[][][][][][][]
VORLESUNGEN
ÜBER
GASTHEORIE


II. THEIL:
THEORIE VAN DER WAALS’; GASE MIT ZUSAMMENGESETZTEN
MOLEKÜLEN; GASDISSOCIATION; SCHLUSSBEMERKUNGEN.

[figure]

LEIPZIG,:
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH.
1898.

[][[I]]
VORLESUNGEN
ÜBER
GASTHEORIE.

[[II]][[III]]
VORLESUNGEN
ÜBER
GASTHEORIE


II. THEIL:
THEORIE VAN DER WAALS’; GASE MIT ZUSAMMENGESETZTEN
MOLEKÜLEN; GASDISSOCIATION; SCHLUSSBEMERKUNGEN.

[figure]

LEIPZIG,:
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH.
1898.

[[IV]]

Druck von Metzger \& Wittig in Leipzig.


[[V]]

Vorwort.


The impossibility of an incompensated
decrease of entropy seems to be reduced
to an improbability
“.
1)

Als der erste Theil der Gastheorie gedruckt wurde, hatte
ich bereits ein Manuscript für den vorliegenden zweiten und
letzten Theil fast vollständig fertig, in welchem die schwierigeren
Partien derselben nicht behandelt wurden. Gerade in dieser Zeit
aber mehrten sich die Angriffe gegen die Gastheorie. Ich habe
nun die Ueberzeugung, dass diese Angriffe lediglich auf Miss-
verständnissen beruhen, und dass die Rolle der Gastheorie in der
Wissenschaft noch lange nicht ausgespielt ist. Die Fülle mit der
Erfahrung übereinstimmender Resultate, welche van der Waals
aus ihr rein deductiv ableitete, werde ich in diesem Buche an-
schaulich zu machen suchen. Auch in neuester Zeit hat die-
selbe wieder Fingerzeige gegeben, welche man in keiner anderen
Weise hätte erhalten können. Aus der Theorie des Verhält-
nisses der specifischen Wärmen erschloss Ramsay das Atom-
gewicht des Argons und damit dessen Stelle im Systeme der
chemischen Elemente, von welcher er nachher durch Entdeckung
des Neons nachwies, dass sie in der That die richtige war.
Ebenso folgerte Smoluchowski aus der kinetischen Theorie
der Wärmeleitung die Existenz und Grösse des Temperatur-
sprunges bei der Wärmeleitung in sehr verdünnten Gasen.


Es wäre daher meines Erachtens ein Schaden für die
Wissenschaft, wenn die Gastheorie durch die augenblicklich
[VI]Vorwort.
herrschende ihr feindselige Stimmung zeitweilig in Vergessen-
heit geriethe, wie z. B. einst die Undulationstheorie durch die
Autorität Newton’s.


Wie ohnmächtig der Einzelne gegen Zeitströmungen bleibt,
ist mir bewusst. Um aber doch, was in meinen Kräften steht,
dazu beizutragen, dass, wenn man wieder zur Gastheorie zu-
rückgreift, nicht allzuviel noch einmal entdeckt werden muss,
nahm ich in das vorliegende Buch nun auch die schwierigsten,
dem Missverständnisse am meisten ausgesetzten Theile der Gas-
theorie auf und versuchte davon wenigstens in den Grund-
linien eine möglichst leicht verständliche Darstellung zu geben.
Freilich muss ich um Entschuldigung bitten, wenn dadurch
einige Capitel etwas weitschweifig wurden, da eine einiger-
maassen präcise Darstellung dieser Theorien ohne einen ent-
sprechenden Formelapparat wohl nicht möglich ist.


Besonderen Dank schulde ich Hrn. Dr. Hans Benndorf
für die Zusammenstellung zahlreicher Literaturbehelfe während
meiner Abwesenheit von Wien.


Volosca, Villa Irenea, im August 1898.


Ludwig Boltzmann.


[[VII]]

Inhaltsverzeichniss.


  • I. Abschnitt.
  • Seite
  • Grundzüge der Theorie van der Waals’1
  • § 1. Allgemeine Anschauungen van der Waals1
  • § 2. Aeusserer und innerer Druck 4
  • § 3. Zahl der Stösse auf die Wand 6
  • § 4. Berücksichtigung der Ausdehnung der Moleküle bei der
    Stosszahl 7
  • § 5. Bestimmung des den Molekülen ertheilten Antriebes 10
  • § 6. Gültigkeitsgrenzen der in § 4 gemachten Vernachlässigung 12
  • § 7. Bestimmung des inneren Druckes 13
  • § 8. Ein ideales Gas als thermometrische Substanz 16
  • § 9. Temperatur-Druckcoefficient. Bestimmung der Constanten der
    van der Waals’schen Gleichung 18
  • § 10. Absolute Temperatur. Compressionscoefficient 20
  • § 11. Kritische Temperatur, kritischer Druck und kritisches Volumen 23
  • § 12. Geometrische Discussion der Isothermen 27
  • § 13. Specialfälle 31
  • II. Abschnitt.
  • Physikalische Discussion der Theorie van der Waals’33
  • § 14. Stabile und labile Zustände 33
  • § 15. Unterkühlung, Verdampfungsverzug 36
  • § 16. Stabile Coexistenz der beiden Phasen 38
  • § 17. Geometrische Darstellung des Zustandes, wobei zwei Phasen
    coexistiren 42
  • § 18. Definition der Begriffe Gas, Dampf und tropfbare Flüssigkeit 45
  • § 19. Willkürlichkeit der Definitionen des vorigen Paragraphen 47
  • § 20. Isopykne Zustandsänderung 49
  • § 21. Calorimetrie einer das van der Waals’sche Gesetz befolgen-
    den Substanz 51
  • § 22. Grösse der Moleküle 54
  • § 23. Beziehungen zur Capillarität 55
  • § 24. Trennungsarbeit der Moleküle 59
  • III. Abschnitt.
  • Seite
  • Für die Gastheorie nützliche Sätze der allgemeinen Mechanik62
  • § 25. Auffassung der Moleküle als mechanische Systeme, welche
    durch generalisirte Coordinaten charakterisirt sind 62
  • § 26. Liouville’s Satz 66
  • § 27. Ueber Einführung neuer Variabeln in Producte von Diffe-
    rentialen 69
  • § 28. Anwendung auf die Formeln des § 26 74
  • § 29. Zweiter Beweis des Liouville’schen Satzes 77
  • § 30. Jacobi’s Satz vom letzten Multiplicator 82
  • § 31. Einführung des Energiedifferentiales 86
  • § 32. Ergoden 89
  • § 33. Begriff der Momentoide 93
  • § 34. Ausdrücke für die Wahrscheinlichkeit; Mittelwerthe 96
  • § 35. Allgemeine Beziehung zum Temperaturgleichgewichte 102
  • IV. Abschnitt.
  • Gase mit zusammengesetzten Molekülen105
  • § 36. Specielle Betrachtung zusammengesetzter Gasmoleküle 105
  • § 37. Anwendung der Kirchhoff’schen Methode auf Gase mit
    zusammengesetzten Molekülen 108
  • § 38. Ueber die Möglichkeit, dass für eine sehr grosse Zahl von
    Molekülen die ihren Zustand bestimmenden Variabeln
    zwischen sehr engen Grenzen liegen 110
  • § 39. Betrachtung der Zusammenstösse zweier Moleküle 112
  • § 40. Nachweis, dass die in § 37 angenommene Zustandsvertheilung
    durch die Zusammenstösse nicht gestört wird 117
  • § 41. Verallgemeinerungen 120
  • § 42. Mittelwerth der einem Momentoide entsprechenden lebendigen
    Kraft 122
  • § 43. Das Verhältniss κ der specifischen Wärmen 127
  • § 44. Werthe des κ für specielle Fälle 128
  • § 45. Vergleich mit der Erfahrung 130
  • § 46. Andere Mittelwerthe 133
  • § 47. Betrachtung der gerade in Wechselwirkung begriffenen
    Moleküle 135
  • V. Abschnitt.
  • Ableitung der van der Waals’schen Gleichung mittelst des Virial-
    begriffes
    138
  • § 48. Präcisirung der Punkte, wo van der Waals’ Schlussweise
    der Ergänzung bedarf 138
  • § 49. Allgemeiner Begriff des Virials 139
  • Seite
  • § 50. Virial des auf ein Gas wirkenden äusseren Druckes 142
  • § 51. Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Molekülpaaren mit
    gegebener Centraldistanz 143
  • § 52. Virial, das von der endlichen Ausdehnung der Moleküle herrührt 149
  • § 53. Virial der Waals’schen Cohäsionskräfte 151
  • § 54. Ersatzformeln für die van der Waals’sche 153
  • § 55. Virial für ein beliebiges Abstossungsgesetz der Moleküle 155
  • § 56. Das Princip der Lorentz’schen Methode 157
  • § 57. Zahl der Zusammenstösse 161
  • § 58. Genauerer Werth der mittleren Weglänge. Berechnung von W
    nach Lorentz’s Methode 164
  • § 59. Genauere Berechnung des für den Mittelpunkt eines Moleküles
    disponiblen Raumes 165
  • § 60. Berechnung des Druckes des gesättigten Dampfes aus den
    Wahrscheinlichkeitssätzen 167
  • § 61. Berechnung der Entropie eines die Waals’schen Voraus-
    setzungen erfüllenden Gases nach der Wahrscheinlichkeits-
    rechnung 171
  • VI. Abschnitt.
  • Theorie der Dissociation177
  • § 62. Mechanisches Bild der chemischen Affinität einwerthiger
    gleichartiger Atome 177
  • § 63. Wahrscheinlichkeit der chemischen Bindung eines Atomes
    mit einem gleichartigen 180
  • § 64. Abhängigkeit des Dissociationsgrades vom Drucke 185
  • § 65. Abhängigkeit des Dissociationsgrades von der Temperatur 188
  • § 66. Numerische Rechnungen 192
  • § 67. Mechanisches Bild der Affinität zweier ungleichartiger ein-
    werthiger Atome 196
  • § 68. Dissociation eines Moleküles in zwei heterogene Atome 200
  • § 69. Dissociation des Chlorwasserstoffgases 202
  • § 70. Dissociation des Wasserdampfes 203
  • § 71. Allgemeine Theorie der Dissociation 206
  • § 72. Verhältniss dieser Theorie zur Theorie Gibbs’211
  • § 73. Der empfindliche Bezirk ist um das ganze Atom herum
    gleichmässig vertheilt 213
  • VII. Abschnitt.
  • Ergänzungen zu den Sätzen über das Wärmegleichgewicht in Gasen
    mit zusammengesetzten Molekülen
    217
  • § 74. Definition der Grösse H, welche die Zustandswahrscheinlich-
    keit misst 217
  • Seite
  • § 75. Veränderung der Grösse H durch die intramolecularen Be-
    wegungen 220
  • § 76. Charakterisirung des zunächst zu betrachtenden speciellen
    Falles 222
  • § 77. Form des Liouville’schen Satzes in dem betrachteten
    Specialfalle 224
  • § 78. Veränderung der Grösse H in Folge der Zusammenstösse 226
  • § 79. Allgemeinste Charakterisirung des Vorganges eines Zusammen-
    stosses zweier Moleküle 230
  • § 80. Anwendung des Liouville’schen Satzes auf Zusammenstösse
    allgemeinster Art 232
  • § 81. Methode der Rechnung mit endlichen Differenzen 235
  • § 82. Integralausdruck für die allgemeinste Aenderung von H
    durch die Zusammenstösse 239
  • § 83. Präcisirung des nun zu betrachtenden Specialfalles 240
  • § 84. Auflösung der für jeden Zusammenstoss geltenden Gleichung 242
  • § 85. Es sollen nur die Atome einer einzigen Gattung sich stossen 245
  • § 86. Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer Centralbewegung
    von bestimmter Beschaffenheit 246
  • § 87. Charakterisirung unserer Annahme über die Anfangszustände 251
  • § 88. Ueber die Rückkehr eines Systemes in den alten Zustand 253
  • § 89. Beziehung zum zweiten Hauptsatze der Wärmetheorie 254
  • § 90. Anwendung auf das Universum 256
  • § 91. Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Mole-
    kularphysik 259
  • § 92. Ableitung des Wärmegleichgewichtes durch Umkehr der
    Zeitfolge 260
  • § 93. Führung des Beweises durch cyklische Reihen einer endlichen
    Zahl von Zuständen 264
[[1]]

I. Abschnitt.
Grundzüge der Theorie van der Waals’.


§ 1. Allgemeine Anschauungen van der Waals’.


Wenn die Entfernung, in welcher zwei Gasmoleküle be-
merkbar auf einander wirken, verschwindend klein gegen die
durchschnittliche Entfernung von einem Molekül bis zum nächst-
benachbarten ist, oder, wie man auch sagen kann, wenn der
von den Molekülen (resp. deren Wirkungssphären) eingenommene
Raum gegenüber dem vom ganzen Gase erfüllten Raume ver-
schwindet, so verschwindet auch für jedes Molekül gegenüber
der geradlinigen oder bloss unter dem Einflusse der äusseren
Kräfte zurückgelegten Bahn seines Schwerpunktes derjenige
Theil dieser Bahn, welcher während der Wechselwirkung mit
anderen Molekülen zurückgelegt wird. Dann gilt das Boyle-
Charles’s
che Gesetz für das betreffende Gas, sowohl wenn
die Moleküle desselben einfache materielle Punkte oder starre
Körperchen, als auch wenn sie beliebig zusammengesetzte
Aggregate sind. Das betreffende Gas heisst dann in allen
diesen Fällen ein ideales.


Die in der Natur vorkommenden Gase erfüllen diese Be-
dingung des idealen Gaszustandes nur unvollständig und es ist
daher eine Theorie, welche auch der endlichen Ausdehnung
der Wirkungssphären der Moleküle Rechnung trägt, höchst
erwünscht.


Eine solche wurde von van der Waals gegeben, der sich
die Moleküle im Uebrigen, wie wir es zu Anfang des ersten
Theiles thaten, als verschwindend wenig deformirbare elastische
Kugeln denkt. Er verallgemeinert jedoch die Theorie in zwei-
facher Weise:


Boltzmann, Gastheorie II. 1
[2]I. Abschnitt.
  • 1. setzt er nicht voraus, dass der von den elastischen
    Kugeln, welche die Moleküle darstellen, wirklich erfüllte
    Raum verschwindend klein gegenüber dem ganzen Volumen
    des Gases sei;
  • 2. nimmt er an, dass ausser den nur während der Zu-
    sammenstösse eine verschwindend kurze Zeit lang thätigen
    elastischen Kräften noch eine Anziehungskraft zwischen den
    Molekülen thätig ist, welche in der Richtung ihrer Centrilinie
    wirkt und deren Intensität eine Function der Centraldistanz
    ist. Wir nennen diese Anziehungskraft die Waals’sche Co-
    häsionskraft.

Die Nothwendigkeit der Annahme einer Anziehungskraft
zwischen den Molekülen folgt unmittelbar aus der nun bei
allen Gasen nachgewiesenen Möglichkeit sie zu verflüssigen, da
das gleichzeitige Nebeneinanderbestehen einer tropfbar flüssigen
und einer dampfförmigen Phase derselben Substanz bei gleicher
Temperatur und gleichem Drucke in demselben Gefässe nur
erklärlich ist, wenn zwischen den Molekülen nebst der Kraft,
die während der Zusammenstösse deren Wieder-Auseinander-
prallen bewirkt, auch noch Anziehungskräfte thätig sind.


Diese Anziehungskräfte könnten direct durch folgenden
Versuch nachgewiesen werden. Man bringe ein mit einem ver-
dichteten Gase gefülltes Gefäß plötzlich mit einem anderen
Gefässe in Communication, welches dasselbe Gas in verdünn-
terem Zustande enthält. Beim Ueberströmen leistet dann das
Gas im ersteren Gefässe durch Ueberwindung des Druckes
Arbeit und kühlt sich ab; im letzteren Gefässe entstehen zuerst
sichtbare Strömungen, welche sich durch Reibung mit der Zeit
in Wärme verwandeln. Wenn zwischen den Molekülen bloss
Stosskräfte thätig wären, so müsste die hierdurch schliesslich
entstandene Wärme vollständig äquivalent der Abkühlung im
ersten Gefässe sein. Sind dagegen zwischen den Molekülen
auch Anziehungskräfte thätig, die sich auf etwas grössere Ent-
fernungen erstrecken, so ist diese Aequivalenz keine vollständige,
sondern es findet im Ganzen ein kleiner Wärmeverlust statt,
da ja die durchschnittlichen Distanzen der Moleküle grösser ge-
worden sind und daher auf Ueberwindung ihrer Anziehung eine
gewisse Wärme aufgewendet werden musste.


[3]§ 1. Van der Waals’ Grundanschauungen.

Die nach dieser Methode von Gay-Lussac1) und später
von Joule und Lord Kelvin2) angestellten Versuche ergaben
zwar kein die Frage nach dem Vorhandensein dieser Anziehungs-
kräfte sicher entscheidendes Resultat, doch gelang es den beiden
Letzteren nach einer mehr indirecten Methode die Existenz
dieser Anziehungskräfte durch Ausdehnungsversuche mit Gasen
experimentell nachzuweisen.3) Sie zeigten nämlich, dass ein Gas,
welches (ohne Wärmeabgabe nach aussen) mit Druck durch einen
porösen Pfropf getrieben wird, dabei eine kleine Abkühlung er-
fährt, während die Rechnung ergiebt, dass ein vollkommen ideales
Gas hierbei seine Temperatur nicht ändern würde.


Die gleichzeitige Existenz einer anziehenden Fernkraft
und eines elastischen Kernes der Moleküle hat freilich eine
gewisse Unwahrscheinlichkeit. Besonders scheint sie der im
III. Abschnitte des I. Theiles besprochenen Annahme dia-
metral entgegengesetzt zu sein, dass sich zwei Moleküle mit
einer der 5. Potenz der Entfernung verkehrt proportionalen
Kraft abstossen. Trotzdem könnten beide Annahmen eine ge-
wisse Annäherung an die Wirklichkeit gewähren, wenn die
Moleküle in grösseren Entfernungen eine schwache Anziehung,
in sehr kleinen aber eine nahe der 5. Potenz der Entfernung
verkehrt proportionale Abstossung auf einander ausüben würden.
Die Anziehung müsste dann mit abnehmender Entfernung weit
langsamer wachsen als die Abstossung, so dass erstere bei den
Zusammenstössen neben der in sehr kleinen Entfernungen enorm
überwiegenden Abstossung nicht in Betracht käme.


Wir wollen selbstverständlich eine genauere Formulirung
der etwa möglichen Annahmen der Zukunft überlassen und uns
im Folgenden unbekümmert um den Zusammenhang mit den im
I. Theile discutirten Hypothesen genau an die Voraussetzungen
van der Waals’ halten, die wir ganz im Sinne unserer Theorie
wieder als ein nur in manchen Stücken zutreffendes Bild be-
trachten. Wir haben ja auch bisher im Bewusstsein unserer Un-
bekanntschaft mit der wahren Beschaffenheit der Moleküle niemals
1*
[4]I. Abschnitt.
prätendirt, dass unsere Annahmen in der Natur genau realisirt
seien. Dagegen haben wir bisher das grösste Gewicht darauf
gelegt, dass die daran geknüpften Rechnungen exact richtig,
d. h. logisch nothwendige Consequenzen der Annahmen seien.
Die hierdurch erzielte Ausbildung der mathematischen Methoden
war unser Hauptzweck. Dadurch, dass aus verschiedenartigen
Annahmen die Consequenzen vorliegen, sollte die Auffindung
von Experimenten zu ihrer Prüfung erleichtert werden und
zugleich sollte dafür gesorgt werden, dass bei jedem Fort-
schritte unserer Erkenntniss die mathematischen Methoden zur
Bearbeitung der neuen Gesetze möglichst bereit liegen.


Leider muss van der Waals auch diese mathematische
Strenge in einem Punkte aufgeben, der sich bisher nicht durch
Rechnung bewältigen liess. Doch beweist es gewiss den hohen
Werth und grossen Nutzen der Waals’schen Theorie, dass
dessen Formel im Allgemeinen ein ziemlich gutes Bild des Ver-
haltens der Gase bis zu ihrer Verflüssigung liefert, wenn sie
auch nicht durchaus quantitativ mit der Erfahrung stimmt.
Man ist auch wohl berechtigt, hieraus zu schliessen, dass sie
in ihren Grundzügen kaum je durch eine völlig verschiedene
ersetzbar sein wird.


Ich will in diesem Abschnitte die Gleichungen van der
Waals’
auf möglichst einfachem und kurzem Wege ableiten
und Ergänzungen dazu erst im V. Abschnitte bringen.


§ 2. Aeusserer und innerer Druck.


Ein beliebiges Gefäss vom Volum V enthalte n gleich be-
schaffene Moleküle, welche vollkommen elastische unendlich wenig
deformirbare Kugeln vom Durchmesser σ seien. Das von diesen
Kugeln selbst ausgefüllte Volumen sei ziemlich klein, aber nicht
vollkommen verschwindend gegen das ganze Volumen V des Ge-
fässes. Es wird sich zeigen, dass die Formeln, welche wir er-
halten werden, angenähert auch noch auf Zustände der im
Gefässe befindlichen Substanz anwendbar sind, in denen diese
nicht mehr als Gas, sondern als tropfbare Flüssigkeit bezeichnet
werden muss. Wir werden sie daher im Folgenden schlecht-
weg als Substanz, nicht als Gas bezeichnen, obwohl wir haupt-
sächlich noch immer solche Fälle im Auge haben, wo sich ihr
Zustand sehr dem eines Gases nähert.


[5][Gleich. 1] § 2. Aeusserer und innerer Druck.

Zwischen den Mittelpunkten je zweier Moleküle der Sub-
stanz wirke eine Anziehungskraft (die Waals’sche Cohäsions-
kraft), welche zwar auch in Entfernungen, die von der Grössen-
ordnung der der Beobachtung zugänglichen sind, verschwindet,
aber doch mit wachsender Entfernung so langsam abnimmt, dass
sie selbst innerhalb Distanzen, die gross gegenüber der durch-
schnittlichen Entfernung zweier Nachbarmoleküle der Substanz
sind, noch nahezu als constant betrachtet werden kann. Die
Folge davon ist, dass die auf jedes im Innern des Gefässes
befindliche Molekül von den umgebenden Molekülen ausgeübten
Waals’schen Cohäsionskräfte sehr nahe nach allen möglichen
Richtungen im Raume gleichmässig wirken und sich daher auf-
heben, so dass die Bewegung der einzelnen Moleküle wie die
gewöhnlicher Gasmoleküle erfolgt und durch die Waals’sche
Cohäsionskraft nicht erheblich modificirt wird. Obwohl daher die
letztere aus dem Rahmen der im 1. Theile von uns betrachteten
Kräfte heraustritt, so kann doch die Bewegung der Moleküle
genau nach den dort aufgestellten Principien berechnet werden.


Nur auf die Moleküle, die der Grenze der Substanz sehr
nahe sind, wirkt die Waals’sche Cohäsionskraft vorwiegend nach
innen. Diese Moleküle werden daher durch zweierlei Kräfte zur
Umkehr gezwungen. Erstens durch den Gegendruck der Wand
auf das Gas, zweitens durch die Waals’sche Cohäsionskraft.
Die Intensität, mit welcher die erstere Kraft auf die der
Flächeneinheit anliegenden Moleküle wirkt, heisse p, die der
letzteren pi, so dass die der Flächeneinheit der Begrenzungsfläche
der Substanz anliegenden Moleküle durch die Gesammtkraft
1)
zur Umkehr gezwungen werden.


Es sei nun ein Theil D E der Gefässwand vom Flächen-
inhalte Ω eben. Die Gesammtkraft
,
welche im Gleichgewichtszustande auf die in der Zeiteinheit
die Fläche D E treffenden Moleküle wirkt und dieselben zur
Umkehr zwingt, ist nach § 1 des I. Theiles gleich dem ge-
sammten in der Richtung der Normalen N zur Fläche D E
geschätzten Bewegungsmomente, welches die Moleküle in der
Zeiteinheit durch diese Fläche tragen würden, wenn sich die-
[6]I. Abschnitt. [Gleich. 3]
selbe im Innern des Gases befände, vermehrt um das Be-
wegungsmoment, welches den Geschwindigkeiten entspricht, mit
denen diese Moleküle sich wieder von der Fläche weg ins
Innere des Gases bewegen.


§ 3. Zahl der Stösse auf die Wand.


Wir heben zunächst aus allen Molekülen nur diejenigen
hervor, für welche die Grösse der Geschwindigkeit c zwischen
c und c + d c, der Winkel ϑ, den die Richtung derselben mit
der zur Fläche D E nach aussen errichteten Normalen N
bildet, zwischen ϑ und ϑ + d ϑ und der Winkel ε zwischen
einer zu D E normalen, die Richtung der Geschwindigkeit ent-
haltenden Ebene und einer fixen, zu D E normalen Ebene
zwischen ε und ε + d ε liegt. Wir wollen den Inbegriff dieser
Bedingungen als
die Bedingungen 2
bezeichnen. Alle Moleküle, welche ihnen genügen, nennen wir
Moleküle der hervorgehobenen Art und wir fragen uns zunächst,
wie viele Moleküle der hervorgehobenen Art während einer sehr
kleinen Zeit d t auf die Fläche D E stossen.


Jedes dieser Moleküle ist als Kugel vom Durchmesser σ
zu denken und stösst also in dem Momente auf die Ebene D E,
wo es dieselbe berührt. Die Mittelpunkte der hervorgehobenen
Moleküle legen alle während der Zeit d t den nahe gleichen
und gleichgerichteten Weg c d t zurück. Die Anzahl der Mole-
küle der hervorgehobenen Art, welche während der Zeit d t
auf die Ebene D E stossen, finden wir daher in folgender
Weise:


Wir lassen die Ebene D E an jedem ihrer Punkte durch
eine Kugel tangiren, deren Durchmesser gleich dem Durch-
messer σ eines Moleküles ist. Der Mittelpunkt aller dieser
Kugeln liegt in einer zweiten Ebene vom Flächeninhalte Ω.
Durch jeden Punkt dieser zweiten Ebene ziehen wir eine Ge-
rade, welche gleich lang und gleichgerichtet ist wie der Weg
c d t, den jedes der hervorgehobenen Moleküle während der
Zeit d t zurücklegt. Alle diese Geraden erfüllen einen schiefen
Cylinder γ von der Basis Ω und der Höhe
3) d h = c d t cos ϑ,
[7][Gleich. 3] § 3. Zahl der Stösse. § 4. Ausdehnung der Moleküle.
also vom Volumen Ω d h und man sieht leicht, dass genau die-
jenigen Moleküle der hervorgehobenen Art während der Zeit d t
auf die Ebene D E stossen, deren Mittelpunkte zu Anfang des
Zeitmomentes d t im schiefen Cylinder γ lagen.


§ 4. Berücksichtigung der Ausdehnung der Moleküle
bei der Stosszahl
.


Um die Anzahl d z dieser letzteren Moleküle zu finden,
bestimmen wir zuerst ganz allgemein die Wahrscheinlichkeit,
dass bei einer bestimmten gegebenen Lage der übrigen Mole-
küle der Mittelpunkt eines bestimmten gegebenen Moleküls
innerhalb des Cylinders γ liegt. Das gegebene Molekül kann
von dem Mittelpunkte keines der übrigen n — 1 Moleküle eine
Entfernung haben, die kleiner als σ ist. Den für den Mittel-
punkt unseres Moleküles bei gegebener Lage der übrigen
Moleküle im ganzen Gefässe überhaupt verfügbaren Raum
finden wir daher folgendermaassen: Wir construiren um den
Mittelpunkt jedes der n — 1 anderen Moleküle eine Kugel vom
Radius σ, welche wir die Deckungssphäre dieses Moleküls
nennen wollen. Ihr Volumen ist das achtfache von dem
Volumen des als elastische Kugel gedachten Moleküles selbst.
Das gesammte Volumen 4 π (n — 1) σ3/3 aller dieser n — 1
Deckungssphären ziehen wir vom Gesammtvolumen V des
Gases ab, wobei auch n für n — 1 geschrieben werden kann,
da n eine sehr grosse Zahl ist.


Um nun d z zu finden, vergleichen wir diesen Raum
V — 4 π n σ3 / 3, welcher für den Mittelpunkt des bestimmten
gegebenen Moleküls im ganzen Gefässe zur Verfügung steht,
mit dem Raume, der dafür im Cylinder γ zur Verfügung steht.
Den letzteren finden wir, wenn wir von dem ganzen Volumen
Ω d h des Cylinders γ wieder das Volumen derjenigen Theile
desselben abziehen, welche innerhalb der Deckungssphäre
irgend eines der n — 1 übrigen Moleküle liegen. Die Deckungs-
sphären dieser n — 1 Moleküle werden offenbar durchschnitt-
lich gleichförmig im ganzen Volumen V des das Gas ent-
haltenden Gefässes vertheilt sein, mit Ausnahme der der Wand
sehr naheliegenden Partien im Gefässe. Wenn sich daher der
Cylinder γ irgendwie mitten im Innern des Gefässes befände,
so würde derjenige Theil A des Gesammtvolumens 4 π n σ3 / 3
[8]I. Abschnitt. [Gleich. 3]
der Deckungssphären aller Moleküle, welcher innerhalb des
Cylinders γ liegt, sich zu diesem Gesammtvolumen 4 π n σ3 / 3
verhalten, wie das Volumen Ω d h des Cylinders γ zum Ge-
sammtvolumen V des Gases. Es wäre daher
.


Von allen Molekülen, deren Deckungssphäre in das
Volumen des Cylinders γ eingreift, kann man die Zahl der-
jenigen vernachlässigen, deren Mittelpunkt innerhalb des Cy-
linders γ selbst liegt, da die Höhe d h dieses Cylinders un-
endlich klein ist. Die Mittelpunkte aller Moleküle, deren
Deckungssphären in das Volumen des Cylinders γ eingreifen,
würden daher, wenn dieser Cylinder mitten im Gefässe läge,
gleichmässig zur Hälfte auf der einen, zur Hälfte auf der an-
deren Seite des Cylinders γ liegen.


Da sich nun der von uns betrachtete Cylinder γ nicht
mitten im Innern des Gefässes, sondern im Abstande ½ σ von
der Wand desselben befindet, so können bloss auf der einen
Seite desselben Mittelpunkte der n — 1 Moleküle liegen, nicht
aber auf der anderen. Es fällt also die Hälfte der Moleküle
weg, deren Deckungssphären früher aus dem ganzen Cylinder γ
das Volumen A herausschnitten, und derjenige Theil des
Volumens des Cylinders γ, welcher von den Deckungssphären
irgend welcher der n — 1 Moleküle erfüllt wird, ist nur:
.1)


[9][Gleich. 6] § 4. Ausdehnung der Moleküle.

Das gesammte übrige Volumen
des Cylinders γ ist als Ort für den Mittelpunkt des einen ge-
gebenen Moleküles verfügbar, falls wir die Wahrscheinlichkeit
suchen, dass derselbe im Cylinder γ liegt.


Diese Wahrscheinlichkeit ist der Quotient des im ganzen
Gasvolumen überhaupt verfügbaren Raumes in den innerhalb
des Cylinders γ verfügbaren Raum, also gleich
4) ,
wofür wir, da die im Zähler und Nenner abgezogene Grösse
sehr klein ist, auch schreiben können
5)
wobei
6)
der halbe von den Deckungssphären aller Moleküle erfüllte
Raum, also das vierfache Gesammtvolumen aller Moleküle ist.



[10]I. Abschnitt. [Gleich. 9]

§ 5. Bestimmung des den Molekülen ertheilten An-
triebes
.


Da im Ganzen nicht bloss das eine gegebene, sondern
n Moleküle im Gase vorhanden sind, so ist die Gesammtzahl
der Gasmoleküle, deren Mittelpunkt im Cylinder γ liegt, gleich
7) .
Davon haben
eine Geschwindigkeit, welche zwischen c und c + d c liegt, wobei
8)
die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Geschwindigkeit eines
Moleküles zwischen c und c + d c liegt, also die durch die
Gesammtzahl n der Moleküle dividirte Zahl derjenigen Mole-
küle, deren Geschwindigkeit diese Bedingung erfüllt. Unter
den ν1 Molekülen werden sich wieder
finden, für welche ausserdem der Winkel ϑ zwischen den
Grenzen ϑ und ϑ + d ϑ liegt,1) und unter diesen wieder
,
für welche auch noch ε zwischen den Grenzen ε und ε + d ε
liegt. Dies ist also die im Früheren mit d z bezeichnete An-
zahl der Moleküle, welche im Cylinder vom Volumen
9)
liegen und deren Geschwindigkeit und Geschwindigkeitsrichtung
die in § 3 als die Bedingungen 2 bezeichneten Bedingungen
erfüllen. Diese Moleküle sind identisch mit den Molekülen,
welche während der Zeit d t auf das Stück D E der Gefässwand
vom Flächeninhalte Ω so stossen, dass dabei Grösse und
Richtung der Geschwindigkeit wieder die Bedingungen 2 er-
füllen. Durch Substitution der Werthe 7) und 9) geht der Aus-
druck für die Anzahl dieser Moleküle über in:
[11][Gleich. 13] § 5. Antrieb.
10) .
Wir setzen nun voraus, dass der Zustand stationär ist. Während
einer beliebigen Zeit t2t1 stossen dann (t2t1). d z / d t Mole-
küle der hervorgehobenen Art auf die Fläche D E. Jedes der-
selben hat vor dem Stosse das Bewegungsmoment m c cos ϑ
in der Richtung N und erhält durchschnittlich das gleiche
Bewegungsmoment in der entgegengesetzten Richtung, so dass
ihm durch den auf dieses Molekül entfallenden Antheil des ge-
sammten Antriebes Ω pg (t2t1) der Kraft Ω pg im Ganzen das
Bewegungsmoment 2 m c cos ϑ in der Richtung normal zu D E
nach innen zu mitgetheilt werden muss. Alle Moleküle der
hervorgehobenen Art tragen daher den Betrag
11)
zum Antriebe Ω pg (t2t1) bei. Substituirt man für d z den
Werth 10) und integrirt über alle möglichen Werthe, also be-
züglich ε von Null bis 2 π, bezüglich ϑ von Null bis π / 2 und
bezüglich c von Null bis ∞, so erhält man den ganzen An-
trieb Ω pg (t2t1). Wenn wir in der betreffenden Gleichung
sogleich durch Ω (t2t1) wegdividiren und die Integration
nach ε ausführen, so folgt:
12) .
Das nach ϑ genommene Integral hat bekanntlich den Werth ⅓.
Ferner ist gleich dem mittleren Geschwindigkeits-
quadrat eines Moleküls. Man erhält also:
13) .
Wäre die Anziehungskraft der Gasmoleküle, welche wir die
Waals’sche Cohäsionskraft genannt haben, nicht vorhanden,
so wäre pg einfach der äussere Druck des Gases. Wegen jener
Cohäsionskraft aber besteht die Gesammtkraft pg aus zwei
Theilen: Erstens der Druckkraft p, welche von der das Gas
begrenzenden Wand ausgeübt wird und zweitens der An-
ziehungskraft, welche die übrigen Moleküle auf jedes sich der
[12]I. Abschnitt. [Gleich. 14]
Wand nähernde Molekül ausüben und welche ebenfalls dazu
beiträgt, das Molekül zur Umkehr zu bringen. Bezeichnen wir
daher wie früher die Gesammtintensität jener auf die der
Flächeneinheit anliegenden Moleküle wirkenden Anziehungskraft
mit pi, so folgt die schon mit 1) bezeichnete Gleichung:
.


§ 6. Gültigkeitsgrenzen der in § 4 gemachten Ver-
nachlässigung
.


Bei Ableitung der Gleichungen 5) und 13) wurden alle
Glieder von der Grössenordnung B2 / V2 vernachlässigt. Wir
können daher nicht erwarten, dass diese Formel auch noch
für Werthe des V gilt, welche nicht als gross gegenüber B be-
trachtet werden können. In der That liefert die Formel 10)
bereits für V = B einen unendlich grossen Druck. Dieses
Volumen des Gases ist aber noch 4 mal so gross als der von
den Molekülen wirklich erfüllte Raum und daher der ihm
entsprechende Druck sicher nicht unendlich gross. Der Druck
kann vielmehr erst unendlich gross werden, wenn die Moleküle
so dicht gedrängt sind, als man Kugeln im Raume überhaupt
zusammendrängen kann.


Eine der dichtesten Lagerungen von sehr viel gleich
grossen Kugeln dürfte man erhalten, wenn man sie nach Art
der aus Kanonenkugeln aufgebauten Pyramiden aufschichtet.
Eine leichte Rechnung zeigt, dass sich dann das ganze
Volumen, welches sie sammt den kleinen zwischen ihnen frei
bleibenden Zwischenräumen einnehmen, zu dem von den Kugeln
selbst erfüllten Raum wie verhält.


Wenn die Gasmoleküle in dieser Weise gelagert wären,
so wäre daher
14) .


Es wird also pg erst unendlich, wenn V etwa gleich ⅓ B
wird,1) wogegen es nach Formel 13) schon für V = B unend-
lich wird.


[13][Gleich. 14] § 6. Gültigkeitsgrenzen. § 7. Innerer Druck.

Wir werden übrigens im V. Abschnitte § 58 sehen, dass die
Formel 13) schon die Glieder von der Grössenordnung B2 / V2
nicht mit dem richtigen Coefficienten liefert.


In dieser Hinsicht setzt also van der Waals an Stelle
der exact richtigen Formel eine andere, welche sicherlich
unrichtig ist, sobald V nicht klein gegen B ist. So wesent-
lich nun der quantitative Unterschied ist zwischen einem Aus-
drucke, der für V = B verschwindet und einem solchen, der
für V gleich ⅓ B verschwindet, so dürfte doch die richtige
Formel in qualitativer Beziehung einen ganz ähnlichen Ver-
lauf liefern, wie die von van der Waals an ihre Stelle ge-
setzte. Daher erklärt sich auch die schöne qualitative Ueber-
einstimmung der Waals’schen Formel mit dem wirklichen Ver-
halten der Gase und tropfbaren Flüssigkeiten; aber es erklären
sich auch die wesentlichen quantitativen Unterschiede und so
lange wie gegenwärtig die Berechnung der exacten Formel auf
unüberwindliche mathematische Schwierigkeiten stösst, wird man
sich mit der van der Waals’schen begnügen müssen.


Es ist daher zu unterscheiden zwischen dem Verhalten
einer Substanz, welche exact die van der Waals’schen Vor-
aussetzungen erfüllen würde und dem durch die van der
Waals’
sche Gleichung dargestellten und wir werden im Folgen-
den immer einzig [und] allein das letztere Verhalten discutiren.


§ 7. Bestimmung des inneren Druckes.


Um die Grösse pi zu berechnen, setzt van der Waals
voraus, dass die Anziehung zweier Moleküle zwar auch nur in
kleinen Entfernungen wirkt, die aber im Mittel doch noch
gross gegenüber der durchschnittlichen Distanz der benach-
barten Moleküle der Substanz sind. Wir finden nun die auf
die Flächeneinheit wirkende Waals’sche Cohäsionskraft pi in
folgender Weise: Wir wählen irgend ein Flächenelement d s
der Begrenzungsfläche der Substanz und construiren in das
Innere der Substanz hinein den geraden Cylinder Z, welcher
dieses Flächenelement zur Basis hat. Wir construiren ferner
die beiden Querschnitte dieses Cylinders, welche sich in den
Entfernungen ν und ν + d ν von der Basis d s des Cylinders be-
finden. Das Volumen des Cylinders ζ, welches zwischen diesen
beiden Querschnitten liegt, ist d s d ν, die daselbst befindliche
[14]I. Abschnitt. [Gleich. 15]
Masse der Substanz also ρ d s d ν, wenn ρ deren Dichte ist.1) Da
m die Masse eines Moleküles ist, so enthält der Cylinder ζ
15)
Moleküle. Jedes derselben befindet sich nahe gleich tief unter
der Begrenzungsfläche der Substanz, also nahe unter den gleichen
Umständen. Es wird von den Molekülen, welche der Grenze der
Substanz noch näher sind, gegen diese hin, von den weiter
entfernten aber von ihr hinweg gezogen und da die Anzahl
der letzteren überwiegt, so bleibt eine Resultirende, welche das
Molekül von der Oberfläche hinwegzieht.


Betrachten wir ein Molekül m innerhalb des Cylinders ζ
und irgend ein Volumelement ω in der Nähe desselben, so
werden alle Moleküle, die sich im Volumelemente ω befinden,
auf das Molekül m eine nahe gleiche und gleich gerichtete
Anziehung ausüben. Die Gesammtanziehung der Moleküle des
Volumelementes ω auf das Molekül m und daher auch ihre
Componente normal zu d s wird daher proportional der An-
zahl der Moleküle sein, die sich in ω befinden, also pro-
portional der Dichte ρ des Gases. Der Proportionalitätsfactor
ist bloss mehr von der Grösse des Volumelements ω und seiner
relativen Lage gegen das Molekül m abhängig. Namentlich
[15][Gleich. 16] § 7. Innerer Druck.
ist er vermöge unserer Annahme bei gleicher Dichte unab-
hängig von der Temperatur. Letztere bestimmt ja bloss die
Raschheit, mit welcher die Molekularbewegung innerhalb des
Volumelementes ω vor sich geht, während nach unserer
Voraussetzung die zwischen dem Moleküle m und den in ω
liegenden Molekülen wirkende Kraft von deren Bewegung
unabhängig sein muss. Alle diese Schlüsse gelten natürlich
auch für alle anderen in der Nähe von m liegenden Volum-
elemente ω1, ω2, … und es muss auch die Summe der normal
zu d s geschätzten Componenten aller Kräfte, welche alle in
der Umgebung von m liegenden Moleküle auf das Molekül m
ausüben, der Dichte ρ proportional, von der Temperatur aber
unabhängig, also etwa gleich ρ C sein, wobei der Werth von C
nur mehr davon abhängt, wie weit das Molekül m von der
Begrenzungsfläche entfernt ist. Da sich alle in dem unend-
lich kleinen Cylinder ζ befindlichen Moleküle unter denselben
Umständen befinden und die Anzahl dieser Moleküle nach
Formel 15) gleich ist, so ist die Gesammtkraft, welche
auf alle diese Moleküle normal zu d s wirkt, gleich:
16)


Da ferner der Werth von C weder von der Temperatur noch
von der Dichte der Substanz, sondern nur davon abhängt, wie
tief der Cylinder ζ im Innern der Substanz liegt, also nur
Function von ν ist, so wollen wir ihn mit f (ν) bezeichnen.
Die Gesammtwirkung auf alle im Cylinder Z befindlichen Mole-
küle ist
.
Den Werth des Ausdrucks , welcher, da er weder
von der Dichte, noch von der Temperatur abhängt, eine Con-
stante der betreffenden Substanz ist, bezeichnen wir mit a, so
dass wir für die Gesammtkraft, welche auf alle Moleküle des
Cylinders Z nach innen wirkt, den Ausdruck a ρ2d s erhalten.
Sie ist proportional d s. Die Kraft, welche alle der Flächen-
einheit anliegenden Moleküle nach innen zieht und welche wir
[16]I. Abschnitt. [Gleich. 20]
mit pi bezeichnet haben, ist also a ρ21) und wir erhalten nach
Formel 1) und 13):
17) .
n m ist die Gesammtmasse der Substanz. V / n m = v ist also
das Volumen der Masseneinheit der Substanz bei der Temperatur
und dem Drucke, die gerade herrschen, das sogenannte speci-
fische Volumen; da die gesammte Masse n m = ρ V ist, folgt
18)
und wir können die Formel 17) so schreiben:
19)
wobei
20)
ist. Dies ist also eine Constante des Gases, das halbe Volumen
der in der Masseneinheit des Gases enthaltenen Deckungssphären
oder das 4 fache Volumen der in der Masseneinheit enthaltenen
Moleküle.


§ 8. Ein ideales Gas als thermometrische Substanz.


Wir wollen nun als Mass der Temperatur die Grösse des
Druckes wählen, welchen ein ideales Gas (das Normalgas) bei
verschiedenen Temperaturen aber constantem Volumen aus-
üben würde. Unter einem idealen Gase verstehen wir ein
solches, wie es im I. Theile betrachtet und im II. Theile zu
Anfang des § 1 nochmals definirt wurde, dessen Moleküle nur
in Distanzen, die gegenüber der mittleren Entfernung zweier
Nachbarmoleküle verschwindend klein sind, erhebliche Wirkung
auf einander ausüben.


[17][Gleich. 22] § 8. Ideales Gas.

Wenn wir für ein bestimmtes ideales Gas die Masse eines
Moleküles mit M, das mittlere Geschwindigkeitsquadrat des
Schwerpunktes eines Moleküles mit C2̅ und die Anzahl der
Moleküle in der Volumeneinheit mit N bezeichnen, so ist der
Druck desselben auf die Flächeneinheit nach § 1 des I. Theiles
. Bei constantem Volumen ist auch N constant.
Die absolute Temperatur T ist also gemäss unserer Wahl des
Temperaturmaasses proportional der Grösse C2̅ und wir wollen
in Übereinstimmung mit Formel 51) S. 53 des I. Theiles setzen
C2̅ = 3 R T, wobei R eine allein durch das Temperaturmaass
bestimmte Constante ist.


Wir werden im III. Abschnitte § 35 und IV. Abschnitte
§ 42 gewichtige Gründe anführen, welche dafür sprechen, dass
bei gleicher Temperatur die mittlere lebendige Kraft der Schwer-
punktsbewegung eines Moleküls ganz allgemein für beliebige
Körper gleich ist. Aber abgesehen davon haben wir schon im
I. Theile bewiesen, dass dies die Bedingung des Wärmegleich-
gewichts zweier idealer Gase mit einatomigen Molekülen ist.
Die Beweiskraft unserer damaligen Schlüsse wird durch die von
van der Waals angenommenen anziehenden Kräfte nicht beein-
trächtigt, da diese auf Entfernungen wirken, die gross gegen die
Distanz zweier Nachbarmoleküle sind und daher die Bewegung
der Moleküle während der Zusammenstösse nicht stören. Die
Bedingung des Wärmegleichgewichtes zwischen dem Normalgase
und einem anderen auf das sich Formel 19) bezieht, wird daher
jedenfalls, wenn wir uns die Moleküle des ersteren ebenfalls
einatomig denken, wieder die Gleichheit der mittleren lebendigen
Kraft eines Moleküls des einen und des anderen Gases sein, so dass
bei gleicher Temperatur ist. Da nun die letztere
Grösse gleich 3 R M T ist, so ist bei derselben Temperatur auch
für das andere Gas m c2̅ = 3 R M T. Wir wollen nun das
Molekulargewicht des anderen Gases verglichen mit dem des
Normalgases, also die Grösse m / M mit μ und die Grösse R / μ
mit r bezeichnen; dann wird
21)
und daher nach Gleichung 19)
22) .


Boltzmann, Gastheorie II. 2
[18]I. Abschnitt. [Gleich. 24]

Dies ist die van der Waals’sche Relation zwischen Druck,
Temperatur und Volumen eines Gases. Dabei sind r, a, b
Constanten, die dem betreffenden Gase eigenthümlich sind,
R aber ist eine bloss auf das Normalgas bezügliche von der
Natur des anderen Gases unabhängige Constante.


In der Chemie versteht man unter dem Molekularge-
wichte eines Gases in der Regel das Verhältniss der Masse
eines Moleküls desselben zur Masse eines einfachen Wasser-
stoffatoms. Dann ist also für den gewöhnlichen Wasserstoff,
dessen Moleküle zweiatomig sind, μ = 2 und die Gasconstante
, wogegen R die Gasconstante des Wasserstoffgases
wäre, wenn dessen Moleküle in einzelne Atome dissociirt
wären. Wenn wir das so dissociirte Wasserstoffgas nicht der
Definition zu Grunde legen wollen, so haben wir also R em-
pirisch als die doppelte Gasconstante des gewöhnlichen Wasser-
stoffgases zu definiren.


§ 9. Temperatur-Druckcoefficient.
Bestimmung der Constanten der van der Waals’schen
Gleichung
.


Wir wollen nun ein Gas betrachten, welches zwar nicht
die Eigenschaften besitzt, die wir einem idealen Gase zu-
schreiben, bei dem aber die Beziehung zwischen Druck, Dichte
und Temperatur mit genügender Annäherung durch die
van der Waals’sche Gleichung 22) ausgedrückt wird.


Wir wollen für dasselbe zunächst den Temperaturcoeffi-
cienten des Druckes bei constantem Volumen bestimmen, d. h.
wir wollen bei constantem Volumen die Temperatur von T1
auf T2 erhöhen, die zu diesen Temperaturen gehörigen Drucke
auf die Flächeneinheit mit p1 und p2 bezeichnen und den
Quotienten (p2p1) / (T2T1) bestimmen. Wir finden aus
Gleichung 22)
23) ,
woraus folgt:
24) .
Es sind also die Druckdifferenzen den Temperaturdifferenzen
proportional und der Proportionalitätsfactor ist bloss Function
[19][Gleich. 25] § 9. Temperatur-Druckcoefficient.
des Volumens der Masseneinheit. Die Druckdifferenzen eines
das Waals’sche Gesetz befolgenden Gases bei constantem
Volumen sind also noch immer ein Maass der Temperatur-
differenzen. Bezeichnen wir mit p3 den zu einer dritten ab-
soluten Temperatur T3 bei gleichem Volumen v der Massen-
einheit gehörenden Druck, so ist:
25) .
Wir setzen nun zunächst voraus, dass wir ein zweites Gas,
z. B. Wasserstoffgas haben, das mit genügender Genauigkeit als
ein ideales betrachtet werden kann. Für dieses letztere Gas
ist also dann
.
Es können also die absoluten Temperaturen mittelst desselben
direct bestimmt werden, wenn man die Einheit für den Tempe-
raturgrad festsetzt, z. B. die Differenz der Temperaturen des
siedenden Wassers und schmelzenden Eises (beide beim Normal-
barometerstand genommen) gleich 100 setzt.


Man kann dann zunächst prüfen, inwieweit die Gleichung 25)
für das erste Gas erfüllt ist, inwieweit also für dasselbe das
Waals’sche Gesetz die Abhängigkeit des Druckes von der
Temperatur richtig angiebt. Berechnet man aus Gleichung 24)
den Temperaturcoefficienten des Druckes r / (v — b) für zwei
verschiedene Dichten, also für zwei verschiedene Werthe des v,
so kann man daraus r und b für das betreffende Gas bestimmen.
Kennt man noch die chemische Zusammensetzung des Moleküls
des Gases, so kann man prüfen, mit welcher Genauigkeit die
Gleichung μ r = R erfüllt ist. Man kann auch μ statt aus der
Dampfdichte aus der empirisch berechneten Waals’schen Con-
stanten r finden. Bestimmt man den Temperaturcoefficienten 24)
des Druckes bei constantem Volumen für noch mehr als zwei
Werthe von v, so kann man prüfen, inwieweit ihn die Waals’sche
Formel richtig als Function von v darstellt.


Dabei ist aber eines zu bemerken. Nach § 6 wurde der
Ausdruck r / (v — b) durch eine Vernachlässigung gefunden,
welche sicher nicht mehr erlaubt ist, wenn v sich dem Werthe b
nähert. Für die kleinsten Werthe des v ist sogar statt b nur
b zu setzen. In der That zeigt die Erfahrung, dass b, wenn
es in der geschilderten Weise für verschiedene Werthe des v
2*
[20]I. Abschnitt. [Gleich. 26]
bestimmt wird, sich nicht constant ergiebt, sondern mit ab-
nehmendem v abnimmt. Daraus folgt also keineswegs, dass
die Grundannahmen van der Waals’ für die betreffende Sub-
stanz unerlaubt wären, da sich ja aus diesen Grundannahmen,
wenn sie exact in eine Formel gekleidet würden, dieselbe Con-
sequenz ergeben müsste. Leider war es bisher nicht möglich
zu berechnen, welche Function von v bei exacter Durchführung
der Rechnung unter den Grundannahmen van der Waals’
an die Stelle von r / (v — b) treten müsste. Wir müssen uns
also im Folgenden auf Discussion der Gleichung 22) be-
schränken und in Erinnerung behalten, dass wir für kleine
Werthe des v nicht mehr als qualitative Uebereinstimmung zu
erwarten haben. Aus den Gleichungen 23) folgt ferner
26) ,
woraus sich auch der Werth der Constanten a ergiebt. Be-
rechnet man wieder diesen Werth für mehrere Werthe von v,
so kann man sich überzeugen, mit welcher Genauigkeit die
Form des auf der linken Seite der Waals’schen Gleichung 22)
zu p additiv hinzutretenden Gliedes der Erfahrung entspricht,
inwieweit also die Annahme van der Waals’ in der Natur
zutrifft, dass sich die Cohäsionskräfte, die wir nach ihm be-
nannt haben, auf Distanzen erstrecken, die gross gegenüber
dem mittleren Abstande zweier benachbarter Moleküle sind.


§ 10. Absolute Temperatur. Compressionscoefficient.


Die Bedingung, dass wir die absolute Temperatur mittelst
eines idealen Gases bestimmen können, ist niemals exact erfüllt,
da kein bekanntes Gas, selbst nicht das Wasserstoffgas, exact
die Eigenschaften besitzt, die wir einem idealen Gase zu-
schreiben. Die rationellste Definition der Temperatur ist aller-
dings die nach der Lord Kelvin’schen Temperaturscala, welche
bekanntlich von der maximalen Arbeit abgeleitet ist, die beim
Uebergang der Wärme von einer bestimmten höheren zu einer
bestimmten niederen Temperatur geleistet werden kann. Da
aber die directe experimentelle Bestimmung dieser Arbeit immer
sehr ungenau ausfallen würde, so ist man gezwungen, dieselbe
aus der Zustandsgleichung irgend eines Körpers zu berechnen.
Nun sind die Abweichungen des Wasserstoffes vom idealen
[21][Gleich. 26] § 10. Absol. Temperatur. Compressionscoefficient.
Gaszustande ohnedies gering; daher dürfte man, wenn man
diese Abweichungen noch unter der Voraussetzung der Gültig-
keit der Waals’schen Annahmen berücksichtigt, die absolute
Kelvin’schen Temperaturscala mit gegenwärtig kaum zu über-
treffender Genauigkeit erhalten.1) Man kann dann die soeben
entwickelten Gleichungen zur Bestimmung der absoluten Tempe-
ratur benutzen, darf aber nicht mehr die Annahme machen,
dass T1, T2 und T3 durch ein anderes idealeres Gas bestimmbar
sind. Man kann zunächst mittelst der Proportionen 25) die
Temperaturdifferenzen durch Zahlen ausdrücken, wenn man die
Einheit des Temperaturgrades willkürlich (z. B. wie oben) fest-
gesetzt hat. Zur Controle kann man die Temperaturbestimmung
bei mehreren Dichten des Gases ausführen. Wenn beim speci-
fischen Volumen v zu den drei Temperaturen T1, T2, T3 die
Drucke p1, p2, p3, beim specifischen Volumen v' aber zu den-
selben Temperaturen die Drucke p'1, p'2 und p'3 gehören, so muss
sein, wenn das Gas mit genügender Annäherung der Waals’-
schen Formel genügt.


Sind wieder p'1 und p'2 die beim specifischen Volumen v'
zu den Temperaturen T1 und T2 gehörigen Drucke, so kann
man die Gleichung 26) in folgender Weise schreiben:
.
Versteht man unter T1 die Temperatur des schmelzenden Eises,
unter T2 die des siedenden Wassers und setzt wieder T2T1 = 100,
so sind in den letzten beiden Ausdrücken dieser Gleichung
alle anderen Grössen der Beobachtung zugänglich und es kann
T1 berechnet werden. Ausserdem kann man den Werth der
Constanten a für Wasserstoffgas bestimmen.


Da man nun die absolute Temperatur kennt, so kann man
die dem Wasserstoffgase entsprechenden Werthe der Con-
stanten r und b ohne Weiteres nach der im Früheren an-
[22]I. Abschnitt. [Gleich. 26]
gegebenen Methode bestimmen. Dabei ist aber noch Folgendes
zu bemerken: Wenn wir die Waals’sche Gleichung 22) als
bloss empirisch gegeben betrachten würden, so müssten wir in
ihrer rechten Seite statt T eine Function der Kelvin’schen abso-
luten Temperatur f (T) schreiben. Die absolute Temperatur selbst
wäre dann ohne empirische Angaben über die specifische Wärme
oder die Abkühlung beim Joule-Kelvin’schen Ausströmungs-
versuche oder ähnliches nicht bestimmbar.1) Diese empirischen
Angaben sind hier durch die kinetische Hypothese ersetzt, dass
unser Gas mit einem idealen bei gleicher mittlerer lebendiger Kraft
der Schwerpunktsbewegung eines Moleküles im Temperaturgleich-
gewichte steht und dass für letzteres bei constantem Volumen der
Druck der Kelvin’schen absoluten Temperatur proportional ist.


Um die Beziehung zwischen p und v bei constanter Tempe-
ratur T, also den Druckcoefficienten der Dichte zu prüfen,
geben wir der van der Waals’schen Gleichung die Form
So lange also v gross sowohl gegenüber b als auch gegenüber
a / r T ist, gilt nahezu das Boyle’sche Gesetz; p v ist bei con-
stanter Temperatur nahezu constant. Das Gas ist weit von der
Verflüssigung entfernt. Dabei wird, so lange a \> r b T ist, so
lange also die durch die Waals’sche Cohäsionskraft veranlasste
Störung der Richtigkeit des Boyle’schen Gesetzes über die durch
die endliche Ausdehnung der Molekülkerne bewirkte überwiegt,
p v = p / ρ mit wachsendem Volumen zunehmen. Der Druck-
coefficient der Dichte d ρ / d p nimmt mit abnehmendem Drucke ab.
Für jedes Gas aber wird für sehr hohe Temperaturen a \< r b T
werden, also die letztere Störung über die erstere überwiegen
und daher p v mit wachsendem v abnehmen. Dann steigt der
Druckcoefficient der Dichte mit abnehmendem Drucke. Dies ist
bei Wasserstoffgas schon für gewöhnliche Temperaturen der Fall.


Auch der Differentialquotient des specifischen Volumens v
bei constantem Drucke nach der Temperatur T, welchen wir
den Temperaturcoefficienten des Volumens nennen wollen, ist,
wie unsere Formel zeigt, nicht constant.


[23][Gleich. 27] § 11. Kritische Grössen.

§ 11. Kritische Temperatur, kritischer Druck und
kritisches Volumen
.


Wir wollen nun die durch die Formel 22) dargestellte
Relation zwischen dem Drucke, der Temperatur und dem speci-
fischen Volumen eingehender discutiren. Nach derselben wird
für jede Temperatur T für v = b der Druck unendlich. Wie
wir sahen, würde für eine Substanz, welche exact den Waals’-
schen Annahmen genügt, der Druck erst etwa für das Volumen
b unendlich. Doch wollen wir hierauf nicht näher eingehen,
da nicht die ursprünglichen Annahmen van der Waals’,
sondern lediglich die Gleichung 22), insofern sie für grössere v
ein angenähert richtiger, für kleinere ein wenigstens qualitativ
übereinstimmender Ausdruck derselben ist, das Object unserer
gegenwärtigen Untersuchung bildet.


Das Volumen v = b ist daher unmöglich; um so mehr
jeder kleinere Werth von v, da für einen stabilen Gleich-
gewichtszustand durch Verkleinerung von v der Druck noch
weiter, also noch über den Werth ∞ hinaus, wachsen müsste.


Wir wollen nun die Isotherme, d. h. die Beziehung auf-
suchen, welche zwischen Druck und Volumen besteht, wenn
die Substanz ihr Volumen bei constanter Temperatur ändert.
Da bei einer solchen Volumänderung T als constant zu be-
trachten ist, so folgt aus Gleichung 22)
27) .


Hier ist die rechte Seite für den kleinsten möglichen Werth
des v, der nur wenig grösser als b ist, negativ, ebenso für sehr
grosse Werthe des v. Ferner ändert sie sich, sowie ihre
Differentialquotienten nach v für alle in Betracht kommenden
Werthe des v continuirlich mit der letzteren Grösse. Die
rechte Seite der Gleichung 27) kann nur verschwinden für
.
In dieser Gleichung hat der Ausdruck rechts für Werthe des v,
die wenig grösser als b sind, sowie für sehr grosse Werthe des v
einen sehr kleinen positiven Werth. Er ist ferner zwischen
diesen Grenzen continuirlich und hat innerhalb derselben nur
ein einziges Maximum vom Betrage Tk = 8 a / 27 r b für v = 3 b.
[24]I. Abschnitt. [Gleich. 30]
Wenn daher T \> Tk ist, so kann d p / d v überhaupt nicht ver-
schwinden und daher auch nicht positiv werden; die Isotherme
fällt mit wachsendem v beständig ab. Wenn T \< Tk ist, so
geht d p / d v durch Null zu einem negativen und dann noch-
mals durch Null wieder zu einem positiven Werthe über. Die
Ordinaten der Isotherme haben ein Minimum und ein Maximum.
Für T = Tk ist d p / d v sonst immer negativ; nur wird es ein
einziges Mal gleich Null und zwar für v = 3 b. Es nimmt also
p mit wachsendem v immer ab, aber an dieser Stelle nur um
eine Grösse, die unendlich klein höherer Ordnung ist, wenn
der Zuwachs von v unendlich klein ist. Diese Stelle nennt man
die kritische. Versehen wir die Werthe von v, p und T, welche
dieser Stelle entsprechen und welche man die kritischen nennt,
mit dem Index k, so ist also:
28) .
Für den dazu gehörigen Werth von p, also den kritischen Druck,
findet man aus Gleichung 22) den Ausdruck:
29) pk = a / 27 b2.
vk, Tk und pk sind also drei reelle positive Werthe. Ersterer
ist grösser als das kleinste Volumen b, dessen die Substanz
überhaupt fähig ist. Aus Gleichung 27) findet man, wenn man
wieder T constant lässt:
und man sieht leicht, dass für die kritischen Werthe d2p / d v2
verschwindet, was zu erwarten war, da wir bereits sahen, dass
für die kritischen Werthe die Isotherme ein vollkommen regu-
läres Maximum-Minimum hat.


Noch einer algebraischen Eigenschaft der kritischen Grössen
will ich gedenken. Bringen wir in Gleichung 22) alle Grössen auf
dieselbe Seite des Gleichheitszeichens, schaffen die Brüche weg
und ordnen nach Potenzen von v, so geht diese Gleichung über in
30) .
Dies ist bei gegebenen Werthen von p und T eine Gleichung
3. Grades für v. Wir wollen ihre linke Seite mit f (v) be-
zeichnen. Wenn es Werthe von p und T giebt, für welche für
denselben Werth von v ausser f (v) auch noch f' (v) und f″ (v)
[25][Gleich. 30] § 11. Kritische Grössen.
verschwinden, so hat die Gleichung 3. Grades für die be-
treffenden Werthe von p und T drei gleiche Wurzeln für v;
dabei ist f' (v) die erste und f″ (v) die zweite Ableitung von f (v)
bei constantem p und T.


Lässt man nur T constant, so folgt aus Gleichung 30)
.


Die Grössen d p / d v und d2p / d v2 sind dieselben, welche
oben in gleicher Weise bezeichnet wurden und von denen wir
bewiesen haben, dass sie für die kritischen Werthe von p, v
und T verschwinden. Für diese Werthe verschwinden also
nebst f (v) auch f' (v) und f″ (v), d. h. die Gleichung 30)
dritten Grades hat für v drei gleiche Wurzeln, wenn man für
p und T die kritischen Werthe substituirt. Da der Coefficient
von v2 negativ genommen und durch p dividirt die Summe,
das von v freie Glied ebenfalls negativ genommen und durch
p dividirt das Product, der durch p dividirte positive Coefficient
von v2 aber die Summe der Producte je zweier Wurzeln ist,
so erhält man für die Werthe pk und Tk, für welche die
Gleichung 30) drei gleiche Wurzeln hat, deren Werth mit vk
bezeichnet werden soll, die drei Gleichungen
,
woraus die schon gefundenen Werthe für vk, pk und Tk folgen.
Für diejenigen Werthe der Temperatur, für welche die Ordi-
naten der Isothermen kein Minimum haben, gehört zu jedem
p nur ein Werth des v, hat daher die Gleichung 30 nur eine
reelle Wurzel, die grösser als b ist; für jene Temperaturen
aber, für welche die Ordinate der Isothermen ein Minimum p1
und ein Maximum p2 hat, hat die Gleichung 30 drei reelle
Wurzeln für v, die \> b sind, falls p zwischen p1 und p2 liegt,
wie man sofort aus der Gestalt der Isothermen erkennt.


Wir haben bisher über die Einheit des Drucks und Vo-
lumens keine besondere Festsetzung gemacht. Damit die
Formeln besonders einfach werden, wollen wir bei Discussion
des Verhaltens einer jeden Substanz deren kritisches Volumen
[26]I. Abschnitt. [Gleich. 32]
vk als Volumeneinheit und deren kritischen Druck pk als Druck-
einheit wählen. Auch die früher angedeutete, von dem Gefrier-
und Siedepunkte des Wassers entlehnte empirische Einheit für
den Temperaturgrad wollen wir verlassen und für jedes Gas,
dessen absolute kritische Temperatur Tk als Einheit der absoluten
Temperatur wählen. Wir wollen also setzen:
31) .
Wir messen daher das Volumen durch ω, also durch die Zahl,
welche uns angiebt, wie viel mal es grösser ist als das kritische,
ebenso den Druck und die Temperatur durch π und τ.


Diese drei Grössen ω, π und τ nennen wir das reducirte
Volumen, den reducirten Druck und die reducirte Temperatur,
oder wo von der Anwendung eines andern Maasssystems gar
nicht die Rede ist, auch nur das Volumen, den Druck und
die Temperatur der Substanz.


Wir haben dann freilich für jedes Gas andere Einheiten
eingeführt, welche wir die Waals’schen Einheiten nennen
wollen; allein dieser Nachtheil wird für unsern Zweck auf-
gehoben durch den Vortheil, dass die Gleichungen viel ein-
facher werden. Da wir zudem a, b und r, daher auch vk, pk
und Tk für jedes Gas, aus dessen empirischem Verhalten zu
berechnen vermögen, so können wir ja jeden Augenblick von
den Waals’schen Einheiten wieder zu beliebigen anderen über-
gehen. Drücken wir in Gleichung 22) p, v und T durch π, ω
und τ aus, so erhalten wir, nachdem wir mit einem Factor
wegdividirt haben, der jedenfalls nicht Null sein kann:
32) .
Aus dieser Gleichung sind alle das Gas charakterisirenden
Constanten herausgefallen. Legt man daher der Messung die
van der Waals’schen Einheiten zu Grunde, so erhält man
für alle Gase dieselbe Gleichung, welche, wie van der Waals
glaubt, bis zur Verflüssigung, ja selbst noch für die tropfbare
Flüssigkeit gilt. Von der besonderen Natur der betreffenden
Substanz sind also bloss die Werthe des kritischen Volumens,
Druckes und der kritischen Temperatur abhängig; die Zahlen
[27][Gleich. 32] § 12. Geom. Discussion d. Isothermen.
aber, welche das wirkliche Volumen, den wirklichen Druck und
die wirkliche Temperatur als Vielfache der kritischen aus-
drücken, erfüllen für alle Substanzen dieselbe Gleichung.
Zwischen dem reducirten Volumen, dem reducirten Drucke
und der reducirten Temperatur besteht für alle Substanzen
dieselbe Gleichung.


Man kann sich wohl vorstellen, dass eine so allgemeine
Relation ziemlich weit davon entfernt ist, exact richtig zu sein;
aber schon der Umstand, dass ihre Annahme ein in den Grund-
zügen richtiges Bild der wirklichen Erscheinungen liefert, ist
sehr bemerkenswerth.


§ 12. Geometrische Discussion der Isothermen.


Um in die durch die Gleichung 32) dargestellte Relation
einen Einblick zu erhalten, wollen wir auf der positiven Ab-
scissenaxe O Ω vom Coordinatenursprunge O aus das reducirte
Volumen, also den Werth der Grösse ω als Abscisse O M, und
über dem Punkte M den reducirten Druck π parallel der Ordi-
natenaxe O Π als Ordinate M P auftragen. Jeder Punkt P der
Ebene stellt uns dann einen durch Druck und Volumen charak-
terisirten Zustand des Gases dar. Die dazu gehörige reducirte
Temperatur ist der aus Gleichung 32) für die angenommenen
Werthe von ω und π folgende Werth von τ. Unter Voraus-
setzung der Richtigkeit der Waals’schen Gleichung wird für
ω = ⅓ für jedes positive τ der reducirte Druck unendlich.
Wie also nach dem schon früher Gesagten zu erwarten war,
ist es nur durch Anwendung eines absolut unendlichen Druckes
möglich, die Substanz auf das Volumen ω = ⅓ zu comprimiren
und da der Druck mit abnehmendem Volumen nur wachsen
kann, sind noch kleinere Volumina, für welche unsere Formel
den Druck negativ ergäbe, nicht möglich.


Wir müssen uns also auf Betrachtung der Abscissen, die
≧ ⅓ sind, beschränken.


Wir verstehen nun entsprechend der schon eingeführten
Bezeichnung unter einer Isotherme den Inbegriff aller Punkte,
die solche Zustände unserer Substanz darstellen, für welche
die Temperatur τ einen constanten Werth hat. Unter der
Gleichung einer Isotherme werden wir daher jene Relation
zwischen π und ω verstehen, welche aus Gleichung 32) folgt,
[28]I. Abschnitt. [Gleich. 33]
wenn wir dem τ einen beliebigen constanten Werth ertheilen.
Die Schaar aller möglichen Isothermen erhalten wir, wenn wir
dem τ der Reihe nach alle möglichen Werthe von einem sehr
kleinen positiven Werthe angefangen bis + ∞ ertheilen. Aus
Gleichung 32) folgt für jedes τ, dass π einen sehr grossen
positiven Werth hat, wenn ω nur sehr wenig grösser als ⅓ ist.
Dagegen hat π einen sehr kleinen positiven Werth, wenn ω
sehr gross ist. Ferner folgt bei constantem τ
33) .
Da dieser Ausdruck für ⅓ \< ω \< ∞ endlich ist, so sind alle
Isothermen zwischen ω = ⅓ und ω = ∞ continuirliche Curven.
Sie nähern sich asymptotisch, sobald sich ω der Grenze ⅓
nähert, der parallel der Ordinatenaxe in der Entfernung ⅓
von derselben nach der Seite der positiven Ordinaten hin ge-
zogenen Geraden A B, sobald aber ω sehr gross wird, eben-
falls auf der Seite der positiven Ordinaten der Abscissenaxe.
Denn im ersteren Falle hat π einen sehr grossen positiven,
d π / d ω aber einen sehr grossen negativen, im letzteren π einen
sehr kleinen positiven, d π / d ω einen sehr kleinen negativen
Werth. Für alle Isothermen liegen daher beide ins Unendliche
gehenden Aeste auf der positiven Seite der Abscissenaxe. Da-
gegen kann zwischen ω = ⅓ und ω = ∞ die Grösse π negativ
werden, gewisse der durch Gleichung 32) bei constantem τ
dargestellte Curven können also unter die Abscissenaxe hinab-
steigen.


Um uns hiervon ein Bild zu machen, bedenken wir zu-
nächst, dass, wie der Anblick der Gleichung 32) zeigt, bei
gleichem ω zum kleineren Werthe von τ immer auch der
kleinere Werth von π gehört. Jede einer kleineren Temperatur
entsprechende Isotherme muss daher ganz unter der der höheren
Temperatur entsprechenden liegen; dergestalt, dass für jede
Abscisse ω der ersteren Isotherme eine kleinere Ordinate als
der letzteren entspricht und sich zwei Isothermen niemals
durchschneiden können.


