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DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

NACH AMTLICHEN QUELLEN.
ZWEITER BAND.

MIT XII ILLUSTRATIONEN.

[figure]
BERLIN: MDCCCLXVI.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN GEHEIMEN OBER-HOFBUCHDRUCKEREI
(R. v. DECKER).

[][[I]]
DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

ZWEITER BAND.

[[II]][[III]]
DIE
PREUSSISCHE EXPEDITION

NACH
OST-ASIEN.

NACH AMTLICHEN QUELLEN.
ZWEITER BAND.

MIT XII ILLUSTRATIONEN.

[figure]
BERLIN: MDCCCLXVI.
VERLAG DER KÖNIGLICHEN GEHEIMEN OBER-HOFBUCHDRUCKEREI
(R. v. DECKER).

[[IV]]
[[V]]

VORWORT.


Im Personal-Verzeichniss der ost-asiatischen Expedition
(Bd. I. S. xiii) ist aus Versehen der Namen des Dr. med.
Robert Lucius ausgelassen worden, welcher derselben
sehr wesentliche Dienste geleistet hat. Er traf, aus
Marocco kommend, wo er den spanischen Feldzug mit-
machte, auf der Reise nach China begriffen, wo er sich
der englischen Armee anschliessen wollte, in Ceylon
zufällig mit dem Gesandten zusammen, und begleitete
denselben, dazu aufgefordert, während der ganzen Dauer
des Unternehmens. Ein Gesandtschafts-Arzt war von vorn
herein nicht ernannt worden; im Laufe der Reise machte
sich der Mangel eines solchen sehr fühlbar; es war für
das Gesandtschafts-Personal bei dem langwierigen Aufent-
halt in Yeddo, Tientsin und Bangkok nicht nur vom
grössten Werthe, sondern wurde in mehreren eingetretenen
Fällen dringend nothwendig, ärztliche Hülfe sogleich bereit
zu haben. Diesem Amte hat sich Dr. Lucius freiwillig
unterzogen, hat ohne jede Verpflichtung auch unter den
beschwerlichsten Umständen mit Selbstverleugnung darin
ausgeharrt, Zeit und Kräfte, die er genussreicher ver-
wenden konnte, ganz seinen Reisegefährten gewidmet,
und sich deren wärmsten Dank und persönliche Zuneigung
erworben. Seine uneigennützigen Dienste wurden durch
[VI]Vorwort.
nachträgliche Ernennung zum königlichen Gesandtschafts-
Arzt auch amtlich ehrenvoll anerkannt.


Der japanische Theil des Expeditionswerkes ist in
diesem Bande zum Abschluss gebracht. Es konnte nicht
die Absicht sein, neben dem persönlich Erlebten eine
erschöpfende Beschreibung des Landes zu geben, doch
lag es nah, manches Ergänzende einzuflechten, wo es
die Gelegenheit gab und glaubhafte Nachrichten vorhanden
waren. Sicher fehlt es in diesen Abschweifungen nicht
an Lücken und Irrthümern; aber unsere Kenntniss von
Japan ist überhaupt nur eine werdende, und selbst Ab-
wege führen leichter zur Wahrheit, als Stillstand und
Verwirrung.


Aus demselben Gesichtspuncte ist der II. Anhang
dieses Bandes unternommen worden, ein Versuch, aus
den im Laufe der letzten Jahre eingelaufenen Nachrichten
die gegenwärtige unfertige Entwickelung darzustellen. Was
darin über Berührung der Fremden mit Japanern gesagt
ist, beruht auf zuverlässigen Quellen; für die Vorgänge
der inneren Politik dagegen mussten auch Gerüchte in
die Darstellung gezogen und mindestens eine Meinung
über den Gang und Sinn der Ereignisse ausgesprochen
werden. Der Abschnitt wird bei aller Unvollständigkeit
einem künftigen Bearbeiter der japanischen Zeitgeschichte
vielleicht von Nutzen sein.


Der Reisebericht ist vor dem glorreichen Kriege
geschrieben, welcher uns der Erfüllung mancher darin
ausgesprochenen Wünsche so viel näher gerückt hat.


Berlin, im August 1866.


A. Berg.


[[VII]]

INHALT.


  • REISEBERICHT.
  • Seite
  • VI. Yeddo. Vom 2. October bis 1. November 1860 1
  • VII. Yeddo. Vom 1. November bis 7. December 1860 59
  • VIII. Die Fahrt der Elbe von Singapore nach Yeddo über Hoṅgkoṅg,
    Formosa
    und Naṅgasaki. Vom 4. September bis 3. December 1860 111
  • IX. Yeddo. Vom 7. December 1860 bis 1. Januar 1861 116
  • X. Yeddo. Vom 1. bis 31. Januar 1861 138
  • XI. Fahrt der Arkona und der Thetis von Yokuhama nach Naṅgasaki.
    Aufenthalt daselbst. Vom 31. Januar bis 23. Februar 1861 179
  • XII. Reise der Arkona und der Thetis von Naṅgasaki nach dem Yaṅgtse-
    kiaṅg
    . Vom 24. Februar bis 2. März 1861 215
  • Anhang I.
  • Der Vertrag mit Japan221
  • Anhang II.
  • Die Ereignisse der letzten Jahre 239
  • Register zum I. und II. Bande 361

[[VIII]][[IX]]

VERZEICHNISS
UND
ERKLÄRUNG DER ILLUSTRATIONEN.


  • Tempelhain. Senzoko.
    S. Bd. I. S. 337 und II. 117. Das Innere des Haines ist dargestellt
    und beschrieben in den »Ansichten aus Japan, China und Siam«, II. 7.
  • Reisland bei Yeddo.
    Aus der südwestlichen Umgebung. Im December gezeichnet, als
    Schaaren wilder Gänse auf der Reisstoppel ihre Nahrung suchten.
  • Wirthschaftsgebäude. Yeddo.
    Hintergebäude eines ländlichen Grundstückes in der Vorstadt.
  • Bei Odsi.
    S. Bd. I. S. 339.
  • Bei Naṅgasaki.
    S. die landschaftlichen Beschreibungen Bd. II. S. 194.
  • Begräbnissplatz. Naṅgasaki.
    S. Bd. II. S. 193. Ein Vorrathsschuppen mit Götzenbildern und Grab-
    steinen. Unten liegt Desima. Das Schiff über der holländischen Flagge
    ist die Arkona.
  • Hütte bei Naṅgasaki.
    Ein Todtengräberhäuschen auf abgelegenem Begräbnissplatz.
  • Friedhof. Naṅgasaki.
    S. Bd. II. S. 193.
  • Aus Naṅgasaki.
    Der innerste Winkel der Bucht, von der Süd-Ecke von Desima
    gesehen.
  • Brücke von Desima.
    Man sieht über die Brücke auf den Golf. An dem Gerüst neben der
    Brücke waren die Bd. I. S. 139 erwähnten Verordnungen angeheftet.
  • Naṅgasaki. Die neue Ansiedlung.
    Von Desima gesehen. Die steinernen Häuser und die im Bau be-
    griffenen rechts gehören zum Fremdenquartier. Links führt der Weg
    am Wasser entlang nach dem Chinesen-Viertel und der Stadt. Auf
    der baumbewachsenen Höhe dahinter liegen weiter rückwärts die Tempel
    der Chinesen.
  • Papen-Eiland. Naṅgasaki.
    Links von der Insel die falsche Einfahrt. S. Bd. II. S. 187. Die
    Dschunken sind chinesische.
[[XI]]

REISEBERICHT.


[[XII]][[1]]

VI.
YEDDO.

VOM 2. OCTOBER BIS 1. NOVEMBER 1860.


Der October, sonst in Japan der schönste Monat, brachte in seiner
ersten Woche heftigen Regen. Als der Himmel am Morgen des 7.
sich aufklärte, beschloss der Gesandte den längst beabsichtigten
Ausflug nach Kanagava auszuführen; wir stiegen gegen zehn zu
Pferde und ritten, geleitet von Heusken und gefolgt von mehreren
Yakuninen, dem Tokaïdo zu. Der Weg führt durch die end-
losen Häuserreihen von Sinagava und Omagava, dann zwischen
Hecken und ländlichen Wohnungen hin, und endlich in das Freie.
Streckenweise ist die Landstrasse mit Reihen von Cryptomerien ge-
säumt; zu beiden Seiten liegen Reisfelder, links vom Meere, rechts
von grünen Hügelreihen begränzt; grade aus, über die zackigen
Fakone-Berge ragend, der Fusi-yama. Bei trefflicher anlage
auf breitem Damme ist die ganze Strecke bis Kanagava auffallend
vernachlässigt, während in anderen Landestheilen die Verkehrs-
strassen den Vergleich mit guten europäischen aushalten sollen. —
Halbwegs Kanagava überschreitet man auf Fähren das Flüsschen
Logan, die vertragsmässige Nordgränze des freien Verkehrs für die
fremden Ansiedler in Kanagava und Yokuhama; drüben empfangen
den Reisenden wieder die geschlossenen Häuserreihen des Dorfes
Kavasaki, das sich ohne Unterbrechung in mehrere andere fortsetzt;
man glaubt durch eine grosse Stadt zu reiten. Wo der Blick endlich
wieder Raum gewinnt, beherrscht er links das Meer; rechts tritt
ein grüner Höhenzug immer näher an die Strasse. Bald künden
zerstreute Gehöfte und Bauernhäuser die Nähe von Kanagava an;
ihre Strohdächer tragen auf der First eine auffallende Bekrönung
hellgrüner Irispflanzen, die, einmal gesäet, sich immer wieder
erzeugen, und durch ihr Wurzelgewebe der Dachfirst grosse
Festigkeit gegen Wind und Wetter verleihen. — Dann werden
II. 1
[2]KanagavaYokuhama. VI.
die Häuser städtischer. Der Raum zwischen dem Meere und der
steil abfallenden Höhe verengt sich zu einem schmalen Streifen,
den ein Labyrinth gewundener Gassen und Gässchen erfüllt. Auf
der Höhe rechts und an ihrem Abhange liegen Tempel und andere
ansehnliche Gebäude, die Wohnungen der Consuln; schwindelnde
Treppenfluchten führen bis zum Gipfel hinan. — Der Gesandte stieg
bei Herrn von Bellecourt ab, der grade in Geschäften anwesend
war; seine Begleiter fanden im englischen und im portugiesischen
Consulat gastliche Aufnahme. Die Yakunine wurden entlassen, denn
hier durfte man sich ohne Escorte bewegen.


Kanagava bietet ausser seiner schönen Lage und dem Blick
von den Höhen auf die freundliche belebte Bucht kaum etwas
Bemerkenswerthes; Einige von uns fuhren noch denselben Nachmittag
nach Yokuhama hinüber zu ihren dort wohnenden Reisegefährten.
Die Bootsfahrt dauert bei gutem Wetter kaum eine halbe Stunde;
der Fusi-yama, der uns an diesem Tage zuerst im weissen Winter-
kleide erschien, spiegelte majestätisch sein glänzendes Haupt in
dem weiten Becken.


Wir fanden unsere Freunde in dem damals in Entstehung
begriffenen Yokuhama-Hotel, — das ein gewesener holländischer
Schiffscapitän baute, — zwar nicht sehr bequem eingerichtet, aber
zufrieden mit ihrem Aufenthalt. Das Vordergebäude des Gasthofes
wurde eben in Angriff genommen und noch im Laufe des Winters
vollendet; der geräumige Hof, an drei Seiten von langen einstöckigen
Baracken umschlossen, lag voll Baumaterial; auf der einen Seite
der Speisesaal mit Billard und Schankzimmer, gegenüber eine Reihe
kleiner Wohn- und Schlafstuben, im Grunde, dem Hauptgebäude
gegenüber, die Pferdeställe, Alles in Eile budenartig zusammenge-
zimmert und halb japanisch, halb europäisch eingerichtet. Das
Ganze glich damals einer improvisirten Jahrmarktsschenke; aber
Küche und Keller waren gut, der Wirth zuverlässig und gefällig,
und für Bedienung sorgte man selbst. Yokuhama, zwei Jahre vorher
noch ein elendes Fischerdorf, blühte mächtig auf, und, war auch
die goldene Zeit der Kobang-Ausfuhr vorüber, so wurden doch
täglich noch bedeutende Summen gewonnen. Alle grossen west-
ländischen Handelshäuser China’s hatten dort ihre Commanditen und
setzten grosse Massen baaren Silbers in Umlauf; die Waaren-Ausfuhr
blieb immer hinter der Nachfrage zurück. Japanische, europäische
und amerikanische Kaufleute, Handwerker und Abentheurer strömten
[3]VI. Kaufläden von Yokuhama.
in Menge zu, um von einander Vortheil zu ziehen und den Markt
auszubeuten, ein reges schwindliges Treiben.


Den Mittelpunct des kleinen Verkehrs bildete eine lange
gerade Strasse, mit Krambuden und Kaufläden Haus für Haus, wo
man die grösste Auswahl von Lack- und Bronze-Waaren und alle
die tausenderlei Kleinigkeiten findet, deren schon bei der Beschrei-
bung von Yeddo gedacht wurde. Die meisten Sachen aber sind
von geringer Qualität, aussen glatt und glänzend, doch wenig dauer-
haft, dabei wohlfeiler als in Yeddo und grossentheils auf das
Bedürfniss und den Geldbeutel der Schiffsmannschaften berechnet.
Das fremde Publicum ist hier ja auch viel zahlreicher und weniger
wählerisch als in der Hauptstadt; die Meisten kaufen aus Speculation,
nicht aus Liebhaberei, daher denn auch der europäische Markt mit
mittelmässigen japanischen Fabrikaten überschwemmt ist, die im
Lande selbst keinen Absatz finden würden, während die besseren,
namentlich alte Lack- und Bronzewaaren, welche in Japan hohe
Preise haben, verhältnissmässig selten zu uns gelangen. Einzelne
werthvolle Stücke kommen auch in Yokuhama vor und finden an
den wenigen Liebhabern unter den Consuln und gebildeteren Kauf-
leuten bereitwillige Käufer. Die japanischen Krämer wissen ihr
Publicum sehr wohl zu beurtheilen, und hüten sich kostbare Sachen
in den offenen Läden der Kritik und Betastung des Schiffsvolkes
preiszugeben; in den Hinterzimmern aber kramen sie bereitwillig ihre
Schätze aus, oder bringen guten Kunden auch wohl die werthvollsten
Sachen in die Häuser.


Am Ende der langen Strasse lag eine kleine Menagerie,
richtiger Thierhandlung, in der für die Eingeborenen ein europäi-
sches Schaaf und ein Kakadu das Merkwürdigste waren, für uns
dagegen die weissen Kraniche und japanischen Affen, welche nur in
den südlichen Theilen des Reiches vorkommen. Der Zoologe der
Expedition Dr. von Martens that dort und auf dem Fischmarkt, wie
der Botaniker Regierungsrath Wichura bei den Kunstgärtnern und
Saamenhändlern manchen erwünschten Fund. Beide Naturforscher
und auch der Geologe Freiherr von Richthofen waren mit ihrem
Aufenthalte in Yokuhama sehr zufrieden; sie konnten sich hier frei
bewegen und machten weite Ausflüge in die Umgegend. Ueberall
nahmen die Landleute sie freundlich auf, bewirtheten sie gern mit
Thee, Eiern und Apfelsinen, und waren oft erstaunt einige Tempo
Groschen — dafür zu erhalten. Sie zeigten sich niemals misstrauisch
1*
[4]Umgebung von Yokuhama. VI.
oder zudringlich, gingen oft, dienstfertig und bescheiden, weite
Strecken mit um den Weg zu zeigen, oder beauftragten damit ihre
Kinder. Kleine Knaben und Mädchen liefen, wo ein Fremder sie
zufällig in Busch oder Feld allein überraschte, wohl schreiend davon,
wurden aber bei näherer Bekanntschaft leicht freundlich und ver-
traulich; sie waren in Schwärmen höchstens durch unaufhörliches
Zurufen des Grusses »Anata oheio«, durch neugieriges Andrängen
und starres Begaffen, niemals aber durch absichtliche Unarten und
Possen lästig, wie in anderen Ländern nur zu häufig. Die Natur-
forscher fanden in dem Verkehr mit dem einfachen unbefangenen
Landvolk geradezu eine Lebensannehmlichkeit, und besuchten man-
ches stille Thal, wohin niemals Fremde gedrungen waren. Dann
war ihre Tuchkleidung immer Gegenstand der grössten Bewunderung
und wurde unter vielen Fragen von allen Seiten betastet. Dass man
sie weder verstand noch antworten konnte begriffen die Meisten gar
nicht; man schien das Japanische für die natürliche Sprache des
Menschengeschlechtes zu halten, und nicht zu ahnen dass es noch
andere gäbe. — Sowohl der Botaniker als der Zoologe liessen sich
auf diesen Wanderungen häufig durch ihre japanischen Diener be-
gleiten, deren Treue und Anhänglichkeit sie nicht genug zu rühmen
wussten; beide lernten ihren Herren bald ab worauf es ankam, und
bewiesen, durchdrungen von der Wichtigkeit ihres Amtes, den
grössten Eifer in Herbeischaffung und Präparirung der Naturalien.


Die sumpfige Niederung von Yokuhama ist von Hügelland
umgeben, das sich an der Südseite des Städtchens in steilen Thon-
mergelwänden in das Meer hinausschiebt; — die Fremden nennen
das Vorgebirge »Mandarin-Bluff«. Hier liegt in einer nach Norden
sich öffnenden Schlucht das Denkmal der ermordeten Russen. Viele
Thäler und Thälchen, deren flacher Boden, wie bei Yeddo, mit
Reis bebaut und künstlich bewässert ist, durchfurchen die niedrigen,
meist mit Pinus Massoniana bestandenen Höhen. Am oberen Ende
der Senkung liegt gewöhnlich im Waldesdickicht ein Teich, zahlreich
bewohnt von Fischen, Wassersalamandern und Libellen, wo die
von den Hängen abfliessenden Gewässer sich sammeln, um nach
Bedürfniss auf die Felder abgelassen zu werden. Hier und da sind
kleine Hochebenen mit Rüben und Gerste, Weizen, Bohnen, Buch-
weizen, Bataten, Hibiscus, mit Moorhirse und Baumwolle bestellt.
Bauernhütten trifft man überall, und mitten im Walde stattliche
Tempel, deren Priester dem Wanderer oft nicht ganz uneigennützig
[5]VI. Isolirung von Yokuhama.
eine Schale abscheulichen Saki anbieten. Einen ähnlichen Charakter
hat die Landschaft um Kanagava sowohl als die Küste nordöstlich
von Yokuhama.


Die Südosthälfte des Städtchens hatten damals die Ausländer,
den nordwestlichen Theil die Japaner inne. Das den Fremden zu-
gestandene Terrain reichte bald nicht mehr aus; die Repräsentanten
der Vertragsmächte bemühten sich deshalb beständig um die weitere
Abtretung von Grundstücken, und die Japaner wurden immer mehr
aus Yokuhama verdrängt. Man arbeitete fleissig an dem breiten
Canale, welcher die Niederlassung nach Art von Desima zur Insel
machen sollte; jetzt umschliesst er das Städtchen vollständig, so
dass aller Verkehr von den japanischen Behörden controlirt werden
kann. Der Weg nach Kanagava führt zunächst auf einem künstlich
aufgeschütteten Damm zwischen Sumpf und See hin, und auf zwei
gut gebauten Brücken über Einschnitte des Meeres. Hier und an
anderen Stellen der Strasse hat die japanische Regierung Wachthäuser
und Thore angelegt, die bei eintretender Dunkelheit geschlossen und
den Europäern oft erst nach langem Parlamentiren geöffnet werden.
Es ist fast wie auf Desima, denn natürlich steht auch der Verkehr
der Japaner mit Yokuhama unter Aufsicht der Polizei, welche oft
Menschen und Waaren, ja Lebensmittel ganz nach ihrem Belieben
ausschliesst. Die in den Verträgen stipulirte Freiheit des Handels-
verkehres besteht also in Wahrheit nicht und wird sich auch schwer
durchsetzen lassen, denn die Autorität der Regierung über ihre
Unterthanen ist unbegränzt, und die Behörden üben die strengste
Aufsicht über den Grosshandel. Die Anfuhr der Waaren in Yokuhama
richtet sich ganz nach den Fluctuationen der politischen Lage. Jetzt,
nachdem einige Jahre vergangen, lässt sich die Situation viel deut-
licher übersehen als zur Zeit unserer Anwesenheit. Die im einleitenden
Abschnitt ausgesprochene Ansicht, dass in den letzten Jahrzehnten
die Regierung der Taïkūn die Zügel schiessen lassen und an Macht
und Ansehn verloren habe, dass einzelne Daïmio’s selbständiger
geworden seien und sich leicht einmal wieder um den alten Thron
des Mikado schaaren könnten um das Haus Minamoto zu stürzen,
hat sich bestätigt. Die höchste Würde des Mikado scheint heute
eben so anerkannt zu sein als vor tausend Jahren. Eine mächtige
Adelsparthei hat, die mit den westlichen Nationen vom Taïkūn eigen-
mächtig geschlossenen Verträge zum Vorwand nehmend, die Autorität
des Erbkaisers angerufen und, ganz wie vor dreihundert, vierhundert,
[6]Japanische Politik. VI.
sechshundert Jahren, sich wiederholt seiner Person zu bemächtigen
gesucht. Die Dynastie der Minamoto kämpft einen ernsten Kampf
um ihre Existenz und hat sich zu Demüthigungen vor dem Mikado
verstehen müssen, wie sie seit Jahrhunderten unerhört waren. Sie
braucht dessen Autorität vor dem Volke, um das Staatsruder in
Händen zu behalten, die Verträge mit den Fremden sind ihr nur
eine secundäre Frage; die Regierung des Taïkūn ist offenbar sich
selbst nicht klar, ob sie ihre Herrschaft besser durch Vertreibung
der Ausländer oder durch Aufrechthaltung der Verträge sichern
könne. Von beiden Seiten ist die Gefahr gross, daher die beständigen
Schwankungen. Die Vertreter der westlichen Mächte haben in den
letzten Jahren dem Gorodžio wiederholt ihre thätige Hülfe zur
Unterdrückung der rebellischen Fürsten angeboten; aber ein solches
Bündniss schien den Ministern wegen des nationalen Stolzes der
Japaner immer zu gefährlich, und würde in der That wahrscheinlich
das Volk auf die Seite des Feindes bringen. Man hat daher gegen
jeden selbständigen Angriff der Fremden auf die rebellischen Fürsten
immer laut protestirt, solchen aber stets gern gesehen und im Stillen
unterstützt. Es ist ein beständiges Laviren. Zu Zeiten ging die
Regierung so weit, den fremden Vertretern öffentlich die Verträge
zu kündigen und die Räumung von Yokuhama zu verlangen, be-
zeichnete aber zugleich im Vertrauen diese Maassregel als eine
blosse Form, die nur zur Erhaltung des guten Einverständnisses mit
dem Mikado nothwendig sei. Dann wieder, wenn es unmöglich
schien sich auf diese Weise zu halten, wurde die Räumung von
Yokuhama allen Ernstes verlangt, die Lebensmittel abgeschnitten
und eines schönen Tages alle Japaner aus der Niederlassung entfernt.
In solchen Fällen brachte das kategorische Auftreten der fremden
Vertreter und Geschwader-Commandanten die japanischen Behörden
meist bald zur Besinnung und Herstellung des alten Verhältnisses.
In Wahrheit scheint die Regierung von Yeddo den Ausländern im
Princip weder feindlich noch besonders geneigt zu sein. Die Verträge
sind ihr abgedrungen worden; sie wird dieselben gern erfüllen, wenn
sie dadurch ihre Macht im Innern erhöht und befestigt, und wird
sie brechen, wenn sie durch die Erfüllung ihre Existenz stärker
gefährdet sieht als durch die Eventualität eines äusseren Krieges.
Wäre eine sichere Gewährleistung ihrer Herrschaft durch die Fremden
möglich, so würden die Minamoto und ihre Parthei wahrscheinlich
sofort deren aufrichtige Freunde. Einstweilen benutzen sie dieselben
[7]VI. Handel. Engländer auf dem Fusi-yama.
eifrig um durch Verbesserung ihres Kriegsmaterials den Rebellen
überlegen zu werden.


Der Verfasser hat mit diesen allgemeinen Andeutungen vor-
gegriffen, um die Schwankungen des Handels in Yokuhama zu er-
klären; eine genauere Darstellung der neuesten Ereignisse soll am
Ende des Bandes folgen. Zur Zeit unserer Anwesenheit schwebte
tiefes Dunkel über den Vorgängen der inneren Politik; die Gährung,
aus der sich die Partheien nachher deutlicher ausklärten, scheint
damals in vollem Gange gewesen zu sein. Der Grosshandel in
Yokuhama war immer das beste Barometer der politischen Stimmung:
zu Zeiten starke Anfuhr, dann wieder vollständige Stockung. Man
wusste oft dass grosse Massen Seide, für Yokuhama bestimmt, in
Yeddo lagerten und nur auf Befehl der Regierung zurückgehalten
wurden. Dann ein Umschwung in der Politik, und der Markt war
überschwemmt. Diese Unsicherheit wird fortdauern, bis die politischen
Verhältnisse sich vollständig consolidirt haben, und, wenn es auch
heute den Anschein hat, so ist doch keineswegs gewiss, dass es
dabei ohne vollständigen Umsturz im Innern, temporäre Vertreibung
der Fremden und einen ernsten Krieg mit dem Auslande abgeht.


In Yokuhama wohnten bis zum Frühjahr 1861 nur Kaufleute;
später sahen sich auch die Consuln der Vertragsmächte, welche
zur Zeit unserer Anwesenheit noch sämmtlich in Kanagava lebten,
durch die Umstände genöthigt ihr Domicil dort zu nehmen. — Der
Landweg nach Kanagava führt, nachdem er die Niederung durch-
schnitten, über bewaldete Höhen, an deren Fuss das Haus des
japanischen Gouverneurs liegt, und mündet dann in den Tokaïdo.


Wir kehrten noch denselben Abend nach Kanagava zurück7. Octbr.
und besuchten am folgenden Morgen die Consulate. Am schönsten
liegt das amerikanische, auf der Höhe des Hügelkammes, eine weite
Aussicht über den Golf beherrschend. Die Consuln wohnten hier
nicht wie die Gesandten in Yeddo in den Nebengebäuden der Tempel,
sondern im Heiligthum selbst, und es galt für keine Entweihung,
dass einige den Altar als Buffet benutzten. — Am Abend des 8.
versammelte sich ein Theil der Gesellschaft zum Diner auf dem
englischen Consulat, wo auch Herr Alcock, der grossbritannische
Gesandte in Japan, eingetroffen war. Wenige Tage zuvor von einem
Ausflug nach dem Fusi-yama zurückgekehrt, hatte er schon in
Yeddo mit dem Grafen zu Eulenburg Besuche gewechselt. Seine
Reisebegleiter erzählten viel von der Schönheit des Landes und der
[8]Das Reisen in Japan. VI.
guten Aufnahme die sie unterwegs gefunden hatten: die Ebenen
seien fruchtbar und angebaut, im Gebirge herrliche, wohlgepflegte
Waldungen, wo die Cryptomeria zu erstaunlicher Höhe wachse;
die Bevölkerung gesund, wohlhabend, thätig, heiter und gutmüthig.
Die breiten Landstrassen sind meist gut gehalten und mit dichten
Reihen hoher Bäume gesäumt; von Meile zu Meile zeigen runde
Hügel mit einer Tanne auf dem Gipfel die Entfernungen an. Auf
allen Stationen giebt es Posthäuser zum Einstellen der Pferde und
zum Wechseln der Lastträger; man bezahlt für die Meile eine be-
stimmte Taxe, deren Höhe, sowie das Gewicht der Lasten, die
Trägerzahl für die Sänften u. s. w. von der Obrigkeit für jede
Strecke nach den Schwierigkeiten des Weges normirt ist. Ein
sonderbarer Umstand ist schon von anderen Reisenden erwähnt
worden: die von der unreinen Zunft der Yeta bewohnten Strecken
zählen nicht mit in den Entfernungen, noch werden Träger und
Pferde dafür berechnet, so dass man hier gewissermaassen kostenfrei
reist und, dem Meilenzeiger nach, oft stundenlang keinen Schritt
vorwärts kommt. — Für jeden District giebt es ausführliche Karten
und Handbücher, so wohlfeil, dass sie in Jedermanns Hand sind, mit
Angaben über den Reisebedarf, die Gasthäuser, Pferde- und Träger-
Taxen, Beschreibung der Gebirgspässe, berühmter Berge, Wall-
fahrtsorte und aller Industrieen, historischen und Natur-Merkwür-
digkeiten, mit Regeln der Wetterkunde, chronologischen Uebersichts-
tafeln, Tabellen über Ebbe und Fluth, Aufrissen der gebräuchlichsten
Maasse und einer aus aufstellbaren Papierstreifen gefertigten Sonnen-
uhr. In den Stationsorten findet jede Classe von Reisenden ange-
messene Aufnahme, sogar die Lastträger sollen nach ermüdendem
Tagesmarsche der Wohlthat des warmen Bades geniessen. Zahllose
Garküchen und Theeschenken am Wege bieten Labung auch armen
Wanderern, von denen die Landstrassen wimmeln. Der Japaner
reist gern und häufig, in Berufs- und Handelsgeschäften, pilgernd,
zum Vergnügen, zur Belehrung. Die Lehnsfürsten nehmen, nach
Yeddo oder auf das Land ziehend, mit ihrem Gefolge die Landstrassen
oft auf eine Strecke von mehreren Tagereisen in Anspruch; wo sie
einkehren, wird die Herberge aussen mit Zeltvorhängen bekleidet,
auf denen ihr Wappen prangt. Kämpfer und [Thunberg\>] erzählen,
wie sie auf ihren Hofreisen oft Tagelang warten und in Tempeln
wohnen mussten, weil alle Träger, Pferde und Gasthäuser von
reisenden Grossen in Beschlag genommen waren.


[9]VI. Der Fusi-yama. Pferdekauf.

Die Reisenden der englischen Gesandtschaft wurden überall
mit Respect und Höflichkeit behandelt; die Daïmio’s liessen sie an
den Gränzen ihrer Gebiete durch Ehrenwachen empfangen, die Menge
zeigte sich freundlich und ehrerbietig. Kleine Schwierigkeiten ent-
standen nur wo sie die Hauptstrasse verliessen, denn den Fusi-yama
besteigen nur Pilger der ärmeren Classen, und die dahin führenden
Gebirgswege sind für den Empfang vornehmer Reisenden nicht
eingerichtet; es mangelt an jeder Bequemlichkeit. — Die Besteigung
des höchsten Kegels war beschwerlich; der Gipfel wurde auf
14,177 englische Fuss Meereshöhe gemessen, der umfangreiche Crater
soll 350 Fuss tief sein. Nach der japanischen Tradition wäre der
Berg im Jahre 286 v. Chr. in einer Nacht aus der Erde gewachsen,
während zugleich im mittleren Nippon ein umfangreiches Gebiet
versank und den grossen Landsee von Oomi bildete. Furchtbare
Ausbrüche, welche die ganze Umgegend verheerten, erwähnen die
Annalen unter den Jahren 800 und 864 n. Chr. Die letzte Eruption
erfolgte 1707; seitdem gilt der Vulcan für erloschen.


In der Reisegesellschaft des Herrn Alcock befand sich auch
der Major de Fonblanque von der englischen Armee in China, welcher
nach Japan geschickt worden war um Pferde zu kaufen. Das
Erstaunen der Minister war anfangs gross, als sie hörten dass die
Engländer dreitausend Pferde wünschten; sie machten allerlei
Schwierigkeiten, vergassen aber sonderbarer Weise den einzigen
triftigen Weigerungsgrund: die Wahrung ihrer Neutralität. So fremd
sind selbst den japanischen Staatsmännern die Elemente des
Völkerrechtes. Sie versprachen nach kurzem Widerstande die
Pferde herbeizuschaffen, und machten damit wahrscheinlich ein sehr
gutes Geschäft. Etwa zwölfhundert Stück waren in Kanagava an-
gekommen, und die Hälfte davon nach dem Peïho verschifft, als
die Nachricht von der Einnahme von Tientsin und der Befehl eintraf
den Kauf zu sistiren. Die übrigen Pferde wurden nun öffentlich
versteigert und brachten sehr niedrige Preise, manche nur einen
Itsibu, während beim Einkauf der Durchschnittspreis gegen dreissig
Dollar betrug.


Das Diner bei Capitän Vyse, welchem auch Commodor
Sundewall, Herr von Bellecourt und der niederländische Consul
Herr de Graeff van Polsbroek beiwohnten, währte bis tief in die
Nacht. Auf den Wunsch unseres liebenswürdigen Wirthes hatte
der Commodor das Musikcorps der Arkona mitgebracht, dessen
[10]Diner. Rückkehr nach Yeddo. VI.
Vortrag der National-Hymnen und anderer heimathlichen Weisen
wie immer electrisirend auf die Gäste wirkte. Nach dem Essen
lockte die herrliche Nacht in das Freie; dort warteten in malerischen
Gruppen die japanischen Diener der Consulate mit grossen Papier-
laternen, weiss und bunt, die theils auf langen Bambusstangen,
theils in der Hand getragen werden. Wir zogen mit klingendem
Spiel durch die finsteren Strassen, dann die steile, von hohen Wipfeln
überwölbte Treppe zum amerikanischen Consulat hinan; die bunten
Laternen warfen magische Lichter auf die überhangenden Laubmassen
und der Zug gewährte, von vielen Japanern begleitet und langsam die
Treppe hinansteigend, ein phantastisches Bild, das gewiss Manchem
unvergesslich geblieben ist. — Nachher kehrte die Musik an Bord
zurück; das Meer lag spiegelglatt unter dem sternfunkelnden Fir-
mament, und wir standen noch lange am Ufer, bis die letzten Klänge
»Muss i’ denn, muss i’ denn zum Städtle hinaus« zum Tact der
Ruderschläge in der Zaubernacht verhallten.


Der folgende Tag war zur Rückkehr nach Yeddo bestimmt;
wir besuchten unterwegs noch Herrn de Graeff van Polsbroek, dessen
Tempel an der Landstrasse liegt. Er und alle übrigen Consuln
führten bittere Klagen über ihre in Yokuhama angesiedelten Lands-
leute, deren Anmaassung und Rücksichtslosigkeit fortwährend be-
trübende Collisionen hervorrief. Wir hatten leider schon damals
vielfach Gelegenheit uns von der Richtigkeit dieser Angaben zu über-
zeugen; nicht lange nachher kam es zum offenen Eclat. Die Japaner
sind von Natur durchaus jovial und zu freundschaftlichem Verkehr
mit den Fremden geneigt; sie fördern gern auf jede Weise deren
Vergnügen und Bequemlichkeit, sofern nur nicht gegen persönliche
Rechte oder die Sitten und Gesetze des Landes verstossen wird.
So hatte unser nächtlicher Umzug bei den Bewohnern von Kanagava
nur Aufsehn und heitere Theilnahme, aber nicht den geringsten
Anstoss erregt; die Behörden erkundigten sich am folgenden Tage
nur, welchem »O-Bunyo« denn das Fest gegolten habe.


Wir machten auf dem Heimwege im Theehause von Kavasaki,
wo Herr von Bellecourt uns einholte, einen kurzen Halt; die lustigen
Aufwärterinnen schälten eigenhändig die gesottenen Eier und steckten
sie den Gästen scherzend in den Mund, bewirtheten uns nachher
auch mit köstlichen Weintrauben. Vor Omagava bog Heusken von
dem Tokaïdo ab und führte uns über Ikegami durch Feld und Busch
auf sehr anmuthigem Wege nach der Stadt.


[11]VI. Feuersbrunst.

Den 11. Abends ertönte in unserer Nähe die Feuerglocke,11. Octbr.
der Himmel war bis zum Zenith geröthet. Da dem Anschein nach
die Brandstätte nicht entfernt sein konnte, so machte sich der
Gesandte mit seinen Begleitern und Herrn Heusken trotz den ver-
zweifelten Gegenvorstellungen unserer Hausbeamten zu Fuss dahin
auf den Weg. Es stürmte und regnete, aber die Strassen waren
gedrängt voll Menschen. Wir konnten nur auf Umwegen auf eine
hochgelegene Stelle gelangen, von wo das Feuer sichtbar wurde,
ein wogendes Flammenmeer in der Richtung des Stadtviertels Asaksa,
aber wohl eine Stunde entfernt, so dass wir unser Vorhaben auf-
geben mussten. Auch am folgenden Tage machten unsere Yakunine
so ängstliche Vorstellungen gegen den beabsichtigten Besuch der
Brandstätte, dass wir endlich davon abstanden. Das Feuer zerstörte
eine Strecke von zehn Strassen Länge und drei Strassen Breite in
dem berüchtigten Stadtviertel Yosiwara und legte die drei grössten
Theater in Asche. — Die Bunyo’s der auswärtigen Angelegenheiten
baten den Gesandten nachher wiederholt und dringend, sich bei
Feuersbrünsten niemals auf der Strasse zu zeigen, das Volk sei dann
wie toll; wer zuerst beim Brande erscheine oder sich beim Löschen
auszeichne werde feierlich belohnt, sein Namen auf Tafeln geschrieben
und durch alle Strassen getragen; nach dieser Auszeichnung strebe
jeder Japaner, daher das wilde Gedränge. — Die Löschmannschaften
tragen aus Rohr geflochtene Brustharnische und metallbelegte
Sturmhauben, deren Helmdecke auf die Schultern herabfällt und
unter dem Kinn zugeknöpft wird; höhere Staatsbeamten und Daïmio’s,
unter deren Aufsicht die Löschanstalten stehen, erscheinen zu Pferde
in voller Rüstung. Ein Theil der Mannschaften wird auf die nächst-
bedrohten Dächer postirt und muss dort im Kampfe gegen das
Flugfeuer so lange als möglich aushalten, dann aber — in Eile alle
Schindeln und Ziegel herabwerfen. Wer eine Leiter verlangt oder
zureicht ehe die Gefahr auf das höchste steigt, gilt für ehrlos;
wer aber beim Löschen umkommt, erntet grossen Ruhm und öffent-
liche Ehren. Das Niederreissen bedrohter Häuser soll wohl in
anderen japanischen Städten, nicht aber in Yeddo üblich sein, wo
die Eigenthümer sich ihm widersetzen. An Wasser ist bei den
zahlreichen Canälen selten Mangel; auf vielen Dächern stehen auch
grosse Kübel mit Vorrath zum schleunigen Gebrauch. Die Feuer-
spritzen sind klein und tragbar, nach altem holländischem Muster
sehr fest und sauber gearbeitet.


[12]Brände in Yeddo. VI.

Die Häufigkeit der Brände, namentlich im Winter, erhält
die Mannschaft in beständiger Uebung; Feuerlöschen ist eine Leiden-
schaft des thatenlustigen Volkes geworden, das in den beiden
Jahrhunderten des Friedens kaum andere Gelegenheit fand Muth
und Geistesgegenwart zu brauchen. Im Winter hörten wir die
Feuerglocke fast jede Nacht, oft drei- bis viermal 1). Die Zimmer
[13]VI. Beinbruch.
werden in den kalten Monaten durch offene Kohlenbecken erwärmt,
mit denen man sehr unvorsichtig umgeht; die Holzkohlen springen
und spritzen, und die feinen Binsenmatten brennen im Umsehn; die
Papierfenster und Tapetenwände pflanzen den Brand mit reissender
Schnelligkeit fort und erzeugen rasch auflodernd unglaubliche Hitze;
und wenn auch die massiven Ziegeldächer der besseren Häuser dem
Flugfeuer widerstehen, so gerathen doch auch diese leicht von
unten in Brand, da sich ihre Papierfenster wie Zunder schon an
dem glühenden Hauch aus der Ferne entzünden. Selten brennt ein
einzelnes Haus ab; ehe Hülfe erscheint steht eine ganze Strasse in
Flammen. Am grössten ist die Noth bei heftigen Erdbeben im
Winter: die umgestürzten Häuser entzünden sich dann unfehlbar
von innen; Hülfe ist unmöglich, die Flammen brechen plötzlich aller
Orten hervor. Bei dem letzten grossen Erdbeben, im December
1854, sollen in Yeddo gegen 200,000 Menschen verunglückt sein, und
zwar grossen Theils in den Flammen.


Am 12. besuchten Einige von uns den Lackfabrikanten Sebi12. Octbr.
und liessen ihre Pferde vor der Thür. Wie gewöhnlich versammelte
sich eine grosse Menschenmenge vor dem Hause; die Hintersten
drängten nach vorn, eines der Pferde wurde unruhig, warf rückwärts
schreitend einen Knaben zu Boden und trat ihm so unglücklich auf
das Bein, dass der Knochen brach. Dr. Lucius, der bei der Ge-
sellschaft war, legte sogleich einen provisorischen Verband um; — bald
darauf kam ein japanischer Arzt herbei, der sich überzeugte ob der
Knochen richtig zusammengefügt wäre und dann die Bandagen
kunstgerecht wieder ordnete. Die Menge benahm sich bei dem
ganzen Vorgange verständig und theilnehmend, alle Umstehenden
waren sichtlich erfreut über die hülfreiche Sorgfalt unseres Freundes,
welcher nachher den Patienten bis zu seiner Genesung täglich be-
suchte. Er traf dort häufig mit japanischen Aerzten zusammen und
fand sie zu seinem Erstaunen mit den neuesten europäischen Heil-
methoden vertraut.


Am 15. October feierten wir still den letzten Geburtstag Seiner15. Octbr.
hochseligen Majestät König Friedrich Wilhelm IV. Zum Diner waren
die in Akabane wohnenden Preussen bei dem Gesandten versammelt,
welcher in ernsten Worten die Bedeutung des Tages besprach und
mit seinen Gästen ein stilles Glas auf das Wohl des erhabenen
Kranken leerte. An Bord der Arkona, welche vor Yokuhama lag,
wurde Gottesdienst gehalten und die Mannschaft festlich bewirthet.
[14]Der 15. October. Der 18. October. VI.
Die Corvette hatte geflaggt und alle im Hafen liegenden Schiffe
folgten ihrem Beispiel, sobald ihre Befehlshaber die Veranlassung
erfuhren. In ähnlicher Weise begingen die Officiere und Mannschaften
der Thetis die Feier auf der Rhede von Yeddo; die Matrosen hatten
sich aus eigener Tasche eine grosse Zahl der schönsten geblümten
Papierlaternen angeschafft, mit welchen sie das ganze Zwischendeck
am Abend festlich erleuchteten. Zur Nachfeier begab sich am fol-
genden Tage Graf Eulenburg mit Herrn Heusken, dem Legations-
secretär Pieschel und den drei Gesandtschafts-Attaché’s auf Einladung
des Capitän Jachmann zum Diner an Bord der Fregatte.


18. Octbr.Der 18. October sollte durch eine Landparthie verherrlicht
werden, zu welcher die Herren der englischen und der amerikanischen
Legation eingeladen waren, doch musste der Ausflug wegen
schlechten Wetters unterbleiben. Die Gäste stellten sich zum solennen
Festmal in Akabane ein, wo die Gesundheit des kronprinzlichen
Paares mit lautem Jubel, aus vollen Herzen und Gläsern getrunken
wurde. Vier Unterofficiere der Thetis, welche auf der ganzen Reise
täglich Quartettgesang geübt und darin grosse Vollkommenheit er-
langt hatten, waren auf Graf Eulenburg’s Wunsch zu dem Feste
herübergekommen und erfreuten die Tischgesellschaft durch ihre
Vorträge. Hatte man bei früheren Gelegenheiten das Musikcorps
der Arkona bewundert, so übten doch die schönen Männerstimmen
und unsere köstlichen deutschen Lieder noch einen weit stärkeren
Zauber; sie machten auf die mit solcher Musik wenig vertrauten
Gäste den angenehmsten Eindruck und erhöhten wesentlich die
festliche Stimmung.


20. Octbr.Den 20. unternahmen wir einen Spazierritt nach den nördlichen
Stadttheilen; der Weg ging zunächst durch das Siro, an den Palästen
des Fürsten Oki und des ermordeten Regenten vorbei. Die Strasse,
wo die That geschah, war noch immer gesperrt 2). Vom Schloss-
hügel in die nächste Gasse hinabreitend wurde unsere Cavalcade
einmal wieder mit dem Rufe »Todžin-bakka«, Toller Fremder, be-
grüsst, unter hellem Kinderjubel, ohne jede Feindseligkeit. Man
passirte lange einförmige Strassen, dann einen freien Platz 3), auf
den die Fortsetzung des Tokaïdo über Nippon-basi hinaus mündet;
links zieht sich ein breiter Mauerwall, das Soto-Siro und die centralen
[15]VI. Benteṅg.
Stadtviertel gegen Norden begränzend, nach dem Flusse zu; ein
mächtiges Festungsthor flankirt den Eingang in die jenseitigen Stadt-
viertel. Unser Weg führte an dem Confucius-Tempel vorbei, dann
wieder durch endlose schmale Gassen; aber plötzlich öffnet sich
die Aussicht: man steht vor einem schilfbewachsenen See mit halb
städtischen halb ländlichen Ufern. Gegenüber liegt mitten im Wasser
ein Tempel mit seinen Nebengebäuden, und am Rande des dahin
führenden Steindammes eine Reihe zierlicher Theehäuschen 4). Ein
grünes Vorgebirge, aus dessen dichten Wipfeln die Spitze eines
Mausoleums vorragt, begränzt nach rechts die Aussicht; links
schweift der Blick nach dem fernen nördlichen Ufer, das ländlich
angebaut ist, eine weite Landschaft umfassend, die nichtsdesto-
weniger noch im Umkreise der Stadt liegt; denn jenseit schliessen
zusammenhängende Strassen sie ein, nach denen östlich und westlich
bevölkerte Stadtviertel vorspringen.


Wir ritten das östliche Ufer entlang. Am Ausgangspunkte
des nach der Insel führenden Dammes steht ein hohes steinernes
Toori in der Flucht des einladenden Tempelportals; die Thorflügel
wurden uns aber vor der Nase zugeschlagen und die Yakunine
drängten ängstlich vorwärts. — Der grosse Budda Amida wird näm-
lich neben hundert anderen Eigenschaften auch als Gottheit der
Zeugungskraft verehrt, und diesem Dienste ist der Tempel von
Benteṅg geweiht. Er soll unter dem Patronate mehrerer Daïmio’s
stehen, die in den angränzenden Theehäusern ausgesuchte Schön-
heiten unterhalten. — Als später der Verfasser dieser Blätter von
der Galerie einer gegenüberliegenden Schenke aus den Tempel
skizzirte, kam eine ganze Schaar jener Damen, die wahrscheinlich
niemals einen Fremden gesehen hatten, auf den Balcon des anstossen-
den Hauses. Sie waren sehr hübsch, in prächtige Stoffe gekleidet
und leicht geschminkt. — Die Herren Patrone aber scheinen das
gemissbilligt und Klage geführt zu haben: glücklicherweise war die
Zeichnung fertig, als die Regierung den Künstler bitten liess seine
Studien anderswo zu machen.


Auch die grünen Anlagen jenseits, welche den nördlichen
Begräbnissplatz der Taïkūn-Familie einschliessen, ein beliebter
Spaziergang der höheren Stände von Yeddo, wurden den Fremden
trotz allen Vorstellungen der Gesandten nicht zugänglich. Von
aussen ist der Anblick sehr einladend: mächtige Wipfel mannichfachen
[16]Gefangene. VI.
Immergrüns beschatten die moosbewachsenen Hänge, und verschlingen
ihre rankenbedeckten Zweige mit dem Unterholz zum wuchernden
Dickicht. Hohe düstere Alleen stossen, den kaiserlichen Friedhof
von den nebenliegenden Tempelgründen scheidend, auf die Ufer
des Sees, der, von Reiherschaaren und zahllosen wilden Enten
bevölkert, im Lichte der sinkenden Sonne ein Landschaftsbild
von seltener Lieblichkeit gewährte.


Auf dem Heimwege begegnete uns ein Trupp gefangener Ver-
brecher, die mit Stricken in langer Reihe an einander gefesselt
gingen, elende unheimliche Gestalten. Sie schienen vom Lande her
eingebracht zu werden und hatten wohl auf dem Wege viel gelitten,
denn die Behandlung beim Transport ist etwas unsanft. Weder
zum Essen noch Nachts werden die Hände entfesselt; die Delinquenten
müssen sich füttern lassen und in sehr unbequemer Stellung schlafen.
Solchen, die einzeln transportirt werden, bindet man die Hände in
schmerzhafter Weise auf den Rücken: kann Einer nicht mehr vor-
wärts, so hängt man ihn mit zusammengeschnürten Armen und Beinen
an eine Stange, die zwei Büttel auf den Schultern tragen. Die
Fesselung ist sehr künstlich, für jede Classe von Missethätern und
jeden Stand eine besondere und durch ausführliche Verordnungen
vorgeschrieben. Gemeine Verbrecher werden zuweilen im Kaṅgo
transportirt, die Füsse in einen schweren Block geschlossen; vor-
nehme haben das Standesvorrecht des Norimon, der aber für diesen
Fall mit festgefugten Brettern statt des leichten Bambusgeflechtes
bekleidet ist; innen sitzt der Delinquent bis an den Hals im Sack
steckend; aussen wird noch ein Netz aus dicken Stricken über die
Sänfte geworfen. Die Aengstlichkeit der Vorsichtsmaassregeln gränzt
an das Lächerliche, doch muss man bedenken, dass die japanischen
Büttel nicht nur die Flucht, sondern vor Allem den Selbstmord zu
verhüten haben; wer irgend kann entzieht sich der zeitlichen Ge-
rechtigkeit durch das Harakiru; die Diener der Justiz hätten wenig
zu thun, wenn sie nicht den Selbstmord verhinderten. Was die
Grausamkeit der Behandlung angeht, so muss man immer das
weniger ausgebildete Nervensystem der Ost-Asiaten in Betracht
ziehen, die ungleich härter gegen körperliche Leiden sind als Europäer.
Danach sind auch die Strafen zu beurtheilen 5). Die Gefängnisse
[17]VI. Das Goldblumenfest.
sollen meist reinlich sein, besonders die zur Untersuchungshaft
bestimmten. Statt der Zellen hat man Gitterverschläge, deren ge-
wöhnlich mehrere in einem Raume aufgestellt und gemeinschaftlich
bewacht werden. Die zur Untersuchungshaft dienenden sind bequem
und geräumig, die Nahrung gut, nur Tabak und Saki verboten. Ver-
urtheilte dagegen sperrt man in enge Käfige, in denen sie zuweilen
mit gekrümmtem Rücken auf den Knieen liegen müssen 6). Die
Hinrichtungen geschehen entweder in den Gefängnissen oder öffent-
lich, und die Köpfe der Gerichteten bleiben eine Zeitlang ausgestellt.
Oft lässt man die Verurtheilten mehreren Executionen beiwohnen,
ehe sie selbst an die Reihe kommen.


Am 22. October, dem neunten Tage des neunten japanischen22. Octbr.
Monats feierte man in Yeddo das Goldblumenfest. Schon den Abend
zuvor waren alle Häuser mit bunten Laternen, die Tempel-Portale
und Treppen mit frischem Laube geschmückt, und in den Strassen
viele hohe Masten mit grünen Bambusbüscheln an der Spitze auf-
gepflanzt, welche lange wehende Banner mit Inschriften trugen.
Zahlreiche Kinderschaaren zogen mit grünen Zweigen und Laternen
jubilirend durch die Gassen, wo Bänkelsänger, drollige Masken und
Possenreisser den muthwilligsten Spass trieben. Wir begegneten
Abends vom Spazierritt zurückkehrend hier und da Betrunkenen,
deren aufgeregter Zustand sich in besonders strammer Haltung und
einiger Abneigung unseren Pferden auszuweichen offenbarte. Berittene
Samraï jagten baarhaupt, mit geröthetem Antlitz, verhängten Zügels
durch die Strassen. Man fühlt sich ohne Waffen bei solcher Be-
gegnung etwas unbehaglich, da die meisten Angriffe gegen Fremde
von trunkenen Soldaten ausgehen sollen. Der Rausch dieser Tage
schien aber durchaus harmloser Art zu sein; nur zuweilen hielten
einige der wilden Rossetummler neben uns still und machten spöttische
Bemerkungen, oder legten wohl trotzig die Hand an den Säbelgriff.
Kämpfer sagt, dass das Goldblumenfest vor allen übrigen »einen
5)
II. 2
[18]Japanische Volksfeste. VI.
cordialen Trunk fordere«, dass »Alles im Ueberfluss vorhanden und
ess- und trinkbare Dinge Allen gemein sein müssen«, dass »sich die
Nachbarn der Reihe nach herumtractiren«, und dass es »die grösste
Aehnlichkeit mit den Bachanalien der Römer habe«. Es war also
Alles ganz in der Ordnung.


Nach Siebold ist das Goldblumenfest chinesischen Ursprungs;
es gehört zu den fünf grossen Volksfesten, von denen das Neujahrs-
fest am ersten Tage des ersten Monats, das Pfirsichblüth- oder
Puppenfest am dritten des dritten Monats, das Flaggenfest am fünften
des fünften Monats, das Abendfest am siebenten des siebenten
Monats gefeiert wird. Diese Tage gelten, wie der neunte des neunten
Monats, wegen des Zusammentreffens der gleichen ungraden Zahl,
den Japanern für besonders unheilbringend und sollen vorzüglich
zur Abwendung des Götterzornes so heiter und festlich begangen
werden. Das Neujahrsfest ist ein allgemeiner Gratulationstag, die
ganze Bevölkerung erscheint im Feierkleide, man beschenkt und
bewirthet sich gegenseitig drei Tage lang. Wo Bekannte einander
auf der Strasse begegnen, sagen sie sich unter feierlicher Verbeugung
einen kurzen Glückwunsch. Gastmäler und gesellige Festlichkeiten
sind den ganzen Monat im Schwange wie bei uns im Carneval, mit
dem es auch in der Jahreszeit zusammenfällt. Das japanische Neujahr
fiel 1861 auf den 10. Februar; nur der Regierungsrath Wichura feierte
es in Naṅgasaki, während alle übrigen Mitglieder der Expedition
auf stürmischem Meere umhertrieben. Einige seiner Bemerkungen
darüber mögen hier Platz finden. Alle Läden wurden geschlossen,
Geschäfte und Arbeit ruhten gänzlich. An jedem Hause war
ein Seil aus Reisstroh die ganze Façade entlang gezogen; daran
hingen in fusslangen Zwischenräumen regelmässig mit einander ab-
wechselnd ein kleines Strohbündel und der gabelförmig getheilte
Wedel eines Farrenkrautes (Gleichenia), über der Thür aber ein
dickgedrehter, wohl auch in einen Knoten verschlungener Zopf aus
Reisstroh, an dem eine Orange, ein Stück Holzkohle, einige ge-
trocknete Kaki, ein Stück essbaren Seetangs, einige Tütchen voll
Reis und einige voll Salz mit einem in der Mitte angebrachten roth-
gesottenen Seekrebs zu einer Gruppe vereinigt waren. Das zusammen-
gekrümmte Schwanzende des Krebses wird mit der gebückten Stellung
des Alters verglichen und bedeutet langes Leben; Kohle versinnlicht
die behagliche Wärme des häuslichen Heerdes, Seetang Fröhlichkeit,
und so hat jedes der Embleme seine glückbringende Bedeutung.
[19]VI. Volksfeste. Reïbi.
Die Geschenke, die man einander sendet, sind in ähnlicher Weise
verziert, und bestehen in schönen Seefischen, Körbchen mit Orangen,
Kuchen aus Reismehl und anderen Kleinigkeiten, deren Werth und
Anordnung die Etiquette für jeden Stand genau vorschreibt. In
wohlhabenden Häusern nimmt ein besonderer Officiant die Gratula-
lionsgeschenke mit der sauber geschriebenen Liste in Empfang und
registrirt sie in seine Bücher; an der Hausthüre sitzen an diesen Festtagen
zwei Diener, die alle Eintretenden mit tiefer Neigung begrüssen.


Das Puppenfest gilt vorzüglich der weiblichen Jugend und
heisst, als Frühlingsfeier, auch Fest der Pfirsichblüthen. Das kriege-
rische Flaggenfest begeistert die Knaben und Jünglinge, so auch
das Abendfest, an welchem die Schuljugend Bambusrohre aufstellt
und mit selbstgeschriebenen Versen oder anderen Proben ihres Fleisses
behängt. — Ausser diesen fünf giebt es viele ähnliche Feste localer
Bedeutung und andere die nur den Höfen von Miako und Yeddo oder
gewissen Daïmio-Familien angehören. Alle Volksfeste sind mit
gottesdienstlichen Feierlichkeiten verbunden, ohne deshalb eine
religiöse Bedeutung zu haben. Diese fehlt auch den Reïbi, — so
heissen die monatlichen Feiertage, der erste, fünfzehnte und acht-
undzwanzigste jeden Monats, Vollmond und Neumond. Kämpfer
nennt sie »bürgerliche Gratulations- und Galatage«, an denen Audien-
zen ertheilt, Gastmale, Hochzeiten und andere festliche Handlungen
ausgerichtet werden. Auch an diesen Tagen ist es Sitte, sich
gegenseitig zu beglückwünschen; jeder Japaner legt sein Festgewand
und die Abzeichen seines Amtes und Standes an, verrichtet eine
kurze Andacht im Tempel, und besucht seine Freunde und Vorge-
setzten; Frauen, Mädchen und Kinder lustwandeln festlich geputzt
nach den Tempeln und Kami-Höfen, während der Handwerker,
nachdem er seine Pflicht- und Geschäftsbesuche abgelegt, an seine
Hantirung, der Landmann nach freundlichem Empfang bei dem
Ortsvorsteher zu seinen Feldern zurückkehrt; denn Arbeit und Ge-
werbe stehen an diesen Tagen nicht still. Sie sind bestimmt an
die Pflichten gegen die Kami, gegen Mitbürger und Vorgesetzte
zu erinnern, öffentliche Angelegenheiten so wie Gewissens- und
Familiensachen in geziemender Stimmung zu ordnen, und haben in
mancher Beziehung Aehnlichkeit mit unseren Sonntagen 7).


2*
[20]Kami-Feste. VI.

Eine dritte Art Feste, die Jahrestage der Götter und Kami,
heissen Matsuri. Manche werden durch ganz Japan gefeiert, so
vor allen das des nationalen Sonnengottes Ten-zio-daï-zin, andere
sind, nach Art unserer Kirchweihen, örtlicher Bedeutung, Feste des
localen Schutzpatrons. Keine Volksclasse, mit Ausnahme der lebenslang
unreinen Yeta, ist von diesen Festen ausgeschlossen, die mit treuer
Beibehaltung der alten volksthümlichen Gebräuche begangen werden;
sie bilden einen Einigungspunct der Jugend, welche unter Musik
und mimischen Tänzen die Thaten und merkwürdigen Schicksale
ihrer göttlichen Ahnen, Heroen und Wohlthäter theatralisch dar
zustellen pflegt. Die Matsuri sollen einen bedeutenden Einfluss auf
die sittliche, geistige und körperliche Entwickelung der japanischen
Jugend üben, und viel zur Erhaltung der alten Gebräuche und
patriotischen Eigenthümlichkeiten beitragen.


Siebold giebt folgende allgemeine Beschreibung der Kami-
Feste: »Das Gebot der Körper- und Seelenreinigung eröffnet die
Feier. Nach einer sieben- und mehrtägigen Reinigung versammeln
sich die zu einer Kami-Halle gehörigen Priester und Laien um den
Oberpriester und begeben sich, meistens Nachts unter Fackellicht,
nach der Halle des Kami, dessen Jahrestag bevorsteht, wo sie zur
Reinigung des Mikosi schreiten. Dies ist eine kostbare Sänfte, worin
man Geräthe, Waffen, Harnische und andere Ueberreste des Kami
bewahrt. Wenn Ortsumstände es gestatten, wird dies Gotteshäus-
chen an ein klares fliessendes Wasser gebracht und unter mancherlei
Feierlichkeiten von den Priestern gewaschen. Die Sinto-Hallen
und der Weg den der Zug nimmt, werden beleuchtet. Unterdess
suchen Priester und Volk den Geist des Kami, der mit dem Mikosi
seinen Thron auf Erden einstweilen verlieren muss, durch Gebet
und Musik zufrieden zu stellen, während mehrere Feuer zur Abwehr
böser Geister unterhalten werden. — Dieser Dienst währt bis spät
in die Nacht und die Musik des heiligen Chors ertönt häufig noch
den ganzen folgenden Tag hindurch, um dem Geiste im Himmel seine
Verherrlichung auf Erden zu verkünden. Das gereinigte Mikosi
wird mit den übrigen Geräthen nach einer eigens dazu errichteten
Halle gebracht, wo gottesdienstliche Feierlichkeiten, Volksfeste und
Belustigungen mancherlei Art mehrere Tage über statt haben. Diese
Hallen — sie führen den Namen Oho-tabi-tokoro, hoher Ruheplatz
der Reise — sind zum Gedächtniss der Vorzeit äusserst einfach in
ihrer Bauart und bestehen gewöhnlich aus Bambusstangen und Matten
[21]VI. Das Laternenfest.
mit einem Strohdach, auf dessen Giebel ein Wedel des Sonnenbaumes
(Thuja-hinoki) oder der japanischen Cypresse steckt. Vor dem
Eingange sind zwei grüne Tannen gepflanzt. In der Nähe desselben
wird auf hell loderndem Feuer kochendes Wasser unterhalten und
mit eingetauchten Bambuswedeln von Zeit zu Zeit das Mikosi be-
sprengt. Die Unreines abhaltenden Strohseile begränzen diese zeitliche
Kami-Wohnung, und Priester rennen zu Pferde hin und her, und
spielen, Pfeile schiessend, dem Volk ihren Kampf gegen die bösen
Geister vor. Erst mit der Zurückbringung des Mikosi in seine erste
Halle, die inzwischen gereinigt wurde, endigt die ganze Feier, an
der das Volk und die Regierung gleichen Antheil nimmt. Die Kami-
Priester spielen während dieser Tage eine grosse Rolle und tragen
den ganzen Reichthum ihrer Hallen zur Schau. Die Feierlichkeiten
und Belustigungen, welche dabei statt haben, sind sehr verschieden,
stehen übrigens mit den früheren Verhältnissen des gefeierten Kami
in Beziehung und spielen mehr oder weniger auf die Tugenden und
Thaten desselben an. Festliche Umgänge, Musikchöre, pantomimische
Tänze, Maskeraden, theatralische Vorstellungen, Beleuchtungen,
Wettrennen, Bogenschiessen, Ringkämpfe und andere Leibesübungen
wechseln mit Heldengesängen, Ablesung abentheuerlicher Geschichten,
öffentlichen Lotterieen, Malzeiten und Trinkgelagen.«


Das grosse Matsuri von Naṅgasaki, der Jahrestag des Suva,
fällt mit dem Goldblumenfest zusammen und ist von Holländern
mehrfach beschrieben worden, — denn auch die auf Desima Ein-
gesperrten wurden an diesen Freudentagen nach dem Tempel geführt
um die theatralischen Aufzüge und Darstellungen der Jugend anzu-
sehen und an dem allgemeinen Jubel theilzunehmen. Naṅgasaki
eigenthümlich scheint ferner das Laternenfest zu sein, das wahr-
scheinlich aus China dahin verpflanzt wurde. Jeder, der seine Eltern
noch hat, verbringt diese Tage — vom 13. bis zum 15. des siebenten
Monats — in Fröhlichkeit; man beglückwünscht einander und ladet
seine Freunde zum Fischessen ein. Verheirathete Söhne und Töchter
und angenommene Kinder senden ihren Eltern lackirte Kästchen mit
frischen, gesalzenen und getrockneten Fischen. — Das Fest ist seiner
Bedeutung nach eine Todtenfeier und beginnt mit Einholung der
abgeschiedenen Seelen: die ganze Bevölkerung wallfahrtet am ersten
Tage nach den Friedhöfen, und glaubt dann von den Seelen der
verstorbenen Blutsverwandten nach Hause begleitet zu werden. Man
nimmt deren Gedächtnisstafeln, die Ifaï, aus den Kasten, stellt sie
[22]Das Laternenfest. Familienfeste. VI.
in der Nische, dem Ehrenplatze des Hauptgemaches auf und setzt
ihnen auf grünen Binsenmatten eine zierliche Malzeit von Reis,
Gemüsen und Früchten vor. In der Mitte steht ein Gefäss mit
Rauchkerzen, ein Wasserkrug, aus dem der Reis mit Hanfbüscheln
besprengt wird, eine Schüssel, in welcher ungekochte Reiskörner
auf Blumenblättern im Wasser schwimmen, und Becher mit Blumen
und grünen Sträussen. Lichter und Laternen brennen dabei die
ganze Nacht; die Hausbewohner verrichten dort ihre Andacht und
rufen den helfenden Budda-Amida um ein seliges Leben für die
Verstorbenen an. Am Morgen des zweiten Tages wird der Wasser-
krug durch Theetassen ersetzt; zum Frühstück und Mittag trägt
man Schüsseln mit Reis und Leckerbissen auf; Abends werden vor
allen Gräbern Laternen angezündet, und Becher mit grünen Zweigen,
Schüsseln mit Leckerbissen und Rauchkerzen daneben gestellt. Die
Laternen brennen die ganze Nacht; früh um drei den folgenden
Morgen packt man die Lebensmittel mit bunten Leuchten, Rauch-
kerzen und Geldmünzen — der Reisezehrung — auf strohgeflochtene
Schiffchen mit Papiersegeln und lässt diese in das Wasser. In den
Häusern wird zugleich grosser Lärm durch alle Gemächer und Winkel
bis unter das Dach gemacht, damit ja kein Seelchen zurückbleibe
und Spuk treibe; — sie müssen ohne Gnade hinaus. — Die Be-
leuchtung der Friedhöfe von Naṅgasaki, welche in steilen Terrassen
ansteigend die Uferhöhen rings um die Bai bedecken, soll zauberisch
wirken. Die Strassen der Stadt sind die ganze Nacht hell erleuchtet
und von Menschen belebt; alle Glocken läuten, die Priester singen
Litaneien, Jeder lärmt auf seine Weise so laut er kann; — wenn
dann ein Windstoss die Strohschiffchen in die Bucht hinaustreibt,
so tanzen auch auf dem Wasser unzählige Lichtchen, und ein kleines
Fahrzeug nach dem andern geht in hellen Flammen auf. Arme Leute
stürzen sich trotz den ausgestellten Wachen schaarenweise in das
laue Meer, um die Geldmünzen und Lebensmittel zu erbeuten, und
zuweilen sollen sich förmliche Seeschlachten entspinnen.


