des
Architekten- und Ingenieur-Vereins
zu
Hannover.
Heft 1-4.
Schmorl \& von Seefeld.
1874.
Hofbuchdruckerei der Gebr. Jäncke in Hannover.
[]In einer Arbeit, welche ich im vorletzten Hefte dieſer
Zeitſchrift veröffentlicht habe, iſt das Princip der virtuellen
Geſchwindigkeit angewandt worden, um das Geſetz der Form-
veränderung eines Fachwerks darzuſtellen. Obgleich dieſe
Darſtellung auf den beſonderen Zweck jener Arbeit: die
Beſtimmung des Horizontalſchubs eines Bogenfachwerks ſich
beſchränkt, ſo dürfte doch aus dem Gange der einfachen Be-
trachtung zur Genüge hervorgehen, daß daſſelbe Verfahren
mit Nutzen in allen denjenigen Fällen ſich anwenden läßt,
wo die Formveränderung eines Fachwerks in Betracht ge-
zogen werden muß. Da die meiſten hierauf bezüglichen
Fragen entweder noch gar nicht oder doch nur ungenügend
behandelt worden ſind, ſo erlaube ich mir, einige Unterſuchun-
gen mitzutheilen, zu welchen die Anwendung des oben bezeich-
neten Verfahrens mich geführt hat.
Mit Fachwerk ſoll im Folgenden jede Trägerkonſtruk-
tion bezeichnet werden, welche aus ſtabförmigen Theilen ſo
zuſammengeſetzt und welche ſo unterſtützt iſt, daß eine Ver-
änderung der Form und der Lage des Trägers nur in Folge
von Längenänderungen der Konſtruktionstheile entſtehen
kann. Die Betrachtung ſoll jedoch beſchränkt werden auf
ſolche Fälle, in welchen die Achſen ſämmtlicher Konſtruktions-
theile und die auf den Träger einwirkenden äußeren Kräfte
in einer Ebene liegen. Bezieht man die Lage der Punkte
in dieſer Ebene auf ein beliebiges feſtes Koordinatenſyſtem
und bezeichnet man mit:
m die Anzahl der ſämmtlichen Knotenpunkte des Fachwerks;
n die Anzahl der feſten Auflager;
o die Anzahl der beweglichen Auflager; und mit
p die Anzahl der Konſtrultionstheile;
ſo kann die Form und die Lage des Trägers durch die 2 · m
Koordinaten der m Knotenpunkte beſtimmt werden. Bei den
Formveränderungen des Fachwerks, welche durch beliebige
Längenänderungen der Konſtruktionstheile entſtehen können,
bleiben die 2 · n Koordinaten der feſten Auflager konſtant.
Von den beiden Koordinaten eines jeden der o beweglichen
Auflager iſt entweder die eine konſtant — wenn nämlich
die Auflagerbahn zu einer Koordinatenachſe parallel gerichtet
iſt — oder ſie iſt durch die gegebene Form der Auflagerbahn
doch jedenfalls abhängig von der anderen. Die übrigen
(2 m — 2 n — o) Koordinaten bilden demnach die von ein-
ander unabhängigen veränderlichen Größen, welche
die Form des Fachwerks beſtimmen. Wenn dieſe (2 m —
2 n — o) veränderlichen Größen und außerdem die unver-
änderliche Stützenlage d. h. die Koordinaten der feſten und
die Bahnen der beweglichen Auflager gegeben ſind, ſo können
alle Dimenſionen der Konſtruktionsfigur und insbeſondere
auch die Längen der Geraden, welche die m
Knotenpunkte mit einander verbinden, beſtimmt werden. Sind
umgekehrt von (2 m — 2 n — o) der eben genannten Geraden
die Längen gegeben, ſo laſſen ſich, vorausgeſetzt daß dieſe
Längen von einander und von der gegebenen Stützenlage
unabhängig ſind, die Ordinaten aller Knotenpunkte er-
mitteln, d. h. die Form des Fachwerks iſt durch jene Längen
beſtimmt. Ein Fachwerk von m Knotenpunkten,
welches von n feſten und o beweglichen Auflagern
geſtützt wird, muß demnach (2 m — 2 n — o) Kon-
ſtruktionstheile enthalten, deren Längen von einander
und von der Stützenlage unabhängig ſind. Ob die Länge
eines Konſtruktionstheiles von den Längen anderer Theile
und von der Stützenlage abhängig iſt oder nicht, läßt ſich
entweder nach bekannten einfachen geometriſchen Regeln oder
34
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
durch eine ebenſo einfache ſtatiſche Betrachtung entſcheiden.