Wir wollen nun den durch Gleichung 33) gegebenen Aus-
druck von d π / d ω discutiren. Auch er ist in dem von uns
allein betrachteten Intervalle, also zwischen ω = ⅓ und ω = ∞,
eine continuirliche Function von ω. Sowohl für sehr grosse ω
[29][Gleich. 34] § 12. Geom. Discussion d. Isothermen.
als auch, wenn ω wenig grösser als ⅓ ist, überwiegt das 2. Glied,
ist also d π / d ω, wie wir sahen, negativ. d π / d ω kann inner-
halb dieses Intervalles nicht positiv werden, ohne durch Null
hindurchzugehen. Letzterer Fall aber kann nach Gleichung 33)
nur eintreten für
34) .
Sowohl wenn ω nur wenig grösser als ⅓ als auch wenn ω sehr
gross ist, hat die rechte Seite dieser Gleichung einen sehr kleinen
positiven Werth. Ihr Werth ändert sich ferner in diesem Inter-
valle continuirlich mit ω und hat, wie man nach den bekannten
Methoden findet, ein einziges Maximum vom Betrage 1 für ω = 1.


1. Für τ \> 1 ist also die Gleichung 34) nicht erfüllbar,
d π / d ω kann nicht verschwinden, sondern ist im ganzen be-
trachteten Bereiche wesentlich negativ und die Isotherme
(0 Fig. 1) fällt mit wachsendem ω fortwährend gegen die Ab-
scissenaxe ab.


2. Es sei τ = 1, d. h. die betreffende Isotherme ent-
spreche gerade der kritischen Temperatur. Dann verschwindet
nach dem über
die rechte Seite
der Gleichung 34)
Gesagten d π / d ω
nur für ω = 1.
Nach Gleichung
32) wird dann
auch π = 1. Es
hat also die Sub-
stanz die kritische
Temperatur, das
kritische Volumen
und den kritischen
Druck. Dieser
Zustand (der kri-
tische Zustand)
werde durch den

[figure]
Figure 1. Fig. 1.


Punkt K der Fig. 1, dessen Abscisse und Ordinate gleich 1
sind, dargestellt. Aus Gleichung 33) folgt, wenn man die
Differentialquotienten immer bei constantem τ nimmt:
[30]I. Abschnitt. [Gleich. 35]
35) ,
Für den kritischen Zustand ist daher (wie schon wegen des
Verschwindens von d2p / d v2 für den kritischen Zustand zu
erwarten war) auch d2π / d ω2 = 0, dagegen d3π / d ω3 negativ.
Die Isotherme hat also daselbst einen Inflexionspunkt. Ihre
Tangente wird zwar der Abscissenaxe parallel; aber die Ordi-
nate π nimmt zu beiden Seiten mit wachsendem ω ab. Die-
selbe Isotherme hat einen 2. Inflexionspunkt etwa für ω = 1,87;
sie wendet also für die zwischen diesem Werthe und der Einheit
liegenden Abscissen ω ihre concave, für die übrigen Abscissen
ihre convexe Seite nach abwärts. Curve 1 der Fig. 1 stellt
die der kritischen Temperatur entsprechende Isotherme dar.


Die beiden Inflexionspunkte beginnen bei der Isotherme,
welche zur reducirten Temperatur τ = 37.2—11 = 1,06787 gehört,
wo sie beide unmittelbar bei ω = 4/3 liegen1) und rücken für
kleinere τ immer weiter aus einander. Für grössere τ fallen
die Isothermen ohne Inflexionspunkt unter fortdauernder Ab-
nahme von d π / d ω gegen die positive Abscissenaxe ab.


3. Es sei 0 \< τ \< 1, d. h. die Temperatur liege unter der
kritischen. Dann ist, wie man aus Gleichung 33) sieht, für
ω = 1 die Grösse d π / d ω positiv, während sie für grosse
Werthe des ω und solche, die nahe an ⅓ liegen, negativ ist.
Es muss also d π / d ω sowohl für einen Werth des ω, der
grösser als 1 ist, als auch für einen, der zwischen 1 und ⅓
liegt, verschwinden. Für keinen dieser Werthe kann auch noch
d2π / d ω2 verschwinden, denn aus Gleichung 35) folgt, dass
d π / d ω und d2π / d ω2 nur für ω = 1 gleichzeitig verschwinden
können. Dies folgt übrigens auch aus dem Umstande, dass
dann die Gleichung 30), die sich nur in der Wahl der Maass-
einheiten von unseren jetzigen unterscheidet, für v drei gleiche
Wurzeln haben müsste, was, wie wir sahen, nur für den
[31][Gleich. 36] § 13. Specialfälle.
kritischen Druck, das kritische Volumen und die kritische
Temperatur möglich ist. Für den zwischen ⅓ und 1 liegenden
Werth des ω, für welchen d π / d ω mit wachsendem ω von einem
negativen zu einem positiven Werthe übergeht und sich d2π / d ω2
aus Gleichung 35) positiv ergiebt, ist also π ein Minimum, für
den anderen Werth des ω ein Maximum. Für einen dritten
Werth von ω kann d π / d ω nicht verschwinden, denn die
Gleichung 34), welche die Bedingung hierfür angiebt, kann in
der Form geschrieben werden:
36) 4 τ ω3 — (3 ω — 1)2 = 0.
Ihr Gleichungspolynom ist für ω = 0 negativ und für ω = ⅓
positiv, ihre dritte Wurzel liegt also in dem zwischen diesen
beiden Werthen des ω eingeschlossenen Intervalle, welches für
uns nicht in Betracht kommt. Für alle Isothermen, die Tempe-
raturen entsprechen, welche kleiner als die kritische sind, hat
also die Ordinate π für eine Abscisse ω, die zwischen ⅓ und 1
liegt, ein Minimum und für eine Abscisse, die grösser als 1 ist,
ein Maximum. Curve 3 Fig. 1 zeigt im Allgemeinen ihre Gestalt.


§ 13. Specialfälle.


Wir betrachten nun noch zwei Specialfälle des dritten Falles.


3 a. Es sei τ nur wenig kleiner als 1, etwa gleich 1 — ε.
Die beiden Ordinaten, für welche π einen Grenzwerth hat, sind
dann ebenfalls nahe gleich 1, wir schreiben sie in der Form
1 + ξ. Die Substitution von τ = 1 — ε und ω = 1 + ξ in
Gleichung 36) liefert, wenn man bloss die Glieder von der
niedrigsten Grössenordnung beibehält, , während
Gleichung 32) liefert π = 1 — 4 ε. τ und π sind also von der
Einheit um ein unendlich kleines von der Ordnung ε ver-
schieden, während der Unterschied zwischen ω und der Ein-
heit nur unendlich klein von der Ordnung ist. Die un-
mittelbar unter der kritischen liegenden Isothermen verlaufen
daher (wie Curve 2 in der Fig. 1) in der Nähe des kritischen
Punktes K sehr nahe horizontal, was übrigens schon daraus
folgt, dass sie ganz nahe diesem Punkte ein Minimum und
ein Maximum haben. Der geometrische Ort der Maxima und
Minima aller Isothermen (die in Fig. 1 punktirte Maximumcurve)
hat daher in K selbst ein Maximum und berührt daselbst die
kritische Isotherme.


[32]I. Abschnitt. [Gleich. 36]

3 b. Es sei τ sehr klein, die Substanz habe also eine Tempe-
ratur, die nahe dem absoluten Nullpunkte ist. Dann findet
man aus Gleichung 36) leicht für die Wurzel, welche nahe
gleich ⅓ ist, den Werth
.
Die andere für uns brauchbare Wurzel aber wird sehr gross
und man findet dafür
.
Das Minimum von π gehört also zu einer Abscisse, die nur
sehr wenig grösser als O A = ⅓ ist. Der Werth dieser kleinsten
Ordinate ist
.
Die betreffende Isotherme (5a Fig. 1) sinkt also unendlich
nahe der Verlängerung der Geraden B A nach abwärts bis
zur Ordinate — 27 unter die Abscissenaxe hinab. Sie kommt
dann wieder herauf (Curve 5 b Fig. 1, wo übrigens dieser auf-
wärts gehende Ast anfangs viel zu steil ansteigend und zu nahe
am Coordinatenursprunge gezeichnet ist) und schneidet nochmals
die Abscissenaxe. Bezeichnen wir die Abscisse, für welche sie
die Abscissenaxe wieder schneidet, mit ω3, so ist
,
also, da der nahe an ⅓ liegende Werth von ω3, welcher dieser
Gleichung ebenfalls genügen würde, dem Durchschnittspunkte
des niedersteigenden Astes 5 a mit der Abscissenaxe entspricht,
nahe ω3 = 9 / 8 τ. Dieser Ausdruck hat für unendlich kleine τ
einen unendlich grossen Werth. Die Ordinaten der Curve
gehen also erst in unendlicher Entfernung vom Coordinaten-
ursprunge wieder zu positiven Werthen über. Für ω = ω2 = 9 / 4 τ,
also in doppelter Entfernung vom Coordinatenursprunge, er-
reichen die wieder positiv gewordenen Ordinaten ihr Maximum,
das den auch nur unendlich kleinen Werth π2 = 16 τ2 / 27 hat,
worauf die Curve sich noch mehr der Abscissenaxe nähert.


Zwischen dieser äussersten Isotherme und der Isotherme 3
Fig. 1, welche noch lauter positive Ordinaten hat, liegen natür-
lich zahlreiche Isothermen, welche bereits unter die Abscissenaxe
hinuntersteigen und von denen Curve 4 Fig. 1 ein Beispiel ist.
[33]Gleich. 36] § 14. Stab. u. lab. Zustände.
Besonders grosse Anschaulichkeit erzielt man in folgender Weise.
Man zieht eine dritte zu der Axe O Ω und O Π senkrechte
Coordinatenaxe. In den verschiedenen der Ω O Π Ebene
parallelen Ebenen construirt man die verschiedenen, den con-
tinuirlich wachsenden Temperaturen entsprechenden Isothermen
und modellirt die von allen diesen Isothermen gebildete Fläche
aus Gyps.


II. Abschnitt.
Physikalische Discussion der Theorie van der Waals’.


§ 14. Stabile und labile Zustände.


Wir wollen nun die physikalische Bedeutung des Dia-
grammes der Fig. 1 ins Auge fassen. Jeder Punkt P des von
den beiden unendlichen Geraden A Ω und A B begrenzten
Quadranten stellt ein bestimmtes Volumen und einen be-
stimmten Druck dar, also einen bestimmten Zustand der Sub-
stanz, da die Gleichung 32) die dazu gehörige Temperatur
liefert. Wir nennen diesen Zustand einfach den Zustand P.
Jede in diesem Quadranten liegende Curve P Q (die übrigens
sowie der Punkt P in der Figur nicht gezeichnet ist) stellt uns
daher eine Zustandsänderung dar, nämlich die Reihenfolge der
verschiedenen Zustände, welche den verschiedenen Punkten der
Curve entsprechen. Wir sagen, die Substanz erfährt die Zu-
standsänderung P Q, wenn sie alle Zustände durchläuft, welche
durch die verschiedenen Punkte dieser Curve dargestellt sind.


Die Isotherme 0 der Fig. 1 stellt uns, wenn wir mit sehr
grossem Volumen beginnen, eine Compression der Substanz dar,
welche dabei fortwährend auf der constanten Temperatur τ0 \> 1
erhalten wird. Der Druck nimmt fortwährend zu, je mehr das
Volumen abnimmt, und ist für sehr grosse Volumina nahezu
dem Volumen verkehrt proportional, da dann in Formel 22) die
Grössen b und a / v2 fast verschwinden. Da verhält sich also
die Substanz sehr nahe wie ein ideales Gas. Ist dagegen ω
nur wenig grösser als ⅓, also das Volumen nahe gleich dem
Boltzmann, Gastheorie II. 3
[34]II. Abschnitt. [Gleich. 36]
dritten Theile des kritischen, so steigt die Isotherme sehr rasch
an und nähert sich asymptotisch der Geraden A B. Dann
bewirkt also eine sehr grosse Drucksteigerung nur mehr eine
sehr kleine Volumabnahme; die Substanz ist unmerkbar com-
pressibel, sie verhält sich wie eine tropfbare Flüssigkeit. Der
Uebergang von dem gasförmigen in den tropfbar flüssigen Zu-
stand geschieht aber vollkommen allmählich; eine Unterbrechung
der Continuität des Ueberganges ist an keiner Stelle bemerk-
bar. Dies gilt auch noch für die der kritischen Temperatur
entsprechende Isotherme 1, Fig. 1; nur wird im kritischen Zu-
stande also wenn Temperatur, Druck und Volumen ihre kritischen
Werthe haben, die Tangente zur Isotherme parallel der Ab-
scissenaxe, d. h. einer unendlich kleinen isothermen Volumände-
rung entspricht an dieser Stelle eine Druckänderung, die un-
endlich klein höherer Ordnung ist.


Wir wollen nun die Substanz bei einer Temperatur, die
kleiner ist, als die kritische isotherm comprimiren, d. h. wir
wollen eine Isotherme durchlaufen, für welche τ \< 1 ist, z. B.
die Isotherme 3 der Fig. 1, welcher die Temperatur τ3 ent-
sprechen soll. Wir zeichnen diese Isotherme in Fig. 2 noch-

[figure]
Figure 2. Fig. 2.


mals und bezeichnen mit C
und D die Punkte, deren
Ordinaten C C1 und D D1
den Minimum- resp. Maxi-
mumwerth haben. Die von
C und D aus parallel der
Abscissenaxe gezogenen
Geraden sollen die Iso-
therme in E bezw. F noch-
mals treffen. Die Projec-
tionen der letzteren beiden
Punkte auf die Abcisssen-
axe seien E1 bezw. F1. So lange der Druck kleiner als E E1 ist,
befinden wir uns auf dem Aste L E der Isotherme. Es ist bei
der gegebenen Temperatur für jeden Druck nur ein Zustand
der Substanz möglich und zwar ist das Boyle’sche Gesetz mit
um so grösserer Annäherung giltig, je kleiner der Druck ist.
Sobald dagegen der Druck gleich E E1 geworden ist, sind
bei derselben Temperatur und demselben Drucke zwei ganz
[35][Gleich. 36] § 14. Stab. u. lab. Zustände.
verschiedene Zustände (Phasen der Substanz) möglich, die durch
die beiden Punkte E und C der Isotherme dargestellt werden,
welchen gleich grosse Ordinaten zukommen. Der durch den
Punkt E dargestellten Phase (der Phase E) entspricht ein
grösseres specifisches Volumen, also eine kleinere Dichte, der
Phase C dagegen entspricht eine grössere Dichte. Die erstere
Phase heisst der Dampf, die zweite die tropfbare Flüssigkeit.
Wenn die Isotherme einer Temperatur entspricht, die nur
wenig tiefer als die kritische ist, so liegen die beiden Punkte
C und E sehr nahe an einander, die Substanz hat also in den
beiden ihnen entsprechenden Zuständen nur wenig verschiedene
Eigenschaften. Tief unter der kritischen Temperatur dagegen
ist die tropfbar flüssige und dampfförmige Phase total ver-
schieden.


Sobald der Druck gleich D D1 ist, giebt es wieder zwei
Punkte D und F der Isotherme, von denen jeder eine Phase
darstellt, welche bei der gewählten Temperatur und dem ge-
wählten Drucke möglich ist. Liegt dagegen der Druck zwischen
E E1 und D D1, ist er z. B. gleich G G1, so haben wir sogar
drei Punkte der Isotherme G, H und J, denen dieser Druck
entspricht. Man überzeugt sich jedoch leicht, dass der dem
mittleren Punkte H entsprechende Zustand ein labiler ist.


Gesetzt, die Substanz befände sich in einem cylindrischen
Gefässe, welches mit einem leicht verschiebbaren Stempel ver-
schlossen ist und hätte anfangs den Zustand H, so dass also
im Falle des Gleichgewichts der Druck H H1 auf dem Stempel
lastet. Würde nun der Stempel ohne Aenderung des von
aussen auf ihn ausgeübten Druckes ein wenig hineingeschoben,
also das Volumen etwas verkleinert, während die Substanz von
so guten Wärmeleitern umgeben ist, dass ihre Temperatur
fortwährend constant gleich der der Umgebung bleibt, so würde,
wie der Verlauf der Isotherme in der Nähe des Punktes H
zeigt, der Druck der Substanz auf den Stempel abnehmen;
der Stempel würde sich also durch den Aussendruck noch
weiter hinein bewegen, bis das Volumen gleich O C1 geworden
ist. Da Analoges auch für eine unendlich kleine isotherme
Ausdehnung gilt, so würde die mindeste Bewegung des Stempels
bewirken, dass das Volumen in ein ganz anderes von dem ur-
sprünglichen um einen endlichen Betrag verschiedenes über-
3*
[36]II. Abschnitt. [Gleich. 36]
geht. Für jeden Druck also, der zwischen E E1 und D D1
liegt, sind bei der der Isotherme 3 entsprechenden Tempe-
ratur τ3 immer nur zwei stabile Phasen möglich.


§ 15. Unterkühlung, Verdampfungsverzug.


Was wird aber eintreten, wenn bei der Temperatur τ3
das kritische Volumen der Masseneinheit der Substanz zwischen
O C1 und O D1 liegt? Einem solchen Volumen entspricht bei der
Temperatur τ3 kein stabiler Zustand der Substanz und doch
muss dieses Volumen möglich sein, da ja zwischen dem kleineren
Volumen der flüssigen Phase und dem grösseren des Dampfes
nothwendig irgend ein Uebergang vorhanden sein muss. Dieser
Widerspruch löst sich durch die Möglichkeit, dass gleichzeitig
ein Theil der Substanz die tropfbar flüssige, ein anderer die
dampfförmige Phase hat, wobei selbstverständlich die Punkte,
welche die beiden coexistirenden Phasen darstellen, für den
Fall des Wärme- und Druckgleichgewichtes auf derselben Iso-
therme liegen und von der Abcissenaxe denselben Abstand
haben müssen, da Temperatur und Druck für beide Phasen
gleich sein müssen. Unter dem Einfluss der Schwere sammelt
sich natürlich die schwerere tropfbar flüssige Phase am Boden
des Gefässes an und der Dampf steht darüber.


Die Coexistenz der tropfbaren und dampfförmigen Phase
kann auch eintreten, wenn das Volumen zwischen O F1 und O C1
oder zwischen O D1 und O E1 liegt. Wenn daher die Substanz
zunächst die Zustandsänderung L E durchlaufen hat und dann
das Volumen isotherm noch weiter vermindert wird, so lassen
unsere bisherigen Betrachtungen zwei Möglichkeiten zu. Die
weitere Zustandsänderung kann durch die Curve E D darge-
stellt werden, so dass die gesammte Substanz in jedem Momente
den gleichen Zustand hat. Es kann aber auch in irgend einem
Momente nur ein Theil der Substanz den durch irgend einen
Punkt G der Curve D E dargestellten Zustand behalten, während
ein anderer Theil in den Zustand übergeht, der durch den
Punkt J dargestellt wird, der derselben Temperatur und dem-
selben Drucke entspricht. Eine weitere Volumverkleinerung
kann dann statt durch Fortschreiten auf der Curve G D da-
durch bewirkt werden, dass eine grössere Menge der Sub-
stanz aus der Phase G in die Phase J übergeht. In der That
[37][Gleich. 36] § 15. Unterkühlung, Verdampfungsverzug.
kann ein Dampf, wenn sich darin kein Staub und kein
sonstiger Körper befindet, welcher die Condensation einleitet,
bei constanter Temperatur ohne Condensation eine Volum-
verkleinerung erfahren, bei welcher unter anderen Umständen,
besonders bei Anwesenheit einer kleinen Menge derselben
Substanz im tropfbar flüssigen Zustande schon längst Con-
densation eingetreten wäre. Da dieser Zustand öfter durch
Abkühlung als durch Compression erzeugt wird, so nennt
man ihn den eines unterkühlten Dampfes. Wenn dann endlich
die Condensation eintritt, so verflüssigt sich plötzlich eine
grössere Menge in nicht umkehrbarer Weise, d. h. das ent-
standene Gemisch von Flüssigkeit und Dampf kann nicht
wieder so in unterkühlten Dampf übergeführt werden, dass es
dabei alle früher durchlaufenen Zustände nun in umgekehrter
Reihenfolge annimmt.


Aehnliches gilt natürlich auch bei der Verdampfung. Die
Substanz habe zuerst die Zustandsänderung M F durchlaufen,
d. h. sie sei tropfbar flüssig und anfangs stark comprimirt
gewesen. Wenn nun das Volumen über den Punkt F hinaus
isotherm vergrössert wird, so kann sie entweder die durch die
Curve F J C dargestellten Zustände durchlaufen oder es kann
an irgend einer Stelle die Coexistenz zweier Phasen beginnen,
so dass von da an ein Theil der Substanz in den dampf-
förmigen Aggregatzustand übergeht. Bei weiterer Ausdehnung
hat dann ein Theil der Substanz einen durch einen Punkt J
des Curvenastes F C, der andere den Zustand, welcher durch
den in gleicher Höhe befindlichen Punkt G des Curvenastes D E
dargestellt wird. Die Verdampfung kann verspätet eintreten,
wenn die Flüssigkeit und die Gefässwand luftfrei sind. Es wird
aber dann bei weiterer Ausdehnung oder Erhitzung plötzlich
eine grosse Menge verdampfen (Verdampfungs- oder Siedverzug).
Letzterer Process ist wieder nicht umkehrbar.


Befinden wir uns auf einer Isotherme, welche wie die Iso-
therme 4 der Fig. 1 unter die Abscissenaxe hinabsteigt, so
kann der Druck sogar negativ werden. Davon giebt gut aus-
gekochtes Quecksilber in einem Barometerrohre ein Beispiel.
Zieht man das oben zugeschmolzene Barometerrohr allmählich
aus dem Quecksilber heraus, so vermindert sich am oberen
Ende desselben der Druck immer mehr; das Quecksilber da-
[38]II. Abschnitt. [Gleich. 36]
selbst durchläuft die Zustandsänderung M F J C Fig. 2. Die
Quecksilbersäule reisst aber, selbst nachdem sie höher als der
Barometerstand geworden ist, noch nicht ab, was beweist, dass
der Punkt C, wo die Ordinate der Isotherme ihr Minimum
hat, wie bei der Isotherme 4 der Fig. 1 unterhalb der Ab-
scissenaxe liegt. Endlich reisst die Säule plötzlich und das
Quecksilber verdampft rapid; letzteres ist bei der geringen
Tension des Quecksilberdampfes freilich nur wenig bemerkbar.
Wenn sich aber in dem Barometerrohre oberhalb des Queck-
silbers gut ausgekochtes Wasser befindet, so ist in demselben
die reichliche Dampfentwickelung dem Auge sichtbar.


Auch in gut ausgekochtem Wasser kann bei Zimmer-
temperatur ein negativer Druck sich erhalten. Es steigt also
auch für Wasser die der Zimmertemperatur entsprechende Iso-
therme, wie die Isotherme 4 in Fig. 1 unter die Abscissen-
axe herab. Dagegen steigen beim Aether für leicht beobachtbare
Temperaturen die Isothermen nicht mehr unter die Abscissen-
axe herab. Hat man daher in dem angeführten Versuche
etwas Aether über dem Quecksilber, so kann man bei diesen
Temperaturen die Quecksilbersäule zwar auch so lang machen,
dass der im Aether herrschende Druck kleiner als der Sätti-
gungsdruck des Aetherdampfes bei dieser Temperatur wird,
aber nicht mehr so lang, dass er negativ wird.


Bei den Vorgängen, die man meist als Siedverzüge be-
zeichnet, steht die Substanz gewöhnlich mit ihrem eigenen
Dampfe in Berührung; dann ist der Zustand kein Gleichge-
wichtszustand, vielmehr findet an der Oberfläche heftige Ver-
dampfung statt; daselbst ist die Temperatur gleich der dem
Drucke des darüberstehenden Dampfes entsprechenden Siede-
temperatur. Nur im Innern ist sie höher, daselbst herrscht
also der gleiche Zustand, wie bei einem Verdampfungsverzuge
und es kann dieser Zustand, wenn die Flüssigkeit mit ihrem
Dampfe in Berührung steht nur bei steter Verdampfung an
der Oberfläche und Wärmeleitung durch das Innere dauernd
bestehen.


§ 16. Stabile Coexistenz der beiden Phasen.


Man sieht, dass unser Schema die Art der Zustandsände-
rung nicht eindeutig bestimmt. Es ist aber zu erwarten, dass
[39][Gleich. 36] § 16. Coexistenz der zwei Phasen.
eindeutige Bestimmtheit auftritt, wenn wir nicht-umkehrbare
Ueberführungen, sowie Unterkühlungen und Verdampfungsver-
züge ausschliessen.


Zu diesem Zwecke betrachten wir ein bestimmtes Quantum q
unserer Substanz, dessen Masse gleich 1 sei. Es habe wieder
anfangs den Zustand, der in Fig. 2 durch den Punkt L dar-
gestellt ist, und werde isotherm comprimirt. Sobald es in den
durch den Punkt E derselben Figur dargestellten Zustand ge-
langt ist, werde es versuchsweise von Zeit zu Zeit mit tropf-
barer Flüssigkeit von gleicher Temperatur und gleichem Drucke
in Berührung gebracht. Anfangs, wo die Substanz q noch
nahezu den Zustand E hat, wäre dies Flüssigkeit, die sich
im Zustande des Verdampfungverzuges befindet. Sie wird
explosiv in die Substanz q hinein verdampfen. Wir stellen
aber allsogleich wieder den alten Zustand der Substanz q her,
comprimiren dieselbe wieder ein wenig isotherm und bringen
sie nochmals probeweise mit Flüssigkeit von gleicher Tempe-
ratur und gleichem Drucke in Berührung. Dies wiederholen
wir so lange, bis wir zu einem Zustande der Substanz q ge-
langen, bei welchem, wenn diese mit Flüssigkeit von gleicher
Temperatur und gleichem Drucke in Berührung gebracht wird,
keine Flüssigkeit mehr in die Substanz q hinein verdampft,
aber auch noch kein Theil der Substanz q sich condensirt, also
Flüssigkeit und Dampf sich im Gleichgewichtszustande befinden.
Dabei habe bei dieser Temperatur die tropfbare Flüssigkeit den
in Fig. 2 durch Punkt J, der Dampf den durch Punkt G
dargestellten Zustand.


Dieser Gleichgewichtszustand zwischen Dampf und Flüssig-
keit kann nicht von dem Mengenverhältnisse dieser beiden
Phasen, sondern bloss von deren Zustand an der Berührungs-
fläche abhängen; denn die Moleküle unmittelbar an der Be-
rührungsfläche sind es allein, welche unter einander im Gleich-
gewichte stehen. Aber auch die absolute Grösse der Berührungs-
fläche kann nicht von Einfluss sein, da sich jeder Theil der-
selben unter den gleichen Umständen befindet. 1) Es muss
[40]II. Abschnitt. [Gleich. 36]
also eine beliebige Substanzmenge von der Phase J mit einer
beliebigen andern von der Phase G im Gleichgewichte neben
einander bestehen können, wenn überhaupt irgend zwei Mengen
dieser Phasen mit einander in Berührung im Gleichgewichte
sein können.


Der Zustand G bildet dann die Grenze zwischen dem
normalen und unterkühlten Dampfe, der Zustand J aber die
Grenze zwischen dem normalen Zustande und dem Zustande
des Verdampfungsverzuges bei der tropfbaren Flüssigkeit.


Wenn man die Substanz q mit Ausschluss von Körpern,
welche Condensation bewirken können, weiter comprimiren
würde, so könnte sie Zustände durchwandern, welche durch
Punkte der Curve G D dargestellt sind. In jedem solchen
Zustande würde sie sich aber mit tropfbarer Flüssigkeit von
gleicher Temperatur und gleichem Drucke in Berührung ge-
bracht, plötzlich und in nicht umkehrbarer Weise condensiren.
Wenn dagegen die Substanzmenge q vom Zustande G aus-
gehend in Berührung mit tropfbarer Flüssigkeit von gleicher
Temperatur und gleichem Drucke isotherm zusammengedrückt
wird, so condensirt sie sich immer mehr und mehr, bis sie
ganz in den tropfbaren Zustand übergegangen ist und dieser
Vorgang ist umkehrbar, da die Substanz genau in derselben
Weise wieder verdampft, wenn man das Volumen bei der
gleichen Temperatur wieder vergrössert.


Die Lage der Punkte G und J, welche bei jeder bestimmten
Isotherme die Grenze zwischen dem normalen Zustande und
dem des Verdampfungverzuges bezw. der Unterkühlung bilden,
findet Maxwell in folgender Weise unter Zuziehung einer
Hypothese.1) Bekanntlich ist für jeden umkehrbaren Kreis-
process ∫ d Q / T = 0, wobei d Q die zugeführte Wärme T die
absolute Temperatur ist. Erstere wollen wir in Arbeitsmaass
1)
[41][Gleich. 36] § 16. Coexistenz der zwei Phasen.
messen. Maxwell setzt nun voraus, dass diese Gleichung
auch richtig bleibt, wenn unter den durchlaufenen Zuständen
labile Zustände vorkommen, wie sie durch den Curvenast C H D
(Fig. 2) dargestellt werden.


Geschieht der Kreisprocess bei constanter Temperatur, so
kann der Factor 1 / T vor das Integralzeichen kommen und es
bleibt ∫ d Q = 0. d Q ist gleich dem Zuwachse d J der innern
Energie des Körpers mehr der geleisteten äusseren Arbeit,
welche letztere gleich p d v ist, sobald sich, wie dies hier an-
genommen wird, die äusseren Kräfte auf eine normale Druck-
kraft reduciren, deren auf die Flächeneinheit bezogene Intensität
p für alle Oberflächenelemente gleich ist.


Da ∫ d J für jeden Kreisprocess verschwindet, so hat man
also für einen solchen ∫ p d v = 0, wofür man auch schreiben
kann ∫ π d ω = 0, da ja die Wahl der Maasseinheiten vollkommen
willkürlich ist. Wir beobachten nun wieder die Masseneinheit
der Substanz. Dieselbe erfahre den folgenden bei constanter
Temperatur verlaufenden Kreisprocess. Sie habe anfangs in
allen ihren Theilen die Phase J, dann verwandle sich, bei der
constanten Temperatur τ3 ein immer grösserer und grösserer
Theil in die Phase G. Dabei bleibt der Druck constant gleich
J J1, das Volumen aber wächst vom Werthe O J1 bis zum
Werthe O G1. Die dabei geleistete äussere Arbeit ∫ π d ω ist
gleich dem Producte aus dem Drucke in den Volumenzuwachs,
also gleich der Fläche des Rechtecks J J1G1G = R. Nun
können wir uns den Zustand auf der Curve G D H C J wieder
in den alten zurückgeführt denken. Da hierbei das Volumen
verkleinert wird, so wird der Substanz äussere Arbeit zugeführt.
Die geleistete Arbeit ist also gleich dem negativ genommenen
über die ganze Zustandsänderung erstreckten Integrale ∫ π d ω.
Nun sind aber ω die Abscissen, π die Ordinaten der Curve,
das Integral ist also gleich der Fläche J1J C H D G G1J1 = Φ,
welche oben von der Curve J C H D G, unten von der Abscissen-
axe, rechts und links aber von den beiden Ordinaten J J1 und
G G1 begrenzt ist. Zum Schlusse ist die Substanz wieder in
den alten Zustand J zurückgekehrt; ∫ π d ω über die ganze
Zustandsänderung erstreckt ist daher gleich der Differenz R — Φ,
welche wieder gleich der Differenz J C H — H D G der beiden
in Fig. 2 schraffirten Flächenräume ist. Macht man daher
[42]II. Abschnitt. [Gleich. 36]
die Maxwell’sche Hypothese, dass der zweite Hauptsatz gelten
muss, obwohl ein Theil der im Gedanken durchlaufenen Zu-
stände labil ist, so findet man folgendes Resultat: Die Gerade
G H J, welche zwei Phasen G und J verbindet, die sich in Con-
tact mit einander im Gleichgewichte befinden (die Zweiphasen-
gerade), muss so gezogen werden, dass die beiden in der Fig. 2
schraffirten Flächenräume gleich ausfallen. Ist diese Bedingung
nicht erfüllt, so können zwei Phasen G und J, wenn sie auch
auf derselben Isotherme liegen und die gleiche Entfernung
von der Abscissenaxe haben, niemals mit einander im Gleich-
gewichte sein. (Bezüglich der Gleichung, welche diese Bedingung
ausdrückt, vgl. § 60.)


§ 17. Geometrische Darstellung des Zustandes, wobei
zwei Phasen coexistiren
.


Wenn wir in Hinkunft immer unter G H J diejenige der
Abscissenaxe parallele Gerade verstehen, für welche die beiden
schraffirten Flächenräume gleich sind, so kann dem Gefundenen
gemäss das Verhalten der Substanz, wenn dieselbe bei der Tempe-
ratur τ3 isotherm comprimirt wird, folgendermaassen beschrieben
werden. So lange das Volumen grösser als O E1 ist, hat sie den
dampfförmigen Aggregatzustand. Liegt das Volumen zwischen
O E1 und O G1 so kann die flüssige Phase noch nicht mit der
dampfförmigen zusammen bestehen. Condensation könnte nur
eintreten, wenn gleichzeitig ein Salz oder sonst ein Körper
vorhanden wäre, dessen Theilchen die Theilchen der Substanz
stärker anziehen, als sich diese unter einander anziehen. Die
gebildete tropfbare Flüssigkeit löst dann das Salz oder über-
zieht den Körper und wenn davon nicht eine unendliche Menge
vorhanden ist, so steigt der Dampfdruck, je mehr dieser Process
fortschreitet (verfrühte Condensation). Ist kein solcher Körper
vorhanden, so bleibt die Substanz dampfförmig, bis ihr Volumen
gleich O G1 wird. Hier tritt dann bei weiterer isothermer
Compression, wenn die kleinste Menge derselben Substanz im
tropfbar flüssigen Zustande hinzu gebracht wird, sofort Conden-
sation ein und der Dampfdruck steigt nicht mehr, bis alle
Substanz tropfbar flüssig geworden ist, da Dampf von höherem
Drucke nicht neben der flüssigen Phase bestehen kann (normale
Condensation). Ist kein die normale Condensation veranlassender
[43][Gleich. 36] § 17. Geometr. Darstellung.
Körper anwesend, so kann die Substanz ohne Condensation
noch weiter comprimirt werden, wobei ihre Zustände durch die
krumme Linie G D dargestellt werden (unterkühlter Dampf).
Tritt aber dann Condensation ein, was mindestens geschehen
muss, wenn das Volumen kleiner als O D1 wird, so verflüssigt
sich plötzlich eine endliche Substanzmenge und der Druck
sinkt, wenn die Temperatur constant erhalten wird, sofort auf
den Werth G G1. Ganz analog verhält sich die Substanz,
wenn sie anfangs tropfbar flüssig war und allmählich ausge-
dehnt wird, wobei nur an Stelle einer kleinen in den Dampf
gebrachten Flüssigkeitsmenge eine kleine in der Flüssigkeit
erzeugte leere oder mit Dampf oder Gas erfüllte Höhlung tritt.


Wir haben also von jeder Isotherme das Stück C H D
wegzulassen, da es Zuständen entspricht, die sich physikalisch
gar nicht realisiren lassen. Wir wollen aber auch weder die
Verdampfungsverzüge noch den unterkühlten oder verfrüht
condensirten Dampf, sondern nur die normale Condensation
betrachten, welche den directen umkehrbaren Uebergang von
dem tropfbar flüssigen zu dem dampfförmigen Aggregatzustande
darstellt. Dann haben wir von jeder Isotherme nur die Stücke
M J und G L (Fig. 2) beizubehalten. Die Vermittelung zwischen
beiden bilden Zustände, wobei bei derselben Temperatur ein
Theil der Substanz tropfbar ist und den durch den Punkt J
dargestellten Zustand hat, während der andere dampfförmig ist
und den durch den Punkt G dargestellten Zustand, also die
gleiche Temperatur und den gleichen Druck wie der erstere
Theil hat. Jeden dieser Zustände könnten wir gleichzeitig
durch die beiden Punkte G und J zusammen darstellen, wobei
etwa jedem der Punkte um so mehr Gewicht beizulegen wäre,
ein je grösserer Antheil der Substanz die betreffende Phase
hat. Weit anschaulicher aber ist es, diese Zustände durch
die verschiedenen Punkte der Gerade J G darzustellen (Zwei-
phasengerade). Die Ordinate N N1 Fig. 2 eines beliebigen
Punktes N dieser Geraden stellt uns den Druck dar, welcher
für beide coexistirenden Phasen derselbe ist. Die Abscisse O N1
aber soll immer so gewählt werden, dass sie gleich dem
Volumen ist, welches die Gesammtmasse der Substanz hat, die
immer gleich der Masseneinheit vorausgesetzt wird, also gleich
der Summe der Volumina des tropfbar flüssigen und dampf-
[44]II. Abschnitt. [Gleich. 37]
förmigen Antheils. Je grösser daher der tropfbar flüssige
Antheil ist, desto näher bei J liegt der den betreffenden Zu-
stand darstellende Punkt der Zweiphasengeraden J G und um-
gekehrt. Bezeichnen wir daher dann mit x die Masse der tropf-
bar flüssigen Substanz, also mit 1 — x die Masse der dampf-
förmigen Substanz in dem durch den Punkt N dargestellten
Zustande, so ergiebt sich x folgendermaassen: Da O J1 das
specifische Volumen der tropfbaren Flüssigkeit, O G1 das des
Dampfes in diesem Zustande ist, so ist x . O J1 das Volumen des
tropfbar flüssigen, (1 — x) . O G1 das des dampfförmigen Antheils
in dem durch den Punkt N dargestellten Zustande und da die
Summe der Volumina gleich der Abscisse O N1 des Punktes N
sein soll, so hat man die Gleichung
x . O J1 + (1 — x) . O G1 = O N1,
woraus folgt:
37) .
Denkt man sich daher im Punkte J die Masse x, die sich im
tropfbaren Zustande befindet, im Punkte G die gasförmige Masse
1 — x concentrirt, so ist N der Schwerpunkt des aus beiden
Massen gebildeten Systems. Die Regel, dass die reciproke
Abscisse immer die Dichte darstellt, gilt natürlich für die Punkte
der Zweiphasengeraden nicht mehr. Ist vielmehr ϱ1 die Dichte
des tropfbaren, ϱ2 die des dampfförmigen Antheils, so ist die
Abscisse .


Wenn wir die Zustände, wo tropfbare Flüssigkeit und
Dampf neben einander bestehen, in dieser Weise darstellen und
den unterkühlten Dampf, sowie die Verdampfungsverzüge nicht
berücksichtigen, so erhalten die Isothermen an Stelle der in
Fig. 1 dargestellten die in Fig. 3 dargestellte Gestalt. Die in
Fig. 1 und 2 mit 3 bezeichnete Isotherme nimmt den in Fig. 3
ebenfalls mit Ziffer 3 bezeichneten Verlauf. Der Theil J G
derselben ist gerade und ein Punkt N dieses geraden Theiles
stellt einen Zustand dar, in welchem bei der dieser Isotherme
entsprechenden Temperatur ein Theil x der Substanz tropfbar,
[45][Gleich. 37] §. 18. Gas, Dampf, Flüssigkeit.
der Rest 1 — x dampfförmig ist und beide unter dem Drucke
N N1 stehen, wogegen die Summe ihrer Volumina O N1 ist.
x und 1 — x sind dann durch die Gleichungen 37 gegeben.
Auch für diejenigen
Isothermen, bei de-
nen der den Ver-
dampfungsverzug
darstellende Theil
unter die Abscissen-
axe herabsinkt, giebt
es immer eine ober-
halb der Abscissen-
axe liegende Gerade
J G, für welche die
beiden in Fig. 2
schraffirten Flächen

[figure]
Figure 3. Fig. 3.


gleich ausfallen; denn die Fläche zwischen der Abscissenaxe
und dem unter dieselbe herabsteigenden Theile der Isotherme
ist immer endlich, der Flächenraum zwischen dem zu grösseren
Abscissen gehörigen Theile der Isotherme und der Abscissen-
axe aber wird logarithmisch unendlich, wenn die Abscissen ins
Unendliche wachsen. Daher ist die Gleichheit der beiden in
Fig. 2 schraffirten Flächenräume immer durch eine oberhalb
der Abscissenaxe liegende Zweiphasengerade herstellbar.


§ 18. Definition der Begriffe Gas, Dampf und tropfbare
Flüssigkeit
.


Wir können den über der zur kritischen Temperatur ge-
hörigen Isotherme 1 liegenden, in Fig. 3 horizontal schraffirten
Flächenraum als den Gasraum bezeichnen. Die Punkte des-
selben, welche grossen Abscissen entsprechen, stellen in der That
Zustände dar, die dem idealen Gaszustande sehr nahe kommen.
Die kleinen Abscissen entsprechenden, also nahe der Geraden
A B liegenden Punkte stellen freilich Zustände dar, in denen
sich die Substanz ganz wie eine tropfbare Flüssigkeit verhält,
aber da dieselben isotherm ohne Continuitätsunterbrechung in
entschiedene Gaszustände übergeführt werden können, so rechnen
wir sie noch zum Gasraume. Ein Beispiel dafür bietet sehr
stark comprimirte Luft von gewöhnlicher Temperatur.


[46]II. Abschnitt. [Gleich. 37]

Den von den Zweiphasengeraden erfüllten Flächenraum
nennen wir den Zweiphasenraum; er ist in der Fig. 3 vertikal
schraffirt. Da die punktirte Curve der Fig. 1, welche der
geometrische Ort aller Maxima und Minima der Isothermen ist,
jedenfalls ganz innerhalb des Zweiphasenraumes liegt, so hat
die diesen Raum begrenzende Curve im kritischen Punkt K eine
noch schwächere Krümmung, als die punktirte Curve, jedenfalls
keine Spitze.


Unterhalb des Gasraumes liegt rechts vom Zweiphasen-
raume der Dampfraum, in welchem sich die Substanz ähnlich
wie ein Gas verhält; links vom Zweiphasenraume, und zwar
von der Geraden A B begrenzt, der Flüssigkeitsraum, in dem
wir sie als tropfbare Flüssigkeit bezeichnen. Diese beiden
letztgenannten Räume sind in Fig. 3 schief schraffirt. Sie sind
dadurch characterisirt, dass kein Zustand des einen in einen
Zustand des anderen ohne Condensation isotherm übergeführt
werden kann.


Die typische, diese Räume durchsetzende Isotherme ist
die Curve 3 der Fig. 3. Durchläuft man sie, von der höchsten
Verdünnung ausgehend, so kann man folgendes über das Ver-
halten der Substanz bei isothermer Compression aussagen: Im
Dampfraume gilt, so lange das Volumen gross ist, angenähert
das Boyle’sche Gesetz. Verkleinert man das Volumen, so
treten die Abweichungen von diesem Gesetze immer mehr her-
vor. Sobald man den Zweiphasenraum betritt, bleibt bei weiterer
Volumverkleinerung der Druck constant und es verflüssigt sich
ein immer grösserer Theil der Substanz. Nachdem alle Sub-
stanz flüssig geworden ist, steigt bei weiterer Compression der
Druck rapid.


Zwei extreme Fälle hievon bieten die Isothermen 2 und 5;
erstere liegt noch nahe der kritischen. Da ist die flüssige
Phase noch wenig von der dampfförmigen verschieden. Die
Condensation dauert nur sehr kurze Zeit, so dass sie nur den
Charakter einer vorübergehenden Unregelmässigkeit in der Zu-
sammendrückbarkeit hat. Die Isotherme 5 dagegen entspricht
einer Temperatur, die sehr tief unter der kritischen liegt; der
Dampf kann da überhaupt nur mehr einen verschwindenden
Druck ausüben und macht sich gar nicht mehr bemerkbar.
Sobald der Druck einigermaassen erheblich und keine andere
[47][Gleich. 37] § 19. Willkürlichkeit im vorigen Paragraphen.
Substanz mit der betrachteten gemischt ist, kann letztere nur
als Flüssigkeit existiren, der ein bestimmtes Volumen zukommt,
das durch Druck nur verhältnissmässig wenig verkleinert werden
kann. Die Compressibilität der Flüssigkeit tief unter der
kritischen Temperatur ist also sehr klein. Natürlich nähert
sich aber nach unserem Diagramme der Dampfdruck nur asym-
ptotisch der Nulle. Eine Spur von Verdampfung müsste also
selbst bei den tiefsten Temperaturen noch möglich sein.


§ 19. Willkürlichkeit der Definitionen des vorigen
Paragraphen
.


Wir haben hier bei der Definition der Begriffe Gas, Dampf
und tropfbare Flüssigkeit die isotherme Zustandsänderung zu
Grunde gelegt. Dies ist natürlich eine Willkürlichkeit, welche
man höchstens damit motiviren kann, dass man in der Praxis
gewöhnlich bestrebt ist, die Temperatur möglichst gleich der
der Umgebung also möglichst constant zu erhalten. Wir
könnten auch solche Zustandsänderungen betrachten, wobei
sich die Substanz in einem cylindrischen Gefässe befindet, das
durch einen luftdicht schliessenden, sehr leicht beweglichen
Stempel verschlossen ist, auf dem ein constanter Druck lastet.
Anfangs soll die Temperatur sehr hoch sein. Bei Wärmeent-
ziehung wird sich das Volumen verkleinern. Eine solche Zu-
standsänderung wollen wir eine isobare nennen; sie ist durch
eine der Abscissenaxe parallele Gerade dargestellt (die Isobare).
Ist der constante Druck, unter welchem die Substanz hiebei
erhalten wird, grösser als der kritische, so geht sie wieder ohne
Unterbrechung der Continuität von einem angenähert gas-
förmigen zu einem angenähert tropfbar flüssigen Zustande über.
Ist dagegen der Druck kleiner, als der kritische, so sinkt die
Temperatur mit abnehmendem Volumen nur so lange, bis der
Zweiphasenraum erreicht ist. Da alsdann die Isobare mit der
Isotherme zusammenfällt, bleibt die Temperatur constant, bis
die ganze Substanz verflüssigt ist. Wollte man also bei der
Definition der Begriffe Dampf und Gas die isobare Compression
zu Grunde legen, so wäre die durch den kritischen Punkt ge-
zogene der Abscissenaxe parallele Gerade die Trennungslinie
zwischen beiden Zuständen, da oberhalb derselben die isobare
Ueberführung irgend eines Zustandes in irgend einen anderen
[48]II. Abschnitt. [Gleich. 37]
niemals mit Condensation verknüpft ist, wogegen unterhalb die
isobare Compression stets den Zweiphasenraum passirt.


Noch eine andere Scheidung zwischen Dampf und Gas
würde man erhalten, wenn man die adiabatische Zustands-
änderung, d. h. die Zustandsänderung ohne Wärmezufuhr oder
-entziehung zu Grunde legen würde. Um dieselbe zu berechnen,
müsste man das Differentiale d Q der zugeführten Wärme (vergl.
§ 21) gleich Null setzen. Wir wollen uns hierauf nicht näher
einlassen und nur bemerken, dass, wenn man nicht eine be-
stimmte, sei es die isotherme, isobare oder adiabatische oder
sonst eine genau definirte Zustandsänderung zu Grunde legt,
eine Scheidung der Zustände in solche, welche man continuir-
lich in einander überführen kann oder nicht, überhaupt un-
möglich ist; denn man kann jeden Zustand in jeden anderen
ohne den Zweiphasenraum zu passiren, also continuirlich, aber
auch, indem man den Zweiphasenraum in der einen oder an-
deren Richtung passirt, also unter Condensation oder Ver-
dampfung überführen. Man sieht dies in folgender Weise ein:
Legen wir den Punkten des Zweiphasenraumes die bisherige
Bedeutung bei, so dass ihre Ordinaten gleich dem Drucke, ihre
Abscissen aber gleich dem Gesammtvolumen des tropfbaren
und dampfförmigen Antheiles zusammen sind, so stellt uns
jeder Punkt des Quadranten B A Ω der Fig. 3 einen möglichen
Zustand der Substanz dar. Seien uns zwei beliebige Zustände
gegeben. In jedem derselben habe die ganze Substanz dieselbe
Phase, sie entsprechen also zwei Punkten P und Q, welche
beide ausserhalb des Zweiphasenraumes liegen. (Sie sind in
der Figur nicht gezeichnet.) Wir können dieselben immer
durch eine Curve verbinden, welche ohne den Zweiphasen-
raum zu passiren oberhalb K von P nach Q geht. Diese
Curve stellt uns dann eine continuirliche Reihe von Zu-
ständen dar, durch welche die Substanz vom Zustande P in
den Zustand Q übergeführt werden kann, ohne dass irgend
einmal ein Theil derselben eine andere Phase als die übrige
Substanz hat. Wir können aber auch von P eine Curve nach
der linken Begrenzungslinie A J K des Zweiphasenraumes, dann
quer durch diesen hindurch von links nach rechts und endlich
oberhalb desselben hinweg nach Q ziehen. Diese Curve würde
eine Zustandsveränderung darstellen, wobei die Substanz zuerst
[49][Gleich. 37] § 20. Isopykne Zustände.
continuirlich in die flüssige Phase übergeführt, dann allmählich
verdampft und wenn sie ganz Dampf geworden ist, continuir-
lich in den Endzustand Q geschafft würde. Eine Curve, welche
umgekehrt von P oberhalb des Zweiphasenraumes nach einem
Punkte der rechts liegenden Begrenzungscurve K G Ω des Zwei-
phasenraumes, dann quer durch diesen nach einem Punkte der
Curve A J K und dann oberhalb des Zweiphasenraumes nach Q
geführt würde, würde aber eine Zustandsänderung darstellen,
wobei die Substanz vom Zustande P zuerst continuirlich in
einen dampfförmigen übergeführt, dann condensirt und endlich
in den Zustand Q gebracht würde.


Die Substanz kann sogar aus einem ausgesprochen tropf-
bar flüssigen in einen ausgesprochen dampfförmigen Zustand
nicht durch Verdampfung, sondern durch Condensation über-
geführt werden. Man braucht sie nur anfangs bei kleinem
Volumen über die kritische Temperatur zu erhitzen, dann bei
dieser stark auszudehnen, dann unter die kritische Temperatur
abzukühlen, dann zu condensiren und die entstandene Flüssig-
keit wieder bei kleinem Volumen über die kritische Temperatur
zu erhitzen und dann in den gewünschten Endzustand überzu-
führen. Ebenso kann man einen ausgesprochenen Dampfzustand
durch Verdampfung in einen offenbar tropfbar flüssigen über-
führen.


Man wird also allerdings die Substanz sicher als tropfbar
flüssig, als dampfförmig oder als gasförmig bezeichnen, wenn
ihr Zustand durch einen Punkt dargestellt wird, welcher ent-
weder nahe dem unteren Theile der Geraden A B oder nahe
der Curve K G Ω oder weit oberhalb der kritischen Isotherme in
grosser Entfernung von der Geraden A B liegt. In den Zwischen-
bereichen aber werden diese Zustandsformen allmählich in ein-
ander übergehen, so dass eine scharfe Grenze, wenn man eine
solche überhaupt wünscht, durch irgend eine willkürliche Defi-
nition festgesetzt werden muss.


§ 20. Isopykne Zustandsänderung.


Wenn wir eine bestimmte Menge der Substanz (wir wählen
wieder die Masseneinheit) in eine beiderseits verschlossene
Röhre einschliessen und allmählich erwärmen, so haben wir
wenigstens sehr angenähert eine Zustandsänderung bei con-
Boltzmann, Gastheorie II. 4
[50]II. Abschnitt. [Gleich. 37]
stantem Volumen (eine isopykne Zustandsänderung). Ist das
Volumen genau gleich dem dritten Theile des kritischen
(kleinere kann es überhaupt nicht geben), so ist der Druck
ausser beim absoluten Nullpunkte immer unendlich. Bei
jedem anderen Volumen befinden wir uns für genügend tiefe
Temperaturen im Zweiphasenraume. Es ist also ein Theil
der Substanz im unteren Theile der Röhre tropfbar flüssig.
Darüber steht der Dampf derselben Substanz, dessen Druck
für sehr kleine Temperaturen nahe gleich Null ist und hernach
wächst. Die Grenze zwischen der tropfbaren Flüssigkeit und
dem Dampfe wollen wir den Meniscus nennen. Da wir voraus-
setzen, dass das Volumen constant erhalten wird, so wird die
Zustandsänderung durch eine der Ordinatenaxe parallele, zu-
nächst noch im Zweiphasenraume verlaufende Gerade dar-
gestellt, z. B. die Gerade N1N der Fig. 3. In dem durch den
Punkt N derselben dargestellten Zustande ist nach den Glei-
chungen 37) die Masse des flüssigen Antheils der Substanz
und die des dampfförmigen Antheils
.
Wir haben nun drei Fälle zu unterscheiden: 1. Die Gerade N1N,
welche unsere Zustandsänderung darstellt, liege rechts von der
durch den kritischen Punkt der Ordinatenaxe parallel gezogenen
Geraden K K1; das gewählte constante Volumen sei also grösser
als das kritische. Dann wird mit wachsender Temperatur das
Stück N G immer kleiner im Verhältnisse zu J G. Die Menge
der tropfbaren Flüssigkeit in der Röhre nimmt mit wachsender
Temperatur ab, der Meniscus sinkt. Endlich wenn die Gerade
N1N die Grenze des Zweiphasenraumes erreicht hat, ist die
ganze Substanz dampfförmig geworden. 2. Die Gerade N N1
liegt links von K K1. Dann nimmt mit wachsender Temperatur
umgekehrt J N gegen N G ab, der Meniscus steigt und die
ganze Substanz wird in dem Momente, wo die Grenze des
Zweiphasenraumes erreicht wird, tropfbar. 3. Wenn die Sub-
stanz gerade das kritische Volumen O K1 hat, so bleibt während
der Erwärmung bei constantem Volumen das Verhältniss zwischen
J N und N G immer endlich, bis der kritische Punkt K erreicht
[51][Gleich. 37] § 21. Calorimetrie.
ist; es bleibt also der Meniscus immer zwischen dem oberen
und unteren Ende der Röhre, bis er endlich bei der kritischen
Temperatur verschwindet, da daselbst die tropfbare Flüssigkeit
und der Dampf gleiche Beschaffenheit annehmen.


Wir sahen, dass die Grenze des Zweiphasenraumes in der
Nähe des kritischen Punktes fast horizontal verläuft. Deshalb
verschwindet der Meniscus auch schon nahezu, wenn die Ge-
rade N N1 nur in der Nähe von K K1 liegt. Theoretisch
müsste er sich im Inneren der Röhre erhalten, bis die Tempe-
ratur fast gleich der kritischen geworden ist und dann enorm
schnell ans obere oder untere Ende der Röhre wandern. Doch
kann dies nicht mehr beobachtet werden, da er vorher so un-
deutlich wird, dass man aufhört, ihn zu sehen und da auch
die Temperatursteigerung nicht an allen Stellen der Röhre ab-
solut gleichmässig erfolgt. Zudem verursachen kleine Verun-
reinigungen der Substanz gerade an dieser kritischen Stelle
leicht erhebliche Störungen.


§ 21. Calorimetrie einer das van der Waals’sche
Gesetz befolgenden Substanz
.


Da wir eine bestimmte mechanische Vorstellung zu Grunde
gelegt haben, so hat es keine Schwierigkeit, auch den Ausdruck
für das Differentiale d Q der zugeführten Wärme zu bestimmen.
Sei wie in Formel 19) und im I. Theile § 8 das mittlere
Geschwindigkeitsquadrat der Schwerpunktsbewegung (fortschrei-
tenden Bewegung) eines Moleküles, daher ½ die mittlere
lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung der in der Massen-
einheit der Substanz befindlichen Moleküle. Wird die Tem-
peratur der Masseneinheit um d T erhöht, so ist also derjenige
Antheil der zugeführten Wärme, welcher auf Erhöhung der
lebendigen Kraft dieser Schwerpunktsbewegung verwendet wird,
in Arbeitsmaass gemessen:
.
Letztere Relation folgt nach Gleichung 21).


Obwohl wir bei Ableitung des Waals’schen Gesetzes
voraussetzten, dass sich die Moleküle bei den Stössen nahezu
wie elastische Kugeln verhalten, so schliessen wir jetzt doch
der Allgemeinheit wegen intramolekulare Bewegungen nicht aus
4*
[52]II. Abschnitt. [Gleich. 38]
und setzen wie im I. Theile § 8 die in Arbeitsmaass gemessene,
bei der Temperaturerhöhung d T auf Erhöhung der lebendigen
Kraft der inneren Bewegung und Arbeitsleistung gegen die
intramolekularen Kräfte verwendete Wärme bezogen auf die
in der Masseneinheit befindlichen Moleküle
37a) d Q3 = β d Q2.
Da die Waals’sche Cohäsionskraft für jedes Molekül nahezu
nach allen Richtungen gleichmässig wirkt, so wird sie die innere
Bewegung nicht beeinflussen. Für diese gilt daher genau das-
selbe, was wir in den §§ 42 bis 44 für ideale Gase mit zu-
sammengesetzten Molekülen ableiten werden. Die innere Be-
wegung hängt nicht davon ab, wie oft ein Molekül mit anderen
zusammenstösst, sondern bloss von der Temperatur, so dass β
nur Function der Temperatur sein kann. Wenn die Moleküle
starre Rotationskörper sind, ist, wie wir dort sehen werden,
03B2; = ⅔, wenn sie von Rotationskörpern verschiedene starre
Körper sind, so ist es gleich 1. Wenn innere Bewegungen
vorhanden sind und f die Anzahl der Freiheitsgrade eines
Moleküles ist, so ist der durch die Erhöhung der mittleren
lebendigen Kraft bedingte Antheil gleich ⅓ f — 1 und es kann
noch ein durch intramolekulare Arbeitsleistung bedingter An-
theil hinzukommen, welcher Function der Temperatur sein kann.


Gegenwärtig wollen wir jedoch in diese Details nicht ein-
gehen, sondern in Gleichung 37 a) β als irgend eine Function
der Temperatur betrachten.


Die specifische Wärme der Masseneinheit bei constantem
Volumen ist also:
.


Wächst gleichzeitig das Volumen um d v, so ist dazu noch
auf Ueberwindung des äusseren Druckes die Arbeit p d v, auf
Ueberwindung des inneren Molekulardruckes aber die Arbeit
a d v / v2 aufzuwenden. Es ist also die gesammte, der Massen-
einheit zuzuführende Wärme
38) .
Da Waals’ kinetische Hypothese nicht bloss seine Zustands-
gleichung bestimmt, sondern auch Aussagen über die specifische
[53][Gleich. 38] § 21. Calorimetrie.
Wärme gestattet, so ist es klar, warum man mittelst einer Sub-
stanz, welche die Bedingungen der Hypothese erfüllt, die abso-
lute Temperatur bestimmen kann, nicht aber mit einer Substanz,
für welche bloss empirisch die Waals’sche Zustandsgleichung
gilt. Die Entropie ist:
,
was sich, wenn β constant ist, auf
.
reducirt, wobei l den natürlichen Logarithmus bedeutet. Die
Constantsetzung dieser Grösse giebt die Gleichung für die
adiabatische Zustandsänderung. Die auf die Masseneinheit
bezogene specifische Wärme bei constantem Drucke ist
und das Verhältniss der specifischen Wärme ist
.


Würde sich das Gas ähnlich wie beim Gay-Lussac’schen
Versuche plötzlich in ein Vacuum so ausdehnen, dass speci-
fisches Volumen und Dichte anfangs die Werthe v und ρ,
zum Schlusse die Werthe v' und ρ' hätten, so wäre die gegen
die Molekularanziehung geleistete Arbeit pro Masseneinheit
des Gases
,
also unabhängig von der Temperatur.


Dehnt sich aber das Gas in umkehrbarer Weise adiabatisch
aus, so folgt aus Gleichung 38)
.


Die Masseneinheit der Substanz soll nun ursprünglich den
tropfbaren Aggregatzustand haben und bei constanter Tempe-
ratur T und dem dieser Temperatur entsprechenden Sättigungs-
[54]II. Abschnitt. [Gleich. 38]
drucke p des Dampfes verdampfen. Dann ist in Gleichung 38)
d T = 0 zu setzen. Die gesammte Verdampfungswärme ist also,
wenn v und ρ specifisches Volumen und Dichte für den tropf-
baren, v' und ρ' aber bei derselben Temperatur für den dampf-
förmigen Aggregatzustand sind:
.


Das letzte Glied stellt die zur Ueberwindung des äusseren
auf dem Dampfe lastenden Druckes erforderliche Arbeit dar.
Vernachlässigt man daher die Dichte des Dampfes gegenüber
der der Flüssigkeit, so ist:
T = a ρ
die Trennungsarbeit der Flüssigkeitstheilchen.


Man kann nun die Constante a aus den Abweichungen des
verdünnten und erhitzten Dampfes vom Boyle-Charles’schen
Gesetze berechnen. Daraus ergiebt sich dann für den flüssigen
Zustand derselben Substanz der sogenannte innere oder Mole-
kulardruck (d. h. die Differenz des im Innern der Flüssigkeit
nahe der Oberfläche herrschenden und des ausserhalb an ihrer
Oberfläche herrschenden Druckes) zu a ρ2; die in Arbeitsmaass
gemessene Verdampfungswärme der Flüssigkeit (genauer die
Trennungswärme ihrer Theilchen) aber ergiebt sich zu a ρ,
welche Grösse mit der Erfahrung verglichen werden kann.


Letzteres Resultat ist unabhängig von den Voraussetzungen,
aus denen wir die van der Waals’sche Gleichung gewonnen
haben, und nur durch die Form derselben bedingt, so dass es
auch richtig bleiben würde, wenn man diese als eine empirisch
gegebene auffassen würde.


§ 22. Grösse der Moleküle.


Durch Berechnung der Constante b aus den Abweichungen
eines Gases vom Boyle-Charles’schen Gesetze kann man die
im § 12 des I. Theiles angeführte Loschmidt’sche Bestimmung
der Grösse der Moleküle verbessern. Wir können nämlich
jetzt das von den in der Masseneinheit enthaltenen Molekülen
wirklich erfüllte Volumen genau berechnen, da es gleich ¼ b
ist, während es im I. Theile nur mittelst der Annahme geschätzt
wurde, dass das Volumen der in der verflüssigten Substanz
[55][Gleich. 38] § 22. Grösse der Moleküle. § 23. Capillarität.
enthaltenen Moleküle nicht kleiner als das gesammte Volumen
derselben sein kann und nicht grösser als das zehnfache davon
sein dürfte.


Aus den Formeln 77) und 91) des I. Theiles folgt für
die Reibungsconstante eines Gases der Werth ,
wobei nach Formel 89) des I. Theiles k nur wenig von ⅓ ver-
schieden ist, wenn man unter c die mittlere Geschwindigkeit
der fortschreitenden Bewegung der Gasmoleküle versteht. σ ist
der Durchmesser eines Moleküles, ρ die Masse in der Volumen-
einheit, n die Anzahl der Moleküle in der Volumeneinheit, so
dass ρ / n die Masse m eines Moleküles ist. Man kann daher
auch schreiben
;
ferner hatten wir
,
daher
,
wobei die mittlere Geschwindigkeit c aus den Formeln 7) und 46)
des I. Theiles mit genügender Genauigkeit berechnet werden kann.


Auf irgend welche Zahlenangaben will ich verzichten, da
die Auswahl möglichst verlässlicher Zahlen ohne eine Kritik
der vorliegenden experimentellen Daten nicht möglich wäre,
letztere aber dem Zwecke dieses Buches vollkommen fremd ist.


§ 23. Beziehungen zur Capillarität.


Van der Waals gewinnt das Glied a / v2 seiner Formel
auf einem Wege, der etwas länger als der von uns im § 7
eingeschlagene ist, indem er Betrachtungen anstellt, die denen
vollkommen analog sind, durch welche Laplace und Poisson
die Grundgleichungen der Capillarität abgeleitet haben. Da
gerade diese Beziehung zur Capillarität nicht ohne alle Wichtig-
keit ist, so will ich der ursprünglichen Schlussweise van der
Waals’
hier noch in Kürze gedenken.


Die folgenden Betrachtungen finden auf tropfbare Flüssig-
keiten und Gase meist aber auf erstere Anwendung, weshalb
wir die in Betracht kommende Substanz kurz „die Flüssigkeit“
[56]II. Abschnitt. [Gleich. 38]
nennen wollen. Wir nehmen an, dass die Anziehung zweier Massen-
theilchen m und m' derselben in die Richtung ihrer Verbindungs-
linie fällt und eine Function ihrer Entfernung f, etwa gleich
m m' F (f) ist. Wir setzen:
,
so dass m m' χ (f) die Arbeit ist, welche erfordert wird, um die
beiden Theilchen m und m' aus der Entfernung f in sehr grosse
Entfernung zu bringen. Die Kraft F (f) wird jedenfalls nur
in molekularen Entfernungen von Null verschiedene Werthe
haben. Wir nehmen an, dass sie mit wachsendem f rascher
als die reciproke 3. Potenz von f abnimmt, so dass nicht nur
F (f), sondern auch χ (f) und ψ (f) immer verschwindet, wenn
nicht f einen sehr kleinen Werth hat. Aus unseren Ansätzen
folgt, dass die zwischen den beiden Theilchen m und m' wirkende
Kraft gleich ist — m m'.


Wir construiren nun in der Flüssigkeit eine Kugel K vom
Radius b, 1) bezeichnen mit d o ein Flächenelement derselben
und construiren ferner den geraden Cylinder Z, welcher ausser-
halb der Kugel auf diesem Flächenelemente aufsitzt und die
sehr grosse Länge Bb hat. Den Mittelpunkt O der Kugel
wählen wir als Coordinatenursprung und legen die positive
Abscissenaxe in die Axe des Cylinders.


Wir stellen uns nun die Aufgabe, die Anziehung d A zu
finden, welche die in der Kugel K enthaltene Flüssigkeit auf
die im Cylinder Z enthaltene ausübt.


Wir construiren zu diesem Behufe im Cylinder Z das
Volumelement d Z, welches zwischen den Querschnitten mit den
Abscissen x und x + d x liegt. Sein Volumen ist d o d x, die
darin enthaltene Flüssigkeitsmasse also ρ d o d x, wenn ρ die
überall constant vorausgesetzte Dichte der Flüssigkeit ist.


Ferner schneiden wir aus der ganzen Kugel K eine con-
centrische Kugelschale S heraus, welche zwischen den Kugel-
flächen von den Radien u und u + d u liegt und aus dieser
wieder jenen Ring R, für welchen die Verbindungslinie seiner
[57][Gleich. 38] § 24. Capillarität.
Punkte mit dem Coordinatenursprunge und die positive Ab-
scissenaxe Winkel bildet, die zwischen ϑ und ϑ + d ϑ liegen.
Das Volumen des Ringes R ist 2 π u2 sin ϑ d u d ϑ. Das ρ fache
hiervon ist also die gesammte darin enthaltene Masse.


Irgend ein Flüssigkeitstheilchen mit der Masse m', das
innerhalb des Ringes R liegt und die Abscisse x' hat, übt also
auf irgend ein Flüssigkeitstheilchen m, das im Cylinder d Z
liegt und die Abscisse x hat, die Anziehung
aus, deren in der Richtung der negativen Abscissenaxe ent-
fallende Componente
ist. Die gesammte im Ringe R enthaltene Flüssigkeitsmasse
übt daher auf die im Volumelemente d Z enthaltene die An-
ziehung
aus. Die gesammte Anziehung der in der Kugel K enthaltenen
Flüssigkeit auf die im Cylinder Z enthaltene können wir daher,
wenn wir die Reihenfolge der Integrationen so ordnen, wie es
für die Rechnung am bequemsten ist, in der Form schreiben:
.


Bei Ausführung der Integration nach ϑ integriren wir
bloss über die Kugelschale S, haben also u als constant zu
betrachten. Führen wir f statt u als Integrationsvariable ein,
so erhalten wir also
u x sin ϑ d ϑ = f d f
und die Grenzen für f werden xu und x + u. Es wird also:
,
wobei ψ die schon am Anfange dieses Paragraphen in derselben
Weise bezeichnete Function ist. Die Integration nach x wird
nun ausgeführt, indem man in diesem Ausdrucke x = B setzt
[58]II. Abschnitt. [Gleich. 39]
und davon den Werth subtrahirt, den man erhält, wenn man
in demselben Ausdrucke x = b setzt.


Es ist zu bedenken, dass die Function ψ immer ver-
schwindet, wenn die Grösse unter dem Functionszeichen nicht
einen sehr kleinen Werth hat. B und b sind sehr gross gegen
die molekularen Dimensionen und zwar ist B noch weit grösser
als b, also auch grösser als alle in Betracht kommenden Werthe
von u. Daher verschwindet ψ (B + u), ψ (Bu) und ψ (b + u).
Nur ψ (bu) kann von Null verschiedene Werthe annehmen
und man erhält:
,
also
.
Führt man in dem bestimmten Integrale die Variable z = bu
ein, so verwandelt es sich in
.
Da ψ (z) für grosse Werthe von z verschwindet, kann man in
der oberen Grenze der Integrale auch ∞ für b schreiben.
Setzt man daher
39) ,
so wird
.


Wenn der Cylinder Z rings gleichförmig mit Flüssigkeit
umgeben ist, so heben sich offenbar alle auf ihn wirkenden
Kräfte auf. Daher muss die die Kugel K umgebende Flüssig-
keit genau dieselbe, aber entgegengesetzt gerichtete Kraft auf
die im Cylinder befindliche ausüben, wie die in der Kugel K
enthaltene. Wenn nun die in der Kugel K enthaltene Flüssig-
keit hinweggenommen wird, so bleibt nur noch eine Flüssigkeits-
masse, deren Oberfläche die Kugelfläche K ist. d A ist dann
[59][Gleich. 40] § 24. Trennungsarbeit.
der Zug, welchen diese Flüssigkeitsmasse auf den über einem
ihrer Oberflächenelemente d o nach innen aufsitzenden Cylinder Z
in der Richtung nach innen ausübt, der im § 2 mit pi d o be-
zeichnet wurde.


Ist die Oberfläche eben oder ihre Krümmung so gross,
dass 1 / b vernachlässigt werden kann, so erhalten wir den schon
im § 7 gefundenen Werth pi = a ρ2 wieder, können aber die
Constante a nach Formel 39) durch das Anziehungsgesetz der
Moleküle ausdrücken.


Das Glied — 2 α ρ2 / b zeigt, dass dieser Ausdruck einer
kleinen Correction bedarf, wenn die Oberfläche gekrümmt ist.
Diese Correction giebt bekanntlich zu den Capillarerscheinungen
Veranlassung und nimmt, wenn die Oberfläche nicht Kugel-
gestalt hat, die Form an
40) ,
wo R1 und R2 die beiden Hauptkrümmungsradien der Ober-
fläche sind.


§ 24. Trennungsarbeit der Moleküle.


Wir wollen nun noch die Verdampfungswärme durch die
Function χ ausdrücken. Wir construiren uns um ein Flüssig-
keitstheilchen von der Masse m in der Flüssigkeit eine Kugel-
schale S, welche von den beiden Kugelflächen mit den Radien
f und f + d f begrenzt ist, in welcher sich also die Flüssigkeits-
masse 4 π ρ f2d f befindet. Da m m' χ (f) die Arbeit ist, welche
aufgewendet werden muss, um die Flüssigkeitstheilchen m
und m' in unendliche Entfernung zu bringen, wenn sie sich
anfangs in der Entfernung f befanden, so ist die Arbeit, die
erforderlich ist, um das Flüssigkeitstheilchen m aus dem Mittel-
punkte der Kugelschale S in sehr grosse Entfernung von der-
selben zu bringen:
4 π ρ m f2χ (f) d f.
Die ganze Arbeit, die man braucht, um das Flüssigkeits-
theilchen m aus dem Innern der Flüssigkeit in sehr grosse
Entfernung von allen anderen Flüssigkeitstheilchen zu bringen,
ist also:
.
[60]II. Abschnitt. [Gleich. 41]
Wenn die Masseneinheit der Flüssigkeit n Theilchen enthält,
so ist m n = 1. Nimmt man an, dass im Dampfe jedes Theilchen
schon nahezu der Wirkungssphäre aller anderen entrückt ist,
so ist also die bei der Verdampfung der Masseneinheit der
Flüssigkeit auf Ueberwindung der Cohäsionskraft geleistete
Arbeit
.
Dazu kommt bei der Verdampfung natürlich noch die auf
Ueberwindung des äusseren Druckes verwendete Arbeit ∫ p d v.


