ein Vorläufer der Hydropathie. Perſo-
nen, die ihn noch gekannt haben, ſagen aus, daß er ſich in Waſ-
ſer (incredibile dictu) berauſcht habe; vielleicht nahm man ge-
wiſſe Excentricitäten für Rauſch. Er hatte eine trunkene Seele.
Auch eine Miſchung von Donquichoterie und Eulenſpiegelei, viel-
leicht eine bloße Querköpfigkeit, blieb nicht aus. Als er vom Aus-
bruch des Krieges hörte, ließ er den Thurm abtragen, damit das
Dorf von vorüberziehenden Kriegsſchaaren nicht bemerkt werden
möge. Mit leidenſchaftlichem Eifer verfolgte er die Napoleoniſchen
Kriegs- und Siegeszüge. Als der Krieg von 1805 begann, der
mit dem Tage von Auſterlitz endigte, ſagte er den Ausgang des
Kampfes vorher, auch den herannahenden Sturz der preußiſchen
Monarchie. Dieſer eine Gedanke beſchäftigte ihn Tag und Nacht
[406] und quälte ihn zuletzt bis zum Unerträglichen. Er wollte die Wolke
ſich nicht entladen ſehen, die über Preußen ſtand, und — er-
ſchoß ſich, in bloßer Vorahnung deſſen, was kommen würde, nach-
dem er zuvor die Angelegenheiten ſeines Hauſes mit philoſophiſcher
Ruhe geordnet hatte.
Von den Gröbens kam das Gut an die Kneſebecks; ſie
beſitzen es noch. Der erſte von ihnen, der ſich hier heimiſch ein-
richtete, war Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Kneſebeck,
Halbbruder des Feldmarſchalls. Von dieſem Friedrich Wilhelm
Ludwig von dem Kneſebeck gedenk’ ich zu erzählen. Sein Leben
erſcheint zwar als eine bloße Skizze neben dem farbenreichen Bilde
ſeines berühmten Bruders; aber es bedarf keines langen Su-
chens und Forſchens, um wahrzunehmen, daß beide Brüder Zweige
deſſelben Stammes waren. Sie wirkten in verſchiedenen Kreiſen:
der eine in der beſchränkten Sphäre einer kleinen Stadt, der an-
dere in dem weitgezogenen Kreiſe des ſtaatlichen Lebens; aber der
Pulsſchlag beider, das Agens war daſſelbe, und wie verſchieden
ſich ihr Leben geſtaltete, an Mannesmuth und adliger Geſinnung,
an Vaterlandsliebe, Gemeinſinn und Opferfreudigkeit ſtanden ſich
Beide gleich. Beide — märkiſche Edelleute von Kopf bis zu Fuß,
aber der ältere Bruder geſellte hohe Gaben des Geiſtes zur Kraft
und Stärke des Charakters: das ſchuf einen Unterſchied zwiſchen
Beiden. Der kühne Kopf, der den Gedanken gebären konnte: den
unbeſiegbaren Imperator durch die bloße Macht des Raumes, d.
h. durch Rußland zu vernichten, ſtand ſo hoch, daß er die Neben-
buhlerſchaft eines andern Geiſtes nicht leicht zu fürchten hatte.
Die Talente waren verſchieden, aber die Charaktere
waren gleich.
Friedrich Wilhelm Ludwig von dem Kneſebeck wurde am 29.
März 1775 zu Carwe geboren. Er trat als Lieutenant in das
zu Ruppin garniſonirende Regiment Prinz Ferdinand ein und
machte als ſolcher die Rhein-Campagne mit. Ein Duell und eine
[407] Verwundung, die er empfing, veranlaßten ihn im Jahre 1800,
ſeinen Abſchied zu nehmen. Ruppin war ihm lieb geworden, und
er verblieb als Bürger in einem Kreiſe, in dem er als Offizier
eine Reihe glücklicher Jahre verlebt hatte. So kamen die Tage
von Jena und Auerſtädt; die Marken, alles Land dieſſeit der
Oder wurde von preußiſchen Truppen geräumt, und das Land
lag offen und widerſtandslos vor dem nachrückenden Feinde da.
Am Tage Aller Heiligen traf in Ruppin die Nachricht ein, daß
die Franzoſen anrückten. Was thun? Wer hatte den Muth und
die Fähigkeit, die Stadt zu vertreten? Eine Wahl war bald ge-
troffen, wo nur Einer gewählt werden konnte. Alle Stimmen
vereinigten ſich auf Kneſebeck; man gab ihm eine Art dictatoriſcher
Gewalt und vertraute das Wohl der Stadt ſeiner Geſchicklichkeit
und dem Glück ſeiner Hand.
Der Abend dämmerte und Piſtolenſchüſſe verkündeten die An-
kunft franzöſiſcher Chaſſeurs. Kneſebeck ging ihnen entgegen.
„Qui vive?“ „Un citoyen du bourg“, antwortete Kneſebeck
und verlangte den commandirenden Offizier zu ſprechen. Dieſer
gab ſich als einen Marquis de Cuſtine zu erkennen. Kneſebeck er-
öffnete ihm, daß die Stadt offen, ohne Beſatzung und arm, trotz
ihrer Armuth aber zu einem „douceur“ bereit ſei. Das wirkte.
„Ah, Monsieur savait traiter avec les soldats“, erwiederte
der Marquis lächelnd mit befriedigtem Geſicht, und man einigte
ſich alsbald über 100 Louisd’or. Die Franzoſen zogen ein, und
die Summe wurde gezahlt.
War auf dieſe Weiſe Plünderung und Gewaltthat glücklich
abgewandt, ſo ſicherte Kneſebeck’s Geiſtesgegenwart wenige Wochen
ſpäter die Stadt vor einer noch drohenderen Gefahr. Das Gerücht hatte
ſich verbreitet: „die Franzoſen ſeien geſchlagen worden“, und den
guten Ruppinern begann der Kamm zu ſchwellen. Detachements
franzöſiſcher Truppen paſſirten die Stadt, dann und wann auch
Perſonen von Rang; warum ſollte man ſie ruhig und ungehindert
ziehen laſſen? waren es nicht Feinde? So beſchloß man, den
„kleinen Krieg“ zu organiſiren und wegzufangen, was ſich fangen
[408] ließe. Die Sache war gut gemeint, aber ſie hatte mehr Herz, als
Verſtand. Kaum daß ſolche Pläne in den Köpfen der Menge ſpuk-
ten, als ſich auch ſchon Gelegenheit bot, ſie auszuführen. Bei lei-
ſem Schneegeſtöber kam Anfangs December ein Schlitten durch’s
Thor, deſſen Inſaſſe ſich, trotz des weiten Mantels, der die Uni-
form verhüllte, unleugbar als ein höherer franzöſiſcher Offizier zu
erkennen gab. Da hatte man wen im Garn! Mit Geſchrei drang
man auf den Unbekannten ein, zunächſt um ihn zu inſultiren,
vielleicht um ihn zu erſchlagen, wenn er Widerſtand verſuchen ſollte.
Kneſebeck eilte herzu, ſtellte den Angreifenden das Unedle, das
Thörichte, das Gefährliche ihrer Handlungsweiſe vor und trieb den
Haufen aus einander. Der Offizier ſetzte ſeine Reiſe nach Berlin
hin fort. Alles ſchien vergeſſen, als etwa drei oder vier Tage ſpä-
ter Kneſebeck in den Gaſthof zur Krone gerufen wurde. Ein fran-
zöſiſcher Gendarmerie-Oberſt (ein Abgeſandter Savary’s, in deſſen
Händen damals (in Berlin) die oberſte Polizeileitung war) trat
ihm in brüsker Weiſe entgegen und machte ihn verantwortlich für
die Inſulten, die ſich die Stadt gegen einen franzöſiſchen Offizier
erlaubt habe. „Ich werde Sie füſiliren laſſen.“ Kneſebeck erwie-
derte kalt: „contre la force il n’y a point de résistance.“
Der Oberſt *), durch die Ruhe dieſer Entgegnung decontenancirt, pol-
terte eben heftig mit neuen Schmähungen heraus, als eine dritte
Geſtalt, die bis dahin halbverborgen in der Fenſterniſche geſtanden
hatte, zu den Streitenden herantrat und dem lärmenden Offizier
zurief: „Taisez vous! cet homme a agi comme chevalier;
[409] il n’y a rien à lui reprocher.“ Kneſebeck erkannte jetzt in dem
Sprecher denſelben franzöſiſchen Offizier, den er der Volkswuth
entriſſen hatte. Es war Napoleon’s Oberſtallmeiſter, Caulaincourt
Herzog von Vicenza. Caulaincourt hatte keine Ahnung davon ge-
habt, daß dieſelbe Orts-Autorität, die er an dem Vorfall Schuld
glaubte, und deren Verfolgung er in Berlin (bei Savary) bean-
tragt hatte, genau derſelbe Mann war, deſſen rechtzeitigem Ein-
ſchreiten er ſeine Rettung verdankte. Die Sache wurde beigelegt,
auf Beſtrafung der Schuldigen nicht weiter gedrungen und Kneſe-
beck mit den verbindlichſten Worten entlaſſen.
Einquartierungen und Truppen-Durchmärſche dauerten fort.
Wohl kam Frieden, aber er hatte nicht die erſehnte Folge, daß
die Franzoſen die Mark verließen; ſie wurden nur innerhalb
derſelben dislocirt. Um dieſe Dislocirungen für die Grafſchaft Rup-
pin einzuleiten, wurde Kneſebeck im Auguſt 1807 nach Liebenwalde
geſchickt, wo ſich damals die Diviſion Vilatte befand. Nachdem er
die nöthigen Notizen über Zahl und Gattung der unterzubringen-
den Truppen erhalten und dem General Vilatte die vollſtändigſte
Auskunft über die vorzunehmende Dislocation ertheilt hatte, for-
derte der Commandirende ihn auf, die Vorbereitungen zu dem
nahe bevorſtehenden Napoleonstage (15. Auguſt) zu treffen. Kneſe-
beck that wie befohlen. Als er andern Tages meldete, daß Alles
angeordnet ſei, lud ihn Vilatte ein, in Liebenwalde zu bleiben und
an der Feier theilzunehmen. „General“, erwiederte Kneſebeck, „Sie
haben zu befehlen; wenn ich bleiben muß, ſo werde ich bleiben;
aber kein preußiſcher Offizier wird ſich aus freien Stücken dazu
entſchließen, bei ſolchem Feſte zugegen zu ſein.“ Ein prüfender
Blick traf den Sprecher; dann trat Vilatte an ihn heran und
ſchüttelte ihm herzlich die Hand.
Später in Ruppin ſelbſt, wohin, als nach einer größeren
Stadt, das Hauptquartier alsbald verlegt wurde, entſpann ſich ein
immer freundlicheres Verhältniß zwiſchen Kneſebeck und dem fran-
zöſiſchen General. Vilatte war ein Ehrenmann, ein Soldat von
ritterlichem Sinn. Daſſelbe galt von ſeinem Adjutanten, dem
[410] Hauptmann Denoyer, einem Kreolen von Martinique, der im
Hauſe Kneſebeck’s eine Wohnung bezog und in liebenswürdiger
Weiſe die Beziehungen zwiſchen dieſem und dem General zu för-
dern wußte. Die Mußeſtunden, die der Dienſt gönnte, wurden
verplaudert; man verweilte gern bei den Scenen früherer Feldzüge
und fühlte ſich doppelt zu einander hingezogen, als ſich bei dieſen
Plaudereien herausſtellte, daß ſich Beide während der Rhein-Cam-
pagne gegenüber geſtanden und auf der Mainzer Schanze Kugeln
mit einander gewechſelt hatten.
Inzwiſchen wüthete der Krieg in Spanien fort; die Capi-
tulation von Baylen war eingetreten und Kneſebeck wurde zu
Vilatte beſchieden, um die Angelegenheiten des Tages, die neueſten
Nachrichten vom Kriegsſchauplatz, mit ihm durchzuſprechen. Vilatte
träumte von einem nahen Frieden, ſprach mit Eifer von dem bal-
digen Abmarſch der franzöſiſchen Truppen und knüpfte daran eine
Einladung an Kneſebeck, ihn auf ſeinem „chateau“ in der Um-
gegend von Nancy zu beſuchen. Kneſebeck erwiederte: „General,
Sie werden uns bald verlaſſen, aber nicht um in die Heimath zu
ziehen; der Frieden iſt ferner denn je.“ — „Sie irren, Kneſebeck;
unſere Affairen in Spanien ſtehen gut; der Krieg geht auf die
Neige.“ — „Ich bezweifle es, General; darf ich mich offen zu
Ihnen ausſprechen?“ — „Eh bien parlez!“ — „General, man
hintergeht Sie; die Bulletins Ihres Kaiſers ſind Täuſchungen;
es geht nicht gut; General Dupont hat bei Baylen capitulirt,
17,000 Franzoſen ſind kriegsgefangen.“ — „Sind ſie deſſen ſo
ſicher?“ — „Ganz ſicher.“ — „Eh bien, nous verrons! in 8
Tagen ſprechen wir weiter davon.“ Die 8 Tage verſtrichen und
brachten die einfache Beſtätigung der Capitulation. Vilatte gerieth
in die höchſte Aufregung, ließ Kneſebeck zu ſich entbieten, ſchüttete
ihm ſein Herz aus über die endloſen Kriege, wiederholte aber
dennoch ſeine Einladung. Beide Männer waren bewegt. Kne-
ſebeck antwortete endlich: „Ich nehme Ihre Einladung an, General,
ich werde kommen; aber wenn wir uns wiederſehn, wird
es in großer Geſellſchaft ſein.“
[411]
Das war in den erſten Auguſttagen 1808. Die franzöſiſchen
Truppen marſchirten ab, aber nicht in die Heimath, vielmehr —
nach Spanien. König Friedrich Wilhelm kehrte aus den öſtlichen
Provinzen nach Berlin zurück; bange Friedensjahre kamen, endlich
die Tage erneuten Kampfes und der Hoffnung auf Erlöſung.
Kneſebeck jubelte; er hoffte den großen Kampf mitkämpfen zu
können; eine Compagnie war ihm zugeſichert, — da berief ihn
eine Cabinetsordre als ſtändiſchen Commiſſarius nach Potsdam,
wo ihm die Aufgabe zufiel, bei der Organiſation der kurmärkiſchen
Landwehr miteinzugreifen. So blieb es ihm verſagt, mit in’s
Feld zu rücken und an den Ehren jener großen Zeit unmittelbar
Theil zu nehmen, bis endlich die Rückkehr Napoleon’s von Elba
und das raſche Vorrücken der Preußen, um dem drohenden Stoß
ſo früh wie möglich zu begegnen, ihm auch dieſen Wunſch erfüllte.
Er erhielt eine Compagnie im 6. kurmärkiſchen Landwehrregiment,
rückte mit in Flandern ein und focht bei Ligny, Sombref und
Wavre.
So kam er nach Paris. Sein erſter Gang war zu —
Vilatte, damals Chef der Gendarmerie der Hauptſtadt. „Bon
jour, Général! da bin ich; erkennen Sie mich wieder?“ —
„Mon Dieu, Knesebeck, c’est vous“, — und die alten Geg-
ner und Freunde ſchüttelten ſich die Hand. Kneſebeck hatte ſein
Wort gelöſt; er war gekommen, aber „in großer Geſellſchaft“, wie
er prophezeiht hatte.
Weihnachten 1815 kehrte er heim, ererbte 1823 Löwenbruch
und zog ſich 1829 nach dem benachbarten Jühnsdorf zurück.
Unter allen Tagen ſeines Lebens blieb ihm der Sylveſtertag 1807
der theuerſte, wo die Bürgerſchaft der Stadt Ruppin ihm, in feſt-
licher Verſammlung, die Bürgerkrone überreicht hatte, und mit
freudigem Stolze mochte er ſich der Liedesworte erinnern, die
damals, in noch friſcher Dankbarkeit, an ihn gerichtet worden
waren:
[412]
Er hatte wohl Anſpruch auf dieſe Huldigung. Der Kreis, in
dem ihm zu wirken vergönnt war, war nur ein kleiner und be-
grenzter, aber innerhalb deſſelben hatte er ſich bewährt. Den grö-
ßern Kreis ſich zu ſchaffen, lag außerhalb ſeiner Macht, aber wo
immer er ſtand, ſtand er da — ein ganzer Mann. Er ſtarb
hochbetagt am 11. Juli 1860.
Wir ſitzen im Herrenhauſe zu Löwenbruch; die Saal-
thür, die in den Garten führt, ſteht offen, und Duft und Friſche
dringen zu uns ein. Die Sonne geht eben unter und ein breiter
rother Streifen liegt über dem Schwarzgrün der Edeltannen. Alles
iſt Sabbathſtille, und geräuſchlos zieht ein Schwarm Tauben durch
die Luft. Erdbeerſchalen ſchmücken den Tiſch und lachen uns an;
heiter, behaglich fließt der Strom der Rede. Wir ſprechen, und die
todten Dinge um uns her ſprechen auch. Was ſeit Jahrhunderten
hier thätig und lebendig war, es iſt nicht todt; irgend ein Etwas
iſt da, was uns das Vergangene wieder gegenwärtig macht und
geheimnißvolle Bande webt zwiſchen todten und lebenden Geſchlech-
tern. Vor uns auf dem Tiſch ſteht ein hoher Serpentin-Krug,
der das Wappen der Otterſtedts auf ſeinem Silberdeckel trägt;
durch die zurückgeſchlagene Sammt-Portière gewahren wir im Ne-
benzimmer die alte Alvensleben’ſche Truhe, die nun als Sopha
dient; vor uns der Hollunderbaum, der über die Gartenmauer
ragt, mahnt uns an Gröben, der im Leinwandkittel unter dem
grünen Blätterdache ſaß und phantaſtiſche Schlachten auf ſeinem
Schachbrett ſchlug; und neben uns, an der Wand, tickt die Pen-
deluhr, die Kneſebeck der Feldmarſchall in Wien erſtand, als
der Friedens-Congreß die Fürſten Europa’s in der heitern alten
Kaiſerſtadt verſammelt hielt. Wie viele Denkſchriften, Gutachten
[413] und Entwürfe entſtanden bei dem Ticktack dieſer gedrungenen
Ebenholz-Pendule, die ſo ernſt und in ſich zurückgezogen daſteht,
als wiſſe ſie, was einem Zeugen ſchickt, der ernſte Dinge gehört
und geſehn. Der letzte rothe Streifen über den Tannen iſt hin;
Dämmerſtunde herrſcht; das leiſe Singen des Keſſels im Neben-
zimmer kündigt die Theeſtunde an. Die Unterhaltung ſchweigt;
aber es iſt, als flüſterten die Stimmen derer miteinander, die
nicht mehr ſind.
Glücklich die Häuſer und Plätze, die mehr haben als leuch-
tende Tapeten und farbige Schildereien.
[[414]]
Schloß Beuthen.
Jedem Unterthan in Schooß.
Kerner.’
Am Nuthe-Fluß, der die Grenze zwiſchen dem Teltow und der
Zauche bildet, ſtand in alten Zeiten Schloß Beuthen und be-
herrſchte den Fluß-Uebergang. Rings von Waſſer umfloſſen und
aus grauem Feldſtein feſt zuſammengefugt, erhob ſich die Burg
wie eine groteske Felſenmaſſe und blickte eckig, ſteil und trotzig in
die Niederung hinein.
Ja, Schloß Beuthen war trotzig. Die Quitzow’s hatten es
inne und gedachten es zu behaupten gegen den Nürnberger Burg-
grafen, der wie ein Herr in’s Land kam und den man nicht gel-
ten laſſen wollte. Sie mochten denken, „die Herren wechſeln raſch
in der Mark; ſie kommen und gehn, wie Kaiſerliche Noth oder
Kaiſerliche Laune ſie ſchickt; es giebt nur einen bleibenden Herrn
in der Mark und das ſind wir.“ Sie hatten damals ſo unrecht
nicht.
Sie hatten nicht Unrecht in der Sache, aber ſie hatten Un-
recht in der Perſon. Das war kein Herr wie die andern, die
nur gekommen waren, um wieder zu gehn; dieſer kam, um zu
bleiben, und nahm Platz mit dem Behagen und dem Nachdruck
eines, der ſich einzurichten gedenkt. Die Quitzow’s hatten kein
Auge dafür, ſie trotzten und hatten es kein Hehl. Es galt, dieſen
[415] Trotz zu brechen. Vier Heerhaufen zogen vor die Schlöſſer der
Quitzow’s und Rochow’s, vor Plaue, Friſack, Golzow, und der
vierte Heerhaufen, der aus Bürgern von Jüterbogk und Treuen-
brietzen und aus Lehnsleuten der Klöſter Zinna und Lehnin be-
ſtand, rückte vor Schloß Beuthen. Hans von Torgau, der Vogt
zu Zoſſen war, führte dieſen Heerhaufen an und forderte die Be-
ſatzung auf, ſich zu ergeben. Goswin von Brederlow aber, der die
Burg für die Quitzow’s hielt, antwortete guten Muths: „er wolle
ſich die Sache noch ein paar Jahre überlegen.“ Das war am
14. Februar 1414. Hans von Torgau meldete die Antwort dem
Kurfürſten, und die Bürger von Jüterbogk und Treuenbrietzen,
die’s nicht eilig hatten, lagerten ſich an der Nuthe entlang und
warteten auf den zugeſagten Bundesgenoſſen, von deſſen Kriegs-
ruhm die Marken damals voll waren. Sie warteten nicht lange.
Am 24. Februar fiel Schloß Plaue und am 25. ſchon erſchien
die „faule Grete,“ von 36 Pferden gezogen, vor Burg Beuthen.
Andern Morgens mit dem Früheſten klopfte eine 30 Pfund ſchwere
Steinkugel an denſelben Thurm, hinter dem Goswin von Breder-
low eben beim Frühſtück ſaß, und gab der alten Burg einen ſol-
chen Ruck, daß es ſchwer zu ſagen war, was mehr zitterte, die
Mauern oder die Herzen der Beſatzung. Goswin von Brederlow
ließ ſich handeln jetzt; es ſchien, er hatte Tage gemeint, nicht
Jahre, — und am 26. Abends war Schloß Beuthen eine kur-
fürſtliche Burg.
Gut-Hohenzollerſch iſt ſie ſeitdem geblieben, ſo lange ſie ge-
ſtanden hat. Die letzte Spur von ihr verſchwand wenige Tage
vor der Schlacht von Großbeeren, als preußiſche Artillerie (die den
Nuthe-Uebergang decken ſollte) die Feldſteinmauern niederriß und
ſtatt ihrer einen Erdwall aufführte. Nur die Stelle, wo Burg
Beuthen ſtand, iſt noch deutlich erkennbar; Gräben und Fluß-
windungen bilden ein Stück Inſelland, auf dem ſich der kreis-
förmige Außenwall und das Mauerwerk des Mittelthurmes erſicht-
lich markiren. Weiden und Akazien beſchatten jetzt den Platz, deſſen
Raſen ein Stück märkiſcher Geſchichte deckt; Fiſchernetze ſpannen
[416] ſich zwiſchen den einzelnen Baumſtämmen aus, und ein Kahn, der
halb verborgen im Schilf liegt, unterhält die Verbindung zwiſchen
Inſel und Ufer.
Das war im Februar 1414. Damals waren die Hohen-
zollern fremd in märkiſchen Landen; beinahe feindlich zogen ſie
ein. Es iſt anders geworden ſeitdem. Dieſelben Familien, die da-
mals am feſteſten widerſtanden, haben ſeitdem ſich als die treueſten
bewährt, und die alten Ritterſitze, vor denen die „faule Grete“
ihr lautes Wort ſprechen mußte, ſind längſt die Sitze unwandel-
barer Treue und Loyalität geworden. Auch Schloß Beuthen.
Die Burg iſt hin; aber zu Füßen derſelben ſind Dörfer und
Herrenſitze entſtanden, die den alten Namen der Burg tragen
(Groß- und Klein-Beuthen) und die Goertzke’s, die ſeit 250
Jahren dieſe friedlichen Dörfer ihr eigen nennen, ſind Alles, nur
keine Goswin von Bredelows mehr, die Burg oder Schloß Beuthen
für die Quitzow’s halten und ſich’s „überlegen wollen,“ wenn ein
Hohenzoller Einlaß begehrt.
Es ſind nun 5 Jahre, daß ein Hohenzoller wieder ’mal Ein-
laß begehrte und ſeinen Einzug hielt in Groß-Beuthen. Verſuch’
ich, dieſen Tag zu beſchreiben.
Die Auguſtſonne fällt auf das Herrenhaus, das am Ausgang
des Dorfes liegt. Der alte Thorweg, der von der Dorfſtraße
direct auf den Hof führt, iſt zu einer Blumenpforte geworden und
auf den Steinpfeilern rechts und links wehen die preußiſchen Fah-
nen. Das Herrenhaus ſelbſt iſt das alte nicht mehr; die einfach
weißgetünchten Wände blicken nur hier und da aus der Umrah-
mung von Feſtons und Guirlanden hervor, und die Aufgangs-
treppe verbirgt ihr ſchlichtes Geländer hinter einem Walde von
hohem Schilf. Aus der weit offen ſtehenden Thür lugt von Zeit
zu Zeit ein Mädchenkopf hervor und blickt über den Hof hin in
die Dorfſtraße hinein und jede Miene und Bewegung drückt die
Frage aus, „ob ſie kommen?“ Aber ſie kommen noch immer nicht.
Die Alten ſchreiten auf und ab und vergleichen mechaniſch die
Taſchenuhr mit der Wanduhr, — dem einzigen Schlagwerk, das
[417] unbeirrt und unverändert ſeinen Schlag fortſetzt, während alle
Herzen raſcher und höher ſchlagen. Die Tauben ſitzen in langer
Reihe auf dem Dachfirſt des Hofgebäudes, als warteten ſie auch,
und der Hahn, der im Schatten unter dem Vordach um dieſe
Stunde zu meditiren pflegt, ſchreitet heute auf und ab wie eine
Schildwacht und ſcheint ſich im Schultern zu üben, wenn er auf
einem Fuße ſteht. Jetzt aber meldet ſein lauter Schrei, der weit
über den Hof klingt, daß Freund oder Feind im Anzuge iſt; die
Tauben flattern auf und die Mädchen auf dem Hausflur rufen
ſich zu, was Jeder weiß: Sie kommen! Keine Täuſchung; ſie
kommen wirklich. Die Vorreiter ſprengen auf den Hof, eine lange
Reihe von Equipagen folgt hinterher; der erſte Wagen hält, die
Pferde ſchnaufen und werfen den Schaum von den Nüſtern; ein
Jäger öffnet den Schlag, und den Tritt hinab, der ſich beim
Oeffnen der Wagenthür wie eine ſtarke Eiſenhand graciös vor
ihnen ausbreitet, ſteigen König und Königin.
