[][][][][][][[I]]
Reiſeſchule
für
Touriſten und Curgäſte


Leipzig.:
Verlag von Adolf Gumprecht.
1869.

[[II]]
[[III]]

Inhalt.


  • I.
    Erſtes Zuſammentreffen — der vielgereiſte Engländer —
    Kunſt der Reiſe — der Touriſt von Fach und ſeine Reiſe-
    ſchüler — apodemiſche Studien — Verabredungen S. 1 — 6
  • II.
    Vorbereitungen — ſchweres Herz — Reiſehandbücher —
    Stadtpläne — Reiſepläne, deren Sclaven und Narren —
    Muſterung und Verpackung — Livrée für Gepäckgegenſtände —
    auffällige Markirung — Hauptliſte für Mitzunehmendes —
    Reiſeapparat — Vocabeln und Sätze S. 7 — 26
  • III.
    Reiſekleider — Codex turisticus § 1 — Wäſcherinnen —
    Barbiere — entſittlichende Eigenſchaften der Seife — zur
    Kleiderordnung — Lebensrettung — Nothbehelfe in Robinſon-
    verhältniſſen — pädagogiſche Attrapen — Hauptanzug —
    waſſerdichte Bereitung — Gepäckreductionen — Joppe —
    Knöpfe — Reſerveſyſtem — Gepäck ſo wenig als möglich —
    koſtſpielige Erſparniſſe und Aſſecuranzgebühren — Koſten —
    Poſtanweiſungen — Fortification — nackte Knie — gegen
    Näſſe — der Plaid und ſeine Verdienſte — Plaidnadeln —
    Kopfbedeckungen — ſchon wieder Wäſche — Reiſeluſt und
    Reinlichkeitsliebe — der Reinlichkeitsfanatiker und ſeine
    Toilettengeheimniſſe — zur Farbenlehre — bergauf — Copie
    nach niederländiſchem Original — Diener — Hutbänder mit
    Gebirgsprofilen — erlaubte Beſcheidenheit — Vorſichts-
    maßregeln — Fahrbillets — Gepäckſcheine — die verſteckte
    Fahrkarte — Werthſachen zu ſichern — Diebe — weitere Sicher-
    heitsmaßregeln — Papiergeld — Gold — chirurgiſche Hilfe —
    [IV]Inhalt.
    Goldmägen — Verſicherungsſchein — aus dem Wagen
    ſpringen — todte Briefe — Verluſte durch Zerſtreutheit —
    Taſchen u. abermals Taſchen — Stühle — Gedächtnißkrücken —
    Tailleur Krausé — Handwerkerbildungsvereine — fernere
    mnemotechniſche Krücken — bei eiliger Abreiſe — Friedrich der
    Verſchlafene — Adreſſen und Erkundigungen — ſchriftliche
    Aufzeichnungen — Gedächtniß und Phantaſie — Schreiben im
    Freien und im Fahren — Cigarrenanzünden — Zündhölzer —
    ſchriftliche Notizen — Reiſetagebuch — Entwürfe und Aus-
    arbeitungen S. 27 — 62
  • IV.
    Ausrüſtung für ſchwierige und gefährliche Gänge —
    Schuhwerk — Strümpfe — Wundwerden — Reiſetaſchen —
    Mundvorrath — Lang---ſam! — Vorläufer u. Nachzügler —
    Einſpruchsrecht — Rückblicke — Alpenſtock — auf und ab
    über Schnee, Geröll, Felſen ꝛc. — Unglücksfälle — Gras-
    hänge — Ulyſſes fährt in die Unterwelt — Hinabgleiten —
    Gefahren und Rettungsmittel — Wanderſtäbe — Knieholz —
    Felsplatten — abwärts — Sturz — Eisſporen — Seile —
    Eisbeile — Lawinen — Rückweg — nicht allein — Ent-
    fernungen — Narrenwagniſſe — außergewöhnliche Er-
    ſteigungen — Uebertreibungen — Führer — Schwindel —
    Fußſchau — Glycerin — Hautpflege — Schneebrillen —
    Schleier — Fußwanderung — früh aufſtehen — Eſſen und
    Trinken — Höhepunkte und Fernſichten des Reiſelebens —
    cum grano salisVeſuv — Durſt — Erkältungen —
    kalter Thee und Kaffee — Fleiſchbrühe — Getränkkühler —
    Waſſer — Hochgebirgsbeſchwerden — Bergweh — Alpen- und
    Tigermilch — Erholungs- und Vergnügungsreiſen — ſich
    einmal ſo recht auslaufen — Läuferwahnſinn — hypochondriſche
    Studien — Ode an die Nerven — ſchroffe Uebergänge — wie
    neu geboren — Aſchermittwoch S. 63 — 100
  • V.
    Luftcurorte und Mineralquellen — der neue Souverän —
    Bedürfniß und Ueberfluß — Stiftungen — wohlfeile Unſterb-
    [V]Inhalt.
    lichkeit — nicht gerechtfertigte Anlagen — Wege — Wald-
    reviere — Lichtungen, Schatten — Sitzen im Freien — Bänke —
    Wünſche und Beſchwerden — Culturgeſchichtliches — Sommer-
    friſchen — Dorfgeſchichten — häusliche Einrichtungen — un-
    willkommene Sinnesreize — Curvorſtände — Ohrenſchinder —
    muſikaliſche Drangſale — Lenz und Frühſommer — Früh-
    kommen — bei knapper Zeit — böſes Wetter u. farbenblinde
    Augen — Meteorologiſches — Hochſommerglut — für u. gegen
    große u. kleine Bäder — naturaliſtiſche Luftcurverſuche in der
    Wildniß — Ventilation — Kaffeehäuſer — Bierſtuben —
    Siedelungsverſuche — ſociale Stellung des Kranken — Kunſt,
    mit Anſtand und guter Laune krank zu ſein — geſunder
    Menſchenverſtand — Tagesordnung — wie geht’s? — der junge
    Nachwuchs der Curorte — Laienbrief an die H. H. Doctores
    loci
    — Elementarunterricht — Geheimeräthe und Orden —
    Haupt- und Nebenſachen — romantiſche Verführungen —
    Verſtand und Erfahrung — Reiſequeckſilber — Spielart von
    Touriſt und Curgaſt — Fahrſucht — natürliche Grenzen —
    gerecht und vollkommen — Geſtändniſſe — Schmuggeleien —
    Reiſecurgäſte und ihre böſen touriſtiſchen Gelüſte — Reiſe-
    jagden — Scheu vor Wiederholungen und Rückwegen — Ver-
    weile! — Galerien — wiederholte Reiſen — Jahreszeit —
    Curzeitvergeudung — drückende Nahrungsſorgen — Balneo-
    logie und Klimatologie — Laienwünſche — monographiſche
    Lücken — Durchſchnittstemperatur — zur Diät der Seele —
    Geduld, Geduld, Geduld! — Penſionsweſen — Winter-
    curorte — Kündigungsrecht — eine Penſionsmutter — mein
    Stubennachbar — Nordlicht — Satzungen — Zug nach dem
    Süden — Troſt für Zurückbleibende — ewiger Frühling —
    deutſcher und ſchweizer Unternehmungsgeiſt — ſehr ent-
    täuſcht — Hoffnungen und Wünſche — an junge Aerzte —
    Erforderniſſe — Meeresküſte — ſpazieren klettern — verlorenes
    Paradies — Oertliches — Turnen — ernſte Ueberlegungen —
    Waffen gegen Langeweile — Geographie der Langenweile —
    Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang — Zer-
    ſtreuungen, Zeitvertreibe, Beluſtigungen — Rentierleben —
    [VI]Inhalt.
    Rentiers u. Sinecuriſten — Tröſteinſamkeit — Hantierungen —
    Zucht der Phantaſie — am Abgrunde — Stundenplan —
    Schutz der Arbeit und Bürgſchaften der Freiheit — Sonnenſchirm
    für Curgäſte — Metallklammern (Letter elips) S. 101 — 164
  • VI.
    Eingehende Wirthshausforſchungen — erſte Hôtels —
    Tantièmeſyſtem — Stockſiſchfänger und Piraten — Zudring-
    lichkeiten — Händler — zur Nautik — wie ermittelt man
    gute Gaſthöfe — Elephantenjagd — geheime Regiſtratoren —
    Gegenſeitigkeit — poſitiver und negativer Pol — Scorpione —
    noble Herrſchaften und kleine Leute — polniſche Grafen —
    Grand Hôtel au Dindon d’Or — vierſpänniges Trara —
    Fürſten und Große — Paris und London — Waſſer und
    Brod — Imperfectum und Futurum — HietzingGoethe
    Bier — volksthümliche Gerichte — Particularismen und
    Vandalismen — Lehren der Weisheit und Tugend für
    Wirthe — Delicateſſen — Augenblendwerk — Wirths-
    congreſſe — der Küchenvirtuos — gaſtroſophiſche Studien —
    culinariſche Erziehung des Menſchengeſchlechts — ein Pro-
    feſſeur der Gourmandiſe — Geſchmacksbildung — gaumen-
    äſthetiſche Rang- und Quartierliſte — Nahrungsſorgen —
    Kampf um’s Daſein — paläontologiſche Forſchungen in Küchen-
    abfällen — härteſte Nothzuſtände — Abſchätzung der Gäſte —
    unſer ſchwarzes Regiſter — Abrechnung — weitere Bitten an
    Wirthe — welche Gaſthöfe Sparſame meiden — noch ein
    Mittel gegen Uebertheuerung — Zeche — Kleingeld —
    Kellner — Verſchwendung und Knickerei — Ruſſen, Engländer,
    Franzoſen — Trinkgelder und Geſchenke — Lob der Cigarre —
    im Eiſenbahncoupé — Reiſeökonomie — wohlfeilſte ſchweizer
    Reiſe — die Schweiz und ihr Ruhm — fernere Erſparniſſe an
    Zeit, Geld, Mühe und Verdruß — Uebernachten im Freien,
    in Sennhütten und Heuſchobern S. 165 — 201
  • VII.
    In internationalen Angelegenheiten — feſtlandläufige
    Anſichten über Engländer — antibritiſches Sperrſyſtem — keep
    [VII]Inhalt.
    your distance — Würfeltintefaß — I \& you — warum ſie
    reiſen — wiſſenſchaftliche Baratterie — verletztes Selbſt-
    gefühl — Nord- und Süddeutſche — Zurückhaltung —
    engliſche Touriſten — Subtractionsexempel — Fertigkeit im
    Reiſen — franzöſiſches Urtheil über Engländer — franzöſiſche
    Touriſten — engliſche Reiſewerke — Kunſt der Reiſe-
    beſchreibung — Comfort — Yankees — Scheu vor An-
    näherung an Fremde — Berliner — Alltagsmenſchen —
    geiſtige Rangſtufen — Anknüpfungen — Hinderniſſe — Mi-
    moſennaturen — Muſterung — Graf Zwei — Störung —
    gräfenberger Duſche — Dialektſtudien — Entzifferungskunſt —
    Scherze — Localpoſſen — Quarteronen — Fragewuth —
    Franklin — moraliſche Erzählungen vom Lohn der Tugend —
    Griesgrame, Hypochonder, Sonderlinge — Schiffszwieback-
    naturen — Fähigkeit anzuregen — Gemüthlichkeit — neu-
    gefundene Freunde — Geſprächsſtoffe — Rückſichten — Ueber-
    gangszuſtände — nachgeſchickte Zeitungen — Volksleben —
    Lord B. — Mittelclaſſen — lange, lange Pappeln — Ge-
    ſandte, Conſuln — Empfehlungsbriefe — gebildete Familien —
    geſchloſſene Geſellſchaften — Buchhandlungen — Gefühl der
    Verlaſſenheit — allein reiſen — Warnung vor den beſten
    Freunden — ſchwerſte Geduldsprüfungen — kleine Ueber-
    raſchungen — Frauen — Négligé — Ehemänner — verſchiedene
    Reiſegefährten — allein abreiſen — Hauptzwecke S. 202 — 235
  • VIII.
    Neue Geſtändniſſe, die von Rechts wegen in die Vorrede
    gehörten — praktiſche Dinge — Geſichtspunkte — Beiläufig-
    keiten — Ulyſſes wird ruhmredig und hinterhaltig — Diener —
    Erſparniſſe — gelehrter Kram — touriſtiſcher Stammbaum —
    Blick in alte Zeiten — die Reiſe, ihre Freunde und Feinde,
    Vortheile und Nachtheile — Triebfedern — Eitelkeits- und
    Phantaſietouriſten — Poeſie der Reiſe — Reiſefieber — neue
    Art zu reiſen — Eiſenbahnweſen und ſeine Flegeljahre —
    Hoffnungen — Techniker — Ruß- und Bußfahrten —
    feurige Kohlen — Staubbrillen — Bahnhofreſtaurants —
    [VIII]Inhalt.
    Fürſprecher — Widerwärtigkeiten und Strapazen — Comfort —
    Rechtfertigung — allgemeine Betrachtungen — geiſtige Rund-
    und Fernſicht — Zwecke — Summe der Reiſeerfahrungen —
    der große Touriſtenſtrom — Reiſemüde — Grade der Empfäng-
    lichkeit — Farbenſcheibe — Nutzanwendung — Monotonie des
    ſteten Wechſels — beſtimmte Richtung — Reiſemechanismus —
    paſſives Empfangen von Eindrücken — Specialität — keine
    Zeit haben — Märtyrer der Berufspflicht — Mußeſtunden —
    Jugend und Alter — Einſeitigkeit — ewiges Einerlei —
    geiſtige Alpenregion — Sammler und Sammlungen —
    Excerpte — Lichtſtrahlen — ein Sonderling — Berufswahl —
    Wechſel der Stimmungen — das beſte Geſchäft — die Reiſe
    eine Wohlthäterin — ein anderer Kauz — allein und ab-
    getrennt — Zucht von Steckenpferden — Zerſtreuungsjäger —
    pariſer Ennui — große Modebäder — worauf es ankommt —
    ein gutes Reiſegewiſſen und ſeine Forderungen — was wir
    alles beobachten ſollen — Vielſeitigkeit — Bienen und
    Fliegen — Wahl treffen — ſpitze Bleiſtifte — weitere Mittel
    gegen Reiſemüdigkeit — Hauptaufgaben — Sehenswürdig-
    keiten — Menſchen- und Selbſtkenntniß — Probierſteine und
    Schleifſteine — Geſelligkeitstrieb — Einſiedler — Ausſchließ-
    lichkeit — Befürchtungen — die Reiſe ein Maskenball —
    öffentliche und Privatbälle — Zwiegeſpräche — große Geſell-
    ſchaften — Hintergedanken — betrübende Wahrnehmung —
    unſre Geſchäftsfreunde — ein Landpaſtor — Stadt- und
    Landleute — plötzlicher Geldgewinn — Wohnungsmiethe —
    Preisſteigerungen — Luxusgäſte — Trinkgelder, Geſchenke,
    Almoſen — Culturfortſchritte — Selbſtvertheidigung — durch
    Cultur zur Natur zurück — unſre Aufgaben — Politik —
    Heimgekehrte — leichtſinniges Briefſchuldenmachen — Im-
    ponirenwollen — Abenteuer — Reiſeberichte — Zweifel —
    Abſchiedswort und Reiſeſegen S. 236 — 278
[[1]]

I.


Erſtes Zuſammentreffen — der vielgereiſte Engländer — Kunſt der Reiſe — der
Touriſt von Fach und ſeine Reiſeſchüler — apodemiſche Studien — Verabredungen.


An einem regneriſchen Nachmittage kam ich, der deutſche
Herausgeber dieſes Büchleins, im Wirthshauſe zu Meiringen
an. Am Tiſche ſaßen zwei Herren, die engliſch ſprachen und
wie Briten, aber doch nicht allzu particulariſtiſch ausſahen,
ſonſt war Niemand im Zimmer. Ich ſetzte mich deshalb in
Sprechweite an denſelben Tiſch, entſchloſſen, mit ihnen be-
kannt zu werden, nöthigenfalls ſie anzureden.


Mancher Leſer wird ſchon hier verſtimmt den Kopf ſchüt-
teln und einen geſellſchaftlichen und internationalen Verſtoß
darin ſehen, Fremde, und gar Engländer, anreden zu wollen.
So will ich denn nur gleich geſtehen, daß ich ſelbſt bei meinen
früheſten Wanderungen dieſe Scheu vor Annäherung an Un-
bekannte theilte, allmählich jedoch einſah, daß ſie eines der
läſtigſten und zweckwidrigſten Gepäckſtücke des Reiſenden, mit-
hin daheim zu laſſen iſt. Auch der Britenhaß gehört dar-
unter, eine Erörterung beider Gegenſtände mag indeß auf
ſpäter vorbehalten bleiben.


Diesmal brauchte ich nicht die Koſten des erſten Schritts
zu beſtreiten, denn der ältere der beiden Herren kam mir nach
wenigen Minuten entgegen durch eine in deutſcher Sprache
gemachte Bemerkung, welche, nach Ton und Blick zu ſchließen,
keine beſtimmte Adreſſe hatte, ich nahm ſie daher für eine jener
halben Einladungen zum Geſpräch, die abgelehnt oder er-
griffen, fallen gelaſſen und wieder aufgenommen werden kön-
1
[2]I. Erſtes Zuſammentreffen — der vielgereiſte Engländer — Kunſt d. Reiſe.
nen, je nach Umſtänden, alles ohne Präjudiz, ſo recht für den
Reiſegebrauch geeignet. Die Unterhaltung wurde bald leb-
haft, ſetzte ſich fort bis in die Nacht, hatte zur Folge, daß ich
mich beiden Herren für die weitere Reiſe anſchloß und —
daß dieſes Büchlein entſtand. Da es zur Legitimation deſſel-
ben gehört (Wanderer, die ſich gar nicht ausweiſen können,
laufen Gefahr, als Landſtreicher behandelt zu werden), ſo ſei
es vergönnt, zunächſt auf einige Perſonalien einzugehen, die
weiteren Capitel ſollen dann um ſo ausſchließlicher Realien
gewidmet ſein.


Die Herren waren wirkliche, leibhaftige Engländer,
Oheim und Neffe. Der Erſtere, Sohn einer deutſchen Mut-
ter, hatte ſchon als Knabe mehre Jahre in einer deutſchen
Lehranſtalt zugebracht und war unſrer Sprache völlig mächtig.
Nachdem er lange als Officier in Oſtindien gedient und dort
Frau und Kinder verloren, hatte er, tief gebeugt, dazu kränk-
lich, ſeinen Abſchied genommen und war nach Europa zurück-
gekehrt. Auf ärztlichen Rath verbrachte er darauf geraume
Zeit in deutſchen Bädern, den Alpen, Südeuropa und dem
Orient. Gegenwärtig war ſein Wohnſitz London, es verging
aber ſelten ein Sommer, den er nicht theilweiſe auf dem Feſt-
lande zubrachte. Als ich ihm begegnete, hatte er ſeinen Neffen
bei ſich, um ihn in der „Kunſt der Reiſe“ zu unterrichten,
welche nach ſeiner Anſicht nicht unter die „noblen Paſſionen“,
ſondern höher hinauf, unter die accomplishments of a
thorough gentleman,
die Erforderniſſe eines vollkommenen
Gentleman gehörte.


Was ich unter dieſer, ehedem „Apodemik“ genannten
Kunſt verſtehe, ſagte er, wird ſich weiterhin ſattſam ergeben,
hier will ich nur bemerken, daß in dieſen Bereich meines Er-
achtens Alles gehört, was beitragen kann, die Reiſe erſprieß-
lich und angenehm zu machen, ein richtiges Verhältniß herzu-
ſtellen zwiſchen Mitteln und Zwecken, ihre Mißlichkeiten und
Gefahren zu mindern und ihre Genüſſe zu ſteigern. Nicht
blos ſind dabei eigentliche Touriſten in’s Auge zu faſſen,
[3]I. Der Touriſt von Fach u. ſ. Reiſeſchüler — apodemiſche Studien.
denen es gilt, Zeit, Mühe, Verdruß und Geld zu erſparen,
ſondern ebenfalls Solche, die der Geſundheit halber reiſen
oder ſich an fremdem Orte aufhalten, wenn auch die Bedürf-
niſſe der letzteren natürlich nur ſo weit berückſichtigt werden
können, als ſie nicht Sache des Arztes ſind. — Mein
Neffe Eduard, fuhr er fort (wie ich ſpäter hörte, war der
junge Mann leidend und ſollte den nächſten Winter im Sü-
den zubringen), iſt mein Erbe. Da nun aber ein Theil mei-
nes Vermögens bald nach mir auch den Wanderſtab ergriffen
hat und nur in Erinnerungen und Erfahrungen umgewan-
delt heimgekehrt iſt, ſo möchte ich wenigſtens mit dieſer ideellen
Valuta ſo viel als thunlich meine Hinterlaſſenſchaft ergänzen,
damit der arme Junge nicht zu kurz kommt. Bis jetzt kann
ich indeſſen ſeinen Eifer und ſeine Fortſchritte nicht ſehr rüh-
men, es iſt mir darum lieb, daß Sie ihm mit gutem Beiſpiele
vorangehen wollen. — Der alte Herr, dem Touriſtiſches
einer der liebſten Geſprächsſtoffe war, hatte nämlich bald be-
merkt, daß er an mir einen aufmerkſamen und dankbaren
Hörer fand. Was er ſeine Altersgeſchwätzigkeit nannte, war
mir höchlich willkommen, denn ich brauchte nur irgend einen
Gegenſtand aus unſrem Lieblingsgebiete zu berühren, ſo
zeigte ſich, daß er darüber Erfahrungen geſammelt hatte. So
machte ich alſo unter ſeiner Leitung meine apodemiſchen Stu-
dien, und wir verabredeten, daß ein Buch daraus werden, in
welchem er Ulyſſes minor heißen ſollte. Mich ernannte
er zu ſeinem Adoptiv-Telemach und zum Univerſalerben ſeiner
ganzen Reiſeweisheit, verſprach und lieferte mir auch ſeinen
Vorrath von Aufzeichnungen zu unbeſchränkter Verfügung für
unſer gemeinſchaftliches Buch.


Ihr ſeid das Literaturvolk, ſagte er. Von je hundert
Deutſchen ſollen neunundneunzig ſchreiben gelernt haben.
Ob daſſelbe günſtige Verhältniß ſich auch auf Eure Autoren
erſtreckt, ich meine, ob von je hundert derſelben neunund-
neunzig auch ſchreiben können, mögen die Literaturzeitungen
entſcheiden, hoffentlich ſind Sie nicht gerade Einer von denen,
1*
[4]I. Verabredungen.
die es nicht können. Wie nun aber Ihr das literariſche Volk
ſeid, ſo ſind wir Engländer das touriſtiſche. Während Ihr
mehr Literaturgeſchichten beſitzt, als alle anderen Völker zu-
ſammen, gibt es bei uns mehr Reiſebeſchreibungen als im
ganzen Schriftenthum der übrigen Welt und wenn viele
Uebung den Meiſter macht, ſo müſſen wir die Reiſemeiſter
ſein. Es würde mich freuen, wenn Ihre Landsleute aus mei-
nen Erfahrungen und Einfällen einigen Nutzen zögen.


Warum eigentlich der alte Herr nicht ſelbſt ein Buch über
die Kunſt der Reiſe ſchrieb, iſt mir bis heute nicht recht klar
geworden. Wiederholt ſuchte ich ihn darüber auszuforſchen,
immer aber antwortete er ausweichend oder ſcherzend. Hat
doch auch, ſagte er einmal, Sokrates Schülern überlaſſen,
ſeine Weisheit der Welt zu verkünden, von Ihnen hoffe ich,
daß Sie ſich zu mir wie Plato zu ihm verhalten werden.
Alle Lehre wird, mündlich vorgetragen, eindringlicher, ſoll
jedoch ein Buch die Vermittelung übernehmen, ſo hat dieſes
den Leſern gegenüber einen beſſern Stand, wenn ſein geiſtiger
Urheber nicht ſelbſt für jedes Wort einzuſtehen braucht, denn
Unvollkommenes daran wird dann dem Herausgeber zur Laſt
gelegt und dem Anſehen des Erſteren geſchieht kein Abbruch. Ein
andermal war die Entgegnung, er ſei zum Soldaten, nicht
zum Schriftſteller erzogen; dann wieder munkelte er von Ver-
hältniſſen, die ihn hinderten, ſelbſt Hand anzulegen, kurz, es
ſchien, als ob es ihm darauf ankomme, mich im Dunkeln zu
laſſen über ſeine Beweggründe. Auf ſeine ſonſtigen Abſichten
und Pläne wird das letzte Capitel einiges Licht werfen, hier
will ich nur noch ſeine Antwort auf ein von mir geäußertes
Bedenken einſchalten, „ob nicht etwa ſeine Theorie eine ſpeci-
fiſch engliſche ſei, die ſich zur Mittheilung an meine Lands-
leute wenig eigne.“


Befürchten Sie nichts der Art, erwiderte er. Ich bin
dem Blute und der Erziehung nach zur Hälfte deutſch, habe
den Haupttheil meiner Reiſezeit auf deutſchem Gebiete und
im geſelligen Verkehre mit Deutſchen zugebracht und könnte
[5]I. Verabredungen.
in der That der entgegengeſetzten Einſeitigkeit weit eher ver-
fallen. Auch davor habe ich mich jedoch zu hüten geſucht, von
der Anſicht ausgehend, daß der Touriſt als ſolcher „Kosmo-
polit“ iſt und die gediegene Touriſtenpraxis keinen nationalen
Stempel trägt, ſondern die reiſegiltigen, allgemein verwerth-
baren Erfahrungen aller Völker in ſich aufgenommen hat,
und zwar in dem Maße, als ſie ſich am Touriſtenverkehr be-
theiligen, ungefähr wie zur ſogenannten Seemannsſprache
alle ſchiffahrttreibenden Völker je nach ihrer maritimen Be-
deutung beitrugen.


Eins aber bitte ich mir aus, fuhr er nach anderen Be-
merkungen fort: daß Sie in unſrem Buche nicht etwa ſyſte-
matiſch zu Werke gehen, als ob es ſich um ein wiſſenſchaft-
liches Lehrgebäude, ein Handbuch der Touriſtik, eine Reiſe-
philoſophie oder dergleichen handelte. Laſſen Sie ſich nicht
durch den Titel „Reiſeſchule“ beirren. Wie Niemand zum
Reiſeanzug Frack und weiße Binde wählen würde, ſo ſoll
auch unſer Buch durchaus touriſtiſch angethan ſein, an-
ſpruchslos und bequem für beide Theile, Verfaſſer und Leſer.
Keineswegs muß Alles der Reihe nach gehen, ſondern von
Dieſem und Jenem darf an verſchiedenen Stellen die Rede
ſein — bunte Reihe fördert die Unterhaltung —: packen
wir doch die einzelnen Stücke auch nicht nach Kategorien in
den Koffer, ſondern je nachdem ſie ſich einfügen laſſen. Geben
Sie nur am Schluſſe ein alphabetiſches Sachregiſter, wie
ſie in unſren engliſchen Büchern ſelten fehlen, damit Leſer, die
wenig Zeit oder Geduld haben, das aufſuchen können, was
ihnen der Mühe werth ſcheint. Dann muß uns erlaubt ſein,
nicht ſtreng an die vorgezeichnete Route und auf knappe Zeit-
eintheilung zu halten, ſondern nach Belieben Ausflüge zu
machen oder länger an einem Orte zu verweilen, auch ge-
legentlich Scherz in ernſthaftes und Ernſt in ſcherzhaftes
Gewand zu kleiden. Von unſren Leſern ſetzen wir ferner
voraus, daß ſie der Mahnung „Eines ſchickt ſich nicht für
[6]I. Verabredungen.
Alle, ſehe Jeder wie er’s treibe“, am rechten Orte eingedenk
ſein werden.


Manche Autoren pflegen, ſo oft ſie von alltäglichen Din-
gen, Eſſen, Trinken, Kleidung, Geräth ſprechen, jedesmal mit
einiger Verlegenheit ſich zu entſchuldigen, daß ſie damit be-
helligen, ſodann zu verſichern, daß auch ſie, die Verfaſſer,
über ſolche Lappalien hoch erhaben ſeien, und ſchließlich zu
demonſtriren, daß dieſelben für die Wohlfahrt des Menſchen-
geſchlechts viel wichtiger ſeien, als es den Anſchein habe.
Wir verſchmähen derlei gleichfalls aus Achtung vor unſren
Leſern, unter welchen wir uns in erſter Reihe Touriſten und
Curgäſte denken, alſo die Blüte der Zeitgenoſſen.


Nicht verhehlen will der Herausgeber, daß ihm manches
Wort des Meiſters nicht eben von großem Belang ſchien und
er es dennoch aufzeichnete. Jeder Touriſt weiß aber, daß
das allen Sammlern ſo geht: ſie bewahren nicht blos Cabinet-
ſtücke auf, ſondern auch hin und wieder Kleinigkeiten. Be-
gegnete das doch ſogar Winckelmann bei ſeiner Aufſtellung
der Kunſtſchätze in der Villa Albani.


Vom folgenden bis zu den beiden letzten Capiteln docirt
der alte Herr, wo er ſelbſt nicht etwa andere Perſonen re-
dend aufführt, allein und wird nur ſelten unterbrochen durch
Fragen oder Einwürfe eines ſeiner beiden Schüler. Die
Kürze hat dadurch gewonnen, ohne daß die Klarheit gelitten.
Im vorletzten Capitel wendet ſich der deutſche Herausgeber in
internationalen Angelegenheiten an ſeine Landsleute, alsdann
iſt bis zum Schluß die Geſprächsform wieder aufgenommen,
aus Gründen, die für ſich ſelbſt reden.


Und nun friſchweg zum nächſten Capitel, welches die
erſte Lection bildet, während dieſes nur ein maskirtes Vor-
wort iſt.


[[7]]

II.


Vorbereitungen — ſchweres Herz — Reiſehandbücher — Reiſepläne — Stadtpläne
— Reiſepläne, deren Sclaven und Narren — Muſterung und Verpackung — Livrée
für Gepäckgegenſtände — auffällige Markirung — Hauptliſte für Mitzunehmendes —
Reiſeapparat.


Oft genug, in Verſen und in Proſa, iſt der Rath er-
theilt worden, beim Antritt einer Reiſe alle Sorgen daheim
zu laſſen, Entbehrungen und Ungemach jeder Art leicht zu
nehmen, ihnen eine humoriſtiſche Seite abzugewinnen. Nun,
es gibt ja Menſchen, denen jener gute leichte Sinn, welchen
der Dichter „das größte Glück und den reichlichſten Gewinn
im Leben“ nennt, von Haus aus beſchieden iſt, Andere, die
ſo weiſe waren, durch geiſtige und leibliche Turnübungen
frühzeitig ihre Willenskraft, Geduld, Nerven und Muskeln
zu ſtählen, ſo daß ſie den großen Leiden der Lebensreiſe, wie
viel mehr den kleinen des Reiſelebens jeden Einfluß auf ihre
Stimmung zu wehren vermögen. Sie Alle bedürfen des
Raths nicht. Die überwiegende Mehrzahl der Badereiſenden
und eine erkleckliche Menge Touriſten ſind jedoch keines-
wegs ſo beſchaffen, vielmehr ſoll eben erſt die Reiſe ihnen
das Heil bringen, Manche nehmen vom Hauſe ein ſchweres
Herz mit, ſchwerer und gepreßter als ihr Koffer, jener
Rath würde ihnen daher höchſtens ein Achſelzucken abgewinnen
und für unſre weiteren Vorträge mißtrauiſch machen. So
muthen wir ihnen denn nicht zu, ihre wirklichen oder gar ihre
eingebildeten Leiden und Sorgen durch eine „Willens-
[8]II. Vorbereitungen — ſchweres Herz — Reiſehandbücher.
anſtrengung“ zu beſeitigen, ſondern ſprechen lieber nicht da-
von, enthalten uns auch aller ſonſt üblichen Eingangsbetrach-
tungen von hohem Standpunkt aus: dafür iſt unterwegs
noch Zeit genug, wenn wir erſt eine Weile andere Luft ge-
athmet haben. Beginnt doch auch die Reiſe ſelbſt nicht mit
Rigipanoramen und Aetnabeſteigungen, ſondern mit platten
Alltäglichkeiten. Widmen wir uns darum einmal zunächſt
einer anderen, aber nützlichen Art von Sorgen, den Reiſe-
vorbereitungen,
vielleicht helfen ſie, jene ſchädliche Art
vertreiben. Die Prüfungen der Reiſeſchule werden wir um ſo
beſſer beſtehen, rauhe Berührungen um ſo ſicherer abhalten,
je ſorgfältiger wir uns präparirt haben.


Von einem bewanderten Freunde laſſen wir uns ein
Reiſehandbuch — nicht etwa in älterer Auflage borgen,
ſondern empfehlen, um es in neueſter zu kaufen. Gewinnt
es unterwegs durch gute Dienſte unſer Vertrauen, ſo ſcheuen
wir die Mühe nicht, von Angaben, die ſich fehlerhaft oder
veraltet erweiſen, Vormerkung zu nehmen, um dem Verfaſſer
ſeiner Zeit darüber Mittheilung zu machen. Dem Editor
der Murray’ſchen Handbooks for Travellers ſollen bei jeder
neuen Bearbeitung Stöße von derartigen Einſendungen vor-
liegen, er daraus eine Menge brauchbarer Notizen ſchöpfen,
und Einſender aus allen Geſellſchaftsclaſſen darunter ſein,
Herzöge, Lords, Biſchöfe, Induſtrielle, Kaufleute, Hand-
werker, Pächter, Damen, von Verfaſſern deutſcher Reiſe-
handbücher hört man dagegen immer nur klagen, daß ſolche
freiwillige uneigennützige Beiträge ſpärlich eingehen, deſto
mehr Behelligungen reclamenſüchtiger Wirthe und Händler. —
Dieſer John Murray, Buchhändler in London, war der Erſte,
der ein den Bedürfniſſen der neuen Zeit entſprechendes Reiſe-
handbuch zuſammenzuſtellen wußte. Er verſtand, ſeinen
Leſern raſch über alles ihnen Wiſſenswerthe bündige Auskunft
zu geben, und muthete ihnen nicht endloſe literariſche Steppen-
wanderungen zu, wie es vordem Brauch war. So hatte er
denn die Genugthuung, einen ſeiner dunkelrothen Bände
[9]II. Reiſehandbücher.
unter dem Arm faſt jedes Briten zu ſehen, der auf dem Conti-
nent einen Wagen beſtieg. Lange blieb Mr. Murray ohne
Nebenbuhler, bis endlich ein anderer Buchhändler, der ver-
ſtorbene Karl Bädeker in Coblenz, die engliſche Erfindung
auf deutſchen Boden verpflanzte. In der Regel hatten die
alten Führer *) weniger die Bequemlichkeit des Leſers als
ihre eigene im Auge, viele nothwendige Angaben enthielten
ſie ihm vor, weil ſie die Mühe und Koſten der Ermittelung
ſcheuten, bedachten ihn dafür um ſo reichlicher mit uner-
wünſchten Ablagerungen aus Chroniken und Monographien;
Winke über Wege, Entfernungen, Wirthshäuſer, Preiſe ſtreu-
ten ſie nur ſehr ſpärlich ein, bald hier bald da, ſo daß ſie ſich
wie der Hauch eines Kameels in der Wüſte verloren; mit
vornehmer Gleichgiltigkeit, etwa wie prinzliche Hofmeiſter,
blickten ſie auf gewiſſe Dinge herab, die doch für die Mehr-
zahl der Reiſenden von Belang ſind, z. B. Erſparniſſe; in
der Einleitung empfahlen ſie dringend, recht viel zu Fuße zu
gehen, ließen im Buche jedoch allenthalben durchblicken, daß
ſie dieſen Rath zu reichlich geſpendet, um für ſich ſelbſt davon
noch übrig zu haben; ferner — — doch halt! beinahe wäre
ich ſelbſt in den ſchlimmſten der Führerfehler gerathen und
hätte die Tour zu lang bemeſſen. So brechen wir denn
eiligſt das Sündenregiſter der alten Guiden ab und wenden
uns wieder zu den Verdienſten Bädeker’s. Wie Mr. Murray
Verfaſſer und Verleger in einer Perſon, ging er von dem
Grundſatze aus, daß ein dickes, ſchweres, theures Buch den
meiſten deutſchen Taſchen unzuträglich ſein dürfte, und ſtellte
eine Sammlung von Bänden her, die ſich in ihrer hellrothen,
glatten, glänzenden, biegſamen Leinwandlivree dem Auge,
der Hand und der Taſche unwiderſtehlich einſchmeicheln, der
[10]II. Reiſehandbücher.
letztern auch bei ihren abgerundeten Ecken, ihrem mäßigen
Umfang und Preiſe in keiner Weiſe beſchwerlich fallen. Auf
jede Frage hat er eine Antwort und doch fühlt man ſich kaum
je beläſtigt von aufdringlicher Führerredſeligkeit, Abſchwei-
fungen, unverdauter Gelehrſamkeit, Anläufen zum Humor
oder zur Rhetorik, noch von „vorgreiflichen Empfindungen“;
nie will er „dem Ohre ſchildern, was nur das Auge begreift.“
So gut er bewandert iſt in den hohen Regionen der Alpen,
nie verſteigt er ſich in die höheren der Wiſſenſchaft, Poeſie,
Kunſt; hat er von Gemälden zu berichten, ſo ſtützt er ſich in
gedrängten Auszügen auf bewährte Schriftſteller. Alles bei
Bädeker ſtellt ſich knapp gehalten dar, nüchtern, zur Sache,
„adrett“ wie ein Militärrapport, raſch fertig und weithin-
treffend wie ein Hinterlader. Seine Leitung iſt nicht die eines
mechaniſch dreſſirten Miethlings, noch die eines pedantiſchen
Mentors, ſondern man empfindet ſie wie den Arm eines alten,
guten Bekannten, zuweilen faſt wie die Hand einer Mutter. Jetzt
fühlen wir einen leiſen Druck am Elbogen: es iſt die Warnung
vor einem ſchlimmen Wirthshauſe, in das wir einzukehren, oder
vor einem ſteilen, ſteinigen Pfade, den einzuſchlagen wir im
Begriff waren. Jetzt ſtreckt ſich ſein Finger aus: da iſt das
beſte Bier, auf dieſem Wege findeſt Du Vormittags Schat-
ten, jener Pfad iſt bei naſſem Wetter zu meiden, in dem La-
den kaufſt Du gut und billig u. ſ. w. Solche Zuvorkommen-
heit, welche Wünſche, noch bevor ſie aufgeſtiegen, ahnet und
befriedigt, über eine große Gewalt auf unſer Gemüth: wir
Männer, auch wenn wir eng befreundet, pflegen uns derlei
kleine Aufmerkſamkeiten nicht angedeihen zu laſſen, nur von der
Gunſt und Sorgfalt weiblicher Hände zu erfahren, deſto mehr
überraſchen und rühren ſie uns, wenn wir ſie in einem Buche
finden, und nicht in einem Damenromane, ſondern in einem
ſchlichten Reiſeführer. Ein dritter (ehemaliger) Buchhändler,
Herr Berlepſch, tritt ſeit mehren Jahren als Nebenbuhler
Bädeker’s auf und der unermüdlich rege Wetteifer, den er ent-
wickelt, kann auch fernerhin nur zum Beſten des Publikums
[11]II. Reiſehandbücher.
ausſchlagen. Für allerhand Unterrichts- und Medicinal-
angelegenheiten, botaniſche, geologiſche ꝛc. Excurſe weiß er
durch gelehrte Mitarbeiter Rath zu ſchaffen, dazu iſt ſein
Verleger ſehr freigebig mit gutem graphiſchen Beiwerk.


Von neueren Reiſehandhüchern ſind noch zu empfehlen
für die Schweiz die Tſchudi’ſchen und für den Orient,
Griechenland, Aegypten, Kleinaſien und die Türkei die illu-
ſtrirten von Moritz Buſch, einem Autor von bewährtem Rufe
und vielfacher Reiſeerfahrung in vier Welttheilen.


Hier und da hört man Klagen — auch ein vielgewander-
ter, erfahrener Reiſeſchriftſteller ſchließt ſich ihnen an — daß
die Handbücher den „bergſehnſüchtigen Neuling, der wenig
Zeit und Geld aufzuwenden hat, häufig auf falſche Fährte
locken, d. h. ihn in Gegenden leiten, die im Verhältniß zu
anderen wenig Genuß bieten“. Es iſt wahr, die Handbuch-
verfaſſer ſind ſehr reich an zierenden Superlativen und zeich-
nen ihre Bilder zuweilen wie die Chineſen, die von Per-
ſpective nichts wiſſen wollen. Das kommt aber in allen Ge-
bieten vor: je mehr wir uns in Einzelheiten hineinſtudiren,
um ſo größer und wichtiger erſcheinen ſie uns und um ſo
leichter verlieren wir das Ganze aus dem Geſichte. Sind
doch auch auf den plaſtiſchen Gebirgspanoramen die Berge
unverhältnißmäßig hoch dargeſtellt, und zwar hier abſichtlich,
denn im richtigen, natürlichen Verhältniß würde das Relief
des Einzelnen für unſer Auge faſt verſchwinden. Ein ſo
großer Schaden gerade für den Neuling läßt ſich darin jedoch
nicht erblicken. Er kommt ja mit friſchem, unbefangenem
Sinne, nicht wie wir Vielgereiſte mit kritiſcher Brille, welche
mit der Schneebrille gemein hat, daß ſie vor Verblendungen
ſchützt, aber auch dem ſchönen Glanz Abbruch thut. Unſer
jugendlicher Schützling wird in Bezug auf maleriſchen Reiz
der Landſchaft und auf Verpflegung gewiß nicht gar an-
ſpruchsvoll ſein. Möglicherweiſe iſt er die Koſt eines Stu-
dentenfreitiſches in H. oder T. gewohnt, wird mithin ſelbſt
vor den Tafelfreuden, die in Thüringen, Oberbayern, Tirol
[12]II. Reiſehandbücher — Reiſepläne — Stadtpläne.
ſeiner harren, die Faſſung kaum verlieren. Laſſen wir ihn
immerhin nach dieſem oder jenem Buche ſeine Marſchroute
nehmen, er wird ſich doch „famos amüſiren“. Weit wichtiger
für ihn iſt der Geldpunkt, aber gerade da ſcheint ſich ein
Rechenfehler bei dem obengedachten Schriftſteller eingeſchlichen
zu haben. Er ſagt nämlich: „Kein Verfärben der Wahrheit,
keine patriotiſche Sentimentalität vermögen in mir die Ueber-
zeugung abzuſchwächen, daß, wer die Schweiz noch nicht ge-
ſehen, vier Wochen freie Zeit und (als Fußwanderer)
250 Franken in der Taſche hat, weitaus nichts Vernünftigeres
thun kann, als ſich nach dem berner Oberland und dem was
daran hängt, aufzumachen.“ Gewiß, die Schweiz iſt reicher
als irgend ein anderes Alpengebiet an landſchaftlich Schönem,
Alles liegt nahe zuſammen und iſt maleriſch gruppirt, dazu
bietet ſie Preiswürdigeres in Verpflegung und ſonſtigen touriſti-
ſchen Einrichtungen, beſſere Führer, größere Auswahl an-
regender Reiſegeſellſchaft, unter den Anſäſſigen findet man
mehr Intelligenz und Anſtelligkeit, weniger Schwerfälligkeit;
nur muß ich bezweifeln, daß ein „Neuling“ im Stande ſein
dürfte, mit 250 Franken vier Wochen im berner Oberlande
zu wandern, denn er würde es in hergebrachter Weiſe machen,
und ſchwerlich mit neun Franken täglich auskommen. Um
das arme junge Blut aus ſeiner Verlegenheit zu reißen, wer-
den ihm im VI. Capitel einige Winke gegeben. Uebrigens
würde ich jungen Leuten, welche einige Ausſicht auf wieder-
holte Reiſen haben, rathen, nicht zuerſt die Alpen zu be-
ſuchen, ſondern ſich vorläufig mit einem der nächſtliegenden
Mittelgebirge oder Flußgebiete zu begnügen, nach Grund-
ſätzen, welche uns noch öfter Stoff zu Betrachtungen geben
werden.


Und nun hofft unſre Reiſeſchule bei den Herren Ver-
faſſern von Reiſehandbüchern, für die ſie ſoeben eine Lanze
gebrochen, geneigtes Ohr für ein paar Anträge zu finden.
Die Stadtpläne, denen im Buche nur eine einfache oder
doppelte Seite gewidmet iſt, ſollten nicht in alter Weiſe ein-
[13]II. Reiſehandbücher — Stadtpläne.
gerichtet ſein, nach welcher der Beſchauer ein Gewimmel
kleiner Quadrate, Trapeze, Oblonge vor ſich hat, ſämmtlich
ſchwarz ſchraffirt, untermiſcht mit winzigen, undeutlichen
Buchſtaben, Ziffern, Namen, die ſich gegenſeitig im Lichte
ſtehen und auf die Füße treten, kurz, ein Bild der Verwir-
rung. Zum touriſtiſchen Gebrauch empfehlen ſich (wie es in
einigen neuen Bänden ſchon vorkommt) für alles Figürliche
rother und für die Namen ſchwarzer Druck, oder auch freund-
lich und licht gehaltene Orientirungskärtchen, die lediglich
Notiz nehmen von den Hauptverkehrsſtraßen, von denjenigen
Plätzen und Straßen, in welchen für den Fremden Gegen-
ſtände von Intereſſe ſind, vor Allem Bahnhöfe, Dampfboot-
ſtationen, Poſt, Telegraphenbureau, Kunſtſammlungen, be-
ſuchenswerthe Monumente, Kirchen und andere Gebäude,
Ausgangspunkte für Spaziergänge u. ſ. w.; willkommen
wäre ferner, wenn der Raum es erlaubt, Angabe der beſſern
Gaſt-, Kaffee-, Bierhäuſer, Reſtaurants, Gartenlokale,
Flußbäder. Nie darf die kartographiſche Orientirung

[figure]

ferner die netzartige Eintheilung mit Ziffern und Buchſtaben
und damit correſpondirendem Alphabet der Angaben fehlen;
letzteres kann, wenn es ſich auf dem Plane nicht anbringen
läßt, im Buche ſtehen. Die Linien des Netzes müſſen ſchmäch-
tig, kaum ſichtbar ſein, nicht durch dick und dünn gehen, ſon-
dern an Stellen abbrechen, wo ihre Gegenwart ſtören könnte.
Sodann will mich bedünken, daß die Reiſebücher mit jeder
neuen Auflage in demſelben Maße an Leibesumfang zu-
nähmen, als ihre Autoren ſich für ſie in Bewegung ſetzten;
Dickleibigkeit iſt aber untouriſtiſch, auch an Büchern, denn ſie
ſchmälert die Beweglichkeit und fördert die Ermüdung. Des-
halb möchte ich beantragen, mit einem geſunden Rothſtifte
den Spalten zu Leibe zu gehen und alles Entbehrliche zu
[14]II. Reiſepläne.
ſtreichen, im Nothfall eine Theilung in je zwei oder drei
Sectionen vorzunehmen, damit nicht, wie man jetzt unter-
wegs häufig ſieht, die Beſitzer die Bände auszuſchlachten
genöthigt ſind.


In mein Handbuch laſſe ich einige Blätter Schreibpapier
einheften für allerhand Notizen, namentlich den Reiſeplan.
In Bezug auf dieſen ſei vorläufig nur gewarnt, ihn wie den
Koffer (ſelbſt dieſen richte ich gern ſo ein, daß auswärts noch
das Eine oder Andere hinzukommen kann; der Spielraum
hat ſein Quartier über den Gurten, ſo daß innerhalb der-
ſelben dennoch Alles lückenlos gepackt iſt) ſehr feſt und
voll zu ſtopfen: — für die Zuſammenſtellung des Erſteren
gilt der umgekehrte Grundſatz. Hier muß Alles locker gefügt
ſein, dort ſind Lücken ſchädlich, hier nothwendig, um nicht in
Sclaverei und bei ſchlechtem Wetter in Verzweiflung zu ge-
rathen. Den Plan mache ich unter Beirath des Buchs und
Verweiſung auf deſſen Seitenzahlen nach meinen Bedürfniſſen,
betrachte aber dieſes Scriptum nur als Entwurf, nicht, wie
Neulinge zu ihrem großen Nachtheile ſo oft thun, als Geſetz.
Eine andere Art, ſich zum Narren des Plans zu machen,
iſt folgende. Derſelbe hat z. B. decretirt: 20. Juli Er-
ſteigung des .... Man kommt in .... an, hört von
allen Seiten, daß heute da oben vor Nebel nichts zu ſehen
ſein werde, klettert aber doch hinauf. „Will wenigſtens
meine Schuldigkeit thun, vielleicht wird’s noch gut.“ Droben
ſieht der betreffende Märtyrer des Plans gar nichts, nicht
einmal, daß er einen dummen Streich gemacht hat, ſteigt
herab, ſetzt ſeine Reiſe fort, Wochen lang, ſucht aber keinen
anderen Höhepunkt auf, obwohl ſein Weg an mehren vorüber-
führt, denn er hat ja bereits „ſeine Schuldigkeit“ gethan.
Ich habe es immer ſo gehalten, daß, ſobald der Himmel
mir ein beſonders heiteres Antlitz zeigte, auch die Landleute
auf deſſen Beſtändigkeit rechneten, ich nichts Eiligeres zu thun
hatte, als den nächſt gelegenen Berg zu erklimmen, gleichviel,
welche Rangſtufe die Bücher ihm zuerkannten, wenn ſie ihn
[15]II. Reiſepläne, deren Sclaven und Narren.
nur unter die lohnenden Partien zählten. Sehr mühevolle
Erſteigungen (vgl. IV.) höheren Ranges unternehme ich nie,
wenn nicht zuverläſſige Sachkundige den Zuſtand der Atmo-
ſphäre für durchaus günſtig erklären, denn die großen Fern-
ſichtspunkte gehören nur dann unter die lohnenden Partien.
Ein Anderes iſt es mit Höhen, die ſich weniger auszeichnen
durch weiten Horizont als durch eine Fülle ſchöner Bilder
in bequemer Sehweite. Jene reizen mehr die Phantaſie des
Poeten, den Ehrgeiz eines Alpenvereinsmitglieds oder den
Geſchäftseifer eines Feuilletoniſten, dieſe entzücken mehr
das Auge des Malers. Die touriſtiſche Nutzanwendung iſt
die: die Poeten- und Alpenvereinsberge ſind gewagte Unter-
nehmungen, die Malerberge dagegen, die auch bei wenig
befriedigender Luftbeſchaffenheit nicht ohne Ausſicht auf Aus-
ſicht beſtiegen werden, ſind ergiebige Verſuchsfelder für Ver-
gnügungsreiſende, der Einſatz an Mühe, Zeit und Geld nicht
hoch, und die Ueberraſchung, die ein plötzlicher Riß in den
Nebelſchleier bereiten kann, oft von zauberhaftem Reiz.


An Ort und Stelle angekommen gehören Augen und
Gedanken des Reiſenden den ſehenswerthen Gegenſtänden,
nicht den Büchern, eine zu Hauſe vorgenommene Präparation
iſt deshalb räthlich, wobei Waiblinger’s Rath zu beachten:


Richte weiſe Dich ein, wie Du die Länder durchwanderſt,

Zu viel Seltenes iſt Dir zu betrachten beſtimmt.

Alles faſſeſt Du nicht, und es lohnt ſich auch ſelbſt oft der Müh’ nicht,

Siehe nur an, was Dir nützt, was Dir als Eigenthum bleibt.

Vor größeren Reiſen muſtere ich den Inhalt von Schränken,
Commoden, Schubladen, laſſe von weiblichen Augen und
Händen die Wäſche einem examen rigorosum unterwerfen,
auch nachſehen, ob jedes Stück gezeichnet iſt, und lege alles
Mitzunehmende, ehe die Verpackung beginnt, unverdeckt und
überſichtlich bereit, wodurch eine richtige Raumbenutzung er-
leichtert und das ganze Verfahren beſchleunigt wird. Sind
drei Abtheilungen zu machen: a) durch Eil- oder Güter-
zug vorauszuſchickende Colli (vgl. III.), b) mitzunehmendes
[16]II. Muſterung und Verpackung.
Paſſagiergut (vgl. unt.), c) Handgepäck (vgl. unt.), ſo wird mit
a) Gegenſtänden, welche ich wochenlang entbehren kann,
der Anfang gemacht und dieſe untergebracht, die engere Aus-
wahl für Handgepäck c) getroffen und zuletzt das Uebrig-
bleibende als Rubrik b in den als Paſſagiergut aufzugebenden
Koffer gepackt, dabei aber, was von häufig zu brauchenden
Gegenſtänden nicht unter dem Handgepäck Platz finden konnte,
in den Koffer ſo gelegt, daß es leicht zu finden iſt. Bind-
faden, Siegellack, Papier und derlei kommt zuletzt an die
Reihe, weil damit meiſtens noch ſchließlich zu hantiren iſt.


Beim Packen muß der Taſtſinn die entſcheidende, das
Augenmaß nur eine berathende Stimme haben, denn jener
findet weit beſſer als dieſes aus den vielen aufgeſtapelten
weichen und harten, großen und kleinen Sachen heraus, wo
und wieviel noch Raum iſt: beiläufig bemerkt, ein neuer
Beweis, daß auch in praktiſchen Dingen das Gefühl zuweilen
Recht haben kann gegen die ſogenannte Einſicht. Ganz unten
kommen dünne breite Stücke zu liegen, Schreibmappe, Papier,
Landkarten. Dann folgen in einer papiernen oder anderen
Umhüllung ſchwere, eckige, ſcharfkantige Stücke, gebundene
Bücher, Käſtchen, Cigarrenkiſten, Stiefel, wobei zu ſorgen,
daß beide Seiten des Koffers ungefähr gleichmäßig belaſtet
werden. Zur Ausfüllung der Lücken und Nivellirung dienen
Strümpfe, Nachthemden, Unterkleider und andere dergl. weiche,
ſchmiegſame Geſtalten, die ſich in jede Lage, auch die ge-
drückteſte, zu ſchicken verſtehen, die man deshalb recht
haushälteriſch vertheilen und nicht leichtſinnig irgendwohin
ſtauen ſoll. Cigarrenpakete, wenn ſie nur in Papier ge-
wickelt ſind, lieben die unmittelbare Nachbarſchaft von Büchern
nicht, ertragen ſie aber, wenn man ihre empfindliche Epidermis
durch einen wollenen Strumpf ſchützt. Iſt nun die untere
aus Hartem und Weichem gemiſchte Schicht gehörig compact
und geebnet, ſo kommen Hemden und Oberkleider darauf
zu liegen. Die lange ſchmale Bucht, die ſich ganz oben
längs den Kofferwänden bildet, nachdem die Oberkleider,
[17]II. Muſterung und Verpackung.
Außenſeite einwärts gekehrt und kunſtgerecht gefaltet, ſich ge-
lagert haben, mag leer gelaſſen oder mit unzerbrechlichen
Stücken langen Formats ausgefüllt werden, nicht aber mit
Fernglas, Mikroſkop, Fläſchchen und dergl., dieſen iſt viel-
mehr eine weiche, elaſtiſche Nachbarſchaft ringsum zu geben.
Denn Gerſtäcker hat gewiß Recht, wenn er verſichert, daß die
Mißhandlungen, welchen auf „gewiſſen deutſchen Eiſen-
bahnen“ das Gepäck ausgeſetzt iſt, Alles überſteigen, was
ſonſt in der Welt vorkommt, ſo weit er ſie geſehen. Er rühmt
ſeinen ſchwarzen Lederkoffer, der nicht blos die ſchweren
Strapazen ausgehalten habe, die er in den fünf Welttheilen,
zu Lande, zu Waſſer, auf Gebirgen, von Räuberhänden und
feindlichen Thieren zu erdulden hatte, ſondern „ſogar auch“
alle Gewaltthaten von deutſchen Eiſenbahndienern.


Tuchkleider, die nicht gehörig gefaltet wurden und ſich
beim Auspacken verrunzelt zeigen, werden, um ſie zu glätten,
leicht mit Waſſer benetzt und zum Trocknen aufgehängt.


Torniſter und Jagdtaſchen müſſen natürlich ſo gepackt
ſein, daß gegen die Wand, die auf den Körper zu liegen
kommt, inwendig keine ſcharfen Ecken drücken, ſondern Alles
eben und weich iſt.


Das Tintefaß mag mit dem Raume in der Ferſe eines
Stiefels vorlieb nehmen; in dieſer Einſamkeit haben ſeine
etwaigen Herzensergießungen weniger Gefahr für das Gemein-
wohl. Nie traue man ihm ganz, auch wenn es einen Patent-
verſchluß hat. In den würfelförmigen Tintefäſſern muß das
Glas auf Springfedern ruhen, ein dicker, ſolider Gummi-
verſchluß dagegen unbeweglich im Blech des Deckels befeſtigt
ſein. Die umgekehrte Einrichtung, demzufolge das Tintefaß
im Gehäuſe ſitzt, der Gummideckel dagegen auf eine Spring-
feder geklebt iſt, taugt nicht, denn das lockere Gummiſtückchen
entſpringt gern ſeinem Hauſe, und man ertappt es dann am
Halſe des Tintefaſſes, und zwar ſo feſt angeklammert, daß
die gewaltſame Trennung ſein Herz zerreißt. Nun ſteht man
davor, die Finger voll Tinte und den Kopf voll Sorgen.


2
[18]II. Auffällige Markirung.

Nützlich iſt es, Koffern ꝛc. ein augenfälliges, vom Ge-
wöhnlichen abweichendes und in den Farben untereinander
übereinſtimmendes Aeußere zu geben, ſo daß bei der Ankunft
auf großen Bahnhöfen die eigenen Sachen leicht von Weitem
zu erkennen und von außerhalb der Barrièren die Träger
dahin zu leiten ſind. Man hat dann nicht nöthig, in dem
Gewirr von Packſtücken und Menſchen bei einem Träger um
Audienz zu werben, ſondern braucht nur z. B. „rothcarrirter
Lederkoffer“ oder „ſchwarzgeſtreifter Mantelſack“ ꝛc. laut
zu rufen, ſo wird wahrſcheinlich bald innerhalb der Schranken
ein Echo hörbar und das Verlangte auf den Schultern eines
eiligen Mannes ſichtbar werden. Demſelben leuchtete mit
der auffälligen Markirung zugleich der Umſtand ein, daß die
Abfertigung dieſes Stücks, das kein Umherſuchen verlangt,
raſcher, mithin profitabler vor ſich gehen kann, als jede
andere, er wird deshalb vermuthlich ſeine etwaigen Prioritäts-
gläubiger warten laſſen und erſt den zufälligen Findling
ausliefern. Wenn zum Ueberzug nicht ſchon ein buntfarbiges
Zeug — waſſerdicht bereitetes Segeltuch iſt eine gute, dauer-
hafte Hülle für große Gepäckſtücke, auch für Reiſetaſchen
verwendbar — genommen wurde, ſo läßt man die gewählte
Livree dem Leder, Holz, Segeltuch oder Canevas der ver-
ſchiedenen Gepäckſtücke aufpinſeln. Für dunklen Grund eignet
ſich der zinnoberrothe Copalſpirituslack. Eine Abkürzung
für dieſes Verfahren, unterwegs für kleinere Gegenſtände
anwendbar, die roth und haltbar gezeichnet werden ſollen,
iſt: ein paar Tropfen Sprit oder Kölniſchwaſſer auf ein Stück
Siegellack gebracht und, wenn die Löſung erfolgt iſt, mit
einem Zündhölzchen aufgetragen. Wird mit Buchſtaben und
Zahlen ſignirt, ſo müſſen dieſe groß und auf mehr als einer
Seite angebracht ſein. Alle meine Gepäckſtücke laſſe ich von
Haus aus mit Buchſtaben und Ziffern bezeichnen, damit ſie
unterwegs für etwaige Vorausſendung ſtets bereit ſind.
Auch der volle Name und Wohnort, aufgepinſelt oder auf
eine Metallplatte gravirt und am Koffer befeſtigt, kann unter
[19]II. Hauptliſte für Mitzunehmendes.
Umſtänden Dienſte leiſten. Manche Koffer und Mantelſäcke
haben äußerlich einen kleinen, mit eingravirtem Namen ver-
ſehenen Meſſingrahmen, in den unter ein durchſichtiges
Hornplättchen der jeweilige Beſtimmungsort geſchrieben zu
liegen kommen ſoll; der Verſchluß verſchiebt ſich aber unter-
wegs leicht und das darunter Liegende geht verloren, ich
brauche deshalb lieber gummirte Papierblätter, die ich auf-
klebe und zwar in duplo. Hellfarbige Stöcke, Regenſchirm-
griffe ꝛc. werden leicht dadurch markirt, daß man mit einer
Meſſerſpitze den Namen einritzt und mit Tinte nachzieht.
Einzelne zeichnen ſogar ihren Plaid, wenn er zur Legion
der ſchwarz und weiß carrirten gehört.


Unſer Abiturientenexamen iſt noch nicht beendigt, das
Abgangszeugniß wird erſt ausgeſtellt, wenn eine gewiſſe Liſte,
in welcher allerhand nützliche, leicht vergeßbare Dinge ver-
zeichnet ſtehen, durchgeleſen, je nach den Erforderniſſen der
Reiſe, um die es ſich gerade handelt, ein Auszug daraus
gemacht und die noch nicht bereit liegenden einzelnen Stücke
herbeigeſchafft ſind. Nachſtehend theile ich meine Liſte mit,
obwohl ich im voraus weiß, daß faſt Jeder, der ſie ſieht,
viel ihm Ueberflüſſiges und einzelne Lücken darin finden wird.
Spartaniſch Gewöhnte und Solche, welche die Regel „Gepäck
ſo wenig als möglich“ (vgl. III.) ſcharf auslegen, werden
ſich mit einem ganz knappen Auszug begnügen (für Fußreiſen
verſteht ſich das ohnehin von ſelbſt), Kränkliche hingegen und
Reiſegourmands ſich reichlicher verſehen. Letztere haben nur
auf der Hut zu ſein, daß ſie nicht einen ganzen Hausſtand
darin aufnehmen. Meine Hauptliſte, die mir zu Auszügen
für jeweilige Reiſen dient, lautet:


Dicke ſchwarze Filzüberſchuhe (ſ. unten) — dünne der-
gleichen (ſ. unten) — Reſerveknöpfe für Ober- und Unter-
kleider, ferner Knöpfe zum Einſchrauben (ſ. unten) —
Nähzeug (ſ. unten) — dünner und dicker Bindfaden,
Gummibänder, Riemen zum Einſchnallen — Feuerzeug
in duplo — Paket ſchwediſche Zündhölzer (ſ. III.) — Taſchen-
2*
[20]II. Hauptliſte für Mitzunehmendes.
meſſer mit Feile, Säge, Schrauben-, Pfropfenzieher, Bohrer
(u. A. zu benutzen, um fehlende Löcher in Riemen zu bohren) —
Taſchengabel zum Zuklappen (ſ. unten) — große und kleine
Nägel und Stifte — Plaidnadeln (ſ. III.) — Metallklammern
für Papiere, letter clips, (ſ. V.) — Huthakenklammer
(ſ. unten) — Kleider-, Haar- und Zahnbürſte, Zahnpulver,
Seife, Benzin — Wecker, der zugleich Reſerveuhr (ſ. III.) —
Uhrſchlüſſel in duplo — Brille mit grauen Gläſern (ſ. IV.) —
Taſchenthermometer (ſ. unten) — Aneroidbarometer (ſ. unten)
— Fernrohr oder Operngucker (ſ. unten) — Compaß —
Taſchenſpiegel, der ſich aufſtellen und hängen läßt — Sonnen-
ſchirm zum Curgebrauch (ſ. V.) — Rindertalg oder Cold cream
nebſt alter Leinwand zum Verbinden — engliſches Heftpflaſter
oder oſtindiſches Pflanzenpapier — ein Wachslichtchen —
Inſectenpulver und Eſſenz (ſ. unten) — guten ſchwarzen
Thee (ſ. V.) — Opiumtinctur — Rhabarber — Tintefaß
(ſ. S. 17) — Federn, Halter und Taſchenfeder (auf einer Seite
die Schreibfeder, auf der andern der Bleiſtift, beides in eine
Hülſe zurückzuſchieben), Bleiſtifte, Schreib-, Zeichen- und
roſtrirtes Notenpapier — Couverts — Oblaten — Siegel-
lack — Trinkbecher von Leder oder Kautſchuk, zum Zuſammen-
klappen — Feldflaſche (platt oder oval, von Blech oder be-
ledertem Glas), gummirte Etiketten, leere und mit Adreſſe,
zum Aufkleben — Viſitenkarten — ein weiches Wildlederfell,
zur Belegung unſauberer und feuchter Bettwäſche — Reiſe-
handbuch und Eiſenbahncoursbuch (ſ. III.) — Miniatur-
ſchachſpiel — Lectüre — Paßkarte oder Paß (auch in Ländern,
wo die Behörde derlei nicht verlangt, behufs Legitimation
in beſonderen Fällen).


Die dicken Filzſchuhe ſind weich genug, um platt
zuſammengepreßt zu werden, und haben ein Leinenfutteral,
deſſen Inneres keinen Anſpruch auf Reinlichkeit macht. —
Zur Erwärmung der Füße im Winter dienen auch die aus
vulcaniſirtem Kautſchuk bereiteten, mit dickem Wollenſtoff
überzogenen Schläuche, welche mit heißem Waſſer gefüllt
[21]II. Reiſeapparat.
werden und nur ſehr langſam abkühlen. — Die dünneren
Filzſchuhe
ſind in der warmen Jahreszeit bei kühlen
Nachtfahrten über die Schuhe zu ziehen und in ſauberem
Zuſtande auch als Pantoffeln (geſegnet ſeien ſie, dieſe Wohl-
thäter müder, brennender Wanderfüße!) zu brauchen. Sie
können zuſammengerollt und in einem Kattunbeutelchen in die
Taſche geſteckt werden, machen ſich folglich unter dem Hand-
gepäck nicht ſo breit und ſperrig, wie gewöhnliche. In der
heißen Jahreszeit laſſen ſich auch aus biegſamem Baſt oder
Hanfbindfaden geflochtene Pantoffeln verwenden.


Knöpfe zum Einſchrauben, neuerdings in Kurz-
waarenhandlungen zu haben, ſind beſonders für Unterkleider
brauchbar und beſtehen aus einer kleinen, mit einer vor-
ſtehenden Schraubenſpindel verſehenen und einer zweiten
etwas größeren Scheibe, die auf jene feſtzuſchrauben iſt. Die
Spindel wird in ein zu dem Behufe geſtochenes Loch links-
ſeitig eingeſteckt und von der oberen Seite des Zeuges der
Knopf angeſchraubt. Er klemmt ſich ſo feſt, daß die Auf-
löſung von allem Uebrigen eher als von ihm zu befürchten iſt.
Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae. Die
Naturgeſchichte der Knöpfe kennt keine andere Species, welche
dieſe achtungswerthe Eigenſchaft hätte.


Militärs haben das Nähzeug in der, auch für den
Reiſegebrauch empfehlenswerthen compendiöſen Form einer
etwa fünf Zoll langen hölzernen, fingerdicken Büchſe. Sie
hat äußerlich ſechs Abtheilungen, um welche verſchiedene
Sorten Faden gewickelt werden; ein Pflöckchen, auf das ein
Fingerhut paßt, verſchließt das Innere, welches dünne und
dicke Nähnadeln enthält. Jeder Drechsler kann eine Büchſe
der Art in wenigen Minuten drehen. Wie der Kriegsmann,
ſo ſoll auch der Touriſt, der ohne eigene Dienerſchaft reiſt,
kleine Ausbeſſerungen an ſeinen Kleidern ſelbſt vorzunehmen
verſtehen, ſo daß er nicht jeder Kleinigkeit halber fremde
Hände ſuchen und auf ſie warten muß.


[22]II. Reiſeapparat.

Die Taſchengabel iſt nicht in großem Tafelformat
und mit einem eben ſo ungeſchlachten, ſchweren Meſſer ver-
koppelt, in der Art, wie ſie unſere Urgroßväter zu Jagd-
partien mitnahmen, ſondern ein ſelbſtändiges Geräth, leicht,
zierlich und taſchenmeſſerartig zum Auf- und Zuklappen ein-
gerichtet, aus Silber oder Neuſilber, die Zinken, rundum
glatt polirt, laſſen ſich nach dem Gebrauche leicht reinigen.
Das Ding tritt ſeinen Vicariatsdienſt ſelbſtverſtändlich nicht
an in Hotels, wo blankes Tafelgeräth vorliegt, ſondern erſt,
wenn bei Tiſche die entſetzliche (!) gemeine deutſche Land-,
Dorf- und Waldgabel erſcheint, mit ihrem rauhen ſchwarzen
hölzernen oder hirſchhornenen Stiel und drei Eiſenzinken,
deren innere unpolirte Seiten ebenſo wie der Stiel allen
Reinigungsverſuchen hartnäckig widerſtehen.


Huthakenklammer: ein geſpitztes ſtählernes Häkchen,
durch ein Gelenk mit einer elliptiſch ringförmigen Klammer
verbunden, die durch Verſchiebung eines oben angebrachten
kleinen Ringes geſchloſſen werden kann. In die Klammer
wird der Rand der Hutkrämpe gefaßt und das Häkchen in
die Wand des Wagens eingeſtochen oder beim Wandern, wenn
man baarhäuptig gehen und den Hut nicht in der Hand
tragen will, in die Weſte. In vielen Eiſenbahn- und anderen
Wagen fehlt es häufig an Vorrichtungen zur Aufnahme der
Hüte, was bei überfülltem Raume den Beſitzer in die läſtige
Wahl drängt, den Hut auf dem Kopf oder in der Hand zu
halten. Auch in manchen Wirthslocalen, z. B. faſt durchweg
in italieniſchen Trattorien und Kaffeehäuſern; ſetzt man da
den Hut auf Stuhl, Sopha, Tiſch, ſo findet man ihn regel-
mäßig auf der Erde in kläglichem Zuſtande wieder. Dort
pflegte ich meinen Hut am Fenſterrahmen vermittelſt des
Häkchens zu befeſtigen, eine Erfindung, die mir beifälliges
Gemurmel in verſchiedenen Sprachen eintrug.


Man hat runde Thermometer, in einer Art Uhr-
gehäuſe und in der Weſtentaſche zu tragen; die Kugel mit
Queckſilber iſt in der Mitte und die Röhre ſchlingt ſich in
[23]II. Reiſeapparat.
einer Spirale herum. Sie leiden aber häufig an Stockungen
und Blähungen im Innern, deshalb ziehe ich die lange
Form vor.


Aneroidbarometer: eine luftleere, elaſtiſch federnde
Kapſel, mit einem Hebelwerke und einem durch daſſelbe in
Bewegung geſetzten Zeiger. Das Ganze iſt nicht viel um-
fänglicher als eine ſtarke Taſchenuhr, alſo leicht, bequem in
der Weſtentaſche zu tragen und nicht ſo zerbrechlich wie die
alten langen Queckſilberbarometer. Touriſtiſch iſt dieſe neue
Londoner Erfindung trefflich zu verwerthen, denn der Zeiger
gibt dem Bergſteiger jeden Augenblick Auskunft, wie hoch
er geklommen. Ein ſolcher luftleerer, büchſenförmiger Baro-
meter koſtete im Frühling 1869 in Deutſchland fünfzehn Thaler.


Fernröhre gibt es jetzt ſehr leichte mit drei Auszügen.
Da auf den beſuchteſten Höhepunkten große aufgeſtellt ſind,
begnüge ich mich meiſt mit einem ſogenannten Opern-
gucker.
Für den Reiſegebrauch zu empfehlen iſt jene Art
(Pariſer Erfindung: Jumelles) mittler Größe und leicht,
auf welcher durch Drehen eines Rädchens drei Veränderungen
der inneren Gläſer bewirkt werden können (Théâtre, Cam-
pagne, Marine):
eine für nahe Gegenſtände und im Theater
zu brauchen, eine zweite für entferntere und eine dritte für
ganz ferne. Auch können dieſe Operngläſer dienen, um im
Dämmerlicht deutlicher weit zu ſehen.


Das Inſectenpulver kaufe man in einer wohl-
berufenen Droguenhandlung, denn es muß aus dem in Perſien
heimiſchen und dort gewachſenen Pyrethrum roseum bereitet
und nicht zu alt ſein, wenn es ſeine inſectentödtende Kraft
bewähren ſoll. Auch bei uns baut man jetzt die aſterartige
Pflanze, aber ohne ihr jene Eigenſchaft erhalten zu können;
ein Zuſatz vom hieſigen Product dient vielfach zur Ver-
fälſchung des echten. Die gewöhnliche Art, mittelſt einer
kleinen Kautſchukſpritze Abends das Bett einzuſtäuben, er-
fordert eine ſtarke Verproviantirung, ich ziehe deshalb den
Gebrauch der Eſſenz vor, mit welcher ich den Körper flüchtig
[24]II. Reiſeapparat.
betupfe, eine Operation von wenigen Minuten, und bin
gefeit gegen Flöhe und Wanzen. Auch die Benetzung des Ge-
ſichts, des Halſes und der Hände im Freien hält die Mücken
ab. Die Eſſenz kann man ſich ſelbſt bereiten: auf 1 Theil
Pulver 2 Theile Alkohol und 2 Theile Waſſer. Noch in der
ſechsfachen Verdünnung mit Waſſer iſt dieſe Miſchung brauch-
bar, wenn ſie aus echtem, friſchem Pulver gemacht wurde.
Um beim Uebernachten im Freien die Mücken abzuhalten,
pflegte ich im Orient neben mich eine lange glimmende Lunte
zu legen, in deren Fugen Inſectenpulver geſtreut war.


Von ſogenannten Néceſſaires bin ich kein Freund, auch
nicht von den neumodiſchen, die aus den Schaufenſtern ihren
Haifiſchrachen uns entgegenſtrecken, mit ihren aus Büchschen,
Käſtchen und Etuis gebildeten Zahnreihen. Jeder weiß am
beſten, was ihm nothwendig und überflüſſig iſt, was er zu-
ſammen, getrennt, zur Hand oder abſeits zu legen hat, in
welcher Form und Größe er dies und jenes braucht. Ich
finde es bequemer, die kleinen Geräthe nach den wechſelnden
Bedürfniſſen unterwegs in Koffer, Reiſe- und Rocktaſchen zu
vertheilen, Einiges davon in kleine Beutel, den Schwamm
oder ſtatt deſſen einen „türkiſchen“ Leinenlappen (mit hervor-
tretenden Maſchen) in ein Gummifutteral (Wachstaffet iſt
nicht haltbar), ebenſo die Seife in ein kleineres dergleichen,
die Nagelſcheere trägt ein Lederhöschen, das Reiſekleid des
Staubkammes iſt ein Saffian-Etui, in dem er ſo ſchmuck aus-
ſieht, daß man’s ihm, wenn er ſich auch einmal auf den Früh-
ſtückstiſch verirrt, kaum ſehr übel nimmt. Nicht in Gefäßen
von Porzellan, Glas, Holz oder Pappe verwahre ich Zahn-
pulver, Pommade, Rindertalg ꝛc., ſondern in verſchiedenfarbig
lackirten kleinen Blechbüchſen, welche Unzerbrechlichkeit mit
Leichtigkeit verbinden.


Der Revolver, wo er nicht jugendlicher Geckenhaftig-
keit als Spielzeug, ſondern, durch örtliche Verhältniſſe bedingt,
der Sicherung von Leben und Eigenthum dienen ſoll, gehört
unter die Stücke des Reiſeapparats, die nie Parade machen:
[25]II. Reiſeapparat.
Nachts liegt er nicht offen auf dem Nachttiſch, ſondern unter
dem Kopfkiſſen oder deſſen Stellvertreter, unterwegs ſteckt er
in der Rocktaſche, nicht wie beim Opernräuber offen im Gür-
tel. Das Zeigen der Bewaffnung kann freilich möglicher-
weiſe ein Diebsgelüſt unterdrücken, noch leichter aber dieſes
erſt rege machen oder gar in einen Mordanfall verwandeln. —


Als Erſatz des fehlenden Thürverſchluſſes in Häuſern
und Hütten von zweifelhafter Sicherheit (Sicilien, Spanien,
Orient) nehmen Manche ein fliegendes Schloß mit, deſſen
beide in Pfoſten und Thür geſchlagene Theile durch Riegel
oder Kette verbunden ſind; Andere verfahren noch einfacher:
ſie bohren einen Nagelbohrer (man hat jetzt dies Geräth zum
Zuſammenklappen mit einem Bügel, ähnlich wie die Taſchen-
korkzieher) durch die Thür in den Pfoſten; wieder An-
dere ziehen derartigen Behauſungen das Uebernachten im
Freien vor.


Mit Rathſchlägen, wieviel Paar Strümpfe, Schuhe,
Hemden ꝛc. mitzunehmen ſeien, verſchonen wir unſere Leſer,
trauen ihnen auch hinlängliche Ueberlegung zu, um zu wiſſen,
daß Jeder, der zu Erkältungen neigt, wohlthut, Vorſorge zu
treffen, nach gründlicher Durchnäſſung die Kleider wechſeln
zu können. Nicht ſo überflüſſig erſcheint es dagegen, an ein
anderes Stück Reiſeapparat zu erinnern, wenn nämlich ein
Land beſucht werden ſoll, deſſen Sprache wir nicht mächtig
ſind. Viele begnügen ſich, ein Taſchenwörterbuch und eine
Phraſeologie einzupacken, in der Hoffnung, daß „alles Weitere
ſich ſchon an Ort und Stelle aus der Praxis von ſelbſt er-
geben werde“, ohne zu ahnen, wie viel Verlegenheiten ſie ſich
erſpart hätten und wie viel mehr Wünſchenswerthes ihnen
zu Theil geworden wäre, wenn ſie wenigſtens ein paar hun-
dert Vocabeln und ein paar Dutzend Phraſen im Kopfe mit-
genommen hätten. Die Sache iſt auch für ein Veteranen-
gedächtniß nicht ſo ſchwierig und ermüdend, als ſie ausſieht.
Meine erſte italieniſche Reiſe wurde vier Tage nach dem Ent-
ſchluß dazu angetreten und ich hatte nur Zeit, durch einige
[26]II. Vocabeln und Sätze.
Lehrſtunden mich ein wenig in der Ausſprache, der Declination
und Conjugation zu üben. Noch vor dem Aufbruch ſchrieb
ich aber aus einem kleinen Buche die Formen, Wörter und
Sätze ab, welche ich wohlüberlegt für die nöthigſten hielt,
ſteckte dies zu mir, verwandte auf deſſen Erlernung einen Theil
der Zeit im Wagen und in den Gaſthöfen und war erſtaunt,
wie raſch dies kleine Capital ſich umwälzte und vergrößerte.
Ein Haupthinderniß bei jungen Leuten iſt die Zurückhaltung
im Sprechen, aus Furcht, ſich durch Fehler lächerlich zu
machen; eine tapfere Willensanſtrengung hilft ſchnell dar-
über hinweg. Um das Ohr bald an die fremden Klänge zu
gewöhnen, iſt eine gute Uebung, ſich öfter von einem Ein-
gebornen langſam vorleſen zu laſſen und dabei mit den Augen
dem Gedruckten zu folgen.


[[27]]

III.


Reiſekleider — § 1 des Codex turisticus — Wäſcherinnen — Barbiere — ent-
ſittlichende Eigenſchaften der Seife — zur Kleiderordnung — Lebensrettung —
Nothbehelfe in Robinſonverhältniſſen — pädagogiſche Attrapen — Hauptanzug —
waſſerdichte Bereitung — Gepäckreductionen — Joppe — Knöpfe — Reſerve-
ſyſtem — Gepäck ſo wenig als möglich — koſtſpielige Erſparniſſe und Aſſecuranz-
gebühren — Koſten — Poſtanweiſungen — Fortification — nackte Knie — gegen
Näſſe — der Plaid und ſeine Verdienſte — Plaidnadeln — Kopfbedeckungen —
ſchon wieder Wäſche — Reiſeluſt und Reinlichkeitsliebe — der Reinlichkeitsfana-
tiker und ſeine Toilettengeheimniſſe — zur Farbenlehre — bergauf — Copie nach
niederländiſchem Original — Diener — Hutbänder mit Gebirgsprofilen — erlaubte
Beſcheidenheit — Vorſichtsmaßregeln — Fahrbillets — Gepäckſcheine — die ver-
ſteckte Fahrkarte — Werthſachen zu ſichern — Diebe — weitere Sicherheitsmaß-
regeln — Papiergeld — Gold — chirurgiſche Hilfe — Goldmägen — Verſiche-
rungsſchein — aus dem Wagen ſpringen — todte Briefe — Verluſte durch Zer-
ſtreutheit — Taſchen und abermals Taſchen — Gedächtnißkrücken — Tailleur
Krausé
— Handwerkerbildungsvereine — fernere mnemotechniſche Krücken — bei
eiliger Abreiſe — Friedrich der Verſchlafene — Adreſſen und Erkundigungen —
ſchriftliche Aufzeichnungen — Gedächtniß und Phantaſie — Schreiben im Freien
und im Fahren — Cigarrenanzünden — Zündhölzer — ſchriftliche Notizen —
Reiſetagebuch — Entwürfe und Ausarbeitungen.


Das Hemd iſt mir näher als der Rock, ſagt das Sprüch-
wort. Näher noch als das Hemd iſt aber dem Touriſten et-
was Anderes: — Wolle. So mag denn auch dieſes Ca-
pitel mit § 1 des Codex turisticus, Titel Kleiderordnung, be-
ginnen, welcher lautet: „Jedweder Touriſt, weß Standes
„und Alters er auch ſei, ſoll ſich mit wollenen Unterkleidern
„verſehen. Wer ohne ſolche auf anſtrengenden Fußwande-
„rungen oder längeren, dem Witterungswechſel ausgeſetzten
„Wagenfahrten betreten wird, hat das Leben verwirkt.“ Aus
[28]III. Reiſekleider — § 1 des Codex turisticus.
den Annalen der Touriſtik geht nun zwar hervor, daß dies
ſtrenge Geſetz nur ſelten nach dem Wortlaute vollzogen und
ſelbſt ſchwere Delinquenten oft begnadigt werden zu lebens-
länglichem Rheumatismus oder Lungenſucht, unter mildern-
den Umſtänden wohl auch mit Bruſtentzündung, Grippe,
Huſten, Zahnſchmerzen u. dergl., zuweilen ſogar ganz ſtraf-
los wegkommen; auch abgehärtete Naturen ſind jedoch immer-
hin nachdrücklich vor Märſchen in die Hochregionen (vgl.
IV.) zu warnen, wenn ſie den Oberkörper nicht durch Wolle
auf bloßer Haut und die Füße durch wollene Strümpfe
geſchützt haben, überhaupt iſt Jedem zu rathen, wollene Unter-
kleider unterwegs ſtets zur Hand zu halten und ſie anzulegen
auf allen Touren, die nicht blos aus Spaziergängen und
kleinen gemächlichen Fahrten beſtehen, denn jede Erkältung
iſt ein läſtiger Reiſegefährte. In den Tropenländern tragen
bekanntlich die Europäer auf bloßer Haut niemals Leinen,
ſondern entweder Calico oder leichte Wollſtoffe, ohne „vor
Hitze zu vergehen“, wie es in unſerer gemäßigten Zone ge-
meiniglich heißt, wenn von Neulingen gegen den Rath re-
monſtrirt werden ſoll. Auch bei drückendſter Sonnenglut
wandert es ſich ganz leidlich in einem weitärmeligen Flanell-
hemd, während Rock und Weſte der Führer trägt oder der
Wanderer ſelbſt über den Arm wirft und erſt wenn es nöthig
wird wieder anlegt. Wer Flanellhemden ohne Weſte anzieht,
läßt ein Uhrtäſchchen, eine zweite größere Taſche und Achſel-
klappen, um Tragriemen feſtzuhalten, anbringen. Statt der
hochrothen Garibaldifarbe, welche nicht Stand hält, wähle ich
hellgrau. Hat man längere Zeit ununterbrochen Wolle auf
bloßer Haut getragen, ſo läßt ſich ein Uebergang zur alten
heimiſchen Gewohnheit mit einer Jacke von Seidenkrepp
machen. Für die Behauptung der Fabrikanten, daß dieſer
die nämlichen Dienſte leiſte, wie Wolle, will ich keine Bürg-
ſchaft übernehmen, wohl aber dafür, daß er ſich noch ange-
nehmer trägt, glaube ferner, daß es der Haut nur von Vor-
theil ſein kann, wenn ſie nicht länger als noththut, durch
[29]III. Wäſcherinnen — Barbiere — entſittlichende Eigenſchaften d. Seife.
Wollengewebe, zumal dichte, enganſchließende, in ihren eigenen
Dunſtkreis gehüllt, ſondern hinterher der atmoſphäriſchen Luft
wieder mehr Zugang verſtattet wird. Aus dieſem Grunde
ſind auch locker geſtrickte, ſehr elaſtiſche Wollenunterjacken
zu empfehlen.


Für Flanellhemden, und zwar farbige, ſpricht noch eine
andere Rückſicht. Unter die kleinen Leiden der Reiſe zählt
nämlich auch die Abhängigkeit von Wäſcherinnen, deren Ver-
ſprechungen ſich häufig ſo hohl und vergänglich erweiſen, wie
die Seifenblaſen, die ſie in ihren Trögen aufwerfen. Sollte
der Ausdruck „leeres Gewäſch“ daher ſtammen? Hängt etwa
die ſchaumige, ſchlüpfrige Natur der Seife damit zuſammen? —
Der Umſtand, daß ein anderes auf Seife gegründetes Ge-
werbe, das der Barbiere, eben ſo wenig Wort hält, ſcheint
darauf zu deuten. Während ich allgemeinen Betrachtungen
über dieſe entſittlichenden Eigenſchaften der Seife nachhing,
mehrten ſich die Fälle, daß ich durch Schuld von Wäſcherin-
nen und Barbieren Bahnzüge, Poſten und Zuſammentreffen
mit Gefährten verſäumte, einigemal mußte ich auch meine
Hemden naß einpacken, ſo beſchloß ich endlich, meine ganze
Aufmerkſamkeit auf die praktiſche Seite der Frage zu wenden.
Trugen doch, ſagte ich mir, die Touriſten des Mittelalters,
die Wallfahrer, wenn ſie ſich nicht etwa ſelbſt raſirten, Voll-
bart und härenes Gewand, warum ſollten wir modernen Pil-
ger nicht ihrem Beiſpiele folgen? Von heute an wird für die
ganze Wander- und Fahrzeit der Bart von keinem Scheer-
meſſer berührt und ein Flanellhemd angezogen, ein zweites in
die Reiſetaſche geſteckt; jede Dorfwirthin, Magd, Sennerin
kann erforderlichen Falles deren eines nebſt Strümpfen
waſchen und am Feuer trocknen, alles vom Abend bis zum
Morgen, und ſo wäre wenigſtens ein großes Stück jener
Sclavenketten abgeworfen. Immer erſt, wenn ich an einem
Orte bin, an dem ich den großen Koffer vorfinde und längere
Zeit verweile, werden wieder weiße Hemden angethan, der
Wäſcherin reichliche Lieferungsfriſt bewilligt und das letzte
[30]III. Zur Kleiderordnung — eine Lebensrettung.
Ziel nie kurz vor die Abreiſe geſteckt, ſondern ſtets ein Reſpect-
tag in die Rechnung aufgenommen. Geſagt, gethan. Hat
man auf einer kleineren Excurſion ſich nicht gehörig vor-
geſehen, z. B. auf einen heißen Tag gekleidet, und es thut ſich
plötzlich ein eiſiger Nordoſt auf, ſo wird das nächſte Bauern-
haus, eine Sennhütte, Felshöhle, Gebüſch oder ſonſtiges ge-
ſchütztes Plätzchen aufgeſucht, die Reiſetaſche geöffnet, das
Nachthemd unter das Oberhemd und was ſie ſonſt noch
etwa hergibt, angezogen, z. B. ein Taſchentuch über den
Baumwollſtrumpf geſchlagen u. dergl. m. Strenge Kleider-
ordnung iſt überhaupt nicht aufrecht zu halten, der Codex
turisticus
geſtattet ſogar als Nothwehr ſchwere Gewaltthaten.
Einen Commentar zu dieſem Paragraphen mag folgendes
Geſchichtchen liefern.


Vor geraumer Zeit machte gleichzeitig mit mir die Tour
über’s Stilfſer Joch ein junges Ehepaar, um den Comerſee
zu beſuchen. Wir waren zuſammen in Meran bei herrlichem
Wetter in den Wagen geſtiegen, je mehr wir uns aber dem
Paß näherten, je rauher wurde es. Das Geſpräch ſtockte,
die Geſichter erbleichten, die Naſen errötheten. Der Mann,
der am meiſten fror, war leicht gekleidet und hatte, obwohl
offenbar kränklich, wie ſich ſpäter ergab, im Rauſche des
Flitterwochenglücks, ſein ganzes Gepäck vorausgeſchickt, und
bei ſich außer ſeiner Liebe nur Kleinigkeiten, z. B. ein Thermo-
meterchen, das zwei Grad über Null nachwies, und eine
Taſchenausgabe von Seneca. Nicht einmal mit einem Plaid
war der Unbeſonnene verſehen! Weder die Philoſophie des
Hispaniers, noch die Pracht der uns umgebenden Bergland-
ſchaft konnte ihn vom Zähneklappern abhalten. Wir waren
jetzt oberhalb Trafoi, von menſchlicher Hilfe weit entfernt.
Auf Seite des Weibleins verſtohlenes Weinen über das Leid
und die Gefahr des Gatten, denn ſie ſelbſt verſicherte, nichts
von Kälte zu ſpüren, nur „ein bischen“ kalte Füße. Meinen
Vorrath von ſchlechten Wärmeleitern hatte ich bereits im
eigenen Nutzen ziemlich erſchöpft, und von verfügbaren fanden
[31]III. Eine Lebensrettung.
ſich in meiner Machtſphäre nur noch ein Paar kurze und ein
Paar lange Wollenſtrümpfe vor. In Zeiten großer Noth weicht
ſeit jeher die Achtung vor conſtitutioneller Freiheit höheren
Staatsrückſichten, ſo warf ich mich denn ohne viel Widerſtand
zu finden zum Dictator auf und leitete die Vertheidigungs-
maßregeln. Die kurzen Strümpfe wurden über die Stiefe-
letten gezogen, die langen vermittelſt einiger Plaidnadeln in
den Hemdärmeln befeſtigt und, nachdem ſie unten aufgeſchlitzt,
Hände und Arme durchgeſteckt, ſo daß ſie Aermel bildeten.
Endlich fand ſich noch im Strickbeutel der Frau eine beinahe
fertig geſtickte Tiſchdecke, die es ſich gefallen laſſen mußte, um
die Beine des Frierenden gewickelt und mit Bindfaden be-
feſtigt zu werden. Schon während der Vorbereitung hellten
ſich die Mienen erſt des Mannes, dann der jungen Gattin
auf, und kaum war dieſer durch unſere vereinten Anſtren-
gungen geborgen, als, zum großen Vortheil der Wärme-
entwickelung, ein langathmiges dreiſtimmiges Gelächter ent-
ſtand. Von Neuem praſſelte es auf, als ich, um alles Ver-
wendbare auch zu verwenden, zwei roſenrothe Briefe, die ſich
noch vorfanden, beſtimmte, über die weißbaumwollene Hülle
der beiden weiblichen Füße geſchlagen zu werden. Zuerſt
hielt man es für Scherz, der Mann machte verſchiedene an-
zügliche Bemerkungen über unumſchränkte Gewalt und ihre
Gefahren, wie unwiderſtehlich ſie zu Mißbräuchen auch ſonſt
gute Menſchen reize, demonſtrirte, daß Nero, ſo lange er
unter Aufſicht Seneca’s geſtanden, ein ſanfter, liebenswürdiger
Jüngling geweſen und erſt ein Scheuſal geworden ſei, als er
den ganzen Erdkreis zu ſeinen Füßen geſehen habe. — Nicht
um Nero’s Füße und ſeine Rettung handelt es ſich aber jetzt,
unterbrach ich, ſondern um die Ihrer Gemahlin. Kraft meiner
Dictatorwürde befehle ich, daß Sie die Briefe ihr zu Füßen
legen, während ich aus dem Wagenfenſter ſchaue. An den
Geſichtern der Gatten, die jetzt ſahen, daß es mein Ernſt
war, konnte ich nicht recht erkennen, ob ſie mich für plötzlich
verrückt geworden oder nur für ſehr läppiſch hielten, oder ob
[32]III. Nothbehelfe in Robinſonverhältniſſen.
ihnen die Zweckmäßigkeit der Maßregel einzuleuchten anfing,
kümmerte mich auch nicht weiter darum, ſondern kehrte ihnen
den Rücken und betrachtete den Gletſcher, der mich wieder an-
blickte, wie ein Potentat den andern, hörte bald darauf Pa-
pier raſcheln und nach wenigen Minuten war Alles in Ord-
nung. Neues Gelächter, neues Geplauder. In Bellaggio
trennten wir uns. Am nächſten Chriſtfeſt überraſchte mich
ein Paket aus Deutſchland, welchem ich zwei Briefe, die
weitere Aufklärung gaben, und eine Schreibmappe entnahm,
deren Deckel eine bildliche Darſtellung der erzählten Scene
enthielt, rundum in gobelinartiger Stickerei einen Lorbeer-
kranz und die Worte: Dem Retter meines theuren Eheherrn.


An Hiſtörchen der Art war unſer Reiſeſchulmeiſter uner-
ſchöpflich. In der Regel ſchienen ſie darauf berechnet, einen
Paragraphen ſeines Geſetzbuchs anſchaulich zu machen oder
einzuſchärfen und ſchloſſen mit einer Sentenz oder einem
Sprüchwort. Hin und wieder fügte er in dogmatiſchem Tone
allgemeine Betrachtungen hinzu, wie z. B. hier.


