ſämmtliche Werke.
[][][]
Sämmtliche Werke
und
handſchriftlicher Nachlaß.
J. D. Sauerländer's Verlag.
1879.
[]
Buchdruckerei von G. Otto in Darmſtadt.
[]
Vorbericht der Verlagshandlung.
Schon vor zwei Jahren glaubten wir dieſe längſt
vorbereitete und mit Spannung erwartete Ausgabe als
demnächſt erſcheinend anzeigen zu dürfen. Leider hat ſich
die Vollendung durch Hinderniſſe, deren frühere Beſeitigung
nicht in unſerer Macht ſtand, bis heute verzögert.
Gleich im Anfang erhoben ſich Schwierigkeiten und
Differenzen wegen der Wiederherſtellung aller in den
früheren Ausgaben weggebliebenen oder gemilderten Stellen
in "Danton's Tod", die ſich ſpäter bei der unverkürzten
Aufnahme des "Heſſiſchen Landboten" in verſtärktem Maaße
wiederholten. Wir glaubten jedoch, unſere Bedenken ſchließ-
lich der beſſeren Einſicht unterordnen zu ſollen, daß jede
Verſtümmelung eine Verſündigung gegen die Manen unſeres
Dichters wäre, indem dadurch der Eindruck ſeiner gigan-
tiſchen Geſtaltungskraft ebenſo hätte Noth leiden müſſen,
wie die hiſtoriſche Treue.
Ferner war zu unſerm ſchmerzlichen Bedauern der
um unſere Ausgabe ſo hochverdiente Herr Herausgeber
in der jüngſten Zeit leider durch andauerndes Unwohl-
[] ſein an der Vollendung ſeiner Einleitung und Biographie
Georg Büchner's verhindert, und mußten wir, um die
Herausgabe nicht neuerdings auf das Ungewiſſe zu ver-
ſchieben, uns entſchließen, die Einleitung nach Maßgabe
derjenigen, welche der in gleichem Verlage im Jahre
1850 erſchienenen Ausgabe voranſtand und mit Einfügung
der nothwendig gewordenen Text-Citationen, von Seite
CLXVI anfangend, zu vervollſtändigen.
So übergeben wir denn hiermit das, eine der genialſten
Erſcheinungen der deutſchen Litteratur zum Erſtenmal dem
vollen Verſtändniß der Nation vermittelnde Buch ver-
trauensvoll der Oeffentlichkeit und dem Urtheile der Mit-
und Nachwelt.
Frankfurt a. M. im September 1879.
J. D. Sauerländer's Verlag.
[]
Inhalt.
- Seite
- Georg BüchnerI-CLXXVI
- I. Dichtungen.
- Danton's Tod. Ein Drama. 1
- Zur Textkritik von "Danton's Tod" 98
- Leonce und Lena. Ein Luſtſpiel 109
- Zur Textkritik von "Leonce und Lena" 158
- Wozzek. Ein Trauerſpiel-Fragment 161
- Zur Textkritik von "Wozzek" 202
- Lenz. Ein Novellen-Fragment 205
- Anmerkung zu "Lenz" 240
- II. Aus den Ueberſetzungen.
- Aus "Maria Tudor" von Victor Hugo 243
- Aus "Lucretia Borgia" von demſelben 248
- III. Vermiſchte Schriften.
- Der heſſiſche Landbote 263
- Anmerkungen zum Landboten 282
- Aus den anatomiſchen Schriften 289
- Ueber Schädelnerven 291
- Aus der Schrift: Mémoire sur le système nerveux du
barbeau296 - Anmerkung des Herausgebers 298
- Aus den philoſophiſchen Schriften 301
- Aus der Schrift: Geſchichte der Griechiſchen Philoſophie 303
- Aus der Monographie: Das Syſtem des Spinoza 307
- Seite
- Aus der Monographie: Das Syſtem des Carteſius 311
- Anmerkungen des Herausgebers 318
- IV. Briefe.
- I. An die Familie 1-44 325
- II. An die Braut 1-9 371
- III. An Karl Gutzkow 1-5 381
- Anmerkung des Herausgebers 389
- V. Anhang.
- 1. Jugendverſe 393
- 2. Cato Uticenſis 398
- 3. Büchner als Agitator 409
- 4. Büchner's letzte Tage 421
- 5. Nekrolog 431
- 6. Poetiſche Stimmen über Büchner 437
- 7. Gutzkow über Danton's Tod 446
- 8. Das Büchner-Denkmal 451
- 9. Die Familie Büchner 456
Georg Büchner.
G. Büchner's Werke. a
[[II]][[III]]
So leuchtet es in goldenen Lettern vom Grabſteine
Georg Büchners den Unzähligen entgegen, welche alljährlich die
ſanfte Höhe des Zürichberges gewandelt kommen; und mitten
in ihrer Heiterkeit und Entzückung über das Walten unſäg-
lich ſchöner Natur muß ſie dieſes Wort und dieſer Stein
ſchmerzlich mahnen, daß dieſelbe Natur auch häßlich und
grauſam iſt und ihren ſchönſten Schmuck muthwillig zer-
ſchellt. Denn wer die ſpärlichen Zeichen dieſes Jünglings-
lebens betrachtet, ſei's jenen Stein unter den Schweizer
Linden, ſei's ſein ſtolzeſtes Denkmal, ſeine Werke, dem wird
neben tiefen und reichen Gedanken, welche ſolche Betrachtung
wecken muß, doch vor Allem und immer wieder Eines auf
die Lippen treten: "Und dieſer Menſch durfte nicht älter
werden, als dreiundzwanzig Jahre!" Nicht aus Mitgefühl
erheben wir dieſe Klage, denn ſo hoch oder ſo ſchickſalslos
iſt Niemand geſtellt, daß er nicht begriffe, warum die fein-
fühligen Hellenen jähen Tod in jungen Jahren als beſtes
Menſchenglück geprieſen, nicht um ſeinetwillen klagen wir:
um unſretwillen. Denn Georg Büchner war ein Genie
— man ſoll dieſes Wort nicht eitel nennen, es bezeichnet
a *
[IV] ja das Göttliche auf Erden, aber hier iſt das Wort am
Platze. Ein Genie überdies auf einem Gebiete der Dicht-
kunſt, auf dem wir Deutſchen ſelbſt an Talenten arm ſind:
von ihm war für das deutſche Drama Höchſtes zu erwarten.
"Ein unvollendet Lied" — ſo hat uns Herwegh dieſes
jäh geknickte Leben verbildlicht und herb das Schickſal an-
geklagt, welches "die Schlangen unter ſeinen Füßen ſchont
und den jungen Adlern auf das Haupt tritt". "Ein un-
vollendet Lied" — aber nicht an eine ſanfte Liebesklage darf
man hierbei denken, noch minder an eine kalte Ode, am
mindeſten an ein ruhig dahinfluthendes Epos. Nur einer
einzigen Dichtung gleicht das Leben dieſes ſchönen, ſtürmiſchen
Menſchen, jener, die er als ſein Hauptwerk geſchaffen.
Beide ſind unerhört kühn im Inhalt und unerhört formlos,
und zwar nicht aus Zufall, nicht aus Muthwillen, ſondern
aus innerſter Nothwendigkeit; durch Leben und Gedicht hallt,
ſtöhnt und wettert der Sturm einer bang aufgerührten Zeit,
und dennoch umſpannen ſie in engſtem Rahmen auch das
Tiefſte und Zarteſte, was Menſchenherzen bewegt. Und
wenn auch dieſer reichen Kraft nur karge Zeit gegönnt ge-
weſen ſich auszuleben und auszuſprechen, es iſt dennoch lehr-
reich, den Spuren Büchner's nachzugehen, lehrreich und
feſſelnd. Wie individuell iſt dieſes heiße Leben, wie ureigen-
artig und doch! — wie iſt es in aller ſcheinbaren Selbſt-
ſtändigkeit gleichwohl nur ein Glied jener eiſernen Kette der
Urſachen und Wirkungen, welche alles Menſchenthum und
Menſchenwerk verknüpft! Wer dieſem Dichter näher tritt,
dem wird es faſt unmöglich, höhere Geſichtspunkte zu ver-
meiden. Denn er war ein ächter Sohn ſeiner Zeit, und
ſeine Begabung war nicht blos genial, ſondern auch von faſt
[V] beiſpielloſer Vielſeitigkeit. Sein Leben wird durch die Ge-
ſchichte ſeines Volkes beſtimmt, und ſein Schaffen lockt uns
in Grübelei über Zweck und Ziel und Grenzen der Wiſſenſchaft
und Dichtkunſt. Wer von ihm erzählt, dem iſt es Pflicht,
mehr zu berichten, als die Geſchichte eines einzelnen Menſchen.
Georg Büchner wurde am Sonntag den 17. (nicht
wie ſich fälſchlich angegeben findet, den 13.) October 1813,
dem Schlachttage von Leipzig, zu Goddelau, einem Dorfe
bei Darmſtadt geboren, war alſo einer der letzten und jüng-
ſten Unterthanen, die dem Rheinbunde zugewachſen. Seine
erſte Kindheit fällt in die drangvollſte Zeit, die ſeinem viel-
geprüften heſſiſchen Heimatländchen beſchieden geweſen. Faſt
jede Familie hatte einen Angehörigen zu beklagen, der auf
der Leipziger Ebene unter Napoleons Fahne gefallen, der
Rückzug der Franzoſen und der Vormarſch der Verbündeten
ging mitten durch das Ländchen, und das Zaudern ſeines
Fürſten, der ſich weder offen vom Imperator abwenden, noch
offen ſeine Treue für ihn erklären wollte, brachte nur die
Wirkung, daß es von beiden Heeren faſt wie Feindesland
betrachtet und behandelt wurde. Die Bevölkerung ſchwankte
in ihren Sympathieen, faſt in jedem Hauſe ſtanden ſich
franzöſiſch und deutſch Geſinnte gegenüber, auch an Georgs
Wiege offenbarte ſich ein ſolcher Gegenſatz. Die Mutter war
eine glühende deutſche Patriotin, die Körners Schlachtgeſänge
mit Begeiſterung las und für Blücher ſchwärmte, der Vater
hingegen hielt mit jeder Faſer ſeines Herzens die Verehrung
für Napoleon feſt und konnte ſelbſt an jenen Tag, der ihm
ſeinen Erſtgeborenen geſchenkt, nur mit gemiſchten Gefühlen
zurückdenken: war es ja doch derſelbe, an dem ſich der
Stern ſeines irdiſchen Abgotts zum erſten Male getrübt!
[VI] Bei Beiden war die verſchiedene Geſinnung, vom Charakter
abgeſehen, durch Herkunft und Schickſale genügend begründet.
Der Vater, Ernſt Büchner, 1782 in Reinheim bei
Darmſtadt geboren, hatte ſich, gleich ſeinem Bruder Wil-
helm, aus kleinen Verhältniſſen durch eigene Kraft ſo weit
aufgeſchwungen, um eine Hochſchule zu beziehen und Medizin
ſtudiren zu können. Nur jene Lockerung der engen, ver-
zopften Verhältniſſe, welche der Einfluß der Franzoſen in
Weſtdeutſchland herbeigeführt, hatte ihm ſolches Aufſtreben
ermöglicht, und in ſeine Jünglingszeit fielen Marengo und
das Aufgehen jenes neuen irdiſchen Geſtirns, welches ſich
gleichfalls mühſam aus dem Dunkel erhoben. Zu jener
Schwärmerei, welche um die Wende des Jahrhunderts faſt
die geſammte Jugend des weſtlichen Deutſchlands für Napo-
leon hegte, kam bei ihm noch die Dankbarkeit des reifenden
Mannes: er hatte, kaum Doctor geworden und um ſeine
Exiſtenz beſorgt, im kaiſerlichen Heere als Militär-Arzt eine
gute Verſorgung gefunden, während ſein Bruder Wilhelm
aus ähnlicher Lage durch die Ueberſiedelung nach Holland
den Ausweg fand. Dort begründete ſich Dr. "Willem"
Büchner bald durch ſeine Tüchtigkeit als Fachſchriftſteller und
Praktiker eine glänzende Exiſtenz (S. 472); nicht ganz ſo
gut, aber immerhin gut genug, traf es Ernſt in der Heimath.
Nachdem er fünf Jahre im Dienſte des Kaiſers verbracht,
im Gefolge ſeiner Heere halb Europa durchzogen und auf
den Schlachtfeldern reichliche, wohl nur allzureichliche Ge-
legenheit gefunden, ſeine anatomiſchen und chirurgiſchen Kennt-
niſſe zu erweitern, erhielt er einen Poſten im Civildienſte
ſeines angeſtammten Landesherrn: als Diſtriktsarzt zu
Goddelau. Auch für dieſes Aemtchen war es ihm bei
[VII] ſeinem Fürſten eine gute Empfehlung geweſen, daß er vor-
her im Dienſte des "großen Alliirten" geſtanden. So trieb
den jungen Arzt die Dankbarkeit in's Lager der "Franzö-
ſiſchen", nicht minder als die Loyalität; man kannte im
Ländchen die gut napoleoniſche Geſinnung des ehemaligen
Landgrafen und jetzigen Großherzogs.
Grundverſchiedene Einflüſſe hatten bei der Mutter des
Dichters ein grundverſchiedenes Reſultat hervorgebracht.
Caroline Büchner war bei der Geburt Georgs kaum
neunzehnjährig. Sie war 1794 dem heſſiſchen Kammerrath
Reuß als erſte Tochter geboren worden, Dr. Ernſt Büchner
hatte das ebenſo liebliche als geiſtvolle Mädchen 1812 als
Gattin heimgeführt. Wie ſie den Reiz der äußeren Er-
ſcheinung von ihrer Mutter geerbt, welche einſt am kleinen,
aber geräuſchvollen Pirmaſenſer Hofe als hochgefeierte Schön-
heit geglänzt, ſo die hervorragende Begabung und den energi-
ſchen Bildungstrieb vom Vater. Rath Reiß war ein ernſter,
wackerer Mann, nicht blos klug und welterfahren, ſondern
auch hochgebildet, ein genauer Kenner und eifriger Verehrer
der deutſchen Literatur und ſchon darum national geſinnt,
abgeſehen davon, daß er auch ſonſt Grund hatte, die Fran-
zoſen zu haſſen. Die Invaſion hatte ſeine amtliche Stellung
erſchüttert, den Kreis ſeiner Pflichten erweitert, den ſeiner
Rechte eingeengt. Sein Haß gegen den "galliſchen Eindring-
ling", ſeine Liebe für deutſches Weſen pflanzten ſich, noch
weitaus verſtärkt, in ſeiner Lieblingstochter fort; ſie ſog
durch ihr weiches, ſchwärmeriſches, für und durch das Schöne
leicht entflammtes Gemüth aus den patriotiſchen Dichtern,
namentlich aus Schiller und Körner, eine wahrhaft grenzen-
loſe Begeiſterung für ihr Volksthum. Ihr ſchien der
[VIII] 17. October 1813 aus doppelten Gründen der glücklichſte
Tag ihres Lebens, und ſie knüpfte an dies Spiel des Zu-
falls ſtolze Zukunftsträume für ihren Sohn und ihr Volk.
Aber nicht blos die politiſchen Ueberzeugungen der
Eltern waren grundverſchieden, ſondern, wie wir gleich ſehen
werden, auch ihr ſonſtiger Charakter, Zug für Zug. Gleich-
wohl war die Ehe eine glückliche, auch von materiellem
Gedeihen begleitet. Denn nachdem ſich der Hausſtand zwei
Jahre ſpäter durch einen neuen Ankömmling, das Töchterchen
Mathilde, erweitert, folgte auch eine Verbeſſerung in der Stel-
lung Dr. Büchner's; er wurde mit erhöhtem Rang und Ge-
halt nach Darmſtadt verſetzt. Georg war damals dreijährig.
Ueber die erſten Kinderjahre des Dichters, bis zur
Zeit, wo er das Gymnaſium bezog, fließen die handſchrift-
lichen Quellen, auf denen dieſe Darſtellung fußt, recht dürftig.
Das liegt ſicherlich nicht am Stoffmangel, denn die erſten
Entwicklungsjahre jedes Kindes, mag es in der Folge ein
noch ſo unbedeutender Menſch werden, gehören zu dem In-
tereſſanteſten, was ſich beobachten läßt. Wohl aber fehlt
es hier an Berichterſtattern; die Familie lebte höchſt abge-
ſchloſſen, die Eltern ſind längſt todt, die jüngeren Geſchwiſter
aber waren damals theils noch gar nicht geboren, theils
ſtanden ſie in zu zartem Alter, um präciſe Erinnerungen
zu bewahren (S. 458). Unſere Kunde beſchränkt ſich auf
einige allgemeine Mittheilungen; von beſonderen Handlungen
und Ausſprüchen wird nichts überliefert. Das bleibt zu
bedauern, weil ſolche Einzelheiten oft blitzähnlich den orga-
niſchen Zuſammenhang von Charakterzügen enthüllen, welche
das ſpätere Leben immer ſchärfer ſondert und widerſpruchs-
voll entwickelt. Andererſeits bleibt uns hiedurch freilich die
[IX] ſo nahe liegende Verlockung erſpart, aus Kleinigkeiten das
Größte herauszudeuteln, wie denn z. B. ein Biograph
Grabbes aus dem Umſtand, daß der achtjährige Chriſtian
Dietrich beim Spiele ſeiner Kameraden einmal nicht mit-
thun wollte, "die originell einſame Denkweiſe" des Dichters
herausconſtruirt hat. Von Büchner nun wird uns nur
Folgendes mitgetheilt: daß er ein ſchöner ſchlanker Knabe
geweſen, dem unter einer auffallend mächtig entwickelten
Stirne prächtige Augen blitzten — in ſeinen Bewegungen
wie in ſeinem Weſen in jähem Wechſel bald ſonderbar ſtill,
bald ſonderbar ungeſtüm. Sein Herz habe ſich früh als
das edelſte geoffenbart, insbeſondere durch ein Mitleid von
ſo leidenſchaftlicher Kraft, daß es ſich ſtets zu perſönlichem
Leid geſteigert. Hervorgehoben wird ferner, wie ſtark im
Kinde der Haß gegen jede Ungerechtigkeit geweſen, wie ihn
jede gütige Zurechtweiſung gerührt, ja bis zur Zerknirſchung
weich geſtimmt, wogegen Strenge wirkungslos an ihm ab-
geprallt ſei. Schon dieſe wenigen Züge beweiſen, daß auch
hier das Kind "des Mannes Vater" geweſen — oder des
Jünglings, wie man in dieſem Falle leider nur ſagen kann.
Denn leidenſchaftliches Mitleid, Haß gegen Ungerechtigkeit
und jäher Wechſel der Gemüthsſtimmungen ſind auch in der
Folge Grundzüge dieſes Charakters geblieben. Eine frühe
Lern- und Lehrbegier wird gleichfalls überliefert; wichtig iſt
die Mittheilung, daß die Mutter ſeine erſte Lehrerin ge-
weſen, wie er ſich dann überhaupt ihr faſt ausſchließlich an-
geſchloſſen. Auch an der Großmutter, jener ſtolzen höfiſchen
Schönheit, welche ſich bis in ihr hohes Alter merkwürdige
Friſche und Anmuth bewahrt, hing er mit großer Liebe, und
von ihr wird ein charakteriſtiſches Wort über den Knaben
[X] berichtet: "Georg hat viel von ſeinen Eltern geerbt, aber
nur ihre Tugenden".
Dieſes Urtheil iſt ein überraſchend richtiges. Ein Blick
auf den Charakter der beiden, nicht gleich liebenswürdigen,
aber gleich achtungswerthen Menſchen wird uns dies be-
ſtätigen.
Ernſt Büchner nahm das Leben nicht leicht, ſondern
genau ſo ſchwer, als es ihm ſelbſt geworden. Die Eindrücke
ſeiner Jugend, welche hart, dunkel und freudlos geweſen,
konnte er nie verwinden: er war ein ſtrenger, düſterer
Mann, der keinen Sinn hatte für heiter anmuthige Lebens-
führung und die Freuden einer durch geiſtige Genüſſe ver-
edelten Geſelligkeit. Das Schöne ſprach nicht zu ſeinen
Sinnen, allen Künſten, auch der Poeſie ſtand er fremd und
kalt gegenüber. Aber dieſe Jugend hatte auch eine zähe
Energie in ihm großgezogen, einen ehernen Fleiß, eine Ge-
wiſſenhaftigkeit in der Erfüllung aller Pflichten, die in
ſeinem Kreiſe faſt ſprichwörtlich geworden. Nicht aus Zu-
fall, ſondern aus innerſtem Berufe hatte er ſich den Natur-
wiſſenſchaften zugewendet; ſein faſt leidenſchaftlicher Trieb
zu Forſchung und Erkenntniß, ſein ſcharfer klarer Verſtand,
der mit realen Faktoren rechnen mußte, um ſich überhaupt
vertiefen und dauernd gefeſſelt werden zu können, ſeine un-
erſchütterliche Geduld, die ihn jahrelang ſelbſt an kleine
nebenſächliche Erſcheinungen band, "weil auf dieſem Gebiete
das Kleinſte ſo wichtig ſei, wie das größte", ſeine grenzen-
loſe Wahrheitsliebe, die vor keiner Conſequenz zurückſchreckte,
— all' dieſe Gaben beſtimmten und befähigten ihn zum
Naturforſcher. Er hatte nicht gekonnt, wie er gewollt: das
Leben zwang ihm einen praktiſchen Beruf auf, ſeine Träume
[XI] von einem rein der Wiſſenſchaft gewidmeten Leben blieben
unerfüllt, er mußte Arzt werden und ward auch durch ſeine
Kenntniſſe, wie durch ſeinen Pflichteifer ein trefflicher, viel-
geſuchter Arzt. Aber der Wiſſenſchaft vergaß er dabei nicht,
und es iſt faſt rührend zu hören, mit welcher Ausdauer der
vielbeſchäftigte Mann ſeine kärglich bemeſſenen Freiſtunden
darauf wandte, um ſelbſt zu lernen und in der Folge andere
zu lehren. Da mühte er ſich in einem Laboratorium, das
er ſich ſelbſt eingerichtet, raſtlos mit Scalpell und Loupe,
dort gab er auch ſpäter anatomiſche und phyſiologiſche Curſe.
Auch einige Fachſchriften ſind von ihm erſchienen; ſie haben
ihm zwar keinen hervorragenden, aber immerhin geachteten
Namen gemacht. Ein Mann von merkwürdigſter, ſchroffſter
Einſeitigkeit — dieſer knorrige Naturforſcher aus dem Volke.
Nur da, wo ſeine Wiſſenſchaft ihn erhob, vermochte er die
Höhe freierer Anſchauungen zu gewinnen. Er, der die
Künſte verachtete, weil ſie, wie er glaubte, nichts nützen,
der geradezu unglücklich darüber war, daß ihm ſein Georg
den Tort angethan, ein Dichter zu werden, begriff voll-
kommen, daß die Wiſſenſchaft Selbſtzweck ſei, empfand ſeinen
praktiſchen Beruf als eine Feſſel, widmete ſich unter ſchweren
Geldopfern theoretiſchen Unterſuchungen. Noch widerſpruchs-
voller war ſein Verhältniß zum Staate einerſeits, zur Kirche
andererſeits. Derſelbe Mann, der ſich in den Dingen des
Glaubens nichts decretiren ließ, mit trotzigem Stolze ſeine
Gewiſſensfreiheit wahrte, mochte ihm daraus zukommen, was
da wolle, und ſich demonſtrativ, obwohl Staatsbeamter unter
einer klerikal angehauchten Regierung, von den Stillen im
Lande ſchied — derſelbe Mann war in politiſchen Dingen
nicht blos loyal und conſervativ, ſondern ſtramm reaktionär,
[XII] von tiefſter Abneigung gegen alle liberalen, geſchweige denn
demokratiſchen Strebungen erfüllt, nicht um ſeiner amtlichen
Stellung willen, ſondern aus innerſter Ueberzeugung. Die
Bewegung von 1848 erregte ſeinen härteſten Unmuth, nicht
den Unmuth des großherzoglich heſſiſchen Ober-Medicinal-
rathes, ſondern den des entgegengeſetzt geſinnten Politikers.
Als ſein Georg "unter die Hochverräther" ging, ſagte er
ſich mit kalter Härte von dem Lieblingsſohne los — als
zwanzig Jahre ſpäter der dritte Sohn Ludwig durch ſein
Buch "Kraft und Stoff" einen literariſchen Sturm gegen
ſich entfeſſelte, trat er auf deſſen Seite, obwohl doch Georg
nicht radikaler auf politiſchem Gebiet geweſen, als ſein
jüngerer Bruder auf philoſophiſch-religiöſem! Und als er
1858 die müden Augen ſchloß, da ſchien ihm die politiſche
Richtung des erzreaktionären Dalwigk durchaus löblich, nur
die Intimität mit dem Erzbiſchof Ketteler gefiel ihm nicht;
daß eine innere Wahlverwandtſchaft den Bund herbeigeführt,
ahnte der ſonſt ſo klare Mann nicht! Trotz ſolcher politiſchen
Ueberzeugung, trotz der Ecken und Härten ſeines Weſens
erwarb er ſich, wenn nicht die Liebe, ſo doch die unbegrenzte
Hochachtung ſeiner Mitbürger durch die muſterhaft humane
Art ſeiner Berufserfüllung, durch die Lauterkeit ſeines
Charakters. Wie er dachte, ſo handelte er; in vielen Dingen
ſonderbar, in allen ohne Falſch und Makel, ſo war Ernſt
Büchner. Seiner Familie bereitete er durch Eigenſinn und
Pedanterie manche ſchwere Stunde, aber er lebte nur für
dieſe Familie, ſuchte nur in ihrem Kreiſe Freude und Er-
holung, war ein ſelbſtloſer, muſterhafter Gatte und Vater.
Alles in Allem: ein Halbedelſtein — und man weiß, ſolche
Steine kryſtalliſiren in ſonderbaren Formen!
[XIII]
Niemand hat ſeinen Werth klarer zu erkennen ver-
mocht, aber auch Niemand unter den Härten dieſes Mannes
ſchmerzlicher gelitten, als die treue Gefährtin ſeines Lebens.
Ich wollte ein großer Dichter ſein, nur um das Bild dieſer
edlen Frau unvergänglich hinſtellen zu können zur Freude
aller guten Menſchen. Wer von ihr berichtet, legt ihr einen
Lichtſchein um das Haupt und dankt dem Geſchick, daß er
ihr begegnen durfte. Es iſt ein ſeltener Zauber geweſen,
durch den ſie die Herzen zwang und noch in der Erinnerung
nüchternen Naturen das duftigſte Wort auf die Lippen legt:
der Zauber ächteſter Liebenswürdigkeit. Sie habe, berichten
Alle, jedem wohlgethan und keinem wehe; ihre Güte wie
ihre Kenntniß des Menſchenherzens ſeien gleich groß geweſen
und darum unvergleichlich das Product aus beiden: ihr Tact,
ihre zarteſte Rückſichtsnahme auf jede Eigenart. Ohne
blendenden Geiſtes zu ſein, habe ſie Alles verſtanden, ohne
blendende Schönheit zu ſein, habe ſie ſchon durch ihr
Aeußeres Männer und Frauen gefeſſelt. Niemand ſei ihr
näher getreten, der ſie nicht immer mehr verehren und lieben
gelernt; und ihr Freund zu ſein, ſei Jedem mit Recht ein
Stolz geweſen. "Denn", ſagt einer dieſer Erwählten, "ihr
Inſtinkt für das Edle und das Gemeine war gleich ſcharf,
und mit derſelben ſtillen Gewalt wußte ſie das Eine an-
zuziehen, das Andere abzuwehren. Es wäre vergeblich zu
entſcheiden, ob ſie als Gattin oder Mutter trefflicher ge-
weſen, ob ihre Gabe, ſich für das Höchſte zu begeiſtern,
höher ſtand, oder jene, ſich dem Kleinſten und Nüchternſten
zuzuwenden, ſofern es in ihren Pflichtkreis trat. Auch in
ihren Tugenden waltete Harmonie. Caroline Büchner war
ein Muſterbild edelſter Menſchlichkeit." Die Vereinigung
[XIV] ſolcher Gaben und Gnaden nur eben Liebenswürdigkeit zu
nennen, mag Manchem zu kärglich erſcheinen, aber das hat
nur der Mißbrauch des Worts verſchuldet; ſpricht man doch
ſogar oft, unſinnig genug, von "liebenswürdiger Schwäche",
obwohl ſicherlich nur ſtarke Naturen echter Liebenswürdig-
keit fähig ſind. Denn in Wahrheit gehört das Wort zu
dem Höchſten, was man von einem Menſchen ausſagen kann;
wahre Liebenswürdigkeit quillt uns nur bei jenen entgegen,
die ſich volle Harmonie ihrer Kräfte und Strebungen er-
rungen, ſie iſt nur zum Theil ein Geſchenk der Götter,
Sache des Naturells, ein angeborenes Talent, zum größeren
Theil ein Product inneren Kampfs und ſeeliſcher Arbeit,
der Selbſtklärung. Aus je ſchrofferen Verhältniſſen heraus
ſich der Menſch ſolche Harmonie erringt, um ſo höher muß
unſere Achtung für ihn ſein. Und nun denke man, wie
früh Caroline Reuß, das Mädchen mit der reichen, weichen
Seele, dem eckigen harten Gatten angetraut worden, man
denke an die engen dörflichen Verhältniſſe in den erſten Tagen
ihrer Ehe! Tauſende ähnlicher Frauennaturen haben in
gleicher Lage Schwung und Adel der Seele eingebüßt, viele
nur deßhalb ſie bewahrt, weil das Muttergefühl läuternd und
ſtützend hinzutrat — aber wie wenige haben ihren Schatz
ſo gemehrt, wie dieſe Frau! Man ſagt, nur glückliche
Menſchen könnten ganz gut ſein — das Beiſpiel Carolinens
ſtreitet nicht dagegen, ſie war glücklich, weil ſie ſich nie
arm fühlte in dem Gedanken, was ſie entbehrte, ſondern
ſtets reich in dem Gedanken, was ihr blieb. Und ihr blieb
viel: ſie ſelbſt und die Ausgeglichenheit ihrer Seele, dann
der blühende Kinderſegen und die Liebe ihres Gatten. Frei-
lich war ſeine Liebe, die, von dem Willen abgeſehen, nach
[XV] der Natur des Mannes keine Opfer bringen konnte, die ge-
ringere, während ſie viel ſchenken mußte, aber eben darum
immer reicher ward, je mehr ſie ſchenkte. Dieſe Liebe war
die einzige Brücke zwiſchen den Ehegatten, und ſie führte
über die breiteſte, tiefſte Kluft. Man weiß, wie Ernſt
Büchner den Künſten, ſeinem Volksthum und der Freiheit
abgewendet geweſen — ſeiner Gattin waren es die Leitſterne
ihres geſammten Denkens und Empfindung. Sie hatte einen
brennenden Durſt nach Schönheit und feinſtes Verſtändniß
für ihre Offenbarungen, in welcher Form immer ſie ihr
nahe traten; daß ſie namentlich die Dichtkunſt liebte, ge-
ſtaltete ſich dadurch, daß ihr dieſe allein zugänglich war.
Eine feinſte Nachempfinderin hatte ſie in der mündlichen
Rede ſelbſt ein reizendes Talent der Geſtaltung; ſchriftlich
hat ſie es nie verſucht. So mag man es nicht überſchwäng-
lich nennen, wenn ihre Freunde dieſe Frau, obwohl ſie
nichts geſchrieben, eine Dichterin nennen. Wie ſie ihrem
Volksthum ergeben war, iſt bereits erwähnt, hauptſächlich
deshalb liebte ſie auch die Freiheit; es that ihrem patrio-
tiſchen Herzen wehe, daß ſich dem deutſchen Volke die Opfer
des "heiligen Krieges" ſo ſchlecht gelohnt. Parteiprogramme
ſtanden ihr ferne, das Gezänk des Tages war ihr widerlich,
aber aus ihrem Patriotismus, aus ihrem Gefühl für
Menſchenwürde quoll ihr ſtark und mächtig der Wunſch
nach einer freiheitlichen Geſtaltung ihres Vaterlandes. Schon
dies zeigt uns die ganze Tiefe der Kluft zwiſchen dieſen
beiden außergewöhnlich veranlagten Naturen; aber noch
weitere Gegenſätze laſſen ſich hervorheben. Caroline mühte
ſich ſicherlich ehrlich, den wiſſenſchaftlichen Strebungen des
Gatten mindeſtens in den leitenden Ideen zu folgen, aber
[XVI] es gelang ihr nicht, weil es ihrem Weſen ferne lag, wie
man die Natur zerpflücken könne, um ſie zu verſtehen! Ihr
war ſie ein ſchönes harmoniſches Ganze, aus der ſie reinen
Genuß ſchöpfte und die Verehrung für den Schöpfer. Denn
während ſich Ernſt Büchner von ſeiner Wiſſenſchaft ſo weit
aus dem Reiche des Glaubens hinwegführen ließ, als ſie
ihn eben leiten wollte, blieb Caroline gläubig, keine fana-
tiſche Frömmlerin, aber ein frommes Gemüth, welches ſich
auch gerne für ſeine Verehrung die gewohnten Formen ge-
fallen ließ, ohne viel darüber zu grübeln. Dieſer Zug ſtört
uns ſicherlich nicht dies "Muſterbild edelſter Menſchlichkeit".
Ein Edelſtein von höchſtem Werthe, klar und durchſichtig,
von regelmäßigſter Structur!
Wer dies überdenkt und zuſammenfaßt, dem wird ſich
auch das Bild des Hausweſens, in dem Georg Büchner
aufwuchs, klar vor Augen ſtellen, und wenige Striche werden
genügen, es feſtzuhalten. Es war ein ſehr ſtilles, ſehr
ſchlichtes, dabei kerniges Familienleben, in ſeiner Führung
von Ueppigkeit und Entbehrung gleich weit entfernt, ein
Haus des gebildeten, deutſchen Mittelſtandes. Das enge,
geſellſchaftliche Leben in Darmſtadt, dieſer damals und viel-
leicht jetzt noch langweiligſten deutſchen Reſidenzſtadt, hätte
wohl auch bei lebhaftem Verkehr mit der Außenwelt keine
blendenden Eindrücke für die Phantaſie, keine geräuſchvollen
Freuden geboten, aber dieſer Verkehr war zudem, wie er-
wähnt, ſehr ſpärlich. So war dies Haus eine faſt ganz
in ſich abgeſchloſſene Welt, deren Mittelpunkt für die Kinder
die liebliche, gütige Mutter war, ihre Freundin, Lehrerin
und Spielgefährtin. Aber wenn auch vornehmlich von ihr
Freude, Anregung und Belehrung ausging, ſo blieb doch
[XVII] dem Vater der Einfluß gewahrt. Den Tag über durch
ſeinen Beruf und ſeine wiſſenſchaftlichen Strebungen den
Kindern ferngehalten, verlebte er regelmäßig die Abende mit
ihnen. Wirkte da ſeine Eigenart auf ihren Charakter, ſo
ſicherlich auch ſein Beruf auf ihre Phantaſie. Die Kinder
des vielbeſchäftigten Arztes hörten früh von Krankheit und
Tod, und als ein unheimlicher, unnahbarer Raum ſtand in
dem ſpiegelblanken Hauſe das Laboratorium des Vaters
und der mit menſchlichen Skeletten angefüllte Schrank. Daß
Georg oft, noch ganz erfüllt von dem Zauber der heimeligen
Märchen, die ihm die Mutter erzählt, bange in jene Stube lugte,
wo der Vater über einem Präparat gebückt ſaß — dieſer
Eindruck hat ſein Leben lang in ihm fortgeklungen ...
Und nicht blos dies Eine! Es gibt wenige Menſchen,
bei denen das geiſtige Erbe der Eltern und die Eindrücke
der Kindheit von ſo beſtimmendem Einfluß geweſen, als bei
unſerem Dichter und ſeinen Geſchwiſtern (S. 457). Ihr
Weſen, ihre Begabung, die insgeſammt nicht blos vielſeitig,
ſondern aus Gegenſätzen gemiſcht iſt, wird erſt klar, wenn
man auf jene Quellen der Individualität zurückgeht. Und
wie Georg der vielſeitigſte und begabteſte unter ihnen war,
ſo iſt auch bei ihm das Feſthalten jener Beziehung am Noth-
wendigſten. Nur ſo wird es erklärlich, wie dieſer Jüngling
zugleich ein echter Dichter und ein tüchtiger Naturforſcher
werden, wie er als Dichter ſeiner Neigung zum Märchen-
haften, Maßloſen und Myſtiſchen nachgeben und dabei als
Naturforſcher klar, maßvoll, nüchtern bleiben konnte. Nur
ſo wird es erklärlich, wie er bei aller Vorliebe für franzöſi-
ſches Weſen ein deutſcher Patriot wurde. Aber nicht blos
die Hauptſachen, auch tauſend kleine Züge im Charakter,
G. Büchners Werke. b
[XVIII] Streben und Bildungsgang dieſes merkwürdigen Menſchen
werden erſt auf dieſe Weiſe verſtändlich. Ich will im Fol-
genden dieſe Fäden nicht aufdringlich nachweiſen und colo-
riren und begnüge mich mit der Bitte, das Bisherige nicht
für überflüſſig zu halten.
Nachdem bis in ſein zehntes Jahr die Mutter ſeine
Lehrerin geblieben, bezog der Knabe im Herbſte 1823 das
Gymnaſium zu Darmſtadt und legte da ſeine Studien in
regelrechter Folge bis zur Abſolvirung, im Herbſte 1831,
zurück. Die Schulzeugniſſe finden ſich leider nicht mehr vor,
Auszüge aus den Büchern der Anſtalt waren nicht zu er-
halten. Doch fügt ſich aus den vorhandenen Schularbeiten
und Jugendverſen, ſo wie aus den freundlichen Mittheilungen
einiger Mitſchüler immerhin ein treues Bild der Schülerjahre
Georg Büchner's zuſammen.
Er hatte das Glück an eine Anſtalt zu kommen, der
ſich viel Gutes nachſagen läßt: Ernſter Geiſt, ſtrenge Zucht
und treue Pflichterfüllung befähigter Lehrkräfte. Freilich
ward auch in Darmſtadt, wie damals überall, nicht blos
das Hauptgewicht auf die klaſſiſchen Sprachen gelegt, ſon-
dern dieſelben ſchmälerten und erdrückten die anderen Dis-
ciplinen in einer Weiſe, die uns heute unverantwortlich er-
ſcheinen muß. Selbſt deutſche Sprache und Geſchichte traten
erſt in den oberen Claſſen einigermaßen in ihre Rechte;
was aber ſpeciell Geſchichte der Neuzeit betrifft, ſo hört
heute entſchieden das Kind in der Volksſchule mehr von
den Geſchicken ſeiner Nation, als damals der Gymnaſiaſt.
Bis zu welchem Grade die Realien vernachläſſigt wurden,
kann heute kaum glaubhaft erſcheinen. Mathematik und
Phyſik wurden "mit Schmerzen — ein wenig — oder gar
[XIX] nicht" vorgetragen, und mit dem dürftigen Namensſchema,
welches als "Naturgeſchichte" dictirt wurde, könnte ſich die
moderne Volksſchule unmöglich begnügen. Die mathematiſche
Geographie wurde gar nicht vorgetragen, die politiſche in
einem kurzen Auszug den Schülern dictirt. Latein und
Griechiſch hingegen ward in breiteſter Ausdehnung mit Ein-
beziehung aller Hilfswiſſenſchaften betrieben. Mag man auch
das ſchöne Wort Jean Paul's: "die Welt der Alten ſei der
ſtille, heilige und dennoch heitere Tempel, an deſſen ewigen,
erhabenen, lächelnden Marmorbildern vorüber die Jugend
ihren Weg nimmt auf den Markt des alltäglichen Lebens"
— noch ſo willig unterſchreiben, ſo wird man ſich doch des
Staunens nicht erwehren können, wenn man aus den Schul-
heften jener Zeit erſieht, wie weit vernünftige Männer ein
an ſich richtiges Prinzip zu übertreiben und hierdurch ſich
ſelbſt ad absurdum zu führen vermochten! Es iſt begreif-
lich, daß die Grammatik gründlich gelehrt, begreiflich, daß die
Lectüre der Klaſſiker in größtmöglichem Ausmaß betrieben
wurde, aber unbegreiflich bleibt die kindiſche, überaus zeit-
raubende Spielerei mit lateiniſchen und griechiſchen Verſen,
unbegreiflich, daß Hilfswiſſenſchaften, wie z. B. antike Me-
trik, Archäologie, Münzkunde zuſammen beiläufig in dem-
ſelben Umfang betrieben wurden, wie — die Mutterſprache!
Jedoch nicht blos der Inhalt, auch die Methode des Unter-
richtes muß Kopfſchütteln erwecken. Im Allgemeinen galt
der Grundſatz: "Doch Euch des Schreibens ja befleißt" u. ſ. w.,
wie es im "Fauſt" ſteht. Geſchichte und Geographie, Ar-
chäologie und Literarhiſtorie, Mathematik und Phyſik, Na-
turgeſchichte und Religion — Alles wurde dictirt und zuerſt
in der Schule flüchtig, hierauf zu Hauſe kalligraphiſch ſchön
b *
[XX] nachgeſchrieben, dann erſt endlich auswendig gelernt. Welche
horrible und ganz überflüſſige Zeitverſchwendung, da es
doch auch damals recht gute Lehrbücher dieſer Disciplinen
gab! Auch die klaſſiſchen Sprachen wurden mit der Feder
in der Hand erlernt. Alle Regeln der Grammatik, alle
Aufgaben zur Ueberſetzung wurden dictirt, auch genügte es
nicht, die Klaſſiker mündlich überſetzen zu können, ſondern
die Verſion mußte ſchriftlich beigebracht werden, ſo daß jeder
Schüler in jedem Semeſter mehrere Bände ſchrieb! Faßt
man dies zuſammen, ſo wird auch ein maßvolles Urtheil
dahin lauten müſſen, daß dieſer Unterricht ſeinem Inhalte
nach keine allgemeine Bildung, ſeiner Methode nach keinen
beſonderen Lerneifer hervorrufen konnte.
Georg Büchner war, nach dem übereinſtimmenden
Zeugniß ſeiner Mitſchüler und Geſchwiſter, ein guter Schüler,
der Location nach einer der Erſten — auch die Cenſuren in
ſeinen Schulheften beweiſen dies. Aber übereinſtimmend
wird auch berichtet, daß er den Anforderungen der Lehrer
nur deßhalb vollauf genügt, weil ihn der Ehrgeiz und die
Rückſicht für die Eltern getrieben. Durch ſeine hervorragende
Begabung, ſein glückliches Gedächtniß ſei ihm übrigens die
Mühe nicht allzu ſchwer geworden. Spontanes Intereſſe je-
doch habe er nur an einigen wenigen Gegenſtänden genommen,
juſt an den vernachläſſigten, den Realien; wogegen die Me-
thode, mit der die klaſſiſchen Sprachen tradirt wurden, ihm
bis in die Jahre beginnender Reife eine heftige Abneigung
gegen dieſelben beigebracht. Das läßt ſich auch ohne jeden
weiteren Gewährsmann aus ſeinen Schulheften abſtrahiren;
jene über die exakten Wiſſenſchaften ſind mit größter Sorgfalt
ausgearbeitet, während die lateiniſchen und griechiſchen Prä-
[XXI] parationen möglichſt flüchtig geſchrieben ſind. Auch machen
ſich hier die Unluſt und der Muthwille des Knaben in
allerlei komiſchen Bemerkungen Luft, die er in das Dictat
des Lehrers einfließen läßt. So fügt er einmal dem, aller-
dings beſonders ſchönen Versus memorialis:
die Bemerkung hinzu: "Dieſer Vers wäre nicht unwerth, von
Ihnen ſelbſt, Herr Doktor, gedichtet worden zu ſein!" —
und in ſeiner Ueberſetzung von Cic. Or. pro Marc. III. 10.
ſteht nach der Apoſtrophe an Cäſar: "Durch welche Lob-
ſprüche ſollen wir Dich, den wir vor uns ſehen, erheben,
mit welchem Eifer dir nachahmen, mit welchem Wohlwollen
dich umfaſſen?" in derſelben Zeile zu leſen: "Wahrlich nur
dadurch, indem wir dir die Tintenfäſſer an den Kopf werfen,
der du uns die blühende Welt der Alten zur Wüſte machſt."
Aehnliche Einſchiebſel, die bei allem Muthwillen doch von
gewiſſer ernſterer Erkenntniß zeugen, finden ſich namentlich
in eines anderen Lehrers Vorleſungen über antike Münz-
kunde. Da leſen wir §. 11: "Von dem Nutzen der Münz-
kunde. Sie bringt Langeweile und Abſpannung hervor, und
ſchon dieſe Symptome ſind ja in den Augen jedes echten,
tiefer in den Geiſt der Alten eingedrungenen Philologen der
ſchlagende Beweis für den Nutzen dieſes Studiums. O Herr
Doktor! was ſind Verſtand, Scharfſinn, geſunde Vernunft?
Leere Namen! — Ein Düngerhaufe todter Gelehrſamkeit —
dies iſt das allein würdige Ziel menſchlichen Strebens!" —
Nicht minder bezeichnend iſt das Motto, welches der Schüler
[XXII] dieſem Hefte vorgeſetzt: "O Trödel, der mit tauſendfachem
Tand In dieſer Mottenwelt mich dränget!" Als aber im
nächſten Sommerſemeſter über die Schrift der Alten geleſen,
richtiger dictirt wird, da ſchreibt der ungeduldige Knabe nur
noch die Ueberſchriften der Paragraphen nieder und darunter
Volkslieder. So "§. 11: Pelasgiſche Buchſtaben. Zu
Lauterbach hab' ich mein' Strumpf verlor'n, Ohne Strumpf
geh' i net heim. §. 12: Hieroglyphen. Es ſteht ein Wirths-
haus an der Lahn, da fahren alle Fuhrleut' an" u. ſ. w.
Dazwiſchen ſteht mit zollhohen Buchſtaben: "Lebendiges!
was nützt der todte Kram!"
Schon dieſe Aufzeichnungen — ſo irrig es übrigens
wäre, großes Gewicht auf ſie zu legen — beweiſen hin-
länglich, daß es nicht die Methode allein war, die dem jungen
Schüler Sprachen und Kunde des Alterthums verleidete, und
ein weiterer Beweis hiefür iſt, daß er ſich den exacten Wiſſen-
ſchaften mit allem Eifer hingab, obwohl auch dieſe wahrlich
weder kurzweilig noch anregend tradirt wurden. Der "Vor-
trag" in der Mathematik, Geometrie, Phyſik beſtand darin,
daß der Lehrer zuerſt eine Frage, dann die Antwort dictirte
und die letztere beim Examen wörtlich abhörte. Manches
hierunter darf den Werth eines Curioſums in Anſpruch nehmen,
z. B. "Was iſt eine geometriſche Fläche?" Antwort: "Ein
gewiſſer Theil von der Oberfläche eines Körpers, abgeſondert
von der Fläche vorgeſtellt." Aber hiezu machte Georg kei-
nerlei Bemerkungen und ſuchte, wie ſeine Ferienhefte und
Fleißaufgaben beweiſen, aus eigener Kraft und mit Hilfe
guter Büchen in dieſen Disciplinen ſo viel zu erlernen, als
ihm nur immer erreichbar. Was ihn hiezu trieb, war ſicher-
lich ein innerſter Zug ſeines Weſens; das war eben etwas
[XXIII] "Lebendiges", wo die Vernunft entſchied, und nicht "todter
Kram", und darum bethätigte er hier ſeine Kraft freudig
und ſpontan. Es ſtimmt damit, wenn einer ſeiner Schul-
freunde berichtet, daß er am Liebſten naturwiſſenſchaftliche
Bücher geleſen und von Gedichten ſolche, welche Naturbe-
ſchreibungen enthalten, z. B. Matthiſon, ferner auch Schiller.
"Ich bin", erzählt derſelbe Gewährsmann, "bis in ſein ſech-
zehntes Jahr mit Georg Büchner zuſammen geweſen, und ſo
ſchön und feurig der Knabe war, ſo kann ich doch nicht
ſagen, daß wir oder die Lehrer Außerordentliches von ihm
erwartet — am wenigſten aber auf dem Felde der Dicht-
kunſt. Er ſelbſt ſagte immer, daß er Naturforſcher werden
wolle, und was er mit Vorliebe betrieb, paßte zu dieſem
Vorſatz."
Die Eltern, ſo erfreut ſie auch ſonſt über die geiſtige
Rührigkeit ihres Erſtgeborenen waren, ahnten gleichfalls nichts
von deſſen poetiſcher Begabung, ebenſowenig ſein Lehrer der
deutſchen Sprache, der erſt vor Kurzem verſtorbene Con-
rector Baur. Er ordnete an, daß jeder Schüler ein
Heft anlege und da die beſten deutſchen Gedichte ein-
trage. Büchner kam dieſer Anordnung nach, aber in
recht ſonderbarlicher Weiſe. Das bloße Copiren lang-
weilte ihn, und ſo finden ſich nur jene Gedichte vollinhalt-
lich eingetragen, die er zugleich in irgend einer Weiſe paro-
dirte. Hier eine Probe. Man weiß, daß ſich in Schillers
"Graf Eberhard der Greiner" der Stolz des Schwaben ſehr
kräftig ausſpricht. Und darum hielt es der muthwillige
Schüler für angemeſſen, das Gedicht gleich vollſtändig in
den ſchwäbiſchen Dialekt umzuſetzen:
[XXIV]
In dieſem Hefte, welches der Lehrer ſchwerlich je er-
blickt, äußert ſich immerhin eine gewiſſe Selbſtſtändigkeit und
Sinn für das Komiſche; die deutſchen Aufſätze hingegen, die
Büchner bis in ſein ſechzehntes Jahr hinein lieferte, waren
überaus flach und unbedeutend. In keinem Gedanken, in
keiner Wendung läßt ſich auch nur eine Spur jenes Dichter-
geiſtes gewahren, der wenige Jahre ſpäter Deutſchland mit
ſeinem Ruhme erfüllen ſollte, und wer dieſe ſteifen, unbe-
hülflichen Sätze lieſt, wird kaum glauben, daß ſie ein Sech-
zehnjähriger geſchrieben, und vollends derſelbe Menſch, der
ſich ſechs Jahre ſpäter als einer der glänzendſten Stiliſten
erproben ſollte, die je unſere Mutterſprache gemeiſtert. Der
beſte Beweis aber, daß ſich in dem Knaben noch kein Hauch
origineller Dichterkraft geregt, ſind die Verſe, die wir aus
ſeinem fünfzehnten Lebensjahre beſitzen. Das "Dichten" war
damals an den deutſchen Gymnaſien noch weit mehr Mode,
als jetzt, und Georg machte dieſe Mode mit, übrigens nie-
mals ſpontan, ſondern ſtets nur zu beſonderen Gelegenheiten.
Von den vier "Gedichten", die er geſchrieben, ſind zwei als
"Weihnachtsgeſchenk" für die Eltern, ein drittes zum Ge-
burtstag des Vaters und das vierte zu dem der Mutter ver-
faßt. Das älteſte ſtammt aus dem Jahre 1827 und be-
gleitete ein Geſchenk für den Vater:
[XXV]
u. ſ. w. Die drei anderen finden ſich im Anhang (S. 393
-397) vollinhaltlich mitgetheilt, keineswegs um ihres
ſelbſtſtändigen Werthes willen, ſondern als Curioſa zur
Biographie, um die ſpäte Entwicklung Büchners zu beweiſen.
Sicherlich haben viele ſeiner Mitſchüler viel beſſere Verſe
geſchrieben, als er, der nachmals als Dichter unſterblich
wurde. Wer ſeine Verſuche unbefangen, von dem Glanze
des Autornamens ungeblendet, lieſt, wird dies Urtheil nicht
zu hart finden. Die "Nacht" und "Vergänglichkeit", dieſe
etwas melancholiſch angehauchten Geſchenke, welche er ſeinen
Eltern zu Weihnachten 1828 widmete, beweiſen nichts, als
die Wahrheit jener Mittheilung, daß damals Matthiſon
ſein Lieblingsdichter geweſen. Es ſind ſchwächlich-ſentimale
Naturbilder in ungelenker Sprache. Selbſt das relativ beſte
Gedicht: "An die Mutter!" erhebt ſich wenig über die
nackte Proſa, obwohl hier immerhin durch die gezwungene
Ausdrucksweiſe die Innigkeit der Empfindung hindurchleuchtet.
In ihrer ganzen Tiefe kommt ſie freilich nicht zum Aus-
druck — der Knabe, voll Verehrung für den Vater, voll
Zärtlichkeit gegen ſeine jüngeren Geſchwiſter, namentlich das
Schweſterchen Luiſe (S. 458), hing mit grenzenloſer Hin-
gebung an der Mutter. Sie allein übte wirklichen Einfluß
auf ihn und hat dieſen ſtets zum Guten ausgenützt. Ihrem
Weſen und Walten iſt es vornehmlich zu danken, daß der
reifende Jüngling von keinem Hauch der Gemeinheit befleckt
ward; und namentlich in jener wichtigen Periode, da der
[XXVI] Knabe zum Jüngling wurde, haben ihre guten, klugen Augen
doppelt ſorglich über ihm gewacht.
Dieſer Gährungsprozeß fiel in ſein ſiebzehntes Jahr
und führte in überraſchend kurzer Zeit zu einer völligen
Klärung und Wandlung. Dieſelbe merkwürdige Erſcheinung
werden wir auch in der Folge genau ſo oft zu conſtatiren
haben, als eben überhaupt von einem Entwicklungsſtadium
ſeines Weſens zu berichten iſt: jähe Revolution, nie lang-
ſame Evolution! Metamorphoſen, zu denen ſchwächere
Naturen Jahre, in ſchmerzlichem Zwieſpalt verbrachte Jahre
bedürfen, hat dieſer Jüngling in kurzer Friſt mit jener
Energie, mit jener inſtinctiven Sicherheit überwunden, welche
ſo überaus ſelten und ein untrügliches Zeichen genialer Be-
gabung iſt. Auch hier ſchon fand er die Kraft und den
Muth, binnen wenigen Monaten Alles aus ſich auszu-
ſcheiden, was ihm unreif und ſchwächlich ſchien, und in
ſeinem Streben und Denken ein Anderer zu werden. Seine
Aufſätze, die Mittheilungen ſeiner Freunde beweiſen es.
Binnen wenigen Monaten! Und doch gilt auch hier
das Wort: "nunquam saltus in natura." Die Wandlung
an ſich war eine völlig naturgemäße; ſie vollzieht ſich faſt
bei jedem Menſchen in denſelben Jahren. Auffällig wird
ſie hier nur deßhalb, weil ſie ſo plötzlich und radikal auf-
tritt. Das allein legt auch den Gedanken nahe, nach einer
äußeren Veranlaſſung zu fragen, nach einer fremden Hand,
welche den Jüngling wachgerüttelt und zum Bewußtſein all'
ſeiner Kraft gebracht. In der That war hier äußerer Ein-
fluß thätig. Aber nicht etwa der Einfluß einer bedeutenden,
machtvollen Perſönlichkeit, auch nicht der Eindruck eines Er-
lebniſſes, ſondern der Geiſt der Zeit. Zum erſten Male
[XXVII] begegnen wir hier der Macht, welche in der Folge dieſes heiße
Herz gelenkt und beſtimmt. Es iſt äußerlich und innerlich
beglaubigt, daß jene bange Schwüle, welche der Julirevolu-
tion voranging, den Sinn Georg Büchner's gereift, daß vol-
lends die Lohe der Julitage ihm ſelbſt ſein Inneres erhellt.
Erſt als ihn der politiſche Enthuſiasmus erfaßte, überkam
ihn auch die Begeiſterung für andere ideale Güter, erſt da
begann er raſtlos über ſich zu grübeln, an ſich zu arbeiten.
Und wie dieſer Enthuſiasmus das Gährungsferment der
jungen Seele war, ſo wurde er in der Folge der Hauptzug
ſeines, wie bereits erwähnt, völlig geänderten Weſens.
Darum ſei auch hiervon zuerſt geſprochen. Freilich
wollen wir uns trotzdem jeder Ueberſchätzung dieſer politiſchen
Regungen enthalten. Selbſt Georg Büchner iſt als
Gymnaſiaſt noch kein fertiger, klarer Parteimann geweſen.
Gleich ihm mögen unzählige Altersgenoſſen in jenen bewegten
Tagen für Freiheit und Republik, für die Einheit des
deutſchen Vaterlands geſchwärmt haben. Auch war er kaum
um Vieles klarer als die Anderen, — wohl aber begeiſterter
und kühner. Nur durch die Intenſität ſeiner Schwär-
merei unterſchied er ſich von den Gefährten, nur dieſe In-
tenſität iſt auffällig und bedarf einer Erklärung. Sie liegt
einzig in ſeiner Individualität. Jenes leidenſchaftliche Mit-
leid, welches ſich ſchon im Kinde gezeigt, ließ den Jüngling
durſtig jene Träume und Ideen in ſich einſaugen, welche die
Armuth auf Erden lindern, den Beladenen und Bedrückten
ihr Menſchenrecht ſchaffen wollten. Und jener Trotz, welcher
ſich gegen jeden ungerechten Schlag wild aufgebäumt, welcher
ſo früh in Muthwillen oder Sarkasmus alles "jurare in
verba magistri" von ſich wies — derſelbe Trotz kehrte ſich
[XXVIII] auch gegen Drang und Druck einer kleinlichen Junkerwirth-
ſchaft. Denn wenn es auch damals im geſammten Deutſch-
land nicht ſonderlich erfreulich herging, ſo ſtand es doch be-
ſonders traurig um Heſſen — es wird ſich ſpäter die Noth-
wendigkeit ergeben, eingehend dieſer Verhältniſſe zu gedenken.
Und ferner hatten auch die Eltern ihr Theil an dieſer
Schwärmerei; die Mutter, indem ſie in ſein Herz das Ideal
der Freiheit gepflanzt, der Vater, indem er in ihm Neigung
und Intereſſe für franzöſiſches Weſen großgezogen. Freilich
hatte Ernſt Büchner nur jene Franzoſen gemeint, welche
willig dem großen Kaiſer gefolgt, während Georg ſeine
Sympathien jenen widmete, die ſoeben den kleinen König da-
vongejagt ...
"Sein Herz floß über von Begeiſterung für die Frei-
heit, von ſchwärmeriſchem Thatendrang!" So berichtet einer
der Wenigen, denen Georg ſich damals ganz offenbaren durfte,
einer ſeiner Mitſchüler. Dem Vater gegenüber war er ſehr
vorſichtig, vorſichtiger, als gegen die Lehrer. Denn es be-
rührt eigen, halb rührend, halb komiſch, wenn man ſeine
deutſchen Aufſätze von 1830 und 1831 durchblättert und
erkennt, wie er jede Gelegenheit, ob paſſend oder unpaſſend,
benützte, um ſeinem Herzen Luft zu machen. Dies zeigt ſich
ſchon an der Wahl des Motto, denn nicht weniger als
drei Male leſen wir da den Vers G. A. Bürger's:
Und dann variirt der Aufſatz denſelben Gedanken nach
Kräften, mag er ſich in das vorgeſchriebene Thema ein-
[XXIX] fügen oder nicht. Hier eine Probe: "Wir haben nicht
nöthig", ſchreibt er einmal, "die Vorwelt um große Männer
zu beneiden, auch unſere Zeit zeugte Helden, die mit den
Leonidas, Scävola und Brutus um den Lorbeer ringen können.
Um dies zu erkennen, brauchen wir unſer Augenmerk nur
auf jenen Kampf zu richten, der noch vor Kurzem die Welt
erſchütterte, der ſie aber auch in ihrer Entwickelung um mehr
denn ein Jahrhundert vorwärts brachte, der in blutigem,
aber gerechtem Vertilgungskampfe die Gräuel rächte, welche
ſchändliche Despoten Jahrhunderte hindurch an der leidenden
Menſchheit verübt, der Europa's Völkern zeigte, daß die Vor-
ſehung ſie nicht zum Spiel der Willkür von Despoten be-
ſtimmt hat; ich meine den Freiheitskampf der Franken!
Tugenden zeigten ſich da, wie ſie Rom und Sparta kaum
aufzuweiſen haben, und Thaten geſchahen, die noch nach
Jahrhunderten Tauſende zur Nachahmung begeiſtern können."
Und dieſes flammende Loblied der Revolution ſteht in einem
Aufſatz, welcher eigentlich nur den "Heldentod der vierhundert
Pforzheimer" ſchildern ſollte! Aber bezeichnend für die
Denkweiſe des Jünglings iſt es auch, wie er nun den Ueber-
gang zum vorgeſchriebenen Thema findet: "Die Franken
erkämpften Europa's politiſche Freiheit, die Deutſchen aber
die Glaubensfreiheit; der Kampf für die Reformation war
der erſte Act des großen Kampfes, der die Menſchheit von
ihren Unterdrückern befreien ſoll, wie die franzöſiſche Revo-
lution der zweite war; vergeſſen wir auch der Helden jenes
erſten Kampfes nicht." Dann ſchildert er den Opfertod
jener deutſchen Bürger auf dem Schlachtfeld bei Wimpfen
und ſchließt, gleichfalls ſehr charakteriſtiſch: "Mich faßt beim
Andenken an dieſe That, nicht freudiger Stolz, ſondern tiefer
[XXX] Schmerz. Nicht den Todten gilt dies Weh — ich beneide
ſie! — ſondern meinem geſunkenen Vaterlande. Mein Deutſch-
land, wann wirſt du frei?" Kurz: in jeder Zeile aus jenen
Jahren lodert der politiſche Enthuſiasmus, und beſonders ſchön
und ſchwungvoll äußert ſich dieſes feurige Gefühl in ſeiner
Abſchiedsrede vom Gymnaſium, in welcher er den Selbſt-
mord des jüngeren Cato (47 n. Ch.) vertheidigt. Der
Aufſatz liegt dem Leſer vor (S. 398-408), er iſt ein
wichtiges Actenſtück zur Biographie. Von der Einleitung,
wo jener Männer gedacht iſt, die "gleich Meteoren aus dem
Dunkel menſchlichen Elends und Verderbens hervorſtrahlen",
bis zum Schlußwort: "Noch ſteht Cato's Name neben der
Tugend und wird neben ihr ſtehen, ſo lange das große Ur-
gefühl für Vaterland und Freiheit in der Bruſt des Menſchen
glüht!" iſt dieſe Rede ein ſtürmiſcher und doch logiſch ge-
gliederter Dithyrambus der Freiheit, und wer ſie, unbeirrt
durch einige geſchmackloſe Wendungen, auf ſich wirken läßt,
dem ſchlägt auch ſchon aus dieſen Worten ein Hauch jenes
Geiſtes entgegen, der ſpäter Alles für ſeine Ideale gewagt!
Aber auch aus anderen Geſichtspunkten iſt die Rede
bemerkenswerth; ſie zeugt von der Kunſt und Kraft des
Stils, welche ſich der früher ſo unbehülfliche Schüler er-
worben, und beweiſt eine beachtenswerthe Schärfe und Selbſt-
ſtändigkeit der Gedanken. Gegen die pſychologiſchen und phi-
loſophiſchen Bemerkungen des achtzehnjährigen Abiturienten
wird nicht viel einzuwenden ſein. Charakteriſtiſch iſt nament-
lich die ſcharfe Ablehnung des "chriſtlichen Standpunkts" und
die Vermeidung jedes religiöſen Motivs. Das iſt kein Zufall
und leitet uns zu dem zweiten Hauptzug ſeines geänderten
Weſens über: er verlor den Glauben, und ſeine Empörung
[XXXI] richtete ſich nicht blos gegen die Autorität des Staates, ſon-
dern auch gegen die der Kirche. Es liegt ein dichter Schleier
über dieſen Kämpfen ſeines Herzens, den er, wie jeder fein-
fühlige Menſch, nie ganz gelüftet, auch gegen ſeine beſten
Jugendfreunde nicht. Darum differiren auch ihre Mitthei-
lungen über dieſen Punkt. "Ich bin überzeugt", ſchreibt
der Eine, "daß Büchner bereits in der Prima des Gymnaſiums
ein radikaler Atheiſt war. Mit der Kirche war er ſchon
früh fertig. So ſagte er mir einmal, noch in unſerer Knaben-
zeit: "Das Chriſtenthum gefällt mir nicht — es iſt mir zu
ſanft, es macht lammfromm". Die Aeußerung iſt mir in
Erinnerung geblieben, weil ich mich damals ſo ſehr darüber
entſetzte. Es ſtimmt dazu, wenn wir in des Knaben Re-
ligionshefte neben dem Dictat: "Mit der Ehrfurcht vor Gott
iſt die Demuth unzertrennlich verbunden", eine Garnitur —
von Fragezeichen finden. Hingegen ſchreibt ein anderer
Jugendfreund: "Ich hatte mit Büchner damals viele Unter-
redungen, welche die Religion betrafen, namentlich auf un-
ſeren Spaziergängen. Davon habe ich jetzt natürlich nur
noch allgemeine Erinnerung. Ihr folgend bin ich feſt über-
zeugt, daß er damals zwar ein kühner Skeptiker, aber nicht
Atheiſt war." So ſteht Behauptung gegen Behauptung,
übrigens iſt auch die Frage, wann Büchner Atheiſt wurde,
von keinem Belange, daß er es wurde, iſt unzweifelhaft.
Die Aufſätze Büchner's aus der Schulzeit laſſen nur ſo viel
erkennen, daß er im Sinne des kirchlichen Chriſtenthums
ſicherlich kein Gläubiger mehr war. So meint er einmal,
es ſei der größte Unſinn, zu glauben, daß jemals Wunder
geſchehen ſeien, und von jenen obenerwähnten vierhundert
Helden ſchreibt er: er wolle nicht behaupten, daß ſie ſich
[XXXII] durch ihren Tod den Himmel verdient; jedenfalls hätten ſie
hierdurch ein Stück Himmel auf die Erde gebracht, indem
ihre Nachkommen von den verdummenden Feſſeln des Katho-
licismus frei geblieben ... Wer ſo als Schüler ſchreibt,
wird wohl noch viel radicaler denken!
Auch nach einer dritten Richtung hin vollzog ſich in
ihm eine gründliche Wandlung: was ſeine äſthetiſchen Ueber-
zeugungen betrifft. Wir wiſſen, daß er als Knabe Dich-
tungen nicht gern geleſen, jene von Matthiſen und Schiller
ausgenommen. Nun aber las er nicht blos ſehr viel, ſon-
dern auch mit feinem Verſtändniß, und ſein Geſchmack er-
hielt eine ſcharfe, von der früheren grundverſchiedene Prä-
gung. Einer der beiden oben citirten Freunde berichtet hier-
über: "Wir vertieften uns gemeinſam in die Lectüre großer
Dichterwerke. Büchner liebte vorzüglich Shakespeare, Homer,
Goethe. Volkspoeſie zog ihn auf das Mächtigſte an, wir laſen
Alles, was wir auftreiben konnten. Hingegen hatte Büchner
gegen das Rhetoriſche in Schillers Schriften viel einzuwenden.
Dem einfach Menſchlichen wendete er ſich mit Vorliebe zu,
hatte übrigens für die Antike und für das Seelenbezwingende
in der Dichtung neuerer Zeiten gleiches Verſtändniß. Der
Bereich des Schönliterariſchen, das er las, erſtreckte ſich ſehr
weit, auch Calderon war dabei, ferner Jean Paul und die
Romantiker. Sein Geſchmack war elaſtiſch. Während er
Herders "Stimmen der Völker" und "Des Knaben Wunder-
horn" verſchlang, ſchätzte er auch Werke der franzöſiſchen
Literatur. Für Unterhaltungslectüre hatte er keinen Sinn;
er mußte beim Leſen zu denken haben. Für echte Poeſie
war ſeine Liebe groß, ſein Verſtändniß fein und ſicher."
Wie die Wandlung auch nach dieſer Hinſicht eine natur-
[XXXIII] gemäße war, wie ſich die Vorliebe für das einfach Menſch-
liche und die Abneigung gegen das Rhetoriſche, wie ſich die
Verehrung für die Heroen des künſtleriſchen Realismus har-
moniſch dem Charakterbilde einfügt, welches ſich ſtückweiſe
vor uns aufbaut, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Eben
darum haben ihn dieſelben aeſthetiſchen Prinzipien auch in
der Folge geleitet, und bei der Betrachtung ſeines eigenen
Schaffens werden wir oft auf ſeine Lieblingslectüre in der
Jünglingszeit zurückweiſen müſſen: auf Goethe und Shakes-
peare, auf das Volkslied und die Romantiker. In jenem
Lebensabſchnitt jedoch, von dem wir hier handeln, hatte dieſe
Lectüre nur den Einfluß auf ſeine Production, daß ſie die-
ſelbe völlig zum Schweigen brachte. Vom ſechszehnten bis
zum zwei- und zwanzigſten Jahre hat Georg Büchner auch
nicht eine Zeile gedichtet. Er lernte den Unwerth ſeiner
früheren Verſuche erkennen und verſtummte. Seine poetiſche
Kraft ſchlummerte und dieſer Menſch hat ſtets nur gethan,
wozu ihn ſeine Natur drängte. Als der Motor ſeines
Lebens, der politiſche Enthuſiasmus, die Dichterkraft in ihm
weckte, da ſchlug er ſofort in ſeinem erſten Verſuch den rich-
tigen Weg ein: er erkannte, daß er zum Dramatiker ge-
boren ſei. So iſt ihm in ſeinem Schaffen alles Taſten,
Suchen und Irregehen erſpart geblieben; auch hier bewährt
ſich jener geniale Inſtinkt, deſſen ich oben gedacht: er ließ
ihn erſt dann reden, als er etwas zu ſagen hatte. "Zur
Zeit, da wir vom Gymnaſium ſchieden", ſchreibt einer der
citirten Gewährsmänner, "im Herbſt 1831, ahnte weder mir
noch ihm von ſeinem Dichterberuf. Er wollte ſich den Natur-
wiſſenſchaften widmen, für deren Studium er ſich ent-
ſchieden."
G. Büchners Werke. c
[XXXIV]
Wie weit ſich dieſer Zug durch das geiſtige Erbe von
Vatersſeite erklären läßt, wie er ſich in dem Knaben ſelbſt
ſchon früh geregt, dies iſt bereits erwähnt. Aber neben der
Neigung zum "Lebendigen", dem Hang zum Gegenſtänd-
lichen, dem Trieb zum Forſchen, kurz neben den Motoren des
Verſtandes haben auch jene des Gemüths zu dieſer Berufs-
wahl mitgewirkt. Wer Georg Büchner gekannt, ſpricht von
ſeiner überaus innigen, ſchwärmeriſchen Liebe zur Natur, die
ſich oft bis zur Andacht ſteigerte. Man weiß, daß die Um-
gebung Darmſtadts überreich iſt an prachtvollen Wäldern,
an ſchattigen Spaziergängen, an lohnenden Ausſichtspunkten.
Hier einſam zu wandeln, das ſtille Leben der Natur mit
ſcharfen Augen zu beobachten, mit entzücktem Herzen zu ge-
nießen, iſt des Jünglings höchſtes Vergnügen geweſen und
der einzige Genuß, dem er ſich ſchrankenlos hingab. Denn
von allen grobſinnlichen Vergnügungen hatte er ſich mit Ekel
abgekehrt, und jene kritiſchen Thebaner, welche im Hinweis
auf die Cynismen ſeines Erſtlingswerkes von "früher ſitt-
licher Fäulniß" erzählen, haben gegen das Angedenken eines
reinen Menſchen ſchwer gefrevelt. "Sein ſittlicher Wandel",
berichten ſeine Jugendfreunde mit faſt wörtlicher Ueberein-
ſtimmung, "war durchaus unbeſcholten; vor Verſuchungen,
denen Andere erlagen, ſchützte ihn ſein ſtolzer Sinn und der
Gedanke an die angebetete Mutter; das Gemeine ſtieß er
unwillig von ſich; ſogar jenem harmloſen Kneipenleben, in
welchem wir anderen Primaner uns für die Genüſſe der
libertas academica vorbereiteten, blieb er ferne, weil ihn die
äußerliche rohe Luſtigkeit anwiderte. Man muß es der
Wahrheit gemäß betheuern, daß dieſer geniale, kraftvolle
Jüngling nur Sinn hatte für edlere Genüſſe des Geiſtes
[XXXV] und Gemüthes. In der Schule befriedigte er durch recht
mäßige Anſtrengung; ſein mächtig ſtrebender Geiſt ſuchte ſich
eigene Wege. Schon darum imponirte er uns Allen, ob-
wohl er keineswegs hochmüthig war. Doch wählte er ſorg-
ſam ſeinen Umgang, und mit Einem dieſer Wenigen oder
auch einſam in Feld und Wald umherzuſtreifen, war ſein
einziges Vergnügen, welches ihn aber auch ſo voll und hoch
beglückte, daß er kein anderes ſuchte." Auch von ſeinen
Lieblingsſpaziergängen erfahren wir: durch den Beſſunger
Herrengarten zur Ludwigshöhe, wo man die Rheinebene bis
zum Taunus überſieht, zur Marienhöhe, in's Mühlenthal
u. ſ. w. "Im Sommer 1831 begegnete ich Georg Büchner
einmal in der Dämmerung am Jägerthor. Er ſah ſehr er-
müdet aus, aber ſeine Augen glänzten. Auf meine Frage,
wo er geweſen, flüſterte er mir in's Ohr: "Ich will's dir
verrathen: den ganzen Tag am Herzen der Geliebten!" "Un-
möglich!" rief ich. "Doch", lachte er, "vom Morgen bis
zum Abend in Einſiedel und dann in der Faſanerie!" Das
iſt der herrliche Wald am heiligen Kreuzberg bei Darmſtadt,
"wo einſt auch Herder und Goethe gewandelt und geſonnen".
War bei dieſen Spaziergängen ein Freund an ſeiner Seite,
dann pries der Jüngling oft ſtundenlang die Schönheit einer
Ausſicht oder auch nur die eines einzelnen Baumes; auch
für die Fauna hatte er ein offenes Auge. Religiöſe Fragen,
metaphyſiſche und ethiſche Probleme behandelte er auf dieſen
Spaziergängen gerne, aber wie die Natur der Ausgangs-
punkt dieſer Geſpräche war, ſo wurde ſie auch das End-
ziel ſeiner Betrachtung; in ihren ewigen Geſetzen fand die
gährende, von Zweifeln aufgerührte Seele Halt und Zuver-
ſicht. Keine Dichtung ſtand ſeinem Herzen näher, als der
c *
[XXXVI] Fauſt, "weil ſich nirgends das Naturgefühl ſo innig ausſpreche,
als hier". Demſelben Freunde, der uns jene Begegnung am
Jägerthor überliefert und der damals hart mit ſich kämpfte,
ob er Theologe werden ſollte, ſagte Büchner: "Wie fühle
ich mich glücklich! Ich darf werden, wozu ich einzig tauge.
Ich bin nie, auch nur eine Sekunde lang im Zweifel über
meinen Beruf geweſen!" ...
Auch die Eltern billigten dieſe Berufswahl. Als Georg
im September 1831 das Gymnaſium verließ (ohne Matu-
ritätszeugniß, welches damals nur in Ausnahmsfällen erfor-
derlich war), wurde beſchloſſen, daß er ſich hauptſächlich dem
Studium der Zoologie und Anatomie widmen ſollte. Nur machte
ihm der Vater zur Bedingung, daß er ſich an der mediziniſchen
Facultät inſcribire und die rein mediziniſchen Fächer nicht ver-
nachläſſige — ein Gebot verzeihlicher Vorſicht — dem der
Sohn nicht widerſprach. Wenige Tage darauf verließ er
Darmſtadt und das Elternhaus. Große Hoffnungen ſeiner
Familie und eigene ſtolze Zuverſicht geleiteten ihn. Beides
war wohlbegründet. Selten hat ein Jüngling ſo ernſt und
tüchtig, mit ſo ſcharf geprägten Ueberzeugungen, mit ſolcher
Zielbewußtheit bezüglich ſeines Berufes die Schule verlaſſen.
Er wandte ſich nach Straßburg. An der mediziniſchen
Facultät der dortigen "Academie" ſollte er nach dem Wunſche
des Vaters jene Studien beginnen. Es war dies eine ſonder-
bare und auffällige Beſtimmung, da der Zuzug von deutſchen
Studenten an die längſt völlig galliſirte Anſtalt ſeit Jahrzehnten
aufgehört hatte, und da deutſche Hochſchulen, welche dieſelbe an
wiſſenſchaftlichem Ruf weit übertrafen, auch räumlich näher
lagen. Aber die Vorliebe, welche Ernſt Büchner für franzö-
ſiſches Weſen hegte, und der Wunſch, daß Georg das Franzö-
[XXXVII] ſiſche möglichſt vollſtändig erlernen möge, überwog dieſe
Bedenken und gab für Straßburg den Ausſchlag. Ernſtliche
Hinderniſſe ſtellten ſich der Ausführung nicht entgegen. Georg
war des Franzöſiſchen genügend mächtig, und die Mutter
widerſprach nicht, weil ihr in dieſer Stadt Verwandte wohnten,
denen ſie den Lieblingsſohn empfehlen konnte. In den
erſten Oktobertagen von 1831 traf er, über Carlsruhe
kommend, in der altehrwürdigen und doch anmuthigen Münſter-
ſtadt ein ...
Georg Büchner iſt, geringe Unterbrechungen abgerechnet,
zwei Jahre in Straßburg geblieben. Es ſind dies die glück-
lichſten, heiterſten Jahre ſeines Lebens geweſen, dabei von
beſtimmendſtem Einfluß auf ſein ſpäteres Geſchick. Hier ge-
wann er volle Klarheit über ſeine wiſſenſchaftliche Eignung,
hier erhielt ſein politiſcher Enthuſiasmus den Schliff und die
Schärfe einer beſtimmten Parteimeinung, hier erlebte ſein
Herz den Frühling ſeiner erſten und einzigen Liebe. Ehe
wir hiervon berichten, ſeien einige Bemerkungen über die
geiſtige Atmoſphäre vorangeſtellt, in die der junge Student
da gerieth.
Man kennt das anſchauliche und reizvolle Bild, welches
Goethe in "Wahrheit und Dichtung" von der Stadt und Hoch-
ſchule entwirft. Wohl waren, als er ſich am 18. April
1770 in die Matrikeln einſchrieb, bereits neunzig Jahre ſeit
jenem unſeligen Septembertage verfloſſen, da die alte Reichs-
ſtadt, von Kaiſer und Reich verlaſſen, ihre Thore dem Heere
Louvois' hatte öffnen müſſen, aber noch waren Leben und
Lehre im Weſentlichen geblieben, wie ſie einſt geweſen: deutſch
und proteſtantiſch. "Elſaß", bemerkt er, "war noch nicht
lange genug mit Frankreich verbunden, als daß nicht noch
[XXXVIII] bei Alt und Jung eine liebevolle Anhänglichkeit an alte
Verfaſſung, Sitte, Sprache und Tracht ſollte übrig geblieben
ſein. Wenn der Ueberwundene die Hälfte ſeines Daſeins
nothgedrungen verliert, ſo rechnet er ſich's zur Schmach, die
andere Hälfte freiwillig aufzugeben. Er hält daher an Allem
feſt, was ihm die vergangene gute Zeit zurückrufen und die
Hoffnung der Wiederkehr einer glücklichen Epoche nähern
kann." Während das flache Land ſich nur durch wenige rein
ſtaatliche Einrichtungen von den deutſchen Landen am rechten
Rheinufer unterſchied, machte ſich auch in Straßburg ſelbſt
das fremde Weſen nur durch eifrige Pflege der franzöſiſchen
Sprache und einen gewiſſen Schliff der Sitten fühlbar. Rein
franzöſiſch waren nur die Beamtenkreiſe, aber dieſe ſtanden
zur Bevölkerung in nicht viel intimerer Beziehung, als etwa
in unſeren Tagen die deutſchen Verwalter der Reichslande.
Die heilige römiſch-deutſche Reichsruine konnte freilich nicht
zur Sehnſucht verlocken, aber ebenſo wenig befriedigte die Re-
gierung Ludwig XVI. "die ſich in lauter geſetzloſen Miß-
bräuchen verwirrte und ihre Energie nur am falſchen Orte
ſehen ließ." Blickte der Elſäſſer nach Paris, ſo ſah er nur
das wüſte Treiben entnervter Höflinge, dem ein ſchwacher
König vergeblich zu ſteuern ſuchte, blickte er nach Deutſchland,
ſo leuchtete ihm von dort "Friedrich, der Polarſtern, her, um den
ſich Deutſchland, Europa, ja die Welt zu drehen ſchien". Es lebte
freilich kein national agreſſiver, aber immerhin ein erhaltender,
vertheidigender Geiſt in Bürgerſchaft und Hochſchule der
alten Stadt, und ſo ſetzten ſie allen katholiſch-franzöſiſchen
Angriffen ruhigen, gemeſſenen, aber vielleicht eben darum er-
folgreichen Widerſtand entgegen. Die "Universitas Argento-
ratensis" ſtand im Vollbeſitze ihrer Privilegien, in allem
[XXXIX] Weſentlichen ſo unabhängig, wie ſie am 1. Mai 1587 von
der Stadt auf eigene Koſten gegründet worden. Aus dem-
ſelben Jahre, da Goethe immatriculirt worden, liegt ein
Memorandum des akademiſchen Convents vor, welches ſtolz
betont "daß gedachte Universitas ſowohl in Anſehung ihrer
eigenen Verfaſſung, als auch ſonderlich in Abſicht auf andere
berühmte Univerſitäten in Deutſchland als eine deutſche und
proteſtantiſche muß angeſehen werden, weßwegen ſie denn
auch mit den franzöſiſchen Univerſitäten in keiner Gemein-
ſchaft oder Confraternität ſteht". Geiſt und Sprache des
Unterrichts waren durchaus deutſch, daher auch von franzö-
ſiſchen Unterthanen nur Elſäſſer da ſtudirten, während das
Hauptcontingent der Studentenſchaft aus Deutſchland kam,
angezogen durch die berühmten Lehrer Koch, Böcklin, Oberlin,
Schöpflin, Lobſtein u. m. A. Auch das ſtudentiſche Leben
zeigte keine Spur franzöſiſchen Anſtrichs und die "allerliebſte,
hoffnungsvolle, academiſche Plebs," wie Goethe ſeine Com-
militonen nennt, vergnügte ſich hier nicht anders, als in
Heidelberg oder Göttingen.
Kaum zwei Menſchenalter ſpäter kam Büchner zu gleichem
Zwecke nach Straßburg, aber er fand eine franzöſiſche Stadt
und eine franzöſiſche Hochſchule. Nur das Münſter und die
altdeutſchen Giebelhäuſer waren dieſelben geblieben, wie in
Goethe's Tagen — Sprache, Ueberzeugung und Lebensfüh-
rung der Menſchen hatten ſich unerhört gewandelt. Selten
berichtet die Culturgeſchichte von ſo gründlicher Veränderung
binnen relativ kurzer Friſt. Was dem abſoluten König-
thum binnen einem Jahrhundert nicht gelungen, hatte die
Revolution in einigen Jahren vollbracht: Die Elſäſſer waren
Franzoſen geworden und, wie alle Renegaten, fanatiſch und
[XL] übereifrig im Cult der neuen Götter. Noch 1790 kämpfte
der Gemeinderath von Straßburg mit allemanniſcher Zähigkeit
um Aufrechterhaltung ſeines deutſch-proteſtantiſchen Charakters,
1794 beſchloß dieſelbe Corporation, "die Hyder des Deutſch-
thums zu erſticken" — wie groß mußte die Gluthhitze der
Revolution geweſen ſein, daß ſie dies ſpröde Volksthum ſo
raſch völlig einzuſchmelzen vermocht! Gegen die Univerſität,
das vornehmſte Bollwerk deutſchen Geiſtes, richteten ſich
natürlich auch die wüthigſten Angriffe, denen ſie bald, de
facto ſchon 1794, erlag. Die Hörſäle wurden geſchloſſen,
die Profeſſoren als Ariſtokraten und Verräther in den Kerker
geworfen. Einige Jahre hindurch gab es keine höhere Lehr-
anſtalt in Straßburg; der Jakobinismus konnte nur zer-
ſtören, nicht aufbauen. Erſt Napoleon gab der Stadt ein
"Séminaire protestant" wieder, an welchem zumeiſt Lehrer
der früheren Hochſchule, nun aber natürlich in franzöſiſcher
Sprache, wirkten, ferner eine mediciniſch-chirurgiſche Fachſchule,
dann eine Rechtsſchule, bis er dieſelben 1808 unter Hinzu-
fügung einer "Faculté des lettres" zu einer "Académie" zu-
ſammenfaßte. Vor jedem Verkehre mit deutſchen Hochſchulen
ängſtlich gehütet, ward dieſe Anſtalt ein Glied der "Uni-
versité", des rieſigen Verwaltungskörpers für den höheren Unter-
richt, welcher vom Centrum aus gelenkt wurde. Aus Paris
wurden die Lehrer entſendet, in Paris wurden Geiſt und
Organiſation des Unterrichts feſtgeſtellt. In dieſem Syſtem
der Centraliſation, in dieſer Niederhaltung aller Individualität,
welche ja auch für wiſſenſchaftliche Strebungen der belebende
Hauch iſt, liegt der Grund, warum die Straßburger Aka-
demie weder zur Zeit, da Georg Büchner ihre Hörſäle betrat,
noch ſpäter bis zu ihrem Ende (1870) Hervorragendes leiſtete.
[XLI] Durch ihre geographiſche Lage an der Grenze zweier großen
nationalen Culturen hätte ſie als Mittlerin, bei aller Wah-
rung des franzöſiſchen Staatsgedankens, eine herrliche Miſſion
erfüllen und mehr leiſten können, als ihre Schweſtern. Aber
in Wahrheit leiſtete ſie nicht einmal ebenſoviel, ſondern
weniger. Das haben keineswegs ihre Lehrer verſchuldet,
ſondern eben die Thatſache, daß ſie franzöſiſches Weſen,
franzöſiſchen Geiſt, franzöſiſche Methode in einem Lande
vertrat, deſſen Bewohner trotzdem und alledem und ſehr
gegen ihren eigenen Willen — Deutſche waren. Nationale
Wiſſenſchaft, das iſt eben kein leerer Wahn, wie auch kosmo-
politiſche Windbeutelei dagegen eifern mag. Wenn jene Wiſſen-
ſchaften, in denen der deutſche Geiſt ſein Höchſtes geleiſtet —
Philoſophie und Geſchichte — in Straßburg faſt gar nicht,
andere, wie die Rechtswiſſenſchaften, in nüchtern-praktiſcher
Weiſe getrieben wurden, ſo konnte dies die elſäſſiſche Stu-
dentenſchaft nicht befriedigen und zur Entwickelung ihrer
geiſtigen Eigenart anregen, eben weil dieſe jungen Leute, trotz
ihrer tadelloſen franzöſiſchen Geſinnung und ihrer nicht
immer tadelloſen franzöſiſchen Converſation, gründliche, grü-
belnde Allemanen blieben. Was in Toulouſe oder Caën
naturgemäß war, war in Straßburg naturwidrig und darum
unwahr. Dieſes Urtheil muß nicht blos von der Hochſchule
gelten, ſondern von dem geſammten politiſchen und ſozialen
Leben des Elſaß, wie es ſich damals dem jungen, ſcharf-
blickenden Studenten vor die Augen ſtellte. Es war ſicherlich
der ernſte Wille der Elſäſſer, nicht blos als Franzoſen zu
gelten, ſondern es zu ſein, dafür hatten der Gluthhauch der
Revolution, der Rauſch der napoleoniſchen Gloire und die
Erbärmlichkeit der deutſchen Zuſtände in gleicher Weiſe ge-
[XLII] ſorgt. Aber das Selbſtbeſtimmungsrecht hat in Sachen der
Nationalität enggeſteckte Grenzen, und ſo wenig die Elſäſſer
ihr blondes Haar und ihre blauen Augen umfärben oder
verbergen konnten, ebenſowenig vermochten ſie ihre angeerbte
Eigenart umzumodeln. Dieſer Gegenſatz zwiſchen Wollen
und Können, zwiſchen nationalem Schein und Sein offenbarte
ſich allüberall — im Kleinen und Kleinlichen, wenn die guten
Straßburger ſich ihres heimeligen "Dütſch", das ihnen ſo
bequem von den Lippen floß, ängſtlich enthielten und lieber
im Schweiße ihres Angeſichts ſonderbare Naſallaute zu
Stande brachten, weil ſie dies für echten Pariſer Accent
hielten, aber auch im Großen und Ernſten, wenn die Be-
wohner der Departements Ober- und Niederrhein gegen
Deutſchland viel franzöſiſcher dachten, als die Franzoſen,
wenn jede politiſche Bewegung, zu der Paris das Signal
gab, nirgendwo raſcheren Widerhall fand, als an den Ufern
der Ill!
Das war die allgemeine Strömung, und Ausnahmen
können auch hier nur die Regel beſtätigen. Aber an ſolchen
Ausnahmen hat es im Elſaß nie gefehlt; und mochten die
Wogen des Chauvinismus noch ſo hoch gehen, es gab doch
immer kleine, eng verbundene Kreiſe, welche deutſche Art,
Sprache und Sitte hochhielten. Das waren durchweg Prote-
ſtanten — Lehrer und Pfarrer, Dichter und Gelehrte — und
wenn auch nicht zumeiſt, ſo war es doch zunächſt ihr Glaube,
welcher ſie in Gegenſatz zum franzöſiſchen Katholikenthum
brachte und zur Treue für ihr eigenes Volksthum entflammte.
Sie enthielten ſich jedes Angriffs auf die herrſchende Rich-
tung, ſie wagten es kaum, von einer Vereinigung ihrer
Heimath mit dem Mutterlande zu träumen, geſchweige denn
[LXIII[XLIII]] hiefür zu agitiren, ſie concentrirten ihre Kraft ſtill und ge-
räuſchlos darauf, zu erhalten, was noch an Reſten ihres
Volksthums lebte. Die Gelehrten ſtellten die Geſchichte, die
Dichter die Sage des Elſaß in deutſcher Sprache dar, die
Lehrer und Pfarrer erhielten ihre Pflegebefohlenen bei Glauben
und Sprache der Väter — das war Alles. Aber ſchon
dies galt als Hochverrath, und die deutſchen Männer des
Elſaß haben ſtets nur unter giftiger Anfeindung, unter per-
ſönlicher Gefahr die Pflicht gegen ihr Volksthum erfüllen
können. Daß ſie gleichwohl nicht davon ließen, gereicht ihnen
zu hohen Ehren und verdient allzeit unvergeſſen zu bleiben.
Ohne jenes religiöſe Moment wären ſie übrigens trotz ihrer
Tapferkeit ſicherlich unterlegen, ſo aber hatte die deutſche
Bewegung in dem 1802 gegründeten "Séminaire protestant"
einen Brennpunkt, in dem ſich alles Licht derſelben ſammeln,
von dem es wieder ausſtrahlen konnte. Wie dieſe Anſtalt
durch die Uebernahme der Lehrer der früheren deutſchen Hoch-
ſchule äußerlich deren Erbin war, ſo war ſie es auch geiſtig,
trotz der franzöſiſchen Unterrichtsſprache, und in ihren Lehrern
und Studenten lebte ſtets, bei aller durch die Verhältniſſe
gebotenen Zurückhaltung, ein mannhafter deutſcher Geiſt.
Ein günſtiger Zufall fügte es, daß Georg Büchner
ſofort nach ſeiner Ankunft in dieſe Kreiſe gerieth. Der Ver-
wandte, an den er zunächſt gewieſen war, ein Couſin ſeiner
Mutter, war ſelbſt Profeſſor an jenem Seminar: Eduard
Reuß, der bekannte Orientaliſt. Kammerrath Reuß,
Georgs Großvater und der Vater des Profeſſors, waren
Brüder geweſen; auch dieſer Großonkel Georgs lebte noch
in Straßburg, eine jüngere Schweſter Carolinens war in
ſeinem Hauſe erzogen worden, die Verbindung zwiſchen den
[XLIV] beiden Familien war ſtets eine herzliche und innige geweſen,
und ſo wurde auch der junge Vetter mit offenen Armen
aufgenommen. Hier fand er, in der fremden Stadt und
auf franzöſiſchem Boden, deutſche Art und deutſche Herz-
lichkeit und fühlte ſich in dieſem liebenswürdigen Hauſe bald
ſo wohl, als wäre er darin aufgewachſen. Ebenſo heimiſch
ward er auch in jener Familie, bei welcher er ſich auf Em-
pfehlung ſeiner Verwandten in Koſt und Wohnung begeben,
der Familie des proteſtantiſchen Pfarrers Jaeglé. Er war
mit dieſem Manne nicht verwandt, es iſt dies ein Irrthum,
der aus dem Nekrolog (S. 432) vielfach wiederholt worden,
— aber es mochte ihm auch ohne dies bei ihm behagen,
denn der ehrwürdige Herr hielt, ohne ſein Deutſchthum de-
monſtrativ hervorzukehren, an den alten Traditionen feſt,
und durch das ſchlichte, ernſte Hausweſen ging der erwär-
mende Hauch ſchwäbiſcher Gemüthlichkeit. Es wurde viel
franzöſiſch geſprochen, aber die gewöhnliche Umgangsſprache
war die deutſche, und das holde Haustöchterchen, Louiſe
Wilhelmine, oder, wie ſie kurzweg genannt wurde, Minna
ſprach und ſchrieb beide Sprachen gleich gut, damals eine
Seltenheit unter den Damen Straßburgs. Noch ehe dieſes
Mädchen dem jungen Studenten der edelſte Schmuck ſeines
Lebens wurde, verlebte er ſchöne Stunden in dieſem Familien-
kreiſe, ſo wie in dem ihm eingeräumten Stübchen "Rue St.
Guillaume, Nr. 66, links eine Treppe hoch, ein etwas
überzwerges Zimmer mit grüner Tapete" wie er es, fünf
Jahre ſpäter im letzten Briefe vor ſeinem Tode (S. 380),
ſich und der Geliebten in wehmüthige Erinnerung zurückruft.
Nicht minder angenehm geſtaltete ſich ſein ſonſtiger Freundes-
und Bekanntenkreis. Er war durch Reuß und Jaeglé mit
[XLV] einigen Studenten der Theologie in Verkehr getreten und
hatte ſich gern an ſie angeſchloſſen, weil ſie ihm durch ihre
nationale Geſinnung und den Ernſt ihres Bildungsſtrebens
ſympathiſcher waren, als ſeine völlig verwelſchten Collegen
von der mediziniſchen Facultät. Und weil von dieſem ge-
nialen, liebenswürdigen Jüngling ein Zauber ausging, der
alle Herzen zwang, hier und in der Folge, wohin er ſich
gewendet, weil es einzig an ihm lag, ob er einen Bekannten
zu ſeinem Freunde machen wollte oder nicht, ſo war er hier
bald von einem Jünglingskreiſe umgeben, der mit zärtlicher
Zuneigung an ihm hing, und deſſen Richtung er Kraft ſeiner
überlegenen Natur vielfach beſtimmte. Von dieſen Freunden
ſeien Baum, Böckel, Follenius, namentlich aber die
Brüder Stöber ſchon hier erwähnt. Aber auch in allen
übrigen Dingen konnte es ihm in Straßburg trefflich be-
hagen: ſeiner Wiſſenſchaft war er ein eifriger und freudiger
Jünger, und ſah ſich durch ungewöhnliche Fortſchritte und
die Anerkennung ſeiner Lehrer für ſeine Bemühungen reichlich
belohnt, ſeine allgemeine Bildung erweiterte und feſtigte ſich;
ſeine ſchwärmeriſche Liebe zur Natur fand in der herrlichen
Landſchaft zwiſchen Rhein und Vogeſen neue und ſchönere
Gegenſtände reiner Entzückung, als ihr bisher gegönnt ge-
weſen; das altehrwürdige Münſter, die merkwürdige Stadt
intereſſirte ihn nachhaltig, und das geräuſchvolle, muntere
halbfranzöſiſche Weſen und Treiben wirkte auf ihn, der aus
dem ſtillen, langweiligen Darmſtadt kam, in den erſten
Wochen berauſchend, aber auch in der Folge anregend. Und
zu all' dem ward ja ſeinem Herzen hier das echteſte Glück,
welches die Erde bieten kann! ... Wir haben aus dieſem
Abſchnitt ſeines Lebens von keinem jähen Umſchwung ſeines
[XLVI] Innern zu berichten, ſeine Gaben reiften langſam im Sonnen-
ſchein des Glücks. Es ſei geſtattet, dies in den Hauptzügen
nachzuweiſen.
Von ſeinen Fachſtudien iſt, wie erwähnt, nur Gutes
zu berichten. Wohl litt auch die mediziniſche Facultät der
Straßburger Academie unter jenen ſchädigenden Einflüſſen,
deren oben gedacht iſt, aber ſie wurde naturgemäß weniger
hievon betroffen, als die anderen Facultäten. Denn in jenen
Zweigen der Naturforſchung bei welchen manuelle Fertigkeit,
mit Scharfſinn gepaart, den Ausſchlag gibt, alſo namentlich
in der Phyſik und Chemie, haben die Franzoſen ſtets das
Höchſte geleiſtet, wie ſie denn auch vielleicht jetzt noch die
trefflichſten Chirurgen ſind. Hiezu kam hier der ſpezielle
Umſtand, daß dieſe Facultät die beſt frequentirte war —
ſie umfaßte ſtets etwa drei Viertheile der Studentenſchaft —
und daher auch von der Regierung beſonders gepflegt wurde.
Indeß fanden ſich zu jener Zeit auch unter den Profeſſoren
dieſer bevorzugten Facultät nur zwei wirklich bedeutende
Männer: Lauth und Duvernoy. Der erſtere trug Ana-
tomie, der letztere Zoologie vor, und ſo fügte es ſich glücklich,
daß Büchner gerade die beiden Fächer trefflich vertreten
fand, die er ſich namentlich erwählt und mit beſonderem
Eifer betrieb, obwohl er auch die übrigen vorgeſchriebenen
Collegien über Chemie, Phyſik, Phyſilogie, Materia medica
u. ſ. w. fleißig frequentirte. Beide Lehrer wurden früh auf
den ſtrebſamen Jüngling aufmerkſam und erwieſen ihm be-
ſondere Bevorzugung, beide haben auf ſeine wiſſenſchaftliche
Richtung Einfluß genommen. Duvernoy, ein ſcharfer, kritiſcher
Kopf war Empiriker und verhielt ſich ablehnend gegen die
naturphiloſophiſche Richtung, während Thomas Lauth dieſer
[XLVII] durch Schelling und Oken hervorgerufenen und damals in
Deutſchland faſt allgemein herrſchenden Strömung zuneigte.
Der letztere war übrigens nicht blos der ältere, ſondern auch
der weitaus berühmtere von beiden, der "Stolz des gelehrten
Elſaß", welcher damals bereits ſeit vier Jahrzehnten, zuerſt
an der deutſchen Hochſchule, dann am "Séminare protestant",
wo er "Fundamenta Anthropologiae" vortrug, endlich ſeit
Gründung der Académie an dieſer als Forſcher und als
Lehrer gleich erfolgreich wirkte. Wir werden ſpäter, wie an-
gedeutet, bei Erwähnung von Büchners eigener wiſſenſchaft-
licher Thätigkeit, auf dieſe divergirenden Richtungen ſeiner
Lehrer zurückdeuten müſſen Als das erſte Reſultat ſeiner
zweijährigen Straßburger Studien iſt jedoch ſchon hier zu
verzeichnen, daß er ſich von den Naturwiſſenſchaften immer
mehr angezogen, von Allem jedoch, was ſich auf praktiſche
Heilkunde bezog, immer mehr abgeſtoßen fühlte.
Neben dieſen Fachſtudien widmete er ſich modernen
Sprachen, beſonders dem Italiäniſchen, welches er hier voll-
ſtändig erlernte. Auch las er eifrig, namentlich Volkslieder
und die Werke von Tieck und Brentano, von den Franzoſen
Victor Hugo und Alfred de Muſſet. So wenig die franzö-
ſiſche Literatur auf den jungen Goethe in Straßburg wirken
konnte, weil ſie "alt und vornehm" geworden, ſo tief mußte
ſie Büchner ergreifen, da ſie ſich ja eben in brauſendem
Jugendmuthe neu geboren. Seine aeſthetiſchen Anſichten
feſtigten ſich; was er las, beſtärkte ihn in der Abneigung
gegen alles Rhetoriſche, immer bewußter erfaßte er das
Kunſtprinzip des Realismus. Darum konnte ihn auch
das poetiſche Schaffen ſeiner beiden liebſten Commilitonen
nur theilweiſe befriedigen. Es waren dies die Brüder
[XLVIII]Auguſt und Adolf Stöber, erſterer 1808, letzterer 1810
zu Straßburg geboren, welche damals eben an der Academie
ihrer Vaterſtadt ihre theologiſchen und philoſophiſchen Stu-
dien beendeten. Beide ſind in der Folge zu ſo klangvollen
Namen gekommen, daß ihre Dichtweiſe hier als bekannt
vorausgeſetzt werden kann. Büchner nun ging mit ihnen
ſo weit, als etwa in der Folge mit den Romantikern; er
fand den Volkston und die Pflege nationaler Stoffe löblich,
aber er war, wie er ſpäter ſelbſt über dieſe Gedichte an
Gutzkow ſchrieb, "kein Verehrer der Manier à la Schwab und
Uhland und der Partei, die immer rückwärts in's Mittel-
alter greift, weil ſie in der Gegenwart keinen Platz aus-
füllen kann." (S. 387.) Wenn er dieſen Sagen gleichwohl
ſchon bei ihrer Entſtehung ſeine freudige Theilnahme wid-
mete, ſo geſchah dies neben der Freundſchaft für die Ver-
faſſer aus deutſchem Patriotismus. "Es wäre traurig", dachte
er ſchon damals, "wenn das Münſter ganz auf fremdem
Boden ſtände!"
Dies leitet uns zu den politiſchen Anſichten, die Büchner
in Straßburg gewonnen. Sie verdienen nähere Beleuchtung,
weil ſie ſein geſammtes weiteres Wirken als Menſch, wie
als Dichter beſtimmt und gelenkt haben, weil ſie ferner an
ſich pſychologiſch merkwürdig ſind. Denn hier begegnete
uns eine Conſequenz der Ueberzeugung und eine Klarheit
der Anſchauung, wie ſie in ſo jungen Jahren faſt unerhört
ſind. Und doppelt wunderbar müſſen ſie uns in jenen
Tagen erſcheinen, da tolle Schwärmerei in der Luft lag,
dick wie Novembernebel.
Man weiß, daß der achtzehnjährige Jüngling, ehe er nach
Straßburg kam, tiefer und nachhaltiger, als dies in ſolchem
[XLIX] Alter üblich, für Revolution und Republik ſchwärmte. Es
war naturgemäß, daß ſich dieſe Schwärmerei allmählig zu
zielbewußter, radikaler Ueberzeugung zuſpitzen mußte, ſofern
nur äußere Einflüſſe und Erfahrungen nicht gerade in ent-
gegengeſetztem Sinne wirkten. Hier aber wirkten ſie in
gleichem Sinn und mit größter Intenſität. Seit dem
28. Juli 1830 lag der Radicalismus dies- und jenſeits des
Rheins in der Luft; er ergriff die reifſten, nüchternſten
Menſchen. Und nun vollends in Straßburg! Das Elſaß
hatte unter allen Provinzen zuerſt die Tricolore entfaltet
und war dann im Umſturz weiter gegangen, als Paris, ſo
daß die Regierung Ludwig Philipps in den erſten Monaten
harte Mühe hatte, die Ordnung im Oſten zu erhalten.
Auch in der Folge fand jedes Schlagwort der republikaniſchen
Oppoſition zunächſt in den Rhein-Departements begeiſterten
Widerhall. Hier rief man am lauteſten nach Frankreichs
"natürlichen Grenzen", hier ward das Juste milieu am
heftigſten verhöhnt und angegriffen, hier begeiſterte man ſich
am eifrigſten für den Aufſtand der Polen, hier artete end-
lich im Juli 1831 der Widerſtand gegen das gemäßigte
Cabinet Périer in offenen Aufruhr aus, der nicht ohne
Blutvergießen erſtickt werden konnte. Das begab ſich wenige
Monate vor Büchner's Ankunft; er fand die Gemüther noch
von heftigſter Bewegung durchzittert, und was ſich während
ſeines Aufenthalts begab, war wahrlich nicht geeignet, ſie
zur Ruhe zu bringen. Von Außen her führten der Aufſtand
der Belgier, der Verzweiflungskampf der Polen, die Putſche
in Deutſchland jener Aufregung ſtets neue Nahrung zu,
welche ſich ſchon ohnehin durch die Ereigniſſe im Innern zu
beſtändigem Fieber geſteigert hatte. Die Monarchie krachte
G. Büchners Werke. d
[L] in allen Fugen; der Aufſtand der Herzogin von Berry, der
Barricadenkampf beim Begräbniſſe Lamarques, der grimmige
Kampf in den Kammern waren nur die äußeren Symptome
eines gewaltigen Prozeſſes, der den Staat im Kern unter-
wühlte, deſſen Ende Niemand abſah. Hiezu kam noch das
Auftreten jener fürchterlichen, bisher unbekannten Seuche:
der Cholera, welche die Menſchen mit Verzweiflung erfüllte
und ihre gemeinen Triebe entfeſſelte. Wer damals in Frank-
reich verweilte, erlebte keinen Tag, der für den nächſten völlige
Sicherheit verbürgt hätte — es ſchien Unerwartetes in der
Luft zu liegen, Unerhörtes: die ſoziale Revolution und ein
Weltkrieg dazu. Es war eine Zeit, die kein Abſeitſtehen
duldete; ſie zwang mit elementarer Gewalt die Parteinahme
auf. Daß der achtzehnjährige Schwärmer in dieſer Atmo-
ſphäre ein Republikaner, ein Radikaler wurde, werden mußte,
iſt klar. Und wer den Zug der Zeit und einen Hauptzug
im Charakter dieſes Jünglings, den kühnen Trotz, in Betracht
zieht, wird auch darüber nicht verwundert ſein, daß er immer
weiter nach links gerieth, bis zur Verwerfung nicht blos der
Monarchie, nicht blos des Conſtitutionalismus, ſondern auch
der gemäßigten Republik, bis zur Verwerfung nicht blos
der Geldherrſchaft, ſondern auch der beſtehenden bürgerlichen
Beſitzverhältniſſe. Aber merkwürdig und ſtaunenswerth iſt
es, daß ihn auf dieſem Wege, auf welchem ſonſt ſogar an
ſich nüchterne Naturen von Schwärmerei und Phraſendunſt
befallen zu werden pflegen, alle Schwärmerei verließ, daß er
ſich an jenem Punkte, wo ſonſt ſogar für gereifte Männer
ſeiner Partei das Reich ſchwankender Hoffnungen und phan-
taſtiſcher Träume begann, zu nüchterner Klarheit empor-
kämpfte, zur Abkehr von allen abgebrauchten Schlagworten,
[LI] zu neuen, ſchöpferiſchen, ſcharf geprägten Gedanken. An den
Jüngling mahnt nur noch die rückhaltloſe Hingebung an die
Sache, im Uebrigen erſcheint der neunzehnjährige Politiker
nicht blos männlich gereift, ſondern zudem als ein Mann,
der ſeinen meiſten Zeitgenoſſen an richtiger Erkenntniß der
Verhältniſſe, an Conſequenz der Anſichten überlegen iſt. Das
iſt keine liebevolle Uebertreibung, ſondern nur eben das
Richtige! Man urtheile ſelbſt. Es iſt bekannt, wie in
jenen Tagen das deutſche Nationalgefühl von dem Freiheits-
gefühl überwuchert war, wie die Idee eines ſchrankenloſen
Kosmopolitismus gerade die beſten Köpfe erfüllte, wie es
in Süddeutſchland nicht wenige Liberale gab, denen der An-
ſchluß an eine franzöſiſche Republik als der einzig mögliche
Ausweg aus allen Nöthen der Kleinſtaaterei erſchien. Und
Georg Büchner, der Student einer franzöſiſchen Academie,
der Sohn eines franzöſiſch geſinnten Vaters? Er blieb
ein Deutſcher, der nur deutſche Politik treiben wollte, der
neben der Freiheit auch die Macht und Einheit ſeines Volkes
erſehnte, der, ſelbſt von geſundem, nationalem Egoismus er-
füllt, allem Kosmopolitismus mit ſchneidiger Ironie begeg-
nete! Man weiß, wie oft jene Zeit den Schein für das
Sein nahm, wie ſie ſich an Phraſen berauſchte, an Cocarden
entzückte, an bunten Aufzügen erfreute, wie ernſte Menſchen
einen kindlich-naiven Zug zum Aeußerlichen offenbarten.
Dieſer feurige Jüngling aber iſt ſolchem Schaugepränge ſtets
abgewendet geblieben, und wenn er ihm Beachtung ſchenkte,
ſo war es ein Wort verdammender Satyre. Aber nun das
Wichtigſte! Man weiß, welche trübe Gährung damals Kopf
und Herz der deutſchen Liberalen erfüllte, wie ſie von einem
Aufſtande des deutſchen Volkes träumten, ohne die Maſſe
d *
[LII] dieſes Volkes zu kennen, wie ſie ſich an theoretiſchen Er-
örterungen über den Begriff der Menſchenrechte abmühten,
ohne die nächſten praktiſchen Erforderniſſe zu beachten, wie
ſie einerſeits in allzugroßer Zaghaftigkeit nicht einmal die
ſchwachen Waffen, welche ihnen ihre Verfaſſungen gewährten,
recht ausnützten, andrerſeits, fünfzig Köpfe ſtark, den deutſchen
Bund mit den Waffen in der Hand ſprengen wollten. Georg
Büchner aber iſt von dieſen Irrthümern frei, gänzlich frei
geblieben; er begriff, was im Rückblick auf jene Zeit ſelbſt-
verſtändlich erſcheint und damals den Beſten verhüllt blieb:
daß die Freiheits- und Einheitsfrage in Deutſchland ſchlicht-
weg eine Machtfrage ſei, daß eine Bewegung, wenn ſie er-
folgreich ſein ſolle, nicht von den Gebildeten allein ausgehen
dürfe, ſondern von der Maſſe, daß alſo dieſe zunächſt ge-
wonnen werden müſſe, und daß letzteres nur geſchehen könne,
indem man nicht die Preßfreiheit, ſondern die "große Magen-
frage" in den Vordergrund ſtelle! ... Muß man auch
bezüglich der nationalen Geſinnung Büchners an den Ein-
fluß ſeiner nächſten Umgebung in Straßburg, bezüglich ſeiner
Klarheit über die deutſchen Verhältniſſe an die Thatſache er-
innern, daß er ſie ja objectiv aus der Ferne beurtheilen und
mit den Zuſtänden eines Volkes vergleichen konnte, welches
eben eine Revolution vollbracht, ſo wird doch immerhin ſolche
Schärfe und Conſequenz merkwürdig erſcheinen und man
wird zu ihrer Erklärung nur eben auf ſeine mächtigen Geiſtes-
gaben, auf ſeine geniale Anlage hinweiſen können.
Dieſe Darſtellung ſtützt ſich auf Geſtändniſſe, welche
ſpäter "Mitſchuldige" Büchner's vor mehr als einem Menſchen-
alter dem Unterſuchungsrichter über ihre und ihres Führers
politiſche Entwickelung gemacht. Für ihre Richtigkeit jedoch
[LIII] ſpricht Büchner ſelbſt in den Briefen, welche er 1831-33
aus Straßburg an ſeine Familie gerichtet. Sie finden ſich
in dieſer Ausgabe, ſo weit ſie erhalten ſind (S. 389), voll-
inhaltlich abgedruckt (S. 325-334); und wir können uns
daher darauf beſchränken, hier nur einige beſonders markante
Züge hervorzuheben. Er erzählt den Eltern von dem feſt-
lichen Empfange, welchen die Studentenſchaft dem flüchtigen
polniſchen General Romarino bereitete. Er hat ſelbſt bei
dieſer ſtürmiſchen Demonſtration mitgethan, welche nicht ohne
Conflict mit dem Militär durchzuſetzen war und einem Prin-
cipe galt, für das er warme Sympathien hat. Aber in
welchem Tone berichtet er darüber? So kühl und ironiſch,
als wäre es ein toller Faſchingsſtreich geweſen: "man ruft
Vivat! und die Comödie iſt fertig!" (S. 326) Iſt das
etwa Blaſirtheit? Keineswegs — aber eine nutzloſe Demon-
ſtration iſt in ſeinen Augen eben nur eine "Comödie!" Wie
anders die wenigen Zeilen des nächſten Briefes, tiefer Grimm,
patriotiſcher Schmerz und feſte Entſchloſſenheit ſprechen da-
raus. Hier handelt es ſich eben um die Sache der Freiheit
und — "es kann Alles gewonnen, Alles verloren werden".
Man muß ſich die politiſche Situation vergegenwärtigen, um
den Ton des Briefes zu verſtehen: Rußland hat Polen be-
ſiegt und ſteht nun mächtig und drohend aufgerichtet, um die
Flammen, welche die Julitage des Vorjahrs entzündet, auch
im übrigen Europa zu erſticken. "Wenn die Ruſſen über
die Oder gehen, dann nehme ich den Schießprügel und ſollte
ich's in Frankreich thun!" Wie ernſt es dem Jüngling um
dieſen Vorſatz iſt, beweiſt die Thatſache, daß er den Muth
findet, ihn dem Vater mitzutheilen: dem harten, reactionär
geſinnten Manne. Die Gefahr geht vorbei, aber der Sturm
[LIV] im Innern währt fort, der Kampf der Republikaner gegen
Périer. Wie leidenſchaftlich Büchner davon bewegt wird,
beweiſt die unverzeihliche Brutalität ſeiner Mittheilung, "daß
Périer die Cholera hatte, die Cholera aber leider nicht ihn".
Eben derſelbe Brief jedoch, in welchem ſich der republikaniſche
Fanatismus bis zur Rohheit verſteigt, enthält auch einen
ſcharfen Hieb auf die "republikaniſchen Zierbengel", die mit
rothen Hüten herumlaufen. Nichts kann Büchner's An-
ſichten in jenen Tagen ſchärfer charakteriſiren, als die vier
Zeilen jenes dritten Briefes aus Straßburg (S. 326). Be-
kanntlich erlag der geniale Caſimir Périer, am 16. Mai
1832, dennoch derſelben Seuche, der populäre Marſchall
Soult trat an ſeine Stelle und wußte durch imponirendes
Auftreten nach Außen die inneren Stürme zu ſänftigen, aber
auch da bleibt Büchner bei ſeinem Lieblingswort: ... "doch
nur eine Comödie! Der König und die Kammern regieren,
und das Volk bezahlt!" Von hohem biographiſchem Werthe
iſt der Brief vom 5. April 1833 (S. 328), welcher ſich
mit dem Frankfurter Attentat vom 3. April beſchäftigt. Wir
werden ſpäter auf dieſen in der Idee hochherzigen, in der
Ausführung knabenhaften Aufruhr zurückkommen, weil er
für die politiſchen Verhältniſſe, die Büchner bei ſeiner Heim-
kehr vorfand, von Wichtigkeit war. Hier aber haben wir
uns an der Hand dieſes Briefes über die Richtigkeit zweier
entgegengeſetzten Behauptungen auszuſprechen, welche bisher
über Büchners Beziehung zu den Frankfurter Ereigniſſen
aufgeſtellt worden.
Er habe, meinen die Einen, um den Aufruhr gewußt,
ſei in alle Vorbereitungen eingeweiht geweſen, habe in Frank-
furt ſelbſt thätigen Antheil genommen und ſei nur zufällig
[LV] der Verhaftung entronnen und nach Straßburg zurückgekehrt.
Dieſer Anſicht iſt auch noch nach ſeinem Tode das groß-
herzoglich-heſſiſche Unterſuchungsgericht geweſen. Dem wider-
ſpricht nur Dr. Ludwig Büchner (N-S. S. 3) in allen Stücken:
ſein Bruder habe den Vorfall überhaupt erſt durch Briefe
vom Hauſe erfahren. Ich meinerſeits bin der Ueberzeugung,
daß hier die Wahrheit in der Mitte liegt — Georg Büchner
hat um den Plan gewußt, aber keinen Antheil an deſſen
Ausführung genommen. Wenn man erwägt, daß ſich unter
den Verſchworenen Gießener Studenten und ehemalige Mit-
ſchüler Büchners befanden, daß notoriſch unter den Studenten
und Flüchtlingen in Straßburg ganz beſonders eifrig geworben
wurde, daß endlich Büchner's Geſinnungen noch vom Gym-
naſium her den Freunden bekannt waren, ſo wird man es
zum Mindeſten höchſt unwahrſcheinlich finden, daß gerade an
ihn kein Werber herangetreten, kein Werbebrief gelangt. Dr.
Ludwig Büchner war damals ſelbſt erſt neunjährig, er ſtützt
ſich einzig auf jenen oberwähnten Brief, und gerade dieſer
ſcheint mir für meine Anſicht zu ſprechen. Man leſe ihn
und frage ſich, ob es denkbar iſt, daß Jemand über ein
aufregendes, ſeine eigenen Ueberzeugungen nahe berührendes
Ereigniß, nachdem ihm eben die erſte, verblüffende Kunde
davon geworden, ein ſo energiſches, ſcharf geprägtes, ab-
ſchließendes Urtheil abgeben kann?! Neben dieſem Ge-
ſammtton iſt noch eine einzelne Stelle hervorzuheben: Büchner
will ſeine Eltern darüber beruhigen, daß er in keiner Weiſe
betheiligt iſt. Da wäre wohl das Einfachſte, wenn er ſchriebe:
"Ich habe nichts von der Sache gewußt und ſie erſt aus
Eurem Briefe erfahren!" Er aber ſchreibt: "Wenn ich an
dem, was geſchehen, keinen Theil genommen und an dem,
[LVI] was vielleicht geſchieht, keinen Theil nehmen werde, ſo ge-
ſchieht es weder aus Mißbilligung, noch aus Furcht, ſondern
nur weil ich im gegenwärtigem Zeitpunkte jede revolutionäre
Bewegung als eine vergebliche Unternehmung betrachte".
Dieſe Motivirung der Nichtbetheiligung involvirt doch wohl
das Zugeſtändniß der Mitwiſſerſchaft! Auch die Erkundi-
gung nach den Freunden ſpricht nicht dagegen, er will wiſſen,
ob ſie ſich wirklich betheiligt, ob ſie aufgegriffen worden u.
ſ. w. ... Hingegen ſtimme ich mit Dr. Ludwig Büchner
dahin überein, daß Georg in jener verhängnißvollen April-
nacht nicht in Frankfurt war. Selbſt das heſſiſche Gericht
hatte für ſeine Anſicht keinen triftigeren Beweis, als den
ſonderbaren Schluß: wer 1835 ein Hochverräther geweſen,
werde es auch ſchon 1833 geweſen ſein. Niemand hat
Büchner in Frankfurt ſelbſt geſehen oder geſprochen — die
Behauptung baſirt nur auf vagen Gerüchten, deren Hin-
fälligkeit ſich ſchon durch einen äußeren Umſtand beweiſen
läßt: durch Datum und Poſtſtempel jenes Briefes. Büchner
hat ihn am zweiten Tag nach dem Attentat, in Straßburg
aufgegeben. Das wäre denn doch, falls er wirklich in Frank-
furt mitgethan hätte, bei den Verkehrsverhältniſſen jener
Zeit eine märchenhaft raſche Flucht geweſen! Eben ſo
ſchlagend ſprechen innere Gründe dagegen, die politiſchen
Ueberzeugungen Büchners, wie wir ſie oben dargelegt. Auch
der Brief beſtätigt ſie. Wohl meint er: "Wenn in unſerer
Zeit etwas helfen ſoll, ſo iſt es Gewalt. Unſere Land-
ſtände ſind ein Satyre auf die geſunde Vernunft" — wohl
bezeichnet er das "Geſetz" des abſolutiſtiſchen Staates als
"eine ewige, rohe Gewalt, angethan dem Recht und der
geſunden Vernunft", wohl werde er "mit Mund und Hand
[LVII] dagegen kämpfen", aber vorläufig ſei jede Erhebung aus-
ſichtlos. Er theile eben nicht "die Verblendung Derer, welche
in den Deutſchen ein zum Kampf für das Recht bereites
Volk ſehen", das ſei "eine tolle Meinung". Derſelbe herbe
Radicalismus, gepaart mit klarer Erkenntniß der thatſäch-
lichen Verhältniſſe und bitterſtem Hohne gegen die Lächerlich-
keiten der eigenen Geſinnungsgenoſſen, ſpricht auch aus den
folgenden Briefen. An einen Ruf dumpfen Grolls über
die Soldateska (S. 329) ſchließt ſich das ſatyriſche, mit
derbem, aber treffendem Witz ausſtaffirte Portrait eines St.
Simoniſten (S. 330) und die bittere Bemerkung über den
monarchiſch geſinnten Deputirten von Straßburg, Herrn
Saglio: "Es kümmerte ſich Niemand um ihn. Eine banke-
rotte Ehrlichkeit iſt heutzutage etwas zu Gemeines, als daß
ein Volksvertreter, der ſeinen Frack, wie ein Schandpfahl
auf dem Rücken trägt, noch Jemand intereſſiren könnte"
(S. 333). Wohl verſichert er die Eltern wiederholt, (S.
331-32), daß er an keiner Verſammlung theilnehmen und
ſich in die "Gießener Winkelpolitik und die revolutionären
Kinderſtreiche" nicht einlaſſen werde, aber auch den Grund
hiefür bleibt er nicht ſchuldig, und dieſe präciſen Sätze
können als das politiſche Programm ſeiner Straßburger
Jahre gelten: nur das nothwendige Bedürfniß der großen
Maſſen könne Umänderungen herbeiführen, alles Bewegen
und Schreien der Einzelnen ſei vergebliches Thorenwerk.
(S. 331.)
Mitten zwiſchen ſolchen ſcharfen politiſchen Betrachtungen
finden ſich auch friedliche und reizvolle Schilderungen, welche
ein ſo weiches, tiefes Empfinden verrathen, daß man ſie
kaum demſelben Geiſte entſproſſen glaubt. Der grimmige
[LVIII] Radikale geht am Weihnachtsmorgen in das Münſter und
läßt ſich da das tiefſte Herz vom Kirchengeſang erſchüttern,
(S. 337), oder er wandelt mit gleichgeſinnten Freunden
durch das liebliche Elſaß und gibt begeiſterten Bericht über
all' die Schönheit, die er da genießen durfte. (S. 332).
Freilich wird dies nur dem oberflächlichen Blick ein ver-
blüffender Gegenſatz ſein; wer tiefer ſchaut, erkennt leicht,
wie Büchner auch als Politiker ein Gemüthsmenſch iſt, wie
die leidenſchaftliche Parteinahme für die Armen und Ge-
drückten und die innige Schwärmerei für die Natur aus
demſelben weichen, zart empfindenden Herzen kommen. An
jener Reiſebeſchreibung aus den Vogeſen wird es auch zuerſt er-
ſichtlich, wie er nicht blos trefflich zu ſchauen, ſondern auch
trefflich zu ſchildern vermag. "Es war gegen Sonnenunter-
gang, die Alpen wie blaſſes Abendroth über der dunkel ge-
wordenen Erde". Dann der Sonnenaufgang! "Die Sonne
warf einen rothen Schein über die Landſchaft. Ueber den
Schwarzwald und Jura ſchien das Gewölk, wie ein ſchäu-
mender Waſſerfall zu ſtürzen, nur die Alpen ſtanden hell
darüber, wie eine blitzende Milchſtraße." Das ſind Bilder
voll Prägnanz und Schönheit und kündigen bereits jenen
Meiſter in der Schilderung derſelben Landſchaft an, als
welcher ſich Büchner zwei Jahre ſpäter in der Novelle
"Lenz" geoffenbart.
Er machte dieſe Reiſe in Begleitung der Brüder Stöber
(S. 387), dieſelben Freunde waren ſeine Gefährten auf
ähnlichen Touren in den Schwarzwald. Dieſe Ausflüge,
ſowie einen Ferienaufenthalt im elterlichen Hauſe (Auguſt
und September 1832) abgerechnet, lebte er ſtill und zurück-
gezogen in Straßburg. Halbe Tage lange pflegte er auf
[LIX] dem Münſter zu verweilen, neben dem weiten Ausblick zog
ihn auch deſſen Bauart an, welche einen Gegenſtand ſeiner
Lieblingsſtudien bildete. Er pflegte ſtets die 635 Stufen
bis zur Spitze des nördlichen Thurmes, der "Laterne" und
"Krone" emporzuſteigen, und wäre einmal an einem Herbſt-
tage von 1832 beinahe von der ſchwindelnden Höhe herab-
geſtürzt, als er ſich raſch nach einem entfallenen Fernglaſe
bückte — die rettende Hand eines Freundes riß ihn zurück.
Auf dem Münſter, ſowie in den Auen an der Ill brachte
er ſeine Erholungsſtunden zu, von Bällen und Geſellſchaften
hielt er ſich fern.
Das ſtille Glück, welches er zu Hauſe gefunden, mochte
ihm ſolche Enthaltſamkeit leicht machen. Nicht blos von
allem Düſteren, ſondern auch von allem Heiteren, was ihm
zu Straßburg begegnete, hat er gewiſſenhaft den Eltern be-
richtet, nur nicht von dem Liebſten und Heiterſten: ſeinem
Mädchen. Wie Büchner in Straßburg in einzelnen Zügen
an den stud. jur. Goethe erinnert, ſo noch weit mehr Minna
Jaeglé an die Pfarrerstochter von Seſenheim. Freilich iſt
dabei vor Allem der große Unterſchied feſtzuhalten, daß hier
beiderſeits tiefſte Liebe waltete, welche erſt der Tod trennte.
Es iſt uns kein Bild des Mädchens erhalten, welches dies
kampfdurchlohte Leben ſchmückte, wie die Roſe den Sturm-
helm des Gewappneten, kein anderes Bild, als es die Briefe,
welche Büchner ſpäter aus Gießen und Darmſtadt ſchrieb,
bieten. "Doch wer gute Augen hat und er ſchaut in dieſe
Lieder" (denn es ſind Dithyramben in Proſa) der ſieht die
Schöne, wie hold und ſchlicht, wie gut und muthig ſie war,
eine liebliche Miſchung durchgeiſtigten Gemüthes und natür-
lichſter Anmuth. Von äußerem Detail iſt nur zu verzeichnen,
[LX] daß die Beziehung ſich während einer Krankheit Büchners
entſpann und den Eltern verborgen blieb, aber über die
innere Natur des Verhältniſſes geben die Briefe klaren Auf-
ſchluß. Es muß eine echte, tiefe Leidenſchaft geweſen ſein,
welche während der Trennung dem Liebenden ſo rührend
innige Worte auf die Lippen legte: "Du frägſt mich: ſehnſt
Du Dich nach mir? Nennſt du's Sehnen, wenn man nur
in einem Punkte leben kann, und wenn man davongeriſſen
iſt und dann nur noch das Gefühl ſeines Elends hat!"
oder "Dein Schatten ſchwebt immer vor mir, wie das Licht-
zittern, wenn man in die Sonne geſehen!" Daß von dem
Mädchen die Leidenſchaft mit gleicher Gluth erwidert wurde,
das beweiſt wohl am Schlagendſten der Umſtand, daß ſie
ſelbſt dem Todten die Treue nicht gebrochen und unver-
mählt geblieben iſt. Es war keine ſentimentale Liebelei, und
Minna mit ihrer "inneren Glückſeligkeit, göttlichen Unbe-
fangenheit und dem lieben Leichtſinn" war kein ſentimentales
Mädchen, — es war beiderſeits eine rückhaltsloſe Hingabe
ſtarker Herzen und darum mächtiger, als der Tod. Daß
der Beziehung bei aller geſunden Gluth der Jugend auch die
Weihe geiſtiger Verſtändigung nicht fehlte, daß Minna alle
Strebungen ihres Verlobten mit bewußter Klarheit verfolgte,
wird vielfach beſtätigt; auch der Ton, in welchem Büchner
an ſie ſchreibt, iſt ein Beweis hiefür. Daß die Verlobten
damals noch ihr Geheimniß vor aller Welt, auch vor ihren
Eltern wahrten, erklärt ſich nicht etwa aus der Furcht, ernſt-
lichen Hinderniſſen zu begegnen: ſie waren einander in jeder
Beziehung würdig und haben auch in der Folge keinen Wider-
ſtand zu beſeitigen gehabt. Aber ihre Liebe mochte ihnen
als Geheimniß doppelt köſtlich erſcheinen, auch waren ſie
[LXI] noch zu jung, um demnächſt auf eine Vereinigung hoffen zu
dürfen, und bis zu jenem Momente, das wußten ſie, konnte
Jedes auf des Andern unverbrüchliche Treue zählen.
Bangen Herzens ſchied Georg Büchner im Juli 1833
von der Braut, den Freunden und der Stadt, die ihm ſo
lieb geworden. Die vier Semeſter, welche er nach heſſiſchem
Geſetze an einer fremden Hochſchule verbringen durfte, waren
nun verſtrichen, er mußte ſeine Studien an der Landesuni-
verſität fortſetzen, in Gießen. Nachdem er zwei Monate im
Elternhauſe verbracht, begab er ſich in den erſten Tagen
des Oktober nach der engen kleinen Gelehrtenſtadt an der
Lahn.
Schon als er dort anlangte, war er nicht mehr der-
ſelbe glückliche Menſch, den wir bisher kennen gelernt. Und
wer vollends das Bild ſeines inneren Weſens, wie es ſich
nach Verlauf weniger Monate aus ſeinen Gießener Briefen
und den Mittheilungen ſeiner dortigen Freunde darſtellt, mit
dem des Straßburger Studioſus vergleicht, gewahrt nur noch
wenige gemeinſame Züge. Es iſt dies ganz wörtlich zu
nehmen, nur ſelten iſt es wohl einem Biographen Pflicht
geweſen, eine ſo radicale Wandlung ſeines Helden binnen
gleich kurzer Friſt feſtzuſtellen und zu erläutern, als mir
hier zur Aufgabe wird. Der Jüngling, der am Rhein ſtolz-
fröhlich im Glück der Liebe und der Freundſchaft, in der
Freude an ſeinen Studien, im Zauber der Natur geſchwelgt,
der mit ſo ungemeiner Entſchiedenheit auch eine ungemeine
Klarheit der politiſchen Anſchauungen verbunden und ſich ſo
ſchroff von "revolutionären Kinderſtreichen" abgekehrt, der-
ſelbe Jüngling ſtürzt ſich in Gießen, ein einſamer, verbit-
terter Menſch, mit ſich und der Welt zerfallen, kopfüber in
[LXII] dieſelbe Bewegung, die er ſchon aus der Ferne ſo richtig
taxirt und obwohl ihn die Nähe nur handgreiflich gelehrt,
was er in der Ferne blos geahnt. Es iſt eine Wandlung,
die auf den erſten Blick verblüffend wirkt ...
Pſychologiſche Prozeſſe laſſen ſich nicht klar und unan-
fechtbar darſtellen, wie arithmetiſche Operationen. Man muß
ſich begnügen, wenn man ſie nur glaubhaft und begreiflich
zu machen vermag. So viel kann uns auch hier gelingen,
wenn wir die äußeren Verhältniſſe in's Auge faſſen.
Was Büchner in Gießen bedrückte, was ihm zumeiſt den
friſchen Lebensmuth benahm, war der Wechſel in ſeinen
wiſſenſchaftlichen Studien. Widrig und verfehlt erſchien ihm
der Beruf, den er nun verfolgen mußte. Aeußerlich war
freilich kein Wechſel eingetreten: er war in Straßburg Stu-
dent der Medizin geweſen und ſetzte nun in der Heimath
daſſelbe Studium fort. Um ſo greller war der innere Ab-
ſtand. Wir wiſſen, daß ihn ſein Drang nur zu den Natur-
wiſſenſchaften gezogen, keineswegs zur praktiſchen Medizin,
daß er ſich mit Einwilligung ſeines Vaters dem Studium
der Zoologie und Anatomie widmete. Wenn er ſich gleich-
wohl in Straßburg an der mediziniſchen Facultät inſcribirte,
ſo geſchah es einerſeits deßhalb, weil die Naturwiſſenſchaften
hauptſächlich an dieſer Facultät tractirt wurden, andrerſeits,
weil ſich der Jüngling nebenbei vorſichtshalber nach dem
Wunſche des Vaters für den praktiſchen ärztlichen Beruf
ausbilden ſollte. In den vier erſten Semeſtern ließen ſich
beide Rückſichten leicht vereinigen, anders nun, wo die rein
mediziniſchen Fächer in den Vordergrund traten. Georg hatte
den Vater bei ſeiner Heimkehr aus Straßburg für ſeine Pläne
umzuſtimmen verſucht; Dr. Büchner beſtand auf ſeinem
[LXIII] Willen und der Sohn fügte ſich. Vielleicht tröſtete ihn in
Darmſtadt die Hoffnung, daß er auch künftig ſich und dem
Vater in gleicher Weiſe werde gerecht werden können; in
Gießen mußte er erkennen, daß dies unmöglich ſei. Erſtlich
ſchon deßhalb, weil jede dieſer Richtungen ſicherlich ihren
ganzen Mann fordert und ferner, weil ſelten ein Menſch ſo
wenig dazu getaugt, zweien Herren zu dienen, als dieſer
Jüngling voll herber Entſchiedenheit. Er ſtand am Scheide-
wege, und welchen Pfad er einſchlagen würde, konnte nach
ſeiner ganzen Artung nicht zweifelhaft ſein; dieſer trotzige,
wahre Menſch durfte nur ſeinem eigenen Drange folgen.
Nun — er hat gleichwohl das Entgegengeſetzte gethan: er
widmete ſich der praktiſchen Medizin. Es iſt dies die erſte
und einzige Untreue gegen ſich ſelbſt, die wir an dieſem ſtäh-
lernen Charakter nachweiſen können; ſie hat kurze Zeit ge-
währt und er hat ſie bitter gebüßt. Was ihn hierzu ver-
mocht, war ſicherlich weniger die Hoffnung, auf dieſem Wege
leichter und raſcher die Vereinigung mit der Geliebten her-
beizuführen, als die Scheu des guten Sohnes, einen Conflict
wachzurufen, der bei dem Charakter des Vaters bald un-
ausweislich zu einem völligen Bruche geführt hätte. Einen
naheliegenden Ausweg zu wählen: ſcheinbar des Vaters, in
Wahrheit den eigenen Willen zu thun — dazu war er zu
ſtolz und zu ehrlich. So entſagte er denn ſeinen bisherigen
Strebungen, beſuchte fleißig Vorleſung und Klinik und that
ſeine Pflicht. Aber ſie fiel ihm ſchwer und von Tag zu
Tage ſchwerer. Je näher er ſeinen neuen Studien trat,
deſto mehr widerten ſie ihn an, und tiefer als die Pein,
dieſen Widerwillen täglich von Neuem niederkämpfen zu
müſſen, tiefer als die Sehnſucht nach ſeinen früheren Studien,
[LXIV] tiefer als das Weh, eine Laufbahn, welche er nach den Lob-
ſprüchen ſeiner Straßburger Lehrer als eine glänzende hatte
erhoffen dürfen, mit einem verhaßten, trivialen Berufe ein-
tauſchen zu müſſen, quälte ihn das Bewußtſein, ſich ſelbſt
untreu geworden zu ſein. So ward ihm das Studium,
das ihn in Straßburg mit Eifer, Freude und Zuverſicht er-
füllt, in Gießen zur Qual und zum Ekel.
Dies ſeeliſche Leiden ward noch ſchlimmer, als er ein
gefährliches Heilmittel dagegen anwandte. Man weiß, wie
Büchner ſchon früh zur Grübelei über jene höchſten Fragen
der Menſchheit geneigt, auf welche man ſich beſcheiden muß,
entweder gar keine oder nur eine troſtloſe Antwort zu finden.
Dieſes früh erwachte Hinneigen ſeines Geiſtes zur Specu-
lation war dann durch die naturphiloſophiſche Richtung,
welche damals ſeine Wiſſenſchaft beherrſchte, genährt und be-
friedigt worden. Er hatte den Glauben an einen perſön-
lichen Gott verloren, aber der junge Atheiſt ward in der
Betrachtung der Natur und ihrer harmoniſchen Geſetze zum
Pantheiſten. Nun verlor er auch dieſen Halt — nicht blos
deßhalb, weil jetzt täglich das Häßliche, Krankhafte, Ab-
norme in der Natur an ihn herantrat, ſondern vornehmlich,
weil ſein Geiſt ſich nun, im Durſte nach ſpeculativer Be-
ſchäftigung, welche ja ſein derzeitiges Studium nur kärglich
gewährte, eifrig den verſchiedenſten philoſophiſchen Syſtemen
zuwandte, nicht in ruhigem, gründlichem Studium, ſondern
haſtig, gierig, oberflächlich. Mit ähnlichen Empfindungen,
in ähnlicher Art, wie Büchner damals Syſtem auf Syſtem
vornahm und durchflog, mag ein Laie, der ſich todtkrank
fühlt, ein Compendium der Medizin durchſtöbern, um viel-
leicht doch noch das rettende Mittel zu finden. Es braucht
[LXV] kaum geſagt zu werden, daß ihm aus ſolchen Studien nicht
Troſt zukam, ſondern doppelte Troſtloſigkeit. Die Philo-
ſophie, die er als Retterin gerufen, machte ihn vollends elend.
"Warum leiden wir?" — ſie gab ihm keine Antwort auf
die Frage, ſie ließ ihn dies Leiden nur noch ſchärfer em-
pfinden . . .
Und nicht anders erging es ihm, als er ſich zu gleichem
Zweck in gleicher Weiſe mit der Geſchichte beſchäftigte. Seit
ſeiner Knabenzeit bis in die Straßburger Tage hinein war
ihm die franzöſiſche Revolution als eine Epoche erſchienen,
in der ſich die bewußte Kraft des Menſchengeiſtes, der ſicht-
liche Fortſchritt, die planvolle Entwicklung der Menſchheit
am Glänzendſten offenbarte. Kein Wunder, daß er ſich
jetzt in das Studium der Epoche ſtürzte, um da Troſt und
Halt zu finden. Er fand ſie nicht — im Gegentheil! "Ich
ſtudirte", ſchreibt er der Braut "die Geſchichte der Revo-
lution. Ich fühlte mich wie zernichtet, unter dem gräßlichen
Fatalismus der Geſchichte. Ich finde in der Menſchen-
natur eine entſetzliche Gleichheit, in den menſchlichen Verhält-
niſſen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem ver-
liehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die
Größe ein bloßer Zufall, die Herrſchaft des Genies ein
Puppenſpiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Geſetz,
es zu erkennen das Höchſte, es zu beherrſchen unmöglich.
Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eck-
ſtehern der Geſchichte mich zu bücken." So zerfloß ihm auch
der letzte Glaube, den er noch gehegt. Nur nebenbei ſei
ſchon hier darauf hingewieſen, daß die gleiche Geſchichtsauf-
faſſung auch in "Danton's Tod" waltet, daß er ſich erſt
dann von ihr befreit, nachdem er ſie in dieſem Drama abge-
G. Büchners Werke. e
[LXVI] lagert. Auch werden wir ſpäter hervorzuheben haben, wie
dieſe Gießener Stimmungen Büchner's einen wichtigen Com-
mentar zu jenem Werke bilden, wie es bedeutungsvoll iſt,
daß er viele Stellen aus ſeinen Gießener Briefen dann faſt
ungeändert in ſein Werk hinüber genommen. Hier haben wir
nur kurz anzudeuten, wie ſich jene Geſchichtsauffaſſung in
ihm erklärt. Die Ophtalmologen berichten von einer Krank-
heit, in welcher das Auge die Umriſſe der Gegenſtände viel
ſchärfer ſieht, als in normalem Zuſtande, nur daß es gleich-
zeitig die Fähigkeit verliert, leuchtende Farben zu unter-
ſcheiden; es ſieht Alles ſcharf, aber Grau in Grau. Büchner
war älter und reifer geworden, er gewann einen durchdrin-
genden Blick für Charaktere und Verhältniſſe der Geſchichte,
aber ſeine tiefe Melancholie bewirkte es, daß ſie düſter und
farblos an ihm vorbeizogen, aus Nacht in Nacht ...