Sie haben ſich anmelden laſſen in Groß-Beuthen, haben um
Quartier gebeten für die Tage des Manövers, das die Garden
auf dem Sandplateau des Teltow eben heut begonnen haben,
und da ſind ſie nun, um in das feſtgeſchmückte Haus ihren Ein-
zug zu halten. Liebe empfängt ſie und Ehre geben ſie. Die Schilf-
treppe hinauf ſchreitet das Königliche Paar, und nach Worten
herzlicher Begrüßung ziehen König und Königin unter Laub- und
Blumengewinden in die bereit gehaltenen Zimmer ein.
Eine Stunde ſpäter. Die Diener fliegen Trepp auf und ab;
im Garten iſt das Mahl angerichtet, aufgetragen unter einer Gruppe
mächtiger Kaſtanien, deren Kronen das weiße Linnen des Tiſches
überſchatten. Was haben Blumen und guter Wille aus dieſem
ſchlichten Platze gemacht? Der Staketenzaun, deſſen Holzwerk längſt
die Zeichen gereifter Jahre trägt, hat ſeine Moos- und Flechten-
Patina hinter Pyramiden von Rieſenmais verſteckt, und die alten
Kaſtanien ſelbſt wachſen wie eine phantaſtiſche Tropenvegetation aus
tauſendſpitzigen Kelchen hervor, die ſich bei näherer Betrachtung
als hoch aufgerichtete Garben erweiſen und nichts mehr. Alles
27
[418] was Duft und Farbe hat, iſt hier verſammelt. Die Treibhäuſer
haben ihre Blumentöpfe bis auf den letzten Mann in’s Feld ge-
ſtellt und ſelbſt der Landſturm der Aſtern iſt aufgeboten worden.
Terraſſenförmig ſtehen ſie da, auf Stufen und Treppen, und
blicken einander über die Köpfe fort, als wären ſie nicht nur da,
um geſehen zu werden, ſondern auch — um ſelber zu ſehen.
Die trotzigen Tage von Burg Beuthen liegen weit zurück.
Wo Goswin v. Brederlow den Einzug wehren wollte, da haben
die Goertzke’s Blumenpforten gebaut, um dieſen Einzug zu feiern
— König und Königin ſind zu Gaſt in Groß-Beuthen. Die
vollen Blätterſchirme der Kaſtanien halten die Sonne ab, aber ein
Sonnenſchein liegt dennoch über der Tafel; Blumen und Mädchen-
geſichter üben ihre alte Macht, und das Singen der Vögel klingt
ſo laut, als wollten ſie denen draußen im Felde erzählen von
dem Feſt, das hier gefeiert wird. Das Auge der Königin hängt
lächelnd an dem reizenden Bilde; der König aber, der den Zauber
mehr fühlt, als ſieht, ſtrömt über von jener geiſt- und gemüth-
gebornen Heiterkeit, die ſo viele Herzen erobert hat, — auch ab-
geneigtere, als die Herzen derer ſind, die hier unterm Kaſtaniendach
zuſammenſitzen.
Das Mahl iſt vorüber. Unterm Blätterwerk der Bäume wird
es ſchwül, der offene, luftige Garten liegt da, und ſeine breiten
Steige und Gänge laden zu einem Spaziergang ein. Die Obſt-
baum-Allee hinauf, die Weißdornhecke entlang, an der Akazien-
laube vorbei und das Weinſpalier zurück, ſo ſchreitet der König
in raſchem Geſpräche auf und ab, nur dann und wann ſich unter-
brechend, wenn, ’mal lauter, ’mal leiſer, die Glocken herüberklingen,
die den Abend einläuten.
Die Dämmerſtunde kommt und der Thee wird auf der
Gartentreppe ſervirt. Die Luft iſt wie ein leiſer Wellenſchlag,
langſam und ruhig, ohne Schwanken und Zittern. Zwei alte Pla-
tanen, die das Haus ſchützen und ſelbſt im Schutz des Hauſes
ſtehn, breiten ihre Zweige über der Treppe aus und bewegen kaum
hörbar ihre Blätter. Abenddunkle Bäume am äußerſten Rand des
[419] Gartens ragen wie ſchwarze Schatten vor dem letzten Streifen der
Abendröthe auf, und die ſtillen Luftwellen ziehen langſam über
die Levkoyen-Beete hin und tragen den Duft bis zur Gartentreppe
hinauf. „Wie ſchön es bei Ihnen iſt“ — ruft der König mit
einem Gefühl von Glück und Behagen, als bade er ſich in der
duftigen Stille dieſes Abends.
Aber die Friſche wird allmählich zur Kühle, ein leiſes Frö-
ſteln durchrieſelt das Blut, und der hell erleuchtete Gartenſaal
nimmt die hohen Gäſte auf. „Was leſen wir heut?“ ſo ergeht die
Frage des Königs, der, ohne die Antwort abzuwarten, mit geho-
bener Stimme fortfährt: „Wir ſitzen hier unterm gaſtlichen Dach
eines uralten märkiſchen Hauſes; alte Geſchlechter haben ihre Ge-
ſchichte; Ehre, dem Ehre gebührt; hören wir ein Capitel aus der
Geſchichte der Goertzke’s.“
Der Vorleſer verbeugt ſich und rückt an den Tiſch, während
der König Papier und Bleiſtift ergreift, wie er immer zu thun
pflegt, wenn das Vorleſen beginnt. Beſchämt und gehoben zugleich
ſitzen die Goertzke’s umher und horchen auf jedes Wort. Sie
kennen Alles, aber das Bekannteſte ſelbſt klingt heute neu und
anders in ihrem Ohr, wo der König dem Berichte lauſcht.
Von ihrem Elternvater wird geleſen, vom Joachim Ernſt
v. Goertzke, vom „alten Goertzke“ par excellence. Nichts wird
vergeſſen: wie er als Page Marie Eleonoren’s (der brandenburgi-
ſchen Prinzeſſin, die ſich dem Guſtav Adolf vermählte) in ſchwedi-
ſche Dienſte kam; wie er unter dem Schwedenkönig bei Leipzig
focht; wie ihn die Kaiſerlichen bei Lützen zum Hinkefuß und Krüp-
pel ſchoſſen; wie ihm das alte märkiſche Herz endlich wieder leben-
dig wurde und er zurücktrat in kurbrandenburgiſchen Dienſt. Und
weiter dann: wie er ein großer Feldoberſt wurde an Oder und
Weichſel, am Rhein und Rhin; wie er bei Rathenow und Fehr-
bellin dem alten Feldmarſchall Wrangel, dem „Guſtav Wrangel“
zeigte, daß aus dem Schüler ein Meiſter geworden ſei; wie er
trotz Krücke und Hinkefuß doch feſt genug ſtand, um die Schweden
über das Eis des kuriſchen Haffs zu jagen, und wie der Kurfürſt,
27*
[420] überwältigt von der Tapferkeit des Alten, ihn ſeinen „Paladin“
genannt. Das Alles wurde geleſen heut und noch viel mehr. Denn
auch die letzten Jahre des alten Helden kamen heute zu ihrem
Recht. In Friedersdorf, das er gekauft und aus Aſche und Trüm-
mern neu aufgeführt, ſaß der alte Kriegsmann vor ſeinem Schloß
und freute ſich des göttlichen Segens, der Sonne von oben und des
Wohlſtands um ihn her; beides wärmte und labte ſein Herz. Von
Zeit zu Zeit kam Beſuch, ein Wagen hielt auf der Rampe und
ein alter Weißbart mit leuchtenden Augen ſtieg aus, gefolgt von
Töchtern und Enkeln. Es war, als käme der Winter und brächte
den Frühling mit. Das waren die Guſower; der alte Derfflin-
ger kam zum alten Goertzke. Unter einer weitzweigigen Rothbuche
nahmen Beide Platz, und die alten Kämpen, die immer Nachbarn
geweſen waren, auf den Schlachtfeldern ſonſt und mit ihren Acker-
feldern jetzt, gedachten der alten Zeit und der alten Namen. Auch
am 30. März 1682 hielt der Wagen auf der Rampe von Frie-
dersdorf, und der alte Derfflinger kam zum letzten Male zum
alten Goertzke. Glocken klangen und Kanonen wurden gelöſt; der
Achtzigjährige war gekommen, um den Siebzigjährigen in die Gruft
zu ſenken. In der Mitte der Friedersdorfer Kirche ruht die leib-
liche Hülle des „Paladin;“ neben dem Altar aber ſteht hochauf-
gerichtet ſein ſteinern Bild und ſchaut fromm und muthig drein,
wie es einem brandenburgiſchen Kriegsmanne geziemt. —
Der Vorleſer ſchwieg. Der König war dem Vortrage auf-
merkſam gefolgt. „Ich weiß, daß die Goertzke’s noch immer die
alten ſind; die Erfolge ſtehen bei Gott, aber Muth und Treue
ſtehen bei uns.“
Die Tafel ward aufgehoben; im Gartenſaal wurde es ſtill,
bald auch in Haus und Dorf. Der König ſchlief inmitten ſeiner
Treuen wie jener „reichſte Fürſt,“ den der Dichter beſungen, und
wenn Gebete und Segenswünſche Macht haben über die Traum-
welt, ſo war ſein Traum wie ein Lied, das Nachts vom See her
an’s ferne Ufer klingt.
[421]
Wochen ſind vorüber. Wir ſtehen noch einmal in dem ge-
räumigen Saal, deſſen Thür auf die Gartentreppe führt. Der
Herbſt iſt gekommen, ein klarer Octoberhimmel lacht; in die Pla-
tanenblätter miſcht ſich das erſte Gelb, und die Obſtbäume, die
über das Weinſpalier wegragen, ſtehen in voller Frucht. Im
Gartenſaale aber iſt es, als wären ſchon die Decembertage da,
jene ſchönſte Zeit im Jahr, wo es auf Flur und Treppe nach
Tannenbaum und Wachsſtock riecht, wo die Geſchenkkiſten eintreffen
von nah und fern und jene gekritzelten Mädchenbriefe, die ein
frohes Feſt wünſchen und ein glückliches neues Jahr. An der
ganzen Länge des Tiſches hin ſtehen alle Inſaſſen des Hauſes, die
Damen zumal, und blicken auf die wohlverpackten Kiſten, als
wären es Zauber-Commoden, aus deren Fächern und Schubkäſten
jeden Augenblick eine Wunderwelt emporſteigen könne. Mit einer
Feierlichkeit, die Niemand merkt, weil ſie Jedem der Ausdruck der
eigenen Stimmung iſt, langſam und mit unwillkürlichen Pauſen,
um die Schauer der Erwartung nicht zu kürzen, ſo werden endlich
die Deckel geöffnet, und der knarrende Ton, mit dem die Nägel
ſich langſam aus dem Holze ziehen, hat ſeinen Reiz in dieſer
Stunde. Die Seegras-Hülle weg und nun blinkt es und blitzt es
hell herauf! Es ſind Geſchenke von Sansſouci. Gold und Por-
zellan, Bilder und Gemmen, — Dinge, werthvoll, wie ſie die
Hand eines Königs, aber auch ſinnig zugleich, wie ſie nur die
Hand eines ſolchen Königs ſchenkt. Keiner iſt vergeſſen. Jung
und Alt ſtehen da und blicken, während derſelbe Schlag durch alle
Herzen geht, auf die Zeichen hoher Huld und Gnade, und während
das Haupt der Familie mit bewegter Stimme die Königlichen
Worte lieſt, die dieſe reichen Gaben begleiten, fallen die Thränen
treuer Menſchen zwiſchen die Gemmen und Edelſteine, als gehörten
ſie dorthin.
Schloß Beuthen iſt längſt keine Veſte mehr, die Brederlow
gegen die Hohenzollern hält. Thür und Thor ſtehen weit offen
und die Herzen der Goertzke’s dazu.
[[422]]
Saalow.
(Ein Capitel vom alten Schadow.)
Auf dem Plateau des Teltow, ziemlich halben Weges zwiſchen
Trebbin und Zoſſen, liegt das Dörfchen Saalow. Es iſt ein
Dorf wie andere Dörfer mehr, aber ſeinen märkiſchen Charakter
deutlich zur Schau tragend. Elsbruch, Kiefernwald und ſandige
Höhen faſſen es ein, und die letzteren, die den grotesken Namen
der „Höllenberge“ führen, bilden ſo ziemlich die ganze Poeſie des
Ortes. Auch ein benachbarter See, die „Sprotter Lache“ genannt,
trägt nach ſchwachen Kräften das Seinige dazu bei.
Wir kommen von Norden, von Großbeeren, haben zuletzt das
Dorf Schünow paſſirt, und, zwiſchen Wald und Bruchland unſern
Weg verfolgend, münden wir jetzt in eine kurze Maulbeerbaum-
Allee ein, die uns nach wenigen Minuten an den Eingang von
Saalow führt. Es iſt ein Bauerndorf, das zu Amt Zoſſen ge-
hört. Eine Kirche fehlt, ein Herrenhaus auch, und ein paar Dutzend
Häuſer und Gehöfte, ſauber gehalten und meiſt mit Ziegeln gedeckt,
bilden die Dorfſtraße, die ſich in der Mitte zu einem baumbe-
pflanzten Platz erweitert. In der Mitte dieſes Platzes dehnt ſich
der übliche Waſſerpfuhl aus, von trüber und höchſt unbeſtimmter
Farbe und ohne den geringſten Anſpruch auf jene ſinnige Bezeich-
nung „Auge der Landſchaft.“ Die Schwalben unter’m Sims und
das Storchneſt auf dem Dache ſorgen für die nöthige Dorf-Ge-
[423] müthlichkeit; die Hähne ſchreien, und über den Pfuhl hin ſchnat-
tern und ſegeln die Enten mit komiſcher Gravität.
So iſt Dorf Saalow jetzt, ſchlicht und einfach genug, aber
doch ein Platz voll einladender Heiterkeit, verglichen mit dem, was
es gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war. Aus Lehmwänden
und Strohdächern, die im Laufe der Zeit zu Moosdächern gewor-
den waren, baute ſich damals die Dorfſtraße auf, und ein weiß
geſtrichenes Häuschen, das auf den Platz und den Waſſerpfuhl
hinausſah, während Obſtgarten und Ziehbrunnen in ſeinem Rücken
lagen, hatte nichts als die weiße Tünche ſeiner Wände, als eine
Zitzgardine und einen Zeiſigbauer hinter’m Fenſter vor dem Reſt
der Hütten und Häuſer voraus.
In dieſem Hauſe wohnte der Schneider des Dorfes, Hans
Schadow mit Namen. Wir treten bei ihm ein. An dem Zu-
ſchneidetiſch, deſſen weit vorſpringende Holzplatte bis in die Mitte
des Zimmers reicht, ſteht ein knochiger und breitſchultriger Mann,
deſſen Figur eher an Hammer und Ambos, als an Nadel und
Scheere erinnert, und blickt auf das ausgerollte Stück Tuch, das
vor ihm liegt. Es iſt blaues Tuch; märkiſche Bauern tragen nur
blaue Röcke. Meiſter Schadow hat ein Stück Kreide in der Hand,
und wie ein Baumeiſter, der ſeinen Plan entwirft und die Di-
ſtancen abſteckt, tupft er bald hier, bald da auf das ausgerollte
Stück Tuch, muſtert die weißen Tüpfelchen, die er gemacht,
und zieht dann, zwiſchen den Punkten, die geraden und die
geſchweiften Linien, wie es Schooß und Rückenſtück erfordern.
Völlige Stille iſt um den Meiſter her; der Zeiſig im Bauer ſingt
weder, noch ſpringt er auf den Sproſſen auf und ab; ſelbſt die
Fliegen gönnen ſich Ruhe, und nur aus dem halbdunklen Ofen-
winkel hervor klingt es und ſchrammt es leiſe, wie wenn Jemand
geſchäftig mit einem Griffel über eine Schiefertafel fährt. Dem iſt
auch ſo. Auf der niedrigen Ofenbank hockt ein ſechsjähriger Blond-
kopf und die beiden Beinchen wie ein ſchräges Pult vor ſich, an
das er ſeine Tafel gelehnt hat, tupft er, ganz nach Art des Va-
ters, allerhand Markirpunkte auf die Tafel und zieht dann, zwi-
[424] ſchen den Punkten, die geraden und die geſchweiften Linien. Aber
die Punkte und Linien, die er macht, beziehen ſich weder auf
Schooß noch Rückenſtück, ſondern auf das Geſicht des Vaters ſel-
ber, deſſen markirtes Profil er, wie einen ſcharf gegebenen Schat-
tenriß, in aller Deutlichkeit vor ſich hat. Den vorſpringenden
Stirnbuckel, die römiſch geſchwungene Naſe, den tiefen Mundwin-
kel, Alles hat er getroffen — und einen Augenblick haftet der
Blick des Knaben an dem Bilde, als freue er ſich ſeiner Schöpfung.
Da aber klingt es „Gottfried“ vom Arbeitstiſche her und das
Klappern eines Deckelkruges begleitet den ſtrengen Ruf des Vaters.
Die Hand des Knaben, als fühl’ er ſich auf einem Unrecht er-
tappt, fährt raſch über Tafel und Zeichnung hin; dann ſpringt er
auf und, gehorſam den Krug nehmend, den ihm der Vater entge-
gen hält, eilt er hinaus, um ihn draußen am Brunnen zu füllen.
Das war im Sommer 1770. Raſch wechſeln Zeit und Ort;
ſtatt der 70er Jahre des vorigen, liegen die 40er Jahre dieſes
Jahrhunderts vor uns, und ſtatt in die Schneiderſtube zu Saalow,
blicken wir in den Actſaal des Berliner Akademie-Gebäudes. Die
Schüler ſind bereits verſammelt, ein helles Lampenlicht fällt von
oben her auf die Tiſche, und Alles ſcheint Ernſt und Aufmerk-
ſamkeit; denn der „Alte“ iſt eben eingetreten, um nach dem
Rechten zu ſehen. Der Alte, ein Achtziger, knochig, breitſchultrig,
ſo recht ein Mann aus dem Vollen, ſchreitet langſam von Platz zu Platz,
von Bank zu Bank; nur dann und wann bleibt er ſtehen und
blickt muſternd über die Schulter des Zeichnenden. „Det is jut“,
ſagt er zu dem Einen und klopft ihm, zum Zeichen des Beifalls,
mit ſeiner mächtigen Handfläche auf den Kopf; „det is niſcht“,
ſagt er zu dem Anderen und geht weiter. Ein Dritter müht ſich
eben, die Umriſſe einer menſchlichen Figur auf dem Papiere feſtzu-
halten; aber die Linien ſind nicht ſicher gezogen und die Propor-
tionen ſind falſch. Der Alte heißt ihn aufſtehen, nimmt Platz auf
dem leer gewordenen Stuhl und ſagt dann lakoniſch: „Paſſ’ uff,
ick mach’ det ſo.“ Dabei nimmt er dem Schüler den Kreideſtift
aus der Hand, tupft Punkte mit feſter Hand auf das graue, grob-
[425] körnige Zeichenpapier, und während er jetzt die markirten
Stellen mittels feſt und ſicher gezogener Linien unter einander
verbindet, brummt er vor ſich hin: „Det hab’ ick von meinen
Vater, det war’n Schneider.“
Gottfried Schadow, der Saalower Schneidersſohn, iſt
Gottfried Schadow, der Akademie-Director geworden, ein berühm-
ter Mann, ein Name, der Klang hat von einem Ende Europa’s
bis zum andern. Derſelbe Gottfried, der raſch das Bild von der
Schiefertafel wiſchte und dienſtfertig aufſprang, wenn der ſtrenge
Vater mit dem Deckelkruge klappte, derſelbe Gottfried iſt jetzt ſel-
ber ein ſtrenger Hausherr geworden, vielleicht nicht ſtrenger als der
Vater, aber mächtiger und gefürchteter. Sein Haushalt iſt die
Akademie. Er iſt ihr König und Herr; längſt hat er ſeine Macht
als einen unerſchütterlichen rocher de bronze ſtabilirt; die Zei-
ten, wo er Beiſpiele ſtatuiren mußte, liegen hinter ihm und, wie
ein milde gewordener Tyrann, ſpielt er mit dem Zügel ſeiner
Herrſchaft. Aller Abzeichen ſeiner Würde, alles repräſentativen
Flitters, hat er ſich längſt entkleidet; er regiert durch ſich ſelbſt,
kraft ſeiner Kraft. Ob das Sacktuch, das er aus ſeinem taſchen-
reichen Rocke zieht, von Kattun iſt oder von Seide; ob er rieſige
Filzſchuhe trägt, oder kalblederne Stiefel (in die er, überall an
Ballen und Zehen, große Löcher geſchnitten hat) ob er hochdeutſch
ſpricht, oder im Berliner Jargon — es kümmert ihn nicht und
es kümmert Andere nicht; denn er ſowohl, wie Andere, empfinden
doch jeden Augenblick, daß er der alte Schadow iſt. Herrſcherge-
wohnheit und das Bewußtſein völliger Ueberlegenheit haben ſeinem
Auftreten längſt jede Spur von Scheu oder Genirtheit genommen,
und was er denkt und fühlt, das ſpricht er aus. Sein Wille iſt
Geſetz; ſeine Laune nicht minder. Eine Anekdote mag ihn ſchildern,
wie er das Scepter führt.
Es iſt eine Abendſitzung; der akademiſche Senat hat ſich
verſammelt, Director und Profeſſoren; keiner fehlt. Der Saal iſt
hell erleuchtet und das Licht fällt auf die ſchönen Blechen’ſchen
Zeichnungen, die an den Ständern und Wandſchirmen befeſtigt
[426] ſind. Am obern Ende des Ovaltiſches, deſſen grüne Decke mit
vielen hundert Goldnägelchen an der Tiſchplatte befeſtigt iſt, ſitzt
der alte Schadow, die Arme auf die Seitenpolſter eines Lehnſtuhls
gelegt, während ſeine Füße in hohen Pelzſtiefeln ſtecken und ein
mächtiger grüner Lichtſchirm mehr als die Hälfte ſeines Geſichts
verdeckt. Es iſt heute Annahme neuer Zöglinge. Am entgegenge-
ſetzten Ende des Saales ſteht Profeſſor Stabbfuß und controlirt
alle Eintretenden, die ſich zur Aufnahme melden. Weſſen Zeugniſſe
nicht in Ordnung ſind, wer zu jung iſt oder zu alt, wird uner-
bittlich zurückgewieſen; heitre und verblüffte Geſichter wechſeln in
raſcher Reihenfolge ab. Da tritt ein Bürſchchen ein, den wir Lin-
denolt nennen wollen, keiner aus der Provinz, dem ſich die Ver-
legenheit wie ein Alp auf die Zunge legt, ſondern ein Berliner
Kind, deſſen kraus aufrecht ſtehendes, blondes Haar gegen alle Aengſt-
lichkeit in der Welt zu proteſtiren ſcheint. Er hat freilich noch be-
ſondere Gründe, an dieſer Stelle mit Sicherheit aufzutreten; denn
der alte Schadow iſt Hausfreund bei ſeinen Eltern, und kein
Geburtstag des alten Herrn iſt ſeit 20 Jahren vorübergegangen,
wo nicht Lindenolt’s Mutter, eine heitere, thüringſche Frau, dem
„Herrn Director“ ſeinen Lieblingskuchen (wir werden gleich ſehen
welchen) als Geburtstagsgeſchenk überſchickt hätte. Lindenolt kennt
die Welt; die Macht der Connexion iſt kein Geheimniß mehr für
ihn, und auf Profeſſor Stabbfuß’s wiederholte Fragen nach Zeug-
niſſen und allerhand andern Papieren, entgegnet er mit äußerſter
Unbefangenheit, daß er weder Zeugniſſe noch andere Papiere habe.
Die Ruhe, mit der dieſe Erklärung abgegeben wird, hat etwas
Beleidigendes, und Stabbfuß beginnt ſeinem Aerger Luft zu
machen. Lindenolt antwortet. Der Lärm wird immer größer und
der alte Schadow, oben am Tiſch, deſſen ſchläfrig ſcheinender Auf-
merkſamkeit nichts entgangen iſt, ruft endlich über den Tiſch hin:
„Wat is denn los?“ Statt eine directe Antwort zu geben, tritt
Stabbfuß jetzt an den Alten heran, zeigt auf Lindenolt, der ihm
gefolgt iſt, und ſpricht im Tone ſchlecht verhehlten Aergers: „Herr
Director, hier iſt einer von den Lindenolts; er will in die Gips-
[427] claſſe, aber nichts iſt in Ordnung.“ „So“, — brummelt der Alte
— hebt den Augenſchirm halb in die Höh’, muſtert den jungen
Aspiranten der Gipsklaſſe und ſagt dann: „J det is ja Herrmann
von nebenan.“ Der Angeredete verbeugt ſich zuſtimmend: „Höre,
Herrmann, ſage man Muttern, der letzte Käſekuchen war jut; aber
vergiß et nich.“ Die Profeſſoren, längſt an Intermezzos dieſer und
ähnlicher Art gewöhnt, lächeln behaglich, wie wenn ſie ſagen woll-
ten: „Ganz im Stil des Alten.“ Nur Stabbfuß beißt ſich auf
die Lippen; denn er erkennt ſofort, daß ſeinem Anſehen eine neue
Niederlage bevorſteht. „Na“ — fährt der Alte fort, nachdem er ſich
inzwiſchen in ſeinem rieſigen Taſchentuche geſchnäuzt hat — „na,
Herrmann, Du wiſt in de Gipsklaſſe?“ „Ja, Herr Director.“
„Haſte denn ooch Luſt?“ „Ja, Herr Director.“ „Haſte ooch ſchon
gezeechnet?“ „Ja, Herr Director.“ Na, denn zeechne mal ’n Ohr,
aber aus’n Kopp. Stabbfuß, jeben Se mal Papier her un’n
Bleiſtift.“ Stabbfuß gehorcht mit ſüßſaurem Geſicht. „So, na nu
ſetz’ de Dir hier an’n Diſch, und zeechenſt.“ Unſer Lindenolt ſetzt
ſich, zeichnet ein Ohr und überreicht es dem nebenſtehenden Stabb-
fuß. Dieſer, begreiflicherweiſe in höchſt kritiſcher Laune, beginnt zu
mäkeln. „Geben Se mal her“, unterbricht ihn der Alte, klappt den
grünen Schirm in die Höh, befühlt und bekuckt das Papier von
allen vier Seiten und ſagt dann: „Stabbfuß, bedenken Se —
aus’n Kopp; det Ohr is jut; ſchreiben Se ihn man in.“ So
kam Lindenolt in die Gipsklaſſe.
Und ſo war der alte Schadow, — ſetzen wir hinzu. Ein
Zwieſpalt ging durch ſein Leben und ſeine Erſcheinung; Griechen-
thum und Märkerthum hielten ſich die Waage oder verbanden ſich
zu einem wunderbar humoriſtiſchen Gemiſch. Wenn er in den Saal
tapſte oder das Taſchentuch zog (was viel öfter geſchah, als ſchön
war), war er ganz der Sohn ſeines Vaters Hans Schadow; wenn
er den Stift in die Hand nahm, war er das Kind der Grazien.