— Je mehr wir reiſen, je häufiger iſt Gelegenheit und
zugleich Urſache, das zu lernen und zu üben, was wir to
make shift
nennen: ſich zu helfen wiſſen, ſich durchſchlagen,
denn die Reiſe verſetzt uns oft in Robinſonverhältniſſe und
da gilt es, das alte deutſche Sprüchwort zu beherzigen, „Alles
zu brauchen, wozu es gut iſt,“ mit andren Worten, von der
breiten Bahn des Gewohnten, ſobald ſie uns nicht zum Ziele
führt, abzugehen und neue Wege zu ſuchen. Stücke des In-
ventars mögen zum Opfer fallen, indem man ſie zu einem
ihrer urſprünglichen Beſtimmung fremden Zwecke benutzt;
denn: „keine Omelette ohne zerbrochene Eier.“ Ein für alle-
mal bemerke ich aber, daß ich Euch, Ihr Herren, nicht zu
gedankenloſen Nachahmern, ſondern zu ſelbſtändigen Reiſe-
virtuoſen zu erziehen wünſche, deshalb fordere ich ausdrück-
lich auf, keinem meiner Rathſchläge blindlings zu folgen. Ich
wäre ein ſchlechter Pädagog, wenn ich nicht auch hier und da
darauf ausginge, Eure Aufmerkſamkeit, Euren Scharfſinn und
[33]III. Pädagogiſche Attrapen — Hauptanzug — waſſerdichte Bereitung.
Erfindungsgeiſt zu prüfen und zu ſpornen. Ueberdies gehört
das Aufſpüren neuer Nothbehelfe, mögen ſie auch an’s
Abenteuerliche ſtreifen, unter die Erheiterungen des Reiſe-
lebens und unter die Dinge, von denen ſich am häuslichen
Herde gar luſtig erzählen läßt. Je öfter Euch Beſſeres ein-
fällt, als Eurem alten Lehrer, um ſo ſtolzer macht Ihr dieſen
auf Euch. Paßt mir alſo nur gehörig auf den Dienſt. —


Der Herausgeber würde nun zwar dem Leſer gegen-
über ſolche pädagogiſche Attrapen um keinen Preis wagen,
dennoch könnte es ihm ohne Wiſſen und Willen begegnet ſein,
indem er Worte des Meiſters, die nicht für die Oeffentlichkeit
beſtimmt waren, hier niederſchrieb. In Fällen der Art möge
nur der ganze Unwille oder Spott des Leſers auf mein Her-
ausgeberhaupt fallen, aber Niemand an der Reiſeweisheit
des Lehrers zweifeln. Und nun zurück zu Schränken und
Commoden, Schneidern und Tuchhändlern.


Zum Hauptanzug für die Reiſe wählt der Touriſt von
Fach am liebſten eine der in zahlreichen Schattirungen und
Muſtern vorhandenen Miſchungen von weißer und ſchwarzer
Wolle, ohne Zuſatz von Farben, die dem Verſchießen unter-
liegen (wie z. B. Anilin oder dem ſogenannten freundlichen
Grau, das bald einen grünlichen Schimmer annimmt), ein Ge-
webe aus reiner, neuer Wolle, keinen Shoddy, weder zu locker
und luftig, noch ſo dicht und ſchwer, daß es bei großer Hitze
unerträglich wird. Das Zeug kann man nahezu waſſerdicht
(nicht luftdicht) bereiten laſſen *). Ganz leichte Sommer-
ſachen zur gelegentlichen Benutzung an Orten, wo verweilt
wird, im Koffer bei ſich zu führen, iſt Niemand verwehrt,
zum Hauptreiſeanzug taugen ſie nicht.


3
[34]III. Gepäckreductionen — Joppe — Knöpfe — Reſerveſyſtem.

Da Unterkleider Umfang und Gewicht des Gepäcks weni-
ger als Oberkleider vermehren und mehr leiſten, ſo kann man
dieſen letzteren, wo es ſich um Reductionen handelt, leicht
viel abbrechen, wenn nur jenen ein Weniges zugelegt wird.


Die Joppe, bei längerem Aufenthalt in Gebirgsorten
und kleinen Ausflügen recht verwendbar, reicht als Haupt-
rock unterwegs nicht aus, weil das Lodenzeug zu locker iſt,
um gehörig Stand zu halten, wenn’s einmal hart hergeht,
und das Ding in ſeiner Knappheit und Kürze zu wenig Raum
für Taſchen bietet. Auf alle Fälle laſſe man deren zwei oder
drei übereinander mit Knöpfen verſehen äußerlich vorn an
der Bruſt und innerlich zwei größere Seitentaſchen an-
bringen.


Von den Knöpfen der Beinkleider, an denen der Hoſen-
träger befeſtigt wird, laſſe ich eine doppelte Garnitur an-
nähen, ſtatt ſechs alſo zwölf, ſo daß, wenn einer abreißt, ſein
Stellvertreter ſchon bereit iſt und in den Dienſt tritt. An
dieſe Knöpfe ſei gleich eine Bemerkung über das Reſerve-
ſyſtem
geknüpft, welches in der Touriſtenpraxis ſo gut ſeine
Rolle ſpielt, wie überall. So nimmt der Vorſichtige für län-
gere Reiſen (vergl. S. 19) von den ihm nöthigſten, nicht
umfänglichen und ſchwer wiegenden Dingen, namentlich ſol-
chen, die dem Verluſt, dem raſchen Verbrauch oder der Be-
ſchädigung ausgeſetzt und nicht allerwärts leicht zu kaufen
ſind, etwas über den nächſten Bedarf mit, denn Vieles kauft
ſich zu Hauſe beſſer, Anderes iſt nicht zu haben, wo man es
gerade braucht, endlich die Zeit an fremden Orten nützlicher
zu verwenden, als in Läden und Magazinen. Die vielwieder-
holte Reiſeregel: „Gepäck ſo wenig als möglich,“ erleidet
alſo hierdurch eine Einſchränkung.


Ueberhaupt gehört der Satz ſo allgemein gefaßt gar nicht
in den neueren Reiſecodex und ſcheint nur eingeſchwärzt aus
irgend einem alten Wanderbüchlein für Handwerksburſchen.
Soll durchaus ein Geſetz daraus werden, ſo könnte ich — in
Erwägung, daß alles Gepäck unterwegs dem Verluſt und
[35]III. Koſtſpielige Erſparniſſe und Aſſecuranzgebühren — Koſten.
Verderben ausgeſetzt iſt und entweder die Schultern oder
durch Porti und Trägerlöhne das Budget belaſtet; letztere
ziemlich hoch auflaufen können, wenn das Transportmittel
häufig gewechſelt und lange gereiſt wird (wie z. B. auf einem
achtwöchentlichen Streifzug durch die Schweiz und Ober-
italien
, bei welchem eine erkleckliche Anzahl Bahnhöfe, Dampf-
boot-, Poſt-, Omnibusbureaux, Führer, Träger und Haus-
knechte betheiligt ſind); weil ferner ein Pfund mehr oder
minder ſich bei längerem Tragen ſchon recht fühlbar machen
kann; ſehr viel Gepäck endlich die Wirthsrechnungen ſteigert
(vergl. VI.) — meine Stimme höchſtens zu folgender Faſſung
geben: Jeder, der nicht alles Ueberflüſſige und Leichtentbehr-
liche zu Hauſe läßt, verfällt in eine Geld- oder verhältniß-
mäßige Körperſtrafe (vergl. S. 28). Alles das iſt aber ein ſo
handgreifliches Naturgeſetz, daß ich für gänzliche Streichung
dieſes Paragraphen votire.


Daß es nicht räthlich iſt, für Kleiderſtoffe und Geräthe,
die unterweges ſchweren Dienſt thun ſollen, das Wohlfeilſte
auszuſuchen, oder Altes Halbverbrauchtes als „gut genug
für die Reiſe“ zu betrachten, ſpringt nicht minder in die
Augen. Sagt doch ſchon das alte Sprüchwort: „Wohlfeil
koſtet viel Geld.“ Das Alles, wie ferner die Mitnahme einer
alten Auflage des Reiſehandbuchs und Eiſenbahncoursbuchs,
oder der gänzliche Verzicht auf dieſe kleinen rothen und gel-
ben Rathgeber, zählt unter die koſtſpieligen Erſpar-
niſſe.
Ueberhaupt gilt die Regel, daß in Anſehung aller
Vorbereitungen kleine Ausgaben in Zeit, Geld und Mühe
willig und am rechten Orte jeder zu übernehmen hat, der
größeren Aufwand in dieſen drei Valuten unterwegs ver-
meiden will. Wer jene billigen Aſſecuranzgebühren aus Eil-
fertigkeit, Geiz oder Trägheit nicht tragen mag, darf ſich
nicht beklagen, wenn ihm die Ernte verhagelt.


Mit der vielfach gedruckten Mahnung, nicht zu wenig
Geld, ſondern mindeſtens ein Drittel des Koſtenanſchlags
darüber hinaus als Reſervefonds mit auf die Reiſe zu nehmen,
3*
[36]III. Poſtanweiſungen — Fortification — nackte Knie — gegen Näſſe.
wagen wir unſere Leſer ebenſo wenig zu behelligen, ſie werden
das Erforderliche ungemahnt thun. Für Nothfälle gibt es
jetzt Poſtanweiſungen, die herbeitelegraphirt werden
können.


Die Taſchen müſſen geräumig und an allen den Angriffen
ſtark ausgeſetzten Punkten wohl befeſtigt ſein. An ſolchen
ſtrategiſchen Pointen, z. B. den auswendigen unteren Ecken
der Rock- und Hoſentaſchen, hat der Schneider beſondere for-
tificatoriſche Werke anzubringen, ſogenannte Riegel, welche
aus einem etwa ½ Zoll breiten und ½ Linie dicken ſeide-
nen Wulſt beſtehen, der dicht unter der Ecke quer vor liegt.


Hier und da ſieht man Alpendilettanten, Tiroler und
Bergſchotten nachahmend, Beinkleider tragen, die das Knie
nackt laſſen. Die Tracht erleichtert allerdings das Klettern,
verurſacht jedoch Ungewohnten oft Erkältungen und ſpröde,
brüchige Haut, eine Unannehmlichkeit, die nicht dadurch auf-
gewogen wird, daß an den Knien bald eine blühende Geſichts-
farbe erſcheint und alle Augen auf ſie gerichtet ſind.


Gegen Näſſe ſchützt die Füße wohlpräparirtes Schuh-
werk mit Doppelſohlen (vergl. IV.); Gummiſchuhe ſind un-
touriſtiſch, denn auf ſteinigen Wegen zerreißen ſie und auf
Eisfeldern vermehren ſie die Gefahr des Ausgleitens. Auch
abgeſehen davon liebe ich die Gummiſchuhe nicht, denn ihr
Druck iſt, wie der indirecter Steuern, anfangs kaum fühlbar,
wird aber nach Verlauf einiger Zeit um ſo empfindlicher,
außerdem beeinträchtigen ſie die Ausdünſtung und den Blut-
lauf. Curgäſten, namentlich im Seebade, ſoll indeß damit ihr
Beſitz nicht verleidet werden. In Bezug auf Schutz des übri-
gen Körpers gegen Näſſe ſchreibt die touriſtiſche Kleider-
ordnung nichts Beſtimmtes vor. Manche führen einen Regen-
ſchirm, Andere haben Ueberzieher von Mackintoſhzeug oder
von gummirtem Taffet, welche letztere in der Rocktaſche
unterzubringen, aber theuer und wenig haltbar ſind. Noch
Andere begnügen ſich nach Art der londoner Conſtabler mit
Kragen von waſſerdichtem, ſteifem Zeuge, die etwas über die
[37]III. Der Plaid und ſeine Verdienſte.
Achſeln vorſtehen; fällt der Regen manierlich und ſenkrecht
nieder, ſo thun ſolche Kragen immerhin gute Dienſte, denn
ſie leiten die Rinnſale nur zum Theil auf die Knie, die Haupt-
maſſe fließt nebenbei zu Boden. Ich trage waſſerdicht be-
reiteten Rock und Hoſe, oder benutze, wie in allen Fällen, wo
ich mir nicht anders zu helfen weiß: — den Plaid.


Das Kameel leiſtet dem Sohn der Wüſte, das Rennthier
dem Lappen, das Bambusrohr dem Oſtaſiaten nicht wichtigere
und mannigfaltigere Dienſte, als der Plaid dem Touriſten.
Von der Univerſalität dieſes wirklichen Reiſenéceſſaires —
der nur ſogenannten ward bereits gedacht — hatte ich ſelbſt
früher nur ſehr unvollkommene Begriffe, obwohl ich eins
ſchon ſeit Jahren in Gebrauch gehabt. Da ſaßen einmal in
unſrem Club eine Anzahl Vielgereister um den großen runden
Tiſch verſammelt, als Mr. G., der Weltumſegler, ſich erhob
und eine Anſprache hielt, die auf den Vorſchlag eines Geſell-
ſchaftsſpiels oder Wettkampfs hinauslief, und einer beſonderen
Liebhaberei der meiſten Mitglieder, Ausbildung der Reiſe-
technik, Vorſchub zu leiſten beſtimmt war. Etwas der Art
wurde denn auch in’s Werk geſetzt, jedes Mitglied ſchrieb auf
einen Zettel alle Weiſen der Plaidbenutzung, die ihm ein-
fielen, worauf die Blätter vorgeleſen und abgeſtimmt ward,
wieviel Stiche jeder gemacht hatte, Strafen für frivole An-
gaben verhängt — einige sporting characters waren unter
uns, die es darauf angelegt hatten, in Strafe zu fallen, auch
wurde manche luſtige Geſchichte erzählt und viel gelacht —
und auf der Grundlage ſchließlich der Matricularbeitrag
eines Jeden für die Bowlen, die an dem Abend geleert wur-
den, feſtgeſtellt. Den reiſetechniſchen Reingewinn dieſes
Spiels habe ich nachträglich ermittelt und gebe ihn hier
auszüglich.


Der Plaid kann alſo dienen zum: Schutz gegen Kälte,
Regen, Wind, Sonne, Menſchenaugen, als Mantel, Ueber-
rock, lang talarartig über den ganzen Körper oder kurz ge-
faltet für einzelne Theile, beides in verſchiedenen Varia-
[38]III. Plaid — Plaidnadel.
tionen, als Poncho (mit einem Schnitt in der Mitte, um den
Kopf durchzuſtecken, und Knöpfen), als Schoosdecke, Fußſack,
Bettdecke, Betttuch, zum Erſatz oder zur Erhöhung des Kopf-
kiſſens oder Bedeckung eines unſaubern Kiſſens oder Lakens,
gerollt oder zuſammengeſchlagen zur Erhöhung niedriger
Sitze beim Schreiben und Clavierſpielen, als Polſter für
kalte Steine, naſſen Raſen, als Sattel beim Reiten, gerollt
als Schlummerkiſſen, einen Zipfel über den Kopf gezogen
als Mütze, im Freien lang ausgebreitet als Schutz gegen
Feuchtigkeit oder Ameiſen beim Liegen, als Schirmwand, Zelt-
decke, Gardine für Stuben- oder Wagenfenſter, als Segel,
geſchnitten als Cholerabinde; mittels Bindfaden läßt er ſich
auch zum Torniſter umgeſtalten oder zum Seil winden, um
daran einen Felſen hinabzuklettern; endlich noch als Hand-
tuch, Kehrbeſen, Kaffeeſieb, Waſſerfilter und Trinkbecher.


Der Plaid darf durch ſein Gewicht den Wanderer, deſſen
ſteter Begleiter er iſt, nicht beläſtigen; ich benutze deshalb
in der Regel einen der ſtärkeren Damenplaids von
feiner Wolle, dünnem und dichtem Gewebe. In den
Fällen, in welchen eine ſolche Hülle nicht genügt, läßt ſich,
wenn man nicht einen zweiten, ſchweren mit ſich führen will,
anderweitig ſorgen, z. B. durch einen ſogenannten Wetter-
mantel, wie man ihn in Tirol und Oberbayern für etwa vier
Gulden kauft. Es iſt dies ein bis an die Knie reichender
Kittel von grobem, locker gewebtem, braunem Lodenzeug;
leicht, aber doch ziemlich warm, vermag er auch eine Zeit
lang den Regen abzuhalten.


Die Plaidnadel (Sicherheits- oder Ammennadel),
auch ein Kind der Neuzeit, bildet jetzt in faſt jedem Nadler-
laden einen Stapelartikel. Weil ſie brocheartig mit einem Ver-
ſchluß eingerichtet iſt, hat ſie vor der gewöhnlichen Stecknadel
voraus, daß ſie nicht wie dieſe jede unvorſichtige Berührung
blutig rächt, ferner nicht beim geringſten Anſtoß treulos
ihren Poſten verläßt, muß mithin zu den Gegenſtänden
[39]III. Kopfbedeckungen.
gezählt werden, von denen der gute Touriſt eine reichliche
Anzahl in verſchiedenen Größen mitnimmt.


Unter den Kopfbedeckungen die allerunbrauchbarſte
iſt der Filzcylinder, und da ſelbſt die ſtrenge ſixtiniſche Capelle
von ihren Gäſten an den höchſten Kirchenfeſten nur einen
Frack und keinen capello francese verlangt, ſo gibt es keine
Entſchuldigung für die Mitnahme dieſes ſteifen, hohlen Ge-
ſellen, dieſer Krone aller häßlichen Männermoden, dieſem
Gipfel geſpreizter Geckenhaftigkeit, der Hand in Hand mit
ſeinem ebenſo abgeſchmackten und philiſtröſen Herrn Amts-
bruder, dem Frack, einem Jahrhundert nach dem andern
Trotz bietet, fort und fort die Form wechſelnd, aber un-
ausrottbar, unbeſieglich, wie die menſchliche Thorheit und
Eitelkeit ſelbſt. Sollteſt Du, lieber Leſer, Candidat oder
Referendar ſein und Deinen Superintendenten oder Miniſter
zu treffen hoffen reſp. fürchten, oder ſollten der hochverehrte
Leſer Excellenz, Durchlaucht, Hoheit, kurz ſollten Rückſichten
auf fremden oder eigenen Rang zu nehmen ſein, ſo ſei der
Antrag geſtattet, einen Klapphut, ſogenannten Gibus, zu
wählen, der in den Koffer gelegt wird und kein beſonderes
Collo bildet, denn viele Gepäckſtücke mit ſich zu führen, iſt
untouriſtiſch. Ein weicher niedriger Filzhut wird ſich ſtets
als zuverläſſiger, anſpruchsloſer Gefährte erweiſen. Die
Verdienſte des Strohhuts werden im Allgemeinen zu hoch
angeſchlagen, wenigſtens iſt er als einziger Reiſehut zu ver-
werfen. Allerdings tragen ihn Tauſende von Creolen im
tropiſchen Amerika, dieſes leichtblütige, ſorgloſe Völkchen
darf uns aber nicht zum Muſter dienen; die bedächtigen
Südaſiaten und Nordafrikaner, die darin eine mehrtauſend-
jährige Erfahrung hinter ſich haben, ziehen ſämmtlich Kopf-
bedeckungen vor, die zwar ſchwerer wiegen und wenig Luft, dafür
aber auch keinen Sonnenſtrahl durchlaſſen. Da indeſſen der
kluge Arzt an Patienten Grillen, die nicht allzu ſchädlich ſind,
duldet, auch ein Autor Urſache hat, mit ſeinen Leſern galant
zu verfahren, ſo erlaubt unſere Reiſeſchule nicht nur den
[40]III. Schon wieder Wäſche — Reiſeluſt und Reinlichkeitsliebe.
Ankauf eines breitkrämpigen Panamàhuts, der ſich zuſammen-
falten und einpacken läßt, ſondern fügt ſogar noch gute Rath-
ſchläge bei. Dient ein ſolcher Hut in heißer Mittagsſonne,
ſo lege der Wanderer ein weißes Taſchentuch hinein, von
dem ein Zipfel vorn umgeklappt iſt, ſo daß er das Hutfutter
von der Stirn trennt; das Werk wird den Meiſter loben,
ohne daß „von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß.“
Manche legen auch graues Löſchpapier in den Hut.


Im Eingang dieſes Capitels wurde vom exact touriſtiſchen
Standpunkte den farbigen Flanellhemden das Wort geredet
und von weißer Wäſche in einer Weiſe geſprochen, welche
zartbeſaiteten Gemüthern anſtößig erſcheinen konnte. Wenn
ich nun bedenke, wie lange ich ſelbſt brauchte, um mich mit
Wolle auf bloßer Haut zu befreunden, ferner, daß es
Menſchen gibt, deren Lebensglück eng verknüpft iſt mit weißer
Wäſche — bekanntlich iſt das Glück etwas Subjectives und
läßt ſich nicht ſo leicht auf logiſchem Wege von den oft gering-
fügigen Objecten löſen, an die es ſich einmal geheftet hat, mag
man auch noch ſo viel predigen über die kurzlebige Tyrannei
einer Gewohnheit — wenn ich alles das in Betracht ziehe, fühle
ich ein menſchliches Rühren. So will ich denn nicht zurück-
halten mit der folgenden Erzählung. Möchte ſie denen Troſt
bringen, die aus der Hand ihrer Mutter die Lehre haben,
daß ein reines Herz auch ſtets von einem weißen Hemd gedeckt
ſein müſſe, „außen blank und innen rein,“ und dieſe Lehre
nun als ein heiliges Vermächtniß für’s Leben betrachten.
Möchte ſie ferner darthun, daß die Alphabetsnachbarinnen
Reiſeluſt und Reinlichkeitsliebe zwar nicht eben Schweſtern
oder vertraute Freundinnen ſind, aber doch auch nicht, wie
Manche wähnen, geborene oder geſchworene Antipoden ſein und
bleiben müſſen. Nein, geliebte Mittouriſten, ich kann Euch
beruhigen: es läßt ſich ein modus vivendi finden, welcher der
Reinlichkeit, dieſem häuslichen Bürgermädchen, erträglich iſt,
und dem ſich auch jene etwas emancipirte Dame, die Reiſeluſt,
allenfalls fügt.


[41]III. Der Reinlichkeitsfanatiker und ſeine Toilettengeheimniſſe.

Ich will nämlich von einem Holländer erzählen, deſſen
Bekanntſchaft ich einſt in Tirol machte und der ein wahrer
Reinlichkeitsfanatiker war, aber dabei dennoch viel
und mit Paſſion reiſte. Die beiden Leidenſchaften erfüllten
den Mann ganz und gar, und es war ihm in der That ge-
lungen, einen Compromiß für ſie zu finden. Geraume Zeit
ſchon waren wir ſelbander gewandert, geklettert, gefahren,
geritten, hatten nirgend länger als eine Nacht geraſtet, als
es mir auffiel, daß, obwohl auch er nur eine Jagdtaſche von
mäßigem Umfang bei ſich führte, er doch bei jeder unſerer
gemeinſchaftlichen Mahlzeiten ſtets in einem Hemd erſchien,
das in allen ſichtbaren Theilen ſalonfähig ſauber war. Auf
meine Frage, wie er das anſtelle, ſuchte er anfangs mit
Scherzen auszuweichen, offenbar befürchtete er Neckereien.
Als er jedoch ſah, daß ein alter Fuchsjäger, wie ich, nicht
ſo leicht zu ermüden, noch von ſeiner Fährte abzulenken iſt,
ließ er ſich endlich vernehmen.


— Zur Strafe für Ihre Neugierde ſollen Sie nun
aber auch in alle meine Toilettengeheimniſſe eingeweiht werden,
und je mehr Sie ſich dabei ennuyiren, je lieber wird es mir
ſein. Es hat Ihnen nicht entgehen können, daß von den
größeren und wohlhabenden Culturvölkern Europa’s die
Niederlande verhältnißmäßig das ſchwächſte Contingent liefern
zum allgemeinen Touriſtenheere. Einige ſehen darin Träg-
heit, oder Geiz, oder eitle Selbſtgenügſamkeit und was weiß
ich Alles: ich behaupte, daß die Urſache eine andere iſt, und
wir ſie nur aus Höflichkeit und Klugheit verſchweigen, denn
wir haben ringsum Alles gegen uns. Sie fordern meine
Aufrichtigkeit heraus, wohlan, ſo wiſſen Sie: die Luſt am
Reiſen wird uns Holländern dadurch verdorben, daß unſere
Anſichten und Gewohnheiten in Bezug auf Reinlichkeit von
der ganzen übrigen Welt nicht getheilt, ſondern beſpöttelt
und mit Füßen getreten werden, außerdem ſchon die Reiſe
an und für ſich die Uebung dieſer Tugend ſehr erſchwert.
Ich bin unter den Ausnahmen, bei denen der Zug nach der
[42]III. Zur Farbenlehre.
Ferne überwog, deſto mehr ſtellte ich es mir nun zur Auf-
gabe, nach der Seite der Sauberkeit unterwegs das äußerſt
Mögliche zu thun. Ein Stück Seife und ein kleines Tuch
zum Abtrocknen führe ich ſtets bei mir und ſorge damit für
Kopf und Hände. Um das Hemd unterwegs in präſentablem
Zuſtande zu erhalten, es wenigſtens vor dem tiefſten Elende
zu bewahren, bedarf es ſchon mehr Sorgfalt, oder ſagen wir
Pedanterie. Vor Allem müſſen die Stoffe zu Weſte und
Rockärmelfutter klug gewählt ſein, denn ſie beſonders „lieben,
das Strahlende zu ſchwärzen und das Erhab’ne in den Staub
zu zieh’n.“ Beim Einkauf prüfe ich durch Reiben mit einem
weißen Tuche, ob der Stoff farbenfeſt iſt. Schwarze und
ſehr dunkle Wollenzeuge ſind es faſt nie, ich wähle deshalb
lieber mittelfarbige, auch für das Futter der Aermel und der
Taſchen Grau, denn Weiß ſchmutzt paſſiv zu leicht, wie
Schwarz activ. Unter letzter Eigenſchaft leiden außer Hemden
auch weiße Schnupftücher und Mundvorräthe, welche letztere
man zuweilen genöthigt iſt, der Taſche uneingewickelt an-
zuvertrauen. Eine meiner Rocktaſchen iſt deshalb ausſchließlich
ihnen gewidmet, ſo daß nie derſelbe Ort, den geſtern ein
mineralogiſcher oder zoologiſcher Fund einnahm, heute einem
Butterbrod angewieſen wird, morgen Büchern und Hand-
ſchuhen, und jeder Nachfolger die Hinterlaſſenſchaft ſeines
Vorgängers pure antritt. Dieſe Taſche wird zuweilen ge-
waſchen. Soviel zur Farbenlehre. Sogenanntes engliſches
Leder, ein feſtes, dauerhaftes Gewebe, eignet ſich zu Taſchen
von Reiſekleidern beſſer, als Kattun. Meine Hemdkragen
ſind zum Anknöpfen, ſo daß ich bequem wechſeln kann, und
zwar — erſchrecken Sie nicht — auf beiden Seiten zu tragen,
alſo oben und unten von gleicher Leinwand; in Städten
greife ich auch wohl zu amerikaniſchen Papierkragen. Die
Manſchetten ſind angenäht und zwar doppelt und von der
althergebrachten Art, nicht von der neumodiſchen mit Metall-
knöpfen, von einer Pariſer Chemisière et Blanchisseuse de fin
eigens für ihre Zwecke und zur Plage der Träger erſonnen.
[43]III. Bergauf — Copie nach niederländiſchem Original.
Die untere meiner Manſchetten wird zuerſt lang ausgeſtreckt
getragen, während die obere ſich nach der andern Seite, die
Pulsadern umſchließend, behaglich und unangefochten dehnt;
ſobald der Saum der erſteren eine unliebſame Schattirung
annimmt, wird er in die Verborgenheit zurückgefaltet und
an ſeine Stelle tritt eine Falte von blendender Weiße; ver-
liert auch ſie ihre Reinheit, ſo wird die ganze Manſchette
aus der Oeffentlichkeit entfernt und führt nun ein zurück-
gezogenes Leben, wie bisher ihre Zwillingsſchweſter, nur
über dem Hemdärmel, während die letztere jetzt denſelben
Curſus durchzumachen hat. Jede der beiden Manſchetten
hat am Saume, wo ſie am Bund angenäht iſt, einen Knopf,
der nur geöffnet zu werden braucht, wenn beide ganz zurück-
geſchlagen werden ſollen. Zu dieſem fünften Modus greife
ich in Staub- und Rußatmoſphäre. Wer auf Geputztheit
hält, mag Doppelmanſchetten zum Anknöpfen wählen. Wie
Sie ſehen, ſind meine Hemden nicht aus feinſtem Leinen, zur
Erhöhung ihrer Widerſtandskraft inmitten der Drangſale,
die ſie von Seiten eiliger, unbarmherziger Gaſthofs- und
Dorfwäſcherinnen zu erdulden haben, auch ſehe ich darauf,
daß an dem Bruſtſtück weder ſogenannte Hohlnähte noch
Streifen des einfachen Zeugs vorkommen, ſondern überall
dieſes doppelt oder dreifach liegt. Zum Schutz der Hemden
gehört endlich, entweder keinen Bart zu tragen, oder den
Schnurrbart kurz zu halten und den Kinnbart täglich mit
dem Handtuche gründlich zu bearbeiten. —


Mein holländiſcher Freund hielt nur zu redlich Wort
und weihte mich in ſeine tiefſten Toilettengeheimniſſe ein,
„zur Strafe meiner Neugierde“. Es half mir nichts, daß
ich hier und da ſeinem Lehreifer Einhalt zu thun ſuchte, indem
ich ihn aufmerkſam machte, daß wir bergan oder dem Wind
entgegen gingen, für welchen Fall eine alte Wanderregel
das Sprechen verbietet. Mynheer van der Laeken ließ ſich
nun ebenſowenig irre machen, als ich mich vorher, und zur
Steuer der Wahrheit muß ich bekennen, daß ich Manches
[44]III. Diener — Hutbänder mit Gebirgsprofilen.
von ihm lernte. Da er für ſeine Doctrinen — dieſelben
waren vorzugsweiſe der Sphäre entnommen, die brave Haus-
frauen, wenn ſie unter ſich ſind, gern behandeln — kein
geiſtiges Eigenthumsrecht beanſpruchte, ſo benutzte ich dieſes
niederländiſche Original, um nach ihm für meine Bedürfniſſe
eine Copie in verjüngtem Maßſtabe zu machen. Aus
ſeinen weiteren Mittheilungen erinnere ich mich noch des
Folgenden.


Wie jedes wollene Kleidungsſtück hat auch Plaid und Weſte
Anſpruch, ausgeklopft zu werden, wovon jedoch die jetzt
lebende Generation der Dienſtboten *) nicht zu überzeugen iſt.
Die Leute nehmen auf Befehl Beides mit hinaus, bringen
es zierlich gefaltet wieder, eine Unterſuchung zeigt aber immer,
daß es nicht gereinigt wurde, ich laſſe daher das Geſchäft
meiſt unter meinen Augen vollziehen.


Auch gewiſſe Flecken am Hutband waren dem Scharfblick
meines Holländers nicht entgangen. — Sie geben, meinte er,
dem Touriſten, wie die Narben dem Kriegsmann, das
Zeugniß, daß er nicht die Hände in den Schoos legte, ſondern
Mühſal, Staub und Hitze zu tragen verſtand, und ſind un-
geſuchte, deshalb weit mehr als die eingebrannten Namen
auf den Alpenſtöcken, vertrauenswerthe, ehrenvolle Atteſte.
Ihr gebirgsprofilähnliches Moiré verſinnlicht gewiſſermaßen
die einzelnen Erſteigungen: je mehr Linien durcheinander
laufen, je mehr Pyramiden ſich übereinander thürmen, je tiefer
die Schattirungen ſind, je höher ſtieg der Mann, je höher
ſollte auch ſein Ruhm ſteigen. „Vor den Ruhm ſetzten die
[45]III. Hutbänder mit Gebirgsprofilen — Erlaubte Beſcheidenheit.
Götter den Schweiß.“ Aber auch hier, wie bei allem Ver-
dienſt iſt der Neid geſchäftig: — die unten blieben in ihrer
Gemächlichkeit, denen der Sinn fehlt für Empfindungen,
einige Tauſend Fuß erhaben über der platten Alltäglichkeit,
blicken ſcheel dazu. Sie räumen ein, die Frucht der menſch-
lichen Arbeit ſei edel, von ihrer Blüte behaupten ſie jedoch,
daß ſie den Sinnen nicht ſchmeichle. Was thun wir unter
ſolchen Umſtänden? — Nach der Meinung eines berühmten
Franzoſen iſt die Beſcheidenheit nur erlaubt, wenn ſie von
ſehr hervorragendem Verdienſte getragen wird; aus dem
Grunde wahrſcheinlich (alſo vor lauter Beſcheidenheit) macht
der größte Theil der großen Nation ſelbſt keinen Gebrauch
davon. Der hochgeſtiegene Touriſt dagegen darf beſcheiden
ſein, er verſchmäht es, ſeine zackige Krone zur Schau zu
tragen, und läßt entweder den Reiſehut ſo füttern, daß die
Tropfen der Stirn weder den Filz noch die Fäden der Naht
erreichen (das Futter wird vorn an der Front ein wenig
über die innere Kante auf die Krämpe gezogen) oder, wenn
das verſäumt wurde und das Band allzu viel erzählt von
den alpinen Großthaten des Trägers, ſo windet er ein weißes
Taſchentuch turbanartig darum, wodurch nebenbei ein vortheil-
hafter Farbeneffect erzielt wird. Jede Art Hüte, auch die
von Stroh, müſſen nach ſtaubigen Fahrten abgeſtäubt werden,
damit ſie ihre jugendliche Anmuth nicht ſchon in den erſten
Dienſttagen einbüßen, ſodann iſt ihnen eine Vorrichtung, um
gelegentlich daran ein Sturmband zu befeſtigen, von Nutzen.


Unſere Reiſeſchule wendet ſich jetzt zu den Vorſichts-
maßregeln
.


Nichts Seltenes iſt es, daß Eiſenbahnbillets und
Gepäckſcheine unter das Hutband, in einen Handſchuh,
oder in eine Taſche mit anderen Sachen, Geld, Schlüſſeln, Uhr
zuſammengeſteckt werden, ohne verloren zu gehen, dies kann
aber mit nichten als Beweis gelten, daß der Ort dafür gut
gewählt war, ſondern höchſtens, daß die Nemeſis nicht immer
die Augen offen hat, zum Glück für die vielen leichtſinnigen
[46]III. Vorſichtsmaßregeln — Fahrbillets, Gepäckſcheine.
Paſſagiere unter uns. Man darf nur einen Eiſenbahn-
ſchaffner auf das Thema bringen, um neunundneunzig Ge-
ſchichten zu hören von verlorenen, verlegten, „verſtochenen“
Fahrkarten. So manche komiſche habe ich mit angeſehen,
eine davon auch in einer Reihe von Bleiſtiftſkizzen wieder-
zugeben verſucht und wünſchte nur, daß ein Genremaler von
Beruf ſich des Gegenſtandes einmal bemächtigte.


Die erſte meiner Skizzen ſtellt ein gefülltes Coupé dar.
Einer der Herren, ein ehrbar ausſehender Greis, hat das
Wort, alle Andern hängen mit den Augen an ſeinen Lippen.
Zweites Bild: das Geſpräch iſt unterbrochen, der Schaffner
draußen in halber Figur ſichtbar, ihm entgegen ſtrecken ſich
fünf Hände, nur die beiden des alten Herrn, der ſich in
halbgebückter Stellung erhoben hat, ſtecken in verſchiedenen
Taſchen und ſuchen. Folgende Bilder: er ſucht und ſucht,
einige Taſchen haben ſich umgekehrt und ihren Inhalt aus-
geſtreut, darunter Manches, das beſſer im Verborgenen ge-
blieben wäre. In den Zügen der Zuſchauer kämpfen Mit-
gefühl und Heiterkeit, aus ihren Geberden geht hervor, daß
Niemand mit ſeinem Rathe zurückhält, wo das Vermißte wohl
ſein könnte. Im Hintergrunde, durch das Wagenfenſter ein-
gerahmt, das Bruſtſtück des Conducteurs; ſein bärtiges Ge-
ſicht blickt immer amtlicher, zuletzt mißtrauiſch, criminaliſtiſch.
In der Rechten, zum Schlag hereinragend, hält er die wohl-
bekannte Coupirmaſchine, die anfangs wie ein gutgelaunter
Nußknacker ausſieht, allmählich aber, näher und näher rückend,
im Einklang mit den Gemüthsbewegungen ihres Inhabers,
immer drohendere, phantaſtiſche Mienen und größere Dimen-
ſionen annimmt, in ein Zahnbrecherinſtrument verwandelt
ſcheint, dann in eine glühende Marterzange, zuletzt Aehnlich-
keit mit einem Haifiſch- oder Höllenrachen hat. Letztes Bild:
der kleine Flüchtling iſt glücklich erwiſcht, und zwar im
Stiefel, wohin er durch ein Loch in der oberen Ecke der
Hoſentaſche entſprungen war. Freude ringsum. Selbſt
die Zange macht wieder ihr joviales Nußknackergeſicht. Nur
[47]III. Die verſteckte Fahrkarte — Reiſecaſſe.
ein Cylinderhut und ein Strickkörbchen ſehen ſehr nieder-
gedrückt aus.


Doch genug des Scherzes, wenden wir uns den ernſten
Aufgaben des Lebens zu, fuhr unſer Reiſeprofeſſor in ver-
ändertem Tone fort und legte mir die Frage vor, wo der
Weiſe ſeine Fahrkarte verwahre, worauf ich etwas verdutzt
erwiderte, ich hätte ſie gewöhnlich im Portemonnaie oder
auch in der Weſtentaſche. — „Oder auch!“ wiederholte er
im mildverweiſenden Tone eines Lehrers, der eine ungewöhn-
lich einfältige Antwort von einem ſonſt guten Schüler erhält.
Ich ſehe mit Betrübniß, daß Sie die Moral meines Vortrags
mit Illuſtrationen nicht beherzigt haben und noch Sextaner
in der Schule der Erfahrung ſind. Die höheren Claſſen dieſer
Schule haben das Bahnbillet ſtets wenigſtens an einem und
demſelben Ort, wie Uhr, Börſe, Schnupftuch, damit es
immer raſch bei der Hand iſt und ſie im Falle eines Verluſtes
ſofort wiſſen, woran ſie ſind, und die geeigneten Schritte mit
Würde thun können. Der Touriſt von Fach beſitzt dafür ein,
dem Stückchen Papier oder Pappe ausſchließlich gewidmetes
Täſchchen innerhalb der Weſte, denn das Portemonnaie hat
ſchon genug mit anderen Dingen zu ſchaffen. Soll dieſes
letztere gehörig reiſemäßig eingerichtet ſein, ſo hat es vier
offene und drei, durch verſchiedenfarbige Klammern geſchloſſene
Abtheilungen, von letzteren je eine für Gold, Papiergeld und
Gepäckſchein, ſo daß auch der letztere immer ein ruhiges
Einſiedlerleben führt, fern vom zerſtreuenden Welttreiben.
Die offenen Abtheilungen befaſſen ſich mit Silber- und
Kupfermünze, kleinen Schlüſſeln und dergleichen.


Denken wir nun aber auch auf die Sicherheit und gute
Unterkunft der großen Reiſecaſſe. Vorhin war die Rede
von Taſchen und Angriffen auf ſie. Unter den Angriffen
wurden dort nur die harmloſeſten von allen in Betracht ge-
zogen: die von den Händen des Beſitzers. Wie viele andere
ſchlimmere hat aber die Taſche des Touriſten zu beſtehen!
Die gefährlichſten, die einer gewiſſen Claſſe von Gaſtwirthen,
[48]III. Werthſachen zu ſichern — Diebe.
mögen hier nur noch aus dem Spiele bleiben, denn dieſer
Feind hat durch ſeine numeriſche Stärke, durch die Umſicht,
mit der er alle wichtigen Punkte beſetzt hält, die Ausdauer,
mit welcher er ſie vertheidigt, durch ſeine Disciplin, ſeine vor-
zügliche Bewaffnung, insbeſondere ſeine von Jahr zu Jahr
ſteigende Unerſchrockenheit allen Anſpruch auf unſere un-
getheilte Aufmerkſamkeit. Ihm wird deshalb ein beſonderes
Capitel gewidmet ſein. Auch iſt hier noch nicht der Ort, um
uns mit den Freiſchaaren von falſch addirenden Kellnern,
überſpannten Lohnkutſchern und zudringlichen Trinkgeldjägern
der verſchiedenſten Art einzulaſſen. Vielmehr richten wir
unſeren Sinn zunächſt nur auf die minder furchtbaren Wider-
ſacher des Reiſenden — die Diebe. Sie unterſcheiden ſich
von der vorgenannten Art dadurch, daß ſie, die Finger nach
unten gekrümmt, zu Werke gehen, während jene, der beherzte,
ſiegesgewohnte Feind, uns offen und kühn in’s Antlitz blicken
und die Hand mit einem Blatt Papier wie eine gebotene
Freundeshand entgegenſtrecken.


Vor Taſchen-, Straßen-, Hausdieben und Einbrechern
ſchützt man ſich dadurch am ſicherſten, daß man Geld- und
Werthſachen nicht an ſolche Orte legt, wo, in der Meinung
ſie da am beſten zu verwahren, alle Welt ſie hat. Wie viele
Tauſende von Brieftaſchen mit Banknoten ſind nicht aus der
linken Bruſttaſche des Rockes geſtohlen worden! Nach der
Verſicherung eines Londoner Detectives vermag ein geübtes
Gaunerauge ſchon in ziemlicher Entfernung zu [erkennen], ob
in einer Bruſttaſche Inhalt zu erwarten iſt, der einen Angriff
verdient, und daß es auch diesſeits Finger gibt, die auf
die unglückliche Taſche eigens dreſſirt ſind, geht aus den
Polizeiberichten hervor. Größere Geldſummen in Gold
Kleidungsſtücken einnähen zu laſſen, wäre eine gute Maß-
regel, wenn dieſelben, ſo lange ſie goldhaltig, nicht gereinigt zu
werden brauchten oder alle Hausknechte ehrliche Leute wären;
leider iſt aber die Bildung des Gefühls, d. h. des Taſt-
und Spürſinns bei einigen dieſer Klopfgeiſter ſo weit vor-
[49]III. Weitere Vorſichtsmaßregeln — Papiergeld, Gold.
geſchritten, daß ſie ſolche verſteckte kleine Goldgruben bald
aufzufinden und auszubeuten wiſſen. Andere Reiſende tragen
ihre Hauptcaſſe äußerlich über dem Rock an einem Riemen
in beſonderen Schatullen, das gibt jedoch ein ganzes Gepäck-
ſtück mehr und hat den Uebelſtand, daß dieſe Behälter ſich
augenfällig als Inhaberinnen von Geldſummen kennzeichnen,
deshalb ſchon in Ländern mit guter Polizei, geſchweige im Süden
und Oſten, Raubanfälle herbeilocken können. Sicherer zwar,
aber noch beſchwerlicher ſind die alterthümlichen, jetzt nur
noch bei Viehhändlern beliebten ſogenannten Geldkatzen, die
unter die Oberkleider um den Leib geſchnallt werden. Ebenſoviel
Schutz bieten und minder Beſchwerde verurſachen Taſchen
von weichem Wildleder, die man an einem Gurt unter dem
Hemd oder unter der Weſte trägt. Sie haben eine Abtheilung
für Papiergeld und eine andere für Gold, die letzte mit vier
Unterabtheilungen, in welche die Goldſtücke, reihenweiſe platt
ſchuppenartig geſchichtet und feſt in Papier geſchlagen, ver-
theilt werden, ſo daß das Ganze nicht zu dick und unbiegſam
wird. Aus dieſen Taſchen laſſen ſich mühelos Stücke heraus-
nehmen und in’s Portemonnaie übertragen. Iſt die mit-
geführte Summe zu groß, ſo können zwei dergleichen, jede
mit drei wagerechten durch eine Klappe mit Knopf zu ver-
ſchließenden Unterabtheilungen, in der Weiſe angebracht ſein,
daß ſie nebeneinander auf die Bruſt zu liegen kommen, die
Gurte hoſenträgerartig geknöpft und auf Bruſt und Rücken
ſowie über den Hüften verbunden ſind. Als ſchlechteſten Platz
für Werthſachen müſſen die ſogenannten geheimen Schubfächer
bezeichnet werden, deren Geheimniß ein längſt offenkundiges
iſt. Bei längerem Aufenthalt an einem Ort verwahre ich
die Baarſchaft, wenn ich ſie nicht bei meinem Wirthe deponire,
meiſtens in einem Futterale, das von außen wie ein Buch
ausſieht und in einer verſchloſſenen Schublade der Commode
oder des Secretärs, oder im großen ſchweren Koffer, mit ein
paar anderen äußerlich ähnlichen, wirklichen Büchern zu-
ſammenliegt, neben Wäſche, Cigarren u. dgl., in der Ueber-
4
[50]III. Chirurgiſche Hilfe.
zeugung, daß unberufene Hände eher nach allem Uebrigen
greifen würden, als danach. (In dieſer Weiſe werden be-
kanntlich Bücher kaum jemals verloren, ſondern nur durch
Ausleihen an Bekannte, die ſie nicht zurückſtellen.) Sind
nur ein paar Scheine aufzubewahren, ſo läßt ſich auch ein
wirkliches Buch dazu verwenden: die beiden Blätter, zwiſchen
denen das Geld liegt, können leicht aneinander geklebt werden,
wobei Einer, der mit viel Vorſicht und wenig Gedächtniß
begabt iſt, die Seitenzahl vormerkt. Papiergeld liegt ferner
wohlgebettet unter alten Scripturen, wenn der Beſitzer nicht
die Gewohnheit hat, ſolche Pakete ohne vorherige Durchſicht
zu verbrennen. Wer Geldſcheine in größeren Summen bei
ſich tragen und bequem zur Hand haben will, ſteckt ſie nicht
in ein großes, dickes Portefeuille, deſſen Umriſſe ſich äußerlich
markiren, ſondern in ein dünnes Futteral von Leder oder
Buchbinderleinwand, und dieſes nicht in die Bruſttaſche des
Rockes, ſondern in eine an der innern rechten Seite der
Weſte angebrachte Taſche. Größere als Fünfthaler- oder
Zehngulden-Scheine mitzubringen an Orte, wo die Aus-
wechſelung nicht leicht zu bewirken, iſt zu vermeiden. So oft
ich Goldſtücke mit auf die Reiſe nehme, vergeſſe ich nie, eine
tüchtige Anzahl von halben und Viertel-Napoleond’or gleich
einzuwechſeln.


Wer in allem Dieſem noch nicht hinlängliche Sicherheit
vor Verluſt und Raub ſieht, dem mag das anheim geſtellt
ſein, was bisweilen in Arabien geſchieht, wie Burton erzählt.
Dort kauft man einige Zeit vor Antritt einer Reiſe in
räuberiſche Diſtricte Edelſteine und Perlen, ſteckt ſie in ein
ſilbernes Büchschen mit abgerundeten Ecken und dieſes —
in eine zu dem Behuf geſchnittene Wunde, welche man dann
wieder zuheilen läßt. Als beſten Platz dafür wird am linken
Oberarm die Stelle empfohlen, wo geimpft wird, und ver-
ſichert, daß es keine ſonderlichen Beſchwerden verurſache,
ſo wenig als Soldaten die Bleikugel, die ihren Weg in ihr
Fleiſch gefunden, nicht hat entfernt werden können und ihnen
[51]III. Goldmägen — Verſicherungsſchein.
nun dauernd einverleibt iſt. Dieſer ſubcutane Nothpfennig
bietet dem Beſitzer auch dann noch eine Hilfsquelle, wenn er
das Unglück hatte, bis auf die Haut ausgeplündert zu werden,
ſo lange man ihm nur dieſe gelaſſen hat.


Von allen Arten, Werthgegenſtände zu ſichern, die miß-
lichſte iſt eine ſchon im Alterthume geübte. Daß ſie leider
noch nicht in Vergeſſenheit gerathen, beweiſt eine Mittheilung
H. v. Maltzan’s in Weſtermann’s Monatsheften. Nach der-
ſelben hauſt nämlich im ſüdlichen Tuniſien ein räuberiſcher
Stamm, die Faraſchiſch, unter denen ſich die Meinung ein-
geniſtet hat, daß einige der durch ihr Gebiet reiſenden
Fremden „Goldmägen“ ſeien. Den Ausdruck „Goldmagen“
haben ſie eigens erſonnen zur Bezeichnung eines Menſchen,
der ſeine Baarſchaft in Goldmünzen „zwiſchen Seele und
Körper“ d. h. in ſeinen Eingeweiden verborgen hat. Einſt
herrſchte unter den Räubern die Gewohnheit, einem ge-
fangenen vermeintlichen Goldmagen kurzweg den Bauch auf-
zuſchlitzen, ſie gingen aber ſpäter davon ab und beſchränkten
ſich auf mediciniſche Behandlung ihrer Opfer. Hadſch Hamed,
der alte Diener unſeres Berichterſtatters, erzählte ihm einen
Fall der Art aus dem eigenen Jugendleben: er gerieth in die
Hände der Faraſchiſch, erhielt einen vollen Monat hindurch
ſtatt aller Speiſe nur heißes Waſſer und bitteres Salz und
wäre verhungert, wenn ihn nicht eine Tochter des Stammes,
die ſpäter ihn befreite, mit ihm entfloh und ſein Weib ward,
heimlich mit Nahrung verſehen hätte.


Zu den wohlbedachten löblichen Vorſichtsmaßregeln,
namentlich wenn es ſich um Vorausſendung von Koffern
und Kiſten handelt, gehört die Verſicherung gegen
Schein
; die Aſſecuranzgebühren ſind äußerſt gering und
jedenfalls iſt der Schutz, den ſie bietet, unter Anderm auch
gegen die leider nicht ſelten vorkommenden Irrthümer und
Nachläſſigkeiten von Eiſenbahnbeamten und Spediteurs, ſowie
gegen unterwegs dieſerhalb erwachende Beſorgniſſe, hoch
anzuſchlagen. Wer nicht aſſecurirt hat, thut ſtets wohl, wo
4*
[52]III. Aus dem Wagen ſpringen — todte Briefe — Zerſtreutheit.
ſich Gelegenheit bietet, auf die Umladung ſeines Paſſagier-
gepäcks ein Auge zu haben.


Ehe wir die Rubrik „Vorſichtsmaßregeln“ verlaſſen,
muß noch eine erwähnt werden, die ſich auf die Sicherung
von Leben und Geſundheit bezieht. Viele Hälſe und Beine
ſind ſchon dadurch gebrochen worden, daß während raſcher
Fahrt aus dem Wagen geſprungen wurde, ſei es, weil die
Pferde durchgingen oder aus anderen Gründen. Die Regel
iſt, in zweifelhaften Fällen lieber ſitzen zu bleiben, muß aber
durchaus geſprungen ſein, ſo werde beachtet, daß vom Ent-
ſchluß bis zur Ausführung mindeſtens einige Secunden ver-
fließen, die muthmaßliche Ankunftsſtelle mithin nicht dieſelbe
iſt, die wir im Augenblick des Entſchluſſes ſeitwärts gerade
vor uns ſehen. Zweitens lehrt die Erfahrung und die Phyſik
erklärt es, daß der Körper, der einen fahrenden Wagen plötz-
lich verläßt, deſſen Zug nach vorn theilt, alſo, wer einen har-
ten Fall vermeiden will, nicht rück- oder ſeitwärts, ſondern
der Richtung der Fahrt möglichſt parallel nach vorn zu
ſpringen hat.


Vor der Abreiſe aus einem Orte, an dem ich längere
Zeit verweile, hinterlege ich im Gaſthof ſowohl als beim
Poſtamt ſchriftliche Angabe meines nächſten Stationsplatzes.
Die Nützlichkeit dieſer Maßregel in’s Licht zu ſtellen, genügt
ein Blick auf die in Wirthshäuſern und Poſtexpeditionen
ausgehängten Käſten mit „todten“ Briefen.


Gedenken wir noch der Verluſte, die wir uns durch eigene
Zerſtreutheit bereiten, ſo findet ſich dieſelbe Bruſttaſche, die
wir ſchon als Helfershelferin der Taſchendiebe ertappten, in
ähnlicher Eigenſchaft zu Gunſten unehrlicher Finder thätig.
Sie iſt es, die, wenn wir in der Hitze eines Marſches den
Rock über die Achſel werfen, nichts Eiligeres zu thun hat,
als das ihr anvertraute Gut hinter unſrem Rücken auf den
Weg zu ſtreuen. Ihr Vertheidiger könnte nun zwar geltend
machen, daß ſie in allen dieſen Fällen unſchuldig ſei, ſogar
ſtreng geſetzmäßig gehandelt habe, nämlich nach dem Geſetz
[53]III. Zerſtreutheit — Taſchen u. abermals Taſchen — Stühle.
der Schwere, daß genau genommen gar nicht von einem Han-
deln, einer Thätigkeit, die Rede ſein könne, vielmehr lediglich
von einem paſſiven Gehorſam gegen jenes Weltgeſetz. Wir
laſſen uns durch alle Advocatenkünſte nicht beſtechen, ſondern
ſprechen über die Angeklagte das Schuldig: die untreue
Bruſttaſche wird in Reiſeröcken und Paletots zugenäht oder
weggelaſſen, überhaupt nur in der unteren Rockhälfte Taſchen
angebracht, ſo daß jenes Naturgeſetz ſich nie mehr zum Nach-
theil des Inhalts geltend machen kann, wenn auch der Schwer-
punkt der oberen Hälfte verändert wird. Jede Taſche weniger
an einem Reiſekleide iſt freilich eine Einbuße an Bequemlich-
keit, indeſſen, wenn einmal die Rock- oder die Brieftaſche zum
Opfer fallen ſoll, die Wahl nicht ſchwierig. Im unteren
Theile des Rocks ſind vier äußere und zwei innere Taſchen.
Von den letztern, meinen beſonderen Lieblingen, benutze ich
die eine, um die Brieftaſche, welche zugleich Cigarren, Brille
und Zündhölzer beherbergt, hineinzuſtecken, die andere für
Unvorgeſehenes. So z. B. hatte ich darin einen erborgten
Malerſtuhl *), den ich bei großen Kirchenfeſten in Rom mit
in den St. Peter nahm, um nach mehrſtündigem Stehen mir
eine kurze Ruhe gönnen zu können, ohne den Platz zu ver-
lieren; auch mein Filzhut hat oft in dieſer Taſche gewohnt.


Aber, lieber Onkel, ließ ſich jetzt Baby Eduard verneh-
men, von Deinem pädagogiſchen Standpunkte dürfteſt Du
doch derlei Auskunftsmittelchen nicht gutheißen, die Du ſicher-
lich, wenn ich ſie brauchte, Eſelsbrücken nennen würdeſt. —
Sehr richtig, Säugling, antwortete raſch gefaßt Odyſſeus,
das wären ſie auch für Dich, denn in Deinem zarten Alter
ſoll das Gedächtniß und die Aufmerkſamkeit durch Uebung
[54]III. Gedächtnißkrücken — Tailleur Krausé.
für’s ganze Leben geſtärkt werden, ich habe das jedoch leider
in der Jugend verſäumt, muß mir deshalb im Alter durch
Krücken zu helfen ſuchen. Solcher Gedächtnißkrücken
werde ich nachher noch einige mittheilen, eine Lection, von
der die ſtrebſame Jugend ausgeſchloſſen bleibt, zuvor muß
ich noch ein Wort der Warnung anknüpfen. Ich muthmaße
nämlich auch in dem ſonſt ſo ehrſamen Schneidergewerk Mit-
glieder, die mit den unehrlichen Findern unter einer Decke
ſpielen. Hören Sie, wie es mir mit dem meinigen erging.
Es war ein Deutſcher, obwohl er ſich Tailleur nannte und
ſeinen Namen Krauſe mit é ſchrieb. Bei ihm hatte ich einen
Reiſeanzug nach obigen Grundſätzen beſtellt, mündlich das
Nöthige auseinandergeſetzt und zum Ueberfluß noch ſchrift-
lich mitgegeben, in acht Tagen ſollte Alles fertig ſein, war
es auch nach drei Wochen, aber — ſämmtliche neue Einrich-
tungen fand ich nicht vollzogen. Auf meine Beſchwerde dar-
über eröffnete er mir, er habe „es gut gemeint“, innere
Taſchen im Schoos brächten das Ganze aus der „Faſſong“,
dafür habe er indeß die oberen ſehr groß gemacht; wenn ich
übrigens, ſetzte er begütigend hinzu, dieſe „bardu“ nicht be-
nutzen wollte, dann brauchte ich es ja nicht, das hinge ganz
von meinem „Bangſchang“ ab, Extrakoſten wären dadurch
nicht verurſacht worden. — Da verfiel ich auf ein Mittel,
das auch raſch anſchlug. Ich bedeutete ihn, es ſei die neueſte
Mode in Paris, bis jetzt nur in den Hofkreiſen bekannt, das
„Schornal“ werde es wohl nächſte Woche bringen, und
noch denſelben Tag war Alles nach meinen Wünſchen um-
geändert. —


Um nicht von unſerer Touriſtenſtraße weit abſeits zu
kommen, will ich von den Bemerkungen, die mein kritiſcher
britiſcher Freund bei dieſer Gelegenheit über deutſche, eng-
liſche und franzöſiſche Handwerker machte, nur noch mit-
theilen, daß auch er die Wurzel des Uebels in den Nach-
wehen unſres zu lange künſtlich aufrecht erhaltenen Zunftweſens
ſah und überzeugt war, die tüchtigen und vorzüglichen Eigen-
[55]III. Handwerkerbildungsvereine — weitere mnemotechniſche Krücken.
ſchaften der deutſchen Nation würden ſich auch im Hand-
werkerſtande nun immer allgemeiner geltend machen. Schon
jetzt erkenne man, daß er ſich mehr als früher beeifere, nicht
nur mit der Hand zu wirken, ſondern den Kopf zu Hilfe zu
nehmen; auch ſei nicht zu befürchten, daß ſich der größere
und beſſere Theil der Arbeiter und Gewerbsleute den Thor-
heiten und Träumereien hingebe, zu denen ſie gewiſſe Schran-
zen am Hofe der Volksſouveränetät verführen möchten. Ein
ſehr geeignetes Thema für Vorträge in Hand-
werkerbildungsvereinen
wäre übrigens: „die Lügen-
peſt, oder Verſprechen und Nichtworthalten.“ Viele ſonſt
brave Gewerbsmänner können leider noch nicht von dem ge-
polſterten Lehnſtuhle laſſen, auf dem ihr Großvater und Vater
ſelig geſeſſen, obwohl der alte Lederüberzug an vielen Stellen
zerplatzt, die weiche Unterlage herausgefallen iſt und die
engen Armlehnen ſie in der Arbeit hindern.


Weitere Gedächtnißkrücken: Vor Verluſten durch Liegen-
laſſen bei eiliger Abreiſe ſchütze ich mich u. A. dadurch, daß
ich in Gaſthöfen Abends meine kleinen Effecten unverdeckt,
augenfällig und nahe bei einander lege, nicht in die dafür
anberaumten Deckelbüchſen, Toilettenkaſten und Nachttiſche,
das Nachthemd werfe ich morgens nicht auf’s Bett, ſondern
lege Alles, z. B. auch die Seife, vor und nach dem Gebrauche
auf die Commode neben die übrigen Sachen. Um meine
Garnitur von Plaidnadeln, die ihren Nachtdienſt (vgl. S. 38)
verrichtet hat, morgens bei der Abreiſe nicht zu vergeſſen,
pflege ich die Weſte mit in den großen Verband zu ziehen.


Muß außergewöhnlich früh aufgebrochen werden, ſo ge-
ſtattet der Touriſtencodex in ſeinem Anhang, gewiſſe Toiletten-
geſchäfte, z. B. Waſchen und Zähneputzen, Abends vor
Schlafengehen zu beſeitigen, ferner, wenn beim Aufſtehen
das geſtern ausgezogene Paar Schuhe noch ungewichſt daſteht
und nicht reichlich Zeit iſt, ſie in dieſem Zuſtande anzulegen,
bevor dieſelben Friedrich der Verſchlafene mit der Verſicherung,
ſie „auf der Stelle“ wiederzubringen, mitnehmen kann. Um
[56]III. Bei eiliger Abreiſe — Friedrich der Verſchlafene — Erkundigungen.
ſo dienſtbefliſſener ſtürzt er ſich nun auf den Rock und die Bein-
kleider, wenn ihr Beſitzer ſie nicht auch ſchon angezogen hat;
ich bemächtige mich deshalb in ſolchen drangvollen Augen-
blicken, ſobald das ſchuldbewußte, ſtruppige Friedrichsgeſicht
in der Thür erſcheint, raſch entſchloſſen auch dieſer Stücke.
Findet ſich dann ſchließlich noch Zeit, Verſäumtes nachzu-
holen, ſo mag’s geſchehen. Als Wecker ziehe ich vom Uhr-
macher verfertigte Schlagwerke in Büchſenform allen Gaſthofs-
Friedrichs und Johanns vor und rathe jedem Reiſenden, der
nicht etwa das Talent hat, zu ungewöhnlicher Stunde aus
eigenem Antriebe zu erwachen, eine ſolche Weckuhr bei ſich zu
führen. Denn obwohl bei Hausknechten keinenfalls wie bei
Wäſcherinnen und Barbieren (vgl. S. 29) die Seife materia
peccans
ſein kann, ſo erweiſen ſich doch auch ihre heiligſten
Betheuerungen als „eines Menſchen eitler Odem“.


Adreſſen von Handwerkern und Händlern erfrage ich, wo
es ſich um größere Beſtellungen oder Einkäufe handelt, nie
von Kellnern, Hausknechten oder Lohndienern, kaufe und
beſtelle auch in eleganten Badeorten oder großen Hauptſtädten
nicht leicht in einem Laden des eigentlichen faſhionablen
Fremdenquartiers, wenn er mir nicht von guter Hand empfohlen
iſt, lieber wähle ich auf’s Gerathewohl im geſchäftlichen Mittel-
punkt des Orts, in der Nähe des Hauptmarktplatzes.


Da Erkundigungen zum täglichen Brot des Reiſenden
gehören, ſo ſei hier noch bemerkt, daß über Unzuverläſſigkeit der
erlangten Auskünfte gewiß nicht ſo häufig geklagt würde,
wenn wir der Sache etwas mehr Aufmerkſamkeit ſchenkten.
Weder böſer Wille noch Unkunde des Befragten iſt meiſtens
die Quelle von Irrungen, ſondern in der Regel war dieſem
die Fragſtellung nicht gleich deutlich, und er fürchtete, dumm
zu erſcheinen, wenn er zum zweiten, dritten Male „Wie?“
fragte, oder ſich beſänne, antwortete deshalb querfeldein;
oder wir hatten nicht die Geduld, zu warten, bis er ſich ge-
ſammelt. Außer Mundart, Tonfall, Wahl und Conſtruction
[57]III. Adreſſen und Erkundigungen.
der Worte ſpielen dabei noch andere Umſtände ihre Rolle.
In ſehr entlegenen Thälern hat die bloße Erſcheinung eines
Fremden und ſeine Anrede ſchon an und für ſich etwas Ver-
blüffendes für die Leute. Zuerſt iſt ihnen über die Wunder-
erſcheinung Hören und Sehen vergangen, auch auf Wieder-
holung der Frage erfolgt vielleicht nur ein „He?“, worauf
dann meiſt der Fremde achſelzuckend weitergeht, der Meinung,
der Betreffende ſei harthörig oder ein „Trottel“. In der-
artigen Fällen beginne ich nicht mit dem Gegenſtand, auf den
es mir ankommt, ſondern mache nach dem erſten Gruß eine
Bemerkung über’s Wetter. Sie iſt der Diener, der voraus-
läuft, um für ſeinen nachfolgenden Herrn Einlaß zu begehren.
Zeigt ſich nun aus der Erwiderung, daß der Mann die
ſchwerbewegliche Pforte ſeines Geiſtes mir aufgethan hat, ſo
rücke ich mit meiner Erkundigung nach Weg und Steg her-
aus, und faſſe bei der Trennung Frage und Antwort noch
einmal zuſammen, was nicht hindert, dieſelbe Frage aber-
mals dem nächſt Begegnenden vorzulegen. In Städten er-
kundige ich mich auf der Straße nach örtlichen Dingen, wenn
es ſich nicht um Einkäufe handelt, am liebſten bei müßig vor
ihrer Thür ſtehenden Ladenhaltern oder auch wohlgekleideten,
älteren, nicht zu raſch einherſchreitenden Herren, nie aber,
wenn es zu vermeiden iſt, bei Dienſtmädchen, Soldaten oder
Kindern.


Wer viel reist, hat oft Gelegenheit und ſtets Urſache,
ſeine Phyſiognomik auszubilden, um aus dem Gewimmel
fremder Geſichter die für ſein jeweiliges Anliegen geeigneten
Individuen herauszufinden. Ein Freund von mir, zugleich
Kenner von Getränken, verſichert, es ſchlage ihm ſelten fehl,
den richtigen Mann zu treffen, wenn ſich’s um eine Frage
der Art handelt. Meiſtens bedarf es nur weniger Worte.
„Sie können mir gewiß ſagen, wo man hier ein gutes
Bier trinkt.“ — „Komme Se, bin ebe auf de Weg dahin,
werd’ Se führe.“ Der Bayer pflegt die Entdeckung eines
achtungswerthen Gebräus mit derſelben Verſchwiegenheit vor
[58]III. Schriftliche Aufzeichnungen — Gedächtniß und Phantaſie.
ſeinen einheimiſchen Nebenbuhlern zu behandeln, auch wenn
ſie ihm befreundet ſind, wie etwa ein Knabe die Auskund-
ſchaftung eines Vogelneſtes, das er ausnehmen will; dem
Fremden gegenüber ſchweigt aber meiſtens die Stimme der
Selbſtſucht, oder vielmehr ſie flüſtert: der iſt ungefährlich,
dem willſt du doch zeigen, daß auch du Kenner und Liebhaber
biſt und daß auch bei uns ein guter Tropfen zu haben iſt. —
Ueber die Wahl eines Führers (vergl. VI.) in entlegenen
Gebirgsorten höre ich gern den Geiſtlichen.


Nicht als Krücke, ſondern als rechten Wanderſtab und
Stütze für jedes Gedächtniß iſt die Art von ſchriftlichen Auf-
zeichnungen
zu rühmen, die nicht auf Ausarbeitungen und
Beſchreibungen ausgeht, ſondern ſich mit Wörtern, Zahlen,
kurzen Sätzen im Telegrammenſtil begnügt, grundſätzlich
aber keinen Tag ohne einige Zeilen läßt. Nehmen wir, wie
ſchwärmeriſche Jünglinge und Jungfrauen zu thun pflegen,
den Vorſatz mit, gleich unterwegs ununterbrochenes voll-
ſtändiges Tagebuch zu führen, ſo kommt das nur zu raſch
ganz in’s Stocken, weil es bald an Zeit, Luſt, Friſche, bald
an einer zum Schreiben geeigneten Oertlichkeit und an Un-
geſtörtheit fehlt. Keinen Dispens gibt dagegen ein gutes
Reiſegewiſſen von der regelmäßigen Aufzeichnung kurzer
Notizen. Je ſtärker unſer Gedächtniß und unſere Phantaſie
und je aufmerkſamer unſer Auge iſt, je mehr Nutzen und
Freude haben wir von ſolchen Schreibereien, je kärglicher wir
in dieſer Beziehung begabt ſind, je mehr bedürfen wir ihrer.
Sie dienen theils als Grundlage für Briefe, mündliche Er-
zählungen, Ausarbeitungen, theils um an ihrer Hand nach
langen Jahren im Geiſte die Reiſe wieder und wieder machen
zu können, wobei noch der große Gewinn iſt, daß in der Er-
innerung alles Schöne hervor, alles Häßliche und Gleich-
giltige hingegen zurücktritt.


Es iſt damit gar ſeltſam. Gemälde dunkeln nach im
Laufe der Jahre oder verblaſſen, anders verhält es ſich mit
den Bildern, die unſer Gedächtniß aufbewahrt. Dieſer treue,
[59]III. Gedächtniß und Phantaſie.
pedantiſche Diener hat eine Schweſter, ein recht flinkes,
ſchmuckes Ding, nur etwas leichtfertig: die Phantaſie. Er,
der gewiſſenhafte Cuſtos, ſorgt, daß das anvertraute Gut
keinen Schaden leidet, und ſtäubt es täglich behutſam ab, ſie
jedoch hantirt hinter ſeinem Rücken mit den Sachen in einer
geheimnißvollen Weiſe ſo, daß ſie im Laufe der Zeit unver-
merkt anders werden. — Beſſer oder ſchlechter? . . . .


Im Uetli-Wirthshaus bei Zürich war es, wo ich in eine
erleſene Geſellſchaft von Gelehrten und Künſtlern zu kommen
das Glück, aber bald darauf das Unglück hatte, einen Zank-
apfel unter die Fröhlichen durch obige Frage zu werfen. Der
Streit wurde ebenſo lebhaft als fruchtlos, denn Jeder wollte
ſprechen und ſprach, hören wollte und konnte Niemand. Nur
einzelne Schlagwörter drangen durch das Getöſe, wie Berg-
ſpitzen durch Nebel. Der kluge Touriſt bleibt einem Streite
fern, der überlaut geführt wird, ich trat daher an’s Fenſter,
nahm mein Büchlein zur Hand und die Miene an, als ob ich
Berge zeichnete, ſchrieb aber: „25/IV 186., Uetliwhs.,
Dr. A. aus B., Prof. C. aus D., Maler E. und F. aus G.
und J. K. L. M. Gedächtniß und Phantaſie. Bruder treuer
Cuſtos, Schweſter ſchmuckes Ding, aber leichtfertig. Ihre
oder ſeine Dienſte beſſer? Gelehrte (einig!): ſeine beſſer.
Künſtler (auch einig, pünktlich und raſch fertig!): die ihrigen
beſſer, weit beſſer. Exacte Wiſſenſchaft: blauer Dunſt, nebel-
hafte Ferne, phantaſtiſche Gaukeleien. Poeten und Künſtler:
was iſt Wahrheit, gelehrter Zopf, verklärende Beleuchtung.
Dr. philos. A. vermittelnd, objectiv, ſubjectiv, höhere Ein-
heit . . . . . . . Gute Mahlzeit … fr., Bier mittelmäßig, An-
theil an Bowle … fr., Rückweg, Sturz, linkes Knie verletzt.“
In der Weiſe pflege ich Notizen zu machen, bunt durch-
einander, gelegentlich wohl auch ein Geſicht oder einen Berg
zu zeichnen, entweder gleich an Ort und Stelle, oder an einem
Halteplatze während eines Anſtiegs, oder im Wagen.


Zum bequemen Schreiben in freier Hand, namentlich im
Wagen, gehört eine ſteife Unterlage von nicht zu kleinem For-
[60]III. Schreiben im Freien und im Fahren.
mate, welche die rechte Hand ſtützt. Ich habe mir deshalb
vom Buchbinder aus dünner ſteifer Pappe eine mit Leder über-
zogene Mappe machen laſſen, ähnlich einem Bucheinband, zum
Auf- und Zuklappen, in welcher ein Päckchen gleichmäßig be-
ſchnittener loſer Blätter liegt, von denen mehr Vorrath im
Koffer iſt. Der Verbrauch davon iſt um ſo ſtärker, da ich
nur eine Seite beſchreibe. Jedes Blatt erhält zuoberſt Ort
und Datum an Stelle der Seitenzahl, die etwa geſtörte
Reihenfolge der einzelnen Schriftſtücke iſt mithin ſtets leicht
wiederherzuſtellen. Die Form lockerer Zettel hat vor der
buchförmig gehefteten den Vortheil, daß ich immer nur das
zum Handgebrauch nöthige Quantum in der Taſche führen
kann, und erlaubt bei der einſeitigen Beſchreibung, jeden ein-
zelnen zu zerſchneiden. Ich kann nun, je nachdem ich Luſt
und Zeit finde, die flüchtigen Bleiſtiftnotate zu weiteren Aus-
arbeitungen beliebig anders ordnen, oder ganze Stöße auf
die lange Bank ſchieben, vergeſſen, vernichten. Von dieſer
letzteren Freiheit habe ich ausgiebigen Gebrauch gemacht,
ſonſt würde das vorliegende Buch wohl noch dicker geworden
ſein. Vielleicht wären ſogar noch weitere Verluſte ein Gewinn
geweſen, denn Bücherumfang und Attractionskraft auf die
Leſerkreiſe folgen nicht den phyſikaliſchen Geſetzen, ſondern
progrediren umgekehrt. Doch fort mit ſolchen Betrachtungen,
überlaſſen wir das den Kritikern.


Das Schreiben im Eiſenbahnwagen wird erleichtert, wenn
man die beiden Handgelenke auf einander legt, ſo daß die
untere Linke, welche Papier und Portefeuille, mit der oberen
Rechten, die den Bleiſtift hält, ziemlich gleichmäßig den An-
ſtößen folgt, beide ihre Bewegungen ſonach einigermaßen
übereinſtimmend machen. Auch das Cigarrenanzünden kann
in ähnlicher Weiſe geſchehen, nur daß hier noch ein dritter
Factor, der Kopf des Rauchers, in die Bundesgenoſſenſchaft
aufzunehmen iſt. Das Kinn vermittelt ſie, indem es auf das
rechte Daumengelenk geſetzt wird. Zum Reiſegebrauche eig-
nen ſich beſonders die ſchwediſchen Sicherheitszündhölzer
[61]III. Zündhölzer — ſchriftliche Notizen — Reiſetagebuch.
(Säkerhets-Tändstickor). Sie ſind ohne Schwefel und Phos-
phor bereitet und entzünden ſich nur, wenn ſie an einer ge-
wiſſen Maſſe gerieben werden, welche auf ihrem Futteral an-
gebracht iſt, ſonſt verſetzt ſie keinerlei Reibung oder Stoß in
Brand, ſie können alſo ohne Gefahr in den Koffer gepackt
werden, brennen gut, verlöſchen auch in Zugluft nicht, ſchleu-
dern nicht brennenden Phosphor umher und ſind den alten
Lances flammigères weit vorzuziehen.


Jetzt zurück zu den ſchriftlichen Notizen. Auch Gleich-
giltiges verſchiedenſter Art ſchreibe ich nicht ſelten auf, z. B.
Namen von Perſonen und Orten ꝛc., weil es oft als Ge-
dächtnißnachhilfe dient für Scenen der Natur oder des Volks-
lebens, die ich mit ihren Einzelheiten in der Erinnerung zu
behalten wünſche, ohne Zeitaufwand aber nicht in Worten
oder Linien zu Papier bringen kann. So z. B. fand ich
einmal, daß Gonzo, der Name des Maulthiers, auf dem ich
von Scarricatojo nach Sorrent geritten, genügte, um mir ein
Stück irdiſches Himmelreich und den rauhen, dornenvollen
Weg dahin mit vielen Details in’s Gedächtniß zurückzurufen.


Wie ein eigentliches Reiſetagebuch zu führen iſt,
hängt von Gewohnheiten, Intereſſen, Anlagen, Bildung, Zeit
und Umſtänden ab. Wer ſich eines geſammelten, ſtets zah-
lungsfähigen Geiſtes erfreut, wird ſeine Stoffe innerlich zu-
recht und in der Form fertig machen, bevor er ſie zu Papier
bringt, ſo daß das Niederſchreiben ſehr raſch vor ſich gehen
kann, ein anders Ausgeſtatteter erſt Entwürfe machen und
mit der Ausarbeitung auf Muße und Stimmung warten.
Auch für ſolche Schreibereien habe ich (wie für die täglichen
Notizen, nur größer) ein Pack gleichformatiger Blätter, deren
jedes ebenfalls mit Ort und Datum verſehen wird. Die
Bezeichnung Tagebuch gebührt dem Ding offenbar nicht, weil
es weder ein Buch iſt, noch Tag für Tag fortgeführt wird,
in ſeinem bisherigen Privatleben bei mir blieb es auch namen-
los; da es nun jedoch die Ehre hat, der Welt vorgeſtellt zu
[62]III. Reiſetagebuch, Entwürfe und Ausarbeitungen.
werden, ſo ſei ihm zur Feier dieſer Handlung der Name
„Blätter für Entwürfe und Ausarbeitungen“ gegeben, die
andere kleinere Sammlung mögen „Merkzettel“ heißen.
Einige verſchiedenfarbige Umſchläge von Papier und von
Buchbinderleinwand dienen zum Zwecke der Sonderung und
Gruppirung jener Schriftſtücke.


[[63]]

IV.


Ausrüſtung für ſchwierige und gefährliche Gänge — Schuhwerk — Strümpfe —
Wundwerden — Reiſetaſchen — Mundvorrath — Lang - - - ſam! — Vorläufer
und Nachzügler — Einſpruchsrecht — Rückblicke — Alpenſtock — auf und ab
über Schnee, Geröll, Felſen ꝛc. — Unglücksfälle — Grashänge — Odyſſeus fährt
in die Unterwelt — Hinabgleiten — Gefahren und Rettungsmittel — Wander-
ſtäbe — Knieholz — Felsplatten — abwärts — Sturz — Eisſporen — Seile —
Eisbeile — Lawinen — Rückweg — nicht allein — Entfernungen — Narren-
wagniſſe — außergewöhnliche Erſteigungen — Uebertreibungen — Führer —
Schwindel — Fußſchau — Glycerin — Hautpflege — Schneebrillen — Schleier
— Fußwanderung — früh aufſtehen — Eſſen und Trinken — Höhepunkte und
Fernſichten des Reiſelebens — cum grano salisVeſuv — Durſt — Erkäl-
tungen — kalter Thee und Kaffee — Fleiſchbrühe — Getränkkühler — Waſſer
— Hochgebirgsbeſchwerden — Bergweh — Alpen- und Tigermilch — Erholungs-
und Vergnügungsreiſen — ſich einmal ſo recht auslaufen — Läuferwahnſinn —
hypochondriſche Studien — Ode an die Nerven — ſchroffe Uebergänge — wie
neu geboren — Aſchermittwoch.


Wer eine Fahrt in’s Hochgebirge beabſichtigt, hat ſich
zu entſcheiden, ob er die bekannten großen Touriſtenſtraßen
einhalten und ſich begnügen will, auf dem untern Rande der
Gletſcher, die auch Damenbeſuche annehmen, umherzuwandeln,
eine Hand voll körnigen, kaviarartigen Eiſes aufgehoben, be-
trachtet und die Brechung des Lichtſtrahls in einer Eis-
ſpalte bewundert zu haben. In dem Falle bedarf es keiner
anderen Vorbereitungen, als für eine Wanderung in den
Harz oder Thüringerwald, höchſtens, daß den Doppel-
ſohlen ein paar weitere Nägel zugeſetzt werden. Trägt er
jedoch Verlangen, in die höheren und höchſten Regionen ein-
geführt zu werden, ſo hat er zu prüfen und prüfen zu laſſen,
[64]IV. Ausrüſtung für ſchwierige und gefährliche Gänge.
ob nicht ein organiſcher Fehler, z. B. des Herzens oder der
Lunge, Kurzathmigkeit, große Kurzſichtigkeit, ſtarker Blut-
andrang nach dem Kopfe oder dergleichen dies verbieten.
Liegt kein Hinderniß vor, iſt er geſund, kräftig, nicht zu alt,
im Bergſteigen nicht ganz ungeübt, dann, geliebter Reiſe-
ſchüler — in der Freude meines Herzens iſt es mir Bedürf-
niß, Du zu ſagen — ſinge Deinem Schöpfer ein Loblied,
denn Du darfſt hoffen, ein Stück Herrlichkeit dieſer Welt zu
ſchauen, von dem Du noch keine Vorſtellung haſt! — Glück
und Segen begleite Deine Schritte, Sonne, Mond und
Sterne, Wind, Wetter und Wolken ſeien Dir hold!


Doch gemach, junger Freund, keine Uebereilung! Beim
Abſchiednehmen ſind wir noch lange nicht, erſt muß daheim
Einiges erledigt werden. Zuvörderſt bitte ich Dich, einmal
auf die nachfolgenden Mittheilungen zu achten: ihr Eis und
Schnee wird beitragen, Deine ungeſtüme Hitze etwas zu
kühlen. Diesmal handelt es ſich nicht um Manſchetten, Hut
und Hutbänder und ſonſtige Quisquilien, ſondern einfach um
Kopf und Kragen, Hals und Beine, die Deinigen nämlich.
Um Dein Blut nicht auf mein Haupt zu laden, bemerke ich
hiermit ausdrücklich, obſchon es ſich von ſelbſt verſteht, daß
meine Rathſchläge keineswegs den Führer von Beruf erſetzen
oder ihm vorgreifen wollen. Denn dieſer hat unterwegs, ſo-
bald Du Dich ihm einmal anvertrauteſt, unumſchränkte Ge-
walt über Deine Perſon, deren Schritte und Tritte, wie der
Lootſe am Bord die Befugniſſe und die Verantwortlichkeit
des Capitäns und Steuermanns in ſich vereinigt. Auch ſpielt
in allen dieſen Dingen (wie in der Medicin) die Wiſſenſchaft
im Verhältniß zur Kunſt eine ſehr beſcheidene Rolle. Trotz-
dem glaube ich, daß die folgenden Winke Dir nicht ohne
Nutzen ſein werden. Meine eigenen und meiner Wander-
genoſſen Erfahrungen habe ich vervollſtändigt durch einiges den
Jahrbüchern der drei Alpenvereine, ferner dem Schriftchen
von Charles Boner (Verfaſſer von Chamois Hunting in
Bavaria
) und verſchiedenen Reiſebeſchreibungen Entnommene,
[65]IV. Schuhwerk.
endlich ſind einzelne Notizen dem „Handbüchlein für Fuß-
reiſende“ und dem Noë’ſchen Schriftchen über Alpenwande-
rungen entlehnt.


Zuvörderſt ſehen wir uns nach einem tüchtigen Schuh-
macher
um, womöglich einem, der ſchon in dem Fache
gearbeitet hat, wenigſtens Angaben pünktlich folgt, nicht
„ſelbſtändige Politik“ treibt. Magasin de Chaussures,
Cordonnier \& Bottier
braucht nicht auf dem Schilde zu ſtehen,
auch von großen Spiegelſcheiben, Glanzleder und ſonſtigen
Vorſpiegelungen laſſen wir uns nicht blenden: uns kommt
es nicht auf modiſche Zierlichkeit, ſondern Zweckmäßigkeit,
Bequemlichkeit und Dauerhaftigkeit der Arbeit und des
Materials an. Das letztere muß, damit es ſich nicht raſch
abnutze und der Feuchtigkeit widerſtehe, Rindsleder ſein,
am beſten Juchten, deſſen rothe Seite nach innen kommt.
Stiefeln vorzuziehen ſind Schuhe, die weder vorn über dem
Spann noch hinten an der Achillesflechſe drücken und die
Knöchel frei laſſen, indem ſie hoch über den Spann reichen
und halbbogenförmig um die Knöchel herum ausgeſchnitten
ſind. Sodann müſſen ſie, der Sicherheit des Tritts halber,
gehörige Weite haben, beſonders die Sohlen reichlich breit
ſein, ſo daß der Fuß auf ihnen in ſeiner natürlichen Form
und vollen Ausdehnung ruhen kann; bei ſchmalen Sohlen
iſt die Gefahr der Verrenkung weit größer. Von welchen
Folgen eine ſolche begleitet ſein kann, wenn ſie am Rande
eines Abgrunds oder nur auf einem von Menſchenwohnungen
entlegenen Platze vorkommt, bedarf keiner Ausführung.
Auch das Oberleder iſt geſchützter gegen Geröll und ſcharfe
Felskanten, wenn die Sohle ein wenig über die Naht des
Oberleders vorſteht. Unter gehöriger Weite iſt gemeint, daß
der Fuß nicht gepreßt wird, keineswegs, daß er ſehr locker
im Schuh ſitze, auf alle Fälle darf dies über dem Spann
nicht ſein, hier ſoll das Oberleder knapp anſchließen, weil
ſonſt die Zehenſpitzen ungebührlich belaſtet würden. Ob der
Schuh vorn rund oder eckig geſchnitten, iſt gleichgiltig. Ein
5
[66]IV. Schuhwerk.
Grund mehr für breite Sohlen iſt, daß an ihnen Eisſporen
feſter anzuſchnallen ſind. Endlich müſſen die Erſtern dick
und wohl benagelt, die Abſätze niedrig und breit ſein; hohe
Abſätze ſind unbequem und gefährlich. Die Benagelung
dient theils, das Leder zu ſchützen, theils dem Tritt feſteren
Halt zu geben. Die Nägel ſollen nicht dicht gedrängt rundum
angebracht ſein, weil ſie ſo die Gefahr des Ausgleitens und
das Gewicht der Schuhe, ihre Steifheit und Unbeholfenheit
vermehren, ſondern in lockerer Reihe ſtehen, ſo daß zwiſchen
je zweien ein kleiner Raum bleibt. Die eine Reihe beginnt
am Ballen, läuft an der Kante hin, vorn an den Zehen
herum bis an die entſprechende Stelle der anderen Seite;
eine zweite Reihe bildet einen Halbkreis unter dem Abſatze,
welchem noch etwa vier Nägel in der Mitte beigefügt werden,
die ſchmale Stelle unter dem Spann bleibt leer. In alle
Geheimniſſe der Benagelungskunſt eingeweihte und mit ihren
Erforderniſſen verſehene Schuhmacher gibt es in Deutſchland
noch heute nur wenige, ich habe deshalb meine Bergſchuhe
meiſtens erſt im nächſten größeren Orte des Alpengebiets,
den ich berührte, benageln laſſen. Für die Ferſe ſind ſpitze
Nägel (öſterreich. Scheanken), für die Sohle ſogenannte
Mausköpfe beſtimmt. Neuerdings verwendet man vielfach
Schrauben, welche noch feſtſitzen, auch wenn ſie den Kopf
verloren haben. Natürlich iſt es ſo einzurichten, daß alle
Fußbekleidungen, beſonders Bergſchuhe, nicht erſt aus der
Werkſtatt eintreffen, wenn der Koffer gepackt wird, ſondern
jedes Stück die Probe beſtanden, ſich auch in der Näſſe
bewährt hat. Die Vorprobe geſchieht durch die Hand, welche
die innere ſogenannte Brandſohle betaſtet, um ſie dem
Bringer zur Abhilfe gleich wieder mitzugeben, ſofern Stifte
oder Nägel durchgeſchlagen wären; der beſtrümpfte Fuß be-
handelt dieſe Unterſuchung zu oberflächlich und hat ſpäter
den Schaden davon. Wer es mit ſeinen Füßen gut meint,
nimmt keinerlei Schuhwerk mit, ohne es in jenen vertrauen-
erweckenden Zuſtand geſetzt zu haben, der durch mehrfaches
[67]IV. Schuhwerk.
Tragen auf tüchtigen Märſchen herbeigeführt wird. Schon
mit Rückſicht hierauf iſt es wohlgethan, die Bergſchuhe (ohne
Benagelung) zu Hauſe fertigen zu laſſen, nicht im erſten
beſten Gebirgsörtchen; ein zweiter Grund iſt der, daß die
meiſten Dorfſchuſter ſich gewöhnen, Wohlfeilheit als das
Ausſchlaggebende anzuſehen, hiernach den Rohſtoff kaufen und
arbeiten, mithin Großſtädter nicht leicht befriedigen können.
Unterwegs ziehe der Ungewohnte die ſchweren Bergſchuhe
nur an, wenn es nothwendig iſt, und ſchicke ſie unter Um-
ſtänden voraus. Um das Leder durchaus weich, geſchmeidig
und waſſerdicht zu machen und ſo zu erhalten, inmitten der
härteſten Prüfungen durch Regen, Eiswaſſer und Sonnen-
glut, genügt nicht eine flüchtige Beſtreichung, ſondern es muß
mit ſogenannter Schmiere bis zur Sättigung eingerieben
und das Verfahren dann und wann wiederholt werden, zu
welchem Behufe man etwas davon bei ſich führt. *) Ich will
kein Hehl daraus machen, daß meine Hände, als es zum
erſten Male nöthig wurde, die unholde Arbeit ſelbſt zu ver-
richten, einen horror naturalis kundgaben und den Dienſt
verſagen wollten, ich hielt ihnen aber, wie Reiter mit
ſcheuen Pferden thun, eine kleine Standrede in liebreichem,
nachdrücklichem Tone: wißt ihr Unbeſonnenen nicht, welch’
wichtige Sache auf Gletſcherwanderungen warme, trockene,
5*
[68]IV. Strümpfe — Wundwerden.
heile Füße ſind, und daß das Wohl des ganzen Körpers,
alſo auch eures, davon abhängt? Und ſchämt ihr euch nicht,
ihr unnützen Knechte, die ihr in ſchlotternder Ruhe anſeht, wie
ſchwer die armen Glieder da unten arbeiten, daß ihr nicht
einmal die Kleinigkeit zu ihrer Erleichterung leiſten mögt! —
Das wirkte ſo weit, daß ein paar Finger der Rechten zur
Botmäßigkeit zurückkehrten, in die ſcheußliche Flüſſigkeit herz-
haft tauchten und ihr Werk begannen; bald ſahen ihre
Nachbarn, daß ſie auch ohne mitzuthun nicht ungehudelt und
unbeſudelt blieben, und halfen rüſtig. Die Linke betheiligte
ſich nur mit drei Fingerſpitzen, machte das aber hinterher
gut, indem ſie ihrer Schweſter bei der Toilette half. Dieſe
garſtige Viertelſtunde habe ich in Knittelverſen in einem
Schweizer Fremdenbuche beſungen, fand das Blatt aber
wenige Wochen darauf ausgeriſſen. Sei nun der Thäter
ein Bewunderer meiner Muſe oder ein Verächter, ich kann
ihm — möchten ihm dieſe Zeilen doch zu Geſicht kommen —
die Bemerkung nicht erſparen, daß er beſſer gethan hätte, in
demſelben Buche durch gute Verſe mich zu verhöhnen, denn
das gehört zu den conſtitutionellen Rechten des Reiſenden,
Blätter aus Fremdenbüchern zu reißen aber nicht.


Mit ausreichender Gründlichkeit wäre nun abgehandelt,
was dem gewiſſensſtrengen Touriſten ſeinen Schuhen gegen-
über obliegt; jetzt zu den Strümpfen. Dieſe, kurze
Socken, müſſen aus dickem, nicht zu grobem Wollengarn
geſtrickt ſein, ſowohl der Wärme als der Elaſticität halber,
denn ſie haben wie Eiſenbahnpuffer manchen harten Stoß
aufzufangen. Nur für gewöhnliche Märſche ſind dünnere
wollene und halbwollene Strümpfe, Angora, Vigogne, erlaubt;
baumwollene verhärten leicht. An heißen Ruhetagen belohnt
man ſich für correcte Haltung durch Geſtattung eines leichten
Paares. Gegen Wundwerden empfiehlt das Jahrbuch
des öſterreichiſchen Alpenvereins feine, unter die wollenen
gezogene Socken von Leinwand. Manche ſeifen auch die be-
treffenden Stellen der Innenſeite des Wollenſtrumpfs. Mit
[69]IV. Reiſetaſchen — Mundvorrath.
Talg ihn zu beſtreichen, iſt verwerflich, denn dadurch wird
er hart. Als Schutz gegen Näſſe bei Wanderungen über
lockere Gletſchermaſſe, oder vielmehr Durchwaten derſelben
ziehen Einzelne noch über die Beinkleider dicke grobwollene,
bis an’s Knie reichende Strümpfe ohne Sohlen.


Die Reiſetaſche ſoll nicht blos an der Seite und
in einer Hand, ſondern auch torniſterartig auf dem Rücken
zu tragen ſein, weil ſo die Bürde auf ſtärkere Muskelgruppen
vertheilt, am mindeſten ſchwer fällt. Die von Bädeker be-
ſchriebene Art, an den Ecken mit Oeſen, durch welche der
Riemen läuft, und Henkeln, äußerlich mit zwei durch Knöpfe
ſchließbaren kleinen Unterabtheilungen verſehen, iſt in einzelnen
Läden vorräthig.


Auf ausgedehnten, ohne Führer und Träger unter-
nommenen Märſchen, wo es auf äußerſte Beſchränkung des
„todten Gewichts“ ankommt (vergl. S. 34), dienen ſtatt der
ledernen oft Taſchen von grobem Leinen oder Segeltuch mit
überfallender Klappe von „amerikaniſchem Ledertuch“, einer
Art leichten, ſehr dauerhaften Wachstuchs, auch ganz von
ſolchem oder anderem waſſerdichten Zeuge verfertigte. In
Tirol vorräthig, ſehr billig und gut zu tragen iſt der
„Ruckſack“, ein viereckiger Beutel von grobem, grünem
Canevas, an deſſen oberem, offenem Theil eine Schnur locker
überſäumt iſt, ſo daß der Rand Falte an Falte zuſammen-
geſchoben und zugebunden werden kann. Die Schnur hängt
in der Mitte an zwei an den unteren Sackzipfeln befeſtigten
Gurten, welche auf die Schultern kommen. Als Mund-
vorrath dient in ſolchen Fällen am beſten Compactes, Con-
centrirtes *), Fleiſchextract, Schiffszwieback, hartgeſottene Eier,
Schokolade, Fleiſchzwieback **).


[70]IV. Lang - - - ſam! — Vorläufer und Nachzügler.

Die alte Regel, langſam, gleichmäßig, in kurzen
Schritten und mit geſchloſſenem Munde bergan zu ſteigen,
iſt den meiſten Anfängern, wie es ſcheint, auf theoretiſchem
Wege nicht beizubringen, ſo wenig es in den erſten Schwimm-
ſtunden gelingt, den Schüler von haſtigen, zappelnden Be-
wegungen mit Armen und Beinen abzuhalten, der Lehrer
mag ſich auch heiſer commandiren: lang - - ſam, lang - - - ſam,
a - - ins, zwa - - i, dra - - i, langſam!! Wie der Schwimmer
ſich an ruhige, ebenmäßige Bewegungen erſt gewöhnt, wenn
er zum Elemente Vertrauen gefaßt und ſich überzeugt hat,
daß es ihn nicht ſinken läßt, hingegen ſtürmiſche Behandlung
ſtraft, ſo ergeht es auch Hochgebirgsſtudenten, die comment-
widrig trotz Warnungen voraneilen. Laſſen wir alſo dieſe
Heißſporne für Erfahrungen, die ſie von uns bemooſten
Häuptern nicht unentgeltlich annehmen mögen, den laufenden
Preis zahlen.


Wer in Geſellſchaft wandert, hüte ſich, auf eigene Hand
zu raſten und dann den Uebrigen alla brevenach zu jagen,
denn das ermüdet mehr, als die vierfache in gleichmäßigem
Tempo gemachte Anſtrengung. Nicht minder iſt das lang-
ſame Nachzügeln zu widerrathen. Der Erſchöpfte ſcheue
nicht, eine Pauſe oder mäßigeres Tempo zu beantragen;
Billigkeit und Klugheit verlangen, daß in dieſem Stück der
Einzelne nicht majoriſirt wird; glauben die Anderen, daß er
ſein Einſpruchsrecht *) mißbraucht, ſo mögen ſie ihn künftig
von der Gemeinſchaft ausſchließen, vorläufig bleibt nichts
**)
[71]IV. Rückblick — Alpenſtock — Geröll.
übrig, als ſich ihm zu fügen. — Ein Halt wird ungezwungen
vermittelt, indem man von Zeit zu Zeit einen Rückblick
in’s Thal beantragt und ſo zugleich der ganzen Geſellſchaft einen
Dienſt leiſtet, welche ihre großſtädtiſche Gewohnheit, ſich nie
umzuſehen, meiſt mit in’s Gebirg nimmt, ohne zu ahnen, wie
häufig die wechſelnde Scenerie im Rücken eine Betrachtung
verdient. Solche kurze Raſten ſollen ſtehend gehalten werden;
muß durchaus niedergeſeſſen ſein, ſo iſt wenigſtens der Plaid
umzuthun, nicht minder auf Gipfeln, wo wir erhitzt an-
kommen. — Vor dem plötzlichen Uebergang (vgl. V.) aus
anhaltender, ſehr angeſtrengter Bewegung in längere Ruhe
hat ſich der Ungewohnte ſtets zu hüten; die erſte halbe Stunde
muß durch einiges Auf- und Abſchreiten dann und wann
unterbrochen werden. Nach völliger Abkühlung thut ein nicht
zu kaltes, kurzes Bad oder eine allgemeine Waſchung wohl,
worauf dann die ſchmerzenden Stellen der Beine mit Brannt-
wein eingerieben werden können.