In dieſe Wirrniß ſeeliſcher Qualen, welche über den
gemüthstiefen Jüngling hereingebrochen, fiel von außen kein
tröſtendes Licht. Selbſt der Gedanke an die Braut weckte
ihm nur die ſchmerzliche Empfindung, daß er ſie miſſen mußte.
Man wird in dieſer Trennung von der Geliebten nicht die
Hauptquellen ſeiner troſtloſen Gemüthsſtimmung erblicken
dürfen, aber daß dieſer Umſtand dazu beigetragen, ihn zu
verſtimmen, ſeine Energie zu lähmen und ihn hilflos ſeinen
ſelbſtquäleriſchen Gedanken preiszugeben, wird Niemand be-
zweifeln, der ſeine Briefe an Minna lieſt. (S. 371-78)
Glühendſte Liebe, ſchmerzlichſte Sehnſucht ſprechen aus jeder
Zeile. Einige bezeichnende Stellen haben wir bereits oben
hervorgehoben, um das Verhältniß im Allgemeinen zu charakte-
riſiren. Wer dieſe merkwürdigen Briefe unbefangen auf ſich
wirken läßt, wird freilich nicht verkennen, daß die Empfin-
[LXVII] dung zuweilen in Empfindſamkeit, ja in Verzückung um-
ſchlägt. Wenn Büchner z. B. ſeine Geſundheit verwünſcht,
"weil ihn das Fieber mit Küſſen bedeckte und umſchlang
wie der Arm der Geliebten", ſo iſt dies weder poetiſch, noch
tief empfunden, ſondern ſchlichtweg bombaſtiſcher Wort-
ſchwall. Dieſer Hang zur ſentimentalen Hyperbel kann frei-
lich in der krankhaft-nervöſen Stimmung des Schreibers,
ſowie in der Mode der Zeit ſeine reichliche Entſchuldigung
finden — wie übertrieben empfindſam ſich in jenen von
der Romantik beherrſchten Tagen ſelbſt ſehr robuſte Naturen
auszudrücken pflegten, hiefür iſt in den kürzlich veröffentlichten
Briefen Friedrich Schloſſer's an Catharina Schmidt ein merk-
würdiges Beiſpiel an's Licht getreten. In Büchner's Briefen
läßt ſich zudem das Sentimentale von dem Tiefempfundenen
leicht unterſcheiden. So, wenn er einmal ausruft: "O könnte
ich dies kalte und gemarterte Herz an Deine Bruſt legen!"
Daß der Zwanzigjährige ſein heißes Herz "kalt" nennt,
wird uns nicht hindern an ſeine "Martern" zu glauben und
zu erkennen, daß ihm der Wunſch ſelbſt aus tiefſter Seele
quillt. Die Trennung von der Geliebten dünkte ihm wirk-
lich faſt unerträglich und vermehrte die Schmerzenslaſt auf
ſeinem Herzen.
Wie er das holde Mädchen ſchwer vermißte, ſo auch
eine andere Freundin, die ihn früher oft entzückt und ge-
tröſtet. Die Landſchaft um Gießen iſt reizlos, ſie darf ſich
nicht mit jener um Darmſtadt vergleichen, geſchweige denn
mit der des Elſaß. Man wird ſich Büchner's ſchwärmeriſche
Liebe zur Natur lebhaft in's Gedächtniß zurückrufen müſſen,
um zu begreifen, daß die Klage darüber das Allererſte iſt,
was er ſeiner Braut aus Gießen mittheilt: "Hier iſt kein
e*
[LXVIII] Berg, wo die Ausſicht frei ſei. Hügel hinter Hügel und
breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem, ich kann
mich nicht an dieſe Natur gewöhnen, und die Stadt iſt ab-
ſcheulich". Mehr als der Bauart dieſer winkeligen Gaſſen
gilt wohl dies letztere Prädicat dem beengten Leben. Gießen
für Straßburg — das war in jeder Beziehung ein ſchlim-
mer Tauſch. So anregend das heitere Leben der ſchönen
großen Stadt auf ihn gewirkt, ſo lähmend empfand er die
dumpfe Stille der gelehrten Kleinſtadt. Und dieſe Stille
zeitweilig durch dieſelben geräuſchvollen Vergnügungen zu
vertreiben, wie die meiſten ſeiner Commilitonen, das behagte
Büchner nicht. Wie er ſich in Straßburg jenen Cafés fern-
gehalten, wo die Anderen, nach franzöſiſcher Studenten-
ſitte, Abſynth oder Majagran trinkend und Cigaretten rauchend
den lieben langen Tag todt ſchlugen und die Nacht dazu,
ſo mied er in Gießen Bierhäuſer und Kneipgelage. "Man
muß zuweilen commerſiren" — dieſer kategoriſche Im-
perativ des deutſchen Studentenliedes fand an ihm taube
Ohren. Und wie dieſen feuchten Freuden, ſo hielt er ſich
überhaupt dem Verbindungsweſen ferne. Freilich kann man
faſt in jeder biographiſchen Notiz über unſeren Dichter leſen,
daß er Burſchenſchafter geweſen, und die Züricher Studenten
haben bei der Enthüllung ſeines Denkmals, 1875, dieſen
Umſtand ſtark betont. Gleichwohl iſt gerade das Gegen-
theil richtig: Büchner war nie Mitglied der Burſchenſchaft
und iſt ſogar, wie wir ſpäter ſehen werden, in ſcharfen
Gegenſatz, wenn nicht zu ihren Zwecken, ſo doch zu ihren
Mitteln getreten. Denn die Zwecke waren ihm ſympathiſch,
aber die bunte Mütze und das dreifärbige Band erſchienen
ihm wie Kinderſpielzeug, der Biercomment und die Menſur
[LXIX] als Ueberbleibſel einer roheren Zeit, welche ſelbſt nur wieder
Rohheit weckten und — was ihm das Weſentlichſte war —
die Zwecke der Burſchenſchaft erſchienen ihm durch excluſiv-
ſtudentiſche Vereinigungen gar nicht erreichbar! Georg Büch-
ner war jedenfalls, wenn man ſeine ſtudentiſche Parteifär-
bung durch eines der gebräuchlichen Schlagwörter bezeichnen
will, einer der radikalſten "Progreſſiſten"; er beſtritt ſeinen
Commilitonen ſogar das Recht zu rein ſtudentiſchen Ver-
einigungen! der Student müſſe ſtets mit dem Bürger gehen,
weil er ſelbſt auch ein Bürger ſei, der ſich nur durch eif-
rigeres Streben nach Bildung von den anderen unterſcheiden
dürfe. Daß dieſe Anſichten, mochten ſie nun ganz oder theil-
weiſe berechtigt ſein, völlig ſeinem ernſten Charakter, ſeinen
radicalen Geſinnungen entſprachen, iſt ebenſo klar, als die
Thatſache, daß ſie ihrem Verfechter heute noch in einer kleinen
deutſchen Univerſitätsſtadt geringe Sympathien eintragen
würden — umſomehr damals! Doch iſt darin nur zum
geringſten Theil der Grund für die tiefe Vereinſamung zu
finden, in welche er bald nach ſeiner Ankunft in Gießen
gerieth, ſondern er ſelbſt wollte es nicht anders. Denn als
er hinkam, fand er viele Bekannte und Freunde aus der
Schulzeit, die ihn freudig empfingen. Bei einigem guten
Willen hätte er bald einen ſo angenehmen Kreis um ſich
ſammeln können, wie in Straßburg — er aber zog ſich ſo
gefliſſentlich zurück, daß die grundlos Gekränkten ihm grollten
und der Ruf ſeines unbändigen Hochmuths nach Darmſtadt
und bis zu den Eltern drang. Sie ſtellten ihn hierüber
zur Rede und ſeine Antwort (S. 344 ff.) iſt ſicherlich ein
intereſſantes, geiſtvolles Schriftſtück. Aber die prächtigen
Arabesken — man beachte, was der Jüngling über die Un-
[LXX] freiheit des Willens, über die Berechtigung des Haſſes u. ſ. w.
ſagt — ſind werthvoller als der Kern: mit dummen Jungen
wolle er nicht verkehren. Das war nicht blos ungereimt und
hochmüthig, ſondern auch ungerecht; dieſelben Menſchen ſchienen
ihm ja einige Zeit darauf ſeines rückhaltloſen Vertrauens
werth, und wenn er ſie damals mied, ſo geſchah es nicht
"um ſich Langeweile zu ſparen", ſondern weil er in ſeiner
tiefen Verſtimmung jene Duldſamkeit, jenes Intereſſe an
Anderer Eigenart verloren hatte, ohne welche ein intimer
Verkehr nicht möglich iſt. Viel richtiger ſchreibt er an ſeine
Braut: "Meine Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns
einander wie Taube in die Ohren!" Sein Trübſinn hatte
die Brücke zwiſchen ihm und ſeinen gleichalterigen Mitſtre-
benden zerriſſen, ſein Trübſinn hatte ihn einſam gemacht und
nun ward ihm dieſe Vereinſamung ein neuer Quell des
Trübſinns! Das Alltagswort, daß ein Unglück ſelten allein
komme, ſpricht eben nicht zufällige Erfahrungen aus, ſondern
eine tiefe, pſychologiſche Wahrheit ...
Vielleicht wäre ſchon das bisherige Leidensregiſter ge-
nügend, Büchner's innere Wandlung zu rechtfertigen — es
iſt aber leider noch nicht vollſtändig. Der Jüngling war
in jenen düſteren Wintertagen auch körperlich krank, er litt
an heftigem Fieber und faſt unerträglichem Kopfſchmerz.
Welcher Cauſalnexus zwiſchen dieſem körperlichen und dem
ſeeliſchen Leiden beſtand, ob ihn jene peinlichen Verhältniſſe
nur deßhalb ſo tief herabſtimmten, weil er nervenkrank war,
ob er im Gegentheil erkrankte, weil ſeine Nerven dieſen
widrigen Eindrücken nicht Stand zu halten vermochten, muß
freilich unaufgeklärt bleiben. Doch wird man jedenfalls
dieſe Krankheit berückſichtigen müſſen, wenn man ſeine Klage
[LXXI] auf ihre Berechtigung prüft: "Meine geiſtigen Kräfte ſind
gänzlich zerrüttet. Arbeiten iſt mir unmöglich, ein dumpfes
Brüten hat ſich meiner bemeiſtert, in dem mir kaum ein
Gedanke noch hell iſt. Alles verzehrt ſich in mir ſelbſt ..."
So an die Braut. Den Eltern aber offenbart er noch
einen anderen Grund ſeiner Betrübniß, mit deſſen Erwäh-
nung wir endlich dies traurige Regiſter ſchließen können:
"In Gießen war ich ... in tiefe Schwermuth verfallen;
ich ſchämte mich ein Knecht mit Knechten zu ſein, einem
vermoderten Fürſtengeſchlecht und einem kriechenden Staats-
diener-Ariſtokratismus zu Gefallen".
Schon hierdurch ſind wir gezwungen, die damaligen
politiſchen Verhältniſſe Süddeutſchlands und ſpeziell des
heſſiſchen Landes näher in's Auge zu faſſen. Dieſe Noth-
wendigkeit ergibt ſich jedoch auch noch aus wichtigeren Gründen:
in demſelben verhängnißvollen Winter von 1833 auf 34
ſehen wir Georg Büchner plötzlich activ als Verſchwörer, als
Geheimbündler in jene politiſchen Wirren eingreifen. So
muß uns die folgende hiſtoriſche Ueberſicht nicht blos als
Vorgeſchichte ſeines Wirkens gelten, ſondern auch darüber
Aufſchluß geben, was Büchner bewogen, ſeiner in Straßburg
gehegten Ueberzeugung von der Nutzloſigkeit ſolcher Stre-
bungen in Gießen plötzlich in That und Wort untreu zu
werden.
Kaum vier Jahrzehnte trennen uns von dem Tage des
Frankfurter Attentats und der Arminiſtiſchen Bewegung, der
"Geſellſchaft der Menſchenrechte" und der ſüddeutſchen Ge-
heimbündelei, und ſchon vermögen wir Söhne einer raſch-
lebigen Zeit kaum noch die Brücke des Verſtändniſſes zu
jener Epoche zu ſchlagen. Ein ſeltſames, rührendes Drängen
[LXXII] und Sehnen ging durch die Gemüther, man war excentriſch
in den Klagen, abenteuerlich in den Hoffnungen, verblendet
in den Mitteln. Was jenen Männern und Jünglingen
reine Begeiſterung war, dünkt uns trübe Schwärmerei, und
was ſie als praktiſches, leicht erreichbares Ziel erſtrebten,
muß uns als tolles Hirngeſpinnſt erſcheinen. Schier dünkt
es uns unfaßbar, wie ſo trüber Phraſendunſt die Quelle ſo
reinen hohen Opfermuths werden konnte! Aber wenn wir,
getränkt von der nüchternen Weisheit einer glücklicheren und
geklärteren Zeit, den Stab über jene Männer, ihre Träume
und Irrthümer brechen wollten, ſo wäre dies nicht blos ſehr
herzlos, ſondern auch ſehr unvernünftig. Es war eben die
harte Kampf- und Lehrzeit des deutſchen Volkes und — wer
in Kanaan ſitzt, dem geziemt es nicht, jener zu vergeſſen, die
in der Wüſte ſtarben. Auch wird uns jene Epoche nur
dann unverſtändlich erſcheinen, wenn wir ſie als ein Fer-
tiges hinnehmen, ohne auf die Quelle zurückzugehen. Dieſe
Quelle aber iſt — es kann dies nicht ſcharf genug betont
werden — die ungeheure Wandlung, welche die Befreiungs-
kriege im Deutſchen Volke hervorgebracht. Es war durch
den Jammer der Fremdherrſchaft und den Triumph ſeiner
Siege kein politiſch reifes, aber doch ein politiſch denkendes
Volk geworden und darum waren die deutſchen Bundesacte
nicht blos ein Verbrechen, ſondern auch ein politiſcher Fehler.
In aller Geſchichte findet ſich kein ähnliches Beiſpiel, daß
die denkbar günſtigſten Vorbedingungen für Begründung
äußerer Macht und innerer Wohlfahrt einer Nation ſo
ſchmählich ungenützt geblieben und allmählig künſtlich ge-
radezu in Hinterniſſe dieſer Entwicklung umgeſtaltet worden.
Selbſt wenn die ſpärlichen Verheißungen jener Acte erfüllt
[LXXIII] worden wären, ſelbſt wenn man dem Wiener Congreß nicht
die Carlsbader Beſchlüſſe hätte folgen laſſen — im deutſchen
Volke wäre doch immer der Groll der Enttäuſchung wach
geblieben und der patriotiſche Schmerz, ſeine beſten Hoff-
nungen begraben zu ſehen. Wer jenen Strom politiſcher
Strebungen, auf deſſen Wogen wir nun auch unſern Dichter
werden dahintreiben ſehen, verfolgt, wird nie vergeſſen dürfen,
daß es Strebungen von Männern waren, welche in ihrer
Jünglingszeit um die Erfüllung, nicht blos ihrer Ideale,
ſondern auch ihrer berechtigten Erwartungen betrogen worden,
und von Jünglingen, welche in der ſchwülen, gewitterſchweren
Luft eines mißvergnügten Volkes aufgewachſen.
Wie ſtark dieſe Thatſache auch betont zu werden ver-
dient, ſo liegt doch ſelbſtverſtändlich eine nähere Betrachtung
der Ereigniſſe und Stimmungen von 1815-1830 außer-
halb des Rahmens dieſer Darſtellung. Nur daran ſei er-
innert, daß jene Enttäuſchung zwar eine allgemeine war,
ſich aber doch in verſchiedenen Landſchaften verſchieden ſtark
äußerte, daß ferner im Norden mehr die Zerſplitterung, im
Süden mehr die Knechtung des Vaterlandes beklagt wurde.
Denn während die nördlichen Stämme aus nationaler Be-
geiſterung für "All-Deutſchland" in den "heiligen Krieg"
gezogen und darum die Wiederkehr der Kleinſtaaterei als
ſchneidigſte Verhöhnung ihrer Erwartungen nachfühlten, em-
pfanden es die Süddeutſchen, welche erſt allmählig und nie
in gleich ſtarker Weiſe vom nationalen Enthuſiasmus er-
griffen worden, als das Bitterſte, daß der deutſche Bund
ſelbſt jenes beſcheidene Maaß bürgerlicher Freiheiten geraubt,
welches der Rheinbund gebracht. Und weil man dergeſtalt
im Norden beklagte, daß es nicht beſſer, im Süden aber, daß
[LXXIV] es ſchlimmer geworden, weil ferner das dynaſtiſche Gefühl
in Preußen, Sachſen und Hannover naturgemäß ſtärker war,
als in den, größtentheils erſt durch Napoleon in ihren gegen-
wärtigen Grenzen aufgerichteten Staaten des Südens, darum
iſt es auch klar, warum die Oppoſition des Volkes gegen die
neue Ordnung am Main und Rhein ſtärker war, als an
der Elbe und Weſer, warum ſie hier mindeſtens die Erfül-
lung jenes vielerwähnten Artikel XIII der Bundesacte, die
Gewährung einer landſtändiſchen Verfaſſung erzwang, während
in Norddeutſchland auch dieſe feierliche Verheißung unerfüllt
blieb. So erklärt es ſich ferner, warum die Volksbewegung
in Süddeutſchland nur in den erſten Jahren nach der Re-
ſtauration einen ausgeprägt nationalen Charakter trug, von
da ab jedoch immer demokratiſcher wurde, ſo daß hier von
Jahr zu Jahr mehr die Frage der Freiheit gegen jene der
Einheit in den Wünſchen und Strebungen des Volkes in den
Vordergrund trat.
Nirgendwo läßt ſich dieſe Entwickelung im Beſonderen
deutlicher nachweiſen, als in jenem Staate, mit dem wir uns
ohnehin vornehmlich beſchäftigen müſſen, dem Großherzog-
thum Heſſen. Sein Beherrſcher, Ludwig I. hatte ſich ſeit
ſeinem Regierungsantritt (1806) vielfach als Anhänger fran-
zöſiſchen Weſens und Vertreter eines aufgeklärten Abſolutis-
mus erwieſen; dem Rheinbund war er ein eifriges Mitglied,
und während er einerſeits die alte ſtändiſche Verfaſſung kurz-
weg abſchaffte, hob er andrerſeits ſpontan die Leibeigenſchaft
und einzelne Privilegien des Adels auf. Das ſicherte ihm
eine gewiſſe Popularität, welche freilich nach 1815 raſch
verflog: durch ſeine franzöſiſchen Sympathien trat er zu
den nationalen, durch ſeinen Abſolutismus zu den liberalen
[LXXV] Beſtrebungen ſeines Volkes im ſcharfen Gegenſatz. Nach er-
ſterer Richtung trat der Conflict freilich minder markant
hervor, weil auch viele "Unterthanen" franzöſiſch geſinnt
waren, (vrgl. S. IX), und ging auch raſch vorbei, weil
faſt nur in der Gießener Studentenſchaft ein nationaler Ein-
heitsdrang herrſchte, welcher der Regierung des kleinen Staates
gefährlich ſcheinen konnte. Nachdem ſie die Burſchenſchaft
zu Gießen, welche unter Karl Follen's Führung eine Ver-
einigung aller Studentenſchaften, einen "chriſtlich-deutſchen
Burſchenſtaat" anſtrebte, geſprengt und den Bund der "Schwar-
zen", eine formloſe Vereinigung junger Männer zu Darm-
ſtadt, durch polizeiliche Chikane decimirt, blieb der Regierung
nach dieſer Richtung kaum etwas zu thun übrig: eine "Deutſche
Geſellſchaft", welche ſich auf Arndt's Anregung im Großher-
zogthum gebildet, hatte ſich von ſelbſt aufgelöſt, als die
nationale Begeiſterung der Befreiungskriege verblaßte. Der
Freiheitsdrang hingegen ließ ſich nicht erſticken, obwohl man
es nach demſelben Recept verſuchte. Wie die Rheinländer
unter Görres' Führung, wie die Bürger der anderen ſüd-
deutſchen Länder, forderten auch die Heſſen-Darmſtädter von
ihrem Fürſten die Vereinbarung eines Vertrags zwiſchen Re-
gierung und Volk, einer Conſtitution. Ludwig I. ſträubte
ſich länger dagegen, als die Fürſten von Naſſau und Wür-
temberg, Baden und Baiern; eine dumpfe Gährung trotzte
ihm nur momentan ein Zugeſtändniß ab, welches er ſofort
zurückzog, als die Gefahr vorüber war. Das weckte neuen
Sturm, und als ihn der Großherzog nur damit beilegen
wollte, daß er die Octroyirung einer Verfaſſung — verſprach,
da verweigerte das Volk die Steuern und es kam (nament-
lich im Odenwald) 1819 zu blutigen Conflicten mit dem
[LXXVI] Militär. Nun endlich (März 1820) erließ Ludwig I. ein
Verfaſſungs-Edict mit ſonderbarlichen Beſtimmungen: der
Regierung allein ſtehe das Recht der Geſetzgebung, den
Kammern hingegen das Recht zu, die Steuern zu bewilligen,
nicht aber ſie zu verweigern!! Wieder durchbrauſte ein
Sturm des Hohns und der Entrüſtung das Ländchen und
die Kammer, welche auf Grund jenes Edicts zuſammentrat,
erzwang von der Regierung eine "Reviſion" desſelben, ſo daß
am 17. Dezember 1820 eine von Fürſt und Volk anerkannte
Verfaſſungs-Urkunde proclamirt werden konnte. Sie wurde
anfangs ſelbſt von den Liberalen mit Jubel begrüßt, ſpäter
freilich, je länger ſie galt, deſto ſchärfer beurtheilt, am ſchärfſten
von Georg Büchner, der ſie geradezu "ein elend jämmerlich
Ding" genannt hat (S. 278). Dieſe Bezeichnung mag im
Munde eines Republikaners, der eine Revolution herbeiführen
will, begreiflich ja berechtigt ſein — wir aber werden
über dieſe Conſtitution gerechter und darum günſtiger urtheilen
müſſen. Ohne übermäßig freiſinnig zu ſein — ſo war z. B.
der Wahlcenſus ein relativ ſehr hoher — gewährte ſie
doch die wichtigſten Grundlagen conſtitutioneller Entwicklung:
die Controlle des Staatshaushalts, die Bewilligung oder
Verweigerung der Steuern ſtand der Volksvertretung zu,
die Miniſter waren ihr verantwortlich; die Giltigkeit der
bisherigen und die Erlaſſung neuer Geſetze war von ihrer
Zuſtimmung bedingt, auch war die Unabhängigkeit der Juſtiz,
die Freiheit der Perſon genügend gewährleiſtet. Nicht im
Wortlaute dieſer Verfaſſung wird man alſo die Gründe zu
ſuchen haben, warum ſie in der Folge ſo grimmig be-
fehdet ward, ſondern einerſeits darin, daß allmählig die
Wünſche des Volkes weit über das von ihr gewährte Maß
[LXXVII] der Freiheiten hinausgingen, andrerſeits jedoch darin, daß
die Praxis der Theorie immer weniger entſprach. Es war
ja im Grunde gleichgiltig, ob der Großherzog von Heſſen
die Verfaſſung ehrlich halten wollte — er konnte nicht, wie
er wollte, weil die "gemeinſame Peitſche" des Bundestags
auch über ſeinem Lande waltete und ſeine Regierung in reactio-
näre Bahnen zwang. Allüberall in Süddeutſchland vollzog
ſich von der Begründung conſtitutioneller Formen bis zur Be-
wegung von 1830 mit geringen Variationen daſſelbe tragi-
komiſche Schauſpiel: der Fürſt ſchwankt anfänglich zwiſchen
dem Druck der Reaction von Wien-Frankfurt her und dem
Drucke des eigenen Gewiſſens, welches beſchworene Eide zu
halten heiſcht, bis es ſich erſterem beugt; die Miniſter
tanzen, hier verſchämt, dort unverſchämt, wie Metternich auf-
ſpielt, laſſen die Mainzer Central-Unterſuchungs-Commiſſion
nach Herzensluſt ſchalten und walten, reduciren durch "inter-
pretirende Verordnungen" die Freiheiten der Verfaſſung,
wahren jedoch dabei, ſo gut es glücken will, den Schein
conſtitutioneller Geſinnung; die Kammern kämpfen, hier
energiſch, dort ängſtlich gegen die innere und äußere Reac-
tion, bis ſie, durch die Erfolgloſigkeit ihrer Mühen und
durch die polizeiliche Verfolgung ihrer Führer muthlos ge-
macht, ihren Freiſinn faſt nur noch durch übertrieben radi-
cale, aber unpraktiſche und daher hohen Orts minder miß-
liebige Anträge, z. B. auf Abſchaffung des Cölibats der
katholiſchen Geiſtlichkeit, Luft machen; das Volk endlich verliert
nur allmählig, aber dafür um ſo gründlicher das Vertrauen
in die Ehrlichkeit ſeiner Regierung, in die Nützlichkeit des
Conſtitutionalismus, es empfindet bitter, daß eine ſolche
Repräſentativverfaſſung nur "ein ungenießbares Schaugericht,
[LXXVIII] ein Gaukelſpiel für große Kinder" ſei, es verliert die Hoff-
nung, ſeine berechtigten Erwartungen jemals durch Kammer-
debatten erfüllt zu ſehen. Damit iſt auch das Bild des
politiſchen Lebens im Großherzogthum Heſſen während der
Zwanziger Jahre gezeichnet, nur daß hier noch ein trauriger
Umſtand hinzutrat, welcher die Oppoſition in der zweiten
Kammer, wie den allgemeinen Mißmuth verſchärfte: die
drückende Noth des Volkes. In Ober- und Rheinheſſen ver-
einten ſich Elementar-Ereigniſſe (Hungerjahre, Ueberſchwem-
mungen) mit unerträglichem Steuerdruck, um eine ſo jähe
und allgemeine Verarmung herbeizuführen, daß Tauſende
nach Amerika zogen, die Anderen aber, welche nicht aus-
wandern konnten oder mochten, in dumpfer, trotziger Ver-
zweiflung die Hände in den Schooß legten. Der Staat,
ſelbſt an ewiger Finanznoth leidend, konnte nicht helfen und
ſuchte den Schrei der Noth dadurch zu erſticken, daß er die
Kammern nach Kräften mundtodt machte. Als durch reiche
Ernten jene verzweifelte Lage der Bevölkerung etwas ge-
lindert war, blieb doch bitterer Mißmuth in den Herzen zu-
rück und eine, freilich mehr inſtinctive, als klar empfundene
Ueberzeugung von der Unhaltbarkeit der bisherigen Zuſtände.
Mitten in dieſe Stimmungen brach die Kunde von der
Pariſer Julirevolution, dieſem grellen Blitzſtrahl in der
grauen Dämmerung, welche die "Heilige Allianz" über
Europa gebreitet. Es war naturgemäß, daß dies Ereigniß,
wie allüberall, ſo auch in Deutſchland die Gemüther ergriff
und tief gehende Wirkung übte — jäher Kampfruf hallt
weit in einer todtenſtillen Zeit und wer kaum von Freiheit
zu träumen wagt, muß wie ein Schlafwandler auffahren,
wenn er hört, wie ſie anderwärts durch Thaten erſiegt wird.
[LXXIX] Gleichwohl wird man ſich hüten müſſen, den Einfluß jener
Revolution zu überſchätzen, oder gar in ihr die einzige Quelle
all' deſſen zu erblicken, was nun in Deutſchland folgte. Die
offiziellen Beſchlüſſe des Bundestags und nach ihnen die
reactionäre Geſchichtsſchreibung haben dießbezüglich eine Legende
zuſammengebraut, welche Jahrzehnte hindurch mit ſo pomp-
hafter Sicherheit verkündet wurde, daß ſie noch heute viel-
fach geglaubt wird: die Juli-Revolution habe eine "Umſturz-
partei" in Deutſchland erweckt, welche die Aufſtände in
Braunſchweig, Oberheſſen, Sachſen u. ſ. w. ſpäter den Frank-
furter Putſch inſcenirt und nur durch die äußerſte Strenge
habe unſchädlich gemacht werden können. Es iſt nicht unſeres
Amtes, dieſe Legende eingehend zu widerlegen, wohl aber
kurz an den wahren Sachverhalt zu erinnern. Nicht erſt
die Juli-Revolution hat eine Partei der Unzufriedenen in
Deutſchland geſchaffen, nicht "von der Seine her kam das
ſchleichende Gift, deutſche Treue zu vernichten", ſondern jenes
Ereigniß wirkte blos belebend und anregend auf alle jene
Kreiſe, welchen die Schmach der öffentlichen Zuſtände auf
dem Herzen laſtete: ſie begannen ſich zu ſammeln, zu klären,
zu discipliniren. Aber zu einer einheitlichen Partei wuchſen
ſie nie zuſammen, weder damals, noch in der Folge, am
wenigſten zu einer Partei des "Umſturzes". An Rebellion
dachten 1830 und unmittelbar darauf, wenn überhaupt,
wohl nur ſehr wenige und völlig einflußloſe Männer unter
den "Liberalen". Nicht durch ihre Bemühungen alſo, ſondern
aus localen Verhältniſſen heraus loderten jene einzelnen Auf-
ſtände empor, welche im Spätherbſt 1830 die Herren in
Wien, Berlin und Frankfurt ſo ſehr erſchreckten. Wenn die
Braunſchweiger Bürger und Adeligen ihren angeſtammten
[LXXX] Herzog davonjagten, wenn die Leipziger und Dresdener
Bürgersleute durch Krawalle die Entlaſſung des Miniſters
von Einſiedel erzwangen, wenn die Kaſſeler ihrem Kurfürſten
durch ihre drohende Haltung eine Verfaſſung abrangen, ſo
geſchah dies nicht durch das Walten einer großen revolutio-
nären Liga in Deutſchland, ſondern einzig deßhalb, weil in
dieſen einzelnen Landſchaften beſonders unleidliche Verhältniſſe
obwalteten, welche den Bedrückten endlich den Muth der
Verzweiflung einflößten. Hätten die Weiſen des Bundes-
tags dieſe offenkundige Wahrheit begreifen können oder wollen,
welcher Jammer wäre Deutſchland erſpart geblieben! Statt
deſſen erſannen die Herren einen großen revolutionären Ge-
heimbund, welcher in einzelnen Putſchen ſeine Kraft übe,
ehe er die allgemeine Rebellion inſcenire, und richteten gegen
dies Erzeugniß ihrer Furcht oder Böswilligkeit jene berüchtigte
"Protokolls-Auszugs-Notification" vom 28. November 1830,
welche die Carlsbader Beſchlüſſe verſchärft erneute. Druck
erzeugt Gegendruck: nun freilich wuchs, nebenbei durch die
Kunde von den franzöſiſchen und polniſchen Wirren aufge-
ſtachelt, die liberale Bewegung und damit die Entſchiedenheit
ihrer Abſichten. Der Bundestag erwiderte darauf mit den
ſechs Ordonnanzen vom 28. Juli 1832, welche die "An-
maßung des demokratiſchen Geiſtes" durch Kerker und Ba-
jonett bekämpften. An die Stelle der verſchämten trat die
offene Reaction und wirkte noch verhängnißvoller als jene:
die Erbitterung mehrte ſich, ſtumm aber ſtetig, und drückte
endlich einem Häuflein unbeſonnener und verſchrobener Jüng-
linge die Waffen in die Hand — man kennt die Frankfurter
Tragikomödie vom 3. April 1833. Der Bundestag wird
oft herbe wegen jenes wüſten Hexenſabbaths der Reaction
[LXXXI] geſcholten, welchen er nach dem Frankfurter Putſch entfeſſelte,
aber auch für dieſen ſelbſt tragen in letzter Linie nur die
Metternich und Conſorten die Verantwortung. Denn wer
die Geſchichte Deutſchlands im Beginn der dreißiger Jahre
kurz characteriſiren wollte, könnte kein draſtiſcheres Gleichniß
erſinnen, als das bekannte vom armen Wurm: er krümmt
ſich, weil er getreten wird und wird getreten, weil er gewagt
hat, ſich zu krümmen.
Dies gilt auch von der engeren Heimath Georg Büchners,
nur daß hier der Wurm unter dem Druck beinahe zur
Schlange wurde. Doch war im Anfang auch in Heſſen
die Bewegung der Gemüther eine völlig ungefährliche: ſie
richtete ſich gegen Mißbräuche der Verwaltung, gegen Ueber-
griffe der Regierung, keineswegs gegen Fürſt und Staat.
Am 6. April 1830 war der greiſe Ludwig I. verſchieden,
ihm folgte ſein Sohn, Ludwig II., bei Antritt der Regie-
rung bereits dreiundfünzigjährig und ſchon als Erbprinz
unter mannigfachen Conflicten mit den Ständen alt geworden,
welche ſich nun natürlich verſchärften und acut wurden.
Während das Großherzogthum, wie erwähnt, unter dem
Druck unerhörter Armuth verſchmachtete, während der Pariſer
Barricadenkampf dem Fürſten eine nicht leicht überhörbare
Mahnung in die Ohren donnerte, forderte Ludwig II. als
erſte Regierungshandlung von den Ständen die Zahlung
ſeiner, ſchier durch vier Jahrzehnte aufgeſammelten Privat-
ſchulden. Man wird wohl bei ruhiger Betrachtung das
Urtheil, welches Georg Büchner 1834 über dieſe Hand-
lungsweiſe gefällt (S. 272 ff.) zu hart finden, zugeben wird
man, daß ſie geeignet war, die Oppoſition im Lande wach
zu rufen und zu verbittern — dies Letztere um ſo mehr,
G. Büchners Werke. f
[LXXXII] als die Stände gegenüber dieſen und ähnlichen Zumuthungen
meiſt nur zu Worten ängſtlicher Klage, ſelten zu ablehnenden
Beſchlüſſen den Muth fanden. Doch offenbarte ſich dieſe
Oppoſition der Liberalen höchſtens in Petitionen an die
Stände; ſie hielt ſich ſtreng auf geſetzlichem Boden und
dachte nicht an Thaten. Anders die Bauernſchaft in Ober-
heſſen, welche, unter unerhörtem Steuerdruck dahinſiechend, im
September 1830 ſich erhob und mit Prügeln und Senſen
bewaffnet, die Zollſtätten, Steuerämter und Edelhöfe von
Iſenburg bis Butzbach plünderte, bis Militär herbeieilte
und nicht blos die Schuldigen, ſondern auch friedliche Bürger
jener Bezirke maſſakrirte. Die nähere Schilderung mag an
anderer Stelle (S. 286 ff) nachgeleſen werden; hier ſei
nur hervorgehoben, daß die Liberalen des Großherzogthums
an dieſem jähen Aufruhr armer, gepeinigter Knechte nicht die
geringſte Schuld trugen und durch denſelben kaum minder
überraſcht und erſchreckt wurden, als die Regierung. Wie
etwa der Braunſchweiger Aufſtand durch die Perſönlichkeit
des Herzogs, ſo war dieſer Tumult durch den Druck der
Regierung und der Standesherren herbeigeführt worden —
gleichwohl mußten für beide die Liberalen Deutſchlands
büßen, für letzteren noch ganz beſonders jene des Großherzog-
thums. Denn Niemand nützte die oberwähnte Erneuung
der Carlsbader Beſchlüſſe vom November 1830 eifriger aus,
als der Günſtling und allgewaltige Miniſter Ludwig II.,
Freiherr du Thil, und nirgendwo äußerte ſich auch
folgerichtig die Erbitterung über ſolche ungerechten und in
ſo bewegter Zeit doppelt unklugen Maßregelungen des Volks-
geiſtes entſchiedener, als in dieſem, von einem characterfeſten,
ja ſtarrſinnigen Volksſtamm bewohnten Lande. Früher, als
[LXXXIII] in anderen deutſchen Staaten, Baden und Würtemberg aus-
genommen, vertheidigten die Liberalen hier durch Zeitungen
und Flugſchriften die bedrohte Verfaſſung, es regnete Adreſſen
und Petitionen an die Stände und an hervorragende Patrio-
ten, die polniſchen Emigranten wurden bei ihrem Durchzug
nach Frankreich freudig unterſtützt, die Wahlen zum Landtag
fielen faſt durchweg auf verfaſſungstreue Männer. Eine
andere Parole aber, als die Vertheidigung der, einerſeits
durch den Bundestag, andrerſeits durch du Thil's Uebergriffe
bedrohten Verfaſſung curſirte auch unter den extremen Liberalen
Heſſens nicht, weder offen noch heimlich. Das änderte ſich
leider freilich, als mit den Juni-Ordonnanzen von 1832 die
nackte, brutale Reaction ihren Einzug im Großherzogthum
hielt und, nachdem ſie vorerſt an einigen mißliebigen Männern
ihr Müthchen gekühlt, nun auch ohne Scheu der freien Preſſe
und dem Verſammlungsrecht an's Leben griff. Unter dieſem
Druck zerbröckelte die liberale Partei — ſofern eine Geſammt-
heit von Männern, welche blos in der Behauptung der Ver-
faſſung einig, im Uebrigen verſchiedenſter Ueberzeugung, durch
keinerlei äußere Organiſation zuſammengehalten wurden, über-
haupt den Namen einer Partei verdiente — in drei nach
kurzer Zeit bereits ſcharf geſchiedenen Gruppen: die Zaghaften,
die bald allen Widerſtand aufgaben, die "Conſtitutionellen",
welche ſich darauf beſchränkten, in der zweiten Kammer durch
ihre Führer E. E. Hoffmann und Heinrich von Gagern
gegen das Willkührregiment anzukämpfen, endlich die "Demo-
kraten", welche, an der Erſprießlichkeit des zahmen parlamen-
tariſchen Widerſtandes für immer verzweifelnd, ſchließlich zu
der Ueberzeugung kamen, daß gegen die Gewalt nur wieder
Gewalt fruchten könne. Nur mit dieſer letzteren Partei
f
[LXXXIV] haben wir uns hier des Näheren zu beſchäftigen. Es mag
auch heute noch ſchwer ſein, ein endgültiges Urtheil über ſie
zu formuliren; es mag ſchwer ſein, dem Verſtande dieſer
Männer gerecht zu werden, welche ohne eigentlichen Anhang
im Volke das Volk befreien, ohne jegliche Macht die Macht
ihrer Gegner gewaltſam brechen wollten — ihrem edlen,
ſchwärmeriſchen, opferfreudigen Herzen aber wird man
gern und leicht Gerechtigkeit widerfahren laſſen. Faſt alle
Tugenden, freilich auch alle Fehler heißblütiger Jugend klebten
dieſer Partei an, die ja auch wirklich zum größeren Theil
aus Studenten beſtand, zum geringeren aus jungen Lehrern,
Aerzten, Pfarrern, Advocaten u. ſ. w. Nur in Frankfurt
und Stuttgart konnte ſie auf einige ältere und einflußreiche
Genoſſen zählen; in Oberheſſen jedoch ſtand an ihrer Spitze,
bis zur Zeit, wo Georg Büchner zeitweilig die Führung
übernahm, ein Mann in beſcheidener Lebensſtellung, doch
von ſeltenen Geiſtesgaben und ſtählernem Character, der
Schuldirector zu Butzbach bei Gießen, Pfarrer Dr.Fried-
rich Ludwig Weidig. Die Geſchichte nennt dieſen Mann
unter den Märtyrern für die Freiheit ſeines Volkes, und
von ſeinen perſönlichen Eigenſchaften werden wir noch ſpäter
zu berichten haben. Aber ſo viel ſei hier ſchon erwähnt,
daß er nicht etwa aus perſönlichem Ehrgeiz, ſondern natur-
gemäß als einer der Aelteſten — er war 1791 geboren —
und ſicherlich als der Raſtloſeſte unter ſeinen Geſinnungs-
genoſſen an ihre Spitze getreten. Auch dieſem Manne, der
ſpäter ſo tollkühne Pläne gehegt, war bis zum Sommer
1832 jede revolutionäre Idee fern geblieben, erſt unter dem
Druck jener verhängnißvollen Ordonnanzen keimte in ihm
der Gedanke einer allgemeinen Erhebung, welche zunächſt
[LXXXV] das Centrum alles Unheils, die Bundesverſammlung in
Frankfurt, ſprengen ſollte. Daß ihm dieſer Gedanke ſpontan
gekommen, iſt unzweifelhaft — ob ihm zuerſt, wie ſpäter
ſeine Richter meinten, iſt ziemlich gleichgültig, wenn man
erwägt, daß derſelbe Gedanke faſt zu gleicher Zeit in ver-
ſchiedenen deutſchen Staaten, in beiden Heſſen, in Baden
und Naſſau, und endlich in Frankfurt ſelbſt, in Männern
und Jünglingen auftauchte, welche durch kein äußeres Band
einer Organiſation verknüpft wurden, nur durch das innere
einer gemeinſamen ſchwärmeriſchen Ueberzeugung. So war
Weidig ſelbſt freudig erſtaunt, als ihm der Gedanke, den
er einſam ausgebrütet, plötzlich von Anderer Lippen entgegen-
klang, nutzte dann aber dieſen Umſtand eifrigſt aus, indem
er durch Verſammlungen, Sendboten und Rundſchreiben auch
eine formelle Organiſation herbeiführen half. Die erſte
Grundlage hiezu war, wie es ſcheint, bei einer feſtlichen
Zuſammenkunft auf der Frankfurter Mainluſt im October
1832 gelegt worden, vielleicht auch ſchon früher, denn ein
völlig genaues und getreues Bild jener Vorgänge vor dem
Frankfurter Putſch wird ſich nie gewinnen laſſen. Gunſt
und Haß der Parteien haben es entſtellt, von den Betheiligten
ſelbſt haben ſpäter leider nur unglaubwürdige Männer ihre
Erinnerungen veröffentlicht, und die von Noellner heraus-
gegebenen Proceßacten verzeichnen widerſprechende Angaben.
Dies gilt auch von dem Antheil, den Weidig an der Be-
wegung genommen, doch läßt ſich immerhin folgendes mit
Sicherheit darüber ausſagen. Weidig warb mit raſtloſem
Eifer Theilnehmer unter den Bürgersſöhnen in Oberheſſen,
namentlich in Butzbach und Friedberg, er vermittelte ferner
die Verbindung zwiſchen den Gießener Studenten und den
[LXXXVI] Frankfurter Häuptern der Verſchwörung, aber über die Kopf-
zahl der Verſchworenen und ihre Mittel in anderen Ländern
war er ſelbſt im Unklaren, und glaubte Alles, was ihm
Gärth und Rauſchenplath in Frankfurt bona, ſtellenweiſe
auch mala fide über die revolutionäre Stimmung der Wür-
temberg'ſchen Armee, geworbene Polenlegionen etc. vorfabu-
lirten. Selbſt jeglicher Lüge abhold, ahnte der ehrliche
Mann nicht, daß Andere in dieſer "heiligen Sache" ſich
und ihn täuſchen mochten. Erſt in elfter Stunde, als
der Tag der Revolution bereits feſtgeſtellt war, ſtiegen ihm
Bedenken auf, er eilte am letzten März nach Frankfurt, gab
gewiſſenhaft an, wie viel Mann und Waffen er ſelbſt ſtellen
könne, forderte aber auch gleiche Angaben über die übrigen
Theilnehmer. Nun endlich geſtanden ihm die Frankfurter
ein, daß man weder auf Soldaten, noch auf Polen, ſondern
nur eben auf einige undisciplinirte Haufen rechnen könne.
Weidig vernahm es entſetzt und bat und beſchwor nun,
den Plan einer Revolution aufzugeben oder doch zu ver-
tagen. Es war vergeblich, in bitterem Groll und Schmerz
kehrte er heim. Den Zuzug der Gießener Studenten konnte
er nicht hindern, aber von ſeiner Butzbacher Schaar ging
keiner nach Frankfurt. Dort nahmen die Dinge inzwiſchen
ihren bekannten, traurigen Lauf, am Abend des 3. April
begann, am ſelben Abend endete der Aufruhr. Er war dem
Bundestag wenn auch nicht rechtzeitig genug durch einen Ver-
räther angekündigt worden, aber auch ohnedies war das
Unternehmen ein todtgeborenes. Nun begann die "Vergeltung",
die heſſiſchen Gerichte bekamen traurige Arbeit, und das
Gefängniß zu Friedberg füllte ſich bald mit Hochverräthern.
Vorerſt wurden die jungen, unvorſichtigen Gießener Studenten
[LXXXVII] (Gladbach, Schuler, Stamm, Groß u. A.) ergriffen und feſt-
geſetzt, dann einige beſonders ſchwer compromittirte Männer,
wie Apotheker Trapp aus Friedberg, Pfarrer Flick aus
Petterweil u. ſ. w. Weidig hingegen blieb frei, ebenſo
ſeine Butzbacher Jünger. Dieſe auffällige Thatſache erklärt
ſich einerſeits durch die Verſchwiegenheit der Verhafteten,
welche keinerlei comprimittirende Ausſagen machten, andrer-
ſeits durch die Vorſicht Weidigs, welcher alle Waffen, Pa-
tronen, Papiere etc. ſorglich hatte wegſchaffen laſſen, ſo daß
wiederholte Hausdurchſuchungen in Butzbach keinerlei Reſultat
ergaben. Da der Regierung bei dieſer Sachlage jegliche
Handhabe zu einer gerichtlichen Unterſuchung gegen den miß-
liebigen Mann fehlte, ſo ließ ſie ihn polizeilich verhaften
und inquiriren. Das war jedoch ein ſo eclatanter Ver-
faſſungsbruch, daß die Kammern auf die erſte Kunde ſcharfen
und feierlichen Proteſt gegen ſolche Willkühr erhoben. Herr
du Thil mußte wohl oder übel nachgeben, Weidig wurde
freigelaſſen. Aber er blieb unter polizeilicher Aufſicht, und
auch ſonſt mußte er nun nothgedrungen die Hände in den
Schooß legen. Denn jede Ausſicht auf gewaltſame Erhebung
war vernichtet; im Großherzogthum, wie im übrigen Deutſch-
land, wuchs und erſtarkte die Reaction von Tag zu Tage.
Als die Regierung am 2. November 1833 auch die Kammern
auflöſte, wurde es ſtill im Lande. Wohl zitterte die Er-
regung ohnmächtigen Grolls in den Gemüthern, aber ſelbſt
die Muthigſten mußten ſich eingeſtehen, daß nun Schweigen
und Dulden für lange Zeit hinaus ihr einzig Theil bleibe.
In dieſem Zeitpunkte wandte ſich Georg Büchner
dem Rector von Butzbach und ſeiner Partei zu, dieſe Sach-
lage fand er vor. Wenn wir nun wieder die Frage nach
[LXXXVIII] den Beweggründen dieſes verhängnißvollen Schritts aufnehmen,
ſo können wir jetzt mit Sicherheit verneinen, daß ihn äußere
Umſtände gelockt. Denn was er in Straßburg nur vor-
geahnt, ſtand in Gießen greifbar klar vor ihm: die revolu-
tionäre Partei hatte keine Macht, keine Mittel, keine Pläne;
Traum und Schaum waren ihre Beſtrebungen, und wer ihr
ſeine Kraft weihte, weihte ſie einer verlorenen Sache. Gerade
zu jener Zeit mußte dies ſelbſt ein Phantaſt begreifen und
Büchner war wahrlich kein ſolcher! Oder hoffte er, daß
ſich die Menge durch kühne Vorkämpfer denn doch werde mit
fortreißen laſſen? Im Gegentheil! wie er von dem Muth
der Maſſen dachte, beweiſt eine Briefſtelle vom November
1833 (S. 334) — "die Leute gehen in's Feuer, wenn's
von einer brennenden Punſchbowle kommt" — der über-
müthigſte Junker hätte kein ſchärferes Wort erſinnen können,
als dieſer angehende Jünger der Revolution! Und ſo gibt
es nur eine Erklärung für Büchner's Handlungsweiſe, ſeinen
innern, ſeinen Gemüthszuſtand. Er war in Gießen
durch das Zuſammenwirken jener traurigen Verhältniſſe, welche
wir oben geſchildert, ſo ſchwermüthig, ſo dumpf und hoff-
nungslos geworden, daß er Kampf und Gefahr ſuchte, um
ſich ſelbſt zu entrinnen. Was er brauchte, was er mit
brennender, ſelbſtquäleriſcher Sehnſucht herbeiwünſchte, war
eine Aufgabe, der er dienen, ein großer Zweck, dem er ſeine
Kraft widmen konnte. Ich gehe zu Grunde, mochte er ſich
in jenen düſteren Tagen ſagen, wohlan denn, ſo will ich,
ſtatt an mir ſelbſt, durch Andere zu Grunde gehen, und im
Kampfe für meine Ideale, im vergeblichen Kampfe für die
Freiheit meines Volkes. Ein krankhaftes Mittel, eine krank-
hafte Gemüthsſtimmung zu überwinden — anders wird man
[LXXXIX] bei aufmerkſamer Prüfung Büchners Handlungsweiſe nicht
zu erklären vermögen. Auch Dr. Ludwig Büchner, der
aus der Familien-Tradition ſchöpfte und ſich mit den
Freunden ſeines Bruders über dieſen Punkt beſprach, iſt
derſelben Ueberzeugung — "Georg ſtürzte ſich", ſchreibt er,
"in die Politik, wie in einen Ausweg aus geiſtigen Nöthen
und Schmerzen". Der Kampf "in tyrannos" ſollte ihm
gewähren, was ihm ſeine mediziniſchen, philoſophiſchen und
geſchichtlichen Studien verſagt oder gar geraubt: Aufregung,
Anſpannung und Bethätigung ſeiner Kraft. Jedes andere
Motiv, nach dem man ausſpähen wollte, erweiſt ſich bei
näherer Prüfung nicht ſtichhaltig. Was vielleicht bei einer
geringeren Natur zur Erklärung ausreichen würde: daß eben
leichte Gelegenheit auch Verſchwörer macht, genügt nicht
bei einem Menſchen, wie Georg Büchner. Und ebenſowenig
ward er etwa durch den Einfluß überlegener Naturen in
jenes Treiben hineingezogen. Es gab unter den heſſiſchen
Demokraten keinen Mann, der ihm überlegen geweſen wäre,
und der beſte Beweis hiefür iſt, daß Büchner ſie binnen
kurzer Zeit ſämmtlich dominirte! Nur ein Motiv wird man
daneben gelten laſſen müſſen: dieſes active Eingreifen wider-
ſprach wohl der Einſicht ſeines Verſtandes, aber es entſprach
völlig den Empfindungen ſeines leidenſchaftlichen Herzens.
Hier konnte ſich ſein Trotz gegen die plumpe Uebermacht
bethätigen, hier ſein leidenſchaftliches Mitleid mit den Be-
ladenen und Unterdrückten, hier ſein großer, perſönlicher
Muth.
"Ein krankhaftes Mittel, eine krankhafte Gemüths-
ſtimmung zu überwinden —" milder oder romantiſcher wird
man gleichwohl im Weſentlichen Büchner's Handlungsweiſe
[XC] nicht auffaſſen können. Aber wer nun ſein weiteres Leben
verfolgt, wird zugeben müſſen, daß ſich dieſe gefährlichſte
Anwendung des Satzes "similia similibus" an ihm geradezu
heilkräftig erwieſen. Es waren unheimliche Geiſter, die er
gerufen, aber ſie machten ſeine Seele frei von dem unheim-
lichen Bann, der auf ihr gelaſtet. Wenn wir ſein Ein-
greifen in jene politiſchen Strebungen ein verhängnißvolles
genannt, ſo geſchah es im Hinblick auf ſein geſammtes Leben,
welches hiedurch zerriſſen und in regelloſe Bahnen getrieben
wurde. Zunächſt aber ward es ihm zum Segen. Wohl
wurde Büchner auch als Pamphletiſt und Geheimbündler
kein leidlich befriedigter oder gar glücklicher Menſch, wohl
verließ ihn weder ſein Scepticismus, noch ſeine düſtere,
fataliſtiſche Auffaſſung alles Menſchengeſchicks, aber er be-
gann wieder zu ſtreben, er gewann ein Ziel, nach welchem
er, ſeine Erſchlaffung abſchüttelnd, mit aller Kraft zu ringen
vermochte!
Wie er dabei von Schritt zu Schritt erſtarkte, wird
uns eine Betrachtung ſeiner Thätigkeit vom November 1833
bis zum Juli 1835 lehren. Ehe wir jedoch an dieſe gehen,
wollen wir hier vorgreifend zweier Ereigniſſe gedenken, welche
in gleichem Sinne: klärend und befreiend, auf ihn wirkten.
Es war dies die Verlautbarung ſeines Herzensbundes mit
Minna Jaeglé und die glückliche Ueberwindung einer ſchweren
Erkrankung.
Wer die merkwürdigen, in dieſer Biographie bereits
wiederholt erwähnten Briefe lieſt, welche Büchner vom
Oktober 1833 bis zum März 1834 an Minna geſchrieben,
kann verfolgen, wie ſich dem leidenſchaftlichen Jüngling die
Sehnſucht nach der Braut allmählig bis zur körperlichen
[XCI] Qual ſteigerte. Muß man auch, wie oben angedeutet,
Einiges der ſentimentalen Sprache der Zeit, Anderes ſeinem
trüben Gemüthszuſtand zuſchreiben, es bleibt genug übrig,
um uns begreifen zu laſſen, daß er dieſe Laſt endlich um
jeden Preis von ſeinem Herzen ablöſen wollte: — "ich bin
mir ſelbſt ſchuldig," ſchreibt er, "einem unerträglichen Zuſtande
ein Ende zu machen". Hierzu kam noch, daß ihn im
Vorfrühling 1834 bedenkliche Nachrichten über das körper-
liche Befinden ſeines Mädchens erſchreckten, endlich der
Wunſch, für das heimliche Verlöbniß die Zuſtimmung der
beiden Elternpaare zu erringen. Doch ging diesbezüglich die
Anregung von Minna aus, ſei es, daß ſich ihre Empfindung
gegen die Fortſpinnung eines heimlichen Verhältniſſes auf-
lehnte, oder daß ihr zeitweilig um die Treue des fernen
Geliebten bange werden wollte. Büchner fügte ſich ſofort,
obwohl beide ſo jung waren, — er kaum Zwanzig vorbei,
ſie kaum Achtzehn — und die Ausſicht auf Vermählung
noch recht ferne lag: "Was kann ich ſagen," ſchreibt er,
"als daß ich Dich liebe; was verſprechen, als was in dem
Worte Liebe ſchon liegt, Treue? Student noch zwei Jahre;
die gewiſſe Ausſicht auf ein ſtürmiſches Leben, vielleicht
bald auf fremden Boden". Die letztere Andeutung be-
weiſt, wie tief er ſich bereits in jene revolutionären Be-
ſtrebungen verwickelt fühlte und ſchon damals jene Eventuali-
tät in Rechnung zog, die ein Jahr ſpäter wirklich eintrat:
die Nothwendigkeit einer Flucht in's Ausland. Auch dieſer
Umſtand konnte Büchners Qualitäten als Heirathscandidat
nicht gerade erhöhen, gleichwohl wagte er, aus Zartgefühl,
keinerlei Einrede und ſtellte nur zwei Bedingungen: daß er
ſelbſt ſeine Eltern hievon unterrichte und ferner — "Schweigen,
[XCII] ſelbſt bei den nächſten Verwandten. Ich mag nicht hinter
jedem Kuſſe die Kochtöpfe raſſeln hören und bei den ver-
ſchiedenen Tanten das Familienvatersgeſicht ziehen." Ob
ihm die letztere Bedingung zugehalten worden, wiſſen wir
nicht, bezüglich der erſteren geſchah ihm ſein Wunſch. In
den letzten Tagen des März 1834 reiſte Büchner, ohne
ſeine Familie vorher zu benachrichtigen, nach Straßburg und
errang mühelos die Zuſtimmung der Eltern der Braut.
Von hier aus ſchrieb er dann an ſeine Eltern und theilte
den Erſtaunten ſeine Verlobung als fait accompli mit. Auch
ſie weigerten ihre Einwilligung nicht, und Büchner kehrte
in den erſten Apriltagen nach Darmſtadt zurück, um da die
Oſterferien zuzubringen.
Hier, im elterlichen Hauſe, befiel ihn eine ſchwere Er-
krankung, eine Hirnentzündung, vielleicht durch die Auf-
regungen der letzten Tage hervorgerufen, vielleicht auch das
endliche Heraustreten jenes Krankheitsſtoffs, welcher ſich in
dieſem unſeligen Winter in ihm angeſammelt. Jedenfalls
überwand er die Krankheit mit Leichtigkeit und wurde darauf
geſünder, als zuvor. Schon als Reconvalescent nutzte er
ſeine Muße in eigenthümlicher Weiſe: er gründete unter
ſeinen Darmſtädter Freunden eine geheime Geſellſchaft, nach
dem Muſter jener, welche er kurz vorher in Gießen organi-
ſirt. Dies lenkt uns zu ſeiner politiſchen Thätigkeit zurück.
... Unter den wenigen Menſchen, mit denen Georg
Büchner ſchon während der erſten Zeit ſeines Gießener
Aufenthalts verkehrte, war auch ein curioſer und abenteuer-
licher Geſelle, Auguſt Becker mit Namen, ſeines Zeichens
Student der Theologie. Dieſe letztere Bezeichnung bezieht
ſich jedoch nur auf den zufälligen und rein äußerlichen Um-
[XCIII] ſtand, daß er in die Matrikeln der evangeliſch-theologiſchen
Facultät zu Gießen inſcribirt war, im Uebrigen hat die
Sonne ſchwerlich vorher oder nachher irgend einen Menſchen
beſchienen, der ſo wenig der gebräuchlichen Vorſtellung von
einem Jünger der Gottesgelahrheit entſprach, als dieſes ſelt-
ſame Individuum. Ohne Rock, am Oberkörper nur mit
einem verwaſchenen ruſſiſchen Hemde bekleidet, auf den langen,
wirren, fuchsrothen Locken ein kleines, ſchwarzes Sammtbarett
balancirend, in der Hand ſtets einen armsdicken Prügel —
ſo ſtolzirte der "rothe Becker" umher — ein mächtiger braun-
rother Bart, der die ganze Bruſt bedeckte und ein Paar
wuchtige, aber unglaublich zerriſſene Kanonenſtiefel vervoll-
ſtändigten einen Aufzug, der weit eher in ein Coſtümbuch
zu Schillers Räubern, als in die Gaſſen der ſtillen, ehr-
ſamen Stadt Gießen paßte. In dieſen Gaſſen umherzugehen
und ſich anſtaunen zu laſſen, war ſeine Hauptbeſchäftigung;
daneben beſuchte er Wirthshäuſer, wenn ihn Bekannte ein-
luden und die Zeche zahlten, im Colleg aber war er keines-
falls zu gewahren, nie und nimmer. Was Büchner zuerſt
zu dieſem eigenthümlichen Theologen hinzog, war ſicherlich
nur die Neugierde; jeder Student, der nach Gießen kam,
ſuchte die Bekanntſchaft des "rothen Becker" zu machen,
wenn auch nur deßhalb, um ſpäter über ihn lachen zu können.
Das that aber Büchner nicht, weil er bald an ſeinem
neuen Bekannten ſeltene Eigenſchaften gewahrte. Der junge,
verwilderte Rieſe hatte ſich in all ſeiner Verkommenheit einen
eigenthümlichen Stolz bewahrt; er bat und bettelte nie, er
wies jedes Geldgeſchenk zurück, er nahm nie an einer Mahl-
zeit oder Kneiperei Theil, außer wenn er ausdrücklich dazu
eingeladen wurde und erwies auch die Ehre, für ihn zahlen
[XCIV] zu dürfen, nicht Jedem, ſondern nur Jenen, die ihm zu Ge-
ſichte ſtanden. Lieber hungerte er, und da es ſich oft fügte,
daß die Freunde ſeiner vergaßen, ſo hungerte er oft drei,
vier Tage lang, ohne eine Miene zu verziehen, ohne durch
ein Wort der Klage das Mitleid auf ſich zu lenken. Das
zeugte immerhin von Charakter und noch mehr ward Büchner
überraſcht und gefeſſelt, als er erkannte, daß dieſer mißachtete
Tagedieb nicht blos ein hochbegabter, ſondern im Grunde
auch ein hochgebildeter Menſch ſei. Becker hatte nichts
ernſtlich betrieben, aber ganz erſtaunlich viel geleſen und
beſaß ſo, von einem ſeltenen Gedächtniß unterſtützt, faſt in
jedem Gebiet des Wiſſens ausreichende, in Geſchichte und
Literatur ausgezeichnete Kenntniſſe — nur ſein "Studium",
die Theologie, war ihm ein Buch mit ſieben Siegeln. Frei-
lich mußte man ihm ſchon näher gekommen ſein, um dies
zu gewahren, im gewöhnlichen Verkehr gab er ſich gefliſſent-
lich als roh und unwiſſend, ſuchte jedes edlere Geſpräch
durch einen ſchalen Witz abzuſchneiden und war überhaupt
ängſtlich bemüht, Anderen den Eindruck eines völlig ver-
kommenen, cyniſchen und bornirten Menſchen zu machen.
Büchner's pſychologiſcher Scharfblick erkannte bald, daß
ihm hier ein eigenthümliches Seelenräthſel entgegentrete, und
was er zu deſſen Löſung erfuhr, war geeignet, ſeine Sym-
pathien zu erwecken. Auguſt Becker hatte, obwohl kaum
zweiundzwanzig Jahre alt, bereits eine Laſt von Schmerzen
und Demüthigungen ertragen, wie ſie ſich auf wenige
Menſchen während eines langen Lebens häuft. Der ängſt-
lich gehütete Sohn einer frommen Pfarrersfamilie, hatte er
nach dem Tode des Vaters in zartem Alter den Kampf
mit dem Leben aufnehmen müſſen. Jeder kärgliche Biſſen,
[XCV] den ihm liebloſe Verwandte reichten, war von Vorwürfen
begleitet, daß er ihnen eine Laſt ſei, jede Gabe, die er über
ihren Befehl von frommen Gönnern einſammeln mußte,
wurde mit der Mahnung gewürzt, daß er ſich dieſer Gnade
durch Hingabe an ſeinen künftigen frommen Beruf erſt werde
würdig machen müſſen — kein Wunder, daß ihm dieſer
Beruf früh verleidet wurde! Jede Knabenluſt ward ihm
vergällt, jedes heitere Lachen verübelt — ein "Bettelſtudent"
habe kein Recht, fröhlich zu ſein. Und doch betrug dieſe
Unterſtützung täglich ſieben Kreuzer und mußte täglich ab-
geholt werden! Ein überaus empfindliches Ehrgefühl ließ
ihn die Bitterkeit dieſer Lage noch peinlicher empfinden, als
ſie ohnehin war; ſchon damals gewöhnte er ſich daran, lieber
einen Tag zu hungern, als die Gabe abzuholen. Seine
Verſuche, ſich durch Privatunterricht kleiner Kinder einiges
Geld zu erwerben, mißglückten; dem ärmlich gekleideten,
ſcheuen, häßlichen und noch obendrein rothhaarigen Jungen
mochte ſelbſt ein Handwerker ſeine Kinder nicht anvertrauen.
Dieſes unverdiente Mißtrauen weckte ſeinen Trotz, bald wollte
er als das gelten, wofür man ihn hielt, einen trägen, miß-
rathenen Menſchen. Nachdem er das Gymnaſium beendet,
hörte jegliche Unterſtützung auf; er ließ ſich als Theologe
inſcribiren, weil er die täglichen ſieben Kreuzer nur unter
dieſer Bedingung erhalten, zum Studium hielt er ſich nicht
verpflichtet. Daß er oft und vergeblich Arbeit und Erwerb
geſucht, hehlte er Jedermann, er wolle nicht arbeiten! So
war dieſer cyniſch-freche, jämmerlich aufgeputzte Tagedieb im
Herzen ein zerknirſchter, von peinlichſter Selbſtqual gefolterter
Menſch. Nachdem Büchner dies erkannt, ward ſein leiden-
ſchaftliches Mitleid auch für dieſen Unglücklichen lebendig,
[XCVI] und er ſetzte ſeine ganze Energie und Ueberlegenheit daran,
ihn zu einem menſchenwürdigen Daſein emporzuheben. Viel-
leicht wäre dies auch bei längerer Einflußnahme gelungen, ſo
aber ſank Becker, nachdem Büchner Gießen verlaſſen, raſch
wieder in ſein früheres Treiben zurück und hat ſich ſein
Leben lang nicht wieder daraus emporkämpfen können —
er iſt nach einer Reihe ſeltſamſter Schickſalsfügungen, wie
ſie kein Romanſchreiber intereſſanter erſinnen könnte, 1871
als Penny-a-liner zu Cincinnati geſtorben. Doch intereſſirt
uns dieſer merkwürdige Menſch hier nur in ſeinen Beziehungen
zu Georg Büchner und als intimer Freund deſſelben. Denn
auf dieſe Bezeichnung konnte Auguſt Becker ſchon nach
kurzem Verkehre Anſpruch machen. Es war ein eigenthüm-
liches Verhältniß; Büchner zog Becker an ſich heran, weil
er Mitleid mit ihm hatte, weil ihn der geiſtvolle, wenn
auch cyniſch-wirre Menſch intereſſirte, und endlich gewiß
nicht zum geringſten Theil deßhalb, weil ihm der Verkehr
mit dieſem armen Sonderling gerade in ſeiner damaligen
Gemüthsſtimmung zuſagte. Becker hingegen fühlte ſich
durch dieſe Güte eines genialen, allgemein reſpectirten Jüng-
lings ſo gehoben und dankbar verpflichtet, daß er ihm mit
blindeſter, rückhaltsloſer Treue anhing. Was Büchner ſprach,
prägte er ſich ein, wie ein Evangelium (vgl. S. 409 ff),
und in der drangvollſten Zeit ſeines Lebens hat er mit
Stolz darauf hingewieſen, daß ihm Büchner ſchon damals ſeine
Beziehung zu Minna Jaeglé mitgetheilt, als dieſe noch für
die ganze übrige Welt ein Geheimniß war (S. 418). Was
Wunder, daß Becker ſich verpflichtet fühlte, dem Freunde
nun auch ſein großes Geheimniß mitzutheilen: er ſei Mit-
glied einer Verſchwörung und ſtehe ſogar in innigem Verkehr
[XCVII] mit deren Häuptern! So ſeltſam und abenteuerlich dies
klang, ſo war es doch buchſtäblich wahr: Becker war ſeit
zwei Jahren in alle Beſtrebungen der revolutionären Partei
in Süddeutſchland eingeweiht und diente ihr nach Kräften,
namentlich als Courier. Wer Weidig als General dieſer
Armee auffaßte, mußte Becker als deſſen Adjutanten gelten
laſſen. Der Theologe im Räuber-Coſtüm gab ſich, ſo oft
man es heiſchte, zur Beförderung ſchriftlicher Berichte, Flug-
ſchriften, Waffen etc. her, für welche ſich ſonſt ſchwerlich ein
Bote bereit gefunden hätte. "An mir geht ſchlimmſten Falls
nichts verloren", pflegte er mit Galgenhumor zu ſagen.
So war der "rothe Becker" der erſte Menſch, durch
welchen Büchner nicht blos gerüchtweiſe, ſondern als Gewiß-
heit erfuhr, daß rings um ihn her das Feuer noch unter
der Aſche glühe, daß die revolutionäre Partei, wenn gleich
decimirt und faſt hoffnungslos, noch immer ihre Netze ſpinne.
Und ebenſo war es Becker, welcher die perſönliche Bekannt-
ſchaft zwiſchen Büchner und Weidig anbahnte. Doch traf
er damit anfangs bei Büchner auf Widerſtand, und dieſer
entſchloß ſich erſt dann zu einem Beſuche im Hauſe des
Führers, nachdem er bereits den feſten Entſchluß gefaßt, an
den Beſtrebungen der Partei theilzunehmen. Es geſchah
dies um Neujahr 1834, und von da ab wurde Büchner ein
häufiger Gaſt im Rectorhauſe zu Butzbach. Hier hat er
ſeine Thätigkeit begonnen, anfangs Weidigs Ideen unter-
ſtützend, ſpäter dieſen zur Ausführung ſeiner eigenen Ideen
bewegend. Anfangs fügte ſich Büchner, ſpäter Weidig, über-
zeugt haben ſie einander ſelten oder nie. Denn zwiſchen
Beiden waltete ein greller Contraſt, und ſo wird hier ein
G. Büchners Werke. g
[XCVIII] Blick auf Charakter und Ueberzeugungen Weidigs unum-
gänglich ſein.
"Sein Leben, wie ſein Tod waren gleichermaßen ein
Opfer für das Vaterland" — ſo hat ein hervorragender
Geſchichtsſchreiber über Weidig geurtheilt und damit ſcharf
den Hauptzug dieſes Charakters hervorgehoben: die völlige
Aufopferung aller perſönlichen Intereſſen für eine große Idee.
Um ein Beiſpiel ähnlicher grenzenloſer, faſt unheimlicher
Selbſtloſigkeit aufzufinden, müßte man weit zurückgreifen, in
die Tage des Solon oder Ariſtides. Aber dieſe wuchſen in
der freien Luft eines ſtarken Gemeinweſens empor, geläutert
und erzogen durch ein gewaltiges Pflichtgefühl Aller —
Weidig hingegen in einem verrotteten Kleinſtaat, als Sohn
eines uneinigen, unpolitiſchen Volkes. Und doch opferte er
nicht blos ſein Vermögen, nicht blos ſein Leben, ſondern
auch Glück und Gedeihen ſeiner Familie und ſeiner Schüler
dem einen Ziel: dem Heil ſeines Volkes. Rechnet man
hinzu, daß ſein Verſtand ebenſo ſcharf war, als ſein Herz
zartfühlend und rückſichtsvoll, ſo begreift man, wie das
Seelenleben dieſes Mannes Freunden und Feinden ein Räthſel
war, wie ſich die bunteſten Urtheile über ihn kreuzen und
ſein Bild verwirren. Dem Einen iſt er ein "Verführer der
Jugend", dem Anderen der "politiſche Luther der Deutſchen",
der Dritte meint, ſeine religiöſe Schwärmerei habe ihn zum
Revolutionär gemacht, der Vierte, er ſei wohl im Herzen
ungläubig geweſen, weil er mit der atheiſtiſchen Revolution
gemeinſame Sache machte. Vielleicht iſt die ſchlichteſte Er-
klärung die beſte: Weidig's religiöſe Begeiſterung war ſo
echt, wie die politiſche, beide wuchſen in ſeinem Herzen un-
löslich zuſammen, beide vereint gaben ihm die Kraft ſeiner
[XCIX] unerhörten Selbſtloſigkeit. Auch bei Sand war es ja nicht
anders, und dieſelbe Grundrichtung haben Beide aus den-
ſelben Einflüßen empfangen, aus der ſchwärmeriſchen, gott-
trunkenen und hochpatriotiſchen Stimmung der deutſchen
Jugend um die Zeit der Befreiungskriege. Wohl war Weidig
um jene Zeit (ſeit 1812) bereits Conrector zu Butzbach,
aber er war nicht blos ein perſönlicher Freund der Brüder
Follen, ſondern auch begeiſterter Anhänger der Geſinnungen
der erſten deutſchen Burſchenſchaft. Er war's, der jene
"deutſche Geſellſchaft" gründete, deren S. LXXV Erwähnung
geſchehen; ſie wurde zerſprengt, aber er fuhr fort, nach deren
Grundſätzen zu leben und zu wirken. In ſeinem Lebens-
wandel ein Muſter aller männlichen Tugenden, wie ſelbſt
ſeine erbittertſten Gegner zugeſtehen; von unſäglicher Herzens-
milde und dabei doch voll raſtloſer Thatkraft, ſetzte er ſeine
ganze Kraft darein, nicht blos die ihm anvertraute Jugend,
ſondern Jeden, auf den er Einfluß gewann, zu "ächter
Teutſchheit" zu erziehen. Darunter aber verſtand er nicht
blos Sittenſtrenge und Frömmigkeit, ſondern auch bedingungs-
loſe Hingabe an das Vaterland. Selten ſprach er von
Religion, ohne auch in die Politik hinüberzulenken, und nie
von Politik, ohne ſeine Ueberzeugung durch Bibelſtellen zu
erhärten. Wenn er von der Freiheit Deutſchlands ſprach,
ſo citirte er gern den Satz des Evangeliums: "Werdet nicht
der Menſchen Knechte, denn ihr ſeid theuer erkauft!" und
bezüglich der Einheit pflegte er auszurufen: "Wir ſind nach
den Geſetzen der Natur und ſomit Gottes ein Volk, und
was Gott zuſammenfügt, ſoll der Menſch nicht trennen!"
Dieſen letzteren Spruch bezeichnete er ſelbſt als den Grund-
ſtein ſeiner Ueberzeugung, höher als die Freiheitsfrage ſtand
g *
[C] ihm jene der Einheit. Auch darin erwies er ſich als
"Teutſcher von 1816", wie in vielen anderen Stücken; ſein
Lieblingsdichter war Klopſtock, wogegen er Goethe grimmig
haßte; die franzöſiſche Revolution war ihm ein Gräuel, weil
ſie die Vernunft als Göttin proclamirt, und der Gedanke
einer Emancipation der Juden ſchien ihm ſündhaft, weil Gott
dieſes Volk verſtoßen. Während ſeine meiſten Geſinnungs-
genoſſen allmählig von jenen chriſtlich-germaniſchen Principien
abkamen und entweder zahme Staatsbürger wurden oder
moderne Freiheitsideen acceptirten, blieb Weidig, auf das
kleine Butzbach und den Verkehr mit Leuten, die er völlig
beeinflußte, angewieſen, denſelben unwandelbar treu. Daraus
erklärt es ſich auch, daß er keineswegs für eine deutſche
Republik ſchwärmte, auch keineswegs ein Freund der Fran-
zoſen war — ſein Traum war die Aufrichtung eines mäch-
tigen Erbkaiſerthums, welches Deutſchland in ſeinen alten
Grenzen (Lothringen und Burgund einbegriffen) aufrichten
und, nach Italien hinübergreifend, der "Hydra des Papſt-
thums" das Haupt zertreten ſollte! Aber weil er mit allen
Liberalen und Demokraten das nächſte Ziel: die Aenderung
der gegenwärtigen Zuſtände, gemeinſam hatte, ſo wußte er
ſich auch, von einer ſeltenen Menſchenkenntniß und einer
ungemeinen perſönlichen Liebenswürdigkeit unterſtützt, mit
Allen zu vertragen. Was gegen den Bundestag und die
Kleinſtaaterei ging, konnte auf ſeine Hilfe zählen: darum
unterſtützte er Gärth und Rauſchenplath bei ihren Vor-
bereitungen zum Frankfurter Putſch, darum opferte er ſein
ganzes, nicht unbeträchtliches Vermögen zur Unterſtützung
der liberalen Preſſe, darum ließ er, der Mann der Revo-
lution, ſich die Mühe nicht verdrießen, bei einer Gemeinde-
[CI] wahl in Oberheſſen unermüdlich zu agitiren, auch für den
zahmſten Liberalen, ſofern dieſem etwa ein Regierungscandidat
gegenüber ſtand. Aber andrerſeits hielt er auch bei aller
Elaſticität eiſern an ſeinen Principien feſt, nicht blos, was
die Endziele betrifft, ſondern auch, ſo weit ihm die Kraft
reichte, in der Auswahl der Mittel.
So fragmentariſch dieſe Charakteriſtik des merkwürdigen
Mannes ſein mag — ſie läßt doch ſofort erkennen, daß
zwiſchen ihm und Georg Büchner ein unverſönlicher Wider-
ſtreit des Weſens und der Ueberzeugungen waltete. Wenn
Auguſt Becker drei Jahre ſpäter vor dem heſſiſchen Kriminal-
gericht (ſeine Ausſagen finden ſich S. 409-418 zur Be-
gründung und näheren Ausführung unſerer Darſtellung ab-
gedruckt) ganz nebenbei meinte, daß Beide in Manchem
übereingeſtimmt, ſo iſt er die nähere Detaillirung ſchuldig
geblieben; was er anführt, ſind nur Gegenſätze. Wie hätte
dies auch anders ſein können?! Weidig, der fromme,
gottbegeiſterte Jugendbildner und Büchner, der atheiſtiſche
Naturforſcher, Weidig, der fanatiſche Anhänger der mittel-
alterlichen Erbkaiſeridee und Büchner, der radikale Repu-
blikaner, Weidig, der Mann der chriſtlich-germaniſchen
Schwärmerei und Büchner, der klare, entſchiedene, von
modernſten Ideen durchtränkte Jüngling — lag nicht ſchon
in Beider Weſen der Grund zu baldiger Entzweiung?!
Gleichwohl hören wir nur von vorübergehenden Conflicten
(vgl. S. 417), im Weſentlichen und nach Außen hin wirkten
Beide einträchtig zuſammen. Was ſie einte, war ſicherlich
die ſchlimme Lage der Partei und die richtige Einſicht, daß
ihnen mindeſtens das nächſte Stück Wegs gemeinſam ſei,
daneben aber auch der vermittelnde Einfluß einer edlen Frau,
[CII] der Gattin Weidig's. So ſchlecht ſich, ſchrieb Becker 1839
an Gutzkow, Büchner mit Weidig vertragen, ſo entzückt ſei
er von deſſen Frau geweſen, einem überaus herrlichen Ge-
ſchöpf. "Er verlor ſein natürliches Umgeſtüm, wenn ſie dazu
kam, und ward zahm, wie ein Hirſch, wenn er Muſik hört."
Trotzdem bedurfte es ſtets der vollen Willenskraft Beider,
um vereint zu bleiben, denn ein Zuſammenwirken war nur
dann möglich, wenn der Eine dem Anderen ein Opfer ſeiner
Ueberzeugungen brachte. Es iſt bereits erwähnt, daß an-
fangs Weidig, ſpäter Büchner der prävalirende Theil war,
und wir haben nun die Art ihres Vorgehens näher zu be-
leuchten.
Bei der troſtloſen Lage der Partei, welche ſich wahr-
lich nicht um Vieles beſſerte, als im März 1834 die Meiſten
der in Friedberg Eingekerkerten wegen Mangels an Beweiſen
freigelaſſen wurden, konnte man über die nächſte Aufgabe
nicht im Zweifel ſein. An ein erneutes Losſchlagen war
nicht zu denken, es galt für Jahre hinaus nur, die Ge-
ſinnungsgenoſſen feſter zuſammenzuſchließen und ihre Zahl
zu vermehren. Das Erſtere mußte durch irgend eine äußere
Organiſation, das Letztere durch perſönlichen Einfluß und
Verbreitung von Flugſchriften angeſtrebt werden. So weit
waren auch Büchner und Weidig einig, nicht aber über die
Ausführung: die Form jener engeren Organiſation, den
Inhalt der zu verbreitenden Flugſchriften. Beide wollten
das Beſte, aber Jeder aus ſeinem Weſen heraus und ſo
wollten Beide Verſchiedenes.
Daß der bisherige Zuſammenhang der Partei ein lockerer
und ungenügender geweſen, war unbeſtreitbar. Alles war
dem "Eifer der Einzelnen", d. h. dem Zufall überlaſſen,
[CIII] und man glaubte ſchon ſehr planmäßig gehandelt zu haben,
wenn man in jedem größeren Orte einen leidlich angeſehenen
Mann gewann, der als Agent diente. Dieſem Manne fiel
dann die Werbung neuer Genoſſen, die Erhebung der Partei-
Steuern zu, wie andernſeits im Falle des Bedarfs an ihn
Waffen oder Gelder geſendet wurden. So war die erſte
Vorbedingung dieſer primitiven Organiſation ein kindliches
Vertrauen in die ſelbſtloſe Biederkeit ihrer Mitglieder, während
doch jede Partei des Umſturzes erfahrungsmäßig auf den
Anſchluß anrüchiger, geſcheiterter und verzweifelter Exiſtenzen
gefaßt ſein muß. Aber auch hievon abgeſehen, erfüllte ſie
ihre Zwecke ſchlecht oder gar nicht. Selbſt die Häupter
waren über die Stärke der Partei nie verläßlich unterrichtet,
noch minder über ihre Stimmung, denn die Agenten warben
an verſchiedenen Orten Leute ſehr verſchiedener Art und be-
arbeiteten ſie in jenem Sinne, der ihnen perſönlich zunächſt
genehm war. So kam es auch, daß nur die nächſten Partei-
genoſſen einander kannten und völlig übereinſtimmten, daß
ferner im Falle der Noth die ausgegebene Parole nur lang-
ſam verbreitet werden konnte und der Gefahr verſchiedener
Auslegung ausgeſetzt war! Noch ſchlimmer ſtand es um
die Organiſation nach Oben, um die Fühlung, in welcher
die heſſiſchen Demokraten mit der übrigen Partei in Süd-
deutſchland ſtand. Nur ganz im Allgemeinen waren ſie
davon unterrichtet, daß ſich das Netz ähnlicher Verbindungen
auch über Kurheſſen, Baden, Naſſau und Württemberg er-
ſtreckte; über Anzahl und Macht dieſer Parteigenoſſen curſirten
nur unverbürgte Gerüchte, welche dieſelbe bald abenteuerlich
ſtark ausmalten, bald als ganz bedeutungslos hinſtellten.
Wohl waren in Frankfurt mehrere radicale Advocaten, Lehrer
[CIV] und Bürger zu einem Verein "Männerbund" genannt, zu-
ſammengetreten, welcher dazu beſtimmt war, den revolutio-
nären Beſtrebungen in Süddeutſchland als Centrum zu
dienen und dieſelben zugleich in Fühlung mit den gleichen
Beſtrebungen in Frankreich und der Schweiz zu bringen,
aber der Einfluß dieſes Vereins hatte ſich bisher wenig
fühlbar gemacht, nur in einigen Weiſungen, denen man nach
den localen Verhältniſſen unmöglich nachkommen konnte.
Kurz, es fehlte gleichermaßen an einer einheitlichen Führung,
wie an einem Zuſammenſchluß der Einzelnen, und ſo wird
man es begreiflich finden, wie Büchner ſofort die Frage
der Organiſation als die wichtigſte erkannte und mit aller
Energie auf Abhilfe drang. Zunächſt, betonte er, bedürfe
es der Arbeit im eigenen Lande, denn wie wichtig auch die
Organiſation nach oben ſei, ſo vermöge doch die heſſiſche
Partei eine ſolche nicht aus eigener Kraft zu ſchaffen und
müſſe nur ihr Theil dazu beitragen, den "Männerbund"
zum factiſchen Mittelpunkt zu erheben. Nach unten jedoch
gebe es keine Entſchuldigung, keinen Vorwand für längere
Säumniß und Halbheit, denn eine ernſte Wirkſamkeit ſei
überhaupt erſt dann möglich, wenn man die Kräfte der
Partei genau kenne und über ſie zu verfügen vermöge, wie
über einen wohlgeordneten Mechanismus. Als Grundlage
der Organiſation beantragte er daher die Schaffung von
Ortsvereinen mit gleichem Statut, Namen und Wirkungs-
kreis. Ueberall da, ſchlug er vor, wo mindeſtens drei ver-
läßliche Parteigenoſſen wohnen, treten ſie zu einem geheimen
Verein, "Geſellſchaft der Menſchenrechte" genannt, zuſammen,
welcher den Zweck hat, erſtens die Mitglieder in der Treue
für die Prinzipien der Partei zu beſtärken und ihnen Ge-
[CV] legenheit zu heimlicher Waffenübung zu gewähren, zweitens,
neue Mitglieder zu werben, drittens, alle Befehle der Partei-
leitung, mögen ſie nun Vertheilung von Flugſchriften oder
Beiſteuer an Geld oder endlich als letztes Ziel die Revolution
betreffen, pünktlich auszuführen. Die Parteileitung beſteht
aus zuverläſſigen Männern, welche in einer größeren Stadt
des Landes ihren Sitz haben, unter zeitweiliger Beiziehung
von Deputirten der einzelnen Vereine, und hat die doppelte
Aufgabe, einerſeits alle auf das eigene Land bezüglichen
Anordnungen zu treffen, andrerſeits mit dem "Männerbund"
zu communiciren. Als Statut endlich ſchlug Büchner
einen kurzen, bündigen Satz vor, welcher jedes Mitglied und
jeden Verein für die Revolution und als deren Endziel für
die Republik verpflichtete. Wie immer man dieſen Plan be-
urtheilen mag, die energiſche Thatkraft ſeines Schöpfers
leuchtet überall hervor, und mit derſelben Energie ſetzte ſich
Büchner für die Annahme ein. Aber er fand vielfachen
Widerſtand, den entſchiedenſten von Weidig. Die bisherige
Organiſation, meinte dieſer, zeige allerdings in der Praxis
große Mängel, welche ſich indeß durch ſorgliche Wahl der
Agenten, durch häufige Rundreiſen der Führer beheben ließen,
an dem Prinzip aber müſſe man feſthalten, weil es einen
unſchätzbaren Vortheil biete: möglichſt geringe Gefahr der
Entdeckung. Je mehr Vereine und Formen, deſto ſtärker
die Eventualität, der Polizei verrathen zu werden. Auch
ſei Büchner's Plan deßhalb verwerflich, weil er die Partei
der Mithülfe vieler wackerer, allerdings nicht radical, ſondern
conſtitutionell geſinnter Männer beraube, welche ſich bisher
durch Geldſpenden und Verbreitung der Flugſchriften hilfreich
erwieſen, nun aber, wenn man ihnen den Eintritt in eine
[CVI] geheime Geſellſchaft zumuthe, ſicherlich befremdet zurücktreten
würden. Darauf wandte Büchner mit einiger Berechtigung
ein: er vermöge nicht einzuſehen, warum bei Vereinen, welche
ihre Mitglieder auf das Statut vereideten, größere Gefahr
der Entdeckung walte, als bei einem formloſen Zuſammen-
wirken verſchiedener Charaktere, daß ja ferner ſein Plan ge-
rade darauf ausgehe, die unbedingt Verläßlichen von den
"Halben, Lahmen und Zahmen" zu ſcheiden. Wolle man
aber auch ferner die Hilfe der "Conſtitutionellen", von der
er allerdings nicht viel halte, in Anſpruch nehmen, ſo könne
dies ja in der bisherigen Weiſe geſchehen, auch wenn die
Radikalen vereint zuſammenſtänden! Doch erwieſen ſich dieſe
Gründe ebenſo vergeblich, als die Entrüſtung, in welche
Büchner nun gerieth — Weidig konnte nicht nachgeben,
ſchon aus dem einfachen Grunde nicht, weil er ſelbſt keines-
wegs für die Republik war, alſo auch — er, der Führer!
— das gemeinſame Statut nicht hätte beeiden können! Doch
verſchwieg er dies perſönliche Motiv und ſchützte nur immer
ſeine praktiſche Erfahrung vor. Das mochte Büchner durch-
ſchaut haben, es kam zu peinlichen Erörterungen, und ein
gänzlicher Bruch blieb nur mit Mühe vermieden. Doch gab
Büchner ſeinen Kampf nicht auf, geſtählt durch die Zu-
ſtimmung, welche ſein Plan bei den meiſten anderen Partei-
genoſſen fand. Endlich konnte ſich auch Weidig der herr-
ſchenden Strömmug nicht länger entgegenſetzen und es kam
zu einem Compromiß: er könne, erklärte er, die Nützlichkeit
ſolcher geheimen Geſellſchaften nicht einſehen und werde ſich
daher jedes Zuthuns enthalten — wolle aber Büchner die
Sache verſuchen, ſo werde er nicht entgegenwirken. Nun
ging dieſer raſch an's Werk und gründete binnen wenigen
[CVII] Wochen zwei Geſellſchaften nach ſeinem Plane. Zunächſt
freilich mußte er eine ſonderbare Erfahrung machen. Er
war theils durch Becker's und Weidig's Vermittelung, theils
durch ſeine Beziehungen vom Darmſtädter Gymnaſium her,
in näheren Verkehr mit Mitgliedern einer Burſchenſchaft ge-
treten, welche kurz vorher, in Ausführung der Stuttgarter
Burſchenſchaftsbeſchlüſſe vom Dezember 1832 organiſirt, bis
auf kleine Aeußerlichkeiten recht wohl als revolutionärer
Clubb jener Art gelten konnte, wie ſie Büchner zu gründen
gedachte. Darum ſchlug dieſer den Mitgliedern vor, die
Burſchenſchaft in eine "Geſellſchaft" umzuwandeln, ſein
Statut zu acceptiren und auch Nichtſtudenten den Eintritt
zu geſtatten. Bezüglich der beiden erſten Punkte traf er auf
keinen, bezüglich des letzten auf unbeſiegbaren Widerſtand,
an dem auch das Project ſcheiterte. Dieſelben Jünglinge,
welche für radicalſte Gleichberechtigung, ja für eine commu-
niſtiſche Republik ſchwärmten, wieſen wie eine Schmach die
Zumuthung zurück, mit ehrlichen Handwerksleuten an einem
Tiſche zu berathen! Büchner's Denkweiſe in dieſem Punkte
haben wir bereits früher (S. LXIX) kennen gelernt; er handelte
darnach, indem er den ihm angebotenen Eintritt in die
Burſchenſchaft ſchroff ablehnte und in Gießen eine "Geſell-
ſchaft" gründete, welche ſich aus Studenten und Bürgern
recrutirte. Es geſchah dies im März 1834. Ihre Zahl
ſtieg ſchon in den nächſten Wochen auf etwa zwanzig Mit-
glieder, von denen hier neben Büchner und Becker noch die
Studenten Guſtav Clemm, Hermann Trapp, Karl Minnige-
rode, Ludwig Becker, F. I. Schütz, die Küfermeiſter G. M.
Faber und David Schneider genannt ſein mögen. Im nächſten
Monat gründete er dann, wie bereits erwähnt, eine ähnliche
[CVIII] "Geſellſchaft der Menſchenrechte" in ſeiner Heimathsſtadt.
Die Mitglieder waren meiſt junge Darmſtädter Bürgers-
ſöhne, darunter Nievergelter, der ſpäter als Wirth in
Amerika lebte, Kahlert, der 1848 in Texas ſtarb, Koch,
der als Opfer der Reaction im Darmſtädter Gefängniß
endete u. m. A. Beide Geſellſchaften blühten kräftig auf,
und es war nur ein äußerlicher, zwingender Grund, welcher
Büchner verhinderte, auch anderwärts ſolche Vereine zu
gründen. Doch hievon ſpäter!
Wie bezüglich der Organiſation der Partei, ſo äußerte
ſich auch der Gegenſatz zwiſchen Weidig und Büchner bezüg-
lich der Agitations-Mittel. Daß man durch Flugſchriften
neue Anhänger ſuchen müſſe, ſtand Beiden feſt, aber in
welchen Schichten der Bevölkerung? — ſchon dieſe Frage
mußte ihren prinzipiellen Widerſtreit erwecken. Weidig hatte
bereits im October, November und December 1833 je ein
Flugblatt "Leuchter und Beleuchter für Heſſen oder der Heſſen
Nothwehr" herausgegeben, welche, insgeſammt vom conſtitu-
tionellen Standpunkte, aber in beſonders ſcharfem Tone ge-
ſchrieben, die reactionären Maßregeln des Bundestags und
der Großherzoglichen Regierung bekämpfen, ferner einzelne
Beamte, welche ihren Verfaſſungs-Eid gebrochen, an den
Pranger ſtellten, endlich das Volk mahnten, der Kammer-
Oppoſition in ihrem Kampfe für die Verfaſſung treu zur
Seite zu ſtehen. In derſelben Richtung, nur in geſteigertem
Tone fuhr Weidig fort, als er in einem vierten Blatte des
"Leuchters etc." (im Januar 1834) die verfaſſungswidrige
Auflöſung des Landtags von 1833 bekämpfte — dieſelbe
Richtung empfahl er auch fernerhin einzuhalten. Wohl ſtehe
er ſelbſt, erklärte er, keineswegs mehr auf dieſem Stand-
[CIX] punkte, wohl ſcheine ihm, für ſeine Perſon, die Kammer-
Oppoſition nicht ſehr verehrungswürdig, wohl komme ihm
ſogar die Auflöſung des Landtags ſehr gelegen, weil ſie die
Erbitterung der Gemüther erhöhe, dennoch ſei der Stand-
punkt der conſtitutionellen Partei für die Flugſchriften der
einzig mögliche, weil nur dieſe politiſche Schriften leſe, weil
man nur aus ihren Reihen Verſtärkung für die demokratiſch-
revolutionäre Partei erhoffen dürfe. Denn das eigentliche
Volk, der Bauern- und Arbeiterſtand, leſe außer der Bibel
keine Zeile und kümmere ſich auch gar nicht um die öffent-
lichen Angelegenheiten. Das Letztere mußte Büchner zugeben,
aber er zog andere Folgerungen daraus. Wir wiſſen, meinte
er, daß ſich durch Kammer-Debatten unſer Ziel, die deutſche
Republik nie und nimmer erreichen läßt, das einzige Mittel
hiezu iſt die Revolution. Daß wir die Conſtitutionellen je-
mals hiefür gewinnen könnten, iſt ein thörichter Traum;
liberale Edelleute, wie Heinrich von Gagern und reiche
Bürger, wie E. E. Hoffmann, ſind höchſtens für gemäßigten
Fortſchritt, nie und nimmer für eine radicale Umwälzung,
weil dieſe, wie ſie befürchten, auch ihre eigenen Titel und
Beſitzthümer hinwegfegen könnte. Angenommen aber, daß
das Unmögliche möglich, daß die Liberalen Revolutionäre
würden — was wäre damit erreicht? Nichts, gar nichts!
Die Frage der Revolution iſt eine Machtfrage; wenn wir
den Bajonetten der Fürſten nicht eine überlegene Gewalt
entgegenſtellen können, ſo müſſen wir trotz aller Heiligkeit
und Gerechtigkeit unſerer Principien kläglich unterliegen. Es
gilt alſo, eine Armee der Freiheit zu recrutiren, und dies
kann einzig durch Herbeiziehung der großen Maſſen geſchehen.
Es iſt allerdings richtig, daß ſie ſich bisher für politiſche
[CX] Fragen und Flugſchriften wenig intereſſirt, aber der Grund
hiefür iſt leicht zu finden. Was ſoll dem Arbeiter, der
kein Wahlrecht hat, die Aufforderung nur Liberale zu wählen,
was dem Bauer, der unter dem Druck der Noth erliegt und
weder Zeit, noch Geld, noch Verſtändniß für Zeitungen hat,
die Einladung zum Eintritt in den Preßverein?! Steigt
zu dieſen armen Leuten herab, redet zu ihnen in ihrer
Sprache, von ihren Intereſſen, und ſie werden Euch ver-
ſtehen! Dieſe Intereſſen ſind die materiellen: der Druck
der Geld- und Blutſteuer, die Noth, die Rechtloſigkeit!
Sprecht dem Bauer nicht von der Verfaſſung — ſie hat für
ihn keinen Werth! — nicht von Preßfreiheit — er verſteht
ſie nicht! — ſprecht ihm von ſeinem Elend, welches ihn vor
vier Jahren zur Senſe und Keule greifen ließ, und er wird
Euch folgen und ſich wieder gegen ſeinen Dränger erheben,
aber dießmal ſiegreich, weil mit Waffen ausgerüſtet und
vernünftig geführt! ... Dies in möglichſter Kürze und
logiſch geordnet Büchner's Gedankengang; in breiterer Aus-
führung, zum Theil mit Büchner's eigenen Worten, findet
er ſich in den Geſtändniſſen Becker's vor dem heſſiſchen
Gericht, welche der Anhang bringt. Wer ſie im Zuſammen-
hang mit dem Vorſtehenden lieſt, wird ſofort erkennen, daß
Büchner da nicht blos ein neues Programm für die Flug-
ſchriften in Heſſen entwickelte, ſondern für die geſammte
demokratiſche Bewegung in Deutſchland. Dieſelbe hatte ſich
bis dahin in politiſchen Theorien bewegt, Büchner mahnte
ſie an die materiellen Intereſſen und predigte den Bund
der politiſchen mit der ſocialen Revolution. Das
war ein völlig neuer, unerhört kühner Gedanke von größter
Tragweite — kein Wunder, daß er zuerſt Alle verblüffte,
[CXI] dann die jüngeren Parteigenoſſen zu begeiſterter Zuſtimmung
hinriß, den älteren aber große Bedenken und dem bisherigen
Führer, Weidig, ſogar Abſcheu einflößte. Das war ja der
leibhaftige Jakobinismus, den er ſo ängſtlich haßte — was
ſollte, wenn ſolche Prinzipien durchdrangen, aus ſeinem Traum
von einem Proteſtantiſchen Kaiſerthum werden?! So wider-
ſetzte er ſich denn auf's Aeußerſte, viel heftiger und ener-
giſcher, als in der Organiſations-Frage, aber es iſt ein
ſchlagender Beweis für den überwiegenden Einfluß, den ſich
Büchner binnen kurzer Zeit zu erringen gewußt, daß
Weidig auch in dieſer wichtigeren Frage nachgeben und noch
ganz anders nachgeben mußte, wie früher! Wieder kam es
zu einem Compromiß: Weidig ſollte in ſeinen Flugſchriften
auch fernerhin auf die Conſtitutionellen zu wirken ſuchen,
Büchner hingegen in den ſeinigen auf die große Maſſe; aber
diesmal verpflichteten ſich Beide zu gegenſeitiger Unterſtützung
bezüglich Druck und Verbreitung. In Ausführung dieſer
Vereinbarung ließ Weidig noch ein fünftes Blatt des "Leuchters"
erſcheinen, ferner einige Aufrufe an die heſſiſchen Wahlmänner,
an die heſſiſchen Stände u. ſ. w., Büchner hingegen eine
einzige Flugſchrift, für welche er den von Weidig vorge-
ſchlagenen Titel "der Heſſiſche Landbote" acceptirte.
Dieſes merkwürdige Pamphlet, auf welches man nicht
allzu hyperboliſch das Wort Leſſings über Leiſewitz und ſein
Drama: "Eines — aber ein Löwe!" anwenden könnte, findet
ſich in der vorliegenden Ausgabe zum erſten Male den
Werken Büchner's vollinhaltlich eingefügt, und was zur
Textrecenſion, ſowie zur Erläuterung einzelner Stellen zu
ſagen war, haben wir S. 282 ff. zuſammengetragen. Hier
aber wird uns die Pflicht, die Details ſeiner Entſtehung zu
[CXII] verzeichnen, ferner ſeinen Werth für dieſe Biographie als
Quelle zur Erkenntniß von Büchner's Charakter und Ge-
ſinnung feſtzuſtellen, endlich zu prüfen, welche literariſche und
insbeſondere welche hiſtoriſche Bedeutung ihm zuzuſchreiben
iſt. Schon der Umſtand, daß zwar jedes Geſchichtswerk
über jene Zeit den "Heſſiſchen Landboten" eingehend, aber
keines völlig wahrheitsgetreu behandelt, wird dieſe Ausführ-
lichkeit rechtfertigen.
Die Flugſchrift entſtand, wie aus Nöllner's Actenwerke
hervorgeht, Ende März 1834, alſo nach Begründung der
Gießener "Geſellſchaft der Menſchenrechte" und vor Büchner's
Reiſe nach Straßburg. Um den Plan wußte Niemand, auch
Weidig, von dem Büchner hiezu eine Statiſtik des Groß-
herzogthums entlieh, erfuhr nur nebenbei, daß dieſer "etwas
ſchreiben wolle". Doch kam die Schrift unmittelbar nach
ihrer Vollendung in einer der erſten Sitzungen jener Geſell-
ſchaft zur Verleſung, wurde eifrig debattirt und fand großen
Beifall. An Weidig aber und zur Berathung im Butzbacher
Conventikel gelangte ſie erſt Anfang Mai — Becker war
es, der Büchner's räthſelhafte Zeichen (ſeine Handſchrift war
jederzeit, auch ſchon im Gymnaſium, unglaublich ſchlecht und
häßlich) leſerlich umſchrieb und Weidig überbrachte. Erſt
nachdem ſich dieſer entſchieden geweigert, den Druck zu be-
ſorgen, kam es zu jenem obenerwähnten Kampf und Com-
promiß. Weidig fügte ſich und ſchlug nur vor, durch einige
Zuſätze religiöſer Färbung die politiſch-ſocialen Excurſe der
großen Maſſe mundgerecht zu machen. Das ſchien ein glück-
licher Gedanke und Büchner willigte ſofort darein, Weidig
nach dieſer Richtung freie Hand zu laſſen. Doch nützte
dieſer die Gelegenheit auch zu ſonſtigen Streichungen und
[CXIII] Zuſätzen, ſo daß Büchner als er Anfangs Juni mit ſeinem
treuen Freunde Schütz, dem einzigen Mitgliede der Gießener
Burſchenſchaft, welches auch ſeiner "Geſellſchaft" beigetreten,
in Butzbach erſchien, um die Schrift abzuholen, höchſt un-
liebſam überraſcht war. Auch ließ er es an heftigen Proteſten
nicht fehlen, mußte aber ſchließlich doch nachgeben, um den
Druck der Schrift nicht länger zu verzögern. Denn Weidig
hatte ſich vorſichtiger Weiſe von dem Frankfurter "Männer-
bund" die Autoriſation erwirkt, daß nur ſolche Schriften
aus Heſſen, welche er empfahl, in der von dieſem Vereine
eingerichteten Officin zu Offenbach gedruckt werden ſollten.
Erſt nachdem Büchner zugeſichert, alle Aenderungen Weidig's
gelten zu laſſen, gab dieſer jene Empfehlung und die beiden
Studenten brachten das Manuſcript ſelbſt nach Offenbach.
Da jedoch die Druckerei, welche im Keller eines abgelegenen
Hauſes an der Straße nach Sachſenhauſen untergebracht war,
nur über ungeübte Arbeiter verfügte, die obendrein aus Furcht
vor der Polizei nur Nachts arbeiteten, ſo dauerte die Her-
ſtellung der kleinen, nur acht Octavſeiten umfaſſenden Bro-
ſchüre an vier Wochen. Erſt im Juli 1834 erhielt Büchner
die erſten fertigen Exemplare. Schütz und Minnigerode hatten
ſie aus Offenbach abgeholt und nach Butzbach gebracht.
Die Broſchüre mag ihrem Verfaſſer, was Ausſtattung
und Correctheit betrifft, geringe Freude gemacht haben, (vgl.
S. 281) wichtiger iſt, daß er ſie wegen der Veränderungen
Weidig's gar nicht mehr als ſein Werk anerkennen wollte.
Weidig habe ihm, klagte er ſeinem treuen Becker, "gerade
das, worauf er das meiſte Gewicht gelegt, und wodurch alles
Andere gleichſam legitimirt werde, durchgeſtrichen". Da die
urſprüngliche Faſſung nicht mehr erhalten iſt, ſo müſſen wir
G. Büchners Werke. h
[CXIV] uns begnügen, dieſe Klage zu verzeichnen, ohne ihre Be-
rechtigung prüfen zu können. Doch gibt auch Becker an,
daß jene Veränderungen tief einſchneidende geweſen: "Die
Druckſchrift unterſcheidet ſich vom Original namentlich da-
durch, daß an die Stelle der "Reichen" die "Vornehmen"
geſetzt ſind, und daß das, was gegen die ſogenannte liberale
Partei geſagt war, weggelaſſen und mit Anderem, was ſich
blos auf die Wirkſamkeit der conſtitutionellen Verfaſſung
bezieht, erſetzt worden iſt, wodurch denn der Charakter der
Schrift noch gehäſſiger geworden iſt." Das Büchner'ſche
Manuſcript, meint er, ſei eigentlich "eine ſchwärmeriſche
Predigt gegen den Mammon" geweſen. Als Stellen, die von
Weidig herrühren, bezeichnet er den "Vorbericht" und den
Schluß, ſowie die bibliſchen Citate. Auch ohne dieſe äußere
Beglaubigung würde es Jedermann klar werden, daß der
Atheiſt Büchner jene gotttrunkenen Sätze unmöglich geſchrieben
haben kann, wie ihm auch ſolche Bibelfeſtigkeit nicht zu
Gebote ſtand. Ebenſo wird aus inneren Gründen Niemand
den unerfahrenen Studenten für den Verfaſſer jener praktiſchen,
ſogar ein wenig jeſuitiſchen Rathſchläge halten, welche der
"Vorbericht" enthält. Da eine Ausſcheidung all dieſer Zu-
ſätze Weidig's beim Abdruck nicht möglich war, ohne den
Zuſammenhang der Schrift zu zerreißen, ſo findet ſich min-
deſtens S. 285 ff. ein möglichſt genaues Verzeichniß der-
ſelben beigegeben, welches man bei der Lectüre berückſichtigen
wolle. Wer dies thut und ſich jene Angaben Becker's in's
Gedächtniß ruft, wird wohl mit uns zu dem Reſultate
kommen: zwar laborirt die Druckſchrift an dem unvermittelten
Contraſt jener religiös-ſchwärmeriſchen mit den ſcharfen,
nüchternen, durch Zahlen belegten Stellen, zwar mag ferner
[CXV] Weidig vielleicht juſt das Schärfſte geſtrichen haben, gleich-
wohl iſt der "Heſſiſche Landbote" ein treuer Spiegel der
Geſinnungen ſeines urſprünglichen Verfaſſers und war
trotz aller Veränderungen doch einzig jener Tendenz zu
dienen geeignet, welche Büchner im Gegenſatz zu Weidig
verfolgte.
Dieſe Tendenz iſt — wir wollen das bezeichnende Wort
nicht miſſen und werden einem naheliegendem Mißverſtändniß
ſpäter vorbeugen — eine ſocial-demokratiſche. "Steigt
zu den Armen herab, redet zu ihnen in ihrer Sprache von
ihren materiellen Intereſſen —" in Ausführung dieſes Ge-
dankens iſt das Pamphlet geſchrieben. Noch präciſer drückt
ſich Büchner's Abſicht in ſeinen eigenen, von Becker über-
lieferten Worten aus: "Man muß den Bauern zeigen und
vorrechnen, daß ſie einem Staate angehören, deſſen Laſten
ſie größtentheils tragen müſſen, während Andere den Vortheil
davon beziehen!" Damit iſt Inhalt und Aufbau der Flug-
ſchrift auf das Genaueſte charakteriſirt. Sie beginnt —
wir ſehen hier ſelbſtverſtändlich von Weidig's Zuſätzen völlig
ab — mit einer kurzen, draſtiſchen Vergleichung zwiſchen
dem Leben der Reichen und der Armen, erſteres "ein langer
Sonntag", letzteres "ein langer Werktag". Dann werden
die Steuern, ſechs Millionen Gulden, detaillirt aufgerechnet
und mit der relativ geringen Zahl der Bewohner, 700,000
Seelen, in wirkſamen Gegenſatz gebracht. Dieſe Steuern
nun erhebe man "für den Staat". Was aber ſei der
"Staat"? Nicht etwa Selbſtzweck, ſondern eine Vereinigung
Aller zu Aller Wohl. Zu Aller Wohl müßten alſo auch
die Steuern verwendet werden, was aber nicht geſchehe.
Der Beweis hiefür wird in der Weiſe erbracht, daß nun
h *
[CXVI] der Etat jedes einzelnen Miniſteriums aufgezählt und dann
unterſucht wird, welche Früchte das Volk daraus ziehe. So
werden nacheinander das Juſtiz-, Finanz- und Kriegsweſen
der ſchärfſten Kritik unterworfen. Noch grimmiger ſind die
Erwägungen, welche den Poſten "Civilliſte" erläutern, ſie
ſind eine Phillippika gegen das monarchiſche Prinzip über-
haupt, wie jene zum Poſten "Ausgaben für die Landſtände"
eine Phillippika gegen das conſtitutionelle Prinzip. Damit
iſt die Kritik alles Beſtehenden beendet, ſeine Schädlichkeit
und Abſcheulichkeit, im beſten Falle ſeine Nutzloſigkeit nach-
gewieſen. Daran reiht ſich der poſitive Theil der Schrift.
Aus mehreren hiſtoriſchen Thatſachen, der Revolution von
1789, dem Sturze Napoleons, den Pariſer Julitagen, wird
der Schluß gezogen, daß die Volkskraft und der Volkswille
überall ſtark genug geweſen, unleidlichen Zuſtänden ein jähes
Ende zu machen. Auch in Deutſchland werde eine Erhebung
Aller zu einer freien und menſchenwürdigen Staatsordnung
führen. Dann wird die Nothwendigkeit dieſer Erhebung
betont und die Macht der Regierungen als eine geringe,
leicht zu überwältigende geſchildert. Die Schrift endet in
ihrer vorliegenden Form mit religiös-ſchwärmeriſchen Ver-
heißungen, bei Büchner mag ſie mit einem directen Appell
zur Revolution geſchloſſen haben.
Wir haben dies Gerippe des Pamphlets blosgelegt,
weil es dem flüchtigen Blick durch Weidig's Zuſätze oft ver-
deckt wird — dem aufmerkſamen Leſer wird ohnedies ſofort
die klare, ſtrenglogiſche Structur erſichtlich ſein. Schon dieſe
Eigenſchaft unterſcheidet den "Landboten" auf das Schärfſte
von den meiſten Flugſchriften gleichen oder ähnlichen Inhalts.
Hier declamirt kein unklarer Fanatismus in verworrenen
[CXVII] Phraſen, ſondern ein ſcharfer, kluger Verſtand ſtellt Zahlen
und Thatſachen nach einem wohlberechneten Plane zuſammen,
um einen beſtimmten Effect zu erzielen. Eine Schrift in
welcher eine edle, freie Seele ihre tiefſten, beſten Gedanken
und Empfindungen ausſtrömt, mit der einzigen Abſicht, Gleich-
geſinnte zu ſtählen oder Kältere zu gleicher Gluth zu er-
wärmen, eine Schrift, in welcher nur ſittliche Wahrheit und
Würde waltet, eine Schrift endlich, die keine Behauptung,
keine Folgerung, keine Phraſe enthält, an welche der Autor
nicht ſelbſt geglaubt hätte — eine ſolche Schrift iſt der
"Landbote" nicht und wer ihn ſo charakteriſirt, hat ihn
nicht geleſen oder aus falſcher Pietät für den Verfaſſer gegen
ſein eigenes beſſeres Wiſſen geſündigt — ein Drittes iſt un-
denkbar. Denn der Charakter des "Landboten" liegt klar
zu Tage: ein Pamphlet, welches nur ſolche Thatſachen an-
führt, die zur Erreichung einer beſtimmten Abſicht dienlich
ſind, andere Thatſachen, welche dieſer Abſicht entgegenſtehen
könnten, verſchweigt oder entſtellt, und endlich auch Behaup-
tungen aufſtellt, für welche der Autor die ernſtliche Verant-
wortung nicht übernehmen könnte — kurz, ein Pamphlet
von ſo entſchieden tendenziöſem Charakter, wie deren unſere
Literatur nur wenige zu verzeichnen hat. Der Beweis hie-
für wird durch wenige Hinweiſe erbracht ſein. Konnte es
Büchner's Ueberzeugung ſein, wenn er den Ertrag der Staats-
güter (anderthalb Millionen, alſo ein Viertheil aller Ein-
künfte) gleichfalls in die "Steuerlaſt", den "Blutzehnten"
einbezog? wenn er von der heſſiſchen Juſtiz ſagte: "Unbe-
ſtechlich iſt ſie, weil ſie ſich gerade theuer genug bezahlen
läßt, um keine Beſtechung zu brauchen!" wenn er den Poſten
"Penſionen" mit den Worten commentirte: "Dafür werden
[CXVIII] die Beamten auf's Polſter gelegt, wenn ſie eine gewiſſe Zeit
dem Staate treu gedient haben, d. h. wenn ſie eifrige Hand-
langer bei der regelmäßig eingerichteten Schinderei geweſen,
die man Ordnung und Geſetz heißt?!" Büchner wußte, daß
der Ertrag von Domänen keine "Steuer" iſt, daß auf dem
heſſiſchen Richterſtande nicht wegen, ſondern trotz ſeiner
überaus ſchlechten Beſoldung kein Makel der Beſtechlichkeit
hafte, daß endlich Verſorgung alter Staatsdiener eine Pflicht
ſei, der ſich kein Staatsweſen, alſo auch nicht die Republik,
entziehen könne! Aber er fand dieſe Behauptungen erſprieß-
lich für die Tendenz, alles Beſtehende als ſchlecht und ver-
ächtlich hinzuſtellen, und um dieſer Tendenz willen ſind auch
einige Poſten des Staats-Etats nicht angeführt, z. B. jener
für Cultus und Unterricht. Es ſchien uns nothwendig dies
hervorzuheben, aber ebenſo entſchieden müſſen wir betonen,
daß Büchner dem Staate von 1834 im Ganzen und Großen
kein Unrecht gethan hat! Was er z. B. mit Ausnahme
jener einzigen unbegründeten Anſchuldigung über die heſſiſche
Juſtiz ſagt, iſt Alles wahr und unbeſtreitbar. Verwaltung
und Gerichtspflege unter ein Miniſterium geſtellt, Polizei
und Juſtiz in einer Hand — ſchon dies war ein unleid-
licher Zuſtand und naturgemäß die Quelle größter Miß-
bräuche. Dazu die Rechtspflege theuer, langſam und ſchwer-
fällig, die Gerichtstaxen faſt unerſchwinglich und als Geſetz
"ein Wuſt von Beſtimmungen, zuſammengeleſen aus Frag-
menten einer fremden, an Sitten, Rechtsbegriffen und Staats-
verfaſſung ſehr verſchiedenen Nation, dabei aus der Periode
des tiefſten Verfalls derſelben" — ſo hat nicht etwa ein
Revolutionär, ſondern ein loyaler Großherzoglich heſſiſcher
Hof-Gerichts-Rath (Nöllner) das damals im Lande geltende,
[CXIX] auf das römiſche Recht baſirte "Gemeine Recht" charakteriſirt.
Es iſt nicht Uebertreibung, ſondern buchſtäbliche Wahrheit,
wenn Büchner ausruft: "Dieſe Gerechtigkeit ſpricht nach
Geſetzen, die ihr nicht verſteht, nach Grundſätzen, von denen
ihr nichts wißt, Urtheile, von denen ihr nichts begreift!" —
und ebenſo berechtigt iſt ſeine Klage über die politiſche
Servilität des Richterſtandes — war doch die von der Ver-
faſſung verbürgte Unabhängigkeit dieſer Beamten längſt durch
adminiſtrative Verordnungen auf ein Minimum herabgedrückt
worden! — ebenſo berechtigt ſeine Erinnerung an die Opfer
des Bauernaufſtands — dieſe Juſtiz urtheilte in politiſchen
Prozeſſen mit unerhörter, wahrhaft barbariſcher Strenge,
weil ſie jedem Wink von Oben willig gehorchte, gehorchen
mußte! Und vollends berechtigt werden uns die meiſten
Anklagen der Flugſchrift erſcheinen, wenn wir uns auf jenen
Standpunkt verſetzen, von dem ſie geſchrieben iſt, den Stand-
punkt des armen, bedrückten, rechtloſen Bauers und Arbeiters.
Neben dem ſtreng logiſchen Aufbau, neben der leidenſchaft-
lichen und doch ſo kühl und ſchlau berechnenden Tendenz iſt
dieſer Standpunkt die dritte und wichtigſte Eigenſchaft des
"Landboten", welche ihm ein eigenthümliches, von ähnlichen
Flugſchriften jener Zeit überaus verſchiedenes Gepräge gibt.
Zum erſten Male in Deutſchland tritt darin ein Demokrat
nicht für die geiſtigen Güter der Gebildeten ein, ſondern für
die materiellen der Armen und Unwiſſenden, zum erſten
Male iſt hier nicht von Preßfreiheit, Vereinsrecht und Wahl-
cenſus die Rede, ſondern von der "großen Magenfrage",
zum erſten Male tritt hier an die Stelle der politiſch-
demokratiſchen Agitation die ſocial-demokratiſche Klage und
Anklage.
[CXX]
Warum? Wie erklärt es ſich, daß Büchner dieſen
Standpunkt gewählt? Geſchah es nur als Mittel zum
Zweck, oder aus innerſter Ueberzeugung? Wer Charakter
und Bildungsgang Büchner's erwägt und das Zeugniß ſeiner
Freunde zu Rathe zieht, wird dieſe Frage ohne viel Be-
denken in letzterem Sinne beantworten müſſen. Das iſt
keineswegs ein Widerruf unſerer eigenen Behauptung, daß
viele Stellen des "Landboten" nur das Product berechnen-
der, nicht auf Ueberzeugung baſirter Tendenz ſind. Wenn
ein hochgebildeter Mann zum völlig Ungebildeten ſpricht, um
ihn zu bekehren, ſo wird er Ton und Gang der Rede zu
dieſem herabſtimmen, Vieles von ſeinen eigenen Gedanken
verſchweigen und Manches mit kraſſen Farben malen müſſen,
was er unter Gebildeten blos discret anzudeuten brauchte.
Büchner wußte, daß es ein ſtarkes Stück Arbeit ſei, den
Bauer aufzurütteln, und gebrauchte ſtarke Mittel. Und wem
gleichwohl die einzelnen Uebertreibungen und Rohheiten des
"Landboten" auf Büchner's Charakter einen Schatten zu
werfen ſcheinen, der erwäge auch, welche Erbitterung das
brutale Walten der Reaction in dieſem leidenſchaftlichen
Herzen wachrufen mußte, und daß der zwanzigjährige Student
um ſo mehr alle Mittel in dieſem Kampfe für berechtigt
halten durfte, als das Willkühr-Regiment jener Tage trotz
all' ſeiner bewußten Stärke, trotz aller Declamationen über
die "Würde des Staates" ſelbſt die ſchimpflichſten Mittel
nicht verſchmähte, um die Bewegung der Geiſter niederzu-
halten. Es war ein Krieg, in unterirdiſchen Gängen ge-
führt, und auf dieſem wüſten Kampfplatz iſt auch den blanken
Waffen Büchner's etwas Roſt angeflogen. Aber es waren
ehrliche Waffen und der "Landbote" entſpricht in ſeiner
[CXXI] Geſammtheit den Ueberzeugungen ſeines Autors. Büchner
gab ſich nicht blos als Socialiſt, er war es auch. Wie
aber war er es geworden? Wir haben bereits angedeutet,
daß Büchner's innerſtes Weſen, trotz aller genialen geiſtigen
Begabung nur dann verſtändlich wird, wenn man ihn als
Gemüthsmenſchen auffaßt und müſſen nun wieder daran
erinnern. Denn nach dem Zeugniß Aller, die ihn gekannt,
war es ſein Gemüth, welches ihn auf das Loos der Armen
und Rechtloſen hinlenkte, ſein tiefes, ja grenzenloſes Mit-
leid mit allem unverſchuldeten Unglück. "Die Grundlage
ſeines Patriotismus", ſagt Auguſt Becker, "war das reinſte
Mitleid" — die Geſchwiſter, die Straßburger und Züricher
Freunde, ſie alle wiſſen es nicht anders. So iſt es auch
klar, warum ihm der materielle Druck trauriger erſchien,
als der geiſtige, warum er mehr an die Hebung des erſteren,
als des letzteren dachte. "Es iſt in meinen Augen bei
weitem nicht ſo betrübend, daß dieſer oder jener Liberale
ſeine Gedanken nicht drucken laſſen darf, als daß viele
tauſend Familien nicht im Stande ſind, ihre Kartoffel zu
ſchmälzen" — dieſer äußerlich wie innerlich beglaubigte
Ausſpruch Büchner's kann diesbezüglich als ſein Programm
gelten. Daß auch ſein Bildungsgang und ſeine Erfahrung
nur geeignet waren, dieſes Gemüthsmotiv zu verſtärken,
wiſſen wir bereits. Er hatte zwei Jahre lang in Frankreich
verweilt, dem einzigen Lande Europa's in welchen damals
ſocialiſtiſche Ideen lebhaft erörtert, ja ſtellenweiſe in Thaten
umgeſetzt wurden; er hatte ſich ferners eifrig in das Studium
der großen Revolution, welche ja gleichermaßen eine politiſche,
wie eine ſociale war, verſenkt und daraus gelernt, daß eine
große und gewaltſame Umwälzung nie und nimmer eine
[CXXII] bloße Aenderung der Geſetze bedeute, ſondern zugleich eine
Reform der Geſellſchaft. Und endlich kräftigten ſich auch
ſeine ſocialiſtiſchen Ueberzeugungen, als er den deutſchen
Verhältniſſen näher trat. Dieſe ſchienen ihm unleidlich, em-
pörten ihn und drängten ihm die Ueberzeugung auf, daß
nur die Gewalt eine radicale Aenderung herbeiführen könne.
Auf die Liberalen konnte man dabei nicht zählen. Und
wenn auch — Büchner wünſchte ihnen den Sieg nicht, weil
er von ihnen nicht jene völlige Aenderung aller Verhältniſſe
erwartete, wie er ſie aus Mitleid und Patriotismus wünſchte.
"Sollte es den Conſtitutionellen gelingen", äußerte er zu
Becker, "die deutſchen Regierungen zu ſtürzen und eine all-
gemeine Monarchie oder Republik einzuführen, ſo bekommen
wir hier einen Geldariſtokratismus, wie in Frankreich, und
lieber ſoll es bleiben, wie es jetzt iſt!" Die letzten Worte,
die recht befremdlich klingen, finden darin ihre Erklärung,
weil Büchner das Verhältniß zwiſchen Armen und Reichen
für "das einzige revolutionäre Element in der Welt" hielt.
"Der Hunger allein", ſchrieb er noch ſpäter hierüber "kann
die Freiheitsgöttin, und nur ein Moſes, der uns die ſieben
ägyptiſchen Plagen auf den Hals ſchickte, könnte ein Meſſias
werden". Darum hielt er die Sache der Revolution nur
ſo lange nicht verloren, als unleidliche Zuſtände herrſchten.
Eine allmählige Beſſerung werde höchſtens der Geiſtesfreiheit
zu Nutzen werden, nicht einer gerechten Ordnung der mate-
riellen Intereſſen. Man ſieht, der "Landbote" iſt nicht
deßhalb ſocialiſtiſch tingirt, damit der Proletarier entflammt
werde, für den Gebildeten die Kaſtanien aus dem Feuer zu
holen, ſondern Büchner war wirklich Socialiſt aus Ueber-
zeugung. Aber noch mehr: er war der Erſte in Deutſch-
[CXXIII] land, welcher in die demokratiſchen Beſtrebungen dies neue
Element hineintrug und der "Landbote" die erſte ſocia-
liſtiſche Flugſchrift, welche in deutſcher Sprache er-
ſchienen iſt. Darauf beruht ihre große hiſtoriſche Bedeutung,
dadurch ſichert ſie ihrem Verfaſſer einen Platz in der poli-
tiſchen Geſchichte ſeines Volkes. "Veröffentlichen Sie immer-
hin", ſchrieb mir ein großer, ehrwürdiger Geſchichtsſchreiber,
dem ich die Schrift zur Einſicht überſendet, "dies merk-
würdige Document zu unſerer Geſchichte vollinhaltlich, ohne
Furcht vor Mißdeutung. Es iſt die blutrothe Initiale zu
einem Texte, den wir ſehr genau kennen. Wie immer der
Socialismus in Deutſchland enden mag — es iſt von Intereſſe,
zu erfahren, wie er begonnen".
Nur eine Partei hat dieſe Bedeutung der Flugſchrift
bisher willig anerkannt und hervorgehoben: die ſocial-demo-
kratiſche. Sie feiert in Georg Büchner einen der ihrigen
und erblickt in ihm den "Johannes, welcher dem Meſſias
Laſſalle voranging". Ihr Recht hiezu ſcheint mir jedoch ein
unbegründetes und lediglich äußerliches. Schon jene Parallele
läßt ſich nur ſehr gezwungen durchführen. Laſſalle wie
Büchner waren hochgebildet, beide gingen aus dem Mittel-
ſtande hervor und befanden ſich in geordneten, perſönlichen
Verhältniſſen, beide beſchäftigten ſich mit dem Looſe der
unterſten Klaſſen — damit ſind aber auch die Aehnlichkeiten
erſchöpft. Während Laſſalle aus Ehrgeiz handelte, war
Büchner's Motiv "das reinſte Mitleid", während ſich des
Erſteren Handlungsweiſe in dem klaſſiſchen Dichterwort,
"Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo" zuſammen-
faſſen läßt, war für Büchner die Hebung des materiellen
Elends ausſchließlicher Zweck, während Erſterer als genialer
[CXXIV] Volkswirth die Schäden, welche eine entwickelte Induſtrie
für das körperliche Wohl der hiebei beſchäftigten Arbeiter
haben kann, zum Ausgangspunkt nahm, erträumte unſer
junger heißblütiger Student von einer ſocialen Umwälzung
die völlige Veränderung der materiellen Verhältniſſe gerade
desjenigen Standes, welcher naturgemäß der conſervativſte
iſt und nur ſehr langſam gehoben werden kann — der
Bauernſtand als Träger und Stützpunkt einer ſocialen Re-
volution iſt eine Utopie! Und vollends unüberbrückbar iſt
die Kluft, welche die Ueberzeugungen Georg Büchner's von
denen der heutigen Socialdemokratie ſcheidet. Er war ein
Nationaler und verhöhnte den Kosmopolitismus als einen
knabenhaften Traum, er war ferner begeiſtert von der Idee
der Freiheit und des Rechtes der Individualität,
er war für die Republik nur, weil ſie ihm dies höchſte
Recht am beſten zu garantiren ſchien — für den uniformi-
renden Socialſtaat, welcher den Trägen und den Fleißigen,
das Genie und die ſtumpfe, lebendige Maſchine nach dem-
ſelben Maße meſſen und Allen den Zwang ſeiner Fürſorge
auferlegen ſoll, hätte er gewiß nur Worte heftigſter Gegen-
wehr gehabt. Die Social-Demokratie — ſo der Verfaſſer
einer Biographie in der "Neuen Welt" (Leipzig 1876) —
helfen ſich über dieſe Unterſchiede hinweg, indem ſie ſie ver-
ſchweigen — freilich ein bequemes, wenn auch nicht gerade
würdiges Mittel.
Bereits im Vorſtehenden iſt einer der Hauptpunkte
hervorgehoben, wo uns Büchner's Ueberzeugung als eine
irrige und verhängnißvolle erſcheinen muß. Daneben ließe
ſich noch betonen, wie gefährlich ſein Glaube war, daß die
Hebung materiellen Elends auch ſchon die Blüthe aller
[CXXV] idealen Intereſſen involvire, — und endlich als das Wichtigſte:
eine Revolution kann nie und nimmer gemacht werden,
ſo wenig, wie man ein Gewitter fabriciren kann; beide
entladen ſich ſpontan, nothwendig, nach ewigen Geſetzen.
Aber dies Alles iſt unſeren Anſchauungen und Erfahrungen
faſt ſelbſtverſtändlich, und vom Standpunkte unſerer geklärteren
Zeit an Büchner's Irrthümern ſtrenge Kritik zu üben, wäre
recht billige Weisheit. Wir dürfen es umſomehr unterlaſſen,
als Büchner ſelbſt in den wenigen Jahren, welche ihm noch
zu leben gegönnt waren, von den meiſten dieſer Irrthümer
zurückgekommen iſt. Im Allgemeinen blieben jedoch ſeine
Ueberzeugungen unerſchüttert, auch ſeine ſpäteren Schriften
verrathen den Socialiſten, den radicalen Republikaner. Der
"Landbote" ſteht alſo ſeiner Tendenz nach nicht vereinzelt
unter den Werken Büchner's, doch iſt er das einzige politiſche
Pamphlet aus ſeiner Feder und ſteht an literariſcher
Bedeutung jenen Werken weit nach. Ganz läßt ſie ſich je-
doch auch dieſem erſten Verſuche ſicherlich nicht abſprechen;
und wer die Schrift unbeeinflußt von der Tendenz lieſt, wird
zugeben, daß ſie Büchner's Talent für klare, ſchlichte, volks-
thümliche Darſtellung bezeugt. Der Stil iſt ſtellenweiſe
von erſtaunlicher Schönheit und Gewandtheit. Wie Keulen
ſieht man dieſe Perioden ſich wuchtig heben und wuchtig
ſenken, wie Dolche ſtoßen zwiſchen durch dieſe kurzen Sätze.
Mit ſchlauer Berechnung ſind die Bilder aus dem An-
ſchauungskreiſe des Bauers ausgewählt. "Was ſind die
Verfaſſungen in Deutſchland? Nur leeres Stroh, woraus
die Fürſten die Körner für ſich herausgeklopft haben! Was
ſind unſere Landtage? Langſame Fuhrwerke, die man wohl
ein- oder zweimal der Raubgier der Fürſten und ihrer
[CXXVI] Miniſter in den Weg ſchieben, woraus man aber nimmer-
mehr eine feſte Burg für deutſche Freiheit bauen kann!" —
Hier, wie überall, trotz alles Schwunges größte, natürlichſte
Klarheit! So gehört es denn gewiß mit zu den vielen
Klagen, welche das jähe Ende dieſer reichen Kraft veran-
laßt, daß ſich Büchner's Talent zum Volksſchriftſteller, nur
in dieſer einzigen, um der Tendenz willen wenig erquicklichen
Probe geoffenbart!
Es iſt faſt ſelbſtverſtändlich, daß dieſe Tendenz bei den
älteren und minder radicalen Parteigenoſſen großer Ab-
neigung begegnen mußte. In der That verzeichnet Nöllner
nach den Acten, wie ſich Profeſſor Jordan in Marburg,
Dr. Hundeshagen und namentlich die von Weidig beein-
flußten Butzbacher Bürger ſogleich nach Erſcheinen des
"Landboten" heftig gegen dieſe "allzuſcharfe, ja ekelhafte"
Schrift ausgeſprochen. Dieſe Urtheile konnten Büchner um
ſo weniger befremden, als er bereits einige Tage vorher
und noch ehe die Flugſchrift erſchienen war, bei einer Ver-
ſammlung der ſüddeutſchen Führer hatte erfahren müſſen,
daß man in dieſen Kreiſen wohl gewohnt ſei, ſehr energiſche
Reden zu führen, aber vor jeder That ängſtlich zurückſchrecke.
Dieſe Verſammlung hatte am 3. Juli 1834 auf der Baden-
burg bei Gießen, auf dem Wege nach Friedelhauſen, getagt;
außer Büchner und ſeinem Freunde Clemm hatten ſich dort
Dr. Eichelberg und Dr. Heß aus Marburg, Buchhändler
Rieker, die Advocaten Briel und Roſenberg aus Gießen
und noch etwa zehn andere Theilnehmer aus Frankfurt und
Kurheſſen unter Weidig's Vorſitz zu einer Berathung über
die nächſten Ziele der Partei vereinigt. Die Einladung hie-
zu war von Weidig ausgegangen, welcher, ſoeben von einer
[CXXVII] Reiſe aus Baden und Naſſau heimgekehrt, Bericht über den
Stand der Sache in jenen Ländern geben wollte — ſein
eigentlicher Zweck ſcheint es jedoch geweſen zu ſein, Büchner's
wachſenden Einfluß durch das Urtheil älterer Männer zu
paralyſiren. In der That neigte die Verſammlung, trotz
Büchner's feuriger Gegenreden, in der Frage der Organi-
ſation Weidig's Vorſchlägen zu, keine geſchloſſenen Geſell-
ſchaften zu gründen und beſchloß auch bezüglich der Flug-
ſchriften, daß ſie wie bisher mehr den conſtitutionellen, als
den revolutionären Standpunkt einnehmen ſollten. Aber
andrerſeits wurde auch die Gründung der "Geſellſchaften"
nicht mißbilligt und ebenſo beſchloſſen, den "Landboten" nach
Kräften zu verbreiten, wenn auch nur aus dem naiven
Grunde, weil er ohnehin bereits gedruckt ſei. So hatte
denn auch Weidig nur geringen Grund mit den Reſultaten
der Verſammlung zufrieden zu ſein, während Büchner die
erlittene Schlappe tief empfand und ſich ſehr bitter über die
Mitglieder der Verſammlung, namentlich die Marburger, aus-
ſprach. Dieſe ſeien, äußerte er gegen Becker, "Leute, welche
ſich durch die franzöſiſche Revolution, wie Kinder durch ein
Ammenmärchen hätten erſchrecken laſſen, daß ſie in jedem
Dorf ein Paris mit einer Guillotine zu ſehen fürchteten".
Doch beruhigte er ſich bald und war ſogar entſchloſſen, die
Gründung einer dritten Geſellſchaft in Butzbach zu verſuchen,
als urplötzlich ein furchtbarer Schlag das ganze Treiben
lähmte und die Verſchworenen mit Entſetzen erfüllte.
Es geſchah dies am 1. Auguſt 1834. Der "Land-
bote" war nach beendetem Druck in kleineren Partien aus
der Officin zu Offenbach abgeholt und von den Mitgliedern
der "Geſellſchaften" im Lande verbreitet worden, indem ſie
[CXXVIII] die Exemplare Nachts zwiſchen die Läden der Bauernhütten
ſchoben oder in die offenen Fenſter warfen oder endlich ein-
zelne Blätter unter Couvert mit der Poſt verſendeten. Dieſe
Thätigkeit wurde eifrigſt und nach einem beſtimmten Plane
betrieben; den einzelnen Mitgliedern waren gewiſſe Bezirke
und in dieſen Bezirken gewiſſe Obliegenheiten zugewieſen.
Den Studenten Schütz und Minnigerode war, wie bereits
erwähnt, die Aufgabe zugefallen, die Exemplare aus Offen-
bach abzuholen und dann an jenen Ort zu bringen, von wo
aus die Vertheilung erfolgen ſollte. In Erfüllung dieſer
Miſſion hatten ſie bereits den größten Theil der Auflage
ſucceſſive nach Butzbach, Darmſtadt u. a. O. gebracht und
reiſten in der Nacht vom 30. zum 31. Juli von Butzbach
ab, um den Reſt der Exemplare in Offenbach abzuholen
und nach Gießen zu bringen. Nachdem ſie in der nächſten
Nacht die Exemplare in Offenbach erhalten, trat Minnigerode
ſofort die Rückreiſe an, während Schütz aus zufälligen Grün-
den in Offenbach zurückblieb. Es war zu ſeinem Glück,
denn Minnigerode wurde, als er am 1. Auguſt, 6½ Uhr
Abends am Thore zu Gießen erſchien, verhaftet, und dann
auf ſeinem einſpännigen Wägelchen unter großem Geleite des
neugierigen Volkes vor den Univerſitätsrichter geführt. Noch
ehe der Beamte — es war dies der nachmals ſo berüchtigt
gewordene Rath Georgi — eine Frage an ihn richten konnte,
erklärte Minnigerode: es ſei ihm durch ſeine Verhaftung ein
Gang geſpart worden, indem er ſoeben im Begriffe geweſen,
eine Anzahl Exemplare einer revolutionären Flugſchrift, welche
ihm ein Meßgaſt in Frankfurt zur Vertheilung übergeben,
dem Kreisrath oder dem Univerſitätsrichter zu bringen. "Gleich-
zeitig" berichtet das Protocoll, "zog er zwiſchen den Bein-
[CXXIX] kleidern und ſeinem Hemde einen Pack "Landboten" hervor,
einen anderen Pack trennte er aus der Rocktaſche, woſelbſt
er eingenäht war, los, und aus jedem ſeiner Stiefel ent-
wickelte er den übrigen Theil der Exemplare dieſer Schrift,
von welchen er nicht weniger als 139 mit ſich hatte". Es
iſt ſelbſtverſtändlich, daß ihm dieſe Verantwortung, welche
naiv genug auf Punkt 4 des Vorberichts zum "Landboten"
baſirte, nichts nützen konnte — der zwanzigjährige, talentvolle
Jüngling wurde in Haft behalten, aus welcher er erſt nach
drei Jahren, und nachdem ihn die unſäglichen Kerkerqualen
wahnſinnig und todtkrank gemacht, durch die "Gnade" ſeines
Fürſten entlaſſen werden ſollte. Er lebt jetzt als Prediger
in Amerika.
Georg Büchner hatte es mit eigenen Augen mitange-
ſehen, wie ſie den verhafteten Freund an ſeinem Fenſter
vorbei vor den Richter ſchleppten. Er kannte Minnigerode's
Miſſion und wußte daher ſofort, daß mit ihm auch der
"Landbote" der Polizei in die Hände gefallen. Aber nur einige
Augenblicke lähmte ihn das Entſetzen. An eine verrätheriſche
Denunciation mochte er nicht glauben, er war feſt überzeugt,
daß hier nur ein verhängnißvoller Zufall gewaltet, daß Min-
nigerode, welcher ſich aus jugendlicher Renommiſterei mit den
Exemplaren förmlich auszuſtopfen pflegte, obwohl ſie im Fond
ſeines Wägelchens ebenſo ſicher oder unſicher verwahrt geweſen
wären, vielleicht durch ſeine unförmliche Leibesgeſtalt den
Acciſewächtern am Thor verdächtig geworden, ſo daß dieſe
bei der Unterſuchung zu ihrem eigenen Erſtaunen, ſtatt ein-
geſchmuggelter Lebensmittel, hochverrätheriſche Schriften vor-
gefunden. Dem mochte nun ſein, wie es wolle — daran
konnte Büchner nicht zweifeln, daß man nun jeden neuen
G. Büchners Werke. i
[CXXX] Ankömmling an den Thoren ſcharf viſitiren werde. Darum
war es ſein erſter Gedanke, Schütz zu warnen, welchen er
mit dem andern Theil der Exemplare auf dem Wege nach
Gießen vermuthete. Er ließ auf ſeiner Stube Alles ſtehen
und liegen — zu ſeinem Glücke verwahrte er an jenem Tage
keinerlei compromittirende Papiere — und machte ſich haſtig
auf den Weg, zu demſelben Thore hinaus, wo Minnigerode
ſoeben verhaftet worden, und die Chauſſee entlang, welche
von Gießen über Butzbach nach Frankfurt führt. Der
Abend brach ein, dann die Nacht, und noch immer begegnete
der einſame, von ſtürmiſchen Empfindungen durchwühlte Wan-
derer nicht dem Freunde, den er warnen wollte. Es ſchlug
Mitternacht, als er Butzbach erreichte. (S. 110.) In einem
der erſten Häuſer am Wege wohnte der junge Bürger Carl
Zeuner, ein Anhänger Weidigs, den pochte Büchner aus dem
Schlafe und erzählte ihm das Geſchehene. Dann gingen
beide zu Weidig, weckten ihn und theilten auch ihm die Hiobs-
poſt mit. Weidig ließ ſie eintreten, weckte Auguſt Becker,
der zufällig in ſeinem Hauſe übernachtete, und dann ſaßen
die Vier betrübt beiſammen, erſchöpften ſich in Muthma-
ßungen über die Veranlaſſung des Unglücks und erwogen, was
zunächſt vorzukehren ſei. Auch Weidig war der Anſicht, daß
zunächſt Schütz gewarnt werden müſſe und beſtärkte Büchner
in der Abſicht, ſeine Wanderung gegen Offenbach fortzuſetzen.
Das that dieſer auch nach kurzer Raſt und wanderte über
Friedberg weiter, doch muß er für einen großen Theil des
Weges eine Gelegenheits-Fuhre benützt haben, da er bereits
um die Mittagsſtunde in Offenbach eintraf. Hier fand er
Schütz, als dieſer eben ahnungslos nach Gießen abreiſen
wollte. Beide ſuchten nun die Druckerei auf und veranlaßten
[CXXXI] die Wegſchaffung des Satzes, ſowie der dort lagernden Exem-
plare anderer Flugſchriften. Dann hielt ſich Schütz bis zum
Abend verborgen, während Büchner nach Frankfurt eilte, um
die Vorſtände des "Männerbunds" zu warnen. Dieſe wußten
bereits um die Verhaftung Minnigerode's und konnten ferners
mittheilen, daß auch auf Schütz vigilirt werde. Doch glaubten
auch ſie nicht an Verrath und meinten, daß nur Schütz in
Gefahr ſei. Dieſer wurde denn auch in der nächſten Nacht
heimlich nach Mainz und von da durch die Rheinpfalz gegen
die franzöſiſche Grenze befördert, welche er auch glücklich er-
reichte. Büchner aber blieb bis zum Morgen des 4. Auguſt
in Frankfurt, hauptſächlich deßhalb, weil er dort zufällig
ſeinem Straßburger Freunde Boeckel begegnet war. Dann
kehrte er um ſo beruhigter nach Gießen zurück, als er erfuhr,
daß inzwiſchen keine weiteren Verhaftungen erfolgt. Doch
harrte ſeiner, als er am Nachmittage desſelben Tages ſeine
Stube betreten wollte, eine peinliche Ueberraſchung, die Thüre
war durch Gerichtsſiegel verſchloſſen und er erfuhr, daß der
Univerſitätsrichter in ſeiner Abweſenheit dageweſen, ſtrenge
Hausſuchung gehalten und alle Papiere, Briefe u. ſ. w. an
ſich genommen. Doch faßte ſich Büchner raſch, er wußte,
daß ſich unter dieſen Papieren nichts Compromittirendes be-
finde und vermuthete, daß nur ſeine Freundſchaft mit Min-
nigerode und ſein plötzliches Verſchwinden nach deſſen Ver-
haftung einen unbeſtimmten Verdacht erregt. Wußte jedoch
die Polizei bereits mehr, ſo war ohnehin kein Entrinnen
mehr möglich. So hielt er denn für alle Fälle die kalt-
blütigſte Kühnheit für die beſte Politik, begab ſich ſofort
zum Univerſitätsrichter und erklärte dieſem mit größter Höf-
lichkeit, er habe leider ſeinen gütigen Beſuch verſäumt und
i *
[CXXXII] komme daher, um die Veranlaſſung desſelben zu fragen.