Man beſeitige alle Außenkräfte, welche auf das Fachwerk
einwirken, auch das Eigengewicht deſſelben, und unterſuche,
ob es möglich iſt, von dieſem Zuſtande aus vermittelſt
einer Längenänderung des Konſtruktionstheils eine Span-
nung in demſelben hervorzurufen. Wenn der entſprechen-
den Formveränderung des Fachwerks kein Hinderniß ent-
gegenſteht und die bezeichnete Spannung alſo nicht entſtehen
kann, ſo iſt die Länge des Konſtruktionstheils offenbar unab-
hängig ſowohl von der Stützenlage als auch von der Länge
der übrigen Konſtruktionstheile. Im entgegengeſetzten Falle
beſteht eine ſolche Abhängigkeit von den Längen aller derjeni-
gen Konſtruktionstheile, welche durch ihre Spannungen und
von der Lage derjenigen Stützen, welche durch ihre Auflager-
reaktionen der Formveränderung des Fachwerks Widerſtand
leiſten. Im Folgenden ſoll ein Fachwerk ein einfaches
genannt werden, wenn daſſelbe nur die ſo eben bezeichneten
(2 m — 2 n — o) nothwendigen Konſtruktionstheile ent-
hält, im Gegenſatz zu dem zuſammengeſetzten Fachwerk,
welches außer den nothwendigen noch überzählige Kon-
ſtruktionstheile enthält. In Bezug auf die Beſtimmung der
Formveränderungen unterſcheiden ſich dieſe beiden Arten von
Fachwerken, wie aus der obigen Betrachtung hervorgeht,
weſentlich dadurch von einander, daß in einem einfachen
Fachwerk die Längenänderungen aller Konſtruktionstheile
von einander unabhängig ſind und daher ſämmtlich gegeben
ſein müſſen, um die Formveränderung zu beſtimmen, während
für die Ermittelung der Formveränderungen eines zuſam-
mengeſetzten Fachwerks nur die Längenänderungen der
nothwendigen Konſtruktionstheile bekannt ſein müſſen, da
hiervon alle Formveränderungen und alſo auch die Längen-
änderungen der überzähligen Konſtruktionstheile abhängig
ſind.
Formveränderung eines einfachen Fachwerks.
Wir nehmen an, daß die Längenänderungen der Kon-
ſtruktionstheile gegeben ſind und daß die letzteren um ſchar-
nierförmige Knotenpunktverbindungen frei ſich drehen kön-
nen. Die Reſultate der Betrachtung werden daher für Fach-
werke mit ſteifen Knotenpunktverbindungen nicht genau,
ſondern nur mit etwa derſelben Annäherung richtig ſein wie
die gebräuchliche ſtatiſche Berechnung ſolcher Träger, die eben-
falls von jener Vorausſetzung ausgeht. Alle Fragen in
Bezug auf die Formveränderung des Fachwerks laſſen ſich
zurückführen auf folgende zwei: Um welche Länge ändert ſich
der Abſtand C D eines Knotenpunktes C entweder von einem
beliebigen anderen Knotenpunkte D oder von einem feſten
Punkt D außerhalb der Konſtruktion?
Die Löſung dieſer rein geometriſchen Aufgabe kann
ſelbſtverſtändlich auch auf geometriſchem Wege erfolgen; wir
ziehen vor, ſtatt deſſen eine einfache ſtatiſche Betrachtung an-
zuwenden und laſſen zu dieſem Zwecke auf den Knotenpunkt
C (Figur 1 und 2) eine nach D gerichtete Kraft P und auf
den Punkt D*) eine ebenſo große aber entgegengeſetzt gerichtete
Kraft einwirken. Die beiden Außenkräfte P erzeugen Auf-
lagerreaktionen, die unter Umſtänden auch gleich Null ſein
können, und in jedem Konſtruktionstheil eine Spannung, die
wir mit u · P bezeichnen wollen; u iſt demnach eine unbe-
nannte Zahl, welche für jeden Konſtruktionstheil einen anderen
und zwar einen poſitiven oder negativen Werth hat, je nach-
dem die Spannung eine Zug- oder eine Druckſpannung iſt.
Die Beſtimmung der genannten Auflagerreaktionen und Span-
nungen geſchieht durch Rechnung oder auf graphiſchem Wege
unter Anwendung ſehr einfacher Methoden, die wir als bekannt
vorausſetzen dürfen. Wir ſchneiden jetzt aus irgend einem
Konſtruktionstheil z. B. E F ein Stück heraus und erſetzen
daſſelbe, indem wir ſeine Spannung u · P als Außenkräfte
gegen die beiden Schnittſtellen einwirken laſſen. In dieſem
Zuſtande kann man das Fachwerk als eine einfache Ma-
ſchine anſehen, denn es bildet eine bewegliche Verbindung
feſter Körper, die vermöge ihres geometriſchen Zuſammen-
hanges auf vorgeſchriebenen Bahnen ſich bewegen und ver-
mittelſt welcher man die beiden Widerſtände u · P durch die
treibenden Kräfte P überwinden kann. Wenn, wie hier vor-
ausgeſetzt wird, die Längen der Konſtruktionstheile ſich nicht
verändern, ſo ſind die Kräfte P und u · P die einzigen, welche
bei der Bewegung der Maſchine mechaniſche Arbeit verrichten;
denn die Angriffspunkte der Auflagerdrücke ſind entweder feſt
oder bewegen ſich normal zur Kraftrichtung. Bezeichnet man
nun mit dy und d l die bei einer unendlich kleinen Form-
veränderung entſtehenden Veränderungen der Längen C D und
F F, ſo ſind nach dem Princip der virtuellen Geſchwindigkeit
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
die mechaniſchen Arbeiten P · d y und u · P · dl gleich groß.
