Verbeſſerungen.
- Seite 80 Zeile 9. v. o. lies Humoriſt ſtatt Hu¬
maniſt. - " 219 " 11. v. o. lies haben ſtatt holen.
- " 221 " 2. v. u. " burſchikoſe ſtatt
prunkloſe. - " 224 " 3. v. u. lies gern ſtatt ganz.
- " 235 " 2. v. o. " Seiten ſtatt Leiden.
- " 247 " 4. v. u. " ſterben ſtatt ſtecken.
- " 257 " 9. v. u. " Dinge ſtatt Siege.
- " 260 " 11. u. 12. v. u. iſt die Erzaͤhlung der
beruͤhrten Anekdote von der Cenſur
geſtrichen. - " 264 " 4. v. u. lies Modergeruch ſtatt
Modegeruch.
☞ An vielen andern Stellen wo der Zuſammenhang
geſtoͤrt oder gaͤnzlich aufgehoben ſcheint, iſt dies den von
der Zenſur gebotenen Auslaſſungen zuzuſchreiben.
Charaktere.
bei Hoffmann und Campe.
1835.
Vorrede.
Der groͤßere Theil der hier mitgetheilten biogra¬
phiſchen Skizzen wurde zuerſt durch die Augsbur¬
ger Allgemeine Zeitung veroͤffentlicht. Ich ſchrieb
ſie, angeregt von der laufenden Geſchichte, noch
oͤfter aber aus Ueberdruß an den Begebenheiten
des Tages, welche im Allgemeinen nicht viel nuͤtze
ſind und hoͤchſtens fuͤr den Papierſpeculanten ei¬
nigen Werth haben koͤnnen. Man hat ſich ſeit der
Julirevolution das Intereſſe fuͤr Politik angewoͤhnt,
und wagt noch immer nicht, einmal eine Zeitung
ungeleſen zu laſſen; ein Servilismus, eben ſo
thoͤrigt, als jener, welcher in der Reſtaurationszeit
[VI]Vorrede. herrſchte, wo man ſich nur um eine Saͤngerin
oder einen kleinen Almanach enthuſiasmirte. Wir,
die wir Maͤnner der Geſchichte ſind, geben die
Verſicherung, daß nichts in der Wagſchaale der
Jahrhundertsfrage leichter wiegt, als die beiden
Jahre, welche wir nun erlebt haben, und etwa
noch zweimal ſoviel, welche ihnen folgen werden.
Es iſt ſchon dafuͤr geſorgt worden, die Zeit
recht unannehmlich, nuͤchtern und unpoetiſch zu
machen.
In einer ſolchen Zeit zieht ſich der Bieder¬
mann vom oͤffentlichen Leben ein wenig ſeitwaͤrts,
und beobachtet laͤchelnd die Menſchen, welche jetzt
wieder die Begebenheiten machen, beobachtet die
Pompzuͤge, Vermaͤhlungsfeierlichkeiten, Sterbefaͤlle
und die ſchweren Geburten der Miniſterien, und
findet daran ein Wohlgefallen, die Individualitaͤ¬
ten zu klaſſifiziren in Meineidige, Servile, Dum¬
koͤpfe, Gluͤckspilze, Staatsphiloſophen, Kammer¬
herrn und ſolches Gelichter. Ein Jeder dieſer
oͤffentlichen Herren zieht einen langen Schweif von
[VII]Vorrede. Servilismus und .... nach ſich, in welchen ſich ſeine
ganze Erſcheinung huͤllt, ſo daß drinnen kometen¬
artig nur ein ganz kleiner Kern wohnt, welcher oft
nicht groͤßer iſt, als ein adliger Name. Andere
waren ehrlicher oder hielten beſſer auf den Schein,
Manche ſind bemitleidenswerth, weil ihre Stellung
von jedem Kniff, aber nicht von der Tugend aus¬
zufuͤllen war, Einige ſtehen ſogar noch im Vor¬
grunde, welche zu uns gehoͤren und im weißen
Harniſch wie St. George glaͤnzen, und unſicht¬
bar, von Engeln geſchuͤtzt werden, die wir vom
Himmel auf- und niederſteigen ſehen — kurz, das
Intereſſante ſind nicht mehr die Begebenheiten, ſon¬
dern die Menſchen.
Die Praͤcedentien! dies Schreckbild wandelt
durch die Tagesgeſchichte Europas, und fordert
Rechenſchaft von Apoplexie und Paralyſie, welche
von einer großen und titaniſchen Vergangenheit
uͤbrig geblieben iſt. O koͤnnte man tilgen, was
geſchehen iſt! Koͤnnte man die Buͤcher all verbie¬
[VIII]Vorrede.ten, welche die Wahrheit an die Nachwelt uͤber¬
liefern.
Ich geſtehe, daß ich neben dem Zwecke der
Entlarvung auch noch einen kuͤnſtleriſchen hatte,
und ich muß mir deshalb einen zwiefachen Vor¬
wurf gefallen laſſen.
Einmal wird man ſagen, ich ſei, um nur die
plaſtiſche Einheit und Ruhe in meine Auffaſſung
der Individualitaͤten zu bringen, oft ſehr mild und
ſchonend zu Werke gegangen und habe durch man¬
chen Hieb des Meißels getilgt, was freilich das
Auge beleidigt haͤtte, was aber auch die Menſch¬
heit beleidigt. Doch wird dis immer eine Conſe¬
quenz ſein, die wenn ihre Praͤmiſſen nur da wa¬
ren, nicht genannt zu werden brauchte. Die Mi߬
lichkeit der Zeiten entſchuldige mich! Ich habe die
Blumen der Poeſie auf die duͤrren, ſchlotternden
Charaktere der großen Welt nicht geworfen, um
die Narben ihrer Ehre, oder die offenen Schaͤden
ihres Verſtandes zu verdecken, ſondern um Euch
zu zeigen, wie erhaben Ihr ſteht uͤber Allen und
[IX]Vorrede.wie mitleidig Ihr ſeid mit der fremden Schwaͤche
und dem Alter, das jedoch bald treten muß vor
den Thron des ewigen Gerichtes! Trauet dieſen
Roſen nicht, aber rechnet ſie mir auch nicht an;
denn ich ſchaͤtze den Blauduft des Himmels und
lerne mein deutſches Volk liebgewinnen, ſeitdem
es freundlich meinen Worten zulauſcht, und moͤchte
noch recht lange als feſſelloſer Fruͤhlingsbote außer
dem Kaͤfig mit Euch verkehren im Scherz und
Ernſt.
Zweitens mag gerade das, was in meinen
Skizzen das Kuͤnſtleriſche iſt, einem Vorwurfe aus¬
geſetzt ſein, den ihnen die biographiſche Kunſt ſelbſt
macht. Gewoͤhnlich verlangt die Biographie, weil
ſie die Rivalitaͤt der Geſchichte nicht ertragen kann,
daß ihre Helden dem Bereiche der Begebenheiten
entfernt ſtehen und ſie recht viel Raum geben ſol¬
len fuͤr die kleine Detailentwickelung des Privaten-
Charakters. Freilich hieran leiden meine Darſtel¬
lungen, denn ſie wiſſen nicht, um welch' Uhr
des Morgens Martinez de la Roſa aufſteht,
[X]Vorrede. ob Wellington gern geraͤucherten Schinken ißt
oder ob O'Connel ſich ein Tagebuch haͤlt, worin
er ſeine Ideen niederſchreibt. Hier werden meine
Berichte immer luͤckenhaft bleiben und ergaͤnzt
werden muͤſſen, von Varnhagen von Enſe, Wach¬
ler oder ſonſt einem biographiſchen Denkmalſetzer,
der noch andere Quellen zu benutzen Gelegenheit
hat, als das große aufgeſchlagene Buch der Ge¬
ſchichte, das die ganze Bibliothek iſt, welche ich
beſitze. Ich habe nichts gethan, als aus den ob¬
jektiven Klammern der Geſchichte das Alles abge¬
loͤſt, was auf Rechnung der Charaktere kommt,
welche dies oder jenes Faktum entweder ſelbſt ge¬
macht oder doch gebilligt haben. Nur Menſchen
wollt' ich ſchildern, bei denen ſich nichts verſtecken
duͤrfte; und bei denen das Nebendetail der Privat¬
verhaͤltniſſe ſo unbedeutend iſt, daß ſie nicht ver¬
mißt werden.
Auch nicht einmal deshalb unvollſtaͤndig ſind
meine Darſtellungen, weil ihre Gegenſtaͤnde noch
leben und die Geſchichte keineswegs entſchloſſen iſt,
[XI]Vorrede. ſtill zu ſtehen. Bei den jungen Charakteren,
welche ich zeichne, wird man nur ahnen koͤnnen,
daß die Tugend und der Ruhm das Steuer und
der Leuchtthurm ihrer Zukunft ſein wird; bei den
alten wird die neueſte Gnade des Fuͤrſten bald
nachgetragen ſein. Alles was geſchehen kann, wird
doch nichts Anderes ſein, als bei Talleyrand ein
neuer Meineid, bei Martinez de la Roſa ein neuer
Irrthum, bei Chateaubriand eine neue Thorheit,
bei Mehemed Ali eine neue Filzigkeit, bei den Na¬
poleoniden eine neue Schuldenmaſſe, bei Welling¬
ton ein neuer Steinhagel auf ſeine Kutſche, bei
O'Connell ein neuer Triumph, bei Francia eine
neue Gotteslaͤugnung, bei Ancillon eine Uebernahme
des Miniſteriums der Cultusangelegenheiten, bei
Carrel nichts als Handlungen, ſo ehrenhaft und
maͤnnlich wie die fruͤhern, das Alles iſt aber leicht
mit Rothſtift an den Rand dieſer Skizzen ange¬
ſchrieben.
Welche Charaktere der zweite Band bringen
wird, verrath' ich noch nicht. Denn nicht nur
[XII]Vorrede. kann bis uͤber's Jahr noch mancher jugendliche
Name hiſtoriſch werden, ſondern ich behalte auch
durch Verſchwiegenheit uͤber gewiſſe Menſchen die
Zuͤgel in der Hand. Dieſe Gallerie ſoll vollſtaͤndig
werden. Es ſollen Viele und Manche hineinkom¬
men. Nur Eines erloͤſt davon, naͤmlich der Tod;
denn nur mit lebenden Zeitgenoſſen beſchaͤftigen
wir uns.
Frankfurt a. Main, im Maͤrz 1835.
Karl Gutzkow.
Talleyrand.
Gutzkow's Öffentl. Char. 1[][]Frau Grandt und der Monat Mai moͤgen beſſer wiſ¬
ſen, wie oft Karl Moritz Talleyrand von Peri¬
gord falſch geſchworen hat; die Geſchichte ſagt, daß er
es ſechsmal that. Sie liebt ihn aber und moraliſirt
nicht; denn Talleyrand war kein Ueberlaͤufer. Talley¬
rand hinkt auf dem linken Fuße, er uͤbereilte ſich nie,
er lief nicht. Hat man ſich je mit mehr Grazie in
die Zeitumſtaͤnde gefuͤgt! Talleyrand machte keinen Laͤrm
von ſeinen gebrochenen Schwuͤren, er ließ nicht die
Trommel ſchlagen, wenn er das Lager der Partei ver¬
ließ, er ging ohne Anhang, ohne Commandoſtab, er
ging, nur begleitet vom Abbé Desrenaudes, der fuͤr ihn
Studien machte, und vom Grafen d'Hauterive, der ihm
ſeine Reden ſchrieb. Talleyrand ſuchte die ſchroffen Kon¬
traſte der Geſchichte auszuglaͤtten, er ſprang in den neuen
Sattel mit einem Witze, und konnte das Blutvergießen
nicht leiden. Mit einem Worte, ich finde, daß in Eu¬
1*[4]Talleyrand. ropa viel Sympathie fuͤr ſeine grazioͤſen Meineide
herrſcht, und es iſt nicht ſchwer, dafuͤr eine Urſache an¬
zugeben. Es gibt Leute, welche den greiſen Prieſter
fuͤr einen verkannten Propheten anſehen. Man ver¬
gleicht ihn mit Sokrates, welcher außer ſeinem eigenen
himmliſchen Geiſte noch einen beſondern in Dienſten
hatte, der ihm Rath, Warnung und die Zukunft gab.
Talleyrands Sehergeiſt wird bald ein Inſtinkt, bald eine
Offenbarung genannt. Was davon zu halten ſei, wiſ¬
ſen wir nicht, wollen aber ſein Leben deshalb zu Rathe
ziehen. Hatte Talleyrand eine eigene Maxime, ſeine
Kokarde bald weiß, bald bunt zu faͤrben? War ſein
Leben die Einfluͤſterung eines beſonderen Genius, der
ihn zu ſeinem Liebling gemacht hatte? Beſaß Talley¬
rand eine unveraͤnderliche Idee, eine pensèe immuable,
wie Louis Philipp? Wir wollen ſehen. Es war ſchon
einige Jahre vor der konſtituirenden Verſammlung, daß
der junge Biſchof von Autun ſich in der beſten und
abwechſelnd in der ſchlechteſten Geſellſchaft von Paris
ſehen ließ. Er hatte damals nur Ein Geſchaͤft: naͤm¬
lich alle Welt davon zu uͤberzeugen, daß er kein wah¬
rer Prieſter ſei. Seine Kehle, noch heiſer von der
Meſſe, die er im Stifte hatte ſingen muͤſſen, ſein An¬
ſtand, noch kaͤmpfend mit dem Prieſterrocke, der dem
[5]Talleyrand. lahmen Fuße nachſchleppte, ein zweiter Eſau, der an
ſeinen juͤngern Bruder die Erſtgeburt fuͤr die Linſenge¬
richte des biſchoͤflichen Konvikts verkauft hatte, nahm
er ein Betragen an, das aus Ehrgeiz, encyklopaͤdiſcher
Philoſophie und Ausſchweifungen zuſammengeſetzt war.
Er unterließ nicht, dem Hofe aufzuwarten, und ent¬
wickelte dort viel Tugend. Dieſer Juͤngling von Bi¬
ſchof verſtand es ſchon vortrefflich, die Maske vorzu¬
nehmen; er war galant, blumenreich, etwas ſalbungs¬
voll, und zog es in den meiſten Faͤllen vor, zu ſchwei¬
gen. Man nannte dis erſt Beſcheidenheit, aber Tal¬
leyrand beſann ſich auf jenes feine Laͤcheln, das ihn
auch ſpaͤter im auswaͤrtigen Amte von London noch
nicht verlaſſen hat. Von dieſem Augenblicke an hielt
man ihn fuͤr geiſtreich, ſein Schweigen wurde eine Au¬
toritaͤt, man wettete, daß wenn er den Mund nur oͤff¬
nen wollte, unfehlbar etwas Geſcheidtes zu Tage kom¬
men wuͤrde. Talleyrand genoß dieſen Triumph des
Stillſchweigens, empfahl ſich, und eilte auf Mirabeau
zu, der ihm ſchon lange winkte. Sie legten ihre Arme
ineinander, zogen die hohen Perſonen durch, ſchwaͤrm¬
ten durch das Palais-royal, und verbrachten die Nacht
am Spieltiſche in der Rue Quincampoir. Talleyrand
und Mirabeau waren die beſten Freunde. Dieſer
[6]Talleyrand.ruͤhmte damals von ihm, daß er ein Mann ſei, der
Ideen beſitze. Ich bin immer neugierig geweſen, was
Talleyrand im Jahre 1786 eine Idee genannt hat.
Welches mag die Philoſophie geweſen ſein, fuͤr die ſich
Talleyrand und Mirabeau unter Roſen und gemiethe¬
ten Kuͤſſen damals ausſprachen? Nur ſo viel weiß ich,
es fehlte Beiden immer an Geld; und Talleyrands Haupt¬
maxime, das, was man ſeine Idee nennen koͤnnte, war in
der Folge nur, ſich davon ſo viel als moͤglich zu verſchaffen.
Die Staͤnde traten zuſammen: der Biſchof von
Autun hatte ſein Kapitel zu vertreten. Es iſt be¬
kannt, was Talleyrand bei der Vereinigung mit dem
dritten Stande, bei der Aufhebung der Privilegien,
was er auf dem Marsfelde leiſtete, wo er die neue
Verfaſſung Frankreichs durch eine Meſſe dem Himmel
empfahl. Er hatte gut reformiren. Der Prieſter ver¬
folgte ihn ſchreckhaft, er haßte ſeine Beſtimmung, und
warf ein Vorrecht des Standes nach dem andern nie¬
der. Durch alle ſeine Amendements und Abſtimmun¬
gen gluͤhte weniger der Enthuſiasmus der Freiheit, als
der des Haſſes. Man konnte ſeine Rechnung nicht
beſſer machen. Indem er ſich fuͤr die Ungerechtigkeit
ſeiner Eltern, fuͤr die Vigilien, bei denen er als Chor¬
knabe einſchlief, fuͤr die Faſten und jenes Linſengericht
[7]Talleyrand.des Eſau raͤchte, erwarb er ſich zugleich eine anſehnliche
Popularitaͤt. Talleyrand wußte, welcher Monarch ſich
auf den Thron Frankreichs ſetzen wuͤrde; er uͤberließ
Marie Antoinette ihren Thraͤnen und Gardes du Corps,
und ſchloß mit den Koͤnigen der Straßen und Vor¬
ſtaͤdte eine Freundſchaft, die ſich belohnte. Philoſo¬
phirte Talleyrand ſchon damals, ſo wußte er, daß man
in den erſten Zeiten einer Aufregung nicht trotzig ge¬
nug ſein Haupt erheben kann, daß man in einem
Glutfieber von Illuſionen leben muß, wenigſtens eine
Zeit lang. Er ſtiftete den Jacobinerklub, er fuͤhrte,
wie Mephiſtopheles bei Goethe, das Papiergeld ein,
und drang in jeder Sitzung darauf, daß man das Sil¬
bergeraͤthe der Kirche, dieſe fatalen Pfannen, die er im
Chorrocke hatte tragen muͤſſen, ohne Gnade verkaufe.
Er wollte keinen andern Kultus als den der Nation.
Eines Tages beſann ſich aber Talleyrand. Seine Haͤnde
waren zu zart fuͤr eine Popularitaͤt, welche ſich nicht
wuſch und keine Handſchuhe trug. Die republikaniſche
Tugend machte ihm Langeweile, ſeitdem ſie ihm vor¬
warf, daß er in einer einzigen Nacht 30,000 Livres
im Spiele gewann. Er ſah ſich in dem Spiegel, und
fand, daß die phrygiſche Muͤtze der Jakobiner ſeinen
guten und tadelloſen franzoͤſiſchen Zuͤgen ſchlecht ſtand;
[8]Talleyrand.er ſtiftete den Klubb der Feuillans. Das war ſchlimm.
Talleyrand wurde uͤberfluͤgelt: die Ereigniſſe kamen ihm
zu ſchnell. Der Abfall Mirabeaus machte ihn wan¬
kend, das Poſtmeiſterſtuͤck in Varennes und die Emi¬
gration verwirrten ihn, die Koalition des Auslands
zwang ihn, die Lage Frankreichs [zu] kombiniren. Er
hoͤrte das Meſſer der Guillotine ſchleifen, der Bann¬
fluch des Papſtes, der ihn perſoͤnlich traf, weckte To¬
desgedanken, ſeine Popularitaͤt ging an Maͤnner uͤber,
welche haͤrtere Schwielen in der Hand hatten. Talley¬
rand haßte den Ungeſtuͤm, die Leidenſchaft und die
Grauſamkeit. Er draͤngt ſich zum Geſandten auf, und
kann mit guter Manier Paris verlaſſen, welches ein
unſicherer Boden iſt. So lange die Dinge gut ſtan¬
den in Frankreich, ſo lange nur erſt Ludwig XVI.
geblutet hatte, ſpielte Talleyrand in London einen vor¬
trefflichen Republikaner. Er hatte den Auftrag, die
neue Ordnung der Dinge zu repraͤſentiren, und that es
mit gleichem Wohlgefallen vor Englaͤndern und Emi¬
grirten. Seine unbezweifelte feudale Herkunft machte
ſeinen politiſchen Abandon ertraͤglich, weniger ſeinen mo¬
raliſchen. Die Koͤnigin wandte dem ausſchweifenden
Prieſter den Ruͤcken, ja ſeitdem der Konvent Luft
ſpuͤrte nach ſeinem Kopfe, und ihn einmal uͤber das
[9]Talleyrand. andere freundſchaftlich erſuchte, uͤber den Kanal zu kom¬
men, verlor er vollends alle Haltung. Seine Miſſion
ging zu Ende. Er verzweifelte noch nicht, er rechnete
auf Pitt, auf Pitt, der bei ſeinem Oheim, dem Erz¬
biſchof von Rheims, einſt Faſanen aus den Forſten
von Perigord gegeſſen hatte. Allein Pitt, ſo ein gro¬
ßer Staatsmann er war, litt doch an einem ſchwachen
Gedaͤchtniſſe, und wollte ſich der Faſanen nicht erin¬
nern. Talleyrand war zu ſtolz, ſie zu erwaͤhnen, und
verließ England auf Pitts Weiſung. Man hielt ihn
trotz ſeiner Verurtheilung noch immer fuͤr einen ver¬
ſteckten Jakobiner. In der That, Talleyrand litt nie
an einer eingewurzelten Idee; denn wie ſchwer ſich
London an ihm verbrach, ſo liebte er es doch unaus¬
geſetzt, und war ſogar im Stande, die engliſche Ver¬
faſſung das beſte Prinzip zu nennen, wo es die Klug¬
heit gebot, auf Prinzipien einen Werth zu legen.
Die Tage des Exils brachte Talleyrand in Nord¬
amerika und in Hamburg zu. Die Hamburger wer¬
den ſagen, daß er bei ihnen lernen wollte, was wahre
Freiheit ſey. Ich glaube auch in der That nicht, daß
er jenſeits des Ozeans die weiße Kokarde aufſteckte.
Was haͤtte er damit gewinnen wollen? Die Liebe ei¬
ner reizenden Emigrantin, eine Lilie aus dem Geſchlechte
[10]Talleyrand.der Montmorency oder Levis? Bis dahin ſtieg die
Leidenſchaft des geaͤchteten Prieſters nicht, obſchon er
ſich ſelbſt die Indulgenz der Ehe geſtattete. Er hatte
andere Sympathien; er liebte die gute Hausfrau, und
es war nur zufaͤllige Romantik, daß Frau Grandt aus
Oſtindien ſtammte. Zu der blendenden Schoͤnheit die¬
ſer Dame geſellte ſich eine muntre, prononcirte Ein¬
falt: der arme Exbiſchof mußte ſeiner zaͤrtlichen [Nei¬
gung] wegen viel leiden. Aber er ſetzte ſich uͤber den
boͤſen Leumund hinweg und ſehnte ſich nicht nach dem
Gluͤcke, das inzwiſchen Herr v. Chateaubriand in den
Urwaͤldern bei den Haſen- und Fuchs-Indianern em¬
pfand. Er war in Verzweiflung, daß ihn das Laby¬
rinth der Langeweile, aus welchem ihn nur zuweilen
der Faden vom Strickſtrumpf der Frau Grandt ret¬
tete, nicht losließ. Er ſehnte ſich nach dem ſchoͤnen
Himmel von Frankreich und Navarra: die Guillotine
war ermuͤdet: Talleyrand ſah nichts mehr, was fuͤrch¬
terlich geweſen waͤre. Er ſchrieb an den Konvent, er
ſchrieb im Tone des patriotiſchen Heimwehs, er weinte
trotz einem Schweizer, betheuerte, daß er bei Franklin
und Waſhington ſich in ſeinen republikaniſchen Tugen¬
den immer mehr vervollkommnet habe, und verlangte
die Zuruͤcknahme ſeines Anklagedekrets. Der Buͤrger
[11]Talleyrand. Talleyrand kehrte zuruͤck; Frau v. Stael und die Ko¬
terie jubelten, daß die neue Meinung nun nicht mehr
des Glanzes der alten guillotinirten oder emigrirten
Herrſchaft entbehren ſollte. Carnot verachtete ihn, doch
Talleyrand wußte, welche Rolle er zu ſpielen hatte. Er
beſuchte die Clubbs und die Salons. Sein Beneh¬
men war ein Wechſelſpiel republikaniſcher Urtheile und
royaliſtiſcher Manieren. Man bewunderte ihn; denn
das Beduͤrfniß nach Ruhe und Anſtand uͤberwog. Das
Direktorium hatte ſein Wohlgefallen an ihm. Nach¬
dem Talleyrand durch die ſchwache ungeſicherte Gegen¬
wart zum Miniſter der auswaͤrtigen Angelegenheiten
erhoben war, begann er, an eine ſtarke, vorhaltende
Zukunft zu denken. Seine Augen fielen auf den jun¬
gen General Bonaparte, deſſen Ehrgeiz eben ſo feurig
war, als damals ſeine Liebe zu Joſephine Beauhar¬
nois. Talleyrand machte fuͤr beide den Unterhaͤndler;
denn dem Ehrgeize traute er Frankreich an. Er ver¬
anlaßte die italieniſchen Siege und die große aͤgyptiſche
Cavalcade; er wußte, daß ſich Frankreich zwar noch von
keinem Herrſcher, aber von dem Ruhm wuͤrde regieren
laſſen, und gewann fuͤr ſeinen Guͤnſtling ſo viel Bun¬
desgenoſſen, daß die hochverraͤtheriſchen Bajonnette des
18. Bruͤmaire fuͤr eine Wohlthat angeſehen wurden.
[12]Talleyrand. Bonaparte vergaß niemals die Dienſte, welche ihm
Talleyrand leiſtete, und konnte ihm verzeihen, ſelbſt
als der Mann ſpaͤter nichts als bourboniſche Konſpi¬
ration athmete. Er ließ ihm ſeinen auswaͤrtigen Ein¬
fluß. Schon eine gewiſſe ſchwaͤrmeriſche Sentimenta¬
litaͤt, die fuͤr den Mann unſers Jahrhunderts ſo cha¬
rakteriſtiſch iſt, feſſelte ihn an Talleyrand, an dieſen
Schlaukopf, der auf Koſten der guten Meinung von
ſeinem Verſtande und auf die Gefahr hin, ausgelacht
zu werden, den jungen General an das Direktorium
als einen leidenſchaftlichen Verehrer der Geſaͤnge Oſ¬
ſians empfohlen hatte. Oſſian war es, der Talleyrand
lange Zeit geſchuͤtzt hat. Napoleon verzieh dem Mi¬
niſter, der ſein Portefeuille benutzte, um ſich den Cours
der Papiere zinsbar zu machen; er verzieh ihm, daß er
durch ihn der Moͤrder Enghiens wurde; er vergaß Oſ¬
ſian nicht. Es iſt zu verwundern, daß Talleyrand die
Sympathien ſeines Herrn nicht mehr belauſchte; denn
Napoleon hatte noch mancherlei Eigenheiten. Napoleon
liebte die Tugend; je aͤlter er wurde und maͤchtiger,
deſto mehr zog er die guten Sitten den Geſaͤngen Oſ¬
ſians vor. Er glich darin allen beſſeren Uſurpatoren,
daß er ſich zufriedener fuͤhlte, wenn er auch die Tugend
um ſich hatte. Aber Talleyrand wurde Alles, Gro߬
[13]Talleyrand. kaͤmmerer, Vicegroßwahlherr, nur nicht tugendhaft. Er
war der Roué der Boͤrſe und des Spielhauſes, er
liebte noch immer ohne Plan, fluͤchtig, auswaͤhlend, ja
er hatte keinen Anſtoß daran, daß Frau Grandt noch
nicht einmal vor den Altar mit ihm getreten war.
Napoleon wollte von dieſen lockern Banden nichts mehr
wiſſen, ſondern drohte ihm mit ſeiner Ungnade, worauf
ſich Talleyrand murrend verheirathete. Oſſian entfiel
dem Gedaͤchtniſſe des Kaiſers immer mehr: in den
polniſchen Waͤldern dachte er nicht mehr daran, und
Talleyrand fiel in foͤrmliche Ungnade. Es war die
zweite Periode ſeiner Unthaͤtigkeit, die er mit Sarkas¬
men, Geldſpekulationen und Verſchwoͤrungen hinbrachte.
Er hatte den ruſſiſchen Feldzug den Anfang des En¬
des genannt, und war fruͤh genug zur Hand, dem ge¬
fallenen Helden die Krone vom Haupte zu nehmen.
Er gab ſie den Bourbonen. Er konnte das Degen¬
geklirr der Napoleoniden nicht mehr hoͤren und fuͤrchtete
die Epauletten, welche um die Wiege des Kindes
Reichſtadt wuͤrden geſtanden haben. Talleyrand haßte
den Krieg, weil ſeine Entſcheidungen ohne Berechnung
ſind und nichts ſichrer, nichts die Papiere der Boͤrſe
beherrſchender iſt, als ein nicht gefahrloſer Friede, ein
Friede mit etwas Beſorgniß und viel Diplomatie.
[14]Talleyrand.Talleyrand fing jetzt an, von Prinzipien zu ſprechen,
und dieſe Prinzipien waren fuͤr ihn die Bourbons. Er
hatte ihnen ſeit dem polniſchen Feldzuge viel Dienſte
geleiſtet; er wollte ihnen nun auch die Mittel an die
Hand geben, ihn dafuͤr zu belohnen. Er bewies den
Alliirten theoretiſch und praktiſch, wie nothwendig jetzt
die weiße Kokarde waͤre. Der Kaiſer von Rußland
ließ ſich uͤberreden, und dem Grafen von Provence
wurde gehuldigt. Man muß gerecht ſein gegen Tal¬
leyrand: die Reſtauration der Bourbone war ſeine glaͤn¬
zendſte That. Er bot alle Mittel auf, um dieſen pre¬
kaͤren Thron zu ſichern, und die Ereigniſſe brachen ſo
ſeltſam herein, daß er jetzt ſogar im Stande war, ei¬
nen vortrefflichen Patriotismus zu zeigen. Er verfiel
mit Alexander, der die zweite Reſtauration haßte, er
kaͤmpfte fuͤr Frankreichs Unabhaͤngigkeit, und gab den
Bourbonen ſo kuͤhne Vortheile, daß Louis XVIII.
ſelbſt davor erſchrak. Es war Talleyrand darum zu
thun, die Bourbone populair zu machen; wodurch konnte
es ihm beſſer gelingen, als durch die Oppoſition gegen
die Fremden? Ja er ſcheute ſich ſogar nicht, von ei¬
ner Waffenentſcheidung zu ſprechen. Louis zitterte vor
dieſen guten Dienſten, Talleyrands Muth ging zu weit,
der Napoleonismus hatte ihn angeſteckt, und die dritte
[15]Talleyrand. Periode der Unthaͤtigkeit brach an. Talleyrand gab ſeine
Entlaſſung und fungirte am Hofe nur noch als Reichs¬
kaͤmmerer. Es verſtrich ihm die Reſtauration unter
Witzen, Titeleroberungen und Promenaden nach Va¬
lençay. Louis und Talleyrand uͤberboten ſich an feinen
Bemerkungen; jener liebte das Madrigal, dieſer das
Wortſpiel, jener das Impromptuͤ, dieſer den vorberei¬
teten Hieb, jener wollte geiſtreich, Talleyrand nur bei¬
ßend ſeyn. Louis haͤtte Talleyrand gern aus Paris ge¬
habt; wie oft ſprach er zu ihm von den laͤndlichen
Freuden, die man fern von Geſchaͤften auf Valençay
feiern koͤnnte! Dann pflegte ihn Talleyrand nach Gent
zu fragen, oder hinzuwerfen, welch ſchoͤnes Wetter man
am 20. Maͤrz hatte, und der Koͤnig mußte ſchwei¬
gen. Talleyrand war nicht unthaͤtig in der Reſtaura¬
tion. Er ließ ſich oft in der Pairskammer ſehen, und
las trefliche Diskurſe ab, die die boͤſe Nachrede frem¬
den Federn zuſchrieb. Talleyrand wußte, daß man in
Zeiten der Ruhe ſich ein Geſchaͤft nie ſoll entgehen
laſſen, nemlich das, ſich populaͤr zu machen. Er ar¬
beitete daran, ohne Anſtrengung, ohne Ambition, und
ſeine Reden gegen die Cenſur und dem ſpaniſchen Krieg
erwarben ihm gute, ehrliche Freunde, Freunde aus der
Mittelklaſſe, die Alles von der beſten Seite anſehen.
Wir wagen nicht zu behaupten, daß Talleyrand zu
der Konſpiration Orleans gehoͤrte. Doch mußte er Louis
Philipp lieben, denn beide lieben England. Talleyrand
wurde die Aegide der neuen Herrſchaft. Er konnte ſie
am beſten beim Auslande repraͤſentiren. Die alten Ver¬
beugungen und Mienen waren allen Kabinetten be¬
kannt; man laͤchelte und erkannte ſich wieder. Talley¬
rand gab der neuen Herrſchaft ein moraliſches Gepraͤge,
gleichſam die Beruhigung, daß ſie nicht anders ſeyn
werde, als die fruͤhere. Es waren dieſelben Manieren,
nichts hatte ſich veraͤndert. Talleyrand war gleichſam
beſtimmt, wie glattes Oel die anarchiſchen Wogen der
Revolution zu beruhigen; er machte die Revolution
von 1830 ſo ordinair wie jede andere Staatsveraͤn¬
derung, er ließ ſie, die flog, erſt gehen lernen, machte
den Enthuſiasmus bei Zeiten altklug, und wurde der
pedantiſche Erzieher der jungen Franzoſen des Julius,
deren unkluge Streiche er ſich bei den auswaͤrtigen
Maͤchten zu entſchuldigen erbot. Es liegt die Selbſtge¬
faͤlligkeit des Alters in Talleyrands jetzigem Auftreten.
Es ſind die Schwierigkeiten eines alten Geſchaͤftmanns.
der einem jungen Aspiranten das alte Herkommen, die
Formalitaͤten, als etwas Heiliges anvertraut. Talley¬
rand ſcheint die Diplomatie zum Selbſtzwecke machen
[17]Talleyrand. zu wollen. Er liebt den Krieg jetzt noch weniger als
fruͤher; denn er iſt alt, ſteinalt, der erſte Kanonen¬
ſchuß braͤchte ihn in Vergeſſenheit. Er ließ Polen un¬
tergehen, gab Italien hin; er haͤtte Belgien preisgege¬
ben, wenn die Protokolle ihre Wirkung verfehlt haͤtten;
er ſchuf die Hauspolitik Louis Philipps, und er iſts,
der die Deviſe traͤgt: Friede um jeden Preis! Talley¬
rand iſt achtzig Jahre, ſeine Augenhoͤhlen werden immer
dunkler, er ſieht geſpenſtiſch um die Wangenknochen aus,
er geht gebuͤckt und faͤllt immer mehr zuſammen. Wie
viele Fruͤhlinge werden ihm die Lerchen in Valençay
noch ſingen? Was wollt Ihr nun mit dieſem Leben
beweiſen? Daß es ein Kunſtwerk war? Eine Luͤge?
Ich glaube keines von beiden, und laͤugne, daß Talley¬
rand ein großer Mann war. Talleyrand erſchuf ſich
ſeine Schikſale nicht ſelbſt, er machte die Ereigniſſe
nicht. Denkt Euch andere Umſtaͤnde, und immer wer¬
det Ihr wiſſen, was Talleyrand unter ihnen geweſen
ſeyn wuͤrde. Louis XIV. haͤtte in ihm einen vortref¬
lichen Geſchaͤftsmann gehabt, der auf Ambaſſaden durch
ſeine Gewandtheit, und nebenbei in den Salons durch
ſeinen Witz geſiegt haͤtte. Unter Louis XIII. waͤre er
nicht einmal Mazarin geweſen; zwiſchen der Fronde und
Ligue, zwiſchen Heute und Geſtern waͤre er erdruͤckt
Gutzkow's öffentl. Char. 2[18]Talleyrand. worden. Er brauchte ein Terrain, das großartig genug
war, um ſowohl Partei als die Flucht ergreifen zu
koͤnnen. Dies großartige Terrain aber uͤberkam er, es
war eine Erbſchaft des Augenblicks an den Augenblick.
Talleyrand war ein kluger Mann, er wußte es zu be¬
nutzen. Talleyrands ſechs Meineide wird man vielleicht
verzeihlich finden unter ſeinen Umſtaͤnden; aber ein gro¬
ßer Charakter waͤre nie in die Verlegenheit gerathen,
ſie ſchwoͤren zu muͤſſen. Eine beſondere Weltanſchau¬
ung blickt aus den aufgezaͤhlten Schickſalen nicht her¬
vor, wohl aber eine Reihe einzelner Maximen, die ſich
immer an ihrem Orte erproben konnten. Talleyrand
philoſophirte uͤber die Begebenheiten, uͤber die natuͤrliche
Schwaͤche des menſchlichen Herzens, weniger uͤber die
Moral. Das Gewiſſen verwarf er nicht; doch galt es
bei ihm nur gewiſſermaßen. Er ſog das Mark ſeiner
Umgebungen aus, er abſorbirte Entſchluͤſſe, Intereſſen,
Beſorgniſſe, ſelbſt den Verſtand der Außenwelt und
verwandte Alles zu ſeinem Gewinn. Talleyrand nannte
nicht Alles Betrug, was mit einer Nichteinloͤſung ei¬
nes gegebenen Wortes endete. Er brachte die Abſicht
des Gegners in Anſchlag, und wußte, daß Einer von
des Andern Leben zehre. Warum denen Wort halten,
philoſophirte er, die jeden Augenblick bereit ſind, dich
[19]Talleyrand. ſelbſt zu betruͤgen? Die Ereigniſſe entſchuldigten bei
ihm Alles; nur das eine glaubte er dem Himmel ſchul¬
dig zu ſein, daß er ihnen nicht unterliege. Der Ego¬
ismus war ſeine Religion; er kreuzigte ſich vor einer
Tugend, die ihm haͤtte Schaden bringen koͤnnen. Talley¬
rand hatte einige allgemeine Maximen, welche man ſo¬
gar erhaben nennen koͤnnte. So huͤtete er ſich von zwei
gebotenen Faͤllen den zu waͤhlen, welcher den naͤch¬
ſten Vortheil brachte. Sah er, daß der Umweg mehr
eintrug, ſo konnte er ſogar ſo großherzig ſeyn, z. B.
gegen die Einrichtung einer Pairskammer zu ſtimmen,
obſchon ſie ihm fuͤr den Augenblick eine koͤſtliche Wuͤrde
gebracht haͤtte. In ſolchen Augenblicken erhob ſich ſeine
Geſtalt, ſeine Worte wurden edler und der Nimbus
einer uneigennuͤtzigen Tugendliebe ſchien ſich um ſein
Haupt zu verbreiten. Doch war er nicht geizig nach
ſolchen Augenblicken. Er ſuchte ſie nicht abſichtlich, und
begnuͤgte ſich damit ſeinen Zweck zu erreichen, ſelbſt
wenn man die Mittel in Abrede ſtellen mußte. Er er¬
ſchrak vor dem Jeſuitismus nicht, weder in der Mo¬
ral noch in der Politik, aber ich wiederhole es, er that
dies Alles ohne Prinzip, ohne Syſtem, ohne feſte
Maxime. Eine feſte Maxime hatte er, und die ſchloß
alle uͤbrigen ein; ich habe ſie ſchon erwaͤhnt, es war
2 *[20]Talleyrand.die, ſoviel Geld als moͤglich zu erwerben. Talleyrands
politiſche Laufbahn wuͤrde anders ausgefallen ſeyn,
wenn er nicht das Ungluͤck gehabt haͤtte, ſie mit Schul¬
den anzufangen. Es ſcheint, als konnte man beim
Anfange der Revolution manche artige Summe ge¬
winnen, waͤhrend das Gluͤck des Spielhauſes, das
Talleyrand immer verſuchte, ein truͤgeriſches iſt. Doch
ſtuͤrzte ihn ſein Exil in große Verlegenheit, er konnte
nur mit geborgtem Gelde nach Paris zuruͤckkehren,
und es gab Zeiten, wo er nicht die Miethkutſche be¬
zahlen konnte, die ihn in das Hotel eines der Direk¬
toren bringen ſollte. Im Konſulat aber und waͤhrend
der Kaiſerherrſchaft haͤuften ſich die Reichthuͤmer. Na¬
poleon war hoͤchſt freigebig, war es ſelbſt dann noch,
wenn ſich Talleyrand, der ſchlechteſte Wirth, ploͤtzlich
wieder um ein geſammeltes Vermoͤgen gebracht hatte.
An der Boͤrſe machte der Miniſter das meiſte Gluͤck.
Unklar ſind die Geldmachinationen geblieben, welche er
mit dem Friedensfuͤrſten von Spanien trieb; doch ſcheint
hinter ihnen wiederum ein ſehr leichtes Gewiſſen zu
ſtecken. Talleyrand war ſtets in der Lage, immer noch
mehr zu brauchen. Oft mußte er ſein Haus, ſeine
Meubles, irgend ein Landgut verkaufen, ja es kam
ihm gerade recht, daß ihm der Papſt fuͤr ſein Fuͤrſten¬
[21]Talleyrand. thum Benevent mehrere Millionen zu geben erboͤtig
war. Die Bourbonen waren weniger freigebig; ſie hat¬
ten nur Orden und feudale Titel zu verſchenken.
Talleyrand war gezwungen, ſich an der Boͤrſe zu ent¬
ſchaͤdigen. Sie iſt noch bis auf den heutigen Tag ſeine
rechte Hand, die Hand, welche zahlt. Die Politik
dient ſeinem Intereſſe; um den Tagespreis gewiß zu
haben, wuͤrfelt er den Voͤlkern ihre Schickſale zu.
Talleyrand wuͤrde vielleicht nicht ſo oft Wort und
Schwur gewechſelt haben, wenn er mehr Geld gehabt
haͤtte. Wenn er ſagte: es iſt ein Ungluͤck, daß man
leben muß! ſo hieß dies: es iſt ein Ungluͤck, daß man
die Tugend nicht lieben kann! Man iſt gern geneigt,
Talleyrand ein unveraͤnderliches Prinzip fuͤr die franzoͤ¬
ſiſche Politik unterzuſchieben, das gleichſam das Fun¬
dament aller ſeiner Unternehmungen geworden waͤre.
Ich meine die Allianz mit England. Doch iſt dieſe
nicht ſo alt; ſie fing erſt nach der zweiten Reſtaura¬
tion an. Als republikaniſcher und kaiſerlicher Miniſter
kam er ſchwerlich in Verſuchung ſie anwenden zu wol¬
len. Der Haß jenſeits des Kanals ſchien unausloͤſch¬
lich. England fuͤrchtete die Vermehrung ſeiner Schuld
nicht, um ſich dieſem blindlings hinzugeben. Doch iſt
es wahr, daß Talleyrand fruͤh die geheimen Spring¬
[22]Talleyrand.federn kennen lernte, welche die britiſche Politik in
Bewegung ſetzen. Er verſtand die Zuſammenſetzung des
Parlaments und den hohen Werth zu ſchaͤtzen, wel¬
chen man auf einzelne hervorragende Familien des Lan¬
des legen mußte. Sein feiner Takt ließ ihn fruͤher
ſchon die Wichtigkeit erkennen, welche die Familie, der
Wellington angehoͤrt, fuͤr England haben wuͤrde; er
machte Napoleon ſchon zu guter Zeit darauf aufmerk¬
ſam, daß man ſich durch eine Huldigung, dieſem Ge¬
ſchlechte dargebracht, der britiſchen Politik in etwas
bemeiſtern koͤnnte. Was Napoleon damals ausſchlug,
nahm Talleyrand nach der Schlacht bei Waterloo wie¬
der auf. Er benutzte die Zuſammenſetzung der Allianz,
ſchied die Elemente, welche eine natuͤrliche Sympathie
fuͤr Frankreich haben konnten, ſehr bald von denen,
welche in jedem Stuͤcke fremdartig blieben. Er be¬
diente ſich Englands als eines Schildes gegen Ru߬
land, eine Politik, die leider Frankreich noch zu ſchwach
war auszuhalten. Talleyrand verſpielte die Gunſt Louis,
den perſoͤnliche Eiferſucht gegen England reizte, und
regte den Zorn Alexanders auf, der ihn auch ſtuͤrzte.
Nach der Juliusrevolution nahm er ſeine Politik da
wieder auf, wo er ſie vor funfzehn Jahren ſtehen laſ¬
ſen mußte. Er bemuͤhte ſich, jede ſich verwickelnde
[23]Talleyrand. Frage in Englands Intereſſe zu ziehen, und auf faſt
indirektem Wege ſo den Nutzen der franzoͤſiſchen Allianz
nachzuweiſen. In der That ſollte man glauben, Tal¬
leyrand ſei kein Geſandter in London, ſondern ein eng¬
liſcher Miniſter. Indem er Frankreich ſcheinbar bei
Seite laͤßt, zwingt er England zu alle dem, was das
Pariſer Kabinet thun zu muͤſſen glauben duͤrfte, ent¬
weder beizuſtimmen, oder die gleiche Verantwortlichkeit
oder gar die Initiative zu uͤbernehmen. England, das
zoͤgerte ſich uͤber Polen zu erklaͤren, zwang er dazu durch
geheime aus das Parlament angewandte Mittel; Bel¬
gien machte er zu einer engliſchen Frage, indem er die
Wahl des Herzogs von Koburg betrieb; in Sachen des
Orients ſchuͤrt er den engliſchen Ehrgeiz, und zwingt
das Miniſterium, mit Noten und Demonſtrationen
vor die Fronte zu treten. Talleyrand will, daß ſich
Frankreichs auswaͤrtige Politik nur darauf beſchraͤnken
ſoll, die engliſche zu unterzeichnen, wie denn auch der
Herzog von Broglie zuruͤcktreten mußte, der es ver¬
ſuchte, auf eigne Verantwortlichkeiten in ſein Miniſte¬
rium etwas Selbſtſtaͤndigkeit und Ehre zu bringen.
Die Quadrupelallianz ſoll durch einen coup de main
in Madrid entſtanden ſein, und der lange Anſtand ih¬
rer oͤffentlichen Bekanntmachung ſcheint dieſen Urſprung
[24]Talleyrand.glaublich zu machen. Doch muͤſſen dieſe Dinge ſich
anders verhalten, denn die Lage der pyrenaͤiſchen Halb¬
inſel war keine ſolche, die erſt uͤber Nacht entſtand; ſie
ließ ſich lange vorherſehen, und die Diplomatie mußte
auf das Kommende gefaßt ſein. Das Intervenstion¬
recht, welches dieſer Allianz zum Grunde liegt, ſcheint
vielmehr das Tageslicht etwas geſcheut zu haben, und
nahm, um ſich beſſer verantworten zu laſſen, den
Deckmantel einer Intrigue vor, da es doch im Grunde
nichts Anderes war, als eine in London getroffene Ver¬
abredung. Wir koͤnnen dieſe Darſtellung nicht verlaſſen,
ohne noch zum Schluß die Frage auszuwerfen, ob Tal¬
leyrand ſich noch in dem Bereiche der Territorial- und
Gleichgewichtsintereſſenpolitik bewegt, oder ob er es an¬
erkannt hat, daß die voͤlkerrechtlichen Beziehungen ſich
immer mehr auf Trutz und Schutz fuͤr die beiden Sy¬
ſteme des Stillſtandes oder der Bewegung herausſtel¬
len? Wir bezweifeln das Letztere. Talleyrand iſt nicht
gewohnt, in der franzoͤſiſchen Revolution ein Prinzip
zu ſehen; ſie iſt ihm nichts als eine Kataſtrophe. Tal¬
leyrands erſtes Geſchaͤft war, der Revolution von
1830 das Außerordentliche zu nehmen. Die große Um¬
waͤlzung, welche ſich aus ihr fuͤr Frankreichs auswaͤr¬
tige Politik haͤtte ergeben muͤſſen, hielt er im Beginne
[25]Talleyrand. auf, und zwang ſie, in das Gleis des alten betruͤ¬
geriſchen Herkommens zuruͤckzukehren. Aus der Voͤlker¬
freiheit machte er Fragen des Gebiets und des Gleich¬
gewichts, wie Belgien zur Genuͤge beweiſt. Er be¬
treibt die Verwicklungen des Orients mit Vorliebe,
weil ſie eine Frage der Suprematie ſind, eines alten
Begriffes, dem die Voͤlker nicht mehr aufgeopfert ſein
wollen, und weil ihm nichts paſſender ſcheint, um Oeſt¬
reich von der nordiſchen Allianz abzuziehen. Talleyrand
wuͤrde im Sinne der alten Balance ſein Meiſterſtuͤck
erreichen, wenn er Oeſtreich vermoͤgen koͤnnte, wieder
ſeiner alten engliſchen Politik nachzugeben. Talleyrand
arbeitet an etwas Unmoͤglichem. Die feinſte Kombina¬
tion der Diplomatie zerſtoͤrt in unſerm Zeitalter ein
Augenblick. Unſre jetzige Periode der Legationsſekretaire
kann nicht lange dauern; denn die alten Kunſtgriffe,
dieſe zierlichen Fechterſtuͤcke der Parade, hauen ja doch,
wie Menzel ſagt, die Rieſen durch. Frankreich beklagt
nicht mit Unrecht, daß Talleyrand ſein Vaterland an
England verraͤth. Denn welchen Vortheil zog es bis
jetzt aus ſeiner Politik? Es hat Ehre genug, „den
Frieden um jeden Preis“ keinen Vortheil zu nennen.
Talleyrands Politik iſt ein leeres Wuͤrfelſpiel. Er ſpielt
mit den Maͤchten, wer die meiſten Augen hat; aber
2 **[26]Talleyrand.er ſollte ihnen zeigen, wer die meiſten Arme hat.
Talleyrand iſt zum erſtenmale genuͤgſam geworden.
Er ſpielt nicht, um zu gewinnen, ſondern um den
Einſatz wieder zu haben, mit dem er die zweite Partie
wagt. Der alte Mann will das Heft nicht aus den
Haͤnden laſſen, ſelbſt wenn er damit nur in die Luft
ficht. Seine Gegner verſtehen ihre Sache und ihre
Zeit beſſer; wer koͤnnte laͤugnen, daß ſich die nordiſche
Allianz auf einem hoͤchſt realen Boden befindet? Sie
ſteuert ſicher ihrem Ziele zu, ſie hat ihre Kanonen,
ihre Koſaken, ihre Prinzipien, ihre Tendenz. Talley¬
rand hat mehr Gewandtheit; aber es iſt nur ein Au¬
genblick, wo der Witzige dem Starken uͤberlegen iſt.
Talleyrand hat kein Ziel; denn Frankreichs Sache ver¬
ſteht er nicht: er iſt nicht Repraͤſentant der Revolu¬
tion, ſondern nur der Perſonen, welche zufaͤllig in ſie
verwickelt ſind. So iſt er nur gemacht, dem eignen
Lande durch kleine Siege eine große Niederlage vorzu¬
bereiten. Aber wie bald wird ſich in der Halle von
Valençay ein ſchwarzer Katafalk erheben.
Martinez de la Roſa.
[][]Die leichtfertigen Franzoſen uͤbertreiben, wenn ſie in
Don Franzisco Martinez de la Roſa nichts gel¬
ten laſſen wollen, als die Talente eines Theaterkoſtuͤ¬
miers. Es iſt wahr, er lieferte ein laͤcherliches Mei¬
ſterſtuͤck der Poeſie, als er das Koſtuͤme entwarf, in
welchem die Veteranen, die jungen Helden und die
Tartuͤffes der ſpaniſchen Freiheit ihre Rolle als Depu¬
tirte ſpielen ſollen. Ein Anzug der Art, wie er ihn
vorſchrieb, mit ſeinen feudalen Schleifen, ſeinen idylli¬
ſchen Baͤndern, dem Peruaniſchen Falbala koſtete meh¬
rere Tauſend Franks; die Deputirten waren unfaͤhig,
in dem Augenblicke einen ſolchen Aufwand zu machen,
zoͤgerten zu erſcheinen, und es haͤtte leicht geſchehen
koͤnnen, daß durch die Ruͤckſicht auf die Schneider von
Madrid die ganze ſpaniſche Konſtitution auf Monate
eine Taͤuſchung geworden waͤre. Doch beſitzt Martinez
de la Roſa ehrenwerthe Eigenſchaften, Talente und
[30]Martinez de la Roſa.Praͤzedentien, welche den Novelliſten und Dichter fuͤr
das Parterre vergeſſen machen. Nur kann man nicht
laͤugnen, daß Martinez de la Roſa ſich eine große Auf¬
gabe geſtellt hat. Das Beiſpiel, welches er giebt, iſt
nicht einzig, aber doch ſelten. Die Geſchichte ſtraͤubte
ſich immer, Maͤnnern, welche gewohnt ſind, im Reiche
der Phantaſie zu leben, ein irdiſches Portefeuille an¬
zuvertrauen. Ich beſinne mich in dieſem Augenblicke
nur auf Koͤnig David, Arthur vom Nordſtern und Cha¬
teaubriand. Selbſt Alcaͤus von Mytilene und Goethe
gehoͤren nicht hierher. David, der Sohn Iſai's, ſang
ſchon als Miniſter Sauls. Er vertauſchte fruͤhe die
Schleuder und den Flitzbogen mit der Leyer, der kleine
Held, und verſtand im Palaſte, wie in den Hoͤhlen
der Gebirge ſo den Dichter mit dem Premierminiſter
zu verbinden, daß es zweifelhaft geblieben iſt, ob er
mehr durch jenen oder dieſen aus den finſtern, tragiſchen
Saul wirkte. Ein herrliches Vorbild! Der Dichter mit
dem Fuͤrſten „auf der Menſchheit Hoͤhen!“ Doch war
David ein antiker Dichter. Damals war Alles noch
einfach; die Sprache, die Sitte, die Poeſie koſtete kein
Studium, Alles war Inſtinkt. Die Bilder waren noch
nicht verbraucht; wenn man nach ihnen jagte, traf
man ſelten auf ſolche, welche ſchon angeſchoſſen waren.
[31]Martinez de la Roſa. Es iſt wahr, David kaͤmpfte zwar auch wie jeder Dich¬
ter mit Philiſtern: aber eine ganze Voͤlkermaſſe von
Proſa iſt leichter zu beſiegen, als wenn ſich die All¬
taͤglichkeit vereinzelt oder wohl gar die Maske der Kri¬
tik vornimmt. Kurz, einen Dichter der Vorwelt koſtete
ſein Ruhm keine Muͤhe, ſeine Zukunft keine Gegen¬
wart, ſeine Unſterblichkeit nicht, wie den Romantiker,
den Tod. Der poetiſche Miniſter Sauls durfte nur
einen Blick in die Morgenroͤthe werfen, einen Blick,
der ihn nichts von ſeinen Geſchaͤften verſaͤumen ließ,
und das einfache Bild, das bloße Wort reichte hin,
alles das auszudruͤcken, woran ein zeitgenoſſiſcher Dich¬
ter einen Tag, und Alles, was ſich in einem Tage ver¬
ſaͤumen laͤßt, ſetzen muß. Dies hat unſre Zeit ſo mi߬
trauiſch gegen Miniſter gemacht, welche mit dichteriſchen
Talenten begabt ſind. Eine Ungerechtigkeit iſt einge¬
riſſen gegen Etwas, was ſich doch mit unwiderſtehli¬
chem Drange in die Seele wirft, was der ſchoͤnſte Be¬
gleiter einer dornenvollen Laufbahn iſt, und auch einen
Miniſter troͤſten kann, nach den ſauern Stunden, welche
eine Staͤndeſitzung, ein theilnahmloſer Blick des Mo¬
narchen, ein ploͤtzliches Defizit ihn koſtet. Warum ſoll
dem erſten Staatsmanne die aufgehende Sonne keine
Empfindung entlocken? Warum ſoll er kalt bleiben,
[32]Martinez de la Roſa.wenn die Lerche ihr Morgenlied ſingt? Warum ſoll
ihm uͤberhaupt der Himmel verſchloſſen ſeyn? Die grau¬
ſamen Franzoſen! Sie machen Martinez den Vor¬
wurf, daß er Dichter iſt! Wir wollen, indem wir die
fluͤchtigen Schatten ſeines Lebens reißen, in ihm den
redlichen, patriotiſchen und talentvollen Mann erkennen
laſſen. Geboren wurde Martinez de la Roſa im An¬
fang der achtziger Jahre zu Granada. Wenn Ihr den
Vorzug, Deutſche zu ſeyn, auf einen Moment vergeſ¬
ſen koͤnnt, ſo beneidet ihn darum! Beneidet ihn um
die Olivenwaͤlder, die am Fuße der Sierra Nevada ſte¬
hen, beneidet ihn um den goldhaltigen Genil, in dem
er baden konnte, und jenen zweiten Fluß, deſſen Name
mir entfiel, der aber gediegenes Silber mit ſeinen Wel¬
len fuͤhrt! Welche zaubervolle Jugend! Die alten mau¬
riſchen Sagen umfluͤſterten den Knaben, wenn er beim
Spiele ſeinen Ball in die Truͤmmer des Alhambra
warf. Er hoͤrte in der wunderbaren Loͤwenhalle, wie
ſich die großen Emire der Wuͤſte aus dem weisheits¬
vollen Koran die Spruͤche vorleſen ließen, welche an
die Maͤßigung im Gluͤck und die Barmherzigkeit des
Siegers des Paradieſes ſchoͤnſte Freuden knuͤpften. Er
trank aus dem Brunnen im ſchweigſamen Hofe und
fuͤhlte, wie ſich fruͤhe die Gabe der Weiſſagung und
[33]Martinez de la Roſa. ſchoͤnen Rede auf ſeine Lippen legte. Aber nicht Alles
iſt verſchwundene Herrlichkeit in Granada. Auf den
Truͤmmern der mauriſchen Erinnerung pflanzte das
Ritterthum und die Weltmonarchie Karls V. die Tro¬
phaͤen ihrer großen Siege. Auf dem Platze Viva¬
rambla konnte Martinez keinen Wettlauf mit ſeinen
Geſpielen anſtellen, ohne daß jene die Zegris, dieſe die
Abencerragen retten wollten. Er wurde aͤlter, und in
den ungeheuern Dimenſionen des Palaſtes Karls V.
lernte er die Geſchichte des Vaterlandes, die Univerſal¬
traͤume des ſpaniſchen Habsburgs, an dem Grabmale
Ferdinands und Iſabellens, wie Amerika entdeckt und
die Inquiſition eingeſetzt wurde. Hier konnte ſich fruͤh
die Seele an einen maͤchtigen Fluͤgelſchlag gewoͤhnen,
ſo daß die moͤnchiſche Erziehung des ſpaͤtern Alters zwar
Vieles dem Wiſſensdurſte verweigern durfte, aber nichts
nehmen, was ſchon da war. Martinez war reicher
und angeſehener Eltern Kind. Er benutzte alle Bil¬
dungsmittel, welche ihm Spanien darbot, und gab ſich
zuletzt dem Studium der Rechte und der Staatswirth¬
ſchaft hin. Das Syſtem der Reformen Karls III.
ließ ſich in Spanien durch eine Herrſchaft der Guͤnſt¬
linge und Ehebrecher nicht ſogleich aufhalten. Es blieb
von der encyklopaͤdiſchen Aufklaͤrung, von dem philo¬
Gutzkow's öffentl. Char. 3[34]Martinez de la Roſa.ſophiſchen Enthuſiasmus des achtzehnten Jahrhunderts,
welcher auch Spanien mannichfach beruͤhrt hatte, Vie¬
les uͤbrig, was ſich nach unten hin verbreitete, und ge¬
naͤhrt von den Grundſaͤtzen der franzoͤſiſchen Revolu¬
tion, die Hauptquelle der Bildung wurde, die ſpaͤterhin
in der Geſtalt des Liberalismus als eine politiſche
Macht auftrat. Martinez warf ſich in dieſen Strom
der Tendenzen und ließ ſich von ihm tragen, bis er in
Begebenheiten endete. Die Revolution von Aranjuez,
die Abtretungen von Bayonne und Madrid, die neue
Dynaſtie der Napoleoniden warfen Spanien in einen
anarchiſchen Kampf von Intereſſen, wie ſie auf einem
kleinen Terrain in Europa niemals widerſtreitender ge¬
weſen ſind. Doch machte ſich die gute Natur durch
dieſe Verwirrung Platz, der Inſtinkt des Patriotismus
ließ alle Differenzen vergeſſen, und von zahlloſen ſich
durchkreuzenden Leidenſchaften blieb nichts uͤbrig, als
der Haß gegen die Franzoſen. Die Cortes von 1808
traten zuſammen, und Martinez de la Roſa nahm
unter ihnen den Platz ein, der ſeinen Talenten und
Kenntniſſen gebuͤhrte. Er theilte die Schickſale dieſer
Cortes in Madrid, Sevilla und Cadiz. Ob er ſich zu
irgend einer Nuͤance dieſer patriotiſchen Verſammlung
bekannt hat, wiſſen wir nicht, glauben aber, daß ihn
[35]Martinez de la Roſa. die Liebe zur Freiheit immer da hintreten hieß, wo ihre
beredteſten Fuͤrſprecher ſtanden. Noch gab es keine
Doktrinairs, noch hatte die Exaltation durch geſcheiterte
Plane ſich nicht in Mißkredit gebracht: es gab keine
andre Gefahr, als die, welche eine edle Seele immer
uͤberſteht, den Servilismus. Martinez reihte ſich den
glorreichen Rednern dieſer Periode an, welche durch ihre
glaͤnzende Beredſamkeit, ein Talent, welches in keine
Schule gegangen war, ganz Europa zur Bewunderung
zwangen. Die Reſtauration Ferdinands machte allen
dieſen Dingen ein Ende. Die Cortes waren zerſprengt,
der Ruͤckkehrende begruͤßte ſein treues Volk mit Schaf¬
fotten und Proſcriptionen. Martinez de la Roſa
wurde nach der afrikaniſchen Kuͤſte verbannt und in
Ceuta wie ein Gefangener gehalten. Er ſcheint ſich
waͤhrend dieſer Zeit vielen Reflexionen hingegeben zu
haben. Er mag ſich bemuͤht haben, Spaniens Schick¬
ſal in ein Reſultat zuſammenzufaſſen, und philoſophirte
vielleicht uͤber Dinge, die uns entmuthigen, wenn wir
uns uͤber ſie ſtellen wollen. Welchen Eindruck mochte
Porliers und Lascys Schickſal in ihm machen? Er
beweinte es, aber nannte es vielleicht eine Thorheit,
zu konſpiriren. Feſſeln entnerven: man ſage nicht, daß
man nach einer vierjaͤhrigen Gefangenſchaft noch fuͤr
3 *[36]Martinez de la Roſa.ſich gut ſteht! Martinez wandte ſich verzweifelnd von
den politiſchen Kombinationen ab, und dichtete ſeinen
Morayma. Die Sehnſucht des Verbannten trug ſeine
Phantaſie in die poetiſchen Erinnerungen Granadas,
aber ſo gefeſſelt waren ſeine Gedanken an die Schick¬
ſale des Vaterlandes, daß ſein Drama eher den Na¬
men einer Allegorie verdiente. Er laͤßt einen der letz¬
ten mauriſchen Koͤnige nach Ermordung der Abencerra¬
gen den Thron beſteigen. Die Erbitterung der Par¬
teien umgiebt ihn. Perſoͤnliches Intereſſe ſchuͤrt die
Leidenſchaft, hier Intrigue und Verlaͤumdung, dort Ge¬
waltthaͤtigkeiten und Tumulte. Der Caſtilianer ſteht
vor den Thoren. Der Koͤnig iſt ſchwach und weil er
zwiſchen beiden Parteien in der Mitte ſtehen will, wird
er Tyrann und undankbar gegen die, welchen er ſeine
Krone verdankt. Hier ſind die Cortes, hier Ferdinand,
die Franzoſen. Hier aber auch ſchon der Gefangene
von Ceuta mit ſeinen Grillen, die er mit den Mu¬
ſcheln am afrikaniſchen Strande auflieſt; denn er ſieht
in Allem, was der Hebel ſeines Dramas iſt, perſoͤn¬
liche Leidenſchaft, fuͤrchtet die rohe Gewalt, auch da,
wo ſie zum Siege ſeiner Partei unerlaͤßlich iſt, und
haßt den Tumult der Maſſe. Wir ſehen ihn befan¬
gen nach Madrid, in die Cortes von 1820 zuruͤckkeh¬
[37]Martinez de la Roſa. ren. Er der auf einem, faſt moͤchte man ſagen, ge¬
ſchichtlichen Wege unter die Oppoſition gekommen iſt,
findet ſich jetzt umringt von Maͤnnern, die erſt durch
eine Betrachtung liberal wurden, von Maͤnnern, die
dem einreißenden Carbonarismus verwandter waren, als
den conſtitutionellen Erinnerungen Spaniens. Marti¬
nez mochte erſtaunen, daß die Liebe zur Freiheit ein
Syſtem geworden war, daß es ein Woͤrterbuch des Li¬
beralismus gab. Inzwiſchen trug ihn eine hohe Ver¬
ehrung empor, und gleich die erſte Sitzung machte ihn
zum Sekretair der Kammer, welche Spanien dem kuͤh¬
nen Muthe Riego's verdankte.