Mit der Geburt, Hochzeit und Bestattung sind in Japan
feierliche Gebräuche verbunden wie bei uns. — Das Kind wird
dreissig Tage nach der Geburt gereinigt, geschoren und festlich
aufgeputzt in den Tempel des Kami gebracht, zu dem die Familie sich
hält; das Loos bestimmt seinen Namen, wobei eine Art Taufe durch
Besprengung mit Wasser vollzogen wird, während der heilige Chor
die Litaneien singt. Man besucht nach der Einsegnung noch andere
[23]VI. Familienfeste.
Kami-Hallen und bringt endlich den Säugling zu den nächsten Ver-
wandten. Ist es ein Knabe, so erhält er dort zwei Fächer und ein
Hanfbündel; ein Mädchen wird mit einer Schale Schminke, einem
Hanfbündel, Talismanen und anderen Kostbarkeiten beschenkt. Die
Fächer bedeuten Schwerter, männliche Tapferkeit, die Schminke
weibliche Reize; das Hanfbündel soll sich zum langen Lebensfaden
ausspinnen. Beim Uebergang in das Jünglingsalter wird dem Knaben
das Haupt feierlich in der Art geschoren wie es die Männer tragen, —
von der Stirn bis zur Scheitel kahl; das Haar bleibt in Hufeisenform
um den Hinterkopf und bis zu den Schläfen stehen, wird oben zu-
sammengebunden und in einem kurzen steifen Schopf nach vorn
gebogen. Der Jüngling erhält jetzt einen anderen Namen, der sich
nachher bei wichtigen Lebensereignissen gewöhnlich noch mehr-
fach ändert.


Das Ehebündniss wird im Hause des Bräutigams in Gegenwart
der Eltern und einiger Zeugen geschlossen, indem man dem Bautpaare
unter gewissen Formalitäten eine Schale Saki reicht. Man bringt
zugleich dem Jahresgotte Opfer, damit er langes Leben verleihe,
stellt beim Hochzeitsgelage das Simadaï, ein Sinnbild des glücklichen
Alters auf, und geniesst zum Gedächtniss der Voreltern deren einfache
Nahrung, Seetang und Muscheln. Die Braut ist in weiss, die Farbe
der Unschuld gekleidet; — ihr Gewand soll zugleich ihre Tugend
und ihre Betrübniss beim Scheiden aus dem elterlichen Hause an-
deuten, — denn Weiss ist, wie in China, zugleich die Farbe der
Trauer. — Im Einzelnen sind die Verlobungs- und Hochzeitsgebräuche
sehr complicirt und mannichfaltig, für jeden Stand besonders ge-
regelt. Titsingh hat ein japanisches Buch übersetzt, in welchem
alle Formalitäten, die Festgeschenke und ihre Ueberreichung, die
Kleidung und das Betragen der Brautleute, Verwandten, Hochzeits-
gäste, Dienstboten und Vermitteler bis ins kleinste geregelt, jeder
Schritt und jede Stellung genau beschrieben sind.


Die Leichen werden meist nach buddistischem Ritus bestattet;
— den Sinto-Priester würde die Berührung der Todten, ja selbst
die Begräbnissfeier unrein machen. Der Sarg besteht aus einem
leichten, mit weissem Papier beklebten Holzgestell, in welchem der
Todte aufrecht sitzt; man soll ein Mittel haben, den steifgewordenen
Körper wieder biegsam zu machen und in die sitzende Stellung zu
bringen. So wird er auf den Schultern der weissgekleideten Ange-
hörigen hinausgetragen und unter dem Gesange von Litaneien in
[24]Die japanische Gottesverehrung. VI.
die Gruft gesenkt. — In früheren Zeiten soll es üblich gewesen
sein die Todten zu verbrennen. Nach älterem Sinto-Brauch wurde
die Leiche im Sarge auf dem Begräbnissplatz unter einfachem Stroh-
dach von den trauernden Verwandten so lange bewacht, bis das
Grabmal nach Stand und Würde fertig war und die feierliche Bei-
setzung erfolgen konnte. Man gab dem Verstorbenen seine Rüstung,
Waffen und Kostbarkeiten mit in die Gruft.


Bitt- und Bussfeste werden gefeiert an den Jahrestagen der
Sterbefälle und anderer Familienereignisse, oder auf Anordnung der
Obrigkeit bei wichtigen Staatsbegebenheiten.


Fast sämmtliche japanische Feste und Festgebräuche stammen
aus dem Sinto-Cultus; nur wenige sind rein buddistischen Ursprungs.
Die Lehren des Confucius und Siaka sollen auf die Gestaltung der
Volksfeste einen wesentlichen Einfluss geübt haben, doch tragen
auch diese zu bezeichnende Merkmale des alten Kami-Dienstes, um
diesem Cultus nicht zugeeignet zu bleiben. — Die Reisenden der
preussischen Expedition waren selbstverständlich bei ihrem kurzen
Aufenthalt und ihrer Unkenntniss der Landessprache nicht in der
Lage, viel neue und zuverlässige Aufschlüsse über das Verhältniss
des Kami-Dienstes zum Buddismus zu gewinnen, doch möge dem
Verfasser gestattet sein, hier die durch eigene Beobachtung erläu-
terten Früchte seiner Bücherstudien über diesen Gegenstand in kurzem
mitzutheilen.


Der Buddismus ist seit Verbannung des Christenthumes er-
klärte Staatsreligion, zu der sich, wenigstens äusserlich, alle Japaner
bekennen müssen. Als Graf Eulenburg die mit ihm verkehrenden
Bunyo’s nach ihrem Bekenntniss fragte, antworteten sie ausweichend,
dass sie »als Buddisten begraben würden«. Sie gehörten unzweifel-
haft, wie die gebildeten Stände fast durchweg, der philosophischen
Secte Syuto an, deren Lehren sich auf die schon im Anfange unserer
Zeitrechnung in Japan eingeführten Schriften des Confucius gründen
und nicht eigentlich eine Religion zu nennen sind. Ihnen gilt die
Ausbildung des sittlichen Principes im Menschen als das Höchste;
die Frage nach dem geistigen Wesen der Gottheit, welche Con-
fucius
selbst hartnäckig von sich abgewiesen zu haben scheint, bleibt
unerledigt. Das Körperliche, Unvollkommene, Vergängliche, steht
im Gegensatz zu dem Geistigen, Vollkommenen, Ewigen, dessen
Keim in jeden Menschen gelegt ist, mit der Pflicht, ihn aus eigener
Kraft zu nähren und auszubilden. Staat und Familie sind unmittelbare
[25]VI. Syuto. Sinto.
Ausflüsse und Repräsentanten des ewigen Princips, eingesetzt und
berufen die Ausbildung des Geistig-Sittlichen im Ganzen und Ein-
zelnen zu leiten, zu fördern. Symbol des Scheinbaren, Endlichen
ist die Erde, Symbol der Ewigkeit und Wahrheit der Himmel. Die
Wahrheit wird im Bewusstsein jedes Menschen geboren; er ist
bestimmt, ihr durch eigene Wahl anzugehören, mit dem Ewigen
eins zu werden. Das sind die Grundlagen der Confucius-Lehre,
über deren weitere Aus- und Umbildung in der Syuto-Secte der
Verfasser keine Auskunft zu geben vermag. Ihre Auffassung erheischt
offenbar einen höheren Bildungsgrad, als bei der Menge des japanischen
Volkes zu finden ist.


Fragt man den Japaner über die Verbreitung des Buddismus
und des Kami-Dienstes, so heisst es, »auf hundert Buddisten sei
kaum ein einziger Bekenner der Sinto-Lehre zu rechnen«. Das
ist aber nur von den Anhängern des reinenSinto-Cultus zu ver-
stehen, dessen Vorschriften allen Bilderdienst und den Besuch der
Budda-Tempel streng verbieten. Ihnen scheint die Secte Ikosyo
schroff gegenüber zu stehen, welche die reine Lehre des Budda-
Amida
ausgebildet hat und jeden anderen Cultus verdammt. Dagegen
sollen die Anschauungen und Gebräuche aller übrigen Budda-Secten
sich mehr oder weniger denen des alt-nationalen Kami-Dienstes
angepasst und verschmolzen haben, und so kann man noch heut
mit vollem Rechte sagen, dass die Sinto-Religion durch das ganze
Volk verbreitet ist. Die Secte der Riobu-Sinto, in welcher Ge-
bräuche und Lehren des Buddismus und des Kami-Dienstes auf das
innigste verschmolzen zu sein scheinen, gilt für eine der zahlreichsten.
Die ersten Verkünder des Buddismus in Japan haben ihre Lehre
gradezu auf den Kami-Dienst gepfropft; Wunder, Götter- und
Geistererscheinungen waren in jenem Zeitalter an der Tagesordnung;
die im Sinto-Cultus hochverehrten göttlichen Ahnen kamen bald
hier bald dort unter der Hülle indischer Gottheiten in buddistischen
Tempeln zum Vorschein, während indische Götter und Propheten,
in Japan wiedergeboren, in den Personen lebender Regenten, grosser
Männer und Helden auftraten. Buddistische Mönche gaben vor,
den japanischen Sonnengott in China in der Gestalt eines in-
dischen Heiligen angetroffen zu haben, wo er erschienen sei um
feindliche Anschläge gegen sein Schutzland abzuwenden; sie brach-
ten das Götzenbild sogar herüber und erhielten einen Tempel
dafür. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass der Buddismus
[26]Buddismus und Kami-Dienst. VI.
wenigstens mancher Secten nur ein verändertes Gewand des Kami-
Dienstes ist.


Der gebildete Japaner verachtet gradezu den Buddismus und
dessen Priester, nicht so sehr wegen der Glaubenslehren, sondern
weil es ihn herabwürdigt, dem gemeinen Haufen gleich ein Gegen-
stand plumpen Mönchsbetruges zu werden, in den der öffentliche
Gottesdienst dieser Secten vielfach ausgeartet ist. »Der Butto«,
heisst es in dem Briefe eines Gelehrten an Siebold, »ist unser herr-
schender Gottesdienst und aus keinem anderen Grunde als solcher
aufgestellt, als um das Volk in seiner Dummheit zu erhalten. Die
Secte Sensyu ausgenommen geht das Streben aller Bonzen dahin,
das Volk, und vor Allen den Landmann in plumper Unwissenheit
zu lassen: Einfältigkeit, sagen sie, führt auf dem Wege des blinden
Glaubens und Vertrauens in die Vorschriften und Auslegungen der
heiligen Bücher von selbst zur Tugend.« Aehnliche Aeusserungen
berichtet Golownin; die Verachtung des Buddismus scheint bei den
höheren Ständen allgemein, ebenso aber die Ueberzeugung von seiner
Unentbehrlichkeit für das Fortbestehen der alten Ordnung. Der
gemeine Mann hat blinde Ehrfurcht vor den Bonzen, blickt aber
mit scheuer Achtung zu der philosophischen Secte als einer höheren
auf, deren erhabene Lehren nur den bevorzugten Ständen zugänglich
sind. Der Kami-Dienst dagegen steht bei Vornehm und Gering in
grossem Ansehn; selbst die Anhänger der Syuto-Lehre beweisen
ihm Ehrerbietung und beobachten gern die altherkömmlichen Fest-
gebräuche der nationalen Gottesverehrung. Sie scheint allerdings
wenig ausschliessliche Bekenner zu haben, aber fast alle Japaner,
die buddistischen Priester kaum ausgenommen, besuchen neben den
Tempeln ihrer Secten auch die Kami-Hallen. Die Gebräuche des
Sinto-Cultus sind mit dem Volks- und Familienleben innig verwachsen
und nicht davon zu trennen. Die Feier der darin vorgeschriebenen
heiligen Tage und Feste ist jedem Japaner eine Pflicht der Pietät,
sie bilden einen Einigungspunct aller Stände und Glaubenssecten,
und werden mit allgemeiner Begeisterung begangen. Es verhält sich
damit ähnlich wie bei uns mit mancher alten Volks- und Hausge-
wohnheit, deren Ursprung oft in die heidnische Zeit hinaufgeht,
deren wahre Bedeutung längst vergessen ist; sie ist uns lieb als
alter Gebrauch, den wir seit frühester Kindheit begangen haben und
auch in reiferem Alter ungern missen. Je schärfer ausgeprägt die
Eigenthümlichkeit eines Stammes, desto mehr solcher uralten Sitten,
[27]VI. Kami-Dienst.
Gebräuche und Feste werden sich erhalten, die, aus der Heidenzeit
stammend, oft in gradem Widerspruch mit dem Christenthume
stehen, oder ihm nothdürftig angepasst sind. So begleiten auch
den buddistischen Japaner Gebräuche und Feste des Kami-Dienstes
von der Wiege bis zum Grabe durch das Familien- und Bürgerleben.
Sie führen ihn erheiternd und erbauend im Kreise des Jahres herum
und mahnen zu bestimmten Tagen und Stunden an die Vorzeit, an
die Pflichten gegen sich selbst und die Seinen, gegen seine Mitbürger
und Vorgesetzten. Japanischer Anstand und Lebensart stehen in
enger Beziehung zu dem Kami-Dienste, die Festgebräuche sind eine
Schule der jugendlichen Bildung, sie verfeinern die Sitten und lenken
die Vergnügungen.


In jeder Wohnung ist an erhöhtem Platze eine kleine aus
weissem Holz geschnitzte Hauscapelle, Miya, aufgestellt, in welcher
das Goheï8), ein aus Papierstreifen bestehendes Sinnbild des Kami
aufbewahrt wird. Davor stehen Blumentöpfe und Opfergeräthe, und
zur Seite Laternen von eigenthümlicher Form. Becher mit frischen
Zweigen des immergrünen Sakaki, der Myrthe und Cypresse
schmücken das häusliche Heiligthum, und in den Gefässen wird zu
bestimmten Zeiten Thee, Saki und gereinigter Reis geopfert. An den
Reïbi, den Jahrestagen des Kami, bei Volks- und Familienfesten hängt
man sinnbildliche Verzierungen, Gemälde und künstliche Blumen-
sträusse dort auf, und die festlich gekleideten Familienglieder begehen
die Feier je nach ihrer Bedeutung mit gemessenem Ernst oder heiteren
Spielen. — Auch in dem Gärtchen, das fast keinem japanischen
Hause fehlt, ist dem Hausgötzen ein zierlicher Ehrensitz bereitet. —


Seinem Wesen nach ist der Sinto-Dienst ein Natur- und
Heroencultus; alle Andachtsübung scheint auf Erhebung der Seele an
wunderbaren Naturkräften und menschlicher Grösse hinauszulaufen 9).
[28]Kami-Dienst. VI.
Eigentliche Glaubenssätze hat der Verfasser nicht entdecken können,
aber an sittlichen Vorschriften und Regeln für das Leben und die
Andachtsübung ist der Cultus reich. Man soll vor Allem reinen
Herzens sein, soll Wahrheit und Glauben im Gemüthe tragen, reine
Opfergaben bringen und den Kami bitten, dass er Wohlsein und
Segen verleihe, die Fehler verzeihe und die Seele des Schuldigen
von allem Uebel erlöse. Die Reinheit der Seele soll sich durch
körperliche Reinheit bethätigen; Feuer und Wasser sind Symbole
der Reinigung, daher stehen deren Genien am Eingange vieler Sinto-
Tempel. »Unrein« wird man durch Sterbefälle der Blutsverwandten
und Berührung von Leichen, durch Blutvergiessen, Befleckung mit
Blut und den Genuss der Hausthiere. Der Mensch ist den Göttern
nur im Zustande reiner Seelenfreude angenehm, und wird durch
Trauer und wilde Leidenschaft, wie durch die ekelerregende Be-
rührung des Verwesenden von ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen.
Im Zustande der Unreinheit lässt man Bart und Haare wachsen und
bedeckt das Haupt, die Männer mit einem Strohhut, die Frauen mit
weissem Schleier; Thüren und Fenster der Wohnung bleiben ge-
schlossen, aussen zeigt eine Tafel den Zustand der Unreinheit an.
Um in die Gottesgemeinschaft zurückzukehren zieht der fromme
Japaner sich in ein frisch gereinigtes Haus zurück, legt ein weisses
Trauergewand an, enthält sich, unter Beobachtung der grössten
Reinlichkeit, aller nahrhaften Speisen, und bringt seine Zeit mit
Gebeten und dem Lesen erbaulicher Bücher zu. Diese Fasten dauern
je nach dem Grade der Unreinheit länger oder kürzer, und werden
von Landleuten und Handwerkern auch vor dem Antritt der Pilger-
fahrten, ja sogar vor dem Besuch bei hochgestellten Personen
beobachtet. — Der Entsündigte kehrt endlich im Festgewande, den
Bart und das Haupthaar nach Landessitte geschoren, in die Gemein-
schaft seiner Verwandten und Freunde zurück, und nimmt wieder
Antheil an den Festen der Landesgötter.


Die reine Sinto-Lehre verbietet allen Bilderdienst 10); selbst
Tempel scheint es ausser dem uralten Heiligthum von Isye vor
Einführung des Buddismus kaum gegeben zu haben. Um 906 theilte
der Mikado jeder Landschaft die Verehrung bestimmter Gottheiten
zu; seitdem ist die Zahl der Kami bedeutend gestiegen. Alle
[29]VI. Kami-Tempel.
Sinto-Tempel zeichnen sich durch die einfachste Bauart aus; sie
sind mit Rohr oder Schindeln gedeckt, das Innere so schmucklos
wie das Aeussere; das berühmte Heiligthum von Isye ist ein be-
scheidenes Haus von Rohr und Stroh. Als Sinnbild der Gottheit
dient überall das aus Papierstreifen gefertigte Goheï, das entweder
in vergittertem Schrein oder in einem abgesonderten Allerheiligsten
hinter dem Tempel bewahrt wird. Auf dem Altar steht ein Metall-
spiegel als Symbol der Sonne, der Reinheit; wenige Opfergeräthe,
eine Trommel, eine Schelle und ein muschelförmiges Gong über dem
Eingang bilden das Tempel-Inventar. Vor der Thür wachen grimmige
Thiergestalten, »die koraïschen Hunde«, deren Vorbilder die Japaner
von ihren frühesten Eroberungszügen nach dem Festlande mitgebracht
haben sollen. Niemals fehlt das Toori, ein Portal von typischer
Form aus Holz oder Stein, gebildet von zwei gegeneinander geneigten
Säulen und zwei sie verbindenden Querbalken. Die Neigung der
Säulen, die Schweifung der oberen Schwelle, und die auch bei dem
steinernen Toori selten fehlenden Keile beweisen deutlich den
Ursprung der Form aus dem Holzbau 11). — Die grösseren Tempel
haben Nebengebäude für das Mikosi, einen Wasserplatz mit grossen
Bronzekübeln, Stallungen für die Priesterpferde, Hallen für Votiv-
bilder, für Schrifttafeln mit den autographen Sprüchen berühmter
Männer, mit Gedichten, Legenden und historischen Notizen. Auch
Rüstungen, Waffen und andere Votivsachen werden dort aufbewahrt.
— Oft stehen kleinere Miya’s oder Bethäuser zur vorbereitenden
Andacht neben dem Tempel.


Die meisten Kami-Höfe liegen in dichten Hainen, an Berges-
hängen, Seen oder strömenden Wassern. Gewöhnlich ist ein
bewegter Baugrund zu Herstellung von Terrassen und Vorhöfen
benutzt; künstliche Anlagen wetteifern mit der Natur, jede Zufälligkeit
des Bodens gestaltet sich unter der Hand des japanischen Architekten
zur landschaftlichen Zierde. Sie sind Meister in der malerischen
Verwerthung abschüssiger Bauplätze; wo symmetrische Anordnung
unmöglich ist, spricht doch die Anlage immer einen klaren Gedanken
aus. Mannichfache Ziersträucher schmücken die wipfelbeschatteten
Vorhöfe; die Strebewände hochgethürmter Terrassen sind malerisch
in Moos, Epheu und Immergrün verhüllt. Klare Quellbäche stürzen
die Waldschluchten herab und werden in Goldfischteichen gesammelt;
Hegewild, Fasanen und Chöre von Singvögeln beleben die grüne
[30]Kami-Priester. VI.
Einsamkeit. Manche Tempel sind wegen ihrer Nachtigallen, schön-
gefiederten Enten oder ähnlichen Gethiers berühmt, andere durch
Legenden und historische Traditionen merkwürdig. Hier wird dem
andächtigen Pilger der alte Stamm einer Tanne gezeigt, welche der
heilige Tensin pflanzte, dort ein Bambusstrauch, der Angelruthe
eines berühmten Helden entsprossen, oder der Kirschbaum, wo ein
liebendes Mädchen ihr thränennasses Gewand aufhing, ehe sie sich
verzweifelnd in das Meer stürzte, das ihren Geliebten verschlang.


Die Kami-Höfe sind mit ihren schönen Umgebungen die be-
liebtesten Lustorte aller Volksclassen. Man ergeht sich im kühlen
Haine mit Frau und Kind, lagert mit den Freunden schmausend und
Verse machend am Wasser, füttert das Hegewild und die Goldfische,
oder geniesst träumend der herrlichen Aussicht. Die gastfreien
Priester nehmen Theil an allen Freuden; sie gehören meist den
höheren Ständen an und sind verheirathet, gehen im gewöhnlichen
Leben bewaffnet und unterscheiden sich in Haartracht und Kleidung
wenig von den Laien; bei Feierlichkeiten dagegen soll ihr Anzug
der Hoftracht von Miako gleichen, die Oberpriester führen dann
den krummen Säbel und die Ceremonienmütze Kamuli. Die Priester-
frauen tragen ihr Haar nach Art der Mikado-Damen; sie sind
Gehülfinnen beim Gottesdienst, reinigen und segnen die Hallen,
verrichten ausschliesslich die Einsegnung der Neugeborenen und
führen in Gemeinschaft mit Priestern und Laien die heiligen Gesänge
aus. Die Beschäftigung der Priester besteht neben dem Darbringen
der Opfer und Wahrnehmung der Festgebräuche vorzüglich im
Empfange der Pilger und Verfertigung mannichfacher Talismane,
Ablasszettel und Schriften über die Merkwürdigkeiten des Kami-Hofes.
An den Feiertagen halten sie Predigten, lesen Legenden und Wunder-
geschichten vor und legen sie den Andächtigen aus. Beim Gepränge
der Festprocessionen werden viele Laien verwendet und dazu in
kostbare, im Tempel verwahrte Gewänder gekleidet. — Die Opfer
bestehen meist in Esswaaren: Reis, Kuchen, Fischen, Früchten,
Thee und Saki. Warmblütige Thiere sollen jetzt nur selten geopfert
werden, auch steht das Thieropfer mit dem Wesen des Cultus in
Widerspruch. In den ältesten Zeiten aber wären der Sage nach
zur Versöhnung böser Geister selbst Menschen geschlachtet worden.


Wer seine Andacht im Tempel verrichtet, soll sich vorher ge-
hörig reinigen; er sprengt Wasser aus dem davor aufgestellten Becken,
tritt an den Eingang und schlägt mit dem dort herabhängenden Seil
[31]VI. Kami-Dienst. Wallfahrten. Ablass.
an das muschelförmige Gong über der Thür, — oder klatscht dreimal
in die Hände, — um den Kami zu rufen; oft wiederholen die Priester
durch Trommel- oder Glockenschlag diese Ankündigung. Der An-
dächtige verrichtet dann am Eingang stehend oder niederknieend
gesenkten Hauptes ein stilles Gebet und wirft beim Weggehen einige
Kupfermünzen vor den Altar.


Eine Hauptvorschrift des Sinto-Dienstes ist das Wallfahrten.
Kämpfer und Siebold nennen zweiundzwanzig Wallfahrtsorte, deren
vornehmster der oft erwähnte Tempel des Ten-zio-daï-zin in der
Landschaft Isye ist; dahin pilgern Anhänger fast aller japanischen
Secten. Haupterforderniss der Wallfahrt ist Reinheit; auch dem
Hause des Pilgers darf während seiner Reise nichts Unreines nahen,
ein Strohseil hängt zur Abwehr böser Geister quer vor der Thür.
Die beiden Tempel von Isye dürfen nur in Begleitung der Priester
betreten werden, welche die Andachtsübungen der Pilger leiten und
dafür Gebühren beziehen. Den älteren, inneren gründete nach den
japanischen Annalen der Kaiser Sui-nin im Jahre 5 n. Chr., und
weihete dort seine jüngste Tochter zur Oberpriesterin; den zweiten
soll der Daïri Yuliak um 477 n. Chr. gebaut haben. Nach Klaproth
würde bei der Thronbesteigung jedes Mikado ein an dessen Statur
gemessenes Bambusrohr nach Isye gebracht und während seines
Lebens im äusseren Tempel bewahrt, bei seinem Verscheiden aber
mit der Namens-Inschrift versehen und in den inneren Tempel ver-
setzt; diese Stäbe dienten als Sinnbilder der mit ihrem Tode in die
Zahl der Kami tretenden Erbkaiser. Im inneren Tempel sollen
ausserdem ein Strohhut, ein Strohmantel und ein Grabscheit —
Embleme des Ackerbaues, der als Grundlage der japanischen Cultur
gilt — hinter einem geheimnissvollen Vorhang bewahrt werden,
welcher nach dem Volksglauben das Bild der Gottheit verhüllt. —
Die Pilger empfangen in Isye gegen eine Geldgebühr das Ofarraï,
ein Holzkästchen mit dem Ablassschein, der nachher sorgfältig am
besten Orte des Hauses aufbewahrt wird. Der Ablass dauert aber
nur ein Jahr; die Ofarraï-Kästchen werden daher in Massen durch
das ganze Land verschickt, und zu Neujahr, dem Feste der Reinigung,
mit den Kalendern aller Orten um ein Geringes verkauft. Nach Isye
ziehen Pilger aller Stände; nur die Budda-Priester sollen, als unrein
durch die Leichenbestattung, den Tempeln nicht nahen dürfen. Eine
Tafel mit der Chiffer des Sonnengottes findet sich in fast allen
japanischen Häusern, ausser denen der Secte Ikosyo, welche die
[32]Der japanische Buddismus. VI.
reine Lehre des Budda Amida bewahrt und jeden anderen Cultus
verabscheut. — Die japanischen Pilger tragen sonderbarer Weise
dasselbe Abzeichen wie früher die abendländischen, nämlich eine
Kamm-Muschel an Hüten und Mänteln.


Der Buddismus der japanischen Secten ist also mehr oder
weniger mit Elementen des Sinto-Dienstes versetzt; gewiss war auch
schon die Lehre, wie sie aus China herüberkam, von der ursprüng-
lichen indischen sehr verschieden. In dieser ist Budda weder Gottheit
noch Mittler noch Prophet, sondern eigentlich nur Vorbild, die
höchste Potenz menschlicher Vollkommenheit. Es ist hier nicht
der Ort in die sinnverwirrenden Abstractionen der alt-buddistischen
Atheologie einzugehen; die indische Lehre ist im besten Falle
pantheistisch. In Japan aber hat allem Anschein nach das Seelen-
bedürfniss des Volkes die Apostel und Gründer der Secten zu
Gottheiten, Mittlern und Propheten gestempelt, die es anbetet. Der
indische Šakiamuni — japanisch Siaka, — die Propheten Darma
und Amida geniessen der höchsten Verehrung; sie erscheinen in der
Legende als Incarnationen der Gottheit, sterben und erstehen unter
mancherlei Gestalten in China, Indien und Japan. Am meisten scheint
der Cultus des Amida verbreitet zu sein, der helfenden, rettenden
Gottheit, welche das Land der himmlischen Freuden bewohnt und
bei dem höchsten Richter für die Gläubigen Fürsprache thut. Auch
andere Stifter der Secten und berühmter Tempel werden als Mittler
verehrt, welche, mit gläubiger Inbrunst angerufen, durch das Ueber-
maass ihres Verdienstes die Seelen aus dem Fegefeuer erlösen. Im
japanischen Buddismus ist das ganze Weltall mit heiligen Wesen
erfüllt, die theils wunderbare Naturkräfte und besondere Eigen-
schaften der Gottheit versinnlichen, theils vergötterte Menschen
darstellen, die sich um ihr Geschlecht verdient gemacht haben: so
die Goṅgen, unter menschlicher Gestalt erstandene Götter; die
Myodžin, verklärte Geister der Märtyrer, die sieben Budda-Heilande
und die sechs Nothhelfer, die Bodisatwa’s, Kuannon’s, Lichtkönige,
Genien, Elfen und Kobolde aller Art. — Die Lehre von der Seelen-
wanderung scheint im östlichen Asien weniger ausgebildet zu sein
als in den Stammländern des Buddismus. — Nach Siebold unter-
scheidet man in Japan eine höhere und niedere Glaubenslehre; jene
wäre das auf geistige Anbetung gegründete Bekenntniss frommer
Priester, diese der sinnliche Bilderdienst des in dumpfem Aberglauben
befangenen Volkes.


[33]VI. Der Budda-Dienst.

Der japanische Buddismus hat Mönchs- und Nonnen-Orden,
Monstranzen, Rauchgefässe, den Krummstab, Rosenkranz, Reliquien,
Talismane und Ablasskram. Am Geburtstage des Siaka wird sein
Bild unter grossen Feierlichkeiten gewaschen, am Tage nach seinem
Eintritt in die Wüste beginnen in den Tempeln Fastenpredigten, die
bis zu seinem Todestage dauern; die Ausschmückung des heiligen
Grabes begeht man mit vielem Gepränge. Die Budda-Tempel sind
viel zahlreicher und prächtiger als die Kami-Hallen; auf ihren Altären
stehen Candelaber, Weihrauchbecken, künstliche Blumensträusse,
bronzene Thierbilder und sonstiger Tand. Oft verbergen prächtige
Goldgitter die grossen Götzen hinter dem Altar; in den Nebencapellen
findet man viele kleinere Bildsäulen und mannichfache Votivgemälde.
Der buddistische Pantheismus verschmäht es nicht, selbst die Bild-
nisse hingebender Schönheiten in seine Tempel aufzunehmen, und
schmeichelt auf jede Weise der leichtgläubigen Phantasie. — Einige
Tempel enthalten colossale, durch zwei Stockwerke reichende
Bildsäulen; in anderen sind ganze Wände von oben bis unten mit
Miniaturstatuetten aus einer und derselben Form bedeckt, man zählt
sie nach Tausenden. Geschnitzt, gemalt, von Holz, von Stein und
Bronze steht Budda an allen Ecken und Enden, bald aufrecht, bald
sitzend auf der Lotosblume, segnend, betend oder in Betrachtung
versunken, besonders zahlreich und oft in langen einförmigen Reihen
zwischen den Grabstätten. Jeder Berg, jeder Fluss, jede Kluft ist
einem Heiligen geweiht; an allen Pfaden fordern Götzenbilder den
Wanderer zur Verrichtung der Andacht auf. Da das Gebet aber
viel Zeit kostet, so haben die Bonzen einen sinnreichen Ausweg
gefunden: in den senkrechten Einschnitt eines Pfahles ist eine kleine
eiserne Radscheibe eingelassen, auf deren Rande die angemessene
Formel eingegraben steht. Der Vorübergehende setzt das Rädchen
durch einen leichten Fingerdruck in schnelle Bewegung; so vielmal
sich nun die Scheibe dreht, so viele Gebete werden ihm angerechnet.


Die buddistischen Bonzen gehen geschorenen Hauptes und
in langen faltigen Gewändern; sie müssen im Cölibat leben und
dürfen weder Fleisch noch Fisch essen, scheinen sich aber mit der
äusseren Heiligkeit zu begnügen; die meisten gelten für habsüchtig
und ausschweifend. —


Es giebt, wie gesagt, mancherlei Mönchs- und Nonnen-Orden.
Unter ersteren ist der der Yamambo’s, Bergmönche (nach Kämpfer
Bergsoldaten) einer der zahlreichsten; man begegnet ihnen häufig
II. 3
[34]Brüderschaften. VI.
bei den Matsuri und anderen Festlichkeiten, wo sie, mit Weib und
Kind umherziehend, musiciren und betteln. Ihre Töchter gehören
meist zum Orden der Kumano-Bikuni, weltlicher Nonnen ohne
ascetische Gelübde, die sich vielfach auf den Landstrassen umher-
treiben um den Reisenden durch Gesang und Scherz die Zeit zu
vertreiben. Auch die Yamambo’s haben durchaus nichts Heiliges;
sie tragen weltliche Tracht, ein Schwert im Gürtel, einen Rosenkranz
und Knotenstock, eine Muschel auf der sie blasen und eine Art
Skapulier mit den Zeichen ihres Grades, denn es giebt Rangstufen,
welche von dem Oberhaupt in Miako verliehen werden. Nach
Kämpfer wäre die Brüderschaft sehr alt und aus dem Sinto-Dienst
hervorgegangen, — wozu auch stimmt, dass sie verheirathet sind, —
ein Einsiedler-Orden, dessen Mitglieder ascetisch lebten und als
Bussübung hohe Berge bestiegen. Die reicheren sollen eigene Häuser
am Abhange des Fusi-yama bewohnen; die meisten machen aber
wohl aus der Bettelei ein Gewerbe, und nähren sich durch Geister-
beschwörungen, Quacksalberei, Wahrsagen, Entdeckung von Dieben
und dergleichen Gaukeleien auf Kosten des abergläubischen Volkes.
— Die beiden Brüderschaften der Blinden sollen in ihren Gebräuchen
von denen der Yamambo’s nicht sehr abweichen; ihre Entstehung
knüpft sich an Legenden: die der älteren an einen Mikado-Sohn
der grauen Vorzeit, der sich nach dem Verlust seiner Geliebten
blind weinte und zu ihrem Andenken die Brüderschaft gründete;
die der jüngeren an eine Episode aus dem Kriege der Gensi und
Feïke12). Ein Heerführer der letzteren, den Yoritomo gefangen
hat und durch Grossmuth und Gnadenbezeugungen zu gewinnen
hofft, reisst sich in dessen Gegenwart beide Augen aus, mit dem
Geständniss ihm zwar Dankbarkeit zu schulden, aber doch, so
lange er ihn sehe, seinen tödtlichen Hass nicht unterdrücken zu
können. — Es gibt noch andere Bettel-Brüderschaften, weltlich
und geistlich, daneben aber auch achtbare Mönchs- und Nonnen-
Orden, vorzüglich in den Klöstern von Miako.


Die Toleranz der Secten untereinander, von der die portugie-
sischen Missionare reden, ist noch heute dieselbe; oft sollen sich
die Mitglieder einer Familie zu den verschiedensten Lehren bekennen
und dabei in bester Eintracht leben. Nicht das religiöse Bekenntniss,
sondern eine gewisse practische Sittenlehre verbindet das Bewusst-
sein aller Stände und Secten. »Wer reinen Sinn und Wahrheit
[35]VI. Häuslichkeit und Geselligkeit.
hegt, redlich lebt und handelt, ist den Göttern auch ohne Gebet
und Tempelbesuch angenehm.« Ein Vers dieses Sinnes ist in Jeder-
manns Munde, sehr bezeichnend für den ethischen Standpunct des
Volkes. Wer das einträchtige, heitere Familienleben, die Achtung
und Sorgfalt für das Alter, Frauen und Kinder, die anständige Höf-
lichkeit des geselligen Verkehrs unter den Japanern gesehen hat,
kann sich der Ansicht nicht verschliessen, dass sie trotz manchen
Auswüchsen auf einer erheblichen Stufe der sittlichen Bildung stehen.
Tritt man in die Häuser der arbeitenden Classen, so findet man die
jüngeren Männer in emsiger Thätigkeit, mit zufriedenen, heiteren
Gesichtern, die älteren Familienglieder um den Theetopf hockend,
ihre Pfeifchen rauchend, schmucke Frauen und Mädchen bei den
häuslichen Besorgungen und hübsche, fröhliche Kinder um sie her
in munterem Spiel. Wohnung und Hausrath sind auch bei den
unbemittelten Ständen reinlich und ordentlich, so viel es Gewerbe
und Beschäftigung zulassen; man sieht wohl Flickwerk, aber nichts
Zerrissenes, weder Schmutz, noch Lumpen und Scherben. Im Ein-
klang mit dieser anständigen Behaglichkeit der Wohnung steht auch
die körperliche Reinlichkeit der Japaner; die meisten baden täglich,
sei es zu Hause in Wannen, sei es in den öffentlichen Badehäusern,
deren es in allen Strassen giebt 13).


Freunde und Nachbarn leben wie bei uns in geselligem Ver-
kehr mit einander; man ladet einander ein, macht Landparthieen und
ergötzt sich in unbefangener Unterhaltung. Die grösste Lust des
japanischen Bürgers ist, den schönen Festtag mit Frau und Kind
und guten Freunden in der freien Natur zuzubringen; man besucht
die Todtenäcker, Kami-Höfe und schöngelegene Theehäuser; die
Aelteren ergehen sich in heiteren Gesprächen, die Jüngeren spielen
gesellige Spiele, angeln oder schiessen mit kleinen Bogen nach der
Scheibe, beides Vergnügungen, denen auch die weibliche Jugend
sehr hold ist. Man möchte bei anderen asiatischen Völkern ver-
gebens nach solcher Lebenslust und Genussfähigkeit suchen, denn
China, wo es vor Zeiten gewiss ähnlich war, ist heut eine Ruine.
3*
[36]Lebendigkeit der Japaner. VI.
Während andere Asiaten nach nothdürftig gethaner Arbeit stunden-
lang schläfrig auf ihren Fersen hocken, rauchend, Betel kauend.
oder in völliger Apathie in die Luft starrend, ist die Erholung der
Japaner immer eine thätige. Selbst unsere liederlichen Betto’s
spielten Schach 14) in den Ställen. Diese Lust an thätigem Genuss
ist sicher ein Zeichen von Lebenskraft, geistiger Frische und Fähig-
keit zu höherer Bildung. Jedes Alter, jeder Stand hat seine Ver-
gnügungen, deren Reiz in der Entwickelung von Geistesgegenwart,
Spannkraft und Gewandtheit liegt. Der Sinn der Kinder wird von
frühester Jugend durch die mannichfaltigsten Spielzeuge 15) geweckt,
und ältere Personen nehmen an ihren Vergnügungen lebendigen
Antheil. — Wie zart und rücksichtsvoll die Kinder behandelt werden,
wie eifrig man für ihren Unterricht sorgt, ist schon erwähnt worden;
Heranwachsende sollen oft die Schiedsrichter in kleinen Streitigkeiten
der Eltern abgeben müssen. Dass die japanische Jugend auch ihre
Flegeljahre hat, dass junge Leute oft über die Schnur hauen und
die Vergnügungen, namentlich der zum Nichtsthun privilegirten
Daïmio-Trabanten häufig in Ausschweifungen und Laster ausarten,
braucht kaum gesagt zu werden, aber selbst in diesen Ausartungen
zeigt sich die sprudelnde Lebenskraft des Volkes, dem jede Stagna-
tion und träumerische Lethargie fremd ist. Japan hat sich in seiner
[37]VI. Bildungsstufe. Stellung der Frauen.
Absperrung mehr europäische Wissenschaft angeeignet, als irgend
ein asiatisches Volk im freien Verkehr mit dem Westen. Die
Factorei-Beamten von Desima fanden auf ihren Hofreisen immer
Gelehrte, die das Holländische verstanden und als Mittel zum Studium
wissenschaftlicher Bücher benutzten; die Fragen, die sie zu stellen
pflegten, zeugten von eingehendem Verständniss der verschiedensten
Zweige der Naturwissenschaft und Technik. Illustrirte Uebersetzungen
holländischer Werke dieser Richtung sind in allen Buchhandlungen 16)
zu finden. Die geistige Thätigkeit der Japaner ist hinreichend ge-
weckt und vorbereitet um einen raschen Aufschwung der Bildung
— freilich wohl auf Kosten des politischen Systems und der natio-
nalen Eigenthümlichkeit — erwarten zu lassen, sobald es möglich
sein wird, dort auch Werke religiösen, philosophischen und ge-
schichtlichen Inhalts, und die Blüthen westländischer Litteratur
zu verbreiten; sie besitzen zudem grosse Leichtigkeit in Erlernung
fremder Sprachen. Dem Verfasser scheint Japan in der That be-
rufen zu einer Pflanzstätte der Cultur, von wo sich die civilisatorische
Thätigkeit nach Westen über Korea und China, dem einstigen Aus-
gangspuncte seiner Bildung, zurückverbreiten könnte.


Einer der schlimmsten Auswüchse der japanischen Gesittung
und schwer in Einklang zu bringen mit ihrer Bildungsstufe, ist die
berechtigte Licenz des unehelichen Umganges, auf welche hier nicht
näher eingegangen werden kann. Die Verbreitung des Lasters ist
vielleicht nicht grösser als in civilisirten Ländern des Westens, aber
der geringe Grad der damit verbundenen Schande, der japanische
Maassstab von Tugend und Laster in dieser Richtung ist ein offen-
barer Flecken an ihrer Gesittung. Betrachtet man daneben das
schöne Familienleben, die ehrenvolle Stellung der Hausfrau und
ihrer Töchter in allen Ständen, so steigt der Gedanke auf, dass
jener arge Schaden wie ein äusserer Auswuchs ist, der ohne in das
Mark zu dringen nur die schlechten Säfte aufsaugt, ohne den sonst
gesunden Organismus tiefer zu stören. Das beste Zeichen für die
ehrenvolle Stellung der japanischen Frauen ist die unbefangene
Freiheit mit der sie sich bewegen und an den Beschäftigungen des
Mannes theilnehmen. Die Frauen und Mädchen des Mittelstandes
gehen unverschleiert, ohne männliche Begleitung auf den Strassen,
und sitzen vielfach als Verkäuferinnen in den Läden, was in anderen
Ländern des Orients nicht üblich ist. Ihr Benehmen ist sittsam
[38]Die Ehe. VI.
und bescheiden, zugleich aber so unbefangen und zwanglos, wie
man es nur bei Gleichberechtigten findet. Die gute, oft kostbare
Kleidung der Frau beweist, dass sie am Wohlstande des Mannes
den gebührenden Antheil nimmt, die Reinlichkeit, Decenz und Sorg-
falt des Anzuges, dass sie sich achtet. Selten begegnet man, selbst
bei bejahrten Frauen, äusserer Vernachlässigung; die milden, würdigen
Züge mancher Matrone reden deutlich von sittlichem Beruf und be-
friedigender Lebensstellung. Die japanische Geschichte bewahrt
viele Beispiele von ausgezeichneten Frauen, solchen die in Dicht-
kunst, Musik und Gelehrsamkeit geglänzt, und anderen, die durch
Geistesgrösse Einfluss auf die Geschicke des Landes geübt oder selbst
ruhmvoll das Scepter geführt haben. — Wenn Golownin einen seiner
japanischen Freunde am Hochzeittage seiner Tochter in Thränen
der Rührung findet, die aus Besorgniss um deren Zukunft ver-
gossen werden, so muss ein sittliches Eheglück wohl als hohes
Lebenserforderniss gelten.


Der Japaner heirathet eine rechtmässige Frau, die sich vom
Augenblick der Verlobung an die Augenbrauen ausrupft und die
Zähne schwarz färbt. Dieser sonderbare Gebrauch geht durch alle
Stände und lässt sich kaum anders als aus einer übersittlichen Auf-
fassung der Ehe erklären: die Braut entstellt sich, um keinem Anderen
mehr schön zu erscheinen und ihrem Gatten nur durch innere Vorzüge
zu gefallen; die Sinnlichkeit — aber freilich gerade die höhere Sinn-
lichkeit — wird symbolisch aus der Ehe verbannt. Aber dieser
Fanatismus der Reinheit trägt seine bitteren Früchte, denn während
die Frau dem Gatten die unverbrüchlichste Treue schuldet, — schon
der leise Verdacht der Untreue berechtigt ihn zu schwerer Rache 17)
— geniesst der Mann ohne Schande der grössten Licenz. Dieser
soll auch das Recht haben, seine Frau unter gewissen, nicht näher
bekannten Umständen zu verstossen. Das Ehebündniss gilt nach
allen Anzeichen als reines Familien-Ereigniss, und scheint mehr
durch anerkannte Gebräuche als durch bürgerliche Gesetze geschützt
zu sein, zum Staat und Cultus aber in keiner Beziehung zu stehen.


Den 23. October Abends zeigten unsere Hausbeamten dem
Gesandten an, dass am folgenden Tage die Fürstin von Buṅgo ihren
Bruder, den Taïkūn besuchen, und die ganze von ihr zu passirende
[39]VI. Ausflug nach Džu-ni-so.
Strecke dann abgesperrt sein würde. Wir richteten deshalb an24. Octbr.
diesem Tage unseren Spazierritt nach den westlichen Umgebungen
und wurden von den geleitenden Yakuninen zu einem entfernten Sinto-
Tempel geführt, von dem selbst der landeskundige Heusken nicht
wusste. Der Weg bietet eine Reihe der anmuthigsten Landschaften;
man durchschneidet bald dorfartige Vorstädte, — deren Bevölkerung
in hellen Haufen herbeiströmte, — bald üppige Thäler, schattige
Gehölze und Hohlwege. Bald gucken freundliche Landhäuschen
und Gehöfte einladend über grüne Gartenhecken, bald fassen düstere
Zäune den Weg ein, überragt von den hundertjährigen Wipfeln
vornehmer Park-Anlagen. — Der Tempel der Zwölf Götter, —
Džu-ni-so, — liegt auf einem von schlanken Tannen und Föhren
beschatteten Sattel, zwischen zwei Bächen; der obere braust in
Cascaden schäumend durch Felsenufer, der andere ist in der Nähe
des Tempels künstlich zum Teich aufgedämmt, und fliesst von da
geklärt und plätschernd in sanften Windungen durch das Waldes-
dunkel der Senkung, um sich weiter unten mit dem ungestümen
Bruder zu verbinden. Moosbewachsene Felstrümmer und dichter
Rasen bedecken die Hänge, und von der jenseitigen Höhe blickt
man in ein grünes friedliches Ackerthal. Der Tempel ist anspruchslos
aber zierlich aus Holz gebaut, das Dach aus Stroh und Rohr, — doch
muss man sich unter dem japanischen Strohdach nichts unseren
deutschen ähnliches denken; es hat, besonders bei den Tempeln,
architektonische Formen, wird auf der First durch hölzerne Böcke
zusammengehalten, zwischen denen Bambusrohre laufen, und ist so
sauber und künstlich beschnitten, dass es von Weitem wie gegossen
oder behobelt erscheint. An dem Tempel von Džu-ni-so ladet der
spitze Vordergiebel in geschwungener Linie über dem Eingange aus
und bildet dort eine von Pfeilern getragene Halle; Füllungen und
Balkenköpfe sind geschnitzt. Die hinter dem Tempel stehende Capelle
für das Goheï ist ein vergitterter Schrein ohne Eingang, ebenfalls
mit zierlich geschwungenem Rohrdach. Eine breite Föhren-Allee
mit hölzernem Toori stösst auf die Hauptfaçade des Heiligthumes,
zu dessen Eingang Stufen hinanführen; steinerne Ungeheuer, — die
koraïschen Hunde, — und bronzene Wasserkübel stehen zu beiden
Seiten davor. Neben dem Tempel liegt ein sehr ländliches Thee-
haus, und von dem künstlichen Damm sind Pavillons aus Holz und
Rohr in den Teich hinausgebaut, wo die Gäste sich zum heiteren
Schmause niederlassen und am Füttern der grossen Goldkarpfen
[40]Eko-džin. Puppentheater. VI.
ergötzen 18); von weitem hört man die rauschende Cascade des
oberen Giessbachs. Dieser soll von munteren Zechern, die sich
versemachend beim Gelage erhitzt haben, oft zur Erfrischung der
umnebelten Sinne benutzt werden; sie stecken das schwere Haupt
in die eisige Traufe um eiligst nüchtern und neuer Genüsse fähig
zu werden. Džu-ni-so gilt als Rendezvous der städtischen Schön-
geister; die Lage ist überaus lieblich und wohl geeignet, poëtische
Ergüsse hervorzurufen. — Der Rückweg führte uns die kühle Sen-
kung hinab; helle Sonnenblicke spielten, das grüne Dunkel durch-
brechend, auf den moosigen Rändern des Bächleins, das murmelnd
wie still vergnügt durch die holde Einöde fliesst. Unten öffnet sich
ein Gatter auf das freie Feld; man erreicht westlich gewendet in
wenig Minuten eine belebte städtische Strasse, die in endloser Länge
bis in die centralen Theile von Yeddo führt. Die Waldeinsamkeit
des Kami-Hofes lässt die Nähe eines geräuschvollen Stadtviertels
gar nicht ahnen, man findet sich seltsam überrascht.


25. Octbr.Am folgenden Nachmittag führte Heusken uns nach dem am
Ufer des O-gava gelegenen Tempel Eko-džin. Im Inneren brannten
bei unserer Ankunft viele Lichter; wir wollten eintreten, doch wurden
die Thüren verschlossen. Zu beiden Seiten des Tempels standen
Schau- und Krambuden; man feierte irgend ein Fest und im Tempel
war Gottesdienst. — Wir ritten weiter nach einem Puppentheater
in der Nähe und fanden dort bessere Aufnahme. Das Gebäude war
aus Bambusstangen und Strohmatten zusammengeflickt, aussen hingen
grosse Bilder, Mord- und Greuelscenen, die Bühne lag im oberen
Geschoss; wir erhielten die Ehrenplätze und die Vorstellung begann.
Auf einer Estrade vor uns sass eine colossale Puppe, mit beiden
Händen eine am Boden stehende mächtige Glocke haltend. Die
Puppe beginnt Gesichter zu schneiden; plötzlich öffnet sich ihre
Brust und ein Orchester von vier lebenden Mädchen wird sichtbar,
die unter Lautenbegleitung einen schrillen Gesang anstimmen. Dazu
tanzt eine Marionette von drei Fuss Höhe unter der aufgehobenen
Glocke hervor; ein am Rande der Bühne sitzender Dirigent erklärt,
zwei Hölzer tactmässig aneinanderschlagend, mit lauter Stimme die
Vorstellung. — Die grosse Puppe schliesst ihre Brust, die kleine
verschwindet, es folgt ein Zwischenact mit Musik; das verborgene
Orchester scheint aus einer Flöte, Pauke und Becken zu bestehen.
— Der Riese hebt abermals die Glocke und darunter erscheint der
[41]VI. Ringkämpfe.
Götze Darma, feuerroth angethan, mit grinsender Fratze; zu seinen
Füssen sitzen drei Marionetten, wenn wir unsere Begleiter recht
verstanden, kleine Darma’s, die sich erheben und einen possierlichen
Tanz aufführen, wozu der alte Götze Gesichter schneidet. — Den
Schluss bildete eine sehr drollige Darstellung: betrunkene Europäer
im Ganyiro von Yokuhama. Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war
natürlich zwischen unseren hölzernen Landsleuten auf der Bühne
und den nüchternen Originalen im Parterre getheilt, deren Vergnügen
an der Darstellung schallenden Jubel erregte. So endete das un-
schuldige Divertissement. — Wirkliche Theater bekamen wir in
Yeddo nicht zu sehen, sie werden in Japan nur vom Volk und den
niederen Beamtenclassen besucht; man führt dort Tänze, Possen
und Zauberspiele, Mord- und Diebstragödien auf, wobei das Harakiru
eine grosse Rolle spielt. Die Darstellung soll übertrieben, aber nicht
ganz so conventionel und geschmacklos sein wie bei den Chinesen;
alle Frauenrollen werden von Männern gespielt. — Eine dramatische
Litteratur höherer Art scheint es nicht zu geben.


Hier möge auch das in Japan so beliebte Schauspiel der
Ringkämpfe erwähnt werden; Einige von uns hatten Gelegenheit,
sich von der Wahrheit der unglaublichen Beschreibungen zu über-
zeugen, welche frühere Reisende davon gemacht haben. Die Ringer
werden von den japanischen Grossen zur eigenen und zur Volks-
Belustigung gehalten; sie scheinen zu deren Hofstaat zu gehören,
und ihr Métier in gutem Ansehn zu stehen. Von Gestalt sind sie
wahre Riesen, nicht bloss an Höhe, sondern an Ausdehnung aller
Körperformen, klumpige Fett- und Fleischmassen, denen man Ge-
wandtheit und andauernde Muskelkraft nicht zutrauen sollte. Doch
hebt ein solches Ungeheuer nach glaubwürdigem Zeugniss mit Leich-
tigkeit zwei centnerschwere Reissäcke auf die Schultern und trägt sie
tanzend davon. Von Gewandtheit und Ausdauer zeugen ihre Kämpfe,
bei denen sie bald ringen und einander zu Boden werfen, bald wie
Bullen die Köpfe mit Donnergewalt gegen einander rennen, dass
Blutströme zur Erde fliessen. Der Anblick soll widerlich sein; die
Ringer ahmen auch die Gewohnheiten des Stieres nach, dessen
Natur sie angenommen haben; sie stampfen vor dem Angriff den
Boden mit den Füssen, stieren einander wüthend an, wühlen den
Sand auf und schleudern ihn brüllend und schnaufend über ihre
Schultern. Dank den dicken Fettmassen sind ihre Wunden nicht
gefährlich und nach dem Kampfe stehen sie lachend wieder auf.


[42]To-džen-dži. VI.

Die letzten Tage des October waren regnerisch; wir kamen
wenig hinaus. Der niederländische Consul in Kanagava, Herr de
Graeff van Polsbroek
, kam nach Yeddo und wusste viel Interessantes
über seinen Verkehr mit den Japanern, aber wenig Erfreuliches über
die Schutzbefohlenen in Yokuhama mitzutheilen. — Am 30. gab
der grossbritannische Gesandte zu Ehren des Grafen Eulenburg
ein Déjeuner, welchem ein Spaziergang durch die ausgedehnten
Tempelgründe folgte.


Der Tempel von To-džen-dži liegt im südlichen Yeddo;
sein Haupt-Eingang mündet auf den hier das Meeresufer streifenden
Tokaïdo, nicht weit von der Vorstadt Sinagava; eine lange ebene
Steinbahn führt von der Strasse durch mehrere Portale auf den
Tempel zu, in dessen Nebengebäuden der Gesandte wohnte. Seine
Räume sahen in das Grüne: zunächst ein Blumengärtchen mit rein-
lichen Kieswegen, ein Goldfischteich mit zierlicher Brücke, drüben
ein Abhang, unten mit Rasenbeeten und herrlichen Azaleen-
büschen, darüber mit einem wuchernden Dickicht hoher Laub- und
Nadelbäume bedeckt, durch das sich schattige Pfade den Hügel
hinanschlängeln. Links beschreibt die Höhe einen kurzen Bogen
nach Westen; hier sind ihre Abhänge und die Mulde dazwischen
mit einem Walde von Grabmonumenten erfüllt. Der Tempel steht
unter dem Patronate mehrerer Daïmio’s, welche dort ihre Familien-
begräbnisse haben; die Denksteine der Fürsten sollen an einer Art
Krone aus mehreren übereinanderliegenden Ringen unmittelbar unter
dem Knauf der thurmartigen Spitze kenntlich sein. Sie stehen bald
einzeln, bald von den kleineren Grabmälern ihrer Angehörigen um-
geben, eingefasst mit Holz- oder Steingittern, dazwischen Laternen-
säulen, hier und da ein Buddabild aus Stein oder Bronze. Die
Form und Grösse der Grabsteine ist auch sonst sehr mannichfach
und mag vielerlei Beziehungen zu dem Alter, Stand und Geschlecht
des Verstorbenen haben; vor allen stehen Bambusbecher und Stein-
behälter mit frischen grünen Sträussen und Rauchkerzen. Früh
gestorbene Kinder haben nach japanischem Volksglauben himmlische
Schutzmütter, unter deren Hut ihre Seelen, bei heiterem Wetter
aus dem Meere steigend, am Strande mit bunten Kieseln spielen.
Auf dem Friedhofe von To-džen-dži steht eine ganze Reihe solcher
Genien, kleine Bildsäulen von Stein, unter einem hölzernen Schutz-
dach 19); ihnen opfern die Mütter der Heimgegangenen und legen
[43]VI. Politische Gerüchte.
beim Gebet kleine Steine auf deren Köpfe. Bleiben diese bei den
häufigen Erdbeben liegen, so sind die Schutzgeister den Kinderseelen
gnädig; fallen sie aber herab, so grämen sich die Mütter; so erzählte
man uns wenigstens. — Die Gräberstätte von To-džen-dži ist eine
der schönsten und ehrwürdigsten der Hauptstadt; breite Steinbahnen
und Treppen führen zwischen haushohen Camelien, schlanken
Cryptomerien, Lorbeern, Föhren und Ulmen die Abhänge hinan,
Myrthen und Azaleen, Moos, Epheu, Farrenkräuter und vielerlei
Immergrün bedecken wuchernd den Boden, und fernhin schimmert
der weite Golf. Die absichtslose Unregelmässigkeit, malerische
Verwilderung und die Nähe des Meeres geben der Anlage einen
ganz besonderen Reiz.


So verging der October. — Wir blieben die ganze Zeit im
Dunkeln über die politische Lage des Landes. Dass etwas vorging
und das Drama sich fortspielte war deutlich zu merken; mancherlei
Gerüchte drangen auf die Legationen, aber die dort verkehrenden
Staatsbeamten, die allein hätten Aufklärung geben können, hüllten
sich in tiefes Schweigen oder sagten nur was man glauben sollte.


Gleich nach unserer Rückkehr von Kanagava hörte man von
einem Mordanfall auf den Commandeur der Truppen des Fürsten
von Satsuma; die Veranlassung blieb unbekannt. Am 11. October
wurde dem Gesandten der Tod des Fürsten von Mito20) gemeldet,
und dass der Hof eine siebentägige Trauer für denselben anlege.
Nach den gangbarsten Gerüchten war er zwei Monat vorher wieder
zu Gnaden aufgenommen worden und hatte seinen Palast in Yeddo
bezogen, bald nachher aber auf Befehl des Taïkūn das Harakiru
an sich vollstreckt. Die Selbstentleibung, welche schon vierzehn
Tage vor der officiellen Todesnachricht erfolgt sein sollte, leugneten
die Bunyo’s hartnäckig, und blieben im Uebrigen unergründlich. —
Einige Tage nach jener Meldung erzählte man sich Folgendes: In
einer dunkelen Nacht klopft es heftig an einer Pforte des Palastes
von Satsuma; ein Samraï begehrt Einlass wegen wichtiger Botschaft.
Vom Thürhüter der späten Stunde wegen abgewiesen, versucht er
einen anderen Eingang; das Thor wird hier geöffnet, und sechsund-
dreissig Bewaffnete, die sich verborgen hatten, dringen hinein. Der
Pförtner bittet kniefällig ihn nicht unglücklich zu machen, Jene aber
verlangen nur Gastfreundschaft: sie seien entlassene Soldaten des
[44]Die Fürsten von Satsuma. VI.
Prinzen von Mito, des innigsten Freundes des vor zwei Jahren gestor-
benen Fürsten von Satsuma. Solche Bitte kann nach japanischen Be-
griffen nicht abgeschlagen werden; die Samraï blieben im Palast, doch
sollen die Beamten des minderjährigen Fürsten nicht sicher gewesen
sein, ob Jene wirklich Soldaten des Mito, oder verkappte Kundschafter
der Regierung wären. Das Haus Satsuma wurde damals, wie von
jeher, als den Fremden besonders günstig angesehen, und gilt erst
seit der Ermordung Richardson’s für das Gegentheil. Die Fürsten
dieser Familie haben sich durch mehrere Generationen den Hollän-
dern in Naṅgasaki sehr freundschaftlich gezeigt, ja sogar die Zu-
lassung der Fremden und Einführung europäischer Cultur befür-
wortet; die Lage ihrer Besitzungen auf Kiusiu und ihr Handelscomtoir
für die Liukiu-Inseln in Naṅgasaki gaben ihnen viel Gelegenheit
zum Verkehr mit den Bewohnern von Desima; Titsingh und andere
Handelsvorsteher haben, wie in neuerer Zeit noch Herr von Siebold,
in Freundschaftsverhältniss und vertrautem Briefwechsel mit Fürsten
von Satsuma gestanden. Die Familie war seit dem sechszehnten Jahr-
hundert die mächtigste und unabhängigste des Reiches und genoss von
jeher einer Ausnahme-Stellung theils durch die entfernte Lage und
Grösse ihrer Besitzungen, theils durch den kriegerischen Muth ihrer
Unterthanen. Die Sioguns aus dem Hause des Jyeyas haben sie immer
mit der grössten Auszeichnung behandelt und sich ihr zu verschwägern
gesucht; sie empfingen die Satsuma bei deren Ankunft in Yeddo
immer mit besonderen Ehren, und diese pflegten sich Dinge
herauszunehmen, die kein anderer Daïmio wagen durfte. — Ueber
die Verbindung des Handelsvorstehers Gisbert Hemmy mit einem
Fürsten dieses Hauses schwebt noch immer tiefes Dunkel; die
ganze Sache scheint »binnekant« abgemacht worden zu sein, aber
eine Art Conspiration kann man mit gutem Grunde vermuthen 21).
Möglich dass die Regierung, durch diese Antecedentien veranlasst,
gegen den jungen Prinzen oder dessen Rathgeber den Argwohn
eines Einverständnisses mit den Fremden hegte, und deshalb ihre
Kundschafter in seinen Palast schickte. — Der freiere Verkehr der
Satsuma mit den Holländern in Naṅgasaki erklärt sich nur aus ihrer
bevorzugten Stellung, und man kann die Wuth der heissblütigen
Trabanten leicht begreifen, als Herr Richardson und seine Begleiter
ohne Rücksicht an der Sänfte vorbeiritten, die den Vater des
regierenden Fürsten trug. Es war, nach den Landessitten gerechnet,
[45]VI. Blutrache und Harakiru.
eine tödtliche Ehrverletzung, die sogleich blutig gerächt wurde, —
vielleicht sogar auf Befehl des beleidigten Prinzen. Letzteres leugnen
die Japaner; in den betreffenden Schreiben des fürstlichen Beamten
wird sogar die That in den schärfsten Ausdrücken getadelt und
Bestrafung der Mörder versprochen, sobald man sie ergreife, —
zugleich aber das Recht des Taïkūn in Zweifel gezogen, die Strassen
des Reiches den Fremden frei zu geben, und dadurch die Landes-
fürsten so tödtlichen Kränkungen auszusetzen.


Es sind ganz mittelalterliche Zustände. Bei keinem einzigen
der an Fremden verübten Morde fand eine Beraubung statt; die
meisten entsprangen aus politischen Motiven, nur wenige, wie die
Ermordung Richardsons, aus persönlicher Rache. — Die Ehre
ist nach japanischen Begriffen das höchste Gut des Edelen; jeder
Flecken daran muss mit Blut getilgt werden, sei es mit dem eigenen,
sei es mit dem des Beleidigers. Wenn Fürsten oder hohe Staats-
beamte mit einander Händel bekommen, so pflegt der Gekränkte
sich auf der Stelle den Leib aufzuschlitzen, worauf sein Widersacher
gehalten ist ein Gleiches zu thun. Titsingh erzählt von zwei
Daïmio’s, deren Säbelscheiden sich bei einer Begegnung im kaiserlichen
Palast zufällig berührten. Der eine macht eine ehrenrührige
Bemerkung über das Schwert des anderen, dieser zieht es entrüstet
aus der Scheide und schlitzt sich den Leib auf; der Gegner folgt
natürlich sofort seinem Beispiel. — Der Trabanten-Adel ist nicht
ganz so zartfühlend; bei ihm gilt der Grundsatz, dass der Beleidiger
und der Beleidigte nicht beide leben können; jener sucht diesen zu
tödten, sei es im Zweikampf, sei es durch Ueberfall und Meuchel-
mord. Die kleinsten Händel ziehen solche Rache nach sich, und
wer sie nicht vollstreckt, gilt für ehrlos. Wer aber einen anderen
erschlagen hat, ist selbst dem Gesetze verfallen, und Viele vollziehen,
um der entehrenden Hinrichtung zu entgehen, gleich nach dem
Racheact das Harakiru. In manchen Fällen, bei tödtlichen
Kränkungen, Ermordung von nahen Verwandten, Freunden und
Vorgesetzten, ist die Vergeltung auch straflos, ja heilige Pflicht der
Angehörigen und Untergebenen. So rächt der Freund den Freund,
der Sohn den Vater, der Diener den Herrn oft ungestraft. Das
Verhältniss der Lehnsfürsten und hohen Beamten zu ihren Trabanten
ist ganz patriarchalisch; die Samraï-Familien sind mit denen ihrer
Lehnsherren innig verbunden und theilen deren gute und böse
Schicksale. Wird ein Grosser degradirt oder verbannt, so verfallen
[46]Daïmio’s und Samraï. VI.
alle seine Trabanten dem Elend; der Nachfolger bringt seinen eigenen
Hofstaat, seine Soldaten und Beamten mit. Daher sind denn auch
alle Samraï ihren Lehnsherren mit unverbrüchlicher Treue ergeben;
sie gehen auf deren Befehl willig in den Tod und rächen unauf-
gefordert jede ihm widerfahrene Beleidigung; die Ehrenpflicht gilt
mehr als das bürgerliche Gesetz. Das Harakiru rettet vor dem
weltlichen Gericht, selbst die Verfolger des Mörders treten ehrerbietig
zurück sobald er Hand an sich legt; so geschah es noch kürzlich
bei Ermordung des Regenten. Bekannt ist die Geschichte der
fünfunddreissig Lonine, die, nachdem sie den Tod ihres Herrn an
dessen Gegner gerächt, sich um sein Grab versammeln und nach
feierlicher Anrufung seiner Manen sich sämmtlich den Leib aufschlitzen.
In alter Zeit war es allgemeine Sitte, dass die nächsten Untergebenen
und Leibdiener eines Daïmio sich gleich nach dessen Tode entleibten,
und der Fanatismus der Loyalität ging so weit, dass bei dem Bau
von Festungsmauern die Trabanten des Bauherrn oft um die Gnade
baten, sich lebend unter die Fundamente begraben zu dürfen, da
nach dem Volksglauben solche Festen für uneinnehmbar galten,
deren Mauern auf lebendige Leiber gesetzt werden.