Saalow und Athen erſchienen abwechſelnd als ſeine Heimath.
Sein Körper und ſeine Seele lebten mit einander wie Venus und
Vulkan. Dieſe Zwieſpältigkeit wurde zuletzt ſein Stolz, und er
[428] machte das Beſte draus, das ſich draus machen ließ, eine aparte
Figur, ein Original. Es iſt ſehr merkwürdig, daß immer nur
ſolche Derbheits-Geſtalten bei unſerm Volke populär geworden ſind
(der alte Deſſauer, Friedrich der Große, Blücher); alles Patente
wird beargwohnt, oder iſt ihm lächerlich und verhaßt.
Das ganze Auftreten Schadow’s erinnerte an die alten Mei-
ſter des Mittelalters. Er war ein Peter Viſcher in’s märkiſch-
berliniſche überſetzt. Er hielt noch auf’s Handwerk, immer davon
ausgehend, daß es beſſer ſei, das Handwerk zur Kunſt, als die
Kunſt zum Handwerk zu machen. Von Bürgerſinn und Bürger-
trotz (Dinge, die immer rarer werden), hatte er ſein gerüttelt und
geſchüttelt Maß, und gegenüber den modernen Künſtlerprätenſionen,
hielt er’s ganz mit der alten Schule, die ſich mehr um’s Sein
als um’s Scheinen kümmerte. Das Schwierige des bloßen,
äußerlichen Machen-könnens betonte er gern, und in ähnlicher
Weiſe wie Ludwig Tieck zu ſagen pflegte: „es iſt immerhin eine
Arbeit, einen dreibändigen Roman zu ſchreiben, gleichviel ob er
gut oder ſchlecht iſt“, ſo ſagte auch Schadow, wenn Skizzen und
Entwürfe über Gebühr und auf Koſten ausgeführter Arbeiten ge-
lobt wurden: „Papier is weech, aber Steen is hart.“
Er hatte, wie alle volksthümlichen Figuren unſeres Landes,
eine Vorliebe für den Dialekt, wiewohl er ihn, wo es ange-
bracht war, ſehr wohl bei Seite thun und namentlich in Aufſätzen
und Abhandlungen, deren höchſt vortreffliche aus ſeiner Feder exi-
ſtiren, eine in Stil und Ausdruck muſtergültige Sprache führen
konnte. Lakoniſch war er immer, wie faſt alle Leute hervorragen-
den Könnens. Er trieb dieſe Kürze des Ausdrucks gelegentlich bis
zur Unverſtändlichkeit, und nur Eingeweihte konnten ihm folgen.
Ein Jugenderlebniß, das er gern erzählte und das ihm praktiſch
gezeigt hatte, mit wie wenig Worten ſich durchkommen laſſe, ſchien
eine Nachwirkung auf ſein ganzes Leben ausgeübt zu haben. Als
er 1791 über Schweden nach Petersburg reiſte, fand er an
der ruſſiſchen Grenzſtation Kymen einen ehemaligen ruſſiſchen
Corporal als Poſthalter vor. Schadow fror bitterlich und hatte
[429] Hunger und Durſt. Er wußte kein Wort ruſſiſch und, um ſich
möglichſt gut zu introduciren, ſagte er bloß: Tottleben, Zernitſcheff,
Zarewna. Der Corporal antwortete: Belling, Zieten, Fridericus
Rex. So wurde mit Hülfe des ſiebenjährigen Krieges Freundſchaft
geſchloſſen. Man fand ſich, ſchüttelte ſich die Hände; der Ruſſe
ſchaffte Thee und Speiſen herbei und trat dann unſerm Schadow
ſein Bett ab, das das einzige in der ganzen Gegend war. Er
hatte hier practiſch erfahren, daß es nur darauf ankomme, das
rechte Wort zu treffen! —
Voller Selbſtbewußtſein, war er doch frei von jeder klein-
lichen Eitelkeit. Ja, er erwies ſich, nach dieſer Seite hin, als eine
echte und große Künſtlernatur. Die Autobiographie, die er hinter-
laſſen hat, zeigt uns in erhebender Weiſe die Beiſpiele davon.
Nirgends ein Verkleinern Anderer, nirgends ein Vordrängen des
eigenen Ich, nirgends ein Verkennen oder ein Grollen über die
Fortſchritte, die Zeit und Kunſt um ihn her gemacht hatten. Sel-
ten mag ein Künſtler mit größerer Unbefangenheit über ſeine Werke
zu Gericht geſeſſen haben. „Es kann dies Denkmal Tauentzien’s
— ſo ſchreibt er ſelbſt — nicht zu den Kunſtwerken gezählt wer-
den, die als Vorbilder dienen dürfen“, und über die Statue
Friedrich’s II. in Stettin, die von vielen Seiten ſeinen beſten
Arbeiten zugezählt und über das Rauch’ſche Koloſſal-Werk geſtellt
worden iſt, läßt er ſich ſelber in abwehrender Weiſe vernehmen:
„Ich zähle auch dieſe Arbeit nicht zu den gelungenen; die Drap-
pirung des Mantels war ein mühſeliges Unternehmen.“ Von den
Reliefs am Berliner Münzgebäude ſagt er in heiterer Anſpruchs-
loſigkeit: „Wer dieſe Arbeiten als meine beſten geprieſen hat, mag
es vor ſich und vor der Welt verantworten.“
Solcher Ausſprüche finden ſich viele. Eine ungeheure Pro-
ductionskraft und, bis in’s ſpäte Alter hinein, eine gewiſſe Leich-
tigkeit des Schaffens machten ihn gleichgültig gegen das Einzelne.
Er hatte immer das Ganze vor Augen und war nicht ängſtlich
bei jedem Schnitzelchen auf Ruhm und Unſterblichkeit bedacht. Eine
kleine Anekdote mag das zeigen. Unter den vielen Statuetten, die
[430] in ſeinem Zimmer auf Conſolen und Simſen umherſtanden, befan-
den ſich auch die Modell-Geſtalten zweier Grazien, die er in grüner
Wachsmaſſe ausgeführt hatte. Es waren Arbeiten aus ſeiner beſten
Zeit, kleine chef d’œuvres, die mehr als einmal die Bewunde-
rung eintretender Künſtler und Kenner erregt hatten. Durch eine
Unvorſichtigkeit waren während des Winters 1840 beide Modell-
Figuren in die Nähe des Ofens geſtellt worden und das halb-
geſchmolzene Wachs überzog ſeitdem, wie eine Art Pickelhaut, die
Oberfläche der beiden graziöſen Geſtalten. Ein Tauſendkünſtler aus
der Schadow’ſchen Bekanntſchaft erbot ſich, mit Hülfe von Naphta
oder Aether die alte normale Schönheit wiederherzuſtellen. „Na,
na,“ hatte der Alte kopfſchüttelnd abgewehrt, ſich aber ſchließlich
doch beſtimmen laſſen. Sehr zur Unzeit. In einem Zuſtande un-
geahnter Schlankheit kehrten nach kaum acht Tagen die Aether-
gebadeten in das Schadow’ſche Haus zurück. Der Alte ging
muſternd um ſeine Lieblingsgeſtalten herum, ſchmunzelte einen Augen-
blick und ſagte dann ruhig zu dem erwartungsvoll Daſtehenden:
„De Pickeln ſind weg, aber de Pelle ooch.“ Wenige hätten gleich
ihm die Beherrſchung gehabt, mit einer humoriſtiſchen Bemerkung
von ein Paar Lieblingsgeſtalten wie dieſe auf immer Abſchied zu
nehmen.
Er war auch (freilich in ſeiner Weiſe) ein Repräſentant der
berliner Ironie, dieſer troſtloſeſten aller Blüthen, die der Geiſt dieſer
Landestheile je getrieben hat. Man hat, wenn ſolche Abſchweifung
an dieſer Stelle geſtattet iſt, dies ironiſche Weſen auf den märki-
ſchen Sand, auf die Dürre und Trockenheit des Bodens, auf den
Voltaireanismus König Friedrich’s II. und auf die eigenthümliche
Miſchung der urſprünglichen berliner Bevölkerung mit franzöſiſchen
und jüdiſchen Elementen zurückführen wollen, — aber, wie ich
glaube, mit Unrecht. Alles das mag den Ton, die Form der
Sache beſtimmt haben, aber es erzeugte nicht die Sache ſelbſt.
Die Sache ſelbſt war Nothwehr, war das Product der Unfreiheit,
eine natürliche Folge davon, daß einer Anſammlung bedeutender
geiſtiger Kräfte die großen Schauplätze und Werkſtätten des öffent-
[431] lichen Lebens über Gebühr verſchloſſen blieben. Das freie Wort
iſt der Tod der Ironie geworden und wird es täglich mehr. Zu
Schadow’s Zeiten aber blühte ſie noch, und da es für den Ein-
zelnen immer mehr oder weniger unmöglich ſein wird, ſich gegen
das Beſtechliche eines herrſchenden Tones zu verſchließen, ſo adop-
tirte auch der Alte dieſe Sprechweiſe, allerdings erſt, nachdem er
ſich dieſelbe nach ſeinen eigenen Bedürfniſſen zurecht gemacht hatte.
Er verſetzte ſie nämlich mit einem Element, von dem ſie in der
Regel wenig zu haben pflegt — mit humoriſtiſcher Derbheit, und
erzielte dadurch ein Endreſultat, deſſen hervorſtechendſter Zug eine
vernichtende Grobheit war.
Ein paar illuſtrirende Beiſpiele, herausgegriffen aus einer
großen Zahl ähnlicher Anekdoten und Ueberlieferungen, mögen hier
Platz finden. Vom Profeſſor Stabbfuß, der freilich alles Andre
eher war als ein Maler, pflegte der Alte lächelnd zu ſagen: „Ja,
der Stabbfuß, der hat ſich det Malen angewöhnt,“ und einer
Deputation der Bildhauer, deren Geſammtheit ihm am Abend
vorher einen Fackelzug gebracht hatte, antwortete er, ohne ſich auf
Dankesworte einzulaſſen: „Na, det hat euch woll viel Spaß ge-
macht.“ Verhaßt waren ihm diejenigen, die durch Unterwürfigkeit
und ſchöne Redensarten ausgleichen wollten, was ihnen an Kraft
und Können abging, und auf einſchmeichleriſche Geſuche, wie etwa:
„der Herr Director könnten das ja mit Leichtigkeit thun,“ pflegte
er regelmäßig zu antworten: „Ja, dhun könnt’ ick et, aber ick dhu
et lieber nich.“ Anmaßung und Dünkel ließ er nicht aufkommen,
auch da nicht, wo ein entſchiedenes Talent die Aeußerungen der
Eitelkeit allenfalls verzeihlich gemacht hätte. Merkte er das Auf-
kommen ſolchen Dünkels, ſo entſtanden[ ]Geſpräche wie das folgende:
Schadow: Haſte det alleene gemacht? Schüler: Ja wohl, Herr
Director. Schadow: Janz alleene? Schüler (faſt beleidigt): Ja
wohl, Herr Director. Schadow: Na, det is jut, Du kannſt
Töpper werden. (Er hatte eine ganze Scala ſolcher Ausdrücke zur
Verfügung; am niedrigſten ſtand ihm der Zinngießer.) — Nicht
beſſer ging es denen, die als „Amateurs“ in Reih und Glied ein-
[432] treten oder die Kunſt ſo nebenbei erlernen wollten, und einem
jungen Offizier, der aus „Liebhaberei“ zu malen vorhatte,
antwortete er trocken: „Na, denn bleiben Se man bei Ihr
Mächen.“
Intereſſant war ſein Verhältniß zu Rauch. Es wurde ihm
nach dieſer Seite hin das Möglichſte zugemuthet, und ſelbſt die
bitterſten Gegner des alten Herrn (er hatte deren zur Genüge)
werden ihm das Zeugniß nicht verſagen können, daß er, mit einer
ſelten anzutreffenden Charakterhoheit, dem Aufgang eines Geſtirns
folgte, das beſtimmt war, die Sonne ſeines eigenen Ruhmes,
wenigſtens auf Decennien hin, mehr als partiell zu verfinſtern.
Aeußerungen, die ich bereits im Allgemeinen gethan, hab ich an
dieſer Stelle im Beſonderen zu wiederholen. Kein bitteres Wort,
kein abſchmeckiges Urtheil kam über ſeine Lippe; ſelbſt dann nicht,
als die jugendlichere Kraft des Rivalen mit Ausführung jenes
Friedrichs-Denkmals betraut wurde, das, einſt ſein Tag- und Nacht-
traum, wie nichts andres in ſeinem Leben, der Gegenſtand ſeines
Ehrgeizes und ſeiner höchſten künſtleriſchen Begeiſterung geweſen war.
Ueberall, wo wir dem Namen Rauch’s in ſeiner (Schadow’s) Autobio-
graphie begegnen, geſchieht es in einem Tone unbedingter Huldigung.
„Die Figur der Königin zu Charlottenburg war ſein erſtes glän-
zendes Werk, ſo glänzend, daß es merkwürdig bleibt, wie ſeine
folgenden Werke jenes noch übertreffen konnten.“ So klingt es
ſtets. Zum Theil mochte das, was als neidloſe Beſcheidenheit er-
ſchien, ein Reſultat klugen Abwarten- und Schweigenkönnens ſein.
Er wußte, daß ſeine Zeit wiederkehren würde; er wartete und
ſchwieg; ſprachen doch inzwiſchen ſeine Werke für ihn. Wenig
mehr als ein Jahrzehnt iſt ſeitdem verfloſſen, und die Wandlung
der Gemüther iſt raſcher gekommen, als er ſelbſt erwartet haben
mochte. Die Zeit iſt wieder da, wo das Grabmonument des jun-
gen Grafen von der Mark (Schadow’s erſte berühmte Arbeit, in
der Dorotheenſtädtiſchen Kirche zu Berlin) wieder ruhmvoll und
ebenbürtig neben jenem ſchönen Frauenbilde im Mauſoleum zu
Charlottenburg genannt wird, das die Liebe der Einheimiſchen und
[433] die Bewunderung der Fremden iſt; und der Marmorſtatuen
Scharnhorſt’s und Bülow’s kann nicht Erwähnung geſchehen, ohne
daß gleichzeitig und mit immer wachſender Pietät auf die Stand-
bilder Zieten’s und Leopold’s von Deſſau hingewieſen würde, die
wir dem erfinderiſchen Kopf und der muthigen Hand des Alten
verdanken. Die Fachleute zweifeln kaum noch, vor wem ſie ſich,
als vor dem größeren, zu beugen haben; Rauch hatte die geſchick-
tere Hand, aber Schadow’s Genius ſtieg höher. Er ſchritt voran;
er brach die Bahn, auf der die Geſtalt des Andern, groß und
leuchtend und mit dem fliegenden Haar des Olympiers, ihm folgte.
Es iſt nicht Abſicht dieſer Zeilen, den Charakter Schadow’s
nach allen Seiten hin zu zeichnen; aber ein Zug darf ſchließlich
nicht vergeſſen ſein, der entſchieden in das Bild des Alten gehört
— ſeine Loyalität, ſein Herz für Preußen und die Mark. Er war,
durch ein volles halbes Jahrhundert hindurch, ein Liebling des
Hofes; aber es waren nicht die entſprechenden Auszeichnungen, die
ſeine Loyalität erſt ſchufen; vielmehr wurde er ein Liebling, weil
er ſich in ſchwerer Zeit als ein Mann von Herz und Hand be-
währt hatte. Er gehörte zu denen, denen gegenüber das allgemein
patriarchaliſche Verhältniß, in dem die Hohenzollern zu ihren
Unterthanen ſtehen, den intimeren Charakter einer alten Bekannt-
ſchaft annimmt und zu einem Verhältniß führt, in dem das Ele-
ment der Scheu von der einen und der Hoheit von der andern
Seite, in dem des Vertrauens völlig untergeht. Es giebt viel-
leicht keine andere Fürſtenfamilie, die derartige Verhältniſſe kennt,
ſicherlich nicht in dieſer Zahl. An den meiſten Höfen fehlt
das Vertrauen, bei anderen laſſen Steifheit und Formenweſen das
Menſchliche nicht zur vollen Geltung kommen. Nur die Hohen-
zollern kennen jene echte Humanität, die, wie der Zug ihres Her-
zens, ſo das Glück ihres Volkes iſt.
Der alte Schadow war einer von denen, die, wie lang-
bewährte Diener, „mit zur Familie“ gezählt wurden; einer von
denen, die das ſüße Gefühl nicht ſtörten, „wir ſind unter uns.“
Als er Ende der dreißiger Jahre in’s Schloß ging, um bei Prinz
28
[434]Waldemar, dem jüngeren Sohne des Prinzen Wilhelm, Unter-
richt zu geben, trat er gerade in das Zimmer, als ſich die beiden
Prinzeſſinnen lachend über den türkiſchen Teppich rollten; die Ge-
ſichter glühten und die Haarflechten hingen lang herab. Entſetzt
ſprangen ſie auf, warfen ſich aber ſofort wieder hin und rollten
lachend mit den Worten weiter: „’s iſt ja der alte Schadow.“ —
Als die Friedensklaſſe des pour le mérite geſtiftet wurde, war
es ſelbſtverſtändlich, daß Schadow den Orden erhielt. Der König
ſelbſt begab ſich in die Wohnung des Alten und ließ ſich melden.
„Lieber Schadow, ich bringe Ihnen hier den pour le mérite.“
„Ach Majeſtät, wat ſoll ick alter Mann mit’n Orden?“ „Aber
lieber Schadow, ich ſelbſt…“ „Jut, jut, ick nehm en; aber ene
Bedingung, Majeſtät — wenn ick dod bin, muß en mein Wil-
helm kriegen.“ Der König willigte lachend ein und verzeichnete in
dem Ordensſtatut eigenhändig die Bemerkung, daß nach des Alten
Tode der Orden auf Wilhelm Schadow (den berühmten Director
der Düſſeldorfer Akademie) überzugehen habe. Wunſch des Vaters
und Verdienſt des Sohnes fielen hier zuſammen.
Durch das ganze Schaffen des Alten ging ein vaterländiſcher
Zug hindurch. Dinge, die ſich jetzt von ſelbſt zu verſtehen ſcheinen,
hat er das Verdienſt, völlig abweichend vom Hergebrachten, zuerſt
gewagt und durch charakteriſtiſch ſiegreiche Behandlung in die
moderne Kunſt eingeführt zu haben. Gegen die ausſchließliche oder
auch nur vorzugsweiſe künſtleriſche Berechtigung des Vaterlän-
diſchen, des altenfritzig Zopfigen, des realiſtiſch Modernen, ſcheint
er ſtarke Bedenken unterhalten zu haben, viel ſtärkere, als man
geneigt ſein könnte, bei einem Manne anzunehmen, dem es vor-
behalten war, eben nach dieſer Seite hin epochemachend aufzutreten.
Aber eben ſo wenig wie er den Realismus ausſchließlich wollte,
eben ſo wenig verkannte er ſein Recht. Die alten, hergebrachten
Formen reichten für ein immer reicher und ſelbſtändiger ſich ge-
ſtaltendes Leben nicht mehr aus. Er empfand das tiefer als An-
dere. Im Einklang mit ſeiner ganzen Natur, die ich zu ſchildern
verſucht habe, erſchien ihm die Kunſt nicht als ein allein daſtehen-
[435] des, einfach dem Schönheits-Ideal nachſtrebendes Ding; vielmehr
ſollte ſie dem wirklichen Leben in der Vielheit ſeiner Erſcheinungen
und ſeiner Bedürfniſſe dienen, um es hinterher zu beherrſchen.
Das Loslöſen der Kunſt vom lebendigen Bedürfniß war ihm
gleichbedeutend mit Tod. So entſtanden jene Arbeiten, die unſer
Stolz und unſere Freude ſind. Die Ausführung deſſen, woran
ſeine Seele zumeiſt gehangen hatte (das Friedrichs-Monument),
blieb ihm freilich verſagt; als Beweis aber, wie beſcheiden und
patriotiſch zugleich er ſeine Thätigkeit auffaßte, ſtehe hier zum
Schluß, was er ſelber bei Gelegenheit ſeines Zieten-Standbildes
ſchrieb: „Ein zwar weniger koſtbares, aber deshalb nicht minder
beachtenswerthes Zieten-Denkmal als das meinige, iſt die Lebens-
beſchreibung des alten Helden, die Frau v. Blumenthal heraus-
gegeben hat. Sie giebt in dieſem Buche das ausgeführte Gemälde
eines frommen und tapfern Soldaten, ſchildert den Geiſt ſeiner
Zeit und flößt, bei angenehmer Unterhaltung, die Liebe ein zu
König und Vaterland.“
So ſchrieb der Alte und ſo war er. „In jedem Dorfe
wird ein Napoleon geboren,“ ſagt das Sprichwort. Aber nicht in
jedem Saalow — ein Schadow.
[[436]][[437]]
Anmerkungen.
[[438]][[439]]
Anmerkungen.
Wuſtrau.
- Benutzt: Lebensbeſchreibung Hans Joachims v. Zieten von Frau
v. Blumenthal. Bratrings Grafſchaft Ruppin. Mündliche und
briefliche Mittheilungen.
1. Der alte Hans von Zieten, der Huſaren-General, war zweimal
verheirathet, das erſte Mal mit einer v. Jürgaß, das zweite Mal mit
einer v. Platen.
Aus erſter Ehe (mit Leopoldine Judith v. Jürgaß) wurde ihm nur
eine Tochter (Johanne Chriſtiane Sophie) geboren, die ſich an einen
v. Jürgaß verheirathete und kinderlos ſtarb. (Siehe: Gantzer S. 157).
Aus zweiter Ehe (mit Hedwig Eliſabeth Albertine v. Platen) wur-
den ihm ein Sohn und eine Tochter geboren. Der Sohn, Friedrich
Chriſtian Emil v. Zieten, geb. den 6. Oktober 1765, ſtarb am 29. Juni
1854. Er war k. pr. Rittmeiſter, Landrath a. D. und Ritter des ſchwar-
zen Adlerordens. Er wurde gegraft am 15. Oktober 1840. Er ſtarb kinder-
los, der letzte Zieten aus der Wuſtrauer Linie. —
Die Tochter aus der zweiten Ehe des alten Zieten (alſo die rechte
Schweſter des letzten Zieten) vermählte ſich, nachdem ſie von ihrem er-
ſten Manne geſchieden war, mit dem Obriſt-Lieutenant von Zieten auf
Lögow, ſo daß alſo eine Zieten einen Zieten heirathete. Aus dieſer Ehe
wurden zwei Kinder geboren, ein Sohn und eine Tochter. Der Sohn iſt
kinderlos geſtorben; ſeine Wittwe, eine Frau v. Zieten, lebt noch. Die
Tochter, alſo eine Nichte des letzten Zieten und eine Enkelin des alten
Zieten, vermählte ſich mit dem General-Landſchaftsrath v. Schwerin-
Janow. Aus dieſer Ehe wurden mehrere Kinder geboren. Als der letzte
[440] Zieten im Jahre 1854 ſtarb, hatte er teſtamentariſch den älteſten Sohn
ſeiner Nichte, alſo ſeinen Großneffen, Henning v. Schwerin, zum
Univerſal-Erben eingeſetzt. Henning v. Schwerin ſtarb ſchon 1858 und
Wuſtrau ging nun auf Hennings jüngern Bruder Albert Julius
v. Schwerin über, der das Jahr darauf (1859) unter dem Namen v. Zie-
ten-Schwerin in den Grafenſtand erhoben wurde.
(Der Gotha’ſche Kalender macht in ſeiner Auseinanderſetzung an
betreffender Stelle einen Fehler, indem er Henning v. Schwerin —
und natürlich auch deſſen Bruder Albert — einen Neffen des letz-
ten Zieten nennt; beide ſind vielmehr Großneffen. Der Irrthum
kommt wohl daher, daß ſie Neffen des Lögower Zieten (des jün-
geren, kinderlos verſtorbenen), des Bruders ihrer Mutter ſind, aber
eben deshalb Großneffen des letzten Zieten auf Wuſtrau.)
2. Wuſtrau zeigt nur wenig noch von der alten Viertheilung des
Guts; aber die alten Namen haben ſich wenigſtens theilweis noch erhal-
ten. Das Herrenhaus, das Hans v. Zieten in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts baute, ſteht inmitten zweier Gärten, von denen der
vordere, nach dem See hin gelegen, bis dieſen Tag noch der Rohr’ſche,
der andre der Gühlen’ſche heißt. Das alte Zieten’ſche Herrenhaus ſtand
wahrſcheinlich an ganz anderer Stelle. Im Rohr’ſchen Garten befindet
ſich noch, wenige Schritte vom See entfernt, das ehemalig Rohr’ſche
Herrenhaus, ein alter Fachwerkbau, der jetzt theils als Gärtnerwohnung,
theils als Orangeriehaus dient und im erſten Stock eine Art Rüſt- und
Antiquitäten-Kammer enthält. Das Haus iſt intereſſant, einmal dadurch,
daß es uns zeigt, wie ſchlicht und anſpruchslos der Landadel damals
lebte, andrerſeits durch die Ornamentirung, die Graf Zieten in den letzten
20 oder 30 Jahren demſelben gegeben hat. Als die alte Perleberger Dom-
kirche um die eben angegebene Zeit reſtaurirt und der alte Schmuck be-
ſeitigt wurde, kaufte Graf Zieten allerhand Glasmalereien und Holzſchnitz-
werk, namentlich Heiligenbilder und Engelsfiguren auf und begann mit
Hülfe derſelben die Façaden und die Fenſter des alten Rohrſchen Herren-
hauſes zu ſchmücken. Er liebte ſolche Schnurren (wenn er ſie, ohne be-
ſondren Koſtenaufwand, haben konnte) und mochte ſeine kleine Freude in
der Vorſtellung haben: „wie werden ſich die Archäologen der Zukunft
nach 100 oder 200 Jahren über dieſe Façade mit Engelsfiguren die Köpfe
zerbrechen?“ Er mochte davon ausgehn, daß ſie nicht mehr davon ver-
ſtünden als er ſelbſt.
Die Rüſt- und Antiquitäten-Kammer iſt von ſehr ungleichem Werth;
Gleichgültiges und Alltägliches ſteht neben wirklichen Raritäten. Das
Sehenswertheſte iſt ein kleiner Holzaltar, vielleicht von 4 Fuß Höhe, der zwi-
ſchen ſeinen beiden Säulchen ein ziemlich gut gemaltes Heiligenbild trägt.