Der Alpenſtock ſoll ſeinem Träger bis zum Kinn
reichen, aus feſtem, unbiegſamem Eſchenholz gemacht, unten
mit einer eiſernen Spitze und oben mit einer Zwinge ver-
ſehen, aber nicht zu ſchwer ſein. Seine Feſtigkeit wird da-
durch geprüft, daß man beide Enden auflegt und ſich in die
Mitte ſetzt, bricht er dabei nicht, ſo gilt er für tauglich.
Beim Wandern ſtemmt man ihn weder zur Seite noch rück-
wärts, ſondern vorwärts, ſo daß er das Gewicht des ein
wenig nach vorn geneigten Körpers auf ſich nimmt. An ab-
ſchüſſigen, hartgefrorenen Stellen wird ſeine Eiſenſpitze — in
Ermangelung einer Axt, deren es bei größeren Expeditionen
bedarf — u. A. dazu verwendet, kleine Staffeln in den
Boden oder das Eis zu ſtechen, die nur ganz ſchmal zu ſein
brauchen, um dem Fuße ſchon einen feſteren Tritt zu bereiten.
Eistreppen ſoll man möglichſt gerade anſteigend, das Geſicht
dem Berge zugekehrt, beſchreiten, weil der Fuß ſicherer mit
der Spitze, als mit der Seitenkante auftritt.


Führt der Weg über Abhänge mit Geröll, ſo gilt es,
[72]IV. Felſen — Unglücksfälle — Grashänge.
raſch und leichtfüßig darüber hinweg zu ſchlüpfen, nicht etwa
aus übelangebrachter Vorſicht auf einem Fuße ſtehend mit
dem andern vorwärts zu ſondiren. Iſt Jemand voran-
gegangen, ſo trete der folgende in ſeine Fußſtapfen. Beim
Hinabſteigen über Geröll wird der Alpenſtock wieder mit
beiden Händen gefaßt, aber die Spitze ſeitwärts, etwas nach
hinten eingeſtemmt und der Oberkörper rückwärts gebeugt;
je mehr wir uns vorbögen, je mehr würde die Bewegung
beſchleunigt. Dabei iſt zu achten, daß die Abſätze hinten tief
und die Zehen etwas aufwärts gekehrt ſind, um Verrenkungen
zu verhüten. Das empfohlene Einhalten der Fußſtapfen des
Vorgängers iſt indeß zu vermeiden, wenn der Weg über
brüchigen, nackten Boden geht (auf welchem nur einzelne
größere Steine umhergeſtreut ſind, die ſich leicht löſen und
niederrollen), oder über morſchen, bröckelnden Felſen,
„faules Geſtein“, z. B. verſchiedene Kalkarten und Nagelflue.
In ſolchen Fällen hält man ſich etwas ſeitwärts vom Vorder-
mann und ruft, wenn ſich Blöcke löſen, dem Nachfolger zu.


Nach der Verſicherung der Aelpler kommen Unglücks-
fälle
faſt nie an Punkten vor, die als gefährlich berüchtigt
ſind und wo alle Mittel zu richtigem Verhalten aufgeboten
werden, vielmehr in der Regel an ſcheinbar harmloſen
Stellen, die aber eben dadurch zur Unachtſamkeit verführten.
So z. B. gibt es auf Grasabhängen etwas vertiefte
Strecken, in welchen ſich ein kaum ſichtbares Rinnſal bildet,
das Halme, Wurzeln und Untergrund dermaßen verquickt,
daß die blankſte Eisbahn nicht glatter ſein kann. Solche
verrätheriſche feuchte *) Bergwieſen koſteten ſchon vielen ein-
heimiſchen armen Mädchen und Burſchen und manchen
Reiſenden das Leben. Meiſt ſind ſie gar nicht einmal ſonder-
lich ſteil und lächeln ſo unſchuldig und gewinnend, daß man
[73]IV. Odyſſeus fährt in die Unterwelt — Hinabgleiten.
ſich ihnen vertrauensvoll nähert, ſo recht mit dem Gefühle
des Behagens über ſie hinſchlendert, wie auf heimiſcher
Frühlingsflur.


Die Bekanntſchaft einer derartigen verrätheriſchen Matte
machte ich ſchon in meiner erſten ſchweizer Reiſewoche; hören
Sie, wie es mir dabei erging. Ich fühle plötzlich beide Füße
ſeitwärts gleiten und den Oberkörper ſanft zu Boden ziehen.
Alles verläuft ſo gelind und ſäuberlich, der Fall iſt ſo weich
und ſchmerzlos, daß ich, wenn ich mich recht erinnere, zuerſt
lachte. Keine Viertelminute währt es jedoch, ſo hat ſich die
Scene ganz und gar verändert und jede Spur von komiſchem
Reiz verloren, denn es bleibt nicht beim Fall auf weichen
Raſen, ſondern ich ſehe mich unaufhaltſam abwärts getrieben,
erſt langſam, dann ſchneller und bald mit ſauſender Ge-
ſchwindigkeit. Das Bewußtſein der Lebensgefahr ließ nicht
auf ſich warten, glücklicherweiſe ahnte ich aber doch nicht ihre
Größe, ſonſt wäre ich vielleicht in Verwirrung gerathen und
hätte im rechten Augenblick das Nöthige verſäumt. Ich trieb
nämlich auf eine tief und ſteil abfallende Felswand zu, deren
Opfer ich unzweifelhaft geworden wäre, wenn nicht ſechs
Schritte vor dem Abgrunde eine Klippe mich aufgefangen
hätte. Eine zweite glückliche Fügung war es, daß der heftige
Anprall, obwohl ich in Folge einiger unfreiwilligen Achſen-
drehungen mit dem Kopfe voran hinabtrieb, nicht dieſen,
ſondern die Schulter traf und ich trotz heftiger Schmerzen die
Beſinnung behielt. An meine ſteinerne Retterin geklammert,
wartete ich auf die Gefährten, die mich ſchon verloren
geglaubt hatten.


Ueber geneigte Schneeflächen läßt ſich auch mittels des
Alpenſtocks rittlings hinab gleiten, nur darf, weil hier
ohnehin ſchon die Bewegung ſchwerer zu zügeln iſt, unter
dem Schnee kein Eis ſein, denn ſelbſt im beſten Falle würde
ſich dann die Niederfahrt bald unerwünſcht geſtalten. Ein
ſolcher Weg ſoll nicht ohne Eisſporen gemacht werden, welche
auf ſchlüpfrigen Grashängen gleichfalls von Nutzen ſind.


[74]IV. Gefahren und Rettungsmittel — Wanderſtäbe — Knieholz.

Auf einem ſchmalen, zu beiden Seiten ſteil abfallenden
Grat erheiſcht die Anweſenheit von Schnee die äußerſte Be-
dächtigkeit: Schritt für Schritt muß der Grund mit dem
Stabe unterſucht und möglichſt von Schnee blosgelegt werden.
Iſt auf einer Seite der Abgrund, auf der andern ein ſchroff
emporſtrebender Berg und der Raum beengt, ſo iſt es ge-
boten, den Rock zuzuknöpfen, den Plaid und was man ſonſt
trägt ſo zu legen, daß nichts anſtoßen, anhaken, hangen bleiben
kann, kurz alles das Gleichgewicht und die freie Bewegung
Störende zu beſeitigen, ferner auf den Stab und ſeine
Zwinge oben zu achten; iſt ſie darauf eingerichtet, ſo wird
ſie abgeſchraubt; auch die Schuhbänder werden vorher feſt-
gezogen, wenn ſie gelockert wären. Der Stab wird mit beiden
Händen gefaßt, aber wieder vorn aufgeſetzt; ihn tiefer als
die Füße zu ſtellen, ſo daß ein Theil des Körpers ihn über-
ragt, iſt nutzlos und gefährlich. Im Gebrauch des Alpen-
ſtocks, der überhaupt eine längere Uebung fordert, hat der
einen weſentlichen Vortheil, der von Haus aus die Bildung
des linken Arms und der linken Hand nicht vernachläſſigte.
Manche Reiſende handhaben dieſe für Eingeweihte ſo wichtige
Stütze mit ſolchem Ungeſchick, daß ſie beſſer thäten, ſie ganz
wegzulaſſen und ihren gewohnten Wanderſtab beizubehalten.
Geſchieht dies, ſo ſei derſelbe von kräftiger Art und habe
oben einen bequemen Griff, welcher letztere aber vorſchrifts-
mäßig nicht angeſteckt, geleimt, geſchraubt, ſondern an-
gewachſen ſein muß.


Eine große Hilfe beim Aufwärtsklimmen in Regionen,
in denen noch nicht alles Pflanzenleben erſtorben, gewährt
das Knieholz (Legföhren, Sprutföhren, Latſchen), deſſen
Stämmchen — ächte ſchweizer Naturen, ihrem Heimatsboden,
ſei er auch noch ſo hart und karg, mit unverbrüchlicher
Treue anhänglich — oft ſcheinbar ohne Spur von Erde mit
ihren Wurzeln an und in dem Felſen ſich ſo feſt klammern,
daß ſie eine treffliche Handhabe bieten und in der Regel die
Laſt eines ausgewachſenen Mannes zu tragen vermögen.
[75]IV. Felsplatten — Abwärtsſteigen.
Nur hüte man ſich, die Bäumchen rund über die Hand zu
biegen, denn das dulden ſie ſelten, ohne zu brechen. Abwärts
über Knieholz zu ſteigen, iſt nicht ohne Gefahr, weil dieſes
leicht zum Fallſtrick wird; läßt ſich nicht ausweichen, ſo gehe
man langſamſten Schrittes.


Sind glatte geneigte Felsplatten zu überſchreiten,
ſo werden die Schuhe ausgezogen und in bloßen Wollenſocken
die Strecke zurückgelegt, denn Schuhnägel hindern dabei,
während anſchmiegendes weiches Wollengarn dem Tritte
Sicherheit gibt. Manche bedienen ſich auch hier der Eisſporen.


Beim Abwärtsſteigen, nicht ſelten ſchwieriger und
ermüdender, als das Aufwärts, gilt im Allgemeinen die Vor-
ſchrift, nie rücklings zu gehen, wie auf einer Leiter, es ſei
denn, daß der Führer es für wenige Schritte verlangte.
Denn abgeſehen davon, daß beim Rückwärtsgehen — welches
doch nur geſchieht, um ſich mit den Händen an Felſen und
Geſträuch zu halten — der ſo wichtige Alpenſtock hinderlich
wäre, entfallen und in der Tiefe verſchwinden könnte, ſo gewährt
auch derſelbe, beim Hinabſteigen nach hinten ſeitwärts geſetzt,
mehr Sicherheit, als ergriffene Steine, Felskanten und Ge-
ſträuch. Ferner iſt nicht zu vergeſſen, daß der vorſchreitende
Fuß das ganze Körpergewicht auf ſich zu nehmen hat, außer-
dem noch oft mit einer nicht vorher zu berechnenden Fall-
geſchwindigkeit aufſetzt, mithin viel Urſache zur Vorſicht iſt,
wenn der Weg über unebenen Grund und Geröll führt: je
raſcher der Schritt, je weniger hat man die Haltung des
Fußes in der Gewalt, je heftiger werden die Stöße, je größer
die Gefahr einer Verrenkung, eines Beinbruchs. Es kommt
vor, daß der Alpenſtock bei ſteilem Bergab gegen die Regel
vorn hinabgeſenkt wird, um als Stütze zu dienen. In ſolchen
Fällen muß abermals, namentlich wenn unten Eis iſt, vor
eilfertigem Weſen gewarnt, der Stab nicht auf’s Gerathewohl
hinabgeſtoßen, ſondern vorher ein paſſender Platz für ihn er-
ſehen und nicht eher das ganze Körpergewicht auf ihn geſtützt
werden, als bis er feſten Widerſtand leiſtet.


[76]IV. Sturz — Eisſporen.

Wer das Unglück hat, auf ſchlüpfrigen, abſchüſſigen Gras-
abhängen oder Schneefeldern zu ſtürzen und abwärts
zu treiben
, bemühe ſich, wenn er auf dem Rücken liegt,
ſo ſchnell als möglich eine Wendung zu bewerkſtelligen, ſo daß
die Bruſt zur Erde gekehrt iſt, denn auf dieſe Weiſe bietet
ſich mehr Ausſicht, eine Handhabe zu erfaſſen, mit den Fin-
gern oder der Schuhkante ſich einzugraben und außerdem den
Kopf oben zu behalten, letzteres im wörtlichen und im figür-
lichen Sinne gemeint. Verſäumt er eine ſolche Volte oder miß-
lingt ſie, ſo iſt der Fall ziemlich hoffnungslos, denn in der
Regel treibt dann, wie es mir geſchah, der Kopf bald nach
unten vorwärts und die Beſinnung ſchwindet. Glückt es,
Halt zu machen, ſo ſei das Nächſte, einige Augenblicke liegen
zu bleiben, um Gedanken und Körperkräfte zu ſammeln.
Nicht eher ſuche man ſich zu erheben, als bis etwas Ruhe ge-
wonnen und das umliegende Terrain in’s Auge gefaßt iſt;
erſt dann darf der Verſuch gewagt werden, langſam ſich aufzu-
richten, unter Umſtänden die ſcharfe Kante des Schuhs ein-
wühlend.


Zu entſcheiden, ob Eisſporen (Steigeiſen, Fußeiſen)
anzulegen ſind, iſt Sache des Führers. Die Schmiede der
den Eisregionen benachbarten Dörfer ſind meiſt recht geſchickt
in der Anfertigung jener. Sie nehmen dazu das zähe Eiſen
alter Senſen, welches ſchwere Proben beſteht. Zwei, wie eine
halbgeöffnete Scheere kreuzweis über einander liegende, vorn
längere, hinten kürzere Eiſenſtreifen, die an jedem ihrer vier
Enden in einen mit der Spitze nach unten gekehrten Stachel
auslaufen, bilden eine Art Roſt, auf deſſen Schneidepunkt ein
Bügel angebracht iſt, der unten auf jeder Seite einen ähn-
lichen Stachel und oben zwei Hefte hat, in welchen Riemen
mit Schnallen ſich befinden. Auf dies Geſtell wird der Fuß
geſetzt und feſt eingeſchnallt, wobei es darauf ankommt, daß
die ſchmalſte Stelle der Sohle zwiſchen Ballen und Ferſe ge-
nau in den Bügel paßt, ſo daß auch nicht eine Linie Spiel-
raum bleibt. Da Füße von Bauern breiter als die von Tou-
[77]IV. Seile.
riſten zu ſein pflegen, ſo wird ſich ſchwerlich ein paſſendes
Paar Sporen vorräthig finden, man läßt deshalb eins eigens
anfertigen und beſtellt es etwas leichter als die landesüblichen.
Die Schuhſohle darf, wie bemerkt, an der Stelle, wo ſie im
Bügel ſitzt, keine Nägel haben. Vorn ſoll das Geſtell etwas
über die Zehen hinausreichen, mit dem hinteren kurzen Theile
jedoch gerade unter dem Abſatz abſchließen. Von den vielen
verſchiedenen Arten Steigeiſen ſcheint mir die entſprechendſte
die beſchriebene, und zwar nur oberflächlich zum Zweck der
Unterſcheidung beſchriebene, nicht um einen Leitfaden zur An-
fertigung an Schmiede zu geben.


Das wichtigſte Schutzmittel gegen die Gefahr des Aus-
gleitens oder bei Einbrechen von ſogenannten Schneebrücken,
Weheten (Schneevorſprüngen) und Sturz in Schründe —
nach der Verſicherung aller Alpenkenner leider immer noch
nicht häufig genug angewandt — ſind Stricke, mittels
deren ſich Führer und Geführte in Zwiſchenräumen von vier
Schritten anbinden. Das Alpine Journal warnt nachdrück-
lich vor dem „Leichtſinn, mit welchem Manche, ohne mit dem
Führer vermittelſt eines ſoliden Stricks das einigende Band
herzuſtellen, der höchſten Lebensgefahr trotzend, über trüge-
riſche Schneefelder, die tiefe Eisſpalten verdecken, hinwegeilen,
um — zehn Minuten früher bei Tiſche anzukommen.“ Auch
dem Journal gilt das Seil als einzig mögliches, freilich nicht
immer wirkſames Mittel bei der „Hauptgefahr, dem Ueber-
ſteigen ſteiler Eisfelder, falls ſie nicht mit Schnee bedeckt ſind.
Hier hängt Alles von der Feſtigkeit des Tritts auf der ge-
hauenen Stufe und dem Bewußtſein des Einzelnen ab, daß
ſein Fall alle Anderen in die Tiefe reißen kann. In ſolchen
Lagen verhütet das Seil Haſt und Eilfertigkeit und bewirkt
wie eine Brüſtung das Gefühl der Sicherheit. Iſt die Leine
ſtraff geſpannt, ſo hat ſie den Nutzen, einen Strauchelnden
durch das Gegengewicht des Vor- und Hintermannes vor dem
Fallen zu bewahren, vermehrt alſo nicht blos das Gefühl der
[78]IV. Seile — Eisbeile — Lawinen — Führer.
Sicherheit, ſondern auch, was die ſchlaffe nicht vermag, die
Sicherheit ſelbſt.“


Ueber Stoff, Bereitung und Handhabung der Seile,
Schürzung der Knoten (jeder Knoten ſchwächt natürlich den
Strick um ſo mehr, je feſter er gezogen, deshalb gehört die
Schürzung unter die wichtigen Angelegenheiten), Einrich-
tung der Eisbeile und Alpenſtöcke hat namentlich der
londoner Club eine Reihe von Verſuchen gemacht, und deren
Ergebniſſe im Alpine Journal I, 253—255, 321—331,
II, 96 und 217—219 mitgetheilt. Einiges davon wurde
hier benutzt, die nähere Erörterung der einzelnen techniſchen
Fragen iſt nicht unſres Amts und mag den Vereinen über-
laſſen bleiben.


Daß die Gefahr von Lawinen für den Sommergaſt
nicht von Belang iſt, beſtätigt das Journal, weil ſie in der
gewöhnlichen Jahreszeit der Bergbeſteigungen ſelten vorkom-
men. „Tritt freilich einmal ein ſolcher Fall ein, ſo iſt man
ganz hilflos. Der Inſtinct des Führers überwiegt dann
alles Geſchick des Touriſten.“ — Das Jahrbuch des ſchweizer
Alpenvereins, nachdem es die Nothwendigkeit betont, ſich
durch geeignete Vorübungen für ſchwere Aufgaben zu be-
fähigen, um ſich nicht ganz auf den Führer verlaſſen zu
müſſen, hebt hervor, daß dieſer am Seil durchaus die volle
Gefahr mit dem Touriſten theilen müſſe; denn wo daſſelbe
unzuläſſig, weil ſonſt der Eine auch den Anderen ins Ver-
derben bringen könnte, da ſei der Gang überhaupt zu unter-
laſſen. „Dagegen iſt es ein ſchweres Unrecht, wenn der Tou-
riſt ein Vorangehen verlangt, deſſen ſich der Führer weigert.
Furchtſamkeit iſt ſelten der Fehler dieſer Leute, und wo ſie
urſprünglich vorhanden ſein mag, wirkt als genügendes
Gegengewicht der Gedanke, der Reiſende werde des Betreffen-
den Dienſt nicht wieder begehren.“


So dringend bisher vor Eile gewarnt wurde, beim Auf-
wie beim Abwärtsklimmen, ſo nachdrücklich muß im Gegen-
theil gemahnt werden, den Rückweg von einem Gipfel recht-
[79]IV. Rückweg — nicht allein — Narrenwagniſſe — Entfernungen.
zeitig anzutreten. Ueberwindung koſtet es freilich, den Lohn
aller vorangegangenen und nachfolgenden Anſtrengungen und
Gefahren ſich ſelbſt zu kürzen; Ahriman flüſtert, die Sonne
ſtehe ja noch hoch, bis zur Dämmerung hab’s noch lange
Zeit, bergab ſteige ſich’s leichter als auf, — bleibe, Freund,
bleibe — ſiehe, alles Land liegt zu deinen Füßen, — bleibe,
ſei kein Thor, genieße, ſchwelge, wer weiß, ob je im Leben
dir’s wieder ſo vergönnt iſt! — — O Wanderer, verſchließe
dem Verſucher Dein Ohr und folge der Stimme des weiſen
Ormuzd, laute ſie auch nicht ſüßer, als etwa ſo: „Chommet,
chommet, s’ iſch Zit, m’r hawwe no räiachliach zwäi Stund
bis zum Senn. Drunne macht’s bälder dunkchal als hier
owwe.“ —


Eine Mahnung, obwohl ſie in keinem Reiſehandbuche
fehlt, ſei hier wiederholt: man hüte ſich, im Hochgebirge
allein zu wandern, und nehme, auch wenn zwei und mehr
Gefährten zuſammen ſind, überall, wo nicht feſtſteht, daß es
deſſen nicht bedarf, Führer und die nöthigen Ausrüſtungs-
gegenſtände mit. Junge, kräftige Leute, die vor einem Wege
ſtehen, den ſie von ihrem Standort meinen völlig überſehen
zu können, und der ihnen gar leicht und gefahrlos ſcheint,
ſind oft geneigt, Warnungen zu verachten. Sie wollen nicht
glauben, daß kein noch ſo geübtes Auge die Beſchaffenheit
von Schnee- und Eisfeldern von Weitem beurtheilen kann,
daß für die Beſtändigkeit des Wetters niemals Bürgſchaft iſt,
daß Richtpunkte, die ſie von fern meinen feſt im Auge be-
halten zu können, oft unvermerkt ihr Ausſehen verändern
oder ganz verſchwinden, daß auch in der Schätzung der
Entfernungen
der Fremde im Hochgebirg ſich ungemein
leicht täuſcht, wozu die ungewohnte Größe der Berge und die
Luftbeſchaffenheit beitragen. Auch das Ohr vermittelt manche
Täuſchung, verführt durch eigenthümliche akuſtiſche Verhält-
niſſe von Felswänden, oder durch den Nebel, welcher die
Schallwellen unter geringem Verluſt nach oben trägt. Was
Ihr Euch als Muth anrechnet, möchte man ihnen zurufen,
[80]IV. Außergewöhnliche Erſteigungen.
iſt ein prahleriſches Narrenwagniß, deſſen Ihr Euch
ſelbſt im Falle des Gelingens mit nichten zu rühmen, ſon-
dern lediglich zu ſchämen habt. —


[Dieſe] Apoſtrophe, welche beweiſen mag, daß ich frivole
Klettereien keineswegs zu vertheidigen ſuche, ſeien aber nun
noch ein paar Worte pro domo angeſchloſſen, die ich in aller
Beſcheidenheit blos als meine perſönliche Anſicht hinſtelle,
gegenüber den Stimmen, welche nur zu wiſſenſchaftlichen
oder künſtleriſchen Zwecken außergewöhnliche Erſtei-
gungen
gelten laſſen und jede von einfachen Touriſten
unternommene als Eitelkeit verſpotten oder als leichtſinnig
verdammen. — Woher wißt Ihr ſtrengen Richter denn, daß
es uns ohne Ausnahme allein auf das „Sagenkönnen“ an-
kommt, oder daß lediglich banale Neugier, blinder Nach-
ahmungstrieb oder eitel Langeweile es iſt, die uns hinauf-
treibt in’s Reich der Erſtarrung? — Vom Reiz der Gefahr
will ich nicht ſprechen, denn Ihr würdet ohne Weiteres auf
Blaſirtheit und ſchnöde Emotionsſucht erkennen. Sagt mir
aber doch, findet Ihr es ſo lächerlich, wenn Einer das Ver-
langen hat, Bilder zu ſehen, die kein Griffel und kein Pinſel
wiederzugeben vermag, Naturſcenen, die ihn erheben und be-
glücken, deren Eindruck ihm bis in’s Greiſenalter treu
bleibt? — Und findet Ihr es unſittlich, wenn es uns ver-
langt, die Kraft unſrer Muskeln und unſres Willens, Muth,
Ausdauer, Geiſtesgegenwart, — alles Eigenſchaften, die in
unſrem weichlichen Stadtleben ſo leicht verkümmern, aber
doch dem Einzelnen und dem Ganzen vielfach zu Statten
kommen, zuweilen unentbehrlich ſind — an würdigen Gegen-
ſtänden zu verſuchen, zu üben, zu ſteigern, mit dem Geſichts-
kreis auch das Herz zu erweitern? — „Auf einen Berg ſteigt
der Menſch, wie das Kind auf einen Stuhl, um näher am
Angeſicht der unendlichen Mutter zu ſtehen und ſie zu er-
langen mit ſeiner kleinen Umarmung.“ (Jean Paul.) „Das
Gefühl geiſtiger Kraft iſt es, das die Menſchen durchglüht
und die todten Schrecken der Materie zu überwinden treibt;
[81]IV. Uebertreibungen — Führer.
der Reiz, das eigene Menſchenvermögen am rohen Wider-
ſtande des Staubes zu meſſen. Es iſt vielleicht die Sehnſucht
des Herrn der Erde, auf der letzten überwundenen Höhe im
Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtſein
ſeiner Verwandtſchaft mit dem Unendlichen durch eine einzige
freie That zu beſiegeln.“ (Tſchudi.)


Im Allgemeinen läßt ſich behaupten, daß die Gefahren
und Schwierigkeiten der Erſteigungen ſelbſt der höchſten
Alpengipfel bei weitem nicht ſo groß ſind, wie es nach münd-
lichen und gedruckten Berichten den Anſchein hat. Je häufiger
ſie in neuerer Zeit werden, je mehr überzeugt man ſich da-
von. Hierin wieder beſtätigt ſich der alte Satz, daß wir Ge-
fahren und Schwierigkeiten, wenn ſie zum erſten Male an
uns herantreten, viel zu hoch anſchlagen. Vermochten ſogar
Männer, wie Sauſſure, an deren Muth, Entſchloſſenheit,
geiſtiger Klarheit und gutem Glauben kein Zweifel erlaubt
iſt, ſich von Uebertreibungen nicht frei zu halten, wie dürfen
wir von jungen Leuten, die vom Montblanc oder Monte
Roſa herabkommen und die es drängt, von ihren Eindrücken
und Leiſtungen zu berichten, erwarten, daß jede ihrer An-
gaben richtig und genau iſt! Hr. Lesley Stephen, der Vor-
ſitzende des londoner Alpenclubs, erzählt in ſeinem Aufſatz
über alpine Gefahren (Alp. Journ. 1866. II, 273 — 285),
daß ſeit dem erſten Sommer, den er in den Alpen zugebracht,
mehr als ein Berg in der öffentlichen Meinung alle Stadien
abwärts durchgemacht hat, von „unerſteiglich“ und „der
ſchwierigſte Punkt der Alpen“ bis „eine tüchtige Kletterpartie,
aber keine Hexerei“, „ein regelrechtes Stück Arbeit“ und
ſchließlich „ein leichtes Tagewerk für Damen“.


Das Führerweſen iſt in der Schweiz von den Be-
hörden ſchon ſeit langer Zeit geregelt, wird fortwährend
von ihnen beaufſichtigt, und von vielen Führern (freilich nicht
von allen) läßt ſich ſagen, daß ſie an Ortskenntniß, Beſonnen-
heit, Aufmerkſamkeit, Ausdauer und Pflichttreue nichts zu
wünſchen übrig laſſen; einige ſogar ſind unter ihnen, welche
6
[82]IV. Führer.
in Augenblicken der Gefahr eine wahrhaft rührende Selbſt-
verleugnung, bewundernswürdigen Scharfſinn, Spürtalent,
Sichzuhelfenwiſſen, Muth und Unermüdlichkeit bethätigen.
Solche Leute wird nicht leicht Jemand wie Dienſtboten ge-
wöhnlichen Schlags behandeln, zumal ſie gar nicht ſelten aus
dem Verkehr mit Gebildeten ſich hübſche Kenntniſſe und ge-
fällige Umgangsformen erworben haben. Deutſchen gegen-
über bedarf es überhaupt ſchwerlich jener Aufforderungen,
welche engliſche Schriftſteller ihren Landsleuten ſo oft wieder-
holen: ſeid freundlich mit Euren Führern, zeigt ihnen Ver-
trauen, Wohlwollen, denn Ihr werdet den Vortheil davon
haben. — In Tirol und Salzburg wird hoffentlich das
Führerweſen nun bald auch auf einen beſſeren Standpunkt
kommen. Vor Leuten, die ihre Führung um einen auffallend
wohlfeilen Preis anbieten, warnt Bädeker mit Recht. Wer
Führer zu ſchwierigen Erſteigungen braucht, bitte ein Alpenver-
einsmitglied um Auskunft, verlaſſe ſich nicht auf die Empfehlung
durch einen Wirth, auch nicht auf das äußere Abzeichen, die
über der Schulter getragene, vielfach geſchlungene Leine, denn
Mancher, der ſich dadurch das Anſehen zu geben trachtet, als
gehöre er in die Claſſe des „hochſteigenden Edelthiers“, zählt
ſeiner Natur nach zum Genus „gemeiner Packeſel“. Wo ich
die Wahl habe, ziehe ich Männer in reiferen Jahren vor,
denn ſie haben außer der längeren Erfahrung die Ruhe und
Beſonnenheit für ſich. Keineswegs blos jüngere Leute übri-
gens, ſondern auch einzelne ältere, ſonſt tüchtige Führer nei-
gen zur Eilfertigkeit. Für den Grund halte ich weniger Hab-
ſucht als Ehrgeiz. Sie wollen ihre Aufgabe nicht nur löſen,
ſondern auch elegant, d. h. raſch löſen, um Nebenbuhler aus-
zuſtechen. Hier und da habe ich noch einen andern Fehler an
Führern erſten Ranges bemerkt. Während ſie einem mittel-
mäßigen Bergſteiger gegenüber alle ihre Talente aufbieten,
bis die Gefahr vorüber iſt, pflegen ſie wohl einem Touriſten,
an dem ihr Kennerauge nach der erſten ernſthaften Probe,
welche ſie ſcharf beobachten, gute Befähigung und Uebung
[83]IV. Führer — Schwindel.
ſieht, nicht mehr gar viel Aufmerkſamkeit zu widmen. Sie
nehmen an, daß er in ähnlichen Fällen ſich ſtets ähnlich be-
nehmen werde, faſt ſo wie Einer der Ihrigen, der Jahr aus
Jahr ein mit dem Hochgebirg und ſeinen Gefahren auf in-
timſtem Fuße verkehrt. Kommt dann irgend etwas vor, wor-
aus der Mann merkt, daß ſeine Meinung von der alpinen
Bildung des Touriſten doch eine zu hohe war, ſo kann er
wohl, wenn nicht etwa ein Unglück geſchehen, recht herzlich
grob werden. Wie es ſcheint, ſtürmen in ſolchen Augen-
blicken auf die wackere Führerſeele zu mächtige und wider-
ſtreitende Gefühle ein, als daß er nicht das Verhältniß vom
Herrn zum Diener, das Atteſt, das Trinkgeld, alles Dinge,
die ſonſt ſeinem Herzen nahe genug ſind, vergeſſen und ganz
naiv ſein ſollte. Schrecken und Beſchämung über eigene und
fremde Unvorſichtigkeit und Freude darüber, daß Alles noch
gut abgelaufen, theilt natürlich der Geführte mit dem Führer,
wird deshalb mehr geneigt ſein, die Sache von ihrer komi-
ſchen Seite aufzufaſſen, als dieſen hart anzulaſſen.


Wer Luſt und Liebe hat zum Bergſteigen und körperlich
befähigt dafür iſt, braucht ſich nicht gleich abſchrecken zu laſſen,
wenn er etwas Anlage zum Schwindel an ſich bemerkt,
denn derſelbe kann durch methodiſche Uebung unterdrückt wer-
den, wie ich an mir ſelbſt erfahren habe. Meine Natur neigte
von Haus aus ſehr zum Schwindel und doch iſt es mir ge-
lungen, mich dahin zu bringen, daß ich, allerdings erſt nach
längerer Uebung, mit Aelplern um die Wette zu klettern ver-
mochte und von ſolchen — auch von unbezahlten — Aner-
kennung erntete, welcher man die Aufrichtigkeit anfühlte. In
meinen Uebungen verfuhr ich nach alten pädagogiſchen und
pſychologiſchen Regeln: beſtieg anfangs geſchützte Höhe-
punkte wieder und wieder, heftete, ſo wie die erſten Anzeichen
des Schwindels ſich bemerkbar machten (principiis obsta), die
Augen auf einen nahen Punkt, richtete aber die Gedanken
auf eine entfernte Sache oder Perſon, auf denen ſie gern zu
weilen pflegten, z. B. Angehörige, Freunde, Studienobjecte,
6*
[84]IV. Schwindel — Fußſchau.
eine erlebte komiſche oder rührende Scene ꝛc. Auf der näch-
ſten Vorbildungsſtufe ſuchte ich meine Augen in der Betrach-
tung tiefer und tiefer zu meinen Füßen liegender Punkte zu
gewöhnen, verfolgte hinabrollende Steine, beugte mich über
Geländer, ſchaute ſenkrecht in die Tiefe hinabgeworfenen
Papierbällchen nach, kletterte mit dem Blick an der ſenk-
rechten Wand auf und ab u. dergl. m. Geraume Zeit koſtete
es, mit derartigen Exercitien auf Gipfeln mich zu befreun-
den, wenn ſtarker Wind wehte. Erſt als ich mich auch aus
dieſer Claſſe mit dem Zeugniß der Reife entlaſſen konnte,
begannen, natürlich nie ohne Begleitung, die ſchwierigeren
Aufgaben, unter mehrfacher Wiederholung derſelben, und
langſam ſteigender Doſis. —


Jeder, der einmal in einem öffentlichen Bade die an-
weſenden nackten Menſchenfüße betrachtet hat, muß bemerkt
haben, daß ſie faſt ohne Ausnahme als Vorlagen zu einem
pathologiſchen Atlas dienen könnten. Was die Urſache davon
ſein mag, Ungeſchick der Schuhmacher? — Kann unmöglich
ſo allgemein verbreitet ſein. — Sollte das ganze Gewerk den
Ruin eines der ſchönſten menſchlichen Körpertheile zu ſeiner
Lebensaufgabe gemacht haben, blos aus teufliſcher Freude am
Böſen? — Auch nicht anzunehmen. Nach meiner Anſicht
iſt die Wurzel der Hühneraugen und vieler ſonſtiger Fuß-
gebreſte ein falſcher Idealismus, welcher die Phantaſie und
die bildneriſche Thätigkeit der ehrſamen Meiſter beherrſcht,
im Bunde mit der mißverſtandenen Eitelkeit des verehrlichen
Publicums. Im gewöhnlichen Laufe der Dinge rächt nun
zwar die Natur derlei nur durch Schwielen, Leichdorn und
eingewachſene Nägel, handelt es ſich jedoch darum, den Fuß
für anſtrengende Wanderungen zu befähigen, wo von der
Sicherheit des Tritts ſo viel abhängt, ſo muß Sorge getra-
gen werden, die Folgen früherer Mißhandlungen möglichſt
wieder gut zu machen.


Auch Deine Füße, mein lieber Wanderſchüler, ich weiß
es, ohne ſie zu ſehen, haben unter dem Druck der Verhält-
[85]IV. Glycerin — Hautpflege — Schleier.
niſſe gelitten. Sollten ſchmerzhafte Stellen daran ſein, ſo
muß ihnen durch einen geſchickten Operateur geholfen wer-
den. Dieſer wird, wenn eingewachſene Nägel im Spiele
ſind, vielleicht einen Keilſchnitt machen und an der Seite ein
Stück Nagel bis zur Wurzel abſpalten wollen. Laß ihn tapfer
gewähren, junger Freund, Dein Wanderglück ſteht ſonſt auf
ſchwachen Füßen; kurz iſt der Schmerz, lang die Freude über
geſunde Füße. Wurde eine Radicalcur verſäumt, ſo läßt ſich
unterwegs nothdürftig Rath ſchaffen, indem man die in’s
Fleiſch gewachſenen Nägel mit einer Glasſcherbe in der Mitte
längshin dünn ſchabt und ſie ſo, daß beide Flanken gegen die
Mitte des Nagels nicht zurückſtehen, alſo nicht bogenförmig,
ſondern in gerader Linie beſchneidet. Hühneraugen, wenn
gründliche Behandlung verſäumt wurde, laſſen ſich durch
Iſolirpfläſterchen oder Beſchneiden mit einer Lancette beſänf-
tigen. Froſtballen, ſofern ſie nicht ſchmerzhaft entzündet ſind,
ſollen oft mit Schnee gerieben und in kaltes Waſſer getaucht,
dann abgetrocknet und mit Collodium beſtrichen werden, wobei
man aber dem Lichte nicht zu nahe kommen darf.


Die dem Sonnenbrande ausgeſetzten Theile des Geſichts
und der Hände erhalten ſich geſchmeidig durch (friſches) Glyce-
rin
(in Amerika iſt eine Salbe gebräuchlich von 1 Loth Wallrath,
¼ weißes Wachs, 4 fettes Mandelöl und 2 Glycerin; letz-
teres kommt hinzu, nachdem das Uebrige bei gelindem Feuer
zergangen iſt), dem ſonſt dazu benutzten Schießpulver, das
die Haut ſtaubtrocken macht, weit vorzuziehen. Allenfalls
thut’s auch ein Stück Talglicht, es braucht nicht juſt Lippen-
pommade, Coldcream oder Rinderfett zu ſein, welches letztere
im Apothekerrothwelſch Hirſchtalg benannt wird. Ein großes
Verdienſt um die Alpenſteiger hat ſich das Glycerin dadurch
erworben, daß es ſie befreit hat von den leidigen, früher zum
Schutz der Geſichtshaut gegen Sprödigkeit und der Augen
gegen Schneeblindheit viel getragenen Schleiern, welche
die Ausſicht verkümmern, die Augen erhitzen, die Athemluft
verderben und ſonſt vielfach beläſtigen. Denn daß auch die
[86]IV. Schneebrillen — Fußwanderung.
Augen gegen das blendende Licht ſonnenbeſchienener Schnee-
felder beſſer durch Brillen mit grauen Gläſern
(Rauchbrillen) geſchützt werden, iſt längſt feſtgeſtellt. Hinweg
alſo mit den grünen und blauen Flatterlappen, für läſtige
Verſchleierungen ſorgen die Nebel ſchon hinlänglich. Dieſe
Gläſer ſind in mehren Schattirungen zu haben; ich wähle
eine mittlere, nicht zu dunkle. — Den minder als die Ge-
ſichtshaut abgehärteten Hals entblößt anhaltendem Sonnen-
brand auszuſetzen, iſt nicht gut. Die Hände können gegen
Braunwerden durch [Leinwandhandſchuhe] geſchützt werden.


Einer Lobrede auf das Fußwandern bedarf es hier
nicht, denn ſie fehlt in keinem Reiſehandbuche, und alle Welt
weiß, daß dieſe Art der Bewegung die geſundeſte, Geiſt und
Körper erfriſchendſte und bildendſte, daß ſie eine Unabhängig-
keit gewährt und Genüſſe bereitet, welche der Fahrende nicht
kennt, daß der Wanderer leichter bekannt wird mit den und
dem Einheimiſchen, daß ſie ein „toniſirendes“ Mittel nach
ſtarken Gemüthsaufregungen, auch ſehr geeignet iſt, vor
großen Entſchlüſſen den Geiſt zu ſammeln und zu ſchärfen.
Eher wäre daran zu erinnern, daß die Wanderung immer
erſt von einem geeigneten Punkte angetreten werden und nicht,
„weil es ja doch eine Fußreiſe ſein ſoll,“ immer und immer
gelaufen werden muß, ferner, daß Neulinge das Penſum der
erſten Tage nicht zu ſtark nehmen und es erſt allmählich
ſteigern dürfen, vor Allem, daß in der Bewegung Maß zu
halten iſt. Doch davon ſpäter.


Reiſebücher, die in alten Auflagen und Vorurtheilen be-
fangen ſind, munkeln noch immer, daß Fußwanderer von
Wirthen oft nicht „für voll“ angeſehen und nachläſſig be-
handelt würden. Aengſtlichkeiten der Art, geliebter Reiſe-
ſchüler, verbanne nur ganz aus Deinem Gemüthe und ſei
überzeugt, daß in allen deutſchen Gebirgen, den Alpen, Pyre-
näen
, Apenninen, Sabinerbergen ꝛc. heutzutage kein Wirth
mehr lebt, der nicht ſehr wohl zu unterſcheiden wüßte zwiſchen
Fußtouriſten und Strolchen. Auch in ihren Berechnungen
[87]IV. Frühaufſtehen — Eſſen und Trinken.
habe ich nie einen Unterſchied finden können, ob ich zu Fuße,
zu Waſſer, zu Wagen oder beritten ankam.


Was in den Büchern ſowie in den Sprüchwörtern aller
Völker über Frühaufſtehen an’s Herz gelegt wird, braucht
hier auch nicht ausgeführt zu werden, denn wir wiſſen Alle,
daß zu Leiſtungen jeder Art, körperlichen wie geiſtigen, der
Morgen die beſte Zeit iſt. Wer ihn durch ſpätes Aufſtehen
verkürzt oder in nichtigen Dingen vergeudet, weiß nicht was
er thut. Der Verſtändige bricht lieber im Dunkel auf, um
nicht im ſpäten Abenddunkel das Ziel zu erreichen. Von be-
ſonderem Werthe ſind die frühen Morgenſtunden, wenn es
gilt, Firnfelder und Schneebrücken zu überſchreiten, bevor
die Sonne ſie bearbeitet hat.


Vor ſtarken Märſchen iſt ein Frühſtück von Kaffee, Weiß-
brod und Butter räthlicher, als ſchwere Fleiſchkoſt, weil große
Körperanſtrengung und Verdauungsthätigkeit ſich gegenſeitig
erſchweren und viel Fleiſcheſſen den Durſt ſteigert. Andrer-
ſeits ſoll aber auch nicht ganz nüchtern aufgebrochen oder zu
lange und bis zur Erſchöpfung gewandert werden, ohne von
Neuem etwas zu ſich zu nehmen. Daß zwei Taſſen Kaffee
durch eine verſäumte Morgenſtunde unter Umſtänden theuer
erkauft ſein können, wir alſo in ſolchen Ausnahmefällen uns
mit einem Trunk Milch oder Waſſer und einem Mund voll
Brod zu begnügen haben, leuchtet ein. Manche kauen ein
paar Kaffeebohnen und ein Stück Zucker und verſichern, daß
Zunge und Magen dies als billige Abſchlagszahlung an-
nehmen. Jedenfalls ſchmeckt das warme Frühſtück um ſo köſt-
licher, wenn es erſt nach zweiſtündiger Wanderung einge-
nommen wird. Ein Schluck feuriger Wein mit einigen Biſſen
Brod und Fleiſch genügen als zweites Frühſtück zur Auf-
munterung der Kräfte und Abhaltung oder Dämpfung des
in hohen Regionen nicht ſeltenen Gefühls der Schwere in
den Gliedern. Namentlich gönne ſich der Neuling von Zeit
zu Zeit einen weiteren Imbiß. Die eigentliche Malzeit iſt
erſt gegen Abend nach vollbrachtem Tagewerk zu nehmen.
[88]IV. Höhepunkte und Fernſichten des Reiſelebens.
Engländer und Franzoſen, von Haus aus gewohnt, nicht vor
fünf Uhr zu Mittag zu eſſen, haben wie im Felde ſo auch auf
der Reiſe einen Vortheil vor den Deutſchen, die den Tag
und das Tagewerk gerade in der Mitte um ein oder zwei Uhr
durch die Hauptmalzeit unterbrechen zu müſſen glauben. Wird
dieſelbe auf eine ſpäte Nachmittags- oder frühe Abendſtunde
verlegt, ſo vertheilt ſich das ganze Wanderpenſum beſſer. Iſt
der Tag nicht übermäßig heiß, ſo ſchreiten wir auch in den
Mittagsſtunden rüſtig fürbaß und erreichen das Ziel um ſo
früher. Am erſten oder zweiten Raſtpunkt im Freien und
Grünen öffnen wir die Jagdtaſche, ſchmauſen das Cotelett
oder halbe Huhn, das wir von der geſtrigen Malzeit bedächtig
zurücklegten und mitnahmen, thun dazu einen kurzen Trunk,
rauchen eine Cigarette und — plaudern oder träumen. Der
einſame Wanderer zieht vielleicht die Miniaturausgabe eines
Lieblingsdichters aus der Taſche und lieſt einige Seiten, um
der leiblichen Nahrung auch noch die geiſtige zu geſellen.
Auf dieſe Weiſe kommen zuweilen Stimmungen zu Stande,
die ſich mit unverlöſchlicher Schrift in die Erinnerung graben.
Mir ſind ſolche Viertelſtunden, die ungerufen und unverhofft
uns beſuchen, immer die eigentlichen Höhepunkte und Fern-
ſichten des Reiſelebens geweſen, mehr als die an berühmten
Oertlichkeiten, denn an ſolchen angekommen, verhalten wir
uns in der Regel kritiſch, vergleichen, was wir ſehen, mit
dem Phantaſiebilde, das wir uns davon gemacht, oder mit
andrem früher Geſchauten und reflectiren und recenſiren uns
aus aller Lyrik heraus.


Wird das zweite Frühſtück im Freien aus der Taſche
heraus eingenommen, ſo haben wir nicht auf das „gleich,
Herr, gleich!“ der betreffenden Babetten, Vronis und Ur-
ſcheln, welches durchſchnittlich dreiviertel Stunden bedeutet,
zu warten. Der ſtarke Eſſer braucht zu Gunſten dieſes
Reſerveſyſtems ſich nichts abzudarben, ſondern kann Abends
vorher eine doppelte Fleiſchportion beſtellen. Der kluge
Touriſt ißt aber nie ſehr ſtark.


[89]IV. Cum grano salisVeſuv — Durſt.

Bei Ausflügen mit obligatem Mundvorrath vergeſſen
von zehn Touriſten neun, Salz mitzunehmen. Auf Tabellen
beruht dieſe ſtatiſtiſche Notiz zwar nicht, wohl aber kann ich
ſie einigermaßen annehmbar machen durch ein Geſchichtchen.
Im Frühling 186 [...]. traf ich eines Morgens im Zöpf-Weber’-
ſchen Kaffeehaus in Neapel mit drei Anderen zum Zweck einer
gemeinſchaftlichen Beſteigung des Veſuvs zuſammen. Der
Wagen nach Reſina ſtand vor der Thür, unſren Imbiß von
kaltem Geflügel hatten wir eben eingeſteckt, am Schenktiſch
ließ ich mir noch etwas Salz geben und bemerkte, daß jeder
der drei Herren dies flugs nachahmte. Als wir nun oben
in dem von Lavablöcken erbauten kleinen Circus ſaßen, dem
herkömmlichen Speiſeſaal der Beſteiger des Aſchenkegels, in
dichtgedrängter Reihe um uns herum andere Beſucher, zeigte
ſich, daß keiner von allen dieſen cum grano salis war, und
ihre Blicke verlangend an dem kleinen Salzlager ſchleckten,
das wir vor uns auf dem Schooße hatten. Da wandte ich
mich an meine Gefährten, die meiner Erinnerung ihren Vor-
rath verdankten, mit dem Antrag, unſer Salzmonopol nicht
ſelbſtſüchtig auszubeuten, ſondern bedürftigen Nebenmenſchen
davon mitzutheilen. Wir hatten die Genugthuung, im ganzen
Kreiſe ringsum Heiterkeit zu verbreiten, und machten einige
willkommene Bekanntſchaften; die wenigen Meſſerſpitzen Salz
hatten eine befreundende Wirkung, die nach dem Sprüchworte
ſonſt nur an einem Tiſche gemeinſam verzehrte Scheffel haben
ſollen. Seit der Zeit vergeſſe ich den Artikel nicht mehr.


Vor und während ſchweren Tagewerks viel zu trin-
ken
, trägt nicht zur Beförderung der Spannkraft bei, eben-
ſowenig iſt aber, namentlich bei großer Sonnenhitze, das
entgegengeſetzte Extrem zu rühmen, wie es in Büchern ſo oft
geſchieht; denn allerdings ſchwitzt man bei ſtrenger Ent-
haltung und ſtoiſcher Ertragung des Durſtes nicht leicht, doch
keineswegs zum Vortheil der Haut und des ganzen Körpers,
welche hierdurch nur um ſo heißer und unbehaglicher werden,
während die Feuchtigkeit kühlend wirkt. Ueberhaupt ſollten
[90]IV. Durſt — Erkältungen — kalter Thee und Kaffee — Fleiſchbrühe.
kräftige, wohlgenährte Naturen den treuen, nützlichen Wan-
dergefährten, den Schweiß, nicht ſo ängſtlich ſcheuen, nur
ſelbſtverſtändlich ſich nicht jäher Abkühlung in Zugluft aus-
ſetzen, beſonders nach großen Gewaltmärſchen eines heißen
Tages ſich nicht dem Nachtthau preisgeben. Iſt nach der
Seite hin dennoch geſündigt, ſo daß eine Erkältung winkt, ſo
läßt ſich dieſer oft dadurch vorbeugen, daß man ſich raſch von
Neuem tüchtig heiß läuft und dann wohlverhüllt langſam
abkühlt. Auch den folterndſten Durſt — er tritt ohne Appetit
auf und wird in der Schweiz Durſthunger, anderwärts
Magenblödigkeit genannt — ſuche man nie durch Schnee zu
dämpfen, denn der ſteigert ihn. Das beſte Mittel dagegen
iſt kalter Thee oder Kaffee, jeder Branntweinmiſchung
durchaus vorzuziehen. Franzöſiſche Rothweine verurſachen
bei Einigen Trockenheit des Schlundes. Um dieſe zu ver-
meiden, nehmen Manche einen Grashalm in den Mund,
Andere kauen ein Stückchen Cigarre. Bei äußerſter Er-
ſchöpfung trinken Vorſichtige vermittelſt Theelöffeln, und es
ſcheint, daß ſo eine mäßige Quantität durſtlöſchender wirkt
und den Magen weniger beläſtigt, als die mehrfache in
langen Zügen getrunkene. — Wohl noch lange wird es
dauern, bis unſre Köchinnen ihr Vorurtheil abgelegt haben,
daß in Fleiſchbrühe nur der Eidotter ohne das Weiße gehöre,
ich beſtelle deshalb immer neben der Brühe rohe Eier in der
Schale und rühre deren ganzen Inhalt eigenhändig hinein,
ſchäme mich auch nicht, dies der Welt offen einzugeſtehen.


Getränk bei großer Hitze zu kühlen, dienen unglaſirte
Thonkrüge; fehlt es an ſolchen, ſo ſchlägt man um das Ge-
fäß ein feuchtes Tuch und ſetzt es ſo der Sonne aus. — Auf
Wanderungen und beim Aufenthalt an fremden Orten ver-
meidet der Vorſichtige, von dem ungewohnten Waſſer
viel auf einmal unvermiſcht und kalt zu trinken, ſei daſſelbe
an ſich auch noch ſo vortrefflich und ſein Magen noch ſo gut,
ſondern begnügt ſich mit mäßiger Quantität, ſetzt auch ent-
[91]IV. Hochgebirgsbeſchwerden — Bergweh.
weder ein Minimum von Spirituoſen hinzu, oder wählt ein
kohlenſaures Waſſer.


Hier und da ruft der Aufenthalt in der Hochregion neben
peinigendem Durſte noch andere Erſcheinungen hervor, z. B.
beſchleunigten Herzſchlag, Heiſerkeit, Athemnoth, Kopfweh,
Mattigkeit, Schlafſucht oder Schlafloſigkeit, Schlaffheit der
Gelenke. Treten die Erſcheinungen heftig auf, ſo muß ein
Arzt befragt werden. Vermuthlich erkennt er auf „Bergweh“
und räth, erſt einige Stunden nach Aufgang der Sonne in’s
Freie zu gehen und vor Untergang wieder das Zimmer auf-
zuſuchen, bei ſtarkem Winde und wenn Gewitter oder Regen
droht, ganz zu Hauſe zu bleiben und, will die Acclimatiſation
nicht gelingen, widerräth er dem Leidenden das fernere Ver-
weilen. In minderem Grade ſind derlei Beſchwerden bei
Gäſten, die aus dem Tieflande in hochgelegene Curorte un-
vorbereitet kommen, auch bei Touriſten, die zum erſten Male
in der Schneeregion wandern, nichts Seltenes, pflegen aber
meiſt raſch vorüberzugehen. Erklärt werden ſie durch die ver-
änderte Beſchaffenheit der atmoſphäriſchen Luft. Dieſe wird
je höher ihre Lage, um ſo kälter, dünner, leichter; Lunge und
Herz, um die zur Blutbereitung nöthige Maſſe Sauerſtoff
ſich anzueignen, ſind zu raſcheren Bewegungen genöthigt.
Die aus Gletſchern ſtrömende Luft iſt außerdem noch ärmer
an Sauerſtoff, als an ſchnee- und eisfreien Stellen von
gleicher Höhe. Auch poſitive und negative Elektricität ſoll
dabei eine Rolle ſpielen. Vom Grade dieſer Luftverände-
rungen, von der Plötzlichkeit des Uebergangs und von indivi-
dueller Beſchaffenheit hängt es nun ab, ob ihre Wirkung die
erwähnten Störungen, oder im Gegentheil geſteigertes Wohl-
befinden, freieres Athmen, beſſere Blutbereitung, Verdauung
und Ernährung und erhöhte Stimmung zur Folge hat.


Die fette Alpenmilch iſt mit Vorſicht zu genießen und
lieber zu meiden von Einem, der auf zweifelhaftem Fuße mit
ſeinem Magen ſteht. Etwas verdaulicher wird ſie durch eine
kleine Zuthat von Kirſchgeiſt, Rum oder dergleichen. Ein
[92]IV. Alpen- und Tigermilch.
in Oſtindien beliebtes Getränk der Art führt den Namen
„Tigermilch“; es wird bereitet, indem man der Milch Ma-
deira oder Arak, ferner ein paar Eidotter, auf Citronenſchale
abgeriebenen Zucker und ein wenig Cardamom oder Vanille
zuſetzt. — In einer aus verſchiedenen Nationen gemiſchten
Geſellſchaft, die ſich in einem ſchweizer Gaſthof zuſammen-
gefunden hatte, war einſt die Rede auf engliſche Küche ge-
kommen, und die anweſenden Franzoſen, Ruſſen und Deut-
ſchen hatten einſtimmig den Stab über ſie gebrochen. An
rohem Fleiſche, hieß es, könnten nur reißende Thiere Geſchmack
finden, der Erfinder der Plumpuddings verdiente in ſeinen
Rumſaucen zu brennen, und die Bereitung der Gemüſe in
England ſei die unverhüllte Barbarei. Für den nächſten
Tag war eine gemeinſame Partie nach einer benachbarten
Sennhütte verabredet. Da kam mir der Einfall, die nöthigen
Zuthaten zu jenem Getränk hinaufzuſchicken und oben ganz
verſtohlen eine Bowle davon zu machen. Nach dem Kaffee
wurde die Tigermilch aufgetragen und jeder Perſon eine
Taſſe voll credenzt. Große Ueberraſchung. Man ſchien
einen Schabernack zu vermuthen und Niemand wollte an-
fangs verſuchen. „Ob ich dieſes neue Nahrungsmittel aus
Indien mitgebracht, etwa condenſirt, oder ob ich es aus einer
Menagerie bezogen hätte,“ und mehr dergleichen Fragen be-
kam ich zu hören, bis endlich eine junge Ruſſin Muth faßte,
zu koſten, und in Lobeserhebungen ausbrach. Einer nach dem
Andern folgte und bald war Alles einig darüber, daß ein
Miſchkrug der Art von Göttern getrunken und von Homer
beſungen zu werden verdiene. Es wurde der Beſchluß ge-
faßt, künftig nicht mehr abzuſprechen über Engländer und
reißende Thiere.


Einige Worte der Polemik mögen hier einer Begriffs-
verwechslung gewidmet werden, die ſchon viel Unheil in der
Touriſtenwelt angerichtet hat und deren Urſprung ſich viel-
leicht auf die alten Paßbeamten zurückführen läßt. Dieſe
vom heutigen freizügigen Geſchlecht nur noch wenig gekannte,
[93]IV. Erholungs- u. Vergnügungsreiſen — ſich einmal ſo recht auslaufen.
kaum bemerkte, ehedem aber mächtige, gefürchtete Menſchen-
claſſe — deren Hauptaufgabe zu ſein ſchien, unſren Vor-
fahren das Reiſen zu verleiden, Stetigkeit, Liebe zum häus-
lichen Herde und zum Vaterlande zu fördern — war nämlich
verpflichtet, jedem, der die Abſicht einer Ortsveränderung
kund gab und ſich ſomit als Landſtreicher verdächtigte, eine
Reihe von Fragen vorzulegen, darunter unbeſcheidene, zumal
für Damen peinliche. Die letzte Frage lautete ſtets: Zweck
der Reiſe, Geſchäfte? — Erfolgte darauf verneinende Ant-
wort, ſo wartete der Beamte, im Gegenſatze zu ſeiner bis
dahin bewieſenen Gründlichkeit, keine weiteren Erklärungen
ab, ſondern ſchrieb nach eigener Eingebung friſchweg entweder
„Erholung“ oder „Vergnügen“. So geſchah es denn be-
greiflicherweiſe oft, daß einer Reiſe, die recht eigentlich zur
Erholung dienen ſollte, der amtliche Stempel als bloße Luſt-
fahrt aufgedrückt und wer weiß, ob nicht mancher Paßinhaber
dadurch verführt wurde, ſie auch als ſolche zu behandeln, was
zur weiteren Folge hatte, daß die Merkmale beider Begriffe
ſich allgemach verwiſchten, ein Uebel, an dem noch ein Theil
unſrer Zeitgenoſſen ſiecht. Daß z. B. ein berliner Geheimer-
rath von ſeiner kurzen Urlaubszeit behufs einer Erholungs-
reiſe im Salzkammergute die Hälfte dem Studium der mün-
chener Bierhäuſer und Galerien widmet, oder ein hamburger
Kaufmann, der zur Stärkung ſeiner Augen nach Appenzell
geſchickt wird, anſtatt deſſen Wieſen den grünen Teppich in
Baden-Baden mit ſeinen gelben und weißen Blumen wochen-
lang beſichtigt, und zahlloſe ähnliche Verſtöße gehören ver-
muthlich unter die Nachwehen des alten Paßzwangs.


Was hier durch Säumigkeit, wird in anderen Fällen
durch Uebermaß des Eifers verfehlt. Ein ſehr norddeutſcher
Univerſitätslehrer machte einſtmals, erzählte er mir ſelbſt
einige Jahre ſpäter, die ganze Route bis Thun in einem Ruck.
Ich kam mit dem Vorſatz an, „mich nun einmal ſo recht aus-
zulaufen.“ Damit meinte ich nicht nur das ganze ſeit meiner
Studentenzeit aufgeſammelte Deficit an Bewegung auf
[94]IV. Läuferwahnſinn.
einmal zu decken, ſondern auch noch durch „überſchüſſige gute
Werke“ ein Capital für die nächſten Jahre zu erwerben,
mein Ganglienſyſtem und den nervus sympathicus wieder
auf den Normalton hinauf zu ſtimmen, mit den Unterleibs-
organen auf den Friedensfuß zu gelangen, kurz einen neuen
Menſchen anzuziehen. Zu meinem Unglück traf ich noch zwei
Studioſen, welche, als ſie meinen Namen zufällig erfahren,
über ihre Begegnung mit einem ſo berühmten Manne die
rührendſte Freude äußerten; in meinen Schriften wußten
die wackern Jungen beſſer als ich ſelbſt Beſcheid, mit einem
Worte, ſie nahmen mein Gelehrtengemüth dermaßen ge-
fangen — eine Beredtſamkeit des Herzens, deren nicht jeder
Lehrer von ſeinen Schülern theilhaftig wird, ſchaltete der er-
zählende Meiſter ein, mit einem Seitenblicke auf ſeine beiden
Gefährten — daß ich nicht umhin konnte, ihrer Augen ſtilles
Sehnen zu erfüllen, und ſie aufforderte, ſich mir anzuſchließen.
Beide ſchwelgten in Entzücken über den erſten Anblick der
Alpen und waren unerſättlich im Klettern. Zwiſchen ihrer
Begeiſterung und Jugendkraft und meiner mißverſtandenen
Pflichttreue und Geneſungsſehnſucht entſtand nun ein förm-
liches Wettrennen, das bald einen fieberhaften Charakter
annahm. Dieſe neue Krankheit, die ich Läuferwahnſinn
nenne, hat mit dem Säuferwahnſinn gemein, daß ſie ihr
Opfer mit dämoniſcher Gewalt feſthält und der Schaden
erſt erkannt wird, wenn er nicht mehr gut zu machen iſt.
. . . . Nun, die Frucht dieſer vermeintlichen Erholungsreiſe
war eine Krankheit, die mich bis tief in den Herbſt hinein
in Luzern feſthielt, und eine ſehr erhöhte Reizbarkeit. Mein
Unfall gab mir aber eine Lehre, aus der ich ein ganzes Lehr-
gebäude zu zimmern im Begriffe bin, ſo viel Material von
Beobachtungen und Folgerungen ſteht mir zu Gebote.
Warum lächeln Sie? Die Wiſſenſchaft muß Capital aus
Allem machen.


— Was werden, warf ich ein, Ihre Collegen von der
mediciniſchen Facultät dazu ſagen, welcher Sie doch nicht
[95]IV. Hypochondriſche Studien.
angehören, daß Sie Gebäude auf ihrem Grund und Boden
aufführen, was wird Ihr Hausarzt dazu ſagen?


— O, was das anlangt, ſo könnte ich nur auf Nord-
amerika
verweiſen, wo die Squatter, Leute, die ſich auf
Ländereien anbauten, auf welche ſie kein Eigenthumsrecht
hatten, für die Coloniſation des Welttheils ſo wichtig ge-
worden ſind. Einer Vertheidigung bedarf es aber gar nicht,
denn dieſe Herren Aerzte und Phyſiologen beſchränken ſich
ja auch keineswegs auf ihr Revier, ſondern machen weite
Streifzüge ringsum in andere Gebiete, nur daß ſie dabei
weniger aufbauen als niederreißen, ſengen und brennen,
auch Weiber und Kinder nicht ſchonen. Geſteht doch jeder
der Herren unter vier Augen, daß man mit den Nerven
ſo wenig fertig werde, wie mit der Cholera und ſo vielem
Andern, trotzdem unabſehbare Batterien von meſſingenen
und gläſernen Röhren mit und ohne Kolben, Legionen von
anatomiſchen, chemiſchen, phyſikaliſchen, mathematiſchen Ge-
räthen aus allen Arſenalen der Wiſſenſchaft dafür in Be-
wegung ſind.


— Um ſo weniger werden ſie zugeben, daß ein Laie
klüger ſein will, als ſie ſelber.


— Müſſen ſich doch auch die Aſtronomen gefallen laſſen,
daß Uhrmacher und Poſtſecretäre Cometen entdecken. Der
Verſtand der Verſtändigen ſieht oft vor Bäumen den Wald
nicht. Uebrigens können mich die zünftigen Heilkünſtler nicht
der Medicinalpfuſcherei anklagen, denn mein Syſtem baue ich
nur zu meinem Privatgebrauche, und ſchon das Sprüchwort
ſagt, daß Jeder ſelbſt ſein beſter Arzt ſei.


— Kein Sprüchwort duldet allgemeine Anwendung, die
beſten ſind nur halbwahr. Ich möchte in dieſem Falle gerade
umgekehrt behaupten, daß ein nervöſer Menſch ſich ſelbſt
der ſchlechteſte Arzt iſt und der ärgſte Pfuſcher ihn ſchwerlich
ſo herunterbringen kann, wie er ſich ſelbſt. Denn während
die meiſten anderen Organe unſeres Körpers ſehr bald und
ſehr deutlich es kund geben, wenn wir durch irgend ein Thun
[96]IV. Hypochondriſche Studien.
oder Laſſen ihre Geſetze übertreten haben, Achtung vor ihnen
hingegen belohnen und ſo uns förmliche Anleitung ertheilen,
was ihren Zorn verſöhnen kann, ſcheinen die Nerven, wenn
ſie erſt einmal aufſäſſig geworden, an Unbeſtändigkeit,
Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit und Tyrannei Alles zu
überbieten, was je den Frauen nachgeſagt ward. Ihre
Orakelſprüche ſind bald völlig unverſtändlich, bald zweideutig;
jetzt ſcheint ein Rath klar, lichtvoll wie die Sonne, bei ſeiner
Anwendung ergibt ſich jedoch, daß er eitel Dunſt war;
jetzt wieder bewährt ſich einer eine Zeit lang ſcheinbar
trefflich, wir preiſen ihn als treuen Diener, plötzlich findet
ſich, daß der treue Diener uns ſchmählich beſtohlen hat.
Curirt nun ein Arzt an einem ſolchen Patienten erfolglos
herum, ſo ſchafft dieſer ihn ab, wendet ſich an einen zweiten,
dritten, vierten. Hat er daheim alle namhaften Doctoren
vergebens durchconſultirt, ſo verſucht er es in anderen
Städten, wirft ſich dieſer und jener neuen Methode in die
Arme. Dabei vergeht viel Zeit, und das iſt der erſte
Gewinn, denn, um Ihnen nun auch mit Sprüchwörtern
zu dienen, „kommt Zeit, kommt Rath“, „Zeit heilt Alles“.
Der zweite Gewinn iſt, daß ſein Grimm ſich nur gegen
einen Arzt nach dem andern, zuletzt gegen alle Aerzte, alſo
immer nur nach außen richtet, nicht gegen ſich ſelbſt. Im
Hintergrunde ſeiner angſtvollen Seele ſitzt immer noch die
Hoffnung, die ihm Muth und Troſt zuſpricht. Du haſt das
Deinige gethan, ſagt er ſich, keine Koſten, keine Mühe
geſcheut, vielleicht findet ſich doch noch der rechte Mann, der
Dir hilft. Denken wir uns nun aber in die Lage eines
Menſchen, der ſeine wirkliche, oder gar ſeine eingebildete
Krankheit ſelbſt curiren will, wie er aus Büchern ſich Rath
holt, hin und her experimentirt, grübelt und griesgrämelt,
Tagebücher und Tabellen führt über ſeine täglichen Wahr-
nehmungen, Empfindungen, Leiſtungen und Leiden, vier
Abſtufungen von Unterjacken und Ueberröcken hat u. ſ. w.,
ſo haben wir ein Stück Menſchheit vor uns, das zu all
[97]IV. Hypochondriſche Studien — Ode an die Nerven.
ſeinem ſonſtigen realen und idealen Elend noch mit dem
Fluche der Lächerlichkeit beladen iſt und deſſen Freunde, deſſen
Familie, ja deſſen Dienſtboten die Achſeln über ihn zucken.
Das Schlimmſte bei alle dem iſt, daß der Gegenſtand der
Beobachtung zugleich den Träger für das Medium derſelben
bildet, mit anderen Worten, daß die Nerven das Gehirn
beherrſchen, folglich Urtheilsvermögen, Gedächtniß, Stimmung
und Alles, was damit zuſammenhängt, fortwährend be-
einfluſſen. Wo ſoll unter ſolchen Umſtänden Klarheit und
Gegenſtändlichkeit herkommen? Die Schüſſe eines Kanonen-
bootes auf ſtürmiſch bewegter See und bei trüber Atmoſphäre
mögen kaum ihres Zieles unſicherer ſein, als die Wahr-
nehmungen und Schlüſſe eines Leidenden dieſer Gattung.
Ich beſchwöre Sie, laſſen Sie ab von Ihren hypochondriſchen
Studien, ſuchen Sie lieber Ihre durch ein Uebermaß von
Arbeit erzürnten Nerven durch Müßiggang zu verſöhnen.


— Jetzt merkte ich erſt an den Mienen meines
Akademikers, daß er ſich einen Scherz mit mir erlaubt hatte.
Ich möchte, ſagte er, Sie umarmen, ſo freue ich mich, in
Ihren Anſichten die meinigen beſtätigt zu finden. Nur dieſe
herauszulocken, war es mir zu thun, denn ich ahnte, daß
auch Sie in dem Gebiete Erfahrungen haben. Als ich mich
darauf in Boxerpoſitur ſetzte und mit der Fauſt ſein Ganglien-
ſyſtem bedrohte, zog er ſich um Pardon bittend zurück und
nahm ein Blatt aus der Brieftaſche.


— Ich greife in die Leier, um den Zorn des britiſchen
Leoparden zu beſänftigen. Hierauf las er mir ſeine
„Ode an die Nerven“ vor, von welcher ich jetzt nur noch
wenig berichten kann. Das Geflecht der Nerven, in dem
unſer leibliches und geiſtiges Ich verſtrickt iſt, wurde mit
dem Netze des Knaben verglichen, in dem er Schmetterlinge
fängt, dann mit den Netzen, die dem Vogelſteller, dem
Fiſcher, der Spinne eine Quelle des Lebens und des Genuſſes
ſind. Sodann wurden die Nerven unſeres Erdballs, die
Telegraphen, betrachtet, die uns bald zum Leitfaden, bald
7
[98]IV. Schroffe Uebergänge — Wie neu geboren.
zum Narrenſeil werden, die Frieden, Krieg, Leben, Tod,
Wahrheit, Lüge durch die Welt ſchleudern. Von Jahr zu Jahr
ſpanne ſich das unheimliche Gewebe weiter und weiter über
unſren Planeten aus, ziehe ſeine Maſchen enger und enger.
Den Schluß machte ein ſehr phantaſtiſch ausgeführtes Bild
des Welttreibens in tauſend Jahren. —


In die von meinem akademiſchen Freunde mit dem
Namen „Läuferwahnſinn“ belegte Geiſteskrankheit fallen nicht
ſelten auch Badegäſte und zwar eingeſtändlich „aus purer
Langerweile“, in der Meinung, weil ihre Muskeln ſich bereit-
willig dazu hergeben, daß auch ihre Nerven ſich wohl dabei
befänden. So laufen und laufen ſie, Einigen gelingt es,
eine kurze Weile der Langenweile zu entlaufen, Anderen
bleibt ſie hart auf den Ferſen, was aber Allen ſicher nach-
folgt, iſt die Strafe. Ihr Organismus würde es vielleicht
dankbar aufgenommen haben, wenn ſie daſſelbe Maß von
körperlicher Anſtrengung erſt nach längerer, ſtufenweiſe fort-
ſchreitender Vorübung hätten eintreten laſſen, ſo aber pro-
teſtirt er dagegen, denn unſere Nerven laſſen ſich Manches
abſchmeicheln, abbitten, ablocken, ſelten jedoch etwas ab-
trotzen, abjagen, mit Gewalt entreißen, wie das ſehr ge-
ſunden, kräftigen Naturen gelingt, die dann ihr Verfahren
als Schutz- und Heilmittel für Alle anſehen und anpreiſen,
geringſchätzig auf jeden herabblickend, der es nicht wie
ſie macht.


Uebergänge aus langjährig gewohnter Lebensweiſe
in eine neue, ſei dieſe an ſich noch ſo gut und zweckmäßig
und jene noch ſo naturwidrig, pflegen, wenn ſie ſchroff
und plötzlich
ſtattfinden, keineswegs immer, am ſeltenſten
im ſpäteren Lebensalter, heilſam einzuwirken. Nicht ſelten
iſt es ſcheinbar der Fall: der Patient fühlt ſich „wie neu-
geboren“ und glaubt ſeine alte Reizbarkeit und ſeinen Trüb-
ſinn ein für allemal beſeitigt, früher oder ſpäter erfolgt aber
der Rückſchlag in eine Depreſſion, tiefer als zuvor: — ein
[99]IV. Schroffe Uebergänge — Aſchermittwoch.
Zeichen, daß der neue Zuſtand nicht Geneſung war, ſondern
ein höherer Grad krankhafter Erregung, auf welche dann
ſtets eine um ſo heftigere Reaction folgt.


Wer eine Bade-, Trink-, Reiſe-, Luftcur vorhat, thut
immer wohl, ſich der durch dieſelbe bedingten Lebensweiſe
ſchon vorher ſchrittweiſe zu nähern. Gerade das Umgekehrte
geſchieht in der Regel. Der Patient iſt überzeugt, daß die
bisherigen Verſtöße gegen eine vernünftige Diät — mit
dieſem Worte iſt hier nicht blos Eſſen und Trinken gemeint —
ſeine Geſundheit untergraben und ſeine Zukunft gefährdet
hat, nichtsdeſtoweniger ſetzt er die Gewohnheit fort, ſteigert
ſie ſogar, denn das Bad macht ja doch bald alles wieder gut,
redet er ſich ein. Ganz wie in alter Zeit Heiden, um ihre
Seele zu retten, den Uebertritt zum Chriſtenthume beſchloſſen,
die Taufe aber verſchoben, um den Becher der Luſt erſt noch
gründlich zu leeren. Dieſelbe Anſchauung finden wir noch
an anderen Stellen wieder. Oft hört man z. B. die
Aeußerung: heute kann ich mir ſchon etwas bieten, denn er-
kältet bin ich ohnehin dermaßen, daß es gar nicht ärger
werden kann.


— Alles ſehr menſchlich, wird entgegnet, jeder Abſchied
will gefeiert ſein, der Abſchied von alten Freunden wie von
alten Gewohnheiten, mögen dieſe ſich auch nicht als Freunde
erwieſen haben. — Nun meinetwegen. Nur beklagt Euch
nicht, Ihr Herren Abſchiednehmer, wenn der Aſchermittwoch
Euch um ſo ſchwerer fällt, je toller Ihr die Ausgelaſſenheit
am Faſchingsdienstag getrieben; beklagt Euch nicht, wenn
Jahre, Jahrzehnde ſtrenger Buße nicht ſühnen, was Ihr
gerade dann noch ſündigtet, als Ihr es ſchon mit Bewußtſein
der Schuld thatet.


Auch im geiſtigen Gebiete können Manche die ſchroffen
Uebergänge nicht vertragen, z. B. aus langjähriger an-
geſtrengter, zerrüttender Thätigkeit in völlige Ruhe, vielmehr
gerathen ſie dadurch in Grillenfängerei oder auf ſonſtige
7*
[100]IV. Aſchermittwoch.
Abwege. Mögen ſie nun vier Wochen oder ſieben Monate
zu ihren Erholungsferien haben, ſie würden gewiß cur-
gemäßer handeln, wenn ſie die Uebergänge vor- und rück-
wärts, wie die Maler ſagen, etwas abtönten, u. A. ein
Stück ihres alten oder eines ähnlichen Tagewerks mit
herübernähmen in den Anfang des neuen Interims. Gifte
in geringer Doſis ſind oft gute Heilmittel.


Die beiden vornehmſten aller Mittel, rebelliſche Ner-
ven zur Botmäßigkeit zurückzuführen, Luftveränderung und
Ruhe, werden wir im folgenden Abſchnitte näher be-
trachten.


[[101]]

V.


Luftcurorte und Mineralquellen — der neue Souverän — Bedürfniß und Ueber-
fluß — Stiftungen — wohlfeile Unſterblichkeit — nicht gerechtfertigte Anlagen —
Wege — Lichtungen — Schatten — Sitzen im Freien — Bänke — Wünſche und
Beſchwerden — Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen — Dorfgeſchichten —
häusliche Einrichtungen — unwillkommene Sinnesreize — Curvorſtände —
Ohrenſchinder — muſikaliſche Drangſale — Lenz und Frühſommer — bei knapper
Zeit — böſes Wetter — farbenblinde Augen — Meteorologiſches — Hochſommer-
glut — für und gegen große und kleine Bäder — naturaliſtiſche Luftcurverſuche in
der Wildniß — Ventilation — Kaffeehäuſer — Bierſtuben — Siedelungsverſuche
— ſociale Stellung des Kranken — Kunſt, mit Anſtand und guter Laune krank
zu ſein — geſunder Menſchenverſtand — Tagesordnung — wie geht’s? —
der junge Nachwuchs der Curorte — Laienbrief an die H. H. D. D. loci
Elementarunterricht — Geheimeräthe — Orden — Haupt- und Nebenſachen —
romantiſche Verführungen — Verſtand und Erfahrung — Reiſequeckſilber —
Spielart von Touriſt und Curgaſt — Fahrſucht — natürliche Grenzen — gerecht
und vollkommen — Geſtändniſſe — Schmuggeleien — Reiſecurgäſte und ihre
böſen touriſtiſchen Gelüſte — Reiſejagden — Scheu vor Wiederholungen und
Rückwegen — Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen — Jahreszeit —
Curzeitvergeudung — drückende Nahrungsſorgen — Balneologie und Klima-
tologie — Laienwünſche — monographiſche Lücken — Durchſchnittstemperatur —
zur Diät der Seele — Geduld, Geduld, Geduld! — Penſionsweſen — Winter-
curorte — Kündigungsrecht — eine Penſionsmutter — mein Stubennachbar —
Nordlicht — Satzungen — Zug nach dem Süden — Troſt für Zurückbleibende —
ewiger Frühling — deutſcher und ſchweizer Unternehmungsgeiſt — ſehr ent-
täuſcht — Hoffnungen und Wünſche — an junge Aerzte — Erforderniſſe —
Meeresküſte — ſpazieren klettern — verlorenes Paradies — Oertliches — Tur-
nen — ernſte Ueberlegungen — Waffen gegen Langeweile — Geographie der
Langenweile — Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang — Zerſtreuungen,
Zeitvertreibe, Beluſtigungen — Rentierleben — Rentiers und Sinecuriſten —
Tröſteinſamkeit — Zucht der Phantaſie — am Abgrunde — Stundenplan —
Schutz der Arbeit und Bürgſchaften der Freiheit — Sonnenſchirm für Cur-
gäſte — Metallklammern.


Mehr und mehr befeſtigt ſich in unſerer Zeit die Ueber-
zeugung, daß eine Menge Stoffe, welche einſt für Heilmittel
[102]V. Der neue Souverän — Luftcurorte und Mineralquellen.
galten, keine ſind, und daß bei den althergebrachten Methoden
die Apotheker beſſer als die Kranken gedeihen. So gewöhnt
man ſich, Geneſung weniger in Büchſen, Käſten und Gläſern
mit lateiniſchen Aufſchriften zu ſuchen, als dort, wo alle jene
Kräuter und Wurzeln wuchſen: in der freien Natur, in Feld
und Flur, Gebirg und Wald. Die materia medica ſchrumpft
zuſammen, ihr größter Theil verflüchtigt ſich, hat ſich bereits
aufgelöſt in — Luft. Der enge Kreis der „ſouveränen“
Heilmittel hat ſich dieſem Parvenü von geſtern öffnen, wie zu
Anfang unſres Jahrhunderts Kaiſer und Könige ſich haben
entſchließen müſſen, einen Emporkömmling als ihres Gleichen,
ja als primus inter pares anzuerkennen und Familien-
verbindungen mit ihm ſich zur Ehre zu ſchätzen. An der
Wiege des Neugeborenen ſtanden die Allopathen, Homöopathen,
Hydropathen, blickten ſcheel auf einander, konnten ihm aber
ihren Segen nicht vorenthalten. Wer weiß, ob nicht ihre
Eiferſucht erregt worden wäre, wenn die Eltern dem Kinde
einen gelehrten griechiſchen Namen gegeben hätten, z. B.
Aëropathie. Das thaten ſie aber klüglich nicht, ſondern gaben
gar keinen Namen, ließen ihn vielmehr in der Luft ſchweben.
So wuchs das Kind unvermerkt empor zum Mann und zum
Eroberer. Raſtlos wie der alte Napoleon, iſt auch der Dynaſt
neueſten Datums, gleichfalls Sohn der Revolution (in der
Medicin), geſchäftig, neue Throne für ſich und die Seinigen
aufzurichten: jedes Jahr treten neue Oertlichkeiten in die
Reihe der Heilbäder, die ihre Legitimation nicht auf Mineral-
quellen gründen, ſondern lediglich oder doch vorzugsweiſe auf
gute Luft (in der Schweiz allein zählt man ſchon jetzt beinahe
200 Luftcurorte), nebenbei erwähnend, daß ſie auch mit
andern Curmitteln, wie den und den Mineralwäſſern, natür-
lichen und künſtlichen, Kaltwaſſer, Molken, Trauben, Erd-
beeren, Kräuterſäften, Inhalations-, pneumatiſchen, elektri-
ſchen Apparaten, Sool-, Malz-, Kleien-, Mutterlaugen-,
Loh-, Kalk-, Kiefernadel- und Moorbädern, römiſchen und
ruſſiſchen Dampfbädern, ſchwediſcher und Schreber’ſcher Heil-
[103]V. Bedürfniß und Ueberfluß — Stiftungen.
gymnaſtik, deutſchen Turnanſtalten ꝛc. aufwarten können.
Ja, großmächtige Trink- und Badequellen, deren Ruhm
zurückdatirt bis in altrömiſche Kaiſerzeit, verſchmähen es
nicht, ſich zugleich als Luftbäder zu empfehlen. Kurz, die
Machtſtellung des neuen Souveräns iſt allſeitig anerkannt,
befeſtigt, ſeine Zukunft geſichert. Auch Goethe, ſo ſehr er
den Karlsbader Mineralquellen zugethan war, wußte, daß
man ſich im „Thau der Berge“ geſund baden könne, und
Guſtav Schwab räth:


Geh’ in ein Bad, doch nicht um da zu baden,

Zum Brunnen, doch das Glas nicht an den Mund,

Viel lieber laß zum Firnewein Dich laden,

Hinab zur Kühle dort im Felſengrund,

Empor im Schweiß auf ſteilen Tannenpfaden,

Lern’ wieder leben und du wirſt geſund.

Betrachten wir nun aber die Reſidenzen des neuen Sou-
veräns, ſo zeigt ſich, daß es da in vielen recht windig aus-
ſieht. Nur zu oft fehlt es gerade am Nothwendigen, während
man allerhand Ueberflüſſigkeiten auf Koſten der erſten Be-
dürfniſſe herbeizuſchaffen wußte: ein Zeichen, daß es weniger
an Geld und gutem Willen, als an Ueberlegung und Er-
fahrung gebricht. Was hier unter Nothwendigem verſtanden
iſt, wird weiterhin hinlänglich erhellen, kurz und bündig läßt
es ſich in abstracto nicht wohl ſagen, weil für den einen Ort
ein Bedürfniß ſein kann, was für den andern entbehrlich iſt,
und eine Prüfung der einzelnen Curorte außerhalb der Auf-
gabe dieſes Büchleins liegt. Was nicht darunter zu rechnen,
iſt deſto leichter geſagt. Es ſind zunächſt perſönliche Artig-
keiten und Liebedienereien, jene Unzahl von Dedications-
tafeln, Gedenkſäulen, Büſten, Medaillons, von denen unſre
Badeorte ſtrotzen und in deren Anlage Ortsvorſtände und
Fremde wetteifern. Auf öffentliche Koſten ſollte derlei über-
haupt nie angelegt werden, denn jeder dafür verausgabte
Gulden wäre vortheilhafter für die Beſucher und die ein-
heimiſchen Armen auf Anlage neuer und Verbeſſerung alter
[104]V. Stiftungen — wohlfeile Unſterblichkeit.
Wege und auf Ruhebänke verwandt — um nur gleich ein
Stück vom Nothwendigſten zu nennen.


Gäſten, welche das Bedürfniß fühlen, ihrer Dankbarkeit
für den heilbringenden Ort einen dauernden Ausdruck zu
geben, ſoll ein beſcheidenes Wort der Mahnung nicht vor-
enthalten werden. In alter Zeit wurden im Drange dieſes
Gefühls Kirchen, Klöſter, Capellen, Kreuze errichtet, je nach
Rang und Mitteln des Stifters, meiſtens ein Zeugniß, daß die-
ſer dabei nicht blos an ſein liebes Ich und deſſen Verherrlichung
dachte. Derſelbe Sinn ſucht in neuerer Zeit ſich zu bethätigen
durch Stiftung eines Krankenhauſes oder ein Geldgeſchenk für
öffentliche Zwecke. Wünſcht der Geneſene etwas zu thun, das
Beſuchern aus allen Claſſen zu Gute kommt, ſo läßt er einen
Waldweg bahnen, oder baut eine Zufluchtsſtätte gegen Regen
(weniger auf entlegenen, ſelten beſuchten Gipfeln, ſondern vor-
züglich an Stellen, wo ſie der Maſſe der Spaziergänger zugute
kommt), oder nur eine Bank. Findet er jedoch für ſeine Ge-
fühle und Gedanken keinen andern Ausdruck, als vergoldete
Worte in Marmor oder Granit, die nur Vorwand ſcheinen,
auch ſeine werthe Adreſſe bekannt zu geben, ſo ſtellt er ſich
damit auf eine geiſtige Rangſtufe mit den Beſitzern der Hände,
welche in ihren Namen dermaßen verliebt ſind, daß ſie ihn
gern in jede Rinde ſchnitten, in jeden Stein grüben und auf
jedes Brett ſchrieben. ME SAXA LOQVVNTVR! Könn-
ten jene Liebhaber wohlfeiler Unſterblichkeit nur einige der
Bemerkungen hören, die ihre ſteinerne Selbſtgefälligkeit her-
vorruft, ſo würden ſie gewiß für ihre Lyrik die mindere
Oeffentlichkeit des Druckpapiers vorgezogen haben. Man
denke ſich nur in die Stimmung von Leuten, denen es obliegt,
ein Dutzend täglich wiederkehrender Mußeſtunden auszufüllen!
Schlägt das Heilverfahren gut an, ſo iſt der Gaſt luſtig,
ausgelaſſen, rückſichtslos; will’s mit ihm nicht recht vorwärts,
ſo ſucht er ſich luſtig zu machen über Alles, was ihm in den
Weg kommt, und iſt noch rückſichtsloſer. Seine gute wie ſeine
üble Laune läßt er beſonders gern aus an Monumenten der
[105]V. Nicht gerechtfertigte Anlagen — Wege.
Liebe und Freundſchaft, deren Benennungen ihren Urſprung
nicht verheimlichen, oft ſchriftlich, was die zahlreichen Epi-
gramme bezeugen auf Tiſchen, Bänken und Wänden der
A- bis Z-Sitze, -Blicke, -Einſamkeiten, -Glorietten, -Himmel-
reichs, -Belvederen, -Ruhen, -Lieblingsplätzchen, -Idyllen ꝛc.,
Gloſſen, welche fort und fort ausgekratzt oder übertüncht wer-
den, aber immer wiedererſtehen, wie die Pilze im Tannicht
daneben. Stiftungsluſtigen iſt deshalb zu rathen, ihre Frei-
gebigkeit minder in Worten als in Werken zu bethätigen.


Ebenſowenig zu den gerechtfertigten Anlagen, wenn nicht
Mittel im Ueberfluß vorhanden und für alles Nothwendige,
Nützliche und Naheliegende geſorgt iſt, gehören glänzende
Ausſtattung der Geſellſchaftsräume, Fresken, Statuen,
Büſten und Waſſerkünſte, theure exotiſche Pflanzen, Garten-
novitäten und Raritäten. Die Lieblingsblume gewiſſer Vor-
ſtände und ihre Wahlverwandte iſt die prunkende, ſteife Geor-
gine, von deren neueſten etikettirten Schattirungen alle Beete
ſtrotzen, während die dankbare, beſcheidene, anſpruchsloſe
Reſeda, desgleichen Levkoie, Aurikel, Geisblatt und viele
andre liebe Jugendfreunde bäuriſch und altfränkiſch gefunden
werden und verbannt ſind. Selbſt die herrliche blaßrothe
Centifolie iſt ſchon nahezu verdrängt von hochrothen Gärtner-
neuheiten mit franzöſiſchen Generals- und Banquiersnamen,
deren Ruhm und Anſehn längſt verblichen.


Bei Anlagen der Wege wird ferner zu ſelten unter-
ſchieden zwiſchen Haupt- und Nebenſachen. Wo reiche Hilfs-
quellen zu Gebote ſtehen, mag man ſogenannte Promenaden-
wege auf alle benachbarten Bergſpitzen führen, die erſte Sorge
ſoll aber ſtets ſein, wenigſtens Einen Pfad zu bauen, der in
möglichſt ebener Linie und im Walde eine tüchtige Strecke
weit fortläuft und nahe am Orte beginnt, denn ſchwächere
Kräfte müſſen ſonſt auf die Labung eines Waldſpaziergangs
ganz verzichten. Rüſtige Wanderfüße pflegen auch durch
rauhe Pfade ſich nicht abhalten zu laſſen, Berge mit Fern-
ſichten zu erklimmen. Mehre deutſche Badeorte erſten Ranges
[106]V. Wege — Waldreviere, Lichtungen, Schatten.
wären zu nennen, in denen die benachbarten Berge wimmeln
von Wegen, die eigens für Curgäſte angelegt wurden, kein
einziger aber auch nur fünf Minuten weit auf gleicher Höhe
gehalten iſt, ſondern alle, als ob eine Ziege ſie vorgezeichnet
hätte, muthwillig bergauf und ab laufen. Endlich ſollte die
leidliche Inſtandhaltung der alten Promenadenwege der An-
lage neuer immer vorgehen. Eine gute Pflege duldet darauf
nicht Mineralienſammlungen mit Stücken verſchiedenſten
Calibers bis zur Größe der Hühnereier, ebenſowenig dicke
Schichten Kies, in denen der Fuß einſinkt wie der des Storchs
auf dem Moor, ſchont ferner nicht Zeugniſſe neptuniſcher Ein-
wirkungen, wie blosgelegte Felsriffe, Baumwurzeln und
ſchluchtartige Aushöhlungen. Daß das Nothwendige ohne
großen Aufwand zu erreichen iſt, beweiſen einige wenig ge-
nannte Oertchen, wo aber Männer im Vorſtand ſind, die
Zeit, Luſt und Fähigkeit haben, ſich der öffentlichen Angelegen-
heiten anzunehmen und die verfügbaren mäßigen Mittel nicht
für Allotrien vertändeln.


Ausgedehnte Waldreviere ſind bekanntlich in Deutſchland
wie im ganzen ſüdlichen und weſtlichen Europa ſchon an ſich
nicht häufig und innerhalb derſelben der zum mediciniſchen
Gebrauch günſtig gelegenen und einigermaßen eingerichteten
Orte ungemein wenige. Um ſo mehr iſt es zu bedauern,
daß in dieſen faſt durchweg bei Lichtungen lediglich der
forſtliche Geſichtspunkt in Anwendung kommt, und ſo wenig
Rückſicht genommen wird auf die Bedürfniſſe des Curorts
als ſolchen. So gut eine Anzahl römiſcher Maler den Fürſten
Chigi in Ariccia zu beſtimmen wußte, ſeine herrlichen Park-
bäume, die bereits zum Beil verurtheilt waren, zu ſchonen,
ſo gut, ſollte man meinen, könnte auch manchem Promenaden-
wege der Schatten gerettet werden, wenn Vorſtände,
Aerzte, Hausbeſitzer und Beſucher in geeigneten Fällen zu
einer Petition bei der betreffenden Behörde zuſammenträten.
Die finanzielle Einbuße kann nur ſehr unerheblich ſein, denn
es handelt ſich blos darum, bei Holzſchlägen diejenige ſchmale
[107]V. Sitzen im Freien — Bänke — Wünſche und Beſchwerden.
Reihe alter Bäume, welche den Weg in den heißeſten Stunden
beſchattet, ſo lange ſtehen zu laſſen, bis der Nachwuchs ſie
vertritt. Forſtmänner wiſſen vielleicht noch in anderer Weiſe
Rath zu ſchaffen.


Zu Wegweiſern genügen Brettchen, an einen Baum
genagelt oder, wo ein Felsblock vorhanden, eingemeißelt.
Je mehr die leitende Behörde ſolcher Inſchriften auf Brettern
und Steinen anbringen läßt, je mehr „Steine im Brett“ wird
ſie bei ihren Gäſten haben, je wärmer werden dieſe daheim
ihre Sorgfalt rühmen und je zahlreicheren Beſuch nach-
ziehen.


Für die Geneſung ebenſo wichtig als Körperbewegung iſt
die Ruhe, der ſitzende Aufenthalt im Freien, darum
kann in der Zahl der Bänke des Guten nie zu viel gethan
werden. Eichenholz und Gußeiſen iſt nicht erforderlich, nur
Lehnen müſſen ſie haben und auf Wieſen- und Waldwege ſo
vertheilt ſein, daß ſie einige Auswahl bieten, je nach der
Beſchaffenheit des Wetters, ſchattig, ſonnig, windgeſchützt
oder frei liegend.


Hier und da geht die Fürſorge für Ankommende ſo weit,
daß ein Verzeichniß bereit liegt, aus dem ſie ohne viel Laufen
und Fragen ſehen können, welche Wohnungen zur Verfügung
ſtehen, eine Aufmerkſamkeit, die dem erſten Eindruck mehr zu
ſtatten kommt, als ein Muſikſtändchen. Zuweilen ſind Bücher
vorhanden für Beſchwerden und Wünſche, anderswo werden
ſie durch Anſchläge am ſchwarzen Brett des Curhauſes kund-
gethan, oder durch Rundſchreiben mit geſammelten Unter-
ſchriften. Viel Gebrauch wird von alledem nicht gemacht,
weil man ſich ſcheut, mit ſeiner Perſon dafür einzutreten.
Ein eifriger Vorſtand, von der Ahnung geleitet, daß unter
den anweſenden Fremden noch „ſo manches Sehnen, das nicht
laut ſein will“ vorhanden ſein möge, und mit dem Wunſche,
dieſes herauszulocken, iſt einmal auf die Idee verfallen, einen
Brief- und Zettelkaſten für derlei anzulegen, eine Einrichtung,
die beiläufig regiſtrirt ſein mag.


[108]V. Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen.