Wie die Diener für den Herrn, so treten auch die Herren
für ihre Untergebenen ein. Titsingh erzählt Folgendes: Ein Daïmio,
dessen Trabanten von denen eines anderen Fürsten überfallen
wurden, verlangt persönlich von diesem den Tod der Schuldigen.
Auf dessen Weigerung droht er sich sofort zu entleiben, und der
Andere muss nachgeben, um ferneres Blutvergiessen und eine dauernde
Familienfehde zu verhüten. Denn, schlitzte sich Jener den Leib auf,
so war auch er zum Harakiru verpflichtet und es folgte eine
unabsehbare Reihe von Morden.


Der fanatische Ehrgeiz der Samraï erzeugt besonders in Yeddo,
wo deren so viele, — man sagt gegen 300000, — sich aufhalten,
beständig blutige Händel. Die meisten sind privilegirte Müssiggänger
und in Folge dessen ausschweifend und hochfahrend. Gelage,
Kartenspiel und Dirnen bilden die gefährlichen Leidenschaften des
flotten Samraï, so dass es an Reibereien nicht fehlen kann. Auch
die Partheistellung, Rangstreitigkeiten und persönlichen Fehden der
Grossen übertragen sich auf ihre Trabanten. Je vornehmer der
Herr, desto übermüthiger der Diener. Die Soldaten von Satsuma
sind besonders gefürchtet als heissblütig, gewaltsam und händel-
süchtig; sie duldeten früher niemand unter sich der die kleinste
[47]VI. Fehdesucht. Angriff auf Natale.
Kränkung nicht blutig rächte. Der regierende Fürst wurde damals
unablässig mit Klagen bedrängt und machte endlich, ungeneigt den
kriegerischen Geist zu unterdrücken, seinen hochfahrenden Trabanten
einfach bekannt, dass er zwar niemand verbiete, Beleidigungen zu
rächen, aber nach jedem Todtschlage vom Thäter die sofortige
Vollziehung des Harakiru erwarte. Die Gewaltthaten sollen darauf
seltener geworden sein. — Die Grossen sehen mit Stolz auf die
ritterliche Unnahbarkeit und Fehdelust der Ihren und fördern sie
auf jede Weise, daher auch die Schwierigkeit, Schuldiger habhaft
zu werden. Denn die Daïmio’s haben hundert Mittel und Wege
ihre Anhänger zu bergen ohne dessen bezüchtigt werden zu können;
Verrath aber ist bei der Loyalität der Samraï niemals zu fürchten.
Das mit Todesstrafe belegte Verbot, auf der Strasse eine Klinge
zu entblössen, wird in Yeddo vielleicht täglich gebrochen. Wir
selbst erlebten im October ein Beispiel straflos verübter Gewalt.


Der französische Geschäftsträger hatte in seinem Hause —
als »Gardien de pavillon« — einen gewissen Natale, geborenen
Italiener, auf dessen Treue und Anhänglichkeit er grosse Stücke
hielt. Dieser scheint sich durch etwas provocirende Haltung und
eine reiche Sammlung von Dolchen und Pistolen in seinem Gürtel
die Feindschaft der Zweischwertigen aus der Nachbarschaft zugezogen,
und an kleinen Conflicten mit denselben, in die er wiederholt gerieth,
ein romantisches Vergnügen gefunden zu haben. Eines Morgens
scherzt er vor der Thür des Gesandtschaftstempels mit den Yakuninen
der Wache, als ein Samraï quer über die Strasse auf ihn zukommt
und seinem Hündchen einen derben Tritt versetzt. Natale und seine
Gefährten remonstriren, da zieht Jener das Schwert und führt einen
kräftigen Hieb nach des Ersteren Kopf. Dieser parirt glücklich mit
dem linken Arm und schiesst seinen Revolver auf den hurtig
entweichenden Angreifer ab, fehlt jedoch und kann wegen der
zuströmenden Volksmenge keine zweite Kugel feuern. Der Samraï
entkommt mit dem blutigen Schwert in der Faust, die Yakunine
der Wache geben sich nicht einmal den Anschein ihn zu verfolgen.
Natale trug eine klaffende Fleischwunde im Oberarm davon, die
bald wieder zuheilte. Herr von Bellecourt forderte natürlich von
der Regierung die Bestrafung des Thäters und liess nicht ab mit
eindringlichen Vorstellungen; es konnte den Japanern nicht schwer
sein, dessen Person festzustellen, denn der Angriff geschah bei
hellem Tage, in Gegenwart der Yakunine und vieler Vorübergehenden;
[48]Das Harakiru. VI.
alle Samraï tragen das Wappen ihres Lehnsherrn auf dem Rock
und der mit dem blutigen Schwerte entweichende muss auf der
belebten Strasse von Vielen bemerkt worden sein; — er soll in der
That das Zeichen der Satsuma geführt haben. Dennoch war keine
Genugthuung zu erlangen. Die Yakunine wollten, zum Zeugniss
aufgefordert, anfangs gar nichts gesehen haben, konnten diese
Ausflucht aber nicht aufrecht halten. Dann hiess es, Natale habe
mit dem Revolver gedroht, als der Samraï seinen Hund trat, —
was nicht ganz unwahrscheinlich klingt. Gewiss ist, dass der
Angreifer straflos blieb; man hörte sogar, er habe mit einigen
Genossen Natale den Tod geschworen und es würde zweckmässig
sein, diesen fortzuschicken. Herr von Bellecourt hielt die Drohung
damals nicht für Ernst, musste sich aber später, als sein Gardien
de pavillon nochmals angegriffen wurde, doch entschliessen, ihn aus
Japan zu entfernen.


Das Harakiru (Hara-wo-kiru, aufgeschlitzter Bauch) wird
für alle Männer der Adelsclasse zur Nothwendigkeit, sobald ihnen
Schande droht. Der Krieger entleibt sich, um nicht in Gefangenschaft
zu gerathen, der Beamte, wenn sich unter seiner Verwaltung
Ungehöriges zugetragen hat, gleichviel ob er es verschuldet oder
nicht; er rettet dadurch seinen Nachkommen Ehre, Vermögen und
die erbliche Würde, deren sie durch seine schimpfliche Bestrafung
verlustig gegangen wären. Nur in zweifelhaften Fällen scheinen
Männer von Rang das Urtheil des Taïkūn abzuwarten, und dann
gilt es als Gnade, wenn das Harakiru befohlen wird. Es ist die
Zuflucht des japanischen Edelen in jeder Calamität; die Knaben
werden jahrelang in der Kunst unterrichtet, sich mit Würde und
Grazie den Leib aufzuschlitzen, wie man bei uns tanzen lernt. Vor
Zeiten war es noch ungleich beliebter als jetzt: in den Schlachten
der Bürgerkriege scheinen viel mehr Menschen durch Selbstmord
gefallen zu sein, als durch des Feindes Schwert. Die portugiesischen
Missionare rühmen den zum Christenthum bekehrten Soldaten
ausdrücklich nach, dass sie allein unter allen japanischen Kriegern
sich lieber gefangen nehmen liessen, als Hand an sich legten. —
In den Annalen des dreizehnten, vierzehnten und funfzehnten Jahr-
hunderts sind jene Schlächtereien mit lebhaften Farben geschildert,
besonders bei Erwähnung erstürmter Festen und Städte, wo die Sieger
alle Tempel und Paläste voll blutender Leichen zu finden pflegten. Auch
gefallene Günstlinge entleibten sich gewöhnlich nach ihrem Sturz mit
[49]VI. Das Harakiru.
Hunderten von Anhängern; Freunde gaben und hielten sich das Wort,
einander nicht überleben zu wollen. Die Jahrhunderte des Friedens
haben die Sitten sehr gemildert, auch die Gesetzgebung ist einge-
schritten; — so wurde schon 1663 der Selbstmord der Diener beim
Tode ihrer Herren durch kaiserliche Edicte verboten. Die heutigen
Japaner sprechen mit Fremden sehr ungern vom Harakiru, doch
soll es noch häufig vorkommen. Einer der letzten Handelsvorsteher
auf Desima erzählt folgenden Fall. Ein japanischer Beamter, mit dem
er lange in Freundschaft gelebt hatte, besucht ihn eines Tages,
und sagt, nach stundenlanger unbefangener Unterredung ganz bei-
läufig im Weggehen, ein gewisser Auftrag, den ihm der Vorsteher
gegeben, werde am folgenden Tage durch einen Anderen ausgeführt
werden. Auf die Frage warum entgegnet Jener mit grosser Gemüths-
ruhe, die Behörde habe gegen einen anderen Beamten, seinen Freund
und Wohlthäter, eine Untersuchung eingeleitet, in welcher er am
folgenden Tage als Zeuge auftreten solle. Seine Aussage müsse
nachtheilig wirken, und er werde sich heut Abend den Leib auf-
schlitzen, um seinen Freund und Wohlthäter nicht in Schaden zu
bringen. Der Handelsvorsteher suchte ihm seinen Vorsatz aus-
zureden, Jener aber blieb unbeugsam und that wirklich wie er
gesagt hatte.


Das überlegte oder vom Kaiser gebotene Harakiru wird nach
altherkömmlicher Etiquette mit grosser Feierlichkeit vollzogen; Männer
von Stande führen das für solchen Fall vorgeschriebene weisse
Sterbekleid auf allen Reisen und Ausgängen bei sich, ebenso die
weissen Zelt-Vorhänge, mit denen die Wohnung des Aufzuschlitzen-
den während der That von aussen bekleidet sein muss. Oft wählt
man zum Sterben die Terrasse eines schöngelegenen Budda-Tempels,
wo dann die Priester gleich für die Bestattung sorgen. Alle Ver-
wandten und Freunde sind zu der Feierlichkeit eingeladen, man
reicht Speisen und Getränke und bringt einige Stunden in traulichem
Gespräche zu. Dann trinkt das Schlachtopfer mit den Seinen die
Abschiedsschale, sagt feierlich Lebewohl, hört in ehrerbietiger
Stellung noch einmal den Erlass des Siogun vorlesen, wenn ein
solcher da ist, und ergreift dann auf vorgeschriebene Art das zum
Harakiru bestimmte kleine Schwert bei der Klinge. Er umwickelt
diese, um sie zu halten, in der Mitte mit seinem Gewande, und bringt
sich, geneigten Hauptes auf der Matte sitzend, mit der Spitze einen
Querschnitt in den Leib bei. Sein vertrautester Diener ist unterdess
II. 4
[50]Die Bunyo’s Geschenke. VI.
hinter ihn getreten, und schlägt mit einem Hiebe seinen Kopf
herunter. Die Herzhaftesten sollen sich den Leib kreuzweise auf-
schlitzen und dann noch mit eigener Hand die Hals-Arterien durch-
hauen. Das Kopfabschlagen durch Andere gilt als eine Neuerung
unseres verweichlichten Jahrhunderts.


Vorstehende Nachrichten rühren grossentheils von Herrn
Heusken her, welcher, des Japanischen kundig, in seinem langen
und vertrauten Umgange mit den Mittelclassen des Beamtenstandes
die Sitten des Landes sehr genau kennen gelernt hatte. Ein reicher
Schatz von Kenntnissen wurde mit ihm begraben. — Im amtlichen
Verkehr äussern die Japaner sich immer sehr vorsichtig, und
können auch in Gegenwart der Aufpasser nicht frei herausreden.
Graf Eulenburg spannte die Bunyo’s bei ihren Besuchen in Akabane
durch sein hartnäckiges Fragen oft stundenlang auf die Folter und
entwand ihnen auch manche bedeutsame Aeusserung; der Verkehr
mit denselben blieb aber zu abgerissen und vorübergehend, um
zusammenhängende Aufschlüsse von Wichtigkeit herbeizuführen.
Diese Unterhaltungen waren meist sehr ergötzlich, und verdienen hier
und da im Auszuge berichtet zu werden.


Der Gesandte hatte die Herren Sakaï und Hori auf den
15. October zum Frühstück eingeladen, um ihnen Geschenke für
den Taïkūn, diesmal nur eine Sammlung der preussischen Maasse
und Gewichte, zu überreichen, die auf einem Tische des Empfangs-
saales ausgelegt waren. Als die Bunyo’s erfuhren dass die Sachen
für den Kaiser bestimmt seien, liessen sie den Tisch mit Allem was
darauf lag hinaustragen. Graf Eulenburg, der eben keinen Ueberfluss
an Möbeln hatte, sah das Verschwinden seines Tisches mit schmerz-
lichem Erstaunen, und erbat sich denselben zurück; die Herren
aber erklärten, das ginge nicht; alle für den Taïkūn bestimmten
Geschenke müssten genau so abgeliefert werden wie sie übergeben
wären, und dürften vor allen Dingen den Erdboden nicht berühren.
— Man erzählt in der That, dass ein Elephant, den die Holländer
einst in Naṅgasaki als Angebinde für den Kaiser ausschifften, von
dort auf einer hölzernen Bühne durch hunderte von Arbeitern bis
nach Yeddo getragen worden sei, eine Reise von weit über hundert
deutschen Meilen. Freilich haben die Holländer über Japan viel
Abentheuerliches berichtet, das die Landesbewohner hartnäckig
leugnen. So brachte der Gesandte die Rede auf das Verbot Hunde
zu tödten, das von einem unter dem Thierkreiszeichen des Hundes
[51]VI. Hunde-Passion des Tsuna-yosi.
geborenen Kaiser herrühren soll. Die Bunyo’s lachten sehr und
behaupteten, es sei reine Erfindung. Nichtsdestoweniger muss etwas
Wahres an der Sache sein, wenn auch das Verbot heute vergessen
ist. Kämpfer schreibt es dem zur Zeit seiner Anwesenheit in Japan
regierenden Tsuna-yosi zu, welchem viel Sonderbarkeiten nach-
gesagt werden. »Es müssen derselben«, heisst es unter dem Artikel
»Hunde«, »eine gewisse Anzahl von den Bürgern jeder Gasse unter-
halten und gespeiset, wenn sie krank sind, in einer auf jeder Gasse
errichteten Hütte verpfleget, wenn sie gestorben, auf die Berge
getragen und gleich Menschen beerdiget werden. Sie dürfen bei
Lebensstrafe von keinem Menschen misshandelt oder getödtet werden,
als bloss von dem Büttel; wenn sie nämlich selbst etwas verbrochen
und den Tod verdient haben. Es ist dieses so angeordnet wegen
eines Aberglaubens und Befehls des jetzigen Kaisers, welcher, wie
der römische Kaiser vor dem Zeichen des Steinbocks, vor dem
Geschlecht der Hunde eine besondere Hochachtung hat, weil er
im Jahre des Hundszeichens geboren worden. Ein Bürger der einen
todten Hund zum Grabe den Berg hinauf trug, schmälte einst aus
Ungeduld über des Kaisers Geburt. Sein Nachbar hiess ihn
schweigen, und dem Himmel danken, dass der Kaiser nicht im
Pferdejahre geboren wäre, dann würden sie noch mehr zu schleppen
gehabt haben.« Der excentrische Tsuna-yosi wurde nachher von
seiner patriotischen Gemalin ermordet, weil er das Hausgesetz der
Erbfolge umstossen wollte, wie im einleitenden Abschnitt berichtet
ist. Die dort mitgetheilten Aufschlüsse über die Thronfolge beruhen
hauptsächlich auf den Aussagen der Bunyo’s bei dieser Zusam-
menkunft 22).


Beim Frühstück wurde namentlich Sakaï sehr heiter und
packte sich die Aermel voll gekochten Schinkens, seiner Lieblings-
speise. Nach Tische beschenkte der Gesandte die Herren mit
rheinischem Champagner, Stahlwaaren und anderen Kleinigkeiten;
Bleistifte und Gummi, dessen Eigenschaft Geschriebenes auszuwischen
sie noch nicht kannten, machten besondere Freude. Sakaï las
deutliche lateinische Cursivschrift mit Leichtigkeit. Als er dabei
den Namen des Attaché von Brandt aussprach, fragten Hori und
Moriyama zugleich, ob dieser Herr mit dem Verfasser des berühmten
tactischen Werkes verwandt sei, und schienen aufrichtig erfreut,
in ihm dessen Sohn kennen zu lernen. Sie erzählten, das Buch sei
4*
[52]Die Tactik des General von Brandt. Hori und Sakaï. VI.
in das Japanische übersetzt, bis dahin aber nur in Manuscripten
vorhanden. — Ein handschriftliches Exemplar überreichte Hori
kurze Zeit darauf Herrn von Brandt; seitdem ist das Werk schon
in zwei japanischen Auflagen gedruckt worden. — Die Bunyo’s
fragten ferner, ob Decker, der Herausgeber der »Handbibliothek
für Officiere« ebenfalls ein Preusse sei, und zeigten sich auch mit
diesem Werke vertraut.


Als Hori sich nach Tisch einen Augenblick in das Vorzimmer
begab, steckte er sein grosses Schwert an, das bei längeren Besuchen
gewöhnlich abgelegt wird. Der Gesandte fragte nach dem Grunde,
worauf Moriyama erklärte, ein Mann von Stande dürfe niemals ohne
seine beiden Schwerter betroffen werden. »Hori könne ja von
Mördern überfallen oder durch ein plötzliches Erdbeben gezwungen
werden auf die Strasse zu flüchten; dann sei er entehrt ohne seine
beiden Schwerter.« Ein redendes Zeugniss für die Häufigkeit der
Gewaltthaten und Erdbeben! Auch schlafend scheinen die Samraï
sich nicht von ihren Waffen zu trennen. — Die Bunyo’s waren
diesmal ungewöhnlich gesprächig, besonders Sakaï, aus dessen
ganzem Wesen der behagliche Lebemann und gemüthliche Familien-
vater sprach. Er erzählte allerlei Schönes von seinen Kindern,
unter denen der älteste Sohn der Spielkamerad des Taïkūn sei und
täglich in dessen Palast gehe.


Bei ihrem nächsten Besuche übergab Graf Eulenburg den
Bunyo’s im Namen seiner Regierung die für den Taïkūn bestimmten
Globen des Himmels und der Erde. Dieses Geschenk machte einigen
Eindruck: »Der Kaiser«, sagten sie, »werde es als einen besonderen
Schatz bewahren.« Sie liessen sich den Weg unserer Schiffe und
den des Gesandten zeigen, wussten recht gut Bescheid über die
Lage der Länder und lachten herzlich über die verschwindende
Kleinheit der japanischen Inseln. Der joviale Sakaï sprach den
Wunsch aus, einmal als Gesandter nach Preussen zu gehen: »Er
fürchte nur, dort so viel zu trinken, dass ihn der Schlag rühren
würde.« Kalte Küche und Champagner mundeten ihm auch diesmal
vortrefflich und es entspann sich ein heiteres Gespräch.


Sakaï erzählte, sein Sohn sei heut nach seinem zweiten
Palast gegangen um dort Ball zu spielen; jeder Mann von Stande
besitze nämlich zwei Häuser in verschiedenen Stadtvierteln, »um,
wenn das eine brenne, nicht in Verlegenheit zu gerathen.« Das
Ballspiel wird zu Pferde geübt, die Spieler führen Stangen mit
[53]VI. Erziehung. Jagd. Geschenke.
kleinen Netzen an der Spitze: sie theilen sich in zwei Partheien,
die eine mit rothen, die andere mit weissen Bällen, jede vertheidigt
ein Fangloch und sucht ihre eigenen Bälle in das des Gegners zu
treiben. Das Spiel erfordert viel Gewandtheit zu Pferde; es soll
wild dabei hergehen. Sakaï seufzte über die ausgelassene Jugend
und machte einige Mittheilungen über Kindererziehung: die Söhne
guter Familien erhielten niemals Schläge; eine gewöhnliche Strafe
sei, sie mit dem Schwert an der Seite eine Zeit lang knieen zu
lassen. — Dann kam das Gespräch auf die Jagd: sie ist in der
Umgegend von Yeddo seit dessen Gründung als Residenz Regal des
Taïkūn. Die Jägerei, hiess es, werde von Vielen sehr geliebt und
von einigen Daïmio’s auf ihren Besitzungen auch wohl ausgeübt;
doch gebe es im ganzen Lande auch Jäger von Profession, die vom
Waidwerk lebten und verpflichtet wären, alle schädlichen Thiere
auszurotten. In einigen Districten habe der Landmann das Jagd-
recht auf seiner Pachtung, ohne dafür eine besondere Steuer zu
zahlen; der Eigenthümer könne dasselbe dort nur dann einem Andern
übertragen, wenn der Pächter nicht selbst jagen will. In manchen
Gegenden dürften die jagdberechtigten Landleute sogar auf dem
ganzen Territorium ihres Grundherrn das Waidwerk üben, in anderen
würde dieses Recht besonders verpachtet. Kaufleuten und Hand-
werkern wäre alles Waffentragen, also auch die Jagd ein für allemal
verboten. — Das meiste Wild kommt nach Yeddo aus der Umgegend
des Fusi-yama, wo es viel Hirsche und Wildschweine giebt. Die
niederen Classen allein essen deren Fleisch; den meisten Secten ist
nur der Genuss des Geflügels erlaubt.


Auch diesmal wurden die Bunyo’s wieder mit Kleinigkeiten
beschenkt. Hori freute sich besonders an einer Schnur Bernstein-
perlen: »die wolle er seiner alten Haut schenken«; — er meinte
seine siebzigjährige Mutter. — Die Japaner kennen den Bernstein,
der auch auf Yeso, aber nur in kleinen Stücken von dunkeler Farbe
gefunden wird. Sakaï warf ein Stückchen auf das Kohlenfeuer und
fächelte sich den Duft in die Nase. Er liess sogleich eine Perle an
seinen Schwertgriff befestigen; die grösste sollte seinen Tabaksbeutel
zieren. Auf des Grafen Frage, wie ihm die neulich geschenkte
Stahlklingel gefalle, antwortete Sakaï, sie behage ihm selbst sehr
wohl, nicht aber »seiner Jungfer«, die jetzt viel öfter als sonst gerufen
werde. Dabei kam heraus, dass vornehme Japaner für die äusseren
Gemächer männliche, für die inneren nur weibliche Bedienung
[54]Vertrags-Angelegenheiten. VI.
haben. Er selbst, sagte Sakaï lachend, halte sich zwar lieber in
den äusseren Gemächern auf; die Frauen wollten ihn aber immer
bei sich haben. Zum Abschied wurden die Herren mit Danziger
Goldwasser bewirthet, das sie sehr in Erstaunen setzte.


Vom Vertrage war bei den Besuchen der Bunyo’s gar
nicht die Rede; der October verging ohne wesentliche Besserung
der Aussichten. Die von der japanischen Regierung zu Anfang des
Jahres 1860 in Betreff Belgiens und der Schweiz gegebenen Ver-
sprechungen standen Graf Eulenburg’s Bemühungen hemmend im
Wege. Eine Gesellschaft schweizerischer Fabrikanten hatte nämlich
dreiviertel Jahr vor unserer Ankunft einen Emissar nach Japan ge-
schickt, um Erkundigungen über die dortigen Handelsverhältnisse
einzuziehen und wo möglich ihren Industrie-Erzeugnissen Eingang
zu verschaffen. Die Bundesregierung gab ihm ein Schreiben und
den Auftrag mit, sich über die Möglichkeit eines Handelsvertrages
mit den Japanern zu unterrichten, und die Vertreter von Frankreich
und England machten, von ihren Regierungen beauftragt sich für
seine Sendung zu interessiren, dahin zielende Anträge an das
Gorodžio. Belgien liess, ohne einen Vermittler zu senden, durch
die englische Regierung und deren Vertreter in Yeddo einen ähnlichen
Vorschlag thun. Schon damals kündigte Herr Alcock den japani-
schen Ministern die bevorstehende Ankunft des preussischen Ge-
schwaders an, und machte ihnen klar, dass es bei der gegenwärtigen
Weltlage fast eben so schwer sein würde, einige Staaten auszu-
schliessen und andere zuzulassen, als sich, wie früher, ganz zu
isoliren. Denn wenn auch kein Volk ein unbedingtes Recht auf
den Abschluss von Verträgen habe, so sei doch die Zurückweisung
einzelner für diese sehr kränkend; ihre Gesandten müssten den
übelsten Eindruck empfangen, wenn die japanische Regierung sich
gradezu weigere mit ihnen in Verhandlung zu treten und sie nach
so langer Reise ganz unverrichteter Sache heimkehren liesse. Er
schlug schon damals den Ausweg vor, Verträge mit hinausgescho-
benem Termin der Ausführung abzuschliessen, konnte aber von den
japanischen Ministern nur ein schriftliches Versprechen erlangen,
mit Belgien und der Schweiz in Verbindung zu treten, sobald sie
irgend eine andere Macht zulassen würden. Die Regierung gab
damals ihre ernstliche Absicht zu erkennen, mit allen Völkern des
Westens Verträge zu machen, sobald die Umstände es erlaubten;
[55]VI. Vertrags-Angelegenheiten.
dieser Zeitpunct aber, hiess es, sei noch nicht gekommen. Nun
hatte sie zwar seitdem mit Portugal abgeschlossen, berief sich
dabei aber auf das den Holländern für diese Macht ausdrücklich
gegebene Versprechen. Ein Vertrag mit Preussen dagegen schien
die Zulassung Belgiens und der Schweiz als unausbleibliche Folge
nach sich ziehen zu müssen.


Die Eventualität, der japanischen Regierung einen Vertrag
mit hinausgeschobenem Termin der Wirksamkeit vorzuschlagen, hatte
der Gesandte schon früher mit Herrn Harris besprochen, und auch
die Vertreter von England und Frankreich hegten gute Erwar-
tungen von diesem Auskunftsmittel; Graf Eulenburg glaubte nur
die Minister noch nicht genug ermüdet zu haben, um jetzt schon
damit hervorzutreten, und richtete an dieselben zunächst unter dem
12. October abermals eine Note mit dem dringenden Ersuchen, ihre
den Niederländern gegebenen Versprechungen zu erfüllen. Die in
einem besonderen Documente neben den am 6. October 1857 unter-
zeichneten Additional-Artikeln gegebene Zusage war nach der
Auffassung des japanischen Ministers durch den Vertrag vom
18. August 1858 erledigt; der preussische Gesandte dagegen stellte
die Ansicht auf, dass jene Artikel, obschon später unterzeichnet,
einen intregrirenden Theil des Vertrages vom 30. Januar 1856 bil-
deten, dessen Bestimmungen, sofern sie nicht ausdrücklich wider-
rufen wären, nach Artikel 10. des Vertrages von 1858 in Kraft
bleiben sollten. — Ein anderes der holländischen Regierung brieflich
gegebenes Versprechen bezog der Minister nur auf Portugal,
während man dasselbe bei einigem guten Willen wohl so verstehen
konnte, dass Japansogar mit Portugal, gegen das sich noch eine
alt-eingewurzelte Abneigung voraussetzen liess, in Vertragsver-
hältnisse treten wolle. Die neben den Additional-Artikeln gegebene
Zusage lautete in wörtlicher Uebersetzung so: »Die Art und Weise
des Handelsbetriebes zu Hakodade und Naṅgasaki ist hinsichtlich
der Niederländer jetzt festgestellt. Deswegen soll in Anbetracht
anderer Nationen, die später Verträge abschliessen werden, nichts
im Wege stehen, dass sie auf dieselbe Art in den genannten
Häfen Handel treiben.« Bei Licht besehen begründete dieser Satz
wohl einen sehr schwachen Anspruch, aber Graf Eulenburg hatte
keine andere Handhabe. Die Vertreter des Westens interpretirten
ihn allgemein etwas gewaltsam dahin, »dass dem Abschluss von
Verträgen mit anderen Nationen kein Hinderniss im Wege stehe«,
[56]Eventualitäten. VI.
eine Auslegung welcher die japanischen Minister früher niemals
entgegengetreten waren. — Der niederländische General-Consul
Herr de Witt in Naṅgasaki, welchen Graf Eulenburg von der Lage
der Dinge in Kenntniss gesetzt hatte, richtete eine energische Note
an die japanischen Minister, worin er sie zur Erfüllung ihrer Ver-
bindlichkeiten antrieb und zugleich auseinandersetzte, dass es als
ein Akt des Misstrauens gegen Japan hätte erscheinn müssen, wenn
seine Regierung die ihr gemachten Zusagen nicht veröffentlicht
hätte; dass die preussische Regierung in Folge derselben eine Ge-
sandtschaft abgeschickt habe, dass die Ehre und Würde des Reiches
die baldige Erfüllung der von den Mächten des Westens für auf-
richtig gehaltenen Versprechungen fordere, und dass seine Regierung
den Abschluss des preussischen Vertrages in Gemässheit der ihr
gegebenen Zusagen erwarte. Diese vom 23. October aus Desima
datirte Note traf zu Anfang November in Yeddo ein und hat
vielleicht zu der günstigeren Wendung beigetragen, welche die
Angelegenheiten bald darauf nahmen.


Der englische Gesandte sowohl als die Vertreter von Frank-
reich
und Amerika hatten im Laufe des October Conferenzen mit
Ando-Tsus-sima-no-kami, in welchen von japanischer Seite vor-
züglich der Wunsch zur Sprache gebracht wurde, die Eröffnung
der Häfen Neagata, Osaka und Yeddo auf einige Jahre hinauszu-
schieben. Neagata oder im Falle von dessen Unzweckmässigkeit
ein anderer Hafen an der Westküste von Nippon sollte schon am
1. Januar 1861 freigegeben werden, doch waren noch von keiner
Seite Schritte dazu geschehen und nicht einmal die Küstengewässer
gehörig vermessen worden. Yeddo sollte nach den Verträgen am
1. Januar 1862, Osaka und Fiogo23) an der Südküste von Nippon zu
Neujahr 1863 frei gegeben werden, aber die Regierung des Taïkūn
sah nach den gemachten Erfahrungen der Eröffnung dieser Handels-
[57]VI. Eventualitäten.
plätze mit der grössten Besorgniss entgegen; sie erklärte den fremden
Vertretern, dass nur Unheil daraus entstehen könne und suchte
sie auf jede Weise für eine Hinausschiebung des Eröffnungstermines
zu gewinnen. Was Yeddo betrifft, so waren die Gesandten wohl
selbst zu der Ansicht gelangt, dass der Verkehr westländischer
Kaufleute daselbst nothwendig zu ernsten Conflicten führen müsse,
Herr Harris hatte sogar aus eigenem Antriebe bei der amerikanischen
Regierung die Verschiebung des vertragsmässigen Termines für
Yeddo befürwortet; — aber den japanischen Ministern gegenüber
sahen sie sich einstweilen nicht veranlasst, ein derartiges Zuge-
ständniss in Aussicht zu stellen, da jede Nachgiebigkeit als Schwäche
ausgelegt worden wäre. Die Japaner befanden sich hier in einer
Verlegenheit, auf die Graf Eulenburg schon damals seinen Opera-
tionsplan zu gründen beschloss, er schob aber die Ausführung als
letztes Mittel noch hinaus. Man konnte nämlich den Japanern ohne
jeden Nachtheil das Zugeständniss machen, die Häfen von Neagata,
Osaka
und Yeddo in dem Vertrage garnicht zu erwähnen, wenn
sie in einem besonderen Artikel Preussen alle Rechte der meistbe-
günstigten Nation gewährten. Wurden dann jene Häfen dem
Verkehr der anderen Vertragsmächte frei gegeben, so nahm Preussen
auch ohne ausdrücklich dahin zielende Stipulation daran Theil:
wurden sie für jene nicht eröffnet, so konnte das Recht darauf auch
für uns keinen Werth haben. Der Regierung des Taïkūn aber musste
man vorstellen, dass die Auslassung dieser Häfen im preussischen
Vertrage die Ueberzeugung des Gesandten von der Unzeitigkeit der
Aufschliessung darlegen und die Erfüllung ihres Wunsches durch
die anderen Regierungen befördern würde. — Der nächste Anlass zur
Ausführung dieses Planes sollte von japanischer Seite kommen: Ando-
Tsus-sima-no-kami
verlangte in einer langen Besprechung mit Herrn
Alcock von diesem dringend die Abänderung des die Häfen be-
treffenden Artikels und brachte schliesslich die Rede auf die preussische
Gesandtschaft. Herr Alcock stellte ihm die Nothwendigkeit vor,
den Vertrag mit Preussen zu schliessen, der japanische Minister
aber erklärte das für unmöglich; die Stimmung des Landes sei den
Verträgen sehr abhold und würde höchstens ein schriftliches Ver-
sprechen zulassen. Als der englische Gesandte ein solches als ganz
ungenügend bezeichnete und sich unter Ablehnung jeder dahin
zielenden Vermittelung entfernen wollte, hielt ihn Jener zurück: »es
gäbe ein Mittel die öffentliche Meinung für den Vertrag mit Preussen
[58]Eventualitäten. VII.
zu stimmen, wenn nämlich die anderen Mächte in die verschobene
Aufschliessung der Häfen willigten.« Herr Alcock konnte natürlich
eine solche Concession als Preis für unseren Vertrag nicht ver-
sprechen, und rieth abermals mit Preussen auch ohne Belohnung
von Seiten der anderen Mächte abzuschliessen, da diese durch den
neuen Handelstractat nichts gewinnen, durch jenes Zugeständniss
aber viel verlieren könnten.


Jene Aeusserung des japanischen Ministers gab zum ersten
Male die Möglichkeit eines Vertragsabschlusses mit Preussen zu:
die Ausführung forderte aber noch viel Geduld und Zähigkeit.


[[59]]

VII.
YEDDO.

VOM 1. NOVEMBER BIS 7. DECEMBER 1860.


Das Wetter war in der zweiten Hälfte des October grossentheils
schön gewesen; im November wechselten sonnige Tage mit Regen
und Wind; am 26. trat der erste leichte Nachtfrost ein und in den
folgenden Wochen verloren die Bäume merklich ihr Laub. Nun
wurde der grosse Reichthum an immergrünen Laub- und Nadel-
hölzern recht auffallend; die Landschaft blieb grün und gewann
neuen Reiz, da sich auf unseren vielfach durch dichtes Gebüsch
führenden Reitwegen Aussichten öffneten, die man früher dort nicht
ahnte. Die liebgewonnenen Puncte wurden wieder und wieder
besucht; man entdeckte neue Schönheiten und freute sich des
Empfanges der Bewohner, die unserem Führer Heusken überall
sehr gewogen waren. Bald gewann sich auch Graf Eulenburg, der
immer die Taschen voll blanker Metallknöpfe, Tuchnadeln mit
Glasknöpfen und dergleichen Kleinigkeiten hatte, durch sein mit-
theilendes scherzendes Wesen die allgemeine Zuneigung: wo man
ihn kannte, wurde unsere Cavalcade mit Jubel begrüsst. Der Japaner
ist für jede Gemüthsäusserung empfänglich, und die »Pleussen«
standen in grosser Gunst.


Bei einem Besuche in Odsi trafen wir im dortigen Theehause
einen Falkonier des Taïkūn, der in dem benachbarten Jagdrevier
seinen Vogel geübt hatte. Der Falke sass auf seiner Faust, mit
Kappe und Fessel, ganz nach Art der vormals bei uns gebräuchlichen;
die Reiherbeize scheint auch ähnlich betrieben zu werden wie im
Westen und ist vielleicht durch die Portugiesen oder Holländer in
Japan eingeführt worden. Der Falkonier wollte anfänglich dem die
Gesellschaft begleitenden Photographen durchaus nicht sitzen, »weil
der Falke dem Taïkūn gehöre«, entschloss sich aber dazu auf die
Mittheilung, dass das Bild für einen hohen Herrn bestimmt sei.


[60]Lokasaburo. Džu-ni-so. VII.

Auf dem Rückwege führte Heusken uns nach dem Theehause
von Lokasaburo, das, von Baumschulen und Treibereien umgeben,
in einer feld- und gartenreichen Gegend des nördlichen Yeddo liegt.
In seinem ausgedehnten Garten sind Fischteiche verschiedener Grösse
ausgegraben, wo die Gäste für ein Eintrittsgeld angeln dürfen; sie
sassen dort in Menge auf kleinen Bänkchen, jeder mit einem thönernen
Kohlenbecken zum Anzünden der Pfeife, einige auch mit dampfenden
Theekannen neben sich, und tief in die Betrachtung ihrer Angel-
schnüre versunken, mit sehr ernsthaften Gesichtern, in voller Ver-
gessenheit der Aussenwelt. Die meisten schienen den wohlhabenden
Ständen anzugehören; sie erhoben kaum den Blick als wir vorüber-
gingen. Die Teiche enthalten Fische von mancherlei Art und Grösse
und haben danach verschiedene Angelpreise, von einem bis zu zehn
Tempo für halbtägige Benutzung, wofür man seine Beute mit nach
Hause nimmt. — Der Pariser Nimrod schiesst Ratten für einen Sous
das Stück; sollte sich auf die Angler europäischer Hauptstädte nicht
ähnlich speculiren lassen? —


Die den Garten begränzende Höhe bietet eine herrliche
Aussicht 1); man wird sich hier ganz besonders der ungeheuren
Ausdehnung der Hauptstadt bewusst. Denn im Rücken des Beschauers
streckt sie volkreiche Quartiere noch fern nach Norden und Westen
hinaus, und vor ihm liegt eine weite grüne Landschaft, die nichts-
destoweniger ganz von zusammenhängenden Stadtvierteln umschlossen
ist: im Mittelgrunde ein grosser Buddatempel, dann ein Höhenzug
mit herrlichen Bäumen, der im vorigen Abschnitt erwähnte nördliche
Begräbnissplatz der Taïkūn-Familie. Der See von Benteṅg ist
dahinter versteckt; jenseit aber verliert sich die Häusermasse des
gewerblichen Yeddo in den fernen Horizont.


10. Nov.Am 10. November bewirthete Graf Eulenburg die Mitglieder
der englischen Legation in Džu-ni-so. Man schien dem Feste
von japanischer Seite Anfangs Hindernisse bereiten zu wollen: »alle
Pferde in Yeddo«, hiess es, »seien krank«. Der Gesandte wollte
diesmal mit Koch und Kegel ausrücken, auch das Musikcorps der
Arkona sollte mit, und wir waren in grosser Verlegenheit. Nach
stundenlangem Parlamentiren liessen die Yakunine sich endlich
bedeuten; die Pferde erschienen, darunter einige, die niemals einen
Europäer getragen hatten; es gab beim Aufsteigen von links, das
die meisten sehr übel nahmen, einige halsbrecherische Purzelbäume,
[61]VII. Fest in Džu-ni-so.
und gegen elf setzte der Zug sich in Bewegung. Der Weg und die
Oertlichkeit sind schon beschrieben; man hatte im Freien eine Tafel
gedeckt, der nach dem langen verspäteten Ritt von allen Seiten
wacker zugesprochen wurde, — wenn auch nicht so, dass man wie
die Schöngeister von Yeddo des belebenden Sturzbaches bedurft
hätte. Aus den benachbarten Vorstädten war eine grosse Menge
Menschen herbeigeströmt, die sich, wie gewöhnlich, anständig und
freundlich betrugen; die Polizei, nur durch zwei Beamte vertreten,
kam garnicht in Thätigkeit. Wohl zum ersten Mal erschallten im
alten Haine des Zwölf-Göttertempels die Pauken und Trompeten
europäischer Kriegsmusik, erregten aber durchaus keinen Anstoss;
die Heiterkeit war allgemein und kaum grösser bei der schmausenden
Gesellschaft als bei dem japanischen Publicum. Sie schien sogar
unsere Hengste angesteckt zu haben, die auf dem Rückweg unge-
wöhnlich munter wurden: ein englischer Attaché ritt einen Laternen-
pfahl um und dabei sich selbst vom Pferde; ein preussischer wurde
unversehens durch ein vorspringendes Dach abgestreift und dem
Legationssecretär ging es nicht viel besser; alle drei kamen ohne
Verletzung davon. — Den folgenden Tag erschienen in Akabane die
Priester von Džu-ni-so, um dem Gesandten vorzustellen, dass das
Frühstück auf ihrem Grundstück stattgefunden habe; ausserdem
hätten drei Daïmio’s zu derselben Zeit den Tempel besuchen wollen,
sich aber durch die Anwesenheit der Fremden abhalten lassen. Der
Graf bewilligte ihnen gern die gewünschte Entschädigung und sie
entfernten sich zufrieden.


Anfang November siedelte Regierungsrath Wichura von
Yokuhama, dessen Umgebungen er gründlich abgesucht hatte, zu uns
nach Akabane über, und gab sowohl durch seinen persönlichen
Umgang als das Interesse seiner Wissenschaft dem Zusammenleben
neuen Reiz. Er wurde auf den Spazierritten, die uns in tägliche
Berührung mit den landwirthschaftlichen Beschäftigungen der Japaner
brachten, mit tausend Fragen bedrängt; auch die ausgedehnten
Handelsgärten der Hauptstadt boten ein reiches Feld der Beobachtung.
Ihre besten Früchte sind nun leider mit dem trefflichen Manne ver-
loren gegangen, welchen ein jäher Tod kürzlich mitten aus den
botanischen Arbeiten für das Expeditionswerk hinwegriss 2). Diese
[62]Klima. VII.
sollen zwar fortgeführt werden, soweit das hinterlassene Material
es gestattet, doch ist mit Wichura ein reicher Schatz persönlicher
Anschauungen und Wahrnehmungen begraben worden, der sich nicht
ersetzen lässt. Er allein war fähig ein lebendiges Bild des japani-
schen Gewächsreiches und seiner vielfältigen Benutzung zu zeichnen.
Der Verfasser, welchen dieser Gegenstand immer lebhaft interessirt
hat, muss sich hier auf eine Darstellung in allgemeinen Zügen
beschränken, welchen neben Wichura’s persönlichen Mittheilungen
auch die Angaben anderer Naturforscher verschmolzen sind, soweit
sie zuverlässig und bemerkenswerth schienen.


Im einleitenden Abschnitt wurde schon angedeutet, dass
das Klima der japanischen Inseln der Entwickelung einer üppigen
und mannichfaltigen Vegetation sehr günstig ist. Der östliche
Continent von Asien leidet unter den Extremen von Hitze und
Kälte. Peking, unter 39° 54′ Polhöhe, der Breite von Toledo
und Menorca, hat den Winter von Upsala und den Sommer von
Kaïro. Die Hitze steigt im Juli auf 34° R. im Schatten und sinkt
in der Nacht kaum unter 28°; die Luft ist dann so trocken, dass
kein Hygrometer mehr spricht, und vibrirt auf den erwärmten
Gefilden wie über einem Backofen; im November bedecken sich
Flüsse und Seen mit fussdickem Eise und thauen erst im März
wieder auf. Glühende Wüstenwinde streichen im Mai und Juni
vom Innern her über die Küstengegend und hüllen selbst Schiffe
auf der See viele Meilen weit hinaus in dicken Staub. — Japans
Gestade dagegen werden im Sommer von frischen Seewinden
gekühlt, im Winter aber von den warmen Aequatorialströmungen
des Stillen Oceans gleichsam geheizt. In Yeddo, das unter
35° 38′ n. Br., ungefähr wie Malta liegt, ist der Winter kurz
und milde, es friert und schneit im November, December und
Januar zuweilen, aber niemals anhaltend; im Juli und August soll
die Hitze nur selten auf 27° R. im Schatten steigen. Die süd-
lichen und östlichen dem Stillen Ocean zugewendeten, nach
Norden und Westen durch hohe Bergketten geschützten Land-
schaften geniessen des mildesten Klimas; nach Siebold hätte
Yeddo einen kühleren Sommer und wärmeren Winter als das drei
Grad südlicher gelegene Naṅgasaki. Der Siro-yama — Weisse
Berg — an der Westküste von Nippon soll bei einer Erhebung von
sieben- bis achttausend Fuss ewigen Schnee zeigen, während der
viel höhere Fusi-yama an der Ostküste oft Monate lang fast
[63]VII. Klima.
schneelos erscheint 3). In den südlichen und östlichen Strichen
gedeihen Palmen, Bambusen, Myrthen, Melastomen, Bignonien,
Musen und andere Scitamineen; an günstigen Stellen reift das
Zuckerrohr, bringt der Reis eine zweimalige Aernte. Die Cultur des
letzteren scheint sich nördlich bis über den achtunddreissigsten
Breitengrad hinaus zu erstrecken, wenigstens gilt die Landschaft
Sendaï im Nordosten von Nippon für die Kornkammer von Yeddo.
Die Nordspitze der grossen Insel macht eine Wetterscheide, schon
auf 40° n. Br. sollen die Flüsse gefrieren. Die Provinz Matsmaï im
südlichen Yeso hat einen langen, strengen Winter; der Weizen gibt
dort, in der Breite von Rom, nur spärliche Aernten.


Die atmosphärischen Niederschläge sind stark und regelmässig,
Mai und Juni gelten für die nassesten Monate. Um diese Jahreszeit
setzt der Nord-Ost Monsun nach Süd-Westen um; die warmen
mit Feuchtigkeit geschwängerten Winde condensiren an den abge-
[64]Vegetation. Jahreszeiten. VII.
kühlten Küsten ihre Dünste zu dichten Nebeln und Regenwolken.
Der August scheint einer der trockensten Monate zu sein, aber auch
im Spätherbst und bis in den Januar soll der Himmel oft Wochen
lang kein Wölkchen zeigen. Anders freilich haben wir es erfahren,
doch bezeichneten damals alle Japaner die Witterung als unge-
wöhnlich. Der Uebergang des Sommers in den Herbst und Winter
pflegt ganz unmerklich zu sein, mächtig dagegen das Erwachen der
Natur im Frühling. Schon im Januar blühen in den Gärten Apri-
cosen, Camelien, Mispeln und Cornelkirschen, im Februar Veilchen,
Anemonen, Löwenzahn, Cinerarien, Arum ringens, Perdicium to-
mentosum und Lazula verna. Im März folgen dann Kerrien, Weigela,
Seidelbast, Primeln und Loniceren, Stachyrus, Cercis, Hamamelis,
Calycanthus und Astragalus, Pflaumen, Kirschen und Pfirsiche in
zahlreichen Spielarten. Im April erneuern die immergrünen Laub-
bäume, Lorbeern, Myrthen und Eichen ihre Blätter, die Wälder
prangen im buntesten Kleide; mannichfache Azaleen, Euryen, Hy-
drangeen, Magnolien und Paeonien, Viburnum, Evonymus, Crataegus-
und Rubus-Arten, die Paulownia imperialis in Stämmen von dreissig
Fuss, Glicine sinensis, Cydonia japonica und manche andere ent-
falten köstliche Blüthenpracht. Dazu kommen im Mai und Juni
wilde Rosen, Deutzia scabra, Styrax japonica, Caprifolium, Nelken
und Sommer-Astern, Clematis, Iris, Spiraea Reevesiana und eine
duftende weisse Rose; im Juli Orangen, Osmanthus, Tuberosen,
Orchideen, Hibiscus und Rosenpappel; der Bambus treibt saft-
schwellende Sprossen aus dem Wurzelstock und die Musa ent-
wickelt ihre breiten zarten Blattgewebe. Liliengewächse, Celosien
und Amaranthe, Lippen- und Larvenblumen, Winden und Malven
prangen in Feld und Garten; auf stillen Gewässern treibt der heilige
Lotus duftende Blüthen, und vielgestaltige Rankengewächse wuchern
in Ueppigkeit. Im August erblasst der Blüthenflor bis auf einzelne
Bignonien, Lagerströmien, ein Clerodendron, Patrinia-, Eupatorium-
und Prenanthes-Arten. Im September zeigen sich Gentianen,
Campanulaceen, Strohblumen und Doldenblüthen. Im October
blühen Rosen und Jasmin, Forsythia, Deutzia und Kerria, sowie
einige Grasarten zum zweite Male; Astern, Herbst-Anemonen und
Winter-Chrysanthemum zieren die Gärten, die Nadelhölzer erneuen
grossentheils ihre Belaubung. Im November erschliessen sich nur
noch einzelne Rosen, Camelien, Thee und Tazetten, und der De-
cember scheint fast blüthenlos. Aber der Winterschlaf ist nur kurz,
[65]VII. Baumwuchs.
und die Zahl der Tage gering, an denen man auf japanischem
Boden nicht einen hübschen Strauss pflücken könnte. Dazu lügt
die Behauptung, dass die Blumen dort nicht duften, die Vögel
nicht singen: freilich giebt es wenige Singvögel und neben den
wohlriechenden Blumen ähnliche geruchlose, wie bei uns; aber alle
ihrer Natur nach riechenden Arten entwickeln so würzige Düfte als
irgend wo anders.


Japans vorzüglichste Waldbäume sind Nadelhölzer: Pinus
massoniana, P. densiflora, Abies firma, Retinospora pisifera, R.
obtusa, Cryptomeria japonica, Salisburia adiantifolia, Podocarpus
macrophyllus und verschiedene Taxus; unter den Laubbäumen
mehrere Arten immergrüner Eichen, Kastanien, Ahorn und eine
herrliche Ulme (Ulmus Keaki Siebold), deren schön gezeichnetes
Holz vielfach zum Tempelbau verwendet wird. Die nützlichsten
dieser Hölzer wachsen in regelrecht bewirthschafteten Wäldern,
andere bedecken mit Lorbeern, Cypressen, Thuja, Myrthen, Camelien,
Stechpalmen, Elaeagnus, mit Bambusgebüsch, Azalien, Reben,
Ligustrum-, Viburnum- und Himbeersträuchern vermischt im wilden
Zustande die steileren Hänge. Zwei Nadelbäume von ausgezeichneter
Form, Sciadopytis verticillata und Thujopsis dolabrata 4) finden sich,
obwohl in Japan heimisch, doch verhältnissmässig selten, meist nur
in Tempelgründen und Ziergärten. Der Kampherbaum (Cinnamomum
camphora), den südlichen Strichen eigen, schmückt einzeln und in
mächtigen Gruppen die Friedhöfe um Naṅgasaki; er scheint viel
Luft und Licht zu brauchen und kein eigentlicher Waldbaum zu
sein, ebenso der Firniss- und der Wachsbaum, Rhus vernix und
Rh. succedaneum, die beide meist an Abhängen und in Alleen ge-
pflanzt werden.


Da die Japaner immer eifrig bemüht waren ihrem Vaterlande alle
nützlichen Gewächse der Fremde anzueignen, viele derselben dort auch
ganz heimisch geworden und verwildert sind, so ist es heut schwer,
sich von der ursprünglichen Flora des Landes ein richtiges Bild zu
machen. Siebold rechnet, dass von etwa fünfhundert dort cultivirten
Nutz- und Zierpflanzen mehr als die Hälfte aus der Fremde stam-
men; darunter Rübsamen, Färber-Polygonium, Tabak, Saflor, Mohn,
Hanf, Sesam, Baumwolle, Apfelsinen, Granatäpfel, Pfirsiche, Apricosen,
Birnen und Quitten. Die vorzüglichsten Obstarten sind — neben
II. 5
[66]Feldfrüchte. Reisbau. VII.
den genannten — Weintrauben, Wassermelonen, Auberginen, Kür-
bisse, zwei Pflaumenarten, wilde Citronen, Mandeln, Kirschen,
Mispeln, Cactusfeigen, Wallnüsse, Himbeeren, Kastanien, Salisburia-
Nüsse und Diospyros Kaki, die sogenannte Quittenfeige, eine sehr
wohlschmeckende und erfrischende Frucht von schönem Aussehn.
Aechte Erdbeeren werden hier und da in Gärten cultivirt, eine ge-
schmacklose Fragaria wächst wild in den Wäldern.


Unter den Feldfrüchten 5) ist der Reis die wichtigste; —
davon gibt es zwei Arten, Flächen- und Hügel-Reis. Letzterer
bedarf keiner Bewässerung und wird unter den Sommerfrüchten
auf hochgelegenen oder abschüssigen Feldern, aber nur in geringer
Menge gebaut. Der Flächenreis dagegen liefert die Hauptmasse
der japanischen Nahrung und wächst in ebenen Thalgründen oder
auf sorgfältig nivellirten Aeckern, die sich stufenförmig die unteren
Berghänge hinaufziehen, zuweilen bis auf sechshundet Fuss Meeres-
höhe. Seine regelmässige Bewässerung wird aus Behältern bewirkt,
welche an der höchsten Stelle der Thalebene, oder auf dem Berges-
hang, oft sechs- bis siebenhundert Fuss hoch an platten quellen-
reichen Plätzen liegen. Die Schleuse des Reservoirs, deren Maass-
stab den Verbrauch genau anzeigt, steht gewöhnlich unter Aufsicht
der Obrigkeit; sie wird nach Bedarf geöffnet um das Wasser auf
das oberste Feld und von da stufenweise durch eine Reihe von
Schleusen auf die tiefer gelegenen zu leiten; man hat es, je nach
dem Vorrath, in der Gewalt, mehrere Aecker zugleich oder einen
nach dem anderen zu speisen. Ein Canal, welcher den Abfluss des
Reservoirs nach den Flüssen oder dem Meere vermittelt, wenn kein
Wasser gebraucht wird, nimmt, an den Feldern vorübergeleitet,
auch die dort überflüssig gewordene Menge in sich auf. Wo die
Bodenverhältnisse solche Anlage nicht zulassen, bewirkt man die
Bewässerung durch Schöpfräder.


Im Winter liegen die Reisfelder grösstentheils brach, nur
an wenigen Orten wird eine zweimalige Aernte gewonnen. Hier
häuft man im Spätherbst die Erde in den Feldern streifenweise zu
drei Fuss breiten Beeten auf, die in querlaufenden Zeilen mit
Frühgerste bestellt werden. Sie erheben sich bald als üppige Ra-
senbänke aus der Reissaat des überschwemmten Feldes und werden
[67]VII. Reisbau.
zu Anfang Juni abgeärntet, darauf der ganze Acker umgestürzt,
geebnet und das durch die Stoppeln gedüngte Land von neuem
mit Reis bestellt, der im Herbst eine zweite Aernte bringt. — Bei
einmaliger Aernte beginnt die Bestellung im April; die Felder werden
meistens umgegraben, selten umgepflügt. Der Boden ist durch die
atmosphärischen Niederschläge und künstliche Berieselung tief durch-
weicht, oft überschwemmt, und die Arbeit sehr beschwerlich; beim
Pflügen stecken Thiere und Menschen bis an die Brust in Schlamm
und Wasser. — Frauen und Kinder schneiden unterdess auf Rainen
und Abhängen Gras und Kräuter, die, in grünem Zustand auf die
Aecker gebracht und dem Schlammboden vermengt, in kurzer Zeit
faulen; die Oberfläche wird geebnet und schon nach vierzehn Tagen
ist jede Spur des grünen Düngers verschwunden. Während der
Zeit hat man in den Ecken der Felder kleine Saatbeete angelegt,
die, sorgfälltig umgegraben, gedüngt und mit einem niedrigen Damm
umgeben, nach Erfordern besonders überrieselt werden können.
Man taucht die Körner in flüssigen Dünger und säet sie sehr dicht;
die jungen Pflänzchen spriessen schon nach drei bis vier Tagen
aus dem Boden und wachsen bei der warmen feuchten Luft mit
unglaublicher Schnelligkeit. Anfang Juni beginnt bei Yeddo die
Umpflanzung: der Arbeiter nimmt ein Bündel Pflänzchen unter den
linken Arm und zerstreut sie, den Bedarf genau abmessend, auf das
drei Zoll hoch mit Wasser bedeckte Feld; andere stecken sie dort
reihenweise in den schlammigen Boden. Eine Schaar Kraniche und
Reiher pflegt den Arbeitern zu folgen und die Würmer aufzulesen.
Anfang Juli ist die Umpflanzung fertig und die Aecker bedürfen
dann ausser regelmässiger Bewässerung keiner weiteren Pflege, als
dass der Boden zuweilen aufgelockert und das Unkraut zwischen
den Reihen gejätet werde. Nur auf wenigen, ungünstig gelegenen
Feldern wird der Reis gesäet; solcher bringt aber gegen den
gepflanzten nur geringe Erträge. Die Aernte ist im November.
Wir hatten auf unseren Ritten oft Gelegenheit das Abstreifen der
Körner zu beobachten: auf einer zwei bis drei Fuss hohen Holz-
wand ist eine harkenartige Reihe dichtstehender Zinken befestigt,
der Arbeiter nimmt ein Bündel Pflanzen und zieht sie durch diesen
Rechen; jenseits fallen die Körner nieder, diesseits das Stroh. Die
Reiskörner müssen nun noch von den Hülsen befreit werden: das
geschieht in grossen nach unten verjüngten Holzmörsern, in welche
umgekehrt kegelförmige, abgestumpfte Holzhämmer, von Menschen
5*
[68]Winterfrucht. Bestellung. VII.
oder Wasserkraft bewegt, tactmässig niederfallen. Zuletzt schüttet
man die Masse in ein trichterförmiges unten offenes Gefäss, vor
welchem der Arbeiter einen grossen Fächer schwingt; der Luftzug
verweht die Spreu und die Körner fallen zu Boden.


Ausser Reis wird in den Niederungen noch Arum esculentum
und Scirpus tuberosus gebaut, ferner die Binse der japanischen
Fussmatten, Juncus effusus. Der heilige Lotos (Nelumbium), dessen
Wurzeln theils als Gemüse verzehrt, theils in eine Art Arrowroot
verwandelt werden, wuchert im Sommer auf Flüssen und Seen.


Auf abschüssigen und hochgelegenen zum Reisbau nicht
passenden Aeckern werden mancherlei andere Cerealien, Gemüse
und Hülsenfrüchte gebaut; die Winterfrucht besteht dort in Weizen,
Gerste, Rübsamen und anderen Kohlarten, Buchweizen, Bohnen,
Erbsen und Zwiebeln. Weizen und Gerste bestellt man gegen Ende
October, die Saat geht rasch auf und kleidet das Hügelland während
des Winters in frisches Grün. War das Feld vorher ganz geräumt,
— was bei der landesüblichen Reihencultur nicht die Regel ist, —
so wird es im Zusammenhange mit der Haue aufgearbeitet und ge-
ebnet. Weder Harke noch Egge kommen dabei in Anwendung,
aber man arbeitet so geschickt, die Ackerkrume ist so rein und
locker, dass solches mit der blossen Haue behandelte Feld wie
gewalzt erscheint. Soll zur Saat geschritten werden, so zieht man
eine Leine quer über die Mitte des Ackers und wirft zu beiden
Seiten eine Furche auf; die übrigen werden dann aus freier Hand
mit diesen parallel in Abständen von 26 Zoll nach dem Augenmaass
schnurgrade aufgerückt, die Samen, je zwanzig bis dreissig Körner
zusammen, in Entfernungen von einem Fuss in die Furche gelegt
und das Erdreich mit der Haue darüber gezogen. Aehnlich ist die
Bestellung des Rübsamens und anderer Fruchtarten. Sind die
Pflanzen aufgegangen, so häuft man die Erde der zwischen den
Reihen frei gebliebenen Streifen um ihre Wurzeln an und begiesst
sie während des ferneren Wachsthumes wiederholt mit flüssigem
Dünger. — Der Rübsamen blüht bei Yeddo im März oder April
und gelangt Ende Mai zur Reife; die Pflanzen werden dann mit
den Wurzeln ausgerissen, und, nachdem sie einige Tage auf dem
Felde getrocknet, der Samen dort an geebneten Plätzen auf Matten
ausgetreten. Das Stroh bleibt liegen, wird Anfang Juni in Haufen
zu Asche verbrannt und dient zur Düngung der frei gebliebenen
Furchen. — Im Mai stehen auch Weizen und Gerste in Aehren;
[69]VII. Sommerfrucht. Reihencultur.
letzterer wird Anfang Juni, der Weizen etwas später mit kurzen
Sicheln geschnitten, und die Aernte theils gleich unter Dach ge-
schafft, theils in kleinen Garben auf den Acker gelegt. Die einge-
brachte Frucht klopft man auf scharfen Bambusgittern aus, wobei
die Aehren abspringen und niederfallen; die auf dem Felde gelassenen
Garben nimmt der Schnitter der Reihe nach auf und zündet sie an
der Spitze an, die Grannen fangen Feuer und brennen die Stiele
ab, die Aehren fallen leicht angesengt zu Boden und das brennende
Stroh wird weggeworfen, nachdem es die nächste Garbe entzündet.
Die Aehren werden dann in Körbe gesammelt und sammt den übrigen
zu Hause auf Tennen mit dem Flegel ausgedroschen. Der japa-
nische Landmann spart auf diese Weise viel Arbeitskraft; sein
Strohbedarf ist bei dem mangelnden Viehstand gering und durch
die eingetragenen Halme gedeckt; von dem Uebrigen schafft er nur
die Aehren nach Hause und lässt die weggeworfenen Strohbündel
auf dem Acker verbrennen, welchen sie düngen sollen.


Als Sommerfrucht werden auf dem trockenen Hügellande
Baumwolle, Sesam, die Eierpflanze, Mais, Hügelreis, Hirse, Mohr-
rüben, Rettige und andere Rübenarten, ein Sorghum, Zwiebeln,
Mohn, Gobbo (Arctium Gobbo), Lauch, Gurken, Melonen, Bataten,
Ingwer, Yams, Caladium, Auberginen, Linsen, Erbsen und mehrere
Bohnenarten, vorzüglich die Soya-Bohne gebaut. Man säet die
meisten lange vor der Reife der Winterfrucht in die frei gebliebenen
Streifen, die vorher sorgfältig gejätet, aufgelockert und mit Asche
oder Compost gedüngt wurden; sie erreichen dadurch eine längere
Vegetationsperiode und sind zur Zeit der Rübsamen- und Getreide-
Aernte gewöhnlich schon weit vorgeschritten. Nach deren Beendigung
hackt man die Stoppel der frei gewordenen Streifen sorgfältig um
und häuft sie mit dem lockeren Erdreich zum Faulen und Düngen
um die Wurzeln der Sommerfrucht an, die nun auch fleissig mit
Jauche begossen wird. So folgt Reihe auf Reihe, denn auch die
Winterfrucht wird meist vor der Reife der Sommerpflanzen bestellt
und mit deren Resten gedüngt. Eine bestimmte Fruchtfolge kennt
man nicht; der Landmann baut jedes Jahr was er braucht und
am besten verwerthen kann und erzielt zwar keine überreichen,
aber sehr gleichmässige Aernten. Die mangelhaften Transportmittel
verbieten namentlich im Inneren des Landes einen lebhaften Aus-
tausch, so dass die meisten Districte in hohem Maasse auf sich
selbst angewiesen sind. Selbst das Reisland wird nicht geschont,
[70]Düngerwirthschaft. VII.
und wo sich grade ein Bedürfniss nach anderen Früchten fühlbar
macht, mit erhöhten Beeten durchzogen, auf denen man Baumwolle,
Bataten, Buchweizen u. s. w. baut. Ist dem Bedürfniss genügt, so
stürzt man die Beete wieder um und bestellt das Feld seiner früheren
Bestimmung gemäss. Die Leichtigkeit, mit der diese Umwandlungen
vor sich gehen, beweist die tiefe Auflockerung des Bodens, welche
als Hauptvorzug der japanischen Agricultur gilt; sie erstreckt sich
auch auf die trockenen Höhenfelder, wo durch die abwechselnde
Umarbeitung der Reihen das Erdreich fortwährend bis zu grosser
Tiefe aufgewühlt, und durch das Aufhöhen der lockeren mit fau-
lenden Stoppeln versetzten Ackerkrume den Wurzeln unaufhörlich
frischer und bequemer Nahrungsstoff zugeführt wird. Die Pflanze
saugt bei dieser Behandlung ihre Nahrung aus einer verhältniss-
mässig grossen Bodenmenge, und verwerthet vollständig bis auf
grosse Tiefe dessen Kraft ohne ihn anzugreifen, denn die nächste
Reihe geniesst wieder derselben Vortheile. Der Landmann weiss
genau, wie viel Dünger er zu einem gegebenen Stück Landes bedarf,
und bestellt niemals mehr als er hinreichend düngen kann. Auf die
Bereitung des Düngers verwendet er die grösste Sorgfalt und
scheint dabei einer anerkannten und seit lange feststehenden Praxis
zu folgen; Geruch, Aussehn und Aufbewahrung desselben sind
überall gleich, wohin man kommen mag.