Von 1820 bis zur Kataſtrophe des Julius 1822
faͤllt Martinez de la Roſa's glaͤnzendſte Periode. In
den drei Cortesſeſſionen dieſer Zeit galt er als einer
der vorzuͤglichſten Redner, der mit Galiano und Au¬
guſtin Arguelles, dem Goͤttlichen, wetteiferte. Sein
erſter Antrag ſtand noch unter den Eindruͤcken ſeiner
Gefangenſchaft; denn er wollte, daß Spanien die afri¬
kaniſche Kuͤſte aufgaͤbe, und ſie an den Kaiſer von
Marocco gegen einen Tribut abtraͤte. Dann forderte
er die Miniſter auf, Maßregeln gegen die Raͤuberban¬
den, welche Spanien durchſtreiften, zu nehmen. Er
wollte nicht, daß die Pfarrer zwei Pfruͤnden beſaͤßen,
[38]Martinez de la Roſa.ein Antrag, den Graf Toreno unterſtuͤtzte, und ziemlich
reformatoriſch zu einem rein politiſchen machte. Ja,
er ſprach ſogar fuͤr die Geſchwornen, welche ihm in ei¬
ner neulichen Sitzung der Prokuratoren ein zu fruͤhes
Geſchenk waren. Er nahm ſich lebhaft der Joſephinos
an und bewirkte eine Amneſtie fuͤr ſie, kurz, es gab
mannichfache Gelegenheit, wo er ſein Talent und ſei¬
nen Patriotismus zeigen konnte. Doch ſprach ſich ſeine
ſpaͤterhin prononzirte politiſche Nuͤance gleichfalls allmaͤh¬
lich aus. Viele ſeiner Meinungen waren gegen die
politiſchen Klubbs gerichtet, und als am 4. September
1820 dieſe Frage aufs neue zur Sprache kam, treffen
wir auf eine merkwuͤrdige Allianz zwiſchen Martinez de
la Roſa, Moscoſo, Garely und Toreno, die ſich in
unſern Tagen wieder erneuert hat. Martinez ſagte da¬
mals: „Es iſt nothwendig, zum Vortheile der natuͤr¬
lichen Freiheit der buͤrgerlichen und politiſchen Schran¬
ken zu ſetzen;“ ein Satz, der erſt dann wahr iſt, wenn
man ihn umkehrt. Der doktrinaire Pedantismus, der
ſeine jetzigen Reden auf der Miniſterbank ſo unver¬
kennbar charakteriſirt, zeigte ſich auch damals ſchon:
Martinez diſtinguirte gern und zog ſich, wie alle poli¬
tiſch Zaghaften, auf die Phraſe zuruͤck, daß man die
Dinge auch von der andern Seite anſehen muͤſſe. Sein
[39]Martinez de la Roſa.Widerſtand gegen eine Entſchaͤdigung, welche Riego ver¬
langte, machte ihn unpopulaͤr, noch mehr die Debatte
uͤber die unter dem Namen „die Perſer” bekannten
meineidigen Deputirten, und am Schluſſe der Sitzung
von 1821 das Repreſſivgeſetz Toreno's, welches er eif¬
rig unterſtuͤtzte. Das Volk ſtuͤrzte Toreno's Wagen
um, und belagerte nach des Grafen Hauſe auch das
des erſchrockenen Dichters, der hier Scenen aus ſeinen
Tragoͤdien wiederkehren ſah. Nichts deſtoweniger erhielt
er mit Anfang der Sitzung von 1822, im Februar,
das Portefeuille des Auswaͤrtigen. Die Zuſammenſe¬
tzung dieſes neuen Miniſteriums war unpopulaͤr genug:
es war aus der Majoritaͤt der entlaſſenen Cortes ge¬
bildet, die ſich durch ihren Servilismus dem Volke ſo
verhaßt gemacht hatten. Die neue Kammer galt fuͤr
unabhaͤngiger, als alle fruͤheren; Riego war im An¬
fange ſelbſt ihr Praͤſident. Martinez, der ſich ſchon
lange an die miniſterielle Phyſiognomie gewoͤhnt hatte,
fand in ſeiner neuen Wuͤrde, fuͤr die ſeine Uneigennuͤ¬
tzigkeit ſich nicht bezahlen ließ, einen ſchwierigen Stand.
Der Kongreß ſaß drohend in Verona, die Glaubens¬
armee organiſirte ſich in den Gebirgen, die Camarilla
Ferdinands konſpirirte, in Valenzia und Pampeluna
brachen royaliſtiſche Tumulte aus. Und dennoch ſchien
[40]Martinez de la Roſa.dem Miniſterium dieſe Gefahr geringer, als die, welche
im Lager ſelbſt drohte. Es glaubte keinen andern
Feind bekaͤmpfen zu muͤſſen als den Jakobinismus der
Klubbs. Die Reden in der Fontana d'Oro, die Auf¬
ſaͤtze der Zuriaga und des Terzerols beſchaͤftigten die
Miniſter mehr, als die Fortſchritte, welche die Inſur¬
rektion der Miſa, Jaimes, Zabala und Queſada machte.
Man kann das Miniſterium des Martinez de la Roſa
von jener Zeit das Direktorium der ſpaniſchen Revo¬
lution nennen: der Moderantismus deſſelben, welcher
nicht durch vorangegangene, ſondern parallele Ausſchwei¬
fungen gerechtfertigt werden konnte, brachte unter Spa¬
niens damaligen Umſtaͤnden nichts zuwege, als eine
Keckheit des Royalismus, der immer mehr um ſich
griff. Der Moderantismus war, wenn nicht offene
Verraͤtherei, was wir nicht glauben, doch jedenfalls die
verfehlteſte Maßregel, um die ſpaniſche Freiheit zu ret¬
ten. Wenn er die Demokratie kurz am Zuͤgel faſſen
wollte, ſo arbeitete er der Reaktion in die Haͤnde.
Auch war die Demokratie nie maͤchtiger, als damals.
Die Klubbs, die Communeros donnerten, die Cortes
machten die Beſchluͤſſe derſelben geſetzlich. Riego rauchte
mit Ferdinand Cigarren zum Zeichen ihres Einverſtaͤnd¬
niſſes, und ſeine Hymne, mit der er das Heer von
[41]Martinez de la Roſa. Isla de Leon fuͤhrte, wurde, wie es damals hieß,
fuͤr ordonnanzmaͤßig erklaͤrt. Unter ſolchen Umſtaͤnden
war der Moderantismus ein Fehler. Wir wiederholen
nochmals, daß es unglaublich ſcheint, wenn das Mini¬
ſterium mit Aranjuez unterhandelt haben und in ſeinem
Haſſe gegen die Demokratie ſo weit gegangen ſein
ſollte, daß es mit dem Feinde innerhalb und außerhalb
Iliums jene beſiegen wollte. Das wuͤrde geheißen ha¬
ben, ein kleineres Uebel durch ein groͤßeres heilen. Auch
unterließ Martinez nicht, Einiges zu thun, was fuͤr
ſeinen guten Willen zeugte. Er ſandte ſeinen Freund
Toreno (Toreno iſt Porliers Schwager) nach Paris,
um die dortige Botſchafterſtelle zu uͤbernehmen, und
auf das Kabinet der Tuilerien, mehr aber noch auf den
Pavillon Marſan, die ultraroyaliſtiſche Coterie des Gra¬
fen Artois, und das Aſyl aller ſpaniſchen Verraͤther,
einzuwirken. Er unterhandelte viel mit dem franzoͤſi¬
ſchen Geſandten Lagarde in Madrid, den man beſchul¬
digte, der Vendée in den Gebirgen Vorſchub zu leiſten.
Ja als das feindſelige Benehmen der franzoͤſiſchen Re¬
gierung, die Unterſtuͤtzung, welche ſie den Inſurgenten
angedeihen ließ, immer offenkundiger wurde, verbreitete
ſich im Mai das Geruͤcht, Lagarde habe nach einem
heftigen Wortwechſel mit Martinez ſeine Paͤſſe ver¬
[42]Martinez de la Roſa.langt. Auch hielt der Miniſter darauf eine heftige
Rede vor den Cortes, worin er Frankreich Vorwuͤrfe
machte, welche einer Kriegserklaͤrung gleich kamen. Dis
iſt der einzige energiſche Akt waͤhrend ſeines Amtes, der
aber am deutlichſten ſeine Schwaͤche zeigte, da er ohne
Folgen blieb. Die Entſcheidung des 7. Julius ruͤckte
heran. Man weiß, daß die Demokratie an dieſem
Tage ihren Triumph feierte. Die eben entlaſſenen
Cortes wurden vom Magiſtrate Madrids, dem Ayun¬
tamiento, welcher die Rolle des Stadthauſes aus der
franzoͤſiſchen Revolution uͤbernahm, erſetzt. Die auf¬
ruͤhreriſchen Garden mußten im Pardo nach einem
hartnaͤckigen Kampfe mit der Nationalgarde (wenn uns
Martinez erlaubt, die milicia urbana ſo zu nennen)
das Gewehr ſtrecken. Auch das Miniſterium war ge¬
ſprengt. Es iſt kaum glaublich, daß daſſelbe mit dem
Aufruhre in Verkehr geſtanden habe. Es war von
dieſem Ereigniſſe ſo uͤberraſcht, wie die Nation, ein
Beweis fuͤr ſeine Schwaͤche. Es hatte weniger An¬
theil daran als der Schlaͤchter Amerika's, Morillo, der
damals eine ſo zweideutige Rolle ſpielte. In der
Nacht vom 7. zum 8. ſaßen die Miniſter wie gefangen
im Palaſte, alle Ausgaͤnge waren beſetzt, und in dieſer
Verlegenheit mag Martinez die politiſche Laufbahn ver¬
[43]Martinez de la Roſa.wuͤnſcht, und ſich nach dem ſtillen Umgange mit den
Muſen geſehnt haben. Sein Leben war in Gefahr,
die ſiegtrunkene Partei, welche viele Opfer zu betrauern
hatte, wollte anfangs die Miniſter fuͤr das Geſchehene
verantwortlich machen; doch da Spanien wiederum das
Ungluͤck hatte, ein abgenutztes Miniſterium aus alten
Truͤmmern fruͤherer, die ſchon geſcheitert waren, zu be¬
kommen, ſo fiel die Anklage, und Martinez zog es
vor, ſich allmaͤhlich ganz vom Schauplatze des Tages
zuruͤckzuziehen. Bald wurde auch der Abſolutismus in
Spanien zum Zweitenmale reſtaurirt. Die franzoͤſiſchen
Bajonnette setzten Ferdinand in ein plein pouvoir ein,
das er auch zunaͤchſt gegen die Anhaͤnger der Konſti¬
tution, die er ſo oft falſch beſchworen hatte, in blu¬
tige und konfiskatoriſche Anwendung brachte. Martinez
de la Roſa fuͤrchtete die Tage von Ceuta und zog
mit den Proſcribirten uͤber die Pyrenaͤen.
Die ſieben Jahre der Verbannung brachte Marti¬
nez zum großen Theile in Paris zu. Er gab ſich li¬
terariſchen Beſchaͤftigungen hin, welche immer politiſche
Leiden am leichteſten vergeſſen machen. Mit ſeinen
Landsleuten geſpannt, ſchloß er ſich ſelbſt von ihren
Konſpirationen aus, dichtete, aͤſthetiſirte und ſammelte
ſeine Schriften, welche mit vieler Eleganz bei Didot
[44]Martinez de la Roſa.gedruckt worden ſind. Er kam nach Frankreich, noch
ganz voll von Verehrung des tragiſchen Kothurs eines
Corneille und Racine. Man wuͤrde ſich taͤuſchen, ſuchte
man bei ihm die farbengluͤhende Grandezza des alten
ſpaniſchen Theaters. Er iſt als Dichter mehr Storch,
als Flamingo. Seine Gefuͤhle gehen auf Stelzen, ſein
Dialog ſind Wechſelreden nach den Grundſaͤtzen der
Rhetorik. Er war, als er die Witwe des Padilla
ſchrieb, den Morayma und Edipo, ein Dichter der drei
Einheiten, mit moraliſchen, kalten Tendenzen, ſteifer
als Alfieri, aͤrmer als Arnault. Statt daß ſeine Per¬
ſonen handeln, erzaͤhlen ſie; ſie reflektiren uͤber das,
was ſie thun ſollten, und lieben es, alles bis auf den
fuͤnften Akt zu verſchieben, welcher der Unthaͤtigkeit
endlich ein Ende macht. In ſeinen Unterſuchungen
uͤber die ſpaniſche Poeſie findet er es laͤcherlich, wenn
Lope de Vega den Columbus von Madrid nach Gre¬
nada, von dort nach Amerika, und von hier wieder
zuruͤck nach Barcelona verſetzt. Er ſieht darin eine
Verletzung aller Regeln, wenn derſelbe Dichter in ein
Drama drei Handlungen verflicht, und wiederholt gegen
Shakesſpeare die Vorwuͤrfe, welche vor ihm ſchon Vol¬
taire machte. Nichtsdeſtoweniger brachte der Aufent¬
halt in Paris auf Martinez poetiſche Ader eine neue
[45]Martinez de la Roſa.Wirkung hervor. Der Kampf des Romanticismus
und der Klaſſiker konnte ihm nicht fremd bleiben, und
ſeine ſpaͤtern Produkte bezeugen, daß er in ſeiner alten
Stellung wankend gemacht wurde. Victor Hugo, welch'
ein Beiſpiel! Martinez mochte ſeine Extravaganzen
haſſen, aber vielleicht ließen ihn die Lorbeeren des Dich¬
ters nicht ſchlafen, vielleicht quaͤlte ihn ein unerklaͤrli¬
ches Etwas aus ſeinen alten Anſichten heraus. Wel¬
cher wahrhafte Dichter gaͤbe ſich ſo bald zur Ruhe!
Er wird niemals mit ſich zufrieden werden, und von
ſeinem Naͤchſten immer die Hoffnung haben, daß es
das Vorangegangene uͤbertreffen werde. Martinez kam
mit dem franzoͤſiſchen Theater in Beruͤhrung, Scribe
uͤberſetzte ein Luſtſpiel von ihm, er war nun in die
Bewegung hineingeriſſen und verſuchte, ob ihm bei
veraͤndertem Glaubensbekenntniſſe die Muſe heißere Um¬
armungen goͤnnen wuͤrde. Sein Aben Humeya gelang
ihm ungleich beſſer: er hat hier den Kothurn abgewor¬
fen und tritt in leichter, freier Proſa auf. Die Sprache
iſt friſch, leidenſchaftlich, bilderreich; die Scenen ſind
nicht uͤbermaͤßig ausgemalt, ſondern ſie brechen ploͤtzlich
ab, wenn ein Ereigniß dem andern folgt. In der Ver¬
ſchwoͤrung von Venedig, demſelben Drama, das in
Madrid mit einem Applaus aufgenommen wurde, der
[46]Martinez de la Roſa.den Dichter als Miniſter in Verlegenheit ſetzte, geht
Martinez in der Verehrung des franzoͤſiſchen Theaters
ſogar noch weiter. Er verſchmaͤht nicht mehr den
Pomp und die Kunſt der Scenerie, er fuͤllt einen gan¬
zen Akt mit Schauſtuͤcken der Art, von denen Schle¬
gel ſagt, ſie wuͤrden ihm gefallen, wenn nicht Worte
dabei waͤren. Und nun ich Schlegel nenne, ſo wolle
man wiſſen, daß Martinez de la Roſa auch dieſen
kannte, und ihn oͤffentlich einer geringen Kenntniß des
ſpaniſchen Thearers bezuͤchtigt hat. Es thut mir leid,
hievon Erwaͤhnung thun zu muͤſſen. Inzwiſchen zogen
ſich nach dem Jahre 1829 durch eine Heirath einige
Wolken von dem ſpaniſchen Horizonte weg. Die
Herrſchaft des Beichtſtuhls wurde durch die des Alko¬
vens zerſtoͤrt. Ferdinand ſtuͤrzte durch demagogiſche Um¬
triebe das falſche Geſetz, und er ſah ſich nach Men¬
ſchen um, die ſeine Handlungen billigten. Die Erbit¬
terung gegen die Emigranten legte ſich, und die am
wenigſten kompromittirt waren, durften es in Hoff¬
nung der allgemeinen Amneſtie wagen, uͤber die Pyre¬
naͤen zuruͤckzukehren. Ferdinand hatte wie Karl V.,
aber wider Willen, bei Lebzeiten ſchon ſeine Exequien
gehalten, er hoͤrte mit ſcheintodtem Ohre, wie ihn Ca¬
lomarde an Karl verrieth, wie man ſich in die Herr¬
[47]Martinez de la Roſa ſchaft theilte, und in der oͤffentlichen Meinung von
ganz Europa ſein Todtengericht hielt. Er hatte ſeinen
wahren Feind kennen gelernt, und eilte jetzt, mit ſei¬
nen alten Gegnern Friede zu ſchließen, um ſie gegen
den Carlismus zu verwenden. Der Name Martinez
de la Roſa war in keinem der Komplotte gehoͤrt wor¬
den: welche die Sicherheit der zweiten Reſtauration ge¬
ſtoͤrt hatten; er wurde zwar nicht gerufen, aber zuge¬
laſſen. Weder Mina's noch Torrijos Expedition ließ
man ihn entgelten; man wußte, wenn man den Dich¬
ter feilen hoͤrte, daß es nicht den Ketten Spaniens,
ſondern ſeinen Werken galt. Marie Chriſtine liebte an
Martinez Auge den lebhaften Ausdruck, ſie bewunderte
die kleine weiße Hand, die ſo artige Reime und Ge¬
danken zuſammenfuͤgte, ſie hoͤrte gern die duftenden
Bluͤthenflocken der Rede aus ſeinem Munde fallen, ſie
ließ ſich von ihm Aeſthetik vortragen, und hatte nichts
dagegen, wenn er zuweilen von dieſer auf die Politik
uͤberſprang. Es bildete ſich allmaͤhlich ein Kreis um
die Koͤnigin, den das Vertrauen gezogen hatte; man
berieth ſich uͤber die Zukunft, waͤhrend links der kranke
Koͤnig an der Magengicht ſtoͤhnte, rechts die kleine
Iſabella in ihren Windeln ſchrie. Marie Chriſtine von
Neapel iſt keine Heroine, ſie fuͤrchtet ſich vor dem Er¬
[48]Martinez de la Roſa. eigniß; ſie hat nichts, als einige kleine Leidenſchaften,
etwas Schwaͤrmerei und will zart behandelt ſeyn. Sie
wuͤrde genug gethan zu haben glauben, wenn ſie Rizio
Munnoz begluͤckte, und ſoll bald das Teſtament Fer¬
dinands vollziehen, Miniſter waͤhlen, Takt haben, die
Garde defiliren laſſen, und kriegeriſche Operationen un¬
terzeichnen. Sie wuͤrde alles untereinander geworfen ha¬
ben, wie auf einem Naͤhtiſch, wenn nicht Martinez de
la Roſa mit ſanfter Rede, milden Vorwuͤrfen und
bildlichen Vergleichen neben ihr ſtuͤnde. Marie Chriſtine
iſt durch ihn eine ſchoͤne Seele geworden. Er lieſt ihr
die Dekrete wie Stellen aus ſeinen Dramen vor, er
wirft um alles ein phantaſtiſches Kleid, er macht die
Zuſammenberufung der Cortes zu einer Aufgabe des
Garderobiers, und hat zu dem Saale derſelben ihr ſo
viel architektoniſche Riſſe vorgelegt, daß ſie durch Aus¬
wahl des ſchoͤnſten ihren Geſchmack vor ganz Madrid
bewaͤhren konnte. Wie artig ſind die Reglements,
welche Martinez bei Feierlichkeiten der Koͤnigin vorſchrieb!
Sie erſchien mit ihrem Kinde, wie einſt Fredegunde
mit Clothar vor den Franken; ſie hatte in ihrer Rolle
wenige und gefuͤhlvolle Worte vorgeſchrieben; alle dieſe
Dinge arrangirte Martinez. Als die Cholera ausbrach,
ließ ſie nur Rizio und Martinez in la Grania ein,
[49]Martinez de la Roſa.ſie beſchied ſich, nichts als das Unentbehrlichſte um ſich
zu haben; ja Martinez, der Dichter, wurde kein Ge¬
ſchichtſchreiber der franzoͤſiſchen Revolution, kein Thiers,
und machte la Granja nicht zu Blaye und ſetzte keine
Preiſe aus, um eines Judas Iſchariot Deuz willen.
Dies iſt das enge Buͤndniß, welches die Regentin mit
Martinez de la Roſa geſchloſſen hat. Inzwiſchen uͤber¬
nahm der Dichter vor den Augen der Nation ſeine mi¬
niſterielle Miſſion. Einige Splitter, welche von dem
Schiffbruch Zea's noch uͤbrig geblieben waren, hemm¬
ten ſeinen erſten Lauf, doch entledigte er ſich ihrer bald.
Sein eigner Name wurde fuͤr das Werdende verant¬
wortlich. Die neue Konſtitution, das Eſtatuto real iſt
ſein Werk. Er verſuchte es, den Zwieſpalt Spaniens
zu verſoͤhnen, die Zukunft an die Vergangenheit zu
knuͤpfen, ja er hoffte ſo viel von ſeinem guten Willen,
daß er ſelbſt das Arcanum, welches Ludwig Philipp an¬
bot, das Juſte Milieu abwies. Allein der gute Wille
hat in dem Staatskredit einen ſchlechten Cours, er iſt
eine Illuſion in Zeiten wo alle Lebensaͤußerungen mit
ſcharfen Raͤndern und Kanten gezeichnet ſind. Der
gute Wille war keine Garantie fuͤr ein ſo mißhandeltes
Volk, das gezwungen iſt, nur in ſeinen Erinnerungen,
d. h. in ſeiner Rache zu leben. Man hat fuͤr Alles in
Gutzkow's öffentl. Char. 4[50]Martinez de la Roſa.Spanien gleich einen Namen, jede Partei kann die
andre mit einem kurzen Kohlenumriß an die Mauer
zeichnen: Worte, Abſtimmungen, alte Fehler, da iſt
nichts vergeſſen. Die Maͤnner des Ringes, die Anille¬
ros, welche Martinez in ſeine Naͤhe zog, waren bald
erkannt, der Moderantismus iſt eine Stereotype, die
nur genannt zu werden braucht, um jede Befuͤrchtung
auszudruͤcken. Zu den alten Namen hat die juͤngſte
franzoͤſiſche Geſchichte noch neue geſtellt, und allgemein
wird das gegenwaͤrtige Miniſterium doktrinaͤr genannt.
Vor der Zuſammenberufung der Cortes ſagte man,
Martinez wuͤrde ſeine Entlaſſung nehmen; allein dies
Geruͤcht druͤckte nur das aus, was man wuͤnſchte.
Vielmehr war Toreno's Ernennung ein Huͤlfsdetaſche¬
ment; denn Toreno iſt Martinez alter Leidensgefaͤhrte,
nur iſt er ſchneller, eifriger, etwa das, was Lord Dur¬
ham unter den Whigs. — Wir ſind am Ende unſrer
Darſtellung, da der gegenwaͤrtige Kampf der Parteien
in Spanien außer ihren Graͤnzen liegt. Nur zwei
Dinge erlauben wir uns noch, ein Urtheil und ein
Prognoſtikon. Selbſt die Oppoſition laͤßt der parla¬
mentariſchen Faͤhigkeit des Miniſters Gerechtigkeit wer¬
den. Es iſt wahr, ſeine Reden zeichnen ſich durch
Schwung und Rundung aus, und wenn gar, was in
[51]Martinez de la Roſa. Spanien nicht anſtoͤßig zu ſein ſcheint, Deklamation
und Geſten zu dieſen Worten hinzukommen, ſo muͤſ¬
ſen ſie in dem Saale eine großartige Wirkung hervor¬
bringen. Doch ſeine Zwiſchenreden, ſeine Einwaͤnde,
das, was man den parlamentariſchen Dialog nennen
koͤnnte, ſind pedantiſch, mit Logik beſtaͤubt, ſie ſind pe¬
nibel, und verrathen den Kleinmeiſter. Martinez de la
Roſa iſt immer zur Hand, wo es eine Diſtinktion gilt,
er liebt es, am Unweſentlichen zu klauben, und auf
Dinge Werth zu legen, die die Unterſuchung gar nicht
weiter bringen. Aber was ihn ſtuͤrzen muß, iſt zuletzt
weniger die Form, als der Inhalt ſeiner Diskurſe. Ich
glaube, er iſt in ſeinen Handlungen weniger vorſichtig
als in ſeinen Reden. Er gleicht den deutſchen Pedan¬
ten, welche die Freiheit lieben wuͤrden, wenn ſie nicht
fuͤr alles gleich Beiſpiele haͤtten und gewohnt waͤren,
die Dinge immer vom verkehrten Standpunkte anzu¬
ſehen. Martinez de la Roſa hat ſich aus der Ge¬
ſchichte der Revolutionen ſo viel Erfahrungen, kleine
Saͤtze und Maximen abſtrahirt, daß er ohne Citat kei¬
nen Schritt vorwaͤrts ſetzen kann. Bald ſchwebt ihm
der Konvent vor, bald die franzoͤſiſche Journaliſtik, bald
weiſt er auf Mirabeau, bald auf Burke hin; es iſt
eine Gelehrſamkeit, die ihn erſticken muß. Waͤre die
4 *[52]Martinez de la Roſa.Kammer nicht ſelber ſo naiv, traͤte in ihr die Revolution
nicht mit ſo vieler Angſt, ſo ſcheu und beſorglich auf, ſo
muͤßte der Pedantismus des Miniſters laͤngſt durchgefallen
ſein. Wir wiſſen auf die Laͤnge nicht, was Martinez de la
Roſa ohne Majoritaͤt fuͤr Spanien thun will. Es iſt wahr,
die Petition der Rechte mag eine Formalitaͤt geweſen ſein,
in welcher es gleichguͤltig war, zu unterliegen; aber wird
die Finanzfrage ſich guͤnſtiger beantworten? Wird die
Kammer in ihrer wahrhaft originellen, leidenſchaftloſen Re¬
volution fortſchleudern, und nicht bald den Sturmſchritt
ſchlagen laſſen? Wird endlich die Inſurrektion, dieſer uner¬
traͤgliche Widerſpruch gegen Spaniens Gluͤck und Wohl¬
fahrt, nicht durch anßerordentliche Maaßregeln ausgerottet
werden muͤſſen? Außerordentlicher Maaßregeln iſt das je¬
tzige Miniſterium aber nicht faͤhig. Es muß zu einer allge¬
meinen Bewaffnung kommen; denn Frankreich beweiſt,
daß die Vendee ohne Nationalmiliz nicht getilgt werden
kann. Dieſe praktiſche Freiheit aber kann Martinez de la
Roſa, an die Freiheit der Kouliſſen, an das Phantom ge¬
woͤhnt, nicht ertragen. Er wird noch einmal in den Pal¬
laſt der Regentin treten, das koͤnigliche Kind mit ſeinen
Thraͤnen benetzen, und dann die Olivenwaͤlder von Gra¬
nada aufſuchen, um in ihrem Schatten die fluͤſternden Laute
der Natur zu belauſchen, welche nur ein Dichter verſteht.
Chateaubriand.
[][]Wenn man ſich Talleyrand zu allen Zeiten nur wie
Harpokrates, alt wie die Winterſonne, denken kann,
Martinez de la Roſa in mittleren Jahren, mit buͤrger¬
lichem Embonpoint, geſetzten Zuͤgen, und einen gold¬
nen Ring an dem zarten, poetiſchen Schreibfinger, ſo
gibt es fuͤr Franz Auguſt Vicomte von Chateaubriand
keine andere Vorſtellung, als die des Juͤnglings.
Wer glaubt es, daß Chateaubriand ein alter Herr
iſt, der in wenig Jahren ſeinen ſiebenzigſten Geburts¬
tag feiern wird? Er, den wir uns noch immer von
etwas phantaſtiſchem Aeußern denken, als den letzten
Kreuzfahrer, der nie ſtirbt, immer bereit, noch mit neuen
Epochen der Geſchichte in Kolliſion zu gerathen, ein
junges Maͤdchen zu beſingen und Thorheiten zu begehen?
Ihr werdet wenig Menſchen kennen, welche mit ſo
viel Jugend ihr Alter angetreten haben. Chateaubriand
hat die unverwuͤſtliche Phyſiognomie der Naivetaͤt, die
[56]Chateaubriand.er mit ins Grab nehmen wird. Er blieb ſich immer
gleich, ein ſchuͤchterner junger Menſch, der vom Lande
kommt, froh am Geringfuͤgigen, uͤberraſcht von Allem,
ohne Vorausſicht, wie ein Kind; aber auch ungedul¬
dig, zornig und ungerecht wie ein Kind.
Chateaubriand iſt ein Greis geworden, ohne ein
Mann geweſen zu ſein. Gewohnt, nur in unbegruͤnde¬
ten Hoffnungen zu leben, nahm er ſeine Erfahrung fuͤr
eine feindſelige Macht, die ihn uͤberall enttaͤuſchte.
Alles, was ihm geſchah, hielt er fuͤr eine Vorbereitung,
und rechnete, daß immer noch eine Zeit kommen werde,
wo er von ſeiner Vergangenheit Vortheil ziehen wuͤrde.
Aber daruͤber iſt er alt geworden, ſeine Jugend hat bis
an ſein Grab gedauert.
Koͤnnte dies die Erfahrung eines reifen Charakters
geweſen ſeyn, ſo muͤßte ſeine Verzweiflung jetzt tra¬
giſch und des tiefſten Mitleids wuͤrdig werden; doch
Chateaubriand fuͤhlt dieſen Widerſpruch nicht: es gibt
Nichts, wofuͤr er Alles hingegeben haͤtte; er lebte ohne
Plan, er hatte das ſonderbare Schickſal, immer zu ſpaͤt
zu kommen. Er hat viel verloren, ohne je etwas be¬
ſeſſen zu haben; er iſt oft gefallen, ohne daß er je
aufrecht ſtand; man vergaß ihn immer, ohne daß man
je recht an ihn dachte.
Das iſt es: Chateaubriand erwartete nichts; man
verſprach ihm nichts, man ſchmeichelte ihm mit keiner
Hoffnung. Es iſt niemals Jemand mit ſo wenig
Opfern ungluͤcklich geweſen; wenn er fiel, ſo that er
ſich ſelbſt am wenigſten wehe. Chateaubriand will ein
Maͤrtyrer ſeyn; er will neben den Opfern Diocletians
und den eilftauſend Jungfrauen genannt ſein. Das
iſt ein Scherz; aber lacht daruͤber nicht! Es iſt ihm
darum zu thun, er hat es heilig damit.
Was bliebe dem ſonderbaren Greiſe noch zum
Troſt uͤbrig? Nennt ihn alſo Maͤrtyrer, wenn er auch
fuͤr Niemanden untergegangen iſt, als fuͤr ſich ſelbſt!
Wir haben Goethe gehabt; wir wiſſen, was hi¬
ſtoriſcher Indifferentismus iſt. Maͤnner von den groͤ߬
ten Geiſteskraͤften matteten ſich an kleinen Verhaͤltniſ¬
ſen, an geraͤuſchloſen Zeiten ab. Stuͤrmiſche, gefahr¬
volle Epochen warfen die Mittelmaͤßigen in die Hoͤhe,
und da, wo die Staͤrkſten haͤtten ſtehen ſollen, ſahen
wir Cretins. Maͤnner von Genie ſind vor großen Er¬
eigniſſen geflohen. Das Erhabene iſt vielfach verkannt
worden, und nicht ſelten von denen, die ihm am ver¬
wandteſten waren.
Chateaubriand war kein Genie; wir muͤſſen eine
Stufe herabſteigen. Chateaubriand erhielt von der Na¬
[58]Chateaubriand.tur eine Stellung, wo ihn der Zug der Begebenheiten
faſſen mußte. Er war ein junger Menſch, ohne viel
Muth, verzaͤrtelt, eigenſinnig, er wußte noch nicht, wor¬
auf? Da er zoͤgerte, ſo faßte ihn der Wirbelwind unſ¬
rer großen Zeitgeſchichte, und warf ihn aus ſeinem
Strome heraus.
Chateaubriand war nun gar nichts mehr, nicht ein¬
mal praͤdeſtinirt; er haͤtte koͤnnen Kaufmann werden
oder ein Gelehrter, ſo wenig bedurfte ſeiner die Zeit.
Aber ſeine Geburt, ſeine Verwandten und ſein Mangel
an Geld brachten ihn immer wieder in die Stroͤmung
der Begebenheiten hinein, in die er gar nicht gehoͤrte.
Die wichtigſten Dinge, Ereigniſſe, welche niemals wie¬
derkehren werden, wurden eine ordinaͤre Mitgift fuͤr ihn,
gleichguͤltiger als die Haſen, welche er in ſeinem Tor¬
niſter von Thionville trug. Fuͤr den jungen blonden
Menſchen war die Zeit eine Familiengeſchichte gewor¬
den, in welcher ſeine Vettern und Großoheime die
Hauptrolle ſpielten; kurz Chateaubriand war von der
Natur zu nichts Außerordentlichem beſtimmt.
Er ſah auch lange ein, wie gut es die Natur
mit ihm meinte, er beeilte ſich gar nicht, ſie zu beſchaͤ¬
men, ja er wuͤrde ſie auch niemals uͤberfluͤgelt haben,
wenn ihm der Zufall nicht einen Gedanken an die
[59]Chateaubriand.Hand gegeben haͤtte, der mit ſeiner ganzen ſchreckhaften
Einſeitigkeit das Leben des Vicomte revolutionirte.
Es iſt unerwieſen, wer ihm den erſten Anſtoß zum
Chriſtenthum gegeben hat, die Waͤlder Amerika's, die
Erinnerungen Pascals, oder eine Wiederholung jenes
Blitzſtrahls, der einſt auf dem Wege von Jeruſalem
nach Damaskus ein ſo großes Wunder bewirkte?
Ich zweifle an allen dieſen Erklaͤrungen und be¬
gnuͤge mich mit des Vicomte alter Mutter, die ihren
Sohn in London zur Vermahnung zog, ihm das Gott¬
loſe ſeiner Schrift uͤber die Revolutionen vorwarf, an
die Kapelle von St. Malo und das vergoldete Geſang¬
buch, welches ſie auf der Flucht dort hatten liegen laſ¬
ſen, erinnerte, und damit eine Praͤciſion der Tendenz
in ihren Sohn legte, die ihn anfangs ſelbſt uͤberraſchen
mochte.
Jetzt hatte Chateaubriand eine Idee. Es war ein
muthiges kleines Steckenpferd, bunt bemalt, das er be¬
ſtieg: er galoppirte damit uͤber Meere und ferne Laͤn¬
derzonen, klatſchte mit der Peitſche, pfiff, fuͤhrte das
Thierchen an die Krippe von Bethlehem, als ſollte es
da freſſen, traͤnkte es im Jordan, und hoͤrte noch nicht
auf zu courbettiren, als er ſchon in die Salons von
Paris zuruͤckgekehrt war.
Nach Voltaire konnte ein Kind, wie Chateaubriand,
nur der Don Quixote des Chriſtenthums werden. Er
brachte nichts Neues an die alte Lehre heran, als den
Schmelz ſeiner Sprache. Das war Alles wenig genug
fuͤr eine Zeit, zu der man im Poſaunentone des Welt¬
gerichts haͤtte ſprechen muͤſſen, wenn man aus einer
Sache, die in Frankreich allenfalls Mode werden konnte,
einen heiligen Ernſt haͤtte machen wollen.
Ja, in der That, Chateaubriand hatte das Ungluͤck,
in die Mode zu kommen; man intereſſirte ſich fuͤr ihn
etwas mehr, aber nicht viel, als fuͤr Abel Remuſat,
der die indiſchen Romane aufbrachte. Chateaubriand kam
in Begebenheiten, die er nicht verſtand; er verwechſelte
das Chriſtenthum mit ſich, hielt ſich fuͤr unfehlbar und
beging ſo viel Thorheiten, daß man ihn ſchnell bei
Seite ſchob.
Jetzt aber ſaß der edle Vicomte einmal mitten
drinnen in den Geſchaͤften; die Weltgeſchichte war
bis an ſeine Antichambre gekommen, er hatte ſich
in acht Tagen, wo man kaum die Floͤte blaſen lernt,
auf die Hoͤhe der Zeit geſtellt; es kann nirgends ſo ver¬
worren ausſehen, als in Chateaubriands Kopf und in
ſeinem Portefeuille, das ihm die Bourbons anvertrau¬
ten. Ich zweifle, ob dieſer Spaͤtling der Croiſaden ſich
[61]Chateaubriand. ſelbſt nach ſeinen neuſten Unfaͤllen ſchon in die Zeit
zurechtgefunden hat. Fordre er keine neue Kolliſion her¬
aus; ſie wuͤrde ihn unfehlbar in Verſuchung fuͤhren.
Chateaubriand hat kein Geſchick fuͤr die Geſchichte.
Goethe wollte ſeine Zeit nicht verſtehen; Chateaubriand
verſtand ſie wirklich nicht.
Die Freunde des edeln Vicomte uͤbertrieben; unter
Andern neulich der gutmuͤthige, oft kindiſche Plauderer
Jules Janin, welcher eine Parallele zwiſchen ihm und
Talleyrand zieht. Sie moͤchten, wie ſie ſich ausdruͤcken,
ein Epos der Ueberzeugung aus ihm machen, waͤhrend
er doch in dieſem Falle nichts iſt, als eine Tragikomoͤ¬
die derſelben, ein Roman, zuſammengeſetzt aus Ge¬
laͤchter und Thraͤnen.
Wo iſt hier der heilige Schauer, der um das
Ungluͤck eines großen Mannes weht? Wo ſind die
Schlangen, die er ſchon in ſeiner Wiege erdruͤckte?
Welche greiſe Seherin hat die Hand auf ſein Haupt
gelegt und in ihm den kuͤnftigen Propheten geſegnet?
Wie ſchwer wiegen wohl die Schilde, die er aus ſei¬
nen erſten Kaͤmpfen mit der Welt heimbrachte?
Dieſer Maaßſtab paßt hier nicht; Chateaubriand
koͤmmt erſt nach ſeinem dreißigſten Jahre zu einer Idee,
zu einer Idee, die er unter dem Sattel des Pegaſus
[62]Chateaubriand.muͤrbe reitet, mit der er auf Reiſen geht, die er apor¬
tiren lehrt, wie einen Pudel; zu einer Idee, die bald
eine Chimaͤre wurde.
Wenn Ihr wollt, Chateaubriand iſt auch ungluͤck¬
lich geweſen. Aber Ihr wißt, daß im Schmerz eine
Wolluſt liegt. Chateaubriand, dieſe romantiſche Ruine,
liebte es, zu leiden. Der Dichter braucht fuͤr ſein Le¬
ben eine poetiſche Staffage, und die eines ertraͤglichen
Ungluͤcks pflegt ihm die liebſte zu ſein. Chateaubriand
iſt nicht einmal ein ſolcher Maͤrtyrer wie Lafitte; denn
wenn er zwar ſo arm iſt wie dieſer; ſo war er auch
niemals ſo reich wie Lafitte. Er ſtuͤrzte von keinen
Hoͤhen herunter; die, auf welchen er eine Zeitlang
ſtand, hatte er im Traume beſtiegen; wann hatte der
kleine Kadet von der Goldkuͤſte, der vor der Revolu¬
tion floh, daran gedacht, Miniſter zu werden?
Glaubt mir, Chateaubriand huͤllte ſich gern in die
Schatten der Melancholie; verbannte er ſich doch ſelbſt
aus Frankreich, als die Bourbone nach Holyrood zo¬
gen, und kehrte, ungeachtet der ewigen Zeiten, auf die
er Frankreich in Trauer werfen wollte, wieder zuruͤck,
weil es keine Kleinigkeit iſt, ſich ſelbſt zu ſchneiden, und
dann nicht einmal von Andern verbunden zu werden.
[63]Chateaubriand. Nun, was iſt? Chateaubriand kokettirte ſo gut, wie
Hr. von Holtei.
Beide kamen und gingen. Beide ſind nur fluͤchtige
Gaͤſte, die wie der Vogel Alcyon ihr Neſt auf dem
Meere haben. Beide machten ſich ungluͤcklich, und da
Niemand darauf ſehen wollte, ſchrien ſie; beide ohne
Plan, und doch immer getaͤuſcht; beiden macht die
Ruhe Langeweile; beide ſchluͤrfen zitternd, aber mit
Wolluſt den Becher, den ihnen das Leben mit herbem
Weine fuͤllt. Beide werden ewig jung bleiben: Hr. von
Chateaubriand wie ein Ritter des Mittelalters, wie
ein Genoſſe des Artus, der den Graal geſehen hat;
Hr. von Holtei wie Wilhelm Meiſter, etwas graͤmlich
und fruͤhreif, beide ſo verſchieden, wie der Genius des
Chriſtenthums und die Wiener in Berlin, und beide
doch, wer ſie kennt, ſelbſt im Aeußern, ſo aͤhnlich.
Unternehmen wir es, einige Epochen in Chateau¬
briands Leben wieder aufzufriſchen.
Der edle Vicomte kam nach Paris, wie in der
guten alten Zeit ein junger Mann nach Paris kam
— noch warm von dem muͤtterlichen Schooße, in dem
er daheim geſeſſen, voll guter Lehren, hoffend, mit dem
gereinigten Horaz und Ovid die Welt erobern zu koͤn¬
nen, das Ohr noch klingend von den Reden Boſſuets,
[64]Chateaubriand.welche den Styl und die guten Sitten bildeten, mit
etwas Mathematik, Luſtigkeit und der Ausſicht, in ſei¬
ner Lieutenantsſtelle bei der Garde vom Hofe bald
entdeckt, hervorgezogen und geliebkoſet zu werden.
Noch hat Chateaubriand keine Idee. Er laͤuft
durch die Straßen von Paris, ſchließt Freundſchaften,
begleitet den Koͤnig auf die Jagd, wo er einſt ſo gluͤck¬
lich war, daß Ludwig XVI. einige Worte ſprach, ge¬
rade in der Richtung, als haͤtte er ſie ihm ſagen wollen.
Malesherbes war der Oheim des jungen Menſchen,
der ihn zuweilen beſuchte, und in das Getriebe des
Staates ſehen ließ, das ihm zu verſtehen ſehr ſchwer
wurde. Eines Tages trat der gute alte Herr in ſeinem
kaſtanienbraunen Rocke mit den großen Taſchenklappen
und goldgeſponnenen Knoͤpfen, das Buſentuch mit Ta¬
back beſtreut, die Stutzperuͤcke ſchlecht gekaͤmmt und
ſchief geſetzt, in die Wohnung des jungen Gardiſten
au quatrième ein, ſprach von Staatsverhaͤltniſſen, Re¬
volution und boͤhmiſchen Doͤrfern, und gab dem Nef¬
fen, er war damals 25 Jahre, den Rath, den kochen¬
den Veſuv der Hauptſtadt zu verlaſſen, und ein Meſ¬
ſer zu vermeiden, welches fuͤr den alten Praͤſidenten
und Roſenliebhaber ſchon geſchliffen war.
Chateaubriand erſchrak, und Malesherbes examinirte
[65]Chateaubriand. den jungen Lieutenant, der eben Kapitain geworden
war, in der Geographie, in den Elementen des Euklid,
kurz ſie vereinigten ſich daruͤber, daß es gar kein Spaß
waͤre, wenn Einer den Weg entdeckte, welcher vom
arktiſchen Amerika aus nach Aſien fuͤhrte.
Chateaubriand, der eben in den Faubourg St. Ger¬
main wollte, um dem altfranzoͤſiſchen Blute ſeine Epau¬
letts zu zeigen, der geſtern noch Freude daran fand,
ſeinen Pudel abzurichten, ſprang ploͤtzlich in eine neue
Sphaͤre uͤber; er umarmte ſeinen alten Oheim, den er
fuͤr die Guillotine zuruͤckließ, und Thraͤnen der Freude
erſtickten den perpetuellen Ausruf: die nordweſtliche
Durchfahrt! die nordweſtliche Durchfahrt!
Jetzt hatte Chateaubriand eine Idee, wenigſtens ei¬
nen Schatten davon; er verließ das knirſchende, mur¬
melnde, bleiche Frankreich, und ſchiffte ſich nach Amerika
ein. Er wollte ganz allein, im Frack, in Nankinho¬
ſen, auf einem Spaziergange die nordweſtliche Durch¬
fahrt ſuchen, er uͤberlegt, er ſucht auf der Karte, er
orientirt ſich; ſtoͤrt ihn nicht!
Chateaubriand iſt in Amerika, das ſich von ſeiner
errungenen Unabhaͤngigkeit erholt, in Amerika, das ſich
nach der Schlacht den Hals luͤftet, den Rock abwirft,
Gutzkow's öffentl. Char. 5[66]Chateaubriand.recht buͤrgerlich eine Pfeife anzuͤndet, und in Hemd¬
aͤrmeln den jungen Vicomte bei ſich voruͤberpilgern ſieht.
Haltet ihn nicht auf; er ſucht mehr, als ihr; er ſucht
die nordweſtliche Durchfahrt; er macht eine Nordpolex¬
pedition, ganz allein zu Fuß, auf eigne Koſten und auf
eignen Ruhm. Fragt ihn nicht nach Frankreich; er
weiß nichts von Frankreich; er weiß nur, was ihm ſein
Oheim geſagt hat, daß es beſſer ſei, die nordweſtliche
Durchfahrt zu ſuchen, als in Paris die Ereigniſſe ab¬
zuwarten.
Chateaubriand befaͤhrt den Hudſon, er ſieht den
Niagara ſtuͤrzen. Fuͤrchtet nicht, daß ihn der Donner
des Falles etwas vergeſſen machen wird; denn noch hat
er nichts gelernt! Er beſucht die Indianer, ſie ſollen
ihm Auskunft geben uͤber die nordweſtliche Durchfahrt.
Die Indianer lieben ihn, ſie laſſen ihn die Pfeife der
Freundſchaft rauchen, er trinkt ihren Meth und bewun¬
dert ihre Taͤnze. Chateaubriand fuͤhlt ſich heimiſch in
dem Urwalde, er belauſcht das Krokodil das am Hud¬
ſon ſchlaͤft, er wiederholt die Jagden von Verſailles,
ſchießt Haſen und Fuͤchſe, er vergißt die nordweſt¬
liche Durchfahrt, und ſiedelt ſich in den Schauern der
erſten Schoͤpfung an.
Dies waͤhrte einige Zeit, bis ihm der Zufall eine
zerriſſene engliſche Zeitung brachte. Er las hier von der
Flucht nach Varennes, und leider brach das zerriſſene
Stuͤck da ab, wo das Intereſſanteſte kommen ſollte. Die
Neugier, vielleicht auch die Stimme der Ehre, trieben
ihn an, das Vaterland wieder aufzuſuchen. Er ſagte
den Urwaͤldern, den ſchlummernden Krokodilen, den
Atalas und Chaktas, allen den gefuͤhlvollen, nach den
Grundſaͤtzen der Frau v. Genlis erzogenen Indianern
Lebewohl, und ſchiffte ſich in die Heimath ein.
Ach! er traf Paris in einer beklagenswerthen Ver¬
faſſung! Was gab es hier nicht Alles zu thun fuͤr ei¬
nen jungen Mann! Chateaubriand verſprach auch, Hand
an's Werk zu legen, aber erſt mußte er ſich verheira¬
then. Er war aber gerade nur ſo lange ſicher in Pa¬
ris, als er brauchte, um den Schaͤfer zu ſpielen; dann
floh er nach Bruͤſſel zu der confédération noble et
irrésistible, die ſich ſelbſt den noch „geſunden Theil
der Nation“ in ihren Proklamationen nannte.
Chateaubriand aber war im Gegentheil fortwaͤhrend
krank; er friſtete elend ein kaum mehr hoͤrbares Leben,
ermannte ſich eine Zeit lang, ſchoß bei der Belagerung
von Thionville einigemal ſeine Flinte ab, kochte vor¬
5 *[68]Chateaubriand.treffliche Suppen fuͤr ſeine Kameraden, Suppen à la
sauvage, Suppen à la Hudson, Suppen à l'Atala,
ward geliebt und geherzt von ihnen, und zuletzt ver¬
wundet, von einem brennenden Balken, nicht von ei¬
nem Schuſſe.
Unter bemitleidenswerthen Umſtaͤnden kam Chateau¬
briand nach England, wo er den in Belgien ſchon ge¬
faßten Entſchluß zur Schriftſtellerei nothgedrungen in
Ausfuͤhrung brachte. Er ſchrieb uͤber die Revolution
freier, als man von einem Emigranten erwarten durfte,
freier, als er ſpaͤter ſelbſt billigte. Sein Prinzip, das
Chriſtenthum, ſtellte ſich immer mehr heraus. Er
brachte den Genius deſſelben ſchon vollendet uͤber den
Kanal, als er gegen Ende des Jahrhunderts, die goͤtt¬
liche Sendung Napoleons, wie er deſſen Konſulat be¬
nannte, benutzend, nach Frankreich zuruͤckkehrte.
Wenn Napoleon waͤhlen ſollte, ſo ſah er Chateau¬
briand noch lieber, als Frau von Staël. Dieſe neckte
ihn mit den Erinnerungen der Revolution, der Ideologie
und mit ihrem Witze; Chateaubriand war ebenſo un¬
verbeſſerlich, aber er nuͤtzte den Planen des Konſuls
durch ſeinen religioͤſen Enthuſiasmus. Napoleon, der
mit dem Papſte gewiß Wichtiges zu verhandeln hatte,
[69]Chateaubriand.wollte „die roͤmiſch-katholiſchen Goͤtter“ in Frankreich
wieder einfuͤhren, er ſah es gern, daß ſich die Poeſie
mit dem Beichtſtuhl vermaͤhlte. Chateaubriands Poeſie
war auch ganz dazu gemacht, Napoleon zu ergreifen,
er mußte in dem Vicomte einen chriſtlichen Talma,
den Himmel ſelbſt im Kothurn wiederfinden. Er be¬
lohnte Chateaubriand fuͤr dieſen angenehmen Dienſt,
und ſchickte ihn als Legationsſekretair zu ſeinem Oheim,
dem Kardinal Feſch in Rom.
Chateaubriand nichts als ein Legationsſekretair! Be¬
auftragt, die Paͤſſe der Fremden zu viſiren, Depeſchen
zu entwerfen und zu verſiegeln!
Chateaubriand wollte nur Rom ſehen; dann war
er wieder in Paris. Er wurde Geſandter eines kleinen
Kantons in der Schweiz. Welche Erniedrigung!
Aber er wollte die Schweiz ſehen, er ging, und
kam in wenig Zeit wieder zuruͤck.
Da fiel Enghien in Vincennes; Chateaubriand
entſetzte ſich, faßte einen Entſchluß, und pilgerte gleich¬
ſam mit Dornenſtab und Muſchelhut nach dem heili¬
gen Lande. Es war der vorletzte Kreuzzug um Got¬
teswillen; die Ehre des letzten ließ er ſelbſt im Jahre
[70]Chateaubriand. 1823 dem Herzog von Angoulème, als er nach Spa¬
nien zog.
Man weiß, was Chateaubriand von Palaͤſtina mit¬
brachte, — Kleinigkeiten, welche ſpaͤter in dem Wo¬
chenbette der Herzogin von Berry eine ſo große Rolle
ſpielten, ſeine Maͤrtyrer, und eine Stelle im Inſtitut.
Die Maͤrtyrer ſind der Kulminationspunkt der
Autorſchaft Chateaubriands. Hier kommen alle ſeine
alten Phantaſien, die Traͤume aus der Wildniß, noch
einmal wieder, und die Kirchen- und Ketzergeſchichte,
die Erinnerungen des Alterthums nebſt den pittoresken
Reſultaten ſeiner Reiſe haben ſich zu ihnen geſellt.
Noch nie iſt zu einem erhabenen Zwecke eine ſolche
Miſchung aller Geſchmacksarten und poetiſchen Intereſ¬
ſen vorgekommen. Die Mythologie aller Voͤlker, die
alte Literatur, die Bibel, die Acta Sanktorum, Mil¬
ton, die Archaͤologie, die Wilden und das menſchliche
Herz, Alles hat hier ſeinen Tribut zahlen muͤſſen. Es
iſt die wunderlichſte Maskerade, die ſich in den Maͤr¬
tyrern Chateaubriands zuſammenfindet. Die Sprache
iſt nicht berauſcht von Enthuſiasmus, ſondern von Ge¬
lehrſamkeit. Die Perioden ſind behangen mit griechi¬
ſchen Orakelbecken, heidniſchen Opfermeſſern, myſtiſchen
[71]Chateaubriand.Kaͤfern des Mithrasdienſtes, mit Genealogie, Bibel¬
ſpruͤchen, Reliquien von Skeletten der Heiligen, mit
Truͤmmern alter Architektur, mit maleriſchen Perſpek¬
tiven, pſychologiſchen Entdeckungen, kurz die Maͤrtyrer
Chateaubriands, ſtatt in Himmelsglorien aufzuſteigen,
winden ſich keuchend und uͤberladen an den Reiſerou¬
ten der Landkarte hin. Hier iſt alles zum uͤppigen
Ausbruch gekommen, was an Chateaubriand fruͤher
vom Enthuſiasmus gelobt, von der Nachſicht gebilligt
und von der Wahrheit gefuͤrchtet war. In dieſen Maſ¬
ſen pompoͤſer und gelehrter Worte ſucht man mit Muͤhe
den poetiſchen Funken, Alles iſt in Schwulſt und
Wohlrednerei aufgegangen, und nichts uͤbrig geblieben,
als der eigenthuͤmliche ſentimentale Schmelz, der jeder
franzoͤſiſchen Phantaſie inwohnt, ein gewiſſer ſchmach¬
tender Parfuͤm, der die Weiber und die Franzoſen ſo
entzuͤckt, und doch taͤglich große Verheerungen unter
Frankreichs Talenten anrichtet.
Hier kann man auch fragen, was denn Chateau¬
briand ſelbſt von der religioͤſen Poeſie hielt? Das Chri¬
ſtenthum war ihm eine Reliquie, die er mehr mit
philologiſcher als katholiſcher Andacht verehrte. Chate¬
aubriand ſtand nicht einmal auf der Stufe, wie der
[72]Chateaubriand.mittelalterliche Enthuſiasmus in Deutſchland; er ſpricht
nirgends vom langen Haar, von der ſchiefen Stellung
des Halſes und dem waͤſſerigen Etwas in dem Auge;
er iſt ein Narr mit Grazie, umgaͤnglich und ohne Fa¬
natismus. Sein Chriſtenthum iſt mild, ohne Schre¬
cken; er predigt es ohne Feuer und Schwert; es iſt
ein Anflug, der nur ihm geworden ſein ſoll und den
ein Jeder haben kann, wenn er die Meſſe oder das
de profundis hoͤrt.
Chateaubriand kennt nur die Vergangenheit des
Chriſtenthums; er philoſophirt nicht uͤber die Zukunft
dieſes Glaubens. Indem er uns auf die Leiden der
Kirche hinweiſt, gewinnt er unſere Theilnahme fuͤr die
Dulderin; er beſchwoͤrt uns bei den ungeheuern Blut¬
ſtroͤmen, welche fuͤr das Leben Jeſu und die Apoſtel¬
geſchichte gefloſſen ſind, wenigſtens um die Kirche zu
weinen, und nicht leichtſinnig wegzuwerfen, was die
Ahnen ſo theuer erkauften. Das iſt die ſchoͤne Seite,
waͤhrend er ſonſt immer nur ſchildernd, intereſſirt
ſpricht, niemals auffordernd. Chateaubriand wollte kein
Apoſtel ſein oder eine Schule ſtiften, ſondern das Chri¬
ſtenthum ſollte eine Merkwuͤrdigkeit bleiben, welche un¬
ter Hunderten zufaͤllig ihn kenntlich machte. Man
[73]Chateaubriand.ſieht, wie ineinanderlaufend und ungezogen hier die
Graͤnzen ſind von Liebenswuͤrdigkeit, Ruͤhrung, Thor¬
heit und Koketterie.
Als Napoleons Gluͤck, wie das des Polykrates,
fuͤr einen Menſchen daͤmoniſch lange zu dauern ſchien,
und alle Welt auf Rechnung von Ereigniſſen, die man
noch nicht kannte, zu konſpiriren anfing, ſchluͤpfte auch
Chateaubriand unter die große ganz Europa deckende
Nebelkappe der Verſchwoͤrung. Indem er ſich aͤußer¬
lich das Anſehen gab, als beſchaͤftige er ſich einzig
damit, die Fruͤchte ſeines Ruhms fuͤr den Winter und
die Zukunft einzumachen, zog ihn ſein Inſtinkt, der
immer mit der Unterdruͤckung ſympathiſirte, in die
Intereſſen der Bourbone hinein.
Als Napoleon zum Erſtenmale ſo ſtrauchelte, daß
er erſt in Elba wieder aufſtand, zeichnete ihn und ſein
Syſtem, und die Tugenden der Bourbons Chateau¬
briand in einer Schrift, welche Louis XVIII. ſtatt
einer Armee konnte ſpielen laſſen. Louis ſagte dis
ſelbſt und machte den prophetiſchen Vicomte, den Pro¬
pheten nach ruͤckwaͤrts, zu ſeinem Miniſter der aus¬
waͤrtigen Angelegenheiten.
Er war damals ſchon wieder in Gent, Louis
5**[74]Chateaubriand.XVIII., und das Terrain war groß, welches der Dich¬
ter zu beſorgen hatte. Nein, wir wollen nicht ſpotten,
es ging nicht weiter, als eine Meile im Umkreis von
Gent.
Chateaubriand ſchrieb zwar eine vortreffliche Note
an Europa, aber er war eine Figur von Pappe, die
nur ſo hingeſtellt war, er war die Improviſation eines
Miniſters, ein Miniſter mit einem Portefeuille, das
man in die Bruſttaſche ſtecken konnte. Das gerade
aber war die Thorheit der zweiten Reſtauration, daß
ſie aus dem Schattenſpiele von Gent in Paris eine
Wahrheit machte.
Chateaubriand gab zwar ſein Duodezportefeuille ab,
behielt aber den Titel als Staatsminiſter, und trat
unter die Pairs und die erſten Raͤthe des Koͤnigs.
Von jetzt an wollte ſich der edle Vicomte raͤchen
fuͤr den brennenden Balken, der ihn bei Thionville
verwundete; er, der nur das Ritterthum und die Ma¬
ria des Mittelalters bisher verkuͤndet hatte, ſprach jetzt
auch von den Privilegien deſſelben. Er trat in die
Partei der Rache und des Unverſtandes, und ſtimmte
wie Labourdonnaye. Er uͤbertrug die Vergangenheit
auf die Gegenwart, und traͤumte ſich in einem wirkli¬
[75]Chateaubriand.chen Kreuzzuge gegen die muſelmaͤnniſche und jakobini¬
ſche Partei ſeines Vaterlandes.