Die vorangegangenen Betrachtungen hatten mehr Plätze
im Auge, die ſchon ſeit geraumer Zeit alle Sommer eine
größere Anzahl Heilungſuchender beherbergen, deren Wünſche
zu erforſchen und zu befriedigen einer Behörde oder einem
Vereine obliegt. An dieſe größeren, bekannteren reihen ſich
alljährlich neue in den verſchiedenſten Stadien der Entwicke-
lung. Kein Wunder! — Der Drang, Athem zu ſchöpfen,
wird mächtiger und allgemeiner, die Städte werden größer,
volkreicher, ihre Häuſer ſind in Großſtädten ſchon zu vier-
ſtöckigen Miethscaſernen emporgewachſen, die wenigen von der
Axt verſchonten Bäume innerhalb der Stadt kränkeln und ſter-
ben an Blutvergiftung und Markvertrocknung; Staub, Schorn-
ſteinrauch, Ammoniak, Kohlenſäure, Schwefel- und Phosphor-
waſſerſtoff, Leuchtgas, Petroldünſte und andre tückiſche Gaſe
erfüllen Alles rings umher und — die Eiſenbahnhöfe an
Sommerſonntagen erzählen davon — expediren oder vielmehr
explodiren die halberſtickten Menſchen hinaus auf’s Land.
Zum abnehmenden Wohlbefinden kommen zunehmender Wohl-
ſtand, Raſchheit und Billigkeit des Transports und ſteigern
den centrifugalen Drang. So entſtehen immer neue „Som-
merfriſchen
“. Der hübſche Name iſt Erfindung eines
Landes, das ſich ſonſt nicht durch Erfindungsgeiſt aus-
zeichnet, Tirols.


Die Entſtehungsgeſchichte einer ſolchen Sommerfriſche iſt
etwa die folgende. Zuerſt entdeckt ein Maler, welche Fülle
von landſchaftlichen Reizen ein entlegenes Thal birgt, hört
in der Schenke des nächſten Dörfleins, daß daſelbſt vor ihm
ſchon ein angelnder Engländer verweilt hat, und wird deſſen
Zimmernachfolger. Dieſer erſte Pionier der Cultur hat am
Fenſterkreuz einen Nagel für ſeinen Raſierſpiegel eingeſchlagen,
ſonſt iſt Alles noch auf der Stufe, die unmittelbar nach der
Pfahlbautenperiode eingetreten ſein mag und ſich ſeitdem,
eine Fundgrube für Alterthumsforſcher, unverſehrt erhalten
hat. Auch die Bewohner ſind völlig „frei von Bildung“,
ein körperlich und geiſtig unbeholfenes, aber gutmüthiges,
[109]V. Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen.
ſorgloſes Völkchen, von rührender Anſpruchsloſigkeit in Geld-
ſachen, ſehr unähnlich jenen Händlern und Jodlern, die in
der ganzen Welt umherziehen, ſie duzen, ihre Brüderlichkeit
und Gemüthlichkeit aber hierbei bewenden laſſen. Die An-
weſenheit des Malers geht nicht vorüber ohne verfeinernde
Einflüſſe. Von ihm lernt die Wirthin, deren Bildniß er
mit Kohle auf die Wand gezeichnet hat, daß eine wollene
Pferdedecke in einen Leinenüberzug genäht, dem Bette zum
Vortheil gereicht, daß der Strohſack darunter nicht ſo gebirgig
ſein muß, wie das Land umher, und mehr dergleichen Einzel-
heiten des höheren Raffinements. Der heimgekehrte Maler
erzählt in ſeiner Stammkneipe von den Reizen und der Wohl-
feilheit des Lebens in Sanct X, einer ſeiner literariſchen
Freunde ſucht den Ort auf und ſchildert ihn in einer Zeitung,
darauf hin finden ſich neue Beſucher ein, welche andere in
den folgenden Jahren nachziehen. Mittlerweile züngelt die
Cultur weiter und weiter, binnen fünf Jahren ſind zwei
lebensgefährliche Treppenſtufen ausgebeſſert, auch die Wirths-
leute haben gelernt, leſen und ſchreiben zwar noch nicht, wohl
aber rechnen. Jener Nagel des Engländers war der erſte
zum Sarge ihrer Herzenseinfalt. Schon kommt es vor, daß
ſie gleich zum erſten Male einen nicht in ihrer Mundart
ausgedrückten Satz verſtehen. Schwieriger iſt die Ver-
ſtändigung freilich, wenn es ſich um große Unternehmungen
handelt, wie z. B. Errichtung einer Laube im Obſtgarten,
oder um Beſeitigung eines Balkens, an welchem ſich ſeit
Menſchengedenken alle Erwachſenen, die im Hauſe über-
nachteten, bei ihrem erſten Ausgang am nächſten Morgen
die Stirn blutig geſtoßen haben.


In der That ſcheint der Gedanke in jenem rauhen, ſteilen
Hochgebirg eben ſo mühevoll und langſam als der Wanderfuß
fortzuſchreiten. Michelet nennt die Gebirge die Klöſter des
Geiſtes. Trotzdem dürfen wir Touriſten nicht müde werden,
Saatkörner der Erkenntniß auszuſtreuen, einzelne werden
ſchon aufgehen. Die Langſamkeit, mit der dies zu geſchehen
[110]V. Dorfgeſchichten — häusliche Einrichtungen.
pflegt, ſei uns ein Sporn, um ſo zeitiger damit zu beginnen.
Viel gewonnen wäre ſchon, wenn die Leute nur erſt einmal
einſähen, daß ſie manchen unſrer Wünſche weit leichter ent-
gegenkommen könnten, als ſie meinen; daß uns Vieles gleich-
giltig oder läſtig iſt, worauf ſie Werth legen und umgekehrt.
Ein bemittelter Landmann z. B. beſitzt ein geräumiges Haus
mit viel mehr Zimmern, als er nebſt Familie braucht. Die
nach ſeiner Meinung beſten, nämlich die nach der geräuſch-
vollen, ſtaubigen Straße liegenden, richtet er für Fremde ein,
er, ſeine Familie und das Geſinde begnügt ſich mit den
andern, auf Garten, Wieſen, Felder ſchauenden Zimmern,
die zwar etwas kleiner ſind, dem Miether aber wegen ihrer
Ruhe und Freundlichkeit viel lieber und erſprießlicher ge-
weſen wären. Oder ein ländlicher Wirth, bei dem ſchon
ſeit Jahrzehnden viele Sommergäſte hauſen, hat einen großen
Obſtgarten, baut darin für dieſe einen Pavillon (oberbairiſch:
Salettel), ſucht für ihn aber nicht etwa ein ruhiges, grünes,
„heimeliges“ Plätzchen aus, woran kein Mangel iſt, ſondern
ſtellt ihn hart an die Landſtraße, damit durch vorübergetriebe-
nes Vieh, Wagen und tobende Dorfjugend für „Unter-
haltung“ geſorgt ſei. Legt er noch eine Laube an, ſo muß
ſie dicht an der „luſchtigen“ Kegelbahn ſtehen, oder an einem
Gänſeſtall. Noch Dutzende von Beiſpielen der Art ließen
ſich anführen, die alle beweiſen, daß die Urſache der Miß-
ſtände nicht in Armuth, Geiz oder böſem Willen zu ſuchen iſt.


Den abgehärteten Organen des Landmanns bereitet einen
angenehmen Kitzel, was denen eines kränklichen Großſtädters
eine ausgeſuchte Marter iſt, wie Schüſſe, Peitſchenknall,
Kindergeſchrei, Geknarr von Thürangeln, Schmettern von
Kegelkugeln, überlauter Meinungsaustauſch, Geſang und
Heiterkeit einer Dorfſchenke, Gebrüll, Gebell, Geheul, Ge-
grunz, Geſchnatter großer und kleiner Thiere, alles das be-
läſtigt ihn ſo wenig, als einen Schloſſer ſein Hämmern,
unterhält ihn im Gegentheil, während Stille ihn langweilt.
Seine Nerven ſcheinen an Stärke und Widerſtandskraft mit
[111]V. Unwillkommene Sinnesreize — Curvorſtände.
unterſeeiſchen Kabeln zu wetteifern. Beiläufig bemerkt: die
Majorität der Menſchen kann zur Zeit noch nicht, wie be-
hauptet wird, nervenſchwach ſein, denn ſonſt wäre es uner-
klärlich, daß ſie ſich von der ſtarknervigen Minderheit der-
maßen mißhandeln läßt.


Aehnlich iſt’s im Gebiet des Geruchſinns. Wie ſich
für Ludwig XI. Gefühl der Sicherheit, Rettung aus Gefahr
und befriedigter Rache an Verräthern in dem Geruche ſym-
boliſirten, welchen Leichname verbreiteten, die an den
Bäumen ſeines Schloßparks aufgeknüpft hingen, ſo iſt
für den Bauer der Düngerduft, in dem ſich ihm die Frucht-
barkeit ſeiner Felder verſinnlicht, ein ſtets willkommener
Gefährte. Oft ſieht man deshalb auf Bauerhöfen das
Wohnzimmer der Familie unmittelbar an dem Platze ange-
bracht, der für den Abgang der Ställe beſtimmt iſt, wo
außerdem im Sommer Heere von Fliegen ihr Hauptquartier
haben und durch Patrouillen unabläſſig die inneren Räume
beunruhigen.


Wenn es nun aber auch von Bauern nicht zu verlangen
iſt, ſo ſollte man doch wenigſtens von Curvorſtänden
erwarten, daß ſie wüßten, wie werthvoll, wie nothwendig
Geneſungſuchenden Ruhe iſt, und demgemäß Veranſtal-
tungen träfen. Aber ebenſowenig als Bauern und noch
weniger als Hôteliers (vgl. VI.) denken viele Vorſtände daran.
Wie würde ſonſt z. B. geduldet werden, daß am Eingang
des Hauptſpaziergangs eine Bude für Schießübungen ſteht,
mit obligatem Getrommel und Kanonenſchlägen? Hier und
da beſteht ein polizeiliches Verbot des Peitſchenknallens
innerhalb der Orte, aber nur auf dem Papiere, gehandhabt
wird es nirgend. Iſt unter den Sprechern in Landtagen
und Gemeinden Keiner, der ſich dieſer Miſère einmal an-
nehmen möchte? Viehtreiber, Fuhrleute, Kutſcher, ſobald ſie
anderen Leuten begegnen, ſcheinen einige weithin dröhnende
Salutſchüſſe auf der Peitſche für ihre Höflichkeitspflicht anzu-
ſehen, müßige Straßenbuben ſuchen ſich am liebſten belebte
[112]V. Ohrenſchinder.
Plätze und Promenaden für ihre Knallübungen aus, und kein
Arm der Behörde ſtört ſie. Nächſt dieſen erbarmungsloſeſten
aller Ohrenſchinder gibt es aber noch eine Legion bös-
artiger anderer. Man braucht in der That nicht Schopen-
hauer’s
Weltanſicht zu theilen, um ihm doch aufrichtig beizu-
ſtimmen in dem, was er über die „Verſchwörung der Hand-
arbeit gegen die Kopfarbeit“ ſagt *).


Wo fange ich an und wo höre ich auf, um alle Arten
von Attentaten aufzuzählen, die empfindliche Ohren und
Nerven in Stadt und Land zu erdulden haben! Soll ich eine
Eintheilung verſuchen in tägliche und nächtliche Ruheſtörer,
in berufsmäßige, gedankenloſe, muth- und böswillige? —
Manche Behörden widmen der Sache eine dankenswerthe
Fürſorge, ſo z. B. erinnere ich mich, daß in W. durch öffent-
lichen Aufruf die Dienſtboten ermahnt wurden, ſich alles
unnöthigen Lärmens zu enthalten und Abends nach neun
Uhr hübſch zu Hauſe zu bleiben. Ein Gegenſtück dazu bildet
die Polizei in B., welche nicht Auge noch Ohr hat für
Straßenunfug von Bauerburſchen, Kindern und Hunden, nur
ſtreng darauf hält, daß jeder Droſchkenkutſcher beim Fahren
weiße Handſchuhe angezogen hat, ihre ganze Thätigkeit ſcheint
ſich darin zu erſchöpfen.


Kleinere Curorte würden auch ihr eigenes Intereſſe för-
[113]V. Muſikaliſche Drangſale — Lenz und Frühſommer.
dern, wenn ſie, von dem leidigen Vorurtheil ablaſſend, daß
ſelbſt die ſchlechteſte Muſik immer noch beſſer ſei, als keine,
vorläufig ganz auf Orcheſter verzichteten und die erſparte
Summe nützlich anwendeten. Ein einziger Gaſt, der den
Ort befriedigt verläßt, iſt eine wirkſamere Reclame für ihn,
als alle Inſtrumentaleffecte der Muſikbanden (und der Zei-
tungsanzeigen). Jene Vorſtände bedenken nicht, daß unter
den Ankömmlingen Viele ſind, die verwöhnte, empfindliche
Ohren mitbringen, muſikaliſche Genüſſe und Drangſale den
ganzen Winter hindurch zur Genüge gehabt haben, einſchließ-
lich der beiden Klaviere im oberen und unteren Stockwerk
ihres Hauſes, auf denen Kinder und Erwachſene ihre Finger
und die Geduld der übrigen Hausbewohner Tag für Tag
bis zur Erſchöpfung übten; ſie bedenken nicht, daß ſie an der
Wohlfahrt ihres Landes einen Frevel begehen, wenn ſie hart-
ſchaffende Leute, Hände, die für nützliche und ehrenwerthe
Arbeiten am Ambos, in der Scheune und am Pfluge geboren
und erzogen ſind, dieſen entfremden und ſie verleiten, mehre
Tagesſtunden durch Poſaunen, Trompeten, Hörner und Kla-
rinetten ſchnöde in den Wind zu blaſen, was überdies nur zu
oft auf ihr ferneres Leben den Einfluß hat, wie wenn junge
Mädchen ſich einer Seiltänzerbande anſchließen oder Kellne-
rinnen in einer Branntweinſchenke werden — ganz zu ge-
ſchweigen des Klangs der Inſtrumente und der Wahl der
Tonſtücke! — Auch beſſere Gartenorcheſter ſollten ſtets ſo
angebracht ſein, daß Jeder ihre unmittelbarſte Nähe meiden
kann.


In Bädern, die ſchon auf einer höheren Entwickelungs-
ſtufe ſtehen und im Hochſommer überfüllt ſind, wiſſen die
Inſerate der Vorſtände in der beredteſten Weiſe die Reize
ihres Lenzes und Frühſommers zu ſchildern und zu ihrem
Genuß die erholungsbedürftige Menſchheit einzuladen. Leider
vergeſſen ſie aber — wie es zerſtreuten Ehemännern begegnet,
die, ohne ihre Frauen vorher zu benachrichtigen, zu deren
Schrecken und Betrübniß plötzlich Freunde mit zu Tiſch
8
[114]V. Lenz und Frühſommer — Frühkommen.
bringen — die Einwohnerſchaft ihres Orts davon in Kennt-
niß und dafür in Trab zu ſetzen. So erſcheint denn nun
der eine oder andere vertrauensvolle Fremdling. Er erwägt:
regneriſche Tage habe ich allerdings mehr zu erwarten, als
ſpäter, dafür aber „beut die Flur das friſche Grün“ weit
ſchöner, als das ganze übrige Jahr hindurch, drückende Hitze
iſt nicht zu befürchten, die beſten Wohnungen ſind noch zu
haben, Alles iſt billiger, als ſpäter, ich finde eine an Zahl
geringe, doch um ſo traulichere Geſellſchaft und meine Frau
kann einige Kleider weniger mitnehmen. Er reiſt hin, hat
indeſſen die größte Mühe, nur zwei fertig eingerichtete Zimmer
zu finden. Zu rüſten haben die Leute theils noch gar nicht,
theils eben erſt begonnen, da wird gepflaſtert, gehämmert,
getüncht, tapeziert, Alles duftet nach Lack, Firniß, Kleiſter,
beſſere Mittagstiſche gibts noch nicht, geſellige Anſprache auch
nicht, die Einheimiſchen ſtarren den Ankömmling verdutzt an,
die größeren öffentlichen Locale haben ſich gegen ihn in Ver-
theidigungszuſtand geſetzt, Barricaden von hoch übereinander
gethürmten Tiſchen und Stühlen und eine Eiskelleratmoſphäre
empfangen ihn, wenn er die Thür eines Gartenſaals öffnet,
kurz Alles ruft ihm zu: Unglücklicher, was willſt du denn
nur jetzt ſchon?


Nichtsdeſtoweniger hat das Frühkommen erhebliche
Vortheile, und Allen, die in der Zeit unbeſchränkt ſind und
lange bleiben wollen, iſt zu rathen, etwas vor der Saiſon
einzutreffen und die kleinen Laſten der erſten Zeit zu tragen,
denn der deutſche Lenz und Frühſommer ſind in guter Laune
liebenswürdiger und wohlthätiger, als Juli und Auguſt, und
der Vortheil einer paſſenden Wohnung für die ganze Dauer
des Aufenthalts fällt in die Wagſchale. Allgemach fängt man
ſchon an, das einzuſehen, und es wird hoffentlich nicht mehr
lange dauern, bis, zum Vortheile Aller, die naturdurſtige
Menſchheit, anſtatt fünf Hochſommerwochen ſich gegenſeitig
eine erdrückende Concurrenz zu machen, auch von der ver-
wendbaren Zeit vorher und nachher Beſitz ergreift.


[115]V. Bei knapper Zeit — böſes Wetter.

Je knapper die aufzuwendende Zeit iſt, je vorſichtiger
wähle man den Aufenthalt und ſuche ohne Nothwendigkeit
nicht Oertlichkeiten auf, die allzuſehr von Gunſt und Ungunſt
des Wetters abhängig ſind. In einzelnen Krankheitsfällen
mag eine beſtimmte Quelle „angezeigt“ und dieſe durch keine
andere zu erſetzen ſein, dem Hilfeſuchenden bleibt dann, wenn
der Ruf dem Orte ſehr viel böſes Wetter zuſchreibt, nur
übrig, ſich mit Lectüre, warmen Kleidern, Ueberſchuhen und
waſſerdichter Geduld auszurüſten. Auch die ſo und ſoviel
Tauſend Fuß hohe Berglage mag zuweilen von entſcheidender
Wichtigkeit ſein, gemeiniglich handelt es ſich jedoch in erſter
Linie gar nicht um ſolche Specialitäten, und für die Wahl
iſt ein weiter Spielraum geboten. Warum alſo z. B. muß
es gerade ein über 5000 Fuß hohes Gelände ſein, wohin
ein Leidender geſchickt wird, der blos drei Wochen verwenden
kann und eingeſtandenermaßen nur Bergluft braucht, warum
muß es ein Hochland ſein, wo die heiligen Pancratius und
Servatius auch in den Hundstagen ihre Feſte feiern, wo es
ſchneit, wenn es anderswo regnet? Warum muß ein Anderer,
der gleichfalls nur eine kurze Spanne Zeit hat, juſt nach
einer Inſel geſchickt werden, von der die Ueberfahrt nach dem
Badeſtrand häufig durch hohle See gehindert iſt? — Zu
dem unmittelbaren Verluſt, der aus der geſchmälerten Materia
medica erwächſt, iſt dann immer noch der indirecte Schaden,
der aus Kummer über die verlorenen Tage und übler Laune
entſteht, hinzuzurechnen oder vielmehr damit zu multipliciren.


Der Mann von Methode erkieſt alſo bei beſchränkter
Zeit nicht Villeggiaturen, die ein Monopol haben auf rauhe
Winde, Nebel und atmoſphäriſche Niederſchläge in flüſſiger
und feſter Geſtalt, Orte, in denen der April im Juni beginnt
und der November im Auguſt Gaſtrollen gibt, ſondern be-
gnügt ſich mit ſolchen, denen Fama einen mittleren Durch-
ſchnitt von Regen und Sonne zugeſteht, macht trotzdem von
Haus aus ſeine Rechnung auf fünfzehn Procent Ausfall durch
übles Wetter, gelangt, wenn er Glück hat, zu einer Ueber-
8*
[116]V. Farbenblinde Augen — Meteorologiſches.
bilanz, kann auf Reſerveconto gutſchreiben und kehrt vergnügt
zurück. Auf vereinzelte Stimmen iſt dabei übrigens nichts
zu geben, denn an faſt allen ſchön gelegenen Punkten Deutſch-
lands
und der Alpen kann man Verſicherungen hören, „ſo
viel als da regne es ſonſt nirgend“. Dieſe gehen von un-
geduldigen Beſuchern aus, welche vor der Abreiſe verſäumt
haben, ihre Seele von unbilligen Anſprüchen und Schwärme-
reien gründlich zu purgiren, während ihrer Ferien ein
Recht auf ununterbrochen ſchönes Wetter zu haben meinen,
und, wenn dann einige Regentage kommen, großes Geſchrei
erheben und mit dem Orte und ſeinen Schutzgeiſtern ſchmollen.
Sie haben ſich ein Phantaſiebild von Normalwetter gemacht
und ſind entrüſtet, wenn die Wirklichkeit dem nicht entſpricht,
wie es auch Menſchen gibt, von denen jeder ſchwörte, daß er
„der größte Pechvogel“ ſei, „ſo ’was kann nur mir paſſiren“ ꝛc.
Ihr geiſtiges Auge iſt farbenblind, es ſieht nur die dunklen
Farben. — Die Meteorologie, eine der jüngſten naturwiſſen-
ſchaftlichen Disciplinen, welche an Aufmerkſamkeit und Fleiß
ſeit einigen Jahren ihren älteren Schweſtern gleichkommt,
wird wohl nun bald hierüber ſoviel feſtgeſtellt haben, als ein
Badegaſt für ſeine Zwecke braucht. — Im Hochgebirge noch
häufiger als anderswo kommt es vor, daß ein Regenwetter
in einem Thale ſich feſtſetzt und zwei, drei Wochen lang nicht
weichen will. Die Einheimiſchen ſehen dies aus gewiſſen
Zeichen oft ſchon in den erſten Tagen vorher und Einige von
ihnen, die am Fremdenbeſuch ihres Thales nicht unmittelbar
betheiligt ſind, machen kein Hehl daraus. In ſolchen Fällen
halte ich mich für berechtigt, auf gut Glück abzureiſen in eine
andere Gegend. Treffe ich’s dort abermals ſchlecht, ſo tröſte
ich mich durch die Annahme, daß es ein Charakterfehler dieſes
Sommers ſei, und beſtärke mich darin durch Leſung der
Wetterberichte in den Zeitungen.


Wer der Hitze des Hochſommers ausweichen will,
ſucht den Seeſtrand auf oder ein hochliegendes Gelände. Am
offenen Meere (Nordſee) muß er aber dann meiſt auf Wald
[117]V. Hochſommerglut — für und gegen große und kleine Bäder.
verzichten, droben in der Höhe dagegen ſich auf viel rauhes
Wetter gefaßt machen und darf Gehölz höchſtens in der
Vogelſchau erwarten. Wählt er ein niedrig gelegenes Wald-
revier, ſei es das ausgedehnteſte, ſo hat er, wenn der Sommer
heiß ausfällt, darunter zu leiden, trotz allem Schatten, im
entgegengeſetzten Falle von langen Regenperioden und Kälte.
Beide Extreme, dauernde Glut oder anhaltender Regen,
kommen am Seeſtrande faſt nie vor, und gerade beim böſe-
ſten Wetter iſt das Meer am glorreichſten und der Wellen-
ſchlag am kräftigſten; dort iſt man aber wieder vor plötzlichen
Ueberraſchungen keine Stunde ſicher und muß öde Sanddünen
oder kahle Felſen in den Kauf nehmen. Vollkommenes gibt’s
eben nicht unter der Sonne.


Wer die Wahl unter vielen Punkten hat, mag ferner vor
ſeiner Entſcheidung Folgendes erwägen. In Bädern erſten
Ranges iſt für Bedürfniſſe, Bequemlichkeit, Luxus, Zer-
ſtreuung am reichlichſten geſorgt, die beſten Wohnungen, die
meiſte Ausſicht, unter den vielen Gäſten Bekannte zu treffen;
der geſellige Ton iſt aber der nordiſch großſtädtiſche, d. h.
wenn nicht beſondere Umſtände vermittelnd eintreten, bleibt
man einander fremd, die zufälligen Berührungen ſind flüch-
tigſter Natur. Ganz kleine Sommerſtationen mit ſehr wohl-
feilen Preiſen ſind hingegen in der Regel nur von der nächſten
Nachbarſchaft beſucht und geſtatten keine Auswahl der ge-
ſelligen Elemente, ebenſowenig, wenn man ſich nicht ganz
einſam halten will, Vermeidung der unliebſamſten. Der
Einzelne, der Werth auf Anſprache legt, hat deshalb immer
noch die meiſte Anwartſchaft darauf, wenn er ein Bad mitt-
lerer Größe (und zwar vor Eintritt der hohen Saiſon) auf-
ſucht, er kann ſich dann der Gruppe oder den Einzelnen
anſchließen, denen er ſich wahlverwandt fühlt. In Bade-
orten, in denen ein Arzt, der zugleich Unternehmer iſt, den
Mittelpunkt der Geſellſchaft bildet, z. B. Kaltwaſſeranſtalten,
kommt auf deſſen Perſönlichkeit viel an. Hat er den Takt
und die Muße, in der richtigen Weiſe und mit leiſer Hand
[118]V. Naturaliſtiſche Luftcurverſuche in der Wildniß — Ventilation.
einzugreifen, ſo geſtaltet ſich da zuweilen die heiterſte Ge-
ſelligkeit, wenn überhaupt unter den Anweſenden Stoff dafür
vorhanden iſt; häufig ſcheitert die Sache an ſeinem Eifer,
alle, auch die widerſtrebenden Elemente „unter einen Hut“
zu bringen.


Empfindliche, beſonders Nervöſe, mögen ſie auch nur des
Luftbades bedürfen und von ſonſtigen Heilmitteln aus dem
Mineral-, Pflanzen- und Thierreich keinen Gebrauch machen
wollen, gehen ſtets ſicherer, wenn ſie einen Curort wählen,
der ſchon einigermaßen in Aufnahme iſt, und ſich nicht auf
Entdeckungsreiſen in der Wildniß einlaſſen. Als Beiſpiel,
in welch’ bittere Täuſchungen Unerfahrene fallen können,
mag derſelbe alte Herr dienen, deſſen Bekanntſchaft wir im
Eiſenbahnwagen machten. Die Geſchichte ſeines erſten Ver-
ſuchs, die er mir ſelbſt erzählte, im Vertrauen, daß ich
weiteren Gebrauch davon machen würde, bildet das Seiten-
ſtück zu der im vorigen Capitel mitgetheilten. Auch er war
norddeutſcher Schulmann, Oberlehrer an einem Gymnaſium
und in ähnlicher Weiſe, in ähnlichem Grade und aus ähnlichen
Gründen leidend. Hören wir ihn ſelbſt.


— In die berüchtigte Stickluft deutſcher Schulſtuben *),
die ich als Kind und Knabe geathmet hatte, bannte mich
mein Beruf leider auch als Mann den größten Theil des
Tages, deſſen Reſt ich zu Hauſe am Schreibtiſch verbrachte,
in Tabakswolken eingehüllt. Bewegung machte ich mir ge-
[119]V. Siedelungsverſuche.
wiſſenhaft eine Stunde täglich gleich nach Tiſch, anderthalb
Abendſtunden wurden der Unterhaltung mit Freunden bei
bairiſchem Biere gewidmet, natürlich auch im dickſten Tabaks-
rauch *) eines kleinen niedrigen Zimmers, an deſſen Athem-
luft außer einem Dutzend Menſchen eine Anzahl Gasflammen
und ein eiſerner Steinkohlenofen zehrten. Jetzt wo ich die
Wirkung dieſer Dinge kenne, begreife ich nicht, daß meine
Natur ſo lange Stand hielt. Als es höchſte Zeit oder vielmehr
als ſie ſchon vorüber und ich in einem Zuſtande war, der
eine gründliche Heilung unmöglich macht, ſagte endlich mein
Arzt: herumdoctern an Ihnen will ich nun nicht länger,
denn es hilft nichts. Ich wußte aber, wie ſchwer Sie ſich
entſchließen würden, Ihre Arbeiten, Familie, Freunde, Ge-
wohnheiten zu verlaſſen, ſonſt hätte ich ſchon früher darauf
gedrungen. Für Sie gibt es nur ein Recept und das iſt
geiſtige Ruhe, mäßige, geregelte körperliche Bewegung und
Aufenthalt in Berg- und Waldluft mehre Monate hindurch.
Suchen Sie ſich in den Alpen oder einem deutſchen Mittel-
gebirge ein Eckchen, das Ihnen gefällt, und ſchlagen Sie dort
Ihr Zelt auf. Der letzte Theil des Rathes ſöhnte mich mit
dem Uebrigen aus. Ich haſſe nämlich elegante Modebäder,
die nur ein Stück Großſtadt in Sommerkleidern ſind, wo
die Langeweile in Lackſtiefeln auf den Schlangenwegen eines
Parks hin und her promenirt und von ungeſtörtem Natur-
genuß keine Rede iſt. Ich ſuchte und fand im nächſten Wald-
revier ein Dutzend Plätzchen, an denen meine Augen Wohl-
gefallen hatten, die mich entzückten und von denen ich mir
Alles verſprach, was ich zu bedürfen meinte, machte hinter-
[120]V. Siedelungsverſuche — ſociale Stellung des Kranken.
einander in vier verſchiedenen eine Reihe Siedelungsverſuche,
die alle fehlſchlugen, und — nahm endlich meine Zuflucht
zu einem bekannten Bade. Ich hatte mich überzeugt, daß
die Landleute andere Bedürfniſſe, Wünſche und Gewohnheiten
haben, und ſelbſtverſtändlich nach ihnen bauen und ſich ein-
richten, als wir kränklichen Stadtleute. Die Maſſe ihrer
Behauſungen, der Gaſthof in der Mitte, ſteht in Reih und
Glied, Fühlung rechts und links; die wenigen vorgeſchobenen
Poſten, vereinzelt im Grünen liegende Häuschen, haben die
Allerärmſten inne, und wenn ſich da auch einmal ein oder zwei
erträgliche Stüblein finden, ſo lebt unter demſelben Dache
faſt immer ein ſo überſchwenglicher Segen an Kindern in den
Hauptſchrei- und Tobjahren, Kleinvieh, gefiedertes und
vierfüßiges, fehlt auch nicht, ein Kettenhund iſt ſtets vor-
handen, deſſen Gemüth die Feſſeln der Knechtſchaft dermaßen
verbittert haben, daß er nur noch durch unabläſſiges Gebell
und Geheul ſich Luft macht, ſo daß von Ruhe und Behagen
keine Rede ſein kann, ganz zu geſchweigen der Betten, deren
bloßer Anblick Schauder erregt, und Einem, der ohnehin
ſchon wenig Talent zum Schlafe mitbringt, nichts Gutes
in Ausſicht ſtellt; zu geſchweigen ferner der nicht ſchließenden
Thüren, Fenſter, Schubladen, der räumlichen Verhältniſſe,
die einer Schiffscajüte entſprechen, u. a. Mißſtände. Denken
wir uns nun in den vier Wänden einer ſolchen Stätte nur eine
Regenwoche lang einen reizbaren Melancholicus, gelöſt von
Allem, was ihm lieb und gewohnt iſt! — Ein Anderes iſt
es mit jungem, leichtem Blut, leidenſchaftlichen Fußtouriſten,
geſunden Naturenthuſiaſten, Malern, Poeten: bei ihnen
überſtrahlt das ſubjective Behagen, verbunden mit dem Reiz
der Landſchaft, Alles mit einem roſigen Schimmer. Sie
mögen vorlieb nehmen mit ſolchen Verhältniſſen und über
uns Weichlinge lächeln.


Geſunden und Kräftigen gegenüber, nahm unſer Reiſe-
profeſſor ſeine Lection wieder auf, hat überhaupt der
Kranke in geſelliger Beziehung ſchweren Stand. Schleppt
[121]V. Geſunder Menſchenverſtand — Tagesordnung — wie geht’s Ihnen?
er ſich auf Krücken einher, muß er im Handwagen gefahren
werden oder ſtehen ihm ſeine Gebreſte mit großer Schrift im
Geſicht geſchrieben, ſo weicht man ihm theils ſchon von
Weitem aus, „um ſich nicht niederdrücken zu laſſen“, theils
bekommt er Mienen zu ſehen und Aeußerungen zu hören,
die wenig geeignet ſind, ihm wohlzuthun, denn auch das un-
geheuchelte Mitgefühl iſt nicht immer mit Zartgefühl gepaart,
und Achtung findet das Unglück faſt nur, wenn es maleriſch
coſtümirt iſt. Das eigentlichſte Unglück aber, das bohrende
Gefühl der Troſtloſigkeit, das nach jeder Unterbrechung mit
neugeſchärftem Stachel wiederkehrt, wohnt in der That
weit minder bei dieſer Claſſe der „ſchwer Leidenden“, als bei
jener anderen, den Nervöſen. Sie ſehen aus und gehen
einher, wie alle Welt ausſieht und einhergeht, in guten
Stunden können ſie aufgeräumt ſein, Eſſen und Trinken
ſchmeckt ihnen, Nahrungsſorgen haben ſie nicht, dennoch
läßt ſich erkennen, daß es ihnen ſehr übel zu Muthe iſt:
folglich müſſen ſie ohne Unterſchied Menſchen ſein, die ſelbſt
nicht wiſſen, was ihnen fehlt und was ſie wollen, wunderliche
Käuze, eingebildete Kranke, Sonderlinge, Hypochonder. —
So urtheilt der „geſunde Menſchenverſtand“, d. h. der Ver-
ſtand geſunder Menſchen, welcher raſch fertig iſt mit dem
Wort und Jeden abſurd findet, der nicht ſeine Anſicht theilt,
der es auch in der Regel für ſeine Pflicht erachtet, dieſer
„abgeſchmackten Geſpenſterſeherei“ dadurch entgegenzuarbeiten,
daß er ſeinen Unglauben an die thatſächliche Begründung
jenes Wehgefühls offen zur Schau trägt und daſſelbe als eine
Unwürdigkeit und Lächerlichkeit behandelt.


Schon die Allerweltsfragen: „wie geht’s Ihnen?“, „wie
haben Sie geſchlafen?“ ſollten an Leidende der Art nicht ge-
richtet, ſondern durch irgend einen andern Gemeinplatz oder
einen Scherz erſetzt werden, der Gelegenheit gibt zur An-
knüpfung einer Unterhaltung über beliebte Gegenſtände.
Denn was ſollen ſie antworten auf die verhängnißvollen
Fragen? So verbreitet die Meinung auch iſt, daß „laute
[122]V. Kunſt mit guter Laune krank zu ſein.
Klagen das Herz erleichtern,“ ſo irrig iſt ſie. Aus den
Landtagsverhandlungen wiſſen wir, daß man unangenehme
Dinge, die nicht zu ändern ſind, am beſten ohne Debatte
durch „einfache Tagesordnung“ bei Seite ſchiebt. Iſt der
Fragende ein Leidensgenoſſe, ſo iſt ein Seufzer, ein kurzer
leiſer Schmerzensſchrei oder eine Grimaſſe erlaubt, zuweilen
gut angebracht, nur müſſen dieſe durchaus komiſch gehalten
ſein, nicht pathetiſch oder epiſch. Die Komik iſt freilich nur
Komödie, jedoch ſchon des Echos wegen, das ſie auf der
andern Seite weckt, vorzuziehen. Antwortet der Gefragte
mit einer eingehenden, ernſthaften, deutlichen Schilderung
ſeines Zuſtandes, ſo erregt er im beſten Falle irgend eine Art
Mitleid, ein erſchrockenes, ſcheues, oder ein vielfragendes,
red- und rathſeliges, in den meiſten Fällen wird man ihn
der Uebertreibung, Unmännlichkeit und vor Allem eines
Verſtoßes gegen den guten Ton zeihen, des ſchwerſten nächſt
Beleidigung und Anmaßung: langweilig zu ſein. Schweigt
er ganz über ſeine Leiden, ſo heißt es zwar: „man kann aus
dieſem ſtillen Dulder nicht klug werden, er iſt ein ver-
ſchloſſener Menſch“, es wird eine Fülle von Phantaſie und
Scharfſinn aufgeboten, um der Natur ſeines Uebels auf die
Spur zu kommen, daß es ein verſchuldetes ſein müſſe, be-
zweifelt kaum Jemand, immerhin nimmt man ihm indeſſen
die ſchwerſten Verſchuldungen der Art nicht ſo übel, als ver-
urſachtes Mißbehagen. Läßt der Befragte in die Antwort
etwas Selbſtironie einfließen, um ſo beſſer, hinter ſeinem
Rücken wird dann über ihn ſo geſprochen, daß er, ohne ſich
verletzt zu fühlen, wenigſtens die Hälfte mit anhören könnte.
Davon überzeugte ich mich einſt in einer Jasminlaube, die
mich zum unfreiwilligen geheimen Zeugen eines Geſprächs
machte, das einige Schritte von mir über mich geführt wurde.


Am niedergeſchlagenſten pflegen Kranke in dem Stadium
zu ſein, in welchem ihnen zuerſt klar geworden, daß ihr Lei-
den ein tiefgreifendes chroniſches iſt, deſſen Heilung auch im
günſtigſten Falle viel Zeit und Opfer fordert. Solchen kön-
[123]V. Nachwuchs der Curorte — Laienbrief an die HH. DD. loci.
nen ältere Leidensgenoſſen einen wahren Samariter-
dienſt leiſten, wenn ſie über ihren eigenen ähnlichen Zuſtand
in jenem leichten Scherzando-Tone ſprechen, welcher dem An-
dern den handgreiflichen Beweis gibt, daß die Uebung im
Tragen ſchwerer Bürden die Kräfte ſteigert und daß ſich die
große, ſchwierige, ſeltene Kunſt, mit guter
Laune krank zu ſein
, erlernen läßt. —


Zur Berichtigung der Anſichten und Förderung beſſerer
Inſtitutionen im jungen Nachwuchs der Curorte
und Sommerfriſchen könnten Sie, meine Herren doctores
loci,
ſehr viel beitragen! Nehmen Sie ſich der Sache freund-
lich an, wir Patienten in partibus bitten Sie angelegentlich
darum! Wir verſprechen Ihnen dagegen, Sie ſo wenig als
irgend möglich mit Fragen und Klagen zu behelligen. Wir
wollen von jeder Stunde, die Sie uns widmen, höchſtens
fünf Minuten von langweiligen Krankheitsgeſchichten, den
Reſt dagegen von Ihren Lieblingsſachen ſprechen, es ſei nun
Politik oder Gärtnerei, Muſik oder künſtliche Fiſchzucht,
Mikroſkopie oder ſonſt etwas, wollen Ihnen die neueſten
nicht druckfähigen Anekdoten aus der Reſidenz erzählen, jedes-
mal eine auserleſene Havanna präſentiren, kurz, ſehr liebens-
würdig und wenig läſtig ſein. Bitte, fangen Sie einmal an,
m. HH., den Leuten geeignete Winke zu geben, ganz con
amore,
etwa in der Schenke beim Biere. Bei Ihrer dia-
lektiſchen und dialektlichen Gewandtheit kann es Ihnen nicht
fehlen. Bekanntſchaft mit den goldenen Früchten des Fremden-
beſuchs und Geſchmack daran iſt ſchon vielfach in den Wald-
revieren vorhanden und man möchte die curioſen Herrſchaften
aus der Stadt ſo gern alle Sommer lange bei ſich ſehen und
es ihnen in allen Stücken recht machen. Bald hier bald da
werden Sie Gutes zu veranlaſſen und Verkehrtes zu hindern
Gelegenheit finden. Mancher Neubau wird in größerem
Stile unternommen, weil der Beſitzer auf Sommergäſte rech-
net; würde dem Hauſe eine Stelle ſtatt dicht an der Kreuzung
zweier Straßen an der entgegengeſetzten Ecke des Grundſtücks
[124]V. Laienbrief an die HH. DD. loci — Elementarunterricht.
angewieſen, ſo hätten ſämmtliche Zimmer für Stadtgäſte mehr
Anziehungskraft und brächten höhere Miethe; ebenſo, wenn
Balcons oder vorſpringende Holzgalerien angebracht wären,
auf denen auch bei feuchtem Wetter trockenen Fußes zu ſitzen
iſt. Möglicherweiſe gelingt es, den Unternehmer rechtzeitig
davon zu überzeugen. Mehr als Einen habe ich geſprochen,
der bedauerte, derlei nicht früher gewußt zu haben. Fehlt es
an einem Garten, fehlt es ſogar an einem Raſenplatze, ſo
läßt ſich doch vielleicht an der geeigneten Seite dicht am Hauſe
durch einige Bohnenſtangen und ein Stück Sackleinen eine
Laube herſtellen, in welcher Tiſch und Stuhl ſtehen können.
Iſt es auch nur eine Bank im Freien, ſo liegt ſelbſt darin
ſchon ein Magnet für den nach Unterkunft im Dorfe umher-
ſpähenden Sommerfriſchling, vorausgeſetzt freilich, daß dieſe
Bank weder von landwirthſchaftlichen oder induſtriellen Ge-
rüchen umweht, noch von einem Bullenbeißer bewacht wird,
der, ſobald der Fremde ſich von ferne zeigt, ihm mit weithin
dröhnendem Wuthgebell entgegenrast, ſo weit die Kette reicht.


Eine Belehrung über das Ganze des modernen Bettes
wäre auch nicht überflüſſig, damit dem Bauernverſtande ein-
leuchtet, daß nicht Jedermann befähigt iſt, im Monat Juli
zwiſchen zwei dicken Schichten Federn zu ſchlafen, daß ferner
die Raumverhältniſſe des Bettes nicht nach denen eines Sar-
ges bemeſſen ſein dürfen, denn ſelbſt Trappiſtenmönche unter-
ziehen ſich derartigen Sargübungen nicht zum Heile ihres
Körpers, worauf es doch von Curgäſten als ſolchen abgeſehen
iſt; daß ferner die Rouleaux nicht ſo angebracht ſein dürfen,
daß die oberen Fenſter, alſo gerade die beſten Ventilatoren,
nicht zu öffnen ſind. Ihre Gemahlinnen werden gewiß eine
Ehre darin ſuchen, als Lichtträgerinnen unter den Töchtern
der Wildniß aufzutreten und den Bauer- und Arbeiter-
weibern, die ſich auf ſtädtiſchen Beſuch vorbereiten wollen,
mit gutem Rathe an die Hand gehen, ihnen auch erlauben,
die eigenen Wohn- und Schlafzimmer zu beſichtigen, behufs
Nacheiferung.


[125]V. Geheimeräthe — Orden — Haupt- und Rebenſachen.

— Aber, wo ſollen denn nur dieſe armen Weiber das
Geld hernehmen zu Matratzen und ſonſtigem Comfort?


— Wenn ſie nur erſt einmal überzeugt ſind, daß bei
verhältnißmäßig geringer Geldanlage mit Sicherheit viel zu
erwerben iſt, ſo werden ſie dafür ſchon Rath ſchaffen. Und
übrigens ſind bei der allgemeinen Werthſteigerung von Grund
und Boden und der verhältnißmäßigen Wohlfeilheit von Er-
zeugniſſen der Induſtrie, ſelbſt die kleinſten Grundbeſitzer
nicht mehr ſo gar hilflos, zeigt ſich das doch auch an ihren
baulichen Veränderungen und Vergrößerungen.


Nächſt den einheimiſchen könnten gaſtirende Aerzte viel
durchſetzen, beſonders wenn ſie betitelt und decorirt ſind,
werden ſie auf Vorſtände beſtrickend und beſtimmend wirken.
Geheime Räthe richten bei Behörden immer mehr aus, als
öffentliche, in Zeitungen oder Büchern gegebene Räthe, und
unter die günſtigſten Sterne, die ſolchen Zwiegeſprächen
leuchten können, gehören die des rothen Adlerordens und der
verſchiedenen Hausorden. Dieſer Artikel hätte eigentlich im
Vademecum (S. 19) verzeichnet ſein ſollen, da mir aber kein
Fall bekannt geworden iſt, daß auf einer Badereiſe ein Orden
von ſeinem Beſitzer vergeſſen worden wäre, ſo glaubte ich,
die Erinnerung unterlaſſen zu dürfen; dazu weiß man ja,
daß „nur für die Reiſe“ Manche einen Orden erſtreben.


Auch wenn es ſich weniger um eine förmliche Cur als
Wahl eines „ſtärkenden Sommeraufenthalts“ handelt, wird
oft mit derſelben Sorgloſigkeit verfahren, mit welcher junge
Leute einen Beruf oder eine Lebensgefährtin wählen. Der
Eine z. B. ſucht ein verſtecktes Gebirgswinkelchen auf, wo er-
fahrungsmäßig faſt nie genießbares Fleiſch auf den Tiſch
kommt, nur weil das Gerücht geht, daß unter ſeinen Gäſten
noch nie ein „Berliner“ geweſen ſei; ein Anderer bringt die
heißen Sommermonate am Genferſee zu, weil er ein viel-
gerühmtes Paradies für die Augen iſt. Der Weiſe prüft und
claſſificirt bedächtig das Nothwendige, Nützliche, Wünſchens-
werthe, Entbehrliche, Ueberflüſſige, Zweckwidrige, zählt unter
[126]V. Romantiſche Verführungen — Verſtand und Erfahrung.
die erſten Bedürfniſſe ſtaubfreie Waldluft, Schattenwege,
nahrhafte verdauliche Koſt, und geht in der Schätzung der
Einzelheiten nach den Erforderniſſen ſeiner Nerven,
ſeiner Lunge, ſeiner Augen, wenn dieſe leiden, nicht nach
deren Wohlgefallen zu Werke. Ein majeſtätiſches
Bergpanorama, ein weiter Waſſerſpiegel, großartige Felſen-
partien, Cascaden, alles das ſind herrliche Dinge, auch treff-
liche Nahrungsmittel für die Phantaſie, der Verſtand jedoch,
der bekannte nüchterne Magiſter, hinter ſich die Erfahrung,
ſeine alte Haushälterin mit der großen Hornbrille und dem
dicken Schlüſſelbunde, docirt, daß primo loco ganz andere
Dinge gehören. In ſeiner nörgelnden Weiſe ſchilt er über
die Romantiker, die ſich von einem Anblick, der ſo bald den
Reiz der Neuheit verliert, verführen laſſen; ſchilt über die
Ideologen, die von „prachtvollen“ Weinbergen ſchwär-
men, weil die Einbildungskraft dieſer Ritter vom blauen
Dunſte den Wohlgeſchmack und die anregende Wirkung des
Weins unbewußt der landſchaftlichen Glorie der Oertlichkeit
zu Gute rechnet, während der Weinberg doch nur ein paar
Monate im Jahre erfreulich, die übrige Zeit mit ſeinen
Pfählen und ſeinem verſchnittenen kahlen oder trocken be-
laubten Krummholz unſchön ausſieht — ſo ſehr geneigt auch
nordiſche ſtraßenmüde Großſtädteraugen ſind, Rebſtöcke unter
die ländlichen Schönheiten zu rechnen, ebenſo wie Obſtbäume
und Getreidefelder; daß ferner Weinlage nie eine „froh-
müthige“ Villeggiatur abgeben kann und die hohen Mauern
(ſchrecklichen Andenkens!), welche die Wege einfaſſen, nur be-
ſtimmt ſcheinen, den aufwirbelnben Staub gehörig zuſammen
zu halten, jeden Lufthauch abzuwehren und die Ausſicht zu
ſperren. —


Noch häufiger als durch Wahl eines unpaſſenden Auf-
enthaltsorts wird ein anderer Fehler begangen, und zwar
von Solchen, denen die bloße Reiſe zur Heilung dienen ſoll:
ſie wenden eine zu ſtarke Doſis des an ſich vortrefflichen Mit-
tels an, bringen ſich dadurch um den gehofften Erfolg und
[127]V. Reiſequeckſilber — Spielart von Touriſt u. Curgaſt — Fahrſucht.
fügen ſich noch poſitiven Schaden zu. So oft auch ſonſt den
Arzt ein Vorwurf treffen, es wenigſtens zweifelhaft ſein mag,
ob er, die Krankheit oder der Kranke die Hauptſchuld am Miß-
erfolg der Behandlung trägt, dies iſt einer der Fälle, in denen
die Aerzte von jeglicher Verſchuldung freizuſprechen ſind.
Denn die Annalen der Medicin wiſſen nichts davon, daß je
ein Doctor das Reiſequeckſilber in der Doſis verordnet
hätte, in welcher es von Geſundheitstouriſten ſo oft ein-
genommen wird, im Gegentheil heißt es immer: „aber, thun
Sie des Guten nicht zu viel!“ An tugendhaften Vorſätzen
der Art fehlt es zwar bei der Abreiſe nie, offenbar können
dieſe Vorſätze jedoch den Transport nicht vertragen, oder,
wie die Franzoſen von gewiſſen feurigen Weinſorten ſagen:
„ſie reiſen nicht.“ Die Rheinlande, die Walddiſtricte, die
Alpen wimmeln im Sommer, die Küſtenſtriche des Mittel-
meers
im Winter von ſolchen Reiſecurgäſten, einer patho-
logiſch intereſſanten Spielart von Touriſt und Cur-
gaſt
, die unſere volle Aufmerkſamkeit verdient. In der That
ſcheint ihnen das Reiſequeckſilber dermaßen in den Gliedern
zu ſtecken, daß ſie weder gehen, noch ſtehen, noch liegen können
— fahren müſſen ſie, unabläſſig fahren, fahren und fahren!


Die Fahrſucht iſt im Grunde nur eine andere Form
des Läuferwahnſinns (vergl. S. 94), minder lebensgefähr-
lich zwar als er, aber noch unglücklicher, denn ſie verfehlt
ihren Zweck, Fernhaltung der Langenweile, noch weit gründ-
licher: — es leuchtet ein, daß die Abwechslung, wenn ſie
conſtant wird, zur Eintönigkeit ausarten muß. Schon das
Alterthum kannte dieſe Krankheitsform, oder richtiger geſagt
dieſes Laſter, denn Horaz (Brief 11 an Bullaz) ſpottet:


Jagend dahin über Meer, verändern ſie Luft, doch nicht Stimmung.

Nichtsthun wird uns zur Arbeit. Auf Viergeſpannen und Schiffen

Strebt man umſonſt nach Genuß.

Die Monotonie des ſteten Wechſels laſtet um ſo ſchwerer auf
dem Gemüthe, als ſie ihm an die Stelle der Hoffnung und
der Sehnſucht die Enttäuſchung ſetzt. Wenn man doch nur die
[128]V. Natürliche Grenzen — Darwin.
hungernden Armen überzeugen könnte, daß ſie immer noch
mehr Urſache zur Zufriedenheit haben, thatſächlich ſich auch
nie ſo unglücklich fühlen, als verſchwelgte Reiche! — Die
Weisheit liegt durchweg im Maßhalten.


Im Eingang dieſes Buchs wurde kein Geheimniß daraus
gemacht, daß deſſen geiſtiger Urheber, mein Freund und
Lehrer, mich warnte, „methodiſch“ zu Werke zu gehen. Ich
hielt das damals für eine „engliſche Schrulle“, jetzt ſehe ich
indeß ein, daß er Recht hatte und mir dadurch eine Verlegen-
heit erſparte. Denn ich hätte ſonſt gleich von vorn herein
eine Eintheilung verſuchen müſſen. Wie hätte ich nun aber
eintheilen ſollen? Etwa wie Sterne (in ſeiner „empfind-
ſamen Reiſe“, dem berühmteſten Reiſeromane des vorigen
Jahrhunderts), der die Motive der Reiſe unterſucht und nun
claſſificirt in einfache, müßige, neugierige, lügende, ſtolze,
eitle, milzſüchtige, ſentimentale Reiſende? — Das hätte mich
zu tief in Subtilitäten geführt und abſeits von den Zwecken
dieſes Büchleins. Oder ſollte ich, wie die alten Paßbeamten,
nur unterſcheiden zwiſchen geſchäftlichen und ungeſchäftlichen
Reiſenden, und unter die letzteren Touriſten, Vergnügungs-,
Erholungsreiſende und Curgäſte rechnen? Touriſten nennen
ſich aber auch Gelehrte, die zu wiſſenſchaftlichen, Schriftſteller,
die zu literariſchen, junge Leute, die zu Bildungszwecken rei-
ſen, Handlungscommis, die umherfahren, um Beſtellungen
zu ſammeln. Und warum ſollte eine Cur in Carlsbad oder
Aachen nicht unter die Geſchäfte zu zählen ſein? — In der
That, aus dieſen und andren Schwierigkeiten hätte ich keinen
Ausweg gefunden. Dazu wiſſen wir von Charles Darwin,
daß in Allem, was da lebt und webt, die Grenzlinien zwi-
ſchen den Gattungen ſchwer zu ziehen ſind, und überall ein
mächtiger und ſteter Drang zu erkennen iſt, neue Arten und
Abarten zu bilden. Ich zog deshalb vor, jedem Streit über
die natürlichen Grenzen der einzelnen Species aus dem Wege
zu gehen, auch nicht ſcharf zu ſcheiden zwiſchen Touriſt und
Curgaſt, nur allzeit eine deutliche Marke zu machen zwiſchen
[129]V. Der gerechte und vollkommene Touriſt.
Weiſe und Unweiſe, zwiſchen erfahrenen, eingeweihten,
gerechten und vollkommenen Touriſten und Curgäſten einer-
ſeits und Neulingen, Sonntagstouriſten, Naturaliſten, Di-
lettanten, Pfuſchern. An dieſer Stelle muß ich mir nun aber
eine Ausnahme erlauben, ſchematiſiren und alle Reiſen nach
ihren Zwecken eintheilen. Da ergeben ſich denn vier Rubri-
ken: A Geſundheit, B Berufsgeſchäfte der verſchiedenen Art,
C allgemeine Bildung, D Vergnügen. Den Gattungen B
und C, Geſchäfts- und Bildungsreiſenden, iſt nachzurühmen,
daß ſie ſich am correcteſten halten, am wenigſten ihre beſon-
deren Zwecke aus den Augen verlieren, guten Rath in Bezug
auf D, Vergnügen, dankbar und in Sachen A, Geſundheit,
wenigſtens nicht übel aufnehmen. Auch Claſſe D, die Luſt-
reiſenden, laſſen es nicht an gutem Willen und Eifer fehlen.
Am ſchlimmſten ſteht es mit Rubrik A, den Geſundheits-
reiſenden. Obwohl ſie am meiſten darunter leidet, iſt doch
gerade ſie es, welche die häufigſten Verſtöße begeht und, macht
man ſie darauf aufmerkſam, den Rath ganz in den Wind
ſchlägt, oder ſtreitet, oder die Geduld verliert. Am ſchwerſten
haben es darin die Aerzte, deren Berufspflicht ſolche Winke
ſind; je mehr Vorſtellungen ſie machen, je weniger werden
ſie gehört, dieſerhalb haben ſich denn auch die meiſten Bade-
ärzte entſchloſſen, ſehr zurückhaltend mit eingehenden diäte-
tiſchen Vorſchriften zu ſein und ſich mit einigen Hauptſachen
zu begnügen, z. B. Warnung vor Gurkenſalat, nächtlichen
Trinkgelagen, Erkältungen u. dergl. Die Herren ſetzen vor-
aus, daß ältere Curgenoſſen, die mit jüngeren in’s Geſpräch
kommen, ſie über alle ſolche Einzelheiten belehren, zumal dem
Ernſt Eingang in die gute Geſellſchaft nur geſtattet iſt, wenn
er in die leichten flatternden Gewänder der Unterhaltung ge-
kleidet iſt, nicht in ſeine hergebrachte ſteife Amtstracht. Nar-
ren und Luſtigmacher ſind immer hoffähig geweſen. Dies
Büchlein ſieht nun aber eine ſeiner Hauptaufgaben darin, gewiſſe
Dinge zur Sprache zu bringen, die für Badegäſte ebenſo
langweilig als nützlich, ihnen jedoch weder von Aerzten noch
9
[130]V. Schmuggeleien — Reiſecurgäſte und ihre böſen touriſt. Gelüſte.
von Büchern mit Erfolg zu inſinuiren ſind, unſre Reiſeſchule
glaubte deshalb zu einer Liſt greifen zu dürfen, die ſie den
öſterreichiſchen Buchhändlern in der alten Cenſurzeit abgeſehen
hat. Wenn dieſe nämlich Schriften, die unter die Rubrik
damnatur fielen, Eingang in die K. K. Staaten verſchaffen
wollten, ſo riſſen ſie die Titel ab und klebten andere darauf,
z. B. von Kochbüchern, faulen Rechenknechten, Anekdoten-
ſammlungen u. dgl. mehr. Das iſt auch der Grund, weshalb
die Ueberſchriften unſrer Capitel und Seiten weder vollſtändig
noch genau ſind, und allerhand Capriolen machen. Das
Sachregiſter iſt ſchon weit aufrichtiger. Dieſe in die Vorrede
gehörige, dort aber aus den hier eingeſtandenen Gründen
unterdrückte Enthüllung braucht nun nicht länger verzögert
zu werden. Im Uebrigen iſt unſre Reiſeſchule keine Freundin
von Schmuggelverſuchen und kann auch jedem Reiſenden nur
rathen, ſich ihrer zu enthalten.


Noch einmal alſo: es beſteht ein Unterſchied zwiſchen
Touriſt und Curgaſt und zwar in der Art und dem Maße
der Bewegung. Wenn auch der Erſtere verweilen, der Letztere
reiſen und wandern darf und ſoll, ſo iſt doch das charakteriſtiſche
Merkmal dort die Bewegung, hier die Ruhe und Stetigkeit.
Der gute Curgaſt hat darum ſtets auf der Hut zu ſein vor
ſeinen böſen touriſtiſchen Begierden und dieſelben,
ſie mögen nun in die Rubrik Beruf, Bildung oder Vergnügen
fallen, ſobald ſie den Zweck Litera A, Geſundheit, kreuzen, zu
bekämpfen. Wohlberathene Reiſecurgäſte erblicken ihren
ärgſten Feind in dem geſchilderten laſterhaften Triebe zu
unabläſſiger Ortsveränderung, der ein Vetter der Neugierde
iſt und mit dieſer ſeiner Frau Baſe die Neigung zur Ge-
ſchwätzigkeit, Uebertreibung und eiteln Aufſchneiderei gemein
hat. Sie nehmen mithin nie den erſten beſten gedruckten
Reiſeplan zur Richtſchnur, denn dieſe Pläne ſind durchweg für
Luſt reiſende berechnet, oder vielmehr für Solche, deren Luſt
es iſt, „möglichſt viel mitzunehmen,“ ohne Rückſicht darauf,
wieviel ſie behalten; ſie legen ihre Raſten ſo, daß ſie nicht
[131]V. Reiſejagden — Scheu vor Wiederholungen und Rückwegen.
jede Nacht in einem andren Bette ſchlafen, ſondern von
Hauptquartier zu Hauptquartier ziehen. Von dieſer Reiſe-
methode wird in Bezug auf Erſparniſſe im VI. Capitel noch
weiter gehandelt werden.


Von Geſundheit und Krankheit iſt nun aber in dieſem
Abſchnitt ſo viel die Rede, daß ich hier einmal unſre läſtige
A B C ſtunde der Diätetik unterbreche, und an Sie, meine
Herren und Damen der vierten Claſſe D, ein paar Fragen
mir erlaube. — Iſt es denn ſo gar „ennuyant“, eine herr-
liche Alpenlandſchaft mehr als einmal zu betrachten? Sollten
Sie nicht, ganz abgeſehen von der Bequemlichkeit, auch mehr
Genuß finden, wenn Sie auf Reiſejagden verzichteten,
welche Sie zu Sclaven des Minutenzeigers Ihrer Uhr, der
Coursbücher, Dampfmaſchinen, Pferde, Kutſcher machen?
Sollte nicht der „Sättigungspunkt“ um ſo früher eintreten,
je mehr durcheinander und je raſcher Sie genießen? Und
müſſen nicht auch die geſelligen Berührungen, je ununter-
brochener Sie in Bewegung ſind, um ſo oberflächlicher und
unergiebiger ausfallen? — Ehrlich geſtanden: auch ich hatte
ehemals eine heftige Scheu vor Rückwegen und beſonders
vor Wiederholungen, ich kam mir dabei vor wie ein
Schulbube, dem ſeine Arbeit vom Lehrer zerriſſen wird mit
der Aufforderung, ſie noch einmal zu machen. Als ich jedoch
bemerkte, wie ſpurlos neue Eindrücke blieben, die raſch auf
einander folgten, daß ſogar manche erſt bei öfterer Wieder-
holung zu wirklichen Eindrücken wurden, bekämpfte ich jene
Scheu methodiſch und vertrieb ſie.


Die touriſtiſche Nutzanwendung hiervon iſt nun die: wer
nicht mit außerordentlichem Gedächtniß, unwandelbarer Klar-
heit und ſtets reger Empfänglichkeit ausgerüſtet iſt, thut wohl,
alle ihm beſonders werthvollen Gegenſtände, um ihren Ein-
druck ſich zu erhalten, mehr als einmal zu betrachten.


Ganz beſonders verlangen Hochgebirgslandſchaften mit
Muße und wiederholt beobachtet zu werden. Nur ſo lernt
man die Berge kennen, noch mehr, man lernt ſie lieben. „Die
9*
[132]V. Verweile! — Galerien — wiederholte Reiſen.
Linien haben Zeit, ſich fühlen zu laſſen; man belauſcht ihre
Bewegungen bis auf die zarteſten Biegungen; die Höhen
offenbaren, verſchieden beleuchtet nach Tag und Stunde, die
reichſte Mannigfaltigkeit und Fülle des Ausdrucks. Auf
jede Berghalde ſchreibt ſich ein Gedicht, jede Stunde vervoll-
ſtändigt es und bringt ihr Ereigniß: die eine einen Sonnen-
blick, die andere einen Windſtoß, eine Wolkengruppe, ein
Gewitter, einen ſtürzenden Block, eine Lawine, die Erweite-
rung einer Eisſpalte, eine Bewegung des Gletſchers, ein
inneres Krachen. Beim bloßen Vorbeieilen läßt ſich nur
ein Vers der Epopöe belauſchen, bei oft wiederholtem Beſuche
jedoch enthüllen ſich ganze Geſänge, und die Einbildungskraft
iſt bemüht, das ganze Gedicht wiederherzuſtellen.“


Auch mit Gemäldegalerien, beiläufig bemerkt,
halte ich es (als Touriſt von Fach aber Kunſtdilettant) gern
ähnlich: ich laufe nicht mit den Augen flüchtig von Nummer
zu Nummer jedes Saales, wie Kinder ein Bilderbuch durch-
blättern, noch verweile ich mit Kennermiene übermäßig lange
bei Einzelnem, ſondern hole mir vorher aus Büchern oder
von Sachkundigen Rath über das Betrachtenswertheſte, be-
ſichtige dies wiederholt mit Muße und Samm-
lung
, und befaſſe mich mit dem Uebrigen gar nicht. Fühle
ich die Aufmerkſamkeit oder die Augen ermatten, ſo ſehe ich
es keineswegs wie ſo Viele für eine Ehrenſache an, die vorher
beſtimmte Zeit einzuhalten, ſondern gönne mir entweder eine
Erholungspauſe im Freien, oder breche für den Tag ganz ab.
Erzwungenes, unluſtiges, mechaniſches Abdreſchen eines Pen-
ſums bleibt an und für ſich fruchtlos, wirkt erſchlaffend und
ſetzt ſich leicht zur Gewohnheit feſt.


Selbſt die Wiederholung ganzer Reiſen ver-
dient empfohlen zu werden, zumal wenn ſie beſonders reich
ausgeſtatteten Ländern gilt; denn erſt nachdem der blendende,
verwirrende Reiz der Neuheit geſchwunden, wird die Be-
obachtung unbefangener, gegenſtändlicher und die Zeitein-
theilung entſprechender. Daß Mancher „ſehr enttäuſcht“
[133]V. Jahreszeit.
zurückkommt von einer Reiſe, die er nach langer Zwiſchenzeit
von Neuem macht und nach welcher er brennendes Verlangen
empfand, hat ſeinen Grund einfach darin, daß dieſes Ver-
langen ſich auf den Ort nur zu beziehen ſchien, während es
ſich thatſächlich auf die Zeit bezog, in der er mit jüngerem,
friſcherem Sinne betrachtete und ſeine Phantaſie mittlerweile
geſchäftig war, dem Orte Reize zu leihen, die er nie be-
ſeſſen.


Wer in ſehr ſpäter Jahreszeit zur Erholung reiſt, ſollte,
zumal ſeitdem die Brennerbahn vollendet iſt, beſonders auf
das Gebiet jenſeits der Alpen ſein Augenmerk richten, denn
die dafür zu bringenden Opfer an Zeit und Geld ſind in der
That gering im Verhältniß zu den Vortheilen, die es bietet:
die weit größere Zuverläſſigkeit des Wetters, im Herbſte
Gewißheit heiteren Himmels (ſchon von andern Seiten iſt
das vielfach hervorgehoben worden), Trauben, Pfirſichen,
Aprikoſen, Aepfel, Kaſtanien gut und wohlfeil, vor Allem die
glänzende Folie, welche die dem Nordländer neue herrliche
Pflanzenwelt und die Eis- und Schneeregion, ſo nahe zu-
ſammengerückt, ſich gegenſeitig bereiten. Für den Spät-
frühling wählt man gern das Gebiet der Voralpen. Da ſich
der Hauptbeſuch des Hochgebirgs auf wenige Wochen zu-
ſammendrängt, in welchen Gaſthöfe, Dampfboote, Wege und
Stege überfüllt ſind, Unterkunft unſicher, Bedienung und
Verpflegung mangelhaft, Preiſe hoch geſpannt, ſo entſchließen
ſich Touriſten, die nicht auf eine beſtimmte Zeit angewieſen
ſind, neuerdings immer häufiger, mit ihrer Perſon nicht den
großen Strom verſtärken zu helfen, ſondern früher oder ſpäter
zu gehen und lieber auf Gletſcherbeſteigungen zu verzichten,
ſofern ſie das Wetter nicht ausnahmsweiſe begünſtigt. Ziehen
ſie den Frühling und Frühſommer vor, ſo entſchädigt er ſie
reichlich durch herrliches Wieſengrün, milde, klare Luft,
mächtige Waſſerfälle, Baumblüte; auch die Gewitter ſind
ſeltener, das Wetter beſtändiger als im Hochſommer, und das
ſchlechte, wenn es eintritt, nicht ſo nachhaltig und bösartig
[134]V. Curzeitvergeudung.
wie im Herbſt. Immerhin ſind die Winke der Handbücher
in Bezug auf Jahreszeit und Wahl des Ziels zu beachten.


Eine goldene Regel für Leidende, deren einziges oder
hauptſächliches Heilmittel in Luft beſteht — ſelbſt noch für
die Glücklichen, welche eine ganze Saiſon auf ihre Geſundheit
verwenden können, wie viel mehr für Solche, denen dazu nur
wenige Wochen zu Gebote ſtehen — iſt die: jede Viertel-
ſtunde zu Rathe zu halten
. So manche Tage und
Stunden gehen ohnehin ſchon verloren, zumal im Hochgebirg,
durch Kälte, rauhe Winde, Regen, Nebel, Unvorhergeſehenes;
der Reſt von wirklich verwerthbarer Luftcurzeit iſt daher als
ein eben ſo koſtbares Gut zu behandeln, wie Mundvorrath
und Schießbedarf in einer belagerten Feſtung. Kleine häus-
liche Geſchäfte, die es geſtatten, müſſen auf die Pauſen der
Curzeit, die frühen Morgenſtunden und die Abende verlegt
werden. Mit welcher Gedankenloſigkeit wird nun aber gegen
dieſe ſo augenfällige Regel von der Mehrzahl der Gäſte ver-
ſtoßen, auch von Solchen, die in Eſſen, Trinken und ſonſtigen
diätetiſchen Einzelheiten peinlich genau ſind! Stundenlang
ſtehen ſie, nachdem Frühſtück, Zeitung und Toilette ſchon ein
gutes Stück des Vormittags im Zimmer verſchlungen haben,
dicht gedrängt in einer Atmoſphäre von Tabaksqualm, Men-
ſchenathem und Staub um eine Muſikbande herum! Natür-
lich fühlen ſie ſich hinterher „ganz erſchöpft“ und müſſen ſich
auf dem Sofa erholen. Ein Theil der beſten Tageszeit wird
im heißen Speiſeſaal, im dampfigen Kaffeehaus, am Billard-
tiſch, im Zeitungszimmer zugebracht, und ſo fort. Wer
dieſes Subtractionsexempel mit deſſen Moral vor Augen hat,
wird täglich, ſtündlich Gelegenheit finden zu Erſparniſſen an
Curzeit und ein Capital zuſammenſchlagen, deſſen Zinſen
ſeinem ganzen Organismus zu Gute kommen, namentlich
ſeinen Nerven, ſeinem Blute, ſeiner Lunge und ſeiner Haut,
welche letztere es abhärtet und (mehr als alles kalte Waſſer)
von den üblen Einflüſſen unſrer heißen Stuben im Winter
befreit. Er wird ferner die Stunden, welche im Freien zu
[135]V. Drückende Nahrungsſorgen.
ſitzen geſtatten, dafür benutzen und nicht für Spaziergänge,
dieſe vielmehr auf die kühleren Stunden vorher und nachher
verlegen — eine Vorſchrift, die ſelbſtverſtändlich gewiſſe Aus-
nahmen erfährt, z. B. bei empfindlichen Lungenkranken —
er wird ferner möglichſt im Freien, im Garten oder auf dem
Balcon, Beſuche empfangen, Mittags- und Abendmal halten,
Schreibereien vornehmen ꝛc. (Vergl. Schluß dieſes Abſchnitts.)


So hoch nun aber auch der Werth der Luft anzuſchlagen
iſt, ſo muß ich mich doch ausdrücklich gegen den Verdacht
wehren, daß ich nach der Seite hin die Anſicht faſt ſämmt-
licher Curplatzwirthe theilte, welche geradezu glauben, der
Menſch, wenigſtens der Curgaſt, könne von Luft allein leben,
und deshalb ihr Dichten und Trachten darauf richten, alle
nährenden Beſtandtheile aus den Speiſen zu entfernen. Es
wird geſtritten, ob dies auf Rechnung der Viehſeuchen und
der allgemeinen Preiserhöhung der Lebensmittel oder der
geſteigerten Habgier der Wirthe zu ſchreiben ſei. Ich könnte
eine lange Reihe von Oertlichkeiten nennen, in welchen ehedem
eine gute, nahrhafte Koſt zu finden war, und die erſt, ſeitdem
ſie auch vielfach als Luftbäder dienen, die Auskochkunſt in
höchſter Vollkommenheit betreiben, möchte deshalb die Urſache
eher darin ſuchen, daß Badeärzte und Hausbeſitzer ſo viel von
„unſrer herrlichen Luft“ und deren „an’s Wunderbare gren-
zenden kräftigenden Wirkungen“ geſprochen haben, daß Wirthe
und Garköche es für Pflicht halten, der „Erneuerung des
Bluts“ nicht durch Verabreichung althergebrachter Nahrungs-
ſtoffe entgegen zu arbeiten. So ſieht man denn jetzt häufig
Gäſte bei Tiſche eine Büchſe mit Fleiſchextract neben ſich
ſtellen und aus dieſer den Suppen und Saucen, noch bevor
ſie gekoſtet haben, zuſetzen, denn ſie wiſſen im voraus, daß
das Deficit mit derſelben Regelmäßigkeit wiederkehrt, wie im
öſterreichiſchen und franzöſiſchen Finanzbudget. Die Speiſen
betrachten ſie nicht als Nahrungsmittel, ſondern nur als
Vehikel für die aus der münchener Hofapotheke bezogene
Latwerge.


[136]V. Balneologie und Klimatologie.

Jetzt noch ein paar Laienbemerkungen über balneolo-
giſche Literatur
. Daß bei Verfaſſern von Monographien
der Localpatriotismus immer ſehr ſtark entwickelt iſt, Miß-
ſtände des eigenen Orts und Vorzüge anderer, mit denen er
verglichen wird, ihnen entgehen, ſoll Niemand zum ſchweren
Vorwurf gemacht werden. Der Patriotismus hat einmal
mit dem Egoismus jene optiſchen Täuſchungen gemein, von
denen das Gleichniß vom Splitter und Balken ſpricht. Auch
ſoll unſre Anerkennung der Gründlichkeit ſo manches Mono-
grammatikers nicht vorenthalten werden, mit der er alle
Beſtandtheile ſeines Mineralwaſſers auffand, bis auf 0,001
Extractivſtoff, Spuren von Eiſenoxydul und Thonerde; eben-
ſowenig ſeinem Scharfblick, welcher erkannte, daß „ſo förmlich
für Heilzwecke geſchaffen“, wie der ſeinige, kein andrer Ort
der Welt iſt, daß derſelbe z. B. Bergtriften behufs Bereitung
von Molke und Kräuterſäften beſitzt, wie ſie ſonſt auf dem
Erdenrund nicht vorkommen, daß ſeine Quelle, die „ſtille
Freundin des vegetativen Lebens“, die „ſanft in den Orga-
nismus ſich ſchleichende Schmeichlerin“, beim Trinken „ein
balſamartiges Gefühl“ bewirke. Und obwohl die Natur juſt
auf dieſen Ort das überſchwänglichſte ihrer Füllhörner aus-
gegoſſen, ſo ſei dennoch der Vorſtand weit entfernt, deshalb
die Hände in den Schooß zu legen, vielmehr unermüdlich
beſtrebt, um jeder Anforderung zu genügen, auch alle übrigen
Curmittel herbeizuſchaffen. Unter Anderem halte Herr Apo-
theker Gaugengiggl ein Lager aller natürlichen und künſtlichen
Brunnen, könne auch zum mediciniſchen Gebrauch Trauben
aus den beſten Bezugsquellen beſorgen. Dem genannten
Herrn ſei es ferner gelungen, ein chemiſch reines natrum
sulphuricum
— der Credit dieſes bekannten thätigen Stoff-
wechſelagenten würde leiden, wenn ſtatt ſeines wiſſenſchaft-
lichen Titels ſein Vulgarname Glauberſalz genannt würde —
darzuſtellen, welches als Zuſatz zum Mineralwaſſer, die
„discret eröffnende“ Wirkung ſteigernd, treffliche Dienſte
leiſte.


[137]V. Laienwünſche.

Wie geht es nun aber wohl zu, daß viele dieſer Schrift-
ſteller, die wir als patriotiſch, gründlich, ſcharfblickend, beredt,
vielſeitig kennen lernten, die eben abgehandelten allgemeinen
Verhältniſſe, welche Gäſte jeder Art nahe angehen und derent-
willen allein Viele den Punkt aufſuchen, gar nicht oder nur
oberflächlich berühren? Ein Ort hat z. B. das Glück, in
weite Nadelholzwaldungen förmlich gebettet zu ſein, ſo daß
jeder Windhauch erfüllt iſt von würzigem Athem; ein anderer
genießt des ſeltenen Vorzugs, daß viele ſeiner Privathäuſer
villaartig gebaut und mit Gärten umgeben ſind; ein dritter
ſtreckt ſich einem Park entlang, daß die Inſaſſen von Gaſt-
und Privathäuſern den Fuß gar nicht auf leidiges Straßen-
pflaſter zu ſetzen brauchen, ſondern im vertrauteſten Umgang
mit einer durch Kunſt veredelten Natur leben; ein vierter
hat eine Fülle promenadenartig gehaltener Waldwege. Von
alledem iſt entweder gar nicht die Rede, oder es wird mit
nichtsſagenden Floskeln abgefertigt, wie „herrliche Wald-
ſpaziergänge“, „freundlicher Ort“, „Comfort aller Art“,
tief vergraben in einem Wuſt geſchichtlicher und topographiſcher
Notizen. Iſt es Geringſchätzung oder im Gegentheil Furcht
vor der ſteigenden Macht des neuen Souveräns, der Luft,
von dem Sie, meine Herren Verfaſſer, Ihre mineraliſchen
Schützlinge nicht verdunkeln laſſen wollen, daß Sie ſo wenig
Nachrichten aus deſſen Reich geben? — Nein, ich errathe,
Sie wollen „auch den Schein der Parteilichkeit meiden“. Im
Intereſſe der Sache laſſen Sie ſich beſchwören, werfen Sie
das Uebermaß von Zartgefühl ab, belehren Sie uns ein-
gehend über Alles, was zu Gunſten Ihres Curorts ſpricht.


Oft ſucht man in einer dicken Monographie vergebens
nach Angaben, wie hoch der Punkt über dem Meere gelegen,
ob Wald in der Nähe, in welcher Entfernung er iſt, ob dieſer
aus Nadel- oder Laubholz beſteht, ob es ausgedehnte Reviere
oder nur kleine Gehölzparcellen, wie die Wege beſchaffen, ob
ſie ſchattig, ſtaubfrei ſind u. ſ. w. Es will uns bedünken,
daß in einem Buche, das nur einem Orte gewidmet iſt, nicht
[138]V. Monographiſche Lücken — Durchſchnittstemperatur.
noch weniger auf touriſtiſche Localfragen eingegangen ſein
dürfe, wie z. B. im Bädeker oder Berlepſch, die für denſelben
nur eine Seite oder weniger Raum haben. Die Eintheilung
in „nähere Spaziergänge“ und „weitere Umgebungen“ ge-
nügt nicht, es müſſen die Entfernungen in Stunden und
Minuten angegeben ſein. Wenn außer dem Curhauſe Privat-
wohnungen zu Gebote ſtehen, ſo darf dies nicht verheimlicht
werden, zumal wenn es abgeſondert inmitten von Gärten,
Wieſen, Feldern gelegene ſind, welche dauernde Ruhe ver-
ſprechen und ehrlich Wort halten, Böswillige könnten ſonſt
vermuthen, daß Sie im Solde des Curhauspächters ſchreiben.
Auch ſollte nicht ſo ſehr ängſtlich jede Art von Preisnotiz
vermieden ſein; durch Mittheilſamkeit und Zuverläſſigkeit
in dieſem Gebiete hat ſich z. B. Bädeker viele Freunde er-
worben. Wenn es nur hieße, „im Sommer 1869 wurde
für ...... gezahlt, Vermiethung für die Saiſon, für
Monate oder Wochen gebräuchlich,“ ſo böte das ſchon einigen
Anhalt.


Ueberhaupt ſind wir Laien nicht mehr ſo leicht zufrieden-
geſtellt, wie ehemals, ſondern haben dies und jenes geleſen,
geſehen, gelernt. Mit allgemeinen Redensarten über Tempe-
raturverhältniſſe, wie „milde Luft“ oder „geſchützte Lage“
laſſen wir uns nicht abſpeiſen. Angaben, wie die von einem
bekannten Badearzt über ſeinen Curort, daß derſelbe „um
einen Paletot wärmer als X, aber um einen Sonnenſchirm
friſcher als Y ſei,“ mögen wohl angebracht ſein im münd-
lichen Verkehr mit einem Geſundheitshypochonder oder einer
hyſteriſchen Dame, um weitere 99 Fragen abzuſchneiden, uns
genügen ſie nicht, und ſchwerlich werden unſre Hausärzte
daraus entnehmen können, wen ſie dahin ſchicken dürfen. Be-
fürchten Sie nicht, meine Herren, uns durch „trockene Zahlen“
zu ermüden, ſondern theilen Sie uns nur in Tabellenform
mit, was Sie beobachtet haben in Bezug auf Wärmegrade
Morgens, Mittags, Abends, Verhältniß der heitern, wind-
freien Tage zu rauhen, bewölkten, Conſtellation der umliegen-
[139]V. Klimatologie — zur Seelendiätetik.
den Berge u. ſ. w. Mit „Durchſchnittstemperatur“ wiſſen
wir nicht viel anzufangen, denn unſre kranken Lungen
empfinden keineswegs dieſes Facit eines Additions- und
Diviſionsexempels, ſondern die Extreme von Kälte; eben-
ſowenig laſſen ſich danach Schlüſſe machen, wie weit ungefähr
auf die Möglichkeit des ſitzenden Aufenthalts im Freien zu
rechnen iſt. In Nordamerika kommen im Sommer hohe
Wärme- und im Winter deſto extremere Kältegrade vor, die
durchſchnittliche Jahrestemperatur ſtellt ſich mithin nicht un-
günſtig, die Ausgleichung findet indeß nur auf dem Papiere
ſtatt und die Statiſtik weiſt ſchlimme Zahlen nach in Bezug
auf Tuberculoſe und Erkältungskrankheiten. In manchen
Thälern herrſcht im Hochſommer drückende Schwüle, die aber
zeitweilig durch ſchneidend kalte Winde aus der Schneeregion
oder aus feuchten, dichtbewaldeten Schluchten unterbrochen
wird, wovon Durchſchnittszahlen nichts erzählen.


Die klimatologiſche Literatur iſt jünger und noch
weit unerfahrener als die balneologiſche, namentlich fehlt es
an einem Werke, das von allen nennenswerthen ſüdeuropäi-
ſchen und nordafrikaniſchen Geſundheitsſtationen für den
Winter eine unparteiiſche vergleichende Zuſammenſtellung
gibt, die ſich nicht allein auf das vorhandene monographiſche
Material, ſondern auch auf eigene eingehende Studien ſtützt
— die großen Schwierigkeiten eines ſolchen Unternehmens,
bei den weiten Entfernungen der einzelnen Punkte und den
eigenthümlichen Verhältniſſen ſo vieler, leuchten ein — und
daneben auch Touriſtiſches nicht ganz vernachläſſigt.


Ueber Heilbäder wäre noch Manches zu ſagen, z. B. über
Aerzte, die zugleich Unternehmer ſind, über Vergnügungs-
räthe, Curtaxen, Hazardſpiele ꝛc. ꝛc., wir wollen jedoch den
Stoff lieber nicht erſchöpfen und ſo mag es dabei bewenden.
Ehe wir weitergehen, jedoch noch Eins, Ihr lieben Curgäſte,
jung und alt, Herren und Damen: vergeßt nicht, daß es
auch eine Diät der Seele gibt, die mindeſtens eben ſo
wichtig iſt, wie die des Körpers. Fühlt Ihr den Ballon
[140]V. Zur Diät der Seele.
Eurer Hoffnungen allzu hoch in den blauen Aether fliegen und
die irdiſchen Dinge Euren Augen entſchwinden, ſo öffnet ein
Ventil und laßt Gas ausſtrömen. Noch mehr noth thut’s
aber andrerſeits, jenen Mühſeligen und Beladenen, von
denen vorhin die Rede war, eine Mahnung zu wiederholen:
ſo oft Ihr Euch auf Grübeleien über Euer Leiden und den
möglichen Mißerfolg der Behandlung ertappt, gebt zunächſt
ungeſäumt Euren Händen und Augen eine beſtimmte Thätig-
keit, die Gedanken werden dann ſchon allmählich folgen. Die
Hoffnung, die Lebensluft unſrer Seele, läßt ſich freilich nicht
rufen, wir alle jedoch, auch Erzhypochonder, ſind glücklicher-
weiſe ſo organiſirt, daß ſie früher oder ſpäter unvermerkt
zurückkehrt, ſobald wir nur aufhören, ſie durch Selbſtquäle-
reien zu verſcheuchen. Darum beſchäftigt Euch, iſt’s vor der
Abreiſe, mit den Vorbereitungen, und iſt’s im Badeort ſelbſt
und nichts Beſſeres zur Hand, mit den kleinen Obliegenheiten
des Tagewerks recht eifrig, als ob’s wichtige Dinge wären.
Das vorliegende Buch will Anleitung dazu geben, und ſein
Verfaſſer würde ſich glücklich ſchätzen, wenn ihm das hier
und da gelungen wäre. Er hat ſelbſt lange in verſchieden-
artigen Curorten verweilt, mit Leidenden aller Art und vielen,
vielen (!) Aerzten verkehrt und geſehen, wie mancher ſcheinbar
rettungsloſe Fall doch noch Heilung fand, er war ſelbſt lange
Zeit ſehr elend und gelangte doch endlich zu einem ganz er-
träglichen Zuſtand, darf alſo Allen, die da auszogen, um
Geneſung zu ſuchen, dieſe nicht ſo raſch, als ſie hofften,
herankommen ſehen und nun ungeduldig und traurig werden,
mit Shakeſpeare zurufen:


Wie arm ſind die, die nicht Geduld beſitzen,

Wie heilten Wunden, als nur nach und nach?

Unſren ſchönen Leſerinnen, wenn ſie ihrem kränklichen
Oheim zum Geburtstag eine Reiſetaſche verehren wollen, ſei
hiermit gerathen, ſtatt der üblichen Roſen und Vergißmein-
nichtigkeiten jenes oder ein anderes Wort, das Geduld
[141]V. Geduld, Geduld, Geduld! — Penſionsweſen — Wintercurorte.
empfiehlt, mit Goldperlen darauf zu ſticken. Alle Dichter
ſind reich daran. Z. B. ſagt Rückert:


Wenn dir es übel geht, nimm es für gut nur immer,

Wenn du es übel nimmſt, ſo geht es dir noch ſchlimmer,

Und wenn der Freund dich kränkt, verzeih’s ihm und verſteh,

Es iſt ihm ſelbſt nicht wohl, ſonſt thät’ er dir nicht weh.

Die folgenden Zeilen:


Und wenn die Lieb’ dich kränkt, ſei’s dir zur Lieb’ ein Sporn,

Daß du die Roſe haſt, das ſpürſt du erſt am Dorn.

dürfen ſie für ſich behalten. Auch an Sprüchwörtern fehlt’s
nicht, z. B. „Leichter trägt, was er trägt, wer Geduld zur
Bürde legt,“ oder „Schweig, leid’ und lach’, Geduld über-
wind’t all’ Sach’.“ — —


In Curorten jeder Art, namentlich den für den Winter-
aufenthalt beſtimmten klimatiſchen, ſpielt eine große Rolle
das Penſionsweſen. Urſprünglich ſchweizer Erfindung,
breitet es ſich von Jahr zu Jahr weiter aus über die Touriſten-
gebiete, obwohl die wahre, echte Penſion allerwärts ſelten iſt.
Eine ſolche nur für ſtändige Gäſte berechnete Anſtalt halte
ich für kaum vereinbar mit dem eigentlichen Wirthshauſe,
denn das Weſen derſelben ſehe ich nicht darin, daß ein Hôtel
mit großen Buchſtaben zugleich als Pension Suisse und
Boarding House bezeichnet iſt, noch darin, daß länger ver-
weilende Gäſte ermäßigte Pauſchpreiſe ausmachen können.
Eine Penſion im engern Sinne kann ſchon ein Wirth, der
nur einige Zimmer der Sache widmet, um ein paar Wochen
vor und nach der Fremdenſchwarmzeit ſein Haus mehr zu
füllen, beim beſten Willen nicht leicht zu Stande bringen,
denn die täglich ſich verändernde Geſellſchaft am Eßtiſch, die
Störungen ſpät Abends und früh Morgens, das unabläſſige
Klingelſturmgeläute im zwei-, drei- und vierſchlägigen Rhyth-
mus, das Auf- und Abrennen der Kellner und Hausknechte,
das geſchäftige und geſchäftliche Weſen des Wirths u. ſ. w.
verſcheuchen die Genien des Friedens und der Ruhe, die in
einer Penſion wohnen und walten ſollen. Eine ſolche glücklich
[142]V. Penſionsweſen.
gefundene kann einem Leidenden zur wahren Wohlthat werden,
denn er ſieht ſich oft Verhältniſſen, die ſeine Krankheit verurſacht
oder gefördert haben, entrückt, in eine geregelte, behagliche
Häuslichkeit verſetzt, deren Mechanismus pünktlich, geräuſch-
los, ohne Knarren und Stocken der Räder wie ein gutes
Uhrwerk Tag für Tag arbeitet, alles ohne ſein Dazuthun:
nur einmal wöchentlich hat er das Werk mit einem goldenen
Schlüſſel aufzuziehen. Blickt er aus dem Fenſter, ſo ſchaut
er nicht wie zu Hauſe auf Pflaſterſteine, Rinnſteine, Back-
ſteine, Mauern und Mauern, Fenſter und Fenſter, ſondern
auf Bäume, Wieſen, Felder, Höhen, Waſſer, vielleicht groß-
artig ſchöne Bergſcenerie; draußen hört er nicht raſſelnde
Omnibus, heulende Milchkarrenhunde und noch heulendere
Gemüſeweiber und Sandfuhrleute. Im Hauſe ſelbſt findet
er — immer vorausgeſetzt, daß ſeine Wahl eine glückliche
war — eine Geſellſchaft, mit welcher er ſchon nach wenig
Tagen Fühlung gewonnen hat, Alles um ihn athmet Eintracht
und Behagen.


Freilich, ein Beiſpiel iſt mir bekannt, und es wird deren
wohl mehr geben, daß ein junger Mann krank in ein Haus
der Art eintrat, dort nach einiger Zeit völlig genas, anſtatt
nun aber ſich ſeiner Berufsthätigkeit wiederzugeben, von Jahr
zu Jahr damit zögerte, haften blieb und ſein Leben ver-
tändelte. Dafür weiß ich jedoch mehre andere Beiſpiele, daß
in einer Penſion Leidende ankamen, Heilung und Verlobungs-
ringe fanden, zufriedene, langlebige Gatten, gute Familien-
häupter und thätige Staatsbürger wurden. Sagt mir alſo
nichts gegen die Penſionen, auch ſie zählen unter die men-
ſchenfreundlichen Anſtalten. Vor den alten Klöſtern haben
ſie den Vorzug, daß ſie nicht wie dieſe Beſchlag legen auf die
ganze Zukunft eines Menſchen.


Viel hängt hier von Dingen ab, über die ſich erſt ein
Urtheil gewinnen läßt, wenn man die neuen Verhältniſſe
eine Zeit lang ſich anprobirt hat. Es können Mißſtände in
[143]V. Penſionsweſen — Kündigungsrecht.
der Oertlichkeit, der Hausverwaltung, der Verpflegung *),
es können Elemente in der Geſellſchaft ſein, die beim Ankömm-
ling eine empfindliche Stelle treffen und ihm den Aufenthalt
verleiden. Deshalb konnte ich mich nie entſchließen, einem
Penſionshalter ohne vorherige Probe für eine ganze Saiſon
mich zu verſchreiben, auch wenn er mir noch ſo dringend
empfohlen war. Vielfach wird dies zwar zur Bedingung
gemacht, ich habe jedoch geſehen, daß ſich davon loskommen
läßt, wenn man nicht brieflich, ſondern perſönlich an Ort
und Stelle acht oder vierzehn Tage vor Beginn der Saiſon
dem Betreffenden das Nöthige offen mittheilt und ihn über-
zeugt, daß der Vorſchlag einer Probezeit keine Maske iſt.
Für ganze Familien ſtellt ſich die Sache ſchwieriger, zumal
in Orten, wie Nizza, wo die meiſten Gaſthalter und Ver-
miether wetteifern, wenig zu gewähren und viel zu fordern,
und verſtehen, in drei Sprachen unverſchämt zu ſein; indeß
ſelbſt hier dürfte einer Familie, die frühzeitig vor Beginn
der Saiſon eintrifft, oft gelingen, ein Abkommen zu treffen,
z. B. ſo, daß für Rücktritt ein Reugeld feſtgeſetzt wird. Wo
ich die Wahl habe, ziehe ich Penſionen vor, die nicht die
Dépendance eines Gaſthofs bilden, deren Haus vielmehr
nur auf Penſionsfuß eingerichtet iſt, die auch blos mäßig
groß ſind, ſo daß der Dienſt nicht blos auf queckſilberne Kellner
geſtellt iſt, ſondern wo der Einziehende mehr das Gefühl
hat, in ein Privathaus, eine Familie und deren Freundes-
kreis zu treten. Dem glattpolirten, faſhionablen, welt-
männiſchen, inſinuanten, rechnenden und berechneten, eil-
fertigen, polyglotten Geſchäftseifer großer Hôteliers einen
Winter hindurch Tag für Tag preisgegeben zu ſein — mag
[144]V. Eine Penſionsmutter.
Gefallen daran finden, wer will, nach meinem Geſchmacke
iſt es nicht.


Wollte ich einen Roman ſchreiben, ſo würde ich den
Schauplatz in die Penſion verlegen, in der ich einſt einen
Winter zubrachte, die Beſitzerin, ihre Tochter und einige
meiner Hausgenoſſen auftreten laſſen, und hätte guten Stoff
für drei Bände, ich brauchte nur zu berichten, nichts zu er-
finden. Das wäre jedoch gegen unſre Verabredung, der-
zufolge ich die Zeit zu Rathe halten ſoll für Mittheilung der
nüchternen, praktiſchen Dinge, denen unſer Buch gewidmet
iſt, und in höhere, ſchönere Regionen nur gelegentliche Blicke
thun darf. So mag denn blos erzählt werden, wie ich die
erſte Bekanntſchaft dort machte, weil ſie ein Streiflicht wirft
auf den geſelligen Ton, der in einem Hauſe der Art herrſchen
kann, wenn die Perſönlichkeit, die dem Ganzen vorſteht,
gewiſſe Eigenſchaften vereinigt. Ob eine ſolche wirklich blos
beſſere Elemente der Geſellſchaft in geheimnißvoller Weiſe
anzieht oder ob ſie verſteht, aus gewöhnlichen Durchſchnitts-
menſchen ihre beſten Regungen hervorzulocken und zu ent-
wickeln, oder ob Alles nur ein günſtiger Zufall war, darüber
mag Jeder nach ſeinen Erfahrungen und ſeiner Betrachtungs-
weiſe urtheilen, ich kann nur ſagen, die Zeit, die ich in
dem Hauſe zubrachte, hat mich darüber belehrt, daß es noch
„glückliche Inſeln im ſtürmiſchen, klippenreichen Ocean des
Lebens“ gibt.


In meiner Penſion kam ich um Mitternacht an und
vergaß in meiner Ermüdung die Rückſichten der Nächſtenliebe
dermaßen, daß durch meine Nagelſchuhe und den Alpenſtock
Gepolter entſtand und meinem Stubennachbar — Alles
dies erfuhr ich erſt, nachdem ich längſt in dem Manne einen
Freund gefunden — dadurch die ganze Nacht verdorben war.
Es war ein Landſchaftsmaler, der an Kopfſchmerz und
Schlafloſigkeit litt. Am andern Morgen hatte der Aermſte
ſein Leid der Hausfrau geklagt und verlangt, daß entweder
er oder ich ausquartiert werde, dieſe ihn jedoch gebeten, die
[145]V. Mein Stubennachbar.
Sache ihr zu überlaſſen, und verſprochen, ſie in einer be-
friedigenden Weiſe zu erledigen. Das brachte ſie auch wirklich
ſchon am nächſten Mittag zu Stande, trotz der erſchwerenden
Umſtände. Mir führte ſie mit keinem Worte meine nächtliche
Unthat zu Gemüthe, ſondern warf nur hin, daß ich mir
gegenüber, ihr zur Seite, meinen Stubennachbar ſehen
würde, zugleich bat ſie um die Erlaubniß, uns bekannt mit-
einander zu machen, wobei ſie die Ueberzeugung durch-
ſchimmern ließ, daß ich Gefallen an ihm finden würde.
Dem Maler dagegen hatte ſie alle Mißſtimmung zu be-
nehmen, ſogar Intereſſe für mich einzuflößen verſtanden,
obwohl ihr von mir nichts weiter als der Name bekannt war.
Während meines Morgenſpaziergangs hatte ſie aber die ver-
zeihliche, ich möchte ſagen berufspflichtmäßige Neugier gehabt,
als ſie mit dem Dienſtmädchen meine umherliegenden Sieben-
ſachen ordnete, auch auf die mitgebrachten Bücher, Mappen
und Anderes einen Blick zu werfen, und daraus allerhand
errathen, z. B. daß ich viel in der Welt umhergekommen,
Tiger und Elephanten gejagt hatte, und war zu der Anſicht
gelangt, daß ich trotz meinem nächtlichen ſchlafmörderiſchen
Ueberfall ein vortrefflicher Menſch ſei, ein Schatz von
Unterhaltung und Belehrung für die ganze Geſellſchaft, ins-
beſondere eine Fundgrube für Landſchaftsmaler. So un-
gefähr hatte ſie meinem Schlachtopfer von mir geſprochen,
und dieſes wohl die Abſicht gemerkt, ſich dadurch aber nicht
verſtimmen laſſen, im Gegentheil war es begierig geworden
auf meine Bekanntſchaft. Alles Weitere machte ſich dann
halb von ſelbſt, halb durch wenige von ihr in die Unter-
haltung geſtreute Worte.