T ist deshalb nur die Hälfte von n B, weil im Ausdrucke
n B die Trennungsarbeit jedes Theilchens von jedem anderen
doppelt gezählt ist. Wir fanden in § 21 für die Trennungs-
arbeit T den Werth a ρ, wobei a durch die erste der Glei-
chungen 39) gegeben ist. Die partielle Integration der rechten
Seite dieser Gleichung liefert in der That
.
Es stimmt also der früher erhaltene Werth von T mit dem
gegenwärtig gefundenen überein.


Man würde die Trennungsarbeit T direct durch das Inte-
grale der ersten der Formeln 39) ausgedrückt erhalten, wenn
man zuerst die Trennungsarbeit eines Massentheilchens von
einer in der Entfernung h davon befindlichen aus der Flüssig-
keit gebildeten ebenen Platte von der Dicke d h berechnen
würde. Dieselbe wäre:
41) .
Dieselbe würde mit n multiplicirt, und bezüglich h von Null
bis unendlich integrirt, die ganze Trennungsarbeit T liefern.


Mittels der gleichen Formel können wir folgende Aufgabe
lösen. Es sei ein Cylinder vom Querschnitte 1 gegeben; wir
legen durch denselben irgendwo einen Querschnitt A B und
suchen die Arbeit, welche erforderlich ist, um die Flüssigkeit,
die sich auf der einen Seite des Querschnittes befindet, von
der auf der anderen Seite befindlichen zu trennen.


[61][Gleich. 41] § 24. Trennungsarbeit.

Wir berechnen zunächst die Trennungsarbeit einer Schicht
von der Dicke d x, die sich in der Entfernung x vom Boden
des Gefässes befindet und unterhalb des Querschnittes A B
liegen soll, von einer Schicht von der Dicke d h, die sich ober-
halb A B befinden soll. Diese Trennungsarbeit finden wir,
indem wir in Formel 41) m = ρ d x setzen. Sie ist gleich
.
Dabei ist h der Abstand beider Schichten. Diesem wollen wir
vorläufig einen constant gegebenen Werth ertheilen und über
alle bei diesem Werthe des h zulässigen Werthe von x inte-
griren. Ist c der Abstand des Querschnittes A B vom Boden,
so ist also bei constantem h von x = ch bis x = c zu inte-
griren, was liefert
.
Integrirt man ausserdem noch bezüglich h über alle möglichen
Werthe, also von Null bis ∞, so folgt für die ganze Trennungs-
arbeit der Flüssigkeit oberhalb A B von der unterhalb A B
der Werth
.
Da bei dieser Trennung die Oberfläche der Flüssigkeit um
zwei Einheiten vermehrt wird, so ist die Arbeit, die zur Ver-
mehrung der Oberfläche der Flüssigkeit um die Flächeneinheit
erforderlich ist, halb so gross, also genau gleich α ρ2·1) Diese
Grösse ist aber zugleich der Coefficient von
in der Grundgleichung 40) der Capillarität. In der That ist
bekannt, dass dieser Coefficient die Arbeit darstellt, welche zur
Vermehrung der Flüssigkeitsoberfläche um die Flächeneinheit
erforderlich ist.


[62]III. Abschnitt. [Gleich. 41]

Diese Formeln werden erheblich weitschweifiger, wenn man
daran die Verbesserung anbringt, die schon Poisson an der
alten Laplace’schen Capillaritätstheorie anbrachte, indem er
die Veränderlichkeit der Dichte beim Uebergange aus dem
Innern an die Oberfläche der Flüssigkeit in Betracht zog. Doch
bleibt die Form der sich ergebenden Gleichungen dieselbe, nur
der Ausdruck der Constanten durch bestimmte Integrale ändert
sich. Da uns hier die Capillaritätstheorie als solche nebensäch-
lich ist, so will ich hierauf nicht näher eingehen und nur auf
eine bezügliche Abhandlung Stefan’s verweisen. 1)


III. Abschnitt.
Für die Gastheorie nützliche Sätze der allgemeinen Mechanik.


§ 25. Auffassung der Moleküle als mechanische
Systeme, welche durch generalisirte Coordinaten
charakterisirt sind
.


Wir haben bisher in allen Rechnungen, mit Ausnahme der
auf die specifische Wärme bezüglichen, die Gasmoleküle als
vollkommen elastische Kugeln oder als Kraftcentra, immer aber
als einfache, nicht weiter zusammengesetzte Individuen be-
trachtet. Viele Umstände beweisen, dass diese Annahme kein
exactes Bild der Wirklichkeit liefert.


Alle Gase können zum Leuchten gebracht werden und ihr
Licht liefert dann ein mitunter wunderbar complicirtes Spectrum.
Dies wäre bei einfachen materiellen Punkten unmöglich; aber
auch die Schwingungen elastischer Kugeln können den Spectral-
erscheinungen schwerlich und jedenfalls nur dann Rechnung
tragen, wenn man die inneren Bewegungen der elastischen
Substanz mitberücksichtigt, was wir bisher unterliessen.


Ferner zwingen die Thatsachen der Chemie zur Annahme,
dass in den chemisch zusammengesetzten Gasen die Moleküle
aus mehreren heterogenen Theilen bestehen. Aber selbst von
[63][Gleich. 41] § 25. Generalisirte Coordinaten.
den Molekülen der meisten chemisch einfachen Gase kann man
zeigen, dass sie mindestens aus zwei von einander trennbaren
Theilen bestehen müssen. Wenn z. B. Cl und H sich zu ClH
verbinden, so nimmt das gebildete ClH-Gas bei gleicher Tempe-
ratur und gleichem Drucke genau denselben Raum ein, wie
das aufgewandte Cl- und H-Gas zusammen. Da nach dem
Avogadro’schen Gesetze (I. Theil § 7 S. 52) bei gleicher
Temperatur und gleichem Drucke sich von allen Gasen in der
Volumeneinheit gleich viel Moleküle befinden, so müssen aus
einem Moleküle Cl und einem Moleküle H zwei Moleküle ClH
entstanden sein; es muss also sowohl das Cl- als auch das
H-Molekül sich in zwei Hälften getheilt haben. Die eine Hälfte
des Cl-Moleküles gab mit der einen Hälfte des H-Moleküles zu-
sammen das eine ClH-Molekül; die beiden anderen Hälften der
beiden ursprünglichen Moleküle aber gaben das andere ClH-
Molekül.


Um dieser unzweifelhaften Zusammengesetztheit der Gas-
moleküle Rechnung zu tragen, dachte man sich dieselben zu-
nächst als Aggregate einer gewissen Anzahl materieller Punkte,
welche unter einander selbst wieder durch Centralkräfte zu-
sammengehalten werden. Man erreichte aber mit dieser Vor-
stellung nur wenig Uebereinstimmung mit der Erfahrung, wo-
gegen man für eine Reihe von Gasen wenigstens in thermischer
Hinsicht gute Uebereinstimmung mit der Erfahrung erhält,
wenn man voraussetzt, dass ihre Moleküle starre Körperchen
sind, deren Gestalt von der Kugelgestalt abweicht. Für Mole-
küle dieser Gase scheint also die Verbindung ihrer Theile eine so
innige zu sein, dass sie sich in thermischer Hinsicht wie starre
Körper verhalten, während bei anderen wieder Schwingungen
der Bestandtheile gegen einander stattzufinden scheinen.


Bei dieser Sachlage wird es am besten sein, unsere Vor-
stellung von der Beschaffenheit der Moleküle so allgemein zu
gestalten, dass alle diese Möglichkeiten als specielle Fälle darin
enthalten sind. Wir werden so jedenfalls ein mechanisches
Bild gewinnen, das für neue Erfahrungen möglichst grosse
Anpassungsfähigkeit besitzt.


Wir wollen daher ein Molekül als ein System betrachten, von
dessen Natur wir weiter nichts wissen, als dass seine Zustands-
änderungen durch die allgemeinen mechanischen Gleichungen
[64]III. Abschnitt. [Gleich. 41]
von Lagrange und Hamilton bestimmt sind und es handelt
sich vor allem darum, jene Eigenschaften mechanischer Systeme
im allgemeinsten Sinne zu studiren, welche uns später von
Nutzen sein werden.


Es sei uns die Beschaffenheit eines beliebigen mechanischen
Systemes gegeben. Die Lage aller seiner Theile soll durch
μ independent veränderliche Grössen p1, p2pμ eindeutig be-
stimmt sein, welche wir die generalisirten Coordinaten nennen.
Da uns die geometrische Natur des Systems und die Masse
aller Theile desselben gegeben ist, so ist uns auch die lebendige
Kraft L des Systems als Function der Aenderungsgeschwindig-
keiten der Coordinaten gegeben. Dieselbe sei eine homogene
quadratische Function der Ableitungen p'1, p'2p'μ der Coordi-
naten nach der Zeit, deren Coefficienten selbst wieder irgend
welche Functionen der Coordinaten sein können. Die partiellen
Ableitungen der Function L nach p' heissen die Momente q,
so dass man also für jeden Werth des i hat
,
Die q sind also lineare Functionen der p', deren Coefficienten
wieder Functionen der p sein können. Man kann bekanntlich
umgekehrt die p' als Functionen der q ausdrücken. Substituirt
man die betreffenden Werthe in L (p, p'), so erhält man L
als Function der p und q. Diese Function L (p, q) ist also
auch durch die geometrische Natur des Systems bestimmt.


Die auf die verschiedenen Theile des Systems wirkenden
Kräfte sollen uns ebenfalls genau gegeben sein. Sie sollen eine
Kräftefunction V haben, welche nur Function der p ist und
deren negative partielle Ableitungen nach den Coordinaten die
Kräfte liefern sollen, so dass also für jede beliebige Verschie-
bung des Systems der Zuwachs d V dieser Function die vom
Systeme geleistete Arbeit darstellt. Ist dabei die lebendige
Kraft des Systems um d L gewachsen, so ist nach dem Energie-
principe d V + d L = 0.


Es ist also sowohl die geometrische Natur des fraglichen
Systems, als auch der Inbegriff der darauf wirksamen Kräfte
gegeben. Dadurch sind die Bewegungsgleichungen des Systems
bestimmt. Soll der wirkliche Werth sämmtlicher Coordinaten
[65][Gleich. 41] § 25. Generalisirte Coordinaten.
und Momente zu irgend einer Zeit t bestimmt sein, so muss
noch der Anfangszustand des Systems gegeben sein. Es können
die Werthe gegeben sein, welche die Coordinaten und deren
nach der Zeit genommene Differentialquotienten zu Anfang
der Zeit (zur Zeit Null) hatten. Es können aber auch ebenso
gut die Werthe der Coordinaten und Momente zur Zeit Null
gegeben sein, da die Momente gegebene Functionen der p'
sind. Wir wollen die Werthe, welche die Coordinaten und
Momente zur Zeit Null hatten, mit P1, P2Pμ, Q1, Q2Qμ
bezeichnen. Als gegebene Functionen dieser Werthe und der
verflossenen Zeit t sind die Werthe p1, p2pμ, q1, q2qμ
der Coordinaten und Momente zur Zeit t zu betrachten.


Da nun L und V als Functionen der p und q gegebenen
sind, so können wir für jeden Zeitmoment L und V als
Functionen von P, Q und t berechnen. Wenn wir dies in dem
Integrale
thun, so erscheint es ebenfalls als Function der Anfangswerthe
P, Q und der verflossenen Zeit t, da ja durch P und Q die ganze
Bewegung bestimmt ist und das Integrale berechnet werden kann,
wenn auch noch die Zeit gegeben ist, über welche es zu er-
strecken ist.


Wir sahen soeben, dass die 2 μ Grössen p, q als Func-
tionen von P, Q und t gegeben sind, d. h. mit anderen Worten,
es bestehen 2 μ Gleichungen zwischen den 4 μ + 1 Grössen
p, q, P, Q und t. Aus diesen 2 μ Gleichungen dachten wir
uns bisher die 2 μ Grössen p, q als Functionen der übrigen
bestimmt. Wir können uns aber diese Gleichungen auch
nach den 2 μ Grössen q, Q aufgelöst denken, so dass die
2 μ Grössen q, Q als Functionen der 2 μ + 1 übrigen p, P, t
ausgedrückt erscheinen. Wir wollen für einen Augenblick
eine Function dieser letzteren Variabeln mit einem darüber
gesetzten Querstriche markiren. bedeutet also, dass die
Grösse qi als Function der p, P und der Zeit t ausgedrückt
zu denken ist. Da wir W als Function von P, Q und t kennen
gelernt haben, so können wir auch darin die Q als Functionen
von p, P und t ausdrücken, wodurch W selbst (jetzt mit zu
Boltzmann, Gastheorie II. 5
[66]III. Abschnitt. [Gleich. 43]
bezeichnen) als Function von p, P und t erscheint. Es ist nun
bekanntlich 1)
.
Daraus folgt sofort:
42) ,
wobei der Querstrich bloss besagt, dass bei der Differentiation
nach irgend einem p alle übrigen p, alle P und noch die Zeit
als constant zu betrachten sind; analog bei der Differentiation
nach irgend einem P. i und j können unabhängig von einander
beliebige ganze Zahlenwerthe von 1 bis μ annehmen.


§ 26. Liouville’s Satz.


Wenn man irgend eine Curve discutiren will, deren
Gleichung einen willkürlichen Parameter enthält, so pflegt man
sich oft alle Curven gleichzeitig vorzustellen (so gut es geht,
sogar gleichzeitig an die Tafel zu zeichnen), für welche dieser
Parameter in continuirlicher Aufeinanderfolge alle möglichen
Werthe von seinem kleinsten bis zu seinem grössten Werthe
hat. Wir haben hier ein durch gegebene Bewegungsgleichungen
bestimmtes mechanisches System, dessen Bewegung noch von
den Werthen der 2 μ Parameter P, Q abhängt. Gerade so,
wie man sich dort eine Curve unendlich oftmal vorstellte,
jedes Mal wieder mit einem anderen Werthe des Para-
meters, so wollen wir uns auch das eine mechanische System
unendlich oftmal vorstellen, so dass wir unendlich viele mecha-
nische Systeme erhalten, alle von gleicher Natur und denselben
Bewegungsgleichungen unterworfen, aber von den verschie-
densten Anfangswerthen ausgehend. Unter dieser unendlich
grossen Zahl oder Schaar mechanischer Systeme wird es ge-
wisse geben, für welche die Anfangswerthe der Coordinaten und
Momente zwischen bestimmten, unendlich nahen Grenzen, z. B.
43)
[67][Gleich. 49] § 26. Liouville’s Satz.
liegen. Für alle diese letzteren Systeme sollen, nachdem sie
sich während einer für alle gleichen Zeit t ihren Bewegungs-
gleichungen gemäss bewegt haben, die Coordinaten und Momente
zwischen den Grenzen
44)
liegen. Unsere Aufgabe ist, das Product
45) d p1d p2d pμ d q1d q2d qμ
durch das Product
46) d P1d P2d Pμ d Q1d Q2d Qμ
auszudrücken. Wir wissen, dass wir die q auch als Functionen
von p, P und t auffassen können. Wir können daher in den
Differentialausdruck 45) auch die Variabeln p und P statt p
und q einführen. Die Zeit t gilt ein für alle Mal als Constante.
Dadurch folgt zunächst nach dem bekannten Satze Jacobi’s
über die sogenannten Functionaldeterminanten:
47) ,
wobei
48)
ist. Ebenso können wir aber auch in den Ausdruck 46) die
Variabeln p und P einführen, indem wir die Q als Functionen
der P, p und t ausdrücken, wodurch wir dann erhalten:
49) ,
5*
[68]III. Abschnitt. [Gleich. 52]
wobei
50) .
Die partiellen Differentialquotienten der Functionaldeterminante
D sind so zu verstehen, dass die q als Functionen von p, P
und t aufzufassen sind, also genau so, wie die im Früheren
durch einen darüber gesetzten Querstrich markirten. Wir
wollen sie daher wiederum so markiren. Dasselbe gilt von den
partiellen Differentialquotienten der Functionaldeterminante Δ,
in denen die Q als Functionen derselben Variabeln p, P und t
zu betrachten sind. Wir können daher die Gleichungen 42)
anwenden und da eine Determinante ihren Werth nicht ändert,
wenn man die Horizontalreihen in Verticalreihen und um-
gekehrt verwandelt, so wird
51) .
Da es hier nur auf den Grössenwerth, nicht auf das Vorzeichen
ankommt, so folgt schon aus den Gleichungen 47), 49) und 51)
die gewünschte Relation
52) .
Doch erhalten wir auch allgemein das richtige Vorzeichen,
wenn wir die Zeichenänderung berücksichtigen, welche die
Veränderung der [Anordnung] der Differentiale beim Uebergange
von Formel 47) zu Formel 49) bedingt.


Gesetzt, man führe in einen Differentialausdruck statt
2 μ beliebiger Variabeln x1, x2x2μ andere 2 μ Variabeln
ξ1, ξ2ξ2μ ein, welche mit den ersteren durch folgende
Gleichungen verknüpft sind:
ξ1 = xμ + 1, ξ2 = xμ + 2 … ξμ = x2μ, ξμ + 1 = x1ξ2μ = xμ,
so folgt nach dem Functionaldeterminantensatze:
[69][Gleich. 52] § 27. Einführung neuer Variabeln.
d x1d x2d x2μ = Θ d ξ1d ξ2d ξ2μ,
wobei
ist. Da nun durch Vertauschung je zweier Horizontalreihen
die Determinante ihr Zeichen wechselt, so ist
.
Setzt man daher
x1 = p1, x2 = p2xμ + 1 = P1, xμ + 2 = P2 …,
so wird
ξ1 = P1, ξ2 = P2ξμ + 1 = p1, ξμ + 2 = p2 …,
daher
d p1d p2d pμ d P1d P2d Pμ =
= (— 1)μ d P1d P2 … d Pμ d p1d p3d pμ,

und es folgt aus 47)
d p1d p2d pμ d q1d q2d qμ =
= (— 1)μ D d P1d P2d Pμ d p1d p2d pμ,

also nach Gleichung 51)
d p1d p2d pμ d q1d q2d qμ =
= Δ d P1d P2d Pμ d p1d p2d pμ,

was in Verbindung mit Gleichung 49) die Gleichung 52) auch
mit richtigem Vorzeichen liefert.


§ 27. Ueber Einführung neuer Variabeln in Producte
von Differentialen
.


Die Gleichung 52) ist die Fundamentalgleichung für das
Folgende. Ehe ich auf ihre Anwendung eingehe, will ich jedoch
eine Schwierigkeit erwähnen, welche freilich lediglich in die
[70]III. Abschnitt. [Gleich. 53]
Theorie der bestimmten Integrale gehört, dort aber nicht immer
völlig klargestellt wird.


Ich betrachte da den allgemeinsten Fall. Es seien n be-
liebige, in einem bestimmten Bereiche eindeutige und continuir-
liche Functionen ξ1, ξ2ξn von n independenten Variabeln
x1, x2xn gegeben. Umgekehrt seien auch die x eindeutige
continuirliche Functionen der ξ. Setzen wir dann
,
so gilt zwischen den Differentialen die Gleichung:
53) .
Die Bedeutung dieser Gleichung lässt an Klarheit nichts zu
wünschen übrig, wenn ξ1 bloss Function von x1, ξ2 bloss
Function von x2 u. s. w. ist. Wenn dann von allen x bloss x1
sich ändert, etwa um d x1 wächst, so ändert sich von allen ξ
auch bloss ξ1; sein Zuwachs heisse d ξ1. Ebenso gehört zu
einem Zuwachse d x2 von x2 ein bestimmter Zuwachs d ξ2 von
ξ2 u. s. w. Zwischen den so bestimmten Zuwächsen der x und ξ
besteht nun die Gleichung 53). Weit complicirter wird aber
die Sache, wenn, wie es im Allgemeinen angenommen werden
muss, jedes der ξ eine Function aller x ist.


Wenn dann x1 alle möglichen Werthe durchläuft, welche
zwischen x1 und x1 + d x1 liegen, während x2 einen constanten
Werth, der zwischen x2 und x2 + d x2 liegt, ebenso x3 einen
constanten zwischen x3 und x3 + d x3 liegenden Werth hat und
in gleicher Weise alle folgenden x constante Werthe haben, so
wird im Allgemeinen keineswegs bloss ξ1 sich ändern, sondern
es werden vielmehr alle ξ gleichzeitig sich ändern. Ebenso
werden sich im Allgemeinen alle ξ ändern, wenn bei Constant-
haltung aller übrigen x nur x2 alle Werthe von x2 bis x2 + d x2
durchläuft und zwar wird jedes ξ im zweiten Falle einen ganz
anderen Zuwachs erfahren, als im ersten. Wir haben also
[71][Gleich. 53] § 27. Einführung neuer Variabeln.
n verschiedene Zuwächse der Grösse ξ1; keiner derselben ist
gleich der in Formel 53) mit d ξ1 bezeichneten Grösse. Ebenso
wenig würde die Gleichung 53) bestehen, wenn man unter d ξh
den grössten Zuwachs verstünde, den ξh überhaupt erfahren
kann, wenn jeder zwischen x1 und x1 + d x1 liegende Werth
von x1 mit jedem zwischen x2 und x2 + d x2 liegenden Werthe
des x2, ferner jedes so gebildete Werthepaar von x1 und x2
mit jedem zwischen x3 und x3 + d x3 liegendem Werthe des
x3 u. s. w. combinirt wird.


Um die Bedeutung der Gleichung 53) im allgemeinen Falle
klar darzustellen, müssen wir etwas weiter ausholen. Diese
Gleichung hat überhaupt nur eine Bedeutung, wenn es sich
um die Verwandlung bestimmter, über gewisse Werthecomplexe
aller x zu erstreckender Integrale in andere handelt, in welche
statt der x die Variabeln ξ einzuführen sind. Wir wollen uns
da der folgenden Bezeichnungen bedienen. Sei der Werth
jeder der Variabeln x gegeben; dadurch sind die dazu ge-
hörigen Werthe aller ξ bestimmt. Wir nennen sie die den
gegebenen x entsprechenden Werthe der ξ. Unter einem
Werthegebiete G der x verstehen wir einen Inbegriff von
Werthesystemen dieser Variabeln, der folgendermaassen ab-
gegrenzt ist: In das Werthegebiet sind zunächst alle reellen
Werthe von x1 einzubeziehen, welche zwischen zwei beliebig
gegebenen Grenzen x01 und x11 liegen. Jedem Werthe von x1,
der zwischen diesen Grenzen liegt, sind alle reellen Werthe
der zweiten Variabeln x2 zuzugesellen, die ebenfalls zwischen
beliebig gegebenen Grenzen x02 und x12 liegen, wobei aber x02
und x12 continuirliche Functionen des Werthes von x1 sein
können, dem die betreffenden Werthe von x2 zugesellt werden.
Ebenso werden jedem Werthepaar von x1 und x2, das die
bisher aufgestellten Bedingungen erfüllt, alle Werthe von x3 zu-
gesellt, die zwischen x03 und x13 liegen, wobei x03 und x13 con-
tinuirliche Functionen von x1 und x2 sein können u. s. w. 1) Es
ist dann bekannt, was man unter dem bestimmten Integrale
∫ ∫ … f (x1, x2xn) d x1d x2d xn
erstreckt über das ganze Gebiet G versteht. Dieses Werthe-
[72]III. Abschnitt. [Gleich. 53]
gebiet heisst nach allen n Dimensionen oder allseitig unend-
lich wenig ausgedehnt oder kürzer allseitig (n fach) unendlich
klein, wenn die Differenz , ferner die Differenz
für jeden Werth von x1, die Differenz für jedes Werthe-
paar von x1 und x2 u. s. w. unendlich klein ist. Wenn n = 2 ist,
können x1 und x2 als die Coordinaten eines Punktes in der Ebene
aufgefasst werden; jedem Werthegebiete entspricht dann ein be-
grenztes Flächenstück in der Ebene; für n = 3 kann jedes Werthe-
gebiet durch ein begrenztes Volumen im Raume dargestellt werden.


Jedem Werthesysteme der x, welches im Gebiete G liegt,
entspricht nun ein Werthesystem der ξ. Unter dem Gebiete g
der ξ, welches dem Gebiete G der x entspricht, verstehen wir
den Inbegriff aller Werthesysteme der ξ, welche allen im Ge-
biete G liegenden Werthesystemen der x entsprechen.


Nach Aufstellung dieser Definitionen lässt sich der
Jacobi’sche Functionaldeterminantensatz in folgender, voll-
kommen unzweideutiger Weise aussprechen.


Es sei eine beliebige eindeutige, continuirliche Function
der independenten Variabeln x1, x2xn gegeben. Wir be-
zeichnen sie mit f (x1, x2xn). Drücken wir darin x1, x2xn
durch ξ1, ξ2ξn aus, so soll die Function f (x1, x2xn) über-
gehen in F (ξ1, ξ2ξn), so dass also identisch
f (x1, x2xn) = F(ξ1, ξ2ξn)
ist. Es ist aber deswegen keineswegs
∫ ∫ … f (x1, x2xn) d x1d x2d xn =
= ∫ ∫ … F (ξ1, ξ2ξn) d ξ1d ξ2d ξn,

wenn das erstere Integrale über ein beliebiges Gebiet G der x,
das letztere über das entsprechende Gebiet g der ξ erstreckt wird.
Bezeichnen wir vielmehr wieder die Functionaldeterminante
mit D, so ist das über das Gebiet G erstreckte nfache be-
stimmte Integrale
[73][Gleich. 54] § 27. Einführung neuer Variabeln.
∫ ∫f(x1, x2xn) d x1d x2d xn
immer gleich dem über das entsprechende Gebiet g erstreckten
nfachen bestimmten Integrale
.1)
Ist das Gebiet G nfach unendlich klein, so ist es, falls für die
in Betracht kommenden Werthe die ξ continuirliche Functionen
der x sind, auch das Gebiet g und es kann der Werth der
Functionen f und F, sowie der der Functionaldeterminante im
ganzen Gebiete als constant betrachtet werden. Da zudem
der Werth beider Functionen derselbe ist, kann durch diesen
Werth hinwegdividirt werden und es folgt:
54) .2)


In dieser Form schreibt in der That Kirchhoff die
Gleichung.3) Es ist jedoch allgemein üblich, wie auch wir es
im vorigen Paragraphen thaten, einfach zu schreiben
.
Dabei ist streng genommen unter d x1d x2d xn das nfache
Integrale dieser Grösse über ein beliebiges nfach unendlich
[74]III. Abschnitt. [Gleich. 54]
kleines Gebiet G und unter d ξ1d ξ2d ξn das nfache Inte-
grale der letzteren Grösse über das entsprechende Gebiet g zu
verstehen. Da der Satz nur zur Berechnung bestimmter, über
endliche Gebiete erstreckter Integrale verwendet wird und sich
diese immer in unendlich viele über unendlich kleine Gebiete
erstreckte zerlegen lassen, so erhält man immer richtige Resul-
tate, wenn man die Gleichungen in folgender Form schreibt:
,
daher
und daraus dann schliesst:
.
Die erste dieser Gleichungen hat folgenden Sinn. Jedes nfache
über alle x erstreckte bestimmte Integrale kann in unendlich
viele über nfach unendlich kleine Gebiete erstreckte zerlegt
werden. Will man nun die ξ als Integrationsvariabeln ein-
führen, so ist in jedem der letzteren und daher auch im ganzen
Integrationsgebiete das Produkt d x1d x2d xn durch
zu ersetzen.


§ 28. Anwendung auf die Formeln des § 26.


Wollte man sich im § 26 dieser correcteren Ausdrucksweise
bedienen, so müsste man, statt zu sagen: „für gewisse Systeme
liegen die Anfangswerthe der Coordinaten und Momente zwischen
P1 und P1 + d P1Qμ und Qμ + d Qμ,“
sich der Redeweise bedienen: „jene Anfangswerthe liegen in
einem 2 μfach unendlich kleinen Gebiete
G = ∫ d P1d P2d Pμ d Q1d Q2d Qμ.“
Statt zu sagen: „dann liegen zur Zeit t die Werthe zwischen
p1 und p1 + d p1qμ und qμ + d qμ,“ müsste man sich ent-
[75][Gleich. 55] § 28. Anwendung auf den § 26.
sprechend des Ausdruckes bedienen: „sie liegen in dem ent-
sprechenden Gebiete
g = ∫ d p1d p2d pμ d q1d q2d qμ.“
Hierbei ist die Integration über das ganze betreffende Gebiet
Kürze halber durch Vorsetzung eines einzigen Integralzeichens
ausgedrückt. Das dem Gebiete G entsprechende Gebiet g um-
fasst alle Werthecombinationen, welche die Variabeln nach der
constant zu betrachtenden Zeit t annehmen, wenn dieselben
zur Anfangszeit irgend eine innerhalb des Gebietes G fallende
Werthecombination hatten. Alle Schlüsse des vorigen Para-
graphen würden dann unverändert gültig bleiben, nur dass an
Stelle der einfachen Producte der Differentiale immer Inte-
grale dieser Differentialproducte über allseitig unendlich kleine
Gebiete treten würden. Die Gleichung 52) lautet in dieser
präciseren Fassung:
55) .
Man sieht also, dass sich an der Schlussweise nicht das
Mindeste ändert, nur dass vor jedem Differentialausdrucke noch
die Integralzeichen stehen, welche die Integration über ein
entsprechendes unendlich kleines Gebiet ausdrücken.


Sollte es noch eines Beispieles bedürfen, so kann man
sich unter den x die räumlichen Polarcoordinaten r, ϑ, φ,
unter den ξ die rechtwinkeligen Coordinaten x, y, z eines
Punktes denken. Das Werthegebiet, für welches x, y und z
zwischen
x und x + d x, y und y + d y, z und z + d z
liegt, ist durch ein Parallelepiped bestimmt. Wir wollen den
Variabeln ϑ und φ verschiedene Werthepaare ertheilen, denen
allen Punkte entsprechen sollen, welche innerhalb dieses Parallel-
epipedes liegen. Die Grenzen r und r + d r, zwischen denen r
für alle diejenigen Punkte liegt, welche innerhalb des Parallel-
epipedes liegen und einem bestimmten dieser Werthepaare
entsprechen, werden keineswegs für alle diese Werthepaare die-
selben sein. Welches aller dieser d r ist nun das in der Gleichung
[76]III. Abschnitt. [Gleich. 55]
,
gemeinte, welche auch keineswegs gilt, wenn man unter d r die
grösste Differenz der Werthe des r verstünde, welche bei Punkten
vorkommen kann, die innerhalb jenes Parallelepipedes liegen,
und dem d ϑ und d φ einen analogen Sinn unterlegte? Diese
Gleichung hat vielmehr folgende Bedeutung: Das bestimmte
Integrale
∫ ∫ ∫ d x d y d z,
erstreckt über ein beliebiges dreifach unendlich kleines Ge-
biet, hat denselben Werth wie das Integrale
∫ ∫ ∫ r2 sin ϑ d r d ϑ d φ,
erstreckt über das entsprechende Gebiet; beide sind nämlich
gleich dem von allen Punkten des Gebietes erfüllten Volumen,
wogegen es offenbar ganz falsch wäre,
∫ ∫ ∫ d x d y d z = ∫ ∫ ∫ d r d ϑ d φ
zu setzen, wenn sich auch da beide Integrale über entsprechende
Gebiete erstrecken.


Von den speciellen Beispielen, welche zur Versinnlichung
der Bedeutung der mechanischen Gleichungen 52) und 55)
gerechnet wurden,1) sei hier nur kurz auf das einfachste hin-
gewiesen. Ein materieller Punkt mit der Masse 1 bewege sich
in der Abscissenrichtung unter dem Einflusse einer constanten
Kraft, welche ebenfalls die Abscissenrichtung hat und ihm die
Beschleunigung γ ertheilt. Wir verstehen unter den Variabeln,
die wir zu Anfang dieses Paragraphen die x nannten, nun die
Anfangsabscisse X und die Anfangsgeschwindigkeit U des
materiellen Punktes, unter den ξ aber die Abscisse x und Ge-
[77][Gleich. 57] § 29. Zweiter Beweis d. Liouville’schen Satzes.
schwindigkeit u nach Verlauf einer unveränderlich gegebenen
Zeit t. Es ist also
56) .
Da wir nur zwei Variable haben, können wir sowohl deren
Anfangswerthe als auch deren Werthe zur Zeit t durch je
einen Punkt in der Ebene darstellen, dessen Abscisse gleich
der Abscisse, dessen Ordinate aber gleich der Geschwindigkeit
des materiellen Punktes ist. Alle Punkte eines Rechteckes mit
den Seiten d X und d U stellen ein zweifach unendlich kleines
Gebiet der x dar, d. h. sie repräsentiren alle möglichen mate-
riellen Punkte, für welche zu Anfang der Zeit Coordinate und
Geschwindigkeit zwischen
X und X + d X und U und U + d U
lagen. Das diesem Gebiete G entsprechende Gebiet g der ξ
umfasst die Coordinaten x und die Geschwindigkeiten u, welche
alle diese materiellen Punkte nach Verlauf der constant anzu-
sehenden Zeit t haben. Nach den Gleichungen 56) ist u ein-
fach um die Constante γ t grösser als U. Dagegen ist die
Differenz xX um so grösser, je grösser U ist. Man sieht
daher leicht, dass das Gebiet g ein schiefwinkeliges Parallelo-
gramm ist, dessen Basis gleich d X und dessen Höhe gleich d U
ist, das also, wie es nach Gleichung 52) sein muss, mit dem
Rechtecke G = d X d U flächengleich ist.


§ 29. Zweiter Beweis des Liouville’schen Satzes.


Wir wollen noch einen zweiten Beweis der Gleichung 52)
oder 55) geben, wobei wir nicht von der Zeit Null direct auf
die Zeit t, sondern zunächst nur von der Zeit t auf eine un-
endlich nahe Zeit t + δ t schliessen. Wir wollen aber den
Satz zugleich noch etwas verallgemeinern, indem wir von
unserer independenten Variabeln, die wir demgemäss mit s
bezeichnen, nicht gerade unbedingt voraussetzen, dass es die
Zeit sei; wir wollen dieselbe vielmehr ganz unbestimmt lassen,
obwohl wir zur Veranschaulichung noch immer an die Zeit als
independente Variable denken können. Beliebige dependente
Variable s1, s2sn sollen durch folgende Differentialgleichungen:
57)
[78]III. Abschnitt. [Gleich. 60]
als Functionen der Independenten s bestimmt sein. Die σ
sollen explicit als Functionen von s, s1, s2sn gegeben sein.
Da wir den Buchstaben d für eine andere Art von Zuwächsen
reserviren wollen, haben wir den Zuwachs der Independenten
mit δ s, die entsprechenden Zuwächse der Dependenten aber
mit δ s1, δ s2δ sn bezeichnet.


Für ein System materieller Punkte wäre δ s mit dem Zu-
wachse δ t der Zeit zu identificiren. Unter δ s1, δ s2δ sn
aber wären sowohl die Zuwächse δ [x]1, δ y1 … der Coordinaten,
als auch die Zuwächse δ u1, δ v1 … der Geschwindigkeits-
componenten während der Zeit δ t zu verstehen. Es wäre z. B.
δ x1 = u1δ t.


Die Werthe der dependenten Variabeln s1, s2sn sollen
durch ihre zu einem bestimmten s, z. B. s = 0, gehörigen An-
fangswerthe
58) S1, S2Sn
und durch die ein für alle Male unveränderlich gegebenen
Differentialgleichungen 57) als eindeutige Functionen der In-
dependenten s bestimmt sein.


Wir können uns nun im Geiste alle Werthe der Depen-
denten, welche bei gegebenen Anfangswerthen zu allen mög-
lichen Werthen der Independenten s gehören, vorstellen. Wir
wollen den Inbegriff aller dieser Werthe eine Werthereihe
nennen. Dieselbe entspricht dem ganzen Verlaufe der Be-
wegung eines mechanischen Systemes, wenn dieses seine Be-
wegung von einem bestimmten Anfangszustande ausgehend
beginnt.


In derjenigen Werthereihe, welche von den Anfangs-
werthen 58) ausgeht, sollen die dependenten Variabeln für
einen bestimmten Werth s der Independenten die Werthe
59) s1, s2sn,
für einen unendlich wenig verschiedenen Werth s + δ s der
Independenten aber die Werthe
60) s'1 = s1 + δ s1, s'2 = s2 + δ s2s'n = sn + δ sn
haben. Wir bezeichnen dann Kürze halber die Werthe 59) als
die „den Anfangswerthen 58) nach s (nach dem Werthe s der
Independenten) entsprechenden“ Werthe der Dependenten. Die
[79][Gleich. 61] § 29. Zweiter Beweis d. Liouville’schen Satzes.
Werthe 60) werden wir daher als die den Anfangswerthen 58)
nach s + δ s entsprechenden Werthe der Dependenten zu be-
zeichnen haben. Gemäss den Differentialgleichungen 57) sind
die Werthe 59) und 60) durch die Gleichungen verknüpft
61) ,
wobei in die gegebenen Functionen σ1, σ2σn die Werthe 59)
der Dependenten und der entsprechende Werth der Indepen-
denten zu substituiren sind.


Nun wollen wir noch weiter gehen und uns statt einer
einzigen alle möglichen Werthereihen vorstellen, welche von
allen möglichen Anfangswerthen ausgehen. Von allen diesen
Werthereihen heben wir aber nur diejenigen hervor, für welche
die Anfangswerthe zwischen den Grenzen
S1 und S1 + d S1, S2 und S2 + d S2Sn und Sn + d Sn
oder in einem irgendwie anders begrenzten nfach unendlich
kleinem Gebiete G liegen,1) in dem auch die Werthe 58) liegen.
Diejenigen Werthe der Dependenten, welche allen im Gebiete G
liegenden Anfangswerthen „nach s entsprechen“, bilden wieder
ein nfach unendlich kleines Gebiet, welches das Gebiet g
heissen soll.


Dagegen soll mit g' das Gebiet bezeichnet werden, welches
alle Werthe der Dependenten umfasst, die allen im Gebiete G
liegenden Anfangswerthen „nach s + δ s entsprechen“. Das
Integrale des Productes d s1d s2d sn der Differentiale aller
Dependenten, über das ganze Gebiet g erstreckt, soll einfach mit
∫ d s1d sd sn,
dasselbe Integrale, über das Gebiet g' erstreckt, aber mit
∫ d s'1d s'2d s'n,
bezeichnet werden. Diese Integralzeichen drücken also eine
Integration über alle Werthereihen aus, welche in dem nfach
unendlich kleinen Gebiete G entspringen. Dann ist nach
Gleichung 54)
[80]III. Abschnitt. [Gleich. 64]
62) ∫ d s'1d s'2d s'n = D ∫ d s1d s2, .. d sn,
wobei unter D wieder die Functionaldeterminante
zu verstehen ist. Bei Bildung der partiellen Differential-
quotienten dieser Functionaldeterminante ist sowohl s als auch
s + δ s, daher auch δ s als constant zu betrachten, da s für
alle Werthereihen, über welche hier integrirt wird, denselben
Werth hat, ebenso δ s. Es folgt daher aus der Gleichung 61)
u. s. w.
Vernachlässigt man die mit höheren Potenzen der unendlich
kleinen Grösse δ s multiplicirten Glieder, so wird
,
wobei
63)
ist. Der oben angehängte Strich bedeutet immer, dass der
betreffende Werth zum Werthe s + δ s der Independenten ge-
hört, während als Anfangswerthe die Werthe 58) zu betrachten
sind. Man kann daher die Gleichung 62) auch in der Form
schreiben:
64) .


Ganz analog, wie wir hier vom Werthe s der Independenten
zum Werthe s + δ s übergingen, können wir auch vom Werthe
s + δ s zu s + 2 δ s, von s + 2 δ s zu s + 3 δ s u. s. w., aber
auch von sδ s zu s u. s. f. übergehen. Wir wollen z. B. alle
[81][Gleich. 66] § 29. Zweiter Beweis d. Liouville’schen Satzes.
Werthe, welche zum Werthe s + 2 δ s der Independenten ge-
hören, wenn man von den Anfangswerthen 58) ausgeht, mit
zwei oben angehängten Strichen bezeichnen.


g″ sei das Gebiet, welches alle Werthe der dependenten
Variabeln umfasst, die den im Gebiete G liegenden Anfangs-
werthen nach dem Werthe s + 2 δ s der Independenten ent-
sprechen und
∫ d s″1d s″2d s″n
sei das über das Gebiet g″ erstreckte Integrale des Productes
der Differentiale aller dependenten Variabeln. Dann findet
man analog, wie man die Gleichung 64) erhielt,
.
Da nun eine analoge Gleichung für alle vorhergehenden und
folgenden Zuwächse der Independenten s gilt, so hat man
allgemein:
65) .
Hier bedeuten σ0 und τ0 die Werthe von σ und τ für s = 0;
∫ d S1d S2d Sn aber ist das über das Gebiet G erstreckte
Integrale des Productes der Differentiale aller dependenten
Variabeln.


Man sieht sofort, dass die Gleichung 55) derjenige specielle
Fall der Gleichung 65) ist, welchen man erhält, wenn man
unter s wieder die Zeit, unter s1, s2sn aber die generali-
sirten Coordinaten p1, p2pμ und die Momente q1, q2qμ
eines beliebigen mechanischen Systemes versteht. Ist nämlich
wie in § 25 L und V die kinetische und potentielle Energie
des mechanischen Systemes und setzt man L + V = E, so lauten
die Lagrange’schen Gleichungen für das mechanische System
folgendermaassen:
66) .1)
Boltzmann, Gastheorie II. 6
[82]III. Abschnitt. [Gleich. 67]
Das Zeichen d hat hier dieselbe Bedeutung, wie in unseren
früheren Entwickelungen das Zeichen δ. Wir haben daher
die vorigen Formeln dahin zu specialisiren, dass wir setzen
n = 2 μ, σ = 1, s = t,
.
Daher wird
.
und die Gleichung 65) geht sofort in die Gleichung 55) über.


Entwickelungen, welche denen dieses Paragraphen ganz
analog sind, wurden zuerst von Liouville,1) dann von Jacobi2)
(von letzterem in dessen Vorlesungen über Dynamik behufs
Ableitung des Satzes vom letzten Multiplicator) gemacht. Zu
statistischen Betrachtungen über den zeitlichen Verlauf der
Bewegung eines Systems und einer Schaar gleichzeitig be-
stehender Systeme aber wurden sie wohl zuerst vom Verfasser
dieses Buches und dann von Maxwell3) verwendet.


§ 30. Jacobi’s Satz vom letzten Multiplicator.


Da wir die erforderlichen Gleichungen gerade zur Hand
haben, so wollen wir hier noch das allerdings mit dem Folgenden
sonst nicht in näherem Zusammenhange stehende Theorem vom
letzten Multiplicator ableiten.


Wir bezeichnen mit
φi (s, s1, s2sn) = const., i = 1, 2 … n
die n Integrale der Differentialgleichungen 57). Den Anfangs-
werthen 58) sollen die Werthe a1, a2an der Integrations-
constanten entsprechen, so dass also
67) φi (0, S1, S2Sn) = ai, i = 1, 2 … n
[83][Gleich. 68] § 30. Jacobi’s Satz vom letzten Multiplicator.
ist. Allen Anfangswerthen der dependenten Variabeln, welche
innerhalb des Gebietes liegen, das wir im vorigen Para-
graphen das Gebiet G nannten, werden gewisse Werthe der
Integrationsconstanten a entsprechen, welche wieder ein nfach
unendlich kleines Gebiet bilden, das wir das Gebiet A nennen
wollen.
∫ d a1d a2d an
soll das über das ganze Gebiet A erstreckte Integrale des Pro-
ductes der Differentiale der Integrationsconstanten sein. Da-
gegen sollen wie im vorigen Paragraphen mit s1, s2sn die
Werthe der dependenten Variabeln bezeichnet werden, welche
den Anfangswerthen 58) „nach dem Werthe s der Indepen-
denten entsprechen“. Es ist also
68) φi (s, s1, s2sn) = ai, i = 1, 2 … n,
wobei die Grössen a dieselben Werthe haben wie in Gleichung 67).
Ebenso werde wie im vorigen Paragraphen mit g das Gebiet
bezeichnet, welches von allen Werthen der dependenten Variabeln
gebildet wird, die allen im Gebiete G liegenden Anfangswerthen
nach dem Werthe s der Independenten entsprechen und mit
∫ d s1d s2d sn
das über das Gebiet g erstreckte Integrale des Productes der
Differentiale der Dependenten, während
∫ d S1d S2d Sn
das entsprechende Integrale über das Gebiet G sei. Da die a
mit den S durch die Gleichung 67), mit den s1sn aber durch
die Gleichungen 68) verbunden sind, in welch letzteren s con-
stant anzusehen ist, so hat man:
∫ d a1d a2d an = Δ0∫ d S1d S2d Sn = Δ ∫ d s1d s2d sn,
wobei
6*
[84]III. Abschnitt. [Gleich. 70]
und Δ0 der Werth des Δ für s = 0 ist. Daher ist nach
Gleichung 65)
.
Da Δ0, τ0 und σ0 Ausdrücke sind, welche nur von den Anfangs-
werthen der Dependenten oder, wenn man will, von den In-
tegrationsconstanten a, nicht vom Werthe des s abhängen, so
hängt auch C nur von diesen Grössen ab.


Wir setzen nun voraus, dass wir alle Integrale bis auf das
eine φ1 = a1 bereits kennen. Die Gleichung
69) ∫ d a1d a2d an = Δ ∫ d s1d s2d sn
gilt für jeden Werth des s. Wir denken uns daselbst dem s
einen beliebigen constanten Werth ertheilt und führen in den
beiden bestimmten Integralen der rechten und linken Seite
die Variabeln s1, a2, a3an ein, welche ja, da s als constant
gegeben betrachtet wird, eindeutige Functionen sowohl von
a1, a2an, als auch von s1, s2sn sind. Wir erhalten so:
,
wobei in
bei der partiellen Differentiation s und s1 immer als constant
zu betrachten sind. In dem Integrale der linken Seite der
Gleichung 69) aber ist zu setzen
.
Da das Integrationsgebiet nfach unendlich klein ist, kann der
letztere Factor vor das Integralzeichen kommen und man er-
hält, wenn man mit ∫ d s1d a2d a3d an wegdividirt:
70) .
Wenn aber alle Integrale bis auf φ1 bekannt sind und aus
denselben in der letzten zu integrirenden Differentialgleichung
[85][Gleich. 71] § 30. Jacobi’s Satz vom letzten Multiplicator.
71)
die Grössen s2, s3sn durch s, s1 und die Constanten a2, a3an
ausgedrückt werden, so ist der Ausdruck 70) der integrirende
Factor dieser letzten Differentialgleichung. Durch Multiplication
mit demselben verwandelt sich ihre linke Seite in
und daher muss sich die rechte Seite in
verwandeln. Dies ist Jacobi’s Theorem vom letzten Multi-
plicator. Da C nur Function der Integrationsconstanten ist,
so ist auch σ/ Δ1τ integrirender Factor der Differential-
gleichung 71).


σ ist gegeben. Δ1 kann berechnet werden, wenn alle In-
tegrale bis auf φ1 bekannt sind. τ ist freilich im Allgemeinen
unbekannt; doch kann es oft durch Zufall gefunden werden,
wie z. B. bei den mechanischen Aufgaben, wo es sich auf eine
Constante reducirt.


Wenn die Bewegungsgleichungen 66) eines materiellen
Systemes die Zeit nicht explicit enthalten, so haben sie auch
noch nach Elimination des Differentiales der Zeit die Form 57),
worin aber jetzt s eine der Coordinaten ist, etwa p1. Es ist dann
und die Gleichung , aus welcher
τ = const. folgt, besteht noch immer. Es kann daher der inte-
grirende Factor der Differentialgleichung ohne Weiteres ge-
funden werden, welche das Differential der letzten Coordinate
durch das der übrigen und der Momente ausdrückt, wenn jene
übrigen Coordinaten und die Momente unter Elimination der
Zeit bereits als Functionen der Integrationsconstanten und der
beiden letzten Coordinaten gefunden sind. Bei den meisten
Anwendungen, welche Jacobi vom Principe des letzten Multi-
plicators macht, werden die allgemeinen Gleichungen in dieser
Weise angewendet.


[86]III. Abschnitt. [Gleich. 73]

§ 31. Einführung des Energiedifferentiales.


Ehe wir zu den speciellen Anwendungen auf die Gas-
theorie übergehen, wollen wir noch einige allgemeine Lehrsätze
entwickeln.


Wir kehren da zurück zu der schon in § 26 betrachteten
unendlichen Schaar gleichbeschaffener mechanischer Systeme.
Der Zustand jedes derselben soll wieder durch die in § 25
eingeführten Variabeln bestimmt sein. Wie bisher sei L die
kinetische, V die potentielle, E = L + V die Gesammtenergie
eines der Systeme. Wir setzen voraus, dass die Systeme so-
genannte conservative sind, d. h. dass für jedes der Systeme
E während der ganzen Bewegung desselben constant bleibt.
Dazu ist erforderlich, dass wir dissipative Kräfte, wie Reibung,
Mittelswiderstand etc. überhaupt ausschliessen und dass in
jedem Systeme entweder nur innere Kräfte wirken, oder falls
äussere Kräfte vorhanden sind, diese letzteren von unbeweg-
lichen, mit der Zeit unveränderlichen Massen ausgehen. Die
Kräfte sollen überhaupt nur von der Lage abhängig, also V
nur eine Function (und zwar eine eindeutige) der Coordinaten
p1pμ sein.


Die Werthe
72) p1, p2pμ, q1qμ,
welche die Coordinaten und Momente zur Zeit t für ein System
annehmen, für welches sie zur Anfangszeit (der Zeit Null) die
Werthe
73) P1, P2Pμ, Q1Qμ
hatten, nennen wir die jenen Anfangswerthen entsprechenden
Werthe. Durch die Anfangswerthe 73) ist auch der Werth E
der Energie des Systems bestimmt, welcher ebenfalls der jenen
Anfangswerthen entsprechende Werth der Energie heissen soll.
Da die Systeme conservativ sind, so hat die Energie für ein
bestimmtes System zu jeder beliebigen späteren Zeit t den-
selben Werth E wie zur Anfangszeit.


Wir wollen nun zunächst alle Systeme betrachten, welche
von Anfangswerthen ausgehen, die irgend ein 2 μfach unendlich
kleines, die Werthe 73) umfassendes Gebiet G erfüllen. Das Ge-
biet, welches von den Werthen der Coordinaten und Momente
erfüllt wird, welche allen diesen Systemen nach einer bestimmten,
[87][Gleich. 76] § 31. Einführung des Energiedifferentiales.
beliebigen, für alle Systeme gleichen Zeit t zukommen, soll das
Gebiet g heissen. Das über das Gebiet G erstreckte Integrale
des Produktes der Differentiale der Coordinaten und Momente
bezeichnen wir mit
74) ∫ d P1d Qμ,
das gleiche über das Gebiet g erstreckte Integrale aber mit
75) ∫ d p1d qμ.
Dann ist zunächst nach Gleichung 55)
76) ∫ d P1d Qμ = ∫ d p1d qμ.


In jedes dieser Integrale können wir statt eines der Diffe-
rentiale, z. B. statt des Differentiales des ersten Momentes q1,
das Differentiale der Energie E einführen. Dabei müssen wir
sowohl die Zeit t, welche ja bei allen diesen Integrationen die
Rolle einer Constanten spielt, als auch alle Coordinaten und
alle übrigen Momente als Constante betrachten. Wir er-
halten also:
,
wo bei der partiellen Differentiation die soeben besprochenen
Grössen als constant anzusehen sind. Es ist nun
.
Da V nur Function der Coordinaten ist, so verschwindet der
erste Addend rechts; ferner ist bekanntlich, wenn wir die Diffe-
rentialquotienten nach der Zeit wieder durch einen beigefügten
Strich ausdrücken,
.1)
Es wird also
und
d E = p'1d q1.
Ebenso ergiebt sich
d E = P'1d Q,
[88]III. Abschnitt. [Gleich. 80]
wobei P'1 den Werth vorstellt, den der Differentialquotient von
p1. nach der Zeit zu Anfang der Zeit hat. Die Substitution
dieser Werthe in die Gleichung 76) liefert:
77) .


Diese Gleichung gilt, über was für Gebiete man immer
die Integration erstrecken mag, wenn dieselben nur 2 μ fach
unendlich klein sind und g das dem Gebiete G entsprechende
Gebiet ist. Wir können daher das Gebiet G so wählen, dass
für alle Werthe der übrigen Variabeln die Energie zwischen den-
selben Grenzen E und E + d E liegt, während die übrigen
Variabeln, nämlich
78)
in irgend einem beliebigen 2 μ — 1 fach unendlich kleinen Ge-
biete G1 liegen, das die Werthe
79) P1, P2Pμ, Q2Qμ
umfasst. Das eine Moment Q1 ist dabei auszulassen, da es
durch die Werthe der Variabeln 78) und den der Energie be-
reits bestimmt ist.


Für alle Systeme, welche diesen Anfangsbedingungen ge-
nügen, wird nach der Zeit t die Energie wieder zwischen den-
selben Grenzen liegen; das 2 μ — 1 fach unendlich kleine Gebiet
aber, das von den Werthen erfüllt wird, welche die Variabeln
78) jetzt für diese Systeme haben, soll das Gebiet g1 heissen.
Es umfasst natürlich die den Anfangswerthen 79) nach der
Zeit t entsprechenden Werthe der Coordinaten und Momente.
Wählt man die Gebiete in dieser Weise, so sieht man, dass
d E auf beiden Seiten der Gleichung 77) vor das Integral-
zeichen kommen und dann diese Gleichung mit d E hinweg
dividirt werden kann, wodurch sich ergiebt:
80) .


[89][Gleich. 81] § 32. Ergoden.

Hier ist das Integrale links über das Gebiet g1, das rechts
über das Gebiet G1 zu erstrecken, während E constant ist. Die
Gleichung 80) hat also folgende Bedeutung: Wir betrachten
sehr viele Systeme, für welche alle die Energie denselben
Werth E hat, während die Werthe der Variabeln 78) zu An-
fang der Zeit in dem 2 μ — 1 fach unendlich kleinen Gebiete
G1 liegen und das noch fehlende Moment q1 durch den an-
genommenen Werth von E bestimmt ist. Für alle diese
Systeme wird nach der Zeit t die Energie wieder denselben
Werth E haben, das Gebiet aber, welches nach der für alle
Systeme gleich zu wählenden Zeit t von den diesen Systemen
zukommenden Werthen der Variabeln 78) erfüllt wird, soll mit
g1 bezeichnet werden und das dem Gebiete G1 nach der Zeit t
entsprechende Gebiet heissen. Es besteht dann immer die
Gleichung 80), wenn man das Integrale rechts über das Gebiet
G1, das links aber über das entsprechende Gebiet g1 erstreckt.


§ 32. Ergoden.


Wir denken uns nun wieder eine enorm grosse Zahl
mechanischer Systeme, welche alle die gleiche, früher ge-
schilderte Beschaffenheit haben. Auch die gesammte Energie
E soll für alle genau denselben Werth haben. Dagegen sollen
im Uebrigen zu Anfang der Zeit die Coordinaten und Momente
für die verschiedenen Systeme die verschiedensten Werthe
haben. Es sei ganz allgemein
f(p1, p2pμ, q2qμ, t) d p1d pμ d q2d qμ
die Anzahl der Systeme, für welche zur Zeit t die Variabeln
78) zwischen den Grenzen
p1 und p1 + d p1pμ und pμ + d pμ, q2 und q2 + d q2
qμ und qμ + d qμ

liegen, während natürlich q1 durch den angenommenen Werth
der Energie bestimmt ist. Die Zahl der Systeme, für welche
die Werthe der Variabeln 78) ein beliebiges, die Werthe
81) p1pμ, q2qμ
umfassendes (2 μ — 1) fach unendlich kleines Gebiet g1 erfüllen,
ist daher zur Zeit t
[90]III. Abschnitt. [Gleich. 85]
82) f (p1pμ, q2qμ, t). ∫ d p1d pμ d q2d qμ,
wobei die Integration eben über das Gebiet g1 zu erstrecken ist.


Statt zu sagen, die Werthe der Variabeln 78) liegen für
gewisse Systeme innerhalb des Gebietes g1, werden wir uns
öfters mit Vortheil des Ausdruckes bedienen, diese Systeme
haben die Phase p q. Wir können daher auch sagen: der
Ausdruck 82) giebt die Zahl der Systeme an, welche zur Zeit t
die Phase p q haben.


Das Gebiet, innerhalb dessen für alle Systeme, welche zur
Zeit t die Phase p q haben, die Werthe der Variabeln 78) zur
Zeit Null liegen, soll das Gebiet G1 heissen. Da das Gebiet g1
die Werthe 81) umfasst, so muss natürlich auch das Gebiet G1
die den Werthen 81) entsprechenden Anfangswerthe der Variabeln
83) P1Pμ, Q2Qμ
umfassen. Statt zu sagen, die Werthe der Variabeln liegen
für ein System im Gebiete G1, wollen wir wiederum den Aus-
druck anwenden, das System hat die Phase P Q. Das über das
Gebiet G1 erstreckte Integrale des Productes der Differentiale
der Variabeln 78) soll analog der in Formel 82) verwendeten
Bezeichnung mit
∫ d P1d Pμ d Q2d Qμ
bezeichnet werden. Da t im Ausdrucke 82) jeden beliebigen
Werth haben kann, so wird
84) f (P1Pn, Q2Qn, 0) ∫ d P1d Pn d Q2d Qn
die Anzahl der Systeme sein, welche zu Anfang der Zeit die
Phase P Q haben. Da ferner diese Systeme genau dieselben
sind, wie diejenigen, welche zur Zeit t die Phase p q haben,
so müssen die Ausdrücke 82) und 84) unter einander gleich
sein, woraus unter Berücksichtigung der Gleichung 80) folgt:
85) p'1f (p1pn, q2qn, t) = P'1f (P1Pn, Q2Qn, 0).


Wir bezeichnen nun die Zustandsvertheilung unter den
Systemen als eine stationäre, wenn sich die Anzahl der Systeme,
welche eine beliebige Phase p q haben, für welche also die
Werthe der Variabeln in einem beliebigen Gebiete g1 liegen, nicht
mit der Zeit ändert. Da die Anzahl der Systeme, welche zur
[91][Gleich. 88] § 32. Ergoden.
Zeit t die Phase p q haben, durch den Ausdruck 82) gegeben
ist, so kann man die Bedingung, dass die Zustandsvertheilung
stationär sei, dahin aussprechen, dass für beliebige Werthe
der Variabeln und für beliebige Gebiete g1 der Werth des
Ausdrucks 82) von dem Werthe der Zeit t vollkommen unab-
hängig ist, so lange das Gebiet g1 und die Werthe der
Variabeln 78) dieselben bleiben. Setzt man daher den Werth,
welchen der Ausdruck 82) einmal für die Zeit Null, das andere
Mal für eine beliebige andere Zeit t hat, untereinander gleich,
so kann durch das über das Gebiet g1 erstreckte Integrale
wegdividirt werden, und die Bedingung, dass der Zustand
stationär ist, nimmt die Form an:
86) f (p1pn, q2qn, t) = f (p1pn, q2qn, 0),
worin die Variabeln p, q beliebige, aber rechts und links die-
selben Werthe haben. Man kann sie daher auch mit den ent-
sprechenden grossen Buchstaben bezeichnen, wenn man unter
P Q wieder beliebige, aber zu beiden Seiten des Gleichheits-
zeichens gleiche Werthe versteht, so dass die Gleichung 86)
die Form annimmt:
87) f (P1Pn, Q2Qn, t) = f (P1Pn, Q1Qn, 0).


Mit Rücksicht auf die letzte Gleichung geht die Gleichung 85)
über in
P'1f (P1, P2Pn, Q2Qn, t) = p'1f (p1, p2pn, q2qn, t).1)
Da die Function f jetzt die Zeit nicht mehr enthält, so ist es
besser, t unter dem Functionszeichen wegzulassen und zu
schreiben:
88) P'1f (P1, P2Pn, Q2Qn) = p'1f (p1, p2pn, q2qn).
Hierbei sind P1, P2Pμ, Q2Qμ ganz beliebige Anfangs-
werthe; p1, p2pμ, q2qμ sind die Werthe der Coordinaten
und Momente, welche ein von diesen Anfangswerthen aus-
[92]III. Abschnitt. [Gleich. 89]
gehendes System nach einer übrigens auch beliebigen Zeit t
erreicht.


Denken wir uns daher ein System S, welches von be-
liebigen Anfangswerthen der Coordinaten und Momente aus-
gehend, sich bewegt, so werden im Verlaufe der Bewegung
die Coordinaten und Momente immer andere und andere Werthe
annehmen. Die Coordinaten und Momente sind also Functionen
der Anfangswerthe und der Zeit. Es wird aber im Allgemeinen
gewisse Functionen der Coordinaten und Momente geben (nennen
wir sie Invarianten), welche während der ganzen Bewegung
constante Werthe haben, wie bei einem freien Systeme die
Geschwindigkeitscomponenten des Schwerpunktes oder die nach
dem Flächenprincipe unveränderlichen Momentsummen. Wir
wollen uns nun in den Ausdruck p'1f (p1, p2pμ, q2qμ)
zuerst die Anfangswerthe, von denen ein System ausging, und
dann fort und fort die Werthsysteme substituirt denken, welche
die Coordinaten und Momente jenes Systemes mit wachsender
Zeit der Reihe nach annehmen. Damit die Vertheilung
stationär sei, ist nothwendig und hinreichend, dass der Werth
von p'1f dabei immer unverändert bleibt, oder mit anderen
Worten, p'1f darf nur solche Functionen der Coordinaten und
Momente enthalten, welche während der ganzen Bewegung
eines Systems constant bleiben, also zwar von den Anfangs-
werthen, nicht aber von der verflossenen Zeit abhängen; p'1f
darf also nur Function der Grössen sein, welche wir soeben
Invarianten genannt haben.


Wir erhalten den einfachsten Fall einer stationären Zu-
standsvertheilung unter den Systemen, wenn wir die Grösse
p'1f (p1, p2pμ, q2qμ) gleich einer Constanten setzen; dann
ist also
89)
die Anzahl der Systeme, für welche die Variabeln 78) im Ge-
biete g1 liegen, über welches auch die Integration zu erstrecken
ist. Ich habe mir einmal erlaubt, die durch diese Formel
ausgedrückte Zustandsvertheilung unter einer unendlichen
Anzahl von Systemen eine ergodische zu nennen.


[93][Gleich. 90] § 33. Begriff der Momentoide.

§ 33. Begriff der Momentoide.


Die am Schlusse des vorigen Paragraphen besprochene
Zustandsvertheilung wollen wir im Folgenden weiter be-
handeln, und zwar wollen wir an Stelle der Momente andere
Variable einführen.


Die lebendige Kraft L eines der Systeme ist eine homogene
quadratische Function der Momente; es ist also
,
wobei im Allgemeinen die Coefficienten a Functionen der gene-
ralisirten Coordinaten p sind. Es lassen sich bekanntlich immer
lineare Substitutionen von der Form
90)
finden, für welche man erhält
.
Die Ausnahmsfälle, wo L nicht in diese Form gebracht werden
kann, können bei mechanischen Systemen niemals eintreten
und es kann keiner der Coefficienten α, welche im Allgemeinen
natürlich wieder Functionen der Coordinaten sind, gleich Null
oder negativ sein, weil sonst für gewisse Bewegungen des
Systems die lebendige Kraft gleich Null oder negativ ausfiele.
Durch Multiplication aller r mit einem und demselben Factor,
der natürlich auch wieder sowie die Coefficienten b und α im
Allgemeinen Function der Coordinaten ist, kann zudem be-
wirkt werden, dass die Determinante der b gleich 1 wird. Wir
wollen im Folgenden die mit diesem Factor bereits multi-
plicirten Grössen mit r bezeichnen. Sie lassen sich natürlich
auch umgekehrt linear durch die q ausdrücken. Ich habe
vorgeschlagen, sie die den Coordinaten p entsprechenden
Momentoide zu nennen.


Wir wollen uns ein μ fach unendlich kleines Gebiet H der
q abgegrenzt denken und in dem über dasselbe erstreckten
Integrale
∫ d q1d q2d qμ
[94]III. Abschnitt. [Gleich. 92]
vermöge der Gleichungen 90) die r statt der q als Integrations-
variable einführen. Die p betrachten wir dabei als constant.
Da die Determinante der b gleich 1 ist, so folgt
91) ∫ d q1d q2d qμ = ∫ d r1d r2d rμ,
wobei das letztere Integrale über das dem Gebiete H ent-
sprechende Gebiet der r, d. h. über jenes Gebiet zu erstrecken
ist, welches alle Werthecombinationen der r umfasst, die in
Folge der Gleichungen 90) allen im Gebiete H enthaltenen
Werthecombinationen der q entsprechen.


Wir wollen nun in das Integrale der rechten Seite der
Gleichung 76) statt der q die damit durch die Gleichungen
90) verbundenen r als Integrationsvariable einführen. Dasselbe
verwandelt sich nach Gleichung 91) in
∫ d p1d pμ d q1d qμ = ∫ d p1d pμ d r1d rμ.
Das letztere Integrale ist über das Gebiet zu erstrecken,
welches dem früher mit g bezeichneten Integrationsgebiete des
ersteren entspricht.


Nun wollen wir in dieser Gleichung, genau wie wir es bei
Ableitung der Gleichungen 77) und 80) aus der Gleichung 76)
thaten, links für q1, rechts für r1 die Integrationsvariable E
einführen. Da
ist, so folgt
.


Wir können nun, wie wir es bei Ableitung der Gleichung
80) aus 77) thaten, das Gebiet so wählen, dass für alle mög-
lichen Werthe der übrigen Variabeln E zwischen denselben
Grenzen E und E + d E liegt. Dann können wir mit d E weg-
dividiren und finden bei constantem E
.
Substituiren wir dies in Formel 89), so finden wir, dass bei
ergodischer Zustandsvertheilung die Anzahl der Systeme, für
welche die Variabeln
92) p1pμ, r2rμ
[95][Gleich. 99] § 33. Begriff der Momentoide.
in einem beliebigen (2 μ — 1) fach unendlich kleinen, diese
Werthe umfassenden Gebiete liegen, gleich
93)
ist, wobei die Integration eben über dieses Gebiet zu er-
strecken ist.


Die Abgrenzung dieses Gebietes ist eine beliebige. Wir
wollen sie im Folgenden in der einfachsten Weise dadurch
bewerkstelligen, dass wir festsetzen, dass die Variabeln 92)
zwischen den Grenzen
94) p1 und p1 + d p1, p2 und p2 + d p2pμ und pμ + d pμ
95) r2 und r2 + d r2, r3 und r3 + d r3rμ und rμ + d rμ
liegen sollen. Die Anzahl der Systeme, für welche diese Be-
dingungen erfüllt sind, ist nach 93)
96) .
Bezeichnen wir zur Abkürzung das Product der Differentiale
d p1d p2d pμ mit d π und das Product d rk + 1d rk + 2d rμ
mit d ρk, so ist
97)
die Anzahl der Systeme, für welche die Coordinaten zwischen
den Grenzen 94) und rμ zwischen
98) rμ und rμ + d rμ
liegt, während die übrigen r alle möglichen, mit der Gleichung
der lebendigen Kraft verträglichen Werthe haben können. Die
Anzahl der Systeme, welche bloss der Bedingung unterworfen
sind, dass die Coordinaten zwischen den Grenzen 94) liegen,
während die Momente keiner sonstigen Bedingung unterworfen
sind, als der Energiegleichung, ist
99) .
[96]III. Abschnitt. [Gleich. 103]
Die Gesammtanzahl aller Systeme endlich hat den Werth
100) ;
dabei ist überall, wo ein Product mehrerer Differentiale sym-
bolisch durch ein einziges Differentialzeichen ausgedrückt ist,
auch die Integration über alle Werthe aller darin enthaltenen
Differentiale durch ein einziges Integralzeichen ausgedrückt.


§ 34. Ausdrücke für die Wahrscheinlichkeit;
Mittelwerthe
.


Die Ausdrücke 1. d N / N, 2. d N1 / N, 3. d N2 / N sind die
Definitionen folgender Wahrscheinlichkeiten: 1. dass für ein
System Coordinaten und Momentoide zwischen den Grenzen 94)
und 95) liegen; 2. dass die Coordinaten zwischen den Grenzen 94)
und das Momentoid rμ zwischen den Grenzen 98), 3. dass nur
die Coordinaten zwischen den Grenzen 94) liegen.


Für alle Systeme, deren Anzahl durch die Formel 96) ge-
geben ist, deren Coordinaten und Momente also zwischen den
Grenzen 94) und 95) liegen, ist die dem ersten Momentoide r1
entsprechende lebendige Kraft dieselbe. Der Mittel-
werth dieser Grösse für alle Systeme, deren Coordinaten den
Bedingungen 94) unterworfen bleiben, ist daher
101) ,
wo das Integralzeichen bloss eine Integration über alle mög-
lichen Werthe der Momentoide ausdrückt. Der Mittelwerth
von für alle Systeme überhaupt ist
102) .
Der Mittelwerth der Kraftfunction V für alle Systeme aber ist
103) .
[97][Gleich. 104] § 34. Wahrscheinlichkeitswerthe.
Die Integrationen bezüglich der Momentoide können leicht nach
folgendem Schema ausgeführt werden. Seien A und α Con-
stanten, so findet man durch die Substitution:
folgende Gleichung:
104) .
Mit B und Γ sind die bekannten Euler’schen Functionen
bezeichnet.


Diese Formel benutzen wir zunächst zur Berechnung des
Integrales
.
Wir bezeichnen die Grösse
mit Ak, die Grösse E — V mit Aμ. Dann ist
,
daher
.
Das Momentoid r2 nimmt die äussersten möglichen Werthe
an, wenn r1 = 0 daher ist. Zwischen diesen
Grenzen ist also die Integration nach r2 zu nehmen. Führt
man dieselbe nach Formel 104) aus, so findet man:
Boltzmann, Gastheorie II. 7
[98]III. Abschnitt. [Gleich. 105]
.
Führt man auch die Integration nach r3 nach Formel 104)
aus, so folgt:
105) .
Wir finden hieraus das Integrale der Formel 97), indem wir
das letzte Differentiale d rμ sammt seinem Integralzeichen weg-
lassen, die übrigen Integrationen aber genau so ausführen, wie
wir im Ausdrucke für Jκ bereits zwei ausgeführt haben und
κ = — 1 setzen. So folgt
.


Bezeichnet man den letzten Ausdruck mit γ, so ist der
Mittelwerth von für alle Systeme, für welche die Coordi-
naten zwischen den Grenzen 94) liegen,
[99][Gleich. 106] § 34. Wahrscheinlichkeitswerthe.
.
Die Ausführung der Integrationen liefert
105 a) .


Lässt man aber in Formel 105) κ willkürlich und führt
alle Integrationen aus, so folgt:
.


Mittelst der beiden letzten Formeln kann das Resultat,
das sich nach Ausführung der Integrationen nach den r in
allen vorhergehenden Ausdrücken ergiebt, ohne Weiteres hin-
geschrieben und d N1, d N2 und in geschlossener Form
berechnet werden. Zur Ausführung der Integrationen nach
den p wäre natürlich die Kenntniss der Kraftfunction V er-
forderlich. Es folgt z. B. für die Wahrscheinlichkeit, dass für
ein System, welches den Bedingungen 94) genügt, rμ zwischen
rμ und rμ + d rμ liegt, der Werth
106) .
Setzt man = x, so ist , daher ist die
Wahrscheinlichkeit, dass für ein die Bedingungen 94) er-
7*
[100]III. Abschnitt. [Gleich. 110]
füllendes System rμ positiv ist und zwischen x und
x + d x liegt:
.
Da für negative rμ ein gleicher Werth von gleich
wahrscheinlich ist, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass
bei positivem oder negativem rμ zwischen x und x + d x liegt,
gleich
107) .
Dabei kann unter rμ jedes beliebige Momentoid verstanden sein.
Ist μ sehr gross und setzt man Aμ = μ ξ, so geht obiger Aus-
druck über in
108) .