Wahrſcheinlich ſtellt es eine heilig geſprochene ſchleſiſche Fürſtin (die hei-
lige Hedwig) dar, denn dies Frauenbild, voll ſchöner Milde im Ausdruck,
[441] hält in der Linken einen Krummſtab, während ihre Rechte auf einer
Grafen- oder Fürſtenkrone leiſe ruht. Dieſer Altar befand ſich in einem
ſchleſiſchen Kloſter, wo der damalige General-Major v. Zieten, bald nach
der Schlacht von Hohenfriedberg, Quartier genommen hatte. Bei Tiſch
ſaß er, im Refektorium des Kloſters, dieſem Bilde ſtets gegenüber und
pflegte lange zu ihm aufzublicken. Die Aebtiſſin, die von Zieten’ſchen Hu-
ſaren nicht das Beſte erwarten mochte, nahm Anſtoß daran und es kam
zu einem Geſpräch zwiſchen ihr und dem General. Er ſagte ihr unbefan-
gen, daß er das Bild betrachte, weil es ihn Zug um Zug an ſeine ge-
liebte Frau, fern daheim am Ruppiner See, erinnre, und das Geſpräch
nahm nun eine freundliche Wendung. Bald darauf erfolgte der Weiter-
marſch. Einige Tage ſpäter bemerkte Zieten eine rieſige Kiſte auf einem
ſeiner Gepäckwagen und begann zu ſchelten. Da hieß es denn zur Ent-
ſchuldigung: „Die Nonnen hätten die Kiſte aufgeladen und Vorſicht
eigens zur Pflicht gemacht, denn ſie gehöre dem General Zieten, der ſie
mit heim nehmen wolle nach Wuſtrau.“ Nun befahl Zieten die Kiſte zu
öffnen und man fand — Altar und Altarbild.
3. Früher befand ſich unter den Sehenswürdigkeiten, nicht der Rüſt-
und Kurioſitätenkammer, ſondern des Zietenſchen Herrenhauſes ſelbſt, auch
der Krückſtock, den Friedrich II. (ich kann nicht ſagen, bei welcher Ge-
legenheit) dem ſchon alternden Zieten zum Geſchenk gemacht hatte. Die
Krücke iſt von Elfenbein und ein eigenhändiges Schreiben des Königs
läßt ſich in gemüthvoller Weiſe darüber aus, warum ſie von Elfenbein
und nicht von Gold ſei. Stock und Handſchreiben befinden ſich jetzt
beide in der Großherzoglichen Bibliothek zu Weimar und werden, unter
einer Menge ähnlicher Erinnerungsſtücke, daſelbſt gezeigt.
4. Zu den Zieten-Bildern im Herrenhauſe gehören auch zwei Sta-
tuetten. Die eine davon iſt einfach eine Copie des Schadow’ſchen „alten
Zieten“ en miniature (vielleicht 1½ Fuß hoch). Die andre iſt ein Seiten-
ſtück dazu, das ein alter Diener des Grafen Zieten, ich weiß nicht mehr
mit Hülfe von welchem Material, ſehr geſchickt modellirt hat. — Bernhard
Rode hat nicht nur die Zeichnung zu dem Grabmal Zietens in der
Wuſtrauer Kirche angefertigt, ſondern außerdem noch ein großes Oel-
bild zur Verherrlichung des alten Huſaren-Generals gemalt. Es befindet
ſich, neben vier oder fünf Bildern andrer Helden des 7jährigen Krieges
(alle von B. Rode), in der Garniſonkirche zu Berlin. Es hat alle die
Rode’ſchen Vorzüge und Fehler, von letztren aber doch weniger als die
Mehrzahl der Bilder dieſes Meiſters. Die Compoſition iſt Dutzendarbeit
und trotz der Prätenſion geiſtvoll ſein zu wollen, eigentlich ohne allen
Geiſt. Ein bequemes Operiren mit traditionellen Mittelchen und Arran-
gements. Eine Urne mit dem Reliefbilde Zietens in Front derſelben; am
Boden ein Löwe, der ziemlich friedlich in einer Zietenſchen Huſaren-
Tigerdecke drin ſteckt (wie etwa ein Kater in einem Damen-Muff);
[442] außerdem eine hohe Frauengeſtalt, die einen Sternenkranz auf die Urne
drückt, — das iſt alles. Das Reliefporträt iſt ſchlecht, nicht einmal ähn-
lich, aber die Urania oder Polyhymnia, die ihm den Sternenkranz bringt,
iſt in Zeichnung und Farbe um ein Weſentliches beſſer, als gemeinhin
Rode’ſche Figuren (er war ein Meiſter im Verzeichnen) zu ſein pflegen.
5. Es exiſtiren mehrere Zieten’ſche Säbel. Von dem einfachen
Cavallerie-Säbel, mit dem er ſich vor der Schlacht bei Torgau durchhieb
und der ſich jetzt in Wuſtrau befindet, hab’ ich S. 7 erzählt. Er beſaß
aber auch zwei Prachtſäbel, von denen er den einen, einen ſogenannten
türkiſchen, 1746 von Friedrich II., den andern vom Kaiſer Peter III. von
Rußland 1762 erhielt. Dieſen letzteren (der ſehr koſtbar ſein ſoll) beſitzt
das Zietenſche Huſaren-Regiment; wo ſich der andere befindet, weiß ich
nicht, vielleicht in Wuſtrau, doch hab’ ich ihn nicht geſehn. — Zieten’s
Tigerdecke, ſo wie ſeine Zobelmütze mit dem Adlerflügel,
befindet ſich bekanntlich in der Berliner Kunſtkammer.
Carwe.
- Benutzt: Autobiographie des Feldmarſchalls v. d. Kneſebeck (als M. S.
gedruckt). Mündliche und briefliche Mittheilungen.
1. Eine Revue vorm alten Fritz.
Es war im Frühjahr 1783, ſo erzählt der Feldmarſchall v. d. Kneſe-
beck in ſeinen Memoiren, und die Truppen, die zur Inſpektion des alten
Saldern gehörten, hatten unweit der Dörfer Piezpuhl und Körbelitz, auf
der ſogenannten Piezpuhler Haide, anderthalb Meilen von Magdeburg,
ein Lager bezogen. Es war gegen Mittag und der König konnte jeden
Augenblick eintreffen, da er ſehr früh am Morgen von Sansſouci auf-
zubrechen pflegte. Bekanntlich fuhr er mit Bauer-Pferde-Relais. Die Reiſe
ging trotz des gräulichen Sandes fortwährend in einer Carriere; was
fiel, fiel und wurde nur mäßig vergütigt. Sein Quartier nahm er in
einem kleinen Häuschen am Nordweſtende des Dorfes Körbelitz.
Sobald er ankam (dies wiederholte ſich alljährlich), ſtieg er zu Pferde
und ritt gleich zur Abnahme der Spezial-Revue zu den Truppen. Die
Regimenter, nach der Anciennetät gelagert, ſtanden dann jedes in folgen-
der Ordnung aufmarſchirt. Vor dem erſten Zuge des erſten Bataillons
zuerſt der Commandeur des Regiments, zu Fuß mit Eſponton (nur die
Generale waren zu Pferde), hinter dem Commandeur die Junker des Re-
giments, die ihm noch nicht vorgeſtellt waren, hinter den Junkern die
[443] Rekruten des Jahres nach der Größe in drei Gliedern aufmarſchirt. So
erwarteten wir ihn jetzt.
Der ſchönſte Frühlingstag glänzte zu unſern Häupten, die weite
Haide war mit Zuſchauern zu Wagen und zu Pferde überdeckt und der
Kräuterduft des Thymian würzte die Luft. Da ſah man eine dicke Staub-
wolke in der Ferne, die ſich uns nahte, — und ſtiller und ſtiller ward
es, je näher ſie kam. Es war Friedrichs Wagen; bei Körbelitz angelangt,
hielt er. Der König ſtieg zu Pferde.
Es war ein ungeheuer großer Schimmel, ein Engländer, den er dies
Jahr noch ritt. Im nächſten Jahre (oder war es erſt 1785) kam er auf
einem kleinen Litthauer-Schimmel, Langſchwanz. So wie er zu Pferde
war, ſetzte er es gleich in Galopp, ſo daß bei dem weit ausgreifenden
großen Thiere das ganze Gefolge hinter ihm Carriere ritt.
So kam der 70jährige königliche Greis. Ungefähr 30 Schritt vor
der Linie parirte er zum Schritt, nahm das Augenglas, ſah die Linie
von Weitem hinunter, ob Alles gut gerichtet war, — und es hielt dicht
vor uns Junkern ein kleiner alter Mann mit ungeheuren großen Augen
und durchdringendem Blicke.
Er ſah uns an, wandte ſich zu Saldern, der unweit von ihm zu
Pferde war, und ſagte: „Saldern, was ſollen die vielen Boucles da?
eine Boucle iſt genug!“ — (Es waren ihm nämlich unſere vier mit
Talg und Puder eingeſpritzten ſteifen Haarlocken aufgefallen, die wir an
jeder Seite des Vorderkopfes trugen. Eine große Haarlocke zur Seite war
damals gerade Mode, und jeder von uns dachte daher ſtill bei ſich: das
iſt unſer Mann! Von dieſem Augenblick an verſchwanden denn dieſe vier
Perrücken-Plagelocken und eine trat an deren Stelle.)
Den Krückſtock auf den rechten Fuß im Steigbügel geſtemmt, fragte
er nun jeden Fahnenjunker, und es kam folgendes Geſpräch, mit Jedem
der Reihe nach: Zu dem Erſten: „Wie heißt er?“ „Hilitan, Ew. Maje-
ſtät.“ — „Wie heißt er?“ und ohne die Antwort abzuwarten, mit immer
ſteigendem ungnädigen Tone ihm folgende Namen gebend: „Kilian, Pe-
likan, Er iſt nicht von Adel?“ — hob er ſchon den Stock, um ihn aus-
zuſtoßen, als dieſer ihm zurief: „Ew. Majeſtät haben mich von den Ka-
dets hergeſchickt; ich bin ein Weſtpreuße.“ — „So!“ — Und ſei es nun,
daß er ſich kein Dementi geben wollte, da er ihm dort gut gethan hatte,
genug, der Stock ward wieder auf die Steigbügel geſetzt. Hilitan ward
von uns jungen Leuten von jetzt an aber nie mehr anders als Pelikan
oder Kilian gerufen, und behielt dieſen Namen, womit ihn Friedrich ge-
tauft hatte. — Er nahm übrigens ſpäter ein ſchlechtes Ende und verſcholl.
Der zweite hieß Hauteville; er war aus Sardinien, ſein Vater
hatte ihn, nachdem er ſeine Studien vollendet, an Friedrich empfohlen
und anvertraut, um in deſſen Armee ſein Glück zu machen. Als er in
Potsdam angekommen war, hatte der König ihn, um deutſch zu lernen,
[444] zu den Kadets geſchickt und ſpäter zu unſerm Regiment. So war er bereits
einige 20 Jahre alt geworden. Bei uns hieß er „der Page“ und wir
fragten ihn wohl zuweilen: wann ſeine Frau und Kinder nachkommen
würden? Er hatte Erlaubniß erhalten, den König zu bitten, ihn bald zu
avanciren. Als Friedrich auf die Frage: „Wie heißt er?“ ſeinen Namen
hörte, ſprach er zu ihm etwa erſt zwei Worte italieniſch, dann franzöſiſch,
und als Hauteville mit ſeiner Bitte herausrückte, und immer dringen-
der ward, fragte er ihn etwas unwillig in deutſcher Sprache: „Ob er
denn auch deutſch könne?“ und als Hauteville deutſch replicirte: „Kann
jetzt Alles commandire, Ihro Majeſtät, und bitte unterthänigſt,“ ſo fiel er
ihm in die Rede, mit den Worten: „Nun Herr, beruhige er ſich doch, ich
werde ihn ja nicht vergeſſen“, und in 6 Wochen war Hauteville Lieute-
nant beim Grenadier-Bataillon Meuſel, ſpäter hat er ein Füſilier-
Bataillon in Schleſien gehabt.
Der dritte hieß Bröſicke. Als der König ſeinen Namen hörte, ſagte
er bloß: „Er iſt aus der Mark“, und gleich zum Folgenden:
„Wie heißt er?“ — „Suhm, Ew. Majeſtät.“ — Der König:
„Sein Vater iſt der Poſtmeiſter?“ — „Ja, Ew. Majeſtät.“ — Der König:
„Wenn ſein Vater nicht 4000 Thaler hat, ſoll er an mich ſchreiben.“ —
Der Vater des Suhm war nämlich ſchwer bleſſirt, (wenn ich nicht irre,
hatte er beide Beine verloren), hatte die Stelle als Verſorgung erhalten,
und war ein Bruder des Suhm, mit dem Friedrich in Correspon-
denz war, die gedruckt iſt.
Nun kam die Reihe an mich. „Wie heißt er?“ — „Kneſebeck, Ew.
Majeſtät.“ — „Was iſt ſein Vater geweſen?“ — Lieutenant bei Ew.
Majeſtät Garde. — Der König: „Ach, der Kneſebeck! und mit ganz
veränderter, theilnehmender Stimme gleich zwei Fragen hinter einander an
mich richtend, fuhr er fort: „Wie geht es denn ſeinem Vater? ſchmerzen
ihn ſeine Bleſſuren noch?“ Mein Vater war nämlich bei Kollin ſchwer
bleſſirt und quer durch den Leib und Arm geſchoſſen. „Grüß Er doch
ſeinen Vater von mir!“ Und als er ſich ſchon wenden wollte, noch einmal
ſich umſehend und den Zeigefinger der rechten Hand, an welcher der Stock
baumelte, emporhebend und mich noch einmal anſehend, ſagte er mit gnä-
diger Stimme: „Vergeſſe Er es mir auch nicht!“ —
Ach, ſeitdem ſind 65 Jahre verfloſſen (ſo ſchließt Kneſebeck), und ich
habe dieſen Gruß, der gleich beſtellt wurde, da ich Urlaub dazu erhielt,
und noch weniger den Ton der Stimme vergeſſen, mit welchem er ge-
ſprochen wurde.
2. Der alte Feldmarſchall v. d. Kneſebeck hat eine ziemliche Anzahl
von Gedichten hinterlaſſen. Eins der (ſeinerzeit) populärſten iſt das fol-
gende. Es ſtammt aus den Lieutenantstagen in Halberſtadt (1792).
[445]
[446]
Neu-Ruppin.
- Benutzt: Bratring’s Grafſchaft Ruppin. Riedel’s Geſchichte der
Kloſterkirche zu Ruppin. Zychlinski’s Geſchichte des 24. In-
fanterie-Regiments. Preuß, Friedrich der Große mit ſeinen
Verwandten und Freunden. Preuß, Friedrichs des Großen
Jugend. Foerſter, Friedrich Wilhelm I.Vehſe, Geſchichte
des preußiſchen Hofes. Dr.Feldmann’sMiscellanea histo-
rica der Stadt Ruppin (M. S.). Schlözer’s Chaſot.
Mündliche und briefliche Mittheilungen.
1. Gedächtnißtafel
über
dem Grabe der Grafen von Lindow, Herren zu Ruppin, im
Chor der Kloſterkirche zu Neu-Ruppin, wie ſolche von dem ver-
ewigten Spener abgeſchrieben und in ſeiner handſchriftlichen Geſchichte der
Edlen Herren zu Putlitz S. 998 f. mitgetheilt iſt.
2. Der Thurm der Ruppiner Kloſterkirche lehnte ſich in alter
Zeit nicht an die Giebelſeite, ſondern befand ſich in der Mitte des
Baus. Dies ergiebt ſich aus einem alten, ſehr ſehenswerthen Gemälde
(wahrſcheinlich aus dem 17. Jahrhundert), das ſich zur Zeit in der Kirche
zu Wuthenow, an der andern Seite des Sees, befindet und das dama-
lige Ruppin darſtellt.
3. Prinz Ferdinand’s Palais. Bielfeld ſchreibt 1754: „Der
Prinz Ferdinand hat in Ruppin, wo ſein Regiment ſteht, kein paſſendes
Palais gefunden, beſonders für den Fall ſeiner Vermählung. Er kaufte
daher einige Häuſer und Gärten, die er vereinigte und bequem und ſchön
einrichtete. Der Garten beſonders iſt freundlich, und alle Nachtigallen der
Gegend ſcheinen darin zuſammenzukommen.“ Dies klingt ſo, als ob Prinz
Ferdinand nicht das Palais bezogen hätte, das ſein älterer Bruder als
Kronprinz (vgl. S. 48) inne hatte und das ſeit 1740 leer ſtand. Mög-
lich iſt es, daß ein Prinz-Ferdinands-Palais eigens eingerichtet wurde,
[447]wahrſcheinlicher aber iſt es jedenfalls, daß er das Palais bezog,
das nun einmal da war. Auch ſtimmt die Beſchreibung ganz zu der Lo-
kalität, die der Kronprinz bewohnt hatte.
4. Im Gentz’ſchen Garten, dem ehemaligen Garten des Kron-
prinzen Friedrich, befindet ſich, wenige Schritte hinter dem ſogenann-
ten „Tempel“, ein zugeſpitzter Granitſtein von etwa 6 Fuß Höhe, der die
Inſchrift trägt: „Hier überdachte Friedrich der Einzige als Kronprinz die
Pläne, die er als König ausführte.“
Rheinsberg.
- Benutzt: Hoppe’s Chronik von Rheinsberg. Bratring’s Grafſchaft
Ruppin. Preuß, Geſchichte Friedrichs des Großen. Vie
privée et militaire du Prince Henri. Mündliches.
Die Inſchriften des Obelisken.
1) Denkmal, geweiht den preußiſchen Helden, welche durch ihre Tap-
ferkeit und Einſichten verdient haben, daß man ſich auf immer ihrer
erinnere. Ihre Namen, eingegraben auf dem Marmor durch die Hand der
Freundſchaft, ſind die Wahl einer beſondern Hochachtung, ohne nachtheilig
zu ſein, allen denen, welche, wie ſie, ſich um das Vaterland wohl verdient
machten, und die öffentliche Achtung theilen.
2) Zum ewigen Andenken Auguſt Wilhelms, Prinzen von Preu-
ßen, zweiten Sohnes des Königs Friedrich Wilhelm.
Am Fuße der Pyramide.
3) Boumann, Major bei dem Artillerie-Corps, welcher von Ju-
gend auf, und während des ganzen ſiebenjährigen Krieges, ehrenvoll
diente, iſt es, welcher dieſes Denkmal im Jahr 1790 aufführte.
4) Marſchall von Keith. Mit der größten Biederkeit vereinigte
er die ausgebreitetſten und gründlichſten Kenntniſſe. In Rußland, während
des Krieges gegen die Türken, erwarb er ſich einen wohlverdienten Ruhm,
welchen er im preußiſchen Dienſte beſtätigte. Das Bedauern aller gefühl-
vollen Herzen, die Thränen aller Krieger verewigten auf immer ſein An-
denken. Er blieb bei dem Ueberfall zu Hochkirch, den 14. Oktober 1758.
5) Marſchall v. Schwerin. Die Ehre ſeines Jahrhunderts und
der Schild des Vaterlandes. Er vereinigte alle bürgerliche und kriegeriſche
Tugenden. Die Feinde, welche er bekämpfte, konnten ihm ihre Bewunde-
rung nicht verſagen. Am 11. April 1741 gewann er die Schlacht bei
Mollwitz. Im Jahr 1744 befehligte er die Armee, welche Prag belagerte,
[448] und nahm die Feſtung Ziskaberg. Im Jahr 1756 war er an der Spitze
der preußiſchen Armee, welche durch Schleſien in Böhmen eindrang. Und
obgleich das feindliche Heer ihm überlegen war, führte er dennoch einen
Angriffskrieg gegen die von Piccolomini befehligten Oeſterreicher. Die
Völker, geſichert durch ſeine Menſchlichkeit, verehrten ſeinen Heldenmuth.
Die Fahne in der Hand fiel er als Opfer ſeines Eifers, bei Prag am
6. Mai 1757.
6) Leopold, regierender Fürſt von Anhalt-Deſſau, einer
der vollkommenſten Feldherrn; er zeichnete ſich im ſpaniſchen Erbfolge-
Kriege aus. Turin war Zeuge ſeiner Kriegsthaten. Er kämpfte dort an
der Spitze der Preußen, welche er auch im Kriege 1740 in Oberſchleſien
anführte. Im Jahr 1745 ſchlug er die Sachſen bei Keſſelsdorf, und bahnte
ſich den Weg nach Dresden. Sein militairiſches Genie und ſein Muth
werden ihn auf immer unſterblich machen.
7) Auguſt Ferdinand, vierter Sohn des Königs Friedrich
Wilhelm, war 1757 bei der Einſchließung von Prag, und wurde bei
einem Ausfall der Feinde verwundet. In der Schlacht bei Breslau, den
22. November deſſelben Jahres, behauptete er bis zu Ende der Schlacht
einen wichtigen Poſten. In der Schlacht bei Leuthen erwarb er ſich neue
Lorbeern. Eben ſo ſchätzbar durch ſeine Tugenden, als durch ſeine Thaten.
8) General von Seydlitz zeichnete ſich aus von Jugend auf.
Er war bei allen Feldzügen des ſiebenjährigen Krieges zugegen, und ſtets
mit Ehre und Ruhm. Durch Geſchicklichkeit, Unerſchrockenheit, vereinigt
mit Schnelligkeit und Geiſtesgegenwart, wurden alle ſeine Kriegsthaten
den Feinden verderblich. Lowoſitz, Collin, Roßbach, Hochkirch, Zorndorf,
Cunersdorf und Freiberg ſind ihm Denkmäler des Sieges. Oft wurde
er gefährlich verwundet. Die preußiſche Reiterei verdankt ihm den Grad
der Vollkommenheit, welchen der Fremde bewundert. Dieſer ſeltne Mann,
alle Gefahren überlebend, verſchied im Arme des Friedens.
9) General von Zieten erreichte ein eben ſo glückliches als eh-
renvolles Alter. Er ſiegte in jedem Gefechte. Sein kriegeriſcher Scharfblick,
vereinigt mit einer heroiſchen Tapferkeit, ſicherte ihm den glücklichen Aus-
gang jedes Kampfes. Aber was ihn über alles erhob, waren ſeine Red-
lichkeit, ſeine Uneigennützigkeit und ſeine Verachtung aller derer, welche auf
Koſten der unterdrückten Völker ſich bereicherten.
10) Der Herzog von Bevern. Er entſchied 1756 den Sieg bei
Lowoſitz. Im Jahr 1757 drang er aus Schleſien in Böhmen ein, und
ſeine weiſen Maßregeln verſchafften ihm bei Reichenberg den Sieg über
die Oeſterreicher. In demſelben Jahre widerſtand er mit 22000 Mann
der Daunſchen Armee, welche 80000 Mann ſtark war, und nur nach der
muthigſten Gegenwehr unterlag er bei Breslau. 1762 mit einem Corps
bei Reichenbach aufgeſtellt, wurde er in Front und Rücken durch über-
[449] legene Macht angegriffen. Er ſchlug ſie zurück, und behauptete das
Schlachtfeld.
11) General von Platen. Er diente mit Auszeichnung in allen
Kriegen, und war bei vielen Schlachten zugegen. Nach der Niederlage bei
Kunersdorf ſammelte er die zerſtreuten Heereshaufen, deckte den Rückzug,
blieb während der Nacht auf ſeinem Poſten und ging erſt am andern
Morgen über die Oder zurück. Im Jahr 1762 wurde er mit einem Corps
von dem König abgeſendet; er ſchlug bei Poſen 6000 Ruſſen, machte viele
Gefangene, und vernichtete ihre Magazine. Er ſtarb 1787.
12) Oberſtlieutenant v. Wedel. Mit einem Bataillon Grena-
diere, aus zwei Compagnieen der Garde und zwei vom Regiment Kron-
prinz zuſammengeſetzt, vertheidigte er bei Selmitz in Böhmen mehrere
Stunden lang, gegen die ganze öſterreichiſche Armee, den Uebergang über
die Elbe. So verſchaffte er dem preußiſchen Heere die nöthige Zeit, ſeine
Quartiere zu erreichen. Nach 5 Stunden nöthigten ihn die zahlreichen
Batterien der Feinde zum Rückzuge. Als Prinz Carl über den Fluß ge-
gangen war, in der Meinung, ein zahlreiches Heer bekämpft zu haben,
erfuhr er durch einen Gefangenen, daß ein einziges Bataillon, aber von
einem Helden angeführt, dieſe ſchöne Vertheidigung gemacht habe. Mit
demſelben Bataillon griff er in der Schlacht bei Soor, am 30. September
1745, den linken Flügel der Oeſterreicher an, und endigte hier ſein
Heldenleben.
13) Generallieutenant von Hülſen. Sehr geſchätzt durch ſeine
militairiſchen Talente. Faſt in allen Schlachten war er zugegen, oft ver-
wundet und durch ſeine Unerſchrockenheit ſtets ausgezeichnet. Im Jahre
1760 in der Schlacht bei Torgau wurde der linke Flügel, bei welchem er
ſich befand, zurückgetrieben. Er ſammelte einige Flüchtlinge. Da aber
ſeine Pferde getödtet waren, und ſein Alter und ſeine Wunden ihm nicht
erlaubten, zu Fuß ſein Corps anzuführen, ſo ſetzte er ſich auf eine Kanone,
und gelangte ſo, mitten im feindlichen Feuer, zum rechten Flügel.
14) von Tauentzien, General der Infanterie. In allen Feldzügen
zugegen; ſeine Wunden ſind rühmliche Denkmäler ſeines Muthes. 1760
vertheidigte er Breslau gegen Laudon. Er befehligte 1762 die Belagerung
von Schweidnitz, und erfreut ſich gegenwärtig eines ehrenvollen Alters.
15) von Möllendorff, General der Infanterie, war bei allen
Feldzügen von 1740 bis 1778. Bei Torgau, 1760, bemächtigte er ſich
der Anhöhen von Siptitz, und entriß dadurch dem Feinde den Sieg. Im
Jahre 1762, als er auf gleiche Art die Anhöhen von Burkersdorf gewon-
nen hatte, nöthigte dies den Marſchall Daun, ſeine Stellung zu verän-
dern, welches die Belagerung von Schweidnitz erleichterte. Im Winter
von 1778 bis 1779 befehligte er bei der in Sachſen ſtehenden Armee ein
beſonderes Corps und ſchlug den Feind bei Brixen.
16) Generallieutenant von Haucharmoi. Aus Frankreich
29
[450] herſtammend. Er war während des ſpaniſchen Erbfolgekrieges in Italien
und Flandern bei dem preußiſchen Heere zugegen. Im Kriege 1740 zeigte
er ſich wie ein zweiter Bayard, ohne Furcht und ohne Tadel. In der
Schlacht bei Prag, den 6. Mai 1757, ſtarb er auf dem Bette der Ehren.
17) General von Retzow, Intendant der Armee. 1758 befehligte
er ein von der Armee des Königs getrenntes Corps. Er war bei Weißen-
berg gelagert, wo der rechte Flügel der Daunſchen Armee ihm gegenüber
ſtand. Am Tage des unglücklichen Ueberfalls bei Hochkirch, den 14. Octo-
ber 1758, beſetzte er eine Anhöhe hinter der Armee des Königs und ſo
wurde durch ſeine Klugheit und Tapferkeit der Rückzug gedeckt. Er ſtarb
einen Monat darauf, als er ſeinem Vaterlande einen ſo wichtigen Dienſt
geleiſtet hatte.