Dieſe fiel bald auf das Reiſecapitel und ſchon ehe wir
den Tiſch verließen, war Friede hergeſtellt, Freundſchaft
vorbereitet und die letztere ſpäter auf Lebenszeit befeſtigt.
Der Mann hatte lange in Norwegen zugebracht, einmal
ſogar im höchſten Norden überwintert und eine Menge
Studien mitgebracht, Felsmaſſen, an denen das Meer
10
[146]V. Nordlicht.
brandet, groteske Eisformationen, ferner einen Cyklus von
Darſtellungen des Nordlichts, das er in allen Phaſen
beobachtet und wiederzugeben verſucht hatte. Er mag wohl
Recht haben, daß kaum eine andere Naturſcene einen Maler
dermaßen in Entzücken und zur Verzweiflung bringen kann,
in Entzücken über die Pracht, Mannigfaltigkeit, Seltſamkeit
der Erſcheinungen, in Verzweiflung über das eigene Un-
vermögen, ſie nur annähernd wiederzugeben. Da liegen
nun alle dieſe Sächelchen, rief er mit komiſchem Pathos,
und machen ſich luſtig über mich. Ich komme mir vor wie
Einer, der Traumgeſichte beſchreiben will. Ich fühle, daß
ich nur einen kleinen Theil der Wirklichkeit auf’s Papier
zu heften vermochte und doch jeder Beſchauer mich der Ueber-
treibung und Phantaſterei zeihen wird. Wer ſie nicht geſehen
hat, dieſe Wunder von blauen, grünen, rothen, gelben,
weißen Strahlen, die bald blitzartig zum Zenith hinaufzucken,
bald ſich durchkreuzen, Fächer, Kronen bilden, jetzt den ganzen
Horizont wie ein großes weißes, faltiges Gewand erſcheinen
laſſen und jetzt wieder wie mit Feuer übergießen — wer
alle dieſe Formen-, Licht- und Farbenwunder nicht geſchaut
hat, hält jede Abbildung für müßiges Pinſelſpiel. Damit ich
wenigſtens bei kindlichen Gemüthern Glauben finde, möchte
ich ein Märchen vom Winterkönig ſchreiben und mit jenen
Motiven illuſtriren.


Die Königin der glücklichen Inſel, unſere Penſions-
mutter oder Providenz, wie ſie gewöhnlich von ihren Pfleg-
lingen genannt wurde, war ein Weſen eigenthümlicher Art.
Seit jeher hatte ſie die Satzung einzuführen und trotz allen
Anfechtungen aufrecht zu halten gewußt, daß der Platz
beim Mittagstiſch nicht vom Belieben der Einzelnen abhing,
eben ſo wenig überließ ſie einem Zufall, wie dem Tage der
Ankunft, die Rolle des Quartiermeiſters, vielmehr nahm
ſie dieſe als ihr Recht in Anſpruch. Im Speiſeſaal und in
den Stuben hing ein Placat, worin das in drei Sprachen
[147]V. Satzungen.
proclamirt wurde, neben anderen Paragraphen der Haus-
ordnung über Rauchen, Klavierſpielen, Singen, Zimmer-
turnen, geſtiefelte Zimmerpromenaden u. ſ. w. Dabei aber
war unter uns die Meinung vorherrſchend, daß dieſe Tyrannei
in der Tiſchordnung und andere unerhörte Beſtimmungen
von der alten Dame ſo gehandhabt wurden, daß dadurch
Quellen der Unterhaltung geöffnet und der Disharmonie
verſtopft wurden. Wie ihre gleichfalls verwittwete Tochter,
ſaß ſie ſelbſt bald hier bald da. Einige behaupteten, daß
ſie ein feineres Senſorium für die Intereſſen ihrer Pfleglinge
habe, als dieſe in der Regel ſelbſt, daß ſie z. B. zwei
Nachbaren, die oft von ihren körperlichen Angelegenheiten
ſprachen, ebenſo Solche, die ſich ſtreitſüchtig, oder allzu
redſelig, oder allzu ſchweigſam zeigten, unbarmherzig aus-
einander zu reißen pflegte, dagegen wieder Andere, die bis
dahin noch wenig wechſelſeitige Berührungen gehabt, bei
denen ſie jedoch Wahlverwandtſchaft vermuthete, plötzlich
wochenlang zuſammenſetzte. Die in Form und Farbe ver-
ſchiedenen Serviettenbänder ſignaliſirten für jeden Mittag
die Quartierliſte. Wie ſich denken läßt, fehlte es von Seite
neuer Ankömmlinge nicht an erſtaunten, gereizten Fragen,
Bitten, Vorſtellungen, Spöttereien, Allem ſetzte ſie jedoch
einen ſanften zähen Widerſtand entgegen, ließ ſich nie auf
eine ernſthafte Motivirung ein, gab auch nie zu, daß ſie
nach gewiſſen Grundſätzen und zu beſtimmten Zwecken ſo
verfahre, vermuthlich um alle Empfindlichkeiten zu ſchonen.
Von Redensarten wie: „gönnen Sie mir alten Frau doch
dies Spielwerk“, „laſſen Sie mir doch dies kleine Stück
Freiheit, in allem Uebrigen bin ich ja doch Ihre Sclavin“,
„es iſt einmal meine Grille“, „bin’s mal ſo gewohnt“,
„Zufall, nichts als Zufall“ u. dgl. hatte ſie ſtets in ihrer
Vorrathskammer eine reiche Auswahl, wie von eingemachten
Früchten mit und ohne Zuſatz von Eſſig oder Citronenſäure.
Ihre Feinde — ſie hatte deren nur unter benachbarten
Penſionshaltern — erklärten ſie für herrſchſüchtig, eitel,
10*
[148]V. Satzungen — Zug nach dem Süden.
launiſch und geizig, mehr wagte ſelbſt der Neid nicht, gegen
ſie auszuſagen.


Monatliches Kündigungsrecht war beiden Theilen vor-
behalten, wurde aber faſt nie ausgeübt, überhaupt zeigte ſich
das Haus mit Ausnahme der heißen Monate immer gefüllt,
obwohl ſeine Preiſe höher als in anderen Anſtalten der Art
waren, denn dieſe galt für ein Muſter der Gattung. Und
doch konnte man die Ausſtattung keineswegs ſplendid nennen,
auch die Schüſſeln bei Tiſche ſagten der Zunge und dem
Magen zu, glänzten jedoch weder durch Menge noch durch
Namen. Alles bis auf’s Kleinſte war aber darauf berechnet,
dem Gaſte bald nach ſeinem Eintritt jene wohlthuende
Empfindung zu geben, die ich nicht mit Einem Adjectiv be-
zeichnen kann, ſondern für die ich unſer comfortable, snug und
Euer „behaglich, wohnlich, gut aufgehoben, traulich, heimiſch“
in Anſpruch nehme. Vielleicht meint ſie Goethe mit dem
Worte „Wohngefühl“. Wahrſcheinlich hätte ich mein Leben
in dem Hauſe beſchloſſen, wenn es nicht durch Familien-
verhältniſſe in andre Hände übergegangen wäre. — —


Wie die Sommerreiſeluſt und der Trieb, durch und auf
Reiſen Vergnügen, Erholung, Geneſung zu ſuchen, ſo
ſteigert ſich auch der winterliche Zug nach dem Süden. Unſre
Singvögel wußten es ſeit jeher, wie gut ſich die Lunge in
der kalten Jahreszeit drüben jenſeits der Berge befindet, und
ſangen uns jeden Frühling ein Lied davon. Aber wir ver-
ſtanden es nicht, oder wir dachten vielleicht auch, ihr Droſſeln,
Nachtigallen, Grasmücken habt gut jauchzen, euch ſind
Schwingen gewachſen, euren Tiſch findet ihr überall gedeckt,
jeder Baum gibt euch Obdach; oder wir merkten, daß es
nicht lauter luſtige Lieder waren, die im Mai von Bäumen
und Büſchen ertönten, ſondern daß viele Klagelieder ſich
darunter miſchten. Endlich entſchloſſen ſich aber doch einige
von uns Ungeflügelten — es waren Engländer — den
Verſuch zu machen, andere folgten, und immer fort wächſt
die Zahl der Nordeuropäer und Amerikaner, die dort über-
[149]V. Ewiger Mai — deutſcher und ſchweizer Unternehmungsgeiſt.
wintern. So ſchlimm, wie den kleinen gefiederten Sängern
ergeht es ihnen drüben zwar nicht, ſie werden nur gefangen
und gerupft *), nicht dazu noch gebraten und verſchlungen.
Vielleicht wird es aber auch damit einmal beſſer. Denkt man
doch bereits an internationale Verträge zum Schutze der Zug-
vögel, warum ſollte nicht auch unter den Gaſt- und Hauswirthen
der Riviera di Ponente endlich die Einſicht erwachen, daß
das zur Zeit noch vorherrſchende Ausbeutungsſyſtem ihnen
nicht zu dauerndem Vortheil gereicht? Auch am Genferſee
hat erſt die mit der Frequenz ſteigende Concurrenz die jetzigen
geſunden, den Lebensmittelpreiſen und dem Grundwerthe im
Ganzen angemeſſenen Penſionsbedingungen hervorgerufen,
hoffen wir, daß dies bald auch in dem Lande geſchehe, wo
„ſtill die Myrthe, hoch der Lorbeer ſteht“. Auf der ganzen
Halbinſel ſind übrigens die Preiſe nirgend ſo übertrieben,
als im franzöſiſchen Stück Italien.


Deutſchem und ſchweizer Unternehmungs-
geiſt
eröffnet ſich dort ein gutes Feld, verſäumen wir nicht,
hierauf aufmerkſam zu machen. Seitdem durch die Brenner-
bahn der Weg nach dem Süden geebnet und auch auf der
Halbinſel das Schienennetz nahezu vollſtändig geworden,
kann es nicht fehlen, daß die Mittelmeerküſten, Feſt-
land und Inſeln, mit Penſionshäuſern mehr
und mehr beſiedelt werden
. Unter Engländern,
Amerikanern, Ruſſen, Deutſchen, Schweden habe ich ſo
[150]V. Sehr enttäuſcht — Hoffnungen und Wünſche — an junge Aerzte.
manchen kennen gelernt — es wird deren gewiß eine gute
Anzahl geben — der ſich mit dem Wunſche trug, dem es
ärztlich gerathen, zur Pflicht gemacht wurde, einen oder
einige Winter im Süden zuzubringen, oder ganz dahin über-
zuſiedeln, dennoch kommen ſie nicht zum Entſchluſſe. Dieſer
und jener hat auch wohl einen Verſuch gemacht, iſt aber
„ſehr enttäuſcht“ zurückgekehrt. — Warum? — Einer hat
eine Stelle gewählt, die nicht weit genug ſüdlich lag, oder
gerade einen ſehr ungünſtigen Winter getroffen; ein Anderer
hat ſich nicht tröſten können, daß unſer Wieſengrün, unſre
Eichen- und Buchenwälder in jenen Breiten fehlen; ein
Dritter hat ſeinen heimiſchen Gewohnheiten dort zu wenig
nachhängen können, Eſſen und Trinken hat einem Andern
nicht geſchmeckt, in ſeinem Quartier hat es an Sauberkeit,
Bequemlichkeit, freundlichen Wirthsleuten gemangelt, oder
der Aufenthalt hat viel mehr gekoſtet, als berechnet, die
fremden Sprachen, die ihn umſchwirrten, ſind ihm läſtig
gefallen, ganz beſonders, bewußt und eingeſtändlich oder
nicht, iſt Vielen „die Zeit entſetzlich lang geworden“, weil
ſie zu wenig Anſprache und Anregung fanden. Manches
wird ſich hoffentlich durch Wechſelwirkung allmählich anders
geſtalten: ſobald der Beſuch noch mehr als bisher gewachſen
iſt, werden ſich an günſtigen Punkten, an denen es nicht
fehlt, mehr und mehr Leute auf den Empfang von Winter-
gäſten rüſten, neue Penſionscolonien mit nahezu ſchweizer
Preiſen und Einrichtungen ſich bilden, welche auch Minder-
bemittelten Wintercuren ermöglichen, und dieſe Erleichterungen
wieder ihrerſeits den Beſuch weiter ſteigern. In den letzten
Jahren ſoll bereits in einigen Gaſt- und Hauswirthen in
Nizza der Glaube an die Ewigkeit und Unverletzlichkeit ihres
Monopols auf milde Winterluft, welches ſie in der ſchnödeſten
Weiſe ausbeuteten, etwas erſchüttert ſein.


Zu den altbekannten geſellen ſich alljährlich neue
Geſundheitsſtationen für Wintergäſte. Mancher junge
deutſche Arzt
, deſſen Bruſt unter dem nordiſchen Winter
[151]V. Erforderniſſe — Meeresküſte — ſpazieren klettern.
leidet, wäre der Mann, Entdeckungsreiſen in dem Gebiete
zu machen und Einrichtungen zu treffen oder anzuregen. Er
und ſeine Collegen mögen entſcheiden, welche Oertlichkeiten zu
derartigen Anſiedelungen in geſundheitlicher Beziehung paſſen,
meine Rathſchläge nach der Seite hin beſchränken ſich auf
touriſtiſche Dinge. Was in einer Winterpenſion mir nöthig,
wünſchenswerth und überflüſſig ſcheint, ergibt ſich zum Theil
ſchon aus dem, im nächſten Capitel in Sachen „Gaſtwirth-
ſchaften“ Geſagten, hier will ich nur noch Folgendes
bemerken.


Liegt der Ort diesſeits des Mittelländiſchen Meeres, mit
Einſchluß Siciliens, ſo muß das Haus vor Allem heizbare
Zimmer haben, dieſe müſſen nach Süden gelegen, die volle,
unverkümmerte Mittagsſonne, wohlſchließende Fenſter
und Thüren haben und der Boden, wenn er von Stein oder
Eſtrich iſt, mit Wollendecken belegt ſein. Die Nähe der
Meeresküſte iſt von großem Werthe, nicht blos ihres
unerſchöpflichen maleriſchen Reizes halber, namentlich auch
weil der Genuß der Seeluft und die Gelegenheit zu See-
bädern Vielen ein Heilmittel, Allen eine Wohlthat und eine
Luſt iſt. Die unmittelbare Seeluft mit ihren aufregenden
Einflüſſen ſagt einzelnen Organismen nicht zu, auch iſt die
Gruppirung der umliegenden Höhen nicht gleichgiltig in Bezug
auf Schutz gegen erkältende, ſtaubbringende, austrocknende
und erſchlaffende Winde — doch das iſt Sache der Aerzte,
nicht unſre. Manche ziehen Wohnungen mitten in einem
Orte vor, Andere, z. B. ich, abſeits einſam gelegene, in’s
Freie blickende. Im letzteren Falle iſt es gut., wenn das
Haus nicht allzu fern von einem Orte liegt und dieſer durch
Schienen, Dampfboote, oder wenigſtens Poſtwagen mit der
übrigen Welt in Verbindung ſteht. Schattige Gänge ſind
für Herbſt und Frühling willkommen, doch allenfalls ent-
behrlich, deſto nöthiger mindeſtens Ein gangbarer Weg,
damit wer ſich Bewegung macht, nicht gezwungen iſt, ent-
weder über ſchlechtes Pflaſter und Felstrümmer ſpazieren
[152]V. Verlorenes Paradies — Oertliches — Turnen.
zu klettern, oder mit einem ſtaubigen reſpective kothigen
Fahrweg vorlieb zu nehmen, welcher zum Ueberfluß noch
von Mauern eingefaßt iſt (vgl. S. 126). Mögen auch die
lieblichſten Orangenblütendüfte ihn umſpielen, mag er die See
koſen, mag er ſie branden hören, mag er wiſſen, daß rund
um ihn ein Paradies ſich ausbreitet, er ſieht es nicht, es iſt
ein verlorenes Paradies für ihn, er hat das traurige Gefühl
der Gefangenſchaft. Liegt das Haus im Ort ſelbſt, ſo dürfen
nicht in nächſter Nachbarſchaft Gewerbe betrieben werden,
die den Gehörs- oder Geruchsſinn beleidigen. Die Nähe
eines Ortes, in dem andere nordiſche Gäſte und gebildete
Einheimiſche wohnen, hat noch manche Vortheile, z. B. daß
die Geſelligkeit nicht blos auf die Elemente geſtellt iſt, die
ſich zufällig in den vier Wänden einer Penſion zuſammen-
finden, daß ärztliche Hilfe nicht allzufern, daß Handwerker
und Händler für Beſtellungen und Einkäufe zu Gebote
ſtehen u. ſ. w. Jeder Penſionshalter handelt ferner im
Intereſſe ſeiner Anſtalt, wenn er auch Fremden, die nicht
bei ihm wohnen, Speiſen und Getränke auf Verlangen
verabreichen läßt. Nicht bedarf es koſtbarer Garten- und
Parkanlagen, wenn nur geſorgt iſt für windgeſchützte,
ſonnige Ruheplätze; halbkreisförmige, nach Süden offene
Anpflanzungen der ſchönen immergrünen Stechpalme (Ilex)
ſind dazu recht geeignet. Barren und Reck für Turn-
übungen laſſen ſich auch leicht anbringen. *) Von ſonſtigen
Einrichtungen ſei nur noch namhaft gemacht eine kleine aus-
gewählte deutſche, engliſche und franzöſiſche Bibliothek und
eine Anzahl Muſikhefte — alles das iſt jetzt ſehr wohlfeil —
und ein paar Zeitungen. Dem für letztere ausgeſetzten Geld-
betrage würde mancher Gaſt aus eigenen Mitteln gern zu-
[153]V. Ernſte Ueberlegungen — Waffen gegen Langeweile.
legen, wenn ihm eine berathende Stimme über die Auswahl
zugeſtanden würde.


Jeder, der im Süden ſein Winterquartier als Curgaſt
nehmen will, hat übrigens vorher alles Ernſtes nicht nur
mit ſeinem Hausarzte, ſondern auch mit ſich ſelber zu
Rathe zu gehen
. Unter Umſtänden, z. B. wenn ſeine
Krankheit ſchon ſehr weit vorgeſchritten, oder es ihm gar zu
ſchwer wird, ſich von den Seinigen zu trennen, oder wenn
er überaus weichlich und abhängig von Gewohnheiten iſt,
thut er gewiß oft beſſer, daheim zu bleiben. In vielen
Winterſtationen (der Buchſtabe M. führt deren allein vier
erſten Ranges auf: Meran, Montreux, Mentone, Madeira)
ſieht man nur zu häufig Geſtalten, denen im Geſicht ge-
ſchrieben ſteht, daß an ihrem Herzen der Gram des Heimweh
nagt, verheerender noch als die Tuberculoſe an ihrer Lunge.
Ich glaube, einige von Euch, Ihr Herren Hausärzte, geben
das consilium abeundi etwas zu raſch. Nichts für ungut! —


Eine Ideenverbindung, die keiner Erläuterung bedarf, führt
uns von Curorten und Penſionen auf — die Langeweile.


So Mancher, der durch Noth, Ehrgeiz, Pflichtgefühl
oder andere ſtarke Triebfedern Jahr aus Jahr ein in an-
geſtrengter Thätigkeit gehalten wird, benutzt gern die kurzen
Raſten, die ihm bei ſeiner Familie und ſeinen Freunden
vergönnt ſind, um über die „Laſt der Arbeit“ zu klagen und
ſeine brennende Sehnſucht nach Ruhe auszuſprechen. Erſt
wenn ihm einmal dieſe Ruhe für längere Zeit auferlegt iſt,
ſei es zwangsweiſe, durch Kränklichkeit, Alter, Verhältniſſe,
Perſonen, oder ſei es, daß ihn ſein eigener freier Entſchluß
in Ruheſtand verſetzt hat, weil er „nun endlich einmal ſein
Leben, die Früchte ſeiner Thätigkeit, genießen möchte“ — erſt
dann bemerkt er, welcher Segen auf der Arbeit, der berufs-
mäßigen, geregelten, zwingenden Arbeit liegt. Selbſt das
ehemalige Uebermaß, welches er ſo oft verwünſchte, tauſchte
er gern ein gegen den jetzigen völligen Mangel. Bevorzugte,
hochgeborene Naturen gibt es zwar, Dichter und Denker, die
[154]V. Geographie der Langenweile.
emporragen über den Dunſtkreis der Langenweile; ihr Geiſt
arbeitet in ihnen, für ſie, ſie brauchen nicht Hand noch Fuß
zu regen, um ihn zu ſpornen, wieder andere gibt es, die nur
ein dumpfes Pflanzenleben führen und ſich nicht bis zur Höhe
der Langenweile erheben, wir Uebrigen jedoch, die Mehrzahl
der Culturmenſchen, bedürfen irgend einer Art von Arbeit.


In den Ländern, wo die Sonne wärmere Strahlen hat
und die Erde befliſſen iſt, den Menſchen aller Mühe zu ent-
heben, mag man vom dolce far niente ſprechen, noch weiter
gen Mittag mögen Tauſende die Tage hinbringen, ihre
Naſenſpitze zu betrachten, Millionen ſich in Nirvana ein-
wiegen, wir Nordländer ſind einmal auf Thätigkeit an-
gewieſen. Die Menſchheit iſt in’s Mannesalter getreten,
die Cultur hat ſich in nördlichen Breiten angeſiedelt, weit ab
vom irdiſchen Paradieſe, die Sehnen unſres Körpers und
Geiſtes ſollen ſtraffer werden, wir ſollen lernen, mehr zu
arbeiten und weniger zu ruhen. Wiſſenſchaft, Kunſt, Handel,
Induſtrie haben ſich aus allen jenen „geſegneten“ Ländern
der Milch und des Honigs, der Datteln, der Feigen und der
Trägen zurückgezogen und ihren Sitz dorthin verlegt, wo
Eiſen und Kohlen wuchſen, wo der Menſch alle Kräfte auf-
bieten muß, um dem Boden Brod abzugewinnen. Auch der
Gott der Schlachten begünſtigt den Norden, ſo in Deutſch-
land
, in Italien, in Amerika. Während auf der einen Seite
der Fleiß ſich belohnt ſieht durch materielle und geiſtige Güter,
droht auf der andern der Trägheit die Strafe. Ueber die
Schlaffen ſchwingt ihre furchtbare Geißel die Langeweile,
eine Zuchtruthe, die in unſren Zeiten und Zonen gefährliche
Wunden ſchlägt, in ihrem Gefolge Lebensüberdruß, Irrſinn
und Selbſtmord. Alle dieſe Schrecken waren in alten Zeiten
und ſind noch heute im Süden ſelten. *)


[155]V. Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang.

So halte ich denn an der Meinung feſt, die Arbeit,
ſo lange ſie innerhalb gewiſſer Schranken bleibt, iſt unſre
Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter ſind aber nie zu-
gleich Schmeichler, ſondern ernſte, ſtrenge Lehrer, deshalb
wenig geliebt, viel verkannt, geſchmäht, verläumdet. Auch
die Arbeit hat dieſes Schickſal. Hören wir die Curgäſte, ſie
werden faſt alle behaupten, die meiſten auch wirklich glauben,
daß es allein oder doch hauptſächlich das Tagewerk war, das
ihre Geſundheit untergrub und ihre Nerven rebelliſch machte:
der Beruf mit ſeinen Anſprüchen und Schädlichkeiten. Stellt
nun aber der Arzt mit jedem dieſer Märtyrer der Arbeit ein
Verhör an über ihre Lebensweiſe, ſo zeigt ſich, daß überall
ſo viel Anderes geſchah, welches auch, welches allein an Allem
ſchuld ſein kann, daß ich keck behaupte — — nein, ich will
nichts behaupten, ſondern nur eine Frage thun: wie viele
unter tauſend Fällen mögen wohl ſein, in denen eine abſolute
Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit,
deſſen Folge Zerrüttung der Geſundheit iſt, wo ſonſt nichts
hinzukam, das mindeſtens als Miturſache zu betrachten
wäre? —


Was ſoll nun aber jenem Weltgeſetze gegenüber Einer
thun, der mit ſeiner Geburt in unſrer Zone auf Thätigkeit
gewieſen, und doch durch körperliche oder geiſtige Dinge daran
gehindert und zu Müßiggang verurtheilt iſt? Auswandern
in die Länder der Palmen, wo ſich leichter ungeſtraft faulenzen
läßt? — Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die
Europäer von der Langenweile weit ärger als von Inſecten
und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira,
Algier, Aegypten ertappen ſich Nordländer oft auf den
ärgerlichſten Grillen, der Himmel iſt ihnen zu blau, die
immergrünen Laubbäume machen ſie ungeduldig und die ewig
lächelnde Flora iſt eine ennuyante, zudringliche Perſon. Mit
Flucht iſt alſo nichts gethan, im Gegentheil lauern überall
geheime Agenten, um Deſerteurs, die ſich der von Land und
Stamm ihnen auferlegten Dienſtpflicht entziehen wollen, zu
[156]V. Lectionen im Müßiggang.
greifen und zur Verantwortung zu ziehen. Sollten ſich denn
aber nicht Wege finden laſſen, der Strenge dieſes Geſetzes zu
entgehen, gibt es nicht irgend ein Löſegeld, das auch ſchwache
Kräfte bei gutem Willen aufbringen können? Läßt ſich nicht
vielleicht, wie jede andere Kunſtfertigkeit, auch der Müßig-
gang erlernen? Dann wäre ja ſtatt des aufgegebenen ein
neuer Beruf geſchaffen und wir hätten nicht abzurechnen mit
täglichen ſo und ſoviel unerbittlichen Stunden, deren jede
aus wohlgezählten ſechzig bleiernen Minuten beſteht? — —
Dieſen Betrachtungen gab ich mich hin, als meine Aerzte mich
von einem Badeort zum andern ordinirten. —


— Nun, theurer Meiſter, Ihr ſchweigt? Beim Styx,
redet, wie läßt ſich’s anſtellen, um ohne Arbeit den Erinnyen-
klauen der Langenweile zu entgehen? Curgäſte, Rentiers,
Sinecuriſten jeder Art würden dem Wohlthäter, der ſie
dieſe Kunſt lehrt, ein Denkmal ſetzen. Läßt ſich der Müßig-
gang, ich meine den behaglichen, anſtändigen Müßiggang,
der nicht wie der Gähner die Hand vorzuhalten braucht, läßt
er ſich in der That erlernen?


— Erlernen läßt ſich etwas der Art, aber nicht lehren,
mein vielfragender junger Freund, ſo lauteten die erſten ge-
flügelten Worte, die der Weiſe endlich kundgab. Alle anderen
Künſte und Fertigkeiten können beigebracht werden, die Kunſt
des Müßiggangs hingegen iſt eine freie, die aller Regeln
ſpottet. Wer vermöchte vorauszuſehen und zu claſſificiren,
welche Gebote und Verbote dem Einzelnen ſeine Verhältniſſe
auferlegen? Ich kann nur mahnen, eifrig und unermüdlich
zu ſuchen. Das Wort Müßiggang faſſe ich hier im weiteſten
Sinne, verſtehe darunter Alles, was außerhalb des gewohn-
ten Berufstreibens liegt, und glaube allerdings, daß Einer,
der durch zwingende Umſtände aus ſeinem gewohnten Treiben
geriſſen iſt, ein neues, ihm angemeſſenes, ſeine Zeit und ihn
ſelbſt einigermaßen ausfüllendes in den meiſten Fällen nicht
lange vergebens ſuchen wird.


Die vornehmſte Warnung, die ich an einen Solchen richten
[157]V. Zerſtreuungen, Zeitvertreibe, Beluſtigungen — Rentierleben.
möchte, iſt die: Wähne nicht, daß die Dinge, welche die we-
nigen freien Stunden Deines bisherigen arbeitſamen Lebens
verſüßten, dieſe angenehme Süßigkeit nun auch behalten,
wenn Du ſie zum Tagewerk machſt, denn das wäre dieſelbe
Anſchauung, welche naſchhafte Kinder beherrſcht, wenn ſie
Kuchenbäcker beneiden und dereinſt werden möchten. Im
Gegentheile ſei überzeugt, daß von dem Augenblicke an, wo
Du zum erſten Male die Bemerkung machſt, daß dieſe Zer-
ſtreuungen ihren Reiz zu verlieren anfangen, das Gefühl der
Verlaſſenheit über Dich kommen wird, wie das Gefühl des
Schwindels den Bergſteiger ergreift, der ſich an Geſträuch
hält, deſſen Wurzeln unter ſeiner Hand ſich lockern. Beide
Empfindungen haben in der That Verwandtes. In beiden
iſt es der leere Raum, der horror vacui, der Mangel an
Stütze, die Verrückung des Schwerpunkts, welcher die Ein-
bildungskraft ängſtigt und umtreibt. Geplauder, Spazier-
gänge, Kartenſpiel, Muſiknäſcherei, Romane, Zeitſchriften
vertreiben wohl Stunden, aber wehe Dir, wenn Du meinſt,
daß auch Monate und Jahre ſich vertreiben laſſen, blos durch
Vermehrung der Treiber! Du würdeſt bald inne werden,
daß Du durch Mißbrauch dieſer Hilfsmittel ihre Hilfe ganz
verſcherzt haſt. Leichte Unterhaltungs- und humoriſtiſche Lectüre
iſt es beſonders, die dann am raſcheſten ihren Reiz verliert.
Es handelt ſich hier um das Stück Lebensklugheit, das ſeit
Salomo, Aeſop und Sokrates alle Weiſen des Morgen- und
Abendlandes gepredigt haben, mithin bei der Mehrzahl der
Zeitgenoſſen, die keine „alten Geſchichten“ hören mag noch
gelten läßt, verachtet wird. Man glaubt, ein Reizmittel zum
Nahrungsmittel, Würze zur Koſt machen zu können. Daher
zum Theil die athemloſe Jagd auf neue Eindrücke und An-
regungen und der chroniſche Gähnkrampf, an dem unſre Zeit
leidet.


Solltet Ihr, geliebte Schüler, einmal in den Fall kom-
men — Gott bewahre Euch davor, denn der Weg, der dann
Euer harrte, iſt eine mißliche Gletſcherwanderung, voller
[158]V. Rentiers und Sinecuriſten — Tröſteinſamkeit.
Schründen und Klüfte — ſolltet Ihr dereinſt einmal in den
Fall kommen, Euren Beruf verlaſſen zu müſſen und zum
Rentierleben verurtheilt zu ſein, ſo beſchwöre ich Euch, ver-
ſucht nicht, den Stier bei den Hörnern zu faſſen, bemüht Euch
nicht, die Zeit zu „vertreiben“, ſondern trachtet, ſie auszu-
füllen. Sucht alsdann zuerſt unter den ernſten, mühſamen,
unbeliebten Dingen, laßt Euch nicht abſchrecken, wenn ſie ein-
förmig ausſehen, ermüdet nicht, wenn ſie anfangs wenig an-
ziehen und feſſeln, bedenkt, daß auch das Berufsgeſchäft, als
wir es einſt erlernten, keineswegs immer wie Marzipan
ſchmeckte, und doch waren wir zu der Zeit noch in den Lehr-
jahren, in denen es ſich leicht lernt, leicht arbeitet, leicht vor-
lieb genommen wird. Später, wo es ſich darum handelt,
einen Erſatz dafür zu ſchaffen, wo unſere Kräfte halbirt ſind,
dürfen wir doch unmöglich die Anſprüche verdoppeln und
verlangen, daß das Surrogat beſſer munde als einſt das
Echte! — Und ſo gar übel ſchmeckt auch jenes nicht einmal,
wenn nur erſt die Gewohnheit, unſere alte Tröſterin, heran-
gehinkt iſt, deren Amt ſeit jeher war, die Thorheiten und
Uebereilungen unſrer Phantaſie und unſres Urtheils wieder
gut zu machen.


Wer in der Jugend ſich übte, geiſtig zu produciren, ſtelle
neue Verſuche damit an. Wohl ihm, wenn es gelingt, einen
unter der Aſche glimmenden poetiſchen Funken zur Flamme
anzufachen. Er componire in Tönen, Farben oder Worten
friſch drauf los, mache Verſe, ſchreibe Novellen, Erzählungen
und was weiß ich alles. Dieſe Kinder der Muße der Oeffent-
lichkeit zu übergeben, hat keine Eile. Solche Thätigkeit bietet
noch den Nebenvortheil, daß ſie keine weitſchichtige Zurüſtung
erheiſcht und weder an Oertlichkeiten noch an Jahreszeiten
gebunden iſt, paßt mithin ſo recht als Tröſteinſamkeit für
das Exil in entlegenen Geſundheitsſtationen. Will’s nicht
glücken, Eigenes zu ſchaffen, ſo findet ſich doch wahrſcheinlich
im weiten Gebiet der Reproduction ein Feld der Thätigkeit,
wie z. B. Ueberſetzungen oder Bearbeitungen aus fremden
[159]V. Tröſteinſamkeit — Hantierungen.
Sprachen. Auch das Anlegen von Sammlungen (vergl.
VIII.), welche Umherziehen, Nachſchlagen in Büchern und
Schreiberei verlangen, iſt ein ganz annehmbares Mittel der
Aushilfe. Ich z. B. habe geraume Zeit hindurch Probeſtücke
von Mundarten geſammelt, charakteriſtiſche Redensarten und
Wendungen des Volksmunds, Lieder, Schnaderhupfeln, Mär-
chen, Schwänke. Anfangs dienten ſie mir nur als Uebung in
Dialekten, bald aber nahm ich Intereſſe an der Sache und
fühlte mich zu fortgeſetztem Sammeln angeregt. Geiſtliche,
Lehrer, Händler, Wirthe, Senner, Stadt- und Landleute
wurden meine Lieferanten. Auch im Unterrichtgeben finden
Manche eine willkommene Beſchäftigung, zumal Solche, die
es nicht vorher berufsmäßig getrieben und das Glück haben,
gelehrige Schüler zu finden. Eine Winterpenſionärin (es
war eine ſehr ariſtokratiſch erzogene junge Comteſſe) wurde
von ihrem Arzte bewogen, dem Töchterchen eines Feld-
arbeiters täglich zwei Lehrſtunden zu geben, und ſchon nach
Verlauf einer Woche verſicherte ſie, die beſte Unterhaltung
dabei zu finden, ſetzte es eifrig fort und es währte nicht lange,
ſo hatte ſich zwiſchen beiden, geſellſchaftlich einander ſo fern
geſtellten Weſen eine gegenſeitige Anhänglichkeit gebildet, die
ſeitdem vorgehalten hat und beiden zu dauerndem Nutzen
gereichte.


— Wären nun aber die Umſtände der leidigen Art, daß
jenes ganze Zeughaus von Waffen gegen Langeweile und
Trübſinn verſchloſſen iſt, forderten die Aerzte jede körperliche
und geiſtige Anſtrengung zu fliehen, auch Muſik zu meiden,
wie dann? —


— Dann ſucht wenigſtens etwas auszumitteln, das
irgend einen Mechanismus hat, ſei es auch nur ein leichtes
Handwerk oder ſonſtige Hantierung, womöglich eine, die ſich
unter freiem Himmel vornehmen läßt, z. B. im Garten.
Gärtnerei wurde ſchon im Alterthum als Heilmittel empfohlen
und vielfach von Großen bis hinauf zum Kaiſer geübt. Tre-
lawney
verſichert, daß nach ſeinen Erfahrungen unter die zu-
[160]V. Tröſteinſamkeit — Gärtnerei — Zucht der Phantaſie.
friedenſten Menſchen die Gärtner gehören. Auch gegen Nach-
bildungen vermittelſt Bleiſtift, Kreide, Pinſel wird Euer
Arzt ſchwerlich etwas einwenden, wenn nicht etwa die Augen
leiden. Muß und ſoll ſchlechterdings das Haupttagewerk aus
Leſen oder Vorleſenlaſſen beſtehen, ſo ſeien wenigſtens ein
paar Stunden täglich ſolchen Büchern gewidmet, die nicht in
die Rubrik „leichte Unterhaltungslectüre“ fallen. Fertigt,
wenn’s Euer Doctor erlaubt, ſchriftliche Auszüge an aus dem
Geleſenen und lest lieber ein Buch öfter als viele Bücher
einmal. Das Geheimniß beſteht darin, die Art und den
Grad der Thätigkeit zu ermitteln, der im vorliegenden Falle
angemeſſen iſt.


Sehr weſentlich iſt in allen dieſen Dingen die Zucht
der Phantaſie
. In den meiſten Nervenleiden hat dieſe
den Hang, ſich in die Krankheit ſelbſt, ihre Urſachen und Wir-
kungen, ihren möglichen Verlauf und ſonſtige peinigende Vor-
ſtellungen, Erinnerungen, Befürchtungen zu vertiefen. Was
die Aerzte dabei zu verordnen haben, iſt ihre Sache, wir Pa-
tienten thun auf alle Fälle wohl, Hilfe nicht allein von ihnen
zu erwarten, ſondern ſelbſt Hand anzulegen. Hufeland nennt
„eine lieblich gerichtete Einbildungskraft“ eines der wichtig-
ſten Lebensverlängerungsmittel. Ebenſo wichtig als dieſe
Verlängerung ſcheint es, unſren Lebensweg möglichſt zu
ebnen, an die vorhandenen Steine nicht hart zu ſtoßen,
vor Allem nicht neue eigenhändig herbeizutragen. Auch hier
ſpielt die Phantaſie die Hauptrolle. Bei Einem, der dieſer
traurigen Gewohnheit verfallen iſt, würden wir jedoch mit
dem Rathe, ſeine Einbildungskraft lieblich zu richten, wenig
Glück machen, wahrſcheinlich würde er ihn ſo aufnehmen, wie
ein Lahmer, dem wir riethen, nicht zu hinken, denn auf ein-
mal wäre es zu viel verlangt. Vielleicht findet derſelbe Rath
in anderer Faſſung Eingang, wenn wir ihn z. B. an das
erinnern, was im IV. Capitel Einem empfohlen wurde, der
das Unglück hatte, im Hochgebirg auf glatter, abſchüſſiger
Fläche zu ſtürzen und abwärts zu treiben. Mehre dort auf-
[161]V. Zucht der Phantaſie — am Abgrunde — Stundenplan.
geſtellte Regeln gelten im figürlichen Sinne auch hier. Je
tiefer wir auf der unfreiwilligen Fahrt ſchon gerathen ſind,
je raſcher zieht es uns abwärts, je mehr nehmen Willenskraft
und Beſinnung ab; aus eignem innern Impuls Einhalt zu
thun, iſt unmöglich, deshalb muß auch hier nach einer
äußeren Hilfe geſucht werden. Wie dort mit Händen und
Füßen, ſo trachten wir hier, mit den Gedanken und der Phan-
taſie uns einzugraben in eine Stelle des geiſtigen Bodens,
auf dem wir uns befinden, an irgend einen Gegenſtand „das
Herz zu hängen“. Nur in einem Stücke wird jetzt anders
verfahren: iſt ein augenblicklicher Halt gefunden, ſo muß unver-
weilt die neue Richtung eingeſchlagen und, nicht rechts noch
links blickend, eifrig verfolgt werden. Auf zahlreiche Rück-
fälle in die alten Selbſtquälereien und gemüthskränklichen
Grübeleien müſſen wir auf den erſten Schritten des Rückwegs
jeden Augenblick gefaßt ſein, je raſcher aber in die neue Rich-
tung wieder eingelenkt wird, je leichter geſchieht es, denn die
Fallgeſchwindigkeit iſt anfangs die geringſte. Mit der Zeit ver-
liert der verhängnißvolle Zug nach unten an dämoniſcher
Gewalt, die gelähmte Willens- und Widerſtandskraft dagegen
erwacht und erſtarkt. — Die auch von einzelnen Aerzten ge-
theilte Anſicht, daß melancholiſch-hypochondriſches Weſen eine
Folge des Cölibats ſei, halte ich übrigens für eine Verwechs-
lung von Urſache und Wirkung, und glaube, daß umgekehrt
die Scheu, ſich durch ein feſtes Band für’s Leben zu binden,
nur die Folge jenes Temperaments zu ſein pflegt, weil es am
Entſchluſſe zur Verehelichung hindert. Eine Wechſelwirkung
findet dann aber allerdings ſtatt zwiſchen Beidem: der ein-
ſame Wanderer iſt auch in dieſem Gebiete, wie in der Eis-
region, mehr gefährdet, als der durch feſte Bande (Familie)
mit Welt und Leben verknüpfte. Auch für ihn gibt es indeß
Mittel, ſich vor dem Abgrunde zu retten, er mag nur um ſo
eifriger danach ſuchen. —


Oft iſt es gut, ſich einen beſtimmten Tages- und Stunden-
plan zu machen, nicht der augenblicklichen Laune Alles zu
11
[162]V. Schutz der Arbeit u. Bürgſchaften der Freiheit — Sonnenſchirm.
überlaſſen. Ein ſelbſtauferlegtes Geſetz kommt vielfach zu
ſtatten, indem es entweder an die Stelle des gewohnten, nun
ſchmerzlich entbehrten Berufs tritt, oder Solche, die ohne ge-
regelte Thätigkeit ſich zu behelfen vermochten, unter einen, in
den neuen ſchwierigeren Verhältniſſen nützlichen Zwang
bringt.


Nachdem im Vorhergehenden alle leidensgenöſſiſchen Leſer
zu dauerndem Aufenthalt im Freien und Entwickelung einer
angemeſſenen Thätigkeit daſelbſt ermahnt wurden, halte ich
es für Pflicht, ihnen nun auch die Ausführung dieſes Raths
einigermaßen zu erleichtern. Da iſt es denn zuerſt nöthig, ein
Vorurtheil abzulegen, welches wir Alle mit der Muttermilch
eingeſogen: daß ein Sonnenſchirm ſich für uns Männer
ſo wenig ſchicke, wie ein Regenſchirm für Soldaten oder
Jäger. Die Landſchaftsmaler machten ſich längſt davon los,
von continentalen Curgäſten aber bis jetzt nur wenige. Sie
haben über den Nutzen des Sonnenſchirms nicht nachgedacht
und finden es beſchwerlich, ihn ſtundenlang über ſich in der
Hand zu halten, ſonſt würde er wenigſtens in klimatiſchen
Wintercurorten auch beim männlichen Geſchlecht wohl bereits
eingebürgert ſein und nicht mehr für ein Stück Verweich-
lichung, Ueberraffinement, „engliſche Schrulle“ gelten. Es
handelt ſich nämlich nicht um Erhaltung einer zarten Haut-
farbe oder um Anlaß zur vortheilhaften Darſtellung einer
kleinen weißen Hand oder eines ziegelrothen Handſchuhs,
ſondern in erſter Reihe um die Vermeidung der Gelegenheit
zur Erkältung, alſo für Bruſtkranke nicht um Kleinigkeiten. —
Ein Sonnenſchirm? — Ja wohl, ein Sonnenſchirm. Und
außerdem handelt es ſich um Schutz der Augen, welche doch
auch nicht unter die Luxusgegenſtände zählen. Die Sache iſt
einfach die.


In Südeuropa iſt der winterliche Sonnenſchein oft eben
ſo drückend, wie der gleichzeitige Schatten froſtig. Natürlich
wird dadurch der Patient, welcher ſich in ſeiner luftgeſchützten
Promenadenniſche ſchon ein paar Stunden pflichtmäßig hat
[163]V. Sonnenſchirm für Curgäſte.
röſten und blenden laſſen und noch weitere paar Stunden
Prüfungszeit vor ſich ſieht, leicht verführt, ſich eine Er-
friſchungspauſe auf irgend einer ſchattigen, luftigen Steinbank
zu gönnen, eine Pauſe von kürzeſter Dauer, doch völlig genügend,
eine tüchtige Erkältung zu Stande zu bringen. Alle War-
nungen vermögen nicht, Jeden von ſolchen Verſtößen abzu-
halten. Halbſchattige Plätze, z. B. Lauben, gibt es nicht
überall, ſie erfüllen auch ſelten ihren Zweck und beläſtigen
das Auge mit ihren zuckenden Lichtern noch mehr, als voller
Sonnenſchein. Ein Schirm dagegen ſchützt vor dem Ueber-
maß von Wärme und vor Blendung, ohne eine Schatten-
temperatur zu erzeugen. Wie Maler ihren Schirm benutzen,
iſt bekannt. Sie ſtellen ihn auf die Erde und kauern ſich dar-
unter auf ihr Stühlchen. Maleriſch mag die Stellung ſein, be-
quem iſt ſie jedenfalls nicht, dann ſteht zu bezweifeln, daß unſre
wohlwollendſten Leſer und Leſerinnen, wenn wir ſie auch noch ſo
flehentlich bäten, ſich entſchließen würden, auf der Promenade
des Anglais
in Nizza oder der Waſſermauer in Meran unter
einem derartigen Schirmungethüm in der nothwendigen Poſe,
ohne zu malen, fünf Stunden täglich zuzubringen. Nach-
gerade ſcheint ſelbſt einigen Malern, denen doch ſonſt über-
triebener Hang zur Bequemlichkeit nicht vorzuwerfen iſt, die
Geduld ausgegangen zu ſein, denn ſie benutzen jetzt häufiger
als Fußgeſtell einen Stock, der mit ſeinem Eiſenſtachel in die
Erde geſtoßen und auf den der Schirm geſchraubt wird, ſo
daß ſie aufrecht darunter ſitzen können. Am Stock iſt über
der Eiſenſpitze eine Platte oder ein Querbalken aus Metall
angebracht, auf welchen die Füße geſetzt werden, um dem
Gerüſt mehr Halt zu geben. Curgebrauch iſt aber von dieſer
Einrichtung meines Wiſſens nicht gemacht worden, dagegen
tragen einzelne Engländer und Franzoſen den Schirm in
einem mit Täſchchen verſehenen Ledergürtel. Er begleitet wie
ein Kleidungsſtück alle ihre Bewegungen, ohne die Freiheit
der Hände zu beeinträchtigen. Gerade in den wärmſten
Sonnenſtunden ſollen jedoch die meiſten Heilgäſte im Freien
11*
[164]V. Schutz der Arbeit und Bürgſchaften der Freiheit.
ſitzen, nicht gehen (vergl. S. 139), deshalb bin ich auf ein
anderes Auskunftsmittel gefallen: ich habe mir vom Schloſſer
eine Schraube machen laſſen, ähnlich den ſogenannten
Nähſchrauben der Frauen, an Tiſche, Stühle, Bänke leicht
zu befeſtigen. Statt des Nadelkiſſens iſt eine Klammer, in
welche der Stock des Schirms gefaßt wird, ſo angebracht, daß
ſie gedreht werden kann, außerdem ihr Fuß mit einem gleich-
falls durch eine Schraube feſtzuſtellenden Gelenke verſehen,
ſo daß dem Schirme jede beliebige Stellung zu geben iſt.
Endlich hat er noch oben, wie die ſogenannten Damenknicker,
ein Gelenk, damit das Schirmdach gegen die erſten und letz-
ten ſchrägen Sonnenſtrahlen Front machen, auch als Para-
vent benutzt werden kann, und ein zweites Gelenk weiter
unten, damit ſich der Stock umlegen und das Ganze in den
Koffer packen läßt. Für den Ueberzug wählte ich ein gelb-
liches Wollenzeug, für das Futter blauen Taffet. Auch im
deutſchen Sommer iſt ein derartiger Schraubeſchirm zu-
weilen recht brauchbar, z. B. um beim Leſen und Schreiben
in einer halbſchattigen Laube Streiflichter abzuhalten.


Zum „Schutz der Arbeit“ und zu den „Bürgſchaften der
Freiheit“ gehört übrigens noch Eins, ein Kleines. Damit
nicht jeder Lufthauch die Papierblätter in flatternde Bewegung
ſetzt, faſſe ich die beiden oberen Ecken in ſogenannte Letter-
clips,
metallene, durch Springfedern ſchließende Klammern,
jetzt in jeder Eiſenhandlung zu haben.


Und nun, Ihr Herren, bitte ich mir aus: ſeid zufrieden
und lobt mich ob meiner Fürſorge.


[[165]]

VI.


Eingehende Wirthshausforſchungen — erſte Hôtels — Tantièmeſyſtem — Stock-
fiſchfänger und Piraten — Zudringlichkeiten — Händler — zur Nautik — wie
ermittelt man gute Gaſthöfe — Elephantenjagd — geheime Regiſtratoren — Gegen-
ſeitigkeit — poſitiver und negativer Pol — Scorpione — noble Herrſchaften
und kleine Leute — polniſche Grafen — Grand Hôtel au Dindon d’Or
vierſpänniges Trara — Fürſten und Große — Paris und London — Waſſer
und Brod — Imperfectum und Futurum — HietzingGoethe — Bier —
volksthümliche Gerichte — Particularismen und Vandalismen — Lehren der
Weisheit und Tugend für Wirthe — Delicateſſen — Augenblendwerk — Wirths-
congreſſe — der Küchenvirtuos — gaſtroſophiſche Studien — culinariſche Er-
ziehung des Menſchengeſchlechts — ein Profeſſeur der Gourmandiſe — Geſchmacks-
bildung — zungenäſthetiſche Rang- und Quartierliſte — Nahrungsſorgen —
Kampf um’s Daſein — paläontologiſche Forſchungen in Küchenabfällen —
härteſte Nothzuſtände — Abſchätzung der Gäſte — unſer ſchwarzes Regiſter —
Abrechnung — weitere Bitten an Wirthe — welche Gaſthöfe Sparſame meiden
— noch ein Mittel gegen Uebertheuerung — Zeche — Kleingeld — Kellner —
Verſchwendung und Knickerei — Ruſſen, Engländer, Franzoſen — Trinkgelder
und Geſchenke — Lob der Cigarre — im Eiſenbahncoupé — Reiſeökonomie —
wohlfeilſte ſchweizer Reiſe — die Schweiz und ihr Ruhm — fernere Erſparniſſe
an Zeit, Geld, Mühe und Verdruß — Uebernachten im Freien, in Sennhütten
und Heuſchobern.


„Immer im erſten Gaſthof einkehren!“ hört man von
Dilettanten als vornehmſtes Gebot der Reiſeklugheit auf-
ſtellen, weil man da „für ſein Geld doch noch am eheſten et-
was habe“. Als Abſchreckungsbeiſpiel wird dann erzählt,
daß man einſt in N., von einem Gefährten verleitet, dem
Grundſatz untreu ward, die und die ſchlimmen Erfahrungen
machte. Der Rath paßt in Bezug auf Brennpunkte des
Verkehrs nicht einmal für ſolche Reiſende, denen es voll-
[166]VI. Wirthshausforſchungen — erſte Hotels — Tantiemeſyſtem.
kommen gleichgiltig iſt, was ſie zahlen, denn ein erſtes
Hôtel iſt in jenen oft nicht zu ermitteln, weil ſich mehre in den
Vorrang theilen, dann ſind unter dieſen Erſten oft gerade
die überfüllteſten und geräuſchvollſten, ſie muthen einzeln er-
ſcheinenden Wanderern unwillkommene Kletterpartien zu und
laſſen in der Bedienung zu wünſchen; elektriſche Klingelzüge
ſind zwar oft angebracht, was hilft das aber, wenn das Per-
ſonal um ſo weniger elektriſch oder zu vielfach beanſprucht
iſt. Das Gegenſtück bilden junge Leute, die, um ihre Reiſe-
caſſe zu ſchonen, auf ihrer erſten Ferienreiſe anſtändig aus-
ſehende Häuſer meidend, Fuhrmannsherbergen aufſuchen und
da wie Dienſtboten verpflegt aber wie Herren beſteuert wer-
den. Viele verlaſſen ſich auf ihr Reiſehandbuch und deſſen
Sterne, wieder Andere bevorzugen dort nicht empfohlene
Wirthſchaften und verſichern, daß das von ſolchen Himmels-
körpern ausgeſtrahlte Licht ein trügeriſches ſei, weil das Lob
meiſt auf früheren Verhältniſſen beruhe, die mittlerweile an-
deren Platz gemacht, und zwar dieſes nicht ſelten eben in Folge
der Anpreiſung und des dadurch herbeigeführten Andrangs,
während die mangelnde Empfehlung als Correctiv gewirkt
habe. — Alſo immer einen der in Reiſebüchern nicht genann-
ten Gaſthöfe wählen? — Das ebenſowenig. — Nun was
denn? —


Die Praxis, die ich ſeit Jahren feſthalte, iſt die. Zu-
vörderſt meide ich ſorgſam Wirthshäuſer, die mir, ohne daß
ich danach gefragt, empfohlen werden, entweder mündlich oder
von eigens dafür angeſtellten Agenten, ſogenannten Enga-
geurs, die auf Dampfſchiffen, Eiſenbahnwagen u. a. öffent-
lichen Orten ihr ſeelenverkäuferiſches Weſen treiben — nicht
ſelten ſind die Gaſthalter ſelbſt ihre eigenen Geſchäftsreiſen-
den — oder von Kutſchern, Führern, Poſt- und Eiſenbahn-
ſchaffnern, durch gedruckte Zettel, die auf Straßen, Bahn-
höfen vertheilt, in Waggons geworfen werden; ebenſo kehre
ich nie in ſolchen ein, deren Omnibuskutſcher und Hausknechte
auf dem Bahnhof ſich durch Zudringlichkeit auszeichnen: —
[167]VI. Stockfiſchfänger u. Piraten — Zudringlichkeiten — Händler.
faſt ſtets Frucht des Prämien- und Tantièmeſyſtems. Um-
gekehrt iſt auch auf Warnungen ſolcher Leute nichts zu geben.
Hier und da pflegen zwar ſonſt lobenswerthe Wirthe zu derlei
Mitteln zu greifen oder ſie von Untergebenen zu dulden (wie
es auch in Kunſt und Wiſſenſchaft Männer von Verdienſt
gibt, die trotzdem ſich der Marktſchreierei nicht enthalten kön-
nen), dieſe Ausnahmen ſind aber doch ungemein ſelten:
unter zehn gehören neun in die Claſſe der gewöhnlichen Stock-
fiſchfänger, einige ſind auch für gelegentliche Piraterie in
großem Stile ausgerüſtet und bewaffnet. Beiläufig bemerkt,
halte ich es ſo auch in Bezug auf Handwerker, Händler,
Führer, die mir von anderen Leuten unaufgefordert mit wein-
reiſender Befliſſenheit angeprieſen werden, denn auch ſolche
Empfehlungen beruhen auf Proviſionsreiterei oder Camera-
derie. Wirthe, mit denen ich ſehr unzufrieden war, frage ich
ſtets nach Collegen in anderen Orten, nur um mich vor
ihren Schützlingen zu hüten.


Ich mochte wohl Zeichen der Ungeduld gegeben haben,
daß wir uns ſo lange beim Negativen aufhielten, denn ich
bemerkte, daß Vater Ulyſſes ſein maliciöſes Geſicht machte,
was er ſtets that, wenn er noch nicht Luſt hatte, direct zu
antworten, und mir ſo recht zu Gemüthe führen wollte, wie
ſehr ich ſeiner Unterweiſung bedürfe. — Ihr Deutſchen, ließ
er ſich endlich vernehmen, ſeid auf dem Wege, Euer parla-
mentariſches Leben auszubilden. Dazu gehört aber auch, daß
Ihr lernt, einen Redner anzuhören. Mag er Euch ermüdend,
inhaltslos erſcheinen, mag er es wirklich ſein, habt Ihr ihn
gewählt und hat er das Wort, ſo laßt ihn ſprechen und unter-
brecht ihn nicht. — In ſanfterem Tone fuhr er nach neuer
Pauſe fort. Sie wiſſen, Telemach, daß unſer Ahnherr aus
Ithaka und ſein Steuermann ſich hauptſächlich leiten ließen
von Eingebungen der Pallas Athene, denn was ihnen der
feindlich geſinnte Umuferer zublies, überwog das von ihrem
ſchwächlichen Freunde Aeolus Ausgegangene weit und würde
ſie verdorben haben, hätte nicht die glutäugige Tochter des
[168]VI. Nautik — wie findet man gute Gaſthöfe? — Geheime Regiſtratoren.
Zeus ſich ihrer angenommen. Demungeachtet gelang es ihnen
nicht immer, Klippen, Sandbänken und Verlockungen zu ent-
gehen und im feindlichen Ocean geeignete Landungsplätze zu
finden. Seitdem hat ſich Vieles geändert, die alten Götter
ſind in Ruheſtand verſetzt, dagegen nautiſche Erfindungen
gemacht, vielleicht gelingt es mit ihrer Hilfe, uns zurecht zu
finden. Als Leuchtthürme, Zeichen, wohin nicht geſteuert
werden darf, dienen die erwähnten Merkmale, was benutzen
wir nun aber als Seekarte, um gute Ankerplätze zu ermitteln?


So fing unſer Mentor in ſeiner Weiſe wieder an zu
katechiſiren und zu ſchelten über unſren Mangel an Reiſe-
ernſt, an eingehendem Scharfſinn und an ſchöpferiſchen Ge-
danken, denn Keiner von uns gab eine Antwort nach ſeinem
Sinne. — Ich ſehe, rief er endlich, ich muß noch einmal von
vorn anfangen. Die Bücherangaben fußen, wie wir wiſſen
und wie Murray und Bädeker, die Wirthshaus-Leſſings,
ſelbſt eingeſtehen, auf ſchmaler, unſicherer Grundlage, und
fortwährend hört man unterwegs Klagen über unverdiente,
unverſtändige, unverantwortliche Sterne, unſchmackhafte und
unverdauliche Rechnungen, Speiſen und Getränke. Um mich
vor ſolchen Aſteroidalbeſchwerden zu bewahren, benutze ich —
wie man in Indien vermittelſt Elephanten andren Elephanten
beikommt — einen Wirth zur Ermittelung anderer.


Eduard und ich brachen in ein Gelächter aus, das reſpect-
widrig genug klang. Unſer Reiſeprofeſſor fuhr unbeirrt fort:
— So weit her hätte ich freilich meine Motive nicht holen
dürfen, ich glaubte aber, daß Eurem Verſtändniß der Um-
weg über Indien immer noch leichter fallen würde, als der
directe der Logik. Pauſe.


— Ich räume ein, verſetzte ich endlich, daß ein Wirth
über Geſchäftsgenoſſen der nächſten Stationen richtiges Ur-
theil haben mag, denn kennt er ſie und ihre Leiſtungen auch
nicht aus perſönlicher Anſchauung, ſo hört er doch über ſie
Kritiken von Leuten, die dort einkehrten, er iſt Regiſtrator
und Calculator der öffentlichen Meinung, aber — geheimer.
[169]VI. Gegenſeitigkeit — poſitiver und negativer Pol — Scorpione.
Ueber den Inhalt der Archive legt ihm ſein Intereſſe Ver-
ſchwiegenheit auf. Ich fürchte, der Mann wird nur ſolche
Collegen empfehlen, die ihm den gleichen Liebesdienſt erweiſen,
mögen ſie es verdienen oder nicht.


— Fürchten Sie nichts, Zögling, verlaſſen Sie ſich
vielmehr darauf, daß gerade die Rückſicht auf Gegenſeitigkeit
Alles hinlänglich regulirt. Eben weil der Andere ſich nicht
in den Schatten ſtellen will, iſt in jenem Falle von ihm keine
Reciprocität zu erwarten und feurige Kohlen auf Häupter
zu ſammeln kommt im Geſchäftsleben wenig vor. Nun will
ich zwar nicht dafür bürgen, daß jeder Gelbſchnabel, wenn
er z. B. von Bremen zu Lande nach Neapel reiſen und auf
die beſchriebene Weiſe ſich nur von einer Wirthshand in die
andere legen laſſen wollte, ohne blaue Flecken dort ankommen
würde, die überall gedruckte Lehre jedoch, nichts darauf zu
geben, was ein Gaſtwirth über den andern ſagt, iſt grund-
falſch, im Gegentheil das immer noch der beſte Compaß,
wenn nur ſein poſitiver und negativer Pol gehörig unter-
ſchieden, d. h. Empfehlungen, die von Leuten ausgehen, welche
ſelbſt keine verdienen, als Warnungen betrachtet werden. So
pflege ich denn meinen jeweiligen Wirth ſtets nach Gaſthof-
adreſſen in mehren nächſten Raſtpunkten zu fragen und davon
Vormerkung zu nehmen; erweiſt ſich bei der Abreiſe die
Rechnung übertrieben, oder war ich unzufrieden mit der Be-
wirthung, ſo ſetze ich zu ſeiner Firma ein ♏, das Zeichen
des Scorpions, und zu den von ihm genannten ein „?“ —
dies iſt das ABC meiner Steuermannskunſt.


In Anlage und Ausſtattung der Gaſthöfe gibt ſich nur
zu oft daſſelbe, den eigenen Vortheil verkennende Streben der
Beſitzer kund, wie in der Behandlung mancher Badeorte von
Seiten der Vorſtände: für leeren Schimmer werden Tauſende
geopfert, hingegen geknickert, wo es ſich um Zweckmäßigkeit
und Bequemlichkeit handelt. Ein großer Hôtelier, mit dem
ich einſt darüber ſprach, geſtand mir unverhohlen, durch dieſe
Eleganz wolle er „noble Herrſchaften“ anziehen, an „kleinen
[170]VI. Noble Herrſchaften und kleine Leute — polniſche Grafen.
Leuten, die wenig aufgehen laſſen,“ liege ihm nichts. Die
Rechnung ſtimmt aber mit nichten, vielmehr habe ich gefunden,
daß gerade die vornehmſten Leute, denen ein Hôtel nie das
bieten kann, deſſen ſie zu Hauſe gewohnt ſind, ein Mehr oder
Minder von Luxus kaum bemerken, jedenfalls darauf weniger
Werth legen, als auf Comfort, Sauberkeit, Ruhe, flinke, gute
Bedienung und Bewirthung. Die wenig bemittelte Claſſe
iſt es, welcher jene Dinge imponiren, kleine Induſtrielle und
Kaufleute nebſt ihren Trabanten, Oekonomieverwalter und
ärmere ländliche Beſitzer ſind es, die ſich davon locken laſſen,
damit ſie von der Holzſculptur der Möbel, den geſtickten
Gardinen, den Tapeten, Teppichen, Marmortreppen erzählen
können; bei Bezahlung finden ſie dann, daß ihr Beitrag zu alle
dem doch etwas hoch berechnet iſt, kommen deshalb nicht
wieder und warnen Andere vor dem theuren Hauſe. An-
ziehungskraft mag der hohle Prunk noch für eine gewiſſe
Gattung „polniſcher Grafen und Gräfinnen“ haben, welche
Rechnungen nicht zu prüfen aber auch nicht zu zahlen pflegen.
Das aufgeblaſene Weſen mancher Gaſtgeber und ihrer Häuſer
— dieſe ſollten Alle „Zum Goldnen Truthahn“ heißen, oder
vielmehr Grand Hôtel au Dindon d’Or — drückt ſich ſchon
in ihren Placaten und Empfehlungskarten aus, auf denen
die vierſpännige Extrapoſt, in unſrem eiſenbahnernen Zeit-
alter ein verſchollenes Stück Alterthum, nie fehlt, mit dem
die Peitſche ſchwingenden, in’s Horn ſtoßenden Poſtillion.
Machten Wirthe, deren Haus das Glück hat, an Gehölz,
Parks, Promenaden, Gärten zu liegen, dies dadurch anſchau-
lich, daß ſie für das Bildchen die Vogelperſpective wählen
und von der Umgebung einen ſchmalen Saum mit aufnehmen
ließen, ſo würden ſie gerade die „hohen und höchſten Herr-
ſchaften“ und andern viel verzehrenden Leute eher herbeiziehen,
als durch vierſpänniges Trara. Ferner würden ſie ihre
Zwecke beſſer erreichen, wenn Placate, Empfehlungskarten
und Annoncen nicht blos Redensarten enthielten, wie „mit
äußerſter Eleganz hergerichtet“ ꝛc. ꝛc., ſondern andeuteten,
[171]VI. Vierſpänniges Trara — Fürſten und Große — Paris und London.
daß gewiſſe (noch näher zu erörternde) Bedürfniſſe und
Wünſche verwöhnter und kränklicher Gäſte ihnen bekannt
und berückſichtigt ſeien.


Fürſten und Großen wird oft Undankbarkeit vorgeworfen.
Für wichtige Dienſte, die nicht zu bezahlen ſind, mag das oft
zutreffen, nicht aber für kleine Aufmerkſamkeiten, gute Be-
dienung und Bewirthung: — Kammerdiener und Köche be-
klagen ſich nie über Undankbarkeit ihrer Herren.


Viele angeſehene Gaſthalter ſind als Köche oder Kellner
in Paris und London geweſen, der hohen Schule des
Wohllebens, verſäumen auch nie, davon zu ſprechen, aus
ihren Werken geht aber nicht hervor, daß ſie den rechten
Nutzen daraus gezogen; ſie würden ſonſt Manches gelernt
haben, das ihnen erſprießlicher wäre, als alle mitgebrachten
Vocabeln, Manieren und Allüren. So z. B. würden ſie
bemerkt haben, daß gerade von der Claſſe, nach welcher ihr
Sinnen und Trachten ſteht, Hôtels von mäßiger Größe bevor-
zugt werden, daß es auch ſelten Häuſer von coloſſalem Umfang
ſind, die „das beſte Geſchäft“ machen und ihre Unternehmer
bereichern, ſchon darum, weil ein Heer von Kellnern nicht
recht zu beaufſichtigen iſt, viel verdirbt, verſchleudert, weil
Ein Koch nicht viele Dutzende von Gäſten vollkommen be-
friedigen kann und mehre Köche in Einer Küche nicht taugen.
Sie würden ferner bemerkt haben, daß ſolche „Herrſchaften“
nicht auf Maſſe und Benennung der Speiſen, ſondern auf
ihre Vorzüglichkeit und gute Zuſammenſtellung Werth legen,
denn zu wohl iſt ihnen bekannt, daß hochklingende Namen
und Titel nicht immer von entſprechenden Verdienſten be-
gleitet ſind. So entgeht auch der Kritik derartiger Gäſte nicht
leicht die Beſchaffenheit des Trinkwaſſers, des Brodes, der
Kartoffeln, während unverſtändige deutſche Wirthe ſich hoch
erhaben dünken über ſolchen gemeinen Dingen, auch als
Pflicht der Nächſtenliebe es anſehen, daß das Brod vom
nächſten Bäcker geholt werde, anſtatt vom beſten.


Waſſer und Brod nebſt Salz ſind Lebensbedürfniſſe,
[172]VI. Waſſer u. Brod. Imperfectum u. Futurum. Hietzing. Goethe. Bier.
die auch Strafgefangenen in vollem Maße gewährt werden,
und doch pflegt man ſo karg damit zu ſein, daß an einer
langen Tafel oft nur eine oder zwei Waſſer- und ebenſo viel
Salzquellen vorhanden ſind, der Brodkorb am Saum des
Horizonts hängt und jeder Gaſt auf die in der äußerſten
Serviettenniſche verkrochene, ameiſeneiförmige Semmel und die
Gefälligkeit einer Kette von Nachbarsnachbarn angewieſen
iſt, denn die Kellner gehen meiſtens in der „Sorge für’s
Allgemeine“ ſo völlig auf, daß ſie für das „Beſondere“ und
ſeine Anliegen keinen Sinn, überhaupt wie gewiſſe Verba
kein Präſens, ſondern nur Imperfectum und Futurum haben.
Glauben die Herren vielleicht, daß der Schmachtende um ſo
mehr Wein trinken werde? — Warum iſt ferner nicht ſtets
für mehrerlei Brod, ſchwarzes und weißes, geſorgt? Sogar
auf die königliche Tafel in Hietzing kommt regelmäßig beides,
obwohl S. M. ſonſt gegen dieſe Farben den leidenſchaftlichſten
Widerwillen hat. Auch Goethe — er war zwar nur Dichter,
gehörte aber als Miniſter doch unter die Vornehmen — aß
ſelbſt Mittags Roggenbrod, ließ jedoch ſeinen Gäſten ſtets
gleichzeitig Weizengebäck vorſetzen, wie ſeine Biographen ge-
treulich berichten.


Wenig verſtehen auch Hôteliers ihren Vortheil, die das
von Jahr zu Jahr faſhionabler und kosmopolitiſcher werdende
germaniſche Lieblingsgetränk grundſätzlich von ihren Tafeln
ausſchließen, theils weil ſie fürchten, eine unerwünſchte Sorte
von Gäſten anzuziehen, theils weil ihr Kalkül auf Weinzwang
fußt. Auch dieſe Wirthsrechnung iſt ohne Wirth gemacht,
aus Gründen, die Jedem einleuchten, der einigen Geſchäfts-
blick hat, daher kommt neuerdings gerade in den eleganteſten
Touriſtenhôtels dies thörichte Prohibitivſyſtem ganz ab. Man
hält oder beſorgt auf Verlangen ein gutes Bier, berechnet
es ſo, daß nicht leicht Sparſamkeitsrückſichten zu einer Bevor-
zugung des Gambrinus vor dem Bacchus veranlaſſen können,
und geht nicht darauf aus, Leute, die einmal Bier für den
[173]VI. Volksthümliche Gerichte — Particularismen und Vandalismen.
beſten Schlaftrunk halten, durch Vorenthaltung umzuſtimmen
und zu verſtimmen.


Ein Vorurtheil vieler Wirthe iſt ferner, daß ſie ihre
Mittagstafel zu ſchänden und „noble Herrſchaften“ zu ver-
ſcheuchen meinen, wenn ſie nicht landesübliche, volksthüm-
liche
Gerichte ganz ausſchließen. Es entgeht ihnen, daß
juſt jene ſolche ihnen neue Schüſſeln gern ſehen, koſten, davon
plaudern, daß hingegen Tadel oder Spöttereien über deren
Erſcheinen aus Kreiſen ſtammen, an deren Beſuch und guter
Meinung ihnen nichts liegt, von Leuten, die „nicht weit her“
ſind und von einem „feinen“ Hôtel erwarten, daß darin alles
anders iſt, als ſie es zu Hauſe gewohnt ſind, einen beſſern
Maßſtab haben ſie nicht. Daß ſolchen Stücken Volksthum
ihre volle Bäuerlichkeit und Ungeheuerlichkeit erhalten bleibt,
iſt nicht vonnöthen, im Gegentheil darf die Hausfrau zum
Ruhme ihres Vaterlands gemeinſchaftlich mit dem Küchenchef
ſtreben — ſie kann dann den Triumph erleben, daß ein
Biſchof das Recept zu der betreffenden Speiſe erbitten läßt,
oder eine ruſſiſche Fürſtin ſelbſt in die Küche kommt — ſie
darf ſtreben, das Urwüchſige zu veredeln. Nicht zu den
berechtigten Eigenthümlichkeiten zu zählen iſt hingegen Alles,
was den Bedürfniſſen der Geſammtheit in’s Ge-
hege kommt und an den Grundſäulen guter Tafeln und guten
Geſchmacks zu Gunſten irgend eines Particularismus rüttelt:
ich meine, wenn Speiſen, die Jeder braucht oder mindeſtens
Jeder gern ißt, ſo zubereitet werden, wie ſie nur den Be-
wohnern eines kleinen Gebietes zuſagen, und nicht der Mehr-
zahl der Fremden, für deren Bewirthung doch gerade das
Hôtel beſtimmt iſt, im Gegenſatze zu Speiſehäuſern, kleinen
Garküchen, Suppenanſtalten u. ſ. w. Dahin gehört vor
Allem Auswahl und Doſis der Gewürze. Viele können
einzelne Gewürze nicht vertragen oder lieben ſie nicht, auf
eine Table d’hôte paſſen ſomit nur Gerichte, die, wenn über-
haupt, dann ſehr beſcheiden gewürzt und geſalzen ſind. So
ſehr jedoch jene Herren an der Tafel zurückhalten mit den
[174]VI. Lehren der Weisheit und Tugend für Wirthe — Delicateſſen.
beiden wichtigſten Gewürzen, Salz und Pfeffer, ſo aufdring-
lich ſind im Gegentheil ihre Köche mit dieſer Zuthat, ebenſo
mit anderen entbehrlichen. Viele Leute z. B. haben einen
Widerwillen gegen Zwiebeln, noch mehr gegen Knoblauch, die
Freunde dieſer Knollengewächſe andrerſeits können ihrer wohl
entrathen, es iſt deshalb nur recht und billig, daß den Speiſen
entweder gar keine oder ſehr wenig Zwiebeln zugeſetzt, ſelbſt
dem Hammelbraten jeder „Soupçon“ von Knoblauch erſpart
wird; ferner, daß Suppen und Brühen nicht von Fett
ſtrotzen, daß die Kartoffel, der Allerweltsliebling, nicht blos
in geſchmortem Zuſtande erſcheint, daß der Senf, den Jeder
braucht, nicht mit Esdragon verſetzt iſt, welcher ihn Manchen
widerlich macht (damit glauben dieſe Speculanten ihre Sache
noch abſonderlich gut zu thun, weil nach ihrer Meinung das
Theurere immer das Beſſere iſt), daß der Salat nicht mit
Rahm oder Zucker vermiſcht, daß daneben ſtets Compot vor-
handen iſt, Hülſenfrüchte ohne Eſſig, Mehlſpeiſen ohne
Safran, Gebäcke und Fiſche nicht mit Oel bereitet ſind, vor
Allem, daß das Brod, das wichtigſte Nahrungsmittel, nicht
mit Kümmel, Anis, Fenchel, Coriander ꝛc. ꝛc. gebacken iſt.
Ebenſo leuchtet ein, daß Delicateſſen ihr Naturgeſchmack un-
beeinträchtigt von außergewöhnlichen Zuthaten zu halten iſt,
z. B. Wildpret und beſſere Fiſche nicht in einer Eſſigbrühe
ſchwimmen, letztere nicht gebacken ſein dürfen, ſondern alle
ſolche Abſonderlichkeiten dem Einzelnen überlaſſen bleiben
ſollen. Er mag für ſeine Perſon nachſalzen, nachpfeffern,
Eſſig zugießen, Citronenſaft auftröpfen (zu Fiſch, Wild-
pret ꝛc. gehören Citronenſchnitte, und zwar nicht blos als
tellerzierende Schaugerichte), Butter, Zucker, Zwiebeln hinzu-
thun, Forellen backen laſſen, ganz nach ſeinem Ungeſchmack.
Es gibt ja Barbaren, die den Salat zuckern, Zimmet in den
Thee thun, Citronenſaft auf Auſtern und Caviar tröpfen;
mögen ſie meinetwegen den Auſtern Himbeerſaft und dem
Caviar Schokolade zuſetzen, das iſt ihre Privatſache, nur ſoll
der Hausherr ſeinem Koch keinerlei Vandalismen erlauben.


[175]VI. Augenblendwerk — Wirthscongreſſe.

Ein anderer Wirthswahn iſt, daß alle Begehungs- und
Unterlaſſungsſünden der Küche geſühnt würden, wenn zu-
weilen koſtſpielige Beliebtheiten, wie Forellen, Salblinge,
Turbot, Haſelhuhn, Schneehuhn, Faſan, Artiſchocken, ſtäm-
miger Spargel, Schildkrötenſuppe, Ananasgefrorenes u. dgl.
auf dem Tiſch erſcheinen, während doch durch Außergewöhn-
liches nur Dilettanten ſich beſtechen laſſen, der Beifall des
Kenners hingegen durch die Ordinaria erworben wird, wenn
ſie in Stoff und Bereitung nichts wünſchen laſſen: das
Fleiſch mürbe und ſaftig, Suppen und Saucen kräftig und
ſchmackhaft, nicht lang und dünn ſind, die verwendete Butter
friſch, Salat mit feinem Oel und Weineſſig kunſtgerecht be-
netzt, nicht in ein tiefes Bad von gemeinem Eſſig verſenkt
iſt, u. ſ. w. In den beſſeren Hôtels iſt alles das längſt
erkannt und die Beſitzer haben ſich den Anſprüchen der Reiſe-
welt theils anbequemt, theils einen Compromiß geſchloſſen
und gefunden, daß ſie ſich gut dabei ſtehen. Ich kann deshalb
nicht einſtimmen in die Klage einzelner Schriftſteller, daß die
meiſten anſpruchsvolleren Gaſthöfe der verſchiedenen Länder
„uniformirt“ ſind. Wer Landeseigenthümlichkeiten in voller
Urſprünglichkeit kennen lernen will, darf ſie nicht im Hôtel
ſuchen, welches ſeiner Natur nach kosmopolitiſch iſt. Berech-
tigt erſcheint eine Klage nur, wenn, wie es allerdings nur zu
oft vorkommt, an Stelle einfacher, kernhafter Bürgerlichkeit
der Küche eine mit franzöſiſchen Namen und Bereitungs-
fineſſen verbrämte, durch Menge und Aufputz der Schüſſeln
auf Augenblendwerk angelegte Armſeligkeit
der Subſtanz
getreten iſt.


Hoffen wir, daß Vieles nun bald beſſer werde durch die
fleißig abgehaltenen Wirthscongreſſe, denn in allem Geſchäfts-
verkehr gilt ja der Grundſatz, daß auf die Dauer kein Theil
ſich wohl ſteht, wenn er nicht auch auf den anderen billige
Rückſicht nimmt. Wollen die Herren nicht in’s eigene Fleiſch
ſchneiden, ſo dürfen ſie z. B. im Zuſchnitt von Fleiſch und
[176]VI. Der Küchenvirtuos — gaſtroſophiſche Studien.
Anderem nicht blos auf ihren einſeitigen augenblicklichen
Nutzen bedacht ſein.


— „Von volksthümlichen Gerichten meines Landes laſſe
ich bald das eine bald das andere ſerviren, aber idealiſirt,“
ſo drückte ſich einſt eine Gaſtgeberin aus, deren Haus im
Reiſebuche nicht * ſondern ☉, das Zeichen der Sonne, ver-
diente. Es war eine vortreffliche Dame, mit der ich wieder-
holt über die Kunſt der Bewirthung plauderte. Schon ihr
Aeußeres war vertrauenerweckend: ſie ſah aus, wie eine
wandelnde geſegnete Mahlzeit. Sie hatte die Aufmerkſamkeit,
als ſie meine Aufmerkſamkeit und Wißbegierde ſah, mir ihren
Küchenchef vorzuſtellen, der gleichfalls manche ſchätzenswerthe
Aufklärung gab. In der weißen Mütze des dicken Mannes
ſteckte ein etwas kahler, aber denkender Kopf. Seine Welt-
anſchauung war eine epikuräiſch-materialiſtiſche, den Stoicis-
mus verwarf er ganz, ebenſo wie den Cynismus. In
ſeinem „Studierzimmer“ hinter der Küche befanden ſich auch
die Schriften von Moleſchott und Liebig, mehre chemiſche
Werke, ein Reagentienkaſten und ein Mikroſkop, behufs
Unterſuchung in Fällen, wo die eingekauften Stoffe Verdacht
erregten. Von Kochbüchern, deren keines in ſeiner „Biblio-
thek“ zu ſehen war, ſprach er mit lächelnder Erhabenheit.
Dieſem würdigen Chef, der an einem Werke arbeitete, welches,
auf Grundlage von Brillat-Savarin und Baron Vaerſt
weiter bauend, die „culinariſch äſthetiſche Erziehung des
Menſchengeſchlechts“ anſtrebt, verdanke ich das eben Voran-
gegangene, ſowie auch die nachfolgenden Belehrungen über
gaſtroſophiſche Angelegenheiten.


Dem Vetter Michel, wenn er nach Paris geht, wird ge-
wöhnlich eingeſchärft, willſt du dort in den erleſenſten
Gaumengenüſſen ſchwelgen, ſo begib dich mit einem Freunde
ſechs Uhr Abends zu Frères Provençaux oder Chevet, und
wähle nach der carte du jour beliebige Speiſen, immer eine
Portion, denn die reicht aus für zwei Perſonen. Der Rath
iſt médiocre, denn die addition für Herrn Michel und ſeinen
[177]VI. Culinariſche Erziehung — Ein Profeſſeur der Gourmandiſe.
Freund wird, wenn ſie bei gutem Appetite ſind, ein paar Gold-
ſtücke betragen, die Sitzung ſehr lange dauern (ſofern ſie
nicht gleich anfangs durch einen Bleiſtiftzettel ihr Programm
entwarfen), weil zwiſchen Beſtellung und Erſcheinung der
Gerichte ſtarke Pauſen eintreten, und wahrſcheinlich werden
beide Herren nicht viel Genuß und Belehrung davontragen,
denn ſie müſſen ſchon beſonderes Glück haben, wenn ſie nur
die glänzenden Seiten der franzöſiſchen Küche zu ſchmecken
bekämen. Beſſer dürften ſie gefahren ſein, hätten ſie die-
ſelbe Summe verwendet, um nach einander die Table d’hôte
einiger Hôtels comme il faut durchzumachen. Aber auch das
ſind nur Stümpereien. Jeder, dem es um ernſtere gaſtro-
ſophiſche Studien zu thun iſt, macht dieſe weder auf eigene
Fauſt noch nach Büchern, ſondern ſucht ſich einen professeur
(nicht mit „Profeſſor“ zu überſetzen, denn die deutſche Sprache
verbindet damit einen andern Begriff) von bewährtem Rufe,
der ihm die Anfangsgründe beibringt, ihn renſeignirt, wer
die zeitweilig beſten Kochvirtuoſen, welches die ſtarken Seiten
eines jeden ſind, und ihn oft begleitet. Ein Profeſſeur der
Gourmandiſe wird vor Allem den Künſtlern, die er durch
ſeine Kundſchaft auszeichnet, ſo viel Ehrfurcht vor ſeiner
Kennerſchaft eingeflößt haben, daß Keiner wagt, ihm Mittel-
mäßiges vorzuſetzen, im Gegentheil wird man ihn beſcheiden
warnen, ſofern er etwas beſtellt, das in der Zubereitung nicht
völlig gelungen oder im Material mangelhaft iſt. Geſetzt
er verlangte ein Stück von einem Reh, das ſeine Laufbahn
um ein Jahr zu ſpät oder um einen Tag zu früh für ſeinen
Nachruhm beſchloſſen, im erſten Falle alſo zähes Fleiſch hätte,
im zweiten zuviel haut goût, oder ſeine Wahl fiel auf ge-
trüffelten Truthahn, die letzte Sendung des edlen Pilzes aus
Périgord hätte jedoch einen leiſen Schimmelgeſchmack, oder
der Ernährungsproceß des unvergleichlichen Vogels wäre
nicht in erwünſchter Weiſe vor ſich gegangen, ſo würde ent-
weder ſchon der Kellner bei der Beſtellung mit der Unterlippe
leiſe zucken, als Zeichen, daß eine andre Wahl räthlich, oder
12
[178]VI. Geſchmacksbildung — gaumenäſthetiſche Rangliſte.
der Künſtler in Perſon erſcheinen und den Wink in einer für
Uneingeweihte unmerklichen Weiſe geben, ebenſo auch, wenn
irgend eine der Aufmerkſamkeit vorzüglich würdige Delicateſſe,
eine primeur oder dergleichen vorhanden und vom Profeſſeur
unbeachtet geblieben wäre. Der Rath, bei je zwei, drei ver-
ſchiedenen Reſtaurants die einzelnen Theile ſeines Diners
einzunehmen, während draußen das Cabriolet wartet, iſt
wohlgemeint aber verwerflich: auch die Gaumenäſthetik ver-
langt „Einheit des Orts“. Einen wirklichen Kenner zu
finden und zum Lehrer zu gewinnen, iſt Sache des Glücks,
darum nur noch wenige Worte über den Gegenſtand. Man
halte ſich nie an den Rath jüngerer Leute. Bildung des
Geſchmacks in Literatur und Kunſt läßt ſich allenfalls bis
zum erſten Mannesalter erwerben, zur höheren Entwickelung
der Zungenkritik jedoch gehört ein volles und reiches
Menſchenleben bis zu den Jahren der rückbildenden Meta-
morphoſe. Wie es ſcheint, flüchten ſich dann alle geiſtigen
und körperlichen Kräfte des Menſchen in Zunge und Ge-
ſchmacksorgane. Nach der Berufsart wäre etwa ſo zu claſſi-
ficiren. In die höchſte Rangclaſſe der Kenner zählen Prälaten
(nicht italieniſche und ſpaniſche, ſondern mitteleuropäiſche),
einzelne, nicht zu ſehr beſchäftigte Diplomaten, an denen zur
Zeit noch kein Mangel iſt, ein Theil des reichen Stadtadels,
bedeutende Induſtrielle und Kaufherren großer Städte, ebenſo
haute finance (das Prädicat à la financière iſt ſtets eine
Auszeichnung) ohne Unterſchied der Nationalität. Manche
wollen dem ſemitiſchen Stamme den meiſten Credit geben.
In zweiter Ordnung, mehr Liebhaber als Kenner, aber
letzteren Titel beanſpruchend, ſtehen reiche Landwirthe, höhere
Officiere a. D., einige kleine Hofkreiſe, Aerzte und Anwälte
mit vielen Clienten und Patienten. Die dritte Claſſe umfaßt
die übrigen Berufskreiſe der gebildeten und bemittelten
Stände, mit Ausnahme der Schulmänner, proteſtantiſchen
Geiſtlichen, Dichter und Marineofficiere, welche ſämmtlich auf
die unterſte Rangſtufe der Gaumenäſthetiker gehören. —
[179]VI. Nahrungsſorgen — Kampf um’s Daſein.
Was der Kochkünſtler mir ſonſt noch über die Materie ver-
rieth, laſſe ich unberührt, um ſeinem Werke nicht vorzugreifen,
und hebe nur noch hervor, daß es untouriſtiſch iſt, in Spei-
ſen, Cigarren, Kaffee, Wein ꝛc. leidenſchaftlicher Feinſchmecker
zu ſein. Der gerechte und vollkommene Touriſt muß immer
Herr und Meiſter bleiben über ſeine küchenäſthetiſchen An-
ſprüche, ſogar den Ekel nöthigenfalls unterdrücken können,
damit, wenn etwa ſein Verhängniß ihn in ein Spaccio di
vino con cucina
oder eine ſpaniſche Poſſada ſchleudert, bittere
Nahrungsſorgen ihn nicht ganz überwältigen. Um ſeine
touriſtiſche Erziehung nach der Seite vorzubereiten, iſt eine
Reiſe z. B. in Thüringen oder dem Erzgebirge ſchon recht
geeignet.


Steigen wir jetzt aus den Regionen der Feinſchmeckerei,
in denen wir uns ſchon zu lange aufhielten und verweich-
lichten, hinab in jene ſchauerlichen Tiefen, wo der Kampf
um’s nackte Leben geführt wird, wo es ſich um Befriedigung
des Hungers handelt. Einen Speiſezettel gibt es da ent-
weder nicht, weil Niemand da iſt, der ihn ſchreiben könnte,
oder es gibt einen, aber ſchon ſeine Schriftzüge ſind für die
Augen, was die Gerichte ſelbſt für Zähne und Magen, was
„junker Kampsprade“ benannt iſt, erweiſt ſich als zähes
Ziegenbockfleiſch und das „Beffſtäck von Fülleh“ ſtammt aus
den ſehnigſten Theilen einer alten Kuh.


„Die Karte ſoll eine Wahrheit ſein“, verſprach einſt
Louis Philipp ſeinen Franzoſen, allein es ſcheint, daß die
einzigen ehrlichen in der Welt die Landkarten ſind, alle
übrigen dagegen, von den Spielkarten bis zu den conſtitutio-
nellen, Viſiten- und Speiſekarten, zu eitel Spiel und Täuſchung
mißbraucht werden. Auch in ſofern lügen die letzteren oft,
daß ſie Gerichte aufführen, die nie vorhanden waren, in der
Kellnerſprache „eben ausgegangen“. Nie vorhanden finden
Sie leichtfertig behauptet? So trete ich den Beweis an,
durch Zeugen und Indicien. Zeugen: Maler N. und Bild-
hauer M., die ſeit Jahren in der Antica Trattoria del
12*
[180]VI. Paläontologiſche Forſchungen in Küchenabfällen.
in Rom Abends acht Uhr zu Mittag eſſen und beim Bajocco-
orden verſichern, daß viele der aufgeführten Herrlichkeiten
blos nominell ſind und lediglich zum Schmuck der Karte
dienen. Die Arme, ihr mangelt ſonſt jedweder Schmuck,
Schönheit und Liebreiz hat ſie nie beſeſſen, Jugend, Unſchuld
und Reinheit, alles iſt längſt dahin, ein großer Riß geht
durch ihr Herz, mißgönnen wir ihr dieſe einzige Zierde nicht.
Hier iſt ſie ſelbſt, ich habe ſie mitgebracht, wie ich ſie einſt an
Ort und Stelle fand, zwei Quadratfuß groß, bedruckt und
beſchrieben. Ueberzeugen Sie ſich. Nur Muth, ein ge-
wiſſenhafter Richter darf vor keinem Anblick zurückſchrecken.
— Indicien: Sie erkennen, daß dieſes Blatt mindeſtens
ſchon eine Winter- und eine Sommerſaiſon ausgelegen hat.
Jetzt prüfen Sie die Ablagerungen, die ſich von Arosti, Fritti,
Legumi, Pesce, Umidi
gebildet haben, nehmen Sie meinet-
wegen chemiſche Reagentien zu Hilfe, um den unterſten Spu-
ren beizukommen: — Sie werden finden, daß etwa ein
Drittel der Gerichte nicht vertreten iſt. Die Behauptung,
daß in einer italieniſchen Trattorie eine Speiſe aufgetragen
werden könnte, ohne Merkmale zurückzulaſſen, wird Niemand
wagen, der dort geweſen iſt. Jetzt folgen Sie mir in die
Antica Trattoria della … Hier iſt das ſchriftliche Ver-
fahren unbekannt, kein Blatt Papier zwiſchen Wirth und
Gäſten, vielmehr trägt Cenzo, der dicke Kellner, mündlich vor,
was zu haben iſt. Auf ſeinem Anzug erſcheint eine hand-
breite Zone, auf der Proben von Saucen ausgeſtellt ſind,
vielleicht als Illuſtration zu ſeinen eiligen mündlichen Mit-
theilungen.


Von weiteren paläontologiſchen Forſchungen in Küchen-
abfällen glaube ich aber nun Abſtand nehmen zu dürfen.


Machte oder ahnete ich ſehr trübe Erfahrungen an einem
Gaſttiſche, ſo überließ ich mich dem Wirth ohne Lenkverſuche,
wie Reiter auf unſicheren Gebirgswegen mit Maulthieren
thun, wählte alſo nicht, ſondern wandte nur leiſe Sporen-
hilfen in ſofern an, als ich merken ließ, daß ich mürbes,
[181]VI. Härteſte Nothzuſtände — Abſchätzung der Gäſte.
ſaftiges Fleiſch von zähem, trocknem zu unterſcheiden wiſſe,
ferner andeutete, ich gedächte wiederzukommen, und eine theurere
Weinſorte beſtellte, eine Artigkeit, die jedes nicht ganz ver-
härtete Wirthsherz rührt. Ich erhielt dann das Beſte, was
zu haben war, wenigſtens unter mehren Uebeln das kleinſte.


Wirthstiſche und Häuſer verſchiedenſter Beſchaffenheit
hätten wir nun fleißig beſucht und geprüft, ſind aber doch
noch nicht im Reinen mit ihnen. „Wir ſind noch nicht aus-
einander, ſprach der Hahn zum Regenwurm, und da fraß er
die andre Hälfte.“ Anders lägen die Dinge, wenn wir Gäſte
die Examinaten wären: da gälte es, raſch ſein. Setzen wir
z. B. den Fall, der vierzehnſitzige Omnibus des Grand Hôtel
de la Sangsue d’Or
oder „Zur Stadt Marocco“ käme eben
gefüllt vom Bahnhof, das Alarmſignal der Glocke dröhnte
durch’s Haus und von allen Seiten ſtürzte man herbei, die
Ausſteigenden zu empfangen. Binnen zwei Minuten müßte
ihre vorläufige Abſchätzung vollzogen ſein, denn ihre Be-
quartierung hängt davon ab, müßte entſchieden ſein, wer von
ihnen einen Salon im erſten Stock und wer ein einfenſtriges
Hofzimmer im oberſten verdient, beziehungsweiſe vertragen
kann. Bis zur Lunge dringt die Diagnoſe freilich nicht, wohl
aber weiß ſie Vermögen, Rang, Anſprüche des Einzelnen zu
errathen, den Grad der Feinheit des Hemds, die Haltung
der Fingernägel zu auscultiren und daraus Schlüſſe zu
ziehen. Nach derlei tiefverſteckten Signaturen vermag ſie die
Zimmernummer für jeden Ankömmling zu berechnen, alles
im Handumdrehen, was indeſſen nicht ausſchließt, daß die
erſte Gelegenheit ergriffen wird, die Probe auf das Exempel
zu machen, durch angeknüpftes Geſpräch, Unterſuchung der
ausgezogenen Stiefel oder ſonſtwie. Uns Touriſten eilt es
hier nicht mit der Prüfung unſrer Obdachgeber, gehen wir
deshalb hübſch gründlich zu Werke.