Aus den allgemeinen Formeln findet man ferner:
109)
in Uebereinstimmung mit Formel 105 a). Da dasselbe natür-
lich für die Antheile der lebendigen Kraft gilt, die den
übrigen Momentoiden entsprechen, so folgt:
110) .
Wie immer daher auch die Grenzen 94) gewählt werden mögen,
es wird bei der von uns vorausgesetzten (ergodischen) Zustands-
vertheilung unter den Systemen stets folgender Satz gelten:
Wir heben von allen Systemen bloss diejenigen heraus, für
welche die Coordinaten zwischen den Grenzen 94) liegen.
Wir bezeichnen mit die irgend einem Momentoide ent-
sprechende lebendige Kraft und berechnen das Mittel aller
Werthe, welche die Grösse für alle hervorgehobenen
Systeme zu irgend einer Zeit t hat. Dieses Mittel wird für
alle Zeiten und alle Werthe des Stellenzeigers i gleich aus-
[101][Gleich. 111 a] § 34. Wahrscheinlichkeitswerthe.
fallen. Es ist gleich dem μ ten Theile des Energiewerthes E — V,
welcher bei dem angenommenen Werthe der Coordinaten in
jedem Systeme die Form von lebendiger Kraft hat.


Die Integration nach den Coordinaten kann man natür-
lich nur anzeigen und findet für den Mittelwerth von
für alle Systeme überhaupt wieder unabhängig vom Stellen-
zeiger i
111) .
Selbstverständlich ist diese Gleichheit des Mittelwerthes der
jedem Momentoide entsprechenden lebendigen Kraft nur für
die vorausgesetzte (ergodische) Zustandsvertheilung bewiesen.
Diese Zustandsvertheilung ist sicher eine stationäre. Es
kann und wird im Allgemeinen aber auch andere stationäre
Zustandsvertheilungen geben, für welche diese Sätze nicht
gelten.


In dem speciellen Falle, dass V eine homogene quadra-
tische Function der Coordinaten, wie L eine solche der
Momente ist, kann auch die Integration nach den Coordinaten
genau nach derselben Methode durchgeführt werden, nach
welcher wir die bezüglich der Momente durchführten. Dann
ergiebt sich aus Formel 103)
111 a) ,
wenn man die zu V hinzutretende Constante so bestimmt, dass
V verschwindet, wenn sich alle materiellen Punkte in ihren
Ruhelagen befinden.


Bevor ich zur Anwendung der bisher vorgetragenen Theo-
reme auf die Theorie von Gasen mit mehratomigen Molekülen
schreite, will ich zunächst eine ganz allgemeine Betrachtung
anschliessen, welche zwar nicht consequent auf dem mathe-
matischen Standpunkte stehen bleibt, sondern von vorneherein
gewisse Erfahrungsthatsachen zu Hülfe nimmt, aber doch
vielleicht die Vermuthung rechtfertigt, dass die Bedeutung
dieser Theoreme nicht auf die Theorie der mehratomigen Gas-
moleküle beschränkt ist.


[102]III. Abschnitt. [Gleich. 111 a]

§ 35. Allgemeine Beziehung zum Temperatur-
gleichgewichte
.


Wir denken uns nun einen beliebigen warmen Körper unter
dem Bilde der im Bisherigen betrachteten mechanischen Systeme,
also als ein System von Atomen oder Molekülen oder sonstigen
Bestandtheilen, deren Lage durch generalisirte Coordinaten be-
stimmt werden kann.


So oft ein und derselbe Körper mit derselben Wärme-
energie und unter denselben äusseren Umständen sich selbst
überlassen bleibt, nimmt er, wie die Erfahrung lehrt, mit der
Zeit denselben Zustand an, aus was immer für einem Anfangs-
zustande er unter diese Bedingungen gebracht worden sein
mag. Im Sinne der mechanischen Naturanschauung kommt
dies daher, dass nur gewisse Mittelwerthe, wie die mittlere
lebendige Kraft eines Moleküles in einem endlichen Theile des
Körpers, das Bewegungsmoment, welches die Moleküle in einer
endlichen Zeit durchschnittlich durch eine endliche Fläche hin-
durchtragen etc. zur Wahrnehmung gelangen. Diese Mittel-
werthe haben aber bei der weitaus grössten Zahl der überhaupt
möglichen Zustände dieselben Werthe. Wir nennen jeden
Zustand, wo jene Mittelwerthe diese Werthe haben, einen wahr-
scheinlichen Zustand.


Wenn daher auch der Anfangszustand kein wahrschein-
licher Zustand war, so wird der Körper unter gleichbleibenden
äusseren Bedingungen doch bald in einen wahrscheinlichen
Zustand übergehen und während der weiteren Beobachtungs-
zeit darin verharren, so dass es, obwohl der Zustand fort-
während wechselt und innerhalb einer über alle Vorstellbar-
keit und Beobachtbarkeit hinausgehend langen Zeit sogar
hier und da wieder erheblich von einem wahrscheinlichen
abweichen würde, doch den Anschein hat, als ob der Körper
einen stationären Endzustand angenommen hätte, da alle zur
Beobachtung gelangenden Mittelwerthe unverändert bleiben.


Die mathematisch vollkommenste Methode bestände nun
allerdings darin, für jeden bestimmten Zustand eines ge-
gebenen warmen Körpers die Anfangsbedingungen zu berück-
sichtigen, von denen zufällig ausgehend er gerade diesmal
zu dem Wärmezustande gelangte, den er nun lange Zeit un-
[103][Gleich. 111 a] § 35. Beziehungen zum Wärmegleichgewichte.
verändert besitzt. Da aber die gleichen Mittelwerthe sich
jedesmal einstellen, wie immer der Anfangszustand gewesen
sein mag, so können sie nicht verschieden sein von den Mittel-
werthen, die wir erhalten, wenn wir uns statt eines warmen
Körpers deren unendlich viele vorhanden denken, welche voll-
ständig von einander unabhängig sind und bei gleichem Wärme-
inhalte und gleichen äusseren Bedingungen in beliebiger Weise
von allen möglichen Anfangszuständen ausgehen. Wir erhalten
daher die für warme Körper geltenden Mittelwerthe, wenn wir
uns in unserem mechanischen Bilde statt eines einzigen mecha-
nischen Systemes unendlich viele gleich beschaffene vorstellen,
welche von beliebigen verschiedenen Anfangsbedingungen aus-
gehen. Nur müssen die Mittelwerthe zu allen Zeiten gleich
ausfallen, was sicher der Fall ist, wenn der mittlere Zustand
des Inbegriffes aller Systeme stationär bleibt, und die von uns
betrachteten Zustände dürfen nicht einzelne singuläre sein, son-
dern müssen alle möglichen Zustände des Systems umfassen.


Diese Bedingungen sind erfüllt, wenn wir uns unendlich
viele mechanische Systeme denken, unter denen zu Anfang eine
solche Zustandsvertheilung bestand, welche wir in § 32 als eine
ergodische bezeichnet haben. Denn erstens sahen wir, dass
diese Zustandsvertheilung stationär ist und zweitens umfasst
sie alle möglichen Zustände, die überhaupt mit der Gleichung
der lebendigen Kraft vereinbar sind.


Es hat daher eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die
in § 34 gefundenen Mittelwerthe nicht bloss für den dort defi-
nirten Inbegriff von Systemen, sondern auch für den stationären
Endzustand jedes einzelnen warmen Körpers gelten, dass na-
mentlich auch in diesem Falle die Gleichheit der jedem
Momentoide entsprechenden mittleren lebendigen Kraft die
Bedingung des Temperaturgleichgewichtes zwischen den ver-
schiedenen Theilen des warmen Körpers ist. Dass die Be-
dingung des Temperaturgleichgewichtes warmer Körper eine
sehr einfache, von deren Anfangszustand unabhängige mecha-
nische Bedeutung hat, wird schon dadurch wahrscheinlich ge-
macht, dass dieselbe durch Pressung, Dehnung, Verschie-
bung etc. einzelner Partien nicht beeinflusst wird.


Substituiren wir für unser allgemeines System ein von
zwei verschiedenen, durch eine feste, wärmeleitende Scheide-
[104]III. Abschnitt. [Gleich. 111 a]
wand getrennten Gasen gebildetes System, was offenbar ein
specieller Fall des allgemeinen, früher betrachteten ist, so
können wir unter einigen der r die mit der Gesammtmasse
eines Moleküles multiplicirten Geschwindigkeitscomponenten
seines Schwerpunktes verstehen. Nach Gleichung 110) muss
also die mittlere lebendige Kraft des Schwerpunktes eines
Moleküles für beide Gase gleich sein, woraus dann das Avo-
gadro
’sche Gesetz folgt.


Diese mittlere lebendige Kraft müsste zudem gleich sein
der mittleren, einem beliebigen Momentoide entsprechenden
lebendigen Kraft, das die Molekularbewegung eines beliebigen,
mit dem Gase im Wärmegleichgewichte befindlichen Körpers
bestimmt. Verwenden wir daher ein vollkommenes Gas als
thermometrische Substanz, so müsste der Zuwachs der jedem
solchen Momentoide entsprechenden lebendigen Kraft gleich dem
mit einer für alle Momentoide gleichen Constanten multiplicirten
Temperaturzuwachse sein. Die in Form von lebendiger Kraft
der Molekularbewegung in irgend einem Körper vorhandene
Wärme wäre also gleich dem Produkte der absoluten Tempe-
ratur und der Anzahl der die Molekularbewegung bestimmen-
den Momentoide in eine für alle Körper und Temperaturen
constante Grösse.


Substituiren wir für eines der mechanischen Systeme ein
einziges Gas mit zusammengesetzten Molekülen, was wieder
ein specieller Fall ist, so folgt, dass für jedes Molekül die
mittlere lebendige Kraft des Schwerpunktes gleich der drei-
fachen mittleren lebendigen Kraft sein muss, die irgend einem
die innere Bewegung des Moleküles bestimmenden Momentoide
entspricht. Wir werden übrigens diese Sätze, soweit sie Gase
betreffen, in den folgenden Paragraphen noch auf ganz anderem
Wege ableiten.


Unter sechs der Momentoide r eines bloss inneren
Kräften unterworfenen Systems können wir die drei Com-
ponenten der Geschwindigkeit des Schwerpunktes und die
Flächenmomente bezüglich dreier rechtwinkliger Axen ver-
stehen. Für ergodische Systeme ist die ihnen entsprechende
mittlere lebendige Kraft gleich der einem beliebigen anderen
Momentoide entsprechenden, also verschwindend klein, wenn
das System aus sehr vielen Atomen besteht. Es beziehen sich
[105][Gleich. 111 a] § 36. Zusammengesetzte Moleküle.
unsere Betrachtungen also in der That auf ruhende, sich nicht
drehende Körper, auch wenn diese bloss inneren Kräften unter-
worfen sind.


Wie wir uns in § 32 auf solche Systeme beschränkten, in
denen die Energie denselben Werth hat, so können wir uns
noch weiter bloss auf solche Systeme beschränken, in denen
auch noch andere, während der ganzen Bewegung eines Systems
constante Grössen dieselben Werthe haben, z. B. die Geschwindig-
keitscomponenten des Schwerpunktes oder die Flächenmomente,
wenn es sich um Systeme handelt, die bloss inneren Kräften
unterworfen sind. Man hat dann deren Differentiale statt der
Differentiale gewisser Momente einzuführen, wie wir in § 31
das Energiedifferential einführten. Man erhält so andere, nicht
ergodische, stationäre Zustandsvertheilungen. Die betreffenden
Sätze dürften nicht ohne alles mechanische Interesse sein; wir
wollen aber hier nicht näher auf dieselben eingehen, da wir
sie für das Folgende nicht brauchen werden.1)


IV. Abschnitt.
Gase mit zusammengesetzten Molekülen.


§ 36. Specielle Betrachtung zusammengesetzter
Gasmoleküle
.


Wir wollen nun zu den allgemeinen Gleichungen des
§ 26 zurückkehren, denen keine andere Hypothese zu Grunde
liegt, als diejenigen, aus denen die Principien der Mechanik
abgeleitet werden. Wir wenden dieselben auf folgenden
speciellen Fall an: In einem allseitig von elastischen Wänden
umschlossenen Gefässe soll sich ein Glas befinden. Die
Moleküle desselben brauchen nicht alle gleichartig zu sein;
wir schliessen also den Fall eines Gemisches mehrerer Gase
nicht aus.


[106]IV. Abschnitt. [Gleich. 112]

Jedes Molekül soll als mechanisches System betrachtet
werden, wie wir dieselben in § 25 definirt haben. In der Gas-
theorie wird in der Regel angenommen, dass die Schwerpunkte
je zweier Moleküle durchschnittlich so weit entfernt sind, dass
die Zeit, während welcher ein Molekül mit einem anderen in
Wechselwirkung begriffen ist, klein ist gegenüber der Zeit,
während welcher es einer solchen Wechselwirkung nicht unter-
liegt. Wir wollen jedoch hier den Fall nicht ausschliessen,
dass zwei oder noch mehr Moleküle durch längere Zeit in
Wechselwirkung begriffen sind, wie er bei theilweise dissociirten
Gasen vorkommt; nur soll immer die Zahl der an einer Stelle
des Raumes gleichzeitig mit einander in Wechselwirkung be-
griffenen Moleküle ausserordentlich klein gegenüber der Ge-
sammtzahl der im Gefässe vorhandenen Moleküle sein. Es
sollen im Gase immer nur einzelne kleine Gruppen von Mole-
külen in Wechselwirkung begriffen sein, deren Abstand von
allen anderen Molekülen sehr gross ist, gegenüber ihrer
Wirkungssphäre. In Folge dessen wird jedes Molekül von
dem Momente an, wo es mit allen anderen ausser Wechsel-
wirkung tritt, bis zu dem Momente, wo es wieder in Wechsel-
wirkung mit anderen tritt, einen sehr weiten Weg zurücklegen,
so dass die Häufigkeit der verschiedenen Arten von Zusammen-
stössen nach den Principien der Wahrscheinlichkeitsrechnung
berechnet werden kann.


Die Lage eines Moleküles einer bestimmten Gattung,
welche wir die erste nennen wollen, sowie die relative Lage
seiner Bestandtheile soll durch μ generalisirte Coordinaten
p1, p2pμ
bestimmt sein. Diese Coordinaten und die dazu gehörigen
Momente q1, q2qμ nennen wir
die Variabeln 112).


Die dazu gehörigen Momentoide seien r1, r2rμ.


Drei der Coordinaten werden die absolute Lage eines
Punktes des Moleküles, z. B. seines Schwerpunktes im Gefässe,
bestimmen. Es sollen dies die drei Coordinaten p1, p2 und p3
sein, von denen wir, um eine bestimmte Vorstellung zu haben,
voraussetzen, dass es die rechtwinkeligen Coordinaten des
[107][Gleich. 112] § 36. Zusammengesetzte Moleküle.
Schwerpunktes des betreffenden Moleküles seien. Die Drehung
des Moleküles um den Schwerpunkt und die relative Lage
seiner Bestandtheile ist daher durch die übrigen Coordinaten
bestimmt.


Wenn keine äusseren Kräfte wirksam sind, so ist jede
Stelle innerhalb des Gefässes gleichberechtigt. Es werden daher
alle möglichen Werthe der drei Coordinaten p1, p2 und p3
gleich wahrscheinlich sein.


Wir wollen aber, um die Aufgabe möglichst allgemein zu
fassen, auch das Vorhandensein von äusseren Kräften nicht
ausschliessen. Wir haben daher ausser den Kräften zwischen
den Molekülen und der Gefässwand noch dreierlei Kräfte:
1. die inneren Kräfte eines Moleküles, oder die intramolekularen
Kräfte, welche zwischen den verschiedenen Bestandtheilen eines
und desselben Moleküles wirksam sind, 2. die äusseren Kräfte,
wie z. B. die Schwere, welche von ausserhalb des Gefässes be-
findlichen Körpern auf die Moleküle ausgeübt werden, 3. die
Wechselwirkungskräfte, welche zwischen zwei, eventuell noch
mehr verschiedenen Molekülen auftreten, wenn sich diese un-
gewöhnlich nahe kommen.


Die Kraftfunction der beiden ersten Gattungen von Kräften
soll nur eine Function der Coordinaten des betreffenden Mole-
küles sein, die Kraftfunction der dritten Gattung von Kräften
wird eine Function der Coordinaten sämmtlicher in Wechsel-
wirkung begriffener Moleküle sein. Von den äusseren Kräften
setzen wir noch voraus, dass sie sich innerhalb des Ge-
fässes von Punkt zu Punkt nur sehr langsam ändern, so dass
wir dessen Inneres in Volumelemente d p1d p2d p3 zerlegen
können von folgender Beschaffenheit: Obwohl jedes solche
Volumelement noch immer sehr viele Moleküle von jeder
Gattung enthalten soll, so sollen die äusseren Kräfte doch nur
eine verschwindend kleine Veränderung erfahren, wenn der
Schwerpunkt irgend eines Moleküles ohne sonstige Aenderung
der Lage und des Zustandes des Moleküles an eine beliebige
andere Stelle innerhalb des Volumelementes gebracht wird.
Wie in Ermangelung äusserer Kräfte überhaupt alle Stellen
innerhalb des Gefässes, so sollen jetzt wenigstens für jedes
dieser Volumelemente alle innerhalb desselben gelegenen Stellen
gleichberechtigt sein.


[108]IV. Abschnitt. [Gleich. 115]

§ 37. Anwendung der Kirchhoff’schen Methode auf
Gase mit zusammengesetzten Molekülen
.


Es sei nun speciell zur Anfangszeit, welche wir wieder als
die Zeit Null bezeichnen, die Anzahl der Moleküle erster Gattung,
deren Schwerpunkt sich in einem beliebig gelegenen Parallel-
epipede d P1d P2d P3 befindet, für welche die Werthe der Variabeln
113) p4pμ, q1qμ
zwischen den Grenzen
P4 und P4 + d P4Qμ und Qμ + d Qμ
liegen und welche mit keinerlei anderen Molekülen in Wechsel-
wirkung stehen:
.
Dabei sei A1 eine Constante, welche für die verschiedenen
Molekülgattungen verschiedene, h eine solche, welche für alle
Molekülgattungen denselben Werth hat. E1 sei der Werth
der Summe der gesammten lebendigen Kraft eines Moleküles
und der Kraftfunction der intramolekularen und äusseren auf
das Molekül wirkenden Kräfte zur Anfangszeit. Unter der
Kraftfunction verstehen wir dabei diejenige Function, deren
negative partielle Ableitungen nach den Coordinaten die Kräfte
liefern, so dass also E1 die gesammte Energie des Moleküles
darstellt, deren Werth constant bleibt, so lange das Molekül
nicht mit anderen in Wechselwirkung tritt.


Die Anzahl der mit anderen nicht in Wechselwirkung
stehenden Moleküle erster Gattung, für welche zur Zeit Null
diejenigen Variabeln, welche wir im vorigen Paragraphen die
Variabeln 112) nannten, in einem 2 μ fach unendlich kleinen
Gebiete G liegen, das die Werthe
114) P1, P2Pμ, Q1, Q2Qμ
umfasst, ist also:
115) ,
wobei die Integration über das Gebiet G zu erstrecken ist.
Dabei soll innerhalb des Gebietes G der Schwerpunkt noch
einen so grossen Spielraum haben, dass, obwohl alle Variabeln
zwischen sehr engen Grenzen eingeschlossen sind, doch noch
der Ausdruck 115) eine sehr grosse Zahl darstellt.


[109][Gleich. 118] § 37. Kirchhoff’sche Methode.

Wenn sich ein Molekül erster Gattung, ohne mit einem
anderen in Wechselwirkung zu treten, bloss unter dem Einflusse
der inneren und äusseren Kräfte fortbewegt und dabei die
Variabeln 112) von den Anfangswerthen 114) ausgingen, so sollen
sie nach Verlauf einer beliebigen Zeit t die Werthe
116) p1, p2qμ
haben. Es sollen dies bestimmte Werthe dieser Variabeln
sein, während 112) nur im Allgemeinen die Variabeln namhaft
macht. ε1 soll der Werth sein, den dann die gesammte Energie,
also die Summe der lebendigen Kraft und der Kraftfunction
der intramolekularen und äusseren Kräfte zur Zeit t hat, so
dass also nach dem Principe der Erhaltung der Energie
117) ε1 = E1 ist.


Wenn ferner alle Moleküle, für welche die Werthe der
Variabeln 112) zu Anfang das Gebiet G erfüllten, sich wieder,
ohne mit anderen in Wechselwirkung zu treten, bloss unter dem
Einflusse der inneren und äusseren Kräfte fortbewegen, so sollen
für dieselben die Werthe dieser Variabele nach der Zeit t ein
Gebiet erfüllen, welches das Gebiet g heissen soll. Es umfasst
natürlich die Werthe 116).


Wenn nun zunächst weder zwischen den verschiedenen
Molekülen derselben Gattung, noch zwischen den Molekülen
verschiedener Gattungen irgend eine Wechselwirkung stattfände,
so müssten die Moleküle, für welche zur Zeit Null die Variabeln
im Gebiete G lagen, dieselben sein als die, für welche sie zur
Zeit t im Gebiete g liegen. Bezeichnen wir die Zahl der letzteren
Moleküle mit d n1, so wäre daher d n1 ebenfalls gleich dem
Ausdrucke 115), also
.
Nun ist aber nach Gleichung 55)
∫ d P1d Qμ = ∫ d p1d qμ,
wobei die letztere Integration über das dem Gebiete G nach
der Zeit t entsprechende Gebiet g zu erstrecken ist. Berück-
sichtigt man dies, und die Gleichung 117), so wird:
118) .


[110]IV. Abschnitt. [Gleich. 118]

Dieser Ausdruck unterscheidet sich von dem Ausdrucke 115)
nur dadurch, dass die Werthe der Variabeln 116) an die Stelle
der Werthe 114), also speciell ε1 an die Stelle von E1 und
das Gebiet g an die Stelle des Gebietes G getreten ist. Da
aber die Formel 115) für beliebige Werthe der Variabeln und
beliebige sie umfassende Gebiete gelten soll, so stellt der Aus-
druck 118) auch die Anzahl der Moleküle erster Gattung dar,
für welche zu Anfang der Zeit die Werthe der Variabeln 112)
im Gebiete g lagen. Es hat sich also die Anzahl der Moleküle
erster Gattung, für welche die Werthe der Variabeln 112) im
Gebiete g liegen, während der Zeit nicht verändert. Da end-
lich das Gebiet G und daher auch das Gebiet g vollkommen
willkürlich gewählt waren, so muss dies von jedem beliebigen
Gebiete gelten, d. h. die Anzahl der Moleküle, für welche die
Variabeln 112) in irgend einem beliebigen Gebiete liegen, er-
fährt während der ebenfalls beliebigen Zeit t keine Verände-
rung; die Zustandsvertheilung bleibt, soweit nur die intramole-
kulare Bewegung in Betracht kommt, stationär.


§ 38. Ueber die Möglichkeit, dass für eine sehr grosse
Zahl von Molekülen die ihren Zustand bestimmenden
Variabeln zwischen sehr engen Grenzen liegen
.


Wir haben im Bisherigen vorausgesetzt, dass die Gebiete
G und g sehr eng umgrenzt sind und trotzdem angenommen,
dass für eine sehr grosse Zahl von Molekülen die Werthe der
Variabeln innerhalb dieser Gebiete liegen. Wenn keine äusseren
Kräfte wirken, so hat dies keine Schwierigkeit. Es verhalten
sich ja dann alle Punkte innerhalb des ganzen Gases, wenn
sie als Ort für den Schwerpunkt eines Moleküles gewählt
werden, vollkommen gleich. Das Gebiet
Γ = ∫ ∫ ∫ d P1d P2d P3,
innerhalb dessen der Schwerpunkt eines Moleküles liegen soll,
braucht dann nicht unendlich klein zu sein, sondern es kann
sogar beliebig gross gewählt werden, da wir dafür das ganze
Innere des das Gas umschliessenden Gefässes setzen können,
welches wir beliebig gross wählen dürfen. Nur das Gebiet,
innerhalb dessen die übrigen Variabeln p4qμ eingeschlossen
[111]Gleich. 118] § 38. Enge Grenzen.
sind und das wir symbolisch das Gebiet G / Γ nennen wollen,
muss 2 μ — 3 fach unendlich klein sein.


Wir haben daher zwei Grössen, von denen die eine (näm-
lich das Gebiet Γ) beliebig gross gewählt werden kann, wo-
gegen die andere (nämlich das Gebiet G / Γ) sehr klein zu
machen ist, ohne dass jedoch die Grössenordnung der einen
mit der Grössenordnung der anderen irgendwie zusammen-
hängen würde. Die Differentiale d p4d qμ drücken ja sonst
nichts aus, als dass wir das Gebiet G / Γ so klein wählen
können, als wir wollen. Für jede bestimmte solche Wahl aber
können wir das Gebiet Γ, dessen Grössenordnung ganz unab-
hängig ist, so gross wählen, dass im Gebiete G noch immer
sehr viele Moleküle liegen.


Wenn dagegen äussere Kräfte wirken, so hat die Grösse
des Gebietes Γ eine obere Grenze. Dieses Gebiet muss näm-
lich so klein gewählt werden, dass darin die äusseren Kräfte
noch als constant betrachtet werden können. Dann ist also
das Gebiet G und ebenso auch das Gebiet g als 2 μ fach sehr
klein zu betrachten und die Bedingung, dass die Zahl der
Moleküle, für welche die Werthe der Variabeln innerhalb eines
dieser Gebiete liegen, eine sehr grosse sei, wäre nur erfüllbar,
wenn die Anzahl der Moleküle in der Volumeneinheit im
mathematischen Sinne unendlich wäre. Nun wird aber in der
Gastheorie angenommen, dass die Anzahl der Moleküle in der
Volumeneinheit eine zwar sehr grosse, aber doch nicht im
mathematischen Sinne unendliche ist. Daher bleibt die Erfüll-
barkeit obiger Bedingung in diesem Falle allerdings bloss ein
Ideal, von dem wir aber trotzdem aus den nachfolgenden
Gründen Uebereinstimmung mit der Erfahrung erwarten dürfen.


Wir setzen in der Molekulartheorie stets voraus, dass die
Gesetze der in der Natur sich bietenden Erscheinungen nicht
mehr wesentlich von der Limite abweichen, der sie sich bei
unendlicher Zahl und unendlicher Kleinheit der Moleküle
nähern würden. Dieselbe Annahme wurde schon im I. Theile
gemacht und auf S. 45 motivirt. Sie ist für jede Anwendung
der Infinitesimalrechnung auf die Molekulartheorie unentbehr-
lich; ja ohne sie lassen sich streng genommen überhaupt unsere
stets an grosse endliche Zahlen geknüpften Vorstellungsbilder
nicht auf continuirlich scheinende Grössen übertragen. Wie
[112]IV. Abschnitt. [Gleich. 118]
berechtigt diese Annahme ist, wird am besten demjenigen klar,
der über Experimente zum directen Beweise der atomistischen
Constitution der Materie nachsinnt. Selbst in der nächsten
Umgebung der kleinsten in einem Gase suspendirten Körperchen
ist die Zahl der Moleküle schon so gross, dass es aussichtslos
erscheint, selbst in sehr kleinen Zeiten irgendwie eine beobacht-
bare Abweichung von der Limite zu hoffen, der sich die Er-
scheinungen bei unendlicher Zahl der Moleküle nähern.


Unter dieser Annahme müssen wir aber auch Ueberein-
stimmung mit der Erfahrung erhalten, wenn wir die Limite
berechnen, der sich die Gesetze der Erscheinungen bei stets
ins Unendliche wachsender Anzahl und abnehmender Grösse
der Moleküle nähern. Bei Berechnung der letzteren Limite
haben wir aber in der That wieder zwei Grössen, die unab-
hängig von einander beliebig klein gemacht werden können:
die Grösse der Volumelemente, und die Dimensionen der Mole-
küle, und wir können bei jeder gegebenen Kleinheit der ersteren
letztere noch so klein wählen, dass jedes Volumelement noch
sehr viele Moleküle enthält, deren Eigenschaften in gegebenen
engen Grenzen eingeschlossen sind.


Wenn man sich mit Kirchhoff unter den Ausdrücken
115) und 118) blosse Angaben des Grades einer Wahrscheinlich-
keit vorstellt, so kann man diese Ausdrücke allerdings auch
als Brüche oder sogar als sehr kleine Grössen auffassen; doch
verliert man hierbei sehr an Anschaulichkeit. Wir kommen
darauf noch am Schlusse dieses Buches in § 92 zurück.


§ 39. Betrachtung der Zusammenstösse zweier
Moleküle
.


Wir haben bisher die Wechselwirkung je zweier Moleküle
nicht berücksichtigt und haben noch die Bedingungen zu unter-
suchen, unter denen die zu Anfang unter den Molekülen be-
stehende Zustandsvertheilung auch durch die Zusammenstösse
der Moleküle nicht verändert wird. Zu diesem Zwecke müssen
wir die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Gruppen
mehrerer Moleküle untersuchen. Wir wollen uns zunächst auf
den Fall beschränken, dass die gleichzeitige Wechselwirkung
von mehr als zwei Molekülen so ausserordentlich selten vor-
kommt, dass sie ganz einflusslos ist und daher nicht betrachtet
[113][Gleich. 121] § 39. Zusammenstösse zweier Moleküle.
zu werden braucht. Wir können uns dann auf die Betrachtung
von Molekülpaaren beschränken.


Es soll zu Anfang der Zeit die Zahl der Moleküle erster
Gattung, für welche die Variabeln 112) in dem die Werthe 114)
umfassenden Gebiete G liegen und von denen keines mit einem
anderen in Wechselwirkung begriffen ist, wieder durch die
Formel 115) gegeben sein.


Analog sollen die Coordinaten und Momente, welche die Lage
und den Zustand eines Moleküles bestimmen, das einer anderen
Gattung angehört, welche wir die zweite nennen wollen, mit:
119) pμ + 1, pμ + 2pμ + ν, q1qμ + ν
bezeichnet werden. Von einer dritten Gattung von Molekülen
wollen wir vorläufig absehen. Doch hat die Ausdehnung unserer
Schlüsse auf die gleichzeitige Wechselwirkung von mehr als
zwei Molekülen sonst nicht die mindeste Schwierigkeit, als dass
dadurch die Ausdrucksweise noch schwerfälliger würde.


Zu Anfang der Zeit soll die Zahl der Moleküle zweiter
Gattung, für welche die Variabeln 119) in einem die Werthe
120) Pμ + 1Qμ + ν
umfassenden Gebiete H liegen und von denen keines mit irgend
einem anderen Moleküle in Wechselwirkung begriffen ist, gleich
121)
sein, wobei die Integration über das Gebiet H zu erstrecken ist.
A2 ist eine Constante. E2 die gesammte Energie des be-
treffenden Moleküles zweiter Gattung.


Die Schwerpunkte aller dieser Moleküle sowohl erster als
auch zweiter Gattung sollen zudem innerhalb solcher Räume,
innerhalb derer die äusseren Kräfte als nahezu constant be-
trachtet werden können, ganz regellos vertheilt sein, so dass
bei der Wahrscheinlichkeitsberechnung die beiden Ereignisse,
dass für ein Molekül erster Gattung die Variabeln im Gebiete G
und dass sie andererseits für ein Molekül zweiter Gattung im
Gebiete H liegen, als vollkommen von einander unabhängige
Ereignisse betrachtet werden können. Es wird also zu Anfang
der Zeit die Anzahl der Molekülpaare, bei denen das eine
Molekül der ersten Gattung angehört und für dasselbe die
Werthe der Variabeln im Gebiete G liegen, während das
Boltzmann, Gastheorie II. 8
[114]IV. Abschnitt. [Gleich. 122]
andere der zweiten Gattung angehört und dafür die Werthe
der Variabeln im Gebiete H liegen, das Product der beiden
Ausdrücke 115) und 121) sein, also den Werth
122)
haben. Wir wollen die Integration durch ein einziges Integral-
zeichen ausdrücken und das Gesammtgebiet, über welches sie
zu erstrecken ist, als das Gebiet J aller Variabeln bezeichnen,
worunter also der Inbegriff der beiden Gebiete G und H zu
verstehen ist.


Ausdrücke, welche dem Ausdrucke 122) analog sind, gelten
natürlich, wenn beide Molekülpaare der ersten, oder beide der
zweiten Gattung angehören.


Die Grössenordnung der verschiedenen Bezirke ist hier
sehr verschieden zu wählen. Wenn keine äusseren Kräfte
wirken, kann wieder das Gebiet
Γ = ∫∫∫ d P1d P2d P3,
innerhalb dessen der Schwerpunkt des ersten Moleküles liegt,
gleich dem ganzen Innenraume des das Gas umschliessenden
Gefässes, also beliebig gross gewählt werden. Unter Pμ + 1 kann
dann die Differenz der x-Coordinaten der Schwerpunkte beider
Moleküle verstanden werden, analog unter Pμ + 2 und Pμ + 3
die Differenz der entsprechenden y- und z-Coordinaten. Hier-
durch wird die Gültigkeit des Ausdruckes 121) nicht beein-
trächtigt, in welchem Pμ + 1, Pμ + 2, Pμ + 3 einfach die Coordi-
naten des Schwerpunktes des Moleküles zweiter Gattung waren,
da ja für denselben ebenfalls jeder Ort im Raume gleich wahr-
scheinlich ist. Ferner giebt bei dieser Ausdehnung des Ge-
bietes Γ der Ausdruck 115), nämlich
die Anzahl der Moleküle erster Gattung im ganzen Gefässe,
für welche die Variabeln 113) in dem 2 μ — 3 fach unendlich
kleinem Gebiete ∫ d P4d Qμ liegen. Jedem dieser Moleküle
entspricht ein relativ gegen den Schwerpunkt desselben voll-
kommen gleich gelegenes Volumelement
∫ d Pμ + 1d Pμ + 2d Pμ + 3;
[115][Gleich. 122] § 39. Zusammenstösse zweier Moleküle.
die Anzahl dieser Volumelemente ist also gleich der durch
Formel 115) gegebenen Zahl d N1 und ihr Gesammtvolumen
ist gleich d N1∫ ∫ ∫ d Pμ + 1d Pμ + 2d Pμ + 3.


Die Anzahl der Moleküle zweiter Gattung, welche in allen
diesen Volumelementen liegen und für welche ausserdem die
übrigen Variabeln im Gebiete
d Pμ + 4d Qμ + ν
liegen, ist daher nach Gleichung 121)
.
Dies ist aber zugleich die Anzahl d N12 der Molekülpaare, für
welche sämmtliche Variabeln im Gebiete J liegen, was mit
Formel 122) übereinstimmt. Diese Formel, welche wir früher
aus dem Satze über die Wahrscheinlichkeit des Zusammen-
treffens mehrerer Ereignisse ableiteten, ist also nun auch noch
durch blosse Abzählung gewonnen.


Falls äussere Kräfte wirken, muss das Gebiet
Γ = ∫∫∫ d P1d P2d P3
so klein gewählt werden, dass darin die äusseren Kräfte nicht
merklich veränderlich sind, dagegen weit grösser als der ganze
Raum, den die Wirkungssphäre zweier in Wechselwirkung be-
griffener Moleküle einnimmt, so dass es eine enorm grosse
Anzahl von Molekülpaaren enthält, für welche die Variabeln
im Gebiete J liegen.


Das Gebiet für den Schwerpunkt des zweiten Moleküles
aber muss enorm klein gegenüber dem Gebiete Γ gedacht
werden.


Wenn alle Gebiete unendlich klein sind, und in der
Volumeneinheit nur eine endliche Zahl von Molekülen vor-
handen ist, so können natürlich wieder nicht für eine grosse
Zahl von Molekülen die Werthe der Variabeln in diesen Ge-
bieten, also innerhalb mathematisch unendlich enger Grenzen
liegen. Wir stellen uns also bei dem Vorhandensein äusserer
Kräfte wieder nur die Aufgabe, die Limite zu suchen, welcher
die Erscheinungen zueilen würden, wenn die Anzahl der Mole-
küle in der Volumeinheit unendlich wäre und setzen voraus,
8*
[116]IV. Abschnitt. [Gleich. 123]
dass die wirklichen Erscheinungen von dieser Limite nicht in
bemerkbarer Weise abweichen. (Vergl. § 38.)


Unter pμ + 1, pμ + 2, pμ + 3 verstehen wir wieder statt der
Coordinaten des Schwerpunktes des zweiten Moleküles die
Differenz der Schwerpunktscoordinaten beider Moleküle, wo-
durch wie früher die Gültigkeit der Formel 121) nicht beein-
trächtigt wird. Hieraus ist dann genau wie früher bei Ab-
wesenheit äusserer Kräfte die Zahl d N12 zu berechnen, für
welche sich wiederum der Werth 122) ergiebt.


Da wir von den Fällen, wo mehr als zwei Moleküle gleich-
zeitig in Wechselwirkung stehen, vorläufig absehen, so haben
wir nur noch alle Molekülpaare zu betrachten, welche gerade
im Momente des Zeitanfanges in Wechselwirkung stehen. Wir
betrachten wieder zunächst ein solches Paar, wo das eine
Molekül der ersten, das andere der zweiten Gattung angehört.
Die Anzahl derjenigen derartigen Paare, welche gerade im
Momente des Zeitanfanges in Wechselwirkung begriffen sind und
bei denen die die Lage und den Zustand des ersten und zweiten
Moleküles bestimmenden Variabeln in einem 2 (μ + ν) fach
unendlich kleinen Gebiete J liegen, soll durch den Ausdruck
123)
gegeben sein. Dieses Gebiet J soll wieder bestimmt gegebene
Werthe der Variabeln 112) und 119) umfassen, die wir wie früher
mit P1Qμ und Pμ + 1Qμ + ν bezeichnen und ebenfalls wie dort
die Werthe 114) und 120) nennen wollen, obwohl sie natürlich
nicht numerisch mit den früher so bezeichneten Werthen über-
einstimmen können, da beim Herrschen dieser Werthe früher
keine, jetzt aber Wechselwirkung stattfindet. In Formel 123)
ist die Integration über das Gebiet J zu erstrecken. Ψ ist der
Werth der Kraftfunction der Wechselwirkungskräfte, d. h. der-
jenigen, welche während der Zeit der Wechselwirkung zwischen
den Bestandtheilen des einen und anderen Moleküles thätig
sind. Die zu Ψ hinzukommende additive Constante ist so zu
bestimmen, dass diese Function für alle Distanzen der Mole-
küle, in denen keine Wechselwirkung stattfindet, verschwindet.
Unter pμ + 1, pμ + 2 und pμ + 3 können wir uns wieder die Diffe-
renzen der Schwerpunktscoordinaten beider Moleküle vorstellen.


[117][Gleich. 124] § 40. Zustandsvertheilung.

Es soll übrigens wieder bei jedem betrachteten Molekül-
paare für die Lage des Schwerpunktes des ersten Moleküles
jeder Punkt innerhalb eines Volumtheiles des Gefässes gleich
wahrscheinlich sein, wenn dieser Volumtheil nur so klein ist,
dass darin die äusseren Kräfte als constant betrachtet werden
können.


§ 40. Nachweis, dass die in § 37 angenommene Zu-
standsvertheilung durch die Zusammenstösse nicht
gestört wird
.


Die Formel 123) ist übrigens als die allgemeinste zu be-
trachten, welche auch die Formel 122) in sich begreift, da sie
im Falle, dass beide Moleküle zu Anfang der Zeit nicht in
Wechselwirkung stehen, dass also Ψ = 0 ist und das Gebiet J
in die beiden getrennten Gebiete G und H zerfällt, in die
Formel 122) übergeht.


Eine der Formel 123) analoge soll wiederum gelten, wenn
beide in Wechselwirkung begriffenen Moleküle derselben Gattung
angehören.


Wir lassen jetzt eine beliebige Zeit t vergehen, welche
aber so kurz sein soll, dass die Fälle, wo während dieser
Zeit ein Molekül mehr als einmal mit einem anderen in
Wechselwirkung tritt, vernachlässigt werden können.


Wenn für ein Paar von Molekülen, von denen das eine
der ersten, das andere der zweiten Gattung angehört, zu An-
fang der Zeit die die Lage des ersten bestimmenden Variabeln
die Werthe 114), die die Lage des zweiten bestimmenden
Variabeln aber die Werthe 120) hatten, so sollen dieselben
Variabeln nach Verlauf der Zeit t die Werthe
124) p1qμ, pμ + 1qμ + ν
haben. Die dazu gehörigen Werthe der gesammten Energie
sollen für das erste Molekül mit ε1, für das zweite mit ε2 be-
zeichnet werden, wobei in die Energie bloss die lebendige
Kraft und die Summe der Kraftfunctionen der inneren und
äusseren Kräfte, nicht aber der Wechselwirkungskräfte ein-
gerechnet sind; der Werth der Kraftfunction der letzteren soll
ψ heissen. Die Werthe 124) sind natürlich wieder numerisch
[118]IV. Abschnitt. [Gleich. 127]
verschieden von den Werthen 116) und 119), obwohl sie mit
gleichen Buchstaben bezeichnet wurden.


Das Gebiet, welches die Werthe der die Lage und den
Zustand beider Moleküle charakterisirenden Variabeln zur
Zeit t erfüllen, wenn sie zur Anfangszeit das Gebiet J er-
füllten, soll das Gebiet i heissen.


Wir können den Inbegriff der beiden Moleküle jedenfalls
als ein mechanisches System betrachten, für welches also
die der Gleichung 55) analoge Gleichung gelten wird, so dass
man hat
125) d p1d qμ + ν = ∫ d P1d Qμ + ν,
wobei das zweite Integrale über das Gebiet J, das erste über
das ihm entsprechende Gebiet i zu erstrecken ist. Die Richtig-
keit dieser Gleichung ist unabhängig davon, ob die Moleküle
zu Anfang der Zeit oder zur Zeit t in Wechselwirkung standen
oder nicht. Diese Gleichung gilt auch, wenn beide Moleküle
während der ganzen Zeit t niemals in Wechselwirkung traten,
in welchem Falle von den beiden Gebieten J und i jedes in
zwei getrennte Gebiete zerfällt, das erstere in die Gebiete G
und H, das letztere in die Gebiete g und h. Ferner ist all-
gemein wegen des Principes der Erhaltung der Energie
126) E1 + E2 + Ψ = ε1 + ε2 + ψ.


Auch die letztere Gleichung gilt unabhängig davon, ob
Wechselwirkung stattfindet oder nicht, da zu jeder Zeit, wo
keine Wechselwirkung stattfindet, die Kraftfunction der Wechsel-
wirkungskräfte einfach verschwindet.


Für die Anzahl der Molekülpaare, für welche zu Anfang
der Zeit die Werthe der ihre Lage und ihren Zustand be-
stimmenden Variabeln das Gebiet J erfüllten, gilt allgemein
der Ausdruck 123). Dieser Ausdruck geht mit Rücksicht auf
die Gleichungen 125) und 126) über in
127) ,
wobei die Integration über das dem Ge [...]entsprechende
Gebiet i zu erstrecken ist.


[119][Gleich. 127] § 40. Zustandsvertheilung.

Nun sind aber die Molekülpaare, für welche zur Zeit t
die Werthe der Variabeln das Gebiet J erfüllten, identisch mit
den Molekülpaaren, für welche die Werthe der Variabeln zur
Zeit t das Gebiet i erfüllen. Die Formel 127) giebt also auch
die Anzahl der letzteren Molekülpaare. Die Berechnung der
Anzahl der Molekülpaare, für welche die Werthe der Variabeln
zu Anfang der Zeit t das Gebiet i erfüllten, kann aber wieder
nach der allgemein gültigen Formel 123) geschehen. Man hat
in derselben bloss E1, E2, Ψ und das Gebiet J mit ε1, ε2, ψ
und dem Gebiete i zu vertauschen. Dadurch erhält man genau
wieder den Ausdruck 127) und zwar wieder unabhängig davon,
ob zur Zeit Null oder t oder überhaupt innerhalb dieses Zeit-
intervalles Wechselwirkung stattfindet oder nicht. Da aber das
Gebiet J und daher auch das dadurch bestimmte Gebiet i ein
ganz beliebiges ist, so ist also für beliebig gewählte Gebiete
die Anzahl der Molekülpaare, für welche die Werthe der
Variabeln innerhalb derselben liegen, zur Anfangszeit und zur
Zeit t dieselbe; die Zustandsvertheilung ist also auch unter
Berücksichtigung der Zusammenstösse stationär geblieben.


Man sieht sofort, dass man ganz analoge Betrachtungen
auch auf Molekülpaare anwenden kann, bei denen beide Mole-
küle derselben Gasart angehören und dass sich unsere Be-
trachtungen in ganz analoger Weise auch auf die Fälle aus-
dehnen lassen, wo mehr als zwei Gasarten im Gefässe vor-
handen sind.


Wir haben bisher die Zeit t so klein gewählt, dass von
Molekülen, die während dieser Zeit zweimal mit anderen in
Wechselwirkung treten, abgesehen werden kann. Allein, da
wir sahen, dass zur Zeit t genau wieder dieselbe Zustands-
vertheilung wie zur Zeit Null besteht, so kann nun abermals
dieselbe Schlussweise auf eine weitere gleich lange Zeit t und
dann nochmals auf eine gleich lange Zeit u. s. w. angewendet
werden. Man sieht also, dass die Zustandsvertheilung dauernd
stationär bleiben muss. Auch die von uns gemachte Annahme,
dass bei Berechnung der Wahrscheinlichkeit eines in bestimmter
Weise vor sich gehenden Zusammentreffens zweier Moleküle
die beiden Ereignisse, dass sich das eine und andere Molekül
in den ihnen [...]enden Zuständen befindet, als zwei völlig
von einander [...]gige Ergebnisse betrachtet werden können,
[120]IV. Abschnitt. [Gleich. 127]
muss auch zu allen späteren Zeiten der Wahrheit entsprechen;
denn unserer Voraussetzung gemäss bewegt sich jedes Molekül
von der Stelle, wo es zum letzten Male mit einem anderen in
Wechselwirkung war, bis zu der, wo es zum nächsten Male
wieder mit einem Moleküle in Wechselwirkung tritt, zwischen
sehr vielen anderen Molekülen vorbei und es ist daher der
Zustand des Gases an der letzteren Stelle vollkommen unab-
hängig von dem an der ersteren und nur durch die Wahr-
scheinlichkeitsgesetze bestimmt. Natürlich ist aber zu bedenken,
dass es eben Wahrscheinlichkeitsgesetze sind. Die Möglichkeit
der Abweichung von denselben kommt praktisch nicht in Be-
tracht; doch ist ihre Wahrscheinlichkeit im Falle, dass die
Zahl der Moleküle eine endliche ist, wenn auch unvorstellbar
klein, so doch nicht Null; ja sie kann sogar in jedem bestimmt
gegebenen Falle nach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen numerisch
berechnet werden und verschwindet nur für den Grenzfall einer
unendlichen Zahl der Moleküle.


§ 41. Verallgemeinerungen.


Wir haben uns noch durch die Annahme eine Beschränkung
auferlegt, dass die Fälle, wo mehr als zwei Moleküle in
Wechselwirkung begriffen sind, keine Rolle spielen. Man sieht
aber ein, dass diese Beschränkung nur zur Vereinfachung des
Beweises gemacht wurde, dessen Richtigkeit von ihr vollkommen
unabhängig ist. Ganz ebenso, wie wir die Wahrscheinlichkeit
des Vorkommens gewisser Molekülpaare discutirt haben, könnten
wir ja auch die Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Gruppen
von drei und mehr Molekülen der Rechnung unterziehen und es
würde sich ergeben, dass auch durch eine etwaige Wechsel-
wirkung dreier und mehrerer Moleküle der Satz nicht gestört
wird, dass die durch eine der Formel 123) analoge Formel dar-
gestellte Zustandsvertheilung eine stationäre ist. Auch der bisher
nicht besprochene Einfluss der Wände kann den stationären
Charakter dieser Zustandsvertheilung nicht stören, falls die Mole-
küle von ihnen gerade so zurückkehren, als ob jenseits gleich
beschaffenes Gas wäre. Jede andere Beschaffenheit der Wände
würde natürlich neue Rechnungen erfordern. Doch ist ersicht-
lich, dass auch dann bei genügender Grösse der Gefässe sich
deren Einfluss nicht weit ins Innere erstrecken würde.


[121][Gleich. 127] § 41. Verallgemeinerungen.

Wir haben im Bisherigen freilich nicht den Beweis ge-
liefert, dass die durch die Formel 123) ausgedrückte Zustands-
vertheilung unter allen Umständen die einzig mögliche statio-
näre ist. Dieser Beweis kann in dieser Allgemeinheit auch
nicht geliefert werden, da es in der That andere specielle
Zustandsvertheilungen giebt, welche sich ebenfalls stationär
erhalten können. Solche Fälle würden z. B. eintreten, wenn
sämmtliche Gasmoleküle aus materiellen Punkten bestehen
würden, welche ursprünglich alle in einer Ebene oder in einer
Geraden liegen würden, und wenn die Wände überall auf dieser
Ebene oder Geraden senkrecht wären. Allein dies sind specielle
Zustandsvertheilungen, bei denen alle Variabeln nur verhältniss-
mässig wenige der für sie möglichen Werthe annehmen, wo-
gegen die Formel 123) eine Zustandsvertheilung liefert, für
welche alle Variabeln alle für sie möglichen Werthe annehmen.


Es erscheint nun von vorneherein kaum denkbar, dass es
mehrere solche Zustandsvertheilungen geben könne, welche
stationär sind und bei denen alle Variabeln unbeschränkt alle
für sie möglichen Werthe durchlaufen. Dazu kommt noch die
complete Analogie, welche die durch die Formel 123) dar-
gestellte Zustandsvertheilung mit der für Gase mit einatomigen
Molekülen gefundenen zeigt. Diese Analogie hat ihren be-
stimmten inneren Grund.


Wie nämlich beim Lottospiele jede bestimmte gegebene
Quinterne um kein Haar unwahrscheinlicher ist, als die Quin-
terne 1 2 3 4 5, sondern letztere nur das von anderen voraus
hat, dass sie eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft be-
sitzt, die keiner anderen zukommt, so besitzt auch die wahr-
scheinlichste Zustandsvertheilung die Eigenschaft ihrer Wahr-
scheinlichkeit nur dadurch, dass dieselben Durchschnittswerthe,
durch welche sie sich der Beobachtung erkennbar macht, bei
weitem an der grössten Anzahl von gleich möglichen Zustands-
vertheilungen vorkommen.1) Es ist also diejenige Zustands-
vertheilung die wahrscheinlichste, welche ohne Aenderung dieser
Durchschnittswerthe die grösste Anzahl von Permutationen der
Einzelwerthe unter den einzelnen Molekülen zulässt. Ich habe
[122]IV. Abschnitt. [Gleich. 127]
schon im I. Theile § 6 gezeigt, wie die mathematische Bedingung
hiefür unter Voraussetzung einatomiger Gasmoleküle zur Max-
well
’schen Zustandsvertheilung führt. Ohne darauf näher einzu-
gehen, will ich doch bemerken, dass die Gültigkeit der dort an-
gestellten Betrachtungen keineswegs auf den Fall einatomiger
Moleküle beschränkt ist, sondern dass sich ganz analoge Be-
trachtungen auch im Falle zusammengesetzter Moleküle anstellen
lassen. Dabei spielen dann die den generalisirten Coordinaten
entsprechenden Momentoide genau dieselbe Rolle, welche bei
einatomigen Molekülen die Geschwindigkeitscomponenten des
Schwerpunktes spielen, und die Kraftfunction der inneren und
äusseren Kräfte zusammen spielt dieselbe Rolle, wie früher
die Kraftfunction der äusseren Kräfte allein, so dass wir als
Verallgemeinerung der im I. Theile gefundenen Formeln un-
mittelbar die Formel 123) erhalten.


Dass die Formel 123) die einzige dem Wärmegleich-
gewichte entsprechende ist, werden wir noch im VII. Ab-
schnitte durch mehrere Gründe wahrscheinlich zu machen
suchen, auch werden wir in einigen der einfachsten speciellen
Fälle einen directen Beweis dafür liefern. An dieser Stelle
aber wollen wir uns, um nicht durch zu langes Verweilen bei
allzu abstracten Gegenständen zu ermüden, vorläufig mit dem
zu Gunsten der Formel 123) Vorgebrachten begnügen und aus
derselben die wichtigsten Consequenzen ziehen.


§ 42. Mittelwerth der einem Momentoide ent-
sprechenden lebendigen Kraft
.


Wir wollen zunächst den Fall betrachten, dass wir mehrere
Gase im Gefässe haben, von denen jedoch keines in theilweiser
Dissociation begriffen ist. Es ist dann zu jeder Zeit die An-
zahl der Moleküle, welche mit einander in Wechselwirkung
begriffen sind, verschwindend klein gegenüber der Anzahl der-
jenigen, welche mit keinem anderen in Wechselwirkung stehen
und es ist erlaubt, bei Berechnung der Mittelwerthe nur die
letzteren zu berücksichtigen, auf welche sich die Formel 118)
bezieht.


Führen wir daselbst statt der Momente q1, q2qμ die
dazu gehörigen Momentoide r1, r2rμ ein, so wird die An-
[123][Gleich. 132] § 42. Mittelwerth der lebendigen Kraft.
zahl der Moleküle der betreffenden Gattung, für welche die
Coordinaten und Momentoide in irgend einem die Werthe
128) p1, p2pμ, r1rμ
umfassenden Gebiete K liegen, durch den für jede beliebige,
im Gefässe vorhandene Gasart geltenden Ausdruck
129) d n = A e- 2 h εd p1d pμ d r1d rμ
gegeben sein, da die Determinante für die Verwandlung der
Variabeln q in die Variabeln r gleich 1 ist. Die Constante h
muss für alle in demselben Gefässe vorhandenen Gase den-
selben Werth haben. Die Constante A dagegen kann für jede
Gasart einen anderen Werth haben. ε ist die Summe der
kinetischen Energie eines Moleküles und der Kraftfunction der
intramolekularen und äusseren Kräfte für dasselbe, welche
Kraftfunction jetzt V heissen soll.


Für die kinetische Energie eines Moleküles hat man, wie
wir sahen, den Ausdruck
,
wo wir wieder das erste Glied als den durch das erste Momentoid
bedingten Theil der lebendigen Kraft bezeichnen.


Wenn wir daher das Gebiet K in der einfachsten Weise,
d. h. so wählen, dass es alle Werthecombinationen umfasst,
für welche die Coordinaten zwischen den Grenzen
130) p1 und p1 + d p1pμ und pμ + d pμ
und die Momentoide zwischen den Grenzen
131) r1 und r1 + d r1rμ und rμ + d rμ
liegen, so wird
132) .
Dies ist die Anzahl der Moleküle irgend einer bestimmten
Gattung, für welche die Werthe der Variabeln zwischen den
Grenzen 130) und 131) eingeschlossen sind.


[124]IV. Abschnitt. [Gleich. 134]

Der Mittelwerth des durch das Momentoid ri bedingten
Antheiles der lebendigen Kraft hat für ein beliebiges i
den Werth
133) ,
wobei das einzige Integralzeichen eine Integration über alle
möglichen Werthe der Differentiale anzeigt.


Führt man im Zähler und Nenner zuerst die Integration
nach ri aus, so kann man sowohl im Zähler als auch im
Nenner alle ri nicht enthaltenden Factoren vor dasjenige In-
tegralzeichen setzen, welches die Integration nach ri ausdrückt.
Der so vor dieses Integralzeichen kommende Ausdruck ist im
Zähler und Nenner genau derselbe. Das nach ri zunehmende
Integrale lautet im Zähler
,
im Nenner aber
.
Um hier die Integrationsgrenzen zu finden, bedenken wir, dass
für die Geschwindigkeit p' der Aenderung jeder Coordinate
alle Werthe zwischen — ∞ und + ∞ möglich sind. Die r
sind lineare Functionen der p' und können daher ebenfalls alle
Werthe von — ∞ bis + ∞ durchlaufen. Dies sind also die
Integrationsgrenzen für ri und es wird
,
wie man entweder durch partielle Integration des ersten Inte-
grales oder durch Berechnung beider Integrale nach Formel 39)
§ 7 des I. Theiles findet. Man kann nun im Zähler den
Factor 1/2 h, im Nenner den Factor 2 vor alle Integralzeichen
setzen; es werden dann die mit jedem dieser Factoren im
Zähler und Nenner multiplicirten Ausdrücke gleich; man kann
mit ihnen wegdividiren und erhält:
134) .
L̅ bedeutet dabei den Mittelwerth der gesammten lebendigen
Kraft eines Moleküles der betreffenden Gattung. Die jedem
[125][Gleich. 135] § 42. Mittelwerth der lebendigen Kraft.
Momentoide entsprechende lebendige Kraft hat also im Mittel
denselben Werth und zwar ist dieser für alle Gasarten gleich,
da ja h für alle Gasarten den gleichen Werth hat. Aehnlich
wie im I. Theile S. 137 kann dieser Satz auch auf Gase aus-
gedehnt werden, welche durch eine die Wärme leitende Wand
getrennt mit einander im Wärmegleichgewichte stehen.


Da wir überall nach jedem p und r unabhängig von den
übrigen integrirt haben und überhaupt die p immer als unab-
hängige Variable betrachtet haben, so haben wir stets voraus-
gesetzt, dass zwischen den generalisirten Coordinaten p1, p2pμ
keine Gleichung besteht. Es ist also μ die Anzahl der unab-
hängigen Variabeln, welche zur Bestimmung der absoluten
Lage aller Bestandtheile eines Moleküles im Raume und deren
relativer Lage gegen einander erforderlich sind. Man nennt μ
die Anzahl der Freiheitsgrade eines als mechanisches System
aufgefassten Moleküles.


Für drei der r können immer die drei Geschwindigkeits-
componenten des Schwerpunktes eines Moleküles in den drei
Coordinatenrichtungen gewählt werden, da die gesammte leben-
dige Kraft eines Systems immer die Summe der lebendigen
Kraft der Schwerpunktsbewegung und der Bewegung relativ
gegen den Schwerpunkt ist.1) Das Product der halben Ge-
sammtmasse eines Moleküles in das mittlere Quadrat einer
dieser Geschwindigkeitscomponenten seines Schwerpunktes ist
dann die durch das betreffende Momentoid bedingte mittlere
lebendige Kraft; dieselbe hat also nach 134) für jede der
Coordinatenrichtungen den Werth 1/4 h. Die Summe dieser drei
mittleren lebendigen Kräfte für die drei Coordinatenrichtungen
ist aber gleich dem Producte aus der halben Gesammtmasse
eines Moleküles in das mittlere Geschwindigkeitsquadrat seines
Schwerpunktes. Dieses letztere Product wollen wir die mittlere
lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung oder der Progressiv-
bewegung des betreffenden Moleküles nennen und mit S̅ be-
zeichnen. Es ist also:
135) .
[126]IV. Abschnitt. [Gleich. 135]
Die mittlere lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung eines
Moleküles ist daher ebenfalls für beliebige unter einander im
Wärmegleichgewichte stehende Gase dieselbe. Hieraus folgt,
wie wir in § 7 des I. Theiles sahen, das Boyle-Charles-Avo-
gadro
’sche Gesetz, welches hiermit also auch für Gase mit
zusammengesetzten Molekülen kinetisch begründet erscheint.1)


[127][Gleich. 136] § 43. Das Verhältn. d. spec. Wärmen.

§ 43. Das Verhältniss κ der specifischen Wärmen.


Wir wollen nun für einen Augenblick annehmen, dass in
dem betrachteten Gefässe eine einzige Gasart vorhanden ist und
dass die darauf wirkenden äusseren Kräfte vernachlässigt werden
können, so dass die intramolekularen und Wechselwirkungskräfte
der Moleküle und der Gegendruck der Gefässwände gegen das
Gas die einzigen in Betracht kommenden Kräfte sind.


Wir bezeichnen wie im I. Theile § 8 mit d Q2 die Wärme-
menge, welche auf Erhöhung der lebendigen Kraft der Schwer-
punktsbewegung aller Moleküle, mit d Q3 aber die Wärme,
welche auf Erhöhung der lebendigen Kraft und Kraftfunction
der intramolekularen Bewegung verwendet wird, wenn das Gas
einen bestimmten Temperaturzuwachs d T erfährt. Das Verhält-
niss d Q3/d Q2 bezeichnen wir ebenfalls wie im I. Theile § 8 mit β.
Die Wärme soll dabei immer in Arbeitsmaass gemessen werden.


Die Wärmemenge d Q3 zerfällt naturgemäss in zwei Theile,
in den Antheil d Q5, welcher auf Erhöhung der lebendigen
Kraft der intramolekularen Bewegung verwendet wird, und in
den Antheil d Q6, der auf Erhöhung des Werthes der Kraft-
function der zwischen den Bestandtheilen eines Moleküles
thätigen, d. h. der intramolekularen Kräfte verwendet wird.


Die mittlere lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung
eines Moleküles haben wir mit S̅ bezeichnet. Ist n die Ge-
sammtzahl der Moleküle des Gases, so ist also die gesammte
lebendige Kraft der Schwerpunktsbewegung seiner Moleküle n S̅,
daher ist d Q3 = n d S̅. Da wir mit L̅ die gesammte mittlere
Kraft eines Moleküles bezeichnet haben, so ist L̅ — S̅ die
mittlere lebendige Kraft der intramolekularen Bewegung eines
Moleküles. Die lebendige Kraft der intramolekularen Be-
wegung aller Moleküle des Gases ist daher n (L̅ — S̅) oder nach
Formel 135) , woraus folgt:
136)
1)
[128]IV. Abschnitt. [Gleich. 138]
Bezeichnen wir den Mittelwerth der Kraftfunction für ein
Molekül mit V̅, so ist
137) d Q6 = n d V̅.


Die letztere Grösse können wir nicht berechnen, wenn wir
nicht eine besondere Annahme über die Kraftfunction V machen.
Wir wollen daher ohne Beschränkung der Allgemeinheit vor-
läufig bloss setzen:
d Q6 = ε d Q3
und erhalten dann:
.
Das Verhältniss κ der specifischen Wärmen des Gases wird
also nach Formel 56) des § 8 des I. Theiles
138) .


§ 44. Werthe des κ für specielle Fälle.


Falls die Moleküle einzelne materielle Punkte sind, so
haben sie ausser der Bewegung des Schwerpunktes keinerlei
andere Bewegung; es ist also ε = 0. Zur Bestimmung ihrer
Lage im Raume genügen drei rechtwinkelige Coordinaten; es
ist also μ = 3, κ = 1⅔.


Es sollen nun die Moleküle als absolut glatte undeformir-
bare elastische Körper betrachtet werden; dann ist eine
Aenderung der Kraftfunction der intramolekularen Kräfte aus-
geschlossen; daher ε = 0.


Wenn zudem jedes Molekül um seinen Schwerpunkt ab-
solut symmetrisch gebaut ist, oder noch allgemeiner, wenn es
die Gestalt einer Kugel hat, deren Schwerpunkt mit ihrem
Mittelpunkte zusammenfällt, so kann zwar jedes Molekül be-
liebige Drehungen um eine beliebige, durch seinen Mittelpunkt
gehende Axe machen; allein die Geschwindigkeit dieser Drehung
kann für kein einziges Molekül durch die Zusammenstösse
irgendwie verändert werden. Wenn alle Moleküle anfangs
[129][Gleich. 138] § 44. Werthe für specielle Fälle.
rotationslos waren, so bleiben sie es für alle Zeiten. Hatten
sie dagegen anfangs eine Drehung, so behält jedes Molekül
unabhängig von allen anderen seine Drehung bei, ohne dass
dieselbe je irgend eine beobachtbare Wirkung ausübt.


Von den die Lage eines Moleküles bestimmenden Variabeln
kommen daher für die Zusammenstösse allein die drei Coordi-
naten des Schwerpunktes in Betracht und es ist wieder
μ = 3, κ = 1⅔.1)


Anders ist es, wenn die Moleküle absolut glatte, undeformir-
bare elastische Körper sind, welche entweder die Gestalt von
Rotationskörpern haben, die von der Kugelform verschieden
sind oder zwar die Gestalt von Kugeln, aber ohne dass der
Schwerpunkt mit deren Mittelpunkt zusammenfällt. Wenn sie
Rotationskörper sind, die nicht Kugelgestalt haben, wird an-
genommen, dass entweder ihre Masse überhaupt vollkommen
symmetrisch um die Rotationsaxe angeordnet ist, oder dass
diese wenigstens Hauptträgheitsaxe ist, dass der Schwerpunkt
auf derselben liegt und das Trägheitsmoment des Moleküles
bezüglich jeder durch den Schwerpunkt senkrecht zur Rotations-
axe gelegten Geraden gleich ist. Wenn sie Kugeln mit excentrisch
liegendem Schwerpunkte sind, muss ebenfalls das Trägheits-
moment des Moleküles bezüglich jeder durch den Schwerpunkt
senkrecht auf der Verbindungslinie von Schwerpunkt und Mittel-
punkt gezogenen Geraden gleich sein. Dann wird nur die
Drehung um die Rotationsaxe auf die Zusammenstösse ohne
Einfluss sein. Alle anderen Drehungen werden durch die Zu-
sammenstösse fortwährend verändert, so dass sich deren lebendige
Kraft mit der lebendigen Kraft der Progressivbewegung ins
Wärmegleichgewicht setzen muss.


Zur Bestimmung der Lage eines Moleküles im Raume sind
jetzt fünf Variabeln nothwendig, die drei Coordinaten seines
Schwerpunktes und zwei die Lage seiner Rotationsaxe im Raume
Boltzmann, Gastheorie II. 9
[130]IV. Abschnitt. [Gleich. 138]
bestimmende Winkel. Es ist also μ = 5 und da ε wieder gleich
Null ist, so hat man κ = 1,4. Wenn die Moleküle absolut
glatte, undeformirbare elastische Körper sind, welche aber keinen
der soeben betrachteten Fälle realisiren, so wird ihre Drehung
um alle möglichen Axen durch die Zusammenstösse modificirt.
Es sind daher dann zur Bestimmung der Lage eines Moleküles
ausser den drei Coordinaten seines Schwerpunktes noch drei
die gesammte Drehung um den Schwerpunkt bestimmende
Winkel nothwendig und es ist
μ = 6, κ = 1⅓.


§ 45. Vergleich mit der Erfahrung.


Es ist beachtenswerth, dass für den Quecksilberdampf,
dessen Moleküle aus chemischen Gründen schon längst als
einatomig betrachtet wurden, nach den Versuchen von Kundt
und Warburg in der That κ sehr nahe gleich dem für ein-
fache Moleküle sich ergebenden Werthe 1⅔ ist. Auch für
Helion, Neon, Argon, Metargon und Krypton fand Ramsay
einen nahe ebenso grossen Werth von κ. Es spricht die ge-
ringe chemische Activität dieser Gase ebenfalls für die Ein-
atomigkeit ihrer Moleküle.


Für viele Gase mit sehr einfach gebauten zusammen-
gesetzten Molekülen (vielleicht für alle, bei denen eine Ver-
änderlichkeit des κ mit der Temperatur bisher nicht con-
statirt werden konnte) ergiebt ferner die Beobachtung Werthe
des κ, die den beiden anderen von uns gefundenen 1,4 und
1⅓ sehr nahe liegen.


Damit ist freilich die Frage noch lange nicht erledigt. Für
viele Gase hat κ noch kleinere Werthe; ausserdem fand Wüllner,
dass oft und zwar gerade für diese letzteren Gase κ mit der
Temperatur stark veränderlich ist. Eine Veränderlichkeit des κ
mit der Temperatur ergiebt sich aus unserer Theorie ebenfalls
im Allgemeinen, sobald auch die Kraftfunction V der intra-
molekularen Kräfte, welche zwischen den Bestandtheilen eines
Moleküles wirken, von Einfluss ist; doch ist leicht zu ersehen,
dass auch hiermit die Theorie des Verhältnisses der specifischen
Wärmen nicht erschöpft sein kann.


Wenn die Moleküle rund um ihren Mittelpunkt herum
[131][Gleich. 138] § 45. Vergleich mit der Erfahrung.
symmetrisch mit Masse erfüllte Kugeln sind, so ist freilich
keine Möglichkeit vorhanden, dass sie durch die Zusammen-
stösse in irgend eine Rotation versetzt werden können, noch
dass ihnen eine Rotation, die sie einmal besitzen, genommen
werden kann. Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass sie
wirklich durch alle Ewigkeit rotationslos oder mit der gleichen
Rotation begabt bleiben. Weit mehr hat die Annahme für sich,
dass sie diese Beschaffenheit nur mit sehr grosser Annäherung
besitzen, so dass sich ihr Rotationszustand bloss innerhalb der
Zeit, welche auf Bestimmung der specifischen Wärme verwendet
wird, nicht erheblich verändert, während sich dieser Rotations-
zustand doch im Verlaufe einer sehr langen Zeit mit der
übrigen Molekularbewegung ausgleicht, und zwar so langsam,
dass sich der dabei stattfindende Energieaustausch unserer
Beobachtung entzieht.


Analog kann man dann annehmen, dass in den Gasen, für
welche κ = 1,4 ist, die Bestandtheile der Moleküle keineswegs
zu absolut undeformirbaren Körpern verbunden sind, dass viel-
mehr diese Verbindung bloss eine so innige ist, dass innerhalb
der zur Beobachtung der specifischen Wärme aufgewendeten
Zeit die Schwingungen dieser Bestandtheile gegen einander
sich nicht merklich ändern und erst in späterer Zeit sich so
langsam ins Wärmegleichgewicht mit der Progressivbewegung
setzen, dass dieser Vorgang nicht mehr der Beobachtung zu-
gänglich ist. Jedenfalls müssen für Luft bei Temperaturen,
wo sie merklich Wärme auszustrahlen beginnt, ausser den fünfen
noch andere den Zustand eines Moleküles bestimmende Variabeln
sich in der auf die Beobachtungen verwendeten Zeit am Wärme-
gleichgewichte betheiligen, so dass κ mit der Temperatur ver-
änderlich und kleiner als 1,4 wird und muss Gleiches für alle
anderen Gase gelten.


Natürlich sind bei der Verborgenheit der Natur der mole-
kularen Vorgänge alle Hypothesen über die Natur derselben
mit der grössten Reserve auszusprechen. Experimentell würde
die hier vorgebrachte Hypothese eine Bestätigung finden, wenn
es sich zeigen würde, dass bei jenen Gasen, bei denen κ mit
der Temperatur veränderlich ist, Beobachtungen, die eine
längere Zeit in Anspruch nehmen, einen kleineren Werth von κ
liefern würden, als kürzer dauernde.


9*
[132]IV. Abschnitt. [Gleich. 138]

Trotz des Auftretens einer Kraftfunction der intramole-
kularen Kräfte bleibt κ in dem Falle von der Temperatur un-
abhängig, dass die Bestandtheile der Moleküle gewisse relative
Ruhelagen haben und die bei ihrer Entfernung aus den Ruhe-
lagen auftretenden Kräfte lineare Functionen jener Entfernungen
sind. Wenn dann λ die Anzahl der Variabeln ist, von denen
die relative Lage der Bestandtheile eines Moleküles abhängt,
so können immer die Coordinaten so gewählt werden, dass die
Kraftfunction die Form annimmt:
.
Die Grösse soll dann die der Coordinate pi entsprechende
potentielle intramolekulare Energie heissen. Ihr Mittelwerth
kann genau so berechnet werden, wie wir soeben den Mittel-
werth der Grösse berechnet haben und ergiebt sich
ebenfalls gleich 1/4 h für jedes i. Daher wird:
V̅ = v/4 h, S̅: V̅ = 3 : λ.
Da diese Gleichungen vollkommen analog den Gleichungen 135)
sind, so wird
d Q6 = ⅓ λ d Q3, daher ε = ⅓ λ,
.
1)


Als Beispiel betrachten wir den Fall, dass jedes Molekül
aus zwei einfachen materiellen Punkten oder aus zwei um ihren
Mittelpunkt herum vollkommen symmetrisch mit Masse erfüllten,
absolut glatten Kugeln besteht. Dieselben sollen in einer be-
stimmten Entfernung keine Kräfte auf einander ausüben, in
grösseren Entfernungen aber eine Anziehung, in kleineren eine
Abstossung, welche jedesmal der Entfernungsänderung pro-
portional sind. Dann ist diese Entfernung die einzige die
relative Lage bestimmende Coordinate, daher λ = 1.


Zur Bestimmung der absoluten Lage im Raume sind ausser-
dem noch fünf Coordinaten erforderlich. Die Gesammtzahl μ
der p oder der Freiheitsgrade ist daher sechs und es wird
κ = 1 2/7 = 1,2857.


[133][Gleich. 138] § 46. Andere Mittelwerthe.

Die Betrachtung weiterer specieller Fälle wäre nicht
schwierig, scheint mir aber überflüssig, so lange nicht um-
fassenderes experimentelles Material vorliegt.