Dieſe Beziehung iſt nur für unendlich kleine Formverände-
rungen genau gültig, weil bei jeder endlichen Formver-
änderung die Größe der Zahl u nicht konſtant bleibt. Die
im Folgenden in Betracht zu ziehenden Formveränderungen
ſind zwar nicht unendlich aber doch ſo klein, daß jene Fehler-
quelle vernachläſſigt und die Beziehung auch für jene endlich
kleinen Wege Δ y und Δl in Anwendung gebracht werden
darf. In Bezug auf die Vorzeichen iſt Folgendes zu be-
achten: Δ y bezeichnet den Weg, welcher im Sinne der trei-
benden Kräfte P zurückgelegt wird, iſt alſo eine Verkleinerung
der Länge
und daher negativ; Δ l dagegen bezeichnet den Weg, welcher
entgegengeſetzt dem Sinne der Widerſtände u · P von dieſen
zurückgelegt wird; je nachdem alſo dieſe Kräfte eine Zug-
ſpannung oder eine Druckſpannung andeuten, d. h. poſitiv
oder negativ ſind, iſt Δl eine Vergrößerung oder eine
Verkleinerung der Länge
Da hiernach die Größen u und Δl unter allen Umſtänden
gleiche Vorzeichen haben, ſo iſt das Produkt u · P · Δl immer
poſitiv und folglich
— P · Δ y = u · P · Δl
oder
1) Δy = — u · Δl.
Die Beziehung behält dieſelbe Form, wenn man die Be-
wegung umkehrt, alſo u P als die treibenden und P als die
widerſtehenden Kräfte anſieht; denn in dieſem Falle ändern
ſich die Vorzeichen von Δ y und Δ l, während u ſein Vor-
zeichen behält. Die Gleichung 1) gibt an, um welches Maß
der Abſtand C D (Fig. 1 und 2) ſich ändert, wenn der Kon-
ſtruktionstheil E F ſeine Länge um die kleine Größe Δl ver-
ändert, während alle übrigen Konſtruktionstheile ihre urſprüng-
lichen Längen beibehalten. Vorausgeſetzt nun, daß auch bei
den folgenden Formveränderungen die Werthe von u nicht
merklich ſich ändern, ſo kann man die Längen aller Kon-
ſtruktionstheile nach einander um die gegebenen poſitiven
oder negativen Größen Δl verändern, die entſprechenden Werthe
von Δ y nach obiger Formel beſtimmen und dieſe Werthe
algebraiſch ſummiren. Dieſe Summe Σ Δ y iſt die aus allen
jenen Formveränderungen reſultirende Veränderung der Länge
C D:
2)
Formveränderung eines zuſammengeſetzten Fachwerks.
In der Einleitung ergab ſich, daß die Form eines zu-
ſammengeſetzten Fachwerks durch die Längen der (2m — 2n — o)
nothwendigen Konſtruktionstheile und daher eine Form-
veränderung durch die Längenänderungen jener Theile voll-
kommen beſtimmt iſt. Die Formveränderung des zuſammen-
geſetzten Fachwerks iſt alſo genau dieſelbe wie diejenige des
einfachen Fachwerks, welches aus jenen (2 m — 2 n — o)
Konſtruktionstheilen beſteht. Bei Anwendung der Gleichung 2)
ſind ſonach die Werthe von u und die Summe der Produkte
u · Δl für dieſes einfache Fachwerk zu beſtimmen; es iſt
demnach ſo zu verfahren, als wenn die überzäh-
ligen Konſtruktionstheile gar nicht vorhanden
wären.
Beſtimmung der Längenänderungen der überzähligen Konſtruktions-
theile eines zuſammengeſetzten Fachwerks.
Es ſeien:
l(1), l(2), l(3) ..... die Längen der mit (1), (2), (3) ....
bezeichneten nothwendigen Konſtruktionstheile des
Fachwerks;
Δl(1), Δl(2), Δl(3) … die gegebenen Längenänderungen
dieſer Theile;
l1, l2, l3 … die Längen und Δl1, Δl2, Δl3 … die
Längenänderungen der mit 1, 2, 3 … bezeichneten
überzähligen Konſtruktionstheile;
u1, u2, u3 … diejenigen Werthe von u, welche in dem
von den nothwendigen Konſtruktionstheilen gebilde-
ten einfachen Fachwerk entſtehen, wenn die beiden
Außenkräfte P die Lage des überzähligen Konſtruktions-
theils 1, 2, 3 … annehmen; es bezeichnet alſo z. B.
u2 diejenigen Spannungen des oben bezeichneten ein-
fachen Fachwerks, welche hervorgerufen werden, wenn
man in dieſes Fachwerk allein den überzähligen Kon-
ſtruktionstheil 2 einfügt und denſelben mit einer Zug-
ſpannung gleich der unbenannten Zahl Eins
anſpannt.
Die Anwendung der Gleichung 2) auf dieſe Bezeichnun-
gen ergibt ohne Weiteres die geſuchten Längenänderungen der
überzähligen Konſtruktionstheile:
3)
Dieſen Gleichungen kann man auch die Form geben:
4)
34*
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
indem man nämlich die linke Seite der Gleichungen 3) mit
unter die Summenzeichen bringt und dabei beachtet, daß
die Spannung u in demjenigen überzähligen Konſtruktionstheil,
auf welchen ſich eine der Gleichungen 3) bezieht, jedes Mal
gleich + 1 iſt.
Beſtimmung der Spannungen in den Konſtruktionstheilen eines
belaſteten zuſammengeſetzten Fachwerks.
Die folgende Unterſuchung geht von der Vorausſetzung
aus, daß die zu beſtimmenden Spannungen der Konſtruktions-
theile allein von den gegebenen Belaſtungen der Knoten-
punkte erzeugt werden, daß alſo ein ſpannungloſer Zuſtand
des Fachwerks eintritt, ſobald die Belaſtungen entfernt werden.