Der Viehstand ist so gering dass er für die Düngerbereitung
garnicht in Betracht kommt, der japanische Landmann ist ganz auf
sich selbst und seine Mitmenschen angewiesen. Er sorgt aber auch
dafür dass nichts verloren geht: nicht nur in den Häusern, sondern
auch auf den Strassen, in Feld und Wald wird Alles in Fässern
und Gefässen aufgefangen; ein tiefes Verständniss für die Wichtig-
keit dieses Gegenstandes durchdringt die höchsten wie die niedrigsten
Classen; man sieht selbst auf dem Lande in den entlegensten Winkeln
und bei den Hütten der Armen niemals eine Verunreinigung ausser
an den dazu bestimmten Stellen. In den Städten hat der Excremen-
tenhandel eine feste Organisation, die Stoffe werden in bestimmten
Zeiten der Reife abgeführt; man begegnet in der Umgegend von
Yeddo täglich den langen Zügen damit beladener Lastpferde und auf
den Canälen zahlreichen Düngerbooten. — Die eigentliche Bereitung
geht in grossen Fässern oder Steintöpfen vor sich, die auf den
Höfen und überall auf den Feldern bis an den Rand in die Erde
gegraben sind. In diese werden die Excremente geschüttet und ohne
[71]VII. Compostdünger. Bodenbeschaffenheit.
irgend einen anderen Zusatz soweit mit Wasser verdünnt, dass die
Masse sich durch tüchtiges Umrühren in einen fein zertheilten und
gleichmässigen Brei verwandeln lässt. Man setzt dann beim Anwachsen
des Vorrathes unter gleicher Behandlung immer mehr Excremente
und Wasser zu bis das Fass voll ist, arbeitet die Masse nochmals
gehörig durch und lässt sie je nach der Witterung noch zwei bis
drei Wochen gähren; die festen Bestandtheile senken sich allmälich,
das Wasser verdunstet. Ein zum Verschieben eingerichtetes Stroh-
dach wird nur bei Regenwetter vor die Grube gezogen, bei klarem
Himmel dagegen seitwärts gerückt, damit Sonne und Wind gehörig
auf die Masse wirken können. In frischem Zustande verwendet der
Japaner seinen Dünger niemals.


Compostdünger wird aus Stroh und Häcksel, überflüssiger
Spreu, den aufgesammelten Excrementen der Pferde, Schalen und
Abfällen von Gemüsen, Fischen und Seethieren bereitet. Man bringt
diese Ingredienzien mit etwas Rasenerde vermischt in kleine Haufen
und versieht diese mit einem Strohdach. Ab und zu werden sie
befeuchtet und umgestochen, und machen unter der kräftigen Ein-
wirkung der Sonne eine rasche Fäulniss durch. Dieser Compost
dient, wie die Asche, zur Bodendüngung vor der Bestellung, der
breiartige aus menschlichen Excrementen bereitete ausschliesslich
zur Kopfdüngung.


Die mineralische Zusammensetzung des japanischen Bodens
soll, — ausser den Gegenden die vulcanischen Ursprungs sind, —
im Allgemeinen dem Ackerbau nicht besonders günstig sein. Euro-
päer, welche die Landreise von Naṅgasaki nach Yeddo gemacht
haben, erzählen von der auffallenden Ausdehnung sandiger Strecken
die nichtsdestoweniger mit grossem Erfolge bebaut werden. Bei
Kanagava und Yeddo fand der landwirthschaftliche Sachverständige
der Expedition, von welchem die hier mitgetheilten Angaben grossen-
theils herrühren, auf den Höhen überall einen braunen, sehr feinen,
aber nicht allzu fetten Thon, in den Thälern dagegen eine schwarze
lockere Gartenerde, die man bei Abgrabungen in gleicher wenn auch
etwas festerer Qualität bis auf zwölf bis funfzehn Fuss Tiefe ver-
folgen konnte. Dieser Boden macht den Eindruck grosser Frucht-
barkeit, soll aber nichtsdestoweniger arm sein; der gartenkundige
Fortune, der sie auch auf höher gelegene Ebenen fand, vergleicht
die Formation einem durch lange Bebauung umgestalteten Torfmoor,
dessen Niveau stellenweise durch vulcanische Kräfte gehoben wäre,
[72]Japanische Landwirthschaft. VII.
und schreibt den wässerigen Geschmack aller bei Yeddo gezogenen
Obstsorten der Armuth des Erdreiches zu.


Eine Jahrtausende lang fortschreitende Cultur muss allerdings
die Beschaffenheit des Bodens wesentlich verändert haben, dass sie
denselben aber nicht erschöpft, darf man wohl der durchaus
rationellen Bewirthschaftung zuschreiben. Der japanische Landmann
nimmt nach dem Urtheil von Sachverständigen jährlich aus dem
Acker nur das was er ihm gibt, nicht mehr und nicht weniger.
Dieses System scheint seit Jahrhunderten ohne Streit und Neuerung
im ganzen Lande befolgt zu werden und erhielt seine Ausbildung
wahrscheinlich schon in der frühen Blüthezeit der japanischen Cultur.
Eine gewisse Summe der Kenntniss ist sicher mit der koreanischen
Einwanderung vom Festlande herübergekommen; die japanische
Landwirthschaft stimmt in so vielen wesentlichen Puncten mit der
chinesischen überein, dass man auf eine Ableitung aus derselben
wohl schliessen muss. Ihre Entwickelung aber ist eine eigenthümliche,
dem Lande angemessene gewesen, und scheint, zur völligen Reife
gelangt, jede fernere Neuerung abzuweisen. Die Kartoffel, welche
sicher an vielen Stellen des japanischen Reiches gedeihen würde,
hat sich niemals Eingang verschaffen können, und wird noch heut
in verschwindender Menge nur für die wenigen Fremden gebaut.
So begierig, in allen anderen Zweigen der angewandten Naturwissen-
schaft von den Europäern zu lernen, hält man deren Landwirthschaft
kaum der Beachtung werth. Sie beruht freilich auf ganz anderen
Grundlagen: unsere Oekonomen würden in einem Lande, wo es
keine Weiden 6) und in Folge dessen keinen Viehstand gibt, in grosse
Verlegenheit gerathen, und auch unsere landwirthschaftlichen
Maschinen hatten bei der starken Bevölkerung und billigen Arbeit
für die Japaner bisher keine Wichtigkeit. Jetzt, da nach Erschliessung
des Reiches die Preise der Lebensmittel und in Folge dessen der
Arbeitskraft bedeutend gestiegen sind, wird es fraglich, ob sie bei
ihrem alten Systeme bleiben können, oder sich zur massenhaften
Erzeugung derjenigen Artikel werden verstehen müssen, die ihnen
am besten bezahlt werden, um dagegen von den Fremden diejenigen
zu kaufen, welche sie so wohlfeil im Lande nicht herstellen können.
Die gesteigerten Preise der Lebensmittel fordern gebieterisch eine
erhöhte Productionskraft des Landes, und es ist fraglich ob sie
[73]VII. Landwirthschaftliche Geräthe. Zwergbäume.
nicht zu den bei uns angewandten Mitteln werden greifen müssen.
Bis jetzt war die Bodencultur der Japaner immer das Staunen und
die Bewunderung aller europäischen Reisenden, und Sachverständige
haben behauptet, dass wir viel von ihnen lernen können. In welchem
Verhältnisse sie aber die constanten Erfolge ihrem System, oder der
Gunst des Klimas und der Fülle der Arbeitskraft verdanken, würde
sich mit Sicherheit erst feststellen lassen, wenn man auch unsere
Art der Bestellung dort practisch versucht hätte. Allem Anschein
nach leistet der japanische Landwirth mit kleinen Mitteln Bedeutendes;
Inventar ist kaum vorhanden; sein ganzes Geräth besteht, soviel
wir bei Yeddo sahen, in einer Haue, einer Zinkenhacke, einem
kleinen Spaten und einer Harke. Die Haue ist das beliebteste
Instrument; sie dient zur Umarbeitung der Aecker, zugleich als
Spaten und Harke und wird mit wunderbarer Geschicklichkeit
gehandhabt. Den schmalen Spaten benutzt der Landmann nur zu
kleinen Arbeiten, zum Räumen der Wassergräben und Glätten der
Borde an den aufgeworfenen Beeten und Dämmen. Mit der krallen-
zähnigen Harke werden bei der Arbeit zwischen den Reihen Wurzel-
rückstände oder Unkraut aus dem Boden gezogen. In anderen
Landestheilen gibt es Pflüge und Eggen; hölzerne Walzen sah der
Verfasser auch bei Yeddo, aber nur in Gartenwirthschaften, wo sie
zum Ebenen der Wege dienen. — Wahrscheinlich verdankt der
japanische Landmann seine grossen Erfolge hauptsächlich der Spaten-
wirthschaft und der starken Parcellirung der Grundstücke.


Von der Garten- und Gewächsliebhaberei der Japaner ist
schon früher die Rede gewesen; selbst in der Stadt, in den engen
Gassen der Handelsquartiere von Yeddo hat fast jedes Haus sein
grünes Fleckchen mit Duodezbäumen. Vielleicht führte grade die
Beschränkung des Raumes auf die Erzeugung von Zwergpflanzen,
die sich zur raffinirten Spielerei ausgebildet hat. Der Handelsvor-
steher Meylan sah 1826 eine Schachtel von einem Quadratzoll Grund-
fläche und drei Zoll Höhe, in welcher ein Bambusrohr, eine Tanne
und ein Pflaumenbaum, letzterer in voller Blüthe, wuchsen und
gediehen; für diese Curiosität wurde der Werth von 1200 Gulden
gefordert. Die starke Verkrüppelung der Bäume scheint vorzüglich
durch gehemmte Circulation der Säfte und Beschränkung, vielleicht
auch Erkältung der Wurzeln in flachen porösen, von aussen stets
feucht gehaltenen Töpfen erreicht zu werden. Man wählt die kleinsten
Samen der kleinsten Exemplare, biegt und bindet den Stamm im
[74]Gefleckte Pflanzen. Handelsgärten. VII.
Zickzack, beseitigt jeden kräftigen Schuss, und fördert die Entwickelung
von Seitenästen, welche dann auch wieder künstlich gedreht und
niedergehalten werden. Nach einiger Zeit soll der Baum sich dem
Zwange bequemen, und, freiwillig in den vorgeschriebenen Gränzen
bleibend, seine Lebenskraft auf die Erzeugung reichlicher Samen
und Früchte wenden. — Thuja, Juniperus und andere Nadelhölzer,
Bambus, Kirsch- und Pflaumenbäume werden vorzugsweise als Zwerg-
bäume gezogen; bei letzteren ist es besonders auf die Erzeugung
grosser Blüthen abgesehen. Viele Zwergpflanzen haben gestreifte
oder gefleckte Blätter, und die Erzeugung solcher Varietäten, auch
bei natürlichem Wuchse, ist eine zweite Liebhaberei der japanischen
Gärtner. Man hat Kiefern, Wachholder, Retinospora, Podocarpus
und Ilicium-Arten, Andromeda japonica, Euryas, Elaeagnus, Aucuba
japonica, Pittosporum Tobira, Aralia, Laurus, Salisburia adian-
tifolia und andere mit weissen, einen Evonymus und die Sciadopytis
verticillata mit goldgelben Flecken und Streifen, ja sogar gefleckte
Camelien, Theesträucher, Orchideen und Palmen. Die grosse Anzahl
und das feste Fortbestehen solcher Varietäten lässt auf ein hohes
Alter dieser Cultur schliessen.


Die Handelsgärten von Yeddo bedecken ein weit grösseres
Areal als die irgend einer europäischen Hauptstadt; Fortune gesteht
in keinem Lande der Welt eine so ungeheuere Anzahl cultivirter
Zierpflanzen gesehen zu haben. Man findet neben den einheimischen
und eingebürgerten auch viele ganz fremde: Cactus, Aloe, Fuchsien
und andere Südamerikaner. Manche Gärtner beschränken sich auf
die Cultur einer oder weniger Arten; so zog im Winter 1860 ein
grosses Etablissement bei Sume nur eine einzige Acorus-Art mit
dunkelgrünen Blättern in vielen tausend Exemplaren; sie waren in
zierliche viereckige Porcelantöpfe gepflanzt und neben jedes ein
Stück Achat, Bergcrystall oder andere bunte Steine in die Erde
gesteckt; die Pflanze muss neu und in der Mode gewesen sein. —
Eigentliche Treibhäuser fehlen; man bringt die Gewächse während
der strengeren Monate in langen strohgedeckten Schuppen unter,
die nur bei ganz schlechtem Wetter zugesetzt werden.


Die Anlage der japanischen Ziergärten ist der der franzö-
sischen aus dem 17. und 18. Jahrhundert ähnlich; sie haben mit
diesen die Charmillen und steif beschnittenen Sträucher gemein.
Vielleicht verpflanzte sich dieser Geschmack gar erst aus Japan
nach Holland, und von da, weil er der Mode des Jahrhunderts
[75]VII. Ziergärten. Blumenflor.
zusagte, nach den angränzenden Ländern. Den Vorzug haben die
japanischen Gärten, dass sie, der Architectur ihrer Wohnhäuser
entsprechend, weniger regelmässig sind als die französischen, aber
an barocker Künstlichkeit suchen sie ihresgleichen. Namentlich in
den dem Wohnhause zugekehrten Parthieen behält kein Baum,
kein Strauch seine natürliche Gestalt: da wachsen Fächer und segelnde
Schiffe, runde Tische, Candelaber, grosse Halbkugeln und steife
rechtwinklige Wände. Den Boden deckt sammetweicher Rasen, die
reinlichen Kieswege sind mit bunten Steinen, Zwergbäumen und
Blumentöpfen eingefasst; aus den Goldfischteichen und künstlich
gewundenen Wasserrinnen ragen bemooste Duodezfelsen, zu welchen
zierliche Brückchen hinüberführen, und in der heimlichsten Ecke des
Gärtchens steht der Schrein des Hausgötzen. Glücklicherweise be-
dürfen solche Anlagen zu sorgfältiger Pflege, um weite Ausdehnung
zu gestatten; sie finden sich meist nur vor der Gartenfronte des
Hauses als angenehme Decoration. Die Natur ist hier salonmässig
verkleidet und frisirt, wie conventionelle Bildung und die Sitte der
»guten Gesellschaft« erfordern. Hohe Charmillen bilden die Seiten-
und Hinterwände dieses grünen Putzstückes und verdecken die
wilderen Parthieen des Gartens, wo man der Natur freieren Lauf
lässt. — Zierlich und freundlich sind jene Lustgärtchen trotz aller
Künstlichkeit, wie ein modisch aufgeputztes hübsches Dämchen.


Den reizendsten Anblick bieten die japanischen Gärten im
Spätherbst, wenn der Ahorn sich in hellen, Azalien und Wachs-
bäume in dunkelen Pupur kleiden. Um diese Zeit blüht auch die
Lieblingsblume der Japaner, das Winter-Chrysanthemum, von dem sie
unzählige Varietäten haben. Die Grösse und Pracht der sternartigen
Blüthen, — die man im Wappenzeichen des Mikado-Hauses wieder-
erkennt, — ist oft erstaunlich; wir sahen sie in voller Herrlichkeit.
In anderen Jahreszeiten sollen namentlich Sommer-Astern, Nelken
und Iris in grosser Vollkommenheit blühen; sie werden, wie in
manchen europäischen Städten die Blumen der Jahreszeit, in
mächtigen Sträussen auf der Gasse feilgeboten. Das Hauptbestreben
der japanischen Blumenzüchter geht aber auf Erzeugung sehr grosser
und vollkommener Kirsch-, Pflaumen- und Pfirsichblüthen, deren
zarte Schönheit die japanischen Dichter aller Zeiten begeistert hat.
— Die Camelia ist in Japan heimisch; mehrere Arten blühen, Ge-
büsche und Hecken bildend, zu verschiedenen Jahreszeiten, die
schönste und grösste, welche die Höhe eines zweistöckigen Hauses
[76]Der Theestrauch. VII.
erreicht, bei Yeddo im Februar und März, gefüllte in den Gärten
schon früher. Der Baum ist aber zu häufig um die Gärtner viel zu
beschäftigen; so regelmässige vollkommene Blüthen, wie die ge-
füllten unserer Treibhäuser, sieht man dort kaum.


Der Camelia sehr nahe verwandt ist der Theestrauch, der
auch zuweilen als Zierpflanze gezogen wird; seine Blätter und
Blüthen sind jener ganz ähnlich, nur kleiner, die Blume weiss, ein-
fach fünfblättrig, mit vielen gelben Staubfäden. Man findet ihn
häufig verwildert, zumeist an Hecken und Ackerrainen, in der Nähe
ländlicher Wohnungen; von solchen Sträuchern pflückt der japa-
nische Landmann seinen Hausbedarf. Die grösseren Pflanzungen
liegen im Inneren des Landes, die berühmtesten in den Landschaften
Fidsen und Yamasiro. Kämpfer, Thunberg und Siebold geben aus-
führliche Abhandlungen über den Anbau und die Bereitung des
Thees; da aber wahrscheinlich keiner dieser Reisenden die Pflan-
zungen selbst besucht hat, so werden ihre auf Berichten der Lan-
desbewohner fussenden Angaben darüber mit Vorsicht aufzunehmen
sein. Von der Zurichtung der Blätter, wenigstens in kleinem Maass-
stabe, kann man schon bei den Landleuten Kenntniss gewinnen.


Der Theestrauch soll an Berglehnen, wo niedrig schwebende
Wolken sich häufig anlehnen, in fünf- bis achthundert Fuss Meeres-
höhe am besten gedeihen; die Pflanzungen werden, nach Siebold,
vorzugsweise an nicht zu steilen, der Morgensonne ausgesetzten
Hängen, entfernt von menschlichen Wohnungen, Rauch und anderen
Dünsten angelegt; sie bedürfen eines eisenhaltigen mit etwas Kies
und Dammerde versetzten Thonbodens 7). Man zieht den Strauch
aus Samen, welche, im Gartenlande in kleinen Kreisen gelegt, im
Mai oder Juni aufgehen; nachdem die schwächlichen Pflanzen aus-
[77]VII. Thee-Lese und Zurichtung.
gerupft und die Endsprossen der übrigen schon im ersten Jahre
gekappt sind, breiten die Zweige sich aus und verwachsen in eine
buschige Krone. Erst wenn der Strauch Kraft gewonnen versetzt
man ihn in die mit getrockneten Sardellen, Oelkuchen und ausge-
pressten Senfsamen gedüngten Pflanzungen 8); die Büsche stehen
dort in Zwischenräumen von drei bis vier Fuss und werden häufig
mit Jauche begossen. Die erste Lese soll in Japan im vierten oder
fünften Jahre nach der Aussaat stattfinden; kräftige Büsche liefern
dann mehrere Jahre lang reichliche Aernten, verkümmern aber
endlich in Folge der fortgesetzten Beraubung und müssen, wo es
nicht gelingt, die Triebkraft durch Kappen und Beschneiden wieder
zu beleben, durch neue ersetzt werden. — Die erste Jahresärnte
findet Anfang April statt; man bricht dann die jungen zwei bis
drei Zoll langen Triebe ab, und lässt sie zu Hause von Frauen und
Kindern ablesen 9). Die zartesten Herzblättchen werden ausgesondert
und geben den feinsten, die gröberen den sogenannten Mahl-Thee.
— Sobald der Strauch neue Sprossen getrieben hat, schreitet man
zur zweiten Lese, pflückt jetzt die Blätter selbst von den Sträuchern
und sondert sie vor der Zurichtung in gröbere und feinere Sorten.
Die dritte Aernte liefert die gröbsten und härtesten Blätter. — Man
sammelt jedesmal nur soviel, als man noch an demselben Tage be-
reiten kann; die Zurichtung soll auf nassem oder trockenem Wege
geschehen. Bei letzterer werden die frischen Blätter auf eiserne
Pfannen geschüttet und über Kohlenfeuer unter beständigem Umrühren
erhitzt; man breitet sie dann auf Matten aus, um sie mit der flachen
Hand unter mässigem Druck zu rollen, wobei sie einen gelblich-grünen
Saft von sich geben. Darauf lässt man die halb gerollten Blätter
an der Luft erkalten und verfährt auf dieselbe Weise mit einer
zweiten und dritten Menge. Die so bereiteten Haufen werden
nachher wieder vorgenommen und auf die angegebene Weise noch
drei- bis viermal geröstet und gerollt, bis die Blättchen fest zusammen-
gewickelt und vollständig trocken sind. Zuweilen soll die letzte
Darre in hölzernen Kasten mit Papierböden vor sich gehen.


[78]Zurichtung der Theeblätter. Schwarzer und Grüner. VII.

Die nasse Bereitung beschreibt Siebold aus eigener Anschauung:
die frisch gelesenen Blätter werden in einem Behälter mit mehreren
Böden aus feinem Bambusgeflecht durch siedende Wasserdämpfe
rasch zum Welken gebracht, dann gerollt und in eisernen Pfannen
getrocknet. Der unter seinen Augen so bereitete Thee hatte eine
frische grüne Farbe; er zieht daraus, durch Mittheilungen der
Chinesen in Naṅgasaki irre geleitet, den Schluss, dass auch in
China der grüne Thee auf nassem, der schwarze auf trockenem
Wege bereitet werde, und dass dieser durch Ausschwitzen des grünen
Saftes einen Theil seiner narkotischen Wirkung verliere. Der englische
Reisende Fortune aber, welcher die Thee-Districte des südlichen
und mittelen Clima vielfach zur Zeit der Aernte und Zurichtung
besuchte, hat die nasse Bereitung nirgends gefunden, auch davon
nichts gehört. Der Thee wird dort überall [auf] trockenem Wege
in ähnlicher Weise wie in Japan, und zwar schwarzer und grüner
ohne Unterschied aus allen Aernten und allen Varietäten bereitet.
Der Unterschied in der Zurichtung ist nur der, dass die zum grünen
Thee bestimmten Blätter schnell, die zum schwarzen langsam zum
Welken gebracht werden. Gleichwie andere Pflanzen grünlich
bleiben, wenn man ihnen durch Löschpapier oder heissen Sand
schnell die Feuchtigkeit entzieht, und braun oder schwärzlich wer-
den, wenn sie langsam in der Luft welken, so ist es auch mit dem
Thee. Der grüne ist gleich nach der Lese geröstet; die Haupt-
manipulation des Dörrens, Rollens und Austrocknens dauert kaum
eine Stunde; auch das spätere Nachdörren geht schnell von Statten.
Der schwarze Thee dagegen wurde vor dem Rösten mehrere Stunden,
oft eine ganze Nacht in dünnen Schichten der Luft ausgesetzt; die
Blätter kommen auf die Pfannen nachdem sie schon gewelkt sind
und werden auch nach der ersten Behandlung, welche mit der des
grünen Thees übereinstimmt, wieder längere Zeit an die Luft gebracht,
zuletzt aber langsam fertig geröstet. Die stärkere Narkosis des
grünen Thees lässt sich bei solcher Behandlung wohl aus der
schneller aufgehaltenen Zersetzung der Säfte erklären. Der japanische
Thee ist übrigens, soviel der Verfasser beobachten konnte, weder
recht entschieden grün noch schwarz; man scheint bei der Bereitung
die Mittelstufen einzuhalten. Die Zurichtung ist allemal von der
Beschaffenheit der Blätter abhängig: zarte vertragen nur schwache
Röstung wenn sie ihr Aroma behalten sollen, grobe dagegen ver-
langen starkes Dörren; daher halten sich die feinen Theesorten
[79]VII. Aufbewahrung. Parfümirung.
auch nicht so gut und müssen viel vorsichtiger aufbewahrt und
bereitet werden als die groben. Bei diesen kann man den Aufguss
lange stehen lassen ohne dass der Geschmack sich ändert; die feinen
dagegen verlieren durch langes Ziehen leicht ihr angenehmes Aroma
und geben dann ein bitterliches aufregendes Getränk. Die groben
Sorten lassen sich ohne besondere [Vorkehrung] jahrelang aufbewahren;
die feineren sind empfindlich gegen starke Kälte und Ausdünstungen 10),
behalten auch ihre Würze kaum über das zweite Jahr hinaus. Ganz
zarte, wenig geröstete Blätter kommen garnicht zum Export; solche
werden in China nach der Aernte in kleinen Päckchen verschenkt
und gleich verbraucht; sie sind sehr wohlschmeckend, lassen sich
aber nicht aufbewahren. Die Haltbarkeit des Thees hängt eben von sei-
ner vollkommenen Austrocknung ab; deshalb rösten die chinesischen
Händler allen zur Ausfuhr bestimmten vor der schliesslichen Verpackung
auf den Stapelplätzen noch einmal durch. Als man nach Eröffnung
von Yokuhama Thee von dort nach China und Europa zu verschiffen
begann, zeigte sich bald dass die japanischen Sorten für den See-
transport nicht trocken genug waren; die fremden Kaufleute legten
deshalb Darröfen an, um den gekauften Quantitäten vor der Verschiffung
die gehörige Trockenheit zu geben. Aber bald wurde den Japanern
klar worauf es ankam; die einheimischen Theehändler richteten selbst
Factoreien ein, wo das Dörren im Grossen jetzt wohlfeiler und ganz
nach dem Bedürfniss der Ausfuhr besorgt wird. Ob der Thee in
Japan, wie vielfach in China, für die Fremden mit wohlriechenden
Blumen parfümirt wird ist zweifelhaft 11); das starke aber nicht nach-
haltige Bouquet mancher Arten macht die Annahme wahrscheinlich.
Die bis jetzt dort bekannten Sorten stehen weit unter den besseren
chinesischen, die feinsten sollen aber garnicht in die Hände der
Fremden gelangen und von den Vornehmen des Landes sehr theuer
bezahlt werden. Die Ausfuhr ist noch gering; sie betrug 1863 etwas
[80]Japanischer Thee-Handel. Bereitung. VII.
über zehn Millionen Pfund. Die grösste Menge geht nach London,
wird aber von da wieder nach Canada und den Vereinigten Staaten
verschifft. Man glaubt dass in Zukunft viel japanischer Thee nach
Russland wandern wird, wo seit kurzem das Handelsmonopol auf-
gehoben und die Einfuhr zur See frei gegeben worden ist, die früher
zum Vortheil des Karavanenhandels beschränkt und nur ausnahms-
weise für einzelne Schiffe gestattet war. Die japanische Regierung
begünstigt die Ausfuhr keineswegs; der Thee ist Lebensbedürfniss
der Landeskinder und seine Vertheuerung muss Unzufriedenheit er-
wecken. Da nun die Theecultur viel Terrain braucht und neue
Pflanzungen erst nach Jahren ertragsfähig werden, so kann man
nicht erwarten, dass die Production der gesteigerten Ausfuhr so
bald die Waage halten wird. Die von den Ausländern gern bewillig-
ten Preise sind viel höher als die vor Eröffnung der Häfen üblichen,
die Nachfrage weit bedeutender als die Anfuhr; so steigert die
Concurrenz der fremden Kaufleute die Preise zum Vortheil der ein-
heimischen Händler, aber zum Schaden der Consumenten; das Land
muss, wenigstens jetzt, unter diesem Missverhältniss leiden. Legte
die Regierung sich nicht ins Mittel, so müsste gradezu Mangel ent-
stehen. In Japan wie in China gehört der Thee zu den nothwen-
digsten
Lebensbedürfnissen; der Theekessel steht in Palast und
Hütte den ganzen Tag am Feuer, man trinkt Thee zu allen Tages-
zeiten, bei jeder Malzeit. Thee, nicht rohes kaltes Wasser gilt für
das angemessene Getränk des Culturmenschen; es würde vielleicht
selbst dem Bettler ebensowenig einfallen kaltes Wasser zu trinken
als in einen rohen Kohlkopf zu beissen.


Man geniesst den Thee ganz heiss aus kleinen Schälchen,
ohne alle Zuthat; der Aufguss ist schwach und ohne besonderen
Wohlgeschmack, ein leicht adstringirendes anregendes Getränk.
Möglich dass in den Häusern der Grossen zuweilen Theesorten von
stärkerem Aroma gereicht werden; der im Palast des Ministers
Ando-Tsus-sima-no-kami unterschied sich nicht bedeutend von dem
welchen wir sonst erhielten. Einigen Einfluss übt wohl die schwache
Bereitung; aber man bekommt auch in China bei den Eingebornen
niemals so aromatischen Thee als wir ihn gewöhnt sind. Die Zunge
des Ost-Asiaten ist eben empfindlicher und nicht durch soviel Salz
und Gewürze abgestumpft, als das Nervensystem des Europäers
braucht; seine feinsten Leckereien schmecken uns schaal und insipide.
So ist es auch mit dem Thee. Man kann mit Sicherheit annehmen,
[81]VII. Mahl-Thee. Thee-Legende.
dass alle sehr aromatischen Arten, namentlich der berühmte russische
Karavanenthee künstlich parfümirt sind; im Lande wird dergleichen
niemals getrunken. — Mit den groben Sorten macht man wenig
Umstände: der Theekessel wird Morgens mit dem Aufguss an das
Feuer gebracht und kocht dort ruhig den ganzen Tag: man setzt nach
Bedürfniss Theeblätter und Wasser zu ohne den Topf je zu ent-
leeren. Dies Getränk ist angenehm adstringirend und belebend, hat
aber niemals die narkotische Bitterkeit unserer aromatischen Sorten
nachdem sie lange gezogen. Der Verfasser zeichnete in Yeddo
täglich einige Stunden nach der Natur; wo er sich grade niederliess
brachte man jedesmal gleich aus dem nächsten Hause einen Thee-
kessel mit Tassen für ihn und die begleitenden Yakunine. Diese
Sitzungen dauerten oft drei bis vier Stunden, und das anregende
Getränk war bei Hitze und Kälte eine wahre Wohlthat; man leerte
mit Behagen eine Schale nach der anderen, und wenn der Kessel
erkaltete stand schon ein anderer bereit.


Der sogenannte Mahl-Thee, ein feines Pulver zerriebener Thee-
blätter wird nach Siebold aus den gröbsten Sprossen der ersten
Aernte, nach Kämpfer aus den feinsten Knospen dreijähriger Sträucher
bereitet, und nur bei Gastmälern oder festlichen Gelegenheiten
gereicht. Man schüttet ein Häufchen davon in die Tasse, giesst
siedendes Wasser darüber und trinkt die durchgerührte Mischung
als dünnen Brei, wie Chocolade.


Siebold hat unter seinen japanischen Pflanzen vier Varietäten
von Thea sinensis beschrieben; der bei Yeddo wachsende Busch
soll der bei Canton cultivirten Thea bohea gleichen. Darf man der
Japanischen Encyclopädie glauben, so wäre das südliche Korea die
eigentliche Heimath des Strauches; von da sollen Gesandte des
Reiches Sinra zu Anfang des neunten Jahrhunderts Theesamen
nach Japan gebracht haben, wo das Getränk bald die allgemeinste
Verbreitung fand. Die Legende berichtet von seiner Entstehung
Folgendes: Bodaï-Darma, der grosse Prophet, brachte sein Leben
in frommen Bussübungen zu und enthielt sich beständig von Speise
und Schlaf; einmal aber übermannte ihn die Müdigkeit, so dass er
einschlummerte. Beim Erwachen empfand er nun so bittere Reue,
dass er seine beiden Augenlider abschnitt und zürnend von sich
warf. Am folgenden Tage waren zwei Pflänzchen daraus hervor-
gesprossen, deren Blätter Darma verspeiste; er empfand davon
die seltsamste Erquickung, alle Müdigkeit war verschwunden und
II. 6
[82]Bambus. VII.
der Geist voll himmlischer Freude. Der Prophet theilte dann
die Gottesgabe seinen Schülern mit, welche sie in alle Länder
verbreiteten.


Unter den anderen Nutzpflanzen ist der Bambus eine der
wichtigsten; es gibt mehrere, darunter wahrscheinlich auch ein-
heimische Arten, wenigstens findet man ihn wildwachsend im dich-
testen Waldgestrüpp. Die ländliche Architectur, das Haus-, Stall-
und Wirthschaftsgeräth, die Bewaffnung und Kleidung, das ganze
Handwerk der Japaner ist ohne Bambus garnicht denkbar. Fast
jede Hütte hat ihre Pflanzung, und in den grossen Handlungen von
Yeddo stehen Tausende von Rohren jeder Länge, Stärke und
Feinheit, vom Dachsparren bis zum Pinselstiel, in saubere Bündel
sortirt zum Verkauf. Keine Holzart vereinigt solche Leichtigkeit
mit gleicher Stärke und Schwungkraft. Die äusseren Schichten des
Rohrs sind kieselhaltig und glänzend wie künstlich polirt, dabei
steinhart; sie werden gespalten zu den zierlichsten Korbgeflechten
und Möbeln, zu Bogen, Jalousieen, Fächern, Schachteln, Stroh-
hüten, Rüstungen, Bekleidung der Sänften u. s. w. verarbeitet,
die vollen Rohre zu Tragstangen, Leitern, Wasserrinnen, Bechern,
Schöpfkellen, Pfeilen, Laternenstangen, Angelruthen, Pfeifenstielen
und hundert anderen Zwecken verwendet. Die zarten Wurzelschösse
macht man in Zucker ein, die stärkeren dienen als Reitgerten; auch
in der Papierfabrication spielt der Bambus eine grosse Rolle. Das
ausgewachsene Rohr hat vier bis fünf Zoll Durchmesser, der junge
Zweig nur die Dicke einer Stricknadel; alle Zwischenstufen sind
gleich fest und elastisch. Es ist zu verwundern, dass nicht mehr
japanischer Bambus nach Europa importirt wird, denn in manchen
Anwendungen ist er weder durch Holz, Metall noch Fischbein zu
ersetzen; man möchte kaum zweifeln, dass er mit der Zeit in Mittel-
und Süd-Europa acclimatisirt und eben so heimisch werden könnte,
wie in Italien die aus Amerika eingeführten Aloe (Agave), die in-
dianische Feige (Opuntia), Mais und andere Pflanzen, wie bei uns der
Tabak, die Rosskastanie und die Kartoffel. Die Cultur des Bambus
würde eine Umgestaltung unserer Zimmer- und Möbel-Architectur,
des Haus- und Küchengeräthes hervorrufen, von der man keine
Ahnung hat, und namentlich dem Landmann den vielfältigsten Nutzen
bringen; zudem ist er mit seinem auch im Winter frühlingsgrünen
Graslaub der herrlichste Schmuck in Feld und Garten. Nach den
Kältegraden, welche er in Nord-China und einigen Theilen von
[83]VII. Soya. Tabak.
Japan erträgt, sollte man glauben, dass wenigstens in den südwest-
lichen Küstengegenden Europas und an den Abhängen der Alpen
und Pyrenäen, wo feuchte Niederschläge häufig sind, der Anbau
gelingen würde.


Eben so wünschenswerth wäre die Acclimatisirung der Soya-
Bohne. Die bei uns unter diesem Namen bekannte Sauce ist grossen-
theils ein künstlich gemischtes Präparat und kommt nur auf die
Tafeln der Reichen; aber selbst die aus Japan eingeführte ist von
derjenigen, welche dort Jedermann als tägliche Speisezuthat geniesst,
so himmelweit verschieden, wie gekochter Ungarwein von unver-
fälschtem Tokayer. Die Bereitung, deren Einzelnheiten leicht näher
zu erfahren wären, soll sehr einfach sein: man kocht die Bohnen
weich, versetzt sie mit Reis- oder Gerstenmalz, und lässt sie an
einem warmen Ort vierundzwanzig Stunden lang gähren; dann wird
Salz und Wasser zugesetzt, die Mischung in den ersten Tagen öfter
umgerührt und darauf zwei bis drei Monate in grossen verschlossenen
Töpfen verwahrt, endlich die Flüssigkeit ausgepresst, in Fässer
gefüllt und verspundet. Die so bereitete Soya ist dünnflüssig und
von leichter salziger Würze, erregt angenehm den Appetit und fördert
die Verdauung; sie soll durch das Alter an Güte gewinnen, hält
sich aber gewiss, wie leichte Fassbiere, nur einen beschränkten
Zeitraum. Alle von den Holländern importirte ist vor der Ver-
schiffung aufgekocht; sie hält sich darnach besser, ist aber dick-
flüssig und scharf. Wahren Nutzen könnte nur der Anbau bringen,
durch welchen man sie frisch und billig erhielte; sie gibt in diesem
Zustande den fadesten Speisen wie Mehlbrei und dergleichen den
ärmeren Classen zur Nahrung dienenden Gerichten die angenehmste
Würze und leichte Verdaulichkeit. In Japan geniessen Arm und
Reich, Vornehm und Gering Soya zu allen Malzeiten; auf unseren
Schiffen wurde sie von Officieren und Mannschaften fässerweise
verbraucht.


Der Tabak ist den Japanern, die ihn schon früh von den
Portugiesen erhielten, zum Lebensbedürfniss geworden, und das
Rauchen vielleicht in keinem Lande so allgemein; es gibt wohl
kaum einen Erwachsenen, der nicht beständig seine Tabakstasche
bei sicht führte; Frauen und Mädchen rauchen meist nur zu Hause.
Die Blätter werden haarfein geschnitten und haben, aus den kleinen
Pfeifchen mit eichelnapfgrossen Köpfen geraucht, ein feines, etwas
berauschendes Aroma.


6*
[84]Andere Nutzpflanzen. VII.

Man findet in Japan Trüffeln, und die Eingeborenen, die auch
viele andere Pilze essen, wissen sie zu schätzen. — Weniger möchte
ihr Geschmack für Meerpflanzen zu dem unserigen passen; Fucus
saccharinus und andere Arten werden in Menge an den Küsten
aufgefischt, getrocknet, geschält, vom Sande gereinigt und bald roh
bald gekocht verzehrt, jetzt auch in bedeutenden Mengen nach
China verschifft.


Zucker gewinnt man in Japan theils aus Ahorn, theils in den
südlichen Landschaften aus Zuckerrohr. Ein Theil des Bedarfes
kommt wahrscheinlich von den Liu-kiu-Inseln; früher importirten
die Holländer jährlich eine ansehnliche Menge. Oel wird haupt-
sächlich aus Rübsamen und Sesam, daneben aber auch aus den
Samen der Camelia, Bignonia tomentosa, Diandra cordata, Rhus
succedanea und Taxus baccata, selbst aus denen einiger Nesselarten
gepresst, aus deren Fasern man auch Seile dreht. Auch aus Hanf,
der in einigen Gegenden wild wachsen soll, macht man Taue; er
wird jedoch grösstentheils auf dem Webestuhl zu den festen dauer-
haften Stoffen verarbeitet, welche die Landleute tragen.


Der in ganz Ost-Asien so geschätzte Ginseṅg ist die Wurzel
einer ingwerartigen Staude, welche in Japan, China und Korea
wächst. Die Cultur derselben scheint schwierig zu sein, wenigstens
ist das Medicament, dem alle möglichen stärkenden Wirkungen zu-
geschrieben werden, theuer und in guten Qualitäten schwer zu be-
schaffen. Im Handel wird der chinesische, japanische, koreanische
Ginseṅg unterschieden und hat verschiedene Preise. — Eine andere
sehr verbreitete Medicinal-Pflanze ist die Artemisia vulgaris, deren
Blätter, getrocknet und zerrieben, einen Flaum weicher Fasern
liefern; die feinsten Sorten davon dienen zur Moxa, welche die
Japaner nicht bloss zur Heilung von Krankheiten, sondern auch
vielfach als Präventivmittel anwenden. — Baumwolle baut der
Landmann zum eigenen Bedarfe soviel er braucht; die Frauen ver-
arbeiten sie wie den Hanf auf sehr einfachen Geräthschaften zu
handfesten Geweben, die voraussichtlich bald, wie überall in der
Welt, den wohlfeilen glatten Fabricaten der Engländer werden weichen
müssen. Die japanische Baumwolle soll, trotz etwas kurzer Faser,
alle anderen asiatischen übertreffen; die Erhöhung der Preise durch
den amerikanischen Krieg hat die Production auch in Japan rasch ge-
steigert, so dass bedeutende Mengen verschifft werden konnten; man
erwartete jedoch, dass sie ebenso schnell wieder sinken würde.


[85]VII. Seide.

Die japanische Rohseide ist von vorzüglicher Güte und auf
den europäischen Märkten sehr gesucht. Eine der vorzüglichsten
Sorten, welche im Lande selbst theuerer ist als alle anderen, wird aus
dem Gespinnst des wilden Seidenwurmes Antheraea Yama-mayu
(Guérin Méneville) gewonnen, welche von Eichenblättern lebt. Die
erste Notiz von diesem Schmetterling findet sich in einer schon 1848
publicirten Abhandlung des Professor Hoffmann in Leyden über die
Zucht des Maulbeerseidenwurmes, aber erst im Jahre 1861 kamen
Eier davon nach Europa. Seitdem sind in mehreren europäischen
Ländern Zuchtversuche gemacht worden, welche mehr oder minder
günstig ausfielen und in hohem Grade die Aufmerksamkeit aller
Seidenzüchter erregten. Professor Hoffmann hat dem Gegenstande
ein besonderes Interesse zugewendet und ein japanisches Werkchen
übersetzt, das die Behandlung des Yama-mayu sehr genau und aus-
führlich beschreibt; daraus geht hervor dass man in denjenigen
Gegenden Japans, wo diese Zucht betrieben wird, die Eichbäume
rings um die Bauerhöfe und längs der Fusspfade auf den Feldern
pflanzt, um die Entwickelung des Insectes neben den gewöhnlichen
landwirthschaftlichen Beschäftigungen zu überwachen. In einigen
Landschaften soll der Yama-mayu auch wild in den Wäldern leben;
die Bewohner sammeln dort die Cocons von den Bäumen und machen
oft reiche Aernten. Bis jetzt haben die meisten Eiersendungen die
Seereise gut ertragen; die damit angestellten Versuche fielen aber
sehr verschieden aus. Grossen Nutzen hat den Züchtern die von
Professor Hoffmann übersetzte Abhandlung gebracht: von einer in
Holland ganz nach den japanischen Vorschriften behandelten Quan-
tität Raupen gingen nur zwei Procent verloren. Bei uns erzielte
Herr Hofgärtner Fintelmann auf der Pfaueninsel aus japanischen
Graines im Sommer 1864 die grosse Menge von 2602 Eiern; die
Campagne des folgenden Jahres war dagegen ungünstig. Man wird
noch viele Erfahrungen machen und vielleicht lange Zeit jahraus
jahrein Graines importiren müssen, wofür in mehreren Ländern
Europa’s Sorge getragen wird. Die preussische Regierung hat durch
Vermittelung ihrer Consuln schon einige Sendungen kommen lassen,
auch theilte Professor Hoffmann den deutschen Züchtern von den
ihm übersandten sehr gut conservirten Eiern wiederholt ansehnliche
Quantitäten mit. Man erwartet günstige Resultate von der Kreuzung
solcher Schmetterlinge, die aus in Europa erzielten Eiern ausgekrochen
sind, mit solchen, die von importirten Graines herstammen. Da jetzt
[86]Kastanien-Seidenwürmer. Ländlicher Grundbesitz. VII.
erwiesen ist, dass der Yama-mayu die Blätter aller bei uns wachsen-
den Eichenarten annimmt und sich gesund dabei entwickelt, so ist
die Zucht nur Aufgabe der Acclimatisation. Eine Eigenthümlichkeit der
Species besteht darin, dass sie im Ei, nicht wie andere Arten der-
selben Gattung, im Cocon überwintert. Da nun in Japan der Winter
nur kurz ist, so findet der Wurm bei seinem Auskriechen die Nah-
rung dort fertig bereitet, während man sie bei uns für die ersten
Wochen in Treibhäusern künstlich erzeugen muss. Eine andere
Schwierigkeit für die in Japan übliche Zucht im Freien ist der Schutz
der Raupen gegen Vögel und Insecten. Glückt die Acclimatisation,
so könnte nach angestellten Berechnungen eine kräftige Eiche jährlich
vier bis fünf Pfund Rohseide liefern.


Fortune berichtet noch von einem anderen japanischen Seiden-
wurm, welcher von den Blättern der Castanea japonica lebt. Die
Raupe war über vier Zoll lang, lebhaft grün, unten weiss gefärbt
und dicht mit weissen Haaren besetzt. Man lässt sie nicht zum
Einspinnen kommen, sondern schlitzt sie lebendig auf und zieht zwei
Bündelchen heraus, die nachdem sie in eine sauere Lösung getaucht
und dadurch von dem umgebenden Schleim befreit sind, jedes einen
Faden von funfzig Fuss Länge liefern. Fortune glaubte, dass sie
vorzüglich zu Angelschnüren und dergleichen benutzt werden, erfuhr
aber von den Eingeborenen, dass man auch Kleiderstoffe daraus
webt. Näheres ist darüber nicht bekannt geworden.


Von den Verhältnissen des ländlichen Grundbesitzes ist im
einleitenden Abschnitt schon vorübergehend die Rede gewesen;
Genaues weiss man darüber nur wenig. Wie die übrige Gesetz-
gebung, so scheint sich auch das Eigenthumsrecht in den einzelnen
Landschaften verschieden entwickelt zu haben; so soll es in einigen
Gegenden Grundbesitzer geben die nicht zur Adelsclasse gehören,
in den meisten aber ist der Boden wohl Eigenthum der Daïmio’s
oder des Taïkūn. Nach historischem Recht kann der Mikado als
Eigenthümer des ganzen Reiches gelten; die Fürsten halten ihren
Besitz von seinem Stellvertreter, dem Taïkūn, erblich zu Lehen,
ihre Streitkräfte werden als Contingente der kaiserlichen Armee
angesehen. In ähnlicher Weise mögen die Vasallen der Daïmio’s
Theile von deren Territorien erblich zu Lehen besitzen, und der
Hofadel Länderein in den Provinzen des Taïkūn. Der Landmann
ist wieder gewissermaassen erblicher Pächter; er muss jährlich einen
bestimmten Antheil der Aernte an seinen Grundherrn abgeben.
[87]VII. Grundbesitz. Abgaben.
Dieser hat das Recht, jeden Augenblick frei über sein Grundstück
zu verfügen und den Pächter nach Belieben zu verjagen; es ist
aber feststehender Gebrauch, eine Familie so lange in ruhigem Besitze
zu lassen, als sie die ihr anvertrauten Aecker fleissig bebaut. So
vererbt sich der Besitz auch bei den Landleuten von Geschlecht zu
Geschlecht, und doch ist diese Erbpacht kein eigentliches Recht; der
Gebrauch besteht überall nur so lange, als kein Grund da ist ihn zu
stören. Wie der Taïkūn — immer im Namen des Mikado — das
Recht übt, in gewissen Fällen einen Daïmio, ja dessen ganze Familie
zu ächten und ihres Lehens zu berauben, so hat der Grundbesitzer
sogar die Pflicht jeden Pächter auszuweisen, der ein Jahr lang seine
Felder nicht bestellt, und unter Umständen auch dessen Erben.


Der Antheil des Grundherrn an der Aernte ist nach dem
Gebrauche der einzelnen Landschaften und der Güte des Bodens
verschieden, in den meisten Gegenden aber gewiss sehr bedeutend 12).
Sein Verhältniss zum Ertrage pflegt festzustehen; der Rentmeister
des Gutsherrn reist jährlich auf dessen Besitzungen herum, misst
die Aernte einzelner Aecker aus und taxirt danach den wirklichen
Ertrag des Jahres, nach dem sich die Abgabe richtet. — Das be-
wegliche Inventar und sämmtliche Gebäude sind Eigenthum des
Pächters, der sie bei seinem Abzuge niederreissen, mitnehmen oder
seinem Nachfolger verkaufen kann. Aehnlich scheint es in den
Städten zu sein, wo zwar die Häuser den Bürgern gehören, für
den Grund und Boden aber dem Herrn des Territoriums ein jähr-
licher Zins gezahlt wird. Auch Fremde können nicht Grundeigen-
thum erwerben; sie miethen die Bauplätze von der Regierung und
[88]Die Japanische Gesandtschaft in Amerika. VII.
kaufen oder bauen dort Häuser; die japanische Behörde hat ver-
tragsmässig das Recht, alle Bauarbeiten zu beaufsichtigen und
die Anlage von Festungswerken zu verhindern. Bei der ersten
Landvertheilung in Yokuhama konnten die Fremden keine legale
Sicherung ihrer Rechte auf bleibenden Besitz erlangen, da dieser
Punct in den Verträgen nicht vorgesehen war; die japanische Regie-
rung hätte sie, wie ihre eigenen Unterthanen, nach Willkür von
den Grundstücken vertreiben können. Später gelang es den Ver-
tretern der Vertragsmächte nach vielen Bemühungen, mit der Behörde
eine Form zu vereinbaren, welche das Miethsverhältniss in eine Art
unwiderruflicher Erbpacht verwandelt, so dass der Berechtigte
seinen Besitz ohne Zuthun der einheimischen Obrigkeit frei an
Andere übertragen kann.


Im November 1860 beherbergte Yeddo wahrscheinlich mehr
Fremde als jemals zuvor: am 1. erschien die amerikanische Fregatte
Hartford auf der Rhede und am 9. traf der Kriegsdampfer Niagara
mit der japanischen Gesandtschaft dort ein, welche nach den Ver-
einigten Staaten
geschickt worden war. Er brachte aus China die
Nachricht mit, dass die englisch-französische Armee vor Pekiṅg
stände.


Die japanischen Gesandten waren das Jahr zuvor von der
amerikanischen Fregatte Powhattan aus Yeddo abgeholt worden,
und reisten über die Sandwich-Inseln, San-Francisco und Panama
nach Washington. Ein in Holland gebautes Dampfboot des Taïkūn
begleitete, ausschliesslich von Japanern bemannt, den Powhattan
über den Stillen Ocean, und kehrte von dort, soviel dem Verfasser
bekannt wurde, ganz allein nach Yeddo zurück. Es war ihre erste
weite Seefahrt seit über zweihundert Jahren, und sie lieferten damit
den gültigsten Beweis für ihre Fähigkeit zur Navigation und Führung
von Dampfbooten.


Die Aufnahme der Gesandten in Amerika war bekanntlich
sehr glänzend, wenn auch vielleicht nach unseren Begriffen nicht
durchaus passend; namentlich scheinen sie in der ersten Zeit ihrer
Anwesenheit nicht mit den der japanischen Bildungsstufe ange-
messenen Rücksichten behandelt worden zu sein, über welche freilich
in der ganzen westlichen Welt noch sonderbare Ansichten herrschen.
Später überzeugte man sich wenigstens von ihrer Intelligenz und
[89]VII. Rückkehr der Japaner aus Amerika.
practischen Wissbegierde; selbst die Zeitungen bewunderten ihr
gleichmässiges würdiges Benehmen und äusserten grosse Genugthuung,
als man endlich anfing sie als »Gentlemen«, nicht wie wilde Thiere
zu behandeln, und vor den Zudringlichkeiten des Pöbels zu schützen.
Sie müssen bei dieser ersten Berührung aber sonderbare Begriffe
von der westlichen Civilisation bekommen haben; so erzählten die
Officiere des Niagara, dass bei dem von der Stadt New-York zu
Ehren der Japaner gegebenen Balle viele für die Municipalbeamten
reservirten Billets von diesen zu colossalen Preisen verkauft worden
seien; dadurch erhielten Damen von sehr zweifelhaftem Rufe Einlass
und die Gesandten wurden Zeugen der unanständigsten Auftritte.
Sie äusserten bei ihrer Rückkehr die grösste Bewunderung für den
Reichthum, die Betriebsamkeit und Erfindungen der Amerikaner,
meinten aber, deren Sitten und Anschauungen seien von ihren
eigenen so grundverschieden, dass an näheren Verkehr beider
Nationen gar nicht zu denken wäre. Die republicanische Staats-
verfassung war ihnen durchaus unbegreiflich, — kein Wunder, da
seit Jahrhunderten alle historischen und politischen Werke des
Westens in Japan auf das strengste verpönt sind; sie redeten den
Präsidenten hartnäckig als kaiserliche Majestät an und konnten sich
in den Mangel an Etiquette und fürstlichem Pomp garnicht finden. —


Die amerikanische Regierung sowohl als viele Kaufleute und
Fabrikanten, welche ihrer Waare im Reiche der aufgehenden Sonne
Eingang zu verschaffen wünschten, hatten die Gesandten gradezu
mit werthvollen Gaben überschüttet; man rechnete an Bord des
Niagara die ihnen geschenkten Sachen auf dreihundert Tonnen
Gewicht, darunter ein kostbares Billard und viele andere Luxus-
Gegenstände. Für den Taïkūn kamen gezogene Geschütze, Maschinen
zur Fabrikation von Kugeln, Zündhütchen und Raketen, und der-
gleichen nützliche Dinge. Die Regierung hatte auch einen Officier
mitgeschickt, der als Lehrmeister im Gebrauche der Maschinen und
Geschütze dienen sollte, aber mit Höflichkeit und dem Bemerken
zurückgewiesen wurde, dass man sehr wohl damit umzugehen wisse.
Ebenso lehnte der Taïkūn die Einladung des Schiffscommandanten
ab, den Niagara zu besichtigen; — es soll das grösste Kriegsschiff
der Welt sein. »Einem solchen Besuche«, hiess es, »ständen zur
Zeit noch viele Schwierigkeiten« — natürlich des Ceremoniels —
»im Wege; der Kaiser wolle aber gern anerkennen, dass der
Niagara ein grosses und schönes Schiff sei.« Auch ein Ball, den
[90]Aufnahme der amerikanischen Officiere. VII.
der Capitän seinen Passagieren und deren Damen anbot, kam wie
sich voraussehen liess, nicht zu Stande; ein so öffentliches Erscheinen
japanischer Damen von Rang wäre ganz unmöglich. Das emancipirte
Wesen der westländischen Frauen und ihre öffentliche Vertraulichkeit
mit dem männlichen Geschlecht ist den Japanern ein Grauen; sie
sahen — so heisst es in dem Tagebuche eines Mitgliedes der Ge-
sandtschaft — mit Schauder, dass Männer den Frauen, und, wie
sie mit Gewissheit erfuhren, sogar ihren eigenen rechtmässigen Frauen
auf der Strasse den Arm gaben. Das Umfassen der Damen beim
Tanz in anständiger Gesellschaft empörte ihr Sittlichkeitsgefühl auf
das höchste. Nur einigen jüngeren Mitgliedern der Gesandtschaft
schienen die amerikanischen Sitten nicht eben missfallen zu haben;
namentlich vergoss ein jugendlicher Dolmetscher, welcher der ver-
wöhnte Liebling der Damen gewesen war, beim Scheiden bittere
Thränen, und schalt noch in unserer Gegenwart unverhohlen seine
Landsleute »fool Japanese«, weil sie sich die westländischen Sitten
nicht aneigneten. — Der Commandant des Niagara, welcher die aus
achtzig Personen bestehende Gesandtschaft um das Cap der Guten
Hoffnung
zurückgeführt hatte, wusste deren Benehmen an Bord
nicht genug zu rühmen; nur mit dem Licht waren sie, wie in ihrer
Heimath, unvorsichtig, und hatten das Schiff wiederholt in Feuers-
gefahr gebracht.


Die Ausschiffung der Gesandten in Yeddo ging ohne jede
Feierlichkeit von japanischer Seite vor sich; der Niagara aber sandte
ihnen einen Salut aus seinen schweren Geschützen nach. Sie hatten
den amerikanischen Officieren eine glänzende Aufnahme in Aussicht
gestellt, und in der That liess der Minister des Auswärtigen dem
Commandanten bei seiner Ankunft sagen, dass die Mannschaften
während ihres Verbleibens auf der Rhede Gäste des Taïkūn sein
sollten. Er wies den Officieren einen Tempel als Wohnung am
Lande an, wo sie auf kaiserliche Kosten verpflegt und aller mög-
lichen Genüsse theilhaft werden, auch täglich Pferde zu Excursionen
erhalten sollten; »nur weibliche Bedienung müsse man versagen,
weil Yeddo dem Handel noch nicht geöffnet sei.« Als sie aber ein-
zogen erwies sich der zum Kochen bestimmte Raum ganz unbrauchbar,
und sie lebten den ersten Tag von harten Eiern. Auch stellte man
ihnen nur wenige Pferde; »mehr als zehn«, hiess es, »seien in Yeddo
nicht aufzutreiben«, die Zahl der Gäste aber betrug über das Doppelte.
Sie wurden grausam enttäuscht und sahen sich durch ein Diner
[91]VII. Die Amerikaner in Yeddo. Sendungen.
beim Minister Ando-Tsus-sima-no-kami keineswegs entschädigt.
Dieser schien auf solche Feste wenig eingerichtet; er liess den
preussischen Gesandten bitten, ihm einige Tische zu leihen, an denen
Akabane eben keinen Ueberfluss hatte. — Von Sendung frischer
Nahrungsmittel an Bord des Niagara war in den ersten Tagen gar
nicht die Rede; sie erfolgte erst, als der amerikanische Minister-
Resident die Regierung in einem sehr deutlichen Schreiben an ihr
freiwillig gegebenes Versprechen erinnerte. Die schlechte Aufnahme
hatte sicher ihren Grund mehr in der geschäftlichen Unbeholfenheit
als im bösen Willen der Japaner, aber die Folgen waren ebendie-
selben, und man kann es den Amerikanern nicht verargen, wenn
sie nach dem glänzenden Empfang der Gesandtschaft in ihrer
Heimath und deren grossen Verheissungen etwas Anderes erwarteten.
— Herr Harris erhielt durch den Niagara zwei Sendungen aus New-
York
, welche ihn in hohem Maasse belustigten: einen Brief von
Barnum, dem bekannten Grossmeister des Humbug, mit dem Er-
suchen um Besorgung eines japanischen Paares zu dem bevorstehen-
den Völkercongress; am liebsten wären ihm Taschenspieler oder
derartige Künstler, die Leute sollten gut bezahlt werden, auch könne
der Minister-Resident auf hübsche Provision rechnen. — Die andere
Sendung bestand in zwei Dutzend Flaschen bitteren Schnapses,
zwölf für den Taïkūn, und zwölf als Bestellgeld für Herrn Harris,
der sie mit einem Schreiben des Fabrikanten überreichen sollte.
Der Brief war adressirt »To his Imperial Sovereign the Tycoon of
Japan« und begann mit den Worten »Dear Sir«.


Als der Niagara in Hongkong anlegte, meldete sich bei dem
Commandanten ein Japaner, der elf Jahre vorher nach San Francisco
verschlagen worden war und jetzt zu wissen wünschte, ob Schiff-
brüchige in seinem Vaterlande noch so hart behandelt würden wie
sonst. Der Capitän nahm den Mann an Bord und überantwortete
ihn in Yeddo dem Schutze des Minister-Residenten, welcher ihn
der Regierung erst auf das feierliche Versprechen auslieferte, dass
er seiner Familie zurückgegeben und in keiner Weise belästigt würde.
Er musste sich natürlich wieder auf japanische Weise kleiden, das
Haar scheeren und den landesüblichen Schopf drehen lassen.


Der Niagara ging am 19. November nach Yokuhama, traf
dort jedoch zu spät ein, um den Officieren, wie beabsichtigt war,
die Theilnahme an der Einweihung des russischen Denkmals zu
gestatten.


[92]Einweihung des russischen Denkmals. VII.

Der Leser wird sich der im ersten Bande 13) erwähnten Er-
mordung der russischen Seeleute in Yokuhama erinnern, und dass
damals — im August 1859 — die japanische Regierung sich ver-
pflichtete, auf ihre Kosten ein Grabmal für dieselben zu errichten.
Der englische Consul Capitän Howard Vyse hatte auf Ersuchen
der kaiserlich russischen Behörden den Bau des Denkmals über-
wacht und jetzt, nach Vollendung desselben, den preussischen
Gesandten und den Chef des königlichen Geschwaders zur Theil-
nahme an der Feier der Einsegnung mit dem Ersuchen eingeladen,
den Ermordeten durch unsere Seeleute die militärischen Ehren er-
weisen zu lassen. In Folge dessen sandte Graf Eulenburg die Ge-
sandtschafts - Attachés Lieutenants Graf A. zu Eulenburg und
von Brandt nach Kanagava, welche mit dem noch dort weilenden
Attaché von Bunsen als seine Vertreter bei der Feierlichkeit er-
schienen. Commodor Sundewall, welcher mit der Arkona auf der
Rhede lag, beorderte auch Sr. Majestät Fregatte Thetis dahin, und liess
am Morgen des 19. November achtzig Seesoldaten und zweihundert-
zwanzig Matrosen in Yokuhama ausschiffen, die sich am Meeresufer
vor dem japanischen Zollhause unter dem Commando ihrer Officiere
aufstellten. Dort versammelten sich auch die übrigen Theilnehmer
der Feierlichkeit, der französische Geschäftsträger Herr Duchène de
Bellecourt
und die Consuln der Vertragsmächte, sämmtlich in
grosser Uniform, die beiden Attachés Graf Eulenburg und von Brandt
in derjenigen ihrer Regimenter. — Gegen ein Uhr setzte der Zug
sich in Bewegung: voraus das Musikcorps des preussischen
Geschwaders, dann ein Zug Seesoldaten; die preussische Flagge
rechts von der französischen, links von der holländischen cotoyirt;
die englische Flagge mit der amerikanischen und der portugiesischen;
ein Zug Seesoldaten; der englische Consul als Hauptleidtragender,
rechts von ihm der französische Geschäftsträger, links Commodor
Sundewall; dann Capitän Jachmann, die Consuln, die preussischen
Attachés und die nicht in Front stehenden Officiere des Geschwaders;
ein Theil der in Yokuhama wohnenden Ausländer, endlich zweihundert
mit Gewehr bewaffnete Matrosen der Arkona und Thetis.


Das Denkmal liegt am Abhange der westlich das Städtchen
begränzenden Höhe und ist nach einer russischen Zeichnung gebaut:
eine vergoldete Kuppel von vier Säulen getragen, im Grunde ein
Kreuz, davor die Grabsteine mit Inschriften. — Die umliegenden
[93]VII. Der 19. November. Feuer in To-džen-dži.
Hänge waren mit Zuschauern dicht besetzt. Der Zug gruppirte sich
innerhalb des das Denkmal einschliessenden Bretterzaunes um die
daneben aufgepflanzte russische Flagge, zunächst die Diplomaten
und Officiere, ringsherum die Mannschaften, in Linie aufgestellt.
Der Geistliche des preussischen Geschwaders, Prediger Kreyher,
hielt eine Ansprache an die Versammlung und gab dem Denkmal
die christliche Weihe; die Mannschaften präsentirten, und die Flaggen
wurden unter den Klängen der russischen Hymne über die Gräber
gesenkt. Darauf ermahnte noch Herr von Bellecourt in kurzer Anrede
die Ansiedler von Yokuhama zur Geduld und strengen Beobachtung
der Gesetze, damit man vom Vaterlande aus mit um so grösserem
Nachdruck gegen die hier verübten Unbilden auftreten könne, und
zum Schluss dankte Capitän Vyse für die allgemeine Theilnahme. —
Die ganze Feier verlief ernst und würdig und schien diesen Eindruck
auch auf die Japaner zu machen, die ihr in ruhiger angemessener
Haltung beiwohnten.


In Akabane wurde der 19. November, als Namenstag Ihrer
Majestät der Königin Elisabeth, durch ein festliches Mal gefeiert,
zu welchem der Gesandte alle in Yeddo anwesenden Mitglieder der
Expedition an seiner Tafel vereinigte. Während hier die Gläser auf
das Wohl der erhabenen Frau erklangen, war die englische Gesandt-
schaft ein Ort des Schreckens und der Verwirrung. Herr Alcock
hatte in seinem geräumigen Esszimmer einen mitgebrachten eisernen
Ofen setzen und dessen metallenen Rauchfang durch den hölzernen
Plafond und das Dach leiten lassen; die Hausdiener heizten über-
mässig, das Rohr gerieth in Gluth und entzündete die leichte Holz-
decke. Da niemand in das Zimmer kam, so ertönte der Alarmruf
erst, als gegen sechs Uhr der getäfelte Plafond und die Dachsparren
in hellen Flammen standen; das ganze aus dem brennbarsten Kiefern-
holz und Papierwänden bestehende Gebäude schien dem Untergange
geweiht. Aber die japanische Dienerschaft und die Yakunine der
Wache griffen rasch zu; auf den Klang der grossen Tempelglocke
kam auch der Ottona des Viertels mit den Löschmannschaften und
ein vom Gesandten vielfach in Nahrung gesetzter Tischler der Nach-
barschaft mit allen seinen Leuten herbei. Der Eifer war, nach Aussage
der Engländer, grösser als die Besonnenheit der Löschenden; es ging
wild durcheinander, man warf die Ziegel vom Dach und machte dem
Feuer Luft statt es zu ersticken. Zum Glück liegt neben dem Gebäude
ein Teich, so dass die Spritzen in Gang bleiben konnten; man be-
[94]Fürsorge der Japaner. Excesse. VII.
meisterte die Flammen trotz einiger Ungeschicklichkeit, nachdem
sie die Decke des Zimmers und das darüber liegende Dach zerstört
hatten. Der englische Gesandte erhielt bei dieser Gelegenheit von
allen Seiten Beweise der freundschaftlichsten Fürsorge und Dienst-
fertigkeit: ein Bunyo des auswärtigen Ministeriums, der früher mit
ihm verkehrt hatte, warf sich, obwohl eine Stunde entfernt, sofort
auf ein Pferd und jagte zu Hülfe; auch die anwesenden Yakunine
thaten ihre Schuldigkeit und ergriffen die wirksamsten Sicherheits-
maassregeln. Alle Thore wurden gleich bei Entdeckung des Brandes
gegen den Andrang der Volksmenge geschlossen, an den Zugängen
des Esszimmers, wo der Tisch grade gedeckt und reich mit Silber-
zeug belegt war, Wachen mit blankem Säbel aufgestellt, und somit
jeder Ungehörigkeit vorgebeugt; auch kam nicht der kleinste Diebsthal
vor. Herr Alcock, der sonst nicht grade parteiisch für die Japaner
ist, gestand doch bei dieser Gelegenheit, dass ihn der uneigen-
nützige Eifer, die freudige Aufopferung und warme Theilnahme der
Anwesenden reichlich für die ausgestandene Angst, Verluste und
Ungemach entschädigt und mit neuem Vertrauen in seine japanische
Umgebung erfüllt hätten. — Hier aber möge die kleine Episode als
Beweis für den loyalen Charakter der Japaner stehen; denn man
wird nicht leugnen, dass das Innere des Menschen sich am reinsten
da offenbart, wo er unbewacht und unbedacht nach den Impulsen
des Augenblicks handelt.