§ 46. Andere Mittelwerthe.


Wir haben im Vorhergehenden denjenigen Mittelwerth der
durch ein Momentoid bedingten lebendigen Kraft berechnet,
welchen wir erhalten, wenn wir aus allen Werthen, die bei
allen Molekülen einer bestimmten Gattung im Gefässe vor-
kommen, das Mittel nehmen. Dieser Mittelwerth ändert sich
nicht, wenn wir zugleich einer oder mehrerer der Coordinaten be-
liebige Beschränkungen auferlegen, wenn wir z. B. nur aus den-
jenigen Werthen das Mittel nehmen, welche an allen Molekülen
dieser Art vorkommen, deren Schwerpunkte innerhalb eines
beliebig kleinen Gebietes ∫ ∫ ∫ d P1d P2d P3 liegen: die Tem-
peratur ist an allen Stellen des Gases dieselbe. Dieser Satz,
welcher selbstverständlich ist, wenn keine äusseren Kräfte
wirken, gilt auch bei Wirksamkeit beliebiger äusserer Kräfte.


Die betreffenden Mittelwerthe ändern sich ebenso wenig,
wenn wir nur jene Moleküle ins Mittel einbeziehen, bei denen
auch noch andere der Coordinaten in beliebige endliche oder
sehr nahe Grenzen eingeschlossen sind. Der betreffende Mittel-
werth wird dann wieder genau durch die Formel 133) gegeben;
nur dass die Integration nicht über alle Werthe der Coordi-
naten, sondern bloss über die gegebenen, für den Zähler und
Nenner natürlich gleichen Gebiete zu erstrecken ist. Es kann
dann ganz wie im § 42 im Zähler und Nenner der ganze
Factor, welcher bei dem nach d ri zu nehmenden Integrale
steht, vor das Integralzeichen kommen und nach Ausführung
der Integration nach ri im Zähler und Nenner damit weg-
dividirt werden, wodurch man wie dort für das Integrale den
Werth ¼ h erhält.


Wenn die α constant sind, so ist, wie die Formel 132)
zeigt, die relative Wahrscheinlichkeit, dass der Werth irgend
eines Momentoides zwischen irgend welchen Grenzen liegt und
dass er zwischen irgend welchen anderen Grenzen liegt, ganz
unabhängig von der Lage des Moleküles im Raume und der
relativen Lage seiner Bestandtheile. Wir wollen diesen Satz,
[134]IV. Abschnitt. [Gleich. 140]
den wir später benutzen werden, den Satz S nennen. Der Fall,
auf den er sich bezieht, tritt ein, wenn unter den r den Ge-
schwindigkeitscomponenten materieller Punkte oder den Winkel-
geschwindigkeiten eines starren Körpers um dessen Hauptträg-
heitsaxen proportionale Grössen verstanden werden.


Für diejenige Gasart, auf welche sich die Formel 129)
bezieht, findet man die Anzahl d n' der Moleküle, für welche
bloss die Werthe der Coordinaten zwischen den Grenzen 130)
liegen, ohne dass die Werthe der Momente irgend einer be-
schränkenden Bedingung unterworfen sind, indem man die
Formel 129) bezüglich aller r von — ∞ bis + ∞ integrirt.
Es ergiebt sich in dieser Weise
139) .
Der Mittelwerth der Kraftfunction ist ∫ V d n'/∫ d n', wo die
Integrationen über alle möglichen Werthe der Coordinaten zu
erstrecken sind.


Die Anzahl der Moleküle, für welche die Coordinaten in
irgend einem μ fach unendlich kleinen Gebiete F liegen, ver-
hält sich daher zur Anzahl der Moleküle, für welche sie in
einem ebenfalls μ fach unendlich kleinen Gebiete F' liegen,
und zwar ohne Beschränkung bezüglich der Werthe der Mo-
mente wie
140) ,
wobei die Buchstaben ohne Striche die Werthe für das Ge-
biet F, die mit Strichen die für das Gebiet F' bedeuten und
auch das erste Integrale über das erstere, das zweite über das
letztere Gebiet zu erstrecken ist.


Wenn gar keine intramolekularen und äusseren Kräfte
thätig sind und die Moleküle aus lauter einfachen materiellen
Punkten bestehen, so ist dies das Verhältniss der Producte der
Volumina aller Volumelemente, welche den materiellen Punkten
im Gebiete F zur Verfügung stehen, zum analogen Producte
[135][Gleich. 140] § 47. Betrachtung der Molekularstösse.
für das Gebiet F'. Dann sind die Exponentiellen gleich 1
und es ist also
stets gleich dem Verhältnisse dieser Producte von Volum-
elementen.


§ 47. Betrachtung der gerade in Wechselwirkung
begriffenen Moleküle
.


Wir sind in den letzten Paragraphen immer von For-
mel 129) ausgegangen, d. h. wir haben vorausgesetzt, dass die
Wechselwirkung zweier Moleküle so kurze Zeit dauert, dass
wir bei Berechnung der Mittelwerthe diejenigen Moleküle,
welche augenblicklich gerade mit anderen in Wechselwirkung
stehen, vernachlässigen dürfen. Doch gelten die in diesem
und dem vorigen Paragraphen entwickelten Sätze auch von
den gerade in Wechselwirkung begriffenen Molekülen. Wir
wollen z. B. alle Paare von Molekülen im Gase betrachten, bei
denen das eine Molekül der ersten, das andere der zweiten
Gattung angehört und für welche die Coordinaten beider Mole-
küle innerhalb irgend eines (μ + ν) fach unendlich kleinen Ge-
bietes D liegen, ohne dass den Momentoiden irgend eine Be-
dingung auferlegt ist. Falls keine äusseren Kräfte wirken, kann
natürlich wieder das Gebiet für den Schwerpunkt des einen
der Moleküle über das ganze Innere des Gefässes erstreckt
werden. Für die Anzahl dieser Molekülpaare finden wir, indem
wir den Ausdruck 127), in den wir vorher die r statt der q
einführen, bezüglich aller r integriren, den Ausdruck:
.
Hierbei ist V die Kraftfunction der intramolekularen und
äusseren Kräfte für das erste, V1 für das zweite Molekül. ψ ist
die Kraftfunction der Wechselwirkungskräfte. Die Summe be-
zieht sich auf alle Momentoide beider Moleküle. Das Integrale
nach den p ist bezüglich der Coordinaten beider Moleküle
über das Gebiet D, das nach den r aber über alle möglichen
Werthe dieser Variabeln, also bezüglich jedes r von — ∞ bis
[136]IV. Abschnitt. [Gleich. 142]
+ ∞ zu erstrecken. Die Ausführung der Integration nach
den r liefert
141) .


Man kann nun für alle Moleküle erster Gattung, welche in
allen denjenigen Molekülpaaren vorkommen, deren Gesammtzahl
mit d N bezeichnet wurde, den Mittelwerth der durch eines der
Momentoide bedingten lebendigen Kraft ½ αi berechnen. Der-
selbe ergiebt sich wieder gleich ¼ h. Ich will die ausführ-
lichen Formeln, aus denen dies folgt, gar nicht anschreiben,
da sie ganz analog den entsprechenden Formeln sind, die wir
im § 42 für ein Molekül entwickelt haben. Für alle diese
Molekülpaare ist die mittlere lebendige Kraft der Bewegung
des Schwerpunktes je eines Molekülpaares ebenfalls wieder
gleich ¾ h.


Ich will nur noch einen Satz ableiten, den wir in der
Theorie der Dissociation der Gase brauchen werden. Wir
wollen ausser dem soeben mit D bezeichneten Gebiete noch ein
beliebiges anderes (μ + ν) fach unendlich kleines Gebiet D' für
die Coordinaten beider Moleküle betrachten und alle auf dieses
zweite Gebiet Bezug habenden Werthe der Variabeln mit einem
Striche bezeichnen, so dass also jetzt die p' nicht die Ab-
leitungen nach der Zeit, sondern andere Werthe der p be-
deuten.


Die Anzahl der Moleküle, von denen das eine der ersten,
das andere der zweiten Gattung angehört und für welche die
Variabeln im Gebiete D' liegen, ohne dass die Werthe der
Momentoide irgendwie beschränkt sind, ist entsprechend der
Formel 141)
.


Es ist also
142) .
[137][Gleich. 142] § 47. Betrachtung der Molekularstösse.
Diese Formel, sowie die Formel 140) sind nichts als durch
ihre Einfachheit und Symmetrie bemerkenswerthe Verall-
gemeinerungen der Formel 167) S. 136 des I. Theiles, ja der
ganz trivialen Formel für das barometrische Höhenmessen,
nach welcher sich ja auch in verschiedenen Höhen z die auf
die Volumeinheit entfallenden Molekülzahlen, wie
verhalten. Da dieselbe Formel den Druck des gesättigten
Dampfes und die Gesetze der Dissociation zu berechnen er-
laubt (vergl. §§ 60 und 62—73), so muss sie als eine der
Fundamentalformeln der Gastheorie bezeichnet werden.


Wenn ohne Aenderung aller anderen Umstände die
Molekülpaare, weder wenn die Werthe im Gebiete D, noch
wenn sie im Gebiete D' liegen, eine Wechselwirkung auf ein-
ander ausüben würden, so hätte man denselben Ausdruck für
den Quotienten , nur dass darin ψ = ψ' = 0 zu setzen
wäre. Wenn es daher gelungen ist, für diesen letzteren Fall
das Verhältniss zu berechnen, so kann man daraus den
Werth, welchen dieses Verhältniss annimmt, wenn irgend eine
Wechselwirkung stattfindet, erhalten, indem man den für den
Fall des Fehlens der Wechselwirkung berechneten Werth von
d N'/d N mit e— 2 h (ψ' — ψ) multiplicirt; daher mit e— 2 h ψ', wenn
nur im Gebiete D' einmal Wechselwirkung stattfindet, das
andere Mal nicht, im Gebiete D aber in beiden Fällen keine
Wechselwirkung Platz greift. Man kann das Verhältniss d N' / d N
auch als die relative Wahrscheinlichkeit der beiden Ereignisse
bezeichnen, dass für ein Molekülpaar die Werthe der Variabeln
im Gebiete D' oder im Gebiete D liegen.


Ein ganz analoger Satz gilt, wie sich leicht zeigen lässt,
auch für die Wechselwirkung von mehr als zwei Molekülen.
Die relative Wahrscheinlichkeit zweier Constellationen derselben
ist e— 2 h (ψ' — ψ) mal so gross, wenn für beide Moleküle Wechsel-
wirkung stattfindet, als wenn solche fehlt, wobei ψ und ψ' die
Werthe der Kraftfunction der Wechselwirkungskräfte für beide
Constellationen sind.


[138]

V. Abschnitt.
Ableitung der van der Waals’schen Gleichung mittelst des
Virialbegriffes.


§ 48. Präcisirung der Punkte, wo van der Waals’
Schlussweise der Ergänzung bedarf
.


Wir sind im I. Abschnitte bei Ableitung der Waals’schen
Gleichungen im Allgemeinen der Methode gefolgt, nach welcher
sie dieser selbst zuerst begründete und welche sich durch
grosse Einfachheit und Anschaulichkeit auszeichnet. Es wurde
jedoch schon in der Anmerkung auf S. 14 bemerkt, dass sie
vielleicht nicht vollkommen einwurfsfrei ist.


Es könnte zunächst die Annahme in Zweifel gezogen
werden, welche wir in § 3 und auch noch später gemacht
haben, dass sowohl im ganzen Gefässe, als auch in dem nahe
der Grenze des Gasraumes liegenden Cylinder, den wir dort
den Cylinder γ nannten, jedes Volumelement als Ort für den
Mittelpunkt eines Moleküles gleich wahrscheinlich ist, ob dessen
Entfernung vom Mittelpunkte eines anderen Moleküles nur
wenig grösser als σ ist, oder ob es von allen anderen Mole-
külen viel weiter entfernt ist.


Falls ausser den Stosskräften keine anderen Kräfte thätig
sind, folgt die Richtigkeit dieser Annahme allerdings unmittel-
bar aus der Gleichung 140), in welcher dann V constant ist,
so dass sie also die durchschnittliche Anzahl der in gleichen
Volumelementen enthaltenen Molekülmittelpunkte überall gleich
liefert.


Dagegen wird die Waals’sche Cohäsionskraft im Innern
der Flüssigkeit eine dichtere Anordnung der Moleküle als in
der unmittelbaren Nähe der Wand bewirken, was jedoch
van der Waals weder bei Ableitung des Ausdruckes der
Stösse auf die Wand, noch bei Berechnung der Abhängigkeit
des Gliedes a/v2 von der Dichte des Gases berücksichtigt.
[139][Gleich. 142] § 48. Ergänzung zu Waals’ Schlussweise.
In beiden Fällen ist aber gerade die Betrachtung von an der
Grenze des Gases liegenden Volumelementen wesentlich und
verschwindet die ganze zu berechnende Grösse um so mehr,
je mehr die der Oberfläche anliegenden Theilchen gegen die
im Innern liegenden verschwinden. Es kann also nicht, wie
dies bei den Formeln dieses Abschnittes der Fall sein wird,
die Genauigkeit dadurch beliebig erhöht werden, dass man das
Volumen gegenüber der Oberfläche beliebig vermehrt denkt.


Van der Waals berechnet die durch die endliche Aus-
dehnung des starren Kernes der Moleküle bedingte Correction
des Boyle-Charles’schen Gesetzes, so wie es im I. Abschnitte
auseinandergesetzt wurde, gerade so, als ob die Cohäsionskraft
nicht vorhanden wäre, das vermöge der Cohäsionskraft zum
äusseren Drucke hinzukommende Glied aber wieder, als ob
die Moleküle verschwindend klein wären. Da die Berechtigung
hiervon bezweifelt werden könnte, so werden wir noch eine
zweite Ableitung der Waals’schen Formel aus der Theorie
des Virials, das übrigens van der Waals ebenfalls schon
beizog, geben, gegen welche dieser Einwand nicht gemacht
werden kann. Diese zweite Ableitung zeigt, dass van der
Waals
Schlussweise vollkommen berechtigt ist. Doch können
wir in exacter Weise natürlich nicht den in der Waals’schen
Formel vorkommenden reciproken Werthes von v — b erhalten,
welcher von van der Waals selbst als nicht exact bezeichnet
wird; wir erhalten vielmehr eine nach Potenzen von b/v fort-
schreitende unendliche Reihe.


§ 49. Allgemeiner Begriff des Virials.


Der Begriff des Virials wurde von Clausius in die Gas-
theorie eingeführt. Es sei eine beliebige Anzahl von materiellen
Punkten gegeben. mh sei die Masse eines derselben, xh, yh,
zh, ch, uh, vh, wh seien seine rechtwinkeligen Coordinaten, seine
Geschwindigkeit und deren Componenten nach den Coordinaten-
axen zu irgend einer Zeit t; ξh, ηh, ζh seien die Componenten
der Gesammtkraft, welche zur selben Zeit auf diesen materiellen
Punkt wirkt. Die wirkenden Kräfte sollen so beschaffen sein,
dass sich sämmtliche materielle Punkte eine beliebig lange
Zeit hindurch unter ihrem Einflusse bewegen können, ohne
[140]V. Abschnitt. [Gleich. 142]
dass je weder irgend eine Coordinate noch irgend eine Ge-
schwindigkeitscomponente eines derselben ins Unendliche wächst
und die Anfangsbedingungen sollen solche sein, dass dies wirk-
lich stattfindet. Wie lange man auch die Bewegungszeit wählen
mag, so soll doch der Absolutwerth jeder der Coordinaten und
Geschwindigkeitscomponenten kleiner bleiben, als eine be-
stimmte endliche Grösse, welche für die Coordinaten den
Werth E, für die Geschwindigkeitscomponenten den Werth ε
haben mag. Solche Bewegungen, zu denen offenbar alle zu
den Wärmeerscheinungen Anlass gebenden Molekularbewegungen
in endlich ausgedehnten Körpern gehören, wollen wir endlich
bleibende nennen.


Sei nun G der Werth irgend einer Grösse zu einer be-
stimmten Zeit t, so nennen wir wie bisher die Grösse
das Zeitmittel der Grösse G während der Bewegungszeit τ.


Vermöge der Bewegungsgleichungen der Mechanik ist:
.
Daher
.
Multiplicirt man diese Gleichung mit d t, integrirt über eine
beliebige Zeit (von Null bis τ) und dividirt schliesslich durch τ,
so folgt:
,
wobei durch den oberen Index τ die Werthe zur Zeit τ, durch
den oberen Index Null aber die zur Zeit Null charakterisirt
sind. Vermöge des Charakters der Bewegung als einer end-
lich bleibenden ist
kleiner als 2 mh Eε. Lässt man die Zeit τ der ganzen Be-
wegung über jede Grenze hinaus wachsen, so bleibt 2 mh Eε
endlich; es nähert sich daher der Ausdruck 2 mh Eε/τ mit
[141][Gleich. 144] § 49. Allgemeiner Begriff des Virials.
wachsendem τ der Grenze Null. Nimmt man daher die Mittel-
werthe für eine genügend lange Zeit der Bewegung, so wird:
.
Analoge Gleichungen erhält man für alle Coordinatenrichtungen
und alle materiellen Punkte. Addirt man sie alle, so folgt:
143) .
ist die lebendige Kraft L des Systems. Den Ausdruck
å(xh ξh + yh ηh + zhζh)
nennt Clausius das Virial der auf das System wirkenden
Kräfte. Obige Gleichung besagt also, dass das doppelte Zeit-
mittel der lebendigen Kraft gleich dem negativen Zeitmittel
des Virials des Systems während einer sehr langen Zeit ist.


Wir nehmen nun an, dass zwischen je zwei materiellen
Punkten mh und mk, deren Entfernung rh k sei, eine in die
Richtung von rh k fallende Kraft fh k (rh k) wirkt, welche wir die
innere Kraft nennen und mit positivem Zeichen versehen, wenn
sie eine abstossende, mit negativem Zeichen, wenn sie eine an-
ziehende ist. Ausserdem soll noch auf jeden materiellen Punkt
mh eine äussere Kraft wirken, welche von ausserhalb des
Punktsystems liegenden Ursachen herrührt und deren Compo-
nenten nach den Coordinatenrichtungen wir mit Xh, Yh und Zh
bezeichnen. Dann ist
Man sieht leicht1), dass dann die Gleichung 143) übergeht in:
144) .
Der erste Addend ist das doppelte Zeitmittel der lebendigen
Kraft L des ganzen Systems. Der zweite soll das äussere und
[142]V. Abschnitt. [Gleich. 146]
der dritte das innere Virial heissen. Die beiden Viriale sollen
mit Wa und Wi bezeichnet werden, so dass also die Gleichung 144)
übergeht in
145) 2 + Wa + Wi = 0.


§ 50. Virial des auf ein Gas wirkenden äusseren
Druckes
.


Wir betrachten als speciellen Fall ein im Gleichgewichte
befindliches Gas, dessen Moleküle sich genau den im I. Ab-
schnitte auseinandergesetzten Annahmen van der Waals’ ge-
mäss verhalten. Dasselbe sei in einem beliebigen Gefässe
vom Volumen V eingeschlossen; es bestehe aus n gleich be-
schaffenen Molekülen von der Masse m und dem Durch-
messer σ, das mittlere Geschwindigkeitsquadrat eines Moleküls
sei . Dann ist:
146) .


Es sollen keine anderen äusseren Kräfte wirken, als der
auf dem Gefässe lastende Druck, dessen Intensität bezogen auf
die Flächeneinheit gleich p sei. Das Gefäss habe zunächst
die Gestalt eines Parallelepipedes von den Kanten α, β, γ, von
denen drei zusammenstossende der Reihe nach als x-, y- und
z-Axe gewählt werden sollen. Die beiden Seitenflächen des
selben vom Flächeninhalte β γ sollen die Abscissen Null, resp.
α haben. Auf dieselben wirken in der Richtung der positiven
Abscissenaxe die Druckkräfte p β γ, resp. — p β γ. Für diese
beiden Seitenflächen zusammen hat daher die Summe åxh Xh
den Werth — p α β γ = — p V. Da das Gleiche auch für die
beiden anderen Coordinatenrichtungen gilt, so ist für das
ganze Gas:
å(xhXh + yhYh + zhZh) = — 3 p V.
Dies ist, da die Druckkräfte mit der Zeit nicht veränderlich
sind, zugleich auch der Mittelwerth dieser Grösse, also das
äussere Virial Wa.


Dieselbe Gleichung lässt sich leicht auch für ein beliebig
gestaltetes Gefäss beweisen. Sei d ω ein Flächenelement der
[143][Gleich. 147] § 50. Virial d. Druckes. § 51. Stossende Molekülpaare.
Projection ω der Gefässoberfläche auf die y z-Ebene und K der
über d ω aufstehende, senkrecht beiderseits ins Unendliche ge-
zogene Cylinder. Dieser Cylinder schneide aus der Gefäss-
oberfläche der Reihe nach die Oberflächenelemente d o1, d o2
aus, deren Abscissen x1, x2 … und deren in den Innenraum
des Gases gezogene Normalen N1, N2 … seien. Die x-Com-
ponente der auf d o1 wirkenden Druckkraft ist:
p d o1 cos (N1x) = p d ω.
Dieselbe x-Componente hat für das Flächenelement d o2 den
Werth
p d o2 cos (N2x) = — p d ω
u. s. f. Die Summe åxh Xh, erstreckt über alle innerhalb
des Cylinders K liegenden Oberflächenelemente, hat also den
Werth:
p d ω (x2x1 + x4x3 + …)
Der Factor der Grösse — p ist genau das vom Cylinder K
aus dem Innern des Gefässes herausgeschnittene Volumen.
Die Summe åxhXh über das ganze Gas erstreckt findet man,
indem man diesen Ausdruck über alle Flächenelemente d ω
der gesammten Projection ω integrirt, wodurch sich das Pro-
duct des gesammten Volumens V des Gases in die Grösse — p
ergiebt. Da dieselben Betrachtungen auch auf die y- und
z-Axe anwendbar sind, so folgt wieder:
147) å(xhXh + yhYh + zhZh) = — 3 p V = Wa.


§ 51. Wahrscheinlichkeit des Vorkommens von Molekül-
paaren mit gegebener Centraldistanz
.


Das innere Virial wird aus zwei Theilen bestehen, von
denen der erste W'i von den während des Stosses zweier Mole-
küle thätigen Kräften, der zweite W″i von den von van der
Waals
angenommenen Anziehungskräften herrührt.


Um W'i zu finden, bezeichnen wir, wie früher, mit σ den
Durchmesser eines Moleküles und nennen eine um den Mittel-
punkt eines Moleküls mit dem Radius σ beschriebene Kugel
[144]V. Abschnitt. [Gleich. 147]
dessen Deckungssphäre, so dass das Volumen der Deckungs-
sphäre achtmal so gross ist, als das Volumen des Moleküles
selbst. Der Mittelpunkt eines zweiten Moleküles kann sich
dann dem Mittelpunkte unseres Moleküles nicht weiter als bis
zur Entfernung σ nähern und wir wollen zunächst die Wahr-
scheinlichkeit berechnen, dass der Mittelpunkt eines bestimmten
hervorgehobenen Moleküles von dem Mittelpunkte eines der
anderen Moleküle, welche wir, um einen präcisen Namen zu
haben, die restirenden Moleküle nennen wollen, einen Abstand
hat, der zwischen σ und σ + δ liegt, wobei δ noch unendlich
klein gegenüber σ sein soll.


Um den Begriff der Wahrscheinlichkeit möglichst ein-
wurfsfrei fassen zu können, denken wir uns dasselbe Gas un-
endlich oftmal (N mal) in lauter gleichbeschaffenen und an
verschiedenen Stellen des Raumes befindlichen Gefässen vor-
handen. Unser hervorgehobenes Molekül wird in jedem dieser
N Gase im Allgemeinen sich an einer anderen Stelle des
Gefässes befinden. Von allen N Gasen seien in N1 Gasen
die restirenden Moleküle sehr nahe in derselben relativen
Lage gegen das Gefäss. N1 ist dann sehr klein gegenüber N,
soll aber noch immer eine sehr grosse Zahl sein. Der Einfluss
der Wände auf das Innere kann jedenfalls um so kleiner
gemacht werden, je grösser man das Gefäss wählt und im
Inneren heben sich die auf ein Molekül nach allen Rich-
tungen wirkenden Waals’schen Cohäsionskräfte auf. Daher
werden nach Gleichung 140) für den Mittelpunkt des hervor-
gehobenen Moleküles in allen diesen N1 Gasen alle möglichen
Stellen im Gefässe gleich wahrscheinlich sein. Es wird also
die Gesammtzahl N1 dieser Gase sich zur Zahl N2 derselben,
in denen der Mittelpunkt des hervorgehobenen Moleküles von
einem der restirenden eine Entfernung hat, die zwischen σ und
σ + δ liegt, sich so verhalten, wie der Gesammtraum, der in
einem der N1 Gase dem Mittelpunkte des hervorgehobenen
Moleküles zur Verfügung steht, zum Raume, in dem sich dieser
Mittelpunkt befinden muss, damit seine Entfernung vom Mittel-
punkte eines der restirenden Moleküle zwischen σ und σ + δ
liege. Letzteren Raum wollen wir den günstigen nennen.


Da in allen N1 Gasen der Mittelpunkt jedes der restiren-
den Moleküle eine gegebene Position hat und da ihm der
[145][Gleich. 148] § 51. Stossende Molekülpaare.
Mittelpunkt des hervorgehobenen Moleküles nicht näher als
in die Entfernung σ kommen darf, so erhalten wir den für den
Mittelpunkt des hervorgehobenen Moleküles in einem dieser
Gase überhaupt verfügbaren Raum, indem wir vom ganzen
Volumen V des Gases das Volumen der Deckungssphären aller
restirenden Moleküle, also die Grösse
abziehen. Da wir die Einheit gegen n vernachlässigen können,
so ist der gesammte für den Mittelpunkt des hervorgehobenen
Moleküles in einem der N1 Gase verfügbare Raum
148) .


Das negative Glied ist das gesammte Volumen aller im
Volumen V enthaltenen Deckungssphären oder das achtfache
Volumen der im Volumen V enthaltenen Moleküle. Es soll klein
gegenüber V sein und wir bezeichnen den Grad seiner Klein-
heit gegenüber V als Kleinheit erster Ordnung. Um den
günstigen Raum zu finden, construiren wir um den Mittel-
punkt jedes der restirenden Moleküle eine Kugelschale, welche
zwischen zwei Kugelflächen eingeschlossen ist, deren Mittel-
punkt mit dem Mittelpunkte des Moleküles zusammenfällt und
deren Radien gleich σ resp. σ + δ sind. Die Summe der
Volumina aller dieser Kugelschalen ist der günstige Raum.
Man findet für denselben den Betrag
Δ = 4 π (n — 1) σ2δ,
wofür wir auch schreiben können
Δ = 4 π n σ2δ.


In erster Annäherung dürfen wir im Ausdrucke 148) das
negative Glied vernachlässigen und es ist also das Verhältniss
des günstigen zum überhaupt verfügbaren Raume
4 π n σ2δ/V.
Es wird also in
4 π n σ2N1δ/V
Boltzmann, Gastheorie II. 10
[146]V. Abschnitt. [Gleich. 149]
von unseren N1 Gasen der Mittelpunkt des hervorgehobenen
Moleküles sich von dem eines restirenden Moleküles in einer
Entfernung befinden, die zwischen σ und σ + δ liegt. Da aber
der Zustand unserer N1 Gase doch auch wieder vollständig
beliebig gewählt war, so gilt dasselbe auch von allen N Gasen.
In 4 π n σ2N δ/V derselben wird der Mittelpunkt des hervor-
gehobenen Moleküles die besprochene Eigenschaft haben. Da
dasselbe auch von allen anderen Molekülen gilt, so werden
sich in allen N Gasen im Ganzen
4 π n2σ2N δ/V
Moleküle befinden, deren Mittelpunkte vom Mittelpunkte irgend
eines anderen Moleküles eine Entfernung haben, die zwischen
σ und σ + δ liegt. In jedem Gase werden daher
4 π n2σ2δ/V
Moleküle diese Bedingung erfüllen und die Anzahl der in einem
Gase vorkommenden Molekülpaare, für welche die Central-
distanz zwischen σ und σ + δ liegt, ist
149) 2 π n2σ2δ/V.


Will man aber auch die Glieder berücksichtigen, welche
klein von der nächst höheren Ordnung sind, so hat man nicht
nur statt V den Ausdruck 148) zu substituiren, sondern man
hat auch im Zähler eine Correction anzubringen. Δ war das
gesammte Volumen aller Kugelschalen von der Dicke δ, welche
wir um die Mittelpunkte aller restirenden Moleküle construirt
hatten. Dieses Volumen ist nicht ganz als günstiges Volumen
anzurechnen. Es können sich nämlich die Deckungssphären
zweier Moleküle theilweise durchschneiden. Dann liegt ein
Theil einer solchen Kugelschale innerhalb der Deckungssphäre
eines anderen Moleküles, ist also als Ort für den Mittelpunkt
des hervorgehobenen Moleküles nicht verfügbar und muss von
dem günstigen Raume Δ abgezogen werden. Streng genommen
hätten wir den Umstand, dass zwei Deckungssphären in einander
greifen können, auch bei Berechnung des Raumes Γ berück-
sichtigen sollen, den wir von V abgezogen haben, um den über-
haupt verfügbaren Raum zu finden; allein man sieht sofort,
dass wir dadurch ein Glied erhalten hätten, welches unendlich
[147][Gleich. 149] § 51. Stossende Molekülpaare.
klein zweiter Ordnung im Vergleiche mit dem ersten als Addenden
danebenstehenden Gliede V ist und daher jetzt, wo wir nur
die kleinen Glieder erster Ordnung berücksichtigen, zu ver-
nachlässigen ist. Die Grösse δ/σ soll klein von weit höherer
Ordnung als σ3/V sein. Daher können alle δ2 enthaltenden
Glieder also die Fälle, wo unter den restirenden Molekülen
zwei oder mehr Kugelschalen von der Dicke δ in einander
greifen, vernachlässigt werden und es braucht auch weder das
gleichzeitige Ineinandergreifen dreier Deckungssphären noch
die Wechselwirkung dreier Moleküle berücksichtigt zu werden.


Wir wollen nun das Correctionsglied der Grösse Δ berech-
nen. Die Deckungssphären zweier Moleküle durchdringen sich,
wenn die Entfernung ihrer Mittelpunkte zwischen σ und 2 σ
liegt. Sei r eine zwischen diesen Grenzen liegende Länge, so
ist analog der Formel 149) die Anzahl der in einem der Gase
vorkommenden Molekülpaare, deren Mittelpunkte eine Ent-
fernung haben, welche zwischen r und r + d r liegt, gleich:
ν = 2 π n2r2d r/V.


Unter der Deckungssphäre verstanden wir eine um das
Molekülcentrum mit dem Radius σ geschlagene Kugelfläche.
Da σ \< r \< 2 σ ist, so greifen für alle diese ν Molekülpaare
die Deckungssphären in einander und zwar zeigt eine leichte
Rechnung, dass für jedes solche Molekülpaar derjenige Theil
der Oberfläche der einen Deckungssphäre, welche innerhalb
der zweiten liegt, gleich π σ (2σr) ist. Ueber der ganzen
Deckungssphäre liegt eine Kugelschale von Dicke δ. Derjenige
Theil dieser Kugelschale, welcher innerhalb der Deckungs-
sphäre des anderen Moleküles liegt, also nicht als Ort für den
Mittelpunkt des hervorgehobenen Moleküles verfügbar ist, hat
also das Volumen: π σ (2σr) δ. Ein gleicher Theil der mit
dem anderen Moleküle des Molekülpaares verbundenen Kugel-
schale liegt innerhalb der Deckungssphäre des ersten Moleküles
des Paares und ist also ebenfalls nicht verfügbar. Von den
beiden Kugelschalen des Molekülpaares ist also das Volumen
2 π σ (2 σr) δ als für den Mittelpunkt des hervorgehobenen
Moleküles nicht verfügbar abzuziehen. Für alle ν Paare aber
ist der Raum
10*
[148]V. Abschnitt. [Gleich. 150]
abzuziehen. Da r alle Werthe zwischen σ und 2σ anzunehmen
im Stande ist, so ist das gesammte Volumen, welches von allen
Kugelschalen abzuziehen ist, gleich:
.


Das gesammte Volumen aller in einem Gase befindlichen
Kugelschalen war: Δ = 4 π n σ2δ. Daher bleibt als günstiges
Volumen, d. h. als Volumen innerhalb dessen der Mittelpunkt
des hervorgehobenen Moleküles liegen kann, wenn seine Ent-
fernung von dem Mittelpunkte eines der restirenden Moleküle
zwischen σ und σ + δ eingeschlossen ist, der Betrag:
.
Der Quotient dieses Betrages und des gesammten verfügbaren
Volumens
,
welcher, da wir die Glieder zweiter Ordnung nicht berück-
sichtigen, in der Form
geschrieben werden kann, giebt die Wahrscheinlichkeit, dass
der Mittelpunkt des hervorgehobenen Moleküles von einem
anderen Moleküle eine Entfernung hat, die zwischen σ und
σ + δ liegt. Die weiteren Schlüsse bleiben wie früher. Der
letzte Ausdruck liefert mit ½ n multiplicirt in einem beliebig
gewählten Zeitmomente die Anzahl der Molekülpaare eines
Gases, bei denen die Mittelpunkte der beiden Moleküle eine
Entfernung haben, welche zwischen σ und σ + δ liegt. Die
Anzahl dieser Molekülpaare ist also:
150) .
Die Anzahl der Moleküle, aus denen diese Paare gebildet sind,
ist natürlich doppelt so gross.


[149][Gleich. 151] § 52. Endliche Molekülgrösse.

§ 52. Virial, das von der endlichen Ausdehnung
der Moleküle herrührt
.


Wir können hieraus das mittlere Virial in verschie-
dener Weise bestimmen. Am einfachsten ist es, von der
Formel 142) § 47 Gebrauch zu machen. Wir ersetzen da die
Elasticität der Moleküle durch eine Abstossungskraft f (r) ihrer
Mittelpunkte, welche eine Function der Entfernung r derselben
ist, für rσ verschwindet und sobald r nur etwas kleiner
als σ wird, sofort über alle Grenzen wächst. Eine solche Ent-
fernung der Mittelpunkte zweier Moleküle, welche nur sehr
wenig kleiner als σ ist, soll von jetzt ab mit r bezeichnet
werden. Würde die Abstossung erst für Entfernungen beginnen,
die ein wenig kleiner als r sind, so wäre die Zahl der Molekül-
paare, für welche die Entfernung der Mittelpunkte zwischen r
und r + δ liegt, analog der Formel 150) gleich:
151) ,
wofür wir, da r nur unendlich wenig von σ verschieden ist,
auch den Ausdruck 150) selbst setzen können. Wir haben nun
noch zu berechnen, wie die Anzahl dieser Molekülpaare durch
die abstossende Kraft vermindert wird. Setzt man in Formel 142)
für die p die rechtwinkeligen Coordinaten der Molekülmittel-
punkte ein, so findet man, dass die Anzahl der Systeme, für
welche diese in gewissen Volumelementen d o1, d o2 … liegen,
proportional … ist, wobei V0 die potentielle
Energie bedeutet, deren negativer Differentialquotient nach
den Coordinaten die Kräfte liefert, welche diese Coordinaten
zu vergrössern streben. Für unsere Molekülpaare ist V0 bloss
Function von r und zwar gleich dem negativen Integrale von
f (r) d r. Sobald die Entfernung der Mittelpunkte zweier Mole-
küle gleich oder grösser als σ ist, ist keine Abstossung mehr
vorhanden, die potentielle Energie hat also denselben Werth
wie in unendlicher Entfernung, welchen wir mit F (∞) bezeich-
nen wollen. Den Werth der potentiellen Energie in der Ent-
fernung r dagegen wollen wir mit F (r) bezeichnen.


[150]V. Abschnitt. [Gleich. 153]

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Entfernung der Mittel-
punkte zweier Moleküle bei Abwesenheit aller Abstossungskräfte
zwischen r und r + δ liegt, verhält sich daher zu der, dass
sie beim Vorhandensein der Abstossungskräfte zwischen den-
selben Grenzen liegt, wie
e— 2 h F (∞) : e— 2 h F (r),
und für die Anzahl der Molekülpaare, für welche die Ent-
fernung der Mittelpunkte zwischen r und r + δ liegt, findet
man statt des Ausdruckes 151) den Ausdruck:
152) .
Da
V0 = F(r) = — ∫ f (r) d r
ist, so ist
.
Da ferner δ in Formel 152) einen unendlich kleinen Zuwachs
von r darstellt, so wollen wir es nach dem allgemeinen Ge-
brauche der Differentialrechnung mit d r bezeichnen und die
Formel 152) geht also über in
153) .


Multipliciren wir diesen Ausdruck mit dem Viriale r f (r)
des betreffenden Molekülpaares und integriren über alle im Zu-
sammenstosse begriffenen Moleküle, so erhalten wir das ge-
sammte von den während der Zusammenstösse thätigen Kräften
herrührende Virial W'i. Ist daher σε die kleinste Distanz,
bis zu welcher sich die Mittelpunkte zweier Moleküle nähern,
wenn dieselben mit enormer Geschwindigkeit aufeinander zu-
fliegen, so erhält man:
.
Da r immer unendlich wenig von σ verschieden ist, so kann
es, wo es nicht unter dem Functionszeichen f steht, mit σ
[151][Gleich. 154] § 53. Virial der Waals’schen Cohäsionskräfte.
vertauscht werden und vor das Integralzeichen kommen und
es folgt:
.


Das letzte Integral kann leicht gefunden werden, wenn
man die neue Variable
einführt, welche für die obere Grenze gleich Null, für die untere
aber gleich unendlich, nämlich gleich der lebendigen Kraft
wird, mit welcher das eine Molekül auf das andere ruhend
gedachte zufliegen muss, damit sich die Mittelpunkte bis zur
Distanz σε nähern; es wird daher bei Einführung dieser
neuen Variabeln
,
da nach § 42 1/4 h die mittlere, einem Momentoide ent-
sprechende lebendige Kraft ½ m ist und jede der Componenten
der gesammten Geschwindigkeit c ein Momentoid darstellt. (Ver-
gleiche auch I. Theil S. 50, Gleichung 44.) Setzen wir wie
früher in Gleichung 20) S. 16
b = 2 π σ3/3 m,
so folgt also
154) ,
wobei v = V/n m das specifische Volumen ist.


§ 53. Virial der Waals’schen Cohäsionskräfte.


Das von den Anziehungskräften herstammende Virial findet
sich, unter Beibehaltung der in § 2 S. 5 gemachten Hypothese
über Wirkungsweise derselben, ohne Schwierigkeit. Ist ρ die
Dichte des Gases und sind d o und d ω zwei Volumelemente
[152]V. Abschnitt. [Gleich. 156]
desselben, die sich in der Entfernung r befinden, in welcher
sich die Moleküle mit der Kraft F (r) anziehen, also mit der
Kraft — F (r) abstossen, so ist ρ d o/m und ρ d ω/m die Anzahl
der Moleküle in dem einen und anderen Volumelemente und
das Virial der in beiden Volumelementen enthaltenen Moleküle.
ist also das gesammte Virial der in d o enthaltenen Moleküle
auf alle übrigen. Da nur die in molekularen Entfernungen
befindlichen Moleküle hierzu erheblich beitragen, so hat
für alle Volumelemente d o im Inneren des Gases denselben
Werth, welcher, da er nur von der Natur der Function F ab-
hängt, eine der Substanz eigenthümliche Constante sein muss,
welche wir mit 3 a bezeichnen wollen. Das gesammte Virial
W″i finden wir, indem wir noch über alle Volumelemente d o
integriren, wodurch wir das ganze Volumen V erhalten. Die
sehr nahe an der Oberfläche liegenden Moleküle tragen hierzu
nur unendlich wenig bei. Es ist also
155) W″i = 3 ρ2a V.


Die Substitution von Wi = W'i + W″i mit den Werthen 154)
und 155) für W'i und W″i, sowie der Werthe 146) und 147) in
die Virialgleichung 145) liefert daher:
.
Wir wollen nun nach Gleichung 21) = 3 r T setzen. Ferner
ist V/n m = v = 1/ρ, daher geht die obige Gleichung über in
156) .


Wenn man die Grössen von der Ordnung vernachlässigt,
so wird die rechte Seite, mit dem von van der Waals ge-
[153][Gleich. 157] § 54. Ersatzformeln f. d. van der Waals’sche.
fundenen Ausdrucke r T/(vb) identisch. Allein schon die
Glieder von der Grössenordnung b2/v2 stimmen nicht mehr
überein. Dass der Ausdruck van der Waals’ nicht für be-
liebige v gelten kann, bemerkt schon van der Waals selbst,
da gemäss desselben p für v = b unendlich werden müsste,
während der Druck offenbar erst für weit kleinere Werthe von
v unendlich werden kann.


§ 54. Ersatzformeln für die van der Waals’sche.


Unsere gegenwärtigen Betrachtungen lehren, dass der von
van der Waals angegebene Ausdruck für den Druck auch
schon für sehr kleine Werthe des v nicht mehr mit dem theo-
retisch sich ergebenden übereinstimmt, sobald man die Glieder
von der Grössenordnung b2/v2 berücksichtigt. Da nun die
theoretische Bestimmung der Glieder von noch höherer Grössen-
ordnung äusserst weitschweifig wird, so könnte man versuchen,
an Stelle der Gleichung van der Waals’ eine solche zu setzen,
welche wenigstens die Glieder von der Ordnung b2/v2 noch
mit der Theorie übereinstimmend liefert. Wir sahen ferner,
dass man auch den kleinsten Werth des v, für welchen der
Druck unendlich zu werden beginnt, theoretisch bestimmen
kann. Derselbe ist v = ⅓ b (vergl. § 6), weil wenigstens sehr
angenähert für diesen Werth von v die Moleküle so dicht ge-
drängt sind, als es überhaupt möglich ist und bei jeder Ver-
kleinerung des v die Moleküle in einander eindringen müssten.
Man kann daher die Zustandsgleichung obendrein noch so
formen, dass p für diesen Werth des v unendlich wird.


Um uns von der Form der van der Waals’schen Glei-
chung möglichst wenig zu entfernen, wollen wir, indem wir
mit x, y und z passend zu wählende Zahlen bezeichnen, die
Zustandsgleichung in der Form schreiben:
157) .


Wir haben dann zudem den Vortheil, dass wir bei ge-
gebenen p und T für v eine Gleichung dritten Grades erhalten.
Setzen wir y = 1 — x, , so stimmen für kleine Werthe
[154]V. Abschnitt. [Gleich. 158 a]
von b/v auch noch die Glieder von der Ordnung b2/v2 mit
den von uns theoretisch gefundenen. Setzen wir
158) ,
so wird auch die Bedingung erfüllt, dass p für v = ⅓ b ver-
schwindet. Da alle unsere Betrachtungen nur angenähert richtig
sind, so ist es übrigens vielleicht rationeller den Zahlen x, y
und z nicht gerade diese, sondern vielmehr solche Werthe zu
ertheilen, dass eine möglichst gute Uebereinstimmung mit den
Beobachtungen erzielt wird.


Wollte man im Zähler keinen Factor zu r T hinzufügen,
so würde eine quadratische Function von b/v im Nenner, also
ein Gesetz von der Form
wohl schwerlich sehr empfehlenswerth sein; denn es müsste
dann p, wenn es überhaupt unendlich wird und wenn die
Glieder mit der ersten Potenz von b/v stimmen sollen, auch
für einen Werth des v, der grösser oder gleich ½ ist, unend-
lich werden.


Der letzte Fall träte ein, wenn man
setzen würde. Man würde wohl besser
158 a)
setzen und für ε eine transscendente oder doch algebraische
Function höheren Grades wählen, welche für grosse v nahe
gleich 1, für v = ⅓ b nahe gleich ⅓ wird, und auch sonst die
Beobachtungsdaten möglichst gut wiedergiebt. Die Formel 158 a)
verdanke ich einer mündlichen Mittheilung Hrn. van der Waals’.
(Vgl. auch die S. 167 citirte Abhandlung des Hrn. Kamerlingh-
Onnes
.) Uebrigens hat van der Waals mit seiner Formel
einen so glücklichen Griff gethan, dass es Mühe kosten wird,
durch die subtilsten Erwägungen eine Formel zu erhalten, die
[155][Gleich. 158 a] § 55. Beliebiges Abstossungsgesetz.
wesentlich brauchbarer wäre, als die von van der Waals
gewissermaassen durch Inspiration gefundene.


Ein allgemeinerer Weg, um die ursprüngliche Formel van
der Waals
in bessere Uebereinstimmung mit der Erfahrung
zu bringen, bestünde darin, dass man in den beiden Aus-
drücken a/v2 und vb dieser Formel an Stelle der Con-
stanten empirisch zu wählende Functionen von Volumen und
Temperatur oder, ganz allgemein, dass man an Stelle von
a/v2 und vb den Beobachtungen möglichst gut ange-
passte derartige Functionen zu setzen versuchte, welche natür-
lich so gewählt werden müssten, dass die Sätze über die
kritischen Grössen und über die Verflüssigung nicht qualitativ
verschieden ausfielen. In diesem Sinne haben Clausius und
Sarrau die van der Waals’sche Formel modificirt. Wenn
dieselben wohl auch von theoretischen Ideen geleitet wurden
(Clausius scheint besonders die Berücksichtigung der Ver-
einigung der Moleküle zu grösseren Complexen im Auge gehabt
zu haben), so haben deren Gleichungen doch mehr den Cha-
rakter empirischer Annäherungsformeln, auf welche ich hier
nicht weiter eingehen will, ohne natürlich damit deren Nutzen
für die Praxis irgendwie bestreiten zu wollen.


§ 55. Virial für ein beliebiges Abstossungsgesetz
der Moleküle
.


Wir können mittelst der Gleichung 153) nach derselben
Methode auch die Grösse W'i für den Fall berechnen, dass
sich die Moleküle nicht wie elastische Kugeln verhalten, son-
dern wie materielle Punkte, zwischen denen während des Zu-
sammenstosses eine beliebige centrale Abstossung f(r) thätig
ist. Da dann die Zeit, während welcher zwei Moleküle bei
einem Zusammenstosse auf einander wirken, nicht mehr ver-
nachlässigt werden kann, so ist die Correction, vermöge welcher
die Formel 150) aus 149) entstand, nicht mehr richtig; aber
letztere Formel ist in erster Annäherung noch immer richtig.


Die Anzahl der Molekülpaare im Gase, deren Entfernung
zwischen r und r + d r liegt, ist also 2 π n2r2d r/v, sobald in der
Entfernung r noch keine Kraft wirkt. Die Veränderung dieser
Zahl durch Wirkung der abstossenden Kräfte wurde im Früheren
[156]V. Abschnitt. [Gleich. 159]
nach der allgemeinen Formel 142) gefunden. Auch diese Formel
bleibt hier unverändert anwendbar, und es ist also, sobald in
der Entfernung r eine abstossende Kraft thätig ist, entsprechend
der Formel 153) die Anzahl der Molekülpaare, welche sich in
einer zwischen r und r + d r liegenden Entfernung befinden,
gleich:
.
Jedes solche Molekülpaar liefert in das Virial W'i den Betrag
r f (r). Die Summe aller dieser Beträge ist daher
159) ,
wobei ζ die kleinste Entfernung ist, in welche zwei Moleküle
gelangen können, σ die grösste, in welcher sie aufhören auf
einander zu wirken. Man kann übrigens statt zwischen ζ und
σ auch zwischen Null und ∞ integriren, da für r \< ζ die Ex-
ponentielle, für r \> σ aber f (r) verschwindet.


Setzt man wie im III. Abschnitte des I. Theiles f(r) = K/r5,
so sind freilich die hier gemachten Voraussetzungen nicht
strenge erfüllt, da ja eigentlich alle Moleküle fortwährend ab-
stossend auf einander wirken; allein diese Abstossung nimmt
mit wachsender Entfernung so rasch ab, dass die dadurch in
unseren Formeln erzeugte Abweichung wahrscheinlich ganz un-
erheblich ist. Wir erhalten somit:
.
Wir wollen hier noch die im I. Theil S. 201 verwendete
Distanz einführen, bis zu welcher sich zwei Moleküle nähern
würden, wenn das eine festgehalten würde, das andere aber
mit einer Geschwindigkeit darauf zuflöge, deren Quadrat gleich
dem mittleren Geschwindigkeitsquadrate eines Moleküles ist.
Wir wollen aber diese Distanz hier mit σ, statt wie dort mit
s bezeichnen. Dann ist:
.
[157][Gleich. 159] § 56. Princip der Lorentz’schen Methode.
Daher:
.
Denkt man sich ausserdem die von van der Waals ange-
nommenen Anziehungskräfte vorhanden und zieht sie wie früher
in Rechnung, so erhält man durch Substitution aller Werthe
in die Gleichung 145) für die Masseneinheit des Gases die
folgende Gleichung:
,
wobei
.
Doch ist jetzt σ nicht constant, sondern der 4. Wurzel aus
der absoluten Temperatur verkehrt proportional. Es ist daher
bloss der numerische Coefficient b des einen Correctionsgliedes
ein anderer und mit der Temperatur veränderlich geworden.
Die Grösse b ist nämlich der ¾ Potenz der absoluten Tem-
peratur verkehrt proportional, da die Grösse σ der 4. Wurzel
der Temperatur verkehrt proportional ist.


§ 56. Das Princip der Lorentz’schen Methode.


Wir haben früher für den Fall, dass die Gasmoleküle sich
wie elastische Kugeln verhalten, das innere Virial aus der
Formel 154) mittelst der Formel 142) abgeleitet. Man kann
dasselbe auch, ohne die letztere Formel zu benutzen, auf einem
anderen Wege finden, welchen zuerst H. A. Lorentz einge-
schlagen hat. Es ist gemäss der Definition
,
wobei die Summe über alle während der sehr langen Zeit t
zusammenstossenden Molekülpaare zu erstrecken ist. Da der
Zustand stationär ist, kann statt der sehr langen Zeit t auch
[158]V. Abschnitt. [Gleich. 161]
die Zeiteinheit gewählt, also t = 1 gesetzt werden. Integriren
wir jedes Glied der Summe einzeln, so folgt:
160) ,
wobei die Summe über alle während der Zeiteinheit zusammen-
stossenden Molekülpaare zu erstrecken ist. Nun geschieht aber
die relative Bewegung der Moleküle genau so, als ob das eine
ruhen würde und das andere die halbe Masse hätte. Wenn
bei dieser relativen Bewegung das erste Molekül auf das zweite
ruhend gedachte mit der relativen Geschwindigkeit g zufliegt,
so wird die Componente von g senkrecht zur Centrilinie der
Moleküle nicht verändert. Die Componente y in der Richtung
der Centrilinie aber wird durch die Gesammtkraft f(r) gerade
umgekehrt. Daher ist für jeden Zusammenstoss:
.
∫ r f(r) d t ist aber gleich σ ∫ f(r) d t,

da r während des Zusammenstosses immer nahe gleich σ ist.
Substituirt man dies in die Gleichung 160), so folgt:
161) W'i = m σ å γ,
wo die Summe über alle in der Zeiteinheit zusammenstossen-
den Molekülpaare zu erstrecken ist.


Um diese Summe zu berechnen, wollen wir zunächst
fragen, wie viel Moleküle im Gase während einer sehr kurzen
Zeit d t in einer bestimmt gegebenen Weise zusammenstossen.
Sollen die Moleküle während des Verlaufes der Zeit d t zu-
sammenstossen, so müssen sich ihre Mittelpunkte schon zu
Anfang der Zeitstrecke d t in einer Entfernung befunden haben,
welche nur sehr wenig grösser als σ ist. Nach Formel 150)
sind zu einer beliebigen Zeit, also auch zu Anfang der Zeit-
strecke d t im Gase
2 π n2σ2β δ/V
[159][Gleich. 165] § 56. Princip der Lorentz’schen Methode.
Molekülpaare vorhanden, deren Mittelpunkte eine Entfernung
haben, die zwischen σ und σ + δ liegt, worin
162)
und v das specifische Volumen ist. Diese Molekülpaare be-
stehen aus:
163)
Molekülen. Jedes dieser Moleküle liegt einem anderen so
nahe, dass die Entfernung ihrer Mittelpunkte zwischen σ und
σ + δ liegt.


Hier müssen wir nun allerdings wieder zwar nicht
speciell die Gleichung 142), aber doch einen Wahrscheinlich-
keitssatz zuziehen, indem wir annehmen, dass in dem Raume,
wo sich die Moleküle befinden, deren Zahl durch Formel 163)
gegeben ist, dieselbe durchschnittliche Vertheilung der Mole-
küle und unter diesen dieselbe Zustandsvertheilung herrscht,
wie im ganzen Gase. Dies folgt unmittelbar aus dem Satze,
den wir in § 46, S. 133 den Satz S genannt haben. Es werden
dann von den Molekülen, deren Anzahl durch Formel 163)
gegeben ist,
164)
eine Geschwindigkeit haben, welche zwischen c und c + d c
liegt, wenn, wie in Formel 8) φ (c) d c die Wahrscheinlichkeit
ist, dass die Geschwindigkeit eines Moleküles zwischen diesen
Grenzen liegt, so dass von allen n Gasmolekülen n φ (c) d c eine
zwischen diesen Grenzen liegende Geschwindigkeit haben. Dann
ist, wie wir im I. Theile sahen (vgl. auch Formel 8) S. 10
dieses Theiles):
165) .


Der Ausdruck 164) giebt also die Anzahl der Moleküle,
welche zu Anfang der Zeitstrecke d t eine Geschwindigkeit haben,
die zwischen c und c + d c liegt und deren Mittelpunkt von
dem irgend eines anderen Moleküles eine Entfernung hat, die
[160]V. Abschnitt. [Gleich. 166]
zwischen σ und σ + δ liegt. Nun wollen wir von allen diesen
Molekülen bloss diejenigen betrachten, bei denen die Ge-
schwindigkeit jenes anderen Moleküles zwischen c' und c' + d c'
liegt und ihre Richtung mit der der Geschwindigkeit des ersten
Moleküles einen Winkel bildet, der zwischen ε und ε + d ε liegt.
Da auch unter jenen anderen Molekülen vollkommen unab-
hängig von dem Zustande jenes einen in der Nähe befind-
lichen Moleküles die Maxwell’sche Geschwindigkeitsvertheilung
herrscht und für ihre Geschwindigkeit jede Richtung im Raume
gleich wahrscheinlich ist, so müssen wir, um die Anzahl der-
jenigen Moleküle zu finden, welche wir jetzt aus allen den
Molekülen, deren Zahl durch den Ausdruck 164) gegeben ist,
hervorgehoben haben, den letzteren Ausdruck mit
½ φ (c') d c' sin ε d ε
multipliciren. Das Product
166) ,
giebt also die Zahl der Molekülpaare, für welche die Ge-
schwindigkeit des einen Moleküles, das wir das Molekül c nennen
wollen, zwischen c und c + d c, die des anderen Moleküles (des
Moleküles c') zwischen c' und c' + d c', der Winkel der Rich-
tungen beider Geschwindigkeiten zwischen ε und ε + d ε liegt
und die Mittelpunkte der Moleküle ausserdem im Momente
des Beginnes der Zeitstrecke d t eine Entfernung haben, welche
zwischen σ und σ + δ liegt.


Zeichnen wir daher um den Mittelpunkt jedes der Mole-
küle, deren Geschwindigkeit zwischen c und c + d c liegt, eine
von zwei concentrischen Kugelflächen begrenzte Hohlkugel, deren
Innenfläche den Radius σ, deren Aussenfläche den Radius
σ + δ hat, so giebt der Ausdruck 166) die Anzahl der Mole-
küle, deren Mittelpunkt zu Anfang der Zeitstrecke d t in einer
dieser Hohlkugeln liegt und für welche zudem die Geschwindig-
keit zwischen c' und c' + d c' liegt und mit der Geschwindig-
keit des Moleküles, in dessen Hohlkugel sein Centrum liegt,
einen Winkel bildet, der zwischen ε und ε + d ε liegt.


[161]Gleich. 167] § 57. Zahl der Zusammenstösse.

§ 57. Zahl der Zusammenstösse.


Jedes Molekül c' liegt einem Moleküle c sehr nahe. Um
zu finden, wie viele während der unendlich kleinen Zeitstrecke
d t wirklich zusammenstossen, denken wir uns alle Moleküle c
ruhend, jedes Molekül c' aber mit seiner relativen Geschwin-
digkeit
167)
bewegt, die ihm relativ gegen das in seiner Nähe befindliche
Molekül c zukommt, so dass es während der Zeit d t den
Weg g d t in der Richtung der relativen Geschwindigkeit g
zurücklegt.


Ferner denken wir uns wieder um den Mittelpunkt jedes der
Moleküle c eine Kugel K vom Radius σ beschrieben. Vom Mittel-
punkte jeder dieser Kugeln K aus denken wir uns eine Gerade G
gezogen, welche die Richtung der relativen Geschwindigkeit
desjenigen Moleküles c' hat, das sich in der Nähe des be-
treffenden Moleküles c befindet. Die Gerade G verlängern wir
nach der entgegengesetzten Seite und ziehen alle Radien jeder
der Kugeln K, welche mit der Verlängerung einen Winkel
bilden, der zwischen ϑ und ϑ + d ϑ liegt. Die Endpunkte
aller dieser Radien werden auf der Oberfläche jeder der Kugeln K
einen Gürtel besetzen, dessen Flächeninhalt 2 π σ2 sin ϑ d ϑ ist.
Von jedem Punkte jedes dieser Gürtel aus ziehen wir eine
Gerade, deren Länge gleich g d t ist, deren Richtung aber der
Richtung der relativen Geschwindigkeit des betreffenden Mole-
küles c' entgegengesetzt ist. Alle von den Punkten eines
Gürtels aus gezogenen Geraden erfüllen einen ringförmigen
Raum vom Volumen 2 π σ2g sin ϑ cos ϑ d ϑ d t und man sieht
leicht, dass sämmtliche Moleküle c', deren Mittelpunkte zu An-
fang der Zeitstrecke d t innerhalb eines dieser ringförmigen
Räume lagen und deren Anzahl d ν heissen mag, während der
Zeit d t mit dem in ihrer Nähe befindlichen Moleküle c so zu-
sammenstossen, dass der Winkel zwischen der vom Moleküle c'
gegen das Molekül c gezogenen Centrilinie und der relativen
Geschwindigkeit des Moleküls c' gegen das Molekül c zwischen
ϑ und ϑ + d ϑ liegt. Es verhält sich aber d ν zu der durch
die Gleichung 166) gegebenen Zahl d μ wie das Volumen
Boltzmann, Gastheorie II. 11
[162]V. Abschnitt. [Gleich. 169]
2 π σ2g sin ϑ cos ϑ d ϑ d t eines der ringförmigen Räume, in
welchen sich der Mittelpunkt der d ν Moleküle befinden muss
zum Volumen 4 π σ2δ einer der Kugelschalen, in denen sich
die Mittelpunkte der d μ Moleküle befinden, woraus sich
ergiebt:
.
Dividiren wir durch d t, so finden wir für die Anzahl der Mole-
külpaare, welche in der Zeiteinheit in unserem Gase so zu-
sammenstossen, dass vor dem Stosse die Geschwindigkeit des
einen Moleküles zwischen c und c + d c, die des anderen
zwischen c' und c' + d c', der Winkel dieser beiden Geschwin-
digkeiten zwischen ε und ε + d ε und der Winkel zwischen der
vom zweiten zum ersten Moleküle gezogenen Centrilinie mit
der Relativgeschwindigkeit des zweiten gegen das erste Molekül
zwischen ϑ und ϑ + d ϑ liegt, den Ausdruck:
168) .
Dividiren wir den Ausdruck 168) durch n φ (c) d c, so erhalten
wir die Anzahl der Zusammenstösse, welche ein einzelnes Mole-
kül, dessen Geschwindigkeit fortwährend gleich c bliebe, in der
Secunde im Gase so von Molekülen erfahren würde, deren
Geschwindigkeit zwischen c' und c' + d c' liegt, dass auch die
Winkel ε und ϑ obigen Bedingungen genügen. Integriren wir
hierauf bezüglich ϑ von Null bis ½ π, bezüglich ε von Null bis
π und bezüglich c' von Null bis ∞, so erhalten wir die Ge-
sammtanzahl nc der Zusammenstösse, welche ein Molekül, das
sich fortwährend mit der Geschwindigkeit c im Gase bewegen
würde, überhaupt in der Secunde erfährt. Wir können den
Ausdruck
169)
als den Mittelwerth aller relativen Geschwindigkeiten bezeich-
nen, welche ein mit der Geschwindigkeit c bewegtes Molekül
gegenüber allen anderen möglichen Molekülen hat. Es ist also
.
[163][Gleich. 170] § 57. Zahl der Zusammenstösse.
Substituirt man in 169) für die Function φ den Werth 165)
und für g den Werth 167), so findet man, wie wir schon im
I. Theile S. 64 sahen
.


Da φ (c) d c die Wahrscheinlichkeit ist, dass die Geschwin-
digkeit eines Moleküles zwischen c und c + d c liegt, also auch
der Bruchtheil der Zeit, während welcher seine Geschwindig-
keit zwischen diesen Grenzen liegt, in die ganze Zeit seiner
Bewegung, sobald letztere sehr lang ist, so ist die Gesammt-
zahl der Zusammenstösse, welche ein beliebiges Molekül durch-
schnittlich während der Zeiteinheit erfährt, gleich
170) ,
wobei
der Mittelwerth der relativen Geschwindigkeiten aller mög-
lichen Molekülpaare des Gases ist. Wir haben eine ganz
analoge Integration schon im I. Theile S. 68 durchgeführt;
führt man diese genau in derselben Weise durch, so folgt:
.
Die mittlere relative Geschwindigkeit ist also gerade so gross,
als ob sich die beiden Moleküle jedes mit seiner mittleren Ge-
schwindigkeit in auf einander senkrechter Richtung bewegen
11*
[164]V. Abschnitt. [Gleich. 171]
würden. Dieser Satz ist auch noch richtig, wenn die beiden
Moleküle verschiedenen Gasarten angehören. Setzt man den
für gefundenen Werth in Gleichung 170) ein, so folgt:
.


§ 58. Genauerer Werth der mittleren Weglänge.
Berechnung von W'i nach Lorentz’s Methode
.


Da die mittlere Weglänge ist, so folgt ferner
,
oder nach Substitution des Werthes 162) für β und Ent-
wickelung nach Potenzen von b/v
171) .
Dies ist also der Werth für die mittlere Weglänge, welcher
bezüglich der Glieder von der Grössenordnung b/v um eine
Grössenordnung genauer ist, als der im I. Theile S. 70 an-
gegebene.


Das mittlere Virial aller beim Zusammenstosse thätigen
Kräfte finden wir nun leicht aus den Formeln 161) und 168). Für
jeden der Zusammenstösse, deren Anzahl durch die Formel 168)
gegeben ist, hat die Componente γ der relativen Geschwindigkeit g
in der Richtung der Centrilinie den Werth γ = g cos ϑ, jeder
dieser Zusammenstösse liefert daher in die Summe 161) das Glied
m σ g cos ϑ. Multiplicirt man dies mit dem Ausdrucke 168), so
findet man den Betrag, den alle diese Zusammenstösse in die
Summe 161) liefern. Integrirt man dann noch über alle mög-
lichen Werthe, so erhält man schliesslich den Gesammtbetrag
der Summe, also nach Gleichung 161) die Grösse W'i. Schliess-
lich muss man aber noch durch 2 dividiren, da man sonst
jeden Zusammenstoss doppelt zählen würde, einmal so, dass
die Geschwindigkeit des einen, dann so, dass die des anderen
[165][Gleich. 171] § 58. Mittlere Weglänge. Berechnung von W'i.
Moleküles diejenige ist, die zwischen c und c + d c liegt. Es
ist also:
.


Substituirt man für g den Werth 167) und bedenkt, dass:
,
so erhält man den schon früher gefundenen Werth
.
Den corrigirten Werth 171) für die mittlere Weglänge hat
zuerst Clausius1) angegeben. Die Zusatzglieder von der
Grössenordnung b/v zum Boyle-Charles’schen Gesetze hat
nach der im Vorhergehenden eingeschlagenen Methode zuerst
H. A. Lorentz2) berechnet, die Zusatzglieder von der Grössen-
ordnung b2/v2 haben Jäger3) und van der Waals4) be-
rechnet; der von Jäger, nicht aber der von van der Waals
gefundene Werth stimmt mit dem hier berechneten.


§ 59. Genauere Berechnung des für den Mittelpunkt
eines Moleküles disponiblen Raumes
.


Es seien wieder in einem Gefässe vom Volumen V im
Ganzen n gleichbeschaffene Moleküle vorhanden, die wir als
Kugeln vom Durchmesser σ betrachten. Den für den Mittel-
[166]V. Abschnitt. [Gleich. 172]
punkt eines einzigen noch in das Gefäss bei gegebener Lage
aller Moleküle zu diesen hineingebrachten Moleküles dis-
ponibeln Raum D finden wir (vergl. Gleichung 148), indem wir
vom ganzen Volumen V den von den n Molekülen gedeckten
Raum Γ = 4 π n σ3/3 = 2 G b abziehen. m ist wie früher die
Masse eines Moleküles, m n = G aber ist die gesammte Gas-
masse und
wie in Formel 20) die halbe Summe der Deckungssphären
aller in der Masseneinheit des Gases befindlichen Moleküle.
Hierbei sind aber die Glieder von der Grössenordnung Γ2/V2
vernachlässigt, welche dadurch bedingt sind, dass hier und da
die Deckungssphären zweier Moleküle in einander eingreifen.
Diese Glieder wollen wir jetzt berechnen, indem wir aber die
Glieder von der Ordnung Γ3/V3 noch immer vernachlässigen.


Sei Z die Summe der Volumina aller derjenigen Theile der
Deckungssphären der Moleküle, welche innerhalb der Deckungs-
sphäre irgend welcher anderer Moleküle liegen, so haben wir
also zu setzen:
172) D = V — 2 G b + Z.
Der Fall, dass die Deckungssphären zweier Moleküle in einander
greifen, tritt jedesmal ein, wenn ihre Mittelpunkte eine Ent-
fernung haben, die zwischen σ und 2 σ liegt. Sei x eine solche
Entfernung. Die Deckungssphären sind Kugeln vom Radius σ,
welche mit dem betreffenden Moleküle concentrisch sind. Wenn
die Mittelpunkte zweier Moleküle die Entfernung x haben, so
hat der gesammte Raum, welcher den Deckungssphären beider
Moleküle gleichzeitig angehört, die Gestalt zweier Kugel-
abschnitte von der Höhe . Ein solcher Kugelabschnitt
hat das Volumen
.


Wir wollen jedem Moleküle concentrisch eine Kugelschale
vom Innenradius x und Aussenradius x + d x construiren. Die
Summe 4 π n x2d x der Volumina dieser Kugelschalen verhält
[167][Gleich. 173] § 59. Raum für einen Molekülmittelpunkt.
sich dann zum Gesammtvolumen V des Gases wie die An-
zahl d nx der Moleküle, deren Mittelpunkte von dem eines
anderen eine Entfernung haben, die zwischen x und x + d x
liegt, zur Gesammtanzahl n der Moleküle. Es ist also
.
Hierbei sind allerdings Glieder von der Grössenordnung
Γ d nx/V vernachlässigt, welche aber, wie man sich leicht über-
zeugt, in unser Schlussresultat nur Glieder von der Ordnung
Γ3/V3 liefern würden.


Die Anzahl der Molekülpaare, für welche die Central-
distanz zwischen x und x + d x liegt, ist ½ d nx. Da für jedes
solche Molekülpaar zwei Kugelabschnitte vom Volumen K inner-
halb der Deckungssphären liegen, so liefern alle diese Mole-
külpaare zur Grösse Z den Betrag K d nx und wir finden die
Grösse Z selbst, indem wir diesen Betrag von x = σ bis x = 2 σ
integriren. Es ergiebt sich in dieser Weise
,
173) .


§ 60. Berechnung des Druckes des gesättigten
Dampfes aus den Wahrscheinlichkeitssätzen.
1)


Es soll nun bei einer bestimmten Temperatur T die tropf-
bare und dampfförmige Phase der Substanz neben einander
bestehen. Die Gesammtmasse des tropfbaren Antheiles soll Gf,
deren gesammtes Volumen Vf sein, die Masse des dampfförmigen
Antheiles soll Gg sein und das Gesammtvolumen Vg erfüllen,
so dass vf = Vf/Gf, vg = Vg/Gg die specifischen Volumina oder
die reciproken Werthe der Dichten ϱf und ϱg der Flüssigkeit
und des Dampfes sind.


Bringt man noch ein Molekül in den Raum hinein, in dem
sich die beiden Phasen der Substanz befinden, so ist nach der
[168]V. Abschnitt. [Gleich. 173]
Formel 173) für den Mittelpunkt desselben innerhalb der tropf-
baren Flüssigkeit noch der Raum
.
innerhalb des Dampfes aber der Raum
verfügbar. Das Verhältniss dieser beiden Räume wäre, wenn
die Waals’sche Cohäsionskraft nicht existiren würde, das Ver-
hältniss der Wahrscheinlichkeiten, dass bei gegebener Lage
aller übrigen Moleküle das letzte innerhalb der tropfbaren
Flüssigkeit oder innerhalb des Dampfes liegt. Dieses Verhält-
niss ist wegen der Wirksamkeit der Waals’schen Cohäsions-
kraft nach Formel 142) noch mit zu multi-
pliciren, wobei ψf und ψg die Werthe der Kraftfunction der
Waals’schen Cohäsionskraft für ein Molekül sind, das sich im
ersten Falle innerhalb der Flüssigkeit, im zweiten innerhalb
des Dampfes befindet. Bestimmt man daher die Constante so,
dass ψ für unendliche Entfernungen verschwindet, so ist — ψf
die Arbeit, welche erforderlich ist, um ein Molekül von der
Masse m unter Ueberwindung der Waals’schen Cohäsionskraft
aus dem Inneren der Flüssigkeit heraus in grosse Entfernung
von derselben zu bringen. Für diese Arbeit fanden wir aber
in § 24 den Ausdruck 2 m a ϱf = 2 m a/vf, während a ϱf die ge-
sammte Trennungsarbeit aller in der Masseneinheit der Flüssig-
keit befindlichen Moleküle war. Ebenso ist
ψg = 2 m a ϱg = 2 m a/vg.
Mit Rücksicht auf die Waals’sche Cohäsionskraft ist also das
Verhältniss der Wahrscheinlichkeit, dass sich das letzte Molekül
in der tropfbaren Flüssigkeit befindet, zu der, dass es sich im
Gase befindet:
.
Dies muss im Gleichgewichtszustande auch das Verhältniss
der Anzahl nf der Moleküle der tropfbaren Phase zu der An-
[169][Gleich. 175] § 60. Druck des gesättigten Dampfes.
zahl ng der Moleküle der dampfförmigen Phase, also gleich
nf:ng oder, wenn man nf und ng mit m multiplicirt, gleich
Gf:Gg sein. Schreibt man die Proportion aus, so ergiebt sich
aus derselben sofort
.
Nun ist nach Gleichung 21) und 135) 1) (vergl. auch I. Theil
Gleichung 44) , wenn r die Gasconstante des be-
treffenden Dampfes bei hoher Temperatur und Verdünnung
ist. Nimmt man ferner die Logarithmen, entwickelt nach
Potenzen von b und bleibt wieder bei den Gliedern mit b2
stehen, so folgt
174) .
Natürlich ist von dieser Formel kaum mehr als eine quali-
tative Uebereinstimmung zu erwarten, da die gemachte Voraus-
setzung, dass b klein gegen v sei, für tropfbare Flüssigkeiten
nicht zutrifft.


Wenn wir die Celsiustemperatur t einführen, ϱf als con-
stant und gross gegen ϱv betrachten und voraussetzen, dass
der Dampf das Boyle-Charles’sche Gesetz befolgt, also
p vg = r T ist, so folgt aus 174) eine Gleichung von der Form
175) ,
wie sie auch, freilich mit theilweise geänderter Bedeutung der
Constanten A, B, C und D in der Praxis verwendet wird.