Darauf erwiderte Rath Georgi, er habe dieſe Hausſuchung
nicht als Univerſitätsrichter, ſondern als Regierungscommiſſär
abgehalten, und habe in dieſer Eigenſchaft nichts weiter zu
bemerken; hingegen müſſe er als Univerſitätsrichter fragen,
wo Büchner geweſen. Worauf dieſer zu Protocoll gab, er
ſei nach Frankfurt gereiſt, um dort ſeinen durchreiſenden
Freund Boeckel aus Straßburg zu begrüßen. Damit war die
Vernehmung zu Ende. Die Siegel an Büchner's Thüre
wurden abgenommen und ihm ſeine ſämmtlichen Papiere zu-
rückgegeben, mit Ausnahme der in franzöſiſcher Sprache ge-
ſchriebenen Briefe einiger Straßburger Freunde und des in
Darmſtadt lebenden franzöſiſchen Exilirten Muſton, welchen
er im Frühlinge kennen gelernt. Doch geſchah dies nur
deßhalb, weil Georgi des Franzöſiſchen unkundig war und
daher die Briefe durch einen Dolmetſch prüfen laſſen mußte;
auch ſie enthielten keine Zeile, welche Büchner hätte verderb-
lich werden können. Darauf pochend, von Minnigerode's
Verſchwiegenheit überzeugt und durch das Benehmen Georgi's
in ſeiner Vermuthung beſtärkt, daß kein beſtimmter Verdacht
gegen ihn vorliege, ging Büchner nun ſo weit, bei dem Dis-
ciplinargericht der Univerſität eine Beſchwerde gegen dieſen
Beamten einzureichen. Das heſſiſche Geſetz verordnete nämlich,
daß eine Hausſuchung nur in Folge dringenden Verdachtes,
ferner nur unter Beiziehung dreier Urkundsperſonen, und
endlich nur dann in Abweſenheit des Betroffenen erfolgen
dürfe, wenn dieſer ſich drei Tage nach erfolgter Vorladung
nicht dem Gerichte geſtellt. Da nun Georgi keine ſolche Vor-
ladung erlaſſen, keine Urkundsperſonen beigezogen und endlich
auch keinen "dringenden Verdacht" nachweiſen konnte, ſo
[CXXXIII] klagte ihn Büchner wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt an.
Das Disciplinargericht wies die Klage ab, weil Georgi nicht
als Univerſitätsrichter, ſondern als Regierungscommiſſär
gehandelt und Büchner hielt es im Bewußtſein ſeiner Schuld
für klug, ſich damit zu begnügen und die Sache nicht auf die
Spitze zu treiben. Jene Briefe wurden ihm nicht erſtattet,
im Uebrigen ließ man ihn ganz unbehelligt.
Daß Minnigerode keineswegs durch einen Zufall, ſondern
in Folge einer Denunciation verhaftet worden, hat Büchner
erſt nach Jahren erfahren und er iſt aus der Welt geſchieden,
ohne den wirklichen Verräther zu kennen. Der Jüngling,
den er ſpäter mit dieſem Verdachte belud, ſein einſtiger Freund
Guſtav Klemm, hatte wirklich Vieles auf dem Gewiſſen,
aber von dieſer Schandthat war er frei. Der Denunciant
war ein Anderer, kein Mitglied der "Geſellſchaft der Men-
ſchenrechte", ſondern ein Mann aus Weidig's "zwangloſem
und darum doppelt verläßlichem Kreiſe", ein Butzbacher
Bürger, Namens Kuhl. Der Charakter dieſes Menſchen,
und die Art, wie er ſeine Denunciationen betrieb, werfen
ein ſo grelles Licht auf den Staat, welcher ſich ſeiner be-
diente, und ſind an ſich ſo merkwürdig, daß wir uns ſelbſt
dann eine nähere Darſtellung derſelben ſchwer verſagen würden,
wenn dies Subject keinen Einfluß auf Büchner's Schickſal
gehabt hätte. Doch war dies thatſächlich der Fall; ſein
Wille allein beſtimmte es, daß Büchner nicht gleichzeitig mit
Minnigerode verhaftet wurde, daß er noch bis zum Früh-
ling 1835 in der Heimath verweilen und dann noch recht-
zeitig flüchten konnte. Der Wille und das Wohlwollen
eines der ſchändlichſten Menſchen, die je gelebt! Wahrlich!
[CXXXIV] wir dürfen Georg Büchner glücklich preiſen, daß er nie er-
fahren, wem er ſeine Rettung verdankte.
Johann Conrad Kuhl war ein Jugendfreund und Alters-
genoſſe Weidig's und als der Sohn einer achtbaren Bürgers-
familie zu Butzbach geboren, wo er eine große Oeconomie
erbte. Ueberdies brachte ihm ſeine Gattin eine ſo bedeutende
Mitgift zu, daß er als einer der reichſten Bürger jener
Gegend gelten konnte. Er war ein Menſch von ungewöhn-
licher Begabung, auch weit über ſeinen Stand hinaus ge-
bildet, aber eine durch und durch verderbte Natur. Allen
Lüſten und Leidenſchaften ergeben, dabei von der krankhaften
Sucht beſeſſen, ſtets und überall eine große Rolle zu ſpielen,
brachte er ſich und die Seinen in verhältnißmäßig kurzer
Zeit um Hab und Gut. Weidig, der reine und ſittenſtrenge
Mann, fühlte ſich durch dieſe Laſter des einſtigen Freundes
abgeſtoßen und angewidert, ward aber immer wieder durch
deſſen großen Eifer für die revolutionäre Sache beſtochen.
Kuhl widmete ihr ſo viel Zeit, Kraft und Geld, als man
nur immer heiſchte und unterzog ſich mit beſonderer Luſt den
gefährlichſten Aufträgen. Was ihn hiezu bewog, war ſicher-
lich nicht reine Begeiſterung, deren ſeine verderbte Seele gar
nicht fähig war, ſondern der Stolz, als "verwegener Frei-
heitsheld" zu gelten, ferner die Thatſache, daß der verlotterte
Mann nur noch hiedurch den Verkehr, ja das Vertrauen
braver und geachteter Männer genießen konnte, und ſchließ-
lich, weil er ſo ſeinem Hange zu Tücken und Mücken ſchran-
kenlos nachzugehen vermochte — tauſend bübiſche, gemeine,
ja ekelhafte Streiche, welche damals gegen einzelne Beamte
verübt und ſpäter an den armen "Hochverräthern" grimmig
gerächt wurden, ſind einzig von Kuhl angeſtiftet und ausge-
[CXXXV] führt worden, ſelbſt dann noch, als er bereits der Regierung
als Spürhund diente! Der Gedanke hierzu war ihm im
Winter 1833 gekommen, aus verſchiedenen Motiven — erſt-
lich wollte er ſich an Weidig und einigen Butzbachern rächen,
weil dieſe ſeine Candidatur um eine Ehrenſtelle in der Ge-
meinde trotz der politiſchen Freundſchaft nicht gefördert, ſon-
dern nach ihrem Gewiſſen bekämpft, und ferner, weil er durch
ſeine Lüderlichkeit ſo tief herabgekommen war, daß ihm der
Judaslohn als einziger Ausweg aus der Noth erſchien. Zu
dieſem Zwecke begab er ſich Anfang März 1833 zu dem
Hofgerichtsrath von Stein in Gießen und theilte dieſem,
nachdem er ihm das Ehrenwort bezüglich ſtrengſter Geheim-
haltung abgenommen, mit: er wiſſe um eine Verſchwörung
im Großherzogthum, welche zunächſt eine blutige Revolution
inſceniren werde; wolle ihm der Großherzog völlige Straf-
loſigkeit ſeiner Perſon, und eine erkleckliche Geldſpende zu-
ſichern, ſo ſei er zu näheren Enthüllungen bereit. Doch be-
dang er ſich noch aus, daß der Großherzog ſelbſt die be-
treffende Urkunde ſchreibe, unterſchreibe und das Staatsſiegel
beidrücke, ferner, daß Stein vorläufig auch dem Fürſten ſeinen
Namen nicht nenne, ſo daß dieſer jene Urkunde nur "für
den Mann, der Enthüllungen machen werde" ausſtellen möge.
Ehe ich die Antwort Stein's auf dieſen Antrag und den
weiteren Verlauf der Sache berichte, mag der Leſer daran
erinnert ſein, daß ich nicht etwa ein, von einem Erzrepubli-
kaner zur Schande jenes Kleinſtaats erſonnenes Märchen er-
zähle, ſondern die von Noellner unter Autoriſation der
großherzoglichen Regierung herausgegebenen Acten getreu und
ohne Zuthat excerpire. Herr Stein alſo dankte Herrn Kuhl
für das Vertrauen und berichtete deſſen Anerbieten an den
[CXXXVI] Großherzog mit dem Bemerken, daß er die Annahme dringend
befürworten müſſe, weil ihm der betreffende Bürger als ein
wahrheitsliebender, verläßlicher Mann bekannt ſei, welcher
nur durch ſein beſonderes Vertrauen in Herrn v. Stein's Cha-
rakter zu jener Anzeige bewogen worden. Der Großherzog
berieth ſich mit ſeinem Staatsminiſter du Thil und —
ſchreibt dieſer — "daß Seine Königliche Hoheit ein Ihnen
ſo dargebotenes Mittel, Gefahren abzuwenden, die dem Staate
und ſelbſt Ihrer Perſon drohten, nicht unbeachtet laſſen
konnten, verſteht ſich von ſelbſt". "Selbſtverſtändlich" alſo
ſchrieb, und ſiegelte Ludwig II. zu Darmſtadt, am 12. März
1833, eine Urkunde, welche genau dem von Kuhl gewünſchten
Wortlaute entſprach. Dieſelbe wurde von du Thil an
Stein abgeſendet, jedoch mit der Bedingung, dieſelbe dem
anonymen, durch Herrn von Stein's edlen Charakter für die
gute Sache entflammten Patrioten nicht eher einzuhändigen,
als bis dieſer in der That wichtige Angaben gemacht. Da-
von wollte aber Kuhl nichts wiſſen und nun begann eine
gar ſonderbarliche Verhandlung zwiſchen Herrn Kuhl einer-
ſeits und der Regierung andrerſeits, welche ſich im Weſent-
lichen darum drehte, welcher Theil dem anderen zuerſt Ver-
trauen ſchenken ſolle. Endlich errang Kuhl den Sieg. Der
Mann machte nämlich, ſo lange er die Urkunde nicht beſaß,
lauter Angaben, welche für die Polizei völlig werthlos waren,
verſprach aber für den Fall, als man ſein Begehren erfülle,
ſo wichtige Enthüllungen, daß ihm Herr du Thil endlich
nachgab. Nun erſt rückte Kuhl mit ſeiner erſten wichtigen
Denunciation heraus: er verrieth Herrn von Stein am
3. April, daß am nächſten Tage ein Aufſtand in Frankfurt
losbrechen werde. Obwohl nun Stein ſofort eine Stafette
[CXXXVII] nach Darmſtadt und Herr du Thil nach Erhalt der Nach-
richt eine ſolche nach Frankfurt abſchickte, ſo gelangte dieſe
Warnung an den regierenden Bürgermeiſter doch erſt am
3. April um 10 Uhr Abends, alſo zu einer Zeit, wo der
Putſch bereits erfolgt war und nur eine halbe Stunde vor
deſſen völliger Unterdrückung. Kuhl, welcher ſeit Monaten
das Project, ſeit Tagen die Stunde des Aufruhrs gekannt,
hatte die Anzeige deßhalb ſo ſpät gemacht, weil es ihm gar
nicht darum zu thun war, die Revolution zu hemmen, ſon-
dern nur, von der Regierung Geld zu erhalten. Gleichwohl
erwiderte er auf Stein's Frage, warum er nicht früher ge-
kommen: er ſei zwar ſonſt in alle Pläne der Verſchworenen
auf das Genaueſte eingeweiht, habe aber gerade dieſes Detail
nicht früher erfahren können. Obwohl nun Eines von Beiden
ſichtlich eine Lüge war, obwohl er ferner gleichzeitig für
dieſe Anzeige eine bedeutende Geldſumme forderte und er-
hielt, ſo faßte die Regierung gleichwohl die beſte Meinung
von ſeinem Charakter — oder wie Herr du Thil ſchreibt
— "durch dieſe Angabe, der die Beſtätigung auf dem Fuße
folgte, bewies er ſowohl ſeine Vertrautheit mit den Plänen
der Verſchwörer, als die Glaubhaftigkeit ſeiner Ausſagen
und zeigte ſich in dem Lichte eines Mannes, der in red-
licher und achtbarer Abſicht dazu beitragen wollte, das
Unglück zu verhindern, welches Revolutionen ſtets in ihrem
Gefolge führen. Dies war die Meinung, welche Seine
Königliche Hoheit der Großherzog und auch ich von ihm
faßten". Im Zuſammenhalt mit dieſem glänzenden Ehren-
zeugniß macht das Folgende, was wir nun in den Acten
leſen, einen unſäglich komiſchen Eindruck. Kuhl erbat ſich
nämlich nun Umſchreibung jener Urkunde auf ſeinen Namen
[CXXXVIII] und, ſagt du Thil "es war kein Grund vorhanden, ihm
dies zu verſagen". So ſchrieb, unterſchrieb und ſiegelte denn
Ludwig II. zu Darmſtadt den 17. Juni 1833 eine neue
Urkunde auf Kuhl's Namen lautend, und dieſe wurde ihm
eingehändigt, nachdem er jene erſte zurückgegeben. Aber
ſiehe! — die zweite unterſchied ſich gar ſehr von der erſten,
es ſtand kein Wort mehr darin von der "Verſchwiegenheit"
und "Erkenntlichkeit" und ſtatt "Ungeſtraftheit der Perſon"
war dem Kuhl nur eine "Begnadigung" für den Fall ſeiner
Verurtheilung zugeſichert!!! Was Kuhl dazu ſagte, ſteht
nicht in den Acten, wohl aber wie er handelte: als miß-
trauiſcher Geſchäftsmann, oder, wie Herr du Thil klagt: "er
trieb von da ab ein doppeltes Spiel". Das bezieht ſich nicht
darauf, daß er in fortwährendem Verkehr mit Weidig und Ge-
noſſen blieb — das mußte er als Denunciant von Amts-
wegen thun; auch nicht darauf, daß er eine ganze Reihe un-
mündiger Burſche für die revolutionäre Partei warb und zu
wahnwitzigen Streichen entflammte — iſt ein Denunciant
ſo geſchickt, zugleich als Agent provocateur zu dienen, ſo kann
dies ſeinen Auftraggebern gewiß nur recht ſein. Auch Herrn
du Thil war es recht — ſeine Klage bezog ſich nur darauf,
daß Kuhl auch der Polizei nicht die volle Wahrheit ſage.
Und dieſe Klage war begründet, Kuhl hatte ſich da ein
eigenes Syſtem zurechtgelegt. Erſtens machte er keine neue
Anzeige, ehe er nicht für die frühere baar bezahlt worden,
zweitens verrieth er nur Jene, die ihm gleichgiltig waren oder
denen er übel wollte, drittens verrieth er Jene, die er haßte, nur
inſoweit, daß hiedurch keinesfalls die ganze Verſchwörung in die
Hände der Regierung fallen konnte — ſonſt hätte er ſich ja
mit eigener Hand ſein ganzes ſchönes Geſchäft ruinirt!
[CXXXIX] Wenn wir dies Syſtem in Rechnung ziehen, wird uns Alles,
was wir bisher berichtet in neuem und klarerem Lichte er-
ſcheinen. Nach dem Frankfurter Putſch wurden, wie erzählt,
zuerſt einige Gießener Studenten verhaftet — Kuhl hatte
ſie zuerſt an's Meſſer geliefert, weil er die Studenten wegen
ihres Hochmuths gegen "Philiſter und Knoten" nicht leiden
mochte, noch mehr deßhalb, weil die jungen Leute dem Cen-
trum der Bewegung recht ferne ſtanden. Dann denuncirte
er den Pfarrer Flick und den Apotheker Trapp, beide arg
genug, um ein gerichtliches Verfahren zu ermöglichen, aber
doch wieder nicht genug, um eine Verurtheilung möglich zu
machen — jeder Hochverräther, der wieder in Freiheit und
zur Action kam, bildete ja eine neue Capitalsquelle! Einen
harten Kampf zwiſchen Rachſucht und Eigennutz rang Kuhl
bezüglich Weidig's; der Eigennutz ſiegte, Kuhl denuncirte den
Rector, aber zu einer Zeit, da dieſer bereits alles Verdäch-
tige fortgeſchafft hatte. Das Reſultat iſt bekannt — Weidig
mußte nach wenigen Tagen freigegeben werden! (S. 87)
Auch bei ſeiner Denunciation bezüglich des "Landboten"
handelte Kuhl nach dieſem Syſtem; er erſchien am Morgen
des 31. Juli 1834 bei Stein und meldete, daß die Stu-
denten Schütz und Minnigerode am Nachmittag des 1. Auguſt
mit einer Ladung revolutionärer Flugſchriften das Frank-
furter Thor zu Gießen paſſiren würden. Wo dieſe Flug-
ſchrift gedruckt worden und wer ſie geſchrieben — das wiſſe
er nicht. Nun wußte er dies freilich ſo genau und beſtimmt
wie Wenige, aber einerſeits hielt er jene Nachricht für wichtig
genug, um auch ohne weitere Details eine anſtändige Be-
zahlung fordern zu können, andrerſeits war Büchner jedenfalls
ein anſehnliches Capital, welches man auf Zinſen legen konnte
[CXL] und endlich — es klingt unglaublich, aber es iſt ſo! — ſelbſt
dieſer Menſch empfand den Zauber dieſer reinen, ſtarken
Natur, Kuhl hatte Mitleid mit Büchner und ſchonte ihn.
Das iſt keine bloße Hypotheſe! Büchner hatte allerdings
nur durch ſein Verſchwinden nach Minnigerode's Verhaftung
einen Verdacht auf ſich gelenkt, aber die Polizei war ſo feſt
von ſeiner Mitſchuld überzeugt, daß du Thil auf Georgi's
Bericht hin dem Kuhl eine große Summe bieten ließ, wenn
er Angaben über Büchner machen wolle. Aber Kuhl er-
klärte, er kenne dieſen Herrn Studenten nicht. Ebenſo hat in
ihm ſpäter noch einmal ein menſchliches Rühren über die Hab-
ſucht geſiegt. Aber die weiteren Phaſen dieſer ſeltſamen
Gerichts- und Denuncianten-Hiſtorie werden wir ſpäter zu
beleuchten haben. Das Bisherige ſtellt klar, warum das
Gericht nur nach Schütz fahndete, und wie Büchner unbe-
helligt bleiben und ſogar zur Klage gegen den Richter
ſchreiten konnte.
Näheres über dieſes tollkühne Vorgehen enthalten ſeine
Briefe an die Eltern, doch ſind ſie hierüber, wie über ſeine
ganze revolutionäre Thätigkeit in Gießen nur mit großer
Vorſicht als Quelle zu gebrauchen. Denn er hehlte den
Eltern dieſe Thätigkeit ſehr ängſtlich, und ſuchte, als ſie
Verdacht faßten, dieſen durch allerlei Ausflüchte abzulenken.
Das Motiv hierzu lag natürlich einzig in dem Charakter
des Vaters. Dr. Ernſt Büchner hätte für ſolches Vergehen
keine Strafe zu hart gefunden. Doch verſchwieg Georg nicht
ſeine Geſinnungen, ſondern nur ſeine Thaten, dieſe allerdings
mit großer Gewandtheit. Als Dr. Büchner im März 1834
beſorgt anfragte, ob die Gerüchte von entdeckten demokratiſchen
Umtrieben in Oberheſſen wahr ſprächen, erwiderte der Sohn,
[CXLI] damit ſei es nichts, "wichtiger" jedoch ſeien die Unter-
ſuchungen wegen der Verbindungen — die Polizei war nämlich
darauf gekommen, daß einige wegen nächtlichen Straßen-
ſcandals aufgelöſte Corps ſich heimlich wieder zuſammenge-
than! Und im Mai, wo er eben um ſeinen "Landboten"
kämpfte, wußte er den Eltern nichts zu berichten, als eine
harmloſe Prügelei: die conſervativ-ariſtokratiſchen Corps-
ſtudenten waren mit den Gießener Handwerksburſchen in
Streit gekommen und trotz der Dazwiſchenkunft des ewig
betrunkenen Univerſitätsrichters Georgi ſchwer durchgebläut
worden; — "ich hoffe, daß der Burſche wieder Schläge be-
kommt", ſchreibt der grimmige Feind aller Couleurs. Und
einen Tag vor jener Verſammlung auf der Badenburg ſucht
er die Eltern nur durch einen Poſſenſtreich, welchen man
der Polizei angethan, zu amüſiren (S. 338). Er hätte auch
die Geneſis derſelben erzählen können, was ihm freilich nicht
in den Kram paßte! Da nämlich die Polizei überall im
Lande mit größtem Eifer, aber vergeblich nach jener ge-
heimen Preſſe fahndete, aus welcher Weidig's "Leuchter"
hervorgegangen und im Juni ſogar einen Preis von tauſend
Gulden für deren Entdeckung anbot, ſo ſchlug Kuhl, der,
wie erwähnt, nach wie vor ſeine Späßchen trieb, in einer
luſtigen Geſellſchaft vor, durch einen anonymen Brief an das
Staatsminiſterium einen überaus loyalen und furchtſamen
Bürger, den Schreinermeiſter Kraus zu Butzbach, als Be-
ſitzer dieſer Preſſe zu denunciren. Der Brief wurde ſofort
aufgeſetzt, mit verſtellter Handſchrift abgeſchrieben und von
Becker zur Poſt gegeben. Die Folgen mag man in Büchner's
Briefe nachleſen, zu bemerken iſt nur noch, daß ein Butz-
bacher, gleichfalls auf Kuhl's Anregung, den gelungenen
[CXLII] Streich in einem ſatyriſchen Gedichte: "Herr du Thil mit
der Eiſenſtirn und Schreinermeiſter Kraus zu Butzbach" ver-
herrlichte, daß ferner Kuhl den Druck dieſes Poems auf jener
geheimen Preſſe und deſſen Verbreitung veranlaßte, und daß
endlich derſelbe Kuhl nach einiger Zeit nicht blos den Ort,
wo jene Druckerei wirklich ſtand, bei Marburg in Kurheſſen,
ſondern auch Becker als Abſender der falſchen Anzeige und
jenen Butzbacher als Verfaſſer der Satyre denuncirte! Wahr-
lich, von dieſem Manne hätten ſelbſt die "weißen Blouſen"
Napoleon's III. noch etwas hinzulernen können! Sehr be-
zeichnend iſt ferner die Art, wie Büchner ſeinen Eltern jene
qualvolle, nächtliche Wanderung von Gießen nach Frankfurt be-
richtet: als eine fröhliche Vergnügungstour — "ich wählte die
Nacht der gewaltigen Hitze wegen, und ſo wanderte ich in der lieb-
lichen Kühle unter hellem Sternenhimmel, an deſſen fernſtem Ho-
rizonte ein beſtändiges Blitzen leuchtete. Theils zu Fuß, theils
fahrend mit Poſtillonen und ſonſtigem Geſindel legte ich
während der Nacht den größten Theil des Weges zurück. Ich
ruhte mehrmals unterwegs u. ſ. w." Man ſieht, Büchner
verſteht nicht blos zu erfinden, ſondern auch auszumalen;
aus dem wüſten Nachtſtück geſtaltet ſich "in usum — patris"
eine Idylle à la Eichendorff. Auch ſeinen Aufenthalt in
Offenbach motivirt er, "weil es von dieſer Seite leichter iſt,
in die Stadt zu kommen". Der Brief iſt in Frankfurt,
während des Beiſammenſeins mit Boeckel geſchrieben, der
nächſte Brief, Gießen, 5. Auguſt, muß freilich einen anderen
Ton anſchlagen, er kann den Eltern die Hausſuchung und
Vernehmung nicht verſchweigen, aber er thut es im Tone
ungerecht verfolgter Unſchuld. Als er durch weitere drei
Tage auf freiem Fuße bleibt, ſteigert ſich ſeine Zuverſicht
[CXLIII] und damit auch jener Ton — am 8. Auguſt detaillirt er
ſeinen Eltern bereits das blutige Unrecht, welches ihm die
Polizei durch ihren ſchnöden Verdacht bereitet: "Das Gerücht
mit Offenbach", fügt er hinzu, "iſt jedenfalls eine ſchnöde
Erfindung". Der biedere Kuhl hatte nämlich am 7. Auguſt
angezeigt, daß der "Landbote" in Offenbach gedruckt worden
ſei, die Frankfurter Polizei hatte darauf die geheime Preſſe
entdeckt, das Gerücht hiervon war nach Darmſtadt gedrungen,
und hatte die Eltern erſchreckt, weil ſie wußten, daß Georg
in Offenbach geweſen. Er wußte keinen anderen Ausweg,
als die Entdeckung ſelbſt zu leugnen. Gleichzeitig glaubte
er jedoch für alle Fälle vorbauen und den Eltern für die
Eventualität ſeiner Verhaftung im Voraus Troſt geben zu
ſollen, den Troſt ſeiner Unſchuld. — "Sollte man, ſowie
man ohne die geſetzlich nothwendige Urſache meine Papiere
durchſucht, mich auch ohne dieſelbe feſtnehmen, in Gottes
Namen! ich kann ſo wenig darüber hinaus und es iſt dies
ſo wenig meine Schuld, als wenn eine Heerde Banditen mich
anhielte, plünderte und mordete!" Das wäre den armen
Eltern ein ſchwacher Troſt geweſen! Zum Glück bedurften
ſie ſeiner nicht, Georg blieb unbehelligt und darum hält er
es in ſeinem letzten Briefe aus Gießen gar nicht mehr nöthig,
ſeine Unſchuld zu betheuern, er erzählt nur noch von ſeiner An-
klage gegen Georgi und bedauert, daß ſie reſultatlos geblieben!
Es war ein Glück für den Jüngling, daß die Eltern
ſeiner Betheuerung nicht glaubten. Ohne ihn zu einem
Geſtändniß zu drängen, beriefen ſie ihn Ende Auguſt nach
Darmſtadt zurück und ließen ihn nicht wieder nach Gießen
gehen. Die letzten Monate, welche Büchner auf deutſchem
Boden verlebt, hat er im elterlichen Hauſe zugebracht. —
[CXLIV]
Auch dieſe Zeit — vom September 1834 bis zu den
letzten Februartagen des nächſten Jahres — war für ihn
überreich an Kämpfen, an inneren und äußeren Drangſalen
peinlichſter Art. Gleichwohl muß uns dieſer traurige Winter
zugleich als der wichtigſte und fruchtbarſte Abſchnitt dieſes
kurzen Lebens erſcheinen, weil Büchner da ſein beſtes und
berühmteſtes Werk ſchuf: "Dantons Tod". Auf dieſes
Drama müſſen wir alſo im Folgenden das Hauptgewicht
legen. Aber ſeine Entſtehung wie ſein Weſen ſind ſo eng
mit den perſönlichen Verhältniſſen des Dichters verknüpft,
daß eine eingehende Darlegung derſelben ſchon aus dieſem
Grunde unerläßlich wird.
Es iſt, wie geſagt, nur Unerquickliches davon zu be-
richten. Vor Allem mußte ſich der Jüngling nach dem, was
vorangegangen, im elterlichen Hauſe höchſt unbehaglich fühlen.
Der Vater begegnete ihm mit Strenge und Mißtrauen und
war ja leider zu Beidem vollauf berechtigt. Ahnte auch Dr.
Büchner nicht entfernt, welche Rolle Georg unter den Ra-
dicalen geſpielt, ſo war er doch feſt von deſſen Antheilnahme
an den hochverrätheriſchen Beſtrebungen überzeugt und dies
genügte, um den loyalen Staatsdiener mit herbem Groll,
den beſorgten Vater mit tiefem Schmerze zu erfüllen. Die
ſtolzen Hoffnungen, die er auf ſeinen Erſtgeborenen geſetzt,
drohten zu Schanden zu werden, umſomehr, da ja auch in
deſſen akademiſchen Studien eine Pauſe eingetreten war.
Georg litt ſchwer unter dem Groll des Vaters, welcher ſich
bei dem Weſen des harten Mannes oft rückſichtslos äußerte
und nur dem vermittelnden Einfluß der milden, liebenswür-
digen Mutter war es zu danken, daß ein völliger Bruch
vermieden blieb. Uebrigens geſtand er auch ihr nicht, in
[CXLV] welche Gefahren er ſich geſtürzt, und ſein einziger Vertrauter
im Elternhauſe war der damals ſiebzehnjährige Bruder Wil-
helm, welcher ſich eben zum Apotheker ausbildete. Nichts,
auch nicht den Groll des Vaters, erzählt dieſer Gewährs-
mann, habe Georg ſo ſchmerzlich empfunden, wie den Zwang,
die Eltern über ſeine Thaten und Geſinnungen im Unklaren
erhalten zu müſſen, und ſeine einzigen heiteren Tage ſeien
jene geweſen, welche er mit der Braut verbracht. Denn
Minna war im Spätherbſt 1834 mit ihrer Tante nach
Darmſtadt gekommen, um ſich ihren künftigen Schwieger-
eltern zu präſentiren, und hatte raſch durch ihre Anmuth
und Klugheit ihre Zuneigung gewonnen. Aber der Beſuch
währte nur kurz und als ſie ſchied, wurde Georg düſterer
als vorher und klagte dem Bruder immer wieder, daß er ſich
wie im Kerker fühle.
Doch brütete er nicht müßig dahin, ſondern betrieb
eifriger, denn je vorher, "vom Morgengrauen bis Mitter-
nacht" Studien verſchiedenſter Art. Vor Allem wendete er
ſich, mit Einwilligung des Vaters, wieder der vergleichenden
Anatomie zu, arbeitete in dem kleinen Laboratorium, welches
ſich dieſer eingerichtet, an allerlei Präparaten, die er, von
großer manueller Fertigkeit unterſtützt, ſehr ſauber und in-
ſtructiv herzuſtellen wußte, und hielt auch im Laufe des
Winters eine Reihe von Vorleſungen über Anatomie für
junge Leute, die ſich dem Studium der Chirurgie zu widmen
gedachten. Aber je thätiger er ſich in dieſen realen For-
ſchungen und Demonſtrationen erwies, deſto brennender ward
ihm, ſeiner Natur nach, der Drang nach philoſophiſcher und
poetiſcher Lectüre, und er genügte dieſem ſo reichlich, daß
ſeine Geſundheit darunter litt. Nie hat Büchner mehr ge-
G. Büchner's Werke. k
[CXLVI] leſen, nie raſtloſer an ſeiner allgemeinen Bildung gearbeitet,
als in jenen Tagen. Gründlicher, als im Winter zuvor,
machte er ſich mit den Syſtemen des Spinoza und Carteſius
vertraut und lernte, wie früher, die franzöſiſche, ſo nun die
moderne engliſche Literatur kennen. Tiefſten Eindruck machten
ihm namentlich die Werke Byron's. Von deutſchen Dichtern
war ihm, nächſt Goethe, Tieck ſehr ſympathiſch und während
jenes Beſuchs ſeiner Braut las er mit ihr den "Aufruhr in
den Cevennen", welche Novelle er für ein Muſter ihrer
Gattung hielt. Die meiſte Zeit jedoch verwendete er auf
das Studium der Geſchichte der franzöſiſchen Revolution;
während er ſich in Gießen mit den allgemein zugänglichen
Schriften hatte begnügen müſſen, lieferte ihm nun die große
Bibliothek in Darmſtadt die einſchlägigen Quellenwerke: den
Moniteur, die Briefe Mirabeau's an ſeine Wähler, Me-
moiren, Reden u. ſ. w. Freilich mußte er dieſe Lectüre
dem Blicke Dr. Büchner's verbergen, und hielt, wenn er ein
ſolches Buch im Laboratorium zu leſen wagte, ſtets einen
großen Atlas der Anatomie bereit, mit dem er es nöthigen
Falls bedecken konnte.
Leider hatte er dem Vater weit mehr zu verbergen, als
ſolche theoretiſche Beſchäftigung mit der Revolution, nämlich
ſehr energiſche praktiſche Beſtrebungen dieſer Art. Denn
während ſeines ganzen Darmſtädter Aufenthaltes blieb er
nicht blos in eifrigſter Verbindung mit den anderen Häuptern
der Partei, ſondern agitirte obendrein auf eigene Fauſt weiter
und zwar viel kühner und leidenſchaftlicher, als es damals
jene Anderen wagten.
Es muß uns dies faſt räthſelhaft anmuthen, wenn wir
erwägen, daß Büchner ſich nie viel Erfolg von ſolcher Wirk-
[CXLVII] ſamkeit verſprochen und nun vollends ihre Nutzloſigkeit ein-
ſehen mußte. Denn die Lage der Partei war eine troſtloſe,
ja verzweifelte, und wenn nicht ſchon früher, ſo mußte ſich
doch jetzt jeder Verſtändige ſagen, daß weitere Agitation nur
ihn verderben könne, nicht das verhaßte reactionäre Staats-
weſen. Mit Minnigerode hatten die Behörden auch den
"Landboten" in die Hände bekommen; einige andere Bürgers-
ſöhne und Studenten waren im September und Oktober
1834 verhaftet worden, das Centrum in Butzbach functio-
nirte nicht mehr, ſeit die Führer fehlten. Denn auch Weidig
hatte dieſen Schauplatz ſeiner langjährigen Thätigkeit verlaſſen
müſſen, er war im September 1834, alſo gleichzeitig mit
Büchner's Rückkehr in's Elternhaus, von der Regierung
ſtrafweiſe als Pfarrer nach Obergleen, einem ärmlichen Dorfe in
Oberheſſen, verſetzt worden. Aber vernichtender als dies Alles
mußte auf die Verſchworenen die Aufnahme wirken, welche
der "Landbote" bei den Bauern und Bürgern des Groß-
herzogthums gefunden. Erſtaunt oder voll loyalen Entſetzens
laſen die Leute das grimmige Pamphlet und lieferten es
dann eiligſt dem nächſten Gensdarmen aus, ſo daß nicht
blos jene Anzahl von Exemplaren, welche in Minnigerode's
Kleidern und Stiefeln gefunden worden, ſondern faſt die
ganze Auflage in den Beſitz der Regierung kam. Ein ecla-
tanterer Mißerfolg war kaum denkbar und — "gewinnen
wir die Maſſe nicht, ſo iſt unſer Thun ein Thorenſpiel!"
hatte Büchner wenige Monate vorher mit Recht ausgerufen!
Wenn er nun gleichwohl dies "gefährliche Thorenſpiel" mit
Ernſt und Leidenſchaft fortſetzte, ſo darf zur Erklärung wohl
daran erinnert werden, daß noch immer weder er, noch ſeine
Verbündeten irgend eine perſönliche Gefahr befürchteten. Nach
k *
[CXLVIII] wie vor hielten ſie die Affaire Minnigerode für einen unglück-
lichen Zufall und auch die folgenden Verhaftungen konnten
ſie in dieſer Ueberzeugung nicht ſtutzig machen, weil dieſelben
faſt durchweg junge, unbedeutende Leute betrafen, welche ſich
an der Agitation nur wenig betheiligt. So trug das Syſtem
weiſer Sparſamkeit, welches der wackere Kuhl in ſeinem Ge-
ſchäfte einhielt, auch dazu bei, die Führer ſicher zu machen;
Büchner konnte an keine Gefahr glauben, ſo lange Weidig
unbehelligt blieb — und umgekehrt. Doch ſind die Motive
ſeiner Handlungsweiſe gewiß weniger in dieſem Gefühl der
Sicherheit, als in ſeinen perſönlichen Verhältniſſen zu ſuchen.
Je ſchwerer der Druck des Vaters auf ihm laſtete, deſto
ſehnſüchtiger empfand der trotzige Jüngling den Drang nach
tollkühner Thätigkeit und konnte ihn auch reichlich befriedigen:
in jenem Kreiſe begeiſterter Freunde, welchen er im Früh-
ling deſſelben Jahres zu einer geheimen Geſellſchaft ver-
einigt. Vielleicht hätten ſeine Reden und Anträge in dieſem
Vereine minder radical geklungen, wäre er nicht zu Hauſe
vom Vater wie ein Knabe behandelt worden, vielleicht auch
konnte er trotz beſſerer Einſicht nicht mehr jenen Ton herab-
ſtimmen, den er ſelbſt eingeführt — nur durch ſolche Er-
wägungen wird das Folgende erklärlich ...
Wer die Stadt Darmſtadt durch das Jägerthor ver-
läßt und auf der Dieburger Landſtraße den herrlichen Buchen-
hainen des Kranichſteiner Parks entgegen wandelt, gewahrt
am Wege zwiſchen Gärten und Feldern ein einſames kleines
Häuschen mit zerberſtendem Mauerwerk, öde und unbewohnt.
Wohl keiner der Spaziergänger ahnt, daß ſich an dieſe Räume
ein hiſtoriſches Intereſſe knüpft — hier hat der letzte deutſche
Geheimbund der Dreißiger Jahre ſein Weſen getrieben, hier
[CXLIX] verſammelte ſich im Winter 1834 auf 35 die Darmſtädter
"Geſellſchaft der Menſchenrechte" unter Büchner's Vorſitz.
Von den Theilnehmern ſcheint keiner mehr am Leben, wenig-
ſtens war trotz aller Mühe keiner zu erkunden, die Heſſiſche
Regierung hat die diesbezüglichen Acten nicht veröffentlicht
— was wir hierüber wiſſen, ſtammt aus den Erinnerungen
Wilhelm Büchner's und einzelnen Notizen in Noellner's Acten-
werke. Faſſen wir dieſe ſpärlichen Quellen zuſammen, ſo
ergibt ſich, daß die Geſellſchaft nominell ein Jahr, in Wahr-
heit aber nur einige Monate in Thätigkeit geweſen. Wohl
war ſie bereits im März 1834 (vergl. S. XCII u. CVIII) von
Büchner begründet worden, aber erſt vom Herbſte ab, nach-
dem er die perſönliche Leitung übernommen, ward Schwung
und Eifer bemerkbar. Nun wuchs auch binnen wenigen
Wochen die Zahl der Mitglieder, welche während des Sommers
nur etwa ein Dutzend betragen, auf das Doppelte und Drei-
fache; mehr als vierzig Köpfe ſcheint der Bund nie gezählt
zu haben. Es waren dies faſt durchweg junge Darmſtädter
Bürgersſöhne, außer Büchner nur noch zwei oder drei Stu-
denten, ein älterer Mann war nicht darunter. Die Geſell-
ſchaft war bekanntlich in Ausführung eines umfaſſenden Or-
ganiſationsplanes, als einzelnes Glied einer großen Kette
gegründet worden — dieſer Zweck war nun freilich gründlich
verfehlt, es ſcheint aber, daß der Ehrgeiz und Eifer der
Jünglinge gerade durch das Bewußtſein geſtachelt worden,
dem einzigen noch aufrechten Geheimbund anzugehören. Die
Tendenz blieb unverändert: Erziehung der Mitglieder für die
Revolution, Unterſtützung radical demokratiſcher Beſtrebungen.
Dieſer letztere Programmpunkt konnte natürlich wenig zur
Ausführung kommen, um ſo eifriger wurde der erſte gepflegt.
[CL] Zwei Male wöchentlich verſammelten ſich die Verbündeten
mit Einbruch der Nacht in jenem Gartenhäuschen. Sie
hatten dasſelbe zu dieſem Zwecke gewählt, weil es im Winter
unbewohnt war und an einer Chauſſee lag, die Nachts ſehr
ſelten frequentirt wurde. Gleichwohl ward große Vorſicht
bewahrt, die Mitglieder kamen ſtets einzeln, zu verſchiedener
Zeit und auf verſchiedenen Wegen; die Läden waren feſt
verſchloſſen und ringsum Poſten aufgeſtellt. Die Verſamm-
lungen begannen mit der Aufnahme neuer Mitglieder, dieſe
legten den Eid darauf ab, jedem Beſchluß der Geſellſchaft,
er laute wie immer, bedingungslos zu gehorchen, "werde ich
je zum Verräther", ſchloß die Formel, "ſo mag mir mein
Recht werden: der Tod". Nach Erledigung dieſer Forma-
litäten folgte Vortrag oder freie Discuſſion über ein poli-
tiſches oder hiſtoriſches Thema; das Meiſte leiſtete hiebei der
Vorſitzende ſelbſt. So hielt er im November und Dezember
eine Reihe von Vorträgen über die franzöſiſche Revolution
und arbeitete im Anſchluß daran eine "Erklärung der Menſchen-
rechte" aus, welche der Verein als Programm acceptirte.
Dieſe Arbeit und die Protocolle der Geſellſchaft wurden
einige Monate ſpäter, nach Büchner's Flucht, von deſſen An-
gehörigen aufgefunden und, da eine Hausſuchung zu befürchten
ſtand, verbrannt. Ueber die Discuſſionen iſt wenig zu er-
kunden geweſen; nach dem einige Jahre ſpäter vor dem
Richter abgelegten Geſtändniß eines der Theilnehmer ſei
einmal darüber debattirt worden, ob ein Meineid in einem
politiſchen Prozeſſe als ein Verbrechen anzuſehen ſei; die Ge-
ſellſchaft habe dies bei der Abſtimmung verneint. Doch ſtammt
dieſe Mittheilung aus trüber Quelle und iſt auch innerlich
nicht glaubwürdig, ſowohl Weidig als Büchner ſtanden ſittlich
[CLI] zu hoch, um den Meineid zu predigen. Im Prozeſſe gegen
den erſteren bildete die Meineids-Theorie einen der Haupt-
punkte der Anklage, was jedoch an "Beweiſen" hiefür auf-
gebracht wurde, könnte keinen gerechten Richter zu einem
"Schuldig!" bewegen. Das rechte Licht über die Ausſage
jenes bereitwilligen Zeugen gibt übrigens folgende Mitthei-
lung Auguſt Beckers: "Es gehörte zu den Verkehrtheiten
meiner Jugend, die unſinnigſten Paradoxen aufzuſtellen und
ſie mit der größten Hartnäckigkeit zu vertheidigen. Wenn
ich z. B. einmal öffentlich behauptete, daß Dr. Luther und
Schinderhannes die zwei größten Deutſchen geweſen, ſo wird
mir jeder, der mich kennt, zugeben, daß dies nicht mein Ernſt
geweſen ſein könne. Ich könnte eine ganze Liſte ähnlicher
Sätze, die ich vertheidigt habe, anführen. In dieſem
Sinne mag ich vielleicht auch einmal den falſchen Eid
vertheidigt haben. Auch Büchner hatte einige Sophismen
über den falſchen Eid in Bereitſchaft, die er oft zum Scherz
aufſtellte und die "falſche Eidestheorie" nannte."Das klingt
nach jeder Richtung glaubwürdig. Ueber einen anderen Dis-
cuſſionsabend berichtet Wilhelm Büchner, jedoch nur vom
Hörenſagen, da ihn ſein Bruder nie in jene Geſellſchaft
einführte. Man debattirte mehrere Stunden darüber, ob es
klüger ſei, ſogleich eine einheitliche Republik anzuſtreben, oder
ſich vorerſt darauf zu beſchränken, die anderen Dynaſtien zu
Gunſten der Hohenzollern zu beſeitigen und im geeinten
Deutſchland die Revolution zu bewirken. Für beide An-
ſichten ſeien leidenſchaftliche Verfechter aufgetreten, bis ſich die
Verſammlung endlich, mit der Motivirung, "das mit den
Hohenzollern gäbe nur doppelte Arbeit", für den erſteren
Weg entſchieden.
[CLII]
Außer dieſen nächtlichen Verſammlungen vereinigten ſich
die Jünglinge an einigen Tagen der Woche in kleineren
Gruppen zur Uebung in den Waffen. In einem verfallenen
Kornſpeicher wurde das Säbel- und Bajonettfechten geübt
und mit der Piſtole nach der Scheibe geſchoſſen. Faſt alle
Theilnehmer waren gut bewaffnet und hielten auch bedeutende
Schießvorräthe verborgen. Zu ihrem Glück ergab ſich keinerlei
Gelegenheit, ernſten Gebrauch davon zu machen. Die äußere
Wirkſamkeit der "Geſellſchaft" beſchränkte ſich darauf, den
zu Darmſtadt und Friedberg Verhafteten Nachrichten zu-
kommen zu laſſen und Verſuche zu ihrer Befreiung zu machen.
Beides wurde mit vielem Scharfſinn in's Werk geſetzt. So
war es den Gefangenen einzig geſtattet, ſich eine Bibel und
den Zuckervorrath von Auswärts kommen zu laſſen, aber
die Verbündeten wußten dies auszunützen. In den Bibeln
wurden auf einer der erſten Seiten einzelne Buchſtaben mit
Punkten verſehen und ſo zu Worten und Sätzen formirt —
das Ganze mußte von der Rechten zur Linken, alſo nach
Art der Hebräer, zuſammengeleſen werden. Unter den Zucker-
ſtücken aber befanden ſich immer einige mit fein eingebohrten
Röhrchen, in welche dicht zuſammengerollte, eng beſchriebene
Zettelchen geſteckt waren. Die Correſpondenz durch die Bibel
wurde bald entdeckt und als der Kerkermeiſter einmal ſeinen
Morgenkaffee aus der Zuckerdüte der Gefangenen verſüßte und
plötzlich zu ſeinem Erſtaunen ein Zettelchen auf der Oberfläche
des braunen Tranke auftauchen ſah, da ward auch dies an-
dere Mittel der Verſtändigung unmöglich gemacht. So führten
denn die Bemühungen Büchner's und ſeiner Anhänger nur
zu dem Reſultat, daß ihre armen Freunde die Bibel ent-
behren und bittern Kaffee trinken mußten. Auch die Be-
[CLIII] freiungs-Verſuche fielen nicht beſſer aus. Zwei Wächter waren
beſtochen, der Kerkermeiſter ſollte durch Opium betäubt werden,
auch war bereits Vorſorge für die Beförderung der Befreiten
über die Grenze getroffen. Aber die Ausführung verzögerte
ſich, weil vorher die Geneſung des ſchwer erkrankten Minnige-
rode abgewartet werden ſollte, und als man ſich endlich trotz-
dem zum Handeln entſchloß, war es zu ſpät. Einer der be-
ſtochenen Wächter verrieth den Plan und die Gefangenen
wurden ſchärfer bewacht, als früher.
Dieſe Mißerfolge verſtimmten Büchner immer mehr
und oft genug klagte er ſeinem treuen Wilhelm, daß ſich
kein Menſch unglücklicher fühlen könne als er. War ſchon
ſein ſeltſames Doppelleben, bei Tage als demüthiger Ge-
fangener, der ſein vorgeſchriebenes Penſum Anatomie erledigen
mußte, des Nachts als Dictator einer phantaſtiſch aufge-
regten Bande, vollauf geeignet, ſelbſt ſtärkere Nerven, als er
ſie hatte, auf's Höchſte zu irritiren, ſo quälte ihn noch oben-
drein bitterſte und leider auch begründete Reue. Er klagte
ſich an, ſeine Eltern betrogen, ſeine Freunde verführt zu
haben, und verurtheilte ſeine Handlungsweiſe in den ſchärfſten
Ausdrücken. Aber juſt in dieſen Tagen äußerer Aufregung
und innerer Selbſtqual erwachte in ihm plötzlich und mächtig
der Drang nach poetiſcher Production; zum erſten Male in
ſeinem Leben, ſofern man von jenen ſchwächlichen lyriſchen
Verſuchen ſeiner Knabenzeit abſieht. Das klingt auffällig
genug, wird uns aber erklärlich, wenn wir aus ſeines Bruders
Mittheilungen erſehen, daß er zunächſt nur eine politiſch-
ſociale Tendenz-Dichtung ſchreiben wollte. Seine erſte
Intention erhob ſich nicht viel über jene, welche ihm beim
"Landboten" die Feder geführt: troſtlos und an dem Siege
[CLIV] der Freiheit verzweifelnd, wollte er durch eine Dichtung, welche
den Triumph der Republik verherrlichen ſollte, ſich und An-
deren Muth einſprechen. Es war alſo nur ein Aufbäumen
ſeiner trotzigen Natur, welche darnach rang, die eigene Reue
und Hoffnungsloſigkeit abzuſchütteln. Daß er den Stoff
aus der franzöſiſchen Revolution entnehmen müſſe, ſtand ihm
bei ſeiner genauen Vertrautheit mit dieſer Geſchichts-Epoche
ſofort feſt, aber ebenſo ſchwankte er keinen Augenblick, die
dramatiſche Form zu wählen. Leitete ihn ſchon bei dieſem
letzteren Entſchluſſe ſein poetiſcher Inſtinkt, ſo trat derſelbe
noch weit mehr hervor, als er den Stoff zu ſichten begann, um
die paſſende Periode herauszufinden. Er hatte urſprünglich
an die erſte glorreiche und noch wenig von Greueln befleckte
Epoche der Revolution gedacht, weil ſich dieſelbe für ſeine
Tendenz am Beſten ſchickte, aber je ernſtlicher er ſich mit
ſeinem Plane beſchäftigte, deſto mehr intereſſirte ihn die
Epoche des Schreckens und ihr Höhepunkt: der Untergang
Danton's. Indem er ſich für letzteren Stoff entſchied, hatte
bereits der Poet in ihm über den Politiker geſiegt: die Schil-
derung der Zeit, wo ſich die Republik ſelbſt zerfleiſchte, war
nicht geeignet, Propaganda für ihre Ideen zu machen. Und
vollends verflüchtigten ſich dieſe Tendenz-Gedanken, als er
nun an die Ausführung ging, denn er that dies in trübſter
Gemüthsſtimmung, verzweifelnd an dem Sieg ſeiner Ideale,
und darum weder gewillt noch vermögend, Andere hiefür zu
begeiſtern. Mehr als je vorher fühlte er ſich "zernichtet
unter dem gräßlichen Fatalismus der Geſchichte" und dem
Druck des eigenen Geſchicks. So war der politiſche En-
thuſiasmus wohl der Motor geweſen, der ihn zu poetiſcher Pro-
duction hingeleitet, aber er verließ ihn noch vor Beginn der Arbeit.
[CLV]
Unter ſchwierigeren Verhältniſſen mag ſelten ein poetiſches
Werk entſtanden ſein. Büchner's Situation, ſchon bisher
eine peinliche, geſtaltete ſich allmählig wahrhaft unerträglich.
In der zweiten Januarwoche von 1835, als er eben die
erſten Szenen ſeines "Danton" geſchrieben hatte, erhielt er
plötzlich eine Vorladung des Criminalgerichts in Offenbach.
Der Vater war ebenſo beſtürzt, als erzürnt; die Mutter
zerfloß in Thränen, beide beſchworen ihn, ihnen die Wahr-
heit zu geſtehen. Er fühle ſich rein, erwiderte er, und be-
gab ſich nach Offenbach, noch immer der feſten Ueberzeugung,
daß man keine poſitiven Beweiſe gegen ihn habe. Die Ver-
nehmung ſchien dies zu beſtätigen, er wurde blos als Zeuge
verhört und ſollte namentlich über Schütz ausſagen; auch
entließ man ihn ſofort wieder. Gleichwohl kehrte er ſehr
beunruhigt heim, denn er hatte den Eindruck empfangen,
daß man allerdings von ihm und Weidig noch nichts wiſſe,
umſomehr aber von anderen, weniger compromittirten Bündlern.
Dies ſchien ihm nach wie vor räthſelhaft und nur durch das
Walten eines ſonderbaren Zufalls erklärlich; noch immer
ahnte er keinen Verrath; trotzdem konnte er ſich nicht ver-
hehlen, daß ihm die Gefahr näher gerückt. Er ſuchte dieſes
Angſtgefühl in ſonderbarer Art zu erſticken: ſein Eifer für
die "Geſellſchaft" ſteigerte ſich, er verbrachte faſt jede Nacht
in jenem Häuschen an der Dieburger Landſtraße und ar-
beitete bei Tage mit fieberhafter Haſt an ſeinem Drama.
Es geſchah dies am Secirtiſche des Laboratoriums und wäh-
rend jener Stunden, wo Dr. Büchner nicht zu Hauſe war;
anatomiſche Tafeln, mit welchen er das Manuſcript bedecken
konnte, lagen ſtets aufgeſchlagen auf dem Tiſche. Außerdem
hielt Wilhelm Wache und meldete rechtzeitig die Heimkehr
[CLVI] des Vaters oder andere Störung: er war der Einzige, der
um die Arbeit wußte. Da Georg, je mehr dieſelbe fort-
ſchritt, immer verſtörter und aufgeregter wurde, ſo erlaubte
ſich der jüngere Bruder einmal eine abmahnende Bemerkung.
Georg erwiderte heftig, er gehorche ſeinem innerſten Drange
und werde ſein Werk ſelbſt dann vollenden, wenn es ihm
Verderben bringen müßte; übrigens tröſte es ihn ſchon jetzt,
indem es ſeine Aufmerkſamkeit von den jämmerlichen Ver-
hältniſſen um ihn her ablenke, und werde ihm obendrein
nach der Vollendung ein ſchön Stück Geld eintragen, deſſen
er dringend bedürfe. "Wozu?" fragte Wilhelm. — "Es ſoll
mir Freiheit und Leben retten!" war die Antwort. Ueb-
rigens ſpielte er damals nur mit dem Gedanken der Flucht
— an eine ernſtliche Gefahr glaubte er ſelbſt dann nicht,
als er Ende Januar eine zweite Vorladung erhielt, diesmal
nach Friedberg. Abermals wurde er nur als Zeuge ver-
nommen, höflich behandelt und ſofort wieder entlaſſen. "Sie
wiſſen nichts!" ſagte er dem Bruder lachend, als er heim-
kehrte, und ahnte nicht, daß ihn abermals nur Kuhl's directe
Intervention gerettet hatte. Obwohl dieſer nämlich keinerlei
Ausſagen gegen Büchner gemacht, ja ſogar jeden Verdacht
von ihm abzulenken verſucht, war Rath Georgi doch durch
die bisherigen Reſultate der Unterſuchung zu der Ueberzeugung
von Büchners Schuld gekommen und unterließ nur deßhalb
die Verhaftung, weil Kuhl feierlich deſſen Unſchuld declarirte.
Zum Erſatz hierfür enthüllte der Mann das Beſtehen der
Darmſtädter Geſellſchaft, gab aber weder den Verſammlungs-
ort noch das Waffendepôt an, obwohl ihm Beides wohl be-
kannt war, ſondern begnügte ſich damit, drei jüngere, unbe-
deutende Mitglieder zu denunciren. Und ſo ward Büchner
[CLVII] eines Morgens — am 2. Februar — durch die Nachricht
aufgeſchreckt, daß einige Freunde, mit denen er noch Nachts
vorher in jenem Häuschen beiſammen geweſen, ſoeben ver-
haftet worden. Erſt dieſe Hiobspoſt brach ſeinen Trotz; in
maßloſer Aufregung ſuchte er eiligſt die einzelnen Mitglieder
auf und mahnte ſie zu äußerſter Vorſicht. Die Vollver-
ſammlungen wurden eingeſtellt, die Waffen in einem Keller
vergraben. Damit noch nicht beruhigt, beſchwor Büchner die
anderen Vorſtände der Geſellſchaft, Koch, Kahlert und Niever-
gelter, zu flüchten. Die beiden Letzteren vermochten dieſem
Rathe zu folgen und verließen Darmſtadt in der erſten Hälfte
des Februar, Koch blieb, weil ihm das Geld zur Flucht
fehlte. Derſelbe Grund zwang Büchner, zu bleiben. Er
ſelbſt beſaß keinerlei Mittel, unter den Geſinnungsgenoſſen
war Niemand, der ſie ihm hätte leihen können, ein Geſtänd-
niß an die Eltern hätte nur die Mutter troſtlos gemacht,
den Vater in heftigſte Entrüſtung verſetzt, ohne zu dem ge-
wünſchten Reſultate zu führen; Dr. Büchner war nicht der
Mann, einen Schuldigen, auch wenn es ſein eigen Fleiſch
und Blut war, den Gerichten zu entziehen. Vielleicht ſei
es gut ſo, tröſtete Georg den beſorgten Bruder, vielleicht ſei
die Flucht überflüſſig, die Polizei tappe offenbar noch im
Finſtern, da ja auch Weidig bisher unbehelligt geblieben.
Wie wenig er ſelbſt an dieſe Hoffnung glaubte, bewies ſein
verſtörtes Antlitz und die fieberhafte Aufregung, die ſeine
Kräfte ſichtlich aufrieb. Sein Auge glänzte unheimlich und
war dann wieder wie erloſchen; er aß faſt nichts, ſprach
nur mühſam und fuhr zuſammen wenn er angeredet wurde.
Die Eltern drangen in ihn, ſich Ruhe zu gönnen, er lehnte
dies faſt unwillig ab und ſaß vom frühen Morgen bis in
[CLVIII] die Nacht hinein an ſeinem Arbeitstiſche, haſtig und heimlich
Szene um Szene ſeines Drama's entwerfend. "Ich ſchreibe
im Fieber", ſagte er dann dem Bruder, "aber das ſchadet
dem Werke nicht — im Gegentheil! Uebrigens habe ich
keine Wahl, ich kann mir keine Ruhe gönnen, bis ich nicht
den Danton unter der Guillotine habe und obendrein brauche
ich Geld, Geld!" Dies letztere Motiv betonte er immer
häufiger, je mehr die Arbeit vorrückte, und je näher ihm die
Gefahr kam. Denn von Mitte Februar ab brachte faſt
jeder Tag eine ſchlimme Neuigkeit: in Gießen, Butzbach und
Darmſtadt mehrten ſich die Verhaftungen, auch Koch wurde
in's Gefängniß geſchleppt, in dem er ſein Leben beſchließen
ſollte. Als Büchner auf die Nachricht hievon zu einem
Freunde eilte, um nähere Erkundigungen einzuziehen, gewahrte
er, daß ihm ein Poliziſt auf Schritt und Tritt folgte, zwei
andere waren an den beiden Enden der Straße poſtirt, in
der er wohnte. "Ich bin verloren!" ſagte er dem Bruder,
als er heimkehrte, brütete einige Stunden ſtumm und ver-
zweifelt vor ſich hin, raffte ſich dann jedoch gewaltſam auf.
Noch am ſelben Abend befeſtigte er mit Wilhelm's Hülfe
eine Strickleiter an der hohen Mauer des Hausgartens, um in
die benachbarten Gärten flüchten zu können, wenn die Häſcher
kämen. Die nächſten drei Tage (20.-23. Febr.) verbrachte er
wieder am Schreibtiſch, vollendete den Entwurf des Drama's,
feilte es durch und ſchrieb es in's Reine. "Ich hätte ſonſt
Wochen daran gewendet", ſagte er dem Bruder, "aber nun
iſt keine Zeit mehr zu verlieren". Man ſieht, es war keine
Uebertreibung, wenn er ſpäter einmal an Gutzkow ſchrieb:
"Für Danton ſind die Darmſtädtiſchen Polizeidiener meine
Muſen geweſen". Die Poliziſten patrouillirten fortwährend
[CLIX] vor dem Hauſe und er mußte ſie ſehen, wenn er den Blick
von der Arbeit erhob. Am 24. Februar ſchrieb er den Be-
gleitbrief an Gutzkow, und Wilhelm brachte das Manuſcript
zur Poſt. Auf dem Titel ſtand nur: "Dantons Tod. Ein
Drama", und ſtatt des Autornamens die Bitte, denſelben
zu verſchweigen. Auf Gutzkow war ſeine Wahl deßhalb ge-
fallen, weil ſich dieſer durch ſeine ſcharfen, kühnen und frei-
ſinnigen Kritiken im Frankfurter "Telegraph" raſch großen
Einfluß erworben und auch mit dem ſehr geachteten und
rührigen Verleger J. D. Sauerländer in intimer Bezie-
hung ſtand.
Das Begleitſchreiben Büchners liegt dem Leſer vor
(S. 381) — der ſeltſame Ton desſelben kann nicht befremden,
wenn man die Verhältniſſe erwägt, unter denen es entſtand.
Ein fieberhaft erregter, verzweifelter Jüngling hat dieſe Zeilen
geſchrieben, um die einzige Hoffnung, an die er ſich noch
klammerte, zu verwirklichen. Aber ſo deutlich auch die Ab-
ſicht hervortritt, Neugierde, Theilnahme, ja Mitleid zu er-
wecken — keine Unwahrheit findet ſich in dieſem Briefe, ja
ſogar wenn man ſich in das Gefühlsleben des Gepeinigten
verſetzt, keine Hyperbel. Sein Elend ſchien ihm in der That
jenen Grad erreicht zu haben "welcher jede Rückſicht vergeſſen
und jedes Gefühl verſtummen macht!"
Nur mit größter Anſtrengung hatte er noch dieſen
bangen, trotzigen, verzweifelten Hilferuf geſchrieben, dann ver-
ſagten die maßlos überreizten Nerven den Dienſt und er ver-
fiel in ein lethargiſches Hinbrüten, welches die Familie noch
weit beſorgter machte als die vorangegangene Aufregung.
Aber ſchon am 27. Februar ward er peinlich aus dieſem
Zuſtande aufgerüttelt: durch die Vorladung, noch im Laufe
[CLX] des Vormittags vor dem Unterſuchungsgericht im Darm-
ſtädter Arreſthauſe zu erſcheinen. In dieſer Form waren
die meiſten Verhaftungen der letzten Tage erfolgt. Büchner
wußte, was die Vorladung bedeute. Mit gräßlich ent-
ſtellten Zügen trat er in das Stübchen Wilhelm's, der eben
ſeinen Koffer packte, weil er am Nachmittage nach Butzbach
abreiſen ſollte, um als Practicant in die dortige Apotheke
einzutreten. "Sieh' her", ſagte er, "das iſt mein Todes-
urtheil!" Dieſe Worte erſchütterten Wilhelm ſo tief, daß
er ſich ſofort erbot, ſtatt des Bruders in's Arreſthaus zu
gehen. Der Gedanke war nicht ſo abenteuerlich, weil Wil-
helm älter ausſah, als er war, und weil unter der Vor-
ladung der Name eines Beamten ſtand, der erſt kürzlich nach
Darmſtadt verſetzt worden und Georg nicht kannte. Die
Brüder verabredeten nun, daß Wilhelm das Verhör beſtehen,
ſich auch einer Verhaftung nicht widerſetzen ſolle; komme er
bis zur Mittagsſtunde nicht zurück, ſo ſolle dies für Georg
das Signal zur Flucht ſein. Der ſechzehnjährige Knabe
machte ſich beherzt auf den Weg, ward aber, als er im
Arreſthauſe die Vorladung vorwies, nicht vor den fremden
Beamten geführt, ſondern zufällig vor einen Darmſtädter
Richter, welcher die Brüder ſehr genau kannte, da Dr. Büchner
ſein Hausarzt war. "Was willſt Du hier, Wilhelm?" fragte
er ſtreng und als nun dieſer ſtammelnd erwiderte, Georg
ſei krank und er komme, um ihn zu entſchuldigen, erwiderte der
edle Mann mit ſcharfer Betonung: "Merke wohl auf! Wenn
dein Bruder krank iſt, ſo wollen wir ihm zwei Tage Ruhe
gönnen, dann aber muß er in's Arreſthaus!" Der Knabe
verſtand den Sinn dieſer Worte, dankte gerührt und eilte
erfreut heim. Georg aber gerieth über dieſen Beſcheid in
[CLXI] Verzweiflung, er hatte gehofft, ſo lange in Darmſtadt bleiben
zu können, bis das Geld aus Frankfurt eintraf, denn er
zweifelte keinen Augenblick daran, daß Gutzkow die Firma
Sauerländer zur Uebernahme des Verlags und ſofortiger
Honorirung veranlaſſen werde. Wie ſollte er ſich jetzt,
binnen achtundvierzig Stunden, die Mittel zur Flucht ſchaffen?
Nun beſaß Wilhelm allerdings zwei Louisdors, welche ihm
der Vater am Morgen zur Beſchaffung einiger Lehrbücher
übergeben, aber er wagte es nicht dies Geld zu opfern, und
auch Georg mochte ihn nicht dem Zorne des Vaters aus-
ſetzen. So ſchieden beide am Nachmittag des 27. Februar
in düſterſter Stimmung. "Wir ſehen uns nie wieder", ſagte
Georg, und die traurige Ahnung hat ſich erfüllt.
Wilhelm Büchner iſt, wie erwähnt, unſer einziger Be-
richterſtatter über jene Tage. Was ſich nach ſeinem Abgange
begeben, wie Georg die letzten Stunden im elterlichen Hauſe
verbracht, woher er die Mittel zur Flucht genommen, war
nicht zu erkunden. Höchſtwahrſcheinlich hat er in der Frühe
des erſten März, knapp vor Ablauf des Termines, welchen
ihm jener milde, barmherzige Richter geſtellt, Darmſtadt ver-
laſſen. Der Vater und die Geſchwiſter ahnten nichts da-
von; hingegen ſcheint die Mutter ſeinen Plan erfahren und
ihm einige Unterſtützung gegeben zu haben. Dieſe Ver-
muthung iſt durch das innige Verhältniß zwiſchen Frau Ca-
roline und ihrem Liebling wohlberechtigt, auch darum, weil
nur ſo erklärlich wird, daß dieſer in letzter Stunde denn
doch plötzlich über die nöthigen Mittel verfügte. Die Kriſe
ging, wie er ſpäter nach Hauſe berichtete, "raſch und bequem"
vor ſich; allerorts wurde er von Anhängern ſeiner Partei
gaſtlich aufgenommen und weiter befördert, zunächſt nach
G. Büchner's Werke. l
[CLXII] Worms, dann durch die Rheinpfalz an die franzöſiſche Grenze,
welche er am 9. März 1835 bei Weißenburg überſchritt.
Er hatte dieſe Grenzſtation gewählt, weil er hier ohne Paß
durchzukommen hoffte, was auch gelang. Kaum in Sicher-
heit, ſchrieb er an die Eltern und theilte die Motive der
Flucht mit — daß er ſich in dieſem Briefe (S. 344) an
Vater und Mutter wendet, ſpricht nicht gegen obige Ver-
muthung, da Dr. Büchner keinesfalls erfahren durfte, daß
ſeine Gattin Mitwiſſerin geweſen. Der Brief iſt nach mancherlei
Richtung bemerkenswerth. Vor Allem muß es auffallen,
daß Büchner noch immer nicht die Wahrheit geſteht und ſich
für einen ungerecht Verfolgten ausgibt. Vielleicht verhinderte
ihn der Trotz, die jahrelang feſtgehaltene Täuſchung einzu-
geſtehen, vielleicht auch das edlere Motiv, die Eltern in
ihrem tiefen Schmerze zu tröſten. Hingegen kann es nicht
befremden, daß er als ſein einziges Ziel "das Studium der
mediciniſch-philoſophiſchen Wiſſenſchaften" bezeichnet und die
literariſchen Hoffnungen, die ihn gerade damals ſo lebhaft
erfüllten, gänzlich verſchweigt. Denn abgeſehen davon, daß
er noch nichts von dem Schickſale ſeines Drama's erfahren,
mußte er jede Andeutung hierüber ſchon deßhalb unterlaſſen,
weil der Vater durch die Mittheilung von einer dichteriſchen
Arbeit nur noch heftiger erzürnt worden wäre. Auch hatte
er niemals die Abſicht, ſeine materielle Exiſtenz durch lite-
rariſche Thätigkeit zu begründen. "Ruhm will ich davon
haben, nicht Brod", pflegte er ſpäter zu ſagen. Im Ueb-
rigen athmet der Brief den friſchen Lebensmuth des Ge-
retteten, der noch obendrein einem Wiederſehen mit der geliebten
Braut entgegenſieht, und in dieſer Stimmung bewegt ihn
auch das Bewußtſein, von nun ab keine Unterſtützung von
[CLXIII] Hauſe erwarten zu dürfen, nur zu den muthvollen Worten: "Ich
ſtehe jetzt ganz allein, aber gerade das ſteigert meine Kräfte".
Dr. Büchner hat weder dieſen Brief, noch einen der
folgenden bei Lebzeiten des Sohnes geleſen; ſo lange Georg
lebte galt er ihm als todt, er gewährte ihm keine Unter-
ſtützung, erkundigte ſich nicht nach ſeinen Schickſalen, ja
ſogar ſein Name durfte nie vor ihm genannt werden. Wer
dies allzuhart findet, mag aber auch nicht vergeſſen, wie
tief dieſen geraden, grundehrlichen Mann die Erkenntniß em-
pören mußte, daß ihn der Sohn jahrelang betrogen, wie
dieſem loyalen Staatsdiener das politiſche Vergehen desſelben
nicht minder verwerflich erſchien als irgend ein gemeiner Frevel,
wie bitter endlich ſein Vaterherz das Scheitern aller Hoff-
nungen empfinden mußte, welche er an den genialen Jüng-
ling geknüpft. Auch ging ſeine Härte nicht über das Menſch-
liche hinaus; er ließ es geſchehen, daß Gattin und Kinder
eifrig mit dem Flüchtling correſpondirten, und als Frau Ca-
roline überaus ſparſam wurde, um den Sohn von dem
Wirthſchaftsgelde unterſtützen zu können, verlor er kein Wort
darüber, warum es plötzlich ſo karg im Hauſe zugehe,
obwohl er den Sachverhalt wohl wußte. Er ſelbſt freilich
hat Georg's in jener Zeit nie erwähnt, auch dann nicht,
als Ende März jene Hundert Gulden in Darm-
ſtadt eintrafen, welche J. D. Sauerländer als
Honorar für "Dantons Tod" gewährt. Da über-
gab er Geld und Brief ſchweigend der Gattin.
Dies lenkt uns zu dem Schickſal jenes Manuſcripts zurück.
Wir erzählen dasſelbe am Beſten mit den Worten des Mannes,
der ſich das größte Verdienſt um Georg Büchner erworben,
Karl Gutzkow's.
l *
[CLXIV]
"In den letzten Tagen des Februars 1835", berichtet
derſelbe im "Frankfurter Telegraph", Nr. 42 vom Juni
1837, "dieſes für die Geſchichte unſerer neueren ſchönen
Literatur ſo ſtürmiſchen Jahres, war es, als ich einen Kreis
von älteren und jüngeren Kunſtgenoſſen und Wahrheitsfreunden
bei mir ſah. Wir wollten einen Autor feiern, der bei ſeiner
Durchreiſe durch Frankfurt a. M. nach Literaten-Art das
Handwerk begrüßte. Kurz vor Verſammlung der Erwarteten
erhielt ich aus Darmſtadt ein Manuſcript nebſt einem
Brief, deſſen wunderlicher und ängſtlicher Inhalt mich
reizte, in erſterem zu blättern. Es war ein Drama:
"Danton's Tod". Man ſah es der Production an, mit
welcher Eile ſie hingeworfen war. Es war ein zufällig er-
griffener Stoff, deſſen künſtleriſche Durchführung der Dichter
abgehetzt hatte. Die Szenen, die Worte folgten ſich rapid
und ungeſtüm. Es war die ängſtliche Sprache eines Ver-
folgten, der ſchnell noch etwas abzumachen und dann ſein
Heil in der Flucht zu ſuchen hat. Aber dieſe Haſt hinderte
den Genius nicht, ſeine außerordentliche Begabung in kurzen,
ſcharfen Umriſſen ſchnell, im Fluge an die Wand zu ſchreiben.
Die erſten Szenen die ich geleſen, ſicherten ihm die gefällige,
freundliche Theilnahme des Buchhändlers Sauerländer noch
an jenem Abend ſelbſt. Die Vorleſung einer Auswahl von
Szenen, obſchon von dieſem oder jenem mit der Bemerkung,
dies oder das ſtände im Thiers, unterbrochen, erregte Be-
wunderung vor dem Talent des jugendlichen Verfaſſers".
So hatte ſich Büchners Hoffnung erfüllt; Gutzkow ſchloß
mit dem Verleger einen Vertrag, wonach dieſer gegen Be-
zahlung von Hundert Gulden das Recht erwarb, zuerſt ein-
zelne Szenen in der von ihm verlegten Zeitſchrift "Phönix"
[CLXV] zu veröffentlichen und dann eine Buchausgabe zu veran-
ſtalten. Das Geld ging nach Darmſtadt ab. Wenige Tage
hernach erſchien in ſämmtlichen, ſüddeutſchen Zeitungen der
Steckbrief, welches das Darmſtädter Gericht dem Flüchtigen
nachgeſandt. Gutzkow war dadurch ſehr beunruhigt, erhielt
jedoch Anfang April zu ſeiner Freude ein Schreiben Büchners
aus Straßburg, worin ſich dieſer nach ſeinem Manuſcripte
erkundigte. Der curioſe Ton der wenigen Zeilen (S. 383)
iſt ſehr befremdend; die beſte Erklärung hierfür hat der Em-
pfänger ſelbſt gegeben: "Der wilde Geiſt in dieſem Briefe
iſt die Nachgeburt Dantons; der junge Dichter muß ſeine
Thiers und Mignet loswerden; er verbraucht noch die letzten
Reſte auf ſeiner Farbenpalette, mit der er ſein Drama ge-
malt". Auf dieſen Brief folgte unmittelbar ein anderer,
worin Büchner den Empfang des Geldes beſtätigte, herzlichſt
dankte und in fieberhaft erregten Worten bat, das Erſcheinen
des Werkes ſofort zu veranlaſſen.
Doch ging dies nicht ſo leicht, obwohl Gutzkow und
der Verleger den gleichen Wunſch hegten. Ein wortgetreuer
Abdruck des Manuſcripts hätte nie die Cenſur paſſiren können,
und ſo griff Gutzkow, "um dem Cenſor nicht die Luſt des
Streichens zu gönnen", zum Rothſtift und ſtrich oder ver-
änderte jene Stellen, von welchen aus politiſchen oder mora-
liſchen Gründen Gefahr für das Werk zu befürchten war.
Da er dieſe Arbeit begreiflicher Weiſe widerwillig verrichtete
und oft lange ſchwankte, ob dieſe oder jene Stelle nicht
denn doch gerettet werden könne, ſo konnte er erſt Mitte
Mai das redigirte Manuſcript abliefern. Doch trug Sauer-
länder, obwohl einer der muthigſten und freiſinnigſten Ver-
leger Deutſchlands, noch immer Anſtand, es zum Druck zu
[CLXVI] befördern, und übergab es zu weiterer Bearbeitung dem damals
in Frankfurt lebenden, öſterreichiſchen Schriftſteller Eduard
Duller, der höchſt willkührlich damit umſprang und ſich
nicht blos Striche, ſondern auch Zuſätze erlaubte. In dieſer
verſtümmelten Form erſchien das Werk endlich, nachdem der
"Phönix" vom Juni einige Szenen daraus mitgetheilt, An-
fang Juli 1835 im Buchhandel. Alles Nähere hierüber
findet ſich an anderer Stelle (S. 95 ff.) überſichtlich zu-
ſammen geſtellt. Hier ſei nur angeführt, daß der Abdruck
an nicht weniger als Einhundertelf Stellen vom Manuſcripte
abwich. Wer dieſelben prüft, wird ſicherlich Gutzkow's
Worten beiſtimmen, daß damals nur "ein nothdürftiger Reſt
des Werkes, die Ruine einer Verwüſtung" erſchienen. Gegen
Georg Büchners ausdrücklichen Wunſch war ſein Name auf
dem Titelblatte genannt, und außerdem hatte ſich Duller er-
laubt, den geſchmackloſen Nebentitel "Dramatiſche Bilder
aus Frankreichs Schreckenherrſchaft" hinzuzufügen.
K. E. F.
So erſchien denn "Danton's Tod," während ſein Ver-
faſſer als Flüchtling in der Fremde lebte, und wurde durch
Gutzkow mit einer der glänzendſten Kritiken in die litera-
riſche Welt eingeführt. (Man vergl. S. 446). — Die
kritiſche Welt kam in Bewegung. Während das "Junge
Deutſchland" unter ſeiner literariſchen Fünfherrſchaft (Wien-
barg, Gutzkow, Heine, Laube, Mundt), das damals noch in
dem ſüßen Wahne lebte, mit der Macht der Idee die Macht
der Bajonnette und des Geldes bekämpfen zu können, und
das noch nicht die traurige Erfahrung des Verbotenwerdens
gemacht hatte — während das junge Deutſchland in Büchner
[CLXVII] einen ſtarken Mitkämpfer erblickte und ſeinen Beifall nicht
ſparte, konnte es natürlich von reactionär-pietiſtiſcher Seite
nicht an der Bekämpfung eines Autors fehlen, der die Prin-
cipien der Revolution und der Freigeiſterei ſo offen und mit
ſo ſeltenem Talent entwickelt hatte, und zwar gerade aus
derjenigen Periode der Franzöſiſchen Umwälzung, welche man
bisher nur verſtohlen und alsdann nicht ohne die lebhafteſten
Aeußerungen eines frommen Abſcheues zu nennen gewohnt
war. Büchner ſelbſt blieb dieſem Treiben ziemlich fremd;
nur verſprengte Nachrichten über das Schickſal ſeines Erſt-
lings kamen zu ihm über den Rhein; dagegen blieb er von
jetzt an in fortwährender brieflicher Verbindung mit Gutzkow.
(Man vergl. S. 381 u. flgd.) In den abgedruckten Briefen
aus Straßburg vom 5. Mai (S. 347) und vom 28. Juli
1835 (S. 353) gibt er einen zur Beurtheilung weſentlichen
Commentar zu Danton" und eine Selbſtrecenſion des-
ſelben. —
Der großen geiſtigen Aufregung folgte in Straßburg
Abſpannung, aber auch eine wohlthätige Ruhe und Erholung
in der Nähe der Geliebten. Büchner fühlte ſich ſicher vor
den gefürchteten Leiden eines langwierigen Kerkers, und eine
heitere Stimmung ſpricht aus ſeinen Briefen, die nur durch
die Sorge um ſeine Zukunft und den Schmerz über die Leiden
ſeiner politiſchen Freunde in Deutſchland getrübt wird. Dem
politiſchen Treiben, das um jene Zeit durch den in Lau-
ſanne in der Schweiz zwiſchen den Abgeſandten des "Jungen
Europa" und denen der franzöſiſchen Republikaner geſchloſ-
ſenen Verbrüderungsvertrag (10. April 1836) neue Nahrung
erhielt, blieb er von jetzt an fern. Gutzkow ſchreibt darüber:
"Büchner hörte bald auf, von gewaltſamen Umwälzungen zu
[CLXVIII] träumen. Die zunehmende materielle Wohlfahrt der Völker
ſchien ihm auch die Revolution zu verſchieben. Je mehr jene
zunimmt, deſto mehr ſchwindet ihm eine Ausſicht auf dieſe."
(Man vergl. den Brief an Gutzkow auf S. 383 und den-
jenigen an ſeinen Bruder Wilhelm auf Seite 349-50.)
In Straßburg wandte ſich Büchner wieder ganz ſeinen
ernſten Studien zu; beinahe auf ſich allein angewieſen, ſuchte
er ſich mit Macht eine Stellung zu erringen. Sein Erfolg
auf dem Felde der dramatiſchen Poeſie war weit entfernt,
ihn ſeinem urſprünglichen Studienplane zu entfremden. Wenn
er auch die praktiſche Medicin entſchieden aufgab, ſo
ſetzte er doch die naturwiſſenſchaftlichen Studien um
ſo eifriger fort. Nachrichten aus Zürich über die ſchlechte
Beſetzung einiger naturwiſſenſchaftlichen Fächer ließen ihn den
Gedanken faſſen, ſich für einen Lehrcurſus über verglei-
chende Anatomie, die in Zürich noch nicht vorgetragen
worden war, vorzubereiten. Der berühmte Lauth und
Düvernoy, Profeſſor der Zoologie, leiſteten ihm für dieſe
Studien allen Vorſchub und machten ihm den Gebrauch der
Stadtbibliothek ſowohl, wie einiger bedeutenden Privatbiblio-
theken möglich. Einige leichte literariſche Arbeiten, die
ihn zwiſchendurch beſchäftigten, betrachtete er mehr als Er-
holung. Auf Sauerländer's Anſtehen überſetzte er in der
Serie von Victor Hugo's übertragenen Werken die
"Tudor" und "Borgia" mit ächt dichteriſcher Verwandt-
ſchaft zum Original. (Man vergl. S. 241-259.) Alfred
de Müſſet zog ihn, wie Gutzkow erzählt, an, während er
nicht wußte, "wie er ſich durch Victor Hugo durchnagen"
ſolle. Hugo gäbe nur "aufſpannende Situationen", Alfred
de Müſſet aber doch "Charaktere, wenn auch ausgeſchnitzte".
[CLXIX]
— In Gutzkow's Literaturblatt ſollte Büchner auf deſſen
Wunſch Kritiken der neu erſcheinenden franzöſiſchen Literatur
liefern. — Zugleich mit den naturwiſſenſchaftlichen Studien
betrieb Büchner in Straßburg philoſophiſche, und zwar
namentlich als Grundlage "Geſchichte der Philoſophie".
Unter den neueren Philoſophen waren es Carteſius und
Spinoza, mit deren Syſtemen er ſich hauptſächlich be-
ſchäftigte und aufs Innigſte vertraut machte. (Man vergl.
S. 303-321). Daneben fand ſein raſtloſer Eifer noch
Zeit, das Engliſche zu erlernen. Er ſtudirte meiſt an-
haltend von Morgens früh bis um Mitternacht. — Seine
vergleichend anatomiſchen Studien führten ihn zur Entdeckung
einer früher nicht gekannten Verbindung unter den Kopfnerven
des Fiſches, welches ihm die Idee gab, eine Abhandlung
über dieſen Gegenſtand zu ſchreiben. Er ging ſogleich an
die Arbeit, und dieſelbe beſchäftigte ihn faſt ausſchließlich
in dem Winter von 1835 auf 1836. (Man vergl. S. 291
u. flgde.)
Im October 1835 erhielt Büchner durch beſondere
Vergünſtigung eine franzöſiſche Sicherheitskarte,
die ihn aller Chikanen überhob, welche damals gegen die
Refügies in Folge auswärtiger Noten im Schwange waren.
Es waren kaum acht bis zehn deutſche Flüchtlinge in Straß-
burg, alle mit ihren Studien beſchäftigt, und die deutſchen
Regierungen träumten von Einfällen derſelben über den Rhein.
Von politiſchen Leidensgenoſſen und Freunden aus Deutſch-
land traf Büchner in Straßburg nach und nach: Koch, Geil-
fuß, Dittmar, Stamm, Schütz, Walloth, Heumann, Schulz,
Nievergelter, Becker, Roſenſtiel, Wiener und Andere; ſie
zerſtreuten ſich immer bald wieder, einige nach Paris, andere
[CLXX] in die Schweiz, nach Belgien und nach Amerika. — In
Straßburg ſelbſt beſaß er einen kleinen, aber bedeutenden
Kreis von Freunden, worunter Profeſſor Baum, der um
jene Zeit mit einer Abhandlung über die Methodiſten einen
franzöſiſchen Preis von 3000 Franken gewonnen hatte, ferner
die beiden Dichter Stöber (Adolph und Auguſt), Dr.
Böckel, Follenius und Andere. (Man vergl. S.
XLV.)
Im September 1835 wurde bekanntlich als Organ
des "Jungen Deutſchland" die deutſche Revue durch
Gutzkow und Wienbarg gegründet, und ſollte mit Anfang
des Jahres 1836 erſcheinen. Büchner wurde zum Mit-
arbeiten eingeladen. Er ſagte zu, wenn auch nicht zu re-
gelmäßigen Beiträgen, und ſein Name wurde unter den
Mitarbeitern in der Ankündigung aufgeführt. Für dieſe
deutſche Revue hatte Büchner ſeine Novelle "Lenz" be-
ſtimmt. Er hatte in Straßburg intereſſante und bis da
unbekannte Notizen über Lenz, den unglücklichen Dichter
aus der Sturm- und Drangperiode, den Jugendfreund Goe-
the's erhalten. Lenz, nachdem er ſich längere Zeit mit
Goethe zugleich in Straßburg aufgehalten, verliebte ſich in
die bekannte Goethe'ſche Friederike und wurde zuletzt verrückt.
Die Novelle iſt, da die deutſche Revue noch vor ihrem Er-
ſcheinen unterdrückt wurde, leider Fragment geblieben und
behandelt in dieſer Form jenen Moment in Lenzen's Leben,
wo derſelbe, nachdem er in Weimar nicht bleiben konnte,
zum zweiten Mal in das Elſaß und in einem halbwahn-
ſinnigen Zuſtand zu dem durch ſeine pietiſtiſche Frömmigkeit
bekannten Pfarrer Oberlin in Waldbach kam. Büchner
hat ſeine Erkundigungen über dieſen Aufenthalt Lenzen's an
[CLXXI] Ort und Stelle eingezogen. (Man vergl. die "Anmerkung
zu Lenz" auf S. 240).
Mit dem Verbot der deutſchen Revue war die litera-
riſche Verbindung und Richtung, die man das "Junge
Deutſchland" nannte, ſo ziemlich zu Ende, und ſeine Kory-
phäen verfolgten von nun an jeder ſeinen eigenen Weg. Was
Büchner's Verhältniß zum Jungen Deutſchland und ſeine
Meinung über daſſelbe angeht, ſo verweiſen wir auf den
Brief vom 1. Januar 1836 (S. 361 u. flgde.), worin er
ſich entſchieden darüber ausſpricht. — Da nun Büchner die
Abſicht hatte, ſchon im Frühjahre des Jahres 1836 nach
Zürich als Privatdocent zu gehen, ſo beeilte er ſich mit
ſeiner Abhandlung ſehr. Im März 1836 war ſie fertig,
und nachdem er in der Straßburger gelehrten Ge-
ſellſchaft für Naturwiſſenſchaften mit ſehr gro-
ßem Beifall drei Vorträge über den Gegenſtand gehalten
hatte, beſchloß die Geſellſchaft auf Antrag der Profeſſoren
Lauth und Düvernoy, die Abhandlung in ihre Annalen auf-
zunehmen und dieſelbe zum Druck auf ihre Koſten zuzulaſſen.
Zugleich ernannte ſie Büchner zum correſpondirenden Mit-
glied. Die Schrift erhielt den Titel: Sur le système ner-
veux du barbeau (über das Nervenſyſtem der Fiſche) und
wurde von den ausgezeichnetſten Kennern der Naturwiſſen-
ſchaften für eine meiſterhafte Arbeit erklärt, die zu den
höchſten Erwartungen berechtige. (Ein kurzer Auszug aus
dieſer Schrift iſt auf Seite 296 wiedergegeben.) Theils die
Verzögerung des Druckes der Schrift, theils politiſche Maß-
regeln, die damals gegen die Flüchtlinge in der Schweiz er-
griffen wurden, bewogen Büchner, ſeine Ueberſiedelung nach
Zürich noch bis zum Herbſte zu verſchieben. Die ihm da-
[CLXXII] durch freigewordene Zeit benutzte er, um ſowohl ſeinen ana-
tomiſchen Curſus bis zu Ende vorzubereiten, als auch na-
mentlich zur Vervollſtändigung ſeiner philoſophiſchen Studien.
Er präparirte, um mit zwei Fächern ausgerüſtet nach Zürich
zu kommen, einen vollſtändigen Lehr-Curſus über "die phi-
loſophiſchen Syſteme der Deutſchen ſeit Carte-
ſius und Spinoza". In dem Nachlaſſe befindet ſich
ſowohl eine mit großer Gründlichkeit geſchriebene Geſchichte
und Darſtellung der Syſteme von Carteſius und Spinoza,
als auch eine ganz ausgearbeitete Geſchichte der älteren
griechiſchen Philoſophie. (Man vergl. S. 301-
321). Da Büchner in demſelben Sommer auch dramatiſche
Poeſien vollendete, von denen wir noch reden werden, ſo
beweiſen dieſe Arbeiten einen enormen Fleiß. Seine Mutter
und Schweſter, die ihn dieſen Sommer in ſeinem Exil be-
ſuchten, fanden ihn zwar geſund, aber doch in einer großen
nervöſen Aufgeregtheit und ermattet von den anhaltenden
geiſtigen Anſtrengungen. Er äußerte damals oft: "Ich werde
nicht alt werden". Dennoch ließen ſein angeborner Lebens-
muth und die Ausſicht in eine ruhmreiche Zukunft ihn oft
ſehr heiter ſein. (Man vergl. den aus dieſer Zeit ſtammen-
den Brief an Gutzkow auf S. 385-88.) —
Das Luſtſpiel "Leonce und Lena", das zweite
Stück der Sammlung, iſt in demſelben Sommer entſtanden.
Die Cotta'ſche Buchhandlung hatte bis zum 1. Juli 1836
einen Preis auf das beſte Luſtſpiel ausgeſetzt, und Büchner
wollte mit ſeiner Arbeit concurriren. Seine Trägheit im
Abſchreiben des Concepts ließ ihn leider die Zeit verſäumen;
er ſchickte das Manuſcript zwei Tage zu ſpät und erhielt
es uneröffnet zurück. Außerdem muß er in derſelben Zeit
[CLXXIII] noch ein zweites Drama vollendet haben, das nicht mehr
vorhanden iſt; wenigſtens ſchreibt er im September 1836,
nachdem er von zwei fertigen Dramen ſchon in früheren
Briefen geſprochen: "Ich habe meine zwei Dramen noch
nicht aus den Händen gegeben, ich bin noch mit Manchem
unzufrieden und will nicht, daß es mir geht, wie das erſte
Mal. Das ſind Arbeiten, mit denen man nicht zu einer
beſtimmten Zeit fertig werden kann, wie der Schneider mit
ſeinem Kleid." (Man vergl. S. 368 u. 369).
Unterdeſſen war die Abhandlung über das Nervenſyſtem
der Fiſche nach Zürich geſchickt, und auf Grund derſelben
das Doctordiplom der philoſophiſchen Fakultät
ſogleich an Büchner ausgefertigt worden. Zugleich wurde er
eingeladen, eine Probevorleſung in Zürich zu halten, um,
wenn dieſe gefiele, das Recht des Docirens zu erhalten.
Am 18. October 1836 reiſte Büchner nach Zürich,
vorbereitet auf zwei Lehrcurſe, einen über vergleichende Ana-
tomie, den anderen über Philoſophie. Dem letzteren gab
ſeine eigne Neigung den Vorzug; doch da Profeſſor Bobrik
bereits philoſophiſche Vorleſungen angekündigt hatte, ſo ſparte
er, um Colliſionen zu vermeiden, dieſen Plan für das fol-
gende Sommerſemeſter auf und entſchloß ſich zur vergleichen-
den Anatomie. Büchner's Probevorleſung, aus deren Ein-
gang wir einen kurzen Abriß auf Seite 291 ff. gegeben haben,
wurde vor einem ſehr zahlreichen Publikum gehalten und erntete
den allgemeinſten Beifall. Der berühmte Oken, Profeſſor in
Zürich, war entzückt davon, und ſowohl er, als Arnold,
Profeſſor der Anatomie, wurden ſehr für Büchner eingenom-
men, nachdem ſie bereits früher das günſtigſte Urtheil über
die Abhandlung gefällt hatten. Arnold ſtellte ihm ſeine
[CLXXIV] Bibliothek zur Verfügung; und Oken, nachdem der Züricher
Erziehungsrath Büchner zum Privatdocenten ernannt hatte,
empfahl die Vorleſungen deſſelben vom Katheder herab und
ſchickte ſeinen eigenen Sohn in dieſelben. Dadurch wurde
Büchner mit Oken und deſſen Familie bald ſehr befreundet
und lernte in ſeinem Haus im Verlaufe des Winters mehrere
der bedeutendſten Männer jener Zeit kennen. Schönlein,
der damals noch in Zürich docirte, erkundigte ſich bald nach
Büchner, lud denſelben ein und ſtellte ihm ſeine werthvollen
Präparate zur Verfügung. Ueberhaupt wurde der junge Ge-
lehrte von allen Seiten auf das Zuvorkommendſte aufge-
nommen, und man hatte ſogar im Züricher Erziehungsrathe
die Abſicht, für ihn eine Profeſſur der vergleichenden Anatomie
zu creiren. Seine Vorleſung beſchäftigte ihn vollauf, da es
damals in Zürich beinahe völlig an vergleichend ana-
tomiſchen Präparaten fehlte, und er dieſelben faſt alle ſelbſt
anfertigen mußte. Er ſchreibt an ſeinen Bruder: "Ich ſitze
am Tage mit dem Scalpell und die Nacht mit den Büchern".
— Von früheren politiſchen Leidensgenoſſen fand er in Zürich
außer Schulz: Trapp, Geilfuß und Braubach. Mit Dr.
Wilhelm Schulz und deſſen Frau, die ihn mit der auf-
opferndſten Sorgfalt auf ſeinem Krankenlager gepflegt hat,
war er namentlich aufs Innigſte befreundet; ebenſo mit Pro-
feſſor Sell und dem damaligen Tagſatzungsgeſandten Dr.
Zehnder, bei dem er wohnte.
Die Briefe aus der Zeit des Züricher Aufenthaltes ſind
meiſt heiter und voll Zufriedenheit. Häufig fragt er in den-
ſelben nach den Darmſtädter Gefangenen (Minnigerode,
Küchler, Gladbach und Andere), deren Unterſuchungen da-
mals mit beſonderer Strenge geführt wurden, und immer
[CLXXV] wirft die Erinnerung an ſeine unglücklichen Freunde, die
leiden müſſen, während er frei iſt, einen düſtern Schatten
in ſeine ſonſt fröhliche Stimmung.
Was Büchner's literariſch-produktive Thätigkeit in Zürich
angeht, ſo iſt nicht mit Beſtimmtheit zu ſagen, ob hier etwas
Neues entſtanden oder nur früher Angefangenes weiter ge-
führt worden iſt. Kurz vor Beginn der tödtlichen Krankheit
ſchrieb er an ſeine Braut, er würde "in längſtens acht Ta-
gen Leonce und Lena mit noch zwei anderen Dramen
erſcheinen laſſen." (S. 378). Dieſe Briefſtelle iſt räthſel-
haft, wie die früher ſchon angeführte. In dem Nachlaſſe
fand ſich außer Leonce und Lena und einem ziemlich weit
gediehenen Fragment eines bürgerlichen Trauerſpiels (man
vergl. S. 201-204) Nichts von dramatiſchen Sachen vor.
Das dritte Drama, deſſen Büchner Erwähnung thut, kann
nur daſſelbe ſein, das ſchon in dem angeführten Straßburger
Briefe (S. 368) vorkommt, und von dem keine Spur auf-
gefunden werden konnte. Es handelte, wie aus mündlichen
Mittheilungen des Dichters an ſeine Braut hervorzugehen
ſcheint, von dem Florentiner Pietro Aretino. —
Es iſt bemerkenswerth, daß Büchner während der Fieber-
delirien ſeiner Krankheit ſich vergebens anſtrengte, von etwas
Mittheilung zu machen, das ihm Sorge zu machen ſchien.
Der Tod ſchloß ſeine Zunge. * Als man unter ſeinen
Papieren das Drama nicht fand, vermuthete man, daß jene
Anſtrengung zu reden ſich auf daſſelbe bezogen haben möchte,
und ließ das Zimmer nochmals genau durchſuchen, ohne
etwas zu finden.
[CLXXVI]
Mit Anfang des Jahres 1837 ſcheint Büchner's Stim-
mung trüber geworden zu ſein, wohl nur durch das Unan-
genehme der längeren Trennung von ſeiner Braut, da mit
ſeinen ſonſtigen Angelegenheiten Alles nach Wunſch ging.
(Man vergl. die Briefe an die Braut auf S. 378-380).
Die neue Wohnung am See bei dem "kleinen Wirth"
(S. 380) ſollte Büchner nicht mehr beziehen. Am 2. Februar
klagte er das erſte Unwohlſein, das ſich raſch zu einer heftigen
Krankheit ausbildete. Dr.Zehnder und Schönlein
leiteten die ärztliche Behandlung. Seine Freunde Wilhelm
Braubach und Schmid, ſowie die Frau von Schulz
pflegten ihn mit aufopfernder Sorgfalt und mit der Liebe,
die er bei allen ihm näher Stehenden für ſich erweckt hatte.
(Man vergl. den Bericht der Frau Schulz über "Büchner's
letzte Tage" auf Seite 421 ff.) Schulz ſelbſt erzählt die
letzten Lebensaugenblicke des Dichters in ſeinem damals in
der Züricher Zeitung erſchienenen Nekrolog. (Man vergl.
S. 435 u. 436.)
Büchner's Krankheit und Tod erregten die lebhafteſte
Theilnahme an dem Orte, wo er erſt ſeit wenigen Monaten
gelebt hatte. Die ausgezeichnetſten Bewohner der Stadt, die
beiden Bürgermeiſter an der Spitze, folgten ſeiner Bahre.
— Große Hoffnungen und das Lebensglück eines edlen
Mädchens wurden mit ihm zu Grabe getragen. "Mein
Leben," ſchrieb damals ſeine Braut, "gleicht einem ſchwülen
Sommertage! Morgens heitere angenehme Luft — in etlichen
Stunden Sturm und Gewitter, zerknickte Blumen, zerſchlagene
Pflanzen. Meine Anſprüche auf Lebensglück, auf eine heitere
Zukunft zu Grabe getragen, Alles, Alles verloren. — —"
[CLXXVII]
Am 15. Februar 1837 wurde Ludwig Börne zu
Paris, am 21. Februar Georg Büchner zu Zürich be-
erdigt. Zwei Tage ſpäter, am 23. Februar, erlitt ſein
unglücklicher Glaubensgenoſſe, Pfarrer Weidig, in den
Darmſtädter Kerkern ſeinen ſchauervollen und immer noch in
die Geheimniſſe eines fürchterlichen Augenblickes begrabenen
Tod. Keiner von den Dreien ſollte die Wonne haben, die
Zeit zu ſehen, an deren Herbeiführung ſie die Kräfte ihres
Lebens geſetzt hatten; aber auch der Schmerz wurde ihnen
erſpart, die Wiedervernichtung Deſſen zu erleben, was dieſe
Zeit als Groß und Wahr für immer errungen zu haben
glaubte! —
Büchner zählte 23½ Jahr als ihn der Tod ereilte,
und das, was dieſer kräftige Geiſt in ſo jungen Jahren be-
reits geleiſtet hatte, mag zeigen, was er geleiſtet haben würde,
wenn ein bitteres Geſchick milder gegen ihn geweſen wäre.
Büchner war groß, ſchlank, von ſchönen und einnehmenden
Geſichtszügen; das lodernde Feuer ſeines Geiſtes wurde ge-
dämpft durch eine gewiſſe Milde und Sanftmuth ſeines
Weſens, die oft ſelbſt zum Melancholiſchen hinneigte. Wer
ihn nach "Danton" und ſeinem politiſchen Auftreten beur-
theilt und ihn für einen wilden, das Maaß überſchreitenden
Charakter hält, irrt ſich ſehr. Die innige Harmonie ſeiner
Seelenkräfte ließ keine derſelben auf Koſten der anderen ſich
vordrängen, und ein tiefes, weiches Gemüth ſpricht ſich faſt
in jeder Zeile ſeiner Briefe aus. "Er hatte die Rede und
den Gedanken," ſagt Gutzkow, "ſtets in gleicher Gewalt
und wußte mit einer, an jungen Gelehrten ſo ſeltenen Be-
G. Büchner's Werke. m
[CLXXVIII] ſonnenheit ſeine Ideen abzurunden und zu kryſtalliſiren." —
Sein inniges, faſt ſchwärmeriſches Zuſammenleben mit der
Natur, deren Geheimniſſe zu ergründen ſein Studium war,
und die er mit dem doppelten Auge des Dichters und
Forſchers betrachtete, ſpricht nicht minder für die Weichheit
ſeiner Seele. Tagelang ſtreifte er in den ſchönen Gebirgen
des Elſaß umher, gleich ſeinem "Lenz", und ſchien gleich
ihm mit ſeiner Umgebung zu verwachſen, ſich in ſie auf-
zulöſen.
ſingt Herwegh. In Lenzen's Leben und Sein fühlte er ver-
wandte Seelenzuſtände, und das Fragment iſt halb und halb
des Dichters eigenes Porträt. Sonderbar und auffallend
iſt dabei die ſchwermüthige und zerriſſene Gemüthsſtimmung,
in die er ſich mit einer gewiſſen Luſt am Wehe hineinzu-
wühlen ſchien; immer ſpielt ſeine Phantaſie, wie auch ſchon
früher in "Danton", am Liebſten mit Tod und Verweſung,
mit der raſchen Vergänglichkeit des Irdiſchen.
Dieſe gemüthliche und tiefſinnige Seite ſeines Charakters,
verbunden mit ſeinem Haſſe gegen die ſogenannte ideali-
ſtiſche Richtung in der Literatur, hatte ihn ihm eine große
Vorliebe für Volkslieder, namentlich mehr ſchmerzlichen
Inhalts, erzeugt; er ſammelte ſie, wo er konnte, und das
Trauerſpiel-Fragment, deſſen wir Erwähnung thaten, enthält
deren faſt auf jeder Seite. Lenzen läßt er darüber ausführ-
lich reden. Dieſelbe Stelle im "Lenz" gibt zugleich eine
Darlegung ſeiner Anſichten über die Grundregeln der Aeſthetik
und deren Beziehungen zur Wirklichkeit und zum Leben; ſeine
darin ausgeſprochene Hinneigung zum Natürlichen, ſeine
[CLXXIX] Meinung, daß die Kunſt nur der Geſchichte und der Natur
dienen, ſie aber nicht meiſtern ſolle, ſein Haß gegen
den Idealismus ſind die Urſache und Erklärung für Manches
in ſeinen literariſchen Erzeugniſſen, was ſich vielleicht weiter
als zuläſſig von dem idealen Standpunkte der Kunſt ent-
fernt. Seine Anſichten waren die richtigen; nur trieben ihn
die Verkehrtheit und Fadheit der extrem-idealiſtiſchen Richtung
manchmal etwas zu ſehr auf die entgegengeſetzte Seite.
In der Geſellſchaft war Büchner munter, nie zurück-
ſtoßend, nur ſcharf und eine übermüthige Satyre entwickelnd,
wo gemeine Geſinnung oder hohlköpfige Anmaßung an ihn
herantraten. Sein treffender Witz, ſeine launigen Einfälle,
die, wenn er in guter Stimmung war, in ſprudelnder Fülle
einander drängten, belebten die Unterhaltung und machten
ihn zum angenehmen Geſellſchafter.
Was ſeinen politiſchen Charakter anlangt, ſo war
Büchner noch mehr Socialiſt, als Republikaner; ſein
tiefes Mitgefühl für die Leiden des Volkes und ſein richtiger
Scharfblick hatten ihn damals ſchon erkennen laſſen, daß es
ſich bei den Stürmen der Zukunft weniger um eine Reform
der Geſetze, als um eine ſolche der Geſellſchaft handle.
Während er die moraliſche Verderbtheit der höheren Klaſſen
völlig durchblickte, erkannte er zugleich vorurtheilslos die
Schwäche der geheimen revolutionären Kräfte und beurtheilte
damals ſchon völlig richtig die Unfähigkeit und den Doctri-
närismus derjenigen Partei, die ſich die "liberale" nennen
ließ; ſeine Streitigkeiten mit Weidig, ſeine Briefe ſind Be-
lege dafür. Seine Schrift: "Der Landbote", iſt, wie ſein
Mitſchuldiger im Verhör richtig bemerkte, mehr eine Predigt
für die Armen und gegen die Reichen, als eine politiſche
[CLXXX] Flugſchrift. In "Danton" läßt er den Proletarier aus-
rufen: "Unſer Leben iſt der Mord durch Arbeit; wir hängen
ſechzig Jahre lang am Strick und zappeln; aber wir werden
uns losſchneiden!" — Büchner würde niemals, hätte er das
Jahr 1848 erlebt, auf Seite Derjenigen geſtanden haben,
welche durch lächerlichen Eigendünkel und kindiſche Furcht die
Freiheit verrathen haben, die man in ihren Händen für ge-
ſichert hielt.
Die Philoſophie betrieb Büchner nicht wie ein
Gelehrter, ſondern wie Einer, der von dem Baume der Wiſſen-
ſchaft die Früchte des Lebens pflücken will. "Büchner würde",
ſagt Gutzkow, "wie Schiller, ſeine Dichterkraft durch die
Philoſophie geregelt und in der Philoſophie mit der Freiheits-
fackel des Dichters die dunkelſten Gedankenregionen gelichtet
haben. Alle dieſe Hoffnungen knickte der Sturm. Zu dem
Trotze, der aus dieſem Charakter ſprach, lachte der Tod. Der
Friedensbogen, der ſich über dieſe gährende Kampfes- und
Lebensluſt zog, war die Senſe des Schnitters, von welcher
ſo frühe gemäht zu werden, uns ſchmerzlich und faſt mit
einem gerechten Scheine die Unbill des Schickſals anklagen
läßt."
[[1]]
Perſonen.
- Georg Danton,
- Legendre,
- Camille Desmoulins,
- Hérault-Séchelles,
- Lacroix,
- Philippeau,
- Fabre d'Eglantine,
- Mercier,
- Thomas Payne,
- Robespierre,
- St. Juſt,
- Barrère,
- Collot d'Herbois,
- Billaud Varennes,
- Chaumette, Procurator des Gemeinderaths.
- Dillon, ein General.
- Fouquier Tinville, öffentlicher Ankläger.
- Herrmann,
- Dumas,
- Paris, ein Freund Danton's.
- Simon, Soufleur.
- Laflotte.
- Julie, Danton's Gattin.
- Lucile, Gattin des Camille Desmoulins.
- Roſalie,
- Adelaide,
- Marion,
- Männer und Weiber aus dem Volke, Griſetten, Deputirte, Henker
u. ſ. w.
Deputirte.
Mitglieder des Wohlfahrts-Aus-
ſchuſſes.
Präſidenten des Revolutions-Tribunals.
Griſetten.
[[4]][[5]]
Erſter Act.
Julie, ſeine Gattin (etwas weiter weg, Danton auf einem Schemel
zu den Füßen Julien's).
Sieh die hübſche Dame, wie artig ſie die
Karten dreht! Ja wahrhaftig. ſie verſteht's; man ſagt, ſie
halte ihrem Manne immer das Coeur und anderen Leuten
immer das Carreau hin. Sie hat ungeſchickte Beine und
fällt leicht; ihr Mann trägt die Beulen hiefür auf der Stirne,
hält ſie für Hitzpocken und lacht dazu. Ihr könntet Einen
noch in die Lüge verliebt machen.
Glaubſt du an mich?
Was weiß ich! Wir wiſſen wenig von ein-
ander. Wir ſind Dickhäuter, wir ſtrecken die Hände nach
einander aus, aber es iſt vergebliche Mühe, wir reiben nur
das grobe Leder an einander ab, — wir ſind ſehr einſam.
Du kennſt mich, Danton.
Ja, was man ſo kennen heißt. Du haſt
dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint,
und ſagſt immer zu mir: lieber Georg! Aber
auf Stirn und Augen)
da, da, was liegt hinter dem? Geh',
[6] wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten
uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander
aus den Hirnfaſern zerren. —
Was haben Sie nur mit
Ihren Fingern vor?
Nichts.
Schlagen Sie den Daumen nicht ſo ein, es iſt
nicht zum Anſehen.
Seh'n Sie nur, das Ding hat eine ganz
eigene Phyſiognomie. —
Nein, Julie, ich liebe dich wie das Grab.
Oh!
Nein! höre! Die Leute ſagen, im Grabe
ſei Ruhe, und Grab und Ruhe ſeien eins. Wenn das iſt,
lieg' ich in deinem Schooße ſchon unter der Erde. Du ſüßes
Grab, deine Lippen ſind Todtenglocken, deine Stimme iſt
mein Grabgeläute, deine Bruſt mein Grabhügel und dein
Herz mein Sarg. —
Verloren!
Das war ein verliebtes Abenteuer, es koſtet
Geld, wie alle anderen.
Dann haben Sie Ihre Liebeserklärungen, wie
ein Taubſtummer, mit den Fingern gemacht.
Ei, warum nicht? Man will ſogar behaupten,
gerade die würden um leichteſten verſtanden. Ich zettelte
eine Liebſchaft mit einer Kartenkönigin an, meine Finger
waren in Spinnen verwandelte Prinzen. Sie, Madame,
waren die Fee; aber es ging ſchlecht, die Dame lag immer
in den Wochen, jeden Augenblick bekam ſie einen Buben. Ich
würde meine Tochter dergleichen nicht ſpielen laſſen, die Herren
[7] und Damen fallen ſo unanſtändig übereinander, und die
Buben kommen gleich hinten nach.
Philippeau, welch trübe Augen! Haſt du dir
ein Loch in die rothe Mütze geriſſen? Hat der heilige Jakob
ein böſes Geſicht gemacht? Hat es während des Guillotinirens
geregnet? Oder haſt du einen ſchlechten Platz dabei bekommen
und nichts ſehen können?
Du parodirſt den Sokrates. Weißt du auch,
was der Göttliche den Alcibiades fragte, als er ihn eines
Tages finſter und niedergeſchlagen fand: "Haſt du deinen
Schild auf dem Schlachtfelde verloren, biſt du im Wettlauf
oder im Schwerdikampfe beſiegt worden? Hat ein Anderer
beſſer geſungen oder beſſer die Cither geſchlagen?" Welche
klaſſiſchen Republikaner! Nimm einmal unſere Guillotinen-
Romantik dagegen!
Heute ſind wieder zwanzig Opfer gefallen.
Wir waren im Irrthume, man hat die Hebertiſten nur aufs
Schaffot geſchickt, weil ſie nicht ſyſtematiſch genug verfuhren,
vielleicht auch weil die Decemvirn ſich verloren glaubten,
wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte, die man
mehr fürchtete, als ſie.
Sie möchten uns zu Antediluvianern machen.
St. Juſt ſäh' es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen
Vieren kröchen, damit uns der Advokat von Arras nach der
Mechanik des Genfer Uhrmachers Fallhütchen, Schulbänke
und einen Herrgott erfände.
Sie würden ſich nicht ſcheuen, zu dem
Behuf an Marat's Rechnung noch einige Nullen zu hängen.
[8] Wie lange ſollen wir noch ſchmutzig und blutig ſein, wie
neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen
ſpielen? Wir müſſen vorwärts: Der Gnadenausſchuß muß
durchgeſetzt, die ausgeſtoßenen Deputirten müſſen wieder auf-
genommen werden.
Die Revolution iſt in das Stadium der
Reorganiſation gelangt. — Die Revolution muß aufhören,
und die Republick muß anfangen. — In unſeren Staats-
grundſätzen muß das Recht an die Stelle der Pflicht, das
Wohlbefinden an die der Tugend und die Nothwehr an die
der Strafe treten. Jeder muß ſich geltend machen und ſeine
Natur durchſetzen können. Er mag vernünftig oder unver-
nünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böſe ſein, das geht
den Staat nichts an. Wir Alle ſind Narren, und Keiner
hat das Recht, einem Andern ſeine eigenthümliche Narrheit
aufzudringen. — Jeder muß in ſeiner Art genießen können,
jedoch ſo, daß Keiner auf Unkoſten eines Andern genießen
oder ihn in ſeinem eigenthümlichen Genuß ſtören darf. Die
Individualität der Mehrzahl muß ſich in der Phyſiognomie des
Staates offenbaren.
Die Staatsform muß ein durchſichtiges Ge-
wand ſein, das ſich dicht an den Leib des Volkes ſchmiegt.
Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln,
jedes Zucken der Sehnen muß ſich darin abdrücken. Die
Geſtalt mag nun ſchön oder häßlich ſein, ſie hat einmal das
Recht zu ſein wie ſie iſt, wir ſind nicht berechtigt, ihr ein
Röcklein nach Belieben zuzuſchneiden. — Wir werden den
Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebſten
Sünderin Frankreich den Nonnenſchleier werfen wollen, auf
die Finger ſchlagen. — Wir wollen nackte Götter, Bachan-
[9] tinnen, olympiſche Spiele, Roſen in den Locken, funkelnden
Wein, wallende Buſen und melodiſche Lippen; ach, die
gliederlöſende, böſe Liebe! Wir wollen den Römern nicht
verwehren, ſich in die Ecke zu ſetzen und Rüben zu kochen,
aber ſie ſollen uns keine Gladiatorenſpiele mehr geben wollen.
— Der göttliche Epicur und die Venus mit dem ſchönen
Hintern müſſen ſtatt der Heiligen Marat und Chalier die
Thürſteher der Republik werden. — Danton! du wirſt den
Angriff im Convent machen.
Ich werde, du wirſt, er wird. Wenn wir
bis dahin noch leben, ſagen die alten Weiber. Nach einer
Stunde werden ſechzig Minuten verfloſſen ſein. Nicht wahr,
mein Junge?
Was ſoll das hier? das verſteht ſich von
ſelbſt.
O, es verſteht ſich Alles von ſelbſt. Wer
ſoll denn aber alle die ſchönen Dinge ins Werk ſetzen?
Wir und die ehrlichen Leute.
Das "und" dazwiſchen iſt ein langes Wort,
es hält uns ein wenig weit auseinander, die Strecke iſt lang,
die Ehrlichkeit verliert den Athem, eh wir zuſammen kommen.
Und wenn auch! — den ehrlichen Leuten kann man Geld
leihen, man kann bei ihnen Gevatter ſtehen und ſeine Töchter
an ſie verheirathen, aber das iſt Alles!
Wenn du das weißt, warum haſt du den
Kampf begonnen?
Die Leute waren mir zuwider. Ich konnte
dergleichen geſpreizte Katone nie anſehn, ohne ihnen einen
Tritt zu geben. Mein Naturell iſt einmal ſo.
Du gehſt?
[10]
Ich muß fort, ſie reiben mich mit
ihrer Politik noch auf. —
Zwiſchen Thür
und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Freiheit
iſt noch nicht gegoſſen, der Ofen glüht, wir Alle können uns
noch die Finger dabei verbrennen.
Laßt ihn! Glaubt ihr, er könne die Finger
davon laſſen, wenn es zum Handeln kömmt?
Ja, aber bloß zum Zeitvertreib, wie man
Schach ſpielt.
Eine Gaſſe.
Du Kuppelpelz, du runzliche
Sublimatpide, du wurmſtichiger Sündenapfel!
Zu Hilfe! Hilfe!
Reißt ſie auseinander, reißt ſie auseinander!
Nein, laßt mich, Römer! Zerſchellen will ich
dieß Geripp'! Du Beſtalin!
Ich eine Beſtalin? Das will ich ſehen, ich?
So reiß ich von den Schultern dein Gewand.
Nackt in die Sonne ſchleudr' ich dann dein Aas,
In jeder Runzel deines Leibes niſtet Unzucht,
du Hurenbett! —
Was gibt's?
[11]
Wo iſt die Jungfrau? Sprich! Nein, ſo
kann ich nicht ſagen. Das Mädchen! Nein, auch das nicht;
die Frau, das Weib! Auch das, auch das nicht! Nur noch
Ein Name; o, der erſtickt mich! Ich habe keinen Athem
dafür.
Das iſt gut, ſonſt würde der Name
nach Schnaps riechen.
Alter Virginius, verhülle dein kahles Haupt,
— der Rabe Schande ſitzt darauf, und hackt nach deinen
Augen. Gebt mir ein Meſſer, Römer!
Ach, er iſt ſonſt ein braver Mann, er kann nur
nicht viel vertragen; der Schnaps ſtellt ihm gleich ein Bein.
Dann geht er mit dreien.
Nein, er fällt.
Richtig, erſt geht er mit dreien, und
dann fällt er auf das dritte, bis das dritte ſelbſt wieder fällt.
Du biſt die Vampyrzunge, die mein wärmſtes
Herzblut trinkt.
Laßt ihn nur, das iſt ſo die Zeit, worin er
immer gerührt wird; es wird ſich ſchon geben.
Was gibt's denn?
Seht ihr: ich ſaß da ſo auf dem Stein in der
Sonne, und wärmte mich; — ſeht ihr, denn wir haben kein
Holz, ſeht ihr —
So nimm deines Mannes Naſe.
Und meine Tochter war da hinunter gegangen.
um die Ecke, — ſie iſt ein braves Mädchen und ernährt
ihre Eltern.
Ha, ſie bekennt.
Du Judas, hätteſt du nur ein Paar Hoſen hinauf-
[12] zuziehen, wenn die jungen Herren nicht die Hoſen bei ihr
herunterließen? Du Branntweinfaß, willſt du verdurſten,
wenn das Brünnlein zu laufen aufhört? He? — Wir
arbeiten mit allen Gliedern, warum denn nicht auch damit;
ihre Mutter hat damit geſchafft, als ſie zur Welt kam, und
es hat ihr weh gethan; kann ſie für ihre Mutter nicht auch
damit ſchaffen, he? Und thut's ihr auch weh dabei, he?
Du Dummkopf!
Ha, Lucretia! ein Meſſer; gebt mir ein Meſſer,
Römer! Ha, Appius Claudius!
Ja, ein Meſſer, aber nicht für die
arme Hure! Was that ſie? Nichts! Ihr Hunger hurt
und bettelt. Ein Meſſer für die Leute, die das Fleiſch unſerer
Weiber und Töchter kaufen! Weh über die, ſo mit den
Töchtern des Volkes huren! Ihr habt Kollern im Leib,
und ſie haben Magendrücken; ihr habt Löcher in den
Jacken, und ſie haben warme Röcke; ihr habt Schwielen
in den Fäuſten, und ſie haben Sammthände. Ergoihr
arbeitet und ſie thun nichts, ergoihr habt's erworben und
ſie haben's geſtohlen, ergo: wenn ihr von eurem geſtohlnen
Eigenthum ein Paar Heller wieder haben wollt, müßt ihr
huren und betteln, ergo: ſie ſind Spitzbuben, und man muß
ſie todtſchlagen.
Sie haben kein Blut in den Adern,
als das ſie uns ausgeſaugt haben. Sie haben uns geſagt:
ſchlagt die Ariſtokraten todt, das ſind Wölfe! Wir haben
die Ariſtokraten an die Laterne gehenkt. Sie haben geſagt:
das Veto frißt euer Brod! wir haben das Veto todtgeſchlagen.
Sie haben geſagt: die Girondiſten hungern euch aus; wir
haben die Girondiſten guillotinirt. Aber ſie haben die Todten
[13] ausgezogen, und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen
und frieren. Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln
ziehen und uns Hoſen daraus machen, wir wollen ihnen das
Fett auslaſſen und unſere Suppen damit ſchmelzen. Fort!
Todtgeſchlagen, wer kein Loch im Rocke hat!
Todtgeſchlagen, wer leſen und ſchreiben
kann!
Todtgeſchlagen, wer auswärts geht!
Todtgeſchlagen, todtgeſchlagen!
Er hat ein Schnupftuch! ein Ariſto-
krat! an die Laterne! an die Laterne!
Was? er ſchneuzt ſich die Naſe nicht
mit den Fingern? An die Laterne!
Ach, meine Herren!
Es gibt hier keine Herren! An die
Laterne!
Erbarmen!
Nur ein Spielen mit einer Hanf-
Locke um den Hals! Es iſt nur ein Augenblick! Wir ſind
barmherziger, als ihr. Unſer Leben iſt der Mord durch
Arbeit; wir hängen ſechzig Jahre lang am Strick und zappeln,
aber wir werden uns losſchneiden. — An die Laterne!
[14]
Meinetwegen, ihr werdet deßwegen
nicht heller ſehen.
Bravo! Bravo!
Laßt ihn laufen!
Was gibt's da, Bürger?
Was wird's geben? Die Paar
Tropfen Bluts vom Auguſt und September haben dem Volke
die Backen nicht roth gemacht. Die Guillotine iſt zu langſam.
Wir brauchen einen Platzregen.
Unſere Weiber und Kinder ſchreien
nach Brod, wir wollen ſie mit Ariſtokratenfleiſch füttern.
He! todtgeſchlagen, wer kein Loch im Rocke hat!
Todtgeſchlagen! Todtgeſchlagen!
Im Namen des Geſetzes!
Was iſt das Geſetz?
Der Wille des Volkes.
Wir ſind das Volk und wir wollen,
daß kein Geſetz ſei; ergo: iſt dieſer Wille das Geſetz, ergo:
im Namen des Geſetzes gibt's kein Geſetz mehr, ergo: todt-
geſchlagen!
Hört den Ariſtides, hört den Unbe-
ſtechlichen!
Hört den Meſſias, der geſandt iſt, zu
wählen und zu richten; er wird die Böſen mit der Schärfe
des Schwerdtes ſchlagen. Seine Augen ſind die Augen der
Wahl, und ſeine Hände ſind die Hände des Gerichts.
Armes, tugendhaftes Volk! Du thuſt
deine Pflicht, du opferſt deine Feinde. Volk! du biſt groß.
[15] Du offenbarſt dich unter Blitzſtrahlen und Donnerſchlägen.
Aber, Volk, deine Streiche dürfen deinen eignen Leib nicht
verwunden; du mordeſt dich ſelbſt in deinem Grimm. Du
kannſt nur durch deine eigne Kraft fallen, das wiſſen deine
Feinde. Deine Geſetzgeber wachen, ſie werden deine Hände
führen, ihre Augen ſind untrügbar, deine Hände ſind unent-
rinnbar. Kommt mit zu den Jacobinern. Eure Brüder
werden euch ihre Arme öffnen, wir werden ein Blutgericht
über unſere Feinde halten.
Zu den Jacobinern! Es lebe Robes-
pierre!
Weh' mir, verlaſſen!
richten.)
Da!
Ach meine Baucis, du ſammelſt Kohlen auf
mein Haupt.
Da ſteh!
Du wendeſt dich ab? Ha, kannſt du mir
vergeben, Portia? Schlug ich dich? Das war nicht meine
Hand, war nicht mein Arm, mein Wahnſinn that es. Sein
Wahnſinn iſt des armen Hamlet Feind. Hamlet that's nicht,
Hamlet verläugnet's. Wo iſt unſere Tochter, wo iſt mein
Sannchen?
Dort um das Eck herum.
Fort zu ihr! Komm, mein tugendreich Gemahl.
[16]
Der Jacobinerklubb.
Die Brüder von Lyon ſenden uns, um
in eure Bruſt ihren bitteren Unmuth auszuſchütten. Wir
wiſſen nicht, ob der Karren, auf dem Ronſin zur Guillotine
fuhr, der Todtenwagen der Freiheit war, aber wir wiſſen,
daß ſeit jenem Tage die Mörder Chalier's wieder ſo feſt
auf den Boden treten, als ob es kein Grab für ſie gäbe.
Habt ihr vergeſſen, daß Lyon ein Flecken auf dem Boden
Frankreichs iſt, den man mit den Gebeinen der Verräther
zudecken muß? Habt ihr vergeſſen, daß dieſe Hure der
Könige ihren Ausſatz nur in dem Waſſer der Rhone ab-
waſchen kann? Habt ihr vergeſſen, daß dieſer revolutionäre
Strom die Flotten Pitt's im Mittelmeer auf den Leichen
der Ariſtokraten muß ſtranden machen? Eure Barmherzigkeit
mordet die Revolution. Der Athemzug eines Ariſtokraten
iſt das Röcheln der Freiheit. Nur ein Feigling ſtirbt für die
Republik, ein Jacobiner tödtet für ſie. Wißt: finden wir in
euch nicht mehr die Spannkraft der Männer des 10. Auguſt,
des September und des 31. Mai, ſo bleibt uns, wie dem
Patrioten Gaillard, nur der Dolch des Cato.
Wir werden den Becher des Socrates
mit euch trinken!
Wir haben nicht
nöthig, unſere Blicke auf Lyon zu werfen. Die Leute, die
ſeidene Kleider tragen, die in Kutſchen fahren, die in den
Logen im Theater ſitzen und nach dem Dictionär der Akademie
ſprechen, tragen ſeit einigen Tagen die Köpfe feſt auf den
Schultern. Sie ſind witzig und ſagen, man muß Marat
[17] und Chalier zu einem doppelten Märtyrerthum verhelfen,
und ſie in effigie guillotiniren.
Das ſind todte Leute, ihre Zunge
guillotinirt ſie.
Das Blut dieſer Heiligen komme über ſie!
Ich frage die anweſenden Mitglieder des Wohlfahrts-Aus-
ſchuſſes, ſeit wann ihre Ohren ſo taub geworden ſind? —
Und ich frage dich,
Legendre, weſſen Stimme ſolchen Gedanken Athem gibt, daß
ſie lebendig werden und zu ſprechen wagen? Es iſt Zeit,
die Masken abzureißen. Hört! die Urſache verklagt ihre
Wirkung, der Ruf ſein Echo, der Grund ſeine Folge. Der
Wohlfahrts-Ausſchuß verſteht mehr Logik, Legendre. Sei
ruhig. Die Büſten der Heiligen werden unberührt bleiben,
ſie werden wie Meduſenhäupter die Verräther in Stein ver-
wandeln.
Ich verlange das Wort.
Hört, hört den Unbeſtechlichen!
Wir warteten nur auf den Schrei des
Unwillens, der von allen Seiten ertönt, um zu ſprechen.
Unſere Augen waren offen, wir ſahen den Feind ſich rüſten
und ſich erheben, aber wir haben das Lärmzeichen nicht ge-
geben; wir ließen das Volk ſich ſelbſt bewachen, es hat nicht
geſchlafen, es hat an die Waffen geſchlagen. Wir ließen
den Feind aus ſeinem Hinterhalt hervorbrechen, wir ließen
ihn anrücken, jetzt ſteht er frei und ungedeckt in der Helle
des Tages, jeder Streich wird ihn treffen, er iſt todt, ſobald
ihr ihn erblickt habt. — Ich habe es euch ſchon einmal ge-
ſagt: in zwei Abtheilungen, wie in zwei Heereshaufen, ſind
G. Büchner's Werke. 2
[18] die inneren Feinde der Republik zerfallen. Unter Bannern
von verſchiedener Farbe und auf den verſchiedenſten Wegen
eilen ſie Alle dem nämlichen Ziele zu. Die eine dieſer
Faktionen iſt nicht mehr. In ihrem affectirten Wahnſinne
ſuchte ſie die erprobteſten Patrioten als abgenutzte Schwäch-
linge bei Seite zu werfen, um die Republik ihrer kräftigſten
Arme zu berauben. Sie erklärte der Gottheit und dem
Eigenthum den Krieg, um eine Diverſion zu Gunſten der
Könige zu machen. Sie parodirte das erhabene Drama der
Revolution, um dieſelbe durch ſtudirte Ausſchweifungen blos-
zuſtellen. Hebert's Triumph hätte die Republik in ein Chaos
verwandelt, und der Despotismus war befriedigt. Das
Schwert des Geſetzes hat den Verräther getroffen. Aber
was liegt den Fremden daran, wenn ihnen Verbrecher einer
andern Gattung zur Erreichung des nämlichen Zweckes bleiben?
Wir haben Nichts gethan, wenn wir noch eine andere Faktion
zu vernichten haben. — Sie iſt das Gegentheil der vorher-
gehenden. Sie treibt uns zur Schwäche, ihr Feldgeſchrei
heißt: Erbarmen! Sie will dem Volke ſeine Waffen und
die Kraft, welche die Waffen führt, entreißen, um es nackt
und entnervt den Königen zu überantworten. — Die Waffe
der Republik iſt der Schrecken, die Kraft der Republik iſt
die Tugend, — die Tugend, weil ohne ſie der Schrecken ver-
derblich, — der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend ohn-
mächtig iſt. Der Schrecken iſt ein Ausfluß der Tugend, er
iſt nichts Anderes, als die ſchnelle, ſtrenge und unbeugſame
Gerechtigkeit. Sie ſagen: der Schrecken ſei die Waffe einer
despotiſchen Regierung, die unſrige gleiche alſo dem Despo-
tismus. Freilich, aber ſo, wie das Schwerdt in den Händen
eines Freiheitshelden dem Säbel gleicht, womit der Satellit
[19] des Tyrannen bewaffnet iſt. Regiere der Despot ſeine thier-
ähnlichen Unterthanen durch den Schrecken, er hat Recht als
Despot. Zerſchmettert durch den Schrecken die Feinde der
Freiheit, und ihr habt als Stifter der Republik nicht minder
Recht. Die Revolutionsregierung iſt der Despotismus der
Freiheit gegen die Tyrannei. Erbarmen mit den Royaliſten!
rufen gewiſſe Leute. Erbarmen mit Böſewichtern? Nein!
Erbarmen für die Unſchuld, Erbarmen für die Schwäche,
Erbarmen für die Unglücklichen, Erbarmen für die Menſch-
heit! Nur dem friedlichen Bürger gebührt der Schutz der
Geſellſchaft! In einer Republik ſind nur Republikaner —
Bürger; Royaliſten und Fremde ſind Feinde. Die Unter-
drücker der Menſchheit beſtrafen, iſt Gnade, ihnen verzeihen,
iſt Barbarei. Alle Aeußerungen einer falſchen Empfindſam-
keit ſcheinen mir Seufzer, welche nach England oder Oeſtreich
fliegen. — Aber, nicht zufrieden, den Arm des Volkes zu
entwaffnen, ſucht man noch die heiligſten Quellen ſeiner
Kraft durch das Laſter zu vergiften. Dies iſt der feinſte,
gefährlichſte und abſcheulichſte Angriff auf die Freiheit. Nur
der hölliſchſte Macchiavellismus, doch — nein! ich will nicht
ſagen, daß ein ſolcher Plan in dem Gehirne eines Menſchen
hätte ausgebrütet werden können! Es mag unwillkürlich
geſchehen, doch die Abſicht thut nichts zur Sache, die Wirkung
bleibt die nämliche, die Gefahr iſt gleich groß! Das Laſter
iſt das Kainszeichen des Ariſtokratismus. In einer Republik
iſt es nicht nur ein moraliſches, ſondern auch ein politiſches
Verbrechen; der Laſterhafte iſt der politiſche Feind der Frei-
heit, er iſt ihr um ſo gefährlicher, je größer die Dienſte ſind,
die er ihr ſcheinbar erwieſen. Der gefährlichſte Bürger iſt
derjenige, welcher leichter ein Dutzend rother Mützen verbraucht,
2 *
[20] als eine gute Handlung vollbringt. Ihr würdet mich leicht
verſtehen, wenn ihr an Leute denkt, welche ſonſt in Dach-
ſtuben lebten und jetzt in Caroſſen fahren, und mit ehemaligen
Marquiſinnen und Baroneſſen Unzucht treiben. Wir dürfen
wohl fragen, iſt das Volk geplündert, oder ſind die Gold-
hände der Könige gedrückt worden, wenn wir Geſetzgeber des
Volkes mit allen Laſtern und allem Luxus der ehemaligen
Höflinge Parade machen, wenn wir dieſe Marquis und
Grafen der Revolution reiche Weiber heirathen, üppige Gaſt-
mähler geben, ſpielen, Diener halten und koſtbare Kleider
tragen ſehen? — Wir dürfen wohl ſtaunen, wenn wir ſie
Einfälle haben, ſchöngeiſtern und ſo Etwas von gutem Tone
bekommen hören. Man hat vor Kurzem auf eine unver-
ſchämte Weiſe den Tacitus parodirt, ich könnte mit dem
Salluſt antworten und den Catilina traveſtiren; doch ich
denke, ich habe keine Striche mehr nöthig, die Porträts ſind
fertig. — Keinen Vertrag, keinen Waffenſtillſtand mit den
Menſchen, welche nur auf Ausplünderung des Volkes bedacht
waren, welche dieſe Ausplünderung ungeſtraft zu vollbringen
hofften, für welche die Republik eine Spekulation und die
Revolution ein Handwerk war! In Schrecken geſetzt durch
den reißenden Strom der Beiſpiele, ſuchen ſie ganz leiſe die
Gerechtigkeit abzukühlen. Man ſollte glauben, jeder ſage zu
ſich ſelbſt: "wir ſind nicht tugendhaft genug, um ſo ſchrecklich
zu ſein. Philoſophiſche Geſetzgeber! erbarmt euch unſerer
Schwäche; ich wage euch nicht zu ſagen, daß ich laſterhaft
bin; ich ſage euch alſo lieber: ſeid nicht grauſam." Beruhige
dich, tugendhaftes Volk, beruhigt euch, ihr Patrioten, ſagt
euern Brüdern zu Lyon: das Schwert des Geſetzes roſte
nicht in den Händen, denen ihr es anvertraut habt. Wir
[21] werden der Republik ein großes Beiſpiel geben.
Beifall.)
Es lebe die Republik! Es lebe
Robespierre!
Die Sitzung iſt aufgehoben.
Eine Gaſſe.
Was haſt du gemacht, Legendre? Weißt du
auch, wem du mit deinen Büſten den Kopf herunterwirfſt?
Einigen Stutzern und eleganten Weibern,
das iſt Alles.
Du biſt ein Selbſtmörder, ein Schatten, der
ſein Original und ſomit ſich ſelbſt ermordet.
Ich begreife nicht.
Ich dächte: Collot hätte deutlich geſprochen.
Was macht das? Es war, als ob eine
Champagnerflaſche ſpränge. Er war wieder betrunken.
Narren, Kinder und — nun? — Betrunkene
ſagen die Wahrheit. Wen glaubſt du denn, daß Robespierre
mit dem Catilina gemeint habe?
Nun?
Die Sache iſt einfach. Man hat die Atheiſten
und Ultrarevolutionärs aufs Schaffot geſchickt; aber dem Volk
iſt nicht geholfen, es läuft noch baarfuß in den Gaſſen und
will ſich aus Ariſtokraten-Leder Schuhe machen. Der Guillo-
[22] tinen-Thermometer darf nicht fallen; noch wenige Grade,
und der Wohlfahrts-Ausſchuß kann ſich ſein Bett auf dem
Revolutionsplatz ſuchen.
Was haben damit meine Büſten zu ſchaffen?
Siehſt du es noch nicht? Du haſt die Contre-
Revolution officiell bekannt gemacht, du haſt die Decemvirn
zur Energie gezwungen, du haſt ihnen die Hand geführt.
Das Volk iſt ein Minotaurus, der wöchentlich ſeine Leichen
haben muß, wenn er ſie nicht auffreſſen ſoll.
Wo iſt Danton?
Was weiß ich! Er ſucht eben die mediceiſche
Venus ſtückweiſe bei allen Griſetten im Palais-Royal zu-
ſammen; er macht Moſaik, wie er ſagt. Der Himmel weiß,
bei welchem Glied er gerade iſt. Es iſt ein Jammer, daß
die Natur die Schönheit, wie Medea ihren Bruder, zerſtückt
und ſie ſo in Fragmenten in die Körper geſenkt hat. —
Gehn wir ins Palais-Royal!
Ein Zimmer.
Nein, laß mich! So zu deinen Füßen. Ich
will dir erzählen!
Du könnteſt deine Lippen beſſer gebrauchen.
Nein, laß mich einmal ſo. Ich bin aus
guter Familie. Meine Mutter war eine kluge Frau, ſie
gab mir eine ſorgfältige Erziehung, ſie ſagte mir immer:
die Keuſchheit ſei eine ſchöne Tugend. Wenn Leute ins Haus
[23] kamen, und von manchen Dingen zu ſprechen anfingen, hieß
ſie mich aus dem Zimmer gehen; fragte ich, was die Leute
gewollt hatten, ſo ſagte ſie: ich ſolle mich ſchämen; gab ſie
mir ein Buch zu leſen, ſo mußte ich faſt immer einige
Seiten überſchlagen. Aber die Bibel las ich nach Belieben,
da war Alles heilig; aber es war etwas darin, was ich nicht
begriff. Ich mochte auch Niemand fragen, ich brütete über
mir ſelbſt. Da kam der Frühling, es ging überall etwas
um mich vor, woran ich keinen Theil hatte. Ich gerieth in
eine eigene Atmoſphäre, ſie erſtickte mich faſt. Ich betrachtete
meine Glieder, es war mir manchmal, als wäre ich doppelt
und verſchmölze dann wieder in Eins. Ein junger Menſch
kam zu der Zeit ins Haus; er war hübſch und ſprach oft
tolles Zeug, ich wußte nicht recht, was er wollte, aber ich
mußte lachen. Meine Mutter hieß ihn öfters kommen, das
war uns Beiden recht. Endlich ſahen wir nicht ein, warum
wir nicht eben ſo gut zwiſchen zwei Betttüchern bei einander
liegen, als auf zwei Stühlen bei einander ſitzen dürften.
Ich fand dabei mehr Vergnügen, als bei ſeiner Unterhaltung
und ſah nicht ab, warum man mir das Geringere gewähren
und das Größere entziehen wollte. Wir thaten's heimlich,
und das ging ſo fort. Aber ich wurde wie ein Meer, das
Alles verſchlang und ſich tiefer und tiefer wühlte. Es war
für mich nur Ein Gegenſatz da, alle Männer verſchmolzen
in Einen Leib. Meine Natur war einmal ſo, wer kann
da drüber hinaus? Endlich merkt' er's. Er kam eines
Morgens und küßte mich, als wollte er mich erſticken; ſeine
Arme ſchnürten ſich um meinen Hals, ich war in unſäglicher
Angſt. Da ließ er mich los, und lachte und ſagte: er hätte
faſt einen dummen Streich gemacht, ich ſolle mein Kleid nur
[24] behalten und es brauchen, es würde ſich ſchon von ſelbſt
abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit ver-
derben, es wäre doch das Einzige, was ich hätte. Dann
ging er, ich wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend
ſaß ich am Fenſter, ich bin ſehr reizbar und hänge mit
Allem um mich nur durch eine Empfindung zuſammen; ich
verſank in die Wellen der Abendröthe. Da kam ein Haufe
die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die Weiber
ſahen aus den Fenſtern. Ich ſah hinunter, ſie trugen ihn
in einem Korbe vorbei, der Mond ſchien auf ſeine bleiche
Stirn, ſeine Locken waren feucht, er hatte ſich erſäuft. Ich
mußte weinen. Das war der einzige Bruch in meinem
Weſen. Die anderen Leute haben Sonn- und Werktage, ſie
arbeiten ſechs Tage und beten am ſiebenten, ſie ſind jedes
Jahr auf ihren Geburtstag einmal gerührt und denken auf
Neujahr einmal nach. Ich begreife nichts davon; ich kenne
keinen Abſatz, keine Veränderung; ich bin immer nur Eins,
ein ununterbrochenes Sehnen und Faſſen, eine Gluth, ein
Strom. Meine Mutter iſt vor Gram geſtorben; die Leute
weiſen mit Fingern auf mich, das iſt dumm. Es läuft auf
eins hinaus, an was man ſeine Freude hat, an Leibern,
Chriſtusbildern, Weingläſern, an Blumen oder Kinderſpiel-
ſachen; es iſt das nämliche Gefühl; wer am meiſten genießt,
betet am meiſten.
Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz
in mich faſſen, ſie nicht ganz umſchließen?
Danton, deine Lippen haben Augen.
Ich möchte ein Theil des Aethers ſein, um
dich in meiner Fluth zu baden, um mich auf jeder Welle
deines ſchönen Leibes zu brechen.
[25]
Ich muß lachen, ich
muß lachen.
Nun?
Die Gaſſe fällt mir ein.
Und?