Wenn aus jedem der p Konſtruktionstheile ein Stück heraus-
geſchnitten und dieſes durch ſeine Spannung als äußere Kräfte
gegen die beiden Schnittſtellen erſetzt wird, ſo entſtehen m
Gleichgewichtsſyſteme von Kräften, welche in je einem der m
Knotenpunkte ſich ſchneiden. Die Bedingungen des Gleich-
gewichts dieſer m Syſteme können durch 2 · m Gleichungen
ausgedrückt werden. Es iſt unmöglich, ſtatiſche Beziehungen,
welche in jenen 2 m Gleichungen nicht enthalten ſind — etwa
durch Zerlegung des Fachwerks in andere Gleichgewichts-
ſyſteme — aufzuſtellen, weil letztere immer aus einer Anzahl
jener m Syſteme ſich zuſammenſetzen laſſen. Die Bedingun-
gen des Gleichgewichts der ſämmtlichen äußeren Kräfte, alſo
der bekannten Belaſtungen und der unbekannten Auflager-
reaktionen, ſind in jenen 2 · m Gleichungen ebenfalls enthalten,
weil durch Zuſammenlegung ſämmtlicher m Syſteme das
Gleichgewichtsſyſtem der äußeren Kräfte entſteht. Damit die
Ermittelung der Spannungen aus den gegebenen Belaſtungen
eine beſtimmte ſtatiſche Aufgabe ſei, iſt es demnach
nothwendig, daß die Summe aus der Anzahl der Konſtruk-
tionstheile und der Anzahl der unbekannten Größen im Sy-
ſtem der äußeren Kräfte 2 · m betrage. Jedes der nfeſten
Auflager ergibt aber für das Gleichgewichtsſyſtem der äußeren
Kräfte zwei Unbekannte, nämlich die Größe und die Rich-
tung der Auflagerreaktion, während bei jedem der o beweg-
lichen Auflager die Richtung der Auflagerreaktion bekannt und
nur die Größe derſelben unbekannt iſt. Von jenen 2 · m
Gleichungen bleiben ſonach (2 m — 2 n — o) übrig zur Be-
ſtimmung der Spannungen einer eben ſo großen Anzahl von
Konſtruktionstheilen. Die vorſtehende Betrachtung beſtätigt
die bekannte Thatſache, daß nur ein einfaches Fachwerk
auf ſtatiſchem Wege ſich berechnen läßt.
Wir bezeichnen nun:
mit S die unbekannten Spannungen in den Konſtruktions-
theilen des zuſammengeſetzten Fachwerks,
mit S diejenigen Spannungen, welche durch die gegebenen
Belaſtungen in dem von den (2 m — 2 n — o) noth-
wendigen Konſtruktionstheilen gebildeten einfachen
Fachwerk hervorgerufen werden; dieſe Spannungen laſſen
ſich auf ſtatiſchem Wege vermittelſt graphiſcher Methoden
oder durch Rechnung beſtimmen;
mit u1, u2, u3 .... die bereits in den Gleichungen 3) und 4)
benutzten Zahlengrößen; u2(3) bezeichnet alſo z. B. die-
jenige Spannung, welche in dem Konſtruktionstheil (3)
des oben genannten einfachen Fachwerks entſteht, wenn
man in dieſes Fachwerk den überzähligen Konſtruktions-
theil 2 einfügt und mit einer Zugſpannung gleich Eins
anſpannt. Die Zahlen u ſind ebenfalls auf ſtatiſchem
Wege zu beſtimmen.
Man ändert offenbar nichts an dem Gleichgewichtszuſtande
des Fachwerks, wenn man aus jedem der überzähligen
Konſtruktionstheile 1, 2, 3 .... ein Stück herausſchneidet
und dieſes in bekannter Weiſe durch zwei Außenkräfte S1, S2,
S3 .... erſetzt (Fig. 3). Auf das von den nothwendigen
Konſtruktionstheilen gebildete einfache Fachwerk wirken als-
dann außer den Belaſtungen und Auflagerdrücken, welche die
Spannungen S erzeugen, noch die Außenkräfte S1, S2, S3 …,
durch welche die Spannungen u1 · S1, u2 · S2, u3 · S3 ....
hervorgerufen werden. Nach einer bekannten Eigenſchaft des
einfachen Fachwerks iſt die Spannung eines Konſtruktions-
theils gleich der algebraiſchen Summe derjenigen Spannungen,
welche von den einzelnen auf das Fachwerk einwirkenden
Außenkräften in dieſem Theil erzeugt werden. Wenn ſonach
die Spannungen S1, S2, S3 … der überzähligen Kon-
ſtruktionstheile bekannt ſind, ſo ergeben ſich die Spannungen
der nothwendigen Konſtruktionstheile durch die Gleichungen:
5)
alſo durch Gleichungen von der allgemeinen Form:
6) S = S + u1S1 + u2S2 + u3S3 + ....
Wenn, wie hier vorausgeſetzt wird, die Spannungen inner-
halb der Elaſticitätsgrenzen bleiben, ſo kann man die Län-
genänderung eines Konſtruktionstheils durch die Gleichung:
7)
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
beſtimmen; es bezeichnet hier E den Elaſticitätsmodul, F die
Querſchnittsfläche und r die Größe .
Indem man dieſe Werthe von Δl in die durch die Glei-
chungen 4) ausgedrückten Beziehungen zwiſchen den Längen-
änderungen der überzähligen und denjenigen der noth-
wendigen Konſtruktionstheile einführt, ergeben ſich die
Bedingungen:
8)
und wenn man den Werth von S nach Gleichung 6) einſetzt:
9)
Die Gleichungen 9) dienen zu Beſtimmung der Span-
nungen der überzähligen Konſtruktionstheile, deren Werthe
in die Gleichungen 5) einzuſetzen ſind, um die Spannungen
der nothwendigen Konſtruktionstheile zu ermitteln.