18) Oberſt von Wobersnow, erſter Adjutant des Königs. Er
zeichnete ſich aus durch lebhaftes Ehrgefühl und große militairiſche Kennt-
niſſe. 1757 in der Schlacht bei Prag, als er den preußiſchen linken Flü-
gel ſammelte, um ſolchen auf’s neue gegen den Feind zu führen, wurde
er verwundet. Er war bei allen Feldzügen gegen die Ruſſen. Die Schlacht
bei Kai wurde wider ſeinen Willen geliefert; die Preußen verloren ſie,
und er fiel als Held.
19) Auguſt Wilhelm, allen preußiſchen Helden, welche von 1740 bis
1745 durch ihre Thaten ſich auszeichneten, und allen denen, welche wäh-
rend des ſiebenjährigen Krieges das Vaterland vertheidigten und retteten,
wohl bekannt.
20) von Goltz, Adjutant des Königs. Er wurde 1756 nach Preu-
ßen geſendet, um den Marſchall Lehwald, welcher die Armee gegen die
Ruſſen befehligte, mit ſeinem Rath zu unterſtützen. Ein umfaſſender, tief-
blickender Geiſt, mit militairiſchen Kenntniſſen vereint, würde ſeinen
Namen verherrlicht haben, wenn ſein, alle Gefahren verachtender, Muth
in der Schlacht bei Jägerndorff ihn nicht dem Vaterland entriſſen hätte.
21) von Blumenthal, Major im Regiment Prinz Heinrich. Sein
heller Geiſt, ſein rechtliches Gemüth führten ihn Hand in Hand der Voll-
kommenheit entgegen, als er bei Vertheidigung eines Poſtens bei Oſtritz
in der Lauſitz getödtet wurde, am 31. September 1756.
22) von Reder, Chef eines Kavallerieregiments. Als Commandeur
des Küraſſier-Regiments Schmettau durchbrach er die öſterreichiſche In-
fanterie, und nahm ein ganzes Regiment gefangen. Am 29. October 1762,
in der Schlacht bei Freiberg in Sachſen, erwarb er ſich neuen Ruhm.
23) von Marwitz, Quartiermeiſter bei der Armee des Königs.
Erwarb ſich große Verdienſte in allen Kriegen, war bei allen Schlachten
zugegen und zeichnete ſich aus bei mehreren Vorfällen. Er ſtarb 1759 im
36ſten Jahre ſeines Alters. Vielleicht wären ſein Werth und ſeine Ver-
dienſte vergeſſen, wenn dieſes Denkmal ſein Andenken nicht aufbewahrte.
24) De-Quede, Adjutant beim Prinzen von Preußen, Bruder
[451] des Königs, Major im Regiment Prinz Heinrich. Seine richtige Urtheils-
kraft, ſein feſter Charakter, ſeine Unerſchrockenheit, machten wünſchen, er
möchte auf lange Zeit dem Staate nützlich werden. Aber 1757, in der
Schlacht bei Prag, wurden ihm durch eine Kanonenkugel beide Füße
weggeſchoſſen. Er lebte noch einige Stunden, und unter den heftigſten
Schmerzen verleugnete ſich ſein Heldenmuth nicht, bis zum letzten Hauch.
25) von Platen, Adjutant des Marſchalls von Schwerin. Er
vereinigte alle Eigenſchaften, welche Hoffnung gaben, er würde dieſen gro-
ßen Mann erſetzen. Er fiel ihm zur Seite am 6. Mai 1757.
26) von Wunſch, General der Infanterie. Er trat in Dienſt 1756
als Offizier bei einem Freicorps, und erhob ſich zu höheren Graden durch
ſein Genie und ſeine militäriſchen Talente. Im kleinen Krieg waren alle
ſeine Unternehmungen glücklich und erwarben ihm allgemeine Achtung.
1759 ſchlug er mit einem kleinen Corps bei Torgau die weit überlegenen
Feinde. Im nämlichen Jahre, nahe bei Düben, ſchlug er das Vorder-
treffen der Feinde. Ein gefangener General, Fahnen und Kanonen waren
die Denkmäler ſeines Sieges. Er ſtarb 1788.
27) von Saldern, General-Lieutenant. In allen Feldzügen zu-
gegen. In taktiſchen Kenntniſſen hochberühmt. Gleichermaßen geſchätzt we-
gen ſeiner Tapferkeit und ſeiner Biederkeit. Er zeichnete ſich aus bei der
Torgauer Schlacht. Starb im Jahre 1785.
28) von Prittwitz, General der Kavallerie. Er diente ſowohl un-
ter den Dragonern, als Huſaren, und zeichnete ſich aus durch ſeine Tapfer-
keit in mehreren Schlachten, wo er zugegen war. Dieſes erwarb ihm die
beſondere Achtung des Königs, der ihm das Regiment Gensd’armes er-
theilte, welches er noch befehligt, und ſich immer ſchätzbarer macht durch
ſeinen Eifer und ſeine Thätigkeit.
29) von Kleiſt, General der Huſaren. Erwarb ſich im ſiebenjähri-
gen Kriege hohen Ruhm. Geſchickt in allen Gewandtheiten des kleinen
Krieges, war er auch zu großen Unternehmungen ſehr geeignet, deren Er-
folg ſeine Talente dem Feinde furchtbar machten. Stets geliebt von den
Truppen, die er befehligte, machte er durch ſeine Thaten ſeinen Namen
unſterblich. Im 36ſten Jahre ſeines Alters, 1767, endigte er ſeine Lauf-
bahn.
30) von Dieskau, General-Lieutenant der Artillerie, diente von
Jugend auf und erwarb ſich die höchſte Achtung ſeines Corps, welches er
während des ſiebenjährigen Krieges als Chef befehligte. Er war thätig,
wachſam, arbeitſam. Bei allen Belagerungen zugegen. Auch in den
Schlachten, bei welchen er war, leiſtete er wichtige Dienſte. Er ſtarb in
einem hohen Alter.
31) von Ingersleben, General-Major. Von einer geprüften
Tapferkeit hat er die ſtärkſten Beweiſe gegeben. In der Schlacht bei
Prag, 1757, wurde er mit Wunden bedeckt, deren indeß keine tödtlich
29*
[452] war. In demſelben Jahre aber verlor er ſein Leben in der Schlacht bei
Breslau, am 22. November, wo er als Held focht.
32) von Henkel, General-Lieutnant. Graf von Henkel, Adjutant
des Prinzen Heinrich von Preußen während der Feldzüge von 1757
und 1758, zeichnete ſich aus in den Schlachten bei Prag und Roßbach.
Im Winter 1757 und 1758 unterſtützte er den General von Tauentzien
beim Ueberfall von Horneburg. In der Schlacht bei Torgau, im Jahre
1760, an der Spitze des Regiments Prinz von Preußen, gab er neue
Beweiſe ſeiner Tapferkeit.
Grabſchrift des Prinzen Heinrich an der Grabmals-Pyra-
mide im Park zu Rheinsberg:
[453]
Campagne des Prinzen Heinrich von 1778 bis 1779. Frau
von Kaphengſt in Ruppin beſitzt ein ſauber geſchriebenes, etwa 150 Seiten
ſtarkes Manuſeript unter obigem Titel. Der Verfaſſer iſt nicht angegeben.
Sehr wahrſcheinlich iſt es nur eine vor 60 oder 70 Jahren angefertigte
Abſchrift von einem militairiſchen Werke, das ſeitdem längſt erſchienen
und wieder — vergeſſen iſt. Da es aber (die Dinge entziehen ſich meinem
Urtheil) möglicherweiſe doch etwas Neues iſt, ſo laß ich hier, um einen
Vergleich zu ermöglichen, den Paſſus folgen, mit dem die Arbeit einge-
leitet wird.
„Europa, das nach den polniſchen Unruhen und dem glücklich geen-
deten Kriege der Ruſſen gegen die ottomaniſche Pforte, einen allgemeinen
Frieden zu genießen anfing, wurde abermals ganz unvermuthet von einer
Seite her erſchüttert, von der man das Ungewitter am wenigſten erwar-
tete.“
Zwiſchen Boberow-Wald und Huvenow-See.
- Benutzt: Vie privée et militaire du Prince Henri.Bülow’s Prinz
Heinrich von Preußen. Gorszkowsky’s Leben des Gene-
rals von Tauentzien. Bratring’s Grafſchaft Ruppin. Münd-
liche und briefliche Mittheilungen.
Zernikow.
- Benutzt: Die Collectaneen des Herrn Paſtor Schmutz in Groß Wol-
tersdorf bei Zernikow.
Donation und Verſchreibung über das Gut Zernikow für den
Königlichen Kammerdiener Fredersdorff.
Wir, Friedrich, von Gottes Gnaden König in Preußen, Markgraf
zu Brandenburg, des heiligen Römiſchen Reichs Erzkämmerer und Chur-
fürſt; ſouverainer Prinz von Oranien, Neufchatel und Valangin; in Gel-
dern, zu Magdeburg, Cleve, Jülich, Berg, Stettin, Pommern, der Ca-
ſchuben und Wenden, zu Mecklenburg, auch in Schleſien und Croſſen
Herzog; Burggraf zu Nürnberg, Fürſt zu Halberſtadt, Minden, Cammin,
Wenden, Schwerin, Ratzeburg, Oſtfriesland und Meurs; Graf zu Hohen-
zollern, Ruppin, der Mark Ravensberg, Hohenſtein, Lingen, Bühren und
Lehrdamm; Herr zu Ravenſtein, der Lande Roſtock, Stargardt, Lauen-
[454] burg, Bütow, Orley und Breda ꝛc. thun kund und bekennen hiermit, für
Uns, Unſere Erben und Nachkommen an der Krone und Chur, daß Wir
in Erwägung der unermüdeten, fleißigen, allerunterthänigſten und getreuen
Dienſte, welche Michael Gabriel Fredersdorff, Unſer erſter Kammerdiener,
bisher zu Unſrem allergnädigſten Wohlgefallen geleiſtet und noch ferner
zu leiſten im Stande iſt, demſelben in Königlichen Gnaden das von Uns
als Kronprinz erkaufte, im Ruppiniſchen belegene Rittergut Zernikow mit
allen Gnaden und Gerechtigkeiten, ſo wie es von den vorigen Beſitzern
oder auch von Uns Selbſt genoſſen oder genutzet werden könne, mit
Haiden, Mühlen-Gerechtigkeit, hoher und niederer Jagd, Ober- und Unter-
gerichten und was ſonſt dem vollkommenen Eigenthum eines Ritterguts
anhängig ſein mag, geſchenkt und dergeſtalt unwiderruflich zugeeignet
haben, daß Er gedachter Unſer lieber Getreuer, der Kammerdiener Michael
Gabriel Fredersdorff, ſelbiges hinfüro für ſich, ſeine Erben und Erbnehmer
beiderlei Geſchlechts, als ſein oder ihr Eigenthum geruhiglich beſitzen,
genießen und gebrauchen, auch darunter von Niemanden beeinträchtigt,
ſondern vielmehr von unſeren hohen und niedrigen Collegiis wider Jeder-
manns An- und Zuſpruch ſolchermaßen verſichert ſein und bleiben ſoll,
als der mit dem von Beville unter dem 17. März 1737 geſchloſſene
Kaufcontract beſaget.
Und gleichwie nun Eingangs erwähnter Fredersdorff dieſe Unſere
Königliche Gnade und Milde mit allerunterthänigſtem Danke erkennet
und angenommen, ſo wollen Wir für Uns, Unſere Erben und Nachkom-
men an der Krone und Chur denſelben für ſich, ſeine Erben und Erbneh-
mer auck, zu allen Zeiten bei dem ruhigen Beſitze dieſes von Uns ihm
wohlbedächtig und wohlwiſſentlich allergnädigſt geſchenkten und mit allen
Rechten und Gerechtigkeiten, ſie haben Namen, wie ſie immer wollen, zu-
geeigneten Rittergutes Zernikow, welches Wir noch vor Antritt Unſerer
Regierung zu Unſerer freien Willkühr und unumſchränkten Dispoſition
erkaufen laſſen und welches nicht auf einen Unſerer Etats oder Regiſter
der öffentlichen Einkünfte, gebracht worden, noch weniger die Natur oder
Eigenſchaft der durch Unſeres in Gott ruhenden Herrn Vaters Majeſtät,
unter dem 13. Auguſt 1713 für inalienables erklärten Domanial- Kam-
mer- und Tafelgüter jemals erhalten, ſchützen und handhaben, auch dem-
ſelben zu dem Ende durch den Kammer-Director von Münchow dieſes
Gut, in ſeinen Grenzen und Maalen, nebſt allen daſſelbe angehenden
Dokumenten, Lehnbriefen und Briefſchaften und davon lautenden Urkun-
den mit übergeben, extradiren und einhändigen laſſen.
Deſſen allen zu Urkund haben wir dieſe Donation und Verſchreibung
unterſchrieben und mit Unſerem Cabinetsſiegel bedrucken laſſen.
So geſchehen und gegeben Charlottenburg den 26. Juni 1740.
(gez.) Friedrich.
[455]
Gantzer.
- Benutzt: Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Generallieutenant von Wahlen-Jürgaß.
Alexander Georg Ludwig Moritz Conſtantin Maximilian von Wahlen-
Jürgaß, der am 5. Juni 1785 zu Gantzer geboren, auf der école mili-
taire zum Kriege gebildet wurde, im Jahre 1775 in das damalige Regi-
ment Gensd’armes trat und darin 1803 zum Major avancirte. Im
unglücklichen Feldzuge von 1806 von einer Maſſe feindlicher Reiterei um-
zingelt, griff es, aus ungefähr 350 Mann beſtehend, herzhaft den Feind
an und kämpfte auf einem ſehr ungünſtigen Terrain gegen die franzöſiſche
Diviſion Beaumont, bis es ganz umzingelt war. Obgleich der Major
Von Jürgaß im nächtlichen Getümmel einen Hieb über den Kopf erhielt,
ſo ſammelte er dennoch brave Kameraden, ſchirmte die Standarte, ſchlug
ſich muthig durch die Feinde und erreichte einen Wald. Das Corps ge-
langte nach Boitzenburg, und am andern Tage zu dem Corps des Prin-
zen von Hohenlohe, welches auch im Begriff war, das Gewehr zu ſtrecken.
von Jürgaß entzog ſich dieſer Schmach und entkam noch einmal glücklich,
indem er zu dem Corps des Generals von Bila ſtieß, mit dem er nun
doch endlich bei Anklam gefangen wurde. Nach dem Tilſiter Frieden lebte
er bei ſeinem Bruder zu Gantzer. Bei der neuen Formation erhielt er
1809 wieder eine Anſtellung im brandenburger Küraſſierregiment, zwei
Monate darauf ward er Commandeur des brandenburger Dragonerregi-
ments, 1812 aber Obriſtlieutenant und dem Corps des Generals von
Grawert in Kurland zugetheilt. Er befehligte meiſtentheils die Vorpoſten,
wozu ſeine ungemeine Thätigkeit und Wachſamkeit ihn vorzüglich eignete.
Im Jahre 1813 commandirte er als Oberſt eine Brigade in dem Corps
ſeines vertrauten Freundes, des damaligen Generals von Blücher. Er
focht tapfer bei Groß-Görſchen und Bautzen, und erhielt bei Hainau, als
er in die feindlichen Vierecke einbrach, einen Schuß in den Schenkel.
Später erfocht er in der Leipziger Schlacht (den 16. October), beſonders
in dem furchtbaren Kampfe um Möckern, den glücklichen Erfolg dieſes
entſcheidenden Tages, und ward dafür zum Generalmajor erhoben. In
Frankreich wurde er mit der Reſerve-Reiterei an die Befehle des Prinzen
Wilhelm gewieſen, der den Vortrab des Heeres führte. Bei Lachauſſée
traf er auf die franzöſiſche Reiterei vom Corps des Marſchalls Macdonald,
warf ſie über den Haufen und eroberte eine Standarte, 5 Kanonen und
die dazu gehörigen Pulverwagen. In der Schlacht von Laon entriß er
dem Feinde 15 Kanonen und 35 Artilleriewagen. Im Jahre 1815 in der
Schlacht von Ligny leitete der Generalmajor von Jürgaß die Angriffe
[456] auf das Dorf St. Amand la Haye. In der Nacht erhielt er in dem Ge-
tümmel einen Schuß unter der linken Schulter, nahe am Herzen. Er er-
hielt darauf im Jahre 1816 den ehrenvollen Abſchied als Generallieute-
nant. Von da an lebte er abwechſelnd in Berlin und bei ſeinem Bruder
zu Gantzer, woſelbſt er am 8. November 1833 nach langen höchſt bittern
körperlichen Leiden ſtarb. Als beſondere Anerkennung ſeiner Verdienſte
ſchmückten den tapfern und erfahrenen General außer vielen fremden Deco-
rationen der Orden pour le mérite, für einen ſiegreichen Angriff auf die
feindliche Cavallerie im Gefechte bei Garoſſenkrug am 19. October 1812,
und das eiſerne Kreuz 1. Klaſſe für die Schlacht von Groß-Görſchen.
Den Verdienſtorden mit Eichenlaub erhielt er bei Ernennung zum General-
major, den rothen Adlerorden 2. Klaſſe für die Schlacht von Ligny, und
den rothen Adlerorden 1. Klaſſe bei ſeiner Entlaſſung.
Fehrbellin.
- Benutzt: Mündliche Mittheilungen.
Wuſtrauer Tuch.
- Benutzt: Berghaus Landbuch der Mark Brandenburg. Mündliches.
Tegel.
- Benutzt: Ein Brief A. v. Humboldts (über die Abſtammung ſeiner
Familie, die Erwerbung Tegels ꝛc.). Berghaus Landbuch
der Mark Brandenburg. Fidicin’s Nieder-Barnim. Waa-
gens Beſchreibung der Kunſtſchätze in Schloß Tegel. Münd-
liches.
Schloß Oranienburg.
- Benutzt: Ballhorn’s Geſchichte der Stadt Oranienburg. Biel-
feld’s Friedrich der Große und ſein Hof. Leitritz’s „die
evangeliſchen Kirchenlieder.“ Poellnitz’s Lebens- und Re-
gierungsgeſchichte der vier letzten Regenten. Varnhagens
Biographie des Generals v. Winterfeldt. Relation du voyage
[457] de Sa Majesté la Reine Mère à Orangebourg et Reinsberg
1745, (wahrſcheinlich von Poellnitz) mitgetheilt in Koenig’s
Verſuch einer hiſtoriſchen Schilderung der Stadt Berlin
(Theil V, 2. Abtheilung). Mündliche Mittheilungen.
1. (Die Autorſchaft des Liedes: „Jeſus, meine Zuver-
ſicht.“) Ueber die Autorſchaft dieſes ſchonen Liedes iſt bekanntlich viel
hin und her geſtritten worden; man hat in Abrede geſtellt, daß es von
der Kurfürſtin Louiſe Henriette herrühre. Das Berliner Geſangbuch
vom Jahre 1653 aber, das durch den Buchdrucker Chriſtoph Runge auf
Befehl der Kurfürſtin herausgegeben wurde, beſeitigt darüber jeden Zweifel.
Es heißt in der Dedikation eigens: „ich (Chriſtoph Runge) bin mit gro-
ßer Freude dero gnädigſtem Befehl nachgekommen, geſchweige der Auf-
munterung, die darin lag, daß Ew. Kurfürſtl. Durchlaucht nicht nur an
die Beſchleunigung der Herausgabe erinnert, ſondern das Buch auch
durch dero eigne Lieder vermehrt und verziert haben.“ (Wörtlich ſteht
da: „haben vermehren und verzieren wollen;“ dies ändert aber nichts
in der Hauptſache.) Nun werden folgende 4 Lieder genannt: 1) Ein ander
ſtelle ſein Vertraun; 2) Gott, der Reichthum deiner Güter; 3) Ich will
von meiner Miſſethat und 4) Jeſus meine Zuverſicht. Nach Nam-
haftmachung dieſer vier Lieder fährt Chriſtoph Runge fort: „Es haben
Ew. Kurfürſtl. Durchlaucht nicht nur in den itzt gemeldeten geiſt-
reichen Ihren eignen Liedern dero chriſtliches Gemüth.... der gantzen
Welt kund gemachet, ſondern haben zugleich diejenigen widerleget, die aus
bloßer Boshaftigkeit gemeinet haben, daß Ew. Kurfürſtl. Durchlaucht die
Evangeliſche Religion der Lutheriſchen haſſeten ꝛc.“
So weit Chriſtoph Runge in ſeiner Dedikation. Daß dieſe Stelle
der Zueignung Runge’s der Kurfürſtin bekannt geworden iſt, unterliegt
keinem Zweifel, da ſelbſt drei Exemplare (auf Pergament) des auf ihren
Befehl veranſtalteten Geſangbuches in ihre Hände kamen, von denen ſie
eins dem Oberpräſidenten Otto von Schwerin verehrte, das heute noch in
der gräflichen Bibliothek zu Werningerode zu finden iſt. Wäre nun die
Angabe des Chriſtoph Runge hinſichtlich der Autorſchaft der angeführten
Lieder eine Fiktion geweſen, ſo würde die von Herzen demüthige
Kurfürſtin derſelben entgegen getreten ſein, aber nirgends be-
gegnet man einer Zurückweiſung, vielmehr wird bei den ſpätern Ausgaben
dieſes Geſangbuches das Gedächtniß der fürſtlichen Sängerin an den be-
treffenden Orten fortgeführt. — Iſt nun ſchon durch die Angabe des Chriſtoph
Runge das Recht der Kurfürſtin an dem gedachten Liede wider alle dagegen
erhobenen Zweifel hiſtoriſch ſicher geſtellt, ſo daß es weiter keines Zeugniſſes
bedarf, ſo wollen wir doch nicht unerwähnt laſſen, daß auch zu Gunſten
derſelben die fragliche Sache vom pſychologiſchen Standpunkte aus entſchie-
den werden muß. Es liegt offenbar am Tage, daß die Grundgedanken aus
[458] Hiob 19, 25—27 geſchöpft ſind, und ſomit dieſe Wahl der bibliſchen
Grundlage der Vorliebe der Kurfürſtin für das Buch Hiob entſpricht, die
auch in ihrem uns hinterlaſſenen wahrhaft fürſtlichen Gebete und in der
Wahl ihres Leichentextes ſich kund giebt. Dazu gehört es gewiß auch
nicht zu den Zufälligkeiten unſeres Liedes, daß daſſelbe die Dichterin an
jedem Oſterfeſte ſang und daß mit den zu Grunde liegenden bibliſchen
Worten: „Ich weiß, daß mein Erlöſer lebt und er wird mich hernach
aus der Erde auferwecken“ der große Kurfürſt von hinnen ſchied. Auch
hat ſich in unſerm theuren Königshauſe mit dem obigen Liede die Erin-
nerung an die große Urahnin ſtets eng verknüpft. Die Königin Louiſe
ſprach einſt, vor dem Bilde der Kurfürſtin Louiſe Henriette ſtehend:
„Gewiß, ſie iſt die Verfaſſerin des vortrefflichen allbekannten Liedes:
„„Jeſus, meine Zuverſicht.““
2. „(Prinz Auguſt Wilhelm), dritter Sohn Friedrich Wilhelms,
Königs in Preußen, und Sophie Dorothea’s von Hannover, wurde in
Berlin den 9. Auguſt 1722 geboren. Da der älteſte Sohn des Königs
mit Tode abging, wurde Friedrich Kronprinz, und auch Auguſt Wilhelm
gewann eine nähere Anwartſchaft auf den Thron. Obgleich im Purpur
geboren, blieb doch ſein Herz unverdorben. Die ſtrengen Sitten des Königs
entfernten vom Hofe jene betrügliche Pracht, welche ſo leicht die Seele
eines jungen Prinzen mit Stolz und Eitelkeit erfüllt. Kein Schmeichler
wagte es, ſich den Kindern des Regenten zu nähern und ihnen mit ge-
bogenem Knie giftigen Weihrauch zu ſtreuen. Vielleicht trieb der kriegeri-
ſche König die Einfachheit in der Erziehung ſeiner Kinder zu weit, viel-
leicht verſäumte man, dem Prinzen einen würdigen Mentor zu geben,
vielleicht pries man ihm nur die militairiſchen Tugenden, ohne ihn auf
die Liebenswürdigkeit eines Bayards aufmerkſam zu machen, durch die
allein der größte Held auch als Menſch groß wird. Man ſagte von Leib-
nitz, er ſei alles geworden, was er hätte werden wollen: vom Prinzen
Wilhelm könnte man ſagen, daß er mit Allem geboren wurde, was Leib-
nitz durch Zeit und Mühe erwarb. Der Same des Schönen und Edeln
lag in ihm tief und verborgen und keimte erſt nach dem Tode des ſtren-
gen Vaters. Das hohe Vorbild eines geliebten Bruders, glänzend als
Held und als Philoſoph, regte ihn zum Nacheifer an und ſteigerte in ihm
bis zur Leidenſchaft den Wunſch, ſich zu bilden. Eine lebhafte Phantaſie,
ein richtiger Verſtand, Neigung zum Guten, Heiterkeit und ein ſeltenes
Gedächtniß waren ſeine weſentlichen Vorzüge. Wie ſchnell mußten ſeine
intellektuellen Kräfte bei ſo glücklichen Anlagen wachſen und gedeihen!
Nach wenigen Jahren hatte er wenigſtens eine allgemeine Kenntniß jeder
Wiſſenſchaft erworben, und man hätte von ihm ſagen können, wie die
Bibel vom Salomo: „er kannte Alles, von der Ceder bis zum Yſop.“
Beſonders hatten die Künſte in ihm einen Beſchützer. Er war Zeichner,
Maler, Tonkünſtler. Das Violoncell war ſein Lieblings-Inſtrument. Er
[459] entwarf eigenhändig die Riſſe zu ſeinen Paläſten und Gärten, und ent-
zückte als Mimiker auf dem Theater. Seine Züge waren regelmäßig und
trugen das Gepräge eines wohlwollenden Herzens; ſein hoher Wuchs —
weit über dem gewöhnlichen — machte ſein Aeußeres nur edler und im-
poſanter. Sein Herz war weich. Schönen, beſonders geiſtreichen Augen
konnte er nicht widerſtehen, doch opferte er oft ſeine Liebe der Freundſchaft,
denn nie war ein Prinz, nie ein Menſch ein treuerer Freund, und nie
brachte Zeit oder Entfernung die geringſte Aenderung in ſeinen Geſin-
nungen hervor. Ich darf mich rühmen, daß er mich ununterbrochen, bis
kurz vor ſeinem Ende, mit den geiſtreichſten, liebenswürdigſten und herab-
laſſendſten Briefen beehrte. Er war glänzend, großmüthig, aber nie ver-
ſchwenderiſch. Alles, was er anordnete, ſtand im richtigen Verhältniſſe zu
ſeinem hohen Stande. In ſeinen Adern floß Heldenblut, allein ſeine
Tapferkeit wurde durch Ueberlegung geleitet. Er liebte den Krieg und
ſtudirte während des Friedens unausgeſetzt die Theorie deſſelben mit dem
Prinzen Heinrich.