Wir können den Druck des gesättigten Dampfes auch aus
der in § 16 gefundenen Bedingung berechnen, dass die beiden
schraffirten Flächen der Figur, welche dort als die Fig. 2 be-
zeichnet wurde, gleich sein müssen. In dieser Figur ist die
[170]V. Abschnitt. [Gleich. 179]
Abscisse O J1 gleich dem specifischen Volumen vf der Flüssig-
keit, die Abscisse O G1 gleich dem specifischen Volumen vg des
Dampfes, während die Ordinaten J1J = G1G gleich dem dazu
gehörigen Sättigungsdrucke sind. Die Gleichheit der schraffirten
Flächen bedingt, dass das Rechteck J J1G1G J = p (vgvf)
gleich der Fläche sein muss, welche oben von der Curve
J C H D G, unten von der Abscissenaxe, links und rechts von
den Ordinaten J1J und G1G begrenzt wird. Man erhält also:
176) .
Legt man die Waals’sche Gleichung
177)
zu Grunde, so folgt durch Ausführung der Integration:
178) .
T und die Constanten a, b und r sind als gegeben zu betrachten.
Die drei Unbekannten p, vf und vg folgen aus Gleichung 178)
und den beiden Bedingungen, dass vf die kleinste, vg die grösste
Wurzel der Gleichung 177) ist. Nimmt man wieder für den
Dampf das Boyle-Charles’sche Gesetz p vg = r T an, ver-
nachlässigt b und vf gegen vg, σg, gegen σf, welches letztere
man sich als lineare Function der Temperatur denkt, so er-
hält man zwar wieder für den Sättigungsdruck einen Ausdruck
von der Form 175); doch stimmt die Gleichung 178) keines-
wegs genau mit der Gleichung 174).


Diess war auch nicht zu erwarten, da die benutzte Glei-
chung 177) nur eine provisorische, keineswegs exact aus den
Bedingungen der Aufgabe folgende ist.


Dagegen muss man exact die Gleichung 174) erhalten,
wenn man statt Gleichung 177) die Gleichung
179)
[171][Gleich. 180] § 61. Corrigirter Werth der Entropie.
benutzt, die unter Weglassung der Glieder, welche höhere
Potenzen von b als die zweite enthalten, die Bedingungen der
Aufgabe exact befriedigt.


In der That folgt dann aus 176) nach Ausführung der
Integration
180) .
Da nun sowohl vg als auch vf die Gleichung 179) befriedigen
müssen, so kann man p vg berechnen, indem man in dieser
Gleichung v = vg setzt, p vf aber, indem man v = vf setzt. Die
Subtraction beider Werthe liefert
,
was in Verbindung mit Gleichung 180) vollkommen exact die
Gleichung 174) liefert.


§ 61. Berechnung der Entropie eines die Waals’schen
Voraussetzungen erfüllenden Gases nach der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung
.


Ich will hier noch kurz andeuten, wie die Entropie eines
Gases, für welches der von den Molekülen erfüllte Raum nicht
gegenüber dem ganzen Gasvolumen verschwindet und in welchem
auch die Waals’schen Cohäsionskräfte wirken, nach den Prin-
cipien berechnet werden kann, welche ich im I. Theile §§ 8
und 19 entwickelt habe. Die Waals’sche Cohäsionskraft än-
dert die Geschwindigkeitsvertheilung unter den Molekülen gar
nicht, sondern bewirkt nur ein engeres Zusammenrücken der-
selben. Sie hat daher gerade so wie die Schwerkraft gar
keinen Einfluss auf die Entropie, so dass die Abhängigkeit
der Entropie von der Temperatur für das jetzt betrachtete
Gas genau so erhalten wird, wie wir sie in den citirten Para-
graphen für ein ideales Gas fanden und im jetzt betrachteten
[172]V. Abschnitt. [Gleich. 180]
Falle nur eine Correction wegen der endlichen Grösse des
von den Molekülen erfüllten Raumes erforderlich ist.


Der Ausdruck, den wir in § 8 des I. Theiles S. 60 für
die Entropie fanden, die wir im Folgenden mit S bezeichnen
wollen, kann leicht in die Form gebracht werden
S = R M lW = R M l (vn T3n/2).1)
Wenn M die Masse eines Wasserstoffatomes ist, so ist R die
Gasconstante des dissociirten Wasserstoffes, also die doppelte
Gasconstante des gewöhnlichen Wasserstoffgases. Der Exponent
von T muss statt heissen, wenn innere Be-
wegungen im Moleküle vorhanden sind, für welche die Aen-
derung der Summe der mittleren lebendigen Kraft und Kraft-
function zu der der mittleren progressiven lebendigen Kraft im
constanten Verhältnisse β: 1 steht. Ist β Function der Tem-
peratur, so müsste an Stelle von l T3 n/2
treten.


Verstehen wir unter S die Entropie der Masseneinheit, so
ist n die Anzahl der Moleküle der Masseneinheit; v ist das
Volum der Masseneinheit.


Fasst man S als Wahrscheinlichkeitsausdruck auf, so hat
die darin vorkommende Grösse vn folgende Bedeutung: Sie
stellt das Verhältniss der Wahrscheinlichkeit, dass sich alle
n Moleküle gleichzeitig im Volumen v befinden, zur Wahr-
scheinlichkeit irgend einer Normallage dar, z. B. zur Wahr-
scheinlichkeit, dass sich das erste Molekül in einem bestimmten
Raume vom Volumen 1, das zweite in einem völlig davon ver-
schiedenen anderen Raume vom Volumen 1 u. s. w. befindet.
Diese Grösse ist es allein, welche dadurch eine Veränderung
erfährt, dass wir die Ausdehnung der Moleküle jetzt berück-
sichtigen und zwar tritt an ihre Stelle die Wahrscheinlichkeit W
des gleichzeitigen Zusammentreffens des Ereignisses, dass sich
das erste Molekül in v befindet mit dem, das sich auch das
zweite und auch das dritte u. s. w. dort befindet, nicht wie in
[173][Gleich. 181] § 61. Corrigirter Werth der Entropie.
§ 60 bloss die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein neu hinzu-
kommendes Molekül in v befindet.


Für den Mittelpunkt des ersten Moleküles ist der ganze
Raum v verfügbar. Das Verhältniss der Wahrscheinlichkeit,
dass er sich daselbst befindet, zu der, dass er sich in dem
gegebenen Raume vom Volumen 1 befindet, ist daher v. Bei
Berechnung der Wahrscheinlichkeit, dass sich gleichzeitig der
Mittelpunkt des zweiten Moleküles im Raume v befindet, ist
die Deckungssphäre \frac{4}{3}π σ3 = 2 m b des ersten Moleküles von v
abzuziehen. Wenn sich bereits ν Moleküle im Raume v be-
finden, so ist der daselbst für den Mittelpunkt eines (ν + 1) ten
Moleküles noch verfügbare Raum nach Formel 173):
181) .
Dieser Ausdruck ist also auch gleich dem Verhältnisse der
Wahrscheinlichkeit, dass sich das (ν + 1) te Molekül im Raume v
befindet zu der, dass es sich in einem anderen völlig von
allen übrigen Räumen unabhängigen Raume vom Volumen 1
befindet. Daher stellt das Product
das Verhältniss folgender Wahrscheinlichkeiten dar: der Wahr-
scheinlichkeit, dass gleichzeitig alle n Moleküle im Raume v
liegen und der, dass jedes davon in einem getrennten Raume
vom Volumen 1 liegt. 1) Dieser Ausdruck hat in S an die
Stelle von vn zu treten, wenn wir die Ausdehnung der Mole-
küle berücksichtigen. Es wird also die Entropie der Massen-
einheit
.
Hierbei ist r die Gasconstante unserer Substanz in denjenigen
Zuständen, welche dem idealen Gaszustande genügend nahe
liegen, so dass r m = R M ist.


[174]V. Abschnitt. [Gleich. 181]

Entwickelt man den Logarithmus nach Potenzen von b
und vernachlässigt, wie wir es immer thaten, die Potenzen
von b, welche höher als die zweite sind, so folgt:
.
Da wir ferner n als gross gegen die Einheit voraussetzen, so
können wir setzen:
, ,
so dass wir, da n m = 1 ist, erhalten
.
Da der bei constanter Temperatur genommene partielle Differen-
tialquotient von T S nach v gleich dem durch die Molekular-
stösse allein bewirkten Drucke ist, so finden wir für diesen in
Uebereinstimmung mit dem früheren den Werth
.
Die Berechnung der Glieder mit den höheren Potenzen von b
in diesem Ausdrucke dürfte am leichtesten genau nach der
gegenwärtig eingeschlagenen Methode geschehen, indem man in
den Ausdrücken S und W noch diese Glieder berücksichtigt. 1)


Wenn die Moleküle nicht Kugelform hätten, aber sich
doch wie starre Körperchen verhielten, so wäre die Wahr-
scheinlichkeit, dass der Mittelpunkt des (ν + 1) Moleküles im
[175][Gleich. 184] § 61. Corrigirter Werth der Entropie.
Volumen v liegt, noch immer durch einen Ausdruck von
der Form:
gegeben. Wir nehmen an, dass die Reihenentwickelung liefert
182) ;
dann ist
.
Daher wird der bloss von den molekularen Stössen herrührende
Druck
und der gesammte äussere auf dem Gase lastende Druck:
183) .
Substituiren wir dies in die Gleichung
,
so erhalten wir als Bedingung, dass Dampf und Flüssigkeit
neben einander bestehen können:
,
was unter abermaliger Anwendung der Gleichung 183) auch
so geschrieben werden kann:
184) .
[176]V. Abschnitt. [Gleich. 184]
In Uebereinstimmung hiermit erhält man nach derselben Me-
thode, nach welcher wir früher die Gleichung 174) gewannen,
jetzt folgende Bedingung für das Gleichgewicht von Flüssig-
keit und Dampf:
,
was mit Rücksicht auf 182) wieder die Gleichung 184) liefert.


Es mögen hier noch folgende Ergänzungen zum I. Ab-
schnitte Platz finden, auf welche mich Hr. van der Waals
mündlich aufmerksam machte, nachdem dieser Abschnitt bereits
gedruckt war.


1. Derselbe macht die in § 2 S. 5 erläuterte Annahme, dass
die Anziehungskraft der Moleküle mit wachsender Entfernung
derselben so langsam abnimmt, dass sie innerhalb Entfernungen,
die gross gegen den durchschnittlichen Abstand zweier Nachbar-
moleküle sind, noch nahe constant ist, niemals ausdrücklich
und hält ein solches Wirkungsgesetz auch nicht für wahr-
scheinlich; doch konnte ich ohne diese Annahme nicht zu
einer exacten Begründung seiner Zustandsgleichung gelangen.


2. Wenn man die Begrenzungscurve J K G des Zwei-
phasenraumes (Fig. 3 S. 45) in der unmittelbaren Nähe des
Punktes K als Parabel oder als Kreislinie auffasst, so sieht
man, dass J N um so mehr gleich N K wird, je näher N an K
rückt, wenn N stets auf der Geraden K K1 bleibt. Wenn daher
eine Substanz genau das kritische Volumen hat und bei con-
stantem Volumen erwärmt wird, so ist im Momente des Ver-
schwindens des Meniscus das Volumen des tropfbaren An-
theiles genau gleich dem des dampfförmigen. Ist dagegen das
Volumen ein wenig vom kritischen verschieden, so wandert
der Meniscus immer weit von der Mitte der die Substanz um-
schliessenden Röhre fort, bevor er praktisch verschwindet.


Unter den Störungen des theoretischen Verhaltens spielt
nach den Versuchen von Küenen die Schwerkraft eine wich-
tige Rolle.


[177]

VI. Abschnitt.
Theorie der Dissociation.


§ 62. Mechanisches Bild der chemischen Affinität
einwerthiger gleichartiger Atome
.


Ich habe früher einmal das Problem der Dissociation der
Gase unter gewissen möglichst allgemeinen Voraussetzungen be-
handelt, 1) die ich freilich zum Schlusse specialisiren musste. Da
es mir hier jedoch mehr um Anschaulichkeit als um Allgemein-
heit zu thun ist, so will ich ganz specielle, möglichst einfache
Voraussetzungen machen. Man möge das Folgende nicht missver-
stehen und etwa meinen, ich sei der Ansicht, dass die chemische
Anziehung genau nach den Gesetzen wirkte, wie die im Fol-
genden angenommenen Kräfte. Die letzteren sind vielmehr
als möglichst einfache und anschauliche Bilder von Kräften
anzusehen, welche mit den chemischen Kräften eine gewisse
Aehnlichkeit haben und daher im vorliegenden Falle mit einer
gewissen Annäherung dafür substituirt werden können.


Ich will zunächst den einfachsten Fall der Dissociation
betrachten, als dessen Prototyp die Dissociation des Jod-
dampfes dienen kann. Bei nicht allzu hoher Temperatur be-
stehen alle Moleküle desselben aus zwei Jodatomen; bei
wachsender Temperatur aber zerfallen immer mehr Moleküle
in einzelne Atome. Wir erklären die Existenz der aus zwei
Atomen zusammengesetzten Moleküle (der Doppelatome) durch
eine zwischen den Atomen thätige anziehende Kraft, welche
wir die chemische Anziehung nennen. Die Thatsachen der
chemischen Valenz oder Werthigkeit machen es wahrschein-
lich, dass die chemische Anziehung keineswegs einfach eine
Function der Entfernung der Mittelpunkte der Atome ist, dass
sie vielmehr bloss an verhältnissmässig kleine Bezirke auf der
Boltzmann, Gastheorie II. 12
[178]VI. Abschnitt. [Gleich. 184]
Oberfläche der Atome gebunden ist. Man kann auch nur
unter der letzteren, keineswegs unter der ersteren Annahme
ein der Wirklichkeit entsprechendes Bild der Gasdissociation
erhalten.


Sowohl der Einfachheit der Rechnung halber, als auch
wegen der Einwerthigkeit des Jodes setzen wir voraus, dass die
von einem Jodatome ausgeübte chemische Anziehung nur in
einem einzigen gegenüber der Grösse des Atomes kleinen zu-
sammenhängenden Raume thätig ist, welchen wir den empfind-
lichen Bezirk nennen wollen. Derselbe soll unmittelbar an dessen
Oberfläche anliegend und fest mit dem betreffenden Atome ver-
bunden sein. Die vom Mittelpunkte des Atomes nach einem be-
stimmten Punkte des empfindlichen Bezirkes (z. B. dessen Mittel-
punkte oder dessen Schwerpunkte im rein geometrischen Sinne)
gezogene Gerade nennen wir die Axe dieses Atomes. Nur wenn
zwei Atome so liegen, dass sich ihre empfindlichen Bezirke be-
rühren oder theilweise in einander fallen, soll die chemische An-
ziehung zwischen ihnen thätig sein. Wir sagen dann, sie sind
chemisch mit einander verbunden. An jeder anderen Stelle der
Oberfläche können sie sich berühren, ohne dass chemische An-
ziehung eintritt. Der empfindliche Bezirk soll einem so kleinen
Theile der ganzen Oberfläche des Atomes anliegen, dass die
Möglichkeit vollkommen ausgeschlossen ist, dass sich die em-
pfindlichen Bezirke dreier Atome gleichzeitig berühren oder
durchschneiden. Es ist für die folgende Rechnung nicht noth-
wendig, sich die Atome in Gestalt von Kugeln zu denken. Da
dies jedoch das einfachste ist, wollen wir es thun. σ sei der
Durchmesser eines kugelförmig gedachten Atomes.


Wir heben ein bestimmtes Atom hervor; es sei durch
den Kreis M der Fig. 4 dargestellt. A sei sein Mittelpunkt.
Der schraffirte Raum α sei der empfindliche Bezirk desselben.
Wir brauchen den Fall, dass dieser theilweise im Inneren des
Atomes liegt, nicht gerade auszuschliessen, doch wollen wir
die Zeichnung so machen, dass er zwar unmittelbar an der
Oberfläche des Atomes, aber doch ganz ausserhalb desselben
liegt, wie man natürlich annehmen müsste, wenn man sich das
Atom vollkommen undurchdringlich denkt. Soll ein zweites
Atom M1 mit dem ersten chemisch verbunden sein, so muss
der empfindliche Bezirk β des zweiten Atomes theilweise in
[179][Gleich. 184] § 62. Einwerthige gleichartige Atome.
den Raum α fallen oder ihn wenigstens berühren. Wir wollen
wieder die Deckungssphäre des ersten Atomes, also die Kugel
vom Mittelpunkte A und dem Radius σ construiren, welche in
der Figur durch den Kreis D angedeutet ist. Unmittelbar an
der Oberfläche der Deckungssphäre D lässt sich ein Raum
(der kritische Raum, in der Figur der schraffirte Raum ω)
construiren von der Beschaffenheit, dass die empfindlichen Be-
zirke α und β niemals in einander fallen oder sich berühren
können, wenn nicht der Mittelpunkt B des zweiten Atomes in
diesen kritischen Raum ω oder in
dessen Begrenzung fällt. Dies gilt
jedoch nicht umgekehrt. Wenn der
Mittelpunkt B des zweiten Atomes
in dem kritischen Raume ω liegt, so
kann dasselbe trotzdem eine solche
Drehung haben, dass die empfind-
lichen Bezirke α und β weit von
einander entfernt sind.


Um die Lage genau zu definiren,
welche das zweite Atom gegenüber
dem ersten haben muss, damit beide

[figure]
Figure 4. Fig. 4.


chemisch verbunden seien, wollen wir zunächst im kritischen
Raume ω ein Volumelement d ω construiren. Es soll ω zugleich
das gesammte Volumen des kritischen Raumes sein. 1) Ferner
wollen wir uns mit dem ersten Atome eine concentrische Kugel
vom Radius 1 fest verbunden denken, welche in der Fig. 4 durch
den Kreis E angedeutet ist. Soll nun das zweite Atom mit
dem ersten chemisch verbunden sein, so darf die Axe des
zweiten Atomes mit der Geraden B A keinen zu grossen Winkel
einschliessen, weil sonst die empfindlichen Bezirke α und β
aus einander fallen. Die vom Punkte A aus parallel und
gleichgerichtet der Axe des zweiten Atomes gezogene Gerade
soll die Kugelfläche E in einem Punkte treffen, den wir immer
12*
[180]VI. Abschnitt. [Gleich. 184]
den Punkt Λ nennen wollen. Da die Kugel E fest mit dem
ersten Atome verbunden ist, so ist durch diesen Punkt Λ die
Lage der Axe des zweiten Atomes relativ gegen das erste
vollkommen bestimmt und wir können nun für jedes Volum-
element d ω des kritischen Raumes auf der Kugelfläche E ein
Flächenstück λ von folgender Beschaffenheit construiren. Wenn
der Punkt Λ innerhalb oder an der Grenze des Flächen-
stückes λ liegt, so sollen, sobald der Mittelpunkt des zweiten
Atomes innerhalb oder an der Grenze des betreffenden Volum-
elementes d ω liegt, die beiden empfindlichen Bezirke α und β
in einander greifen oder sich berühren, sobald dagegen der
Punkt Λ ausserhalb des Flächenstückes λ liegt, sollen die
beiden empfindlichen Bezirke α und β ebenfalls ausserhalb
einander liegen. Dieses Flächenstück λ wird natürlich im
Allgemeinen je nach der Lage des Volumelementes d ω inner-
halb des kritischen Raumes ω verschiedene Grösse und auch
verschiedene Lage auf der Kugel E haben. Liegt nun der
Mittelpunkt des zweiten Atomes innerhalb oder an der Grenze
irgend eines Volumelementes d ω des kritischen Raumes und
der Punkt Λ innerhalb oder an der Grenze irgend eines
Flächenelementes d λ derjenigen Fläche λ, welche zu dem be-
treffenden Volumelemente d ω gehört, so wird das zweite Atom
mit dem ersten chemisch verbunden sein, d. h. beide werden
sich lebhaft anziehen. Die Arbeit, welche nothwendig ist, um
sie aus dieser Lage in eine Entfernung zu bringen, in welcher
sie nicht mehr merklich auf einander wirken, soll mit χ be-
zeichnet werden. Dieselbe kann im Allgemeinen verschieden
sein, je nach der Lage des Volumelementes d ω innerhalb des
kritischen Raumes und auch je nach der Lage des Flächen-
elementes d λ auf der dazu gehörigen Fläche λ.


§ 63. Wahrscheinlichkeit der chemischen Bindung
eines Atomes mit einem gleichartigen
.


Es seien nun beim Gesammtdrucke p und der absoluten
Temperatur T in einem Gefässe vom Volumen v im Ganzen α
gleich beschaffene derartige Atome vorhanden. Die Masse
eines Atomes sei m1, die aller Atome a m1 = G. Wir heben
eines der Atome hervor. Die übrigen nennen wir wieder die
[181]Gleich. 184] § 63. Bindung zweier gleichartiger Atome.
restirenden Atome. Für einen Augenblick denken wir uns
das Gas wieder unendlich oftmal (N mal) in ebenso viel gleich
beschaffenen, nur räumlich getrennten Gefässen bei gleicher
Temperatur und gleichem Drucke vorhanden. In jedem dieser
N Gase seien von den restirenden Atomen n1 nicht mit einem
anderen restirenden Atome verbunden, dagegen seien 2 n2 der
restirenden Atome zu je zwei chemisch verbunden, so dass
sie n2 Doppelatome bilden. Wir fragen nun, in wie vielen
der N Gase das hervorgehobene Atom mit einem der übrigen
chemisch verbunden sein wird und in wie vielen dies nicht
der Fall ist.


Wir betrachten zunächst nur eines der N Gase. Da wir
eine chemische Verbindung dreier Atome ausgeschlossen haben,
so kann das hervorgehobene Atom, wenn es überhaupt chemisch
verbunden ist, nur mit einem der n1 noch nicht chemisch ge-
bundenen Atome dieses Gases vereint sein.


Wir zeichnen daher zunächst, wie in Fig. 4, für jedes dieser
n1 Atome die Deckungssphäre und die concentrische Kugel E
vom Radius 1; auf jeder dieser Deckungssphären wird sich
irgendwo der kritische Raum ω befinden. In jedem der zu
allen n1 Atomen gehörigen kritischen Räume zeichnen wir das
Volumelement d ω, welches genau dieselbe relative Lage zum
betreffenden Atome hat, wie das Element d ω der Fig. 4 gegen
das dort gezeichnete Atom, und auf jeder Kugelfläche E zeichnen
wir ein Flächenelement d λ, welches ebenfalls gegen das be-
treffende Atom dieselbe Lage hat, wie das in der Fig. 4 ge-
zeichnete Flächenelement d λ. Befindet sich nun der Mittelpunkt
des hervorgehobenen Atomes in irgend einem der Volum-
elemente d ω und ausserdem der Punkt Λ in dem Flächen-
elemente d λ der dazu gehörigen Fläche λ (oder an deren Grenze),
so ist es an ein anderes Atom chemisch gebunden, und zwar
bei ganz bestimmter Lage relativ gegen jenes andere Atom, so
dass die mit χ bezeichnete Grösse einen bestimmten Werth hat.


Wäre diejenige Anziehungskraft, welche wir die chemische
genannt haben, nicht thätig, so würde sich die Wahrschein-
lichkeit w1, dass der Mittelpunkt des hervorgehobenen Mo-
leküles sich in einem der Volumelemente d ω befindet, zur
Wahrscheinlichkeit w, dass er sich in einem beliebigen, inner-
halb des Gases construirten Raume Ω befindet, der weder ein
[182]VI. Abschnitt. [Gleich. 187]
Stück der Deckungssphäre eines restirenden Atomes, noch
eines der Räume ω enthält, verhalten wie n1d ω : Ω. Der
Raum Ω ist dem Gesagten gemäss so construirt, dass sich
der Mittelpunkt des hervorgehobenen Atomes in jedem Punkte
desselben befinden kann, ohne chemisch gebunden zu sein.
Die Wahrscheinlichkeit w2, dass nicht nur der Mittelpunkt des
hervorgehobenen Moleküles in einem der Volumelemente d ω,
sondern dabei auch noch der Punkt Λ innerhalb des Flächen-
elementes d λ liegt, würde sich bei Abwesenheit der chemischen
Kraft zu w1 verhalten wie d λ : 4 π, so dass also:
wäre. Durch die chemische Anziehung wird diese Wahrschein-
lichkeit nach Formel 142) im Verhältnisse e2h χ: 1 vergrössert;
daher ist beim Vorhandensein der chemischen Anziehung diese
Wahrscheinlichkeit
.
Um alle möglichen Lagen, wobei das hervorgehobene Atom
mit irgend einem der n1 restirenden Einzelatome chemisch
verbunden ist, zu umfassen, müssen wir diesen Ausdruck über
alle Volumelemente d ω des ganzen kritischen Ranmes ω und
für jedes solche Volumelement über alle Flächenelemente d λ
der zum betreffenden Volumelemente d ω gehörigen Fläche λ
integriren, wodurch wir für die Wahrscheinlichkeit, dass das
hervorgehobene Atom überhaupt chemisch verbunden ist, den
Ausdruck
185)
erhalten. Setzen wir
186) ,
so wird
187) w3 = n1w k / Ω.


Dabei ist w die Wahrscheinlichkeit, dass der Mittelpunkt
des hervorgehobenen Moleküles in einem beliebigen Raume Ω
liegt, in den jedoch nirgends die Deckungssphäre oder der
kritische Raum eines der restirenden Atome fallen darf.


[183][Gleich. 188] § 63. Bindung zweier gleichartiger Atome.

Es ist nun die Wahrscheinlichkeit zu berechnen, dass das
hervorgehobene Molekül in dem betrachteten Gase nicht che-
misch verbunden ist. Letzterer Umstand wird immer eintreten,
wenn sich sein Mittelpunkt in dem von den Deckungssphären
aller restirenden Atome und von den kritischen Räumen der
n1 Atome frei gelassenen Raume befindet. Die Summe jener
kritischen Räume ist n1ω, der gesammte von den Deckungs-
sphären erfüllte Raum sei wie in § 59 gleich G b. Da das
gesammte Volumen des Gases V ist, so ist der von den
Deckungssphären und kritischen Räumen freigelassene Raum
V — G b — n1ω. 1) Die Wahrscheinlichkeit w4, dass sich der
Mittelpunkt des hervorgehobenen Atomes in diesem Raume
befindet, verhält sich zur Wahrscheinlichkeit, dass er sich
im Raume Ω befindet, wie die Volumina der betreffenden
Räume, da ja der letztere Raum nur ein beliebig heraus-
geschnittener Theil des ersteren ist. Es ist also:
w4 = w (V — G b — n1ω) / Ω.


Das hervorgehobene Atom ist aber auch dann nicht che-
misch gebunden, wenn sich sein Mittelpunkt zwar in einem
Volumelemente eines der kritischen Räume befindet, aber der
Punkt Λ nicht auf der dazu gehörigen Fläche λ liegt, da es
dann so gedreht ist, dass die empfindlichen Bezirke ausserhalb
einander fallen. Für die Wahrscheinlichkeit dieses letzteren
Ereignisses findet man vollkommen analog der Formel 185)
den Ausdruck
188) ,
wobei aber für jedes Volumelement d ω unter d λ1 ein Element
der Kugelfläche E zu verstehen ist, welches nicht auf der zu
d ω gehörigen Fläche λ liegt, und wieder über alle Flächen-
elemente, welche dieser Bedingung genügen und ausserdem
noch über alle Volumelemente d ω zu integriren ist. Die Ex-
ponentielle ist natürlich jetzt weggelassen, da ja in keiner der
jetzt betrachteten Lagen Anziehungskräfte thätig sind. In
jedem der N Gase hat daher die gesammte Wahrscheinlich-
[184]VI. Abschnitt. [Gleich. 190]
keit, dass das hervorgehobene Atom chemisch nicht gebunden
ist, den Werth:
189) .


Die drei Grössen G b, n1ω und sind von
den chemischen Anziehungskräften vollkommen unabhängig.
Die erste stellt die von van der Waals berücksichtigte Ab-
weichung vom Boyle-Charles’schen Gesetze wegen der Mess-
barkeit der Ausdehnung der Moleküle dar. Da der kritische
Raum sehr klein gegenüber der Deckungssphäre ist, so ist von
den obigen drei Grössen die zweite und dritte noch klein im
Vergleiche mit der ersten. Wir wollen alle drei Grössen gegen-
über v vernachlässigen, da wir die Dissociation eines Gases be-
rechnen wollen, welches im Uebrigen die Eigenschaften eines
idealen hat, bei welchem also die von der Dissociation unab-
hängigen Abweichungen vom Boyle-Charles’schen Gesetze
vernachlässigt werden können. Umsomehr können wir auch alle
Glieder vernachlässigen, welche in Gleichung 189) zum Aus-
drucke in der Klammer noch hinzukämen, wenn man noch
grössere Genauigkeit anstreben würde. Daher geht die Glei-
chung 189) über in
190) .
Dagegen darf die durch die Gleichung 186) gegebene Grösse k
nicht als klein gegenüber v betrachtet werden, da wegen der
grossen Intensität der chemischen Kräfte die Exponentielle
einen sehr grossen Werth hat. Erhebliche Dissociation tritt
eben nur dann ein, wenn die Exponentielle e2 h χ von derselben
Grössenordnung wie V / n1ω ist und daher auch k und v von
derselben Grössenordnung sind. Aus den Gleichungen 187)
und 190) folgt
w6 : w3 = V : n1k.


Kehren wir jetzt zu allen N gleich beschaffenen Gasen
zurück und nehmen an, dass in N3 derselben das hervor-
gehobene Atom chemisch verbunden in N6 aber nicht chemisch
gebunden sei, so ist natürlich auch
N6 : N3 = w6 : w3 = V : n1k.
[185][Gleich. 194] § 64. Dissociation und Druck.
Da wir aber ebenso gut jedes andere Atom hätten hervor-
heben können, so muss dies für den Gleichgewichtszustand
auch das Verhältniss der Zahl n1 der unverbundenen Atome
zur Zahl 2n2 der chemisch gebundenen sein. Es ist also
n1 : 2 n2 = V : n1k,
daher
191) .


§ 64. Abhängigkeit des Dissociationsgrades
vom Drucke
.


Wir haben bei Bestimmung des Begriffes der beiden
Zahlen n1 und n2 freilich das eine Molekül, welches wir das
hervorgehobene nannten, ausgeschlossen. Da aber diese Zahlen
unbedingt sehr gross gegenüber der Einheit sind, so gilt die
Gleichung 191), auch wenn unter n1 überhaupt die Zahl aller
unverbundenen Atome (einfachen Moleküle) des Gases, unter n2
die aller Doppelatome (zusammengesetzten Moleküle) verstanden
werden. Da a die Gesammtzahl aller Moleküle des Gases ist,
so hat man ausserdem n1 + 2 n2 = a. Daraus folgt:
192) .


Wir bezeichneten mit G die gesammte Gasmasse, mit m1
die Masse eines Atomes, so dass a = G / m1 ist. a / G = 1 / m1
ist die Anzahl der dissociirten und chemisch gebundenen Atome
zusammen, welche auf die Masseneinheit entfallen. Ferner
wollen wir wieder mit v = V / G das specifische Volumen, also
das Volumen der Masseneinheit des theilweise dissociirten Gases
bei der betreffenden Temperatur und dem betreffenden Drucke
und mit q = n1 / a den Dissociationsgrad, d. h. das Verhältniss
der Anzahl der chemisch nicht gebundenen (dissociirten) Atome
zur Gesammtzahl aller Atome bezeichnen. Endlich setzen wir
193) .
Dann geht die obige Gleichung über in:
194) .
[186]VI. Abschnitt. [Gleich. 194]
Zur Orientirung sei hier noch Folgendes bemerkt: Wenn zwei
Einzelatome zufällig so zusammenstossen, dass ihre empfind-
lichen Bezirke in einander eindringen, so wird wegen der
Kleinheit dieser Bezirke und wegen der grossen relativen Ge-
schwindigkeit der Atome, welche durch die chemischen Kräfte
nur erhöht wird, in den meisten Fällen die Zeit des Ueber-
einandergreifens der empfindlichen Bezirke, das wir in diesem
Falle eine uneigentliche chemische Bindung nennen, klein sein
gegenüber der Zeit, die durchschnittlich von einem bis zum
nächsten Zusammenstosse eines Moleküles vergeht. Dabei ist
die Energie des Doppelatomes so gross, dass sich beide Atome
wieder von einander trennen können.


Die Anzahl dieser uneigentlich gebundenen Atome ist
jedenfalls verschwindend klein gegen a, da sie immer nur sehr
kurze Zeit beisammen bleiben. Sie können also, wenn n2 nicht
sehr klein gegen a ist, auch zu n2 nur verschwindend wenig
beitragen. Nur durch Verwandlung von lebendiger Kraft der
Atomschwerpunkte in innere Energie der Atome (z. B. Drehung
derselben um ihre Axe oder innere Bewegung derselben) könnte,
falls die Atome nicht starre Kugeln sind, ein etwas längeres
Zusammensein bewirkt werden. (Erste Art eigentlicher che-
mischer Bindung.) Dagegen kann durch Intervention eines
dritten einfachen Atomes oder Doppelatomes, während die
empfindlichen Bezirke zweier anderer Atome in einander über-
greifen, die Energie so herabgesetzt werden, dass sie zum
Wiederauseinandergehen der beiden Atome gar nicht mehr
hinreicht, diese also mindestens bis zu einem neuen Zusammen-
stosse beisammen bleiben müssen. (Zweite Art der eigentlichen
chemischen Bindung.) In allen Fällen, wo unsere Rechnung
ergiebt, dass die Anzahl n2 der Doppelatome nicht verschwin-
dend klein ist gegen die Anzahl a aller Atome, müssen zahl-
reiche Doppelatome lange mit einander vereint bleiben. Der
Hauptvorzug unserer allgemeinen Formel ist gerade der, dass
sie die Anzahl der chemisch gebundenen Atompaare zu be-
rechnen gestattet, ohne dass man speciell auf den Vorgang
der Entstehung oder Wiederauflösung derselben einzugehen
braucht. Jedenfalls werden von den n2 durch Rechnung ge-
fundenen Doppelatomen, falls diese Zahl nicht überhaupt sehr
klein ist, in allen bis auf verschwindend wenige die Atome
[187][Gleich. 196] § 64. Dissociation und Druck.
längere Zeit mit einander vereint sein, so dass diese also als
Moleküle im Sinne der Gastheorie aufzufassen sind.


Behufs Berechnung des Druckes müssen wir also die
Sache so betrachten, als ob wir ein Gemisch zweier Gase
hätten. Das Molekül des einen dieser Gase ist ein Einzelatom,
das Molekül des anderen Gases aber ist ein Paar zweier
Atome. Der Gesammtdruck eines beliebigen Gasgemisches ist:
,
wenn m1, m2 … die Massen, , … die mittleren Geschwin-
digkeitsquadrate der Schwerpunkte der verschiedenen Molekül-
gattungen sind. n1 ist die Gesammtzahl der Gasmoleküle
erster Gattung, ebenso n2 u. s. w. (Vergl. I. Theil, Gleichung 8,
S. 14). Ist ausserdem M die Masse eines Moleküles des Normal-
gases, dessen mittleres Geschwindigkeitsquadrat bei der-
selben Temperatur T, μh = mh / M das Atomgewicht eines der
anderen Gase, wenn das Molekulargewicht des Normalgases
gleich 1 gesetzt wird, so ist:
,
daher:
195) .
In unserem speciellen Falle ist
2 n2 = an1, n3 = n4 … = 0,
daher:
,
also, da v = V / a m1 ist,
196) .
Substituirt man hier für q den Werth 194), so folgt der Druck p
als Function des specifischen Volumens v und der Tempera-
tur T. Dabei ist aber K noch Function der Temperatur, wo-
von später noch die Rede sein wird. In der That giebt die
directe Beobachtung die Relation zwischen p, v und T. Die
Chemiker pflegen aber gewöhnlich den Dissociationsgrad q als
[188]VI. Abschnitt. [Gleich. 198]
Function von p und T anzugeben. Man gelangt dazu, indem
man die Formel 191) zunächst in der Form schreibt:
.
Die Multiplication dieser Gleichung mit der Gleichung 196)
liefert
,
daher:
197) .
Substituirt man diesen Werth in die Gleichung 196), so erhält
man v als Function von p, T und K.


§ 65. Abhängigkeit des Dissociationsgrades von der
Temperatur
.


Es erübrigt noch die Discussion der Grösse K. Setzen
wir in die Gleichung 193) für h seinen Werth 1 / 2 M R T,
so folgt:
198) ,
was jedenfalls nur eine Function der Temperatur ist. Bei
constanter Temperatur ist also K eine Constante und die
Formeln 194), 196) und 197) geben ohne Weiteres die Be-
ziehung zwischen p und v, sowie die Abhängigkeit der Grösse q
von p und v, wobei nur eine einzige neue zu bestimmende
Constante K eingeht.


Da die Formel 198) die Temperatur unter dem Integral-
zeichen enthält, so kann die Abhängigkeit der Grösse K von
der Temperatur nicht ohne Weiteres in einfacher Weise an-
gegeben werden. Man muss vielmehr noch eine Voraussetzung
über die Art und Weise der Abhängigkeit der Function χ
von dem Maasse des Uebereinandergreifens der beiden empfind-
lichen Bezirke machen. Um uns da nicht in allzu unbestimmte
Hypothesen zu verlieren, wollen wir nur die allereinfachste
Annahme discutiren, dass χ immer einen constanten Werth
[189][Gleich. 200] § 65. Dissociation und Temperatur.
hat, sobald die zwei Atome nur überhaupt chemisch verbunden
sind, d. h. sobald die beiden empfindlichen Bezirke überhaupt
in einander greifen, mögen sie nun mehr oder weniger tief in
einander greifen. Es wäre dies der Fall, wenn zwischen den
beiden Atomen in dem Momente, wo die empfindlichen Be-
zirke sich berühren, eine an allen Stellen der Oberfläche dieser
Bezirke gleiche, mächtige Anziehung aufträte, die jedoch sofort
wieder auf Null herabsänke, sobald die empfindlichen Bezirke
etwas tiefer in einander eindrängen. Es wäre dann χ die
constante Trennungsarbeit der beiden chemisch gebundenen
Atome oder umgekehrt die Arbeit, welche bei der chemischen
Verbindung derselben von der chemischen Anziehungskraft ge-
leistet wird.


Wenn alle in der Masseneinheit des Gases vorhandenen
a / G Atome anfangs unverbunden sind und sich nachher zu
a / 2 G Doppelatomen verbinden, so wird dabei die Arbeit αχ / 2 G
geleistet; es ist also Δ = α χ / 2 G die gesammte, im Arbeits-
maasse gemessene Verbindungs- oder auch Dissociationswärme
der Masseneinheit des Gases und man hat:
199) χ = 2 G Δ / a, .
200) .
Die Masse 2 μ1 nennt man in der Chemie „ein Molekül“.
2 μ1Δ ist also die Dissociationswärme „eines Moleküles“.


Man sieht leicht, dass χ für keine Constellation der Atome
von höherem Grade als höchstens logarithmisch unendlich
werden kann, da sonst die Wahrscheinlichkeit der betreffenden
Constellation unendlich von der Ordnung eχ würde, also so gross,
dass sich die Atome niemals trennen könnten. Was daher χ
auch immer für Function der Position der Atome sein mag,
so wird man kein qualitativ verschiedenes Resultat erhalten,
wenn man für χ immer seinen Mittelwerth für alle Positionen
setzt, wodurch man wieder zur Formel 200) gelangt, welche
also sicher auch im allgemeinen Falle einige Annäherung an
die Wirklichkeit bietet.


In dem Falle, wo χ constant ist, wird bei der Relativ-
bewegung der chemisch gebundenen Atome, so lange sie ge-
[190]VI. Abschnitt. [Gleich. 204]
bunden bleiben, keine intramolekulare Arbeit geleistet. Die
mittlere lebendige Kraft aber ist bei gleicher Temperatur
immer dieselbe, ob die Atome chemisch gebunden sind oder
nicht; daher entsprechen auch gleichen Temperaturerhöhungen
gleiche Zuwächse der mittleren lebendigen Kraft und ist die
specifische Wärme unabhängig davon, ob die Atome chemisch
gebunden sind oder nicht, sobald χ constant ist. Natürlich
ist dabei die specifische Wärme vor Beginn oder nach dem
Ende der Dissociation gemeint oder es ist, falls der Disso-
ciationsgrad sich ändert, die Dissociationswärme nicht zur spe-
cifischen Wärme zu rechnen.


Wir wollen nun zur Abkürzung
201) ,
202) ,
203)
setzen, wobei λ das Flächenstück auf der Kugel E ist, welches
der Punkt λ nicht verlassen darf, ohne dass sich die chemische
Verbindung auflöst, wenn der Mittelpunkt B des zweiten
Atomes der Fig. 4 innerhalb d ω liegt; dann folgt aus den
Gleichungen 197), 200), 201), 202) und 203)
204) .


Ist q als Function von p und T experimentell gegeben,
so können aus dieser Formel die beiden Constanten α und γ
bestimmt werden. Aus α folgt dann sofort mittelst Formel 201)
die Dissociationswärme, oder wenn man lieber will, die Ver-
bindungswärme Δ der Masseneinheit des Gases. Aus γ kann
nach Formel 203) die Grösse β bestimmt werden. Dieselbe
hat nach Gleichung 202) eine merkwürdige molekulare Be-
deutung. Für jedes Volumelement d ω des einem Atome an-
gehörigen kritischen Raumes muss der Punkt Λ auf einem
gewissen Flächenstücke λ der Kugelfläche E liegen, damit
[191][Gleich. 204] § 65. Dissociation und Temperatur.
chemische Verbindung Platz greife. Wir wollen nun das
Volumen jedes Volumelement d ω eines kritischen Raumes
nicht voll zählen, sondern bloss den Bruchtheil desselben,
welcher entsteht, wenn wir das Volumelement mit λ / 4 π multi-
pliciren. Diesen Bruchtheil des ganzen Volumelementes nennen
wir das reducirte Volumen desselben. ist dann die
Summe der reducirten Volumina aller Volumelemente des
einem Atome angehörigen kritischen Raumes, wir sagen ein-
fach das reducirte Volumen des kritischen Raumes.


Wir wollen uns noch einer abgekürzten Redeweise be-
dienen. Statt zu sagen, der Mittelpunkt des zweiten Atomes
liegt im Volumelemente d ω und gleichzeitig der Punkt Λ auf
der dazu gehörigen Fläche λ, sagen wir einfach, das zweite
Atom liegt im reducirten Volumelemente d ω. Statt zu sagen,
es liegt in irgend einem reducirten Volumelemente des kritischen
Raumes, sagen wir einfach, es liegt irgendwo im reducirten
kritischen Raume.


Da endlich 1 / m1 die Gesammtanzahl der in der Massen-
einheit befindlichen Atome ist, so ist β die Summe der redu-
cirten Volumina aller kritischen Räume, welche allen auf die
Masseneinheit entfallenden Atomen zukommen. Würde man
eine bestimmte Annahme über die Gestalt der empfindlichen
Bezirke machen, so könnte man daraus die Gestalt des zu
jedem Volumelemente d ω des kritischen Raumes gehörigen
Flächenstückes λ, und daher nicht bloss das reducirte, sondern
auch das absolute Volumen aller kritischen Räume berechnen,
welche allen in der Masseneinheit liegenden Atomen zukommen.
Doch wollen wir uns hierauf nicht näher einlassen.


Setzt man den Ausdruck 204) in die Gleichung 196) ein,
so kann man das specifische Volumen v als Function des
Druckes p, der Temperatur T, der Gasconstante R / μ1 des
dissociirten Gases und der beiden Constanten α und γ aus-
drücken. Will man lieber p als Function von v und T aus-
drücken, so substituirt man zweckmässiger den Ausdruck 194)
für q, nachdem man darin (nach Gleichung 200)
gesetzt hat, in die Gleichung 196).


[192]VI. Abschnitt. [Gleich. 204]

§ 66. Numerische Rechnungen.


Es soll hier ausnahmsweise eine kurze numerische Rech-
nung angeschlossen werden. Ich habe in den Wiener Sitzungs-
berichten 1) die Versuche von Deville und Troost2) und Nau-
mann
3) über Dissociation der Untersalpetersäure und die von
Fr. Meier und Crafts4) über Dissociation des Joddampfes
nach der hier mit 204) bezeichneten Formel numerisch be-
rechnet. Die dort von mir mit a und b bezeichneten Con-
stanten stehen mit den hier mit α und γ bezeichneten in
folgender Beziehung:
.
l bedeutet wieder den natürlichen Logarithmus. Ich fand dort,
wenn man die auf Untersalpetersäure bezüglichen Grössen mit
dem Index u, die auf Joddampf bezüglichen mit dem Index j
markirt:
, bu = 3080 . 1°C.,
, bj = 6300 . 1°C.,

woraus folgt
αu = 3080 . l 10 . 1°C., ,
αj = 6300 . l 10 . 1°C., .

pu ist der mittlere Druck, den Deville und Troost bei ihren
Versuchen über Dissociation der Untersalpetersäure anwandten
(etwa 755·5 mm Hg), pj der bei den Versuchen Meier und
Crafts über Dissociation des Joddampfes (728 mm). Nach
[193][Gleich. 208] § 66. Numerische Rechnungen.
Gleichung 201) ist nun die Dissociationswärme eines Moleküles
(im chemischen, makroskopischen Sinne)
Π = 2 μ1Δ = α R.
Dieser Formel liegt das mechanische Maass der Wärme zu
Grunde. Misst man im Wärmemaass, so ist noch mit dem
betreffenden Umrechnungsfachtor J zu multipliciren. Die im
Wärmemaasse gemessene Dissociationswärme eines chemischen
Moleküles ist also
205) P = α R J.
Wir wollen für die mechanischen Grössen die Masse des
Grammes, den Centimeter und die Secunde als Einheiten ver-
wenden. 430 Kilogewichte, einen Meter hoch gehoben, er-
zeugen eine Kilocalorie. Daher ist
206) .
Hierbei ist G = 981 cm / sec2 die Schwerebeschleunigung, cal
eine Grammcalorie. Den Werth der Gasconstante r für Luft
finden wir, wenn wir in der Zustandsgleichung p v = r T für
Luft setzen:
T = der dem schmelzenden Eise entspr. abs. Temp. 273°,
p = dem atm. Drucke = ,
.


Das Molekül μ0 der Luft ist etwa 28·9, wenn H = 1,
H2 = 2 gesetzt wird. Wegen R = r μ ist also für einatomigen
Wasserstoff:
207) .
Endlich folgt
208) .
Boltzmann, Gastheorie II. 13
[194]VI. Abschnitt. [Gleich. 214]
Daher erhält man für Untersalpetersäure:
209) .
Hieraus folgt durch Division mit dem Molekulargewicht 2 μ1 = 92
der Untersalpetersäure (N2O4) für die Dissociationswärme eines
Grammes derselben der Werth
210) ,
was mit directen Bestimmungen der Dissociationswärme der
Untersalpetersäure durch Berthelot und Ogier1) in guter
Uebereinstimmung steht.


Für den Joddampf (J2) folgt:
211) , .


Nach den Formeln 202) und 203) ist ferner die Summe
der reducirten kritischen Räume aller auf die Masseneinheit
entfallenden Atome
212) .
Nun hatten wir
.
pu entspricht einer Quecksilbersäule von 755·5 mm. Daher ist
213) 2).
Daher wird
214) .
[195][Gleich. 215] § 66. Numerische Rechnungen.
Dieser Werth ist dreimal so klein, als der von mir in den
Wien. Ber. l. c. gefundene, was daher rührt, dass ich daselbst
die schon dort als unwahrscheinlich bezeichnete Voraussetzung
machte, dass sich die vier Sauerstoffatome bei der Vereinigung
und Wiedertrennung zweier NO2-Gruppen beliebig austauschen,
wogegen ich hier jede solche Gruppe als sich nicht zerlegend,
ganz die Rolle eines Atomes spielend betrachtete.


Für Joddampf fand ich (l. c.)
215) .
Die betreffenden Versuche wurden ebenfalls unter Atmosphären-
druck (im Mittel 728 mm Quecksilber) angestellt. Ferner ist
das Molekulargewicht 2μ1 von J2 gleich 253·6. Die Substitution
dieser Werthe liefert beiläufig
.


Weder für Untersalpetersäure, noch für Joddampf ist der
Werth der Waals’schen Constanten b bekannt, man kann daher
den von den Molekülen ausgefüllten Raum nicht aus der Waals’-
schen Formel berechnen, die ihn übrigens auch nur der Grössen-
ordnung nach liefert, da sie die Moleküle als fast undeformir-
bare Kugeln betrachtet und noch verschiedene andere Verein-
fachungen annimmt, welche das Resultat beeinflussen können.
Es bleibt uns ausschliesslich die Loschmidt’sche Schätzungs-
methode. Wir wollen die Dichte der flüssigen Untersalpeter-
säure gleich 1·5, die des festen Jodes gleich 5 setzen, was
Temperaturen entspricht, die etwas unter der des schmelzen-
den Eises liegen. Bei diesen Temperaturen ist der Dampf-
druck beider Substanzen nur mehr gering; für Jod freilich
noch viel geringer als für Untersalpetersäure; doch kommt
dies hier, wo wir nur Grössenordnungen roh schätzen, nicht
in Betracht. Wir nehmen daher ganz willkürlich an, dass in
diesen beiden Substanzen zwei Drittel des Gesammtraumes
von den Molekülen erfüllt ist. Dann wäre der von den
Molekülen eines Grammes Untersalpetersäure erfüllte Raum
0·44 cm3 / gr; die Summe der Volumina der Deckungssphären
dieser Moleküle ist achtmal so gross, also 3·55 cm3 / gr. Die-
selben Grössen wären dann für Jod 0·133 cm3 / gr und
13*
[196]VI. Abschnitt. [Gleich. 215]
1·07 cm3 / gr. Es ist also für Untersalpetersäure der reducirte
kritische Raum für eine als ein Atom betrachtete Gruppe NO2
nur etwa der achtmillionste Theil der Deckungssphäre, für ein
Jodatom dagegen der acht- bis neunte Theil der Deckungs-
sphäre. Die geringe Dissociirbarkeit des Jodes ist also vor-
wiegend in der relativen Grösse des kritischen Raumes gegen-
über der Deckungssphäre begründet, wogegen der Unterschied
in der Dissociationswärme pro Gramm der Substanz verhält-
nissmässig gering ist. Bei millionenfacher Verdünnung würde
daher der Joddampf nahe ebenso leicht dissociirbar sein, wie
die Untersalpetersäure.


§ 67. Mechanisches Bild der Affinität zweier
ungleichartiger einwerthiger Atome
.


Wir betrachten ein zweites, ebenfalls sehr einfaches Bei-
spiel. Es seien im Raume V bei der Temperatur T und dem
Gesammtdrucke p zweierlei Gattungen von Atomen vorhanden.
Von der ersten Gattung sollen sich im Ganzen a1, von der
zweiten a2 im Raume befinden. Die Masse eines Atomes erster
Gattung sei m1, die eines Atomes zweiter Gattung m2. Zwei
Atome erster Gattung sollen sich zu einem Moleküle (Doppel-
atome erster Gattung) verbinden können, ebenso zwei Atome
zweiter Gattung (Doppelatom zweiter Gattung). Für jede dieser
Verbindungen sollen genau die im vorigen Paragraphen fest-
gesetzten Regeln gelten und wir wollen alle auf ein Doppel-
atom erster Gattung sich beziehenden Grössen mit dem Index 1,
die auf ein Doppelatom zweiter Gattung bezüglichen aber mit
dem Index 2 bezeichnen. Ausserdem soll aber auch noch die
chemische Verbindung eines Atomes erster Gattung mit einem
Atome zweiter Gattung zu einem Moleküle, das wir ein ge-
mischtes nennen wollen, möglich sein. Für diese Verbindung
sollen wieder analoge Gesetze gelten und wir wollen den
darauf bezüglichen Grössen die beiden Indices 1 und 2 bei-
fügen.


Im Gleichgewichtszustande sollen nun in unserem Gase
enthalten sein: Erstens n1 einzelne Atome erster und n2 ein-
zelne Atome zweiter Gattung, zweitens n11 Doppelatome erster
und n22 Doppelatome zweiter Gattung, drittens n12 gemischte
[197][Gleich. 216] § 67. Einwerthige, ungleichartige Atome.
Moleküle. Chemische Verbindungen von mehr als zwei Atomen
sollen ausgeschlossen sein. Die Atome erster Gattung sollen
undurchdringliche Kugeln vom Durchmesser σ1 sein. Eine
um den Mittelpunkt eines solchen Atomes mit dem Radius
σ1 beschriebene Kugel nennen wir seine Deckungssphäre be-
züglich eines gleichbeschaffenen Atomes. An dieselbe wird
sich der kritische Raum ω1 für die Wirkung auf ein gleich-
beschaffenes Atom anschliessen, von dem d ω1 ein Volumele-
ment sei. Liegt der Mittelpunkt eines anderen Atomes erster
Gattung nicht innerhalb ω1, so soll dasselbe niemals mit dem
ersteren Atome chemisch verbunden sein. Liegt er innerhalb
d ω1, so soll nur dann chemische Verbindung Platz greifen,
wenn er sich im reducirten Volumen d ω1 befindet, d. h. wenn
auch noch der Punkt Λ1 innerhalb eines bestimmten Flächen-
stückes λ1 der dem ersteren Atome concentrisch liegenden
Einheitskugelfläche E liegt. d λ1 sei ein Element der Fläche λ1.
Λ1 ist wie früher der Durchschnittspunkt der vom Mittelpunkte
des ersten Atomes aus parallel der Axe des zweiten gezogenen
Geraden mit der Einheitskugelfläche. Endlich ist wieder χ1
die Arbeit, die geleistet wird, wenn beide Atome aus grosser
Entfernung in diejenige Lage kommen, wo der Mittelpunkt
des zweiten innerhalb d ω1 und der Punkt Λ1 innerhalb
d λ1 liegt.


Hebt man dann wieder ein Atom erster Gattung hervor,
so kann man annehmen, dass von den restirenden Atomen
erster Gattung noch immer n1 weder mit einem Atome zweiter
Gattung, noch mit einem anderen restirenden Atome erster
Gattung verbunden sind. Soll das hervorgehobene Atom ein
Doppelatom erster Gattung bilden, so kann es nur mit einem
dieser n1 noch einzeln stehenden Atome erster Gattung verbunden
sein, da wir dreiatomige Moleküle ausschliessen. Die Wahr-
scheinlichkeit hierfür verhält sich zur Wahrscheinlichkeit, dass
es einzeln steht, wie k1n1: V, wobei
216)
ist. Dies kann ganz wie im vorigen Paragraphen gefunden
werden. Das Verhältniss dieser beiden Wahrscheinlichkeiten
muss aber auch gleich dem Verhältnisse 2 n11: n1 der Zahl der
[198]VI. Abschnitt. [Gleich. 219]
in Doppelatomen erster Gattung befindlichen zu der der einzeln
stehenden Atome erster Gattung sein, woraus folgt:
217) .
Ebenso findet man für die Atome zweiter Gattung die Glei-
chung
218) ,
wobei alle Grössen die analoge Bedeutung haben. Es ist also:
219) .


Es erübrigt noch die Discussion der Bildung der ge-
mischten Moleküle. Da wir uns ein Atom erster Gattung als
eine undurchdringliche Kugel vom Durchmesser σ1, ein Atom
zweiter Gattung aber als eine undurchdringliche Kugel vom
Durchmesser σ2 gedacht haben, so wollen wir consequenter
Weise auch annehmen, dass die Entfernung zwischen dem
Mittelpunkte eines Atomes erster und eines Atomes zweiter
Gattung nicht kleiner als ½ (σ1 + σ2) werden kann. Eine
um den Mittelpunkt eines Atomes erster Gattung construirte
Kugel vom Radius ½ (σ1 + σ2) wollen wir die Deckungs-
sphäre dieses Atomes bezüglich eines Atomes zweiter Gattung
nennen. Auf der Oberfläche jedes Atomes erster Gattung
soll wieder ein gewisser empfindlicher Bezirk liegen, ebenso
auf der Oberfläche jedes Atomes zweiter Gattung ein an-
derer empfindlicher Bezirk von der Beschaffenheit, dass
zwischen dem Atome erster und dem zweiter Gattung nur
dann erhebliche Anziehung stattfindet, wenn der empfindliche
Bezirk des ersten den des zweiten Atomes berührt oder theil-
weise in denselben eindringt. Am wahrscheinlichsten wird es
wohl sein, dass diese empfindlichen Bezirke für die Wechsel-
wirkung eines Atomes erster und eines Atomes zweiter Gattung
dieselben sind, wie die für die Wechselwirkung zweiter Atome
erster Gattung auf einander, respective zweier Atome zweiter
Gattung auf einander; doch ist diese Annahme nicht gerade
nothwendig. Jedenfalls können wir, ganz wie früher, anliegend
der Deckungssphäre eines Atomes erster Gattung bezüglich
eines Atomes zweiter Gattung wieder den kritischen Raum für
dessen chemische Wirkung auf ein Atom zweiter Gattung con-
[199][Gleich. 221] § 67. Einwerthige, ungleichartige Atome.
struiren, der jetzt ω12 heissen soll. Für jedes Volumelement d ω12
dieses kritischen Raumes können wir auf der der Deckungs-
sphäre concentrischen Einheitskugelfläche E eine Fläche λ12
construiren, so dass, wenn der Mittelpunkt des zweiten Atomes
innerhalb des Volumelementes d ω12 liegt, zwischen den beiden
Atomen nur dann Anziehung stattfindet, wenn ausserdem noch
der analog wie früher zu bestimmende Punkt Λ12 innerhalb
irgend eines Flächenelementes d λ12 der Fläche λ12 liegt (wenn
sich das Atom im reducirten Volumelemente d ω12 befindet).
In diesem Falle soll dann χ12 die Trennungsarbeit sein.


Wir heben wieder irgend ein Atom zweiter Gattung hervor.
Damit es Einzelatom sei, steht ihm bis auf verschwindend
Kleines das ganze Volumen V des Gases zur Verfügung. Soll
es dagegen ein gemischtes Molekül bilden, so muss sein Mittel-
punkt innerhalb irgend eines Volumelementes d ω12 irgend
eines der zu den n1 noch nicht chemisch gebundenen Atomen
erster Gattung gehörigen kritischen Räume und dabei noch
der Punkt Λ12 in irgend einem Flächenelemente d λ12 der dazu
gehörigen Fläche λ12 liegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein
Mittelpunkt in einem bestimmten Volumelemente d ω12 und der
Punkt Λ12 in einem bestimmten Flächenelemente d λ12 liegt,
verhält sich zu der, dass bei beliebiger Stellung seiner Axe
sein Mittelpunkt innerhalb V liegt, wie:
.


Die Wahrscheinlichkeit, dass das hervorgehobene Atom
überhaupt zu einem gemischten Moleküle verbunden ist, verhält
sich daher zu der, dass es ein Einzeltatom ist, wie
.


Man erhält also, wenn man wieder
220)
setzt, die Proportion:
n2 : n12 = V: n1k12,
daher
221) V n12 = k12n1n2.


[200]VI. Abschnitt. [Gleich. 221]

§ 68. Dissociation eines Moleküles in zwei
heterogene Atome
.


Wir wollen zuerst den speciellen Fall betrachten, dass k1
und k2 verschwinden, respective so klein gegenüber k12 und
V / n1 sind, dass die Anzahl der Doppelatome erster und zweiter
Gattung vollkommen vernachlässigt werden kann. Das Gas
besteht dann nur aus dreierlei Molekülen. Einzelatomen erster,
Einzelatomen zweiter Gattung und gemischten Molekülen.


Wir specialisiren den Fall zuerst noch weiter dahin, dass
keine der beiden einfachen Gasarten im Ueberschusse vor-
handen ist, dass also die Anzahl der Einzelatome erster
Gattung genau gleich der Anzahl der Einzelatome zweiter
Gattung ist. Dann setzen wir:
a1 = a2 = a.
Es wird
n1 = n2 = an12.
Bezeichnen wir wieder den Quotienten q = (an12) / a als den
Dissociationsgrad, so folgt aus Gleichung 221)
a k12q2 = V (1 — q).
Ferner hat man nach Gleichung 195)
,
Daher
.
Wir wollen wieder χ12 als constant voraussetzen, dann ist
die Dissociationswärme der ursprünglich aus lauter gemischten
Molekülen bestehenden Masseneinheit. Ferner ist:
.
μ1 ist das Atomgewicht eines aus Einzelatomen erster Gattung
bestehenden Gases, bezogen auf H1 = 1, H2 = 2, eine analoge
Bedeutung hat μ2 für die zweite Gasart. Die im Exponenten
[201][Gleich. 222] § 68. Dissociation des Bromwasserstoffamylen.
stehende Grösse (μ1 + μ2) Λ12 = Π ist die in Arbeitsmaass ge-
messene Dissociationswärme eines Moleküles der undissociirten
Substanz im chemischen oder makroskopischen Sinne, dessen
Masse (das chemische Molekulargewicht) μ1 + μ2 ist. Setzen wir
,
so ist wiederum
.
κ12 ist der reducirte kritische Raum eines Atomes erster Gattung
bezüglich seiner Wirkung auf ein Atom zweiter Gattung. κ12 / m1
wäre die Summe aller reducirten kritischen Räume, welche
allen in der Masseneinheit der ersten Gasart enthaltenen
Atomen entsprechen, κ12 / M dagegen ist die Summe aller kri-
tischen Räume, die allen in einem Moleküle im Sinne der
Chemie enthaltenen Atomen der ersten Gasart entsprechen,
d. h. in der Masse m1 / M der ersten Gasart, welche der Massen-
einheit der Normalsubstanz chemisch äquivalent ist.


Ist ein Gas im Ueberschusse vorhanden, so liefert die
Gleichung 221)
221 a)
222) .
Da n12 weder grösser als a1, noch grösser als a2 sein darf, so
wurde die Wurzel mit negativen Zeichen genommen. Wäre a1
sehr gross, so müsste der andere Factor a2n12 der linken
Seite der Gleichung 221 a) sehr klein, also n12 nahe gleich a2
sein, was übrigens auch aus 222) folgt, wenn man darin a1
gross gegen a2 ansieht. Mit wachsender Zahl der Atome erster
Gattung verbinden sich also immer mehr Atome zweiter Gattung
mit denselben, bis endlich fast alle Atome zweiter Gattung
chemisch gebunden sind, was mit dem Massenwirkungsgesetze
von Guldberg-Waage in Uebereinstimmung steht.


[202]VI. Abschnitt. [Gleich. 223]

§ 69. Dissociation des Jodwasserstoffgases.


Wir wollen nun den anderen extremen Specialfall des in
§ 67 behandelten allgemeineren Falles betrachten. Es soll
wieder a1 = a2 = a sein, aber V/a soll gegen k1, k2 und k12
verschwinden, so dass die Anzahl der Einzelatome beider
Gattungen verschwindend klein ist, wie dies zum Beispiel
der Fall ist, wenn sich JH in J2 und H2 dissociirt. Wir
erhalten dann, wenn wir die Gleichung 221) quadriren,
. Substituiren wir die Werthe von und
aus den Gleichungen 217) und 218), so folgt:
223) .
Bezeichnet man wieder mit q = (an12) / a den Dissociations-
grad, so ist:
.
Daher folgt aus Gleichung 223), nachdem man die Quadrat-
wurzel ausgezogen hat:
.


Setzt man wieder die χ als constant im ganzen reducirten
kritischen Raume voraus und bezeichnet die reducirten kri-
tischen Räume für die Wirkung zweier Atome erster Gattung
auf einander, zweier Atome zweiter Gattung auf einander
respective eines Atomes erster Gattung auf ein Atom zweiter
Gattung mit κ1, κ2 und κ12, so ist nach den Gleichungen 216),
219) und 220):
.
[203][Gleich. 223] § 69. Dissociation des Jodwasserstoffgases.
Bei Bildung von 2 JH Molekülen aus einem J2- und einem
H2-Molekül wird die Wärme 2 χ12χ1χ2 frei.
ist also die Wärme Δ, welche bei der Bildung der Massen-
einheit JH aus gewöhnlichem Jod- und Wasserstoffgase frei
wird. Daher ist
.
Π = 2(μ1 + μ2) Δ ist natürlich wieder die Bildungswärme zweier
Moleküle JH im chemischen Sinne aus einem Moleküle ge-
wöhnlichen Joddampfes und einem Moleküle gewöhnlichen
Wasserstoffgases.


Für sehr hohe Temperaturen nähert sich q der Grenze
.


Aus den übrigens vielleicht wegen falschen chemischen
Gleichgewichtes nicht ganz sicheren Versuchen von Lemoine1)
berechnet sich diese Grenze etwa zu 3/4. Es wäre also der
reducirte kritische Raum für die Wirkung eines Jodatomes
auf ein Wasserstoffatom nur etwa der dritte Theil des geo-
metrischen Mittels der reducirten kritischen Räume für die
Wirkung zweier Jod- resp. zweiter Wasserstoffatome auf einander.


§ 70. Dissociation des Wasserdampfes.


Wir wollen noch einen speciellen Fall in Kürze betrachten,
nämlich die Dissociation zweier Wasserdampfmoleküle (2H2O)
in zwei Wasserstoffmoleküle (2H2) und ein Sauerstoffmolekül (O2).
In einem Volumen V werden bei der Temperatur T und dem
Drucke p streng genommen alle möglichen Moleküle vorhanden
sein, die durch Combination von Sauerstoff- und Wasserstoff-
[204]VI. Abschnitt. [Gleich. 224]
atomen sich bilden lassen. Es seien: n10, n01, n20, n02, n11
und n21 Moleküle von der Form H, O, H2, O2, HO und H2O
vorhanden. Wir bezeichnen mit κ20, κ02, κ11 und κ21 die redu-
cirten kritischen Räume für die Vereinigung zweier Wasser-
stoff-, zweier Sauerstoffatome, eines Sauerstoff- mit einem
Wasserstoffatome zur Gruppe HO, einer solchen Gruppe mit
einem neuen Wasserstoffatome zu Wasserdampf. Ferner mit
χ20, χ02, χ11 und χ21 die bei den betreffenden Verbindungen
frei werdenden, in Arbeitsmaass gemessenen Wärmemengen,
so dass:
2 χ11 + 2 χ21 — 2χ20χ02.
die Bildungswärme zweier Wasserdampfmoleküle aus zwei
Wasserstoff- und einem Sauerstoffmoleküle ist. Jedes der χ
soll im betreffenden kritischen Raume constant sein.


Wir wollen zunächst ein Wasserstoffatom hervorheben.
Es ist zu einem Moleküle von der Form HO gepaart, wenn
es sich im reducirten kritischen Raume κ11 eines der n01 Sauer-
stoffatome befindet. Die Wahrscheinlichkeit, dass es einzeln
ist, verhält sich also zur Wahrscheinlichkeit, dass es eine
Gruppe von der Form HO bildet, wie
.
Dies ist aber zugleich dem Verhältnisse n10 : n11 gleich,
woraus folgt:
.


Vergleicht man die Wahrscheinlichkeit, dass das hervor-
gehobene Wasserstoffatom einzeln steht mit der, dass es mit
einem Moleküle HO zu H2O vereint ist, so folgt ebenso:
,
daher:
224) .


Die Wahrscheinlichkeit, dass das hervorgehobene Wasser-
stoffatom einzeln steht, verhält sich zu der, dass es mit einem
restirenden Wasserstoffatome zu einem Moleküle H2 vereint
ist, wie
.
[205][Gleich. 228] § 70. Dissociation des Wasserdampfes.
Dies ist aber wieder das Verhältniss der Zahl n10 der einzeln
stehenden Wasserstoffatome zur Zahl 2 n20 der an andere
Wasserstoffatome gebundenen. Daher ist:
und ebenso
.
Hieraus und aus Gleichung 224) folgt:
225) .


Nehmen wir an, es seien ursprünglich a Wasserdampf-
moleküle gewesen. Nun seien davon nur mehr n21 undissociirt,
die übrigen an21 seien dissociirt und zwar nahezu aus-
schliesslich in Moleküle von der Form H2 und O2. Der Quotient
q = (an21) / a soll wieder der Dissociationsgrad heissen.


Da aus den an21 Wasserdampfmolekülen, an21 Wasser-
stoff- und Sauerstoffmoleküle entstanden sind, so ist:
n20 = a q, n02 = ½ a q, n21 = a (1 — q).
2 χ21 + 2 χ11 — 2 χ20χ02 ist die Wärme, welche frei wird,
wenn sich zwei Wasserdampfmoleküle aus zwei Wasserstoff-
und einem Sauerstoffmoleküle bilden. Bezeichnen wir daher
die Wärme, welche entsteht, wenn sich die Masseneinheit
Wasser aus gewöhnlichem Knallgase bildet, mit Δ, so ist
.
Setzt man noch
226) ,
so wird:
227) .
Ferner ist nach Formel 195)
228) .
[206]VI. Abschnitt. [Gleich. 228]
Eliminirt man q, so ergiebt sich die Relation zwischen p,
υ und T. Eliminirt man dagegen υ, so erhält man für die
Abhängigkeit des Dissociationsgrades von Druck und Tem-
peratur die folgende Gleichung:
.
Die Gleichung zwischen q, p und υ würde sich durch Eli-
mination von T aus 227) und 228) ergeben.


Um der Bivalenz (Zweiwerthigkeit) des Sauerstoffatomes
Rechnung zu tragen, könnte man annehmen, dass auf der
Oberfläche desselben zwei gleichbeschaffene empfindliche Be-
zirke liegen. Es wäre dann der kritische Raum für die
Bildung von HO aus H und O gerade doppelt so gross, wie
für die Bildung von H2O aus HO und H. Dann dürften aber
die empfindlichen Bezirke sich nicht gerade vis à vis liegen
oder müssten auf der Oberfläche der Moleküle beweglich sein,
um die Doppelbindung zweier Sauerstoffatome zu ermöglichen.
Eine der Bivalenz wenigstens theilweise ähnliche Erscheinung
würde man auch erhalten, wenn man annähme, dass der kri-
tische Bezirk eines Sauerstoffatomes durch die Deckungssphäre
eines einzigen, damit chemisch verbundenen Sauerstoff- oder
Wasserstoffatomes nicht ganz überdeckt wird, so dass noch
Platz für die chemische Bindung eines zweiten Atomes bleibt.
Ich bin weit entfernt, eine genauere Specialisirung der hierauf
bezüglichen Ansichten schon jetzt für aussichtsvoll zu halten;
doch spreche ich, wenn es erlaubt ist, die Worte eines grossen
Forschers auch auf diese Theorie anzuwenden, die Hoffnung
aus, dass diese allgemeinen mechanischen Bilder den Fort-
schritt der Erkenntniss der Thatsachen der Chemie eher fördern
als hemmen werden.


§ 71. Allgemeine Theorie der Dissociation.


Wir wollen nun noch wenige Bemerkungen über den
allgemeinsten Fall der Dissociation machen. Seien beliebig
viele Atome von beliebig vielen verschiedenen Gattungen ge-
geben. Ein Molekül, welches a1 Atome erster, b1 Atome
zweiter, c1 Atome dritter Gattung u. s. w. enthält, bezeichnen
[207][Gleich. 229] § 71. Allgemeine Theorie der Dissociation.
wir symbolisch mit (a1b1c1 …). Es soll sich der Inbegriff
von C1 Molekülen von der Form (a1b1c1 …), C2 Mole-
külen (a2b2c2 …), C3 Molekülen (a3b3c3 …) u. s. w. in den In-
begriff von Γ1 Molekülen (α1β1γ1 …), Γ2 Molekülen (α2β2γ2 …),
Γ3 Molekülen (α3β3γ3 …) u. s. w. umsetzen können. Da dann
beide Inbegriffe dieselben Atome enthalten müssen, so be-
stehen die Gleichungen
229)
Wir nehmen nun an, dass alle möglichen Combinationen un-
serer Atome, wenn auch nur in minimalen Mengen, in dem
Gase vorhanden sind und bezeichnen mit n100 … die Anzahl
der Einzel-, mit n200 … die Anzahl der Doppelatome erster
Gattung u. s. w. Ebenso sei n010 … die Anzahl der Einzel-,
n020 … die Anzahl der Doppelatome zweiter Gattung u. s. w.,
n110 … die Anzahl der Moleküle, die aus einem Atome erster
und einem zweiter Gattung bestehen u. s. f. Isomerien lassen wir
Einfachheit halber bei Seite. Ein Doppelatom erster Gattung
kann sich nur bilden, wenn der Mittelpunkt eines Atomes
erster Gattung im reducirten kritischen Raume eines anderen
Atomes erster Gattung liegt. Ist daher κ200 … dieser reducirte
kritische Raum und χ200 … die innerhalb desselben als con-
stant betrachtete Verbindungswärme eines Doppelatomes erster
Gattung, so folgt aus den Principien unserer Theorie
.
Ebenso folgt
,
wobei χ300 … die Verbindungswärme eines aus drei Atomen
erster Gattung bestehenden Moleküles aus einem Einzel- und
einem Doppelatome erster Gattung, κ300 … aber der reducirte
kritische Raum ist, welcher behufs dieser Verbindung in der
Nähe des Doppelatomes für das Einzelatom zur Verfügung
steht. Aus beiden Proportionen folgt:
,
[208]VI. Abschnitt. [Gleich. 230]
wobei κ'300 … der sechste Theil des Productes der reducirten
kritischen Räume κ200 … und κ300 …, ψ300 … = χ100 … + χ200
aber die Verbindungswärme dreier einzelner Atome erster
Gattung zu einem Moleküle ist. In dieser Schlussweise fort-
fahrend findet man leicht
,
wobei das durch a1! dividirte Product aller redu-
cirten kritischen Räume und die Verbindungswärme
von a1 Atomen erster Gattung mit einander ist.