Beſtimmung derjenigen Spannungen eines zuſammengeſetzten
Fachwerks, welche durch Temperaturveränderungen und durch
Ungenanigkeiten in der Herſtellung der Längen der Konſtruk-
tionstheile hervorgerufen werden.
Man nimmt in der Regel an, daß der ſpannungloſe
Zuſtand des unbelaſteten und gewichtloſen Fachwerks
bei einer beſtimmten, für alle Konſtruktionstheile gleich hohen
Temperatur eintritt. Da aber die Längen der Konſtruktions-
theile eines zuſammengeſetzten Fachwerks von einander abhän-
gig ſind, ſo würde jene Vorausſetzung eine mathematiſch
genaue Ausführung bedingen, die praktiſch unerreichbar iſt.
Es iſt daher nöthig zu berückſichtigen, daß die Temperatur
t0, welche dem ſpannungloſen Zuſtande entſpricht, nicht
für alle Konſtruktionstheile denſelben Werth hat. Die wirk-
liche Temperatur t1 in irgend einem Zeitpunkt iſt im All-
gemeinen ebenfalls nicht gleich hoch für alle Konſtruktionstheile,
da dieſelben den Temperatureinflüſſen z. B. der Einwirkung
der Sonnenſtrahlen in ſehr verſchiedener Weiſe ausgeſetzt ſein
können. Wir nehmen an, es ſei die Temperaturdifferenz
10) t = t1 — t0
für jeden Konſtruktionstheil gegeben, und beſtimmen die Span-
nungen T, welche von den genannten Urſachen hervorgerufen
werden.
Wenn, wie hier vorausgeſetzt wird, die Belaſtungen
und das Eigengewicht beſeitigt ſind, ſo beſtehen zwiſchen den
Spannungen T(1), T(2), T(3) .... der nothwendigen und
den Spannungen T1, T2, T3 der überzähligen Konſtruk-
tionstheile nach den Gleichungen 5) die folgenden Beziehungen:
11)
oder allgemein:
12) T = u1 · T1 + u2 · T2 + u3 · T3 + .....
Im Vergleich mit dem ſpannungloſen Zuſtande iſt die
Längenänderung eines Konſtruktionstheils in Folge der
Temperaturänderung t und der Spannung T:
13) Δl = l · δ · t + T · r
wenn man mit δ den Koefficienten der Längenausdehnung
bezeichnet. Indem man in dieſe Gleichung den Werth von
T nach Gleichung 11) einſetzt und darauf die Gleichungen 4)
bildet, ergeben ſich die Beziehungen, welche zur Beſtimmung
der Spannungen T1, T2, T3 .... dienen:
14)
Aus der Uebereinſtimmung der Formen der Gleichungen
5) und 9) mit denjenigen der Gleichungen 11) und 14) er-
kennt man, daß die Spannung S, welche in einem Konſtruk-
tionstheil von den Belaſtungen und die Spannung T, welche
von der Temperatur hervorgerufen wird, algebraiſch zu ſum-
miren ſind, um die Wirkung der gleichzeitig auftretenden
beiden Urſachen zu ermitteln.
Die im Vorhergehenden entwickelten Beziehungen ſollen
nun auf die verſchiedenen Formen des Fachwerks, nämlich auf
das Balkenfachwerk, das Bogenfachwerk und auf das
kontinuirliche Balkenfachwerk angewandt und durch
Zahlenbeiſpiele erläutert werden.
Anwendung auf das zuſammengeſetzte Balkenfachwerk.
Einen Balken nennt man bekanntlich einen ſolchen
Träger, welcher von einem feſten und einem auf horizon-
taler Bahn beweglichen Auflager unterſtützt wird. Ein
Balkenfachwerk enthält demnach 2 m — 3 nothwendige
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
Konſtruktionstheile *). Da die Stützen eines Balkenfach-
werks den Formveränderungen deſſelben kein Hinderniß ent-
gegenſetzen, ſo gehört zu den möglichen Formveränderungen
offenbar auch diejenige, bei welcher das Fachwerk ſeiner ur-
ſprünglichen Form ähnlich bleibt. Die Gleichungen 3) oder 4)
welche für alle Formänderungen gelten, ſind demnach auch dann
anwendbar, wenn das Verhältniß für alle Konſtruktions-
theile denſelben Werth hat. Multiplicirt man die Gleichun-
gen 3) und 4) mit dieſem konſtanten Zahlenwerth, ſo ent-
ſtehen die Beziehungen zwiſchen den Längen l1, l2, l3 ....
der überzähligen und den Längen l(1), l(2), l(3) .... der
nothwendigen Konſtruktionstheile eines Balkenfachwerks:
15)
oder wenn man die linken Seiten dieſer Gleichungen unter die
Summenzeichen bringt:
16)
Wenn die Längen aller Konſtruktionstheile bei einer be-
liebigen aber für alle gleichen Temperatur t2 bekannt ſind, ſo
können die Gleichungen 15) oder 16) benutzt werden, um die
Werthe der dem ſpannungloſen Zuſtande entſprechenden Tem-
peratur t0 zu beſtimmen. Für die nothwendigen Konſtruk-
tionstheile des Balkenfachwerks kann dieſe Temperatur will-
kürlich alſo z. B.
t0 = t2
gewählt werden. Wenn alsdann die Länge l eines über-
zähligen Konſtruktionstheils bei der Temperatur t2 um das
Maß i größer oder kleiner iſt als die durch Gleichung 15)
bedingte Länge, ſo ergibt ſich die Temperatur t0 für dieſen
Konſtruktionstheil aus den Gleichungen:
17) i = l δ (t2 — t0) oder i = l δ (t0 — t2).