Inmitten aller Bemerkungen über Wirthe und Dienſt-
perſonal wollen wir doch aber erſt einmal der Thatſache ge-
denken, daß auch bei uns Gäſten nicht Alles ſo iſt, wie es
[182]VI. Unſer ſchwarzes Regiſter.
ſein ſollte, daß — um aus unſrem ſchwarzen Regiſter hier
nur deſſen zu erwähnen, was mit Wirthshausangelegenheiten
in Verbindung ſteht — ſogar einzelne es arg treiben. Manche
demoraliſirt der Gedanke, daß ſie an der Stelle zum erſten
und letzten Male ſind, in verſchiedener Weiſe und ſteigert die
üblen Seiten ihres Naturells oder ihrer Erziehung, denen ſie
zu Hauſe Zügel anlegen mußten. Viele, angeregt durch die
Reiſe und ihre Eindrücke, welche ſo leicht Herz und Hand
öffnet, werden verſchwenderiſch, oder werfen aus Prahlerei
mit Geld um ſich, was daheim nicht durchzuführen wäre,
dulden die offenbarſten Uebervortheilungen, weil „ſie ſich nicht
ärgern wollen“, oder weil ſie fürchten, für arm, geizig, klein-
lich, zänkiſch gehalten zu werden. Die Mehrzahl der Er-
holungs- und Luſtreiſenden gilt überhaupt für reich, ſo ge-
wöhnen ſich die Leute, um ſicher zu gehen und keinen Anſtoß
zu geben, gleich alle wie Standesperſonen zu behandeln, für
die keine feſten Preiſe exiſtiren, ſondern die nach Belieben
zahlen, nur nicht nach ihrem eigenen Belieben. Die meiſten
erſcheinen und verſchwinden, auf Seite der Anſäſſigen fällt
alſo auch die Ausſicht auf Erwerbung treuer Kunden weg.
Uebt ihr keine Treue, ſo üben wir keine Redlichkeit, denkt
man, und beutet ſie aus. Hinzukommt, daß der Reiſeſtrom
naturgemäß aus dem theuren Norden nach dem wohlfeilen
Süden gerichtet iſt, aus den Thaler-, Pfundſterling- und
Rubelländern in die Gulden-, Franken- und Lireländer, daß
die Ankömmlinge über die Niedrigkeit der Preiſe ſtaunen und
auch vor den Einheimiſchen kein Hehl daraus machen; endlich
daß Touriſten überwiegend männlichen Geſchlechts ſind, wel-
ches weniger Anlage zur Sparſamkeit hat, auch für ſchlechter
bewandert gilt in Preiſen der täglichen Bedürfniſſe, als
Frauen. Manche werden durch unerwartete Ausgaben ſchäbig
karg, quälen die Kellner, brutaliſiren das Geſinde, hadern
und nörgeln, verderben Zimmergeräth ꝛc. Kränkliche ſind
auch Viele unter der Maſſe, Mancher macht eine „Erholungs-
reiſe“ für ſeine Familie und ſeinen Arzt, d. h. dieſer ſchickt
[183]VI. Abrechnung.
ihn fort, damit er, der Arzt, und die Angehörigen des Pa-
tienten ſich zu Hauſe einmal erholen können. Von den
hieraus entſpringenden Unzuträglichkeiten caſſiren der Wirth
und ſeine Leute neben Rechnungen und Trinkgeldern erkleck-
liche Summen in jedem Geſchäftsjahr ein, welche auch wir,
wenn wir Bilanz ziehen, zu buchen haben.


Vergeben wir ihnen dagegen — ſelbſtverſtändlich
bin ich weit entfernt, es gutzuheißen
— wenn
ſie Bedienung eigens berechnen, aber dennoch dulden, daß
der Kellner dem Fremden über die Natur dieſes Poſtens An-
deutungen gibt, welche unbeachtet zu laſſen Jedem zuſteht; ver-
zeihen wir ihnen, wenn ſie nicht benutzte Lichte *) beſonders
anſetzen; wenn ſie die Zimmermiethe von Mitternacht zu
Mitternacht und jeden Bruchtag für voll rechnen, ſo daß für
acht Stunden Nießbrauch zwei Tage angekreidet werden,
mithin Bevortheilung weit über die Hälfte. Erweiſt ſich die
Totalſumme nicht allzu hoch getrieben und war die Ver-
pflegung gut, ſo mag’s drum ſein. Vielleicht geſchieht es
aus Zartgefühl, ſie wollen uns nicht erſchrecken durch hohen
Satz für Zimmermiethe, machen deshalb mehre kleinere
Ziffern unter verſchiedenen Benennungen daraus, weil, wie
ſie an den Packträgern täglich bemerken, jede Laſt minder
drückt, wenn ſie über den Rücken breit vertheilt, als wenn ſie
auf eine Schulter gepackt iſt. Nehmen wir es ihnen ferner
nicht allzu übel, wenn ſie ihr Intereſſe an unſrer Perſon in
oben angedeuteter tief eingehender Weiſe bethätigen. Meinet-
wegen mögen Einzelne ſogar, wie vorkommen ſoll, unſren
Ausgängen auf der Straße von ferne nachſpähen, ja an
[184]VI. Weitere Bitten an Wirthe.
Thüren horchen, und zwar ſo ungeſchickt, daß ſie ſich dabei
verrathen: Credit müſſen ſie doch einmal allen Einkehrenden
gewähren, deren Einige ihn monatelang beanſpruchen, und
nicht unerhört ſind Fälle, daß er mißbraucht wurde (z. B.
fanden ſich einſt bei amtlicher Oeffnung eines großen ſchweren
Koffers, der als Pfand zurückgelaſſen ward, nur mit Stroh
umwickelte Backſteine) — gehen wir alſo mit unſren Gläu-
bigern nicht ſtreng in’s Gericht. Auch wollen wir ihnen
keine patriotiſchen Vorwürfe machen über ihre Franzöſeleien,
denn ſie können zu ihrer Entſchuldigung anführen, daß
in ihrem Bereiche unſre ſüdlichen Nachbarn eine un-
beſtreitbar große Nation ſind und der Civiliſation die Bahn
gebrochen haben; ſodann können ſie geltend machen, daß,
obwohl Franzoſen ſelbſt wenig reiſen, ihre Sprache doch oft
das einzige Mittel der Verſtändigung mit Gliedern anderer
Völker iſt. Ueberſehen wir endlich nicht, daß es unter den
Wirthen eine erkleckliche Anzahl braver, gewiſſenhafter,
achtungswerther, liebenswürdiger, unterrichteter Männer gibt
und daß wir aus dem Verkehr mit ihnen manche willkommene
Belehrung über Land und Leute ſchöpfen, mit Recht wird
daher empfohlen, auf dem Lande, in kleinen Orten und
in weiterer Ferne die Bekanntſchaft der Wirthsfamilie zu
ſuchen.


Soviel als Zeichen, daß unter uns Gäſten die Billig-
keit
nicht blos geliebt ſondern auch geübt wird. — Jetzt,
meine Herren Hôteliers, werden Sie wohl in der Laune ſein
und auch „Zeit haben“, einige Bitten und Beſchwerden an-
zuhören. Erſchrecken Sie nicht, die Erfüllung und Abſtellung
iſt nicht koſtſpielig. Erwägen Sie, daß Ihre Caſſe ſich um
ſo beſſer ſteht, je mehr Sie Rückſicht nehmen auf unſre Ge-
ſundheit und Behaglichkeit, je mehr Sie von unſren kleinen
Capricen errathen und je ſchonender Sie ſie behandeln. Wir
verzichten dagegen auf tiefe, bücklingsvolle Unterwürfigkeit
und honigſüße Redensarten.


Das erſte Anliegen, nächſt dem ſchon Angedeuteten, iſt:
[185]VI. Weitere Bitten an Wirthe.
für Ruhe bei Tag und Nacht ſorgen zu wollen.
Unterbrechen Sie mich nicht, bitte, ich weiß, daß Sie nicht
hindern können, daß andere Gäſte ungebührlichen Lärm
machen, wohl aber können Sie hindern, daß Vieles davon
uns dermaßen zu Ohren kommt, wie es der Fall iſt. Sie
vergeſſen, daß wir Ihre Häuſer aufſuchen, um zu ruhen,
denn eſſen und trinken könnten wir auch anderswo, ferner,
daß gerade unter uns nichtgeſchäftlichen Reiſenden ſo viele
ſind, deren Schlaf leicht geſtört iſt. Einigen von Ihnen iſt
es gelungen, dicht am Bahnhof ein Grundſtück zu erwerben,
ein palaſtartiges Hôtel darauf zu erbauen und mit allem
denkbaren Glanz auszuſtatten. Wäre es nicht beſſer, dieſem
Glanz etwas abzubrechen und für die erſparte Summe ge-
wiſſe nothwendige Einrichtungen zu treffen? So bequem
und erwünſcht bei Ankunft und Abreiſe die Nähe des Bahn-
hofs Vielen ſein mag, ſo wenig iſt ſie es, während wir
ſchlafen möchten, denn der Ton, den wüthende Elephanten
in der Brunſtzeit ausſtoßen, iſt ſanft und lieblich gegen die
gellenden, langgehaltenen, markerſchütternden Locomotiven-
pfiffe. Könnten denn nicht dieſerhalb und um den Straßen-
lärm abzuhalten vor den Fenſtern Rouleaux von Stroh (oder
dickem Wollenzeug) angebracht ſein, die Abends herab-
gelaſſen werden? Beſſer als Jalouſien und Markiſen dienen
auch ſolche Strohrouleaux, die Sonnenglut abzuhalten.
Wieſen Sie Ihre Leute an, ſobald der Bewohner eines ſüd-
lichen oder weſtlichen Zimmers an heißen Tagen ausgegangen,
jene herabzulaſſen, und er fände bei Rückkunft eine kühle
Stube, ſo dürften Sie ſeiner wärmſten Anerkennung ver-
ſichert ſein. Die Pflege der Zimmer im Sommer kennt und
übt man in deutſchen Wirths- und Privathäuſern noch ebenſo
wenig, wie in Süd- und Mitteldeutſchland richtige Heizung
im Winter. — So würden ferner, anſtatt der farbenſtrahlenden
Teppiche vor den Sofas, einfachere, jedoch über den ganzen
Stubenboden ſich ausbreitende, den Schall der Tritte
dämpfende Decken ſehr wohl an ihrer Stelle ſein, desgleichen
[186]VI. Weitere Bitten an Wirthe.
Cocosbaſtmatten als Sordinen in Gängen und auf Treppen.
Könnten ferner nicht Stubenthüren doppelt angebracht und
mit Vorhängen oder anſchließenden Polſtern verſehen ſein?
Beſonders ſollte ſtreng darauf gehalten werden, daß Kellner
und Hausknechte ſich eines ſtilleren Wandels befleißigen,
nicht Thüren zuſchmettern und mit Tiſchgeräth unnütz raſſeln.
Corridorthüren könnten ſo eingerichtet ſein, daß ſie nach
innen und außen ſich öffnen und ſelbſtthätig wieder feſt und
geräuſchlos ſchließen. Die Anſichten über gute und ſchlechte
Muſik ſind bekanntlich ungemein verſchieden, Manche ziehen
keine der beſten vor, ein vorſichtiger Wirth — da er ein oft
wechſelndes Publikum hat, deſſen Geſchmack er nicht vorher
auskundſchaften kann, und Muſik kaum je einen Gaſt herein-
ziehen wird, dagegen Manche verſcheucht — hält daher lieber
alle Tafelmuſik fern, unter keinen Umſtänden duldet er plötz-
liche ohrenmeuchleriſche Ueberfälle umherziehender Bläſer,
Fiedler und Orgler, ſondern überläßt dieſe der Straße, den
Bierkneipen und den eigens dafür beſtimmten Localen.


Wo es die Verhältniſſe geſtatten, ſollten Anſtalten ge-
troffen ſein, daß, wer es wünſcht, bei günſtigem Wetter
im Freien ſpeiſen kann. Wird der Andrang zu groß,
ſo mag der Preis erhöht werden.


Nur in wenig Gaſthöfen ſtellt man im Winter eine leichte
Federdecke von entſprechender Größe oder eine doppelte
Wollendecke den Uebernachtenden zur Verfügung, nöthigt ſie
vielmehr, allerhand aus eigenen Mitteln zuzulegen, Plaid,
Kleidungsſtücke u. dergl., denn das kleine quadratförmige
„Plumeau“ *) dient nur der unteren Körperhälfte, hat
außerdem die Neigung, nächtlicher Weile ſeinen Poſten zu
verlaſſen und den arglos Schlafenden einer Erkältung preis-
zugeben. Nachts heizen laſſen? — Bei Vielen, die es nicht
[187]VI. Welche Gaſthöfe Sparſame meiden.
gewohnt ſind, das ſicherſte Mittel, den Schlaf zu ſtören.
Was thut nun der Mann von Erfahrung in ſolchen harten
Nothzuſtänden? — Er nimmt eine Anzahl Plaidnadeln und
ſtellt damit eine Verbindung her zwiſchen den Beſtandtheilen
ſeiner Hülle.


Durch übermäßige Preiſe bei ſchlechten Leiſtungen zeichnen
ſich beſonders Wirthſchaften aus, welche dicht an oder auf
dem Wege zu einem vielbeſuchten Punkte vereinzelt liegen,
faſt nur für Ein Frühſtück, Ein Mittagsmal, Eine Nacht be-
nutzt werden und täglich wechſelndes, buntgemiſchtes Publikum
haben. Solcher mit ♏ zu bezeichnender Häuſer (vgl. S. 169)
könnte ich eine gute Anzahl namhaft machen, begnüge mich
jedoch mit der Bemerkung, daß Scorpione nicht blos in ſüd-
lichen Breiten hauſen, ſondern auch im Norden bis nach
Schottland und Norwegen, und daß ſie ſich ebenſo gern in
Paläſten aufhalten wie in Hütten und altem Gemäuer. In
dieſelbe Kategorie gehören auch viele Wirthe, Zimmer-
vermiether, Händler, Kutſcher ꝛc. in Orten, die eben erſt
angefangen haben, in Mode zu kommen, und zeitweilig in
einem Uebergangszuſtande ſind: ihre alte, unſchuldige, an-
ſpruchsloſe Dorfmäßigkeit oder Kleinbürgerlichkeit haben ſie
verloren, die Gewiegtheit großer Geſchäftsleute noch nicht
erworben und ſo ſind ſie in einem Zuſtand des Rauſches und
der phantaſtiſchen Willkür. In allen von ernſthaft Kranken
vielbeſuchten, ſeit lange dafür eingerichteten Bädern hat die
regelmäßige, ſtetige Nachfrage meiſtens geſundere, den örtlichen
Umſtänden angemeſſene Preiſe hervorgerufen.


Den Reiſehandbüchern muß überlaſſen bleiben, über die
Behandlung der unſicheren Diſtricte Näheres anzugeben, nur
eines in vielen Fällen der Art anwendbaren Schutzmittels
ſoll hier noch Erwähnung geſchehen: der Gaſt macht ſelbſt
und nennt ausdrücklich bei Beſtellung den Preis, natürlich
unter Rückſicht auf die Oertlichkeit, anſtatt die Speiſekarte
zu fordern, nach der Table-d’hôte zu fragen, oder zu be-
ſtellen und Berechnung abzuwarten. Zumal wenn man in
[188]VI. Noch ein Mittel gegen Uebertheuerung.
Geſellſchaft reiſt, ſchlägt das Mittel kaum fehl, aber auch
allein hat es mir oft Dienſte geleiſtet. „Wir ſind … Per-
ſonen und wünſchen ein Frühſtück, ein Mittagseſſen zu
… Franken für die Perſon, einſchließlich Wein.“ Dieſe
Worte, nicht an einen dienenden Geiſt, welchen ſie wie alles
Außergewöhnliche verwirren, ſondern an den oberſten Macht-
haber mit richtigem Accente geſprochen, thun Wunder. Zum
richtigen Accente gehört, daß jeder Schimmer von Frage,
alſo von Unſicherheit vermieden wird. Der Inſtinct ſagt
dann dem Manne: der da iſt kein Neuling, der iſt im
Stande und geht mit allen Andern weiter, oder beſtellt
nur Wein und Brot, woran ich noch weniger verdiente, da
will ich doch lieber das Gebotene annehmen. Nicht ſelten
ſchüſſelt er dann daſſelbe auf, wofür er geſtern das Doppelte
zahlen ließ, auf alle Fälle bleibt der Kreide und der Phantaſie
kein verführeriſcher Spielraum. Dies Preismachen von Seite
des Reiſenden, ehe noch beſtellt iſt, hat übrigens nicht blos
ſeine Vortheile bei Gaſthaltern von Fach, ſondern mehr noch
bei Leuten, welche die Bewirthung als Nebengeſchäft treiben.
So begegnete es vor Jahren einem meiner Gefährten in
einer ſchmutzigen Sennhütte des berner Oberlands, daß ihm
ein Franken abgefordert wurde für einen Trunk Milch,
während wir Anderen vom Senner unbemerkt hinter einem
Hügel botaniſirten. Als der Geprellte wieder zu uns ge-
ſtoßen war und ſeinem Unwillen Luft machte, ſchlug ich den
Beweis vor, daß er in einiger Entfernung auf uns warten
ſolle, und wettete, daß wir Anderen in derſelben Hütte für
20 Centimes Milch für uns Beide verlangen und erhalten
würden. Und ſo geſchah es.


Jeder Rothbuchleſer weiß, daß es wohlgethan iſt, ſchrift-
liche Rechnung Abends vor der Abreiſe zu verlangen und
nachzuſummiren. Der Kellner erwidert zwar ſtets, es ſei
auch am nächſten Morgen noch vollauf Zeit dafür — offenbar
hält er es für ſeine Pflicht, den Argwohn nicht aufkommen
zu laſſen, daß ſein Herr des Geldes ſo eilig bedürfe — bringt
[189]VI. Zeche — Kleingeld — Kellner — Verſchwendung.
das Begehrte jedoch, wenn die Aufforderung mit Nachdruck
wiederholt wird. Bei der Zahlung iſt es ſo einzurichten,
daß eine reichliche Menge Kleingeld zurückerfolgt. Hat der
Kellner augenblicklich nicht ſo viel, ſo ſtreichen wir, was er
zurückgibt, ein, und bemerken, daß er morgen ſeinen Tribut
empfangen werde, ſobald er Münze bringe. Im Uebrigen
beſchränke ich den mündlichen Verkehr mit Kellnern auf das
Nothwendige, denn er iſt durch die Bank unergiebig und
unerfreulich. Ohne Unfreundlichkeit begegne ich ihnen kurz,
ernſt, ermuntere ſie nie zu Plaudereien, titulire ſie auch
nicht, wie die höflichen Sachſen und ihre Nachahmer, „Herr
Oberkellner“, erlaube ihnen endlich nie, wenn ſie mit mir
Billard ſpielen, franzöſiſch zu zählen (dieſe abgeſchmackte
Lächerlichkeit erſter Claſſe niſtet überhaupt nur noch in
Kneipen letzter Claſſe). Ein Unrecht iſt es dagegen, dem
Kellner, wenn nicht „Service“ auf der Rechnung ſteht, ein
Trinkgeld vorzuenthalten, denn er iſt darauf angewieſen und
oft in ſeinen Einnahmen ſchlechter geſtellt, als Hausknechte.


Um Kindern die Sparſamkeit zu erleichtern, pflegt man
ihnen wohl größere Geldſtücke für ihre Baarſchaft ein-
zuwechſeln. Für den Reiſenden iſt zu gleichem Zwecke das
Umgekehrte der richtige Weg, und er kann, wenn er ſparen
will, nicht leicht zu viel Münze bei ſich haben. Darum
zahlt man in Gaſthöfen immer größere Stücke, um mit dem
Herausgegebenen den eigenen Vorrath von Kleingeld zu ver-
ſtärken, und greift ihn nur an, wenn es nöthig wird. Dieſer
kleine Schatz darf profanen Blicken ſo wenig preisgegeben
werden wie der große, nur aus anderen Gründen.


In der Verſchwendung (u. A. von Trinkgeldern,
welche ſchon im Intereſſe der Beſchenkten, die man dadurch
verderben hilft, vermieden werden ſollte) pflegen Ruſſen,
Ungarn, junge Franzoſen und Hanſeaten am weiteſten zu
gehen. Einzelne ſuchen in Freigebigkeit mit depoſſedirten
Fürſten (!) zu wetteifern. Ein charakteriſtiſcher Unterſchied
zwiſchen reichen Ruſſen und Südſlaven einerſeits und reichen
[190]VI. Verſchwendung und Knickerei — Ruſſen, Engländer, Franzoſen.
Briten iſt, daß dieſe, um Vorzügliches zu erhalten, zwar
keine Koſten ſcheuen, aber nicht gern und nicht leicht ſich
geradezu betrügen laſſen, weil ſie in der Regel den Werth des
Materials und der Arbeit zu beurtheilen verſtehen, während
jene Oſteuropäer von Jugend auf gewohnt ſind, durch ihre
Lieferanten übervortheilt zu werden, und es für ein Attribut
ihres Ranges und Reichthums halten, dies ruhig hinzunehmen.
Ihr Werthmeſſer der Gegenſtände iſt faſt nur Geld; was
ſie wohlfeil haben, achten ſie gering. Impoſantes oder be-
ſtechendes Aeußere wird in ihren Ländern, in denen eine
Miſchung von Uncultur und hochgetriebenem, pariſeriſch auf-
geputztem Luxus zu Hauſe iſt, vor Allem geſchätzt, einfache,
ſchlichte Tüchtigkeit gilt wenig und kommt auch ſelten vor,
Sinnen und Trachten iſt der Laune des Augenblicks hingegeben.
Der Engländer dagegen iſt ein Menſch der Methode; bei
deren Durchführung fällt er allerdings oft in Uebertreibungen,
Eigenſinn, Pedanterie, Härte, faſt immer aber läßt ſich durch
alles das hindurch ein vernünftiger, berechtigter Grundſatz
erkennen. Die alte Erfahrung, daß Jugend zur Ver-
ſchwendung, Alter zum Geiz neigt, tritt kaum an einem
anderen Volke ſo ſehr zu Tage, als an Franzoſen. Dieſelben
Leute, die heute mit Geld um ſich werfen, ſehen wir vielleicht
in fünfzehn Jahren als Knauſer wieder, in beiden Fällen
handeln ſie ganz außer Verhältniß zu ihren Vermögens-
umſtänden. Wenn Briten kargen, was nicht ſelten auch bei
reichen vorkommt, ſo geſchieht es, wie geſagt, meiſt nicht
ſowohl aus Geiz als aus Principienreiterei. In dem ſonſt
unleugbar großen Reiſetalent der Inſulaner iſt das eine Lücke:
ſie wollen anfangs den Bräuchen des fremden Landes nicht
einen Finger breit nachgeben, bis ſie ſich endlich überzeugen,
daß gewiſſe Zugeſtändniſſe, ſelbſt offenbaren Mißbräuchen
gegenüber, nicht immer ganz zu vermeiden ſind. Hier nur ein
Beiſpiel, und zwar aus Italien. Dort pflegt bekanntlich
die dienende Claſſe mit dem bedungenen Lohne, er ſei noch
ſo hoch, ſich nicht zu begnügen, ſondern einen Nachſchuß zu
[191]VI. Trinkgelder und Geſchenke.
erbitten, auch wohl zu erpreſſen, und meiſtens kann man
leichter und raſcher ein Drittel und mehr von der Forderung
gleich anfangs abhandeln, als ſich der nachträglichen Spende
einiger Bajocchi oder Soldi entziehen. Den ausgemachten
Lohn betrachtet ſo ein Facchino, Caroſſiere oder Guida als
einfaches Aequivalent für ſeine Mühwaltung. Da er nun
aber nach ſeiner Meinung ſtets beſondere Verdienſte um den
Signor Foreſtiere ſich erworben hat, ſo ſcheint es ihm auch
anſtändig, daß dieſe gleichfalls honorirt werden. Als ſolche
rechnet etwa ein Kutſcher, daß er raſch gefahren iſt ohne
umzuwerfen oder gegen einen Prellſtein zu ſtoßen, ein Träger,
daß er einige Namen von Kirchen und Paläſten genannt hat,
ein Maulthiertreiber, daß er höflich und geſprächig, ein
Zweiter, daß er humoriſtiſch geweſen, ein Anderer, daß er
drei italieniſirte franzöſiſche Vocabeln angebracht hat ꝛc.
Von mehr als einem in Italien reiſenden engliſchen „fresco“
habe ich äußern hören, daß er „nie feilſchen werde, lieber
etwas mehr bezahle, andererſeits auch ſich nichts abbetteln
laſſe.“ Iſt er erſt einige Wochen im Lande, ſo überzeugt er
ſich, daß ſeine Methode nicht blos äußerſt koſtſpielig, ſondern
auch, weil ſie ihn ſofort in den Ruf großen Reichthums und
noch größerer Einfalt bringt, mit Zeitopfern und Be-
läſtigungen verknüpft, und daß der allgemeine Landesbrauch
nicht immer ganz zu umgehen iſt. Copia verborum iſt nicht
nöthig, ſondern nur, daß man die üblichen Preiſe kennt und
auch bei der ungeheuerlichſten Forderung ruhig bleibt. Wer
der Sprache oder gar des Dialekts mächtig iſt, hat leichtes
Spiel, zur Noth geht’s auch ohne Worte, am beſten in
Neapel, wenn man ſich die kleine Mühe nimmt, einige
Vocabeln aus der Geberdenſprache zu erlernen, welche gerade
in dieſem Gebiete ſehr ausdrucksvoll iſt und eine Muſterkarte
von Zeichen hat für den, der eine zu hohe Forderung ab-
wehren will.


Eine Sorte von Dienſtleiſtungen gibt es, von der man
nicht recht weiß, ob und wie ſie zu belohnen ſei, in ſolchen
[192]VI. Lob der Cigarre — im Eiſenbahncoupé.
Fällen dient oft eine Cigarre. Sie läßt ſich ohne Weiteres
darbieten und annehmen, macht nicht gleich aus Geber und
Nehmer Herr und Knecht, wie eine Geldbelohnung oder das
Verſprechen einer ſolchen, kann ſogar in verbindlicher Weiſe
Gleichgeſtellten gereicht werden, ſchließt ein nachträgliches
Geſchenk in Baarem nicht aus, bedingt es aber auch nicht;
ferner iſt die Spende an keine Zeit gebunden, wie ein Trink-
geld, kann pränumerando gereicht, öfter wiederholt werden,
mit einem Worte ſie iſt ein Stück Entoutcas. Auch die
Feinde des Tabaks geſtehen zu, erſtens und zweitens, daß er
ein Genuß- und ein Reizmittel iſt, drittens daß er über-
mäßigen Appetit dämpft, viertens daß er beruhigend wirkt.
Alle dieſe Eigenſchaften bewähren ſich in der Touriſten-
praxis trefflich. Hinſichtlich des Appetits ſei bemerkt, daß
dies wörtlich und figürlich gemeint iſt. Ferner erweiſt ſich
die Cigarre z. B. am Briefträger als gedächtnißſtärkend,
wenn es ſich um Poſtereſtante-Briefe handelt, welche wir zu-
geſchickt wünſchen. Seine Vortheile hat es auch, dem Schaffner
gleich anfangs eine keine Freundlichkeit dieſer oder anderer
Art, z. B. einen Schluck Wein, angedeihen zu laſſen. Schlägt
ein dankbares Herz unter ſeinem Paletot, ſo ſchlägt es ſofort
wärmer für den Geber; iſt der Mann nur kalter Verſtandes-
menſch, ſo ſagt er ſich: wenn dieſer Herr ſchon jetzt ſo mit-
theilſam iſt, wie freigebig wird er erſt ſein, wenn Du ihm
Dienſte leiſteſt, und befleißigt ſich deren. Solchen Aufmerk-
ſamkeiten verdanke ich manchen nützlichen Rath, z. B. über
ſchätzbare Eigenthümlichkeiten von Bahnhofsſchenktiſchen, bei
Nachtfahrten Winke über die Herrichtung eines Lagers durch
Entfernung der Scheidewand oder Vorziehen der Polſter u. dgl.
Einmal hatte ich den Einfall, das Fahrbillet um eine Cigarre
zu wickeln und beides dem Schaffner mit der Bemerkung
zu präſentiren: „koſtbares Deckblatt, Werth fünf Thaler
zwanzig Groſchen (Fahrpreis).“ Dieſer kleine Spaß erheiterte
den wackeren Beamten ſichtlich und ſtimmte ihn für die ganze
Tour mir günſtig, wie überhaupt die meiſten Menſchen für
[193]VI. Reiſeökonomie — wohlfeilſte ſchweizer Reiſe.
Unterhaltung dankbarer zu ſein und ein beſſeres Gedächtniß
zu haben pflegen, als für Wohlthaten, Dienſte und Geſchenke,
vielleicht weil letztere ihnen Verpflichtungen alſo eine Laſt
auflegen, erſtere aber Freiheit und Gleichheit fördert. Dem
ſei, wie ihm wolle, jedenfalls kann ich berichten, daß mein
Schaffner bei Aufenthalten unaufgefordert den Schlag öffnete,
der Ueberfüllung des Coupé’s ſteuerte, mehrmals vorher mir
leiſe meldete, auf welcher Seite ſich die beſten Ausſichten
aufthaten, kurz die Gefälligkeit ſelbſt war, ſo daß ich zuletzt
nicht umhin konnte, ihm noch ein Zeichen meiner Erkenntlich-
keit in die Hand zu drücken. Von einem anderen, dem ich
meinen Becher credenzt hatte, lernte ich allerhand kleine für
Eiſenbahnreiſende paſſende Auskunftsmittel, z. B. ſchürzte er
in den Zugriemen des Fenſters, an dem der Knopf zur Be-
feſtigung fehlte, als ich es halb ſchließen wollte, einen Knoten
und der Zweck war erreicht. Endlich iſt die Spende einer
guten Cigarre oft einziges Mittel, ſich vom Dampfe der
ſchlechten eines Gefährten zu befreien.


Um an Reiſekoſten zu ſparen, iſt der Weg, den
Unerfahrene zuweilen einſchlagen, nur in Gaſthöfen unterſter
Claſſe zu übernachten, wie wir ſahen, übelgewählt. Ueber
den Punkt plauderte ich einſt mit zwei Studenten auf der
Wartburg. Beide hatten in beweglichem Tone ihre Sehn-
ſucht nach einer Reiſe in die Schweiz ausgeſprochen, woher
ich eben kam. Für einen Sprung in den Thüringerwald
oder das Fichtelgebirge reiche ihre Baarſchaft allenfalls aus,
Helvetien jedoch gehe über ihre Kräfte. Ich hielt ihnen
darauf eine kleine Vorleſung über Reiſeökonomie und
kam bei der Gelegenheit auf einen Einfall, der mir ſelber
anfangs etwas abſonderlich ſchien, der aber doch vielleicht
nicht unausführbar iſt. Jedermanns Sache mag das Ding
freilich nicht ſein, vor den Augen Eines der beiden jungen
Leute fand meine Idee indeſſen Gnade und er verſicherte,
daß er eine Probe damit machen wolle. Ich vergaß, ihn zum
Bericht über den Erfolg aufzufordern, ſtelle Ihnen aber
13
[194]VI. Wohlfeilſte ſchweizer Reiſe.
anheim, in unſerm Buche den Vorſchlag zu wiederholen;
vielleicht finden ſich unternehmende Jünglinge, welche gleich-
falls zu dem Verſuche Luſt haben.


Mein Vorſchlag fußt auf der bekannten Thatſache, daß
gerade in der „theuren“ Schweiz für den geringen Preis von
etwa fünf Franken täglich (vgl. S. 141) ein Zimmer mit gutem
Bett, Frühſtück und zwei anſtändige Malzeiten zu finden ſind,
und zwar unter Umſtänden ſchon auf „einige Tage“, während
der Touriſt, der in hergebrachter Weiſe verfährt, in denſelben
Häuſern ſehr viel mehr verzehrt, blos weil es dort weder üblich
noch räthlich iſt, vorher, wie in Italien, zu accordiren. Ein
paar Andeutungen hatte ich noch gegeben, als einer der An-
geredeten, wie wenn ich ihn gekränkt hätte, herausfuhr: das
könne doch nur Scherz ſein, denn zum „Penſionskrüppel“ würde
ich ſie ſo jung hoffentlich nicht machen wollen, und ſollte er
täglich zu beſtimmten Stunden am beſtimmten Orte erſcheinen
müſſen, ſo könne nicht von Ausflügen, höchſtens von Spazier-
gängen die Rede ſein. Er würde ſich dann vorkommen, wie
ein Schaf, das, an einen Pflock gebunden, umhergraſt und
bei jedem Schritte den Strick am Halſe fühlt. Soll ich nach
der freien Schweiz gehen, rief er, um die daheim endlich
geſicherte Freizügigkeit einzubüßen? Nein, bin ich einmal dort,
ſo will ich auch alles „mitnehmen“, was ſie bietet, ſonſt bleibe
ich lieber zu Hauſe. — Du haſt gut ſpröde thun, fiel der Andere
ein, denn Du weißt, daß Dein „Alter ſchließlich doch heraus-
rückt“ mit dem Nöthigen, ich hingegen, wandte er ſich an
mich, würde Ihnen ſehr dankbar ſein, wenn Sie Näheres über
Ihre Idee mittheilen wollten, denn ich bin der Sohn eines
Dorfſchullehrers, lebe von Stipendien und Unterrichtgeben
und betrachtete bis heute die berner Oberlandberge als eben
ſo unerreichbar für mich, wie die Berge im Monde. Sähe
ich nun die Möglichkeit, einige ihrer ſchönſten Punkte zu
ſchauen und zu zeichnen, ſo wäre ich zu allen denkbaren
Opfern bereit.


— Wohlan denn, junger Herr, ſo ermahne ich Sie zu-
[195]VI. Wohlfeilſte ſchweizer Reiſe.
vörderſt, Ihre Freunde daheim entweder gar nichts von
Ihren Plänen merken zu laſſen — dies rieth für alle Reiſen
ſchon der weiſe Franklin — oder höchſtens zu verlautbaren,
daß Sie nur ein paar Gletſcher beſichtigen und malen woll-
ten, die Route ſtehe noch nicht feſt, jedenfalls würden Sie
nicht viel umherſchwärmen, ſondern verweilen, wo es Ihnen
gefällt und von da Partien machen. Laſſen Sie ſich herbei,
Namen von Oertlichkeiten zu nennen, ſo können Sie einem
Sturzbade von Rathſchlägen nicht entgehen. „Aber Du wirſt
doch …“, „unmöglich können Sie doch …“ dringt von allen
Seiten auf Sie ein. Folgen Sie mir, nennen Sie keinen
Namen. Auch die alten Lateiner wußten, daß nomina odiosa
ſind, und bei uns bedeutet to tell names, Namen nennen,
nahezu Aergerniß geben. Einfließen laſſen können Sie, daß
Ihr Ehrgeiz nicht danach ringe, alle touriſtiſchen Gemein-
plätze abgelaufen zu haben, um, zurückgekehrt, ſagen zu kön-
nen, da und da war ich, auch das und das ſah ich, ja wohl,
und über die Reize jeder Fernſicht, jedes Waſſerfalls zu ſtrei-
ten. Im Gegentheile, wie Ihre Gewohnheit ſei, nicht viele
Bücher, ſondern gute wiederholt zu leſen, ſo gedächten Sie
es auch mit den Alpen zu halten. Immer mit dem Strome
ſchwimmen, ſei nicht Ihre Sache, ihm direct entgegen reichten
die Kräfte nicht, wohl aber, ihn hier und da zu kreuzen und
am Ufer die beſten Plätzchen zu wählen. Wer nur immer
neue Landſchaften in raſcher Folge ſehen wolle, thue beſſer,
an einem Stereoſkopenkaſten ſich die erſehnte Abwechslung zu
erdrehen. Baſta.


Haben Sie nun Ihr Bahnbillet dritter Claſſe, die
nöthigen Goldſtücke und Mundvorrath bei ſich, ſo bringen
Sie getroſt die folgende Nacht im Wagen zu, um etwa in
Zürich, wo Sie Quartier nehmen und „einige Tage“ ver-
weilen, auszuſchlafen. Auf der Hinreiſe beſuchen Sie ſüd-
deutſche Städte gar nicht; ob und wie lange dies geſchehen
ſoll, iſt eine Frage für den Rückweg, bei der Ihr Seckel als-
dann mitzuſprechen hat. Im Alpengebiete angekommen, mei-
13*
[196]VI. Wohlfeilſte ſchweizer Reiſe.
den Sie vereinzelt gelegene Hôtels an berühmten, vielbeſuchten
Punkten (vergl. S. 187), wählen auch in Städten und Dör-
fern möglichſt Häuſer, wo der Wirth, wenn nicht mit bedient,
doch den Gäſten ſichtbar und die Machtſtellung des Portiers
und des Oberkellners keine unbegrenzte iſt. An den Herrn
oder die Frau des Hauſes haben Sie ſich zu wenden, nicht
beim Eintritt ſtehenden Fußes, vielmehr bitte ich, ſich Zeit
und Platz zu nehmen. Beſtellen Sie einen Schoppen des Ge-
tränks, dem Sie andere Gäſte zuſprechen ſehen, das Weitere
eilt nicht. Bevor Ihr Glas geleert, betrachten Sie das Haus
vom Hof aus, thun auch einen Blick in die Küche. Bot ſich
nicht bereits Gelegenheit, mit dem Wirthe ein Geſpräch an-
zuknüpfen, ſo laſſen Sie ihn herbeicitiren, und jetzt iſt es
Sache Ihres Taktes, das Nöthige zu vermitteln. Sprechen
Sie ohne Schüchternheit, ohne die Stimme zu dämpfen, ohne
der Wahrheit oder ſich ſelber zu vergeben; machen Sie kein
Hehl daraus, daß Sie vier Wochen in der herrlichen Schweiz
ſich aufhalten, einige Berge zeichnen aber mit ſehr wenig Geld
auskommen wollen und müſſen. Darum ſeien Sie entſchloſſen,
nicht die alten Touriſtenfußſtapfen einzuhalten, ſondern nur
an Punkten, die ſich zu Standquartieren für Ausflüge eignen,
mindeſtens einige Tage oder vielmehr Nächte zu verweilen,
vielleicht länger. Ihre Malzeiten würden Sie Abends ein-
nehmen, theils mündlich, theils eingewickelt, um ſie Tags
darauf zu verzehren. Da Sie ſtets zeitig aufbrechen, genüge
als Frühſtück ein Glas Milch. Das Zimmer diene nur zur
Schlafſtelle, Sie würden daher mit dem beſcheidenſten Raum
vorlieb nehmen. Zuweilen werde es vielleicht paſſen, behufs
weiterer Tour eine oder zwei Nächte auswärts zu bleiben, in
ſolchen Fällen laufe die Zimmermiethe für Ihre Rechnung.
Ich wette, der Angeredete hat bereits Intereſſe für Sie und
Ihre Zwecke genommen und macht einen Preis, über deſſen
Wohlfeilheit Sie ſtaunen. Abſichtlich nenne ich keine Zahl,
um der Ueberraſchung nicht vorzugreifen. Gerade in der
Schweiz ſind die Wirthe meiſt gewiegte, einſichtige und, falls
[197]VI. Wohlfeilſte ſchweizer Reiſe.
nicht allzu große Herren, auch geſchmeidige Geſchäftsleute,
die ihren Vortheil zu wohl verſtehen, um nicht auf billige
Anerbieten einzugehen. Der Mann ſieht, daß mit Ihnen ent-
weder ein kleines Geſchäft oder keines zu machen iſt, hat er alſo
nicht gerade ſein Haus ſehr gefüllt, ſo wird er wohl Erſteres
vorziehen. Deshalb verlegen Sie eine Reiſe der Art nicht
auf die hohe Saiſon, ſondern etwas vorher oder nachher,
treffen in den Morgen- oder Nachmittagsſtunden ein, nur
mit Reiſetaſche, ohne Koffer, welcher nachgeſchickt wird
oder anderswohin vorausgeſandt iſt. Gefällt Ihnen der
Wirth nicht, ſo iſt nichts verloren, Sie zahlen Ihren Schop-
pen und ſetzen den Wanderſtab fürbaß.


Nebenvortheile dieſer Reiſemethode: Sie ſind auch bei
ſpätem Eintreffen von einem Ausfluge Ihres Nachtquartiers
ſicher, brauchen nicht zu gaſthauſiren; ſparen an Gefährt,
Führern, Trägern; werden häufig durch Vermittelung des
Wirths und ſeiner Leute, deren Theilnahme für Sie von Tag
zu Tag wächſt, Gelegenheit finden, ſich Geſellſchaften zu Par-
tien anzuſchließen, angenehme Bekanntſchaften machen, viel-
fach von der Ortskenntniß des Perſonals Nutzen ziehen, end-
lich friſcher zu Ihren Examenvorbereitungen zurückkehren.
Derſelbe brave Wirth, der Sie beköſtigte, bis Sie ſeinen Be-
zirk touriſtiſch ausgebeutet, iſt auch der Rechte, um Sie für
Ihr nächſtes Hauptquartier an einen paſſenden Collegen zu
adreſſiren. Bei dieſem können Sie dann, geſtützt auf dieſe
gewichtige Empfehlung (das Wirthsgewerbe iſt in der Schweiz
höher angeſehen, als irgendwo anders) mit noch mehr Sicher-
heit auftreten. — Endlich — aber dies fällt nicht unter die
Nebenvortheile, ſondern überwiegt alles Andere — Sie
ſehen, was Sie ſehen, gut (vergl. S. 131).


Schon S. 12 wurde auf die Verdienſte der Schweiz vom
touriſtiſchen Geſichtspunkte hingewieſen. Hier mag noch bei-
befügt werden, daß in ihr allerdings neben den höchſten
Bergen die höchſten Preiſe finden kann, wer ſie ſucht oder
nicht ſcheut, dennoch meine ich nicht, daß die „ärgſte Ueber-
[198]VI. Die Schweiz und ihr Ruhm.
theuerung“ dort zu Hauſe ſei, ſondern finde das Mißverhält-
niß zwiſchen Leiſtung und Bezifferung in gewiſſen anderen
Ländern durchſchnittlich größer. In Anſchlag kommt, daß
die Schweiz ſeit Langem das Lieblingswandergebiet aller Na-
tionen iſt, weil in der That kein anderes Gebirge ſo reich ge-
ſegnet iſt mit Erhabenem, Schönem, Lieblichem, Alles ver-
hältnißmäßig nahe zuſammen liegt, wodurch ſein touriſtiſcher
Werth, folglich auch Zahl und Anſprüche der Speculanten
darauf erhöht werden; Behörden, Stadt- und Landleute, ſeit
Generationen vertraut mit Allem, was ein Touriſtenherz nur
wünſchen kann, haben Blick und Schick dafür; die beſuchteſten
Landestheile ſind auf eine kurze Saiſon beſchränkt; Brodſtoffe
müſſen eingeführt werden, das Land gehört alſo nicht unter die
„geſegneten“, obwohl viel Milch und Honig da fließt. Mit
alledem ſoll indeß nicht geleugnet werden, daß auch hier noch
Manches zu wünſchen bleibt, namentlich brauchte der Patrio-
tismus der Wirthe nicht, wie es häufig vorkommt, ſich ſo weit
zu erſtrecken, daß Jeder von uns Anderen, der nicht im Beſitz
des Schwytzerdütſch iſt, von ihnen mit Geldbußen belegt wird.
Wenn Sie, m. HH. ſchweizer Gaſthalter, uns Alle wie Lands-
leute behandeln wollten, würden wir Ihnen dagegen den Ge-
fallen thun, die deutſche Orthographie verleugnend, ſo oft
wir Briefe an Sie richten, nie aus Ihrem Lande ein Adjectiv
mit kleinem Anfangsbuchſtaben zu machen, ſondern daſſelbe,
wie es das eidgenöſſiſche Nationalgefühl will, ſtets ſubſtan-
tiviſch groß ſchreiben, alſo: Schweizerwirth, Schweizerreiſe,
Schweizerkäſe, Schweizerſoldat. — Kehren wir nun zurück
zu unſren ökonomiſchen Beſtrebu[ngen].


Wird im Gaſthofe länger verweilt, ſo iſt es wohlgethan,
die Rechnung nicht wochenlang auflaufen zu laſſen, ferner
Außergewöhnliches gleich baar zu bezahlen, ſo daß blos die
täglich wiederkehrenden Sätze auf dem Papier erſcheinen und
alles überſichtlich und „glatt“ bleibt. — Nur jugendlicher
Leichtſinn oder Verſchwendung nimmt, wo es größere Ein-
käufe zu machen oder zu miethen gibt, Kellner, Hausknechte,
[199]VI. Fernere Erſparniſſe an Zeit, Geld, Mühe und Verdruß.
Lohndiener oder gar Leute, die ſich auf der Straße anbieten,
mit. Ebenſowenig dürfen Kutſcher, Träger, Führer durch
Wirthe oder Kellner für unſre Rechnung ausgezahlt, oder
Letztere bei Streitigkeiten mit Erſteren als Schiedsrichter auf-
gerufen werden. Die Begründung dieſes Rathes gehört unter
die Erſparniſſe, die ſich der Verfaſſer erlauben darf.


Außergewöhnliches in Speiſen, Getränken und Dienſt-
leiſtungen, weil es ſtets höhere, oft phantaſtiſche Preiſe her-
vorruft, überhaupt alles, was den Speculationsgeiſt der
Wirthe, Kutſcher, Händler, welche nicht an gedruckte oder ge-
ſchriebene Speiſezettel, Tarife, Preiscourante gebunden ſind,
erhitzen kann, hat der Sparſame möglichſt zu meiden. Je ge-
wohnter, alltäglicher das Begehrte iſt, je weniger er die Leute
in den Fall bringt, die Frage, „wie berechneſt du das?“ zu
ſtudiren, je nüchterner, beſonnener gerathen die Preiſe. Auf-
fallend elegante Kleidung, ungewöhnlicher Schmuck, viel oder
reich ausgeſtattetes Gepäck, ſind für den Inhaber koſtſpielige
Reizmittel der Phantaſie unſrer Geſchäftsfreunde. Dieſelben
normiren nämlich meiſtens ihre Anſätze nach Principien der
Vermögensſteuer. Von einem Freunde gewann ich einſt in
einer Handicap-Wette ein allerliebſt gearbeitetes juchtenes,
ſilberausgelegtes Néceſſaire und hatte den Einfall, es mit auf
die Reiſe zu nehmen. Das Ding ſtand gewöhnlich halb-
geöffnet auf dem Tiſche meines Zimmers, und anfangs be-
luſtigte es mich, die ſinnbeſtrickende Wirkung anzuſehen, die
es auf die Kellner übte, bald ſchien mir jedoch, daß der fieber-
hafte Zuſtand, in den die Leute geriethen, verhängnißvollen
Ausdruck fand in ihren Rechnungen, beſtärkt wurde ich in
dieſer Anſicht durch den Earl R …, der einen Juchtenkoffer
mit ſich führte und Aehnliches erfahren hatte; ſo packten wir
denn die beiden koſtſpieligen Begleiter zuſammen, ſchickten ſie
zurück und — alles war wieder im alten Geleiſe. Seitdem
ſteht unter meinen Reiſeregeln: Juchtenleder (Berg-
ſchuhe ausgenommen), ja der bloße Geruch davon, erhöht die
Reiſekoſten, iſt mithin zu beſeitigen.


[200]VI. Fernere Erſparniſſe an Zeit, Geld, Mühe und Verdruß.

Beſchwerden jeder Art werden an den Wirth ſelbſt oder,
wo dieſer nicht ſichtbar, an deſſen Stellvertreter gerichtet, nie
an den Zimmerkellner oder andere Bedienſtete. —


Wer ſehr wenig Anſprüche macht in Bezug auf das Zim-
mer, darf dies füglich gleich bei Ankunft zu erkennen geben.


Unter die Mittel, Zeit, Mühe und Geld zu ſparen, ge-
hören noch: die Schlüſſel von Koffern und Säcken, auch
wenn ſie leer ſtehen, abzuziehen und aufzubewahren, in
Städten angekommen, wo man länger verweilen will, Franco-
marken einzukaufen und die werthe Bekanntſchaft des Brief-
trägers der betreffenden Straße zu machen, dem man ſeine
Karte dedicirt.


Bei Erſparniſſen (vgl. S. 35, 166, 187 ꝛc.) iſt natür-
lich zu unterſcheiden, ob ſie unter die wirklichen, anſtändigen,
zweckmäßigen, billigen gehören, oder unter die nur ſchein-
baren, unüberlegten, koſtſpieligen. In die letzte Rubrik der
koſtſpieligen Erſparniſſe (auch von dieſen wurden
ſchon verſchiedene mitgetheilt) fällt noch Anderes. Wer z. B.,
um Groſchen zu ſparen, Thaler wegwerfen und noch viel
Scheererei haben will, der unterlaſſe, wenn er in ſtark be-
ſuchten Diſtricten im Hochſommer ſpät Abends einzutreffen
gedenkt, telegraphiſch Nachtquartier zu beſtellen. Je
mehr dies üblich wird, je ſchlechter fahren alle, die es ver-
geſſen. Wird in größerer Geſellſchaft gewandert und
man hat keinen elektriſchen Draht zur Verfügung, ſo iſt es
oft gut, wenn Einer oder Zwei voraus gehen oder fahren,
um Malzeit und Quartier zu beſtellen. Wo es gebräuchlich
iſt, Fuhrwerk vom Bahnhof in die Stadt telegraphiſch vor-
aus zu belegen, thue ich auch das in der Regel.


Jetzt noch einen Wink für Alpenſteiger. Der tapfere
Wandersmann erſchrickt nicht, wenn die Nothwendigkeit, in
Sennhütten oder Heuſtadeln zu übernachten, an ihn
herantritt, hat er jedoch die Wahl, ſo ſteht er lieber ein paar
Stunden früher auf, um in einem ordentlichen Bette die
Nacht zuzubringen, denn auf Lagern jener Art findet man in
[201]VI. Uebernachten im Freien, in Sennhütten und Heuſchobern.
der Regel weniger Ruhe als Ungeziefer, und Mancher nimmt
einen ſchweren Kopf und matte Glieder mit in das bevor-
ſtehende ſtarke Tagewerk. Denn das Heu, das ſeit Monaten
einen Bretterverſchlag gefüllt und irgend einem Nazi oder
Sepperl zur Lagerſtätte gedient, hat einen andern Athem, als
das, Großſtädtern bekannte, friſch gemähte, auf einer Wieſe
ausgebreitete. Im Alpine Journal II. 1 — 11 unterſucht
Mr. Whymper die verſchiedenen Arten, im Freien zu näch-
tigen, und kommt zu dem Schluſſe, daß eine waſſerdichte Unter-
lage und eine dergleichen Decke räthlicher ſeien, als der ſonſt
benutzte Sack aus ſolchem Zeuge. Auch die Beſchreibung
eines paſſenden Zelts und kleiner Geräthe zum Kochen wird
gegeben. Endlich warnt er, nach Einbruch der Dunkelheit in
die erſte beſte aufgefundene Höhle zu kriechen, und erzählt ſein
Abenteuer in einer ſolchen. Er wurde von Ameiſen über-
fallen.


[[202]]

VII.


In internationalen Angelegenheiten — feſtländiſche Anſichten über Engländer —
antibritiſches Sperrſyſtem — keep your distance — I \& you — Würfeltinte-
faß — warum ſie reiſen — wiſſenſchaftliche Baratterie — verletztes Selbſt-
gefühl — Nord- u. Süddeutſche — Zurückhaltung — engliſche Touriſten — Sub-
tractionsexempel — Fertigkeit im Reiſen — franzöſiſches Urtheil über Engländer
— franzöſiſche Touriſten — engliſche Reiſewerke — Kunſt der Reiſebeſchreibung
— Comfort — Yankees — Scheu vor Annäherung an Fremde — Berliner —
Alltagsmenſchen — geiſtige Rangſtufen — Anknüpfungen — Hinderniſſe — Mi-
moſennaturen — Muſterung — Graf Zwei — Störung — gräfenberger Duſche
— Dialektſtudien — Entzifferungskunſt — Scherze — Localpoſſen — Quarte-
ronen — Fragewuth — Franklin — moraliſche Erzählungen vom Lohn der
Tugend — Griesgrame, Hypochonder, Sonderlinge — Schiffszwiebacknaturen —
Fähigkeit anzuregen — Gemüthlichkeit — neugefundene Freunde — Geſprächs-
ſtoffe — Rückſichten — Uebergangszuſtände — nachgeſchickte Zeitungen — Volks-
leben — Lord B. — Mittelclaſſen — lange, lange Pappeln — Geſandte, Con-
ſuln — Empfehlungsbriefe — gebildete Familien — geſchloſſene Geſellſchaften —
Buchhandlungen — Gefühl der Verlaſſenheit — allein reiſen — Warnung vor
den beſten Freunden — ſchwerſte Geduldsprüfungen — kleine Ueberraſchungen —
Frauen — Négligé — Ehemänner — verſchiedene Reiſegefährten — allein ab-
reiſen — Hauptzwecke.


Nachdem im erſten Capitel der Herausgeber die Ehre
gehabt, ſeinen engliſchen Freund und Reiſeprofeſſor vorzu-
ſtellen, hat er ihm das Wort faſt allein gelaſſen. Was nun
der Leſer darin ſehen, ob er Schüchternheit, Mangel an eige-
ner Meinung darin erblicken, wie er über Lehrer und Schüler
urtheilen will, alles das, ſei es auch Tadel und Spott, ziemt
mir, in ſchweigender Ergebung abzuwarten und hinzunehmen:
es iſt eine Privatangelegenheit. Was ich aber nicht auf ſich
und mir beruhen laſſen darf — ließ doch auch Schiller’s
[203]VII. In internationalen Angelegenheiten.
Lady Milford von Ferdinand Walter alles über ſich ergehen,
nur auf jenen einen Vorwurf, durch den in ihr ihre ganze
Nation beleidigt war, fühlte ſie ſich gedrungen, zu antwor-
ten — das iſt die internationale Anklage, die ſchon ſo lange
auf mir laſtet. Ich kann hier unbeſorgt weiter ausholen,
denn es handelt ſich nicht um dieſe Vertheidigung allein, ſon-
dern um allgemeine touriſtiſche Angelegenheiten: geſellige
Anknüpfungen auf Reiſen überhaupt, in er-
ſter Linie mit Engländern
. Wir begegnen dieſen, je
entlegenere Gebiete wir aufſuchen, immer häufiger und aus-
ſchließlicher, oft ſind ſie unſre einzigen Mittonriſten, wir
würden darum „mit unſrem Brod und Butter hadern“ (um
eins ihrer Sprüchwörter zu citiren), wenn wir ſie, an alten
Gebräuchen feſthaltend, grundſätzlich mieden. Um zu erör-
tern, ob die Gewohnheit berechtigt iſt, mag die Anknüpfung
ein Geſpräch bieten, dem ich einſt, bald nachdem meine
beiden Gefährten heimwärts gezogen, beiwohnte, weil es eine
Muſterſammlung der feſtlandläufigen Meinungen über den
Gegenſtand enthält.


Ein junger Rheinpreuße äußerte: Nicht weniger als fünf
Nationalitäten ſind an dieſem Tiſche vertreten, wie ich ſehe,
nur, merkwürdig genug, kein Engliſhman darunter. Das
nenne ich Glück! Nie kann ich mich auch entſchließen, einen
anzureden. Ich würde mich und mein Land dadurch herab-
zuſetzen glauben, denn John Bull kommt mir vor wie der
reiche Handelsherr, der auf ſeinen Vetter Michel, den armen,
kleinſtädtiſchen Studenten, mit einer Miene ſieht, von der
man nicht recht weiß, ob ſie mehr auf Geringſchätzung oder
die Beſorgniß deutet, daß der junge Mann ihn anborgen,
vielleicht gar ein Concurrenzgeſchäft anlegen will.


— Ganz Ihrer Meinung, fiel ein Belgier ein, auch ich
meide dieſe Herren mit feuerrothen Backenbärten und dunkel-
rothen Büchern ſo viel ich kann. Betrachten wir doch nur
einmal einige, etwa auf einem rheiniſchen Dampfboote. Kaum
widmen ſie einander ein Wort, auch zwiſchen Mann und
[204]VII. Feſtländiſche Anſichten über Engländer.
Frau, Eltern und Kindern, Freund und Freund, werden
nur abgeriſſene Phraſen gewechſelt. Ich verſtehe keine Silbe
ihrer Sprache, ſchon der Klang ſchreckt mich von ihr ab; ſie
macht auf mich den Eindruck, als ob die Worte mit einge-
ſtemmten Elbogen rückwärts über die Achſel geworfen wür-
den. Und wie langweilig und gelangweilt ſehen die Men-
ſchen aus! Auf die herrlichſten Landſchaftsbilder werfen ſie
kaum einen Blick, ungerührt ziehen ſie vorüber, die Augen
im Buche, auf der Karte, auf ihren Gamaſchen oder auf dem
Schaumgekräuſel der Schaufelräder im Waſſer.


Halt, ſein wir nicht ungerecht, begütigt ein Sachſe. Nicht
von der ganzen Nation gilt dieſer Hang zur Abſonderung
und Sonderbarkeit, ſondern nur von vielen auf dem Conti-
nent Reiſenden. Die Menſchen ahmen ihr Land nach, wel-
ches auch gerade an dem Punkte, wo es ſich dem übrigen
Europa nähert, aus unzugänglichen, unwirthbaren Felſen
beſteht. Darum rufen ihnen auch ihre Schriftſteller beſtändig
zu: wenn ihr reiſet, ſo miſcht euch unter die Landeskinder,
ſprecht mit ihnen, ſeid freundlich, ſeid Gentlemen in euren
Handlungen, nicht in euren Anſprüchen, verlangt nicht, daß
alles bei ihnen ſo iſt, wie bei uns zu Hauſe, denn wäre das,
warum reiſtet ihr dann?


— Und wer ſind denn dieſe Pilger, denen wir überall
begegnen, wo es zu ſehen und nicht zu ſehen gibt? fuhr der
Erſte fort. Entweder ſind ſie aus den ungebildeten Claſſen,
Schneider, Schuſter, Metzger, Bäcker, oder deren Söhne und
Töchter, von plumper herausfordernder Arroganz, oder geld-
ſtolze Patricier und ſchroff abgeſchloſſene Ariſtokraten, gebiete-
riſch, froſchkalt, ſcheinheilig, rückſichtslos, voll ſeltſamer Ge-
wohnheiten und Vorurtheile, gegen alles Nichtengliſche mit
Verachtung erfüllt. Es ſcheint, der beſte Theil der Nation,
die gediegenen Familien des Landes und der kleineren Städte,
in denen wahre Humanität vertreten iſt, reiſt wenig. Ueber-
laſſen wir alſo die unlieben Zugvögel den Lohndienern und
Wirthen.


[205]VII. Antibritiſches Sperrſyſtem — keep your distance.

— Muß für meinen Theil ſehr danken, fällt ein rheini-
ſcher Hôtelier mit gedämpfter Stimme ein. Mein Geſchäfts-
grundſatz iſt: keine Engländer aufzunehmen. Mein Perſonal
iſt darauf eingeübt, ſie als ſolche, auch wenn ſie nicht engliſch
ſprechen, zu erkennen und Mittel zu finden, ſie los zu wer-
den, ohne geradezu unhöflich zu ſein. Von Mitgliedern aller
übrigen Nationen, die ich beherbergt, einſchließlich zweier
Neuſeeländer und eines Hottentotten, habe ich zuſammen-
genommen nicht ſo viel Mühe und Aerger gehabt, als von
John Bull die Jahre hindurch, in denen ich das antibritiſche
Sperrſyſtem noch nicht eingeführt. Kein anderes menſchliches
Weſen macht ſo viele, mannigfaltige, unbillige Anſprüche, iſt
ſo halsſtarrig in ſeinen Eigenheiten und Wunderlichkeiten, ſo
mißtrauiſch, ungeberdig, anmaßend, vor Allem ſo knickerig
und zur Chicane geneigt, als der Engländer. Außerdem ge-
hört es zu den Eigenthümlichkeiten dieſes Volksſtamms, Löcher
in die Wände zu bohren und die Sofas mit Wichſe zu be-
ſudeln.


Kaum hat der Gaſtwirth ſeinem Herzen Luft gemacht und
ſchöpft Athem, ſo wendet ſich der Rheinländer gegen den Ver-
mittler. — Sie irren. Wie auf dem Feſtlande, ſo ſchließt
ſich der Engländer auch drüben auf ſeiner Inſel ab. Sein
Haus, von außen düſter und abſtoßend, iſt Tag und Nacht
verſchloſſen, zum Ueberfluß hat er es noch mit Mauern und
Gittern eingefaßt: es iſt ſeine „Burg“. Auch ſeine Felder
umgibt er mit Dornenhecken. Genau ſo hält er es mit ſeiner
Perſon. Dieſe ſperrt ſich entweder in ihr Haus ab, oder in
ihren Club (zu Deutſch: Keule, geballte Fauſt, Grobian)
oder, wenn er ein Kaffeehaus beſucht, zwiſchen Bretter-
verſchläge. Nie ſieht man Gold, Koſtbarkeiten, Schmuck an
ihm, als ob er ſich unter Dieben und Räubern dünkte. Nir-
gend blüht die Schloſſerei mehr als in London, deſſen Caſſen-
ſchränke für die feſteſten gelten; die Eiſenpanzer ſind an eng-
liſchen Schiffen am dickſten, waſſerdichtes Kautſchukzeug iſt
engliſche Erfindung, kurz: keep your distance, bleib mir
[206]VII. Wurfeltintefaß — I \& you — warum ſie reiſen.
vom Leibe, iſt durchweg die Loſung. Die große Inſel iſt
aus lauter kleinen Inſeln zuſammengeſetzt. Auch das bekannte
würfelförmige Reiſetintefaß — natürlich abermals ſeine Er-
findung — iſt ein echter Engländer: eben ſo ſcharfeckig und
kantig, hart, rauh und ledern, wie er, nur Eins hat es vor
ihm voraus: es beſitzt eine nachgiebige Stelle, an welcher es
zu öffnen iſt, die ich am Menſchen nie habe entdecken können.
Sogar in ſeiner Schrift drückt ſich die Selbſtüberhebung aus.
Sein liebes Ich. I, iſt ein einzelner, großer Buchſtabe, der
wie ein Maſtbaum ſtolz in die Luft ragt; zur Anrede you
braucht er einige kleine, tief zur Erde gebückte, ſchweifwedelnde
Buchſtaben. Wie der Einzelne, ſo die Nation. Alle Meere
ſind nur für ihre Flotten, alle Länder für ihre Waaren ge-
ſchaffen, und ſtets wiſſen ſie es einzurichten, daß ſie den
Hauptvortheil haben, was im Völkerverkehr außer Geld noch
Ruhm und Macht bedeutet. Unabläſſig trachten ſie, auf
Koſten Aermerer ihren coloſſalen Reichthum noch zu ver-
mehren. Ihre Politik iſt die ſelbſtſüchtigſte, ſchnödeſte, perfi-
deſte, die ſich denken läßt.


— Daß ſie ſo viel reiſen, iſt kein Wunder, eifert der
Belgier weiter. Sie wollen den Nebeln und Steinkohlen-
dämpfen drüben entgehen, die ſie verhindern, den Mund zu
öffnen, und vermuthlich ſchuld ſind, daß ihre Sprache ſo
garſtig klingt. Ferner ſuchen ſie dem Schmiedehammergetöſe
ihrer Fabriken auszuweichen, oder geiſtige Luftveränderung
iſt es, nach der es ſie drängt; ſie wollen heraus aus dem
Lande des Schweigens, der langen Geſichter und der langen
Zeitungsſpalten, wo jeder Menſch, der nicht arbeitet, ein
Journal in der Hand hält, um ungeſtört gähnen zu können.
Vielen ſoll es auch darum zu thun ſein, den theuren Preiſen
der Heimat, oder ihren Gläubigern ſich zu entziehen. Andere
haben zuviel Geld und Zeit übrig — blicken wir nur in die
Fremdenbücher, ſie ſind ja alle Rentiers —, wiſſen zuhauſe
mit beiden und mit ſich ſelber nichts anzufangen und ſuchen
ſich dadurch einigermaßen zu unterhalten, daß ſie uns Uebri-
[207]VII. Wiſſenſchaftliche Baratterie — verletztes Selbſtgefühl.
gen die Preiſe vertheuern. Andere ſpeculiren auf eine Gas-
anſtalt, Waſſerleitung, Guanofabrik, Agentur oder dergleichen.
Auch junge Bären gibt es, die in Paris, Wien, Dresden
geleckt werden ſollen. Die Meiſten ſcheinen ſelbſt nicht zu
wiſſen, warum ſie reiſen, und haben weder Freude noch Nutzen
davon. Von der Anarchie, die in der Schreibung fremder
Namen durch die haarſträubende Conſonantenverſtümmelung
und Vocalmengerei der Engländer in unſren geographiſchen
Handbüchern eingeriſſen iſt, will ich gar nicht ſprechen. Gäbe
es ein Admiralitätsgericht der Wiſſenſchaft, ſo würden ſie von
ihm wegen Baratterie verurtheilt, denn ſie verfälſchen oder
vertauſchen jedes Stück geographiſchen Importguts, das durch
ihre unbarmherzigen Hände geht.


Allmählich erhitzte ſich auch der einzige zu Worte ge-
kommene Anwalt der von allen Seiten Beſchuldigten: — Es
ſcheint in der That, meine Herren, daß Sie Ihre Kenntniß
engliſchen Weſens theils pariſer Caricaturblättern entnommen,
theils von Wirthen haben, die allerdings nicht gut auf dieſe
Nation zu ſprechen ſind, weil keine andere ihren Ungebühr-
lichkeiten ſo nachhaltigen Widerſtand entgegenſetzt.


Um die Gemüther ruhiger werden zu laſſen, riß ich jetzt
das Wort an mich, hielt es feſt, ſo lange mein Athem reichte,
und hatte ſchließlich die Genugthuung, wenigſtens Einige der
Anweſenden in den Hauptſachen mir beiſtimmen zu ſehen.


Viele jener Vorwürfe haben ſchon im Tone ſo auffallende
Familienähnlichkeit mit denen, die uns Preußen von unſren
feindlichen Brüdern in Süddeutſchland gemacht werden, daß
man verſucht iſt, auf Stammverwandtſchaft in den Urſachen
zu ſchließen. Und ſo ſehr auch öffentliche Reden und Zei-
tungen die Feindſchaft blos mit politiſchen und wirthſchaft-
lichen Gründen zu ſtützen ſuchen, ſo glaube ich doch, ihre
Hauptwurzel, abgeſehen von confeſſionellen Fragen, anderswo
ſuchen zu dürfen, und zwar an derſelben Stelle, wo der
Britenhaß gewachſen iſt. Denn jene Art von Erbitterung
wird nach allen Erfahrungen des Privat- und öffentlichen
[208]VII. Süd- und Norddeutſche — Norden und Süden.
Lebens nicht ſowohl durch Schädigung oder Bedrohung wirk-
licher Intereſſen hervorgerufen, als vielmehr: — durch ver-
letztes Selbſtgefühl. Wurden oder glauben wir unſre „mate-
riellen Intereſſen“ angetaſtet, ſo ſind wir minder geneigt,
viel Worte zu machen, greifen auch nicht ſo leicht fehl in der
Wahl der Mittel, dagegen laſſen wir uns zu Bitterkeiten,
Uebertreibungen und Ungerechtigkeiten vorzüglich dann hin-
reißen, wenn unſre Eigenliebe ſich gekränkt fühlt. Tiefer
einzugehen auf politiſche Controverſen, iſt hier nicht der Ort,
nur die Bemerkung kann ich nicht unterdrücken, daß der
Continentale, angenommen, die Engländer wären in der
That durchweg hochfahrend, ungeſellig, gemüthlos, offenbar
ſehr Recht hätte, ihre Geſellſchaft zu meiden, daß hingegen,
geſetzt auch, die Wirklichkeit entſpräche dem Bilde, welches
gewiſſe Zeitungen von den Preußen ſechs Mal wöchentlich
zeichnen, angenommen, die letzteren wären ſämmtlich „kalte
Verſtandesmenſchen“ ꝛc. und das „deutſche Gemüth“ nur im
Süden zu finden, die aufrichtigen Preußenfeinde ſich doch ein-
mal ernſtlich fragen ſollten, ob nicht dieſes Bild, das mit der
Politik ſo wenig zu ſchaffen hat, ihnen den Blick für ihre
„materiellen und immateriellen Intereſſen“ mehr als ſie ſich
ſelbſt eingeſtehen, getrübt hat.


Der Nordländer iſt von Natur zurückhaltender, kühler,
ernſter, arbeitſamer, der Südländer leicht- und warmblütiger,
geſelliger, anſchlüſſiger, heiterer, geſprächsluſtiger, unter-
haltungsbedürftiger, vergnüglicher. Für allen menſchlichen
Verkehr ſind Zugeſtändniſſe an Individuelles — auch Volks-
ſtämme ſind in dem Sinne Individuen — die nothwendige
Grundlage, und werden uns um ſo leichter, je mehr wir
einſehen, daß Vorzüge ſowohl wie Schwächen ſtets ihre Licht-
und ihre Kehrſeite haben. Auf alle Fälle iſt es für unſer
perſönliches und nationales Ehrgefühl keine Verletzung, wenn
der andere Theil ſeinem Volksgebrauche folgt und uns
gegenüber ſich ſo paſſiv verhält, wie er es gegen jeden, ihm
unbekannten Landsmann gethan hätte; ebenſowenig gibt es
[209]VII. Engliſche Zurückhaltung.
aber eine Richtſchnur für unſer Benehmen, wir dürfen viel-
mehr aus unſrer Volksart heraus handeln und jenem
Anderen entgegenkommen, vorausgeſetzt, daß eine ſchickliche
Gelegenheit geboten iſt und ſeine Perſönlichkeit und ſein Be-
nehmen dies nicht von Haus aus widerrathen. Häufige
Reiſen und Berührungen mit Fremden wirken denn auch
meiſtens jener Scheu vor Annäherung entgegen und bilden
zugleich die Fähigkeit aus, welche Mißgriffe in der Wahl der
Perſonen und der Art des Entgegenkommens verhindert.


„Der Engländer reiſt nicht, um andere Engländer kennen
zu lernen, darum nehmen wir unterwegs von einander keine
Notiz,“ iſt die gewöhnliche, auf eine dahin gerichtete Frage
gegebene Antwort, oder vielmehr Ausrede. Die wahren
Gründe liegen tiefer. Ein Befreundeter gab mir einſt
folgende Erklärung. Es wirkt mancherlei zuſammen. Unſer
Hang zur Abſonderung mag ſich wohl ſchon in alten Zeiten
entwickelt haben, als die gewaltthätigen Normannen die
Angelſachſen überfielen, ſie weder zu vertreiben noch auszu-
rotten vermochten, und beide grundverſchiedene Stämme unter
langen Kämpfen ſich endlich nebeneinander feſtſetzten. An
ſchwerer Arbeit, einſchließlich politiſcher, hat es ſeit jeher
nicht gefehlt, ebenſo wenig an gefahrvollen Reiſen und rauhen
Berührungen mit wilden Völkerſchaften, und alles das ſeine
Spuren im Volksgemüth zurückgelaſſen. Daß bei uns auch
Rang- und Claſſenvorurtheile ſehr tief gewurzelt ſind, will ich
nicht leugnen, behaupte aber, daß dieſe und andere hier nicht
zu berührende Dinge in unſren Beziehungen zum Ausländer
auf dem Continente kaum in’s Spiel kommen. —


Vor Allem iſt zu beachten, daß nicht ein Theil, ſondern
wir dürfen faſt ſagen, die ganze Nation gern und viel reiſt,
und zwar bis hinab in die niederen Schichten der Geſellſchaft,
wo die zu einem Ausflug auf’s Feſtland nöthigen Geldmittel
noch vorhanden ſind, mehr als in anderen Ländern. So
fällt natürlich auf die geſammte britiſche Touriſtenſchaft ein
größerer Procentſatz unliebſamer Elemente und die Kleidung
14
[210]VII. Engliſche Touriſten — Subtractionsexempel.
gibt noch weniger als anderwärts Bürgſchaft für einen ge-
wiſſen ſocialen Bildungsgrad. Das Verhältniß ſtellt ſich
jedoch um ſo günſtiger, je weiter wir uns entfernen von den
großen touriſtiſchen Tummelplätzen: vorzüglich volle Körner
ſind es, die weiter fliegen, die Spreu fällt meiſt früher zu
Boden. Gerade in den Gegenden alſo, wo der Deutſche am
ſeltenſten Landsleute und am häufigſten Briten trifft, iſt auch
die größte Wahrſcheinlichkeit, bei ihnen die wünſchenswerthen
Elemente zu finden. Unter Weitergereiſten herrſchen in der
Regel wiſſenſchaftliche und andere ernſte Beſtrebungen vor,
mit denen auch gediegene, den Verkehr lohnende Eigenſchaften
verbunden ſind. Wenigſtens muß ich geſtehen, daß, ſeitdem
ich meine urſprünglichen Vorurtheile abgeworfen, dieſe Ueber-
zeugung ſich mir immer mehr aufdrängte, und daß ich dem
aus ihr hervorgegangenen Benehmen eine Reihe von Be-
kanntſchaften verdanke, die unter meine liebſten Reiſeerlebniſſe
zählen. Von Deutſchen, die in den letzten beiden Jahr-
zehnden jenſeits des Canals den Wohnſitz nahmen, hört und
lieſt man das vielfach beſtätigen und verſichern, daß der
Gentleman an einer geſchloſſenen Freundſchaft mit Zähigkeit
feſthalte; um ſo weniger iſt es zu erwarten, daß er bei der
Anknüpfung raſch zu Werke gehe. So liebt er denn auch
nicht, ſein Haus und ſeine Perſon herauszuputzen, er will
nicht locken, blenden, ſchmeicheln, wie es z. B. dem Franzoſen
eigen iſt, welcher ihn allerdings an Glätte, Geſchmeidigkeit,
Anmuth der Form, lebhaften, raſch gewinnendem Weſen
übertrifft. Dort ſehen wir mehr Stolz, hier mehr Eitelkeit
und Koketterie. Ziehen wir das Nationelle mit ſeinen Licht-
und Schattenſeiten vom Individuellen ab, ſo ſtellt ſich dort
das Exempel für den Einzelnen durch die Bank günſtiger,
in andren Worten: nähere Bekanntſchaften mit Engländern
ſind ſchwerer gemacht, aber durchſchnittlich lohnender und
dauernder, als mit Franzoſen und Südeuropäern. Daß der
Kern jenes Stammes weder ein unedler noch ein dürftiger
ſein kann, ſondern daß in ihm alle wichtigen Eigenſchaften
[211]VII. Fertigkeit im Reiſen — franzöſiſches Urtheil über Engländer.
des Menſchen und des Mannes vertreten ſein müſſen, wird
ſchon Niemand bezweifeln, der ihre Literatur kennt. Was
uns Deutſche am meiſten und mit Recht aufgebracht hat, iſt
die Haltung der auswärtigen Politik und der Preſſe des
Inſelreichs deutſchen Lebensfragen und Herzensangelegenheiten
gegenüber, neuerdings hat ſich das jedoch geändert und die
öffentliche Meinung drüben weſentliche Erfahrungen gemacht.


Betrachten wir nun aber die Sache von unſrem touriſti-
ſchen Standpunkte, ſo gewinnt ſie ein ganz neues Geſicht,
denn der Engländer hat die meiſte Uebung und Fertigkeit im
Reiſen, die muſterhafteſte Ausrüſtung, die entſchiedenſte An-
lage und Liebe zur Reiſe, iſt mithin für jeden Liebhaber der-
ſelben, er gehöre irgendwelcher anderen Nation an, persona
grata.
— Hören wir darüber einmal, damit ich nicht immer
allein als Anwalt plädire, die Anſicht eines Franzoſen
((E. Montégut, Revue des deux Mondes 1860)):


„… Der Typus des modernen Reiſenden ſcheint mir vorzugsweis der Eng-
länder, der die Welt durchmißt, ohne daß ihn etwas in Erſtaunen und in Ver-
wirrung ſetzt, der allerwärts ſeine Individualität aufrecht zu halten weiß, Gentleman
unter Wilden, Engländer unter civiliſirten Völkern, Chriſt unter Türken iſt, der
es ſehr begreiflich findet, daß man auch Perſer ſein kann, aber ſich nie entſchlöſſe, es
nur eine Minute zu ſein. Die Dinge treten vor ſeine Augen zu ſeinem Vergnügen,
zu ſeinem Nutzen, zur Befriedigung ſeiner Wißbegierde, niemals aber erlaubt er
ihnen, ſeinem unerſchütterlichen Selbſtbewußtſein zu nahe zu treten. Er allein
ſcheint den Grundſatz zu verſtehen, daß das beſte Mittel, die, mit denen man umgeht,
nicht kennen zu lernen, das iſt, daß man daſſelbe Leben wie ſie lebt, weil man über
Gewohnheiten, die man ſelbſt annimmt, das unbefangene Urtheil verliert ....
Dieſe Eigenthümlichkeit des engliſchen Nationalcharakters läßt ſich vortrefflich aus
dem weſentlich britiſchen Literaturzweige, den Reiſeſchriften, kennen lernen, reich an
ſittlicher Ausbeute, bemerkenswerthen Thatſachen und Beweistücken für die Ge-
ſchichte der Menſchheit. Dieſe Literatur fehlt Frankreich und es iſt zu bezweifeln,
daß je die Lücke ausgefüllt werde .... Seltſam: die Franzoſen ſind zugleich das
abenteuerluſtigſte und das häuslichſte aller Völker … Sie lieben nicht zu reiſen,
verſtehen es auch nicht ſonderlich. Sie beſuchen fremde Länder ohne Wißbegierde,
ohne Nutzen für ſich und Andere. Des Franzoſen gute Eigenſchaften wie ſeine
Fehler tragen bei, die Reiſeluſt in ihm zu erſticken, vor Allem ſein Uebermaß von
Geſelligkeitstrieb, welchen die unvermeidlichen Prüfungen des Reiſelebens ein-
ſchüchtern und entmuthigen. Gern würde er in Geſellſchaft ſeiner Landsleute die
Welt durchziehen, aber die aufgenöthigte Einſamkeit, die eiſige Gleichgiltigkeit
14*
[212]VII. Franzöſiſche Touriſten. Engl. Reiſewerke. Kunſt d. Reiſebeſchreibung.
unbekannter Geſichter, der Zwang der fremden Sitten und Gebräuche ſind für ihn
zu harte Prüfungen … Jene zu weitgetriebene Geſelligkeitsliebe iſt vielleicht der
Grund, daß der Franzoſe die Welt faſt nur in der Eigenſchaft als Soldat durch-
zogen … Den erſten Tag in der Fremde ſtößt ihn Alles ab und ärgert ihn, bald
jedoch iſt er überwunden und gewonnen … Niemanden widerſtrebt es mehr, ſeine
Perſönlichkeit abzuthun und Niemand vollbringt es leichter: üble Eigenſchaften um
die beſuchten Länder richtig zu ſehen und Geheimniſſe fremder Völker zu erforſchen.
Dies zu können, ſoll man ſich gleich weit von Verachtung und redſeliger Vertraulich-
keit angeſichts der Dinge halten, ohne allzuhingebend ſich in ſie einzumiſchen …
Die franzöſiſchen Reiſewerke ſind vor Allem maleriſch, die Oberfläche beſchreibend,
erſtreben weniger, gut zu ſehen, als gut zu erzählen; trachten, unterhaltend, farben-
reich, pikant zu ſein, aber nicht die Reiſe iſt ihnen Hauptſache, ſondern ihr Bericht.
Ganz anders iſt es mit der engliſchen. Künſtleriſche Gebilde ſind ſie faſt nie,
wimmeln von Ungeſchicklichkeiten des Ausdrucks, aber ein unſchätzbares Verdienſt
haben ſie: das der Wahrheit. Da dieſe Reiſenden keine Künſtler ſind, ſo ſuchen ſie
weit lieber nach dem, was menſchlich als was maleriſch iſt, entſchädigen durch das
lebhafte Gefühl der Wirklichkeit, das ihrem Volke eigen, für den literariſchen Zauber,
der ihnen gebricht. Sie ſind mehr mit der moraliſchen Perſönlichkeit beſchäftigt,
als mit der materiellen, und ſind ihre Beſchreibungen von Landſchaften häufig ver-
wirrt und linkiſch, ſo verſtehen ſie dafür, uns den ſittlichen Bau eines Brahmanen
zu veranſchaulichen und den Gedankengang eines Wilden zu zeigen. Zwiſchen der
aller Hilfsmittel der Kunſt entkleideten Wahrheit und einer Kunſt, die ſich mit der
oberflächlichſten Wahrheit begnügt, iſt die Wahl nicht ſchwer … Ein Verein von
Beidem wäre freilich auch in dem Gebiete die Vollkommenheit ſelbſt, er iſt aber nur
ſehr wenig Erleſenen verliehen. Das Ideal eines Reiſeſchilderers muß erſtens
umfaſſenden Geiſt haben, aber nicht ſo ſehr, um allzuleicht über die Beſonderheiten
hinwegzukommen und ſie zu generaliſiren; zweitens ernſthaft ſein, doch nicht zu
ſeh[r], damit der Ernſt nicht ſeiner Unterhaltungsgabe ſchade. Iſt er phantaſiereich,
deſto beſſer, ſo wird er um ſo fähiger ſein, die Schönheit zu begreifen; ſein Träumen
muß aber verſtehen, zur rechten Zeit zu kommen und zu gehen, nicht ſeine Geiſtes-
freiheit beeinträchtigen, noch ſeine Wißbegierde lähmen. Etwas Skepſis iſt will-
kommen in dieſem bunten Strauße von Geiſtesblumen, denn ſie wird das allzu-
bereitwillige Vertrauen der Bewunderung zügeln, und Abſchweifungen zuvorkommen,
zu denen ſich die Einbildungskraft etwa hinreißen läßt, gefährlich wäre es jedoch,
nähme dieſe Zweifelſucht überhand, denn ſie würde leicht zu planmäßiger Anſchwär-
zung und ſyſtematiſcher Verneinung. Vor Allem muß dieſer Reiſende lebendiges
Gefühl haben, damit er die den verſchiedenſten Dingen innewohnende Seele
empfinden, belauſchen könne, ſich aber ſorgſam hüten, in Dilettantismus zu fallen,
dieſen ſchlimmſten aller Fehler des Reiſenden; er muß ferner womöglich kein
Berufsgeſchäft haben, dazu die liberalſte Geiſtesbildung, um nicht excluſiv in ſeinen
Bemerkungen zu werden; endlich muß er ſeine Individualität bewahren und darf
bei aller Sympathie für das Volk, in deſſen Mitte er weilt, wohl ſeine Gebräuche
und Sitten zeitweilig mitmachen, ſie aber ſich nicht völlig aneignen. Man ſieht,
daß unſer Ideal eines Reiſenden, wenn auch keine ſonderlich ſeltenen einzelnen
[213]VII. Kunſt der Reiſebeſchreibung — Comfort.
Befähigungen, doch eine Summe von Eigenſchaften vorausſetzt, die wohl ſelten in
einer Perſon vereinigt iſt.“


So weit der franzöſiſche Schriftſteller. Gegenüber den
Anſprüchen, die er an die Reiſebeſchreibung ſtellt, iſt
darauf hinzuweiſen, daß die deutſche Literatur, die bei ihm
nicht einmal Erwähnung findet, wenn auch weit minder um-
fangreich, als die engliſche, doch mehre vorzügliche Werke
beſitzt, und daß nach deutſcher Auffaſſung der mit Recht ge-
tadelte Dilettantismus bei der Summe von Eigenſchaften,
die von franzöſiſcher Seite begehrt wird, wohl kaum zu ver-
meiden iſt. Wir Deutſche ſind deswegen geneigt, auf jene
Univerſalität zu verzichten, oder vielmehr wir glauben nicht
an ihre Möglichkeit, verlangen daher von einem Autor nur,
daß er unter den Gegenſtänden ſeiner Schilderungen die
Wahl ſo treffe, daß ſie ſeinem Talent entſpricht, und ſchätzen
ihn um ſo höher, je mehr er uns dafür zu erwärmen verſteht,
je näher ſeine Intereſſen den unſrigen ſtehen und je mehr wir
unſre Anſchauungen und Kenntniſſe durch ihn bereichert ſehen.
Strenge Objectivität, wie ſie das Trauerſpiel, das Epos, die
wiſſenſchaftliche Darſtellung bedingen, gehört nicht unter die
Erforderniſſe der Reiſeſchilderung, der Autor mag von ſeiner
Perſönlichkeit, deren Erlebniſſen, Betrachtungen, Empfin-
dungen, einmiſchen, was ihm paſſend ſcheint, nur muß alles
dies der Theilnahme würdig ſein und die Perſon des Ver-
faſſers darf nicht zwiſchen den Leſer und den Gegenſtand der
Beſchreibung in der Art treten, wie bei Sonnenfinſterniſſen
der Mond vor die Sonne, ſo daß von dieſer nur die „Protu-
beranzen“ zur Erſcheinung kommen.


Wenn wir aber auch nichts weiter vom Engländer lernen
könnten, als die Bereitung des Comforts der Reiſe, ſo
wäre ſchon das nicht zu verachten. Denn gar viele von uns
ſind einmal ſo geartet, daß die Unbefangenheit ihrer Betrach-
tung, die Klarheit, Gegenſtändlichkeit ihres Urtheils beein-
trächtigt wird, wenn es ihnen nicht gelingt, ſich einen gewiſſen
Grad von Behagen und Ruhe zu verſchaffen. Dieſe Fertig-
[214]VII. Comfort — Yankees — Scheu vor Annäherung an Fremde.
keit iſt im Kleinen, was das Coloniſationstalent im Großen,
wenigſtens eine Seite deſſelben, und eine Menge gering-
fügiger, alltäglicher Dinge tragen das Ihrige bei, den Weg
zu den höheren Zielen der Reiſe zu ebnen, dem Körper die
Spannkraft und dem Geiſte die Empfänglichkeit zu erhalten.
Die deutſche Sprache hat denn auch das Wort „Comfort“
ſich angeeignet, deſſen Bedeutung weit hinausgeht über den
Begriff, den wir mit „Bequemlichkeit“ verbinden, und keinen
Anflug von Weichlichkeit und Trägheit hat, ſondern alles
umſchließt, was das geiſtige und körperliche Wohlbehagen
fördert, auch „Troſt, Beiſtand, Labſal“ bezeichnet. Die
Erfinder des Worts haben unverkennbar die meiſten Ver-
dienſte um Einführung der Sache in die Touriſtendiſtricte.
Der Süden kennt und ſucht den Comfort nicht, ihm genügt
ſchon bloßes Nichtsthun, um ſich wohl zu fühlen, nicht einmal
der Reinlichkeit bedarf er. Ein Fortſchritt nach der Seite
hin iſt indeß ſtets da bemerkbar, wo häufiger Briten hin-
kommen. Sei es nun, daß ſie gegenüber den Wirthen und
dem Dienſtperſonal mehr erzieheriſches Talent oder weniger
Langmuth als wir Anderen haben, oder daß ihr wirklicher
oder vermeintlicher Reichthum ihnen mehr Gewicht gibt, die
Thatſache iſt nicht zu leugnen. Auch ihre transatlantiſchen
Vettern, die Yankees, entwickeln neuerdings ein bemerkens-
werthes Talent der Reiſe und der Wirthshauspädagogik, und
werden nicht müde, diesſeits von gewiſſen muſterhaften häus-
lichen Einrichtungen ihres Vaterlands zu predigen, was hier
und da ſchon Früchte trägt.


Bevor ich meinem Reiſeprofeſſor das Wort zurückgebe,
muß ich noch ein Thema berühren, das ſich eng anſchließt an
das eben abgehandelte.


Nächſt John Bull die unbeliebteſte und — verbreitetſte
Touriſtenclaſſe iſt der „Berliner“. Die Abneigung gegen
ihn iſt der Punkt, in dem ganz Deutſchland nahezu einig iſt,
und ſelbſt von Vollblut-Berlinern kann man hören: „nach
N. N. gehe ich nicht, da ſind zu viele Berliner“. Auf gewiſſe
[215]VII. Berliner.
bei Betrachtung der Engländer geltend gemachte Geſichts-
punkte, die hier gleichfalls Anwendung finden, braucht nicht
von Neuem eingegangen zu werden, auch ſteht der Gegenſtand
in Verbindung mit großen deutſchen Fragen, deren Erörte-
rung ſich unſre „Reiſeſchule“ zu enthalten hat, nur die
Bemerkung ſei geſtattet, daß wir hier wieder Gelegenheit
haben, uns auf einer Selbſttäuſchung zu ertappen. Im
Ernſte glaubt Keiner von uns, daß der Bürger der nord-
deutſchen Hauptſtadt ſeine Haſenhaide ſchöner als das berner
Oberland
findet, daß er vor dem Traualtar die Frage des
Geiſtlichen: „Willſt du ihr treu ſein?“ mit: „Allerdings“
beantwortet, daß ihm Alles in der Welt „höchſt gleichgiltig“
iſt, daß er ſelbſt ſeiner Beiſtimmung ſtets eine impertinente
Form gibt, wie z. B. die Redensart: „auffallend richtig,“
daß in Berlin nur „Aufſchneiderei und Windbeutelei“ zu
Hauſe iſt, daß die von da kommenden Alpendilettanten alle
von der Art des „Herrn von Strietzow“ ſeien u. ſ. w. Nur
aus Mißfallen an gewiſſen Manieren, durch die ſich unſre
Selbſtſchätzung verletzt fühlt, überreden wir uns, daß die
rauhe, bittere Schale auch einen ungenießbaren oder gar
keinen Kern berge. Deutſchland hat doch nun aber das Be-
dürfniß, einig zu werden, und der Reiſende viel Urſache, eine
Touriſtengattung, der er auf Schritt und Tritt begegnet,
nicht ohne jede Prüfung zu excommuniciren, ſo ſchlage ich
denn vor, wir Anderen wollen dem Berliner wie dem Eng-
länder gegenüber Gnade für Recht ergehen und uns nicht
von Aeußerlichkeiten zu raſchen, abſprechenden Urtheilen über
eine ganze Bevölkerung verleiten laſſen, denn wir würden
ſonſt gerade in den Fehler fallen, der jenem hauptſächlich zum
Vorwurf gemacht wird. Unter den dreiviertel Millionen,
die zwiſchen Kreuzberg und Wedding wohnen, lebt in der
That eine gute Anzahl Menſchen, die es verdienen, daß wir
ihren näheren Umgang nicht ablehnen ſondern ſuchen, und je
mehr wir denen, mit welchen wir unterwegs in Contact
kommen, zeigen, daß ſie keine Urſache haben, ſich für Beſſeres
[216]VII. Alltagsmenſchen — geiſtige Rangſtufen.
zu halten, als uns, je mehr werden ſich gewiſſe Gegenſätze
zum gemeinſamen Beſten endlich ausgleichen. —


Als unſer Meiſter einmal ſo recht im Zuge war, ſein
Lieblingsthema, „Anknüpfung von Bekanntſchaften mit Leuten
und Nationalitäten allerlei Art“ zu behandeln, fiel ihm mein
Mitſchüler Eduard in’s Wort. — Nun gut, ich will ja thun,
was ich kann, wie fange ich’s aber an, um aus der Maſſe
fremder Leute, denen ich täglich begegne, die herauszufinden,
welchen ich und die mir nicht unwillkommen ſind, namentlich,
wie vermeide ich die Alltagsmenſchen, von denen die
Welt wimmelt und aus deren Anſprache weder Belehrung
noch Unterhaltung zu ſchöpfen iſt?


— Auf dieſe jugendlich kecke Frage habe ich keine Antwort,
fuhr der Oheim in ſcharfem Tone heraus. Einen Talisman be-
ſitze ich nicht, kann dir auch keinen verſchaffen. Mir ſelbſt würde
ich ſagen: entweder bin auch ich ein Alltagsmenſch, und dann
fehlt mir die Berechtigung, Geiſtesverwandte zu fliehen, ich bin
vielmehr auf ihre Geſellſchaft angewieſen; oder ich bin keiner,
dann will ich doch, um dies zu [beſthätigen], wenigſtens den
Verſuch machen, an Alltagsmenſchen, mit denen mich der
Zufall zuſammenführt, eine Seite zu finden, die meine Be-
achtung verdient, meine Menſchenkenntniß vervollſtändigen,
mich anregen, von der ich lernen kann, poſitiv oder negativ.
Finde ich ſie nicht, ſo liegt es vermuthlich an mir, ſuche ich
gar nicht danach, ſo iſt die Ausſicht, Sonntagsmenſchen zu
begegnen, um ſo geringer. Wenn ſchon auf einem Masken-
balle das Errathen und Erkennen für den Hauptreiz gilt,
warum ſollte ich nicht die durch das Reiſeleben gewährte
Maskenfreiheit benutzen, bald hier bald da leiſe anzuklopfen,
um unter der Menge Fremder und Fremdartiger Wahlver-
wandte zu finden, und neue Blicke zu thun in’s Menſchen-
leben, die mir in den heimatlichen Kreiſen verſagt ſind? Auf
der Reiſe verſchiebt ſich leicht die Maske, fällt, wird abge-
worfen, der Beobachtung iſt alſo weites Feld gegeben. Je
höher meine geiſtige Rangſtufe, je ſeltener zwar werde ich
[217]VII. Anknüpfungen — Hinderniſſe — Mimoſennaturen — Muſterung.
Ebenbürtige und Ueberlegene antreffen, um ſo mehr aber
auch, wenn es glückt, Freude und Anregung daraus ſchöpfen.
Und ſo wenig ich wünſche, daß an Geiſt und Kenntniſſen mir
Ueberlegene deshalb mir fern bleiben, ſo wenig darf ich nach
unten hin abwehrend ſein.


Warum wohl mögen Viele nicht den erſten Schritt thun?
Blicken wir doch zurück in unſre Erinnerung und entnehmen
ihr eine Anzahl Fälle, um ſie zu prüfen.


Da iſt Einer zu beſcheiden, um mich anzureden, weil ich
zehn Jahr älter als er ausſehe oder mein Aeußeres eine
höhere geſellſchaftliche Stellung anzudeuten ſcheint, und er
beſorgt, kurzerhand abgefertigt zu werden; beim Zweiten iſt
es umgekehrt, er fürchtet, ſeinem Range, den er höher als
meinen ſchätzt, dadurch zu vergeben; der Dritte, Jüngling
noch an Jahren und Knabe an Erfahrung, hat in einem
Buche eine Warnung vor dem Anſchluß an den erſten Beſten
geleſen, weil er ein Gauner ſein könnte; der Vierte iſt zu
bequem; der Fünfte zu unbeholfen; der Sechſte bringt aus
der Heimat, wo tauſend Rückſichten obwalten, die Gewohn-
heit der Zurückhaltung mit, ohne ſich über das Warum
Rechenſchaft zu geben, oder gehört unter die Mimoſennaturen,
die jede Annäherung zuerſt erſchreckt, die alle Berührungen
mit Fremden ſcheuen, um nur jede unſanfte ſicher zu ver-
meiden. Jeder von dieſen hat aber vielleicht Eigenſchaften,
die im gegebenen Falle mir ſeine und ihm meine Geſellſchaft
annehmbar machen. Soll ich nun auch mir Zurückhaltung
auferlegen? Nummer Eins, Vier, Fünf und Sechs geben
bald zu erkennen, daß es ihnen lieb war, mich die Koſten des
erſten Schrittes übernehmen zu ſehen, Zwei und Drei be-
luſtigen mich zunächſt durch ihre Vertheidigungsmaßregeln,
Drei capitulirt nach einiger Zeit, Graf Zwei dagegen (Schau-
platz ein Badeort) hält ſich ritterlich und ſeine Antworten
ſo knapp als möglich, ohne geradezu unartig zu ſein. So
plänkeln wir eine Weile, bis ſich zeigt, daß auch ich mich für
Pferdezucht und Spanien intereſſire. Das veranlaßt ihn,
[218]VII. Graf Zwei — Störung.
mir meine Namenloſigkeit zu verzeihen und nun ſeinerſeits
den Faden des Geſprächs emſig weiter zu ſpinnen. Offen-
bar langweilte er ſich in Xbad entſetzlich und wünſchte nichts
ſehnlicher, als von ſeiner einſamen Höhe herabzuſteigen und
Menſch mit Menſchen ſein zu können, wußte nur die herab-
führende Treppe nicht zu finden. Die nächſten Tage machen
wir unſre Morgenſpaziergänge mit einander, tauſchen
Cigarren aus und ſind gute Cameraden, bis nach einiger
Zeit ein Prinz von Bullerhauſen kommt. Ihm ſchließt
ſich der Herr Graf natürlich an und hat die Zartheit, mich
dieſem Kreiſe nicht vorzuſtellen, denn deſſen ſteifes Cere-
moniell würde mir, dem Ungewohnten, doch nur läſtig fallen.
Weiter.