Schon damals ging er weiter, als Louis XVIII.
verantworten konnte. Seine Vorſchlaͤge waren ſo un¬
praktiſch, ſeine Erlaͤuterungen der Charte ſo unzwei¬
deutig, ſein Zweifel an der Charte ſogar ſo imperti¬
nent, daß ihn Louis aus den Pairs ſtrich, und fuͤrch¬
terlich beungnadigte, Louis XVIII., der die Charte
ſelbſt verfaßt hatte, und darauf eitel war, wie ein jun¬
ger Menſch auf ſein erſtes Gedicht, Louis XVIII.,
der mit Maͤnnern von Geiſt und Celebritaͤt wetteiferte,
und niemals gegen Chateaubriand eine Art Neid un¬
terdruͤcken konnte.
Der Pavillon Marſan griff den fallenden auf.
Chateaubriand theilte die Fortſchritte dieſer ultraroya¬
liſtiſchen Camarilla, kaͤmpfte zu ihren Gunſten gegen
Decazes und brachte es zuletzt, beſonders ſeitdem er an
die Wiege des Kindes von Frankreich mit ſeinem wun¬
derthaͤtigen Waſſer herangetreten war, und uͤber den
Herzog von Berry eine Biographie wie uͤber den hei¬
ligen Georg geſchrieben hatte, wieder ſo weit, daß man
ihm den Berliner Geſandſchaftspoſten anvertraute.
Haͤtte ich damals von Frankreich ſchon mehr ge¬
[76]Chateaubriand. wußt, als être und avoir, ſo wuͤrde ich mich um den
frommen Geſandten bekuͤmmert haben; ſo aber zog
mich damals der Halbmond, der unter den Linden in
der Sonne wohnte, der tuͤrkiſche Geſandte, mehr an.
Chateaubriand ging auch bald nach Verona, wo er
ſo beredt gegen die Revolution ſprach, daß er ſelbſt ei¬
nen Montmorency, einen Namen, der das ganze Mit¬
telalter zu umfaſſen ſcheint, verdraͤngte.
Chateaubriand kam nach Paris, und uͤbernahm das
auswaͤrtige Miniſterium, das jetzt fuͤr ihn eine Wahr¬
heit war. Man weiß, was im Jahr 1823 geſchah,
in jener Periode, wo faſt gleichzeitig drei Dichter die
auswaͤrtigen Angelegenheiten Spaniens, Frankreichs und
Englands lenkten, Martinez de la Roſa, Chateaubri¬
and und Canning; denn auch Canning hatte in eine
etwas ſtumpfe Leyer gegriffen, und Griechenlieder ge¬
ſungen, wie Wilhelm Muͤller.
Chateaubriand aber hatte von allen Dreien den
meiſten Ruhm zu verlieren, und er warf die europaͤi¬
ſche Achtung in ganzen Maſſen von ſich. Er ſprach
fuͤr Ferdinand wie fuͤr einen Gottfried von Bouillon,
der in die Haͤnde der Sarazenen gefallen ſei; er hoffte
Angoulème werde ein zweiter Napoleon werden, und
[77]Chateaubriand.das parteiiſche Frankreich ſich in ruhmbewachten Feld¬
lagern auf bruͤderliches, gemeinſchaftliches, verſoͤhnendes
Stroh legen. Manuel, der widerſprechen wollte, wurde
mit Bajonnetten aus der Kammer getrieben; das Al¬
les geſchah unter Chateaubriand, der ſich ſo wenig be¬
herrſchen konnte, daß ſelbſt Villèle ihn desavouirte, und
der Vicomte zum Zweitenmale fiel.
Dismal war ſogar die Camarilla mit ſeinem Sturze
einverſtanden.
Daß Chateaubriand kein Heiliger war, ſieht man
daraus, daß er den ganz gewoͤhnlichen Weg fallender
Staatsmaͤnner einſchlug, naͤmlich aus dem alten Mi¬
niſterium in die Oppoſition des neuen uͤberzugehen.
Er bekaͤmpfte als Pair die Villèle'ſche Cenſur, das
Wahlgeſetz, die Rentenreduktion, was man wollte, wie
jeder Andre auch, bis ihn das oͤffentliche Leben zuletzt
ſo aufrieb, daß er den politiſchen Schauplatz faſt gaͤnz¬
lich verließ, und ſich zur Erholung mit ſeinen alten
poetiſchen und hiſtoriſchen Studien beſchaͤftigte.
Aber es war Chateaubriands Ungluͤck, daß man
ihn trotz der Ungnade doch nicht ganz vergeſſen wollte:
Talleyrand hatte das Unvermeidliche, daß er wie ein
Daͤmon uͤberall ſpukte, Herr von Blacas, vorzugsweiſe
[78]Chateaubriand.l'inévitable genannt, das Unvermeidliche des Kammer¬
dieners, der uns auf allen Korridoren des Hofes ent¬
gegen tritt und beſtochen ſein will, Chateaubriand das
Unvermeidliche, daß er bei Allem zugegen ſein mußte,
wo man ihn auch nicht brauchte. Er wurde wieder
hervorgezogen und nach Rom geſandt, um vor dem
neuen Papſte eine glaͤnzende Rede zu halten, eine
gaͤnzlich unkatholiſche Rede, eine Chrie des konſtitutio¬
nellen Katholizismus. Die Kardinaͤle entſetzten ſich,
und Chateaubriand kehrte nach Paris zuruͤck, durch die¬
ſen Freundſchaftsbeweis ſo an die Bourbone gekettet,
daß er ſich in den Ereigniſſen des Julius mit ihnen
begrub, obſchon ſie nie etwas von ihm wiſſen wollten.
Die Rolle, welche Chateaubriand 1830 ſpielte,
lebt bizarr genug in unſerm Gedaͤchtniß und auf der
Trommel unſres Zwerchfells. Ja es ſcheint, der edle
Vicomte hatte ſich damals in die Vogelperſpektive ſei¬
nes Lebens aufgeſchwungen, er ſtellte eine Berechnung
ſeiner Schickſale an, und zog daraus jene Schlußfolge,
deren Konſequenz Europa ſo viel Unterhaltung ver¬
ſchafft hat.
Chateaubriand ſah ein, was ihm, dem Dichter,
dem Manne der Geſchichte, dem Kuͤſter bei der Taufe
[79]Chateaubriand. des Mirakelkindes geziemte. Aber er begnuͤgte ſich
nicht mit dem ſchmachtenden Air des Ungluͤcks, mit
der noblen Phyſiognomie der Zuruͤckſetzung, er legte ſich
nicht jenes hiſtoriſche Stillſchweigen auf, welches fuͤr
fallende Charaktere ſo theilnehmen macht; ſondern er¬
oͤffnete auf eigene Verantwortlichkeit einen Guerillakrieg
mit dem 7. Auguſt. Seine Waffen waren glaͤnzende
Phraſen, der Himmel, deſſen Zeichen er deutete, das
Mitleid, welches er fuͤr das geſunkene Koͤnigshaus be¬
ſchwor. Er wußte ſelbſt, wie ſchwach dieſe Munition
fuͤr ſeinen Krieg war: aber er reſignirte ſchon beim er¬
ſten Schlage auf den Sieg, er wollte nichts, als eine
Rolle mit Ehren ausſpielen, und ſah ſich nicht einmal
nach Bundesgenoſſen um. Es war eine Komoͤdie, von
der man nur ſagen kann, daß ſie Chateaubriand mit
zu vielem Nachdruck in die Scene ſetzte. Chateaubri¬
and verließ den Boden der Dichtung, dem ſeine Bro¬
chuͤren, und Proteſtationen noch angehoͤrten, er konſpi¬
rirte und mußte ins Gefaͤngniß.
Das Gefaͤngniß ſetzte dem Martyrium die Dor¬
nenkrone auf; hier haͤtte Chateaubriand ſtehen bleiben
ſollen, er hatte nun Alles, was er zur Rechtfertigung
ſeines Lebens bedurfte. Allein, kaum in Freiheit ge¬
[80]Chateaubriand.ſetzt, beginnt er aufs Neue ſeine ſchriftſtelleriſche Choua¬
nerie, er heftet ſeinen Ruf an den Unterrock einer
Frau, er kuͤßt die Fußſtapfen der Herzogin von Berry,
und wird der geheimnißvolle Telegraph ihrer abenteuer¬
lichen Reiſen.
Wir wiſſen, wie ſich Alles in Skandal aufloͤſte.
Die himmliſche Glorie zertheilte ſich, und mit gemei¬
nem Laͤcheln trat aus ihr die Hebamme hervor.
O das moderne Schickſal iſt ein grauſamer Hu¬
maniſt! Keine poetiſche Staffage mehr, der man trauen
duͤrfte: das Erhabene zeigt ploͤtzlich einen Zopf, wie
das Heidelberger Faß einen Fuchsſchwanz; das Mittel¬
alter erhaͤlt Hofrathspatente. Kein Koſtuͤme iſt regel¬
recht; die Schneider dieſer Welt erlauben ſich immer
etwas Laͤcherliches, und ich zweifle, ob uns je das
Schickſal einen Grafen Bruͤhl unſrer hiſtoriſcher Ein¬
kleidung ſchicken wird.
Chateaubriand war zerknirrſcht. Seinem Pilgrims¬
kleide entfiel ein Saugbeutel; auf dem goldnen Schilde
des letzten Kreuzfahrers war ein Gevatterbrief zu leſen:
er kam gerade zur rechten Zeit.
Doch was wollt Ihr? Chateaubriands Treue ging
[81]Chateaubriand. uͤber Alles. Er warf den Ritter von ſich, und wollte
nur theilnehmender Menſchenfreund ſein. Er machte
ſich anheiſchig, nach Blaye zu kommen, und ſelber die
Wiege zu treten. Die Dinge waren ſo zu ſagen auf
den Punkt gekommen, daß Koͤlniſches Waſſer mehr
nuͤtzte als der Koͤlner Dom; das ſah Chateaubriand
ein, und wurde von nun an der Commis Voyageur
der Graͤfin Luccheſi Palli, der auf ihre Rechnung
reiſte. Er war bald hier, bald dort: er betrieb die
Ausſoͤhnung der ungluͤcklichen Gefallenen mit ihrer Fa¬
milie. Er kam nach Prag, wo ihn Niemand mochte.
Er flehte, er betheuerte, er ſchwur: es half Alles nichts:
auf dem Hradſchin wohnte nur die Tugend: Chateau¬
briand ſank immer tiefer: er wurde von der Ungnade
beungnadigt.
Jetzt war das Stuͤck aus, der Vorhang fiel und
Chateaubriand legte ſich ſelbſt ein ruͤhrendes Schweigen
auf. Er ſchreibt in dieſem Augenblicke ſeine Memoi¬
ren, und laͤßt in dem oͤden Theater von Verſailles,
vor einem Publikum, das aus Paris auf zwei Zeiſel¬
wagen ankam, ſeine Tragoͤdien auffuͤhren. Moͤchten
ihm ſeine Freunde dis Wagniß abrathen! Er verdient
es wahrlich nicht, daß man zuletzt bei ſeinem Namen
wohl noch gaͤhnt!
Chateaubriand kann nie wieder in die Ereigniſſe
verflochten werden. Denn wenn man ſeine politiſche
Thaͤtigkeit in dem Ausdruck zuſammenfaſſen kann, daß
er fuͤr das Koͤnigthum und die Legitimitaͤt geſtritten
hat, ſo fehlen in Frankreich fuͤr dieſelbe jetzt alle Vor¬
ausſetzungen.
Selbſt wenn ſich Chateaubriand, dem man von
Seiten des Gemuͤths jede Schwaͤche zutrauen kann,
dem Juliusthron befreundete, was z. B. nach einem
Sterbefalle des jungen Bordeaux ſich ereignen moͤchte,
ſo waͤre doch dem Koͤnigthum mit einem Streiter die¬
ſer Art wenig gedient.
Chateaubriand war vielleicht der uneigennuͤtzigſte
Anwald der Bourbone; und doch hat er ihnen am we¬
nigſten genuͤtzt. Die wahren Freunde des Koͤnigthums
haben mit den Koͤnigen eine geiſtige Verwandtſchaft,
einen gleichen Trieb der Superioritaͤt, der angeboren
ſein muß. Davon hatte Chateaubriand nichts.
Er war von Natur untergeordnet; er wollte her¬
vorgezogen ſein; den royaliſtiſchen Furor, das Marmor¬
herz eines Crillon oder Bayard hatte er nicht. Cha¬
teaubriand war nur der Schauſpieler des Koͤnigthums,
[83]Chateaubriand. von dem man ſagen kann, daß er trotz ſeines Ungluͤcks
doch nicht Aufopferung genug fuͤr ſeine Meinung be¬
ſaß. Was er fuͤr das Koͤnigthum litt, war in der
That etwas, was er bei ſeinem Unverſtande, ſeiner
unpraktiſchen Haltung und dem Inſtinkt Fehler zu
machen, auch ſonſt haͤtte leiden muͤſſen. Chateaubriand
vertheidigte das Koͤnigthum nicht mit der Schroffheit
eines unumſchraͤnkten Befehlshabers; er war durch ſeine
Schickſale unter die Partei getreten, welche gewohnt iſt,
Alles mit kalter Ruhe zu pruͤfen, die oͤffentliche Mei¬
nung zu ſondiren, und Jedes von der Theilnahme zu
erwarten, unter die Autoren; ſo kam es, daß er mit
den Gegnern des Koͤnigthums zu viel unterhandelte.
Solche Maͤnner, welche die Alternative fuͤrchten,
koͤnnen auf einen Augenblick das Koͤnigthum retten,
wo es in Gefahr iſt; aber auf laͤngere Zeit untergra¬
ben ſie es, und machen aus einer Thatſache der Au¬
toritaͤt ein Zugeſtaͤndniß der Uebereinkunft. Dieſe Maͤn¬
ner werden in gefahrvollen Momenten, wo die Taͤu¬
ſchungen ſchwinden, auch immer erdruͤckt werden.
Ihr wollt dieſe Unterhaͤndler in Schutz nehmen?
Ihr ſehet in ihnen Maͤnner des Friedens? Nein, ſie
ſind die gefaͤhrlichſten Feinde fuͤr das unbeſchraͤnkte Koͤ¬
6 *[84]Chateaubriand. nigthum, wie fuͤr die Freiheit. Wer nicht fuͤr die Par¬
tei iſt, iſt wider ſie. Gehe zu uns uͤber, wer will!
Fehlen Euch Kugeln: wir geben ſie! Aber Parlamen¬
taire, welche ihre weiße Binde ſo tragen, wie Chateau¬
briand, ſchickt zuruͤck.
Mehemed Ali
von
Aegypten.
[][]Wer verließe nicht gern einmal Europa, dieſen Welt¬
theil mit gefurchter Stirn, Europa, den verſchmachten¬
den, leberloſen Prometheus, der, angeſchmiedet an die
Guͤrtel der Welt, in ſeinem Haupte die Wiſſenſchaft
aller Jahrhunderte traͤgt, zum Spotte ſeiner Feſſeln,
Europa, dieſe ſchon veraltete Offenbarung des Weltgei¬
ſtes, jung nur noch in ſchwermuͤthigen Liedern, Men¬
ſchen erzeugend, welche ſtatt das Leben zu genießen,
ſchon in der Wiege daraus ein Kunſtwerk machen
muͤſſen!
Allerdings hat in Europa, wo Alles verarbeitet
wird, Alles den Stempel einer Fabrik traͤgt, wo Reli¬
gion, Wiſſenſchaft, Kunſt in tauſend Benennungen und
Vorwegnahmen des natuͤrlichen Triebes verſteinert ſind,
die Bildung der Charaktere ihre Schule aufgeſchlagen;
aber welche Menſchen entlaͤßt ſie? Das Genie mit
[88]Mehemed Ali von Aegypten.Verkuͤrzungen, das Talent als Roturier, die Tugend
ohne Stolz, das Laſter in einem fremden Kleide.
O wir tragen alle unſre Phyſiognomien: wir lie¬
ben, aber ohne Entzuͤcken: wir haſſen, aber unter der
Aſche; wir geizen nach Ehre, aber unter demuͤthigen
Augenwimpern; wir ſind ſo gerecht wie Ariſtides, ſo
ſchlecht wie der Verraͤther der Thermopylen; aber wir
ſind es unter der Maske; wir ſcheinen nicht das, was
wir ſind.
Fein, nuͤanzirt, kuͤnſtleriſch ſind die Charaktere Eu¬
ropa's, ſie ſind Alles, nur nicht erhaben. Es fehlt an
Raum fuͤr die Erhabenheit, da nicht Jeder, wie Na¬
poleon, ſich ſeine eigne Welt ſchafft; unſer Horizont iſt
eng, die Atmoſphaͤre der That ſo zuwider, daß man ſie
gleichſam umgehen muß, um zu athmen. Wir ſind
große Staatsmaͤnner, wenn wir die Stellen ausfuͤllen,
welche man uns anweiſt; wir ſind Helden nach den
Ordonnanzen aus dem Hauptquartier; wir ſind Maͤn¬
ner des Volks, aber mit kleinen Triumphzuͤgen, ſo weit
als wir von unſerm Heerde nach der Baſtille brauchen;
hier iſt nichts erhaben.
Geht uͤber den Ozean! Werdet geboren, wie das
Lama, das Hausthier des Indianers, ſein Junges
wirft: ſchwebt in einer Matte von Maſt zwiſchen zwei
[89]Mehemed Ali von Aegypten. Kokosbaͤumen; lernt ſpaͤt laufen, ſpaͤt ſprechen, lernt
Religion aus dem Donner, Moral aus den Liebkoſun¬
gen des jungen Lama's, das mit Euch geboren wurde!
Ihr habt ſchon manchen Stier gebaͤndigt, da tretet Ihr
in eine Lancaſterſchule, welche Pater Gomez leitet.
Ihr muͤßt Alles aus Euch ſelber ſchaffen, Alles das
ſelber ahnen, was Baſedow und Peſtalozzi dem Euro¬
paͤer vorkaͤuen. Ihr fuͤhlt mit feinem Ohre, wie die
Fluͤgel Eurer Seele rauſchen, wie ſie ſich entfalten;
mit jeder Sonne ſteigt Euer Stolz hoͤher hinauf! Der
Ruf des Vaterlandes ergeht an Euch; Ihr tretet in
die Verwirrung der Intereſſen, in eine Anarchie, welche,
wie in Europa die Monarchie, von Bajonnetten ſtarrt;
die Partei iſt gewaͤhlt: hier, dort, uͤberall Lorbeern!
Zuerſt im Kampf vor der Fronte, wie ein Held Ho¬
mers, mit der Schlinge des Gaucho; dann Parteigaͤn¬
ger, gefuͤrchtet und verheerend, wie ein Kometenſchweif;
zuletzt Haupt der Republik, vielleicht nur einen Tag
lang, aber ein Mann des Willens, der Freiheit, zu
Allem berufen, ohne Anciennitaͤt, ohne Ahnen, ohne
Protektion, ein Held, erhaben noch hinter dem Sand¬
huͤgel, auf welchen Euch die Kugeln der Partei, die
gerade ſiegt, niederſtrecken!
Das iſt Amerika.
[90]Mehemed Ali von Aegypten.Oder geht auf die Freundſchaftsinſeln, unter die
Wilden Guinea's, nur an Aſien geht voruͤber!
Aſien, einſt Europa ſo unaͤhnlich, jetzt wie auf dem
Marſche zu uns. Einſt ſo groß in ſeinen Thaten,
ja ſelbſt heroiſch im Dulden!
Aſien war das Land, wo die Tyrannei keine Bos¬
heit, ſondern Leidenſchaft war; dort kam Alles durch
den Inſtinkt; die Helden, die Eroberer, die Despoten
wurden geboren; hier war niemals ein Epos des Wil¬
lens, ſondern immer die Tragoͤdie des Schickſals.
Taumel und Beſinnungsloſigkeit verwirrten hier einſt
das Hohe und das Tiefe, das Ziel und das Uebermaß,
die Hunderte und Tauſende in der Zahl oder in der
Wuͤſte des Raums. Die Groͤße ſchnitt ſich mit ſchar¬
fem Rande von ihrer Folie ab; die Uebergaͤnge mil¬
derte kein Verdienſt; waͤhrend Einer handelte, hielt die
uͤbrige Welt ihre Arme kreuzweis uͤber die Bruſt zu¬
ſammengeſchlagen. Der Ruhm war keine Beute, wo¬
von ſich das Roß und der Fuchs anmaßen durften
einen Theil miterjagt zu haben; ſie fiel dem Loͤwen
allein zu.
Aber jetzt iſt die Zeit der Cyrus, Muhamed und
Dſchingiskhan voruͤber, auch die der Hyder Ali und
Tippo Saib; die Periode der Goͤtter laͤngſt ſchon
[91]Mehemed Ali von Aegypten. uͤbergegangen in die der Halbgoͤtter, jetzt in die der
Europaͤer und Pygmaͤen. Die Dardanellen ziehen ſich
eng zuſammen, Hero und Leander werden ſich bald auf
einer Bruͤcke begegnen koͤnnen.
Sehet Mehemed Ali! Ordinair, klein, hager, pok¬
kennarbig, braungelb, ziegenbaͤrtig, zittert er, wie Dio¬
nys gezittert hat. Er macht aus der Geſchichte eine
Domaine, handelt mit Tabak und Baumwolle, fuͤhrt
die Kamaſchen und die Knoͤpfe der europaͤiſchen Civili¬
ſation, und die Journaliſtik in das Land der Hiero¬
glyphen ein. Hier iſt Alles Berechnung, Angſt, Ei¬
gennutz, kein Enthuſiasmus mehr, viel Merkwuͤrdiges,
einiges Achtungswerthe, in ſeinem ganzen Leben nur
eine Epiſode, die man im alten aſiatiſchen Sinne er¬
haben nennen koͤnnte.
Mehemed Ali iſt auch ſelber aus Europa gebuͤrtig.
Er war der Sohn eines tuͤrkiſchen Polizeikommiſſairs,
der in einem Staͤdtchen des waldigen Mazedoniens fuͤr
die Ordnung ſorgte. Hier lernte er, wie man ſich bei
einem Auflaufe benehmen muͤſſe, wie Parteien dadurch
geſchlichtet werden, daß man beide gefangen nimmt, wie
die Steuer mit Nachdruck eingetrieben wird; aber dieſer
Unterricht waͤhrte nicht lange; denn ſein Vater, der
Polizeikommiſſair ſtarb bald.
Doch zum Gluͤck hatte des Vaters Chef den klei¬
nen, anſchlaͤgigen Knaben liebgewonnen. Niemand
kraute dem alten Herrn ſo geſchickt im grauen Barte;
Niemand wußte ihm die Pfeife ſo gewandt zu ſtopfen
oder erzaͤhlte ſo drollig, wenn er mit untergeſchlagenen
Beinen ſaß, und der ſchlaffe Bauch wie ein Beutel zu
wackeln anfing, ob des Knaben Witz und Munterkeit.
Der alte Chef ſchwur beim Barte des Propheten, daß
er fuͤr dieſe Waiſe ſorgen wuͤrde, und machte ſie mit
ſeinem eignen Sohne bekannt, welches ein rechter Luͤm¬
mel war, faul, tuͤrkiſch, und dem Vater viel Kummer
verurſachte.
Mehemed beſaß einen Ehrgeiz, er konnte keinen
Roßſchweif ſehen, ohne an ein kuͤnftiges Paſchalik zu
denken; aber inzwiſchen war er fleißig, handelte mit
Tabak, und ließ ſich von einem franzoͤſiſchen Kauf¬
mann, der hier zuweilen Geſchaͤfte und den Jungen
lieb hatte, uͤber Europa belehren, ob es von Rieſen,
Menſchen mit Straußenkoͤpfen, oder von vierfuͤßigen
Thieren bewohnt wuͤrde, welche Eier legen, oder von
Voͤgeln, die lebendige Junge auf die Welt bringen.
Meiſter Lyon, der aber aus Marſeille war, mußte
lachen, belehrte den jungen Zoͤgling der Tauſend und
Einen Nacht, und trug viel dazu bei, ſeine Begriffe
[93]Mehemed Ali von Aegypten. uͤber Europa aufzuklaͤren. Mehemed liebte ihn dafuͤr
leidenſchaftlich, und trug von ihm, als er einmal gele¬
gentlich ſtarb, ſeine Neigung auf alle Franzoſen uͤber.
Inzwiſchen ſchenkte ihm ſein Pflegevater eine Frau,
richtete ihm eine Wirthſchaft ein, kurz Mehemed lebte
im Schooße des Gluͤcks. Er war in Kavala der reichſte
Tabaksſpekulant, der tapferſte Krieger, der verſchmitzteſte
Staatsmann und der gluͤcklichſte Familienvater. Da
langte ein Befehl des Sultans an, ein Korps von 300
Mann mußte mobiliſirt werden, und als Kontingent
zur großen tuͤrkiſchen Armee ſtoßen, welche die Franzo¬
ſen aus Aegypten vertreiben ſollte. Der Erſtgeborne
des Chefs mußte ehrenhalber ſchon das Kommando
uͤbernehmen, aber bald hatte der Baͤrenhaͤuter die Stra¬
pazen ſatt, kehrte zu ſeinen Baͤdern und Sklavinnen
zuruͤck, und uͤberließ den Befehl an Mehemed, der ihm
als Lieutenant beigegeben war.
So kam Mehemed nach Aegypten. Seine Vater¬
ſtadt ſah er nicht wieder. Dis machte ihm kein graues
Haar; denn die Tuͤrken haben in Europa nur wie auf
der Flucht ein Lager aufgeſchlagen. Die Tuͤrken kam¬
piren nur in Europa, ſagt ein Franzoſe.
Aegyptens nicht kleinſtes Wunder war um dieſe
Zeit, daß es wie durch die Fabel zu Frankreichs Er¬
[94]Mehemed Ali von Aegypten.oberungen gehoͤrte. Der letzte Kreuzzug gegen den
Orient war unternommen worden, ein rationaler Kreuz¬
zug, ein Kreuzzug ohne Glauben und Andacht und
Geluͤbde. Aegypten, das alte Land der Todten, ver¬
ſandet von den Wogen der Wuͤſte, nur in dem klei¬
nen Umkreiſe ſeines Pulſes, des Nils, noch athmend,
war noch einmal zum Leben aufgeſtanden. Ein neues
Raͤthſel der alten Sphinx war geloͤſt worden; das wun¬
derbare tauſendjaͤhrige Stillſchweigen der Pyramiden
wurde unterbrochen von den Blitzen der franzoͤſiſchen
Bajonnette und dem Donner fernher gelandeter Kano¬
nen. Die alten myſtiſchen Cheopſe drehten ſich in ih¬
ren himmelhohen Graͤbern um, der Strauß floh mit
dem wuthſchnaubenden, hundertmal beſiegten Araber in
die Wuͤſte; nur das gutmuͤthige Kameel verfing ſich
auf der Flucht, und kniete thraͤnenden Auges vor dem
Sieger nieder, der ſeinen Buckel bald beritten machte.
Und in Cairo, der Stadt der Reſte, der Juden,
Hunde und aller Nationen, thronte der große Sultan
Buonaberdi, mit ſeinen Paſchas von zwei und drei
Roßſchweifen und allen ſeinen heiligen Kriegern: die
Armee eines neuen Glaubens, welche mit dem des
Propheten viel Aehnlichkeit hatte. Der fraͤnkiſche Sul¬
tan badete ſich, wie ein Muſelmann, ſprach Recht nach
[95]Mehemed Ali von Aegypten.dem Koran, lebte keuſch und maͤßig; ja, man wuͤrde
ihn angebetet haben, haͤtte er ſich beſchneiden laſſen.
Und einige der Paſchas gaben auch hierin nach, ſchwu¬
ren einer Religion der Houris Treue und lebten mit
aller orientaliſchen Ueppigkeit in den Armen der Skla¬
vinnen, welche ihnen aus den erbeuteten Zelten der
Mamelucken mit unwiderſtehlicher Verfuͤhrung entge¬
gen gekommen waren.
Die ſyriſche Expedition in der Naͤhe der heiligen
Geographie war mißlungen, weil dieſe Kolonnen keine
rechte Andacht mehr hatten. Die Empoͤrung Cairo's
war mit blutiger Strenge beigelegt; im Suͤden Aegyp¬
tens, in der Naͤhe des hundertthorigen Thebens, jagte
Deſair, der gerechte Sultan, den verzweifelnden Mu¬
rad Bei, deſſen Mamelucken ſo erbittert waren, daß ſie
bis auf den Tod verwundet, im Sande noch heran¬
krochen und ihren Siegern in die Fuͤße biſſen. Die
Armee, in eiſerne Quarrés geſtellt, ſchloß „die Eſel und
die Gelehrten“ in die Mitte. Cairo occidentirte ſich.
Sogar eine Akademie, ein aͤgyptiſches Inſtitut wurde
errichtet; man unterſuchte die wunderliche Hieroglyphik,
deren Voͤgel und Schlangen Buchſtaben ſein ſollen,
was ich gar nicht glaube; man wickelte garſtige Mu¬
mien, welche von verliebten Orientaliſten fuͤr ſchoͤn aus¬
[96]Mehemed Ali von Aegypten.geſchrien ſind, aus ihren Todeswindeln, koſtete aus den
Seen das Natrum hervor, brachte das Wunder der
Fata morgana auf eine natuͤrliche Erklaͤrung zuruͤck,
und bewies, daß im Nilſchlamm nur eilf Theile Waſ¬
ſer, aber achtundvierzig Theile Alaunerde enthalten ſind.
Mehemed Ali kam mit ſeinen dreihundert Rume¬
lioten gerade zur rechten Zeit, um ſich und die ganze
tuͤrkiſche Armee noch einmal von Napoleon bei Abukir
total ſchlagen zu laſſen; denn Napoleon hatte Eile:
den 18. Brumaire und die Lorbeern des zweiten ita¬
lieniſchen Feldzugs konnte er nicht ſchnell genug reifen
ſehen; er reiſte ab. Kleber, der Sultan mit dem
Goldarm, ſetzte den Anfang ſo lange fort, bis ihn ſelbſt
von Meuchelhand das Ende traf. Menou, der Gene¬
rol Abdallah Jaques Menou, der Moslem geworden
war, uͤbernahm von ihm eine Sache, die ſchon laͤngſt
im Verſcheiden lag. Die Englaͤnder landeten, um den
franzoͤſiſchen Spuk aus Aegypten zu vertreiben. Es
war die hoͤchſte Zeit fuͤr Frankreich, dieſe Mythe mit
Ehren zu ſchließen; man ſchiffte ſich ein; die letzten
Segel auf der Rhede von Alexandria verſchwanden; es
herrſchte einen Moment hindurch ein heiliges, ſchwei¬
gendes Erſtaunen; die alten Tuͤrken ſtrichen ihre Baͤrte
[97]Mehemed Ali von Aegypten. und riefen: Es gibt nur Einen Gott, Gott und Ma¬
homed iſt ſein groͤßter Prophet!
Nach jenem Abzuge wuͤtheten die Kadmeer gegen
ſich ſelbſt. Der alte Kampf zwiſchen den Mamelucken
und Tuͤrken, welchen im 16. Jahrhunderte Selims
blutige Siege zum Nachtheile der erſtern entſchieden
hatten, entbrannte aufs Neue. Die Mamelucken, zer¬
ſtuͤckt nach zahlloſen Niederlagen, hatten zuletzt mit
Frankreichs unbeſiegbaren Granitkolonnen Friede ge¬
ſchloſſen; die Tuͤrken, die ihnen zu Hilfe kommen
wollten, trafen in ihnen ihre Gegner an.
Aber auch zwiſchen den Beys der Mamelucken
herrſchte Trennung: Bardiſſy Bey und Elfy Bey ſtan¬
den ſich feindlich gegenuͤber; dieſer, Verbuͤndeter der
Englaͤnder, jener, auf die Albaneſen vertrauend. Me¬
hemed Ali gehoͤrte zu den Truͤmmern der erſten tuͤr¬
kiſchen Expedition, und hatte ſich inzwiſchen zu einem
geachteten Befehlshaber aufgeſchwungen. Jetzt begann
er ſeine Intrigue, die erſt in einigen Jahren an ihr
Ziel kam, aber mit deſto groͤßerer Sicherheit von ihm
fortgeſponnen wurde. Er balancirte von einer Partei
zur andern, gab entweder ſelbſt den Ausſchlag, oder
ſtellte ſich auf die Seite, welche uͤberwog, je nachdem
die Umſtaͤnde es geboten. Es war hier kein Ungeſtuͤm
Gutzkow's öffentl. Char. 7[98]Mehemed Ali von Aegypten. eines ehrgeizigen Helden, kein angeborner Muth, der,
um ſeinen Stolz zu retten, ſelbſt den Erfolg in die
Schanze ſchlaͤgt, ſondern eine kluge Berechnung, die
ſich zu beherrſchen weiß, die in Hoffnung groͤßerer kleine
Vortheile aufgibt und nicht in Verzweiflung geraͤth,
wenn ſich ein Tag langweilig an den andern reiht.
So lange Mehemed noch nicht im Zuge ſeiner
Intrigue war, verdarb er es mit keiner Partei, weder
mit der Pforte und ihren Geſandten, noch mit den
Beys. Der Zwieſpalt unter dieſen ſelbſt kam ihm da¬
bei trefflich zu ſtatten. Er nahm die Miene an, als
ſei er dem von der Pforte geſchickten Statthalter Kus¬
ruf treu ergeben, ließ ſich aber zweimal von den Ma¬
melucken ſchlagen; Taher Paſcha diente ihm, indem er
Kusruf ſtuͤrzte, Kusruf wieder gegen Achmed Paſcha,
der Taher verdraͤngt hatte. Kusruf war aber nur ein
Name, und Mehemed brauchte eine Macht; da that
er einen Schritt, der dem Scheine nach kuͤhn war, den
er aber als gefahrlos kannte: er ging ins Lager der
Mamelucken und verband ſich mit Bardiſſy.
Aber auch hier, eingedenk des Grundſatzes, daß der
Theilende herrſcht, trennte er ſogleich die Intereſſen,
und ſchied ſich einen neuen Hinterhalt, die Albaneſen,
heraus. Die Albaneſen mußten ihm ſpaͤter zu Allem
[99]Mehemed Ali von Aegypten.dienen, ſie wußten heimlich oder offen fuͤr ihn Aufruhr
anzuſtiften; er wußte ihre Tapferkeit, ihre Tumulte,
ihre Geldgier zu benutzen. Das Buͤndniß der Mame¬
lucken diente ihm, das Terrain immer mehr zu ſaͤu¬
bern: Gezairly, der neue Statthalter der Pforte, wurde
fortgeſchafft, Elfy Bey beſiegt. Es blieb fuͤr den Au¬
genblick kein Gegner mehr uͤbrig, als Mehemeds Bun¬
desgenoſſe ſelbſt, Bardiſſy.
Die Albaneſen mußten ihm den Gehorſam auf¬
kuͤndigen, den Sold von Bardiſſy verlangen; dieſer
druͤckte das Volk, um ſie zu befriedigen, und Mehemed
ſtellte ſich zu den Scheiks und Ulemas, indem er dieſe
durch ihn veranlaßte Unordnung gloſſirte und dem
Volke zeigte, was die Handlungen eines Unterdruͤckers
und ſchlechten Finanzverwalters waͤren. Mehemed war
dem Ziele nahe, da trat wieder ein neuer Name da¬
zwiſchen, der dritte Statthalter der Pforte, Churſchid.
Mehemed mußte dieſem wieder ſeine Dienſte an¬
bieten; er focht gegen die Mamelucken ungluͤcklich,
kehrte ohne Befehl nach Cairo zuruͤck, und zwang den
Statthalter, die Stadt mit den ſchwerſten Steuern zu
belegen. Ein Sturm der Mamelucken, wurde zuruͤck¬
geſchlagen, und Mehemed fand Raum zu neuen Ma¬
chinationen. Der Statthalter verſchwand immer mehr
7 *[100]Mehemed Ali von Aegypten. neben ihm. Er wollte ihn nach Syrien ſchicken. Me¬
hemed wuͤrde gegangen ſein, wenn ihn eine veranſtal¬
tete Deputation des Volks nicht gehalten haͤtte. Da
entſchloß ſich die Pforte, ihm das Paſchalik von Ged¬
dah zu geben. Mehemed beugte ſich demuͤthig, nahm
die Beſtallung und den Ehrenpelz; doch ſeine Albane¬
ſen fielen ihn vor dem Hauſe an: er ſprach laͤchelnd
einige Worte, und der Tumult, den er veranſtaltet
hatte, war zerſtoben. Das Volk jauchzte ſeiner Macht
zu, er beſtieg ſein Roß, warf Gold und Silber aus,
und wurde mit Ehrfurcht von den Scheiks empfangen.
Man machte dem Statthalter ſeiner Bedruͤckungen we¬
gen den Prozeß, und noch ehe ſeine Vertheidigung von
der Feſtung in Cairo aus zu einer Entſcheidung fuͤhrte,
langte ein Ferman der Pforte an, der Mehemed Ali
in ſeiner Uſurpation beſtaͤtigte.
Der Divan von Konſtantinopel befolgte bei den
Unruhen in den Provinzen des Reiches immer die Po¬
litik, daß dasjenige das Gerechte iſt, was gerade den
Sieg in Haͤnden hat.
Vom Julius 1805 datirt ſich Mehemed Ali's
Statthalterſchaft uͤber Aegypten.
Das einzige Hinderniß ſeiner Herrſchaft hatte Me¬
hemed in den Mamelucken, welche noch nicht beſiegt
[101]Mehemed Ali von Aegypten. waren. Sie ſtanden ſeinen Entwuͤrfen noch mehr ent¬
gegen, als die Janitſcharen dem Sultan, da ſie in of¬
fenem Felde ihm gegenuͤberlagen. Er verſuchte, ſich
durch Liſt von ihrem erſten Andrange zu befreien, ließ
ſie von ſcheinbar aufruͤhreriſchen Soldaten nach Cairo
locken und uͤberfiel die Verrathenen, ſo daß er drei
und achtzig Mameluckenkoͤpfe nach Konſtantinopel ſchi¬
cken konnte.
Die mißtrauiſche Pforte aber ſchwankte ſchon, wen
ſie fuͤr den Augenblick mehr fuͤrchten ſolle, den Pa¬
ſcha, oder ſeine Gegner, welche durch ihre Uneinigkeit
auch fuͤr die Tuͤrken uͤberwindlicher waren. Sie ſandte
zweimal den Kapudan Paſcha, um des Satrapen
Schritte zu beobachten; ja zuletzt traf auch der Ferman
ein, welcher Mehemed zum Paſcha von Salonichi er¬
nannte und ihn ſomit aus Aegypten vertreiben ſollte.
Zu Mehemeds Schrecken verſoͤhnte ſich auch Elfy Bey
mit den Tuͤrken; es fehlte ihm an Geld, und er
wußte, daß er dadurch die Pforte ſogleich umſtimmen
konnte. Da warf ſich der Paſcha ſeinen Albaneſen in
die Arme, welche ſich durch ein unaufloͤsliches Band
an ihn zu ketten verſprachen. Sie legten die Hand
auf den Koran, und ſchritten, ihrer ſiebenzig Heerfuͤh¬
rer, uͤber einen Saͤbel, den am Boden liegend zwei der
[102]Mehemed Ali von Aegypten.Aelteſten hielten. Sie erklaͤrten, daß ſie Mehemed nie
verlaſſen wuͤrden, brachten eine anſehnliche Summe aus
ihren eignen Schaͤtzen zuſammen und retteten ſo den
Statthalter, welcher ſich ſchon auf die Feſtung von
Cairo zuruͤckgezogen hatte.
Es traf Alles zuſammen, was die Wolken von
Mehemeds Sonne zog. Bardiſſy und Elfy, beide
Beys ſtarben raſch hintereinander; der Kapudan Pa¬
ſcha verließ Aegypten, und Mehemed konnte zwei Jahre
lang an die Civilverwaltung ſeines Landes denken.
Die Pforte ließ aber ihrem maͤchtigen Diener we¬
nig Ruhe; ſie begann jetzt die Politik, welche ſie bis
auf die neueſten Zeiten gegen Mehemed in Anwendung
gebracht hat, ihn naͤmlich im Auslande zu verwenden
und ſeine Waffen fortwaͤhrend zu beſchaͤftigen.
Mehemed widerſprach nicht, als ihm der Krieg ge¬
gen die Proteſtanten des Islam, die Wechabiten, uͤber¬
tragen wurde; aber er ließ es zwei Jahre anſtehen,
bis er ſeinem Verſprechen nachkam. Er huͤtete ſich
wohl, ein Eigenthum zu verlaſſen, das in ſeinem eig¬
nen Hauſe noch ſo bedroht war. Er wollte die Ma¬
melucken nicht im Ruͤcken laſſen, und fuͤhrte jetzt jenen
tragiſchen Akt aus, der, in Konſtantinopel gegen die
Janitſcharen wiederholt, Europa uͤberzeugen konnte, wie
[103]Mehemed Ali von Aegypten. weit noch die voͤllige Vermaͤhlung der Civiliſation mit
Aſien entfernt liegt.
Fuͤnfhundert achtunddreißig Mamelucken ſchlachtete
Mehemed Ali in einem Hohlwege der Feſtung von
Cairo ab. Er zitterte waͤhrend des Gemetzels, aber als
man ihm die erſten Koͤpfe brachte, beruhigte er ſich;
als das Ganze geſchehen war, behauptete er, Napoleon
habe es mit den Bourbons nie beſſer gemacht. Er
dachte an Enghiens Fuſillade in Vincennes.
Die Pforte ſchwieg; denn ſie ſchliff ſchon ſelbſt an
ihren Meſſern. Dis Alles fuͤr die Civiliſation! dis Al¬
les fuͤr einen regelrechten Schuß nach Kommando, fuͤr
den europaͤiſchen Geſchwindſchritt „Eins, zwei, drei!“
Mehemed hatte jetzt ſelber das Intereſſe des Krie¬
ges, und wird es bei ſeinem Regierungsſyſtem immer
haben. Der unruhige Soldat, meuteriſch im Frieden,
zu Abwechſelungen unter ſeinen Befehlshabern ge¬
ſtimmt, voll Haß gegen das fraͤnkiſche Exercitium, tobt
ſeine Leidenſchaft im Kriege am erſten aus; der Krieg
beſchaͤftigt den Ehrgeiz der Großen und die Habſucht
der Kleinen. Darum hielt ſich Mehemed immer in
einem fortwaͤhrenden, in einem gleichſam eiternden
Kriege, welcher nicht zuheilt, bald gegen Syrien, bald
[104]Mehemed Ali von Aegypten. gegen Feinde, welche er ſich im Suͤden ſeiner Provinz
aufſuchte.
Dazu kam eine Maxime, welche er von der euro¬
paͤiſchen Monarchie gelernt zu haben ſcheint, ſeine Fa¬
milie ſo populair als moͤglich zu machen: er brauchte
Kriege, um ſeinen Soͤhnen und Schwiegerſoͤhnen Ge¬
legenheit zu glaͤnzenden Waffenthaten zu geben. Sein
Erſtgeborner machte im Kriege gegen die Wechabiten
kein Gluͤck, er liebte die Frauen, und ſtarb in den Ar¬
men einer ſchoͤnen Georgierin. Ibrahim Paſcha nahm
die verlorne Sache wieder auf, ein trefflicher Soldat,
damals maͤßig, nuͤchtern, nicht ohne humane Grund¬
ſaͤtze, und ſelbſt großmuͤthig, noch nicht verwildert durch
den Kampf aus Morea. Die Wechabiten wurden ge¬
ſchlagen und zu neuen Angriffen unfaͤhig gemacht.
Mehemed Ali hatte die Freude, ſeinen Sohn im glaͤn¬
zendſten Triumphe in Cairo einziehen zu ſehen. Er iſt
ein liebender Vater, ſchwaͤrmeriſch fuͤr ſeine Familie,
und nicht wenig auf die Deſcendenz bedacht. Er hat
ſechs Waͤrterinnen eines Kindes, das ſeinem Sohne
Ibrahim ſtarb, ohne Weiteres im Nil erſaͤufen laſſen.
Wenn man die Reformen Mahmuds mit denen
Mehemeds vergleicht, ſo muß man geſtehen, daß der
Sultan der oͤffentlichen Meinung von Europa zu im¬
[105]Mehemed Ali von Aegypten. poniren ſuchte, der Vicekoͤnig aber nur, ſich vor ihr zu
rechtfertigen. Jener wollte das Erſtaunen, dieſer den
Beifall Europa's. Mehemed ſchmeichelt der Civiliſation,
was Mahmud nie that.
Mehemed kann weder den Emporkoͤmmling noch
den Tabackshaͤndler verleugnen. Er iſt der ungebildete
Mann, welcher ploͤtzlich zu großem Reichthum gelangt
iſt, und den Umgang geſcheidter Leute aufſucht, welche
er ja bewirthen und bezahlen kann. Er umgibt ſich mit
einer Bildung, von der er ſelbſt nichts verſteht, von
der aber z. B. reiche und gebildete Eltern ſagen, daß
ihre Kinder Alles lernen muͤſſen, tanzen, franzoͤſiſch,
Klavierſpielen und die Opera ſingen.
Mehemed Ali iſt ein Spekulant, welcher gute Ge¬
ſchaͤfte gemacht hat, den der Zufall und eine angeborne
Schlauheit beguͤnſtigt haben, und der jetzt ein ganz voll¬
kommenes, abgerundetes Ganzes vorſtellt, obſchon er
zu dem Schatten, den er wirft, nicht den Koͤrper hat.
Man wuͤrde ſich irren, wenn man glaubte, Mehe¬
med Ali beſaͤße den Enthuſiasmus der Bildung. Er
iſt weit entfernt ein ſo großartiger Reformator zu ſein,
wie es Peter der Große war, welcher in den Strelizen
auch ſeine Mamelucken zu vertilgen hatte. Peter hatte
von der Natur einen beſchwingten Geiſt erhalten, der
[106]Mehemed Ali von Aegypten.ſich oft bewundernswuͤrdig aus der Materie erhob. Pe¬
ter empfand die Freude, welche die Wiſſenſchaften ein¬
floͤßten; er zeigte uͤberall das geniale Erſtaunen eines
geiſtreichen Mannes, dem man Dinge mittheilt, welche
zufaͤllig dem bisherigen Kreiſe ſeiner Bildung fremd ge¬
blieben waren. Peter der Große bekannte ſich zu den
Wiſſenſchaften mit einer liebenswuͤrdigen Schaam, welche
er im Namen ſeines ganzen Volkes empfand.
Mehemed Ali iſt weit von dieſer Humanitaͤt ent¬
fernt. Fuͤr dieſen Paſcha ſind die Wiſſenſchaften eine
Gemaͤldeſammlung, welche ſich der Gluͤckspilz anſchaf¬
fen zu muͤſſen glaubt, ohne von ihr etwas zu verſtehen.
Er wuͤrde vielleicht der Sammlung laͤngſt uͤberdruͤſ¬
ſig geworden ſeyn, wenn ſie ihm nicht zufaͤllig auch
Nutzen braͤchte. Mehemed Ali ſieht ein, daß man ohne
Kultur in ſeinen Gewinnſten immer verkuͤrzt wird, und
daß es noͤthig iſt, um ein uſurpirtes Land zu beſitzen
und zu vererben, ſeiner Herrſchaft die Grundlagen zu
geben, welche nicht nur alle uͤbrigen Staatsgebaͤude
aufrecht halten, ſondern auch von den Eingebornen nicht
ſo leicht weggezogen werden koͤnnen, weil dieſe fuͤr die
fremden Maſchinen nicht die Handgriffe kennen.
Mehemed Ali richtet ſich Aegypten wie eine große
Domaine zu. Er verwaltet ſie nach ziemlich tuͤrkiſchen
[107]Mehemed Ali von Aegypten. Grundſaͤtzen, durch Erpreſſungen, Pachtgelder und Pri¬
vilegien. Er macht den Staat zu einem Ungeheuer,
welches Alles verſchlingt; er iſt der Generalunternehmer
aller Gewerbsthaͤtigkeit, der Maͤkler des ganzen aͤgypti¬
ſchen Handels, das große Wechſelhaus, das alle Sum¬
men des Landesverkehres traſſirt. Die buͤreaukratiſchen
und Centraliſationsgrundſaͤtze Europa's, die ordinaire,
alte Hefe unſrer Staatsweisheit, kommen ihm hierbei
zu Hilfe, und es iſt moͤglich, daß ſich Aſien nur auf
dieſem Wege begluͤcken laͤßt.
Seitdem die Expedition nach Morea dem Vicekoͤ¬
nig keineswegs das wieder eingebracht hat, was ſie ihm
koſtete, ſeitdem die Pforte eine Demuͤthigung nach der
andern erfuhr, hat auch Mehemed Ali die Verbindung
mit ihr immer loſer werden laſſen. Der Halbmond von
Konſtantinopel iſt in der That nur noch ein Viertel¬
mond.
Aber zu bewundern iſt es, wie lange der Vice¬
koͤnig mit ſeinem Plane zuruͤckgehalten hat: ja ſelbſt
jetzt noch, ſeitdem er der Sieger von Koniah geworden,
hat er ſich noch nicht fuͤr ſouverain erklaͤrt, und ſchickt
ſeine gewoͤhnlichen Geſchenke an den Sultan. Es iſt
ſchwer, fuͤr dieſe Unentſchloſſenheit einen rechten Grund
aufzufinden; eine religioͤſe Ruͤckſicht ſcheint nicht denk¬
[108]Mehemed Ali von Aegypten.bar. Vielleicht glaubt Mehemed Ali ſich erſt in den
voͤlligen Beſitz Syriens ſetzen zu muͤſſen, ehe er die
Entſcheidung gibt. Vielleicht gibt er ſie nicht einmal,
um noch Groͤßeres vorzubereiten.
Man hat geſagt, in ſeinem Plane laͤge der Thron
von Konſtantinopel ſelbſt, wenigſtens fuͤr ſeinen Sohn.
Dieſe Kataſtrophe waͤre merkwuͤrdig, und kann den po¬
litiſchen Witz verfuͤhren, hier ſchon im Voraus ſeine
Kombinationen zu machen. Aber abgeſehen davon, daß
eine ſolche Veraͤnderung ohne Rußland nicht geſchehen
kann, ohne Rußland, welches uͤber Perſien den Ruͤcken
der Tuͤrkei umſchleicht, und jede Dynaſtie, die es hier
findet, mit zwei Armen erdruͤcken wird, laͤßt ſich auch
aus der ganzen Phyſiognomie der aͤgyptiſchen Herr¬
ſchaft, aus dieſer beſorglichen, zeitvergeudenden Tergi¬
verſation Mehemed Ali's, und den zweifelhaften poli¬
tiſchen Talenten Ibrahim Paſcha's, keine Zukunft die¬
ſer Art vorausſehen. Seit den fabelhaften Zeiten des
Seſoſtris war Aegypten niemals ein Sitz der Eroberer,
wohl aber ſolcher Helden, welche von ihren anderweiti¬
gen Siegen ausruhten.
Vielmehr moͤchte Aegypten genug damit zu thun
haben, zweien Ereigniſſen, welche es treffen koͤnnen, die
Spitze zu bieten, entweder der Reaktion der alten mu¬
[109]Mehemed Ali von Aegypten. ſelmaͤnniſchen Militairherrſchaft, oder der buͤrgerlichen
Revolution, welche in Folge des Ausſaugeſyſtems Me¬
hemed Ali's noch mehr zu befuͤrchten iſt. Wie? wenn
die europaͤiſche Civiliſation, die dem Volke eingeimpfte
Neuerung, hiebei ſelbſt eine Rolle ſpielte? Gaͤhrungs¬
ſtoffe ſind zahlreich vorhanden, vom religioͤſen Fanatis¬
mus an bis zu dem Elend des Fellahs, der bei den
Ueberſchwemmungslaunen des empfindlichen Nil oft da
nichts als Sand hat, wo er zur Friſt eines kuͤmmerli¬
chen Lebens etwas Schlamm gehofft hatte. Auch hat
ſich ein großer Theil des europaͤiſchen revolutionairen
Geſchwuͤrs nach Aegypten hin zertheilt, von den Ex¬
erziermeiſtern und Renegaten an bis auf Vater En¬
fantin, welcher nicht glauben kann, daß es die Miſſion
des St. Simonismus ſei, blos die Landenge von Suez
zu durchſtechen.
Mehemed Ali fuͤrchtet auch dieſen unruhigen Geiſt,
und hat ſich den Beſuch der Polen weislich verbeten.
Das ſind Elemente, aus welchen der Zufall oder das
Schickſal eine Zukunft zuſammenſetzen wird.
Aber das Genie, der Eroberungsgeiſt, ſpielen ſchwer¬
lich noch eine Rolle in Aegypten, in dem Lande des
Stillſchweigens und der Todten.
Ihr wollt aus Mehemed Ali einen Philipp, aus
Ibrahim Paſcha Alexander machen?
Ja, aus Macedonien ſind ſie beide; doch hat
Ibrahim, wie er jetzt iſt, ſchon ſeine Feſte von Ba¬
bylon gefeiert; und Mehemed Ali glaubt mehr gethan
zu haben, als man von ihm erwarten konnte. Und er
hat Recht; denn nicht aus jedem Sohne eines Poli¬
zeikommiſſarius wird ein Paſcha von Syrien und
Aegypten.
Die Napoleoniden.
[][]Es ſteht keiner Gattung der ungebundenen Darſtel¬
lung eine ſolche Veraͤnderung bevor, wie der Geſchicht¬
ſchreibung.
Wenn ſich bei jenen alten und vergeſſenen Zei¬
ten, die mit ihren ſchwierigen Jahreszahlen bis zum
Anfange der franzoͤſiſchen Revolution reichen, der Hi¬
ſtoriker auf die Ermittelung einiger hervorragenden Er¬
ſcheinungen, auf einige charakteriſtiſche Anekdoten, und
eine Verknuͤpfung derſelben, welche die Schule ſehr
aͤngſtlich unter dem Namen Pragmatismus empfiehlt,
beſchraͤnken durfte, ſo verlangen unſre Zeiten, die uns
noch im Gedaͤchtniſſe klingen, einen neuen Styl der
Behandlung, deſſen Prinzipien bis jetzt noch keine Rhe¬
torik entworfen hat.
Jene alte Geſchichte wurde gemacht vom Ruhm,
von der Uſurpation, von der Genealogie und von eini¬
gen wunderbaren Ereigniſſen, welche ſich um Feldher¬
Gutzkow's öffentl. Char. 8[114]Die Napoleoniden. renſtaͤbe, wie die der Marlborough, um ewige Porte¬
feuilles, wie die der Richelieu, und um Regierungen,
welche nicht kuͤrzer waren, wie die Friedrichs III. her¬
umrankten. Ein Avanturier, ein Eroberer, ein Phan¬
taſt, ein Paar Handſchuhe gaben den Ausſchlag, und
der Hiſtoriker hat Alles gethan, wenn er in Kuͤrze be¬
richtet, was in Kuͤrze geſchehen iſt.
Jetzt iſt es anders. Die Coefficienten der Weltge¬
ſchichte haben ſich vermehrt; jene raſirten Tafeln, Voͤl¬
ker genannt, oder Interregna oder matte Perioden, auf
welche der Despotismus, die Laune, der Zufall oder
gar ein demokratiſches Original, das durch eine Empoͤ¬
rung oder Viſion ſich den Scheiterhaufen erkaufte, Ge¬
ſchichte ſchrieben, ſind entweder kleiner geworden, oder
haben ſelbſt fuͤr die Ereigniſſe eine Rolle uͤbernommen.
Die moderne Geſchichte baut ſich nicht mehr aus Maſ¬
ſen auf, ſondern aus Individualitaͤten; ſie laͤßt keine
Luͤcken, welche fuͤr die alte Welt die Kunſt, die Re¬
ligion und die Wiſſenſchaft ausfuͤllen, ſondern alle Fu¬
gen ziehen ſich eng zuſammen, oder wo ſie offen blei¬
ben, draͤngt ſich eine neue Erſcheinung, die bald alles
Uebrige wieder uͤberragt, hervor.
Wie kurz war in unſrer Zeit das Gluͤck, wie be¬
ſtritten der Ruhm? Wie ſchnell wandelten ſich die Tha¬
[115]Die Napoleoniden.ten in Begebenheiten um, denen ihre Folgen ſchon wie¬
der uͤber den Kopf wuchſen! Das Schauſpiel unſrer
Tage hat ſich vor uͤberreicher Handlung in ein Epos
verwandelt, ſo daß der Hiſtoriker weniger Epochen als
Zuſtaͤnde zu ſchildern hat, breite Dimenſionen, breite
Antworten nicht mehr auf die Frage: Was geſchah?
ſondern: Wie wurde gelebt?
Die Poeſie der Geſchichte war in jenen alten ſchlum¬
mernden Zeiten zuweilen ein fluͤchtiger Traum, ein uͤp¬
piger Auswuchs der Chronik, Oedipus im Hain der
Eumeniden, Cleopatra am Strande des Meeres koſend
mit Antonius, der Obolus des Beliſar, Konradins
Tod; kein Epos, wie jetzt; keine Kette von wunderba¬
ren Begebenheiten, wie die neue Geſchichte. Wer
wollte Napoleon zu einem tragiſchen Helden machen?
Wer wollte alle die Elemente ſeiner Zeit (die er nicht
immer bezwang, ſondern nur augenblicklich beruhigte
oder zur Ruhe zwang) fortlaͤugnen, dieſe Hinderniſſe
und Folien, welche ſeine Erſcheinung in die Laͤnge zo¬
gen, aus dem kurzen Drama ein gigantiſches Epos mit
Voͤlkern und Tendenzen als Endreimen machen, und
aus den Reſten dieſes Meteors, aus den Pallantiden
Frankreichs einen Roman, ein breites Familiengemaͤlde?
Aber ich frage darnach nichts; unſre großen hiſtori¬
9 *[116]Die Napoleoniden. ſchen Meiſter, ein Poͤlitz, ein Adolph Menzel, werden
auch mit dieſen Dingen leicht umzuſpringen und das
Ungeheure in ihrer Art zu uͤberwaͤltigen wiſſen.
Als der Bellerophon — lebten wir zu den Zeiten
der Apoſtel, wuͤrde man ſagen eine Wolke — den gro¬
ßen Kaiſer hinwegnahm, blieb die mannichfache Ver¬
zweigung und Verſchwaͤgerung ſeines Blutes zuruͤck,
Namen von verſchiedenem Werthe, zum groͤßten Theil
aber Gluͤckspilze, die neben den unausloͤſchlichen Fu߬
ſtapfen des Kaiſers aufgeſchoſſen waren, dieſe Fettflecken
in den Hermelinen Europa's, welche die Kugeln der
heiligen Allianz nicht tilgen konnten.
Seitdem ziehen ſich die Napoleoniden durch die Ta¬
gesgeſchichte, wie eingewirkt ihrem Gewebe, wie der ro¬
the Faden einer Vergangenheit, welche in St. Helena
am Magenkrebs auf ewige Zeiten geſtorben iſt.
Napoleons Familie iſt eine Verlaſſenſchaft ohne
Rache, ungleich den Jakobiten, den Bourbonen von
1793 und 1830, ja ſelbſt dem Hauſe Waſa, es iſt
eine Buͤrgerfamilie ohne Trotz gegen die Legitimitaͤt,
welche ihnen einſt Toͤchter ins Ehebett gab, und jetzt
die Schulden bezahlt, welche ſich in ihren verſteckten
Aſylen aufhaͤufen; eine Verwandtſchaft, welche den, der
[117]Die Napoleoniden.ſie erhob, innerlich verwuͤnſcht und ſeinen Feinden die
Koſtbarkeiten verkauft, welche er ihnen hinterließ.
Dieſe Ueberreſte haben ihre eigenen Straßen, welche
ſie in Europa nur einſchlagen duͤrfen, ihre eigenen
Tage, wo ſie bei ihren legitimen Schwaͤgern zum Be¬
ſuche kommen, ſie ſind bei allen Dingen auf gewiſſe
Graͤnzen angewieſen, und verſchleudern den Ruhm ih¬
res Bruders, um den ihre Augen nicht mehr naß werden.
Napoleon hatte ſich an denen, welche aͤlter waren,
als er, fuͤr die Tyrannei in der Kinderſchule, beim
Spiel und Veſperbrod empfindlich geraͤcht; er hatte ſie
in Lagen gebracht, denen ſie nicht gewachſen waren,
und ſie nur deshalb mit Geſchenken uͤberhaͤuft, um ſie
deſto beſſer unter ſeiner Zuchtruthe zu haben. Die juͤn¬
geren zog er vor, ſeine Schweſtern liebte er und tanzte
ſogar mit ihnen, ja ſeine erheiratheten Verwandten, den
Prinzen Eugen und Hortenſe, betete er an mit ſeiner
Zaͤrtlichkeit, die ihm ſo ſchoͤn ſtand; aber Alle hat er ſie
entweder ſo verwoͤhnt, oder ſo geknechtet, daß ſie we¬
nig Sympathie fuͤr ihn empfanden und ihn noch jetzt
anklagen, wenn einmal ihre Finanzen nicht in Ordnung
ſind, oder ſie von den Siegern eine Zuruͤckſetzung er¬
fahren.
Dies iſt eine bekannte Thatſache und ſoll mich ver¬
[118]Die Napoleoniden.theidigen, wenn ich von den kleinen Funken des zer¬
ſprungenen Sternes Napoleon nicht mit jener Andacht
ſpreche, welche in neuem Zeiten bei Nennung ſeines
Namens Sitte geworden iſt.
Die Poeſie hat ſich immer ſehr erhitzt, wenn ſie
auf Laͤtitia, die vierundachtzigjaͤhrige Mutter des erlo¬
ſchenen Koͤnigshauſes, zu ſprechen kam. Sie wurde bald
mit Hekuba, bald mit Niobe verglichen; chriſtliche Phan¬
taſten nannten ſie die Rahel oder auch die Maria des
neunzehnten Jahrhunderts.