Eine Temperaturveränderung erzeugt in einem zuſammen-
geſetzten Balkenfachwerk keine Spannungen, wenn der Werth
von δ · t für alle Konſtruktionstheile gleich groß iſt; denn
in dieſem Falle werden zufolge Gleichung 16) die erſten Glieder
der Gleichungen 14):
und in Folge deſſen erhalten die ſämmtlichen Werthe von T
die Größe Null.
Beiſpiel 1. In Figur 4 auf Blatt 610 ſind Form,
Dimenſionen und Belaſtungen eines ſchmiedeeiſernen Dach-
trägers angegeben. Dieſes Balkenfachwerk enthält 7 Knoten-
punkte und 12 Konſtruktionstheile, demnach nur einen über-
zähligen, als welcher der mit 1 bezeichnete Theil ausgewählt
worden iſt. Statt deſſen hätte auch jeder der anderen Kon-
ſtruktionstheile, mit Ausnahme der Theile 3 und 9, gewählt
werden können. Auf die Form des Verfahrens und auf die
Endreſultate hat dieſe Wahl ſelbſtverſtändlich keinen Einfluß.
Die Konſtruktion der Kräftepläne (Fig. 5 und Fig. 6), welche
die Größen von S und u1 enthalten, iſt ſo einfach, daß eine
Erläuterung nicht nöthig erſcheint. In der folgenden Tabelle
ſind nun zunächſt die gegebenen Werthe von l und F und
die hieraus ermittelten Werthe von r zuſammengeſtellt; der
Elaſticitätsmodul des Schmiedeeiſens iſt hier, wie in den fol-
genden Beiſpielen gleich 2000000 Kilogramm angenommen.
Die beiden folgenden Vertikalreihen enthalten die aus den
Kräfteplänen entnommenen Werthe S und u1. Hiernach ſind
vermittelſt einer Rechenſcheibe die Werthe von u1 · S · r und
u12 · r berechnet, in die Tabelle eingetragen und ſummirt.
Die erſte der Gleichungen 9) nimmt demnach die Form an:
O = — 14997 + 5,260S1
woraus folgt:
S1 = + 2850 Kilogr.
Setzt man dieſen Werth in die Gleichungen 5) ein, ſo ergeben
ſich die in der letzten Vertikalreihe der Tabelle enthaltenen
Reſultate. Dieſe Reſultate werden in Wirklichkeit nicht zur
Geltung gelangen können, weil die Zugſtange (6) bei einem
Querſchnitt von nur 4,9 □Zentimeter außer der elaſtiſchen
Längenänderung höchſt wahrſcheinlich eine Biegung erleiden
wird, bevor die Druckſpannung
S(6) = — 1080 Kilogr.
zur Wirkung kommen kann. Es liegt daher die Frage nahe:
um welches Maß i muß die Länge der Zugſtange 1 ver-
größert werden, damit die Zugſtange (6) in beſtimmter
Weiſe zur Thätigkeit komme? Dieſe Frage läßt ſich mit
Hülfe der Gleichungen 17) und 14) beantworten, indem man
für den ſpannungloſen Zuſtand des Trägers zwiſchen dem
Konſtruktionstheil 1 und den übrigen Theilen eine Temperatur-
differenz t vorausſetzt, welche der Gleichung
i = l1 · δ · t
entſpricht. Die erſte der Gleichungen 14) ergibt alsdann:
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
0 = i + 0,000526 · T1
oder T1 = — 1900 · i.
Für den belaſteten Träger wird alſo
S1 = + 2850 — 1900 · i
und nach Gleichung 5)
S(6) = — 1080 + 2850 · i
Sollen z. B. beide Zugſtangen gleich ſtark geſpannt wer-
den, ſo muß
2850 — 1900 · i = — 1080 + 2850 · i
oder
i = 0,83 Zentimeter
gemacht werden. Es wird alsdann
S1 = S(6) = + 1275 Kilo,
und nach den Gleichungen 5):
S(1) = S(11) = — 7010 Kilo,
S(2) = S(10) = + 5040 „
S(3) = S(9) = — 1100 „
S(4) = S(8) = — 6360 „
S(5) = S(7) = + 3930 „
Beiſpiel 2. Der in Figur 7 auf Blatt 610 mit
Angabe der Dimenſionen und Belaſtungen dargeſtellte ſchmiede-
eiſerne Brückenbalken enthält 16 Knotenpunkte und 35 gegen
Zug und Druck widerſtandsfähige Konſtruktionstheile, demnach
35 — (2 · 16 — 3) = 6
überzählige Theile. Als ſolche ſind die mit 1, 2, 3, 4, 5, 6
bezeichneten Diagonalen ausgewählt worden. Anſtatt derſelben
hätte man auch z. B. die übrigen ſechs Diagonalen oder ſechs
Vertikalſtänder wählen können. Der Kräfteplan der Span-
nungen S (Figur 9) iſt nach dem auf Seite 230 dieſes
Bandes beſchriebenen Verfahren mit Zuhülfenahme des Seil-
polygons der Belaſtungen (Fig. 8) konſtruirt worden. Die
Kräftepläne Figur 10, 11 und 12 ergeben die Werthe von
u1, u2 und u3 und der Symmetrie wegen zugleich die Werthe
von u6, u5 und u4. In der Tabelle Blatt 609 ſind die
gegebenen Werthe von l, F und r, die aus den Kräfteplänen
entnommenen Größen von S und u und ferner die hiernach
berechneten Werthe von u · S · r, u2 · r u. ſ. w. zuſammen-
geſtellt. Die Summen der Vertikalreihen ergeben die zur
Bildung der Gleichungen 9) erforderlichen Zahlenwerthe:
O = + 19650000 + 14881 S1 + 371 S2
O = + 29110000 + 371 S1 + 17307 S2 + 745 S3
O = + 14490000 + 745 S2 + 19463 S3 + 898 S4
O = — 63650000 + 898 S3 + 19463 S4 + 745 S5
O = — 42170000 + 745 S4 + 17307 S5 + 371 S6
O = — 8730000 + 371 S5 + 14881 S6.