Die fremden Diplomaten kamen grade um diese Zeit wieder
durch die Ausschreitungen ihrer Landsleute in die unangenehmste
Lage. Die Matrosen des Niagara, welcher einige Tage vor Yokuhama
lag, gingen dort in zahlreichen Abtheilungen auf Urlaub an Land
und verübten mehrfach die gröbsten Excesse. Sie drangen in die
Häuser und misshandelten deren Bewohner, Fremde wie Japaner; der
französische Geschäftsträger wurde auf der Strasse insultirt und ein
japanischer Beamter musste sich mit der blanken Waffe seiner Haut
wehren. Alle Genugthuung, die den Gekränkten werden konnte,
bestand in dem Versprechen des Capitäns, die Schuldigen vor ein
Kriegsgericht zu stellen und nach Gebühr zu bestrafen. — Einige
Tage später gerieth ein Hamburger Handlungs-Commis, dessen
emancipirtes Auftreten den Japanern schon lange verhasst war,
in ernsten Conflict mit der Polizei. Er ging trotz dem allgemein
bekannten Verbote in der Nähe der nach Yeddo führenden Land-
strasse mit einigen Engländern auf die Jagd, und wurde nachdem,
[95]VII. Ausschreitungen der Ansiedler.
er sich von diesen getrennt hatte, auf dem Felde von Polizei-
beamten verhaftet. Man nahm ihm das Gewehr ab, band ihm die
Hände auf den Rücken und packte ihn in eine Sänfte, deren Träger
den Weg nach der Stadt einschlugen. Auf der Landstrasse be-
gegneten ihm aber zufällig seine Jagdgefährten, die sogleich über
die Häscher herfielen, ihn mit Gewalt aus deren Händen befreiten
und im Triumph nach Hause führten.


Deutsche hatten damals überhaupt kein Recht in Japan zu
wohnen und wurden von der Landesregierung nur bis auf Weiteres
geduldet; trotzdem benahmen sich einige — und Kaufleute anderer
Nationen nicht minder — fast wie ein übermüthiger Feind im eroberten
Lande; sie pflegten mit verhängtem Zügel durch die Strassen von
Yokuhama zu jagen als ob ihnen die Stadt gehörte, behandelten die
einheimischen Beamten mit vornehmer Verachtung, und brüsquirten
alle Sitten und Gewohnheiten des Landes. Natürlich sollten die
Consuln und Gesandten ihre eingebildeten Rechte überall gegen die
einheimischen Behörden vertreten, ihnen die angemaasste Stellung
mit Nachdruck vindiciren. — Waren es auch nur wenige aus der
Zahl der Ansiedler, auf welche diese Beschreibung in allen Stücken
passt, so muss man doch leider gestehen, dass deren Betragen von
der grossen Mehrzahl contenancirt wurde; der hochfahrende Ton
war allgemein und unter den obwaltenden Umständen durchaus
unangemessen. Statt den aussergewöhnlichen Verhältnissen der
Erschliessung eines seit über zweihundert Jahren gesperrten Landes
Rechnung zu tragen, statt im Einverständniss mit den Diplomaten
durch kluges rücksichtsvolles Verhalten sich allmälich die richtige
Stellung zu verschaffen und den Verträgen eine sichere Zukunft zu
bereiten, sprach man den Gesetzen des Landes Hohn. Es war all-
gemein bekannt, dass die Jagd in einem Umkreise von zehn Li
um die Hauptstadt — Kanagava und Yokuhama liegen in diesem
Rayon — Regal des Taïkūn ist, und dass jeder Japaner, der dort
das Waidwerk triebe, ohne Umstände hingerichtet würde. Die
Fremden aber jagten weit und breit, ohne auch nur die Landbesitzer
um Erlaubniss zu fragen. Die japanischen Behörden richteten ihren
Einspruch zunächst an die Consuln, welche ihren Schutzbefohlenen
das Jagdverbot wiederholt bekannt machten; man fand das aber in
der Ansiedelung nur lächerlich und verspottete laut die Schwäche
der Diplomaten. Hatten diese nun kein wirksames Mittel gegen die
Willkür ihrer Landsleute in Händen, so musste die japanische
[96]Unbefugte Jagd. VII.
Behörde, um nicht alles Ansehn zu verlieren, wohl selbst mit
Gewalt deren Ausschreitungen unterdrücken. Jagt jemand unbe-
fugter Weise in einem europäischen Lande, so verfällt er dem
Gesetze, und der Jagdhüter, der ihn ertappt, wird sich schwerlich
mit seiner Visitenkarte begnügen. In Japan aber gibt es keinen
Fussbreit herrenlosen Landes, allgemeine Jagdfreiheit besteht
dort ebensowenig als bei uns, und doch sahen die Fremden in
Yokuhama jedes Zurückweisen in ihre Schranken als tödtliche Be-
leidigung an, für das der diplomatische Vertreter Genugthuung, wo
möglich auch Geldentschädigung schaffen sollte. Die Befreiung
jenes Hamburger Commis aus den Händen der Polizei war nach
juristischen Begriffen eine Art Strassenraub, die Japaner waren
darüber heftig erbittert und liessen die grimmigsten Drohungen
laut werden. Vier der Herren Jäger, darunter der Festgenommene,
fühlten sich denn auch auf japanischem Boden ihres Lebens nicht
mehr recht sicher und wanderten mit der nächsten Schiffsge-
legenheit nach China aus, woran sie gewiss sehr wohl thaten.


Ein anderer Zusammenstoss lief bedauerlicher ab. Der englische
Kaufmann M. kam am 27. November gegen zwei Uhr von der Jagd
zurück und zog am hellen Tage, seinen Betto mit dem Gewehr und
einer erlegten Gans hinter sich, durch die Strassen von Kanagava.
Hier kam es zum Conflict mit einigen Polizeibeamten, die sich seiner
versichern wollten; im Gedränge ging der Schrotschuss seiner Flinte
los und zerschmetterte einem der Yakunine den Arm. Herr M.
wurde darauf nieder geworfen, gebunden, und in das nächste Haus
geschleppt, wo man ihm die Fesseln erst regelrecht in sehr schmerz-
hafter Weise anlegte. Die Polizeibeamten scheinen es im Hand-
gemenge auch an Schlägen und Püffen nicht fehlen gelassen zu
haben, was bei dem Widerstande des Gegners sehr erklärlich ist.
Er wurde gegen Abend in einem Boot nach dem Fort von Kanagava
gebracht und dort in einen geräumigen Käfig gesperrt, wo ein
japanischer Arzt seine Schrammen und Beulen bepflasterte. — Dem
englischen Consul machten die japanischen Behörden von der Ver-
haftung nicht die schuldige Anzeige, Capitän Vyse erfuhr sie erst
spät und konnte von dem Vice-Gouverneur von Yakuhama keine
weitere Auskunft erlangen. Dort herrschte unter den Fremden
grosse Aufregung, man trug sich mit den abentheuerlichsten Ge-
rüchten; die Kaufleute befürchteten gleich das Schlimmste, rotteten
sich, mit Revolvern und Flinten bewaffnet, zusammen und mussten
[97]VII. Consularische Jurisdiction.
von den Consuln zur Ruhe verwiesen werden. Diesen blieb nichts
übrig, als noch in der Nacht den Gouverneur von Kanagava auf-
zusuchen; sie konnten aber wegen der späten Stunde keine japa-
nische Escorte erlangen. Capitän Sundewall, der grade mit der
Arkona vor Yokuhama lag, beorderte deshalb zu ihrer Sicherheit
ein armirtes Boot in die Nähe der Gouverneurwohnung, lehnte aber
die Zumuthung, eine grössere Zahl Matrosen zum Schutze der
Ansiedelung auszuschiffen, wozu gar keine Veranlassung war, mit
Bestimmtheit ab. Capitän Vyse begab sich mit dem französischen
Geschäftsträger und dem holländischen Consul zum Gouverneur, um
sein durch den Vertrag verbürgtes Recht auf den Gefangenen zu
vindiciren, konnte aber erst gegen zwei Uhr Morgens dessen Aus-
lieferung erwirken und brachte ihn dann in seiner Amtswohnung
zur Haft.


Die Gefangenhaltung des Herrn M. auf dem englischen Consulat,
wo er nach eigenem Geständniss auf das rücksichtsvollste behandelt
wurde, war nach dem Geschehenen nothwendig, nicht nur um den
Forderungen der Gerechtigkeit zu genügen, sondern auch für seine
eigene Sicherheit; er wäre sonst schwerlich mit dem Leben davon-
gekommen. Die Blutrache ist den Japanern heilig, unter den Yakuninen
herrschte wüthende Erbitterung, der Verwundete und seine Ver-
wandten forderten laut das Leben ihres Feindes. Der Schrotschuss
hatte Jenem den Oberarm vollständig zermalmt; alle englischen und
amerikanischen Aerzte hielten die Amputation für unumgänglich, und
glaubten dass sonst unfehlbar der Brand eintreten müsse. Aber zur
Amputation war die Einwilligung seiner Vorgesetzten in Yeddo und
seiner Eltern in Naṅgasaki erforderlich, die so bald nicht eintreffen
konnte; man musste den Armen seinem Schicksal und der Behand-
lung der japanischen Aerzte überlassen. Glücklicherweise ist das
Blut der Ost-Asiaten nicht so entzündlich wie das unsere: der Brand
trat zum grössten Erstaunen der fremden Aerzte nicht ein, und
wenn auch der Arm verkrüppelt blieb, so wurde der Patient doch
im Uebrigen ganz gesund.


Die Voruntersuchung begann mit der eidlichen Vernehmung
des Angeklagten, dessen Erklärung den übereinstimmenden Aussagen
aller bei dem Auftritt betheiligten Japaner im wesentlichsten Puncte
widersprach. Inculpat gestand, die Hähne seiner Flinte gespannt
und mit der Drohung zu schiessen auf die Yakunine angelegt zu
haben; er hätte sie dann aber abgesetzt und wäre in dem Augenblick
II. 7
[98]Consularische Jurisdiction. VII.
von hinten niedergerissen, das Gewehr ihm entwunden worden und
hinter seinem Rücken in den Händen der Japaner losgegangen.
Diese dagegen behaupteten einstimmig, dass er zielend auf den
Yakunin losgedrückt habe, und darauf erst niedergeworfen und
gebunden worden sei. — Als bemerkenswerth ist zu erwähnen, dass
Herr M. gleich nach seiner Abführung in das englische Consulat
eine Eingabe an den Gesandten in Yeddo richtete, worin er, als
schuldlos und ohne jede Provocation misshandelt, eine Entschädigung
von dreissigtausend Dollars für die erduldeten Aengste, Beulen und
Schrammen forderte. Herr Alcock sollte dieses Schmerzensgeld
sofort von der japanischen Regierung eintreiben. — Statt dessen
ging natürlich der Process seinen Gang. Der Angeklagte war schon
durch die eingestandenen Puncte, die gesetzwidrige Ausübung der
Jagd, das Aufziehen der Hähne und das Zielen mit der Drohung zu
schiessen, nach englischem Rechte schweren Strafen verfallen; er
bestritt nur die Beschuldigung, wirklich losgedrückt zu haben. Die
Japaner aber hielten alle Puncte ihrer Anklage aufrecht und beharrten
auf der Erklärung, dass die gewaltsame Verhaftung nur Folge seines
mörderischen Angriffs gewesen sei. — Als es zum Urtheil kam
gerieth der Richter, Capitän Vyse, mit den beiden Beisitzern, zwei
englischen Kaufleuten aus Yokuhama, in Widerspruch. Letztere
erklärten Herrn M. in allen Puncten für unschuldig, weil das Verbot
zu jagen nur für ein temporäres gegolten habe, weil sie der Aussage
des Angeklagten in allen Stücken glaubten, alle Japaner dagegen
für meineidig hielten; selbst seine Drohung zu schiessen sei nicht
ernstlich gemeint und nur ein erlaubter Versuch der Einschüchterung
gewesen. Der Consul dagegen verurtheilte ihn zur Deportation —
d. h. Verbannung aus Japan — und tausend Dollars Geldbusse. So
ging denn das Urtheil zur Revision an den Gesandten, welcher die
von Capitän Vyse dictirte Strafe zu milde fand und ihr eine drei-
monatliche Gefängnisshaft hinzufügte, mit der Bestimmung, dass die
Strafsumme von tausend Dollars dem verwundeten Yakunin ein-
zuhändigen sei. Die von dem Consul erkannte Strafe wäre in Wirk-
lichkeit gar keine gewesen, denn die Entfernung des Herrn M. aus
Japan war für seine Sicherheit nothwendig, und was die Geldstrafe
betrifft, so hatte eine Anzahl Kaufleute in Yokuhama der englischen
Consularbehörde schon in höhnender Weise zu erkennen gegeben,
dass sie die Summe zusammenschiessen würden. Sie waren über
das Erkenntniss sehr erbittert, sprachen sich in einer Adresse an
[99]VII. Consularische Jurisdiction.
den Verurtheilten, unter Ueberreichung der Strafsumme, in den
stärksten Ausdrücken darüber aus und hoben namentlich hervor,
wie das Jagdverbot täglich selbst von den Mitgliedern der englischen
Gesandtschaft und aller Consulate übertreten worden sei. Die That-
sache ist nicht zu leugnen, aber die daraus abgeleiteten Folgerungen
sind falsch. Wenn die japanische Behörde den Diplomaten die
Jagd aus Courtoisie stillschweigend erlaubte, so folgte daraus
noch keine allgemeine Aufhebung des Verbotes. Solche Deduction
ist gegen alle Rechtsbegriffe: ein Jagdbesitzer, der einen Unberech-
tigten auf seinem Terrain ungehindert jagen lässt, verliert dadurch
nicht das Recht sich jedes anderen Eindringlings zu erwehren. Die
Japaner gestatteten ihrer nationalen Anschauung folgend den Diplo-
maten und Officieren fortwährend eine Menge Dinge, die sich kein
Kaufmann erlauben durfte. Als das Jagen der preussischen See-
officiere den Behörden unangenehm wurde, baten die Bunyo’s den
Gesandten in den höflichsten Formen, unter vielen Entschuldigungen,
sie an das Verbot zu erinnern, worauf es natürlich unterblieb. Die
Consuln dagegen machten den Kaufleuten das Jagdverbot wiederholt
bekannt, ohne dass diese sich daran gekehrt hätten. Die Diplomaten
haben sich nun, um alles Aergerniss zu vermeiden, seit jener un-
glücklichen Begegnung des Waidwerks auch gänzlich enthalten,
obgleich ihnen nie etwas Unangenehmes dabei zustiess. — Herr
Alcock sprach übrigens, indem er einerseits die Strafe verschärfte,
den japanischen Behörden in sehr entschiedenen Ausdrücken das
Recht ab, Europäer auf brutale Weise zu binden und in Formen
festzunehmen, die unsere Begriffe von Menschenwürde verletzen; die
Polizeibeamten sollten angewiesen werden, Verhaftungen künftig
nur in solchen Fällen vorzunehmen, wo die Feststellung des That-
bestandes sie forderte, und sich auch dann nur unter Anwendung
der allernothwendigsten Zwangsmittel der Person des Maleficanten
zu versichern.


Die gerichtlichen Verhandlungen dauerten bis gegen Ende
des Jahres. Anfang Januar 1861 wurde Herr M. an Bord der eng-
lischen Fregatte Impérieuse nach Hoṅgkoṅg transportirt und an
das dortige Criminalgefängniss abgeliefert; seine Freunde aber ver-
anlassten hier eine Revision des Urtheils und es fanden sich Form-
fehler, wegen deren der Gerichtshof der Colonie das Erkenntniss
des Herrn Alcock vernichtete und den Gefangenen freigab, nachdem
er in Hoṅgkoṅg fünf Tage gesessen hatte. Das Gesetz gestattete
7*
[100]Leck der Arkona. VII.
nämlich dem Gesandten im vorliegenden Falle auf Gefängniss und
Deportation oder Geldstrafe zu erkennen; Herr Alcock hatte aber
die Geldstrafe neben Gefängniss und Deportation verhängt. Er
durfte den Inculpaten zu zwölfmonatlichem Gefängniss verurtheilen,
wenn er die Deportation oder die Gefängnissstrafe ausliess, ohne
dass das Urtheil angefochten werden konnte. Durch den began-
genen Fehler aber wurde das Erkenntniss hinfällig; die Strafsumme
musste zurückgezahlt und Herrn M. die Erlaubniss zur Rückkehr
nach Japan ertheilt werden, von der er wohlweislich keinen Gebrauch
machte. Er strengte nun sofort eine Klage gegen Herrn Alcock auf
dreissigtausend Dollars Schadenersatz an, und versuchte, damit
abgewiesen, später noch alles Mögliche bei dem englischen Staats-
Secretär des Auswärtigen, um die Eintreibung dieser Summe von
der japanischen Regierung zu erlangen, aber vergebens. Dagegen
verurtheilte der Colonial-Gerichtshof von Hoṅgkoṅg Herrn Alcock
wegen gesetzwidriger fünftägiger Einsperrung des Inculpaten zu einer
Geldbusse von zweitausend Dollars. Diese Summe hat, soviel dem
Verfasser bekannt wurde, die englische Regierung ihrem Gesandten
in Anerkennung seines Verhaltens ersetzt. Die eigenen Geständnisse
des Angeklagten waren in der That den bestehenden Gesetzen gegen-
über hinreichend seine Verurtheilung herbeizuführen, und diese
musste auch aus politischen Gründen erfolgen. Seine Freisprechung
hätte bei der heftigen Erbitterung der Yakunine zu neuen blutigen
Auftritten, ja zu ernstlichen Gefahren für die ganze Niederlassung
geführt. — Die Jurisdiction übenden Diplomaten sind in der übelsten
Lage, wenn sie für jeden Formfehler mit ihrem Vermögen einstehen
müssen; die Gesetzgebung der meisten europäischen Staaten ist in
diesem Puncte noch weit hinter dem Bedürfniss der Verhältnisse
zurück.


Seiner Majestät Schiffe Arkona und Thetis lagen im November
abwechselnd vor Yeddo und Kanagava; ihre Anwesenheit war in
dieser aufgeregten Zeit der europäischen Niederlassung in Yokuhama
eine grosse Beruhigung. Die Arkona besserte dort ein bedeutendes
Leck aus, das um so grössere Besorgniss erregte, als man bis
dahin seine Lage durchaus nicht hatte entdecken können. Der
Commodore miethete einige Dschunken, um Geschütze und Munition
auszuladen, und als in Folge dessen das Schiff sich hob, zeigte sich
das Leck an den unter dem Wasserspiegel liegenden Ausgussröhren
der Maschine. Man hatte nämlich die kupfernen Rohre mit eisernen
[101]VII. Jubiläum. Die Bunyo’s.
Bolzen an die Schiffswand befestigt, welche, da Eisen in Berührung
mit Kupfer sich rasch verzehrt, keine Sicherheit gewähren. Von
zwölf Bolzen waren zehn gänzlich verschwunden, die beiden letzten
hielten, einen Viertelzoll stark, die Röhre nur noch nothdürftig.
Brachen auch diese auf See, so musste das Schiff sich unfehlbar
mit Wasser füllen und sinken. Die Ausbesserung ging schnell von
statten; schon nach vierzehn Tagen war die Corvette wieder
seefertig.


Am 27. November erlebten wir grosse Freude durch die
Ankunft unserer Briefpackete aus der Heimath; sie hatten endlich,
nachdem wir seit Singapore, also fast vier Monate lang ohne directe
Nachrichten geblieben waren, ihren Weg nach Naṅgasaki gefunden,
und wurden von dort auf Ersuchen des Gesandten durch einen
Boten nach Yeddo befördert. Der Jubel war allgemein; man hatte
einander Tage lang alles Mögliche zu erzählen und Zeitungen voll-
auf. — Ein anderes Freudenfest wurde am 1. December in Akabane
begangen, das fünfundzwanzigjährige Dienstjubiläum unseres ver-
ehrten Gesandten. Wir hatten ihm eine kleine Ueberraschung
dazu vorbereitet, auch die Commandanten der Arkona und Thetis
kamen nach Yeddo, und man verlebte den Tag in der heitersten
Stimmung. Graf Eulenburg glaubte sich durchaus nicht entdeckt
und war von den warmen Glückwünschen seiner Verehrer sehr
überrascht; wir blieben bis spät in die Nacht bei ihm zusammen.


Für unsere Beziehungen zu den japanischen Behörden war
es wenig förderlich, dass Sakaï Oki-no-kami Anfang November von
seinem Posten in der Abtheilung des Auswärtigen abberufen und im
Departement der Finanzen angestellt wurde; seine joviale Unbefan-
genheit machte ihn dem Gesandten immer zu einem angenehmen
Gast und erleichterte wesentlich die Geschäfte. Man sah seine
Versetzung, obgleich sie nach dem japanischen Schematismus eine
Beförderung war, doch als einen milden Act der Ungnade an, denn
die Stellung der Bunyo’s des Auswärtigen gilt für die ehrenvollste.
Vielleicht hatten Sakaï’s Vorgesetzte, denen natürlich alle bei den
Zusammenkünften in Akabane geführten Reden Wort für Wort
hinterbracht wurden, sein expansives Wesen und den vertraulichen
Verkehr mit den Fremden übel empfunden, und entfernten ihn des-
halb vom preussischen Gesandten. Schon am 2. November wurde
seine Versetzung amtlich angezeigt; sein Nachfolger Misogutši
Sanuki-no-kami
, der früher als Gouverneur von Uraga und auch in
[102]Besuche der Bunyo’s. VII.
seiner damaligen Stellung schon vielfach mit Fremden verkehrt hatte,
machte am 13. November seinen Antrittsbesuch in Begleitung unseres
Freundes Hori. Das Gespräch drehte sich um den damals immer
wahrscheinlicher werdenden Untergang des Schooners Frauenlob
und des englischen Kriegsschiffes Camilla, nach denen die Landes-
regierung an allen Küsten vergebens hatte forschen lassen. Auch
ein japanischer Kriegsschooner war in dem letzten Taïfun mit Mann
und Maus versunken. — Hori machte auf die Fragen des Gesandten
noch manche aphoristische Mittheilung über die japanischen Zustände,
aber sein Wesen war, wie von Anfang an, weit zurückhaltender als
das des Sakaï, und das Gespräch kam auch wegen Heusken’s
Abwesenheit nicht recht in Fluss. Dieser unvergleichliche Dolmetscher
pflegte jedes unnöthige Wort zu vermeiden und gab in gedrängter
Kürze immer nur den Sinn der japanischen Rede, von schlagenden
Bemerkungen begleitet, so dass Frage und Antwort sich drängten
und ein lebendiges Gespräch möglich wurde. Er war an diesem
Tage bei Herrn Harris beschäftigt, welchem die aus Amerika zurück-
gekehrten Gesandten ihre Aufwartung machten.


Zu einem längeren Besuch erschien am 4. December Hori
mit dem Ometske allein; Misogutši war schon wieder von seinem
Posten entfernt und zum Commandeur der kaiserlichen Leibwache
erhoben, sein Nachfolger aber noch nicht ernannt worden. Die
Herren überbrachten Geschenke des Taïkūn für Seine königliche
Hoheit den Regenten: zehn Kasten mit weissen und rothen Seiden-
zeugen, — dem schwersten Crèpe, — und zwei Kohlenbecken mit
gewölbten Drathgittern darüber aus silberglänzendem Metall, auf
Untersätzen von feiner Lackarbeit ruhend. Den Gesandten beschenk-
ten die Bunyo’s mit einigen Kleinigkeiten, Bronze und Lacksachen,
und erhielten dagegen Bernstein- und Achatarbeiten, die ihnen viel
Vergnügen zu machen schienen. Ganz erstaunt waren sie aber, als
Graf Eulenburg im Namen des Regenten die in Berlin gefertigte Stempel-
presse zum Druck des kaiserlichen Wappens übergab. Die Japaner
nehmen mit Stolz jedes Zeichen von der Bekanntschaft der Europäer
mit ihrem Vaterlande als einen schmeichelhaften Beweis von dessen
Ruhm und Grösse auf: so schien sie auch unsere Kenntniss von
dem Wappen der Minamoto freudig zu überraschen. Graf Eulenburg
fragte nach dem Namen der Pflanze, deren Blätter das Wappen-
zeichen bilden: Hori nannte sie »Have«, und der anwesende Botaniker,
Regierungsrath Wichura, erkannte darin ein Asarum. Er holte aus
[103]VII. Wappen der Minamoto.
seinem Herbarium ein solches und die Bunyo’s bestätigten seine
Vermuthung; nur gehöre das Blatt des Wappenbildes zu einer
anderen Species als der von Wichura gefundenen. Wie eine so
unscheinbare Pflanze zu der Ehre gekommen ist, das Zeichen des
berühmtesten japanischen Fürstenhauses zu werden, wird eben so
dunkel sein als die Entstehung der alten abendländischen Embleme.
Das Wappen der Minamoto scheint für besonders geheiligt zu gelten:
einige Tage vor dem Besuche der Bunyo’s zeigte der Gesandte die
Presse unserem guten Sebi, dem Lackfabrikanten, und gab ihm
einen Abdruck; Sebi fuhr zurück wie von einer Natter gestochen,
als er das Wappen in seiner Hand sah, verbrannte es sogleich über
dem Kohlenfeuer, legte geheimnissvoll den Finger auf den Mund
und schien sehr erschrocken, — unbegreiflicher Weise, da man das
Bild in vielen japanischen Büchern findet, die in Jedermanns Hand
sind! Oder witterte er Hochverrath? Seine Gebehrden schienen an-
zudeuten dass er unwürdig sei etwas so Heiliges zu berühren. Bald
aber übermannte ihn die Neugierde: nachdem er sorgfältig geforscht,
ob hinter der Tapete kein Landsmann lauschte, ging er schüchtern
an die Presse, besah sie von allen Seiten, machte sich endlich
selbst einen Abdruck und verbarg ihn geheimnissvoll in sein
Taschenbuch.


Unter den Geschenken Hori’s — lauter Kleinigkeiten —
befand sich eine Anzahl niedlicher Puppen, welche er mit dem
Bemerken überreichte, sie stellten seine Kinder dar; der Gesandte
möge sie als Andenken an ihn und als Muster japanischer Trachten
bewahren. — Bei jedem Geschenk lag nach Landessitte ein Stück-
chen getrockneten Fisches, sauber eingewickelt und mit rothen und
silbernen Papierschnüren zugebunden. Dieser Gebrauch wird ver-
schieden gedeutet, gewöhnlich als Erinnerung an die magere Kost
der Vorfahren und als Mahnung zur Einfachheit. Gegenseitiges
Beschenken ist in Japan bei allen möglichen Gelegenheiten üblich,
der jährliche Consum der getrockneten Fische und bunten Schnüre
muss bedeutend sein. Hori sagte auf Befragen des Gesandten, dass
man einander bei allen freudigen Ereignissen und bei Todesfällen
beschenke; der Fisch bedeute einen Glückwunsch und werde bei
Condolationsgeschenken weggelassen. Wie alles Andere, so hat
auch das Schenken in Japan seine festen Formen und Regeln, und
ist zum Theil nur Sache der Convenienz; die Neujahrs-, Hoch-
zeits- und andere Festgeschenke müssen in jedem Stande einen
[104]Gespräche mit den Bunyo’s VII.
bestimmten Werth haben, aus bestimmten Gegenständen bestehen
und unter vorgeschriebenen Formen überreicht werden. Aber auch
aus Herzensneigung und reinem Wohlwollen beschenken die Japaner
einander vielfach, und es darf wohl als Zeichen ihres regen Gemüths-
lebens gelten, dass der Gebrauch so allgemein und beliebt ist. Sehr
hübsch ist folgende Sitte: Jeder der eine Reise antritt, erhält dazu
von allen seinen Freunden nützliche Gaben, und bringt ihnen dafür
Kleinigkeiten mit, die er unterwegs gekauft hat.


Hori überreichte bei diesem Besuch die japanische Ueber-
setzung der Taktik des General von Brandt, in Abschrift, soweit
sie fertig war, für dessen Sohn, den Attaché von Brandt. — Er
hatte immer viel zu fragen und suchte eifrig wissenschaftliche und
practische Belehrung. Der Regierungsrath Wichura musste genaue
Rechenschaft über Ursprung und Bereitung der Cochenille geben.
Wo die Sprache nicht ausreichte griff man zur bildlichen Darstellung:
Hori zeichnete sehr deutlich eine Cactuspflanze auf das Papier,
nachdem Wichura ihm begreiflich gemacht, dass das Cochenille-
Insekt auf solchen lebe; die Japaner ziehen diese südamerikanische
Pflanze häufig in Gärten. — Er fragte auch viel nach den Schiffs-
gebräuchen, der Bedeutung der Morgen- und Abendschüsse, u. s. w.
Selbst früher bei der Artillerie angestellt, hatte er durch das viele
Schiessen am Gehör gelitten, zeichnete ein Höhrrohr auf, das die
Gesandten aus Amerika mitgebracht hatten, und war sehr dankbar
für Mittheilung der bei uns namentlich beim Schiessen aus bedeckten
Räumen üblichen Vorsichtsmaassregel, während der Detonationen
den Mund offen zu halten.


Hori’s Antworten auf die Kreuz- und Querfragen des Ge-
sandten waren meist unklar und unvollständig; er durfte oder wollte
nicht offen sein, obwohl es sich um die unverfänglichsten Dinge
handelte. So gab es nach seiner Aussage in Japan ein organisirtes
Postwesen: Couriere gingen alle Tage von Yeddo nach allen Theilen
des Reiches, das Porto richtete sich nach dem Gewicht der Sen-
dungen; — aber ein Brief von Yeddo nach Kanagava — nur vier
Meilen — sollte drei Itsibu, anderthalb Thaler kosten; das klang
ungereimt. Auf Graf Eulenburg’s Einwurf, dass ein expresser Bote
nur die Hälfte koste, hiess es dann, dass man nach Kanagava
das doch an der grössten Verkehrsstrasse des Reiches liegt — immer
einen besonderen Boten senden müsse; dass Kaufleute sich wohl
zur gemeinschaftlichen Bezahlung eines solchen vereinigten, Männer
[105]VII. Gespräche mit den Bunyo’s.
von Stande aber immer einen eigenen Sendling schickten und drei
Itsibu dafür bezahlten. Ganz unmöglich wäre es nicht und würde
zu manchen anderen Absurditäten passen, wenn die Japaner ihr
»Noblesse oblige« so weit trieben. — Gleich unglaublich klangen
Hori’s Mittheilungen über Capitalien - Anlagen und Zinsfuss:
man zahle vier bis fünf, in manchen Fällen auch zehn Procent
monatlich, der Schuldner mache mit dem Gläubiger einen schrift-
lichen Contract und werde gerichtlich bestraft, wenn er seine Ver-
bindlichkeiten nicht erfülle. — Auf seine Fragen über das Schul-
wesen erhielt Graf Eulenburg die Auskunft, dass es Privat- und
Regierungsschulen gäbe; in letzteren würde kein Schulgeld bezahlt,
doch bedürfe es zur Aufnahme einer besonderen Erlaubniss; —
diese Anstalten scheinen ausschliesslich für Söhne der Samraï
bestimmt zu sein. Wer sich dort auszeichne, werde gleich nach
beendetem Lehrcursus angestellt und besoldet. Ein Schulzwang
bestehe nicht und sei auch nicht nothwendig; die Eltern aller Stände
sorgten aus eigenem Antriebe sehr eifrig für den Unterricht ihrer
Kinder. — Ferner über die medicinische Praxis: sie stehe nicht
unter Aufsicht der Regierung, doch bildeten die Aerzte unter sich
eine Gilde, und müssten vor derselben ein Examen bestehen, um
zur Praxis zugelassen zu werden. — Für die Kenntniss der Landes-
gesetze, namentlich der älteren, trage man in den Schulen Sorge;
die »Gesetze für Kaufleute und Handwerker« — wahrscheinlich
Polizei-Vorschriften — hingen, auf Tafeln geschrieben, in allen
Strassen aus; die für die Samraï pflanzten sich durch mündliche
Ueberlieferung vom Vater auf den Sohn fort; zuweilen hätten
Beamte sich damit beschäftigt, diese Gesetze zu sammeln und auf-
zuschreiben, doch gebe es kein allgemeines Gesetzbuch; alle Straf-
gesetze würden geheim gehalten. — Danach möchte es schwer sein,
sich von der japanischen Rechtspflege einen Begriff zu machen. —
Auch Hori’s Mittheilungen über den Handwerkerstand klangen
ungereimt: es gäbe Zünfte, die Meisterschaft vererbe sich in der
Familie, zuweilen aber würden Meister von der Gilde erwählt, oft
erreiche Einer diese Stellung auch durch sein Vermögen. Jeder
könne ein beliebiges Handwerk ergreifen und für sich oder in der
Gilde arbeiten.


Die Unterhaltung blieb desultorisch und unfruchtbar, doch
mögen Hori’s Angaben viel Wahres enthalten, und deshalb als
Anhaltspuncte künftiger Erkundigungen hier eine Stelle finden. —
[106]Vertrags-Angelegenheiten. VII.
Ueber den Neubau des abgebrannten Taïkün-Palastes theilte er
mit14), dass etwa der siebente Theil noch fehle, und man nicht
hoffen dürfe ihn in diesem (japanischen) Jahre zu vollenden; zwei-
tausend Menschen seien bei den Bauarbeiten und eben so viele mit
Herbeischaffung des Materials beschäftigt; die Arbeit der Zimmer-
leute ginge rasch genug von statten, aber die innere Ausschmückung,
namentlich die Malerei der Wandbekleidungen erfordere viel
Sorgfalt und Geschicklichkeit, und verzögere die Vollendung in
das Ungewisse.


Des Gesandten Befürchtung, dass die Vorfälle in Yokuhama
seine schwachen Aussichten auf Erfolg gänzlich vernichten möchten,
erfüllte sich glücklicher Weise nicht. — Er musste auf die Beant-
wortung seiner Note vom 12. October einen ganzen Monat warten
und während dessen standen die Verhandlungen still; Ando Tsus-sima
schien die angekündigte Rückkehr der japanischen Gesandten aus
Amerika abwarten zu wollen, doch liess der Inhalt seines Schreibens,
welches wenige Tage nach Ankunft des Niagara an Graf Eulenburg
gelangte, auf keine Einwirkung derselben schliessen. Der Minister
bestand darin auf seiner Behauptung, dass die in den Additional-
Artikeln scheinbar gegebenen Versprechungen in Wahrheit nicht
beständen und jedenfalls durch den späteren holländischen Vertrag
ausser Kraft gesetzt wären. Er suchte den Gesandten nochmals
zu überzeugen, dass die Stimmung des Volkes den Vertrag mit
Preussen in diesem Augenblick durchaus nicht gestatte, dass sein
Versprechen, denselben später und zwar zu einem bestimmten
Termin
abzuschliessen, aufrichtig gemeint sei und sicher gehalten
werden solle. Graf Eulenburg selbst hatte im Laufe des November
keine persönliche Zusammenkunft mit dem Minister; dieser äusserte
aber gegen Herrn Harris schon Ende October, die Regierung würde
auch jetzt schon auf einen Vertrag mit hinausgeschobenem Termine
der Wirksamkeit eingehen, wenn sie nur einen Schimmer von Hoffnung
auf die Einwilligung der Amerikaner in die aufgeschobene Er-
schliessung der Häfen hätte. Das war, wie auch aus den Aeusserungen
des Ministers gegen Herrn Alcock erhellte, der Angelpunct seiner
Wünsche und Sorgen: »er hätte dann der öffentlichen Meinung ein
Aequivalent für den preussischen Vertrag zu bieten und würde
weniger beunruhigt sein«. — Graf Eulenburg konnte in seiner
[107]VII. Vertrags-Angelegenheiten.
Rückantwort an die Minister auch keine neuen Argumente anführen,
und betonte nur wieder, unter Berufung auf das Schreiben des
niederländischen General-Consuls, in energischer Sprache das durch
die gegebenen Versprechungen begründete RechtPreussens auf
Gleichstellung mit anderen Grossmächten. Herr Harris hatte erst
am 24. November wieder eine Besprechung mit dem japanischen
Minister, der selbst die Rede auf die preussischen Forderungen
brachte: die Sache sei im Gorodžio vielfach berathen, auch dem
Taïkūn darüber Vortrag gehalten worden, welcher die bestimmte
Weisung ertheilt hätte, vor der Hand auf keine Verhandlungen
einzugehen. Diese Aeusserung bezeichnete wohl nur die Meinung der
herrschenden Parthei, welche den unmündigen Kaiser nach ihrem
Willen leitete. Herr Harris beantwortete sie im Einverständniss
mit dem preussischen Gesandten durch den Vorschlag eines Ver-
trages, welcher den Deutschen den Verkehr in Yokuhama, Naṅgasaki
und Hakodade gestattete, dagegen die Eröffnung der übrigen
Häfen gar nicht berührte. Solche Fassung würde beweisen, dass
ein europäischer Staat sich schon von der Billigkeit der japanischen
Wünsche in Betreff dieser Häfen überzeugt habe, und die auf hin-
ausgeschobene Erschliessung von Yeddo, Osaka u. s. w. zielenden
Bemühungen der Regierung bei den anderen Mächten unterstützen.
Der Minister warf gleich ein, dass die Clausel der meistbegünstigten
Nation ja doch die Preussen zum Verkehr in jenen Häfen be-
rechtigen würde, wenn die Verhandlungen mit den anderen Mächten
fehlschlügen; könne aber Herr Harris die Einwilligung seiner Re-
gierung in die aufgehobene Eröffnung versprechen, so wolle er die
Angelegenheit nochmals vor das Gorodžio bringen. Das konnte
der amerikanische Minister-Resident natürlich ebensowenig als der
englische Gesandte; er weigerte sich auch, dem Grafen zu Eulen-
burg
eventuel einen Vertrag vorzuschlagen, der erst nach zehn bis
funfzehn Jahren in Kraft träte. Ando Tsus-sima schien bei dieser
Zusammenkunft Herrn Harris persönlich viel gefügiger als sonst,
versprach auch schliesslich die Sache dem Reichsrathe nochmals
vorzulegen und spätestens binnen zehn Tagen eine entscheidende
Antwort zu geben.


Die widerwärtigen Conflicte in Yokuhama gegen Ende des
Monats bestärkten natürlich die japanische Regierung in ihrem
Verlangen, die Freigebung anderer Häfen möglichst weit hinaus-
zuschieben: ein Gespräch des englischen Gesandten mit dem Minister
[108]Aussichten zum Vertrags-Abschluss. VII.
drehte sich lediglich um diesen Punct. Er rieth demselben als
Mittel, die Einwilligung der betreffenden Mächte zu erlangen, die
strengste Befolgung der Verträge in allen übrigen Puncten und
wohlwollendes Entgegenkommen gegen die Fremden überhaupt,
das sich auch im Abschluss eines neuen Handelstractates mani-
festiren würde. Ando Tsus-sima fragte darauf, ob, wenn Japan
die Wünsche Preussens, Belgiens und der Schweiz erfüllte, England
die Verbreitung eines Manifestes an alle übrigen Mächte vermitteln
wolle, dass der Taïkūn in den nächsten Jahren unter keiner Be-
dingung weitere Verträge schliessen werde. Er schien auch Herrn
Alcock gefügiger als früher, und geneigt, sich lieber unseren For-
derungen zu bequemen, als alle Aussicht auf die Erfüllung seines
Wunsches zu verschliessen; doch führte das Gespräch, in welchem
die preussischen Interessen eben nur beiläufig berührt wurden, zu
keinem bestimmten Resultat.


Der Minister scheint Herrn Harris, welcher sich in seinem
langen Verkehr mit den japanischen Behörden deren besondere
Achtung erworben hatte und auch von dem preussischen Gesandten
in das Vertrauen gezogen worden war, für den passendsten Ver-
mitteler seiner definitiven Vorschläge angesehen zu haben. Er lud
denselben auf den 6. December zu einer Besprechung ein und er-
öffnete ihm, dass bei nochmaliger Erwägung der preussischen Anträge
im Gorodžio die Majorität gegen Bewilligung des Tractates, er
selbst aber mit einer starken Minorität für dieselbe gestimmt habe; die
Sache sei darauf dem Taïkūn zur Entscheidung vorgelegt worden,
welcher sich im Sinne der Minorität ausgesprochen und befohlen
habe, den Vertrag unter Modificationen zu schliessen, welche geeignet
wären, bei den anderen Mächten die aufgehobene Eröffnung der
Häfen zu erwirken. Bedingungen des Vertrages seien, dass derselbe
erst nach fünf Jahren in Kraft träte, dass Preussen kein Recht
haben sollte einen diplomatischen Vertreter mit dem Wohnsitz in
Yeddo zu ernennen, und dass der japanischen Regierung vorbehalten
bliebe, die Ausfuhr von Landeserzeugnissen aller Art zu verbieten,
wenn dieselbe ein vernünftiges Maass überschritte. Herr Harris
lehnte jede Vermittelung unter diesen Bedingungen ab; denn obgleich
fünf Jahre in dem Leben einer Nation nur eine kurze Frist seien,
so werde doch Preussen unter den obwaltenden Umständen solche
Zurücksetzung eben so unverträglich mit seiner politischen Ehre
finden, als die Verzichtleistung auf das Recht der diplomatischen
[109]VII. Bedingungen des Vertrages.
Vertretung in der Hauptstadt. Die Besorgniss, dass zeitweise zu
grosse Massen japanischer Producte exportirt werden könnten,
theile er nicht; sollte dieser Umstand einmal eintreten, so wäre es
der Landes-Regierung auch nach den bestehenden Verträgen un-
benommen, Ausfuhrverbote zu erlassen, wie das auch bei den
westlichen Völkern in besonderen Fällen geschähe. Graf Eulenburg
werde sich nur zu einem Tractate verstehen, welcher bis auf Weg-
lassung der jene Häfen betreffenden Stipulationen mit allen übrigen
gleichen Inhalt hätte, und er schlage vor, denselben erst nach Aus-
wechselung der Ratifications-Urkunden in Kraft treten zu lassen. —
Der Minister scheint mit weitergehenden Vollmachten versehen
gewesen zu sein als er anfangs zugab; er erklärte sich auf die
dringenden Vorstellungen des Herrn Harris nach einigem Sträuben
bereit, den Vertrag auf folgenden Grundlagen zu schliessen:


  • 1. Preussen erhält das Recht der diplomatischen Vertretung
    in Yeddo.
  • 2. Die Häfen von Naṅgasaki, Yokuhama und Hakodade
    werden den preussischen Schiffen und Unterthanen ge-
    öffnet.
  • 3. Preussen wird aller Rechte theilhaft, welche jemals der
    meistbegünstigten Nation zugestanden werden.
  • 4. Der Vertrag tritt in Wirksamkeit mit Auswechselung der
    Ratifications-Urkunden.

Ando Tsus-sima bat nun Herrn Harris, dem Gesandten sofort seine
Bereitwilligkeit zur Unterhandlung auf diesen Grundlagen mitzu-
theilen, und äusserte zugleich den Wunsch, nun auch die ver-
sprochenen Verträge mit Belgien und der Schweiz zu schliessen.
Er wollte dann ein Manifest erlassen, dass Japan weiter mit keinem
anderen Volke in Verbindung treten werde, und dasselbe an die
Regierungen aller Vertragsmächte mit der Bitte senden, ihm die
möglichste Verbreitung bei den Nachbarstaaten zu geben.


Herr Harris erschien gleich nach der Conferenz in Akabane,
wo seine Mittheilungen grosse Freude erregten. Graf Eulenburg
gab den genannten Vorschlägen seine volle Zustimmung und liess
den Minister sogleich davon unterrichten. Drei Monate lang hatte
die trübe Aussicht, seine Mission in Japan gänzlich scheitern zu
sehen, auf dem Gesandten gelastet; er hatte in dieser Zeit kein
erlaubtes Mittel unversucht gelassen und zuweilen sehr ungern sogar
eine Sprache geführt, welcher thätigen Nachdruck zu geben kaum
[110]Ankunft der »Elbe«. VII.
in seiner Macht stand; die Fruchtlosigkeit aller Bemühungen und
die traurige Aussicht unverrichteter Sache heimzukehren drückten
sichtlich sein Gemüth. Jetzt endlich erheiterte sich der Gesichts-
kreis, und die Hoffnung, seine Entschlossenheit und Ausdauer
belohnt zu sehen, wirkte freudig belebend. Der Gedanke, die auf-
zuschiebende Eröffnung der Häfen als Basis seiner Operationen zu
benutzen, gehörte ihm allein, konnte aber unter den obwaltenden
Verhältnissen nur mit Hülfe der anderen Gesandten verwirklicht
werden. Alle haben diese Hülfe mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit
geleistet und sich dadurch ihren preussischen Collegen zu bleibendem
Danke verpflichtet; als besonders erfolgreich muss aber das Auf-
treten des Herrn Harris bezeichnet werden, dessen Stellung in
Yeddo ihn vor Allen zum Amte des Vermittlers befähigte.


An demselben Tage mit diesem willkommenen Besuche erhielt
Graf Eulenburg eine Mittheilung von Ando Tsus-sima-no-kami,
dass dessen College Wakisaka Nakatsu-Kasa-no-Tayu, welchen
er niemals gesehen, aus Gesundheitsrücksichten sein Amt nieder-
gelegt habe. — Am 3. December war die »Elbe« vor Yokuhama
eingetroffen.


[[111]]

VIII.
DIE FAHRT DER ELBE VON SINGAPORE NACH YEDDO ÜBER
HOṄGKOṄG, FORMOSA UND NAṄGASAKI.

VOM 4. SEPTEMBER BIS 3. DECEMBER 1860.


Das königliche Transportschiff Elbe blieb, wie im ersten Abschnitt
dieses Berichtes erwähnt wurde, nothwendiger Reparaturen wegen
in Singapore zurück, als Sr. Majestät Schiffe Arkona, Thetis und
Frauenlob im August die Reise nach Yeddo antraten. Der Comman-
dant Lieutenant z. S. I. Cl. Werner hatte den Befehl, mit seinem
Fahrzeuge möglichst bald dahin nachzukommen, oder, wenn der
herrschende Nord-Ost-Monsun diese Reise unmöglich machte, in
den Hafen von Hoṅgkoṅg einzulaufen und dort weitere Befehle
abzuwarten. — Die Reparaturen waren am 27. August beendet; ein
Theil der Schiffsmannschaft lag aber an Fiebern krank, welche um
diese Jahreszeit in Singapore zu herrschen pflegen; die Elbe konnte
deshalb erst am 4. September in See gehen. Als Passagiere befanden
sich die Kaufleute Herren Jakob, Grube und Commercienrath Wolf
an Bord.


Die Fahrt war von Anfang an sehr mühselig; der Südwest-
Monsun wehte zwar noch, aber so schwach, dass in den ersten
vierzehn Tagen der Reise durchschnittlich nur je achtzig Seemeilen
zurückgelegt wurden. Am 17. September — das Schiff befand sich
mitten im Chinesischen Meere zwischen Haïnan und der Nordspitze
von Luzon — setzte der Wind plötzlich um und wurde sehr heftig.
Das starke Fallen des Barometers liess das Nahen eines Taïfun’s
vermuthen; der Commandant segelte deshalb, den Nordost-Sturm
benutzend, eine Zeit lang nach Südwest, dann, sobald die veränderte
Windrichtung es erlaubte, nach Norden. Er wehte die ganze Nacht
zum 18. durch gewaltig und am folgenden Morgen nur wenig
schwächer. Der Sturm bezeichnete das Umsetzen des Monsuns,
der von jetzt an stätig und heftig aus Nordosten blies. Lieutenant
[112]Die Elbe. Hoṅgkoṅg. Formosa. VIII.
Werner versuchte noch einige Tage vergebens dagegen anzukreuzen,
entschloss sich aber endlich, nach Hoṅgkoṅg zu segeln und ging
am 21. September auf der Rhede von Victoria zu Anker. Dort blieb
die Elbe beinah sechs Wochen. Die kaufmännischen Mitglieder der
Expedition benutzten diese Zeit um die Waarenproben des Zollvereins
vorzulegen und die Handelsverhältnisse der südchinesischen Häfen
zu erforschen. Als gegen Ende October Lieutenant Werner den
Befehl erhielt, nach Naṅgasaki zu segeln, schifften die Herren Jakob
und Commercienrath Wolf die Waarenproben aus und begaben sich
damit zur weiteren Verfolgung ihrer Zwecke nach Shanghai. Herr
Jakob reiste von da später auf einem englischen Dampfer nach
Japan und traf kurz vor Abfahrt des Geschwaders in Yokuhama
ein. Der Commercienrath Wolf dagegen setzte auf eigene Hand
seine Reise fort und kam mit der preussischen Expedition in keine
weitere Berührung.


Am 1. November segelte die Elbe von Hoṅgkoṅg ab. Der
Monsun, welcher in den ersten Wochen nach seinem Einsetzen
immer am stärksten weht, war schon schwächer geworden; man
hatte jedoch gegen hohen Seegang zu kreuzen, bekam erst am
6. November die Südspitze der Insel Formosa in Sicht und gerieth
dann in starke Gegenströmungen. Statt vorwärts zu kommen trieb
das Schiff, welches bei gefüllten Segeln gute Fahrt zu machen schien,
beträchtlich zurück, und befand sich am 9. eine weite Strecke
westlich von dem am 6. November erreichten Puncte. Es gelang
dann unter den Schutz des Landes zu gehen und bis zur Südspitze
hinaufzukreuzen. Dort aber blies der Elbe ein so heftiger Nordost-
Sturm entgegen, dass der Commandant sich entschloss, in einer
ringsum von hohem Lande geschützten Bucht Anker zu werfen.


Da das Ende des Sturmes abgewartet werden musste, so
beschloss Lieutenant Werner einen Jagdzug, bemannte die Gig mit
mit sechs Matrosen und liess sich nebst seinen drei Jagdgefährten
an den Strand rudern. Zwei Matrosen mit Zündnadelbüchsen wurden
zur Bewachung des Bootes zurückgelassen, während sich die übrige
Gesellschaft in zwei Abtheilungen nach verschiedenen Seiten auf
den Weg machte.


Das Sandufer war am Landungsplatze dreissig bis vierzig
Schritt breit und von dichtem Waldgestrüpp gesäumt. Die Jäger
hatten sich kaum von dem Boote entfernt, als aus dem Gebüsch
[113]VIII. Begegnung auf Formosa.
ein Schuss und bald darauf noch mehrere fielen. Ein Matrose schrie,
er sei getroffen, die Kugel prallte aber ohne ihn zu schädigen an
einem Messer ab, das er im Gürtel trug. Während nun zwei von
den Seeleuten den Befehl erhielten, das Boot in Bereitschaft zu
setzen, zerstreuten sich die übrigen Schützen am Ufer entlang in
einer Tirailleurlinie. Alsbald fiel noch ein Schuss; die Kugel streifte
dem schon vorher getroffenen Matrosen den Hemdkragen, und man
gab eine volle Salve auf die Stelle wo der Pulverdampf aus dem
Gebüsche aufstieg. Gleich darauf pfiffen wieder zwei Kugeln zwi-
schen den Jägern hin, welche dann ihre Büchsen nochmals auf die
Stellung der Angreifer abschossen. Das feindliche Feuer hörte nun
auf und Lieutenant Werner nahm den Augenblick wahr, um mit
seinen Gefährten das Boot zu besteigen und vom Lande abzustossen.
Kaum waren sie einige hundert Schritte entfernt, als vier Männer
aus dem Gebüsch traten, hohe braunrothe Gestalten mit langem
schwarzem Haar und bis auf einen Schurz um die Hüften nackt;
sie trugen Luntenflinten in der Hand und waren von einem grossen
Hunde begleitet. Der Commandant liess jetzt auf sie Feuer geben;
die Entfernung betrug etwa fünfhundert Schritt, die Schwankungen
des Bootes erschwerten das Zielen, und nur dem Hunde wurde ein
Bein zerschmettert. Drei der Wilden, denen die Kugeln um die
Ohren gesaust hatten, warfen sich jetzt zur Erde; der vierte dagegen
blieb stehen und wurde das Ziel einer letzten Salve. Er sprang,
als die Schüsse fielen, hoch in die Luft, und stürzte dann anschei-
nend leblos zur Erde.


Die Jäger fuhren jetzt an Bord zurück. Da die Elbe
grade mit ihrer Breitseite nach dem Lande zu lag, so beschloss
Lieutenant Werner hier seine rückständige Schiessübung vorzuneh-
men und ersah sich als Ziel die durch die Bäume schimmernden
Hütten der Eingeborenen. Schon nach dem dritten Kanonenschusse
zeigte sich eine grosse Menge Menschen, darunter viele Weiber und
Kinder, welche, Kühe und Ochsen treibend und hinter deren Leibern
Deckung suchend, nach dem höher gelegenen Plateau flüchteten. Sie
mussten eine Strecke weit den ungeschützten Strand passiren, be-
fanden sich dabei grade in der Schusslinie der Elbe und hätten
durch Kartätschen vollständig aufgerieben werden können. Lieute-
nant Werner begnügte sich aber noch einige Vollkugeln in ihr Dorf
zu senden und stellte dann das Feuer ein.


II. 8
[114]Die Elbe in Naṅgasaki. VIII.

Bei Einbruch der Nacht loderten auf allen Höhen Signal-
feuer, und der Commandant liess Vorbereitungen zur Abwehr
eines Bootsangriffs treffen; es blieb aber Alles ruhig, und auch
am nächsten Tage zeigte sich kein Eingeborener am Strande. —
Bekanntlich ist dieser Theil und die ganze Ostseite der Insel von
wilden Stämmen bewohnt, während die westliche Küste unter chine-
sischer Herrschaft steht.


Am folgenden Tage legte sich der Sturm, und das Schiff
ging in See. Am 16. November verlor man die Küste von Formosa
aus den Augen, am 20. kamen die Goto-Inseln in Sicht und am
Abend desselben Tages wurde am Eingange der Bucht von
Naṅgasaki
, unter dem Papenberge Anker geworfen. Da der Com-
mandant wohl ahnte, dass die japanischen Behörden seinem Ein-
laufen Hindernisse bereiten würden, so bestieg er sogleich die Gig und
fuhr nach der Stadt, um Bugsirboote zu bestellen, brachte dort
auch, um allen Erörterungen auszuweichen, die Nacht zu. Unter-
dessen kamen Regierungsbeamte an Bord, erkundigten sich nach
der Nationalität und anderen Eigenschaften des Schiffes, und liessen
ein Hafenreglement zurück, in welchem aller Verkehr mit dem Lande
untersagt und die weiteren Bestimmungen von der Entscheidung des
Statthalters abhängig gemacht waren. Am anderen Morgen wurde
die Elbe bei Tagesanbruch in den Hafen bugsirt, und lag schon
gegen 7 Uhr vor Desima. Die Beamten welche jetzt wieder an
Bord erschienen, brachten das Ersuchen des Statthalters den Hafen
von Naṅgasaki sogleich zu verlassen, da Preussen mit Japan noch
keinen Vertrag habe. Der Commandant musste ablehnend antworten,
da der Befehl des Commodore ihm vorschrieb, hier neue Bestim-
mungen abzuwarten; er wies auch die Zumuthung ab, keinen Ver-
kehr mit dem Lande zu haben, versprach jedoch, dass ausser seinem
eigenen kein Schiffsboot mit der Stadt communiciren, aller übrige
Verkehr aber durch die Boote der japanischen Regierung vermittelt
werden sollte. Die Beamten schienen zufriedengestellt, waren über-
haupt sehr höflich und schieden in der freundschaftlichsten Weise.
Der Commandant wollte bald darauf dem Statthalter seine Aufwar-
tung machen, erhielt aber, als er sich eben dazu anschickte, die
aus Yeddo eingetroffene Ordre des Geschwaderchefs, mit seinem
Schiffe schleunigst dahin abzugehn. So dauerte die Anwesenheit
der Elbe vor Naṅgasaki nur wenige Tage; ihre Besatzung sagte der
[115]VIII. Die Elbe vor Yokuhama.
schönen Bucht mit schwerem Herzen Lebewohl, hatte aber nach
fünf Monaten die Genugthuung, wieder dahin zurückzukehren und in
vierwöchentlichem Aufenthalt alle ihre Herrlichkeiten nach Herzens-
lust zu geniessen.


Die Fahrt nach Yeddo bot weiter nichts Bemerkenswerthes,
man kreuzte zuerst gegen schwachen, dann gegen heftige und wech-
selnde Winde. Am 27. November wurde Cap Tschitschakoff umschifft,
und am 3. December Abends vor Yokuhama Anker geworfen.


8*
[[116]]

IX.
YEDDO.

VOM 7. DECEMBER 1860 BIS 1. JANUAR 1861.


Der Winter machte sich mehr und mehr geltend und der Aufenthalt
in unserem Papierhause war minder angenehm als früher; wir mussten
unsere Zimmer mit Kohlenbecken heizen die oft abscheulichen Dunst
verbreiteten. Die Hausdiener wurden zwar angewiesen die angezün-
deten Kohlen im Freien erst durchzuglühen ehe sie die Becken her-
einbrachten, — aber wer hatte Geduld darauf zu warten! Man
konnte häufig nur wählen zwischen eisiger Kälte und Kopfschmerzen.
Das Wetter war, namentlich in der ersten Hälfte des Monats,
äusserst veränderlich: oft Regengüsse und Sturm, dass Tage lang
jede Verbindung mit den Schiffen aufhörte; dann wieder leichte
Nachtfröste bei klarem Himmel und bei Tage strahlender Sonnen-
schein, so dass man im Freien sitzen und sich im Frühling wähnen
konnte. Gegen Ende des Monats wurde es ernstlich kalt: am Morgen
des 22. stand das Quecksilber des Réaumurschen Thermometers zwei
Grad, am 23. fünf Grad unter Null; der Boden war hart gefroren
und thaute, bei hellem Sonnenschein, im Schatten den ganzen Tag
nicht; auf den Pfützen zolldickes Eis. Später gab es auch Schnee
der liegen blieb, so dass im Hofe von Akabane grosse Schneemänner
gemacht und Schlittenfahrten improvisirt werden konnten. Wir
warfen uns dort weidlich mit Schneeballen und schonten selbst der
Japaner nicht; Yakunine, Diener und Krämer wurden mit einem
Hagel davon überschüttet, wo sie in unseren Bereich kamen, und
nahmen den Scherz so gut auf wie er gemeint war, ohne ihn jedoch
zu erwidern. Sie schienen an der Berührung des kalten Schnees
mit den Händen keinen Geschmack zu finden und machten sich
meist lachend aus dem Staube. Die Japaner sahen in den kalten
Tagen überhaupt etwas jämmerlich und erfroren aus; sie bedeckten
die Köpfe mit dicken Kapuzen, und watschelten, in viele Röcke
[117]IX. Winterwetter. Ausflug.
gehüllt, auf hohen Holzpantinen sehr unbeholfen durch den Schnee.
Der Frost ist bei ihnen zu selten und dauert zu kurze Zeit, — in
Yeddo nur wenige Tage im December und Januar, — als dass sie
sich darauf einrichten und für Wintervergnügen recht empfänglich
werden sollten. Wir erlebten dort einen aussergewöhnlich rauhen
Winter. Es war so ächtes Weihnachtswetter wie man in Nord-
deutschland
nur finden kann, bald hell und kalt, bald schwere
Schneeluft; dann wieder einige Stunden Thauwetter und unergründ-
licher Schmutz. So währte es bis in das neue Jahr hinein; wir
hatten noch öfter fünf Grad Kälte Morgens und häufig Schnee-
gestöber. Es ist ein sonderbarer Anblick wenn der Schnee faust-
hoch auf den breiten Blättern der Fächerpalme, auf Bambus und
knospenstrotzenden Camelien liegt, bezaubernd wenn die Sonne die
fetten glänzenden Laubmassen bescheint, und tausend Wassertropfen
demantglitzernd durch den tiefen Sammetschatten der belasteten
Zweige herabträufeln.


Einer der köstlichsten Tage war der 15. December, an wel-15. Dec.
chem Graf Eulenburg Herrn Harris und dem amerikanischen Consul
in Kanagava Mr. Dorr, in Senzoko ein Frühstück gab. Capitän
Jachmann, Heusken und alle Bewohner von Akabane nahmen daran
Theil. — Die Zug- und Strichvögel aus dem Norden hatten sich
eingefunden: auf der Reisstoppel lagen grosse Heerden wilder Gänse,
Kraniche und Reiher schritten gravitätisch durch die Wasserlachen,
und der See wimmelte von wilden Enten. Wir machten einen
Spatziergang rings um das friedliche Becken und besuchten den
Sinto-Tempel drüben in seinem schattigen Hain 1); dann wurde auf
der kleinen Halbinsel vor dem Buddatempel das Frühstück wie
gewöhnlich vor einem grossen Publicum eingenommen. Wir tafelten
in der heitersten Laune, während die begleitenden Yakunine sich
an einigen Flaschen rheinischen Schaumweines, einer Gabe unseres
Wirthes letzten, welche ihren Lebensmuth zur höchsten Erregung
steigerte: sie schlugen auf dem Rückweg wild auf ihre Rosse los
und tummelten sie jauchzend wie toll gegeneinander. In einem engen
Hohlwege begegnete uns ein langer Zug Lastpferde mit Fässern
flüssigen Düngers: gegen ein solches prallte einer der übermüthigen
Reiter, in wilder Hast daherjagend, mit voller Gewalt an, ritt das
Lastpferd, dabei aber auch sich selbst und sein eigenes Thier über
den Haufen und wurde von den platzenden Fässern mit einer duftenden
[118]Ausflug. Abende in Akabane. IX.
Fluth übergossen. Er verschwand natürlich aus dem Gefolge, stellte
sich aber bald, rein gewaschen und in der besten Laune, in Akabane
wieder ein, und war nicht wenig erfreut als der Gesandte, der sich
als intellectuellen Urheber des Missgeschickes ansah, den Schaden
an seinen Staatsgewändern gut machte. Lächerlicher Weise begegnete
ein gleiches Unglück an einer anderen Stelle der Strasse dem Photo-
graphen der Expedition, einem ungeübten Reiter, dessen Pferd auf
dem Heimwege mit ihm durchging. — Nach Akabane zurückgekehrt
hatten wir die unverhoffte Freude Briefe aus der Heimath vorzufinden,
nachdem uns den Tag vorher das Eintreffen eines nur Zeitungen ent-
haltenden Packetes bitter getäuscht. Beide Sendungen kamen mit
dem englischen Kriegsschiff Pioneer an. — Es war ein froher,
festlicher Tag, trotz dem übelen Geruch in den er sich setzte.