Jedes so entstandene Molekül soll für die Angliederung
eines Atomes zweiter Gattung wieder einen gewissen reducirten
kritischen Raum … haben. … soll die Bildungs-
wärme eines Moleküles, das a1 Atome erster und ein Atom
zweiter Gattung enthält, aus seinen Atomen sein. Dann ist
Gliedert man noch ein, dann zwei, drei u. s. f. Atome zweiter
Gattung, dann Atome dritter Gattung u. s. w. an, so folgt
schliesslich
,
wobei die Bildungswärme des Moleküles (a1b1c1 …)
aus seinen Atomen und … das durch a1! b1! c1! … divi-
dirte Product aller hierbei in Frage kommenden reducirten
kritischen Räume ist.


Vollkommen analog gebaute Ausdrücke folgen natürlich
für u. s. w. Die n, welche einen
Einer und sonst lauter Nullen als Indices haben, können leicht
mit Rücksicht auf die Gleichungen 229) eliminirt werden, wo-
durch sich ergiebt:
230)
… ist der Quotient, worin alle re-
ducirten kritischen Räume der Verbindungen (a1b1 …), (a2b2 …)
jeder mit dem betreffenden C als Exponenten und alle Fac-
[209][Gleich. 231] § 71. Allgemeine Theorie der Dissociation.
toriellen … im Zähler, die kritischen Räume
der Verbindungen (α1β1 …), (α2β2 …) zu den Potenzen Γ1,
Γ2 … erhoben, sowie die Factoriellen
aber im Nenner stehen.
ist die Umsetzungswärme, welche frei wird, wenn C1 Moleküle
(a1b1 …), C2 Moleküle (a2b2 …) u. s. w. in Γ1 Moleküle (α1β1 …)
Γ2 Moleküle (α2β2 …) u. s. w. übergehen. Ferner ist
Σ C = C1 + C2 + …, ΣΓ = Γ1 + Γ2 + …
Wir wollen nun mit die Masse eines Moleküles (a1b1 …)
im gastheoretischen Sinne und mit … die Masse eines
Moleküles dieser Substanz im makroskopischen Sinne, d. h. den
Quotienten … / M bezeichnen. In einem Moleküle (a1b1 …)
im makroskopischen Sinne sind dann 1 / M gastheoretische
Moleküle enthalten. Ebenso sind in dem Inbegriffe von C1
makroskopischen Molekülen (a1b1 …), C2 makroskopischen Mole-
külen (a2b2 …) u. s. w. im Ganzen C1 / M gastheoretische Mole-
küle (a1b1 …), ferner C2 / M gastheoretische Moleküle (a2b2 …)
u. s. w. enthalten. Es ist also
die Wärme, welche frei wird, wenn sich der Inbegriff von C1
makroskopischen Molekülen (a1b1 …), C1 makroskopischen Mole-
külen (a2b2 …) u. s. w. aus dem Inbegriffe von Γ1 makroskopischen
Molekülen (α1β1 …), Γ2 makroskopischen Molekülen (α2β2 …) u. s. w.
bildet. Man kann daher die Gleichung 230) auch so schreiben:
231) .
Diese Gleichung gilt für jede mögliche Umsetzung. Wir setzen
nun den ganz speciellen Fall voraus, dass im Gase nur eine
einzige derartige Umsetzung möglich ist. Anfangs seien a mal
C1 (gastheoretische) Moleküle (a1b1 …), ebenso a mal C2 Mole-
küle (a2b2 …) u. s. w. und keine Moleküle (α1β1 …), auch keine
(α2β2 …) u. s. w. da. Beim betrachteten Drucke p und der be-
trachteten Temperatur T seien nur mehr (ab) × C1 Moleküle
(a1b1 …), (ab) × C2 Moleküle (a2b2 …) u. s. w., dagegen
b × Γ1 Moleküle (α1β1 …), b × Γ2 Moleküle (α2β2 …) u. s. w.
Boltzmann, Gastheorie II. 14
[210]VI. Abschnitt. [Gleich. 232]
vorhanden; dann ist b / a = q der Dissociationsgrad. Es ist
dann ferner
Daher nimmt zunächst die Gleichung 231) die Gestalt an:
.
Die Masse des vorhandenen Gases ist .
Bezeichnen wir daher wieder mit υ das Volumen der Massen-
einheit, so ist
,
und wir wollen setzen
.
Dann geht obige Gleichung über in
232) .
Diese Gleichung giebt die Abhängigkeit des Dissociations-
grades von der Temperatur und dem specifischen Volumen an.
γ und wenn die Umsetzungswärme nicht anderweitig bekannt
ist, auch Π / R sind aus den Experimenten zu bestimmende
Constanten.


Will man statt υ den Gesammtdruck p einführen, so erhält
man nach Gleichung 195)
.


Da das Molekulargewicht der un-
dissociirten Substanz ist, so stimmt dies für q = 0 mit dem
Boyle-Charles-Avogadro’schen Gesetze und giebt, wenn q
von Null verschieden ist, die Abweichungen von diesem Gesetze
wegen der Dissociation.


[211][Gleich. 232] § 72. Verhältniss dieser Theorie zur Theorie Gibbs’.

Eliminirt man aus dieser und aus Gleichung 232) die
Grösse q, so erhält man wieder die Relation zwischen p, υ
und T; eliminirt man aus denselben Gleichungen υ, so erhält
man den Dissociationsgrad q als Function von p und T.


Allgemeinere Formeln würden aus der Annahme folgen,
dass einige Atome erster Gattung sich mit einigen zweiter,
dann erst diese Complexe wieder mit Atomen erster Gattung
verbinden, die aber mit den zuerst besprochenen Atomen erster
Gattung nicht zusammenhängen etc. (Isomerie).


Alle diese Formeln stimmen, soweit die bisherigen Beob-
achtungen reichen, mit der Erfahrung.


§ 72. Verhältniss dieser Theorie zur Theorie Gibbs’.


Wesentlich gleiche Formeln wurden von Gibbs1) aus den
allgemeinen Principien der Wärmelehre ohne Zuziehung der
Dynamik der Moleküle abgeleitet. Man vergesse jedoch nicht,
dass auch das Fundament der Gibbs’schen Ableitung in der An-
nahme besteht, dass in einem in Dissociation begriffenen Gase
sämmtliche Bestandtheile wie einzelne Gase unabhängig vorhan-
den sind und sich Energie, Entropie, Druck u.s.w. einfach addiren.
Diese Hypothese ist vom molekulartheoretischen Standpunkte
vollkommen klar, weil da wirklich die verschiedenen Moleküle
gesondert neben einander vorhanden sind und aus vielen Stellen
geht deutlich hervor, dass Gibbs auch diese molekulartheore-
tische Anschauung fortwährend vor Augen hatte, wenn er
auch von den Gleichungen der Molekularmechanik keinen Ge-
brauch machte.


Stellt man sich dagegen auf den modernen Standpunkt,
welcher von Mach2) und Ostwald3) am schärfsten ausge-
sprochen wurde, dass in der chemischen Verbindung einfach
etwas vollkommen Neues an die Stelle der Bestandtheile ge-
14*
[212]VI. Abschnitt. [Gleich. 232]
treten sei, so hat es keine Bedeutung anzunehmen, dass z. B.
während der Dissociation des Wasserdampfes in dem Raume
Wasserdampf, Wasserstoff und Sauerstoff gleichzeitig neben
einander bestünden, sondern man muss consequent sagen, dass
bei niederer Temperatur nur Wasserdampf, bei Zwischentem-
peraturen etwas ganz Neues vorhanden ist, was endlich bei
sehr hohen Temperaturen in Knallgas übergeht.


Die Annahme, dass bei diesen Zwischentemperaturen sich
die Energie und Entropie von Wasserdampf und Knallgas
addiren, verliert dann jeden Sinn; ohne diese Annahme können
aber die Grundgleichungen der Dissociation weder aus dem
ersten und zweiten Hauptsatze der mechanischen Wärmetheorie,
noch aus irgend welchen energetischen Principien abgeleitet
werden. Es bleibt also nichts übrig, als dieselben einfach als
empirisch gegeben zu betrachten.


Es ist keine Frage, dass zur Berechnung der Naturvor-
gänge die blossen Gleichungen ohne deren Begründung aus-
reichen; ebenso wenig, dass empirisch bestätigte Gleichungen
einen höheren Grad von Sicherheit haben, als die zu ihrer
Begründung dienenden Hypothesen. Aber andererseits scheint
mir die mechanische Begründung zur Veranschaulichung der
abstracten Gleichungen in ähnlicher Weise förderlich, wie in
anderen Fällen die geometrische Construction algebraischer
Relationen. So wenig letztere durch die blosse Algebra jemals
wird ganz überflüssig gemacht werden, ebenso wenig glaube
ich, dass man die Veranschaulichung der für die Wirkung
makroskopischer Massen geltenden Gesetze durch die Dynamik
der Moleküle je wird ganz entbehren können, selbst wenn man
an der Erkennbarkeit, ja an der Existenz der Moleküle zweifelt.
Gerade die Anschauung ist ja für die Erkenntniss ebenso wichtig,
als die Fixirung der Resultate durch Gesetze und Formeln.


Es ist noch zu erwähnen, dass wir hier nur die einfachsten
Beziehungen, welche zu dem sogenannten theoretischen Disso-
ciationsgleichgewichte Veranlassung geben, discutirt haben. Erst
ein tieferes Eingehen in die Molekularmechanik giebt dann
auch von den Erscheinungen Rechenschaft, welche man als
falsches chemisches Gleichgewicht bezeichnet.1) Zu diesen ge-
[213][Gleich. 232] § 73. Kugelige empfindliche Bezirke.
hört schon folgende Thatsache. Bei Zimmertemperatur kann
sowohl Knallgas als auch Wasserdampf beliebig lange bestehen,
ohne dass sich das eine in das andere umsetzt. Alle betreffen-
den Moleküle sind nämlich so fest gebunden, dass in beob-
achtbarer Zeit keine Dissociation und daher auch keine Um-
setzung einer beobachtbaren Menge von Molekülen möglich ist.
In einer im mathematischen Sinne unendlich langen Zeit würde
natürlich die Umsetzung eintreten.


Die Erscheinungen des falschen chemischen Gleichgewichtes
sind vollkommen analog mit dem Phänomen der Unter-
kühlung und des Verdampfungsverzuges, das wir in § 15
ausführlich besprochen haben und es sind auch die Erschei-
nungen des falschen chemischen Gleichgewichtes ganz in der-
selben Weise zu begründen, wie dort die Verflüssigungs- und
Verdampfungsverzüge begründet wurden.


§ 73. Der empfindliche Bezirk ist um das ganze
Atom herum gleichmässig vertheilt
.


Wir wollen nun noch zum Vergleiche den einfachsten
Fall der Dissociation unter Zugrundelegung eines anderen
mechanischen Bildes, welches allerdings als Specialfall des
früheren betrachtet werden kann, nochmals betrachten. Es
sollen wieder lauter gleich beschaffene Atome, a an der Zahl,
vorhanden sein, welche den Durchmesser σ haben. Es soll
jedoch jetzt das, was wir den empfindlichen Bezirk genannt
haben, nicht bloss auf eine kleine Stelle der Oberfläche des
Moleküles beschränkt, sondern gleichmässig über das ganze
Molekül vertheilt sein. Der empfindliche Bezirk soll also die
Gestalt einer dem Moleküle concentrischen Kugelschale haben,
deren innerer Radius ½ σ, deren äusserer ½ (σ + δ) ist, wobei
δ klein gegen σ sein soll. Jedesmal, wenn die empfindlichen
Bezirke zweier Moleküle einander berühren oder in einander
greifen, sollen die Moleküle chemisch gebunden sein. Die
in Arbeitsmaass gemessene Trennungswärme aber soll für alle
diese Positionen constant gleich χ sein.


Die Deckungssphäre ist dann eine dem Moleküle concen-
trische Kugel vom Radius σ, der kritische Raum, welcher mit
dem reducirten kritischen Raume zusammenfällt, ist eine Kugel-
[214]VI. Abschnitt. [Gleich. 233]
schale, welche zwischen der Oberfläche der Deckungssphäre
und einer concentrischen Kugelfläche vom Radius σ + δ liegt.
Jedesmal, wenn das Centrum eines zweiten Atomes innerhalb
dieses kritischen Raumes liegt, ist es mit dem ersten chemisch
gebunden und die Trennungswärme sei constant gleich χ.


Seien n1 einfache und n2 Doppelatome vorhanden, so ist
n1 : 2 n2 = V : 4 π n1σ2δ e2 h χ,
wobei V das ganze Volumen des Gases ist. Daraus ergiebt sich
233) .


Die Mittelpunkte zweier zu einem Doppelatome vereinigter
Atome befinden sich nahezu in der Distanz σ. Von dem
kritischen Raume 4 π σ2δ jedes der beiden Atome liegt der
Theil 3 π σ2δ ausserhalb, der Theil π σ2δ aber innerhalb der
Deckungssphäre des zweiten Atomes. Nur im ersteren Theile
kann der Mittelpunkt eines dritten Atomes liegen, weshalb wir
ihn „frei“ nennen wollen. Der gesammte „freie kritische Raum“
der beiden Atome eines Doppelatomes hat also das Volumen
6 π σ2δ. Dabei ist aber noch zu beachten, dass eine kleine
Zone existiren wird, wo die kritischen Räume beider Atome
in einander greifen, so dass bei jedem Doppelatome ein ganz
schmaler ringförmiger Raum vom Volumen 2 π σ δ2, welchen
wir „den kritischen Ring“ nennen wollen, beiden kritischen
Räumen gleichzeitig angehört. Bei Berechnung des Volumens
des gesammten freien kritischen Raumes sollte eigentlich das
doppelte Volumen des kritischen Ringes von 6 π σ2δ abgezogen
werden, was man aber unterlassen kann, da das Volumen des
kritischen Ringes gegen das des freien kritischen Raumes ver-
schwindet. Damit sich also ein drittes Atom mit einem Doppel-
atome zu einem Tripelatome, d. h. einem aus drei Atomen be-
stehenden Moleküle vereinige, steht seinem Mittelpunkte erstens
der ganze Raum zur Verfügung, welchen wir den freien kritischen
Raum des Doppelatomes genannt haben, zweitens aber auch
der kritische Ring des Doppelatomes. Bei der ersteren rela-
tiven Lage ist die Trennungsarbeit des dritten Atomes vom
Doppelatome χ, bei der letzteren aber 2 χ. Wenn wir daher
[215][Gleich. 234] § 73. Kugelige empfindliche Bezirke.
mit n3 die Anzahl der Tripelatome bezeichnen, so erhalten
wir nach den Principien unserer Theorie die Proportion:
n1 : 3 n3 = V : n2 (6 π σ2δ e2 h χ + 2 π σ δ2e4 h χ),
daher
234) .
Der Vergleich dieser Formel mit Formel 233) zeigt sofort,
dass jedenfalls (n3/n2) \> (n2/n1) sein muss. Ein Dissociations-
zustand, wobei schon sehr viele Doppelatome, aber noch ver-
schwindend wenige Tripelatome vorhanden sind, wäre also in
diesem Falle, wo der kritische Raum gleichförmig über die
ganze Wirkungssphäre verbreitet ist, unmöglich.


Ja noch mehr. Wir können die rechte Seite der Gleichung
233) in der Form schreiben:
.
Nun ist 4 π n1σ3/3 der von den Deckungssphären der n1 Einzel-
atome erfüllte, V aber der gesammte Raum des Gases. Daher
ist 2 π n1σ3/V jedenfalls eine sehr kleine Grösse. Soll daher
nicht schon n2 sehr klein gegen n1, also das Gas fast ganz
dissociirt sein, so muss e2 h χ. δ/σ sehr gross, daher auch in
Gleichung 234) das zweite Glied sehr gross gegen das erste
sein. Nun ist aber das erste gleich n2/n1. Es muss also
n3/n2 sehr gross gegenüber n2/n1 sein.


Sobald also überhaupt eine erhebliche Zahl von Einzel-
atomen sich zu Doppelatomen vereint, müssen sich sogleich
die meisten der letzteren in Tripelatome verwandeln. Eine
Paarung der meisten Atome zu Doppelatomen, wie wir sie in
den bekanntesten Gasen finden, ist also nur möglich, wenn der
kritische Raum einem relativ kleinen Theile der Oberfläche
der Deckungssphäre jedes Atomes anliegt.


In dem jetzt betrachteten Falle, wo der kritische Raum
über die ganze Oberfläche der Deckungssphäre gleichmässig
vertheilt ist, würden sich, sobald die Atome sich überhaupt
zu verbinden anfangen, sofort mit Vorliebe Aggregate bilden,
die eine grössere Atomzahl enthalten. Es würde daher sogleich
etwas Aehnliches wie bei der Verflüssigung eines Gases ein-
[216]VI. Abschnitt. [Gleich. 234]
treten. Leider stösst, mit Ausnahme des Falles, wo n2 klein
gegen n1 ist, die weitere Durchführung der Rechnung auf kaum
zu überwindende Schwierigkeiten, so dass es unentschieden
bleibt, ob man unter dieser Annahme ähnliche Gesetze für
die Verflüssigung erhielte, wie sie die van der Waals’sche
Formel liefert, welche wir aus einer Hypothese ableiteten, die
der gegenwärtigen in gewisser Beziehung gerade entgegen-
gesetzt ist; denn während wir dort von der Voraussetzung
ausgingen, dass sich die directe Anziehung jedes Moleküles
auf Distanzen erstreckt, welche gross gegen die Entfernung
der Mittelpunkte zweier Nachbaratome sind, so haben wir hier
angenommen, dass der Anziehungsbereich eines Atomes sogar
noch klein gegen den vom Atome erfüllten Raum ist.


Der Verfasser des vorliegenden Buches suchte sich ein-
mal 1) in folgender Weise ein mechanisches Bild vom Verhalten
der Gasmoleküle zu machen. Dieselben werden als materielle
Punkte (einzelne Atome) von der Masse m und dem mittleren
Geschwindigkeitsquadrate c2̅ betrachtet. In Entfernungen, die
sind, wirken sie nicht auf einander, ebenso wenig in
Entfernungen, die sind. In den dazwischen liegenden
Entfernungen aber üben sie eine enorme Anziehung auf ein-
ander aus, so dass ihre lebendige Kraft beim Uebergange von
der Entfernung σ + ε in die Entfernung σ um χ wächst. ε soll
noch klein gegenüber σ sein.


Sei ω = 4/3 π σ3 eine Kugel vom Radius σ, n1 die Zahl der
Einzelatome im Volumen v, n2 die der Doppelatome daselbst,
d. h. derjenigen, für welche die Entfernung der Mittelpunkte
kleiner als σ ist. Dann findet man wie früher
.
Wäre z. B. wie bei gewöhnlicher Luft n1ω/v etwa gleich 1/1000,
und ausserdem m c2̅ = χ, so könnte n2 ziemlich klein gegen n1
sein; ausserdem würden je zwei Atome beim Zusammentreffen
erheblich abgelenkt, so dass im Grossen und Ganzen noch der
Gas-Charakter gewahrt bliebe. Allein schon bei zehnfacher ab-
soluter Temperatur würde die Ablenkung der Moleküle von
[217][Gleich. 234] § 74. Definition von H.
ihrer geradlinigen Bahn beim Zusammentreffen zweier der-
selben so gering, dass das System kaum mehr die Eigenschaften
eines Gases zeigen dürfte. Bei zehnmal kleinerer absoluter
Temperatur aber würde schon n2 viel grösser als n1 und es
würde, wie in dem vorher betrachteten Falle, ein Zusammen-
rücken grösserer Atomcomplexe in ihre Anziehungssphären,
also eine Verflüssigung eintreten.


Wenn daher auch das mechanische System für einzelne
Temperaturen noch beiläufig den Gas-Charakter zeigen würde,
so wäre es doch als mechanisches Bild für alle Temperaturen
unbrauchbar. Aehnliches dürfte wahrscheinlich auch von dem
anderen Bilde gelten, das der Verfasser an derselben Stelle
vorschlug, welches auf einer der fünften Potenz der Entfernung
verkehrt proportionalen Anziehungskraft basirt ist. Würde
dieses Gesetz bis zur Entfernung Null gelten, so würden alle
Atome sich zusammenballen. Würde für gewisse kleine Ent-
fernungen die Wirkung aufhören, so müsste über einer ge-
wissen Temperaturgrenze auch die Ablenkung bei den Zu-
sammenstössen sehr klein werden. Ein bloss auf anziehende
Kräfte basirtes, auch elastische Stosskräfte vermeidendes, in
allen Stücken mit den Thatsachen übereinstimmendes mecha-
nisches Bild für den gasförmigen und tropfbar flüssigen Aggregat-
zustand ist also noch nicht gefunden.


VII. Abschnitt.
Ergänzungen zu den Sätzen über das Wärmegleichgewicht
in Gasen mit zusammengesetzten Molekülen.


§ 74. Definition der Grösse H, welche die Zustands-
wahrscheinlichkeit misst
.


Wir haben im I. Theile § 3 den Beweis geliefert, dass
das Maxwell’sche Geschwindigkeitsvertheilungsgesetz für Gase
mit einatomigen Molekülen den Bedingungen genügt, welche
der stationäre Zustand erfüllen muss; dann haben wir in § 5
[218]VII. Abschnitt. [Gleich. 235]
des I. Theiles unter Zuziehung der Voraussetzung, dass die
Moleküle so unregelmässig durch einander fliegen, dass die
Wahrscheinlichkeitsgesetze Anwendung finden, bewiesen, dass
sie die einzige ist, welche diesen Bedingungen genügt, dass
sie daher die einzige ist, welche sich, sobald diese Voraus-
setzung zutrifft, dauernd stationär im Gase erhalten kann.


Jetzt, im II. Theile, haben wir von der allgemeinen, durch
Formel 118) S. 109 dargestellten Zustandsvertheilung bewiesen,
dass sie die Bedingungen erfüllt, welche man für eine stationäre
Zustandsvertheilung in einem Gase mit zusammengesetzten
Molekülen findet. Die vollständige Durchführung des Beweises
jedoch, dass es die einzige ist, die diesen Bedingungen genügt,
ist bisher in vollkommener Allgemeinheit nicht gelungen. Doch
ist die Durchführung dieses Beweises in den einfachsten und
für die Praxis wichtigsten Fällen in demselben Umfange wie
für Gase mit einatomigen Molekülen möglich. Ich will daher
im Folgenden diejenigen Schritte des Beweises allgemein
durchführen, bei denen dies möglich ist, und die übrigen
wenigstens für einige specielle Fälle ergänzen.


In einem Gefässe sei ein aus lauter gleich beschaffenen
zusammengesetzten Molekülen bestehendes Gas oder ein Ge-
misch mehrerer verschiedenartiger so beschaffener Gase vor-
handen. Dieselben sollen die Eigenschaft idealer Gase haben,
d. h. die Wirkungssphäre der Moleküle soll verschwindend
klein gegenüber dem mittleren Abstande zweier zunächst ge-
legener Moleküle sein. x, y, z seien die rechtwinkeligen Co-
ordinaten,
235) u, v, w
die Geschwindigkeitscomponenten des Schwerpunktes eines
Moleküles der ersten Gattung; p1pν seien die generalisirten
Coordinaten, welche die relative Lage der Bestandtheile eines
solchen Moleküles gegen drei durch dessen Schwerpunkt ge-
zogene Coordinatenaxen bestimmen, deren Richtungen im
Raume unveränderlich sind, q1qν seien die dazu gehörigen
Momente.


Die Betrachtung äusserer Kräfte würde die Schwierigkeiten
nicht qualitativ erhöhen, aber die Formeln noch mehr compli-
ciren. Wir schliessen solche daher aus und nehmen ausserdem
[219][Gleich. 241] § 74. Definition von H.
an, dass die Mischung und Zustandsvertheilung unter den
Molekülen in allen Volumtheilen im Gefässe, welche so gross
sind, dass sie sehr viele Moleküle enthalten, dieselbe ist.
Es sei
236) f1 (u, v, w, p1qν, t) d ud qν
die Anzahl der Moleküle erster Gattung in der Volumenein-
heit, für welche zur Zeit t die Variabeln 235), sowie die
Variabeln
237) p1pν, q1qν
zwischen den Grenzen
238) u und u + d u, v und v + d v, w und w + d w,
239) p1 und p1 + d p1qν und qν + d qν
liegen.


Wir lassen Kürze halber die Variabeln unter dem Functions-
zeichen weg und setzen
240) H1 = ∫ ∫f1l f1d u d v d w d p1d qν,
wobei l den natürlichen Logarithmus bedeutet und die Inte-
gration über alle möglichen Werthe der Variabeln zu er-
strecken ist.


Da f1d u d v d w d p1d qν die Anzahl der Moleküle ist,
für welche zur Zeit t die Variabeln 235) und 237) die Be-
dingungen 238) und 239) erfüllen, so erhält man den Werth,
welchen die Grösse H1 zu einer beliebigen Zeit hat, in folgen-
der Weise: man substituirt in die Function l f1 die Werthe,
welche die Variabeln 235) und 237) für jedes im Gase vor-
handene Molekül erster Gattung zu dieser Zeit haben und
addirt alle so für die Function l f1 gefundenen Werthe. Wir
wollen deshalb auch
241) H1 = Σ l f1
setzen, wobei hinzuzufügen ist, dass die Summe über alle im
Gase zur Zeit t vorhandenen Moleküle erster Gattung zu er-
strecken ist. Analog definiren wir für die zweite Gasart die
[220]VII. Abschnitt. [Gleich. 243]
Grösse H2, für die dritte Gasart die Grösse H3 u. s. w. und
setzen
242) H1 + H2 + H3 + … = H.


Zwischen der Grösse H und der Wahrscheinlichkeit des
betreffenden Zustandes des Gases besteht eine ganz analoge
Beziehung, wie solche im § 6 des I. Theiles zwischen der dort
ebenfalls mit H bezeichneten Grösse und der Zustandswahr-
scheinlichkeit nachgewiesen wurde. Doch wollen wir hierauf
nicht näher eingehen, da wir absichtlich alles bei Seite liegen
lassen, was nicht unmittelbar zur Erreichung unseres Zieles
beigezogen werden muss.


§ 75. Veränderung der Grösse H durch die
intramolekularen Bewegungen
.


Wir suchen zunächst die Veränderung, welche die Grösse H
in Folge der inneren Bewegungen der Moleküle erfährt, und
abstrahiren ganz von den Zusammenstössen. Da dann jede
Molekülgattung von den übrigen Molekülgattungen vollständig
unabhängig ist, so genügt es, lediglich die erste Molekülgattung
zu betrachten. Vom Einflusse der Wände soll im Folgenden
immer abstrahirt werden. Es ist dies erlaubt, wenn das Gefäss
so gross ist, dass das Wärmegleichgewicht im Innern desselben
ganz unabhängig von den speciellen Vorgängen an den Wänden
ist, oder auch, wenn jedes Molekül bei der Reflexion an der
Wand bis auf die Veränderung der Geschwindigkeitsrichtung
seines Schwerpunktes seinen Bewegungszustand im Uebrigen
vollkommen unverändert beibehält, wenn man sich also zur
Vereinfachung die abstossende Kraft der Wand so denkt, dass
sie auf alle Bestandtheile jedes einzelnen Moleküles vollkommen
gleichmässig wirkt, ähnlich wie z. B. das Gewicht eines Körpers
auf alle Theile desselben.


Für genau dieselben Moleküle, für welche zur Zeit t die
Variabeln 237) zwischen den Grenzen 239) liegen, sollen sie
zu irgend einer früheren Zeit, der Zeit Null, zwischen den
Grenzen
243) P1 und P1 + d P1Qν und Qν + d Qν
[221][Gleich. 249] § 75. Intramolekulare Bewegung.
gelegen sein. Wir bedienen uns jetzt immer dieses abgekürzten
Ausdruckes, statt wie im § 28 von dem Gebiete zu sprechen,
innerhalb dessen die Werthe der Variabeln liegen. Die Werthe
von u, v, w erfahren ohnedies keine Veränderung mit der Zeit.


Den Ausdruck, welchen wir erhalten, wenn wir in die
Function f1 für t den Werth Null und für p1qν die Werthe
244) P1Qν
substituiren, bezeichnen wir mit F1. Es ist dann
245) F1d u d v d w d P1d Qν
die Anzahl der Moleküle, für welche zur Zeit Null die Werthe
der Variabeln 235) und 237) zwischen den Grenzen 238) und 243)
liegen und da dies dieselben Moleküle sind, wie diejenigen, für
welche diese Variabeln zur Zeit t zwischen den Grenzen 238)
und 239) liegen und die Anzahl der letzteren Moleküle
f1d u d v d w d p1d qν
ist, so hat man:
246) F1d u d v d w d P1d Qν = f1d u d v d w d p1d qν.
Wegen Gleichung 52) aber ist:
d p1d qν = d P1d Qν;
daher folgt F1 = f1 und
247) l F1 = l f1.
Sei ferner
H'1 = Σ F1l F1
der Werth der Function H1 zur Zeit Null. Die Moleküle, für
welche zur Zeit t die Variabeln 235) und 237) zwischen den
Grenzen 238) und 239) liegen, liefern in die Summe H1 = Σ f1l f1
den Betrag
248) f1l f1d u d v d w d p1d qν.
Für dieselben Moleküle lagen dieselben Variabeln zur Zeit Null
zwischen den Grenzen 238) und 243). Dieselben Moleküle
liefern also in H'1 den Betrag
249) F1l F1d u d v d w d P1d Qν.
[222]VII. Abschnitt. [Gleich. 249]
Wegen der Gleichungen 246) und 247) sind die Ausdrücke
248) und 249) einander gleich. Dieselben Moleküle liefern also
genau denselben Addenden zur Summe H1 wie zur Summe H'1
und da dies ganz allgemein von beliebigen Molekülen und für
beliebige Zeiten gilt, so ist klar, dass H1 und daher auch H
durch die intramolekulare Bewegung überhaupt nicht verändert
wird. Letzteres folgt, weil dasselbe auch von jeder anderen
Molekülgattung gilt.


§ 76. Charakterisirung des zunächst zu betrachtenden
speciellen Falles
.


Obwohl die Veränderung von H durch die Zusammen-
stösse für ideale Gase mit zusammengesetzten Molekülen noch
ganz allgemein berechnet werden kann, so wollen wir hier
zunächst doch einen speciellen Fall behandeln, in dem sich
diese Rechnung besonders einfach gestaltet.


Wir betrachten wie in den beiden vorigen Paragraphen
ein Gemisch beliebiger idealer Gase mit beliebig zusammen-
gesetzten Molekülen. In jedem Moleküle jeder Gasart soll
jedoch immer nur ein einziges Atom enthalten sein, welches
fähig ist, eine Kraft auf ein Atom irgend eines fremden Mole-
küles derselben oder einer anderen Gasart auszuüben und die
Wirkung zweier solcher Atome zweier verschiedener Moleküle
soll immer nur darin bestehen, dass sich dieselben wie zwei
vollkommen elastische, unendlich wenig deformirbare Kugeln
stossen. Es soll daher die Wechselwirkung zweier Moleküle
nur so kurze Zeit dauern, dass sich während derselben die
relative Lage der Bestandtheile beider Moleküle und auch
Geschwindigkeit und Geschwindigkeitsrichtung aller anderen
Atome, mit Ausnahme der zusammenstossenden, nur unendlich
wenig ändert.


Wir wollen nun die Veränderung berechnen, welche H
während einer unendlich kleinen Zeit d t durch die Zusammen-
stösse der Moleküle erster mit denen zweiter Gattung erfährt.
Wir haben den Zustand eines Moleküles erster Gattung durch
die Variabeln 235) und 237) und seine absolute Lage im Raume
durch die Coordinaten x, y, z seines Schwerpunktes charakte-
[223][Gleich. 256] § 76. Specieller Fall.
risirt. Wir wollen jetzt die Variabeln 237) beibehalten, statt
der Variabeln 235), aber die Geschwindigkeitscomponenten
250) u1, v1, w1
desjenigen Atomes einführen, welches mit einem Atome des
anderen Moleküles zusammenstösst, und welches wir das Atom A1
nennen wollen, während wir das andere, mit dem es zusammen-
stösst, das Atom A2 nennen wollen. Die absolute Lage des
Moleküles erster Gattung im Raume bestimmen wir entsprechend
durch die Coordinaten x1, y1, z1 des Mittelpunktes des Atomes A1.
Da durch die Variabeln 237) die Unterschiede der Geschwindig-
keitscomponenten sämmtlicher Atome von denen des Schwer-
punktes gegeben sind, also auch die Grössen u1u, v1v,
w1w, so ist bei Constanz der Variabeln 237)
d u1 = d u, d v1 = d v, d w1 = d w.
Daher ist
251) f1d u1d v1d w1d p1d qν
die Anzahl der Moleküle, für welche die Variabeln 237) und
250) zwischen den Grenzen 239) und
252) u1 und u1 + d u1, v1 und v1 + d v1, w1 und w1 + d w1
liegen. Es ist gleichgültig, ob man hierbei in f1 ebenfalls u1v1w1
statt u v w eingeführt oder die alten Variabeln belassen denkt.


Die Coordinaten des Mittelpunktes des Atomes A2 des
zweiten Moleküles bezeichnen wir mit x2, y2, z2, seine Ge-
schwindigkeitscomponenten mit
253) u2, v2, w2
und die übrigen zur Bestimmung des Zustandes des zweiten
Moleküles nöthigen generalisirten Coordinaten und Momente mit
254) pν + 1pν + ν', qν + 1qν + ν'.
Dann kann analog dem Ausdrucke 251) die Anzahl der Mole-
küle zweiter Gattung, für welche die Variabeln 253) und 254)
zwischen den Grenzen
255) u2 und u2 + d u2, v2 und v2 + d v2, w2 und w2 + d w2,
256) pν + 1 und pν + 1 + d pν + 1qν + ν' und qν + ν' + d qν + ν'
[224]VII. Abschnitt. [Gleich. 258]
liegen, mit
257) f2d u2d v2d w2d pν + 1d qν + ν'
bezeichnet werden. Genau nach der im I. Theile § 3 einge-
schlagenen Methode kann die Anzahl der Molekülpaare ge-
funden werden, von denen das erste Molekül der ersten, das
zweite der zweiten Gattung angehört, und welche in der Zeit d t
so in Wechselwirkung treten, dass dabei das Atom A1 des
ersten Moleküles mit dem Atome A2 des zweiten zusammen-
stösst, und dass im Momente des Stosses noch folgende Be-
dingungen erfüllt sind. Die Variabeln 250), 237), 253) und 254)
sollen zwischen den Grenzen 252), 239), 255) und 256) liegen
und die Centrilinie der beiden Atome A1 und A2 soll einer
der verschiedenen, innerhalb eines unendlich schmalen Kegels d λ
liegenden Geraden parallel sein. Alle Fälle von Wechsel-
wirkung zweier Moleküle, welche während der Zeit d t so er-
folgen, dass alle diese Bedingungen erfüllt sind, nennen wir
die hervorgehobenen Zusammenstösse.


Wenn σ die Summe der Radien der beiden Atome A1
und A2, g deren relative Geschwindigkeit ist und letztere mit
der Richtung der Centrilinie der stossenden Atome im Momente
des Stosses einen Winkel bildet, dessen Cosinus ε ist, so
findet man genau nach der im citirten Paragraphen einge-
schlagenen Methode für die Anzahl der hervorgehobenen Zu-
sammenstösse:
258) d N = σ2f1f2g ε d u1d v1d w1d u2d v2d w2d p1d qν + ν'd λ d t.


§ 77. Form des Liouville’schen Satzes in dem
betrachteten Specialfalle
.


Da die Zusammenstösse momentan erfolgen, so werden
durch dieselben die Werthe der Variabeln 237) und 254) nicht
geändert. Auch g, ε und die Geschwindigkeitscomponenten
ξ, η, ζ des gemeinsamen Schwerpunktes der Atome A1 und
A2 haben bekanntlich (vergl. I. Theil § 4) nach dem Stosse
dieselben Werthe, wie vor demselben. Nur die Werthe von
u1, v1, w1, u2, v2, w2 werden geändert. Die Werthe dieser
Grössen nach dem Stosse sollen mit den entsprechenden
[225][Gleich. 262] § 77. Allgemeine Stossgleichung.
grossen Buchstaben bezeichnet werden, und zwar sollen bei
den angenommenen Werthen von g und ε die Werthe der
Variabeln u1, v1, w1, u2, v2, w2, wenn sie vor dem Zusammen-
stosse zwischen den Grenzen 252) und 255) lagen, nach dem-
selben zwischen den Grenzen
259) U1 und U1 + d U1, V1 und V1 + d V1, W1 und W1 + d W1,
260) U2 und U2 + d U2, V2 und V2 + d V2, W2 und W2 + d W2
liegen. Es kann leicht aus Gleichung 52) bewiesen werden und
wurde schon unabhängig von dieser ausserordentlich allgemeinen
Gleichung mit sehr einfachen Mitteln im § 4 des I. Theiles
bewiesen, dass dann die Gleichung
261) d u1d v1d w1d u2d v2d w2 = d U1d V1d W1d U2d V2d W2
oder
besteht. Statt u, v, w wurden dort die Buchstaben ξ, η, ζ
gebraucht, statt Anwendung der grossen Buchstaben aber
wurden oben Striche angehängt.


Es enthält jedoch der dortige Beweis ein Versehen, worauf
mich zuerst C. H. Wind1) und später M. Segel in Kasan auf-
merksam machte. Ich will daher diesen Beweis hier nochmals
mit ebenso einfachen Mitteln nach einer einwurfsfreien Methode
liefern.


Wir führen anstatt u2, v2, w2 die Componenten ξ, η, ζ der
Geschwindigkeit des Schwerpunktes ein, welcher den beiden
Atomen A1 und A2 zusammengenommen zukommt, wenn man
diese beiden Atome als ein mechanisches System auffasst. Sind
m1 und m2 deren Massen, so ist alsdann
mit zwei analogen Gleichungen für die beiden übrigen Coordi-
natenrichtungen. Aus diesen Gleichungen folgt, wenn man die
Variabeln u1, v1, w1 ungeändert lässt und nur ξ, η, ζ für u2,
v2, w2 einführt
262)


Boltzmann, Gastheorie II. 15
[226]VII. Abschnitt. [Gleich. 263]

In dem Ausdrucke rechts führen wir nun statt u1, v1, w1
die Variabeln U1, V1, W1 ein, während wir ξ, η, ζ unverändert
belassen. Es ist geometrisch aus Fig. 2 S. 19 des I. Theiles
evident, dass bei unveränderter Lage des Schwerpunktes der
Endpunkt der Geraden, welche in Grösse und Richtung die
Geschwindigkeit des ersten Atomes vor dem Stosse darstellt,
ein Volumelement beschreibt, welches dem Volumelemente con-
gruent ist, das der Endpunkt derjenigen Geraden beschreibt,
welche die Geschwindigkeit desselben Atomes nach dem Stosse
in Grösse und Richtung darstellt. Daher ist
263) d u1d v1d w1d ξ d η d ζ = d U1d V1d W1d ξ d η d ζ.
Nun erst führen wir bei unverändertem U1, V1, W1 für ξ, η, ζ
die Variabeln U2, V2, W2 ein. Da wiederum die Gleichung
mit zwei analogen Gleichungen für die beiden übrigen Coordi-
natenrichtungen besteht, so folgt:
Aus dieser und den beiden Gleichungen 262) und 263) folgt
sofort die zu beweisende Gleichung 261).


Da der im § 4 des I. Theiles betrachtete Fall derjenige
Specialfall des soeben discutirten ist, wo ausser den Atomen A1
und A2 überhaupt keine anderen in den Molekülen vorhanden
sind, so ist hiermit der im erwähnten § 4 enthaltene mangel-
hafte Beweis ergänzt.


§ 78. Veränderung der Grösse H in Folge der
Zusammenstösse
.


Wir haben in § 76 eine gewisse Gattung von Zusammen-
stössen als die hervorgehobenen bezeichnet. Es waren die-
jenigen, welche zwischen einem Moleküle erster und einem
Moleküle zweiter Gattung während der Zeit d t so erfolgen,
dass im Momente des Beginnes der Wechselwirkung die
Variabeln 250), 237), 253) und 254) zwischen den Grenzen 252),
239), 255) und 256) liegen, und dass die Centrilinien der
[227][Gleich. 263] § 78. Aenderung von H.
stossenden Atome im Momente des Stosses einer der Geraden
innerhalb eines gegebenen unendlich kleinen Kegels d λ
parallel ist. Für dieselben liegen im Momente des Endes der
Wechselwirkung die Variabeln 237) und 254) zwischen den-
selben Grenzen, die Variabeln 250) und 253) aber zwischen den
Grenzen 259) und 260). Auch g, ε und d λ werden durch die
Zusammenstösse nicht verändert.


Wir bezeichnen nun diejenigen Zusammenstösse, welche
während der Zeit d t im Gase so erfolgen, dass für dieselben
umgekehrt im Moment des Beginnes die Variabeln 250) und
253) zwischen den Grenzen 259) und 260), die übrigen Variabeln
aber zwischen denselben Grenzen, wie bei den hervorgehobenen
Zusammenstössen liegen, als die entgegengesetzten Zusammen-
stösse.


Für diese letzteren Zusammenstösse muss im Momente
des Beginnes der Wechselwirkung, damit solche überhaupt
stattfindet, auch die relative Lage beider Moleküle im Raume
so verändert sein, dass das zweite Molekül relativ gegen das
erste parallel zu sich selbst um eine Strecke verschoben er-
scheint, welche der vom Atome A1 gegen das Atom A2 ge-
zogenen Centrilinie genau gleich und genau entgegengesetzt
gerichtet ist. 1) Für die entgegengesetzten Zusammenstösse
werden umgekehrt die Variabeln 250) und 253) im Momente
des Endes der Wechselwirkung zwischen den Grenzen 252)
und 255) liegen.


Wir berechnen nun die Veränderung, welche die im § 74
mit H bezeichnete Summe (siehe Gleichung 241) und 242) während
der Zeit d t durch die hervorgehobenen und entgegengesetzten
Zusammenstösse vereint erfährt. Durch jeden der ersteren
Zusammenstösse wird die Anzahl der Moleküle erster Gattung,
für welche die Variabeln 250) und 237) zwischen den Grenzen
252) und 239) liegen, um eine Einheit, daher H1 um l f1 ver-
mindert; ebenso wird die Anzahl der Moleküle zweiter Gattung,
für welche die Variabeln 253) und 254) zwischen den Grenzen
255) und 256) liegen, um eine Einheit, daher H2 um l f2 ver-
mindert. Dagegen wird durch dieselben Zusammenstösse die An-
15*
[228]VII. Abschnitt. [Gleich. 264]
zahl der Moleküle erster Gattung, für welche die Variabeln 250)
und 237) zwischen den Grenzen 259) und 239) liegen, sowie
die der Moleküle zweiter Gattung, für welche die Variabeln 253)
und 254) zwischen den Grenzen 260) und 256) liegen, um je
eine Einheit, daher H1 um l F1 und H2 um l F2 vermehrt,
wenn wir zur Abkürzung F1 und F2 für
f1 (U1, V1, W1, p1qν, t)
und
f2 (U2, V2, W2, pν + 1qν + ν', t)
schreiben. Die Anzahl der hervorgehobenen Zusammenstösse
ist durch Formel 258) gegeben; daher wächst im Ganzen durch
alle hervorgehobenen Zusammenstösse H um
264)


Durch jeden der entgegengesetzten Zusammenstösse vermin-
dert sich umgekehrt die Anzahl der Moleküle erster Gattung, für
welche die Variabeln 250) und 237) zwischen den Grenzen 259)
und 239) liegen, um eine Einheit, die Anzahl der Moleküle
aber, für welche dieselben Variabeln zwischen den Grenzen
252) und 239) liegen, wächst um eine Einheit. Ebenso nimmt
die Anzahl der Moleküle zweiter Gattung, für welche die
Variabeln 253) und 254) zwischen den Grenzen 260) und 256)
liegen, um eine Einheit ab und wächst diejenige, für welche
dieselben Variabeln zwischen den Grenzen 255) und 256) liegen,
um eine Einheit. Es wächst also durch jeden der entgegen-
gesetzten Zusammenstösse H1 um l f1l F1, H2 aber um
l f2l F2, daher H um l f1 + l f2l F1l F2.


Die Anzahl der entgegengesetzten Zusammenstösse, welche
während der Zeit d t im ganzen Gase erfolgen, ist aber, da g, ε
und d λ durch die Zusammenstösse nicht verändert werden,
genau analog der Formel 258) gleich:
σ2g ε F1F2d U1d V1d W1d U2d V2d W2d p1d qν + ν'd λ d t,
oder wegen Gleichung 261)
σ2g ε F1F2d u1d v1d w1d u2d v2d w2d p1d qν + ν'd λ d t,
[229][Gleich. 266] § 78. Aenderung von H.
so dass im Ganzen durch alle entgegengesetzten Zusammen-
stösse H um
(l f1 + l f2l F1l F2). σ2g ε F1F2 ×
× d u1d v1d w1d u2d v2d w2d p1d qν + ν'd λ d t

wächst. Vergleicht man dies mit Formel 264), so sieht man,
dass durch alle hervorgehobenen und entgegengesetzten Zu-
sammenstösse zusammengenommen die Grösse H den Zuwachs
265)
erfährt. Der Werth des letzteren Ausdruckes ist wesentlich
negativ. Integrirt man über alle möglichen Werthe aller
Differentiale ausser d t und dividirt durch 2, da man dann
alle Zusammenstösse doppelt, einmal als hervorgehobene und
einmal als entgegengesetzte gezählt hätte, so erhält man den
gesammten Zuwachs von H während der Zeit d t. Dieser ist
also auch eine wesentlich negative Grösse, sobald nur über-
haupt eine bemerkbare Veränderung von H eintritt. Da das-
selbe für alle übrigen Molekülgattungen gilt und Analoges
auch für die Zusammenstösse der verschiedenen Moleküle der-
selben Gattung unter einander bewiesen werden kann, so ist
in dem betrachteten Specialfalle der Beweis geliefert, dass
durch die Zusammenstösse der Werth von H nur abnehmen
kann.


Für den stationären Zustand ist eine fortwährende Ab-
nahme der Grösse H ausgeschlossen, für denselben muss also
allgemein der Ausdruck 265) verschwinden. Es muss also die
Gleichung
266) f1f2F1F2
für alle möglichen Zusammenstösse aller Gattungen von Mole-
külen bestehen mit analogen Gleichungen für die Zusammen-
stösse der Moleküle derselben Gattung unter einander.


[230]VII. Abschnitt. [Gleich. 266]

§ 79. Allgemeinste Charakterisirung des Vorganges
eines Zusammenstosses zweier Moleküle
.


Wir wollen nun von der ganz speciellen, in § 76 charak-
terisirten Art der Wechselwirkung zweier Moleküle zur allge-
meinsten Form derselben übergehen.


Wir bezeichnen da mit s die laufende Distanz der Schwer-
punkte eines Moleküles erster und eines Moleküles zweiter
Gattung und nehmen an, dass, wenn s grösser als eine gewisse
Constante b ist, niemals eine bemerkbare Wechselwirkung
zwischen beiden Molekülen stattfindet. Eine Kugel vom Radius b,
deren Centrum der Schwerpunkt eines Moleküles erster Gattung
ist, bezeichnen wir kurz als die Sphäre des betreffenden Mole-
küles. Wir können daher auch sagen: Sobald der Schwer-
punkt eines Moleküles zweiter Gattung ausserhalb der Sphäre
eines Moleküles erster Gattung liegt, findet zwischen beiden
niemals erhebliche Wechselwirkung statt. Jeder Vorgang,
wobei der Schwerpunkt eines der ersteren Moleküle in die
Sphäre eines der letzteren eindringt, soll ein Stoss heissen.


Es ist dabei allerdings möglich, dass der Schwerpunkt
des ersteren Moleküles die Sphäre des letzteren wieder ver-
lässt, ohne dass erhebliche Wechselwirkung stattgefunden hat,
dass also durch einen Stoss die Bewegung keines der beiden
stossenden Moleküle erheblich modificirt wird. Durch die
Mehrzahl der Stösse aber wird in der That eine bedeutende
Modification der Bewegung der beiden Moleküle bewirkt werden.


Wie in den §§ 75—78 soll die Lage der Bestandtheile
relativ gegen den Schwerpunkt, die Drehung um den Schwer-
punkt und die Geschwindigkeit sämmtlicher Theile für ein
Molekül erster Gattung durch die Variabeln 250) und 237),
für ein Molekül zweiter Gattung aber durch die Variabeln 253)
und 254) charakterisirt werden, wobei aber jetzt u1, v1, w1 die
Geschwindigkeitscomponenten des Schwerpunktes eines Mole-
küles erster, u2, v2, w2 die eines Moleküles sweiter Gattung
sein sollen.


Wir wollen eine Zusammenstellung eines Moleküles erster
und eines Moleküles zweiter Gattung eine kritische Con-
stellation nennen, wenn die Entfernung der Schwerpunkte
[231][Gleich. 267] § 79. Charakterisirung eines Stoffes.
gleich b ist. Wir betrachten die kritischen Constellationen,
welche folgende Bedingungen erfüllen: Für das Molekül
erster Gattung sollen die Variabeln 250) und 237) zwischen
den Grenzen 252) und 239) liegen, für das Molekül zweiter
Gattung sollen die Variabeln 253) und 254) zwischen den
Grenzen 255) und 256) liegen. Endlich soll die Richtung der
Verbindungslinie der Schwerpunkte irgend einer der innerhalb
eines unendlich kleinen Kegels von der Oeffnung d λ liegenden
Geraden parallel sein, was wir zusammen
die Bedingungen 267)
nennen wollen.


Jede kritische Constellation stellt, wenn in dem Momente,
wo sie eintritt, der Schwerpunkt des zweiten Moleküles sich
in die Sphäre des ersteren hineinbewegt, den Beginn des
Processes der Wechselwirkung der beiden Moleküle (des Stosses
im weiteren Sinne des Wortes) dar, sie heisse dann eine An-
fangsconstellation; wenn dagegen in diesem Momente der
Schwerpunkt des zweiten Moleküles die Sphären des ersten
verlässt, stellt sie das Ende eines Stosses dar. (Endcon-
stellation.) Die kritischen Constellationen, für welche die
Schwerpunktsdistanz beider Moleküle im Momente ihres Ein-
trittes ein Minimum ist, können ausser Acht gelassen werden,
da sie gleichzeitig Beginn und Ende eines Stosses darstellen,
welcher aber keinen modificirenden Einfluss auf die Bewegung
der Moleküle hat.


Wir bezeichnen zwei Constellationen als entgegengesetzt,
wenn in beiden sämmtliche Coordinaten die gleichen Werthe,
sämmtliche Geschwindigkeitscomponenten aber ebenfalls die
gleiche Grösse, aber entgegengesetztes Vorzeichen haben; wir
bezeichnen zwei kritische Constellationen als einander ent-
sprechend, wenn die Coordinaten 237) des ersten und 254) des
zweiten Moleküles und ebenso sämmtliche Geschwindigkeits-
componenten für beide Zusammenstösse dieselbe Grösse und
dasselbe Zeichen haben, wogegen die Coordinaten des Schwer-
punktes des einen Moleküles bezüglich solcher Coordinaten-
axen, die den fixen parallel durch den Schwerpunkt des an-
deren gezogen sind, zwar dieselbe Grösse, aber gerade das
entgegengesetzte Vorzeichen haben. Aus irgend einer Con-
stellation wird also die ihr entsprechende gebildet, indem man
[232]VII. Abschnitt. [Gleich. 267 a]
das erste Molekül völlig unverändert lässt und das zweite
Molekül ohne Aenderung der Configuration und Geschwindig-
keiten seiner Bestandtheile parallel zu sich selbst um das
Stück 2 b in der Richtung der von seinem Schwerpunkte gegen
den Schwerpunkt des ersten Moleküles hin gezogenen Geraden
verschoben denkt; mit anderen Worten, indem man ohne
Aenderung des Zustandes und ohne Drehung der Moleküle
im Raume die Orte der Schwerpunkte der beiden Moleküle
vertauscht.


Es ist nun ohne Weiteres Folgendes klar: Denken wir
uns sämmtliche Anfangsconstellationen zusammengefasst und
die jeder derselben entgegengesetzte Constellation aufgesucht,
so erhalten wir sämmtliche Endconstellationen und umgekehrt.
Ebenso erhalten wir sämmtliche Endconstellationen, wenn wir
die sämmtlichen Anfangsconstellationen entsprechenden auf-
suchen, was auch wieder umgekehrt gilt.


§ 80. Anwendung des Liouville’schen Satzes auf
Zusammenstösse allgemeinster Art
.


Sei nun wie im Früheren durch den Ausdruck 251) die
Anzahl der Moleküle erster Gattung im Gase gegeben, für
welche zur Zeit t die Variabeln 250) und 237) zwischen den
Grenzen 252) und 239) liegen. Ebenso sei die Anzahl der
Moleküle zweiter Gattung im Gase, für welche zur Zeit t die
Variabeln 253) und 254) zwischen den Grenzen 255) und 256)
liegen, durch den Ausdruck 257) gegeben. Schreiben wir noch
zur Abkürzung
d ω1 und d ω2 für
d u1d v1d w1d p1d qν und d u2d v2d w2d pν + 1d qν + ν',

so ist
267 a) d N = f1f2d ω1d ω2b2k d λ d t
die Zahl der Zusammenstösse, welche während der Zeit d t im
Gase so geschehen, dass deren Anfangsconstellation eine durch
die Bedingungen 267) bestimmte kritische Constellation ist.
k ist dabei die Componente der relativen Geschwindigkeit des
Schwerpunktes des zweiten Moleküles gegen den des ersten
Moleküles, die in die Richtung fällt, welche die Verbindungs-
[233][Gleich. 271] § 80. Neue Form des Liouville’schen Satzes.
linie dieser beiden Schwerpunkte im Momente des Beginnes
des Zusammenstosses hat. Für die kritischen Constellationen,
mit welchen alle diese Stösse enden, sollen die Variabeln 250)
und 237) für das erste Molekül zwischen den Grenzen 259)
und 243), die Variabeln 253) und 254) für das andere Molekül
aber zwischen den Grenzen 260) und
268) Pν + 1 und Pν + 1 + d Pν + 1Qν + ν' und Qν + ν' + d Qν + ν'
liegen und soll die Verbindungslinie der Schwerpunkte der
Moleküle einer der innerhalb eines Kegels von der Oeffnung d Λ
liegenden Geraden parallel sein. Den Inbegriff dieser Be-
dingungen bezeichnen wir als die
Bedingungen 269).


Von der weitschweifigeren, aber genaueren Ausdrucksweise
des § 27 nehmen wir wieder Umgang. Wir schreiben ferner
d Ω1 und d Ω2 für
d U1d V1d W1d P1d Qν und d U2d V2d W2d Pν + 1d Qν + ν'
und es sei K die Componente der relativen Geschwindigkeit
der Schwerpunkte beider Moleküle im Momente des Endes des
Stosses, welche in die Richtung fällt, die die Verbindungs-
linie der Schwerpunkte derselben in diesem Momente hat.


Endlich bezeichnen wir wie früher die Differenz der Co-
ordinaten der Schwerpunkte beider Moleküle (die des ersten
abgezogen) für die Anfangsconstellation mit ξ, η, ζ, für
die Endconstellation mit Ξ, H, Z. Dann lautet der Liou-
ville
’sche Satz (nämlich die Gleichung 52) auf diesen Fall
angewendet:
270) d ξ d η d ζ d ω1d ω2 = d Ξ d H d Z d Ω1d Ω2.
Wir führen nun für ξ, η, ζ und Ξ, H, Z Polarcoordinaten
ein, indem wir setzen:
ξ = s cos ϑ, η = s sin ϑ cos φ, ζ = s sin ϑ sin φ,
Ξ = S cos Θ, H = S sin Θ cos Φ, Z = S sin Θ sin Φ.

Dadurch verwandelt sich die Gleichung 270) in
271) s2 sin ϑ d s d ϑ d φ d ω1d ω2 = S2 sin Θ d S d Θ d Φ dΩ1d Ω2.
sin ϑ d ϑ d φ und sin Θ d Θ d Φ sind die Oeffnungen der Kegel,
[234]VII. Abschnitt. [Gleich. 272]
innerhalb deren die Verbindungslinie der Schwerpunkte vor
und nach dem Zusammenstosse liegen. Da wir die Oeffnungen
dieser Kegel schon früher mit d λ und d Λ bezeichneten, so
ist also:
sin ϑ d ϑ d φ = d λ und sin Θ d Θ d Φ = d Λ.


Wir wollen ferner für d s und d S das Zeitdifferential d t
einführen. Sei g die relative Geschwindigkeit der beiden
Schwerpunkte und s die Verbindungslinie der beiden Schwer-
punkte vor dem Stosse, so sind die Richtungscosinus dieser
beiden Geraden
und .
Die Componente der relativen Geschwindigkeit in der Richtung
der Geraden s ist daher:
.
Der entsprechende Wert dieser Componente der relativen Ge-
schwindigkeit nach dem Stosse wurde mit K bezeichnet. Es
ist also
d s = k d t, d S = K d t.
Durch Substitution aller dieser Werthe nimmt die Gleichung
270), wenn man noch bedenkt, dass sowohl im Momente des
Beginnes als auch des Endes des Stosses s = b ist, die Form an:
b2k d λ d t d ω1d ω2 = b2K d Λ d t d Ω1d Ω2,
wobei d t rechts und links denselben Werth hat, da der Liou-
ville
’sche Satz immer so zu verstehen ist, dass darin t als
unveränderlich betrachtet werden muss. Dividiren wir die
letzte Gleichung noch durch b2d t hinweg, so folgt:
272) k d λ d ω1d ω2 = K d Θ d Ω1d Ω2.


Wir wollen nun sämmtliche Endconstellationen derjenigen
Stösse ins Auge fassen, deren Anzahl in Formel 267 a) mit
d N bezeichnet wurde, ferner die jeder derselben entsprechende
Constellation bilden und mit d N' die Zahl der Stösse bezeichnen,
[235][Gleich. 273] § 81. Rechnen mit endlichen Differenzen.
welche während der Zeit d t im Gase so geschehen, dass sie
mit den in der beschriebenen Weise gebildeten entsprechenden
Constellationen beginnen. Dann ist
273) d N' = F1F2b2K d Ω1d Ω2d Λ d t,
wobei F1 und F2 zur Abkürzung für
f1 (U1, V1, W1, P1Qν, t) und f2 (U2, V2, W2, Pν + 1Qν + ν', t)
geschrieben wurde und man hat allgemein d N = d N', wenn
für alle Zusammenstösse die Gleichung 266) erfüllt ist. Nun
tauscht durch jeden der d N Stösse ein Molekül erster Gattung
einen Zustand, bei welchem die Variabeln 250) und 237)
zwischen den Grenzen 252) und 239) liegen, gegen einen
solchen aus, bei welchem diese Variabeln zwischen den Grenzen
259) und 243) liegen, während umgekehrt durch jeden der
d N' Zusammenstösse ein Molekül erster Gattung den letzteren
Zustand gegen den ersteren austauscht und Analoges für die
zweite Molekülgattung und für alle anderen Zusammenstösse
gilt. Daraus folgt, dass die Zustandsvertheilung durch die
Zusammenstösse nicht verändert wird, wenn allgemein die
Gleichung 266) erfüllt ist, und da sich leicht beweisen lässt,
dass diese Gleichung durch die Formel 115) in der That er-
füllt wird, so haben wir zunächst bloss einen zweiten Beweis
geliefert, dass die durch diese Formel dargestellte Zustands-
vertheilung die Bedingungen erfüllt, welche für eine stationäre
Zustandsvertheilung erfüllt sein müssen. Um auch, soweit
dies überhaupt möglich ist, den Beweis zu liefern, dass sie
die einzige ist, welche diesen Bedingungen genügt, wollen wir
wieder die Veränderung der Grösse H berechnen.


§ 81. Methode der Rechnung mit endlichen
Differenzen
.


Im Folgenden wird uns eine Abstraktion sehr förderlich
sein, welche vielleicht manchen anfangs etwas befremdet,
welche aber doch sicher jedem sehr natürlich erscheinen muss,
der klar erfasst hat, dass die ganze Symbolik der Differential-
und Integralrechnung keinen Sinn hat, wenn man nicht zuerst
von der Betrachtung grosser endlicher Zahlen ausgeht.


[236]VII. Abschnitt. [Gleich. 273]

Wir wollen voraussetzen, dass die Moleküle nur eine end-
liche Anzahl von Zuständen anzunehmen im Stande sind, welche
wir der Reihe nach mit 1, 2, 3 u. s. w. bezeichnen; übrigens
kann jeder beliebige Zustand mit 1, jeder beliebige andere
mit 2 u. s. w. bezeichnet werden. Diese gegenwärtige Vor-
stellung steht mit der einer continuirlichen Reihe von Zu-
ständen so in Zusammenhang, dass immer alle Zustände als
dieselben zu betrachten sind, die solche Gebiete erfüllen, die
sich nach dem Liouville’schen Satze entsprechen. (a, b)
drücke symbolisch eine kritische Constellation zweier Moleküle
aus, welche die Zustände a und b haben, (b, a) drücke die
ihr entsprechende, (— a, — b) die ihr entgegengesetzte Con-
stellation aus.


Ein Stoss, welcher mit der Constellation (a, b) beginnt und
mit der Constellation (c, d) endet, soll mit bezeichnet
werden. wa sei die Zahl der Moleküle in der Volumeinheit,
welche den Zustand a haben, eine analoge Bedeutung habe
wb u. s. w. sei die Anzahl der Stösse im Gase,
welche mit der Constellation (a, b) beginnen und mit der Con-
stellation (c, d) enden; wenn dann d wa den Zuwachs bedeutet,
den wa durch die Stösse während der Zeit d t erfährt, so ist
,
wobei die Summen über alle möglichen Werthe der Grössen x,
y, z, n, p, q zu erstrecken sind. Wir denken uns nun alle Aus-
drücke für … aufgeschrieben, setzen
E = ω1 (l ω1 — 1) + ω2 (l ω2 — 1) + …,
bezeichnen mit d E den Zuwachs, welchen E während der Zeit d t
durch die Stösse der Moleküle erfährt und denken uns in
die obigen Werthe von , … substituirt; l bedeutet
den natürlichen Logarithmus. Der Stoss , in welchem
übrigens 1, 2, 3, 4 beliebige Zustände, (2, 1) und (3, 4) beliebige
[237][Gleich. 273] § 81. Rechnen mit endlichen Differenzen.
kritische Constellationen sein können, liefert sowohl in den
Ausdruck für d w1 als auch in den für d w2 das Glied
,
in die Ausdrücke für und aber je ein gleiches posi-
tives Glied. Alle diese Glieder liefern dann in die Summe
.
Der entsprechende Stoss , d. h. derjenige, welcher als An-
fangsconstellation diejenige Constellation (4, 3) hat, welche der
Endconstellation (3, 4) des früher betrachteten Stosses entspricht,
liefert in und je das Glied , in
und aber wieder je zwei gleiche positive Glieder.


In gleicher Weise schreite man zu dem Stosse fort,
welcher dem Stosse entspricht u. s. w.


Da wir es jetzt nur mit einer endlichen Zahl von Zuständen
zu thun haben, so müssen wir in dieser Reihe einander ent-
sprechender Stösse jedenfalls einmal zu einem Stosse
gelangen, welchem irgend ein vorhergehender entspricht und
es lässt sich beweisen, dass dem ersten Stosse, für welchen
dies stattfindet, der Stoss entsprechen muss, denn würde
ihm z. B. der Stoss entsprechen, so müssten (x, y) und
(6, 5) entsprechende Constellationen sein, es müsste also (x, y)
identisch mit (5, 6) sein und zwei Stösse, von denen der eine
mit der Constellation (k, k — 1), der andere mit (4, 3) beginnt,
müssten zur gleichen Endconstellation führen, folglich müsste
die Anfangsconstellation (— 5, — 6) sowohl zur Endconstellation
(— 4, — 3), als auch zur Endconstellation (— k, — k + 1) führen.
Die beiden letzteren Constellationen müssten daher ebenfalls
identisch sein, daher müsste der Stoss mit dem Stosse
und aus demselben Grunde der Stoss mit
[238]VII. Abschnitt. [Gleich. 275]
dem Stosse identisch sein, der Cyklus wäre also schon
früher geschlossen.


Die Gleichung 272) in unsere jetzige Bezeichnungsweise
übertragen, bedeutet aber, dass die Coefficienten und
einander gleich sein müssen, da wir stets alle Zustände, für
welche die Variabeln Gebiete erfüllen, die nach dem Liou-
ville
’schen Satze gleich sind, als einen und denselben Zustand
zusammenfassen. Hieraus folgt, dass man alle in ent-
haltenen Glieder in Cyklen von der Form anordnen kann:
.


Bezeichnet man den Ausdruck in der eckigen Klammer
mit l X und setzt w1w2 = α, w3w4 = β …, so ist:
274) X = βα ‒ β γβ ‒ γ δγ ‒ δ … ασ ‒ α.
Unter den Zahlen α, β, γ … muss es mindestens eine, z. B. γ
geben, welche nicht grösser ist, als ihre beiden Nachbarwerthe β
und δ; est ist dann
275) ,
wobei
Y = βα ‒ β δβ ‒ δ … ασ ‒ α
genau dieselbe Form, aber um ein Glied weniger als X hat.


Der Factor von Y in Gleichung 275) ist = 1, wenn entweder
γ = β oder γ = δ ist, sonst immer kleiner als 1. Wendet man
dieselbe Betrachtung auf Y an u. s. w., so reducirt sich X end-
lich auf ein Produkt von Brüchen, deren jeder ⪙ 1 ist und
die nur dann alle = 1 sein können, wenn die Grössen α, β, γ
alle unter einander gleich sind.


Es kann daher die Grösse E, deren Differentialquotient
nach der Zeit, da Σ w constant ist, beim Uebergang zum Un-
endlichkleinen mit d H / d t zusammenfällt, in Folge der Zu-
sammenstösse nur abnehmen oder constant sein und zwar
letzteres nur dann, wenn für alle Zusammenstösse die
Gleichung
wa wb = wc wd
[239][Gleich. 276] § 82. Integralausdruck.
erfüllt ist. Da nun für den stationären Zustand E nicht weiter
abnehmen kann, so muss für denselben die Gleichung
wa wb = wc wd
für alle möglichen Zusammenstösse erfüllt sein, welche beim
Uebergange zum Unendlichkleinen mit Gleichung 266) iden-
tisch wird.


§ 82. Integralausdruck für die allgemeinste
Aenderung von H durch die Zusammenstösse
.


Will man den Uebergang von der Betrachtung einer end-
lichen Zahl von Zuständen zu der einer unendlichen vermeiden
und sogleich von den Differentialen Gebrauch machen, so wäre
die im Folgenden skizzirte Methode anzuwenden. Aehnlich wie
im I. Theile § 18 und hier in den §§ 75—78 incl. findet man
276) ,
wobei das einfache Integral eine Integration bezüglich der in d ω1,
das Dreifache eine Integration bezüglich aller in d ω1d ω2d λ
enthaltenen Differentiale bezeichnet, d ∫ f1l f1d ω1 bezeichnet
die Veränderung, welche dieses Integral bloss in Folge der
Stösse der Moleküle erster auf die zweiter Gattung während
der Zeit d t erfährt. Die in Folge der intramolecularen Be-
wegung ist Null. Die übrigen Grössen haben dieselbe Be-
deutung wie in den vorhergehenden Paragraphen. Wir wollen
uns den jedem Stosse entsprechenden gebildet denken, dessen
Anfangsconstellation also der Endconstellation des zuerst be-
trachteten Stosses entspricht, und bezeichnen mit f″1 und f″2
die Werthe, welche die Functionen f1 und f2 annehmen, wenn
man darin die Variablen substituirt, welche den Zustand der
beiden Moleküle am Ende dieses zweiten Stosses charakteri-
siren; ferner wollen wir uns zu diesem zweiten Stosse noch-
mals den entsprechenden bilden und mit f‴1 und f‴2 die
Functionswerthe bezeichnen, welche durch Substitution der die
Endzustände beider Moleküle für diesen letzteren Stoss charak-
terisirenden Werthe der Variablen entstehen, u. s. f.


[240]VII. Abschnitt. [Gleich. 278]

Dann kann die Grösse in die Form ge-
bracht werden:
277) .


Setzt man wieder
f1f2 = α, F1F2 = β, f″1f″2 = γ u. s. w.,
so wird der Ausdruck, welcher in Formel 277) in der eckigen
Klammer steht, der natürliche Logarithmus von
278) βα ‒ β γβ ‒ γ δγ ‒ δ


Es hat diese Grösse genau die Form des Ausdruckes 274),
nur dass jetzt der Cyklus der Grössen α, β, γ … im Allgemeinen
kein endlicher ist. Doch wird man jedenfalls, wenn man die
Reihe dieser Grössen nur genügend lange fortsetzt, zu einem
Gliede gelangen, dessen Basis wieder sehr nahe = α ist, so
dass der Unterschied zwischen dem Ausdrucke 278) und einem
in sich geschlossenen, beliebig klein gemacht werden kann.
Sobald durch einen Stoss die Bewegung beider Moleküle nicht
verändert wird, kann es freilich vorkommen, dass von den
Grössen α, β, γ … eine gleich der ihr benachbarten ist; wenn
wir aber nur b nicht so gross wählen, dass dies bei der Mehr-
zahl der Stösse der Fall ist, so wird auch die Mehrzahl dieser
Grössen gänzlich verschieden von den beiden benachbarten
sein, es wird also auch die Mehrzahl der Brüche kleiner als 1
sein, als deren Product der Ausdruck 278) dargestellt werden
kann, und welche alle die Form des Factors von Y in der
Formel 275) haben. Daher wird negativ und nur dann
gleich Null sein, wenn für alle Stösse die Bedingung 266) er-
füllt ist.


§ 83. Präcisirung des nun zu betrachtenden
Specialfalles
.


Wir haben in den vorigen Paragraphen bewiesen, dass
für das Wärmegleichgewicht in idealen Gasen mit beliebig be-
schaffenen zusammengesetzten Molekülen für alle Zusammen-
[241][Gleich. 278] § 83. Specialfall.
stösse gleich beschaffener und ungleicher Moleküle die Glei-
chung 266) gelten muss. Wir haben bei der Beweisführung
äussere Kräfte allerdings ausgeschlossen, doch lässt sich der
Beweis in derselben Weise auch unter Zulassung äusserer
Kräfte durchführen. Man sieht ferner unmittelbar, dass die
Gleichung 266) befriedigt wird, sobald die Zustandsvertheilung
durch die Formel 118) bestimmt ist.


Der Beweis jedoch, dass diese Formel die einzig mögliche
Lösung der Gleichung 266) sei, scheint sich nicht vollkommen
allgemein durchführen zu lassen und es scheint daher nichts
übrig zu bleiben, als diesen Beweis in jedem Falle im Speciellen
zu liefern. An dieser Stelle muss natürlich bezüglich aller
verschiedenen Specialfälle auf die Monographien verwiesen
werden und können nur ganz wenige gewissermaassen als
Muster behandelt werden.