Aus dieſen ſechs Gleichungen erhält man:
S1 = — 1280 Kilo,
S2 = — 1617 „
S3 = — 831 „
S4 = + 3220 „
S5 = + 2284 „
S6 = + 530 „
Wenn man dieſe Werthe in die Gleichungen 5) einſetzt, ſo
gewinnt man die in der Vertikalreihe S der Tabelle enthalte-
nen Reſultate.
Nach der bislang üblichen Methode der Berechnung
zuſammengeſetzter Fachwerke würde in dem vorliegenden Falle
der Träger in die beiden einfachen Fachwerke Fig. 15 und 16
zerlegt werden. Man würde alsdann auf jeden dieſer beiden
Träger die Hälfte der Einzellaſten einwirken laſſen, die hier-
durch hervorgerufenen Spannungen beſtimmen, ſodann beide
Fachwerke auf einanderlegen und die Spannungszahlen der
ſich deckenden Konſtruktionstheile ſummiren. Bei dieſem Ver-
fahren würde ſich z. B. für die Diagonalen 5, 9, 13 ....
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
die Hälfte der im Kräfteplane ermittelten Werthe von S als
Spannungen S ergeben. Die Ungenauigkeit der Methode in
Bezug auf die Beſtimmung dieſer Spannungen erkennt man
demnach aus folgender Zuſammenſtellung:
Aehnliche Differenzen ergeben ſich für die übrigen Fül-
lungstheile, während die Fehler in der Beſtimmung der Gur-
tungsſpannungen im Vergleich mit den beträchtlichen Größen
dieſer Spannungen aus nahe liegenden Gründen erheblich
kleiner ſind. Das alte Verfahren liefert offenbar deſto grö-
ßere Fehler, je mehr die Formänderungen der beiden bela-
ſteten Fachwerke, in welche man den Träger zerlegt, von
einander abweichen. In dem vorliegenden Falle ſind dieſe
Abweichungen verhältnißmäßig groß, weil die Spannungen
der Vertikalſtänder des Fachwerks Figur 15 im Vergleich mit
denjenigen im Fachwerk Figur 16 große Verſchiedenheiten auf-
weiſen. Weit unbedeutender ſtellen ſich die Fehler heraus,
wenn in den durch die Zerlegung ſich ergebenden einfachen
Fachwerken die Syſteme der Füllungstheile von gleicher
Form ſind wie z. B. in Figur 17. In ſolchen Fällen wird
man unbedenklich das ältere Verfahren anwenden dürfen.
Als Beiſpiel der Anwendung der Gleichung 2) iſt in
der letzten Vertikalreihe der Tabelle die Durchbiegung
des Knotenpunktes C, welcher die Länge der unteren Gurtung
halbirt, für den hier in Rede ſtehenden Belaſtungsfall be-
rechnet worden. Wenn man dieſen Knotenpunkt mit Eins
belaſtet und die ſechs überzähligen Konſtruktionstheile beſeitigt,
ſo erzeugt jene Belaſtung in dem übrig bleibenden einfachen
Fachwerk die Spannungen u, welche im Kräfteplan Fig. 13
Blatt 610 konſtruirt und in die vorletzte Vertikalreihe der
Tabelle eingetragen ſind. Die Summirung der letzten Ver-
tikalreihe ergibt für die geſuchte Durchbiegung die Größe:
In dem vorliegenden Falle iſt der Einfluß der Längenände-
rungen der Füllungstheile auf die Größe der Durch-
biegung verſchwindend klein; denn ſummirt man nur die den
Gurtungstheilen entſprechenden Zahlenwerthe der letzten
Vertikalreihe, ſo ergibt ſich die Durchbiegung gleich
Es iſt jedoch keineswegs zuläſſig, hieraus allgemeine Schlüſſe
zu ziehen.
Um endlich auch den Einfluß der Temperatur durch ein
Zahlenbeiſpiel zu erläutern, möge angenommen werden, daß
im ſpannungloſen Zuſtande des Trägers die Temperatur der
Diagonalen (5), (9), (13), (17), (21) und (25) um 15 Grad
Celſius höher ſei als diejenige der übrigen Konſtruktionstheile,
und daß in Folge direkter Einwirkung der Sonnenſtrahlen
die Temperatur der oberen Gurtung die übereinſtimmende
Temperatur aller anderen Konſtruktionstheile in dem betrach-
teten Zeitpunkte um 20 Grad überſteige.