Warum lag in allen dieſen Benennungen nichts ſo
Erhabenes, als es das Schickſal dieſer alten Dame vor¬
zuſtellen ſcheint? Vielleicht weil Niobe mit einem Schlage
alle ihre Erzeugniſſe hinſinken ſah, Hekuba außer einer
Mutter auch eine greiſe Gattin war, welche ihren al¬
ten Herrn Priamus zaͤrtlich liebte; vielleicht, weil Rahel
in ihren gemordeten Kindern junge Keime ſterben ſah,
Hoffnungen, die noch nicht Maͤnner geworden waren,
und den Schmerz ihres Verluſtes nach dem Maaße
deſſen, was man von ihnen noch nicht wußte, vergroͤ¬
ßerten. Verſchwindet doch ſelbſt der Schmerz einer Ma¬
ria vor den Leiden ihres Sohnes, deſſen goͤttliche Voll¬
kommenheit ſie uͤberſtrahlte: „Weib, was hab' ich mit
dir zu ſchaffen!“
Laͤtitia iſt keine feudale Fuͤrſtin, keine trauernde
Koͤnigin aus „dem Schloß am Meer,“ ſie gebar nicht,
um große Erſcheinungen hervorzubringen; Laͤtitia kann
uns nur als Mutter ruͤhren, als Mutter, wo ſie im
Vergleich ziemlich gluͤcklich iſt; denn iſt ſie nicht von
Enkeln und Kindern umgeben?
Das gute Muͤtterchen wurde auf den Schauplatz
der Welt gebracht, wie in einem Ifflandiſchen Stuͤcke
zuletzt die alten Vaͤter und Großvaͤter aus ihren Dach¬
ſtuben kriechen, um das Gluͤck ihrer Kinder zu theilen,
deren Tugend ſie im Verlauf eines Theaterabends aus
Juſtizraͤthen zu Praͤſidenten machte.
Laͤtitia wuͤrde ſich in alle die Wunder, welche ihr
Sohn verrichtete, nicht gefunden haben, wenn Soͤhne,
Schwiegerkinder und Stiefenkel nicht die Aſſociés der
Weltgeſchaͤfte geworden waͤren, ſo daß ihr Alles in die
handgreiflichſte Naͤhe geruͤckt wurde. Sie ſah keine Hoff¬
nungen ſterben, keine Privilegien der Geſchichte, keine
Berechtigungen, die, wenn ſie nicht eintreffen, zuweilen
poetiſch ſind; die Fruͤchte ihres Leibes waren groͤßer als
der Stamm, ſie machten den Schoos vergeſſen, welchem
die Geſchichte ein ſo großes Ereigniß verdankt.
Glaubt Ihr, daß Madame Mère ſo ungluͤcklich
iſt? Thorheit! Sie wohnt zu Rom auf der Via San
[120]Die Napoleoniden.Romoaldo, iſt ſo alt, daß ſie vielleicht hofft, der Tod
werde ſie uͤbergehen, und lebt doch Luciano noch, den
ſie lieber hatte als Napolione, Luciano, der ſie nicht
mit harten Worten kraͤnkte, ſchreibt doch auch Giuſeppe
zuweilen aus Nordamerika, und Girolamo beſucht ſie
aus Florenz, Girolamo, ihr juͤngſter Sohn, den Na¬
polione ſo ſehr tyranniſirte, Girolamo, der mit Gewalt
ein großer Admiral, oder wenigſtens ein Koͤnig werden
ſollte, und doch artiger war, als alle uͤbrigen.
Die gute Alte! dort liegt ſie, auf dem bettarti¬
gen Sopha, ihr duͤrrer Leib, der ſo viel Koͤnige ent¬
hielt, in weite Shawls gewickelt, blind, aber ohne
Prophezeiung, mit gedoͤrrten Zuͤgen, aber lebhaft, ge¬
ſchwaͤtzig, Liebhaberin von Neuigkeiten, im muntern
Geſpraͤch mit Onkel Feſch, nicht anders, wie einſt im
Pallaſt de l'Eliſée von Paris.
Onkel Feſch, dieſer verſchlagene Prieſter im Vio¬
lettſtrumpf und rothem Hut, will noch jetzt die Dinge
immer beſſer wiſſen, als Napoleon; er beweiſt der
Matrone, welche ſchlummernd zuhoͤrt und ſchlaͤfriglaͤ¬
chelnden Beifall nickt, wie es der todte Kaiſer haͤtte an¬
fangen ſollen, wie Alles gekommen waͤre, wenn er auf
ihn gehoͤrt haͤtte, wie er aber immer tollkuͤhn und ty¬
ranniſch geweſen ſey. Hier ſeufzt Madame Laͤtitia;
[121]Die Napoleoniden. aber der weiſe Kardinal faͤhrt grauſam fort: „Ich hatte
den Papſt in der Hand, den heiligen Vater, welcher
es gut mit dem abtruͤnnigen Sohne der Kirche meinte.
Ich ſchloß das Konkordat, was dem uͤbermuͤthigen Kna¬
ben mißfiel, ich haͤtte Alles machen koͤnnen; aber
wollte er?“
Und die alte Dame ſeufzt wieder und ſpricht mit
jener fuͤrchterlich rauhen Stimme, welche mich vor alten
Italienerinnen immer zittern machte: „Ach, er glaubte
nichts: ob er wohl in den Himmel koͤmmt, Feſch?“
Feſch iſt grauſam, zuckt die Achſeln und murmelt: „Er
hat uns ungluͤcklich gemacht!“ Wahrhaftig, ſo ſprechen
die Menſchen uͤber eine Unſterblichkeit, an welcher ſie
die einzigen Nebelflecken ſind.
Napoleons Bruͤder waren nicht ohne Faͤhigkeiten;
ſie hatten eine gute Erziehung genoſſen, und fuͤr den
juͤngſten, fuͤr Hieronymus, ſorgte der Aeltere deshalb
ſelbſt. Joſeph war ſogar außer dem Ehebett erzeugt,
und konnte wie Edmund im Lear ſich dieſes Vorzuges
ruͤhmen, welchen die Natur den nicht zwiſchen Schlaf
und Wachen Empfangenen zu geſtatten pflegt. Lucian
beſaß mehr Feuer als die Uebrigen, war raſch im Han¬
deln, ohne ſich um die Verantwortlichkeit zu kuͤmmern, und
hat ſeinem Bruder gegenuͤber immer einen feſten Wil¬
8 **[122]Die Napoleoniden.len gezeigt. Ludwig hatte einen ſanfteren Charakter, mit
einem Anſtrich von Schwaͤrmerei, die eine gute Ent¬
ſchuldigung ſeines Phlegma's war. Hieronymus endlich,
der ſchon in dem Glanze ſeiner Familie erzogen wurde,
nahm fruͤh die Eigenſchaften, welche aͤchtes prinzliches
Blut zu begleiten pflegen, in ſich auf, im Guten wie
im Boͤſen. Napoleon konnte deshalb auch daran den¬
ken, ſie zu ſeinen Zwecken zu benutzen, waͤhrend ſonſt
das Genie immer Noth hat, die Miſere ſeiner Herkunft
und Verwandtſchaft zu verdecken.
Anfangs wollte er ſich aus ihnen nur Umgebungen
ſchaffen, die ein feines Ohr, verſchwiegenen Mund und
beredte Zunge haͤtten; es fehlte ihm an Treue, Sicher¬
heit und Spionen des erſten Ranges; er hatte ſo man¬
ches Amt zu vergeben, das er von der Zuverlaͤſſigkeit
bekleidet wuͤnſchte; ja er ſah ſo viele freie Haͤnde ein¬
flußreicher Schoͤnheiten, daß er nicht Maͤnner genug
haben konnte, denen er dieſe aufbewahrte.
Dieſe letzte Kombination war die erſte, welche ihm
fehlſchlug; denn ſo leicht es ihm wurde, den Ehrgeiz
ſeiner Bruͤder zu lenken, ſo aufſaͤtzig zeigten ſie ſich doch,
als er ihren Herzen die freie Wahl nehmen wollte.
Die ſchoͤne Jouberton, die Patterſon gehoͤrten nicht in
[123]Die Napoleoniden. ſeine Plane: man weiß, wie wenig Ludwig mit Hor¬
tenſe wahlverwandt war.
Napoleon, darauf bedacht, ſich mit einer erborgten
Legitimitaͤt zu ſchmuͤcken, adelte vor allen Dingen zuerſt
ſein Blut, ſeine Familie, und machte ſeine Bruͤder,
welche als franzoͤſiſche Prinzen ſchon die Handgriffe und
Bewegungen einer anſtaͤndigen Repraͤſentation erlernt
hatten, zu Koͤnigen uͤber Reiche, welche entweder erſt
erobert waren, oder durch Intrigue einen leeren Thron
zeigten.
Dies wurde fuͤr Europa eine Propaganda des fran¬
zoͤſiſchen Gouvernirungsſyſtems, die, wie bald auch ihre
Wirkſamkeit voruͤberging, doch nicht ohne Folgen auf
die ſpaͤtere Geſtaltung unſrer Verhaͤltniſſe blieb. Mit
Napoleons Bruͤdern und den andern gekroͤnten Pala¬
dinen der großen Kaiſerherrſchaft kamen die Begriffe
Centraliſation und Bureaukratie uͤber uns, welche die
ſpaͤtere Reſtauration adoptirte, obſchon ſie Ausfluͤſſe der
Revolution waren. Napoleons eignes Verfahren galt
als Muſter, ſeine Politik, ſein Handelsgrundſatz durfte
von keinem ſeiner Vaſallen uͤberſchritten werden; dieſe
militairiſche Feudalherrſchaft wurde mit einer Strenge
ausgefuͤhrt, welche den Guͤnſtlingen der kaiſerlichen
Gnade dieſe bald ſelbſt unertraͤglich machte. Zur Gunſt
[124]Die Napoleoniden.geſellte ſich die Laune. Napoleons Bruͤder wurden die
Abzugskanaͤle ſeines Unmuths.
Sie waren es ſchon in Paris; ein widerwaͤrtiges Er¬
eigniß kam immer auf die Rechnung ſeiner Familie, zu
der er dann hinaufſtuͤrmte, die Thuͤren ſchlug, mit dem
Degen drohte, ſo lange bis ihn erſt ſeine Schweſtern
beſaͤnftigten.
Napoleon hatte nicht Unrecht; denn ſchon damals,
als er noch General der Republik und Konſul war, ga¬
ben ſeine Bruͤder vielfachen Anlaß zum Unwillen; ſie
uͤbernahmen die Lieferungen bei der Armee, um ſich zu
bereichern, und machten Geſchaͤfte an der Boͤrſe, zu wel¬
chen ſie die Politik Napoleons als verſteckte Wetterfahne
und Telegraphen brauchten. Joſeph und Lucian leiſte¬
ten in dieſen Spekulationen das Moͤgliche, denn ſie wa¬
ren aͤlter und italieniſcher als die Andern.
Die ſpaͤtern Koͤnige mußten Napoleons Zuchtruthe
noch derber fuͤhlen. An jedem militairiſchen Nachtheil,
an einer entdeckten Verſchwoͤrung, an jedem Mißge¬
ſchick des Kaiſers waren ſie Schuld; ſie waͤren, ſagte er,
keine Franzoſen, ſie unterhandelten mit den Englaͤndern,
mit dem Papſte, ſie haͤtten immer andre Dinge im
Kopf als er, und er ſchwoͤre ihnen zu Gott, ſie ſollten
ſich in Acht nehmen. Wenn im Haag, in Neapel, in
[125]Die Napoleoniden.Madrid, in Kaſſel eine Depeſche von Paris ankam, ſo
zitterte man; denn die Bruͤder wußten, daß ſie ſchon
wieder Etwas nicht recht gemacht hatten.
Niemand hatte von Napoleons Mißlaunen mehr
zu dulden, als Ludwig, der hinter ſeinen Deichen und
Poldern, mit einem fuͤrchterlichen Defizit der Kaſſe, mit
Feuersbruͤnſten, auffliegenden Pulverſchiſſen, Ueberſchwem¬
mungen und republikaniſchen Tendenzen bemitleidens¬
werth geplagt war. Er war etwas weitlaͤuftig in ſei¬
nen Bewegungen, nahm zu den kleinen Spruͤngen, die
er machen durfte, immer große Anlaͤufe, und liebte es
freilich, mehr zu ſprechen, als Napoleons deſpotiſcher
Lakonismus gut hieß. Auf Ludwig haͤufte ſich des
Kaiſers Unmuth; er moraliſirte ihm zu viel; Napo¬
leon fand es laͤcherlich, wenn ſich ſein Bruder, ſtatt
gefuͤrchtet, populair machen wollte, wenn er von Na¬
tionalitaͤt und republikaniſchen Erinnerungen und allge¬
meiner Menſchenliebe ſprach; er nannte mit einem ſei¬
ner klaſſiſchen Ausdruͤcke dieſe Dinge an ſeinem Bru¬
der „Humanitaͤtswahnſinn“ und ſchrieb ihm Einmal
uͤber das Andre, jetzt moͤcht' er nur machen, daß er
bald zu den Englaͤndern uͤberginge. Ludwig verließ
Holland, und hat ſich mit ſeinem Bruder nie wieder
ausgeſoͤhnt.
Wenn man die letzten Truͤmmer des Hauſes Na¬
poleon in eine Geſammtanſicht bringen will, ſo findet
man zwar, daß ſie ſich unter einander begatten; doch
laſſen ſich zwei Stroͤmungen, ſelbſt mit verſchiedenen
Kennzeichen, und verſchiedenartig gegen ihre Umgebun¬
gen abſtechend, herausſcheiden — die maͤnnliche und
die weibliche Verwandtſchaft Napoleons. Rechnet man
zu dieſer letztern noch ſeine Heirathen und Adoptionen,
ſo iſt ſie diejenige Linie, welche ſich noch in der leb¬
hafteſten Korreſpondenz mit der Legitimitaͤt befindet: es
ſcheint, als wenn das weibliche Blut der Fuͤrſtenhaͤu¬
ſer weit ſchwieriger zu deprinzipeliſiren iſt, als das
maͤnnliche. Citirt Kluͤber daruͤber nichts?
Die maͤnnliche Verwandtſchaft des Kaiſers hat ſich
mehr verſteckt und zuruͤckgezogen, ja ſie iſt ſogar der
Monarchie zum Theil untreu geworden und bemuͤht ſich,
das Gedaͤchtniß ihres großen Bruders und Oheims all¬
maͤhlich wieder mit der Demokratie zu verſoͤhnen, und
ſeinen Ruhm in die Herzen des Buͤrgerthums zu ver¬
ſchließen.
Die weibliche Linie iſt an einigen Hoͤfen gern geſehen,
weil ſie ſich gluͤcklich fuͤhlt, eine untergeordnete Rolle
zu ſpielen, und das zu ſein, was einſt in Argos Kaſ¬
ſandra, die geraubte Tochter des Priamus, war. Nur
[127]Die Napoleoniden. die Soͤhne Muͤrats, dieſes Paris unter den Napoleo¬
niden, gingen uͤber an die Demokratie, und predigen,
als Enkel eines ehrlichen Buͤrgers und Gaſtwirths in
Frankreich, die allgemeine Nivellirung, den Contrat
social, und die wohlfeile, bequeme und freie Staats¬
verfaſſung Nordamerika's. Dies buͤrgerliche Element
hat die ganze Familie auseinandergeſprengt, ſo daß ein
Glied derſelben in einem Staate proſcribirt ſeyn kann,
wo das andere um die Hand einer Koͤnigstochter freien
darf. Eine Reaktion dieſes verzweigten Stammes iſt
undenkbar, weil ſein Einverſtaͤndniß geſtoͤrt iſt. Sie
ſind ſich Alle fremd geworden.
Der Graf Survilliers hat in neuerer Zeit noch ein¬
mal gegen die Geſchichte des Tages proteſtirt. Er kam
ſelbſt uͤber den Ozean aus Nordamerika heruͤber, um den
Thron von Frankreich fuͤr ſeinen Neffen Reichſtaͤdt in
Beſchlag zu nehmen; doch Louis Philipp war trotz ſei¬
ner Koͤrperſtaͤrke ſchneller zur Hand.
Auch der Graf Survilliers iſt, von einem fabelhaf¬
ten Umfange, ohne damit zu imponiren. Sein Auge
iſt matt, ſeine Manieren ſind unkoͤniglich, obſchon er
auf zwei Thronen geſeſſen hat. Es iſt ein guter alter
Herr, der nicht begreift, was das Schickſal mit ihm
vorgehabt hat; noch heute wird ihm wunderlich zu Muthe,
[128]Die Napoleoniden.was er damals Alles thun mußte, ohne zur Beſinnung
zu kommen. Acht Jahre hindurch hat er in einer aͤngſt¬
lichen Verlegenheit gelebt, vor Niemandem mehr zit¬
ternd als vor dem, der ihn mit Ehren uͤberhaͤufte.
Weil er kein boͤſes Herz hat, ſo glaubte er, daß ſeine
Voͤlker unter ihm ſich ſehr gluͤcklich muͤſſen befunden
haben, und dies iſt ein Troſt, den er mit ins Grab zu
nehmen gedenkt. Er beſinnt ſich etwas ſchwer auf ſeine
wunderbare Vergangenheit, nur die Beleidigungen ſind
ihm unvergeßlich, welche ihm die kuͤhnen Marſchaͤlle
und Schildtraͤger ſeines geharniſchten Bruders kek ins
Geſicht ſagten; doch hat er ihnen Alles vergeben, er
iſt der gutmuͤthigſte Mann in Nordamerika. Statt
Macchiavells Fuͤrſten ſtudirt er jetzt — und ich be¬
trachte dies als ſeine ehrenwertheſte Seite — rationelle
Landwirthſchaft, wittert Kohlenlager aus, und laͤßt den
Delaware ausſchlaͤmmen, welcher an ſeinen Beſitzungen
vorbeifließt. Er beſucht die quaͤkeriſche Stadt Phila¬
delphia gern, und liebt es, von alten Dingen zu ſpre¬
chen. Seine Gemahlin, eine Kaufmannstochter, und
Schwaͤgerin des jetzigen Koͤnigs von Schweden, iſt keine
ſo große Freundin der rationellen Landwirthſchaft, ſie hat
ihn mit ihren beiden Toͤchtern verlaſſen, und ziert mit
ihnen die bekannten Bonapartiſtiſchen Salons in Florenz.
Der Fuͤrſt von Canino lebt in Sinigaglia, nach¬
dem ihn ſchlechte Finanzen ſeine roͤmiſchen Pallaͤſte zu
verkaufen zwangen. Er ſtand dem Genie ſeines Bru¬
ders am naͤchſten, obſchon er ohne Napoleon vielleicht
nichts geworden waͤre, als ein guter Boͤrſenſpekulant,
vielleicht ein kuͤhner Parteigaͤnger der Revolution, oder
ein mittelmaͤßiger Dichter. Das Terrain, worauf ihn
ſein Bruder ſtellte, kam ihm zu Huͤlfe. Was er an
ſchroffer Energie beſaß, verdeckte ſeine Leutſeligkeit, und
was ihm daran fehlte, erſetzte die Kunſt der Repraͤ¬
ſentation, die ihm meiſterhaft zu Gebote ſtand. Er
draͤngte ſich gewandt durch die Parteien der Revolution,
und riß ſoviel Gewalt an ſich, daß er die Hauptſache
am 18. Bruͤmaire ſeinem Bruder uͤbergeben konnte,
ohne in eine abhaͤngige Stellung zu kommen. Seitdem
Napoleon ſeinem Bruder Etwas zu verdanken hatte,
hoͤrte auch ihr gutes Vernehmen auf: Napoleon ent¬
deckte an Lucian einen ſtarren Republikanismus, oder
wenigſtens die Maske deſſelben, welche ſeine ehrgeizigen
Abſichten verbarg. Diplomatiſche Verdienſte, die ſich
Lucian erwarb, und die neue Kohlen auf Napoleons
Haupt ſammelten, vermehrten das Mißverſtaͤndniß, ſo
daß Lucian endlich aus ſeiner Oppoſition ein Prinzip
machte. Die Kaiſerkrone erſchoͤpfte den eiferſuͤchtigen
Gutzkow's öffentl. Char. 9[130]Die Napoleoniden.Bruder, er verließ Frankreich, und fuͤhrte nicht ohne
Koketterie ſeinen Widerſpruch ſo hartnaͤckig aus, daß
er das Intereſſe der Englaͤnder verkannte, und ſtatt
in ihren Schutz in ihre Gefangenſchaft gerieth. Die Er¬
eigniſſe von 1814 fuͤhrten ihn noch einmal nach Frank¬
reich zuruͤck, wo er im Augenblick der Gefahr die Sache
ſeines Bruders mit Eifer betrieb, und deshalb nicht ſo
ſchnoͤde abgewieſen werden konnte, wie die uͤbrigen Bruͤ¬
der, welche ſich jetzt aͤngſtlich um Napoleon draͤngten,
und ihre eigne Verlegenheit mit dem Scheine zaͤrtlicher
Theilnahme bemaͤnteln wollten. Lucians Anordnungen
waren vortrefflich, haͤtte Marie Louiſe die Aufopferung
gehabt, ſich zwiſchen das Geſchick ihres Mannes und
die Triumphe der Alliirten zu werfen. Lucian wurde
in Italien von Oeſtreich aufgehoben; doch gab ihn die
Einſicht in ſein bisheriges Leben frei: man wußte, daß
er ſeines Bruders eifrigſter Antagoniſt geweſen war,
und ſeinen Ehrgeiz wenn auch nicht widerlegt, doch ihm
das Gleichgewicht gehalten hatte.
Der Prinz von Canino liebt die Kuͤnſte die Wiſ¬
ſenſchaften und Handelsſpekulationen. Die ungluͤckli¬
chen Reſultate der letztern haben den Schutz der erſtern
ſehr einſchraͤnken muͤſſen. Die große Muße, welche ihm
das Schickſal ließ, benutzt er, um ſeine Verſe zu ſei¬
[131]Die Napoleoniden.len, uͤber die Schoͤnheiten Virgils zu traͤumen, und
die Verkleinerer der Alten zu widerlegen. Eine ſeiner
intereſſanteſten Schriften iſt eine in fruͤheſter Zeit ver¬
faßte Geſchichte des engliſchen Parlaments, zu welcher
Napoleon in beſſern Tagen Anmerkungen geſchrieben
hatte. Dieſe Notizen verrathen, wie viel Napoleon
der Geſchichte verdankt. Er hatte ſie mit einem be¬
ſtimmten Zwecke ſtudirt, und abſtrahirte ihre Re¬
geln um ſo gluͤcklicher, als er ſeine Zeit zum Maa߬
ſtabe der Vergangenheit nahm. Er ſpricht von Crom¬
well wie von einem Uſurpator des neunzehnten
Jahrhunderts, und gibt ihm Regeln, als haͤtte er
ſie von ihm borgen ſollen. Er ſpricht von den al¬
ten Helden im vertraulichſten Tone und mißt ihren
Werth immer nach dem Maaßſtabe, was ſie eigent¬
lich wollten, oder auch nach dem, was ſie unter
ihren Umſtaͤnden wollen durften. Anziehend iſt zu¬
letzt in dieſen Anmerkungen Napoleons Eiferſucht
auf ſeines Bruders Styl; man ſieht, wie ſchwer es
ihm ankoͤmmt, die Trefflichkeit deſſelben zuweilen ein¬
zugeſtehen, ein Lob, das er ſogleich wieder minderte,
indem er an St. Jean d'Angely erinnerte, den er
in der darſtellenden Kunſt fuͤr unuͤbertrefflich hielt.
Napoleon liebte es, durch kurze Saͤtze, durch einen
9 *[132]Die Napoleoniden. Styl, der immer wie um die Ecke hervorſchießt, uͤber¬
raſcht zu werden.
Der Graf St. Leu lebt zu Florenz mit dem
Stolze ſeiner ehemals bewieſenen Herrſchertugenden.
Er glaubt aus den Stuͤrmen ſeiner Zeit das ſuͤße Be¬
wußtſein gerettet zu haben, daß ihn die Hollaͤnder lie¬
ben. Die Hollaͤnder!
Er gibt ſich ſelbſt das Zeugniß, daß er fuͤr einen
Privatmann keinen beſſern Koͤnig habe abgeben koͤn¬
nen, und ſpricht nicht ohne Ruͤhrung von den ſchoͤnen
Tagen in Utrecht und Harlem. Noch hoͤrt er die
fuͤrchterliche Exploſion des Harlemer Pulverſchiffes und
ſchildert gern, was er fuͤr Menſchenliebe bei dieſer Ge¬
legenheit entwickelt, wie er ſelbſt Hand angelegt habe
um zu retten, und wie viel Gulden er fuͤr ein erhal¬
tenes Leben geboten. Dann erzaͤhlt er von jenem jun¬
gen Prediger, der in ſeiner Gegenwart an den Him¬
mel republikaniſche Gebete gerichtet haͤtte. Seine Mi¬
niſter wollten, er ſollte den Frevler beſtrafen; nein,
ſagte er ſtolz, er wolle ihn nur belehren, und ließ ihn
zu ſich kommen und ſetzte ihm den Lauf der Dinge,
die Weltgeſchichte und die hollaͤndiſche auseinander.
Man kann dem Grafen nicht widerſprechen, wenn
er Napoleons Grauſamkeit anklagt, der ihn fuͤr ſolche
[133]Die Napoleoniden. Handlungen verruͤckt nannte, und ihn unter Vormund¬
ſchaft ſetzen wollte. Es iſt wahr, ſagt der Graf, in
Florenz und in ſeinen Memoiren, ich war derjenige
unter den neuen Koͤnigen, welcher gegen den Deſpotis¬
mus die meiſte Energie zeigte. Denn kurz vor ſeiner
Abdankung, als die franzoͤſiſchen Exekutionstruppen
ſchon die Vorſtaͤdte von Leyden erreicht hatten, rief er
nach einem Pferde, legte die Schaͤrpe um und wollte
ganz Holland unter Waſſer ſetzen. Was wollt Ihr?
frug er die Repraͤſentanten des Landes; Krieg oder
Frieden? Frieden, ſagten die Hochmoͤgenden trocken;
Louis laͤchelte, und verließ Holland.
Der Graf St. Leu liebt die gutmuͤthige, aber
huͤbſch gebaute Phraſe, er hielt gern Reden, und ſpricht
auch gern in oͤffentlichen Schriften mit, wenn von der
Vergangenheit die Rede iſt. Er ſpricht von den Pflich¬
ten eines Koͤnigs, wie ein Republikaner; wie denn
immer, wer uͤber das Koͤnigthum erſt philoſophirt, ſich
zu republikaniſchen Grundſaͤtzen zuletzt neigen muß. Der
Graf St. Leu hat aus der Monarchie ein ſo zauber¬
haftes Ideal gemacht, daß daraus ohne ſein Wiſſen
eine Republik geworden iſt. Seine Soͤhne haben auch
dieſe Taͤuſchung durchſchaut, und offen den Humani¬
taͤtsgrundſaͤtzen, welche ſie von ihrem Vater erbten, den
[134]Die Napoleoniden.rechten Namen gegeben: ſie ſind entſchiedene Republi¬
kaner geworden; der Eine, welcher in der juͤngſten ita¬
lieniſchen Inſurrektion im Lager von Forli ſtarb, der
Andere, welcher in der Schweiz lebt, und Verdienſte
um die ſchweizeriſche Artillerie haben ſoll. Was weiß ich!
Der Herzog von Montfort ſollte einſt ein großer
Admiral werden, und es wurde nur ein Koͤnig aus
ihm, der mehr als alle uͤbrigen von ſeinem Bruder die
geheime Zuſendung einer ſeidnen Schnur zu fuͤrchten
hatte. Im Beſitze mancher liebenswuͤrdigen Eigen¬
ſchaft, hatte ihn das Gluͤck verzogen. Er haͤtte fuͤr ei¬
nen Couſin Ludwigs XV. gelten koͤnnen, ſo ſchnell
fand er ſich in die neue Herrſchaft, welche ſein Bru¬
der etablirte. Er heirathete eine deutſche Fuͤrſtentochter
und beſtieg einen improviſirten Thron, in deſſen Naͤhe
er Bacchus und Venus als Miniſter rief. Man hat
nie ſo amuſant in Kaſſel gelebt, als waͤhrend der weſt¬
phaͤliſchen Zeit. Jerome war der gutmuͤthigſte Charak¬
ter, er wollte nur Vergnuͤgen, oder wie er ſelbſt ſagte:
„luſtik ſein;“ ſich zu bereichern vergaß er. Dis war ein
Fehler, den ertraͤglich zu machen, die Aufgabe ſeines
ſpaͤtern Lebens geworden iſt. Der Herzog von Mont¬
fort ſtudirt ſeitdem an einem Syſteme der Sparſam¬
keit, und rechnet, wie ſich Lucullus und Harpagon ver¬
[135]Die Napoleoniden.meiden laſſen, und ein ehrlicher Mann ſich einrichten
muß, um ſein Auskommen zu haben. Er iſt krank,
erſchoͤpft von ſeiner Vergangenheit, und verlaͤugnet ſich
gern mit einer achtungswerthen Beſcheidenheit. Aber
noch liebt er Deutſchland, von deſſen Waͤldern er nie
geglaubt haͤtte, daß man in ihnen ſo angenehme Sa¬
turnalien feiern koͤnnte und ſo podagriſtiſch werden, er
beſucht es oft, und einer unſrer Bundesſtaaten oͤffnet
ihm gern ſeinen beruͤhmten Marſtall, obſchon er ein
ſchlechter Reiter iſt. Sein Sohn gehoͤrt zum Militair
deſſelben Staates als Oberlieutenant.
Von Napoleons Schweſtern lebt nur noch Ma¬
dame Karoline, Muͤrats Gemahlin.
Fuͤr die Unſterblichkeit gibt es keine groͤßere Be¬
wunderung, als wenn das Genie zufaͤllig eine Schwe¬
ſter hat. Eine Schweſter erkennt den Abſtand der All¬
taͤglichkeit von ihrem Bruder ungemein tief, und klei¬
det ſich gern mit dem Prunk des Ruhms, wenn der
Held nicht die Muße hat, ihn ſelbſt zur Schau zu
tragen.
Napoleon liebte ſeine Schweſtern zaͤrtlich. Ihren
Beifall nahm er fuͤr uͤberirdiſche Weiſſagung, wie einſt
der alte Gallier; ihr Widerſtand imponirte ihm oder
machte ihn lachen. Er verzieh ihnen ihr heißes Blut,
[136]Die Napoleoniden.das er durch ſein eigenes entſchuldigte, und wuͤrde die
Aufopferung ſeiner Schweſter Pauline, der Fuͤrſtin
Borgheſe, die ſein Exil in St. Helena theilen wollte,
ſo tief empfunden haben, wie jene kindliche Zaͤrtlichkeit
des jungen Reichſtadt, als der kleine Knabe an den
gefeſſelten Prometheus, ſeinen lieben Papa, einen heim¬
lichen Brief ſchrieb, wobei ihm eine verſchwiegene und
gefuͤhlvolle Gouvernante die Hand fuͤhrte. Doch uͤber¬
raſchte ſie der Tod.
Ihre Schweſter Eliſa ſtarb ſpaͤter in Trieſt, zwei
junge Fuͤrſten Bacciocchi hinterlaſſend, von welchen der
eine auf Korſika wohnt, der andere aber im verwiche¬
nen Jahre bei einem Pferdeſturz verungluͤckte.
Die weitern von hier aus ſtroͤmenden Descenden¬
zen verſchwimmen allmaͤlig in das breite Niveau der
zahlloſen italieniſchen Marcheſen. Hie und da trifft
man Perſonen, welche einen Tropfen vom Napoleoni¬
ſchen Familienblute haben und vor denen der geſchicht¬
liche Enthuſiasmus gern den Hut abnimmt. Man
ſieht dieſe dritten und vierten Glieder der großen Ge¬
neration oft im Theater, und ſtaunt an die Phyſiog¬
nomien, welche noch immer olivenfarbig ſpielen, das
ſchwarze glatte Haar, das die breite Stirn beſchattet,
das maͤchtige zermalmende Kinn, die unterſetzte Statur
[137]Die Napoleoniden.mit einer hervorquellenden Anlage zum Fettwerden.
Dieſe unverkennbar gezeichneten Spaͤtlinge verſtehen
die Richtung der Lorgnetten wohl, richten ſich dann
ſtolz auf, und legen die Arme uͤber einander, um
uns vollends zu taͤuſchen. Einige auch ſchlagen die
Augen nieder, und ſchaͤmen ſich, weil das Schickſal ſo
unbarmherzig mit ihnen Verſteckens geſpielt hat. Zu
der Oper hat aber das Parterre dann noch einmal ſo
viel Luſt; denn man fuͤhlt, daß ein Stuͤck Weltge¬
ſchichte in der Naͤhe athmet.
Nur einem Seitenfluͤgel des Hauſes Napoleon
gelang es, ſich vor dem Zuſammenſturz zu retten: der
Familie Leuchtenberg. Es war die edelſte Emana¬
tion der Kaiſerherrſchaft.
Das Genie iſt nicht immer gluͤcklich; deshalb hei¬
rathete Napoleon ſein Gluͤck. Prinz Eugen wurde des
großen Mannes Augapfel, der Guͤnſtling einer faſt an¬
tiken Liebe. Seine Sanftmuth ſchmeichelte ſich in
Napoleons weiche Empfindung ein, ſeine Anſtelligkeit
war eine vortreffliche Gewaͤhrleiſtung fuͤr die Gunſtbe¬
zeugungen, welche der Kaiſer uͤber ihn haͤufte. Prinz
Eugen beſaß dieſelbe Humanitaͤt wie Louis Bonaparte,
aber ohne Phraſe, ohne Affektation; ihr Organ war
nicht die Rede, ſondern die Leutſeligkeit. In einem
[138]Die Napoleoniden.militairiſch ſo ſtraff zuſammengehaltenen Gouvernement,
wie das Koͤnigreich Italien war, hatte der Regent
Muße genug, die Tugenden des Friedens zu zeigen,
und die blutigen Lorbeeren durch Palmen zu verdecken.
Napoleon wußte, daß des Prinzen Benehmen keinen
Kontraſt werfen ſollte, daß es keine Rolle, ſondern In¬
ſtinkt und Naturell war, und fuͤrchtete die Vergoͤtte¬
rung nicht, die Italien, excentriſch in Liebe und Haß,
ſeinem Stellvertreter zollte. Und wenn dieſer ſeine Er¬
ſcheinung darnach einrichtete, daß ſie dem Kaiſer nicht
auffallen mußte, wenn er einen militairiſchen Erfolg auf
Andere uͤbertrug, und ſeinen Stiefvater mit Beſchei¬
denheit und Liebkoſung umarmte, ſo war dis weniger
Maske, als Stimmung und Einſicht in den eignen
Werth, der was Energie und Beruf anlangt, ſeiner
hohen Stellung vielleicht nicht gewachſen war. Des
Prinzen Verbindung mit einer deutſchen Fuͤrſtin rettete
ihn vor der Degradation: ſeine Kinder haben ſogar bei
den mannichfaltigen Wechſelfaͤllen der europaͤiſchen Po¬
litik Ausſicht auf Avancement erhalten. Die griechi¬
ſche Krone ſtreifte nahe an dem Haupte ſeines aͤlteſten
Sohnes voruͤber, dann die belgiſche; eine Schweſter
deſſelben trug einige Zeit hindurch die braſiliſche, eine
andere iſt Erbin des ſchwediſchen, und eine dritte Erbin
[139]Die Napoleoniden.des hechingiſchen Thrones, waͤhrend jener gluͤckliche
Bruder, ausgeruͤſtet mit dem Schwerte Don Pedro's,
vielleicht bald auf dem Wege iſt, die Braut des Ozeans
heimzufuͤhren, und ein langes Gedicht durch einen Akt
des Geſetzes zu ſchließen. Die Eiferſucht Louis Phi¬
lipps im Namen eines ſeiner Soͤhne, noch weiß er
ſelbſt nicht, welches? verfolgt ihn; doch Liebe hilft aus
Todesnetzen. Hier iſt mehr als Politik; hier iſt ein
Roman.
Was haben die Napoleoniden von der Zukunft zu
hoffen? Nichts.
Ihre Proteſtation gegen die Geſchichte uͤberhoͤrt ſo¬
wohl die Freiheit als die Legitimitaͤt. Die Privile¬
gien ihres Blutes ſind zerriſſen; ja ſelbſt die Privile¬
gien ihres Verdienſtes koͤnnen nie den Umfang errei¬
chen, wie in jener illuſoriſchen Vergangenheit, wo ſie
auf Alles hoffen durften. Was ſie den Einen naͤh¬
men, wuͤrde unwillkommen den Andern ſein, welchen
ſie es geben wollten. Hier gibt es keine Initiative
mehr. Der breite Deſpotismus des Kaiſers war er¬
traͤglich; aber die, welche die Deſpotie zerſtuͤckeln, ſind
den Voͤlkern verhaßt.
Eine Univerſaldeſpotie iſt eine gluͤckliche Chance der
Freiheit; denn an einem Ende ſinkend, reißt ſie das
[140]Die Napoleoniden.ganze unermeßliche Gebaͤude in den Untergang; waͤh¬
rend die kleinen Erben der Groͤße, die, welche theilen,
eiſerne Naͤgel am Sarge der Freiheit ſind.
Aber eine Huldigung des Weltgeiſtes iſt es, die
die Geſchichte dem Heldengrabe auf St. Helena dar¬
bringt, daß ſie den Enkeln einer wunderbaren Herr¬
ſchaft die Moͤglichkeit nimmt, ein großes Andenken
ſchmerzlich zu machen. Starb nicht darum auch der
junge Fruͤhling im Garten von Schoͤnbrunn, ehe er
reifte und wurmſtichige Fruͤchte trug?
Eine weiſe Gottheit ſtellte an die Wiege zweifel¬
hafter Hoffnungen den Sarg einer beweinten Vollen¬
dung, damit das glaͤnzende Gedaͤchtniß des Groͤßten
unſrer Tage ohne Flecken bliebe, und die Geſchichte um
einen Helden trauern kann, der ohne Nachahmung ſtarb.
Der Vorhang dieſes Dramas iſt auf Ewig gefal¬
len; nur Gebete ſollt Ihr fluͤſtern unter Longwoods
Thraͤnenweiden!
Wellington.
[][]Man kann zweifelhaft ſein, ob die Hauptrolle bei der
gegenwaͤrtigen engliſchen Kriſis mehr von einem Manne
oder einem Syſteme geſpielt wird.
Es ſcheint faſt als habe der Koͤnig, in dem noch
immer hie und da der leidenſchaftliche Seemann durch¬
blitzt, nichts Anderes in ſeine Naͤhe bringen wollen, als
Kraft. Wie war nicht das kupferbodene Schiff, Al¬
bion, Kapitaͤn William bedroht!
Am Steuerruder der Whiggismus; gleichviel; aber
welch' ein Repraͤſentant deſſelben? Ein Miniſterium
ohne Einheit, ohne Zuſammenhang, eine Improviſa¬
tion der Verlegenheit, Maͤnner, welche ihrer Stellung
ſo wenig vertrauten, daß ſie von einander losließen,
und an die Nation appellirten, wie an eine Macht,
von der ſie vorausſahen, daß die naͤchſte Zukunft ihr
eine Entſcheidung abverlangen wuͤrde; ein Miniſterium,
[144]Wellington. deſſen Handlungen nur Entſchuldigungen zu ſein ſchie¬
nen, ein Miniſterium auf der Flucht.
Vorn mit dem Schnabel des Schiffes hatte ſich
Brougham identifizirt, ein rothes, aufgeblaſenes Antlitz,
die Augen hervorquellend, mit dem Uebermuth der Ver¬
zweiflung, der lachenden, faſt lallenden Ironie der Trun¬
kenheit, ein Original, welches ſein Miniſterium mit
ſchnoͤden mephiſtopheliſchen Geſten begleitete, Broug¬
ham, in der That ein Charlatan und ſein eigener
Spaßmacher geworden.
Oben auf den Maſt hatte ſich ein verwegener
Demagog der Salons, Lord Durham, hinaufgeſchwun¬
gen. Anſtaͤndiger zwar und gemaͤßigter als Mirabeau,
aber geſpornt vom Ehrgeiz, und eiferſuͤchtig auf die
Koterien der Hauptſtadt, ſignaliſirte er die Zukunft,
ſchloß im Voraus mit jener drohenden Wolke, welche
uͤber England heranzieht, eine kluge Rechnung, und ko¬
kettirte von ſeiner Hoͤhe herab mit den patriotiſchen Ge¬
ſundheitstrinkern, welche ihm mit vollen Glaͤſern und
Hoffnungen zuwinkten.
Unten endlich, wo die Vorraͤthe des Schiffes lie¬
gen, am Huͤhner- und Schweinekoben, grunzte Cobbett
von Kartoffeln, von irlaͤndiſchen Ferkeln, von Mennig¬
kraut fuͤr den Winter und andern geheimnißvollen Din¬
[145]Wellington.gen, welche man erraͤth, auch ohne ein „Marſhal“
zu ſein.
Der Koͤnig hat in dieſem Laͤrm die Beſinnung
verloren. Es war keine Intrigue, nicht die Ermah¬
nungen einer ſchmollenden Koͤnigin, ſondern Verlegen¬
heit und Beduͤrfniß, was Sir Arthur Wellesley wie¬
der an die Spitze Englands geſtellt hat. Die Noth
des Augenblicks muß dem Koͤnige ſo groß geſchienen
haben, daß er ſeine Zuflucht verdoppelte, und zu Wel¬
lingtons Kraft und Kaltbluͤtigkeit noch die Gewandt¬
heit und Beredtſamkeit Peel's fuͤgte. Er wollte kein
Syſtem, er wollte nur die Namen haben. Ueber die
Maͤnner hatte er die Partei vergeſſen.
Dis iſt das Ungluͤck. Wellington und Peel kom¬
men nicht allein; ſie ſelber koͤnnen die Partei, den Haß
und den Unverſtand nicht zuruͤckhalten, wenn ſie es
auch wollten. Es iſt ein unvermeidliches Gefolge, das
ſich an ihre Schritte anſchließt; ſie koͤnnen ihre Freunde
und ihr Bekenntniß nicht zuruͤckweiſen.
Ich geſtehe, daß in dieſem faſt allgemeinen Schrei
des Unwillens, in dieſer nationellen Verachtung des
Siegers von Waterloo fuͤr mich etwas Tiefſchmerzli¬
ches liegt. Wie? dieſer weltberuͤhmte Glanz des Her¬
zogs, eine ſo glorreiche Vergangenheit, Lorbeern, welche
Gutzkow's öffentl. Char. 10[146]Wellington.er den ſeit Menſchengedenken tapferſten Kriegern Eu¬
ropa's entwand, dieſe gluͤckliche Nebenbuhlerſchaft mit
dem groͤßten Manne des Jahrhunderts, wirkt nichts
auf ein vergeßliches Volk? Es tritt Praͤcedentien in
den Koth, welche damals, als ſie neu waren, vergoͤt¬
tert wurden? Es legt den Maßſtab einer blinden
Parteiung, die politiſche Kraͤmerelle an ein Leben, das
mit ſo viel Ruhm und Unvergeßlichkeit ausgeſtattet
iſt; es mißt mit ſeinen oft nur zu illuſoriſchen Grillen
uͤber Staatsverfaſſung, mit einer mehr ideellen Vor¬
ausſicht auf Zeiten, die noch Vieles werden unerfuͤllt
laſſen, den blutigen Ernſt eines Schlachtfeldes und ei¬
ne gar feſt und beſtimmt in der Geſchichte angeſchrie¬
bene Periode? London war wegen des Sieges bei
Vittoria drei Naͤchte hintereinander beleuchtet. Die
Zuͤge Wellington, Victory, Vittoria fanden ſich tauſend¬
fach verſchlungen an allen Haͤuſern. Wer vor dem
Pallaſte des Siegers, den die damalige Marquiſin,
ſeine Frau, bewohnte, vorbeikam, mußte, dis war der
despotiſche Befehl des jubelnden Volkes, den Hut ab¬
nehmen und die leeren Fenſter gruͤßen, dieſelben Fen¬
ſter, welche nicht zwei Decennien ſpaͤter mit Brettern
vernagelt werden mußten, um die Wuth des ſteinwer¬
fenden Publikums zuruͤckzuhalten. Ein ſo bald ver¬
[147]Wellington.jaͤhrter Ruhm! Eine Grauſamkeit, welche einen tiefen
Blick in unſere Zeit werfen laͤßt!
Und doch iſt in dieſem Falle nicht Alles Egoismus
oder das erhabene Intereſſe der Voͤlkerfreiheit; es iſt
moͤglich, daß bei der Gleichguͤltigkeit gegen den Herzog
von Wellington einige andere Triebfedern mit unter¬
laufen, welche nicht in der Zeit, oder in der Perſon,
ſondern in ſeinem Ruhme ſelbſt liegen. Es iſt moͤg¬
lich, daß der Herzog von Wellington in der That kein
ſo großer Mann iſt, als ſieben Feldmarſchallſtaͤbe und
drei gluͤckliche Feldzuͤge uns uͤberreden wollen. Waͤre
dem ſo, ſo verriethen die ruͤckſichtsloſen Anklagen des
engliſchen Volkes einen feinen Inſtinkt oder eine ſehr
unterrichtete Kenntniß ihres großen verhaßten Helden.
Wir wollen ſehen, ob ſich hieruͤber eine feſte Meinung
faſſen laͤßt.
Es gibt eine Anlage zum Ruhm, welche zwar
mit uns geboren wird, aber nicht in unſern Talenten
liegt; ein Privilegium der Unſterblichkeit, welches un¬
gleich vertheilt, und keineswegs hoffnungsvolle Jugend,
blitzendes Auge, ein kraniologiſches Symptom iſt, ſon¬
dern eine Mitgift des Standes, die Laune des Zufalls,
welche den groͤßten Schwachkopf in hohen Regionen
geboren werden ließ. Auch hat der Soldat (natuͤrlich
10 *[148]Wellington. im Kriege; denn im Frieden gibt es keine Soldaten,
ſondern nur Muͤßiggaͤnger) immer ein Formular, eine
Scheda des Ruhms, welche er nur auszufuͤllen braucht,
waͤhrend das groͤßte Genie vergeſſen wird, da es kein
Terrain hatte. Alle hiſtoriſche Groͤße beſteht darin,
daß man mit impoſanten Unterlagen oder Werkzeugen
denkt oder handelt, daß man mit Zahlen rechnet, welche
ſo groß ſind, wie Voͤlker, Armeen, oder auch nur wie
Departemente des Innern und Aeußern, Brigaden,
Diviſionen, tiefer, wohl nicht. Solche Rechenexempel
ſind oft leichter zu loͤſen, als die Aufgaben, z. B. des
Schneiders, der bei einem Frack auch die Theile in der
Hand hat, und wenn er das geiſtige Band, die Mode,
ſo ſchoͤn mit ihnen zuſammenſchmilzt, wie kein Gene¬
ral ſeine einzelnen Poſitionen, doch nie ſo viel Unſterb¬
lichkeit damit einernten wird, als dieſer General. Dar¬
um drehet ſich Alles, was den Ruhm betrifft. Dieſe
Logik mit impoſanten Begriffen gehoͤrt dazu, um die
Aufmerkſamkeit zu erregen, das heißt, oft nichts, als
Geburt, Gunſt, Zufall, Anciennetaͤt. Dis wiſſen die
Voͤlker, und ſind ſeither ſo kalt geworden gegen die
Groͤßen, welche ihre Situation patentirte; ſie wollen
nur die noch verehren, welche ſich aus ihren angebor¬
nen Sphaͤren herausmachen und eigne Welten ſchaffen.
[149]Wellington. Dis iſt der Grund, warum Wellington ſo unendlich
klein gegen Napoleon, mit dem er rivaliſirte, erſchien:
er hatte ſich die Begriffe, mit denen er rechnete, dieſe
Unterlagen ſeines Ruhms, die Armeen und die Kriege
nicht ſelber gegeben, ſondern ſie waren ein anvertrautes
Gut, eine Maſchine, die in ſeinen Haͤnden die Opera¬
tionen machte, worauf ſie abgepaßt und zuſammenge¬
ſetzt war. Das Gewinnen von Schlachten ſei etwas
Leichtes fuͤr Jeden, welcher das Spielzeug einer Armee
in Haͤnden hat, und ſeinen mathematiſchen Kurſus
machte, glauben die Englaͤnder, wenn ſie uͤber die gro¬
ßen Siege ihres Herzogs ſpotten und uͤber ſeinen Ruhm
die Naſe ruͤmpfen.
Betrachtet man das Werkzeug, mit welchem ſich
Wellington in die Jahrbuͤcher der Geſchichte ſchrieb,
ſo ſcheint auch hier auf den erſten Blick Alles dazu
zu dienen, ſeinen Ruhm zu vermehren.
Wer haͤtte eine große Meinung von der engliſchen
Armee?
Der Krieg iſt in Großbritannien außer dem Ge¬
ſetze, außer der Verfaſſung. Das Militair, als ein
Hinderniß der Freiheit betrachtet, entbehrt jenes oͤffent¬
lichen Stolzes, welcher auf dem Kontinent die Trup¬
pen bevorzugt; das Militair iſt in England nicht ein¬
[150]Wellington.mal im Stande, eine ſociale Stellung zu behaupten.
Zu dieſem Nachtheil, den die Art der Rekrutirung, das
Kantonnement und die Kaͤuflichkeit der Chargen nur
noch vermehren, koͤmmt ein Heer zahlloſer Mißbraͤuche,
welches die Bemuͤhungen des Herzogs von York, der
am Ende des vorigen Jahrhunderts das brittiſche Heer
reformirte, nicht vollkommen haben abſtellen koͤnnen.
Die allgemeine Revolution der Kriegsverfaſſung, welche
ſeit Napoleons Auftreten die Truppen des Kontinents
ganz neu ſchuf, hat England nur zum Theil beruͤhrt,
England, das zwar bei allen Kriegen gegenwaͤrtig war,
das den Kontinent an allen ſeinen Ufern und Land¬
zungen mit Kriegern garnirte, und geruͤſtet uͤberall aus
den Nebeln des Meeres hervorblickte, und doch unbe¬
ruͤhrt von der großen ideellen Umwaͤlzung blieb, welche
Napoleon unter ſeinen und den gegenuͤberſtehenden
Heeren beſchleunigt hat.
Die engliſche Armee ſtand, als Wellington anfing,
mit ihr ſeine Wunder zu verrichten, noch auf dem
Standpunkte der preußiſchen Truppen, welche vor Na¬
poleon fuͤr die klaſſiſche Armee Europa's gehalten
wurde; ja ſelbſt im gegenwaͤrtigen Augenblicke, wo
Wellington mit ſeinem Spielzeuge, das ihm faſt allein
angehoͤrt, das Moͤgliche angeſtellt und ſeine verfaulten
[151]Wellington. Flecken reformirt hat, bleibt die engliſche Armee noch
immer ein Amalgam, welches einen wunderlichen Ein¬
druck macht.
Der Grund dieſer Unzulaͤnglichkeit liegt in Din¬
gen, welche ſich nicht ausrotten laſſen, in der engliſchen
Verfaſſung, die das Heer nicht beſchuͤtzt, in der Stim¬
mung der Nation, die es nicht achtet, im Charakter
des Landes, deſſen Beſchaffenheit kriegeriſche Evolutio¬
nen und Vorſtudien nicht beguͤnſtigt, und endlich im
Weſen der Englaͤnder und Soldaten ſelbſt, das ſich
nicht tilgen laͤßt.
Die engliſche Armee hat weder den Inſtinkt der
Ehre noch Gemeingeiſt; wenn ſie ſtolz iſt, ſo iſt ſie es
auf Old-England, auf den Porter und die Beefſteaks
der Heimath, auf die buͤrgerlichen Tugenden ihrer An¬
verwandten, welche zu Hauſe ſind. Die Ehre kann
nicht geweckt werden, da das Avancement dem gemei¬
nen Krieger verſchloſſen iſt; der esprit de corps nicht,
weil die Armee in ihrer Groͤße ſich niemals geſehen
hat, ſondern uͤber alle Theile der Welt in kleinen Par¬
zellen zerbroͤckelt iſt. Noch nie haben ſich ſo viel Eng¬
laͤnder zuſammenbefunden, als unter Wellington auf
der pyrenaͤiſchen Halbinſel: der Kontinent kannte ſie
[152]Wellington.bisher nur als Hilfsdetachements und Bundesge¬
noſſen.
Die Infanterie iſt ſtark, aber ſchwerfaͤllig; die Ka¬
vallerie ſchoͤn, ſo ſchoͤn, daß die Franzoſen ſie mit dem
romantiſchen Namen Lindors bezeichneten, aber ſie greift
an, wie im Wettrennen, ſie haͤlt nicht Linie; ſie hat
außerdem keine ſchwere Kavallerie, und die Pferde ha¬
ben keine Schwaͤnze, was in heißen Laͤndern ein fuͤrch¬
terlicher Mangel iſt; die Artillerie hat vortreffliches
Material, aber in Spanien wußte man ſie nicht zu
verwenden, hoͤchſtens zu Batterien, die unbeweglich wa¬
ren; endlich haben die Englaͤnder keine Belagerungs¬
kunſt, keine Fortifikation, kein Genie, weil ſie im
Lande keine Feſtungen haben.
Wenn man Alles bis in Anſchlag bringt, ſo
ſcheint es, als ſei von der großen Meiſterſchaft des
Herzogs von Wellington niemals zu viel geſagt wor¬
den; und doch hat das engliſche Heer Eigenſchaften,
mit welchen es alle uͤbrigen Armeen uͤbertrifft.
Dieſe liegen alle in der Perſoͤnlichkeit des Kriegers,
in ſeiner kalten Unerſchrockenheit und Todesverachtung.
Dis iſt nicht Servilitaͤt, wie bei den Ruſſen, nicht
Muth, wie bei den Franzoſen, ſondern Naturell. Die
neunſtraͤngige Katze, der Korporalſtock, die empoͤrende
[153]Wellington. Behandlung des engliſchen Soldaten machten ihn nicht
feig oder tuͤckiſch, ſondern dienten nur dazu, ihn in ſei¬
nem Gleichmuth zu beſtaͤrken. Der engliſche Soldat
harrt auf ſeinem Poſten aus, weil er in dem heftig¬
ſten Feuer kalt bleibt, weil er von Natur auf der tief¬
ſten Hogarthiſchen Stufe der Grauſamkeit ſteht, und
weil er zuletzt als Englaͤnder eine gewiſſe angeborene
heilige Veneration des Geſetzes beſitzt.
Der Franzoſe thut Alles um die Perſonen, um
ſeinen Feldherrn, um ſeinen Chef, und zuletzt um ſich.
Der Englaͤnder haßt dieſe Alle, auch ſich, aber er be¬
folgt das Geſetz. Zum Franzoſen kann man vor der
Schlacht nicht genug ſprechen, nicht populair genug
ſein, ein lakoniſcher Chef wuͤrde ihn außer Faſſung
bringen; der Englaͤnder iſt froh, wenn er ſeine Be¬
fehlshaber gar nicht ſieht, das Haranguiren ennuͤyirt
ihn, ja die Schweigſamkeit wirkt auf ihn belebender,
als eine Rede.
Zu einem angreifenden Gebirgskriege, wie der ſpa¬
niſche war, ſind ſolche Eigenſchaften koſtbar, wenn ſie
auch zu einem vertheidigenden nicht paſſen moͤchten.
Die Lebhaftigkeit des Franzoſen, welche ſich hie und
dahin zerſtreute, konnte zwar uͤberall ſein, aber auch an
hundert Orten geſchlagen werden, eine Chance, in die
[154]Wellington.der Englaͤnder ſeltener kam, weil er feſt zuſammen¬
hielt, ſich ſchwerfaͤllig bewegte und den Angriff im¬
mer ſo einrichtete, daß er mehr einer Vertheidigung
gleicht. Der Stoicismus und das Phlegma des Eng¬
laͤnders ſind zwei Waffen, welche ihn auf einem guͤn¬
ſtigen Terrain unuͤberwindlich machen; dis waren in
Spanien zwei Waffen, auf welche ſich die Franzo¬
ſen, gewoͤhnt an die tumultuariſche Kriegfuͤhrung der
Eingebornen, nicht eingerichtet hatten; alle Regeln des
Gebirgskriegs ſcheiterten an dieſen Granitkolonnen,
welche ein Feldherr nur aufzuſtellen brauchte, um ſein
Geſchaͤft abzuthun.
Wellington beſitzt ſelbſt dieſe laͤchelnde Kaltbluͤtigkeit
im hoͤchſten Grade, welche ihm oͤfter ſiegen half, als
ſein Genie. Er ſtellte ſeine Truppen, und war gewiß,
ſelbſt durch die Fehler ſeiner Anordnungen zu ſiegen,
da die Entſcheidung faſt immer verloren geht, wenn
Feldherren die Fehler ihres erſten Entwurfes in der
Schlacht ſelbſt wieder gut machen wollen: die eiſerne
Konſequenz des groͤßten Fehlers bringt ſelbſt den ge¬
wandten Gegner aus der Faſſung.
Wellington ſiegte uͤberall dadurch, daß ſeine Lands¬
leute zu ſtehen und zu feuern verſtanden. Große Vor¬
theile konnte er damit nicht erringen; denn in der
[155]Wellington. That wußte Wellington niemals ſeinen Sieg zu be¬
nutzen; er gewann immer das Schlachtfeld; mehr
wollte er nicht; er ließ ſeinem Gegner Zeit; ſich zu
ſammeln, ſich aufs Neue aufzuſtellen und wieder das
alte Spiel zu beginnen. Es iſt merkwuͤrdig, wie nahe
ſich die Schlachtfelder der Wellington'ſchen Siege lie¬
gen, wie zahlloſe Menſchen er aufopferte, weil er von
ſeinen Vortheilen und ſeinem Gluͤcke nicht den rechten
Gebrauch zu machen verſtand, wie haͤufig er das wie¬
derholte, was einmal gewonnen einem Feldherrn von
Genie blut- und zeitſparende Vorſpruͤnge gegeben haͤtte.
Wenn ausgezeichnete Militairs verſichern, daß Pic¬
ton, Crawfurd, George Murray und andere Generale,
welche dieſe Feldzuͤge mitmachten, dieſelben Erfolge ge¬
habt haͤtten unter dieſen Umſtaͤnden wie Wellington,
ſo muß man das Gluͤck dieſes Mannes hochpreiſen,
das ihm von allen Seiten lachte und ihn unterſtuͤtzte.
Er war der erſte engliſche Feldherr, dem ſo zahlreiche
Streitkraͤfte anvertraut wurden; alles, was die Ge¬
ſchichte von fruͤhern engliſchen Heeren erzaͤhlt, galt nur
von 12 bis 18,000 Mann, die von Kontinentaltrup¬
pen unterſtuͤtzt werden mußten, um agiren zu koͤnnen.
Welche ungeheure Leidenſchaften hatte nicht Wel¬
lington zu benutzen? Eine allgemeine nationale Ver¬
[156]Wellington.zweiflung, Loſungsworte auf Tod und Leben, eine
Volksaufregung, wie ſie die Geſchichte ſelten geſehen
hat. Dazu kamen fuͤr unſern toryſtiſchen Cid Cam¬
peador materielle Hilfsquellen, Mittel, zu verſchwen¬
deriſcher Dispoſition geſtellt; denn ohne Comfort und
reichliches Auskommen giebt es keine engliſche Armee.
Entbehrung und Unbequemlichkeit, Hinderniſſe, welche
Napoleons unſterbliche Kolonnen mit dem leichteſten
Muthe ertrugen, wuͤrden den Englaͤnder getoͤdtet ha¬
ben. Regelmaͤßige Mittagsmahlzeiten, vollkommne Por¬
tionen, kurz ein Ueberfluß, der die Fleiſchtoͤpfe Old-
Englands nicht vermiſſen ließ, waren die Bedin¬
gungen, von denen Wellingtons Ruhm abhing. Er
wußte dies, und kam bei Englands Reichthum nicht
in Verlegenheit. Die Pferde der Armee fraßen in den
Pyrenaͤen das Heu, das in Yorkſhire gemaͤht war, und
die Soldaten naͤhrten ſich mit den Zwiebacken, die in
Amerika gemacht waren. Die Hingebung des Parla¬
ments und des Miniſteriums, der Haß gegen Napo¬
leon war ſo außerordentlich, daß man Millionen nicht
ſcheute, um zu ſeinem Ziele zu gelangen.
Wellington war frei von jeder Verantwortlichkeit;
ſelbſt von der ſeines Gewiſſens. Er verwandelte kalt¬
bluͤtig die fruchtbarſten Gegenden in Einoͤden, verſchanzte
[157]Wellington. ſich hinter den Linien von Torres Vedras mit ſeinen
Tonnen Poͤkelfleiſch, und richtete, um ſeinen Feind
auszuhungern, eine Verwuͤſtung an, welche jetzt noch
ſichtbar iſt. Wo ihm ſeine eigenen Pferde im Wege
waren, da befahl er den Leuten abzuſitzen, den Hahn
des Piſtols zu ſpannen, kommandirte, und ließ die
Thiere vor die Stirn ſchießen. Hier gab es keine Ver¬
antwortlichkeit mehr; alle Dinge waren ihm guͤnſtig.
Nun, dis iſt, was alle Englaͤnder wiſſen. Sie
wiſſen, daß ſie ihrem Herzoge Alles geſtatteten, daß ſie
ſelbſt fuͤr ihn Alles gethan haben, und ſprechen gering¬
ſchaͤtzig von dem großen Feldherrn der Allianz, der das
Gluͤck hatte, in der ſeit Menſchengedenken entſcheidend¬
ſten Schlacht bei Waterloo uͤber die kaltbluͤtigen Vierecke
der Englaͤnder zu kommandiren.