Wir waren in Akabane den ganzen Monat durch in der heiter-
sten, oft in ausgelassener Stimmung. Die allseitige Verehrung für
unseren Chef, die, im Stillen wachsend, sich bei dem frohen Feste
des 1. December Luft gemacht hatte, seine eigene heitere Laune
und eingehende Theilnahme an der Person und den Bestrebungen
aller seiner Begleiter, die guten Aussichten auf diplomatischen Erfolg,
für Manche, die in Yeddo nicht hinreichend beschäftigt waren oder
Heimweh hatten, die Aussicht der Abreise, die ja ein Schritt zur
Heimkehr war, die vielen Briefe aus der Heimath, — wir erhielten
am Weihnachtstage und abermals am 27. und am 30. December
Posten, — das frohe erinnerungsreiche Fest und die stärkende Win-
terluft wirkten belebend auf alle Gemüther. Die langen Abende
beschwerten uns wenig; man versammelte sich nach Tisch in den
Empfangsräumen des Gesandten, wo auch Heusken selten fehlte;
häufig wurde der grosse Plan von Yeddo vorgeholt, der so genau
und ausführlich ist, dass wir unsere Wege Strasse für Strasse
darauf verfolgen konnten; man machte Pläne zu neuen Ausflügen
um die ungeheure Stadt nach allen Richtungen kennen zu lernen,
theilte sich die Erlebnisse des Tages mit, oder zeigte einander und
verglich die Einkäufe, welche bei der Mannichfaltigkeit der Landes-
producte bis zuletzt grosses Interesse behielten. Namentlich kamen
immer schönere Stücke kunstreicher Metallarbeit zum Vorschein,
nach denen Einige mit zunehmender Localkenntniss die entferntesten
Kaufläden fast leidenschaftlich durchsuchten. — Unsere Politiker
bewegten lebhaft die Ereignisse in Italien und die wachsende Span-
nung der amerikanischen Staaten, bedeutsame Neuigkeiten, die wir
[119]IX. Besuche. — Hydrographische Arbeiten.
nicht wie zu Hause Schluck für Schluck, sondern fassweise auf-
gestapelt in mehrwöchentlichen Zeitungsstössen erhielten; — und das
wichtige Stück ostasiatischer Geschichte, das sich eben in unserer
Nähe abgewickelt hatte, ward zur verkörperten Anschauung durch
die anziehende Berührung mit Persönlichkeiten, welche in diesem
Drama die ersten Rollen spielten. — Es gab die Fülle europäischer
Besuche. Zu Anfang des Monats war Herr Harkort, damals Chef
eines der ersten deutschen Handlungshäuser in Shanghaï, welcher
viel Bemerkenswerthes über China mitzutheilen wusste, einige Tage
lang Gast des Gesandten in Akabane. Den 14. traf der niederlän-
dische General-Consul Herr De Witt mit der Kriegsbrigg Cachelot
von Naṅgasaki ein. Den 18. kam der Oberbefehlshaber der eng-
lischen Armee in China, Sir Hope Grant mit Lady Grant und seinem
Stabe, den 23. die französischen Kriegsschiffe Renommée und Monge
mit dem Vice-Admiral Page, der in Kanagava Herrn von Bellecourt
aufgenommen hatte und mit ihm in Yeddo sehr feierlich landete.
Einhundertfunfzig bewaffnete Matrosen geleiteten die Herren vom
Landungsplatze nach Sakaidži, dem Sitze der Gesandtschaft. — Dann
endlich langte Rear-Admiral Jones mit einem Theile des englischen
Geschwaders an, so dass eine ganze Flotte preussischer, englischer,
französischer und holländischer Kriegsschiffe im Golfe von Yeddo
versammelt war.


Von den preussischen Schiffen lag gewöhnlich das eine vor
der Hauptstadt, das andere vor Yokuhama. Die Unzulänglichkeit
der Karten dieser Gewässer veranlasste den Chef des preussischen
Geschwaders zu Anordnung ausgedehnter hydrographischer Arbeiten,
welche unter Leitung der Marine-Officiere Herren von Schleinitz
und Butterlin mehrere Monate hindurch mit grossem Eifer betrieben
wurden. Genaue astronomische Ortsbestimmungen an der Küste
bildeten den Ausgangspunct der Aufnahmen, die sich auf den ganzen
inneren Golf und die Einfahrt in denselben bis südlich von Cap
Kamisaki
erstreckten. Viele hunderte von Peilungen und Lothungen,
welche zum Theil unter grossen Beschwerden von Wind und Wetter
ausgeführt wurden, setzten Lieutenant Butterlin in Stand, die Küsten-
linie und die Meerestiefe aller Theile dieser Gewässer mit grosser
Genauigkeit niederzulegen und eine Seekarte davon zu entwerfen,
welche nach Rückkehr des Geschwaders von der königlichen Admi-
ralität publicirt worden ist. Um auch den östlichsten Yeddo gegen-
überliegenden Winkel des Golfes in den Bereich dieser Aufnahmen
[120]Hydrographische Arbeiten. IX.
zu ziehen, ging Capitän Sundewall Anfang December mit der Arkona
hinüber. Das Erscheinen des grossen Kriegsschiffes machte dort
die grösste Sensation; die Bewohner der Küstenorte hatten niemals
Europäer noch deren Fahrzeuge zu Gesichte bekommen, und sam-
melten sich in hunderten von Booten unter freudiger Begrüssung
um das Schiff. Der Commodor erlaubte ihnen, zur näheren Be-
friedigung ihrer Neugier truppweise an Bord zu kommen, wo
dann ihr ergötzliches Staunen auf das höchste stieg. Ihre Dank-
barkeit äusserte sich practisch in kleinen Geschenken, welche sie
der Mannschaft aufzudrängen suchten, und als die Officiere bald
darauf mit einigen Booten landeten, in der gastfreundlichsten Auf-
nahme. Sie packten den Leuten sogar die Boote voll Hühner, Enten
und sonstiger frischer Lebensmittel und waren zur Annahme einer
Zahlung durchaus nicht zu bewegen. Der Besuch schien ihnen ein
wahres Freudenfest zu sein. — Das seichte Wasser in diesem und
allen anderen Theilen des Golfes erlaubte nur den geringsten Theil
der hydrographischen Arbeiten an Bord unserer tiefgehenden Kriegs-
schiffe vorzunehmen; die meisten wurden unter grossen Mühselig-
keiten in offenen Booten ausgeführt, deren Excursionen unter Befehl
des Lieutenant Butterlin oft mehrere Tage dauerten, ohne dass die
Bemannung unter Obdach gekommen wäre.


Den 7. December war die Arkona von ihrem Ausfluge nach
der Ostküste der Bai auf die Rhede von Yeddo zurückgekehrt; den
folgenden Morgen begab sich Graf Eulenburg mit einem Attaché
und Herrn Heusken an Bord der Thetis, um mit ihr auf einen
Tag nach Yokuhama zu gehen und sich aus eigener Anschauung
über die Lage der deutschen Kaufleute zu unterrichten. Commodore
Sundewall begleitete ihn mit der Arkona, was sich sehr nützlich
erwies; denn kaum waren die Schiffe unter Segel gegangen, so starb
der Wind weg. Die Arkona musste heizen und die Thetis in das
Schlepptau nehmen. Den 9. Abends traf der Gesandte mit dieser
vor Yeddo wieder ein, aber zu spät um sich auszuschiffen, und den
ganzen folgenden Tag stürmte und regnete es dermaassen, dass die
Boote erst gegen Abend die Ueberfahrt bewerkstelligen konnten.
Das Barometer war in wenigen Stunden über einen Zoll gefallen
und das Thermometer stand auf 16° Réaumur.


Während dieser Abwesenheit des Gesandten erschienen in
Akabane einige Yakunine bei dem Unterofficier, der die dort als
Wache stationirten Seesoldaten commandirte, und baten, ihnen ein
[121]IX. Zündnadelgewehr. Fasten.
Zündnadelgewehr zu zeigen. Jener that es, machte auf ihren
Wunsch auch die Chargirung durch und zeigte ihnen die Griffe,
welche ein herbeigerufener Japaner lernen musste. Einer der
Yakunine folgte mit besonderer Aufmerksamkeit dem Exercitium,
fragte dann den Unterofficier ob er englisch verstehe, und sagte,
als dieser es verneinte, auf deutsch in sehr deutlicher Aussprache:
»Kann ich das Gewehr bis morgen bewahren?« Dieser Wunsch
musste natürlich abgeschlagen werden. Die Japaner hatten schon
vor unserer Ankunft Kenntniss von der Bewaffnung der preussischen
Armee; sie waren vom ersten Tage an ganz versessen auf die Nadel-
büchsen und gaben sich grosse Mühe eine solche als Muster zu
erhalten. Den deutsch redenden Sprachgelehrten bekamen wir
nicht wieder zu Gesicht, aber die Yakunine zeigten bei verschie-
denen Gelegenheiten holländisch-deutsche und englisch-deutsche
Wörterbücher vor, und theilten uns mit, dass man sich in Yeddo
jetzt sehr eifrig mit dem Studium der europäischen Sprachen be-
schäftige. — Später soll die Regierung sogar eine eigene Schule
dafür gestiftet haben, in der aber nur Söhne des höheren Beamten-
adels Aufnahme fänden.


Einige Tage vor Weihnachten hielten wir unfreiwillige Fasten.
Das Proviantboot, das die Kriegsschiffe auf der Rhede von Yeddo
bis dahin täglich von Yokuhama aus mit frischem Fleisch versorgte,
blieb plötzlich aus; der Gouverneur von Kanagava hatte die Fahrten
inhibirt, und so war auch die Bevölkerung von Akabane auf den
Markt von Yeddo angewiesen, wo höchstens Hühner und Enten
zu haben sind. War es Absicht der Regierung, die lästigen Ein-
dringlinge auszuhungern? — Alle schriftlichen Remonstrationen
blieben erfolglos; erst als der Attaché von Brandt im Auftrage des
Gesandten dem Tyrannen von Kanagava persönlich zu Halse
rückte, wurden die Fahrten wieder gestattet, unter der Bedingung,
dass niemals Passagiere mitgenommen würden. So hatten wir denn
zum Feste wieder unseren gewohnten Rindsbraten, ein mächtiges
Lendenstück.


Graf Eulenburg, welcher den rechten norddeutschen Sinn für
Weihnachtsfreuden und eine Leidenschaft hat, heitere Menschen
um sich zu sehen, wünschte das Fest so fröhlich und glänzend zu
feiern als möglich; er war aber jetzt von früh bis spät mit den
Vertrags-Verhandlungen und darauf bezüglichen Arbeiten beschäftigt
und beauftragte deshalb einige seiner Begleiter mit den Vorberei-
[122]Weihnachten. IX.
tungen. Vor Allem galt es einen Weihnachtsbaum zu schaffen;
einen Baum umzuhauen macht in Japan immer Schwierigkeit; wirk-
liche Tannen sind zudem selten in Yeddo, und eine solche musste
es durchaus sein; die Leute begriffen nicht was man wollte, brachten
allerlei Zwergbäume und verkrüppelte Sträucher. Endlich setzte
sich der eifrigste Festcommissar zu Pferde und eroberte nach meilen-
weitem Umherreiten bei allen möglichen Kunstgärtnern ein präch-
tiges Exemplar, unserer Edeltanne ganz ähnlich an Wuchs. — Nun
liessen wir sämmtliche Schiebewände aus den drei Empfangsgemächern
des Gesandten und dem Vorzimmer, auch die ganze Wand nach
der Veranda entfernen, so dass ein grosser Raum mit vielen Pfeilern
entstand, von der jetzt nach aussen geschlossenen Veranda nur
durch eine Pfostenreihe getrennt. Dann wurde Laub- und Nadel-
grün herbeigeschafft, viele Pferdeladungen, und Wedel der Fächer-
palme in grossen Haufen; — die Gärtner liessen sich nur schwer
und gegen gute Entschädigung zur Beraubung ihrer Bäume bewegen.
Aber die Räume waren gross und Grünes niemals genug; man
musste sich wieder und wieder zu Pferde setzen und neue Beutezüge
machen mit den erstaunten Yakuninen, die garnicht begriffen was
das Alles sollte. Endlich gelang es doch: der ganze Raum wurde
in einen Wintergarten verwandelt, wo ausser dem Fussboden nur
Grünes zu sehen war. Die Pfeiler stellten reich umrankte Palmen
dar, deren Wipfel nach Art breiter Capitäle die Querbalken und den
Plafond trugen, die Veranda einen Palmengang, oben zugewölbt
durch die verwobenen Fächer der beiden Wipfelreihen. Alle Wände
und Querbalken waren in dicke üppige Gewinde versteckt und von
Pfeiler zu Pfeiler hingen reiche Festons. Zahllose blühende Camelien
und Büschel rother Beeren sahen überall aus dem Grünen hervor;
die Decoration selbst bestand grossentheils aus Camelien- und
Cryptomerienzweigen. Von dem getäfelten Plafond war nichts zu sehen;
wir hatten von beiden Seiten ausgewachsene grüne Bambusrohre
querüber gespannt, deren feines üppiges Graslaub, die Rohre selbst
verbergend, in leichten dichten Flocken herabhing, dazwischen zahl-
lose Papierlampen, theils bunt, theils weiss mit dem schwarzen
Adler; in der Veranda die lange Reihe der grossen Gesandtschafts-
laternen mit dem Wappenadler und japanischer Inschrift, welche
bei abendlichen Ausgängen unseren Norimons auf hohen Stangen
vorgetragen zu werden pflegten, ein sonderbarer Anblick zwischen
den Palmenwipfeln.


[123]IX. Weihnachten.

Die Vorbereitung selbst war ein rechtes Fest; fünf Seesoldaten
arbeiteten, anfangs ungeschickt, dann aber mit wachsender Leiden-
schaft kränzewindend mehrere Tage von früh bis spät, und die
japanischen Hausdiener reichten hülfreiche Hand. Wir wurden erst
im letzten Augenblick fertig und liessen den Gesandten nicht eher
hinein. Er kam am heiligen Abend gegen fünf Uhr von einer Con-
ferenz beim Minister des Auswärtigen und freute sich sichtlich über
unsere Arbeit. Der prächtige Weihnachtsbaum reichte bis unter die
Decke, Apfelsinen und Birnen hingen in Menge daran; es fehlte
auch nicht an Verzierungen aus buntem Papier, an kunstreichem
Zuckerwerk und Wachslichten, soviel er tragen konnte. Die Ge-
schenke der preussischen Regierung für den Taïkūn, darunter das
lebensgrosse Bildniss Seiner Majestät König Wilhelm’s, die guss-
eisernen Säulen mit den Amazonengruppen von Bläser und andere
schöne Sachen, waren eben ausgepackt worden und zierten nicht
wenig unseren Festraum.


Um halb sechs wurde gegessen, um halb acht steckten wir
an; bald darauf kamen die Gäste, General Sir Hope Grant mit
Lady Grant und zwei Adjutanten, Herr Alcock mit drei Attaché’s,
der niederländische General-Consul Herr De Witt, Consul Polsbroek
und vor Allen Freund Heusken, welchem ein besonderer Tisch auf-
gebaut war. Sämmtliche Expeditions-Mitglieder waren eingeladen,
auch Capitän Jachmann kam zu Pferde aus Kanagava herüber; der
Commodore und die übrigen See-Officiere dagegen begingen das Fest
auf den Schiffen.


Anstatt einander zu beschenken hatten wir Bewohner von
Akabane Jeder etwa ein Dutzend Kleinigkeiten japanischer Arbeit
zur Verloosung eingeliefert, darunter Lack- und Bronze-Sachen,
Hausrath, Scherze und Atrappen aller Art, zusammen gegen zwei-
hundert Stücke und ein so buntes Durcheinander, wie nur jemals
auf einem Weihnachtstisch zu sehen war. Die Verloosung machte
viel Spass, da Fortuna, so blind wie gewöhnlich, den Meisten grade das
zuschanzte was sie am wenigsten brauchten. Unsere Gäste schienen
Geschmack am deutschen Weihnachten zu finden, besonders Lady
Grant und der treffliche Heusken, dessen liebenswürdiges Gemüth
für jede Freude und Freundschaftsäusserung so offen und empfänglich
und diesmal von den Zeichen unserer Anhänglichkeit ganz betroffen
war. — Wir schieden erst spät von einander und suchten ermüdet
das Lager, aber der Jubel aus den Hinterzimmern, wo unsere Leute
[124]Weihnachten. IX.
bei Kuchen und Punsch versammelt waren, schallte noch lange
nachher durch die Wände.


Das dienende Personal bestand damals aus zwölf Ordonnanzen
von der Marine, den beiden Dienern des Gesandten und Herrn
von Brandt’s Chinesen Atšong, dem allgemeinen Liebling. Diese
hatten einen Baum erhalten, welchen sie in dem mit Laubgewinden
geschmückten gemeinsamen Esszimmer des Gefolges ausputzten; ihre
Bescheerung wurde am Abend des ersten Feiertages aufgebaut. Die
Insassen von Akabane hatten auch für sie eine Menge japanischer
Sachen eingekauft, die hoch gehäuft zwei grosse Tische bedeckten;
rundum stand für Jeden ein Teller mit Zuckerwerk, Kuchen und
Geldgeschenken. — Graf Eulenburg und die Attaché’s waren zu
einem Christmass-dinner, — das vier Stunden währte, — bei dem
englischen Gesandten; unserer Tafel präsidirte Capitän Jachmann
mit dem wir nachher die Bescheerung besorgten. Der Weihnachts-
baum wurde von Neuem angezündet, die Leute zogen die Loose,
nahmen sehr vergnügt ihre Geschenke in Fmpfang und setzten sich
dann unter donnerndem Hoch- und Hurra-Ruf wieder zur Bowle,
die auch diesmal einen sehr tiefen Boden hatte.


Das war das erste deutsche Weihnachtsfest in Yeddo, so
heiter und glänzend wie es dort schwerlich wieder begangen werden
wird. — Wir kamen aus der Feststimmung garnicht heraus und
freuten uns herzlich, bald darauf den Geburtstag des Commodore
feiern zu können, welcher am 29. December dazu in Yeddo eintraf.
An Bord der Schiffe war Weihnachten mit Bescheerung und Illumi-
nation, mit Theater, Tanz und Spiel so froh und festlich gefeiert
worden, wie sich für preussische Seeleute ziemt.


Der Verkehr mit den japanischen Behörden war natürlich
lebhafter geworden, seitdem man sich über die Grundlagen des
Vertrages einigte, doch gingen, ehe es zu erfolgreichen Verhand-
lungen kam, noch mehrere Wochen mit fruchtlosen Anstrengungen
des Gesandten hin, die Theilnahme der ausser preussischen Staaten
an dem Vertrage durchzusetzen.


Am 13. December erschienen die Bunyo’s Hori Oribe-no-kami,
der O-Metske und statt des wieder abberufenen Misogutši ein
Anderer, Takemoto Dzuzio-no-kami, in Akabane zu einer Conferenz.
Hori Oribe nahm diesmal den ersten Platz ein. Er erklärte, dass
seine Regierung, obgleich die dem Vertrage entgegenstehenden in
[125]IX. Vertrags-Verhandlungen.
der öffentlichen Meinung begründeten Hindernisse keineswegs beseitigt
seien, jetzt doch in Unterhandlung mit dem Gesandten treten wolle,
weil er die weite Reise ausdrücklich zu diesem Zwecke unternom-
men habe; bei der Ungewissheit des Erfolges aber scheine es ihm
überflüssig, einander jetzt schon die Vollmachten vorzulegen. Graf
Eulenburg bestand dagegen darauf, dass die Unterhändler sich als
wirkliche Bevollmächtigte ihrer Souveraine legitimirten, entfaltete,
um alle weiteren Erörterungen abzuschneiden, schnell seine eigene
Vollmacht, und forderte die Bunyo’s auf seinem Beispiel zu folgen.
Sie liessen denn auch ohne weiteres Zögern einen mit violettem
Sammet beschlagenen Kasten hereinbringen, in welchem die Urkunde
lag. Sie lautete in wörtlicher Uebersetzung:
Hori Oribe-no-kami
Takemoto Dzuzio-no-kami
Kurokawa Satziu
.


An sie wird die Vollmacht ertheilt mit dem preussi-
schen Gesandten über alle Gegenstände in Unterhandlung
zu treten.


Im 10. Monat des 1. Jahres von Man-En.


(Siegel des Taïkūn.)


Die Bunyo’s übergaben dem Gesandten diese Urkunde in
japanischer Abschrift nebst holländischer Uebersetzung und schritten
dann zu einer sehr genauen Prüfung des preussischen Documentes.
Graf Eulenburg musste umständlich erklären, warum Seine könig-
liche Hoheit der Regent und nicht Seine Majestät der König das-
selbe unterzeichnet habe; auch die Unterschrift des Staatsministers
von Schleinitz wurde commentirt und das königliche Siegel höchlich
bewundert. — Als darauf der Dolmetscher die holländische Ueber-
setzung der Vollmacht verlesen hatte, erkundigten sich die Japaner
sofort nach der Bedeutung des Ausdrucks »Deutscher Zoll- und
Handelsverein«, und nun begannen die Schwierigkeiten. Graf Eulen-
burg
zeigte ihnen auf einer ausdrücklich dazu vorbereiteten Karte
die geographische Lage der zum Zollverein gehörenden Staaten und
suchte ihnen klar zu machen, wie alle diese Staaten in Zoll- und
Handelssachen ein Ganzes bildeten, das unter Preussens Leitung
stände. Sie erschraken förmlich über die Aussicht mit so vielen
Staaten einen Vertrag schliessen zu sollen, liessen sich aber diesmal
durch die Versicherung beruhigen, dass Graf Eulenburg nur einen
Vertrag für alle Staaten verlange, der dann in vier Exemplaren —
[126]Vertrags-Verhandlungen. IX.
zweien für die preussische und zweien für die japanische Regierung
— ausgefertigt würde. Er übergab ihnen zugleich die holländische
Uebersetzung eines auf Grundlage der angenommenen Puncte aus-
gearbeiteten Vertrags-Entwurfes, in welchen nicht nur die Zoll-
vereins-Staaten, sondern auch die mecklenburgischen Grossherzog-
thümer und die Hansestädte aufgenommen waren; die Bunyo’s aber
versprachen, denselben sogleich in das Holländische übertragen zu
lassen und aufmerksam zu prüfen, damit er als Grundlage der
künftigen Verhandlungen dienen könne. Hätte man nicht gewusst,
von wie geringem Gewichte die Ansichten der Bunyo’s bei dem
Minister des Auswärtigen und im Staatsrath waren, so konnte ihr
damaliges Verhalten die Hoffnung des vollständigsten Erfolges er-
wecken; aber der Gesandte liess sich keineswegs täuschen und
beschloss diese wichtige Angelegenheit mit dem Minister selbst
zu erörtern.


Das politische Gespräch wurde abgebrochen und man setzte
sich zum Frühstück. Graf Eulenburg bat die Bevollmächtigten, ihr
Gefolge, — das diesmal aus zehn Personen bestand, — künftig
möglichst zu beschränken, damit man sich vertraulicher besprechen
könne; sie behaupteten aber, Jeder der Anwesenden habe seine be-
stimmte unerlässliche Function und man könne sich auf ihre Dis-
cretion verlassen. — Hori wurde im Verlauf der Unterhaltung wieder
mit Fragen gefoltert, namentlich über das japanische Heerwesen. Er
konnte nicht fassen, dass in PreussenJeder gemeiner Soldat
werden muss, da man in Japan mit seinem militärischen Range zur
Welt kommt. Jeder Samraï ist von Jugend auf zur Waffenübung
verpflichtet, leistet als Jüngling seinem Lehnsherrn den Eid der
Treue und tritt mit seinem angeborenen Range in dessen Sold.
Die Menge der japanischen Soldaten nannte Hori »unzählbar«; sie
ist aber den Behörden gewiss bekannt. Revuen finden nicht statt;
man zieht höchstens tausend Mann zusammen und exercirt in um-
schlossenen Räumen, um jeden Auflauf zu vermeiden. — Hori fragte,
um dieses verfängliche Gespräch abzubrechen, ganz plötzlich, ob
man in Preussen auch Drachen steigen lasse und ob auch ältere
Personen sich damit vergnügten. Der Gesandte anwortete, bei uns
spielten die Kinder am liebsten Soldat; aber der schlaue Japaner
liess sich nicht irre machen, sondern erwiderte ruhig, es gäbe in
Japan auch Brummdrachen. Er fuhr fort von den japanischen Spielen
zu reden, und Graf Eulenburg äusserte den Wunsch, ihn einmal in
[127]IX. Vertrags-Verhandlungen.
seinem Hause zu besuchen, um die Spiele mit anzusehen. Ja,
hiess es, wenn man krank sei, dann höre man wohl auf zu spielen,
und wer sich, wie er, mit Staatsgeschäften befasse, der sei krank.


Der arme Hori! Wir sahen ihn zum letzten Male, er muss
schon wenige Tage darauf ein schreckliches Ende genommen haben.
Zur nächsten Conferenz, am 22. December, erschien statt seiner
ein anderer Beamter, Muragaki Awadsi-no-kami, der als Gesandter
in Amerika gewesen war. Hori, hiess es, sei unwohl und man
könne nicht voraussehen, wann er genesen werde. Er hatte aber
nach zuverlässigen Nachrichten schon damals das Harakiru voll-
zogen; aus welchem Grunde, ist heute noch nicht aufgeklärt. Die
später darüber in Umlauf gesetzten Gerüchte verdienen wenig
Glauben, sollen aber an einer anderen Stelle erörtert werden. Für
den Gesandten war Hori, mit dem er besonders seit Sakaï’s Ab-
berufung vertrauter geworden war, ein grosser Verlust; sein feines
verständiges Wesen hatte ihn Allen lieb gemacht die mit ihm in
Berührung kamen.


Muragaki’s Auftreten war das eines gewiegten Weltmannes,
tactvoll, liebenswürdig, bestimmt. Er hatte den Vorzug Monate
lang in täglicher Berührung mit der westländischen Civilisation ge-
wesen zu sein, sprach mit Einsicht und Freimuth von seinen Reisen
und schien den besten Willen zu den Verhandlungen mitzubringen.
Graf Eulenburg musste Muragaki auf einer aus Amerika mitge-
brachten Weltkarte die Lage von Berlin und dessen Breitengrad
bezeichnen; es war ihm aber geläufig, dass die gleiche Breite zweier
Orte nicht dasselbe Klima bedinge. Er that sehr verständige Fragen
über Preussen und erläuterte die Mittheilungen des Gesandten durch
Vergleichung mit Amerika oft recht treffend und scharfsinnig.


Zu den Verhandlungen schreitend bat Muragaki um Vor-
legung der preussischen Vollmacht, liess sich auch die Unterschriften
und das Wappen genau erklären, und producirte dann aus dem
bewussten Sammetkasten das neue japanische Document, auf
welchem sein Namen die erste Stelle einnahm. Der Zweck des
Besuches war augenscheinlich nähere Aufklärung über den Begriff
»Zollverein«, die Stellung der mecklenburgischen Herzogthümer
und der Hansestädte; er hatte auf seinen Reisen wohl von Preussen
und Oestreich gehört, aber nicht von den anderen deutschen Staaten.
Der Gesandte suchte ihm mit Benutzung der Karte die Sache
klar zu machen und hielt sich dabei streng an die Wahrheit; —
[128]Vertrags-Verhandlungen. IX.
aber der dolmetschende Moriyama mag selbst wenig von seinen
Auseinandersetzungen verstanden haben, und man muss gestehen,
dass es auch für den gebildeten Japaner eine starke Zumuthung
ist, die complicirten Verhältnisse des deutschen Bundes und des
Zollvereins, die Stellung der kleineren Staaten, die Verschieden-
artigkeit der politischen und commerciellen Beziehungen fassen zu
sollen, die uns selbst so viel Kopfbrechens zu machen pflegen.
Die einfache Definition des Begriffes »Zoll- und Handelsverein«
genügte keineswegs, da die Kreuz- und Querfragen der Japaner
den Gesandten immer wieder auf das weite Feld verschlugen.
»Gehört Oestreich zum Zollverein?« »Haben alle Zollvereins-Staaten
gleiche Regierungsform?« »War Preussen nicht einst wie Amerika
eine Republik aus verschiedenen Staaten unter einem Präsidenten?«
»Haben die zerstreut liegenden Landestheile immer zu Preussen
gehört oder sind sie allmälich erworben worden?« »Hat sich der
Zollverein schon vor langer Zeit gebildet und auf welche Weise?«
»Warum sind die mecklenburgischen Herzogthümer und die Hanse-
städte ausgeschlossen, warum Oestreich?« »In welchem Verhältniss
stehen die Zollvereins-Staaten zu einander und nach welchem
Maasstabe werden die Zölle vertheilt?« »Treibt Preussen mehr
Handel als die anderen Staaten? weshalb will es einen Vertrag
für alle machen? warum beanspruchen die Hansestädte trotzdem
eine abgesonderte Vertretung?« — Wer einmal die Fragen eines
neugierigen Kindes nach Gegenständen die über seine Fassungs-
kraft gehen, oder nach Dingen deren vernünftigen Zusammenhang
kein Menschenverstand zu ergründen vermag, auszudulden gehabt
hat, kann sich einen Begriff machen von des Gesandten Ge-
müthsverfassung bei diesem Verhör. Es war als wollte Muragaki
alle verfänglichen Fragen rächen, mit denen er seine Vorgänger
jemals gepeinigt hatte. Graf Eulenburg antwortete auf Alles
sehr ausführlich und mit exemplarischer Geduld; er suchte unter
Vorlegung der Zollvereins-Verträge mit England, Sardinien,
Persien und anderen Staaten den Japanern begreiflich zu machen,
wie Preussen durch seine politische Stellung der natürliche Ver-
treter von Norddeutschland gegenüber dem Auslande und als
solcher allgemein anerkannt sei, aber ihre Gesichter wurden immer
länger: »Man habe geglaubt, es handele sich um einen Vertrag
mit einem Reiche, mit Preussen, und nun solle man mit einigen
dreissig abschliessen; Japan könne unmöglich so viele Völker
[129]IX. Vertrags-Verhandlungen.
zugleich zulassen, das Nationalgefühl werde sich dagegen empören,
es sei ganz und gar unmöglich.« Umsonst versicherte Graf Eulen-
burg
, dass die dreissig Staaten nur ein Volk seien, umsonst, dass
nur fünf verschiedene Flaggen in den japanischen Häfen erscheinen
würden, da nur so viele norddeutsche Staaten Schiffahrt trieben;
er erinnerte sie vergebens daran, dass er gleich bei seiner Ankunft
schriftlich die Absicht ausgesprochen habe, einen Vertrag für Nord-
deutschland
zu machen, dass durch den überreichten Entwurf
nur ein diplomatischer Agent für alle contrahirenden Staaten und
nur ein Consul in jedem Hafen verlangt werde, dass das Recht
der Hansestädte, besondere Consuln anzustellen, in einem Separat-
Artikel stipulirt sei, der erst später Gegenstand der Debatte werden
solle, und dass es rathsamer für Japan sei, jetzt mit Preussen zugleich
für alle übrigen Staaten einen Vertrag zu schliessen als — später
von jedem derselben einzeln um einen solchen angegangen zu werden.
Dieses nicht ganz stichhaltige Argument glaubte der Gesandte auch
im weiteren Verfolge der Verhandlungen zur Erreichung seiner
Zwecke besonders betonen zu müssen, weil es fast die einzige
verwundbare Stelle der japanischen Regierung war, und die Aussicht,
sich in den nächsten Jahren von mehreren Gesandtschaften belagert
zu sehen, sie schon damals beunruhigte. Wenn irgend etwas sie
zu dem erweiterten Vertrage bewegen konnte, so war es allein
die Sicherheit, auf einige Zeit Ruhe zu haben.


Der Gesandte übergab den Bunyo’s beim Abschied eine hollän-
dische Uebersetzung des dem Vertrage anzufügenden Handelsregle-
ments und bat sie, die Karte von Norddeutschland, auf welcher der
ganze Zollverein mit einer alle anderen Länderabtheilungen verdun-
kelnden scharlachrothen Linie umzogen war, dem Minister des Aus-
wärtigen als Geschenk zu überreichen. Er hatte mit demselben
zwei Tage darauf eine mehrstündige Conferenz, welcher der Lega-
tionssecretär Pieschel und der Attaché von Brandt beiwohnten.


Ando Tsus-sima-no-kami entschuldigte sich beim Empfange,
dass er den Gesandten so lange nicht zu sich eingeladen habe und
führte als Grund den Umzug des Taïkūn in dessen neu erbautes
Schloss an, mit welchem er ganz beschäftigt gewesen sei. Der Minister
des Auswärtigen scheint also auch als Hofmarschall zu fungiren.
Er eröffnete das politische Gespräch mit der Bemerkung, dass die
Regierung sich trotz der öffentlichen Meinung und nur deshalb zu
einem Vertrage mit Preussen entschlösse, weil der Gesandte so lange
II. 9
[130]Besprechung mit dem Minister. IX.
gewartet und weil er in die Auslassung der Häfen Neagata, Yeddo,
Osaka
und Fiogo gewilligt habe. Graf Eulenburg brachte gleich
die Rede auf die Zollvereins-Staaten, überreichte eine Sammlung ihrer
Münzen, und suchte mit Hülfe derselben ihre Verbindung in Zoll- und
Handelsangelegenheiten anschaulich zu machen. Die Münzen seien
in verschiedenen Staaten geprägt, hätten aber in allen gleiche Gel-
tung; die Vereinsthaler namentlich trügen zwar jeder das Bildniss
und Wappen des Souverains der ihn habe prägen lassen, cursirten
aber bei gleichem Gewicht, Gehalt und Umfang ohne Unterschied
durch den ganzen Länderverband, weil eben die dazu gehörigen
Staaten in Zoll- und Handelssachen ein Ganzes bildeten. Der Minister
und die assistirenden Staatsräthe besahen die Münzen mit grosser
Neugierde, wollten aber die nicht-preussischen anfangs nicht an-
nehmen, weil sie von Staaten kein Geschenk nehmen könnten, mit
denen sie keinen Vertrag machten. Letzteres sei ganz unmöglich.
Der Minister habe zwar bemerkt, dass in den ersten Schreiben des
Gesandten von Norddeutschland die Rede sei, aber immer
geglaubt, derselbe komme als Bevollmächtigter Seiner Majestät des
Königs von Preussen; der Taïkūn habe demgemäss befohlen mit
Preussen in Unterhandlung zu treten. Man könne trotz allen Aus-
einandersetzungen die Stellung der Zollvereins-Staaten nicht recht
begreifen und müsse deren Betheiligung an dem Vertrage entschie-
den ablehnen. Graf Eulenburg erklärte, er sei allerdings als Be-
vollmächtigter des Regenten von Preussen erschienen, um einen
Vertrag zwischen seinem Souverain und dem Taïkūn abzuschliessen,
wünsche aber dass der preussische Herrscher darin zugleich als Ver-
treter der übrigen norddeutschen Staaten angesehen werde.


Der Minister. Warum?


Der Gesandte. Weil bei der Gründung des Zollvereins ver-
abredet worden ist, dass die Verträge, welche der König von
Preussen zugleich im Namen des Zollverbandes abschliesst, auch
für die übrigen dazu gehörigen Staaten Gültigkeit haben sollen. Die
beiden mecklenburgischen Grossherzogthümer und die Hansestädte,
welche ihm nicht angehören, haben den König von Preussen aus-
drücklich gebeten auch für sie einen Vertrag mit Japan zu machen,
und dabei erklärt, dass Preussens zukünftiger diplomatischer Agent
auch von ihnen als Vertreter angesehen werden solle.


Der Minister. Gelten alle Verträge, die Preussen abschliesst,
ohne Weiteres auch für die anderen deutschen Staaten?


[131]IX. Besprechung mit dem Minister.

Der Gesandte. Ich habe schon erklärt, dass eine so enge
Vereinigung zwischen Preussen und den anderen norddeutschen
Staaten nur in Bezug auf Handel und Zölle besteht.


Der Minister. Besteht zwischen Preussen und den Zollvereins-
Staaten ein Uebereinkommen wonach alle Handels-Tractate,
welche Preussen abschliesst, ohne Weiteres auch für alle Zollver-
eins-Staaten gültig sind?


Der Gesandte. Ein solches Uebereinkommen kann nicht be-
stehen, denn es muss von dem Willen der dritten Macht, mit wel-
cher der Vertrag geschlossen wird, abhängig bleiben, ob sie mit
Preussen allein oder zugleich mit allen Zollvereins-Staaten contrahiren
will. Allein, wenn letztere einerseits und Japan andererseits erklären,
dass sie mit einander einen Vertrag machen wollen, so wird der
zwischen Preussen und Japan abgeschlossene Handels-Tractat auch
für alle übrigen Zollvereins-Staaten gültig.


Der Minister. Ist das, was der Gesandte sagt, in Europa
überall bekannt?


Der Gesandte. Ja. Zum Beweise dass die meisten Staaten
keinen Anstand nehmen, das was sie in Zoll- und Handelssachen
Preussen zugestehen auch den Zollvereins-Staaten zu gewähren,
zeige ich dem Minister hier unsere neuesten Verträge mit Gross-
britannien
, Sardinien, Persien, der Argentinischen Republik und
Uruguai. In allen diesen ist Preussen Namens des Zollvereins
aufgetreten, wie der Minister sich aus deren Eingange über-
zeugen kann.


Der Minister. Was andere Regierungen thun, kann für Japan
nicht maassgebend sein, da seine Regierungsform von der aller übrigen
Länder abweicht. Es scheint mir absolut unmöglich jetzt mit allen
den Staaten einen Vertrag zu machen. Ich bitte aber die mit ge-
zeigten Exemplare der preussischen Verträge mit Grossbritannien u. s. w.
einige Tage behalten zu dürfen.


Der Gesandte. Ich bitte die Unmöglichkeit eines Vertrages
mit den von mir bezeichneten deutschen Staaten nicht unbedingt
auszusprechen, sondern die Angelegenheit noch einmal in Erwägung
zu ziehen, da ich glaube, dass die Regelung derselben nach meinen
Wünschen auch für Japan vortheilhaft ist. Die Regierung des
Taïkün schreckt nach dem, was ich von dem Minister in den bis-
herigen Conferenzen gehört habe, hauptsächlich vor zwei Dingen
zurück: einmal glaubt sie grade jetzt keinen Vertrag schliessen zu
9*
[132]Besprechung mit dem Minister. IX.
dürfen, weil die öffentliche Stimmung für aufgeregt und fremden-
feindlich gilt, und zweitens ist es ihr unangenehm, den diplomati-
schen Agenten eines fremden Staates in Yeddo zu sehen. In Bezug
auf Preussen hat sie dieses Widerstreben überwunden und sich zu
einem Vertrage bereit erklärt; warum benutzt sie nun den Moment
nicht um denselben mit einem Federstrich auf die anderen deutschen
Staaten auszudehnen, und für diese alle nur einen diplomatischen
Vertreter zu bekommen? Lässt sie den Augenblick vorübergehen,
so werden wahrscheinlich über kurz oder lang alle oder doch die
grösseren schiffahrttreibenden deutschen Staaten einzeln Gesandt-
schaften schicken, und jeder für sich einen Vertrag und einen be-
sonderen Vertreter begehren. — Die japanische Regierung kann
dann zwar das Ansinnen dieser Gesandtschaften verweigern, aber
sie hat bereits die Erfahrung gemacht, wie unangenehm und peinlich
ein solches Abweisen für sie ist. Glaubt sie, dass der Titel der
contrahirenden Mächte zu lang ist und das Nationalgefühl ver-
letzen würde, so kann man über Abkürzung desselben nachdenken.
Zwar ist mit dem Erbieten der japanischen Regierung, einen Ver-
trag mit Preussen zu schliessen, der Hauptzweck meiner Mission
erfüllt, und ich bin deshalb bereit sofort in Verhandlungen einzu-
treten; aber die Vortheile, welche Japan aus einem gleichzeitigen
Abschluss mit allen genannten deutschen Staaten ziehen würde,
scheinen mir so gross, dass ich dem Minister nur rathen kann, die
Sache nochmals in Betrachtung zu nehmen.


Der Minister. Der Taïkün hat befohlen, der vielen ent-
gegenstehenden Hindernisse ungeachtet mit Preussen, aber auch
nur mit Preussen einen Vertrag zu schliessen.


Der Gesandte. In der Vollmacht der Bunyo’s steht, dass
sie beauftagt sind mit dem preussischen Gesandten ȟber alle
Gegenstände
« zu verhandeln; das schliesst nicht aus, dass sie
mit ihm auch den Vertrag zwischen Japan und den übrigen deutschen
Staaten berathen. Glaubt der Minister aber, dass es dazu noch
eines besonderen Befehls des Taïkün bedürfe, so möge er demselben
nochmals darüber Vortrag halten.


Damit wurde dieser Gegenstand abgebrochen. Auf eine Be-
sprechung des Vertrags-Entwurfes wollte der Minister nicht ein-
gehen, weil er denselben noch nicht geprüft habe. Graf Eulenburg
berührte darauf die Ueberreichung des Schreibens Seiner könig-
lichen Hoheit des Regenten an den Taïkün, worauf der Minister
[133]IX. Besprechung mit dem Minister.
sein Bedauern aussprach, dass in dem neu erbauten Palast bis dahin
nur die Privatgemächer fertig seien, nicht aber der Audienz-Saal,
vor dessen Vollendung der bei Ueberreichung eines königlichen
Schreibens erforderte feierliche Empfang nicht statt finden könne.
Er fragte, ob die Uebergabe nicht bei der künftigen Auswechselung
der Vertrags-Ratificationen, oder gleich an ihn selbst erfolgen
könne; dieser Palast sei nicht der seine, sondern ebensogut ein
kaiserlicher als das Schloss. Graf Eulenburg lehnte beide Vorschläge
ab und liess für jetzt den Gegenstand fallen.


Der Minister kam nun wieder auf den Vertrag: man sei
übereingekommen, dass derselbe bei Auswechselung der Ratifications-
Urkunden in Wirksamkeit träte; er habe nun die Bitte und werde
es als ein Zeichen besonderer Freundschaft ansehen, wenn diese
Auswechselung möglichst lange hinausgeschoben würde und die
preussische Regierung ihren diplomatischen Vertreter erst nach
längerer Frist entsendete. Diese Wendung beutete Graf Eulenburg
zum Vortheil der in Yokuhama ansässigen Deutschen aus. Sie
sollten, wie schon berichtet, als unberechtigt zum Aufenthalt in
Japan nach dem Willen der Regierung das Land verlassen. Der
Minister sprach ihnen auch jetzt die Befugniss ab dort zu verweilen,
Graf Eulenburg gab aber zu bedenken, dass man sie eine Zeit lang
ohne Protest geduldet und ihnen dadurch stillschweigende Ver-
anlassung zu ausgedehnten Handelsoperationen gegeben habe,
welche sich ohne grosse Verluste nicht plötzlich abbrechen liessen.
Er trage deshalb darauf an, dass man dieselben, oder, wenn man
wirklich nur mit Preussen abschlösse, wenigstens die Unterthanen
dieser Macht ungestört in Japan verweilen lasse, und in letzterem
Falle den nichtpreussischen Kaufleuten eine längere Frist zur be-
quemen Abwickelung ihrer Geschäfte gewähre. Könne der Minister
ihm das in einem schriftlichen Versprechen zusichern, so wolle er
selbst gern nach Möglichkeit auf die Verzögerung der Ratifications-
Auswechselung und der Absendung eines diplomatischen Vertreters
hinwirken. Entgegengesetzten Falls aber sei es seine Pflicht solche
im Interesse der preussischen Unterthanen zu beschleunigen, und
er müsse dies auch dann thun, wenn die japanische Regierung den
deutschen Kaufleuten in der Zwischenzeit nicht alle Vortheile ge-
währte und sie mit derselben Rücksicht behandelte, wie die Unter-
thanen der Vertragsmächte. So kam es in dieser schwierigen Sache
zu einem vortheilhaften Compromiss.


[134]Vertrags-Verhandlungen. IX.

Ando Tsus-sima-no-kami sprach beim Abschied noch den
Wunsch aus, den Vertrag baldigst berathen zu sehen, und die
Hoffnung, dass die Freundschaft zwischen Preussen und Japan sich
auf Grund desselben mehr und mehr befestigen möge.


Graf Eulenburg hatte sich also bereit erklärt, vorläufig für
Preussen allein in Unterhandlung zu treten, gab aber deshalb
seine Bemühungen, die Betheiligung der Zollvereins-Staaten, der
mecklenburgischen Grossherzogthümer und der Hansestädte zu er-
wirken, keineswegs auf. Er richtete darüber noch mehrere Noten
an den Minister, drehte die Sache nach allen Seiten und suchte
zuletzt ein schriftliches Versprechen der Regierung zu erlangen,
dass der preussische Vertrag nach einer bestimmten Frist, etwa
nach fünf Jahren, auch für die genannten Staaten Geltung erhalten
sollte; aber die Japaner blieben hartnäckig und wiesen alle seine
Anträge zurück.


Am 28. December fand in Akabane die erste Conferenz zur
Berathung des Vertrages statt; der Gesandte musste mit den Bunyo’s
den Entwurf Punct für Punct durchgehen. Sie benahmen sich
dabei ganz verständig; die anderen Verträge dienten als Muster und
man stiess auf keine erheblichen Schwierigkeiten. — Die Stellung
Seiner königlichen Hoheit des Regenten als höchsten Contrahenten
Namens Seiner Majestät des Königs, verursachte den Bevollmäch-
tigten anfangs viel Kopfbrechen. Nach japanischen Gesetzen, hiess
es, könne ein Vertrag nur zwischen Souverainen abgeschlossen
werden; ein Regent fungire nur bei Minderjährigkeit des Taïkün,
sein Name komme in Staats-Documenten niemals vor; werde der
Taïkün durch Alter oder Krankheit zur Regierung unfähig, so danke
er ab, und der Thronerbe succedire. Nach weitläufigen Erklärungen
setzte aber Graf Eulenburg die vom ihm beantragte Fassung des
Vertragseinganges durch und die Bunyo’s gaben sich zufrieden.


Den 30. December erschienen sie abermals zu einer Berathung.
Muragaki brachte dem Gesandten eine Rolle amerikanischen Tabaks
und für Herrn Heusken ein Dutzend papierner Halskragen mit, deren
der Fabricant ihm in New-York eine grosse Kiste an Bord geschickt
hatte. — Man wurde in dieser Sitzung mit der Feststellung des
eigentlichen Vertrages fertig; die des Handelsregulativs sollte in den
nächsten Tagen erfolgen. Die Ausstellungen der Japaner an dem
Entwurf bezogen sich meist auf deutsche Ausdrücke, deren hollän-
dische Uebersetzung sie nicht verstanden oder nicht in das Japanische
[135]IX. Vertrags-Verhandlungen.
übertragen konnten; die Substituirung gleichbedeutender ihnen ge-
läufiger Ausdrücke stellte sie dann leicht zufrieden. Sie versuchten
wohl in einzelnen Fällen Artikel, welche der japanischen Regierung
in den übrigen Verträgen unbequem geworden waren, zu ihrem
Vortheil anders zu fassen, scheiterten damit aber an der Festigkeit
des Gesandten. In der Münzfrage gab das Wort »Gehalt« — als
Feingehalt der Metalle — Anstoss, weil sich dieser Begriff in japa-
nischer Sprache nicht ausdrücken lässt. Muragaki verstand die
Bedeutung vollkommen und führte an, dass vor dem Eindringen der
Fremden die Itsibu’s von viel reinerem Silber gewesen seien, — wie
wir uns vielfach überzeugten, — dass aber beim ersten Umwechseln
die japanischen Beamten den bedeutenden Kupfergehalt der mexica-
nischen Dollars wohl bemerkt, und darauf, bei der Verpflichtung
Gewicht für Gewicht zu wechseln, auch ihre Münzen stärker hätten
legiren müssen. Man setzte für »Gehalt« das Wort »Gattung«. —
Statt »Deutsche Sprache« wollten sie durchaus »Preussische« haben
und liessen sich erst nach langen Erklärungen zu dem richtigen
Ausdruck bereden.


Die grösste Schwierigkeit machte die Bestimmung über die
Auswechselung der Ratificationen. Graf Eulenburg hatte sich dazu
verstanden dafür gar keinen Termin zu nennen und dem Minister
unter der oben erwähnten Bedingung versprochen, eine längere Hin-
ausschiebung der Auswechselung bei seiner Regierung zu befürwor-
ten. Jetzt verlangten die Bunyo’s »der öffentlichen Meinung zu
Liebe«, die Nennung eines bestimmten Termines, — etwa dreissig
Monate, — vor welchem die Auswechselung nicht stattfinden dürfte.
Der Gesandte versicherte sie zwar, dass sie vor dieser Frist nicht
zu erwarten sei, da der Vertrag dem Landtage vorgelegt werden
müsse, schützte aber vor, dass die »öffentliche Meinung« in Preussen
eine solche Vorschrift als Beleidigung ansehen würde. — Dass es nun
den Japanern hier wirklich nicht um die Sache, sondern nur um
den Ausdruck einer hinausgeschobenen Frist zu thun war, geht aus
dem Umstande hervor, dass sie sich jetzt ohne viel Schwierigkeit
zu der Bestimmung der Auswechselung binnen dreissig Monaten
verstanden. Die Bevollmächtigten gaben sich wohl über die Trag-
weite dieser für uns sehr wichtigen Concession damals keine Rechen-
schaft; sie zogen dieselbe, von dem Minister desavouirt, schon in
der nächsten Sitzung wieder zurück. Der Artikel wurde also noch-
mals geändert, aber nicht zu unserem Nachtheil.


[136]Feuer, Sturm, Erdbeben. IX.

Beim Abschied der Bunyo’s fragte Graf Eulenburg nach dem
Befinden des Hori Oribe-no-kami und erbot sich ihm einen Arzt zu
schicken. Muragaki dankte sehr verbindlich: sein College sei ge-
fährlich krank und habe wenig Aussicht auf Genesung; sollte noch
Rettung möglich sein, so werde man den ärztlichen Beistand gern
annehmen. Hori Oribe war damals längst begraben.


Wir sollten das alte Jahr noch ächt japanisch beschliessen,
mit Feuer, Sturm und Erdbeben. Den 30. Abends gegen zehn erhob
sich in Akabane plötzlich ein grosser Tumult; draussen schlug man
Feuerlärm. Die Köche hatten die Bratöfen zu stark geheizt; dadurch
gerieth die aus Mörtel, Stroh und Bambus gebaute Hinterwand der
Küche in Brand, und die Gluth der Esse brachte auch die Dach-
balken zum Glimmen. Das ganze Haus war voll Rauch, man packte
schnell die wichtigsten Papiere zusammen und ging dann an das
Löschen. Einige Spritzen waren gleich zur Hand, unsere Leute
und die Japaner schon in voller Thätigkeit. Das Küchendach sass
dicht voll Menschen welche einander die Eimer zureichten um die
Essen von oben zu kühlen, und dabei selbst von den unten aufge-
stellten Spritzen mit reichlichen Strahlen überfluthet wurden. Das
Feuer war bald ausgegossen und die Löschenden stiegen nicht an-
gesengt, aber pudelnass und triefend herunter. Wir kamen mit dem
Schreck und einer kleinen Erpressung davon; denn kaum war der
Brand gelöscht, so erschien auch der japanische Haus-Dolmetscher
bei dem Legationssecretär mit der Anzeige, dass etwa dreissig Ja-
paner, — Hausdiener, Betto’s, Arbeiter — Hülfe geleistet und
»sehr viel Noth gelitten hätten«. Der englische Gesandte habe nach
dem Feuer in To-džen-dži jedem Japaner einen Itsibu geschenkt
und das Gesinde von Akabane würde sehr dankbar sein, wenn Graf
Eulenburg ein Gleiches thäte, »only if you like it«, wie er höflich
hinzusetzte. — Sie wären natürlich auch ohne Mahnung für ihren
Eifer belohnt worden. — Der Schaden am Küchendache war nur
gering; die beiden Bratöfen und die Wand dahinter mussten neu
aufgebaut werden.


Den 31. December um vier Uhr wurde das Haus über unseren
Köpfen gerüttelt dass alle Balken krachten und wir schleunigst hin-
aussprangen. — Eine Stunde später schrie wieder Jemand, es brenne;
das ganze Haus wurde tumultuarisch durchsucht; — niemand wusste
wer zuerst gerufen und den blinden Lärm veranlasst hatte. Es
war als sollten unsere Nerven auf die Anspannung der nächsten
[137]IX. Jahresschluss.
Wochen vorbereitet werden, deren Aufregung man längst vergessen
hätte ohne die schreckliche Katastrophe, welche allen Betheiligten
das Andenken an Yeddo auf immer trüben wird.


Wir verbrachten die Sylvesternacht noch in ausgelassener
Heiterkeit, während draussen wilde Stürme tobten. Die Spieltische
übten nicht die gewohnte Anziehungskraft, man schritt bald zum
Mehlschneiden, Hahnenkampf und dergleichen sinnreichen Spielen,
und lachte sich noch recht müde. Kurz vor Mitternacht wurde der
Weihnachtsbaum wieder angezündet, und mit dem Glockenschlage
zwölf erklangen die Gläser zur Begrüssung des Neuen Jahres.
Dann wurde es still, und das Quartett von der Thetis stimmte
das Lied an:


»Das ist der Tag des Herrn.«

[[138]]

X.
YEDDO.

VOM 1. BIS 31. JANUAR 1861.


Der Morgen des Neujahrstages verging unter Gratulationsbesuchen;
am Nachmittage erschien in Akabane ganz unerwartet Herr Heusken,
den wir mit dem amerikanischen Minister-Residenten in Kanagava
glaubten. Er kam in der That von dort mit überraschenden Neuig-
keiten: Herr Harris war den Tag zuvor durch einen ihm aus Yeddo
nachgesandten Bunyo des auswärtigen Ministeriums benachrichtigt
worden, dass die Regierung eine Verschwörung gegen die Fremden
entdeckt habe; sechshundert Lonine, entlassene Soldaten des Fürsten
von Mito, wollten Yokuhama niederbrennen, die dort ansässigen
Ausländer ermorden und die Legationen in Yeddo stürmen. Die
Regierung, hiess es, habe zwar Vorsichtsmaassregeln getroffen,
halte aber doch für angemessen, die Fremden von der Gefahr zu
unterrichten. — Am Abend des Neujahrstages erschienen denn auch
in Akabane unsere zu den Vertrags-Verhandlungen bevollmächtigten
Bunyo’s mit denselben Eröffnungen. Es würde, meinten sie, der
Regierung trotz ihrer zahlreichen Polizei kaum gelingen, die zer-
streuten Lonine einzeln in ihren Schlupfwinkeln aufzuspüren, man
könne für nichts einstehen; eine Anzahl Verschworener solle sich
in Kaufmannstracht in die Nähe der Fremden zu schleichen suchen,
wir möchten auf der Hut sein und nicht ohne starke Bedeckung
ausgehen. Die Regierung habe die Yakunin-Wache von Akabane
auf dreiundsechszig Mann verstärkt und das nach der Nebenstrasse
führende Hinterthor durch Soldaten eines nahe wohnenden Daïmio
besetzen lassen. Sollte in der Nähe Feuer ausbrechen, so möge der
Gesandte sich mit seinen Begleitern doch sogleich nach dem Lan-
dungsplatze begeben, wo Tag und Nacht Boote zur Ueberfahrt nach
den Kriegsschiffen bereit liegen würden.


[139]X. Lonin-Verschwörung. Sicherheitsmaassregeln.

Muragaki schien in vollem Ernste besorgt für unsere
Sicherheit und fragte wiederholt, ob der Gesandte die getroffenen
Vorsichtsmaassregeln für ausreichend erachte, oder lieber ein Haus
in dem befestigten Siro, der kaiserlichen Stadt, beziehen wolle; die
Regierung stelle ihm ein solches zur Verfügung und hoffe ihm dort
ausreichenden Schutz gewähren zu können. Wünsche er sich aber
auf die Kriegsschiffe zurückzuziehen, so wollten die Bevollmächtigten
sehr gern auch an Bord die Vertrags-Verhandlungen fortsetzen,
welche ja in einer Woche beendigt sein müssten. — Dem Grafen,
der von dem späten Besuche der Bunyo’s nichts Gutes erwartete,
fiel bei dieser Mittheilung ein Stein vom Herzen; statt der ge-
fürchteten Erklärung, dass die aufgeregte Stimmung den Abbruch
der Vertrags-Verhandlungen fordere, gaben die Bevollmächtigten
den Wunsch zu erkennen, die Unterzeichnung nach Möglichkeit zu
beschleunigen, um der Sorge für unsere Sicherheit loszuwerden.
— Er lehnte ihre beiden Vorschläge, nach dem Siro oder den
Kriegsschiffen überzusiedeln, dankend ab, sprach seine Befriedigung
über die getroffenen Maassregeln und sein vollkommenes Vertrauen
in die Regierung aus, bot derselben die Mitwirkung der preussischen
Kriegsschiffe zur Unterdrückung der Lonine an und erklärte sich
bereit eines derselben nach Yokuhama zu senden. Die Bunyo’s
wollten dem Minister dieses Anerbieten mittheilen. — Beim Abschied
erzählte Muragaki unter lebhaftem Bedauern, dass Hori Oribe-
no-kami
den Abend zuvor gestorben sei. Schon seit mehreren
Tagen ging das Gerücht, dass er sich entleibt habe, und Graf
Eulenburg fragte die Bevollmächtigten bei einer späteren Zusammen-
kunft darüber; sie leugneten es unter den stärksten Betheuerungen:
»Solche Gerüchte verbreiteten sich, meistens ohne Grund, beim
Tode jedes angesehenen Mannes.« — In den folgenden Wochen
aber kamen Umstände an das Licht, welche uns in der traurigen
Vermuthung von Hori’s gewaltsamem Ende bestärkten; sein Tod
stand wahrscheinlich in enger Beziehung zu seinem amtlichen
Verkehr mit den Fremden.


Die Vertheidigungsanstalten der Japaner sahen recht malerisch
aus. Auf den äusseren Höfen von Akabane wuchsen mehrere
Wachthäuser aus dem Boden, sauber gefugte, stattliche Holzge-
bäude, die, in ihre Theile zerlegt, in den Magazinen vorräthig
gewesen sein müssen. Sie standen im Umsehen fertig da, mit Zelt-
vorhängen drappirt, die theils das Wappen des erblichen Gouverneurs
[140]Vertheidigungs-Anstalten. X.
von Yeddo theils das unseres Nachbarn Tosava Kadsusa Nofski
trugen; vor jedem paradirte eine schnurgrade Reihe langer Piken
mit leuchtenden Rosshaarpuscheln. Das Ganze machte den Eindruck
militärischer Genauigkeit und Ordnung bis auf die Soldaten, die
wohl kräftig aber nicht kriegerisch aussehen; ihre mangelhafte
Fussbekleidung lässt kein festes Auftreten, die weiten, hängenden
Rockärmel weder freie noch knappe Bewegungen zu. — Die Be-
satzung zog Tag und Nacht halbstündlich — wo es schmutzig war
im Gänsemarsch und sehr behutsam tretend — in starken Patrouillen
um das Haus, und unsere Bunyo’s, vor Allen Muragaki, erschienen
oft spät in der Nacht, um die Wachen zu revidiren.


Wir trafen natürlich auch unsererseits Vorsichtsmaassregeln.
Capitän Sundewall schickte noch zehn Seesoldaten von der Arkona
und einige von der Thetis, mit Gewehren, Munition und Signal-
raketen, so dass wir eine Wache von zwanzig Mann mit Zündnadel-
gewehren hatten. Auf den Kriegsschiffen hielt man Alles zur
armirten Landung bereit und stellte Posten, die beständig nach
den Signalen ausschauen mussten. In Akabane organisirten die
Attachés Lieutenants von Brandt und Graf Eulenburg die Ver-
theidigung, wiesen Jedem von uns für den Fall des Angriffs seine
Stellung und Thätigkeit an, stellten Nachts an geeigneten Plätzen
in und ausser dem Hause militärische Posten aus und gingen häufig
die Ronde. — In der Nacht zum vierten kam es beinah zum Zu-
sammenstoss mit den Japanern: der Unterofficier der Wache wollte
die Posten revidiren und begegnete in tiefer Dunkelheit einer japa-
nischen Patrouille; beide Theile glaubten auf den Feind zu stossen;
schon knackten die Pistolenhähne des Unterofficiers und die Schwerter
der Japaner fuhren blitzend aus den Scheiden, als man sich zum
Glück noch erkannte.


Wir waren also gerüstet, wussten aber nicht recht ob an
Gefahr zu glauben wäre. Wollten die Verschworenen uns ernstlich
zu Leibe, so hatten wir wenig Aussicht auf Rettung; die engen
winkligen Gänge und die Papierwände unserer kleinen Zimmer waren
der Vertheidigung sehr ungünstig, die Aussenhöfe nur durch niedrige
Bretterzäune und Hecken von den nächsten Grundstücken getrennt,
und ihr Umfang zu ausgedehnt um Nachts mit Erfolg bewacht zu
werden; wir konnten durch einen entschlossenen Angriff überrumpelt
und sämmtlich niedergemacht werden, ehe wir nur auf die Beine
kamen, oder durch nächtliche Brandstiftung ausgeräuchert, im Tumult
[141]X. Die Lage.
den Bravo’s in die Klingen laufen. Sie hatten den grossen Vortheil,
uns überall sogleich an der Kleidung zu erkennen, während wir sie
erst beim Angriff von anderen Japanern zu unterscheiden gewusst
hätten. Ehe Hülfe von den Schiffen anlangte vergingen im gün-
stigsten Falle beinah zwei Stunden, so lange konnte man sich gegen
einen entschlossenen Angriff nicht halten; ein heftiger Westwind,
wie wir ihn kannten, cernirte uns aber vollständig. Solche Betrach-
tungen liessen wohl Manchen die ersten Nächte in unruhigem Schlafe
verbringen, wir ritten auch an den beiden ersten Tagen weniger aus
als sonst; dann aber wurde die Vorsicht unbequem, die Möglichkeit
der Gefahr erweckte nur frischeren Lebensmuth und wir gingen
ganz unsere früheren Wege.


Auf den anderen Gesandtschaften hatten die Japaner ähnliche
Vorsichtsmaassregeln getroffen wie bei uns. Vor dem amerikanischen
Tempel waren sogar Kanonen aufgefahren, trotz allen Protesten des
Herrn Harris, der anfangs an keine Gefahr glaubte und die ganze
Verschwörungsgeschichte für eine List der Regierung hielt. Man
hatte ihn schon beim ersten Aufenthalt in Yeddo, als er 1857 den
Vertrag verhandelte, ebenfalls mit einer starken militärischen Wache
umgeben und einen nächtlichen Patrouillendienst organisirt, ihm
auch täglich die Lebensgefahr vorgestellt in welcher er schwebe,
nur um ihn einzuschüchtern und aus der Hauptstadt zu vertreiben;
als aber das Alles keinen Eindruck machte, stellte man damals still-
schweigend den Patrouillendienst wieder ein und zog die Wache
zurück. Aehnlich deutete er die jetzige Lage: die Regierung hatte
wiederholt den dringenden Wunsch ausgesprochen, dass die frem-
den Consuln in Yokuhama statt in Kanagava wohnen, die Gesandt-
schaften in Yeddo aber sämmtlich ein Gebäude innerhalb des Siro,
der kaiserlichen Stadt beziehen möchten, wo bei weit grösserer
Sicherheit auch der Verkehr mit den japanischen Behörden viel
bequemer wäre; die Diplomaten sahen in diesen Vorschlägen aber
nur die Absicht sie zu beaufsichtigen und immer mehr zu beschrän-
ken, und lehnten sich consequent dagegen auf. Da jetzt die Japaner
mit ähnlichen Ansinnen hervortraten, so hielt namentlich Herr Harris
die Vorspiegelung der Gefahr für einen Versuch, jenen Zweck durch
Einschüchterung zu erreichen. Herr Alcock sah die Sache ernster
an; die Japaner schienen ihm wirklich beunruhigt, das Auftreten der
Bunyo’s hatte etwas Ernstes und Aufrichtiges und eine gewisse
Aengstlichkeit liess sich auch unseren Hausbeamten und Dienern
[142]Die Lage. X.
anmerken. Graf Eulenburg glaubte damals nicht an ernstliche Ge-
fahr für die Fremden, wohl aber an innere politische Wirren, deren
Wichtigkeit die Regierung zur Förderung ihres Zweckes, der wei-
teren Beschränkung der Fremden übertriebe. Genaues konnte man
durchaus nicht erfahren, denn die Bunyo’s hüllten sich gegen ein-
gehende Fragen in tiefes Schweigen und im Volke liefen nur aus-
schweifende und widersprechende Gerüchte um: die sechshundert
Lonine sollten zu Hause erst ihre sämmtlichen Weiber und Kinder
umgebracht haben, um sich der Verzweiflung preiszugeben und zur
Mordlust zu entflammen. Dann hiess es wieder, nur die Kaufleute
in Yokuhama sollten niedergemetzelt, alle Diplomaten aber lebend
entführt werden, u. s. w. Waren diese Gerüchte auch falsch, so
sprachen doch genug deutliche Anzeichen für die Ernsthaftigkeit
der Lage: alle Polizeistationen in Yeddo erhielten starke militärische
Besatzung, die zur strengsten Handhabung der Ordnung angewiesen
war; auf der Landstrasse nach Kanagava begegnete man zahlreichen
Detachements, die von berittenen Daïmio’s inspicirt wurden. Ein
Bunyo des auswärtigen Ministeriums erzählte auf der amerikanischen
Gesandtschaft, die Regierung habe bis dahin nur vier oder fünf
Verschworene verhaften, nach einer ernsten Verwarnung aber wieder
freigeben lassen; sie hätte schon eben so viele hunderte aufzuheben
vermocht, vermeide das jedoch wegen der aufgeregten Volks-
stimmung, und begnüge sich zu zeigen, dass sie ihre Absichten
kenne. Wir ahnten damals die tiefe Zerrüttung der inneren Ver-
hältnisse noch nicht, welche in den nächsten Jahren zu Tage
kam; doch hatte es wohl den Anschein, als ob mächtige Personen,
die man nicht zu verletzen wagte, im Hintergrunde der Bewegung
ständen. Man brachte sie mit der Ermordung des Regenten und
dem Tode des Fürsten von Mito in Zusammenhang. Letzterer
sollte nach den neuesten Nachrichten weder eines natürlichen Todes
noch durch befohlenes Harakiru gestorben sein, sondern durch
Mörderhand: ein Trabant des Regenten hätte sich, als Zimmermann
verkleidet, im Palaste des Fürsten Arbeit zu verschaffen gewusst
und ihn mit der Axt erschlagen. Seinen Tod zu rächen, wollten
die sechshundert Lonine durch Ermordung der Fremden die Re-
gierung in Conflicte mit den westlichen Mächten bringen.