Für alle Konſtruktionstheile mit Ausſchluß der genann-
ten Diagonalen und Gurtungstheile kann alſo z. B. ange-
nommen werden
für die genannten Diagonalen iſt dagegen:
und für die Theile der oberen Gurtung:
Der Koefficient der Längenausdehnung iſt für Schmiede-
eiſen:
δ = 0,0000123.
Hiernach und mit Benutzung der in der Tabelle auf
Blatt 609 enthaltenen Werthe von l und u ſind die Summen
å u · l · δ · t in der nachfolgenden Tabelle I berechnet. Die
Gleichungen 14) ergeben demnach folgende Beziehungen:
O = — 98700000 + 14881 T1 + 371 T2
O = — 99600000 + 371 T1 + 17307 T2 + 745 T3
O = — 104500000 + 745 T2 + 19463 T3 + 898 T4
O = — 104500000 + 898 T3 + 19463 T4 + 745 T5
O = — 99600000 + 745 T4 + 17307 T5 + 371 T6
O = — 98700000 + 371 T5 + 14881 T6.
Aus dieſen Gleichungen erhält man die Werthe:
T1 = T6 = + 6500 Kilo,
T2 = T5 = + 5400 „
T3 = T4 = + 4930 „
Die von der Temperatur hervorgerufenen Spannungen
T der übrigen Konſtruktionstheile ſind mit Hülfe der Glei-
chungen 11) zu beſtimmen und erhalten hiernach folgende
Werthe: (Tabelle II)
[]Mohr, Beitrag zur Theorie des Fachwerks.
TabelleI.
TabelleII.
Die Zahlenwerthe der letzten Horizontalreihe, welche die
Spannungen für den □Zentimeter der Querſchnittsflächen
angeben, zeigen, wie ſehr beträchtlich die hier in Rede ſtehen-
den Einwirkungen werden können; denn es iſt wohl kaum
zu bezweifeln, daß die Temperaturdifferenzen unter manchen
Umſtänden noch größer werden können, als ſie hier beiſpiels-
weiſe geſchätzt ſind.
Von Wichtigkeit iſt außerdem ein allgemeines Reſultat,
welches ſich aus den obigen Zahlen entnehmen läßt, die That-
ſache nämlich, daß die Temperatureinwirkungen für die ſchwa-
chen Füllungstheile weit nachtheiliger ſind als für die ſtärkeren
Gurtungen. Wenn alſo bei der Wahl der Querſchnitts-
dimenſionen, wie es üblich iſt, allein die von den Bela-
ſtungen erzeugten Spannungen in Rechnung gebracht wer-
den, ſo iſt es durchaus rathſam, als zuläſſige Inanſpruch-
nahme der Feſtigkeit des Materials einen deſto kleineren
Werth anzunehmen, je ſchwächer der Querſchnitt des Kon-
ſtruktionstheils ausfällt. (Fortſetzung folgt.)
Bemerkungen über die Feſtſtellung der Normaldimenſionen
für Schifffahrtskanäle;
vom Waſſerbau-Inſpektor Heß.
Die Kanalprojekte Deutſchlands, welche ſeit einem Jahr-
zehnt mehr oder minder ſpeciell bearbeitet der Ausführung
harrten, wurden durch die finanziellen Verhältniſſe der letztern
Jahre in den Hintergrund gedrängt; ſeit Erhöhung der Eiſen-
bahntarife tritt die Nothwendigkeit der endlichen Ausführung
aber immer mehr hervor, weshalb es an der Zeit ſein wird,
die Feſtſtellung der Normaldimenſionen einer kurzen Beſpre-
chung zu unterziehen.
In Betreff der Frage, ob die Feſtſtellung der Normal-
dimenſionen nothwendig ſei, gibt Frankreich uns eine zu be-
herzigende Lehre; in der Zeitſchrift für Bauweſen im Jahre
1870 hat der Verfaſſer eine Ueberſicht der Dimenſionen von
24 größeren franzöſiſchen Kanälen gegeben, wie ſich eine bun-
tere Sammlung kaum denken läßt. Es iſt denn auch ſchon
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Appendix A
Band XX. Zeitſchrift des Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Hannover. Blatt 609.Tabelle zum Artikel „Beitrag zur Theorie des Fachwerks“ von Mohr.
Beitrag zur Theorie des Fachwerks von Mohr.
auf dieſen Punkt einwirkende Kraft P aus der Betrachtung fortgelaſſen
werden.
einige in neueſter Zeit zur Ausführung gekommene Balkenfachwerke
von der nachſkizzirten Form (Fig. 14) nicht 2 m — 3 Konſtruktionstheile
ſondern einen weniger erhalten haben. Bei der Beſtimmung dieſer
Anzahl dürfen ſelbſtverſtändlich die ſogenannten Gegendiagonalen in
der Mitte der Trägerlänge, welche in der Skizze daher fortgelaſſen
ſind, nicht mitgezählt werden. Da ein ſolches Fachwerk, wenn es mit
ſcharnierförmigen Knotenpunkten verſehen wäre, nicht tragfähig ſein
würde, ſo müſſen die Funktionen des fehlenden Konſtruktionstheils in
nicht empfehlenswerther Weiſe von der Steifigkeit der Knotenpunkt-
verbindungen übernommen werden.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Mohr, Otto. Beitrag zur Theorie des Fachwerks. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjq9.0