Ein Regenſchauer treibt mich in’s Borkenhäuschen bei
Z. Da ſitzt bereits ein Herr, in der Hand Brieftaſche und
Bleiſtift, welche er einſteckt, als er meiner anſichtig wird.
Vielleicht ein Poet, denke ich, der lieber mit ſeiner Muſe
allein geblieben wäre, und nun verſcheuche ich das Götterkind
durch meine profane Gegenwart. Die Störung iſt aber
nicht rückgängig zu machen, die Brieftaſche beſeitigt. Ich
ſetze mich auf’s andere Bankende, ziehe ein Buch aus der
Taſche und leſe, um ihm Gelegenheit zu geben, ſeine ſchöpfe-
riſche Thätigkeit wieder aufzunehmen. Sollte es die Zu-
eignung ſein, an der er dichtet und nur die letzten Verſe des
Sonetts fehlen noch? Doch die Brieftaſche bleibt in ihrem
Verſteck und ſo oft ich aufſehe, begegne ich ſeinem Blicke.
Hat er etwa das Bedürfniß, ſeine üble Laune an mir aus-
zulaſſen? Dieſe Genugthuung bin ich ihm ſchuldig. Wohlan
denn, er ſoll Gelegenheit haben. — Ich las da eben ....
Ein Geſpräch iſt bald im Gange und es findet ſich, daß
der Mann nicht Lyriker ſondern im Gegentheil Landwirth
iſt, eben nur mit einer proſaiſchen Rechnung beſchäftigt war
und über mecklenburgiſche Verhältniſſe belehrende Mitthei-
lungen machen kann.


Dieſe erſten ſechs Entdeckungsreiſen wären alſo ohne
[219]VII. Dialektſtudien — Gräfenberger Duſche.
große Havarie abgelaufen. Als Graf Zwei den Prinzen
mir vorzog, las ich zwar in den Mienen meiner anderen
Bekannten: „geſchieht Ihnen ganz recht“, aber auch dieſe
Wunde meiner Eigenliebe hatte bald ausgeblutet. Muſtern
wir nun die nächſten uns begegnenden Reiſe- und Bade-
genoſſen.


Nummer Sieben, Acht und Neun anzureden, fühlen
wir keine Neigung, wiſſen auch ihrer etwaigen Näherung
auszuweichen durch Vorkehrungen mit den Augen. Da iſt
aber ein Zehnter, den ich zu einer Unterhaltung veranlaßte,
die mir bald läſtig fällt. Des Mannes Beredtſamkeit ſtrömt,
wie eine gräfenberger Duſche, deren Zug ſich verhängt hat.
Er ſcheint jedoch gutmüthig, laſſen wir ihm eine Weile ſein
Vergnügen. Sollte ſich nicht aus der Fluth etwas Genieß-
bares, Erfriſchendes, Erfreuliches herausfiſchen oder deſtilliren
laſſen? Richtig, ich hab’s: Dialektſtudien, beiläufig
bemerkt, auf Reiſen ein ganz annehmbarer Zeitvertreib.
Die Mundart des Redſeligen iſt ein Gemiſch, mithin ein
verwickelter Fall, der Mühe einer Unterſuchung werth. Er
ſpricht auch gar nicht ſo übel, wie konnte ich ihn nur anfangs
unerträglich finden? Ungeduld, Ueberhebung, pfui, beſſern
wir uns. Jetzt aber aufgepaßt! … Zehn Minuten ſind
verfloſſen, hinweggeſchwemmt von den Redefluthen. —
„Sie ſind aus dem Anhalt’ſchen gebürtig, dann geraume Zeit
in Holſtein geweſen, und nun in Deutſch-Ungarn anſäſſig.“
Das Erſtaunen, das dieſe meine Einſchaltung über den
Mann brachte, war höchſt ergötzlich, denn der Zufall hatte
es gewollt, daß meine Diagnoſe alle drei Oertlichkeiten,
ſogar die Reihenfolge richtig getroffen. War die Klappe der
Duſche bisher nicht zu ſchließen, ſo ſchien es jetzt, als ob ſie
auf einmal ſich feſt zugeklemmt hätte. Auch ich ſchwieg, denn
die Lektüre in den Mienen des Redners beluſtigte mich nun
ebenſo, wie bisher die in den ſprachlichen Ablagerungen.
Endlich lieferte ich ihm den Schlüſſel meiner Wahrſage-
kunſt aus. Gewiß wird er die Geſchichte des Wunder-
[220]VII. Entzifferungskunſt.
manns Jedem erzählen, der ſie hören will, bis an ſein
Lebensende.


Unterhaltung finde ich ferner oft darin, daß ich aus
Kleidung, Mienen, Geberden, Reden und Schweigen eines
Reiſe- oder Badegenoſſen deſſen Stand, Sinnesart u. ſ. w.
zu errathen mich bemühe. Dabei erwächſt mir der Vortheil,
daß ich in die ſonſt meiſt unfruchtbaren Anfangsgründe neuer
Bekanntſchaften, die im Austauſch von Gemeinplätzen be-
ſtehen (müſſen wir doch auch, um ſchöne Landſchaften zu finden,
meiſtens erſt lange Strecken Landſtraße zurücklegen, dann
rauhe Seitenwege einſchlagen, bis endlich die Höhe mit freiem
Ausblick erreicht iſt) durch ſolche Uebungen in der Ent-
zifferungskunſt
Reiz bringe, welcher ſich auch weiter-
hin, ſei die betrachtete Perſönlichkeit an und für ſich noch
ſo ſteril, nicht ſchnell verliert, weil Alles, was ſie ſagt und
thut, neuen Stoff liefert, mein Charakterbild auszumalen
und zu prüfen. Ich verfahre dabei, wie die Gelehrten, welche
aus Knochen, Zähnen und Bruchſtücken von Steinen mit
Schriftzügen ganze Thiergattungen und Menſchengeſchlechter
nebſt ihrem Thun und Treiben, Inſtincten und Sitten zu
erkennen wiſſen. Auch der Gegenſtand der Beobachtung
kommt nicht zu kurz, denn da er Aufmerkſamkeit und Ein-
gehen auf ſeine Intereſſen findet, ſo hält er nicht zurück mit
ſeinem geiſtigen Beſitzthum und gibt was er hat. Menſchen
ohne Bildung entſchädigen nicht ſelten durch mehr Urſprüng-
lichkeit.


Weiter in unſrer Muſterung. Nummer Elf iſt an der
Reihe. Schauplatz ein Eiſenbahnwagen. Dieſer junge Herr
hätte mich beinahe an meiner ganzen Theorie irre gemacht,
wenn ich’s aber recht überlege, ſo bin ich ſelber ſchuld
an Allem. Hätte ich mit ihm eingehend Wirthshäuſer,
Getränke, Cigarren abgehandelt, lauter Gegenſtände, in
welchen er gebildetes Urtheil bekundete, oder auch „die
Baumwollenbranche, Spinnerei, Weberei und Vertrieb“,
in denen er ſchöne Kenntniſſe beſaß, ſo wäre alles gut ab-
[221]VII. Scherze — Localpoſſen — Quarteronen — Fragewuth.
gelaufen. Unbeſonnener Weiſe gab ich indeß, nachdem die
Cigarren ausgegangen und der Baumwollfaden abgeriſſen,
dem „Roß der Rede“ Sporen- und Zügelhilfen, die zu
ſeiner Natur und Dreſſur nicht paßten, denn es wurde
muthwillig, ausgelaſſen, bockig, gerieth in’s Gehege gewiſſer
Localpoſſen, in welchem es ſich wälzte, daß deren Inhalt
weit umherflog. Mit einigen kurzen Worten und einem
langen Geſicht wurde dieſe Bekanntſchaft glatt abgeſchnitten.
„Kälte nur bändigt den Schlamm, damit er den Fuß nicht
beſchmutze,“ heißt es in Sakuntala. Ich nahm mir von da an
zur Regel, künftig mit Unbekannten anfangs vorſichtig zu
ſein, namentlich ſie nicht zu Scherzen zu ermuntern. Mit
ſogenannten pikanten Erzählungen einem Fremden auf den
Leib zu rücken, iſt noch zudringlicher und taktloſer, als mit
politiſchen Extravaganzen. Menſchen von der Art unſrer
letzten Begegnung ſind mit Quarteronen zu vergleichen, die
in kühlem Zuſtande ſich wie weiße Gentlemen darſtellen,
ſobald ſie aber warm werden, durch den garſtigen Neger-
geruch die Qualität ihres Bluts verrathen.


Weiter in unſerer Muſterung. Da iſt ein Zwölfter, der
gleich nach den erſten Worten zeigt, daß er an der Frage-
wuth
leidet. Wie Franklin dieſe Krankheit heilte, oder doch
ſich der Mitleidenſchaft entzog, iſt bekannt. Seit hundert
Jahren iſt die Welt aber höflicher geworden. Ich ſagte
meinem Manne darum nicht, ich heiße A., bin aus B.
gebürtig, wohne in C., bin x Jahre alt, meines Zeichens das
und das, habe jährlich ſo und ſo viel zu verzehren, meine
religiöſe Farbe iſt die, meine politiſche die, und nun laſſen
Sie mich in Ruhe; vielmehr gab ich auf jede ſeiner Fragen
eine höfliche, ausweichende Antwort, manchmal wendete ich
auch die Erwiederung in eine Rückfrage, wie es die Quaker
gern thun und hatte bald die Genugthung, ihn in Frieden
los zu ſein.


Auf der eigentlichen Reiſe können wir in der Regel eine
Bekanntſchaft, die uns nicht gefällt, leichter und gelinder
[222]VII. Moraliſche Erzählungen vom Lohn der Tugend.
fallen laſſen, als in Badeorten, in denen man ſich ſo häufig
wieder begegnet, hier gilt es mithin, noch vorſichtiger in der
Annäherung zu ſein, immerhin iſt jedoch, wenn einmal
Zufall oder Abſicht eine ſolche eingeleitet hat, der Bruch nicht
zu übereilen. Früher hatte ich dieſe üble Gewohnheit und
verfuhr oft recht unſanft, den Einflüſterungen der Ungeduld
nachgebend, welche Mutter der Rückſichtsloſigkeit und Tante
der Grobheit iſt, bin aber durch eine Reihe von Erfahrungen
belehrt davon zurückgekommen. Die für mich unliebſamen,
nur für Andere luſtigen dieſer Erlebniſſe verſchweige ich,
blos zwei kleine moraliſche Erzählungen, wie Tugend belohnt
wird, mögen hier ſtehen.


Eine Poſtfahrt aus Sachſen nach Carlsbad hatte mich
mit einem ſchwarzgalligen alten Herrn zuſammengeführt.
Seitdem jeden Morgen vor fünf Uhr traf ich dort mit ihm
am Sprudel zuſammen, wo bekanntlich um dieſe Zeit der
engere Ausſchuß der europäiſchen Hypochonder tagt. Jeder
ſteht, den Rücken nach der Verſammlung gekehrt, bläſt in
den Becher und wirft unholde Blicke rückwärts über die
Achſel. Ich war der Einzige, dem mein Wagengefährte an-
vertrauen konnte, wieviel Stunden er nicht geſchlafen, wie-
viel Becher Mühlbrunn er hinterher trinken werde, was
ihm geſtern Doctor H. ſonſt noch verordnet hatte und wie
ſchlecht wieder die Suppe im Nn’ſchen Hofe geweſen ſei.
Schon überlegte ich, wie es wohl anzuſtellen ſei, um los-
zukommen, als ſich plötzlich die Scene ändert: am Arme des
verdrießlichen Alten erſcheint eines Morgens ein wunderbar
ſchönes Mädchen, ſeine Tochter. Nun, dachte ich, es gibt
ja garſtige, ſtachelige Cacteen, die prachtvolle Blüten treiben.
Der Cactus verlor aber auch ſeine Stacheln, wurde ein um-
gänglicher, unterhaltender Mann, wenigſtens war das die
Anſicht des fröhlichen, belebten Kreiſes, der ſich ſchon nach
drei Tagen um Papa, Tochter und mich gebildet hatte, ſoviel
ich weiß, des einzigen derartigen, den damals Carlsbad beſaß.
Sogar mehre der Fünfuhrſtammgäſte des Sprudels hatten
[223]VII. Moraliſche Erzählungen — Griesgrame, Sonderlinge, Hypochonder.
Kehrt gemacht und blickten nach ihr, ſo oft ſie ſich zeigte, den
älteſten Traditionen dieſes Orts zufolge ein unerhörter Fall,
und der Brunnen ſchien höher als gewöhnlich zu ſpringen.


In einem andren Badeorte traf ich ein, als er bereits
überfüllt, und meine erſte Bekanntſchaft war ein dem eben
geſchilderten ähnlicher Griesgram, ein Mann von aus-
gebildet hämorrhoidaler Weltanſchauung, mit dem die anderen
Gäſte augenſcheinlich nichts zu thun haben mochten, der
jedoch, wie es oft mit ſolchen Sonderlingen der Fall iſt, einige
ſehr ſchätzbare, ſolide Eigenſchaften beſaß, die erſt nach und
nach zum Vorſchein kamen. Abgeſehen davon, daß er Weg
und Steg in der Umgegend kannte, erwies er ſich, nachdem
ich ein paar Becher ſeiner üblen Laune zwiſchen den Mineral-
brunnen hinein mit guter Miene verſchluckt, als ein Mann
von feinem Gefühle, reicher Lebenserfahrung und namentlich
großer Originalität des Gedankens. Man ſah überall, auch
wo man ihm nicht zuſtimmen konnte, daß er ſeine Urtheile
ſich ſelbſt bildete und ſie nicht als fertige Waare aus Fabriken
bezog. Dieſer Eigenſchaft, auf welcher die Anregungs-
fähigkeit beruht, ermangeln die Proletarier des Geiſtes, die
nur ihre Quote am Nationalvermögen, aber kein Privat-
eigenthum beſitzen. Geiſter der Art hat man mit kleinen
Staaten verglichen, deren Geldumlauf aus lauter fremden
Münzen beſteht, weil ſie nicht ſelbſt prägen.


Nach den berichteten und anderen ähnlichen Erlebniſſen
pflege ich denn neue Bekannte, wenn ſie mir auch anfangs
etwas unergiebig vorkommen, nicht ſo ſehr eilig abzuſchütteln.
Namentlich mag hier zu Gunſten der „Hypochonder“, jener
in Badeorten und auf Reiſen ſo zahlreich vertretenen Claſſe
(nicht alle gehören ſie zu den Schwächlingen, die ſich nur
mit ihrem trübſeligen kleinen Ich beſchäftigen) ein Wort
eingelegt ſein. Zu Hauſe haben die Bejammernswerthen
entweder gar keine oder allzu viele, zu ängſtliche, peinliche
Rückſicht erfahren, im Bade werden ſie von den andern An-
weſenden theils beſpöttelt und geneckt, theils gemieden, finden
[224]Schiffszwiebacknaturen — Fähigkeit anzuregen — Gemüthlichkeit.
ſie nun einmal einen Fremden, der ſie mit weicher Hand
anfaßt, ſie ruhig anhört, mit ihnen plaudert, ſo iſt das
eine wahre Wohlthat und ein gutes Stück Cur für ſie. Auch
rein egoiſtiſch angeſehen, dürfen wir nicht zu raſch auf Ab-
weſenheit aller Eigenſchaften ſchließen, die den geſelligen
Verkehr lieb und erſprießlich machen. Mehr als einmal traf
ich auf Menſchen, die mir zuerſt hart und trocken wie Schiffs-
zwieback erſchienen, allmählich aber erkennen ließen, daß ſie
aus edlem Stoff gebildet und nur einer gewiſſen Behandlung
bedürfen, um genießbar zu werden, und daß die anfängliche
Steifheit und Trockenheit nur ein Product ihrer körperlichen
Beſchwerden oder ihrer Lebensſchickſale war. Gerade ſie ſind
es vorzugsweiſe, welche dann jene für den Umgang ſo wichtige
Eigenſchaft, die Fähigkeit anzuregen, entwickeln. Sie
mag zum Theil Sache des Temperaments ſein, mehr aber
noch entſpringt ſie wohl einem ſcharfen geiſtigen Gepräge,
das ſehr oft denen fehlt, welchen die viel beliebte „Gemüth-
lichkeit“ — nicht ſelten nur eine Miſchung gemeiner Metalle,
verſteckt unter einem galvaniſchen Niederſchlage von Zuthun-
lichkeit und Allerweltsfreundlichkeit — nachgerühmt wird.
Eines hohen Maßes von Bildung ſcheint es zu jener Fähigkeit
nicht zu bedürfen, nicht einmal der Heiterkeit, denn ſie wird
zuweilen getroffen, wo beides fehlt, und vermißt, wo es
vorhanden.


Neue ſehr willkommene Bekanntſchaften gleich anfangs in
jener übereifrigen Weiſe zu pflegen, wie es enthuſiaſtiſch an-
gelegte Naturen gern thun, iſt zu vermeiden, um erſt gründ-
licher zu unterſuchen, ob die vermuthete Wahlverwandtſchaft
auch wirklich beſteht. Sind zwei Menſchen, die ſich vorher
nicht kannten, erſt einmal mehre Tage lang von früh bis ſpät
zuſammen geweſen, in belebtem, traulichem Zwiegeſpräch
intim geworden, und es findet ſich ein leiſer Mißklang, oder
nur Einer von Beiden fühlt das Bedürfniß zeitweiliger Ver-
änderung, ſo iſt in der Regel ein völliger Bruch oder eine
dauernde Erkaltung die Folge, während die junge Freund-
[225]VII. Neugefundene Freunde — Geſprächsſtoffe.
ſchaft, wenn man ihr Zeit zum Wachsthum gelaſſen und ſie
nicht künſtlich getrieben hätte, ein kräftiger, tiefgewurzelter
Baum geworden wäre. Auch der Genuß der Freundſchaft
und des geiſtigen Verkehrs, wie jeder andere, muß in
Schranken gehalten werden, wenn er dauern ſoll.


Einen anderen Mißgriff begehen junge Leute, die mit
einem Manne, an deſſen guter Meinung ihnen beſonders ge-
legen iſt, in Berührung kommen, dadurch, daß ſie ſich nicht
zuerſt begnügen, beſcheiden und ſinnig zu antworten, ſondern
nach Geſprächsſtoffen in höheren Gebieten, Politik, Kunſt,
Literatur haſchen, ſpringen und klettern, während ſie auf
ihrem Turnplatze ſchon hätten bemerken können, daß beim
Springen und Klettern leicht unſre unvortheilhafteſten Seiten
zum Vorſchein kommen. Im täglichen Leben ſowohl wie aus
den Biographien bedeutender Männer habe ich denn auch
ſtets geſehen, daß dieſe mit einem Menſchen, welchen der Zu-
fall in ihre Nähe führte, ſofern ſie ſich überhaupt in ein Ge-
ſpräch einließen, zu deſſen Gegenſtand immer Naheliegendes,
Gewöhnliches machten und erſt, wenn er hierin kundgab, daß
er nicht unter die gewöhnlichen Köpfe zähle, Luſt hatten, näher
an ihn heran und mit ihm höher hinauf zu ſchreiten. Nicht
der Gegenſtand der Unterhaltung, ſondern deſſen Behandlung
iſt es, die ſie anziehend oder fade macht. In der Wahl des-
ſelben bewähren manche Frauen einen Takt, von dem die
meiſten Männer lernen könnten. Namentlich verſtehen ſie,
Gebiete leiſe zu ſtreifen, um zu ermitteln, ob der Andere ge-
neigt iſt, darauf einzugehen. Im Allgemeinen gilt die Regel,
daß von einem Manne, je höher ſeine bürgerliche und geiſtige
Stufe iſt, um ſo weniger erwartet werden darf, daß er Nei-
gung habe, auf ſeine Berufsgegenſtände einzugehen, daß wir
hingegen am eheſten hoffen dürfen, ſein Intereſſe zu erregen,
wenn wir über Dinge ſprechen, die wir in unſrer Stellung
beſſer als er kennen müſſen. Dabei kommt es aber darauf
an, den Faden des Geſprächs nicht zu emſig und lang zu
ſpinnen, ſo daß, ihn fallen zu laſſen oder neue Anknüpfungen
15
[226]VII. Rückſichten — Uebergangszuſtände — nachgeſchickte Zeitungen.
zu ſuchen, dem Hörer immer Spielraum bleibt. Der Touriſt
iſt oft in der Lage, mit ganz Ungebildeten zu plaudern, wobei
er ſich am beſten ſteht, wenn er die Rede auf deren Metier-
angelegenheiten bringt. Hier iſt es jedoch gut, zumal Land-
leuten gegenüber, wenn er die Form der directen Frage,
die ſie leicht mißtrauiſch und einſilbig macht, möglichſt
umgeht.


Reiſe- und Badegefährten, die täglich viel zuſammen ſind,
dürfen ferner anfangs nicht vergeſſen, daß ihr gegenſeitiges
Verhältniß ein Uebergangszuſtand iſt, der nicht mehr, wie
das erſte Stadium einer Bekanntſchaft, gewiſſe zarte Rück-
ſichten bedingt, andrerſeits aber ſich auch noch nicht zu einer
Freundſchaft befeſtigt hat, welcher ſchon etwas geboten werden
kann. Jeder Einzelne thut wohl, den letzteren Geſichtspunkt
für ſein eigenes Betragen, den erſteren hingegen für die Be-
urtheilung etwaiger kleiner Verſtöße von der andren Seite
vorherrſchen zu laſſen. Dieſe Ungleichheit von Maaß und
Gewicht iſt doch nur eine ſcheinbare, in Wirklichkeit die einzig
billige, richtige, mögliche Grundlage des geſelligen Verkehrs,
denn Jeder muß von der Ueberzeugung ausgehen, daß er in
allen perſönlichen Angelegenheiten von Natur aus parteiiſch
urtheilt. Stellt er ſich auf den Standpunkt der ſtrengen
„Rechtsſphäre“ und ſucht hiernach die Mein- und Dein-Linie
zu reguliren, ſo wird er nicht aus dem Kriegs- oder ſchwer-
bewaffneten Friedenszuſtande herauskommen, weil ihn nie
das Gefühl verläßt, daß der andere Theil in der Offenſive
iſt und zur Abwehr herausfordert. Im Gebiete der Ton-
harmonie macht ſich, wie jeder Muſiker weiß, daſſelbe Geſetz
geltend: ſind auf einem Claviere die Quinten rein und ſcharf
geſtimmt, ſo ſtimmen die Octaven nicht und umgekehrt; für
beide Intervalle muß daher ein Compromiß gefunden werden.
— Ferner iſt auf Neigungen und Gewohnheiten des Andern
in Bezug auf viel oder wenig ſprechen, Pauſen, Unterbrechung
durch Lektüre u. ſ. w. zu achten. Gute Dienſte als Inter-
mezzo und Ableitung leiſten oft ein paar Zeitungs-
[227]VII. Volksleben — Lord B.
nummern, die man aus der Taſche zieht und mit dem Ge-
fährten theilt. Nach der jetzigen Poſteinrichtung kann man
unter geringer Extravergütung auch mitten im Quartal ſeine
gewohnten Blätter an den neuen Aufenthaltsort nachſchicken
laſſen und ich verſäume dies nicht leicht, unter Anderem auch,
um bei günſtigem Wetter im Freien zu beliebiger Zeit leſen
zu können und von den öffentlichen Localen, die häufig
überfüllt, dumpfig, verräuchert, ſchlecht beleuchtet ſind,
minder abhängig zu ſein.


In meiner Portraitsſammlung könnte ich noch viel umher-
führen, in Galerien verweilt aber der Touriſt nicht gern ſehr
lange, weil das wüſten Kopf und müde Beine macht, treten
wir deshalb hinaus, nähern uns den Einheimiſchen, miſchen
uns unter’s „Volk“. Wir ſind nicht ſo thöricht, wie Lord B.
da oben, der nur von ſeinem Balcon oder Wagen aus das
Treiben der Straße, des Hafens, eines Feſtes durch’s Opern-
glas betrachtet. Für ihn exiſtiren nur bewegte Gruppen und
Maſſen, hier und da trifft ſein Blick auf eine beſonders auf-
fällige Geſtalt, von den Einzelnen, aus denen dieſe Gruppen
und Maſſen zuſammengeſetzt ſind, von ihrem Thun und Trei-
ben, Empfinden und Denken ſieht und fühlt er nichts. Um
das Leben des Volks kennen zu lernen, begnügen wir uns
nicht mit Anſichten aus der Vogelperſpective, — ſo vortreff-
lich dieſe ſich auch eignet zur graphiſchen [Darſtellung] von
Städten und Landſchaften, Panoramen, halb Bild, halb
Plan — ſondern ſtellen uns auf gleichen Boden mit ihm,
fahren letzte Claſſe Eiſenbahn und Dampfſchiff, benutzen
Stell- und Bauerwagen, ſetzen uns zu Landvolk und Hand-
werksburſchen, alles den Bücherrathſchlägen gemäß. Da tritt
nun aber gleich eine Schwierigkeit hervor. Die drei Haupt-
ſprachen ſind uns geläufig, auch italieniſch einigermaßen, vom
„Volke“ wird jedoch immer dieſer oder jener Dialekt ge-
ſprochen; um aus dem Vollen zu ſchöpfen, müſſen wir ihn
erlernen, ſo viel Zeit und Mühe verwendet aber ein Touriſt,
der nicht etwa ein Buch ſchreiben will, nicht leicht. Abgeſehen
15*
[228]VII. Mittelclaſſen — lange, lange Pappeln.
davon wären jedoch noch Eigenſchaften nöthig, welche die
Wenigſten beſitzen, um den rechten Nutzen aus ſolchen Beob-
achtungen zu ziehen; wir ſind darauf beſchränkt, Mienen,
Geberden und aufgefangene Worte zu errathen, Aufmerkſam-
keit und Fleiß ermüden, und ſchließlich ſagen wir uns, daß
unſre Localſtudien auf ebener Erde kaum mehr gefruchtet
haben, als Lord B.’s von oben herab, im Grunde weniger,
denn die Augen ſeiner Herrlichkeit haben in Genrebildern ge-
ſchmaust, unſren Augen iſt hingegen der Genuß des Landes
hauptſächlich in Form von Staub zu Theil geworden. So
ſteigen wir denn eine Staffel höher und nehmen Platz an
einem der großen Tiſche, um den „Mittelclaſſe“ ſitzt, trinkt
und plaudert. Der Dialekt tritt ſchon ſo weit zurück, daß wir
der Unterhaltung folgen können, wahrſcheinlich wird ſie in-
deß der Art ſein, daß nichts daraus zu ſchöpfen iſt. Einzelne
der Theilnehmer würden vielleicht im Zwiegeſpräch, oder
wenn einige Fremde unter die Geſellſchaft gemiſcht und nicht
lauter Ortsgenoſſen zuſammen wären, ergiebiger ſein, ſo aber
trottelt die Converſation die breite, von langen, langen
Pappeln eingefaßte Heerſtraße einher: Perſonalien und
Localien gleichgiltigſter Art werden abgehandelt.


Einem andern gedruckten Rathe folgend, machen wir dem
Geſandten des Heimatlandes die Aufwartung. Seine
Excellenz empfängt den Ankömmling, wenn er von Rang,
oder ſehr reich, oder berühmter Dichter, Gelehrter, Künſtler
iſt, demgemäß, lädt ihn zum Diner, zum Ball, zu einer
Spazierfahrt ein und bedauert, durch überhäufte Amts-
geſchäfte abgehalten zu ſein, ſich ihm mehr zu widmen. Beim
Conſul ſpielt daſſelbe Stück eine Terz tiefer, es ſei denn, daß
die Erſcheinung und Unterhaltung des Fremden, notabene ohne
Befürchtungen eines Anleiheverſuchs aufkommen zu laſſen, den
Mann bezauberten. In dem Falle würden möglicherweiſe
an ihm oder durch ihn geſellige Anknüpfungen förderlicher
Art gewonnen. Nach dieſer Seite hin dürfen wir aber immer-
hin keine großen Erwartungen hegen, ſo wichtig auch die
[229]VII. Geſandte, Conſuln — Empfehlungsbriefe — gebildete Familien.
Befolgung des Rathes in anderer Beziehung ſein mag, zumal
in fernen Ländern, wie in der Levante, wo es eins der erſten
Geſchäfte ſein muß, ſich dem Vertreter des Heimatlandes vor-
zuſtellen.


Wer Gelegenheit hat, ſich Empfehlungsbriefe zu
verſchaffen, mag ſie nur auch ja nicht verſäumen, denn wenn
dieſe rechter Art ſind und nicht blos auf einige Höflichkeiten
und Einladungen auslaufen, ſo können ſie alles vermitteln,
was in den vorangegangenen Verſuchen fehlſchlug. Zunächſt
führen ſie den Fremden in gebildete Familien ein und geben
ihm Gelegenheit, Blicke zu thun in Sitten, Sinnesart und
Anſchauungen des Volks. Daß ſolche Familien nicht auch
zum „Volke“ gehörten und daß man in ihnen nur „verputztes,
verſchminktes, verwaſchenes, ſchablonirtes Weſen“, lediglich
bei „Arbeitern“ die „unverfälſchte Menſchennatur“ ſuchen
dürfe, dort Selbſtſucht und Sittenloſigkeit, hier allein Güte
und Reinheit fände — wie gewiſſe Schriftſteller nicht müde
werden, bald von dieſem, bald von jenem Lande unter
Donnerwortgepolter zu verſichern — davon habe ich mich
nicht überzeugen können. Allerdings beſteht in Familien jener
Art mehr als in den unterſten Kreiſen die Neigung, gewiſſe
nationelle Eigenthümlichkeiten abzuthun, gerade die werth-
volleren, außerhalb der Tracht und Mundart liegenden blei-
ben aber doch in der Regel unverſehrt. In ſolchem Hauſe
findet ſich dann auch vielleicht Einer, an deſſen Hand wir
die Züge der Volkscharakteriſtik tiefer hinab verfolgen können,
der als Dialektdolmetſcher dient, auf die rechten Fundgruben
aufmerkſam macht und aus ſeinen Erfahrungen Beiträge und
Erläuterungen gibt. Die große Maſſe der Empfehlungs-
briefe bleibt fruchtlos durch Schuld der Perſönlichkeit oder
der Verhältniſſe eines der drei Betheiligten, oder ſind gar
nur in der Abſicht geſchrieben, dem Ueberbringer eine wohl-
feile Artigkeit zu erweiſen, zuweilen ſo ungeſchickt, daß dieſe
Abſicht zwiſchen den Zeilen des unverſchloſſenen Briefes auch
für den Andern deutlich genug durchſchimmert. Da die Offen-
[230]VII. Geſchloſſene Geſellſchaften — Buchhandlungen — Verlaſſenheit.
heit eines Briefs für die Offenheit der Sprache darin ſchlechte
Bürgſchaft leiſtet, ſo wählt für nichtgeſchäftliche Empfehlungen
Jeder, der ſie aufrichtig meint und allen Theilen gern Ver-
legenheiten erſpart, beſſer den directen Poſtweg und händigt
dem Betreffenden blos eine Grußkarte mit Adreſſe ein.


Unter allen Umſtänden thut, wer längere Zeit an frem-
dem Orte verweilt, wohl, auf noch andere Mittel und Wege
für ſeine Ziele zu denken. So z. B. mag er in einen ge-
ſchloſſenen Cirkel, Muſeum, Caſino, Reſſource, Zutritt
ſuchen. Kann es ſein Gaſt- oder Hauswirth nicht vermitteln,
ſo läßt ſich’s vielleicht auf andere Weiſe bewerkſtelligen, etwa
durch Beſuch bei einem Manne der guten Geſellſchaft, dem
man ſich als Landsmann, Berufsgenoſſen oder Collegen in
irgend einer Liebhaberei, als Sammler (vgl. S. 159) u. ſ. w.
vorſtellt. Je entfernter von der Heimat, je werthvoller und
zugleich je leichter pflegen Anknüpfungen der Art zu ſein. Um
dem bloßen Zufall, gebildete Einheimiſche kennen zu lernen,
das Glückspförtchen zu öffnen, werden Orte beſucht, wo ſie
verkehren, Theater, Concerte ꝛc. Iſt eine Buchhandlung vor-
handen, ſo ſpricht man auch da vor, um unter Büchern, Kar-
ten und Photographien vielleicht ein Weſen zu finden, deſſen
Anſprache und Ortskenntniß uns zu Gute kommen kann.
Der Deutſche verſäumt nicht, ein Bierhaus auszukundſchaften,
wo er unfehlbar in den Abendſtunden Landsleute trifft. Be-
merkt er durch allen Tabaksqualm hindurch ein Geſicht, das
er bereits im Bureau des Geſandten oder Conſuls geſehen,
ſo ſetzt er ſich in deſſen Nähe, vielleicht iſt es eine mild-
geſtimmte Seele, die ſich des Einſamen annimmt.


Wie viele unter hundert Touriſten mögen aber ſein, die
auf einem dieſer Wege zu ihrem Ziele gelangen, und wie viele
dergeſtalt verwertheter Stunden kommen im günſtigſten Falle
auf hundert Reiſetage? — Das iſt es alſo wohl ſchwerlich,
worauf die Maſſe der Touriſten in erſter Linie angewieſen
und was geeignet iſt, das Gefühl der Verlaſſenheit und des
zweckloſen Umhertreibens abzuwehren, ihre Zeit und ihren
[231]VII. Allein reiſen? — Warnung vor den beſten Freunden.
Geiſt ausfüllen zu helfen. Die Anſäſſigen haben auch in der
Regel ihre feſte Tagesordnung, in welcher der Fremde nicht
leicht Raum für ſeine Perſon und ſeine Intereſſen findet.


Hier fiel mein Profeſſor der Touriſtik wieder in eine ſei-
ner beliebten Pauſen und ſah uns Schüler fragend an, wie
es ſchien, um uns Zeit zu laſſen, etwas Unweiſes zu ſagen,
das ſeiner Lehre zur Folie dienen konnte. Ich warf deshalb
hin: um das Gefühl der Einſamkeit und Verlaſſenheit fern
zu halten, müſſe man nicht allein reiſen, ſondern einen
Freund zum Begleiter ſuchen, oder die Frau mitnehmen, kurz,
ein Stück Heimat unterwegs in ſeiner Nähe haben. Mentor
machte das erwartete, ſchon oft geſehene Geſicht, welches deut-
lich ſagte: ich ſchäme mich dieſes Zöglings, ſchwieg aber. Ich
fuhr fort. Aber ich bitte Sie, theurer Meiſter, warum ſoll
ich denn nicht, wenn ſich’s thun läßt, mit meinem beſten
Freunde reiſen? Gibt es etwas Schöneres, als Empfin-
dungen, die für eine Bruſt zu groß, zu gewaltig ſind, zur
Hälfte in eine gleichgeſtimmte gießen zu können? O, ich er-
innere mich nur zu wohl, wie ſchmerzlich ich es in Valle dei
mulini
bei Amalfi empfand, inmitten alles Entzückens über
die bezauberndſte aller irdiſchen Landſchaften, daß ich nicht
anſtatt des Führers Miloni und eines aus Dänemark gebür-
tigen Eiszapfens, den ich mir Tags zuvor unvorſichtigerweiſe
hatte anfrieren laſſen, meinen Hermann neben mir haben
konnte! Auch als ich im Vatican vor Raphael’s Trans-
figuration ſtand und bei ſo mancher anderen Gelegenheit hätte
ich alles darum gegeben, wenn er an meiner Seite geweſen
wäre, mit mir hätte ſchwelgen können.


— Wie ſo oft unſer Schutzengel beſſer für uns ſorgt, als
wir ſelber, wenn es nach unſrem Kopfe geht, ſo wird er es
auch vermuthlich bei Amalfi und in Rom mit Ihnen und mit
Ihrem Hermann beſſer als Sie ſelbſt gemacht haben. Mit
beſten Freunden am allerwenigſten ſollen größere Reiſen
unternommen werden. Die Freundſchaft iſt ein zu koſtbares
Gut, als daß ....


[232]VII. Schwerſte Geduldsprüfungen — kleine Ueberraſchungen.

— Ah, Sie meinen, fiel ich in’s Wort, daß auch ſie
ein Artikel iſt, der den Transport nicht vertragen kann?
Unſre Freundſchaft, Hermann’s und meine, hat ſchon die
ſchwerſten Prüfungen überdauert.


— Die ſchwerſten Prüfungen der Freundſchaft, verſetzte
der alte Herr, ſind nicht die großen, tiefgreifenden, für die wir
alle unſre Kräfte zuſammenzunehmen pflegen, auch nicht die
gewohnten des täglichen Lebens, für welche unſre Geduld be-
reits eingeübt iſt, ſondern — jene kleinen Ueberraſchungen,
die uns unvorbereitet finden. Noch aus der Schulzeit her
erinnere ich mich und Sie wahrſcheinlich auch, daß die feier-
lichen Oſterexamina immer glänzend ausfielen, auch bei den
regelmäßigen Exercitien Alles noch leidlich ging, nur wenn
einmal ein neuer Lehrer des erkrankten Collegen Stelle ver-
trat und uns auf den Zahn fühlte, da war die Noth groß.
Auf einer längeren Reiſe kann ſo Manches vorkommen, auf
das wir nicht gefaßt ſind, vielerlei wirkt zuſammen, das un-
unterbrochene Beieinanderſein, Mangel der gewohnten Thätig-
keit, Entbehrungen, Ermüdung. So trifft es ſich, daß beide
Freunde einmal gleichzeitig in üble Laune gerathen, Einer
den Anderen herrſchſüchtig, rückſichtslos, rechthaberiſch findet,
wenn er’s auch nicht ausſpricht, oder eine ſonſtige Falte in
ſeinem Herzen oder einen Defect in ſeinem Hirn entdeckt und
die Freundſchaft eine Wunde empfängt, die vielleicht bald
wieder zuheilt, aber dann doch bei Wetterveränderungen ſich
fühlbar macht. Je höher wir eine Freundſchaft anſchlagen,
je mehr iſt Urſache, ſie in keine ſolche Verſuchung zu führen.
Wie manche ſcheiterte ſchon daran, daß ein Herzenswunſch
beider Theile endlich in Erfüllung ging, daß dieſelben z. B.
ein Haus beziehen konnten, oder Geſchäftsgenoſſen wurden,
oder ihre Familien ſich verſchwägerten. Kurz, wenn Sie
meinem Rathe folgen wollen, ſo ſchreiben Sie Ihren Freun-
den recht fleißig, ſchicken, bringen ihnen meinetwegen von
jeder ſchönen Stelle, wo Sie ihrer gedenken, ein Erinnerungs-
zeichen mit, bedauern in jedem Briefe, daß ſie den Genuß
[233]VII. Frauen — Négligé — Ehemänner.
nicht theilen und dieſer darum für Sie ſelbſt nur ein halber
ſei, machen Sie allenfalls, wenn Gelegenheit iſt, mit dem einen
oder anderen Freunde eine kürzere, vorher beſtimmt verab-
redete Tour, hüten Sie ſich aber, einen zum Gefährten für
eine größere Reiſe zu erkieſen. Nur beſondere Fälle nehme
ich aus, z. B. wenn der Freund ſich auch in dieſer Eigenſchaft
ſchon bewährt hätte, daß Ihre Freundſchaft vielleicht gerade
auf der Reiſe zur Welt gekommen wäre.


— Da müßten Sie ja aber, wandte ich ein, folgerichtiger
Weiſe noch mehr warnen, die eigene Frau mit auf die Reiſe
zu nehmen, denn deren Freundſchaft iſt jedem Manne doch
die wichtigſte von allen.


— Und dennoch iſt hier die Gefahr geringer, erwiederte
er. Eine Reiſe, die jedes Paar macht, das irgend kann, die
Hochzeitsreiſe, würde längſt abgeſchafft ſein, wenn ſie dem
Eheglück ſich nachtheilig erwieſe. Aber auch von dieſer be-
ſondern Art abgeſehen: das eheliche Band, welches über-
haupt dieſen Namen verdient, iſt aus feſterem Stoffe, als
das der Freundſchaft. Einer der Gatten, hoffentlich die Frau,
hat bereits Uebung im Sichfügen, beide ſind gewohnt, viel
zuſammen zu ſein, ſich auch in geiſtigem Négligé zu ſehen.
Gemeiniglich verlangt es aber die Damen gar nicht ſo ſehr
nach Reiſen, und in der That iſt ihnen in dieſem Stücke
kein Mangel an Logik vorzuwerfen. — Begleiten wir, ſagen
ſie, unſre Männer, ſo verurſacht das dreifache Koſten, Un-
bequemlichkeit, Mühſal, manche Unternehmung muß unſret-
halben wegfallen, Alles geht langſamer, ſchwerfälliger, abge-
kürzter, auszüglicher vor ſich. Die Beſtimmung des Weibes
iſt das Haus, nicht die Welt. Die Eine oder Andere denkt
vielleicht auch: ſchadet meinem lieben Manne gar nicht, wenn
er einmal wieder an die Vorzüge des heimiſchen Herdes und
des Familienlebens erinnert wird, und daß es auch andren
Leuten als ſeiner kleinen Frau paſſiren kann, daß ein Hemd-
knöpfchen fehlt oder die Milch anbrennt. Mir iſt ein Fall
[234]VII. Verſchiedene Reiſegefährten.
bekannt geworden — und es wird wohl nicht der einzige der
Art ſein — daß ein Mann nur reiste, um ſeiner Gattin die
Schweiz und Italien zu zeigen und die Frau lediglich dem
Manne zu Gefallen mitging: beiden gelang es, ſich gegen-
ſeitig zu verbergen, welche Ueberwindung ihnen der Entſchluß
und die Ausführung gekoſtet. Die überwiegende Mehrzahl
der Touriſten iſt denn auch männlichen Geſchlechts, jüngere
und ältere Unverheirathete oder Witwer, die einzelnen Ehe-
männer darunter ſind entweder der Art, wie wir ſie unſren
Töchtern, oder ſie haben Frauen, wie wir ſie unſren Söhnen
nicht wünſchen. Gehören ſie zu ihrem Glücke keiner dieſer
beiden Claſſen an, ſo — bringen ſie auch kein rechtes Herz
für die Reiſe mit, ſind mithin keine echten Touriſten. Ein
unglücklicher Ehemann geſtand mir, er fühle ſich überall aus-
wärts daheim, nur nicht zu Hauſe. Immerhin eignen ſich
aber als dauernde Reiſebegleiter Frauen, Söhne, Töchter,
Schüler, Pflegebefohlene — angenehme Begleiter auf Fuß-
wanderungen ſind oft nicht zu junge Knaben, deren Natur-
freude und Jugendluſt uns Aeltere erwärmen und erfriſchen
hilft — beſſer, als Freunde und Gleichgeſtellte (in grader
oder ungrader Zahl), welche ihren Willen, ihre beſonderen
Intereſſen und Gewohnheiten nicht zurücklaſſen, der Be-
rathungen, der Abſtimmungen, des Opferbringens iſt ſonſt
kein Ende.


Mit Begleitung mögen ſonach die weitere Reiſen an-
treten, deren ſpecielle Zwecke eine ſolche bedingen, ferner große
Herren, die nicht ohne Gefolge reiſen können, Neuvermählte *),
Alte, Gebrechliche, körperlich oder geiſtig Unbehilfliche, die
neben dem Wanderſtab noch menſchlicher Stützen bedürfen,
[235]VII. Allein abreiſen — Hauptzwecke.
ſodann Leute, denen es an Willen oder an Fähigkeit fehlt,
unterwegs Bekanntſchaften zu machen, endlich Menſchen, die
nur höchſt ungern allein ſind (weil ſie verſäumten, dieſe
wichtige Kunſt zu erlernen) und jede andere Geſellſchaft ihrer
eigenen vorziehen. — Der Touriſt wie er ſein ſoll reist allein
ab und ſucht ſich unterwegs geeignete Gefährten. Dieſen Satz
motivire ich aber nicht blos aus den angeführten Gründen,
behaupte vielmehr, nur wenn es geſchieht, können wir den
Hauptzwecken der Reiſe ungeſtört nachgehen und
fühlen uns zur Verfolgung derſelben um ſo mehr geſpornt.
Solchen Sporns bedürfen wir Alle.


[[236]]

VIII.


Neue Geſtändniſſe, die von Rechts wegen in die Vorrede gehörten — praktiſche
Dinge — Geſichtspunkte — Beiläufigkeiten — Ulyſſes wird ruhmredig und hinter-
haltig — Diener — Erſparniſſe — gelehrter Kram — touriſtiſcher Stammbaum
— Blick in alte Zeiten — die Reiſe, ihre Freunde und Feinde, Vortheile und
Nachtheile — Triebfedern — Eitelkeits- und Phantaſietouriſten — Poeſie der
Reiſe — Reiſefieber — neue Art zu reiſen — Eiſenbahnweſen und ſeine Flegel-
jahre — Hoffnungen — Techniker — Ruß- und Bußfahrten — feurige Kohlen —
Staubbrillen — Bahnhofsreſtaurants — Fürſprecher — Widerwärtigkeiten und
Strapazen — Comfort — Rechtfertigung — allgemeine Betrachtungen — geiſtige
Rund- und Fernſicht — Zwecke — Summe der Reiſeerfahrungen — der große
Touriſtenſtrom — Reiſemüde — Grade der Empfänglichkeit — Farbenſcheibe —
Nutzanwendung — Monotonie des ſteten Wechſels — beſtimmte Richtung —
Reiſemechanismus — paſſives Empfangen von Eindrücken — Specialität — keine
Zeit haben — Märtyrer der Berufspflicht — Mußeſtunden — Jugend und Alter
— Einſeitigkeit — ewiges Einerlei — geiſtige Alpenregion — Sammler und
Sammlungen — Excerpte — Lichtſtrahlen — ein Sonderling — Berufswahl —
Wechſel der Stimmungen — das beſte Geſchäft — die Reiſe eine Wohlthäterin
— ein anderer Kauz — allein und abgetrennt — Zucht von Steckenpferden —
Zerſtreuungsjäger — pariſer Ennui — große Modebäder — worauf es ankommt
— ein gutes Reiſegewiſſen u. ſeine Forderungen — was wir alles beobachten ſollen
— Vielſeitigkeit — Bienen und Fliegen — Wahl treffen — ſpitze Bleiſtifte —
weitere Mittel gegen Reiſemüdigkeit — Hauptaufgaben — Sehenswürdigkeiten —
Menſchen und Selbſtkenntniß — Probierſteine und Schleifſteine — Geſelligkeits-
trieb — Einſiedler — Ausſchließlichkeit — Befürchtungen — die Reiſe ein
Maskenball — öffentliche und Privatbälle — Zwiegeſpräche — große Geſellſchaften
— Hintergedanken — betrübende Wahrnehmung — unſre Geſchäftsfreunde —
ein Landpaſtor — Stadt- und Landleute — plötzlicher Geldgewinn — Wohnungs-
miethe — Preisſteigerungen — Luxusgäſte — Trinkgelder, Geſchenke, Almoſen —
Culturfortſchritte — Selbſtvertheidigung — durch Cultur zur Natur zurück —
unſre Aufgaben — Politik — Heimgekehrte — leichtſinniges Briefſchuldenmachen
— Imponirenwollen — Abenteuer — Reiſeberichte — Zweifel — Abſchiedswort und
Reiſeſegen.


Keinem Leſer dieſes Büchleins wird es entgangen ſein,
daß daſſelbe viel von der Technik der Reiſe, weniger von
[237]VIII. Neue Geſtändniſſe, die von Rechts wegen in die Vorrede gehörten.
ihrer Wiſſenſchaft, noch minder von ihrer Kunſt und am
ſeltenſten von ihrer Moral gehandelt hat. Alles das geſchah
nach dem Vorbild unſres Lehrers. Auf ſeine Anſichten in
der Beziehung wurde ſchon früher gedeutet, ſeine weiteren
Gründe dafür mögen aus folgendem Geſpräche hervorgehen,
welches am letzten Tage unſres Zuſammenſeins gepflogen
ward. Es knüpfte ſich an ſeine Aeußerung über die „Haupt-
zwecke der Reiſe“ und meine Frage, welches denn nun
dieſe ſeien.


— Geduld, Geduld, ſo weit ſind wir noch nicht, war die
Antwort.


— Ah, ich merke, Sie ſparen das bis zuletzt auf, es ſoll
eine Ueberraſchung werden, ſo ein melodramatiſches Schluß
tableau mit bengaliſcher Beleuchtung.


— O nein, erwiederte der alte Herr, nicht überraſchen
möchte ich, auf keinen Lichteffect, ſondern nur auf ein wenig
Wärmeentwickelung iſt das ganze Experiment abgeſehen.
Hätte ich nicht von Anfang an etwas der Art im Schilde
geführt, ſo würde ich, trotz allen väterlichen Gefühlen für
Sie, mein hoffnungsvoller Jünger, mir ſchwerlich ſo viel
Mühe mit Ihrer touriſtiſchen Erziehung gegeben haben.
Gleich damals in Meiringen, als wir unſer Buch verab-
redeten und ich das Nähere überlegte, fragte ich mich, wie
es wohl kommen möge, daß noch nichts Aehnliches verſucht
worden iſt, weder bei uns, noch bei Euch Deutſchen, die Ihr
doch Bücher ſchreibt über alles Mögliche. Ganz kurze Leit-
faden ſind zwar vorhanden, welche Regeln für Fußwanderer
und Bergſteiger geben, ein paar verlorene Winke für Reiſende
überhaupt ſind auch beigefügt, Alles aber augenſcheinlich, zum
Theil eingeſtändlich, nur für unerfahrene, anſpruchsloſe
Jünglinge beſtimmt, die zum erſten Mal das Vaterhaus ver-
laſſen, Niemand noch hat es verſucht, auch die Touriſten-
gattungen in’s Auge zu faſſen, welche heutzutage in Hôtels,
Eiſenbahnwagen erſter und zweiter Claſſe und Curorten ſo
zahlreich und glänzend vertreten ſind, ebenſowenig ſind die
[238]VIII. Praktiſche Dinge — Geſichtspunkte — Beiläufigkeiten.
touriſtiſchen Bedürfniſſe der Curgäſte einer eingehenden Be-
handlung gewürdigt worden. Was mag die Urſache ſein?
Ich fand keine andere Erklärung als die: nur Vielgereiſte
haben die hierzu nöthige Erfahrung geſammelt, dieſe geben
ſich aber entweder nicht mit Bücherſchreiben ab, oder verfolgen
nur wiſſenſchaftliche, künſtleriſche, äſthetiſche, belletriſtiſche
Zwecke und verſchmähen es, über „praktiſche Dinge“ zu
ſchreiben, haben auch in der Regel weder Geduld noch Auge
dafür, vielmehr als Gelehrte, Künſtler, Dichter das Recht,
unpraktiſch zu ſein. Wie ſind nun wohl, fragte ich mich
weiter, alle jene anſpruchsvollen, verwöhnten, ungeduldigen
Herren und Damen zu gewinnen? — Alle? Unmöglich!
Da fiel mir zur rechten Zeit Euer Dichterwort ein:


Kannſt du nicht Allen gefallen durch deine That und dein Kunſtwerk,

Mach’ es Wenigen recht. Vielen gefallen iſt ſchlimm.

und wies den Weg, wenn es ſich hier auch nicht um ein
Kunſtwerk, nur um ein kleines Buch handelt. „Wer Vieles
bringt, wird Vielen Etwas bringen“ und unter den Vielen
werden hoffentlich Einige ſein, denen das, was wir ihnen
bringen, nützt, vielleicht auch Unterhaltung gewährt. Suchen
wir denn alſo vor den Augen einiger Weniger Gnade zu
finden. Bei Vornehmen, bis hinauf zu Miniſtern und
Fürſten, iſt am leichteſten etwas zu erreichen, wenn alle Can-
didaten- und Magiſtermanieren vermieden werden, die An-
gelegenheit nicht mit Wichtigkeit und Ernſt behandelt wird,
ſondern nur beiläufig einfließt, z. B. in ein Geſpräch über
Küche und Keller, oder auf der Promenade, am ſicherſten,
wenn ein Kammerdiener beim An- und Auskleiden es vor-
trägt. Wiſſen Sie was? Laſſen wir unſren Ulyſſes ſeine
Laufbahn wie Rouſſeau als Diener antreten, nebenbei
mag er ſich als Küchengehilfe und in ſonſtigen Geſchäften
nützlich machen, vielleicht ſteigt er dann zu höheren Poſten
auf, wird Haushofmeiſter, Vertrauter, Factotum. Zunächſt
ſpiele er die Rolle eines jener jocoſen Diener, die in der
[239]VIII. Ulyſſes wird ruhmredig und hinterhaltig — Diener — Erſparniſſe.
Wirklichkeit ſehr ſelten, deſto öfter in Komödien und Romanen
vorkommen. Ein ſolcher Chriſtian oder Hans hat allemal
einen Theil ſeiner Herrſchaft, den Herrn oder die Dame,
ſchon in deren Kindheit bedient und verziehen geholfen, darum
darf er ſich manches erlauben, was Andern übel genommen
würde, ſelbſt die unbeliebteſten Dinge, Predigten, verzeiht
man ihm, denn man weiß, daß er nie ſeine „untergeordnete
Stellung“ vergißt, daß er bei aller Pedanterie, allen curioſen
Einfällen doch eine „ehrliche Haut“ iſt und für ſeine Herr-
ſchaft durch Feuer und Waſſer ginge. Gibt’s etwas zu
ſchuſtern, zu ſchneidern, zu flicken, zu waſchen, zu tragen, zu
fragen, zu laufen, zu kaufen, zu packen, zu placken, ſo muß
Ulyſſes bei der Hand ſein, immer flink, unverdroſſen, auf-
geräumt, anſtellig, geräuſchlos, redlich, treu, ſparſam, reinlich.
Hat ſeine Herrſchaft etwas vergeſſen, ſo läßt er ſich dafür
ſchelten und macht das Verſäumte wieder gut, hat ſie Lange-
weile, ſorgt er für Unterhaltung, iſt ſie übler Laune, ſo nennt
er das Nervoſität und verdoppelt ſeine Sorgfalt, läſtige Be-
ſuche weiß er abzuhalten, auf beachtenswerthe Menſchen und
Dinge aufmerkſam zu machen, eine eigene Meinung wagt er
nur ſelten zu haben, und, iſt es nicht zu vermeiden, ſo ſucht
er, weit entfernt ſich damit zu brüſten oder aufzudrängen,
es einzurichten, daß es ausſieht, als handelte er auf Befehl
der Herrſchaft ſelbſt oder des Arztes.


— Werden denn aber, warf ich ein, die hohen Herren
und Damen unſerm Ulyſſes nicht übel nehmen, wenn er z. B.
auf Erſparniſſe bedacht iſt?


— Im Gegentheil, um ſo mehr ſchätzen werden ſie das
an ihm, als es ſich für ſie nicht ſchickt. Laſſen wir ihn nur
tüchtig feilſchen mit Kutſchern und mit Gaſtwirthen hadern,
Kellner ſchelten, Hausknechten in die Rippen ſtoßen, alles
das iſt ſeines Amts. Auch daß er Badeärzten und Cur-
vorſtänden kleine Anzüglichkeiten ſagt, wird höheren Orts
nur wohlgefällig vermerkt werden. Seiner Rolle getreu,
hat ſich Ulyſſes auch zu hüten, mit hiſtoriſchen Rückblicken,
[240]VIII. Gelehrter Kram — touriſtiſcher Stammbaum.
etymologiſchen Erklärungen des Wortes „Touriſt“ und der-
gleichen „gelehrtem Krame“ beſchwerlich zu fallen. Ueber
alles das gibt jedes Converſationslexicon Auskunft. Zwar
könnte er, um Theilnahme zu erregen, die Sache genealogiſch
behandeln und nachweiſen, daß die geiſtigen Ahnherren des
modernen Touriſten die Columbus, Vasco de Gama, Diaz
und Magellan ſind — was dieſe Großen für die Welt ent-
deckten, entdecken wir Epigonen für uns, unſre Zuhörer, die
Leſer unſrer Briefe, Tagebücher, Reiſeſchilderungen — den
Stammbaum alsdann rückwärts führend zu den vornehmen,
Luſt- und Erholungsreiſen in die Gebirge, in die Schwefel-
und Seebäder machenden Römern, zu den griechiſchen Reiſe-
beſchreibern Arrian, Strabo, Herodot, bis zu dem erlauchten
Stammvater aus Ithaka. Kenner des Alterthums verſichern
aber, daß daſſelbe wenig Freude am Reiſen hatte, und erklären
das nicht blos aus dem Mangel an Straßen, der Beſchwer-
lichkeit, Koſtbarkeit, Unſicherheit größerer Fahrten, ſondern
meinen auch, daß es den alten Griechen und Römern an
Auge und Herz für landſchaftlichen Reiz gebrach. Hier und
da reiſte man zu wiſſenſchaftlichen oder anderen Zwecken,
ſchwerlich aber aus bloßer Luſt am Reiſen ſelbſt. Horaz
eifert gegen das Fortziehen aus Rom, leugnet, daß die
äußere Umgebung weſentlichen Einfluß auf die Stimmung
des Menſchen üben könne, und ſpottet über blaſirte Reiſe-
wuth (vgl. S. 127). Auch im Mittelalter ſcheint es nicht
viel anders geweſen zu ſein. Venetianer und Genueſer
kannten nur Handelsreiſen. Blos eine aber glänzende Aus-
nahme macht der Venetianer Marco Polo († 1323);
ſeine Reiſebeſchreibung iſt aus der nachclaſſiſchen Zeit die
vorzüglichſte ältere. Die großen Entdeckungsfahrten der
Columbuszeit gaben dem Handelsſinn, nebenbei der Aben-
teuerluſt reiche Nahrung, auch wiſſen wir, daß im Reforma-
tionszeitalter mit der erwachten Theilnahme am claſſiſchen
Alterthum und an der bildenden Kunſt in den höheren
Sphären der Bewegungstrieb der Geiſter ſich auch einzelnen
[241]VIII. Die Reiſe, ihre Freunde und Feinde, Vortheile und Nachtheile.
Körpern mittheilte, die Reiſen waren aber doch nur dem
Erwerb, oder beſtimmten Studien gewidmet, oder ſie wurden
von jungen Edelleuten und Patricierſöhnen unternommen,
um ſich für den Staatsdienſt und die Geſellſchaft vorzu-
bereiten, von eigentlichen Vergnügungsreiſen wußte man
nichts. In den übrigen Volksſchichten reiſte man ſo viel als
gar nicht. Luther erzählt von einem Studenten, welcher, als
er ſeinen Kirchthurm aus dem Geſichte verloren, Heimweh
bekam und umkehrte. Die Ortsveränderung, ohne geſchäft-
lichen oder kirchlichen Grund, war damals ſchon an und für
ſich etwas Verdächtiges. Wer kein Heimweſen hatte, keinen
ehrlichen Erwerb finden konnte, oder ihn nicht ſuchen mochte,
ging unter die „fahrenden Leute“, vor denen, wenn ſie
nahten, die Wäſche vom Zaun genommen und die Hunde
losgelaſſen wurden. Schon ein aus der Ferne zurückkommen-
der Verwandter oder Freund wurde zwar mit Neugierde aber
Mißtrauen betrachtet. Unter dieſen Umſtänden laſſen wir
lieber die Abſtammungsfrage auf ſich beruhen und hören
ſtatt deſſen einige Stimmen, freundliche und feindliche, über
die Reiſe und ihre Wirkungen.


„Eine alte, gegründete Wahrnehmung iſt es, daß ſelten
jemand auf der Reiſe oder im Bräutigamsſtande ſtirbt,“ ſagt
Feuchtersleben, und wenn auch ihm für die Richtigkeit dieſer
Angabe die Verantwortlichkeit bleiben muß, ſo ließe ſich doch
eine lange Reihe von Autoritäten anführen, die den wichtigen
und vielfältigen Einfluß der Reiſe auf die Geſundheit be-
tonen. Zu dem hierüber von uns ſeines Orts ſchon Ab-
gehandelten mag hier nur noch regiſtrirt werden, daß die
Aerzte die durch Umherſpähen im Freien verſchaffte Uebung
im Fernſehen, deren Mangel uns Großſtädter ſo kurz- und
ſchwachſichtig macht, hervorheben. Obenan unter den
Ruhmestiteln der Reiſe ſteht immer die Wirkung, welche
ſie, richtig benutzt, auf Geiſt und Charakter hat, indem
ſie jenen in der Erwerbung neuer und Verwerthung bereits
geſammelter Kenntniſſe, ebenſo die Urtheilskraft übt, endlich
16
[242]VIII. Triebfedern.
Selbſtändigkeit des Charakters, Feſtigkeit und Unerſchrocken-
heit ausbildet.


Hinſichtlich der Erſprießlichkeit großer Reiſen ſind die
Anſichten getheilt. Ein franzöſiſcher Schriftſteller meint, nur
Madeirawein gewinne dadurch, ein anderer ſieht in jeder
Reiſe, die nicht in Geſchäften unternommen wird, weniger
eine Sehnſucht nach der Ferne und dem was ſie verſpricht,
als vielmehr einen Zug der Seele von den Perſonen und
Dingen hinweg, die man verläßt. Beide Ausſprüche ſind
[charakteriſtiſch] für die Franzoſen, die ungern reiſen. Haben
doch von jeher zu ihren ſchwachen Seiten Geographie und
fremde Sprachen gehört. Der Franzoſe liebt nur eine Reiſe:
die in ſeine Hauptſtadt, wenn er den Schmerz und die Be-
ſchämung hat, nicht in derſelben zu wohnen. Auch Frau
v. Staël nennt das Reiſen eines der traurigſten Vergnügen
des Lebens. Nur ein franzöſiſcher Autor, wenn ich nicht
irre Cuſtine, rühmt von der Reiſe, daß ſie ein Mittel biete,
das Gefängniß, welches unſre Erde doch einmal ſei, einiger-
maßen zu erweitern. Börne empfiehlt, um ſo weiter und
öfter zu reiſen, je älter und nüchterner wir werden, dann
ſagt er, man gewinne dadurch die Fertigkeit, ſich überall zu
Hauſe zu fühlen. Jean Paul bemerkt, es nehme dem Men-
ſchen das Hölzerne wie das Verſetzen den Kohlrüben das
Holzige. Plato räth, nicht vor dem ſechzigſten Jahre zu
reiſen, um es mit Nutzen zu thun.


Unter den Triebfedern zur Reiſe iſt bisher einer noch
nicht gedacht worden, die, wer Touriſtenherzen und Nieren
prüfen könnte, häufig genug finden würde, und welche Urſache
ſein mag, daß Mancher von ſeinem erſten größeren Ausfluge
reiſeſatt zurückkehrt und nie einen zweiten wagt: — er wählte
Weg und Ziel nicht ſeinen Intereſſen gemäß, nicht weil er
ſich von ihnen Belehrung, Anregung, Genuß verſprach,
ſondern lediglich, weil er „etwas Apartes“ haben, weil er
Gebiete ſehen wollte, die noch Keiner aus ſeinem heimiſchen
Kreiſe ſah. Laſſen wir ihn ſeine Straße ziehen, laſſen wir
[243]VIII. Eitelkeits- und Phantaſietouriſten — Poeſie der Reiſe.
ihn, wenn er ſchließlich Gewinn und Verluſt berechnet, ſtarkes
Deficit finden, denn alle Ermahnungen der Reiſeſchule ver-
mögen nichts gegen die liebe Eitelkeit, die ſchlaue Gauklerin,
die ihre Proſpecte eben ſo trügeriſch zu faſſen verſteht, wie
gewiſſe induſtrielle Speculanten. Auch mit jenen Phantaſie-
touriſten haben wir nichts zu ſchaffen, welche in einem ver-
ſteckten Neſtchen, etwa im Odenwald oder Fichtelgebirge,
einen Sommer zubringen, dort ſich dem Studium einiger
Reiſewerke widmen, dann zurückkehren und von den Welt-
fahrten erzählen, die — ihre Einbildungskraft gemacht hat.
In einer mitteldeutſchen Reſidenz war ich einſt Zeuge, wie
ein derartiges Lügengewebe, das über eine ganze Geſellſchaft
geworfen war und lange feſtgehalten hatte, plötzlich ſich um-
kehrte, über den Erzähler fiel und ihn in einer ſo lächerlichen
Poſitur zeigte, daß er bald darauf gerathen fand, den Schau-
platz ſeiner Niederlage ganz und gar zu verlaſſen. — Wir
fahren fort, Freud und Leid der Reiſe, ihre Freunde und
Feinde zu betrachten.


Eine der Anklagen, die heutzutage am häufigſten erhoben
und ohne Prüfung nachgeſprochen werden, iſt die: mit den
Eiſenbahnen ſei alle „Poeſie der Reiſe“ verſchwunden.
Die Poeſie liegt doch aber gewiß weniger in den Dingen, als
in der Betrachtungsweiſe, die wir ihnen widmen, und eine
Großthat des Menſchengeiſtes, die eine dämoniſche Naturkraft
unterjochte, über Zeit und Raum, die alten Gewalthaber
der Welt, einen glänzenden Sieg davontrug, mithin der
Phantaſie reiche Nahrung bietet, kann doch wohl nichts Un-
poetiſches ſein. Im ſpäteren Lebensalter ſchauen wir aber mit
einer ſehnſüchtigen Wehmuth auf die Vergangenheit zurück,
ſie erſcheint uns in verklärtem Lichte, wieviel Antheil an
dieſem jedoch unſren jugendlichen Anſchauungen und wieviel
den Gegenſtänden ſelbſt zukommt, das zu ergründen wird
nicht leicht gelingen. Traulicher, idylliſcher und in gewiſſem
Sinne behaglicher war allerdings die alte Art der Reiſe, die
Klänge des Poſthorns thaten dem Ohre wohler, als die
16*
[244]VIII. Reiſefieber — neue Art zu reiſen.
gellenden Pfiffe der Locomotiven, auch das Schnurren der
Räder, das Trappen der Pferde und ſanfte Klappern des
Wagens hörte ſich beſſer an, als das jetzige betäubende Ge-
raſſel der Waggonfenſter und das ewige Tftftftftftf der Ma-
ſchine, welches als basso ostinato jedes Geſpräch verfolgt und
bald müdehetzt. Die langſame Bewegung und das lange
Beiſammenſein waren auch geeigneter, Meinungsaustauſch
und nähere Bekanntſchaften zu vermitteln, während man jetzt
in den Coupés kaum Notiz von einander nimmt: jede
Station kann Nachbarn auseinanderreißen und neue zu-
ſammenführen. Auch iſt nicht zu verkennen, daß das ſoge-
nannte „Reiſefieber“ — jene Unruhe, die unterwegs Manche
befällt, ſie fort und fort nach der Uhr zu ſehen treibt, ihnen
Nachts den Schlaf, am Tage klares, geſammeltes Denken
ſtört — ſeitdem es Eiſenbahnen gibt, einen hitzigeren, conta-
giöſeren Charakter angenommen hat. Alles das räume ich
willig ein, behaupte aber, die Poeſie der Reiſe hat nichts
verloren und ihre Ergiebigkeit weſentlich gewonnen.
Niemanden iſt es verwehrt, den Schienenweg nur als Mittel
zu betrachten, um ſich raſch dahin ſchleudern zu laſſen, wo
die eigentliche Reiſe erſt beginnen ſoll; dieſe ſelbſt können
wir unzweifelhaft mit weniger Aufwand an Zeit, Mühe und
Geld ihren Zwecken und unſren geiſtigen, poetiſchen, gemüth-
lichen Anſprüchen gemäß geſtalten. Sie iſt ferner nicht mehr
Vorrecht der Reichen. Wir können öfter und brauchen nicht
mehr ſo lange zu reiſen, können ohne große Opfer, ſobald
ſich „Sättigung“ einſtellt, zurückkehren und die Fortſetzung
verſchieben, bis die empfangenen Eindrücke innerlich verar-
beitet und wir für neue wieder friſch geworden ſind, können
Verſäumtes leicht nachholen, und unſre Geduld hat minder
harte Prüfungen zu beſtehen. Während ein junger Mann
ehemals, gleich nachdem er ſeine wiſſenſchaftlichen Studien
oder die kaufmänniſche Vorbereitungszeit zurückgelegt, auf
halbe und ganze Jahre in die Welt ging, dann heimkehrte,
ein Amt übernahm oder ein Geſchäft eröffnete, heirathete und
[245]VIII. Eiſenbahnweſen — ſeine Flegeljahre — Hoffnungen.
Kindern und Enkeln von „ſeiner großen Reiſe“ erzählte, nie
aber an eine zweite dachte, iſt jetzt oft Entſchluß, Vorbereitung
und Aufbruch die Sache eines oder weniger Tage. Viele
Großſtädter betrachten eine jährliche Reiſe als eine Lebens-
bedingung, Einige erheitern ſich Winterabende durch Aus-
arbeitung und Ausmalung ihres nächſten Sommerfahrplans,
die meiſten überlegen und berathen nicht lange, welche Länder
zu beſuchen, welche Punkte zu berühren ſeien.


Hat nur erſt einmal unſer Eiſenbahnweſen ſeine
Flegeljahre hinter ſich — ihren grellſten Ausdruck finden dieſe
in der Behandlung des Gepäcks von Seite der Bahndiener
(vgl. S. 17) — ſo wird auch gewiß noch manches bisher
Läſtige und Mißliche abgeſtellt werden, wie ſchon in neueſter
Zeit ein Anfang gemacht iſt. Man wird neue Mittel und
Wege finden, für die Sicherheit der lebendigen Fracht zu
ſorgen, ohne ihre perſönliche Freiheit mehr als nothwendig
und rathſam zu beſchränken, auch die Befugniſſe der Bahn-
beamten werden theils engere, theils weitere Grenzen erhalten.
Die Handhabung des Dampfboot- und Eiſenbahnbetriebs in
Amerika zeigt zwar, daß dort Menſchenleben wenig gilt,
andrerſeits ſcheint aber die ſtrenge Praxis, die auf europäi-
ſchen Bahnen zur Zeit noch herrſcht, in Bezug auf Selbſt-
hilfe bei plötzlich eintretender Gefahr, Auf- und Abſteigen
während der Zug in Bewegung iſt u. ſ. w. nicht durchweg
ihrem Zweck zu entſprechen. Hoffentlich wird man ferner
immer allgemeiner einſehen, daß auch die Inſaſſen der
Schnellzüge leibliche Bedürfniſſe haben, die Rückſicht ver-
dienen. So z. B. ſind, abgeſehen von anderen Bequemlich-
keiten, ſchon hier und da „Menagekörbe“ eingeführt, welche
ein civiliſirtes Mal ermöglichen, ſo daß man nicht ſiedend
Heißes verſchlingen, oder bezahlen und ſeinem Nachfolger
überlaſſen muß, anderwärts gibt es beſondere Speiſe- und
Schlafwaggons, Schlaffauteuils ꝛc. Auch der Wagenwechſel
ſollte noch mehr als bisher eingeſchränkt, ferner das ſo oft
[246]VIII. Techniker. Ruß- und Bußfahrten. Feurige Kohlen. Staubbrillen.
ganz unnöthige Zuſammenpferchen der Paſſanten vermieden,
endlich kein Muſikantenunfug geduldet werden.


Geſchickte und menſchenfreundliche Techniker werden
alsdann Mittel aufgefunden haben (ſollte Verkleidung der
Fenſterrahmen mit Kautſchuk oder Wollenzeug nicht dienen
können?), um das entſetzliche Raſſeln etwas zu dämpfen,
durch welches für Viele die Bahnfahrt zur Strapaze wird.
Ganz beſonders arg iſt es auf einigen Schienenwegen, auch
in der zweiten und erſten Claſſe, ebenſo ſcheinen auf denſelben
die Zugführer die Locomotivenpfiffe nicht blos zu Signalen,
ſondern auch oft als Spielzeug zu benutzen. Ich kenne eine
Dame, die bei ihrer allſommerlichen Badereiſe einen Umweg
nicht ſcheut, um dieſe beſonders geräuſchvollen Linien zu um-
gehen. Feurige Kohlen würden die Techniker ferner
auf unſren Häuptern ſammeln, wenn ſie durch eine Vorrich-
tung dafür ſorgten, daß dies nicht mehr im buchſtäblichen
Sinne geſchähe, und die Dampfwagenreiſe nicht mehr zu
einer Ruß- und Bußfahrt würde, welche wir, die Gewänder
mit Aſche beſtreut, die Augen thränengefüllt (ob der Kohlen-
ſchlacken, die hineingeſchleudert werden — ſofern wir uns
nicht etwa mit Staubbrillen von Drahtgeflecht dagegen
bewaffnet haben) zurücklegen *). — —


[247]VIII. Bahnhofreſtaurants — Fürſprecher — Strapazen — Comfort.

Die eifrigſten Fürſprecher hat das Reiſen unter den
Engländern gefunden. Eines ihrer Sprüchwörter mahnt
zwar daran, daß „ein rollender Stein kein Moos anſetze“,
hiermit ſcheint aber entweder nur vor Raſtloſigkeit gewarnt
oder vielleicht auch auf den reinigenden und abſchleifenden
Einfluß der Bewegung hingewieſen zu ſein. Rogers ſagt:
„Keiner braucht ſich zu entſchuldigen, wenn er reiſt. Iſt er
reich, ſo geht er, um zu genießen, iſt er arm, um zu ſparen,
iſt er krank, um zu geneſen, iſt er wißbegierig, um zu lernen,
iſt er gelehrt, um ſich von ſeinen Studien auszuruhen. Was
er aber auch ſage und glaube, die Meiſten gehen in derſelben
Abſicht und wer darüber nachdenkt, wird ſie für keine eitle
halten. Im Reiſen vervollkommnen wir uns, nicht blos
unſer Geiſt gewinnt, auch unſer Herz. Vorurtheile laſſen
wir fallen, Meere und Gebirge ſind uns nicht länger Gren-
zen, wir lernen jenſeits derſelben lieben, achten, bewundern.
Der Genuß des Reiſens muß indeſſen wie jeder andere
erkauft werden, und weſſen gute Laune durch kleine Wider-
wärtigkeiten geſtört wird, thäte beſſer, zu Hauſe zu bleiben.“
— Wie? Sollte ein Solcher nicht um ſo mehr Urſache haben,
eine Schule aufzuſuchen, in welcher er Selbſtbeherrſchung
lernen kann, um den Reſt ſeines Lebens von dieſer wichtigen
Erwerbung zu zehren? Was meint Ihr Herren?


— Gewiß, verſetzte ich, haben Sie Recht und Mr. Rogers
hat wohl ſeinen letzten Satz nicht ernſthaft gemeint. Mir
wird indeſſen bange für unſer Buch. Dieſes beſchäftigt ſich
ja ſo emſig u. A. damit, für den Comfort der Reiſe zu
ſorgen, wir handeln alſo wie gewiſſenloſe Hauslehrer, die
ihren Zöglingen die Schulexercitien machen helfen: ſchreiben
anſtatt einer Reiſeſchule eine Schule der Weichlichkeit und
Trägheit.


— Sein Sie außer Sorge. Was wir unſren Schülern
*)
[248]VIII. Geiſtige Rund- und Fernſicht — der große Touriſtenſtrom.
abnehmen, iſt nur das, was ſie verhindern könnte, ſich friſchen
Körpers und Geiſtes ihren wahren Aufgaben zu widmen,
Uebungen und Prüfungen bleiben ihnen noch genug übrig,
ohne daß ſie mit wunden Füßen, Huſten, Gliederſchmerzen,
Zahnweh u. ſ. w. umherziehen, ohne daß ſie Fahrkarten,
Gepäckſtücke, Geld und Zeit verlieren, ohne daß ſie ſich über-
theuern und beſtehlen laſſen. Die Reiſe bietet immer noch
Hinlängliches, die Kräfte, den Willen, die Standhaftigkeit
und den Erfindungsgeiſt zu üben.


— In vielen Beziehungen, nahm ich wieder das Wort,
bangt mir aber immer noch ſehr für unſer Buch, das eine
Allerweltsangelegenheit wie die Reiſe behandelt, in welcher
jeder Leſer mehr oder minder auch Kritiker iſt. Sie wiſſen,
ein anderer Ihrer Landsleute hat uns ein „Volk von Denkern“
genannt. Wie können wir dieſem Volke eine Schrift an-
bieten, die ſich „Reiſeſchule“ nennt und keine Philoſophie
der Reiſe, keine große geiſtige Rund- und Fernſicht von
hohem Standpunkt aus enthält? Wenn ich Ihnen z. B. die
Bitte ſtellte, die Summe Ihrer an ſich und Anderen ge-
machten Reiſeerfahrungen in einen kurzen Satz zu faſſen?


— So würde ich, entgegnete er, in Verlegenheit ge-
rathen und Ausflüchte ſuchen, drängen Sie aber in mich (Ihr
Deutſche thut’s einmal nicht ohne Abſtractionen), ſo würde
ich einen ſolchen allgemeinen Satz etwa ſo formuliren: —
Je höher in geiſtiger und ſittlicher Beziehung der Zweck der
Reiſe ſteht, je wichtiger und ernſter er iſt, je mehr verlangt
er nicht nur Ausſchließlichkeit, je mehr (bis zu einer gewiſſen
Grenze) belohnt ſich auch dieſelbe; je mehr hingegen der
Hauptzweck Vergnügen, Zerſtreuung, Unterhaltung, Ver-
änderung iſt, um ſo leichter verfehlen wir ihn, je aus-
ſchließlicher wir uns ihm widmen.


Dieſe Ueberzeugung muß ſich jedem aufdrängen, der
die einzelnen Elemente des großen Touriſtenſtroms betrachtet:
er bemerkt, wie freud-, fried- und fruchtlos die Mehrzahl
dieſer „Vergnügungsreiſenden“ von Berg zu Berg, von
[249]VIII. Zwecke — Reiſemüde — Farbenſcheibe — Empfänglichkeit.
Muſeum zu Muſeum, von Wagen zu Wagen eilt oder
ſchleicht. Tag für Tag zeigt ſich ihnen, daß ſie nicht finden,
was ſie ſuchen. Warum kehren ſie nicht um? Viele mögen
es nicht, weil ſie „ſich einmal vorgenommen haben“, die und
die Tour zu machen, die und die Punkte zu ſehen, ſo und ſo
lange auszubleiben. Was würden die Freunde zu Hauſe
dazu ſagen! Nur immer charakterfeſt! — Viele tröſten ſich,
daß die Langeweile unterwegs wenigſtens andrer Art ſei, als
die zu Hauſe; Manche hoffen, daß zurückgekehrt ihr heimiſches
Leben ihnen in beſſerem Lichte erſcheinen werde; Andere
geben ſich überhaupt nicht Rechenſchaft über ihr Thun und
Laſſen, ſondern folgen gedankenlos dem Strome der Mode.
Blicken wir auf die Minderzahl, die augenſcheinlich mit Luſt
und Liebe reiſt, ſo ſind es vor Allem junge Menſchen, die
ihren erſten Ausflug machen, ſodann Leute, denen ihr Ge-
ſchäft oder ihre Mittel nur ſeltene, kurze Excurſionen ge-
ſtatten. Schon die Muße derſelben an und für ſich empfinden
ſie als ein Vergnügen, welches von den neuen Eindrücken
geſteigert wird, je nach dem Grade ihrer Empfänglichkeit.
An den Nämlichen, wenn man ihnen nach einiger Zeit
wieder begegnet, läßt ſich jedoch beobachten, wie verſchieden,
wie eng gezogen bei Vielen die Grenzen der Genußfähigkeit
ſind, wie raſch der Reiz der Neuheit ſich abſtumpft, wie
leicht der anhaltende Wechſel des Schauplatzes und der
Gegenſtände zur Eintönigkeit wird, ermüdet und verwirrt,
auch wenn, den Bücherrathſchlägen gemäß, Stadt und Land,
Kirchen und Felſenpartien, Sennhütten mit Kaffeehäuſern
gemiſcht werden, Trottoris mit Wieſenwegen abwechſeln: —
eine Scheibe, auf welcher alle Regenbogenfarben angebracht
ſind, läßt, raſch gedreht, keine von allen erblicken, ſondern
erſcheint weiß. Oft kommt hinzu, daß inmitten der er-
ſehnten Muße bald die Gewohnheit einer beſtimmten Thätig-
keit ihr Recht geltend macht und deren Mangel als eine Lücke
gefühlt wird.


— O Meiſter, wie ſtimmt aber die Nutzanwendung, die
[250]VIII. Monotonie des ſteten Wechſels — beſtimmte Richtung.
Sie aus der Farbenſcheibe ziehen, zu Ihrem touriſtiſchen
Lehrgang, demſelben, den ich auch in unſrer „Reiſeſchule“
einhalten ſoll? Sie ſpringen von einem Thema zum andern,
ſpringe ich Ihnen nun ſeiner Zeit mit der Feder nach, ſo
werden vielleicht unſre Leſer gar nichts ſehen, oder es wird
ihnen grün und blau vor den Augen.


Die Antwort übernahm Eduard: — o Mitſchüler, be-
merkſt Du nicht, daß unſer Lehrer die Farbenſcheibe ſo ſacht
und behutſam dreht, daß auch das langſame Leſerauge ge-
mächlich folgen kann?


— „Die Weisheit dieſes Knaben ſei tief Dir in das
Herz gegraben,“ ſang Ulyſſes auf Mozart’ſche Melodie.
Ich weiß wohl, fuhr er fort, daß mancher Leſer, der an
Dampfwagen- und Telegraphengeſchwindigkeit gewöhnt iſt,
meinen wird, daß unſer Lehrgang zu langſam ſchreite, ſich
auch zu viel mit Beiläufigem aufhalte. Laſſen wir uns das
nicht anfechten, wenn nur der Zweck erreicht wird.


Außer den vorerwähnten Touriſtengattungen gibt es nun
aber noch eine, welcher zwar kein aufjauchzendes Frohlocken
im Geſichte geſchrieben ſteht, die aber doch aus ihrem ganzen
Gebahren Befriedigung erkennen läßt, nie über Langeweile
klagt und von den Entbehrungen und Beſchwerden der Reiſe
und des Aufenthalts in der Fremde, ſeien ſie auch noch ſo
groß, kaum berührt wird. Nicht erinnere ich mich jedoch,
unter dieſen Befriedigten Einen gefunden zu haben, der
längere Zeit umhergezogen wäre und ſich begnügt hätte,
„Eindrücke zu empfangen“, ohne auf deren Vertiefung und
Verwerthung bedacht zu ſein und ohne ſeinem Tagewerke
eine beſtimmte Richtung gegeben zu haben.


Denn je weiter und je länger wir reiſen, je weniger
dürfen wir uns darauf verlaſſen, daß der bloße Reiſe-
mechanismus
, das Fahren, Wandern und paſſive Be-
ſchauen, uns Befriedigung gewährt und ein Gefühl der Leere
fernhält. Bei den erſten Regungen dieſes Gefühls täuſchen
wir uns leicht und ſchlagen den verkehrten Weg ein: fahren
[251]VIII. Paſſives Empfangen der Eindrücke — Specialität.
und laufen mehr und immer mehr, beſichtigen Neues und
wieder Neues, immer haſtiger und flüchtiger, vermehren die
Eindrücke, anſtatt ſie zu klären, zu befeſtigen, zu vertiefen und
ihnen ſo eine Frucht abzugewinnen, die auch für den Zurück-
gekehrten Werth hat. Darum iſt es nothwendig, neben dem
allgemeinen nach einem beſondern Inhalt für ſein Tagewerk
zu ſuchen, und es hängt von Temperament, Begabung, Er-
ziehung und Gewohnheiten des Einzelnen ab, welche Ziele
ihm erreichbar und dienlich ſind. Jede außerhalb jenes
Mechanismus und außerhalb gewöhnlicher Zerſtreuungen,
Geplauders, Spieles liegende Bethätigung, ja ſchon das
Suchen danach bringt Gewinn. Näher betrachtet, bildet
dieſer Gegenſtand ein Hauptſtück der Lebenskunſt: — es
handelt ſich um die große Frage, wie der Einzelne es an-
zufangen hat, um dem Theile ſeines Daſeins, welchen der
Beruf nicht ausfüllt, einen ſeiner Perſönlichkeit ent-
ſprechenden Gehalt zu geben, liegt alſo Allen nahe genug,
deren Metier nicht etwa eine der ſeltenen Ausnahmen iſt,
welche den Mann ganz ausfüllen und die auch andererſeits
nicht mit einem Pflanzen- oder Thierleben ſich begnügen
mögen. Denn jede Lebensreiſe, auch wenn ſie an einem und
demſelben Orte verläuft, ſofern ſie nicht vorzeitig ihren
Abſchluß findet, kann an einem Punkte ankommen, wo die
Berufsthätigkeit aufhört, der Tag eine neue Verwendung
fordert und die gewohnten „Zeitvertreibe“ der Nebenſtunden
den Dienſt verſagen, theils ſind auch vorher ſchon Zwiſchen-
zeiten, die daſſelbe Verlangen ſtellen. Viele mißverſtehen
und mißhandeln dieſes Verlangen bei ſeinen erſten Regungen
und fallen ſo allgemach in den Selbſtbetrug, daß ihnen ihr
Tagewerk ſchlechterdings keine Muße verſtatte. Dieſe be-
nutzen zu lernen, fehlt es ihnen an ernſtem Willen, mehrfach
haben ſie die Erfahrung gemacht, daß in ſolchen Stunden
das unheimliche Gefühl des leeren Raums ſie beſchleicht, was
nicht der Fall iſt, während ſie ihr Geſchäft treiben oder viel-
mehr dieſes ſie treibt, und ſo überreden ſie ſich bald, daß
[252]VIII. Keine Zeit haben — Märtyrer der Berufspflicht — Mußeſtunden.
jene athemloſe Alltagsarbeit, zu der ſie anfangs weder Er-
werbſucht noch Ehrgeiz ſpornte, eine zwingende Nothwendig-
keit ſei. Daß ihr Körper, ihr Geiſt, die Erziehung ihrer
ſelbſt und ihrer Kinder dabei verkommt, ſehen ſie hier und da
ein, nichtsdeſtoweniger fahren ſie fort, „keine Zeit“ zu haben
für irgend etwas außer ihrem Berufsgeſchäft, und verknöchern
ſo in ihrer Gewohnheit. Mit der Antwort „dafür habe ich
keine Zeit“ meinen ſie jede weitere Erwiderung nieder-
zuſchlagen. Sieht man näher zu, ſo haben ſie dennoch Zeit
für eine Menge Lieblings-Allotrien. Sollte nicht das
Goethe’ſche Wort


Viele Gewohnheiten darfſt du haben, aber keine Gewohnheit.

Dieſes Wort unter des Dichters Gaben halte nicht für Thorheit!

an Menſchen der Art gerichtet ſein und hieße in nüchterne
Proſa überſetzt: Du darfſt allenfalls ein Gewohnheitsmenſch
ſein, aber kein Gewohnheitsthier, ein Weſen, das in Einer
Gewohnheit völlig aufgeht? — Von ihrer Umgebung ver-
langen ſolche Geſchäftsphiliſter natürlich als Märtyrer der
Berufspflicht bewundert zu werden, namentlich ſollen ihre
Frau und ihre Freunde alle daraus entſpringenden Uebel
als unabwendbare Naturereigniſſe betrachten. Mancher von
ihnen würde vielleicht das Gleichgewicht ſeiner Seele wieder-
finden, wenn er ſich rechtzeitig hier und da eine Reiſe gönnte
und auf dieſer Uebungen machte in der Benutzung der
Mußeſtunden.


Schopenhauer (Parerga) ſagt: „In der Kindheit bringt
die Neuheit aller Gegenſtände und Begebenheiten Jegliches
zum Bewußtſein: daher iſt der Tag unabſehbar lang. Das-
ſelbe widerfährt uns auf Reiſen, wo deshalb ein Monat
länger erſcheint, als vier zu Hauſe. Dieſe Neuheit der Dinge
verhindert jedoch nicht, daß die in beiden Fällen länger
ſcheinende Zeit uns auch in beiden oft wirklich lang wird,
mehr als im Alter und mehr als zu Hauſe.“ — Ich glaube,
daß eine Zeit, in der unſere Empfänglichkeit noch friſch iſt
[253]VIII. Jugend und Alter — Einſeitigkeit.
und die Neuheit und Mannigfaltigkeit der Eindrücke noch
reizt, uns, während wir ſie durchleben, kurz, nur im
Rückblick lang erſcheint, weil in dieſem das geiſtige Auge
eine lange inhaltsvolle Reihe zu durchwandern hat, im
Durchleben aber immer von einem Gegenſtande zu ſehr be-
ſchäftigt iſt, um rückwärts zu blicken; daß dagegen umgekehrt
die Zeit in der Gegenwart ſich um ſo mehr dehnt, je weniger
wir uns dem Einzelnen hinzugeben vermögen, deshalb jedoch
in der Rückſchau, in der der Blick wenig Feſſelndes findet,
kurz erſcheinen muß. Im optiſchen Gebiete gilt daſſelbe: ein
Berg, der nur durch eine weite, einfarbige Fläche, z. B.
Waſſer, Wieſe, Sandwüſte, von uns getrennt iſt, ſtellt ſich
uns viel näher dar, als er wirklich liegt. Das Alter hat
gewiß häufiger als die Jugend Anlaß zur Langenweile,
empfindet ſie indeſſen minder, theils weil ſeine Gefühle über-
haupt nicht ſo lebhaft ſind, theils weil es durch lange Uebung
gelernt hat, Unvermeidliches zu tragen.


— Was verſtehen Sie, frug ich, unter einer beſtimmten
Richtung? Wollen Sie der Einſeitigkeit das Wort
reden?


— Im Grunde ja, denn alles einigermaßen Rechte und
Tüchtige in unſrer Welt der Unvollkommenheit iſt einſeitig.
So viele große Männer, jeder in ſeiner Weiſe, haben das
ausgeſprochen, daß wir es ſchon auf Treu und Glauben an-
nehmen dürfen. Die Nothwendigkeit der Beſchränkung kann
nur von der Beſchränktheit verkannt werden. Sogenannte
Vielſeitigkeit und Oberflächlichkeit ſind untrennbar verbunden,
und was in der Regel Einſeitigkeit geſcholten wird, iſt ent-
weder Keinſeitigkeit oder — eine löbliche Eigenſchaft.


— Ich meinte gerade, der rechte Touriſt müſſe ſein Auge
gewöhnen, auf Alles Acht zu haben, für ihn dürfe es nichts
Gleichgiltiges geben, ſo wenig wie für den Unterſuchungs-
richter, denn aus den ſcheinbar unbedeutendſten Dingen
können ihm werthvolle Aufſchlüſſe werden über Land und
Leute, ihre Sitte und Sinnesart, ihr Thun und Treiben.


[254]VIII. Ewiges Einerlei — geiſtige Alpenregion — Sammler.

— Der rechte Touriſt reist natürlich mit offnem Auge
und Ohr, doch nur ſofern er ſeiner Aufmerkſamkeit eine
beſtimmte Richtung gibt, werden die in den Bereich derſelben
fallenden Dinge ihn auf die Dauer anregen und belehren,
im andern Falle, wenn er, nach dem Beiſpiele des großen
Schwarms, ſie umherflattern läßt, wird er unfehlbar ſich
zerſplittern und abſtumpfen.


— Sollte nicht vielmehr durch das „ewige Einerlei“
das Intereſſe gleich von Haus aus verſcheucht werden,
während es durch reiche Abwechslung wenigſtens eine Zeit
lang rege geblieben wäre?