Seine erſten Sporen verdiente Wellington in einer
Expedition nach Holland, wo ſeine Bewunderer, ob¬
ſchon er nur eine Brigade befehligte, doch ſchon einen
Cyrus, Schulenburg, man kann hinzufuͤgen, einen
Dembinski in ihm ſehen wollten; denn es handelte ſich
um einen Ruͤckzug.
Hierauf ſchiffte er ſich mit ſeinem Bruder, welcher
Generalgouverneur von Indien war, nach einem neuen
Schauplatze ſeines wachſenden Ruhmes ein. Er half
[158]Wellington.Tippo Saib, einen Fuͤrſten, der in ſeinem Haſſe gegen
England nur von Napoleon uͤbertroffen wurde, in ſei¬
ner Hauptſtadt Seringapatnam belagern, und zeichnete
ſich bei der Erſtuͤrmung derſelben im Kommando indi¬
ſcher Hilfstruppen aus. Die Maratten boten neue
Lorbeern an: Wellington leitete zum erſtenmale eine
Schlacht, die ſo originell geliefert wurde, daß ſeine
Truppen uͤber die Feinde, die ſich todt ſtellten, weggin¬
gen, und im Augenblicke der Siegerfreude im Ruͤcken
von der wuͤthenden Maskerade angegriffen wurden.
Die Kaltbluͤtigkeit der Englaͤnder rettete ihn; die Schlacht
wurde gewonnen und Friedensunterhandlungen folgten.
Auch bei dieſen blieb die erſte Rolle fuͤr Wellington,
der ſein diplomatiſches Talent gegen die Maratten zu¬
erſt ausbildete. Bathritter, beſchenkt mit einer goldenen
Vaſe und einem Diamanten-beſetzten Ehrenſaͤbel ver¬
ließ Wellington Calcutta, wurde bald darauf gegen das
brennende Kopenhagen verwandt, und erhielt jetzt end¬
lich ein Kommando in der portugieſiſchen Expedition.
Der Sieg von Vimeira machte ihn zum Oberge¬
neral derſelben, und von dieſem Augenblicke an begann
er ſeine ruhmvollen Erfolge, die mit dem Tage von
Waterloo endigten. Von nun an mußte er bei Allem
gegenwaͤrtig ſeyn, was die Schickſale der Welt beſtim¬
[159]Wellington.men ſollte: wenn man ihn zu Allem zog, ſo wußte
man, daß das Gluͤck in der Naͤhe war. Die Kongreſſe
nahmen ihren Anfang, jene chirurgiſchen Verſuche, die
Glieder des europaͤiſchen Staatskoͤrpers wieder einzu¬
renken. Wellington, wie ein Prinz von Gebluͤt behan¬
delt, mußte uͤberall ſeine Stimme zuerſt geben, und
man kann nicht laͤugnen, daß er ſich dieſer Macht mit
Maͤßigung bediente.
Der Grund war einfach. Waͤhrend die Alliirten
in einer kosmopolitiſchen Aufwallung handelten, und
von einer gewiſſen allgemeinen und gegenſeitigen Gro߬
muth geleitet wurden, beſann ſich der Egoismus der
engliſchen Politik zuerſt von den poetiſchen Illuſionen
der heiligen Allianz, und verfolgte ſein eignes inſulari¬
ſches Intereſſe, das nicht verſchieden ausgefallen ſein
wuͤrde von der Gravitationspolitik des vorigen Jahr¬
hunderts, wenn es nicht das Beduͤrfniß eines allgemei¬
nen Kampfes gegen die Revolution weſentlich beſchraͤnkt
haͤtte. Man kennt die Proteſtationen der Caſtlereagh¬
ſchen Politik, Widerſpruͤche, die man von dieſer Seite
nicht erwartete; aber es geht in England die Sage,
daß der Torysmus allein im Stande ſeyn ſoll, eine
impoſante auswaͤrtige Politik aufzuſtellen. Dieſer Wi¬
derſpruch gab zu Mißverhaͤltniſſen Anlaß, in welche
[160]Wellington. freilich Wellington verwickelt wurde, die aber die große
Verehrung vor ſeinem Genie und Ruhm nicht verrin¬
gerten. Er wurde Feldmarſchall faſt aller Armeen des
Kontinents, und uͤberall als der glaͤnzendſte Gaſt der
Reſidenzen empfangen.
Seinem Vaterlande gegenuͤber iſt Wellington der
Erbe jener Grundſaͤtze, welche Pitt, Caſtlereagh und
Liverpool hinterließen.
Waͤre der Ariſtokratismus nicht etwas Angebornes,
ſo haͤtte ſchon die Dankbarkeit den Herzog verpflichten
muͤſſen, die Rolle jener Staatsmaͤnner fortzufuͤhren.
Sie waren es, deren unermuͤdlicher Eifer gegen Frank¬
reich ſeinem Ruhme Vorſchub leiſtete, die einer bald
ſchwaͤchern, bald ſtaͤrkern Oppoſition gegenuͤber das po¬
litiſche Syſtem vertheidigten, welches Englands Finan¬
zen zu Gunſten der ruhmgekroͤnten Perſoͤnlichkeit zer¬
ruͤttet hat.
Wellington iſt noch insbeſondere der Repraͤſentant
jenes militairiſchen Ariſtokratismus, der namentlich in
einem gewiſſen andern Lande nicht fremd iſt, und wel¬
cher die Deviſe fuͤhrt: „Was wollen jene Hallunken?
Ein Paar Kartaͤtſchenſchuͤſſe, und ſie ſtieben auseinan¬
der!“ Dis iſt die Politik der Faͤhndriche, eine Mei¬
nung, die auf der Wachtſtube Wunder verrichtet.
Aber ſelbſt Wellington iſt nicht mehr Herr ſeines
Haſſes, wenn er der Stimme und dem Antlitze ſeines
großen Volkes gegenuͤbertritt. Die Zunge verſagt ihm,
und ſeine fruͤhern Drohungen fallen nur leiſe und ge¬
maͤßigt aus dem unberedten Munde.
Dis iſt immer auf beiden Seiten der Fall gewe¬
ſen, wenn entweder die Freiheit oder der Despotismus
in die Lage verſetzt wurden, gebieten zu koͤnnen. Der
Demagogismus reagirt gegen ſich ſelbſt, wenn er das
Portefeuille in die Haͤnde bekommt, und die Kontrere¬
volution erſchrickt, wenn ſie ploͤtzlich die Zuͤgel faßt,
welche ihr im Privatſtand dazu dienen ſollten, ihre
Gegner todt zu jagen.
Als das Raſirmeſſer Caſtlereaghs das brittiſche
Miniſterium zerſchnitt und Wellington mit Canning
ſeinen Platz wechſelte, entwickelte ſich zuerſt die poli¬
tiſche Meinung des Herzogs und ſeiner Oppoſition, zu
jenem Schrecken, der ſie jetzt fuͤr England iſt. Es
zeigte ſich jene alte Wahrheit im neuen Beweis, daß
die gluͤcklichen Feldherren gern die Bewaͤltiger der poli¬
tiſchen Rechte ihrer Mitbuͤrger werden, wie Camillus
ein ſo großer Krieger und Feind der Volksfreiheiten war.
Doch nach Cannings Tode wieder ins Miniſterium
berufen, hatte der Herzog nicht den Muth, ſeine Droh¬
Gutzkow's öffentl. Char. 11[162]Wellington. ungen zu erfuͤllen. Die Heiligkeit ſeiner Stellung uͤber¬
mannte ihn, die Verantwortlichkeit vor Millionen iſt
ſchreckhaft, er wurde wider Willen der Emanzipator Irlands.
Was ſpaͤter folgte, iſt uns Allen bekannt. Wir
haben den Herzog mit zwei Knieen (es bedurfte nur ei¬
nes) vor Georg IV. ſich beugen ſehen, als er das
Reichsſiegel zuruͤckgab, haben die Wuth des Volkes
erlebt, die Widerſpruͤche im Oberhauſe und die uner¬
muͤdliche Championnerie des Lords Londonderry, den
Todesſtoß der Reformbill, die zweimal vereitelten Ver¬
ſuche in die Breſchen des Whigismus einzuſteigen, und
jetzt einen Sieg, welchen wir fuͤr unmoͤglich hielten.
Was folgen wird, liegt im Schooße der naͤchſten
Zukunft und der naͤchſten Zeitungen. Gluͤckliche Fahrt
fuͤr Robert Peel! Aber auch Gluͤck dem engliſchen
Volke! Denn was iſt der Sieg des Torysmus An¬
deres, als eine Chance des Fortſchritts? als ein Sig¬
nalruf fuͤr die zerſtreuten Parteien, welche in ihrer Liebe
zum Volke nicht einig werden koͤnnen? Man kann
dem Jahrhundert keinen groͤßern Dienſt leiſten, als
wenn man es bekaͤmpft. Die Reaktion haͤlt die Kri¬
ſis auf; aber ſie macht ſie reifer. Das engliſche Volk
iſt geruͤſtet — ein Jeder ſteht auf ſeinem Poſten —
wir werden ſehen.
Daniel O'Connell.
[][]Das gruͤne Erin, dreifach geſchuͤtzt durch einen Kranz
von Untiefen, einen Wall von Klippen, und im In¬
nern durch ungebahnte Gebirgsſtraßen, war bekanntlich
nicht zu allen Zeiten eine Zugabe, welche England ins
Schlepptau nahm. Bis zur Eroberung Wilhelms III.
gehorchte es ſeinen eignen Clans, und behauptete bis
zum Schluß des vorigen Jahrhunderts eine Unabhaͤngig¬
keit, welche wenigſtens illuſoriſch und formell das be¬
ſaß, was die Aufhebung der Union ihm heute wieder
verſchaffen wuͤrde. Irland war mit ſeiner Unruhe,
ſeinen barokken Einfaͤllen, mit ſeiner gluͤhenden katho¬
liſchen Andacht immer bereit, die engliſche Politik zu
durchkreuzen. Es war die Station des Papismus, die
Freiſtatt religioͤſer und politiſcher Emiſſaire, welche
Frankreich oder Spanien ſandte, und die den Adel und
Pad mit ſeinem Iriſh Bull immer leichtſinnig, beweg¬
lich und bereit fanden, oft fuͤr den Hauch eines Ge¬
[166]Daniel O'Connell. ruͤchtes, fuͤr eine leiſe und improviſirte Demonſtration
ins Feuer zu gehen. Wie oft ſich auch die Irlaͤnder
getaͤuſcht ſahen, und die Flotten, die ihren Empoͤrungen
zu Hilfe kommen ſollten, von den Bergen vergebens er¬
warteten, ſo gaben ſie ſich doch dem naͤchſten Prieſter
mit fremdlaͤndiſcher Ausſprache leichtſinnig wieder hin,
und hofften, der heilige Patrik werde ihnen endlich auf
einer Armada den katholiſchen Himmel, von welchem ſie
ſich ganz ausgeſchloſſen fuͤhlen, zufuͤhren, und Alles ins
Gleis bringen, was ſie dann ohne Plan, tumultuariſch,
auf eigne blutige Rechnung begannen.
Die Erſchlagenen heiſchten Vergeltung und die Rache
geſellte ſich zum Fanatismus. Das religioͤſe Kolorit des
Widerſtandes verlor ſich in den Hintergrund, und die
franzoͤſiſche Revolution fand Irland reif zur Anſprache
politiſcher Rechte. Die weißen Engel, die es erwartete,
kamen nicht mehr aus Loretto und Compoſtella, ſon¬
dern die Emigration, die franzoͤſiſchen Lilien, welche Ir¬
land ſo geliebt hatte, daß es franzoͤſiſch geworden waͤre,
wenn man es nur haͤtte erobern koͤnnen, wandten ſich
nach St. James; die Revolution aber und der Atheis¬
mus landeten auf ſeiner Kuͤſte, zogen ein Lager zuſam¬
men und riefen zum allgemeinen Kampfe gegen Eng¬
land. So hatten die Rollen gewechſelt.
Aber die heterogenen Elemente einten ſich nicht, die
ganze Unternehmung ſcheiterte, und die Folge war fuͤr
Irland die demuͤthigendſte; denn es verlor den Schat¬
ten ſeiner eigenen Repraͤſentation, und mußte gleichſam
Alles das entgelten, was England ſich aͤrgerte, nicht uͤber
ſeine amerikaniſchen Verluſte verhaͤngen zu koͤnnen.
Mit den beiden letzten Jahren des vorigen Jahr¬
hunderts hoͤrten die iriſchen Parlamente auf, deren pro¬
teſtantiſche Truͤmmer in das Unterhaus verſetzt wurden.
Die katholiſchen Vertreter von mehr als ſechs Millio¬
nen wurden zuruͤckgewieſen, da ſie ja an der Schwelle
des engliſchen Parlaments den antipapiſtiſchen und ſym¬
boliſchen Eid nicht leiſten konnten.
Aus dieſem Gewaltſtreiche Pitts und des engliſchen
Parlaments entwickelte ſich der gegenwaͤrtige Zuſtand
Irlands, eine Verwirrung, in welcher religioͤſer Haß,
nationelle Vorurtheile, Demagogismus und materielles
Elend die erſten Rollen ſpielen.
Die Geſchichte hat es immer bewieſen, daß bis auf
einen gewiſſen, ja vielleicht den aͤußerſten Punkt die
Ideen ſchlagender wirken, als ſogar die Fragen der
Exiſtenz.
Dis hungernde Irland, das ſich von den wenig¬
ſtens fuͤr das Volk ſparſamen Geſchenken eines ſonſt
[168]Daniel O'Connell.fruchtbaren Bodens naͤhrt, dis breite Elend, das mit
dem Leben wegen einer ſchmalen Rinde Brodes unter¬
handelt, um bei aller Noth doch noch dem unwider¬
ſtehlichen Zuge des Lichtes und der Luft zu folgen, die
ringende Exiſtenz wuͤrde vielleicht zuletzt auftreten, um
den engliſchen Namen zu verfluchen; denn das, was im
Menſchen das Thieriſche iſt, wird durch eine geheime
Schaam verborgen gehalten, bis auf den letzten Fetzen,
welcher noch hinreicht, die Bloͤße und das Geſtell,
worin wir uns thieriſch alle gleich ſehen, zu bedecken.
Aber zur Empoͤrung treibt es, wenn dem glaͤnzenden
genaͤhrten Leibe eine ideelle Entſchuldigung gegeben wird.
Der iriſche Bauer ertraͤgt den Reichthum neben ſich
und vermißt in der Lehmhuͤtte, neben ſeinem einzigen
Beſitzthum, einem Ferkel und einem Maaß Kartoffeln
fuͤr den naͤchſten Tag, nichts von dem Glanze, uͤber den
ſein Vetter und Sohn, der in London Schuhe putzt,
oder die Bettlerkunſt mit witzigen Impromptus treibt,
in ein ſchuͤchternes und uneigennuͤtziges Erſtaunen ge¬
raͤth. Allein dem Gefuͤhle zugaͤnglich iſt die rechtliche
Beſchoͤnigung des Elends, dem Gedaͤchtniſſe ſteht die
ganze Vergangenheit offen und ſaͤttigt es mit engliſchem
Haſſe.
Die Zehntenfrage ſchlaͤgt in das Gebiet der Reli¬
[169]Daniel O'Connell.gion uͤber, wo die kleine politiſche Reibung zuletzt un¬
verſoͤhnlich wird. So oͤffnet ſich bald der Blick. Ganz
Irland ſieht ſich von Unrecht umſchanzt, von einigen
wenigen Fremden, welche den Reichthum und die Ge¬
ſetze in Haͤnden haben, welche fruͤher ſogar ihre politi¬
ſchen Intereſſen vertreten wollten und deren Geiſtlichkeit,
Pfoͤrtner eines verſchmaͤhten Himmels, noch jetzt die Ge¬
faͤlle ihrer armſeligen aber gutkatholiſchen Thaͤtigkeit
eintreibt.
Das Pachtverhaͤltniß, in England das Fundament
der Verfaſſung, iſt in Irland die offne Wunde, welche
niemals heilt. Die Eigenthuͤmer des Bodens, meiſt
Proteſtanten, oder der Adel des Landes, welcher ſeine
Ehre darin ſucht, in London die dritte Rolle zu ſpie¬
len, und am Glanze der Monarchie Theil zu nehmen,
zerſtuͤckeln ihre Laͤndereien, weil ſie fuͤr große Pachtun¬
gen keinen wohlhabenden Mittelſtand finden: die Kul¬
tur der kleinen Diſtrikte endet aber immer mit Zah¬
lungsunfaͤhigkeit, mit Auspfaͤndung, kurz mit der Grau¬
ſamkeit zweier Exekutoren, eines civilen und eines kirch¬
lichen, welche zur Verzweiflung treibt, und die Bruͤder¬
ſchaft der Weißbuben organiſirt hat, einen fortwaͤhren¬
den Krieg gegen die Eigenthuͤmer und die nachfolgen¬
den Paͤchter, einen Krieg, der, wenn auch zuruͤck ge¬
11 **[170]Daniel O'Connell.ſchlagen von den Rothroͤcken, ſich doch immer wieder in
den Schluchten der Gebirge zuſammen findet.
Dieſe ſogenannte praͤdiale Agitation iſt es, vor wel¬
cher die politiſche, der Demagogismus in geſetzlichen
Formen, immer ſo emphatiſch zu warnen pflegt, und
welche doch der eigentliche Ruͤckhalt und gefuͤrchtete
Bundesgenoſſe des letztern iſt. Wenn auch die politi¬
ſche Agitation immer die Geſetze im Munde fuͤhrt, ſo
wuͤrde ſie doch bei Weitem nicht das impoſante An¬
ſehen haben, wenn ihre Demonſtrationen nicht durch
eine ununterbrochene Kette von Exceſſen unterſtuͤtzt
wuͤrden. Ihre Verwahrungen ſind nur formell und un¬
vorgreiflich: die politiſche Agitation, welche wir fortwaͤh¬
rend mit England oͤffentlich unterhandeln ſehen, iſt
nichts als der geſetzmaͤßige Ausdruck dieſer halben In¬
ſurrektion, der unantaſtbare Sekundant der Flinten¬
ſchuͤſſe, welche naͤchtlich in die Pfarrein und Pachthoͤfe
fallen, der geſicherte Stab einer immer bloßgegebenen
Chouanerie. Der erſte Sprecher aber und Parlamen¬
tair dieſes geſetzmaͤßigen Demagogismus iſt das iriſche
Omega: Daniel O'Connell.
Wer mit den Begebenheiten, die durch eigne oder
benutzte Leidenſchaften in der Geſchichte hervorgerufen
worden ſind, vertraut iſt, weiß, daß fuͤr die Dema¬
[171]Daniel O'Connell.gogie eine Menge von Regeln vorhanden ſind, welche
ſyſtematiſch zu ordnen keine muͤßige Erfindung iſt. Das
Betragen der Piſiſtratiden, des Perikles, der Antonius
und Octavius ſteht auf der einen Seite, und wird auf
der andern von Cleon, von den Gracchen, Catilina,
von Orleans und Mirabeau ergaͤnzt. Hier iſt nichts
ohne Plan und Methode, hier iſt nicht Alles bloße
Willkuͤhr und hingeſtellte Abſicht, ſondern die Dema¬
gogie hat ſo gut ihre Macchiavellismen, wie die Auto¬
ritaͤt, welche ſich erhalten will.
O'Connell hat die Geſchichte mit dieſer Ruͤckſicht
ſtudirt, kann aber zu dem uͤberlieferten Syſteme ſo viel
Neues geben, daß wir einſehen, eine Agitation, wie
die ſeinige, iſt noch nicht vorhanden geweſen. Das
Neue liegt bei ihm in ſeiner wunderbaren Stellung,
in dieſer kron- und ſcepterloſen, aber darum nicht we¬
niger anerkannten Herrſchaft uͤber Millionen, in dieſem
Vertrauen eines ganzen Volkes, das ſeinen Guͤnſtling
und Fuͤrſprecher ſogar aus eine Civilliſte ſetzt, welche
ihm den Schein eines angeſtammten Herrſchers gibt.
O'Connell iſt den alten Demagogen ſchon darin
ungleich, daß er bei aller Genugthuung ſeines perſoͤnli¬
chen Ehrgeizes doch nicht darauf denken kann, fuͤr ſich
ein poſitives Reſultat, irgend eine Wuͤrde oder erbli¬
[172]Daniel O'Connell.ches Anſehen, kurz mehr zu erobern, als fuͤr ſein Va¬
terland die unbeſtrittene Moͤglichkeit, ſich bequem und
mit Vorſorge fuͤr das allgemeine Wohl und die Ver¬
kuͤrzung des Einzelnen fuͤr die Zukunft einzurichten.
Der Zweck ſeiner Agitation kann niemals die Deviſe
Dan I. geweſen ſeyn, eine humoriſtiſche Schilderhebung,
welche auf die Rechnung des Iriſh Bull koͤmmt; ſon¬
dern das Ganze iſt, die genannte Zukunft ſowohl zu
befeſtigen, als zu beſchleunigen.
O'Connell ſieht ein, daß ſein ganzes Syſtem auf
drei Grundſaͤtze zuruͤckkommen muß: auf die Nothwen¬
digkeit, die Wunde immer in eiterndem Zuſtande zu er¬
halten, auf den Schein der Geſetzmaͤßigkeit und auf die
Sicherung ſeiner Perſon.
Irland weiß, daß es ſeine Konzeſſionen nur er¬
zwingen kann, und daß das Drohende in der Maſſe
liegt; daher O'Connells nie ermuͤdende Aufforderung
Vereine zu bilden, und durch Symbole das auszu¬
druͤcken, was nur durch die Verſoͤhnlichkeit noch in ſei¬
nen Schranken zuruͤckgehalten wird. O'Connell draͤngt
in allen oͤffentlichen Reden, nichts ohne den Schutz der
Geſetze zu thun, und das Unrecht dadurch zu entkraͤf¬
ten, daß man es durch ſeine Beobachtung aufreibt. Er
lockt die englichen Macbeths gleichſam durch eine Un¬
[173]Daniel O'Connell. moͤglichkeit, daß Birnams Wald auf Dunſinan heran¬
kaͤme, und behauptet, nur die wuͤrden ſie beſiegen,
welche nicht geboren ſind vom Mutterleibe, und doch
ſteckt hinter dieſen Prophezeiungen eine delphiſche
Schlauheit.
O'Connells Geſetzmaͤßigkeit und Scheingebung er¬
reicht oft einen Grad, wo ſie nahe an Satyre ſtreift.
So organiſirte er z. B. kurz vor der Emanzipation
das katholiſche Irland in der Abſicht, die Aufregung
ins Hoͤchſte zu ſteigern; doch druͤckten ſeine Statuten
gerade das Gegentheil aus von dem, was er wollte, ſo
daß er dem Feindlichen Namen gab, die nicht freund¬
ſchaftlicher klingen konnten.
„Alle katholiſchen Irlaͤnder, ſagte er, alle die,
welche eine moraliſche, politiſche und religioͤſe Reform
wollen, moͤgen ſich — in Haufen von hundert und
zwanzig Perſonen vereinigen. Dieſe hundert und zwan¬
zig Perſonen moͤgen dann unter ſich einen Anfuͤhrer
unter dem Namen Friedensſtifter waͤhlen, der ſeine
kirchlichen Obliegenheiten treu erfuͤllt, und wenigſtens
einmal des Monats zur Beichte geht.“
Der Kontraſt dieſer Beſtimmung mit dem, was
ſie eigentlich ſagen ſoll, gibt ihr eine laͤcherliche Wir¬
kung; aber ſie bezeichnet vollkommen O'Connells Sy¬
[174]Daniel O'Connell.ſtem, der den Einfluß der Geſetzmaͤßigkeit auf die Maſſe
kennt, und davon uͤberzeugt iſt, daß man theure und
werthe Dinge der Kuͤhnheit nicht opfern duͤrfe.
Selbſt ſeinen Egoismus hat O'Connell verſtanden
an das Intereſſe der Allgemeinheit zu knuͤpfen. Er
legte gerade ſo viel Werth auf ſeine Nothwendigkeit
fuͤr die iriſche Sache, als zugleich hinreichend iſt, ſeine
eigne Perſon in Sicherheit zu bringen. Waͤhrend ſein
Mund mit dem Stachel eines feinen und ſpitzen Ac¬
cents nicht muͤde wird zu verwunden, und er mit ſcho¬
nungsloſer Haͤrte jenſeits in Irland das wieder erzaͤhlt,
was er an Perſonen und Begegniſſen in London erfah¬
ren hat, ſo gibt er nicht einmal die beguͤtigende For¬
mel hinzu, womit ſo viel untadelhafter Mißbrauch ge¬
trieben wird, daß er naͤmlich Keinen habe beleidigen
wollen, ſondern geſteht mit leiſer Stimme zu, daß die
Ausforderung an der rechten Stelle iſt; zuckt aber dann
die Achſeln, ſieht gen Himmel und ruft ſchmerz¬
lich aus:
„Ich habe einmal einen Menſchen erſchoſſen, den
Squire Deſterre im Jahr 1812; die Kugel ging ihm
mitten durchs Herz, und ſeitdem hab' ich der heiligen
Mutter Gottes von Kirkpatrik gelobt, jedes Menſchen¬
blut zu ſchonen!“
Was laͤßt ſich dagegen ſagen? Mit dieſem ſeinen
ſcheinheiligen Spiele, hat O'Connell ein Privilegium
der uͤblen Nachrede, und bedient ſich deſſelben verſchwen¬
deriſch, ohne ſeine Haut zu Markt zu tragen. Man
muß eingeſtehen, daß dis eine fuͤr den Demagogen
unerlaͤßliche Maaßregel iſt; denn wo ſollten ſeine In¬
vektiven hinaus; wenn er der Klinge jedes Faͤhnrichs
von der Gegenpartei, der ihn inſultirte, ſtehen muͤßte,
oder keine Aeußerung uͤber Perſonen geben duͤrfte, ohne
dabei fortwaͤhrend ſein Leben als Siegel und Zeugniß
einzuſetzen? Das Bequeme und Behagliche dieſer Maxime
koͤmmt auch nicht einmal als Feigheit heraus; denn
mit dem Herzen des Squire Deſterre hat es ganz ſeine
Richtigkeit, und Jedermann weiß davon.
Einen großen Vorſprung in der Erfuͤllung ſeiner
Aufgabe findet O'Connell namentlich in den Reſten,
welche ihm von ſeiner erſten Erziehung geblieben ſind.
Denn obwohl Advokat ſeinem Gewerbe nach, ſo
kam doch die Peruͤcke dieſes Amtes auf ein Haupt, das
durch die Tonſur ſchon fuͤr den Prieſterſtand beſtimmt
war. O'Connell, der Sohn einer angeſehenen, aber
nicht vermoͤgenden Familie, ſollte die Weihe nehmen
und wurde deshalb, wie faſt alle jungen iriſchen Geiſt¬
lichen, in dem franzoͤſiſchen Seminar zu St. Omer er¬
[176]Daniel O'Connell.zogen. Der große Agitator hat einſt das Meßgewand
getragen und bei den Reſponſorien ſich in der Kunſt
geuͤbt, zur rechten Zeit einzufallen, ohne welche man
ſchwerlich ein gutes Parlamentsglied werden kann.
O'Connell ging vom Studium des Miſſale auf die hei¬
ligen Vaͤter uͤber, auf Chryſoſtomus und Auguſtinus,
wo ihm gewiß bei der Lektuͤre des Traktats de Civitate
Dei die politiſchen Folgerungen noch ganz fern lagen.
Man ſagt, daß der junge Prieſter mit voller Hinge¬
bung ſeinen geiſtlichen Studien obgelegen haben ſoll,
und kann deshalb auch nur in der naͤchſten Aufregung
Irlands, in den Unabhaͤngigkeitskaͤmpfen von 1798 den
Grund finden, warum er das weite Gewand des Se¬
minariſten von den Lenden that und ſie mit dem
Schwerte des Advokaten guͤrtete.
Dieſe energiſche Anlage der Natur, dieſe gluͤhende
Phantaſie mußte einen andern Ausweg finden in einer
Zeit, wo es fuͤr einen Peter von Amiens und Bern¬
hard von Clairvaux keine Kreuzzuͤge mehr zu predigen
gibt. Aber das Prieſterliche ſteht dem Agitator durch
Kunſt und Natur noch immer zu Gebot, und hilft
ihm, die Gemuͤther der katholiſchen Menge zu erobern.
Er iſt ein Enkel des heiligen Patricius im Glauben
des Volks, ein politiſcher Luther des Katholicismus.
[177]Daniel O'Connell.Die Parole, welche ihn uͤberall empfaͤngt, iſt: Gott
und O'Connell!
Man ſollte es nicht glauben, wenn man die par¬
teiiſchen und doch wieder ſo indifferenten Berichte der
Zeitungen hoͤrt, welche Alles herunterziehen in Alltaͤg¬
lichkeit und Zweifel, daß O'Connells Name Wunder
wirkt; ja der Fluch der Politik, daß man immer drau¬
ßen ſeyn muß auf dem laͤrmenden Markt, und ſich
immer preisgeben an die taͤgliche Neugier des Specu¬
lanten oder Kannengießers, zieht auch eine ſolche Er¬
ſcheinung, wie die O'Connells, in die ſpoͤttiſche Beur¬
theilung herab, und hat uns laͤngſt erkaͤltet in der
Wuͤrdigung dieſes Mannes, der uns zu viel im Vor¬
grunde ſteht, der ſich uͤberall praͤſentirt.
Allein man abſtrahire einmal von der Journali¬
ſtik, von den Intriguen der Londoner Kabinetszuſam¬
menſetzungen, von der Taktik im Unterhauſe, und gehe
nur zuruͤck auf Irland, ſo ſieht man, wie O'Connell
den Schmutz des engliſchen politiſchen Lebens vom
Leibe ſchuͤttelt, ſich ganz auf die Hingebung ſeiner gro¬
ßen Aufgabe iſolirt, und mit einem gluͤhenden, an¬
daͤchtigen und ungluͤcklichen Volke zuſammenſchmilzt,
das ihn anbetet, deſſen Sprache er redet, und in deſ¬
ſen Anſchauungen er lebt.
O'Connell ſoll aus ſeinem katholiſchen Glauben
ſich keinen deiſtiſchen Hausbedarf herausgenommen ha¬
ben; wie denn ſeine ganze Oppoſition keine Prinzipien¬
tendenz, ſondern eine hiſtoriſche Nothwendigkeit iſt, zu
deren Organ ihn der Zufall oder das Geſchick machte.
Wenn ſich O'Connell ganz an die natuͤrliche Empfin¬
dung ſeines Volkes hingibt, ſo iſt weder von einem
Jakobiner noch von einem Jeſuiten ein Schein vor¬
handen; er reduzirt ſich dann ſelbſt auf eine hinreißende
Einfachheit, welche ihm im Parlament, im Gewuͤhle
von tauſend gemachten, gelogenen und kuͤnſtlichen
Dingen ſchon die glaͤnzendſten Triumphe verſchafft hat,
und wovon man erſt juͤngſt wieder eine Probe hatte,
als er uͤber die Fuͤſilirten von Rathcormac ſo wahre
und wehmuͤthige Worte ſprach.
Dis iſt der Reſt, der O'Connell vom Prieſter ge¬
blieben iſt; ein Schluͤſſel, der ihm die Herzen ſeines
Volkes oͤffnet: nicht pfaͤffiſcher Trug, ſondern aͤchte
Salbung und geiſtliche Verſoͤhnung.
Bei der Emanzipation Irlands lag das Hiſtoriſche
weniger in dem Reſultat.
Denn den Voͤlkern iſt es beim Stande der gegen¬
waͤrtigen Aufklaͤrung keine Ueberraſchung mehr, wenn
[179]Daniel O'Connell.die Unterſchiede des Glaubensbekenntniſſes politiſchen
Rechten keine Schranken geben ſollen.
Nur die Thatſache des Siegs war uͤberwaͤltigend,
weil die Inkonſequenz der verweigernden Partei reich
ſeyn mußte an Folgerungen, welche der Hoffnung auf
die Zukunft und der Macht der andern Partei zu
Gute kamen. Die Nation ſah, daß das große Wort
des Torysmus der Stimme des Volks gegenuͤber ver¬
ſtummen mußte, daß die Stimme der Parteien ſich
nach den Zeichen des Wendekreiſes richtet, in welche
ſie gerade tritt; daß es etwas Unwandelbares gibt uͤber
dem Lager der Eiferſucht, welches ſich Weg bahnt,
auch ohne den Anrufenden die Parole des Tages zu
ſagen.
In der That glauben wir an eine tiefe Macht
der Geſchichte, welche verborgen iſt, maulwurfsartig,
wie der Geiſt im Hamlet, eine heimliche Kraft, welche
ſich ſelbſt erzeugt und an das Werdende, an die Par¬
tei, an die Unverſoͤhnlichkeit immer in der Form des
Unerlaͤßlichen ſpricht, und die Nothwendigkeit der Kon¬
zeſſionen mehr herausſtellt als ein gezogenes Schwert
oder auflodernde Brandſtiftung.
Dis verhuͤllte Geſetz der Voͤlkerſchickſale kann einen
Augenblick hindurch einmal der Bundesgenoſſe irgend
12 *[180]Daniel O'Connell.eines Feldgeſchrei's ſeyn; doch iſt es ſo goͤttlicher Na¬
tur und rein von den ſich draͤngenden Leidenſchaften,
daß es ſelten auf der Seite des Siegers ſteht, des
Siegers, welcher befeſtigen will, was er eroberte, der
von dem Weltgeiſte ſchon laͤngſt wieder verworfen iſt
und Raum machen muß, waͤre es auch vor dem Sy¬
ſteme des Widerſtandes; vor einem Syſteme, das der
verborgenen Macht unterſter Handlanger iſt, weil es
die himmliſche, die ideelle Negation, die Negation des
Fortſchrittes repraͤſentirt in ihrer aͤußerlichen Art, als
irdiſche Negation, als Negation der Leidenſchaft, der
Thorheit und der Unverbeſſerlichkeit.
So ſtrauchelte auch der Torysmus nicht an der
Uebermacht ſeiner Gegner, ſondern an dem, was un¬
erlaͤßlich geworden war. Die zwiſchen Wellington und
Winchelſea gewechſelten Piſtolenſchuͤſſe waren das iro¬
niſche Laͤcheln des verborgenen Geiſtes, welcher auf die
Maͤnner der Geſchichte druͤckt wie ein Alp.
Die Emanzipation der Katholiken iſt eine Garan¬
tie, daß die Geſchichte nicht mehr gemacht wird durch
eiſerne Charaktere, welche ſich wechſelsweiſe vernichten
und die Herolde der Revolutionen ſind, ſondern durch
Girouetten, die durch ihre Gegenwart ihre Vergangen¬
heit Luͤgen ſtrafen, durch Fahnen, welche fuͤr ihre De¬
[181]Daniel O'Connell. viſe zum Tode geſchworen hatten und von einem Winde
gedreht werden, von dem man nicht weiß, von wan¬
nen er koͤmmt und wohin er faͤhrt.
Parteien ſind nur die Werkzeuge der organiſchen
Natur der Geſchichte, welche von innen heraus die
Voͤlker begluͤckt, frei macht, der Wahrheit den Sieg
gibt und in England auch die Emanzipation und die
Reform ſchuͤtzen wird.
Die Theologie beſtreitet vielleicht, daß das Paradies
am geſichertſten iſt, wenn man die gefallenen Engel
zwingt, ſich mit ſtammenden Schwertern zu ſeinem
Schutze zu ſtellen.
Ueberhaupt welche Rolle ſpielt die Theologie in
den Stuͤrmen unſers modemen Lebens! In England
und Irland ſieht man eine Geiſtlichkeit, welche des
Erloͤſers Spruch laͤngſt vergeſſen, daß ſein Reich nicht
von dieſer Welt iſt. Dieſe Kirche hat die Verſuchung
in der Wuͤſte nicht uͤberſtanden: das Fuͤllen der Eſelin
und die Thraͤnen von Gethſemane kennt ſie nicht. Mit
rauſchenden Gewaͤndem wallt ſie durch die Saͤle der
Herodes, und findet einen Triumph der Religion darin,
mit den Gaſtmaͤhlern der Landpfleger zu wetteifern.
Das biſchoͤfliche Pallium iſt uͤber weltliche Kleider ge¬
zogen, und in den politiſchen Fundamenten des Got¬
[182]Daniel O'Connell.tesdienſtes das Heilige der Konſequenz der Heiligkeit ſo
ſehr vergeſſen, daß ſich der Proteſtantismus nicht ſchaͤmt
von einer Gemeinde bezahlt zu werden, welche ihn ver¬
kezzert, und fuͤr das Abendmahl einen Wein vom Ka¬
tholizismus zu nehmen, der im Genuſſe deſſelben Hei¬
denthum ſieht. Denn es kuͤmmert freilich keinen Kauf¬
mann, einen verfluchten Heller in ſeiner Kaſſe zu ha¬
ben; doch ſollte der Prieſter heilig achten das Nehmen
und das Geben, beides nach dem guten Willen. Hier
iſt die Religion keine Troͤſterin mehr und die unſicht¬
bare Pforte der Ewigkeit, ſondern eine Komman¬
dite jener Wechſelhaͤuſer, die Chriſtus aus dem Tem¬
pel trieb.
Und wer haͤtte noͤthiger fuͤr ſein Allerheiligſtes zu
ſorgen, als die Kirche? Wer ſetzt ſich hin als das
Unterpfand, daß ſich das Chriſtenthum in ſeiner welt¬
hiſtoriſchen Stellung erhaͤlt? Wer kann die Zeichen
deuten, welche heraufziehen an dem Horizonte der Ge¬
muͤther und von dem Evangelium Merkmale verlan¬
gen werden, welche einſt da waren (denn das Evange¬
lium war fuͤr die Ewigkeit) und welche verloren gegan¬
gen ſind, waͤhrend die Juͤnger ſchliefen?
Unſre Zeit, vor einer uͤberſtarken, vereinzelten und
inquiſitoriſchen Alleinherrſchaft der Kirche durch die
[183]Daniel O'Connell.Vernunft geſichert, will das Heilige vom Weltlichen
trennen, damit das Eine nicht in des Andern Sturz
hineingezogen werde. Die Trennung von Kirche und
Staat iſt wahrlich eine Forderung, die nicht von der
Feindſchaft ausgeht. Die engliſche Hochkirche hat ei¬
nen Kampf zu beſtehen, der damit enden wird, daß
ihre Heiligthuͤmer in den Koth geworfen werden. Man
wird die goͤttliche Offenbarung mit rohen Haͤnden be¬
taſten, und den Himmel wie die Goͤtzen behandeln,
welche der Muſelmann unter dem Sattel eines erleg¬
ten afrikaniſchen Heiden findet.
Wer das Chriſtenthum liebt, ja ſelbſt der, der es
mehr als weltgeſchichtliche Evolution betrachtet, oder es
als eine zaͤrtliche, ſagenreiche Mutter, von welcher euer
Geiſt die erſte Nahrung ſog, mit kindlicher Theilnahme
anſchaut, ſieht mit Schmerz dieſe Gewitter heraufzie¬
hen, welche damit enden werden, daß das Himmliſche
ſich wieder zuruͤckziehen muß in die Schlupfwinkel der
Berge, in dunkle Verſtecke, aus welchen das Wild des
Waldes ſtutzig auffaͤhrt, in eine Einſamkeit, die nicht
eher aufhoͤren wird, ehe ſich die Pluͤnderung nicht legte
und die Entwuͤrdigungen der Ewigkeit von der rohe¬
ſten Nemeſis zerriſſen ſind.
Betet, daß dieſer Kelch voruͤbergehe!
[184]Daniel O'Connell.Man kann ſich von dieſen Gedanken nicht losma¬
chen, wenn man jenes Gemiſch des Heiligen und Welt¬
lichen ſieht, welches in England die Tagesordnung
ausmacht.
Wir glauben nicht, daß ſich O'Connell ſeine große
Aufgabe durch ſolche Betrachtungen truͤben wird. Er
ſieht eine Wirklichkeit vor ſich, welche maͤchtig genug
iſt, ihn an den Augenblick zu feſſeln, und ſeine Thaͤ¬
tigkeit in einzelne kleine Theile zu zerſtuͤckeln. Dis
ewige Wiederaufnehmen einer und derſelben Frage, dieſe
Wiederholungen von Dingen, welchen man erſt Glau¬
ben ſchenkt, wenn ſie zum Gemeinſpruch geworden ſind,
dis Geizen mit dem Verſchwenderiſchſten, das uns zu¬
fließt, mit der Zeit, haͤtte Jeden Andern bis zum Tod
ermuͤdet.
Die Dinge ſtanden ſchon oft in Irland ſo auf der
Spitze, daß die organiſirte, in Banden und Uniformen
das Land durchziehende Menge nur das Signal der
erſten Ordner zu vollſtaͤndiger Rebellion erwartete.
Welches Gefuͤhl, wenn die Vernunft und die Einſicht
in den Thatbeſtand dem kommenden Ereigniſſe dann
wieder in die Speichen fiel, den Lauf der Dinge zu
hemmen gebot, und nothwendige Ruͤckſchritte nach ſich
zog, weil es keinen Stillſtand in Begebenheiten gibt,
[185]Daniel O'Connell. die wie geladenes Feuergewehr drohen, und nur der
Leute Muth oder Befehl gewaͤrtig ſind!
Man ſprach auch ſchon oft davon, daß O'Connel
dieſer kleinen Schritte ruͤck- und vorwaͤrts herzlich muͤde
ſei und ſich ſehne nach Derrinane, an das Meeresufer
und die aͤußerſte Spitze Europa's gegen Amerika hin,
in den Schoß einer zahlreichen Familie, die das ein¬
ſame Kloſter und die labyrinthiſchen Nebengebaͤude ſei¬
nes Wohnortes — eine architektoniſche und reizende
Vermiſchung von Feudalismus und Bequemlichkeit —
in Karawanen beſucht, und ſich Recht ſprechen laͤßt in
Familienzwiſten von ihrem Advokaten-Prieſter, der ein
patriarchaliſches Anſehen unter ihnen genießt.
Doch die Schuͤrzung des Knotens, die immer ver¬
worrener wird in England und Irland, ruft ihn wie¬
der zuruͤck auf die Huſtings der großen Nationalver¬
ſammlungen, auf die Praͤſidentenſtuͤhle der politiſchen
Gelage, aus den Sitz im Parlament. In London ver¬
wickelt er ſich dann in die Intriguen der Parteien, die
ſeine Stimme erobern moͤchten, und durch Ehrenbezeu¬
gungen einen Naturmenſchen in Verlegenheit ſetzen.
In London ſtrauchelt er hie und da auf dem ſchluͤpfri¬
gen Boden der Debatte und Vorberathung: er ſoll dem
Einen zuſagen, was er ſchon dem Andern verſprochen
[186]Daniel O'Connell.hatte, er ſoll es zuweilen vergeſſen, da einzufallen, wo
man ſeiner bedarf, er ſoll bald die Radikalen compro¬
mittiren, welche ihm ihre taktiſchen Angriffe, bald die
Miniſter, welche ihm ihre Geheimniſſe anvertrauten.
Das Miniſterium Grey, ſo denkwuͤrdig mehr durch
ſeine Nothwendigkeit als durch ſeine Individualitaͤt,
ging an des Agitators Unbedachtſamkeit zu Grunde,
da er in Dublin unter den Seinigen immer das zu
bereuen pflegt, was er in London zugelaſſen hat.
Dieſe Unbehaglichkeit einer unheimiſchen Stellung
iſt der Grund, warum O'Connell nie zu einer großen
Macht im Unterhauſe gelangt, in iriſchen Angelegen¬
heiten ausgenommen, wo er der Kern eines langen
Schweifes iſt, der ihm treu bleibt, weil er ſich zuletzt
in die Nebel enger Verſchwaͤgerung und Blutfreund¬
ſchaft verliert. O'Connells Zuͤge klaͤren ſich auf, wenn
ſich das Ende der Seſſion naͤhert; dann ſieht man ihn
ſchneller durch die Straßen Londons ſchreiten, die brei¬
ten Schultern wiegend, den Regenſchirm wie ein Feld¬
wanderer uͤber die Achſel gelegt, oder damit gegen die
Luft fechtend, ein iriſches Volkslied ſummend und be¬
gruͤßt von ſeinen Landsleuten, den Savoyarden
Englands.
Er fuͤrchtet die Heimath nicht, ob er gleich ſchon
[187]Daniel O'Connell. oft ihr verſprochen hat, ſie in ſechs Monaten zu dem
gluͤcklichſten Lande der Erde zu machen, und im Par¬
lament die kleinſte Beſchwerde aufzuheben, die den
Kleinſten druͤckt. Die Voͤlker tragen nichts nach: ſie
tragen O'Connell nicht nach, daß er einſt vor Georg
IV. kniete, weil er verſichert, daß er ſich jetzt deſſen
ſchaͤme: ſie tragen ihm die Zwangsbill nicht nach, gegen
die er erſt ſtimmte, und deren Erneuerung er ſpaͤter
zuzulaſſen verſprach; denn ſie wiſſen, daß er es auf
Rechnung groͤßerer Zugeſtaͤndniſſe that, zu welchen ſich
die Verwaltung bereit erklaͤrt hatte. Keine Macht iſt
gegen den guten Willen nachſichtiger, als das Volk,
das ſich in ſeiner Geſammtheit zu ſtark und zu gro߬
muͤthig fuͤhlt, die Schwaͤche eines Einzelnen zu ruͤgen.
O'Connell kennt dieſe ſanfte und linde Moral der
Voͤlker, und ordnet ſich deßhalb der Laune ſeiner Na¬
tion gaͤnzlich unter. Man hoͤre, wie er zitternd ein¬
lenkte, als ſeine neuliche Erklaͤrung uͤber den Zehnten
auf einen Augenblick ſeine Zuhoͤrer ſtaunen machte!
Wer ſich in die Seele großer Maͤnner zu verſetzen
weiß, wird eine Thraͤne uͤber jenes ungerechte Oh! nicht
haben zuruͤckhalten koͤnnen; denn wenn es ſchmerzlich
iſt, die Treue verkannt zu ſehen, ſo iſt es noch ſchmerz¬
licher, wenn die Treue den Schein der Dienſtbarkeit
[188]Daniel O'Connell.oder der Entaͤußerung eines gigantiſchen Willens an¬
nehmen muß. Aber Reibungen dieſer Art vergehen
wie die Laune einer Geliebten.
O'Connell erreicht jetzt ſein ſechzigſtes Jahr; ein
Siegeskranz wird dem alten Kaͤmpfer gereicht von ei¬
nem Volke, deſſen Sklave zu ſein er ſich uͤberwinden
konnte. Die Magnete von Millionen Herzen werden
einſt ſeinen Sarg ſichtbar ſchwebend erhalten, wie den
des Propheten in der heiligen Mekka.
Doctor Francia.
[][]Am glaͤnzendſten entfaltete ſich die Macht des Chri¬
ſtenthums, wo es nicht zu dem Schwerte des Kriegers
oder den Wuͤrden der europaͤiſchen Monarchien ſeine
Zuflucht nahm, ſondern zu ſeiner eignen Naivetaͤt und
den Nuͤrnberger Spielſachen, durch welche es verbreitet
worden iſt unter den Indianern der neuen Welt.
Die Miſſionarien aller Konfeſſionen gingen auf
den Urſprung der Lehre zuruͤck, auf Jeſus, den Sohn
eines Zimmermanns, auf die Fiſcher, auf die Zoͤllner,
denen die Gnade der Viſionen zuerſt geworden war.
Das Chriſtenthum warf ſeine Infuln und Tiaren ab,
das biſchoͤfliche Pallium und die ſammtenen Maͤntel
der Kardinaͤle und zeigte ſich flink, handwerklichen Ur¬
ſprungs, in Hemdaͤrmeln, und half, ruͤſtig die Axt
ſchwingend, die Urwaͤlder lichten, der Civiliſation Wege
bahnen, Huͤtten bauen und die Felle der Thiere gerben,
um ſich gegen Pfeile, die Mosquitos und den Regen
[192]Doktor Francia. zu ſchuͤtzen. Jede einzelne Profeſſion der Apoſtel kam
hier wieder zum Vorſchein.
Und wie man die Baͤume faͤllte, toͤdtete man die
weinende Dryade und das Heidenthum; wie man an
Bloͤcken ſchaͤlte, um Kanots zu bauen, erzaͤhlte man
von dem See zu Kapernaum und dem Waſſertreter
Petrus; wie man ſein Veſperbrod aß, erzaͤhlte man die
Wunder der Speiſung, die Geſchichte von den dreitau¬
ſend Mann und den fuͤnf Broden, die Weinmetamor¬
phoſe; und wenn zuletzt der Abend kam und die
Sonne ins Meer tauchte, dann ſetzten ſich die from¬
men Wilden und ihre neuen Prieſter unter das Dach
einer Baniane und ſprachen von Gott, von der Menſch¬
werdung, und dem ewigen Leben, indem ſie hinauf¬
zeigten auf das Firmament, auf die Sterne, die an
dem naͤchtlichen Himmel auftauchten.
Die Propaganda war es, die in Amerika dem Ka¬
tholicismus Triumphe verſchaffte, gegen welche die
Kaͤmpfe mit Kaiſer und Reich, mit Ghibellinen und
Ketzern werthlos ſind.
Die Schuͤler Loyola's erkennt man jenſeits des
Ozeans nicht wieder. Vergeſſen ſind die fuͤrſtlichen
Beichtſtuͤhle, vergeſſen die Grundſaͤtze macchiavelliſtiſcher
Prinzenerziehung, vergeſſen die Principien des Koͤnigs¬
[193]Doktor Francia. mordes und ihre Opfer, Ravaillac, Clement: und nichts
iſt zuruͤckgeblieben, als der wahre Grundſatz der Ge¬
ſellſchaft Jeſu, die Aufklaͤrung und das Beduͤrfniß mit
der Tradition und dem Dogma zu verbinden.
Jede andere Ordensregel haͤtte Suͤdamerika zu
Grunde gerichtet: die Dominikaner haͤtten zu viel Glau¬
ben verbreitet, und die Benediktiner zu viel Wiſſen¬
ſchaft. Die Jeſuiten, dieſe weltlichen, mit dem Kon¬
flikt der Zeit vertrauten, man moͤchte ſagen proteſtan¬
tiſchen Prieſter des Katholizismus, halfen allein; denn
ſie waren praktiſch, thaͤtig, gingen nicht barfuß, ver¬
langten nicht die ewige Rotation des Roſenkranzes um
die Achſe einer traͤgen Hand, ſie griffen zu Karſt und
Spaten, und lehrten die Voͤlker, nicht nur ſelig, ſon¬
dern auch gluͤcklich werden. Die Kloͤſter wurden die
Stationen der ſich Bahn brechenden Civiliſation. Der
Glaube war nur das Zubrod der erleichterten Exiſtenz,
er wurde nur gepredigt durch Beiſpiel, durch die Ver¬
pflichtung zur Dankbarkeit, und durch Sitten, welche
ſich von ſelbſt milderten.
Suͤdamerika iſt die Schoͤpfung des edelſten Jeſui¬
tismus, und nur diejenigen, welche kein Heil fuͤr die
Menſchheit ſehen, ehe ihr nicht ſo gepredigt wird, wie
in der Leipziger Nikolaikirche oder im Dome von Mag¬
Gutzkow's öffentl. Char. 13[194]Doktor Francia.deburg, werden das Bewundernswuͤrdige dieſer Thatſache
nicht zu ſchaͤtzen wiſſen.
Ein großer Theil des Unterſchieds der ſuͤdamerika¬
niſchen Revolutionen von dem Befreiungskampfe und
der gegenwaͤrtigen Stellung der Vereinigten Staaten
entwickelte ſich auch zunaͤchſt aus der kirchlichen Ver¬
faſſung der ſpaniſchen Kolonien.
Ueberall wo keine Vertheilung des Eigenthums
herrſcht, wo unermeßliche Laͤnderſtrecken von dem Winke
eines Einzigen abhaͤngen, hat die Revolution leichtern
Vorſchub; aber ſie greift auch nicht tief hinunter in
die Maſſe, welche von den Parteikaͤmpfen der Ariſto¬
kratie nur inſofern beruͤhrt wird, als ſie von der letz¬
tern abhaͤngig iſt. Das Geheimniß der polniſchen In¬
ſurrektionen, die ſich ſo ſchnell aufſattelten, liegt in die¬
ſer Verfaſſung, ſo wie man auch in England eine
kompakte, rebellirende Majoritaͤt ſehen wuͤrde, wenn die
Revolution ausginge von der Ariſtokratie.
Eben ſo iſt das Verhaͤltniß auf der negativen
Seite. Der Widerſtand iſt leichter organiſirt bei gro¬
ßem Beſitz, und die katholiſche Kirche da, wo ſie in
Suͤdamerika nicht civil und wie der Jeſuitismus blos
paͤdagogiſch geworden iſt, konnte aus dieſer Ruͤckſicht
nur ſtoͤrend auf den Gang der Begebenheiten einwir¬
[195]Doktor Francia.ken. Ihr großes Anſehen iſt ihr geblieben, und die
neue Ordnung der Dinge hatte ſich ihr erſt da ver¬
ſoͤhnt, als der Katholizismus in allen dieſen ſchnell
etablirten Staaten als offizielle Religion anerkannt
wurde.
Man ſchließt hieraus, wie unvorhergeſehen die
ganze ſuͤdamerikaniſche Emanzipation war, wie vieler
aͤußerer Umſtaͤnde ſie bedurfte, um ſich zu entwickeln,
und wie lange es waͤhren kann, ehe die untern Ele¬
mente jene Konturen ausfuͤllen werden, welche fuͤr
Suͤdamerika in einer genialen Improviſation gezogen
worden ſind.
Nordamerika hatte an einer langen Vorbereitung
zur Revolution erſtarken koͤnnen: es hatte durch Jour¬
nale und die veroͤffentlichte Oppoſition freiſinniger Be¬
amten ſein Urtheil bilden koͤnnen; es war in politiſcher
Ruͤckſicht befeſtigt, und hatte das Prinzip der Repu¬
blik uͤberall ſchon anerkannt, ehe man an einen Namen
fuͤr die freien Verhaͤltniſſe dachte.
Dagegen war in Suͤdamerika das neue Ereigniß
ein Facit der verſchiedenſten Umſtaͤnde, ja ſogar das
Facit einer Menge von augenblicklichen Verlegenheiten,
fuͤr welche ſich keine andere Abhilfe finden ließ, als
eine revolutionaire. Die Erſchuͤtterungen des Mutter¬
13 *[196]Doktor Francia.landes waren in den Kolonien ohne Berechnung, ſo
daß die Pflicht der Unterthaͤnigkeit an ſich ſelbſt irre
werden mußte. Die Schiffe, welche von der Halbin¬
ſel kamen, brachten die verſchiedenartigſten Nachrichten.
Wenn ſich die Junten kaum fuͤr Ferdinand gegen Carl
erklaͤrt hatten, ſo vernichteten die Traktate von Bayonne
wieder ihren beſten Willen, und zwangen ſie, fuͤr Jo¬
ſeph Partei zu nehmen. Entſchied nun die Gaͤhrung,
die allerdings nicht fehlte, dennoch fuͤr die entſetzten
Koͤnige, ſo war hier die Revolution Folge des legitim¬
ſten Signals, und mußte zuerſt damit enden, daß man
die Autoritaͤt der Cortes anerkannte. Bald waren aber
auch dieſe, bei ihrer heilloſen, karthaginenſiſchen Politik,
die Colonien in Feſſeln zu halten, wieder eine Parole
der Regierungsgewalten, eine offizielle Berufung; aber
wie lange? Bis die Reſtauration Luft geſchoͤpft hatte,
die Cortes abſchaffte, und jene Behoͤrden in den Bann
erklaͤrte, welche doch legitim handelten, und aus Ver¬
zweiflung, dem Gange der Ereigniſſe auf der Halbin¬
ſel zu folgen, jetzt ſich ohne Weitres der erſtarkenden
Prinzipienrevolution in die Arme warfen.
Hier iſt es, wo wir wieder kirchlichen Boden un¬
ter uns ſpuͤren, und zwar mit Fruͤchten, welche un¬
glaublich ſcheinen, denn Alles, was an Tendenz, an
[197]Doktor Francia. Prinzip ſich in Suͤdamerika vorfindet, was aus dem
Enthuſiasmus neuer Ideen dort entſtanden iſt, war
die Folge des Jeſuitismus, und jener Bildung, die
man auf den Univerſitaͤten von Cordova, Cartagena
und Mexico erhalten konnte.
Das kosmopolitiſche Prinzip des Loyolismus bil¬
dete ſich allmaͤhlich zu einer freien Weltanſicht aus, zu
einem Syſtem der Menſchenrechte und zu einer Ver¬
ehrung jener Literatur, welche auch in Europa die mor¬
ſchen Fundamente des politiſchen Gebaͤudes zu benagen
anfing. Obſchon ſo weit von Rom und Sparta ent¬
fernt, ſchwaͤrmte man doch fuͤr Montesquieu; der
feurige, leidenſchaftliche Creole wurde elektriſirt von dem
Rouſſeau'ſchen retournons à la nature; und die
Werke von Robertſon und Raynal ſtudirte er mit um
ſo groͤßerer Hingebung, als ſie fuͤr Amerika ſelbſt ge¬
ſchrieben waren.
Aber hier iſt es auch, wo wir ſtehen bleiben muͤſ¬
ſen, um den Schluͤſſel zu einem verſchloſſenen Charak¬
ter und einem verſchloſſenen Lande zu finden. Bis auf
die Encyklopaͤdie, vielleicht noch bis zur Deklaration
der Menſchenrechte, reicht die Bildung, deren genialſte
und originellſte Repraͤſentation wir in Don Joſe Gas¬
par Rodriguez Francia wiederfinden. Die Schreckens¬
[198]Doktor Francia.herrſchaft iſt ſo eben angebrochen; Robespierre ſchreitet
ſtolz einher mit dem Blumenſtrauß am Feſt des hoͤch¬
ſten Weſens; der Despotismus der Tugend und Be¬
ſcheidenheit iſt die blutige Ordnung des Tages. Die
Gironde iſt ſchon hingeopfert — Doktor Don Corne¬
lio Saavedra — Marat ſtarb in ſeinem Blute —
Doktor Don Mariano Moreno — Danton ging un¬
ter, weil er den Gott im Laſter ſuchte — Doktor Ca¬
ſtelli. Die todtbleiche, grauſame Maͤßigung Robes¬
pierre's herrſcht — Doktor Francia — denn wie Fran¬
cia wuͤrde Robespierre geherrſcht und geglaubt haben,
die Menſchen gluͤcklich zu machen.
Hier hat die Militairherrſchaft noch nicht begonnen;
der kriegeriſche Ruhm gibt noch keine Anſpruͤche, Na¬
poleon ging noch nicht uͤber den Symplon.
An Paraguay jagten Siege und Niederlagen vor¬
uͤber — San Martin, ein jugendlicher Held, noch ein
keuſcher und aufrichtiger Revolutionair, wie die Keller¬
mann und Marceau, die gegen die Vendée kaͤmpf¬
ten; dann die drei Heldenbruͤder Carrera, ſchon ange¬
ſteckt von dem Beiſpiele Napoleons, aber Napoleons
ſo, wie er noch Bonaparte hieß, knabenhaft langes
Haar trug und ſo ſchuͤchtern war, daß ſich erſt Weiber
in ihn verlieben mußten, um ſeine Tapferkeit an den
[199]Doktor Francia.Tag zu bringen; dann Bolivar, Sucre, la Mar, Ga¬
marra, alle napoleoniſirend und eiferſuͤchtig, der auf den
erſten Konſul, der auf die Nebenbuhlerſchaft Klebers
und Moreau's, der auf den grauen Oberrock und den
kleinen Hut, der auf die Kroͤnung, und zuletzt Jtur¬
bide, eiferſuͤchtig auf den Gipfel des Unglaublichen, auf
die Hoffnungen von 1812, und ſo fruͤh geknickt, wie
dieſe.
Alle dieſe unermeßlichen Reiche mit ihren dreifachen
klimatiſchen Zonen, mit ihren Goldadern, Krokodilen,
Rieſenſchlangen und Mosquitos, zerſchellen an einan¬
der, und die Freiheit ſiegt nur negativ, indem ihre An¬
walde unterliegen, und die Zonen, die ſie begluͤcken will,
kleiner werden. Fahrt hin!
Wir ſtehen noch am Rio de la Plata und ſeinen
Nebenfluͤſſen, an den Zweigen der Andes, welche nur
ſilberne Wurzeln haben, in den mannshohen Pampas¬
wieſen und den unermeßlichen Stromebenen, an deren
Horizonte eine Wolke fliegt, bergend den Gaucho auf
dem muthigen Roſſe, und den amerikaniſchen Strauß,
den Jaguar, im Sturmfluge, in dem Lande der „gu¬
ten Luͤfte,“ in Buenos-Ayres, in der ſilbernen, argen¬
tiniſchen Republik.
Die Direktorialregierung von Paraguay entwickelte
[200]Doktor Francia.ſich ſchon aus den erſten Kaͤmpfen der ſpaniſchen Ko¬
lonien mit dem Mutterlande, auf demſelben Wege,
welchen wir ſchon nannten, dem der Verlegenheit, wie
man ſich bei den Umwaͤlzungen der Halbinſel zu ver¬
halten habe.
Paraguay war eine Provinz vom ehemaligen Vi¬
cekoͤnigreich von Rio de la Plata, und riß ſich von
der ſpaniſchen Herrſchaft los, indem es ruhig den Er¬
eigniſſen folgte, welche von der Hauptſtadt dieſer gro¬
ßen Statthalterſchaft, von Buenos-Ayres, ausgingen.
Man klaͤrt ſich deshalb am beſten uͤber den Urſprung
der Herrſchaft des Doktor Francia auf, wenn man im
Stande iſt, ſich uͤber die Revolution von Buenos-Ay¬
res eine richtige Vorſtellung zu machen.