Auf der Gaſſe waren Hunde, eine Dogge
und ein Bologneſer Schooßhündlein, die quälten ſich.
Was ſoll das?
Das fiel mir nun gerade ſo ein, und da
mußt' ich lachen. Es ſah erbaulich aus! Die Mädel guckten
aus den Fenſtern; man ſollte vorſichtig ſein und ſie nicht
einmal in der Sonne ſitzen laſſen. Die Mücken treiben's
ihnen ſonſt auf den Händen; das macht Gedanken. Legendre
und ich ſind faſt durch alle Zellen gelaufen, die Nönnlein
von der Offenbarung durch das Fleiſch hingen uns an den
Rockſchößen und wollten den Segen. Legendre gibt Einer
die Disciplin, aber er wird einen Monat dafür zu faſten
bekommen. Da bringe ich zwei von den Prieſterinnen mit
dem Leib.
Guten Tag, Demoiſelle Adelaide, guten Tag,
Demoiſelle Roſa.
Wir hatten ſchon lange nicht das Vergnügen.
Es war mir recht leid.
Ach Gott, wir ſind Tag und Nacht beſchäftigt.
Ei, Kleine, du haſt geſchmeidige
Hüften bekommen.
Ach ja, man vervollkommnet ſich täglich.
Was iſt der Unterſchied zwiſchen dem antiken
und einem modernen Adonis?
[26]
Und Adelaide iſt ſittſam-intereſſant geworden;
eine pikante Abwechslung. Ihr Geſicht ſieht aus wie ein
Feigenblatt, das ſie ſich vor den ganzen Leib hält. So ein
Feigenbaum an einer ſo gangbaren Straße gibt einen er-
quicklichen Schatten.
Ich wäre ein Heerdweg, wenn Monſieur —
Ich verſtehe; nur nicht böſe, mein Fräulein!
So höre doch; ein moderner Adonis wird
nicht von einem Eber, ſondern von Säuen zerriſſen; er be-
kommt ſeine Wunde nicht am Schenkel, ſondern in den
Leiſten, und aus ſeinem Blute ſproſſen nicht Roſen hervor,
ſondern ſchießen Queckſilberblüthen an.
O laß das; Fräulein Roſalie iſt ein reſtau-
rirter Torſo, woran nur die Hüften und Füße antik ſind.
Sie iſt eine Magnetnadel; was der Pol-Kopf abſtößt, zieht
der Pol-Fuß an; die Mitte iſt ein Aequator, wo jeder die
Sublimattaufe nöthig hat, der zum Erſtenmal die Linie
paſſirt.
Zwei barmherzige Schweſtern; jede dient in
einem Spital, d. h. in ihrem eignen Körper.
Schämen Sie ſich, unſere Ohren roth zu
machen!
Sie ſollten mehr Lebensart haben.
Gute Nacht, ihr hübſchen Kinder!
Gute Nacht, ihr Queckſilber-Gruben.
Sie dauern mich, ſie kommen um ihr Nacht-
eſſen.
Höre, Danton, ich komme von den Jakobinern.
Nichts weiter?
[27]
Die Lyoner verlaſen eine Proclamation; ſie
meinten, es bliebe ihnen nichts übrig, als ſich in die Toga
zu wickeln. Jeder machte ein Geſicht, als wollte er zu ſeinem
Nachbar ſagen: Paetus, es ſchmerzt nicht! — Legendre rief:
man wolle Chalier's und Marat's Büſten zerſchlagen. Ich
glaube, er will ſich das Geſicht wieder roth machen; er iſt
ganz aus der terreur herausgekommen, die Kinder zupfen ihn
auf der Gaſſe am Rock.
Und Robespierre?
Fingerte auf der Tribüne und ſagte: die
Tugend muß durch den Schrecken herrſchen. Die Phraſe
machte mir Halsweh.
Sie hobelt Bretter für die Guillotine.
Und Collot ſchrie wie beſeſſen, man müſſe
die Masken abreißen.
Da werden die Geſichter mitgehen.
Was gibt's, Fabricius?
Von den Jakobinern weg ging ich zu Robes-
pierre; ich verlangte eine Erklärung. Er ſuchte eine Miene
zu machen wie Brutus, der ſeine Söhne opfert. Er ſprach
im Allgemeinen von den Pflichten, ſagte: der Freiheit gegen-
über kenne er keine Rückſicht, er würde Alles opfern, ſich,
ſeinen Bruder, ſeine Freunde.
Das war deutlich; man braucht nur die
Scala herumzukehren, ſo ſteht er unten, und hält ſeinen
Freunden die Leiter. Wir ſind Legendre Dank ſchuldig, er
hat ſie ſprechen gemacht.
Die Hebertiſten ſind noch nicht todt, das
Volk iſt materiell elend, das iſt ein furchtbarer Hebel. Die
[28] Schaale des Blutes darf nicht ſteigen, wenn ſie dem Wohl-
fahrts-Ausſchuß nicht zur Laterne werden ſoll; er hat Ballaſt
nöthig, er braucht einen ſchweren Kopf.
Ich weiß wohl, — die Revolution iſt wie
Saturn, ſie frißt ihre eigenen Kinder.
Doch, ſie werden's nicht wagen.
Danton, du biſt ein todter Heiliger; aber
die Revolution kennt keine Reliquien, ſie hat die Gebeine
aller Könige auf die Gaſſe und alle Bildſäulen von den
Kirchen geworfen. Glaubſt du, man würde dich als Monu-
ment ſtehen laſſen?
Mein Name! das Volk!
Dein Name! du biſt ein Gemäßigter, ich bin
einer, Camille, Philippeau, Hérault. Für das Volk ſind
Schwäche und Mäßigung eins; es ſchlägt die Nachzügler todt.
Die Schneider von der Section der rothen Mütze werden die
ganze römiſche Geſchichte in ihrer Nadel fühlen, wenn der
Mann des September ihnen gegenüber ein Gemäßigter iſt.
Sehr wahr, und außerdem — das Volk iſt
wie ein Kind, es muß Alles zerbrechen, um zu ſehen, was
darin ſteckt.
Und außerdem, Danton, ſind wir laſterhaft,
wie Robespierre ſagt, d. h. wir genießen; und das Volk iſt
tugendhaft, d. h. es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die
Genußorgane ſtumpf macht; es beſäuft ſich nicht, weil es
kein Geld hat, und es geht nicht in's Bordell, weil es nach
Käſe und Häring aus dem Halſe riecht, und die Mädel
davor einen Ekel haben.
Es haßt die Genießenden, wie ein Eunuch
die Männer.
[29]
Man nennt uns Spitzbuben und
Ohren Danton's neigend)
es iſt, unter uns geſagt, ſo halbwegs
was Wahres daran. Robespierre und das Volk werden
tugendhaft ſein, St. Juſt wird einen Roman ſchreiben, und
Barrère wird eine Carmagnole ſchneidern und dem Convent
das Blutmäntelchen umhängen und — ich ſehe Alles.
Du träumſt. Sie hatten nie Muth ohne mich,
ſie werden keinen gegen mich haben; die Revolution iſt noch
nicht fertig, ſie könnten mich noch nöthig haben, ſie werden
mich im Arſenal aufheben.
Wir müſſen handeln.
Das wird ſich finden.
Es wird ſich finden, wenn wir verloren ſind.
Deine Lippen ſind kalt geworden,
deine Worte haben deine Küſſe erſtickt.
So viel Zeit zu verlieren! das
war der Mühe werth!
Morgen geh' ich zu Robes-
pierre, ich werde ihn ärgern, da kann er nicht ſchweigen.
Morgen alſo! Gute Nacht, meine Freunde, gute Nacht, ich
danke euch.
Packt euch, meine guten Freunde, packt euch!
Gute Nacht, Danton, die Schenkel der Demoiſelle guillo-
tiniren dich, der mons Veneris wird dein tarpejiſcher Fels.
Ein Zimmer.
Ich ſage dir, wer mir in den Arm fällt,
wenn ich das Schwert ziehe, iſt mein Feind, — ſeine Abſicht
[30] thut nichts zur Sache; wer mich verhindert, mich zu ver-
theidigen, tödtet mich ſo gut, als wenn er mich angriffe.
Wo die Nothwehr aufhört, fängt der Mord
an; ich ſehe keinen Grund, der uns länger zum Tödten
zwänge.
Die ſociale Revolution iſt noch nicht
fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt ſich
ſelbſt ſein Grab. Die gute Geſellſchaft iſt noch nicht todt,
die geſunde Volkskraft muß ſich an die Stelle dieſer nach
allen Richtungen abgekitzelten Klaſſe ſetzen. Das Laſter muß
beſtraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrſchen.
Ich verſtehe das Wort Strafe nicht. — Mit
deiner Tugend, Robespierre! — Du haſt kein Geld genommen,
du haſt keine Schulden gemacht, du haſt bei keinem Weibe
geſchlafen, du haſt immer einen anſtändigen Rock getragen
und dich nie betrunken. Robespierre, du biſt empörend recht-
ſchaffen. Ich würde mich ſchämen, dreißig Jahre lang mit
der nämlichen Moralphyſiognomie zwiſchen Himmel und Erde
herumzulaufen, blos um des elenden Vergnügens willen,
Andere ſchlechter zu finden, als mich. — Iſt denn nichts in
dir, was dir nicht manchmal ganz leiſe, heimlich ſagte: du
lügſt, du lügſt?!
Mein Gewiſſen iſt rein.
Das Gewiſſen iſt ein Spiegel, vor dem ein
Affe ſich quält; jeder putzt ſich, wie er kann und geht auf
ſeine eigne Art auf ſeinen Spaß dabei aus. Das iſt der
Mühe werth, ſich darüber in den Haaren zu liegen. Jeder
mag ſich wehren, wenn ein Anderer ihm den Spaß verdirbt.
Haſt du das Recht, aus der Guillotine einen Waſchzuber
für die unreine Wäſche anderer Leute und aus ihren abge-
[31] ſchlagenen Köpfen Fleckkugeln für ihre ſchmutzigen Kleider zu
machen, weil du immer einen ſauber gebürſteten Rock trägſt?
Ja, du kannſt dich wehren, wenn ſie dir darauf ſpucken oder
Löcher hineinreißen; aber was geht's dich an, ſo lange ſie
dich in Ruhe laſſen? Wenn ſie ſich nicht geniren, ſo herum
zu gehen, haſt du deßwegen das Recht, ſie ins Grabloch
zu ſperren? Biſt du der Polizeiſoldat des Himmels? und
— kannſt du es nicht eben ſo gut mit anſehen, als dein
lieber Herrgott, ſo halte dir dein Schnupftuch vor die
Augen.
Du läugneſt die Tugend?
Und das Laſter. Es gibt nur Epicuräer,
und zwar grobe und feine; Chriſtus war der feinſte; das
iſt der einzige Unterſchied, den ich zwiſchen den Menſchen
herausbringen kann. Jeder handelt ſeiner Natur gemäß, das
heißt, er thut, was ihm wohl thut. — Nicht wahr, Unbe-
ſtechlicher, es iſt grauſam, dir die Abſätze ſo von den Schuhen
zu treten?
Danton, das Laſter iſt zu gewiſſen Zeiten
Hochverrath.
Du darfſt es nicht proſcribiren, ums Himmels-
willen nicht, das wäre undankbar, du biſt ihm zu viel ſchuldig,
durch den Contraſt nämlich. — Uebrigens, um bei deinen
Begriffen zu bleiben, unſere Streiche müſſen der Republik
nützlich ſein, man darf nicht die Unſchuldigen mit den Schul-
digen treffen.
Wer ſagt dir denn, daß ein Unſchuldiger
getroffen worden ſei?
Hörſt du, Fabricius? Es ſtarb kein Un-
ſchuldiger!
Wir dürfen
[32] keinen Augenblick verlieren, wir müſſen uns zeigen!
und Paris ab).
Geh' nur! Er will die Roſſe
der Revolution am Bordell halten machen, wie ein Kutſcher
ſeine dreſſirten Gäule; ſie werden Kraft genug haben, ihn
zum Revolutionsplatz zu ſchleifen. — Mir die Abſätze von
den Schuhen treten! — Um bei deinen Begriffen zu bleiben! —
Halt! Halt! Iſt's das eigentlich? — Sie werden ſagen:
ſeine gigantiſche Geſtalt hätte zu viel Schatten auf mich ge-
worfen, ich hätte ihn deßwegen aus der Sonne gehen heißen. —
Und wenn ſie Recht hätten? — Iſt's denn ſo nothwendig?
Ja, ja, die Republik! Er muß weg! — Es iſt lächerlich,
wie meine Gedanken einander beaufſichtigen. — Er muß
weg. Wer in einer Maſſe, die vorwärts drängt, ſtehen
bleibt, leiſtet ſo gut Widerſtand, als trät' er ihr entgegen,
er wird zertreten. — Wir werden das Schiff der Revolution
nicht auf den ſeichten Berechnungen und den Schlammbänken
dieſer Leute ſtranden laſſen, wir müſſen die Hand abhauen,
die es zu halten wagt, und wenn er es mit den Zähnen
packte! — Weg mit einer Geſellſchaft, die der todten Ariſto-
kratie die Kleider ausgezogen und ihren Ausſatz geerbt hat. —
Keine Tugend! die Tugend ein Abſatz meiner Schuhe! Bei
meinen Begriffen! — Wie das immer wieder kommt. —
Warum kann ich den Gedanken nicht los werden? Er deutet
mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag ſo viel
Lappen darum wickeln, als ich will, das Blut ſchlägt immer
durch. —
Ich weiß nicht, was in mir
das Andere belügt.
Die Nacht ſchnarcht
über der Erde und wälzt ſich im wüſten Traum. Gedanken,
Wünſche, kaum geahnt, wirr und geſtaltlos, die ſcheu vor
[33] des Tages Licht ſich verkrochen, empfangen jetzt Form und
Gewand und ſtehlen ſich in das ſtille Haus des Traumes.
Sie öffnen die Thüren, ſie ſehen aus den Fenſtern, ſie werden
halbwegs Fleiſch, die Glieder ſtrecken ſich im Schlaf, die
Lippen murmeln. — Und iſt nicht unſer Wachen ein hellerer
Traum, ſind wir nicht Nachtwandler, iſt nicht unſer Handeln,
wie das im Traum, — nur deutlicher, beſtimmter, durchge-
führter? Wer will uns darum ſchelten? In einer Stunde
verrichtet der Geiſt mehr Thaten des Gedankens, als der
träge Organismus unſeres Leibes in Jahren nachzuthun ver-
mag. Die Sünde iſt im Gedanken. Ob der Gedanke That
wird, ob ihn der Körper nachſpielt, das iſt Zufall.
He, wer da im Finſtern? He, Licht,
Licht!
Kennſt du meine Stimme?
Ah, du St. Juſt!
Warſt du allein?
Eben ging Danton weg.
Ich traf ihn unterwegs im Palais-Royal.
Er machte ſeine revolutionäre Stirn und ſprach in Epigrammen,
er duzte ſich mit den Ohnehoſen, die Griſetten liefen hinter
ſeinen Waden drein, und die Leute blieben ſtehen und
ziſchelten ſich in die Ohren, was er geſagt hatte. Wir werden
den Vortheil des Angriffes verlieren. Willſt du noch länger
zaudern? Wir werden ohne dich handeln. Wir ſind entſchloſſen.
Was wollt ihr thun?
Wir berufen den Geſetzgebungs-, den Sicher-
heits- und den Wohlfahrts-Ausſchuß zu feierlicher Sitzung.
G. Büchner's Werke. 3
[34]
Viel Umſtände.
Wir müſſen die große Leiche mit Anſtand
begraben, wie Prieſter, nicht wie Mörder; wir dürfen ſie
nicht zerſtücken, alle ihre Glieder müſſen mit hinunter.
Sprich deutlicher.
Wir müſſen ihn in ſeiner vollen Waffen-
rüſtung beiſetzen, und ſeine Pferde und Sclaven auf ſeinem
Grabhügel ſchlachten: Lacroix —
Ein ausgemachter Spitzbube, geweſener
Advokatenſchreiber, gegenwärtig Generallieutenant von Frank-
reich. Weiter!
Hérault-Séchelles —
Ein ſchöner Kopf!
Er war der ſchöngemalte Anfangsbuchſtabe
der Conſtitutionsacte, wir haben dergleichen Zierrath nicht
mehr nöthig, er wird ausgewiſcht. — Philippeau, Camille! —
Auch den?
Das dacht' ich.
Da lies!
Aha, der alte Franziskaner! Sonſt
nichts? Er iſt ein Kind, er hat über euch gelacht.
Hier, hier!
"Dieſer Blutmeſſias Robespierre
auf ſeinem Kalvarienberge zwiſchen den beiden Schächern
Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert
wird. Die Guillotinen-Betſchweſtern ſtehen wie Maria und
Magdalena unten. St. Juſt liegt ihm wie Johannes am
Herzen und macht den Convent mit den apokalyptiſchen Offen-
barungen des Meiſters bekannt; er trägt ſeinen Kopf wie
eine Monſtranz."
[35]
Ich will ihn den ſeinigen wie St. Denis
tragen machen.
"Sollte man glauben, daß
der ſaubere Frack des Meſſias das Leichenhemd Frankreichs
iſt, und daß ſeine dünnen, auf der Tribüne herumzuckenden
Finger Guillotinenmeſſer ſind? — Und du Barrère, der du
geſagt haſt: auf dem Revolutionsplatze werde Münze ge-
ſchlagen! Doch ich will den alten Sack nicht aufwühlen, er
iſt eine Wittwe, die ſchon ein halbes Dutzend Männer hatte,
und die ſie begraben half. Wer kann was dafür? Das
iſt ſo ſeine Gabe, er ſieht den Leuten ein halbes Jahr vor
dem Tode das hippokratiſche Geſicht an. Wer mag ſich auch
zu Leichen ſetzen und den Geſtank riechen?" — Alſo auch
du, Camille! — Weg mit ihnen! Raſch! nur die Todten
kommen nicht wieder. Haſt du die Anklage bereit?
Es macht ſich leicht. Du haſt die An-
deutungen bei den Jakobinern gemacht.
Ich wollte ſie ſchrecken.
Ich brauche nur durchzuführen, die Fälſcher
geben das Ei und die Fremden den Apfel ab. — Sie ſterben
an der Mahlzeit; ich gebe dir mein Wort.
Dann raſch, morgen! Keinen langen
Todeskampf! Ich bin empfindlich ſeit einigen Tagen. Nur
raſch!
Ja wohl, Blutmeſſias, der opfert und
nicht geopfert wird. Er hat ſie mit ſeinem Blut erlöſt, und
ich erlöſe ſie mit ihrem eigenen. Er hat ſie ſündigen ge-
macht, und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die
Wolluſt des Schmerzes, und ich habe die Qual des Henkers.
Wer hat ſich mehr verleugnet? Ich oder er? — Und doch
3 *
[36] iſt was von Narrheit in dem Gedanken. — Was ſehen wir
nur immer nach dem Einen? Wahrlich, des Menſchen Sohn
wird in uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethſemane-
Garten im blutigen Schweiß, aber es erlöſt Keiner den
Andern mit ſeinen Wunden. Mein Camille! — Sie gehen
Alle von mir — es iſt Alles wüſt und leer — ich bin allein.
Zweiter Act.
Ein Zimmer.
Raſch, Danton, wir haben keine Zeit zu ver-
lieren.
Aber die Zeit verliert uns. —
Das iſt ſehr langweilig, immer das Hemd zuerſt und dann
die Hoſen darüber zu ziehen, und des Abends ins Bett und
Morgens wieder heraus zu kriechen, und einen Fuß immer
ſo vor den andern zu ſetzen, da iſt gar kein Abſehen, wie
es anders werden ſoll. Das iſt ſehr traurig, und daß
Millionen es ſchon ſo gemacht haben, und daß Millionen es
wieder ſo machen werden, und daß wir noch obendrein aus
zwei Hälften beſtehen, die beide das Nämliche thun, ſo daß
Alles doppelt geſchieht, — das iſt ſehr traurig.
Du ſprichſt in einem ganz kindiſchen Tone.
Sterbende werden oft kindiſch.
[37]
Du ſtürzeſt dich durch dein Zögern ins Ver-
derben, du reißeſt alle deine Freunde mit dir. Benachrich-
tige die Feiglinge, daß es Zeit iſt, ſich um dich zu ver-
ſammeln, fordere ſowohl die vom Thal, als die vom Berge
auf. Schreie über die Tyrannei der Decemvirn, ſprich von
Dolchen, rufe Brutus an, dann wirſt du die Tribüne er-
ſchrecken und ſelbſt die um dich ſammeln, die man als Mit-
ſchuldige Hebert's bedroht. Du mußt dich deinem Zorn
überlaſſen. Laßt uns wenigſtens nicht entwaffnet und er-
niedrigt, wie der ſchändliche Hebert, ſterben.
Du haſt ein ſchlechtes Gedächtniß, du nannteſt
mich einen todten Heiligen. Du hatteſt mehr Recht, als du
ſelbſt glaubteſt. Ich war bei den Sectionen, ſie waren ehr-
furchtsvoll, aber wie Leichenbitter. Ich bin eine Reliquie,
und Reliquien wirft man auf die Gaſſe; du hatteſt Recht.
Warum haſt du es dazu kommen laſſen?
Dazu? Ja wahrhaftig, es war mir zuletzt
langweilig, immer im nämlichen Rocke herumzulaufen, und
die nämlichen Falten zu ziehen! Das iſt erbärmlich. So
ein armſeliges Inſtrument zu ſein, auf dem eine Saite immer
nur einen Ton angibt! — Das iſt nicht zum Aushalten.
Ich wollte mir's bequem machen. Ich hab' es erreicht; die
Revolution ſetzt mich in Ruhe, aber auf andere Weiſe, als
ich dachte. — Uebrigens auf was ſich ſtützen? — Unſere
Huren könnten es noch mit den Guillotinen-Betſchweſtern
aufnehmen; ſonſt weiß ich nichts. Es läßt ſich an den
Fingern herzählen: Die Jakobiner haben erklärt, daß die
Tugend an der Tagesordnung ſei. Die Cordeliers nennen
mich Hebert's Henker, der Gemeinderath thut Buße. Der
Convent — das wäre noch ein Mittel! aber es gäbe einen
[38] 31. Mai, ſie würden nicht gutwillig weichen. Robespierre
iſt das Dogma der Revolution, es darf nicht ausgeſtrichen
werden. Es ginge auch nicht. Wir haben nicht die Revo-
lution, die Revolution hat uns gemacht. — Und — wenn
es ginge — ich will lieber guillotinirt werden, als guilloti-
niren laſſen. Ich habe es ſatt; wozu ſollen wir Menſchen
mit einander kämpfen? Wir ſollten uns neben einander
ſetzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler gemacht, als
wir geſchaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen
Namen dafür, aber wir werden es uns einander nicht aus
den Eingeweiden herauswühlen, was ſollen wir uns darum
die Leiber aufbrechen? Geht, wir ſind elende Alchymiſten.
Pathetiſcher geſagt, würde es heißen: wie
lange ſoll die Menſchheit in ewigem Hunger ihre eignen
Glieder freſſen? Oder wie lange ſollen wir Schiffbrüchige
auf einem Wrack in unlöſchbarem Durſt einander das Blut
aus den Adern ſaugen? Oder, wie lange ſollen wir Al-
gebraiſten im Fleiſch beim Suchen nach dem unbekannten,
ewig verweigerten x unſere Rechnungen mit zerfetzten Gliedern
ſchreiben?
Du biſt ein ſtarkes Echo.
Nicht wahr? — ein Piſtolenſchuß ſchallt
gleich wie ein Donnerſchlag. Deſto beſſer für dich, du ſollteſt
mich immer bei dir haben.
Und Frankreich bleibt ſeinen Henkern?
Was liegt daran? Die Leute befinden ſich
ganz wohl dabei! Sie haben Unglück; kann man mehr
verlangen, um gerührt, edel, tugendhaft oder witzig zu ſein,
oder um überhaupt keine Langeweile zu haben? — Ob ſie
nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter ſterben!
[39] Es iſt noch vorzuziehen, ſie treten mit gelenken Gliedern
hinter die Couliſſen und können im Abgehen noch hübſch
geſtikuliren und die Zuſchauer klatſchen hören. Das iſt ganz
artig und paßt für uns, wir ſtehen immer auf dem Theater,
wenn wir auch zuletzt im Ernſt erſtochen werden. Es iſt
recht gut, daß die Lebenszeit ein wenig reduzirt wird, der
Rock war zu lang, unſere Glieder konnten ihn nicht aus-
füllen. Das Leben wird ein Epigramm, das geht an; wer
hat auch Athem und Geiſt genug für ein Epos in fünfzig
oder ſechzig Geſängen? 's iſt Zeit, daß man das bischen
Eſſenz nicht mehr aus Zubern, ſondern aus Liqueurgläschen
trinkt, ſo bekömmt man doch das Maul voll; ſonſt konnte
man kaum einige Tropfen in dem plumpen Gefäß zuſammen-
rinnen machen. Endlich — — ich müßte ſchreien, das iſt
mir der Mühe zu viel, das Leben iſt nicht der Arbeit werth,
die man ſich macht, es zu erhalten.
So flieh, Danton!
Nimmt man das Vaterland an den Schuh-
ſohlen mit? — Und endlich — und das iſt die Hauptſache:
ſie werden's nicht wagen.
Komm, mein Junge,
ich ſage dir: ſie werden's nicht wagen. Adieu, Adieu!
Da geht er hin.
Und glaubt kein Wort von dem, was er ge-
ſagt hat. Nichts als Faulheit! Er will ſich lieber guillo-
tiniren laſſen, als eine Rede halten.
Was thun?
Heim gehen und als Lucretia auf einen an-
ſtändigen Fall ſtudiren.
[40]
Eine Promenade.
Meine gute Jaqueline, ich wollte ſagen
Corn — — wollt' ich: Cor — —
Cornelia, Bürger, Cornelia.
Meine gute Cornelia hat mich mit einem
Knäblein erfreut.
Hat der Republik einen Sohn geboren.
Der Republik? Das lautet zu allgemein;
man könnte ſagen —
Das iſt's gerade, das Einzelne muß ſich dem
Allgemeinen —
Ach ja, das ſagt meine Frau auch.
Ach mit dem Namen, da komme ich gar nicht
ins Reine.
Tauf' ihn: Pike, Marat.
Ich hätte gern drei; es iſt doch was mit der
Zahl Drei, und dann was Nützliches und was Rechtliches;
jetzt hab' ich's: Pflug, Robespierre. Und dann das dritte?
Pike.
Ich dank' Euch, Nachbar; Pike, Pflug, Robes-
pierre, das ſind hübſche Namen, das macht ſich ſchön.
[41]
Ich ſage dir, die Bruſt deiner Cornelia wird
wie das Euter der römiſchen Wölfin — nein, das geht nicht,
Romulus war ein Tyrann, das geht nicht.
"Eine Hand voll Erde und ein
wenig Moos!" Liebe Herren, ſchöne Damen!
Kerl, arbeite, du ſiehſt ganz wohlge-
nährt aus.
Da!
Er hat eine
Hand wie Sammet. Das iſt unverſchämt.
Mein Herr, wo habt Ihr Euren Rock her?
Arbeit, Arbeit! du könnteſt den näm-
lichen haben; ich will dir Arbeit geben, komm' zu mir, ich
wohne —
Herr, warum habt Ihr gearbeitet?
Narr, um den Rock zu haben.
Ihr habt Euch gequält, um einen Genuß
zu haben, denn ſo ein Rock iſt ein Genuß, ein Lumpen
thut's auch.
Freilich, ſonſt geht's nicht.
Daß ich ein Narr wäre. Das hebt einander.
Die Sonne ſcheint warm an das Eck und das geht ganz
leicht.
"Eine Hand voll Erde und ein wenig
Moos — —"
Mach fort, da kommen Sol-
daten. Wir haben ſeit geſtern nichts Warmes in den Leib
gekriegt.
"Iſt auf dieſer Erde einſt mein letztes Loos!"
Meine Herren, meine Damen!
Halt! wo hinaus, meine Kinder?
Wie alt biſt du?
[42]
So alt wie mein kleiner Finger.
Du biſt ſehr ſpitz.
Und du ſehr ſtumpf.
So will ich mich an dir wetzen.
Geht das nicht luſtig? — Ich wittre was
in der Atmoſphäre, es iſt, als brüte die Sonne Unzucht aus.
Ach, Madame, der Ton einer Glocke, das
Abendlicht an den Bäumen, das Blinken eines Sternes — —
Der Duft einer Blume, die natürlichen
Freuden, dieſer reine Genuß der Natur!
Sieh, Eugenie — nur die Tugend hat Augen dafür.
Ach, Mama! Ich
ſehe nur Sie.
Gutes Kind!
Sehen Sie
dort die hübſche Dame mit dem alten Herrn?
Ich kenne ſie.
Man ſagt, ihr Friſeur habe ſie à
l'enfant friſirt.
Böſe Zunge.
Der alte Herr geht neben ihr, er ſieht
[43] das Knöspchen ſchwellen und führt es in die Sonne ſpazieren,
und meint, er ſei der Gewitterregen, der es habe wachſen
machen.
Wie unanſtändig! ich hätte Luſt, roth zu
werden.
Das könnte mich blaß machen. —
Muthe mir nur nichts Ernſt-
haftes zu. Ich begreife nicht, warum die Leute nicht auf der
Gaſſe ſtehen bleiben und einander ins Geſicht lachen. Ich
meine, ſie müßten zu den Fenſtern und aus den Gräbern
herauslachen, und der Himmel müſſe berſten, und die Erde
müſſe ſich wälzen vor Lachen.
Ich verſichere Sie eine außerordentliche
Entdeckung. Alle techniſchen Künſte bekommen dadurch eine
andere Phyſiognomie. Die Menſchheit eilt mit Rieſenſchritten
ihrer hohen Beſtimmung entgegen.
Haben Sie das neue Stück geſehen?
Ein babyloniſcher Thurm, ein Gewirr von Gewölben,
Treppchen, Gängen, und das Alles ſo leicht und kühn in
die Luft geſprengt. Man ſchwindelt bei jedem Tritt. Ein
bizarrer Kopf.
Was haben Sie denn?
Ach nichts! Ihre Hand, Herr! die
Pfütze, ſo! Ich danke Ihnen, kaum kann ich vorbei; das
konnte gefährlich werden.
Sie fürchteten doch nicht?
Ja, die Erde iſt eine dünne Kruſte,
ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo ſo ein Loch iſt. —
Man muß mit Vorſicht auftreten, man könnte durchbrechen.
Aber gehn Sie ins Theater, ich rathe es Ihnen.
[44]
Ein Zimmer.
Ich ſage Euch, wenn ſie nicht Alles in höl-
zernen Copien bekommen, verzettelt in Theatern, Concerten
und Kunſt-Ausſtellungen, ſo haben ſie weder Augen noch
Ohren dafür. Schnitzt Einer eine Marionette, wo man den
Strick hereinhängen ſieht, an dem ſie gezerrt wird, und deren
Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen, —
welch' ein Charakter, welche Conſequenz! — Nimmt Einer
ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff, und zieht ihm
Rock und Hoſen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm
das Geſicht, und läßt das Ding ſich drei Acte hindurch
herumquälen, bis es ſich zuletzt verheirathet oder todt ſchießt
— ein Ideal! — Fiedelt einer eine Oper, welche das
Schweben und Senken im menſchlichen Leben wiedergiebt,
wie eine Thonpfeife mit Waſſer die Nachtigall — ach! die
Kunſt! — Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gaſſe
— die erbärmliche Wirklichkeit! — Sie vergeſſen ihren
Herrgott über ſeinen ſchlechten Copiſten. Von der Schöpfung,
die glühend, brauſend und leuchtend in ihnen ſich jeden
Augenblick neu gebiert, hören und ſehen ſie nichts. Sie
gehen ins Theater, leſen Gedichte und Romane, ſchneiden
den Fratzen darin die Geſichter nach und ſagen zu Gottes
Geſchöpfen: wie gewöhnlich! — Die Griechen wußten, was
ſie ſagten, wenn ſie erzählten, Pygmalion's Statue ſei leben-
dig geworden, habe aber keine Kinder bekommen.
Und die Künſtler gehn mit der Natur um,
wie David, der im September die Gemordeten, wie ſie aus
der Force auf die Gaſſe geworfen wurden, kaltblütig zeichnete
[45] und ſagte: ich erhaſche die letzten Zuckungen des Lebens in
dieſen Böſewichtern.
Was ſagſt du, Lucile?
Nichts, ich ſehe dich ſo gern ſprechen.
Hörſt mich auch?
Ei freilich.
Habe ich recht? Weißt du auch, was ich
geſagt habe?
Nein, wahrhaftig nicht.
Was haſt du?
Der Wohlfahrts-Ausſchuß hat meine Ver-
haftung beſchloſſen. Man hat mich gewarnt und mir einen
Zufluchtsort angeboten. Sie wollen meinen Kopf; meinet-
wegen. Ich bin der Hudeleien überdrüſſig. Mögen ſie ihn
nehmen, was liegt daran? Ich werde mit Muth zu ſterben
wiſſen; das iſt leichter, als zu leben.
Danton, noch iſt es Zeit.
Unmöglich, — aber ich hätte nicht gedacht —
Deine Trägheit!
Ich bin nicht träg, aber müde; meine Sohlen
brennen mich.
Wo gehſt du hin?
Ja, wer das wüßte!
Im Ernſt, wohin?
Spazieren, mein Junge, ſpazieren.
Ach, Camille!
Sei ruhig, lieb Kind.
Wenn ich denke, daß ſie dies Haupt! — —
Mein Camille, das iſt Unſinn, gelt, ich bin wahnſinnig?
Sei ruhig, Danton und ich ſind nicht Eins.
[46]
Die Erde iſt weit, und es ſind viel Dinge
darauf, — warum denn grade das eine? Wer ſollte mir's
nehmen? Das wäre arg. Was wollten ſie auch damit
anfangen?
Ich wiederhole dir: du kannſt ruhig ſein.
Geſtern ſprach ich mit Robespierre; er war freundlich. Wir
ſind ein wenig geſpannt, das iſt wahr; verſchiedene Anſichten,
ſonſt nichts!
Such' ihn auf.
Wir ſaßen auf einer Schulbank. Er war
immer finſter und einſam. Ich allein ſuchte ihn auf und
machte ihn zuweilen lachen. Er hat mir immer große An-
hänglichkeit gezeigt. Ich gehe.
So ſchnell, mein Freund? Geh'! Komm! Nur
das
und das! Geh'! Geh'!
—
Das iſt eine böſe Zeit. Es geht einmal ſo. Wer kann da
drüber hinaus? Man muß ſich faſſen.
Wie kommt mir grade das in den Kopf? Das iſt nicht
gut, daß es den Weg ſo von ſelbſt findet. — Wie er hinaus
iſt, war mir's, als könnte er nicht mehr umkehren, und müſſe
immer weiter weg von mir, immer weiter. — Wie das Zim-
mer ſo leer iſt; die Fenſter ſtehen offen, als hätte ein Todter
darin gelegen. Ich halt' es da oben nicht aus.
Freies Feld.
Ich mag nicht weiter. Ich mag in dieſer
Stille mit dem Geplauder meiner Tritte und dem Keuchen
[47] meines Athems nicht Lärmen machen.
einer Pauſe.)
Man hat mir von einer Krankheit erzählt, die
einem das Gedächtniß verlieren mache. Der Tod ſoll etwas
davon haben. Dann kommt mir manchmal die Hoffnung, daß
er vielleicht noch kräftiger wirke und einem Alles verlieren
mache. — Wenn das wäre! — Dann lief' ich wie ein Chriſt,
um einen Feind, das heißt mein Gedächtniß, zu retten. —
Der Ort ſoll ſicher ſein, ja für mein Gedächtniß, aber nicht
für mich; mir gibt das Grab mehr Sicherheit, es ſchafft
mir wenigſtens Vergeſſen. Es tödtet mein Gedächtniß.
Dort aber lebt mein Gedächtniß und tödtet mich. Ich oder
es? Die Antwort iſt leicht.
—
Ich kokettire mit dem Tod, es iſt ganz angenehm, ſo aus
der Ferne mit dem Lorgnon mit ihm zu liebäugeln. — Eigent-
lich muß ich über die ganze Geſchichte lachen. Es iſt ein
Gefühl des Bleibens in mir, was mir ſagt: morgen und
übermorgen und weiter hinaus iſt Alles wie eben. Das
iſt ein leerer Lärm, man will mich ſchrecken; ſie werden's
nicht wagen!
Ein Zimmer.
Will denn das nie aufhören?
Wird das Licht nie ausglühen und der Schall nie modern?
Will's denn nie ſtill und dunkel werden, daß wir uns die
garſtigen Sünden einander nicht mehr anhören und anſehen?
— September! —
[48]
Danton! Danton!
He?
Was rufſt du?
Rief ich?
Du ſprachſt von garſtigen Sünden und dann
ſtöhnteſt du: September!
Ich, ich? Nein, ich ſprach nicht, das dacht'
ich kaum, das waren nur ganz leiſe, heimliche Gedanken.
Du zitterſt, Danton.
Und ſoll ich nicht zittern, wenn ſo die Wände
plaudern? Wenn mein Leib ſo zerſchellt iſt, daß meine Ge-
danken unſtät, umirrend mit den Lippen der Steine reden?
Das iſt ſeltſam.
Georg, mein Georg!
Ja, Julie, das iſt ſehr ſeltſam. Ich möchte
nicht mehr denken, wenn das ſo gleich ſpricht. Es gibt Ge-
danken, Julie, für die es keine Ohren geben ſollte. Das
iſt nicht gut, daß ſie bei der Geburt gleich ſchreien, wie
Kinder; das iſt nicht gut.
Gott erhalte dir deine Sinne, Georg! Georg,
erkennſt du mich?
Ei warum nicht! Du biſt ein Menſch und
dann eine Frau und endlich meine Frau, und die Erde hat
fünf Welttheile, Europa, Aſien, Afrika, Amerika, Auſtralien,
und zwei mal zwei macht vier. Ich bin bei Sinnen, ſiehſt
du? — Schrie's nicht September? Sagteſt du nicht ſo was?
Ja, Danton, durch alle Zimmer hört' ich's.
Wie ich ans Fenſter kam —
die Stadt ruhig, alle Lichter aus.
Ein Kind ſchreit in der Nähe.
[49]
Wie ich an's Fenſter kam — durch alle
Gaſſen ſchrie und zetert' es: September!
Du träumteſt, Danton; faſſ' dich.
Träumteſt? ja, ich träumte; doch das war
anders, ich will dir es gleich ſagen, mein armer Kopf iſt
ſchwach, gleich! ſo, jetzt hab' ich's. Unter mir keuchte die
Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte ſie wie ein wildes
Roß gepackt, mit rieſigen Gliedern wühlt' ich in ihren Mähnen
und preßt' in ihre Rippen, das Haupt abwärts gebückt, die
Haare flatternd über dem Abgrund; ſo ward ich geſchleift.
Da ſchrie ich in der Angſt und ich erwachte. Ich trat ans
Fenſter — und da hört ich's, Julie. — Was das Wort
nur will? Warum gerade das? Was hab' ich damit zu
ſchaffen? Was ſtreckt es nach mir die blutigen Hände?
Ich hab' es nicht geſchlagen. — O hilf mir, Julie, mein
Sinn iſt ſtumpf. War's nicht im September, Julie?
Die Könige waren noch vierzig Stunden von
Paris.
Die Feſtungen gefallen, die Ariſtokraten in
der Stadt.
Die Republik war verloren.
Ja, verloren. Wir konnten den Feind nicht
im Rücken faſſen, wir wären Narren geweſen, zwei Feinde
auf einem Brett; wir oder ſie, der Stärkere ſtößt den
Schwächeren hinunter, iſt das nicht billig?
Ja, Ja.
Wir ſchlugen ſie, das war kein Mord, das
war Krieg nach innen.
Du haſt das Vaterland gerettet.
Ja, das hab' ich, das war Nothwehr, wir
G. Büchner's Werke. 4
[50] mußten. — Der Mann am Kreuze hat ſich's bequem ge-
macht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch
welchen Aergerniß kommt! — Es muß; das war dies
Muß! — Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch
des Muß gefallen? — Wer hat das Muß geſprochen, wer?
Was iſt das, was in uns hurt, lügt, ſtiehlt und mordet?
— Puppen ſind wir, von unbekannten Gewalten am Draht
gezogen; nichts, nichts wir ſelbſt, — die Schwerter, mit
denen Geiſter kämpfen: — man ſieht nur die Hände nicht,
wie im Mährchen. — Jetzt bin ich ruhig.
Ganz ruhig, lieb Herz.
Ja, Julie, komm zu Bette.
Straße vor Danton's Hauſe.
Wie weit iſt's in der Nacht?
Was in der Nacht?
Wie weit iſt die Nacht?
So weit als zwiſchen Sonnenunter-
gang und Sonnenaufgang.
Schuft, wie viel Uhr?
Sieh' auf dein Zifferblatt, es iſt die
Zeit, wo ....
Wir müſſen hinauf! Fort, Bürger! Wir
haften mit unſeren Köpfen dafür. Todt oder lebendig! Er
hat gewaltige Glieder. Ich werde vorangehen, Bürger. Der
[51] Freiheit eine Gaſſe! — Sorgt für mein Weib! Eine Eichen-
krone werde ich ihr hinterlaſſen.
Eine Eichelkrone? Es ſollen ihr ohne-
hin jeden Tag Eicheln genug in den Schooß fallen.
Vorwärts, Bürger, ihr werdet euch um das
Vaterland verdient machen!
Ich wollte, das Vaterland machte
ſich um uns verdient. Ueber all den Löchern, die wir in
anderer Leute Körper machen, iſt noch kein einziges in unſeren
Hoſen zugegangen.
Willſt du, daß dir dein Hoſenlatz zu-
ginge? Ha, ha, ha!
Ha, ha, ha!
Fort, fort!
Der National-Convent.
Soll denn das Schlachten der Deputirten
nicht aufhören? — Wer iſt noch ſicher, wenn Danton fällt?
Was thun?
Er muß vor den Schranken des Con-
vents gehört werden. — Der Erfolg dieſes Mittels iſt ſicher;
was ſollen ſie ſeiner Stimme entgegenſetzen?
Unmöglich, ein Dekret verhindert uns.
Es muß zurückgenommen oder eine Aus-
nahme geſtattet werden. Ich werde den Antrag machen; ich
rechne auf eure Unterſtützung.
4 *
[52]
Die Sitzung iſt eröffnet.
Vier Mitglieder des Na-
tional-Convents ſind verfloſſene Nacht verhaftet worden. Ich
weiß, daß Danton einer von ihnen iſt, die Namen der
Uebrigen kenne ich nicht. Mögen ſie übrigens ſein, wer ſie
wollen, ſo verlange ich, daß ſie vor den Schranken gehört
werden. — Bürger, ich erkläre es: ich halte Danton für eben
ſo rein, wie mich ſelbſt, und ich glaube nicht, daß mir irgend
ein Vorwurf gemacht werden kann. Ich will kein Mitglied
des Wohlfahrts- oder des Sicherheits-Ausſchuſſes angreifen,
aber gegründete Urſachen laſſen mich fürchten, Privathaß und
Privatleidenſchaft möchten der Freiheit Männer entreißen,
die ihr die größten Dienſte erwieſen haben. Der Mann,
welcher im Jahre 1792 Frankreich durch ſeine Energie rettete,
verdient gehört zu werden; er muß ſich erklären dürfen, wenn
man ihn des Hochverraths anklagt.
Wir unterſtützen Legendre's Vorſchlag.
Wir ſind hier im Namen des Volkes,
man kann uns ohne den Willen unſerer Wähler nicht von
unſeren Plätzen reißen.
Eure Worte riechen nach Leichen, ihr
habt ſie den Girondiſten aus dem Munde genommen. Wollt
ihr Privilegien? Das Beil des Geſetzes ſchwebt über allen
Häuptern.
Wir können unſeren Ausſchüſſen nicht
erlauben, die Geſetzgeber aus dem Aſyl des Geſetzes auf die
Guillotine zu ſchicken.
Das Verbrechen hat kein Aſyl, nur ge-
krönte Verbrecher finden eins auf dem Throne.
Nur Spitzbuben appelliren an das Aſylrecht.
[53]
Nur Mörder erkennen es nicht an.
Die ſeit langer Zeit in dieſer Verſamm-
lung unbekannte Verwirrung beweiſt, daß es ſich um große
Dinge handelt. Heute entſcheidet ſich's, ob einige Männer
den Sieg über das Vaterland davon tragen werden. — Wie
könnt ihr eure Grundſätze weit genug verläugnen, um heute
einigen Individuen das zu bewilligen, was ihr geſtern Chabot,
Delaunai und Fabre verweigert habt? Was ſoll dieſer
Unterſchied zu Gunſten einiger Männer? Was kümmern
mich die Lobſprüche, die man ſich ſelbſt und ſeinen Freunden
ſpendet? Nur zu viele Erfahrungen haben uns gezeigt, was
davon zu halten ſei. Wir fragen nicht, ob ein Mann dieſe
oder jene patriotiſche Handlung vollbracht habe; wir fragen
nach ſeiner ganzen politiſchen Laufbahn. — Legendre ſcheint
die Namen der Verhafteten nicht zu wiſſen; der ganze Con-
vent kennt ſie. Sein Freund Lacroix iſt darunter. Warum
ſcheint Legendre das nicht zu wiſſen? Weil er wohl weiß,
daß nur die Schamloſigkeit Lacroix vertheidigen kann. Er
nannte nur Danton, weil er glaubt, an dieſen Namen knüpfe
ſich ein Privilegium. Nein, wir wollen keine Privilegien,
wir wollen keine Götzen.
Was hat Danton vor
Lafayette, vor Dumouriez, vor Briſſot, Fabre, Chabot, Hebert
voraus? Was ſagt man von dieſen, was man nicht auch
von ihm ſagen könnte? Wodurch verdient er einen Vorzug
vor ſeinen Mitbürgern? Etwa, weil einige betrogene In-
dividuen und Andere, die ſich nicht betrügen ließen, ſich um
ihn reihten, um in ſeinem Gefolge dem Glück und der Macht
in die Arme zu laufen? — Je mehr er die Patrioten be-
trogen hat, welche Vertrauen in ihn ſetzten, deſto nachdrück-
licher muß er die Strenge der Freiheitsfreunde empfinden. —
[54] Man will euch Furcht einflößen vor dem Mißbrauche einer
Gewalt, die ihr ſelbſt ausgeübt hat. Man ſchreit über den
Deſpotismus der Ausſchüſſe, als ob das Vertrauen, welches
das Volk euch geſchenkt, und das ihr dieſen Ausſchüſſen über-
tragen habt, nicht eine ſichere Garantie ihres Patriotismus
wäre. Man ſtellt ſich, als zittre man. Aber ich ſage euch,
wer in dieſem Augenblicke zittert, iſt ſchuldig, denn nie zittert
die Unſchuld vor der öffentlichen Wachſamkeit.
Beifall.)
Man hat auch mich ſchrecken wollen; man gab mir
zu verſtehen, daß die Gefahr, indem ſie ſich Danton nähere,
auch bis zu mir dringen könne. — Man ſchrieb mir, Dan-
ton's Freunde hielten mich umlagert, in der Meinung, die
Erinnerung an eine alte Verbindung, der blinde Glaube an
erheuchelte Tugenden könnten mich beſtimmen, meinen Eifer
und meine Leidenſchaften für die Freiheit zu mäßigen. —
So erkläre ich denn: nichts ſoll mich aufhalten, und ſollte
auch Danton's Gefahr die meinige werden. Wir haben alle
etwas Muth und etwas Seelengröße nöthig. Nur Verbrecher
und gemeine Seelen fürchten, Ihresgleichen an ihrer Seite
fallen zu ſehen, weil ſie, wenn keine Schaar von Mitſchul-
digen ſie mehr verſteckt, ſich dem Lichte der Wahrheit aus-
geſetzt ſehen. Aber wenn es dergleichen Seelen in dieſer
Verſammlung gibt, ſo gibt es in ihr auch heroiſche. Die
Zahl der Schurken iſt nicht groß; wir haben nur wenige
Köpfe zu treffen und das Vaterland iſt gerettet.
Ich
verlange, daß Legendre's Vorſchlag zurückgewieſen werde.
allgemeiner Beiſtimmung.)
Es ſcheint in dieſer Verſammlung einige
empfindliche Ohren zu geben, die das Wort: Blut nicht wohl
[55] vertragen können. Einige allgemeine Betrachtungen über die
Verhältniſſe der Natur und der Geſchichte mögen ſie über-
zeugen, daß wir nicht grauſamer ſind, als die Natur und
als die Zeit. Die Natur folgt ruhig und unwiderſtehlich
ihren Geſetzen; der Menſch wird vernichtet, wo er mit ihnen
in Conflict kommt. Eine Aenderung in den Beſtandtheilen
der Luft, ein Auflodern des telluriſchen Feuers, ein Schwanken
in dem Gleichgewicht einer Waſſermaſſe und eine Seuche,
ein vulkaniſcher Ausbruch, eine Ueberſchwemmung begraben
Tauſende. — Was iſt das Reſultat? Eine unbedeutende,
im großen Ganzen kaum bemerkbare Veränderung der phy-
ſiſchen Natur, die faſt ſpurlos vorüber gegangen ſein würde,
wenn nicht Leichen auf ihrem Wege lägen. — Ich frage
nun: ſoll die moraliſche Natur in ihren Revolutionen mehr
Rückſicht nehmen, als die phyſiſche? Soll eine Idee nicht
eben ſo gut wie ein Geſetz der Phyſik vernichten dürfen, was
ſich ihr widerſetzt? Soll überhaupt ein Ereigniß, das die
ganze Geſtaltung der moraliſchen Natur, das heißt der Menſch-
heit, umändert, nicht durch Blut gehen dürfen? Der Welt-
geiſt bedient ſich in der geiſtigen Sphäre unſerer Arme eben
ſo, wie er in der phyſiſchen Vulkane und Waſſerfluthen ge-
braucht. Was liegt daran, ob ſie nun an einer Seuche oder
an der Revolution ſterben? — Die Schritte der Menſchheit
ſind langſam, man kann ſie nur nach Jahrhunderten zählen,
hinter jedem erheben ſich die Gräber von Generationen. Das
Gelangen zu den einfachſten Erfindungen und Grundſätzen
hat Millionen das Leben gekoſtet, die auf dem Wege ſtarben.
Iſt es denn nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang
der Geſchichte raſcher iſt, auch mehr Menſchen außer Athem
kommen? Wir ſchließen ſchnell und einfach: da Alle unter
[56] gleichen Verhältniſſen geſchaffen worden, ſo ſind Alle gleich,
die Unterſchiede abgerechnet, welche die Natur ſelbſt gemacht
hat. — Es darf daher Jeder Vorzüge und darf daher
Keiner Vorrechte haben, weder im Einzelnen, noch eine ge-
ringere oder größere Klaſſe von Individuen. Jedes Glied
dieſes in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat ſeine
Menſchen getödtet. Der 14. Juli, der 10. Auguſt, der
31. Mai ſind ſeine Interpunktionszeichen. Er hatte vier
Jahre Zeit nöthig, um in der Körperwelt durchgeführt zu
werden, und unter gewöhnlichen Umſtänden hätte er ein
Jahrhundert dazu gebraucht, und wäre mit Generationen
interpunktirt worden. Iſt es da ſo zu verwundern, daß der
Strom der Revolution bei jedem Abſatz, bei jeder neuen
Krümmung ſeine Leichen ausſtößt? — Wir werden unſerm
Satze noch einige Schlüſſe hinzuzufügen haben; ſollen einige
hundert Leichen uns verhindern, ſie zu machen? — Moſes
führte ſein Volk durch das rothe Meer und in die Wüſte,
bis die alte verdorbene Generation ſich aufgerieben hatte,
ehe er den neuen Staat gründete. Geſetzgeber! Wir haben
weder das rothe Meer, noch die Wüſte, aber wir haben den
Krieg und die Guillotine. Die Revolution iſt wie die
Töchter des Pelias; ſie zerſtückt die Menſchheit, um ſie zu
verjüngen. Die Menſchheit wird aus dem Blutkeſſel, wie
die Erde aus den Wellen der Sündfluth, mit urkräftigen
Gliedern ſich erheben, als wäre ſie zum erſten Mal ge-
ſchaffen.
ſich im Enthuſiasmus.)
Alle geheimen Feinde der Tyrannei, welche
in Europa und auf dem ganzen Erdkreiſe den Dolch des
Brutus unter ihren Gewändern tragen, fordern wir auf,
[57] dieſen erhabenen Augenblick mit uns zu theilen.
und die Deputirten ſtimmen die Marſeillaiſe an.)
Das Luxemburg.
Chaumette, Payne, Mercier, Hérault de Séchelles und andere Gefangene.
Hören Sie, Payne,
es könnte doch ſo ſein! Vorhin überkam es mich ſo, ich
habe heute Kopfweh, helfen Sie mir ein wenig mit Ihren
Schlüſſen, es iſt mir ganz unheimlich zu Muth.
So komm, Philoſoph Anaxagoras, ich will
dich katechiſiren. — Es gibt keinen Gott, denn: ent-
weder hat Gott die Welt geſchaffen, oder nicht. Hat er ſie
nicht geſchaffen, ſo hat die Welt ihren Grund in ſich und
es gibt keinen Gott, da Gott nur dadurch Gott wird, daß
er den Grund alles Seins enthält. Nun kann aber Gott die
Welt nicht geſchaffen haben; denn entweder iſt die Schöpfung
ewig wie Gott, oder ſie hat einen Anfang. Iſt letzteres der
Fall, ſo muß Gott ſie zu einem beſtimmten Zeitpunkt ge-
ſchaffen haben. Gott muß alſo, nachdem er eine Ewigkeit
geruht, einmal thätig geworden ſein, muß alſo einmal eine
Veränderung in ſich erlitten haben, die den Begriff Zeit
auf ihn anwenden läßt, was beides gegen das Weſen Gottes
ſtreitet. Gott kann alſo die Welt nicht geſchaffen haben.
Da wir nun aber ſehr deutlich wiſſen, daß die Welt oder
daß unſer Ich wenigſtens vorhanden iſt, und daß ſie dem
[58] Vorhergehenden nach alſo auch ihren Grund in ſich oder in
etwas haben muß, das nicht Gott iſt, ſo kann es keinen
Gott geben. Quod erat demonstrandum.
Ei wahrhaftig, das gibt mir wieder Licht,
ich danke, ich danke.
Halten Sie, Payne! Wenn aber die Schöpfung
nun ewig iſt?!
Dann iſt ſie ſchon keine Schöpfung mehr,
dann iſt ſie Eins mit Gott oder ein Attribut deſſelben, wie
Spinoza ſagt, dann iſt Gott in Allem, in Ihnen, Wertheſter,
im Philoſophen Anaxagoras und in mir. Das wäre ſo
übel nicht, aber Sie müſſen mir zugeſtehen, daß es gerade
nicht viel um die himmliſche Majeſtät iſt, wenn der liebe
Herrgott in jedem von uns Zahnweh kriegen, den Ausſatz
haben, lebendig begraben werden, oder wenigſtens die ſehr
unangenehmen Vorſtellungen davon haben kann.
Aber eine Urſache muß doch da ſein?
Wer leugnet das? Aber wer ſagt Ihnen denn,
daß dieſe Urſache das ſei, was wir uns als Gott, das heißt
als das Vollkommenſte denken? Halten Sie die Welt für
vollkommen?
Nein.
Wie wollen Sie denn aus einer unvollkom-
menen Wirkung auf eine vollkommene Urſache ſchließen? —
Voltaire wagte es eben ſo wenig, es mit Gott, als mit den
Königen zu verderben, deßwegen that er es. Wer einmal
nichts hat, als Verſtand, und ihn nicht einmal conſequent
zu gebrauchen weiß oder wagt, iſt ein Stümper.
Ich frage dagegen, kann eine vollkommene
Urſache eine vollkommene Wirkung haben, das heißt, kann
[59] etwas Vollkommenes was Vollkommenes ſchaffen? — Iſt das
nicht unmöglich, weil das Geſchaffene doch nie ſeinen Grund
in ſich haben kann, was doch, wie Sie ſagten, zur Voll-
kommenheit gehört?
Schweigen Sie! Schweigen Sie!
Beruhige dich, Philoſoph. Sie haben Recht;
aber, muß denn Gott einmal ſchaffen, kann er nur was Un-
vollkommenes ſchaffen, ſo läßt er es geſcheidter ganz bleiben.
Iſt's nicht ſehr menſchlich, uns Gott nur als ſchaffend denken
zu können? Weil wir uns immer rühren und ſchütteln
müſſen, um uns nur immer ſagen zu können: wir ſind!
müſſen wir Gott auch dies elende Bedürfniß andichten? —
Müſſen wir, wenn ſich unſer Geiſt in das Weſen einer har-
moniſch in ſich ruhenden, ewigen Seligkeit verſenkt, gleich
annehmen, ſie müſſe den Finger ausſtrecken und über Tiſch
Brodmännchen kneten, — aus überſchwenglichem Liebesbedürf-
niß, wie wir uns ganz geheimnißvoll in die Ohren ſagen?
Müſſen wir das Alles, bloß um uns zu Götterſöhnen zu
machen? Ich nehme mit einem geringeren Vater vorlieb,
wenigſtens werde ich ihm nicht nachſagen können, daß er
mich unter ſeinem Stande in Schweinſtällen oder auf den
Galeeren habe erziehen laſſen. — Schafft das Unvollkommene
weg; dann allein könnt ihr Gott demonſtriren, Spinoza hat
es verſucht. Man kann das Böſe leugnen, aber nicht den
Schmerz, nur der Verſtand kann Gott beweiſen, das Gefühl
empört ſich dagegen. — Merke dir es, Anaxagoras, warum
leide ich? Das iſt der Fels des Atheismus. Das leiſeſte
Zucken des Schmerzes, und rege es ſich nur in einem Atom,
macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten.
Und die Moral?
[60]
Erſt beweiſt ihr Gott aus der Moral und
dann die Moral aus Gott. Ein ſchöner Cirkelſchluß, der
ſich ſelbſt den Hintern leckt. Was wollt ihr denn mit eurer
Moral? Ich weiß nicht, ob es an und für ſich was Böſes
oder was Gutes gibt, und habe deßwegen doch nicht nöthig,
meine Handlungsweiſe zu ändern. Ich handle meiner Natur
gemäß; was ihr angemeſſen, iſt für mich gut und ich thue
es, und was ihr zuwider, iſt für mich bös, und ich thue
es nicht und vertheidige mich dagegen, wenn es mir in den
Weg kommt. Sie können, wie man ſo ſagt, tugendhaft
bleiben und ſich gegen das ſogenannte Laſter wehren, ohne
deßwegen Ihren Gegner verachten zu müſſen, was ein gar
trauriges Gefühl iſt.
Wahr, ſehr wahr!
O Philoſoph Anaxagoras, man könnte aber
auch ſagen: damit Gott Alles ſei, müſſe er auch ſein eignes
Gegentheil ſein, das heißt vollkommen und unvollkommen,
bös und gut, ſelig und leidend; das Reſultat freilich würde
gleich Null ſein, es würde ſich gegenſeitig heben, wir kämen
zu Nichts. — Freue dich, du kommſt glücklich durch, du
kannſt ganz ruhig in Madame Momoro das Meiſterſtück der
Natur anbeten; wenigſtens hat ſie dir die Roſenkränze dazu
in den Leiſten gelaſſen.
Ich danke Ihnen verbindlichſt, meine
Herren.
Er traut noch nicht, er wird ſich zu guter
Letzt noch die Oelung geben, die Füße nach Mekka zu legen,
und ſich beſchneiden laſſen, um ja keinen Weg zu verfehlen.
[61]
Guten
Morgen! Gute Nacht! — ſollte ich ſagen. Ich kann nicht
fragen, wie haſt du geſchlafen? Wie wirſt du ſchlafen?
Nun gut, man muß lachend zu Bett gehen.
Dieſe Dogge mit Taubenflügeln!
Er iſt der böſe Genius der Revolution, er wagte ſich an
ſeine Mutter, aber ſie war ſtärker als er.
Sein Leben und ſein Tod ſind ein gleich großes
Unglück.
Ich dachte nicht, daß ſie ſo ſchnell
kommen würden.
Ich wußt' es, man hat mich gewarnt.
Und du haſt nichts geſagt?
Zu was? Ein Schlagfluß iſt der beſte Tod;
wollteſt du zuvor krank ſein? Und — ich dachte nicht, daß
ſie es wagen würden.
Es iſt beſſer, ſich in
die Erde legen, als ſich Leichdörner auf ihr laufen; ich habe
ſie lieber zum Kiſſen, als zum Schemel.
Wir werden wenigſtens nicht mit Schwielen
an den Fingern der hübſchen Dame Verweſung die Wangen
ſtreicheln.
Gib dir nur keine Mühe, du
magſt die Zunge noch ſo weit zum Hals heraushängen, du
kannſt dir damit doch nicht den Todesſchweiß von der Stirne
lecken. O Lucile! das iſt ein großer Jammer.
Was Sie für das Wohl Ihres
Landes gethan, habe ich für das meinige verſucht. Ich war
weniger glücklich, man ſchickt mich aufs Schaffot; meinetwegen,
ich werde nicht ſtolpern.
[62]
Das Blut der Zwei und zwanzig
erſäuft dich.
Die Macht des Volkes
und die Macht der Vernunft ſind eins.
Nun, Generalprokurator der
Laterne, deine Verbeſſerung der Straßenbeleuchtung hat in
Frankreich nicht heller gemacht.
Laßt ihn! das ſind die Lippen, welche
das Wort Erbarmen geſprochen.
mehrere Gefangene folgen ſeinem Beiſpiele.)
Wir ſind Prieſter, die mit Sterbenden
gebetet haben, wir ſind angeſteckt worden und ſterben an der
nämlichen Seuche.
Der Streich, der Euch trifft, tödtet
uns Alle.
Meine Herren, ich beklage ſehr, daß unſere
Anſtrengungen ſo fruchtlos waren; ich gehe aufs Schaffot,
weil mir die Augen über das Loos einiger Unglücklichen naß
geworden.
Ein Zimmer.
Alles bereit?
Es wird ſchwer halten; wäre Danton nicht
darunter, ſo ginge es leicht.
Er muß vortanzen.
Er wird die Geſchworenen erſchrecken, er iſt
die Vogelſcheuche der Revolution.
[63]
Die Geſchwornen müſſen wollen.
Ein Mittel wüßt' ich, aber es wird die
geſetzliche Form verletzen.
Nur zu.
Wir loſen nicht, ſondern ſuchen die Hand-
feſten aus.
Das muß gehen. — Das wird ein gutes
Heckenfeuer geben. Es ſind ihrer Neunzehn. Sie ſind geſchickt
zuſammengewürfelt. Die vier Fälſcher, dann einige Banquiers
und Fremde. Das iſt ein pikantes Gericht. Das Volk braucht
dergleichen. Alſo zuverläſſige Leute! Wer zum Beiſpiel?
Leroi, er iſt taub und hört daher nichts von
all' dem, was die Angeklagten vorbringen. Danton mag
ſich den Hals bei ihm rauh ſchreien.
Sehr gut; weiter!
Vilatte und Lamière, der eine ſitzt immer
in der Trinkſtube, und der andere ſchläft immer. Beide
öffnen den Mund nur, um das Wort: ſchuldig zu ſagen.
— Girard hat den Grundſatz, es dürfe Keiner entwiſchen,
der einmal vor das Tribunal geſtellt ſei. Renaudin —
Auch der? Er half einmal einigen Pfaffen
durch.
Sei ruhig, vor einigen Tagen kommt er zu
mir und verlangt, man ſolle allen Verurtheilten vor der Hin-
richtung zur Ader laſſen, um ſie ein wenig matt zu machen;
ihre meiſt trotzige Haltung ärgere ihn.
Ah, ſehr gut. Alſo ich verlaſſe mich drauf!
Laß mich nur machen.
[64]
Das Luxemburg.
Lacroix, Danton, Mercier und andere Gefangene auf- und abgehend.
Wie, ſo viel Unglück-
liche in einem ſo elenden Zuſtande?
Haben Ihnen die Guillotinen-Karren
nie geſagt, daß Paris eine Schlachtbank iſt?
Nicht wahr, Lacroix? Die Gleichheit ſchwingt
ihre Sichel über allen Häuptern, die Lava der Revolution
fließt, die Guillotine republikaniſirt! Da klatſchen die Galle-
rien, und die Römer reiben ſich die Hände; aber ſie hören
nicht, daß jedes dieſer Worte das Röcheln eines Opfers iſt.
Geht einmal Euern Phraſen nach, bis zu dem Punkte, wo
ſie verkörpert werden. Blickt um Euch, das Alles habt Ihr
geſprochen, es iſt eine mimiſche Ueberſetzung Eurer Worte.
Dieſe Elenden, ihre Henker und die Guillotine ſind Eure
lebendig gewordenen Reden. Ihr bauet Euer Syſtem, wie
Bajazet ſeine Pyramiden, aus Menſchenköpfen.
Du haſt Recht! — Man arbeitet heut zu
Tag Alles in Menſchenfleiſch. Das iſt der Fluch unſerer
Zeit. Mein Leib wird jetzt auch verbraucht. — Es iſt
gerade ein Jahr, daß ich das Revolutions-Tribunal ſchuf.
Ich bitte Gott und die Menſchen dafür um Verzeihung, ich
wollte neuen Septembermorden zuvorkommen, ich hoffte, Un-
ſchuldige zu retten, aber dieſer langſame Mord mit ſeinen
Formalitäten iſt gräßlicher und eben ſo unvermeidlich. Meine
Herren, ich hoffte, Sie Alle dieſen Ort verlaſſen zu machen.
O, herausgehen werden wir.
[65]
Ich bin jetzt bei Ihnen; der Himmel weiß,
wie das enden ſoll.
Das Revolutions-Tribunal.
Ihr Name, Bürger.
Die Revolution nennt meinen Namen. Meine
Wohnung iſt bald im Nichts und mein Name im Pantheon
der Geſchichte.
Danton, der Convent beſchuldigt Sie, mit
Mirabeau, mit Dumouriez, mit Orleans, mit den Girondiſten,
mit den Fremden und der Faction Ludwig's XVII. kon-
ſpirirt zu haben.
Meine Stimme, die ich ſo oft für die Sache
des Volkes ertönen ließ, wird ohne Mühe die Verläumdung
zurückweiſen. Die Elenden, welche mich anklagen, mögen
hier erſcheinen, und ich werde ſie mit Schande bedecken. Die
Ausſchüſſe mögen ſich hierher begeben, ich werde nur vor
ihnen antworten. Ich habe ſie als Kläger und als Zeugen
nöthig. Sie mögen ſich zeigen. — Uebrigens, was liegt
mir an Euch und Eurem Urtheil? Ich habe es Euch ſchon
geſagt: das Nichts wird bald mein Aſyl ſein; — das Leben
iſt mir zur Laſt, man mag mir es entreißen, ich ſehne mich
darnach, es abzuſchütteln.
Danton, die Kühnheit iſt dem Verbrechen,
die Ruhe der Unſchuld eigen.
Privat-Kühnheit iſt ohne Zweifel zu tadeln,
aber jene National-Kühnheit, die ich ſo oft gezeigt, mit welcher
G. Büchner's Werke. 5
[66] ich ſo oft für die Freiheit gekämpft habe, iſt die verdienſt-
vollſte aller Tugenden. — Sie iſt meine Kühnheit, ſie iſt
es, der ich mich hier zum Beſten der Republik gegen meine
erbärmlichen Ankläger bediene. Kann ich mich faſſen, wenn
ich mich auf eine ſo niedrige Art verläumdet ſehe? — Von
einem Revolutionär, wie ich, darf man keine kalte Verthei-
digung erwarten. Männer meines Schlages ſind in Revo-
lutionen unſchätzbar, auf ihrer Stirne ſchwebt das Genie
der Freiheit.
— Mich
klagt man an, mit Mirabeau, mit Dumouriez, mit Orleans
konſpirirt, zu den Füßen elender Deſpoten geſeſſen zu haben;
mich fordert man auf, vor der unentrinnbaren, unbeugſamen
Gerechtigkeit zu antworten! — Du elender St. Juſt wirſt
der Nachwelt für dieſe Läſterung verantwortlich ſein!
Ich fordere Sie auf, mit Ruhe zu ant-
worten; gedenken Sie Marat's, er trat mit Ehrfurcht vor
ſeine Richter.
Sie haben die Hände an mein ganzes Leben
gelegt, ſo mag es ſich denn aufrichten und ihnen entgegen-
treten; unter dem Gewicht jeder meiner Handlungen werde
ich ſie begraben. — Ich bin nicht ſtolz darauf. Das Schick-
ſal führt uns die Arme, aber nur gewaltige Naturen ſind
ſeine Organe. — Ich habe auf dem Marsfelde dem König-
thum den Krieg erklärt, ich habe es am 10. Auguſt ge-
ſchlagen, ich habe es am 21. Januar getödtet und den
Königen einen Königskopf als Fehdehandſchuh hingeworfen.
— Wenn ich einen Blick auf dieſe Schandſchrift werfe, fühle
ich mein ganzes Weſen beben. Wer ſind denn die, welche
Danton nöthigen mußten, ſich an jenem denkwürdigen Tage
[67]
zu zeigen? Wer ſind denn die privi-
legirten Weſen, von denen er ſeine Energie borgte? — Meine
Ankläger mögen erſcheinen! Ich bin ganz bei Sinnen, wenn
ich es verlange. Ich werde die platten Schurken entlarven
und ſie in das Nichts zurückſchleudern, aus dem ſie nie hätten
hervorkriechen ſollen.
Hören Sie die Klingel nicht?
Die Stimme eines Menſchen, welcher ſeine
Ehre und ſein Leben vertheidigt, muß deine Schelle über-
ſchreien. — Ich habe im September die junge Brut der
Revolution mit den zerſtückten Leibern der Ariſtokraten geäzt.
Meine Stimme hat aus dem Golde der Ariſtokraten und
Reichen dem Volke Waffen geſchmiedet. Meine Stimme war
der Orkan, welcher die Satelliten des Despotismus unter
Wogen von Bajonnetten begrub.
Danton, Ihre Stimme iſt erſchöpft. Sie
ſind zu heftig bewegt. Sie werden das Nächſtemal Ihre
Vertheidigung beſchließen. Sie haben Ruhe nöthig. — Die
Sitzung iſt aufgehoben.
Jetzt kennt Ihr Danton, noch wenige Stunden
— und er wird in den Armen des Ruhmes entſchlummern.
Das Luxemburg.
Dillon, Laflotte, ein Gefangenwärter.
Kerl, leuchte mir mit deiner Naſe nicht ſo
ins Geſicht. Ha, ha, ha!
5 *
[68]
Halte den Mund zu, deine Mondſichel hat
einen Hof. Ha, ha, ha, ha!
Ha, ha, ha! Glaubt Ihr, Herr, daß Ihr
bei ihrem Schein leſen könntet?
Gib her!
Herr, meine Mondſichel hat Ebbe bei mir
gemacht.
Deine Hoſen ſehen aus, als ob Fluth wäre.
Nein, ſie ziehen Waſſer.
Sie
hat ſich vor Eurer Sonne verkrochen, Herr; Ihr müßt mir
das geben, was ſie wieder feurig macht, wenn Ihr dabei
leſen wollt.
Da Kerl! Pack' dich.
Wärter ab. — Lieſt)
Danton hat das Tribunal erſchreckt, die
Geſchwornen ſchwankten, die Zuhörer murrten. Der Zudrang
war außerordentlich. Das Volk drängte ſich um den Juſtiz-
palaſt und ſtand bis zu den Bänken. Eine Hand voll Geld,
ein Arm endlich, — — hm! hm!
ſchenkt ſich von Zeit zu Zeit aus einer Flaſche ein.)
— Hätt' ich
nur den Fuß auf der Gaſſe. Ich werde mich nicht ſo
ſchlachten laſſen. Ja, nur den Fuß auf der Gaſſe!
Und auf dem Karren, das iſt eins.
Meinſt du? Da liegen noch ein Paar Schritte
dazwiſchen, lang genug, um ſie mit den Leichen der Decem-
virn zu meſſen. — — Es iſt endlich Zeit, daß die recht-
ſchaffenen Leute das Haupt erheben.
Deſto beſſer, um ſo leichter iſt es zu
treffen. Nur zu, Alter, noch einige Gläſer und ich werde
flott.
[69]
Die Schurken, die Narren, ſie werden ſich
zuletzt noch ſelbſt guillotiniren.
Man könnte das Leben ordentlich
wieder lieb haben, wie ſein Kind, wenn man ſich's ſelbſt
gegeben. Das kommt grade nicht oft vor, daß man ſo mit
dem Zufall Blutſchande treiben und ſein eigener Vater werden
kann. Vater und Kind zugleich. Ein behaglicher Oedipus!
Man füttert das Volk nicht mit Leichen;
Danton's und Camille's Weiber mögen Aſſignaten unter
das Volk werfen, das iſt beſſer als Köpfe.
Ich würde mir hintennach die
Augen nicht ausreißen; ich könnte ſie nöthig haben, um den
guten General zu beweinen.
Die Hand an Danton! — Wer iſt noch
ſicher? Die Furcht wird ſie vereinigen.
Er iſt doch verloren. Was iſt's
denn, wenn ich auf eine Leiche trete, um aus dem Grabe
zu klettern?
Nur den Fuß auf der Gaſſe! Ich werde Leute
genug finden, alte Soldaten, Girondiſten, Ex-Adelige; wir
erbrechen die Gefängniſſe, wir müſſen uns mit den Gefangenen
verſtändigen.
Nun freilich, es riecht ein wenig
nach Schurkerei. Was thut's? Ich hätte Luſt, auch das
zu verſuchen; ich war bisher zu einſeitig. Man bekommt
Gewiſſensbiſſe, das iſt doch eine Abwechslung; es iſt nicht
ſo unangenehm, ſeinen eigenen Geſtank zu riechen. — Die
Ausſicht auf die Guillotine iſt mir langweilig geworden;
ſo lange auf die Sache zu warten! Ich habe ſie im Geiſte
[70] ſchon zwanzigmal durchprobirt. Es iſt auch gar nichts
Pikantes mehr daran, es iſt ganz gemein geworden.
Man muß Danton's Frau ein Billet zu-
kommen laſſen.
Und dann — ich fürchte den Tod
nicht, aber den Schmerz. — Es könnte wehe thun, wer ſteht
mir dafür? Man ſagt zwar, es ſei nur ein Augenblick; aber
der Schmerz hat ein feineres Zeitmaaß, er zerlegt eine Tertie.
Nein! Der Schmerz iſt die einzige Sünde, und das Leiden
iſt das einzige Laſter; ich werde tugendhaft bleiben.
Höre, Laflotte, wo iſt der Kerl hingekommen?
Ich habe Geld, das muß gehen; wir müſſen das Eiſen
ſchmieden, mein Plan iſt fertig.
Gleich, Gleich! ich kenne den Schließer, ich
werde mit ihm ſprechen, du kannſt auf mich zählen, General.
Wir werden aus dem Loche kommen
,
um in ein anderes zu gehen, ich in das weiteſte, die Welt,
— er in das engſte, das Grab.
Der Wohlfahrts-Ausſchuß.
Was ſchreibt Fouquier?
Das zweite Verhör iſt vorbei. Die Ge-
fangenen verlangen das Erſcheinen mehrerer Mitglieder des
Convents und des Wohlfahrts-Ausſchuſſes, ſie appelliren an
das Volk wegen Verweigerung der Zeugen. Die Bewegung
der Gemüther ſoll unbeſchreiblich ſein. — Danton parodirte
den Jupiter und ſchüttelte die Locken.
[71]
Um ſo leichter wird ihn Samſon daran packen.
Wir dürfen uns nicht zeigen, die Fiſchweiber
und die Lumpenſammler könnten uns weniger impoſant finden.
Das Volk hat einen Inſtinct, ſich treten zu
laſſen, und wäre es nur mit Blicken; dergleichen inſolente
Phyſiognomieen gefallen ihm. Solche Mienen ſind ärger,
als ein adeliges Wappen; der feine Ariſtokratismus der
Menſchenverachtung ſitzt auf ihnen, es ſollte ſie jeder ein-
ſchlagen helfen, den es verdrießt, einen Blick von oben her-
unter zu erhalten.
Er iſt wie der hörnerne Siegfried, das Blut
der Septembriſirten hat ihn unverwundbar gemacht. — Was
ſagt Robespierre?
Er thut, als ob er etwas zu ſagen hätte.
Die Geſchwornen müſſen ſich für hinlänglich unterrichtet er-
klären und die Debatten ſchließen.
Unmöglich, das geht nicht.
Sie müſſen weg, um jeden Preis, und
ſollten wir ſie mit den eignen Händen erwürgen. Wagt! —
Danton ſoll uns das Wort nicht umſonſt gelehrt haben.
Die Revolution wird über ihre Leichen nicht ſtolpern, aber
bleibt Danton am Leben, ſo wird er ſie am Gewand faſſen,
und er hat etwas in ſeiner Geſtalt, als ob er die Freiheit
nothzüchtigen könnte.
In St. Pelagie liegen Gefangene am
Sterben, ſie verlangen einen Arzt.
Das iſt unnöthig, ſo viel Mühe weniger für
den Scharfrichter.
Es ſind ſchwangere Weiber dabei.
[72]
Deſto beſſer, da brauchen ihre Kinder keinen
Sarg.
Die Schwindſucht eines Ariſtokraten ſpart
dem Revolutions-Tribunal eine Sitzung. Jede Arznei wäre
contrerevolutionär.
Eine Bittſchrift! ein Weiber-
name!
Wohl eine von denen, die gezwungen ſein
möchten, zwiſchen einem Guillotinenbrett und dem Bett eines
Jacobiners zu wählen. Die, wie Lucretia, nach dem Verluſt
ihrer Ehre ſterben, aber etwas ſpäter als die Römerin —
im Kindbett oder aus Altersſchwäche. — Es mag nicht ſo
unangenehm ſein, einen Tarquinius aus der Tugendrepublik
einer Jungfrau zu treiben.
Sie iſt zu alt. Madame verlangt den Tod,
ſie weiß ſich auszudrücken, das Gefängniß liegt auf ihr wie
ein Sargdeckel. Sie ſitzt erſt ſeit vier Wochen. Die Ant-
wort iſt leicht.
"Bürgerin, es iſt
noch nicht lange genug, daß du den Tod wünſcheſt".
Gut geſagt! Aber Collot, es iſt nicht gut,
daß die Guillotine zu lachen anfängt; die Leute haben ſonſt
keine Furcht mehr davor, man muß ſich nicht ſo familiär
machen.
Eben erhalte ich eine Denunciation. Man
conſpirirt in den Gefängniſſen; ein junger Menſch, Namens
Laflotte, hat Alles entdeckt. Er ſaß mit Dillon im näm-
lichen Zimmer. Dillon hat getrunken und geplaudert.
Er ſchneidet ſich mit ſeiner Bouteille den
Hals ab; das iſt ſchon mehr vorgekommen.
[73]
Danton's und Camille's Weiber ſollen
Geld unter das Volk werfen, Dillon ſoll ausbrechen, man will
die Gefangenen befreien, der Convent ſoll geſprengt werden.
Das ſind Mährchen.
Wir werden ſie aber mit dem Mährchen in
Schlaf erzählen. Die Anzeige habe ich in Händen, dazu die
Keckheit der Angeklagten, das Murren des Volkes, die Be-
ſtürzung der Geſchwornen; ich werde einen Bericht machen.
Ja, geh, St. Juſt, und ſpinne deine Perio-
den, worin jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt
ein abgeſchlagener Kopf iſt.
Der Convent muß dekretiren, das Tribunal
ſolle ohne Unterbrechung den Proceß fortführen, und dürfe
jeden Angeklagten, welcher die dem Gerichte ſchuldige Achtung
verletze oder ſtörende Auftritte veranlaſſe, von den Debatten
ausſchließen.
Du haſt einen revolutionären Inſtinct, das
lautet ganz gemäßigt und wird doch ſeine Wirkung thun.
Sie können nicht ſchweigen, Danton muß ſchreien.
Ich zähle auf Eure Unterſtützung. Es gibt
Leute im Convent, die eben ſo krank ſind wie Danton, und
welche die nämliche Kur fürchten. Sie haben wieder Muth
bekommen, ſie werden über Verletzung der Formen ſchreien.
Ich werde ihnen ſagen:
Zu Rom wurde der Conſul, welcher die Verſchwörung des
Catilina entdeckte und die Verbrecher auf der Stelle mit dem
Tode beſtrafte, der verletzten Förmlichkeit angeklagt. Wer
waren ſeine Ankläger?
Geh', St. Juſt, die Lava der
Revolution fließt. Die Freiheit wird die Schwächlinge,
[74] welche ihren mächtigen Schooß befruchten wollten, in ihren
Umarmungen erſticken, die Majeſtät des Volkes wird ihnen,
wie Jupiter der Semele, unter Donner und Blitz erſcheinen
und ſie in Aſche verwandeln. Geh', St. Juſt, wir werden
dir helfen, der Donnerkeil muß die Häupter der Feiglinge
zerſchleudern.
Haſt du das Wort Kur gehört? Sie werden
noch aus der Guillotine ein Specificum gegen die Luſtſeuche
machen. Sie kämpfen nicht mit den Moderirten, ſie kämpfen
mit dem Laſter.
Bis jetzt geht unſer Weg zuſammen.
Robespierre will aus der Revolution einen
Hörſaal für Moral machen und die Guillotine als Katheder
gebrauchen.
Oder als Betſchemel.
Auf dem er aber alsdann nicht ſtehen, ſondern
liegen ſoll.
Das wird leicht gehen. Die Welt müßte
auf dem Kopfe ſtehen, wenn die ſogenannten Spitzbuben von
den ſogenannten rechtlichen Leuten gehängt werden ſollten.
Wann kommſt du wieder nach
Clichy?
Wenn der Arzt nicht mehr zu mir kommt.
Nicht wahr, über dem Ort ſteht ein Stern,
unter deſſen verſengenden Strahlen dein Rückenmark ganz
ausgedörrt wird?
Nächſtens werden die niedlichen Finger der
reizenden Demaly es ihm aus dem Futterale ziehen und
als Zöpfchen über den Rücken hinunterhängen machen.
[75]
Pſt! davon darf der Tugend-
hafte nichts wiſſen.
Er iſt ein impotenter Maſonet.
Du Ungeheuer! — "Es iſt noch
nicht lange genug, daß du den Tod wünſcheſt!" Dieſe Worte
hätten die Zunge müſſen verdorren machen, die ſie geſprochen.
— Und ich? — Als die Septembriſeurs in die Gefängniſſe
drangen, faßt ein Gefangener ſein Meſſer, er drängt ſich
unter die Mörder, er ſtößt es in die Bruſt eines Prieſters,
er iſt gerettet! — Wer kann was dawider haben? — Ob
ich nun unter die Mörder dränge, oder mich in den Wohl-
fahrts-Ausſchuß ſetze, ob ich ein Guillotinen- oder ein Taſchen-
meſſer nehme? Es iſt der nämliche Fall, nur mit etwas
verwickelteren Umſtänden, die Grundverhältniſſe ſind ſich gleich.
— Und durft' er Einen morden, durft' er auch Zwei, auch
Drei, auch noch mehr? wo hört das auf? da kommen die
Gerſtenkörner, machen zwei einen Haufen, drei, vier, wie
viel dann? Komm, mein Gewiſſen, komm, mein Hühnchen,
bi! bi! bi! komm, da iſt Futter. — Doch — war ich
auch Gefangener? Verdächtig war ich, das läuft auf Eins
hinaus, der Tod war mir gewiß. Komm, mein Gewiſſen,
wir vertragen uns noch ganz gut!
Die Conciergerie.
Du haſt gut geſchrieen, Danton; hätteſt du
dich früher ſo um dein Leben gequält, es wäre jetzt anders.
[76] Nicht wahr, wenn der Tod Einem ſo unverſchämt nahe
kommt und ſo aus dem Halſe ſtinkt und immer zudring-
licher wird?
Wenn er Einen noch nothzüchtigte und ſeinen
Raub unter Ringen und Kampf aus den heißen Gliedern
riß! aber ſo in allen Formalitäten, wie bei der Hoch-
zeit mit einem alten Weibe, wie die Pakten aufgeſetzt,
wie die Zeugen gerufen, wie das Amen geſagt, und wie
dann die Bettdecke gehoben wird und es langſam herein-
kriecht mit ſeinen kalten Gliedern!
Wär' es ein Kampf, daß die Arme und
Zähne einander packten! aber es iſt mir, als wäre ich in
ein Mühlwerk gefallen, und die Glieder würden mir lang-
ſam ſyſtematiſch von der kalten phyſiſchen Gewalt abgedreht.
So mechaniſch getödtet zu werden!
Und dann da liegen, allein, kalt, ſteif in dem
feuchten Dunſt der Fäulniß! Vielleicht, daß Einem der Tod
das Leben langſam aus den Fibern martert, mit Bewußtſein
vielleicht, ſich wegzufaulen!
Seid ruhig, meine Freunde. Wir ſind
wie die Herbſtzeitloſe, welche erſt nach dem Winter Samen
trägt. Von Blumen, die verſetzt werden, unterſcheiden wir
uns nur dadurch, daß wir über dem Verſuch ein wenig
ſtinken. Iſt das ſo arg?
Eine erbauliche Ausſicht! Von einem Miſt-
haufen auf den andern. Nicht wahr, die göttliche Klaſſen-
Theorie? Von Prima nach Secunda, von Secunda nach
Tertia und ſo weiter? Ich habe die Schulbänke ſatt, ich
habe mir Geſäßſchwielen wie ein Affe darauf geſeſſen.
Was willſt du denn?
[77]
Ruhe.
Die iſt in Gott.
Im Nichts: Verſenke dich in was Ruhigeres,
als in das Nichts, und wenn die höchſte Ruhe Gott iſt, iſt
nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheiſt; der ver-
fluchte Satz! Etwas kann nicht zu Nichts werden! und ich
bin Etwas, das iſt der Jammer! — Die Schöpfung hat
ſich ſo breit gemacht, da iſt nichts leer. Alles voll Ge-
wimmels. Das Nichts hat ſich ermordet, die Schöpfung iſt
ſeine Wunde, wir ſind ſeine Blutstropfen, die Welt iſt das
Grab, worin es fault. — Das lautet verrückt, es iſt aber
doch was Wahres daran.
Die Welt iſt der ewige Jude, das Nichts iſt
der Tod, aber er iſt unmöglich. O! nicht ſterben können,
nicht ſterben können! wie es im Liede heißt.
Wir ſind Alle lebendig begraben, und wie
Könige in drei- oder vierfachen Särgen beigeſetzt, unter dem
Himmel, in unſeren Häuſern, in unſeren Röcken und Hemden.
— Wir kratzen fünfzig Jahre lang am Sargdeckel. Ja,
wer an Vernichtung glauben könnte! dem wäre geholfen. —
Da iſt keine Hoffnung im Tod; er iſt nur eine einfachere,
das Leben eine verwickeltere, organiſirtere Fäulniß, — das
iſt der ganze Unterſchied! — Aber ich bin gerad' einmal
an dieſe Art des Faulens gewöhnt, der Teufel weiß, wie
ich mit einer andern zurecht komme. — O Julie! Wenn
ich allein ginge! — Wenn ſie mich einſam ließe! — Und
wenn ich ganz zerfiele, mich ganz auflöſte — ich wäre eine
Handvoll gemarterten Staubes, jedes meiner Atome könnte
nur Ruhe finden bei ihr. — Ich kann nicht ſterben, nein,
ich kann nicht ſterben. Wir ſind noch nicht geſchlagen.
[78] Wir müſſen ſchreien, ſie müſſen mir jeden Lebenstropfen
aus den Gliedern reißen.
Wir müſſen auf unſerer Forderung beſtehen,
unſere Ankläger und die Ausſchüſſe müſſen vor dem Tribunal
erſcheinen.
Ein Zimmer.
Ich weiß nicht mehr, was ich antworten
ſoll; ſie fordern eine Commiſſion.
Wir haben die Schurken — da haſt du, was du
verlangſt.
Das wird ſie zufrieden ſtellen.
Wahrhaftig, das hatten wir nöthig.
Nun raſch, daß wir und ſie die Sache vom
Hals bekommen.
Das Revolutions-Tribunal.
Die Republik iſt in Gefahr, und er hat
keine Inſtruction! Wir appelliren an das Volk, meine
Stimme iſt noch ſtark genug, um den Decemvirn die Leichen-
rede zu halten. — Ich wiederhole es, wir verlangen eine
Commiſſion, wir haben wichtige Entdeckungen zu machen.
Ich werde mich in die Citadelle der Vernunft zurückziehen,
[79] ich werde mit der Kanone der Wahrheit hervorbrechen und
meine Feinde zermalmen.
Ruhe, im Namen der Republik, Achtung
dem Geſetze! Der Convent beſchließt: In Betracht, daß
in den Gefängniſſen ſich Spuren von Meutereien zeigen, in
Betracht, daß Danton's und Camille's Weiber Geld unter
das Volk werfen und daß der General Dillon ausbrechen
und ſich an die Spitze der Empörer ſtellen ſoll, um die
Angeklagten zu befreien; in Betracht endlich, daß Dieſe ſelbſt
unruhige Auftritte herbei zu führen ſich bemüht und das
Tribunal zu beleidigen verſucht haben, wird das Tribunal
ermächtigt, die Unterſuchung ohne Unterbrechung fortzuſetzen
und jeden Angeklagten, der die dem Geſetze ſchuldige Ehr-
furcht außer Augen ſetzen ſollte, von den Debatten auszu-
ſchließen.
Ich frage die Anweſenden, ob wir dem Tri-
bunal, dem Volk, oder dem National-Convent Hohn ge-
ſprochen haben?
Nein! Nein!
Die Elenden, ſie wollen meine Lucile morden!
Eines Tages wird man die Wahrheit er-
kennen. Ich ſehe großes Unglück über Frankreich herein-
brechen. Das iſt die Dictatur; ſie hat ihren Schleier zer-
riſſen, ſie trägt die Stirne hoch, ſie ſchreitet über unſere
Leichen.
Seht da die feigen
Mörder, ſeht da die Raben des Wohlfahrts-Ausſchuſſes! Ich
klage Robespierre, St. Juſt und ihre Henker des Hochver-
raths an. Sie wollen die Republik im Blut erſticken. Die
Gleiſe der Guillotinen-Karren ſind die Heerſtraßen, in
[80] welchen die Fremden in das Herz des Vaterlandes dringen
ſollen. — Wie lange ſollen die Fußtapfen der Freiheit
Gräber ſein? — Ihr wollt Brod und ſie werfen euch Köpfe
hin. Ihr dürſtet und ſie machen euch das Blut von den
Stufen der Guillotine lecken.
hörern, Geſchrei des Beifalls, viele Stimmen: es lebe Danton,
nieder mit den Decemvirn! — Die Gefangenen werden mit Gewalt
hinausgeführt.)
Platz vor dem Juſtiz-Palaſte.
Nieder mit den Decemvirn! Es
lebe Danton!
Ja, das iſt wahr, Köpfe ſtatt Brod,
Blut ſtatt Wein!
Die Guillotine iſt eine ſchlechte Mühle
und Samſon ein ſchlechter Bäckerknecht; wir wollen Brod,
Brod!
Euer Brod — das hat Danton ge-
freſſen! Sein Kopf wird euch Allen Brod geben; er
hatte Recht.
Danton war unter uns am 10.
Auguſt, Danton war unter uns im September. Wo waren
die Leute, die ihn angeklagt haben?
Und Lafayette war mit euch in
Verſailles und war doch ein Verräther.
Wer ſagt, daß Danton ein Ver-
räther ſei?
[81]
Robespierre.
Und Robespierre iſt ein Verräther.
Wer ſagt das?
Danton.
Danton hat ſchöne Kleider, Danton
hat ein ſchönes Haus, Danton hat eine ſchöne Frau, er badet
ſich in Burgunder, ißt das Wildpret von ſilbernen Tellern
und ſchläft bei euren Weibern und Töchtern, wenn er be-
trunken iſt. — Danton war arm, wie ihr. Woher hat er
das Alles? — Das Veto hat es ihm gekauft, damit er ihm
die Krone rette. — Der Herzog von Orleans hat es ihm
geſchenkt, damit er ihm die Krone ſtehle. — Der Fremde
hat es ihm gegeben, damit er euch Alle verrathe. Was hat
Robespierre? Der tugendhafte Robespierre! Ihr kennt
ihn Alle.
Es lebe Robespierre! Nieder mit Danton!
Nieder mit dem Verräther.
Dritter Akt.
Ein Zimmer.
Es iſt aus. Sie zitterten vor ihm. Sie tödten
ihn aus Furcht. Geh'! ich habe ihn zum letzten Mal ge-
G. Büchner's Werke. 6
[82] ſehen; ſag' ihm, ich könne ihn nicht ſo ſehen.
eine Locke.)
Da, bring' ihm das — und ſag' ihm, er würde
nicht allein gehn. Er verſteht mich ſchon, und dann ſchnell
zurück, ich will ſeine Blicke aus deinen Augen leſen.
Eine Straße.
Wie kann man nach einem ſolchen Verhör ſo
viel Unſchuldige zum Tode verurtheilen?
Das iſt in der That außerordentlich, aber die
Revolutionsmänner haben einen Sinn, der anderen Menſchen
fehlt, und dieſer Sinn trügt ſie nie.
Das iſt der Sinn des Tigers. — Du haſt
ein Weib.
Ich werde bald eins gehabt haben.
So iſt es denn wahr?
Das Revolutions-Tribunal wird unſere Ehe-
ſcheidung ausſprechen; die Guillotine wird uns von Tiſch und
Bett trennen.
Du biſt ein Ungeheuer.
Schwachkopf! du bewunderſt Brutus.
Von ganzer Seele.
Muß man denn gerade römiſcher Conſul ſein
und ſein Haupt mit der Toga verhüllen können, um ſein
Liebſtes dem Vaterlande zu opfern? Ich werde mir die Augen
mit dem Aermel meines rothen Fracks abwiſchen; das iſt
der ganze Unterſchied.
[83]
Das iſt entſetzlich!
Geh', du begreifſt mich nicht!
Die Conciergerie.
Die Haare wachſen Einem ſo und die Nägel,
man muß ſich wirklich ſchämen.
Nehmen Sie ſich ein wenig in Acht, Sie
nießen mir das ganze Geſicht voll Sand.
Und treten Sie mir nicht ſo auf die Füße,
Beſter, ich habe Hühneraugen.
Sie leiden noch an Ungeziefer.
Ach, wenn ich nur einmal die Würmer ganz
los wäre.
Nun, ſchlafen Sie wohl, wir müſſen ſehen,
wie wir mit einander zurecht kommen, wir haben wenig
Raum. — Kratzen Sie mich nicht mit Ihren Nägeln im
Schlaf! — So! zerren Sie nicht ſo am Leintuch, es iſt kalt
da unten.
Ja, Camille, morgen ſind wir durchgelaufene
Schuhe, die man der Bettlerin Erde in den Schooß wirft.
Das Rindsleder, woraus nach Platon die
Engel ſich Pantoffel geſchnitten und damit auf der Erde herum-
tappen. Es geht aber auch darnach. — Meine Lucile!
Sei ruhig, mein Junge.
Kann ich's? Glaubſt du, Danton?! Kann
ich's? Sie können die Hände nicht an ſie legen, das Licht
6 *
[84] der Schönheit, das von ihrem ſüßen Leibe ſich ausgießt, iſt
unlöſchbar. Siehe, die Erde würde nicht wagen, ſie zu ver-
ſchütten, ſie würde ſich um ſie wölben, der Grabdunſt würde
wie Thau an ihren Wimpern funkeln, Kryſtalle würden wie
Blumen um ihre Glieder ſprießen und helle Quellen in
Schlaf ſie murmeln.
Schlafe, mein Junge, ſchlafe.
Höre, Danton, unter uns geſagt, es iſt ſo
elend, ſterben zu müſſen. Es hilft auch zu nichts. Ich will
dem Leben noch die letzten Blicke aus ſeinen hübſchen Augen
ſtehlen, ich will die Augen offen haben.
Du wirſt ſie ohnehin offen behalten. Samſon
drückt einem die Augen nicht zu. Der Schlaf iſt barmherziger.
Schlafe, mein Junge, ſchlafe.
Lucile, deine Küſſe phantaſiren auf meinen
Lippen, jeder Kuß wird ein Traum, meine Augen ſinken und
ſchließen ihn feſt ein.
Will denn die Uhr nicht ruhen? Mit jedem
Picken ſchiebt ſie die Wände enger um mich, bis ſie ſo eng
ſind, wie ein Sarg. — Ich las einmal als Kind ſo eine
Geſchichte, die Haare ſtanden mir zu Berg. — Ja, als Kind!
das war der Mühe werth, mich ſo groß zu füttern und mich
warm zu halten. Blos Arbeit für den Todtengräber! —
Es iſt mir, als röch' ich ſchon. Mein lieber Leib, ich will
mir die Naſe zuhalten und mir einbilden, du ſeiſt ein Frauen-
zimmer, das vom Tanzen ſchwitzt und ſtinkt, und dir Artig-
keiten ſagen. Wir haben uns ſonſt ſchon mehr mit einander
die Zeit vertrieben. — Morgen biſt du eine zerbrochene
Fiedel, die Melodie darauf iſt ausgeſpielt. Morgen biſt du
eine leere Flaſche, der Wein iſt ausgetrunken, aber ich habe
[85] keinen Rauſch davon und gehe nüchtern zu Bett. Das ſind
glückliche Leute, die ſich noch betrinken können. Morgen biſt
du eine durchgerutſchte Hoſe, du wirſt in die Garderobe ge-
worfen, und die Motten werden dich freſſen, du mögeſt
ſtinken, wie du willſt. — Ach, das hilft nichts. Ja wohl,
es iſt ſo elend, ſterben müſſen. Der Tod äfft die Geburt;
beim Sterben ſind wir ſo hilflos und nackt, wie neugeborne
Kinder. Freilich, wir bekommen das Leichentuch zur Windel.
Was wird es helfen? Wir können im Grabe ſo gut wim-
mern, wie in der Wiege. Camille! Er ſchläft
über ihn bückt)
, ein Traum ſpielt zwiſchen ſeinen Wimpern.
Ich will den goldenen Thau des Schlafes ihm nicht von den
Augen ſtreifen.
Ich
werde nicht allein gehn, ich danke dir, Julie. — Doch hätte
ich anders ſterben mögen, ſo ganz mühelos, ſo wie ein Stern
fällt, wie ein Ton ſich ſelbſt aushaucht, ſich mit den eigenen
Lippen todt küßt, wie ein Lichtſtrahl in klaren Fluthen ſich
begräbt. — Wie ſchimmernde Thränen ſind die Sterne durch
die Nacht geſprengt, es muß ein großer Jammer in dem
Auge ſein, von dem ſie abträufelten.
O!
Decke.)
Was haſt du, Camille?
O, o!
Willſt du die Decke herunter-
kratzen?
Ach du, du, o halt mich, ſprich, du!
Du bebſt an allen Gliedern, der Schweiß
ſteht dir auf der Stirne.
Das biſt du, das ich; ſo — das iſt meine
[86] Hand! ja, jetzt beſinn' ich mich. O Danton, das war ent-
ſetzlich.
Was denn?
Ich lag ſo zwiſchen Traum und Wachen.
Da ſchwand die Decke und der Mond ſank herein, ganz
nahe, ganz dicht, mein Arm erfaßt' ihn. Die Himmelsdecke
mit ihren Lichtern hatte ſich geſenkt, ich ſtieß daran, ich be-
taſtete die Sterne, ich taumelte wie ein Ertrinkender unter
der Eisdecke. Das war entſetzlich, Danton.
Die Lampe wirft einen runden Schein an
die Decke, das ſahſt du.
Meinetwegen, es braucht gerade nicht viel,
um Einem das bischen Verſtand verlieren zu machen. Der
Wahnſinn faßt mich bei den Haaren.
Ich
mag nicht mehr ſchlafen, ich mag nicht verrückt werden.
greift nach einem Buch.)
Was nimmſt du?
Die Nachtgedanken.
Willſt du zum voraus ſterben? Ich nehme
die Pucelle. Ich will mich aus dem Leben nicht wie aus
dem Betſtuhl, ſondern wie aus dem Bett einer barmherzigen
Schweſter wegſchleichen. Es iſt eine feile Dirne; es treibt
mit der ganzen Welt Unzucht.
[87]
Platz vor der Conciergerie.
Wer hat Euch herfahren geheißen?
Ich heiße nicht Herfahren, das iſt
ein kurioſer Name.
Dummkopf, wer hat dir die Beſtallung
dazu gegeben?
Ich habe keine Stallung dazu ge-
kriegt, nichts als zehn Sous für den Kopf.
Der Schuft will mich um's Brod
bringen.
Was nennſt du dein Brod? —
Das iſt Wurmfraß.
Kleine Kinder ſind auch Würmer,
und die wollen auch ihr Theil davon. O, es geht ſchlecht
mit unſerem Metier, und doch ſind wir die beſten Fuhrleute.
Wie das?
Wer iſt der beſte Fuhrmann?
Der am weiteſten und am ſchnell-
ſten fährt.
Nun, wer fährt weiter, als der
aus der Welt fährt, und wer fährt ſchneller, als der's in
einer Viertelſtunde thut? — Genau gemeſſen iſt's eine Viertel-
ſtunde von da bis zum Revolutionsplatz.
Raſch, ihr Schlingel! Näher an's Thor;
Platz da, ihr Mädel!
Haltet Euren Platz! Um Mädel
fährt man nicht herum, ſondern immer mitten hinein.
[88]
Ha! das glaub' ich, du kannſt
mit Karren und Gäulen hinein, du findeſt gute Geleiſe, aber
du mußt Quarantaine halten, wenn du herauskommſt!
Wir warten auf alte Kunden.
Meint ihr, mein Karren wär' ein
Bordell? Er iſt ein anſtändiger Karren, er hat den König
und alle vornehmen Herren aus Paris zur Tafel gefahren.
Fenſter der Gefangenen).
Camille, Camille!
am Fenſter.)
— Höre, Camille, du machſt mich lachen mit
dem langen Steinrock und der eiſernen Maske vor dem Ge-
ſicht, kannſt du dich nicht bücken? Wo ſind deine Arme?
— Ich will dich locken, lieber Vogel
Komm, komm, mein Freund! leiſe die Treppe herauf, ſie
ſchlafen Alle. Der Mond hilft mir ſchon lange warten.
Aber du kannſt nicht zum Thore herein, das iſt eine un-
leidliche Tracht. Das iſt zu arg für den Spaß, mach' ein
Ende. Du rührſt dich auch gar nicht, warum ſprichſt du
nicht? Du machſt mir Angſt. — Höre! die Leute ſagen,
du müßteſt ſterben, und machen dazu ſo ernſthafte Geſichter.
— Sterben! ich muß lachen über die Geſichter. Sterben!
Was iſt das für ein Wort? Sag' mir es, Camille. Sterben!
Ich will nachdenken. Da, da iſt's. Ich will ihm nach-
laufen, komm, ſüßer Freund, hilf mir fangen, komm! komm!
Lucile! Lucile!
[89]
Die Conciergerie.
Camille, Philippeau, Lacroix, Hérault.
Du biſt jetzt ruhig, Fabre.
Am Sterben.
Weißt du auch, was wir jetzt machen werden?
Nun?
Was du dein ganzes Leben hindurch gemacht
haſt — des vers.
Der Wahnſinn ſaß hinter ihren
Augen. Es ſind ſchon mehr Leute wahnſinnig geworden,
das iſt der Lauf der Welt. Was können wir dazu? Wir
waſchen unſere Hände. Es iſt auch beſſer ſo.
Ich laſſe Alles in einer ſchrecklichen Ver-
wirrung. Keiner verſteht das Regieren. Es könnte vielleicht
noch gehn, wenn ich Robespierre meine Huren und Couthon
meine Waden hinterließe.
Wir hätten die Freiheit zur Hure gemacht!
Was wär' es auch! Die Freiheit und eine
Hure ſind die kosmopolitiſchſten Dinge unter der Sonne.
Sie wird ſich jetzt anſtändig im Ehebett des Advokaten von
Arras proſtituiren. Aber ich denke, ſie wird die Clytemneſtra
gegen ihn ſpielen; ich laſſe ihm keine ſechs Monate Friſt,
ich ziehe ihn mit mir.
Der Himmel verhelf' ihr zu einer
behaglichen fixen Idee. Die allgemeinen fixen Ideen, welche
man die geſunde Vernunft tauft, ſind unerträglich langweilig.
Der glücklichſte Menſch war der, welcher ſich einbilden konnte,
daß er Gott Vater, Sohn und heiliger Geiſt ſei.
[90]
Die Eſel werden ſchreien: es lebe die Repu-
blik, wenn wir vorbeigehen.
Was liegt daran? Die Sündfluth der Revo-
lution mag unſere Leichen abſetzen, wo ſie will, mit unſern
foſſilen Knochen wird man noch immer allen Königen die
Schädel einſchlagen können.
Ja, wenn ſich gerade ein Simſon für unſere
Kinnbacken findet.
Sie ſind Kainsbrüder.
Nichts beweiſt mehr, daß Robespierre ein
Nero iſt, als der Umſtand, daß er gegen Camille nie freund-
licher war, als zwei Tage vor deſſen Verhaftung. Iſt es
es nicht ſo, Camille?
Meinetwegen, was geht das mich an? —
Was ſie aus dem Wahnſinn für ein reizendes Ding
gemacht hat. Warum muß ich jetzt fort? Wir hätten zu-
ſammen mit ihm gelacht, es gewiegt und geküßt.
Wenn einmal die Geſchichte ihre Grüfte
öffnet, kann der Despotismus noch immer an dem Duft
unſerer Leichen erſticken.
Wir ſtanken bei Lebzeiten ſchon hinlänglich.
Das ſind Phraſen für die Nachwelt; nicht wahr, Danton,
uns gehen ſie eigentlich nichts an.
Er zieht ein Geſicht, als ſolle er verſteinern
und von der Nachwelt als Antike ausgegraben werden. —
Das verlohnt ſich auch der Mühe, Mäulchen zu machen und
Roth aufzulegen und mit einem guten Accent zu ſprechen;
wir ſollten einmal die Masken abnehmen, wir ſähen dann,
wie in einem Zimmer mit Spiegeln, überall nur den einen
uralten, zahnloſen, unverwüſtlichen Schafskopf, nichts mehr,
[91] nichts weniger. Die Unterſchiede ſind ſo groß nicht, wir
Alle ſind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genie's,
und zwar das Alles in Einem; die vier Dinge finden Platz
genug in dem nämlichen Körper, ſie ſind nicht ſo breit, als
man ſich einbildet. Schlafen, Verdauen, Kinder machen —
das treiben Alle; die übrigen Dinge ſind nur Variationen
aus verſchiedenen Tonarten über das nämliche Thema. Da
braucht man ſich auf die Zehen zu ſtellen und Geſichter zu
ſchneiden, da braucht man ſich vor einander zu geniren!
Wir haben uns Alle am nämlichen Tiſche krank gegeſſen
und haben Leibgrimmen, was haltet ihr euch die Servietten
vor das Geſicht? Schreit nur und greint, wie es euch an-
kommt. Schneidet nur keine ſo tugendhaften und ſo witzigen
und ſo heroiſchen und ſo genialen Grimaſſen, wir kennen
uns ja einander, ſpart euch die Mühe.
Ja, Camille, wir wollen uns bei einander
ſetzen und ſchreien; nichts dummer, als die Lippen zuſammen zu
preſſen, wenn Einem was weh thut. — Griechen und Götter
ſchrieen, Römer und Stoiker machten die heroiſche Fratze.
Die einen waren ſo gut Epikuräer, wie die
andern. Sie machten ſich ein ganz behagliches Selbſtgefühl
zurecht. Es iſt nicht ſo übel, ſeine Toga zu drapiren und
ſich umzuſehen, ob man einen langen Schatten wirft. Was
ſollen wir uns zieren? Ob wir uns nun Lorbeerblätter,
Roſenkränze oder Weinlaub vorbinden oder uns nackt tragen?
Meine Freunde, man braucht gerade nicht
hoch über der Erde zu ſtehen, um von all dem wirren
Schwanken und Flimmern nichts mehr zu ſehen und die
Augen nur von einigen großen, göttlichen Linien erfüllt zu
haben. Es gibt ein Ohr, für welches das Ineinander-
[92] ſchreien und der Zeter, die uns betäuben, ein Strom von
Harmonien ſind.
Aber wir ſind die armen Muſikanten und
unſere Körper die Inſtrumente. Sind denn die häßlichen
Töne, welche auf ihnen herausgepfuſcht werden, nur da, um
höher und höher dringend und endlich leiſe verhallend wie ein
wollüſtiger Hauch in himmliſchen Ohren zu ſterben?
Sind wir wie Ferkel, die man für fürſtliche
Tafeln mit Ruthen todt peitſcht, damit ihr Fleiſch ſchmack-
hafter werde?
Sind wir Kinder, die in den glühenden
Molochsarmen dieſer Welt gebraten und mit Lichtſtrahlen
gekitzelt werden, damit die Götter ſich über ihr Lachen freuen?
Iſt denn der Aether mit ſeinen Goldaugen
eine Schüſſel mit Goldkarpfen, die am Tiſche der ſeligen
Götter ſteht, und die ſeligen Götter lachen ewig, und die
Fiſche ſterben ewig, und die Götter erfreuen ſich ewig am
Farbenſpiel des Todeskampfes?
Die Welt iſt das Chaos. Das Nichts iſt
der zu gebärende Weltgott.
Meine Herren, Sie können abfahren, die
Wagen halten vor der Thür.
Gute Nacht, meine Freunde, legen wir
ruhig die große Decke über uns, unter welcher alle Herzen
ausglühen und alle Augen zerfallen.
Freue dich, Camille,
wir bekommen eine ſchöne Nacht. Die Wolken hängen am
ſtillen Abendhimmel wie ein ausglühender Olymp mit ver-
bleichenden, verſinkenden Göttergeſtalten.
[93]
Ein Zimmer.
Das Volk lief in den Gaſſen, jetzt iſt Alles
ſtill. Keinen Augenblick möcht' ich ihn warten laſſen.
zieht eine Phiole hervor.)
Komm liebſter Prieſter, deſſen Amen
uns zu Bette gehen macht.
Es iſt
ſo hübſch, Abſchied zu nehmen; ich habe die Thüre nur noch
hinter mir zuzuziehen.
— Man möchte immer
ſo ſtehen. — Die Sonne iſt hinunter, der Erde Züge waren
ſo ſcharf in ihrem Lichte, doch jetzt iſt ihr Geſicht ſo ſtill
und ernſt, wie einer Sterbenden. — Wie ſchön das Abend-
licht ihr um Stirn und Wangen ſpielt. — Stets bleicher
und bleicher wird ſie, wie eine Leiche treibt ſie abwärts in
der Fluth des Aethers; will denn kein Arm ſie bei den
goldenen Locken faſſen und aus dem Strom ſie ziehen und
begraben? — Ich gehe leiſe. Ich küſſe ſie nicht, daß kein
Hauch, kein Seufzer ſie aus dem Schlummer wecke. —
Schlafe, ſchlafe.
Der Revolutions-Platz.
Männer und Weiber ſingen und tanzen die Carmagnole.
Die Gefangenen ſtimmen die Marſeillaiſe an.)
Platz! Platz! Die Kinder
ſchreien, ſie haben Hunger. Ich muß ſie zuſehen machen,
daß ſie ſtill ſind. Platz!
Höre, Danton, du kannſt jetzt mit den
Würmern Unzucht treiben.
[94]
Hérault, aus deinen hübſchen Haaren
laſſe ich mir eine Perücke machen.
Ich habe nicht Waldung genug für einen ſo
abgeholzten Venusberg.
Verfluchte Hexen! Ihr werdet noch ſchreien:
ihr Berge fallet auf uns!
Der Berg iſt auf Euch, oder Ihr ſeid ihn
vielmehr hinunter gefallen.
Ruhig, mein Junge, du haſt
dich heiſer geſchrieen.
Da, alter Charon,
dein Karren iſt ein guter Präſentirteller. — Meine Herren,
ich will mich zuerſt ſerviren. Das iſt ein klaſſiſches Gaſt-
mahl, wir liegen auf unſeren Plätzen und verſchütten etwas
Blut als Libation. Adieu, Danton.
gerüſt, die Gefangenen folgen ihm, einer nach dem andern. Danton
ſteigt zuletzt hinauf.)
Ihr tödtet uns an dem Tage,
wo ihr den Verſtand verloren habt; ihr werdet ſie an dem
tödten, wo ihr ihn wiederbekommt.
Das war ſchon einmal da; wie
langweilig!
Die Tyrannen werden über unſern Gräbern
den Hals brechen.
Er hält ſeine Leiche für ein Miſt-
beet der Freiheit.
Ich vergebe Euch;
ich wünſche, Eure Todesſtunde ſei nicht bitterer, als die
meinige.
Dacht' ich's doch, er muß ſich noch einmal
[95] in den Buſen greifen und den Leuten da unten zeigen, daß
er reine Wäſche hat.
Lebe wohl, Danton. Ich ſterbe doppelt.
Adieu, mein Freund. Die Guillotine iſt
der beſte Arzt.
Ach Danton, ich
bringe nicht einmal einen Spaß heraus. Da iſt's Zeit.
Willſt du grauſamer ſein, als
der Tod? Kannſt du verhindern, daß unſere Köpfe ſich auf
dem Boden des Korbes küſſen?
Eine Straße.
Es iſt doch was wie Ernſt daran. Ich will
einmal nachdenken. Ich fange an, ſo was zu begreifen.
Sterben — Sterben — ! — Es darf ja Alles leben, Alles,
die kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht?
Der Strom des Lebens müßte ſtocken, wenn nur der eine
Tropfen verſchüttet würde. Die Erde müßte eine Wunde
bekommen von dem Streich. — Es regt ſich Alles, die
Uhren gehen, die Glocken ſchlagen, die Leute laufen, das
Waſſer rinnt, und ſo Alles weiter bis da, dahin! — Nein,
es darf nicht geſchehen, nein, ich will mich auf den Boden
ſetzen und ſchreien, daß erſchrocken Alles ſtockt, ſich nichts
mehr reget.
einen Schrei aus. Nach einer Pauſe erhebt ſie ſich.)
Das hilft
nichts, das iſt noch Alles wie ſonſt, die Häuſer, die Gaſſe,
[96] der Wind geht, die Wolken ziehen. Wir müſſen's wohl
leiden.
Ein hübſcher Mann, der Hérault!
Wie er beim Conſtitutionsfeſte ſo im
Triumphbogen ſtand, da dacht' ich ſo, der muß ſich gut auf
der Guillotine ausnehmen, dacht' ich. Das war ſo eine
Ahnung.
Ja, man muß die Leute in allen Ver-
hältniſſen ſehen; es iſt recht gut, daß das Sterben ſo öffent-
lich wird.
Mein Camille! Wo ſoll ich dich jetzt ſuchen?
Der Revolutions-Platz.
He, holla! Biſt bald fertig?
Gleich, gleich!
So! die Jacke her!
[97]
Ich ſetze mich auf deinen Schooß, du ſtiller Todesengel.
Du liebe Wiege, die du meinen Camille in Schlaf gelullt,
ihn unter deinen Roſen erſtickt haſt. Du Todtenglocke, die
du ihn mit deiner ſüßen Zunge zu Grabe ſangſt.
He, wer da?
Es
lebe der König!
Im Namen der Republik!
G. Büchner's Werke. 7
[[98]]
Zur Textkritik von "Danton's Tod".
Das Drama "Danton's Tod", obwohl das einzige Werk Georg
Büchner's, deſſen Erſcheinen der Dichter erlebte und überlebte, iſt
doch zugleich dasjenige, das am meiſten einer kritiſchen Ausgabe
bedurfte, welche auf die Original-Manuſcripte zurückgriff. Denn
theils äußerer Verhältniſſe wegen, denen die früheren Herausgeber
Rechnung tragen mußten, theils aus inneren Gründen, welche für
ſie beſtimmend waren, lag das Werk dem Publicum bisher in einer
Form vor, welche ſich ſehr weſentlich von jener unterſcheidet, die
ihm der Dichter gegeben. Ich war durch äußere Verhältniſſe nicht
mehr gebunden und jene inneren Gründe waren für mich, nach
reiflicher Ueberlegung, nicht beſtimmend. Ich habe das Drama
daher genau in jenem Wortlaute abdrucken laſſen, welchen der Dichter
niedergeſchrieben.
Schon die Art, in der ſich der Dichter über die Redaction
des erſten Abdrucks geäußert, mußte mich zu dieſem Entſchluſſe be-
ſtimmen. Das Werk erſchien, nachdem Karl Gutzkow bereits vor-
her im "Phönix" von 1835 Bruchſtücke daraus mitgetheilt, zuerſt
in Buchform unter dem Titel: "Danton's Tod. Dramatiſche Bilder
aus Frankreichs Schreckensherrſchaft von Georg Büchner. Frank-
furt am Main. Druck und Verlag von J. D. Sauerländer. 1835".
Karl Gutzkow, der es redigirt, hatte hiebei der Cenſur weitgehende
Conceſſionen machen müſſen; weitere Striche, Zuſätze und Ver-
änderungen hatte Eduard Duller daran vorgenommen. Gutzkow
erzählt hierüber im Frankfurter "Telegraph" (1837, Nr. 43, p. 337):
"Ich hatte große Mühe mit dem "Danton". Ich hatte vergeſſen,
daß ſolche Dinge, wie ſie Büchner dort hingeworfen, ſolche Aus-
drücke ſogar, die er ſich erlaubte, heute nicht gedruckt werden dürfen.
Als ich nun, um dem Cenſor nicht die Luſt des Streichens zu
gönnen, ſelbſt den Rothſtift ergriff und die wuchernde Demokratie
der Dichtung mit der Scheere der Vorcenſur beſchnitt, fühlt' ich
[99] wohl, wie grade der Abfall des Buches, der unſeren Sitten und
unſeren Verhältniſſen geopfert werden mußte, der beſte, nämlich
der individuellſte, der eigenthümlichſte Theil des Ganzen
war. Lange zweideutige Dialoge in den Volksſcenen, die von Witz
und Gedankenfülle ſprudelten, mußten zurückbleiben Die Spitzen
der Wortſpiele mußten abgeſtumpft werden, oder durch aushelfende
dumme Redensarten, die ich hinzuſetzte, krumm gebogen. Der
echte Danton von Büchner iſt nicht erſchienen. Was
davon herauskam, iſt ein nothdürftiger Reſt, die Ruine einer Ver-
wüſtung, die mich Ueberwindung genug gekoſtet hat. An dem merkan-
tiliſchen Titel jedoch "dramatiſche Bilder aus Frankreichs Schreckens-
herrſchaft" bin ich unſchuldig. Dieſen ſetzte der Verfaſſer der fort-
geſetzten Döring'ſchen Phantaſiegemälde *) darauf. Verklärter Geiſt,
hier waſche ich meine Hände in Unſchuld!" —
Der Dichter erhielt ſein Werk Ende Juli 1835 und mit welchen
Empfindungen er es begrüßte, mag man in den Briefen an die
Eltern nachleſen. Was aber den Text betrifft, ſo war er ſehr erregt
darüber, "daß die Erlaubniß, einige Aenderungen machen zu dürfen,
allzuſehr benützt worden. Faſt auf jeder Seite weggelaſſen, zu-
geſetzt, und faſt immer auf die dem Ganzen nachtheiligſte Weiſe.
Manchmal iſt der Sinn ganz entſtellt oder ganz und gar weg und
faſt glatter Unſinn ſteht an der Stelle. Außerdem wimmelt das
Buch von den abſcheulichſten Druckfehlern. Man hat mir keine
Correcturbogen zugeſchickt. Der Titel iſt abgeſchmackt und mein
Name ſteht darauf, was ich ausdrücklich verboten hatte; er ſteht
außerdem nicht auf dem Titel meines Manuſcripts. Außerdem hat
mir der Corrector einige Gemeinheiten in den Mund gelegt, die
ich in meinem Leben nicht geſagt haben würde." ...
Mag Manches in dieſen Vorwürfen übertrieben und nur eben
durch die nervöſe Aufregung des jungen Autors, der ſich zum erſten
Male gedruckt ſieht, hervorgerufen ſein — im Allgemeinen hat
Büchner nicht Unrecht. Nur darf man darum nicht Gutzkow an-
klagen, ſondern die Cenſur, welche ihn zu ſolchem Vorgehen zwang
und wohl noch andere und täppiſche Hände, die gleichfalls an dem
7 *
[100] Manuſcript herumgearbeitet. Daß dieſer erſte Abdruck aber in der
That die "Ruine einer Verwüſtung" war, wird erkennen, wer das
nachſtehende Verzeichniß prüft, in welchem alle Stellen bezeichnet
ſind, durch welche ſich dieſer erſte Abdruck (D. T.) von dem vor-
ſtehenden Abdrucke des Original-Manuſcripts (O. M.) unterſcheidet.
Man wird da auf unglaubliche Dinge ſtoßen. Viele Cynismen ſind
geſtrichen, aber lange nicht die ſchlimmſten, oft iſt das Derbſte ſtehen
geblieben, hart daneben iſt eine Stelle geſtrichen worden, die weit
minder derb und viel witziger iſt. Auch findet ſich hier und da eine
Zote ſogar ſchärfer zugeſpitzt. Und doch waren der Herr Bearbeiter
— ich wiederhole, man darf in dieſen Dingen nicht an Gutzkow
denken — im Uebrigen ein ſehr moraliſcher Herr! Ließen es ſogar
nicht zu, daß man von Jemand ſage, er trinke Schnaps. Wie ein
ſchlechter Witz klingt's und iſt doch buchſtäblich wahr, daß an allen
jenen Stellen, wo Büchner "Schnaps" geſchrieben, "Wein" gedruckt
ſteht, ſogar der Souffleur Simon darf kein "Schnapsfaß" ſein,
ſondern ein "Weinfaß"! Und ganze Sätze ſtammen gar nicht von
Büchner! Kurz — es war keine Methode in dem Wahnſinn dieſer
Bearbeitung.
Der zweite Abdruck des Drama's ſteht in den "Nachgelaſſenen
Schriften von Georg Büchner". Frankfurt, Sauerländer. 1850.
S. 51-150. Dieſer Text (im folgenden Varianten-Verzeichniß mit
"N. S." bezeichnet) tilgt alle Druckfehler, reſtituirt auch etwa zwanzig
Stellen des O. M., läßt aber die weiteren neunzig Stellen unberich-
tigt. Dies erklärt ſich wohl aus dem Umſtande, daß das Buch 1850
erſchien, im erſten und grimmigſten Jahre der Reaction.
Mir lagen für die vorliegende Ausgabe zwei Manuſcripte
vor, beide von Büchner's Hand: einige Blättchen des erſten Ent-
wurfs und eine vollſtändige Reinſchrift. Wohl ſind zwiſchen beiden
einige Verſchiedenheiten, doch war mir ſelbſtverſtändlich nur das
letztere Manuſcript maßgebend und ich habe es im Vorſtehenden
von der erſten bis zur letzten Zeile, ohne jeden Zuſatz, ohne jede
Kürzung, ohne jede Veränderung abdrucken laſſen. Wodurch ſich
dieſer Text (O. M.) von ſeinem Vorgänger unterſcheidet, beweiſt nach-
ſtehendes Verzeichniß der Varianten:
[101]
- Seite 5, Zeile 8, "Sie hat ungeſchickte Beine" — bis "laicht dazu"
O. M. — Fehlt in D. T. und N. S. - " 6, " 13, "Nein! höre!". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 6, " 29, "bekam". O. M. und N. S. — In D. T. "erwiſchte".
- " 7, " 1, "unanſtändig übereinander". O. M. — In D. T.
und N. S. "ſeltſam durcheinander". - " 8, " 2, "Särge". O. M. — In D. T. und N. S. "die Guillo-
tine". - " 8, " 11, "ſeine Natur". O. M. — In D. T. und N. S. "ſeinen
Naturtrieb". - " 8, " 16, "aufzudringen". In D. T. und N. S. folgt noch
"und ihm ein Geſetz daraus zu machen", was
Büchner nicht geſchrieben. - " 8, " 18, "Die Individualität" — bis "offenbaren". O. M.
— Fehlt in D. T. und N. S - " 8, " 24, "abdrücken". O. M. — In D. T. und N. S. "aus-
drücken". - " 9, " 1, "Roſen" — bis "Buſen". O. M. — Fehlt in D. T.
und N. S. - " 9, " 7, "mit dem ſchönen Hintern". O. M. Fehlt in D. T.
und N. S. - " 10, " 23, "Du Hurenbett". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 11, " 7, "Schnaps". O. M. — In D. T. und N. S. "Wein".
- " 11, " 12, "Schnaps". O. M. — In D. T. und N. S. "Wein".
- " 11, " 30, "nur". O. M. — Fehlt in N. S. — In D. T. "mir".
- " 12, " 1, "wenn die jungen Herrn" — bis "hinunterließen".
O. M. — In D. T. und N. S. "wenn die jungen
Herrn nicht gegen ſie — artig wären". - " 12, " 2, "Branntweinfaß". O. M. — In D. T. und N. S.
"Weinfaß". - " 12, " 5, "damit". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 12, " 7, "damit". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 12, " 12, "die arme Hure!" O. M. — In D. T. und N. S.
"das arme Kind!" - " 12, " 12, "hurt und". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 12, " 15, "huren". O. M. — In D. T. und N. S. "buhlen".
[102]
- Seite 12, Zeile 22, "huren". O. M. — In D. T. und N. S. "buhlen".
- " 12, " 25, "ausgeſaugt". O. M. — In D. T. und N. S. "aus-
geſogen". - " 13, " 1, "ausgezogen". O. M. — In D. T. und N. S. "aus-
gegraben". - " 13, " 21, "Von die Würm gefreſſen werden". D. T. und
O. M. — In N. S. "von den Wurm gefreſſen
werden". - " 16, " 10, "Hure". O. M. — In D. T. und N. S. "Metze".
- " 16, " 20, "Patrioten". O. M. und N. S. — In D. T. "Pa-
tienten". - " 19, " 1, "Regiere". O. M. — In D. T. und N. S. "beherrſche".
- " 19, " 10, "Nur dem friedlichen Bürger" — bis "Schutz".
O. M. und N. S. — Fehlt in D. T. - " 19 " 19, "Nur der hölliſchſte Machiavellismus" — bis "gleich
groß". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S. - " 20, " 5, "geplündert". O. M. — In D. T. und N. S. "ge-
pfändet". - " 20, " 9, "der Revolution". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 20, " 27, "lieber". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S
- " 21, " 16, "Es war" — bis "ſpränge". O. M. — Fehlt in
D. T. und N. S. - " 22, " 23, "Ich bin" — bis "Familie". O. M. — Fehlt in
D. T. und N. S. - " 22, " 25, "Sie gab" — bis "Erziehung". O. M. — Fehlt
in D. T. und N. S. - " 23, " 18, "zwiſchen zwei" — bis "liegen". O. M. — In
D. T. und N. S. "auf ſonſt eine Art uns mit ein-
ander unterhalten". - " 23, " 20, "fand dabei" — bis "Unterhaltung". O. M. —
Fehlt in D. T. und N. S. - " 24, " 22, "Leibern" — bis "Weingläſern". O. M. — In
D. T. und N. S. "Reliquien oder an Lebendigen". - " 25, " 4, "unwillig". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 25, " 13, "Die Mücken" — bis "Gedanken". O. M. — In
[103]D. T. und N. S. "Die unmoraliſche Mücken er-
wecken ihnen ſonſt allerhand erbauliche Gedanken". - Seite 25, Zeile 15, "Die Nönnlein" — bis "Segen". O. M. und N. S.
— Hingegen D. T. "Mehr als eine apokalyptiſche
Dame hing uns an den Rockſchößen und wollte
den Segen". - " 25, " 20, "von den Prieſterinnen mit dem Leib". O. M. —
In D. T. und N. S.: "von ihnen". - " 26, " 6, Adelaide. "Ich wäre" u. ſ. w. und Danton.
"Ich verſtehe" u. ſ. w. O. M. — Fehlen in D. T.
und N. S. - " 26, " 12, "ſondern" — bis "an". O. M. — Fehlen in D. T.
und N. S. - " 26, " 16, "Die Mitte" — bis "paſſirt". O. M. — Fehlen
in D. T. und N. S. - " 26, " 26, "Queckſilbergruben". O. M. — In D. T. "Silber-
gruben". — In N. S. "Metallgruben". - " 28, " 26, "geht" — bis "Bordell". O. M. — In D. T. und
N. S. "ſchweift nicht aus". - " 29, " 22, "Die Schenkel der Demoiſelle guillotiniren dich".
O. M. — Fehlt in D. T. und N. S. - " 30, " 14, "Du haſt bei keinem Weibe geſchlafen". O. M. —
Fehlt in D. T. und N. S. — - " 32, " 4, "am Bordell halten machen". O. M. — In D. T.
und N. S. "am Zügel halten". - " 34, " 4, "zerſtücken". O. M. — In D. T. und N. S. "ver-
ſtümmeln". - " 34, " 6, "vollen". D. T. und O. M. — Fehlt in N. S.
- " 35, " 16, "Andeutungen". O. M. — In D. T. und N. S. "An-
klage". - " 35, " 18, "ſie". O. M. und D. T. — Fehlt in N. S.
- " 36, " 23, "oft". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 37, " 13, "ſelbſt". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 37, " 25, "Huren". O. M. — In D. T. und N. S. "Metzen".
- " 39, " 11, "Eſſenz". N. S. und O. M. — In D. T. "Eſſen".
[104]
- Seite 41, Zeile 25, "wir haben" — bis "gekriegt". O. M. — Fehlt in
D. T. und N. S. - " 44, " 16, "ach die Kunſt". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 44, " 29, "Unſinn". O. M. — In D. T. und N. S. "Narrheit".
- " 48, " 14, "ſehr". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 48, " 15, "ſo". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 49, " 9, "gebückt". O. M. — In D. T. und N. S. "gewandt".
- " 50, " 6, "hurt". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 50, " 21, "es iſt die Zeit, wo ..." O. M. — Fehlt in D. T.
und N. S. - " 51, " 3, Erſter Bürger. "Eine Eichelkrone" — bis "fallen".
O. M. — Fehlt in D. T. und N. S. - " 55, " 1, "über die Verhältniſſe" — bis "Geſchichte". O. M.
— Fehlt in D. T. und N. S. - " 55, " 14, "moraliſche". O. M. — In D. T. und N. S. "geiſtige".
- " 55, " 29, "Geſchichte". O. M. — In D. T. und N. S. "Geſchäfte".
- " 57, " 5, "Gefangene". O. M. — In D. T. und N. S. "De-
putirte". - " 58, " 15, "den" — bis "haben". O. M. — Fehlt in D. T. und
N. S. - " 60, " 2, "Ein ſchöner Cirkelſchluß" — bis "leckt". O. M.
— Fehlt in D. T. und N. S. - " 60, " 23, "wenigſtens hat ſie" — bis "gelaſſen". O. M. —
Fehlt in D. T. und N. S. - " 63, " 26, "meiſt". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 64, " 11, "aber ſie hören" — bis "Opfers iſt". O. M. —
In D. T. und N. S. "aber ſie hören das Röcheln
der Opfer nicht". - " 68, " 7, "Mondſichel". O. M. und N. S. — In D. T. "Mond-
ſchein". - " 69, " 8, "Man füttert" — bis "Leichen". O. M. und N. S.
— Fehlt in D. T. - " 71, " 1, "daran". O. M. — Fehlt in N. S. und D. T.
- " 71, " 12, "Septembriſirter". O. M. — In D. T. und N. S.
"Septembriſeurs".
[105]
- Seite 72, Zeile 6, "Bittſchrift". O. M. und N. S. — In D. T. — "Ab-
ſchrift". - " 74, " 4, "in Aſche verwandeln". O. M. — In D. T. und
N. S. "zu Aſche glühen". - " 74, " 8, "gegen die Luſtſeuche". O. M. — Fehlt in D. T.
und N. S. - " 74, " 25, Collot. "Nicht wahr" — bis "ausgedörrt wird".
O. M. — Fehlt in D. T. — In N. S. "Nicht wahr,
über dem Ort ſteht ein Stern, deſſen verſiegende
Strahlen deinen Rücken verdorren machen?" - " 74, " 27, Billaud. "Nächſtens" — bis "hinunterhängen
machen". O. M. — Fehlt in D. T. — In N. S. "Was
machen die niedlichen Finger der reizenden Demaly?" - " 75 " 1, Barriere. "Pſt" — bis "wiſſen" und Billaud.
"Er iſt" — bis "Manſonet". O. M. und N. S. —
Fehlt in D. T. - " 75, " 20, "bi! bi! bi!" O. M. — Fehlt in N. S. und D. T.
- " 75, " 22, "Komm" — bis "ganz gut". O. M. — Fehlt in
D. T. und N. S. - " 76, " 4, "einen noch nothzüchtigte und". O. M. — Fehlt
in D. T. und N. S. - " 77, " 30, "Wir ſind" — bis "geſchlagen". O. M. — Fehlt
in D. T. und N. S. - " 78, " 3, Lacroix. "Wir müſſen" — bis "erſcheinen". O. M.
— Fehlt in D. T. und N. S. - " 79, " 9, "ſollen". O. M. — In D. T. und N. S. "ſoll".
- " 81, " 8, "und ſchläft" — bis "betrunken iſt". O. M. —
Fehlt in D. T. und N. S. - " 83, " 1, Bürger. "Das iſt entſetzlich". O. M. — Fehlt in
D. T. und N. S. - " 84, " 26, "und ſtinkt". O. M. — Fehlt in D. T. und N. S.
- " 85, " 4, "Du mögeſt" — bis "willſt". O. M. — Fehlt in
D. T. und N. S. - " 86, " 22, "aus dem Bett" — bis "Unzucht". O. M. — In
D. T. und N. S. "aus der Kammer eines Mädchens
wegſchleichen"
[106]
- Seite 87, Zeile 27, Erſter Fuhrmann. "Haltet eueren Platz" — bis
mitten hinein" und Zweiter Fuhrmann. "Ja!" —
bis "herauskommſt". O. M. — Fehlt in N. S. und D. T. - " 88, " 6, "Bordell". O. M. — In D. T. "Eure Winkelhäuſer".
— In N. S. "Winkelhaus". - " 89, " 16, "Robespierre" — bis "Waden". O. M. — In D. T.
"Robespierre meine Waden". — In N. S. "Robes-
pierre meine Weiber und Couthon meine Waden". - " 89, " 18, "zur Hure gemacht". O. M. — In D. T. "pro-
ſtituirt". — In N. S. "zur Dirne gemacht". - " 89, " 19, Danton. "Was wär" — bis "mit mir". O. M.
— In D. T. "ich laſſe ihm keine ſechs Monate
Friſt, ich ziehe ihn mit mir". — In N. S. "Die
Tempelherrn citirten ihren Mörder Philipp den
Schönen vor das Tribunal der Unterwelt und es
verging kein Jahr als er dort erſchien; ich laſſe
meinen Mördern keine ſechs Monate Friſt, ich
ziehe ſie mit mir". - " 90, " 21, Hérault. "Wir ſtanken" — bis "hinlänglich".
O. M. — Fehlt in D. T. und N. S. - " 91, " 5, "Kindermachen". O. M. — Fehlt in D T. und N. S.
- " 93, " 24, "mit den Würmern Unzucht treiben". O. M. —
In D. T. "die Würmer heirathen". In N. S.
"mit den Würmern buhlen". - " 94, " 4, "Venusberg" O. M. — In N. S. und D. T. "Berg".
- " 96, " 16, "Und wenn" — bis "ſcheh". O. M. und D. T. —
In N. S. "Wenn ich nach Hauſe geh, ſcheint der
Mond ſo ſchön". - " 96, " 21, "Kerl" — bis "Menſcher". O. M. — In D T. und
N. S. "Kerl wo bleibſt ſo lang?" - " 96, " 23, "Und wann" — bis "ſcheh". O. M. und D. T. —
In N. S. "Wenn ich nach Hauſe geh, ſcheint der
Mond ſo ſchön".
Vielleicht hat dies Verzeichniß auch einen kleinen culturhiſto-
riſchen Werth. Ach! was war es doch für ein Vergnügen, unter
Cenſur zu ſchreiben!
[107]
Auch in der Anordnung der Acte unterſcheiden ſich die drei
Ausgaben. In D. T. ſchließt der erſte Act mit der Scene zwiſchen
Marion und Danton. (S. 29 der vorliegenden Ausgabe.) Der
zweite mit der im National-Convent (S. 57), ſo daß der dritte Act
faſt die Hälfte des Werkes enthält. In N. S. hingegen ſchließt der
erſte Act mit der Scene zwiſchen Robespierre und St. Juſt, der
zweite mit der Volksſcene vor dem Juſtizpalaſte, worauf der dritte
mit der Straßenſcene zwiſchen Dumas und einem Bürger beginnt.
Im O. M. endlich ſchließen der erſte und zweite Act wie in N. S. Doch
beginnt der dritte mit dem Monolog Juliens, worauf die Straßen-
ſcene folgt. Auch dies iſt hier getreulich eingehalten und ſo dem
Willen des Dichters in allen Stücken entſprochen worden.
K. E. F.
[[108]][[109]]
Leonce und Lena.
Ein Luſtſpiel.
[[110]]
Vorrede:
"E la Fama?"
"E la Fame?"
Perſonen.
- König Peter
vom Reiche Popo.
- Prinz Leonce,
ſein Sohn, verlobt mit
- Prinzeſſin Lena
vom Reiche Pipi.
- Valerio.
- Die Gouvernante.
- Der Hofmeiſter.
- Der Präſident des Staatsrathes.
- Der Hofprediger.
- Der Landrath.
- Der Schulmeiſter.
- Roſetta.
Bediente. Staatsräthe. Bauern u. ſ. w.
[[112]][[113]]
Erſter Akt.
‘"O wär' ich doch ein Narr!
Mein Ehrgeitz geht auf eine bunte Jacke"’
(Wie es Euch gefällt.)
Erſte Scene.
mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich
auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll
zu thun. Ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. Sehen
Sie, erſt habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und
ſechzig Mal hintereinander zu ſpuken. Haben Sie das noch
nicht probirt? Thun Sie es, es gewährt eine ganz eigne
Unterhaltung. — Dann, ſehen Sie dieſe Hand voll Sand? —
Rücken der Hand wieder auf)
— jetzt werf' ich ſie in die
Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Könchen hab' ich
jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? Wie? Sie
wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie
an Gott? Ich wette gewöhnlich mit mir ſelbſt und kann
G. Büchner's Werke. 8
[114] es tagelang ſo treiben. Wenn Sie einen Menſchen aufzu-
treiben wiſſen, der Luſt hätte, manchmal mit mir zu wetten,
ſo werden Sie mich ſehr verbinden. Dann — habe ich
nachzudenken, wie es wohl angehen mag, daß ich mir ein-
mal auf den Kopf ſehe. — O wer ſich einmal auf den
Kopf ſehen könnte! Das iſt eines von meinen Idealen.
Mirt wäre geholfen! Und dann — und dann — noch un-
endlich Viel der Art. — Bin ich ein Müßiggänger? Habe
ich jetzt keine Beſchäftigung? — Ja, es iſt traurig ....
Sehr traurig, Eure Hoheit.
Daß die Wolken ſchon ſeit drei Wochen von
Weſten nach Oſten ziehen. Es macht mich ganz melan-
choliſch.
Eine ſehr gegründete Melancholie.
Menſch, warum widerſprechen Sie mir nicht?
Sie ſind preſſirt, nicht wahr? Es iſt mir leid, daß
ich Sie ſo lange aufgehalten habe.
ſich mit einer tiefen Verbeugung.)
Mein Herr, ich gratulire
Ihnen zu der ſchönen Parentheſe, die Ihre Beine machen,
wenn Sie ſich verbeugen.