Am einfachsten gestaltet sich die Rechnung in folgendem
Specialfalle. Es sei ein Gemisch beliebiger idealer Gase ge-
geben, auf welche keine äusseren Kräfte wirken. Die Atome
der verschiedenen Moleküle sollen durch beliebige conservative
Kräfte zusammengehalten werden, für welche die Lagrange’-
schen Gleichungen gelten. Die Wechselwirkung zweier verschie-
dener Moleküle derselben Gasart oder verschiedener Gasarten
soll aber immer darin bestehen, dass ein Atom des einen und
ein Atom des anderen der in Wechselwirkung begriffenen
Moleküle sich wie elastische, unendlich wenig deformirbare
Kugeln stossen.


Wegen der unendlich geringen Deformirbarkeit wird sich
während jedes solchen Stosses weder der Ort der stossenden,
noch Position, Geschwindigkeitsgrösse und Geschwindigkeits-
richtung für die übrigen Atome der in Wechselwirkung be-
griffenen Moleküle ändern. Da aber vor dem Stosse offenbar
jede Richtung im Raume für die Geschwindigkeitsrichtung eines
einzelnen Atomes gleich berechtigt ist, so kann man die Wahr-
scheinlichkeit eines in bestimmter Weise vor sich gehenden
Zusammenstosses gerade so berechnen, wie dies im I. Theile
§ 3 geschah.


Wir betrachten der Allgemeinheit halber einen Zusammen-
stoss, bei welchem die beiden in Wechselwirkung tretenden
Moleküle verschiedenen Gasarten angehören und nennen die
Boltzmann, Gastheorie II. 16
[242]VII. Abschnitt. [Gleich. 280]
Gasart, welcher das eine (das erste) der in Wechselwirkung
tretenden Moleküle angehört, die erste Gasart, die, welcher
das andere (das zweite Molekül) angehört, die zweite Gasart.
Uebrigens gilt Analoges auch, wenn beide Moleküle der gleichen
Gasart angehören.


§ 84. Auflösung der für jeden Zusammenstoss
geltenden Gleichung
.


Ein bestimmtes Atom mit der Masse m1 des ersten Mole-
küles soll mit einem bestimmten Atome mit der Masse m2
des zweiten Moleküles zusammenstossen. Wir wollen alle dem
ersten Atome gleichartigen Atome die Atome m1, alle dem
zweiten gleichartigen die Atome m2 nennen. c1 und c2 seien die
Geschwindigkeiten des ersten und zweiten der stossenden Atome
im Momente des Zusammenstosses aber noch vor demselben,
γ1 und γ2 die Geschwindigkeiten derselben Atome unmittelbar
nach dem Stosse. Es sind dann die Werthe von c1 und c2
vollkommen willkürlich. Auch γ1 kann einen willkürlichen,
zwischen den Grenzen Null und
279)
gelegenen Werth annehmen, nur γ2 muss vermöge der Gleichung
der lebendigen Kraft gleich
sein, da wegen der Kürze der Dauer des Stosses im Uebrigen
die Energie keines der Moleküle während desselben bemerkbar
verändert wird.


Die Anzahl derjenigen Atome m1 im ganzen Gase, für
welche die drei Componenten der Geschwindigkeit ihres Mittel-
punktes in den drei Coordinatenrichtungen zwischen den
Grenzen
280) u1 und u1 + d u1, v1 und v1 + d v1, w1 und w1 + d w1
liegen, während alle anderen, den Bewegungszustand des Mole-
[243][Gleich. 282] § 84. Gleichung für jeden Stoss.
küles bestimmenden Variabeln alle überhaupt möglichen Werthe
haben können, wollen wir mit:
f1 (c1) d u1d v1d w1
bezeichnen. Weil für die Richtung der Geschwindigkeit dieses
Atomes jede Richtung im Raume gleichberechtigt ist, so ist
der Coefficient des Productes der Differentiale offenbar nur
Function von c1 und wurde daher mit f1 (c1) bezeichnet.


Analog sei die Anzahl der Atome m2 im Gase, für welche
ebenfalls ohne Beschränkung der Grenzen für den sonstigen
Zustand des betreffenden Moleküles die Componenten der Ge-
schwindigkeit ihres Mittelpunktes in den Coordinatenrichtungen
zwischen den Grenzen
281) u2 und u2 + d u2, v2 und v2 + d v2, w2 und w2 + d w2
liegen,
f2 (c2) d u2d v2d w2.


Die Gleichung 266) reducirt sich dann für die von uns
betrachteten Stösse auf:
282) .


Da diese Gleichung für alle möglichen Werthe der Variabeln
c1, c2 und γ1 erfüllt sein muss, welche der Gleichung der
lebendigen Kraft genügen, so folgt daraus, wie eine einfache
Rechnung lehrt (vergl. auch I. Theil § 7),
.


Diese Formeln im Vereine mit der Bedingung, dass für
die Geschwindigkeitsrichtung jede Richtung im Raume gleich-
berechtigt ist, bestimmen die Wahrscheinlichkeit der verschie-
denen Geschwindigkeitscomponenten vollständig. Wenn alle
Atome aller Moleküle unter einander zusammenstossen können,
so muss h für alle denselben Werth haben. Es ist daher die
mittlere lebendige Kraft für alle Atome, und wie sich aus
der Gleichberechtigung aller Geschwindigkeitsrichtungen leicht
nachweisen lässt, auch für die progressive Bewegung der Schwer-
punkte aller Moleküle dieselbe und gleich der mittleren leben-
16*
[244]VII. Abschnitt. [Gleich. 282]
digen Kraft eines Atomes. Die Coefficienten A1 und A2 sind
Constanten; sie wären aber Funktionen der übrigen den Zu-
stand des Moleküles bestimmenden Variabeln und der dafür
angenommenen Grenzen, falls für diese Variabeln nicht alle
möglichen, sondern nur bestimmte zwischen gegebenen Grenzen
eingeschlossene Werthe zugelassen würden.


Ein specieller Fall des betrachteten ist der, dass die Mole-
küle zweiatomig, die Atome aber starre Kugeln sind, die wie
die Kugeln der sogenannten Hanteln der Turner durch eine
Verbindungsstange zu einem starren Systeme vereint sind. 1)
Sieht man die Verbindungsstange zunächst als elastisch an,
so werden allerdings Radialschwingungen der Atome gegen
und von einander anzunehmen sein. Wir können aber dann
zum Grenzfalle übergehen, dass die Deformirbarkeit der Stange
verschwindet, daher die Amplitude dieser Schwingungen so
klein ist, dass sie sich gerade so wie die Drehbewegung um
die Verbindungslinie der Atommittelpunkte nicht in beobacht-
barer Zeit mit den übrigen Bewegungen ins Wärmegleich-
gewicht setzt.


Dann stimmt das Resultat vollkommen mit dem früher
erhaltenen überein, wo wir für das Verhältniss der Wärme-
capacitäten den Werth 1·4 erhielten.


Wir erhalten ebenso einen speciellen Fall des im vorigen
und zu Anfang dieses Paragraphen betrachteten Falles, wenn
wir uns die Moleküle als starr verbundene Systeme dreier
oder einer grösseren Anzahl starrer Kugeln denken. Dann
erhalten wir den Fall, für welchen sich schon früher das Ver-
hältniss der Wärmecapacitäten zu 1⅓ ergab. Es würde übri-
gens keine Schwierigkeiten machen, diese Fälle besonders in
extenso zu behandeln, noch auch die Wahrscheinlichkeit der
verschiedenen Werthecombinationen der Coordinaten in dem
allgemeinen, im vorigen und zu Anfang dieses Paragraphen be-
handelten Falle zu finden. Wir wollen jedoch hierauf nicht
näher eingehen, dafür aber als Muster für die Behandlungs-
weise schwieriger Fälle den folgenden Specialfall betrachten.


[245][Gleich. 283] § 85. Beschränkte Stossfähigkeit.

§ 85. Es sollen nur die Atome einer einzigen
Gattung sich stossen
.


Es sei ein ideales Gas mit durchaus gleich beschaffenen
Molekülen gegeben. Jedes Molekül bestehe aus zwei verschieden
beschaffenen Atomen mit den Massen m1 und m2 (dem Atome
erster und dem zweiter Gattung). Die beiden Atome jedes
Moleküles sollen sich bezüglich der intramolekularen Bewegung
wie materielle Punkte verhalten, die in den Mittelpunkten der
Atome concentrirt sind, und auf einander eine Kraft ausüben,
welche in die Richtung ihrer Verbindungslinie fällt und Function
ihres Abstandes ist. Die intramolekularen Bewegungen sollen
also gewöhnliche Centralbewegungen 1) sein. Die Wechsel-
wirkung zweier verschiedener Moleküle aber soll darin be-
stehen, dass sich je zwei Atome erster Gattung mit den
Massen m1 wie unendlich wenig deformirbare elastische Kugeln
stossen; zwischen den Atomen erster und zweiter Gattung,
wenn sie verschiedenen Molekülen angehören, sowie zwischen
den Atomen zweiter Gattung unter einander aber soll gar
keine Wechselwirkung stattfinden.


Wir erhalten dann durch Anwendung einer ähnlichen
Schlussweise, wie wir sie im vorigen Paragraphen aus einander
gesetzt haben, für die Atome erster Gattung die der Glei-
chung 282) analoge, aus welcher folgt:
283) .
Es sind hier wie dort u1, v1, w1 die Geschwindigkeitscompo-
nenten eines Atomes erster Gattung; f1 (c1) d u1d v1d w1 ist die
Anzahl der Atome erster Gattung des gesammten Gases, für
welche u1, v1, w1 zwischen den Grenzen 280) liegen; A kann
noch von den für den sonstigen Zustand des Moleküles an-
genommenen Grenzen abhängen.


Dagegen kann die gleiche Schlussweise nicht auf die Atome
zweiter Gattung angewendet werden, da dieselben niemals mit
anderen Atomen fremder Moleküle zusammenstossen. Wir
[246]VII. Abschnitt. [Gleich. 287]
müssen uns also da auf Betrachtung der Wahrscheinlichkeit
irgend einer Bahnform und Bewegungsphase der Centralbe-
wegung einlassen.


§ 86. Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer
Centralbewegung von bestimmter Beschaffenheit
.


Wir bezeichneten bereits mit c1 und c2 die absoluten Ge-
schwindigkeiten des ersten und zweiten Atomes in irgend einem
Zeitmomente. ρ sei die Distanz der Mittelpunkte des ersten
und zweiten Atomes zur selben Zeit; α1 und α2 seien die
Winkel, welche die Richtungen von c1 und c2 mit der Richtung
der vom ersten gegen das zweite Atom hingezogenen Geraden ρ
bilden; endlich sei β der Winkel der beiden Ebenen, von
denen jede durch die Gerade ρ und ausserdem die eine durch
die Richtung von c1, die andere durch die von c2 geht.


Die gesammte Energie des Moleküles ist
284) ,
wenn φ die Kraftfunction der wirkenden Centralkraft ist. Die
doppelte Flächengeschwindigkeit des Atomes m2 relativ gegen m1
in der Bahnebene ist:
285) ,
die mit m1 + m2 multiplicirte Geschwindigkeit des Schwer-
punktes des Moleküles ist
286)
und sie hat senkrecht zur Bahnebene die Componente
287) .
Die Zahl der Moleküle in der Volumeneinheit, für welche K,
L, G, H zwischen den Grenzen
K und K + d K, L und L + d L, G und G + d G,
H und H + d H

liegen, soll
Φ (K, L, G, H) d K d L d G d H
[247][Gleich. 288] § 86. Centralbewegung.
heissen. Die Zahl derjenigen unter allen diesen Molekülen,
für welche noch ρ zwischen ρ und ρ + d ρ liegt, ist
.
Hierbei ist ist die Zeit, welche von einem
Peri- bis zu einem Apocentrum vergeht, also eine gegebene
Function von K, L, G, H; ist ebenfalls eine
Function dieser vier Grössen. Beschränken wir uns auf jene
Moleküle, für welche erstens noch die letzte Apsidenlinie der
Bahn mit einer in der Bahnebene einer fixen Ebene parallel
gezogenen Geraden einen Winkel bildet, der zwischen ε und
ε + d ε liegt, zweitens die beiden durch die Geschwindigkeit
des Schwerpunktes normal zur Bahnebene und parallel einer
fixen Geraden Γ gelegten Ebenen einen Winkel bilden, der
zwischen ω und ω + d ω liegt, und endlich drittens noch die
Geschwindigkeitsrichtung des Schwerpunktes innerhalb eines
Kegels von gegebener Richtung und unendlich kleiner Oeff-
nung d λ fällt, so haben wir noch mit d ε d ω d λ: 16 π3 zu multi-
pliciren. Die Zahl der Moleküle im Gase, welche alle diese
Bedingungen erfüllen, ist daher
288) .
Bezeichnen wir mit g und g + d g, h und h + d h, k und k + d k
die Grenzen, zwischen denen für diese Moleküle die Geschwindig-
keitscomponenten des Schwerpunktes bezüglich der fixen recht-
winkeligen Coordinatenaxen liegen, so ist
G2d G d λ = dg dh dk.
Nun lassen wir g, h und k constant, legen durch das Centrum
des ersten Atomes ein rechtwinkeliges Coordinatensystem, dessen
z-Axe die Richtung von G hat, bezeichnen Coordinaten und
Geschwindigkeitscomponenten des zweiten Atomes bezüglich
dieses Systemes mit x3, y3, z3, u3, v3, w3 und transformiren
[248]VII. Abschnitt. [Gleich. 288]
diese sechs Variabeln in K, L, H, ρ, ε, ω. Wir legen zu
diesem Behufe durch den Mittelpunkt des ersten Atomes ein
zweites Coordinatensystem, bezüglich dessen Coordinaten und
Geschwindigkeitscomponenten des zweiten Atomes mit x4, y4,
z4, u4, v4, w4 bezeichnet werden sollen. Die z-Axe des zweiten
Systemes soll senkrecht zur Bahnebene, die x-Axe in deren
Durchschnittslinie mit der alten xy-Ebene liegen. Es ist dann
H = G sin ϑ,
wenn 90 — ϑ der Winkel beider z-Axen ist; daher, weil G
constant ist,
d H = G cos ϑ d ϑ.
Endlich bezeichnen wir den Winkel der beiden x-Axen mit ω,
da er sich von dem früher so bezeichneten Winkel jedenfalls
nur um einen Betrag unterscheidet, den wir jetzt als constant
zu betrachten haben. Wir finden:
z4 = x3 cos ϑ sin ω + y3 cos ϑ cos ω + z3 sin ϑ
w
4 = u3 cos ϑ sin ω + v3 cos ϑ cos ω + w3 sin ϑ,

welche beide Ausdrücke verschwinden müssen, da die x4y4
Ebene Bahnebene ist. Mittelst dieser beiden Gleichungen kann
man bei constantem x3, y3, u3, v3 zunächst ϑ, ω statt z3, w3
einführen und findet
.
Nun ist weiter
x4 = x3 cos ωy3 sin ω
y
4 sin ϑ = x3 sin ω + y3 cos ω

und analoge Gleichungen folgen für u4, v4. Daraus folgt
y3u3x3v3 = sin ϑ (y4u4x4v4) = K sin ϑ
und bei constantem ϑ und ω
d x4dy4 sin ϑ = d x3dy3; du4dv4 sin ϑ = du3dv3,
daher
dx3dy3dz3du3dv3dw3 = K cos ϑ dx4dy4du4dv4dϑ dω.
Nun bezeichnen wir, wie früher, mit σ und τ die Geschwindig-
keitscomponenten der Relativbewegung des zweiten gegen das
[249][Gleich. 289] § 86. Centralbewegung.
erste Atom in der Richtung von ρ und senkrecht darauf; dann
ist bei constantem x4 und y4
dσ dτ = du4dv4
,

wobei Lg die jetzt constant betrachtete Energie der Schwer-
punktsbewegung ist. Ist endlich ψ der Winkel zwischen ρ
und der letzten Apsidenlinie, so folgt
x4 = ρ cos (ε + ψ), y4 = ρ sin (ε + ψ),
wobei ψ Function von ρ, K und L ist; letztere beide sind
jetzt constant, daraus folgt
ρ d ρ dε = dx4dy4.
Fasst man alles zusammen, so ist:
und man sieht sofort, dass, wenn x, y, z die Coordinaten des
zweiten Atomes bezüglich eines durch den Mittelpunkt des
ersten Atomes gehenden Coordinatensystemes sind, dessen Axen
den ursprünglich gewählten ganz beliebigen Coordinatenaxen
parallel sind, ebenfalls
sein muss. Führen wir dies in den Ausdruck 288) ein und
bedenken noch, dass bei constantem u2, v2, w2
ist, so finden wir
289)
[250]VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
als die Zahl der Moleküle in der Volumeneinheit, für welche
die Variabeln xw2 zwischen x und x + d xw2 und w2 + d w2
liegen. Wir wollen diese Zahl gleich
290)
setzen. Nach 283) kann B einerseits nur Function von c2, ρ
und α2, andererseits kann es nach 289) nur Function von K,
L, G und H sein. Es muss B also eine solche Function dieser
letzteren Variabeln sein, welche von den Werthen von c1, α1
und β ganz unabhängig und bloss Function von c2, ρ und α2
ist. Setzen wir also B = f (K, L, G, H), so muss diese Function,
wenn man für K, L, G, H die Werthe 284) bis 287) substituirt,
von c1, α1 und β ganz unabhängig werden. Da dies für alle
Werthe von c2, ρ und α2 gelten muss, so wollen wir zunächst
c2 = 0 setzen; dann wird
K = ρ c sin α, , G = m c, H = 0,
also
.
Da dies von c1 und α1 unabhängig sein soll, darf K in f gar
nicht, L und G nur in der Verbindung 2 m LG2 vorkommen.
Letzteres erkennt man sofort, wenn man sich in f statt der
beiden Variabeln L und G eingeführt denkt 2 m LG2 und G.
Wir erhalten also
B = f (2 m LG2, H)
und nach Einsetzung der allgemeinen Werthe 284) bis 287)
.
Dies muss vollständig unabhängig von c1, α1 und β sein. Man
sieht sofort, dass dann beide Grössen unter dem Functions-
zeichen überhaupt ganz unabhängig von einander sind und
daher B eine Constante sein muss. Alsdann wird aber in der
That die Formel 290) ein specieller Fall der Formel 118).


[251][Gleich. 290] § 87. Annahme üb. d. Anfangszustände.

Ein anderer specieller Fall, dessen Behandlung ohne prin-
cipielle Schwierigkeiten ist, wäre der, dass die Moleküle be-
liebige starre Körper sind, die entweder die Gestalt von
Rotationskörpern haben oder nicht. Ich fürchte aber ohnehin
schon zu viel Zeit auf weitschweifige Berechnung specieller
Fälle aufgewendet zu haben und ziehe es daher vor, alle
weiteren speciellen Aufgaben für Doctordissertationen aufzu-
sparen.


§ 87. Charakterisirung unserer Annahme über die
Anfangszustände
.


Wenn ein Gas von starren Wänden umschlossen ist und
anfangs ein Theil desselben eine sichtbare Bewegung gegen-
über der übrigen Gasmasse hatte, so kommt derselbe bald in
Folge der inneren Reibung zur Ruhe. Wenn zwei Gasarten
anfangs unvermischt waren, aber frei mit einander in Be-
rührung stehen, so mischen sie sich, auch wenn sich die
leichtere anfangs oben befand; allgemein wenn ein Gas oder
ein System mehrerer Gasarten anfangs irgend einen unwahr-
scheinlichen Zustand hatte, so tritt mit der Zeit immer der
unter den gegebenen äusseren Bedingungen wahrscheinlichste
Zustand ein und bleibt in aller beobachtbaren Folgezeit er-
halten. Zum Beweise, dass dies eine nothwendige Consequenz
der kinetischen Gastheorie ist, diente uns die in diesem Ab-
schnitte definirte und discutirte Grösse H. Wir wiesen nach,
dass dieselbe in Folge der Durcheinanderbewegung der Gas-
moleküle stets abnimmt. Die Einseitigkeit des Vorganges,
welche hierin liegt, ist offenbar nicht in den für die Moleküle
geltenden Bewegungsgleichungen begründet. Denn diese ändern
sich nicht, wenn die Zeit ihr Vorzeichen wechselt. Diese Ein-
seitigkeit liegt vielmehr einzig und allein in den Anfangs-
bedingungen.


Dies ist aber nicht etwa so zu verstehen, als ob man für
jeden Versuch wieder speciell annehmen müsste, dass die An-
fangsbedingungen gerade bestimmte und nicht die entgegen-
gesetzten, ebenso gut möglichen sind; sondern es genügt
eine einheitliche Grundannahme über die anfängliche Be-
schaffenheit des mechanischen Weltbildes, aus welcher dann
[252]VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
mit logischer Nothwendigkeit von selbst folgt, dass, wo immer
Körper in Wechselwirkung treten, sich die richtigen Anfangs-
bedingungen vorfinden müssen. Unsere Theorie erfordert näm-
lich nichts, als dass jedesmal, wo Körper in Wechselwirkung
treten, der Anfangszustand des von ihnen gebildeten Systemes
ein durch besonders hervorragende Eigenschaften ausgezeich-
neter (geordneter, unwahrscheinlicher) sei, welche verhältniss-
mässig nur sehr wenigen Zuständen desselben mechanischen
Systemes unter den in Frage stehenden äusseren mechanischen
Bedingungen zukommen. Hierdurch erklärt es sich, dass dieses
System mit der Zeit Zustände annimmt, denen diese Eigen-
schaft nicht mehr zukommt, und welche man ungeordnete
nennt. Da weitaus die meisten Zustände des Systemes un-
geordnete sind, so nennt man die letzteren auch die wahr-
scheinlichen Zustände.


Die geordneten Anfangszustände verhalten sich zu einem
ungeordneten nicht etwa wie ein bestimmter Zustand zu dem
gerade entgegengesetzten (durch alleinige Umkehr der Richtung
aller Geschwindigkeiten daraus entstandenen), sondern der
einem geordneten Zustande entgegengesetzte ist immer wieder
ein geordneter Zustand.


Der sich einstellende wahrscheinlichste Zustand, welchen
wir den der Maxwell’schen Geschwindigkeitsvertheilung nennen
wollen, da Maxwell dafür zuerst in einem speciellen Falle
den mathematischen Ausdruck fand, ist nicht etwa ein ausge-
zeichneter singulärer Zustand, welchem unendlich vielmal mehr
nicht Maxwell’sche Geschwindigkeitsvertheilungen gegenüber-
stehen, sondern er ist im Gegentheile dadurch charakterisirt,
dass die weitaus grösste Zahl der überhaupt möglichen Zu-
stände die charakteristischen Eigenschaften der Maxwell’-
schen Zustandsvertheilung hat und gegenüber dieser Zahl die
Anzahl derjenigen möglichen Geschwindigkeitsvertheilungen,
welche bedeutend von der Maxwell’schen abweichen, ver-
schwindend klein ist. Das Kriterium der gleichen Möglichkeit
oder gleichen Wahrscheinlichkeit verschiedener Zustandsver-
theilungen liefert dabei immer der Liouville’sche Satz.


Um zu erklären, dass die unter dieser Voraussetzung aus-
geführten Rechnungen den wirklich beobachteten Vorgängen
entsprechen, muss man annehmen, dass ein enorm complicirtes
[253][Gleich. 290] § 88. Rückkehr in den alten Zustand.
mechanisches System unter der Voraussetzung ein gutes Welt-
bild darstellt, dass es sich als Ganzes, oder wenigstens ein
enorm grosser uns umgebender Theil davon, anfangs in einem
sehr geordneten, also sehr unwahrscheinlichen Zustande befand.
Wenn dies der Fall ist, so wird auch, wo immer zwei oder
mehrere kleine Theile desselben mit einander in Wechsel-
wirkung treten, sich das von diesen gebildete System anfangs
in einem geordneten Zustande befinden, und wenn es sich selbst
überlassen bleibt, dem ungeordneten wahrscheinlichsten Zu-
stande zueilen.


§ 88. Ueber die Rückkehr eines Systemes in den
alten Zustand
.


Wir wollen hierzu noch Folgendes bemerken: 1. Es ist
keineswegs das Vorzeichen der Zeit, welches den charakte-
ristischen Unterschied zwischen einem geordneten und un-
geordneten Zustande bedingt. Würde man in demjenigen Zu-
stande, den man sich als Anfangszustand des mechanischen
Weltbildes gedacht hat, die Richtungen aller Geschwindigkeiten
genau umkehren, ohne ihre Grösse und die Lage der Theile
des Systemes zu ändern; würde man, wie man sagen kann,
die Zustände des Systemes nach rückwärts verfolgen, so würde
man ebenfalls zuerst einen unwahrscheinlichen Zustand haben
und zu immer wahrscheinlicheren gelangen. Nur in derjenigen
Zeitstrecke, welche von einem sehr unwahrscheinlichen Anfangs-
zustande bis zu einem weit wahrscheinlicheren späteren Zu-
stande führt, verändern sich die Zustände in der positiven
Zeitrichtung anders als in der negativen.


2. Der Uebergang von einem geordneten zu ungeordneten
Zuständen ist nur äusserst unwahrscheinlich. Auch der um-
gekehrte Uebergang hat eine gewisse berechenbare, wenn auch
unvorstellbar geringe Wahrscheinlichkeit, welche nur im Grenz-
falle, wo die Anzahl der Moleküle unendlich wird, sich in der
That der Null nähert. Die Thatsache, dass ein abgeschlossenes
System einer endlichen Zahl von Molekülen, wenn es anfangs
einen geordneten Zustand hatte und dann zu einem ungeord-
neten übergegangen ist, endlich nach Verlauf einer bei grosser
Zahl der Moleküle unvorstellbar langen Zeit wieder geordnete
[254]VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
Zustände annehmen muss, ist also nicht nur keine Widerlegung,
sondern sogar eine Bestätigung unserer Theorie. Man darf
sich aber die Sache nicht so vorstellen, als ob zwei Gase, die
in einem mit absolut glatten indifferenten Wänden versehenen,
1/10 Liter enthaltenden Gefässe anfangs unvermischt waren,
sich mischen, nach einigen Tagen wieder entmischen, dann
wieder mischen u. s. w. Man findet vielmehr nach denselben
Principien, nach denen ich in Wied. Ann., Bd. 57, S. 783, 1896,
eine analoge Rechnung anstellte, dass erst nach einer Zeit,
die noch enorm gross gegenüber Jahren ist, sich nach
der ersten Mischung wieder eine irgendwie bemerkbare Ent-
mischung einstellen würde. Dass dies praktisch gleichbedeutend
ist mit niemals, erkennt man, wenn man bedenkt, dass in
diesem Zeitraume gemäss den Wahrscheinlichkeitsgesetzen viele
Jahre enthalten sein müssten, in welchen durch blossen Zufall
an demselben Tage alle Einwohner einer grossen Stadt einen
Selbstmord begingen, oder in allen Gebäuden derselben ein
Brand entstünde, während doch die Versicherungsgesellschaften
sich in guter Uebereinstimmung mit den Thatsachen befinden,
wenn sie solche Fälle nicht in Betracht ziehen. Wenn nicht
eine selbst viel geringere Unwahrscheinlichkeit praktisch gleich-
bedeutend mit der Unmöglichkeit ist, so könnte sich Niemand
darauf verlassen, dass auf den heutigen Tag eine Nacht und
auf diese wieder ein Tag folgen wird.


Wir haben hier unser Augenmerk hauptsächlich auf die
Vorgänge in Gasen gerichtet und für diesen Fall die Function H
berechnet. Doch sind die Wahrscheinlichkeitsgesetze, welche
die Atombewegung in festen und tropfbar flüssigen Körpern
beherrschen, in dieser Hinsicht offenbar nicht qualitativ von
den für Gase geltenden verschieden, so dass die Berechnung
der der Entropie entsprechenden Function H auch für feste
und tropfbar flüssige Körper zwar vielleicht grössere mathe-
matische Schwierigkeiten, aber keinerlei principielle hat.


§ 89. Beziehung zum zweiten Hauptsatze der
Wärmetheorie
.


Wenn wir uns also die Welt unter dem Bilde eines enorm
grossen, aus enorm zahlreichen Atomen zusammengesetzten
mechanischen Systemes denken, das von einem sehr voll-
[255][Gleich. 290] § 89. Zweiter Hauptsatz.
kommen geordneten Anfangszustande ausging und sich noch
gegenwärtig in einem der Hauptsache nach geordneten Zu-
stande befindet, so erhalten wir daraus Consequenzen, welche
factisch mit den beobachteten Thatsachen durchaus in Ueber-
einstimmung stehen, obwohl diese Auffassung vom rein theo-
retischen, ich möchte sagen philosophischen Standpunkte gegen-
über dem der allgemeinen Thermodynamik, welche sich auf
den rein phänomenologischen Standpunkt stellt, gewisse neue
Seiten aufweist. Die allgemeine Thermodynamik geht von der
Thatsache aus, dass sich, soweit unsere bisherigen Erfahrungen
reichen, alle Naturvorgänge als irreversibel erwiesen haben.
Gemäss den Principien der Phänomenologie formulirt daher
die allgemeine Thermodynamik den zweiten Hauptsatz zunächst
so, dass die unbedingte Irreversibilität aller Naturvorgänge
als sogenanntes Axiom aufgestellt wird, gerade so wie die
allgemeine, auf dem rein phänomenologischen Standpunkte
stehende Physik die unbedingte Theilbarkeit der Materie bis
ins Unendliche als Axiom aufstellt.


Gerade so wie die Differentialgleichungen der Elasticitäts-
lehre und Hydrodynamik, welche dieses letztere Axiom als
Grundlage haben, immer als die einfachsten angenäherten
Ausdrücke der Thatsachen die Grundlage der phänomeno-
logischen Beschreibung einer grossen Gruppe von Natur-
erscheinungen bleiben werden, so gilt dies auch von den For-
meln der allgemeinen Thermodynamik. Nie fiel es Jemandem
bei, der Molekulartheorie zu Liebe zu fordern, dass sie ganz
aufgegeben werden sollen. Aber auch das entgegengesetzte
Extrem, das Dogma von der allein seligmachenden Phäno-
menologie, ist zu vermeiden.


Wie die Differentialgleichungen bloss eine mathematische
Rechenmethode darstellen, deren klare Bedeutung nur durch
Bilder erfasst werden kann, welche von einer grossen endlichen
Zahl von Elementen ausgehen,1) so ist neben der allgemeinen
[256]VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
Thermodynamik und, unbeschadet ihrer nie zu erschütternden
Wichtigkeit, auch die Pflege mechanischer Bilder zu ihrer
Versinnlichung für die Vertiefung unserer Naturerkenntniss
förderlich und zwar nicht trotzdem, sondern gerade weil sie
sich nicht in allen Stücken mit der allgemeinen Thermo-
dynamik deckt, sondern den Ausblick auf neue Gesichtspunkte
bietet. So hält die allgemeine Thermodynamik an der unbe-
dingten ausnahmslosen Irreversibilität aller Naturvorgänge fest.
Sie nimmt eine Function an (die Entropie), deren Werth durch
jegliches Geschehen in der Natur sich nur einseitig ändern,
z. B. zunehmen kann. Es unterscheidet sich also jeder spätere
Zustand der Welt von jedem früheren durch einen wesentlich
grösseren Entropiewerth. Die Differenz der Entropie von
ihrem Maximumwerthe, welcher das Treibende aller Naturvor-
gänge ist, wird immer geringer. Trotz der Unveränder-
lichkeit der Gesammtenergie wird daher deren Umwandel-
barkeit immer geringer, das Naturgeschehen immer matter
und jede Widerherstellung des alten Entropievorrathes ist aus-
geschlossen.


Man kann nicht behaupten, dass diese Consequenz der
Erfahrung widerspricht, da sie ja über unsere gegenwärtigen
Erfahrungen hinausgeht, aber bei aller Anerkennung der Vor-
sicht, welche bei solchen über die Erfahrung hinausgehenden
Schlüssen auf das Weltganze nothwendig ist, muss man doch
zugeben, dass sie wenig befriedigend ist und die Auffindung
eines allseitig befriedigenden Ausweges wünschenswerth er-
scheinen lässt, mag man sich nun die Zeit als unendlich oder
als einen geschlossenen Ring denken. In jedem Falle werden
wir lieber die uns gegebene erfahrungsmässige Einseitigkeit
derselben als einen bloss durch unseren speciellen beschränkten
Gesichtspunkt erzeugten Schein betrachten.


§ 90. Anwendung auf das Universum.


Ist nun die erfahrungsmässig gegebene Irreversibilität des
Verlaufes aller uns bekannter Naturvorgänge mit dem Ge-
danken einer Unbeschränktheit des Naturgeschehens, die uns
gegebene Einseitigkeit der Zeitfolge mit der Unendlichkeit oder
ringförmigen Geschlossenheit derselben vereinbar? Wer diese
[257][Gleich. 290] § 90. Anwendung auf das Universum.
Frage im bejahenden Sinne beantworten wollte, müsste als
Weltbild ein System benutzen, dessen zeitliche Veränderungen
durch Gleichungen gegeben werden, in denen die positive und
negative Zeitrichtung gleich berechtigt sind und mittelst dessen
doch durch eine besondere specielle Annahme der Schein der
Irreversibilität in langen Zeiträumen erklärbar ist. Dies trifft
aber gerade bei der atomistischen Weltanschauung zu.


Man kann sich die Welt als ein mechanisches System
von einer enorm grossen Anzahl von Bestandtheilen und von
enorm langer Dauer denken, so dass die Dimensionen unseres
Fixsternhimmels winzig gegen die Ausdehnung des Universums
und Zeiten, die wir Aeonen nennen, winzig gegen dessen Dauer
sind. Es müssen dann im Universum, das sonst überall im
Wärmegleichgewichte, also todt ist, hier und da solche ver-
hältnissmässig kleine Bezirke von der Ausdehnung unseres
Sternenraumes (nennen wir sie Einzelwelten) vorkommen, die
während der verhältnissmässig kurzen Zeit von Aeonen erheb-
lich vom Wärmegleichgewichte abweichen, und zwar ebenso
häufig solche, in denen die Zustandswahrscheinlichkeit gerade
zu- als abnimmt. Für das Universum sind also beide Rich-
tungen der Zeit ununterscheidbar, wie es im Raume kein Oben
oder Unten giebt. Aber wie wir an einer bestimmten Stelle
der Erdoberfläche die Richtung gegen den Erdmittelpunkt als
die Richtung nach unten bezeichnen, so wird ein Lebewesen,
das sich in einer bestimmten Zeitphase einer solchen Einzelwelt
befindet, die Zeitrichtung gegen die unwahrscheinlicheren Zustände
anders als die entgegengesetzte (erstere als die Vergangenheit,
den Anfang, letztere als die Zukunft, das Ende) bezeichnen
und vermöge dieser Benennung werden sich für dasselbe
kleine aus dem Universum isolirte Gebiete, „anfangs“ immer in
einem unwahrscheinlichen Zustande befinden. Diese Methode
scheint mir die einzige, wonach man den 2. Hauptsatz, den
Wärmetod jeder Einzelwelt, ohne eine einseitige Aenderung
des ganzen Universums von einem bestimmten Anfangs- gegen
einen schliesslichen Endzustand denken kann.


Gewiss wird Niemand derartige Speculationen für wich-
tige Entdeckungen oder gar, wie es wohl die alten Philo-
sophen thaten, für das höchste Ziel der Wissenschaft halten.
Ob es aber gerechtfertigt ist, sie als etwas völlig müssiges zu
Boltzmann, Gastheorie II. 17
[258]VII. Abschnitt. [Gleich. 290]
bespötteln, könnte noch fraglich sein. Wer weiss, ob sie nicht
doch den Horizont unseres Ideenkreises erweitern und durch
Erhöhung der Beweglichkeit der Gedanken auch die Erkenntniss
des erfahrungsmässig Gegebenen fördern?


Dass sich in der Natur der Uebergang von einem wahr-
scheinlichen zu einem unwahrscheinlichen Zustande nicht
ebenso oft vollzieht als der umgekehrte, dürfte durch die An-
nahme eines sehr unwahrscheinlichen Anfangszustandes des
ganzen uns umgebenden Universums genügend erklärt sein, in
Folge dessen sich auch ein beliebiges System in Wechsel-
wirkung tretender Körper im Allgemeinen anfangs in einem
unwahrscheinlichen Zustande befindet. Aber, könnte man
einwenden, hier und da muss doch auch ein Uebergang von
wahrscheinlichen zu unwahrscheinlichen Zuständen vorkommen
und zur Beobachtung gelangen. Darauf geben gerade die
zuletzt angestellten kosmologischen Betrachtungen Antwort.
Aus den Zahlenangaben über die unvorstellbar grosse Seltenheit
eines in beobachtbaren Dimensionen während beobachtbarer Zeit
sich abspielenden Ueberganges von einem wahrscheinlichen zu
unwahrscheinlicheren Zuständen erklärt sich, dass ein solcher
Vorgang innerhalb dessen, was wir in der kosmologischen Be-
trachtung eine Einzelwelt, speciell unsere Einzelwelt genannt
haben, so überaus selten ist, dass jede Beobachtbarkeit aus-
geschlossen ist.


Im ganzen Universum, dem Inbegriffe aller Einzelwelten,
aber kommen in der That Vorgänge in der umgekehrten
Reihenfolge vor. Nur zählen die sie etwa beobachtenden
Wesen die Zeit wieder von den unwahrscheinlicheren zu
den wahrscheinlicheren Zuständen fortschreitend und es kann
niemals entdeckt werden, ob sie die Zeit entgegengesetzt wie
wir zählen, da sie in der Zeit durch Aeonen, im Raume durch
Siriusfernen von uns getrennt sind und obendrein ihre
Sprache keine Beziehung zur unserigen hat.


Man belächelt dies, gut; aber man muss zugeben, dass das
hier entwickelte Weltbild ein mögliches, von inneren Wider-
sprüchen freies und auch ein nützliches ist, da es uns manche
neue Gesichtspunkte eröffnet und uns vielfach nicht nur zur
Speculation, sondern auch zu Experimenten (z. B. über die
Grenze der Theilbarkeit, die Grösse der Wirkungssphäre und
[259][Gleich. 290] § 91. Wahrscheinlichkeitsrechnung.
dadurch bedingte Abweichungen von den hydrodynamischen,
den Diffusions-, Wärmeleitungsgleichungen u. s. w.) anregt, zu
denen keine andere Theorie die Anregung zu geben vermag.


§ 91. Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung
in der Molekularphysik
.


Es wurde die Erlaubtheit der im Vorhergehenden gemachten
Anwendungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Zweifel ge-
zogen. Da sich aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung in so
vielen mehr specielleren Fällen bewährt hat, so sehe ich keinen
Grund ein, warum sie nicht auch auf Naturvorgänge allgemeinerer
Art anwendbar sein sollte. Die Anwendbarkeit der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung auf die Molekularbewegung in Gasen
kann natürlich nicht streng aus den Differentialgleichungen für
die Bewegung ihrer Moleküle hergeleitet werden. Dieselbe
folgt vielmehr aus der grossen Anzahl der Gasmoleküle und
der Länge ihrer Wege, vermöge deren die Beschaffenheit der
Stelle des Gases, wo ein Molekül zum Zusammenstoss gelangt,
völlig unabhängig von der Stelle ist, wo es das vorige Mal
zusammenstiess. Diese Unabhängigkeit könnte sich freilich nur
für eine unendliche Zahl von Gasmolekülen durch eine be-
liebig lange Zeit erhalten. Bei einer endlichen Zahl von
Molekülen, die sich in einem unveränderlichen Gefässe mit
vollkommen glatten, indifferenten Wänden bewegen, wird nie
unbedingt genau und durch alle Zeiten die Maxwell’sche Ge-
schwindigkeitsvertheilung gelten können.1)


In der Praxis aber werden von den Wänden stets Stö-
rungen ausgehen, welche jede durch die endliche Zahl der
Moleküle bedingte Periodicität aufheben. Auf jeden Fall ist
die Anwendbarkeit der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf die
Gastheorie niemals widerlegt, vielmehr durch die in Aeonen
eintretende Periodicität der Bewegung eines endlichen ab-
geschlossenen Systemes sogar bestätigt worden, und da man
durch dieselbe zu einem allseitig übereinstimmenden, zu Specu-
lationen und Experimenten anregenden Weltbilde gelangt, so
ist sie wohl in der Gastheorie beizubehalten.


17*
[260]VII. Abschnitt. [Gleich. 290]

Uebrigens sehen wir die Wahrscheinlichkeitsrechnung in
der Physik auch sonst eine Rolle spielen. Die Fehlerrechnung
nach Gauss’ berühmter Methode bewährt sich bei rein phy-
sikalischen Vorgängen ebenso, wie die Versicherungsrechnung
bei statistischen. Dass sich im Orchester die Klänge eines
Unisonos regelmässig verstärken und nicht manches Mal durch
Interferenz zufällig aufheben, verdanken wir den Wahrschein-
lichkeitsgesetzen, welche auch die Natur des unpolarisirten
Lichtes erklären. Da heute Ausblicke auf die Zeit, wo sich
unsere Naturanschauung völlig verändert haben wird, beliebt
sind, so will ich noch die Möglichkeit erwähnen, dass sich die
Fundamentalgleichungen für die Bewegung der einzelnen Mole-
küle als blosse Annäherungsformeln herausstellen, welche Durch-
schnittswerthe angeben, die nach der Wahrscheinlichkeits-
rechnung aus dem Zusammenwirken sehr vieler selbständig
sich bewegender das umgebende Medium bildender Individuen
folgen, wie z. B. in der Meteorologie die Gesetze immer bloss
von Durchschnittswerthen gelten, die sich erst aus langen Beob-
achtungsreihen nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung ergeben.
Diese Individuen müssten freilich so zahlreich sein und so rasch
wirken, dass man schon in Millionsteln von Secunden die
richtigen Durchschnittswerthe erhielte.


§ 92. Ableitung des Wärmegleichgewichtes durch
Umkehr der Zeitfolge
.


Mit den zuletzt angestellten Betrachtungen hängt eine
Ableitungsweise der Gleichung 266) zusammen, welche zuerst
von Maxwell1) angedeutet und dann von Planck2) etwas weiter
1)
[261][Gleich. 292] § 92. Ableitung des Wärmegleichgewichtes.
entwickelt wurde. Wir denken uns ein Gemisch beliebig vieler
beliebig beschaffener idealer Gase von unbeweglichen, starren,
indifferenten Wänden umschlossen, welches wir unser mecha-
nisches System nennen wollen. Die Lage sämmtlicher Theile
eines Moleküles einer Gasart, welche wir die erste nennen, sei
durch μ Coordinaten p1, p2pμ, die eines Moleküles einer
anderen (der zweiten) Gattung durch ν Coordinaten pμ + 1,
pμ + 2pμ + ν bestimmt. Die dazu gehörigen Momente seien
q1, q2qμ + ν.


Wir setzen voraus, dass mit Ausnahme weniger singulärer
Zustände alle Anfangszustände allmählich zu wahrscheinlichen
Zuständen führen, in denen dann das System stets während
einer Zeit verbleibt, die enorm lang ist, gegenüber den Zeiten,
während welcher es unwahrscheinliche Zustände hat. Für alle
wahrscheinlichen Zustände sollen die Mittelwerthe der ver-
schiedenen Grössen in jedem selbst kleinen Bezirke gleich sein,
obwohl sonst bei denselben die einzelnen Moleküle noch in
der verschiedensten Weise vertheilt sein und die verschieden-
sten Zustände haben können.


Wir verstehen jetzt unter
290 a) f1 (p1, p2qμ) d p1d p2d qμ
die Wahrscheinlichkeit, dass für ein Molekül erster Gattung
die Variabeln
291) p1, p2qμ
zwischen den Grenzen
292) p1 und p1 + d p1, p2 und p2 + d p2qμ und qμ + d qμ
liegen und definiren diese folgendermaassen: Wir betrachten
unser System während einer langen Zeit T, während welcher
es sich fortwährend in wahrscheinlichen Zuständen befindet.
Das Verhältniss der Summe aller Zeitstrecken, während welcher
die Variabeln 291) für irgend eines der Moleküle erster
Gattung zwischen den Grenzen 292) liegen, zur ganzen mit der
Anzahl der Moleküle erster Gattung multiplicirten Zeit T ist
dann die Definition der Wahrscheinlichkeit, dass die Variabeln
291) für ein Molekül erster Gattung zwischen den Grenzen 292)
liegen.


Es können dabei in der Zeit T auch solche Zeiten ein-
[262]VII. Abschnitt. [Gleich. 296]
begriffen werden, während welchen das System einen unwahr-
scheinlichen Zustand hat, da diese ohnehin äusserst selten sind.
Nur singuläre Zustände, die dauernd von wahrscheinlichen ab-
weichen, müssen ausgeschlossen werden. Wenn während einer
kurzen Zeit gleichzeitig für 2 oder 3 Moleküle erster Gattung
die Variabeln 291) zwischen den Grenzen 292) liegen, so sind
diese Zeitmomente zwei- resp. dreifach zu zählen.


Analog dem Ausdrucke 290) sei
293) f2 (pμ + 1, pμ + 2qμ + ν) d pμ + 1d pμ + 1d qμ + ν
die Wahrscheinlichkeit, dass für ein Molekül zweiter Gattung
die Variabeln
294) pμ + 1, pμ + 2qμ + ν
zwischen den Grenzen
295)
liegen.


Es seien nun die Grenzen 292) und 295) so gewählt, dass
die beiden Moleküle augenblicklich sich noch nicht in Wechsel-
wirkung befinden, aber bald in Wechselwirkung treten. Wir
wollen die in dieser Weise zu Stande kommende Art der
Wechselwirkung einen Stoss von der Beschaffenheit A nennen.
Dann ist analog der Formel 122)
296) f1 (p1qμ) f2 (pμ + 1qμ + ν) d p1d qμ + ν
die Wahrscheinlichkeit, dass für ein Molekülpaar1) die Va-
riabeln 291) und 294) zwischen den Grenzen 292) und 295)
liegen, welche wir auch kurz die Wahrscheinlichkeit eines
Stosses von der Beschaffenheit A nennen wollen.


Von dem Momente, wo für irgend ein Molekülpaar, das aus
dem Moleküle B der ersten und C der zweiten Gattung besteht,
die Werthe der Variabeln 291) und 294) in die Grenzen 292)
und 295) eingetreten sind, soll nun eine bestimmte Zeit t ver-
gangen sein, welche länger ist als die Zeit, während welcher
[263][Gleich. 298] § 92. Ableitung des Wärmegleichgewichtes.
bei irgend welchen Stössen zweier Moleküle die Wechselwirkung
andauert. Die Werthe der Variabeln 291) und 294) sollen für
die Moleküle B und C im Momente des Endes der Zeit t
zwischen den Grenzen
297) P1 und P1 + d P1Qμ + ν und Qμ + ν + d Qμ + ν
liegen.


Wir wollen am Ende der oben mit T bezeichneten Zeit
die Richtungen der Geschwindigkeiten aller Bestandtheile aller
Moleküle umkehren, ohne die Grösse dieser Geschwindig-
keiten und die Lage der Bestandtheile irgendwie zu ändern.
Das System wird dann alle Zustände, die es früher während
der Zeit T durchlief, gerade in umgekehrter Reihenfolge wieder
durchlaufen, was wir den inversen Process nennen wollen, im
Gegensatze zur ursprünglich betrachteten Zustandsänderung
während der Zeit T, welche wir den directen Process nennen.


Beim inversen Processe wird genau so oft der Fall ein-
treten, dass für ein Molekülpaar die Variabeln 291) und 294)
zwischen den Grenzen
298)
liegen, als für den directen Process der Fall, dass sie zwischen
den Grenzen 292) und 295) liegen.


Wir wollen zunächst annehmen, dass in unserem Systeme
zwei Zustände, in denen alle Coordinaten und alle Grössen der
Geschwindigkeiten dieselben sind, aber nur die Richtungen der
letzteren durchaus gerade den entgegengesetzten Sinn haben,
stets gleich wahrscheinlich sind. Wir wollen diese Annahme
als die Annahme A bezeichnen. Dieselbe ist selbstverständlich,
wenn die Moleküle einfache materielle Punkte, oder beliebig
gestaltete starre Körper sind und noch in manchen Fällen.
In anderen Fällen freilich bedarf sie noch des Beweises.


Dann tritt also beim inversen Processe der Fall, dass für
ein Molekülpaar die Variabeln zwischen den Grenzen 297)
liegen, gerade so oft ein, als beim directen der Fall, dass
sie zwischen den Grenzen 292) und 295) liegen. Nun be-
steht aber der inverse Process ebenfalls aus einer sehr langen
Reihe von Zuständen, wobei die Variabeln die verschiedensten
[264]VII. Abschnitt. [Gleich. 300]
Werthe annehmen. Diese Zustände können also nicht aus-
schliesslich oder vorwiegend aus singulären bestehen, müssen
vielmehr zum weitaus grössten Theile sehr wahrscheinlich sein.
Es müssen also die verschiedenen Mittelwerthe für den inversen
Process die gleichen wie für den directen sein und die Wahr-
scheinlichkeit, dass für ein Molekülpaar die Werthe der
Variabeln zwischen den Grenzen 297) liegen, muss durch den
dem Ausdrucke 296) vollkommen analogen Ausdruck
f1 (P1Qμ) f2 (Pμ + 1Qμ + ν) d P1d Qμ + ν
gegeben sein, was nach dem Gesagten gleich dem Ausdrucke
296) sein muss. Nun ist aber nach dem Liouville’schen Satze
d p1d qμ + ν = d P1d Qμ + ν;
daher ergiebt sich schliesslich die Gleichung
299) f1 (r1qμ) f2 (pμ + 1qμ + ν) = f1 (P1Qμ) f2 (Pμ + νQμ + ν),
womit also die Gleichung 266) für alle Gattungen von mög-
lichen Stössen bewiesen ist.


§ 93. Führung des Beweises durch cyklische Reihen
einer endlichen Zahl von Zuständen
.


Will man die Annahme A nicht machen, die in der That
keineswegs in allen Fällen evident ist, so muss der Beweis,
ähnlich wie in § 81, mittelst in sich zurücklaufender Cykeln
geführt werden. Wir setzen dabei Einfachheit halber voraus,
dass alle Moleküle gleichartig sind und betrachten die Reihe
von Stössen
300) .


Die Bezeichnungen sind hierbei und in allem Folgenden
genau die des § 81. Die Wahrscheinlichkeit des ersten dieser
Stösse ist , die des nächsten Nun ist
aber vermöge des Liouville’schen Satzes
Bezeichnen wir daher den gemeinsamen Werth aller dieser
Coefficienten mit C ohne weitere Indices, so ist die Wahr-
[265][Gleich. 300] § 93. Endliche Zahl von Zuständen.
scheinlichkeit der verschiedenen in 300 zusammengestellten
Stösse der Reihe nach
C w1w2, C w3w4, C w5w6 …, C wa-1wa.
Wir wollen uns nun die ganze Zustandsänderung unseres
Systemes von Molekülen in der schon oft geschriebenen Weise
umgekehrt denken. Wir müssen dann wieder eine stationäre
Zustandsvertheilung erhalten. Es muss also die Wahrschein-
lichkeit irgend eines bestimmten Stosses bei der umgekehrten
Zustandsfolge dieselbe wie bei der ursprünglichen sein. Nun
ist bei der umgekehrten Zustandsfolge die Wahrscheinlichkeit
des letzten Stosses der Reihe 300 C w1w2, die des vorletzten
C wa-1wa u. s. w. Es muss also
w1w2 = wa-1wa = wa-2 … = w3w4
sein. Da nun diese Gleichungen für alle verschiedenen Stösse
gelten müssen, so ist wieder die Gleichung 66) bewiesen.


Ich glaube hier in extenso die Idee entwickelt zu haben,
welche Maxwell bereits Phil. mag., IV. ser., vol. 35, 1868,
S. 187; Scient. pap. II, S. 45 an der Stelle andeutet, welche
mit den Worten beginnt: „This is therefore a possible form of
the final distribution of velocities; it is also the only form.“

[][][]
Notes
1).
Gibbs, Conn. acad. trans. 3. p. 229. 1875; Ostwald’s deutsche
Ausg. S. 198.
1).
Mem. d. l. soc. d’Arcueil I, S. 180, 1807; vgl. Anhang zu Mach,
Princ. d. Wärmelehre, Barth, 1897.
2).
Phil. mag. ser. III, 26, S. 369, 1845. Joule’s gesamm. Abh.,
deutsch v. Sprengel.
3).
Phil. trans. 1854, S. 321. 1862, S. 579.
1).
Diese Formel kann auch in der folgenden, etwas umständlicheren
Weise abgeleitet werden. Wir wollen die Endfläche des Cylinders γ,
welche der Gefässwand zugewandt ist, die Basis nennen. Ein Mittel-
punkt einer der Deckungssphären kann natürlich nur auf derjenigen Seite
der Basis liegen, die von der Gefässwand abgekehrt ist. Wir construiren
auf dieser Seite zwei der Basis des Cylinders γ parallele Ebenen, beide
vom Flächeninhalte Ω in den Entfernungen ξ und ξ + d ξ von der Basis.
Der Raum zwischen diesen beiden Ebenen heisse der Cylinder γ1; sein
Volumen ist γ1 = Ω d ξ. Die Anzahl derjenigen unserer n — 1 Deckungs-
sphären, deren Mittelpunkte zur gegebenen Zeit im Cylinder γ liegen, ist:
,
1).
wofür wir, da das von uns jetzt berechnete Glied überhaupt nur ein
kleines Correctionsglied ist, schreiben können:
.
Jede dieser Deckungssphären schneidet einen Kreis von der Fläche
π (σ2ξ2), daher einen Raum vom Volumen π (σ2ξ2) d h aus dem Cy-
linder γ heraus. Multipliciren wir denselben mit der Anzahl n Ω d ξ / V
der Deckungssphären und integriren über alle möglichen Werthe des ξ,
also bezüglich ξ von Null bis σ, so erhalten wir für den gesammten
Raum, welcher von den Deckungssphären aus dem Cylinder γ heraus-
geschnitten wird, also als Ort für das Centrum des gegebenen Moleküls
nicht verfügbar ist, den Werth:
in Uebereinstimmung mit der Formel des Textes.
1).
Vergl. I. Theil, S. 49, Formel 38) und 43).
1).
Dann besteht auch zwischen den in Formel 19) vorkommenden
Grössen v und b die Beziehung v = ⅓ b und die in Formel 32) eingeführte
Grösse ω wird gleich ⅓.
1).
Durch die Waals’schen Cohäsionskräfte könnte allerdings eine
Veränderlichkeit der Dichte ρ in der Nähe der Gefässwand bewirkt
werden, welche wir van der Waals folgend im Texte vernachlässigten.
Man würde übrigens zur selben Formel wie dieser gelangen, wenn man
nur annähme, dass sich bei Aenderung des Druckes oder der Temperatur
die Dichten in verschiedenen Entfernungen von der Grenzfläche des
Gases einander proportional ändern. Es würde dann bloss zu den
Formeln 15) und 16) ein von ρ und T unabhängiger Factor F treten, und
könnte F C, wie im Texte C gleich f (ν) gesetzt werden.
Ferner ist die im Texte durchgeführte Berechnung der Stosszahl
sicher richtig, wenn die Waals’sche Cohäsionskraft nicht vorhanden ist.
Beim Vorhandensein der letzteren aber könnte es zweifelhaft sein, ob es
erlaubt ist, diese Berechnung ungeändert zu lassen und die Cohäsionskraft
einfach zum äusseren Drucke zu addiren, wie wir es, ebenfalls van der
Waals
folgend, in § 4 thaten. Endlich haben wir die Gefässwand nur
als undurchdringlich, ohne Adhäsionskraft gegen die Substanz betrachtet.
Ich werde übrigens im V. Abschnitte eine Ableitung der Waals’-
schen Formel geben, gegen welche alle diese Einwände nicht erhoben
werden können.
1).
Dieser Ausdruck bedarf noch, falls die Wand gekrümmt ist, einer
Correction, aus welcher van der Waals ähnlich wie schon Laplace
und Poisson die Capillarerscheinungen erklärt (vergl. § 23). Nach
van der Waals ist also auch für ein Gas der Druck von der Krümmung
der Wand nicht absolut unabhängig. Doch verschwindet diese Correction
natürlich umsomehr, je grösser die Wirkungssphäre der Cohäsionskraft
gegen den Durchmesser eines Moleküls ist.
1).
Für alle Temperaturen, die nicht gar zu niedrig liegen, dürfte
auch das Verhalten der Luft den Waals’schen Annahmen schon mit
grosser Annäherung genügen. Man könnte also auch die leichter be-
obachtbare Luft an Stelle des im Texte gebrauchten Wasserstoffs zu
Grunde legen.
1).
Vergl. Münchn. Sitz.-Ber. 23, S. 321, 1894, Wied. Ann. 1894.
1).
d2π / d ω2 verschwindet nämlich für τ = (3 ω — 1)3 / 8 ω4. Der Aus-
druck rechts ist für sehr grosse Werthe von ω, sowie für solche, die
wenig grösser als ⅓ sind, positiv und verschwindend klein. Er ist zwischen
diesen Grenzen continuirlich und hat ein einziges Maximum 37.2—11 für
ω = 4/3. Für τ \> 37.2—11 kann daher d2π / d ω2 nicht verschwinden.
1).
Die Krümmung der Berührungsfläche ist allerdings von einem,
wenn auch äusserst kleinen Einflusse. Ueber einer concaven Oberfläche,
wie sie an dem Meniscus in einer Capillarröhre auftritt, ist nämlich der
1).
Nature Bd. 11, Scient. pap. Bd. 2, p. 424. Vergl. auch Clausius,
Wärmetheorie, 3. Bd. (Gastheorie). S. 201, 1889—91.
1).
Dampfdruck um den hydrostatischen Druck der Dampfsäule kleiner,
welche zwischen der Höhe des Meniscus und der der ebenen Flüssigkeits-
oberfläche ausserhalb der Capillarröhre liegt. Ueber einer in gleichem
Grade convexen Oberfläche ist er um den gleichen Betrag grösser. (Vergl.
Schluss des § 23.)
1).
Darunter ist jetzt nicht die früher mit b bezeichnete Constante
zu verstehen.
1).
α ist die durch die zweite der Formeln 39) gegebene Grösse.
1).
Wien. Sitzungsber. II, Bd. 94, S. 4, 1886. Wied. Ann. Bd. 29,
S. 655, 1886.
1).
Jacobi, Vorlesung. üb. Dynamik, 19. Vorles., Gleich. 4, S. 146.
1).
Ausnahmen von der Continuität müssten auf einzelne Stellen be-
schränkt sein.
1).
Natürlich ist analog
wobei
ist. Alle Integrale nach den x sind über ein beliebiges Gebiet G, die
nach den ξ aber über das entsprechende Gebiet g zu erstrecken.
2).
Respective Δ ∫ ∫d ξ1d ξ2d ξn = ∫ ∫d x1d x2d xn.
3).
Vorles. über Theorie d. Wärme. Teubner, 1894, S. 143.
1).
Boltzmann, Wien. Sitzungsber. Bd. 74, S. 508, 14. Dec. 1876.
Bryan, Phil. Mag. (5) 39, S. 531, 1895.
1).
Der Sinn dieser Ausdrücke ist der in § 27 ausführlich erörterte.
1).
Jacobi, Vorlesungen üb. Dynamik, 9. Vorles., S. 71, Gleich. 8.
Thomson und Tait, Nat. phil., new ed., Vol. I, p. 1, S. 307, Art. 319,
deutsch S. 284. Rausenberger, Mechanik, Leipz. 1888, I. Bd., S. 200.
1).
Liouv. journ. Bd. 3, S. 348.
2).
Jacobi, Vorlesungen üb. Dynamik, S. 93.
3).
Boltzmann, Wien. Sitzungsber. II, Bd. 63, S. 397 und S. 679,
1871; Bd. 58, S. 517, 1868. Maxwell, on Boltzmanns theorem, Cambr.
phil. trans. XII, 3, p. 547, 1879; scient. pap. II, p. 713.
1).
Jacobi, Vorlesungen über Dynamik, 9. Vorles., S. 70, Gleich. 4.
1).
Diese oder die damit identische Gleichung 88) ist nothwendig,
damit die Vertheilung stationär sei; sie ist aber dazu auch hinreichend,
denn aus ihr und der Gleichung 85) folgt sofort wieder die Gleichung 87)
für beliebige Werthe der Variabeln P und Q oder 86) für beliebige p
und q, welche eben der mathematische Ausdruck dafür ist, dass die
Vertheilung stationär ist.
1).
Vergl. Boltzmann, Wien. Sitzungsber. II, Bd. 63, S. 704, 1871.
Maxwell, Cambr. phil. trans. XII, 3, S. 561, 1878. Scient. pap. II,
S. 730.
1).
Das Kriterium für die gleiche Möglichkeit liefert der Liouville’-
sche Satz.
1).
Vergl. Boltzmann, Vorles. üb. d. Principe d. Mechanik, I. Theil
§ 64, S. 208.
1).
Wir wollen uns einen bestimmt gegebenen festen oder tropf-
bar flüssigen Körper unter dem Bilde eines Aggregates von n
materiellen Punkten denken, welches also 3 n Freiheitsgrade hat,
etwa die 3 n rechtwinkeligen Coordinaten. Wenn es von einer weit
grösseren Gasmasse umgeben ist, so kann es gewissermassen als ein
einzelnes Gasmolekül betrachtet und es können die im Texte gefundenen
Gesetze darauf angewendet werden. Die gesammte lebendige Kraft ist
also . Erfährt die Temperatur einen Zuwachs, wobei um
wächst, so ist die gesammte in Arbeitsmaass gemessene Wärme, die
behufs Erhöhung der mittleren lebendigen Kraft zugeführt werden muss,
. Diese Wärme pro Einheit der Masse und Tempera-
turerhöhung ist das, was Clausius die wahre specifische Wärme nennt.
Sie ist in allen Zuständen und Aggregatformen unveränderlich. Sie wäre
die gesammte specifische Wärme, wenn der Körper den Zustand eines
in seine Atome dissociirten Gases hätte. Sie ist für alle Körper pro-
portional der Anzahl der Atome, woraus sie bestehen. Dieser Anzahl
ist auch die gesammte specifische Wärme proportional (Dulong-
Petit
’sches Gesetz für chemische Elemente, Neumann’sches für che-
mische Verbindungen), wenn die auf innere Arbeitsleistung verwendete
Wärmezufuhr d Qi in einem constanten Verhältnisse zu der auf Erhöhung
der lebendigen Kraft verwendeten d Ql steht. Dies ist immer der Fall,
wenn die auf jedes Atom wirkenden inneren Kräfte der Entfernung des-
selben aus seiner Ruhelage proportional oder noch allgemeiner lineare
Functionen seiner Coordinatenänderungen sind. Dann ist die Kraft-
function V eine homogene quadratische Function der Coordinaten genau
so, wie die lebendige Kraft L eine solche der Momente ist. Die In-
tegrationen in der Formel für V̅ lassen sich dann genau so durchführen,
wie die, durch welche Formel 134) erhalten wurde, und man findet
d Qi = d Ql. (Vergl. Formel 111 a und Schluss des § 45). Die gesammte
Wärmecapacität ist dann das Doppelte der wahren oder der im ein-
atomigen Gaszustande. Das angenommene Wirkungsgesetz der inneren
Molekularkräfte gilt wohl angenähert für die meisten festen Körper.
Bei solchen, deren Wärmecapacität kleiner als die halbe aus dem
Dulong-Petit’schen Gesetze folgende ist (Diamant), muss man an-
nehmen, dass sich die durch gewisse Parameter bedingten Bewegungen
so langsam mit den anderen ins Gleichgewicht setzen, dass sie bei
den Experimenten über specifische Wärme nicht in Betracht kommen.
1).
(Vergl. § 35. Ueber den. Fall, dass die Moleküle angenähert Pendel-
schwingungen machen, siehe Wien. Sitzungsber. Bd. 53, S. 219, 1866;
Bd. 56, S. 686, 1867; Bd. 63, S. 731, 1871; Richarz, Wied. Ann. 48,
S. 708, 1893; Staigmüller, Wied. Ann. 65, S. 670, 1898.)
1).
Ueberhaupt erhält man in diesen beiden Fällen aus der Formel 118)
sofort alle Formeln wieder, welche wir im I. Theile für einatomige Mole-
küle entwickelten und zwar für den Fall des Fehlens äusserer Kräfte in
§ 7, für den Fall des Vorhandenseins solcher in § 19. Diese Formeln
sind also nur specielle Fälle der Formel 118).
1).
Vergl. Staigmüller, Wied. Ann. 65, S. 655, 1898 und Fussnote
zu S. 126 und 127 des vorliegenden Buches.
1).
Am einfachsten, indem man das Virial jeder zwischen je zwei
materiellen Punkten wirkenden Kraft, sowie das der äusseren Kräfte
separat berechnet und bedenkt, dass bei gleichzeitiger Wirkung mehrerer
Kräftesysteme das Virial gleich der Summe derjenigen Viriale ist, welche
jedem Kraftsysteme einzeln zukämen, da ja die ξh, ηh, ζh linear im Aus-
drucke für das Virial enthalten sind.
1).
Kinetische Gastheorie, 3. Bd. der mech. Wärmetheorie. Vieweg,
1889—1891, S. 65.
2).
Wied. Ann. Bd. 12, S. 127 und 660, 1881.
3).
Wien. Sitzungsber. II, Bd. 105, S. 15, 16. Januar 1896.
4).
Kgl. Acad. d. Wissenschaften zu Amsterdam, 31. October 1896.
1).
Dasselbe Problem behandelt Hr. Kamerlingh-Onnes, arch.
neerl. T. 30, § 7, S. 128, 1881.
1).
Es ist nämlich .
1).
In § 8 des I. Theiles ist nämlich n die Anzahl der Moleküle in
der Volumeneinheit, daher Ω n die Gesammtanzahl der Moleküle eines
Gases vom Volumen Ω, die wir hier mit n bezeichnet haben.
1).
Natürlich sind dabei die Glieder von der Ordnung b3 vernach-
lässigt und es ist auch berücksichtigt, dass ν in allen Gliedern bis auf
verschwindend wenige gross gegenüber der Einheit ist.
1).
Den gegenwärtig für S gefundenen Ausdruck dürfen wir natür-
lich nicht mit dem in § 21 für die Entropie gefundenen vergleichen, da
bei Berechnung des letzteren die exacte Gültigkeit der Waals’schen
Formel vorausgesetzt ist. Wir finden aber genau denselben Ausdruck
für die Entropie, wenn wir in die Formel 38) des § 21, aus welcher
man findet
,
statt der Gleichung 22) die Zustandsgleichung
substituiren, welche die Grundlage unserer jetzigen Rechnungen bildet.
1).
Sitzungsber. d. Wien. Akad. Bd. 88, 18. Oct. 1883; Bd. 105,
S. 701, 1896. Wied. Ann. Bd. 22, S. 39, 1884.
1).
Um die Möglichkeit einer chemischen Bindung dreier Atome
auszuschliessen, ist also nothwendig und hinreichend, dass, wenn zwei
Atome chemisch gebunden sind, der kritische Raum ω des ersten immer
ganz in der Deckungssphäre des zweiten Atomes liegt, d. h. dass kein
Punkt des kritischen Raumes von einem anderen Punkte desselben
Raumes eine Entfernung hat, die gleich oder grösser als σ ist.
1).
Der Fall, dass zwei Deckungssphären oder eine Deckungssphäre
und ein kritischer Raum sich überdecken, ist dabei vernachlässigt, da
er nur sehr kleine Grössen höherer Ordnung liefert.
1).
II., Bd. 88, S. 891 und 895, 1883.
2).
Par. compt. rend. 64, 237; 86, S. 332 u. 1395, 1878; Jahresber.
f. Ch. 1867, S. 177; Naumann, Thermochemie S. 115 bis 128.
3).
Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. Bd. 11, 1878, S. 2045; Jahres-
ber. f. Ch. 1878, S. 120.
4).
Ber. d. deutsch. chem. Ges. Bd. 13, 1880, S. 851—873.
1).
C. r. d. Par. Ac. XCIV, S. 916, 1882. Ann. d. chim. et phys. (5)
XXX, S. 382—400, 1883.
2).
Wenn man für R den Ausdruck μ0p0 / ρ0T0 schreibt, wobei sich
μ0, p0, ρ0 und T0 auf ein beliebiges Gas, z. B. Luft von 0° C. unter dem
Drucke des Normalbarometerstandes beziehen, so folgt
und man kann direct den für γ p gefundenen Werth benutzen, ohne den
von p gesondert zu benöthigen.
1).
Ann. d. Ch. e. d. phys. (5), Bd. 12, S. 145, 1877; vergl. auch
Hautefeuille, Par. c. r. Bd. 64, S. 608 u. 704, 1867.
1).
Conn. acad. trans. III, p. 108, 1875; Sill. Journ. 18, p. 277, 1879;
deutsch unter dem Titel Thermod. Studien von Ostwald, Leipzig 1892,
Engelmann; vergl. auch van der Waals, Verslagen d. k. Acad. v.
Wetensch. 15, p. 19, 1880; Planck, Wied. Ann. 30, S. 562, 1887; 31,
S. 189, 1887; 32, S. 462, 1887.
2).
Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Barth, 1896, Vorl. XI. Die
ökonomische Natur der phys. Forschung, S. 219.
3).
Die Ueberwindung des wissenschaftl. Materialismus. Verh. d.
Ges. d. Naturf. I, S. 5 und 6, 1895.
1).
Pelabon, Doctordiss. d. Univ. Bordeaux, Paris bei A. Hermann 1898.
1).
Wien. Sitzungsber. Bd. 89, II, S. 714, 1884.
1).
Wien. Sitzungsber. Bd. 106, S. 21, Januar 1897.
1).
Bayr. Akad. d. Wissensch. Bd. 22, S. 347, 1892; Phil. Mag., 5. Serie,
vol. 35, p. 166, 1893.
1).
Vergl. Ramsay, Les gaz de l’atmosphère. Paris, Carré 1898.
S. 172.
1).
Boltzmann, Vorlesungen über die Principe der Mechanik.
§§ 20—24.
1).
Boltzmann, Die Unentbehrlichkeit der Atomistik i. d. Natur-
wissenschaft. Wien. Sitzungsber. II, Bd. 105, S. 907, 1896; Wied. Ann.
Bd. 60, S. 231, 1897. Ueber die Frage nach der Existenz der Vorgänge
in der unbelebten Natur, Wiener Sitzungsber. II, Bd. 106, S. 83,
Januar 1897.
1).
Von der hier einschlägigen Literatur führe ich nur an:
Loschmidt, Ueber den Zustand des Wärmegleichgewichts eines Systems
1).
Phil. mag. IV. ser. vol. 35, S. 187, 1868, Scient. pap. II, S. 45.
2).
Sitzungsber. d. bair. Acad., Bd. 24, Nov. 1894. Wied. Ann.,
Bd. 55, S. 221, 1895.
1).
von Körpern mit Rücksicht auf die Schwere. Wiener Sitzungsber. II,
Bd. 73, S. 139, 1876. Boltzmann, Wiener Sitzungsber. II, Bd. 75, S. 67,
1877; Bd. 76, S. 373, 1878; Bd. 78, S. 740, 1878. Almanach der Wiener
Akademie 1886; Nat. 51, S. 413, 28. Febr. 1895. Vorlesungen über Gas-
theorie, I. Theil, S. 42. Wied. Ann. Bd. 57, S. 773, 1896; Bd. 60, S. 392,
1897. Klein’s math. Ann., Bd. 50, S. 325, 1898. Burbury, Nat. 22.
Nov. 1894. Bryan, Amer. journ. Bd. 19, S. 283. Zermelo, Wied.
Ann. Bd. 57, S. 485, 1896; Bd. 59, S. 793, 1896.
1).
Wenn wir von einem Molekülpaare reden, so wollen wir im Fol-
genden immer ein solches verstehen, wobei das eine Molekül der ersten,
das andere der zweiten Gattung angehört.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Vorlesungen über Gastheorie. Vorlesungen über Gastheorie. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjrf.0