Von der argentiniſchen Republik ging die Befrei¬
ung Suͤdamerika's aus: ihr erſter Verſuch gelang, und
die Intereſſen kreuzten ſich hier gerade ſo wunderbar,
daß die Freiheit auch gleich fuͤr die Zukunft geſichert
war. Denn nicht nur, daß die ſpaniſche Beſatzung
geringer war als auf der weſtlichen Kuͤſte, in den gold¬
haltigen Koͤnigreichen; auch die Einmiſchung Englands
und Portugals, welche beide nicht ohne Treuloſigkeit
und Intereſſe verfuhren, leiſtete der Revolution den
gluͤcklichſten Vorſchub. Von den erſten Kaͤmpfen ge¬
[201]Doktor Francia.gen den Koͤnig der Fluren, den ritterlichen und kuͤhnen
Artigas, bis zu dem Augenblick, welcher fuͤr die Unab¬
haͤngigkeit der rechte ſchien, verwickelten ſich die Inter¬
eſſen unaufloͤslich.
Die Vicekoͤnige loͤſten ſich ab, waͤhrend die alten
Befehlshaber ſich kaum befeſtigt hatten; und die nach¬
folgenden kamen ohne Vollmachten, da ſich der Zuſtand
der Parteien fortwaͤhrend veraͤnderte. Der Franzoſe
Liniers vertheidigte eine Zeit lang die Anſpruͤche Euro¬
pa's, und waͤhrend man glauben mußte, daß er die
Kolonie fuͤr die Uſurpation ſeiner Landsleute retten
wollte, ſtellte ſich weiter heraus, daß er Bourboniſt
war, und an den alten ſpaniſchen Thron dachte, ja
ſogar an Braſilien, von wo aus die intrigante und
leidenſchaftliche Mutter der beiden feindlichen Bruͤder
von Oporto ihre Minen ſpringen ließ.
So wirrte ſich Alles in einen labyrinthiſchen Knaͤul
zuſammen, aus welchem die Staatsklugheit keinen Aus¬
weg mehr fand, nur die Freiheit, welche die Ruͤckſich¬
ten durchhieb, da ſie nur der Zukunft und ſich ſelbſt
verantwortlich war.
Zu gleicher Zeit, am Schluß des erſten Decenni¬
ums unſers ſtuͤrmiſchen Jahrhunderts, traten in Cara¬
cas, in la Paz, Quito, Bogota und in Chile Regie¬
[202]Doktor Francia.rungsjunten zuſammen, und in Dolores ſtand der Maͤr¬
tyrer der mexicaniſchen Freiheit, Hidalgo, auf, um bald
auf dem Blutgeruͤſt Zeugniß zu geben von dem, was
die Zukunft an ſeinem Tode raͤchen wuͤrde.
In Buenos Ayres aber, wo nun die zweifarbige,
blau- und weiße republikaniſche Fahne wehte, ging die
Revolution einen gemaͤchlichen und bequemen Gang.
Die Militairherrſchaft war uͤber Suͤdamerika noch nicht
angebrochen, weil weder die Propaganda der Losreißung
noch der ſpaniſche Widerſtand recht organiſirt waren.
Hier lag noch Alles in den Haͤnden einzelner von der
oͤffentlichen Stimme bevorzugter Advokaten: nicht ein¬
mal die Kaufleute, wie in Bolivia, miſchten ſich ein,
das Syſtem aber, das man bei dieſen civilen Bewe¬
gungen befolgte, war jenes, das Fouché einſt zum gro¬
ßen Aerger des Kaiſers und zu ſeinem eignen Nach¬
theil bezeichnet hatte. „Wenn ich ſterbe, Fouché,“ fragte
Napoleon vor der Geburt des Koͤnigs von Rom, „was
werden Sie thun?“ „Sire,“ antwortete der Chef der
geheimen Polizei, der ſich hier ſelbſt verrieth, „ich werde
ſo viel Gewalt an mich reißen, als mir nur moͤg¬
lich iſt.“
Das that man in Buenos-Ayres: man theilte ſich
in die Revolution, und Francia bewies, daß er die
[203]Doktor Francia. Grundſaͤtze herrenloſer Zeiten vortrefflich inne hatte.
Er ſchnitt die noͤrdliche Provinz von Buenos-Ayres,
Paraguay, gaͤnzlich von dem weitern Verlauf der Be¬
gebenheiten ab, und beeilte ſich, ſeine Eroberung inner¬
lich zu befeſtigen.
Die Bewegung in den andern Provinzen war im¬
mer noch civil: immer noch begleiteten buͤrgerliche Be¬
vollmaͤchtigte, wie die ehemaligen Konventsdeputirten
in Frankreich, die Kriegerhaufen, welche den ſpaniſchen
Heerfuͤhrern die gluͤcklichſten Treffen lieferten, revolu¬
tionirten das Land und leiteten den Prozeß der Gefan¬
genen ein, welches immer ein ganz kurzer war. Fran¬
cia uͤberließ die Vertheidigung ſeines Erbtheils den Dok¬
toren und Advokaten von Buenos-Ayres, ſeinen Uni¬
verſitaͤtsfreunden aus Cordova, und ſtudirte ruhig in
Aſſumcion den Macchiavell.
Erſt als die thaͤtigen Provinzen ausruhten, und
man der ſpaniſchen Unmacht im Lande ſo gewiß war,
daß man den aͤchten Libertador Suͤdamerika's, San
Martin, uͤber die Anden und den Deſaguadero in die
Goldlaͤnder ſchicken konnte, da ſah man in Buenos-
Ayres ein, daß die prokonſulariſche Herrſchaft von Pa¬
raguay eine ſchlechte Konſequenz der neuen Dinge ſei,
[204]Doktor Francia. und ſchickte den General Belgrano ab, dieſe Provinz
mit Waffengewalt der Centraljunta einzuverleiben.
Noch hatte Francia kein Blut geſehen, und fuͤrch¬
tete die blinden Entſcheidungen des Mars; deshalb
griff er zu alten hiſtoriſchen Liſten, forſchte in Roms
Geſchichte vom Traſimenerſee bis zu den Tagen von
Capua, und leitete eine ganz humane, unblutige My¬
ſtifikation ein.
Er ſtellte dem anruͤckenden Zuge keinen Widerſtand
entgegen, Tage lang nicht, bis derſelbe in einer Nacht
dicht vor Aſſumcion ſtand, und ſich uͤberall von Feuer¬
zeichen auf den Bergen umgeben ſah.
Waren dis Maͤhrchen aus Cornelius Nepos? Wa¬
ren dis die gluͤhenden Stiere des Hannibals? Oder
die zahlloſen Aufgebote eines allgemeinen Landſturms?
Der Exekutionsgeneral erſchrak, nahm den Rath
des Doktors an, der ihm laͤchelnd Proviant und Ge¬
ſchenke fuͤr die Junta in Buenos-Ayres und ſeine ter¬
roriſtiſchen Schulkameraden anbot, und zog ſich, bis
an die Graͤnze von Paraguay von der Illumination
der Berge ringsum begleitet, in ſeine Kaſernen am
Rio de la Plata zuruͤck.
Die Mutterrepublik hatte inzwiſchen ihren langwie¬
rigen Kampf mit dem rivaliſirenden Montevideo begon¬
[205]Doktor Francia. nen, ſie mußte alle ihre Streitkraͤfte gegen Braſilien
wenden, welches Anſpruͤche machte auf die Banda
Oriental. Dieſe Zwiſtigkeiten waͤhrten bis zum Jahr
1828, wo endlich der Friede von Rio de Janeiro der
jungen Republik Athem ſchaffte.
Rechnet man die Anſtrengungen hinzu, welche die
Propaganda nach Weſten hin koſtete, ſo begreift man,
wie viel Zeit die Uſurpation von Paraguay gewann,
ſich zu befeſtigen, ſich chineſiſch gegen das Ausland und
die ſchwankende Tagesgeſchichte abzuſchließen, und einen
Zuſtand zu erhalten, der uns fuͤr den vulkaniſchen Bo¬
den von Suͤdamerika unmoͤglich ſcheinen moͤchte.
Paraguay ſelbſt iſt einer der fruchtbarſten Binnenſtriche
von Suͤdamerika. Reichthum der Vegetation wie uͤber¬
all in dieſem geſegneten Welttheile. Die großen Ebe¬
nen beguͤnſtigen die Zucht der Stiere und Pferde, de¬
ren Haͤute nebſt dem beruͤhmten Paraguaythee die Han¬
delsartikel des Landes bilden. Warum mußte auch
Bonpland ſo neugierig ſein, und die Theepflanze ſo
ſorgfaͤltig beobachten! Man hielt ihn fuͤr einen Feind
des Nationalreichthums und des perſoͤnlichen Einkom¬
mens des Diktators; denn er ſelbſt, der Doktor, iſt
erſter Theehaͤndler und Staatsgerber. Man glaubte
[206]Doktor Francia.ihm nicht, daß er nur die Akademie, die Verbeſſerun¬
gen Linné's, und die Wiſſenſchaft im Auge hatte.
Die Bewohnerzahl iſt gering, und geht kaum uͤber
eine halbe Million hinaus; Creolen, Meſtizen, Farben¬
ſchattirungen aller Art begegnen ſich in Aſſumcion; der
Reſt auf dem Lande ſind Indianer, zahme, halbzahme
und wilde. Dieſe letztern koͤnnen, wie die Darmſtaͤdter
das R, das F nicht ausſprechen, wobei alſo das
Staatsoberhaupt immer um einen Buchſtaben zu kurz
kommt und keineswegs an die Freiheit, die in ſeinem
Namen liegt, erinnern kann.
Die Wilden von Paraguay haben einen großen
Theil der baroken Naturſitten Amerika's: ihre Frauen
eſſen kein Fleiſch, gleichſam um nicht zu verwildern,
ſie laſſen nur ein Kind aus ihren Ehen leben, eine
Gewohnheit, welche der Malthusſchen Klage abhilft,
aber fuͤr den Flor und die Statiſtik des Staates we¬
nig guͤnſtig iſt.
Viele dieſer Staͤmme ſind noch nicht einmal mit
dem Chriſtenthum bekannt, woraus man auf den Be¬
kehrungseifer der Jeſuiten ſchließen kann. Dieſe ehr¬
wuͤrdigen Vaͤter wollten die Voͤlker erſt gluͤcklich ma¬
chen, ehe ſie ihnen erlaubten, mit dem Roſenkranze zu
ſpielen. So koͤmmt es, daß Paraguay der Antipode
[207]Doktor Francia. von Tibet iſt, daß der Doktor nicht blos fuͤr einen
Doktor der Theologie, ſondern fuͤr die Theologie ſelbſt
gehalten wird.
Eine ſataniſche Ironie! denn Francia iſt Atheiſt;
aber keine Seltenheit fuͤr Amerika; lebte doch einer der
geſchaͤftigſten Gotteslaͤugner der Revolution, Billaud-
Varennes, nachdem er proſkribirt war, und auf den
Azoren ſich geuͤbt hatte, Papageien abzurichten, lange
Zeit bis zu ſeinem Tode unter den Indianern, welche
ihn, den Atheiſten, als Schoͤpfer Himmels und der
Erde verehrten!
Man ſieht, welcher Maaßſtab an jene hermetiſch
verſchloſſenen Wunder von Paraguay gelegt wer¬
den muß.
Iſt Francia ein Tyrann? Ein Uſurpator wie
Cromwell? Nein, er iſt ein Philoſoph, der mit der
Menſchheit experimentirt.
Ihr ſeyd immer gewohnt, nach Euch die Menſchen
zu beurtheilen, und ſprecht von Francia wie von ei¬
nem Verraͤther an Euern eignen Grundſaͤtzen. Klingen
nicht Eure Vorwuͤrfe, als verginge ſich jener Doktor
an ſeinem Diplom und an ſeinem Hute, als glaubtet
Ihr, man koͤnne doch Schiller und Goͤthe oder den
deutſchen Liberalismus auch wohl beſſer verſtehen, als ſo!
Nein, wir kennen Francia: es iſt Robespierre, der
ploͤtzlich unter die Menſchen Rouſſeau's verſetzt wird:
es iſt Robespierre, der Lockes tabula rasa neu beſchrei¬
ben und fuͤllen ſoll. Es iſt eine Herrſchaft, von der
Ironie praͤſidirt, und grauſam nur dann, wenn ſich
die Langeweile oder hypochondriſche Laune des geiſtrei¬
chen Geiſtlichen regt.
Oder wollt Ihr in ihm keinen Mann der Revo¬
lution und Jeſuiten ſehen, dann nehmt ihn als Phi¬
loſophen! Ich rede nicht von Seneca, der den Mord
einer ſcheußlichen Mutter, aber einer Mutter! gut
hieß; nicht von den flammenden Scheiterhaufen des
Servet in Genf; denkt an Plato und die Republik
mit ihren Grundzuͤgen fuͤr jede Tyrannei; denkt an
ſeinen Verkehr mit Dionys, oder an jenen andern
Dionys, der von Blut troff und doch ſo viel Kennt¬
niſſe beſaß, in dem genialen Korinth noch Schulmei¬
ſter werden zu koͤnnen, oder an Phalaris und ſeinen
gluͤhenden Ochſen und die Pythagoraͤiſche Philoſophie!
Denkt an Macchiavell und den Sprung von den Dis¬
kurſen uͤber Livius zum Fuͤrſten! Oder an Baco von
Verulam, den Verfaſſer des Organons und den eng¬
liſchen Kanzler! Ich thue nichts, als die Ahnen Fran¬
cia's aufzaͤhlen.
Francia's Herrſchaft iſt das ernſthafte Mittel zu
einem Scherz. Francia lacht unter ſeinen Wilden, die
das F nicht ausſprechen koͤnnen, und wenn die from¬
men Meſtizen eine neue Kirche bauen wollen, nur
dann iſt er ungluͤcklich und ruft aus:
„Wann werden die Menſchen aufhoͤren blind zu
ſeyn! eine Reihe von Geſchuͤtzen an der Graͤnze iſt
beſſer, als alle Heiligen. Ich erinnere mich nur noch
dunkel jener Zeit, wo ich wie Ihr ein Katholik war!“
Dis iſt Francia, von welchem man geneigt iſt, zu
ſagen, ſeine Herrſchaft waͤre prieſterlich und ein Triumph
der Bigotterie. Nein, Anarcharſis Cloots iſt Diktator
eines Naturſtaates geworden und fordert die Langmuth
des Himmels heraus, deſſen Blitze er ſeinen Untertha¬
nen aus phyſikaliſchen Urſachen erklaͤrt.
In der That man muß geſtehen, wenn jene Wei¬
berrepublik am Amazonenſtrome eben ſo erwieſen iſt,
wie dieſe humoriſtiſche Herrſchaft des Doktor Francia,
dann wird Amerika nicht nur der Sitz der Freiheit,
ſondern auch der der Wunder werden.
Francia fuͤrchtet nur Einen Feind: die Macht des
Beiſpiels, die unwiderſtehlich iſt in ſchwach organiſir¬
ten Staaten, und unter rohen Naturvoͤlkern, welche
Gutzkow's öffentl. Char. 14[210]Doktor Francia.den Inſtinkt der Maſſe haben und durch fremde Ent¬
ſchließungen gern die eigenen entſchuldigen.
Die neuen Republiken rings um Paraguay her
ſchritten ihrer innern Vollendung immer naͤher, wenn
man die blutige Reaktion der Demokratie und der
Creolen gegen Militairherrſchaft ſo nennen darf. Fran¬
cia fuͤhlte es, daß er vor dieſem Miasma nicht ſicher
war, und entſchloß ſich ſchnell zu Konzeſſionen, die aber
ſo ſchlau und widerhakig angelegt waren, daß ſie ihm
ein Mittel zum Gegentheil deſſen, was ſie ſchienen,
werden mußten.
Mit der Verſchlagenheit eines Menenius Agrippa
ging er hinaus zu dem Volk, das er im Geiſt ſchon
auf dem Mons ſacer verſammelt ſah, und gab eine
allgemeine Repraͤſentation zu, welche aus Urwahlen
hervorgehen ſollte. Statt des bisherigen kleinen Se¬
nats, der ſeine Macht unterſtuͤtzte und die Laſt der
Geſchaͤfte theilte, berief er tauſend Abgeordnete aus al¬
len Theilen ſeines Landes in die Hauptſtadt. Hier be¬
willkommte er ſie wie ein Mann von Welt, redete ſie
mit Hoͤflichkeiten an, durch die ſie in Verlegenheit ge¬
ſetzt wurden, ſprach von dem Beruf der Regierung,
wie von einer Praͤdeſtination des Genie's, und dann
wieder wie von dem Reſultate ſolcher Kenntniſſe, die
[211]Doktor Francia. freilich daheim in ſeinem Urwalde Niemand erlangt ha¬
ben konnte. Er legte ihnen Traktate vor in den aus¬
laͤndiſchſten Sprachen, citirte die oͤkonomiſchen Schrif¬
ten Xenophons, um einen kleinen Geldpoſten des Bud¬
gets zu erlaͤutern und verlangte von ihnen, daß ſie
uͤber Adam Smith und den Phyſiokratismus ihre
Stimme abgeben ſollten. Dazu kam noch, daß ſein
drittes Wort Uneigennuͤtzigkeit war, und er von den
Deputirten ſo viel Patriotismus verlangte, daß ſie
keine Entſchaͤdigung in Anſpruch nehmen durften.
Da ſehnte ſich dann Jeder aus der theuern Haupt¬
ſtadt nach ſeinem Meierhof zuruͤck: Jeder fuͤhlte, daß
ohne Diaͤten und Kenntniſſe auch die Demokratie eine
unvollkommene Verfaſſung waͤre, und in einer der
ſchoͤnen ſuͤdamerikaniſchen Naͤchte, beim Scheine der
Laternenkaͤfer und goldglaͤnzenden braſilianiſchen Nacht¬
falter waren die Deputirten, die Revolution und die
Unbequemlichkeiten des Philoſophen von Aſſumcion ver¬
ſchwunden.
Wir wollen uns wohl huͤten, zu ſcherzen, wenn
Francia ſeine Indianer erſchießen laͤßt, die ſich unter¬
ſtehen, ihn anzublicken. Wir koͤnnen nur nicht zuge¬
ben, daß Francia eine angeborne Grauſamkeit beſitzt.
Solche Erſcheinungen, wie Nero und Francia,
14*[212]Doktor Francia. fuͤhren tief in die Schlupfwinkel der menſchlichen Seele
ein, wo das Ausgezeichnetſte in Bildung und Phan¬
taſie oft mit Leidenſchaften gepaart iſt, fuͤr welche
ſich keine andre zureichende Erklaͤrung finden laͤßt, als
oft nur boͤſe Laune der Einſamkeit und der Kitzel, ge¬
rade das zu verſuchen, was die taͤgliche Gewohnheit
unverſucht laͤßt. In der Vorſtellung Hamlets, bei ge¬
ſunder Vernunft den Narren zu ſpielen, lag eine ge¬
heime Wolluſt fuͤr den daͤniſchen Prinzen.
Allerdings iſt ein ſo arbitraires, launenhaftes Re¬
giment, wie das von Paraguay, ein Ungluͤck fuͤr die
Menſchheit; aber man verberge ſich nichts: eine Allein¬
herrſchaft, voruͤbergehend wie die von Paraguay, eine
Herrſchaft des Genie's und der Kraft, iſt zur Zeit
noch die gluͤcklichſte Chance der jungen Freiheit Suͤd¬
amerika's. England lernte ſeine Magna Charta erſt
durch die Tyranneien der Heinrich, Eliſabeth, Jakob
und Karl ſchaͤtzen, erſt durch langjaͤhrige falſche und
rechte Berufung wurde die Freiheit aus einer Abſtrak¬
tion eine juriſtiſche Gewohnheit.
Suͤdamerika hat das Intereſſe einer dauernden Zer¬
ſpaltung: die Freiheit begluͤckt nur kleine Kreiſe. Dieſe
unermeßlichen Laͤnderſtrecken muͤſſen ſich in kleine Di¬
ſtrikte theilen, wo ſich die Freiheit anbauen laͤßt, wie
[213]Doktor Francia der Kohl, den man unter ſeinem Fenſter wachſen, bluͤ¬
hen und gedeihen ſieht.
Francia haßt die Monarchie als Prinzip; er haßt
die Ariſtokratie; er iſt ein Repraͤſentant jenes ſonder¬
barſten aller Despotismen, der die Welt frei machen
will mit Gewalt und gluͤcklich mit Zwang. Er wirkt
in ſeinem Lande Vortreffliches, Vorbereitungen fuͤr die
blaue Zukunft, er betreibt die Kultur des Landes und
der Geiſter, er will Menſchen ſchaffen, welche der Frei¬
heit wuͤrdig ſind. Francia experimentirt. Er haͤlt mit
ſeinem Lande Schule.
Schon ruͤckte es eine Klaſſe hoͤher; denn der Han¬
del mit dem Auslande iſt ſeit einigen Jahren freigege¬
ben: ſolche Konzeſſionen ſind hier, wie Noten, welche
bei der jaͤhrlichen Pruͤfung dem Fleiße eines Schuͤlers
gegeben werden. Francia waͤre gluͤcklich, wenn er
ſtuͤrbe und koͤnnte ſeine Schuͤler ſich ſelbſt uͤberlaſſen;
aber ſo fuͤhlt er, daß ſie noch immer nicht reif genug
ſind, und mußte ſich entſchließen, noch in ſeinen ho¬
hen Tagen, in ſeinem ſiebzigſten Jahre, ein junges
Maͤdchen zu freien, um einen Nachfolger erzielen zu
koͤnnen.
Man denkt ſich hier den alten Spanier, wie den
Doktor Bartolo, mit rothen Struͤmpfen, lockiger Pe¬
[214]Doktor Francia. ruͤcke und im langen Mantel: oder wollt Ihr einen
edleren Vergleich, wie den alten Dogen von Venedig,
der als ſiegesmuͤder Loͤwe noch mit einer friſchen jun¬
gen Gazelle ſpielt.
Der Diktatorſeſſel von Aſſumcion wird aber wohl
ſicher ſeyn vor den Epigrammen eines Steno, und
der alte Herr noch recht lange die Freude haben, ſich
von der jungen Englaͤnderin, die er heirathete, im
Barte krauen zu laſſen, bis er einſt hingeht zu ſeinen
Freunden Robespierre und Billaud-Varennes.
Armand Carrel.
[][]Athemlos in einer ewigen Bewegung draͤngen ſich die
Aeußerungen des politiſchen Lebens in Frankreich, ſo
daß ſelbſt der Umfang von Paris nicht groß genug zu
ſeyn ſcheint, fuͤr jede derſelben einen hinreichenden
Raum zu laſſen.
Nichts iſt dort vollſtaͤndig: weder der Sieg noch
die Niederlage. Jener muß darauf verzichten Triumphe
zu feiern; dieſe haͤlt nur in der Stille ihre Leichenbe¬
gaͤngniſſe.
Auch fuͤr den Contraſt iſt nicht Raum genug da.
Die Maſſe der Intereſſen, innerlich verwandt, oft nur
ein Mehr oder Weniger, ſchattirt ſich ineinander, ſo daß
die Extreme durch eine lange Kette von Mittelgliedern
das Unverſoͤhnliche ihres Abſtandes zu verlieren ſcheinen.
In jedem andern Lande wuͤrde eine Erſcheinung,
wie der juͤngſte Prozeß des National vor der Pairs¬
kammer, entſcheidende Folgen gehabt haben; uͤberall, wo
14 **[218]Armand Carrel. Raum iſt, wo man noch athmen kann und nicht ge¬
druͤckt wird von zahlloſen Intriguen und Beſtrebungen,
haͤtte dis Schauſpiel die oͤffentliche Meinung beſiegt;
denn im Contraſt liegt fuͤr die Gemuͤther eine unwi¬
derſtehliche Wirkung, weil ſie poetiſch iſt.
„Wir — die Maͤnner des National!“ — welche
Bruͤcke fuͤhrt zu dieſer ſtolzen Emphaſe? Welche Ver¬
bindung gibt es, um mit dieſer kalten Reſignation zu
unterhandeln? Namen, welche als Parlamentaire kom¬
men wollten, werden durch dieſe Phraſe, zuſammenge¬
ſetzt aus Stolz, Verachtung und Drohung, zuruͤckge¬
wieſen; Ereigniſſe, welche jenes ſchroffe Jenſeits er¬
obern moͤchten, koͤnnten es nur, wenn ſie der Zukunft
angehoͤren.
„Wir — die Maͤnner des National!“ — ein Con¬
traſt, der uͤberall ſiegen wuͤrde; der aber in Paris durch
oͤffentliche Blaͤtter, durch geſellſchaftliche Beruͤhrungen
und tauſend Seiden der Freiheit gebrochen wird, und
nichts zuruͤcklaͤßt, als die Ordnung eines Tages und
eine Beſorgniß, welche leichtſinnig der Strudel der Be¬
gebenheiten wieder fortſpuͤlt.
Man ſahe einen Tag lang die Maͤnner des Na¬
tional als eine repraͤſentirte Macht; umgeben von Bun¬
desgenoſſen und Sympathien, welche uͤberraſchen; ein¬
[219]Armand Carrel.gerichtet, ſchlagfertig, nur des Augenblicks, der nicht
fehlen kann, harrend; man ſahe dieſe ſchroffen Vernei¬
nungen vor den Schranken des hoͤchſten Gerichtshofes,
die rechte Hand im Bruſtlatz, die Linke vornehm uͤber
den Ruͤcken geſchlagen; man ſahe dieſe bleichen Antlitze,
welche die Farbe der Kerkerwaͤnde, ihrer Heimath, tru¬
gen; dieſe ſcharfen und gepreßten Lippen, um welche
hundert Verdicte ſerviler Geſchwornen ein ironiſches
Laͤcheln unvertilgbar eingegraben haben; dieſe Relais
und Vorpoſten einer Zukunft, die wenn man ſie nicht
zu Fuß holen will, wie Mirabeau ſagte, zu Pferd
kommen wird; man ſprach von dieſen geheimnißvollen
Phyſiognomien einen Tag, troͤſtete ſich, daß was kom¬
men mag, unvermeidlich iſt, und kehrte zuruͤck zu ſei¬
ner Boutique, zu ſeinem Kinde, das ſich auf die
Weihnachtszeit freute, zu ſeinen Goͤnnern, zu ſeinen
Kunden, zu dem ganzen Statusquo des Augenblicks,
der ſich fortwaͤlzen muß ohne Stegreif und Zufall.
Fuͤr die Tauſende, welche davon gewinnen wollen,
iſt das große Terrain ſo klein: der Eine haͤngt ſich
wie an einem Bergabſturze an den Andern, um ſich
wechſelſeitig fortzuſchleudern; Jeder fuͤhlt, daß der Bo¬
den unter ſeinen Fuͤßen brennt, und daß nur der feſt
ſteht, welcher ſich bewegt; der Beſitz iſt fortwaͤhrende
[220]Armand Carrel.Eroberung oder Vertheidigung; die Exiſtenz iſt ambu¬
lant; noch iſt die Zeit der Aufopferung nicht gekom¬
men; die Contraſte ſiegen nicht in Paris.
Der Kampf des Tiersparti und der Doktrinaͤre
kann niemals zu poſitiven Reſultaten fuͤhren, wenn
nicht Unvorſichtigkeit wie bei geladenen Flinten aus dem
Spiele Ernſt machen ſollte.
Der Tiersparti mag von der gelehrten Miene der
Doktrin belaͤſtigt ſeyn; er mag es beleidigend finden,
wenn die Doktrin bei jedem Streit erſt eine Weile
ſchweigt, und ſich dann vornehm erhebt, um die Frage
auf ein ganz anderes Feld zu ſchieben: in Frankreich
entſcheidet nicht die Manier, ſondern die Geſinnung.
Was koͤnnte wohl der Tiersparti wollen, das die
Doktrin nicht unterſchriebe? Hat die Doktrin gegen den
Tiersparti etwas Anderes im Schilde, als einen andern
Ausdruck fuͤr dieſelbe Sache? Kann der Tiersparti mit
ſeinen buͤrgerlichen Manieren, mit ſeinen linkiſchen
Complimenten, mit ſeinen Roͤcken von zwei Reihen
Knoͤpfen, ſeinem kurzgeſchnittenen, ungelockten Haar,
mit ſeinen benaͤgelten Stiefeln und der Unbeholfenheit,
die ihn bei einem vornehmen Diner, wo er Paſteten
mit der Gabel ißt, laͤcherlich machen — kann er mit
[221]Armand Carrel.dieſem formellen Ingrimme irgend Etwas im Sinne
haben, was die neue Dynaſtie in Verlegenheit ſetzte?
Nein, beide vereinigen ſich in der Anſicht, welche
ſie von einer parlamentariſchen Oppoſition haben; beide,
Tiersparti und die Doktrin, halten die Oppoſition fuͤr
etwas nothwendig Bitteres, aber fuͤr den bittern Ma¬
genſaft, welcher dem Staatskoͤrper verdauen hilft.
Wer von beiden wuͤrde ſagen, die Oppoſition ſolle dem
Koͤnigthum ſo viel bittre Mandeln geben, bis es zu¬
letzt an der daraus entſtehenden Blauſaͤure vergiftet
ſtirbt?
Hier iſt ein Kampf ohne Muth; ein Kampf, wel¬
cher die Sieger in Verlegenheit ſetzt. Die Doktrin
taͤuſcht ſich hieruͤber nicht; ſie erklaͤrte laͤngſt, daß Du¬
pin nicht wagen wird zu ſiegen.
Die Doktrin ſpielt dem Tiersparti gegenuͤber eine
Rolle, welche ploͤtzlich fuͤr ſie ein Intereſſe erregt hat.
Wer ſaͤhe nicht mit Theilnahme auf Thiers, dieſen
geiſtreichen, aber ungezogenen Roué, der das ganze
Koͤnigthum in ſeiner Hand zu haben ſcheint, und den¬
noch ihm ſo verhaßt iſt, weil er ſeinen demokrati¬
ſchen Urſprung nicht abſtreifen konnte, weil er alte
prunkloſe Ausdruͤcke und Formen beibehielt und ſich
noch immer ſo benimmt, wie ein junger Schuͤler des
[222]Armand Carrel.Collège, der ploͤtzlich einen Wechſel von Hauſe bekom¬
men hat, ſich mit ſeinen Kameraden einſchließt und
einige Tage lang ſeine Orgien feiert!
Es gab eine Zeit, wo Armand Carrel mit Thiers
und dem blonden Staatsrath Mignet die Namen der
Freundſchaft austauſchte, wo ihre Schwuͤre gemein¬
ſchaftlichen Feinden galten, wo ſie zuſammen Luft¬
ſchloͤſſer bauten, und ſich wechſelsweiſe belauſchten, wie
mit dem wachſenden Barte die Illuſionen ſchwanden.
Mignet, ruhig und geſetzt, von aͤngſtlicher Beſon¬
nenheit, der pedantiſche Gegenſtand der Spaͤße des klei¬
nern Thiers, immer aufgezogen von ſeinen beiden
Freunden, aber ein Mann von weiſer Vorſicht, ein
Meiſter des Styls, ganz plaſtiſcher Natur, ein Mann
zu gut fuͤr die Dinge, denen er ſpaͤter diente.
Thiers, lebhaft, Raͤſonneur, Poltron, immer Wi¬
derſpruch, heute das Gegentheil von dem, was er ge¬
ſtern war, nicht ſo tief und ergruͤndend, wie Mignet,
auch nicht ſo marmorn im Styl, aber empfaͤnglich, ein
leichter Arbeiter, mit einem genialen Inſtinkt fuͤr das
Wahre oder auch nur fuͤr das Glaͤnzende.
Carrel, vielleicht nicht ſo unterrichtet wie Mignet,
nicht ſo geiſtreich wie Thiers, aber conſequent, ein
Mann der That, energiſch, Meiſter ſeines Ideenkreiſes,
[223]Armand Carrel.Meiſter der Menge, imponirend durch den Willen, und
die moraliſche Macht der Wahrheit, welche elektriſirt,
keines Menſchen und keiner Meinung Sklave, auch
nicht einmal Sklave der Republik; und doch ein
Sklave — ein Sklave ſeiner ſelbſt, ein Sklave ſeines
Charakters!
Die Ereigniſſe loͤſten dieſen Bund. Die Freund¬
ſchaft verhuͤllte ihr Haupt und nahm weinend von ih¬
ren Juͤngern Abſchied: wie ſich der edle Ruͤdiger von
den Nibelungen wendet und ſein Schwert verflucht, das
er im Dienſte Chriemhildens gegen ſeine Freunde und
Schwaͤher fuͤhren muß.
Das Ungluͤck dieſer Tage macht unſre Herzen
kalt und mit todten Mienen gehen wir aneinander vor¬
uͤber, die wir uns liebten, damals, als es noch keine
andre Partei fuͤr uns gab, wie die der Freundſchaft.
Armand Carrel wurde mit dem beginnenden Jahr¬
hundert geboren. Seine Kindheit nahm die glaͤnzenden
Eindruͤcke der Kaiſerherrſchaft auf; die Phantaſie mußte
ſich bei ihm fruͤher entwickeln, als die Meinung.
Die Anbetung des Kaiſers ſteigerte ſich mit der
Reife der Jahre, denn das Schickſal Frankreichs fiel
bald mit der ſinkenden Groͤße des Mannes zuſammen:
[224]Armand Carrel.die Liebe des Vaterlandes hatte keinen andern Ausdruck,
als die Vergoͤtterung einer unſterblichen Perſon.
Glanz der Nation, die Groͤße des Kaiſers, die Be¬
gierde nach Ruhm; Alles fiel in Eins zuſammen; und
auch in eine Thatſache zuletzt, welche die Wunder der
Vergangenheit Luͤgen ſtrafte, und großen Anfaͤngen ein
beweinenswerthes Ende gab.
Als Armand Carrel, wie viele tauſend Juͤnglinge,
ſich ſtark genug fuͤhlte, die Bahn der Ehre und des
Todes zu betreten, waren die Adler der Nation zerbro¬
chen, fremde Banner wehten im Lande und die Kna¬
ben, welche neben ihren Bruͤdern am Ebro und der
Bereſina liegen wollten, wurden abgewieſen; denn die
Musketen, welche hinfort in Frankreich getragen wer¬
den durften, hatten die Sieger gezaͤhlt.
Doch wandte ſich bald die Perſpektive; es ſchien
eine geraume Zeit hindurch nicht unmoͤglich, daß Frank¬
reichs zerſtampfter Boden eine neue Invaſion zu fuͤrch¬
ten hatte; die Jugend eilte zu den Waffen; auch Car¬
rel entlief ſeinen Aelteru und ließ ſich bei einem Re¬
gimente als gemeiner Soldat anwerben.
Seine Aeltern haͤtten ihn ganz hinter ihren Laden¬
tiſch geſtellt, und ihn mit Maaß und Gewicht zu ih¬
rer und der Kundſchaft Dienſten ausgeruͤſtet; denn es
[225]Armand Carrel. waren anſehnliche Kraͤmer, welche bei einem Tumulte
ihre Boutique verſchloſſen, und das Heil der Welt in
guten Preiſen des Indigo und Pfeffers ſuchten.
Die guten Leute waren untroͤſtlich, ſie ſchickten ſich
ſchon an, das ordinaͤre Mittel des Enterbens anzuwen¬
den, als ihr Ehrgeiz der Sache eine andre Richtung
gab. Der Oberſt des Regiments ſprach von den vor¬
trefflichen Anlagen des jungen Mannes, von Eigen¬
ſchaften, welche ihn ganz fuͤr den Tod auf dem Felde
der Ehre eigneten: der geſchmeichelte Stolz widerſtand
nicht mehr. Carrel bezog die Militairſchule von
St. Cyr.
In dieſem Inſtitute ſog die franzoͤſiſche Jugend
jene Grundſaͤtze ein, welche ſpaͤter bei den Regimen¬
tern in Verſchwoͤrungen ausbrachen. Die alten Fecht¬
meiſter und Ingenieuroffiziere ſpruͤhten noch von bona¬
partiſtiſchen Ideen; die jungen Maͤnner griffen ſie auf,
und verſetzten ſie mit der Liebe zur Freiheit und Republik,
welche in unſerm Jahrhundert angeboren wird. Man
verſchmaͤhte den phantaſtiſchen Schmuck der Verbruͤde¬
rung auf Leben und Tod nicht, man hatte ſeine Erken¬
nungszeichen, ſeine Symbole, ſeine eigne Art, die Hand
zu geben, ſeine Stichwoͤrter, wenn man Eingeweihten
zu begegnen vermuthete. Es war, ein Geiſt der Unruhe,
Gutzkow's öffentl. Char. 15[226]Armand Carrel.um ſo gefaͤhrlicher, als ſich zur Poeſie noch die Ein¬
fluͤſterungen und das Gutheißen von Maͤnnern ge¬
ſellten, welche durch ihr graues Haar das Unwahrſchein¬
liche moͤglich zu machen ſchienen, und das Verbrechen
heiligten.
Auch war nicht Alles Unbeſonnenheit, nicht Alles
gekraͤnkter Stolz, was die Jungen und Alten zuſam¬
menbrachte; ſondern ſelbſt hiſtoriſche Einſicht in Frank¬
reichs betrogene Geſchichte, eine Ueberzeugung, welche
theoretiſchen Urſprungs war und ſich nur der Lei¬
denſchaften bediente, um Sympathie und Maͤrtyrer
fuͤr ſie zu wecken.
Armand Carrel wurde Offizier des 29ſten Regi¬
mentes. Die Militairverſchwoͤrung von 1820 ver¬
zweigte ſich auch in dieſem Corps; die Entdeckung der¬
ſelben ging aber dismal noch ſchonend uͤber den jun¬
gen Republikaner weg, welcher fruͤh die Vorſicht des
Mannes entwickelte, und von weiſen Combinationen
einen Vortheil zog, der der guten Sache immer zu
Gute koͤmmt.
Carrel wurde verſetzt; doch brach ſeine Geduld zu¬
letzt an der fortwaͤhrenden Vereitelung der patriotiſchen
Abſichten. Die geheimen Geſellſchaften waren vom
Verrath untergraben: die Decimationen verringerten ihre
[227]Armand Carrel.Streitkraͤfte, und Carrel ſahe ein, daß ein der Frei¬
heit geweihtes Leben nicht unterhandeln muͤſſe mit Hin¬
derniſſen; wie ſo viel ſcheinbare Freunde der Unabhaͤngig¬
keit ihre Unthaͤtigkeit durch das Unmoͤgliche zu [beſchoͤni¬
gen] pflegen.
Seine Seele duͤrſtete, den oft vorbereiteten und
immer wieder von den Ordnern abgeſagten Kampf ge¬
gen Tyrannei endlich zu beſtehen, er verachtete den
Egoismus der Freiheit, ſchwang ſich auf einen kosmopo¬
litiſchen Standpunkt und beſchloß der ſpaniſchen Sache
ſeinen Arm und ſeinen Tyrannenhaß, zu weihen. Er
ging nach Barcelona, kaͤmpfte gegen die Glaubensar¬
mee, und ertrug unter Mina die Muͤhſeligkeiten des
ſpaͤtern kataloniſchen Feldzugs.
Als dieſe Dinge ſcheiterten, wurde Carrel, obgleich
in eine Kapitulation einbegriffen, doch in Toulouſe zum
Tode verurtheilt.
Die Schickſale haben in dieſen Kaͤmpfen oft wun¬
derbar ſchnell gewechſelt. Noch heute trifft es ſich wohl
auf der pyrenaͤiſchen Halbinſel, daß, nachdem an eilf
Ungluͤcklichen das Todesurtheil vollſtreckt iſt, fuͤr den
zwoͤlften die Flinte verſagt und im ganzen Bereich ſo
wenig Pulver vorhanden iſt, daß man kein friſches auf
die moͤrderiſche Pfanne ſchuͤtten kann.
Ein prozeſſualiſcher Fehler rettete Carrel, ſeine
Sache wurde revidirt und mit der Erfahrung, freiwil¬
lig ſchon einmal mit dem Leben abgeſchloſſen zu haben,
ging er nach Paris.
Wer ſich nicht daran gewoͤhnt hat, in der naͤchſten
Viertelſtunde guillotinirt zu werden, wird in unſerer ge¬
fahrvollen Zeit, nie eine große Rolle ſpielen.
Jene in Deutſchland ſo verbreitete Meinung, daß
ein Kampf mit der Autoritaͤt auf freundſchaftlichem
Wege denkbar iſt, kennt ein reſignirter Charakter nicht.
Gibt es doch unter uns Menſchen, welche ſich uͤber
die Strafe verwundern, die die Macht uͤber das poli¬
tiſche Verbrechen verhaͤngt, ſo wie wir Leute geſehen
haben, welche vom Staate Penſionen ziehen, und es
nicht begreifen konnten, daß man ſie auf die Feſtung
ſetzt, nachdem ſie mit der Revolution unter einer Decke
ſteckten.
Der erſte Abſchied, welchen man nehmen ſoll, fuͤr
die Feldzuͤge der Oppoſition, iſt der Abſchied vom Leben.
Nur diejenigen, deren Wandel eine ewige Verzicht¬
leiſtung iſt, ſollten das Kreuz des heiligen Kampfs
nehmen.
Die Cenſur und die imponirende Stellung des
Miniſteriums Villèle hatten die Revolution eine Zeit¬
[229]Armand Carrel. lang zuruͤckgeſchreckt in die Schlupfwinkel einiger Ge¬
heimbuͤnde, noch mehr aber in die Muſeen der Gelehr¬
ſamkeit, wo an fremden Studien der Ueberdruß ſich
zerſtreuete, und an Geſchichtsdarſtellungen, welche Ver¬
gleichungen mit den laufenden Dingen zuließen, die
Verzweiflung eine Art von ſtiller Genugthuung fand.
Carrel ſchrieb eine Geſchichte Schottlands, und eine
Darſtellung der Contrerevolution in England unter
Karl und Jakob II., von welchen die letztere eine Pa¬
rallele ſeiner Zeit ſchien und vom Parteigeiſte empfoh¬
len wurde.
Die erſtere veranlaßte blos das Beduͤrfniß der Exi¬
ſtenz, wie auch Thiers damals ſeine Revolutionsge¬
ſchichte ohne Emphaſe begann, und nichts im Anfang
damit liefern wollte, als eine kleine Nebenarbeit, welche
der ſpekulative Buchhandel bei ihm beſtellt hatte.
Trotz der beſchraͤnkten Preſſe erreichte die Jour¬
naliſtik ein ſeltnes Anſehen. Alles, was Kenntniſſe
und Geiſt hatte, trat in ihre Schaaren ein. Eine
Aufopferung dieſer Art, daß das Genie ſich zerſplitterte,
ſich dem kleinen Partiſanenkriege anſchloß und alle Tage
wieder mit friſchen Artikeln, welche nur bis zum Abend
Werth hatten, zur Hand war, ſahe man jetzt zum er¬
ſten Male.
Die Journaliſtik, durch keine Niederlagen entmu¬
thigt, lernte zuletzt auch ſiegen; denn die geſetzmaͤßige
Oppoſition, welche unter Polignac in der Kammer bald
die Oberhand erhielt, machte mit ihr gemeinſchaftliche
Sache, ſo daß die Journale in den Julitagen eine
Macht waren, ſo poſitiv, wie Raguſas Kanonen.
Der National, von Carrel, Mignet und Thiers ab¬
wechſelnd redigirt, wagte noch nach den Ordonnanzen zu
exiſtiren; er lieferte die Proteſtationen der Kammer, hef¬
tete ſich mit ſeinen begeiſterten Aufrufen an die Stra¬
ßenecken, und gab ſein Buͤreau als Ort der Bera¬
thung her.
Carrel, der von ſeinen beiden furchtſamen Collegen
verlaſſen war, entwickelte in dieſer denkwuͤrdigen Kriſis
ein ſeltenes revolutionaͤres Talent, Gegenwart des
Geiſtes, Umſicht und einen militaͤriſchen Muth, wel¬
chen man der Literatur nicht zugetraut haͤtte.
Der National war immer in der erſten Reihe, er
ſchien aufzufordern, daß man ihn erſt laͤſe und dann
zu Patronen benutze.
Er war noch bis in den Auguſt thaͤtig, die Auf¬
regung lebendig zu erhalten; bis zuletzt diejenigen her¬
vortraten, welche ſich bis jetzt fern vom Schauplatze
[231]Armand Carrel. gehalten, und von den Siegen, die fremdes Blut ge¬
koſtet hatten, fuͤr ſich Vortheile zogen.
Man muß ſagen, der National war eine Zeitlang
von dieſer Wendung der Dinge uͤberraſcht; er hielt ſich
noch immer fuͤr den Schoͤpfer der Ereigniſſe, als ſie
ſchon ein fremdartiges Gepraͤge trugen, und erwachte
von ſeiner Taͤuſchung erſt da, als die Zuͤgel ſeiner
Hand entfallen waren.
Er verbiß ſeinen Schmerz, erholte ſich von ſeinem
Aerger, ſich uͤberliſtet zu ſehen, ſchlug Praͤfektur und
Julidekoration aus, verſagte dem neuen Koͤnigthum den
Eid, und begann gegen den 7. Auguſt und den 13.
Maͤrz einen Kampf, den ſchon mancher glaͤnzende
Sieg gekroͤnt hat.
Die Zukunft Frankreichs, die Republik, traͤgt bei
ihren verſchiednen Propheten nicht dieſelbe Phyſiognomie.
Die Republik der Tribuͤne iſt keine Perſpektive der
Combination, ſondern eine Tradition, eine blutige Er¬
innerung, eine ambulante Guillotine, welche mitten in
das Gewirr des Tages hineinfaͤhrt. Es ſind die al¬
ten Carmagnolen und Wohlfahrtsausſchuͤſſe, vielleicht
ohne Blutgier, vielleicht nur Formen, die den Mangel
neuer Begriffe erſetzen ſollen. Die Republik der Tri¬
buͤne iſt noch nicht conſtituirt, ihre Geſetze ſind noch
[232]Armand Carrel.ungegeben, es iſt mehr ein hiſtoriſcher Enthuſiasmus,
der ſie verkuͤndet, ein Andenken, berauſcht von dem
großen Revolutionsprozeſſe fruͤherer Tage, berauſcht von
den erhabenen Phraſen, welche damals noch unter dem
Beile geſprochen wurden, berauſcht von der Kunſt des
Todes, welche ſeit den chriſtlichen Maͤrtyrern nicht ſo
meiſterhaft gelehrt wurde wie damals. Die Tribuͤne
faͤngt keine Grillen uͤber die Zukunft, ſie iſt nichts,
als eine Reaktion des Jakobinismus; ſie ſpielt mit den
alten Kokarden, Muͤtzen, mit den Tages- und Monats¬
bezeichnungen, mit den Dekadi, und aͤhnlichen Neben¬
ſachen, welche bei ihr die Stelle deſſen vertreten, was
der Zukunft anheim liegt und ihr noch keine Sorge
macht.
Der National beruht auf einem andern Calcuͤl.
Er haͤlt die Zeit der Republik, wie ſie in Frankreich
ſchon geweſen iſt, nur fuͤr einen tranſitoriſchen Zu¬
ſtand; die damalige Republik war nichts als Revolu¬
tion; ſie ſtand unter der Tyrannei des Augenblicks;
ihre Geſetze ſtarben wie in werdenden Zeiten immer
ſchnell ab, ſie hatte noch keine, ſie war noch keine Re¬
publik. Das Todesbeil und die Proſkription, fuͤr die
Tribuͤne ſo nothwendig, weil ſie die Republik mit der
Revolution verwechſelt, ſind fuͤr das Syſtem des Na¬
[233]Armand Carrel.tional unweſentlich. Es iſt nicht Grauſamkeit, wenn
er bei den nothwendigen Opfern neuer Zuſtaͤnde ſtumm
die Achſeln zuckt: er vergleicht das Werdende wie Mi¬
rabeau mit den Kindern, welche in Schmerz aufwach¬
ſen unter tranchées maux de dens et rugissemens.
Der Uebergang vom Schlechten zum Guten iſt oft
uͤbler, als das Schlechte ſelbſt, aber er iſt unvermeidlich.
Die Philoſophie des National verbietet ihm auch,
zu konſpiriren. Er uͤberlaͤßt den Durchbruch der Zaͤhne,
um in Mirabeaus Bilde zu bleiben, den Leidenſchaften,
dem Unverſtande und vor Allem der heiligen Nothwen¬
digkeit, welche nichts ungeſchehen laſſen wird, und welche
noch Niemanden betrogen hat, der ſich auf die Hoͤhe
des Entwickelungsganges der Menſchheit zu ſtellen
wußte.
Das wahre Geſchaͤft des National faͤngt erſt da
an, wenn die Straßen vom Schutt der Zerſtoͤrung
gereinigt ſind, wenn die Tafel der Vergangenheit rein
ausgeloͤſcht iſt, und die Sehnſucht der Voͤlker erwacht,
an die Stelle des Alten Neues, fuͤr die zerbrochenen
Formen andre zu geben, welche die unabweisliche Glau¬
bensluſt der Gemuͤther befriedigen koͤnnen.
Der National ſpricht nie von Truͤmmern, von Un¬
tergang, dieſen gefaͤhrlichen Ausdruͤcken fuͤr Ereigniſſe,
[234]Armand Carrel. die auch ſeiner Poſitivitaͤt voran gehen muͤſſen; er
ſchiebt nichts auf die Bank einer kuͤnftigen Berathung,
er ſchildert das Neue weder ſo, wie es geweſen iſt,
noch als etwas Unerhoͤrtes, wovor die Menſchheit er¬
ſchrecken koͤnnte, ſondern als einen Zuſtand, in welchem
wir uns Alle ſo gleich ſtehen, wie jetzt, in welchem
wir unſre kleinen Neigungen befriedigen moͤgen, wie
immer und vom Leben alle die Vortheile ziehen, die
uns mit dem Schoͤpfer verſoͤhnen, wenn wir oft nicht
begreifen koͤnnen, warum wir ſind.
Sogar die taͤgliche Oppoſition des National, dieſer
ewige Widerſpruch, der ſich an jede halbe Maaßregel
der Regierung, an jeden Verrath der Vaterlandsehre,
an die ganze Tagesordnung in Paris anknuͤpft, iſt nie
ohne Poſition; jedem Ungeſchick werden die Handgriffe
vorgemacht, wie ſie die Zukunft, wenn ſie ſchon ihre
Rechte haͤtte, zeigen wuͤrde: nicht aus einer weiten Ab¬
ſtraktion, aus einem idealen Jenſeits, fuͤr welches es
keine Bruͤcke gibt zum heutigen Leibgericht des Buͤrgers
und zur guten Hoffnung ſeiner Ehehaͤlfte, winkt der
Vorwurf mit nebelhaften Contouren, ſondern der Na¬
tional iſt uͤberall gegenwaͤrtig, iſt unterrichtet, iſt
Staatsmann auf eigne Hand, iſt anſtaͤndig und zu¬
laͤſſig in gute Geſellſchaft: er hat die Praͤcedentien des
[235]Armand Carrel.gegenwaͤrtigen Miniſteriums in Haͤnden; er wird auch
den zukuͤnftigen ſo viel Leiden zeigen, daß ihnen es
nicht wuͤnſchenswerth ſcheinen wuͤrde, ihn an ihre Ver¬
legenheiten anzuketten.
Wollt Ihr die ſtaͤrkſte Waffe wiſſen, welche im
Kampf gegen die Autoritaͤt die Stelle der Kanonen
vertritt, die uns nicht zu Gebote ſtehen?
Dis iſt das Genie und die Unbequemlichkeiten fuͤr
Jene, welche das Beduͤrfniß fuͤhlen, alles Ausgezeich¬
nete an die Spitze des Staates zu ſtellen, und von
dem Genie nur laͤchelnde, abſchlaͤgige Antworten be¬
kommen.
Wie fuͤhlbar iſt ſchon in Frankreich dieſer Mi߬
ſtand, wo ſich zwar Alles zu beeilen ſcheint, der zah¬
lenden Autoritaͤt ſeine Dienſte anzutragen; aber zugleich
Dienſte, welche nur im Voruͤberflug dem Leiſtenden
Vortheile abwerfen ſollen, bis zur zwoͤlften Stunde,
ſo lange bis ihn das Geſpenſt der Impopularitaͤt ver¬
treibt und er ſo viel gewonnen hat, daß er ſein ferne¬
res Gluͤck der Boͤrſe anvertrauen kann!
Wie fuͤhlbar in Frankreich, wo die hoͤchſte Gewalt
mit ſo vielen abgenutzten Werkzeugen umgeben iſt, wo
die Juriſten fuͤr die Marine und die Contreadmirale
fuͤr die Diplomatie ſorgen ſollen!
Das junge Frankreich, welches zuerſt die Ehre liebt,
und dann die Freiheit, haͤlt ſich zuruͤck von dieſem
Spiele alter militairiſcher Schatten, hirndefekter Hof¬
leute und jeden Moment die Aufdeckung ihrer Bloͤße
erwartender Roués: die Belohnungen reizen es nicht:
es ſpart fuͤr die Zukunft ſeinen Geiſt und ſeine Kennt¬
niſſe, und findet bis jetzt ſeinen Ehrgeiz nur darin, zu¬
ruͤckzuhalten und die rechte Stunde abzuwarten.
Beurtheilt man den National nur nach dem Ma߬
ſtabe der franzoͤſiſchen Revolution, ſo wird man ſehr
raſch zur Hand ſein, ihn nur eine wiederholte Auflage
des Feuillantismus zu nennen.
Dis iſt eine große Ungerechtigkeit; denn die Gi¬
ronde verbrach nicht an der Republik, ſondern an der
Revolution; der National aber uͤberſieht die Revolution,
weil es in menſchlicher Berechnung nicht liegt, die
Dinge zu beſtimmen, wie ſie werden und wodurch ſie
kommen.
Ja wir geben ſogar zu, daß die Ungluͤcksfaͤlle der
Tribuͤne die Sympathie erwecken, und ihr ſteter Ent¬
ſchluß, das Blut ihres Herzens zu verſtroͤmen, der kal¬
ten Reſignation des National gegenuͤber, eine Anklage
gegen den letztern iſt.
Aber man wird bald hiervon zuruͤckkommen; denn
[237]Armand Carrel.wann hat die Partei des National einen ruhigen Au¬
genblick? Wo lebt auch ſie anders, als in den Ge¬
faͤngniſſen? Der Bois de Boulogne wiederhallt von
den Duellen, welche man nicht abſchlagen kann, ohne
ſeiner Sache etwas zu entziehen. Der Schlaf iſt nicht
mehr ſicher; denn Gisquets Trabanten ſchlagen naͤcht¬
lich an die Fenſterladen, um fuͤr die neuen Baſtillen
neue Opfer zu holen.
O dis Leben iſt eine ewige Entſagung, eine ſtete
Uebung zu haſſen und zu dulden, fuͤr ſanfte Gemuͤther
jenes ſo herb, wie dis ſchon Gewoͤhnung.
Und wofuͤr? Nicht vielleicht fuͤr eine Taͤuſchung?
Eine Dornenkrone fuͤr einen Glauben, der vielleicht
falſch berechnet iſt? Wenn nun Alles, was Ihr dach¬
tet, ihr blaſſen Maͤnner, die grauſame Laune eines
Traumes waͤre? Wenn Eure Zukunft, Eure Troͤſte¬
rin und harrende Braut die Treue braͤche und den Ring
des Verloͤbniſſes den Herolden einer Zeit gaͤbe, die Ihr
alle noch nicht kennt? Wenn Eure Appellationen und
Beſchwoͤrungen in dem Kommenden einſam irrten, wie
die Geiſter unbegrabener Todten? Wenn die Toͤne
Eurer Sprache verklungen waͤren in dem Gedaͤchtniſſe
der Menſchen, und alles umſonſt geweſen waͤre, war¬
[238]Armand Carrel. um Ihr gelitten habt und den Tod koſten moͤchtet,
zum Siegel Eures heiligen Glaubens?
O vergebt mir dieſen grauſamen Zweifel — aber
die blaſſen Kerkerwaͤnde werfen ihren Leichnamsſchimmer
auf die roſenfarbenen [Hoffnungen], und die Fuͤlle Eu¬
res Elends uͤberſchleicht die Gedanken, welche bunt be¬
wimpelt und luſtig flaggen ſollten.! — —
Ancillon.
[][]Selten bietet das Leben deutſcher Staatsmaͤnner
einen biographiſchen Reiz dar. Es iſt aus zu gleich¬
maͤßigen, zu nuͤchternen Elementen zuſammengeſetzt, es
koͤmmt erſt dann in die Stroͤmung der Zeit und des
oͤffentlichen Lebens, wenn es das Greiſenalter erreicht
hat; ja oft iſt ſelbſt der hoͤchſte Rang, mit welchem
ein deutſcher Staat ſeine Diener bekleiden kann, gaͤnz¬
lich herausgeruͤckt aus der Sphaͤre des allgemeinen und
geſchichtlichen Intereſſes, wie groß auch die ſtillen
und beſcheidenen Verdienſte ſein moͤgen, welche man
ſich mit ihm erwerben kann.
Ein heller Kopf, gute Studien, Protektion, wirk¬
liche Vorzuͤge, welche der hoͤhere Beamte bemerkt und
uneigennuͤtzig belohnt, allmaͤliges Hinaufruͤcken, zuletzt
die Alterspraͤrogative; das iſt der loyale Gang, wel¬
chen die deutſchen im Gehorſam gegen ihren Herrn
Gutzkow's öffentl. Char. 16[242]Ancillon.ergrauten Staatsdiener faſt alle gemacht haben. Die¬
ſer Gang iſt friedlich, ohne Stuͤrme, man hat Zeit,
ſich einen Privatcharakter fuͤr den Umgang nach be¬
liebigem Gefallen zu bilden, und darf darauf rechnen,
fuͤr ſein geduldiges Fortziehen der Staatsmaſchine eine
Menge geraͤuſchloſer, kleiner Freuden zu genießen, ſeine
Soͤhne heranwachſen zu ſehen, ſeine Toͤchter an ſolide
Eidame zu verheirathen, ſeine Witwe zu verſorgen,
und ſonſt die Zukunft und alle ihre Wechſelfaͤlle mit
ruhiger Gewißheit abzuwarten.
Nimmt dieſe politiſche Idylle einmal einen Auf¬
ſchwung, ſo hat man eine Commiſſion in kuͤrzerer
Zeit beendet, als die Diaͤten gezahlt worden waͤren;
man entdeckt ein Complott oder einen finanziellen Rech¬
nungsfehler, mit welchem uͤber das ganze Syſtem der
vaterlaͤndiſchen Buͤreaukratie auf einen Monat haͤtte
Verwirrung kommen koͤnnen; man hat geſunde Staats¬
ſchuldentilgungseinfaͤlle, geiſtreiche Reduktionsplaͤne; man
hat feine Manieren, diplomatiſches Talent, man erhaͤlt
eine zarte Miſſion an einen benachbarten Hof, um fuͤr
hohe unverheirathete Perſonen eine Lebensgefaͤhrtin zu
werben; kurz dis ſind die Epochen und Einſchnitte in
das Leben eines deutſchen Staatsmannes im Frieden.
Es kann ſich lange von einem ſolchen Ereigniſſe
[243]Ancillon. in einer Familie eine Tradition erhalten, man kann
die Orden und Geſchenke aufweiſen, welche bei ſolchen
Gelegenheiten von den Ahnen verdient wurden; doch
laͤchelt dazu die Geſchichte, deren Gedaͤchtniß beſtuͤrmt
wird von den großen Begebenheiten, die nicht einmal
an dem Rande ihrer ehernen Tafeln viel Raum uͤbrig
hat fuͤr das, was doch immer nichts Anderes iſt, als
Erfuͤllung ſeiner Pflicht und Ausfuͤhrung deſſen, was
Niemand auszufuͤhren unterlaſſen darf.
Sie thun alle, was ſie muͤſſen; und dis iſt ange¬
ſchrieben ohne Zweifel im Buche des Lebens, auf wel¬
ches das Buch der Geſchichte zu verweiſen pflegt, wenn
man in dieſem etwas vergeblich ſucht.
In Preußen ſind ſolche bei Gott vortrefflich ange¬
ſchriebene Staatsdiener mehr als irgendwo zu finden.
Die Buͤreaukratie und die Maſchine bringen es ſo
mit ſich.
Die kleinen konſtitutionellen Staaten fordern doch
wenigſtens das Talent heraus und geben Raum fuͤr
Kraͤfte, welche die Anciennitaͤt uͤberſpringen. In Oe¬
ſterreich wird eine glaͤnzende Ariſtokratie an die Spitze
der Verwaltung geſtellt: alte, hiſtoriſche Namen, bei
denen es immer eine Auszeichnung iſt, wenn ihre Ta¬
lente das Privilegium der Geburt einholen, und ſie das
16*[244]Ancillon.in der That ſind, was ſie zu ſein keine Verpflichtung
haben.
Hier lauſcht die Geſchichte und zeichnet ſich manche
Thatſache auf; doch die preußiſchen Staatsmaͤnner koͤn¬
nen ſelten groͤßer ſein, als ihre Verhaͤltniſſe, da die
letztern unverruͤcklich vorgeſchrieben ſind: eben die libe¬
rale Zulaſſung aller Staͤnde in die Carriére, ſchwaͤcht
die Vorſpruͤnge, welche Einer vor dem Andern gewin¬
nen konnte; weil Preußen auf der einen Seite keine
im Vorgrunde ſtehende, reiche und maſſenhafte Ariſto¬
kratie hat, ſo gibt es keine natuͤrliche, mit der Geburt
gegebene Praͤdeſtination fuͤr das Verdienſt und den
Ruhm; und weil es auf der andern Seite ohne Oef¬
fentlichkeit, Verfaſſung und Repraͤſentation iſt, ſo gibt
es auch dem talentvollen Rotuͤrier, dem Genie keine
Anwartſchaft, wenigſtens nicht eher, als bis mit dem
grauen Haar und der langen Entnervung durch die
Buͤreaukratie und Collegialverwaltung das Feuer abge¬
kuͤhlt und das Außerordentliche in eine gemaͤßigte, wenn
auch geiſtvolle Auffaſſung ſeiner Dienſtpflicht verwan¬
delt iſt.