Der engliche Gesandte war, wie gesagt, nicht ohne Besorgniss
und hielt den Rear-Admiral Jones einige Tage in Japan zurück.
Da sich aber nichts ereignete, so segelte dieser am 8. Januar mit
[143]X. Vertrags-Verhandlungen.
der Impérieuse nach Hoṅgkoṅg ab und liess nur den Encounter
vor Yokuhama, während vor Yeddo Arkona und Thetis zur Auf-
nahme sämmtlicher Gesandtschaften bereit lagen; auf ein Raketen-
signal von einer derselben sollten die armirten Boote landen.


Die Vertrags-Arbeiten gingen ihren Gang. Schon am 3. Januar
erschienen die Bevollmächtigten zur Berathung des Handelsregulativs,
bei welchem es nur formelle Schwierigkeiten gab. Dann kamen sie,
wie zu erwarten war, auf den Ratifications-Termin zurück: sie
hatten sich die Tragweite ihrer Concession jetzt klar gemacht und
verlangten wieder die früher beantragte Fassung der Ratification
nach dreissig Monaten. Graf Eulenburg stellte ihnen vor, dass
sie, nachdem er ihren Wünschen nachgegeben, als Bevoll-
mächtigte
auf einmal festgestellte Puncte nicht zurückkommen
und deren nochmalige Aenderung verlangen dürften; er habe
mit Rücksicht auf die schwierige Lage der japanischen Regierung
anfangs eingewilligt, dass gar kein Ratifications-Termin genannt
werde, wolle auch jetzt noch diese Fassung billigen und unter
der bekannten Bedingung die hinausgeschobene Auswechselung
bei seiner Regierung nach Kräften befürworten; die Bunyo’s be-
haupteten aber, dass die öffentliche Stimmung jetzt mehr als jemals
die Angabe eines bestimmten Datums verlange, worauf Graf Eulen-
burg
als letztes Wort den Vorschlag machte, den Vertrag von einem
bestimmten Zeitpunct, etwa dem 1. Januar 1863 an, auf alle Fälle
in Kraft treten zu lassen, und für die Auswechselung der Ratifica-
tionen keinen Termin zu nennen. Dazu entschlossen sich die Japaner
nach starkem Widerstreben; Graf Eulenburg aber hatte durch sein
formelles Zugeständniss der Sache nichts vergeben, denn die Aus-
wechselung der Ratifications-Urkunden konnte kaum in einer kürzeren
Frist erfolgen. — Damit waren die Verhandlungen im Wesentlichen
beendet. Die Bunyo’s versprachen ihren holländischen Text mit
dem unseren genau vergleichen zu lassen, und, wenn sich keine
Unterschiede fänden, vier japanische und zwei holländische Ab-
schriften zu besorgen, wogegen der Gesandte zwei holländische und
vier deutsche übernahm. Man hoffte von japanischer Seite in zehn
Tagen fertig zu sein und der Gesandte sprach die Erwartung aus,
die ganze Angelegenheit bis zum 15. Januar abgethan zu sehen.


Schon am 5. kam Moriyama mit der Bitte um einige kleine
Aenderungen: so erregte der Ausdruck »im Jahre der christlichen
Zeitrechnung« Anstoss. Offenbar will die Obrigkeit den zwei Jahr-
[144]Vertrags-Angelegenheiten. X.
hunderte lang mit Fleiss genährten Abscheu vor dem staatsgefähr-
lichen Christenthume auch jetzt noch aufrecht halten, oder sollte
sie sich scheuen die »öffentliche Meinung« mit diesem Worte zu
verletzen? Man gab sich zufrieden, als dafür »im Jahre des Herrn«
gesetzt wurde. — Moriyama kam dann in den nächsten Tagen noch
mehrfach mit ähnlichen Anliegen, so dass Graf Eulenburg sich ver-
anlasst sah, den Bunyo’s seine Unzufriedenheit mit den Behelligungen
des Dolmetschers auszudrücken, und sie ersuchte selbst zu kommen,
wenn sie noch Weiteres wünschten. Sie erschienen denn auch am
8. Januar und erklärten nach einer ganz unwesentlichen Aenderung,
nun sei Alles in Ordnung und die Reinschriften sollten besorgt
werden; man schied unter gegenseitigen Glückwünschen und
Artigkeiten.


Die Antwort auf des Gesandten nochmaliges Gesuch an den
Minister — vom 28. December 1860 — die Zollvereins-Staaten, die
mecklenburgischen Grossherzogthümer und die Hansestädte an dem
Vertrage Theil nehmen zu lassen, kam erst am 11. Januar und
lautete, wie sich erwarten liess, ablehnend. Graf Eulenburg be-
antragte dann abermals bei dem Minister die Ausfertigung eines
schriftlichen Versprechens, dass der preussische Vertrag in fünf
Jahren für jene Staaten gültig werden solle, wurde aber auch
darauf abschläglich beschieden. Er hatte mit der letzten Post
durch Vermittelung seiner Regierung ein Schreiben von den Senaten
der Hansestädte an den Taïkün erhalten, beschloss aber unter den
obwaltenden Umständen, dasselbe garnicht abzugeben. Denn einmal
hatten es sich die Vertreter der anderen Mächte in Yeddo zur
unverbrüchlichen Regel gemacht, persönliche Schreiben ihrer Sou-
veraine an den Taïkün nur in dessen eigene Hände niederzulegen,
und Graf Eulenburg durfte von diesem Grundsatz gewiss nicht ab-
weichen; dann aber enthielt jenes Schreiben das Gesuch um einen
Vertrag, welchen die Regierung bereits definitiv abgelehnt hatte.
Selbst wenn dem Gesandten die gewünschte Audienz zur Ueber-
reichung seiner Creditive noch ertheilt wurde, war es nicht zweck-
mässig das Schreiben der Hansestädte abzugeben, sondern für
künftige Eventualitäten vortheilhafter, die Sache von ihrer Seite
ganz unberührt zu lassen. Wollte er aber mit ihrem Schreiben
anders verfahren, als mit dem seines eigenen Souverains, — indem
er dasselbe dem Minister aushändigte, — so musste das ihre Würde
in den Augen der Japaner wesentlich compromittiren.


[145]X. Die Lage. — Heusken.

Wir verlebten unsere Tage, der Bedrohung mit Mord und
Brand nicht mehr achtend, in der heitersten Stimmung. Das köst-
liche Wetter lockte zu weiten Ausflügen innerhalb der Stadt, denn
draussen waren die Wege unergründlich, die Reisfelder in Sümpfe
verwandelt und zum Theil schon mit Wasser bedeckt, die sie
durchschneidenden schmalen Dämme völlig aufgeweicht. Es fror
jede Nacht und das zolldicke Eis auf den Gräben thaute auch bei
Tage trotz aller Pracht des Sonnenscheins nicht ganz. Auf den
Spazierritten begegnete uns nie etwas Unangenehmes; die Haltung
des Volkes war so freundlich wie früher, die der Samraï nicht
drohender; wir waren so sorglos wie jemals zuvor. — Sonntag den
6. Januar hielt ein amerikanischer Missionar in der Wohnung des
Herrn Harris Gottesdienst, zu dem sich die Mitglieder der preussi-
schen und der englischen Gesandtschaft sämmtlich eingefunden
hatten; nachher blieben die jüngeren Leute in heiterem Gespräch
noch eine Weile bei Heusken zusammen, der ein französisches
Gedicht von sprudelndem Witz, voll Beziehungen auf unsere Lage
und die kleinen Ereignisse des Tages vorlas. Er war in dieser
Zeit so voll Lebensfrische und Frohsinn, wie wir ihn nie gesehen,
lud fast täglich einige seiner Freunde von unserer und den anderen
Legationen zum Essen ein und bewirthete sie auf das ausgesuchteste.
An diese heiteren Sitzungen, bei welchen seine unerschöpfliche Laune
in den geistreichsten Einfällen glänzte, können seine damaligen Gäste
noch heut kaum ohne Rührung zurückdenken. Heusken hatte,
einer angesehenen Familie entstammend, die reichste und glücklichste
Jugend genossen, dann aber, als sein Vater durch Unglücksfälle
plötzlich verarmte und bald darauf starb, alle Bitterkeiten
des Lebens kennen gelernt. Er erkämpfte sich mühsam seine
Existenz, als der Zufall ihn in Amerika Herrn Harris zuführte, der
damals als Consul nach Japan ging. Seitdem blühte sein Glück
wieder auf. Er gewann das volle Vertrauen seines Chefs, mit dem
er in Simoda Jahre lang in tiefster Einsamkeit lebte; seine Stellung
wurde durch seine unentbehrliche Mitwirkung bei allen Verträgen
immer einflussreicher und vortheilhafter, er lebte in Wohlstand,
unterstützte seine bejahrte Mutter in Amsterdam durch reiche
Spenden, und hatte für die Zukunft die besten, ja glänzende Aus-
sichten. Man fühlte sich mit ihm wohl in seiner Existenz, das
Behagen der Lage sprach sich auch in seiner äusseren Umgebung
aus. Vor dem heimlichen kleinen Hause blühte ein zierliches
II. 10
[146]Geschenke für den Taïkūn. X.
Gärtchen, seine hellen freundlichen Zimmer schmückten ausgesuchte
japanische Kunstarbeiten, seine Dienerschaft zeigte nur zufriedene
Gesichter und die angenehmste Sorgsamkeit. Heuskens Leibdiener,
ein zwölfjähriger Knabe mit den klügsten Augen und etwas schwer-
müthigem Ausdruck, der Sohn eines entlassenen Beamten, trug die
beiden Schwerter und das kleidsame Kostüm seines Standes mit
grosser Würde; sein anständiges feines Benehmen machte ihn zum
Liebling auf allen Legationen, wo er oft als Bote seines Herrn
erschien, aber durch kein Geschenk zu verwöhnen, durch keinen
Scherz aus der gemessenen Haltung zu bringen war, die sich auf
seiner in Akabane gefertigten Photographie so deutlich ausspricht.


Dort war man jetzt eifrig mit Auspacken und Aufstellen der
letzten Geschenke für den Taïkūn beschäftigt. Das lebensgrosse
Bildniss Seiner königlichen Hoheit des Regenten, die schönen Litho-
phanieen, die zahlreichen Prachtwerke und Photographieen erregten
die lebhafte Bewunderung der japanischen Gelehrten, welche unter
Leitung des Attaché von Bunsen den Gebrauch des mitgebrachten
electrischen Telegraphen erlernten. Die Behörde hatte es abgelehnt,
denselben am Ort seiner Bestimmung durch unsere Mechaniker auf-
stellen und mit den Leitungsdräthen versehen zu lassen, und schickte
nur einige gelehrte Yakunine nach Akabane die sich mit der Con-
struction des Apparates vertraut und in der Handhabung sehr an-
stellig zeigten. Sie sprachen mit dem Attaché von Bunsen hollän-
disch; als dieser sich aber einen Augenblick entfernte, redete der Eine
die Mechaniker plötzlich deutsch an, zwar gebrochen, doch ganz
verständlich. Er begriff auch ihre Antworten recht gut, und zeigte
nachher Herrn von Bunsen einen in Breda mit deutschen Lettern
gedruckten Leitfaden unserer Sprache mit den Worten: »Das muss
ich lehren, das ist meine Bedienung.«


Heusken hatte mit Moriyama den holländischen Text des
Vertrages sorgfältig collationirt, wir glaubten Alles im Reinen. Am
15. Januar sollten die Geschenke übergeben werden, am 14. früh-
stückten die zur Besichtigung derselben eingeladenen Vertreter von
England und Amerika mit ihren Attaché’s in Akabane. Noch immer
war die Weihnachtsdecoration der Empfangsräume frisch und grün,
die Sonne schien hell und frühlingswarm durch die weissen Papier-
scheiben; unsere Tafel war mitten unter den Geschenken gedeckt,
ein magisches Licht glühte und glitzerte auf allen den reichen
Gegenständen, und eine Art Festrausch bemeisterte sich unmerklich
[147]X. Feuer in Yokuhama.
der Gesellschaft. Wir waren niemals so freundschaftlich beisammen ge-
wesen; die aufrichtige Theilnahme der englischen und amerikanischen
Collegen gab sich in der liebenswürdigsten Heiterkeit kund. Nach
Tisch lockte das herrliche Wetter in das Freie; wir setzten uns,
unserer sechszehn, mit dem Gesandten zu Pferde und ritten, von
dreiundzwanzig Yakuninen geleitet, durch die Stadt und das Siro;
die Ausgelassenheit erreichte hier ihren höchsten Grad; die jüngeren
Reiter tummelten auf den breiten öden Strassen neben dem Schloss-
graben ihre Hengste gegeneinander und verübten die muthwilligsten
Streiche. — Abends blieb Heusken allein noch bis gegen neun bei
uns; wir studirten englische Zeitungen, die damals voll waren von
dem italienischen Kriege. Heusken stiess dabei auf einen Schlacht-
bericht, wo der Tod eines jungen Generals erzählt wird, der siegend
im Hochgefühl voller Kraftentwickelung seine glänzende Laufbahn
endet; er war von dieser Erzählung sichtlich ergriffen und konnte
nicht aufhören die Glückseligkeit solchen Todes zu preisen. Die
Ausgelassenheit des Tages hatte bei Allen einer kleinen Abspannung
Platz gemacht; wir anderen lasen oder schwatzten sehr ruhig, und
der sonst so muntere Heusken kam uns ganz sentimental vor; seine
Stimmung an jenem Abende fiel Allen auf.


Die Bevölkerung von Yokuhama wurde an demselben Tage
in heftige Bestürzung versetzt. Im Pferdestall eines holländischen
Kaufmanns war Feuer ausgekommen, das bald auch das daran-
stossende Wohnhaus und Magazin ergriff; man erwartete nun das
grosse Gemetzel. Von der Arkona aus, welche um Wasser einzu-
nehmen auf einen Tag hinüber gegangen war, wurde die auf-
steigende Flamme bemerkt; da sich zugleich Flintenschüsse hören
liessen, so armirte Capitän Sundewall seine Boote und schickte
sie mit zahlreicher Mannschaft an das Land. Auf der Brandstätte
anlangend fanden unsere Seeleute den Gouverneur von Kanagava
in voller Rüstung, die Löschanstalten leitend; er gab bereitwillig
Aufklärung: die Schüsse rührten von einem Detachement Soldaten
her, das, im Feuer exercirend, in der Nähe inspicirt wurde. — Von
den ansässigen Ausländern war niemand auf der Brandstätte; sie hielten
sich, einen Angriff fürchtend, in ihren Häusern. Das Feuer griff so
rasch um sich, dass wenig gerettet werden konnte, blieb aber auf das
eine Grundstück beschränkt. Unsere Mannschaften kamen nicht in
Thätigkeit und begegneten, an Bord zurückkehrend, den Booten des
Encounter und des Cachelot, die jetzt ebenfalls zu Hülfe eilten.


10*
[148]Empfangnahme der Geschenke. X.

Den 15. Vormittags erschienen die Bevollmächtigten zur
Empfangnahme der Geschenke für den Taïkūn; ihre niederge-
schlagenen Mienen verkündeten Böses und sie beichteten sogleich,
dass die Reinschriften des Vertrages noch nicht begonnen seien:
einige im holländischen Text gebrauchte Ausdrücke liessen sich nicht
in das Japanische übersetzen; sie seien vom Minister beauftragt die
Abänderung derselben nachzusuchen. Graf Eulenburg erklärte sich
zu solchen Aenderungen bereit, die nicht gegen den Sinn des
deutschen Textes wären, und so wurden auch einige angebliche
Verbesserungen vorgenommen. Als aber die Herren, durch diese
Nachsicht ermuthigt, von einzelnen Ausdrücken ausgehend den
Inhalt des Vertrages anzugreifen begannen und die Weglassung
ganzer Bestimmungen verlangten, erklärte der Gesandte ihnen ernst
und bündig, dass er nicht in die Aenderung eines einzigen Buch-
stabens mehr willigen werde und einfach die Frage stelle, ob sie
das Vertrags-Instrument in seiner jetzigen Fassung unterzeichnen
wollten oder nicht. Sie baten darauf sehr demüthig um Verzeihung,
versprachen von allen ferneren Wünschen abzustehen und zweifelten
nicht, dass sie zur Unterzeichnung ermächtigt werden würden. —
Sie besahen dann die Geschenke und liessen sich Alles erklären.
Graf Eulenburg hatte die Titel der Bücher und die Unterschriften
der Photographieen in das Japanische übersetzen lassen und musste
viele darauf bezügliche Fragen beantworten. Die beiden gusseisernen
Statuetten von Bläser, kämpfende Amazonen zu Pferde waren in
Folge mangelhafter Verpackung grade an den dünnsten Stellen der
Pferdebeine gebrochen und unsere Mechaniker wussten keinen Rath
dafür; die Bunyo’s hatten aber bei einem früheren Besuche den
Schaden für leicht zu heilen erklärt und in der That Leute geschickt,
welche die zerbrochenen Theile zusammenlötheten. Die Fugen
waren für das blosse Auge kaum sichtbar und so fest, dass sie
für den Augenblick die schwere Metallmasse des springenden Pferdes
mit der Figur wirklich trugen, gingen aber beim Transport wieder
auseinander. — Die Bevollmächtigten drückten ihre Freude über
die Geschenke aus und versprachen dieselben am folgenden Tage
holen zu lassen.


So war endlich Alles abgethan, denn man durfte die Empfang-
nahme der Geschenke als Schlussact der Verhandlungen und sichere
Bürgschaft für die Unterzeichnung des Tractates ansehen. Heusken,
der den ganzen Tag über in Akabane beschäftigt gewesen war,
[149]X. Mordanfall auf Heusken.
blieb noch zum Essen und einen Theil des Abends; wir sassen
in recht behaglicher Stimmung bei dem Gesandten, zufrieden dass
nun alle Noth und Mühe ein Ende habe, und dankbar namentlich
gegen Heusken, der nicht in gewöhnlicher Weise seine Schuldigkeit
gethan, sondern mit der wärmsten Freundschaft für unsere Zwecke
gearbeitet und nebenbei uns Allen den Aufenthalt in Yeddo so
angenehm gemacht hatte. — Er verliess uns um halb neun. Gegen
zehn kam von der amerikanischen Gesandtschaft ein athemloser
Bote mit einem Billet des Herrn Harris: Heusken sei schwer ver-
wundet nach Hause gebracht worden und bedürfe schleunigst
ärztlicher Hülfe. Dr. Lucius, der eben schlafen gehen wollte, warf
sich sogleich wieder in die Kleider; Graf August zu Eulenburg,
die Herren von Brandt, von Richthofen und der Verfasser dieser
Blätter waffneten sich um ihn zu begleiten. Es war stockfinstere
Nacht und wir glaubten den etwa zwanzig Minuten langen Weg am
schnellsten und sichersten zu Fuss zurückzulegen, während Herr
Heine sein Pferd satteln liess und uns wenige hundert Schritt vor
dem amerikanischen Tempel vorbeiritt. — Heuskens Zimmer war
schwach erleuchtet, er lag mit gebrochenen Zügen am Boden aus-
gestreckt in einer Blutlache; um ihn standen seine Diener und der
Photograph Wilson; zwei japanische Aerzte machten Vorbereitungen
zum Verbande der weit klaffenden Hiebwunde, die von der Gegend
des Nabels queer über den Unterleib fast bis zur Hüfte reichte.
Die Eingeweide waren blossgelegt und aus ihrer Lage gebracht, eine
Darmschlinge fast ganz durchschnitten. Dr. Lucius nähte, im Blute
knieend, zuerst diese, dann die äussere Wunde zusammen, während
einer der Freunde ihm leuchtete, mit der Rechten die todtenkalte
Hand Heuskens fassend, die in der seinen allmälich wieder erwarmte.
Der Verwundete war bei Bewusstsein, das Auge aber gebrochen,
der Puls fast unfühlbar. Das Nähen machte ihm grosse Schmerzen,
er stöhnte laut, fragte mit schwacher Stimme ob er sterben würde
und verlangte zu schlafen. Für die Umstehenden die nicht thätige
Hülfe leisten konnten — auch der Abbé Girard und Dr. Myburgh
von der englischen Legation kamen bald herbei — war der Anblick
so grässlich, die blutdünstende Atmosphäre des kleinen Zimmers so
betäubend, dass sie sich häufig abwenden und draussen frische
Luft schöpfen mussten. Nachdem die Wunde genäht war, schnitten
wir ihm die blutigen Kleider vom Leibe und entdeckten dabei noch
eine zweite Verletzung: ein Schwertstich war zwischen dem linken
[150]Heuskens Tod. X.
Arm und dem Oberkörper durchgegangen, hatte aber auf beiden
Seiten das Fleisch nur leicht geritzt. Der Körper war so steif und
schwer, dass wir ihn kaum regieren, und den Obertheil nothdürftig
bekleiden konnten. Er verlangte darauf etwas Wein und dankte
in schwachen Lauten den Umstehenden; wir legten ihn in das ge-
wärmte Bett und wandten ihn auf die linke Seite, worauf er einzu-
schlafen schien.


Dr. Lucius hatte dem Verwundeten Hoffnung eingesprochen
und nannte gegen uns die Verletzung auch nur unbedingt lebens-
gefährlich, um das Wort »tödtlich« nicht im Zimmer des Leidenden
laut werden zu lassen. Er blieb mit dem Abbé Girard bei dem
Kranken, während die übrigen Mitglieder unserer Legation nach
Akabane zurückkehrten, um dem Gesandten Rechenschaft zu geben
und die Wachenden später abzulösen. Herr Heine kehrte gleich
mit den Nachtkleidern für sich und Dr. Lucius nach der amerika-
nischen Gesandtschaft zurück und kam noch zeitig genug, um
Heusken sterben zu sehen. Dieser wurde gegen Mitternacht unruhig,
verlangte mehr Wein, und bat man möchte ihn aufrichten. Der
Abbé Girard reichte dem Scheidenden die Sterbesacramente; der Athem
ward röchelnd und stockte; — er schlief ohne Zeichen des Schmerzes
hinüber. Herr Harris weinte bitterlich bei der Leiche; Dr. Lucius
blieb die Nacht dort, um ihm nahe zu sein.


Der Arzt sprach sich dahin aus, dass die Hiebwunde im
Unterleib unter allen Umständen den Tod herbeiführen musste, das
schnelle Hinscheiden aber nur durch den furchtbaren Blutverlust
verursacht sei. Von dem Augenblick der Verwundung bis zur
Leistung der ärztlichen Hülfe vergingen sicher fast anderthalb Stun-
den; Heusken hatte den grössten Theil dieser Zeit auf der Strasse
gelegen und sich verblutet. Er schlummerte in Folge dessen sanft
hinüber, während sonst nach ärztlichem Gutachten heftige Entzün-
dung eintreten musste, an welcher er nach einigen Tagen wahr-
scheinlich unter grässlichen Schmerzen gestorben wäre.


Der Thatbestand des Angriffs konnte nicht mit Sicherheit
festgestellt werden. Heusken ritt mit drei Yakuninen nach halb
neun auf dem gewöhnlichen Wege in kurzem Trab nach Hause; er
trug ausser einer starken Hetzpeitsche niemals Waffen. Ein Yakunin
ritt voraus, zwei dicht hinter ihm; nebenher liefen die vier Betto’s
mit Laternen, deren auch die Yakunine hatten. Der Angriff erfolgte
etwa halbwegs zwischen beiden Gesandtschaften an einer Stelle wo
[151]X. Thatbestand der Ermordung.
die Strasse sich verengt: hier stürzten sieben bis acht Bravo’s mit
furchtbarem Gebrüll aus einer Nebengasse hervor, schlugen die
Laternen aus, rannten die Betto’s nieder und warfen sich auf ihr
Opfer. Heusken sah ein Schwert blitzen und einen Stoss nach seiner
linken Seite führen, dem er ausgewichen zu sein glaubte; wir fanden
die Verletzung auf der inneren Seite des Armes. Von dem tödtlichen
Hiebe, welcher von der rechten Seite erfolgte, fühlte er bei der
furchtbaren Schärfe der Waffe garnichts; er glaubte sich befreit,
ritt in scharfem Trabe noch einige hundert Schritt und holte seinen
Betto ein, befahl diesem, sich schwach fühlend, das Pferd zu
halten, stieg mit seiner Hülfe ab und versuchte zu Fuss weiter zu
gehen, sank aber nach einigen Schritten zusammen. Soviel, und
dass man ihn eine halbe Stunde allein auf der Strasse liegen liess,
hatte Heusken selbst noch erzählt, alles Uebrige blieb dunkel. Nach
Aussage der Yakunine wären zwei von ihnen bei ihm geblieben,
der dritte aber weitergeritten um Hülfe zu holen; dieser hätte bald
gemerkt dass sein Thier verwundet sei und nicht weiter könne, er
hätte es an einen Zaun gebunden, seinen Weg zu Fuss fortgesetzt
und wäre dann mit Leuten zurückgekehrt, die Heusken nach Hause
getragen hätten. — Man fand in der That das Pferd mit einer tiefen
Hiebwunde in der Kruppe nahe bei der Mordstelle angebunden; im
Uebrigen aber musste dieser Bericht ungenau sein. Die Entfernung
vom Schauplatze der That bis zur amerikanischen Legation beträgt
zu Fusse höchstens zehn Minuten: wie konnten anderthalb Stunden
vergehen, bis wir in Akabane Nachricht erhielten? Wenn auch dem
Verwundeten die Zeit, die er auf der Strasse lag, länger erschienen
sein mag als sie war, so liess sich doch aus seiner Aussage abneh-
men, dass er eine Zeit lang allein dort liegen blieb. Wahrschein-
lich ergriffen alle Japaner, selbst die sonst so treuen und muthigen
Betto’s, im Entsetzen des Augenblicks die Flucht und eilten nach
Hause, glaubend dass Heusken, den sie ja weiterreiten sahen, folgen
würde. Sein eigener Betto, den er einholte, blieb wohl eine Weile
bei ihm, ging aber natürlich, da niemand herbeikam, endlich Hülfe
zu holen. — Man riss dann einen Laden vom nächsten Hause und
benutzte ihn als Bahre.


Es war eine furchtbare Nacht. Wir waren so an Heuskens
Umgang gewöhnt und hatten ihn noch vor wenigen Stunden so
voller Lebensfrische gesehen, dass man den Gedanken garnicht
fassen konnte. Am 20. Januar sollte sein Geburtstag begangen
[152]Vermuthungen über die Ermordung. X.
werden, wozu allerlei Ueberraschungen vorbereitet wurden; nun war
er aus unserer Mitte gerissen. Die Stellung, die Heusken zu uns ein-
nahm, war der Art, dass Graf Eulenburg den anfangs nahe liegen-
den Gedanken, ihn durch ein ansehnliches Honorar aus den für
solche Zwecke bestimmten Fonds der Expedition für seine wichtigen
Leistungen zu entschädigen, längst aufgegeben und die Absicht ge-
fasst hatte, Seine Majestät um eine ehrenvollere Auszeichnung für
ihn anzugehen. Da das jetzt nicht mehr möglich war, so hat die
Preussische Regierung es für eine angenehme Pflicht angesehen,
einen Theil des Dankes, den sie ihm schuldete, seiner betagten
Mutter zu bethätigen.


Heusken war kaum eine Stunde verschieden, als ein Bunyo
des Auswärtigen bei Herrn Harris erschien um im Namen des Mini-
sters zu condoliren und nach den Umständen des Mordes zu fragen.
Er verlangte die Leiche zu sehen, untersuchte die Wunden, und
versprach in grosser Bewegung die strengste Forschung nach den
Mördern. — Graf Eulenburg fand Herrn Harris am Morgen in der
tiefsten Betrübniss; Heusken war fünf Jahre lang sein einziger treuer
Begleiter gewesen, den er liebte, »nicht wie einen Sohn, sondern
wie einen Lieblingssohn«; für ihn war der Verlust nachhaltig und
unersetzlich. Er sprach schon in diesem Augenblick die japanische
Regierung laut von aller Verantwortlichkeit frei, zweifelte aber
nicht, dass die That politische Motive habe; ob im Zusammenhang
mit der Verschwörung, werde wohl kaum zu ermitteln sein. Er
habe Heusken unaufhörlich beschworen, Abends nicht auszureiten,
da es unter den ausgestossenen Samraï in Yeddo jederzeit Banditen
gebe, die aus blossem Blutdurst mordeten und sich jede Blutthat
zum Ruhme rechneten; auch wenn die Behörden der Thäter nicht hab-
haft würden, könne er daraus keinen Schluss auf ihre Mitwissenschaft
oder stillschweigende Billigung des Verbrechens ziehen. Herr Harris
blieb in diesen Aussprüchen nur seinen alten Ueberzeugungen treu,
mit denen er seit lange im Widerspruch zu den Ansichten der übrigen
Diplomaten stand. Diese folgerten aus der Thatsache, dass keine
der zahlreichen Mordthaten jemals bestraft worden war, eine Mit-
schuld oder Connivenz der Regierung, während Herr Harris, fest
überzeugt von deren Ehrenhaftigkeit und gutem Willen die Verträge
zu halten, den Grund dieser Straflosigkeit in den Verhältnissen des
Landes und in der politischen Stellung suchte, in welche die Ver-
träge die Regierung gedrängt hätten. — Er setzte eine Belohnung
[153]X. Versprechen des Ministers. Uebersetzung des japan. Staatskalenders.
von 250 Kobaṅgs (500 Thlr.) auf Entdeckung der Mörder, doch
glaubte schon damals niemand an deren Verhaftung. Der Minister
des Auswärtigen, Ando Tsus-sima-no-kami, soll in einer Zusam-
menkunft, zu welcher er Herrn Harris durch eine Escorte von achtzig
Leibgardisten des Taïkūn abholen liess, sehr bewegt gewesen sein,
die strengste Nachforschung verheissen und die Ueberzeugung aus-
gesprochen haben, dass man einst die Mörder ergreifen werde: die
Polizei und Justiz seien aber in Japan sehr langsam, es könnten
Wochen, Monate, vielleicht auch Jahre vergehen; es wäre der
Regierung ein Leichtes einige verurtheilte Verbrecher, unter dem
Vorgeben, dass es die Mörder seien, zur Genugthuung der Fremden
hinrichten zu lassen; sie ziehe aber vor, ehrlich die Wahrheit zu
sagen. — Herr Harris forderte später für Heuskens Verwandten
eine Entschädigung von zehntausend Dollars, welche die Regierung
ohne Sträuben zahlte.


Am Morgen des 16. ordnete der Attaché von Brandt auf
Ersuchen des amerikanischen Minister-Residenten vorläufig den
Nachlass und brachte die Werthsachen in Sicherheit; noch densel-
ben Tag kam Heuskens naher Freund, Herr de Graeff van Polsbroek
aus Kanagava, wohin die Trauerkunde schnell gedrungen war, und
übernahm die weitere Sorge dafür; der Verstorbene war trotz seinem
Verhältniss zur amerikanischen Gesandtschaft immer holländischer
Unterthan geblieben. Consul Polsbroek fand unter seinen Papieren die
handschriftliche Uebersetzung des japanischen Staatskalenders, oder,
wie der Titel wörtlich lautet, »Spiegels der Tapferkeit«, welcher die
Aemter und Würden, die Wappen und Feldzeichen und, wie es
scheint, auch die Genealogie der höheren Adelsfamilien enthält. Die
japanischen Behörden thun mit diesem Buche, das für Inländer in
vielen Buchläden zu haben ist, gegen Fremde sehr geheimnissvoll,
und man kann es sich nur auf Umwegen verschaffen1). Bei Aufnahme
des Inventars legte Herr Polsbroek das Manuscript mit anderen
Papieren in ein Buch und dieses mit mehreren Werthsachen in
einen Kasten, der unter Escorte von drei Yakuninen nach seiner
[154]Heuskens Begräbniss. X.
Wohnung geschafft wurde. Bei Entleerung des Kastens fand sich
alles Uebrige in Richtigkeit, das Manuscript aber, welches den Ja-
panern der beigefügten Wappen wegen aufgefallen sein mag, war
verschwunden und ist trotz allen Reclamationen nicht wieder zum
Vorschein gekommen.


Am 18. fand das Begräbniss statt. Die Herren Dr. Lucius
und Heine waren seit dem 16. bei Herrn Harris wohnen geblieben
um ihm bei den Vorbereitungen beizustehen; Herr von Richthofen
und der Verfasser begaben sich am 18. Morgens zu Fuss nach dem
Trauerhause. Die Strassen waren ungewöhnlich belebt; wir begeg-
neten vielem Gesindel und ganzen Trupps von zweischwertigen
Samraï, die uns mit grinsenden Blicken musterten. Vor der Legation
wimmelte es von Menschen, die nur zögernd und widerwillig aus
dem Wege gingen; man hörte Spottlaute und rohes Gelächter. Wir
hatten ein ähnliches Publicum auf den Strassen von Yeddo nie
gesehen, es war als ob der ganze Auswurf der fremdenfeind-
lichen Trabanten, darunter vielleicht Verschworene und die Mörder
selbst, sich zusammengerottet hätten, um die Leidtragenden zu
höhnen.


Wir waren gegen zwölf bei Herrn Harris versammelt, als
die fünf Bunyo’s des Auswärtigen, welche dem Begräbniss als Ver-
treter der Regierung beiwohnen sollten, mit sehr bedenklichen Ge-
sichtern erschienen. Sie eröffneten dem Minister-Residenten, dass
sichere Kunde von einem beabsichtigten Angriff der Verschworenen
auf den Leichenzug eingelaufen sei, dass sie ihn deshalb ersuchten,
den Sarg in aller Stille und ohne jede Begleitung beisetzen zu lassen;
die Regierung habe zwar Maassregeln zum Schutze des Zuges ge-
troffen, könne aber für nichts einstehen und bitte die Gesandten
und deren Begleiter dringend, in ihren Wohnungen zu bleiben. Herr
Harris erwiderte ohne Besinnen mit nachdrücklichem Ernst, dass er
und seine Collegen sich durch nichts von der Liebespflicht abhalten
lassen würden, die Leiche des ermordeten Freundes zu geleiten;
man werde suchen sich selbst zu schützen, wenn die japanische
Regierung dazu nicht die Macht und den guten Willen habe. Er
beauftragte zugleich Herrn Heine den Grafen Eulenburg von der
Lage der Dinge zu unterrichten, und Jener bat den Verfasser statt
seiner nach Akabane zu reiten. Das Gesindel stand jetzt in dichten
Haufen auf den Strassen, schien oft dem Boten den Weg verlegen
zu wollen und verfolgte ihn mit gellendem Hohngeschrei.


[155]X. Heuskens Begräbniss.

In Akabane hatten sich unterdessen die zum Leichenbegängniss
commandirten Mannschaften, zwanzig Seesoldaten, zwanzig Matrosen
und das Musikcorps, ferner Capitän Jachmann mit vielen Officieren,
Beamten und Cadetten der beiden Kriegsschiffe eingefunden, welche
dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollten. Capitän Sunde-
wall
blieb wegen Unwohlsein an Bord. Das Detachement wurde
auf die Nachricht der drohenden Gefahr noch durch zehn Mann
von unserer Wache verstärkt und erhielt den Befehl, scharf zu
laden. Der Gesandte und seine Begleiter bewaffneten sich mit Säbeln
und Revolvern und marschirten mit der Escorte zu Fuss in ge-
schlossenem Zuge nach dem amerikanischen Tempel, wo unterdessen
auch die Mitglieder der übrigen Legationen und die aus Kanagava her-
übergekommenen Consuln eingetroffen waren. Der Leichenzug wurde
auf dem Hofe geordnet und setzte sich um halb zwei in Bewegung:
voraus die fünf Bunyo’s zu Pferde, im Kamisimo, — dem geflügelten
Staatskleide, — gefolgt von ihren Insignien und Kofferträgern; dann
das Musikcorps von Seiner Majestät Schiff Arkona; die holländische
Flagge, rechts davon die Flaggen von Amerika und England, links
die von Preussen und Frankreich, von preussischen Matrosen ge-
tragen und escortirt, dann ein Detachement preussischer und ein
Detachement holländischer Seesoldaten von der Kriegsbrig Cachelot,
welche den General-Consul Herrn De Witt aus Kanagava herüber-
geführt hatte; Abbé Girard und Doctor Lucius, welche dem Ver-
storbenen in den letzten Augenblicken beigestanden hatten; der Sarg,
bedeckt von der amerikanischen Flagge, getragen von Dienern des
Herrn Harris, umgeben von holländischen Seesoldaten; die Herren
Harris und De Witt mit den Dienern des Verstorbenen; die Gesand-
ten von Preussen, England und Frankreich, Capitän Jachmann, die
fremden Consuln, die sämmtlichen Mitglieder und Angehörigen der
Legationen in Yeddo, die preussischen und holländischen Seeofficiere.
Ein Detachement preussischer Seeleute schloss den Zug, der von
einer Chaine preussischer und holländischer Marinesoldaten cotoyirt
und von vielen Yakuninen zu Fuss und zu Pferde in ungeordneter
Reihe begleitet wurde. Von Vorsichtsmaassregeln der Regierung
war keine Spur zu bemerken.


Der Weg führt von der amerikanischen Gesandtschaft zunächst
durch enge Gassen, dann an dem früher erwähnten Flüsschen entlang,
das die südwestlichen Vorstädte durchströmt. Sein Ufer ist hoch,
die ebene Strasse etwa funfzehn Schritt breit und rechts, auf der
[156]Heuskens Begräbniss. X.
Landseite, mit dichten Hecken, stellenweise auch mit Häuserreihen
gesäumt; mehrere schmale Fusspfade münden hinein, zwischen Hecken
laufend, deren Dickicht zum Hinterhalt sehr geeignet schien. Hier
konnte leicht ein Angriff von entschlossenen Subjecten erfolgen, der
schwerlich ohne Verlust von Menschenleben abzuschlagen war. Die
Entfernung bis zum Friedhofe beträgt kaum zwanzig Minuten; auf
der linken, vom Flusse bespülten Seite war kein Angriff möglich;
die rechte konnte durch Aufstellung einer geringen Truppenzahl
auf den anstossenden Grundstücken vollständig gesichert werden.
Von einer solchen bemerkten wir aber nichts, und wenn trotzdem
keine Beunruhigung erfolgte, so hatte man das offenbar nicht den
Maassregeln der Regierung zu danken; denn sie beschränkten sich
auf Geleitung des Zuges durch eine Anzahl Yakunine, deren Ge-
genwart nach den eben gemachten Erfahrungen wenig Vertrauen
einflössen konnte. Der Angriff mag beabsichtigt gewesen und nur
wegen der drohenden Reihe unserer Bayonette unterblieben sein;
jedenfalls konnte die Regierung ihn von vorn herein unmöglich
machen, that aber keine Schritte dazu, sondern vergrösserte nur
die Schreckensgerüchte, um das feierliche Leichenbegängniss zu
hintertreiben. Solche Demonstration in der Hauptstadt des
Reiches war in der That demüthigend für die stolzen Japaner;
sie konnte die Regierung in den Augen des Volkes wohl herab-
setzen und ihren Gegnern neuen Anhang schaffen. Als wir neun
Monate später nach Abschluss des chinesischen Vertrages in
Pekiṅg waren, liessen die dortigen Behörden den Gesandten bitten,
die als Ordonnanzen mitgenommenen Seesoldaten nicht mit Helm und
Seitengewehr in den Strassen erscheinen zu lassen, — und hier
marschirten über siebzig militärisch bewaffnete Seeleute, ihre Officiere
und die Diplomaten in geschlossenen Gliedern umgebend, in drohen-
der Haltung, den Warnungen der Obrigkeit wie dem Hohn der
Menge trotzend, durch die Hauptstadt des feudalen Adels. Es war
aber nothwendig das feierliche Leichenbegängniss durchzusetzen,
nicht bloss um dem Freunde die letzte Liebespflicht zu erweisen,
sondern auch um die Ehre der Flaggen zu wahren; man trat hier
nicht der Würde, sondern dem Dünkel der Japaner entgegen. —
Die Gegenwart der hohen Staatsbeamten bei dem Begräbniss war
eine starke Concession an die Fremden; sie musste dem Volke als
Billigung der Leichenfeier durch die Regierung gelten und war insofern
von ganz besonderem Werthe.


[157]X. Heuskens Begräbniss.

Der Friedhof des Tempels von Kosinge, wo schon der früher
ermordete japanische Dolmetscher der englischen Gesandtschaft
begraben war, liegt am Ufer des Flüsschens, von hohen Kiefern
und Cryptomerien beschattet. Heuskens Ruhestätte hatte man in
der nordöstlichen Ecke bereitet, neben einer Erhöhung auf der ein
stattliches Grabmal prangt. Auf den Stufen desselben stellten die
Bunyo’s sich auf; seitwärts sass auf thronartigem Stuhle der Ober-
priester des Tempels im Ornat, umgeben von mehreren Bonzen.
Die Leidtragenden und das Musikcorps traten zu dem Grabe, die
Truppen nahmen Stellung ringsum, und der Sarg wurde ohne Störung
eingesenkt. Abbé Girard vollzog die Ceremonieen nach dem Ritual
seiner Kirche, die Musik spielte einen Choral. Darauf begannen die
buddistischen Priester ihre Trauerlitaneien. Herr Harris dankte den
Anwesenden in kurzen bewegten Worten für ihre Theilnahme und
der Zug bewegte sich schweigend nach seiner Behausung zurück.
Wir mussten ihn hier seiner traurigen Einsamkeit überlassen und
verabschiedeten uns mit den übrigen Leidtragenden.


So verging der Tag ohne Störung. Capitän Sundewall, wel-
chem die Nachricht von dem beabsichtigten Ueberfall mitgetheilt
worden war, hatte übrigens die Barcassen und Pinassen der beiden
Kriegsschiffe armirt nach dem Landungsplatze geschickt, um für
alle Fälle bereit zu sein.


Warum das Schwert des Mörders grade Heusken treffen
musste ist räthselhaft geblieben; er war bei den Japanern aller
Stände beliebt und hatte, soviel man weiss, unter ihnen keine per-
sönlichen Feinde. Alle die wir kannten schien sein Tod aufrichtig
zu betrüben. Als Freund Sebi, der Lackhändler, zuerst wieder in
Akabane erschien, legte er, den Gesandten begrüssend, unter den
rührendsten Zeichen der Trauer die Hand auf das Herz und nannte
wehmüthig Heuskens Namen. Er selbst musste später vor den
Dolchen der Lonine nach Osaka flüchten, mehrere seiner Gehülfen
wurden ermordet, und das Haus gab, durch weitere blutige Dro-
hungen eingeschüchtert, später allen Geschäftsverkehr mit den
Fremden auf. In der Nacht nach Heuskens Tode wurde ein Kauf-
mann dicht bei dem amerikanischen Tempel auf der Strasse nieder-
gestossen. Diese Thatsachen beweisen, dass es eine Classe frem-
denfeindlicher Fanatiker gibt, welche sogar deren Freunde unter
den Japanern blutig verfolgen. Nach Heuskens Ermordung hiess es,
dass er wegen seiner hervorragenden Thätigkeit bei den Verträgen
[158]Vermuthungen über Heuskens Ermordung. X.
schon lange zum Opfer ausersehen gewesen sei; wahrscheinlich aber
beabsichtigten die Bravo’s überhaupt nur einen Ausländer umzubrin-
gen, und fanden dazu in Heuskens täglichen Gewohnheiten die beste
Gelegenheit. Er ritt alle Abend, etwas früher oder später, von
Akabane auf demselben Wege nach Hause. Die Mörder hatten sich
an der günstigsten Stelle in Hinterhalt gelegt und konnten ihr Opfer
mit Sicherheit erwarten. Damals fiel es niemand ein, Heuskens Tod
mit dem Ende Hori Oribe-no-kami’s in Verbindung zu bringen; über
letzteres waren verschiedene Gerüchte in Umlauf. Es wurde bald
zu dem preussischen Vertrage, bald zu Natale’s Verwundung in
Beziehung gebracht; bald sollte sich Hori im Staatsrath zu günstig,
bald zu scharf über die Fremden geäussert, in Folge dessen aber
seine Entlassung erhalten, und, dadurch entehrt, sogleich Hand an
sich gelegt haben. Dass er wirklich Harakiru beging wird allge-
mein angenommen; aber die Veranlassung, die man der That später
unterlegte, ist mit unseren Erlebnissen nicht in Einklang zu bringen.
Der Leser erinnert sich aus einem früheren Abschnitt dieser Erzäh-
lung, dass Graf Eulenburg sich an einem October-Abend, durch
hellen Feuerschein gelockt, mit seinen Begleitern unter Heuskens
Führung noch spät auf den Weg nach der Brandstätte machte.
Die Bunyo’s baten damals den Grafen auf das dringendste bei Feuer-
lärm niemals auf die Strasse zu gehen, und Hori schrieb noch be-
sonders eindringlich an Heusken, er möchte doch auf seine War-
nungen endlich hören und weder den preussischen Gesandten noch
sich selbst so grossen Gefahren aussetzen. Heusken, den die unab-
lässigen Vorspiegelungen einer Gefahr, an die er nicht glaubte, ver-
drossen, erwiderte diesen Brief in etwas derben Worten, zeigte aber
seine Antwort vor der Absendung Herrn Harris, und milderte auf
dessen Wunsch noch die Schärfe des Ausdrucks. Trotzdem sollte
das Schreiben Hori dermaassen verletzt haben, dass er in der Ent-
rüstung von dem GorodžioHeuskens Tod, oder wenigstens dessen
Landesverweisung gefordert, auf dessen Weigerung aber, nach
japanischen Begriffen entehrt, das Harakiru vollzogen hätte. —
Jener Brand fand am 11. October statt und wir sahen Hori zuletzt
am 13. December; in dieser Zeit verkehrten die beiden Heimgegan-
genen beständig auf der preussischen und der amerikanischen Gesandt-
schaft mit einander ohne dass irgend eine Verstimmung an ihnen
wahrgenommen wurde. Im Gegentheil war das Verhältniss der
freundschaftlichsten Art; Heusken gehörte, wenn auch zuweilen
[159]X. Vermuthungen über Heuskens Ermordung.
ungeduldig über seine Warnungen, zu Hori’s aufrichtigen Bewun-
derern und wurde von ihm mit Auszeichnung behandelt. Ein Groll
zwischen beiden konnte uns bei den heiteren Tischgesprächen, welche
Heusken dolmetschte und auf das witzigste commentirte, unmöglich
entgehen. Konnten die Verhandlungen mit dem Reichsrath wohl
über zwei Monate dauern bis sie zu Hori’s Selbstmord führten, und
konnte sich dieser in der Zwischenzeit so vollkommen verstellen?
Sein Tod muss zwischen dem 13. December und 2. Januar erfolgt
sein; am 15. wurde Heusken ermordet, und zwar, wie die späteren
Gerüchte behaupten durch Trabanten des Hori, aus Rache für ihren
Herrn. Wir blieben noch bis zum 28. Januar in Yeddo, und erhiel-
ten auch während des Aufenthaltes in Naṅgasaki und China be-
ständig von allen dortigen Vorgängen und Gerüchten Kenntniss;
jene Erzählung aber tauchte viel später auf und wurde dem Ver-
fasser erst anderthalb Jahre nachher, im Sommer 1862, von Herrn
Harris mitgetheilt, welcher auf der Rückreise nach Amerika durch
Berlin kam. Er wollte das in Yeddo damals allgemein geglaubte
Gerücht keineswegs verbürgen, hielt es aber nicht für unwahr-
scheinlich; nach so langer Zeit war wohl auch seinem Gedächtniss
der Zwischenraum von über zwei Monaten zwischen dem Brande
und dem Tode Hori’s entschwunden. Der Verfasser aber muss
nach genauer Vergleichung der feststehenden Daten und Umstände
diese Version für durchaus ungegründet halten.2)


[160]Neue Sicherheitsmaassregeln. X.

Am 20. Januar wurde der erste deutsche Gottesdienst in
Yeddo gefeiert; das Boot welches den Prediger Kreiher von der
Arkona überführte, hatte fünf Stunden lang mit Wind und Wellen
zu kämpfen bis es den Strand erreichte.


Wir mussten nach den traurigen Ereignissen der letzten Tage
wohl an den Ernst der Lage glauben. Capitän Jachmann liess noch
zehn Seesoldaten von der Thetis in Akabane, das jetzt einem Waffen-
platze glich. Die Japaner mahnten beständig zur Vorsicht; sie hatten
sowohl bei uns als auf den anderen Legationen ihre Wachen durch
Abtheilungen von der Leibgarde des Taïkūn verstärkt; einer der
Vertragsbevollmächtigten stellte sich jeden Abend in Akabane ein
um die Nacht dort zuzubringen; ihre Maassregeln flössten aber kein
Vertrauen mehr ein. Herr Alcock liess sich von dem englischen
Kriegsschiff Encounter eine Abtheilung Seesoldaten kommen, und
nach Sakaïdži, dem Sitze der französischen Gesandtschaft, comman-
dirte Capitän Sundewall zum Schutze des Herrn von Bellecourt und
seiner Archive eine Abtheilung preussischer Seesoldaten. Nur Herr
Harris wohnte ganz allein in seinem Tempel und hielt sich voll-
kommen sicher unter den Japanern. Die Bunyo’s nannten es eine
Schande für Japan, dass die anderen Gesandten dem Schutze der
kaiserlichen Regierung nicht vertrauten, gaben aber zu, dass das
Benehmen der Yakunine bei Heuskens Ermordung ihre Maassregeln
rechtfertige. Wir verliessen uns denn auch nicht mehr auf deren
Schutz, sondern begaben uns meist nur zu Mehreren und bewaffnet
auf die Strasse. Das Wetter war nicht lockend, es schneite und
regnete fast beständig, wir hatten zudem mit den Abschriften des
Vertrages und den Vorbereitungen zur Abreise vollauf zu thun.


Graf Eulenburg war nach der Conferenz vom 24. December
mit den Ministern — seit Anfang Januar fungirte neben Ando Tsus-
sima
wieder ein zweiter, Kudse Yamatto-no-kami — nochmals
wegen Ueberreichung seiner Creditive in Correspondenz getreten
und hatte die alte Antwort erhalten, man wünsche diese Feierlichkeit
2)
[161]X. Der Gesandte des Mikado. Letzte Schwierigkeiten.
sehnlichst, müsse aber den Gesandten bitten, bis zur Vollendung
des Audienzsaales zu warten, wenn er selbst das Schreiben über-
reichen wolle. Graf Eulenburg musste aber unter den obwaltenden
Umständen wünschen, der Hauptstadt des Taïkūn möglichst bald
den Rücken zu kehren; der Empfang hatte keine politische
Wichtigkeit, und er berührte den Gegenstand nicht weiter. Die
Minister sollen nur deshalb die Audienz abgeschlagen haben, weil
ein Gesandter des Mikado wegen mangelnden Empfangssaales schon
acht Monate auf eine solche wartete. Vielleicht war Diesem gegen-
über der genannte Grund nur ein Vorwand, um seinen Empfang
zu verschieben, denn der Taïkūn ertheilte in der Zwischenzeit
dem englischen Gesandten und dem französischen Geschäfts-
träger in seinem Interimspalaste Audienzen behufs Auswechselung
der Ratifications-Urkunden. Das hatte der stolze Höfling des
Mikado aber sehr übel genommen und geltend gemacht, dass ihm
der Vorrang vor allen Barbaren gebühre. Um nun seinen Zorn
nicht nochmals zu reizen, musste man dem Grafen den Empfang
versagen.


Am 23. Januar erschienen die Bevollmächtigten in Akabane
mit der Erklärung, dass sie, nach Vollendung der Reinschriften,
jetzt zur Unterzeichnung des Vertrages bereit seien. Graf Eulenburg
hatte dem Abkommen gemäss dem Minister ein Schreiben zugestellt,
in dem er versprach, die Hinausschiebung der Ratification und der
Absendung des diplomatischen Vertreters nach Yeddo auf zwei bis
drei Jahre bei seiner Regierung zu befürworten. Da der Vertrag
auch ohne Ratification am 1. Januar 1863 in Wirkung treten musste,
so brachte uns dieses Versprechen keinen Nachtheil, legte auch der
Absendung von Consuln nach den geöffneten Häfen kein Hinderniss
in den Weg. Die beanspruchte Gegenleistung aber, ein schriftliches
Versprechen des Ministers, die in Japan lebenden Preussen in der
Zwischenzeit unbelästigt zu lassen, sie wie die Unterthanen der
Vertragsmächte zu behandeln und den übrigen Deutschen eine
fernere Frist von sechs Monaten zur Abwickelung ihrer Geschäfte
zu gönnen, war nicht erfolgt. Als der Gesandte die Bunyo’s jetzt
daran erinnerte, suchten sie ihn in einer zweistündigen Unterredung
zu überzeugen, dass die Erfüllung eines solchen Versprechens un-
möglich sei. Erstens verbiete ein ausdrückliches Gesetz jedem nicht
den Vertragsmächten angehörigen Ausländer unbedingt den Aufenthalt
in Japan, und der preussische Tractat trete erst in zwei Jahren in
II. 11
[162]Unterzeichnung des Vertrages. X.
Wirksamkeit; dann aber werde kaum festzustellen sein, welche
unter den Deutschen preussische Unterthanen wären. Graf Eulen-
burg
schnitt die Discussion endlich durch die bündige Erklärung
ab, dass er den Vertrag nicht unterzeichnen werden, bevor das
schriftliche Versprechen in seinen Händen sei. Die Bevollmächtigten
gingen; drei Stunden nachher traf das Schreiben in Akabane ein.


Am 24. Januar gegen ein Uhr Mittags erschienen die Be-
vollmächtigten zur Unterzeichnung des Vertrages. Unsere See-
soldaten hatten auf dem Hausflur Spalier gebildet und präsentirten,
als Jene hindurchschritten. In den Empfangsräumen waren alle in
Akabane anwesenden Mitglieder der Expedition, die meisten in
Uniform gegenwärtig; sämmtliche Vertrags-Exemplare, vier deutsche,
zwei holländische und vier japanische, wurden nach der Be-
grüssung auf den Tischen ausgebreitet. Die Unterzeichnung nahm
geraume Zeit in Anspruch, da neben dem Vertrage das Handels-
regulativ besonders zu unterschreiben war, so dass jeder Bevoll-
mächtigte zwanzig Mal seinen Namen hinsetzen musste; eine nicht
geringe Aufgabe für die Japaner, welche bei solchen Gelegenheiten
ihre Unterschrift jedesmal in beträchtlicher Grösse und mit be-
deutendem Aufwande kalligraphischer Kunst hinmalen. Mehrere
Secretäre rieben mit grossem Eifer Tusche dazu. — Nach der
Unterzeichnung übergaben die Bunyo’s Geschenke des Taïkūn für
den Gesandten, den Commodore, Capitän Jachmann, den Legations-
Secretär und die Attaché’s, für jeden mehrere Rollen kostbaren
golddurchwirkten Seidenbrocat. Die Grösse der Geschenke war
nach der Stellung der Empfänger bemessen; jedes lag besonders
auf einer zierlichen Tragbahre aus weissem Holz, die einzelnen
Rollen mit Streifen von Gold- und Silberpapier umwunden, mit
bunten Seidenfäden künstlich bewickelt und zugeknüpft. Der Ge-
sandte beschenkte die Bunyo’s und Moriyama mit Operngläsern,
Gala-Säbeln, Achatarbeiten, Uhren und Bernsteinschnüren; letztere
machten wieder besondere Wirkung, Muragaki drückte laut seine
Freude über die Grösse der Perlen aus. — Die Herren wurden
darauf noch photographirt und schieden in der besten Laune.


Der Gesandte lud zur Feier des Tages die anwesenden Mit-
glieder der Expedition an seine Mittagstafel, und wir wären sehr
heiter gewesen, hätte nicht Heusken gefehlt.


Dass der Zweck der Mission in Japan nicht vollständig
erreicht wurde, hat niemand lebhafter bedauert als Graf Eulenburg;
[163]X. Stellung der Deutschen in Japan.
die Theilnahme des Zollvereins und der anderen norddeutschen
Staaten wäre aber nur dann durchzusetzen gewesen, wenn er die-
selben als ein mit Preussen zusammengehöriges Politisches Ganzes
dargestellt und keinen anderen Souverain als den Regenten von
Preussen genannt hätte. Dazu war er keineswegs ermächtigt; eine
solche Täuschung wäre zudem bei den geographischen Kenntnissen
der Japaner und ihrem stäten Verkehr mit europäischen Diplomaten
nicht so leicht durchzuführen gewesen. Vielleicht ist der Zeitpunct
nicht fern, wo Japan mit allen Völkern, die kommen wollen, gern
Verträge schliesst; dann wird es dem Vertreter Preussens ein
Leichtes sein, die Theilnahme der anderen deutschen Staaten zu
erwirken; zur Zeit unserer Anwesenheit aber hätte die Regierung
des Taïkūn sich wohl am liebsten aller schon geschlossenen Ver-
träge entledigt, und liess keinen Staat zu, dessen sie sich irgend
erwehren konnte.


Die aus der Beschränkung des Vertrages auf Preussen er-
wachsenen Nachtheile betreffen wesentlich nur die Schiffahrt,
da ausser der preussischen die Flagge keines deutschen Staates in
Japan zugelassen wird; für die einzelnen Unterthanen und den
Handel derselben ist der Schaden nicht so erheblich. Als die
Regierung von Yeddo die Entfernung der Deutschen aus Japan
beschloss, verstand sie darunter nur solche, die dort selbständig
etablirt waren oder auswärtige deutsche Häuser vertraten, be-
trachtete dagegen alle, die Handelsfirmen der durch Verträge be-
rechtigten Nationen angehörten, als Unterthanen dieser Mächte;
deren Vertreter fuhren fort sie zu schützen und die japanische
Regierung gestattete ihren bleibenden Aufenthalt. Allen übrigen
dagegen entzogen die Diplomaten ihren Schutz, und Herr Alcock
ging so weit ein Publicandum zu erlassen, worin die englischen
Schiffsführer gewarnt wurden, Unterthanen eines Staates, der keinen
Vertrag mit Japan habe, auf ihren Schiffen dahin zu befördern,
wenn sie sich nicht der Bestrafung als Contravenienten gegen den
englischen Vertrag aussetzen wollten. — Unterthanen des Zollvereins
und der anderen deutschen Staaten haben sich also nur in ein
Handlungshaus von vertragsberechtigter Nationalität aufnehmen
zu lassen, um in Japan leben zu dürfen und diplomatischen Schutzes
zu geniessen, dessen sie freilich verlustig gehen müssten, sobald sie
sich der Jurisdiction des sie schützenden Consularbeamten entziehen
wollten. Das Verhältniss ist also nicht normal. — Deutsche
11*
[164]Stellung der Deutschen in Japan. X.
nicht-preussische Handelshäuser aber können in Japan Geschäfte
machen und aller Vortheile des preussischen oder eines anderen
Vertrages geniessen, wenn sie sich dort durch Unterthanen dieser
Staaten vertreten lassen.


Das Versprechen, die in Japan angesiedelten Preussen während
der zwei Jahre, die bis zur Wirksamkeit unseres Vertrages noch
verstreichen mussten, in Japan zu dulden, liessen sich die Minister
erst nach langem Sträuben und schliesslich nur durch die bündige
Erklärung des Gesandten abdringen, dass er sonst den Vertrag
nicht unterzeichnen würde. Eine dahin zielende Bestimmung in
diesen selbst aufzunehmen wäre wahrscheinlich nicht gelungen,
hätte auch den Unterschied zwischen Preussen und anderen Deutschen
noch schärfer hervorgehoben, als das leider in den Conferenzen und
Correspondenzen mit den Ministern auf deren vielfältige Fragen
schon geschehen musste. Das Zugeständniss widerspricht einem
ausdrücklichen japanischen Gesetz und beunruhigte die Regierung
in hohem Grade. — Ando Tsus-sima-no-kami forderte in der
Conferenz vom 24. December den Gesandten auf, ihm eine Liste
der in Japan lebenden Preussen und Deutschen aufzustellen; Graf
Eulenburg verstand sich aber nur zur Nennung der Preussen, und
schützte vor dass die Ermittelung der Nationalität anderer Fremden
ausser seiner Macht liege; er wollte ihm die Entdeckung der anderen
Deutschen nicht erleichtern. Fand die Regierung sie dennoch heraus,
so wäre schliesslich nur eine einzige Firma 3) von der Verbannung
betroffen worden, da die übrigen in Yokuhama wohnenden Deutschen
theils preussische Unterthanen, theils Agenten von Handlungshäusern
vertragsberechtigter Nationalität waren. Die längere Duldung der
nicht-preussischen Deutschen in Japan zu fordern wurde zur Un-
möglichkeit, als die Regierung von Yeddo darauf bestand, mit
Preussen allein den Vertrag zu schliessen.


Das wirkliche Bedürfniss eines Vertrages mit Japan
ist durch die grosse Zahl von Deutschen, die wir dort fanden,
und die Bedeutung der von ihnen vertretenen Interessen klar
bewiesen. Der Beschluss ihrer Verbannung war ausgesprochen,
die bewilligte Frist fast abgelaufen, und sie mussten das Land
verlassen, wenn nicht die preussischen Kriegsschiffe erschienen. —
Nicht in Ost-Asien allein, sondern in der ganzen Welt macht
[165]X. Aussichten des Weltverkehrs.
sich das Bedürfniss nach diplomatischer Vertretung und kräftigem
Schutze für uns mehr und mehr geltend. Der gegenwärtige
Zeitraum bezeichnet den Anfang von [Deutschlands] civilisato-
rischer Thätigkeit im Grossen, deren Entwickelung ein weltge-
schichtliches Hauptmoment der nächsten Jahrhunderte werden wird,
wenn seine Bewohner zu politischer Einheit, zum Vollbewusstsein
ihres Berufes und ihrer Kraft gelangen. Die Deutschen sind unter
den grossen Culturvölkern das letzte, welches in den Weltverkehr
eingetreten ist; sie übernehmen als weltgeschichtlichen Beruf die
Erbschaft der seefahrenden Nationen, welche Grosses zur Verbrei-
tung der christlichen Cultur über den Erdball geleistet haben. Nicht
Uebervölkerung, Abentheuerlust oder die Leichtigkeit des Seever-
kehrs treiben sie hinaus, — denn noch hat Deutschland Raum für
seine Söhne, und die hafenarmen wenig ausgedehnten Küsten setzen
der Seefahrt eher Schwierigkeiten entgegen, — sondern die innere
Lebenskraft der Nation, welche in der langen Friedenszeit endlich
zur vollen Entwickelung gediehen ist, und der unbewusste Beruf,
germanischer Bildung, der schönsten Frucht der modernen Geschichte,
Ausbreitung und Geltung zu verschaffen. Dieser Beruf liegt in der
Natur unseres Volkes. Deutsche Wissenschaft und Aufklärung haben
seit Jahrhunderten ihren stillen Einfluss auf die Culturstaaten
Europa’s geübt und seit lange überall als treibende Hefe des geisti-
gen Lebens gewirkt; aber verheerende Kriege, die politische Zer-
stückelung, die Fremdherrschaft und andere störende Elemente
liessen niemals den vollen Aufschwung der materiellen Kraft des
Landes, die allgemeine Verbreitung von Wohlstand und Bildung
zu, welche nur ein langer Frieden unter weisem Regiment herbei-
führt. Heute kann das deutsche Volk sich rühmen, an sittlicher
und geistiger Reife über allen anderen zu stehen und die materiellen
Hülfsmittel zu besitzen, welche jede Wirksamkeit nach aussen for-
dert. Die Deutschen — und vorzüglich die Norddeutschen — sind
durch alle Länder verbreitet; ihre Stellung im Weltverkehr, ihr
Einfluss und ihre Bedürfnisse werden leider nur von Denjenigen
recht gewürdigt, die einige Zeit in fernen Welttheilen gelebt haben.
Deutsche Gelehrte wirken in allen civilisirten Ländern; Musik,
die sittlich wirksamste unter den Künsten, wird überall, wohin
Europäer gedrungen sind, von Deutschen geübt und gelehrt; der
Fleiss und die Stätigkeit des deutschen Arbeiters bricht sich in allen
Welttheilen Bahn. Man macht unseren Landsleuten mit einigem
[166]Aussichten des Weltverkehrs. X.
Rechte den Vorwurf, dass sie sich leicht den Sitten und der Sprache
der Ausländer anpassen, unter denen sie leben, dass sie ihrer ange-
stammten Eigenthümlichkeit untreu werden; diese Schmiegsamkeit
des Wesens verlöre sich aber bald, wenn die durch gleiche
Interessen verbundenen deutschen Staaten ein politisches Ganze
bildeten, das nach aussen so kräftig und würdig auftreten könnte,
als der Grösse des Volkes ziemt. Wie die Dinge bis jetzt ge-
legen haben, musste es dem Deutschen der kleinen Staaten im Aus-
lande am Bewusstsein nationaler Vollgültigkeit fehlen. Preussen,
welchem Deutschland den geistigen wie den materiellen Aufschwung
dankt, soll allen als Rückhalt dienen, alle Lasten allein tragen, und
hat die Verpflichtung dazu, soweit die Erfüllung in seinen Kräften
lag, immer anerkannt. Aber die Ansprüche mehren sich in steigen-
der Progression, und Preussen muss, wenn es dieselben befriedigen
soll, nothwendig die militärische, diplomatische und handelspolitische
Vertretung aller deutschen Staaten übernehmen, welche ihm durch
gleiche Interessen und gleiche Bildung verbunden sind. Aus allen
Welttheilen laufen die dringendsten Gesuche von Deutschen an die
preussische Regierung um diplomatischen Schutz und Entsendung
von Kriegsschiffen in einer Ausdehnung ein, welche die Kräfte des
Landes weit übersteigen. Die Anstellung von Handelsagenten hat
in den meisten Fällen wenig Werth; diese treten selten in ein Ver-
hältniss zu den fremden Regierungen, das sie zur wirksamen
Unterstützung ihrer Landsleute befähigte. Es handelt sich um
die kostspielige Unterhaltung zahlreicher Kriegsschiffe und gut
besoldeter Beamten mit Richterqualität, welche, auf wirkliche
Macht gestüzt, eine unabhängige, achtunggebietende Stellung ein-
nehmen. Eine abgesonderte Vertretung kleiner Staaten ist, wo sie
sich bewirken lässt, ganz werthlos. Als Graf Eulenburg in China
nach unsäglichen Bemühungen die von den Hansestädten beanspruchte
Vertretung durch eigene Consuln durchgesetzt hatte, geriethen die
dort angesiedelten Hanseaten in grosse Aufregung, denn sie sahen
sich zurückgesetzt gegen die Unterthanen des Zollverbandes und
der mecklenburgischen Grossherzogthümer, deren preussische Ver-
treter sich auf materielle Machtäusserung in Gestalt kanonenge-
spickter Kriegsschiffe stützen können.