Die Bienen
ſitzen ſo träge an den Blumen, und der Sonnenſchein liegt
ſo faul auf dem Boden. Es kraſſirt ein entſetzlicher Müßig-
gang. — Müßiggang iſt aller Laſter Anfang. Was die
Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie ſtudiren aus
Langeweile, ſie beten aus Langeweile , ſie verlieben, ver-
heirathen und vermehren ſich aus Langeweile und ſterben
endlich aus Langeweile, und — und das iſt der Humor
davon — Alles mit den ernſthafteſten Geſichtern, ohne zu
merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu. Alle
[115] dieſe Helden, dieſe Genies, dieſe Dummköpfe, dieſe Heiligen,
dieſe Sünder, dieſe Familienväter ſind im Grunde nichts
als raffinirte Müßiggänger. — Warum muß ich es grade
wiſſen? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der
armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenſchirm
in die Hand geben, daß ſie ſehr rechtlich und ſehr nützlich
und ſehr moraliſch würde? Ich bin ein elender Spaß-
macher! Warum kann ich meinen Spaß nicht auch mit
einem ernſthaften Geſichte vorbringen? — Der Mann, der
eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid
prügeln mögen. O wer einmal jemand Anderes ſein könnte!
Nur 'ne Minute lang. Wie der Menſch läuft! Wenn ich
nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte
laufen machen.
an die Naſe und ſieht ihn ſtarr an).
Ja!
Richtig!
Haben Sie mich begriffen?
Vollkommen.
Nun, ſo wollen wir von etwas Anderem
reden.
Ich werde mich indeſſen in
das Gras legen und meine Naſe oben zwiſchen den Halmen
herausblühen laſſen und romantiſche Empfindungen beziehen,
wenn die Bienen und Schmetterlinge ſich darauf wiegen, wie
auf einer Roſe.
Aber Beſter, ſchnaufen Sie nicht ſo ſtark,
oder die Bienen und Schmetterlinge müſſen verhungern über
den ungeheuren Priſen, die Sie aus den Blumen ziehen.
8 *
[116]
Ach Herr, was ich ein Gefühl für die Natur
habe! Das Gras ſteht ſo ſchön, daß man ein Ochs ſein
möchte, um es freſſen zu können, und dann wieder ein Menſch,
um den Ochſen zu eſſen, der ſolches Gras gefreſſen.
Unglücklicher, Sie ſcheinen auch an Idealen
zu laboriren.
O Gott, ich laufe ſchon ſeit acht Tagen
einem Ideal von Rindfleiſch nach, ohne es irgendwo in der
Realität anzutreffen!
Seht dieſe Ameiſen, ihr lieben Kinder, es iſt bewunderns-
würdig, welcher Inſtinkt in dieſen kleinen Geſchöpfen, Ord-
nung, Fleiß — — Herr, es gibt nur vier Arten, ſein Geld
auf eine menſchliche Weiſe zu verdienen, es finden, in der
Lotterie gewinnen, erben oder in Gottes Namen ſtehlen,
wenn man die Geſchicklichkeit hat, keine Gewiſſensbiſſe zu
bekommen.
Du biſt mit dieſen Principien ziemlich alt
geworden, ohne vor Hunger oder am Galgen zu ſterben.
Ja, Herr, und das
behaupte ich, wer ſein Geld auf andere Weiſe erwirbt, iſt
ein Schuft.
Denn wer arbeitet, iſt ein ſubtiler Selbſt-
mörder, und ein Selbſtmörder iſt ein Verbrecher, und ein
Verbrecher iſt ein Schuft. Alſo, wer arbeitet iſt ein Schuft.
Ja! — Aber dennoch ſind die Ameiſen ein
[117] nützliches Ungeziefer, und doch ſind ſie wieder nicht ſo nütz-
lich, als wenn ſie gar keinen Schaden thäten. Nichtsdeſto-
weniger, wertheſtes Ungeziefer, kann ich mir nicht das Ver-
gnügen verſagen, einigen von ihnen mit der Ferſe auf den
Hintern zu ſchlagen, die Naſen zu putzen und die Nägel zu
ſchneiden ....
Zweite Scene.
Halt, wer iſt der Kerl?
Da ſind zwei.
Sieh einmal, ob Keiner davonläuft.
Ich glaube, es läuft Keiner.
So müſſen wir ſie beide inquiriren. —
Meine Herren! Wir ſuchen Jemand, ein Subject, ein In-
dividuum, eine Perſon, einen Delinquenten, einen Inquiſiten,
einen Kerl!
ſieh einmal,
wird Keiner roth?
Es iſt Keiner roth geworden.
So müſſen wir es anders probiren. Wo
iſt der Steckbrief, das Signalement, das Certificat?
ter P. zieht ein Papier aus der Taſche und überreicht es ihm.)
Viſire die Subjecte — ich werde leſen: "Ein Menſch —"
Paßt nicht, es ſind zwei —
Dummkopf! — "geht auf zwei Füßen, hat
zwei Arme, ferner einen Mund, eine Naſe, zwei Augen,
zwei Ohren. Beſondere Kennzeichen: iſt ein höchſt gefähr-
liches Individuum.
[118]
Das paßt auf beide. Soll ich ſie beide arretiren?
Zwar, das iſt gefährlich; wir ſind auch nur
zwei. Aber ich will einen Rapport machen. Es iſt ein
Fall von ſehr kriminaliſcher Verwicklung oder ſehr ver-
wickelter Kriminalität. Denn wenn ich mich betrinke und
mich in mein Bett lege, ſo iſt das meine Sache und geht
Niemand was an. Wenn ich aber mein Bett vertrinke, ſo
iſt das die Sache von — wem, Schlingel?
Ja, ich weiß nicht.
Ja, ich auch nicht, aber das iſt der Punkt.
Dritte Scene.
Da läugne Einer die Vorſehung. Seht,
was man nicht mit einem Floh ausrichten kann. Denn
wenn es mich nicht heute Nacht überlaufen hätte, ſo hätte
ich nicht den Morgen mein Bett an die Sonne getragen und
hätte ich es nicht an die Sonne getragen, ſo wäre ich da-
mit nicht neben das Wirthshaus zum Mond gerathen und
wenn Sonne und Mond es nicht beſchienen hätten, ſo hätte
ich aus meinem Nachtſack keinen Weinkeller machen und
mich darin betrinken können. Und wenn dies Alles nicht
geſchehen wäre, ſo wäre ich jetzt nicht in Ihrer Geſellſchaft,
wertheſte Ameiſen, und würde von Ihnen ſcalritirt und von
der Sonne ausgetrocknet, ſondern würde ein Stück Fleiſch
[119] tranſchiren und eine Bouteille Wein austrocknen — im
Hôtel nämlich.
Ein erbaulicher Lebenslauf!
Ich habe eigentlich einen läufigen Lebenslauf.
Denn nur mein Laufen hat im Laufe dieſes Krieges mein
Leben vor einem Lauf gerettet, der ein Loch in dasſelbe
machen wollte. Ich bekam in Folge dieſer Rettung eines
Menſchenlebens einen trocknen Huſten, welcher den Doctor
annehmen ließ, daß mein Laufen ein Galoppiren geworden
ſei und ich die galoppirende Auszehrung hätte. Da ich nun
zugleich fand, daß ich ohne Zehrung ſei, ſo verfiel ich in
oder vielmehr auf ein zehrendes Fieber, worin ich täglich,
um dem Vaterland einen Vertheidiger zu erhalten, gute
Suppe, gutes Rindfleiſch, gutes Brot eſſen, und guten Wein
trinken mußte.
Es iſt ein Jammer.
Man kann keinen Kirchthurm herunterſpringen, ohne den
Hals zu brechen. Man kann keine vier Pfund Kirſchen mit
den Steinen eſſen, ohne Leibweh zu kriegen. Seht, Herr,
ich könnte mich in eine Ecke ſetzen und ſingen vom Abend
bis zum Morgen: "Hei, da ſitzt e Fleig' an der Wand!
Fleig' an der Wand! Fleig' an der Wand!" und ſo fort
bis zum Ende meines Lebens.
Halt's Maul mit deinem Lied, man könnte
darüber ein Narr werden.
So wäre man doch etwas. Ein Narr!
Ein Narr! Wer will mir ſeine Narrheit gegen meine Ver-
nunft verhandeln? Ha, ich bin Alexander der Große! Wie
mir die Sonne eine goldne Krone in die Haare ſcheint, wie
meine Uniform blitzt! Herr Generaliſſimus Heupferd, laſſen
[120] Sie die Truppen anrücken! Herr Finanzminiſter Kreuz-
ſpinne, ich brauche Geld! Liebe Hofdame Libelle, was macht
meine theure Gemahlin Bohnenſtange? Ach beſter Herr
Leibmedicus Cantharide, ich bin um einen Erbprinzen ver-
legen. Und zu dieſen köſtlichen Phantaſieen bekommt man
gute Suppe, gutes Fleiſch, gutes Brod, ein gutes Bett und
das Haar umſonſt geſchoren — im Narrenhaus nämlich —
während ich mit meiner geſunden Vernunft mich höchſtens
noch zur Beförderung der Reife auf einen Kirſchbaum ver-
dingen könnte, um — nun? — um?
Um die Kirſchen durch die Löcher in deinen
Hoſen ſchamroth zu machen! Aber Edelſter, dein Hand-
werk, deine Profeſſion, dein Gewerbe, dein Stand, deine
Kunſt?
Herr, ich habe die große Be-
ſchäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fer-
tigkeit im Nichtsthun, ich beſitze eine ungeheure Ausdauer in
der Faulheit. Keine Schwiele ſchändet meine Hände, der
Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken,
ich bin noch Jungfrau in der Arbeit, und wenn es mir
nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich mir die Mühe
nehmen, Ihnen dieſe Verdienſte weitläufiger auseinander-
zuſetzen.
Komm an meine
Bruſt! Biſt du einer von den Göttlichen, welche mühelos
mit reiner Stirne durch den Schweiß und Staub über die
Heerſtraße des Lebens wandeln, und mit glänzenden Sohlen
und blühenden Leibern gleich ſeligen Göttern in den Olym-
pus treten? Komm! Komm!
[121]
Hei! da ſitzt e Fleig' an
der Wand! Fleig' an der Wand! Fleig' an der Wand!
Vierte Scene.
(König Peter wird von zwei Kammerdienern angekleidet).
Der Menſch muß
denken, und ich muß für meine Unterthanen denken; denn
ſie denken nicht, ſie denken nicht. — Die Subſtanz iſt das
An ſich, das bin ich.
Begriffen?
An ſich iſt An ſich, verſteht Ihr? Jetzt kommen meine Attri-
bute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien, wo ſind
meine Schuhe, meine Hoſen? — Halt, der freie Wille ſteht
ganz offen. Wo iſt die Moral, wo ſind die Manſchetten?
Die Kategorien ſind in der ſchändlichſten Verwirrung, es ſind
zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Doſe ſteckt in der rechten
Taſche. Mein ganzes Syſtem iſt ruinirt. — He, was be-
deutet der Knopf im Schnupftuch? Kerl, was bedeutet der
Knopf, an was wollte ich mich erinnern?
Als Eure Majeſtät dieſen
Knopf in Ihr Schnupftuch zu knüpfen geruhten, ſo wollten
Sie —
Nun?
Sich an Etwas erinnern.
[122]
Eine verwickelte Antwort! — Ei! Nun und
was meint Er?
Eure Majeſtät wollten ſich
an Etwas erinnern, als ſie dieſen Knopf in ihr Schnupftuch
zu knüpfen geruhten.
Was? Was? Die Menſchen
machen mich confus, ich bin in der größten Verwirrung. Ich
weiß mir nicht mehr zu helfen.
Eure Majeſtät, der Staatsrath iſt verſammelt.
Ja, das iſt's. — Kommen
Sie, meine Herren! Gehen Sie ſymmetriſch. Iſt es nicht
ſehr heiß? Nehmen Sie doch auch Ihre Schnupftücher und
wiſchen Sie ſich das Geſicht. Ich bin immer ſo in Verlegen-
heit, wenn ich öffentlich ſprechen ſoll.
Meine Lieben und Getreuen, ich wollte Euch
hiermit kund und zu wiſſen thun, kund und zu wiſſen thun,
— denn, entweder verheirathet ſich mein Sohn oder nicht
entweder, oder — Ihr verſteht
mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Menſch muß
denken.
Wenn ich ſo laut rede,
ſo weiß ich nicht, wer es eigentlich iſt, ich oder ein Anderer,
das ängſtigt mich.
Ich bin ich. —
Was halten Sie davon, Präſident?
Eure Majeſtät, viel-
leicht iſt es ſo, vielleicht iſt es aber auch nicht ſo.
Ja, vielleicht iſt es
ſo, vielleicht iſt es aber auch nicht ſo.
[123]
O meine Weiſen! — Alſo von
was war eigentlich die Rede? Von was wollte ich ſprechen?
Präſident, was haben Sie ein ſo kurzes Gedächtniß bei einer
ſo feierlichen Gelegenheit? Die Sitzung iſt aufgehoben.
Fünfte Scene.
Leonce mit einigen Dienern.
Sind alle Läden geſchloſſen? Zündet die Kerzen
an! Weg mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambroſiſche
Nacht. Stellt die Lampen unter Kryſtallglocken zwiſchen die
Oleander, daß ſie wie Mädchenaugen unter den Wimpern
der Blätter hervorträumen. Rückt die Roſen näher, daß der
Wein wie Thautropfen auf die Kelche ſprudle. Muſik! Wo
ſind die Violinen? Wo iſt Roſetta? Fort! Alle hinaus!
zierlich gekleidet, tritt ein. Man hört Muſik aus der Ferne.)
Leonce!
Roſetta!
Leonce.
Roſetta!
Deine Lippen ſind träg. Vom Küſſen?
Vom Gähnen!
Oh!
[124]
Ach Roſetta, ich habe die entſetzliche Arbeit ...
Nun?
Nichts zu thun ...
Als zu lieben?
Freilich Arbeit!
Leonce!
Oder Beſchäftigung.
Oder Müßiggang.
Du haſt Recht wie immer. Du biſt ein kluges
Mädchen, und ich halte viel auf deinen Scharfſinn.
So liebſt Du mich aus Langeweile?
Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe.
Aber ich liebe meine Langeweile wie dich. Ihr ſeid eins.
O dolce far niente, ich träume über deinen Augen, wie an
wunderheimlichen tiefen Quellen, das Koſen deiner Lippen
ſchläfert mich ein, wie Wellenrauſchen.
Komm,
liebe Langeweile, deine Küſſe ſind ein wollüſtiges Gähnen,
und deine Schritte ſind ein zierlicher Hiatus.
Du liebſt mich, Leonce?
Ei warum nicht?
Und immer?
Das iſt ein langes Wort: immer! Wenn ich
dich nun noch fünftauſend Jahre und ſieben Monate liebe,
iſt's genug? Es iſt zwar viel weniger, als immer, iſt aber
doch eine erkleckliche Zeit, und wir können uns Zeit nehmen,
uns zu lieben.
Oder die Zeit kann uns das Lieben nehmen.
Oder das Lieben uns die Zeit. Tanze, Roſetta,
tanze, daß die Zeit mit dem Takt deiner niedlichen Füße geht.
Meine Füße gingen lieber aus der Zeit.
[125]
O, eine ſterbende
Liebe iſt ſchöner als eine werdende. Ich bin ein Römer;
bei dem köſtlichen Mahle ſpielen zum Deſert die goldnen
Fiſche in ihren Todesfarben. Wie ihr das Roth von den
Wangen ſtirbt, wie ſtill das Auge ausglüht, wie leis das
Wogen ihrer Glieder ſteigt und fällt! Adio, adio, meine
Liebe, ich will deine Leiche lieben.
wieder.)
Thränen, Roſetta? Ein feiner Epikuräismus —
weinen zu können. Stelle dich in die Sonne, damit die
köſtlichen Tropfen kryſtalliſiren, es muß prächtige Diamanten
geben. Du kannſt dir ein Halsband davon machen laſſen.
Wohl Diamanten, ſie ſchneiden mir in die
Augen. Ach Leonce!
Gib Acht! Mein Kopf! Ich habe unſere
Liebe darin beigeſetzt. Sieh zu den Fenſtern meiner Augen
[126] hinein. Siehſt du, wie ſchön todt das arme Ding iſt? Siehſt
du die zwei weißen Roſen auf ſeinen Wangen und die zwei
rothen auf ſeiner Bruſt? Stoß mich nicht, daß ihm kein
Aermchen abbricht, es wäre Schade. Ich muß meinen Kopf
gerade auf den Schultern tragen, wie die Todtenfrau einen
Kinderſarg.
Narr!
Roſetta!
Gott
ſei Dank!
Leonce, ſieh mich an.
Um keinen Preis!
Nur einen Blick!
Keinen! Meinſt du? Um ein klein wenig,
und meine liebe Liebe käme wieder auf die Welt. Ich bin
froh, daß ich ſie begraben habe. Ich behalte den Eindruck.
Abgehn:)
Ein ſonderbares Ding um die Liebe.
Man liegt ein Jahr lang ſchlafwachend zu Bette, und an
einem ſchönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Waſſer,
zieht ſeine Kleider an und fährt ſich mit der Hand über die
Stirn und beſinnt ſich — und beſinnt ſich — Mein Gott,
wieviel Weiber hat man nöthig, um die Scala der Liebe
auf und ab zu ſingen? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt.
Warum iſt der Dunſt über unſrer Erde ein Prisma, das
den weißen Gluthſtrahl der Liebe in einen Regenbogen
bricht? —
In welcher Bouteille ſteckt denn der
[127] Wein, an dem ich mich heute betrinken ſoll? Bringe ich es
nicht einmal mehr ſo weit? Ich ſitze wie unter einer Luft-
pumpe. Die Luft ſo ſcharf und dünn, daß mich friert, als
ſollte ich in Rankinghoſen Schlittſchuh laufen. — Meine
Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Caligula und
Nero waren? Ich weiß es. — Komm, Leonce, halte mir
einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt mich
an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollſchreiben
ſoll, aber ich bringe keinen Buchſtaben heraus. Mein Kopf
iſt ein leerer Tanzſaal, einige verwelkte Roſen und zerknitterte
Bänder auf dem Boden, geborſtene Violinen in der Ecke, die
letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und ſehen mit
todmüden Augen einander an. Ich ſtülpe mich jeden Tag
vier und zwanzigmal herum, wie einen Handſchuh. O ich kenne
mich, ich weiß was ich in einer Viertelſtunde, was ich in acht
Tagen, was ich in einem Jahre denken und träumen werde.
Gott, was habe ich denn verbrochen, daß du mich, wie einen
Schulbuben, meine Lection ſo oft herſagen läßt? —
Bravo, Leonce! Bravo!
Es thut mir
ganz wohl, wenn ich mir ſo rufe. He! Leonce! Leonce!
Eure Hoheit ſcheint
mir wirklich auf dem beſten Weg, ein wahrhaftiger Narr zu
werden.
Ja, beim Licht beſehen, kommt es mir eigent-
lich eben ſo vor.
Warten Sie, wir wollen uns darüber ſo-
gleich ausführlicher unterhalten. Ich habe nur noch ein Stück
Braten zu verzehren, das ich aus der Küche, und etwas
Wein, den ich von Ihrem Tiſche geſtohlen. Ich bin gleich
fertig.
[128]
Das ſchmatzt. Der Kerl verurſacht mir ganz
idylliſche Empfindungen; ich könnte wieder mit dem Ein-
fachſten anfangen, ich könnte Käs eſſen, Bier trinken, Tabak
rauchen. Mach fort, grunze nicht ſo mit deinem Rüſſel,
und klappre mit deinen Hauern nicht ſo.
Wertheſter Adonis, ſind Sie in Angſt um
Ihre Schenkel? Sein Sie unbeſorgt, ich bin weder ein
Beſenbinder, noch ein Schulmeiſter. Ich brauche keine Gerten
zu Ruthen.
Du bleibſt nichts ſchuldig.
Ich wollte, es ginge meinem Herrn eben ſo.
Meinſt du, damit du zu deinen Prügeln kämſt?
Biſt du beſorgt um deine Erziehung?
O Himmel, man kömmt leichter zu ſeiner
Erzeugung, als zu ſeiner Erziehung. Es iſt traurig, in
welche Umſtände Einen andere Umſtände verſetzen können!
Was für Wochen hab' ich erlebt, ſeit meine Mutter in die
Wochen kam! Wieviel Gutes hab' ich empfangen, das ich
meiner Empfängniß zu danken hätte!
Was deine Empfänglichkeit betrifft, ſo könnte
ſie es nicht beſſer treffen, um getroffen zu werden. Drück'
dich beſſer aus, oder du ſollſt den unangenehmſten Eindruck
von meinem Nachdruck haben.
Als meine Mutter um das Vorgebirg der
guten Hoffnung ſchiffte ....
Und dein Vater am Cap Horn Schiffbruch
litt ....
Richtig, denn er war Nachtwächter. Doch
ſetzte er das Horn nicht ſo oft an die Lippen, als die Väter
edler Söhne an die Stirn.
[129]
Menſch, du beſitzeſt eine himmliſche Unver-
ſchämtheit. Ich fühle ein gewiſſes Bedürfniß, mich in nähere
Berührung mit ihr zu ſetzen. Ich habe eine große Paſſion
dich zu prügeln.
Das iſt eine ſchlagende Antwort und ein
triftiger Beweis.
Oder du biſt eine geſchlagene
Antwort. Denn du bekommſt Prügel für deine Antwort.
Und Sie
ſind ein Beweis, der noch geführt werden muß, denn er fällt
über ſeine eigenen Beine, die im Grund genommen ſelbſt
noch zu beweiſen ſind. Es ſind höchſt unwahrſcheinliche
Waden und ſehr problematiſche Schenkel.
Eure Hoheit verzeihen ...
Wie mir ſelbſt! Wie mir ſelbſt! Ich ver-
zeihe mir die Gutmüthigkeit, Sie anzuhören. Meine Herren,
wollen Sie nicht Platz nehmen? — Was die Leute für
Geſichter machen, wenn ſie das Wort Platz hören! Setzen
Sie ſich nur auf den Boden und geniren Sie ſich nicht.
Es iſt doch der letzte Platz, den Sie einſt erhalten, aber er
trägt Niemanden etwas ein — außer dem Todtengräber.
Geruhen
Eure Hoheit ...
Aber ſchnipſen Sie nicht ſo mit den Fingern,
wenn Sie mich nicht zum Mörder machen wollen.
Wollten gnädigſt,
in Betracht ...
Mein Gott, ſtecken Sie doch die Hände in
G. Büchner's Werke. 9
[130] die Hoſen, oder ſetzen Sie ſich darauf. Er iſt ganz aus
der Faſſung. Sammeln Sie ſich.
Man darf Kinder nicht während des P ......
unterbrechen, ſie bekommen ſonſt eine Verhaltung.
Mann, faſſen Sie ſich. Bedenken Sie Ihre
Familie und den Staat. Sie riskiren einen Schlagfluß,
wenn Ihnen Ihre Rede zurücktritt.
Erlauben
Eure Hoheit ...
Was! Sie können ſchon leſen? Nun denn ...
Daß man der zu erwartenden Ankunft von
Eurer Hoheit verlobter Braut, der durchlauchtigſten Prinzeſſin
Lena von Pipi, auf morgen ſich zu gewärtigen habe, davon
läßt Ihre königliche Majeſtät Eure Hoheit benachrichtigen.
Wenn meine Braut mich erwartet, ſo werde
ich ihr den Willen thun und ſie auf mich warten laſſen.
Ich habe ſie geſtern Nacht im Traume geſehen, ſie hatte ein
Paar Augen, ſo groß, daß die Tanzſchuhe meiner Roſetta zu
Augenbrauen darüber gepaßt hätten, und auf den Wangen
waren keine Grübchen, ſondern ein Paar Abzugsgräben für
das Lachen. Ich glaube an Träume. Träumen Sie auch
zuweilen, Herr Präſident? Haben Sie auch Ahnungen?
Verſteht ſich. Immer die Nacht vor dem
Tag, an dem ein Braten verbrennt, ein Kapaun krepirt,
oder Ihre königliche Majeſtät Leibweh bekommt.
A propos, hatten Sie nicht noch etwas auf
der Zunge? Geben Sie nur Alles von ſich.
An dem Tage der Vermählung iſt ein
höchſter Wille geſonnen, ſeine allerhöchſten Willensäußerungen
in die Hände Eurer Hoheit niederzulegen.
[131]
Sagen Sie einem höchſten Willen, daß ich
Alles thun werde, das ausgenommen, was ich werde bleiben
laſſen, was aber jedenfalls nicht ſoviel ſein wird, als wenn
es noch einmal ſoviel wäre. — Meine Herren, Sie ent-
ſchuldigen, daß ich Sie nicht begleite, ich habe gerade die
Paſſion zu ſitzen, aber meine Gnade iſt ſo groß, daß ich ſie
mit den Beinen kaum ausmeſſen kann.
auseinander.)
Herr Präſident, nehmen Sie doch das Maaß,
damit Sie mich ſpäter daran erinnern. Valerio, gib den
Herren das Geleite.
Das Geläute? Soll ich dem Herrn Prä-
ſidenten eine Schelle anhängen? Soll ich ſie führen, als
ob ſie auf allen Vieren gingen?
Menſch, du biſt nichts, als ein ſchlechtes
Wortſpiel. Du haſt weder Vater noch Mutter, ſondern die
fünf Vokale haben dich miteinander erzeugt.
Und Sie, Prinz, ſind ein Buch ohne Buch-
ſtaben, mit nichts als Gedankenſtrichen. Kommen Sie jetzt,
meine Herren. Es iſt eine traurige Sache um das Wort
Kommen. Will man ein Einkommen, ſo muß man ſtehlen;
an ein Aufkommen iſt nicht zu denken, als wenn man ſich
hängen läßt; ein Unterkommen findet man erſt, wenn man
begraben wird, und ein Auskommen hat man jeden Augen-
blick mit ſeinem Witz, wenn man nichts mehr zu ſagen weiß,
wie ich zum Beiſpiel eben, und Sie, ehe Sie noch etwas
geſagt haben. Ihr Abkommen haben Sie gefunden, und
Ihr Fortkommen werden Sie jetzt zu ſuchen erſucht.
Wie gemein ich mich zum Ritter an
den armen Teufeln gemacht habe! Es ſteckt nun aber doch
9 *
[132] einmal ein gewiſſer Genuß in einer gewiſſen Gemeinheit. —
Hm! Heirathen! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken.
O Shandy, alter Shandy, wer mir deine Uhr ſchenkte! —
Ach Valerio, haſt du es gehört?
Nun, Sie ſollen König werden. Das iſt
eine luſtige Sache. Man kann den ganzen Tag ſpazieren
fahren und den Leuten die Hüte verderben durch's viele Ab-
ziehen, man kann aus ordentlichen Menſchen ordentliche Sol-
daten ausſchneiden, ſo daß Alles ganz natürlich wird, man
kann ſchwarze Fräcke und weiße Halsbinden zu Staatsdienern
machen, und wenn man ſtirbt, ſo laufen alle blanken Knöpfe
blau an, und die Glockenſtricke reißen wie Zwirnsfäden vom
vielen Läuten. Iſt das nicht unterhaltend?
Valerio! Valerio! Wir müſſen was Anderes
treiben. Rathe!
Ach die Wiſſenſchaft, die Wiſſenſchaft! Wir
wollen Gelehrte werden! a priori? oder a posteriori?
A priori, das muß man bei meinem Herrn
Vater lernen; und a posteriori fängt Alles an, wie ein altes
Mährchen: es war einmal!
So wollen wir Helden werden.
trompetend und trommelnd auf und ab.)
Trom—trom—pläre
—plem!
Aber der Heroismus fuſelt abſcheulich und
bekommt das Lazarethfieber und kann ohne Lieutenants und
Rekruten nicht beſtehen. Pack dich mit deiner Alexanders-
und Napoleons-Romantik!
So wollen wir Genies werden.
Die Nachtigall der Poeſie ſchlägt den ganzen
Tag über unſerm Haupt, aber das Feinſte geht zum Teufel,
[133] bis wir ihr die Federn ausreißen und in die Tinte oder die
Farbe tauchen.
So wollen wir nützliche Mitglieder der
menſchlichen Geſellſchaft werden.
Lieber möchte ich meine Demiſſion als Menſch
geben.
So wollen wir zum Teufel gehen.
Ach der Teufel iſt nur des Contraſtes wegen
da, damit wir begreifen ſollen, daß am Himmel doch eigentlich
etwas ſei.
Ah Valerio, Valerio, jetzt hab' ich's!
Fühlſt du nicht das Wehen aus Süden? Fühlſt du nicht,
wie der tiefblaue, glühende Aether auf und ab wogt, wie
das Licht blitzt von dem goldnen, ſonnigen Boden, von der
heiligen Salzfluth und von den Marmor-Säulen und Leibern?
Der große Plan ſchläft, und die ehernen Geſtalten träumen
im Schatten über den tiefrauſchenden Wellen von dem alten
Zauberer Virgil, von Tarantella und Tambourin und tiefen,
tollen Nächten voll Masken, Fackeln und Guitarren. Ein
Lazzaroni, Valerio! Ein Lazzaroni! Wir gehen nach Italien.
Sechſte Scene.
Prinzeſſin Lena im Brautſchmuck. Die Gouvernante.
Ja, jetzt. Da iſt es. Ich dachte die Zeit an
nichts. Es ging ſo hin, und auf einmal richtet ſich der
Tag vor mir auf. Ich habe den Kranz im Haar — und
[134] die Glocken, die Glocken!
Augen.)
Sieh, ich wollte, der Raſen wüchſe ſo über mich
und die Bienen ſummten über mir hin; ſieh, jetzt bin ich
eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht
ein altes Lied:
Armes Kind, wie Sie bleich ſind unter
Ihren blitzenden Steinen!
O Gott, ich könnte lieben, warum nicht? Man
geht ja ſo einſam und taſtet nach einer Hand, die Einen
hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und
ſie Jedem über der Bruſt faltete. Aber warum ſchlägt man
einen Nagel durch zwei Hände, die ſich nicht ſuchten? Was
hat meine arme Hand gethan?
Dieſer Ring ſticht mich wie eine Natter.
Aber — er ſoll ja ein wahrer Don
Carlos ſein.
Aber — ein Mann —
Nun?
Den man nicht liebt.
Pfui!
Siehſt du, ich ſchäme mich. — Morgen iſt aller Duft und
Glanz von mir geſtreift. Bin ich denn, wie die arme, hilf-
loſe Quelle, die jedes Bild, das ſich über ſie bückt, in ihrem
ſtillen Grund abſpiegeln muß? Die Blumen öffnen und
ſchließen, wie ſie wollen, ihre Kelche der Morgenſonne und
dem Abendwind. Iſt denn die Tochter eines Königs weniger,
als eine Blume?
Lieber Engel, du biſt doch ein
wahres Opferlamm.
[135]
Ja wohl — und der Prieſter hebt ſchon das
Meſſer. — Mein Gott, mein Gott, iſt es denn wahr, daß
wir uns ſelbſt erlöſen müſſen mit unſerem Schmerz? Iſt
es denn wahr, die Welt ſei ein gekreuzigter Heiland, die
Sonne ſeine Dornenkrone, und die Sterne die Nägel und
Speere in ſeinen Füßen und Lenden?
Mein Kind, mein Kind! ich kann dich
nicht ſo ſehen. — Es kann nicht ſo gehen, es tödtet dich.
Vielleicht, wer weiß! Ich habe ſo etwas im Kopf. Wir
wollen ſehen. Komm!
Zweiter Akt.
Wie iſt mir eine Stimme doch erklungen
Im tiefſten Innern,
Und hat mit einemmale mir verſchlungen
All mein Erinnern.
Adalbert von Chamiſſo.
Erſte Scene.
Leonce und Valerio, der einen Pack trägt, treten auf.
Auf Ehre, Prinz, die Welt iſt doch
ein ungeheuer weitläufiges Gebäude.
Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die
Hände auszuſtrecken, wie in einem engen Spiegelzimmer, aus
[136] Furcht überall anzuſtoßen, daß die ſchönen Figuren in Scher-
ben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen nackten
Wand ſtände.
Ich bin verloren.
Da wird Niemand einen Verluſt dabei haben,
als wer dich findet.
Ich werde mich nächſtens in den Schatten
meines Schattens ſtellen.
Du verflüchtigſt dich ganz an der Sonne.
Siehſt du die ſchöne Wolke da oben? Sie iſt wenigſtens
ein Viertel von dir. Sie ſieht ganz wohlbehaglich auf deine
gröberen materiellen Stoffe herab.
Die Wolke könnte Ihrem Kopfe nichts ſchaden,
wenn man ſie Ihnen Tropfen für Tropfen darauf fallen ließe.
— Ein köſtlicher Einfall. Wir ſind ſchon durch ein Dutzend
Fürſtenthümer, durch ein halbes Dutzend Großherzogthümer
und durch ein paar Königreiche gelaufen, und das in der
größten Uebereilung in einem halben Tag — und warum? Weil
man König werden und eine ſchöne Prinzeſſin heirathen ſoll.
Und Sie leben noch in einer ſolchen Lage? Ich begreife
Ihre Reſignation nicht. Ich begreife nicht, daß Sie nicht
Arſenik genommen, ſich auf das Geländer des Kirchthurms
geſtellt und ſich eine Kugel durch den Kopf gejagt haben,
um es ja nicht zu verfehlen.
Aber Valerio, die Ideale! Ich habe das
Ideal eines Frauenzimmers in mir und muß es ſuchen. Sie
iſt unendlich ſchön und unendlich geiſtlos. Die Schönheit
iſt da ſo hilflos, ſo rührend, wie ein neugebornes Kind. Es
iſt ein köſtlicher Contraſt: dieſe himmliſch ſtupiden Augen,
[137] dieſer göttlich einfältige Mund, dieſes ſchafnaſige griechiſche
Profil, dieſer geiſtige Tod in dieſem geiſtigen Leib.
Teufel! da ſind wir ſchon wieder auf der
Grenze. Das iſt ein Land, wie eine Zwiebel, nichts als
Schaalen, oder wie ineinandergeſteckte Schachteln, in der
größten ſind nichts als Schachteln, und in der kleinſten iſt
gar nichts.
Soll denn dieſer
Pack mein Grabſtein werden? Sehen Sie Prinz, ich werde
philoſophiſch, ein Bild des menſchlichen Lebens. Ich ſchleppe
dieſen Pack mit wunden Füßen durch Froſt und Sonnenbrand,
weil ich Abends ein reines Hemd anziehen will, und wenn
endlich der Abend kommt, ſo iſt meine Stirne gefurcht,
meine Wange hohl, mein Auge dunkel, und ich habe grade
noch Zeit, mein Hemd anzuziehen als Todtenhemd. Hätte
ich nun nicht geſcheidter gethan, ich hätte mein Bündel vom
Stecken gehoben und es in der erſten beſten Kneipe verkauft,
und hätte mich dafür betrunken und im Schatten geſchlafen,
bis es Abend geworden wäre, und hätte nicht geſchwitzt und
mir keine Leichdörner gelaufen? Und Prinz, jetzt kommt die
Anwendung und die Praxis. Aus lauter Schamhaftigkeit
wollen wir jetzt auch den inneren Menſchen bekleiden und
Rock und Hoſen inwendig anziehen.
Wirthshaus los.)
Ei du lieber Pack, welch' ein köſtlicher
Duft, welche Weindüfte und Bratengerüche! Ei ihr lieben
Hoſen, wie wurzelt ihr im Boden und grünt und blüht, und
die langen, ſchweren Trauben hängen mir in den Mund, und
der Moſt gährt unter der Kelter.
Es muß ein bezauberter Tag ſein, die
[138] Sonne geht nicht unter, und es iſt ſo unendlich lang ſeit
unſrer Flucht.
Nicht doch, meine Liebe, die Blumen ſind ja
kaum welk, die ich zum Abſchied brach, als wir aus dem
Garten gingen.
Und wo ſollen wir ruhen? Wir ſind
noch auf gar nichts geſtoßen. Ich ſehe kein Kloſter, keinen
Eremiten, keinen Schäfer.
Wir haben Alles wohl anders geträumt mit
unſeren Büchern, hinter der Mauer unſeres Gartens, zwiſchen
unſeren Myrthen und Oleandern.
Du mein Jeſus, was wird man ſagen?
Und doch iſt es ſo zart und weiblich! Es iſt eine Entſagung.
Es iſt wie die Flucht der heiligen Ottilia. Aber wir müſſen
ein Obdach ſuchen. Es wird Abend.
Ja, die Pflanzen legen ihre Fiederblättchen zum
Schlaf zuſammen, und die Sonnenſtrahlen wiegen ſich an
den Grashalmen, wie müde Libellen.
O die Welt iſt abſcheulich! An einen
irrenden Königſohn iſt gar nicht zu denken.
O ſie iſt ſchön und ſo weit, ſo unendlich weit.
Ich möchte immer ſo fort gehen, Tag und Nacht. Es rührt
ſich nichts. Ein rother Blumenſchein ſpielt über die Wieſen,
und die fernen Berge liegen auf der Erde wie ruhende
Wolken.
[139]
Zweite Scene.
Ausſicht. Ein Garten vor demſelben.
Valerio. Leonce.
Nun Prinz, liefern Ihre Hoſen nicht ein
köſtliches Getränk? Laufen Ihnen Ihre Stiefel nicht mit
der größten Leichtigkeit die Kehle hinunter?
Siehſt du die alten Bäume, die Hecken, die
Blumen, das Alles hat ſeine Geſchichten, ſeine lieblichen,
heimlichen Geſchichten. Siehſt du die großen freundlichen
Geſichter unter den Reben an der Hausthüre? Wie ſie ſitzen
und ſich bei den Händen halten und Angſt haben, daß ſie
ſo alt ſind und die Welt noch ſo jung iſt. O Valerio,
und ich bin ſo jung, und die Welt iſt ſo alt. Ich bekomme
manchmal eine Angſt um mich und könnte mich in eine Ecke
ſetzen und heiße Thränen weinen aus Mitleid mit mir.
Nimm dieſe Glocke, dieſe
Taucherglocke, und ſenke dich in das Meer des Weines, daß es
Perlen über dir ſchlägt. Sieh', wie die Elfen über den Kelch
der Weinblume ſchweben, goldbeſchuht, die Cymbeln ſchlagend.
Komm Valerio, wir müſſen was
treiben, was treiben. Wir wollen uns mit tiefen Gedanken
abgeben, wir wollen unterſuchen, wie es kommt, daß der
Stuhl nur auf drei Beinen ſteht und nicht auf zweien.
Komm, wir wollen Ameiſen zergliedern, Staubfäden zählen;
ich werde es doch noch zu einer Liebhaberei bringen. Ich
werde doch noch eine Kinderraſſel finden, die mir erſt aus
der Hand fällt, wenn ich Flocken leſe und an der Decke
[140] zupfe. Ich habe noch eine gewiſſe Doſis Enthuſiasmus zu
verbrauchen; aber wenn ich Alles recht warm gekocht habe,
ſo brauche ich eine unendliche Zeit, um einen Löffel zu finden,
mit dem ich das Gericht eſſe, und darüber ſteht es ab.
Ergo bibamus! Dieſe Flaſche iſt keine Ge-
liebte, keine Idee, ſie macht keine Geburtsſchmerzen, ſie wird
nicht langweilig, wird nicht treulos, ſie bleibt eins vom
erſten Tropfen bis zum letzten. Du brichſt das Siegel, und
alle Träume, die in ihr ſchlummern, ſprühen Dir entgegen.
O Gott! Die Hälfte meines Lebens ſoll ein
Gebet ſein, wenn mir nur ein Strohhalm beſcheert wird,
auf dem ich reite, wie auf einem prächtigen Roß, bis ich
ſelbſt auf dem Stroh liege. — Welch' unheimlicher Abend!
Da unten iſt Alles ſtill, und da oben wechſeln und ziehen
die Wolken, und der Sonnenſchein geht und kommt wieder.
Sieh, was ſeltſame Geſtalten ſich dort jagen, ſieh die langen
weißen Schatten mit den entſetzlich mageren Beinen und
Fledermausſchwingen, und Alles ſo raſch, ſo wirr, und da
unten rührt ſich kein Blatt, kein Halm. Die Erde hat ſich
ängſtlich zuſammengeſchmiegt, wie ein Kind, und über ihre
Wiege ſchreiten die Geſpenſter.
Ich weiß nicht, was Ihr wollt, mir iſt ganz
behaglich zu Muth. Die Sonne ſieht aus, wie ein Wirths-
hausſchild, und die feurigen Wolken darüber wie die Auf-
ſchrift: "Wirthshaus zur goldenen Sonne". Die Erde und
das Waſſer da unten ſind wie ein Tiſch, auf dem Wein
verſchüttet iſt, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit
denen Gott und der Teufel aus Langeweile eine Parthie
machen, und Ihr ſeid ein Kartenkönig, und ich bin ein
Kartenbube, es fehlt nur noch eine Dame, eine ſchöne Dame,
[141] mit einem großen Lebkuchenherz auf der Bruſt und einer
mächtigen Tulpe, worin die lange Naſe ſentimental verſinkt
und — bei Gott
— da iſt ſie! Es iſt aber eigentlich keine Tulpe, ſondern
eine Priſe Tabak, und es iſt eigentlich keine Naſe, ſondern ein
Rüſſel!
Warum ſchreiten Sie, Wertheſte,
ſo eilig, daß man Ihre weiland Waden bis zu Ihren reſpec-
tabeln Strumpfbändern ſieht?
Warum reißen
Sie, Geehrteſter, den Mund ſo weit auf, daß Sie einem
ein Loch in die Ausſicht machen?
Damit Sie, Geehrteſte, ſich die Naſe am
Horizont nicht blutig ſtoßen. Solch' eine Naſe iſt wie der
Thurm auf Libanon, der gen Damascum ſteht.
Meine Liebe, iſt denn der Weg
ſo lang?
O jeder Weg iſt lang.
Das Picken der Todtenuhr in unſerer Bruſt iſt langſam,
und jeder Tropfen Blut mißt ſeine Zeit, und unſer Leben
iſt ein ſchleichend Fieber. Für müde Füße iſt jeder Weg zu
lang ...
Und müden Augen
jedes Licht zu ſcharf, und müden Lippen jeder Hauch zu
ſchwer
und müden Ohren jedes Wort zu viel.
O lieber Valerio! Könnte ich nicht auch ſagen:
"Sollte nicht dies und ein Wald von Federbüſchen nebſt ein
Paar gepufften Roſen auf meinen Schuhen —?" Ich hab'
es, glaub' ich, ganz melancholiſch geſagt. Gott ſei Dank,
daß ich anfange, mit der Melancholie niederzukommen. Die
[142] Luft iſt nicht mehr ſo hell und kalt, der Himmel ſenkt ſich
glühend dicht um mich, und ſchwere Tropfen fallen. — O
dieſe Stimme: iſt denn der Weg ſo lang? Es reden viele
Stimmen über die Erde, und man meint, ſie ſprächen von
anderen Dingen, aber ich habe ſie verſtanden. Sie ruht auf
mir wie der Geiſt, da er über den Waſſern ſchwebte, —
eh' das Licht ward. Welch' Gähren in der Tiefe, welch'
Werden in mir, wie ſich die Stimme durch den Raum gießt!
Iſt denn der Weg ſo lang?
Nein, der Weg zum Narrenhaus iſt nicht
ſo lang, er iſt leicht zu finden, ich kenne alle Fußpfade, alle
Vicinalwege und Chauſſeen. Ich ſehe ihn ſchon auf einer
breiten Allee dahin, an einem eiskalten Wintertage, den Hut
unter dem Arm, wie er ſich in die langen Schatten unter
die kahlen Bäume ſtellt und mit dem Schnupftuch fächelt.
— Er iſt ein Narr!
Dritte Scene.
Lena. Die Gouvernante.
Denken Sie nicht an den Menſchen.
Er war ſo alt unter ſeinen blonden Locken. Den
Frühling auf den Wangen und den Winter im Herzen. Das
iſt traurig. Der müde Leib findet ſein Schlafkiſſen überall,
doch wenn der Geiſt müd' iſt, wo ſoll er ruhen? Es kommt
[143] mir ein entſetzlicher Gedanke, ich glaube, es gibt Menſchen,
die unglücklich ſind, unheilbar, blos weil ſie ſind.
erhebt ſich.)
Wohin mein Kind?
Ich will hinunter in den Garten.
Aber —
Aber liebe Mutter, du weißt, man hätte mich
eigentlich in eine Scherbe ſetzen ſollen. Ich brauche Thau
und Nachtluft, wie die Blumen. — Hörſt du die Harmonie
des Abends? Wie die Grillen den Tag einſingen und die
Nachtviolen ihn mit ihrem Duft einſchläfern! Ich kann nicht
im Zimmer bleiben. Die Wände fallen auf mich.
Vierte Scene.
Man ſieht Lena auf dem Raſen ſitzend.
Es iſt eine ſchöne
Sache um die Natur, ſie wäre aber doch noch ſchöner, wenn
es keine Schnaken gäbe, die Wirthsbetten etwas reinlicher
wären und die Todtenuhren nicht ſo an den Wänden pickten.
Drin ſchnarchen die Menſchen, und da außen quaken die
Fröſche, drin pfeifen die Hausgrillen und da außen die Feld-
grillen. Lieber Raſen, dies iſt ein raſender Entſchluß.
Die Grasmücke hat im
Traum gezwitſchert. — Die Nacht ſchläft tiefer, ihre Wange
[144] wird bleicher und ihr Athem ſtiller. Der Mond iſt wie ein
ſchlafendes Kind, die goldnen Locken ſind ihm im Schlaf
über das liebe Geſicht heruntergefallen. — Oh, ſein Schlaf
iſt Tod. Wie der todte Engel auf ſeinem dunklen Kiſſen
ruht und die Sterne gleich Kerzen um ihn brennen! Armes
Kind! Es iſt traurig, todt und ſo allein.
Steh' auf in deinem weißen Kleid und wandle
hinter der Leiche durch die Nacht und ſinge ihr das Sterbelied.
Wer ſpricht da?
Ein Traum.
Träume ſind ſelig.
So träume dich ſelig und laß mich dein
ſeliger Traum ſein.
Der Tod iſt der ſeligſte Traum.
So laß mich dein Todesengel ſein. Laß meine
Lippen ſich gleich ſeinen Schwingen auf deine Augen ſenken.
Schöne Leiche, du ruhſt ſo lieblich auf dem
ſchwarzen Bahrtuche der Nacht, daß die Natur das Leben
haßt und ſich in den Tod verliebt.
Nein, laß mich.
ſich raſch.)
Zu viel! Zu viel! Mein ganzes Sein iſt
in dem einen Augenblick. Jetzt ſtirb! Mehr iſt unmöglich.
Wie friſchathmend, ſchönheitglänzend ringt die Schöpfung ſich
aus dem Chaos mir entgegen. Die Erde iſt eine Schale von
dunklem Gold, wie ſchäumt das Licht in ihr und fluthet über
ihren Rand, und hellauf perlen daraus die Sterne. Dieſer
eine Tropfen Seligkeit macht mich zu einem köſtlichen Gefäß.
Hinab, heiliger Becher!
Halt, Sereniſſime!
[145]
Laß mich!
Ich werde Sie laſſen, ſobald Sie gelaſſen
ſind und das Waſſer zu laſſen verſprechen.
Dummkopf!
Iſt denn Eure Hoheit noch nicht über die
Lieutenantsromantik hinaus: das Glas zum Fenſter hinaus zu
werfen, womit man die Geſundheit ſeiner Geliebten getrunken?
Ich glaube halbwegs, du haſt Recht.
Tröſten Sie Sich. Wenn Sie auch nicht
heute Nacht unter dem Raſen ſchlafen, ſo ſchlafen Sie
wenigſtens darauf. Es wäre ein eben ſo ſelbſtmörderiſcher
Verſuch, in eins von den Betten gehen zu wollen. Man
liegt auf dem Stroh, wie ein Todter, und wird von dem
Ungeziefer geſtochen, wie ein Lebendiger.
Meinetwegen.
Menſch,
du haſt mich um den ſchönſten Selbſtmord gebracht. Ich
werde in meinem Leben keinen ſo vorzüglichen Augenblick
mehr dazu finden, und das Wetter iſt vortrefflich. Jetzt bin
ich ſchon aus der Stimmung. Der Kerl hat mir mit ſeiner
gelben Weſte und ſeinen himmelblauen Hoſen Alles ver-
dorben. — Der Himmel beſcheere mir einen recht geſunden,
plumpen Schlaf.
Amen — und ich habe ein Menſchenleben
gerettet und werde mir mit meinem guten Gewiſſen heute
Nacht den Leib warm halten. Wohl bekomm's, Valerio!
G. Büchner's Werke. 10
[146]
Dritter Akt.
Erſte Scene.
Heirathen? Seit wann hat es Eure Hoheit
zum ewigen Kalender gebracht?
Weißt du auch, Valerio, daß ſelbſt der Ge-
ringſte unter den Menſchen ſo groß iſt, daß das Leben noch
viel zu kurz iſt, um ihn lieben zu können? Und dann kann
ich doch einer gewiſſen Art von Leuten, die ſich einbilden,
daß nichts ſo ſchön und heilig ſei, daß ſie es nicht noch
ſchöner und heiliger machen müßten, die Freude laſſen. Es
liegt ein gewiſſer Genuß in dieſer lieben Arroganz. Warum
ſoll ich ihnen denſelben nicht gönnen?
Sehr human und philobeſtialiſch! Aber weiß
ſie auch, wer Sie ſind?
Sie weiß nur, daß ſie mich liebt.
Und weiß Eure Hoheit auch, wer ſie iſt?
Dummkopf! Frag' doch die Nelke und die
Thauperle nach ihrem Namen.
Das heißt, ſie iſt überhaupt etwas, wenn
das nicht ſchon zu unzart iſt und nach dem Signalement
ſchmeckt. — Aber wie ſoll das gehen? Hm! — Prinz, bin
ich Miniſter, wenn Sie heute vor Ihrem Vater mit der
Unausſprechlichen, Namenloſen mittelſt des Eheſegens zu-
ſammengeſchmiedet werden? Ihr Wort?
Mein Wort!
[147]
Der arme Teufel Valerio empfiehlt ſich
Seiner Excellenz dem Herrn Staatsminiſter Valerio von
Valerienthal. — "Was will der Kerl? Ich kenne ihn nicht.
Fort, Schlingel!"
Zweite Scene.
Der Landrath. Der Schulmeiſter. Bauern im Sonntagsputz,
Tannenzweige haltend
Lieber Herr Schulmeiſter, wie halten ſich
eure Leute.
Sie halten ſich ſo gut in ihren Leiden,
daß ſie ſich ſchon ſeit geraumer Zeit aneinander halten. Sie
gießen brav Spiritus an ſich, ſonſt könnten ſie ſich in der
Hitze unmöglich ſo lange halten. Courage, ihr Leute! Streckt
Eure Tannenzweige gerade vor Euch hin, damit man meint,
ihr wäret ein Tannenwald, und Eure Naſen die Erdbeeren,
und Eure Dreimaſter die Hörner vom Wildpret, und Eure
hirſchledernen Hoſen der Mondſchein darin, und, merkt's
Euch, der Hinterſte läuft immer wieder vor den Vorderſten,
damit es ausſieht, als wäret Ihr ins Quadrat erhoben.
Und, Schulmeiſter, Ihr ſteht für die Nüch-
ternheit.
Verſteht ſich, denn ich kann vor Nüch-
ternheit kaum noch ſtehen.
Gebt Acht, Leute, im Programm ſteht:
Sämmtliche Unterthanen werden von freien Stücken, reinlich
10 *
[148] gekleidet, wohlgenährt und mit zufriedenen Geſichtern ſich
längs der Landſtraße aufſtellen. Macht uns keine Schande!
Seid ſtandhaft! Kratzt euch nicht hinter
den Ohren und ſchneutzt euch die Naſen nicht, ſo lange das
hohe Paar vorbeifährt, und zeigt die gehörige Rührung, oder
es werden rührende Mittel gebraucht werden. Erkennt, was
man für euch thut, man hat euch gerade ſo geſtellt, daß der
Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in
eurem Leben einen Braten riecht. Könnt ihr noch eure Lec-
tion? He! Vi!
Vi!
Vat!
Vat!
Vivat!
Vivat!
So Herr Landrath, Sie ſehen, wie die
Intelligenz im Steigen iſt. Bedenken Sie, es iſt Latein.
Wir geben aber auch heut Abend einen transparenten Ball
mittelſt der Löcher in unſeren Jacken und Hoſen, und ſchlagen
uns mit unſeren Fäuſten Cocarden an die Köpfe.
Dritte Scene.
Der Ceremonienmeiſter mit einigen Bedienten auf dem Vordergrunde
Es iſt ein Jammer. Alles geht
zu Grund. Die Braten ſchnurren ein. Alle Glückwünſche
[149] ſtehen ab. Alle Vatermörder legen ſich um, wie melancholiſche
Schweinsohren. Den Bauern wachſen die Nägel und der
Bart wieder. Den Soldaten gehen die Locken auf. Von
den zwölf Unſchuldigen iſt Keine, die nicht das horizontale
Verhalten dem ſenkrechten vorzöge. Sie ſehen in ihren weißen
Kleidchen aus, wie erſchöpfte Seidenhaſen, und der Hofpoet
grunzt um ſie herum, wie ein bekümmertes Meerſchweinchen.
Die Herren Offiziere kommen um all ihre Haltung, und die
Hofdamen ſtehen da, wie Gradirbäue. Das Salz cryſtalliſirt
an ihren Halsketten.
Sie machen es ſich wenigſtens
bequem; man kann ihnen nicht nachſagen, daß ſie auf den
Schultern trügen. Wenn ſie auch nicht offenherzig ſind, ſo
ſind ſie doch offen bis zum Herzen.
Ja, ſie ſind gute Karten vom
türkiſchen Reiche, man ſieht die Dardanellen und das Marmor-
meer. Fort, ihr Schlingel! An die Fenſter! Da kommt Ihro
Majeſtät.
Auch die Prinzeſſin iſt verſchwunden. Hat man
noch keine Spur von unſerm geliebten Erbprinzen? Sind
meine Befehle befolgt? Werden die Grenzen beobachtet?
Ja, Majeſtät. Die Ausſicht von
dieſem Saale geſtattet uns die ſtrengſte Aufſicht.
erſten Bedienten.)
Was haſt du geſehen?
Ein Hund, der ſeinen Herrn ſucht,
iſt durch das Reich gelaufen.
Und du?
Es geht Jemand auf der Nord-
[150] grenze ſpazieren, aber es iſt nicht der Prinz, ich könnte ihn
erkennen.
Und du?
Sie verzeihen — nichts.
Das iſt ſehr wenig. Und du?
Auch nichts.
Das iſt eben ſo wenig.
Aber, Staatsrath, habe ich nicht den Beſchluß
gefaßt, daß meine königliche Majeſtät ſich an dieſem Tage
freuen, und daß an ihm die Hochzeit gefeiert werden ſollte?
War das nicht unſer feſteſter Entſchluß?
Ja, Eure Majeſtät, ſo iſt es protokollirt
und aufgezeichnet.
Und würde ich mich nicht kompromittiren, wenn
ich meinen Beſchluß nicht ausführte?
Wenn es anders für Eure Majeſtät mög-
lich wäre, ſich zu kompromittiren, ſo wäre dieß ein Fall,
worin ſie ſich kompromittiren könnte.
Habe ich nicht mein königliches Wort gegeben?
— Ja, ich werde meinen Beſchluß ſogleich ins Werk ſetzen,
ich werde mich freuen.
O ich bin
außerordentlich froh!
Wir theilen ſämmtlich die Gefühle Eurer
Majeſtät, ſo weit es für Unterthanen möglich und ſchicklich iſt.
O, ich weiß mir vor Freude nicht zu helfen.
Ich werde meinen Kammerherren rothe Röcke machen laſſen,
ich werde einige Cadetten zu Lieutenants machen, ich werde
meinen Unterthanen erlauben — aber, aber — die Hoch-
zeit? Lautet die andere Hälfte des Beſchluſſes nicht, daß die
Hochzeit gefeiert werden ſollte?
[151]
Ja, Eure Majeſtät.
Ja, wenn aber der Prinz nicht kommt und die
Prinzeſſin auch nicht?
Ja, wenn der Prinz nicht kommt und die
Prinzeſſin auch nicht, — dann — dann —
Dann, dann?
Dann können ſie ſich eben nicht heirathen.
Halt, iſt der Schluß logiſch? Wenn — dann
— Richtig! Aber mein Wort, mein königliches Wort!
Tröſte Eure Majeſtät ſich mit anderen
Majeſtäten. Ein königliches Wort iſt ein Ding — ein
Ding — ein Ding — das nichts iſt.
Seht Ihr noch nichts?
Eure Majeſtät, nichts, gar nichts.
Und ich hatte beſchloſſen, mich ſo zu freuen;
grade mit dem Glockenſchlag wollte ich anfangen und wollte
mich freuen volle zwölf Stunden, — ich werde ganz
melancholiſch.
Alle Unterthanen werden aufgefordert, die
Gefühle Ihrer Majeſtät zu theilen.
Denjenigen, welche kein Schnupf-
tuch bei ſich haben, iſt das Weinen jedoch Anſtandes halber
unterſagt.
Halt! Ich ſehe etwas! Es iſt etwas
wie ein Vorſprung, wie eine Naſe, das Uebrige iſt noch nicht
über der Grenze; und dann ſeh' ich noch einen Mann, und
dann zwei Perſonen entgegengeſetzten Geſchlechts.
In welcher Richtung?
Sie kommen näher. Sie gehen auf
das Schloß zu. Da ſind ſie.
[152]
maskirt auf.)
Wer ſeid Ihr?
Weiß ich's?
mehrere Masken ab.)
Bin ich das? oder das? oder das?
Wahrhaftig, ich bekomme Angſt, ich könnte mich ſo ganz
auseinanderſchälen und blättern.
Aber — aber etwas müßt Ihr denn
doch ſein?
Wenn Eure Majeſtät es ſo befehlen. Aber,
meine Herren, hängen ſie alsdann die Spiegel herum und
verſtecken Sie Ihre blanken Knöpfe etwas und ſehen Sie
mich nicht ſo an, daß ich mich in Ihren Augen ſpiegeln muß,
oder ich weiß wahrhaftig nicht mehr, was ich eigentlich bin.
Der Menſch bringt mich in Confuſion, zur
Deſperation. Ich bin in der größten Verwirrung.
Aber eigentlich wollte ich einer hohen und
geehrten Geſellſchaft verkündigen, daß hiermit die zwei welt-
berühmten Automaten angekommen ſind, und daß ich vielleicht
der dritte und merkwürdigſte von beiden bin, wenn ich eigent-
lich ſelbſt recht wüßte, wer ich wäre, worüber man übrigens
ſich nicht wundern dürfte, da ich ſelbſt gar nichts von dem
weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, daß ich es
nicht weiß, ſo daß es höchſt wahrſcheinlich iſt, daß man mich
nur ſo reden läßt, und es eigentlich nichts als Walzen und
Windſchläuche ſind, die das Alles ſagen.
Ton):
Sehen Sie hier, meine Herren und Damen, zwei
Perſonen beiderlei Geſchlechts, ein Männchen und ein Weib-
chen, einen Herrn und eine Dame. Nichts als Kunſt und
Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern! Jede
[153] hat eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der
kleinen Zehe am rechten Fuß, man drückt ein klein wenig,
und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre. Dieſe Perſonen
ſind ſo vollkommen gearbeitet, daß man ſie von anderen
Menſchen gar nicht unterſcheiden könnte, wenn man nicht
wüßte, daß ſie bloßer Pappdeckel ſind; man könnte ſie
eigentlich zu Mitgliedern der menſchlichen Geſellſchaft machen.
Sie ſind ſehr edel, denn ſie ſprechen hochdeutſch. Sie ſind
ſehr moraliſch, denn ſie ſtehn auf den Glockenſchlag auf,
eſſen auf den Glockenſchlag zu Mittag und gehn auf den
Glockenſchlag zu Bett; auch haben ſie eine gute Verdauung,
was beweiſt, daß ſie ein gutes Gewiſſen haben. Sie haben
ein feines ſittliches Gefühl, denn die Dame hat gar kein
Wort für den Begriff Beinkleider, und dem Herrn iſt es rein
unmöglich, hinter einem Frauenzimmer eine Treppe hinauf
oder vor ihm hinunterzugehen. Sie ſind ſehr gebildet, denn die
Dame ſingt alle neuen Opern, und der Herr trägt Manſchetten.
Geben Sie Acht, meine Herren und Damen, ſie ſind jetzt in
einem intereſſanten Stadium, der Mechanismus der Liebe
fängt an ſich zu äußern, der Herr hat der Dame ſchon einige
Mal den Shawl getragen, die Dame hat ſchon einige Mal
die Augen verdreht und gen Himmel geblickt. Beide haben
ſchon mehrmals geflüſtert: Glaube, Liebe, Hoffnung. Beide
ſehen bereits ganz accordirt aus, es fehlt nur noch das
winzige Wörtchen: Amen.
In effigie? in effigie?
Präſident, wenn man einen Menſchen in effigie hängen läßt,
iſt das nicht eben ſo gut, als wenn er ordentlich gehängt
würde?
Verzeihen, Eure Majeſtät, es iſt noch viel
[154] beſſer, denn es geſchieht ihm kein Leid dabei, und er wird
dennoch gehängt.
Jetzt hab' ich's. Wir feiern die Hochzeit in
effigie.
Das iſt die Prin-
zeſſin, das iſt der Prinz. — Ich werde meinen Beſchluß
durchſetzen, ich werde mich freuen. — Laßt die Glocken läuten,
macht Eure Glückwünſche zurecht, hurtig, Herr Hofprediger!
Himmel.)
Fang' an! Laß deine vermaledeiten Geſichter
und fang' an! Wohlauf!
Wenn wir
— oder — aber —
Sintemal und alldieweil —
Denn —
Es war vor Erſchaffung der Welt —
Daß —
Gott lange Weile hatte —
Machen Sie es nur kurz, Beſter.
Geruhen Eure Hoheit, Prinz
Leonce vom Reiche Popo, und geruhen Eure Hoheit, Prinzeſſin
Lena vom Reiche Pipi, und geruhen Eure Hoheiten gegen-
ſeitig, ſich beiderſeitig einander haben zu wollen, ſo ſprechen
Sie ein lautes und vernehmliches Ja.
Ja!
So ſage ich Amen.
Gut gemacht, kurz und bündig; ſo wären
denn das Männlein und Fräulein erſchaffen, und alle Thiere
im Paradies ſtehen um ſie.
[155]
Der Prinz!
Der Prinz! Mein Sohn! Ich bin verloren,
ich bin betrogen!
Wer iſt die
Perſon? Ich laſſe Alles für ungiltig erklären?
phirend).
Die Prinzeſſin!
Lena?
Leonce?
Ei Lena, ich glaube, das war die Flucht in
das Paradies.
Ich bin betrogen.
Ich bin betrogen.
O Zufall!
O Vorſehung!
Ich muß lachen, ich muß lachen. Eure
Hoheiten ſind wahrhaftig durch den Zufall einander zugefallen;
ich hoffe, Sie werden dem Zufall zu Gefallen — Gefallen
aneinander finden.
Daß meine alten Augen endlich das
ſehen konnten! Ein irrender Königsſohn! Jetzt ſterb' ich
ruhig.
Meine Kinder, ich bin gerührt, ich weiß mir
vor Rührung kaum zu helfen. Ich bin der glücklichſte Mann!
Ich lege aber auch hiermit feierlich die Regierung in deine
Hände, mein Sohn, und werde ſogleich ungeſtört zu denken
anfangen. Mein Sohn, du überläſſeſt mir dieſe Weiſen
deutet auf den Staatsrath)
, damit ſie mich in meinen Bemüh-
ungen unterſtützen. Kommen Sie, meine Herren, wir müſſen
denken, ungeſtört denken.
[156] Der Menſch hat mich vorhin confus gemacht, ich muß mir
wieder heraushelfen.
Meine Herren! meine Ge-
mahlin und ich bedauern unendlich, daß Sie uns heute ſo
lange zu Dienſten geſtanden ſind. Ihre Stellung iſt ſo
traurig, daß wir um keinen Preis ihre Standhaftigkeit länger
auf die Probe ſtellen möchten. Gehen Sie jetzt nach Hauſe,
aber vergeſſen Sie Ihre Reden, Predigten und Verſe nicht,
denn morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemüthlichkeit
den Spaß noch einmal von vorne an. Auf Wiederſehen!
genommen.)
Nun Lena, ſiehſt du jetzt, wie wir die Taſchen
voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir
damit anfangen, wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und
ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke an-
ziehen und ſie infuſoriſche Politik und Diplomatie treiben
laſſen, und uns mit dem Mikroskop daneben ſetzen? Oder
haſt du Verlangen nach einer Drehorgel, auf der die milch-
weißen äſthetiſchen Spitzmäuſe herumhuſchen? Wollen wir
ein Theater bauen?
Kopf.)
Aber ich weiß beſſer, was du willſt, wir laſſen alle
Uhren zerſchlagen, alle Kalender verbieten, und zählen Stun-
den und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüthe
und Frucht. Und dann umſtellen wir das Ländchen mit
Brennſpiegeln, daß es keinen Winter mehr gibt, und wir
uns im Sommer des Iſchia und Capri hinaufdeſtilliren, und
das ganze Jahr zwiſchen Roſen und Veilchen, zwiſchen
Orangen und Lorbeer ſtecken.
[157]
Und ich werde Staatsminiſter, und es wird
ein Dekret erlaſſen, daß, wer ſich Schwielen in die Hände
ſchafft, unter Kuratel geſtellt wird; daß, wer ſich krank
arbeitet, kriminaliſtiſch ſtrafbar iſt; daß jeder, der ſich rühmt,
ſein Brod im Schweiße ſeines Angeſichts zu eſſen, für ver-
rückt und der menſchlichen Geſellſchaft gefährlich erklärt wird;
und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott
um Makkaroni, Melonen und Feigen, um muſikaliſche Kehlen,
klaſſiſche Leiber und um eine kommende Religion!
[[158]]
Zur Textkritik von "Leonce und Lena".
Dieſes Luſtſpiel, bei Lebzeiten des Dichters nie gedruckt, wurde
zuerſt 1839 von Karl Kutzkow in ſeinem "Telegraph" an's Licht ge-
zogen und in Bruchſtücken mitgetheilt. Der erſte vollſtändige Ab-
druck ſteht in den "Nachgelaſſenen Schriften von Georg Büchner"
(Frankfurt, Sauerländer, 1850), S. 151-198. Der vorliegende
Text mußte ſich, was den zweiten und dritten Act betrifft, wörtlich
an die Frankfurter Ausgabe anſchließen, obwohl dieſe der leidigen
Cenſur-Verhältniſſe wegen ſicherlich in einigen Stellen von dem
Original-Manuſcript abweicht. Ja war hiezu genöthigt, weil ich
das von dem Dichter ſelbſt geſchriebene Manuſcript, welches er 1836
an Cotta in Stuttgart geſendet, nicht erhalten konnte; höchſt wahr-
ſcheinlich exiſtirt es überhaupt nicht mehr. Nur für den erſten Act
lag mir eine Abſchrift dieſes Manuſcripts von Büchners Hand vor.
Wo die Frankfurter Ausgabe von dem Wortlaute dieſer Abſchrift
abwich, habe ich ſtets den letzteren als den authentiſchen betrachtet
und hier wiedergegeben.
Ich ſtelle im Folgenden die Varianten und Zuſätze zuſammen,
durch welche ſich nun der vorliegende Abdruck von dem der "Nach-
gelaſſenen Schriften" unterſcheidet:
- S. 114, Z. 7, "Mir wäre geholfen" fehlt in N. S.
- " 114, " 9, "jetzt" fehlt in N. S.
- " 114, " 16, "Sie ſind preſſirt?" — N. S. "Sie haben dringende
Geſchäfte?" - " 114, " 29, "wichtigſten". — N. S. "ernſthafteſten".
- " 115, " 7, "Ich bin ein elender Spaßmacher" — bis "vor-
bringen" fehlt in N. S.
[159]
- S. 116, Z. 7, "Valerio. O, Gott" — das folgende Zwiegeſpräch
bis zur zweiten Scene, ferner die ganze zweite Scene,
endlich die dritte Scene bis Seite 119, Zeile 15:
Valerio: "Es iſt ein Jammer" — fehlen in N. S.
und erſcheinen hier zum erſten Male gedruckt. In
den N. S. beſteht der erſte Act nur aus drei Scenen.
Die vorliegende Ausgabe rettet alſo einige witzige Scenen, die
ſich den anderen zum Mindeſten gleichwerthig anſchließen. Aber
auch ſie vermag, wie bereits erwähnt, das Werk leider nicht genau in
jenem Wortlaute zu bieten, in dem es der Dichter niedergeſchrieben.
K. E. F.
[[160]][[161]]
Wozzeck.
Ein Trauerſpiel-Fragment.
G. Büchner's Werke. 11
[[162]][[163]]
Zimmer.
Hauptmann auf einem Stuhl. Wozzeck raſirt ihn.
Langſam Wozzeck, langſam; eins nach
dem Andern. Er macht mir ganz ſchwindlich. Was ſoll
ich denn mit den zehn Minuten anfangen, die Er heut' zu
früh fertig wird? Wozzeck! bedenk' Er, Er hat noch ſeine
ſchönen dreißig Jahre zu leben! Dreißig Jahre! macht drei-
hundert und ſechzig Monate und erſt wie viel Tage, Stun-
den, Minuten! Was will Er denn mit der ungeheueren
Zeit all anfangen? Theil Er ſich ein, Wozzeck!
Ja wohl, Herr Hauptmann!
Es wird mir ganz angſt um die Welt,
wenn ich an die Ewigkeit denke. Beſchäftigung, Wozzeck,
Beſchäftigung! Ewig, das iſt ewig! — Das ſieht Er ein.
Nun iſt es aber wieder nicht einig, und das iſt ein Augen-
blick, ja ein Augenblick! — Wozzeck, es ſchaudert mich, wenn
ich denke, daß ich die Welt in einem Tage herumdreht. Was
für eine Zeitverſchwendung! — wo ſoll das hinaus? So
geſchwind geht Alles! — Wozzeck, ich kann kein Mühlrad
mehr ſehen, oder ich werd' melancholiſch!
11 *
[164]
Ja wohl, Herr Hauptmann!
Wozzeck, Er ſieht immer ſo verhetzt aus!
Ein guter Menſch thut das nicht, ein guter Menſch, der ſein
gutes Gewiſſen hat, thut Alles langſam .... Red' Er doch
was, Wozzeck. Was iſt heut für Wetter?
Schlimm, Herr Hauptmann, ſchlimm. Wind!
Ich ſpür's ſchon, 's iſt ſo was Ge-
ſchwindes draußen; ſo ein Wind macht mir den Effect, wie
eine Maus.
Ich glaub', wir haben ſo was aus
Süd-Nord?
Ja wohl, Herr Hauptmann.
Ha! ha! ha! Süd-Nord! Ha! ha! ha!
O Er iſt dumm, ganz abſcheulich dumm!
Wozzeck,
Er iſt ein guter Menſch, aber
, Wozzeck, Er hat
keine Moral! Moral, das iſt, wenn man moraliſch iſt,
verſteht Er? Es iſt ein gutes Wort. Er hat ein Kind
ohne den Segen der Kirche, wie unſer hochwürdiger Herr
Garniſonsprediger ſagt, "ohne den Segen der Kirche" —
das Wort iſt nicht von mir.
Herr Hauptmann! Der liebe Gott wird den
armen Wurm nicht d'rum anſehen, ob das Amen darüber
geſagt iſt, eh' er gemacht wurde. Der Herr ſprach: Laſſet
die Kleinen zu mir kommen!
Was ſagt Er da? Was iſt das für
eine kurioſe Antwort? Er macht mich ganz confus mit
ſeiner Antwort. Wenn ich ſage: Er, ſo meine ich Ihn,
Ihn ...
Wir arme Leut! Sehen Sie, Herr Haupt-
mann, Geld, Geld! Wer kein Geld hat! — Da ſetz' ein-
mal einer Seinesgleichen auf die moraliſche Art in die Welt!
[165] Man hat auch ſein Fleiſch und Blut! Unſereins iſt doch
einmal unſelig in dieſer und der anderen Welt! Ich glaub',
wenn wir in den Himmel kämen, ſo müßten wir donnern
helfen.
Wozzeck! Er hat keine Tugend, Er iſt
kein tugendhafter Menſch! Fleiſch und Blut? Wenn ich
am Fenſter lieg', wenn's geregnet hat, und den weißen
Strümpfen ſo nachſeh', wie ſie über die Gaſſe ſpringen —
verdammt! Wozzeck, da kommt mir die Liebe! Ich hab' auch
Fleiſch und Blut! Aber Wozzeck, die Tugend! die Tugend!
Wie ſollte ich dann die Zeit herumbringen? — ich ſag' mir
immer: du biſt ein tugendhafter Menſch,
ein guter
Menſch, ein guter Menſch!
Ja, Herr Hauptmann, die Tugend — ich
hab's noch nicht ſo aus. Seh'n Sie, wir gemeine Leut'
— das hat keine Tugend; es kommt einem nur ſo die
Natur. Aber wenn ich ein Herr wär und hätt' einen Hut
und eine Uhr und ein Augenglas und könnt' vornehm reden,
ich wollt' ſchon tugendhaft ſein. Es muß was Schönes ſein
um die Tugend, Herr Hauptmann, aber ich bin ein armer Kerl.
Gut, Wozzeck, Er iſt ein guter Menſch,
ein guter Menſch. Aber Er denkt zu viel, das zehrt; Er
ſieht immer ſo verhetzt aus. Der Diskurs hat mich an-
gegriffen. Geh' Er jetzt, und renn Er nicht ſo, geh' Er
langſam, hübſch langſam die Straße hinunter, genau in der
Mitte!
[166]
Oeffentlicher Platz. Buden.
He! Marie, luſtig! Schöne Welt! Gelt?
Meine Herren und Damen!
Hier ſind zu ſehen das aſtronomiſche Pferd und der geogra-
phiſche Eſel! Die Creatur, wie ſie Gott gemacht hat, iſt
nix, gar nix! Sehen Sie die Kunſt! Schon der Affe hier!
Geht aufrecht, hat Rock und Hoſen, hat einen Säbel! He,
Michel! mach' Kompliment! So iſt's brav! Gib' Kuß. Da!
Meine Herren und Damen! Hier ſind
zu ſehen das hiſtoriſche Pferd und der philoſophiſche Eſel.
Sind Favorits von allen Potentaten Europas, Africas,
Auſtraliens, Mitglieder von allen gelehrten Geſellſchaften,
waren früher Profeſſoren an einer Univerſität. Der Eſel
ſagt den Leuten Alles, wie alt, wie viel Kinder, was für
Krankheiten! Kein Schwindel, Alles Erziehung! Der Eſel
hat eine viehiſche Vernunft, auch vernünftige Viehigkeit, iſt
nicht viehdumm, wie die Menſchen, das geehrte Publikum
abgerechnet. Der Aff' geht aufrecht, ſchießt eine Piſtole los,
iſt muſikaliſch.
Meine Herren
und Damen! Hier ſind zu ſehen der aſtrologiſche Eſel, das
romantiſche Pferd, der militäriſche Affe! Hereinſpaziert,
meine Herrſchaften, gleich iſt der Anfang vom Anfang.
Herein ſpaziert, koſt einen Groſchen!
[167]
Ich bin ein Freund vom Grotesken.
Ich bin ein Atheiſt.
Ich bin ein chriſtlich-dogmatiſcher
Atheiſt. Ich muß den Eſel ſehen.
Willſt auch hinein?
Meintwegen. Was der Menſch Quaſten hat,
und die Frau hat Hoſen. Das muß ein ſchön Ding ſein.
Das Innere der Bude.
Zeig dein Talent!
zeig deine viehiſche Vernünftigkeit. Beſchäme die menſchliche
Société. Meine Herrſchaften, das iſt ein Eſel, hat vier Hufe
und einen Schweif und das ſonſtige Zubehör! War Pro-
feſſor an einer Univerſität, die Studenten haben bei ihm
Reiten und Schlagen gelernt! Er hat einen einfachen Ver-
ſtand und eine doppelte Raiſon. Was machſt du, wenn du
mit der doppelten Raiſon denkſt?
Wenn
du mit der doppelten Raiſon denkſt?! Sage, iſt unter der
geehrten Société da ein Eſel?
Sehen Sie, das iſt Vernunft. Was iſt der Unterſchied
zwiſchen einem Menſchen und einem Eſel? Staub, Sand,
Dreck ſind Beide. Nur das Ausdrücken iſt verſchieden. Der
Eſel ſpricht mit dem Huf. Sag' den Herrſchaften, wie viel
Uhr es iſt! Wer von den Herrſchaften hat eine Uhr?
Hier!
[168]
Das muß ich ſehen!
— — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — — —
Stube.
in der Hand. Beſpiegelt ſich.)
Was die Steine glänzen? Was
ſind's für welche? Was hat er geſagt? — — Schlaf Bub!
Drück die Augen zu, feſt.
den Händen.)
Noch feſter! Bleib ſo — ſtill! oder er holt
Dich!
's iſt gewiß Gold! Unſereins hat nur
ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel, und
doch hab' ich einen ſo rothen Mund, als die großen Ma-
damen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren
ſchönen Herren, die ihnen die Händ' küſſen, und ich bin nur
ein arm Weibsbild! ..
Still,
Bub, die Augen zu! Das Schlafengelchen! ..
mit dem Glas)
.. wie's an der Wand läuft! — Die Augen
zu, oder es ſieht dir hinein, daß du blind wirſt.
nach den Ohren.)
[169]
Was haſt da?
Nix!
Unter deinen Fingern glänzt's ja.
Ein Ohr-Ringlein, — habs gefunden —
Ich hab ſo noch nix gefunden! — Zwei auf
einmal!
Bin ich ein ſchlecht Menſch?
's iſt gut, Marie. — Was der Bub ſchläft!
Greif ihm unter's Aermchen, der Stuhl drückt ihn. Die
hellen Tropfen ſtehen ihm auf der Stirn ... Alles Arbeit
unter der Sonne, ſogar Schweiß im Schlaf. Wir arme
Leut! ... Da iſt wieder Geld, Marie, die Löhnung und
was von meinem Hauptmann und vom Doktor.
Gott vergelts, Franz.
Ich muß fort. Heut Abend, Marie, Adies!
Ich bin doch ein ſchlecht
Menſch. Ich könnt mich erſtechen. — Ach! Was Welt!
Geht doch Alles zum Teufel, Mann und Weib!
Der Hof des Doctors.
Meine Herren! ich bin auf dem Dache wie
David, als er die Bathſeba ſah; aber ich ſehe nichts, als
die culs de Paris der Mädchenpenſion im Garten trocknen.
Meine Herren! wir ſind an der wichtigen Frage über das
Verhältniß des Subjekts zum Objekt. Wenn wir eins von
[170] den Dingen nehmen, worin ſich die organiſche Selbſt-Affirmation
des Göttlichen auf einem ſo hohen Standpunkte manifeſtirt,
und ihr Verhältniß zum Raum, zur Erde, zur Zeit unter-
ſuchen, meine Herren, wenn ich alſo dieſe Katze zum Fenſter
hinauswerfe, wie wird dieſe Weſenheit ſich zum Geſetz der
Gravitation und zum eigenen Inſtinct verhalten? He,
Wozzeck!
Wozzeck!
Herr Doktor, ſie
beißt!
Kerl! Er greift die Beſtie ſo zärtlich an, als
wär's ſeine Großmutter.
Herr Doctor, ich hab' Zittern.
Haha! ſchön, Wozzeck.
die Hände.)
Mir wird dunkel!
Was ſeh'
ich, meine Herren? Eine neue Spezies Haſenlaus. Eine
ſchönere Species als die bekannten.
Haſenlaus, meine Herren!
Meine
Herren! Das Thier hat keinen wiſſenſchaftlichen Inſtinkt.
Haſenlaus, die ſchönſten Exemplare trägt es im Pelzwerk.
— Meine Herrn! Sie können dafür was Anderes ſehen.
Sehen Sie dieſen Menſchen! Seit einem Vierteljahr ißt er
nichts als Erbſen! Bemerken Sie die Wirkung — fühlen
einmal den ungleichen Puls, und dann die Augen —
Herr Doktor, mir wird ganz dunkel!
Courage, Wozzeck, noch ein paar Tage, und
dann iſt's fertig. Fühlen Sie, meine Herren, fühlen Sie!
[171]A propos, Wozzeck, beweg' er vor den Herren doch einmal
die Ohren. Ich hab's Ihnen ſchon zeigen wollen — zwei
Muskeln ſind dabei thätig. Allons! friſch!
Ach, Herr Doktor!
Beſtie! Soll ich dir die Ohren bewegen?
Willſt du's machen, wie die Katze? So, meine Herren, das
ſind ſo Uebergänge zum Eſel, häufig auch in Folge weib-
licher Erziehung und der Mutterſprache. Wozzeck! Deine
Haare hat die Mutter zum Aſchied ſchön ausgeriſſen aus
Zärtlichkeit. Sie ſind ja ganz dünn geworden. Oder iſt's
erſt ſeit ein paar Tagen, machen's die Erbſen? Ja, meine
Herrn, die Erbſen, die Erbſen! Die Wiſſenſchaft!
Freies Feld. Die Stadt in der Ferne.
Du, der Platz iſt verflucht!
Ach was!
Der Platz iſt verflucht. Siehſt du den lichten
Streif da über das Gras hin, wo die Schwämme ſo nach-
wachſen? Da rollt Abends ein Kopf. Hob ihn einmal
[172] Einer auf, meint', es wär' ein Igel. Drei Tage und drei
Nächte drauf, und er lag auf den Hobelſpänen.
Es wird finſter, das macht dir angſt. Ei
was!
Still, Andres! Das waren die Freimaurer,
ich hab's, die Freimaurer! Still!
Sing lieber mit.
Hörſt du, Andres, es geht was?!
auf dem Boden.)
Hohl! Alles hohl! ein Schlund! es ſchwankt ...
Hörſt du, es wandert was mit uns, da unten wandert was
mit uns!
Fort, fort!
He! biſt du toll?
's iſt kurios ſtill. Und ſchwül.
Man möcht den Athem halten! Andres!
Was?
Red' was!
Andres!
wie hell! Ein Feuer fährt von der Erde in den Himmel
und ein Getös herunter, wie Poſaunen. Wie's heran-
klirrt!
Die Sonn' iſt unter. Drinnen trommeln ſie.
[173]
Still, wieder Alles ſtill, als wär' die
Welt todt!
Nacht! Wir müſſen heim!
Die Stadt.
ſtreich geht vorbei, der Tambourmajor voran.
He Bub!
Sa ſa! Ra ra ra! Hörſt? Da kommen ſie!
Was ein Mann! wie ein Baum!
Er ſteht auf ſeinen Füßen, wie ein Löw.
Ei was freundliche Augen, Frau Nach-
barin! So was is man an ihr nit gewohnt.
Ihre Augen glänzen ja noch —
Und wenn! Was geht Sie's an? Trag' Sie
ihre Augen zum Juden, und laß Sie ſie putzen, vielleicht
glänzen ſie auch noch, daß man ſie für zwei Knöpf' ver-
kaufen könnt.
Was Sie, Sie Frau Jungfer! Ich bin
eine honette Perſon, aber Sie, das weiß Jeder, Sie guckt
ſieben Paar lederne Hoſen durch.
[174]
Luder!
Komm, mein
Bub! Was die Leut wollen! Biſt nur ein arm Huren-
kind und machſt deiner Mutter doch ſo viel Freud' mit
deinem unehrlichen Geſicht! Sa! ſa!
Wer da? Biſt du's, Franz? Komm herein!
Kann nit. Muß zum Verles!
Haſt Stecken geſchnitten für den Major?
Ja, Marie. Ach ...
Was haſt du, Franz, du ſiehſt ſo verſtört?
Pſt, ſtill! Ich hab's aus! Es war ein
Gebild am Himmel, und Alles in Gluth! Ich bin Vielem
auf der Spur!
Mann!
Und jetzt Alles finſter, finſter! ... Marie,
es war wieder was, viel ...
Steht nicht
[175] geſchrieben: "Und ſieh, es ging der Rauch auf vom Land,
wie ein Rauch vom Ofen."
Franz!
Es iſt hinter mir hergegangen bis vor die
Stadt. Was ſoll das werden?
Dein Bub —
Hei, Jung! Heut Abend wieder auf die
Meß! Ich hab noch was geſpart! Jetzt muß ich fort.
Der Mann! So vergeiſtert! Er hat
ſein Kind nicht angeſehen! Er ſchnappt noch über mit den
Gedanken! Was biſt ſo ſtill, Bub. Fürcht'ſt dich? Es
wird ſo dunkel, man meint, man wird blind. Sonſt ſcheint
doch die Laterne herein! Ach! wir armen Leut. Ich halt's
nit aus, es ſchauert mich ...
Studirſtube des Doctors.
Was erleb' ich, Wozzeck? Ein Mann von
Wort? Ei! ei! ei!
Was denn, Herr Doctor?
Ich habs geſehen, Wozzeck! Er hat auf die
Straße gep—t, an die Wand gep—t, wie ein Hund!
Geb' ich Ihm dafür alle Tage drei Groſchen? Wozzeck!
Das iſt ſchlecht, die Welt wird ſchlecht, ſehr ſchlecht. O!
Aber Herr Doctor, wenn Einem die Natur
kommt!
[176]
Die Natur kommt! die Natur kommt! Aber-
glaube! abſcheulicher Aberglaube! Die Natur! Hab' ich nicht
nachgewieſen, daß der musculus sphincter vesicae dem Willen
unterworfen iſt? Die Natur! Wozzeck! Der Menſch iſt frei!
In dem Menſchen verklärt ſich die Individualität zur Frei-
heit! Den Harn nicht halten können!
legt die Hände auf den Rücken und geht auf und ab.)
Hat Er
ſchon ſeine Erbſen gegeſſen, Wozzeck? Nichts als Erbſen,
nichts als Hülſenfrüchte, merk' Er ſich's! Die nächſte Woche
fangen wir dann mit Hammelfleiſch an. Es gibt eine Re-
volution in der Wiſſenſchaft, ich ſprenge ſie in die Luft.
Harnſtoff, ſalzſaures Ammonium, [Hyperoxydul]! — Wozzeck,
kann Er nicht wieder p—n? geh' Er einmal da hinein und
probir Er's.
Ich kann nit, Herr Doctor!
Aber an die Wand p—n! Ich
hab's ſchriftlich, den Accord in der Hand! Ich hab's ge-
ſeh'n, mit dieſen Augen geſehen, ich ſteckte gerade die Naſe
zum Fenſter hinaus und ließ die Sonnenſtrahlen hineinfallen,
um das Nieſen zu beobachten, die Entſtehung des Nieſens.
Man muß Alles beobachten. Hat Er mir Fröſche gefangen?
Laich? Süßwaſſer-Polypen? Cristatellum? Hat Er? Stoß'
Er mir nicht an's Mikroſkop, ich habe den linken Backen-
zahn eines Infuſoriums darunter. Aber
,
Er hat an die Wand gep—t! — Nein! — ich ärgere mich
nicht, ärgern iſt ungeſund, iſt unwiſſenſchaftlich! Ich bin
ruhig, ganz ruhig, mein Puls hat ſeine gewöhnlichen 60,
und ich ſag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit. Behüte,
wer wird ſich über einen Menſchen ärgern, einen Menſchen!
Wenn es noch ein Proteus wäre, der Einem unpäßlich wird!
[177] Aber, Wozzeck, Er hätte doch nicht an die Wand p—n
ſollen!
Seh'n Sie, Herr Doctor, manchmal hat
man ſo 'nen Charakter, ſo 'ne Struktur. — Aber mit der
Natur iſt's was ander's, ſehen Sie, mit der Natur
kracht mit den Fingern)
, das iſt ſo was, wie ſoll ich doch
ſagen — zum Beiſpiel —
Wozzeck, Er philoſophirt wieder!
Ja, Herr Doctor, wenn die Natur aus
iſt —
Was, wenn die Natur —
— die Natur aus iſt, wenn die Welt ſo
finſter wird, daß man mit den Händen an ihr herumtappen
muß, daß man meint, ſie verrinnt, wie ein Spinnengewebe.
Ach, wenn was is und doch nicht is! Ach, Marie! Wenn
Alles dunkel is, und nur noch ein rother Schein im Weſten,
wie von einer Eſſe, an was ſoll man ſich da halten?
Kerl! Er taſtet mit ſeinen Füßen herum, wie
mit Spinnfüßen.
Herr Doctor, haben Sie ſchon
was von der doppelten Natur geſehen? Wenn die Sonne
im Mittag ſteht, und es iſt, als gieng' die Welt im Feuer
auf, hat ſchon eine fürchterliche Stimme zu mir geredet.
Wozzeck, Er hat eine aberratio.
Die Schwämme!
Haben Sie ſchon die Ringe von den Schwämmen am Bo-
den geſehen? Linienkreiſe — Figuren — da ſteckts, da —
wer das leſen könnte!
Wozzeck, Er kommt in's Narrenhaus. Er
G. Büchner's Werke. 12
[178] hat eine ſchöne fixe Idee, eine köſtliche aberratio mentalis
partialis, zweite Spezies! Sehr ſchön ausgebildet! Wozzeck,
Er kriegt noch mehr Zulage! Zweite Spezies: Fixe Idee bei
allgemein vernünftigem Zuſtand! Er thut noch Alles, wie
ſonſt? raſirt ſeinen Hauptmann?
Ja wohl!
Ißt ſeine Erbſen?
Immer ordentlich, Herr Doctor! Das Geld
für die Menage kriegt das Weib — — Darum thu'
ich's ja!
Thut ſeinen Dienſt?
Ja wohl!
Er iſt ein intereſſanter Caſus! Er kriegt
noch einen Groſchen Zulage die Woche. Wozzeck, halt' Er
ſich nur brav! Seh' Er mich an: was muß Er thun?
Die Marie ...
Erbſen eſſen, dann Hammelfleiſch eſſen, ſein
Gewehr putzen, dazwiſchen die fixe Idee pflegen. O meine
Theorie! O mein Ruhm! Ich werde unſterblich! Un-
ſterblich!
Ja! die Marie .. und der arme Wurm.
Unſterblich, Wozzeck! Zeig' er die Zunge!
Straße.
Marie.
Geh' einmal vor
[179] dich hin! — Ueber die Bruſt wie ein Rind und ein Bart
wie ein Löwe. So iſt Keiner! — Ich bin ſtolz vor allen
Weibern!
Wenn ich erſt am Sonntag den
großen Federbuſch hab' und die weißen Handſchuh! Donner-
wetter! Der Prinz ſagt immer: Menſch! Er iſt ein Kerl!
Ach was!
Mann!
Und du biſt auch ein Weibsbild!
Sapperment! Wir wollen eine Zucht von Tambour-Majors
anlegen. He?
Laß mich!
Wildes Thier!
Rühr mich nicht an!
Sieht dir der Teufel aus den Augen?
Meinetwegen. Es iſt Alles eins! — — —
— — — — — — — — — — — — — — —
Straße.
Wohin ſo eilig, geehrteſter Herr Sarg-
nagel?
Wohin ſo langſam, geehrteſter Herr Exerciz-
engel?
Nehmen Sie ſich Zeit! Laufen Sie nicht
ſo! Uff!
Preſſirt! preſſirt!
12*
[180]
Laufen Sie nicht! Ein guter Menſch
geht nicht ſo ſchnell.
Ein guter Menſch
— ein guter — Sie hetzen ſich ja hinter dem Tod d'rein
— Sie machen mir Angſt!
Ich ſtehle meine Zeit nicht.
Ein guter Menſch —
beim Rock.)
Herr Doctor, die Pferde machen mir ganz Angſt,
wenn ich denke, daß die armen Beſtien zu Fuß gehen müſſen.
Rennen Sie nicht ſo, Herr Sargnagel! Rudern Sie mit
dem Stock nicht ſo in der Luft! Sie ſchleifen ſich ja Ihre
Beine auf dem Pflaſter ab.
Erlauben Sie,
daß ich ein Menſchenleben rette —
Frau, in vier Wochen todt, cancer uteri. Habe
ſchon zwanzig ſolche Patienten gehabt — in vier Wochen —
Doctor! erſchrecken Sie mich nicht, es
ſind ſchon Leute am Schreck geſtorben, am puren hellen
Schreck!
In vier Wochen! — Gibt ein intereſſantes
Präparat.
Oh! Oh!
Und Sie ſelbſt! Hm! aufgedunſen, fett,
dicker Hals, apoplektiſche Conſtitution! Ja, Herr Haupt-
mann, Sie können eine apoplexia cerebri kriegen, Sie können
ſie aber vielleicht nur auf der einen Seite bekommen. Ja,
Sie können nur auf der einen Seite gelähmt werden oder
im beſten Falle nur unten!
Um Gottes —
Ja! das ſind ſo ungefähr Ihre Ausſichten
auf die nächſten vier Wochen! Uebrigens kann ich Sie ver-
ſichern, daß Sie einen von den intereſſanten Fällen abgeben
[181] werden, und wenn Gott will, daß Ihre Zunge zum Theile
gelähmt wird, ſo machen wir die unſterblichſten Experimente.
Halt, Doctor! Ich laſſe Sie nicht!
Sargnagel! Todtenfreund! in vier Wochen? — Es ſind
ſchon Leute am puren Schreck — Doctor! Ich ſehe ſchon
die Leute mit den Citronen in den Händen, aber ſie werden
ſagen: er war ein guter Menſch
, ein guter Menſch —
Ei! guten Morgen, Herr Hauptmann!
Was iſt das? Herr Hauptmann, das iſt — Hohlkopf!
Und was iſt
das, Herr Doctor? Das iſt Einfalt. Hahaha! Aber
nichts für ungut! Ich bin ein guter Menſch, aber ich kann
auch, wenn ich will! Herr Doctor, ich ſag' Ihnen, wenn
ich will —
He! Wozzeck! Was hetzt Er ſich ſo an
uns vorbei? Bleib Er doch, Wozzeck! Er läuft ja wie
ein offenes Raſirmeſſer durch die Welt, man ſchneidet ſich
an Ihm! Er läuft, als hätte Er ein Regiment Katzenſchweife
zu raſiren, und würde gehenkt, ſo lange noch ein letztes Haar
— aber über die langen Bärte — was wollte ich doch
ſagen — die langen Bärte —
Ein langer Bart unter dem Kinn — ſchon
Plinius ſpricht davon — man muß es den Soldaten ab-
gewöhnen —
Ha, die langen Bärte! Was iſt's,
Wozzeck? Hat Er nicht ein Haar aus einem Bart in ſeiner
Schüſſel gefunden? Haha! — Er verſteht mich doch? Ein
[182] Haar von einem Menſchen! Vom Bart eines Sapeurs —
oder eines Unteroffiziers — oder eines Tambourmajors.
He, Wozzeck? Aber Er hat ein braves Weib, he?
Ja wohl! Was wollen Sie damit ſagen,
Herr Hauptmann?!
Was der Kerl ein Geſicht macht! Nun
haha! wenn auch nicht gerade in der Suppe, aber wenn Er
ſich eilt und um die Ecke geht, ſo kann Er vielleicht noch
auf einem Paar Lippen eins finden! Ein Haar nämlich!
Uebrigens ein Paar Lippen, Wozzeck, ein Paar Lippen! —
o! ich habe auch einmal die Liebe gefühlt! — Aber, Kerl,
Er iſt ja kreideweiß!
Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel!
Hab' ſonſt nichts auf der Welt! Herr Hauptmann, wenn
Sie Spaß machen —
Spaß' ich? Daß dich? Spaß! Kerl —
Den Puls, Wozzeck! Klein, hart, hüpfend —
Herr Hauptmann! Die Erd' iſt Manchem
höllenheiß — die Hölle iſt kalt dagegen —
Kerl, will Er ſich erſchießen? Er ſticht
mich mit ſeinen Augen! Ich mein's gut mit ihm, weil er
ein guter Menſch iſt, Wozzeck, ein guter Menſch!
Geſichtsmuskeln ſtarr, geſpannt, Auge ſtier. Hm!
Ich geh' — es iſt viel möglich! Der Menſch
— es iſt viel möglich! Ja oder nein? Gott im Himmel!
Man könnt' Luſt bekommen, einen Kloben hineinzuſchlagen
und ſich dran aufzuhängen. Dann wüßt' man, woran man
iſt! Ja oder nein?
Er iſt ein Phänomen, dieſer Wozzeck!
Mir wird ganz ſchwindlich von dem
[183] Menſchen! Wie der lange Schlingel läuft und ſein Schatten
hinterdrein! Und ſo verzweifelt! Das hab ich nicht gerne!
Ein guter Menſch iſt dankbar gegen Gott. Ein guter Menſch
hat auch keine Courage! Nur ein Hundsfott hat Courage!
Ich bin auch manchmal ſchwermüthig; ich hab' in meiner
Natur ſo was Schwärmeriſches, ich muß immer weinen,
wenn ich meinen Rock an der Wand hängen ſehe! Aber
der Menſch iſt dazu da, um ſeinen Schöpfer zu preiſen und
ſich in der Liebe zum Leben zu befeſtigen. Nur ein Hunds-
fott hat Courage! Nur ein Hundsfott!
Mariens Stube.
Guten Tag, Franz.
Hm!
ich ſeh' nichts, ich ſeh' nichts. O, man müßt's ſeh'n, man
müßt's greifen können mit Fäuſten!
Was haſt, Franz?
Biſt du's noch, Marie?! —
Eine Sünde, ſo dick und breit — das müßt ſtinken, daß
man die Engelchen zum Himmel hinausräuchern könnt'. Aber
du haſt einen rothen Mund, Marie! Einen rothen Mund —
keine Blaſe drauf?
Du biſt hirnwüthig, Franz, ich fürcht' mich ...
[184]
Du biſt ſchön — "wie die Sünde". Aber
kann die Todſünde ſo ſchön ſein, Marie?
Da!
— Hat er da geſtanden, ſo, ſo?
Ich kann den Leuten die Gaſſe nicht ver-
bieten ...
Teufel! Hat er da geſtanden?
Dieweil der Tag lang und die Welt alt iſt,
können viel Menſchen an einem Platze ſtehen, einer nach dem
andern.
Ich hab ihn geſehen!
Man kann viel ſehen, wenn man zwei Augen
hat, und wenn man nicht blind iſt, und wenn die Sonn'
ſcheint.
Du bei ihm!
Und wenn auch!
Menſch!
Rühr' mich nicht an. Lieber ein Meſſer in
den Leib, als eine Hand auf mich. Mein Vater hat's nicht
gewagt, wie ich zehn Jahr alt war ..
Lieber ein Meſſer!
Der
Menſch iſt ein Abgrund, es ſchwindelt Einem, wenn man
hinunterſchaut ... Mich ſchwindelt ...
Wirthshaus.
Ich bin ein Mann!
die Bruſt.)
Ein Mann, ſag' ich. Wer will was? Wer
[185] kein beſoffener Herrgott iſt, der laß ſich von mir — —.
Ich will ihm die Nas ins A —loch prügeln. Ich will —
Da Kerl, ſauf' — ich wollt', die Welt wär
Schnaps, Schnaps, der Mann muß ſaufen — da Kerl,
ſauf' —
Kerl, ſoll ich dir die Zung' aus
dem Hals zieh'n und ſie dir um den Leib wickeln?
ringen, Wozzeck unterliegt.)
Soll ich dir noch ſo viel Athem
laſſen, als ein Altweiberf — z? Soll ich —
Jetzt ſoll der Kerl pfeifen, dunkel-
blau ſoll er ſich pfeifen! He! Brandwein, das iſt mein
Leben! Brandwein, das gibt Courage!
Der hat ſein Fett!
Er blut'.
Einer nach dem Andern!
Die Wachtſtube.
Andres!
[186]
Nu!
Was meinſt, wo ſie ... Schön Wetter!
Sonntagswetter! Muſik vor der Stadt. Vorhin
ſind die Weisbilder hin .. Tanz .. die Burſche dampfen, das
geht!
Tanz, Andres, ſie tanzen!
Im Rößl und im Stern.
Was glaubſt, wo ſie — ich muß ſehen, wo
ſie tanzen!
Meinetwegen.
Andres, ich hab keine Ruh.
Narr!
Ich muß hinaus. Es dreht ſich mir vor den
Augen. Tanz! Wird ſie heiß haben! Verdammt! — Adies!
Was willſt du?
Ich muß fort, muß ſehen.
Wegen dem Menſch!
Hinaus, hinaus!
Wirthshaus.
Bänke vor dem Haus.
[187]
Vergißmeinnicht! Freund-
ſchaft! Bruder, ſoll ich dir aus Freundſchaft ein Loch in
die Natur machen? Bruder! ich will ein Loch in deine
Natur machen, ich will dir alle Flöh' am Leib todt ſchlagen.
Bruder, ich bin auch ein Kerl, du weißt —
Meine Seele, meine un-
ſterbliche Seele ſtinket nach Branntewein! Sie ſtinket, und
ich weiß nicht warum. Warum iſt die Welt! Selbſt das
Geld geht in Verweſung über! Der Teufel ſoll den lieben
Herrgott holen! Bruder, ich muß ein Regenfaß voll greinen!
Vergißmeinnicht! Warum
iſt die Welt ſo ſchön! — Ich wollt', unſere Naſen wären
zwei Bouteillen, und wir könnten ſie uns einander in den
Hals gießen. Die ganze Welt iſt roſenroth! Branntwein,
das iſt ein Leben.
Meine Seele ſtinket, oh!
ich lieg mir ſelbſt im Weg' und muß über mich ſpringen!
Das iſt traurig!
Tambour-Major tanzen vorbei, ohne ihn zu bemerken.)
Er! Sie! Teufel!
Immer zu! Immer zu!
Immer zu — immer zu!
Bank vor dem Hauſe)
Immer zu!
Dreht Euch, wälzt Euch! Warum löſcht Gott nicht die Sonne
aus! Alles wälzt ſich in Unzucht über einander! Mann und
Weib und Menſch und Vieh! Sie thun's am hellen Tag,
ſie thun's ſchier Einem auf den Händen, wie die Mücken.
Weib! Weib! Immer zu.
Wie er an ihr
[188] herumgreift! An ihrem Leib! Und ſie lacht dazu! Verdammt!
Ich —
Was machſt du?
Wie viel Uhr?
Elf Uhr!
So? Ich meint', es müßt ſpäter ſein! Die
Zeit wird Einem lang bei der Kurzweil —
Was ſitzeſt du da vor der Thür?
Ich ſitz' gut da. Es ſind manche Leut' nah
an der Thür und wiſſen's nicht, bis man ſie zur Thür
hinausträgt, die Füß' voran!
Du ſitzeſt hart.
Gut ſitz ich, und im kühlen Grab da lieg'
ich dann noch beſſer —
Biſt beſoffen?
Nein! Leider! Brings nit zuſamm!
[189] geſtellt und predigt).
Jedoch, wenn ein Wanderer, der gelehnt
ſteht an dem Strom der Zeit oder aber ſich die göttliche
Weisheit beantwortet und fraget: Warum iſt der Menſch?
Aber wahrlich, geliebte Zuhörer, ich ſage Euch, es iſt gut
ſo, denn von was hätten der Landmann, der Faßbinder, der
Schneider, der Arzt leben ſollen, wenn Gott den Menſchen
nicht geſchaffen hätte? Von was hätte der Schneider leben
ſollen, wenn er nicht dem Menſchen die Empfindung der
Schamhaftigkeit eingepflanzt hätte? von was der Soldat und
der Wirth, wenn er ihn nicht mit dem Bedürfniß des Todt-
ſchlagens und der Feuchtigkeit ausgerüſtet hätte? Darum
zweifelt nicht, Geliebteſte, ja! ja! es iſt Alles lieblich und
fein, aber alles Irdiſche iſt eitel, ſelbſt das Geld geht in
Verweſung über, und meine unſterbliche Seele ſtinket ſehr
nach Branntewein. Zum Schluß, meine geliebten Zuhörer,
laſſet uns noch über's Kreuz p — n, damit ein Jud' ſtirbt!
Sie hat rothe Backen, und er einen ſchönen
Bart! Warum nicht? Warum alſo nicht?
Luſtig, luſtig, aber es riecht —
Narr, was willſt du?
Ich riech, ich riech Blut!
Blut! Ha Blut! Mir wird roth vor den
Augen. Mir iſt, als wälzten ſie ſich alle in einem Meer
von Blut über einander.
[190]
Freies Feld.
Immer zu! Immer zu! Still Muſik! Ha!
was, was ſagt Ihr? So — lauter! lauter! Jetzt hör'
ich's. Stich — ſtich die Zickwölfin todt — Stich —
ſtich — die — Zickwölfin todt — ſoll ich? — muß ich?
— Ich hör's immer, immer zu — ſtich todt — todt —
Da unten aus dem Boden heraus ſpricht's, und die Pappeln
ſprechen's — ſtich todt — ſtich —
Kaſerne.
Andres! Andres! ich kann nicht
ſchlafen, wenn ich die Augen zumach', dann ſeh ich ſie doch
immer und ich hör' die Geigen immer zu, immer zu. Und
dann ſprichts aus der Wand heraus — hörſt du nix, Andres?
Und das geigt und ſpringt!
Ja! — laß ſie tan — zen —
Und dazwiſchen blitzt's mir immer vor den
Augen, wie ein Meſſer! wie ein breites Meſſer, und bald
liegt's auf einem Tiſch in einem Laden in einer dunklen
Gaß, und bald hab' ich's in der Hand und — oh!
Schlaf, Narr!
[191]
"Und führe uns nicht in Verſuchung!"
Mein Herr und Gott, "und führe uns nicht in Verſuchung,
Amen!"
Kaſernenhof.
Ich bin ein Mann! Ich hab' ein
Weibsbild, ich ſag' Ihm, ein Weibsbild! — Zur Zucht von
Tambourmajors! Ein Buſen und Schenkel! Und Alles feſt!
Die Augen wie glühende Kohlen. Ein Weibsbild, ſag' ich
Ihm ...
He! He! Wer is es denn?
Frag' Er den Wozzeck da! Hehe!
Ich bin ein Mann, ein Mann!
Er hat von mir geredt? Was
hat er geſagt?
Ich ſollt' dich fragen, wer ſein Menſch iſt.
Hätt' ein prächtig Weibsbild — die hätt' Schenkel —
So? Hat er das geſagt? Was
hat mir heut Nacht geträumt, Andres? War's nicht von
einem Meſſer? — Was man doch närriſche Träume hat!
Oder kluge Träume?
Wohin, Kamerad?
Meinem Hauptmann Wein holen. Ach!
Andres, ſie war doch ein einzig Mädel!
Wer war? War? Iſt nicht mehr?
Wird bald nicht mehr ſein. Adies!
[192]
Mariens Stube.
"Und iſt kein
Betrug in ſeinem Munde erfunden worden" ... Herrgott,
Herrgott! Sieh mich nicht an!
"Aber die
Phariſäer brachten ein Weib zu ihm, ſo im Ehebruch lebte
und ſtelleten ſie vor ihn."
gehobener Stimme):
"Jeſus aber ſprach: So verdamme ich
dich auch nicht, geh' hin, und ſündige hinfort nicht mehr."
Herrgott! Herrgott! — ich
kann nicht — Herrgott! gib mir nur ſo viel, daß ich beten
kann.
Der Bub gibt mir einen
Stich in's Herz. Fort! Das brüſt' ſich in der Sonne!
Nein komm, komm her!
Es war ein-
mal ein König. Der Herr König hatt' eine goldene Kron
und eine Frau Königin und ein klein Büblein. Und was
aßen ſie Alle? — Sie aßen Alle Leberwürſt ... Der Franz
iſt nit gekommen, geſtern nit, heut nit ... Mir wird heiß,
heiß!
Wie ſteht es geſchrieben von
der Magdalena — wie ſteht es geſchrieben? .. "Und kniete
hin zu ſeinen Füßen und weinte und küßte ſeine Füße und
netzte ſie mit Thränen und ſalbte ſie mit Salben" ...
Heiland! ich möchte dir die Füße
ſalben — Heiland, du haſt dich ihrer erbarmt, erbarme dich
auch meiner! — — — — — — — — — — — —
[193]
Kramladen.
Das Piſtölchen iſt zu theuer.
Nu, kauft's nur — gaude Waar'! Kauft's
nit? Was anders?
Was koſt' das Meſſer?
Zwei Gulden! 'Siſt gaud! a gaud's Meſſer.
Wollt Ihr Euch den Hals mit abſchneiden? Nun was is?
Ich geb's Euch ſo wohlfeil wie ein Anderer! Ihr ſollt
Eueren Tod wohlfeil haben, aber doch nicht umſonſt. Ihr
kauft's Nu?
Das kann mehr als Brod ſchneiden —
Ja, Herrche!
Da!
Da! Hihi! Als ob's nix wär! Und s'is doch
Geld. Hihi.
Straße.
dem Arm. Neben ihr eine alte Frau. Kinder ſpielen auf der Straße.
G. Büchner's Werke. 13
[194]
Was Anderes!
Was Anderes! Was?
Ich weiß nit. Was Anderes!
Kommt — alle im Kreis
ſingen nach und drehen ſich).
Großmutter, warum
ſcheint heute die Sonn'?
Darum!
Aber warum — darum?
Großmutter, erzählt was!
Ja, erzählt was, Baſe.
Es war einmal ein arm Kind
und hatt' keinen Vater und keine Mutter — war Alles
todt und war Niemand auf der Welt, und es hat gehungert
und geweint Tag und Nacht. Und weil es Niemand mehr
hatt' auf der Welt, wollt's in den Himmel geh'n. Und
der Mond guckt' es ſo freundlich an, und wie's endlich zum
Mond kommt, iſt's ein Stück faul Holz. Da wollt's zur
Sonne geh'n, und die Sonn' guckt es ſo freundlich an, und
wie's endlich zur Sonne kommt, iſt's ein verwelkt Sonn-
blümlein. Da wollt's zu den Sternen geh'n, und die
Sterne gucken es ſo freundlich an, und wie's endlich zu den
Sternen kommt, da ſind's goldene Mücklein, die ſind auf-
geſpießt auf Schlehendörner und ſterben. Da wollt' das
Kind wieder zur Erde, aber wie's zur Erde kam, da war
die Erde ein umgeſtürzt Häfchen. Und ſo war das Kind
[195] ganz allein und hat ſich hingeſetzt und hat geweint: Hab'
nicht Vater noch Mutter, hab' nicht Sonne, Mond und
Sterne und nicht die Erde. Und da ſitzt es noch und iſt
ganz allein.
Ach! wenn
ich todt bin! Bas', ſie hat mir das Herz ſchwer gemacht.
Mein armer Wurm! Wenn ich todt bin!
Kaſerne.
Das Kamiſölchen, Andres, gehört nit zur
Montur. Du kannſt's brauchen, Andres! Das Kreuz iſt
meiner Schweſter und das Ringlein, ich hab' auch noch zwei
Herzen, ſchön Gold. Das da lag in meiner Mutter Bibel,
und da ſteht:
Kopf, ſagt zu Allem)
Jawohl!
Johann Franz Wozzeck,
Wehrmann und Füſelier im 2. Regiment, 2. Bataillon,
4. Kompagnie, geboren Mariä Verkündigung 20. Juli
Ich bin heut alt 30 Jahr, 7
Monat und 12 Tag.
13 *
[196]
Franz, Du kommſt ins Lazareth. Du mußt
Schnaps trinken und Pulver drin, das tödt' das Fieber.
Ja, Andres, wenn der Schreiner die Hobel-
ſpäne ſammelt, da weiß Niemand, wer ſeinen Kopf darauf
legen wird.
Waldweg am Teich.
Wozzeck. Marie.
Dort links geht's in die Stadt. S'iſt noch
weit. Komm ſchneller.
Du ſollſt da bleiben, Marie. Komm,
ſetz' Dich.
Aber ich muß fort.
Komm.
Biſt weit gegangen,
Marie. Sollſt dir die Füße nicht mehr wund laufen.
S'iſt ſtill hier! Und ſo dunkel. — Weißt noch, Marie,
wie lang es jetzt iſt, daß wir uns kennen?
Zu Pfingſten drei Jahr.
Und was meinſt, wie lang es noch dauern
wird?
Ich muß fort.
Fürchſt dich, Marie? Und biſt doch fromm?
Und gut! Und treu!
Fürchſt dich? — Was du für ſüße Lippen haſt, Marie!
Den Himmel gäb' ich drum und die Seligkeit,
[197] wenn ich dich noch oft ſo küſſen dürft. Aber ich darf nicht!
— Was zitterſt?
Der Nachtthau fällt.
Wer kalt iſt, den friert
nicht mehr! Dich wird beim Morgenthau nicht frieren. —
Aber mich! Ach! es muß ſein!
Was ſagſt du da?
Nix.
Wie der Mond roth aufgeht!
Wie ein blutig Eiſen!
Was zitterſt ſo?
Was willſt?
Ich nicht, Marie! und kein Anderer auch
nicht!
Hülfe! Hülfe!
Todt!
Todt! Mörder!
Mörder!
Wirthshaus.
Tanzt Alle; tanzt nur zu, ſpringt, ſchwitzt
und ſtinkt, es holt Euch doch noch einmal alle der Teufel!
Verdammt!
He, Käthe!
Komm,
[198] ſetz dich!
Ich hab heiß, heiß!
S'iſt einmal ſo! Der Teufel holt die
Einen und läßt die Andern laufen. Käthe, du biſt heiß!
Wart nur, wirſt auch noch kalt werden! Kannſt nicht ſingen?
Nein! keine Schuh, man kann auch bloß-
füßig in die Höll' geh'n!
Ich möcht heut raufen, — raufen —
Aber was haſt du da an der Hand?
Ich? ich?
Roth! Blut!
Blut? Blut?
Freilich — Blut.
Ich glaub', ich hab' mich — geſchnitten, da
an der — rechten — Hand —
Wie kommts aber an den Ellenbogen?
Ich habs abgewiſcht.
Mit der rechten Hand am rechten Arm?
Puh! was ſtinkt da Menſchenblut!
Was wollt Ihr? Was geht's
Euch an? Bin ich ein Mörder? Was gafft Ihr? Platz
— oder es geht Jemand zum Teufel!
[199]
Waldweg am Teich.
Wozzeck
Das Meſſer? — Wo iſt das Meſſer? — Ich habs
da gelaſſen. — Näher, noch näher. — Mir graut's — Da
regt ſich was. Still! — Alles ſtill und todt. — Mörder!
Mörder! Ha! da ruft's. Nein — ich ſelbſt.
Leiche.)
Marie! Marie! Was haſt du für eine rothe Schnur um
den Hals? Haſt dir das rothe Halsband verdient, wie die
Ohr-Ringlein, mit deiner Sünde! Was hängen dir die
ſchwarzen Haare ſo wild —?! — Mörder! — Mörder!
— Sie werden nach mir ſuchen. Das Meſſer verräth mich!
Da, da iſt's — — Leute! — — fort!
So! da hinunter!
Es taucht
ins dunkle Waſſer wie ein Stein. Aber der Mond ver-
räth mich — der Mond iſt blutig. Will denn die ganze
Welt es ausplaudern?! — Das Meſſer, es liegt zu weit
vorn, ſie findens beim Baden oder wenn ſie nach Muſcheln
tauchen.
Ich find's nicht. Aber ich
muß mich waſchen. Ich bin blutig. Da ein Fleck — und
noch einer. Weh! weh! ich waſche mich mit Blut — das
Waſſer iſt Blut ... Blut ...
(Es kommen Leute.)
Halt!
Hörſt du? Dort!
Jeſus! das war ein Ton.
Es iſt das Waſſer im Teich. Das
Waſſer ruft. Es iſt ſchon lange Niemand ertrunken. Komm
— es iſt nicht gut zu hören.
[200]
Das ſtöhnt — als ſtürbe ein Menſch.
Hans! da ertrinkt Jemand.
Unheimlich! Der Mond roth und
die Nebel grau. Hörſt? — jetzt wieder das Aechzen.
Stiller, — jetzt ganz ſtill. Komm!
komm ſchnell.
Früher Morgen. Vor Mariens Hausthür.
Du, Margreth! — die Marie
Was is?
Weißt es nit? Sie ſind ſchon Alle 'naus.
Du! Dein Mutter
iſt todt!
Hei! Hei! Hopp!
Hopp!
Wo is ſie denn?
Draus liegt ſie, am Weg, neben dem
Teich.
Kommt — anſchaun!
Hei! Hei! Hopp! Hopp!
[201]
Secirſaal.
Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein ſchöner
Mord, ſo ſchön, als man ihn nur verlangen kann. Wir
haben ſchon lange keinen ſo ſchönen gehabt.
— — — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — — —
[[202]]
Zur Textkritik von "Wozzeck".
Das vorſtehende Fragment erſcheint hier zum erſten Male
den Werken Georg Büchner's eingefügt. Ueber die Entſtehungszeit
der Dichtung und wie ſie leider nach doppelter Richtung hin Frag-
ment geblieben, bringt die Einleitung die näheren Daten. Hier ſei
nur bemerkt, daß das Manuſcript nach dem Tode des Dichters in
den Beſitz der Familie Büchner in Darmſtadt gelangte. Bereits
1838 plante zuerſt Karl Gutzkow, dann der Freund des Dichters,
G. Zimmermann, die Veröffentlichung. In beiden Fällen blieb die
Abſicht durch äußerliche, private Hinderniſſe unausgeführt. Als
Dr. Ludwig Büchner 1850 die "Nachgelaſſenen Schriften" ſeines
Bruders herausgab, griff er auch auf dieſes Manuſcript zurück,
doch ſchien es bereits zu ſpät. Die Tinte war verblaßt, die Schrift
völlig unleſerlich geworden. Er mußte ſich begnügen, in ſeiner Ein-
leitung (N. S. S. 40) dieſe Thatſache zu conſtatiren. So lag denn
das Manuſcript weitere fünfundzwanzig Jahre unveröffentlicht und
kam im Hochſommer 1875 mit den anderen Stücken des Nachlaſſes,
ſo weit ſie ſich im Beſitze der Familie befanden, in meine Hand.
Ich hatte anfangs auch nicht die leiſeſte Hoffnung, daß mir die Ent-
zifferung gelingen werde. Vor mir lagen vier Bogen dunkelgrauen,
mürbe gewordenen Papiers, kreuz und quer mit langen Linien ſehr
feiner, ſehr blaſſer gelblicher Strichelchen beſchrieben. Da war ab-
ſolut keine Silbe lesbar. Ferner einige Blättchen weißen Papiers,
mit ähnlichen Strichelchen bedeckt. Da hier die Zeichen größer
waren, der Hintergrund heller, ſo war da ſtellenweiſe ein Wort zu
entziffern, aber nirgendwo auch nur ein ganzer Satz. Rathlos
wendete ich die Blätter hin und her. Da führte mir der Zufall
[203] das chemiſche Rezept zu, welches im Nürnberger "Germaniſchen
Muſeum" zur Auffriſchung von Urkunden benützt wird. Man be-
ſtreicht die betreffende Stelle zuerſt mit deſtillirtem Waſſer, dann
mit Schwefel-Amoniak. Das Mittel erwies ſich als wirkſam, die
verblaßten Strichelchen traten auf kurze Zeit wieder kohlſchwarz
hervor, auch an ſolchen Stellen, wo mit freiem Auge kaum mehr
die Spuren einer Schrift zu erſpähen waren. Aber da wies ſich
eine neue Schwierigkeit: die Schriftzüge waren mikroſkopiſch klein;
oft mehr als dreißig Worte auf die gewöhnliche Zeile. Ich mußte
zur Loupe greifen. Aber ſelbſt mit bewaffnetem Auge und chemiſch
präparirtem Papier ging es ſchwer genug. Denn Georg Büchner
hatte, wenn er raſch ſchrieb, die unleſerlichſte Handſchrift, die man
ſich denken kann; Alexander von Humboldts Hieroglyphen ſind im
Vergleich mit Büchners Strichelchen eine kalligraphiſche Vorlage.
Dazu kamen noch eigenthümliche Abbreviaturen u. ſ. w. Kurz, es
war eine unſägliche Geduldprobe. Aber was ich entzifferte, war
geeignet, mir immer wieder den Muth zu ſtählen. So copirte ich
denn Zeile für Zeile, zuerſt die grauen Bogen, dann die weißen
Blättchen.
Endlich war ich fertig und konnte die Reſultate überblicken.
Was ich entziffert, waren offenbar zwei merklich verſchiedene Ent-
würfe einer und derſelben Arbeit. Die grauen Bogen waren der
ältere und größere, die weißen Blättchen der jüngere und kleinere
Entwurf des "Wozzeck" Der erſte Entwurf enthielt etwa zwanzig
Szenen, theils nur angedeutet, theils dürftig ſkizzirt, die wenigſten
ausgeführt. Die Reihenfolge war ganz willkürlich; auf die
Kataſtrophe folgte ein Stück der Expoſition, darauf fand ſich die
Schlußſzene angedeutet, dahinter jene Szene, mit der ſich wohl die
Dichtung eröffnen ſollte u. ſ. w. u. ſ. w.
Die weißen Blättchen enthielten nur etwa zehn Szenen, gleich-
falls ohne logiſche Reihenfolge, theils Ausführungen ſolcher Stellen,
die ſich in den grauen Bogen nur eben ſkizzirt finden, theils neue
Fragmente. Dieſe Szenen des zweiten Entwurfs beziehen ſich ſämmt-
lich auf die Kataſtrophe. Die Namen der Perſonen hat Büchner
im zweiten Entwurfe geändert, bei einzelnen auch den Stand. So
ſpukt im erſten Entwurfe ein Barbier, der dann im zweiten — viel
[204] paſſender — als Tambour-Major erſcheint u. ſ. w. An einer
durchgreifenden Umarbeitung hinderte den Dichter der Tod.
Im Vorſtehenden findet ſich nun der Wortlaut des Manuſcriptes
mit buchſtäblicher Treue wiedergegeben. War eine Stelle ſo un-
leſerlich, daß ich ihren Inhalt nur zu vermuthen, nicht aber beſtimmt
zu erkennen vermochte, ſo habe ich ſie lieber ganz weggelaſſen, anſtatt
meine Vermuthung hinzuſchreiben. Die Szenen, welche ſich ſowohl
im erſten, als im zweiten Entwurfe vorfanden, habe ich im Wort-
laute des letzteren wiedergegeben, mit Ausnahme einer einzigen,
welche in der älteren Faſſung ungleich markiger und farbiger war.
Auch darin frevelte ich ſchwerlich gegen die Intention des Dichters,
der möglichſt nachzukommen mir alleinige Richtſchnur war. Was
die Anreihung der Szenen betrifft, ſo war dies freilich eine ſchwierige
Sache, da hierfür nicht die leiſeſte Andeutung vorlag. Neben der
nothwendigen Rückſicht auf den Inhalt ließ ich bei Feſtſtellung
dieſer Reihenfolge nach Möglichkeit noch eine andere, äſthetiſche
Rückſicht walten. Es war mein Bemühen, die beiden Elemente,
aus denen "Wozzeck" beſteht, das groteske und das tragiſche, ſo zu
gruppiren, daß nicht das letztere Element durch das erſtere in ſeiner
Wirkung beeinträchtigt werde.
Weggelaſſen iſt keine Silbe. Wo ſich allzuderbe Ausdrücke
blos durch Anfangsbuchſtaben und Striche angedeutet finden, hat
ſchon der Dichter das Gleiche gethan.
K. E. F.
[[205]]
Lenz.
Ein Novellen-Fragment.
[[206]][[207]]
Den 20. ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und
hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues
Geſtein, grüne Flächen, Felſen und Tannen. Es war naß-
kalt, das Waſſer rieſelte die Felſen hinunter und ſprang
über den Weg. Die Aeſte der Tannen hingen ſchwer herab
in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber
Alles ſo dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und
ſtrich ſchwer und feucht durch das Geſträuch, ſo träg, ſo
plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am
Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit ſpürte er keine,
nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf
dem Kopfe gehen konnte. Anfangs drängte es ihm in der
Bruſt, wenn das Geſtein ſo wegſprang, der graue Wald
ſich unter ihm ſchüttelte, und der Nebel die Formen bald
verſchlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es
drängte in ihm, er ſuchte nach etwas, wie nach verlornen
Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm Alles ſo klein,
ſo nahe, ſo naß, er hätte die Erde hinter den Ofen ſetzen
mögen, er begriff nicht, daß er ſo viel Zeit brauchte, um
einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu
erreichen; er meinte, er müſſe Alles mit ein paar Schritten
ausmeſſen können. Nur manchmal, wenn der Sturm das
Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf
[208] dampfte, und die Stimmen an den Felſen wach wurden,
bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran
brauſten, in Tönen, als wollten ſie in ihrem wilden Jubel
die Erde beſingen, und die Wolken wie wilde, wiehernde
Roſſe heranſprengten, und der Sonnenſchein dazwiſchen durch-
ging und kam und ſein blitzendes Schwert an den Schnee-
flächen zog, ſo daß ein helles, blendendes Licht über die
Gipfel in die Thäler ſchnitt; oder wenn der Sturm das
Gewölk abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß
und dann der Wind verhallte und tief unten aus den
Schluchten, aus den Wipfeln der Tannen, wie ein Wiegen-
lied und Glockengeläute heraufſummte, und am tiefen Blau
ein leiſes Roth hinaufklomm, und kleine Wölkchen auf
ſilbernen Flügeln durchzogen, und alle Berggipfel ſcharf und
feſt, weit über das Land hin glänzten und blitzten — riß es
ihm in der Bruſt, er ſtand, keuchend, den Leib vorwärts
gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müſſe
den Sturm in ſich ziehen, Alles in ſich faſſen, er dehnte
ſich aus und lag über der Erde, er wühlte ſich in das All
hinein, es war eine Luſt, die ihm wehe that; oder er ſtand
ſtill und legte das Haupt ins Moos und ſchloß die Augen
halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter
ihm, ſie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte
ſich in einen brauſenden Strom, der ſeine klare Fluth unter
ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob
er ſich nüchtern, feſt, ruhig, als wäre ein Schattenſpiel vor
ihm vorübergezogen, er wußte von nichts mehr. Gegen
Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das Schnee-
feld, von wo man wieder hinabſtieg in die Ebene nach
Weſten, er ſetzte ſich oben nieder. Es war gegen Abend
[209] ruhiger geworden; das Gewölk lag feſt und unbeweglich am
Himmel; ſo weit der Blick reichte, nichts als Gipfel, von
denen ſich breite Flächen hinabzogen, und Alles ſo ſtill,
grau, dämmernd; es wurde ihm entſetzlich einſam, er war
allein, ganz allein, er wollte mit ſich ſprechen, aber er konnte
nicht, er wagte kaum zu athmen, das Biegen ſeines Fußes
tönte wie Donner unter ihm, er mußte ſich niederſetzen; es
faßte ihn eine namenloſe Angſt in dieſem Nichts, er war
im Leeren, er riß ſich auf und flog den Abhang hinunter.
Es war finſter geworden, Himmel und Erde verſchmolzen
in Eins. Es war als ginge ihm was nach, und als müſſe
ihn was Entſetzliches erreichen, etwas das Menſchen nicht
ertragen können, als jage der Wahnſinn auf Roſſen hinter
ihm. Endlich hörte er Stimmen, er ſah Lichter, es wurde
ihm leichter, man ſagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde
nach Waldbach. Er ging durch das Dorf, die Lichter
ſchienen durch die Fenſter, er ſah hinein im Vorbeigehen,
Kinder am Tiſche, alte Weiber, Mädchen, Alles ruhige,
ſtille Geſichter, es war ihm, als müſſe das Licht von ihnen
ausſtrahlen, es ward ihm leicht, er war bald in Waldbach
im Pfarrhauſe. Man ſaß am Tiſch, er hinein; die blonden
Locken hingen ihm um das bleiche Geſicht, es zuckte ihm in
den Augen und um den Mund, ſeine Kleider waren zerriſſen.
Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen
Handwerker. "Sein Sie mir willkommen, obſchon Sie mir
unbekannt". — Ich bin ein Freund von .... und bringe
Ihnen Grüße von ihm. — "Der Name, wenn's beliebt" ...
— Lenz. — "Ha, ha, ha, iſt er nicht gedruckt? Habe
ich nicht einige Dramen geleſen, die einem Herrn dieſes
Namens zugeſchrieben werden?" — Ja, aber belieben Sie,
G. Büchner's Werke. 14
[210] mich nicht darnach zu beurtheilen. — Man ſprach weiter,
er ſuchte nach Worten und erzählte raſch, aber auf der
Folter; nach und nach wurde er ruhig durch das heimliche
Zimmer und die ſtillen Geſichter, die aus dem Schatten
hervortraten, das helle Kindergeſicht, auf dem alles Licht zu
ruhen ſchien und das neugierig, vertraulich aufſchaute, bis
zur Mutter, die hinten im Schatten engelgleich ſtille ſaß.
Er fing an zu erzählen, von ſeiner Heimat; er zeichnete
allerhand Trachten, man drängte ſich theilnehmend um ihn,
er war gleich zu Haus, ſein blaſſes Kindergeſicht, das jetzt
lächelte, ſein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig, es war
ihm als träten alte Geſtalten, vergeſſene Geſichter wieder
aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf, er war weg,
weit weg. Endlich war es Zeit zum Gehen, man führte
ihn über die Straße, das Pfarrhaus war zu eng, man gab
ihm ein Zimmer im Schulhauſe. Er ging hinauf, es war
kalt oben, eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hinter-
grund; er ſtellte das Licht auf den Tiſch und ging auf
und ab, er beſann ſich wieder auf den Tag, wie er herge-
kommen, wo er war, das Zimmer im Pfarrhauſe mit ſeinen
Lichtern und lieben Geſichtern, es war ihm wie ein Schatten,
ein Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf dem
Berg, aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen, das
Licht war erloſchen, die Finſterniß verſchlang Alles; eine
unnennbare Angſt erfaßte ihn, er ſprang auf, er lief durchs
Zimmer, die Treppe hinunter, vor's Haus; aber umſonſt,
Alles finſter, nichts, er war ſich ſelbſt ein Traum, einzelne
Gedanken huſchten auf, er hielt ſie feſt, es war ihm als
müſſe er immer "Vater unſer" ſagen; er konnte ſich nicht
mehr finden, ein dunkler Inſtinct trieb ihn, ſich zu retten,
[211] er ſtieß an die Steine, er riß ſich mit den Nägeln; — der
Schmerz fing an, ihm das Bewußtſein wiederzugeben, er
ſtürzte ſich in den Brunnenſtein, aber das Waſſer war nicht
tief, er patſchte darin. Da kamen Leute, man hatte es ge-
hört, man rief ihm zu. Oberlin kam gelaufen; Lenz war
wieder zu ſich gekommen, das ganze Bewußtſein ſeiner Lage
ſtand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jetzt ſchämte er
ſich und war betrübt, daß er den guten Leuten Angſt ge-
macht; er ſagte ihnen, daß er gewohnt ſei, kalt zu baden,
und ging wieder hinauf; die Erſchöpfung ließ ihn endlich
ruhen.
Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde
durch das Thal: breite Bergflächen, die aus großer Höhe
ſich in ein ſchmales, gewundenes Thal zuſammenzogen, das
in mannichfachen Richtungen ſich hoch an den Bergen hinauf-
zog; große Felſenmaſſen, die ſich nach unten ausbreiteten,
wenig Wald, aber alles im grauen, ernſten Anflug, eine
Ausſicht nach Weſten in das Land hinein und auf die Berg-
kette, die ſich gerade hinunter nach Süden und Norden zog,
und deren Gipfel gewaltig, ernſthaft oder ſchweigend ſtill,
wie ein dämmernder Traum, ſtanden. Gewaltige Licht-
maſſen, die manchmal aus den Thälern, wie ein goldner
Strom, ſchwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höchſten
Gipfel lag und dann langſam den Wald herab in das Thal
klomm oder in den Sonnenblitzen ſich wie ein fliegendes,
ſilbernes Geſpenſt herabſenkte und hob; kein Lärm, keine
Bewegung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne
Wehen des Windes. Auch erſchienen Punkte, Gerippe von
Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von ſchwarzer, ernſter
Farbe. Die Leute ſchweigend und ernſt, als wagten ſie die
14 *
[212] Ruhe ihres Thales nicht zu ſtören, grüßten ruhig, wie ſie
vorbeiritten. In den Hütten war es lebendig, man drängte
ſich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rath, tröſtete; über-
all zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume,
Ahnungen. Dann raſch ins praktiſche Leben, Wege ange-
legt, Kanäle gegraben, die Schule beſucht. Oberlin war
unermüdlich, Lenz fortwährend ſein Begleiter, bald in Ge-
ſpräch, bald thätig am Geſchäft, bald in die Natur ver-
ſunken. Es wirkte Alles wohlthätig und beruhigend auf
ihn, er mußte Oberlin oft in die Augen ſehen, und die
mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen
Wald, in mondhellen, ſchmelzenden Sommernächten überfällt,
ſchien ihm noch näher in dieſem ruhigen Auge, dieſem ehr-
würdigen ernſten Geſicht. Er war ſchüchtern; aber er
machte Bemerkungen, er ſprach. Oberlin war ſein Geſpräch
ſehr angenehm, und das anmuthige Kindergeſicht Lenzen's
machte ihm große Freude. Aber nur ſo lange das Licht im
Thale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn
eine ſonderbare Angſt, er hätte der Sonne nachlaufen mögen;
wie die Gegenſtände nach und nach ſchattiger wurden, kam
ihm Alles ſo traumartig, ſo zuwider vor, es kam ihm die
Angſt an wie Kindern, die im Dunkeln ſchlafen; es war
ihm als ſei er blind; jetzt wuchs ſie, der Alp des Wahn-
ſinns ſetzte ſich zu ſeinen Füßen, der rettungsloſe Gedanke,
als ſei Alles nur ſein Traum, öffnete ſich vor ihm, er
klammerte ſich an alle Gegenſtände; Geſtalten zogen raſch
an ihm vorbei, er drängte ſich an ſie, es waren Schatten,
das Leben wich aus ihm und ſeine Glieder waren ganz
ſtarr. Er ſprach, er ſang, er recitirte Stellen aus Shak-
ſpeare, er griff nach Allem, was ſein Blut ſonſt hatte
[213] raſcher fließen machen, er verſuchte Alles, aber kalt, kalt.
Er mußte dann hinaus ins Freie — das wenige, durch die
Nacht zerſtreute Licht, wenn ſeine Augen an die Dunkelheit
gewöhnt waren, machte ihm beſſer; er ſtürzte ſich in den
Brunnen, die grelle Wirkung des Waſſers machte ihm beſſer,
auch hatte er eine geheime Hoffnung auf eine Krankheit; er
verrichtete ſein Bad jetzt mit weniger Geräuſch. Doch
jemehr er ſich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger,
er unterſtützte Oberlin, zeichnete, las die Bibel; alte, ver-
gangene Hoffnungen gingen in ihm auf; das neue Teſtament
trat ihm hier ſo entgegen, und eines Morgens ging er
hinaus. Wie Oberlin ihm erzählte, wie ihn eine unauf-
haltſame Hand auf der Brücke gehalten hätte, wie auf der
Höhe ein Glanz ſeine Augen geblendet hätte, wie er eine
Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm ge-
ſprochen, und wie Gott ſo ganz bei ihm eingekehrt, daß er
kindlich ſeine Looſe aus der Taſche holte, um zu wiſſen,
was er thun ſollte — dieſer Glaube, dieſer ewige Himmel
im Leben, dieſes Sein in Gott: jetzt erſt ging ihm die
heilige Schrift auf. Wie den Leuten die Natur ſo nah
trat, alles in himmliſchen Myſterien! aber nicht gewaltſam
majeſtätiſch, ſondern noch vertraut! — Er ging des Morgens
hinaus, die Nacht war Schnee gefallen, im Thale lag heller
Sonnenſchein, aber weiterhin die Landſchaft halb im Nebel.
Er kam bald vom Weg ab und eine ſanfte Höhe hinauf,
keine Spur von Fußtritten mehr, neben einem Tannenwalde
hin, die Sonne ſchnitt Kryſtalle, der Schnee war leicht und
flockig, hie und da Spur von Wild leicht auf dem Schnee,
die ſich ins Gebirg hinzog. Keine Regung in der Luft, als
ein leiſes Wehen, als das Rauſchen eines Vogels, der die
[214] Flocken leicht vom Schwanze ſtäubte. Alles ſo ſtill, und
die Bäume weithin mit ſchwankenden weißen Federn in der
tiefblauen Luft. Es wurde ihm heimlich nach und nach,
die einförmigen, gewaltigen Flächen und Linien, vor denen
es ihm manchmal war, als ob ſie ihn mit gewaltigen Tönen
anredeten, waren verhüllt, ein heimliches Weihnachtsgefühl
beſchlich ihn, er meinte manchmal, ſeine Mutter müſſe hinter
einem Baume hervortreten, groß, und ihm ſagen, ſie hätte
ihm dieſes Alles beſcheert; wie er hinunterging, ſah er, daß
um ſeinen Schatten ſich ein Regenbogen von Strahlen legte,
es wurde ihm, als hätte ihn was an der Stirn berührt,
das Weſen ſprach ihn an. Er kam hinunter. Oberlin war
im Zimmer, Lenz kam heiter auf ihn zu, und ſagte ihm,
er möge wohl einmal predigen. "Sind Sie Theologe?" —
Ja! — "Gut, nächſten Sonntag". —
Lenz ging vergnügt auf ſein Zimmer, er dachte auf
einen Text zum Predigen und verfiel in Sinnen, und ſeine
Nächte wurden ruhig. Der Sonntagmorgen kam, es war
Thauwetter eingefallen. Vorüberſtreifende Wolken, Blau
dazwiſchen, die Kirche lag neben am Berge hinauf, auf
einem Vorſprunge, der Kirchhof drum herum. Lenz ſtand
oben, als die Glocke läutete und die Kirchengänger, die
Weiber und Mädchen in ihrer ernſten ſchwarzen Tracht, das
weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Geſangbuch und den
Rosmarinzweig, von den verſchiedenen Seiten die ſchmalen
Pfade zwiſchen den Felſen herauf- und herabkamen. Ein
Sonnenblick lag manchmal über dem Thal, die laue Luft
regte ſich langſam, die Landſchaft ſchwamm im Duft, fernes
Geläute, es war, als löſte ſich Alles in eine harmoniſche
Welle auf.
[215]
Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles
Moos unter den ſchwarzen Kreuzen, ein verſpäteter Roſen-
ſtrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verſpätete Blumen
dazu unter dem Mooſe hervor, manchmal Sonne, dann
wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menſchenſtimmen
begegneten ſich im reinen hellen Klang; ein Eindruck, als
ſchaue man in reines, durchſichtiges Bergwaſſer. Der Geſang
verhallte. Lenz ſprach, er war ſchüchtern, unter den Tönen
hatte ſein Starrkrampf ſich ganz gelegt, ſein ganzer Schmerz
wachte jetzt auf und legte ſich in ſein Herz. Ein ſüßes
Gefühl unendlichen Wohls beſchlich ihn. Er ſprach einfach
mit den Leuten, ſie litten alle mit ihm, und es war ihm
ein Troſt, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf
und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieſes
von materiellen Bedürfniſſen gequälte Sein, dieſe dumpfen
Leiden, gen Himmel leiten konnte. Er war feſter geworden,
wie er ſchloß, da fingen die Stimmen wieder an:
Das Drängen in ihm, die Muſik, der Schmerz er-
ſchütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte
tiefen unnennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein,
göttliche, zuckende Lippen bückten ſich über ihm aus und
ſogen ſich an ſeine Lippen; er ging auf ſein einſames Zimmer.
Er war allein, allein! Da rauſchte die Quelle, Ströme
brachen aus ſeinen Augen, er krümmte ſich in ſich, es zuckten
ſeine Glieder, es war ihm, als müſſe er ſich auflöſen, er
konnte kein Ende finden der Wolluſt; endlich dämmerte es
[216] in ihm, er empfand ein leiſes tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt,
er weinte über ſich, ſein Haupt ſank auf die Bruſt, er
ſchlief ein, der Vollmond ſtand am Himmel, die Locken
fielen ihm über die Schläfe und das Geſicht, die Thränen
hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen
— ſo lag er nun da allein, und Alles war ruhig und ſtill
und kalt, und der Mond ſchien die ganze Nacht und ſtand
über den Bergen.
Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte
Oberlin ganz ruhig, wie ihm die Nacht ſeine Mutter er-
ſchienen ſei; ſie ſei in einem weißen Kleid aus der dunkeln
Kirchhofmauer hervorgetreten und habe eine weiße und eine
rothe Roſe an der Bruſt ſtecken gehabt; ſie ſei dann in
eine Ecke geſunken, und die Roſen ſeien langſam über ſie
gewachſen, ſie ſei gewiß todt; er ſei ganz ruhig darüber.
Oberlin verſetzte ihm nun, wie er bei dem Tode ſeines
Vaters allein auf dem Felde geweſen ſei, und er dann eine
Stimme gehört habe, ſo daß er wußte, daß ſein Vater todt
ſei, und wie er heimgekommen, ſei es ſo geweſen. Das
führte ſie weiter, Oberlin ſprach noch von den Leuten im
Gebirge, von Mädchen, die das Waſſer und Metall unter
der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berg-
höhen angefaßt würden und mit einem Geiſte rängen; er
ſagte ihm auch, wie er einmal im Gebirge durch das Schauen
in ein leeres tiefes Bergwaſſer in eine Art von Somnam-
bulismus verſetzt worden ſei. Lenz ſagte, daß der Geiſt
des Waſſers über ihn gekommen ſei, daß er dann etwas
von ſeinem eigenthümlichen Sein empfunden hätte. Er fuhr
weiter fort: Die einfachſte, reinſte Natur hinge am nächſten
mit der elementariſchen zuſammen; je feiner der Menſch
[217] geiſtig fühlte und lebte, um ſo abgeſtumpfter würde dieſer
elementariſche Sinn; er halte ihn nicht für einen hohen
Zuſtand, er ſei nicht ſelbſtſtändig genug, aber er meine, es
müſſe ein unendliches Wonnegefühl ſein, ſo von dem eigen-
thümlichen Leben jeder Form berührt zu werden, für Geſteine,
Metalle, Waſſer und Pflanzen eine Seele zu haben, ſo
traumartig jedes Weſen in der Natur in ſich aufzunehmen,
wie die Blumen mit dem Zu- und Abnehmen des Mondes
die Luft.
Er ſprach ſich ſelbſt weiter aus, wie in Allem eine
unausſprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seligkeit ſei, die
in den höheren Formen mit mehr Organen aus ſich heraus-
griffe, tönte, auffaßte und dafür aber auch um ſo tiefer
afficirt würde; wie in den niedrigen Formen Alles zurück-
gedrängter, beſchränkter, dafür aber auch die Ruhe in ſich
größer ſei. Er verfolgte das noch weiter. Oberlin brach
es ab, es führte ihn zu weit von ſeiner einfachen Art ab.
Ein andermal zeigte ihm Oberlin Farbentäfelchen, er ſetzte
ihm auseinander, in welcher Beziehung jede Farbe mit dem
Menſchen ſtände; er brachte zwölf Apoſtel heraus, deren
jeder durch eine Farbe repräſentirt würde. Lenz faßte das
auf, er ſpann die Sache weiter, kam in ängſtliche Träume,
fing an wie Stilling die Apocalypſe zu leſen, und las viel
in der Bibel.
Um dieſe Zeit kam Kaufmann mit ſeiner Braut ins
Steinthal. Lenzen war Anfangs das Zuſammentreffen un-
angenehm, er hatte ſich ſo ein Plätzchen zurechtgemacht, das
bischen Ruhe war ihm ſo koſtbar, — und jetzt kam ihm
Jemand entgegen, der ihn an ſo vieles erinnerte, mit dem
er ſprechen, reden mußte, der ſeine Verhältniſſe kannte.
[218] Oberlin wußte von Allem nichts; er hatte ihn aufgenommen,
gepflegt; er ſah es als eine Schickung Gottes, der den
Unglücklichen ihm zugeſandt hätte, er liebte ihn herzlich.
Auch war es Allen nothwendig, daß er da war, er gehörte
zu ihnen, als wäre er ſchon längſt da, und Niemand frug,
woher er gekommen und wohin er gehen werde. Ueber Tiſch
war Lenz wieder in guter Stimmung, man ſprach von
Literatur, er war auf ſeinem Gebiete; die idealiſtiſche Periode
fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz
widerſprach heftig. Er ſagte: Die Dichter, von denen man
ſage, ſie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung
davon; doch ſeien ſie immer noch erträglicher, als die, welche
die Wirklichkeit verklären wollten. Er ſagte: Der liebe
Gott hat die Welt wohl gemacht, wie ſie ſein ſoll, und
wir können wohl nicht was Beſſeres kleckſen, unſer einziges
Beſtreben ſoll ſein, ihm ein wenig nachzuſchaffen. Ich ver-
lange in Allem — Leben, Möglichkeit des Daſeins, und
dann iſt's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es
ſchön, ob es häßlich iſt. Das Gefühl, daß Was geſchaffen
ſei, Leben habe, ſtehe über dieſen Beiden und ſei das einzige
Kriterium in Kunſtſachen. Uebrigens begegne es uns nur
ſelten; in Shakſpeare finden wir es, und in den Volksliedern
tönt es Einem ganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles
Uebrige kann man ins Feuer werfen. Die Leute können
auch keinen Hundsſtall zeichnen. Da wollte man idealiſtiſche
Geſtalten, aber Alles, was ich davon geſehen, ſind Holz-
puppen. Dieſer Idealismus iſt die ſchmählichſte Verachtung
der menſchlichen Natur. Man verſuche es einmal und ſenke
ſich in das Leben des Geringſten und gebe es wieder in
den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum
[219] bemerkten Mienenſpiel; er hätte dergleichen verſucht im
"Hofmeiſter" und den "Soldaten". Es ſind die proſaiſchſten
Menſchen unter der Sonne; aber die Gefühlsader iſt in
faſt allen Menſchen gleich; nur iſt die Hülle mehr oder
weniger dicht, durch die ſie brechen muß. Man muß nur
Aug' und Ohren dafür haben. Wie ich geſtern neben am
Thale hinaufging, ſah ich auf einem Steine zwei Mädchen
ſitzen, die eine band ihre Haare auf, die andere half ihr,
das goldne Haar hing herab, ein ernſtes bleiches Geſicht,
und doch ſo jung, und die ſchwarze Tracht, und die andre
ſo ſorgſam bemüht. Die ſchönſten, innigſten Bilder der
altdeutſchen Schule geben kaum eine Ahnung davon. Man
möchte manchmal ein Meduſenhaupt ſein, um ſo eine Gruppe
in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen.
Sie ſtanden auf, die ſchöne Gruppe war zerſtört; aber wie
ſie ſo hinabſtiegen, zwiſchen den Felſen, war es wieder ein
anderes Bild. Die ſchönſten Bilder, die ſchwellendſten Töne
gruppiren, löſen ſich auf.
Nur eins bleibt, eine unendliche Schönheit, die aus
einer Form in die andere tritt, ewig aufgeblättert, verändert.
Man kann ſie aber freilich nicht immer feſthalten und in
Muſeen ſtellen und auf Noten ziehen, und dann Alt und
Jung herbeirufen, und die Buben und Alten darüber
radotiren und ſich entzücken laſſen. Man muß die Menſch-
heit lieben, um in das eigenthümliche Weſen jedes einzu-
dringen; es darf Einem keiner zu gering, keiner zu häßlich
ſein, erſt dann kann man ſie verſtehen; das unbedeutendſte
Geſicht macht einen tieferen Eindruck, als die bloße Empfin-
dung des Schönen, und man kann die Geſtalten aus ſich
heraustreten laſſen, ohne etwas vom Aeußeren hinein zu
[220] kopiren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls
entgegenſchwillt und pocht. Kaufmann warf ihm vor, daß
er in der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll
von Belvedere oder eine Raphaeliſche Madonna finden würde.
Was liegt daran, verſetzte er, ich muß geſtehen, ich fühle
mich dabei ſehr todt. Wenn ich in mir arbeite, kann ich
auch wohl was dabei fühlen, aber ich thue das Beſte daran.
Der Dichter und Bildende iſt mir der Liebſte, der mir die
Natur am Wirklichſten gibt, ſo daß ich über ſeinem Gebild
fühle; alles Uebrige ſtört mich. Die holländiſchen Maler
ſind mir lieber, als die italieniſchen, ſie ſind auch die ein-
zigen faßlichen; ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von
Niederländern, die mir einen Eindruck gemacht hätten, wie
das neue Teſtament; das Eine iſt, ich weiß nicht von wem,
Chriſtus und die Jünger von Emaus: Wenn man ſo
lieſt, wie die Jünger hinausgingen, es liegt gleich die ganze
Natur in den Paar Worten. Es iſt ein trüber, dämmern-
der Abend, ein einförmiger rother Streifen am Horizont,
halbfinſter auf der Straße, da kommt ein Unbekannter zu
ihnen, ſie ſprechen, er bricht das Brod, da erkennen ſie ihn,
in einfach-menſchlicher Art, und die göttlich-leidenden Züge
reden ihnen deutlich, und ſie erſchrecken, denn es iſt finſter
geworden, und es tritt ſie etwas Unbegreifliches an, aber es
iſt kein geſpenſtiſches Grauen, es iſt, wie wenn einem ein
geliebter Todter in der Dämmerung in der alten Art ent-
gegenträte; ſo iſt das Bild mit dem einförmigen, bräunlichen
Ton darüber, dem trüben ſtillen Abend. Dann ein Anderes:
Eine Frau ſitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch in der
Hand. Es iſt ſonntäglich aufgeputzt, der Sand zerſtreut,
ſo heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche
[221] gekonnt und ſie verrichtet die Andacht zu Haus; das Fenſter
iſt offen, ſie ſitzt darnach hingewandt, und es iſt, als
ſchwebten zu dem Fenſter über die weite ebne Landſchaft die
Glockentöne von dem Dorfe herein und verhallt der Sang
der nahen Gemeinde aus der Kirche her, und die Frau lieſt
den Text nach. — In der Art ſprach Lenz weiter, man
horchte auf, es traf Vieles, er war roth geworden über den
Reden, und bald lächelnd, bald ernſt, ſchüttelte er die blonden
Locken. Er hatte ſich ganz vergeſſen. Nach dem Eſſen nahm
ihn Kaufmann bei Seite. Er hatte Briefe von Lenzen's
Vater erhalten, ſein Sohn ſollte zurück, ihn unterſtützen.
Kaufmann ſagte ihm, wie er ſein Leben hier verſchleudre,
unnütz verliere, er ſolle ſich ein Ziel ſtecken und dergleichen
mehr. Lenz fuhr ihn an: Hier weg, weg! nach Haus?
Toll werden dort? Du weißt, ich kann es nirgends aus-
halten, als da herum, in der Gegend. Wenn ich nicht
manchmal auf einen Berg könnte und die Gegend ſehen
könnte, und dann wieder herunter ins Haus, durch den
Garten gehn, und zum Fenſter hineinſehn, — ich würde
toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bischen
Ruhe jetzt, wo es mir ein wenig wohl wird! Weg? Ich
verſtehe das nicht, mit den zwei Worten iſt die Welt ver-
hunzt. Jeder hat was nöthig; wenn er ruhen kann, was
könnt' er mehr haben! Immer ſteigen, ringen und ſo in
Ewigkeit Alles, was der Augenblick gibt, wegwerfen und
immer darben, um einmal zu genießen! Dürſten, während
einem helle Quellen über den Weg ſpringen! Es iſt mir
jetzt erträglich, und da will ich bleiben; warum? warum?
Eben weil es mir wohl iſt; was will mein Vater? Kann
[222] er mir geben? Unmöglich! Laßt mich in Ruhe. — Er
wurde heftig, Kaufmann ging, Lenz war verſtimmt.
Am folgenden Tage wollte Kaufmann weg, er beredete
Oberlin, mit ihm in die Schweiz zu gehen. Der Wunſch,
Lavater, den er längſt durch Briefe kannte, auch perſönlich
kennen zu lernen, beſtimmte ihn. Er ſagte es zu. Man
mußte einen Tag länger wegen der Zurüſtungen warten.
Lenz fiel das aufs Herz, er hatte, um ſeiner unendlichen
Qual los zu werden, ſich ängſtlich an Alles geklammert;
er fühlte in einzelnen Augenblicken tief, wie er ſich Alles
nur zurecht mache; er ging mit ſich um wie mit einem
kranken Kinde, manche Gedanken, mächtige Gefühle wurde
er nur mit der größten Angſt los, da trieb es ihn wieder
mit unendlicher Gewalt darauf, er zitterte, das Haar ſträubte
ihm faſt, bis er es in der ungeheuerſten Anſpannung er-
ſchöpfte. Er rettete ſich in eine Geſtalt, die ihm immer
vor Augen ſchwebte, und in Oberlin; ſeine Worte, ſein
Geſicht thaten ihm unendlich wohl. So ſah er mit Angſt
deſſen Abreiſe entgegen.
Es war Lenzen unheimlich, jetzt allein im Hauſe zu
bleiben. Das Wetter war milde geworden, er beſchloß,
Oberlin zu begleiten, ins Gebirg. Auf der andern Seite,
wo die Thäler in die Ebene ausliefen, trennten ſie ſich.
Er ging allein zurück. Er durchſtrich das Gebirg in ver-
ſchiedenen Richtungen, breite Flächen zogen ſich in die Thäler
herab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien und weiter
hinaus die weite, rauchende Ebene, in der Luft ein gewaltiges
Wehen, nirgends eine Spur von Menſchen, als hie und da
eine verlaſſene Hütte, wo die Hirten den Sommer zubrachten,
an den Abhängen gelehnt. Er wurde ſtill, vielleicht faſt
[223] träumend, es verſchmolz ihm Alles in eine Linie, wie eine
ſteigende und ſinkende Welle, zwiſchen Himmel und Erde,
es war ihm als läge er an einem unendlichen Meer, das
leiſe auf und ab wogte. Manchmal ſaß er, dann ging er
wieder, aber langſam träumend. Er ſuchte keinen Weg.
Es war finſter Abend, als er an eine bewohnte Hütte kam,
im Abhange nach dem Steinthal. Die Thüre war ver-
ſchloſſen, er ging ans Fenſter, durch das ein Lichtſchimmer
fiel. Eine Lampe erhellte faſt nur einen Punkt, ihr Licht
fiel auf das bleiche Geſicht eines Mädchens, das mit halb
geöffneten Augen, leiſe die Lippen bewegend, dahinter ruhte.
Weiter weg im Dunkel ſaß ein altes Weib, das mit ſchnar-
render Stimme aus einem Geſangbuche ſang. Nach langem
Klopfen öffnete ſie; ſie war halb taub, ſie trug Lenz einiges
Eſſen auf und wies ihm eine Schlafſtelle an, wobei ſie be-
ſtändig ihr Lied fortſang. Das Mädchen hatte ſich nicht
gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann herein, er war
lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem
verwirrtem Geſicht. Er trat zum Mädchen, ſie zuckte auf
und wurde unruhig. Er nahm ein getrocknetes Kraut von
der Wand und legte ihr die Blätter auf die Hand, ſo daß
ſie ruhiger wurde und verſtändliche Worte in langſam ziehen-
den, durchſchneidenden Tönen ſummte. Er erzählte, wie er
eine Stimme im Gebirge gehört und dann über den Thälern
ein Wetterleuchten geſehen habe, auch habe es ihn angefaßt,
und er habe damit gerungen wie Jakob. Er warf ſich
nieder und betete leiſe mit Inbrunſt, während die Kranke
in einem langſam ziehenden, leiſe verhallenden Tone ſang.
Dann gab er ſich zur Ruhe.
Lenz ſchlummerte träumend ein, und dann hörte er im
[224] Schlafe, wie die Uhr pickte. Durch das leiſe Singen des
Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das
Sauſen des Windes bald näher, bald ferner, und der bald
helle, bald verhüllte Mond warf ſein wechſelndes Licht traum-
artig in die Stube. Einmal wurden die Töne lauter, das
Mädchen redete deutlich und beſtimmt, ſie ſagte, wie auf
der Klippe gegenüber eine Kirche ſtehe. Lenz ſah auf, und
ſie ſaß mit weitgeöffneten Augen aufrecht hinter dem Tiſch,
und der Mond warf ſein ſtilles Licht auf ihre Züge, von
denen ein unheimlicher Glanz zu ſtrahlen ſchien; zugleich
ſchnarrte die Alte, und über dieſem Wechſeln und Sinken
des Lichts, den Tönen und Stimmen ſchlief endlich Lenz
tief ein.
Er erwachte früh, in der dämmernden Stube ſchlief
Alles, auch das Mädchen war ruhig geworden, ſie lag zu-
rückgelehnt, die Hände gefaltet unter der linken Wange; das
Geiſterhafte aus ihren Zügen war verſchwunden, ſie hatte
jetzt einen Ausdruck unbeſchreiblichen Leidens. Er trat ans
Fenſter und öffnete es, die kalte Morgenluft ſchlug ihm ent-
gegen. Das Haus lag am Ende eines ſchmalen, tiefen
Thales, das ſich nach Oſten öffnete, rothe Strahlen ſchoſſen
durch den grauen Morgenhimmel in das dämmernde Thal,
das im weißen Rauch lag, und funkelten am grauen Geſtein
und trafen in die Fenſter der Hütten. Der Mann er-
wachte, ſeine Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der
Wand, ſie richteten ſich feſt und ſtarr darauf, nun fing er
an die Lippen zu bewegen und betete leiſe, dann laut und
immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte herein, ſie
warfen ſich ſchweigend nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen,
die Alte ſchnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.
[225] Die Leute erzählten Lenzen, der Mann ſei vor langer Zeit
in die Gegend gekommen, man wiſſe nicht woher; er ſtehe
im Ruf eines Heiligen, er ſehe das Waſſer unter der Erde
und könne Geiſter beſchwören, und man wallfahre zu ihm.
Lenz erfuhr zugleich, daß er weiter vom Steinthal abge-
kommen, er ging weg mit einigen Holzhauern, die in die
Gegend gingen. Es that ihm wohl, Geſellſchaft zu finden;
es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menſchen,
von dem es ihm manchmal war, als rede er in entſetzlichen
Tönen. Auch fürchtete er ſich vor ſich ſelbſt in der Ein-
ſamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verfloſſene Nacht einen
gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm
helle geweſen, und er ſpürte an ſich ein Regen und Wimmeln
nach einem Abgrunde, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt
hinriß. Er wühlte jetzt in ſich. Er aß wenig; halbe
Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewalt-
ſames Drängen, und dann erſchöpft zurückgeſchlagen; er lag
in den heißeſten Thränen, und dann bekam er plötzlich eine
Stärke und erhob ſich kalt und gleichgiltig, ſeine Thränen
waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je höher er
ſich aufriß, deſto tiefer ſtürzte er hinunter. Alles ſtrömte
wieder zuſammen. Ahnungen von ſeinem alten Zuſtande
durchzuckten ihn und warfen Streiflichter in das wüſte
Chaos ſeines Geiſtes. Des Tags ſaß er gewöhnlich unten
im Zimmer; Madame Oberlin ging ab und zu, er zeichnete,
malte, las, griff nach jeder Zerſtreuung, Alles haſtig von
einem zum andern. Doch ſchloß er ſich jetzt beſonders an
Madame Oberlin an, wenn ſie ſo da ſaß, das ſchwarze
Geſangbuch vor ſich, neben eine Pflanze, im Zimmer ge-
G. Büchner's Werke. 15
[226] zogen, das jüngſte Kind zwiſchen den Knieen; auch machte
er ſich viel mit dem Kinde zu ſchaffen. So ſaß er einmal,
da wurde ihm ängſtlich, er ſprang auf, ging auf und ab.
Die Thüre halb offen, da hörte er die Magd ſingen, erſt
unverſtändlich, dann kamen die Worte:
Das fiel auf ihn, er verging faſt unter den Tönen.
Madame Oberlin ſah ihn an. Er faßte ſich ein Herz, er
konnte nicht mehr ſchweigen, er mußte davon ſprechen. "Beſte
Madame Oberlin, können Sie mir nicht ſagen, was das
Frauenzimmer macht, deſſen Schickſal mir ſo centnerſchwer
auf dem Herzen liegt?" * — "Aber Herr Lenz, ich weiß
von nichts". —
Er ſchwieg dann wieder und ging haſtig im Zimmer
auf und ab; dann fing er wieder an: Sehen Sie, ich will
gehen; Gott, Sie ſind noch die einzigen Menſchen, wo ich's
aushalten könnte, und doch — doch, ich muß weg, zu ihr
— aber ich kann nicht, ich darf nicht. — Er war heftig
bewegt und ging hinaus.
Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der
Stube; er ſetzte ſich neben Madame Oberlin. "Sehen Sie",
fing er wieder an, "wenn ſie ſo durchs Zimmer ging und
ſo halb für ſich allein ſang, und jeder Tritt war eine Muſik,
es war ſo eine Glückſeligkeit in ihr, und das ſtrömte in
mich über, ich war immer ruhig, wenn ich ſie anſah, oder
ſie ſo den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott — ich
war ſchon lange nicht mehr ruhig. ... Ganz Kind; es war,
[227] als wär' ihr die Welt zu weit, ſie zog ſich ſo in ſich zurück,
ſie ſuchte das engſte Plätzchen im ganzen Haus, und da ſaß
ſie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen
Punkt, und dann war mir's auch ſo; wie ein Kind hätte
ich dann ſpielen können. Jetzt iſt es mir ſo eng, ſo eng,
ſehen Sie, es iſt mir manchmal, als ſtieß' ich mit den
Händen an den Himmel; o ich erſticke! Es iſt mir dabei
oft, als fühlt' ich phyſiſchen Schmerz, da in der linken
Seite, im Arm, womit ich ſie ſonſt faßte. Doch kann ich
ſie mir nicht mehr vorſtellen, das Bild läuft mir fort, und
dies martert mich; nur wenn es mir manchmal ganz hell
wird, ſo iſt mir wieder recht wohl". — Er ſprach ſpäter
noch oft mit Madame Oberlin davon, aber meiſt in abge-
brochenen Sätzen; ſie wußte wenig zu antworten, doch that
es ihm wohl.
Unterdeſſen ging es fort mit ſeinen religiöſen Quälereien.
Je leerer, je kälter, je ſterbender er ſich innerlich fühlte,
deſto mehr drängte es ihn, eine Gluth in ſich zu wecken, es
kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo Alles in ihm
ſich drängte, wo er unter all ſeinen Empfindungen keuchte;
und jetzt ſo todt! Er verzweifelte an ſich ſelbſt, dann warf
er ſich nieder, er rang die Hände, er rührte Alles in ſich
auf; aber todt! Dann flehte er, Gott möge ein Zeichen
an ihm thun, dann wühlte er in ſich, faſtete, lag träumend
am Boden. Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in
Fouday ſei geſtorben, er faßte es auf, wie eine fixe Idee.
Er zog ſich in ſein Zimmer und faſtete einen Tag. Am
vierten trat er plötzlich ins Zimmer zu Madame Oberlin,
er hatte ſich das Geſicht mit Aſche beſchmiert und forderte
einen alten Sack; ſie erſchrack, man gab ihm, was er ver-
15 *
[228] langte. Er wickelte den Sack um ſich, wie ein Büßender,
und ſchlug den Weg nach Fouday ein. Die Leute im Thale
waren ihn ſchon gewohnt; man erzählte ſich allerlei Selt-
ſames von ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag.
Die Leute gingen gleichgiltig ihrem Geſchäfte nach; man
wies ihm eine Kammer, das Kind lag im Hemde auf Stroh,
auf einem Holztiſch.
Lenz ſchauderte, wie er die kalten Glieder berührte und
die halbgeöffneten gläſernen Augen ſah. Das Kind kam
ihm ſo verlaſſen vor, und er ſich ſo allein und einſam; er
warf ſich über die Leiche nieder; der Tod erſchreckte ihn,
ein heftiger Schmerz faßte ihn an, dieſe Züge, dieſes ſtille
Geſicht ſollten verweſen, er warf ſich nieder; er betete mit
allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an
ihm thue, und das Kind beleben möge, wie er ſchwach und
unglücklich ſei; dann ſank er ganz in ſich und wühlte all'
ſeinen Willen auf einen Punkt; ſo ſaß er lange ſtarr.
Dann erhob er ſich und faßte die Hände des Kindes und
ſprach laut und feſt: "Stehe auf und wandle!" Aber die
Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu
ſpotten ſchien, und die Leiche blieb kalt. Da ſtürzte er halb
wahnſinnig nieder, dann jagte es ihn auf, hinaus ins Gebirg.
Wolken zogen raſch über den Mond; bald Alles im Finſtern,
bald zeigten ſie die nebelhaft verſchwindende Landſchaft im
Mondſchein. Er rannte auf und ab. In ſeiner Bruſt
war ein Triumphgeſang der Hölle. Der Wind klang wie
ein Titanenlied, es war ihm, als könne er eine ungeheure
Fauſt hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen
und zwiſchen ſeinen Wolken ſchleifen; als könnte er die Welt
mit den Zähnen zermalmen und ſie dem Schöpfer ins Geſicht
[229] ſpeien; er ſchwur, er läſterte. So kam er auf die Höhe
des Gebirges, und das ungewiſſe Licht dehnte ſich hinunter,
wo die weißen Steinmaſſen lagen, und der Himmel war ein
dummes blaues Auge, und der Mond ſtand ganz lächerlich
drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen
griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz ſicher und
ruhig und feſt. Er wußte nicht mehr, was ihn vorhin ſo
bewegt hatte, es fror ihn, er dachte, er wolle jetzt zu Bette
gehn, und er ging kalt und unerſchütterlich durch das un-
heimliche Dunkel — es war ihm Alles leer und hohl, er
mußte laufen und ging zu Bette.
Am folgenden Tage befiel ihn ein großes Grauen vor
ſeinem geſtrigen Zuſtand, er ſtand nun am Abgrunde, wo
eine wahnſinnige Luſt ihn trieb, immer wieder hineinzuſchauen
und ſich dieſe Qual zu wiederholen. Dann ſteigerte ſich
ſeine Angſt, die Sünde und der heilige Geiſt ſtanden vor ihm.
Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz
zurück, viel früher, als man es erwartet hatte. Lenz war
darüber betroffen. Doch wurde er heiter, als Oberlin ihm
von ſeinen Freunden im Elſaß erzählte. Oberlin ging dabei
im Zimmer hin und her und packte aus, legte hin. Dabei
erzählte er von Pfeffel, das Leben eines Landgeiſtlichen
glücklich preiſend. Dabei ermahnte er ihn, ſich in den
Wunſch ſeines Vaters zu fügen, ſeinem Berufe gemäß zu
leben, heimzukehren. Er ſagte ihm: Ehre Vater und Mutter,
und dergleichen mehr. Ueber dem Geſpräch gerieth Lenz in
heftige Unruhe; er ſtieß tiefe Seufzer aus, Thränen drangen
ihm aus den Augen, er ſprach abgebrochen. Ja, ich halt'
es aber nicht aus; wollen Sie mich verſtoßen? Nur in
Ihnen iſt der Weg zu Gott. Doch mit mir iſt's aus!
[230] Ich bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich bin der ewige
Jude. Oberlin ſagte ihm, dafür ſei Jeſus geſtorben, er
möge ſich brünſtig an ihn wenden, und er würde Theil haben
an ſeiner Gnade.
Lenz erhob das Haupt, rang die Hände und ſagte:
Ach! ach! göttlicher Troſt. Dann frug er plötzlich freund-
lich, was das Frauenzimmer mache. Oberlin ſagte, er wiſſe
von nichts, er wolle ihm aber in Allem helfen und rathen,
er müſſe ihm aber Ort, Umſtände und Perſon angeben.
Er antwortete nichts, wie gebrochene Worte: ach ſie iſt
todt! Lebt ſie noch? du Engel, ſie liebte mich — ich liebte
ſie, ſie war's würdig, o du Engel! Verfluchte Eiferſucht,
ich habe ſie aufgeopfert — ſie liebte noch einen Andern —
ich liebte ſie, ſie war's würdig, — o gute Mutter, auch
die liebte mich. Ich bin ein Mörder. Oberlin verſetzte,
vielleicht lebten alle dieſe Perſonen noch, vielleicht vergnügt;
es möge ſein, wie es wolle, ſo könne und werde Gott, wenn
er ſich zu ihm bekehrt haben würde, dieſen Perſonen auf
ſein Gebet und Thränen ſoviel Gutes erweiſen, daß der
Nutzen, den ſie alsdann von ihm hätten, den Schaden, den
er ihnen zugefügt, vielleicht überwiegen würde. Er wurde
darauf nach und nach ruhiger und ging wieder an ſein
Malen.
Den Nachmittag kam er wieder, auf der linken Schulter
hatte er ein Stück Pelz und in der Hand ein Bündel
Gerten, die man Oberlin nebſt einem Briefe für Lenz mit-
gegeben hatte. Er reichte Oberlin die Gerten mit dem
Begehren, er ſollte ihn damit ſchlagen. Oberlin nahm die
Gerten aus ſeiner Hand, drückte ihm einige Küſſe auf den
Mund und ſagte: dies wären die Streiche, die er ihm zu
[231] geben hätte, er möchte ruhig ſein, ſeine Sache mit Gott
allein ausmachen, alle möglichen Schläge würden keine
einzige ſeiner Sünden tilgen; dafür hätte Jeſus geſorgt, zu
dem möchte er ſich wenden. Er ging.
Beim Nachteſſen war er wie gewöhnlich etwas tief-
ſinnig. Doch ſprach er von allerlei, aber mit ängſtlicher
Haſt. Um Mitternacht wurde Oberlin durch ein Geräuſch
geweckt. Lenz rannte durch den Hof, rief mit hohler, harter
Stimme den Namen Friederike, mit äußerſter Schnelle, Ver-
wirrung und Verzweiflung ausgeſprochen, er ſtürzte ſich dann
in den Brunnentrog, patſchte darin, wieder heraus und
herauf in ſein Zimmer, wieder herunter in den Trog, und
ſo einige Mal, endlich wurde er ſtill. Die Mägde, die in
der Kinderſtube unter ihm ſchliefen, ſagten, ſie hätten oft,
inſonderheit aber in ſelbiger Nacht, ein Brummen gehört,
das ſie mit nichts als mit dem Tone einer Haberpfeife zu
vergleichen wußten. Vielleicht war es ſein Winſeln, mit
hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme.
Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich
ging Oberlin hinauf in ſein Zimmer, er lag im Bett ruhig
und unbeweglich. Oberlin mußte lange fragen, ehe er Ant-
wort bekam; endlich ſagte er: Ja, Herr Pfarrer, ſehen Sie,
die Langeweile! die Langeweile! o! ſo langweilig, ich weiß
gar nicht mehr, was ich ſagen ſoll, ich habe ſchon alle
Figuren auf die Wand gezeichnet. Oberlin ſagte ihm, er
möge ſich zu Gott wenden; da lachte er und ſagte: ja wenn
ich ſo glücklich wäre, wie Sie, einen ſo behaglichen Zeit-
vertreib aufzufinden, ja man könnte ſich die Zeit ſchon ſo
ausfüllen. Alles aus Müßiggang. Denn die Meiſten beten
aus Langeweile, die Anderen verlieben ſich aus Langeweile,
[232] die Dritten ſind tugendhaft, die Vierten laſterhaft, und ich
gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen:
es iſt zu langweilig:
Oberlin blickte ihn unwillig an und wollte gehen. Lenz
huſchte ihm nach und, indem er ihn mit unheimlichen Augen
anſah: Sehn Sie, jetzt kommt mir doch was ein, wenn ich
nur unterſchreiben könnte, ob ich träume oder wache; ſehn
Sie, das iſt ſehr wichtig, wir wollen es unterſuchen, — er
huſchte dann wieder ins Bett. Den Nachmittag wollte
Oberlin in der Nähe einen Beſuch machen; ſeine Frau war
ſchon fort; er war im Begriffe wegzugehen, als es an ſeine
Thüre klopfte, und Lenz hereintrat mit vorwärts gebogenem
Leib, niederwärts hängendem Haupt, das Geſicht über und
über und das Kleid hie und da mit Aſche beſtreut, mit der
rechten Hand den linken Arm haltend. Er bat Oberlin,
ihm den Arm zu ziehen, er hätte ihn verrenkt, er hätte ſich
zum Fenſter heruntergeſtürzt; weil es aber Niemand geſehen,
wolle er es auch Niemand ſagen. Oberlin erſchrack heftig,
doch ſagte er nichts, er that, was Lenz begehrte; zugleich
ſchrieb er an den Schulmeiſter von Belleſoße, er möge
herunterkommen, und gab ihm Inſtruktionen, dann ritt er
weg. Der Mann kam. Lenz hatte ihn ſchon oft geſehen
und hatte ſich an ihn attachirt. Er that, als hätte er mit
Oberlin etwas reden wollen, wollte dann wieder weg. Lenz
bat ihn zu bleiben, und ſo blieben ſie beiſammen. Lenz
ſchlug noch einen Spaziergang nach Fouday vor. Er be-
[233] ſuchte das Grab des Kindes, das er hatte erwecken wollen,
kniete zu verſchiedenen Malen nieder, küßte die Erde des
Grabes, ſchien betend, doch mit großer Verwirrung, riß
Etwas von den auf dem Grabe ſtehenden Blumen ab, als
ein Andenken, ging wieder zurück nach Waldbach, kehrte
wieder um und Sebaſtian mit. Bald ging er langſam und
klagte über große Schwäche in den Gliedern, dann ging er
mit verzweifelnder Schnelligkeit; die Landſchaft beängſtigte
ihn, ſie war ſo eng, daß er an Alles zu ſtoßen fürchtete.
Ein unbeſchreibliches Gefühl des Mißbehagens befiel ihn,
ſein Begleiter ward ihm endlich läſtig, auch mochte er ſeine
Abſicht errathen und ſuchte ihn zu entfernen. Sebaſtian
ſchien ihm nachzugeben, fand aber heimlich Mittel, ſeinen
Bruder von der Gefahr zu benachrichtigen, und nun hatte
Lenz zwei Aufſeher, ſtatt einen. Er zog ſie weiter herum;
endlich ging er nach Waldbach zurück, und da ſie nahe am
Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder um und ſprang
wie ein Hirſch gen Fouday zurück. Indem ſie ihn in Fouday
ſuchten, kamen zwei Krämer und erzählten ihnen, man hätte
in einem Hauſe einen Fremden gebunden, der ſich für einen
Mörder ausgäbe, der aber gewiß kein Mörder ſein könne.
Sie liefen in dies Haus und fanden es ſo. Ein junger
Menſch hatte ihn auf ſein ungeſtümes Drängen in der Angſt
gebunden. Sie banden ihn los und brachten ihn glücklich
nach Waldbach, wo Oberlin indeſſen mit ſeiner Frau zurück-
gekommen war. Er ſah verwirrt aus, da er aber merkte,
daß er liebreich und freundlich empfangen wurde, bekam er
wieder Muth, ſein Geſicht veränderte ſich vortheilhaft, er
dankte ſeinen beiden Begleitern freundlich und zärtlich, und
der Abend ging ruhig herum. Oberlin bat ihn inſtändig,
[234] nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben,
und wenn er nicht ſchlafen könne, ſich mit Gott zu unter-
halten. Er verſprach's und that es ſo die folgende Nacht;
die Mägde hörten ihn faſt die ganze Nacht hindurch beten. —
Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene
auf Oberlin's Zimmer. Nachdem ſie Verſchiedenes geſprochen
hatten, ſagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebſter
Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen ſagte,
iſt geſtorben, ja geſtorben, der Engel! — "Woher wiſſen
Sie das?" — Hieroglyphen, Hieroglyphen — und dann
zum Himmel geſchaut und wieder: ja geſtorben — Hiero-
glyphen. — Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen.
Er ſetzte ſich und ſchrieb einige Briefe, gab ſie dann Oberlin
mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu ſetzten. Siehe die
Briefe. *
Sein Zuſtand war indeſſen immer troſtloſer geworden.
Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlin's und aus
der Stille des Thales geſchöpft hatte, war weg; die Welt,
die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß; er
hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung — eine ſchreck-
liche Leere und doch eine folternde Unruhe, ſie auszufüllen.
Er hatte Nichts. Was er that, that er mit Bewußtſein,
und doch zwang ihn ein innerlicher Inſtinct. Wenn er
allein war, war es ihm ſo entſetzlich einſam, daß er be-
ſtändig laut mit ſich redete, rief, und dann erſchrack er
wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme
mit ihm geſprochen. Im Geſpräche ſtotterte er oft, eine
[235] unbeſchreibliche Angſt befiel ihn, er hatte das Ende ſeines
Satzes verloren; dann meinte er, er müſſe das zuletzt ge-
ſprochene Wort behalten und immer ſprechen, nur mit großer
Anſtrengung unterdrückte er dieſe Gelüſte. Es bekümmerte
die guten Leute tief, wenn er manchmal in ruhigen Augen-
blicken bei ihnen ſaß und unbefangen ſprach, und er dann
ſtotterte, und eine unausſprechliche Angſt ſich in ſeinen
Zügen malte, er die Perſonen, die ihm zunächſt ſaßen,
krampfhaft am Arme faßte und erſt nach und nach wieder
zu ſich kam. War er allein, oder las er, war's noch ärger,
all ſeine geiſtige Thätigkeit blieb manchmal in einem Gedanken
hängen; dachte er an eine fremde Perſon, oder ſtellte er ſie
ſich lebhaft vor, ſo war es ihm, als würde er ſie ſelbſt, er
verwirrte ſich ſelbſt, und dabei hatte er einen unendlichen
Trieb, mit Allem um ihn im Geiſte willkürlich umzugehen;
die Natur, Menſchen, nur Oberlin ausgenommen, — Alles
traumartig, kalt; er amüſirte ſich, die Häuſer auf die Dächer
zu ſtellen, die Menſchen an- und auszukleiden, die wahn-
witzigſten Poſſen auszuſinnen. Manchmal fühlte er einen
unwiderſtehlichen Drang, das Ding, das er gerade im Sinne
hatte, auszuführen, und dann ſchnitt er entſetzliche Fratzen.
Einſt ſaß er neben Oberlin, die Katze lag gegenüber auf
einem Stuhl. Plötzlich wurden ſeine Augen ſtarr, er hielt
ſie unverrückt auf das Thier gerichtet; dann glitt er lang-
ſam den Stuhl hinunter, die Katze ebenfalls, ſie war wie
bezaubert von ſeinem Blick, ſie gerieth in ungeheure Angſt,
ſie ſträubte ſich ſcheu, Lenz mit den nämlichen Tönen, mit
fürchterlichem, entſtelltem Geſichte; wie in Verzweiflung
ſtürzten Beide aufeinander los, da endlich erhob ſich Madame
Oberlin, um ſie zu trennen. Dann war er wieder tief be-
[236] ſchämt. Die Zufälle des Nachts ſteigerten ſich auf's Schreck-
lichſte. Nur mit der größten Mühe ſchlief er ein, während
er zuvor noch die ſchreckliche Leere zu füllen verſucht hatte.
Dann gerieth er zwiſchen Schlaf und Wachen in einen ent-
ſetzlichen Zuſtand; er ſtieß an etwas Grauenhaftes, Entſetz-
liches, der Wahnſinn packte ihn, er fuhr mit fürchterlichem
Schreien, in Schweiß gebadet, auf, und erſt nach und nach
fand er ſich wieder. Er mußte dann mit den einfachſten
Dingen anfangen, um wieder zu ſich zu kommen. Eigentlich
nicht er that es, ſondern ein mächtiger Erhaltungstrieb; es
war als ſei er doppelt, und der eine Theil ſuche den andern
zu retten, und riefe ſich ſelbſt zu; er erzählte, er ſagte in
der heftigſten Angſt Gedichte her, bis er wieder zu ſich kam.
Auch bei Tage bekam er dieſe Zufälle, ſie waren dann
noch ſchrecklicher; denn ſonſt hatte ihn die Helle davor be-
wahrt. Es war ihm dann, als exiſtirte er allein, als be-
ſtände die Welt nur in ſeiner Einbildung, als ſei nichts,
als er; er ſei das ewig Verdammte, der Satan, allein mit
ſeinen folternden Vorſtellungen. Er jagte mit raſender
Schnelligkeit ſein Leben durch, und dann ſagte er: con-
ſequent, conſequent; wenn Jemand etwas ſprach: inconſequent,
inconſequent; es war die Kluft unrettbaren Wahnſinns,
eines Wahnſinns durch die Ewigkeit. Der Trieb der
geiſtigen Erhaltung jagte ihn auf, er ſtürzte ſich in Oberlin's
Arme, er klammerte ſich an ihn, als wolle er ſich in ihn
drängen; er war das einzige Weſen, das für ihn lebte, und
durch den ihm wieder das Leben offenbart wurde. Allmählig
brachten ihn Oberlin's Worte dann zu ſich, er lag auf den
Knieen vor Oberlin, ſeine Hände in den Händen Oberlin's,
ſein mit kaltem Schweiße bedecktes Geſicht auf deſſen Schooß,
[237] am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand
unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und
betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten
ihn für einen Beſeſſenen. Und wenn er ruhiger wurde,
war es wie der Jammer eines Kindes, er ſchluchzte, er
empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt; das waren
auch ſeine ſeligſten Augenblicke. Oberlin ſprach von Gott.
Lenz wand ſich ruhig los und ſah ihn mit einem Ausdruck
unendlichen Leidens an und ſagte endlich: aber ich, wär'
ich allmächtig, ſehen Sie, wenn ich ſo wäre, ich könnte das
Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten; ich will ja
nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um ſchlafen
zu können. Oberlin ſagte, dies ſei eine Profanation. Lenz
ſchüttelte troſtlos mit dem Kopfe. Die halben Verſuche
zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren
nicht ganz Ernſt. Es war weniger der Wunſch des Todes
— für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode, —
es war mehr in Augenblicken der fürchterlichſten Angſt oder
der dumpfen, ans Nichtſein gränzenden Ruhe ein Verſuch,
ſich zu ſich ſelbſt zu bringen durch phyſiſchen Schmerz.
Augenblicke, worin ſein Geiſt ſonſt auf irgend einer wahn-
witzigen Idee zu reiten ſchien, waren noch die glücklichſten.
Es war doch ein wenig Ruhe, und ſein wirrer Blick war
nicht ſo entſetzlich, als die nach Rettung dürſtende Angſt,
die ewige Qual der Unruhe! Oft ſchlug er ſich den Kopf
an die Wand oder verurſachte ſich ſonſt einen heftigen
phyſiſchen Schmerz.
Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging
hinauf; er lag faſt nackt auf dem Bette und war heftig
bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber ſehr,
[238] wie ſchwer Alles ſei, ſo ſchwer, er glaube gar nicht, daß er
gehen könne, jetzt endlich empfinde er die ungeheure Schwere
der Luft. Oberlin ſprach ihm Muth zu. Er blieb aber
in ſeiner frühern Lage und blieb den größten Theil des
Tages ſo, auch nahm er keine Nahrung zu ſich. Gegen
Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Belleſoße ge-
rufen. Es war gelindes Wetter und Mondſchein. Auf
dem Rückwege begegnete ihm Lenz. Er ſchien ganz ver-
nünftig und ſprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der
bat ihn nicht zurück zu gehen; er verſprach's; im Weggehn,
wandte er ſich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu
Oberlin und ſagte raſch: Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn
ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen. —
"Was denn, mein Lieber?" — Hören Sie denn nichts,
hören Sie denn nicht die entſetzliche Stimme, die um den
ganzen Horizont ſchreit, und die man gewöhnlich die Stille
heißt. Seitdem ich in dem ſtillen Thale bin, hör ich's
immer, es läßt mich nicht ſchlafen, ja Herr Pfarrer, wenn
ich wieder einmal ſchlafen könnte! Er ging dann kopf-
ſchüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und
wollte ihm Jemand nachſchicken, als er ihn die Stiege hinauf
in ſein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf
platzte etwas im Hofe mit ſo ſtarkem Schalle, daß es
Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menſchen herzu-
kommen ſchien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz
zitternd. .....
Er ſaß mit kalter Reſignation im Wagen, wie ſie das
Thal hervor nach Weſten fuhren. Es war ihm einerlei,
wohin man ihn führte; mehrmals, wo der Wagen bei dem
[239] ſchlechten Wege in Gefahr gerieth, blieb er ganz ruhig ſitzen;
er war vollkommen gleichgiltig. In dieſem Zuſtande legte
er den Weg durchs Gebirg zurück. Gegen Abend waren
ſie im Rheinthale. Sie entfernten ſich allmählig vom
Gebirge, das nun wie eine tiefblaue Kryſtallwelle ſich in
das Abendroth hob, und auf deren warmer Fluth die rothen
Strahlen des Abends ſpielten; über die Ebene hin am Fuße
des Gebirgs lag ein ſchimmerndes, bläuliches Geſpinnſt.
Es wurde finſter, jemehr ſie ſich Straßburg näherten; hoher
Vollmond, alle fernen Gegenſtände dunkel, nur der Berg
neben bildete eine ſcharfe Linie; die Erde war wie ein gol-
dener Pokal, über den ſchäumend die Goldwellen des Mondes
liefen. Lenz ſtarrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang;
nur wuchs eine dumpfe Angſt in ihm, je mehr die Gegen-
ſtände ſich in der Finſterniß verloren. Sie mußten ein-
kehren, da machte er wieder mehrere Verſuche, Hand an ſich
zu legen, war aber zu ſcharf bewacht. Am folgenden Morgen,
bei trübem, regneriſchem Wetter, traf er in Straßburg ein.
Er ſchien ganz vernünftig, ſprach mit den Leuten; er that
Alles wie es die Andern thaten; es war aber eine ent-
ſetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angſt mehr, kein Ver-
langen, ſein Daſein war ihm eine nothwendige Laſt. — —
So lebte er hin. ......
[[240]]
Anmerkung zu "Lenz".
Das Manuſcript des vorliegenden Novellen-Fragments kam
noch bei Lebzeiten des Dichters an deſſen Braut und wurde von
dieſer 1838 an Gutzkow zur Veröffentlichung überlaſſen. Der erſte
Abdruck erſchien 1839 in Gutzkow's "Telegraf" und war dort von
folgender Randgloſſe des Herausgebers begleitet:
"Dieſe Probe von Büchner's Genie wird aufs Neue beweiſen,
was wir mit ſeinem Tod an ihm verloren haben. Welche Natur-
ſchilderungen, welche Seelenmalerei! Wie weiß der Dichter die
feinſten Nervenzuſtände eines, im Poetiſchen wenigſtens, ihm ver-
wandten Gemüthes zu belauſchen! Da iſt Alles mitempfunden,
aller Seelenſchmerz mitdurchdrungen; wir müſſen erſtaunen über
eine ſolche Anatomie der Lebens- und Gemüthsſtörung. G. Büchner
offenbart in dieſer Reliquie eine reproduktive Phantaſie, wie uns
eine ſolche ſelbſt bei Jean Paul nicht ſo rein, durchſichtig und wahr
entgegentritt".
Der zweite Abdruck erſchien 1850 in den "Nachgelaſſenen
Schriften" (S. 199-236) und iſt mit dem erſten gleichlautend.
Da es mir nicht gelungen iſt, das Original-Manuſcript zu
erhalten, ſo mußte ich mich darauf beſchränken, den erſten Abdruck
wortgetreu zu wiederholen.
K. E. F.
[[241]]
II.
Aus den Ueberſetzungen.
G. Büchner's Werke. 16
[[242]][[243]]
Aus
"Maria Tudor".
Drama von Victor Hugo. Deutſch von Georg Büchner. Frank-
furt am Main, 1835. Druck und Verlag von J. D. Sauerländer.
Zweite Handlung: Die Königin.
Erſte Scene.
ſitzt auf einem Schemel zur Seite, prächtiges Coſtüm, das Hoſenband.
16 *
[244]
Oh! ich liebe Euch mehr, als
ich ſagen kann, Madame! Aber dieſer Simon Renard!
dieſer Simon Renard! mächtiger hier, als Ihr ſelbſt, ich
haſſe ihn.
Ihr wißt wohl, daß ich nichts dafür
kann, Mylord. Er iſt hier der Geſandte des Prinzen von
Spanien, meines zukünftigen Gemahls.
Eures zukünftigen Gemahls!
Still, Mylord, ſprechen wir nicht mehr
davon. Ich liebe Euch, was braucht Ihr mehr? Und dann,
es iſt jetzt Zeit, daß Ihr geht.
Marie, noch einen Augenblick!
Aber es iſt die Stunde, wo der ge-
heime Rath ſich verſammelt. Bisher war nur das Weib
hier, die Königin muß jetzt hereintreten.
Ich will, daß das Weib die Königin vor
der Thüre warten läßt.
[245]
Ihr wollt! Ihr wollt! Ihr! Seht
mich an, Mylord. Du haſt einen jungen und reizenden
Kopf, Fabiano.
O, Ihr ſeid ſchön! Ihr würdet nichts nöthig
haben, als Eure Schönheit, um allmächtig zu ſein. Auf
Eurem Haupte iſt etwas, das ſagt, daß Ihr die Königin
ſeid; es ſteht aber noch viel deutlicher auf Eurer Stirn,
als auf Eurer Krone.
Ihr ſchmeichelt.
Ich liebe Dich.
Du liebſt mich, nicht wahr? Du liebſt
nur mich? Sage mir das noch einmal ſo, mit dieſen Augen.
Ach! wir armen Weiber, wir wiſſen niemals genau, was
in dem Herzen eines Mannes vorgeht; wir müſſen Euren
Augen glauben, und die ſchönſten, Fabiano, lügen zuweilen
am häßlichſten. Aber Deine, Mylord, ſind ſo treu und
rein, daß ſie nicht lügen können, nicht wahr? Ja, dein
Blick iſt offen und ehrlich, mein ſchöner Page. Oh!
Himmelsaugen nehmen und damit betrügen, das wäre
hölliſch, Du haſt Deine Augen einem Engel oder dem
Teufel geſtohlen.
Weder Engel, noch Teufel. Ein Mann, der
Euch liebt.
Der die Königin liebt?
Der Marie liebt.
Höre, Fabiano, ich liebe Dich auch.
Du biſt jung, es gibt viele ſchöne Weiber, die Dich gar
zärtlich anſehen, ich weiß es. Endlich, man wird eine
Königin müde, ſo gut wie eine andere. Unterbrich mich
nicht, Ich will, daß Du mir es ſagſt, wenn Du je ein
[246] anderes Weib lieben ſollteſt. Ich werde Dir vielleicht ver-
zeihen, wenn Du mir es ſagſt. Unterbrich mich doch nicht.
Du weißt nicht, wie weit meine Liebe geht, ich weiß es
ſelbſt nicht. Es iſt wahr, ich habe Augenblicke, wo ich Dich
lieber todt, als mit einer Andern glücklich wiſſen möchte;
aber es kommen mir auch andere, wo ich Dich lieber glück-
lich ſähe. Mein Gott! ich weiß nicht, warum man mich
in den Ruf eines ſchlechten Weibes bringen will.
Ich kann nur mit Dir glücklich ſein, Marie.
Ich liebe nur Dich.
Gewiß? Sieh' mich an. Gewiß? O!
ich bin manchmal eiferſüchtig; ich bilde mir ein, — welches
Weib hat nicht ſolche Gedanken? — ich bilde mir manch
mal ein, Du täuſcheſt mich. Ich möchte unſichtbar ſein
und Dir folgen können und immer wiſſen, was Du thuſt,
was Du ſagſt und wo Du biſt. In den Feenmärchen gibt
es einen Ring, der Einen unſichtbar macht; ich würde meine
Krone für dieſen Ring geben. Ich bilde mir immer ein,
Du gingeſt zu den ſchönen Mädchen in der Stadt. O! Du
ſollteſt mich nicht täuſchen, ſiehſt Du!
Aber verbannt doch dieſe Gedanken, Madame,
Ich Euch täuſchen, meine gute Königin, meine gute Herrin!
Ich müßte der undankbarſte und erbärmlichſte Menſch ſein!
Aber ich gab Euch keine Veranlaſſung, mich für den un-
dankbarſten und erbärmlichſten Menſchen zu halten. Aber
ich liebe Dich, Marie! aber ich bete Dich an! aber ich
könnte ein anderes Weib nicht einmal anſehen! Ich liebe
Dich, ſage ich Dir; aber ſiehſt Du das nicht in meinen
Augen? O, mein Gott! die Wahrheit hat einen Ton, der
Dich überzeugen ſollte. Sieh', betrachte mich genau, ſehe
[247] ich aus wie ein Menſch, der Dich verräth? Wenn ein Mann
ein Weib verräth, ſo ſieht man es gleich. Die Weiber
täuſchen ſich gewöhnlich nicht in dergleichen. Und welchen
Augenblick wähleſt Du, mir ſolche Dinge zu ſagen, Marie?
Den Augenblick meines Lebens, worin ich Dich vielleicht
am meiſten liebe. Es iſt wahr, es iſt mir, als hätte ich
Dich nie ſo geliebt, wie heute. Ich ſpreche jetzt nicht mit
der Königin. Wahrhaftig, ich lache über die Königin. Was
kann mir die Königin thun? Sie kann mir den Kopf ab-
ſchlagen laſſen, was macht das? Du, Marie, kannſt mir
das Herz brechen! Nicht Eure Majeſtät, nein, Marie, Dich
liebe ich. Deine ſchöne weiße und zarte Hand küſſe und
bete ich an, nicht Euer Scepter, Madame.
Danke, mein Fabiano. Lebe wohl. —
Mein Gott, Mylord, wie jung Ihr ſeid! Die ſchönen
ſchwarzen Haare und der reizende Kopf da! — Kommt
in einer Stunde wieder.
Was Ihr eine Stunde nennt, heiße ich eine
Ewigkeit!
[[248]]
Aus
"Luccrezia Borgia".
Drama von Victor Hugo. Deutſch von Georg Büchner. Frank-
furt am Main, 1835. Druck und Verlag von J. D. Sauerländer.
Dritte Handlung: Betrunken. — Todt.
Erſte Scene.
Damen, Pagen.
Es lebe der Wein
von Xeres! Xeres de la Frontera iſt eine Stadt des Para-
dieſes.
Der Wein, den wir
trinken, iſt mehr werth, als die Geſchichten, welche Du uns
erzählſt, Jeppo.
Jeppo hat die Krankheit, Geſchichten zu er-
zählen, wenn er getrunken hat.
Ein ander Mal war es zu Venedig bei dem
hohen Dogen Barbarigo; heute iſt es zu Ferrara bei der
göttlichen Fürſtin Negroni.
Ein ander Mal war es eine ſchauerliche, heute
iſt es eine luſtige Geſchichte.
Eine luſtige Geſchichte, Jeppo! Wie es kam,
daß Don Siliceo, ein ſchöner Cavalier von dreißig Jahren,
[249] der ſein Erbtheil im Spiel verloren hatte, die reiche Mar-
quiſe Calpurnia heirathete, die achtundvierzig Frühlinge zählte.
Bei dem Leibe des Bachus, Du findeſt das luſtig.
Das iſt traurig und gewöhnlich. Ein rui-
nirter Mann heirathet eine Ruine von einem Weibe. Das
ſieht man alle Tage.
ſtehen Einige von der Tafel auf und plaudern auf dem Vorder-
grunde der Bühne, während das Gelag fortdauert.)
Herr
Graf Orſini, Ihr habt da einen Freund, der ſehr traurig
ausſieht.
Er iſt immer ſo, Donna. Ihr müßt mir
verzeihen, daß ich ihn hierher brachte, obgleich Ihr ihm die
Gnade einer Einladung nicht erwieſen hattet. Er iſt mein
Waffenbruder. Er hat mir das Leben bei dem Sturm von
Rimini gerettet. Ich habe bei dem Angriff auf die Brücke
von Vicenzia einen Degenſtich erhalten, der ihm galt. Wir
trennen uns nie: wir leben zuſammen. Ein Zigeuner hat
uns vorausgeſagt, daß wir am nämlichen Tage ſterben
würden.
Hat er Euch auch geſagt, ob das am
Abend oder am Morgen geſchehen würde?
Er ſagte uns, es würde am Morgen ge-
ſchehen.
Euer Zigeuner wußte nicht,
was er ſagte. — Und liebt Ihr den jungen Menſchen ſehr?
So ſehr, als ein Mann den andern lieben
kann.
Nun! Ihr genügt auch einander. Ihr ſeid
glücklich.
[250]
Die Freundſchaft füllt nicht allein das Herz
aus, Donna.
Mein Gott, was denn?
Die Liebe.
Ihr habt immer die Liebe auf den Lippen.
Und Ihr die Liebe in den Augen.
Ihr ſeid ſehr ſonderbar!
Und Ihr ſehr ſchön!
Herr Graf Orſini, laßt mich!
Einen Kuß auf Eure Hand?
Nein!
Eure Sachen ſtehen gut
bei der Fürſtin.
Sie ſagt immer Nein zu mir.
In dem Munde eines Weibes iſt das Nein
der ältere Bruder des Ja.
Wie findeſt Du
die Fürſtin Negroni?
Anbetungswürdig. Unter uns, ſie fängt an,
mir ganz verzweifelt am Herzen zu nagen.
Und ihr Gaſtmahl?
Eine vollſtändige Orgie.
Die Fürſtin iſt Wittwe?
Man ſieht es an ihrer Munterkeit.
Ich hoffe, Du haſt keinen Argwohn mehr
gegen ihr Gaſtmahl?
Ich! Wie ſollt ich? Ich war ein Narr.
Herr von Belverana, Ihr würdet
nicht glauben, daß Maffio ſich ſcheute, zum Eſſen der
Fürſtin zu kommen?
[251]
Scheute? Warum?
Weil der Palaſt Negroni an den Palaſt
Borgia ſtößt.
Zum Teufel mit der Borgia! — Trinken wir!
Was mir an dem Belverana
gefällt, iſt, daß er die Borgia nicht leiden kann.
In der That, er läßt keine Gelegenheit
vorbei, ohne ſie mit einer ganz beſondern Grazie zum Teufel
zu ſchicken. Dennoch, mein lieber Jeppo ...
Nun!
Ich beobachte ſeit dem Anfang des Gaſtmahls
dieſen ſogenannten Spanier. Er hat bis jetzt nichts als
Waſſer getrunken.
Da kommt ja Dein Verdacht wieder, mein
guter Freund Maffio! Der Wein macht Dich ſonderbar
monoton.
Vielleicht haſt Du recht. Ich bin ein Narr.
zu Füßen).
Wißt Ihr auch, Herr Maffio, daß Ihr für ein
Leben von neunzig Jahren gebaut ſeid und daß Ihr meinem
Großvater gleicht, der dieß Alter erlebte und, wie ich, Gil
— Baſilio — Ferman — Frenco — Felipe — Frasco
Fiasquito Graf von Belverana hieß?
Ich hoffe, Du zweifelſt jetzt
nicht mehr an ſeiner ſpaniſchen Race. Er hat wenigſtens
zwanzig Taufnamen. — Welche Litanei, Herr Belverana!
Ach unſre Eltern ſind gewöhnt, uns mehr
Namen bei der Taufe, als Thaler bei der Hochzeit zu geben.
Aber was haben ſie denn da unten zu lachen?
Die
[252] Weiber müſſen doch einen Vorwand zum Weggehen haben.
Was thun?
Bei'm Hercules, meine Herrn, ich
habe nie einen herrlichern Abend verlebt! Meine Damen,
verſucht dieſen Wein. Er iſt ſüßer, als Lacrimae Christi,
und glühender, als der Wein von Cypern. Das iſt Syra-
kuſaner, meine Herren!
Oloferno iſt betrunken, wie es ſcheint.
Meine Damen, ich muß Euch einige Verſe
herſagen, die ich eben gemacht habe. Ich möchte ein beſſerer
Dichter ſein, als ich bin, um ſo bewundernswürdige Frauen
zu feiern.
Und ich möchte reicher ſein, als ich bin, um
meinen Freunden ſolche Weiber zu geben.
Nichts iſt ſüßer, als eine ſchöne Dame und
ein gutes Eſſen zu beſingen.
Als, die Eine zu umarmen und das Andere
zu eſſen.
Ja, ich möchte Dichter ſein. Ich möchte mich
in den Himmel ſtürzen können. Ich wollte, ich hätte zwei
Flügel ....
Von einem Faſan auf meinem Teller.
Ich will Euch aber doch mein Sonett her-
ſagen.
Bei'm Teufel, Herr Marquis Oloferno Vi-
tellozzo! Ich erlaube Euch, uns Euer Sonett nicht herzu-
ſagen. Wir wollen trinken!
Ihr erlaubt mir, mein Sonett nicht her-
zuſagen?
Wie ich den Hunden erlaube, mich nicht zu
[253] beißen, dem Pabſt, mich nicht zu ſegnen, und den Vorüber-
gehenden, mir keine Steine in die Rippen zu werfen.
Teufel! Ihr beleidigt mich! Ihr Männlein
von einem Spanier.
Ich beleidige Euch nicht, großer Coloß von
einem Italiener. Ich entziehe Eurem Sonett meine Auf-
merkſamkeit; nichts weiter. Mein Gaumen dürſtet mehr
nach Cypernwein, als meine Ohren nach Poeſie.
Ich will Euch Eure Ohren an die Ferſen
nageln, mein ſchäbiger Herr Caſtilier!
Ihr ſeid ein abgeſchmackter Schlingel! Pfui!
Sah man jemals ſo einen Tölpel? Sich mit Syracuſaner
zu berauſchen und auszuſehen, als hätte man ſich an Bier
beſoffen!
Wißt Ihr auch, daß ich Euch in vier
Stücke hauen werde, bei'm Teufel!
Das ſage ich
nicht von Euch, ich zerlege nicht ſo gemeines Geflügel. —
Meine Damen, darf ich Euch von dieſem Faſan anbieten?
Bei Gott, ich will
dem Buben die Gedärme herausreißen, und wäre er ein
beſſerer Edelmann, als der Kaiſer!
Himmel! ſie werden ſich
ſchlagen!
Ruhig, Oloferno!
ferno, der ſich auf Gubetta werfen will, unterdeſſen entfernen ſich
die Damen durch die Seitenthüre).
Bei'm Teufel!
Ihr reimt ſo reichlich auf Teufel, mein lieber
[254] Dichter, daß Ihr dieſe Damen in die Flucht gejagt habt.
Ihr ſeid ſehr empfindlich und ſehr ungeſchickt.
Das iſt wahr. Wo zum Henker ſind ſie hin-
gekommen?
Sie hatten Furcht. Beim Meſſerziehen fliehen
die Weiber.
Doch ſie werden wieder kommen.
Ich werde Dich
morgen finden, mein kleiner Teufel Belverana.
Morgen, ſobald es Euch beliebt!
Der Schwachkopf! die
ſchönſten Weiber aus Ferrara mit einer Meſſerklinge im
Stiel eines Sonetts in die Flucht zu jagen! Sich über
Verſe zu ärgern! Ich glaube wohl, daß er Flügel hat. Das
iſt kein Menſch, das iſt ein Vogel. Das ſetzt ſich auf die
Stange, das muß auf einer Klaue ſchlafen. Das Olo-
ferno da!
Macht Friede, Ihr Herren! Morgen, morgen
könnt Ihr Euch in aller Höflichkeit die Kehlen abſchneiden.
Beim Jupiter, Ihr werdet Euch wenigſtens wie Edelleute
mit dem Degen und nicht mit Meſſern ſchlagen.
Da fällt mir bei, was haben wir mit unſern
Degen gemacht?
Ihr vergeßt, daß man ſie uns im Vor-
zimmer ablegen ließ.
Und die Vorſicht war nöthig, ſonſt hätten
wir uns vor den Damen geſchlagen. Ein von Tabak be-
rauſchter Flamländer würde davor erröthet ſein.
Eine gute Vorſicht, in der That.
[255]
Bei Gott, mein Bruder Gennaro, das iſt
das erſte Wort, was Du ſeit dem Anfang des Gaſtmahls
ſprichſt; auch trinkſt Du nicht. Träumſt Du von Lucretia
Borgia? Gennaro! Du haſt offenbar ſo was von einer
Liebſchaft mit ihr! Sage nicht: nein!
Gieb mir zu trinken, Maffio! Ich laſſe
meine Freunde ſo wenig bei Tiſche, als im Feuer im Stich.
Meine Herren, Wein von Cypern oder von
Syrakus?
Syrakuſaner, der iſt beſſer.
alle Gläſer).
Hole die Peſt den Oloferno! Werden die
Damen nicht zurückkommen?
beiden Thüren).
Die Thüren ſind von Außen verſchloſſen,
meine Herren!
Fange jetzt nicht an, Deinerſeits Furcht zu
haben, Jeppo! Sie wollen, daß wir ſie nicht verfolgen.
Das iſt ganz einfach.
Trinken wir, meine Herren!
ihren Gläſern an.)
Auf Deine Geſundheit, Gennaro! Mögeſt Du
Deine Mutter bald wieder finden!
Möge Gott Dich erhören!
betta ausgenommen, der ſeinen Wein über die Schulter ſchüttet).
Jetzt, Jeppo, hab' ich es deut-
lich geſehen.
Was?
Der Spanier hat nicht getrunken.
Nun?
[256]
Er hat ſeinen Wein über die Schulter ge-
ſchüttet.
Er iſt betrunken, wie Du.
Das iſt möglich.
Ein Trinklied, meine Herren! Ich will Euch
ein Trinklied ſingen, was ſo viel werth iſt, als das Sonett
des Marquis Oloferno. Bei dem guten alten Schädel
meines Vaters ſchwöre ich, daß ich das Lied nicht gemacht
habe, ſintemal ich kein Dichter bin und nicht Geiſt genug
habe, um ſich zwei Reime am Ende eines Gedankens ſchnäbeln
zu laſſen. Da iſt mein Lied. Es iſt an den heiligen Peter,
den Pförtner des Paradieſes, gerichtet und hat den feinen
Gedanken zu Grunde liegen, daß der Himmel des lieben
Herrgott dem Trinker gehört.
Er iſt mehr als betrunken, er
iſt beſoffen.
Das Lied! das Lied!
Gloria domino!
mit den Gläſern an, indem ſie laut lachen; plötzlich hört man
Stimmen in der Ferne in ſchauerlichen Tönen ſingend).
Sanctum et terribile nomen
ejus. Initium sapientiae timor domini.
Hört meine Herren!
Corpo di bacco! während wir Trinklieder ſingen, ſingt das
Echo die Veſper.
Hört!
[257]
Nisi
dominus custodierit civitatem, frustra vigilat qui custodit eam.
Ganz reiner Kirchengeſang.
Eine Prozeſſion, die vorübergeht.
Um Mitternacht! das iſt etwas ſpät.
Bah! fahrt fort, Herr v. Belverana.
Oculos habent, et non videbunt. Nares habent, et non
odorabunt. Aures habent, et non audient.
Wie die Mönche plärren!
Sieh' doch, Gennaro, die Lampen erlöſchen.
Wir werden gleich im Finſtern ſitzen.
düſter, als wenn ſie kein Oel mehr hätten.)
Manus habent, et
non palpabunt; pedes habent, et non ambulabunt; non
clamabunt in gutture suo.
Die Stimmen ſcheinen ſich zu nähern.
Es iſt mir, als ob die Prozeſſion in dieſem
Augenblick unter unſern Fenſtern wäre.
Es ſind Todtengebete.
Das iſt ein Leichenbegängniß.
Trinken wir auf die Geſundheit deſſen, den
ſie begraben.
Wißt Ihr denn, ob es nicht mehrere ſind?
Nun denn, auf die Geſundheit von Allen!
Bravo! fahren wir fort mit
unſerm Gebet zum heiligen Peter.
Sprecht doch höflicher. Man ſagt zu dem
G. Büchner's Werke. 17
[258] Herrn: Sanct Peter, ſehr ehrbarem Thürſteher und wohl-
beſtalltem Kerkermeiſter des Paradieſes.
Gloria domino!
Gloria
domino!
räuſch in ihrer ganzen Breite. Man erblickt einen weiten, ſchwarz
ausgeſchlagenen, durch einige Fackeln erleuchteten Saal mit einem
großen ſilbernen Kreuz im Hintergrund. Schwarze und weiße
Büßende, von denen man nichts als die Augen durch die Löcher
ihrer Capuzen ſieht, treten in einer langen Reihe, Fackeln in den
Händen, durch die große Thüre ein, während ſie laut und in un-
heimlichem Ton ſingen: "De profundis clamavi ad te, domine!" —
dann ſtellen ſie ſich ſchweigend zu beiden Seiten des Saales auf und
bleiben daſelbſt unbeweglich, wie Statuen ſtehen, während die jungen
Edelleute ſie erſtaunt betrachten.)
Was ſoll das heißen?
Das iſt ein Scherz;
ich wette mein Pferd gegen ein Ferkel und meinen Namen
Livretto gegen den Namen Borgia, daß dies unſre allerliebſten
Damen ſind, die ſich verkleidet haben, um uns auf die Probe
zu ſtellen, und daß, wenn wir zufällig eine von dieſen
Capuzen aufſchlagen, wir darunter das friſche und boshafte
Geſicht eines ſchönen Weibes finden werden. Seht nur!
[259]
ſtehen, indem er darunter das gelbe Geſicht eines Mönches erblickt,
der unbeweglich, die Fackel in der Hand, mit niedergeſchlagenen
Augen ſtehen bleibt. Er läßt die Capuze fallen und fährt zurück.)
Das fängt an, ſeltſam zu werden!
Ich weiß nicht, warum mir das Blut in den
Adern ſtockt.
sabit capita in terra multorum!)
Welch' abſcheuliche Falle! Unſre Degen! unſre
Degen! Ha, meine Herren, wir ſind bei dem Teufel!
der Thüre.)
Ihr ſeid bei mir!
[[260]][[261]]
III.
Vermiſchte Schriften.
[[262]][[263]]
Der Heſſiſche Landbote.
[[264]][[265]]
Der Heſſiſche Landbote.
Erſte Botſchaft.
Darmſtadt, im Juli 1834.
Vorbericht.
Dieſes Blatt ſoll dem heſſiſchen Lande die Wahrheit melden,
aber wer die Wahrheit ſagt, wird gehenkt; ja ſogar der, welcher die
Wahrheit lieſt, wird durch meineidige Richter vielleicht geſtraft.
Darum haben die, welchen dies Blatt zukommt, Folgendes zu be-
obachten:
- 1. Sie müſſen das Blatt ſorgfältig außerhalb ihres Hauſes vor
der Polizei verwahren; - 2. ſie dürfen es nur an treue Freunde mittheilen;
- 3. denen, welchen ſie nicht trauen, wie ſich ſelbſt, dürfen ſie es
nur heimlich hinlegen; - 4. würde das Blatt dennoch bei einem gefunden, der es geleſen
hat, ſo muß er geſtehen, daß er es eben dem Kreisrath habe
bringen wollen; - 5. wer das Blatt nicht geleſen hat, wenn man es bei ihm findet,
der iſt natürlich ohne Schuld.
Friede den Hütten! Krieg den Palläſten!
Im Jahre 1834 ſiehet es aus, als würde die Bibel
Lügen geſtraft. Es ſieht aus, als hätte Gott die Bauern
und Handwerker am fünften Tage und die Fürſten und Vor-
[266] nehmen am ſechſten gemacht, und als hätte der Herr zu dieſen
geſagt: Herrſchet über alles Gethier, das auf Erden kriecht,
und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt.
Das Leben der Vornehmen iſt ein langer Sonntag, ſie
wohnen in ſchönen Häuſern, ſie tragen zierliche Kleider, ſie
haben feiſte Geſichter und reden eine eigne Sprache; das
Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der
Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht hinter
ihm und dem Pflug und treibt ihn mit dem Ochſen am
Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln.
Das Leben des Bauern iſt ein langer Werktag; Fremde
verzehren ſeine Aecker vor ſeinen Augen, ſein Leib iſt eine
Schwiele, ſein Schweiß iſt das Salz auf dem Tiſche des
Vornehmen.
Im Großherzogthum Heſſen ſind 718,373 Einwohner,
die geben an den Staat jährlich an 6,363,364 Gulden, als
- 1. Direkte Steuern _ _ 2,128,131 fl.
- 2. Indirekte Steuern _ _ 2,478,264 "
- 3. Domänen _ _ 1,547,394 "
- 4. Regalien _ _ 46,938 "
- 5. Geldſtrafen _ _ 98,511 "
- 6. Verſchiedene Quellen _ _ 64,198 "
- _ _ 6,363,363 fl.
Dieſes Geld iſt der Blutzehnte, der von dem Leib des
Volkes genommen wird. An 700,000 Menſchen ſchwitzen,
ſtöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird
es erpreßt, die Preſſer berufen ſich auf die Regierung und
die Regierung ſagt, das ſei nöthig, die Ordnung im Staat
zu erhalten. Was iſt denn nun das für ein gewaltiges Ding,
der Staat? Wohnt eine Anzahl Menſchen in einem Lande,
[267] und es ſind Verordnungen oder Geſetze vorhanden, nach denen
jeder ſich richten muß, ſo ſagt man, ſie bilden einen Staat.
Der Staat alſo ſind Alle; die Ordner im Staate ſind die
Geſetze, durch welche das Wohl Aller geſichert wird, und
die aus dem Wohl Aller hervorgehen ſollen. — Seht
nun, was man in dem Großherzogthum aus dem Staat
gemacht hat; ſeht was es heißt: die Ordnung im Staate
erhalten! 700,000 Menſchen bezahlen dafür 6 Millionen,
d. h. ſie werden zu Ackergäulen und Pflugſtieren gemacht,
damit ſie in Ordnung leben. In Ordnung leben heißt
hungern und geſchunden werden.
Wer ſind denn die, welche dieſe Ordnung gemacht
haben, und die wachen, dieſe Ordnung zu erhalten? Das iſt
die Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird ge-
bildet von dem Großherzog und ſeinen oberſten Beamten,
die anderen Beamten ſind Männer, die von der Regierung
berufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten.
Ihre Anzahl iſt Legion: Staatsräthe und Regierungsräthe,
Landräthe und Kreisräthe, Geiſtliche Räthe und Schulräthe,
Finanzräthe und Forſträthe u. ſ. w. mit allem ihrem Heer
von Sekretären u. ſ. w. Das Volk iſt ihre Heerde, ſie
ſind ſeine Hirten, Melker und Schinder; ſie haben die Häute
der Bauern an, der Raub der Armen iſt in ihrem Hauſe;
die Thränen der Wittwen und Waiſen ſind das Schmalz
auf ihren Geſichtern; ſie herrſchen frei und ermahnen das
Volk zur Knechtſchaft. Ihnen gebt ihr 6,000,000 fl. Ab-
gaben; ſie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d. h. ſich
von euch füttern zu laſſen und euch euere Menſchen- und
Bürgerrechte zu rauben. Sehet, was die Ernte eueres
Schweißes iſt!
[268]
Für das Miniſterium des Innern und der Gerechtig-
keitspflege werden bezahlt 1,110,607 Gulden. Dafür habt
ihr einen Wuſt von Geſetzen, zuſammengehäuft aus will-
kürlichen Verordnungen aller Jahrhunderte, meiſt geſchrieben
in einer fremden Sprache. Der Unſinn aller vorigen Ge-
ſchlechter hat ſich darin auf euch vererbt, der Druck, unter
dem ſie erlagen, ſich auf euch fortgewälzt. Das Geſetz iſt
das Eigenthum einer unbedeutenden Klaſſe von Vornehmen
und Gelehrten, die ſich durch ihr eigenes Machwerk die
Herrſchaft zuſpricht. Dieſe Gerechtigkeit iſt nur ein Mittel,
euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer
ſchinde; ſie ſpricht nach Geſetzen, die ihr nicht verſteht, nach
Grundſätzen, von denen ihr nichts wißt, Urtheile, von denen
ihr nichts begreift. Unbeſtechlich iſt ſie, weil ſie ſich gerade
theuer genug bezahlen läßt, um keine Beſtechung zu brauchen.
Aber die meiſten ihrer Diener ſind der Regierung mit Haut
und Haar verkauft. Ihre Ruheſtühle ſtehen auf einem
Geldhaufen von 461,373 Gulden (ſo viel betragen die Aus-
gaben für die Gerichtshöfe und die Kriminalkoſten). Die
Fräcke, Stöcke und Säbel ihrer unverletzlichen Diener ſind
mit dem Silber von 197,502 Gulden beſchlagen (ſo viel
koſtet die Polizei überhaupt, die Gensdarmerie u. ſ. w.)
Die Juſtiz iſt in Deutſchland ſeit Jahrhunderten die Hure
der deutſchen Fürſten. Jeden Schritt zu ihr müßt ihr mit
Silber pflaſtern, und mit Armuth und Erniedrigung erkauft
ihr ihre Sprüche. Denkt an das Stempelpapier, denkt an
euer Bücken in den Amtsſtuben und euer Wacheſtehen vor
denſelben. Denkt an die Sporteln für Schreiber und Ge-
richtsdiener. Ihr dürft euern Nachbar verklagen, der euch
eine Kartoffel ſtiehlt; aber klagt einmal über den Diebſtahl,
[269] der von Staatswegen unter dem Namen von Abgaben und
Steuern jeden Tag an euerem Eigenthum begangen wird,
damit eine Legion unnützer Beamten ſich von euerem Schweiße
mäſten! klagt einmal, daß ihr der Willkühr einiger Fett-
wänſte überlaſſen ſeid, und daß dieſe Willkühr Geſetz heißt,
klagt, daß ihr die Ackergäule des Staates ſeid, klagt über
euere verlorenen Menſchenrechte: Wo ſind die Gerichtshöfe,
die eure Klage annehmen, wo die Richter, die rechtſprechen?
— Die Ketten eurer Vogelsberger Mitbürger, die man nach
Rockenberg ſchleppte, werden euch Antwort geben.
Und will endlich ein Richter oder ein andrer Beamter
von den Wenigen, welchen das Recht und das gemeine
Wohl lieber iſt, als ihr Bauch und der Mammon, ein Volks-
rath und kein Volksſchinder ſein, ſo wird er von den oberſten
Räthen des Fürſten ſelber geſchunden.
Für das Miniſterium der Finanzen 1,551,502 Fl.
Damit werden die Finanzräthe, Obereinnehmer, Steuer-
boten, die Untererheber beſoldet. Dafür wird der Ertrag
euerer Aecker berechnet und eure Köpfe gezählt, der Boden
unter euren Füßen, der Biſſen zwiſchen euren Zähnen iſt
beſteuert. Dafür ſitzen die Herrn in Fräcken beiſammen, und
das Volk ſteht nackt und gebückt vor ihnen, ſie legen die
Hände an ſeine Lenden und Schultern und rechnen aus, wie
viel es noch tragen kann, und wenn ſie barmherzig ſind, ſo
geſchieht es nur, wie man ein Vieh ſchont, das man nicht
ſo ſehr angreifen will.
Für das Militär wird bezahlt 914,820 Gulden.
Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den
Leib, ein Gewehr oder eine Trommel auf die Schulter und
dürfen jeden Herbſt einmal blind ſchießen und erzählen, wie
[270] die Herrn vom Hof und die ungerathenen Buben vom
Adel allen Kindern ehrlicher Leute vorgehen, und mit ihnen
in den breiten Straßen der Städte herumziehen mit Trom-
meln und Trompeten. Für jene 900,000 Gulden müſſen
eure Söhne den Tyrannen ſchwören und Wache halten an
ihren Palläſten. Mit ihren Trommeln übertäuben ſie eure
Seufzer, mit ihren Kolben zerſchmettern ſie euch den Schädel,
wenn ihr zu denken wagt, daß ihr freie Menſchen ſeid.
Sie ſind die geſetzlichen Mörder, welche die geſetzlichen
Räuber ſchützen, denkt an Södel! Eure Brüder, eure Kinder
waren dort Brüder- und Vatermörder.
Für die Penſionen 480,000 Gulden.
Dafür werden die Beamten auf's Polſter gelegt, wenn
ſie eine gewiſſe Zeit dem Staate treu gedient haben, d. h.
wenn ſie eifrige Handlanger bei der regelmäßig eingerichteten
Schinderei geweſen, die man Ordnung und Geſetz heißt.
Für das Staatsminiſterium und den Staatsrath
174,600 Gulden.
Die größten Schurken ſtehen wohl jetzt allerwärts in
Deutſchland den Fürſten am nächſten, wenigſtens im Groß-
herzogthum. Kommt ja ein ehrlicher Mann in einen Staats-
rath, ſo wird er ausgeſtoßen. Könnte aber auch ein ehr-
licher Mann jetzo Miniſter ſein oder bleiben, ſo wäre er,
wie die Sachen ſtehen in Deutſchland, nur eine Drathpuppe,
an der die fürſtliche Puppe zieht, und an dem fürſtlichen
Popanz zieht wieder ein Kammerdiener oder ein Kutſcher
oder ſeine Frau und ein Günſtling oder ſein Halbbruder
— oder alle zuſammen.
In Deutſchland ſtehet es jetzt wie der Prophet Micha
ſchreibt, Cap. 7, V. 3 und 4: "die Gewaltigen rathen nach
[271] ihrem Muthwillen, Schaden zu thun, und drehen es, wie
ſie es wollen. Der Beſte iſt unter ihnen wie ein Dorn,
und der Redlichſte wie eine Hecke." Ihr müßt die Dörner
und Hecken theuer bezahlen; denn ihr müßt ferner für das
großherzogliche Haus und den Hofſtaat 827,772 Gulden
bezahlen. Die Anſtalten, die Leute, von denen ich bis jetzt
geſprochen, ſind nur Werkzeuge, ſind nur Diener. Sie thun
nichts in ihrem Namen, unter der Ernennung zu ihrem
Amt ſteht ein L., das bedeutet Ludwig von Gottes Gnaden,
und ſie ſprechen in Ehrfurcht: "im Namen des Großherzogs".
Dies iſt ihr Feldgeſchrei, wenn ſie euer Geräth verſteigern,
euer Vieh wegtreiben, euch in den Kerker werfen. Im
Namen des Großherzogs ſagen ſie, und der Menſch den ſie
ſo nennen, heißt: unverletzlich, heilig, ſouverain, königliche
Hoheit. Aber tretet zu dem Menſchenkinde und blickt durch
ſeinen Fürſtenmantel. Es ißt, wenn es hungert, und ſchläft,
wenn ſein Auge dunkel wird. Sehet: es kroch ſo nackt und
weich in die Welt, wie ihr und wird ſo hart und ſteif hin-
ausgetragen, wie ihr, und doch hat es ſeinen Fuß auf
eurem Nacken, hat 700,000 Menſchen an ſeinem Pflug, hat
Miniſter, die verantwortlich ſind für das, was es thut, hat
Gewalt über euer Eigenthum durch die Steuern, die es aus-
ſchreibt, über euer Leben durch die Geſetze, die es macht,
es hat adlige Herrn und Damen um ſich, die man Hofſtaat
heißt, und ſeine göttliche Gewalt vererbt ſich auf ſeine Kinder
mit Weibern, welche aus ebenſo übermenſchlichen Geſchlechtern
ſind. — Wehe über Euch Götzendiener! Ihr ſeid wie die
Heiden, die das Krokodill anbeten, von dem ſie zerriſſen
werden. Ihr ſetzt ihm eine Krone auf, aber es iſt eine
Dornenkrone, die ihr euch ſelbſt in den Kopf drückt; ihr
[272] gebt ihm ein Scepter in die Hand, aber es iſt eine Ruthe,
womit ihr gezüchtigt werdet; ihr ſetzt ihn auf eueren Thron,
aber es iſt ein Marterſtuhl für euch und eure Kinder. Der
Fürſt iſt der Kopf des Blutegels, der über euch hinkriecht,
die Miniſter ſind ſeine Zähne, und die Beamten ſein
Schwanz. Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herrn,
denen er die hohen Stellen vertheilt, ſind Schröpfköpfe, die
er dem Lande ſetzt. Das L. das unter ſeinen Verordnungen
ſteht, iſt das Malzeichen des Thieres, das die Götzendiener
unſerer Zeit anbeten. Der Fürſtenmantel iſt der Teppich,
auf dem ſich die Herrn und Damen vom Adel und Hofe in
ihrer Geilheit übereinander wälzen — mit Orden und
Bändern decken ſie ihre Geſchwüre, und mit koſtbaren Ge-
wändern bekleiden ſie ihre ausſätzigen Leiber. Die Töchter
des Volks ſind ihre Mägde und Huren, die Söhne des
Volks ihre Lakaien und Soldaten. Geht einmal nach
Darmſtadt und ſeht, wie die Herrn ſich für euer Geld dort
luſtig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern
und Kindern, daß ihr Brod an fremden Bäuchen herrlich
angeſchlagen ſei, erzählt ihnen von den ſchönen Kleidern, die
in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern,
die aus den Schwielen ihrer Hände geſchnitten ſind, erzählt
von den ſtattlichen Häuſern, die aus den Knochen des Volks
gebaut ſind; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und
bückt euch auf euren ſteinigten Aeckern, damit eure Kinder
auch einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer
Erbprinzeſſin für einen anderen Erbprinzen Rath ſchaffen
will, und durch die geöffneten Glasthüren das Tiſchtuch
ſehen, woran die Herrn ſpeiſen, und die Lampen riechen, aus
denen man mit dem Fett der Bauern illuminirt. Das alles
[273] duldet ihr, weil euch Schurken ſagen: "dieſe Regierung ſei
von Gott." Dieſe Regierung iſt nicht von Gott, ſondern
vom Vater der Lügen. Dieſe deutſchen Fürſten ſind keine
rechtmäßige Obrigkeit, ſondern die rechtmäßige Obrigkeit, den
deutſchen Kaiſer, der vormals vom Volke frei gewählt wurde,
haben ſie ſeit Jahrhunderten verachtet und endlich gar ver-
rathen. Aus Verrath und Meineid, und nicht aus der Wahl
des Volkes iſt die Gewalt der deutſchen Fürſten hervor-
gegangen und darum iſt ihr Weſen und Thun von Gott
verflucht; ihre Weisheit iſt Trug, ihre Gerechtigkeit iſt
Schinderei. Sie zertreten das Land und zerſchlagen die
Perſon des Elenden. Ihr läſtert Gott, wenn ihr einen
dieſer Fürſten einen Geſalbten des Herrn nennt, das heißt:
Gott habe die Teufel geſalbt und zu Fürſten über die deutſche
Erde geſetzt. Deutſchland, unſer liebes Vaterland, haben
dieſe Fürſten zerriſſen, den Kaiſer, den unſere freien Vor-
eltern wählten, haben dieſe Fürſten verrathen, und nun
fordern dieſe Verräther und Menſchenquäler Treue von euch!
Doch das Reich der Finſterniß neiget ſich zum Ende. Ueber
ein Kleines und Deutſchland, das jetzt die Fürſten ſchinden,
wird als ein Freiſtaat mit einer von Volke gewählten Ob-
rigkeit wieder auferſtehen. Die heilige Schrift ſagt: "Gebet
dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt." Was iſt aber dieſer
Fürſten. — der Verräther? — Das Theil von Judas!
Für die Landſtände 16,000 Gulden.
Im Jahre 1789 war das Volk in Frankreich müde,
länger die Schindmähre ſeines Königs zu ſein. Es erhob
ſich und berief Männer, denen es vertraute, und die Männer
traten zuſammen und ſagten, ein König ſei ein Menſch wie
ein anderer auch, er ſei nur der erſte Diener im Staat, er
G. Büchner's Werke. 18
[274] müſſe ſich vor dem Volk verantworten, und wenn er ſein
Amt ſchlecht verwalte, könne er zur Strafe gezogen werden.
Dann erklärten ſie die Rechte des Menſchen: "Keiner erbt
vor dem Andern mit der Geburt ein Recht oder einen Titel,
keiner erwirbt mit dem Eigenthum ein Recht vor dem Andern.
Die höchſte Gewalt iſt in dem Willen Aller oder der Mehr-
zahl. Dieſer Wille iſt das Geſetz, er thut ſich kund durch
die Landſtände oder die Vertreter des Volks, ſie werden von
Allen gewählt, und jeder kann gewählt werden; dieſe Ge-
wählten ſprechen den Willen ihrer Wähler aus, und ſo ent-
ſpricht der Wille der Mehrzahl unter ihnen dem Willen der
Mehrzahl unter dem Volke; der König hat nur für die
Ausübung der von ihnen erlaſſenen Geſetze zu ſorgen." Der
König ſchwur, dieſer Verfaſſung treu zu ſein, er wurde aber
meineidig an dem Volke und das Volk richtete ihn, wie es
einem Verräther geziemt, dann ſchafften die Franzoſen die
erbliche Königswürde ab und wählten frei eine neue Obrig-
keit, wozu jedes Volk nach der Vernunft und der heiligen
Schrift das Recht hat. Die Männer, die über die Voll-
ziehung der Geſetze wachen ſollten, wurden von der Ver-
ſammlung der Volksvertreter ernannt, ſie bildeten die neue
Obrigkeit. So waren Regierung und Geſetzgeber vom Volk
gewählt und Frankreich war ein Freiſtaat.
Die übrigen Könige aber entſetzten ſich vor der Gewalt
des franzöſiſchen Volkes, ſie dachten, ſie könnten alle über
der erſten Königsleiche den Hals brechen, und ihre miß-
handelten Unterthanen möchten bei dem Freiheitsrufe der
Franken erwachen. Mit gewaltigem Kriegsgeräth und
reiſigem Zeug ſtürzten ſie von allen Seiten auf Frankreich,
und ein großer Theil der Adeligen und Vornehmen im Lande
[275] ſtand auf und ſchlug ſich zu dem Feinde. Da ergrimmte das
Volk und erhob ſich in ſeiner Kraft. Es erdrückte die Ver-
räther und zerſchmetterte die Söldner der Könige. Die junge
Freiheit wuchs im Blut der Tyrannen, und vor ihrer Stimme
bebten die Throne und jauchzten die Völker. Aber die
Franzoſen verkauften ſelbſt ihre junge Freiheit für den Ruhm,
den ihnen Napoleon darbot und erhoben ihn auf den Kaiſer-
thron. — Da ließ der Allmächtige das Heer des Kaiſers
in Rußland erfrieren und züchtigte Frankreich durch die Knute
der Koſaken und gab den Franzoſen die dickwanſtigen Bour-
bonen wieder zu Königen, damit Frankreich ſich bekehre vom
Götzendienſt der erblichen Königsherrſchaft und dem Gotte
diene, der die Menſchen frei und gleich geſchaffen. Aber
als die Zeit ſeiner Strafe verfloſſen war, und tapfere Männer
im Julius 1830 den meineidigen König Karl den Zehnten
aus dem Lande jagten, da wendete dennoch das befreite
Frankreich ſich abermals zur halberblichen Königsherrſchaft
und band ſich in dem Heuchler Louis Philipp eine neue
Zuchtruthe auf. In Deutſchland und ganz Europa aber war
große Freude, als der zehnte Karl vom Thron geſtürzt ward,
und die unterdrückten deutſchen Länder richteten ſich zum
Kampfe für die Freiheit. Da rathſchlagten die Fürſten, wie
ſie dem Grimm des Volkes entgehen ſollten und die liſtigen
unter ihnen ſagten: Laßt uns einen Theil unſerer Gewalt
abgeben, daß wir das Uebrige behalten. Und ſie traten vor
das Volk und ſprachen: Wir wollen euch die Freiheit ſchenken,
um die ihr kämpfen wollt. — Und zitternd vor Furcht
warfen ſie einige Brocken hin und ſprachen von ihrer Gnade.
Das Volk traute ihnen leider und legte ſich zur Ruhe. —
Und ſo ward Deutſchland betrogen wie Frankreich.
18 *
[276]
Denn was ſind dieſe Verfaſſungen in Deutſchland?
Nichts als leeres Stroh, woraus die Fürſten die Körner für
ſich herausgeklopft haben. Was ſind unſere Landtage? Nichts
als langſame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal wohl
der Raubgier der Fürſten und ihrer Miniſter in den Weg
ſchieben, woraus man aber nimmermehr eine feſte Burg für
deutſche Freiheit bauen kann. Was ſind unſere Wahlgeſetze?
Nichts als Verletzungen der Bürger- und Menſchenrechte der
meiſten Deutſchen. Denkt an das Wahlgeſetz im Großher-
zogthum, wornach keiner gewählt werden kann, der nicht hoch
begütert iſt, wie rechtſchaffen und gutgeſinnt er auch ſei, wohl
aber der Grolmann, der euch um die zwei Millionen be-
ſtehlen wollte. Denkt an die Verfaſſung des Großherzog-
thums. — Nach den Artikeln derſelben iſt der Großherzog
unverletzlich, heilig und unverantwortlich. Seine Würde iſt
erblich in ſeiner Familie, er hat das Recht Krieg zu führen
und ausſchließliche Verfügung über das Militär. Er beruft
die Landſtände, vertagt ſie oder löſt ſie auf. Die Stände
dürfen keinen Geſetzesvorſchlag machen, ſondern ſie müſſen
um das Geſetz bitten und dem Gutdünken des Fürſten bleibt
es unbedingt überlaſſen, es zu geben oder zu verweigern.
Er bleibt im Beſitze einer faſt unumſchränkten Gewalt, nur
darf er keine neuen Geſetze machen und keine neuen Steuern
ausſchreiben ohne Zuſtimmung der Stände. Aber theils
kehrt er ſich nicht an dieſe Zuſtimmung, theils genügen ihm
die alten Geſetze, die das Werk der Fürſtengewalt ſind, und
er bedarf darum keiner neuen Geſetze. Eine ſolche Ver-
faſſung iſt ein elend jämmerlich Ding. Was iſt von Ständen
zu erwarten, die an eine ſolche Verfaſſung gebunden ſind?
Wenn unter den Gewählten auch keine Volksverräther und
[277] feige Memmen wären, wenn ſie aus lauter entſchloſſenen
Volksfreunden beſtänden?! Was iſt von Ständen zu er-
warten, die kaum die elenden Fetzen einer armſeligen Ver-
faſſung zu vertheidigen vermögen! — Der einzige Wider-
ſtand, den ſie zu leiſten vermochten, war die Verweigerung
der zwei Millionen Gulden, die ſich der Großherzog von
dem überſchuldeten Volke wollte ſchenken laſſen zur Bezahlung
ſeiner Schulden. Hätten aber auch die Landſtände des Groß-
herzogthums genügende Rechte, und hätte das Großherzog-
thum, aber nur das Großherzogthum allein, eine wahrhafte
Verfaſſung, ſo würde die Herrlichkeit doch bald zu Ende ſein.
Die Raubgeier in Wien und Berlin würden ihre Henkers-
krallen ausſtrecken, und die kleine Freiheit mit Rumpf und
Stumpf ausrotten. Das ganze deutſche Volk muß ſich die
Freiheit erringen. Und dieſe Zeit, geliebte Mitbürger, iſt
nicht ferne. Der Herr hat das ſchöne deutſche Land, das
viele Jahrhunderte das herrlichſte Reich der Erde war, in
die Hände der Fremden und einheimiſchen Schinder gegeben,
weil das Herz des deutſchen Volkes von der Freiheit und
Gleichheit ſeiner Voreltern und von der Furcht des Herrn
abgefallen war, weil ihr dem Götzendienſte der vielen Herr-
lein, Kleinherzoge und Däumlings-Könige euch ergeben hattet!
Der Herr, der den Stecken des fremden Treibers Na-
poleon zerbrochen hat, wird auch die Götzenbilder unſerer
einheimiſchen Tyrannen zerbrechen durch die Hände des
Volkes. Wohl glänzen dieſe Götzenbilder von Gold und
Edelſteinen, von Orden und Ehrenzeichen, aber in ihrem
Innern ſtirbt der Wurm nicht, und ihre Füße ſind von
Lehm. — Gott wird euch Kraft geben, ihre Füße zu zer-
ſchmeißen, ſobald ihr Euch bekehrt von dem Irrthum eures
[278] Wandels und die Wahrheit erkennet: "daß nur ein Gott
iſt, und keine Götter neben ihm, die ſich Hoheiten und
Allerhöchſte, heilig und unverantwortlich nennen laſſen, daß
Gott alle Menſchen frei und gleich in ihren Rechten ſchuf, und
daß keine Obrigkeit von Gott zum Segen verordnet iſt, als
die, welche auf das Vertrauen des Volkes ſich gründet und
vom Volke ausdrücklich oder ſtillſchweigend erwählt iſt; daß
dagegen die Obrigkeit die Gewalt, aber kein Recht über ein
Volk hat — nur alſo von Gott iſt, wie der Teufel auch von
Gott iſt, und daß der Gehorſam gegen eine ſolche Teufels-
obrigkeit nur ſo lange gilt, bis ihre Teufelsgewalt gebrochen
werden kann; — daß der Gott, der ein Volk durch Eine
Sprache zu einem Leibe vereinigte, die Gewaltigen, die es
zerfleiſchen und vertheilen oder gar in dreißig Stücke zer-
reißen, als Volksmörder und Tyrannen hier zeitlich und dort
ewiglich ſtrafen wird, denn die Schrift ſagt: Was Gott ver-
einigt hat, ſoll der Menſch nicht trennen; und daß der All-
mächtige, der aus der Einöde ein Paradies umſchaffen kann,
auch ein Land des Jammers und des Elends wieder in ein
Paradies umſchaffen kann, wie unſer theuerwerthes Deutſch-
land war, bis ſeine Fürſten es zerfleiſchten und ſchunden."
Weil das deutſche Reich morſch und faul war, und die
Deutſchen von Gott und von der Freiheit abgefallen waren,
hat Gott das Reich zu Trümmern gehen laſſen, um es zu
einem Freiſtaat zu verjüngen.
Er hat eine Zeitlang "den Satansengeln Gewalt ge-
geben, daß ſie Deutſchland mit Fäuſten ſchlügen, er hat den
Gewaltigen und Fürſten, die in der Finſterniß herrſchen, den
böſen Geiſtern unter dem Himmel (Epheſ. 6.) Gewalt ge-
geben, daß ſie Bürger und Bauern peinigten und ihr Blut
[279] ausſaugten und ihren Muthwillen trieben mit Allen, die
Recht und Freiheit mehr lieben als Unrecht und Knecht-
ſchaft." — Aber ihr Maß iſt voll!
Sehet an das von Gott gezeichnete Scheuſal, den König
Ludwig von Baiern, den Gottesläſterer, der redliche Männer
vor ſeinem Bilde niederzuknien zwingt, und die, welche die
Wahrheit bezeugen, durch meineidige Richter zum Kerker ver-
urtheilen läßt; das Schwein, das ſich in allen Laſterpfützen
von Italien wälzte, den Wolf, der ſich für ſeinen Baals-
Hofſtaat für immer jährlich fünf Millionen durch meineidige
Landſtände verwilligen läßt, und fragt dann: "Iſt das eine
Obrigkeit von Gott zum Segen verordnet?"
Ich ſage euch: Sein und ſeiner Mitfürſten Maaß iſt
voll. Gott, der Deutſchland um ſeiner Sünden willen ge-
ſchlagen hat durch dieſe Fürſten, wird es wieder heilen. "Er
wird die Hecken und Dörner niederreißen und auf einem
Haufen verbrennen."
Jeſaias 27, 4. So wenig der Höcker noch wächſet,
womit Gott dieſen König Ludwig gezeichnet hat, ſo wenig
werden die Schandthaten dieſer Fürſten noch wachſen können.
Ihr Maaß iſt voll. Der Herr wird ihre Körper zer-
ſchmeißen und in Deutſchland wird dann Leben und Kraft
als Segen der Freiheit wieder erblühen. Zu einem großen
Leichenfelde haben die Fürſten die deutſche Erde gemacht, wie
Ezechiel im 37. Capitel beſchreibt: "der Herr führte mich
auf ein weißes Feld, das voller Gebeine lag, und ſiehe, ſie
waren ſehr verdorrt". Aber wie lautet des Herrn Wort zu
[280] den verdorrten Gebeinen: "Siehe, ich will euch Adern geben
und Fleiſch laſſen über euch wachſen, und euch mit Haut
überziehen, und will euch Odem geben, daß ihr wieder
lebendig werdet, und ſollt erfahren, daß Ich der Herr bin."
Und des Herrn Wort wird auch an Deutſchland ſich wahr-
haftig beweiſen, wie der Prophet ſpricht: "Siehe, es rauſchte
und regte ſich, und die Gebeine kamen wieder zuſammen, ein
jegliches zu ſeinem Gebein. — Da kam Odem in ſie, und
ſie wurden wieder lebendig und richteten ſich auf ihre Füße,
und ihrer war ein ſehr groß Heer."
Wie der Prophet ſchreibet, alſo ſtand es bisher in
Deutſchland: Eure Gebeine ſind verdorrt, denn die Ordnung,
in der ihr lebt, iſt eitel Schinderei. 6 Millionen bezahlt
ihr im Großherzogthum einer Handvoll Leute, deren Will-
kür euer Leben und Eigenthum überlaſſen iſt, und die
anderen in dem zerriſſenen Deutſchland gleich alſo. Ihr ſeid
rechtlos. Ihr müſſet geben, was eure unerſättlichen Preſſer
fordern, und tragen, was ſie euch aufbürden.
So weit ein Tyrann blicket — und Deutſchland hat
deren wohl dreißig — verdorret Land und Volk. Aber wie
der Prophet ſchreibet, ſo wird es bald ſtehen in Deutſchland —
der Tag der Auferſtehung wird nicht ſäumen. In dem
Leichenfelde wird ſichs regen und wird rauſchen, und der
Neubelebten wird ein großes Heer ſein.
Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer
Preſſer, die nur ſtark ſind durch das Blut, das ſie euch aus-
ſaugen und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet.
Ihrer ſind vielleicht 10,000 im Großherzogthum und euerer
ſind es 700,000, und alſo verhält ſich die Zahl des Volkes
zu ſeinen Preſſern auch im übrigen Deutſchland. Wohl
[281] drohen ſie mit dem Rüſtzeug und den Reiſigen der Könige,
aber ich ſage euch: Wer das Schwert erhebt gegen das Volk,
der wird durch das Schwert des Volkes umkommen. Deutſch-
land iſt jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies ſein.
Das deutſche Volk iſt Ein Leib, ihr ſeid ein Glied dieſes
Leibes. Es iſt einerlei, wo die Scheinleiche zu zucken an-
fängt. Wann der Herr euch ſeine Zeichen gibt durch die
Männer, durch welche er die Völker aus der Dienſtbarkeit
zur Freiheit führt, dann erhebet euch, und der ganze Leib
wird mit euch aufſtehen.
Ihr bücktet euch lange Jahre in den Dornäckern der
Knechtſchaft, dann ſchwitzt ihr einen Sommer im Weinberge
der Freiheit und werdet frei ſein bis ins tauſendſte Glied.
Ihr wühltet ein langes Leben die Erde auf, dann wühlt ihr
euren Tyrannen ein Grab. Ihr bautet die Zwingburgen,
dann ſtürzt ihr ſie, und bauet der Freiheit Haus. Dann
könnt ihr euere Kinder frei taufen mit dem Waſſer des
Lebens. Und bis der Herr euch ruft durch ſeine Boten und
Zeichen, wachet und rüſtet euch im Geiſte und betet ihr
ſelbſt und lehrt eure Kinder beten: "Herr, zerbrich den
Stecken unſerer Treiber und laß dein Reich zu uns kommen —
das Reich der Gerechtigkeit. Amen."
[[282]]
Anmerkung zum "Landboten".
Ueber die Verhältniſſe, aus denen heraus Büchner dieſes merk-
würdige Pamphlet geſchrieben, über den Einfluß, welchen Pfarrer
Weidig durch Streichungen und Zuſätze auf deſſen Textlaut ge-
nommen, über die Art der Verbreitung, ſo wie über die Folgen
derſelben, ſind bereits in dem einleitenden Eſſay orientirende An-
deutungen gegeben worden. Näheres hierüber findet ſich ferner im
Anhang der vorliegenden Ausgabe, in den dort mitgetheilten Aus-
ſagen der Mitverſchworenen Büchners.
Hier habe ich nur einiger äußeren Momente zu gedenken.
Der vorſtehende Abdruck iſt der vierte, welcher dieſer Schrift
geworden.
Nachdem ſie bekanntlich im April 1834 von Büchner verfaßt
und von Auguſt Becker abgeſchrieben, im Mai von Weidig ſeinen
Anſichten gemäß umgeſtaltet worden, nachdem ferner Büchner und
ſein Freund Schütz im Juni das Manuſcript nach Offenbach ge-
bracht, ging ſie endlich im Juli 1834 aus der geheimen Preſſe zu
Offenbach als Flugblatt hervor. Ein Exemplar dieſes erſten Ab-
drucks, wohl das einzige, welches den Confiscationen und Verfolgungen
entgangen, hat ſich als ſorgſam bewahrte Reliquie im Beſitze des
Herrn Dr. Ludwig Büchner zu Darmſtadt erhalten und liegt mir
vor. Es beſteht aus einem dicht bedruckten halben Bogen — acht
Seiten — mittleren Octavs, das Papier iſt grau und ſchlecht, die
Typen undeutlich. Natürlich fehlt jede Angabe über Verfaſſer,
Druckort und Druckjahr — auch ſonſt iſt es unverkennbar, daß die
Flugſchrift heimlich, im Dunkel der Nacht, von ungeübten Leuten
hergeſtellt worden. Der Satz enthält unzählige Fehler, iſt an
[283] mehreren Stellen falſch umbrochen, einige Seiten ſind verhoben. In
welcher Stärke dieſer erſte Abdruck hergeſtellt worden, iſt nicht zu
erkunden geweſen. Selbſt das in der Einleitung citirte Werk
Nöllners, eines heſſiſchen Richters, welcher das ſämmtliche, im nach-
maligen Hochverrathsprozeſſe gegen Weidig und Conſorten aufge-
häufte Actenmaterial ſorgſamſt verarbeitet und alle auf den "Land-
boten" bezüglichen Daten mit großer Treue zuſammengetragen hat,
weiß über dies numeriſche Moment ebenſowenig Aufſchluß zu geben,
als über die Art der Herſtellung: wer jene "geheime Preſſe" ge-
leitet, wer die Koſten getragen u. ſ. w.
Hingegen iſt aus einer, freilich nur ganz flüchtig hingeworfenen
Mittheilung in Nöllner's Werke (Aktenmäßige Darlegung etc. S. 107)
zu entnehmen, daß von der Flugſchrift auch ein zweiter Abdruck
veranſtaltet worden, welcher ſich von dem erſten unter-
ſchieden. Mehr als dies Factum gibt Nöllner nicht, in ſonſtigen
Schriften über jene Bewegung findet es ſich nirgendwo erwähnt,
doch iſt bei der ungemeinen Gewiſſenhaftigkeit ſeiner Arbeit an der
Thatſache ſelbſt nicht zu zweifeln. Jedenfalls iſt dieſe zweite Auflage
der erſten bereits binnen zwei bis drei Wochen gefolgt. Anfang
Juli 1834 wurde die erſte Auflage aus Offenbach abgeholt und
verbreitet, am 1. Auguſt 1834 wurde, wie bereits in der Einleitung
berichtet, stud. jur. Karl Minnigerode an einem Thore Gießens ver-
haftet, als er eben 150 Exemplare der Flugſchrift aus Offenbach
nach Gießen bringen wollte. Damit war die Schrift den Behörden
in die Hände gefallen, die Unterſuchung begann, die Thätigkeit der
Verſchworenen war gelähmt. Daß ſie alſo nach dem letztgenannten
Datum noch an die Herſtellung dieſer zweiten Auflage geſchritten,
iſt nicht anzunehmen; dieſelbe iſt daher ſpäteſtens in den letzten
Tagen des Juli 1834 erfolgt. Dadurch wird auch, nebenbei be-
merkt, erklärlich, warum die Verſchworenen erſt nach Monatsfriſt
den Verſuch gemacht, den "Landboten" in Gießen zu verbreiten.
Der erſte Abdruck war bereits anderweitig vertheilt worden und es
waren Exemplare der zweiten Auflage, die Minnigerode geholt.
Hat ſich ferner, wie Nöllner ausdrücklich und gewiß nur auf Grund
actenmäßiger Beweiſe angibt, dieſer zweite Abdruck von dem erſten
unterſchieden, ſo kann es nur Pfarrer Weidig geweſen ſein, der
[284] weitere Zuſätze und Aenderungen vorgenommen. Denn Büchner
war ja bereits über die Aenderungen, welche Weidig an ſeinem
Manuſcript für die erſte Auflage vorgenommen, ſo erzürnt, daß er
ſich, wie man im Anhang nachleſen mag, auf das heftigſte darüber
äußerte, ja die Arbeit nicht mehr als die ſeinige anerkennen wollte.
Es iſt alſo nicht anzunehmen, daß er ſich an einer ferneren Umge-
ſtaltung betheiligt.
Der dritte Abdruck ſteht in den "Nachgelaſſenen Schriften,
(Frankfurt, Sauerländer 1850.)" Der Herausgeber derſelben, be-
kanntlich Dr. Ludwig Büchner, ſah ſich jedoch nicht in der Lage das
in ſeinem Beſitze befindliche Exemplar der erſten Auflage einfach
vollinhaltlich der Ausgabe einzufügen. Das verhinderten die traurigen,
politiſchen Verhältniſſe des Jahres, in dem ſeine Ausgabe erſchien.
"Von dem Landboten" bemerkt er in der Einleitung dieſer Ausgabe
(N. S. S. 50) "konnten wir nur den kleinſten Theil wiedergeben.
Vieles darin bezog ſich auf ehemalige ſpecielle Landesverhältniſſe,
Anderes würde noch heutzutage Staatsverbrechen involviren. Die
gegebenen Stellen mögen zur Beurtheilung des Ganzen hinweiſen,
deſſen Hauptwerth ein hiſtoriſcher iſt." Freilich rettete Dr. Büchner
ehrlich, was nur immer zu retten war, ohne den damals gewaltig
langen Arm des Strafgerichts gegen das Buch in Bewegung zu
ſetzen, aber der Auszug war gleichwohl nur ſehr dürftig und konnte
von dem eigentlichen Charakter der Schrift kaum ein richtiges Bild
auch nur errathen laſſen. Die kräftigſten Stellen mußten wegbleiben,
ebenſo alle Orts- und Perſonennamen, ſelbſt der Titel der Schrift
heißt da: "Der ...... ſche Landbote".
Jene Rückſichten, welchen damals Dr. Büchner "dem Zwang
gehorchend, nicht dem eigenen Triebe" leider ſo ausgiebig Rechnung
tragen mußte, ſind heute nicht mehr wirkſam. Der Staat "von
Gottes Gnaden" exiſtirt heute nicht mehr, der deutſche Bundestag
iſt todt, der deutſche Einheitsſtaat iſt erſtanden. Die Streitſchrift,
welche ſo grimmig, mit dem glühenden Ethos einer Freiheit lieben-
den Seele, den Abſolutismus befehdet, iſt völlig gegenſtandlos ge-
worden: was ſie bekämpft hat, iſt längſt dahin. Selbſt die bös-
willigſte Abſicht wird dieſe Waffe nicht mehr gegen die Zuſtände
der Gegenwart ſchwingen können. Heute hat dieſe merkwürdige
[285] Schrift nur mehr und ausſchließlich nur hiſtoriſchen Werth.
Aber dieſer iſt wie ich mich in der Einleitung nachzuweiſen gemüht,
ſo beträchtlich, daß er die vollinhaltliche Mittheilung an dieſer Stelle
zu einer Pflicht gemacht.
Dieſer vierte Abdruck gibt wortwörtlich den erſten wieder
Nur die Druckfehler ſind beſeitigt, und die etwas ſonderbare Ortho-
graphie iſt der im ganzen Werke feſtgehaltenen anbequemt worden. Die
lapsus calami hingegen, ſo auffällig ſie auch ſein mögen, habe ich
mich zu corrigiren nicht für berechtigt gehalten. So wird zum
Beiſpiel (S. 266) der Betrag der jährlichen Steuergelder im Groß-
herzogthum Heſſen mit 6,363,364 Gulden, auf derſelben Seite mit
6,363363 Gulden angegeben, während die Summirung der einzelnen
Poſten einen dritten verſchiedenen Betrag (6,363,436 Gulden) er-
geben würde. Und ähnlicher, nicht blos numeriſcher Irrthümer gibt
es da noch einige. Sie ſind charakteriſtiſch für die Haſt und Un-
ruhe, in der die Schrift entſtand.
Der "Landbote" iſt die einzige Schrift Büchner's, welche nicht
ausſchließlich aus ſeiner Feder ſtammt. Man weiß, daß Weidig
den "Vorbericht" ſo wie die bibliſchen Stellen, endlich den Schluß
beigefügt, hingegen Vieles, was ihm zu radikal geſchienen, geſtrichen
hatte. Insbeſondere hat er überall da, wo Büchner von den "Reichen"
geſprochen "die Vornehmen" eingeſchoben und Alles weggelaſſen,
was gegen die "ſogenannte liberale Partei" geſagt war. "Das ur-
ſprüngliche Manuſcript", meinte Becker, "hätte man als eine Predigt
gegen den Mammon betrachten können, nicht ſo das letzte." Da
dies urſprüngliche Manuſcript natürlich nicht mehr aufzufinden ge-
weſen, ſo iſt mir nichts übrig geblieben, als den erſten Abdruck zu
wiederholen, der übrigens, nach Becker's Anſicht, "noch gehäſſiger"
iſt, als Büchner's Arbeit. Hingegen laſſe ich hier ein Verzeichniß
jener Stellen folgen, welche gewiß oder höchſt wahrſcheinlich nicht
von Büchner herrühren.
Es ſind alſo von Weidig beigefügt:
- S. 265. Z. 1 der Titel: "der Heſſiſche Landbote". Büchner's
Manuſcript war titellos. Ferner der Nebentitel und das Datum. - S. 265. Z. 4 der "Vorbericht" "dieſes Blatt ſoll" — bis: —
"natürlich ohne Schuld".
[286]
- S. 265. Z. 20, das Motto: "Friede den Hütten, Krieg den
Palläſten!" - S. 265. Z. 21. "Im Jahre 1834" — bis: — "zum Gewürm
gezählt." (S. 266. Z. 3.) Dieſe Stelle wird von Nöllner (l. c.
S. 106) nach den Ergebniſſen der Unterſuchung als Belaſtungsſtelle
gegen Weidig angeführt. - S. 270. Z. 29. "In Deutſchland" bis: — "wie eine Hecke"
(S. 271. S. 3). - S. 271. Z. 27. "Wehe über Euch" — bis: — "zerriſſen
werden" (Z 29) - S. 273. Z. 22. "Die heilige Schrift" — bis: — "Theil von
Judas" (Z. 24. - S. 277 Z. 23. "Der Herr, der den Secten" — bis: — "von
Lehm" (S. 277. Z. 29).
Ferner im Anſchluß daran:
- S. 277. Z. 29. "Gott wird euch Kraft geben" — bis: — "zer-
fleiſchten und ſchunden" (S. 278. Z. 21). - S. 278. Z. 26. "Er hat eine Zeitlang" — bis: — "Unrecht
und Knechtſchaft." (S. 279. Z. 3). - S. 279. Z. 18. "Gott, der Deutſchland" — bis: — "auf
einem Haufen verbrennen" (S. 279. Z. 21). - S. 279. Z. 22. "Jeſaias 27. 4. ſo wenig" — bis: — "war
ein ſehr groß Heer (S. 280. Z. 10). - S. 280. Z. 11. "Wie der Prophet" — bis: — "Schinderei".
(S. 280. Z. 13). - S. 280. Z. 20. "Aber wie der Prophet" — bis: — "ein
großes Heer ſein" (S. 280. Z. 24). Endlich der Schluß: - S. 280. Z. 25. "Hebt die Augen auf" — bis zum Ende
der Schrift.
Ferner bedürfen noch einige Stellen, welche ſich auf lokale
Verhältniſſe oder Begebenheiten beziehen, einer kurzen Erläuterung.
- S. 269. Z. 9. "Die Ketten eurer Vogelsberger Mitbürger, die
man nach Rockenberg ſchleppte, werden euch Antwort geben!" Eine
Anſpielung auf den oberheſſiſchen Bauernaufſtand und deſſen Aus-
gang. Die Erklärung mag Luiſe Büchner, die Schweſter des Dichters,
beſorgen. "Vornehmlich in den Standesherrſchaften", erzählt ſie in
[287] ihrer "Deutſchen Geſchichte" (Leipzig, Thomas 1875), "war die
Erbitterung groß, weil dort noch die Feudallaſten neben den Staats-
laſten auf das geringe Volk drückten. Dies war auch die Veran-
laſſung, warum gerade in Oberheſſen, wo ſich noch ſehr viele
Standesherrſchaften befinden, die Empörung in eine Art von Bauern-
krieg ausartete. Sonſt nirgends war dem kleinen Manne die Steuer-
laſt ſo empfindlich als dort, auf einen Kopf allein konnte man
6 fl. 12 kr. rechnen. Eine Reiſe des neuen Regenten Ludwig II.,
die er bei ſeiner Thronbeſteigung durch das Land gemacht, hatte
100,000 fl. gekoſtet; vorhergehende Zerwürfniſſe mit den Ständen,
welche die Forderung eines neuen Schloßbaues für den nunmehrigen
Erbprinzen abgelehnt hatten, verbitterten die Stimmung noch mehr,
namentlich in Betracht, daß die Schuldenlaſt des Großherzoglichen
Hauſes bereits eine zu den Kräften des Ländchens unverhältniß-
mäßige Höhe gewonnen hatte. Dieſer oberheſſiſche Aufſtand war in
den Septembertagen 1830 ausgebrochen; unter Trommelſchlag,
einem ſteten Anſchwellen ihrer Haufen mit den Rufen: "Freiheit
und Gleichheit!" zogen die Bauerntrupps von Ort zu Ort. In
Büdingen zwangen ſie den Grafen Iſenburg, eine Strecke weit mit
ihnen zu ziehen, von da wandten ſie ſich gegen Ortenberg, zerſtörten
in Nidda das Haus des Landrichters und breiteten ſich dann in
drei Richtungen nach der Wetterau, dem Vogelsberg und nach
Butzbach hin aus. Das traurige Zwiſchenſpiel fand dort ein Ende,
während man ſich in Darmſtadt im Schloſſe ſchon zur Flucht vor-
bereitete, und ſelbſt der Bundestag in Frankfurt gezittert hatte.
Der Prinz Emil, ein Bruder des Großherzogs, wurde nach Ober-
heſſen entſendet, und drei Militärcolonnen ſollten den Aufſtand ein-
ſchließen, als ein blutiges Zuſammentreffen bei dem Dorfe Södel
die Sache ſchnell beendigte, aber auch eine furchtbare Erbitterung
zurückließ. Die Dragoner, die man von Butzbach berufen, hatten
ohne weiteres, vor der geſetzlichen Aufforderung an die Leute, aus-
einander zu gehen, in das unbewaffnete Volk ſcharf eingehauen und
dabei Leute verletzt und getödtet, die ſich gerade bemühten, die
Haufen durch vernünftiges Zureden zu zerſtreuen. Es war eine
große, unverantwortliche Brutalität, die dort begangen wurde, ein
bedeutungsvolles Zeichen der Animoſität, mit der ſich bald aller-
[288] orten Bürger und Soldat feindſelig gegenüberſtehen ſollten. Die
Gebildeten hatten keinerlei Antheil an dieſen Dingen genommen,
aus denen aber eine ſpätere Reaction wieder neues Kapital zu
ſchlagen wußte." Damit findet auch der Mahnruf - S. 270. Z. 10. "Denkt an Södel!" ſeine Erklärung.
- S. 271 Z. 9. "L. das bedeutet Ludwig." Es iſt hier der
Großherzog Ludwig II. von Heſſen-Darmſtadt gemeint. An dieſer
Stelle ſei auch die Bemerkung erlaubt, daß Büchner keineswegs von
Haß gegen dieſen Fürſten erfüllt war. Becker hat mit Recht
während der Unterſuchung ausgeſagt: "Büchner hatte dabei durch-
aus keinen ausſchließlichen Haß gegen die Großherzoglich Heſſiſche
Regierung; er meinte im Gegentheil, daß ſie eine der beſten ſei.
Er haßte weder die Fürſten, noch die Staatsdiener, ſondern nur
das monarchiſche Princip, welches er für die Urſache alles Elends
hielt." (Nöllner, l. c. S. 425). - S. 276. Z. 12. Grolmann, ein abſolutiſtiſch geſinnter
großherzoglicher Miniſter, der mit den Ständen anläßlich ihrer
Weigerung, Schulden der Krone auf das Land zu übertragen, in
Conflikt gekommen war.
Schließlich bemerke ich noch, daß ich für die vollinhaltliche
Wiedergabe des "Landboten" in dieſer Ausgabe die alleinige und
ausſchließliche Verantwortung übernehme.
K. E. F.
[[289]]
Aus den anatomiſchen Schriften.
G. Büchner's Werke. 19
[[290]][[291]]
Aus der Vorleſung:
Ueber Schädelnerven.
..... Es treten uns auf dem Gebiete der phyſio-
logiſchen und anatomiſchen Wiſſenſchaften zwei ſich gegenüber-
ſtehende Grund-Anſichten entgegen, die ſogar ein nationelles
Gepräge tragen, indem die eine in England und Frankreich,
die andere in Deutſchland überwiegt. Die erſte betrachtet alle
Erſcheinungen des organiſchen Lebens vom teleologiſchen
Standpunkt aus; ſie findet die Löſung des Räthſels in dem
Zweck, der Wirkung, in dem Nutzen der Verrichtung eines
Organs. Sie kennt das Individuum nur als Etwas, das
einen Zweck außer ſich erreichen ſoll, und nur in ſeiner Be-
ſtrebung, ſich der Außenwelt gegenüber theils als Individuum,
theils als Art zu behaupten. Jeder Organismus iſt für ſie
eine verwickelte Maſchine, mit den künſtlichſten Mitteln ver-
ſehen, ſich bis auf einen gewiſſen Punkt zu erhalten. Das
Enthüllen der ſchönſten und reinſten Formen im Menſchen,
die Vollkommenheit der edelſten Organe, in denen die Pſyche
faſt den Stoff zu durchbrechen und ſich hinter den leichteſten
Schleiern zu bewegen ſcheint, iſt für ſie nur das Maximum
19 *
[292] einer ſolchen Maſchine. Sie macht den Schädel zu einem
künſtlichen Gewölbe mit Strebepfeilern, beſtimmt, ſeinen
Bewohner, das Gehirn, zu ſchützen, — Wangen und Lippen
zu einem Kau- und Reſpirationsapparat, — das Auge zu
einem complicirten Glaſe, — die Augenlider und Wimpern
zu deſſen Vorhängen, — ja die Thräne iſt nur der Waſſer-
tropfen, welcher es feucht erhält. Man ſieht, es iſt ein
weiter Sprung von da bis zu dem Enthuſiasmus, mit dem
Lavater ſich glücklich preiſt, daß er von ſo was Göttlichem,
wie den Lippen, reden dürfe.
Die teleologiſche Methode bewegt ſich in einem ewigen
Zirkel, indem ſie die Wirkungen der Organe als Zwecke
vorausſetzt. Sie ſagt zum Beiſpiel: Soll das Auge ſeine
Funktion verſehen, ſo muß die Hornhaut feucht erhalten
werden, und ſomit iſt eine Thränendrüſe nöthig. Dieſe iſt
alſo vorhanden, damit das Auge feucht erhalten werde, und
ſomit iſt das Auftreten dieſes Organs erklärt; es gibt nichts
weiter zu fragen. Die entgegengeſetzte Anſicht ſagt dagegen:
die Thränendrüſe iſt nicht da, damit das Auge feucht werde,
ſondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüſe da
iſt, oder, um ein anderes Beiſpiel zu geben, wir haben nicht
Hände, damit wir greifen können, ſondern wir greifen, weil
wir Hände haben. Die größtmöglichſte Zweckmäßig-
keit iſt das einzige Geſetz der teleologiſchen Methode; nun
fragt man aber natürlich nach dem Zwecke dieſes Zweckes,
und ſo macht ſie auch ebenſo natürlich bei jeder Frage einen
progressus in infinitum.
Die Natur handelt nicht nach Zwecken, ſie reibt ſich
nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen
der eine den anderen bedingt; ſondern ſie iſt in allen ihren
[293] Aeußerungen ſich unmittelbar ſelbſt genug. Alles, was
iſt, iſt um ſeiner ſelbſt willen da. Das Geſetz dieſes Seins
zu ſuchen, iſt das Ziel der, der teleologiſchen gegenüberſtehen-
den Anſicht, die ich die philoſophiſche nennen will. Alles,
was für jene Zweck iſt, wird für dieſe Wirkung. Wo
die teleologiſche Schule mit ihrer Antwort fertig iſt, fängt
die Frage für die philoſophiſche an. Dieſe Frage, die uns
auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem
Grundgeſetze für die geſammte Organiſation finden, und ſo
wird für die philoſophiſche Methode das ganze körperliche
Daſein des Individuums nicht zu ſeiner eigenen Erhaltung
aufgebracht, ſondern es wird die Manifeſtation eines Ur-
geſetzes, eines Geſetzes der Schönheit, das nach den einfachſten
Riſſen und Linien die höchſten und reinſten Formen hervor-
bringt. Alles, Form und Stoff, iſt für ſie an dies Geſetz
gebunden. Alle Funktionen ſind Wirkungen deſſelben; ſie
werden durch keine äußeren Zwecke beſtimmt, und ihr ſoge-
nanntes zweckmäßiges Aufeinander- und Zuſammenwirken iſt
nichts weiter, als die nothwendige Harmonie in den Aeuße-
rungen eines und deſſelben Geſetzes, deſſen Wirkungen ſich
natürlich nicht gegenſeitig zerſtören.
Die Frage nach einem ſolchen Geſetze führte von ſelbſt
zu den zwei Quellen der Erkenntniß, aus denen der Enthuſias-
mus des abſoluten Wiſſens ſich von je berauſcht hat, der
Anſchauung des Myſtikers und dem Dogmatismus des Ver-
nunftphiloſophen. Daß es bis jetzt gelungen ſei, zwiſchen
letzterem und dem Naturleben, das wir unmittelbar wahr-
nehmen, eine Brücke zu ſchlagen, muß die Kritik verneinen.
Die Philoſophie a priori ſitzt noch in einer troſtloſen Wüſte;
ſie hat einen weiten Weg zwiſchen ſich und dem friſchen
[294] grünen Leben, und es iſt eine große Frage, ob ſie ihn je
zurücklegen wird. Bei den geiſtreichen Verſuchen, die ſie ge-
macht hat, weiter zu kommen, muß ſie ſich mit der Reſignation
begnügen, bei dem Streben handle es ſich nicht um die Er-
reichung des Ziels, ſondern um das Streben ſelbſt.
War nun auch nichts abſolut Befriedigendes erreicht,
ſo genügte doch der Sinn dieſer Beſtrebungen, dem Natur-
ſtudium eine andere Geſtalt zu geben; und hatte man auch
die Quelle nicht gefunden, ſo hörte man doch an vielen
Stellen den Strom in der Tiefe rauſchen, und an manchen
Orten ſprang das Waſſer friſch und hell auf. ..
... Es dürfte wohl immer vergeblich ſein, die Löſung
eines anatomiſchen Problems zu erhalten, wenn man ſein
Erſcheinen in der verwickelteſten Form, nämlich bei dem
Menſchen in's Auge faßt. Die einfachſten Formen leiten
immer am Sicherſten, weil ſich in ihnen nur das Urſprüng-
liche, abſolut Nothwendige zeigt. Dieſe einfache Form bietet
uns nun die Natur entweder vorübergehend im Fötus, oder
ſtehen geblieben, ſelbſtſtändig geworden, in den niederen
Wirbelthieren dar. Die Formen wechſeln jedoch beim Fötus
ſo raſch und ſind oft nur ſo flüchtig angedeutet, daß man
nur mit der größten Schwierigkeit zu einigermaßen genügen-
den Reſultaten gelangen kann, während ſie bei den niedrigen
Wirbelthieren zu einer vollſtändigen Ausbildung gelangen und
uns ſo die Zeit laſſen, ſie in ihrem einfachſten und beſtimm-
teſten Typus zu ſtudiren. Es frägt ſich alſo in unſerem
Falle: Welche Schädelnerven treten bei den niedrigſten
[295] Wirbelthieren zuerſt auf? wie verhalten ſie ſich zu den Hirn-
maſſen und den Schädelwirbeln? und nach welchen Geſetzen
wird, die Reihe der Wirbelthiere durch bis zum Menſchen,
ihre Zahl vermehrt oder vermindert, ihr Verlauf einfacher
oder verwickelter? Faßt man nun die Thatſachen zuſammen,
welche die Wiſſenſchaft uns bis jetzt an die Hand gibt, ſo
findet man neun Paar-Schädelnerven, nämlich u. ſ. w. u. ſ. w.
[[296]]
Aus der Schrift:
Mémoire sur le système nerveux du barbeau.
(Ueberſetzung.)
Als Reſultat meiner Arbeit glaube ich bewieſen zu
haben, daß es ſechs urſprüngliche Gehirn-Nerven-Paare gibt,
welchen ſechs Gehirn-Wirbel entſprechen, und daß die Ent-
wicklung der Gehirn-Maſſen nach Maßgabe ihrer Entſtehung
geſchieht. Daraus folgt, daß der Kopf das Erzeugniß einer
Metamorphoſe des Rückenmarks und der Wirbel iſt, und
daß die vor der Wirbelſäule gelegenen Organe des vegetativen
Lebens ſich vor der Schädelkapſel, wenn auch in einem
höheren Entwicklungs-Grad, wiederfinden müſſen. Jeder
Wirbelkörper beſitzt zwei Knochen-Ringe. Der eine obere,
welcher durch den Bogen und Dornfortſatz gebildet wird und
dem Lichte zugewendet iſt, ſchließt das Rückenmark als Central-
organ des animalen Lebens ein; der untere dem Boden zu-
gewendete umſchließt die Organe des vegetativen Lebens; er
wird gebildet durch die Querfortſätze und die Rippen. Wer
an der Richtigkeit dieſer Vergleichung zweifeln ſollte, möge
einen der Schwanzwirbel der Fiſche betrachten; er wird die
beiden Ringe, von denen ich ſoeben geſprochen, wiederfinden.
[297] Der obere umſchließt das Central-Organ des animalen Lebens;
der andre das Central-Organ des vegetativen Lebens oder
die große Körper-Pulsader, ſo daß dieſe letztere, gerade ſo
wie das Rückenmark, einen förmlichen Wirbelkanal beſitzt.
Man denke ſich nun, daß die Theile, welche dieſen Bogen
bilden, ſich nicht mehr in der Mittellinie vereinigen, und
man hat die Rippen! Bei den höheren Thieren ergänzt ſich
dieſer Bogen durch das Bruſtbein. Die hauptſächlichſten,
vor der Wirbelſäule gelegenen und durch den unteren Bogen
eingeſchloſſenen Organe des vegetativen Lebens ſind die, der
Verdauung und der Athmung dienenden Röhren-Syſteme.
In ähnlicher Weiſe wiederholt die Mundhöhle mit ihren
Speichel-Organen das Verdauungs-Rohr mit ſeinen drüſigen
Anhängen, und die Naſe das Athmungs-Rohr, indem die
Knochen des Geſichtes den unteren Ring oder die Querfort-
ſätze und Rippen der Schädelwirbel vorſtellen.
Uebrigens ſind alle dieſe Vergleichungen nur annähernder
Art. Ich leugne nicht die großen Verſchiedenheiten zwiſchen
Kopf und Rumpf, zwiſchen Gehirn und Rückenmark, zwiſchen
Hirn-Nerven und Rückenmarks-Nerven, und will nur den
urſprünglichen Typus zeigen, nach welchem ſich dieſe Theile
entwickelt haben. Man kann einen ſolchen Typus nur ver-
kennen, wenn man hartnäckig Thatſachen aufſucht, welche
ſchwer zu erkennen und ſcheinbar willkürlich ſind. Die
Natur iſt groß und reich, nicht weil ſie in jedem Augenblick
willkürlich neue Organe für neue Vorrichtungen ſchafft,
ſondern weil ſie die höchſten und reinſten Formen nach dem
einfachſten Plane hervorbringt.
[[298]]
Anmerkung des Herausgebers.
Das Fragment "Ueber Schädelnerven" iſt dem Manuſcripte
der Probevorleſung entnommen, welche Georg Büchner im Herbſte
1836 zu Zürich bei Antritt ſeiner Docentur für vergleichende
Anatomie an der Univerſität hielt. Ein Theil dieſes Fragments —
(der hier zuerſt mitgetheilte vom "Es treten uns auf dem Gebiete
der phyſiologiſchen und anatomiſchen Wiſſenſchaften" — bis: —
"ſprang das Waſſer friſch und hell auf") — findet ſich bereits in
den "Nachgelaſſenen Schriften" (S. 291-94) abgedruckt; den zweiten
(von "Es dürfte wohl immer vergeblich ſein" — bis zum Schluß)
habe ich aus dem Original-Manuſcripte hierhergeſetzt, um über
Zweck und Gang der Vorleſung mindeſtens eine flüchtige Andeutung
zu geben. Leider iſt das Manuſcript ſo durch und durch ſchadhaft
und zerfetzt, daß ich ſchon aus dieſem Grunde von einer Veröffent-
lichung des Ganzen abſehen mußte.
Das Fragment aus dem anatomiſchen Werke, welches Georg
Büchner in franzöſiſcher Sprache veröffentlichte, bildet im Original
den Schluß desſelben. Sein Titel lautet vollinhaltlich: "Mémoire
surle système nerveux du barbeau. (Cyprinus barbus.
Barbe.) par George Büchner. Lu à la société d'histoire
naturelle de Strasbourg, dans les séances du 13 Avril, du
20 Avril, et du 4 Mai 1836. 4°. 57 p. Strasbourg 1836."
Die Arbeit wird von competenter Seite als "ſehr genau und fleißig"
gerühmt, die achtzehn Figuren, die Büchner ſeiner Darſtellung bei-
gegeben, als "vortrefflich gezeichnet". Von allgemeinem Intereſſe iſt
nur der Schluß, es iſt alſo auch nur dieſer hier mitgetheilt worden
— die Ueberſetzung aus dem Franzöſiſchen hat Herr Dr. Ludwig
[299] Büchner beſorgt. Derſelbe hat dem Manuſcripte eine intereſſante
Randgloſſe beigefügt, die ich hier folgen laſſe:
"Der Einfluß der um jene Zeit noch herrſchenden Goethe-
Oken-Schelling'ſchen Natur-Philoſophie iſt in dieſen Aeußerungen
nicht zu verkennen, obgleich ſich darin gleichzeitig eine ſehr deutliche
Vorahnung der heutzutage herrſchend gewordenen und die ganze
organiſche Welt in einen großen Gedanken zuſammenfaſſenden
Entwicklungs-Theorie abſpiegelt. B. würde vielleicht,
wenn er am Leben geblieben wäre und ſeine wiſſenſchaftliche Lauf-
bahn weiter verfolgt hätte, derſelbe große Reformator der organiſchen
Naturwiſſenſchaften geworden ſein, welchen wir jetzt in Darwin
verehren."
Dr.Ludwig Büchner.
Dieſe Anſicht eines gefeierten Gelehrten wird es, neben dem
Intereſſe, welches die Fragmente ſelbſt dem Gebildeten bieten, recht-
fertigen, und zwar ſicherlich vollauf rechtfertigen, daß ich dieſer
Geſammt-Ausgabe von Georg Büchners Werken auch die Aus-
züge aus den anatomiſchen Werken beigefügt.
K. E. F.
[[300]][[301]]
Aus den philoſophiſchen Schriften.
[[302]][[303]]
Aus der Schrift:
Geſchichte der Griechiſchen Philoſophie.
Thales.
Thales von Milet. Wird für einen der Sieben Weiſen
gehalten. Soll eine Reiſe nach Aegypten gemacht haben.
Sein Hauptlehrſatz: "Alles iſt aus Waſſer entſtanden
und löſt ſich wieder in Waſſer auf". (Der Urſtoff aller
Dinge hat eine feuchte Natur. Alle Thiere entſtehen aus
Samen, der etwas Flüſſiges enthält. Alle Pflanzen wachſen
und ſind fruchtbar vermöge der Feuchtigkeit. Selbſt das
Feuer der Sonne und der Geſtirne wird durch die Aus-
dünſtung des Waſſers genährt.)
Iſt, frägt Thales, das Waſſer eine flüſſige Maſſe von
gleichartigen Theilen, aus welchen durch Verwandlung die
übrigen Dinge geworden ſind? Oder iſt es eine Maſſe von
verſchiedenartigen Theilen in flüſſigem Zuſtande, woraus alle
Naturdinge durch Abſonderung hervorgegangen ſind?
Seine Behauptung, daß das Waſſer als Grundſtoff
aller Dinge die unterſte Stelle in der Natur einnehme und
aus ihm ſein jetziger Gegenſatz, die feſte Erde hervorgegangen,
läßt ſchließen, daß er ſich für letztere Annahme entſchieden.
[304]
Thales hat keine Schriften hinterlaſſen und man findet
daher bei den ſpäteren Schriftſtellern viele Zuſätze und
Folgerungen aus ſeinen Philoſophemen.
- So bei Aristoteles. Metaph. I. c. 3.
- Sextus Pyrrhon. III. c. 30.
- Plutarch, de plac. phil. I. 3.
- Stobaeus. eclog. phys. I. c. 2.
Thales ſoll behauptet haben, das Univerſum ſei voll
von Göttern und der Magnet beſitze eine Seele.
- Aristot. De anima I. 2.
Ferner findet man bei
- Cicero, de natura deorum I. c. 10.
- Plutarch de decr. phil. I. c. 7.
- Stobaeus eclog. phys. I. c. 3.
verzeichnet, Thales habe mit der materiellen Urſache eine
wirkende verbunden, nämlich eine Intelligenz oder einen
Weltgeiſt.
- Plutarch. Conv. VII. und
- Diog. Laert. 1. 9, 35
führen noch folgende Gedanken des Thales an:
"Gott iſt das Aelteſte, denn er iſt nicht entſtanden."
"Die Welt iſt das Beſte, denn ſie iſt von Gott gebildet."
"Keine That, auch nicht einmal ein Gedanke, iſt Gott
verborgen."
Die Ethik des Epikur.
Epikur geht in ſeiner Ethik von der Frage nach dem
höchſten Gut oder der Glückſeligkeit und ihrem Ver-
hältniß zur Tugend aus.
[305]
Alle beſeelten Weſen ſtreben nach Vergnügen und
Entfernung des Schmerzes. Darin beſteht nun das
höchſte Gut, weil in dem Zuſtande des Vergnügens jedes
beſeelte Weſen befriedigt iſt und nichts weiter begehrt.
Doch gab Epikur zu, daß es Arten des Vergnügens
gebe, welche durch ihre Folgen nachtheilig ſind, nur daß dieſe
aus dem letzten Zweck des Menſchen ausgeſchloſſen werden
müßten. Uebrigens theilt Epikur das Vergnügen, ſo wie
den Schmerz, in körperlichen und geiſtigen, und be-
hauptet, daß Luſt und Unluſt des Geiſtes die überwiegenden
ſeien, weil der Körper nur von dem gegenwärtigen Schmerz
und Vergnügen, die Seele aber auch von dem vergangenen
und künftigen afficirt werde. Eine andere und wichtige Ein-
theilung iſt von der Art des Vergnügens an und für ſich
hergenommen.
Es gibt nämlich zweierlei Arten des Vergnügens, die
eine, wenn das Gemüth angenehm afficirt wird,
die zweite, wenn die Seele, ohne durch angenehme
oder unangenehme Gefühle bewegt zu werden,
in dem Zuſtande der Ruhe und Zufriedenheit iſt.
Epikur rechnet nun zwar beide Arten zur Glückſeligkeit,
doch ſo, daß er der zweiten einen Vorrang zugeſteht. Der
Zuſtand der Schmerzloſigkeit iſt das Ziel alles Beſtrebens.
Wenn eine Begierde auf den höchſten Grad geſtiegen iſt,
ſo daß ſie Befriedigung dringend fordert, ſo entſteht in der
Seele ein unangenehmes Gefühl; wird die Begierde geſtillt,
ſo entſpringt das Vergnügen und daraus ein Zuſtand der
Ruhe, in welchem die Seele nichts mehr begehrt, alſo voll-
kommen beglückt iſt. Dieſer Zuſtand iſt das Höchſte, welches
kein Vergnügen überſteigen kann. Alle Veränderung in
G. Büchner's Werke. 20
[306] demſelben betrifft nicht den Grad, ſondern nur die Art und
Weiſe des Vergnügens.