Kurz vor der Vermählung des Hochſeligen legte ihm der König, der
ſich ohne Nachkommen ſah, den Titel eines Prinzen von Preußen bei,
und wirklich ſchien er zum Regenten geboren zu ſein, denn er verſtand
die große Kunſt, zu befehlen. Er verehrte ſeine Eltern, liebte ſeine Ge-
ſchwiſter und betete im Geheim ſeine Kinder an, obgleich er dies Gefühl
aus einer Art falſcher Scham verbarg. Sein Volk ging ihm über Alles.
Sein einziger Fehler war vielleicht nur, daß er zu ſehr am Adel und am
Offizierſtande hing, und weſentliche Verdienſte oft nicht anerkannte, wenn
ſie dieſer äußern Vorzüge beraubt waren. Sein erſtes Erſcheinen war kalt,
doch bald ſah man ihn ſich mild erwärmen, geiſtreich, lebhaft und heiter
ſein. So beurtheilte ihn auch Voltaire, der mir mehr als einmal von
ihm ſagte: „Je n’ai jamais vu un homme plus aimable et d’une plus
grande sagacité, que le Prince de Prusse.“ (Bielfeld.)
Gleich enthuſiaſtiſch ſchreibt der Chevalier Chaſot im Sommer 1746
über ihn. Chaſot hatte ein Duell gehabt und ſeinen Gegner (Bronikowski)
getödtet. Er kam nach Spandau auf die Feſtung, wo ihm der Prinz,
deſſen Regiment in Spandau garniſonirte, in der liebenswürdigſten Weiſe
entgegenkam.
Son Altesse Royal (ſo ſchreibt Chaſot) eut la bonté de me mener
avec elle sur tout le rempart jusqu’au bel appartement qu’elle m’y
avait destiné et dont elle voulut bien elle-même me mettre en pos-
session. Cet aimable et gracieux Prince me dit alors ce peu de
mots qui resteront toujours gravés dans ma mémoire et dans mon
cœur: Adieu Chasot, gardez votre bonne humeur, je viendrai vous
voir. Les honnêtes gens vous feront compagnie et comme la belle
promenade sur le rempart vous donnera à tous de l’appetit, ma
cuisine et ma cave en ville ne laisseront rien manquer à votre ta-
[460] ble, quelque nombreuse que soit votre compagnie. Allez-vous repo-
ser, faites panser vos blessures et moi, je retourne à Berlin.
Quelle humanité, quelle affabilité et quelle bonté de la part
d’un aussi grand Prince!
Le séjour dans la forteresse de Spandau fut par les attentions
et les bontés de Son Altesse Royale pour moi un séjour le plus
agréable que possible.
3. (Die jetzige Kirche in Oranienburg,) die an Stelle der
1788 niedergebrannten aufgeführt wurde, iſt ein ſehr dürftiger Bau, was
jeder begreifen wird, der erfährt, daß ſie für 7500 [...] gebaut wurde. Sie
droht jetzt faſt einzufallen. Vor einigen Jahren genehmigte Friedrich Wil-
helm IV. einen Neubau und ſprach den Wunſch aus, daß die neue Kirche
nach dem Vorbild der Santa Saba in Rom (eine kleine Baſilika) gebaut
werden möge. Noch aber behilft man ſich mit der alten Kirche; vielleicht
fehlt es wieder an den Mitteln. An der Altarwand befindet ſich eine
„Maria mit dem Kinde“ von Bernhard Rode, wohl erhalten, aber eine
ſehr mittelmäßige Leiſtung.
4. (Im Waiſenhauſe) befindet ſich außer den im Text genannten
Bildern, auch ein altes Portrait Friedrichs des Großen, als Bild völlig
werthlos, und nur dadurch intereſſant, daß der König ein Buch in Hän-
den hält, auf deſſen Rückſeite „Gellerts Fabeln“ ſteht. Dies iſt muth-
maßlich eine Art Demonſtration, und wir gehen wohl nicht fehl, wenn
wir annehmen, daß das Bild von einem jener vaterländiſchen Künſtler
herrührt, die damals — namentlich in Gemeinſchaft mit Männern der
Wiſſenſchaft — eine Reaktion gegen das Franzöſiſche verſuchten.
Buch.
- Benutzt: Koenig’s Verſuch einer hiſtoriſchen Schilderung der Stadt
Berlin. Foerſters Neure und neuſte preußiſche Geſchichte.
Fidicin’s Nieder-Barnim. Berghaus Landbuch der Mark
Brandenburg. Mündliches.
Blumberg.
- Benutzt: Varnhagens Biographie des Freiherrn v. Canitz. Canitz
Gedichte, herausgegeben von Bodemer. Koenig’s Geſchichte
Berlins. Poellnitz Lebensgeſchichte der vier letzten Regenten.
Klein’s Geſchichte der Marienkirche. Mündliche Mittheil.
[461]
Schmidt von Werneuchen.
- Benutzt: Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Prenden.
- Benutzt: Moerner’s Märkiſche Kriegs-Oberſten des 17. Jahrhunderts.
Koenig’s Biographie Otto Chriſtophs v. Sparr. Kuhn’s
und Schwarz’s Norddeutſche Sagen. Mündliches.
(Das Stadthaus des Feldmarſchalls Sparr) — ſpäter ge-
hörte es dem Miniſter Adam Otto von Viereck, dem in der Kirche
zu Buch ein großes Monument errichtet wurde — lag in der Spandauer-
ſtraße und bildet jetzt mit ſeinen Seiten- und Hintergebäuden den drit-
ten Poſthof. Unmittelbar zur Linken, wenn man aus dem zweiten Poſt-
hof in den dritten eintritt, befindet ſich ein in Stein gehaunes Bruſtbild
des alten Sparr und unter demſelben folgende, im Auftrag der Baronin
von Blumenthal (geb. v. Schwerin) angefertigte Inſchrift:
Aeternitati Sacer Heros Illustrissim. L. B. Otto Christoph de
Sparr Coeli Possessiones occupaturus Gratam circumspexit Posteri-
tatem et Linquendae huic sedi Singulari Mentis Destinatione Here-
dem fecit Illustriss. Dominam Louisam B. de Blumenthal ex Domo
Schwerina Atque Ea Testatura Benefico Cineri Quanti fuerit hoc
inter vivos donum Simul Ut Perennius Esset Generosae Mentis Mo-
numentum Ingenti id. Sumptu A Damnosa Die Vindicavit et Restituit
In firmitatem et decus hoc Quod lectos prospicis Servet hunc verti-
cem Salus et Limen custodiat Jehovae Vigil. oculus Heroi autem
nostro. In Sion Esto Habitatio Et in Pace locus ejus Anno 1668.
(Das Sparrſche Erbbegräbniß in der Marienkirche zu Berlin.)
Daſſelbe, an der Nordſeite des Chors gelegen, beſteht in einem Anbau,
deſſen oberer Theil einen kleinen, jetzt zum Theil zur Bibliothek eingerichteten
Saal enthält. Darunter befindet ſich die eigentliche Gruft, über deren
am innern Chor befindlichem Eingang ſich das Grabdenkmal von weißem
Marmor erhebt. Daſſelbe zeigt in architektoniſcher Einfaſſung von zwei
Säulen nebſt Sims einen etwas über lebensgroßen geharniſchten Mann,
kniend betend vor einem Pult, auf welchem ein Buch nebſt Todtenkopf
und Crucifix. Hinter dem Betenden, zur Linken des Beſchauers, ein helm-
tragender Edelknabe in ganzer Figur. Unter der Decke des Pultes ſchaut
mit nach ſeinem Herrn gewandten Kopfe ein Hund hervor. An der mit
[462] leiſer Architekturandeutung verſehenen Fläche hinter der Hauptfigur ſtehen
in deutſcher Sprache die Verſe Heſek. 37, 3—6 und Hiob 19, 25. Ueber
dem Sims eine gleichſam zum Giebel ſich geſtaltende Gruppe: inmitten
das einfache Sparr’ſche Wappen von Mars und Minerva („Tapferkeit
und Standhaftigkeit“ wie König ſagt) gehalten, zu deren Seiten je zwei
an Geſchützen gefeſſelte ſitzende Figuren. Dahinter eine Anzahl Fahnen.
Das Ganze, im Uebergang vom Renaiſſance zum Baroqueſtil, trägt
zwar in der freilich gebotenen, herkömmlichen Anordnung die Manier oder
den Charakter der Zeit, iſt dagegen in der individuellen Ausführung höchſt
verdienſtlich. Iſt gleich ein geharniſchter Mann der möglichſt ungünſtige
Gegenſtand für Sculptur; ſo ſind doch Kopf und Hände der knienden
Hauptfigur vortrefflich modellirt, überhaupt, ſoweit irgend thunlich im
Ganzen, wie in den Theilen, zumal den Nebenfiguren, eine Richtung auf
das künſtleriſch modificirte Reale, die künſtleriſch veredelte Natur unver-
kennbar. Es iſt etwas von dem kräftigen Geiſt Schlüters, verbunden mit
einem leiſen Hauch der Manier der franzöſiſchen Bildhauer des vorigen
Jahrhunderts.
Zwei Fragen ſind immer noch unerledigt: wen ſtellt dies Grabmal
dar? und wer hat es gemacht?
Zuerſt alſo: wen ſtellt es dar? Es kann nur die Wahl ſein zwi-
ſchen dem Feldmarſchall Otto Chriſtof oder dem Gr. Ernſt Georg. Für
jenen ſpricht das Herkommen auf dergleichen Denkmalen den Stifter
darzuſtellen; für dieſen, daß er der Erſte zur Gruft hinabſtieg. Daß im
letzten Fall nicht das Wappen der ältern Grafenlinie, ſondern das ein-
fache Sparr’ſche das Grabmal krönt, dürfte nicht irren: es ollte eben eine
Geſammtliniengruft werden. Allein, wofern ſonſt die vorhandenen Por-
traits Otto Chriſtofs und Ernſt Georgs ähnlich, ſo ähnelt der kniende
Fürbitter von Marmor eben keinem von ihnen — obwohl es freilich
immer mißlich, ein gemalt Portrait und eine Büſte zu vergleichen. Soll
aber durchaus eine Aehnlichkeit da ſein, ſo iſt ſie freilich eher noch mit
dem Portrait Ernſt Georgs, als mit dem Otto Chriſtofs vorhanden, und
ſo hat denn auch König entſchieden. Dagegen kann eine genaue Ver-
gleichung des auch als Kupferſtecherarbeit nicht üblen Portraits Otto
Chriſtofs auf der 527. Seite des 1663, alſo noch bei ſeinen Lebzeiten er-
ſchienenen Theil VI. des Theatr. Europ. mit dem Kopfe des Denkmals
an der Identität beider kaum einen Zweifel belaſſen. Ueberdies iſt durch-
aus unwahrſcheinlich, daß das Monument in dem kurzen Zeitraum vom
September 1666 (wo Graf Ernſt Georg ſtarb) bis in den Anfang 1668, alſo
binnen Eines Jahres hergeſtellt worden ſei, andrer Inconvenienzen nicht zu
gedenken, und das müßte es doch ſein, wenn es den Gr. Ernſt Georg vor-
ſtellen ſollte, dem eben nur ſein Vorantritt im Tode und zur Gruft ſolches
Anrecht erworben haben könnte. Dazu kommt die ganze Anlage des Eingangs
zur Gruft, die entſchieden von vornherein auf das hochragende Monument be-
[463] rechnet war, welches ſicher beim erſten Entwurf mit in Anſchlag kam;
ſtatt daß jede ſpätere Herſtellung es mehr oder minder als ein Zufälliges
erſcheinen laſſen müßte. Ich halte mich demnach für völlig über-
zeugt, daß das Monument eben nur den Stifter, Otto
Chriſtof, vorſtelle. Ganz abſurd iſt die Angabe bei Küſter a. a. O.,
daß die Hauptfigur der bei Lepanto gefallene Johanniter-Comthur Joachim
Sparr ſei.
Die zweite Frage iſt, wer iſt der Künſtler, der dies Grab-
denkmal muthmaßlich geſchaffen hat?
Die Tradition nennt als den Künſtler Artus Quellinus (König
S. 76, Nicolai 858 zweifelnd) und zwar genauer den zu St. Truijen
geb. Artus Quellinus den Sohn, Schüler ſeines gleichnamigen Vaters
(Nagler, Künſtlerlex. ꝛc.). Auch die Quelle dieſer Sage habe ich nicht
zu entdecken vermocht. Der Zeit und den mannigfachen Beziehungen nach,
welche damals von hier aus nach Holland ſtattfanden, wäre es wohl
möglich. Selbſt der vielfache und langjährige Aufenthalt Otto Chriſtofs
Sparr am Niederrhein hätte auf die Wahl des Künſtlers von Einfluß
ſein können. Vielleicht auch, daß ein ſchärfſtes Auge eine gewiſſe Aehnlich-
keit, zumal in den kleinen Ornamenten des Denkmals, mit dem Stil des
ältern Artus Quellinus, wie er uns in ſeinen Arbeiten am Amſterdamer
Rathhaus in ſeines Bruders bekanntem Werk über dieſelben entgegentritt,
entdecken mag. Dennoch kennt die hieſige Kunſtgeſchichte von Werken
des Artus Quellinus außer dieſem fraglichen Monument, nur eben ſo
fragliche ehedem im Potsdamer Luſtgarten, auf dem Rondel nach der Havel
zu befindlich geweſene „vier Prinzen von Oranien von Marmor.“ (Nicolai
1167.). Das Denkmal ſelbſt trägt, ſoweit erſichtlich, keines Künſtlers
Namen oder Chiffre. —
Das Monument hat übrigens mehrfache, wenn auch nicht gerade er-
hebliche Verletzungen und kleine Alterationen erlitten, weil es, vermöge
wohl jener Kirchenreparatur von 1817, ganz oder zum Theil von der
Wand abgenommen geweſen.
Von der Sparr’ſchen Familie haben inzwiſchen aller Wahrſcheinlich-
keit nach nur die genannten drei: Ernſt Georg, Otto Chriſtof und Georg
Friedrich ihre Ruheſtätte in der Gruft gefunden. 1766 waren (Kirchen-
akten zufolge) ſechs große und zwei kleine Kinderleichen darin beigeſetzt
und etwa noch Platz für zwei bis drei. Die Todtenregiſter nennen bis
dahin außer den drei Sparr’s, den 1733 verſtorbenen bekannten Miniſter
von Creutz und ein ihm 1718 vorangegangenes Kind. 1791 wird noch
deſſen Wittwe (?) „Frau Gertrud von Creutz Exc.“ daſelbſt beigeſetzt.
Wer die übrigen, iſt nicht genau bekannt.
Der Anblick der Gruft iſt jetzt etwas wüſt. Rechts am Eingang
ſteht lediglich ein Kinderſarg: links nach der Tiefe ſind eine kaum mehr
unterſcheidbare, beträchtliche Anzahl von Eichenſärgen — weit mehr als
[464] die Angabe von 1766 beſagt — bis zu dreien über einander geſchichtet.
Wahrſcheinlich wurden ſie zumeiſt erſt in Folge der mehrerwähnten, um-
fänglichen Reparatur der Marienkirche, aus andern ausgeſchütteten Grüften
hier untergebracht. Die ſchweren Sparr’ſchen Metallſärge ſtehen zu hinterſt
und unterſt, faſt völlig unzugänglich; einer — ich muthmaße der Ernſt
Georgs — in einer beſondern Vertiefung unter den übrigen.
Die ſonſtigen ehedem im obern kleinen Saal des Erbbegräbniſſes
über der Gruft aufbewahrten Sparr’ſchen Reliquien befinden ſich jetzt im
Chor der Kirche. Es ſind an der Südſeite die Gedächtnißtafel zu Ehren
des bei Lepanto gebliebenen Joachim Sparr und die lebensgroßen mit
Inſchriften verſehenen Portraits Otto Chriſtofs und des Gr. Ernſt Georg.
Die gleichgroßen inſchriftloſen Portraits an der Nordſeite ſtellen zweifellos
Ernſt Georgs Söhne, die Grafen Vladislaus und Johann Ernſt vor.
Den Erſtern kennzeichnet der Degen an der rechten Seite, und der rechte
in rother Binde getragene Arm. Er hatte denſelben 1664 vor Kaniſcha
verloren. Das Bild mußte demnach zwiſchen 1664 und 1669, ſeinem To-
desjahr, gemalt worden ſein. Johann Ernſt wird durch die Aehnlichkeit
mit ſeinem Bruder hinlänglich bezeichnet. Sein Portrait müßte inzwiſchen
erſt nach 1668 entſtanden ſein, da es ihn als Ritter des Johanniterordens
darſtellt, in welchen er nicht früher als am 22. September des genannten
Jahres aufgenommen ward. Es ſind eben die Portraits jener vier
Sparr’s, für welche urſprünglich und namentlich das Erbbegräbniß ge-
ſtiftet wurde. (Alle dieſe Angaben, ſoweit ſie das Erbbegräbniß betreffen,
ſind dem vortrefflichen, obengenannten Moerner’ſchen Buche über die
Sparr’s entnommen.)
Guſow.
- Benutzt: Mündliche Mittheilungen.
Gleich beim Eintritt in’s Dorf (von der Oderbruch- oder Platikower
Seite her) bemerkt man zur Linken ein zweiſtöckiges altes Fachwerkhaus,
das bis in die Derfflinger-Zeit zurückweiſt und damals als Kaſerne
(wahrſcheinlich für einen kleinen Trupp Derfflinger’ſcher Dragoner) diente.
Jetzt iſt die ehemalige Kaſerne ein Armen- oder Familienhaus geworden
und ſieht auch danach aus.
Küſtrin.
- Benutzt: Preuß, Friedrichs des Großen Jugend. Foerſter’s Fried-
rich Wilhelm I.Kutſchbach’s Geſchichte der Stadt Küſtrin.
Mündliche und ſchriftliche Mittheilungen.
[465]
(Ueber Oberſt v. Ingersleben) ſchreibt General v. d. Marwitz
in ſeinen Memoiren folgendes:
„Im Jahre 1792 auf dem Rückzuge aus der Champagne hatte dieſer
Ingersleben den Orden pour le mérite auf folgende Weiſe erhalten.
Der König ſetzte großen Werth darauf, kein Geſchütz ſtehen zu laſſen.
Eines Tages quälten ſich die Artilleriſten mit einer ſolchen Kanone, als
eben das Regiment, in welchem Ingersleben ſtand, vorbeiging. Dieſer ſaß
auf einem ſeiner gewaltigen Geſtalt angemeſſnen rieſigen Braunen, der
noch ſehr wohl im Stande war. Er hatte den König von weitem kommen
ſehn, ſprang vom Pferde, ſteckte ſeinen Braunen in eins der Geſchirre, ließ
aber wohlbedacht den Sattel mit Piſtolenhalfter und der großen goldge-
ſtickten Parade-Chabraque darauf, ſchrie tüchtig, that ſehr geſchäftig, legte
ſelbſt Hand an und trieb ſo, wie der König vorbeiritt, die Kanone aus
dem Koth heraus. Der König fragte ſogleich, wem das Pferd gehöre? und
gab ihm den Orden, ſo wie er aber nur weit genug weg war, ſpannte
Ingersleben ſeinen Braunen wieder aus, ſetzte ſich auf und ließ die
Kanone ſtehen. Nachher wurde er wegen üblen Betragens vor dem Feinde
vom Regiment entfernt und ſpäter durch Fürſprache Commandant von
Küſtrin.
Schloß Coepenick.
- Benutzt: Fidicin’s Teltow. Merian’s Topographie. Koenig’s
Geſchichte der Stadt Berlin. Poellnitz, Lebensgeſchichte der
vier letzten Regenten. Preuß, Friedrich der Große. Foer-
ſter’s Friedrich Wilhelm I.Danneil’s Vollſtändige Pro-
tokolle des Koepenicker Kriegsgerichts über Kronprinz Friedrich.
Heſekiel’s Unterſuchungen über das Leben des Freiherrn
v. Krohne. Berghaus, Landbuch der Mark Brandenburg.
Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Die Kriegsgerichtsſitzung am 28. Oktober 1730.
Bis in die allerneuſte Zeit hinein haben über dieſe denkwürdige
Kriegsgerichtsſitzung allerhand Unklarheiten, ſchwankende Angaben und
Irrthümer geherrſcht. Dieſelben ſind ganz vor Kurzem erſt durch eine
Veröffentlichung aus dem trefflichen Schulenburg’ſchen Archiv zu Salz-
wedel beſeitigt worden, eine Veröffentlichung (ein Verdienſt des Herrn
Danneil), die unter dem Titel: „Vollſtändige Protokolle des
Coepenicker Kriegsgerichts über Kronprinz Friedrich, Lieu-
tenant von Katte, von Kait u. ſ. w.“ im R. Deckerſchen Verlage
zu Berlin erſchienen iſt. Aus dieſer Sammlung von Protokollen erſehen
30
[466] wir, daß die im Text genannten 15 Offiziere (der Vorſitzende, General-
lieutenant Achatz v. d. Schulenburg, war der 16.) am Tage vor dem
Kriegsgericht, alſo am 27. Oktober, im Schloß zu Coepenick zuſammen-
traten und zunächſt in 5 Gruppen (drei General-Majors, drei Oberſten,
drei Obriſtlieutenants, drei Majors und drei Hauptleute) beriethen, dem-
gemäß auch 5 vorläufige Urtheile zu Protokoll gaben. Das ſechste (vor-
läufige) Urtheil war das des Vorſitzenden, Generallieutenants v. d. Schu-
lenburg, das aber nicht am 27. ſchon, wie die Urtheile der andern Offiziere,
ſondern erſt am Morgen des 28., alſo wahrſcheinlich ziemlich unmittelbar
vor der am ſelben Tage ſtattfindenden großen, allgemeinen Kriegs-
gerichtsſitzung abgegeben wurde. Alle die Urtheile haben, wenn auch nicht
im Ausdruck ſo doch in der Anſchauung der Sachlage, eine große Aehn-
lichkeit; ſie erklären alle, daß ſie ein Urtheil über den Kronprinzen für
Sache des Königs und nicht des Kriegsgerichts erachteten und daß der
Lieutenant Hans Herrmann v. Katte nicht mit Lebensſtrafe, ſondern
mit ewigem Gefängniß zu belegen ſei.
Das Urtheil des alten Generallieutenants von der Schulenburg iſt
das klarſte, kürzeſte, überſichtlichſte und ſtehe deshalb hier ſeinem Wort-
laut nach:
Votum Praesidis.
Nach fleißiger und genauer Erwegung ſämmtlicher dem General-Kriegs-
gericht vorgeleſenen Acten finde ich, desſelben Praeses nach meinem Gewiſſen
und abgeſtatteten Eyde mich verbunden
1. Was den Cron-Printzen betrifft, denen ſämmtlichen dahin gehen-
den votis beyzufallen, daß aber deßelben jetzige Sache nach ihren Um-
ſtänden von einem Krieges-Recht nicht geſprochen werden
könne, ſondern Sr. K. M. zu überlaſſen ſey, welchergeſtalt Sie deßen
wiederholte wehmüthige Reu Bezeugung, submission und Bitte als König
und Vater in Gnaden anzuſehen geruhen möchten.
2. So viel den Hans Herrmann Katten anlanget, muß ich denjeni-
gen votis beyſtimmen, welche ewigen Veſtungs-Arreſt erkannt haben;
Allermaaßen deßelben ſonſt böſer Raht und Anſchläge, auch dem Cron-
Printzen zur Flucht ſo offt verſprochene und abgeredete Hülffe dennoch zu
keinem Effect und Würklichkeit gelanget, jenes noch nicht — ſo weit ge-
kommen, daß dem Katten Zeit und Orth feſte geſetzet worden, alſo daß
er das Vorhaben zu gewiſſen und unfehlbaren Execution hätte bringen
können. Aus meiner geſunden Vernunfft aber und vor mich ich nicht an-
ders begreifen kann, als daß auch in denen gröſten Verbrechen ein ſonder-
bahrer Unterſchied zwiſchen würklicher Vollziehung der vorgenommenen
böſen That und zwiſchen denen dazu allererſt genommenen Mesures ſeyn
müßen, und eine Lebens-Straffe zwar bey jener, nicht aber bey dieſen
ſtattfinden könne. Und da es in dieſem Falle noch zu keiner würklichen
Desertion gekommen, ſo kann ich nach meinem beſten Wißen und Ge-
[467] wißen, auch dem theuer geleiſteten Richter-Eyde gemäß den Katten mit
keiner Lebens-Straffe, ſondern mit ewiger Gefängniß zu belegen mich
entſchließen.
3. Wegen des von Spaen halte dafür, daß deßelben Straffe wegen
Verſchweig- und Verheelung des Cron-Printzen Vorhabens auf Cassation
und dreyjährigen Veſtungs-Arreſt zu richten.
4. Der von Ingersleben ſein ungebührliches Verhalten mit ſechs
Monatlichen Veſtungs-Arreſt, worinnen die bereits ausgeſtandene Zeit mit
begriffen zu verbüßen hat.
5. Der desertite Kait aber nach Kriegs-Manier zu citiren und
wann er nicht erſcheinet, der Degen zu zerbrechen und ſein Bildniß an
Galgen zu hangen ſey.
Coepenick den 28. Octbr. 1730.
gez: Achatz von der Schulenburg.
Dies Votum des Vorſitzenden war der Schlußſtein der Einzel-
Beſchlußfaſſungen.
Gleich darauf (am 28.) traten nun die 5 Gruppen, unter Hinzuziehung
des Generalauditoriats und unter Vorſitz des alten Schulenburg, zur eigent-
lichen Kriegsgerichtsſitzung zuſammen. Alles in allem 18 Perſonen. Das
Urtheil, das nun von der Geſammtheit gefällt wurde, iſt ziemlich um-
fangreich (es füllt 12 Seiten), weshalb hier nur die Sentenz über den
Kronprinzen und ein Schlußpaſſus aus dem Urtheil über Katte ſtehe.
Urtheil des Kriegsgerichts in Sachen des Kronprinzen K. H.