Neben dieſen juͤngern Staatsmaͤnnern finden ſich
nun aber auch noch zahlreiche Reſte von Preußens hi¬
ſtoriſcher Vergangenheit; Namen, deren Anfaͤnge ſich
[245]Ancillon.in verworrene, dann ungluͤckliche und zuletzt glaͤnzende
Begebenheiten verlieren, von welchen einige ſchon da¬
mals Hauptrollen uͤbernommen hatten, andre durch
den Conflikt der Umſtaͤnde in Stellungen gekommen
ſind, die ihnen das Fortſchreiten auf einer ſonſt ver¬
ſchloſſenen Bahn ungemein erleichterten.
Hier fehlt es nicht an charakteriſtiſchen Zuͤgen, an
uͤberraſchenden biographiſchen Wendungen, an Lebens¬
ſchickſalen, welche man mit Theilnahme verfolgt, weil
ſie die Erwartung ſpannen, das Unglaubliche wahr ma¬
chen und mit ſo vielen Ereigniſſen zuſammenhaͤngen,
an welche die Erinnerung mit einem angenehmen
Wohlbehagen, mit einer gewiſſen ſtolzen Genugthuung
und dem Gefuͤhle, wie das Gegenwaͤrtige dem Ver¬
gangenen uͤberlegen iſt, herantritt.
Die Schickſale dieſer Maͤnner verlieren ſich zuletzt
in die Regierung Friedrich Wilhelms II., welche ihres
unparteiiſchen und unterrichteten Geſchichtsſchreibers
harrt; in eine Zeit, wo der preußiſche Staat eine Ver¬
laſſenſchaft des Ruhms und des Genies war, wo man
zum erſten Male in der Monarchie anfing, die Perſo¬
nen von der Maſchine zu emanzipiren, das Talent von
der Cabinetsdiktatur Friedrichs II., den Geiſt von der
todten und ſtarren Form.
Die Geſchichte weiß, daß von dieſer erwachenden
Freiheit diejenigen den meiſten Gebrauch machten, wel¬
che ſie nicht verdienten: es war die Zeit der Rotuͤre,
der Gunſt, der Hintertreppe, die Zeit des Sieges einer
zaͤrtlichen Stunde; man kann daruͤber nicht ſo ſtreng
ſein, denn die Wiedergeburt des preußiſchen Staates,
die Aufloͤſung der alten knoͤchernen, tyranniſchen For¬
men von Sansſouci ließ ſich durch dieſe Periode der
Guͤnſtlinge am beſten an. Welche Menſchen ſind da¬
mals an das Ruder der Gewalt gekommen! Sie ver¬
dienten es nicht; aber ſie riſſen das Herkommen ein,
welches Preußen an das Militair und den Adel ver¬
kauft hatte, ſie halfen das Vorurtheil gegen ihren Wil¬
len bekaͤmpfen, und machten dem demokratiſchen Ele¬
mente Raum, welches ſpaͤter den Staat gerettet hat.
In dieſe und die folgende Zeit fallen die Anfaͤnge
der meiſten jener preußiſchen Staatsmaͤnner aus alter
Schule. Sie wurden geliefert von der Clique; aber
auch von der Wiſſenſchaft, dem Zufalle, und dem Ge¬
nius des Vaterlandes.
Es war damals leicht in die Geſchaͤfte zu kom¬
men; die Miniſter waren zum großen Theile Militairs,
welche ſich die Kenntniſſe, die ſie ſelbſt nicht beſaßen,
von Andern leihen mußten; die Freiheit der Preſſe kam
[247]Ancillon.dem Talent und der Vaterlandsliebe zu Hilfe; die Li¬
teratur hatte noch ein imponirendes Anſehen, einen
Reiz der Neuheit, eine Herrſchaft uͤber die oͤffentliche
Meinung, welche die politiſche Autoritaͤt verfuͤhrte, ſich
mit ihrem Glanze zu bekleiden; man hoͤrte, da der Zu¬
ſammenſturz des Ganzen immer naͤher kam, auf die
Vorſchlaͤge des Privatmannes; ein geiſtreiches Memoire,
das man heute wie aus der Luft gegriffen betrachten
und vornehm zuruͤckweiſen wuͤrde, fand Theilnahme
und beſchaͤftigte die Aufmerkſamkeit der hoͤchſten Per¬
ſonen.
Als die Schlacht bei Jena das Schickſal des Staa¬
tes entſchieden hatte, ſteigerte ſich dieſe Achtung vor
der Oeffentlichkeit immer mehr; denn wer haͤtte damals,
als die ſchwatzhafte preußiſche Literatur von 1806 auf¬
kam, nicht behauptet, daß wenn er am Ruder geſtan¬
den, die Dinge eine beſſere Wendung genommen haͤt¬
ten? Jetzt glaubte man, daß der Lieutenant, Jakobi¬
ner, Schauſpieler und Glashaͤndler Heinrich von Buͤ¬
low ein großer Feldherr geweſen waͤre, und beklagte es,
ihn im Gefaͤngniß von Riga haben ſtecken zu laſſen.
Jetzt wurde ſogar Julius von Voß aufgefordert, Preu¬
ßen zu retten, indem er Berlin durch die Moraͤſte von
Wuſterhauſen unter Waſſer ſetzen ſollte. Man ſuchte
[248]Ancillon.das einzuholen, was man glaubte, verſaͤumt zu haben,
die Appellation an die Maſſe, das Talent und den
Zeitgeiſt.
Unter dem Miniſterium Stein feierte die Huma¬
nitaͤt einen ihrer ſeltenſten Triumphe. Man ſahe ei¬
nen Staat, erſchoͤpft in den alten, wurmſtichig gewor¬
denen Mitteln der Regierungskunſt, ſich der Natur und
dem lebendig ſtroͤmenden Volksgeiſte hingeben; eine
Verjuͤngung im friſchen Blute der Demokratie; eine
Huldigung, die bis zu dem zweiten Einzuge in Paris
dauerte.
Seither hat dieſer Staat wieder angefangen, ſich
auf ſeine Vergangenheit zu gruͤnden, die Maſchine iſt
wieder in Ordnung gebracht, und nur unter Hardenberg
noch war es moͤglich, gegen ſein Alter und ſeinen
Stand bevorzugt zu werden. Hardenberg brachte noch
eine Anzahl von Satelliten der Gunſt in die Verwal¬
tung; ſeitdem aber iſt Regel und militairiſche Gewohn¬
heit auf alle Reſſorts der Maſchine uͤbergegangen.
Die Staatsmaͤnner dieſer neuen Schule bieten keinen
Stoff zu einer beſonderen Charakteriſtik: wohl aber
noch die Maͤnner, deren Jugend in das alte Regime
fiel, und zu welchen, wenigſtens dem Alter nach, jener
[249]Ancillon.Name gehoͤrt, deſſen Talenten und glaͤnzendem Lebens¬
ſchickſale dieſe Skizze gewidmet iſt.
Jean Pierre Frédéric Ancillon wurde in
Berlin als ein Nachkomme ehemaliger hugenottiſcher
Refugiés geboren. Seine Familie ſtammte aus Metz
und zaͤhlte in ihrem Schooße einige Maͤnner, welche
gegen die Intoleranz des Zeitalters der Dragonaden
und der Tartuͤffes ſich mit Nachdruck ſtemmten, und
ſich unter den Genoſſen ihres Glaubens und ihrer
Schickſale ein ausdauerndes Gedaͤchtniß erworben
haben.
Wer den beſondern Geiſt dieſer jetzt in deutſche
Sitte immer mehr uͤbergehenden Kolonie kennt, kann
fuͤr den jungen Frédéric eine Conſtellation ſeiner Zu¬
kunft ſtellen, welche damals in der Situation und den
Zeitumſtaͤnden fuͤr einen Sproͤßling der Kolonie immer
die guͤnſtigſte war.
Man denke ſich eine durch gleiche Erinnerungen
und gleiche Intereſſen zuſammengehaltene Landsmann¬
ſchaft, welcher es geſtattet blieb, in ihren eigenen Ma¬
nieren und Hausgeſetzen fortzuleben. Dieſe Menſchen
hatten einen Vorſprung vor dem neuen Vaterlande
voraus, in Wiſſenſchaft und Induſtrie, welche ihnen
[250]Ancillon.ſchnell die Reichthuͤmer verſchafften, die ein anderer Theil
von ihnen aus Frankreich mitgebracht hatte, und welche,
durch Verheirathung und Wohlthaͤtigkeit faſt zu einem
Gemeingut geworden, die Unterlage und Rechtfertigung
einer Achtung wurden, die ihnen von allen Seiten
entgegen kam. Aus dem Geburtslande des feinen An¬
ſtands hatten ſie eine Convenienz heruͤbergebracht, mit
welcher ſie ſich unter einander auszeichneten, und welche
doch niemals in die Frivolitaͤt der franzoͤſiſchen Mode
ausartete, da ſie von dem eigenſinnigen, etwas muͤrri¬
ſchen und aſchgrauen Geiſte des Calvinismus gemil¬
dert wurde. Der Begriff eines ſaubern und reinlichen
Charakters, einer ſpiegelblanken Glaͤtte des Gemuͤthes
und einer von aller Excentricitaͤt entfernten, immer maͤ¬
ßigen Spannung der Seele iſt niemals ſo vollendet
ausgebildet geweſen, als ehemals in den Cirkeln der
Berliniſchen Hugenottenkolonie. Niemals hat man
die Gegenſeitigkeit conventioneller Pflichten ſo gluͤcklich
abgewogen, und in den Umgang zugleich ſo viel Frei¬
heit und Geſetz gebracht, wie damals. Noch heut un¬
terſcheidet ſich ein junger Mann aus der franzoͤſiſchen
Kolonie auffallend von jedem andern Berliniſchen Juͤng¬
ling. Dort Erziehung, hier Dilettantismus; dort ein
gewaͤhlter, beſtimmter, etwas altkluger Ausdruck, der
[251]Ancillon.ſich fruͤh in der Familie bildete, hier endloſe Geſchwaͤ¬
tzigkeit oder bloͤdes und unbeholfenes Benehmen; dort
immer etwas Pedantismus, ein gewiſſes Calviniſtiſches
Air aus dem Collège, feine Manieren, Unterordnung
gegen das Alter und Tendenz nach dem Vornehmen
hin; hier die Eigenſchaften, welche oft gaͤnzlich entge¬
gengeſetzt ſind.
Unter Friedrich II. waren die Ausſichten fuͤr die
Kolonie noch glaͤnzender; da die Neigung des Koͤnigs
mit ihren Landsleuten ſympathiſirte, und ſie noch im¬
mer den Stolz beſaß, ſich fuͤr ein verlornes und ver¬
ſchlagenes Stuͤck von Frankreich anzuſehen, mit dem¬
ſelben Ruhme, mit derſelben Ausſprache, mit derſelben
Literatur, welche Friedrich vergoͤtterte.
Seit der Koͤnig den ſpaͤter ſo einflußreichen Cabi¬
netsrath Lombard als einen jungen ſchuͤchternen Men¬
ſchen, der die Faͤhigkeit hatte einen franzoͤſiſchen Brief
zu ſchreiben, aus dem Collège herausnahm, mußten ſich
die Hoffnungen der Kolonie ſteigern.
Lombard, wenn er weniger frivol und ausſchwei¬
fend geweſen waͤre, wuͤrde vollkommen den Charakter
der Kolonie repraͤſentirt haben; denn er war ehrgei¬
zig, er beneidete die franzoͤſiſche Literatur um ihre He¬
[252]Ancillonroen, dichtete Chanſons, und kannte keinen groͤßern
Stolz, als eine Tragoͤdie zu ſchreiben, welche mit Vol¬
taire wetteifern ſollte, und die er, nach ſeinem Ungluͤck
in Stettin, vielleicht wirklich Muße gehabt hat, zu vol¬
lenden.
Ueber alle dieſe Dinge ſahe aber Frédéric Ancillon
hinweg; er erhielt von ſeinem Vater, einem geiſtvollen
und gelehrten Manne, die trefflichſte Erziehung, und
bildete ſich fuͤr das geiſtliche Fach aus, das von ſeinen
Landsleuten noch jetzt immer fuͤr einen Lebensberuf ge¬
halten wird, den ſie mit Waͤrme und Eifer bei den
Ihrigen unterſtuͤtzen zu muͤſſen glauben.
Man kann die Einrichtung des franzoͤſiſchen Se¬
minars, in welchem die kuͤnftigen Lehrer der Kolonie
ihre Bildung erhalten, nicht von allen Seiten lobens¬
werth nennen. Sie ſchließt ihre Zoͤglinge von der leb¬
haften Theilnahme an dem wiſſenſchaftlichen Progreß
des Landes, das jetzt ihre Heimath geworden iſt, mehr
als billig aus; ſie wacht uͤber eine alte Tradition von
den theologiſchen Wiſſenſchaften, die enger mit dem or¬
thodoxen Katheder von Genf zuſammenhaͤngt, als die
lange Entfernung der Zeit gut heißen moͤchte; man
kann nicht ſagen, daß durch eine hinter verſchloſſenen
[253]Ancillon. Thuͤren gegebene, dem Auge des Lehrers uͤberall ſo
nahe Unterweiſung die Selbſtſtaͤndigkeit im Denken und
Forſchen bei jenen jungen Maͤnnern beſonders beguͤn¬
ſtigt wird.
Doch befreite ſich ein heller Kopf wie Ancillon bald
von dieſen beengenden Schranken, und frug ſich, ob
denn die Zeit nicht hinausgekommen waͤre uͤber Pascal,
Boſſuet, Mabillon und Mallebranche? Er kaͤmpfte
mit der angeborenen Verehrung dieſer hohen Geiſter,
die um ſo natuͤrlicher iſt, je weniger die Theologen
und Philoſophen in Deutſchland je eine ſolche Mei¬
ſterſchaft der Darſtellung erreicht haben, wie jene. Ei¬
nem Franzoſen, begabt mit ſo feinen Geſchmacksner¬
ven fuͤr die Reize des Styls, mußte die hoͤlzerne Aus¬
drucksweiſe der Deutſchen, wie ſie auch noch die kriti¬
ſche Philoſophie entſtellte, einen Dégout verurſachen:
noch mehr, wenn er die Beredſamkeit fuͤr ein der
Theologie nothwendiges Studium haͤlt; wie konnte er
Vertrauen faſſen zu jenen hohlen aus Zelotismus und
Ungeſchmack zuſammengeſetzten Lehren der orthodoxen
lutheriſchen Geiſtlichkeit; oder ſelbſt zu der deiſtiſchen
Gewandheit Tellers, Zoͤllners und Spaldings, deren
Leiſtungen nicht auf Geſetze und Kunſt, ſondern auf
[254]Ancillon. ein gluͤckliches Naturell ſich gruͤndeten, oder die doch
immer eingeſtehen mußten, daß fuͤr ſie der klaſſiſche
Ausdruck des Biſchofs von Meaux unerreichbar
blieb.
Aber Ancillon horchte mit Theilnahme in die phi¬
loſophiſche Revolution, welche mit Kant uͤber Deutſch¬
land kam, und entſchied ſich fuͤr die Gironde derſelben,
fuͤr die Philoſophie Jakobis.
Das Prinzip der Unmittelbarkeit mußte einem
Geiſte zuſagen, der ſich von dem kalten Deismus ſei¬
ner Zeit mit Unbehagen abwandte, und von Dogmen,
welche er auf ſich beruhen ließ, wenigſtens an die le¬
bendige Kraft des Chriſtenthums und die Wahrheit,
welche ſie fuͤr das Gemuͤth haben, appellirte.
Jene wunderliche Zeit, wo die Leute ihre Koͤpfe
ſo anſtrengten, daß Mendelsſohn geſtand, er muͤßte
nach ſeinen Forſchungen die Ziegelſteine auf den Daͤ¬
chern zaͤhlen, um ſich nur wieder zu ſammeln; ging
mit allen ihren Erſcheinungen an Ancillon nicht ohne
Revolution voruͤber; doch war er Feind des Formalis¬
mus, und ſcheute ſich vor den Syſtemen, die ſich
blutige Schlachten lieferten und in einen unertraͤglichen
philoſophiſchen Terrorismus ausarteten.
Noch mehr aber, als die Philoſophie, wirkte auf
den jungen Geiſtlichen die Geſchichte.
In welche ſtuͤrmiſche Zeit fiel hier eine Jugend,
welche ſo viel verſprach! Die franzoͤſiſche Revolution
konnte fuͤr den aufgeklaͤrten Theil Deutſchlands nicht
aus den Wolken fallen; ſchon ihre erſten Erſcheinun¬
gen mußten ein hoͤheres Intereſſe aufregen, als das
einer bloßen Neuigkeit. Die Revolution war in ihren
Prinzipien wahlverwandt mit jeder freien Anſicht des
damaligen europaͤiſchen Staatsſyſtemes, mit den Ah¬
nungen der Humanitaͤt. Sie riß die oͤffentliche Mei¬
nung von ganz Europa hin; und die ſtaͤrkſten und leb¬
hafteren Geiſter verfolgten ſie auch da noch mit Erge¬
bung, als die Intereſſen ſich in ihr ſchon ſo durchein¬
ander wirrten, daß nur die phyſiſche Gewalt der Lei¬
denſchaft die ihrigen zu retten vermochte.
Nirgends herrſchte ſo viel Sympathie fuͤr die Ideen,
welche jenen großartigen Ereigniſſen zum Grunde la¬
gen, als in der Hauptſtadt Preußens, wo ſelbſt die hoͤ¬
here Gewalt (ich erinnere nur an den Miniſter Hertz¬
berg) der Revolution mit Theilnahme folgte, ihrem
Prinzipe huldigte, und ſelbſt da noch, als der Schrek¬
ken ſtatt des Geſetzes zu regieren anfing, dieſe blutigen
[256]Ancillon.Bewegungen mit weiſer Maͤßigung wuͤrdigte, die Un¬
uͤberwindlichkeit des demokratiſchen Prinzips anerkannte
und jede bewaffnete Intervention, jede Unterſtuͤtzung der
Rache bei den Ausgewanderten nachdruͤcklich widerrieth.
Man kann ſehr beſtimmt die Graͤnze angeben, bis
zu welcher die franzoͤſiſche Revolution von den maͤßi¬
gen und aufgeklaͤrten Maͤnnern Deutſchlands, von ei¬
ner ſo philoſophiſchen Weltanſicht, wie die Ancillons
war, gebilligt wurde.
Sie ſahen die Tendenz Frankreichs zu einer bluti¬
gen Zukunft ſchon mit der glorreichen Regierung Lud¬
wigs XIII., mit der Ausbildung der ſouverainen Ge¬
walt durch Richelieu und Mazarin anbrechen; ſie ga¬
ben in der allmaͤlig ſich vorbereitenden Gaͤhrung dem
beſtrittenen, dann abgeſchafften, dann wieder eingeſetzten
Remonſtrationsrechte der Parlamente ſeine rechte Stel¬
lung und berechneten, ohne der Geſchichte einen fatali¬
ſtiſchen Calcuͤl aufzuzwaͤngen, alle die bewieſenen That¬
ſachen waͤhrend der Regentſchaft und der Regierung
Ludwigs XV., die Thatſachen der Politik, der Litera¬
tur und der Sitten, welche das zuͤndbare Fundament
der großen zeitgenoͤſſiſchen Begebenheit wurden.
Wir ſtreiten hier nicht uͤber Ancillons fernere An¬
[257]Ancillon. ſicht der Revolution, nach welcher ihm zwar der Aus¬
bruch derſelben unvermeidlich ſchien, aber ihre Folgen
nur durch den Fehler, den man beging, indem man
ſie zu regeln unterließ, herbeigefuͤhrt ſein ſollen; erwaͤh¬
nen ſie aber, weil ſie deutlich die praktiſche Richtung,
welche Ancillons Geſchichtsſtudium nahm, erkennen
laͤßt. Seine Anſicht von der Revolution iſt mehr die
eines Geſchaͤftsmannes und Publiziſten, als die einer
philoſophiſchen, faſt moͤchte man ſagen ſuperſtitioͤſen
Abſtraktion, welche die Siege geſchehen laͤßt und
nichts in ihnen ſehen will als eine blinde Nothwen¬
digkeit.
Ancillon ſchloß ſich fruͤhe jenen Schriftſtellern an,
welche nicht wie Burke mit einem gewiſſen Inſtinkt
des Abſcheues und mit Leidenſchaftlichkeit gegen die
neue Ordnung der Dinge in Frankreich auftraten, auch
nicht wie Barruel und Robiſon, welche in Allem, was
jenſeits des Rheins geſchah, Machinationen einiger Pri¬
vatmaͤnner, der Freimaurer und Illuminaten ſahen;
ſondern welche, wie Gentz, die Revolution in ein Werk
der Geſchichte und der Leidenſchaft, in blinde Nothwen¬
digkeit im Anfang und moraliſche Imputation am
Ende theilten.
Die hiſtoriſche Schule von Koch in Straßburg be¬
Gutzkow's öffentl. Char. 17[258]Ancillon.gann zuletzt eine Art von vergleichender Revolutions¬
geſchichte. Man kann ſagen, daß Ancillon dieſer An¬
ſicht, aus welcher auch Schoͤll hervorging, am verwand¬
teſten iſt.
Er bereiſte in den Schreckensjahren die Schweiz
und Frankreich, nachdem er ſchon vorher als Lehrer der
Geſchichte bei der Militairſchule in Berlin angeſtellt
war. Es iſt nicht ſeine Schuld, wenn die jungen
Faͤhndriche und Cadetten einſt nach dem Tage von
Jena Leonidas und Curtius vergeſſen hatten; wenn
ſie ſtatt Tuͤrennen und Friedrich dem Großen auf der
Karte zu folgen, ſich lieber von dem Geiſte der Inſub¬
ordination anſtecken ließen, welcher durch die Gendar¬
merieoffiziere in Berlin verbreitet und von einigen ho¬
hen Perſonen genaͤhrt wurde.
Bei welchem Spektakel im Parterre, bei welchem
Fenſtereinwurf war damals die Hoffnung des Vater¬
landes nicht gegenwaͤrtig? Die Aufloͤſung nahte ſich
ſchnell: ſie hatte ſchon die Sitten ergriffen; ſie griff
jetzt auch die Inſtitutionen, den Ruhm und die glaͤn¬
zenden Traditionen eines ganzen Jahrhunderts an.
Preußen mußte bei der Wendung, welche die Revolu¬
tion genommen hatte, bei den Siegen, welche die Adler
[259]Ancillon.einer neuen Nation und die Entwuͤrfe eines jungen
militairiſchen Genies kroͤnten, ein entſcheidendes Gewicht
in die Wagſchale der Geſchichte zu legen.
Aber wo es hernehmen? Aus einer Vergangenheit,
fuͤr welche die Gegenwart keine Beweiſe mehr hatte?
Der Abgrund oͤffnete ſich, und uͤbermuͤthig, blind, po¬
chend, ſchwatzend, unbedacht und drohend ſtuͤrzte man
hinein.
Von der Armee war am wenigſten zu hoffen, ob¬
ſchon die alten Generale derſelben glaubten, Napoleon
ſei nur in die Welt gekommen, um ſich von ihnen
ſchlagen zu laſſen. An Tapferkeit, oder wie man es
damals nannte, Bravour, fehlte es nicht. Ancillon
verkehrte ſelbſt in dem Hauſe eines Prinzen, den die
Natur zu ihrem Liebling geſchaffen zu haben ſchien,
der tapfer wie ein Held der Sage und auch gebildet
wie ein Ritter der Tafelrunde war; aber jene Maͤßi¬
gung und Sophroſyne nicht kannte, welche allein faͤhig
macht, zu ſiegen, oder das Ungluͤck mit Wuͤrde zu er¬
tragen.
Welche ſchmerzliche Ahnung uͤber den Gang, wel¬
chen Preußen gehen wuͤrde, mußte ihn ergreifen, wenn
er die Frivolitaͤt bis zu dem Grade geſtiegen ſahe, und
17 *[260]Ancillon.wie ſie ſelbſt in hoͤhern Kreiſen herrſchte. Ancillon
war einſt bei dem Prinzen Louis und traf den
preußiſchen Hiſtoriographen Johannes von Muͤller,
welcher kleine Mann damals eine große Rolle ſpielte,
und den Grafen d'Antraigues zugegen.
Der Graf, ein Emigré, haßte die neue Ordnung
in Frankreich und war von Dresden nach Berlin, wo
man ihn ungern ſahe, gekommen, um die preußiſche
Politik zum Kriege gegen Frankreich zu bewegen. Hier
ſahe Ancillon, wie weit ſchon der Krebs des Verfalls
am Vaterlande gefreſſen hatte.
Ancillon ſah von dieſer Zeit an wohl ein,
daß alle diejenigen, welche ſich anheiſchig mach¬
ten, den Staat zu retten, nur entweder fuͤr ihre
Leidenſchaften einen glaͤnzenden Vorwand ſuchten
oder in den andern Sphaͤren von einer hohlen,
im Raͤſonniren begriffenen, Verbeſſerungsmanie getrie¬
ben wurden. Er waͤhlte den richtigſten Weg und
ſchloß ſich mit der Achtung, welche man dem Ungluͤck
ſchuldig iſt und der Loyalitaͤt, welche an die Schickſale
des Koͤnigs das Loos des Vaterlandes knuͤpfte, an die
Familie des Herrſchers an, welche ſich der Ergebenheit
der alten Provinzen anvertraute. Ancillon wurde
[261]Ancillon. Staatsrath und Erzieher des damals eilfjaͤhrigen Er¬
ben der preußiſchen Monarchie.
Es gab damals in Berlin eine Philoſophie, welche
durch Kieſewetter repraͤſentirt wurde.
Kieſewetter gab ſich damit ab, die Kantiſche Philo¬
ſophie zu trivialiſiren, und behauptete in den Straßen
Berlins eine Reputation, welche er mehr ſeinen beque¬
men Manieren und ſeiner Stellung verdankte, als
einer beſondern Faͤhigkeit, welche ſeinen flachen Geiſt
ausgezeichnet haͤtte. Kieſewetter milderte den Ernſt der
Philoſophie, er lehrte, wie Seneka, eine Wahrheit,
welche zuweilen an den Scherz und die Leidenſchaft ein
kleines Zugeſtaͤndniß machte; er zog es vor, ſtatt am
Hofe den kategoriſchen Imperativ zu vertreten, fuͤr
kleine Vergnuͤgungen zu ſorgen und arrangirte Bals
masqués, Pompzuͤge und dergleichen, wobei ihn Hof¬
rath Hirt, gleichfalls Hofpaͤdagog, unterſtuͤtzte.
Der Ernſt der Zeit machte dieſen Reſten des al¬
ten Regimes ein Ende; Ancillons puritaniſche Strenge
ſtach gegen die Vergangenheit grell ab; Prinzenerzie¬
hung wurde wieder ein Ideal, uͤber das man mit
Enthuſiasmus und Entſagung nachdachte. Die Hoff¬
nung des Vaterlandes war in des Erziehers Hand ge¬
[262]Ancillon.geben, und die Zukunft Preußens, wenn ſie an Ancil¬
lon die ſtumme aber beredte Frage richtet, ob er die
Wiſſenſchaft und Geſchichte, die Achtung vor Herrſcher¬
pflichten und den Beruf, Nationen zu begluͤcken in ein
theures Herz gepflanzt hat, lebt nicht ohne die Hoff¬
nung, daß hier Alles gethan iſt, was eine ſo koſtbare
Gelegenheit, ein ſo unwiederbringlicher Augenblick nur
gebieten konnte.
Ancillon, nachdem er zum Mitgliede der Akademie
ernannt war, begleitete ſeinen Zoͤgling in den ſpaͤtern
Jahren des Ruhms nach Paris, wo er die Genugthu¬
ung hatte, von franzoͤſiſchen Gelehrten collegialiſch be¬
gruͤßt zu werden, ſo daß er als Theilnehmer zweier Li¬
teraturen gelten kann.
Mit dem Frieden zuruͤckkehrend trat er endlich in
die Dienſte des friſchen und erneuten Staates, und
wurde dem auswaͤrtigen Miniſterium, ſpaͤter auch dem
Staatsrathe beigeſellt.
Ancillon trat darauf in jene Commiſſion, welche die
Verfaſſung, die Preußen noch zu erwarten hat, ent¬
werfen ſollte.
Die Reſultate derſelben ſind noch unbekannt, und
wir zweifeln, ob Ancillons perſoͤnliche Meinung in ihr
[263]Ancillon. das Uebergewicht erhalten hat. Ancillon achtet die
Conſtitutionen, welche auf einem hiſtoriſchen Funda¬
mente liegen, wie die engliſche; doch als Anhaͤnger ei¬
ner unbeſchrankten Souverainitaͤt, mißbilligt er es,
wenn die Regierungen eine Gewalt, die ſie hiſtoriſch be¬
ſitzen, aus eigner Großmuth theilen und einer Repraͤ¬
ſentation aus dem Stegreife davon abgeben. Was
wir Forderung des Zeitgeiſtes und oͤffentliche Meinung
nennen, kuͤmmert ihn nicht; denn er ſieht in jener nur
den unnuͤtzen Neuerungstrieb ſogenannter unbefugter
Schreier, die Unruhe einer Hand voll Menſchen, welche
eine ſchlechte Erziehung genoſſen haben; an dieſer aber
achtet er nur ihre negative Seite, wenn die Zurech¬
nungsfaͤhigen in einer Nation, durch ihr Stillſchweigen
die Handlungen der Regierung zu mißbilligen ſcheinen.
Wenn von einer preußiſchen Conſtitution die Rede
iſt, ſo will Ancillon nichts darunter verſtanden wiſſen,
als was ſchon da iſt in jener Monarchie, und verſteht
ſich nur zu einer Zugabe von gleichſam freiwilligen Be¬
amten, welche das Volk ernennen und in die Haupt¬
ſtadt ſchicken mag.
Dis Supplement der Regierung ſolle die Behoͤrde
unter dem Namen von Staͤnden conſtituiren, und ihm
[264]Ancillon. einen conſulativen Antheil an der Geſetzgebung geſtat¬
ten, ohne Initiative.
Natuͤrlich iſt dis nur eine perſoͤnliche Anſicht, wel¬
che das Geſetz uͤber die allgemeinen Reichsſtaͤnde, ſtatt
zu vollziehen, umgeht, die Anſicht eines Gelehrten, wel¬
cher ſeine eigne Theorie des Staatsrechts hat, die An¬
ſicht eines Beamten, welcher Gelegenheit hat, in den
ſchoͤnen Mechanismus der Regierung einzuſehen und
keine Lebensaͤußerung fuͤr zuverlaͤſſig haͤlt, als die mit
Controle und im adminiſtrativen Sinne.
Zur Erhaͤrtung ſeiner Stimme kam allerdings das
Zweikammerſyſtem, das in Deutſchlands kleinen Staa¬
ten improviſirt wurde, und in Preußen keinen Beifall
fand, weil man es fuͤr ſonderbar hielt auf kleinem
Terrain von einem erhaltenden und einem bewegenden
Prinzipe zu ſprechen; ferner die Unmoͤglichkeit, dem
preußiſchen Staate eine Vergangenheit, welche er nicht
beſitzt, eine Ariſtokratie, welche mit ihrem Grundbeſitz
eine impoſante Stellung einnaͤhme, einen gewiſſen go¬
thiſchen Modegeruch zu geben, welchen die Aufklaͤrung
Friedrichs des Großen ſchon vertrieben hatte.
Dennoch mußte man das Ganze der Conſtitution
einſtweilen fallen laſſen, weil es einmal verbreitet wor¬
[265]Ancillon. den war, daß man, wie man es damals nannte,
Preußen im großen Style regieren wollte; weil
es ſich dabei um die Vollziehung eines ſehr beſtimm¬
ten Geſetzes handelte; und zuletzt die hiſtoriſch-ariſtokra¬
tiſche Schule der Buͤreaukratie ein gluͤckliches Gegen¬
gewicht hielt.
Es bleibt der Zukunft uͤberlaſſen, wie man in die¬
ſer Sache die heiße Erwartung des Landes befriedi¬
gen wird.
Die Reſtaurationsperiode forderte die auswaͤrtige
Politik der Staaten wenig heraus.
Es war das Zeitalter der Polizei: die Diplomatie
konnte ruhen in einer Zeit, wo die Staaten ihren neuen
Gegner, die Revolution, kennen zu lernen anfingen,
wo man nicht noͤthig hatte, Vergroͤßerungsſucht, den
Ehrgeiz eines Nachbars, oder die Intrigue der Allian¬
zenpolitik zu beaufſichtigen oder zu uͤberliſten.
Dieſer Zuſtand ermunterte Ancillon wieder zu
ſchriftſtelleriſcher Thaͤtigkeit.
Die damalige philoſophiſch-theologiſche Aufregung
beſtimmte ihn, in den heftigen Debatten des Tages auch
ſeine Stimme abzugeben. Die Philoſophie nahm ihre
Fragen da wieder auf, wo man ſie vor zwanzig Jah¬
17 **[266]Ancillon. ren gelaſſen hatte; und in Berlin erhob ſich die He¬
gelſche Lehre mit ſo vielem Gluͤcke, daß Alles uͤber
Seyn und Nichts philoſophirte. Es war die Herrſchaft
des Hegelſchen Sammtbaretts.
Jung und Alt that es der Mode nach; man fing
an, ſich als ſich ſelbſt zu ſetzen; ſich zu negiren, dann
ſich wieder zu vermitteln, und dis logiſche Kopfuͤber et¬
was lange fortzuſetzen, ehe man wieder zu ſich ſelbſt
zuruͤckkehrte.
Ancillon nahm ſeine Modifikationen der Jakobiſchen
Philoſophie wieder auf. Ancillons Reſultate haben
keinen ſyſtematiſchen, wohl aber einen polemiſch-nega¬
tiven Werth. Er nahm die Exiſtenzen unter das
Prisma der Vernunft, und begnuͤgte ſich damit, die
mannichfache Strahlenbrechung deſſelben wiederzugeben
und die Farbenſchattirungen zu verfolgen. Ancillon's
Prinzip iſt das der Wechſelſeitigkeit in der Methode;
er waͤgt die verſchiedenen Erſcheinungen der Exiſtenzen
ab, und findet die Wahrheit gleichſam in einem ju¬
riſtiſchen Prozeß, in der wechſelſeitigen Gerechtigkeit des
Einen gegen das Andere. Was bei Jakobi unmittel¬
barer Glaube iſt, das fixirt Ancillon als einen intellek¬
tuellen Inſtinkt, welcher durch mannichfache Bewußt¬
[267]Ancillon. ſeins-Zuſtaͤnde zur Vernunft ſich erhebend die Philo¬
ſophie macht, in dem die Vernunft mit den Exiſtenzen
gleichſam multiplizirt wird.
Jakobi philoſophirte um gewiſſe Siege, welche fuͤr
ihn primitiv waren, zu retten; Ancillon laͤßt nichts in
dem Zuſtande, wo die Dinge ſo zu ſagen nur der
Wunſch ſind, daß ſie waͤren; ſondern ſucht ſie zu be¬
weiſen. Er verachtet die Natur nicht, wie Jakobi;
wenn ſie dieſem eine Verdunkelung Gottes iſt, ſo iſt
ſie bei Ancillon eine Huͤlle deſſelben: ſie hat bei Jakobi
in ethiſcher Beziehung negativen, bei Ancillon aber po¬
ſitiven Werth.
Ein außerordentliches Ereigniß der Zeit brach ploͤtz¬
lich dieſe Unterſuchungen ab.
Ancillon, welchen ſie wieder in das Gebiet der Ge¬
ſchichte und Politik zur Vermittelung der Extreme
gefuͤhrt hatten, mußte ſich dem politiſchen Schauplatz
mit aller Energie zuwenden; er uͤbernahm in dem er¬
ſten Jahre nach der Julirevolution das Portefeuille der
auswaͤrtigen preußiſchen Politik.
Nur wer in den faktiſchen Folgen der neuſten Be¬
wegungen unſrer Zeit nichts ſieht, als die Erfolge ei¬
niger verbrecheriſchen Leidenſchaften, oder ſich dem Glau¬
[268]Ancillon.ben hingeben kann, alle Thatſachen des Augenblicks
koͤnnten durch die Reaktion einer naͤhern oder entfern¬
tern Zukunft ruͤckgaͤngig gemacht werden; nur der wird
laͤugnen, daß ein großer Theil von Ancillons politi¬
ſchen Behauptungen durch die Erfahrung nicht bewie¬
ſen worden iſt.
Die Einwendungen der Conſervativpartei gegen die
der Bewegung waren ſo gut Hypotheſen, wie ein gro¬
ßer Theil der Traͤume, mit welchen ſich die letztere
ſchmeichelte, auf Rechnung ihrer Einbildungskraft kom¬
men mag.
In der Stimmung und Laune, welche die Freude
uͤber gelingende Coercitivmaaßregeln veranlaßt, entfaͤllt
ſelbſt der Beſonnenheit und tiefern Einſicht in den Lauf
der Geſchichte ein Urtheil, gegen welches ſchon die
naͤchſte Zukunft eine Proteſtation einlegt, die um ſo
ſiegreicher, je faktiſcher ſie iſt.
Kein Faktum ſteht aber ſichrer, als das, welches von
beiden Partheien anerkannt wird. Und die preußiſche Po¬
litik hat ſomit anerkannt, was ihre Partheigaͤnger, die
berufenen wie die unberufenen, vorher in die heftigſte
Abrede geſtellt hatten.
Die Stellung, welche Preußen ſeit der Julirevo¬
[269]Ancillon. lution nach Außen annahm, war als eine friedliebende
zwar zunaͤchſt aus perſoͤnlichen Stimmungen hervorge¬
gangen; allein noch mehr wurde der Frieden geboten,
nicht durch das Prinzip, mit welchem der Friede ſtritt,
ſondern durch die Situation und eine Verrechnung der
Umſtaͤnde, deren Schuld die Vergangenheit haͤtte be¬
zahlen muͤſſen.
Ganz Europa hat geſtanden, daß es von den Er¬
eigniſſen in Frankreich uͤberraſcht worden iſt. Wird
Preußen allein ſagen wollen, daß die Dinge ihm
nicht neu waren?
Dieſe Maͤßigungspolitik war, dem Monarchen ge¬
genuͤber, eine Huldigung, dargebracht ſeinem milden
und verſoͤhnlichen Sinne; den preußiſchen Publiziſten
aber gegenuͤber eine Demuͤthigung, welche zu verra¬
then ſchien, daß man ſich auf einer falſchen Combi¬
nation ertappt hatte und durch Temporiſiren nur Zeit
gewinnen wollte, ſeine fruͤhern Meinungen zu be¬
richtigen.
Die auswaͤrtige preußiſche Politik ſeit der Julire¬
volution laͤßt ſich in drei Perioden eintheilen: zu¬
erſt die Ueberraſchung, dann ein endliches Orientiren
[270]Ancillon.in den Begebenheiten, Feſtigkeit und Takt, welche
Vorzuͤge um ſo wohlfeiler zu ſtehen kamen, je mehr
die Umſtaͤnde eine Allianz mit dem Norden zu ge¬
bieten ſchienen, gegenwaͤrtig endlich, wo die neue
Ordnung der Dinge ſich mit der alten aſſimilirt
hat, wo der eine revolutionaire Schlauch, welchen
Aeolus auf Europa oͤffnete, in ſeinem Inhalte ſo
vertheilt iſt, daß er nirgends mehr wolkenartig praͤ¬
ponderirt, jetzt eine geiſtreiche Taktik gegen Deutſchland,
von welchem die Staatsmaͤnner einſehen muͤſſen, daß es
fuͤr Preußen ein natuͤrlicheres Fundament iſt, als
Frankreich, wie die Ideologen wollen.
Dem Patrioten laͤßt ſich keine ſchoͤnere Garantie
geben, als dieſe Politik, welche in der Frage des Zoll¬
vereins, in dem gemaͤßigten Reſultate der Wiener Con¬
ferenzen und in Preußens energiſcher Repraͤſentation
am Bundestage in die Zukunft die hoffnungsreichſte
Perſpektive eroͤffnet.
Sollen wir es geſtehen, ſo glauben wir, daß ſelbſt
die Frage wegen Preußens Verfaſſung eine neue Loͤſung
zu erwarten hat: wenigſtens haben die Staatsmaͤnner
jenſeits der Elbe eingeſehen, wie ſchwer es iſt, unter
Preußen eine Abſtraktion Deutſchlands zu verſtehen
[271]Ancillon.und die ſtaatsrechtliche Verpflichtung Beider als eine
todte Maſchine erkalten zu laſſen.
Eine Geiſtesrichtung, wie die Ancillons, kann die
offenbarende Kraft der Geſchichte, ſelbſt in ihren vor¬
uͤbergehenden Tageserſcheinungen nicht verkennen. Sie
ſieht ein, daß die Geſetze durch das Beduͤrfniß geboren
werden, und daß unſer Zeitalter nicht dasjenige iſt,
welches nach einem Mehr oder Minder von poſitiver
Gewalt trachtet, ſondern daß es in ſeinem launenhaften
Hinbruͤten nur auf Ideen ſtoßen will, welche ſeine
Ahnung ausſprechen, und welche in einen geordneten,
die Intereſſen nicht verletzenden und conſtituirten Zu¬
ſammenhang zu bringen, die Aufgabe der Staatsweis¬
heit iſt.
Ancillon wird an diejenigen, deren Jugend von ſei¬
nem Greiſenalter einſt die hohe Aufgabe, fuͤr Millio¬
nen zu denken, uͤbernehmen wird, das Geſtaͤndniß hin¬
terlaſſen, daß in der Verwirrung dieſer Zeit der Staats¬
mann nirgends einen ſo gluͤcklichen Weg geht, als in
der preußiſchen Monarchie.
Denn wo waͤren die Hinderniſſe, welche ſich dort
einer weiſen Abſicht entgegenſtellen? Wo iſt das Feld,
auf dem ſich bauen laͤßt, geordneter? Wo waͤre, ohne
[272]Ancillon.daß man befuͤrchten muͤßte, das Naͤchſte unerfuͤllt zu
laſſen, noch der (nicht adminiſtrativen und untergeord¬
neten, ſondern genialen und ſchoͤpferiſchen) Politik ſo
viel Raum gelaſſen, um nicht nur ein erſtes Terrain,
Preußen, ſondern auch ein zweites, Deutſchland, ſich zu
ewigem Danke zu verpflichten?
Rothſchild.
Gutzkow's öffentl. Char. 18[][]Wenn es ſchwer iſt, von dem Finanzgetriebe unſe¬
rer Zeit eine gewiſſenhafte Meinung zu faſſen, ſo iſt
es deshalb, weil das Ganze ſo wunderbar der Phan¬
taſie imponirt. Truͤgeriſche Begriffe durchkreuzen ſich
hier mit offiziellen Thatſachen, Fiktionen mit weſen¬
haften Reſultaten, Hypotheſen mit erwieſenen Schlu߬
folgen, kurz es iſt ein neuer Nominalismus und Rea¬
lismus, der uͤber die Voͤlker gekommen iſt, eine Iden¬
titaͤt des Idealen und Realen, welche ſchlagender iſt
als die der Hegel'ſchen Philoſophie.
Was iſt Geld? Die Alten glaubten, Geld waͤre
Silber oder Gold. Sie glaubten, Geld waͤge die Ge¬
genſtaͤnde auf, welche man aus der gleichen Quanti¬
taͤt Metall verfertigen kann. Die Alten machten aus
dem Gelde eine Waare. Erſt Adam Smith ſagte:
Geld iſt das Triebrad der Cirkulation. Das iſt die
18 *[276]Rothſchild.Formel, welche alle Geldbeutel der Welt revolutionirt
hat. Was Carteſius mit cogito ergo sum im Reiche
der Geiſter wirkte, das hat fuͤr die materielle Exiſtenz,
fuͤr Luft und Athem die Phraſe gethan: Geld iſt das
Triebrad der Cirkulation. Man riß ſich los vom Be¬
griffe Geld als eines daliegenden Mammons, man war
hochherzig wie Curtius, man ſagte: Geld iſt keine Waare,
Geld iſt Nennwerth, Geld iſt die Formel einer Idee,
Geld iſt nur Chimaͤre. Man ſagte: Schuͤttet die Schach¬
ten von Potoſi zu! Laßt den Nymphen am Rio de la
Plata des Fluſſes Silber, daß ſie damit ihr feuchtes Haar
ſchmuͤcken! Kredit — das iſt das rechte Bergwerk,
Kredit iſt das eigentliche Amerika, die krediteinfloͤßenden
Mienen unſers Antlitzes ſind ohne Wortſpiel die rech¬
ten Goldminen des neuen Jahrhunderts!
Und ſo kam es, daß das Papiergeld geſchaffen
wurde. Das Geld hieß nun Werthbeſtimmung, und
konnte ſomit ins Unendliche vermehrt werden; denn
wer vermoͤchte den Werth aller Dinge in Zahlen aus¬
zuſprechen! Geld ſollte nur noch ein Umſatzmittel ſein,
nichts, als eine Erleichterung der Cirkulation. Das
aber was cirkulirte, war im Grunde das unausſprech¬
liche Kapital an Induſtrie, an Handelsthaͤtigkeit, an
Agrikultur und geiſtiger Production.
Wie ſtolz, wie groß iſt dieſer Gedanke! Wie wuͤr¬
dig eines philoſophiſchen und genialen Jahrhunderts!
Aber der Irrthum lag wie immer darin, daß man
fuͤr die Wahrheit keine Graͤnze wußte.
Statt zu ſagen: Geld iſt der Ausdruck eines mo¬
mentanen und wahrſcheinlichen Werthquantums, aber
nicht Ausdruck der ganzen Werthmoͤglichkeit, kurz
ſtatt ſich zu beſchraͤnken und in der Papieremiſſion vor¬
ſichtig zu ſein, grub man immer mehr ideelles Gold
aus den Schachten der Phantaſie. In einem Augen¬
blicke, wo die Menſchheit ploͤtzlich Luſt bekam, pro¬
ſaiſch, nuͤchtern, mißtrauiſch zu werden, wo die Ban¬
ken von Menſchen, die ihr Papier in klingende Muͤnze
umtauſchen wollten, beſtuͤrmt wurden, mußte man be¬
ſchaͤmt, weil mit leeren Haͤnden, daſtehen. So fallir¬
ten die Banken und die Regierungen. Der Idealis¬
mus hatte einen empfindlichen Stoß erlitten.
Aber ſchon die Philoſophie an ſich iſt unermuͤd¬
lich; um wie viel mehr, wenn es ſich um den Nerv
der Dinge, um das Geld, handelt!
Eine neue Phaſe des Idealismus entwickelte ſich
reeller, d. h. vorſichtiger, als die fruͤhere, und man
kann es nicht laͤugnen, auf auffallende Weiſe faſt noch
ideeller. Denn iſt es nicht das luftigſte Phantom,
[278]Rothſchild.welches uͤber Europa ſchweben muß, wenn man weiß,
daß die Schulden aller Staaten zuſammengenommen
die Maſſe des vorhandenen Geldes bei weitem uͤber¬
ſteigen! Wenn es nur dis waͤre, daß die Borgenden
mehr borgten, als ſie kurz darauf beſitzen, ſo kommt
das alle Tage vor; aber daß ſelbſt die Gebenden mehr
gegeben haben, als uͤberhaupt Geld in der Welt iſt,
das iſt ein Widerſpruch, der unglaublich ſcheint.
Sehet hier wieder den Satz von Adam Smith:
aber nun haben ſich beide Theile vorgeſehen; denn die
Schuldenmaſſe kann nie aufgekuͤndigt werden: ihr reel¬
ler Werth iſt nur das, was ſie an Zins betraͤgt.
Jetzt haben wir eine reelle, wahrhaftige Poeſie, deren
einziges Ungluͤck ihre Gegner ſind. Denn es gibt
rauhe und empfindungsloſe Menſchen, welche fuͤr ein
ſo romantiſches Gedicht, wie das Anleiheſyſtem iſt,
gar kein Ohr haben. Sie behaupten, daß es unver¬
antwortlich waͤre, wenn die Voͤlker die Spaziergaͤnge
der Kapitaliſten bezahlen muͤſſen. Sie ſind damit noch
nicht einmal zufrieden, daß blos von einer Verzinſung
fremder Imaginationen die Rede iſt, nicht von einer
Heimzahlung des ganzen Kapitals. Sie glauben ſich
aus finanziellen, moraliſchen und politiſchen Gruͤnden
gegen das herrſchende Syſtem erklaͤren zu muͤſſen.
[279]Rothſchild.Sie haben keinen Sinn fuͤr den transcendentalen Idea¬
lismus des Geldes, dieſe Nuͤchternen, Proſaiſchen,
dieſe Volksverfuͤhrer!
Laſſet heute das Wohl der Voͤlker bei Seite lie¬
gen, ſprecht nicht von den Einfluͤſſen der Geldariſto¬
kratie auf Sitten, Meinungen und Ereigniſſe, nicht
von den Kapitalien, die dem Gewerbe und dem Acker¬
bau entzogen werden, nicht von Drohnen, die von
Renten leben und ohne Verhaͤltniß beſteuert ſind, nicht
von der Immoralitaͤt des Boͤrſenſpieles.
Die Anleihen ſind einmal da, das große Schuld¬
buch der Nationen zeigt Namen, Datum und Jahres¬
zahl, das Geſchaͤft iſt im beſten Gange. Fuͤnf Bruͤ¬
der kenne ich, welche den lokalen Ruf der Ehrlichkeit
genießen, die originell, liebenswuͤrdig, wohlthaͤtig und
reich ſind und die ſich Niemandem aufgedrungen ha¬
ben. Die Verpflichtungen ſind eingegangen, wir koͤn¬
nen nichts thun, als einen Rieſenbau von Dukaten¬
ſaͤulen mit Piaſterkapitaͤlen und flatternden Coupons¬
guirlanden umgehen, und das blitzende Wunderwerk
anſtaunen. Naiv, neugierig, ganz unbetheiligt ſtellt
ſich der Autor an ſeine beſcheidene Honorarſaͤule im
Vierundzwanzigguldenfuß und betrachtet das Gewuͤhl
und Rennen, das ſich vor ſeinen Augen aufthut.
Aphroditens Voͤgel fliegen in der Luft von Paris
nach Amſterdam und haben die Kurszettel aus der
Couliſſe unter ihren Fittigen gebunden; ein Telegraph
fingert von Paris nach Bruͤſſel hinuͤber, wie hoch die
3prozentige Rente geſtiegen iſt; Kuriere eilen uͤber die
Landſtraßen auf keuchenden Roſſen; die Abgeſandten
der wirklichen Koͤnige markten mit den ideellen Koͤni¬
gen, und Nathan Rothſchild in London zeigt Euch,
wenn Ihr ihn beſucht, ein Kaͤſtchen, das aus Braſi¬
lien mit ganz friſchen, eben aufgefiſchten Diamanten
angekommen iſt, um damit die Zinſen der braſiliſchen
laufenden Schuld zu decken. Iſt dis nicht intereſſant?
Iſt es nicht intereſſant, daß Nathanael, des
Londoner Rothſchilds juͤngſter Sohn, bei ſeiner Au¬
dienz in Konſtantinopel vom Sultan, als Sonne un¬
ter den europaͤiſchen Bankiers begruͤßt wird; daß Karl
Rothſchild dem Papſt die Hand kuͤßt, und Lionel, der
aͤlteſte Sohn des Londoner Rothſchild, in Madrid
zum Ritter Iſabellens, der Katholiſchen, ernannt wird?
Beſchaͤftigt Euch einige Minuten mit dieſem wun¬
derlichen Syſteme! Ihr werdet noch immer Zeit ge¬
nug finden, es zu verdammen. Spindlers Bendavid
und der Ghetto von Frankfurt ſind bekannt. Schon
hat die Flamme einen großen Theil dieſer antiken
[281]Rothſchild. Ueberlieferung zerſtoͤrt; doch der groͤßere blieb zuruͤck
und oͤffnet die Perſpektive einer Zeit, die noch nicht
lange verfloſſen iſt. Reicht das Mittelalter der Juden
nicht noch hinauf in das Jahrhundert der Aufklaͤrung?
Zwei ſchmuzig rothe Haͤuſerreihen, gebaut auf al¬
ten Urbloͤcken, die ſo ſchwer ſind, wie der Stamm,
den Chriſtus auf Golgatha tragen mußte, ziehen ſich
in einer aͤngſtlichen, finſtern, ſchlecht gekehrten Pa¬
rallele neben einander hin, von einer unvollendeten
Synagoge bis zu dem jenſeitigen Thore, das ehemals
naͤchtlich geſchloſſen wurde.
Welche Charaktere verſtecken ſich hier hinter den
originellſten Mienen! Hier lernt man, daß die Juden
noch immer einen innerlichen Zuſammenhang unter
ſich haben, daß ſie eine geſchloſſene Kette mitten in
der europaͤiſchen Geſellſchaft bilden. Dort der mit dem
Raͤnzel auf der Landſtraße wandernde Hauſirer, die
Herberge der naͤchſten Stadt, die Kundſchaft am Orte
— o man lernt ſich eine planmaͤßige Exiſtenz, wie ſie
hinter unſerm Ruͤcken von einem ganzen Volke gelebt
wird, zuſammenreihen. Seht jenen Sack, in dem auf
der Frankfurter Judengaſſe der Hauſirer einen Troͤd¬
ler hineinguken laͤßt; iſt es nicht, als ſtaͤken Dinge
darin, die in Polen und Oſtpreußen vermißt werden?
[282]Rothſchild.Gewiß iſt dieſer Glaube grundlos, aber die Stille des
Ortes naͤhrt ihn.
Mitten unter Auskehricht, Reſten kauſcherer Mit¬
tagsmahlzeiten, mitten unter Geruͤchen, welche fuͤr ein
Land berechnet ſcheinen, wie der Orient iſt mit ſeinen
Roſenwaͤldern, um ſie zu unterdruͤcken, toͤnt hier Al¬
les faſt wie eine geheime Verabredung, wie ein naͤcht¬
licher Ueberfall, wie die eben aus Portugal erhaltene
Nachricht von des wahren Meſſias endlicher Erſchei¬
nung. Stechende Blicke begleiten ein lakoniſches, mit
humoriſtiſcher Freiheit geſprochenes Deutſch. Die Ge¬
ſichtsbildungen mit ihren barocken Unregelmaͤßigkeiten,
die mir aus einem unerklaͤrlich geilen und wuchernden
Triebe der juͤdiſchen Natur zu entſtehen ſcheinen, das
nachlaͤſſige, die Hand in die Hoſen geſteckte Hinleh¬
nen an die rußige Mauer, das wie von Siegellack-
Roth prunkende Antlitz der Kattun-Verkaͤuferin mit
ihrem angeſchwollenen Leibe, kurz alles juͤdiſch Cha¬
rakteriſtiſche traͤgt in ſich einen vielleicht ganz harmlo¬
ſen Ausdruck, aber dem boͤſen Gewiſſen des Chriſten,
einer jahrtauſendjaͤhrigen Verſchuldung duͤnkt er wie
Rache. Den Kopf haben wir voll von abgezapftem
Blute, vom Feuertod, von der mittelalterlichen Ser¬
vitut der reingekehrten Gaſſe und den jaͤhrlich 14
[283]Rothſchild.Brautpaaren; darum verſehen wir uns nichts Gutes
hier an dem Quartiere Iſraels.
Aber großmuͤthiges Volk, nichts als leben willſt
du, nichts als jenes unblutige, vor Moſes gerechte
Fleiſch, das der Schaͤchter ſeinen Kunden zutraͤgt,
nichts als die duftende Zwiebel, und Menſchen, welche
Luſt zu handeln haben, Menſchen, welche gute, hei¬
lige Kronenthaler auf Pfaͤnder nehmen! Hier iſt keine
Rache und ich verdamme meine Phantaſie, wenn ich
auf dem Gemuͤſe-Markt ſtehe, wo die alten grauhaa¬
rigen Rebecken und Rachel mit den Hoͤkern um den
Fruͤhling handeln, und ich mir uͤber Eurer dunkeln
Gaſſe, uͤber dieſem von allen Nebengebaͤuden und den
Beiſtraßen iſolirten Exil den rothen Hahn des Zigeu¬
ners unwillkuͤhrlich machen muß, als ſei dieſe ganze
romantiſche Antiquitaͤt dazu beſtimmt, in Kurzem ein
Raub der Flammen zu werden. Erſchreckt nicht! Ich
bin keine Caſſandra!
In der Frankfurter Judengaſſe wurde der alte
Herr geboren, welcher der Stifter des Hauſes Roth¬
ſchild war, Mayer Anſelm Rothſchild. Es war einige
Jahre fruͤher, ehe die Frau des Patriziers Goethe in
die weltberuͤhmten Wochen kam. Mayer Anſelm hatte
vielleicht auch einen Traum erlebt, wie der junge Wolf¬
[284]Rothſchild. gang an der ſchlimmen Mauer; doch waren es nicht
die verfuͤhreriſchen Lockungen der Poeſie, welche ihn
umgaukelten, ſondern die heiligen Schnoͤrkel des Tal¬
mud, die glaͤnzenden Urim und Thummim des Ho¬
henprieſters blendeten ſeine Phantaſie, er wollte auf
dem Stuhle der Synagoge ſtehen und die Thora pre¬
digen, das Geſetz der Gerechten.
In Fuͤrth holte er ſich aus alten, ſchweinsleder¬
nen Buͤchern, aus urweltlichen, ungedruckten Perga¬
menten das lautere Wort Jehovahs, und was Mai¬
monides und Raſche beigebracht haben, um es zu er¬
klaͤren. Er lernte was Keri und Ketiph iſt, und folgte
der Weisheit Mayer Hallevis, des großen Rabbi von
Toledo, der zuerſt den Werth der Maſora aufgedeckt
hat. David Kimchi und David ben Jechiel, die Dic¬
tionaire der Sprache Gottes, kamen nie aus ſeiner
Hand; noch dachte er nicht an Dividenden und Looſe,
er ſuchte ſtatt der Wahrheit der Erde die Wahrheit
des Himmels.
Als ſich das Projekt, im Violettkleide ein Prie¬
ſter zu werden zerſchlug, da war Mayer Anſelm noch
immer nicht auf die Praxis des Lebens geſtellt, auf
die klingende Muͤnze, auf die Vierundzwanziger Ma¬
rien Thereſiens und den Unterſchied der preußiſchen
[285]Rothſchild.Viergroſchenſtuͤcke von den falſchen Ephraims Friedrich
des Großen; ſondern er blieb noch ſtehen bei einer
Verbindung der Wiſſenſchaften mit der Praxis, naͤm¬
lich bei alten Muͤnzen, mochten ſie nun von Gold,
Bronze oder Kupfer ſein.
Mayer Anſelm war bewandert in jeder Centurie,
in perſiſchen und byzantiniſchen Muͤnzen, er war ge¬
ſchickt, das Werk des Profeſſors Eckhel in Wien zu
rezenſiren, wenn ihn die Salzburgiſche Literatur-Zei¬
tung dazu aufgefordert haͤtte. Er trieb in Hannover
das Komptoir-Geſchaͤft (denn der Vater wollte nicht
glauben, daß der Muͤnzenhandel ein Geſchaͤft waͤre);
aber er that es wie Moſes Mendelsſohn, der auf der
Burgſtraße in Berlin das große Buch einer Seiden¬
waaren-Handlung fuͤhrte und nebenbei in dem noch
groͤßeren Buch der Natur und des Geiſtes blaͤtterte.
Nur war der Unterſchied der, daß Mendelſohn fuͤr
Kant, Mayer Anſelm fuͤr Winkelmann ſchwaͤrmte.
Jener unterſchied das Raͤumliche von dem Zeitlichen in
der Erſcheinung, dieſer einen Caracalla von einem He¬
liogabal. Jener wußte, wie ſich das Gute von der
Guͤte, das Schoͤne von der Schoͤnheit, Ariſtoteles von
Plato, und beide wieder von Sokrates unterſchieden;
dieſer, wie weit die Roͤmer in Deutſchland vorgedrun¬
[286]Rothſchild.gen ſind, wo ſie ihre Todten begruben. Mayer An¬
ſelm war ein Antiquar, der fuͤr die Thatſachen der
Geſchichte ſchwaͤrmte.
Der Landgraf von Heſſen (ſpaͤter Kurfuͤrſt) theilte
die Liebhaberei ſeines Nachbars, und kaufte ihm Muͤn¬
zen ab, obſchon Germanicus oder Domitian, die darauf
abgepraͤgt waren, keine Zoͤpfe trugen.
Und wie ſie beide ſo unterhandelten und ſich beide
belehrten uͤber die Nacht der alten Zeiten, und die we¬
nigen aus ihr herausblinkenden Muͤnzſterne, da be¬
merkte der Landgraf in ſeinem Antiquar einen guten
Geſchaͤftsmann und eine Ehrlichkeit, die gerade ſo weit
ging, als das erlaubte Prozent ſeines Verdienſtes. Er
fing an ſtatt von alter Bronze auch uͤber neues Sil¬
ber mit ihm zu ſprechen, und uͤbertrug ihm manches
kleine Geldgeſchaͤft, bis er 1801 mit der Hofagentur
Mayer Anſelms Verdienſte belohnte.
Seither blieb dieſe Verbindung ohne Unterbrechung,
und war eine Garantie fuͤr andere Fuͤrſten, ſich in
Verlegenheiten ohne Scheu an das aufbluͤhende Frank¬
furter Haus zu wenden. Das Verdienſt, welches ſich
Rothſchild unter Napoleon um das kurfuͤrſtliche Pri¬
vatvermoͤgen erwarb, iſt bekannt genug. Er befeſtigte
ſich immer mehr in der oͤffentlichen Achtung und
[287]Rothſchild. konnte davon unter Dalberg die Beweiſe ſehen;
denn dieſer machte ihn zum Mitglied des Wahlkol¬
legiums.
Eine ſchlechte Empfehlung der Republik liegt in
der Reaktion, welche nach Napoleons Sturz gegen die
Emancipation der Juden wieder eintrat. Rothſchilds
aͤlteſter Sohn harrt noch heute vergebens darauf, nur
in das Frankfurter Caſino aufgenommen zu werden.