Daher hat auch Epikur eine andere Formel für das
höchſte Gut, nämlich "keinen Schmerz empfinden".
An ſich iſt kein Unterſchied zwiſchen den verſchiedenen
Empfindungen, nur das, was auf ſie folgt und ſie
begleitet, macht einen Unterſchied. Das Geſchäft der
Vernunft iſt es, zu wählen und die große Summe des
Angenehmen zuſammen zu ſetzen; hierin iſt der Entſtehungs-
grund der Tugenden.
Die Tugend iſt ein Mittel zur Glückſeligkeit. Sie hat
keinen Werth an ſich, ohne Rückſicht auf ihre Folgen. Tugend
und Glückſeligkeit ſind unzertrennlich mit einander verbunden.
Sie wird vorzüglich durch die Klugheit begründet, welche die
Natur der angenehmen und unangenehmen Empfindungen er-
forſcht und beſtimmt, was man zu wählen, was man zu meiden hat.
Unrecht iſt an ſich kein Uebel, es muß nur der etwaigen
Fehler wegen gemieden werden. Es gibt kein anderes Material
des Rechts, ſowohl in Geſetzen als Verträgen, als den Nutzen
für das geſellige Leben. Hieraus geht die Veränderlichkeit des
Rechts hervor, wenn nämlich ein Geſetz oder Vertrag wegen
veränderter Umſtände nicht mehr den beabſichtigten Nutzen
verſchafft.
Die Glückſeligkeit iſt kein Werk des bloßen Zufalls, bei
welchem der Menſch ſich leidend verhält, er muß ſich ſeine
Glückſeligkeit ſelbſt ſchaffen durch den Gebrauch ſeiner Vernunft.
Ein Menſch, der ſeine Glückſeligkeit ſich ſelbſt verdankt, iſt
eben darum auch weniger von dem Schickſal abhängig. Die
Freiheit des Menſchen beſteht in der Unabhängigkeit von dem
Einfluß zwingender Naturkräfte. ....
[[307]]
Aus der Monographie:
Das Syſtem des Spinoza.
Der fünfte Lehrſatz des Spinoza lautet:
"Es kann nicht mehrere Subſtanzen von gleicher Natur
oder gleichem Attribute geben."
Dies beweiſt Spinoza ſo:
"Wenn es mehrere verſchiedene Subſtanzen gäbe, ſo
müßte man ſie von einander entweder durch die Verſchiedenheit
ihrer Attribute oder ihrer Affectionen unterſcheiden. Wollte
man ſie nun durch die Verſchiedenheit ihrer Attribute unter-
ſcheiden, ſo müßte man zugeben, daß es nur eine Subſtanz
von einem und demſelben Attribute gäbe. Will man aber
die Subſtanzen nach ihren Affectionen unterſcheiden, ſo muß
man dieſelben, da die Subſtanz ihrer Natur nach eher da
iſt, als ihre Affectionen, ohne ihren Affect, d. h. an und
für ſich, betrachten, und es iſt alsdann undenkbar, durch was
ſie von einander unterſchieden werden könnten; es kann daher
nicht mehrere Subſtanzen, ſondern nur eine Subſtanz von
derſelben Natur geben."
Hierzu bemerke ich:
Dieſer Satz beweiſt nur, daß wir Dinge von gleichen
Eigenſchaften, wenn wir ſie ſucceſſive betrachten (um die
20 *
[308] Sache von der ſinnlichen Seite zu nehmen) nicht von ein-
ander unterſcheiden können, wir können aber dennoch wiſſen,
daß es zwei ſind, wenn wir beide zugleich ſehen. — Da bis
jetzt über das Weſen der Subſtanz nichts weiter geſagt iſt,
als daß eine Subſtanz durch ſich ſelbſt begriffen werde, ſo
ſehe ich nicht ein, warum der Umſtand, daß zwei Subſtanzen
von gleicher Natur nicht unterſchieden werden können, zu dem
Schluſſe berechtigt, daß überhaupt das Daſein derſelben un-
möglich ſei. Spinoza verwechſelt das Unterſcheiden und das
Sich denken können. Nach den vorgehenden Sätzen
können wir uns noch immer zwei Subſtanzen von gleicher
Natur, und deren jede durch ſich ſelbſt begriffen wird, als
nebeneinander exiſtirend denken.
(Hiezu folgende ſpätere Randnote von Büchners Hand:)
Dieſe Anmerkung würde paſſen, wenn von Dingen und
Affectionen der Subſtanz die Rede wäre, es bezieht ſich hier
aber Alles auf die Subſtanz allein. Immerhin beweiſt jedoch
Spinoza's Satz nur, daß wir zwei Subſtanzen von gleichen
Attributen nicht von einander unterſcheiden, aber keineswegs,
daß ſie nicht neben einander beſtehen können; dieſe Unmög-
lichkeit iſt durch nichts bewieſen.
Der elfte Lehrſatz des Spinoza lautet:
"Gott oder die aus unendlichen Attributen, deren jedes
eine einige und unendliche Weſenheit ausdrückt, beſtehende
Subſtanz, exiſtirt nothwendig."
Dies beweiſt Spinoza ſo:
"Wer dies leugnet, der ſtelle ſich, wenn er kann, vor,
Gott exiſtire nicht. Alſo ſchließt dann ſein Weſen die
[309] Exiſtenz nicht ein, dies iſt aber widerſinnig, alſo exiſtirt
Gott nothwendig."
Dagegen bemerke ich:
Dieſer Beweis läuft ziemlich auf den hinaus, daß Gott
nicht anders als ſeiend gedacht werden könnte; was zwingt
uns aber ein Weſen zu denken, das nicht anders als ſeiend
gedacht werden kann?
Oder ſelbſt zugegeben, wir ſeien durch den Lehrſatz von
dem, was in ſich oder in etwas Anderem iſt, gezwungen, auf
etwas zu kommen, was nicht anders als ſeiend gedacht
werden kann, was berechtigt uns aber deßwegen, aus dieſem
Weſen das abſolut Vollkommene — Gott zu machen?
Wenn man auf die Definition von Gott eingeht, ſo
muß man auch das Daſein Gottes zugeben. Was berechtigt
uns aber dieſe Definition zu machen?
Stößt man ſich an das Wort "Gott" nicht, lernt man
die Art begreifen, wie es Spinoza anwendet, ſo wird man
ſich mit dieſem Philoſophen befreunden können, welcher Glaubens-
loſigkeit auch immer man ſein mag ...
Schon das erſte Wiſſen des Spinozismus bringt un-
endliche Ruhe. Alle Glückſeligkeit iſt allein im Anſchauen
des Ewigen-Unveränderlichen. Nicht von dem Endlichen ſoll
zum Unendlichen, nicht von den Dingen ſoll zu Gott fort-
geſchritten werden, ſondern aus Gott heraus ſoll Alles
[310] erkannt werden. Aber jetzt kommt die eigenthümliche Wendung
des Spinozismus: die Erkenntniß ſoll eine intellectuelle Er-
kenntniß ſein. Hier iſt die große Kluft zwiſchen Malebranche
und Spinoza. Beide knüpfen an Carteſius an, beide ſetzen
das Fundament des Carteſianismus voraus, aber Malebranche
wird ſeinem Lehrer untreu, er wendet ſich zur Anſchauung,
er ſieht alle Dinge in Gott, aber unmittelbar, ohne Raiſonne-
ment, nicht als Schlußfolgerung. Spinoza hingegen bleibt
treu, die Demonſtration iſt ihm das einzige Band zwiſchen
dem Abſoluten und der Vernunft, ja er iſt kühner als
Carteſius, er dehnt das Recht der Demonſtration weiter
aus, der demonſtrirende Verſtand iſt Alles und iſt Allem
gewachſen! ...
Der Spinozismus iſt der Enthuſiasmus
der Mathematik. In ihm vollendet und ſchließt ſich
die carteſianiſche Methode der Demonſtration, erſt in ihm
gelangt ſie zu ihrer völligen Conſequenz. Erſt unter Vor-
ausſetzung des Carteſianismus erhält der Spinozismus ſein
wiſſenſchaftliches Fundament. Wie Spinoza durch Carteſius
ergänzt werden muß, erſieht man am Beſten in der Wiſſen-
ſchaftslehre des Spinoza.
Die ganze Identitätslehre des Spinoza ließe ſich wohl
am Leichteſten an den Satz knüpfen: Wenn Gott iſt, weil
wir ihn denken, ſo muß Denken und Sein eins ſein. Das
iſt ſein Grundſtein.
[[311]]
Aus der Monographie:
Das Syſtem des Carteſius.
Die Philoſophie des Carteſius iſt aus dem Neide ge-
boren worden. Der Philoſoph hat den Mathematiker um
ſeine Sicherheit beneidet.
Wie Archimedes einen feſten Punkt, ſo begehrt Carteſius
das erſte Gewiſſe. Er findet es in dem Satze: Cogito, ergo
sum. In welcher (formalen) Eigenſchaft ſich aber Carteſius
dieſen ſeinen erſten Grundſatz der gewiſſen Erkenntniß denkt,
iſt ungewiß, er ſelbſt ſcheint ſich in dieſer Beziehung nicht
klar geweſen zu ſein. Allenfalls ließe ſich noch ein hypo-
thetiſcher Vernunftſchluß daraus bilden: Wenn etwas denkt,
ſo iſt es. Ich denke. Alſo bin ich. — Zu den unmittel-
baren Wahrheiten gehört der Satz gewiß nicht, obgleich dies
vielfach behauptet worden iſt, ſo noch neuerdings von Hegel
in der Encyklopädie der philoſophiſchen Wiſſenſchaften. Denn
der Grundcharakter aller unmittelbaren Wahrheit iſt das
Poniren, das Affirmiren ſchlechthin, durch das ſecundäre
Geſchäft des Denkens gar nicht vermittelt, weſentlich nicht
einmal berührt. Ich denke, der Satz des Carteſius gehört
zu der Gattung der mathematiſchen Grundſätze, welche nichts
[312] Anderes darſtellen, als eine beſtimmte Anwendung der Geſetze
des Denkens auf das allgemeine Materiale des Mathematikers,
auf die Begriffe von Ausdehnung und Zahl. Carteſius wollte
zur Gewißheit in philoſophiſchen Dingen kommen, indem er
Alles verwarf, was bezweifelt werden kann. Nun fand er,
daß an dem Satze: "Ich denke, alſo bin ich," ſelbſt die
Möglichkeit des Zweifels zu Schanden werde, und daß dies
bei keinem anderen Satze in höherem oder auch nur gleichem
Maaße der Fall ſei, alſo ſei dieſer Satz gewiß und der erſte
gewiſſe. Daß man aber an dieſem Satze nicht zweifeln
könne, dafür brauchte er ſich nur auf den unausbleiblichen
Widerſpruch zu berufen, in den man durch ſolchen Zweifel
gerathen würde, ein Widerſpruch, der alles Zweifeln und
Denken in demſelben Augenblicke, da man zweifelt und denkt,
zu nichte machen würde. Es wird nach Carteſius alſo nur
erkannt, daß es unmöglich ſei, zu denken, der Denkende ſei
nicht; das iſt aber etwas blos Negatives, und der Grund-
charakter aller unmittelbaren Wahrheit iſt, wie ſchon geſagt,
das Poſitive, das Poniren, das Affirmiren ſchlechthin.
Es iſt ſonderbar, welche Umwege Carteſius macht, um
unſeren Urſprung aus Gott zu beweiſen, er hätte es ganz
im Sinne ſeines Syſtems ſchon kurzweg aus der in uns
enthaltenen Idee von Gott demonſtriren können. Spinoza
corrigirt ihn und führt dann aus, was Carteſius in ſeinen
Sätzen ahnend und verworren ausſprach ... "Entweder
bin ich durch mich oder durch etwas Anderes, und dieſes
Andere iſt entweder Gott oder nicht Gott."
[313]
Die erſte Eigenſchaft Gottes, welche nach Carteſius
nothwendig aus ſeiner Definition ſich ergibt, iſt die, daß er
höchſt wahrhaft und der Geber alles Lichtes iſt. Daraus
folgt, daß das Licht der Natur oder das uns von Gott ge-
gebene Erkenntnißvermögen nie einen Gegenſtand ergreifen
kann, der nicht wahr iſt, inſofern er nämlich wirklich von
ihm ergriffen, d. h. klar und deutlich erkannt wird, denn
mit Recht müßte Gott ein Betrüger genannt werden, hätte
er uns ein verkehrtes Erkenntnißvermögen gegeben, welches
das Falſche für das Wahre nähme. Es iſt, fährt Carteſius
ferner fort, unmöglich, eine andere Thatſache, welche alle
Zweifel aufheben könnte, aufzufinden, als eben das Daſein
Gottes, denn ob ich gleich von der Art bin, daß ich, ſobald
ich etwas klar und deutlich erkenne, auch an die Wahrheit
deſſelben glauben muß, ſo könnte ich doch, wenn ich nichts
von Gott wüßte, auf Gründe ſtoßen, welche mir dieſe Ueber-
zeugung leicht nehmen könnte, ſo daß ich nie eine wahre
und beſtimmte Erkenntniß, ſondern nur unbeſtimmte und
veränderliche Meinungen hätte; daher könne auch ein Atheiſt
nicht ſo gut als ein Theiſt von der Wahrheit eines mathe-
matiſchen Satzes überzeugt ſein, denn der Atheiſt könne ja
nicht wiſſen, ob er nicht von Natur zum Irren beſtimmt
ſei, während der Theiſt aus der Vollkommenheit Gottes das
Gegentheil beweiſen könne. Nach der Auffaſſung des Carteſius
iſt es alſo Gott, der den Abgrund zwiſchen Denken und
Erkennen, zwiſchen Subject und Object ausfüllt; Gott iſt
ihm die Brücke zwiſchen dem "cogito ergo sum," zwiſchen
dem einſamen inneren Denken einerſeits und der Außenwelt
andererſeits. Der Verſuch iſt etwas naiv ausgefallen, aber
man ſieht doch, wie ſchon Carteſius mit inſtinctartiger Schärfe
[314] das Grab der Philoſophie abmaß. Sonderbar iſt es freilich,
wie er den armen lieben Gott als Leiter gebrauchte, um aus
dieſem Abgrund herauszukriechen. Doch ſchon ſeine Zeit-
genoſſen ließen ihn nicht über den Rand kommen! Sie
fragten: "Kann man keiner Sache gewiß ſein, noch irgend
etwas klar und deutlich erkennen, ehe das Daſein Gottes
mit Gewißheit erkannt worden iſt, wie ſteht es dann mit
der Wahrheit jener Sätze, welche das Daſein Gottes beweiſen
und alſo dieſer Erkenntniß vorausgehen? wie mit dem Grund-
ſtein "cogito ergo sum?"
Auf dieſe Einwendungen hat Carteſius nur ſehr unbe-
friedigend geantwortet, ſo mit der Ausflucht, daß nur allein
die apodiktiſche Gewißheit jener Schlußſätze, welche wieder-
kehren können, ohne daß man auf ihre Gründe noch die
gehörige Aufmerkſamkeit wende, durch die gewiſſe Erkenntniß
von Gottes Daſein bedingt ſei — ein Zugeſtändniß, das er
übrigens in der Folge wieder negirt hat. Carteſius hat
übrigens den Widerſpruch, worin er ſich hier verwickelt, ſchon,
wenigſtens höchſt wahrſcheinlich, von vornherein ſelbſt geahnt.
Dieſe Annahme ſcheint mir durch die Art berechtigt, wie er
ſich nun bemüht, die mathematiſche Begründung ſeines Syſtems
ſchärfer und präciſer zu geſtalten. Freilich, wie ich glaube,
mit geringem Erfolge! Denn er ſelbſt mußte wohl bald ein-
ſehen, daß kein anderer Satz ſeines Syſtems ſich ſo beſtimmt
und unwiderleglich erweiſen laſſe, als jener erſte "cogito ergo
sum". Er mußte einſehen, daß dieſer Satz nur der Ausdruck
für das mit jeder Thätigkeit nothwendig verbundene Selbſt-
bewußtſein ſei, und daß es verlorene Mühe ſein würde, einen
zweiten Satz von gleicher Gewißheit zu ſuchen. Denn ob-
gleich alle auf die Denkgeſetze gegründeten Sätze uns ebenſo
[315] wahr ſcheinen, ſo ſteht uns nach Carteſius doch Niemand
dafür, daß unſere Denkkraft ſelbſt nicht ſo eingerichtet ſei,
daß wir irren müßten, darum brauchte er nothwendig für
ſein Syſtem die Exiſtenz Gottes, und es blieb ihm, um ſich
aus dem Abgrund ſeines Zweifels zu retten, eben nur dies
Seil, an das er ſein ganzes Syſtem hängte. Die Exiſtenz
Gottes jedoch wirklich zu beweiſen, war ihm, glaub' ich, ſchon
von vornherein durch den Charakter und die Triebfeder ſeines
Denkens, den Zweifel, unmöglich.
Wenig befriedigend iſt die Art, wie Carteſius erklärt,
warum wir Menſchen, obwohl wir nach ſeiner Anſicht unſeren
Urſprung in Gott haben, doch ſo vielen Irrthümern unter-
worfen ſind. Je vollkommener der Künſtler, deſto voll-
kommener die Werke, warum ſollten juſt wir, Werke des
höchſten Schöpfers, unvollkommen ſein? Und ferner: glaube
ich an Gott, ſo glaube ich auch, daß er mich hätte ſo er-
ſchaffen können, daß ich nie irre. Da er ja nun ohne
Zweifel ſtets das Beſte will und vorgeſorgt hat, ſo wäre es
ja beſſer, ich irrte mich, als ich irrte mich nicht. Carteſius
ſieht dieſen Widerſpruch ein, und nachdem er ihn vergeblich
durch die Ausflucht zu heben geſucht, daß der Grund unſeres
Irrthums nicht in der uns von Gott verliehenen Fähigkeit
liege, ſondern nur in der Art, wie wir dieſelbe anwendeten,
(eine Ausflucht, denn auch dieſe Anwendung zu regeln läge
ja in Gottes Hand) muß er ſich zuletzt auf die Unbegreif-
lichkeit der göttlichen Abſichten berufen und zugeben, daß es
freilich Gott leicht möglich geweſen wäre, alle Möglichkeit
des Irrthums aus uns zu entfernen. Wo jedoch das Un-
[316] begreifliche beginnt, hört eben alle Philoſophie auf, und je
weiter ſie dem Unbegreiflichen die Grenzen ſteckt, deſto enger
ſich ſelbſt.
Ich glaube, daß ſelten ein geiſtvolles philoſophiſches
Syſtem eine ſo unklare und widerſpruchsvolle Partie enthält,
als die Lehre des Carteſius von der Subſtanz; dieſe zu ver-
folgen iſt eine unfruchtbare, unerquickliche, leider jedoch hier
nicht zu vermeidende Arbeit ...
Wer die Werke des Carteſius überſieht, gewahrt nur
Anläufe und Bruchſtücke. Die Hauptzüge der im dritten
Buche der "Principien" abgehandelten Kosmogenie habe ich
oben objectiv entwickelt; im vierten Buche "De terra" werden
die phyſiſchen Eigenſchaften des Erdkörpers abgehandelt. Die
vier Elemente ſpielen die Hauptrolle, Alles wird aus ihrem
gegenſeitigen Verhältniß durch die willkürlichſten und aben-
teuerlichſten Hypotheſen hergeleitet, auf die ich hier nicht
weiter eingehe. Es war eigentlich ſein Plan, die ganze
Schöpfung aus ſeinen Principien herzuleiten und darzuſtellen,
die Harmonie zwiſchen der Erfahrung und ſeinem Syſtem
nachzuweiſen, doch überraſchte ihn der Tod. Den mathe-
matiſchen Theil ſeiner Werke abgerechnet, ſieht es in ihnen
ſonderbar aus. Großes Verdienſt dagegen haben ſeine Unter-
ſuchungen über die Brechung des Lichtes, intereſſant ſind
auch ſeine Verſuche zu einer Lehre von den Sinnen, hingegen
meines Erachtens unbedeutend ſeine pſychologiſchen Arbeiten.
Das Syſtem des Carteſius gab der Scholaſtik einen
mächtigen Stoß. Frankreich, die Niederlande und Deutſchland
[317] ſind die Länder, in welchen es hauptſächlich ſeine Rolle ge-
ſpielt hat. In England und Italien machte es in geringerem
Grade und nur vorübergehend Senſation. Schon bei ſeinem
erſten Auftreten war es durch die beigefügten Einwürfe halb
vernichtet; es iſt ſonderbar, daß ein ſo ſcharfer Denker, wie
Carteſius, es nicht vorzog, ſein Syſtem zu ändern, als es in
Fetzen ſammt den Meſſern, die es zerſchnitten hatten, heraus-
zugeben.
[[318]]
Anmerkung des Herausgebers.
Ueber Entſtehungszeit und Veranlaſſung der philoſophiſchen
Schriften Büchners iſt bereits in dem einleitenden Eſſay geſprochen
worden, und dort habe ich auch mein Urtheil über dieſe Arbeiten zu
formuliren geſucht. Hier habe ich nur des Näheren über ihren
Inhalt und Umfang zu referiren und darzulegen, welche Geſichts-
punkte mich bei der Auswahl der vorſtehend mitgetheilten Proben
geleitet.
Der Nachlaß enthält drei Manuſcripte philoſophiſchen Inhalts.
Dieſelben füllen zuſammen 78 Bogen großen Schreibpapiers und
ſind durchweg mit ſehr kleiner Schrift, ſehr dicht und eng und auf
beiden Seiten des Papiers, beſchrieben. Im Druck würde jeder ſolcher
Manuſcriptbogen mindeſtens einen Druckbogen gewöhnlichen
Octavs geben, das Ganze alſo drei ſtarke Bände füllen.
Unter dieſen drei Manuſcripten iſt das größte und zuerſt ent-
ſtandene die "Geſchichte der griechiſchen Philoſophie".
Sie iſt in drei Abſchnitte getheilt: "Von den älteſten Zeiten bis
Sokrates" — "Von Sokrates bis Zeno" — "Von Zeno bis Epikur".
Ihren Inhalt bilden die zuſammenfaſſenden Darſtellungen der Syſteme
jeder einzelnen Philoſophie und jeder Schule. Beigefügt ſind die
Biographien der Philoſophen, Verzeichniſſe der einſchlägigen Lite-
raturen, endlich überſichtliche Tabellen. Das Ganze iſt eine mit
ſtaunenswerthem Fleiße zuſammengetragene, überaus gewiſſenhafte
Arbeit, welche durchweg aus den Quellen ſchöpft und mit größter
Objectivität referirt. In den 34 eng beſchriebenen Bogen findet ſich
kein Urtheil des Verfaſſers angeführt; er begnügt ſich mit der Mit-
theilung und Darſtellung der Syſteme. Dieſe Selbſtbeſchränkung
[319] geht aus dem Zwecke hervor, den Büchner bei dieſer Arbeit ver-
folgte: aus dem Studium der Quellen das nöthige Materiale zu
ſeinen Vorträgen zuſammenzutragen. Es iſt nichts weiter, als eine
Vorarbeit, welche ſich freilich bei fernerer Behandlung als ſehr
werthvoll erwieſen hätte. Wie aus einigen Blättern hervorgeht,
welche mit Citaten, Seitenzahlen, Schlagwörtern und abgeriſſenen
Sätzen kreuz und quer beſchrieben ſind, hatte Büchner die Abſicht,
dieſes maſſenhafte Materiale zunächſt zu einem Curſus akademiſcher
Vorleſungen, welche er unter dem Titel: "Kritiſche Geſchichte der
griechiſchen Philoſophie" ankündigen wollte, zu verarbeiten, ſpäter
zu einem ſelbſtſtändigen Werke. An der Ausführung dieſes Planes
hinderte ihn zunächſt der Umſtand, daß er ſich in Zürich nicht für
Philoſophie, ſondern für vergleichende Anatomie habilitirte, dann
ſein jäher Tod.
Wie man ſieht, iſt die Arbeit in ihrer gegenwärtigen Geſtalt
nicht einmal als Leitfaden des mündlichen Vortrags, geſchweige denn
für den Druck beſtimmt geweſen. Wenn ich gleichwohl zwei kurze
Proben hieraus mittheile, ſo geſchieht es nicht, um Büchners philo-
ſophiſche Anſichten zu illuſtriren. Dazu iſt die ganze Arbeit nicht
geeignet, geſchweige denn die beiden kleinen Abſchnitte. Aber es lag
mir daran, hier durch Thatſachen zu beweiſen, wie gründlich und
gewiſſenhaft Büchner alle Disciplinen, denen er ſich zuwandte, be-
trieb, wie er ſich auch in der Philoſophie — um einen trivialen,
aber treffenden Ausdruck zu gebrauchen — "nichts ſchenkte".
Anders verhält es ſich mit den Proben aus den beiden anderen
Arbeiten.
Es ſind dies zwei Monographien über die verwandten Syſteme
des Spinoza und Carteſius. Da der Letztere der ältere Philoſoph
iſt und Spinoza ſein Syſtem in vielfacher Anlehnung an ihn auf-
gebaut, ſo wäre zu vermuthen, daß die Arbeit Büchners über Carteſius
jener über Spinoza vorangegangen. Doch iſt, wie ſich aus einer
Bemerkung Büchners ergibt, das Entgegengeſetzte der Fall. Es
ſcheint, daß der junge Gelehrte und angehende Docent der Anſicht
geweſen, daß ein Colleg über Spinoza größeres Intereſſe bieten
werde. Darum wollte er vor Allem Materiale für dieſen Curſus
zuſammentragen. Doch ging, wie aus inneren Gründen nicht zu
[320] bezweifeln, beiden Arbeiten ein eingehendes Studium beider Philo-
ſophen voraus. Während ſeiner Vorbereitung für den Curſus über
den großen Amſterdamer Philoſophen mochte Büchner zu der Anſicht
gekommen ſein, daß es ſich im Intereſſe der Klarheit und des
pragmatiſchen Zuſammenhangs beider Syſteme empfehlen werde,
mit einem Curſus über Carteſius zu beginnen. Darum arbeitete
er dann auch hiefür einen Leitfaden aus.
Die Monographie über Spinoza zerfällt, der eingehaltenen
Methode nach, in zwei verſchiedene Theile. Der erſte, vierzehn Bogen
ſtark, enthält eine vollſtändige Ueberſetzung des erſten Abſchnitts
der Ethik des Spinoza: "De Deo". Der Ueberſetzung beigefügt
ſind erläuternde oder polemiſche Anmerkungen. Daß Büchner ſich
entſchloß, den erſten und wichtigſten Theil der Ethik ſelbſt zu über-
ſetzen, hat darin ſeinen Grund, weil er keine klare und correcte
Ueberſetzung vorfand. Berthold Auerbachs treffliche Verdeutſchung
(Stuttgart 1841) war damals noch nicht erſchienen. Die Ueber-
ſetzung der Ethik, welche Wolff 1744 hatte erſcheinen laſſen, war
völlig veraltet, die Ueberſetzung der ſämmtlichen Werke, welche
Ewald vierzig Jahre vorher (Gera 1791-1793) herausgegeben,
mochte Büchner ſchon deßhalb ungenügend ſcheinen, weil ihr ein
ungenügend recenſirter Text zu Grunde lag, und die relativ jüngſte
Arbeit endlich, die Ueberſetzung von Schmitt (Berlin 1811), war
ihm wohl ihrer ſprachlichen Unklarheit wegen für ſeine Zwecke nicht
entſprechend. Was nun ſeine eigene Arbeit betrifft, ſo iſt ſie
ſicherlich relativ ein Fortſchritt, wird jedoch von denen ſeiner Nach-
folger, Auerbach und v. Kirchmann (Berlin, 1869), übertroffen. Es
erklärt ſich dies zum Theil auch daraus, daß Büchner nur die
mangelhafte Text-Recenſion von Paulus (Jena 1802-1803) zur
Grundlage hatte. Die jetzt allgemein benützte Edition von Bruder
(Leipzig 1843) war ihm natürlich nicht zugänglich.
Ueber das Verhältniß Büchners zu Spinoza und die charakte-
riſtiſche Bedeutung ſeiner Einwürfe habe ich bereits in der Einleitung
geſprochen. Als Illuſtration hiezu mögen die beiden erſten Stellen
dienen, die ich aus der Monographie mittheile. Leicht hätte ich eine
Reihe ähnlicher Excurſe hervorheben können, doch dürfen ja der-
artige Bruchſtücke nicht auf allgemeines Intereſſe zählen, und mein
[321] Zweck, die oben gegebene Charakteriſtik zu rechtfertigen, iſt wohl auch
jetzt ſchon erfüllt.
Was übrigens ſpeciell den erſten hier mitgetheilten Excurs be-
trifft, ſo braucht für den Kenner des Spinoziſtiſchen Syſtems wohl
nicht erſt bemerkt zu werden, daß die Schwäche dieſes berühmten
Satzes von der Einheit der Subſtanz anderswo liegt, als da, wo
ſie Büchner geſucht. Es iſt dieſem ſogar entgangen, daß Spinoza
nicht einmal den formalen Beweis für dieſen Satz aus dem Vor-
hergehenden erbracht. (Vrgl. hierüber v. Kirchmann's "Erläuterungen
zu Spinoza's Ethik" Berlin, Heimann 1871. S. 14 ff.).
Die weiteren vier mitgetheilten Bruchſtücke ſind dem zweiten
Theil der Monographie entnommen. Es iſt dies eine zuſammen-
hängende Darſtellung des Spinoziſtiſchen Syſtems, mit zahlreichen
eingeflochtenen Citaten, die jedoch im Urtext wiedergegeben ſind; die-
ſelbe füllt zwar nur ſieben Bogen des Manuſcripts, aber in ſo enger
Schrift, daß ſie im Druck ein ſtattliches Bändchen geben würde.
Das iſt auch die einzige philoſophiſche Schrift Büchners, die auch
heute noch um ihrer Klarheit und charakteriſtiſchen Auffaſſung willen
gedruckt zu werden verdiente. Ich habe mich hier nur auf die
wenigen Bruchſtücke beſchränken müſſen und bedauere insbeſondere,
daß ich Büchners Erläuterung und Darſtellung des "Tractatus
theologico-politicus" nicht habe mittheilen können. Ein kurzer
Auszug wäre hier nicht am Platze geweſen, die vollinhaltliche Mit-
theilung aber hätte etwa drei Druckbogen erfordert, alſo zu viel
Raum in der Ausgabe eines Dichters, die das gebildete Publikum
überhaupt, nicht blos das philoſophiſch gebildete, intereſſiren ſoll.
Was endlich die dritte Schrift über das Syſtem des Carteſius
betrifft, ſo ſchließt ſie ſich in der Methode an den zweiten Theil der
oben erwähnten Monographie an: ſie bietet eine ſelbſtſtändige kritiſche
Darſtellung dieſes Syſtems. Daran reiht ſich noch eine ausführliche
Biographie des Carteſius, endlich eine ſehr fleißige Abhandlung über
die Anſichten ſeiner Schüler und Gegner, wie denn überhaupt die
ganze 23 Bogen ſtarke Schrift mit ungemeinem Fleiße geſchrieben iſt.
Auch hier wurden die Proben nur unter dem Geſichtspunkte
ausgewählt, die Charakteriſtik der Einleitung durch Beiſpiele zu
erläutern.
K. E. F.
[[322]][[323]]
IV.
Briefe.
21 *
[[324]][[325]]
I. An die Familie.
1.
..... Als ſich das Gerücht verbreitete, daß Roma-
rino durch Straßburg reiſen würde, eröffneten die Studenten
ſogleich eine Subſcription und beſchloſſen, ihm mit einer
ſchwarzen Fahne entgegenzuziehen. Endlich traf die Nachricht
hier ein, daß Romarino den Nachmittag mit den Generälen
Schneider und Langermann ankommen würde. Wir ver-
ſammelten uns ſogleich in der Academie; als wir aber durch
das Thor ziehen wollten, ließ der Offizier, der von der Re-
gierung Befehl erhalten hatte, uns mit der Fahne nicht
paſſiren zu laſſen, die Wache unter das Gewehr treten, um
uns den Durchgang zu wehren. Doch wir brachen mit
Gewalt durch und ſtellten uns drei- bis vierhundert Mann
ſtark an der großen Rheinbrücke auf. An uns ſchloß ſich
die Nationalgarde an. Endlich erſchien Romarino, begleitet
von einer Menge Reiter; ein Student hält eine Anrede, die
er beantwortet, ebenſo ein Nationalgardiſt. Die National-
garden umgeben den Wagen und ziehen ihn; wir ſtellen uns
[326] mit der Fahne an die Spitze des Zugs, dem ein großes
Muſikchor vormarſchirt. So ziehen wir in die Stadt, be-
gleitet von einer ungeheuren Volksmenge unter Abſingung
der Marſeillaiſe und der Carmagnole; überall erſchallt der
Ruf: Vive la liberté! vive Romarino! à bas les ministres!
à bas le juste milieu! Die Stadt ſelbſt illuminirt, an den
Fenſtern ſchwenken die Damen ihre Tücher, und Romarino
wird im Triumph bis zum Gaſthof gezogen, wo ihm unſer
Fahnenträger die Fahne mit dem Wunſch überreicht, daß
dieſe Trauerfahne ſich bald in Polens Freiheitsfahne ver-
wandeln möge. Darauf erſcheint Romarino auf dem Balkon,
dankt, man ruft Vivat! — und die Comödie iſt fertig. ...
2.
..... Es ſieht verzweifelt kriegeriſch aus; kommt
es zum Kriege, dann gibt es in Deutſchland vornehmlich
eine babyloniſche Verwirrung, und der Himmel weiß, was
das Ende vom Liede ſein wird. Es kann Alles gewonnen
und Alles verloren werden; wenn aber die Ruſſen über
die Oder gehen, dann nehme ich den Schießprügel, und ſollte
ich's in Frankreich thun. Gott mag den allerdurchlauchtigſten
und geſalbten Schafsköpfen gnädig ſein; auf der Erde werden
ſie hoffentlich keine Gnade mehr finden. ....
3.
.... Das einzige Intereſſante in politiſcher Beziehung
iſt, daß die hieſigen republikaniſchen Zierbengel mit rothen
[327] Hüten herumlaufen, und daß Herr Périer die Cholera hatte,
die Cholera aber leider nicht ihn. * .....
4.
.... Ich hätte beinahe vergeſſen zu erzählen, daß der
Platz in Belagerungsſtand geſetzt wird (wegen der holländiſchen
Wirren). Unter meinem Fenſter raſſeln beſtändig die Kanonen
vorbei, auf den öffentlichen Plätzen exerciren die Truppen,
und das Geſchütz wird auf den Wällen aufgefahren. Für
eine politiſche Abhandlung habe ich keine Zeit mehr, es wäre
auch nicht der Mühe werth, das Ganze iſt doch nur eine
Comödie. Der König und die Kammern regieren, und das
Volk klatſcht und bezahlt. ....
5.
..... Auf Weihnachten ging ich Morgens um vier
Uhr in die Frühmette ins Münſter. Das düſtere Gewölbe
mit ſeinen Säulen, die Roſe und die farbigen Scheiben und
die knieende Menge waren nur halb vom Lampenſchein er-
leuchtet. Der Geſang des unſichtbaren Chores ſchien über
dem Chor und dem Altare zu ſchweben und den vollen Tönen
der gewaltigen Orgel zu antworten. Ich bin kein Katholik
und kümmerte mich wenig um das Schellen und Knieen der
buntſcheckigen Pfaffen, aber der Geſang allein machte mehr
[328] Eindruck auf mich, als die faden, ewig wiederkehrenden
Phraſen unſerer meiſten Geiſtlichen, die Jahr aus Jahr ein
an jedem Weihnachtstag meiſt nichts Geſcheidteres zu ſagen
wiſſen, als, der liebe Herrgott ſei doch ein geſcheidter Mann
geweſen, daß er Chriſtus grade um dieſe Zeit auf die Welt
habe kommen laſſen. —
6.
Heute erhielt ich Euren Brief mit den Erzählungen aus
Frankfurt. * Meine Meinung iſt die: Wenn in unſerer
Zeit etwas helfen ſoll, ſo iſt es Gewalt. Wir wiſſen,
was wir von unſeren Fürſten zu erwarten haben. Alles,
was ſie bewilligten, wurde ihnen durch die Nothwendigkeit
abgezwungen. Und ſelbſt das Bewilligte wurde uns hinge-
worfen, wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinder-
ſpielzeug, um dem ewigen Maulaffen Volk ſeine zu eng
geſchnürte Wickelſchnur vergeſſen zu machen. Es iſt eine
blecherne Flinte und ein hölzerner Säbel, womit nur ein
Deutſcher die Abgeſchmacktheit begehen konnte, Soldatchens
zu ſpielen. Unſere Landſtände ſind eine Satyre auf die
geſunde Vernunft, wir können noch ein Säculum damit her-
umziehen, und wenn wir die Reſultate dann zuſammennehmen,
ſo hat das Volk die ſchönen Reden ſeiner Vertreter noch immer
theurer bezahlt, als der römiſche Kaiſer, der ſeinem Hofpoeten
für zwei gebrochene Verſe 20,000 Gulden geben ließ. Man
wirft den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor.
Sind wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzuſtand?
[329] Weil wir im Kerker geboren und großgezogen ſind, merken
wir nicht mehr, daß wir im Loch ſtecken mit angeſchmiedeten
Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Was
nennt Ihr denn geſetzlichen Zuſtand? Ein Geſetz,
das die große Maſſe der Staatsbürger zum frohnenden Vieh
macht, um die unnatürlichen Bedürfniſſe einer unbedeutenden
und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen? Und dies Geſetz,
unterſtützt durch eine rohe Militärgewalt und durch die dumme
Pfiffigkeit ſeiner Agenten, dies Geſetz iſt eine ewige, rohe
Gewalt, angethan dem Recht und der geſunden Vernunft,
und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo
ich kann. Wenn ich an dem, was geſchehen, keinen Theil
genommen und an dem, was vielleicht geſchieht, keinen
Theil nehmen werde, ſo geſchieht es weder aus Mißbilli-
gung, noch aus Furcht, ſondern nur weil ich im gegenwärtigen
Zeitpunkt jede revolutionäre Bewegung als eine vergebliche
Unternehmung betrachte und nicht die Verblendung Derer
theile, welche in den Deutſchen ein zum Kampf für ſein
Recht bereites Volk ſehen. Dieſe tolle Meinung führte die
Frankfurter Vorfälle herbei, und der Irrthum büßte ſich
ſchwer. Irren iſt übrigens keine Sünde, und die deutſche
Indifferenz iſt wirklich von der Art, daß ſie alle Berechnung
zu Schanden macht. Ich bedaure die Unglücklichen von
Herzen. Sollte keiner von meinen Freunden in die Sache
verwickelt ſein? .......
7.
...... So eben erhalten wir die Nachricht, daß in
Neuſtadt die Soldateska über eine friedliche und unbewaffnete
[330] Verſammlung hergefallen ſei und ohne Unterſchied mehrere
Perſonen niedergemacht habe. Aehnliche Dinge ſollen ſich im
übrigen Rheinbayern zugetragen haben. Die liberale Partei
kann ſich darüber grade nicht beklagen; man vergilt Gleiches
mit Gleichem, Gewalt mit Gewalt. Es wird ſich finden,
wer der Stärkere iſt. — Wenn Ihr neulich bei hellem
Wetter bis auf das Münſter hättet ſehen können, ſo hättet
Ihr mich bei einem langhaarigen, bärtigen, jungen Mann
ſitzend gefunden. Beſagter hatte ein rothes Barett auf dem
Kopf, um den Hals einen Caſhmir-Shawl, um den Cadaver
einen kurzen deutſchen Rock, auf die Weſte war der Name
"Rouſſeau" geſtickt, an den Beinen enge Hoſen mit Stegen,
in der Hand ein modiſches Stöckchen. Ihr ſeht, die Carri-
catur iſt aus mehreren Jahrhunderten und Welttheilen zu-
ſammengeſetzt: Aſien um den Hals, Deutſchland um den
Leib, Frankreich an den Beinen, 1400 auf dem Kopf und
1833 in der Hand. Er iſt ein Kosmopolit — nein, er iſt
mehr, er iſt St. Simoniſt! Ihr denkt nun, ich hätte
mit einem Narren geſprochen, und Ihr irrt. Es iſt ein
liebenswürdiger junger Mann, viel gereiſt. — Ohne ſein
fatales Coſtüm hätte ich nie den St. Simoniſten verſpürt,
wenn er nicht von der femme in Deutſchland geſprochen
hätte. Bei den Simoniſten ſind Mann und Frau gleich, ſie
haben gleiche politiſche Rechte. Sie haben nun ihren
père, der iſt St. Simon, ihr Stifter; aber billigerweiſe
müßten ſie auch eine mère haben. Die iſt aber noch zu
ſuchen, und da haben ſie ſich denn auf den Weg gemacht,
wie Saul nach ſeines Vaters Eſeln, mit dem Unterſchied,
daß — denn im neunzehnten Jahrhundert iſt die Welt gar
weit vorangeſchritten — daß die Eſel diesmal den Saul
[331] ſuchen. Rouſſeau mit noch einem Gefährten (beide verſtehen
kein Wort deutſch) wollten die femme in Deutſchland ſuchen,
man beging aber die intolerante Dummheit, ſie zurückzu-
weiſen. Ich ſagte ihm, er hätte nicht viel an den Weibern,
die Weiber aber viel an ihm verloren; bei den Einen hätte
er ſich ennuyirt und über die Anderen gelacht. Er bleibt
jetzt in Straßburg, ſteckt die Hände in die Taſchen und
predigt dem Volke die Arbeit, wird für ſeine Capacität gut
bezahlt und marche vers les femmes, wie er ſich ausdrückt.
Er iſt übrigens beneidenswerth, führt das bequemſte Leben
unter der Sonne, und ich möchte aus purer Faulheit St.
Simoniſt werden, denn man müßte mir meine Capacität
gehörig honoriren. ......
8.
Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig ſein; ich werde nicht
nach Freiburg gehen und ebenſowenig wie im vorigen Jahre
an einer Verſammlung theilnehmen.
9.
........ Ich werde zwar immer meinen Grund-
ſätzen gemäß handeln, habe aber in neuerer Zeit gelernt,
daß nur das nothwendige Bedürfniß der großen Maſſe Um-
änderungen herbeiführen kann, daß alles Bewegen und
Schreien der Einzelnen vergebliches Thorenwerk iſt. Sie
ſchreiben, man lieſt ſie nicht; ſie ſchreien, man hört ſie nicht;
ſie handeln, man hilft ihnen nicht. — Ihr könnt voraus-
[332] ſehen, daß ich mich in die Gießener Winkelpolitik und
revolutionären Kinderſtreiche nicht einlaſſen werde.
10.
(Reiſe in die Vogeſen.)
Bald im Thal, bald auf den Höhen zogen wir durch
das liebliche Land. Am zweiten Tage gelangten wir auf
einer über 3000 Fuß hohen Fläche zum ſogenannten weißen
und ſchwarzen See. Es ſind zwei finſtere Lachen in tiefer
Schlucht, unter etwa 500 Fuß hohen Felſenwänden. Der
weiße See liegt auf dem Gipfel der Höhe. Zu unſeren
Füßen lag ſtill das dunkle Waſſer. Ueber die nächſten
Höhen hinaus ſahen wir im Oſten die Rheinebenen und den
Schwarzwald, nach Weſt und Nordweſt das Lothringer Hoch-
land; im Süden hingen düſtere Wetterwolken, die Luft war
ſtill. Plötzlich trieb der Sturm das Gewölke die Rheinebene
herauf, zu unſerer Linken zuckten die Blitze, und unter dem
zerriſſenen Gewölk über dem dunklen Jura glänzten die
Alpengletſcher in der Abendſonne. Der dritte Tag ge-
währte uns den nämlichen herrlichen Anblick; wir beſtiegen
nämlich den höchſten Punkt der Vogeſen, den an 5000 Fuß
hohen Bölgen. Man überſieht den Rhein von Baſel bis
Straßburg, die Fläche hinter Lothringen bis zu den Bergen
der Champagne, den Anfang der ehemaligen franche Comté,
den Jura und die Schweizergebirge vom Rigi bis zu den
entfernteſten Savoyiſchen Alpen. Es war gegen Sonnen-
untergang, die Alpen wie blaſſes Abendroth über der dunkel
gewordenen Erde. Die Nacht brachten wir in einer geringen
Entfernung vom Gipfel in einer Sennerhütte zu. Die Hirten
[333] haben hundert Kühe und bei neunzig Farren und Stiere auf
der Höhe. Bis Sonnenaufgang war der Himmel etwas
dunſtig, die Sonne warf einen rothen Schein über die Land-
ſchaft. Ueber den Schwarzwald und den Jura ſchien das
Gewölk wie ein ſchäumender Waſſerfall zu ſtürzen, nur die
Alpen ſtanden hell darüber, wie eine blitzende Milchſtraße.
Denkt Euch über der dunklen Kette des Jura und über dem
Gewölk im Süden, ſoweit der Blick reicht, eine ungeheure,
ſchimmernde Eiswand, nur noch oben durch die Zacken und
Spitzen der einzelnen Berge unterbrochen. Vom Bölgen
ſtiegen wir rechts herab in das ſogenannte Amarinenthal,
das letzte Hauptthal der Vogeſen. Wir gingen thalaufwärts.
Das Thal ſchließt ſich mit einem ſchönen Wieſengrund im
wilden Gebirg. Ueber die Berge führte uns eine gut er-
haltene Bergſtraße nach Lothringen zu den Quellen der Moſel.
Wir folgten eine Zeitlang dem Laufe des Waſſers, wandten
uns dann nördlich und kehrten über mehrere intereſſante
Punkte nach Straßburg zurück.
Hier gieng es ſeit einigen Tagen etwas unruhig zu.
Ein miniſterieller Deputirter, Herr Saglio, kam vor einigen
Tagen aus Paris zurück. Es kümmerte ſich Niemand um
ihn. Eine bankerotte Ehrlichkeit iſt heutzutage etwas zu
Gemeines, als daß ein Volksvertreter, der ſeinen Frack wie
einen Schandpfahl auf dem Rücken trägt, noch Jemand in-
tereſſiren könnte. Die Polizei war aber entgegengeſetzter
Meinung und ſtellte deßhalb eine bedeutende Anzahl Soldaten
auf dem Paradeplatz und vor dem Hauſe des Herrn Saglio
auf. Dies lockte denn endlich am zweiten oder dritten Tage
die Menge herbei, geſtern und vorgeſtern Abend wurde etwas
vor dem Hauſe gelärmt. Präfect und Maire hielten es für
[334] die beſte Gelegenheit, einen Orden zu erwiſchen, ſie ließen
die Truppen ausrücken, die Straßen räumen, Bajonnete und
Kolbenſtöße austheilen, Verhaftungen vornehmen, Prokla-
mationen anſchlagen u. ſ. w.
11.
..... Geſtern wurden wieder zwei Studenten ver-
haftet, der kleine Stamm und Groß. ....
12.
..... Geſtern war ich bei dem Bankett zu Ehren
der zurückgekehrten Deputirten. An zweihundert Perſonen,
unter ihnen Balſer und Vogt. Einige loyale Toaſte, bis
man ſich Courage getrunken, und dann das Polenlied, die
Marſeillaiſe geſungen und den in Friedberg Verhafteten * ein
Vivat gebracht! Die Leute gehen ins Feuer, wenn's von
einer brennenden Punſchbowle kommt! .....
13.
..... Ich verachte Niemanden, am wenigſten
wegen ſeines Verſtandes oder ſeiner Bildung, weil es in
Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher
zu werden, — weil wir durch gleiche Umſtände wohl Alle
gleich würden, und weil die Umſtände außer uns liegen.
Der Verſtand nun gar iſt nur eine ſehr geringe Seite
[335] unſers geiſtigen Weſens und die Bildung nur eine ſehr zu-
fällige Form deſſelben. Wer mir eine ſolche Verachtung
vorwirft, behauptet, daß ich einen Menſchen mit Füßen träte,
weil er einen ſchlechten Rock anhätte. Es heißt dieß, eine
Rohheit, die man Einem im Körperlichen nimmer zutrauen
würde, in's Geiſtige übertragen, wo ſie noch gemeiner iſt. Ich
kann Jemanden einen Dummkopf nennen, ohne ihn deßhalb
zu verachten; die Dummheit gehört zu den allgemeinen
Eigenſchaften der menſchlichen Dinge; für ihre Exiſtenz kann
ich nichts, es kann mir aber Niemand wehren, Alles, was
exiſtirt, bei ſeinem Namen zu nennen und dem, was mir
unangenehm iſt, aus dem Wege zu gehn. Jemanden kränken,
iſt eine Grauſamkeit, ihn aber zu ſuchen oder zu meiden,
bleibt meinem Gutdünken überlaſſen. Daher erklärt ſich
mein Betragen gegen alte Bekannte; ich kränkte Keinen und
ſparte mir viel Langeweile; halten ſie mich für hochmüthig,
wenn ich an ihren Vergnügungen oder Beſchäftigungen keinen
Geſchmack finde, ſo iſt es eine Ungerechtigkeit; mir würde
es nie einfallen, einem Andern aus dem nämlichen Grunde
einen ähnlichen Vorwurf zu machen. Man nennt mich einen
Spötter. Es iſt wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht
darüber, wie Jemand ein Menſch, ſondern nur darüber, daß
er ein Menſch iſt, wofür er ohnehin nichts kann, und lache
dabei über mich ſelbſt, der ich ſein Schickſal theile. Die
Leute nennen das Spott, ſie vertragen es nicht, daß man
ſich als Narr producirt und ſie dutzt; ſie ſind Verächter,
Spötter und Hochmüthige, weil ſie die Narrheit nur außer
ſich ſuchen. Ich habe freilich noch eine Art von Spott, es
iſt aber nicht der der Verachtung, ſondern der des Haſſes.
Der Haß iſt ſo gut erlaubt als die Liebe, und ich hege ihn
[336] im vollſten Maße gegen die, welche verachten. Es iſt
deren eine große Zahl, die im Beſitze einer lächerlichen
Aeußerlichkeit, die man Bildung, oder eines todten Krams,
den man Gelehrſamkeit heißt, die große Maſſe ihrer Brüder
ihrem verachtenden Egoismus opfern. Der Ariſtokratismus
iſt die ſchändlichſte Verachtung des heiligen Geiſtes im
Menſchen; gegen ihn kehre ich ſeine eigenen Waffen; Hoch-
muth gegen Hochmuth, Spott gegen Spott. — Ihr würdet
euch beſſer bei meinem Stiefelputzer nach mir umſehn; mein
Hochmuth und Verachtung Geiſtesarmer und Ungelehrter fände
dort wohl ihr beſtes Object. Ich bitte, fragt ihn einmal. ..
Die Lächerlichkeit des Herablaſſens werdet Ihr mir doch
wohl nicht zutrauen. Ich hoffe noch immer, daß ich leiden-
den, gedrückten Geſtalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen, als
kalten, vornehmen Herzen bittere Worte geſagt habe. — .....
14.
..... Wichtiger iſt die Unterſuchung wegen der Ver-
bindungen; die Relegation ſteht wenigſtens dreißig Studenten
bevor. Ich wollte die Unſchädlichkeit dieſer Verſchwörer eid-
lich bekräftigen. Die Regierung muß aber doch etwas zu
thun haben! Sie dankt ihrem Himmel, wenn ein paar
Kinder ſchleifen oder Ketten ſchaukeln! — Die in Friedberg
Verhafteten ſind frei, mit Ausnahme von Vieren — ...
15.
... In Gießen war ich im Aeußern ruhig, doch war
ich in tiefe Schwermuth verfallen; dabei engten mich die
[337] politiſchen Verhältniſſe ein, ich ſchämte mich, ein Knecht mit
Knechten zu ſein, einem vermoderten Fürſtengeſchlecht und
einem kriechenden Staatsdiener-Ariſtokratismus zu gefallen.
Ich komme nach Gießen in die widrigſten Verhältniſſe,
Kummer und Widerwillen machen mich krank. *
16.
..... Das Treiben des "Burſchen" kümmert mich
wenig, geſtern Abend hat er von dem Philiſter Schläge be-
kommen. Man ſchrie Burſch heraus! Es kam aber
Niemand, als die Mitglieder zweier Verbindungen, die aber
den Univerſitätsrichter rufen mußten, um ſich vor den Schuſter-
und Schneiderbuben zu retten. Der Univerſitätsrichter war
betrunken und ſchimpfte die Bürger; es wundert mich, daß
er keine Schläge bekam; das Poſſierlichſte iſt, daß die Buben
liberal ſind und ſich daher an die loyal geſinnten Verbindungen
machten. Die Sache ſoll ſich heute Abend wiederholen, man
munkelt ſogar von einem Auszug; ich hoffe, daß der Burſche
wieder Schläge bekommt; wir halten zu den Bürgern und
bleiben in der Stadt. .....
17.
..... Was ſagt man zu der Verurtheilung von
"Schulz?" **
G. Büchner's Werke. 22
[338] Kommißbrod. — A propos, wißt Ihr die hübſche Geſchichte
vom Herrn Commiſſär, etc. ..? Der gute Columbus ſollte
in Darmſtadt bei einem Schreiner eine geheime Preſſe ent-
decken. Er beſetzt das Haus, dringt ein. "Guter Mann,
es iſt Alles aus, führ' Er mich nur an die Preſſe." —
Der Mann führt ihn an die Kelter. "Nein, Mann! Die
Preſſe! Die Preſſe!" — Der Mann verſteht ihn nicht, und
der Commiſſär wagt ſich in den Keller. Es iſt dunkel.
"Ein Licht, Mann!" — "Das müſſen Sie kaufen, wenn
Sie eins haben wollen." — Aber der Herr Commiſſär ſpart
dem Lande überflüſſige Ausgaben. Er rennt, wie Münch-
hauſen, an einen Balken, er ſchlägt Feuer aus ſeinem Naſen-
bein, das Blut fließt, er achtet nichts und findet nichts.
Unſer lieber Großherzog wird ihm aus einem Civilverdienſt-
orden ein Naſenfutteral machen. — ......
18.
.... Ich benutze jeden Vorwand, um mich von meiner
Kette loszumachen. Freitag Abends ging ich von Gießen
weg; ich wählte die Nacht der gewaltigen Hitze wegen, und
ſo wanderte ich in der lieblichſten Kühle unter hellem
Sternenhimmel, an deſſen fernſtem Horizonte ein beſtändiges
Blitzen leuchtete. Theils zu Fuß, theils fahrend mit Poſtillonen
und ſonſtigem Geſindel, legte ich während der Nacht den
größten Theil des Wegs zurück. Ich ruhte mehrmals unter-
**
[339] wegs. Gegen Mittag war ich in Offenbach. Den kleinen
Umweg machte ich, weil es von dieſer Seite leichter iſt,
in die Stadt zu kommen, ohne angehalten zu werden. Die
Zeit erlaubte mir nicht, mich mit den nöthigen Papieren zu
verſehen. .....
19.
.... Ich meine, ich hätte Euch erzählt, daß Minni-
gerode* eine halbe Stunde vor meiner Abreiſe arretirt
wurde, man hat ihn nach Friedberg abgeführt. Ich begreife
den Grund ſeiner Verhaftung nicht. Unſerem ſcharfſinnigen
Univerſitätsrichter fiel es ein, in meiner Reiſe, wie es ſcheint,
einen Zuſammenhang mit der Verhaftung Minnigerode's zu
finden. Als ich hier ankam, fand ich meinen Schrank ver-
ſiegelt, und man ſagte mir, meine Papiere ſeien durch-
ſucht worden. Auf mein Verlangen wurden die Siegel ſo-
gleich abgenommen, auch gab man mir meine Papiere (nichts
als Briefe von Euch und meinen Freunden) zurück, nur
einige franzöſiſche Briefe von W ..., Muſton, ** L ...
und B ... wurden zurückbehalten, wahrſcheinlich weil die
Leute ſich erſt einen Sprachlehrer müſſen kommen laſſen, um
ſie zu leſen. Ich bin empört über ein ſolches Benehmen,
es wird mir übel, wenn ich meine heiligſten Geheimniſſe in
den Händen dieſer ſchmutzigen Menſchen denke. Und das
22 *
[340] Alles — wißt Ihr auch warum? Weil ich an dem näm-
lichen Tag abgereiſt, an dem Minnigerode verhaftet wurde.
Auf einen vagen Verdacht hin verletzte man die heiligſten
Rechte und verlangte dann weiter Nichts, als daß ich mich
über meine Reiſe ausweiſen ſollte!!! Das konnte ich natür-
lich mit der größten Leichtigkeit; ich habe Briefe von B.,
die jedes Wort beſtätigen, das ich geſprochen, und unter
meinen Papieren befindet ſich keine Zeile, die mich compro-
mittiren könnte. Ihr könnt über die Sache ganz unbeſorgt
ſein. Ich bin auf freiem Fuß, und es iſt unmöglich, daß
man einen Grund zur Verhaftung finde. Nur im Tiefſten
bin ich über das Verfahren der Gerichte empört, auf den
Verdacht eines möglichen Verdachts in die heiligſten Familien-
geheimniſſe einzubrechen. Man hat mich auf dem Univer-
ſitätsgericht bloß gefragt, wo ich mich während der drei
letzten Tage aufgehalten, und um ſich darüber Aufſchluß zu
verſchaffen, erbricht man ſchon am zweiten Tag in meiner
Abweſenheit meinen Pult und bemächtigt ſich meiner Papiere!
Ich werde mit einigen Rechtskundigen ſprechen und ſehen,
ob die Geſetze für eine ſolche Verletzung Genugthuung
ſchaffen! ....
20.
..... Ich gehe meinen Beſchäftigungen wie gewöhn-
lich nach, vernommen bin ich nicht weiter geworden. Ver-
dächtiges hat man nicht gefunden, nur die franzöſiſchen Briefe
ſcheinen noch nicht entziffert zu ſein; der Herr Univerſitäts-
richter muß ſich wohl erſt Unterricht im Franzöſiſchen nehmen.
Man hat mir ſie noch nicht zurückgegeben. .... Uebrigens
[341] habe ich mich bereits an das Disciplinargericht gewendet und
es um Schutz gegen die Willkür des Univerſitätsrichters ge-
beten. Ich bin auf die Antwort begierig. Ich kann mich
nicht entſchließen, auf die mir gebührende Genugthuung zu
verzichten. Das Verletzen meiner heiligſten Rechte und das
Einbrechen in alle meine Geheimniſſe, das Berühren von
Papieren, die mir Heiligthümer ſind, empörten mich zu tief,
als daß ich nicht jedes Mittel ergreifen ſollte, um mich an
dem Urheber dieſer Gewaltthat zu rächen. Den Univerſitäts-
richter habe ich mittelſt des höflichſten Spottes faſt ums
Leben gebracht. Wie ich zurückkam, mein Zimmer mir ver-
boten und mein Pult verſiegelt fand, lief ich zu ihm und
ſagte ihm ganz kaltblütig mit der größten Höflichkeit, in
Gegenwart mehrerer Perſonen: wie ich vernommen, habe er
in meiner Abweſenheit mein Zimmer mit ſeinem Beſuche
beehrt, ich komme, um ihn um den Grund ſeines gütigen
Beſuches zu fragen etc. — Es iſt Schade, daß ich nicht nach
dem Mittageſſen gekommen, aber auch ſo barſt er faſt und
mußte dieſe beißende Ironie mit der größten Höflichkeit be-
antworten. Das Geſetz ſagt, nur in Fällen ſehr dringen-
den Verdachts, ja nur eines Verdachtes, der ſtatt halben
Beweiſes gelten könne, dürfe eine Hausſuchung vorge-
nommen werden. Ihr ſeht, wie man das Geſetz auslegt.
Verdacht, am wenigſten ein dringender, kann nicht gegen
mich vorliegen, ſonſt müßte ich verhaftet ſein; in der Zeit,
wo ich hier bin, könnte ich ja jede Unterſuchung durch Ver-
abreden gleichlautender Ausſagen und dergleichen unmöglich
machen. Es geht hieraus hervor, daß ich durch nichts
compromittirt bin, und daß die Hausſuchung nur vorgenommen
worden, weil ich nicht liederlich und nicht ſclaviſch genug
[342] ausſehe, um für keinen Demagogen gehalten zu werden. Eine
ſolche Gewaltthat ſtillſchweigend ertragen, hieße die Regierung
zur Mitſchuldigen machen; hieße ausſprechen, daß es keine
geſetzliche Garantie mehr gäbe; hieße erklären, daß das ver-
letzte Recht keine Genugthuung mehr erhalte. Ich will
unſerer Regierung dieſe grobe Beleidigung nicht anthun.
Wir wiſſen nichts von Minnigerode; das Gerücht mit
Offenbach * iſt jedenfalls reine Erfindung; daß ich auch ſchon
da geweſen, kann mich nicht mehr compromittiren, als jeden
anderen Reiſenden. ... — Sollte man, ſowie man ohne
die geſetzlich nothwendige Urſache meine Papiere durchſuchte,
mich auch ohne dieſelbe feſtnehmen, in Gottes Namen! ich
kann ſo wenig darüber hinaus, und es iſt dies ſo wenig
meine Schuld, als wenn eine Heerde Banditen mich anhielte,
plünderte oder mordete. Es iſt Gewalt, der man ſich
fügen muß, wenn man nicht ſtark genug iſt, ihr zu wider-
ſtehen; aus der Schwäche kann Einem kein Vorwurf gemacht
werden. ......
21.
Es ſind jetzt faſt drei Wochen ſeit der Hausſuchung
verfloſſen, und man hat mir in Bezug darauf noch nicht die
mindeſte Eröffnung gemacht. Die Vernehmung bei dem
[343] Univerſitätsrichter am erſten Tage kann nicht in Anſchlag
gebracht werden, ſie ſteht damit in keinem geſetzlichen
Zuſammenhang; der Herr Georgi verlangt nur als
Univerſitätsrichter von mir als Studenten: ich ſolle
mich wegen meiner Reiſe ausweiſen, während er die Haus-
ſuchung als Regierungscommiſſär vornahm. Ihr
ſehet alſo, wie weit man es in der geſetzlichen Anarchie
gebracht hat. Ich vergaß, wenn ich nicht irre, den wichtigen
Umſtand anzuführen, daß die Hausſuchung ſogar ohne die
drei, durch das Geſetz vorgeſchriebenen Urkundsperſonen
vorgenommen wurde, und ſo um ſo mehr den Charakter
eines Einbruchs an ſich trägt. Das Verletzen unſerer
Familiengeheimniſſe iſt ohnehin ein bedeutenderer Diebſtahl,
als das Wegnehmen einiger Geldſtücke. Das Einbrechen in
meiner Abweſenheit iſt ebenfalls ungeſetzlich; man war
nur berechtigt, meine Thüre zu verſiegeln, und erſt dann
in meiner Abweſenheit zur Hausſuchung zu ſchreiten,
wenn ich mich auf erfolgte Vorladung nicht geſtellt
hätte. Es ſind alſo drei Verletzungen des Geſetzes
vorgefallen: Hausſuchung ohne dringenden Verdacht
(ich bin, wie geſagt, noch nicht vernommen worden, und es
ſind drei Wochen verfloſſen), Hausſuchung ohne Urkunds-
perſonen, und endlich Hausſuchung am dritten Tage meiner
Abweſenheit ohne vorher erfolgte Vorladung. —
Die Vorſtellung an das Disciplinargericht war im
Grund genommen überflüſſig, weil der Univerſitätsrichter als
Regierungscommiſſär nicht unter ihm ſteht. Ich that
dieſen Schritt nur vorerſt, um nicht mit der Thüre ins Haus
zu fallen; ich ſtellte mich unter ſeinen Schutz, ich überließ
ihm meine Klage. Seiner Stellung gemäß mußte es meine
[344] Sache zu der ſeinigen machen, aber die Leute ſind etwas
furchtſamer Natur; ich bin überzeugt, daß ſie mich an eine
andere Behörde verweiſen. Ich erwarte ihre Reſolution. ...
Der Vorfall iſt ſo einfach und liegt ſo klar am Tage, daß
man mir entweder volle Genugthuung ſchaffen oder öffentlich
erklären muß, das Geſetz ſei aufgehoben und eine Gewalt
an ſeine Stelle getreten, gegen die es keine Appellation, als
Sturmglocken und Pflaſterſteine gebe. ....
22.
Eben lange ich wohlbehalten hier an. Die Reiſe ging
ſchnell und bequem vor ſich. Ihr könnt, was meine perſön-
liche Sicherheit anlangt, völlig ruhig ſein. Sicheren Nach-
richten gemäß bezweifle ich auch nicht, daß mir der Aufenthalt
in Straßburg geſtattet werden wird. ... Nur die dringendſten
Gründe konnten mich zwingen, Vaterland und Vaterhaus in
der Art zu verlaſſen. .. Ich konnte mich unſerer politiſchen
Inquiſition ſtellen; von dem Reſultat einer Unterſuchung
hatte ich nichts zu befürchten, aber Alles von der Unter-
ſuchung ſelbſt. .... Ich bin überzeugt, daß nach einem
Verlaufe von zwei bis drei Jahren meiner Rückkehr nichts
mehr im Wege ſtehen wird. Dieſe Zeit hätte ich im Falle
des Bleibens in einem Kerker zu Friedberg verſeſſen; körper-
lich und geiſtig zerrüttet wäre ich dann entlaſſen worden.
Dies ſtand mir ſo deutlich vor Augen, deſſen war ich ſo
gewiß, daß ich das große Uebel einer freiwilligen Verbannung
wählte. Jetzt habe ich Hände und Kopf frei. ... Es liegt
jetzt Alles in meiner Hand. Ich werde das Studium der
mediciniſch-philoſophiſchen Wiſſenſchaften mit der größten
[345] Anſtrengung betreiben, und auf dem Felde iſt noch Raum
genug, um etwas Tüchtiges zu leiſten, und unſere Zeit iſt
grade dazu gemacht, dergleichen anzuerkennen. Seit ich über
der Grenze bin, habe ich friſchen Lebensmuth, ich ſtehe jetzt
ganz allein, aber gerade das ſteigert meine Kräfte. Der
beſtändigen geheimen Angſt vor Verhaftung und ſonſtigen
Verfolgungen, die mich in Darmſtadt beſtändig peinigte, ent-
hoben zu ſein, iſt eine große Wohlthat. ....
23.
..... Ich fürchte ſehr, daß das Reſultat der Unter-
ſuchung den Schritt, welchen ich gethan, hinlänglich recht-
fertigen wird; es ſind wieder Verhaftungen erfolgt, und man
erwartet nächſtens deren noch mehr. Minnigerode iſt in
flagranti crimine ertappt worden; man betrachtet ihn als den
Weg, der zur Entdeckung aller bisherigen revolutionären
Umtriebe führen ſoll, man ſucht ihm um jeden Preis ſein
Geheimniß zu entreißen; wie ſollte ſeine ſchwache Conſtitution
der langſamen Folter, auf die man ihn ſpannt, widerſtehen
können? .... Iſt in den deutſchen Zeitungen die Hin-
richtung des Lieutenant Koſſeritz auf dem Hohenaſperg in
Württemberg bekannt gemacht worden? Er war Mit-
wiſſer um das Frankfurter Complott, und wurde vor
einiger Zeit erſchoſſen. Der Buchhändler Frankh aus
Stuttgart iſt mit noch mehreren Anderen aus der nämlichen
Urſache zum Tode verurtheilt worden, und man glaubt, daß
das Urtheil vollſtreckt wird. * .....
[346]
24.
..... Heute Morgen erhielt ich eine traurige Nach-
richt; ein Flüchtling aus der Gegend von Gießen iſt hier
angekommen; er erzählte mir, in der Gegend von Marburg
ſeien mehrere Perſonen verhaftet und bei einem von ihnen
eine Preſſe gefunden worden, außerdem ſind meine Freunde
A. Becker und Klemm eingezogen worden, und Rector
Weidig von Butzbach wird verfolgt. Ich begreife unter
ſolchen Umſtänden die Freilaſſung von P ..... nicht.
Jetzt erſt bin ich froh, daß ich weg bin, man würde mich
auf keinen Fall verſchont haben. ... Ich ſehe meiner Zu-
kunft ſehr ruhig entgegen. Jedenfalls könnte ich von meinen
ſchriftſtelleriſchen Arbeiten leben. .... Man hat mich auch
aufgefordert, Kritiken über die neu erſcheinenden franzöſiſchen
Werke in das Literaturblatt zu ſchicken, ſie werden gut be-
zahlt. Ich würde mir noch weit mehr verdienen können,
wenn ich mehr Zeit darauf verwenden wollte, aber ich
bin entſchloſſen, meinen Studienplan nicht aufzu-
geben. .....
25.
Schulz* und ſeine Frau gefallen mir ſehr gut, ich
habe ſchon ſeit längerer Zeit Bekanntſchaft mit ihnen gemacht
und beſuche ſie öfters. Schulz namentlich iſt nichts weniger,
als die unruhige Kanzleibürſte, die ich mir unter ihm vor-
[347] ſtellte; er iſt ein ziemlich ruhiger und ſehr anſpruchsloſer
Mann. Er beabſichtigt, in aller Nähe mit ſeiner Frau nach
Nancy und in Zeit von einem Jahr ungefähr nach Zürich
zu gehen, um dort zu dociren. ... Die Verhältniſſe der
politiſchen Flüchtlinge ſind in der Schweiz keineswegs ſo ſchlecht,
als man ſich einbildet; die ſtrengen Maßregeln erſtrecken ſich
nur auf diejenigen, welche durch ihre fortgeſetzten Tollheiten
die Schweiz in die unangenehmſten Verhältniſſe mit dem
Auslande gebracht und ſchon beinahe in einen Krieg mit
demſelben verwickelt haben. .... Böckel und Baum ſind
fortwährend meine intimſten Freunde; Letzterer will ſeine
Abhandlung über die Methodiſten, wofür er einen Preis von
3000 Francs erhalten hat und öffentlich gekrönt worden iſt,
drucken laſſen. Ich habe mich in ſeinem Namen an Gutzkow
gewendet, mit dem ich fortwährend in Correſpondenz ſtehe.
Er iſt im Augenblick in Berlin, muß aber bald wieder zu-
rückkommen. Er ſcheint viel auf mich zu halten, ich bin
froh darüber, ſein Literaturblatt ſteht in großem Anſehn. .....
Im Juni wird er hierherkommen, wie er mir ſchreibt. Daß
Mehreres aus meinem Drama im Phönix erſchienen iſt, hatte
ich durch ihn erfahren, er verſicherte mich auch, daß das
Blatt viel Ehre damit eingelegt habe. Das Ganze muß
bald erſcheinen. Im Fall es euch zu Geſicht kommt, bitte
ich euch, bei eurer Beurtheilung vorerſt zu bedenken, daß ich
der Geſchichte treu bleiben und die Männer der Revolution
geben mußte, wie ſie waren: blutig, liederlich, energiſch und
cyniſch. Ich betrachte mein Drama wie ein geſchichtliches
Gemälde, das ſeinem Original gleichen muß. ... Gutzkow
hat mich um Kritiken, wie um eine beſondere Gefälligkeit
gebeten; ich konnte es nicht abſchlagen, ich gebe mich ja doch
[348] in meinen freien Stunden mit Lectüre ab, und wenn ich
dann manchmal die Feder in die Hand nehme und ſchreibe
über das Geleſene etwas nieder, ſo iſt dieß keine ſo große
Mühe und nimmt wenig Zeit weg. ... Der Geburtstag
des Königs ging ſehr ſtill vorüber, Niemand fragt nach
dergleichen, ſelbſt die Republikaner ſind ruhig; ſie wollen
keine Emeuten mehr, aber ihre Grundſätze finden von Tag
zu Tag, namentlich bei der jungen Generation, mehr Anhang,
und ſo wird wohl die Regierung nach und nach, ohne
gewaltſame Umwälzung von ſelbſt zuſammenfallen. ...
Sartorius iſt verhaftet, ſowie auch Becker. Heute habe
ich auch die Verhaftung des Herrn Weidig und des Pfarrers
Flick zu Petterweil erfahren. .....
26.
..... Was ihr mir von dem in Darmſtadt ver-
breiteten Gerüchte hinſichtlich einer in Straßburg beſtehenden
Verbindung ſagt, beunruhigt mich ſehr. Es ſind höchſtens
acht bis neun deutſche Flüchtlinge hier, ich komme faſt in
keine Berührung mit ihnen, und an eine politiſche Verbindung
iſt nicht zu denken. Sie ſehen ſo gut wie ich ein, daß unter
den jetzigen Umſtänden dergleichen im Ganzen unnütz und
dem, der daran Theil nimmt, höchſt verderblich iſt. Sie
haben nur einen Zweck, nämlich durch Arbeiten, Fleiß und
gute Sitten das ſehr geſunkene Anſehn der deutſchen Flücht-
linge wieder zu heben, und ich finde das ſehr lobenswerth.
Straßburg ſchien übrigens unſerer Regierung höchſt verdächtig
und ſehr gefährlich, es wundern mich daher die umgehenden
Gerüchte nicht im Geringſten, nur macht es mich beſorgt,
[349] daß unſere Regierung die Ausweiſung der Schuldigen ver-
langen will. Wir ſtehen hier unter keinem geſetzlichen Schutz,
halten uns eigentlich gegen das Geſetz hier auf, ſind nur
geduldet und ſomit ganz der Willkür des Präfecten über-
laſſen. Sollte ein derartiges Verlangen von unſerer Regierung
geſtellt werden, ſo würde man nicht fragen: exiſtirt eine ſolche
Verbindung oder nicht?, ſondern man würde ausweiſen, was
da iſt. Ich kann zwar auf Protection genug zählen, um
mich hier halten zu können, aber das geht nur ſo lange, als
die heſſiſche Regierung nicht beſonders meine Ausweiſung
verlangt, denn in dieſem Falle ſpricht das Geſetz zu deutlich,
als daß die Behörde ihm nicht nachkommen müßte. Doch
hoffe ich, das Alles iſt übertrieben. Uns berührt auch folgende
Thatſache: Dr.Schulz hat nämlich vor einigen Tagen
den Befehl erhalten, Straßburg zu verlaſſen; er hatte
hier ganz zurückgezogen gelebt, ſich ganz ruhig verhalten und
dennoch! Ich hoffe, daß unſere Regierung mich für zu
unbedeutend hielt, um auch gegen mich ähnliche Maßregeln
zu ergreifen, und daß ich ſomit ungeſtört bleiben werde. Sagt,
ich ſei in die Schweiz gegangen. — Heumann ſprach ich
geſtern. — Auch ſind in der letzten Zeit wieder fünf Flücht-
linge aus Darmſtadt und Gießen hier eingetroffen und bereits
in die Schweiz weiter gereiſt. Roſenſtiel, Wiener und
Stamm ſind unter ihnen. ....
27.
..... "Ich würde Dir * das nicht ſagen, wenn ich
im Entfernteſten jetzt an die Möglichkeit einer politiſchen
[350] Umwälzung glauben könnte. Ich habe mich ſeit einem halben
Jahre vollkommen überzeugt, daß Nichts zu thun iſt, und
daß Jeder, der im Augenblicke ſich aufopfert, ſeine Haut
wie ein Narr zu Markte trägt. Ich kann Dir nichts Näheres
ſagen, aber ich kenne die Verhältniſſe, ich weiß, wie ſchwach,
wie unbedeutend, wie zerſtückelt die liberale Partei iſt, ich
weiß, daß ein zweckmäßiges, übereinſtimmendes Handeln un-
möglich iſt, und daß jeder Verſuch auch nicht zum geringſten
Reſultate führt. — — — — Eine genaue Bekanntſchaft
mit dem Treiben der deutſchen Revolutionärs im Auslande
hat mich überzeugt, daß auch von dieſer Seite nicht das
Geringſte zu hoffen iſt. Es herrſcht unter ihnen eine
babyloniſche Verwirrung, die nie gelöſt werden wird. Hoffen
wir auf die Zeit!
28.
..... Ich habe hier noch mündlich viel Unangenehmes
aus Darmſtadt erfahren. Koch, Walloth, Geilfuß und
einer meiner Gießener Freunde, mit Namen Becker, ſind
vor Kurzem hier angekommen, auch iſt der junge Stamm
hier. Es ſind ſonſt noch Mehrere angekommen, ſie gehen
aber ſämmtlich weiter in die Schweiz oder in das Innere
von Frankreich. Ich habe von Glück zu ſagen und fühle
mich manchmal recht frei und leicht, wenn ich den weiten,
freien Raum um mich überblicke und mich dann in das
Darmſtädter Arreſthaus zurückverſetze. Die Unglücklichen!
Minnigerode ſitzt jetzt faſt ein Jahr, er ſoll körperlich faſt
aufgerieben ſein, aber zeigt er nicht eine heroiſche Stand-
haftigkeit? Es heißt, er ſei ſchon mehrmals geſchlagen
[351] worden, ich kann und mag es nicht glauben. A. Becker
wird wohl von Gott und der Welt verlaſſen ſein; ſeine
Mutter ſtarb, während er in Gießen im Gefängniß ſaß,
vierzehn Tage darnach eröffnete man es ihm!!! Klemm*
iſt ein Verräther, das iſt gewiß, aber es iſt mir doch immer,
als ob ich träumte, wenn ich daran denke. Wißt Ihr denn,
daß ſeine Schweſter und ſeine Schwägerin ebenfalls verhaftet
und nach Darmſtadt gebracht worden ſind, und zwar höchſt
wahrſcheinlich auf ſeine eigne Ausſage hin? Uebrigens gräbt
er ſich ſein eignes Grab; ſeinen Zweck, die Heirath mit
Fräulein v. ..... in Gießen, wird er doch nicht erreichen,
und die öffentliche Verachtung, die ihn unfehlbar trifft, wird
ihn tödten. Ich fürchte nur ſehr, daß die bisherigen Ver-
haftungen nur das Vorſpiel ſind; es wird noch bunt her-
gehen. Die Regierung weiß ſich nicht zu mäßigen; die
Vortheile, welche ihr die Zeitumſtände in die Hand geben,
wird ſie auf's Aeußerſte mißbrauchen, und das iſt ſehr un-
klug und für uns ſehr vortheilhaft. Auch der junge
[352] v. Biegeleben, Weidenbuſch, Floret ſind in eine
Unterſuchung verwickelt; das wird noch ins Unendliche gehen.
Drei Pfarrer, Flick, Weidig und Thudichum ſind unter
den Verhafteten. Ich fürchte nur ſehr, daß unſere Regierung
uns hier nicht in Ruhe läßt, doch bin ich der Verwendung
der Profeſſoren Lauth, Duvernoy und des Doctor Boeckel's
gewiß, die ſämmtlich mit dem Präfecten gut ſtehen. — Mit
meiner Ueberſetzung bin ich längſt fertig; wie es mit meinem
Drama geht, weiß ich nicht; es mögen wohl fünf bis ſechs
Wochen ſein, daß mir Gutzkow ſchrieb, es werde daran ge-
druckt, ſeit der Zeit habe ich nichts mehr darüber gehört.
Ich denke, es muß erſchienen ſein, und man ſchickt es mir
erſt, wenn die Recenſionen erſchienen ſind, zugleich mit dieſen
zu. Anders weiß ich mir die Verzögerung nicht zu erklären.
Nur fürchte ich zuweilen für Gutzkow; er iſt ein Preuße
und hat ſich neuerdings durch eine Vorrede zu einem in
Berlin erſchienenen Werke das Mißfallen ſeiner Regierung
zugezogen. Die Preußen machen kurzen Prozeß; er ſitzt
vielleicht jetzt auf einer preußiſchen Feſtung; doch wir wollen
das Beſte hoffen. .....
29.
.... Ich lebe hier ganz unangefochten; es iſt zwar
vor einiger Zeit ein Reſcript von Gießen gekommen, die Polizei
ſcheint aber keine Notiz davon genommen zu haben. ....
Es liegt ſchwer auf mir, wenn ich mir Darmſtadt vorſtelle;
ich ſehe unſer Haus und den Garten und dann unwillkürlich
das abſcheuliche Arreſthaus. Die Unglücklichen! Wie wird
das enden? Wohl wie in Frankfurt, wo Einer nach dem
[353] Andern ſtirbt und in der Stille begraben wird. Ein Todes-
urtheil, ein Schaffot, was iſt das? Man ſtirbt für ſeine
Sache. Aber ſo im Gefängniß auf eine langſame Weiſe
aufgerieben zu werden! Das iſt entſetzlich! Könntet Ihr
mir nicht ſagen, wer in Darmſtadt ſitzt? Ich habe hier
Vieles untereinander gehört, werde aber nicht klug daraus.
Klemm ſcheint eine ſchändliche Rolle zu ſpielen. Ich hatte
den Jungen ſehr gern, er war grenzenlos leidenſchaftlich,
aber offen, lebhaft, muthig und aufgeweckt. Hört man
nichts von Minnigerode? Sollte er wirklich Schläge er-
halten? Es iſt mir undenkbar. Seine heroiſche Stand-
haftigkeit ſollte auch den verſtockteſten Ariſtokraten Ehrfurcht
einflößen. .....
30.
..... Ueber mein Drama muß ich einige Worte
ſagen: erſt muß ich bemerken, daß die Erlaubniß, einige
Aenderungen machen zu dürfen, allzuſehr benutzt worden iſt.
Faſt auf jeder Seite weggelaſſen, zugeſetzt, und faſt immer
auf die dem Ganzen nachtheiligſte Weiſe. Manchmal iſt
der Sinn ganz entſtellt oder ganz und gar weg, und faſt
platter Unſinn ſteht an der Stelle. Außerdem wimmelt das
Buch von den abſcheulichſten Druckfehlern. Man hat mir
keinen Correcturbogen zugeſchickt. Der Titel iſt ab-
geſchmackt, und mein Name ſteht darauf, was ich ausdrücklich
verboten hatte; er ſteht außerdem nicht auf dem Titel meines
Manuſcripts. Außerdem hat mir der Corrector einige Ge-
meinheiten in den Mund gelegt, die ich in meinem Leben
nicht geſagt haben würde. Gutzkow's glänzende Kritiken
G. Büchner's Werke. 23
[354] habe ich geleſen und zu meiner Freude dabei bemerkt, daß
ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe. Was übrigens die
ſogenannte Unſittlichkeit meines Buchs angeht, ſo habe ich
Folgendes zu antworten: der dramatiſche Dichter iſt in
meinen Augen nichts, als ein Geſchichtſchreiber, ſteht aber
über Letzterem dadurch, daß er uns die Geſchichte zum
zweiten Mal erſchafft und uns gleich unmittelbar, ſtatt eine
trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein
verſetzt, uns ſtatt Charakteriſtiken Charaktere und ſtatt Be-
ſchreibungen Geſtalten gibt. Seine höchſte Aufgabe iſt, der
Geſchichte, wie ſie ſich wirklich begeben, ſo nahe als möglich
zu kommen. Sein Buch darf weder ſittlicher noch un-
ſittlicher ſein, als die Geſchichte ſelbſt; aber die
Geſchichte iſt vom lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für
junge Frauenzimmer geſchaffen worden, und da iſt es mir
auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebenſowenig
dazu geeignet iſt. Ich kann doch aus einem Danton und
den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen!
Wenn ich ihre Liederlichkeit ſchildern wollte, ſo mußte ich
ſie eben liederlich ſein, wenn ich ihre Gottloſigkeit zeigen
wollte, ſo mußte ich ſie eben wie Atheiſten ſprechen laſſen.
Wenn einige unanſtändige Ausdrücke vorkommen, ſo denke
man an die weltbekannte, obſcöne Sprache der damaligen
Zeit, wovon das, was ich meine Leute ſagen laſſe, nur ein
ſchwacher Abriß iſt. Man könnte mir nur noch vorwerfen,
daß ich einen ſolchen Stoff gewählt hätte. Aber der Ein-
wurf iſt längſt widerlegt. Wollte man ihn gelten laſſen,
ſo müßten die größten Meiſterwerke der Poeſie verworfen
werden. Der Dichter iſt kein Lehrer der Moral, er erfindet
und ſchafft Geſtalten, er macht vergangene Zeiten wieder
[355] aufleben, und die Leute mögen dann daraus lernen, ſo gut,
wie aus dem Studium der Geſchichte und der Beobachtung
deſſen, was im menſchlichen Leben um ſie herum vorgeht.
Wenn man ſo wollte, dürfte man keine Geſchichte ſtudiren,
weil ſehr viele unmoraliſche Dinge darin erzählt werden,
müßte mit verbundenen Augen über die Gaſſe gehen, weil
man ſonſt Unanſtändigkeiten ſehen könnte, und müßte über
einen Gott Zeter ſchreien, der eine Welt erſchaffen, worauf
ſo viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens
noch ſagen wollte, der Dichter müſſe die Welt nicht zeigen
wie ſie iſt, ſondern wie ſie ſein ſolle, ſo antworte ich, daß
ich es nicht beſſer machen will, als der liebe Gott, der die
Welt gewiß gemacht hat, wie ſie ſein ſoll. Was noch die
ſogenannten Idealdichter anbetrifft, ſo finde ich, daß ſie faſt
nichts als Marionetten mit himmelblauen Naſen und affec-
tirtem Pathos, aber nicht Menſchen von Fleiſch und Blut
gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden
macht, und deren Thun und Handeln mir Abſcheu oder
Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf
Goethe und Shakſpeare, aber ſehr wenig auf Schiller. Daß
übrigens noch die ungünſtigſten Kritiken erſcheinen werden,
verſteht ſich von ſelbſt; denn die Regierungen müſſen doch
durch ihre bezahlten Schreiber beweiſen laſſen, daß ihre
Gegner Dummköpfe oder unſittliche Menſchen ſind. Ich
halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen,
und werde jede wahrhaft äſthetiſche Kritik mit Dank an-
nehmen. —
Habt ihr von dem gewaltigen Blitzſtrahl gehört, der
vor einigen Tagen das Münſter getroffen hat? Nie habe
ich einen ſolchen Feuerglanz geſehen und einen ſolchen Schlag
23 *
[356] gehört, ich war einige Augenblicke wie betäubt. Der Schade
iſt der größte ſeit Wächtersgedenken. Die Steine wurden
mit ungeheurer Gewalt zerſchmettert und weit weg ge-
ſchleudert; auf hundert Schritt im Umkreis wurden die
Dächer der benachbarten Häuſer von den herabfallenden
Steinen durchgeſchlagen. —
Es ſind wieder drei Flüchtlinge hier eingetroffen, Nie-
vergelder iſt darunter; es ſind in Gießen neuerdings zwei
Studenten verhaftet worden. Ich bin äußerſt vorſichtig. Wir
wiſſen hier von Niemand, der auf der Grenze verhaftet worden
ſei. Die Geſchichte muß ein Mährchen ſein. .....
31.
..... Vor Allem muß ich Euch ſagen, daß man
mir auf beſondere Verwendung eine Sicherheitskarte ver-
ſprochen hat, im Fall ich einen Geburts- (nicht Heimats-)
Schein vorweiſen könnte. Es iſt dies nur als eine vom
Geſetze vorgeſchriebene Förmlichkeit zu betrachten; ich muß
ein Papier vorweiſen können, ſo unbedeutend es auch ſei. ...
Doch lebe ich ganz unangefochten, es iſt nur eine prophy-
lactiſche Maßregel, die ich für die Zukunft nehme. Sprengt
übrigens immerhin aus, ich ſei nach Zürich gegangen; da
ihr ſeit längerer Zeit keine Briefe von mir durch die Poſt
erhalten habt, ſo kann die Polizei unmöglich mit Beſtimmt-
heit wiſſen, wo ich mich aufhalte, zumal da ich meinen
Freunden geſchrieben, ich ſei nach Zürich gegangen. Es ſind
wieder einige Flüchtlinge hier angekommen, ein Sohn des
Profeſſor Vogt iſt darunter, ſie bringen die Nachricht von
neuen Verhaftungen dreier Familienväter! Der eine in
[357] Rödelheim, der andere in Frankfurt, der dritte in Offenbach.
Auch iſt eine Schweſter des unglücklichen Neuhof, ein
ſchönes und liebenswürdiges Mädchen, wie man ſagt, ver-
haftet worden. Daß ein Frauenzimmer aus Gießen in das
Darmſtädter Arreſthaus gebracht wurde, iſt gewiß; man
behauptet, ſie ſei die ....... Die Regierung muß die
Sache ſehr geheim halten, denn ihr ſcheint in Darmſtadt
ſehr ſchlecht unterrichtet zu ſein. Wir erfahren Alles durch
die Flüchtlinge, welche es am beſten wiſſen, da ſie meiſtens
zuvor in die Unterſuchung verwickelt waren. Daß Minnigerode
in Friedberg eine Zeit lang Ketten an den Händen hatte,
weiß ich gewiß, ich weiß es von Einem, der mit ihm ſaß.
Er ſoll tödtlich krank ſein; wolle der Himmel, daß ſeine
Leiden ein Ende hätten! Daß die Gefangenen die Gefängniß-
koſt bekommen und weder Licht noch Bücher erhalten, iſt
ausgemacht. Ich danke dem Himmel, daß ich vorausſah,
was kommen würde, ich wäre in ſo einem Loch verrückt ge-
worden. .... In der Politik fängt es hier wieder an,
lebendig zu werden. Die Höllenmaſchine in Paris und die
der Kammer vorgelegten Geſetz-Entwürfe über die Preſſe
machen viel Aufſehn. Die Regierung zeigt ſich ſehr un-
moraliſch; denn obgleich es gerichtlich erwieſen iſt, daß der
Thäter ein verſchmitzter Schurke iſt, der ſchon allen Parteien
gedient hat und wahrſcheinlich durch Geld zu der That ge-
trieben wurde, ſo ſucht ſie doch das Verbrechen den Repub-
likanern und Carliſten auf den Hals zu laden und durch
den momentanen Eindruck die unleidlichſten Beſchränkungen
der Preſſe zu erlangen. Man glaubt, daß das Geſetz in
der Kammer durchgehen und vielleicht noch geſchärft werden
wird. Die Regierung iſt ſehr unklug; in ſechs Wochen hat
[358] man die Höllenmaſchine vergeſſen, und dann befindet ſie ſich
mit ihrem Geſetz einem Volke gegenüber, das ſeit mehreren
Jahren gewohnt iſt, Alles, was ihm durch den Kopf kommt,
öffentlich zu ſagen. Die feinſten Politiker reimen die Höllen-
maſchine mit der Revue in Kaliſch zuſammen. Ich kann
ihnen nicht ganz Unrecht geben; die Höllenmaſchine unter
Bonaparte! der Raſtadter Geſandtenmord!! .....
Wenn man ſieht, wie die abſoluten Mächte Alles wieder
in die alte Unordnung zu bringen ſuchen, Polen, Italien,
Deutſchland wieder unter den Füßen! es fehlt nur noch
Frankreich, es hängt ihnen immer, wie ein Schwerdt, über
dem Kopf. So zum Zeitvertreib wirft man doch die
Millionen in Kaliſch nicht zum Fenſter hinaus. Man hätte
die auf den Tod des Königs folgende Verwirrung benutzt
und hätte gerade nicht ſehr viele Schritte gebraucht, um an
den Rhein zu kommen. Ich kann mir das Attentat auf
keine andere Weiſe erklären. Die Republikaner haben erſtens
kein Geld und ſind zweitens in einer ſo elenden Lage, daß
ſie nichts hätten verſuchen können, ſelbſt wenn der König
gefallen wäre. Höchſtens könnten einige Legitimiſten hinein
verwickelt ſein. Ich glaube nicht, daß die Juſtiz die Sache
aufklären wird. ......
32.
Von Umtrieben weiß ich nichts. Ich und meine
Freunde ſind ſämmtlich der Meinung, daß man für jetzt
Alles der Zeit überlaſſen muß; übrigens kann der Mißbrauch,
welchen die Fürſten mit ihrer wieder erlangten Gewalt
treiben, nur zu unſerem Vortheil gereichen. Ihr müßt Euch
[359] durch die verſchiedenen Gerüchte nicht irre machen laſſen; ſo
ſoll ſogar ein Menſch Euch beſucht haben, der ſich für Einen
meiner Freunde ausgab. Ich erinnere mich gar nicht, den
Menſchen je geſehen zu haben; wie mir die Anderen jedoch
erzählten, iſt er ein ausgemachter Schurke, der wahrſcheinlich
auch das Gerücht von einer hier beſtehenden Verbindung aus-
geſprengt hat. Die Gegenwart des Prinzen Emil, der
eben hier iſt, könnte vielleicht nachtheilige Folgen für uns
haben, im Fall er von dem Präfecten unſere Ausweiſung
begehrte; doch halten wir uns für zu unbedeutend, als daß
Seine Hoheit ſich mit uns beſchäftigen ſollte. Uebrigens ſind
faſt ſämmtliche Flüchtlinge in die Schweiz und in das Innere
abgereiſt, und in wenigen Tagen gehen noch mehrere, ſo daß
höchſtens fünf bis ſechs hier bleiben werden. .....
33.
...... Mir hat ſich eine Quelle geöffnet; es handelt
ſich um ein großes Literaturblatt, "Deutſche Revue" betitelt,
das mit Anfang des neuen Jahres in Wochenheften erſcheinen
ſoll. Gutzkow und Wienbarg werden das Unternehmen
leiten; man hat mich zu monatlichen Beiträgen aufgefordert.
Ob das gleich eine Gelegenheit geweſen wäre, mir vielleicht
ein regelmäßiges Einkommen zu ſichern, ſo habe ich doch
meiner Studien halber die Verpflichtung zu regelmäßigen
Beiträgen abgelehnt. Vielleicht, daß Ende des Jahres noch
etwas von mir erſcheint. — Klemm alſo frei? Er iſt mehr
ein Unglücklicher, als ein Verbrecher, ich bemitleide ihn eher,
als ich ihn verachte; man muß doch gar pfiffig die tolle
Leidenſchaft des armen Teufels benützt haben. Er hatte
[360] ſonſt Ehrgefühl, ich glaube nicht, daß er ſeine Schande wird
ertragen können. Seine Familie verleugnet ihn, ſeinen
älteren Bruder ausgenommen, der eine Hauptrolle in der
Sache geſpielt zu haben ſcheint. Es ſind viel Leute dadurch
unglücklich geworden. Mit Minnigerode ſoll es beſſer gehen.
Hat denn Gladbach noch kein Urtheil? Das heiße ich
einen doch lebendig begraben. Mich ſchaudert, wenn ich denke,
was vielleicht mein Schickſal geweſen wäre! ......
34.
..... Ich habe mir hier allerhand intereſſante Notizen
über einen Freund Goethe's, einen unglücklichen Poeten
Namens Lenz verſchafft, der ſich gleichzeitig mit Goethe hier
aufhielt und halb verrückt wurde. Ich denke darüber einen
Aufſatz in der deutſchen Revue erſcheinen zu laſſen. Auch
ſehe ich mich eben nach Stoff zu einer Abhandlung über
einen philoſophiſchen oder naturhiſtoriſchen Gegenſtand um.
Jetzt noch eine Zeit lang anhaltendes Studium, und der Weg
iſt gebrochen. Es gibt hier Leute, die mir eine glänzende
Zukunft prophezeien. Ich habe nichts dawider. .......
35.
..... Ich weiß beſtimmt, daß man mir in Darmſtadt
die abenteuerlichſten Dinge nachſagt; man hat mich bereits
dreimal an der Grenze verhaften laſſen. Ich finde es natür-
lich; die außerordentliche Anzahl von Verhaftungen und
Steckbriefen muß Aufſehen machen, und da das Publikum
[361] jedenfalls nicht weiß, um was es ſich eigentlich handelt, ſo
macht es wunderliche Hypotheſen. .....
..... Aus der Schweiz habe ich die beſten Nach-
richten. Es wäre möglich, daß ich noch vor Neujahr
von der Züricher Facultät den Doctorhut erhielte, in welchem
Falle ich alsdann nächſte Oſtern anfangen würde, dort zu
dociren. In einem Alter von zwei und zwanzig Jahren
wäre das Alles, was man fordern kann. .....
..... Neulich hat mein Name in der Allgemeinen
Zeitung paradirt. Es handelte ſich um eine große literariſche
Zeitſchrift. "Deutſche Revue," für die ich Artikel zu liefern
verſprochen habe. Dieß Blatt iſt ſchon vor ſeinem Erſcheinen
angegriffen worden, worauf es denn hieß, daß man nur die
Herren Heine, Börne, Mundt, Schulz, Büchner etc.
zu nennen brauche, um einen Begriff von dem Erfolge zu
haben, den dieſe Zeitſchrift haben würde. — Ueber die Art,
wie Minnigerode mißhandelt wird, iſt im Temps ein Artikel
erſchienen. Er ſcheint mir von Darmſtadt aus geſchrieben;
man muß wahrhaftig weit gehen, um einmal klagen zu
dürfen. Meine unglücklichen Freunde! .....
36.
..... Das Verbot der "Deutſchen Revue" ſchadet
mir nichts. Einige Artikel, die für ſie bereit lagen, kann
ich an den Phönix ſchicken. Ich muß lachen, wie fromm
und moraliſch plötzlich unſere Regierungen werden; der König
von Bayern läßt unſittliche Bücher verbieten! da darf er
ſeine Biographie nicht erſcheinen laſſen, denn die wäre das
Schmutzigſte, was je geſchrieben worden! Der Großherzog
[362] von Baden, erſter Ritter vom doppelten Mopsorden, macht
ſich zum Ritter vom heiligen Geiſt und läßt Gutzkow
arretiren, und der liebe deutſche Michel glaubt, es geſchähe
Alles aus Religion und Chriſtenthum und klaſcht in die
Hände. Ich kenne die Bücher nicht, von denen überall die
Rede iſt; ſie ſind nicht in den Leihbibliotheken und zu theuer,
als daß ich Geld daran wenden ſollte. Sollte auch Alles
ſein, wie man ſagt, ſo könnte ich darin nur die Verirrungen
eines durch philoſophiſche Sophismen falſch geleiteten Geiſtes
ſehen. Es iſt der gewöhnlichſte Kunſtgriff, den großen
Haufen auf ſeine Seite zu bekommen, wenn man mit recht
vollen Backen: "unmoraliſch!" ſchreit. Uebrigens gehört ſehr
viel Muth dazu, einen Schriftſteller anzugreifen, der von
einem deutſchen Gefängniß aus antworten ſoll. Gutzkow
hat bisher einen edlen, kräftigen Charakter gezeigt, er hat
Proben von großem Talent abgelegt; woher denn plötzlich
das Geſchrei? Es kommt mir vor, als ſtritte man ſehr
um das Reich von dieſer Welt, während man ſich ſtellt, als
müſſe man der heiligen Dreifaltigkeit das Leben retten.
Gutzkow hat in ſeiner Sphäre muthig für die Freiheit ge-
kämpft; man muß doch die Wenigen, welche noch aufrecht
ſtehn und zu ſprechen wagen, verſtummen machen! Uebrigens
gehöre ich für meine Perſon keineswegs zu dem ſo-
genannten Jungen Deutſchland, der literariſchen Partei
Gutzkow's und Heine's. Nur ein völliges Mißkennen unſerer
geſellſchaftlichen Verhältniſſe konnte die Leute glauben machen,
daß durch die Tagesliteratur eine völlige Umgeſtaltung unſerer
religiöſen und geſellſchaftlichen Ideen möglich ſei. Auch theile
ich keineswegs ihre Meinung über die Ehe und
das Chriſtenthum, aber ich ärgere mich doch, wenn
[363] Leute, die in der Praxis tauſendfältig mehr geſündigt, als
dieſe in der Theorie, gleich moraliſche Geſichter ziehn und
den Stein auf ein jugendliches, tüchtiges Talent werfen. Ich
gehe meinen Weg für mich und bleibe auf dem Felde des
Drama's, das mit all dieſen Streitfragen nichts zu thun
hat; ich zeichne meine Charaktere, wie ich ſie der Natur und
der Geſchichte angemeſſen halte, und lache über die Leute,
welche mich für die Moralität oder Immoralität derſelben
verantwortlich machen wollen. Ich habe darüber meine eignen
Gedanken. .....
..... Ich komme vom Chriſtkindelsmarkt, überall
Haufen zerlumpter, frierender Kinder, die mit aufgeriſſenen
Augen und traurigen Geſichtern vor den Herrlichkeiten aus
Waſſer und Mehl, Dreck und Goldpapier ſtanden. Der
Gedanke, daß für die meiſten Menſchen auch die armſeligſten
Genüſſe und Freuden unerreichbare Koſtbarkeiten ſind, machte
mich ſehr bitter. .....
37.
..... Ich begreife nicht, daß man gegen Küchler
etwas in Händen haben ſoll; ich dachte, er ſei mit nichts
beſchäftigt, als ſeine Praxis und Kenntniſſe zu erweitern.
Wenn er auch nur kurze Zeit ſitzt, ſo iſt doch wohl ſeine
ganze Zukunft zerſtört: man ſetzt ihn vorläufig in Freiheit,
ſpricht ihn von der Inſtanz los, läßt ihn verſprechen, das
Land nicht zu verlaſſen, und verbietet ihm ſeine Praxis,
was man nach den neuſten Verfügungen kann. — Als ſicher
und gewiß kann ich Euch ſagen, daß man vor Kurzem in
Bayern zwei junge Leute, nachdem ſie ſeit faſt vier Jahren
[364] in ſtrenger Haft geſeſſen, als unſchuldig in Freiheit geſetzt
hat! Außer Küchler und Groß ſind noch drei Bürger
aus Gießen verhaftet worden. Zwei von ihnen haben ihr
Geſchäft, und der eine iſt obendrein Familienvater. Auch
hörten wir, Max v. Biegeleben ſei verhaftet, aber gleich
darauf wieder gegen Caution in Freiheit geſetzt worden.
Gladbach ſoll vor einiger Zeit zu acht Jahren Zuchthaus
verurtheilt worden ſein; das Urtheil ſei aber wieder umge-
ſtoßen, und die Unterſuchung fange von Neuem an. Ihr
würdet mir einen Gefallen thun, wenn ihr mir über Beides
Auskunft gäbet.
Ich will euch dafür ſogleich eine ſonderbare Geſchichte
erzählen, die Herr J. in den engliſchen Blättern geleſen,
und die, wie dazu bemerkt, in den deutſchen Blättern nicht
mitgetheilt werden durfte. Der Director des Theaters zu
Braunſchweig iſt der bekannte Componiſt Methfeſſel. Er
hat eine hübſche Frau, die dem Herzog gefällt, und ein Paar
Augen, die er gern zudrückt, und ein Paar Hände, die er
gern aufmacht. Der Herzog hat die ſonderbare Manie,
Madame Methfeſſel im Coſtüm zu bewundern. Er befindet
ſich daher gewöhnlich vor Anfang des Schauſpiels mit ihr
allein auf der Bühne. Nun intriguirt Methfeſſel gegen
einen bekannten Schauſpieler, deſſen Name mir entfallen
iſt. Der Schauſpieler will ſich rächen, er gewinnt den
Maſchiniſten, der Maſchiniſt zieht an einem ſchönen Abend
den Vorhang ein Viertelſtündchen früher auf, und der Herzog
ſpielt mit Madame Methfeſſel die erſte Scene. Er geräth
außer ſich, zieht den Degen und erſticht den Maſchiniſten;
der Schauſpieler hat ſich geflüchtet. —
Ich kann euch verſichern, daß nicht das geringſte politiſche
[365] Treiben unter den Flüchtlingen hier herrſcht; die vielen und
guten Examina, die hier gemacht werden, beweiſen hinläng-
lich das Gegentheil. Uebrigens ſind wir Flüchtigen und
Verhafteten gerade nicht die Unwiſſendſten, Einfältigſten oder
Liederlichſten! Ich ſage nicht zuviel, daß bis jetzt die beſten
Schüler des Gymnaſiums und die fleißigſten und unter-
richtetſten Studenten dieß Schickſal getroffen hat, die mit-
gerechnet, welche von Examen und Staatsdienſt zurückgewieſen
ſind. Es iſt doch im Ganzen ein armſeliges, junges Ge-
ſchlecht, was eben in Darmſtadt herumläuft und ſich ein
Aemtchen zu erkriechen ſucht!
38.
..... Ich bin feſt entſchloſſen, bis zum nächſten Herbſte
hier zu bleiben. Die letzten Vorfälle in Zürich geben mir
einen Hauptgrund dazu. Ihr wißt vielleicht, daß man unter
dem Vorwande, die deutſchen Flüchtlinge beabſichtigten einen
Einfall in Deutſchland, Verhaftungen unter denſelben vor-
genommen hat. Das Nämliche geſchah an anderen Punkten
der Schweiz. Selbſt hier äußerte die einfältige Geſchichte
ihre Wirkung, und es war ziemlich ungewiß, ob wir hier
bleiben dürften, weil man wiſſen wollte, daß wir (höchſtens
noch ſieben bis acht an der Zahl) mit bewaffneter Hand
über den Rhein gehen ſollten! Doch hat ſich Alles in
Güte gemacht, und wir haben keine weiteren Schwierigkeiten
zu beſorgen. Unſere heſſiſche Regierung ſcheint unſerer zu-
weilen mit Liebe zu gedenken. .....
..... Was an der ganzen Sache eigentlich iſt, weiß
[366] ich nicht; da ich jedoch weiß, daß die Mehrzahl der Flüchtlinge
jeden directen revolutionären Verſuch unter den jetzigen Ver-
hältniſſen für Unſinn hält, ſo konnte höchſtens eine ganz
unbedeutende, durch keine Erfahrung belehrte Minderzahl an
dergleichen gedacht haben. Die Hauptrolle unter den Ver-
ſchworenen ſoll ein gewiſſer Herr v. Eib geſpielt haben.
Daß dieſes Individuum ein Agent des Bundestags ſei, iſt
mehr als wahrſcheinlich; die Päſſe, welche die Züricher Polizei
bei ihm fand, und der Umſtand, daß er ſtarke Summen von
einem Frankfurter Handelshauſe bezog, ſprechen auf das
directeſte dafür. Der Kerl ſoll ein ehemaliger Schuſter ſein,
und dabei zieht er mit einer liederlichen Perſon aus Mann-
heim herum, die er für eine ungariſche Gräfin ausgibt. Er
ſcheint wirklich einige Eſel unter den Flüchtlingen übertölpelt
zu haben. Die ganze Geſchichte hatte keinen andern Zweck,
als, im Falle die Flüchtlinge ſich zu einem öffentlichen Schritt
hätten verleiten laſſen, dem Bundestag einen gegründeten
Vorwand zu geben, um auf die Ausweiſung aller Refugiés
aus der Schweiz zu dringen. Uebrigens war dieſer v. Eib
ſchon früher verdächtig, und man war ſchon mehrmals vor
ihm gewarnt worden. Jedenfalls iſt der Plan vereitelt und
die Sache wird für die Mehrzahl der Flüchtlinge ohne Folgen
bleiben. Nichts deſtoweniger fände ich es nicht räthlich,
im Augenblick nach Zürich zu gehen; unter ſolchen Um-
ſtänden hält man ſich beſſer fern. Die Züricher Regierung
iſt natürlich eben etwas ängſtlich und mißtrauiſch, und ſo
könnte man wohl unter den jetzigen Verhältniſſen meinem
Aufenthalte Schwierigkeiten machen. In Zeit von zwei bis
drei Monaten iſt dagegen die ganze Geſchichte vergeſſen. .....
[367]
39.
..... Es iſt nicht im Entfernteſten daran zu denken,
daß im Augenblick ein Staat das Aſylrecht aufgibt, weil
ein ſolches Aufgeben ihn den Staaten gegenüber, auf deren
Verlangen es geſchieht, politiſch annulliren würde. Die
Schweiz würde durch einen ſolchen Schritt ſich von den
liberalen Staaten, zu denen ſie ihrer Verfaſſung nach natür-
lich gehört, losſagen und ſich an die abſoluten anſchließen,
ein Verhältniß, woran unter den jetzigen politiſchen Con-
ſtellationen nicht zu denken iſt. Daß man aber Flüchtlinge,
welche die Sicherheit des Staates, der ſie aufgenommen, und
das Verhältniß deſſelben zu den Nachbarſtaaten compromittiren,
ausweiſt, iſt ganz natürlich und hebt das Aſylrecht nicht auf.
Auch hat die Tagſatzung bereits ihren Beſchluß erlaſſen. Es
werden nur diejenigen Flüchtlinge ausgewieſen, welche als
Theilnehmer an dem Savoyer Zuge ſchonfrüher
waren ausgewieſenworden, und diejenigen, welche
an den letzten Vorfällen Theil genommen haben.
Dieß iſt authentiſch. Die Mehrzahl der Flüchtlinge bleibt
alſo ungefährdet, und es bleibt Jedem unbenommen, ſich in
die Schweiz zu begeben. Nur iſt man in vielen Kantonen
gezwungen, eine Caution zu ſtellen, was ſich aber ſchon ſeit
längerer Zeit ſo verhält. Meiner Reiſe nach Zürich ſteht
alſo kein Hinderniß im Weg. — Ihr wißt, daß unſere Re-
gierung uns hier chicanirt, und daß die Rede davon war,
uns auszuweiſen, weil wir mit den Narren in der Schweiz
in Verbindung ſtänden. Der Präfect wollte genaue Aus-
kunft, wie wir uns hier beſchäftigten. Ich gab dem Polizei-
[368] Commiſſär mein Diplom als Mitglied der Société d'histoire
naturelle nebſt einem von den Profeſſoren mir ausgeſtellten
Zeugniſſe. Der Präfect war damit außerordentlich zu-
frieden, und man ſagte mir, daß ich namentlich ganz
ruhig ſein könne. .....
40.
..... Ich bin ganz vergnügt in mir ſelbſt, ausge-
nommen, wenn wir Landregen oder Nordweſtwind haben,
wo ich freilich einer von denjenigen werde, die Abends vor
dem Bettgehn, wenn ſie den einen Strumpf vom Fuß haben,
im Stande ſind, ſich an ihre Stubenthür zu hängen, weil
es ihnen der Mühe zuviel iſt, den andern ebenfalls auszu-
ziehen ..... Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium
der Naturwiſſenſchaften und der Philoſophie gelegt, und werde
in Kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigenſchaft
als überflüſſiges Mitglied der Geſellſchaft meinen Mitmenſchen
Vorleſungen über etwas ebenfalls höchſt Ueberflüſſiges, nämlich
über die philoſophiſchen Syſteme der Deutſchen ſeit Carteſius
und Spinoza, zu halten. — Dabei bin ich gerade daran,
ſich einige Menſchen auf den Papier todtſchlagen oder ver-
heirathen zu laſſen, und bitte den lieben Gott um einen
einfältigen Buchhändler und ein groß Publikum mit ſo wenig
Geſchmack, als möglich. Man braucht einmal zu vielerlei
Dingen unter der Sonne Muth, ſogar, um Privatdocent der
Philoſophie zu ſein......
41.
.... Ich habe meine zwei Dramen noch nicht
aus den Händen gegeben, ich bin noch mit Manchem
[369] unzufrieden und will nicht, daß es mir geht, wie das erſte
Mal. Das ſind Arbeiten, mit denen man nicht zu einer
beſtimmten Zeit fertig werden kann, wie der Schneider mit
ſeinem Kleid....
42.
........ Wie es mit dem Streite der Schweiz mit
Frankreich gehen wird, weiß der Himmel. Doch hörte ich
neulich Jemand ſagen: "die Schweiz wird einen kleinen Knicks
machen, und Frankreich wird ſagen, es ſei ein großer ge-
weſen." Ich glaube, daß er Recht hat......
43.
......... Was das politiſche Treiben anlangt, ſo
könnt Ihr ganz ruhig ſein. Laßt euch nur nicht durch die
Ammenmährchen in unſeren Zeitungen ſtören. Die Schweiz
iſt eine Republik, und weil die Leute ſich gewöhnlich nicht
anders zu helfen wiſſen, als daß ſie ſagen, jede Republik ſei
unmöglich, ſo erzählen ſie den guten Deutſchen jeden Tag
von Anarchie, Mord und Todtſchlag. Ihr werdet überraſcht
ſein, wenn Ihr mich beſucht; ſchon unterwegs überall freund-
liche Dörfer mit ſchönen Häuſern, und dann, je mehr Ihr
Euch Zürich nähert und gar am See hin, ein durchgreifen-
der Wohlſtand; Dörfer und Städtchen haben ein Ausſehen,
wovon man bei uns keinen Begriff hat. Die Straßen laufen
hier nicht voll Soldaten, Acceſſiſten und faulen Staatsdienern,
man riskirt nicht von einer adligen Kutſche überfahren zu
werden; dafür überall ein geſundes, kräftiges Volk und um
G. Büchner's Werke. 24
[370] wenig Geld eine einfache, gute, rein republikaniſche
Regierung, die ſich durch eine Vermögensſteuer erhält,
eine Art Steuer, die man bei uns überall als den Gipfel
der Anarchie ausſchreien würde ...
Minnigerode iſt todt, wie man mir ſchreibt, das heißt,
er iſt drei Jahre lang todt gequält worden. Drei Jahre!
Die franzöſiſchen Blutmänner brachten Einen doch in ein paar
Stunden um, das Urtheil und dann die Guillotine! Aber
drei Jahre! Wir haben eine gar menſchliche Regierung, ſie
kann kein Blut ſehen. Und ſo ſitzen noch an vierzig Menſchen,
und das iſt keine Anarchie, das iſt Ordnung und Recht, und
die Herren fühlen ſich empört, wenn ſie an die anarchiſche
Schweiz denken! Bei Gott, die Leute nehmen ein großes
Kapital auf, das ihnen einmal mit ſchweren Zinſen kann
abgetragen werden, mit ſehr ſchweren — .....
44.
Ich ſitze am Tage mit dem Scapell und die Nacht
mit den Büchern....
[[371]]
II. An die Braut.
1.
Hier iſt kein Berg, wo die Ausſicht frei ſei. Hügel
hinter Hügel und breite Thäler, eine hohle Mittelmäßigkeit
in Allem; ich kann mich nicht an dieſe Natur gewöhnen,
und die Stadt iſt abſcheulich. Bei uns iſt Frühling, ich
kann deinen Bleichenſtrauß immer erſetzen, er iſt unſterblich
wie der Lama. Lieb Kind, was macht denn die gute Stadt
Straßburg? es geht dort allerlei vor, und du ſagſt kein Wort
davon. Je baisse les petites mains, en goûtant les souvenirs
doux de Strasbourg. —
"Prouves-moi que tu m'aimes encore beaucoup en me
donnant bientôt des nouvelles." Und ich ließ dich warten!
Schon ſeit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick die
Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein
Wort zu ſchreiben. Ich ſtudirte die Geſchichte der Revolution.
Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalis-
mus der Geſchichte. Ich finde in der Menſchennatur eine
entſetzliche Gleichheit, in den menſchlichen Verhältniſſen eine
unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der
Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer
24 *
[372] Zufall, die Herrſchaft des Genies ein Puppenſpiel, ein
lächerliches Ringen gegen ein ehernes Geſetz, es zu erkennen
das Höchſte, es zu beherrſchen unmöglich. Es fällt mir
nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckſtehern der
Geſchichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans
Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmeſſer. Das muß iſt
eins von den Verdammungsworten, womit der Menſch ge-
tauft worden. Der Ausſpruch: es muß ja Aergerniß
kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, — iſt ſchauder-
haft. Was iſt das, was in uns lügt, mordet, ſtiehlt? Ich
mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber
dies kalte und gemarterte Herz an deine Bruſt legen! B.
wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich ſchrieb
ihm. Ich verwünſche meine Geſundheit. Ich glühte, das
Fieber bedeckte mich mit Küſſen und umſchlang mich wie der
Arm der Geliebten. Die Finſterniß wogte über mir, mein
Herz ſchwoll in unendlicher Sehnſucht, es drangen Sterne
durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten ſich nieder.
Und jetzt? Und ſonſt? Ich habe nicht einmal die Wolluſt
des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rhein-
brücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes
Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die
Seele iſt mir genommen. Oſtern iſt noch mein einziger
Troſt; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und
die Erlaubniß, ſie zu beſuchen. Ich habe die Reiſe ſchon
tauſendmal gemacht und werde nicht müde. — Du frägſt
mich: ſehnſt du dich nach mir? Nennſt du's Sehnen, wenn
man nur in einem Punkt leben kann, und wenn man davon
geriſſen iſt und dann nur noch das Gefühl ſeines Elendes
hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen ſo
[373] kalt? ....... — Dieſer Brief iſt ein Charivari: ich
tröſte dich mit einem andern.
2.
... Ich dürſte nach einem Briefe. Ich bin allein,
wie im Grabe; wann erweckt mich deine Hand? Meine
Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns wie Taube einander
in die Ohren; ich wollte, wir wären ſtumm, dann könnten
wir uns doch nur anſehen, und in neuen Zeiten kann ich
kaum Jemand ſtarr anblicken, ohne daß mir die Thränen
kämen. Es iſt dies eine Augenwaſſerſucht, die auch beim
Starrſehen oft vorkommt. Sie ſagen, ich ſei verrückt, weil
ich geſagt habe, in ſechs Wochen würde ich auferſtehen, zuerſt
aber Himmelfahrt halten, in der Diligence nämlich. Lebe
wohl, liebe Seele, und verlaß mich nicht. Der Gram macht
mich dir ſtreitig, ich lieg' ihm den ganzen Tag im Schooß;
armes Herz, ich glaube, du vergiltſt mit Gleichem....
3.
... Der erſte helle Augenblick ſeit acht Tagen. Un-
aufhörliches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige
Stunden dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein
Bett, und dann ein beſtändiges Auffahren aus dem Schlaf
und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne ver-
gehen. Mein Schweigen quält dich wie mich, doch vermochte
ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, vergibſt du? Eben
komme ich von draußen herein. Ein einziger, fortfallender
Ton aus tauſend Lerchenkehlen ſchlägt durch die brütende
[374] Sommerluft, ein ſchweres Gewölk wandelt über die Erde,
der tiefbrauſende Wind klingt wie ſein melodiſcher Schritt.
Die Frühlingsluft löſte mich aus meinem Starrkrampf. Ich
erſchrack vor mir ſelbſt. Das Gefühl des Geſtorbenſeins
war immer über mir. Alle Menſchen machten mir das
hippokratiſche Geſicht, die Augen verglaſt, die Wangen wie
von Wachs, und wenn dann die ganze Maſchinerie zu leiern
anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und
ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen
und Stiftchen im Orgelkaſten hüpfen und drehen ſah, —
ich verfluchte das Concert, den Kaſten, die Melodie und —
ach, wir armen ſchreienden Muſikanten! das Stöhnen auf
unſrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolken-
ritzen dringend und weiter, weiter klingend wie ein melodiſcher
Hauch in himmliſchen Ohren ſtirbt? Wären wir das Opfer
im glühenden Bauch des Perryllusſtiers, deſſen Todesſchrei
wie das Aufjauchzen des in den Flammen ſich aufzehrenden
Gottſtiers klingt. Ich läſtre nicht. Aber die Menſchen
läſtern. Und doch bin ich geſtraft, ich fürchte mich vor
meiner Stimme und — vor meinem Spiegel. Ich hätte
Herrn Callot-Hoffmann ſitzen können, nicht wahr, meine
Liebe? Für das Modelliren hätte ich Reiſegeld bekommen.
Ich ſpüre, ich fange an, intereſſant zu werden. —
Die Ferien fangen morgen in vierzehn Tagen an; ver-
weigert man die Erlaubniß, ſo gehe ich heimlich, ich bin mir
ſelbſt ſchuldig, einem unerträglichen Zuſtande ein Ende zu
machen. Meine geiſtigen Kräfte ſind gänzlich zerrüttet.
Arbeiten iſt mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat ſich
meiner bemeiſtert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell
wird. Alles verzehrt ſich in mir ſelbſt; hätte ich einen Weg
[375] für mein Inneres, aber ich habe keinen Schrei für den
Schmerz, kein Jauchzen für die Freude, keine Harmonie für
die Seligkeit. Dies Stummſein iſt meine Verdammniß.
Ich habe dir's ſchon tauſendmal geſagt: Lies meine Briefe
nicht, — kalte, träge Worte! Könnte ich nur über dich
einen vollen Ton ausgießen — ſo ſchleppe ich dich in meine
wüſten Irrgänge. Du ſitzeſt jetzt im dunkeln Zimmer in
deinen Thränen allein, bald trete ich zu dir. Seit vierzehn
Tagen ſteht dein Bild beſtändig vor mir, ich ſehe dich in
jedem Traum. Dein Schatten ſchwebt immer vor mir, wie
das Lichtzittern, wenn man in die Sonne geſehen. Ich
lechze nach einer ſeligen Empfindung, die wird mir bald,
bald, bei dir.
4.
... Ich werde gleich von hier nach Straßburg gehen,
ohne Darmſtadt zu berühren; ich hätte dort auf Schwierig-
keiten geſtoßen, und meine Reiſe wäre vielleicht bis zu Ende
der Vakanzen verſchoben worden. Ich ſchreibe dir jedoch vor-
her noch einmal, ſonſt ertrag' ich's nicht vor Ungeduld; dieſer
Brief iſt ohnedies ſo langweilig, wie ein Anmelden in einem
vornehmen Hauſe: Herr Studioſus Büchner. Das iſt Alles!
Wie ich hier zuſammenſchrumpfe, ich erliege faſt unter dieſem
Bewußtſein; ja ſonſt wäre es ziemlich gleichgiltig; wie
man nur einen Betäubten oder Blödſinnigen beklagen mag!
Aber du, was ſagſt du zu dem Invaliden? Ich wenigſtens
kann die Leute auf halbem Sold nicht ausſtehen. Nous
ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur
du siècle; et puis me faudra-t-il du fer à cheval pour faire
[376] de l'impression à un coeur de femme? Aujourd'hui on a le
système nerveux un peu robuste. Adieu.
5.
... Ich wäre untröſtlich, mein armes Kind, wüßte ich
nicht, was dich heilte. Ich ſchreibe jetzt täglich, ſchon geſtern
hatte ich einen Brief angefangen. Faſt hätte ich Luſt, ſtatt
nach Darmſtadt, gleich nach Straßburg zu gehen. Nimmt
dein Unwohlſein eine ernſte Wendung, — ich bin dann im
Augenblick da. Doch was ſollen dergleichen Gedanken? Sie
ſind mir Unbegreiflichkeiten. — Mein Geſicht iſt wie ein
Oſterei, über das die Freude rothe Flecken laufen läßt. Doch
ich ſchreibe abſcheulich, es greift deine Augen an, es vermehrt
das Fieber. Aber nein, ich glaube nichts, es ſind nur die
Nachwehen des alten nagenden Schmerzes die linde Früh-
lingsluft küßt alte Leute und hektiſche todt; dein Schmerz
iſt alt und abgezehrt, er ſtirbt, das iſt Alles, und du meinſt,
dein Leben ginge mit. Siehſt du denn nicht den neuen
lichten Tag? Hörſt du meine Tritte nicht, die ſich wieder
rückwärts zu dir wenden? Sieh, ich ſchicke dir Küſſe,
Schneeglöckchen, Schlüſſelblumen, Veilchen, der Erde erſte
ſchüchterne Blicke ins flammende Auge des Sonnenjünglings.
Den halben Tag ſitze ich eingeſchloſſen mit deinem Bild
und ſpreche mit dir. Geſtern Morgen verſprach ich dir
Blumen; da ſind ſie. Was gibſt du mir dafür? Wie
gefällt dir mein Bedlam? Will ich etwas Ernſtes thun,
ſo komme ich mir vor, wie Larifari in der Komödie: will
er das Schwerdt ziehen, ſo iſt's ein Haſenſchwanz. .....
Ich wollte, ich hätte geſchwiegen. Es überfällt mich
[377] eine unſägliche Angſt. Du ſchreibſt gleich, doch um Himmels-
willen nicht, wenn es dich Anſtrengung koſtet. Du ſprachſt
mir von einem Heilmittel; lieb Herz, ſchon lange ſchwebt es
mir auf der Zunge. Ich liebte aber ſo unſer ſtilles Ge-
heimniß, — doch ſage deinem Vater Alles, — doch zwei
Bedingungen: Schweigen, ſelbſt bei den nächſten Ver-
wandten. Ich mag nicht hinter jedem Kuſſe die Kochtöpfe
raſſeln hören und bei den verſchiedenen Tanten das Familien-
vatersgeſicht ziehen. Dann: nicht eher an meine Eltern zu
ſchreiben, als bis ich ſelbſt geſchrieben. Ich überlaſſe dir
Alles, thue, was dich beruhigen kann. Was kann ich ſagen,
als daß ich dich liebe; was verſprechen, als was in dem
Worte Liebe ſchon liegt, Treue? Aber die ſogenannte Ver-
ſorgung? Student noch zwei Jahre; die gewiſſe Ausſicht
auf ein ſtürmiſches Leben, vielleicht bald auf fremdem Boden!
Zum Schluſſe trete ich zu dir und ſinge dir einen alten
Wiegengeſang:
Und dann:
[378]
6.
.. In längſtens acht Tagen will ich "Leonce und Lena"
mit noch zwei anderen Dramen erſcheinen laſſen. ..
7.
"Mein lieb Kind! ..... Ich zähle die Wochen bis
zu Oſtern an den Fingern. Es wird immer öder. So im
Anfange ging's: neue Umgebungen, Menſchen, Verhältniſſe,
Beſchäftigungen — aber jetzt, da ich an Alles gewöhnt bin,
Alles mit Regelmäßigkeit vor ſich geht, man vergißt ſich
nicht mehr. Das Beſte iſt, meine Phantaſie iſt thätig, und
die mechaniſche Beſchäftigung des Präparirens läßt ihr
Raum. Ich ſehe dich immer ſo halb durch zwiſchen Fiſch-
ſchwänzen, Froſchzehen etc. Iſt das nicht rührender, als die
Geſchichte von Abälard, wie ſich ihm Heloiſe immer zwiſchen
die Lippen und das Gebet drängt? O, ich werde jeden
Tag poetiſcher, alle meine Gedanken ſchwimmen in Spiritus.
Gott ſei Dank, ich träume wieder viel Nachts, mein Schlaf
iſt nicht mehr ſo ſchwer.
[379]
8.
"Ich habe mich verkältet und im Bett gelegen. Aber
jetzt iſt's beſſer. Wenn man ſo ein wenig unwohl iſt, hat
man ein ſo groß Gelüſten nach Faulheit; aber das Mühlrad
dreht ſich als fort ohne Raſt und Ruh. ... Heute und
geſtern gönne ich mir jedoch ein wenig Ruhe und leſe nicht;
morgen geht's wieder im alten Trab, du glaubſt nicht, wie
regelmäßig und ordentlich. Ich gehe faſt ſo richtig, wie
eine Schwarzwälder Uhr. Doch iſt's gut: auf all das auf-
geregte, geiſtige Leben Ruhe, und dabei die Freude am
Schaffen meiner poetiſchen Produkte. Der arme Shakſpeare
war Schreiber den Tag über und mußte Nachts dichten, und
ich, der ich nicht werth bin, ihm die Schuhriemen zu löſen,
hab's weit beſſer. — ...... Lernſt Du bis Oſtern die
Volkslieder ſingen, wenn's Dich nicht angreift? Man
hört hier keine Stimme; das Volk ſingt nicht, und du
weißt, wie ich die Frauenzimmer lieb habe, die in einer
Soiree oder einem Concerte einige Töne todtſchreien oder
winſeln. Ich komme dem Volk und dem Mittelalter immer
näher, jeden Tag wird mir's heller — und gelt, du ſingſt
die Lieder? Ich bekomme halb das Heimweh, wenn ich mir
eine Melodie ſumme. ........ Jeden Abend ſitz' ich eine
oder zwei Stunden im Caſino; Du kennſt meine Vorliebe
für ſchöne Säle, Lichter und Menſchen um mich." ....
9.
"Mein lieb Kind, Du biſt voll zärtlicher Beſorgniß
und willſt krank werden vor Angſt; ich glaube gar, Du
[380] ſtirbſt — aber ich habe keine Luſt zum Sterben und bin
geſund wie je. Ich glaube, die Furcht vor der Pflege hier
hat mich geſund gemacht; in Straßburg wäre es ganz an-
genehm geweſen, und ich hätte mich mit dem größten Behagen
in's Bett gelegt, vierzehn Tage lang, rue St. Guillaume
Nro. 66, links eine Treppe hoch, in einem etwas überzwergen
Zimmer, mit grüner Tapete! Hätt' ich dort umſonſt ge-
klingelt? Es iſt mir heut einigermaßen innerlich wohl, ich
zehre noch von geſtern, die Sonne war groß und warm im
reinſten Himmel — und dazu hab' ich meine Laterne gelöſcht
und einen edlen Menſchen an die Bruſt gedrückt, nämlich
einen kleinen Wirth, der ausſieht, wie ein betrunkenes Kaninchen,
und mir in ſeinem prächtigen Hauſe vor der Stadt ein
großes elegantes Zimmer vermiethet hat. Edler Menſch!
Das Haus ſteht nicht weit vom See, vor meinen Fenſtern
die Waſſerfläche und von allen Seiten die Alpen, wie ſonnen-
glänzendes Gewölk. — Du kommſt bald? mit dem Jugend-
muth iſt's fort, ich bekomme ſonſt graue Haare, ich muß
mich bald wieder an Deiner inneren Glückſeligkeit ſtärken
und Deiner göttlichen Unbefangenheit und Deinem lieben
Leichtſinn und all Deinen böſen Eigenſchaften, böſes Mädchen.
Adio piccola mia!" —
[[381]]
III. An Karl Gutzkow.
1.
Vielleicht hat es Ihnen die Beobachtung, vielleicht,
im unglücklicheren Fall, die eigene Erfahrung ſchon geſagt,
daß es einen Grad von Elend gibt, welcher jede Rückſicht
vergeſſen und jedes Gefühl verſtummen macht. Es gibt zwar
Leute, welche behaupten, man ſolle ſich in einem ſolchen Falle
lieber zur Welt hinaushungern, aber ich könnte die Wider-
legung in einem ſeit Kurzem erblindeten Hauptmanne von
der Gaſſe aufgreifen, welcher erklärt, er würde ſich todt-
ſchießen, wenn er nicht gezwungen ſei, ſeiner Familie durch
ſein Leben ſeine Beſoldung zu erhalten. Das iſt entſetzlich.
Sie werden wohl einſehen, daß es ähnliche Verhältniſſe geben
kann, die Einen verhindern, ſeinen Leib zum Nothanker zu
machen, um ihn von dem Wracke dieſer Welt in das Waſſer
zu werfen, und werden ſich alſo nicht wundern, wie ich Ihre
Thüre aufreiße, in Ihr Zimmer trete, Ihnen ein Manuſcript
auf die Bruſt ſetze und ein Almoſen abfordere.* Ich bitte
[382] Sie nämlich, das Manuſcript ſo ſchnell wie möglich zu durch-
leſen, es, im Fall Ihnen Ihr Gewiſſen als Kritiker
dieß erlauben ſollte, dem Herrn Sauerländer zu em-
pfehlen und ſogleich zu antworten.
Ueber das Werk ſelbſt kann ich Ihnen nichts weiter
ſagen, als daß unglückliche Verhältniſſe mich zwangen, es in
höchſtens fünf Wochen zu ſchreiben. Ich ſage dieß, um Ihr
Urtheil über den Verfaſſer, nicht über das Drama an und
für ſich zu motiviren. Was ich daraus machen ſoll, weiß
ich ſelbſt nicht, nur das weiß ich, daß ich alle Urſache habe,
der Geſchichte gegenüber roth zu werden; doch tröſte ich mich
mit dem Gedanken, daß, Shakſpeare ausgenommen, alle
Dichter vor ihr und der Natur wie Schulknaben daſtehen.
Ich wiederhole meine Bitte um ſchnelle Antwort; im
Falle eines günſtigen Erfolges können einige Zeilen von Ihrer
Hand, wenn ſie noch vor nächſtem Mittwoch hier eintreffen,
einen Unglücklichen vor einer ſehr traurigen Lage bewahren.
Sollte Sie vielleicht der Ton dieſes Briefes be-
fremden, ſo bedenken Sie, daß es mir leichter fällt, in
Lumpen zu betteln, als im Frack eine Supplik zu überreichen,
und faſt leichter, die Piſtole in der Hand: la bourse ou la
vie! zu ſagen, als mit bebenden Lippen ein: Gott lohn' es!
zu flüſtern.
G.Büchner.
2.
Vielleicht haben Sie durch einen Steckbrief im "Frank-
furter Journal" meine Abreiſe von Darmſtadt erfahren.
Seit einigen Tagen bin ich hier; ob ich bleiben werde, weiß
[383] ich nicht, das hängt von verſchiedenen Umſtänden ab. Mein
Manuſcript wird unter der Hand ſeinen Kurs durchgemacht
haben.
Meine Zukunft iſt ſo problematiſch, daß ſie mich ſelbſt
zu intereſſiren anfängt, was viel heißen will. Zu dem
ſubtilen Selbſtmord durch Arbeit kann ich mich nicht leicht
entſchließen, ich hoffe, meine Faulheit wenigſtens ein Viertel-
jahr lang friſten zu können und dann ſterbe ich mit meiner
Geliebten. ....
3.
Die ganze Revolution hat ſich ſchon in Liberale und
Abſolutiſten getheilt und muß von der ungebildeten und armen
Klaſſe aufgefreſſen werden; das Verhältniß zwiſchen Armen
und Reichen iſt das einzige revolutionäre Element in der
Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöttin, und nur
ein Moſes, der uns die ſieben egyptiſchen Plagen auf den
Hals ſchickte, könnte ein Meſſias werden. Mäſten Sie die
Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein
Huhn im Topfe jedes Bauern macht den galliſchen Hahn
verenden.
4.
... Was Sie mir über die Zuſendung aus der Schweiz
ſagen, macht mich lachen. Ich ſehe ſchon, wo es herkommt.
Ein Menſch, der mir einmal, es iſt ſchon lange her, ſehr
lieb war, mir ſpäter zur unerträglichen Laſt geworden iſt,
den ich ſchon ſeit Jahren ſchleppe und der ſich, ich weiß
[384] nicht aus welcher verdammten Nothwendigkeit, ohne Zu-
neigung, ohne Liebe, ohne Zutrauen an mich anklammert
und quält und den ich wie ein nothwendiges Uebel getragen
habe! Es war mir wie einem Lahmen oder Krüppel zu
Muth, und ich hatte mich ſo ziemlich in mein Leiden gefunden.
Aber jetzt bin ich froh, es iſt mir, als wäre ich von einer
Todſünde abſolvirt. Ich kann ihn endlich mit guter Manier
vor die Thüre werfen. Ich war bisher unvernünftig gut-
müthig, es wäre mir leichter gefallen ihn todt zu ſchlagen,
als zu ſagen: Pack dich! Aber jetzt bin ich ihn los! Gott
ſei Dank! Nichts kommt Einem doch in der Welt theurer
zu ſtehen, als die Humanität.
[385]
5.
"War ich lange genug ſtumm? Was ſoll ich Ihnen
ſagen? Ich ſaß auch im Gefängniß und im langweiligſten
unter der Sonne, ich habe eine Abhandlung geſchrieben in
die Länge, Breite und Tiefe, Tag und Nacht über der eckel-
haften Geſchichte, ich begreife nicht, wo ich die Geduld her-
genommen. Ich habe nämlich die fixe Idee, im nächſten
Semeſter zu Zürich einen Curs über die Entwickelung der
deutſchen Philoſophie ſeit Carteſius zu leſen; dazu muß ich
mein Diplom haben, und die Leute ſcheinen gar nicht geneigt,
meinem lieben Sohne Danton den Doktorhut aufzuſetzen.
Was war da zu machen?
Sie ſind in Frankfurt und unangefochten!
Es iſt mir leid und doch wieder lieb, daß Sie noch
nicht im Rebſtöckel (Straßburger Gaſthaus) angeklopft haben.
Ueber den Stand der modernen Literatur in Deutſchland
weiß ich ſo gut als Nichts; nur einige verſprengte Broſchüren,
die, ich weiß nicht wie, über den Rhein gekommen, fielen
mir in die Hände.
Es zeigt ſich in dem Kampfe gegen Sie eine gründ-
liche Niederträchtigkeit, eine recht geſunde Niederträchtig-
keit, ich begreife gar nicht, wie wir noch ſo natürlich ſein
können! Und Menzel's Hohn über die politiſchen Narren
G. Büchner's Werke. 25
[386] in den deutſchen Feſtungen — und das von Leuten! mein
Gott, ich könnte Ihnen übrigens erbauliche Geſchichten er-
zählen.
Es hat mich im Tiefſten empört; meine armen
Freunde! Glauben Sie nicht, daß Menzel nächſtens eine
Profeſſur in München erhält?
Uebrigens, um aufrichtig zu ſein, Sie und Ihre
Freunde ſcheinen mir nicht grade den klügſten Weg gegangen
zu ſein. Die Geſellſchaft mittelſt der Idee, von der ge-
bildeten Klaſſe aus reformiren? Unmöglich! Unſere Zeit
iſt rein materiell; wären Sie je directer politiſch zu
Werke gegangen, ſo wären Sie bald auf den Punkt ge-
kommen, wo die Reform von ſelbſt aufgehört hätte. Sie
werden nie über den Riß zwiſchen der gebildeten und unge-
bildeten Geſellſchaft hinauskommen.
Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende
Minorität, ſo viel Conceſſionen ſie auch von der Gewalt
für ſich begehrt, wird nie ihr ſpitzes Verhältniß zur großen
Klaſſe aufgeben wollen. Und die große Klaſſe ſelbſt? Für
ſie gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und reli-
giöſer Fanatismus. Jede Partei, welche dieſe Hebel
anzuſetzen verſteht, wird ſiegen. Unſere Zeit braucht Eiſen
und Brod — und dann ein Kreuz oder ſonſt ſo was.
Ich glaube, man muß in ſocialen Dingen von einem ab-
ſoluten Rechtsgrundſatz ausgehen, die Bildung eines
neuen geiſtigen Lebens im Volke ſuchen, und die abgelebte
moderne Geſellſchaft zum Teufel gehen laſſen. Zu was
ſoll ein Ding, wie dieſe, zwiſchen Himmel und Erde her-
umlaufen? Das ganze Leben derſelben beſteht nur in
Verſuchen, ſich die geſetzlichſte Langeweile zu vertreiben.
[387] Sie mag ausſterben, das iſt das einzig Neue, was ſie noch
erleben kann.
Sie erhalten hierbei ein Bändchen Gedichte von
meinem Freunde Stöber. Die Sagen ſind ſchön, aber ich
bin kein Verehrer der Manier à la Schwab und Uhland
und der Partei, die immer rückwärts ins Mittelalter greift,
weil ſie in der Gegenwart keinen Platz ausfüllen kann.
Doch iſt mir das Büchlein lieb; ſollten Sie nichts Günſtiges
darüber zu ſagen wiſſen, ſo bitte ich Sie, lieber zu ſchweigen.
Ich habe mich ganz hier in das Land hineingelebt; die
Vogeſen ſind ein Gebirg, das ich liebe, wie eine Mutter,
ich kenne jede Bergſpitze und jedes Thal, und die alten
Sagen ſind ſo originell und heimlich, und die beiden
Stöber ſind alte Freunde, mit denen ich zum erſten Mal
das Gebirg durchſtrich. Adolph hat unſtreitig Talent, auch
wird Ihnen ſein Name durch den Muſenalmanach bekannt
ſein. Auguſt ſteht ihm nach, doch iſt er gewandt in der
Sprache.
Die Sache iſt nicht ohne Bedeutung für das Elſaß,
ſie iſt einer von den ſeltenen Verſuchen, die noch manche
Elſäſſer machen, um die deutſche Nationalität Frankreich
gegenüber zu wahren und wenigſtens das geiſtige Band
zwiſchen ihnen und dem Vaterlande nicht reißen zu laſſen.
Es wäre traurig, wenn das Münſter einmal ganz auf
fremdem Boden ſtände. Die Abſicht, welche zum Theil das
Büchlein erſtehen ließ, würde ſehr gefördert werden, wenn
das Unternehmen in Deutſchland Anerkennung fände, und
von der Seite empfehle ich es Ihnen beſonders.
Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philo-
ſophie; ich lerne die Armſeligkeit des menſchlichen Geiſtes
25 *
[388] wieder von einer neuen Seite kennen. Meinetwegen! Wenn
man ſich nur einbilden könnte, die Löcher in unſeren Hoſen
ſeien Palaſtfenſter, ſo könnte man ſchon wie ein König leben!
So aber friert man erbärmlich." —
[[389]]
Anmerkung des Herausgebers.