In Sachen der von S. K. H. den Cron-Printzen in Preußen mit
denen geweſenen Lieutenants von Katte und von Kait verabredete, aber nicht
zu Stande gebrachte Flucht betreffend; Haben von S. K. M. in Preußen,
zu den in Cöpenick darüber zu haltender Kriegs Gericht, wir allergnädigſt
commandirte und vereydigte Praeses und Assessores, nach Vorleſung
derer desfalls ergangenen Acten, alles reiflich erwogen, Und da S. K. M.
in Dero unterm dato Wusterhausen den 22. October 1730 wegen dieſes
Kriegs Gerichts ergangenen und Uns publicirten ordre allergnädigſt be-
fohlen, ſolches auch uber obgedachten Dero Cron-Printz zu halten, So
finden wir zwar nicht allein vor uns ſelbſt aus denen Acten, ſondern
auch aus des Cron-Printzen zu unterſchiedenen Mahlen, und in ſonderheit
fol. 276 des zweiten Voluminis derer in dieſer Sache ergangenen Acten
und protocollum beſtehenden Bekentniß und demüthigem Erkentniß
gegen S. K. M. daß Er unrecht gethan und dieſelbe beleydiget, aber auch
nunmehro mit der allerdemüthigſten Submission gegen S. K. M. gehei-
ligte Perſohn durch erwähnte ad acta beſchehenen Declaration und Abbitte
ſolche Beleidigung in den Arrest ſehr bereuet und S. K. M. als Königs
und Vaters Beahndung und Willen ſich in allen ergiebt, auch da Er als
30*
[468] ein junger Printz Anfangs Sich übereylet, und nachhero von böſen Men-
ſchen durch ihren Beyfall gegebenen Rathſchlägen und Verſicherung ihrer
Hülffe und Mitflucht in ſolchen dessein unterhalten worden, dieſes ſeines
begangenen Unrechts Vergebung und Gnade bittet. Uebrigens die von den
Cron-Printz intendirte, aber nicht exequirte Flucht, und was S. K.
M. Dero Cron-Printzen wegen bisherigen Ungehorſams und ſonſt insbe-
ſondere vorhalten laßen, als eine Staats und Familien Sache anzuſehen,
ſo hauptſächlich eines großen Königs Zucht und Potestat über Seinen
Sohn betrifft und welche einzuſehen und zu beurtheilen ein
Kriegs Gericht ſich nicht erkühnen darff. Als finden wir uns zu
ſchwach und unvermögend, darüber ein Decisum oder Sentenz abzufaßen,
und müßen wir vielmehr alles S. K. M. höchſten und väterlichen
Gnade überlaßen.
Cöpenick den 28. Octbr. 1730.
A. v. d. Schulenburg.
C. De Schwerin. A. G. v. Dönhoff. Ch. v. Linger. C. R. v. Derschau.
A. C. L. v. Stedingk. v. Wachholtz. A. v. Weyher. C. F. de Schenck.
F. A. v. Milagsheim. G. E. von Einſiedel. J. G. v. Lestwitz.
C. D. v. Lüderitz. A. F. v. Itzenplitz. A. v. Pudewels. A. v. Jeetze.
Mylius G. F. Gerbett.
General Auditeur Lieutenant.
(Vor jedem der 18 Namen ein Siegel.)
Urtheil des Kriegsgerichts in Sachen wider den geweſenen Lieutenant
Hans Herrmann v. Katte. (Schlußpaſſus.)
„Da übrigens, was des Cron-Printzen vorgenommene Flucht anlanget,
der Inquiſit (Katte) nicht nur, wie oberwehnet, davon völlige Wißen-
ſchafft gehabt, aber verſchwiegen, ſondern auch ſelbſt dabey Anſchläge gege-
ben, und zur praeparation durch Annehmung der Sachen, Verfertigung
des Kleydes, und ſonſt, wie aus obigen Umſtänden erhellet, behülfflich
geweſen, ja ſelbſt geglaubet, daß er den Cron-Printzen dadurch, daß er
Ihm Hoffnung gemacht, er, Inquisit werde Uhrlaub zur Werbung bekom-
men, alſo unter dieſen praetext das Dessein mit den Cron-Printzen
ausführen können, Denſelben in ſolchen Vorſatz geſtärcket, und ſich auf
allerley Arth zur Ausführung der vorgehabten Flucht, auch ſo gar durch
eine Reyſe nach Engelland wollen gebrauchen laßen; Mithinn darinnen
der vornehmſte Vertraute des Cron-Printzen geweſen, und zugleich gewuſt,
daß der Cron-Printz den Lieutenant von Kait in ſolche Sache mitgezo-
gen, und derſelbe mitgehen wollen, aber auch dieſes verſchwiegen, und bey
ſolcher cachirung der Sache geblieben, da Ihm ſo gar von dem Dähni-
ſchen Envoyé, General von Löwenohr Vorhaltungen des auf Inquisiten
fallenden Verdachts geſchehen, und alſo hieraus nichts anders zu ſchließen,
[469] als daß es ſein rechter ernſter Vorſatz geweſen zu desertiren, und mit den
Cron-Printz fortzugehen; Aus dieſer Sache aber, da ſie nicht zu Stande
geckommen, ſondern durch Gottes Schickung und Gnade gehindert worden,
bereits S. K. M. und Dero Königl. Hauß und Lande in Unruhe und
Betrübniß geſetzet worden, und wann es zu Werck gekommen wäre, noch
andere Sviten daraus hätten entſtehen können; Und daher der Inquisit
einer harten Straffe werth iſt:
Jedoch aus deßfalls denen Rechten nach, und zu S. K. M. Erbar-
mung über ihn, zu erwegen iſt, daß dieſe Entreprise zu keinen wirkl.
Effect gekommen, viele Jugend Projecte mit untergelauffen, eine herzliche
Reue von den Inquisiten, welcher es auch freywillig bekant hat, bezeuget,
und des Königs Gnade mit ſehr beweglicher Vorſtellung gebethen wird,
Als wird Inquisit Katte dieſes ſeines Verbrechens wegen mit ewigen
Veſtungs Arrest billig beſtraffet.“
Der König war bekanntlich mit dieſem Spruch des Kriegsgerichts
nicht zufrieden, wie aus folgender eigenhändigen Bemerkung hervorgeht:
Votum regis.
Sie ſollen recht ſprechen, und nit mit dem Flederwiſch darüber gehen,
da Katte alſo wohl ...., ſoll daß Kriegsgerichte wieder zuſammen kom-
men und .... anders ſprechen. F. W. (Auf der Rückſeite des Blattes
ſteht von der Hand des Königs: 5. Buch Moſe Cap. 17 V. 8—12. —
2. Buch Samuelis Cap. 18 V. 10 bis 12. — 2. Buch Croni 19
V. 5. 6. 7.)
Dieſe Antwort des Königs traf, von Wuſterhauſen aus, am 30. Okto-
ber in Coepenick ein, wo, ſehr wahrſcheinlich in Gemäßheit Königlichen
Befehls am 31. Oktober das Kriegsgericht nochmals zuſammentrat. Es
waren aber nicht Leute, die ſich durch Stirnrunzeln einſchüchtern oder um-
ſtimmen ließen, und Achaz v. d. Schulenburg antwortete (muthmaßlich
durch die Hand des General-Auditoriats, wofür die Faſſung und das
„der Herr Praeſes“ zu ſprechen ſcheint) noch ſelbigen Tags: Der Herr
Praeſes, nachdem derſelbe nochmahls reifflich erwogen und wohl über-
leget, ob die abgeſprochene Sentenz beſtendig verbleiben konte, So finde
er ſich in ſeinen Gewißen überzeuget, was Er mit ſeinen beſten Wißen
und Gewißen und nach dem theuren geleiſteten Richter Eydt votiret, daß
er dabey verbleiben müße, und ſolches zu ändern ohne Verletzung ſeines
Gewißens nicht geſchehen könne, noch in ſeinen Vermögen ſtehe.
Hierauf erfolgte dann die bekannte Cabinetsordre des Königs (Wuſter-
hauſen vom 1. November 1730), worin Katte unter Umſtoßung des
kriegsrechtlichen Urtheils, mit dem Hinweis, „daß es beſſer wäre, daß er
ſtürbe, als daß die Juſtiz aus der Welt käme“ zum Tode verurtheilt
wurde.
[470]
Die Müggelsberge.
- Benutzt: Kuhn’s märkiſche Sagen. Mündliches.
Der Müggelſee.
- Benutzt: Kuhn’s märkiſche Sagen. Mündliches.
Klein-Machenow.
- Benutzt: v. Hake’s Geſchichte der Familie v. Hake. Mündliches.
Schildhorn.
- Benutzt: Berghaus Landbuch. Kuhn’s märkiſche Sagen.
Geiſt von Beeren.
- Benutzt: Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Töwenbruch.
- Benutzt: Mündliche und briefliche Mittheilungen.
Feſtgedicht zu Ehren des Herrn v. d. Kneſebeck und des Bürger-
meiſters Beiersdorf, das (vom Superintendenten Bolte in Fehrbellin
gedichtet) am Sylveſterabend 1808 den genannten beiden Herren über-
reicht wurde.
[471]
[472]
Sehen wir von einzelnen Wendungen ab, die man jetzt vielleicht als
„Zopfigkeiten“ bezeichnen würde, ſo müſſen wir nicht ohne Beſchämung
zugeſtehn, daß wir in den 50 Jahren, die ſeitdem vergangen ſind, ſchwer-
lich Fortſchritte gemacht haben und daß die kleinen Städte ſich heute
muthmaßlich zählen laſſen, in denen man noch im Stande iſt, zwei be-
währt gefundene Männer in gleich guten Verſen zu feiern. Auch bei
feierlicheren Gelegenheiten wird jetzt ſchlechter gedichtet. Exempla sunt
odiosa.
Schloß Beuthen.
- Benutzt: Fidicin und Berghaus. Aufſätze von Heſekiel und
L. Schneider. Mittheilungen aus dem v. d. Marwitz-
ſchen Familien-Archiv in Friedersdorf. Mündliches.
(Generallieutenant Joachim Ernſt von Goertzke,) der
„Paladin“ des großen Kurfürſten, kaufte Friedersdorff (im Lande Lebus,
in der Nähe von Guſow), und beſaß es bis zu ſeinem Tode 1682.
In Schloß und Kirche daſelbſt befinden ſich Bilder von ihm.
Sein Oelportrait in der Halle des Schloſſes (ſeit über 150 Jahren
v. d. Marwitzſcher Beſitz) iſt faſt überlebensgroß. Ganz geharniſcht, den
Commandoſtab in der Rechten, die leichte Feldbinde um den Hals, ſo
ſteht er da. Der Helm ruht neben ihm auf einem Felſenvorſprung, und
ſein langes Haar fällt dunkel und beinah lockig herab. Finſterer Ernſt
[473] und kalte Beſtimmtheit ſprechen aus ſeinen Zügen. Es knüpft ſich eine
hübſche Anekdote an dieſes Bild, charakteriſtiſch für den Mann und die
Zeit, zumal auch für die Stellung, die die ſchönen Künſte damals in
brandenburgiſchen Landen einnahmen. Goertzke war bei Lützen ſchwer ver-
wundet worden und hinkte ſeitdem; ſein linker Fuß war zu kurz geheilt
worden und eine dicke handhohe Holzſohle mußte wieder gut machen, was
das Unglück oder das Ungeſchick des Arztes verſchuldet hatte. Es ſcheint,
daß er ſich an dieſen Holzfuß nicht gern erinnern ließ. Als der Maler (ſo
wird erzählt) ihm das Bild brachte, fiel Goertzke’s Auge zuerſt auf die
breite Holzſohle, die der gewiſſenhafte Realiſt an den Fuß ſeines Helden
geheftet hatte, und voll Zorn und Unmuth warf er ihn die Treppe hin-
unter. Eine kaum minder empfindliche Strafe folgte nach: der alte Pala-
din behielt das Bild und verweigerte die Zahlung. (Aus der Empfind-
lichkeit Goertzke’s über ſeinen zu kurzen Fuß haben einige ſchließen wollen,
daß er von Natur ein Hinkefuß geweſen ſei; General v. d. Marwitz be-
merkt aber ſehr richtig, dies ſei mindeſtens höchſt unwahrſcheinlich. Goertzke
ſei mit 16 Jahren Page bei Marie Elenore (Königin von Schweden,
Schweſter des großen Kurfürſten) und mit 21 Jahren Adjutant bei Guſtav
Adolph geweſen; es ſei aber nicht anzunehmen, daß man einen Kurz- oder
Hinkefuß zum Pagen für die Königin gewählt haben würde.)
Auch in der Friedersdorffer Kirche begegnen wir einem Bildniß des
alten Goertzke, aber nur auf ſeinem Grabſtein, haut-reliefartig ausgemeißelt.
Der Grabſtein iſt zur Linken des Altars aufgerichtet (in die Wand ein-
gemauert) neben ihm der Grabſtein ſeiner Frau. Der Kopf der Frau iſt
ſehr anziehend und von einem beſonderen Liebreiz; das Steinbild Goertz-
ke’s ſelbſt zeigt ein breites, markiges, tüchtiges Geſicht, aber zugleich mit
einem heitern, humoriſtiſchen Zug ausgeſtattet, der dem Oelbilde in der
Halle durchaus fehlt.
Die Inſchriften der beiden Grabſteine lauten wie folgt:
1. Der hochwohlgeborne Herr, Herr Joachim Ernſt von Goertzke, Sr.
kurfürſtlichen Durchlaucht zu Brandenburg hochbeſtallter Generallieutnant
über Dero Cavallerie, Gouverneur der Haupt-Veſte Cüſtrin und der dazu
gehörigen Fortreſſen, auch Oberſter zu Roß und Fuß, Erbherr auf Frie-
dersdorff, Bollensdorff, Kienitz, iſt geb. d. 11. April 1611ten Jahres und
geſtorben den 26. März 1682, allhier begraben.
2. Die hochedel geborne Frau, Frau Lucie, geborne von Schlieben,
des wohlwürdigen, hochwohledelgeborenen Herrn Herrn Maximilian von
Schlieben, fürſtlich Naſſau’ſchen bei dem Meiſterthum Sonnenburg hoch-
verordneten Statthalters, des Ritterlichen Johanniter-Ordens Senioris
und Commendatoris zu Lietzen eheleibliche Tochter, iſt am 13. September
1635 geboren, den 2. Mai 1654 an den Kurf. Brandenburgiſchen hoch-
wohlbeſtallten General-Leutnant von Görtzke verheirathet, den 18. Auguſt
1659 ſelig geſtorben und den 19. April 1664 allhier begraben.
[474]
Die Gruft, in der die Särge ſtehn, iſt bei der letzten Renovirung
der Kirche zugeſchüttet worden. Der Cantor aber erinnert ſich noch zweier
Zinnſärge, auf denen er, nach Entfernung von Staub und Spinnweb,
die Namen Goertzke geleſen hat.
Das Dorf (Friedersdorf) war während des 30jährigen Krieges gro-
ßentheils niedergebrannt worden; Goertzke ließ ſich den Aufbau angelegen
ſein. Es wird erzählt, daß er am Teich (in der Mitte des Dorfs) auf
einem Lehnſtuhl Platz zu nehmen und den Aufbau der Häuſer zu kontro-
liren pflegte. Er war einer der reichſten Männer im Lande, denn außer
den drei Gütern: Friedersdorf, Bollensdorf und Kienitz, hinterließ er
(ganz im Gegenſatz zu dem verarmten Sparr) 8591 [...] in Gelde,
29,250 [...] in Obligationen, und an goldenem und ſilbernem Geſchirr, an
Kleidern, allem möglichen Hausrath, Pferden, Sätteln, Gewehren, Wagen
eine unglaubliche Menge. Auch an ländlichem Reichthum 116 Wispel
Roggen zu Friedersdorf.
Saalow.
- Benutzt: Schadow’s Biographie, unter dem Titel: „Kunſtwerke und
Kunſt-Anſichten Gottfried Schadow’s.“ Schadow’ſche Briefe.
Mündliche Mittheilungen.
(Zwei Briefe des alten Schadow an „Lindenolts“ Mutter.)
I.
Ihr wahrſcheinlich mit eigenen Händen gebackener Oſter-Quarkfladen
hat mich um ſo unerwarteter angenehm überraſcht, als ich annehmen
konnte, daß Sie mich altes Exemplar nun vergeſſen hätten.
Ihr Mann, der Herr Doctor, war längere Zeit unpäßlich; ich kann
weite Wege auch nicht mehr mit Annehmlichkeit machen, und Beſuche
werden mir ſchwer, weil ich immer eine läſtige Begleitung dabei nöthig
habe; ſonſt käme ich, Ihnen perſönlich meinen Dank zu bringen. Von
dem Kuchen habe ich nichts abgegeben und ſo eben das letzte
Stück zum zweiten Frühſtück genoſſen.
Die Freundin Erneſtine ſahe ich auch nicht. Ordre zum Erſcheinen
wird ſie erhalten Mitte künftigen Monats, wo ich meine Tochter von
Dresden erwarte.
In Ihrer Familie muß was vorkommen, was die Aufmerk-
ſamkeit junger Künſtler auf ſich zieht, die mir davon ſprechen*).
[475] Grüßen Sie von mir alles um ſich herum; wünſchend einen Reſt ver-
gnügter Feiertage, verbleibe
17. April 1843.
Ihr alter Getreuer Gevatter
J. G. Schadow,
Direktor.
II.
Meine Frau Nachbarin, Gevatterin und Freundin hat meiner wieder
gedacht und nach alter Sitte um dieſe Jahreszeit den Käſekuchen (Quark-
fladen) gebacken. War diesmal vorzüglich! Auch hab’ ich Anderen wenig
davon abgegeben, geſtern Abend das letzte davon verzehrt und bin heute
mit dem gebührenden Dankgefühl davon erwacht. Hierbei iſt mir wieder
lebhaft in Erinnerung gekommen Ihre Mutter, die auch eine ſo angenehme
Erſcheinung war. — Das häusliche Glück ſei ſtets mit und bei Ihnen!
Zu fernerem Wohlwollen empfiehlt ſich Ihnen
29. Mai 1845.
Ihr alter ergebner Freund
J. G. Schadow,
Direktor.
Meilen öſtlich von Ruppin, deſſen Kloſterruinen bis dieſen Tag höchſt
maleriſch zwiſchen dem Wutz- und dem Gudelack-See liegen, ſondern die
Grafſchaft Lindow in der Nähe von Zerbſt.
neuen Uniform (das Goltz’ſche Regiment hatte bis dahin blau und Gold
getragen) folgende Scene ſtatt. Der Kronprinz lud die Offiziere vor eins
der Thore, wo ſie einen brennenden Holzſtoß fanden. Erfriſchungen wur-
den gereicht. Als alles guten Humores war, begann der Prinz: „Nun,
meine Herren, da wir hier alle verſammelt ſind, ſo dächte ich, wir erzeig-
ten der Goltziſchen Uniform die letzte Ehre.“ Dabei zog er Rock und
Weſte aus und warf ſie in’s Feuer. Die Offiziere thaten desgleichen.
Unter lautem Gelächter folgten ſchließlich auch die Beinkleider. In neuer
Uniform kehrte man in die Stadt zurück. Dieſe Scene iſt charakteriſtiſch
für den Ton, der herrſchte.
Ziege ernährte, auch dieſe Ziege ſelbſt; alſo hier etwa Milchwirth-
ſchaft, Meierei.
zöſiſchen Heere diente, hatte das Unglück, einen Anverwandten des Herzogs
von Boufflers im Duell zu tödten. Er floh deshalb in das Lager des
Prinzen Eugen, zunächſt nicht, um in Dienſt zu treten, ſondern nur um ein
Aſyl zu finden. Beim Prinzen Eugen lernte ihn der Kronprinz kennen,
dem er ſpäter nach Ruppin hin folgte.
Er ſchreibt: Günther zog ſich früh aus dem Treiben der Welt und der
Geſellſchaft zurück. Was ihn zu dieſer Zurückgezogenheit beſtimmte, ob es
ſchmerzlich zerriſſene Lebensverbindungen waren (alſo unglück-
liche Liebe, aber nichts von einem Keuſchheitsgelübde), mag dahin ge-
ſtellt bleiben. Auch der „Gewaltigkeit ſeines Körpers“ erwähnt Boyen
nicht, gegentheils ſpricht er viel von der Kränklichkeit des Generals,
die nur in deſſen moraliſcher Kraft ihr Gegengewicht gefunden habe.
Er war auch hierin ganz dem alten Zieten verwandt, der bekanntlich
immer leidend und zu Zeiten völlig hinfällig war.
natur. Er lag 13 Monate lang in einem bewußtloſen Zuſtand; als es
aber hieß: „Thorwaldſen ſtehe an ſeinem Lager“, richtete er ſich auf
und das Bewußtſein kehrte ihm auf kurze Augenblicke zurück.
Jahre 1745 bereits ſeine Mutter, die verwittwete Königin Sophie Do-
rothea, hier in Rheinsberg empfing. Poellnitz giebt davon eine ſehr ein-
gehende Beſchreibung. Vielleicht aber hatte ſich der Prinz eigens und auf
kurze Zeit nur nach Rheinsberg begeben, um ſeine Mutter daſelbſt em-
pfangen zu können.
ſehr anſehnlich. Er hatte auch ein Exemplar der Bibel in ſeinem Kabinett,
partei beachtet und um ſich hat.“
ihrer Art nicht minder intereſſant als das Schloß. Grabſteine der Groe-
bens liegen vorm Altar und Denkmäler der verſchiedenſten Art, aber alle
der oben genannten Familie zugehörig, zieren die Wände hinter und
neben dem Altar. Rechts hängt ein großes, auch um ſeines künſtleriſchen
Gehaltes willen ſehr bemerkenswerthes Familienbild aus dem Jahre 1588,
von dem ich vermuthen möchte, daß es von einem Schüler des Lucas
Cranach herrührt, wenigſtens erinnert vieles an dieſen Meiſter. Das Bild
iſt ſehr groß, etwa 12 bis 14 Fuß lang und 10 Fuß hoch und ſtellt
Ludwig v. d. Groeben und ſeine Gemahlin (eine geb. Anna v. Oppen)
ſammt ihren 17 Kindern dar, 13 Knaben links und 4 Mädchen rechts.
Einige Köpfe ſind höchſt anſprechend. Eltern und Kinder knieen in einer
Art Kirchenhalle und über ihnen, wie Schildereien, die in dieſer Halle
aufgehängt ſind, befinden ſich die Darſtellungen des Sündenfalls und der
Auferſtehung. (Ein noch größeres Bild der Art beſitzen die Rohrs zu
Meyenburg in der Priegnitz, auf dem ein Graf Ravensberg, der Stamm-
vater der Rohrs, dem Kaiſer 30 Söhne vorſtellt.) — In einem Anbau der
Grafen Hermann v. Wartensleben. Er, ſeine Frau und zwei Kinder ſind
darin beigeſetzt. Er war Oberſt über ein Regiment zu Pferde und ſtarb
1764 oder 65. Seine Erben beſaßen das Gut bis 1774.
ſchönſten iſt unbedingt der Paſſus, wo Mars, in ſeines Nichts durchboh-
rendem Gefühle, ſich genirt dem alten Rohr unter die Augen zu treten.
Alle dieſe Inſchriften, in denen der Lebensberuf des Hingeſchiedenen zu
allerhand Wortſpielen benutzt wird (hier alſo „Landrath“), haben ihr un-
erreichtes Vorbild in der berühmten Poſtmeiſter-Grabſchrift zu Salzwedel.
Sie lautet: „Eile nicht, Wandersmann! als (wie) auf der Poſt; auch
die geſchwindeſte Poſt erfordert Verzug im Poſthauſe. Hier ruhen die Ge-
beine Herrn Matthias Schulzen, Königl. Preußiſchen 25jährigen, unter-
thänigſt treu geweſenen Poſtmeiſters zu Salzwedel. Er kam allhier 1655
als ein Fremdling an. Durch die heilige Taufe ward er in die Poſt-
charte zum himmliſchen Canaan eingeſchrieben. Darauf reiſete er in der
Lebens-Wallfahrt durch Schulen und Akademieen mit löblichem Verzug.
Hernach bei angetretenem Poſtamte und anderen Berufsſorgen richtete er
ſich nach dem göttlichen Troſtbriefe. Endlich bei ſeiner Leibes-Schwachheit,
dem gegebenen Zeichen der ankommenden Todespoſt, machte er ſich fertig.
Die Seele reiſete den 2. Junius 1711 hinauf in’s Paradies, der Leib
hernachmalen in dieſes Grab. Gedenke Leſer bei Deiner Wallfahrt beſtän-
dig an die Prophetiſche Todespoſt Jeſ. 38, 1.“
Corps, das ſpäter, nach tapfrem Widerſtand, in Lübeck kapituliren mußte,
hier in Gantzer.
werden noch in einzelnen Häuſern Erinnerungsſtücke an die Fehrbelliner
Schlacht gezeigt, z. B. eine ſchwediſche Trommel, einige Lanzen u. dgl. m.