Waͤhrend Dalbergs ſanfter Monarchie dagegen durfte
der Vater den Stab uͤber unzuverlaͤſſige Chriſten bre¬
chen, Boͤrne durfte wandernden chriſtlichen Handwerks¬
burſchen Paͤſſe ausſtellen.
Mayer Anſelm erlebte die Reaktion der Intole¬
ranz nicht. Er ſtarb im Jahre 1812, nachdem er
ſeine Soͤhne am Sterbebette verſammelt, und ihnen
die perſiſche Fabel von dem Buͤndel Pfeile erzaͤhlt
hatte. Vielleicht hatte er einen hollaͤndiſchen Dukaten
in der Hand und zeigte ihnen die Pfeile und ſprach
leiſe in ſich hinein: „concordia res parvae crescunt,
discordia maximae dilabuntur.“ So ſtarb er als
ein Gerechter, als Vater, als Gelehrter, als Muͤnz¬
kenner. Sein Tod wurde allgemein betrauert; denn
er ſpendete uͤberall Wohlthaten mit patriarchaliſcher
Uneigennuͤtzigkeit.
Erſt den fuͤnf Soͤhnen Mayer Anſelms war es
uͤberlaſſen, das in Ausfuͤhrung zu bringen, was der
Vater vorbereitet hatte. Sie fanden ungemeine Geld¬
mittel vor, aber dazu zwei Dinge, die dem Kaufmann
noch hoͤher ſtehen muͤſſen: Kredit und Konjunkturen.
Napoleon war keine Konjunktur. Unter Napoleon
hatte das Syſtem der Kontributionen geherrſcht, welche
fuͤr Frankreich die groͤßten Verlegenheiten deckten. Und
die, welche ſie zahlen mußten, ſtießen uͤberall auf eng¬
liſche Subſidien und eine Zudringlichkeit, die den Kon¬
tinent an den Rand des Abgrundes brachte. Auch
floͤßten die innern Zuſtaͤnde der vorzuͤglichſten Staaten
den Kapitaliſten kein Vertrauen ein; denn nach den
Schlachten von Jena und Wagram hatte das Papier
in Preußen und Oeſtreich ſeinen Werth verloren. Erſt
nach dem Pariſer Frieden, nach dem in Wien fuͤr
Europa punktirten status quo konnten Private zu den
Regierungen Vertrauen faſſen; der Wechſel-Verkehr
zwiſchen Fuͤrſten und Voͤlkern war erhebend; jeder ſah
ſich nach den beſten Mitteln um, ſeine Wunden zu
heilen; die Entſchaͤdigungs-Gelder bewieſen, daß noch
ungeheure Summen aus den europaͤiſchen Truhen
konnten aufgebracht werden, und im Ruͤcken wußte
man die noch immer nicht verſiegenden Adern der Ge¬
[289]Rothſchild. birge, Stroͤme, auf welchen der Handel ſeine luſtige
Hoffnungsflagge wehen ließ, fruchtbare Thaͤler, ge¬
werbſeifrige Staͤdte und zuletzt die blaue, liebe Luft,
in welche die Spekulation viele ihrer Schloͤſſer hinein¬
baute. Jetzt hatte man Luſt zum Geben und zum
Nehmen: Einer ſuchte an der Verlegenheit des Andern
zu gewinnen, und beide lachten; denn beiden war ge¬
holfen.
So entſtanden nach Napoleons Sturz Anleihen,
welche ſich zu einem foͤrmlichen Syſteme ausbildeten,
und jetzt in den Lehren der National-Oekonomen ihre
feſten, ſehr komplizirten Kapitel haben. Die Gebruͤder
Rothſchild wurden die Hierophanten der neuen Reli¬
gion, welche ihre Fanatiker ſo gut wie ihre Ketzer hat.
Als die Gebruͤder Rothſchild zu operiren anfingen,
mußte zuerſt ein Vorurtheil zerſtoͤrt werden, naͤmlich
die freiwillige Abhaͤngigkeit, in welche ſich der Konti¬
nent von England zu ſetzen pflegte. Sollte die Mo¬
neycracy eine Autoritaͤt werden, ſo mußten von ihr
Fuͤrſten und autoriſirte Geſellſchaften ausgeſchloſſen
werden. Haͤtten die Umſtaͤnde nicht faſt ununterbro¬
chen ſeit vierzig Jahren das Buͤndniß Englands mit
Preußen und Oeſtreich beguͤnſtigt, und die politiſchen
Gutzkow's öffentl. Char. 19[290]Rothſchild. Maaßregeln dieſer Staaten zu gemeinſchaftlichen fuͤr
wenigſtens zwei Theile gemacht, ſo waͤre die Verſchul¬
dung der beiden Kontinentalmaͤchte an den Staat Eng¬
land tauſend Irrungen preisgegeben geweſen. Die Geld¬
maͤnner wollten keine Gemeinweſen zu Rivalen haben,
ſondern es ſollte ein geſchloſſener Bund, eine Adels¬
kette des Geldes unter Privaten werden, die ihr ge¬
heimes Netz um Europa ſpann. Die Anleihen wur¬
den ausgeboten und an den losgeſchlagen, welcher die
geringſte Proviſion nahm.
Aber freilich die Bereitwilligkeit des Borgens iſt
wohl immer die ſchwaͤchſte Garantie des Wiederbezah¬
lens: es mußten neue Regierungsakte hinzukommen,
um den Privaten Vertrauen einzufloͤßen. Dis waren
nach dem Kriege von 1815 einestheiles die Errichtung
der Tilgungsfonds, ſodann die Anerkennung des re¬
praͤſentativen Syſtems. Denn man irrt ſich, glaubte
man, die Geldariſtokratie ſei in jedem Stuͤcke mit der
abſoluten Monarchie verſchworen. Die Geldariſtokratie
hat die ſtaͤrkſten Augen und eine nervoͤſe Senſibilitaͤt,
die ſie, man moͤchte ſagen, in den Zuſtand des Hell¬
ſehens verſetzt. Sie lebt von einem Handel, den man,
als noch mit Tulpen ſtatt mit Aktien gehandelt
[291]Rothſchild. wurde, ſchon den Windhandel nannte: ſie weiß, daß
man uͤber den Wind der Politik nicht phyſikaliſch be¬
ſtimmen kann, von wannen er koͤmmt und wohin er
faͤhrt. Die Wahrſcheinlichkeits-Rechnung ſchließt keine
Chance aus. Deshalb mußte ein Syſtem in ihre
Berechnungen paſſen, welches von der Zukunft das Ge¬
faͤhrlichſte vorwegnimmt, und die Demokratie ſelbſt,
dis Schreckbild der Kapitaliſten und Staatsglaͤubiger,
in ihr Intereſſe zieht. Die Boͤrſenmaͤnner gehoͤren
alle zum Juſte-Milieu, zu einem Glaubensbekenntniß,
das es mit Niemandem verderben will, und das uͤber¬
all unterliegen muß, wo es Doktrin iſt, und mit po¬
ſitiven Zwecken umgeht, da aber die Oberhand behaͤlt,
wo es nur eine Maaßregel der Schlauheit und kluger
Berechnung eines Einzelnen iſt. Die Staͤnde ſagten
gut fuͤr die Schulden der Regierungen, oder mit an¬
dern Worten, jene wahrſcheinliche Thatſache, daß un¬
ſere Enkel die Verpflichtungen ihrer Vaͤter nicht uͤberall
mehr anerkennen werden, wurde noch auf eine ziemlich
ferne und nebelhafte Zeit hinausgeſchoben.
Weit illuſoriſcher als das Repraͤſentativſyſtem iſt die
Fundirung eines Tilgungsfonds. Die Maaßregel diente
nur dazu, einen ungefaͤhren Maaßſtab des beſten Wil¬
19 *[292]Rothſchild. lens zu geben. Denn jedes neue Ereigniß, das ploͤtz¬
liche Beduͤrfniſſe der Regierungen hervorruft, wird alle
vorangegangenen ſchoͤnen Tilgungsentſchluͤſſe zerſtoͤren.
Wir erinnern an den Sinking-Fund in England.
Dennoch iſt es fuͤr die Regierungen vertrauenerweckend,
wenn ſie ſich wenigſtens den Anſchein geben, als ver¬
mieden ſie, leichtſinnig zu ſein.
Das erſte Beiſpiel, in ſeinem Staatshaushalte zu
ordnen und zu lichten, gab Oeſtreich. Nicht nur daß
dieſer Staat, der unter Napoleon in Geldſachen faſt
ſeinen ganzen Kredit verloren hatte, an Tilgung ſeiner
Schuldenmaſſe dachte, ſondern es wurde namentlich die
Errichtung einer Nationalbank von weſentlichem In¬
tereſſe. Auf die Tilgung und die Bank folgte die
Emiſſion der Metalliques, eines Papiers, das gleichſam
alle boͤſen Saͤfte des oͤſtreichiſchen Schuldenweſens in
ſich abſorbirte; denn mit ihm wurden die meiſten kur¬
ſirenden Schuldverſchreibungen Oeſtreichs in Rapport
geſetzt. Die Metalliques hatten in ſich Schrot und
Metallwerth genug, um von den ihnen beigefuͤgten Ele¬
menten nicht angeroſtet zu werden. Sie bleiben der
rechte Nennwerth von Oeſtreichs unerſchoͤpflichem Na¬
tionalreichthum, ſeinen ungariſchen Bergen, welche oben
[293]Rothſchild.das Gold der Rebe, unten das Gold Fafners huͤten,
von ſeinen ſteieriſchen Eiſenhaͤmmern, ſeinen geſegneten
ſonnenhellen Erblanden, von all den Naturadern, die
Oeſtreich zum zaͤheſten und unvertilgbarſten Staate der
Erde machen. Die Metalliques ſind der leitende Kom¬
paß auf den Wogen der deutſchen Boͤrſen. Waͤren
ſie nicht zu ſchwer, als daß ſie jeder Wind herumwer¬
fen koͤnnte, ſo verdienten ſie den Namen der deutſchen
Boͤrſengirouetten. Mit ihrer Emiſſion datirt ſich in
Deutſchland der geregelte Verkehr mit Staatspa¬
pieren.
Die Gebruͤder Rothſchild waren bald in das In¬
tereſſe der oͤſtreichiſchen Finanzen aufgenommen. Bis
zum Jahre 1840 laufen die im April 1823 emittir¬
ten kleinen Rothſchild'ſchen Looſe; in dieſem Jahre
(1835) ſind ſchon abgelaufen die Pariſer Rothſchild'¬
ſchen Metalliques, welche fuͤr originaloͤſtreichiſche fun¬
girten. Im Jahre 1821 wurden fuͤr eine Rothſchild'¬
ſche Anleihe die Partialobligationen kreirt. Preußen
hatte ſchon im Jahre 1817 von dem Frankfurter
Hauſe 5 Millionen Gulden geliehen.
In Paris und London trat allerdings die Konkur¬
renz bedeutender Kapitaliſten ein, Aguado, der fuͤr
[294]Rothſchild.Spanien, Lafitte, der fuͤr Frankreich und Hayti nego¬
ziirte, Ardouin, Pariſh u. A. Doch blieben die Bruͤ¬
der bei keinem Geſchaͤft unbetheiligt: ſie bilden einen
unbeſiegbaren Phalanx. Selbſt oder durch ihre Agen¬
ten beherrſchen ſie die vorzuͤglichſten Plaͤtze, und da ſie
gewohnt ſind, nichts ohne Verabredung und Ueberein¬
ſtimmung zu unternehmen, ſo koͤnnen ſie dabei nach
einem Syſteme verfahren.
Die Orden und Titel der Bruͤder ſind nur zur
Haͤlfte ein Maaßſtab der Achtung, welche ſie bei den
europaͤiſchen Souverainen genießen. Man hat gefragt,
ob die Rothſchilds direkten Einfluß auf die Politik ha¬
ben? Haͤngt uͤberhaupt die Geldariſtokratie energiſch
mit den Ereigniſſen der neuen Geſchichte zuſammen?
Die Phantaſie und der Haß haben in dieſer Ruͤck¬
ſicht viel Fabelhaftes erſonnen. Mir liegt ein ameri¬
kaniſcher Roman vor Augen, in welchem die Fiktion
eines Bundes von zehn der reichſten Erdengoͤtter, die
Krieg und Frieden ſchließen und die Welt nach Gut¬
duͤnken regieren, auf hoͤchſt anziehende Weiſe durchge¬
fuͤhrt wird. — „Zehn ſind wir — ſagt Einer von ih¬
nen — und uͤber die ganze Welt zerſtreut, und doch
taͤglich, ja ſtuͤndlich beiſammen; durch keine Bande,
[295]Rothſchild.und doch wieder durch die innigſten Bande verſchlun¬
gen, die des gemeinſchaftlichen Intereſſe's, das der
Welt eine neue Geſtaltung geben ſoll, fruͤher oder ſpaͤ¬
ter geben ſoll, wird, muß. In London ſind wir fuͤnf.
Alle Wochen verſammeln wir uns, vergleichen Noten
und beſtimmen den Gang der Weltverhaͤltniſſe. Die
Myſterien der Finanzen aller Reiche und ihrer Exiſtenz
liegen klar vor unſern Augen. Kein Reich, keine Fa¬
milie, kein Stand iſt unſerm anatomiſchen Meſſer
entgangen. Wir halten die Bindungsfaͤden unſerer
Exiſtenz, jedes Standes, jeder Familie, von der aller¬
hoͤchſten bis zur niedrigſten in unſerer Hand. In un¬
ſerm Soll ſtehen Milliarden, ſtehen Staaten und Fa¬
milien, Koͤnige und Kaiſer; es ſind Noten wie die im
Buche des ewigen Richters. Der oͤffentliche Kredit
und das haͤusliche Wohl, das Gluͤck aller Reiche der
civiliſirten, d. h. der ſchuldenden Welt, des Handels
und Wandels hangen von unſerm Wink und Willen
ab. Was iſt die geheime Polizei des Kontinents ge¬
gen die, welche wir bezahlen! Das tanzende und in
ſeinen Feſſeln knirſchende Frankreich, und das phleg¬
matiſch-mondſuͤchtige Deutſchland, und das traͤg-bi¬
gotte Spanien und das elende an den Knochen ſeines
dreitauſendjaͤhrigen Ruhmes nagende Italien muͤſſen
[296]Rothſchild.ſich beugen und fuͤgen, und alle Laͤnder der Erde
muͤſſen folgen, denn unſere Mineurs ſind thaͤtig.“
Dis iſt eine Allegorie. Sie druͤckt das als Machi¬
nationen aus, was die unwillkuͤhrliche Thatſache un¬
ſerer modernen Verhaͤltniſſe iſt. Iſt hier etwas un¬
vermeidlich, ſo fuͤrchtet nicht, daß es nicht beſiegt wer¬
den koͤnnte! Glaubt Ihr, daß die ganze Zukunft des
Menſchengeſchlechts, daß das wahrhaft Welthiſtoriſche
ſich werde umſpinnen laſſen von den Metall- und
Papierintereſſen eines ſchwindelhaften Jahrhunderts?
Ein franzoͤſiſcher Miniſter, der den Telegraphen hat,
kann ſich kleine Niedertraͤchtigkeiten zu Schulden kom¬
men laſſen, aber ſchon muͤſſen die von ihm fabrizirten
Ereigniſſe fuͤrchten, entlarvt zu werden: nur auf ein
Geruͤcht duͤrfen ſie ſich beſchraͤnken, oder wenn ſie
wirklich thatſaͤchliche Wurzel haben, ſo gedeihen ſie
nicht laͤnger, als bis ein guͤnſtiger Kauf abgeſchloſſen
iſt und der Telegraphen-Miniſter ſoviel eruͤbrigt hat,
daß er ſich damit in Zukunft fuͤr ſeine Dimiſſion und
ſeine ruinirte Popularitaͤt entſchaͤdigen kann.
An ſolche Manoeuver, an einen Einfluß auf die
Politik ſo heilloſer Art denken wir nicht, wenn von
Maͤnnern die Rede iſt, die wie die Gebruͤder Roth¬
[297]Rothſchild.ſchild im Angeſichte der Welt handeln und ganz Eu¬
ropa ihr Komptoir nennen.
Manches Anderweitige aber, das in die Politik
eingreift, moͤchte unterlaufen, eine Idee, ein Vorſchlag,
eine Miſſion. So iſt es unbezweifelt, daß das
Frankfurter Haus der preußiſchen Regierung den Vor¬
ſchlag einer Nationalbank und einer daraus folgenden
ſublimen Finanzmetaphyſik nach dem Muſter Oeſtreichs
gemacht hat. Doch hat die preußiſche Regierung die
anſehnlichen Vortheile, die in gewiſſen Prozenten von
dem ganzen Geſchaͤft beſtehen ſollten, großmuͤthig von
ſich gewieſen. Charakteriſtiſch war es, daß der Wi¬
derſtand gegen das Projekt vom Kronprinzen von
Preußen ausgegangen und von Niebuhr, einem gelern¬
ten Finanzier, heftig beſtritten worden ſeyn ſoll.
Sodann mochte auch die Juliusrevolution, als
die Legitimitaͤt und das ſouveraine Volk, das de jure
und de facto in Kolliſionen geriethen, der Geldariſto¬
kratie, als der einzigen unangetaſtet gebliebenen Macht,
oft eine Vermittlungsrolle uͤbertragen haben. Wenig¬
ſtens ſcheint es erwieſen, daß die Gebruͤder Rothſchild
von oͤſtreichiſcher Seite her kurz nach jenem Ereigniſſe
dazu gebraucht worden ſind, die beanſtandete neue
[298]Rothſchild.Ordnung der Dinge in Frankreich zu vermitteln und
eine Anerkennung vorzubereiten, welche die Klugheit
laͤngſt zugeſtanden hatte.
Die große Kriſis in den Jahren 1824 bis 1826
erſchuͤtterte das Rothſchildiſche Haus nicht. Waͤhrend
durch die Ausſicht auf lange Friedenszeiten ſich die
Papierſpekulationen zu einer ſchwindelnden Hoͤhe gehoben
hatten, waͤhrend die Noten der engliſchen Bank den
Markt uͤberflutheten, und der Handelsgeiſt ſich mit
unermeßlichen Kreditgeſtattungen uͤberbot, waͤhrend end¬
lich die Rentenreduction Villèles, welche dieſer Mini¬
ſter zuerſt verſuchte, ſcheiterte, und die ploͤtzlich konſti¬
tuirten Staaten Suͤdamerika's, eines Welttheils, den
man fuͤr ein unerſchoͤpfliches Eldorado hielt, große Sum¬
men Geldes aus Europa entfernten, wankte die Firma
der Bruͤder nicht. Ein guͤnſtiger Zufall wollte, daß
um jene Zeit faſt gar kein Wechſel auf Rothſchild zir¬
kulirte. Die bedeutendſten Handlungshaͤuſer (beſonders
B. A. Goldſmith in London) fallirten, in Frankfurt
ſtellten zwei der angeſehenſten Haͤuſer ihre Zahlungen
ein, in Berlin war Benecke ruinirt. Nun, was iſt?
ſagten die Rothſchilds.
Sie ertrugen die heſſen-darmſtaͤdtiſche Finanzkriſis;
[299]Rothſchild.ſie ertrugen eine noch groͤßere von neuerm Datum,
die ſpaniſche. Dreizehn Millionen ſtanden hier auf
dem Spiele, die ſie der Regierung vorgeſchoſſen hat¬
ten. Zwar ließ ſich Lionel in Madrid das Anlehen
ſelbſt entgehen, aber die Vorſchuͤſſe wurden gerettet.
Faſt alle dieſe Gluͤckszufaͤlle und Kombinationsre¬
ſultate kommen auf gemeinſchaftliche Rechnung. Nichts
von groͤßerem Intereſſe wird iſolirt betrieben. Sie lei¬
ſten, was ſie koͤnnen; doch druͤckt keiner den Andern,
Niemand iſt dem Bruder verantwortlich. Sogar ihre
Firmen giriren ſie gegenſeitig; mit einziger Ausnahme
des Londoner Hauſes, deſſen ausſchließlicher Chef Na¬
than iſt; eine Anomalie, welche ihren Grund in der
großen Sorgfalt findet, die auf jenen erſten Platz ver¬
wandt werden muß. Die Bruͤder leben der Mahnung
ihres Vaters eingedenk. Es iſt anziehend, das in ih¬
nen Gemeinſame, was die Folge des Intereſſe's und
der Verwandtſchaft iſt, mit der beſondern Phyſiogno¬
mie des Charakters zu vergleichen, die ihnen, faſt
moͤchte man glauben unwillkuͤhrlich, von ihren getrenn¬
ten Lokalitaͤten aufgepraͤgt worden iſt.
Anſelm, der aͤlteſte Bruder, gibt in ſich alle die
Eigenſchaften wieder, welche den Frankfurter kleiden.
[300]Rothſchild.Er findet ſeinen Stolz in einer faſt buͤrgerlichen Wohl¬
behaͤbigkeit, die mit der Diplomatie an ſeinem Platze
nicht kokettirt, ſondern nur rivaliſirt.
Dem Salonstone weit naͤher ſteht Salomon in
Wien, der mit einer gewiſſen Kaͤlte des aͤußern Be¬
nehmens negative Formen verbindet, welche ans Di¬
plomatiſche ſtreifen. Nichtsdeſtoweniger ſoll er den gro¬
ßen Blick theilen, welcher namentlich den aͤlteſten Bru¬
der auszeichnet.
Nathan in London repraͤſentirt vortrefflich Sitte,
Geſinnung und Reichthum der City. Er packt ſeine
Unternehmungen mit einer Rieſenfauſt. An ihm iſt
Alles koloſſal. Ein Freund von mir ſagte neulich
uͤber dieſen Mann: „Geht er auf die Jagd, ſo muͤſ¬
ſen es wenigſtens Elephanten ſein, die er erlegt.“
Kann man dem Bilde trauen, welches Fuͤrſt Puͤckler
in leiſen Zuͤgen von Nathan Rothſchild entwirft, ſo
iſt er ein jovialer Mann, der im Stande iſt, ſich
uͤber ſeine Stellung zu erheben und eine Unbefangen¬
heit zu aͤußern, welche ſogar uͤber ſich ſelbſt ſcherzt.
Nur laͤßt es der ſarkaſtiſche Fuͤrſt unentſchieden, ob
Nathan, wenn er ſich etwas breit mit ſeinem Reich¬
thume entfaltet, mehr der unbewußten naiven Freude
[301]Rothſchild.uͤber ſein Gluͤck ſich ergiebt, oder ob er ſich, wie wohl
große Maͤnner und Genie's thun, aus Bonhommie ſelbſt
wie ein wunderherrliches Objekt betrachtet.
Karl, der Neapolitaner, ſoll der zugaͤnglichſte ſeyn.
Denn wie vorſichtig und italieniſch maskirt auch ſein
Benehmen in Geſchaͤftsverhandlungen, ſo zeichnet ihn
doch ein hervorſtechender Zug des Herzens aus, der ihn
gut und weich erſcheinen laͤßt.
Jacques in Paris iſt Pariſer, d. h. ein Charak¬
ter, woruͤber hundert und ein Schriftſteller nachdenken
konnten, ohne ihn dennoch in zwoͤlf Großoktavbaͤn¬
den gruͤndlich erſchoͤpft zu haben.
Noch lebt die Mutter der Bruͤder. Sie iſt der
Genius, der uͤber ſie Wache haͤlt, ein faſt unſichtba¬
rer Genius; denn noch immer wohnt ſie in der Frank¬
furter Judengaſſe. Sie kann ſich nicht trennen, die
alte Frau, von dem Elend ihres Volkes, und freut
ſich in dem ſchmuzigen Viertel die Einzige zu ſein,
welche alle vier Wochen weiße ſaubere Gardinen an
ihre kleinen Fenſter aufſteckt. Das iſt ihr Stolz!
Sie verlaͤßt die liebe Heimath nur, um einmal in
Anſelms Prachtgaͤrten die Koͤnigin der Nacht bluͤhen
zu ſehen, oder ein neues Gemaͤlde zu betrachten, das
[302]Rothſchild.der Sohn neben Oppenheimers beruͤhmter Suſanne
placirt. An demſelben Tage wird ſie ausathmen,
glaub' ich, wo Laͤtitia Bonaparte ſtirbt. Wie aͤhnlich
ſind Beide! Und wieder — welch' ein Kontraſt, rie¬
ſengroß wie die Welt!
Der Sultan.
[][]Jene Zeit ſoll voruͤber ſein, wo der Beherrſcher der
Glaͤubigen, um einen Traktat zu beſiegeln, mit der
ganzen Hand ins Tintefaß griff, und unten am Fuße
des Pergaments ſeine fuͤnf Finger abdruckte. Darf
man fremden Berichten trauen, ſo waͤre die Tuͤrkei
auf dem beſten Wege, die Civiliſation Europa's einzu¬
holen. Der alte, aus Caſchemirſhawls gewundene
Turban, die Zierde des Gerechten, ſoll einer kleinen
flachen Muͤtze, welche hart auf dem Schaͤdel liegt, ha¬
ben Platz machen muͤſſen; der ſchoͤne lockige Bart, die
heilige Tradition des vielbeſchwornen Bartes des Pro¬
pheten, ſoll ganz kurz geſchnitten werden unter den
jetzigen Verhaͤltniſſen, kurz und ſtarr, ſchaufelartig, wie
Buttler von Hudibras Barte ſagt: „Dachziegeln gleich
an Art und Schnitt, reißt er wohl ſchnellen Beifall
mit.“ Die weiten, bauſchigen Gewaͤnder verſchwinden
Gutzkow's öffentl. Char. 20[306]Der Sultan.gegen enge und ſtraffe Kleider, welche die Geheimniſſe
des Harems, krumme Beine und jede Disproportion
verrathen. Kurz man iſt ſo voll glaͤnzender Hoffnun¬
gen uͤber die Tuͤrkei, daß man jenſeits und dieſſeits
der Dardanellen, hier wo Hero, und dort wo Lean¬
der wohnte, bald die Triumphe europaͤiſcher Sitte und
Meinung gefeiert ſehen will.
Wer nur den Glauben haͤtte! Wer nur ſo leicht¬
ſinnig den Kern der europaͤiſchen Kultur in der Schaale
faͤnde, und noch leichtſinniger von einigen mehr thea¬
traliſchen, das Koſtuͤme und die Coutuͤme betreffenden
Metamorphoſen auf die innere Revolution des Mos¬
lems, auf das alte Vermaͤchtniß einer glaͤnzenden Ver¬
gangenheit, ja noch mehr auf die Prophezeiung einer
glaͤnzenderen Zukunft ſchließen koͤnnte! Unſere Phi¬
lanthropie ſieht immer mit illuſoriſchen Augen, kup¬
pelt Feuer und Waſſer zuſammen, den Sultan mit
der Republik Venedig, wie das Spruͤchwort ſagt, und
moͤchte in einer geruͤhrten Stunde einen Streit beile¬
gen, welchen zu ſchlichten Jahrhunderten nicht gelin¬
gen wird.
Ich glaube nicht daran, daß die Frage des Oſtens
eine Kulturfrage iſt, ſondern ſie muß eine hiſtoriſche
[307]Der Sultan. Loͤſung finden, was man hiſtoriſch nennt, eine Loͤ¬
ſung durch Siegen oder Unterliegen.
Was wir ſchon bei Mehemed Ali laͤugneten, den
Enthuſiasmus der Bildung hat auch Mahmud II.
nicht. Seine Civiliſationsverſuche blicken nicht auf das
hin, was Europa beſitzt durch ſein anſtaͤndiges Beneh¬
men und ſeine Induſtrie; denn wie koͤnnte man dem
ſtolzen Padiſchah ſo wenig Einſicht zutrauen, daß er
glauben ſollte, Europa's politiſches Syſtem kaͤme her
von den knappen Beinkleidern und den metallenen
Steigbuͤgeln! Nein, die Humanitaͤt ſpielt hier gar
keine Rolle, ſondern das was man in der Tuͤrkei un¬
ter dem Namen Nizam-Dſchedid verflucht, die Neuer¬
ung, hat einen ganz hiſtoriſchen Grund und ſoll ganz
beſtimmten, aͤcht tuͤrkiſchen und muſelmaͤnniſchen Ab¬
ſichten als Erleichterung dienen. Man muß ſich des¬
halb uͤber die Geſchichte der Osmanen ſeit zweihundert
Jahren aufklaͤren.
Bajazet, der Blitz, wollte den Erdkreis in Flammen
ſetzen, und ſeine und Amurats Siege bahnten zuerſt
im tuͤrkiſchen Reiche den Aſchenweg des Unterganges.
Bei einem ſolchen Widerſtand, wie ihn Hunyad und
Matthias Corvinus leiſteten, mußte der Islam auf
eine Befeſtigung ſeines Beſitzes denken. Die Kugel,
20 *[308]Der Sultan.welche bei der Belagerung Wiens in den Stephans¬
thurm fiel, war die letzte der alten Schreckenszeit, wo
man die Tuͤrken fuͤrchtete wie den Antichriſt. Seither
iſt die Pforte auf ihre Grenze beſchraͤnkt; aber da der
Islam eine Religion der Unruhe und Ausdehnung iſt,
da der Tuͤrke uͤberall, wo er ſich niederlaͤßt, nur ge¬
wohnt iſt, wie im Feldlager zu leben, ſo mußte mit
dem ſchwindenden Kriegsgluͤck auch innerlich der Ver¬
fall hereinbrechen. Die Tuͤrkei wollte aus ihrem im¬
proviſirten, durch die Wechſelfaͤlle der Eroberung be¬
ſtimmten Beſitze jetzt einen dauernden Zuſtand ſchaffen,
und ſo etablirte ſich aus halben, gaͤhrenden und gaͤnz¬
lich fremdartigen Verhaͤltniſſen eine Herrſchaft, welche
ſich raͤchen und auf Genuß und Vertheidigung ſich be¬
ſchraͤnken wollte. Waͤhrend Kriegshauptleute und
Guͤnſtlinge auf eine tumultuariſche Weiſe mit den Pro¬
vinzen des Reichs belehnt wurden, zogen ſich die Sul¬
tane in die Serails zuruͤck, und draͤngten die osma¬
niſche Geſchichte von jetzt an zuſammen auf das kleine
Terrain haͤuslicher Intrigue, aus jene Gefaͤngniſſe, in
welchen Soͤhne Vaͤter, Bruͤder ihre Geſchwiſter erdroſſeln
ließen, auf einen ganz kurzen Raum vom Serail bis
zu einem Kiosk am Meere, wo unter Roſenhecken Mord
und Verrath erſonnen wurde und Alles ſo ſtill iſt, daß
[309]Der Sultan.man nichts in der Ferne hoͤrt, als das Plaͤtſchern der
in einen Sack genaͤhten und ins Meer geworfenen, uͤber¬
liſteten Favoritſultanin des ſchwachen und grauſamen
Herrſchers.
Das Sultanat gab die gruͤnſeidne Glaubensfahne
des Propheten, ſein oberprieſterliches Anſehen, die
Wuͤrde, ein Schatten der Gottheit zu ſein, an einen
hoͤchſten kirchlichen Patriarchen, den Staatsmufti ab;
und das Schwert Mohammeds, das er noch an ſeinen
verweichlichten Lenden duldete, war eher Talisman als
der in die Schlacht winkende Blitzſtrahl; denn den
Krieg zu fuͤhren uͤbernahmen Miethlinge und [Kreatu¬
ren] der Hofkabale.
Das Sultanat war nichts als eine Repraͤſenta¬
tion geworden. Die Muͤtter der Fuͤrſten warfen ſich
ihren Soͤhnen in den Weg, wenn ſie in den Krieg
ziehen wollten, nicht aus zaͤrtlicher Vorſorge und ban¬
ger Ahnung, ſondern weil ihre Macht und ihr Leben
mit dem Leben des Sohnes ſtand und fiel, weil keine
neue Herrſchaft denkbar war, ohne erſt die Truͤmmer,
und waͤren es Blutsverwandte geweſen, der alten auf¬
zuraͤumen. Die feigen, berauſchten Sultane waren
der Spielball der Intrigue, welchen ſich immer drei
Parteien, die Favoritinnen, die Mutter und die Eu¬
[310]Der Sultan. nuchen zuwarfen. Wie mancher tuͤrkiſche Herrſcher
ſiechte von der Wiege her an heimlicher Vergiftung,
und mußte doch noch fruͤher, als die guͤtige und nach¬
giebige Natur es gewollt hatte, an einer ſeidenen
Schnur ſterben, welche ihm ſein eigener Sohn ſchickte!
Das ganze Anſehen, welches die Pforte Europa
und ihren eigenen Satrapen gegenuͤber noch behaup¬
ten konnte, entwickelte ſich aus zwei Urſachen, aus
dem Zufalle und einer Kaſte: aus dem Zufalle, wel¬
cher zuweilen kraͤftige und weiſe Veziere an die Spitze
des Reiches ſtellte, und aus einer Kaſte, welche das
Privilegium des Krieges an ſich geriſſen hatte, aus
den Janitſcharen.
Dieſe ſtehende Miliz, welche ſich erſt nur aus den
Gefangenen rekrutirte, dann aus einer beſtimmten
von den Griechen zu liefernden Menſchenzahl, und
welche deshalb einen ſo unbeſiegbaren Korporationsgeiſt
bekam, weil ſie von Kindheit auf fuͤr ihre Stellung
erzogen wurde, riß eine Gewalt an ſich, welche, ob¬
ſchon ſie die eigentliche Stuͤtze des ſchwankenden Staa¬
tes war, Niemandem fuͤrchterlicher wurde, als dem
Staate ſelbſt. Den roͤmiſchen Praͤtorianern gleich,
welche außerhalb der Stadt ihr Lager hatten, zogen
ſie oft mit der Fahne des Aufruhrs vor die Woh¬
[311]Der Sultan. nung des Kaiſers, ſtuͤrzten ihre Kochkeſſel um, was
immer das Zeichen einer großen Erbitterung war, und
verlangten die Koͤpfe der Miniſter und Guͤnſtlinge,
welche ſie ihren Intereſſen entgegen glaubten. Sie
machten Krieg und Frieden, ohne ihre Stimme kam
keine Thronfolge zu Stande, und wenn Mord und
die im Holze von Konſtantinopel wuͤthende Brand¬
fackel ihren Weg gezeichnet hatte und die Koͤpfe der
verlangten Opfer an den Minarets des Serails blu¬
tig ſtarrten, ſo konnte wieder die Furcht des Sultans
Alles verdorben haben, was er eben gewonnen glaubte;
denn er hatte mehr hinrichten laſſen, als die meuteri¬
ſchen Cohorten wollten, er hatte irgend einen Mann
des Geſetzes, einen guten Reiter, einen populairen
Soldatenfreund ſeiner blinden Furcht geopfert, fuͤr
welchen dann der eigenſinnige Haufe neue Genugthu¬
ung verlangte.
Die Tuͤrkei iſt ein jammervolles Land. Der Geiſt
des Opiums, die hoͤchſt und ausſchweifend potenzirte
Offenbarung des Traumes, liegt ſchwer auf dem ſon¬
nenhellen Himmelsſtriche. Hier Ermattung, Furcht
und Indolenz, dort Raſerei und die Wuth des Ti¬
gers, und das Alles oft in denſelben Seelen! Wer
ſollte glauben, daß es in dieſer verworrenen und er¬
[312]Der Sultan.ſtickenden Atmoſphaͤre in der That einige Tugenden
gibt, welche uns mitunter mit dem tuͤrkiſchen Namen
verſoͤhnen koͤnnten; vorzuͤglich jene innere Gerechtigkeit,
die weit mehr iſt, als das was man in Europa Ehr¬
lichkeit nennt! Es iſt eines der vielen Probleme
unſrer Zeit, beweiſen zu koͤnnen, wie in der Tuͤrkei
Wahnſinn, Grauſamkeit, Schwaͤche, mit Tugend im
Umgang, Mannhaftigkeit und ſchoͤnen Sittenſpruͤchen
zuſammen wohnen koͤnnen. Ich glaube, das Erklaͤ¬
rungsband dieſes Widerſpruchs liegt nicht weit ab von
einer Tugend, welche nicht nur den Europaͤer vorzugs¬
weiſe trifft, ſondern ihn auch uͤbertrifft, in des Tuͤr¬
ken unbeugſamen Stolze, in ſeiner großen Verach¬
tung, die er Hunden und Europaͤern zollt.
Es iſt eine ganz falſche und hochmuͤthige Erklaͤ¬
rung der Europaͤer, wenn ſie die tuͤrkiſchen Neuerun¬
gen, das was man die Emancipation des Orients
nennt, aus einem humaniſtiſchen Intereſſe fuͤr die
Idee, oder aus der Scham, etwa hinter der europaͤi¬
ſchen Civiliſation zuruͤck zu bleiben, herleitet. Der
Nizam-Dſchedid iſt nichts, als eine durch die Noth
aufgedrungene politiſche Maaßregel, welche keinen an¬
dern Zweck hat, als gegen die Macht der Janitſcharen
ein Gleichgewicht zu ſchaffen. Unſere Philanthropie
[313]Der Sultan. wird uͤberall auf Schwaͤrmereien ertappt. Gewiß iſt
der Orient nicht abgeneigt, einige kleine Bequemlichkei¬
ten des Lebens, welche der Occident in Folge ſeiner
Induſtrie voraus hat, ſich anzueignen; aber kann man
die Einfuͤhrung der Haͤhne bei den Badewannen, ja
immerhin auch die Einfuͤhrung einer neuen, koſtener¬
ſparenden Tracht, mit dem ſtolzen Namen einer Re¬
volution der Sitten und Meinungen belegen?
Nicht einmal, um die europaͤiſche Kriegfuͤhrung zu
uͤberfluͤgeln, ließ Muſtapha III. den Baron Tott zu
ſich kommen, und ſich von ihm belehren, wie man
Pontons, Gußoͤfen, Bohrmaſchinen und mathemati¬
ſche Schulen errichtet und Bomben à ricochet wirft;
ſondern weit mehr, um die Janitſcharen mit den
neuen Handgriffen auch neue Pflichten zu lehren, und
ſie in eine ſteife und disziplinirte Haltung zu bringen,
welche der meuteriſchen Ueppigkeit dieſer Truppen ein
Ende machen ſollte.
Warum ſollte Achmed III. die Buchdruckerkunſt
nicht einfuͤhren? Er wird immer geglaubt haben, daß
die Werke, welche ſeine Preſſen lieferten, Alles uͤber¬
trafen, was die franzoͤſiſche und engliſche Literatur
nur bieten konnte. Er wird nie Anſtand genommen
haben, zu laͤcheln, wenn man von Montesquieu und
20 **[314]Der Sultan.Montaigne haͤtte ſprechen und ſie vorziehen wollen zu¬
erſt dem Koran, dann den Dſchihan-Ruma oder dem
Belvedere der Welt, dem Uſſuluͤl-Hikem oder den
philoſophiſchen Grundſaͤtzen und zuletzt den „ausgewaͤhl¬
ten und wohlangereihten Perlen,“ welche Werke alle
fruͤher oder ſpaͤter in Konſtantinopel gedruckt wor¬
den ſind.
Der einzige Selim III. ſcheint nicht freigeblieben
zu ſein von den Aufklaͤrungsideen, welche das Zeital¬
ter Guſtavs von Schweden und Joſephs von Oeſt¬
reich charakteriſirten.
Alles Andere aber, was vor und nach ihm war,
reformirte in unmittelbarer Beziehung auf die Janit¬
ſcharen. Ihr Untergang war nicht die Loſung der
Civiliſation, ſondern der Autokratie des Sultans. Die
Sultane wollten weiter herrſchen, als innerhalb der
engen Mauern ihres Serails.
Erſt im gegenwaͤrtigen Augenblicke, wo die gefahr¬
volle Stuͤtze der tuͤrkiſchen Alleinherrſchaft vernichtet iſt,
ſollte ſich die Rolle entwickeln koͤnnen, welche der
Orient dem Occident gegenuͤber zu ſpielen gedenkt.
Wir ſehen das ſtolze Vermaͤchtniß der Khalifen, eine
Herrſchaft, welche die ſchoͤnſten Striche der Erde um¬
faßt, einen Staat, deſſen Waͤchter der europaͤiſche
[315]Der Sultan. Schrecken war, dem unvermeidlichen Untergange nahe.
Waͤhrend die Pforte zwei Feinde, die Satrapen und
die Janitſcharen, durcheinander vertilgen wollte, waͤh¬
rend ſie ſich in Konſtantinopel einen feſten Willen
ſchuf, um den Provinzen Geſetze vorſchreiben zu koͤn¬
nen, hat ſie wiederum die Hilfsmacht verloren, welche
ſie dabei unterſtuͤtzen mußte. So iſt das beſte Blut
der Tuͤrkei verſpritzt worden, einem Phantom zu Liebe,
einer Idee, welche ohne Haltung iſt, der Souveraine¬
taͤt des Sultans.
Dieſe Souverainetaͤt bahnte ſich ihren Weg uͤber
die Leichen der Janitſcharen, welche den Statthaltern
der auswaͤrtigen Politik gegenuͤber ſie erſt moͤglich haͤtte
machen koͤnnen. Die Pforte beſitzt eine Autoritaͤt, fuͤr
welche ſie keine Haͤnde mehr hat. Kann hier noch
die Civiliſation ein Surrogot werden, welches, von
unten auf heilend, den ſiechen Staatskoͤrper rettete?
Werden kleine Muͤtzen und kurze Baͤrte fuͤr die Pforte
das werden, was in Rom einſt Gaͤnſe waren? Iſt
eine originelle Perſoͤnlichkeit vorhanden, welche mit
nervigter Fauſt das Ruder ergriffe, um das Staats¬
ſchiff wieder auf die hohe See zu bringen? Wir wol¬
len vor das kaiſerliche Thor treten.
Erſchreckt nicht vor den Seitenniſchen der Saͤulen,
[316]Der Sultan.welche es tragen; es ſind nur die Koͤpfe der Verbre¬
cher, welche der Sultan hinrichten ließ, und die noch
ganz friſch von Blut traͤufeln! Tretet in den erſten
Hof, laßt die Kirche der heiligen Irene liegen, ſchau¬
dert nicht vor dem Moͤrſer, in welchem die wider¬
ſpenſtigen Haͤupter der Ulemas zerſtampft werden, weil
den Mufti keines Menſchen Hand beruͤhren darf; laſ¬
ſet den ach, ſo leeren Schatz, den Marſtall, den
Betſaal! Jetzt tretet leiſer. Wir ſind in der Naͤhe
des Harems. Lauſchet nicht, was die cirkaſſiſche
Odaliske von ihrer Heimath ſingt, — das Oberhaupt
der ſchwarzen Verſchnittenen dort am Fenſter ſetzt eine
gruͤne Brille auf, um eure Miene zu pruͤfen! Stumme
verfolgen euch und Zwerge; ein fuͤrchterliches Schweigen
liegt auf den großen Hoͤfen, deren Mittelpunkt ihr er¬
reicht habt; dort hinter jenen Vorhaͤngen wohnt der
Sultan — ein verſtohlener Blick — dort ruht er, er
trinkt Wein, er lacht, er lallt, er iſt betrunken!
Keine Pedanterei! Nur aus Verzweiflung, wie
man zu ſagen pflegt, uͤbertritt er das Geſetz des Pro¬
pheten: ſehen wir, wie er es fruͤher befolgt hat!
Mahmud II. der jetzt funfzig Jahre zaͤhlt, kam
in Folge einer Revolution auf den Thron. Der ein¬
zige philanthropiſche Reformator, der der Pforte zuge¬
[317]Der Sultan.ſtanden werden muß, Selim III., beſchaͤftigte ſich in
ſeiner Gefangenſchaft, waͤhrend draußen Muſtapha
IV. herrſchte, dem juͤngern Bruder des Sultans, ſei¬
nem Neffen, Unterricht zu geben. Er lehrte ihn tuͤr¬
kiſch und arabiſch; doch blieb Mahmuds Bildung im¬
mer nur aͤußerlich. Er warf ſich zuletzt auf die Kalli¬
graphie, welche er als jene Profeſſion treibt, die die
Sultane immer noch neben ihren Regentenpflichten
lernen muͤſſen. Mahmud iſt auf die Schnoͤrkel ſeiner
ſchoͤnen Handſchrift ſo eitel, wie ein Kommis oder der
Marſchall von Treviſo.
Er uͤbte ſich gerade in ſeiner Kunſt, und ertrug
unwillig die Vorwuͤrfe Selims, der ihn zu Philoſo¬
phie und Mathematik antrieb, als der Laͤrm eines
kriegeriſchen Aufſtandes an ſein Ohr ſchlug. Das
Feldgeſchrei war Selim, den Taher Paſcha und die
disziplinirten Truppen wieder auf den Thron ſetzen
wollten; aber bald erſchien der zitternde Muſtapha mit
ſeinem Oberſtallmeiſter, und wuͤrgten den Greis, den
ſie heimlich uͤberfielen. Mahmud raffte ſeine Kalli¬
graphien zuſammen, und verſteckte ſich vor dem Blut¬
durſt und der Furcht ſeines Bruders ſo lange, bis
ihn die Meuterer ſelbſt aufſuchten, und ihn an des
gefangenen Muſtapha Stelle ſetzten.
Sein Patron war Bairaktar, gewiß einer der
kraͤftigſten Charaktere in der neuern tuͤrkiſchen Geſchichte.
Das Reſultat einer blutigen Verwirrung von vielen
Wochen war allerdings der guͤnſtige Tod Muſtaphas,
die ungeſtoͤrte Umguͤrtung Mahmuds mit Osmans
Saͤbel, das gluͤckliche Untertauchen von fuͤnf in den
Bosporus geworfenen Saͤcken, in welche ein Kind Mu¬
ſtaphas und vier ſchwangere Sultaninnen eingenaͤht
waren; aber auch eine an die Janitſcharen verlorne
Schlacht, der Tod Bairaktars, der von ihnen belagert
wurde und ſich heldenmuͤthig in die Luft ſprengte, und
eine zur boͤſen Stunde offenbarte Schwaͤche, denn der
Thron und der Divan hatten mit den meuteriſchen
Kaſernen unterhandeln muͤſſen. Der Sultan bekoͤſtigte
die Janitſcharen ſelbſt, und ihr Appetit war woͤrtlich
die Temperatur, von der im Barometer der oͤffentli¬
chen Meinung ſein Steigen oder Fallen abhing. Er
zitterte, ob man ihm die Nachricht braͤchte, die ver¬
daͤchtigen Soldaten haͤtten den Reis unſchmackhaft ge¬
funden, oder ſie verſchmaͤhten Brod und Salz, was
in den tuͤrkiſchen Revolutionen ein techniſcher Ausdruck
iſt; doch der Reis quoll gut, man blieb ruhig, und
der neue Herrſcher wagte mit Rußland und Serbien
Frieden zu ſchließen. Das war im Jahr 1812.
Die Erſchoͤpfung Europa's im zweiten Decennium
des Jahrhunderts theilte ſich auch dem tuͤrkiſchen
Reiche mit, das an allen Streitigkeiten der Politik
ſeither immer aktiven Antheil, und bald fuͤr, bald ge¬
gen Napoleon Partei genommen hatte. Wenn der
Sultan ein kraftvoller Charakter waͤre, in dieſer Pe¬
riode hat er nichts davon verrathen. Die Ordnung
in den Provinzen loͤſte ſich auf. Die einzelnen Pa¬
ſchaliks von Rumelien, Widdin, Trebiſond, Damas¬
kus, Bagdad u. ſ. w. riſſen ſich mehr oder weniger
von dem Staatsverbande los, die Wechabiten machten
unwiderſtehliche Fortſchritte, und zwei Widerſacher,
welche beſtimmt waren, ſpaͤterhin die ganze Kraft der
Pforte zu abſorbiren, umgaben ſich im Geheimen mit
Hilfsmitteln, gegen welche die des Sultans zuletzt
nicht mehr ausreichten — Ali von Janina und Mehe¬
med von Aegypten.
Der Divan uͤberſah entweder die Gefahr, oder er
war ſo tief geſunken, daß er ſich damit begnuͤgte, vom
Unvermeidlichen wenigſtens noch einige tranſitoriſche
Vortheile zu ziehen. Er legte Tribute und Geldſtra¬
fen aus, benutzte die ſtreitenden Parteien in den Pro¬
vinzen, um eine jede zu rupfen und zu ſcheeren, und
befolgte wohl gar die treuloſe Politik, ſeinen Paſchen
[320]Der Sultan.heimlich Verlegenheiten zu ſchaffen, aus welchen ſie
ſich nur durch eine gute Anzahl Piaſterbeutel loskau¬
fen konnten.
Inzwiſchen ſorgte Mahmud fuͤr eine gute Polizei
in ſeiner Hauptſtadt, und uͤbte dabei eine krampfhafte,
despotiſche Gerechtigkeit aus, mit der er den Euro¬
paͤern imponiren wollte. Den kleinſten Wortwechſel
eines Soldaten mit einem Geſandtſchafts-Bedienten
aus Pera, ſtrafte er durch den Tod, und ſtrich ſich
ſtolz den Bart, wenn der beſchwerdefuͤhrende Geſandte
uͤber dieſe Genugthuung faſt erſchrak. Den Reſt
ſeiner Zeit brachte er mit kalligraphiſchen Uebungen
hin; er ſchrieb ſelber ſeine Hattiſcherifs und entwarf
ſich ein Tagebuch, worin er niederſchrieb, daß er
ſchreibe.
Aber es wurde des Lobes und Preiſes ſeiner ſelbſt
ſo viel, daß er ſich entſchloß, in das Geheimniß ſeiner
Kunſt einen Menſchen hineinzuziehen, der aber nichts
davon verſtehen mußte. Es fiel ihm ein, daß er Je¬
manden haben mußte, der ſeine Scripturen ſammelte
und aufbewahrte; da fragte er ſeinen Barbier, ob er
leſen und ſchreiben koͤnnte. Die Verneinung war ihm
recht, und ſeither nahm er ſeinen Barbier zum gehei¬
men Archivar. Dieſer in vertraulicher Stunde geſtand
[321]Der Sultan.ihm, daß er einen Freund habe in Galata bei den
Fleiſcherbaͤnken, der einer der groͤßten Poſſenreißer un¬
ter der Sonne, und ein Schreiber des Fleiſchervor¬
ſtandes ſei. Khalet-Effendi erſchien, ſchrieb ſchlechter,
als der Sultan, machte einige gute Kapriolen, und
Mahmud behielt ihn zuruͤck, erſt als ſeinen Hofnarren,
dann als Hofrath, zuletzt als Groß-Weſſier.
So entſtand der einen Tradition zufolge (welche
den bekannten Liebling des Sultans von dem ehema¬
ligen Geſandten beim Hofe Napoleons trennt) eine
antike und wahrhafte Freundſchaft zwiſchen Mahmud
und ſeinem luſtigen Weſſier, die vollkommen geweſen
waͤre, wenn ſie fuͤr die Tuͤrkei beſſere Fruͤchte getra¬
gen, und nicht mit einer Treuloſigkeit geendet haͤtte!
Khalet-Effendi ſtand an der Spitze der Staats¬
angelegenheiten, d. h. er theilte mit dem Sultan den
Raub, welchen die Intriguen des Divans von den
Satrapen der Provinzen abgejagt hatten. Noch lange
bis in den Aufſtand der Griechen hinein dauerte ſeine
Autoritaͤt, angetaſtet von den Geiſtlichen, bedroht von
den Janitſcharen, welche ihm die Unfaͤlle des Krieges
gegen die Griechen Schuld gaben. Vergebens, daß die
Boten des Divans in alle inſurgirten Regionen Mord
und Verſtuͤmmlung brachten, vergebens das Blutbad
Gutzkow's öffentl. Char. 21[322]Der Sultan.in Konſtantinopel und die Graͤuel auf den Inſeln,
vergebens die Hartnaͤckigkeit gegen die fraͤnkiſchen Ge¬
ſandten und die Weigerung, ſich auf dem Kongreſſe
von Verona uͤber Griechenland beruhigen zu laſſen;
die Janitſcharen ſahen in Khalet-Effendi, dieſem nie¬
driggebornen Weintrinker, das Hinderniß ihres Gluͤckes
und brachen im Jahr 1822 im wilden Aufruhr gegen
das Serail heran. Berber-baſchi, der Normalbarbier
der ottomaniſchen Bartciviliſation, wurde verbannt,
nach ihm Khalet-Effendi und ſeine Kreaturen.
Khalet lachte, als er uͤber den Hellespont ſetzte;
denn ſein Freund Mahmud hatte ihn umarmt, und
hatte ihm eigenhaͤndig einen Sicherheitspaß ausgeſtellt,
der ihn ſo lange ſchuͤtzen ſollte, bis ſich die Verhaͤlt¬
niſſe zu ſeiner Ruͤckberufung guͤnſtiger geſtellt haben
wuͤrden. Aber die Empoͤrer waren mit dieſer Ro¬
mantik nicht zufrieden, ſondern preßten dem Sultan
einen Todesbefehl ab, den er ſelbſt uͤber ſeinen Freund
ſchreiben mußte, wahrſcheinlich mit derſelben zierlichen
Hand, mit denſelben Schnoͤrkeln und Arabesken.
Khalet laͤchelte noch immer, und auch da noch, als
der Aga ſchon vor ihm ſtand und ihm eine ſeidene
Schnur praͤſentirte; er zog ſeine Kalligraphie aus dem
Bruſtlatz; aber indem er den neuen Hattiſcherif las,
[323]Der Sultan.der alles Vorangegangene, die alten Schwuͤre und
Betheuerungen widerrief, hatte ihn ſein Henker ſchon
an der zugaͤnglichſten Stelle gefaßt und erdroſſelt.
Das iſt tuͤrkiſche Sentimentalitaͤt.
Erſt da, als Griechenland ſeine Kreuzesfahne er¬
hob und die Brander verderbenſchwanger auf den Ge¬
waͤſſern kreuzten, als von den Inſeln das vergoſſene
Chriſtenblut herabtroͤpfelte in das Meer: da haben die
Europaͤer angefangen, Mahmud fuͤr einen rieſigen Cha¬
rakter auszugeben, gleichſam als wenn das Aushalten¬
koͤnnen in jeder Lage Groͤße verriethe. Nein, klein
war jener ohnmaͤchtige Zorn, der auf dem hoͤchſten
Minaret eines Pavillons am Marmormeere in die
Ferne des ſeit uralten Zeiten trauerumflorten aͤgaͤiſchen
Meeres blickte und nichts als ſchwarze Segel heimkeh¬
ren ſah. Dann zu wuͤthen wie ein angeſchoſſenes
Thier, und Mord und Tod uͤber die ganze Welt aus¬
zuheulen, und aus Verzweiflung ſich zuletzt dem
Trunke zu ergeben: das iſt tuͤrkiſch groß, aber ſehr
klein fuͤr die wahrhafte Charaktergroͤße, welche uͤber dem
Nationalen ſteht und maͤßig im Zorn, kraftvoll und
vorausſichtig in ihren Entſchluͤſſen iſt.
Durch Mehemed Ali beſiegte Mahmud die Grie¬
21 *[324]Der Sultan. chen. Durch Raͤnke wuͤrde er vielleicht auch die Eu¬
ropaͤer beſiegt haben, wenn dieſe ihre diplomatiſchen
Antraͤge durch Demonſtrationen à la Navarin nicht
unterſtuͤtzt haͤtten. Die europaͤiſche Einmiſchung war
jetzt keine Drohung mehr; die Ruſſen verlangten den
Vollzug des Friedens von Buchareſt und die Raͤu¬
mung der Fuͤrſtenthuͤmer; ein Vernichtungskrieg war
die Folge der Weigerung. Die Riegel und Pfoſten
der Pforte ſtuͤrzten ein, und was haͤtte gehindert, daß
nicht aufs Neue das Kreuz die Kuppel der Sophia¬
kirche beherrſchte?
Der Kern der tuͤrkiſchen Macht, die Janitſcharen
waren nicht mehr. Drei Jahre vorher hatte ſie Mah¬
mud abſchlachten laſſen, nicht nach einem angelegten
Plane, wie man wohl irrig glaubt, ſondern in Folge
einer benutzten Gunſt des Augenblicks. Es war nur
dis, daß der Sultan einen gewonnenen Erfolg konſe¬
quent durchfuͤhrte. Er verbrannte die Kaſernen, gab
keinen Pardon und rettete ſich ſelbſt vor einer Macht,
die ſpaͤter den Staat haͤtte retten koͤnnen. Jetzt iſt
Mahmud der Schatte vom Schatten Gottes, er iſt
der Federball der Intrigue zwiſchen dreien Kabineten;
wollte er auch ſeine Statthalter, welche ſich emanci¬
[325]Der Sultan. piren, wieder zu Paaren treiben, ſo verbietet es ihm
der Himmel; denn ſein Saͤbel faͤllt ins Meer, wenn
er die Schiffe ſeiner Hoffnung beſteigt.
Rußland, von der Geſchichte zum Erben der eu¬
ropaͤiſchen Tuͤrkei beſtellt, hegt und pflegt den alten
Erblaſſer und ſchuͤtzt ihn treulich bis zum Tode. Ru߬
land wird der Tuͤrkei ſanft und zaͤrtlich die Augen zu¬
druͤcken. Und wollte ſich die Pforte in Konſtantinopel
nicht das Streicheln der Wangen gefallen laſſen, ſo
ſteht an Perſiens Graͤnzen die ruſſiſche Heeresmacht
geruͤſtet. Hier iſt kein Ausweg mehr. Die Pforte
muß ſich ſchuͤtzen laſſen, um eine vollſtaͤndige Erober¬
ung zu bleiben. Sie muß Freunden trauen, welche nur
die Zeit abwarten, wo ſie ihre Masken abnehmen.
Vielleicht ſtellen ſich dieſer Weiſſagung zwei Ge¬
ſchichtsanſichten entgegen, die ſich darin vereinigen, daß
ſie Kombinationen der eben genannten Art fuͤr unzu¬
laͤnglich halten, und ſie mechaniſche und Verſtandesab¬
ſtraktionen nennen.
Die erſte Anſicht iſt gewohnt, Alles auf den Volks¬
geiſt, die zweite, Alles auf die Religion ankommen zu
laſſen.
Jene glaubt, der Racen- und Voͤlker-Unterſchied,
ein demokratiſch-populaires Element, werde gegen die
[326]Der Sultan.wunderlichen Statusquo unſrer Tage reagiren; dieſe
erwartet denſelben Widerſtand vom Glauben der Voͤl¬
ker, von einer Rache, die der Himmel ſelbſt an der
Erde nehmen werde.
Wir wollen nicht darauf beſtehen, daß das Traͤu¬
meriſche in dieſen Meinungen ſie ſchon verdaͤchtig macht,
nicht darauf, daß unſre Propheten nur der Zukunft
namentlich ſo viel Theologie zutheilen wollen, als wenn
die Nachkommen das zu glauben ſich anſchicken wuͤrden,
was wir ſelbſt zu glauben keinen Trieb mehr haben;
aber ſehet auf die Tuͤrkei! Religion und Volksthum
faͤllt hier zuſammen; liegt im Islam irgend ein Zu¬
kunftskeim? Iſt ſein Fanatismus mit jener ewigen
Waͤrme verbunden, welche die Anhaͤnglichkeit an geliebte
Sitten und Meinungen begleitet? Nein, hier ver¬
glimmt ſein gluͤhendes Entzuͤcken gegen das Chriſten¬
thum, welches immer eine Zukunftsreligion iſt.
Der Islam iſt eine Religion der Maſſe, keine
Religion des Individuums. Der Islam iſt nicht Be¬
wußtſein, ſondern Trunkenheit; er verleiht Trotz, aber
keine Ausdauer. Kein Moslem, der einmal herausge¬
riſſen iſt aus dem Zuſammenhang ſeines Glaubens, der
außerhalb ſeiner Badeweihen, ſeiner Moſcheen und Fa¬
ſten iſt, kein Moslem, der zur Annahme des Chriſten¬
[327]Der Sultan. thums gezwungen wurde, wird im Stillen jene Treue
bewahren, welche den Chriſten mitten unter heidniſchen
Verhaͤltniſſen immer noch im Bunde mit ſeinem Hei¬
land erhielt. Die Urſache iſt die, daß der Islam in
ſich kein Moment der Rechtfertigung traͤgt. Er iſt
eine geniale Improviſion, eine immer neue Schoͤpfung,
wo Poeſie und Klima und Maſſe ihm zu Hilfe
koͤmmt; aber herausgeriſſen aus ſeinem Boden und in
andre Regionen verpflanzt, welkt und verdorrt er. Der
Islam iſt im Schematismus der Religionen nur ein
Ueberbein, das ſich der wandelnde Weltgeiſt getreten
hat, er beweiſt nichts Unerlaͤßliches, er iſt ohne die
Verheißung einer hiſtoriſchen Zukunft.
Eine Civiliſation in Maſſen kaͤme in der Tuͤrkei
nie zu einem guten Ende; wohl aber durch Iſolirung,
durch ſtuͤckweiſes Arrondiren in die europaͤiſchen Zu¬
ſtaͤnde hinein. Da wuͤrde kein Hahn kraͤhen, daß ein
Gott verlaͤugnet wurde. Niemand wuͤrde in ſich ſchla¬
gen, und einen Groll fortpflanzen auf Kind und Kin¬
deskind. In Europa und Aſien wird man griechiſch
beten, in Syrien bis nach Indien hin proteſtantiſch,
auf der ganzen Nordkuͤſte von Afrika atheiſtiſch, wenn
einſt Rußland, England und Frankreich ſich getheilt
haben werden.
Iſt dis eine Chimaͤre, ſo ſcheint ſie mir doch der
Wahrheit naͤher zu ſtehen, als die Annahme, daß
einſt in der Kathedrale von Paris die Imans ſtehen
werden mit ihren kameelharenen Muͤtzen und ſich die
junge franzoͤſiſche Literatur beſchaͤftigen wird, Oden zu
dichten auf Allah und den Propheten.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Öffentliche Charaktere. Öffentliche Charaktere. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjpt.0