Es iſt mir leider, zu meinem lebhaften Bedauern und trotz
aller angewandten Mühe, nicht gelungen, hier auch bisher ungedruckte
Briefe Büchners mittheilen zu können. Die Briefe an die Familie
ſind in den fünfziger Jahren bei einem Brande im Familienhauſe
der Büchner in Darmſtadt zu Grunde gegangen, die Braut des
Dichters, Fräulein Minna Jaeglé, hat die Exiſtenz von zahlreichen
Briefen wohl zugeſtanden, die Herausgabe jedoch rundweg verweigert,
und was endlich die Freunde Büchners betrifft, ſo iſt mir ſowohl
auf direktes Erſuchen, als auch in Folge einer öffentlichen Bitte
nur überall die Antwort geworden, daß die Briefe theils nicht auf-
bewahrt worden, theils während der langen vierzig Jahre ſeit dem
Tode des Dichters in Verluſt gerathen.
So habe ich mich hier nothgedrungen auf den Wiederabdruck
der bereits veröffentlichten Briefe beſchränken müſſen. Die Briefe
"an die Familie" wurden zuerſt von Dr. Ludwig Büchner in den
"Nachgelaſſenen Schriften", und zwar theils zerſtreut in der Ein-
leitung, theils in einer Reihenfolge (N. S. S. 237-280) mitge-
theilt. Er hatte da, ſeiner Abſicht getreu, nur das zu geben, "was
zur Kenntniß der politiſchen Bewegung jener Zeit und des Antheils,
den Büchner daran hatte, wichtig erſchien," nur dürftige Auszüge
mitgetheilt — der Veröffentlichung in extenso ſtanden damals Rück-
ſichten entgegen, durch die er ſich gebunden fühlen mußte. Heute,
wo dies nicht mehr der Fall geweſen wäre, war leider kein Nach-
holen möglich; die Briefe ſind, wie oben erwähnt, verbrannt. Mir
blieb alſo nur die Aufgabe übrig, alles Erhaltene in chronologiſcher
[390] Folge zu ordnen. Wo ferner in den "N. S." die Namen von
Perſonen und Orten blos mit Punkten bezeichnet geweſen, habe ich
dieſelben, ſo weit ſie zu eruiren waren, voll ausgeſchrieben. Endlich
habe ich den erläuternden Anmerkungen Dr. Ludwig Büchner's (mit
"L. B." gezeichnet) noch einige hinzugefügt, welche mit "F." ge-
zeichnet ſind.
Die Briefe "an die Braut" wurden von dieſer 1838 eigen-
händig nach den Originalen copirt und an Karl Gutzkow geſendet,
um in der von dieſem vorbereiteten Geſammt-Ausgabe abgedruckt
zu werden. Doch wurden auch dieſe Auszüge erſt in den "N. S."
abgedruckt und erſcheinen hier unverändert herübergenommen.
Was endlich die Briefe "an Karl Gutzkow" betrifft, ſo ſind
ſie von demſelben zuerſt im Frankfurter "Telegraph" vom Juni 1837,
ſpäter, um zwei vermehrt, in ſeinen "Oeffentlichen Charakteren" mit-
getheilt worden. Zu dem unter Nr. 5 mitgetheilten (letzten)
Briefe macht Gutzkow die Bemerkung: "Dies Ganze iſt eine Zu-
ſammenſetzung zweier Briefe, der letzte Theil iſt älter, als der erſte".
Da mir jedoch die Originale nicht vorlagen, ſo war auch die an-
gedeutete Scheidung nicht äußerlich durchzuführen.
K. E. F.
[[391]]
V.
Anhang.
[[392]][[393]]
I. Jugendverſe.*
[394]
[395]
[396]
1828.
[397]
1835. — — — — — — — — — — — — — — — — — —
[[398]]
II. Cato Uticensis.*
Groß und erhaben iſt es, den Menſchen im Kampfe
mit der Natur zu ſehen, wenn er gewaltig ſich ſtemmt gegen
die Wuth der entfeſſelten Elemente und vertrauend der Kraft
ſeines Geiſtes, nach ſeinem Willen die rohen Kräfte der
Natur zügelt. Aber noch erhabner iſt es, den Menſchen zu
ſehen im Kampfe mit ſeinem Schickſale, wenn er es wagt
einzugreifen in den Gang der Weltgeſchichte, wenn er an die
Erreichung ſeines Zwecks ſein Höchſtes, ſein Alles ſetzt. Wer
nur einen Zweck und kein Ziel bei der Verfolgung des-
ſelben ſich vorgeſteckt, gibt den Wiederſtand nie auf, er ſiegt
oder — ſtirbt. Solche Männer waren es, welche, wenn die
ganze Welt feige ihren Nacken dem mächtig über ſie hin-
rollenden Zeitrade beugte, kühn in die Speichen deſſelben
griffen, und es entweder in ſeinem Umſchwunge mit ge-
waltiger Hand zurückſchnellten oder von ſeinem Gewichte
zermalmt einen rühmlichen Tod fanden, d. h. ſich mit dem
Reſte des Lebens Unſterblichkeit erkauften. Solche
Männer, die unter den Millionen, welche auch aus dem
Schooß der Erde ſteigen, ewig am Staube kleben und wie
[399] Staub vergehn und vergeſſen werden, ſich zu erheben, ſich
Unvergänglichkeit zu erkämpfen wagten, ſolche Männer ſind
es, die gleich Meteoren aus dem Dunkel des menſchlichen
Elends und Verderbens hervorſtrahlen. Sie durchkreuzen
wie Kometen die Bahn der Jahrhunderte; ſo wenig die
Sternkunde den Einfluß der einen, ebenſo wenig kann die
Politik den der andern berechnen. In ihrem excentriſchen
Laufe ſcheinen ſie nur Irrbahnen zu beſchreiben, bis die
großen Wirkungen dieſer Phänomene beweiſen, daß ihre Er-
ſcheinung lange vorher durch jene Vorſehung angeordnet war,
deren Geſetze eben ſo unerforſchlich, als unabänderlich ſind.
— Jedes Zeitalter kann uns Beiſpiele ſolcher Männer auf-
weiſen, doch alle waren von jeher der verſchiedenartigſten
Beurtheilung unterworfen. Die Urſache hiervon iſt, daß jede
Zeit ihren Maaßſtab an die Helden der Gegenwart oder
Vergangenheit legt, daß ſie nicht richtet nach dem eigentlichen
Werthe dieſer Männer. Für einen Rieſen aber paßt nicht
das Maaß eines Zwerges; eine kleine Zeit darf nicht einen
Mann nach ſich beurtheilen wollen, von dem ſie nicht einen
Gedanken faſſen und ertragen könnte. Wer will dem Adler
die Bahn vorſchreiben, wenn er die Schwingen entfaltet und
ſtürmiſchen Flugs ſich zu den Sternen erhebt? Wer will
die zerknickten Blumen zählen, wenn der Sturm über die
Erde brauſt und die Nebel zerreißt, die dumpfbrütend über
dem Leben liegen? Wer will nach den Meinungen und
Motiven eines Kindes wägen und verdammen, wenn Un-
geheures geſchieht, wo es ſich um Ungeheures handelt? Die
Lehre davon iſt: man darf die Ereigniſſe und ihre Wirkungen
nicht beurtheilen, wie ſie äußerlich ſich darſtellen, ſondern
[400] man muß ihren inneren tiefen Sinn zu ergründen
ſuchen, und dann wird man das Wahre finden. —
Ich glaubte erſt dieſes vorausſchicken zu müſſen, um bei
der Behandlung eines ſo ſchwierigen Themas zu zeigen, von
welchem Standpunkte man bei der Beurtheilung eines Mannes,
bei der Beurtheilung eines alten Römers ausgehen müſſe,
um zu beweiſen, daß man an einen Cato nicht den Maaß-
ſtab unſrer Zeit anlegen, daß man ſeine That nicht nach
neueren Grundſätzen und Anſichten beurtheilen könne.
Man hört ſo oft behaupten: ſubjectiv iſt Cato zu
rechtfertigen, objectiv zu verdammen, d. h. von unſerm,
vom chriſtlichen Standpunkte aus iſt Cato ein Ver-
brecher, von ſeinem eigenen aus ein Held. Wie
man aber dieſen chriſtlichen Standpunkt hier anwenden könne,
iſt mir ein Räthſel geblieben. Es iſt ja doch ein ganz
eigner Gedanke, einen alten Römer nach dem Katechismus
kritiſiren zu wollen! Denn da man die Handlungen eines
Mannes nur dann zu beurtheilen vermag, wenn man ſie mit
ſeinem Charakter, ſeinen Grundſätzen und ſeiner Zeit zu-
ſammenſtellt, ſo iſt nur ein Standpunkt, und zwar der
ſubjektive, zu billigen und jeder andre, zumal in dieſem
Falle der chriſtliche, gänzlich zu verwerfen. So wenig als
Cato Chriſt war, ſo wenig kann man die chriſtlichen
Grundſätze auf ihn anwenden wollen; er iſt nur als Römer
und Stoiker zu betrachten. Dieſem Grundſatze gemäß
werde ich alle Einwürfe, wie z. B. "es iſt nicht erlaubt ſich
das Leben zu nehmen, das man ſich nicht ſelbſt gegeben,"
oder "der Selbſtmord iſt ein Eingriff in die Rechte Gottes"
ganz und gar nicht berückſichtigen und nur die zu wieder-
legen ſuchen, welche man Cato vom Standpunkte des
[401]Römers aus machen könnte, wobei es nothwendig iſt, vorerſt
eine kurze, aber getreue Schilderung ſeines Charakters und
ſeiner Grundſätze zu entwerfen. —
Cato war einer der untadelhafteſten Männer, die die
Geſchichte uns zeigt. Er war ſtreng, aber nicht grauſam;
er war bereit, Andern viel größere Fehler zu verzeihen, als
ſich ſelbſt. Sein Stolz und ſeine Härte waren mehr die
Wirkung ſeiner Grundſätze, als ſeines Temperaments. Voll
unerſchütterlicher Tugend, wollte er lieber tugendhaft ſein
als ſcheinen. Gerecht gegen Fremde, begeiſtert für ſein
Vaterland, nur das Wohl ſeiner Mitbürger, nicht ihre Gunſt
beachtend, erwarb er ſich um ſo größeren Ruhm, je weniger
er ihn begehrte. Seine große Seele faßte ganz die großen
Gedanken: Vaterland, Ehre und Freiheit. Sein
verzweifelter Kampf gegen Cäſar war die Folge ſeiner
reinſten Ueberzeugung, ſein Leben und ſein Tod den Grund-
ſätzen der Stoiker gemäß, die da behaupten: "Die Tugend
ſei die wahre, von Lohn und Strafe ganz unabhängige
Harmonie des Menſchen mit ſich ſelbſt, die durch die Herr-
ſchaft über die Leidenſchaften erlangt werde; dieſe Tugend
ſetze die höchſte innere Ruhe und Erhabenheit über die
Affektionen ſinnlicher Luſt und Unluſt voraus; ſie mache
den Weiſen nicht gefühllos, aber unverwundbar und gebe
ihm eine Herrſchaft über ſein Leben, die auch den Selbſt-
mord erlaube".
Solche Gefühle und Grundſätze in der Bruſt, ſtand
Cato da, wie ein Gigant unter Pygmäen, wie der Heros
einer untergegangenen Heldenzeit, wie ein Rieſenbau, erhaben
über ſeine Zeit, erhaben ſelbſt über menſchliche Größe. Nur
ein Mann ſtand ihm gegenüber. Es war Julius Cäſar.
G. Büchner's Werke. 26
[402] Beide waren gleich an Geiſteskräften, gleich an Macht und
Anſehn, aber beide ganz verſchiedenen Carakters. Cato der
letzte Römer, Cäſar nichts mehr als ein glücklicher Cati-
lina; Cato groß durch ſich ſelbſt, Cäſar groß durch ſein
Glück. Für zwei ſolcher Männer war der Erdkreis zu eng.
Einer mußte fallen, und Cato fiel, nicht als ein Opfer der
Ueberlegenheit Cäſars, ſondern ſeiner verdorbenen Zeit.
Anderthalbe hundert Jahre zuvor hätte kein Cäſar geſiegt.
Nach Cäſars Sieg hatte Cato die Hoffnung ſeines Lebens
verloren; nur von wenigen Freunden begleitet begab er ſich
nach Utika, wo er noch die letzten Anſtrengungen machte,
die Bürger für die Sache der Freiheit zu gewinnen. Doch
als er ſah, daß in ihnen nur Sklavenſeelen wohnten, als
Rom von ſeinem Herzen ſich losriß, als er nirgends mehr
ein Aſyl fand für die Göttin ſeines Lebens, da hielt er es
für das Einzigwürdige, durch einen beſonnenen Tod ſeine
freie Seele zu retten. Voll der zärtlichſten Liebe ſorgte er
für ſeine Freunde, kalt und ruhig überlegte er ſeinen Ent-
ſchluß, und als alle Bande zerriſſen, die ihn an das Leben
feſſelten, gab er ſich mit ſicherer Hand den Todesſtoß und
ſtarb, durch ſeinen Tod einen würdigen Schlußſtein auf den
Rieſenbau ſeines Lebens ſetzend. Solch' ein Ende konnte
allein einer ſo großen Tugend in einer ſo heilloſen Zeit
geziemen!
So verſchieden nun die Beurtheilungen dieſer Handlung
ſind, ebenſo verſchieden ſind auch die Motive, die man ihr
zum Grunde legt. Doch ich denke, ich habe nicht nöthig,
hier diejenigen zurückzuweiſen, welche von Eitelkeit, Ruhm-
ſucht, Halsſtarrigkeit und dergleichen kleinlichen Gründen
mehr reden (ſolche Gefühle hatten keinen Raum in der Bruſt
[403] eines Cato!) oder gar diejenigen, welche mit dem Gemein-
platz der Feigheit angezogen kommen. Ihre Widerlegung
liegt ſchon in der bloßen Schilderung ſeines Charakters, der
nach dem einſtimmigen Zeugniß aller alten Schriftſteller ſo
groß war, daß ſelbſt Vellejus Paterculus von ihm
ſagt: homo virtuti simillimus et per omnia in-
genio diis, quam hominibus, propior.
Andere, die der Wahrheit ſchon etwas näher kamen
und auch die meiſten Anhänger fanden, behaupteten, der
Beweggrund zum Selbſtmord ſei ein unbeugſamer Stolz
geweſen, der nur vom Tode ſich habe wollen beſiegen laſſen.
Wahrlich, wäre dies das wahre Motiv, ſo liegt ſchon etwas
Großes und Erhabenes in dem Gedanken, mit dem Tode
die Gerechtigkeit der Sache, für die man ſtreitet, beſiegeln
zu wollen. Es gehört ein großer Charakter dazu, ſich zu
einem ſolchen Entſchluß erheben zu können. Aber auch nicht
einmal dieſer Beweggrund war es — es war ein höherer.
Catos große Seele war ganz erfüllt von einem unend-
lichen Gefühle für Vaterland und Freiheit, das ſein
ganzes Leben durchglühte. Dieſe beiden Dinge waren die
Centralſonne, um die ſich alle ſeine Gedanken und Hand-
lungen drehten. Den Fall ſeines Vaterlandes hätte Cato
überleben können, wenn er ein Aſyl für die andere Göttin
ſeines Lebens, für die Freiheit, gefunden hätte. Er
fand es nicht. Die Welt lag in Roms Banden, alle
Völker waren Sklaven, frei allein der Römer. Doch als
auch dieſer endlich ſeinem Geſchicke erlag, als das Heiligthum
der Geſetze zerriſſen, als der Altar der Freiheit zerſtört war,
da war Cato der einzige unter Millionen, der einzige
unter den Bewohnern einer Welt, der ſich das Schwert in
26 *
[404] die Bruſt ſtieß, um unter Sklaven nicht leben zu müſſen;
denn Sklaven waren die Römer, ſie mochten in goldnen
oder ehernen Feſſeln liegen — ſie waren gefeſſelt. Der
Römer kannte nur eine Freiheit, ſie war das Geſetz, dem
er ſich aus freier Ueberzeugung als nothwendig fügte;
dieſe Freiheit hatte Cäſar zerſtört, Cato war Sklave,
wenn er ſich dem Geſetz der Willkür beugte. Und war
auch Rom der Freiheit nicht werth, ſo war doch
die Freiheit ſelbſt werth, daß Cato für ſie lebte
und ſtarb. Nimmt man dieſen Beweggrund an, ſo iſt
Cato gerechtfertigt, ich ſehe nicht ein, warum man ſich ſo
ſehr bemüht, einen niedrigern hervorzuheben; ich kann nicht
begreifen, warum man einem Manne, deſſen Leben und
Charakter makellos ſind, das Ende ſeines Lebens ſchänden
will. Der Beweggrund, den ich ſeiner Handlung zu Grunde
lege, ſtimmt mit ſeinem ganzen Charakter überein, iſt ſeines
ganzen Lebens würdig, und alſo der wahre. —
Dieſe That läßt ſich jedoch noch von einem anderen
Standpunkte aus beurtheilen, nämlich von dem der Klug-
heit und der Pflicht. Man kann nämlich ſagen: handelte
Cato auch klug? hätte er nicht verſuchen können, die Frei-
heit, deren Verluſt ihn tödtete, ſeinem Volke wieder zu er-
kämpfen? Und hätte er, wenn auch dieſes nicht der Fall
geweſen wäre, ſich nicht dennoch ſeinen Mitbürgern, ſeinen
Freunden, ſeiner Familie erhalten müſſen?
Der erſte Einwurf läßt ſich widerlegen durch die Ge-
ſchichte. Cato mußte wiſſen und wußte es, daß Rom
ſich nicht mehr erheben könne, daß es einen Tyrannen nöthig
habe, und daß für einen despotiſch beherrſchten Staat nur
Rettung in dem Untergang ſei. Wäre es ihm auch
[405] gelungen, ſelbſt Cäſar zu beſiegen, Rom blieb dennoch
Sklavin; aus dem Rumpfe der Hyder wären nur neue
Rachen hervorgewachſen. Die Geſchichte beſtätigt dieſe Be-
hauptung. Die That eines Brutus war nur ein leeres
Schattenbild einer untergegangenen Zeit. Was hätte es alſo
Cato genützt, wenn er noch länger die Flamme des Bürger-
krieges entzündet, wenn er auch Roms Schickſal noch um
einige Jahre aufgehalten hätte? Er ſah, Rom und mit
ihm die Freiheit waren nicht mehr zu retten. —
Noch leichter läßt ſich der andere Einwurf, als hätte
Cato ſich ſeinem, wenn auch unterjochten Vaterlande, den-
noch erhalten müſſen, beſeitigen. Es gibt Menſchen, die
ihrem größeren Charakter gemäß mehr zu allgemeinen großen
Dienſten für das Vaterland, als zu beſondern Hülfsleiſtungen
gegen einzelne Nothleidende verpflichtet ſind. Ein ſolcher
war Cato. Sein großer Wirkungskreis war ihm ge-
nommen, ſeinen Grundſätzen gemäß konnte er nicht mehr
handeln. Cato war zu groß, als daß er die freie Stirne
dem Sklavenjoche des Uſurpators hätte beugen, als daß er,
um ſeinen Mitbürgern eine Gnade zu erbetteln, vor einem
Cäſar hätte kriechen können. Kleineren Seelen überließ er
dies; doch wie wenig durch Nachgeben und Fügſamkeit er-
reicht wurde, kann Ciceros Beiſpiel lehren. Cato ſchlug
einen andern Weg ein, noch den letzten großen Dienſt ſeinem
Vaterlande zu erweiſen; ſein Selbſtmord war eine Auf-
opferung für daſſelbe! Wäre Cato leben geblieben, hätte
er ſich mit Verleugnung aller ſeiner Grundſätze dem Uſur-
pator unterworfen, ſo hätte dieſes Leben die Billigung
Cäſars enthalten; hätte er dies nicht gewollt, ſo hätte er
in offenem Kampf auftreten und unnützes Blut vergießen
[406] müſſen. Hier gab es nur einen Ausweg, er war der
Selbſtmord. Er war die Apologie des Cato, war die
furchtbarſte Anklage des Cäſar. Cato hätte nichts Größeres
für ſein Vaterland thun können, denn dieſe That, dieſes
Beiſpiel hätte alle Lebensgeiſter der entſchlafenen Roma
wecken müſſen. Daß ſie ihren Zweck verfehlte, daran iſt nur
Rom, nicht Cato ſchuld.
Daſſelbe läßt ſich auch auf den Einwurf erwidern,
Cato hätte ſich ſeiner Familie erhalten müſſen. Kato war
der Mann nicht, der ſich im engen Kreiſe des Familienlebens
hätte bewegen können. Auch ſehe ich nicht ein, warum er es
hätte thun ſollen; ſeinen Freunden nützte ſein Tod mehr,
als ſein Leben; ſeine Porcia hatte einen Brutus ge-
funden, ſein Sohn war erzogen; der Schluß dieſer Erziehung
war der Selbſtmord des Vaters, er war die letzte große
Ehre für den Sohn. Daß derſelbe ſie verſtand, lehrte die
Schlacht bei Philippi.
Das Reſultat dieſer Unterſuchung liegt in Ludens
Worten: "Wer fragen kann, ob Cato durch ſeine
Tugend nicht Rom mehr geſchadet habe, als ge-
nützt, der hat weder Roms Art erkannt, noch
Catos Seele, noch den Sinn des menſchlichen
Lebens."
Nimmt man nun alle dieſe angeführten Gründe und
Umſtände zuſammen, ſo wird man leicht einſehen, daß Cato
ſeinem Charakter und ſeinen Grundſätzen gemäß ſo handeln
konnte und mußte und daß jede andere Handlungsart
ſeinem ganzen Leben wiederſprochen haben würde. —
Obgleich hierdurch nun Cato nicht allein entſchuldigt,
ſondern auch gerechtfertigt wird, ſo hat man doch noch einen
[407] andern, keineswegs leicht zu beſeitigenden Einwurf gemacht;
es heißt nämlich: "Eine Handlung läßt ſich nicht dadurch
rechtfertigen, daß ſie dem beſondern Charakter eines Menſchen
gemäß geweſen iſt. Wenn der Charakter ſelbſt fehlerhaft
war, ſo iſt es die Handlung auch. Dieß iſt bei Cato
der Fall. Er hatte nur eine ſehr einſeitige Entwicklung
ſeiner Natur erfahren. Die Urſache, warum mit ſeinem
Charakter die Handlung des Selbſtmordes übereinſtimmte,
lag nicht in ſeiner Vollkommenheit, ſondern in ſeinen Fehlern.
Es war nicht ſeine Stärke und ſein Muth, ſondern ſein
Unvermögen, ſich in einer ungewohnten Lebensweiſe
ſchicklich zu bewegen, welches ihm das Schwert in die Hand
gab." —
So wahr auch dieſe Behauptung klingt, ſo hört ſie bei
näherer Betrachtung doch ganz auf, einen Flecken auf Catos
Handlungen zu werfen. Dieſem Einwurf gemäß wird ge-
fordert, daß Cato ſich nicht allein in die Rolle des Re-
publikaners, ſondern auch in die des Dieners hätte
fügen ſollen. Daß er dies nicht konnte und wollte,
ſchreibt man der Unvollkommenheit ſeines Charakters zu;
daß aber dieſes Schicken in alle Umſtände eine Vollkommen-
heit ſei, kann ich nicht einſehen, denn ich glaube, daß das
große Erbtheil des Mannes ſei, nur eine Rolle ſpielen,
nur in einer Geſtalt ſich zeigen, nur in das, was er als
wahr und recht erkannt hat, ſich fügen zu können. Ich be-
haupte alſo im Gegentheil, daß grade dieſes Unvermögen,
ſich in eine ſeinen heiligſten Rechten, ſeinen heiligſten
Grundſätzen widerſprechende Lage zu finden, von der Größe,
nicht von der Einſeitigkeit und Unvollkommenheit
des Cato zeugt.
[408]
Wie groß aber ſeine Beharrlichkeit bei dem war, was
er als wahr und recht erkannt hatte, kann uns ſein Tod
ſelbſt lehren. Wenig Menſchen werden ja gefunden worden
ſein, die den Entſchluß zu ſterben mit ſoviel Ruhe haben
faſſen, mit ſoviel Beharrlichkeit haben ausführen können.
Sagt auch Herder verächtlich: "Jener Römer, der im Zorne
ſich die Wunden aufriß!" ſo iſt doch dies ewig und ſicher
wahr, daß grade der Umſtand, daß Cato leben blieb und
doch die Waffe nicht zurückzog, daß grade der Umſtand die
That nur noch großartiger macht.
So handelte, ſo lebte, ſo ſtarb Cato. Er ſelbſt der
Repräſentant Römiſcher Größe, der letzte eines untergeſunkenen
Heldenſtammes, der größte ſeiner Zeit! Sein Tod der Schluß-
ſtein für den erſten Gedanken ſeines Lebens, ſeine That ein
Denkmal im Herzen aller Edlen, das über Tod und Ver-
weſung triumphirt, das unbewegt ſteht im fluthenden Strome
der Ewigkeit! Rom, die Rieſin, ſtürzte, Jahrhunderte
gingen an ſeinem Grabe vorüber, die Weltgeſchichte ſchüttelte
über ihm ihre Looſe, und noch ſteht Cato's Namen neben
der Tugend und wird neben ihr ſtehen, ſo lange das große
Urgefühl für Vaterland und Freiheit in der Bruſt des
Menſchen glüht! —
[[409]]
III. Büchner als Agitator.*F.
... Man läßt den Angeklagten, Auguſt Becker,
vortreten und macht ihm zur Aufgabe, ſich darüber zu er-
klären: von wem die erſte Idee zu Flugſchriften ausgegangen
ſei, worin deren Zweck, Tendenz beſtanden, und zu welcher
Zeit die Abfaſſung ſolcher Schriften erfolgt ſei. Derſelbe
erklärt hierauf dictirend folgendes:
"... Den "Landboten" betreffend, ſei es mir erlaubt,
den Verfaſſer deſſelben, Georg Büchner, in ſeinen eigenen
Worten, deren ich mich noch ziemlich genau erinnere, hier
für mich reden zu laſſen; dies kann zugleich dazu dienen,
wenigſtens eine Seite von Büchner's Charakter kennen zu
lernen. — Die Verſuche, welche man bis jetzt gemacht hat,
um die Verhältniſſe Deutſchlands umzuſtoßen, ſagte er, be-
ruhen auf einer durchaus knabenhaften Berechnung, indem
man, wenn es wirklich zu einem Kampf, auf den man ſich
doch gefaßt machen mußte, gekommen wäre, den deutſchen
Regierungen und ihren zahlreichen Armeen nichts hätte ent-
[410] gegenſtellen können, als eine handvoll undiſciplinirter Liberaler.
Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art aus-
geführt werden, ſo kann und darf das bloß durch die große
Maſſe des Volkes geſchehen, durch deren Ueberzahl und Ge-
wicht die Soldaten gleichſam erdrückt werden müſſen. Es
handelt ſich alſo darum, dieſe große Maſſe zu gewinnen, was
vor der Hand nur durch Flugſchriften geſchehen kann.
Die früheren Flugſchriften, welche zu dieſem Zweck etwa
erſchienen ſind, entſprachen demſelben nicht; es war darin
die Rede vom Wiener Congreß, Preßfreiheit, Bundestags-
ordonnanzen u. dgl., lauter Dinge, um welche ſich die Bauern
(denn an dieſe, meinte Büchner, müſſe man ſich vorzüglich
wenden) nicht kümmern, ſo lange ſie noch mit ihrer materiellen
Noth beſchäftigt ſind; denn dieſe Leute haben aus ſehr nahe
liegenden Urſachen durchaus keinen Sinn für die Ehre und
Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff von den Rechten des
Menſchen u. ſ. w., ſie ſind gegen all' das gleichgültig und
in dieſer Gleichgültigkeit allein beruht ihre angebliche Treue
gegen die Fürſten und ihre Theilnahmloſigkeit an dem libe-
ralen Treiben der Zeit. Gleichwohl ſcheinen ſie unzufrieden
zu ſein, und ſie haben Urſache dazu, weil man den dürftigen
Gewinn, welchen ſie aus ihrer ſaueren Arbeit ziehen, und
der ihnen zur Verbeſſerung ihrer Lage ſo nothwendig wäre,
als Steuer von ihnen in Anſpruch nimmt. So iſt es ge-
kommen, daß man bei aller parteiiſchen Vorliebe für ſie doch
ſagen muß, daß ſie eine ziemlich niederträchtige Geſinnung
angenommen haben; und daß ſie, es iſt traurig genug, faſt
an keiner Seite mehr zugänglich ſind, als gerade am Geld-
ſack. Dies muß man benutzen, wenn man ſie aus ihrer
Erniedrigung hervorziehen will; man muß ihnen zeigen und
[411] vorrechnen, daß ſie einem Staate angehören, deſſen Laſten
ſie größtentheils tragen müſſen, während andere den Vortheil
davon beziehen; — daß man von ihrem Grundeigenthum,
das ihnen ohnedem ſo ſauer wird, noch den größten Theil
der Steuern erhebt, während die Capitaliſten leer aus-
gehen; daß die Geſetze, welche über ihr Leben und Eigenthum
verfügen, in den Händen des Adels, der Reichen und der
Staatsdiener ſich befinden u. ſ. w. Dieſes Mittel, die Maſſe
des Volkes zu gewinnen, muß man, fuhr Büchner fort, be-
nutzen, ſo lange es noch Zeit iſt. Sollte es den Fürſten
einfallen, den materiellen Zuſtand des Volkes zu verbeſſern,
ſollten ſie ihren Hofſtaat, der ihnen faſt ohnedem unbequem
ſein muß, ſollten ſie die koſtſpieligen, ſtehenden Heere, die
ihnen unter Umſtänden entbehrlich ſein können, vermindern,
ſollten ſie den künſtlichen Organismus der Staatsmaſchine,
deren Unterhaltung ſo große Summen koſtet, auf einfachere
Principien zurückführen, dann iſt die Sache der Revolution,
wenn ſich der Himmel nicht erbarmt, in Deutſchland auf
immer verloren. Seht die Oeſterreicher, ſie ſind wohlgenährt
und zufrieden! Fürſt Metternich, der geſchickteſte unter allen,
hat allen revolutionären Geiſt, der jemals unter ihnen auf-
kommen könnte, für immer in ihrem eigenen Fett erſtickt.
So ſind die eigenen Worte des Büchner geweſen.
Die Tendenz der Flugſchrift läßt ſich hiernach vielleicht
dahin ausſprechen: ſie hatte den Zweck, die materiellen In-
tereſſen des Volkes mit denen der Revolution zu vereinigen,
als dem einzigen möglichen Weg, die letztere zu bewerk-
ſtelligen. — Solche Mittel, die Revolution herbeizuführen,
hielt Büchner für ebenſo erlaubt und ehrbar, als alle
anderen. Wenigſtens ſagte er oft, der materielle Druck,
[412] unter welchem ein großer Theil Deutſchlands liege, ſei eben
ſo traurig und ſchimpflich, als der geiſtige; und es ſei in
ſeinen Augen bei weitem nicht ſo betrübt, daß dieſer oder
jener Liberale ſeine Gedanken nicht drucken laſſen dürfe, als
daß viele tauſend Familien nicht im Stande wären, ihre
Kartoffeln zu ſchmelzen u. ſ. w.
Ob ich mich hier gleich meiſtens der Worte Büchner's
bedient habe, ſo dürfte es doch ſchwer ſein, ſich einen Begriff
von der Lebhaftigkeit, mit welcher er ſeine Meinungen vor-
trug, zu machen. —
Man braucht nur vier Jahre (und halb ſo viel im
Gefängniß) älter zu ſein, als ich damals war, da Büchner
ſolche Reden führte, um die Sophiſterei, die ſie enthalten,
einzuſehen; damals war ich faſt blind dagegen, ſowie Andere,
z. B. Clemm, Louis Becker, Schütz, denen allen Büchner
imponirte, ohne daß ſie es vielleicht ſelber geſtehen mochten,
ſowohl durch die Neuheit ſeiner Ideen, als durch den Scharf-
ſinn, mit welchem er ſie vortrug. Wären ſolche Meinungen
das Rühmlichſte von Büchner geweſen, dann würde der Ab-
ſcheu, den ſie vielleicht in den Augen des Gerichtes erregen,
mit Recht auf diejenigen, welche genaueren Umgang mit ihm
gepflogen, zurückfallen; allein er hatte bei all' dem das edelſte
Herz und war für diejenigen, die ihn genau kannten, der
liebenswürdigſte Menſch.
Um noch einmal auf die Flugſchrift Büchner's zurück-
zukommen, ſo kann ich nicht angeben, ob ſie den beabſichtigten
Zweck erreicht habe; ſoviel weiß ich, daß, wie mir Weidig
geſagt hat, Profeſſor Jordan ſich mißbilligend über dieſelbe
ausgeſprochen; auch Dr. Hundeshagen ſoll ſie, wie ich von
Weyprecht erfahren, heftig getadelt haben.
[413]
In dem oben angegebenen Sinn ſchrieb Büchner die
Flugſchrift, welche von Weidig Landbote genannt worden iſt.
Noch muß ich erwähnen, daß Büchner während meiner Ab-
weſenheit einmal bei Weidig geweſen ſein muß, um bei dem-
ſelben eine Statiſtik vom Großherzogthum, die er bei ſeiner
Arbeit benutzt hat, zu entlehnen; ich weiß wenigſtens nicht,
wie er ſonſt dazu gekommen ſein ſoll, denn dieſe Statiſtik
habe ich Weidig ſpäter überſchickt. Auch wußte Weidig ſchon
vorher von der Abſicht Büchner's, etwas zu ſchreiben. Dieſe
Schrift wurde durch Clemm und mich an Weidig überbracht.
Er machte zum Theil dieſelben Einwendungen, die er mir
gegen dieſelbe gemacht hatte und ſagte, daß bei ſolchen Grund-
ſätzen kein ehrlicher Mann mehr bei uns aushalten werde.
(Er meinte damit die Liberalen.) Ich erinnere mich dieſer
Einzelnheiten noch ſehr genau; überhaupt war Weidig in
Allem der Gegenſatz zu Büchner; er (Weidig) hatte den
Grundſatz, daß man auch den kleinſten revolutionären Funken
ſammeln müſſe, wenn es dereinſt brennen ſolle; er war unter
den Republikanern republikaniſch und unter den Conſtitutio-
nellen conſtitutionell. — Büchner war ſehr unzufrieden über
dieſe Bemerkung Weidig's und ſagte, es ſei keine Kunſt ein
ehrlicher Mann zu ſein, wenn man täglich Suppe, Gemüſe
und Fleiſch zu eſſen habe. Indeſſen konnte Weidig der
Flugſchrift einen gewiſſen Grad von Beifall nicht verſagen
und meinte, ſie müſſe vortreffliche Dienſte thun, wenn ſie
verändert werde. Dies zu thun behielt er ſie zurück und
gab ihr die Geſtalt, in welcher ſie ſpäter im Druck erſchienen
iſt. Sie unterſcheidet ſich vom Originale namentlich dadurch,
daß an die Stelle der Reichen die Vornehmen geſetzt ſind,
und daß das, was gegen die ſogenannte liberale Partei ge-
[414] ſagt war, weggelaſſen und mit Anderem, was ſich blos auf
die Wirkſamkeit der conſtitutionellen Verfaſſung bezieht, er-
ſetzt worden iſt, wodurch denn der Charakter der Schrift
noch gehäſſiger geworden iſt. Das urſprüngliche Manuſcript
hätte man allenfalls als eine ſchwärmeriſche, mit Beiſpielen
belegte Predigt gegen den Mammon, wo er ſich auch finde,
betrachten können, nicht ſo das Letzte. Die bibliſchen Stellen,
ſowie überhaupt der Schluß ſind von Weidig. Als Clemm
und ich dieſe Schrift zu Weidig brachten, befand ſich deſſen
Frau krank zu Friedberg. Es mag Anfangs Juni 1834
geweſen ſein, als Schütz und Büchner nach Offenbach reiſten,
um die erwähnte Schrift in Druck zu geben. Ungefähr einen
Monat ſpäter gingen Schütz und Minnigerode an denſelben
Ort, um ſie abzuholen. Wer ſie gedruckt und wo dieſe
Leute bei dieſer Gelegenheit logirt, kann ich nicht angeben.
Karl Zeuner hat damals einen Pack von der Flugſchrift nach
Butzbach gebracht. Ich war gerade in ſeinem Haus, als er
zurückkehrte, und ich brachte ſie in der Taſche in die Wohnung
des Weidig. —
Vorgelegt wird die Flugſchrift, betitelt: "Der heſſiſche
Landbote. Erſte Botſchaft. — Mit Vorbericht." — Becker
erklärt darüber:
"Das Manuſcript dieſer Flugſchrift habe ich bei Büchner
in's Reine geſchrieben, weil ſeine eigene Hand durchaus un-
leſerlich war. Es iſt nachher in die Hände Weidig's ge-
kommen, wie eben geſagt, aus welchen, ſoviel ich weiß, es
Schütz und Büchner empfangen haben, um es in die Druckerei
nach Offenbach zu tragen. Ich habe indeſſen nur das ur-
ſprüngliche Manuſcript, wie es Büchner geliefert hat, abge-
[415] ſchrieben. Ich kann auch hier noch anführen, daß der Vor-
bericht ebenfalls von Weidig verfaßt worden iſt. Büchner
war über die Veränderung, welche Weidig mit der Schrift
vorgenommen hatte, außerordentlich aufgebracht, er wollte ſie
nicht mehr als die ſeinige anerkennen und ſagte, daß er ihm
gerade das, worauf er das meiſte Gewicht gelegt habe, und
wodurch alles andere gleichſam legitimirt werde, durch-
geſtrichen habe."
Frage. "Der Landbote war ſeinem Inhalte nach
hauptſächlich für's Großherzogthum Heſſen beſtimmt. Dem-
ungeachtet war, wie Sie ſich auch ſelbſt ſchon ausgeſprochen
haben, der Zweck der Ausbreitung von Flugſchriften um-
faſſender. Durch Aufreizung des Volkes in unſerem Lande
konnte für die gewünſchte allgemeine, deutſche Freiheit wenig
genützt werden; es mußten daher offenbar weitere Mittel in
Ausſicht genommen worden ſein, um jenen Hauptzweck zu
erreichen, und worin haben dieſelben wohl beſtanden?" —
Antwort des Auguſt Becker. Büchner, der bei
ſeinem mehrjährigen Aufenhalte in Frankreich das deutſche
Volk wenig kannte, wollte, wie er mir oft geſagt hat, ſich
durch dieſe Flugſchrift überzeugen, in wie weit das deutſche
Volk geneigt ſei, an einer Revolution Antheil zu nehmen.
Er ſah indeſſen ein, daß das gemeine Volk eine Auseinander-
ſetzung ſeiner Verhältniſſe zum deutſchen Bund nicht verſtehen
und einem Aufruf, ſſeine angeborenen Rechte zu erkämpfen,
kein Gehör geben werde; im Gegentheil glaubte er, daß es
nur dann bewogen werden könne, ſeine gegenwärtige Lage
zu verändern, wenn man ihm ſeine naheliegenden Intereſſen
vor Augen lege. Dies hat Büchner in der Flugſchrift ge-
[416] than. Er hatte dabei durchaus keinen ausſchließlichen Haß
gegen die Großherzoglich Heſſiſche Regierung; er meinte im
Gegentheil, daß ſie eine der beſten ſei. Er haßte weder die
Fürſten, noch die Staatsdiener, ſondern nur das monarchiſche
Princip, welches er für die Urſache alles Elends hielt. —
Mit der von ihm geſchriebenen Flugſchrift wollte er vor der
Hand nur die Stimmung des Volkes und der deutſchen
Revolutionäre erforſchen. Als er ſpäter hörte, daß die
Bauern die meiſten gefundenen Flugſchriften auf die Polizei
abgeliefert hätten, als er vernahm, daß ſich auch die Patrioten
gegen ſeine Flugſchrift ausgeſprochen, gab er alle ſeine politiſchen
Hoffnungen in Bezug auf ein Anderswerden auf. Er glaubte
nicht, daß durch die conſtitutionelle, landſtändiſche Oppoſition
ein wahrhaft freier Zuſtand in Deutſchland herbeigeführt
werden könne. Sollte es dieſen Leuten gelingen, ſagte er
oft, die deutſchen Regierungen zu ſtürzen und eine allgemeine
Monarchie oder auch Republik einzuführen, ſo bekommen wir
hier einen Geldariſtokratismus wie in Frankreich, und lieber
ſoll es bleiben, wie es jetzt iſt. Um nun auf die Frage
ſelbſt zurückzukommen, muß ich noch bemerken, daß Büchner
und ſeine Freunde in Gießen die Abſicht hatten, wenn der
Verſuch mit dieſer erſten Flugſchrift gelinge, dahin zu wirken,
daß auch in anderen Ländern ähnliche Schriften verfaßt
würden. Dies iſt aber nicht geſchehen, da der Verſuch ſo
ungünſtig ausgefallen war.
Frage. "Theilte Weidig dieſe Anſichten Büchner's?"
Antwort. Zum Theil; doch ſtimmte er in Manchem
mit Büchner überein. So erinnere ich mich, daß Büchner
einſt Streit über Wahlcenſus mit ihm hatte. Büchner meinte,
in einer gerechten Republik, wie in den meiſten nordamerika-
[417] niſchen Staaten, müſſe jeder ohne Rückſicht auf Vermögens-
verhältniſſe eine Stimme haben, und behauptete, daß Weidig,
welcher glaubte, daß dann eine Pöbelherrſchaft, wie in Frank-
reich entſtehen werde, die Verhältniſſe des deutſchen Volks
und unſerer Zeit verkenne. Büchner äußerte ſich einſt in
Gegenwart des Zeuner ſehr heftig über dieſen Ariſtokratismus
des Weidig, wie er es nannte, und Zeuner beging dann
ſpäter die Indiſcretion, es dem Weidig wieder zu ſagen.
Hierdurch entſtand ein Streit zwiſchen Weidig und Büchner,
welchen ich beizulegen mich bemühte und welcher die Urſache
iſt, daß ich dieſe Einzelheiten behalten habe."
Auguſt Becker wird zum Verhöre vorgeführt und
weiter befragt:
Frage. Was gab die Veranlaſſung zu der am 3. Juli
1834 auf der Badenburg ſtattgehabten Verſammlung? —
Antwort. Die Mitglieder unſerer Geſellſchaft ſtimmten
darin mit Weidig überein, daß man gemeinſchaftlich handeln
müſſe, wenn unſer politiſches Wirken einigen Erfolg haben
ſolle. Büchner meinte, daß man Geſellſchaften errichten
müſſe, Weidig glaubte, daß es ſchon genüge, wenn man die
verſchiedenen Patrioten der verſchiedenen Gegenden mit ein-
ander bekannt mache und durch ſie Flugſchriften verbreiten
laſſe. Ueber dieſen Punkt wollte man ſich auf der Baden-
burger Verſammlung beſprechen. Büchner hoffte, auf derſelben
ſeine Anſichten bei den Marburgern durchzuſetzen. Ich weiß
nicht, wie weit ihm dies gelungen iſt. Als ich ihn nach
meiner Rückkehr aus dem Hinterland über die Sache ſprach,
ſagte er mir, daß auch die Marburger Leute ſeien, welche
G. Büchner's Werke. 27
[418] ſich durch die franzöſiſche Revolution, wie Kinder durch ein
Ammenmährchen, hätten erſchrecken laſſen, daß ſie in jedem
Dorf ein Paris mit einer Guillotine zu ſehen fürchteten u. ſ. w.
Es muß demnach auf dieſer Verſammlung die Rede davon
geweſen ſein, in welchem Geiſt die Flugſchriften abgefaßt
werden müßten, und Büchner, welcher glaubte, daß man ſich
an die niederen Volksklaſſen wenden müſſe, und der auf die
öffentliche Tugend der ſogenannten ehrbaren Bürger nicht
viel hielt, muß auf der Badenburg ſeine Anſichten nicht ge-
billigt geſehen haben, weil er über die Marburger ſich ſo
ungehalten äußerte." —
"Dieſer Büchner," — erklärt weiter noch Becker im
Verhör, — "war mein Freund, der mich lange Zeit zum
einzigen Vertrauten ſeiner theuerſten Angelegenheiten machte,
von welchen er weder ſeiner Familie, noch einem ſeiner
anderen Freunde Etwas geſagt hatte. Ein ſolches Vertrauen
mußte ihm mein Herz gewinnen; ſeine liebenswürdige Per-
ſönlichkeit, ſeine ausgezeichneten Fähigkeiten, von welchen ich
hier freilich keinen Begriff geben kann, mußten mich unbe-
dingt für ihn einnehmen bis zur Verblendung. Die Grund-
lage ſeines Patriotismus war wirklich das reinſte Mitleid
und ein edler Sinn für alles Schöne und Große. Wenn
er ſprach und ſeine Stimme ſich erhob, dann glänzte ſein
Auge, — ich glaubte es ſonſt nicht anders — wie die
Wahrheit. Ich habe die von ihm verfaßte Flugſchrift ab-
geſchrieben. Was hätte ich nicht für ihn gethan, wovon
hätte er mich nicht überzeugt?!" —
[419]
Es wird dem Carl Zeuner ein Exemplar des
"heſſiſchen Landboten", erſte Botſchaft, zur Anerkennung vor-
gelegt etc. Nach Anſicht äußert derſelbe:
"Es iſt dies ein Exemplar derjenigen Schriften, welche
durch den Minnigerode gebracht und durch dieſen und mich
auf die vorhin bezeichnete Weiſe weiter befördert worden
ſind. Ich las dieſe Schrift nach meiner Ankunft in Butzbach
zum erſtenmal; da dieſelbe aber meinen politiſchen Ge-
ſinnungen und Abſichten nicht entſprach, ſo nahm ich ein
Blatt davon, ging zu Dr. Weidig, bei dem Schütz und
Minnigerode gleichfalls geweſen waren, und erzählte ihm die
Sache etc. Nicht lange darnach kam der Pfarrer Schaum
von Hochweiſel. Ich äußerte gegen Weidig, die Schrift ſei
zu ſcharf und wahrhaft ekelhaft. Weidig ſagte, er habe das
auch ſchon geſagt, die Schrift ſei noch ſchlimmer projectirt
geweſen, er habe ſie etwas milder abgefaßt etc.
In der darauf folgenden Nacht (vom 1. auf den 2.
Auguſt) klopfte mir um Mitternacht Jemand an meinem
Fenſter und rief mich bei Namen. Ich öffnete das Fenſter
und fragte: "was gibt's Neues?" worauf erwiedert wurde:
Minnigerode ſei am Thor zu Gießen verhaftet worden und
man habe bei ihm Schriften vorgefunden, er habe ſich ſo-
gleich aufgemacht, um uns davon zu benachrichtigen. Ich
erkannte nun den Büchner, er wünſchte, ich möge ihn als-
bald zu Weidig begleiten, was ich dann auch that. Ich
klopfte dem Weidig am Fenſter, ſowie er herausſah, wurde
ihm alsbald die Hiobspoſt mitgetheilt; er erwiederte, das ſei
ſchlimm. Weidig öffnete das Haus, und wir traten in ſeine
Stube. Weidig pochte auch den Auguſt Becker aus dem
Schlaf, welcher damals in dem Weidig'ſchen Haus über-
27 *
[420] nachtete. Becker war ſehr beſtürzt. Außer uns vier Perſonen
war Niemand zugegen. Weidig ſagte ſogleich zu Büchner,
da er doch einmal auf dem Weg ſei, ſo müſſe er nothwendig
ſeine Reiſe fortſetzen, namentlich nach Offenbach, um den
Schütz, wo möglich, zeitig zu benachrichtigen, damit er nicht
in eine gleiche Falle gerathe, ſodann auch den Hausmann,
damit dieſer etwa vorräthige Schriften wegthun könne etc."
[[421]]
IV.Büchners letzte Tage.*
2. Februar 1837. Wir fragten Büchner, ob er einen
weiten Spaziergang mit uns machen wollte; er antwortete,
daß er mit ſeinem Freunde Schmid nur einen kurzen Gang
machen würde, weil er ſich nicht ganz wohl fühle. Als wir
gegen Abend nach Hauſe kamen, klagte er, daß es ihm
fieberiſch zu Muthe ſei. Da er ſich aber nicht zu Bette
legen wollte, aus Furcht nicht einſchlafen zu können, ſetzte
er ſich zu uns auf's Sopha. Ich bot ihm Thee an, den er
ausſchlug; bald bemerkte ich, daß er einſchlief, und als er
erwachte, bat ich ihn dringend, ſich zu Bett zu legen, was
er auch endlich that. Wir ſagten ihm, daß er an der Wand
klopfen ſolle, die an unſere Schlafſtube ſtieß, wenn er des
Nachts etwas bedürfe, und ließen ſeine Lampe brennen.
3. Februar. Büchner hatte nicht gut geſchlafen, klagte
aber keinerlei Schmerzen. Da es ſehr hell im Zimmer war,
gab ich ihm grüne Vorhänge, auch ein Pferdehaarkiſſen unter
den Kopf, was ihm wohl that. Ich hatte gehofft, daß er
[422] den Abend wieder bei uns zubringen könnte, und deßwegen
unſer gewöhnliches Leſekränzchen nicht abgeſagt; da er aber
nicht dabei ſein konnte, ließ er ſich von uns erzählen, womit
wir uns unterhalten hatten.
4. Februar. Das Fieber war etwas ſtärker, doch
gab es zu keiner Beſorgniß Raum; er aß etwas Suppe und
Obſt und verſicherte, daß es ihm ganz wohl in ſeinem Bette
ſei. Wir erhielten Briefe von den Unſrigen, die ich ihm
vorlas und denen er mit Intereſſe zuhörte.
5. Februar. Er klagte über Schlafloſigkeit; ich ſuchte
ihn damit zu tröſten, daß ich in meiner kürzlichen Krankheit
viele Nächte nicht geſchlafen und dabei noch Schmerzen habe
leiden müſſen. Er war ſehr geduldig und ruhig; da wir
genöthigt waren einige Beſuche zu machen, ſo blieb ſein
liebſter Freund Schmid bei ihm; als wir wieder nach Hauſe
kamen, ließ er ſich von uns erzählen; doch hatte er es nicht
gerne, wenn man laut ſprach.
6. Februar. Da ich keine häuslichen Geſchäfte hatte,
konnte ich mich ganz ſeiner Pflege widmen, was ich von
Herzen gerne that. Es zeigte ſich nach und nach eine große
Empfindlichkeit bei ihm; man konnte ihm nicht leicht etwas
recht machen, was ſeine Freunde oft nicht begreifen konnten.
Ich, die ich aber aus Erfahrung wußte, wie es Einem iſt,
wenn man an den Nerven leidet, ich that ihm alles, was
er nur haben wollte, worüber ich jetzt doppelt froh bin.
7. Februar. Frau Sell ſchickte für Büchner Suppe,
die ihm ſehr gut ſchmeckte; auch die vorgeſchriebene Arzenei
nahm er gerne, worüber ich ihn oft lobte. Da wir den
Faſtnachts-Abend bei Sell zubringen ſollten, ſo blieb Büchners
Freund Braubach bei ihm, den er auch ſehr gerne hatte.
[423]
8. Februar. Das Fieber zeigte ſich nur ſehr wenig,
und er wollte, da Briefe von ſeiner Braut angekommen
waren, an dieſelbe ſchreiben; ich bat ihn, dieſes zu ver-
ſchieben, bis er ſich wieder ganz wohl fühlte. Auch erbot
ich mich ſtatt ſeiner zu ſchreiben, was er aber ablehnte. Da
die Briefe Minna's ſehr fein geſchrieben waren, legte er ſie
weg, um ſie ſpäter fertig zu leſen.
9. Februar. Der Kranke hatte faſt gar kein Fieber,
doch klagte er fortwährend über Schlafloſigkeit; mein Mann
war des Nachts lange bei ihm und bemerkte doch, daß er
zuweilen geſchlafen hatte. Er war kleinmüthig, und wir
ſprachen ihm alle Muth ein; auch rieth man ihm, ein wenig
aufzuſtehen, um dann vielleicht beſſer ſchlafen zu können. Es
wurde ihm Mandelmilch verordnet, die ich ihm bereitete und
die ihn ſehr erquickte.
10. Februar. Er ſtand Nachmittags auf und wollte
ſchreiben; ich holte ihm alles Nöthige herbei, da ich ſah,
daß er ſich durchaus nicht wollte abhalten laſſen und da er
ſagte, daß er ſich auf dem Sopha wohler wie im Bett fühle,
ſo freute ich mich ſehr und nahm es für ein Zeichen der
Beſſerung. Er ergriff die Feder, erklärte aber ſogleich nicht
ſchreiben zu können; ich bot ihm abermals an, in ſeinem
Namen zu ſchreiben, was er jetzt geſchehen ließ. Damit er
ſeinen Geiſt nicht anſtrengen ſollte, ſchrieb ich den Brief
nach meiner Idee, und er ſagte mir alsdann, was ich daran
ändern ſollte. Endlich war das Schreiben nach ſeinem Wunſch
ausgefallen; er nahm es mir haſtig weg und ſetzte die
Worte: "Adieu mein Kind" darunter, ließ mich eine ſeiner
Locken hineinlegen und eilte ſchnell zu Bett, nach welchem
er ſehr verlangte. Nachdem der Brief weg war, fiel es mir
[424] ſchwer auf's Herz, daß die gute Minna vielleicht dieſe Worte
für Abſchiedsworte nehmen könnte, da doch die Krankheit
damals nicht im Geringſten gefährlich ſchien. Dies beun-
ruhigte mich ſehr, und ich hatte einen traurigen Abend. Mein
Mann und ſeine anderen Freunde ſchliefen dieſe wie die
folgenden Nächte abwechſelnd in ſeinem Zimmer, was ihm
lieb war.
11. Februar. Der ſchwache Thee, den er Morgens
genoß und die Suppen, die ich ihm ſelbſt kochte, ſchmeckten
ihm recht gut; doch fiel uns eine Art Unempfindlichkeit
(Apathie) an ihm auf. Ich fragte ihn an dieſem Morgen,
ob es ihm angenehm wäre, wenn ich mit meiner Arbeit mich
zu ihm ſetzte, was er gerne zu haben ſchien. Da ihm das
Sprechen ſchwer fiel, drückte er ſich oft durch Geberden aus,
die mich zu Thränen rührten, auch weil ſie mich lebhaft an
meinen verſtorbenen Vater erinnerten, mit dem ich ſogar in
der hohen freien Stirne einige Aehnlichkeit bei Büchner zu
entdecken glaubte. An einigen Aeußerungen, die er an dieſem
Tage that, bemerkte ich, daß ſein Geiſt nicht ganz helle war.
Wir beſchloſſen noch einen Arzt kommen zu laſſen und zwar
Schönlein; der Kranke wollte aber nichts davon hören, da
er ſich nicht ſo krank fühlte. Es wurde indeſſen jetzt jede
Nacht gewacht, was ſeine Freunde gerne übernahmen.
12. Februar Sonntag. Büchner erklärte endlich,
daß er Schönlein zu ſprechen wünſche; dieſer war aber ver-
reiſt; ſein Aſſiſtent hatte indeſſen Büchner ſchon beſucht und
ſich mit den von Dr. Zehnder verordneten Mitteln ganz ein-
verſtanden erklärt.
13. Februar. Die Betäubung dauerte fort; am
Tage vorher war es, wo er zum erſtenmale ſagte, der Kopf
[425] ſei ihm ſchwer und dies war das einzige Mal in ſeiner
ganzen Krankheit, daß er über den Kopf klagte. Er war ganz
bei ſich, ſprach aber zuweilen im Schlaf. Wir ſchrieben an
dieſem Tage an ſeine Geſchwiſter nach Darmſtadt.
14. Februar. Morgens frühe kam Schönlein und
billigte ganz das bisherige Verfahren des Dr. Zehnder, auch
behielt er dieſelben Arzeneien bei. Büchner ſprach ſehr ver-
nünftig mit ihm, bekam aber ſchon während der Anweſenheit
der Aerzte ſtarke Hitze; ich blieb bei ihm und er nannte
mich manchmal Schmid; wenn ich dann ſagte, ich ſei Frau
Schulz, lächelte er mir zu; auch glaubte er zuweilen, es ſtände
Jemand in der Ecke und dgl. Ich las für mich im Morgen-
blatt, das er für einen Brief hielt, ich legte es daher weg.
Gegen Abend bekam er einen heftigen Anfall von Zittern
(Zittern der Hände hatte man ſchon früher bemerkt), wobei
er ganz irre ſprach. Ich wurde ſehr unruhig und ſorgte
von nun an dafür, daß außer mir auch immer noch einer
ſeiner Freunde bei ihm war. Er wurde nach und nach
immer ruhiger. Gegen 8 Uhr kam das Deliriren wieder,
und ſonderbar war es, daß er oft über ſeine Phantaſieen
ſprach, ſie ſelbſt beurtheilte, wenn man ſie ihm ausgeredet
hatte. Eine Phantaſie, die oft wiederkehrte war die, daß er
wähnte ausgeliefert zu werden. Die Nacht war unruhig;
er ſprach viel Franzöſiſch und redete mehrere Male ſeine
Braut an.
15. Februar. Ich fand ihn Morgens früh ſehr ver-
ändert; doch kannte er mich, verlangte zu ſeinem Thee, weil
die Taſſe groß war, auch einen großen Löffel. Er ſprach
wenn er bei ſich war, etwas ſchwer, ſobald er aber delirirte,
ſprach er ganz geläufig. Er erzählte mir eine lange zu-
[426] ſammenhängende Geſchichte wie man ihn geſtern ſchon vor
die Stadt gebracht habe, wie er zuvor eine Rede auf dem
Markte gehalten u. ſ. w. Ich ſagte ihm, er ſei ja hier in
ſeinem Bette und habe das alles geträumt, da erwiederte er,
ich wiſſe ja, daß Eſcher (einer ſeiner Schüler) ſich für ihn
verbürgt habe und deßhalb ſei er wieder zurückgebracht worden.
Es hatte ſich nämlich die Idee bei ihm gebildet, er habe
Schulden, was aber in Wirklichkeit nicht der Fall war.
Solche Phantaſien ließ er ſich leicht ausreden, verfiel aber
alsdann in andere. Um 12 Uhr kam Schönlein, den Büchner
nicht erkannte und da ich um jeden Preis wiſſen wollte, wie
es um den Kranken ſtehe, blieb ich im Zimmer, ob es
ſchicklich war, oder nicht. Schönlein betrachtete den Kranken
und ſagte zu mir: "Alles paßt zuſammen, es iſt das Faul-
fieber und die Gefahr iſt ſehr groß." Ich erſchrack heftig,
und da meine Nerven ſehr angegriffen waren, empfahl mir
der Arzt dringend, das Krankenzimmer zu meiden; auch war
männliche Pflege jetzt dringender. Ich konnte jetzt nichts
mehr für ihn thun, als beten. — Es wurde ein braver
Wärter angenommen, doch war bei dieſem immer noch einer
von Büchner's Freunden, beſonders Wilhelm und Schmid.
Ich war ſehr traurig und ſchrieb ſogleich nach Straßburg.
16. Februar. Die Nacht war unruhig; der Kranke
wollte mehrere Male fort, weil er wähnte in Gefangenſchaft
zu gerathen, oder ſchon darin zu ſein glaubte und ſich ihr
entziehen wollte. Den Nachmittag vibrirte der Puls nur
und das Herz ſchlug 160 Mal in der Minute, die Aerzte
gaben die Hoffnung auf. Mein ſonſt frommes Gemüth
fragte bitter die Vorſehung: "Warum?" Da trat Wilhelm
in's Zimmer, und da ich ihm meine verzweiflungsvollen Ge-
[427] danken mittheilte, ſagte er: "Unſer Freund gibt dir ſelbſt
Antwort, er hat ſoeben, nachdem ein heftiger Sturm von
Phantaſien vorüber war, mit ruhiger, erhobener, feierlicher
Stimme die Worte geſprochen: "Wir haben der Schmerzen
nicht zu viel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den
Schmerz gehen wir zu Gott ein. Wir ſind Tod, Staub,
Aſche, wie dürften wir klagen?" Mein Jammer löſte ſich
in Wehmuth auf, aber ich war ſehr traurig und werde es
noch lange ſein.
17. Februar. In der Nacht phantaſirte der Kranke
von ſeinen Eltern und Geſchwiſtern in den rührendſten Aus-
drücken. Er ſprach faſt immerwährend. Schönlein wunderte
ſich, ihn am Morgen noch lebend zu finden; er kam täglich
zweimal und nahm den größten Antheil, ſowie Alle, die
Büchner auch nur entfernt kannten. Jeden Morgen ließ man
ſich von verſchiedenen Seiten nach ſeinem Befinden erkundigen.
Gegen 10 Uhr kam Frau Pfarrer Schmid von Straßburg
und benachrichtigte uns, daß Minna angekommen ſei; ich
erſchrack ſehr, denn ich fürchtete für ſie, wenn ſie den Kranken
in ſo verändertem Zuſtande ſehen würde. Ich eilte zu ihr
in's Wirthshaus und bereitete ſie nach und nach auf die
große Gefahr vor, in der ihr Theuerſtes ſchwebte. Ich machte
mich recht ſtark bei ihr. Ich holte ſie nach Tiſch mit ihrer
Begleiterin zu uns, die Aerzte hatten ihr erlaubt, den Kranken
zu ſehen. Er erkannte ſie, was eine ſchmerzliche Freude für
ſie war; unſere Thränen floſſen vereint an dieſem Tage und
mein Herz litt viel, denn es verſtand das ihrige. Sie
und Frau Schmid blieben von nun an bei uns. Die
Nacht war für uns Alle traurig. Der Kranke delirirte fort-
während.
[428]
18. Februar. Minna beſuchte frühe den Kranken,
der ſie deutlicher wie am vorigen Tage erkannte; er ſprach
zu ihr, auch von ihrem Vater, doch konnte man nicht alles
verſtehen, denn ſeine Stimme war jetzt ſchwächer. Er nahm
aus Minna's Händen ein wenig Wein und Confitur, aß
Mittags etwas Suppe, nannte mehrere ſeiner Freunde mit
Namen, auch der Puls hob ſich ein wenig; alles dieſes war
ein Hoffnungsſtrahl für uns, trotz den Aerzten, die nichts
darauf gaben, aber nur ein Hoffnungsſtrahl, denn am Abend
traten von neuem üble Symptome ein. Die Nacht war
ruhig, da die Schwäche zunahm; doch ſprach der Kranke
immerfort.
19. Februar, Sonntag. Der Athem wurde ſchwer,
die Schwäche größer, der Tod mußte nahe ſein. Das ſtarke
Mädchen bat meinen Mann ſie zu rufen, wenn der ver-
hängnißvolle Augenblick käme, denn lange konnte und durfte
ſie nicht im Krankenzimmer verweilen. Es war Sonntag;
der Himmel war blau und die Sonne ſchien, die Kinder
hatte man weggeſchickt, es war ſtille im Hauſe und ſtille auf
der Straße. Die Glocken läuteten. Minna und ich ſaßen
allein in meinem traulichen Stübchen. Wir wußten daß
wenige Schritte von uns ein Sterbender lag und welcher!
Wir hatten uns aber in den Willen der Vorſehung ergeben,
denn was in der Menſchen Macht lag, den Theueren zu
retten, war ja geſchehen. Ich erinnere mich in meinem
Leben wenig ſo feierlicher Stunden, wie dieſe; eine heilige
Ruhe goß ſich über uns. Wir laſen einige Gedichte, wir
ſprachen von ihm, bis Wilhelm eintrat, Minna zu rufen,
damit ſie dem Geliebten den letzten Liebesdienſt erzeuge. Sie
that es mit ſtarker Ruhe, aber dann brach ihr Schmerz
[429] laut aus. Ich nahm ſie in meine Arme und weinte mit
ihr. Sie wurde ruhiger und endigte einen angefangenen
Brief. Der Abend verging uns in Geſprächen über den
Hingeſchiedenen, oft gedachten wir mit Schmerz der armen
Eltern und Geſchwiſter des Verewigten. Minna brachte
die Nacht bei mir zu, und da wir lange nicht geſchlafen
hatten, behauptete die Natur ihr Recht, und ein ſanfter
Schlummer ſtärkte uns. Am Abend war ein Brief aus
Darmſtadt gekommen, der uns tief bewegte; ich beant-
wortete ihn.
20. Februar. Minna ſchrieb an ihren Vater. Wir
laſen in einer Art Tagebuch, das ſich unter Büchners Papieren
gefunden hatte und reiche Geiſtesſchätze enthält. Die Freunde
des Verewigten brachten den Abend bei uns zu und er war,
wie immer, der Gegenſtand unſrer Unterhaltung. Da er über
alles was uns intereſſirte, ſo oft mit uns geſprochen hatte,
ſo wußten wir viel von ihm zu erzählen. Faſt jeder Gegen-
ſtand, der uns umgab, erinnerte uns an dieſe oder jene geiſt-
reiche Bemerkung, die er darüber gemacht. Bald floſſen unſre
Thränen und bald mußten wir lachen, wenn wir uns ſeine
treffende Satyre, ſeine witzigen Einfälle und launigen Scherze
in's Gedächtniß zurückriefen.
21. Februar. Der Himmel war helle und die Sonne
ſchien dem Tage, an dem ſeine irdiſche Hülle der Erde wieder-
gegeben werden ſollte. Wir wanden am Morgen einen großen
Kranz von lebendigem Grün, Lorbeer und Myrthen und weißen
Blüthen, der nach hieſiger Sitte den ganzen Sarg umgeben
ſollte. Auch ließ Minna dem Dichter und Bräutigam durch
Wilhelm einen Lorbeer- und Myrthenkranz auf die hohe
blaſſe Stirne drücken. Ein Strauß von lebendigen Blumen,
[430] den einige Freundinnen ſchickten, ruhte in ſeinen Händen.
Um 4 Uhr ſollte das Begräbniß ſtattfinden, ich verließ daher
gleich nach Tiſch mit Minna das Haus, denn einem zer-
riſſenen Herzen konnten die Anſtalten dazu keinen Troſt ge-
währen. Wir beſuchten zuerſt den Lieblingsſpaziergang unſres
Freundes, einen kleinen Platz am See, und dann begaben
wir uns zu einer theilnehmenden Freundin, wo wir bis zum
Abend blieben. Wilhelm holte uns dort ab und erzählte
uns, daß mehrere hundert Perſonen, die beiden Bürgermeiſter
und andere der angeſehenſten Einwohner der Stadt an der
Spitze, den Verewigten zur Ruheſtätte begleitet hatten. Die
Theilnahme der ganzen Stadt war groß. Bekannte und
Unbekannte waren tief erſchüttert durch den Tod eines ſo
geiſt- und talentvollen jungen Mannes.
Am Abend ſchickte eine Freundin einen Blumentopf,
gefüllt mit der Erde, in der der Vollendete ruht. Das
Immergrün, das darin ſtand und das auch auf ſeinem Grabe
ſproßt, ſei uns ein Symbol der Hoffnung, der Hoffnung des
Wiederſehns. Mit den herzlichſten, theilnehmendſten Worten
an Minna war dieſes ſinnige Geſchenk begleitet.
[[431]]
V. Nekrolog.*
Im Verlaufe weniger Tage hat der Tod zwei ausge-
zeichnete deutſche Männer den Reihen ihrer trauernden Lands-
leute und der Genoſſen ihres Schickſals entriſſen. Am 15.
Februar wurde Ludwig Börne zu Paris, am 21. Februar
Georg Büchner zu Zürich beerdigt. Beide ruhen in
fremdem Lande, denn Beiden hatte ſich das Vaterland ver-
ſchloſſen. Wenn Börne im heiligen Kampfe für Licht und
Recht ein lang erprobter Streiter war, der mit ſteter Aus-
dauer die ſcharfen Geiſteswaffen gegen Unterdrückung und
Knechtſchaft, gegen Heuchelei und Lüge gerichtet hatte, ſo be-
grüßten Alle, welche Georg Büchner näher kannten, in
dieſem die friſche Jugendkraft, der eine weite Bahn des
Ruhms und der Ehre offen lag. Große Hoffnungen ruhten
auf ihm, und ſo reich war er mit Gaben ausgeſtattet, daß
er ſelbſt die kühnſten Erwartungen übertroffen haben würde.
Georg Büchner, der Sohn eines angeſehenen Arztes
zu Darmſtadt, wurde am 17. Oktober 1813 zu Goddelau
bei Darmſtadt geboren. Nachdem er das Gymnaſium dieſer
Stadt beſucht, widmete er ſich zu Straßburg vom Herbſte
[432] 1831 bis zum Auguſt 1832, ſodann vom Oktober dieſes
Jahres bis zur Mitte des Jahres 1833 dem Studium der
Naturwiſſenſchaften, beſonders der Zoologie und vergleichenden
Anatomie. In dieſer Zeit von einer Unpäßlichkeit befallen,
fand er ſorgſame Pflege im Hauſe ſeines Verwandten, des
Pfarrers Jäglé zu Straßburg. Während dieſer Krankheit
verlobte er ſich mit der Tochter dieſes würdigen Geiſtlichen,
welche durch Geiſt und Herz in jeder Beziehung ſeiner würdig
war. Die Geſetze ſeines Heimathlandes riefen ihn im
Herbſt 1833 auf die Univerſität Gießen, wo er ſein Studium
der Naturwiſſenſchaften fortſetzte und zugleich, nach dem
Wunſche ſeines Vaters, mit der praktiſchen Medizin ſich be-
faßte. Durch eine Hirnentzündung im Frühjahr 1834 er-
litten dieſe Studien einige Unterbrechung, doch kehrte er nach
kurzem Aufenthalte in Darmſtadt nach Gießen zurück, wo er
bis zum Herbſt 1834 verweilte. Von da begab er ſich
abermals in ſein älterliches Haus zu Darmſtadt, wo er
fortwährend mit Naturwiſſenſchaften, ſowie mit Philoſophie
ſich beſchäftigte und zugleich, im Auftrage ſeines Vaters,
anatomiſche Vorleſungen hielt.
In der letzten Zeit ſeines Aufenthaltes in Gießen wurde
Büchner, mit vielen andern Jünglingen ſeines Sinnes und
Alters, in die politiſchen Bewegungen jener Zeit verwickelt.
Der gegen ihn eingeleiteten Unterſuchung entzog er ſich im
März 1835 durch ſeine Abreiſe nach Straßburg. Hier gab
er entſchieden die praktiſche Medizin auf und widmete ſich
mit raſtloſem Eifer dem Studium der neueren Philoſophie.
Beſonders tief drang er in die Lehren von Carteſius und
Spinoza ein. Eine gleiche Thätigkeit, die ihn häufig ſeine
Arbeiten bis tief in die Nacht fortſetzen ließ, wendete er auf
[433] die Naturwiſſenſchaften. Im Dezember 1835 begann er die
Vorarbeiten für ſeine Abhandlung: "Sur le système nerveux
du barbeau", welcher die Ernnenung zum korreſpondiren-
den Mitgliede der naturforſchenden Geſellſchaft zu Straßburg
verdankte. Durch Einſendung derſelben Abhandlung an die
philoſophiſche Fakultät zu Zürich erwarb er ſich die philo-
ſophiſche Doktorwürde. Von den ausgezeichnetſten Kennern
der Naturwiſſenſchaften iſt dieſe Schrift für eine meiſterhafte
Arbeit erklärt worden, die zu den höchſten Erwartungen be-
rechtige. Gleich bedeutend kündigte er ſich durch ſeine Probe-
vorleſung und ſeine akademiſchen Vorträge über vergleichende
Anatomie an der Hochſchule zu Zürich an, wohin er ſich
am 18. Oktober vorigen Jahrs zu bleibendem Aufenthalte
begeben hatte.
Aber nicht blos die Natur, auch das reiche innere
Leben der Menſchen, ihre Leidenſchaften und Neigungen, ihre
Schwächen und Tugenden zogen ihn mächtig an, und was
er mit ſcharfem Blicke aufgefaßt, geſtaltete ſich ſeinem
produktiven Geiſte zu poetiſchen Schöpfungen. Beſonders
hatte ihn das große Drama der neueren Zeit, die franzöſiſche
Revolution, lebhaft ergriffen. Er ſtudirte gründlich die Ge-
ſchichte derſelben und bemächtigte ſich eines ihrer bedeutendſten
Stoffe. In politiſche Unterſuchungen verwickelt, unter mannig-
fachen Störungen und Beſchäftigungen verſchiedener Art,
vollendete er in wenigen Wochen, während ſeines letzten Auf-
enthaltes zu Darmſtadt, ſein dramatiſches Werk: "Dantons
Tod; dramatiſche Bilder aus der Zeit der Schreckensherr-
ſchaft." Einer der ſtrengſten und geiſtvollſten Kritiker
Deutſchlands bezeichnete dieſes Drama als das Werk des
Genie's, und pries ſich glücklich, der Erſte zu ſein, welcher
G. Büchner's Werke. 28
[434] das deutſche Publikum auf den ſo hervorragenden Geiſt auf-
merkſam mache. In Straßburg gab ſodann Büchner ſehr
gelungene Ueberſetzungen der beiden Dramen Viktor Hugo's,
Lucrecia Borgia und Maria Tudor, heraus. In
derſelben Zeit und ſpäter zu Zürich vollendete er ein im
Manuſcript vorliegendes Luſtſpiel, Leonce und Lena,
voll Geiſt, Witz und kecker Laune. Außerdem findet ſich
unter ſeinen hinterlaſſenen Schriften ein beinahe vollendetes
Drama, ſowie das Fragment einer Novelle, welche die letzten
Lebenstage des ſo bedeutenden als unglücklichen Dichters
Lenz zum Gegenſtande hat. Dieſe Schriften werden dem-
nächſt im Druck erſcheinen.
Der ſo reich begabte junge Mann war mit zu viel
Thatkraft ausgerüſtet, als daß er bei der jüngſten Bewegung
im Völkerleben, die eine beſſere Zukunft zu verheißen ſchien,
in ſelbſtſüchtiger Ruhe hätte verharren ſollen. Durch ſeinen
frühe gereiſten Geiſt auf eine heitere Höhe geſtellt, blieb er
indeſſen in ſeinen politiſchen Anſichten von manchen Täuſchungen
frei, welchen ſich die Jugend willig hinzugeben pflegt. Ein
Feind jeder thöricht unbeſonnenen Handlung, die zu keinem
günſtigen Erfolge führen konnte, haßte er doch jenen thaten-
loſen Liberalismus, der ſich mit ſeinem Gewiſſen und ſeinem
Volke durch leere Phraſen abzufinden ſucht, und war zu jedem
Schritte bereit, den ihm die Rückſicht auf das Wohl ſeines
Volkes zu gebieten ſchien. So haben denn in gleicher Weiſe
die Wiſſenſchaft, die Kunſt und das Vaterland ſeinen früh-
zeitigen Verluſt zu beklagen. Dieſes Vaterland hatte er ver-
laſſen müſſen, aber der Genius iſt überall zu Hauſe. In
Zürich hätte er eine zweite Heimath gefunden; dafür bürgt
die Anerkennung, die ihm ſeine Talente erwarben, dafür die
[435] Theilnahme, die von ſo vielen der ausgezeichnetſten Bewohner
dieſer Stadt ſeinem Andenken am Tage der Beerdigung be-
zeigt wurde.
Keiner ſeiner Freunde hatte dieſen Tag noch vor wenigen
Wochen nahe geglaubt. Außer einigen leichten Unpäßlich-
keiten war Büchner während ſeines Aufenthalts in Zürich
ſtets geſund geblieben. Sein Aeußeres ſchien mit ſeinem
Inneren in Harmonie zu ſtehen, und die breit gewölbte
Stirne ſchien noch lange ſeinem umfaſſenden Geiſte eine ſichere
Stätte zu ſein. Doch mochte er ſelbſt ein Vorgefühl ſeines
frühen Endes haben. Wenigſtens vergleicht er in einem
hinterlaſſenen Tagebuche den Zuſtand ſeiner Seele mit einem
Herbſtabende, und ſchließt ſeine Bemerkung mit den Worten:
"Ich fühle keinen Eckel, keinen Ueberdruß; aber ich bin müde,
ſehr müde. Der Herr ſchenke mir Ruhe!"
Am 2. Februar mußte er ſich zu Bette legen, das er
von jetzt an nur für wenige Augenblicke verließ. Trotz der
Sorgfalt der Aerzte und der Pflege ſeiner Freunde machte
die Krankheit unaufhaltbare Fortſchritte und bildete ſich bald
zum heftigen Nervenfieber aus. Am 12. Tage fingen die
Delirien an. Der Gegenſtand ſeiner Phantaſieen waren ſeine
Braut, ſeine Eltern und Geſchwiſter, deren er mit der
rührendſten Anhänglichkeit gedachte, und das Schickſal ſeiner
politiſchen Jugendgenoſſen, die ſeit Jahren in den Kerkern
ſeiner Heimath ſchmachten. Wie vor ſeiner Krankheit, ſo
ſprach er auch jetzt in bitteren aber wahren Worten, die im
Munde eines Sterbenden ein doppeltes Gewicht haben, über
jene Schmach unſerer Tage ſich aus, über die verwerfliche
Behandlung der politiſchen Schlachtopfer, die nach geſetzlichen
Formen und mit dem Anſchein der Milde in Jahre langer
28 *
[436] Unterſuchungshaft gehalten werden, bis ihr Geiſt zum Wahn-
ſinne getrieben und ihr Körper zu Tode gequält iſt. "In
jener franzöſiſchen Revolution," ſo rief er aus, "die wegen
ihrer Grauſamkeit ſo verrufen iſt, war man milder als jetzt.
Man ſchlug ſeinen Gegnern die Köpfe ab. Gut! Aber
man ließ ſie nicht Jahre lang hinſchmachten und hinſterben."
Später jedoch, als ihm der Tod näher gerückt war, ſchien
er ſich bereits von allen irdiſchen Banden losgeriſſen zu haben,
und mit gehobener Sprache, deren Worte die erhabenſten
Stellen der Bibel in's Gedächtniß riefen, ergoß ſich ſeine
Seele in religiöſen Phantaſieen.
Auf die erſte Nachricht von ſeiner Krankheit eilte ſeine
Verlobte an das Krankenbett ihres Bräutigams. Die Nähe
der Geliebten leuchtete freundlich in ſeine Träume hinein,
und ſeine ſichtbar freudige Bewegung weckte einen letzten
Schimmer der Hoffnung bei Denen, die ihm nahe ſtanden.
Aber es war nur ein kurzes Aufflackern des verglimmenden
Lebens! Von Landsleuten und Freunden umgeben, ſtarb er
am 19. Februar, Nachmittags gegen 4 Uhr, und ſeine treue
Braut ſchloß ihm das gebrochene Auge. Sein Verſcheiden
war ſchmerzlos und ſanft, denn der Segen der Liebe ruhte
auf ihm!
[[437]]
VI. Poetiſche Stimmen über Büchner.*
Von Georg Herwegh.
[438]
[439]
[440]
[441]
[442]
Zürich, im Februar 1841
[443]
[444]
[445]
[[446]]
VII. Gutzkow über "Dantons Tod".*
Die Kritik iſt immer verlegen, wenn ſie prüfend an die
Werke des Genies herantritt. Sie, die ſonſt ſo ſchnelle und
wortreiche Baſe, blickt hier ſcheu und wählt ängſtlich in ihren
Ausdrücken, um das Würdige mit Würde zu empfangen.
Die Kritik kann hier nicht mehr ſein, als der Kammerdiener,
der die Thür des Salons öffnet und in die verſammelte
Menge laut des Eintretenden Namen hineinruft, das Uebrige
wird das Genie ſelbſt vollbringen. Es wird dem matten
Geſpräche pötzlich eine neue Wendung geben, es wird Ideen
aus ſeinem Haupte ſchütteln. Das Genie bedarf keiner
Empfehlung, das fühlen wir, wenn wir von Georg Büchner
reden, und treten auch im Folgenden nur abſeits in einen
Winkel, um die Sache für ſich ſelbſt reden zu laſſen.
Eine tragiſche Kataſtrophe der franzöſiſchen Revolution
entwickelt ſich in Büchners "Danton" vor unſeren Augen.
Die Autorität Robespierre's iſt im Steigen, und die zweite
Reaction gegen die Revolution beginnt. Die erſte Reaction
[447] war der Sturz der Gironde, die zweite der Sturz des
Moderantismus. Die Revolution verſchlang wie Saturn
ihre eigenen Söhne. Welch' ein Unterſchied aber ſchon in den
verſchiedenen Claſſen dieſer Rückwirkungen! Die Girondiſten
waren Männer, welche nicht durch Abſichten und Syſteme
in die Revolution hineingeriſſen wurden, ſondern durch einige
Sympathien, durch einige Principien und durch einen erhabenen
Enthuſiasmus, welcher alle Gemüther in jenen ſturmvollen
Zeiten ergriffen und ſich endemiſch, wie ein Fieber, fortge-
pflanzt hatte. Die Girondiſten ſtarben mit ihren blumen-
reichen Reden, mit dem noblen Ernſte und dieſer vornehmen
Geringſchätzung, welche die Doctrine in der Theorie und das
juste milieu oft in der Praxis zu begleiten pflegt — ſie
ſtarben, weil ſie die Revolution ohne die Maſſen wollten.
Die Dantoniſten hatten ſchon Blut an den Händen, das
Blut des Septembers, das nicht vergoſſen wurde, um zu
ſtrafen, ſondern um zu ſchrecken. Die Ariſtokraten in der
Stadt, die Könige vor den Thoren hatten ſie in eine
chirurgiſche Verzückung verſetzt, die mit lächelnder Miene ein
faules Glied amputirt. Die Dantoniſten hatten der Re-
volution ein Opfer gebracht, ihr Gefühl, ihre Humanität,
ihre der Ruhe geweihten Nächte, ſie hatten ſo viel gethan,
daß ſie nicht glaubten, die Revolution verlange ſie ſelbſt noch
als Opfer. Robespierre gab zwei Anklagen, die eine auf
übertriebene Mäßigung, die andere auf Unſittlichkeit. Waren
die Girondiſten die Römer der Revolution geweſen, ſo waren
die Dantoniſten ihre Griechen, man hatte die Charaktere
guillotinirt, jetzt wollte man die Genialität guillotiniren.
Danton war Alcibiades, Camille Desmoulins lebte nur in
Athen. Alle ſeine Anſchauungen gingen vom Ilyſſus aus.
[448] Er nannte das Palais royal den Ceramicus, er wollte eine
Republik, worin man patriotiſch wäre, wie Demoſthenes,
weiſe wie Sokrates und genial in den Sitten, wie die
Kreiſe, die ſich um Aspaſia ſammelten. Die dritte Phaſe
der Revolution war die religiös-fanatiſche Robespierre's. Die
Revolution war ein Cultus geworden und hatte ihre Altäre,
ihre Dogmen, ihre Ceremonie. Dem Blut-Meſſias Robes-
pierre, wie ihn Camille nannte, ſtand St. Juſt zur Seite,
die Apokalypſe neben dem Evangelium.
Nichts bezeichnet die drei blutigen Epochen der fran-
zöſiſchen Revolution beſſer, als die Begriffe, die zu ver-
ſchiedenen Zeiten über die Revolution herrſchten. Die Gironde
hielt die Revolution für etwas, das man erſetzen könne,
Danton für etwas, das man abſchließen könne, Robespierre
für eine Offenbarung, welche ganz außer dem Bereiche des
menſchlichen Willens läge, alſo für die Vorſehung und die
Gottheit ſelbſt. Aber alle ſahen ſie die Revolution als
etwas fertiges, abgegränztes über ihrem Haupte: die erſten
als eine Laſt, die zweiten als ein Hinderniß, die dritten als
eine Idee, wie die Meſſiasidee, in welche ſie ſich hinein-
ſchoben, wie auch Chriſtus nichts anders that, als eine Vor-
ſtellung ſeiner Nation adoptiren und ſich ſelbſt zum Subſtrat
und Subject einer Thatſache machen. Eine Idee despotiſirte
hier die Menſchen, die Menſchen waren nur Beamte eines
Begriffes. Alle beriefen ſich auf die Revolution, wie auf
eine unſichtbare Gottheit, die ſie doch wahrlich in Händen
hatten, wie einen Hut, der mein iſt!
Georg Büchners Auffaſſung der franzöſiſchen Revolution
verräth eine tiefe Kenntniß derſelben. Seine Charakteriſtiken
der Tendenzen und der Perſonen ſind meiſterhaft. Seine
[449] Gemälde ſind ſkizzenartig hingeworfen, aber die Umriſſe der
Kohle ſind ſo ſcharf, daß unſrer Einbildungskraft ſich von
ſelbſt eine Welt vorzaubert. Danton, Robespierre, St. Juſt,
Camille. Desmoulins — ſind vortrefflich gezeichnet — ſowie
in allen Nebenparthien, in den Volksſcenen und dem Ge-
ſpräche der unterſten Claſſen ſich die Vertrautheit mit ſeinem
Gegenſtande zu erkennen gibt. Warum ſollte er dies auch
nicht! Unſre Jugend ſtudirt die Revolution, weil ſie die
Freiheit liebt und doch die Fehler vermeiden möchte, welche
man in ihrem Dienſt begehen kann.
Man darf ſagen, daß in Büchners Drama mehr Leben
als Handlung herrſcht. Die Handlung ſelbſt iſt eine abge-
ſchloſſene, ſchon da, als der Vorhang aufgeht. Der Stoff
iſt undramatiſch, wie Maria Stuart. Schiller wollte eine
Tragödie geben und gab die Dramatiſirung eines Proceſſes.
Büchner gibt ſtatt eines Dramas, ſtatt einer Handlung, die
ſich entwickelt, die anſchwillt und fällt, das letzte Zucken und
Röcheln, welches dem Tode vorausgeht. Aber die Fülle von
Leben, die ſich hier vor unſern Augen noch zuſammendrängt,
läßt den Mangel der Handlung, den Mangel eines Ge-
dankens, der wie eine Intrigue ausſieht, weniger ſchmerzlich
entbehren. Wir werden hingeriſſen von dieſem Inhalte,
welcher mehr aus Begebenheiten als aus Thaten beſteht,
und erſtaunen über die Wirkung, welche eine Aufführung
dieſer Art auf dem Theater machen müßte, eine Aufführung,
die unmöglich iſt, weil man Haydn's Schöpfung nicht auf
der Drehorgel leiern kann.
Wir nähern uns dem beſondern künſtleriſchen Verdienſte
dieſer Production, von welchem wir geſtehen müſſen, daß es
die Auffaſſung des Stoffes noch bei Weitem zu übertreffen
G. Büchner's Werke. 29
[450] ſcheint. Wer ſo ſehr an der Fähigkeit der Deutſchen, ſich
mit Geiſt, Grazie, kurz mit Styl auszudrücken, verzweifeln
muß, wie der Herausgeber einer kritiſchen Revue der täglich
aufwuchernden literariſchen Erſcheinungen, muß bei der Be-
urtheilung eines Buches, wie Danton's Tod von Büchner
iſt, eine Freude empfinden, die viel zu nüancirt und zu-
ſammengeſetzt iſt, als daß ich ſie hier ganz wiedergeben
könnte. In Bildern und Antitheſen blitzt hier alles von
Witz, Geiſt und Eleganz. Keine verrenkten Gedanken ſtrecken
ihre lange Geſtalt gen Himmel und ſchlottern wie geſpenſtiſche
Vogelſcheuchen am Winde hin und her. Keine neugebornen
Embryone ſtehen in Spiritusgläſern um uns herum und
beleidigen das Auge durch ihre Unſchönheit, ſie mögen auf
noch ſo tiefe Entdeckungen zu deuten ſcheinen. Es iſt Alles
ganz, fertig, abgerundet. Staub und Schutt, das Atelier
des Geiſtes ſieht man nicht. Ich wüßte nicht, worin anders
das Kennzeichen eines literariſchen Genies beſteht. Als ein
ſolches muß man Georg Büchner mit ſeiner Ideenfülle, ſeiner
erhabenen Auffaſſung, mit ſeinem Witz und Humor begrüßen.
Was iſt Immermann's monotone Jambenclaſſicität, was iſt
Grabbe's wahnwitzige Miſchung des Trivialen mit dem
Regelloſen gegen dieſen jugendlichen Genius!
Ich bin ſtolz darauf, der Erſte geweſen zu ſein, der im
literariſchen Verkehr und Geſpräch den Namen Georg Büchner's
genannt hat.
[[451]]
VIII. Das Büchner-Denkmal.
Georg Büchner hatte bei ſeinem jähen Tode im Jahre
1837 auf dem Friedhof am Zeltweg in Zürich ein ſtilles
Grab gefunden; ein einfaches Denkmal aus Sandſtein be-
zeichnete ſeine Ruheſtätte. Seit einer Reihe von Jahren
war der Friedhof nicht mehr im Gebrauch und gewöhnlich
auch für Beſucher nicht zugänglich; Gras wuchs über den
Gräbern. Das Andenken Büchner's aber lebte nicht nur
in der deutſchen Literaturgeſchichte fort; es war auch in Zürich,
wo er zwar nur kurze Zeit, aber in ſehr anregender Weiſe
als akademiſcher Lehrer gewirkt hatte, lebendig geblieben und
wurde beſonders in den Kreiſen der dort lebenden Deutſchen
gepflegt. Als nun bekannt wurde, daß der Friedhof am
Zeltweg demnächſt aufgehoben und zu Bauplätzen verwendet
werden ſolle, erwachte bei den Züricher Freunden Büchner's
der Wunſch, für ſeine Gebeine eine neue Ruheſtätte zu ge-
winnen, wo ſich das Andenken ihres genialen Landsmannes
in würdiger und ungefährdeter Weiſe verewigen laſſe.
Adolf Calmberg, Lehrer der deutſchen Sprache und
Literatur am Lehrerſeminar zu Küsnacht bei Zürich, als
dramatiſcher Dichter in weiteren Kreiſen bekannt, übernahm
es, nachdem er ſich der Zuſtimmung von Büchner's Familie
29 *
[452] verſichert hatte, für die praktiſche Ausführung dieſes Gedankens
zu wirken. Am 16. Mai 1875 feierte die "Geſellſchaft
deutſcher Studirender in Zürich", welche der ſchönen Tendenz
huldigt, im fremden Lande neben der deutſchen Gemüthlich-
keit auch die Liebe für's deutſche Vaterland zu pflegen, ihr
zehnjähriges Stiftungsfeſt im Gaſthof zur Sonne in Küs-
nacht; zahlreiche Gäſte aus den Kreiſen der deutſchen Ge-
ſchäfts- und Gelehrtenwelt in Zürich waren dazu geladen.
Dieſe Gelegenheit benutzte Calmberg, um der feſtlich ge-
ſtimmten Verſammlung die Bedeutung Georg Büchner's
an's Herz zu legen; er las einen Act von "Danton's Tod"
vor, welcher von zündender Wirkung war, und forderte ſo-
dann die Geſellſchaft auf, ein Comité zu bilden, welches für
die Uebertragung der Gebeine an einen ſicheren Ort und für
die Errichtung eines würdigen Denkmals ſorgen ſolle. Der
Vorſchlag fand lebhaften Anklang, der deutſche Reichskonſul
Ph. E. Merk ſicherte dem patriotiſchen Unternehmen ſeine
eifrige Mitwirkung zu, ebenſo der als Kämpfer und Märtyrer
für deutſche Geiſtesfreiheit bekannte Schriftſteller G. A.
Wislicenus; die "Geſellſchaft deutſcher Studirender" über-
nahm das Arrangement einer "Büchner-Feier".
Es wurde nun ein Comité beſtellt, aus den ebenge-
nannten drei Herren und den Studirenden W. Umlauft,
A. Krupp und G. Steinmetz beſtehend, welches durch
gedruckte Circulare ſowie in öffentlichen Blättern eine "Ein-
ladung zur Gedenkfeier für Georg Büchner" erließ und als
den paſſendſten Ort für die Errichtung des "Büchner-Denk-
mals" einen kleinen Hügel auf dem weſtlichen Abhange des
Zürichbergs erkor, den ſogenannten Germania-Hügel, auf
welchem zu Anfang der ſechziger Jahre die Züricher Studenten-
[453] verbindung "Germania" bei feſtlichem Anlaß eine Linde ge-
pflanzt hatte. Der Gemeinderath der Gemeinde Oberſtraß,
in deren Gemarkung der Germaniahügel liegt, ertheilte in
freundlichſter Weiſe die Genehmigung zur Errichtung des
Denkmals und erklärte ſich zur Obhut deſſelben bereit. Am
26. Juni verſammelte ſich das Comité auf dem Friedhof
am Zeltweg, ließ in aller Stille die Gebeine Büchner's
nach Anordnung des ſachverſtändigen Studenten der Medicin
G. Steinmetz aus dem Grabe nehmen, in einen Sarg
legen und nach dem Germania-Hügel bringen. Von der
Leiche ſelbſt wurden alle Knochentheile, wenn auch in zu-
ſammenhangsloſem Zuſtande, aufgefunden; beſonders gut er-
halten waren der Schädel, die Wirbelſäule und die oberen
Gliedmaßen. Von Kleidern fand ſich keine Spur mehr vor;
von dem Sarge waren nur noch wenige morſche Holzſtücke
vorhanden. Nachdem ſie hier unter der Germania-Linde auf's
Neue beſtattet worden, wurde über dem friſchen Grabe ein
ſchöner Denkſtein aus grauem Marmor aufgeſtellt.
Die Einweihungsfeier des Denkmals war auf Sonntag
den 4. Juli feſtgeſetzt. Am Nachmittage verſammelten ſich
die Verehrer Büchner's in beträchtlicher Zahl auf dem
freien Platze vor dem Polytechnikum in Zürich; es waren
Deutſche und Schweizer aus allen Ständen, darunter der
eidgenöſſiſche Oberſtabsarzt Dr.Lüning, der einſt als
Student in Zürich die Vorleſungen Büchner's gehört, der
Dichter Gottfried Kinkel und andere Notabilitäten; zu
beſonderer Bedeutung wurde jedoch die Feier noch dadurch
erhoben, daß die Familie Büchner der Einladung des
Comité's entſprochen hatte: die Schweſter Georg's, Louiſe
Büchner, bekannt als Dichterin und als Schriftſtellerin
[454] auf dem Gebiete der Frauenbildung, zwei Brüder: Wilhelm
Büchner, Fabrikant zu Pfungſtadt, und Louis Büchner,
der berühmte Verfaſſer von "Kraft und Stoff", ſowie ein
Neffe, Dr.Ernſt Büchner, waren aus Heſſen gekommen;
ein dritter Bruder, der bekannte Literarhiſtoriker Alexander
Büchner, Profeſſor zu Caen in Frankreich, war am Er-
ſcheinen verhindert, hatte aber dem Comité brieflich ſeine
Theilnahme ausgeſprochen.
Um vier Uhr ordneten ſich die Verſammelten zu einem
langen, ſtattlichen Zuge von etwa 300 Theilnehmern, um
den Zürichberg hinan zum Germania-Hügel zu ſchreiten; an
der Spitze des Zuges, mit einem großen Lorbeerkranz ge-
ſchmückt, wehte die ſchwarzrothgoldene Fahne der deutſchen
Studirenden, getragen von Studioſus Krupp, dem Neffen
des bekannten Kanonengießers zu Eſſen. Als der Zug am
Hügel angekommen war und in weitem Halbkreis um das
Denkmal ſich aufgeſtellt hatte, eröffneten die Studenten die
Feier durch den Geſang des alten Burſchenſchafterliedes:
"Wir hatten gebauet ein ſtattliches Haus". Hierauf be-
grüßte Studioſus Umlauft die Verſammelten mit begeiſterten
Worten in einer kurzen Anſprache. Es folgte die Feſtrede
von Dr.Calmberg, welcher in ausführlicher Entwickelung
ein getreues Bild von dem Leben und Wirken Georg Büchner's
entrollte, indem er ihn als Dichter, als Politiker und als
Gelehrten ſchilderte; mit den Worten, daß dem edlen Todten
dieſer Ehrenplatz gebühre, weil er "ein Dichter und ein
Kämpfer für die Freiheit" geweſen, nahm er den Lorbeer-
kranz von der Fahne und legte ihn auf das Denkmal. Nun
trat Louis Büchner vor, um in warmen, herzlichen
Worten der Verſammlung den Dank der Familie auszuſprechen
[455] und das Denkmal dem Schutze der Behörde zu empfehlen.
Wilhelm Büchner trug ein ſchwungvolles Gedicht vor,
welches er dem Andenken ſeines zu früh dahingeſchiedenen
Bruders gewidmet. Louiſe Büchner legte einen Trauer-
kranz auf das Grab. Ein ernſter Geſang der Studenten
ſchloß die erhebende Feier.
Am Abend verſammelten ſich viele Theilnehmer des
Zuges zu einem Bankett im Saale des Café littéraire. Hier
folgten ſich nun, der patriotiſchen Feſtſtimmung entſprechend,
in freier Weiſe zahlreiche Trinkſprüche und Reden von
G. A. Wislicenus, Gottfried Kinkel, Louis
Büchner, u. A. Dazwiſchen kamen verſchiedene Zuſchriften
zur Verleſung, welche aus Nah' und Fern beim Comité ein-
gelaufen waren, von Profeſſor Karl Vogt in Genf, von
Rudolf Fendt in Darmſtadt, von Alexander
Büchner in Caen u. A. Alle feierten in ehrenden
Worten das Andenken an Georg Büchner und ſprachen
ihre Sympathie für die Ideale aus, für die er gekämpft
und gelitten.
Hoch oben auf dem freundlichen Germania-Hügel am
Zürichberg, gegenüber dem blauen Spiegel des Züricher
See's und dem hochragenden Kranze der mit ewigem Schnee
gekrönten Alpen, im Angeſicht einer der ſchönſten Land-
ſchaften des herrlichen Schweizerlandes — da ſteht nun ſein
Denkmal; es trägt auf einer Erztafel die Inſchrift: "Zum
Gedächtniß an den Dichter von Danton's Tod, Georg Büchner,
geb. zu Darmſtadt den 17. October 1813, geſtorben als Docent
an der Univerſität Zürich den 19. Februar 1837.
Herwegh.
[[456]]
IX. Die Familie Büchner.
"Wenn der gottbegnadete Strahl des Genius oder her-
vorragender Geiſteskraft", bemerkt Ludwig Büchner in einer
ſeiner Schriften, "ſich unter ſo vielen Tauſenden von Durch-
ſchnitts-Menſchen hier oder da auf ein einzelnes Haupt nieder-
läßt, ſo bietet ein ſolches Ereigniß an und für ſich Grund
des Erſtaunens oder der Bewunderung und gibt der großen
Mehrzahl der Menſchen hinreichenden Anlaß, an eine gewiſſe
Art von "Wunder" zu glauben oder der ſehr verbreiteten
Meinung zu huldigen, daß die Genies wie man zu ſagen
pflegt, "vom Himmel fallen!" In unſerer nüchternen Zeit
freilich, die an keine Wunder mehr glaubt oder glauben will,
pflegt man ſich nach andern und ſolchen Gründen für die
Entſtehung der Genies umzuſehen, welche mehr mit dem
natürlichen Gang der Dinge zuſammenhängen. Man forſcht
nach ihrer Herkunft, nach ihrer Familie, nach ihrer Erziehung
und Umgebung, kurz nach jenen mannigfaltigen inneren und
äußeren Einflüßen, welche jeden einzelnen Menſchen in ſeinem
Weſen, wie in ſeinen Handlungen oder Leiſtungen bis zu
einem ſolchen Grade beeinfluſſen oder beſtimmen, daß nach
der Meinung der angeſehenſten Philoſophen der Vergangenheit
und Gegenwart nur ein verhältnißmäßig kleiner Spielraum
[457] für ſeinen ſogenannten freien Willen oder ſeine freie Wahl
übrig bleibt. Am belehrendſten oder wichtigſten aber für
eine ſolche Forſchung müſſen jene Fälle erſcheinen, wo ein
genialer Menſch nicht vereinzelt oder unvermittelt mit ſeiner
Umgebung daſteht, ſondern wo dieſelben Urſachen, welche ihm
ſelbſt das Leben gaben, gleichzeitig und in ſeiner nächſten
Nähe eine Reihe ähnlicher oder verwandter Erſcheinungen
hervorgerufen oder zur Folge gehabt haben."
Als der Verfaſſer von "Kraft und Stoff" dieſe Be-
merkung niederſchrieb, dachte er vielleicht kaum daran, daß
ein ſolcher Fall, und zwar der inſtruktivſten Art, gerade in
ſeiner Familie vorliege. Wenn es wahr iſt, daß, wie die
Phyſiologen behaupten und die tägliche Erfahrung beſtätigt,
die Eigenſchaften der Eltern auf die Kinder übergehen, und
daß eine glückliche Miſchung der Charakter- und Geiſtes-
Eigenſchaften der beiden Erzeuger eine der vornehmſten Be-
dingungen für die Tüchtigkeit des Erzeugten bildet, ſo muß
ſchon bei Georg's Eltern nach ſolchen Bedingungen oder nach
hervorragenden Geiſtes-Eigenſchaften geſucht werden. Daß uns
in der That die oben bezeichnete Regel auch hier nicht im
Stiche läßt, haben wir in der Einleitung nachzuweiſen ge-
ſucht. Aber dies glückliche Erbe iſt nicht blos dem Erſt-
geborenen zu Theil geworden. Faſt alle Geſchwiſter Georg
Büchners ſind, wenn auch nicht in gleichem Maaße, ſo doch
mehr oder weniger von jenem Strahle des Geiſtes beſchienen
worden, welcher dem Namen ihres erſtgeborenen Bruders
einen ſo gerechten Anſpruch auf Erhaltung im Gedächtniß
der nachgebornen Geſchlechter erworben hat. Es ſind dies
die drei jüngſten Geſchwiſter Georgs. Die beiden ihm zu-
nächſt folgenden, Mathilde (geb. 20. April 1815) und
[458]Wilhelm (geb. 5. Auguſt 1817), deren bereits in der
Einleitung Erwähnung geſchehen, ſind nicht ſchriftſtelleriſch
thätig geweſen. Aber auch ſie ſind keine Dutzendmenſchen.
Mathilde hat ſich durch ihre praktiſche Thätigkeit um ge-
meinnützige weibliche Beſtrebungen verdient gemacht, Wilhelm
als Großinduſtrieller und auf politiſchem Gebiete. Er iſt
jetzt Beſitzer einer der größten exiſtirenden Ultramarinfabriken
in Pfungſtadt bei Darmſtadt und entdeckte die künſtliche
Bereitung des Ultramarins ſelbſtſtändig zu einer Zeit, da
dieſe noch Geheimniß war. Nachdem ihn das Vertrauen
ſeiner Mitbürger zu wiederholten Malen als Abgeordneten
in den heſſiſchen Landtag geſchickt, wo er hauptſächlich in
Finanzfragen im Intereſſe des Landes wirkte, wählte ihn im
Frühjahr 1877 der Wahlkreis Darmſtadt-Großgerau zum
Abgeordneten in den Deutſchen Reichstag, wo er ſich der
Fortſchrittspartei anſchloß. Er hat nur wenige Fachſchriften
geſchrieben; um ſo thätiger waren, wie erwähnt, die drei
jüngſten Geſchwiſter. Dieſelben bilden in Gemeinſchaft mit
ihrem verſtorbenen Bruder Georg eine Schriftſteller-
Familie im wahren Sinne des Wortes, wie dies ſchon
Karl Gutzkow in einem vor mehreren Jahren erſchienenen
Aufſatz mit Recht bemerkt hat.
Die Aelteſte derſelben Louiſe Büchner, iſt geboren am
12. Juni 1821. Sie kannte ihren Bruder Georg nur als
Kind und hatte ihn natürlich auch während der zwei Jahre
ſeiner Verbannung nicht geſehen, doch blieb ſein Andenken
ſtets in ihr lebendig durch die Erzählungen der Eltern und
der älteren Geſchwiſter. Ihr dichteriſches Talent entwickelte
ſich bereits ſehr früh. Leider warf des Bruders trauriges
Schickſal und die dadurch hervorgerufene Trauer und Zurück-
[459] gezogenheit der Familie einen düſtren Schatten gerade in die
Zeit ihrer erſten Jugend. Einigen Erſatz hiefür gewährte
ihr eine innige Freundſchaft mit Karl Gutzkows erſter, in
jener Zeit in Frankfurt a. M. wohnender Frau Amalie, die
ſie in liebevollſter Weiſe an ſich heranzog, und in deren
Haus ſie ſo manche ſchöne und intereſſante Stunden und
Wochen verlebte. Nachdem ſie durch den Tod dieſer treuen
Freundin ſehr vereinſamt worden, erwachte in ihr allmählig
der Wunſch und Trieb, das, was ſie in ſich fühlte und
dachte, auch weiteren Kreiſen mitzutheilen. Die äußere An-
regung gab der Buchhändler K. Meidinger in Frankfurt a. M.,
er ermunterte die ihrer eigenen Kraft mißtrauende Schreiberin
ſo lange, bis das kleine und ſpäter ſo verbreitete Buch "Die
Frauen und ihr Beruf" entſtand. Es erſchien im Herbſt
1855 ohne den Namen der Verfaſſerin. Schon ein halbes
Jahr vorher hatte eine Novelle "Die kleine Hand" Aufnahme
in das "Morgenblatt" gefunden. Die Verfaſſerin blieb von
da ab in fortgeſetzter Verbindung mit dieſem Blatt und ſchrieb
für daſſelbe mehrere Novellen, welche ſpäter geſammelt bei
Th. Thomas in Leipzig unter dem Titel "Aus dem Leben,
Erzählungen aus Heimath und Fremde" (1861) erſchienen
und von der Kritik ſehr günſtig aufgenommen wurden. Ins-
beſondere fand die anziehend geſchriebene Novelle "Der lederne
Bräutigam", zu der ſich die Verfaſſerin den Stoff aus einem
Aufenthalt bei Verwandten in Holland geholt hatte, großen
Beifall. Etwa ein Jahr darauf erſchien ein einbändiger
Roman "Schloß Wimmis".
Inzwiſchen fand das Schriftchen über die Frauen und
ihren Beruf ſo allgemeinen Anklang, daß raſch nacheinander
mehrere durch Zuſätze bereicherte Ausgaben erſchienen (Vierte
[460] Auflage, Thomas in Leipzig 1872). Nach dem Tode der
Eltern richtete Louiſe Büchner, nachdem ſie noch im Jahre
1860 eine inzwiſchen in zwei Auflagen erſchienene Gedichte-
Sammlung unter dem Titel "Frauenherz", ſo wie in Ge-
meinſchaft mit ihrem Bruder Alexander die vor Kurzem in
fünfter Auflage ausgegebene Anthologie "Dichterſtimmen
aus Heimath und Fremde" veröffentlicht hatte, in ihrem
Hauſe einen alljährlich zur Winterszeit wiederkehrenden Ge-
ſchichtskurſus für junge Damen ein. Im Laufe von zehn
aufeinander folgenden Jahren trug ſie ſo die geſammte Welt-
geſchichte vor.
1865 erſchienen (Flemming, Glogau) die liebenswürdigen
"Weihnachtsmährchen", entſtanden aus winterlichen Erzäh-
lungen, mit welchen die Verfaſſerin die beiden älteſten Kinder
ihres Bruders Ludwig zu unterhalten pflegte. Das kleine
Buch reiht in einer ſehr glücklichen Weiſe den heidniſchen
Urſprung des Weihnachtsfeſtes an deſſen gegenwärtige chriſt-
liche Bedeutung an und hat vielen Kinderſeelen große Freude
gemacht.
Das Jahr 1866 brachte ihr Gelegenheit, ihre theore-
tiſchen Beſtrebungen auf dem Gebiet der Frauenfrage auch
praktiſch zu bethätigen. Die in Darmſtadt reſidirende
Prinzeſſin Ludwig von Heſſen (Alice, Tochter der Königin
von England, jetzt regierende Großherzogin) zog Fräulein
Büchner zu ſich, um ihr bei der Bildung eines gemeinnützigen
Frauenvereines behülflich zu ſein. So entſtand der ſeitdem
zu großer Blüthe gelangte "Alice-Verein für Frauenbildung
und Frauenerwerb". Aus dieſem Verein gingen hervor: der
Alice-Bazar, das Alice-Lyceum und eine Induſtrie-Schule
für junge Mädchen. Im Alice-Lyceum hielt Louiſe Büchner
[461] während drei Wintern Vorträge über deutſche Geſchichte,
deren letzter Abſchnitt 1875 (Th. Thomas, Leipzig) erſchien
unter dem Titel "Deutſche Geſchichte von 1815-1870".
Das Buch wurde von der Kritik mit vielem Lobe aufge-
nommen. Im Uebrigen gab der neugegründete Verein ihr
immer reichere Gelegenheit, ihre Kräfte und Anſtrengungen
der praktiſchen Löſung der Frauenfrage zuzuwenden. Auf den
Frauenverbandstagen zu Berlin und Hamburg wurden ihr
darum auch vielfache, ehrlich verdiente Auszeichnungen zu
Theil. Größere ſchriftſtelleriſche Erzeugniſſe dieſer Thätigkeit
ſind die 1870 bei O. Janke in Berlin erſchienene Schrift
"Praktiſche Verſuche zur Löſung der Frauenfrage" und die
1872 bei C. Köhler in Darmſtadt herausgegebene Broſchüre
"Ueber weibliche Berufsarten". Ferner erſchien (Th. Thomas,
Leipzig) ein erzählendes Gedicht aus ihrer Feder "Clara
Dettin". In den letzten Jahren hat ſich die geiſtige Pro-
duktion der fleißigen Schriftſtellerin nur auf kleinere Aufſätze
und Arbeiten beſchränkt, doch iſt ſie praktiſch fortwährend in
einer Weiſe thätig, welche ihr hohe Achtung und Anerkennung
ſichert.
Der bekannteſte Sproſſe der Büchner'ſchen Familie iſt
der fünfte, Dr.Ludwig Büchner, Verfaſſer der berühmten
Schrift: "Kraft und Stoff", welche Jahre hindurch die ge-
bildete Welt in geiſtige Aufregung verſetzt und unzählige
Federn in Bewegung gebracht hat und noch bringt. Geboren
am 29. März 1824 zeigte er ſchon als Knabe und Jüng-
ling eine ſtarke geiſtige Regſamkeit und Schaffenskraft. Nach-
dem er das Darmſtädter Gymnaſium mit glänzendem Zeugniſſe
abſolvirt, bezog er im Frühjahr 1843 die Landesuniverſität
Gießen, um daſelbſt, folgend dem Wunſche ſeines Vaters
[462] und entgegen ſeiner eigenen, mehr zur Nachdenklichkeit und
zu idealem Schaffen neigenden Geiſtesrichtung, das Studium
der Medizin zu ergreifen. Es geſchah dieſes gerade zu einer
Zeit, während welcher die neuere, durch Chemie und Mikroscop
geſtützte und durch Liebig und Biſchoff vertretene Richtung
der Naturwiſſenſchaften und der Medizin die ältere natur-
philoſophiſche Schule unter Wilbrand, Ritgen u. ſ. w. zu
verdrängen begann. Neben den mediziniſchen ſetzte jedoch
Büchner ſeine philoſophiſchen und äſthetiſchen Studien fort.
Als Student betheiligte er ſich lebhaft an den damals in
der deutſchen Studentenſchaft auftauchenden Reformatiens-
beſtrebungen. Nachdem er auch in Straßburg ein halbes
Jahr lang mediziniſche Vorleſungen in franzöſiſcher Sprache
gehört hatte, beſtand er im Frühjahr 1848 ſein Fakultäts-
Examen in Gießen "magna cum laude". Der Sommer
dieſes ſtürmiſchen Jahres theilte ſich für ihn zwiſchen der
Abfaſſung ſeiner Inaugural-Abhandlung: "Beiträge zur
Hall'ſchen Lehre von einem excitomoriſchen Nervenſyſtem"
(Gießen 1848) und der Theilnahme an den politiſchen Be-
wegungen der damaligen Zeit.
Im Herbſt 1848 kehrte er nach Druck ſeiner Abhand-
lung und Beſtehung ſeiner Disputation als Doktor in ſeine
Vaterſtadt zurück. Hier ſetzte er im Verein mit ſeinen
jüngeren Studien- und Geſinnungsgenoſſen ſeine politiſchen
Beſtrebungen auf einem allerdings ſehr unſicheren Boden
fort, bis die Niederſchlagung des Aufſtandes in Baden aller
politiſchen Agitation ein Ende machte und eine nun folgende
ſchwere Zeit für alle Diejenigen, welche ſich politiſch eifrig
gezeigt hatten, begann. Den Nachtheilen, welche ſeine Freunde
und Geſinnungsgenoſſen betrafen, entging Büchner einiger-
[463] maßen durch ſeine Stellung als Arzt und dadurch, daß er
nicht lange darnach behufs weiterer Berufs-Ausbildung eine
Reiſe nach Würzburg und Wien unternahm, nachdem er noch
vorher die Herausgabe der "Nachgelaſſenen Schriften" ſeines
Bruders Georg beſorgt und die Lebensbeſchreibung deſſelben
als Einleitung dazu geſchrieben hatte. In Würzburg war
es namentlich Virchow, deſſen damals mehr und mehr empor-
keimender Ruhm ihn feſſelte und der zum Theil ſeine ſpätere
Richtung beſtimmte. Nach der Rückkehr von Wien befaßte
ſich Büchner theils mit der ärztlichen Praxis in ſeiner Vater-
ſtadt, theils nach Wunſch und Anleitung ſeines Vaters mit
der Abfaſſung gerichtlich-mediziniſcher Arbeiten.
Bald darauf nahm er eine Stellung als Aſſiſtenz-Arzt
an der mediziniſchen Klinik und als Privat-Dozent daſelbſt
an. Während der drei Jahre, welche er in Tübingen zu-
brachte, hielt er, abgeſehen von den ihm als Hospital-Arzt
obliegenden Geſchäften, beſuchte und mit Beifall aufgenommene
Vorleſungen, namentlich über gerichtliche Medizin. Die letztere,
deren humane Seite Büchners Neigung anzog, bildete ſein
Hauptfach, in welchem er namentlich durch Verwerthung der
neueren Reſultate der Phyſiologie und pathologiſchen Anatomie
zu wirken ſuchte. Dieſe Arbeiten, ſowie die Lectüre von
Moleſchott's "Kreislauf des Lebens", gaben ihm die Idee
zu ſeinem ſo bekannt gewordenen Buch "Kraft und Stoff.
Empiriſch-naturphiloſophiſche Studien", in welchem er den
kühnen Verſuch unternahm, die bisherige theologiſch-philo-
ſophiſche Weltanſchauung auf Grund moderner Naturkenntniß
umzugeſtalten. Tendenz und Art der Darſtellung gewannen
dem 1855 (Meidinger, Frankfurt a. M.) erſchienenen Werke
eine ſolche Theilnahme, daß ſchon nach wenigen Wochen eine
[464] neue Auflage veranſtaltet werden konnte. Für den Verfaſſer
ſelbſt hatte daſſelbe die perſönlich unangenehme Folge, daß
er ſeinen Lehrſtuhl in Tübingen aufgeben und in die Heimath
zurückkehren mußte, wo er ſeine frühere Thätigkeit als
praktiſcher Arzt wieder aufnahm. Das Buch erlebte in-
zwiſchen immer neue Auflagen, rief einen wahren Sturm
in der Preſſe und eine große Menge anfeindender Kritiken,
wie geharniſchter Gegenſchriften hervor und verwickelte Büchner
in eine Reihe literariſcher Streitigkeiten, denen er theils durch
Vorreden zur dritten und vierten Auflage von "Kraft und
Stoff", theils durch Journal-Artikel zu begegnen ſuchte, in
welchen er außerdem noch andere, ſeiner Richtung verwandte
Gegenſtände in den Kreis der Betrachtung zog.
Sein zweites Werk "Aus Natur und Wiſſenſchaft.
Studien, Kritiken und Abhandlungen" (dritte Auflage, Leipzig,
Thomas. 1874 — auch in franzöſiſcher und engliſcher
Ueberſetzung erſchienen) dient gewiſſermaßen als Ergänzung
und Erläuterung der in "Kraft und Stoff" niedergelegten
Anſichten, indem es das reiche, inzwiſchen angeſammelte
Material nach verſchiedenen Seiten hin in gedrängter und
überſichtlicher Weiſe verarbeitet und vervollſtändigt. Das
Talent Büchners zeigt ſich in dieſen Arbeiten namentlich
nach ſeiner kritiſchen Seite als ein ſcharfes und feines. Die
letzte Auflage enthält auch eine in vieler Hinſicht ſehr be-
merkenswerthe Selbſtkritik von "Kraft und Stoff". Dieſes
letztere Werk, von welchem jetzt die vierzehnte deutſche Auflage
vorliegt (Leipzig Th. Thomas 1876), wurde faſt in alle
lebenden Sprachen übertragen. Die franzöſiſche Ueberſetzung
hat bereits die fünfte, die italiäniſche die dritte Auflage erlebt.
[465] Auch ſind in Amerika zwei deutſch-amerikaniſche Ausgaben
erſchienen.
Im Jahre 1857 veröffentlichte Büchner unter dem
Eindruck der von allen Seiten auf ihn einſtürmenden Polemik
die in Dialog-Form abgefaßte Schrift: "Natur und Geiſt
oder Geſpräche zweier Freunde über den Materialismus und
über die realphiloſophiſchen Fragen der Gegenwart", in welcher
er den Verſuch unternahm, die beiden, in der materialiſtiſchen
Streitfrage ſich bekämpfenden Standpunkte einander gegen-
über zu ſtellen und durch einen gegenſeitigen Meinungsaus-
tauſch die Grenzen zu beſtimmen, bis zu welchen zur Zeit
die menſchliche Erkenntniß auf Grund realer Prinzipien vor-
zuſchreiten vermag. Obgleich die auf zwei Bände angelegte
Schrift nicht vollendet wurde und bis jetzt nur der erſte,
den Mikrokosmos behandelnde Band vorliegt, hat doch dieſer
erſte Band bereits die dritte Auflage erlebt. (Leipzig, Th.
Thomas, 1876.)
Nachdem ſich der durch "Kraft und Stoff" hervorge-
rufene Sturm etwas gelegt hatte, erſchienen die ſpäteren
Auflagen des merkwürdigen Buches ohne weitere Vorreden,
und Büchner benützte ſeine freie Zeit wieder mehr zur Fort-
ſetzung ſeiner fachwiſſenſchaftlichen Studien, ſowie zu öffent-
lichen Vorträgen. Dieſe haben das Material für das Buch
"Phyſiologiſche Bilder" (Erſter Band, Leipzig, Th. Thomas,
zweite Auflage 1872, zweiter Band ebenda 1875) geliefert,
in deſſen zweitem Bande die wichtige Gehirn- und Seelen-
frage in ebenſo erſchöpfender, wie überzeugender Weiſe be-
handelt wird. Ein dritter und letzter Band ſteht in Ausſicht.
1864 veröffentlichte er ferner eine Ueberſetzung und populäre
Bearbeitung des berühmten Werkes des engliſchen Geologen
Ch. Lyell "Ueber das Alter des Menſchengeſchlechts auf der
G. Büchner's Werke. 30
[466] Erde und den Urſprung der Arten durch Abänderung". (2. Aufl.
Leipzig. Th. Thomas 1874.) In den Wintern 1866-68
hielt er in ſeiner Vaterſtadt, ſowie in einer Anzahl benach-
barter Städte eine Reihe von öffentlichen Vorleſungen über
die Darwin'ſche Theorie von der Entſtehung der Arten im
Pflanzen- und Thierreich. Dieſe Vorträge erſchienen im
Jahre 1868 in Druck und fanden gleichfalls ſolchen Anklang
bei dem leſenden Publikum, daß im Jahre 1876 bereits die
vierte, ſehr vermehrte Auflage ausgegeben werden konnte.
Ebenfalls aus einer Reihe öffentlicher Vorträge entſtand die
Schrift: "Der Menſch und ſeine Stellung in der Natur,
in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, oder: Woher
kommen wir? Wer ſind wir? Wohin gehen wir?" (Leipzig,
Thomas), von welcher Schrift 1872 die zweite, ſehr vermehrte
Auflage erſchien. Sie wurde gleichzeitig in franzöſiſcher,
italiäniſcher und engliſcher Sprache ausgegeben. In der
dritten Abtheilung dieſer Schrift "Wohin gehen wir?" ent-
wirft der Verfaſſer ein intereſſantes Bild von der wahr-
ſcheinlichen Zukunft des Menſchengeſchlechts und der menſch-
lichen Geſellſchaft im Sinne fortſchreitender leiblicher und
geiſtiger Entwicklung.
Im Frühjahr 1872 hielt Büchner in Folge einer ihm
gewordenen Einladung in Peſth, Wien und Nürnberg eine
Reihe von Vorleſungen über naturphiloſophiſche Gegenſtände
mit großem Erfolg. Derſelbe ermuthigte ihn zur Annahme
einer aus den Vereinigten Staaten von Seiten verſchiedener
deutſcher Vereine wiederholt an ihn ergangenen Einladung
zur Abhaltung öffentlicher Vorleſungen in Amerika. Im
Herbſt 1872 verließ Büchner Europa, nachdem er noch in
Hamburg mehrere Vorträge gehalten. In Amerika ſprach
er im Laufe des Winters in nicht weniger als zweiunddreißig
[467] Städten über ſieben verſchiedene Themata. Einer dieſer
Vorträge hilft in erweiterter Geſtalt den Inhalt des zweiten
Bandes der "Phyſiologiſchen Bilder" bilden; einer erſchien
als Vortrag, ebenfalls erweitert, im Jahre 1874 bei Th.
Thomas in erſter und zweiter Auflage unter dem Titel:
"Der Gottesbegriff und ſeine Bedeutung in der Gegenwart";
ein Vortrag endlich über Materialismus iſt bei Butts und Comp.
in New-York in engliſcher Sprache erſchienen unter dem
Titel: "Materialism: Its history and influence on society".
Die Aufnahme, die Büchner in Amerika ſowohl von Seiten
der Deutſchen, wie faſt noch mehr der Amerikaner fand, war
eine ebenſo glänzende wie zuvorkommende, und die Verbreitung
ſeiner Schriften nahm von dieſer Zeit an in Amerika wie
anderwärts einen ſolchen Aufſchwung, daß er nach ſeiner
Rückkehr nach Europa im Frühjahr 1873 ſich lange Zeit
nur mit der Vorbereitung der neuen Auflagen ſeiner Werke
beſchäftigen konnte. Nichtsdeſtoweniger folgte er im Winter
1873-74 einer Einladung zur Abhaltung von ſieben Vor-
trägen in Berlin, denen noch einige weitere Vorträge in
Brandenburg, Leipzig, Dresden u. ſ. w. folgten. Im Jahre
1876 erſchien im Verlage von A. Hofmann in Berlin die
letzte größere Schrift Büchner's: "Aus dem Geiſtesleben der
Thiere oder Staaten und Thaten der Kleinen". Dieſe
Schrift, welche merkwürdige Enthüllungen über die Geiſtes-
thätigkeit der niederen Thierwelt in anſprechender Form bringt,
iſt von der geſammten Kritik auf das beifälligſte aufge-
nommen worden. "Ludwig Büchner's Schriften", ſagt ein
competenter Kritiker hierüber, "ſind immer intereſſant, ſei
es durch die pikante Behandlung, welche er realphiloſophiſchen
Fragen zu geben weiß, ſei es durch die geſchickte Verwerthung
wiſſenſchaftlichen Materials für ſeine Tendenz. Das In-
30 *
[468] tereſſanteſte jedoch, was bisher aus der Feder dieſes lebens-
vollen Autor's floß, dürfte dieſes neueſte Werk ſein. Es iſt
eine Darſtellung der Thierſeelenkunde auf Grund wiſſen-
ſchaftlicher Thatſachen und bringt vieles Bekannte. Wie
jedoch der Autor z. B. das Leben der Ameiſe ſchildert, die
Ameiſen-Republik, Haus- und Wegebau, die Ackerbau
treibende Ameiſe, die Viehzucht und Milcherei des merk-
würdigen Inſekts, ferner den Staat der Bienen, die Jagd
der Spinnen u. ſ. w., das macht das Buch einzig in ſeiner
Art. Es funkelt ſo zu ſagen von Geiſt und hat ein Leben
des Vortrags, eine Charakteriſtik der Thier-Individuen, ſpannt
die Erwartung der Leſer und rundet die einzelnen Capitel ab,
faſt wie eine gute Novelle. Das Buch wird ſicherlich Glück
machen." Dieſe Vorausſage iſt bereits eingetroffen, eine
zweite Auflage und eine holländiſche Ueberſetzung ſind er-
ſchienen. Ganz neuerdings erſchien noch in demſelben Ver-
lage als Pendant zu obigem Werke: "Liebe und Liebes-
Leben in der Thierwelt".
Dieſe vielſeitige Thätigkeit des fruchtbaren Schriftſtellers
iſt um ſo mehr anzuerkennen, als ihm ſeine Nöthigung zu
materiell-praktiſcher Berufsarbeit — abgeſehen davon, daß
ſie zerſtreuend wirkt — verhältnißmäßig nur wenig Zeit zur
Schriftſtellerei, zur Erfüllung oder Weiterführung der vielen
literariſchen Aufgaben und Pläne, welche noch vor ihm liegen,
übrig läßt. Sollte ſich dieſer leidige Umſtand ändern, ſo
iſt von Büchner, der gegenwärtig auf der Höhe ſeiner
Leiſtungsfähigkeit ſteht, gewiß noch Bedeutendes zu erwarten.
Im Jahre 1860 verheirathete ſich Büchner mit einem
Fräulein Thomas aus Frankfurt a. M., welche ihn mit vier
blühenden Kindern beſchenkt hat. Ein überaus glückliches
Familienleben entſchädigt ihn für viele ungerechte Angriffe
[469] jeder Art, welche ihm ſein redliches und oft ſo mühſames
Streben nach Wahrheit und Aufklärung eingetragen hat und
noch einträgt. Im öffentlichen und politiſchen Leben war
Büchner ſeit dem Mißglücken der 1848er Bewegung, der er
ſich mit ganzer Seele hingegeben hatte, wenig mehr thätig,
doch verdankt ihm hauptſächlich die durch eine lange Reihe von
Jahren von ihm geleitete Darmſtädter Turngemeinde ihre
jetzige Blüthe und Bedeutung, insbeſondere durch die von
Büchner angeregte und auch ausgeführte zweimalige Ein-
richtung eines Verwundeten-Lazareths in den weiten Räumen
der Turnhalle in den Kriegsjahren 1866 und 1870, und
durch die Gründung und Erziehung einer aus den Mit-
gliedern der Gemeinde gebildeten Sanitätsmannſchaft, welche
theils in den Lazarethen, theils auf dem Schlachtfelde thätig
war. Einen Theil dieſer Mannſchaft führte Büchner im
Oktober 1870 nach Epernay in Frankreich, um in den
dortigen Spitälern thätig zu ſein. Seine Verdienſte in dieſer
Richtung anerkannten die preußiſche, öſtreichiſche und heſſiſche
Regierung durch Verleihung von Auszeichnungen. Auch er-
wählte ihn das Vertrauen ſeiner Mitbürger zum Mitglied
der Darmſtädter Stadtverordneten-Verſammlung.
Die Urtheile über Ludwig Büchner und ſein ſchrift-
ſtelleriſches Verdienſt ſind bekanntlich überaus verſchieden
und oft diametral einander entgegengeſetzt. Denn während
die Einen ihn und ſeine Leiſtungen hoch erheben, wiſſen die
Anderen nicht genug Ausdrücke der Verachtung und Herab-
ſetzung für beide zu finden. Wenn nun auch Neid über
Büchners ſchriftſtelleriſche Erfolge hiebei eine Rolle ſpielen
mag, ſo liegt der wahre Grund doch tiefer. Büchner hat
durch ſeine radikalen und vor keiner logiſchen Conſequenz
zurückſchreckenden Ideen und Aeußerungen, überdies durch
[470] ſeinen erfolgreichen Kampf gegen philoſophiſches Phraſen- und
Blendwerk, ſowie gegen theologiſche Irrthümer, den unver-
ſöhnlichen Haß aller Derer auf ſich gezogen, welche bei der
Aufrechterhaltung jenes Blendwerks oder jener Irrthümer
perſönlich betheiligt ſind. Derer ſind aber zur Zeit noch ſo
viele, daß ihren vereinigten Anſtrengungen ſchwer zu wider-
ſtehen iſt. Daß es Büchner doch gekonnt, iſt ein Beweis
für die Bedeutung des Mannes.
Der jüngſte Sproſſe der Büchner'ſchen Familie,
Alexander Büchner, iſt am 25. Oktober 1827 zu Darm-
ſtadt geboren. Er beſuchte das dortige Gymnaſium, ſtudirte
vom Frühjahr 1845 an zu Gießen und Heidelberg Juris-
prudenz und promovirte am erſtgenannten Orte im Sommer
1848. Sodann betrieb er ſeinen Acceß an heſſiſchen Ge-
richten, wurde aber im Laufe des Jahres 1851 durch
Miniſterialverfügung in Ungnade entlaſſen, weil er ſich an
der im März 1848 ausgebrochenen politiſchen Bewegung
auf's lebhafteſte betheiligt, viele Volksreden gehalten und
zahlreiche Artikel in demokratiſche Blätter geſchrieben hatte.
Im Sommer 1851 war er zur erſten Weltausſtellung nach
London gegangen. Alsbald berichteten Berliner Spione, daß
er mit Kinkel, Ledru Rollin, Koſſuth und anderen Flücht-
lingen conſpirire. Nach Darmſtadt zurückgekehrt, wurde er
deßhalb vor eine Special-Unterſuchungs-Commiſſion geſtellt,
welche jedoch nichts herausbrachte als dasjenige, was der
Angeſchuldigte ſelbſt zugab, nämlich das Vorhandenſein
demokratiſcher und deutſch-einheitlicher Geſinnungen. Zu
einer Zeit, wo Biſchof Kettler in Mainz thatſächlich Groß-
herzog von Heſſen war, genügte dies, um die erwähnte Maß-
regelung zu veranlaſſen.
Alexander Büchner benützte nun mit Freuden dieſen
[471] Anlaß, um ſeinen belletriſtiſchen Neigungen ungeſtört nach-
zuhängen. Er hatte bereits ein Bändchen Gedichte (1851)
veröffentlicht, und begab ſich nun zunächſt nach München,
um ſeine artiſtiſchen Kenntniſſe zu vervollſtändigen. Dann
ging er nach Zürich, wo er ſich als Privatdozent an der
philoſophiſchen Facultät habilitirte. Die Ausſichten auf Er-
richtung einer eidgenöſſiſchen Hochſchule, welche damals mehrere
junge Gelehrte nach Zürich gezogen hatte, zerſchlugen ſich
jedoch, und er lebte nun längere Zeit in Stuttgart und in
Tübingen zum Zwecke der Benützung der dortigen Bibliotheken
und im Verkehr mit ſeinem an der Tübinger Klinik ange-
ſtellten Bruder Ludwig. In jenen Jahren erſchienen von
ihm eine Ueberſetzung des "Childe Harold" (1853, Meidinger,
Frankfurt) und eine "Geſchichte der engliſchen Poeſie ſeit dem
Mittelalter" (Darmſtadt, Diehl. 1855.) Später folgte die
Novelle "Der Wunderknabe von Briſtol", (Leipzig, Thomas
1862) und der Roman "Lord Byron's letzte Liebe" (im ſelben
Verlage 1863.)
Ende 1854 unternahm Alexander Büchner eine Reiſe
nach Paris, und die bei dieſer Gelegenheit angeknüpften
Verbindungen bewirkten im Frühjahr 1857 ſeinen Eintritt
in das franzöſiſche Unterrichtsweſen. Er lebte zunächſt in
Valenciennes und dann ſeit 1862 in der prächtigen Normandie
zu Caën, woſelbſt er an der Univerſität als Profeſſor der
"littérature étrangère" wirkt. Eine der Früchte des Auf-
enthalts in Frankreich ſind die "Franzöſiſchen Literaturbilder
aus dem Bereich der Aeſthetik" (2 Bände, Frankfurt 1858),
ferner eine Ueberſetzung von Jean Pauls "Vorſchule zur
Aeſthetik". In Gemäßheit ſeiner Stellung hat ſich Alexander
Büchner ſeither mehr und mehr der Schriftſtellerei in fran-
zöſiſcher Sprache gewidmet und eine große Reihe literariſcher
[472] Abhandlungen veröffentlicht, deren letzte "Hamlet le Danois"
(Paris, Hachette, 1878) iſt. Die zahlreichen Freunde, welche
er ſich in Deutſchland erhalten hat, rühmen ebenſo ſehr die
franzöſiſche Urbanität ſeiner Sitten, wie die ächt deutſche
Unwandelbarkeit ſeines Charakters.
Wir haben damit das Bild dieſer Schriftſteller-Familie
vollendet und wollen nur noch bemerken, daß die Familie
Büchner als ſolche, in Folge einer am Ende des vergangenen
Jahrhunderts geſchehenen Auswanderung zweier Großonkel
der gegenwärtigen Familie nach Holland in dieſem Lande
weit zahlreicher verbreitet iſt, als in Deutſchland. Ein
dortiges Glied derſelben, Dr. Ernſt Büchner, bekleidet ſeit
lange den ehrenvollen Poſten eines Mitgliedes der erſten
Kammer der Stände des Königsreichs. Deſſen Vater und
Georg Büchners Onkel, Dr. Willem Büchner in Gouda, hat
eine ganze Reihe bedeutender mediciniſcher Werke in holländiſcher
Sprache veröffentlicht. Auch in Amerika leben mehrere Zweige
der Familie Büchner.
K. E. F.
Nachſchrift. Seitdem Obiges (vor länger als zwei
Jahren) geſchrieben wurde, iſt Luiſe Büchner (am 28.
Nov. 1878) im 56. Lebensjahre aus dem Leben geſchieden.
Ihr auf die Frauenfrage bezüglicher Nachlaß iſt 1878 bei
H. Geſenius in Halle unter dem Titel: "Die Frau.
Hinterlaſſene Aufſätze, Abhandlungen und Berichte zur Frauen-
frage" (470 S.) erſchienen, während ihr "belletriſtiſcher
Nachlaß und vermiſchte Schriften" in demſelben Jahre bei
J. D. Sauerländer in Frankfurt a. M. in zwei Bänden
herausgegeben wurde.
liche, Verſe in Herwegh's Gedicht an Büchner.
Album "Phantaſiegemälde" (Frankfurt, Sauerländer) redigirte.
Goethes Geliebte. K. E. F.
Briefe von Lenz der Novelle einzufügen. Man vergleiche hierüber
den Brief an ſeine Eltern, Straßburg, October 1835. K. E. F.
geſtandene Polen im Intereſſe des Louis Philipp'ſchen Friedens-
ſyſtems fallen ließ. L. B.
Oberheſſen. F.
ſein Verhältniß zu Minna Jaeglé; die obige Stelle, leider die einzige,
die erhalten geblieben, iſt der Einleitung entnommen. F.
mehrerer als aufrühreriſch befundenen Schriften zur Caſſation und
fünfjährigen Feſtungsſtrafe verurtheilt. L. B.
Zuge Theil genommen hatte, ſich in Darmſtadt aufhielt und viel
mit dem Briefſteller correſpondirte. L. B.
Der Leſer weiß, daß das Gerücht ſehr begründet war, und daß
Büchner in erſter Linie wußte, es ſei durchaus keine "Erfindung".
Ueber die Abſicht, welche Büchner durch dieſe und ähnliche Un-
richtigkeiten den beſorgten Eltern gegenüber verfolgte, gibt die Ein-
leitung Aufſchluß. F.
und nach Amerika entlaſſen, Frankh von den Civilgerichten zu
einer Freiheitsſtrafe verurtheilt. L. B.
Hilfe ſeiner entſchloſſenen Frau aus der Feſtung entflohen und nach
Straßburg gegangen. L. B.
gerichtet. Das vorangehende Stück exiſtirt nicht mehr. F.
Attentat verwickelt und deßwegen längere Zeit in Haft, aber am
20. Mai 1834 wieder freigegeben, nahm an der nun folgenden
Thätigkeit der geheimen Geſellſchaften zur Verbreitung revolutionärer
Flugſchriften lebhaften Antheil und legte bei ſeiner am 8. Mai 1835
erfolgten zweiten Verhaftung ſo umfaſſende und abſichtliche Ge-
ſtändniſſe über ſeine Mitſchuldigen vor dem Unterſuchungsrichter ab,
daß er in Berückſichtigung dieſer Verdienſte ſowohl, als einer ge-
ſchwächten Geſundheit, ſchon am 23. Auguſt deſſelben Jahres wieder
freigelaſſen wurde (was damals bei keinem der ſonſtigen Ange-
ſchuldigten geſchah) und von da an in fortwährender Relation mit
ſeinem Unterſuchungsrichter blieb. — Er lebte ſpäter, überall zurück-
geſtoßen, an verſchiedenen Orten. L. B.
dem Lande". F.
Vrgl. d. Einleitung. F.
(im Frankfurter "Telegraph", 1837, Nr. 43, S. 339) folgendes:
"Meine Kritik (über "Dantons Tod") hatte auch eine Folge, die
für unſere Zuſtände nicht unintereſſant war. Ich erhielt nämlich
aus der Schweiz einen anonymen Brief, der allem Anſcheine nach
von der dortigen "jeune Allemagne" — (nicht zu verwechſeln mit
dem "jungen Deutſchland"!) — herrührte und worin mir über
mein Lob eines politiſchen Apoſtaten, wofür Büchner nun ſchon
galt, die heftigſten Vorwürfe gemacht wurden. Es war zu gleicher
Zeit der Neid eines Schulkameraden, der ſich in dem Briefe aus-
ſprach. Den Verfaſſer, den ich wohl errathe, ärgerte das einem
ehemaligen Freund geſpendete Lob und um ſeine kleinliche Empfindung
zu verbergen, hüllte er ſich in pädagogiſche Vorwände. Der ge-
ärgerte Schulkamerad ſchrieb: "Bei der unbedingteſten Gerechtigkeit,
die ich Büchner's Genie widerfahren ließ, iſt es mir doch nie ein-
gefallen, mich vor ihm in eine Ecke zu verkriechen." Darauf folgte
ein Erguß über die Eitelkeit, in der nun der Kamerad beſtärkt
werden würde, eine Verſicherung, daß er Büchner's wahrer Freund
wäre und in einem Poſtſcript — ob ich nicht eine Antikritik ab-
drucken wollte! Mir ſchien dies anonyme Schreiben ſo verdächtig,
daß ich Büchner einen Wink gab und von ihm (obige) Aufklärung
drei Monate nach Büchner in Zürich, nachdem er kurz vor deſſen
Erkrankung eine Wiederausſöhnung mit ihm verſucht hatte.
F.
in ſeinem fünfzehnten Jahre, entſtanden, erſcheinen hier zum erſten
Male aus dem Original-Manuſcript abgedruckt. — Die Zuſatzſtrophe
zu dem Gedichte "Die Nacht" hat Büchner 1835 flüchtig an den
Rand des Papiers hingeſchrieben. F.
naſium (Herbſt 1831.) Erſter Abdruck nach dem Orginal-Manuſcript.
F.
leitung von Büchner's politiſchen Ueberzeugungen und Handlungen
gibt, finden ſich hier jene Stellen aus Nöllners Werk über den
Prozeß Weidig, welche auf Büchner Bezug haben, vollinhaltlich zu-
ſammengeſtellt.
Schulz, Gattin des Dr. Wilhelm Schulz, Büchners getreuer Pflegerin.
Sie ſind ein Auszug aus dem Tagebuche der edlen Frau, welchen
ſie nach dem Dahinſcheiden des Dichters für deſſen Familie an-
gefertigt. F.
Verfaſſer des Artikels iſt Dr.Wilhelm Schulz. F.
Lebendigen", die von Louiſe Büchner ſind ihren Gedichten: "Frauen-
herz" (Leipzig, Thomas) entnommen. F.
die erſte und eine der bemerkenswertheſten, welche das Werk er-
fahren. Sie iſt hier wortgetreu nach dem erſten Abdruck (im
"Phönix", Frühlings-Zeitung für Deutſchland, Nr. 162 vom 11. Juli
1835. S. 645-46) reproduzirt. F.
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjrb.0