Man kann aber, da alle dieſe Dinge ſicherlich nicht aus der Schweden-
zeit herrühren, nur die oft gemachte Erfahrung daran auf’s Neue machen,
daß ein hervorragendes hiſtoriſches Ereigniß jedesmal zur Domaine, zur
Spezialität einer beſtimmten Oertlichkeit wird, und zwar ſo, daß dieſem
einen Ereigniß, ſich alles Spätere anpaſſen und unterordnen muß. Es iſt
erwieſen, daß das Bett der Maria Stuart in Holy-Rood-Palace nicht
300 (wie es müßte), ſondern höchſtens 150 Jahr alt iſt, aber es muß
das Bett der Maria Stuart ſein, wenn es überhaupt noch etwas ſein
will. So iſt es in den Dörfern des Ländchens Bellin mit Rückſicht auf
die Fehrbelliner Schlacht. Alles iſt „Fehrbelliniſch“, dem klarſten Augen-
ſchein zum Trotz. Die Lanzen in Linum ſind Landwehr-Ulanen-Piken
aus den Tagen von Großbeeren und Dennewitz her (zur Schwedenzeit
gab es gar keine Lanzenreiter) und die Trommel trägt auf ihrem Perga-
ment einfach die Inſchrift: „Landſturm-Trommel für Linum, 4 te Com-
pagnie, 1813.“ Aber trotz der Inſchrift bleibt es die Schwedentrom-
mel von 1675.
als Frauengut an den Major v. Humboldt kam. Ich finde nämlich
anderen Orts, aus erſichtlich guter Quelle, folgendes: „1766 vermählte
ſich der Obriſt-Wachtmeiſter (Major) v. Humboldt mit Marie Eliſabeth
geb. Colomb, verwittwete Frau v. Hollwede. Aus dieſer Ehe wurden
Wilhelm und Alexander v. Humboldt geboren. Die Mutter der beiden
Brüder war, als Erbtochter des Directors Johann Heinrich Colomb,
Beſitzerin von Ringenwalde in der Neumark, Tegel und Falkenberg
(anderthalb Meilen von Berlin). In der Falkenberger Kirche ließ Frau
v. Humboldt 1795 ein Erbbegräbniß bauen, in dem ſowohl ſie ſelbſt wie
ihre beiden Ehemänner (Hauptmann v. Hollwede † 1765 und Obriſt-
Wachtmeiſter v. Humboldt † 1779) beigeſetzt wurden. Frau v. Humboldt
ſtarb 1796.“
rius für die Zurückforderung der aus den päpſtlichen Staaten nach Paris
entführten Kunſtdenkmäler.
rühmten Grafen Rochus v. Lynar heißt: „Zu gleicher Zeit (etwa 1578
Schloß oder Jagdhaus zu Bötzow an.“ Dieſe Verbeſſerungen waren
ſchwerlich im gothiſchen Styl.
dieſer architektoniſchen Skizze im Hintergrunde des großen Bildes eine
Beweiskraft beigelegt, die ſie wohl kaum beſitzt. Paſtor B. vermuthet, daß
das Bild zwiſchen 1653 und 1654 gemalt worden ſei, was aber unmög-
lich iſt, da der Holländiſche Maler, Auguſtin Terweſten, von dem es her-
rührt, erſt 1649 geboren wurde. Auguſtin Terweſten (von 1696 ab Di-
rektor der Akademie der Künſte) kam 1690 nach Berlin, wohin er, 40
Jahre nach der Gründung Schloß Oranienburgs, durch Kurfürſt Fried-
rich III. gerufen wurde. Er begann damit, die kurfürſtlichen Luſtſchlöſſer
mit großen Tableaux zu ſchmücken und da um 1690 Schloß Koepnik be-
reits beendet und Schloß Charlottenburg noch nicht angefangen war, ſo
iſt es wohl möglich, daß er in den Sälen von Schloß Oranienburg
debütirte, das eben damals einem Umbau im großen Styl unterworfen
wurde. Da dieſer Umbau bereits 1688 begann, ſo iſt es ſehr wahrſchein-
lich, daß Auguſtin Terweſten das urſprüngliche Schloß, wie es die Kur-
fürſtin hier entſtehen ließ, gar nicht mehr geſehen hat. Dennoch möcht’
ich auf dieſen Umſtand kein allzu bedeutendes Gewicht legen, da es,
zwei Jahre nach dem Neu- und Umbau des urſprünglichen Schloſſes,
allerdings nicht ſchwer für den Künſtler halten konnte, bei Malern und
Architekten ſichere Auskunft darüber zu erhalten, wie denn eigentlich das
Schloß der Oranierin geweſen ſei, vorausgeſetzt, daß ihm daran
gelegen war, über dieſen Punkt wirklich zuverläſſige Aus-
kunft zu empfangen. Es iſt aber ſehr zweifelhaft, daß ihm daran
lag. Denn wir dürfen nicht vergeſſen, daß er den Moment der Landes-
ſchenkung (1650) bildlich darzuſtellen hatte, alſo einen Moment, der dem
Schloßbau um vier, mindeſtens aber um zwei Jahre vorausging. Er
konnte ſich alſo in ſeinem künſtleriſchen Gewiſſen nicht im Geringſten ge-
drungen fühlen, ein Schloß in hiſtoriſcher Treue darzuſtellen, das
1650 noch gar nicht exiſtirte, ſondern 1654 erſt fertig aus der Hand des
Baumeiſters hervorging.
mals im Brandenburgiſchen auf 143.
Sparr’ſche Familie) ihr Erbbegräbniß in der Marienkirche zu Berlin.
In dieſem Roebel’ſchen Erbbegräbniß befinden ſich auch Mitglieder der
Familien Canſtein und Canitz (vgl. Blumberg) beigeſetzt.
Ruppin) kam, ſo wird erzählt, eine ähnliche Geſchichte vor. Uebermüthige
Franzoſen ſchafften die Mumie des Herrn von Kalbutz aus der Gruft in
die Kirche und begannen, in hölliſcher Blasphemie, ihn als Gekreuzigten
auf den Altar zu ſtellen. Einem unter den Uebelthätern mochte das Herz
ſchlagen. Als er beſchäftigt war, die linke Hand feſtzunageln, fiel der er-
hobene Mumienarm zurück und gab dem unten ſtehenden Franzoſen einen
Backenſtreich. Dieſer fiel todt um; Schreck und Gewiſſen hatten ihn ge-
tödtet. (Ich bin ſeitdem in der Campehler Kirche geweſen und kann dieſe
Geſchichte leider nicht beſtätigen. Herr v. Kalbutz liegt mit gefalteten Hän-
den da, die Finger beider Hände wie in eins zuſammengewachſen. Uebri-
gens erzählte mir der Küſter von der großen Popularität dieſer Mumie;
Handwerksburſchen aus aller Herren Länder, die durch Campehl zögen,
ermangelten nicht, ſich den Herrn v. Kalbutz anzuſehn, den ſie alle als ein
Curioſum der Mark Brandenburg kennen.)
Lichtenau und — wie eine Epiſode — zum Fräulein v. Voß, muß ich
als bekannt vorausſetzen. Es lag dem Hofe daran, die allmächtige Favo-
ritin (die Rietz) zu beſeitigen und die Huldigungen und Aufmerkſamkeiten,
die der König der ſchönen Julie von Voß erwies, ſchienen das ge-
eignetſte Mittel dazu zu bieten. Julie von Voß aber war kalt und von
einer, für jene Zeit wenigſtens, herben Moral, die es verſchmähte, die
Nachfolgerin einer Madame Rietz zu ſein. Endlich gab ſie nach, aber nur
unter der Bedingung, daß ſie dem Könige an die linke Hand angetraut
werde. Dieſe Antrauung erfolgte am 22. December 1786. Der König in-
deß kehrte bald zu ſeiner „lieben Rietz“ zurück und dieſe Demüthigung
Ingenheim erhoben worden war. Sie ſtarb am 25. März 1789, bald
nach der Geburt eines Sohnes, des Grafen Guſtav v. Ingenheim, wie
man ſich damals erzählte, in Folge einer vergifteten Orange, die ihr, auf
Anſtiften ihrer Rivalin, im Theater gereicht worden war. Die Unglaub-
würdigkeit dieſer Erzählung iſt längſt dargethan, am eclatanteſten durch
die Rietz-Lichtenau ſelbſt, in ihren „Memoiren.“ Alles, was ſie ſagt, iſt
ſchlagend. Wenn der Volksglaube nichtsdeſtoweniger bei ſeiner Vorſtellung
von einer ſtattgehabten Vergiftung beharrt und als Beweis anführt, daß
die Leiche der Gräfin, nach ihrer Beiſetzung im Erbbegräbniß, nicht in
Verweſung übergegangen ſei, ſo zeigt dies, neben andrem, wie wenig
ſtichhaltig die ganze Anklage iſt. Selbſt wenn die Gräfin in der Familien-
gruft wirklich beigeſetzt wäre, ſo würde die Nicht-Verweſung nichts zu
bedeuten haben, da eben alle Todten in dieſer Gruft zu Mumien werden;
Julie v. Voß iſt aber, auf ihren ausdrücklichen Wunſch, in der Familien-
Gruft nicht beigeſetzt worden, ſondern ruht, wie oben erzählt, unter der
Kuppel der Kirche, in einem übermauerten Grabe. Es iſt zu wünſchen,
daß dieſe Stelle ſpäter einen Grabſtein erhält, was, der Vertiefung im
Boden nach zu ſchließen, urſprünglich gewiß beabſichtigt war.
Oelporträt, das im Ingenheimſchen Schloſſe zu Seeburg (im Mansfelder
Seekreiſe) aufbewahrt wird, habe ich nicht geſehn, wohl aber ein lebens-
volles Paſtellbild, das ſich im Beſitz der Frau v. Haeſeler (Behrenſtraße 70)
befindet. Es hat Aehnlichkeit mit dem in Buch befindlichen Porträt, iſt
aber lieblicher und von gewinnenderem Ausdruck. Augen und Teint ſehr
ſchön. Die Gräfin trägt ein Morgenkoſtüm, eine Art Tüllſpenſer mit vie-
len krausgetollten Kragen. Durch die Fülle gelbgepuderten, krauſen Haares
zieht ſich ein ſchwarzes Sammtband. Das Porträt rührt von Frau
v. Sydow, einer Freundin der Gräfin Ingenheim, her.
meiligen Umkreis nördlich von Berlin gelegenen Güter, in Händen von
nur drei Familien: Roebel, Krummenſee, Loeben.
3 Doktoren der Rechte, die auch ſpäter noch meiſt aus bürgerlichem Stande
genommen wurden. Die 8 Mitglieder waren: Hironymus Graf v. Schlick,
Präſident; Johann von Loeben, Kanzler; von Benkendorf, Vice-Kanzler;
Chriſtoph Friedrich von Wallenfels; Hironymus von Dieskau; Friedrich
Pruckmann; Simon Ulrich Piſtoris; Johann Hübner.
mäler ich in der obengenannten Kirche lange vergeblich ſuchte, ſind nichts-
deſtoweniger in St. Marien wirklich beigeſetzt worden, aber in der
Roebel’ſchen Familiengruft. Da dies alte Erbbegräbniß (in dem, laut
Stadtrath Klein’s Geſchichte der Marienkirche, die Todten dreier Familien:
der Roebels, Canſtein und Canitz, beigeſetzt wurden) ſeit etwa 20 Jahren
zugemauert iſt, ſo iſt es nicht mehr möglich, die Särge um ihre Inſchrif-
ten zu befragen. Möglich, daß dieſelben, z. B. über den Geburtsort
Canitz’s, noch Aufſchluß geben würden. Ueber dem jetzt zugemauerten Ein-
gang zur Roebel’ſchen Gruft befindet ſich übrigens ein ſtattliches Monu-
ment, das die vor dem Crucifix knieenden, lebensgroßen Figuren Ehren-
reichs v. Roebel und ſeiner Gemahlin Anna, geb. v. Gollnitz, enthält.
ſpiel aus der Canitz’ſchen Zeit und noch dazu ein Vorkommniß, in dem
der Spezialfreund unſeres Poeten, der ſchon obengenannte Johann
von Beſſer, die Hauptrolle ſpielt. Beſſer war 1686 kurbrandenburgiſcher
Geſandter in London, und es handelte ſich, nach erfolgtem Tode Karl’s II.
für das ganze diplomatiſche Corps darum, dem nunmehrigen König Ja-
cob II. die Glückwünſche ihrer reſp. Höfe zu überreichen. Der alte vene-
tianiſche Geſandte Vignola verlangte den Vortritt vor Beſſer; Beſſer ver-
Freundſchaft, dem ſel. Grafen von Dohna auf derjenigen Stelle abge-
ſolle, der zuerſt auf dem Platz erſcheinen würde. Der alte Italiener kam
früh, aber Beſſer kam früher; er hatte ſich nämlich die Nacht über in eins
der königlichen Vorzimmer einſchließen laſſen, und ſtand bereits da, als
Vignola eintrat. Dieſer war unklug genug, nach wie vor auf den Vor-
tritt zu beſtehen. Beſſer warnte ihn. Als der Ceremonienmeiſter die Thür
öffnete, ſprang Vignola vor, Beſſer aber, der von großer Körperkraft war,
packte im ſelben Augenblick den alten Schelm hinten am Hoſenbund und
ſchnellte ihn mit geübter Ringerkunſt mehrere Schritte hinter ſich. Ohne
eine Miene zu verziehen, trat er darauf, völlig feſt und geſammelt, an die
Stufen des Thrones und hielt ſeine Anſprache. Alles war entzückt, der
König nichts weniger als beleidigt und der ſpaniſche Geſandte ſagte ruhig
zum alten Vignola: „Caro vecchio avete fatto una grande cacata.“
Der Vorfall machte in ganz Europa Senſation und wurde wie ein neuer
Sieg Brandenburgs gefeiert, nicht viel geringer, als ſei eine zweite Schlacht
von Fehrbellin geſchlagen und gewonnen worden.
hatte.“ (Es geſchah dies bei dem berühmten Sturm auf Ofen 1686; die
Brandenburger, von den Türken die „Feuermänner“ geheißen, wurden
von General v. Schöning geführt.)
citirt wurden, zugeſchrieben:
doch mag ich für die Echtheit dieſer Zeilen keine Bürgſchaft übernehmen.
darauf (1660) herabgeſetzt und Sparr erhielt von da ab nur noch unge-
fähr 500 Thlr. monatlich und 120 Scheffel Korn.
gräbniſſes überhaupt, ſiehe in den Anmerkungen.
welchen Geſetzen das Volk ſich ſeine Helden ausſtaffirt. Es verfährt dabei
lediglich nach einem dunkeln Drange, nach einem tief einwohnenden ro-
mantiſchen Bedürfniß und iſt gegen nichts gleichgültiger, als gegen den
wirklichen hiſtoriſchen Sachverhalt. Der alte Sparr, wie meine Schilde-
rung gezeigt haben wird, hat wenig oder nichts gemein mit dem Sparr,
wie er in den Prenden’ſchen Spinnſtuben lebt. Otto Chriſtoph v. Sparr
war in den letzten zehn Jahren ſeines Lebens ein frommer Kriegsheld;
hätte ſeine Frömmigkeit ſich bis zu einer frappirenden That (alſo etwa bis
zum Stylitenthum, oder ſonſt einer Handlung äußerſter Asceſe) verſtiegen,
ſo würde dieſe eklatante That für das Sagenbedürfniß der Prendener den
Stoff und die Anlehnung geboten haben; — da aber Sparr’s Frömmig-
keit die Asceſe vermied und keine Wunder that, ſo war ſie für die Pren-
dener ſo gut wie gar nicht vorhanden und ſie befragten ſein Leben nach
Zügen, die mehr in die Augen ſprangen. Da hörten ſie von Türken-
zügen, vom Niederſchießen des Marienkirchthurms, von Kettenkugeln, von
ſeinen ſonſtigen Wundern als Artillerie-General und — der Zauberer
war fertig. Er hat nun, er mag wollen oder nicht, Fauſt’s Mantel und
fährt über die Kirchthürme hin. Ganz dieſelben Dinge wiederholen ſich
beim alten Derfflinger in Guſow — der eine läßt die Peitſche, der andre
die Theerbutte am Kirchthurme des Nachbarortes zurück. Was den Stein
mit den Krampen und Ketten und den vier Sklaven angeht, ſo iſt er-
ſichtlich, daß das Standbild des großen Kurfürſten, mit den vier Gefeſſelten
am Sockel, zu dieſer wie zu ähnlichen Sagen Veranlaſſung gegeben hat.
davon, im Lande Lebus. Da ich aber die beiden andern Feldherrn aus
der Zeit des großen Kurfürſten: Sparr und Goertzke in dieſem Bande
beſprochen habe, ſo ſollte Derfflinger (auf Guſow) nicht fehlen. Vgl.
Prenden, Schloß Beuthen und die Anmerkungen zu Schloß Beuthen.
mal eine hiſtoriſche Rolle zu ſpielen, freilich keine, die dem alten Derff-
linger gefallen haben würde. Hier ſowohl wie in dem gegenüberliegenden
Kölniſchen Rathhauſe hatten ſich die Aufſtändiſchen verſchanzt und wurden
hauſes wurden alle niedergemacht bis auf den Führer, den ſein Muth
und ſeine Geiſtesgegenwart rettete. Er trat dem Offizier mit offner Bruſt
entgegen und wurde von dieſem ſofort niedergehauen; ſo kam er mit dem
Leben davon, weil man Anſtand nahm, einen Schwerverwundeten zu
tödten. Im d’Heureuſe’ſchen Hauſe ſelbſt kommandirte der Blouſenmann
Sigriſt (wenn ich nicht irre, ein Schloſſergeſell), dem die Ernennung des
„Mr. Albert, ouvrier“ zum Miniſter der öffentlichen Arbeiten, zu Kopf
geſtiegen war. Er bewies viel Muth, taugte aber gar nichts und ver-
ſchwand bald vom Schauplatz.
empfing, ſein Sohn ſei beim Sturme auf Ofen gefallen, ruhig ausgerufen
habe: „Warum hat ſich der Narr nicht beſſer in Acht genommen.“ Iſt
dieſe Anekdote echt, ſo beweiſt ſie allerdings mehr Derbheit als Fröm-
migkeit.
öſtlich vom Barnim und gehört alſo eigentlich nicht hierher, eben ſo wenig
wie das im Lande Lebus gelegene Guſow. Wie ich aber Guſow in die-
ſen Band mit herübergenommen habe, um die drei Paladine des großen
Kurfürſten: Sparr, Derfflinger und Goertzke bei einander zu haben, ſo
geb’ ich auch, aus einem ſehr ähnlichen Grunde, „Küſtrin“ und zwar um
die Epoche von 1730—40 in einer gewiſſen Vollſtändigkeit (verſteht ſich,
nur nach der Seite des Lokalen hin) bieten zu können. Vgl. Ruppin,
Rheinsberg, Schloß Coepenick und die Anmerkungen zu Schloß Coepenick.
gleichviel mit Recht oder Unrecht, die Schuld für die Kataſtrophe von
1806 beigemeſſen wird, war ein ſehr trauriges. Maſſenbachs Schickſal iſt
bekannt; Fürſt Hohenlohe, der, bei Jena geſchlagen, bei Prenzlau die un-
ſelige Capitulation geſchloſſen hatte, verbrachte ſeine letzten Lebensjahre
in völliger Einſamkeit (in Oberſchleſien). Als Generallieutenant von Pirch,
der früher Adjutant des Fürſten geweſen war, ihn nach Beendigung der
Kriege von 1813 bis 1815 beſuchte, fand er ihn in einem alten Ueber-
rocke. Pirch blieb zu Tiſch und der Fürſt entſchuldigte ſich, daß er ſeinem
Gaſte nichts als eine Waſſerſuppe vorſetzen könne. Er war völlig mittel-
los, glücklicherweiſe auch bedürfnißlos. Uebrigens war er ein tapferer und
hochherziger Mann, der neben den „Ingerslebens“ jener Epoche kaum ge-
nannt, ſicherlich nicht mit ihnen verwechſelt werden darf.
in der nah gelegenen Zorndorfer Mühle ſteht. Friedrich ſchlief auf ihm
in der Nacht vor der Zorndorfer Schlacht.
davon entfernt, in unmittelbarer Nähe des reizend gelegenen Dörfchens
Grünau, ſtarb am 18. Juli 1608 der Enkel Joachims II., Kurfürſt
Joachim Friedrich, derſelbe, dem die Marken die Gründung des Joachims-
thal’ſchen Gymnaſiums verdanken. Er kam von Storkow und war auf
dem Wege nach Berlin, als ihn der Tod im Wagen überraſchte. An
der Stelle, wo er muthmaßlich geſtorben iſt, hat man jetzt ein einfaches,
aber eigenthümliches Denkmal errichtet. Es iſt ein Steinbau, eine Art
offner Grabkapelle, deren auf vier Pfeilern ruhendes Dach ſich über einem
Grabſtein wölbt. Zu Häupten dieſes Steins, in der einen Schmalwand
der Kapelle (die beiden Fronten ſind offen und haben nur ein Gitter) be-
findet ſich ein gußeiſernes Kreuz, das einen Kurhut und darunter die
wenigen Worte trägt: „Hier ſtarb den 18. Juli 1608 Joachim Friedrich,
Kurfürſt von Brandenburg.“ Der Anblick des Denkmals, namentlich um
die Sommerzeit, wenn man, durch den offnen Rundbogen hindurch, die
jungen Eichen grünen ſieht, die die Hinterfront der kleinen Kapelle um-
ſtehn, iſt überaus reizend und maleriſch.
Längsbohlen gedeckt iſt und in der That die Länge und Breite einer
ſplendid angelegten Kegelbahn hat, im vorigen Jahrhundert wirklich als
ſolche gedient habe. Iſt dem ſo, ſo darf man kühnlich behaupten, daß
wenigſtens in den Marken an keiner ſchöneren Stelle jemals Kegel ge-
ſpielt worden iſt. Die Ausſicht, die einen Kreis von faſt vier Meilen um-
faßt, iſt entzückend, Wald und Waſſer ſoweit das Auge reicht und mitten
im Bilde die Müggelsberge.
zende Beſitzung geſchenkt, die, in unmittelbarer Nähe Coepenicks gelegen,
den Namen „Bellevue“ führt. Dies Bellevue iſt ein Garten mitten im
Sande, eine Oaſe in mehr als einer Beziehung. Mr. St. Aubin er-
baute ſich daſelbſt ein Herrenhaus, ein „Schlößchen“ mit Speiſehalle und
Gartenſaal, mit Bibliothek und Empfangszimmern. Der gegenwärtige Be-
ſitzer des Guts iſt Paſtor Pabſt, früher Geſandtſchaftsprediger in Rom
(„Rom hatte damals zwei Päbſte“). Vor ihm beſaß es Bernhard von
Lepel, der hier, in poetiſcher Zurückgezogenheit, einige ſeiner beſten Sachen
dichtete, z. B. „die Zauberin Kirke.“ 1852 war „Bellevue“ der Sommer-
aufenthalt Franz Kuglers und Paul Heyſe’s. Comfort, Kunſt und
Dichtung waren, ſo ſcheint es, immer an dieſer Stelle zu Haus und nie-
mand gewann Hausrecht hier, der nicht zuvor in Rom geweſen war. Der
Verf. hat die Zimmer des Schlößchens nie anders geſehn, als im Schmuck
italieniſcher Bilder und oft lagen mehr Pinienäpfel auf den Schränken
und Kommoden des Gartenſaals umher, als Tannäpfel in den Steigen
des Gartens.
Unterſuchungshaft; — jetzt iſt es Seminar.
Spree, hinter Bäumen verborgen. An einigen Stellen des Weges, und
zwar in der Richtung auf die Spree zu, hat man den Wald gelichtet
und nur ſo viele Bäume ſtehen laſſen, wie ausreichend ſind, um als
hoher grüner Schirm für die Spree zu dienen. Dieſe ſtehen gebliebenen
Bäume ſind ziemlich hoch, aber die Maſten der Spreekähne ſind doch noch
höher und ſo wachſen denn die Oberſegel der vorüberkommenden Schiffe
weit über die grünen Kronen hinaus. Was dieſen Anblick doppelt ſchön
macht, iſt, daß die Bäume am jenſeitigen Ufer der Spree um vieles
höher ſind und nun wiederum ihrerſeits einen dunklen Hintergrund für
die Segel bilden. Wer im Zwielicht hier des Weges kommt, glaubt weiße
Rieſenvögel langſam und geräuſchlos über den dunklen Wipfeln hin-
ſchweben zu ſehn.
zigen, die wir, ſeit länger als 400 Jahren, ununterbrochen im Teltow
finden. Ihnen folgen die Goertzke’s, die etwa ſeit 250 Jahren eben-
daſelbſt angeſeſſen ſind. Die wenigen adligen Familien: v. Kneſebeck,
v. Haeſeler, v. Albrecht, v. Eckardtſtein, die ſich außerdem noch im Teltow
vorfinden, gehören dieſem Landestheile erſt ſeit Kurzem an, während die
alten Teltow-Familien: von Beeren (auf Groß- und Klein-Beeren),
v. d. Liepe, v. Britzke (in Britz), v. Wilmersdorf, v. Otterſtedt, v. Boy-
tin, v. Groeben, v. Flanß, v. Thümen, theils ausgeſtorben, theils in
andern Landestheilen ſeßhaft geworden ſind. In keinem Theile der Mark
hat der Güterbeſitz ſo oft gewechſelt, als im Teltow und Barnim. Der
Einfluß der Hauptſtadt iſt dabei unverkennbar.
wiſſem Sinne ſo ſchöpferiſch zu ſtimmen als der Anblick von Kunſtwerken,
die es nicht verſteht. Es ruht nicht eher, als bis es eine Deutung ge-
funden hat, wobei es zugleich eine Neigung und ein Geſchick zeigt, ſchon
vorhandene Sagen dem gegebenen, räthſelhaften Etwas anzupaſſen. Der
Kopf am Panzer des großen Kurfürſten hat zu der ſchönen Sage vom
geretteten Dorfkind Veranlaſſung gegeben, die ich am Schluß des Kapitels
„Fehrbellin“ (S. 170) erzählt habe; — ähnliches gilt von der „Adonis-
Statue mit dem Eberkopf“ im Schloßpark zu Coepenick. Die Sage, die
ſich daran knüpft, iſt folgende: Einem Jäger Joachims II. träumt, er werde
am andren Tage von einem Eber getödtet werden. Er erzählt ſeinen
Traum am andren Morgen und man läßt ihn im Schloß zurück. Die
andren kehren mit reicher Jagdbeute heim, darunter ein todter Eber. Der
zurückgebliebene Jäger packt jetzt den todten Eber, um ihn in die Küche
zu ziehn, fällt dabei und reißt ſich an einem der Hauer den Schenkel auf.
Daran ſtirbt er andren Tags. Dieſe Geſchichte mag ſich einmal ereignet
haben, irgendwo vielleicht, aber ſchwerlich in Coepenick, und ſie würde
über das alte Sprec-Schloß immer hinweggezogen ſein, wenn nicht beim
Neubau des Schloſſes die Errichtung der Adonis-Statue (mit dem Eber-
kopf) die Sage plötzlich fixirt und ihr Anlehnung und eine neue Heimath
geboten hätte. So kommt es, daß man an den verſchiedenſten Orten den-
ſelben Geſchichten begegnet; die meiſten dieſer Orte ſind gleichſam nur
Filiale und der Mutter-Sagenort iſt oft ſchwer zu beſtimmen. — Der
Meduſenkopf am Portal alter Schlöſſer hat gewiß ſchon oft als ſchlangen-
umwundnes Porträt hartherziger Schloßherrn gelten müſſen und der alte
Herr von Hake hat, zweifellos, Kameraden in allen Ländern. Der Satz,
den ich aufſtellen möchte, iſt der: das Volk hat eine Neigung Allge-
meines zu lokaliſiren, ſobald gewiſſe Bedingungen erfüllt, gewiſſe
äußerliche Anhaltepunkte für dieſe Lokaliſirung gegeben ſind.
Offizier, der, in der Schlacht bei Groß-Beeren verwundet, in’s Herren-
haus geſchafft und von Frau v. Beeren gepflegt wurde. Dieſe Pflege ſchloß
dann (wie immer) mit Verlobung. Dieſe Verſion kann halb richtig ſein.
Capitain Willmer, wie ſein Name ergiebt, war ein Deutſcher, da aber
bei Großbeeren meiſt Sachſen auf franzöſiſcher Seite fochten, ſo iſt es
wohl möglich, daß er als verwundeter ſächſiſcher Offizier die Bekannt-
ſchaft der Frau v. Beeren machte.
was aber aus vielen Gründen unmöglich iſt. Savary wurde ſchon bei
Marengo (1800) Napoleons General-Adjutant, war alſo im Dezember
1806 mindeſtens General-Lieutenant, wenigſtens wurde er 6 Monate
ſpäter (nach der Schlacht bei Friedland) bereits zum Herzog von Ro-
vigo ernannt. Ein ſo hochgeſtellter Offizier konnte durch Caulaincourt,
der an Rang kaum mehr war als er ſelbſt, nicht gut perſönlich zu einer
Unterſuchungsreiſe nach Ruppin veranlaßt, am allerwenigſten aber mit
einem „taisez vous“ zur Ruhe verwieſen werden.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Fontane, Theodor. Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjs0.0