— Zögling, Sie ſcheinen nicht gut geſchlafen zu haben:
Ihr Urtheilsvermögen ſteckt wieder einmal in ſchweren, zu eng
benagelten Schuhen, genau ſo beſchaffenen, wie ſie es für
die Beſchreitung der geiſtigen Alpenregion nicht ſein dürfen.
Von Dieſem und Verwandtem haben wir ſchon geſprochen
und ich hoffte, Ihnen ein Verſtändniß eröffnet zu haben.
Betrachten Sie doch nur die Sammler. In Italien heißt
man den Sammler mezzo matto, halbverrückt, womit der
Volkswitz nur ſagen will: ich begreife nicht, wie dieſer Menſch
an ſeinem Kram einen ſolchen „Narren gefreſſen“ haben kann.
Auch die deutſche Sprache hat den Ausdruck „Sammelwuth“.
Jeder, der ſelbſt Sammler iſt, begreift ſehr wohl und lächelt
blos über die Seltſamkeit, die an einer andern Art von
Sammlung als der ſeinigen Freude finden kann. Noch mehr:
die öffentliche Meinung, die in dieſem Stücke möglicherweiſe
Recht hat, hält dafür, daß nicht jedem Sammler, möge er auch
in allem Uebrigen, Großen und Kleinen, der gewiſſenhafteſte
Mann ſein, durchaus zu trauen ſei, wenn es ſich um Anfertigung
ſeines Katalogs, Austauſch von Dubletten, Beurtheilung von
Nebenbuhlern ꝛc., kurz, um ſeine Specialität handelt. Ich
ſage mir nun: kann nach alledem das Sammeln ſo leicht
zur Liebhaberei, unter Umſtänden zur wilden Paſſion werden,
ſo muß es doch wohl ein geeignetes Mittel ſein, die Lange-
weile zu verſcheuchen, und es kommt nur auf dreierlei an,
[255]VIII. Sammler und Sammlungen.
erſtens: daß wir unabläſſig bemüht ſind, gewiſſe Grenzen
einzuhalten, um nicht in Verblendungen und noch Schlimmeres
zu fallen; zweitens: daß wir nicht Zweck und Ziel in Aeußer-
lichkeiten ſuchen, es nicht an bloßem Zuſammenſchleppen,
Anhäufen, Katalogiſiren, Numeriren, Etikettiren und
Blaguiren bewenden laſſen; drittens: daß wir eine unſren
Fähigkeiten, ſowie unſren geiſtigen und gemüthlichen Be-
dürfniſſen, endlich unſren Mitteln entſprechende Art zu finden
wiſſen. Gerade in dieſem unerſchöpflichen Gebiete iſt aber für
hochgewachſene Geiſter wie für Zwerge geſorgt, es iſt ein
Waſſer, in dem ein Elephant ſchwimmen und eine Maus
waten kann. Auch die Armen an Geiſt, an Vorkenntniſſen
und an Geld können ihnen Angemeſſenes und Erreichbares
ermitteln und „etwas vor ſich bringen“, wenn ſie nur
Willenskraft und Nachhaltigkeit beſitzen. Eben der Touriſt,
der ſo vielerlei durchmuſtert, hat die beſte Gelegenheit, ſeine
Neigungen und Anlagen zu ſondiren. Bedeutungsvolles,
Kunſtwerke, Seltenheiten, Koſtbarkeiten zuſammenzubringen,
iſt Wenigen vergönnt, jeder ernſtlich Suchende findet aber
ſicher irgend eine Specialität, beſtehe ſie nun aus Metall,
Glas, Porzellan, Holz, Papier, Büchern, Kupferſtichen,
Holzſchnitten, Karten; ſei ſie eine der Literatur, der Ge-
ſchichte, den Naturwiſſenſchaften, dem Thier-, Pflanzen-,
Steinreich, dem öffentlichen Leben u. ſ. w. angehörige. Die
Sammlung braucht nicht durchaus auf Dinge gerichtet zu
ſein, die zu kaufen, zu tauſchen oder außerhalb der Menſchen-
wohnungen zu erbeuten ſind, ſie kann ſich auch mit bloßer
Aufzeichnung und Gruppirung von Thatſachen, hiſtoriſchen,
ſtatiſtiſchen, volkswirthſchaftlichen, politiſchen Notizen der
verſchiedenſten Art befaſſen, nur darf ſie nicht in luftigem
Gedächtnißwerk, in Erinnerungen beſtehen; mit dem bloßen
Lernen iſt es nicht abgethan, es muß noch etwas Anderes
dabei ſein, ein ſinnliches Subſtrat, eine greifbare Unterlage,
es muß da etwas zu ſchreiben, zu vergleichen, nachzuſchlagen,
zu ſuchen, zu arbeiten, zu „ſchaffen“ geben. Der Beſitz von
[256]VIII. Sammler und Sammlungen — Excerpte.
Gegenſtänden iſt nicht die Hauptſache, ſondern der eigentliche
Reiz beruht im Aufſpüren, Erlegen, Erlangen. Es gibt
leidenſchaftliche Jäger, die kein Wildpret, und Angler, die
keine Fiſche eſſen. Ein großer Freund der Wahrheit, Leſſing,
bekannte, daß ihm das Suchen und Streben danach lieber ſei,
als die Wahrheit ſelbſt. Findet ſich nicht gleich etwas von
beſonderer Anziehungskraft, ſo werde mit dem erſten Beſten
angefangen, der Appetit kommt vielleicht im Eſſen. Zuletzt
läuft ja alles Lernen auf Sammeln hinaus. Wer eine Reiſe-
ſchilderung ſchreiben will, ſammelt Beobachtungen nebſt ſeinen
Gedanken und Empfindungen dabei, richtet ſeine Aufmerk-
ſamkeit auf alles, was dafür brauchbar ſcheint, und verhält
ſich gleichgiltig oder abwehrend gegen das Uebrige.


Ich kenne einen alten Herrn, der ſeit Langem ſich mit
engliſcher und deutſcher Literatur beſchäftigt, vorzüglich in
der Abſicht, darin nach Schilderungen von Landſchaften zu
ſuchen. Was er der Art findet, ſchreibt er aus, ordnet und
gruppirt die Bruchſtücke nach ſeinem Sinne, nimmt die ganze
Collection mit auf jede ſeiner Reiſen und verſichert, daß alle
Naturſcenen, welche die Wirklichkeit ihm vorführt, ihn an
dieſen oder jenen Theil ſeiner Sammlung, und umgekehrt
jeder Theil derſelben, den er zu Hauſe lieſt, an genoſſene
Naturſchönheiten in der anregendſten Weiſe erinnere. Ge-
wiſſermaßen, ſagt er, habe ich mir Poetenaugen geborgt,
die immer mit meinen Herzensempfindungen im Einklang
ſind, weil ich jene mir nach dieſen ausſuchen kann, während
ich mich über die Citate in den Büchern, welche mir ſo oft
„Gefühlsrecepte“ aufdrängen wollen, meiſtens ärgere.


In einer Winterpenſion waren verſchiedene literariſche
Excerpte unter den Damen Mode geworden und dieſe ver-
fuhren mit ihnen, wie Damen mit Moden verfahren, ſehr
ernſt und eifrig. Eine ſammelte „Lichtſtrahlen“ über Muſik,
eine andere über bildende Kunſt, eine dritte charakteriſtiſche
Ausſprüche über Dichter, eine vierte im Gebiete der Religion
und Pſychologie, alle behandelten jedoch ihre Schätze ohne
[257]VIII. Lichtſtrahlen — ein Sonderling — Wechſel der Stimmungen.
Eiferſucht, und ihr Auge glänzte, wenn Andere ſie auch ſchön
und liebenswürdig fanden.


Aus meiner Sammlung von Sammlern will ich doch
eines Sonderlings Erwähnung thun, der ſich in derſelben
Penſion angeſiedelt hatte. Er ſtand in mittlerem Lebens-
alter, ſah geſund aus und war auch, wie er ſelbſt ſagte, nur
in mäßigem Grade körperlich leidend, dennoch hatte er ſich
ſchon ſeit Jahren zurückgezogen. Ich habe meinen Beruf ver-
fehlt, geſtand er mir einſt. Mein Unſtern wollte, daß ich ein
Fach ergriff, für das ich nicht tauge. Das meinige beruht
auf einer halb mechaniſchen und halb geiſtigen Thätigkeit,
ſeine geſchäftliche Grundlage iſt eine eigenthümlich ſchwan-
kende, die Unternehmungen ſind langathmiger Natur und
verlangen viel Kaltblütigkeit, Beſtändigkeit, Geduld, Selbſt-
vertrauen, alles Eigenſchaften, an denen es mir gebricht, ge-
rade für die wichtigſten Entſcheidungen darin gibt es keine
feſten, zu erlernenden Normen, ſie ſind nicht auf einen reinen
Verſtandescalcül geſtellt, ſondern, wenn ich ſo ſagen darf, auf
den praktiſchen Inſtinct, auf allgemeine Anſchauungen und
„Stimmungen“. Stimmungen wechſeln nun zwar in ge-
wiſſem Grade bei jedem Menſchen, ich gehöre aber unter die,
bei welchen ſie durch alle Nüancen vom lieblichſten Roſenroth
bis in’s Aſchgrau und Schwarz auf und ab ſteigen. Welchen
Einfluß dieſer Wechſel auf mein geſchäftliches Gebahren haben
mußte, läßt ſich leicht ermeſſen. So oft eine roſenrothe An-
ſchauung mich beherrſchte, traf ich Anſtalt zu größeren Unter-
nehmungen, die immer wieder rückgängig gemacht oder lahm
geleitet wurden, ſobald die graue Brille ſich mir aufklemmte.
Unter ſolchen Umſtänden hätte ich mich auf einen andren
Zweig werfen ſollen, konnte aber, als es noch Zeit dazu war,
den Entſchluß nicht finden, lavirte, experimentirte, dilettändelte
hin und her, haderte mit mir ſelbſt und der Welt, verhage-
ſtolzte und hätte eigentlich verdient, alles zu verlieren, was
ich beſaß; ſtatt deſſen ergab ſich, daß ich ſoviel hinzuerworben
hatte, um an einen gedeckten Rückzug denken zu können. In
17
[258]VIII. Das beſte Geſchäft — die Reiſe eine Wohlth
bisheriger Weiſe in kleinſtem Stile fortfahren, mein Metier
nur als „Zeitvertreib“ behandeln, mochte ich nicht, ſchon des-
halb, weil es mir dieſen Dienſt nicht leiſtete, im Gegentheile
ſein Mechanismus kläglich auf mich drückte und meinen Ge-
danken verſtattete, die allertrübſeligſten Wege zu laufen, zu
melancholiſiren und hypochondriſiren. Vor dem Tode fürchtete
ich mich nicht, deſto mehr vor dem Leben, hielt Hamlet-
Monologe u. ſ. w. Meine Thätigkeit behufs beſſerer Unter-
haltung auf einen größeren Fuß, dabei mein Vermögen auf’s
Spiel zu ſetzen, wagte ich auch nicht. Dieſer peinliche
Schwebezuſtand währte Jahre. Viele haben Aehnliches durch-
lebt, Manche ſtürzen ſich darüber in’s Waſſer, Andere in
Wein und Bier, noch Andere werden gemüthskrank. Bei
Einigen bringt die Krankheit einen Wendepunkt, ſie ſehen in
ihrem verzweifelten Zuſtande das, was ihnen vorher, als ſie
noch „bei Troſte“ waren, verborgen blieb: den Rückweg,
ſchlagen ihn ein und geneſen von — einer verfehlten Lebens-
bahn. — Ich reiſte längere Zeit, fand unterwegs mich ſelbſt
wieder, Klarheit, Lebensmuth, heilſame Einſichten, Entſchlüſſe,
Ausführungen und Uebungen gingen Hand in Hand, und
ſeitdem betrachte ich die Reiſe als meine Wohlthäte-
rin
. Zwar kehren die auch ehedem ſeltenen roſigen Fär-
bungen des Seelenzuſtandes nicht mehr zurück, ebenſowenig
aber die ſonſt ſo häufigen dunklen Schattirungen, und ich glaube
damit das „beſte Geſchäft“ meines Lebens gemacht zu haben.
Eine Specialität zu finden, habe ich viele Jahre umhergeſucht.
Für eigentliches Studium mangeln mir theils gehörige Vor-
kenntniſſe, theils iſt mein Gedächtniß dafür zu alt und ſpröde,
für Naturwiſſenſchaftliches fehlt mir der innere Zug, eine
Zeit lang feſſelten mich mikroſkopiſche Unterſuchungen, meiner
Augen wegen mußte ich ſie wieder aufgeben, ſo fiel ich endlich
auf eine Sammlung im literariſchen Gebiete, die mir nach
und nach ſehr lieb wurde. Die Hauptſache dabei iſt Kärrner-
arbeit, vielleicht hilft aber die meinige einmal einem Könige
bauen.


[259]VIII. Ein anderer Kauz — allein und abgetrennt — Grübeleien.

— Was der Mann ſammelte, hat er mir nicht verrathen.


Einem anderen Sammler begegnete ich einſt in Schleſien.
Der Kauz hätte ſich ſeit Jahren auf Zeitungen und Local-
blätter geworfen, brachte aus jedem Kaffeehaus, das er be-
ſuchte, einige alte Nummern mit, mochten ſie auch noch ſo
abſcheulich ausſehen, muſterte ſie durch, ſchnitt heraus, was
ihm von öffentlichen und Privatanzeigen bemerkenswerth
ſchien, rubricirte es, klebte es auf große Bogen, ſchrieb ſeine
Bemerkungen hinzu, und unterhielt ſich dabei allem Anſcheine
nach vortrefflich. Nach ſeinen Ausſchnittarchiven zu urtheilen,
mußte er ganze Rieſengebirge von Blättern im Laufe der [Zeit]
eingeheimſt haben. Ob dieſe Thätigkeit noch eine andere
Frucht als flüchtige Unterhaltung trug, weiß ich nicht, mir
warf ſie einige Tagebuchzeilen ab, deren Werth oder Unwerth
zu beurtheilen ich anheimſtelle. Ich ſchrieb den Abend in
meine Merk- und Denkzettel: Allein und abgetrennt von
Menſchen und Dingen ſein Leben zu verbringen, iſt das
Schlimmſte. Lieber auf das Geringfügigſte fallen, als gar
nichts zu haben, woran wir unſer Herz hängen, und das zu-
gleich hinreichende Anziehungskraft beſitzt, unſre Gedanken
von Grübeleien und Grämeleien ablenken zu können. Das
beſſere Theil erwählt hat freilich Einer, der ſich keine leere
Spielerei ausſucht.


Unſer Intereſſe an einen unbedeutenden Gegenſtand
zu feſſeln, ſcheint es in der That nur des Einen zu bedürfen:
Mühe auf ihn zu verwenden und ihn unter unſren Händen
wachſen zu ſehen, wie ja auch Mütter die ihrer Kinder am
meiſten lieben, deren Pflege ihnen die größte Anſtrengung
koſtet, mögen dieſe Kinder innerlich und äußerlich noch ſo
mangelhaft ausgeſtattet ſein. In manch andrem Gebiete läßt
ſich gleichfalls bemerken, daß das Auge, welches ſich anhaltend
und aufmerkſam einem und demſelben Objecte zuwendet, nicht
ſelten einen verſchönernden Blick gewinnt, hingegen müde und
unluſtig wird, wenn es flüchtig und raſtlos umherſchweift.
Um die Abwechslung als einen Reiz zu empfinden, muß ihr
17*
[260]VIII. Steckenpferdezucht — Zerſtreuungsjäger — pariſer Ennui.
eine geſammelte, nachdrückliche Thätigkeit vorausgegangen
ſein, während die fortgeſetzte Jagd auf Zerſtreuung in die
ſchlimmſte aller Sammlungen ausläuft: eine Sammlung von
Spirituoſen im Leibe oder von Grillen und Schrullen, Ge-
ſpinnſten und Dünſten im Kopfe. So ſind denn auch auf
der Reiſe die ſogenannten „Steckenpferde“ (über deren Zucht
ſchon S. 157 und 230 geſprochen wurde), wie z. B. eben
Sammlungen, beſſere Vehikel, als alle Vierfüßler und Loco-
motiven. Im Sentenzenſtil ließe ſich ſagen: — wollt Ihr
Euch zerſtreuen, ſo ſammelt.


Gewiſſe Zeitalter und große Luxusplätze liefern bündige
Beweiſe für alles das. Keine Stadt exiſtirt, in welcher man
größere Scheu vor Langerweile hat und die eine reichere
Mannigfaltigkeit von Waffen gegen ſie ſchmiedet und feil-
bietet, als Paris, und — nirgend ſonſt hört und lieſt man
ſo viel jammern über Langeweile. An der Kriegsluſt (im
Vorbeigehen bemerkt, auch an der pariſer Duellwuth, die in der
Wirklichkeit faſt ebenſo heftig graſſirt, als in Comödien und
Romanen) gewiſſer Bevölkerungsſchichten hat auch eingeſtänd-
lich noch mehr, als die Ruhmſucht und der militäriſche Kitzel,
die Emotionsſucht Antheil. Paris langweilt ſich, was die
franzöſiſche Stiliſtik ohne Weiteres „la France s’ennuie“
ausdrückt. Darum muß die Welt mit Krieg überzogen wer-
den. Paris iſt der Kopf von Frankreich, Frankreich der Kopf
der Welt, dieſe muß ſich mithin fügen, wenn jener beſchließt.


Aehnlich iſt es mit Badeorten. In allen, den großen und
kleinen, kann man zwar ſeufzen hören: „dieſes X Y Z iſt
doch ein langweiliges Neſt“, am häufigſten und im Tone
vollſter Ueberzeugung und tiefſter Entrüſtung glaube ich die
Klage aber gerade in den großen Modebädern vernommen zu
haben, die in der That das Menſchenmögliche thun, um
ihren hochverehrten p. t. Gäſten alles das zu bieten, was in
der Welt für unterhaltend gilt: Spiel, Theater, Concerte,
Bälle, Schauſtellungen verſchiedenſter Art, Treibjagden, Wett-
rennen, Feuerwerke, Regatten, reizende Garten- und Park-
[261]VIII. Modebäder — Ein gutes Reiſegewiſſen u. ſ. Forderungen.
anlagen, Zeitungen in ſechs Sprachen, bändereiche Leih-
bibliotheken, glänzende Geſellſchaftsräume, lange Reihen von
bunten Verkaufsläden, große Baſars ꝛc. Die Schuld wird
immer dem Orte aufgebürdet, niemand denkt daran, ſie ſich
ſelbſt, ſeiner Beſchäftigungsloſigkeit und dem an ſolchen Plätzen
vorherrſchenden conventionellen Tone der Zurückhaltung we-
nigſtens theilweiſe zuzuſchreiben. Hier, ſollte man meinen,
müßte ſelbſt dem befangenſten Auge klar werden, worauf es
ankommt.


— Wenn Sie, warf ich ein, unter „beſtimmtem Inhalt“
nicht blos Sammlungen in engerem Sinne verſtehen, ſondern
überhaupt Alles, was Stoff zu geiſtiger Sammlung und einer
daran geknüpften nachhaltigen Thätigkeit gibt, ſo wird Ihr
Programm kaum auf Widerſpruch ſtoßen. Sagen Sie aber
doch, Meiſter, meinen Sie nicht, daß eine fleißige Biene in
jeder Blume Honig finden kann, mithin auch jede, die ihr auf
dem Wege liegt, auszubeuten hat? Ich habe geleſen, daß ein
gutes Reiſegewiſſen uns verpflichte, Alles und Jedes zu be-
merken. Wir ſollen in Stadt und Land vom Thun und
Treiben, Tracht, Sitte, Körper-, Geſichts- und Geiſtesbildung
der Leute Kenntniß nehmen, ſollen ihre Familien- und öffent-
lichen Feſte, Luſtbarkeiten, Kirchgänge, Kirmeſſen, Schießen,
Märkte muſtern, ſollen beobachten, ob ſie der Pflanzen-,
Fleiſch-, Fiſchkoſt, dem Wein, Bier, Branntwein ergeben
ſind, ob ſie zur Mäßigkeit neigen oder nicht, ob ſie viel oder
wenig und was ſie eſſen, wie die Preiſe der Lebensmittel
ſtehen, auf die Thätigkeit der Stadt- und Landleute Acht ha-
ben, ob ſie flink und geſchickt oder langſam und plump zu
Werke gehen, welche Arbeiten vorzüglich betrieben werden,
wie ſie ihre Häuſer bauen und einrichten, wie ſie Zäune,
Stakete, Gräben, Garben, Heuſchober machen, ob ſie viel
fahren und reiten, wie ſie ihr Vieh behandeln, ob ſie viel
rauchen, ſchnupfen, Tabak kauen; wir ſollen, etwa um einen
Trunk Waſſer zu begehren, oder nach dem Wege zu fragen,
in die Wohnungen der Land- und Waldleute treten, ihren
[262]VIII. Was wir beobachten ſollen. Wahl treffen. Bienen u. Fliegen.
Hausrath, ihre Kochkunſt betrachten, ob ſie reinhalten, ihre
Fenſter mit Blumen ſchmücken; in und an den Häuſern und
Kirchen und auf den Kirchhöfen die Inſchriften und Bild-
werke prüfen; ſollen Acker- und Hauswirthſchaftsgeräth in
Augenſchein nehmen, um zu erkennen, wie ſinnreich der
Naturmenſch mit den einfachſten Mitteln ſeine Zwecke er-
reicht, um dabei einen Blick in die vorgeſchichtliche Zeit des
Menſchengeſchlechts zu thun, einen Beitrag zur Geſchichte der
Arbeit, der Erfindungen und Entdeckungen zu erhalten, uns
dadurch mahnen laſſen, wie weit wir Großſtädter uns von
der Natur entfernt haben, wie hilflos und auskunftsarm der
Einzelne iſt, ſobald es gilt, Dinge zu bewerkſtelligen, die
außerhalb ſeiner gewohnten Thätigkeit liegen, Gegenſtände
ſelbſt zu beſchaffen oder zu erſetzen, die wir fertig zu kaufen
oder anfertigen zu laſſen pflegen; wir ſollen Kenntniß neh-
men vom Glauben und Aberglauben der Leute und deren
Bräuchen, ob die öffentlichen Gebäude Reichthum, Geſchmack,
Kunſt kundgeben, Vergleichungen anſtellen z. B. über einen
prachtvoll ausgeſtatteten bairiſchen Eiſenbahnhof und einen
nüchtern gehaltenen, blos dem Bedürfniß dienenden engliſchen
oder amerikaniſchen — dort hat und nimmt ſich Jeder Zeit,
zu betrachten, es geht Alles gemächlich, im ſchroffen Gegen-
ſatz zu England und Amerika, wo man weder Muße noch
Luſt hat, Warteſäle und Gänge zu beſichtigen, denn Niemand
kommt eher, als er muß, Jeder hat nur ſein Geſchäft vor
Augen; wir ſollen — —


— Dieſe Dinge, unterbrach er, nehmen ſich auf dem
Papiere recht ſtattlich aus, gewiß iſt auch manches darunter,
das dem Einen oder Andern einen Fingerzeig geben dürfte,
dennoch kann ich mir wohl vorſtellen, daß unter zwanzig Le-
ſern dieſer langen Liſte von Einzelheiten, die ihrer Beachtung
empfohlen werden, neunzehn ſein könnten, welche beim beſten
Willen nichts daraus zu machen wiſſen. Darin unterſcheidet
ſich eben die Biene von der Fliege, daß dieſe ſich auf Alles
ſetzt und Alles benaſcht, die Biene aber nur Honigblumen
[263]VIII. Spitze Bleiſtifte. Weitere Mittel gegen Reiſemüdigkeit.
aufſucht und nicht heimkehrt, ohne etwas mitzubringen. Ich
bleibe bei meiner Anſicht, daß wir ſchlechterdings eine Wahl
treffen müſſen und nicht darauf ausgehen, unſre Aufmerkſam-
keit allem Möglichen zuzuwenden; ferner, daß bei dieſer
„Vielſeitigkeit“ die Gefahr, die ganze Arbeit den Beinen und
Augen zu überlaſſen, allzunahe liegt. Um den Kopf mit in
die Bundesgenoſſenſchaft zu ziehen, iſt endlich gerathen, fleißig
den Bleiſtift und die Feder in die Hand zu nehmen (vergl.
S. 60), nicht blos als Stütze für’s Gedächtniß, auch als
Sporn für Auffaſſung und Beurtheilung.


— Wenn ich nun aber gar nicht mit mir ſelber im Rei-
nen bin, auf welche Dinge ich mein leibliches und geiſtiges
Auge zu richten habe, welche Specialität mir angemeſſen iſt,
thue ich dann nicht wenigſtens wohl, um zu prüfen, mit
mehrerlei gleichzeitig den Anfang zu machen? Soll ich fer-
ner mit dem läſtigen, zeitraubenden Aufzeichnen nicht lieber
warten, bis ich etwas Müdigkeit und Stumpfheit fühle, alſo
des Sporns bedarf?


— Im Gegentheil, den Bleiſtift müſſen Sie gleich und
oft von Neuem ſpitzen und ſtumpf ſchreiben, damit Sie nicht
ſelbſt ſtumpf werden. Sind Sie’s erſt einmal, ſo ſtachelt Sie
der Griffel nicht ſo leicht zur Lebhaftigkeit zurück. Mit zwei,
drei, vier Beſonderheiten beginnen Sie meinethalben, je eher
aber Eine die übrigen zurückdrängt, Sie packt und fortreißt,
um ſo beſſer für Sie und ſie.


— Sie werden indeſſen doch zugeben, Meiſter, daß auch
Jemand, der einen für ihn vollkommen paſſenden Gegenſtand
gefunden hat und ſich darin befriedigt fühlt, dennoch nicht
ganz und gar in ihm aufgehen kann und ſoll, theils weil Jeder
eines gewiſſen Maßes von Abwechslung bedarf, theils weil
er noch andere, allgemeine geiſtige Bedürfniſſe hat? —


— Allerdings meine ich das und habe dieſen Einwurf
längſt erwartet. Wie Alles im Leben ſeine Zeit hat und ha-
ben muß, wie die Tages- und Jahreszeiten wechſeln, in
Kleidertrachten, Eſſen und Trinken, Ruhe und Thätigkeit,
[264]VIII. Sehenswürdigkeiten — Menſchen- u. Selbſtkenntniß.
kurz in allem Thun und Treiben der Menſchen das Bedürf-
niß nach Veränderung ſich geltend macht, ſo kann auch der
Reiſende ihrer nicht entrathen und es offenbarte völlige Ver-
blendung, vor jeder Art von Abwechslung zu warnen. Meine
Bemerkungen bezogen ſich natürlich nur auf Grad und Aus-
wahl der Beſchäftigungen. Ebenſowenig habe ich leugnen
wollen, muß vielmehr beſonders betonen, daß die wichtig-
ſten Aufgaben
des Touriſten in jenem allgemeinen Ge-
biete liegen. Für dieſe wichtigſten Aufgaben halte ich nämlich
nicht Beſichtigung von Naturſchönheiten, Sehenswürdig-
keiten, Seltenheiten, Curioſitäten, ſondern: Menſchen,
andere ſowohl als ſich ſelbſt, beſſer beurtheilen und behandeln
zu lernen, zu lernen, neue Blicke in das eigene Innere und
in das ganze Menſchenweſen zu thun, in ſeinem Ich Mängel
und ebenſo Fähigkeiten zu entdecken, von denen wir bisher
nichts wußten, im Menſchen überhaupt die allgemeinen, aller-
wärts wiederkehrenden, weſenhaften Grundzüge von den Zu-
fälligkeiten des Individuums unterſcheiden: — nicht blos
Menſchen, auch den Menſchen näher kennen zu lernen.


Wer Jahr aus Jahr ein in gewohnten Kreiſen ſich be-
wegt, in denen Rang, Vermögen, Amt, Beruf, Gewohn-
heiten, Familienverbindungen, Vorangegangenes verſchieden-
ſter Art ihren Einfluß üben, hat ſelten Gelegenheit zu ſehen,
welchen Eindruck ſeine innerſte Perſönlichkeit, gelöſt von die-
ſem Beiwerk, auf Andere macht, und doch iſt ein Experiment
der Art um ſo belehrender, je höher, und um ſo wohlthuender,
je tiefer wir auf der geſellſchaftlichen Stufenleiter ſtehen, es
iſt ein Probirſtein für den Feingehalt des eigenen Weſens
und ein Schleifſtein für deſſen Ecken.


Die Reiſemüdigkeit, die wir im großen Touriſtenſtrom
ſo vielfach wahrnehmen, beweiſt, daß die Mehrzahl jener
Herren und Damen ihren Vortheil verkennt, indem ſie weder
auf das Allgemeine noch auf ein Beſonderes bedacht ſind.
Denn auch was Natur und Kunſt des Herrlichſten bieten, der
reichſte Wechſel großartiger und lieblicher Landſchaften, Alter-
[265]VIII. Geſelligkeitstrieb — Einſiedler.
thum, Gemälde, Sculpturen, Bauwerke, ernſtes Studium,
Zerſtreuungen und Genüſſe, nichts vermag auf die Dauer die
Sehnſucht nach menſchlicher Anſprache fern zu halten. Vor-
handen iſt dieſer tiefgewurzelte, mächtige Trieb bei Jedem;
theils verhindern aber unſre großſtädtiſchen Gewohnheiten
und Vorurtheile, ihm auswärts Befriedigung zu gönnen,
theils ſuchen wir uns oberflächlich mit ihm abzufinden (z. B.
durch aus der Heimat mitgenommene Begleiter, welche neue
Anknüpfungen nur erſchweren), anſtatt den Drang, wie der
Schiffer den Wind, zu benutzen, um uns dem Hauptziele
zutreiben zu laſſen.


— Mancher ſucht doch aber, gab ich zu bedenken, eben
die Einſamkeit der Wälder und Berge auf, weil er „gar keine
Menſchengeſichter mehr ſehen will“ — —


— Täuſcht ſich jedoch, wenn er ſeinen Geſelligkeitstrieb
erſtorben glaubt. Dieſer Schelm von Geſelligkeitstrieb ſtellt
ſich zuweilen, als ob er den freiwilligen Hungertod gewählt
habe. Um ihn zu heilen und für ſeinen Trotz zu ſtrafen,
laſſe man ihm nur eine Zeit lang ſeinen Willen, völlige Ein-
ſamkeit, das wird ihn ſchon zur Beſinnung bringen. —
Wäre ich indeß auch eingefleiſchter Einſiedler, ſo verböte mir
doch der touriſtiſche Corpsgeiſt, mich abzuſchließen. Ich muß
mir ſagen, ein gütiges Geſchick hat mich mit allem zur Reiſe
Nöthigen ausgeſtattet, ich bin nicht zu alt, noch zu gebrech-
lich, habe Zeit, Mittel und Luſt dazu, keinerlei Verpflichtungen
hindern mich, meinen Wohnort längere Zeit zu verlaſſen: —
ſoll ich alle dieſe ſchönen Geſchenke hinnehmen, ohne nach
einer Bethätigung meines Dankgefühls zu ſuchen? Bin ich
als Touriſt entbunden von der allgemeinen Pflicht, nicht blos
meinem lieben Ich, ſondern auch ein wenig Anderen zu leben?
Als Künſtler, als Archäolog, als Naturforſcher dürfte ich ein-
wenden, ich will mich nicht abziehen laſſen von meinen Be-
ſtrebungen; als Patient höheren Grades hätte ich die Aus-
rede, ich bin zu krank für die Geſelligkeit; womit ſoll ich mich
aber als Touriſt entſchuldigen? Und wenn nun gar jene
[266]VIII. Ausſchließlichkeit — Befürchtungen.
Pflicht zugleich der Hauptreiz und der bleibendſte Gewinn der
ganzen Reiſe wäre? — Selbſt Reiſende, welche hohe, ernſte
Zwecke verfolgen, die ihnen ſehr am Herzen liegen — mit
einem und dem andren Manne dieſes Schlags hatte ich im
Laufe meiner Wanderjahre das Glück, bekannt zu werden,
und entſinne mich mancher darauf hinausgehenden Aeußerung,
aber keiner entgegengeſetzten — dürfen, wenn anders ſie ſich
friſch erhalten wollen, die Ausſchließlichkeit nicht ſo weit trei-
ben, daß ſie weder Zeit noch Sinn übrig behalten für ge-
ſelligen Umgang. Deshalb machte ich zu jenem allgemeinen
Satze die einſchränkende Parentheſe: „bis zu einer gewiſſen
Grenze“.


Hier fiel Eduard ein: Camerad, ich beſchwöre Sie,
predigen Sie in Ihrem Buche nicht derlei gefährliche Fourie-
riſtiſche Schwärmereien, man iſt ſonſt trotz allen Parentheſen
nirgend mehr ſicher vor Zudringlichkeiten und freundſchaft-
lichen Anſprachen, das goldene Zeitalter der Taſchendiebe,
Schuldenmacher, Schwindler und Schwätzer bricht an und
die Sprechruhr aus in Waggons, Wäldern und Feldern,
die Gletſcher zerfließen vor lauter Wärmeentwickelung — —


— Es freut mich, Säugling, daß Du meinen Lehren
und Deines Milchbruders Beredtſamkeit ſo viele Geiſtes-
macht und Ueberzeugungskraft zutrauſt. Vorläufig beruhige
Dich indeß nur. Die Naturgeſetze der Anziehung und Ab-
ſtoßung, der Affinität ꝛc., nationaler und individueller Ab-
ſtammung und Artung werden ſich immer noch hinlänglich
geltend machen. Mein gelehriger Adoptivſohn wird auch ge-
wiß nicht mißverſtanden haben, was von alledem meine
ernſtliche Ueberzeugung und was nur ſcherzhafte Zuthat iſt.


— Verehrter Meiſter, ſagte ich ſchüchtern, tauſend Dank
für Ihre gute Meinung, ich bitte aber doch um die Erlaub-
niß, unſer heutiges Geſpräch gedruckt mittheilen zu dür-
fen, damit nicht die volle Laſt der Verantwortlichkeit auf
mich fällt.


— Thun Sie das getroſt, mein ſchüchterner Freund.
[267]VIII. Die Reiſe ein Maskenball — Zwiegeſpräche.
Die Leſer, an welche ſich unſer Buch vorzugsweiſe wendet,
werden nicht in Mißverſtändniſſe fallen, uns z. B. auch nicht
zutrauen, daß wir für die geſellige Annäherung Grundſätze
aufſtellen wollen, als deren Vertreter Weinreiſende und
Stubenfliegen gelten können. — Ich verglich die Reiſe einem
Maskenball. Am liebſten trete ich in leichtem Domino auf,
um volle Freiheit der Action zu haben. Eine Kunſt, die ich
eifrig übe, iſt die Demaskirung. Harlekinen gegenüber ver-
halte ich mich abwartend, laſſe mich aber eine Weile necken
und kehre ihnen erſt den Rücken, wenn ich merke, daß, was
ich für Maske hielt, ihr Fleiſch und Blut iſt und daß ſie ein
ernſthaftes Geſicht weder haben noch ſehen mögen. Bei
Charaktermasken und andren Dominos klopfe ich nicht ſelten
leiſe an, warte, bis es ihnen beliebt, die Larve abzuwerfen,
und thue dann entweder ein Gleiches oder wandre fürbaß, je
nachdem mir ihr wahres Antlitz gefällt. Der Touriſt braucht,
wie ſchon angedeutet, nicht ſo vorſichtig zu ſein, als der Cur-
gaſt, denn er hat nicht ſo lange als dieſer für Fehlgriffe zu
büßen. Einen Unterſchied mache ich zwiſchen großen touriſti-
ſchen Sammelplätzen und Luxusbädern einerſeits und ent-
legenen, wenig beſuchten Reiſegebieten und kleinen Curorten
andererſeits: die Erſteren ſehe ich wie öffentliche Maskeraden
an, wo man auf Alles und Jedes gefaßt ſein muß, vermeide
die Initiative, ſo lange nicht beſonders günſtiger Anlaß vor-
handen; die Letzteren dagegen betrachte ich wie Privatbälle
und behandle Jeden, der mir nahe kommt, nicht als wild-
fremde gleichgiltige Perſon, ſondern etwa ſo, wie ein Mit-
glied einer geſchloſſenen Geſellſchaft oder eines Vereins inner-
halb deſſelben Jemanden begegnen würde, der zwar fremd
ſcheint, aber doch möglicherweiſe von einem ſeiner Freunde
eingeführt iſt, wenigſtens muthmaßlich nicht unter die Leute
gehört, die wir grundſätzlich meiden. Selten gehe ich an
Gruppen oder Paare heran, deſto häufiger an Einzelne, über-
haupt ziehe ich das Zwiegeſpräch der Unterhaltung in
größeren Kreiſen vor, denn daß die letzteren der Geſelligkeit
[268]VIII. Große Geſellſchaften.
im höheren Wortſinn ungünſtig ſind, läßt ſich nicht verkennen.
Irgend ein Schriftſteller äußert einmal mit mehr Aufrichtig-
keit als Höflichkeit, es ſei ihm, wenn er einer Geſellſchaft bei-
gewohnt habe, immer ſo, wie einem Waſſer zu Muthe ſein
möge, durch das eine Heerde gelaufen iſt und das nun einige
Zeit braucht, um wieder klar zu werden. Von Oliver Gold-
ſmith
ſagte ein berühmter Zeitgenoſſe, der ihn in einem Club
hörte, er ſei erſtaunt, denſelben Mann, der wie ein Engel
ſchreibe, wie einen Eſel ſprechen zu hören. Der Vorſitz in
großen Geſellſchaften, deren Zweck bloße Unter-
haltung iſt, ſcheint nun einmal der Göttin der Trivia-
lität auf die Länge nicht ſtreitig zu machen, und das Er-
gebniß ſtellt ſich kaum beſſer, wenn auch geſcheute Menſchen
zugegen ſind. Ob nun dieſe ſelbſt oder nur ihr Geiſt ſich
aus dem Dialog zurückziehen, kommt auf Eins heraus,
jedenfalls hat mir immer geſchienen, daß das Beſte, was ich
gehört, von vorbereiteten Reden abgeſehen, im Austauſch
von Zweien oder Dreien zum Vorſchein gekommen ſei. Iſt
der Kreis aus Einem hervorragenden und einer Anzahl
mittel- und untermittelmäßiger Köpfe zuſammengeſetzt, ſo
rückt jener raſch herab auf’s allgemeine Niveau, weil es ihm
an Anregung fehlt; zählt er mehre bedeutende, ſo iſt der
Friede bald geſtört, jeder von ihnen hat kleine Parteigänger
um ſich herum, denen er Zugeſtändniſſe macht u. ſ. w. Im
Zwiegeſpräche gibt man ſich unbefangener, die Rede kann für
Eine beſtimmte Perſon zugeſpitzt ſein, die Eitelkeit miſcht ſich
nicht ſo leicht ein, wird auch nicht ſo leicht verletzt, und das
Ganze verläuft ergiebiger für beide Theile. Zwei Menſchen
können allenfalls für einander paſſen, die Wahrſcheinlichkeit
verringert ſich aber, je mehr deren ſind. Der Muſen waren
zwar Neun, ihre Biographen berichten jedoch nicht, daß ſie
ſich alle neun an einen Tiſch geſetzt und Converſation gemacht
hätten. Einen Wink könnten uns auch Abſtimmungen man-
cher Körperſchaften geben, denen es notoriſch nicht an ein-
ſichtigen Männern fehlt, die aber doch oft verhandeln, als ob
[269]VIII. Hintergedanken.
kein Einziger darunter wäre. Der Geiſt ſcheut große Geſell-
ſchaften ebenſo wie — Geiſter und Geſpenſter ſie ſcheuen.


— Worin beſteht nun aber das Anliegen, worauf Sie
ſo geheimnißvoll deuteten? fragte ich endlich.


— Oh, das habe ich längſt errathen, kam wieder der
Neffe in die Quere, und es iſt ein Glück für mich, daß ich
vor unſrem Abſchied meinem ſtrengen Oheim noch zeigen
kann, daß auch ich auf ſeine Ideen einzugehen verſtehe und
nicht verdiene, Ihnen immer hintangeſetzt zu werden. Miß-
trauiſche Leſer mögen zwar vermuthen, daß die Gemüther
und die Caſſenſchränke der Capitaliſten vorbereitet werden
ſollen für ein Actienunternehmen in großem Stile, wie z. B.
eine Kette von deutſch-engliſchen Muſterpenſionen an den
Küſten des Mittelländiſchen Meeres zur Aufnahme winter-
flüchtiger Nordländer oder etwas der Art. Ich glaube aber,
daß unſer Mentor im Sinne hat, mit Hilfe Eures ränke-
vollen Buches einen großen internationalen Touriſtenbund
anzubahnen, welcher ungefähr wie der Freimaurerorden ge-
ſtaltet ſein, geheime Erkennungszeichen, hierarchiſche Gliede-
rung, Probezeit ꝛc. haben ſoll — —


— So hoch fliegen meine Pläne nicht, entgegnete unſer
alter Freund, ich bin ſchon zufrieden, wenn Sie mir ver-
ſprechen, für alle Grundſätze der Reiſemoral und Reiſe-
äſthetik, die ich meinen Mittheilungen aus praktiſchem Gebiete
eingeſtreut habe, unter Ihren Landsleuten zu werben, wie ich
es ſchon lange unter den meinigen thue.


— Merken Sie wohl, wißbegieriger Commilitone, ſpottete
Eduard weiter, Sie ſollen nicht blos ſelbſt das Heulen mit
den Wölfen unterlaſſen, nein, Sie ſollen ihnen auch Sing-
unterricht geben. Wenn alle Wölfe der beiden Hauptreiſe-
völker ſolfeggiren gelernt haben, werden die andern Nationen
nachfolgen müſſen, und das europäiſche Concert beginnt.


— Zu dem Concerte hat jeder der guten Geſellſchaft
Angehörige freien Eintritt, Niemand aber wird herein-
genöthigt, ließ ſich Ulyſſes vernehmen.


[270]VIII. Betrübende Wahrnehmung — unſre Geſchäftsfreunde.

Um mein Herz ganz zu erleichtern, hob er nach einer
Pauſe wieder an, muß ich einen Gegenſtand, der ſchon
flüchtig berührt ward, hier noch einmal abhandeln. Eine
betrübende Wahrnehmung für jedes rechtſchaffene Touriſten-
gemüth, leider aber unverkennbare Thatſache iſt es, daß in
den Claſſen, die viel mit ungeſchäftlichem Reiſepublikum ver-
kehren, gewiſſe Eigenſchaften ſich entwickeln, die ihnen nicht
zur Zierde gereichen. In dieſe Claſſen gehören, von zahl-
reichen ehrenwerthen Ausnahmen abgeſehen
,
nächſt den Wirthen der Touriſtendiſtricte nebſt Perſonale,
die Lohndiener, Träger, Führer niederer Gattung, ferner
Kutſcher, Vermiether von Reit- und Zugthieren *), Sänften
und Kähnen, Kunſt- und Kunſtſtückſpeculanten, Induſtrie-
ritter und Knappen bis hinab zu den Echoweckern, Murmel-
thierjungen, Harmonicaſtrolchen und anderen verhohlenen
und unverhohlenen Bettlern und Wegelagerern, ſelbſt viele
Handwerker, Händler und ihr Anhang in den faſhionabeln
Fremdenquartieren. Sie betrachten den Fremden als ihr
zuſtändiges Jagdwild, behandeln dieſes Wild aber nicht nach
verſtändigem Weidmannsbrauch, ſondern pürſchen drauf los
wie Wilderer, nur auf die Beute des Augenblicks bedacht.
Neben all dem Schlimmen kommt freilich auch einiges Gute
heraus, jedes Stück bringt aber ſein zehnfaches Gegengewicht
mit. So wird z. B. die Genugthuung über die Gewandt-
heit, Flinkheit, befliſſene Dienſtfertigkeit und Höflichkeit der
Leute weſentlich getrübt durch die Wahrnehmung, daß ſie
dieſe Tugenden zum Handelsartikel machen und übermäßig
beziffern, auch würde man gern darauf verzichten, daß ſie
mehre Sprachen verſtehen, wenn ſtatt deren eine Sprache, die
der Beſcheidenheit und Biederkeit, ihnen nicht ganz fremd
geworden wäre. Viele Uebelſtände der Art, die ſich natürlich
[271]VIII. Ein Landpaſtor — Stadt- und Landleute.
auch auf Curplätze erſtrecken, bildeten einſt den Gegenſtand
einer Unterredung mit einem Landpaſtor. Ich hatte ihn
gefragt, warum er nicht von ſeinem vortrefflich gelegenen,
ſehr geräumigen, in allen Beziehungen wohl geeigneten Hauſe
eine Anzahl Zimmer an Sommercurgäſte vermiethe, die fort-
während ihn darum beſtürmten. Es war ein würdiger, in
der ganzen Gegend hochgeſchätzter alter Herr, ehemals Miſſio-
när in Südafrica, Vieler Wohlthäter und einſichtiger Be-
rather. — Kranken in ihrer Heilung behilflich zu ſein, ant-
wortete er, würde ja einem Geiſtlichen durchaus anſtehen,
auch wiſſe er wohl, daß viele ſeiner Amtsbrüder anderwärts
keinen Anſtand an der Sache nehmen; er könne ſich aber
nicht dazu entſchließen, weil ſein Gewiſſen ihm verbiete, mit-
zuhelfen, ſeine Landleute mit Stadtleuten in Berührung zu
bringen, denn gewinne auch ihr materieller und geiſtiger, ſo
verliere doch der Wohlſtand ihrer Seele zehnfach dabei. —


Als eine perſönliche Kränkung konnte ich dieſe Worte von
dem Manne offenbar nicht auffaſſen, dennoch machten ſie
einen peinlichen Eindruck auf mich. Er mochte das bemerkt
haben, denn er nahm jetzt meinen Arm und entwickelte,
während wir im Garten auf und ab gingen, ſeine Anſichten
über die Angelegenheit in einer, von gewöhnlichem Kanzelton
ſo weit entfernten, ſchlichten, eindringlichen Weiſe, daß ich
ausrufen mußte: es iſt wahr, man ſollte ſich faſt ſchämen,
zur Kaſte der Touriſten und Curgäſte zu gehören.


— Das habe ich nicht ſagen wollen, erwiederte er. Jeder
hat ſich nur deſſen zu ſchämen, was er ſelbſt verſchuldet, und
daran ſchon hinlänglich. Die erſte Veranlaſſung liegt aber
auch weniger in Perſonen als in Sachen. Plötzlicher, mühe-
loſer Geldgewinn hat auf Einzelne wie auf ganze Völker
den ſchlimmſten Einfluß, macht ſie habgierig, ſelbſtſüchtig,
ſchlaff, üppig, übermüthig, treulos. Dieſer Geldgewinn wird
nun ſchon dadurch herbeigeführt, daß Reiche mit Armen in
geſchäftliche Berührungen treten. Das Beiſpiel des Luxus
und des Müßiggangs kommt hinzu. Ueber Dinge, die nicht
[272]VIII. Plötzlicher Geldgewinn. Wohnungsmiethe. Preisſteigerungen.
zu ändern ſind, will ich mich nicht verbreiten, die Bemerkung
kann ich aber nicht unterdrücken, daß das Verfahren der
meiſten Curgäſte von ihrer Ankunft bis zur Abreiſe eine
förmliche Herausforderung zur Uebertheuerung, Erpreſſung
und Bettelei iſt. Wer nicht aus Büchern oder durch perſön-
liche Erkundigungen an Ort und Stelle über die zeitweiligen
localen Preisverhältniſſe ſich unterrichten kann, ſollte wenig-
ſtens die Privatwohnung nicht eher miethen, als bis er im
Ort umhergegangen, eine Anzahl Quartiere beſichtigt, ihre
Miethpreiſe notirt hat, und beim Weggehen in jedem offen
erklären: ich werde mir noch andere Wohnungen anſehen, ſagen
Sie mir gleich Ihren feſten Preis. Statt deſſen iſt gewöhn-
lich am Morgen nach der Ankunft das Erſte — der Kaffee,
das Zweite, daß man in das nächſte freundlich blickende
Haus, an dem ein Schild „Möblirte Zimmer“ hängt, ein-
tritt, Stuben und Betten beſichtigt und dann ſofort den
Vertrag ſchließt, ſei die Forderung auch die unerhörteſte.
Dieſe ſo raſch bewilligte wird nun vom Hausbeſitzer als eine
unüberlegte, unſinnige Schleuderei betrachtet und bitter bereut.
Für die Zukunft iſt er „gewitzigt“, vielleicht ſucht er auch
das Verſäumte innerhalb ſeines jetzigen Contracts durch
gewiſſe Mittelchen der Berechnung nachzuholen. Ferner
läuft er in ſeiner Freundſchaft und Gevatterſchaft umher,
klärt ſie auf über die neuen Coursverhältniſſe des Platzes
und findet für ſeine Lehren den fruchtbarſten Boden. Stehen-
der Artikel der Unterhaltungen in der Schenke und an den
Brunnen ſind nun Miethpreiſe. „Für meinen Salong und
Angtree (anderthalb niedrige Stübchen mit drittehalb Fenſter-
lein werden ſo benannt) habe ich … gekriegt, wenn du nicht
dumm biſt, forderſt du … u. ſ. w.“ Ein toller Wettſtreit
entflammt die Leute, und aus dem beſcheidenen Walddörfchen
iſt bald ein faſhionabler Ort geworden. So lange er Mode
bleibt, geht, geſchäftlich betrachtet, alles gut. Es entſtehen
Häuſer über Häuſer und Hypotheken über Hypotheken (damit
dieſe ſicher auf jenen ſtehen können, werden die Dächer platt
[273]VIII. Luxusgäſte — Trinkgelder, Geſchenke, Almoſen.
gebaut und mit Gittern umgeben), nur ein „ſchlechtes Jahr“
braucht aber zu kommen, ſo ſtürzen die Schwindelbauten zu-
ſammen, die Beſitzer ſind ausgewandert und die Gläubiger
liegen unter den Trümmern. Durch die verſchwenderiſchen
Luxusgäſte wird natürlich der Landaufenthalt Mäßigbemittel-
ten, ſo dringend ſie ſeiner auch bedürften, dermaßen ver-
theuert, daß ſie darauf verzichten müſſen. Hinzu kommt die
verkehrte Art, Geſchenke, Trinkgelder und Almoſen
auszutheilen. Unter den mündlichen und ſchriftlichen Bitt-
ſtellern wie unter der Armuth, die an den Wegen ſteht und
die Hand aufhält oder mit Blicken bettelt, ſind nur die Aus-
nahmen der Unterſtützung werth und benöthigt. Wer ſich
ſelbſt die Mittel, wahrhaft Hilfsbedürftigen wirkſam beizu-
ſtehen, nicht ſchmälern will, ſollte dieſe unter dem Beirath
kundiger und gewiſſenhafter Ortsangehöriger aufſuchen
und das Ausſtreuen von kleiner Münze in’s Blaue hinein
denen überlaſſen, die es zu eigener flüchtiger Unterhaltung
thun. In meinem Dorfe iſt’s, Gott ſei Dank, heute noch
nicht ſo weit, allein ich fürchte, es werden keine zehn Jahre
vergehen und wir haben auch hier franzöſiſche und engliſche
Schilder, ruſſiſche Preiſe und aſiatiſchen Luxus, d. h. die Art
von „Proſperität“, die ich für einen Fluch halte. Dabei
mithelfen will ich nicht, deshalb vermiethe ich nicht an
Stadtgäſte. —


Daß viel Wahres in dieſen Herzensergießungen meines
geiſtlichen Freundes liegt, wird Niemand in Abrede ſtellen
wollen, ich geſtehe ſogar, daß ich damals verblüfft und traurig
darüber war und nichts zu erwiedern wußte. Seitdem habe
ich über die ernſte Sache — die Frage nämlich, ob die nähere
Berührung der Gebildeten und Ungebildeten, der Reichen
und Armen die letzteren nothwendig verderben müſſe —
weiter nachgedacht, und da ſcheint mir denn doch, daß, von
jenem Standpunkt ausgehend, wir in grader Linie bei der
Lebensanſchauung ankommen, die im ganzen neuen Verkehrs-
leben ein verkehrtes Leben und das alleinige Heil in klöſter-
18
[274]VIII. Selbſtvertheidigung — durch Cultur zur Natur zurück.
licher Abgeſchloſſenheit ſieht, oder — wie Rouſſeau, der gewiß
weit entfernt war von Möncherei, in ſeiner berühmten Preis-
ſchrift ausführt — daß wir wohlthäten, alle Kunſt und
Wiſſenſchaft fortzuwerfen und zur Unwiſſenheit und Armuth
zurückzukehren. Wir müßten dann die geiſtige, politiſche und
wirthſchaftliche Entwickelung unſrer Zeit, den verbeſſerten
Schulunterricht, den Aufſchwung des Landbaus, der Gewerbe
und des Handels verdammen, die Gewerbefreiheit, das Ver-
eins- und Genoſſenſchaftsweſen, die allgemeine Wehrpflicht,
die wachſende Ausbeutung der Dampfkraft und Ausbildung
des Transportweſens, die Auswanderung, die Freizügigkeit ꝛc.
verwerfen, denn alles das ſind Erſcheinungen, Urſachen und
Wirkungen, die eine Umwälzung der bisherigen Zuſtände
hervorgerufen haben und täglich mehr hervorrufen müſſen.
Der Reiſeverkehr bildet zwar nur einen kleinen Theil des
großen Ganzen, aber auch über ihn wäre der Stab gebrochen,
gleichzeitig über dieſes arme Schriftlein, welches touriſtiſchen,
alſo unſittlichen Zwecken diente. Nicht die Vertheidigung der
Weltentwickelung liegt uns ob, nur das damit zuſammen-
hängende Nichtſchuldig unſres inculpirten Buches, ſo ſei es
denn geſtattet, auf Folgendes hinzuweiſen. Mögen wir ſo
oder anders über den Fortſchritt denken, ſich gegen ihn zu
ſtemmen vermag Keiner, weder Papſt, Kaiſer, König, Prieſter
noch Laie; ſie Alle ſehen das auch längſt ein, obgleich ſie es
nicht immer ausſprechen und kundgeben. Unaufhaltſam ver-
folgt die Cultur ihren Weg, und ihre Begleiter, die guten
und die ſchlimmen, bleiben nicht zurück. Leben wir der Hoff-
nung, daß das Menſchengeſchlecht und alles Gute in ihm
nicht untergehen wird, leben wir der Ueberzeugung, daß Ver-
nunft in der Weltgeſchichte, ein auf das Gute gerichteter
Wille und eine das Gute endlich durchſetzende Kraft in ihr
waltet, daß unſre Beſtimmung iſt, durch die Cultur zur
Natur zurückzukehren, nicht alle Cultur zu verbannen.
Sorgen wir alſo nicht um die Weltgeſchicke und tröſten wir
uns über jeden zeitweiligen Verfall durch das Vertrauen, daß
[275]VIII. Unſre Aufgaben — Politik — Heimgekehrte.
er zum Vorbereiter eines neuen Aufſchwungs werden muß.
Mögen in die ländliche wie ſchon früher in die untere
ſtädtiſche Bevölkerung zerſetzende Elemente getragen werden,
dieſe Fäulniß befruchtet neues Leben. Keime für neues
Wachsthum führen alle Ströme mit ſich, warum ſollte es
dem „Touriſtenſtrome“ daran fehlen? — Trachten wir Jeder,
nur zu den guten Keimen und nicht zu den zerſetzenden
Elementen beizuſteuern. Seine Aufgabe kann finden, wer
danach ſucht.


Der Reiſende tritt aus dem engeren Kreiſe ſeines Wohn-
ſitzes heraus in den Weltverkehr, hat vor dem Ausländer
ſeine Nation zu vertreten, ſein Benehmen gibt dem Fremden
Stoff für deſſen Urtheil, deſſen Zu- und Abneigungen. Ihr
Deutſche habt an dem Bande, das dereinſt Euer Vaterland
umſchließen ſoll, weben zu helfen, uns Engländern liegt ob,
darzuthun, daß wir nicht neunzöllige Eiſenpanzer um uns
haben, daß vielmehr jeder wahre Gentleman meines Volkes,
der mit einem ſolchen des Ihrigen auf dem Feſtland zu-
ſammentrifft, gern die Gelegenheit ergreift, mit ihm bekannt
zu werden.


— Geſchrieben ſteht doch aber, warf ich ein, wir ſollen
auswärts noch mehr als zu Hauſe vermeiden, über Dinge zu
ſprechen, die Leidenſchaften und Streit aufregen können,
namentlich Politik aus Politik bei Seite laſſen?


— Auch der Rath iſt an Unerfahrene, nicht an Männer
von einiger geiſtiger Reiſe gerichtet, die im Beſitze gewiſſer
Eigenſchaften ſind, welche gerade die Reiſe auszubilden ſich
trefflich eignet, wie z. B. Milde des Urtheils, Duldſamkeit,
Gewandtheit, Sicherheit und Leichtigkeit in den geſellſchaft-
lichen Umgangsformen.


— An Lehren der Weisheit und Tugend für die Zeit
vor und auf der Reiſe dürfte zur Genüge vorhanden ſein,
hob jetzt der Neffe an. Du willſt doch nicht unſren Freund
verlaſſen, ohne ihm zu ſagen, was dem Heimgekehrten
zu Nutz und Frommen dienen kann?


18*
[276]VIII. Leichtſinniges Briefſchuldenmachen — Imponirenwollen.

— Du haſt Recht, lieber Eduard, werfen wir noch raſch
einen Blick in den Bereich. Vorher jedoch noch ein Haupt-
ſtück aus unſrem ſchwarzen Regiſter, in dem wir faſt allzumal
Sünder ſind: daß wir unſre Lieben daheim oft ungebührlich
lange auf Briefe warten laſſen. Säumige ſollten we-
nigſtens vorläufig das erſte beſte Zeitungsblatt unter Kreuz-
band nach Hauſe ſchicken, damit die Angehörigen aus der
Handſchrift der Adreſſe ſehen, daß und wo das ferne
Familienglied lebt und ihrer gedenkt. Mein erprobtes
Mittelchen, um mir ſelbſt leichtſinniges Briefſchul-
denmachen
zu erſchweren, will ich doch hier nicht ver-
ſchweigen: ich lege an eine Stelle, auf die täglich mein Blick
fallen muß, ein Franco-Couvert mit der betreffenden Adreſſe
und erinnere mich nur eines Falles, daß ich länger als drei
Wochen einem ſolchen unermüdlichen, beſcheidenen, ſtummen,
aber darum deſto vorwurfsvolleren, ärgerlicheren Mahner
widerſtanden hätte.


Jüngere Leute, die aus weiter Ferne nach längerer Ab-
weſenheit zurückkehren, mißfallen am häufigſten ihren
Freunden in der Heimat durch Imponirenwollen. An-
ſtatt Fragen abzuwarten und dann beſcheiden, ſinnig und
bündig zu antworten, drängen ſie ſich hervor mit romantiſch
ausſtaffirten Abenteuern, Jagd- und Räubergeſchichten, in
denen ſie Heldenrollen ſpielen, mit unzeitigen Kritiken und
liebloſen Vergleichen, in ihrer Tracht, vielleicht auch in
Brauch und Sitte (ſchon Addiſon rügt das) haben ſie gutes
Heimiſches vertauſcht gegen fremde Seltſamkeiten und Un-
würdigkeiten; Andere brüſten ſich mit künſtlicher Begeiſte-
rung, die in banalen Ausrufungen und Augenverdrehungen
ſich gütlich thut, noch Andere geben auf die höflich theil-
nehmende Frage „wo ſie denn nun alles waren“ die unartigſte,
undankbarſte, langathmigſte Antwort: jede Malzeit nach
Zeit und Stunde wird erwähnt, jeder Orts- und Wirths-
hausname muß herbei. Der Hörer ſitzt auf Kohlen, ſieht
bange nach der Uhr, will abſpringen, aufbrechen, der Erzähler
[277]VIII. Abenteuer — Reiſeberichte — Zweifel.
faßt aber ſeinen Arm, wirft verſtörte Blicke umher — „wie
hieß nur in aller Welt das verdammte Neſt?“ — und zwingt
ſein unglückliches Opfer, abzuwarten, bis er ſich aller Namen
entſonnen hat. Er vergißt, daß dieſe, obwohl ſich für ihn
allerhand ſchöne Erinnerungen an ſie knüpfen, dem Hörer
nur leerer Hall und Schall ſind. Treffen nun gar zwei
ſolche Schwärmer, welche dieſelbe Tour gemacht haben, zu-
ſammen, und überbieten ſich in Erinnerungen — da „wendet
ſich der Gaſt mit Grauſen!“


In den Zügen jedes Leſers ſehe ich hier ein ſympathiſches
Lächeln ſpielen, denn jeder erinnert ſich ſolcher unlieber
Viertelſtunden, die ſich zu ganzen Abenden ausdehnten. —
Keineswegs leicht iſt es übrigens, heimiſchen Kreiſen in einer
befriedigenden Weiſe ſeine Reiſeerlebniſſe vorzutragen, und
ich kann nur rathen, recht ſparſam und vorſichtig in Mit-
theilungen zu ſein (weit ſparſamer und vorſichtiger, als z. B.
ich es geweſen bin), damit dem Erzähler von den Hörern
verziehen wird, daß er etwas voraus hat vor ihnen. Auch
Herrn Urian’s Erfahrung im Claudius’ſchen Liede iſt zu
beherzigen.


— Vater, mahnte ich, in einigen Minuten wird das
Zeichen zur Abfahrt ertönen. Darf ich noch nicht wiſſen —?


— Telemach, ſpielen Sie nicht Komödie mit Ihrem alten
Lehrer, ich entziehe Ihnen ſonſt die Erlaubniß, ſich meinen
Schüler nennen und unſer Buch ſchreiben zu dürfen. Oder
ſollten Sie wirklich noch im Dunklen darüber ſein, wie ich
die allgemeinen und beſonderen Haupt- und Nebenzwecke der
Reiſe claſſiſicire und welches meine ſpeciellen Anliegen ſind?


— Setzen wir den Fall, ich wäre im Klaren darüber,
wird es auch der Leſer ſein, der nicht das Glück Ihres per-
ſönlichen Unterrichts genoſſen, ſondern ſich mit meiner ſchüler-
haften Wiedergabe begnügen muß?


— Laſſen wir’s darauf ankommen. Nur Eins will ich
noch ſagen: Jener § 1 des Geſetzbuchs, von dem anfangs
die Rede war, wurde dort erſt zur Hälfte mitgetheilt. Der
[278]VIII. Abſchiedswort und Reiſeſegen.
Schluß lautet: „Mit bloßer Erwärmung des Körpers iſt’s
aber nicht abgethan, auch die Seele darf keiner Erkältung
ausgeſetzt werden, und das iſt allein möglich durch Annähe-
rung an Menſchen, gleichviel ob ſie Einheimiſche oder Fremde
ſind. Alle rothgebundenen Anweiſungen ſind im Verhältniß
hierzu unweſentlich. Wer das verſäumt, verfehlt die Haupt-
zwecke der Reiſe und iſt des Ehrentitels ‚Touriſt‘ unwerth.“
Dieſes Wort betrachten Sie als meinen Reiſeſegen. Und
nun leben Sie wohl.


Allen unſren touriſtiſchen Collegen: Glück auf den Weg,
gute Geſundheit, gutes Wetter, gute Geſellſchaft!

[[279]]

Appendix A Alphabetiſches Sachregiſter.


(Macht keinen Anſpruch auf Vollſtändigkeit.)



  • Abenteuer 276.
  • Abiturientenexamen 19.
  • Abreiſe 52. 55. 231.
  • Abwechslung 127. 249.
    254. 259. 263.
  • Actienunternehmen
    269.
  • Adreſſen 56. 166. 230.
  • Allein reiſen 79. 231.
  • Alltagsmenſchen 214.
  • Almoſen 270. 273.
  • Alpenmilch 92.
  • Alpenſtöcke 44. 71. 74.
    78.
  • Alpenvereine 64. 77.
  • Amerikaner 214.
  • Aneroidbarometer 23.
  • Anknüpfungen, geſell.,
    1. 203. 214. 230.
  • Anzug 27. 33.
  • Apodemik 2.
  • Arbeit 153. 259.
  • Aerzte 95. 123. 150.
  • Aſſecuranz 51.
  • Aufzeichnungen 58.
    263.
  • Ausgleiten 72.
  • Auskünfte 56. 166.
  • Ausrüſtung 8. 28. 63.
  • Ausſchließlichkeit 266.
  • Badeärzte ſ. Aerzte.
  • Bäder ſ. Curorte.
  • Bahnhöfe 18. 246. 262.
  • Balneologie 136.
  • Bänke 107.
  • Baratterie 207.
  • Barbiere 29.
  • Barometer 23.
  • Bauten, ländl., 124.
  • Begleiter 232.
  • Bekanntſchaften 217.
    224.
  • Beluſtigungen 157.
    248.
  • Bergab 72. 75.
  • Bergauf 43. 70. 74.
  • Bergſchuhe 65.
  • Bergweh 91.
  • Berliner 125. 214.
  • Beſchäftigung 153.
  • Beſcheidenheit, er-
    laubte, 45.
  • Beſchwerden 91. 107.
    200.
  • Bettelei 270.
  • Betten 124. 186.
  • Bewegung 130. 151.
  • Bewirthung 169.
  • Bienen u. Fliegen 262.
  • Bier 172. 230.
  • Bohrer 25.
  • Briefe 52. 200.
  • Brieſſchuldenmachen,
    leichtſinniges, 276.
  • Brieftaſche 49. 52.
  • Brille, graue 11. 86.
  • Briten 1. 190. 202.
  • Brod 171.
  • Buchhandlungen 230.
  • Cameraderie 167.
  • Caſino 230.
  • Cigarren 60. 192.
  • Claſſification 128. 181.
  • Comfort 124. 170. 213.
    247.
  • Consilium abeundi
    153.
  • Conſuln 228.
  • Contraſtwirkung 149.
  • Coursbücher 35.
  • Culturfortſchritte 271.
  • Curen, Curorte 93. 101.
    260. 267. 270.
  • Curvorſtände 105. 111.
    113.
  • Curzeitvergeudung
    134.
  • Damen 225. 233.
  • Delicateſſen 174.
  • Dialekte 219. 229.
  • Diät 87. 99. 101. 139.
  • Diebe 48.
  • Diener 44.
  • Durchſchnittstempera-
    tur 139.
  • Durſt 89.
  • Eindrücke 249.
  • Einheimiſche 227.
  • Einrichtungen, häusl.,
    110. 124. 151. 185.
  • Einſamkeit 230. 259.
    265.
  • Einſeitigkeit 253.
  • Eintönigkeit 249.
  • Eisbeile 78.
  • Eiſenbahnen 17. 45.
    192. 244.
  • Eiſenbahnhöfe 18. 246.
    262.
  • Eisſporen 66. 76. 173.
  • Eitelkeitstouriſten 242.
  • Eleganz 169.
  • Empfänglichkeit 131.
    249. 252.
  • Empfehlungsbriefe
    229.
  • Engageurs 166.
  • Engländer 1. 190. 202.
  • Entfernungen 79. 253.
  • Entzifferungskunſt 220.
  • Erholungsreiſen 93.
    128. 182.
  • Erkältungen 25. 30.
    36. 90. 162.
  • Erkundigungen 56.
    166.
  • Ernährung 135. 143.
  • Erſparniſſe 35. 166.
    187. 193. 199. 239.
    272.
  • Erſteigungen 14. 23.
    64. 70. 80. 87.
  • Erzählungen 276.
  • Eſſen 87. 171. 186.
  • Excerpte 256.
  • Fahrkarte 45.
  • Fahrſucht 127.
  • Farbenſcheibe 249.
  • Feinſchmecker 176.
  • Felsplatten 75.
  • Fenſter 124.
  • Fernröhre 23.
  • Fernſehen 242.
  • Fernſichten 88. 248.
  • Filzüberſchuhe 20.
  • Flanellhemden 28. 40.
  • Fleiſchextract 69. 135.
  • Fleiſchkoſt 87.
  • Fleiſchzwieback 69.
  • Fragen 56. 221. 226.
  • Franzoſen 212. 242.
  • Frauen 225. 233.
  • Freunde 225. 231.
  • Froſtballen 85.
  • Frühaufftehen 87.
  • Frühkommen 113.
  • Frühling 113.
  • Frühſtück 87.
  • Führer 58. 64. 78. 81.
    167. 197. 270.
  • Fußeiſen 73. 76.
  • Fußwanderung 14. 38.
    63. 86. 225. 233.
  • Futterzeug 42.
  • G bel 22.
  • Galerien 132. 227.
  • Gärtnerei 159.
  • Gaſtroſophie 176.
  • Gaſtwirthe 47. 135.
    141. 152. 165. 270.
  • Gebirgspanoramen 11.
  • Gedächtnißkrücken 52.
    54. 58.
  • Geduld 140. 232.
  • Gefährten 232. 265.
  • Gefühlsrecepte 256.
  • Geld 35. 48. 271.
  • Geldtaſchen 49.
  • Gemäldegalerien 132.
    227.
  • Gemüthlichkeit 224.
  • Genußfähigkeit 131.
    249.
  • Geographie der Langen-
    weile 154.
  • Gepäck 15. 19. 34. 45.
    51. 69. 199.
  • Geräuſch ſ. Lärm.
  • Geröll 71.
  • Gerüche 111.
  • Geſandte 228.
  • Geſchäft 251.
  • Geſchente 104. 191.
    270. 273.
  • Geſchichtliches 240.
  • Geſchwätzigkeit 219.
  • Geſelligkeit 1. 117.
    120. 203. 265.
  • Geſellſchaft 200. 231.
    268.
  • Geſprächsſtoffe 225.
    267.
  • Geſundheitstouriſten
    129.
  • Getränkkühler 90.
  • Gewicht, todtes 69.
  • Gewohnheit 158. 252.
  • Gewürze 163.
  • Glycerin 85.
  • Gold 49.
  • Goldmägen 51.
  • Gourmands 176.
  • Grasabhänge 72.
  • Griesgrame 223.
  • Grübeleien 140. 259.
  • Gummiſchuhe 36.
  • Händler 56. 167. 270.
  • Handwerker 54. 56.
    167. 270.
  • Hantierungen 159.
  • Hausknechte 48.
  • Hausmannskoſt 173.
  • Hauswirthe 120. 124.
    272.
  • Haut, aufgeſpr., 85.
  • Heilbäder ſ. Curorte.
  • Heimgekehrte 263. 275.
  • Hemden 27. 41.
  • Herrſchaften 169.
  • Hiſtoriſches 240.
  • Hochgebirg 63. 72. 91.
    131.
  • Hochſommer 116.
  • Hochzeitsreiſen 233.
  • Höhepunkte 88. 248.
  • Hôtels ſ. Gaſtwirthe.
  • Hühneraugen 84.
  • Hüte 22. 39. 44.
  • Hypochonder 95. 140.
    223.
  • Jahreszeit 133.
  • Imponirenwollen 276.
  • Inſectenpulver 23.
  • Joppe 34.
  • Journale 152. 226.
  • Italien179. 163. 190.
  • Juchten 65. 199.
  • Kaffeehäuſer 118. 227.
  • Kammerdiener 44. 238.
  • Kellner 172. 189. 270.
  • Kerzen 183.
  • Kleidung 17. 27. 33.
  • Kleingeld 189.
  • Klimatologie 136.
  • Knie, nackte 36.
  • Knieholz 74. 157.
  • Knöpfe 21. 34.
  • Koffer 14. 17. 200.
  • Kopfbedeckung 22. 39.
    44.
  • Koſten 35.
  • Küchenvirtuos 176.
  • Kündigungsrecht 143.
    148.
  • Kunſt der Reiſe 2.
  • Kunſtgalerien 132.
    227.
  • Kur ſ. Cur.
  • Kutſcher 191. 199. 270.
  • Landpaſtor 271.
  • Langeweile 98. 127.
    153. 242. 260.
  • Lärm 110. 120. 185.
    246.
  • Latſchen 74. 157.
  • Läuferwahnſinn 94.
  • Lawinen 78.
  • Leder, engl. 42.
  • Leinen 77.
  • Letter clips164.
  • Lichte 183.
  • Lichtungen 106.
  • Literatur 136. 212.
  • Livrée f. Gepäck 18.
  • Luft, Luftcur 102. 134.
    154.
  • Luſtreiſen 93. 129. 182.
    242. 248.
  • Luxus 170.
  • Luxusbäder ſ. Curorte.
  • Markirung 15. 18.
  • Maskenball 216. 267.
  • Mauern 126. 152.
  • Mechanismus 159.
    250.
  • Meer 116. 151.
  • Menſchenkenntniß 216.
    264.
  • Merkzettel 58. 259.
  • Metallklammer 164.
  • Milch 91.
  • Mimoſen 217.
  • Mineralquellen ſ. Cur-
    orte.
  • Mittelklaſſen 228.
  • Monographien 136.
  • Monotonie 249.
  • Mundvorrath 69. 89.
  • Muſeen 132. 227. 230.
  • Muſik 113. 186.
  • Muße 251.
  • Müßiggang 154.
  • Nachtheile der Reiſe,
    ſ. Wirkungen.
  • Nachtquartier 197.
    200.
  • Nachzügler 70.
  • Nägel, eingewachſ. 85.
  • Nahrungsſorgen 135.
    175.
  • Nähzeug 21.
  • Narrenwagniſſe 79.
  • Näſſe, gegen, 36. 69.
  • Néceſſaires 24.
  • Nerven, Nervöſe 95.
    111. 118. 121. 160.
    239.
  • Neubauten 123.
  • Neuvermählte 234.
  • Norddeutſche 208.
  • Nordlicht 146.
  • Nothbehelfe 32.
  • Notizbücher 58. 263.
  • Nutzen der Reiſe,
    ſ. Wirkungen.
  • Ohrenſchinder 112.
  • Operngucker 23.
  • Orden 125.
  • Packen 14.
  • Paläontologiſches 180.
  • Pantoffeln 21.
  • Papiergeld 49.
  • Papierklammer 164.
  • Paris171. 176. 260.
  • Paſchen 130.
  • Peitſchenknall 111.
  • Penſionen 141. 194.
    269.
  • Poeſie d. Reiſe 243.
  • Politik 208. 275.
  • Phantaſie 58. 126.
    160.
  • Phantaſietouriſten 242.
  • Phyſiognomik 57. 220.
  • Piraten 187.
  • Plaid 37.
  • Plaidnadeln 38. 55.
  • Portemonnaie 47.
  • Poſſada 179.
  • Poſtanweiſungen 36.
  • Praktiſche Dinge 238.
  • Prämienſyſtem 167.
  • Probirſteine 264.
  • Promenadenwege 105.
  • Prodiſionsreiterei 167.
  • Quarteronen 221.
  • Räthe, Geheime, 125.
  • Rauchen 119.
  • Rechnungen 188. 198.
  • Regen 36. 115.
  • Regiſter, unſer ſchwar-
    zes, 182. 270.
  • Reinlichkeit 40. 154.
  • Reiſeapparat 19.
  • Reiſeäſthetik 269.
  • Reiſebeſchreibung 212.
    240. 256.
  • Reiſecaſſe 47.
  • Reiſecur 126.
  • Reiſediät 87. 99. 101.
    139.
  • Reiſefeinde 241.
  • Reiſefieber 244.
  • Reiſegabel 22.
  • Reiſegefährten 232.
    265.
  • Reiſegeld 35.
  • Reiſehandbücher 8. 35.
    131. 166. 247.
  • Reiſejagden 127.
  • Reiſekleider 17. 27. 33.
  • Reiſekoſten 12. 35. 193.
  • Reiſekunſt 2.
  • Reiſeluſt 40. 131. 242.
    264.
  • Reiſemechanismus
    250.
  • Reiſemeiſter 4. 211.
  • Reiſemoral 269.
  • Reiſemüdigkeit 131.
    242. 263.
  • Reiſenotizen 58.
  • Reiſeökonomie ſ. Er-
    ſparniſſe.
  • Reiſepläne 12. 14.
    130. 195. 242.
  • Reiſepoeſie 243.
  • Reiſequeckſilber 127.
  • Reiſetagebuch 58. 61.
  • Reiſetalent 211.
  • Reiſetaſche 17. 69. 140.
  • Reiſetintefaß 17. 206.
  • Reiſevorbereitungen 7.
    99.
  • Reiſewerke 212. 240.
    256.
  • Reiſeziel 115. 242.
  • Reiſezwecke ſ. Zwecke.
  • Reizmittel 157.
  • Rentierleben 156.
  • Reſerveſyſtem 34.
  • Reſſourcen 230.
  • Reſtaurants ſ. Gaſt-
    wirthe.
  • Rettungsmittel 74.
  • Revolver 24.
  • Riviera di Ponente
    149. 269.
  • Robinſonverhältniſſe
    32.
  • Romantiker 126.
  • Rückblicke 71.
  • Ruckſack 69.
  • Rückwege 78. 131.
    197.
  • Ruhe 152.
  • Ruhebänke 104. 107
    152.
  • Ruheſtörungen 110.
    120. 185. 246.
  • Rundſichten 88. 248.
  • Salz 89. 171.
  • Sammler, Sammlun-
    gen 6. 159. 230.
    254. 257.
  • Sättigungspunkt 131.
    244. 263.
  • Schaffner 192.
  • Schatten 106. 151.
  • Schatullen 49.
  • Schiffszwiebacknaturen
    224.
  • Schleier 85.
  • Schleiſſteine 264.
  • Schloß, flieg. 25.
  • Schmuggeleien 130.
  • Schneeblindheit 85.
  • Schneebrillen 11.
  • Schneider 54.
  • Schreiben im Fahren
    60.
  • Schuhwerk 36. 65.
  • Schwätzer 219. 266.
  • Schweiß 44. 89.
  • Schweiz12. 193. 197.
  • Schwere der Glieder
    91.
  • Schwindel 83. 91. 157.
  • See, Seebäder 36. 116.
    151.
  • Seelendiät 7. 139. 161.
    251. 254. 278.
  • Sehenswürdigkeiten
    249. 261. 264.
  • Seidenkreppjacken 28.
  • Seife 29.
  • Seile 77.
  • Selbſtgefübl 208. 215.
  • Selbſtkenntniß 264.
  • Sicherheitsmaßregeln
    45.
  • Siedelungsverſuche
    119. 153. 214.
  • Signatur 15. 18.
  • Sinnestäuſchungen 79.
    253.
  • Sitzen im Freien 107.
    139. 152. 162.
  • Sommerfriſchen 102.
    108.
  • Sonderlinge 223. 257.
  • Sonnenſchirm für Cur-
    gäſte 162.
  • Spaccio di vino179.
  • Spazierenklettern 151.
  • Specialität 251. 258.
    263.
  • Speiſen 87. 171. 186.
  • Speiſezettel 179.
  • Sprache 25. 227.
  • Springen, aus dem
    Wagen, 52.
  • Städtepläne 13.
  • Stammbaum, touriſt.,
    240.
  • Staubbrille 246.
  • Steckenpferdezucht 157.
    260.
  • Steigeiſen 73. 76.
  • Steuermannskunſt
    169.
  • Stiftungen 102.
  • Stimmungen 257.
  • Stöcke 44. 71. 74.
    78.
  • Stockfiſchfänger 187.
  • Stricke 77.
  • Strümpſe 36. 68.
  • Studien, hypochon-
    driſche, 95.
  • Stühle 53.
  • Stundenplan 161.
  • Sturz 72. 76.
  • Tabaksrauch 119.
  • Tafelmuſik 186.
  • Tagebuch 58. 61.
  • Tantièmeſyſtem 167.
  • Taſchen 36. 53. 69.
  • Taſchengabel 22.
  • Techniker 246.
  • Telegramme 200.
  • Temperatur 139.
  • Teppiche 185.
  • Thermometer 22.
  • Thätigkeit 153. 259.
  • Thürverſchluß 25.
  • Tigermilch 92.
  • Tintefaß 17. 206.
  • Toilettengeheimniſſe
    41.
  • Torniſter 69.
  • Touriſtenſtrom 194.
    242. 264. 275.
  • Träger 191. 197. 199.
    270.
  • Trägheit 154.
  • Trattorien 179.
  • Triebfedern ſ. Zwecke.
  • Trinken 87.
  • Trinkgelder 183. 189.
    270. 273.
  • Tröſteinſamkeit 158.
  • Turnen 152.
  • Ueberflüſſigkeiten 105.
  • Uebergänge, ſchroffe 71.
    91. 98.
  • Uebernachten 183. 197.
    200.
  • Ueberraſchungen 232.
  • Unbefriedigte 150. 249.
  • Unglücksfälle 72.
  • Unterkleider 27. 34.
  • Unterhaltung 157. 267.
  • Unternehmungsgeiſt
    149.
  • Vademecum 19.
  • Ventilation 118.
  • Vergnügungsreiſen 93.
    129. 182. 242. 248.
  • Verkauſsläden 56.
  • Verluſte durch Zer-
    ſtreutheit 52. 54.
  • Verpackung 14. 24.
  • Verſicherungsſchein 51.
  • Verſtand u. Erfahrung
    126.
  • Vieljeitigkeit 253. 261.
  • Vocabeln 25.
  • Volksleben 227.
  • Volksthümliche Gerichte
    173.
  • Vorausſendungen 51.
  • Vorbereitungen 8. 98.
  • Vorläufer 70.
  • Vorſichtsmaßregeln 45.
    49.
  • Vortheile der Reiſe,
    ſ. Wirkungen.
  • Waldreviere 105. 117.
  • Wagniſſe 79.
  • Wanderſtäbe 58. 74.
  • Wanderung 14. 38.
    63. 86. 94.
  • Wäſche, Wäſcherinnen
    29. 42.
  • Waſſer 90. 171.
  • Waſſerdicht 33. 67.
  • Wecker 56.
  • Wege 105. 151.
  • Wegweiſer 107.
  • Weinberge 126.
  • Werthſachen ſichern 47.
  • Wetter 36. 115. 139.
  • Wettermantel 38.
  • Widerwärtigkeiten
    247.
  • Wie geht’s Ihnen?
    121.
  • Wiederholungen 131.
    197.
  • Wintercuren 134. 141.
    256.
  • Wirkung der Reiſe 32.
    86. 241. 264.
  • Wirthe ſ. Gaſtwirthe.
  • Wohnung 107. 120.
    183. 272.
  • Wollene Unterkleider
    27.
  • Wundwerden 68.
  • Yankees 214.
  • Zeichnung 18.
  • Zeit, bei knapper, 115.
    252.
  • Zeiteintheilung 161.
    252.
  • Zeitungen 152. 226.
  • Zeitvertreibe 156. 251.
    258.
  • Zelt 201.
  • Zerſtreutheit 52.
  • Zerſtreuungen 157.
    248. 260.
  • Zimmer 107. 120. 183.
    272.
  • Zudringlichkeit 167.
    266.
  • Zug nach dem Süden
    148.
  • Zündhölzer 61.
  • Zungenäſthetik 178.
  • Zurückgekehrte 263.
    275.
  • Zurückhaltung 209.
    261.
  • Zwecke der Reiſe 93.
    129. 235. 241. 248.
    261. 264. 275.
  • Zwiegeſpräche 224.
    267.


Appendix B

Druck von Otto Wigand in Leipzig.


[][][]
Notes
*)
Unter den Ausnahmen älterer Zeit iſt das verdienſtvolle Ebel’ſche Hand-
buch für die Schweiz vor allen zu nennen, es litt aber lange an der unzweck-
mäßigen alphabetiſchen Anordnung, bis es endlich nach Murray auch die Routen-
eintheilung einführte. Für Italien war einſt das Förſter’ſche das erſte gute
Reiſebuch, in ſeinen neuen Auflagen iſt es aber zurückgeblieben.
*)
Es gibt dafür eigene Fabriken, die das Verfahren als Geheimniß behan-
deln. Fehlt es an einer ſolchen, ſo wird folgendes Recept empfohlen. 1 Pfund
Leim und 1 Pfd. Kernſeife werden in 1 Pfd. kochenden Waſſers gelöſt, nach und
nach 1½ Pfd. Alaun zugeſetzt und die milchige Miſchung bis zum Sieden erhitzt,
die Stoffe mit derſelben, bevor ſie ganz erkaltet iſt, getränkt, zum Trocknen auf-
gehängt ohne ſie auszuringen, ſchließlich gewaſchen, gerollt und verarbeitet.
*)
Einen eigenen Diener auf weitere Touren mitzunehmen, iſt mehr läſtig,
als förderlich, es ſei denn, daß er ſehr viel Reiſetalent und Routine hätte. Man
leidet unter ſeiner Ungeſchicklichkeit, Vergeſſenheit, Nachläſſigkeit, ſeinem Mangel
an Erfahrung und an Ortskenntniß. Die Conſequenzen werden geduldiger ge-
tragen, wenn wir ſie uns ſelbſt zur Laſt legen müſſen. Bei Privatcourieren finden
ſich zuweilen jene beiden Eigenſchaften, ſowie Kenntniß mehrer Sprachen, da-
neben aber nicht ſelten gewiſſe andere (vgl. VI) unwillkommene Fertigkeiten.
Sehe ſich alſo vor, wer nicht ein ſehr großer Herr oder Millionär iſt.
*)
Die in den Läden vorräthigen eiſernen „Touriſtenſtühle“ finde ich zu
ſchwer, ließ mir deshalb einen leichten hölzernen Seſſel anfertigen, deſſen drei
in halber Höhe verbundene, 1¼ Fuß hohe Stützen ſich unten zu einem Dreifuß
ausſpreizen und an ihren oberen Enden drei Gurten aufnehmen, welche den
Sitz abgeben. Die Stühle ſind aus Eſchenholz ſo geſchnitten, daß ſie, zuſammen-
geſchloſſen, eine mäßig dicke Rolle bilden.
*)
In England wird folgendes Recept empfohlen: 2 Gewichtstheile Theer,
6 Talg, 6 Schweinefett, 5 Thran, 5 Butter, 5 Olivenöl, 1 Terpentin, 2 aufgelöſter
Kautſchuk, 2 Wachs. Der Brennbarkeit wegen geſchieht die Bereitung im Freien.
Sobald der Theer kocht, wird der Talg hinzugethan und ſo fortgefahren, bei jedem
Aufkochen der Maſſe der nächſte Beſtandtheil unter Rühren zugefügt; Terpentin und
Kautſchuk werden vorher in einem beſondern Gefäße zuſammengekocht und ſiedend
zugeſetzt. Die Schuhe ſtellt man nach jeder Einreibung zum Trocknen warm
(nicht heiß). Zum täglichen Gebrauche in den Zwiſchenzeiten dient auch Talg
oder anderes ungeſalzenes Fett. Die Nähte ſind beſonders reichlich zu bedenken.
In halbfeuchtem Zuſtande nimmt das Leder die Maſſe beſſer an, als wenn
es nach ſtarker Durchnäſſung hart und trocken geworden iſt. Ein einfacheres,
in der Schweiz beliebtes Recept iſt: ½ Loth Kautſchuk, in kleine Stücke ge-
ſchnitten, in 1½ Loth Schweinefett über gelindem Feuer zerlaſſen und um-
gerührt; dann kommen 2 Loth Thran hinzu.
*)
Wie ſich auch von den geiſtigen Nahrungsmitteln für den Reiſegebrauch
am beſten kleine Ausgaben claſſiſcher Dichter eignen.
**)
Eine Vorſchrift zu letzterem iſt, aus 12 Pfund Rindfleiſch 1½ Maaß
Brühe kochen, ſie von Faſern und Fett befreit eindampfen und mit feinem Mehle
kneten zu laſſen; aus dieſem Teige werden zollgroße, dem Judenbrode ähnliche
*)
In dieſelbe Rubrik, wo nämlich der Minderheit ein Veto naturrechtmäßig
zuſteht, gehört auch die Frage, ob beim Fahren das Wagenfenſter geöffnet
werden ſoll. Fürſt Pückler Muskau räth zwar dem Ueberſtimmten im umgekehrten
Falle, um ſich Luft zu machen, das Fenſter mit dem Elbogen ſcheinbar aus Ver-
ſehen zu zerſtoßen und hinterher zu bezahlen, ich würde jedoch, obwohl grundſätzlich
für Offenheit, den nicht allzu ſehr bedauern, der ſich dabei an den Glasſcherben
in den Arm ſchnitt, alſo die Scheibe mit Gut und Blut zu bezahlen hätte.
**)
Kuchen von einer Linie Dicke geformt und auf einem mäßig erhitzten Ofen gebacken,
bis ſie leicht zu brechen ſind. So erhält man 6 Loth Zwieback. Manche miſchen
auch Wein mit Fleiſchextract.
*)
Auch trockene, ſonnverbrannte Matten ſind häufig von gefährlicher Glätte,
und theilen dieſe Eigenſchaft außerdem den Sohlen mit, ganz wie Fichtennadeln.
Auber hat in einer Oper die Wahrnehmung in Muſik geſetzt, daß es auf Raſen
gefährlicher iſt, auszugleiten, als auf Schnee.
*)
„Dieſer plötzliche, ſcharfe, hirnzerſchneidende und gedankenmörderiſche Knall
muß von Jedem, der nur irgend etwas einem Gedanken Aehnliches im Kopfe
herumträgt, ſchmerzlich empfunden werden .... Hiezu nun aber nehme man, daß
das vermaledeite Peitſchenknallen nicht nur unnöthig, ſondern ſogar unnütz iſt; die
beabſichtigte Wirkung auf die Pferde iſt durch die Gewohnheit, welche der unabläſſige
Mißbrauch der Sache herbeigeführt hat, ganz abgeſtumpft und bleibt aus: ſie be-
ſchleunigen ihren Schritt nicht danach, die leiſeſte Berührung mit der Peitſche wirkt
mehr … Durch polizeiliche Verordnung eines Knotens am Ende jeder Schnur wäre
die Barbarei beſeitigt … Daß nun aber ein Kerl, der, mit ledigen Poſtpferden oder
auf einem Karrengaul die engen Straßen einer Stadt durchreitend, mit einer klafter-
langen Peitſche aus Leibeskräften unaufhörlich klatſcht, nicht verdiene, ſogleich
abzuſitzen, um fünf aufrichtig gemeinte Stockprügel zu empfangen, das werden mir
alle Philanthropen der Welt nicht einreden.“
*)
Bei neuen Schulgebäuden fängt man hier und da endlich an, für
Ventilation zu ſorgen, und da iſt es allerdings am dringendſten nöthig.
Hoffen wir, daß das in dieſen Anſtalten erzogene Geſchlecht lernt, wie wichtig
friſche Luft zur Erhaltung der Geſundheit iſt, und dereinſt danach baut und ein-
richtet. Es wird dann wenigſtens unſren Nachkommen nicht an Gerichts-, Concert-,
Hörſälen, Theatern, Fabriken, Buchdruckereien fehlen, in denen kein Orchideenhaus-
klima herrſcht, ſelbſt Kaffeehäuſer werden erſtehen, in welchen Nachmittags, und
Bierſtuben, in denen Abends ſich athmen läßt. Nicht blos um die Hitze handelt
es ſich, nicht blos um den Tabaksqualm, ſondern auch um die Nothwendigkeit
der Erneuerung einer Luft, in welcher ſo und ſo viele Lungen und Gasflammen
ſtoffwechſeln! — —
*)
Im londoner Punch erſchien ein Bild, welches eine deutſche Mutter mit
einem Säugling auf dem Schooße zeigt, dem ſie ſtatt der Bruſt die Tabakspfeife
in den Mund ſteckt. Der Spott trifft in der That eine ſchwache Stelle des deutſchen
Körpers, denn ſchwerlich wird irgendwo in einem der fünf Welttheile ſo viel gepafft,
auch von Kindern, als in Deutſchland. Das Zollparlament ſollte eine hohe Steuer
auf Tabak legen, vielleicht trüge das bei, dieſes Nationallaſter, das viele Dampfen,
etwas zu dämpfen.
*)
Ein Uebelſtand z. B., welcher erſt in den letzten Jahren in einigen wohl-
feileren ſchweizer Penſionen ſtärker hervortritt, iſt der: anſtatt die Forderung
den geſteigerten Lebensmittelpreiſen und dem Sinken des Geldwerths entſprechend
zu erhöhen, knauſert man am Mittagstiſche, ſchneidet namentlich die Fleiſchpor-
tionen
ſo knapp zu, daß ein geſunder Mann ſich nicht ſatt eſſen, geſchweige ein
Kranker, dem reichliche Ernährung noththut, dabei wieder zu Kräften kommen kann.
*)
Damit es Euch, die Ihr zurückbleiben müßt im nordiſchen Winter, nicht
an weiterem Troſte fehle und Ihr uns Andere nicht allzuſehr beneidet: bedenkt,
daß im Süden, wo der Lenz dem Herbſt die Hand reicht und die Zeit der Früchte
unmittelbar in die der Blüten übergeht, die Frühlingswonne nicht ſo tief gefühlt
wird, als im Norden, weil die Contraſtwirkung fehlt. Von deutſchen,
engliſchen, ſchottiſchen Dichtern ſind die ſchönſten Frühlingslieder geſungen worden,
nicht dort, wo ein „ewiger Mai“ herrſcht. Der Südländer ſcheint auch für
landſchaftlichen Reiz überhaupt minder empfänglich, als der Bewohner des
Nordens. Ueberall iſt geſorgt, daß es uns auf der Erde nicht gar zu wohl,
aber auch nicht gar zu übel werde, und wo viele Entbehrungen und wenig Ge-
nüſſe ſind, werden dieſe um ſo lebhafter empfunden.
*)
Auf der Tagesordnung meiner Winterpenſion ſtand auch eine Turnſtunde,
in der theils Herren- und Damen-Riege geſondert, theils beide vereinigt übten,
bei ſchlechtem Wetter in einem Saale. Eine Quelle der Heiterkeit waren
namentlich die „Freiübungen“, welche den Namen „epileptiſche Exercitien“ er-
halten hatten.
*)
Auch dabei ſcheint der Einfluß der freien Luft, mit welcher alle dieſe Völker-
ſtämme auf vertrauterem Fuße leben, als wir Nordländer, ſich geltend zu machen,
wenngleich noch andere Dinge mitwirken mögen, wie z. B. daß der Süden in
geiſtigen Anſtrengungen und geiſtigen Getränken mäßiger iſt, als der Norden.
*)
Wer ſpät Abends eintrifft, blos um zu nächtigen, und gewahrt, daß der
Kellner zwei neue Kerzen für ihn anzünden will, damit das berüchtigte Bougies-
Item auf der Rechnung erſcheint, darf dies ſehr füglich verbieten und ſich ent-
weder ein Stück Licht geben laſſen, oder ſein eigenes Wachslichtchen aus der
Taſche ziehen und es die wenigen Minuten anbrennen. Aus der Betonung des
„Gutenacht“ des Kellners kann er dann ſchon berechnen, ob die Lichtſteuer nieder-,
oder zum „logement“ geſchlagen wird.
*)
Wenn dieſes Wort überhaupt einmal in Frankreich exiſtirt hat, ſo muß
es ſchon lange her ſein, denn ein heutiger Franzos kennt es in der Bedeutung
nicht, auch Mozin, Littré ꝛc. wiſſen nichts von ihm. Möchten wir Deutſche
doch endlich einmal aufhören, fremde Sprachlappen vollends abzutragen.
*)
Ein Fall wird zwar erzählt, in welchem eine Hochzeitsreiſe von einem
Theile allein unternommen wurde. Es war ein Candidat, der eben ſein Amt
antreten ſollte und es mit ſeiner jungen Frau ſo verabredet hatte, um dem
Brauche zu folgen aber Koſten zu ſparen: ſie blieb zu Hauſe und er reiste, beide
nannten das aber „unſre Hochzeitsreiſe“. Das Beiſpiel iſt meines Wiſſens ohne
Nachahmung geblieben.
*)
Dieſes goldene Zeitalter der Touriſten wird jedoch, fürchte ich, noch nicht
ſo ſchnell anbrechen, Ihr Herren Bahnhofreſtaurants könntet daher mittler-
weile durch eine Vorrichtung zum Händewaſchen unſer Loos etwas
mildern. Auch Euer Vortheil würde es ſein, denn ein Blick auf unſer Aeußeres
genügt jetzt, uns bei der Ankunft allen Appetit zu nehmen. Ich glaube ſogar,
daß dann ſelbſt in gewiſſen Reſtaurationen häufiger als bisher ein Angriff gewagt
würde auf den wahrhaft eiſernen Beſtand von Beefſteaks, Coteletten und Schmor-
kartoffeln, die, aber- und abermals aufgewärmt, nur durch ihre Preiſe an Hôtels
erſten Ranges erinnern. Auch mit den Getränken iſt es übel beſtellt. Unter ſolchen
Umſtänden kann es nicht Wunder nehmen, daß man jetzt oft erſte Claſſe fahrende
Herren und Damen, die dabei ſchwerlich an Erſparniſſe denken, im Wagen ihre
Malzeit aus mitgebrachtem Mundvorrath halten ſieht. Die Wurzel des Uebels liegt
entweder darin, daß die oberſte Leitung einiger Bahnen bei Verpachtung der
Reſtaurationen den Grundſätzen des Paſchaſyſtems huldigt, oder ſchlechte Aufſicht
*)
führt, oder daß Begünſtigungen aus Privatrückſichten vorkommen. Die Kritik der
Reiſehandbücher ſollte ſich auch hierauf erſtrecken.
*)
Bei Leuten, die berufsmäßig mit Pferden, Maulthieren, Eſeln umgehen,
ſcheinen den ſonſtigen üblen Eigenſchaften und Inſtincten oft noch gewiſſe thieriſche
ſich beizugeſellen, wie Rohheit, Jähzorn und Rachſucht.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Anonymous. Reiseschule für Touristen und Curgäste. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjr0.0