Die Verbreitung und der Einfluss der Deutschen in über-
seeischen Ländern sind jetzt schon viel bedeutender als man in der
Heimath allgemein glaubt. Jene Schmiegsamkeit des Wesens zeigt
[167]X. Aussichten des Weltverkehrs.
sich nur da, wo Deutsche vereinzelt oder in geringer Anzahl unter
fremden Nationen leben. Ueberall wo sie in zahlreicher Gesellschaft
auftreten, üben sie einen grösseren, tieferen, mehr innerlichen Einfluss
auf ihre Umgebung als irgend eine andere Nationalität. Grade die
Fähigkeit sich Allem anzupassen beruft den Deutschen zur civilisa-
torischen Thätigkeit; seine vorwiegende Charaktereigenschaft ist
Humanität; er wird leichter als alle anderen Nationen seine Ueber-
legenheit über uncivilisirte und farbige Racen vergessen, wird im
fernsten Welttheile die Eingeborenen gern als Mitmenschen ansehen
und sich ihnen verbrüdern. Diese unbewusste Menschlichkeit, welche
in allen Classen unseres Volkes lebt und sonst den meisten schiffahrt-
treibenden Nationen practisch mehr oder weniger fehlt, gibt dem
Deutschen im Verkehr mit minder civilisirten Völkern ein grosses
Uebergewicht über andere Ausländer. Ueberall wollen die Einge-
borenen am liebsten mit Deutschen in Handelsverkehr treten,
deutschen Schiffen ihre Person und ihre Waaren anvertrauen,
weil sie wissen, dass sie menschlich und billig behandelt werden.
Die deutschen Handelshäuser stehen in allen Ländern in der grössten
Achtung; ihr Geschäftsverkehr ist in den letzten Jahrzehnten trotz
dem mangelhaften Schutze mächtig gestiegen und wird schnell zur
höchsten Blüthe gelangen, wenn ihre Unternehmungen durch Han-
dels-Verträge erleichtert und durch Kriegsflotten bewacht werden.
Der Handel aber bricht in der Ferne der Cultur ihre sicheren Bahnen
und ist heute der beste Weg zur Colonisation. Nicht die Gold-
gräber Californiens haben Schätze erworben und bleibenden Besitz
gegründet, sondern diejenigen, welche ihnen die Lebensbedürfnisse
und Genüsse schafften. Es wäre in unseren Tagen thöricht von
jedem Culturvolke, sich in fernen Welttheilen die Wege durch
Arbeitercolonieen bahnen zu wollen, seine Kräfte in Leistungen zu
vergeuden, die geringere Begabung fordern. Die Ansiedeler gehen
meist zu Grunde, die den Boden urbar machen, und der Fussbreit
Landes den sie gewinnen ist des Opfers nicht werth, während der
Handel in stätigem sicherem Fortschritt seine Netze über weite Län-
derstrecken zieht, sich ausgebreiteten Völkerschaften nützlich und
unentbehrlich macht und bald jedem Beruf, jeder Fähigkeit ihren
angemessenen Wirkungskreis und sichere Erfolge bereitet. Nicht
die Erwerbung überseeischer Gebiete fördert die Ausbreitung deut-
scher Cultur über den Erdball, sondern die wirksamste Unterstützung
des Handels durch unabhängige Vertreter und achtunggebietende
[168]Weltverkehr. — Berathungen der Diplomaten. X.
Kriegsflotten. Unter solchem Schutz bricht sich deutsches Wesen
überall selbst seine Bahnen und gewinnt durch seine natürliche
Lebenskraft und höheres sittliches Bewusstsein schnell ein sicheres
Uebergewicht. Jede Ansiedelung, wo die deutschen Interessen die
aller anderen Colonisten überflügelten, wäre ja in Wahrheit deut-
sches Eigenthum, welcher Krone sie auch gehorchte. Die Geschichte
zeigt, dass die Colonieen durch innere Nothwendigkeit immer der-
jenigen Nation zufallen, welche den blühendsten Handel und die
mächtigsten Flotten hat. Von dieser Regel gibt es wenige, künst-
liche Ausnahmen. Die Verbreitung nach aussen entspringt aus der
inneren Kraftfülle einer Nation und ist für Deutschland Beruf und
Nothwendigkeit. Nur die Theilnahme am Weltverkehr kann es be-
fähigen alle seine Kräfte gebührend zu verwerthen, jedem seiner
Söhne den angemessenen Wirkungskreis zu bereiten; nur durch
grossartige Entwickelung seines Handels, durch den ausgedehntesten
Absatz der Erzeugnisse seines Kunstfleisses kann das Heimathland
zu ansehnlichem Reichthum gelangen. Mit der Verbreitung materiellen
Wohlstandes aber wird sich dort auch das Bedürfniss und die
Fähigkeit zu höherem Lebensgenusse steigern, welche den weiteren
Aufschwung der Cultur bedingen und in allen Richtungen die herr-
lichsten Früchte tragen müssen.


Am Tage nach Heuskens Begräbniss waren die Vertreter von
England, Frankreich, den Niederlanden und Amerika in der eng-
lischen Gesandtschaft zu einer Besprechung über ihre Lage zu-
sammengetreten, der auch Graf Eulenburg beiwohnte. Man zählte
alle während der letzten anderthalb Jahre gegen Ausländer ver-
übten Unbilden und Verbrechen auf und vergegenwärtigte sich das
Verfahren der japanischen Regierung, welche in keinem Falle weder
ausreichenden Schutz noch angemessene Genugthuung geleistet hatte.
So weit konnte kein Zweifel walten. Während aber Herr Harris
den Grund dieser traurigen Erfahrung in den Zuständen des Landes
sah, welche prompt und nachdrücklich abzuändern ausser der Macht
der Regierung liege, neigten die Vertreter der drei anderen Mächte
dahin, die Wurzel des Uebels in dem bösen Willen der japanischen
Obrigkeit zu suchen. Sie sprachen ihre Ueberzeugung von der be-
ständigen Lebensgefahr, in der sie schwebten, und der Unmöglichkeit
sich zu schützen aus, so lange die japanischen Behörden in ihrer
Thatenlosigkeit gegen das Verbrechen beharrten, glaubten ihren
[169]X. Berathungen der Diplomaten.
eigenen Regierungen gegenüber nicht die Verantwortung eines
längeren Aufenthaltes in der Hauptstadt und der aus ferneren Mord-
versuchen mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Compli-
cationen übernehmen zu können, und kamen überein, sich auf
einige Zeit nach Yokuhama zurückzuziehen. Von da könnten sie
unter dem Schutz ihrer Kriegsschiffe, ohne gradezu einen Bruch
mit der japanischen Regierung herbeizuführen, volle Genugthuung
für die erlittenen Unbilden und wirksame Maassregeln zur Abstellung
ihrer Beschwerden fordern. Die gemeinsame Uebersiedelung sollte
eine energische Demonstration sein, um die japanische Obrigkeit
aus ihrer Schlaffheit aufzurütteln, die fremdenfeindliche Parthei,
an deren Spitze ohne Zweifel eine Anzahl mächtiger Daïmio’s stände,
zur Besinnung und ernsten Erwägung der traurigen Folgen eines
Krieges mit dem Auslande für ihr Vaterland zu bringen, und be-
friedigende Zustände für die Zukunft herbeizuführen. Alle Be-
mühungen, Herrn Harris von der Richtigkeit dieser Ansicht zu
überzeugen und zur Theilnahme an dem beabsichtigten Schritt
zu bewegen, waren fruchtlos; er sah die Uebersiedelung nach
Yokuhama als einen vollständigen Bruch mit der japanischen
Regierung an, der zum Kriege führen müsse, und gab seinen festen
Willen kund in Yeddo auszuharren, um seinem Vaterlande und
Japan den unheilvollen Kampf zu ersparen. Denn der Versuch,
welchen der grossbritannische Gesandte zu beabsichtigen scheine,
irgend einen Landestheil mit fremden Truppen zu besetzen, werde
eine solche Besorgniss hervorrufen und den Nationalstolz dermaassen
verletzen, dass Zusammenstoss und Krieg unvermeidlich wären. Die
Regierung sei nach seiner Ansicht nicht im Stande die verlangte
Genugthuung und Garantie der Sicherheit zu leisten, und man könne
dann niemals mit Ehren nach Yeddo zurückkehren, das man freiwillig
verlassen habe. — Der preussische Gesandte fand den Beschluss der
Vertreter von England, Frankreich und den Niederlanden durch die
Umstände gerechtfertigt und sprach sich dahin aus, dass er wahr-
scheinlich ihrem Beispiele folgen würde, wenn sein Vertrag schon
unterzeichnet wäre und er selbst einen längeren Aufenthalt im Lande
beabsichtigte; wie die Sachen ständen, würde er in Yeddo aus-
harren und sich nach Beendigung seiner Geschäfte nach China ein-
schiffen. Er stellte jedoch die Ansicht auf, dass die Verhältnisse
ein gemeinschaftliches Handeln der Vertreter nicht unbedingt for-
derten, dass die Stellung des Herrn Harris zur japanischen Regierung
[170]Differenzen der Diplomaten. X.
als eine bevorzugte gelten müsse. Dieser habe den ersten Handels-
vertrag geschlossen und so viel länger als alle anderen in Japan
gelebt, habe auch als Vertreter der amerikanischen Regierung
vielleicht andere Grundsätze zu befolgen, als die Gesandten der
europäischen Mächte; seine Sicherheit werde durch die Abreise der
anderen Diplomaten nicht compromittirt werden; sein Zurückbleiben
nehme der Maassregel nichts von ihrer Bedeutung, mildere aber
vielleicht die davon zu befürchtende Aufregung; Jeder möge die
Ueberzeugung des Anderen ehren und so handeln, wie es ihm seine
Ansichten und die Interressen seiner Regierung vorschrieben.


Es gelang dem Grafen die etwas aufgeregten Gemüther zu
beschwichtigen; Herr Alcock aber, der Urheber des beabsichtigten
Schrittes, blieb bei seiner Meinung und berief die Gesandten zu
einer zweiten Conferenz am 21. Januar, welcher Herr Harris nicht
beiwohnte. Der englische Gesandte drückte hier nochmals sein tiefes
Bedauern über die Trennung des amerikanischen Minister-Residenten
von seinen Amtsgenossen aus, welche die Wirkung ihrer Maass-
nahmen in dieser wichtigen und schweren Krise lähmen werde. Das
Auftreten desselben müsse die japanische Regierung ermuthigen, dem
auf sie zu übenden Drucke zu widerstehen, zum Nachtheil Amerika’s
nicht weniger als aller anderen Mächte. Herr Alcock gab ferner
mit Nachdruck zu erkennen, wie die von ihm und seinen Collegen
beabsichtigten Schritte keinen anderen Zweck hätten, als einen
Wechsel herbeizuführen, der ihre Stellung haltbar mache und einen
Bruch abwende, welchem sonst die Verhältnisse mit zunehmender
Gewalt entgegentrieben. Er verfasste endlich ein Protocoll der bei-
den Sitzungen, worin alles auf die gegenwärtige Lage und die sie
bedingenden Zustände des Landes Bezügliche, soweit man sich
Kenntniss davon verschaffen konnte, sehr ausführlich niedergelegt
war, und sandte dasselbe den Theilnehmern der Conferenzen, auch
Herrn Harris zur Unterschrift. Dieser verweigerte die seinige mit
der Bemerkung, dass er zur zweiten Besprechung nicht eingeladen,
also auch nicht dabei gegenwärtig gewesen sei. Der englische Ge-
sandte hatte ihn zugleich um eine schriftliche motivirte Darlegung
seiner Ansichten ersucht, um sie dem Protocolle und den Zusatz-
erklärungen der anderen Gesandten beizufügen und seiner Regierung
einzusenden. In der darauf erfolgten Note des Herrn Harris heisst
es: »Die japanische Regierung hat die diplomatischen Vertreter seit
dem Tage ihrer Ankunft in dieser Stadt vor den bestehenden Ge-
[171]X. Schreiben des Herrn Harris.
fahren gewarnt und ihre Sorge an den Tag gelegt, denselben Schutz-
mittel zu gewähren. Es wurde nur verlangt, dass die Fremden die-
selben Vorsichtsmaassregeln anwenden möchten, deren die Japaner
sich ohne Ausnahme unter einander bedienen; denn es ist genugsam
bekannt, dass alle, deren Rang dem der fremden Gesandten ent-
spricht, eine zahlreiche Wache um ihre Wohnungen haben, und
dass sie niemals ohne ein grosses Gefolge bewaffneter Trabanten
ausgehen. Ist es gerecht zu verlangen, dass die Japaner uns mit
anderen Mitteln vertheidigen, als sie zu ihrem eigenen Schutze ver-
wenden? Wäre die Handlungsweise der japanischen Regierung
trügerisch, wünschte sie in der That die Ermordung der fremden
Gesandten, so würde der einfache Ausdruck eines solchen Wunsches
genügen, und das Werk wäre in einer Stunde vollbracht. — Wir
haben in Yeddo ungefähr neunzehn Monate in Sicherheit gelebt,
und diese Thatsache beweist den Wunsch und die Fähigkeit der
Regierung, uns hinreichenden Schutz angedeihen zu lassen. Die
Ermordung des Herrn Heusken, des so ausgezeichneten Dolmetschers
der amerikanischen Gesandtschaft, den alle betrauern und ich be-
weine, ist seiner Nichtachtung der wiederholten Warnungen der
japanischen Behörden zuzuschreiben, sich nicht fortwährend zur
Nachtzeit Gefahren auszusetzen; sein Tod war die Erfüllung der
Besorgnisse, die ich seit meiner ersten Ankunft in Yeddo gehegt
habe. Wenn man die Handlungen dieser Regierung beurtheilt, so
ist es von Wichtigkeit, die früheren politischen Vorgänge zu beden-
ken. Mehr als zwei Jahrhunderte war das Land allen Fremden ver-
schlossen; diese Schranke wird plötzlich beseitigt und das Reich
dem Verkehr geöffnet. Es ist bekannt dass viele Männer von hohem
Rang der neuen Ordnung der Dinge feind sind, dass ihre Opposition
sich in der Hauptstadt concentrirt und hier in ihrer grössten Stärke
empfunden wird. Die Kundgebungen feindseliger Gesinnung gehen
lediglich von Trabanten der Daïmio’s aus, deren Ansichten der
Abglanz von denen ihrer Herren sind. Nach meiner Anschauung
ist es unzweifelhaft, dass die ungeheuere Erhöhung der Preise von
Gegenständen allgemeinen Verbrauches nach der Zulassung des
fremden Handels die feindseligen Gefühle verstärkt hat. Eine Re-
gierung kann Verträge machen und deren Bestimmungen beobachten,
aber es steht ausser ihrer Macht die öffentliche Meinung zu beherr-
schen. — Alle Beweisführungen bei der neulich gehaltenen Conferenz
scheinen mir auf der Annahme zu beruhen, dass die japanische
[172]Schreiben des Herrn Harris. X.
Civilisation auf gleicher Höhe mit der des Westens stehe; die Ja-
paner sind aber kein halbcivilirtes Volk, der Zustand der Dinge
in diesem Lande entspricht dem von Europa während des Mittel-
alters. Von der hiesigen Regierung also die Beobachtung der näm-
lichen Formen, dieselbe schnelle Ausübung des Rechtes zu verlangen,
die man in civilisirten Ländern findet, heisst Unmögliches fordern;
die Behörden aber für vereinzelte Handlungen von Privatleuten
verantwortlich zu machen, scheint mir durch keine Lehre des Völker-
rechtes gerechtfertigt. In der westlichen Welt handelt man nach
diesen Grundsätzen nicht: vor kurzer Zeit sprach ein londoner Ge-
schwornengericht triumphirend einen Menschen frei, der Anschläge
gegen das Leben des französischen Kaisers schmiedete; ich hörte
nicht, dass die französische Gesandtschaft in London sich in Folge
dieser Rechtsverkürzung nach Dover zurückgezogen hätte. Ferner:
in einer der belebtesten Strassen Neapels wurde bei hellem Tage
ein roher Angriff auf die Person des französischen Gesandten verübt;
die Mörder entkamen in Gegenwart von hundert Zuschauern und
sind bis heute nicht ergriffen worden. Zog sich der französische
Gesandte deshalb aus Neapel zurück? Im März wurde der Regent
von Japan ermordet; nur ein Theil der Mörder ist verhaftet und
keiner bis jetzt bestraft worden. Dieser Verzug in Bestrafung von
Mördern einer so hochgestellten Person beweist, dass das japanische
Gerichtsverfahren von dem der westlichen Erdhälfte verschieden
ist. — Ich wünsche meinen Glauben hier öffentlich zu bekunden,
dass mein Leben in diesem Lande vollkommen sicher ist, so lange
ich die von der japanischen Regierung empfohlenen und von den
Japanern selbst angewandten Vorsichtsmaassregeln beobachte. Der
Rückzug nach Yokuhama zu dem Zwecke, auf die japanische Re-
gierung Eindruck zu machen, ist nach meiner Ansicht ein verfehlter
Schritt. Es war kein einziger Artikel im amerikanischen Vertrage
so schwer durchzusetzen, als das Recht der Gesandtschaft in Yeddo
zu residiren. Die japanischen Minister warnten mich bei jeder Ge-
legenheit vor den grossen Schwierigkeiten, welche der Aufenthalt
in der Hauptstadt nothwendig erzeugen müsse, und strebten aus
allen Kräften danach, dass ich meinen dauernden Wohnsitz in
Kanagava oder Kavasaki nähme, mit dem Rechte nach Yeddo zu
gehen, so oft die Geschäfte erforderten. Der Rückzug der Gesandten
nach Yokuhama ist genau was die Regierung wünscht, da er sie
von grosser Besorgniss, Verantwortlichkeit und Geldausgaben befreit,
[173]X. Schreiben des Herrn Harris.
und da sie immer behauptet hat, die Fremden in Yokuhama besser
schützen zu können als in Yeddo. Statt ihr daher einen Stoss zu
geben, wird diese Uebersiedelung als ein grosser Erfolg betrachtet
werden und meiner Ansicht nach die Japaner veranlassen, den
fremden Diplomaten mit dem fremden Kaufmann zu verwechseln,
was sowohl seinem Prestige als seinem Einfluss Nachtheil bringen
muss. — Aus den hier angegebenen Gründen verwahre ich mich
gegen das Verfahren meiner Collegen, das nach meiner Ansicht
keine wohlthätige Wirkung haben wird und ein bedeutender Schritt
zum Krieg mit diesem Lande ist. Das Volk von Japan kann nicht
durch einen diplomatischen Federzug zu unserer Höhe der Civili-
sation emporgehoben werden, auch nicht wenn es den Anführer
von fünfzigtausend Soldaten zum Lehrmeister hat. Nur Zeit, Geduld
und Nachsicht können diesen wünschenswerthen Erfolg herbei-
führen. Ich hatte gehofft, dass die Blätter zukünftiger Geschichte
die grosse Thatsache berichten sollten, dass auf einem Flecke der
östlichen Erdhälfte die Ankunft christlicher Civilisation ihr gewöhn-
liches Gefolge von Krieg und Blutvergiessen nicht mit sich brachte;
diese fromme Hoffnung soll, fürchte ich, getäuscht werden. Ich
würde lieber alle Verträge mit diesem Lande zerreissen und Japan
zu seinem Zustande der Isolirung zurückkehren sehen, als dazu
mitwirken, dass die Schrecken des Krieges auf dieses friedliche und
glückliche Volk fielen.«


Graf Eulenburg richtete unter dem 26. Januar eine Note an
die japanischen Minister, in welcher er unter Recapitulation der
seit Eröffnung der Häfen verübten Verbrechen und Insulten der
Regierung ihre Lässigkeit in Verfolgung und Bestrafung der Ver-
brecher und in Anwendung wirksamer Schutzmittel für die Fremden,
welche sich auch bei Heuskens Begräbniss in so auffallender Weise
manifestirt hatte, mit eindringlichen Worten vorhielt. Er glaube
an den guten Willen der Regierung, die Verträge zu halten und
Gerechtigkeit zu üben, und müsse deshalb bedauern, dass sie den
aussergewöhnlichen Zuständen gegenüber nicht auch ausserordent-
liche Maassregeln treffe, um die Ausländer gegen die fremden-
feindliche Parthei mit Nachdruck zu schützen und die Verbrecher
zu strafen; unter den jetzigen Umständen halte er das Leben der
Gesandten in Yeddo für gefährdet und würde ihrem Beispiel folgen,
wenn er nicht in der Lage wäre sich durch eine starke Wache
selbst zu schützen. Die zeitweilige Uebersiedelung derselben nach
[174]Note des preussischen Gesandten. Uebersiedelung nach Yokuhama. X.
Yokuhama bezwecke keinen Bruch mit der Regierung, sondern
solle ihr nur Zeit geben, dem unleidlichen Zustande ein Ende zu
machen, damit die Diplomaten sich künftig ohne Lebensgefahr in
Yeddo aufhalten könnten. Graf Eulenburg machte, auf einen Krieg
mit dem Auslande hindeutend, der Regierung die traurigen Folgen
bemerkbar, welche ihr Beharren in der bisherigen Thatenlosigkeit
haben würde, und mahnte sie dringend zur Vorsicht.


Herr Alcock und Herr von Bellecourt schifften sich am 26.
mit ihrem Personal auf dem Encounter nach Yokuhama ein, wohin
der niederländische General-Consul sich schon einige Tage zuvor
begeben hatte. Der französische Geschäftsträger wurde von den
preussischen Seesoldaten bis an den Landungsplatz geleitet und
drückte in einem Schreiben an den Commandeur des Detachements
seine dankbare Zufriedenheit mit deren Führung und Wachsamkeit
aus. — Die in Kanagava angesiedelten Consuln zogen sich bis auf
den amerikanischen jetzt ebenfalls nach Yokuhama zurück, und so
hatte die fremdenfeindliche Parthei durch Heuskens Ermordung, —
wenn sie nicht etwa von gewöhnlichen Banditen ausging, — das-
jenige zu Wege gebracht, was die Regierung seit lange vergebens
anstrebte. Der englische Gesandte miethete das Yokuhama-Hotel und
liess sich dort durch eine Abtheilung Marine-Soldaten bewachen.


Herr De Witt hatte seine Geschäfte in der Hauptstadt be-
endet und kehrte nach Naṅgasaki, seinem bleibenden Wohnsitz
zurück; die beiden anderen Diplomaten erkannten bald, dass sie sich in
eine schwierige Lage versetzt hatten. Die Regierung nahm von ihrer
Entfernung durchaus keine Notiz und beantwortete ihre auf die Situation
bezügliche Note erst nach langem Zögern und mehrfachen Mahnungen
in wenig befriedigender Weise. Die Minister, hiess es, bedauerten
tief das unverantwortliche Benehmen der Yakunine bei Heuskens
Ermordung und seien von der Nothwendigkeit durchdrungen, für
die Sicherheit der Fremden zu sorgen; doch gehöre viel Zeit und
Ueberlegung dazu, die geeigneten Maassregeln ausfindig zu machen
und in’s Werk zu setzen. Von einem Wunsche, die Gesandten
nach der Hauptstadt zurückkehren zu sehen, war keine Rede. Herr
Alcock aber wünschte zurückzukehren und musste sich nun einer
Kriegslist bedienen. Er zeigte den Ministern seine Absicht an eine
Rundreise im Lande zu machen, — wozu ihn der Vertrag berech-
tigte, — die bedeutendsten Häfen zu besuchen und sich durch
eigene Anschauung über die Stimmung des Volkes zu belehren.
[175]X. Folgen der Uebersiedelung.
Eine solche Reise musste der Regierung im höchsten Grade uner-
wünscht sein, und schon zwei Tage nach Absendung jenes
Schreibens stellte sich ein Bevollmächtigter des Gorodžio in
Yokuhama ein, um über die Rückkehr der Gesandten zu unter-
handeln. Diese stellten als Bedingung eine förmliche Einladung nach
der Hauptstadt von Seiten des Taïkūn, feierlichen Empfang am
Landungsplatze und Salutirung ihrer Flaggen durch Kanonensalven.
Zu dem letztgenannten Punct verstanden sich die Japaner am schwer-
sten, und es ist wohl ein berechtigter Stolz, wenn sich eine Nation
sträubt in irgend einem Puncte die Sitten und Gebräuche einer
anderen anzunehmen. Das Salutschiessen ist aber gegen das japa-
nische Herkommen; sie pflegen solche Höflichkeit nach ihrer Ge-
wohnheit durch Entsendung eines Beamten in Gala an Bord des
salutirenden Schiffes zu erwidern. Niemand denkt daran von einem
Orientalen das Abnehmen der Kopfbedeckung beim Grusse zu for-
dern, und man kann das Salutschiessen mit keinem besseren Rechte
verlangen. — Die Minister fügten sich, von der unliebsamen Reise
des englischen Gesandten bedroht, nach langem Sträuben auch dieser
Forderung, richteten es aber so ein, dass schon vom frühen Morgen
an auf allen Festungswerken Schiessübungen gehalten wurden, so
dass der Salut in der allgemeinen Kanonade verhallte. — Herr
Alcock und Herr von Bellecourt trafen also am 2. März mit den
Kriegsschiffen Encounter und Pioneer vor Yeddo wieder ein, lan-
deten unter grossem Geschützdonner, und begaben sich, von einigen
Bunyo’s empfangen, nach ihren Tempeln.


Der Gedanke der Uebersiedelung war durch die Umstände
vollkommen gerechtfertigt; die beständige Gefahr des Meuchel-
mordes entnervt auch den Kaltblütigsten, solcher Zustand ist auf
die Länge unerträglich. Den bezweckten Erfolg der grösseren
Sicherheit für die Zukunft hatte die Maassregel aber nicht, wie die
Ereignisse deutlich bewiesen haben. Grade die englische Gesandt-
schaft wurde schon im Juli desselben Jahres Gegenstand eines mör-
derischen Ueberfalles, mit grösserem Aufwand von Kräften vollführt
als alle früheren Attentate. Nach diesem Angriff blieb Herr Alcock
noch eine Zeit lang in Yeddo wohnen, obgleich die Aussicht der
Gefahr viel drohender war, als nach Heuskens Tode; und aus seinen
eigenen Geständnissen geht hervor, dass er sein Verharren in der
Hauptstadt jetzt für politisch nothwendig hielt. Vielleicht hätten
die Beziehungen der Fremden zu Japan in den nächsten Jahren eine
[176]Eventualitäten. Die letzten Tage in Yeddo. X.
ganz andere Gestaltung gewonnen, wenn die sämmtlichen Gesandt-
schaften nach Heuskens Tode in Yeddo ausgeharrt und Alles daran
gesetzt hätten, ihre Stellung dort zu behaupten; vielleicht hätte
diese Politik wirklich zum Kriege mit den Vertragsmächten geführt.
Notorisch ist dagegen, dass es den Vertretern der europäischen
Mächte in den nächsten Jahren nicht wieder gelang, bleibend in der
Hauptstadt Fuss zu fassen, wie Herr Harris voraussah. Auch sein
Nachfolger in der Vertretung von Amerika, Herr Pruyn wurde im
Sommer 1863 halb gewaltsam von dort entfernt. Die Meinungsver-
schiedenheit der Diplomaten über die Lage erscheint unerheblich
der Grösse der innern Zerwürfnisse gegenüber, wie sie sich in den
folgenden Jahren offenbarte. Man hatte damals noch keinen Begriff
von der Schwäche und Zerrüttung der centralen Executivgewalt
und der wirklichen Stellung der Lehnsfürsten zu den Verträgen.


Die letzten Tage unserer Anwesenheit in Yeddo stürmte und
regnete es fast unablässig. Am 27. Vormittags kamen die Bunyo’s,
die den Vertrag unterzeichnet hatten, um Abschied zu nehmen und
dem Gesandten Geschenke des Taïkūn für Seine königliche Hoheit
den Regenten zu überreichen: einen Lackschrank von vorzüglicher
Arbeit, golddurchwirkte Seidenstoffe und ein schönes Schwert. Mit
einem solchen, hiess es, würden in Japan nur Personen beschenkt,
die man besonders ehre und als treue Freunde betrachte. — Dem
Gesandten gaben die Bunyo’s zum Andenken einige hübsche Klei-
nigkeiten, darunter eine Pistole in Form eines japanischen Taschen-
schreibzeuges; der Schreibepinsel dient als Ladestock. — Nachmit-
tags ritt Graf Eulenburg mit seinen Begleitern und einer ganzen
Schaar Yakunine zu Herrn Harris, um von dem schwergeprüften
Manne herzlichen Abschied zu nehmen. Er blieb in tiefer Einsam-
keit zurück, beraubt des treuen Freundes, der ihm so viele Jahre
zur Seite gestanden hatte. Unser letzter Ritt in Yeddo galt Heuskens
Grabe. Als der Gesandte gegen Abend nach Akabane zurückkehrte,
liess sich ein japanischer Grosser, Forivi Etsisen-no-kami melden,
der am folgenden Morgen im Namen der Regierung dem Gesandten
die Abschiedscomplimente machen sollte, und, um früh bei der
Hand zu sein, im Hause sein Nachtlager nahm.


Das grosse Gepäck war schon an Bord und wir hatten nur
das Nöthigste bei uns; Akabane sah kahl, unbehaglich und verwohnt
aus und wimmelte von Yakuninen. Alle die während des langen
[177]X. Abschied.
Aufenthaltes in Akabane Dienst gethan oder uns auf Ausflügen be-
gleitet hatten, — sie lösten einander häufig ab, — fanden sich jetzt
zum Abschied ein und wurden vom Gesandten mit Hirschfängern,
Säbeln und Dolchen beschenkt. Sie hatten sich fast ohne Ausnahme
gut geführt, viele die deutlichsten Beweise uneigennütziger Anhäng-
lichkeit und Treue gegeben; die meisten waren gute wohlwollende
Menschen, die Freundschaft für uns gefasst hatten und unsere Ab-
reise wirklich zu bedauern schienen. Die Geschenke des Grafen
machten viel grösseren Eindruck als man nach ihrem Werthe er-
warten durfte; die Yakunine fühlten sich durch die Gabe der Waffen
geehrt, nahmen, obgleich nur gering besoldet, solche augenscheinlich
lieber als ein reiches Geldgeschenk, und liefen mit strahlenden Ge-
sichtern bei allen Mitgliedern der Gesandtschaft umher, zeigten ihre
Schätze und riefen unter vielen Bücklingen auf deutsch »Danke,
Danke«. Ihre naive Freude schien uns ganz rührend.


Den 28. Januar früh wehte und schneite es, dass der Himmel
verfinstert war und die Erde sich mit einer weissen Decke überzog.
Kein Boot konnte gegen den Norweststurm die See halten. Forivi
Etsisen-no-kami
leistete dem Gesandten zwei Stunden lang Gesell-
schaft und zog sich dann wieder in seine Gemächer zurück. Um
Mittag liess der Wind etwas nach; die erste Barkasse, die beiden
Pinassen, die beiden Cutter und die Gig stiessen gegen zwölf von
der Arkona ab; gegen zwei wurde in Akabane ihre Ankunft am
Lande gemeldet. Der Gesandte verabschiedete sich von Forivi
Etsisen-no-kami
, stieg mit seinen Begleitern zu Pferde und ritt
unter Escorte des vierzig Mann starken Seesoldaten-Detachements
nach dem Landungsplatze, wo auch unsere sämmtlichen Yakunine
versammelt waren. Sie drängten sich mit dem Ausdruck der herz-
lichsten Anhänglichkeit um die Abreisenden, stiegen mit ihnen die
Stufen hinab und liessen nicht nach mit warmen Händedrücken, als
Graf Eulenburg und seine Begleiter schon in den Booten sassen.
Die Seesoldaten waren in Reihe aufmarschirt und präsentirten,
die Gig mit dem Gesandten stiess vom Lande und alle Anwesenden
brachten ihm ein dreifaches Hurra. Der Wind war zur Hinaus-
fahrt günstig; die Boote mit den Passagieren langten schon vor
vier Uhr bei der Arkona an; diejenigen mit dem Gepäck aber und
die letzten Wasserfässer kamen erst gegen Einbruch der Nacht, so
dass die Abfahrt nach Yokuhama auf den folgenden Morgen ver-
schoben wurde.


II. 12
[178]Abreise von Yeddo. X.

Die Thetis lag schon seit einigen Tagen vor Yokuhama;
Seiner Majestät Transportschiff Elbe setzte am 28. Januar von dort
aus Segel um unsere Post mit der Nachricht des Vertragsabschlusses
direct nach Shanghai zu führen. — In der Nacht zum 29. legte sich
der Wind, und der Golf war fast spiegelglatt, als die Arkona mit
Tagesanbruch nach Süden dampfte. Es war ein wunderherrlicher
Morgen; die strahlende Pracht der japanischen Landschaft entfaltete
sich wie zum Abschied in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit: der Him-
mel rein und blau, nur auf den beschneiten Bergen lagen schwere
graue Wolkenschichten, aus denen der mächtige Kegel des Fusi-
yama
wie ein weisser Riese emporragte. Tausende weisser Segel
schwammen wie Flocken auf dem leicht gekräuselten Golf und
strömten flottenweise aus allen Buchten hervor, um die ersehnte
Stille zum Fischfang zu benutzen.


Der Tag verging in Yokuhama unter Abschiedsbesuchen und
Wanderungen durch die Kaufläden. Den 30. regnete es wieder
unablässig in Strömen; wir begaben uns nur an das Land um dem
Verkauf von Heuskens Nachlass beizuwohnen, welchen der hollän-
dische Consul für die Erben versteigern liess. Die Gesandtschafts-
Attaché’s und Consuln aller Nationen sowie viele Kaufleute aus
Yokuhama, welche den Ermordeten gekannt und geliebt hatten,
fanden sich dazu ein; Jeder wollte ein Andenken erwerben und die
Sachen wurden zu erheblichen Preisen gesteigert. — Nachmittags
gab Graf Eulenburg den anwesenden Gesandten und Consuln auf
der Arkona ein Abschiedsbanket.


[[179]]

XI.
FAHRT DER ARKONA UND THETIS VON YOKUHAMA NACH
NAṄGASAKI. AUFENTHALT IN NAṄGASAKI.

VOM 31. JANUAR BIS 23. FEBRUAR 1861.


Den 31. Januar früh lichteten Seiner Majestät Schiffe Arkona und
Thetis die Anker und traten die Fahrt nach Naṅgasaki an, welche
gute Segler bei günstigem Wetter in vier bis fünf Tagen zu voll-
bringen pflegen. Uns sollte es anders beschieden sein.


Das Personal der Expedition war für diese Reise folgender-
maassen auf die Schiffe vertheilt: der Gesandte Graf zu Eulenburg
mit dem Legations-Secretär Pieschel und den Attaché’s Graf A. zu
Eulenburg
und von Bunsen, Dr. Lucius, Kaufmann Spiess, Zeichner
Heine, Photograph Bismark und Maler Berg auf der Arkona;
Legations-Attaché von Brandt, Geologe Freiherr von Richthofen,
Zoologe von Martens, Kaufmann Jakob und Gärtner Schottmüller
auf der Thetis. Dr. Maron war an Bord der Elbe versetzt, Re-
gierungsrath Wichura mit einem englischen Dampfboot nach Naṅ-
gasaki
vorausgegangen.


Früh Morgens war es windstill in der Bucht von Yokuhama;
Capitän Sundewall liess daher die Maschine heizen und dampfte
mit der Arkona in den Golf hinaus. Dann erhob sich ein frischer
Nordwind; während auf der Arkona die Schraube aufgewunden
wurde, holte Thetis sie ein. — Die Luft war hell und sonnig,
die Schiffe schwebten, unter allen Segeln fest in den Wind gedrückt,
ruhig neben einander den Golf hinab, ein stattliches Paar. Bald
hatten wir Cap Sagami passirt und befanden uns gegen drei Uhr
Nachmittags bei der Vulcan-Insel Oho-sima. Niemand ahnte
Böses, doch bewiesen die starke Dünung und der heftig nach
Norden gewirbelte Rauch des Feuerberges, dass es draussen nicht
geheuer sei. Die Fluth strömte eben mächtig von Süden her in
den Golf hinein, den Schiffen grade entgegen, die trotz allen ge-
blähten Segeln nicht mehr von der Stelle kamen. Wie stark der
12*
[180]Sturm. XI.
einfliessende warme Strom gewesen sein muss, beweist der Umstand,
dass man auf einer Strecke von zwanzig Seemeilen im Wasser einen
Temperatur-Unterschied von zehn Grad Réaumur bemerkte. — Die
Brise wurde Nachmittags immer schwächer und starb gegen Sonnen-
untergang ganz fort; plötzlich wehte es wieder heftig und stoss-
weise bald aus dieser bald aus jener Himmelsgegend, so dass
beständig Segel gewechselt werden mussten und die Mannschaft
nicht von den Füssen kam. Unser Cours lag südlich zwischen der
Insel Oho-sima und Cap Idsu hindurch; der östliche Eingang des
Golfes zwischen Oho-sima und Cap King ist ein ganz unbekanntes
Gewässer, das nur von japanischen Dschunken befahren wird. Da
aber der Wind, nachdem er eine Weile mit gefährlicher Schnelligkeit
durch alle Puncte der Windrose gewandert war, zu heftigem
Südweststurm erstarkte, so war uns der gewöhnliche Weg verlegt.
An Rückzug konnte bei dem engen Eingang des inneren Golfes
und dem Mangel an Leuchtthürmen nicht gedacht werden, die
Nähe des Landes drohte überall Verderben, und die Schiffe mussten
sich in das ganz unbekannte Fahrwasser zwischen Oho-sima und
Cap King wenden, um, an den Wind gehend, während der Nacht
die hohe See zu gewinnen. Die Meerenge wimmelte von Dschunken,
die, vom schlechten Wetter überraschst, auf wohlbekannten Pfaden
die gastlichen Häfen suchten, während wir nur vom Lande frei zu
werden wünschten. Auszuweichen war in der Dunkelheit unmög-
lich, denn die Dschunken stecken niemals Lichter aus. Mehrere
sausten auf halbe Kabellänge an der Arkona vorüber und ver-
schwanden den nächsten Augenblick gespentisch in der schwarzen
brausenden Nacht; ein Wunder dass keine übergesegelt wurde. Der
Sturm pfiff und heulte im Takelwerk. Im Aufruhr der rasenden
Wogen, die kochend und schnaufend die ächzenden Schiffswände
bedrängten und sich tobend in leuchtendem Schaum über Bug und
Verdeck ergossen, in den schwarzen zerfetzt über die Fläche ge-
jagten Wolken stellte sich der lebhaften Phantasie leicht das Urbild
jenes Drachens dar, den die Japaner durch düsteres Gewölk und
schäumenden Meeresschwall daherfahrend abbilden. — Es war eine
wilde Nacht und vielleicht die bedenklichste Lage in der die Schiffe
sich noch befunden hatten, denn niemand wusste, ob nicht ver-
derbenbringende Riffe die Meerenge durchsetzten, und den Cours
konnte man wegen der unbekannten und heftigen Strömungen nur
annähernd bestimmen. Anfangs diente noch die Vulcan-Insel als
[181]XI. Sturm.
Landmarke, eine breite düstere Masse, um deren Gipfel hin und
wieder ein röthlicher Feuerschein zu zucken schien; aber ihre
Umrisse verschwammen mehr und mehr im Dunkel der Nacht, und
das Licht des Mondes war, auch wenn es auf Augenblicke durch
die Wolken brach, zu dämmerig, um die gefahrdrohenden Küsten
von Ava deutlich zu zeigen. Der Sturm raste die ganze Nacht mit
ungeschwächter Heftigkeit. Auf der Arkona brach der Stock vom
Klüverbaum; Thetis kam schon bei Einbruch der Nacht ausser
Sicht, jedes Schiff suchte seinen eigenen Weg.


Bei Tagesanbruch lagen wir vom Lande frei, der Wind aber
nahm bedeutend zu; das Grossmarssegel, Vormarssegel und der
Sturmfock der Arkona zerrissen in tausend Fetzen und mussten
unter grossen Anstrengungen der Mannschaft durch neue ersetzt
werden. Dann brach die Vorbramsaling und der darauf stehende
Matrose wurde hinabgeschleudert, aber zum Glück vom Takelwerk
aufgefangen ohne sich zu verletzen. — Im Laufe des Morgens
erschien Thetis am fernsten Horizont; als sie näher kam, konnten
wir von der Arkona aus durch die Fernröhre bemerken, dass sie
zwei Boote verloren hatte. Beide Schiffe gingen, in beträchtlichem
Abstande von einander, unter dicht gerefften Marssegeln so hart
als möglich an den Wind, wurden aber trotzdem fortwährend nach
Ost-Süd-Osten in den Stillen Ocean hinausgejagt, während der
beabsichtigte Cours südwestlich lag. So währte es drei volle Tage
und Nächte lang; nur auf kurze Fristen liess der Sturm zuweilen
etwas nach, um dann mit erneuter Heftigkeit wieder loszubrechen.
Die Windstärke wurde von den Seeleuten meist als Nummer elf ver-
zeichnet, wir konnten nur dichtgereffte Marssegel führen; zwölf ist
die höchste Nummer und bedeutet orkanartige Heftigkeit, bei
welcher ein Schiff gar kein Segel mehr tragen kann. — Am 2. Fe-2. Febr.
bruar wurde am Horizont eine Insel, wahrscheinlich Fatsisio, sichtbar.
Den 3. Nachmittags endlich liess der Wind merklich nach. Capitän3. Febr.
Sundewall wollte auf der Arkona ausser den Sturmsegeln noch den
Sturmbesan aufbringen, der aber gleich zerriss. Wir befanden uns
an diesem Tage um Mittag auf 141° 3′ östlicher Länge und 32° 18′
nördlicher Breite; die Schiffe lagen noch immer mit den Nasen
nach Amerika, statt nach Asien zu.


Unsere Existenz war in diesen drei Tagen nicht die ange-
nehmste und liess an Comfort Manches zu wünschen übrig. Sämmt-
liche Stückpforten der Batterie mussten zugeschraubt bleiben; das
[182]Annehmlichkeiten des Seelebens. XI.
trotzdem eingedrungene Wasser rauschte und fluthete dort beständig
auf und nieder, und zuweilen stürzte eine brausende See durch die
Verdeckluken herab. Auch in den Batteriekammern waren die
Pforten geschlossen, aber am Boden wogte mehrere Zoll hoch die
Wasserfluth; alle losen Gegenstände stürzten sich fühllos kopfüber
in dieses Bad und polterten, mit dem Wellenschlage lustig hin-
und herschwimmend, tactmässig an die Cajütenwände. Man musste
den ganzen Tag Licht brennen und nahm seine Wasserstiefeln mit
zur Koje; — der Ausdruck »zu Bett«, wird auf See mit Recht ver-
lacht. Wer irgend konnte schwang sich Morgens von seinem Lager
gleich auf den festgeschraubten Cajütentisch und suchte dort Toilette
zu machen, das Wasser schwappte ihm aus dem Waschbecken
von selbst in das Gesicht; wer sich beim Anziehen nicht festklam-
merte machte unfreiwillig die wunderlichsten Reverenzen und equi-
libristische Kunststücke. Die Küchenfeuer konnten fast die ganze
Zeit nicht angezündet noch die Tafeln gedeckt werden; man nährte
sich aus der Hand von Schiffszwieback und kalter Küche, so weit
sie vorhanden, und trank aus der Flasche. Liess der Wind auf
Augenblicke nach, so wurde wohl Caffee gekocht; wem es dann
gelang eine Tasse des warmen belebenden Saftes unzerbrochen und
unvergossen in sein Innerstes zu befördern, der konnte von Glück
und Geschicklichkeit reden. Auf Deck ist man bei solchem Wetter
beständigen Staub- und Sturzbädern ausgesetzt und kann sich des
grossartigen Schauspiels nicht allzulange freuen; die inneren Schiffs-
räume sind feucht, dumpfig und dunkel, und man verwünscht von
ganzem Herzen alle Seereisen.


4. Febr.Den 4. Februar trat Besserung ein; der Wind wurde flauer
und etwas nördlicher, die Dünung schwächer, so dass die Geschütz-
pforten geöffnet werden konnten. Die Schiffsräume trockneten und
wir hatten wieder Tageslicht in der Batterie. Am nordwestlichen
Horizont zeigte sich eine Felseninsel, wahrscheinlich South-Island.
— Wir fuhren Morgens an einer Klippengruppe vorüber, die in den
Karten zwar unter dem Namen »Rocky Islet« verzeichnet war, aber
ohne sichere Ortsbestimmung. Sie lag genau auf der Linie unseres
Courses, und wir durften unser Glück rühmen die Stelle bei Tage
zu passiren; bei Nacht konnten die Schiffe mit der Strömung, welche
grade darauf los trieb, leicht auf die Felsen rennen. — Es war ein
sonderbarer Anblick, voll unheimlicher Naturschönheit: die Klippen
liegen theils unter Wasser, theils berühren sie die Oberfläche oder
[183]XI. Felsenriff. Die Vandiemensstrasse.
steigen zackig und zerrissen bis zu vierzig Fuss Höhe empor; eine
furchtbare Brandung umbraust die schwarzen Gerippe, Tausende
von Seevögeln flattern rastlos umher und tauchen fischend in den
milchweissen Schaum, der zwischen den Felsen kocht. Die gränzen-
lose Einöde ringsum erhöht den Graus des Riffes, des höchsten
Felsgipfels der unterseeischen Gebirge fern und nah, denn die See
ist ringsum tiefblau, und so weit das Auge reicht nur Himmel und
Wasser sichtbar. — Da wir klares Wetter hatten, so konnten genaue
Observationen gemacht werden; die auf beiden Schiffen angestellten
Berechnungen stimmten bis auf eine Seemeile mit einander und mit
der als wahrscheinlich bezeichneten Ortsbestimmung der Seekarten
überein, so dass die Lage für alle Zukunft mit Sicherheit festgestellt
ist. — Die Luft war hell und warm, die Temperatur des Seewassers
schon über 20 Grad; ein Wallfisch spielte an der Oberfläche.


Am nächsten Morgen, — den 5. Februar, — wurde es wind-5. Febr.
still; die Arkona heizte, nahm Thetis in das Schlepptau und steuerte
nach Westen, machte aber bei der starken Dünung nur wenig Fahrt.
Den 6. Morgens war es schwül; dann sprang eine Brise aus Ost-6. Febr.
Nord-Ost auf, die später nach Ost-Süd-Ost und Süd-Süd-Ost
herumging. Thetis wurde losgeworfen und beide Schiffe setzten
Segel. Wir hatten endlich günstigen Wind; da man aber fürchten
musste während der Nacht der Küste von Kiusiu nah zu kommen,
so liess der Commodore um acht Uhr Abends beidrehen. Den 7.7. Febr.
war der Wind weniger günstig und wir kamen auch an diesem Tage
nicht in Sicht der ersehnten Vandiemensstrasse. Am 8. blies es den8. Febr.
Schiffen grade aus der Richtung ihres Zieles in’s Gesicht, so dass
wir hin und her kreuzend wenig Raum gewannen. Das Wetter
war warm und regnerisch, ebenso am 9. Februar; der Wind bewegte9. Febr.
sich zwischen Süden und West-Nord-Westen, die Schiffe kamen
nicht vorwärts. Den 10. endlich helles Wetter und leidlicher Nord-10. Febr.
westwind. Morgens kam die Westküste von Kiusiu in Sicht, zuerst
Cap D’Anville, dann Cap Nagoeff; wir gingen hart am Winde bis
unter Land. Dann wurde es still, Arkona liess ihre Schraube in’s
Wasser und dampfte zur Thetis. Das Meer lag spiegelglatt und der
Himmel sternenklar, vor uns in der duftigen Dämmerung die Insel
Tanegasima, wo wahrscheinlich die ersten nach Japan gekommenen
Portugiesen landeten; man konnte die Lichter der Ortschaften unter-
scheiden. Die Schiffe furchten glänzende Linien in der dunkelen
Fluth, im Schraubenbrunnen der Arkona funkelte der Schaum
[184]Der Golf von Kagosima. XI.
wie bengalische Flammen. Wir umkreisten mit ihr die Thetis bis
diese ihre Trossen bereit hatte und nahmen sie dann in das
Schlepptau.


11. Febr.Den 11. Morgens befanden wir uns noch in der Vandiemens-
strasse
: rechts Cap TschitschakoffSatanomi-Saki, — links das
bewaldete Tanegasima, dann Yakunosima mit dem hohen Vulcan-
berg Motoriyama, dessen Spitze in Wolken lag; vor uns die Schwefel-
Insel Iwosima, ein gewaltiger Eruptionskegel, der, ähnlich dem
Stromboli, einsam und steil aus dem Meere aufsteigt. Seine Höhe
beträgt über zweitausend Fuss. Silberweisser Dampf wirbelte in
dicken Wolken aus dem Krater und vielen seitlichen Spalten. Mehrere
von uns hatten die grösste Lust zu landen; aber der Commodore
war unerbittlich seinen Cours zu unterbrechen, und der Nachmittag
lehrte, wie richtig er handelte. Wir dampften dicht an der schönen
Küste von Kiusiu hin, die sich hier theils in bewaldeten Hängen,
theils in kahlen steilen Wänden, in herrlich geschwungenen aus-
drucksvollen Linien in das Meer senkt. Cap Tschitschakoff läuft in
ein Klippenthor aus, durch das man in den Golf von Kagosima blickt,
den Schauplatz von Englands letzter Waffenthat. Gegenüber liegt
Pic Horner, — Cap Kaïmon, — ein hoher spitzer Kegel vulcanischer
Bildung, und zwischen beiden öffnet sich die einladende Bai, um-
schlossen von schöngeformten Gebirgsketten; in ihrem innersten
Winkel, die Lage der Hauptstadt von Satsuma bezeichnend, eine
steile Felseninsel.


Den Morgen über war das Wetter freundlich; die Sonne
brach häufig durch die leichten Wolkenschichten und goss glänzende
Streiflichter auf Land und Meer. Aber Nachmittags gegen drei schoss
urplötzlich eine solche Windsbraut vom Lande aus über uns her,
dass Arkona die Thetis loswerfen und mit Macht Segel bergen
musste. Der Wind steigerte sich bald zum Sturm und peitschte dichte
Regenfluthen vor sich her; nur kurze Zeit konnten die Schiffe noch
Cours halten, dann begann es grade von Naṅgasaki her zu blasen;
wir mussten beilegen und wurden wieder ein gutes Stück von unserem
Ziele fortgetrieben. Die Nacht war dunkelschwarz und der Arkona
riss wieder ein Segel; es stürmte und regnete den ganzen folgenden
Tag und wurde erst gegen Abend etwas ruhiger; wir feierten in der
Officiersmesse der Arkona Fastnacht mit Punsch und Kuchen. —
13. Febr.Am 13. ähnliches Wetter, kalt und unfreundlich; heftige Böen mit
Regen und Schnee, immer aus widriger Richtung; wir steuerten bald
[185]XI. Schlechtes Wetter. — Vor Naṅgasaki.
Nord-West, bald Nord-Ost, trieben aber zusehends nach Süd-
Westen, also von unserem Ziele fort. Der Wind blies die staub-
gelösten Kuppen der Wellen als salzigen Sprühregen über die
Meeresfläche. — Nachmittags brach die Sonne durch schwarze zer-
rissene Wolken und beleuchtete unheimlich in grellen Streiflichtern
die dunkele tosende Fluth; in der Ferne schien sich eine Wasser-
hose zu bilden. Gegen Abend wieder eine Böe mit Schneegestöber.
Einige Tage vorher hatten wir im Stillen Ocean vollen Sommer. —
Den 14. wurde der Wind schwächer, blieb aber ungünstig, wir kamen14. Febr.
nicht weiter; es war bitter kalt, hagelte und schneite. Abends wurde
es stiller; man fror nicht mehr so jämmerlich und konnte eine Nacht
schlafen. Morgens heizte Arkona und nahm Thetis in das Schlepp-
tau; wir dampften gegen schwachen Wind durch ziemlich glattes
Wasser nach Nord-Osten. Der trübe Himmel liess keine Observationen
zu, Nachmittags aber kamen die Meaksima-Inseln in Sicht, deren
Lage zu der gerechneten Ortsbestimmung passte. Wir waren orientirt.
— Nachts wurde in Nord-Nord-Ost ein Feuer beobachtet, das wahr-
scheinlich auf einer der hohen Goto-Inseln brannte.


Den 16. konnte wieder keine Sonnenhöhe genommen werden;16. Febr.
der Wind wurde stärker und wehte bald aus Osten bald aus Norden.
Man musste die Thetis loswerfen und Segel setzen, beide Schiffe
kreuzten sich langsam hinauf, und Abends kam Land in Sicht. —
Am 17. Morgens endlich lag die Küste von Kiusiu in vollem Son-17. Febr.
nenglanze vor uns.


Es war anfangs schwer sich zu orientiren, denn wir hatten
seit mehreren Tagen keine astronomischen Daten gehabt, und die
Rechnung konnte bei dem beständigen Hin- und Herkreuzen keine
zuverlässigen Resultate geben; zudem ist der enge Eingang der Bucht
in der hafenreichen Küste so schwer zu finden, dass Krusenstern
z. B. acht Tage vor Naṅgasaki herumgekreuzt sein soll; auch die
Arkona machte bei ihrem späteren Besuch eine sonderbare Erfah-
rung. — Diesmal befanden wir uns zum Glück grade vor der Ein-
fahrt, von wo auch bald ein amerikanischer Lootse an Bord der Arkona
kam. Er berichtete das Eintreffen des englischen Dampfers Cadix
aus Yokuhama, welcher zwei Tage nach uns abgesegelt und nach
elf Tagen in Naṅgasaki angelangt war. Auch dieses Schiff hatte
sehr ungünstiges Wetter gehabt und zweimal in Häfen einlaufen
müssen, entging aber durch seine spätere Abfahrt dem Südwest-
Sturm, der uns so weit in den Stillen Ocean hinausjagte. — So lag
[186]Seeleben. XI.
denn endlich das Ziel der Reise vor uns, eine herrliche Küste von
bewegten Umrissen, mit tiefen Einschnitten und vielen Felseninseln.
Die Sonne schien köstlich, und segelnde Wolkenmassen schleppten
ihre breiten tiefen Streifschatten über Meer, Gebirge und Inseln.
Es war der achtzehnte Tag seit der Abreise von Yokuhama und
wir waren Alle herzlich froh. Die ersten Tage waren die schlimmsten
gewesen, aber wir wurden bei dem ewig wechselnden Wetter auch
nachher selten nur auf einige Stunden des Lebens froh. Kaum
waren die Luken geöffnet, so mussten sie schon wieder zugeschraubt
werden. Wollten die Musiker spielen, was sie sich ungern nehmen
liessen, so löste der schönste Marsch, nach einigen verdächtigen
Ausweichungen beim Wachsen des Sturmwindes, sich mit stärkerem
Ueberholen des Schiffes oft plötzlich in einen schmerzlichen Jammer-
schrei aller Instrumente auf und starb kläglich ächzend dahin. —
Es scheint ruhig zu werden und man setzt sich zu Tische; aber
die heisse Suppe läuft dem hungrigen Gast gleich über die Beine,
er greift wirren Blickes krampfhaft nach Tellern, Gläsern, Messern
und Gabeln, welche die grösste Neigung ihn zu verlassen zeigen,
und taumelt schliesslich gegen den bedrängten Nachbar. Wenn man
den ganzen Tag Licht brennen und in Wasserstiefeln gehen muss,
ohne irgend einen ruhigen Sitz zu finden, wenn es draussen schneit
und regnet und kalte Brausewellen über das Verdeck spülen, wenn
die Balken garnicht aufhören mit Krachen und Knarren und man
in der Koje hin und her wackelt wie ein Glockenklöpfel, so ist
eine Wasserfahrt wenigstens für den Landmann ein sehr zweifel-
haftes Vergnügen. Es gab auch schöne und unvergessliche Momente
auf dieser Reise, die in der Erinnerung alle Unbequemlichkeiten
aufwiegen, — so der Eindruck des Felsenriffes im Stillen Ocean,
der Abend und Morgen in der Vandiemens-Strasse, der Anblick
der Küste von Naṅgasaki; — aber in der Gegenwart schienen
uns diese Genüsse etwas theuer erkauft.


Thetis war der Arkona in der Nacht ein beträchtliches Stück
vorausgekommen, konnte aber am Morgen nicht weiter, weil der
Wind vom Lande her blies. Capitän Sundewall liess deshalb heizen,
dampfte zu ihr hin und nahm sie in das Schlepptau.


Die Bai von Naṅgasaki schneidet tief in das Land hinein;
innen öffnen sich zwischen malerischen Vorgebirgen viele engere
Nebenbuchten mit heimlichen Fischerdörfchen; die Höhen tragen
immergrüne Wälder; wo Ackerbau möglich ist, steigen Terrassen
[187]XI. Bai von Naṅgasaki.
auf Terrassen bis zum Gipfel der Berge. Die Felder prangten
jetzt im schönsten Frühlingsgrün. Im Eingange der Bucht liegt
Papeneiland, ein steiles oben mit Föhren bestandenes Inselchen,
der Richtplatz vieler christlichen Märtyrer und der spanischen Ge-
sandtschaft von 1640. Klippen und Untiefen umgeben die Einfahrt
und durchsetzen deren breiteren zwischen Papenberg und dem
nördlichen Vorgebirge sich öffnenden Arm, während der schmalere
tiefes Fahrwasser bietet. Wir steuerten im Bogen um die Insel,
zwischen Batterieen schweren Kalibers hindurch in das stille ge-
schlossene Becken, in dessen fernstem Winkel die Stadt sichtbar
wird. Unsere lange entwöhnten Blicke ergingen sich mit Entzücken
in der lieblichen Uferlandschaft, an der die Schiffe vorbeiglitten,
bis die Stadt selbst alle Aufmerksamkeit absorbirte. Vornan liegt
Desima, vom Wasser aus nicht als Insel kenntlich; an der Südseite,
nahe dabei, die neue Niederlassung der Fremden, gegenüber nördlich
das russische Etablissement und die Dampfmaschinenfabrik des
Fürsten von Fidsen. Ringsum bilden die Höhen ein herrliches
Amphitheater, die Abhänge sind dicht bedeckt mit stattlichen
Tempeln und terrassenförmig aufsteigenden Friedhöfen, beschattet
von herrlichem Baumwuchs. Hunderte von Booten durchfurchen
das spiegelnde Becken, überall herrscht Leben und Bewegung.
Nah dem Ufer lag eine ganze Flotte japanischer Dschunken, weiter
hinaus holländische und amerikanische Kauffahrer, der englische
Kriegsdampfer Vulcan und ein russisches Kriegsgeschwader von
vier Schiffen.


Wir warfen gegen Mittag Anker unter dem Salut des russischen
Flaggschiffes Svetlana, dessen Commandant, Capitän Boutakoff,
sogleich an Bord der Arkona kam. Graf Eulenburg freute sich in
ihm einen Reisegefährten wiederzusehen, mit dem er die Ueberfahrt
von Suez nach Ceylon gemacht hatte. Gleich darauf erschienen auch
der hölländische Consul Herr Metmann und der Regierungsrath
Wichura, der, schon seit mehreren Wochen in Naṅgasaki, jetzt
ein willkommener Führer wurde. — Wir betraten mit Wonne wieder
festen Boden.


Der Landungsplatz der Fremden liegt an der schmalen Nord-
seite von Desima, eine breite steinerne Treppe führt zum Ufer
hinan. Das Thor, welches hier früher die Insel nach der Seeseite
sperrte und nur während der Anwesenheit der holländischen Schiffe
unter strenger Controle geöffnet wurde, ist weggeräumt, ebenso
[188]Desima. XI.
das andere nach dem Lande führende. Von dem historischen
Desima sieht man überhaupt keine Spur mehr; die ganze Nieder-
lassung brannte im Jahre 1858 einmal wieder ab und jetzt stehen
dort lauter neue weissgetünchte Gebäude, theils Waarenlager, theils
Wohnhäuser. Letztere liegen mit der Fronte nach der See, nach
Westen gekehrt, an einem breiten Quai, und sind nach dem Muster
der holländischen auf Java gebaut, unten Geschäftsräume, oben die
Wohnzimmer, vor welchen unter überkragendem Dache ein Balcon
die ganze Façade entlang läuft. Von da übersieht man die liebliche
Bucht; der Blick schweift zwischen den grünen Ufern des langge-
streckten Beckens hindurch bis auf das hohe Meer, das zwischen
den fernsten Vorgebirgen wie durch eine Thürspalte sichtbar ist.
Links im Vordergrunde läuft eine bewachsene Höhe am Strande hin,
welche malerische Gebäude beschattet; dahinter schiebt sich die
dem Meere abgewonnene Fläche mit der neuen Ausiedelung der
Fremden vor und weiterhin ein bewaldeter Bergkegel, an dessen
Abhängen Tempel und ländliche Wohnungen unter dichten Baum-
wipfeln hervorlugen. — Man kann sich keinen behaglicheren Platz
als diese Altane denken, um seine Zeit zu verträumen. Hier stört
nicht das Gewimmel eines geräuschvollen vielbesuchten Hafens, wo
Schiffer und Lastträger sich mühselig abarbeiten, einander drängen
und mürrisch anschreien; das weite Becken bietet Raum in Fülle,
die Boote gleiten stille durch die Fluth, Niemand hat grosse Eile;
die heiteren Japaner — Arbeiter, Bootsleute, Zollbeamte — scherzen
und lachen mit einander; über Landschaft und Menschen liegt die
vergnüglichste Stimmung.


Die weissen Häuser von Desima mit ihren grünen Fenster-
läden machen den freundlichsten Eindruck; die Hintergebäude dienen
zu Waarenlagern und bilden mit ihrer äusseren Wand die West-
façade der das Etablissement der Länge nach durchschneidenden
Strasse. Gegenüber steht eine zweite Reihe massiver Gebäude,
meist Magazine der hölländischen Kaufleute; eines haben japanische
Händler zum Bazar eingerichtet und halten dort ihr Hunder-
terlei von Lack-, Bronze-, Korb- und Porcelanwaaren in buntester
Auswahl feil. Man findet sehr hübsche Sachen, aber wenige von
hervorragendem Werthe. Hier wie in Yokuhama ist das Meiste
auf den Geschmack der fremden Seeleute und Wiederverkäufer be-
rechnet; ausgesuchte, theure Waare hätte geringen Absatz. —
Die Hinterwand dieser Häuserreihe läuft an dem Canal hin, welcher
[189]XI. Desima.
Desima von der Stadt scheidet; an ihrem Südende liegt in freund-
lichem Gärtchen, mit dem Blick auf den innersten Winkel des
Beckens und den hier mündenden Canal, die Wohnung des hollän-
dischen Arztes. An dieser Stelle haben Kämpfer und Thunberg
gehaust, deren Namen auf einem neben dem Eingange eingesenkten
Felsstück zu lesen sind; jetzt wohnte dort Dr. Pompe van Meer-
dervort
, welchen die holländische Regierung auf Ersuchen der japa-
nischen nach Naṅgasaki beurlaubt hatte, um einheimischen Medi-
cinern Vorlesungen zu halten.


Seit den Zeiten der Factorei hat sich auf Desima Vieles ge-
ändert, aber die holländische Behaglichkeit blüht noch in vollstem
Glanze. Die Insel ist noch heute ganz in den Händen der Nieder-
länder; sie zahlen nicht mehr Miethe für die Häuser, sondern nur
einen vertragsmässigen Grundzins, und besitzen die Gebäude als
Eigenthum. Die Handelscompagnie besteht nur als Privatgesellschaft
weiter, aber ohne Monopol, ihr Director ist nicht, wie früher, der
erste Mann der Niederlassung; die Stellung hat ihre Bedeutung
verloren, seitdem Herr Donker Curtius als Commissar der königlich
niederländischen Regierung dort eintraf und durch die Verträge von
1856, 1857, 1858 seinen Landsleuten gleiche Rechte mit anderen
bevorzugten Nationen erwirkte. Sein Nachfolger wurde der General-
Consul Herr De Witt, dessen Amtswohnung sich durch Geräumig-
keit und standeswürdige Einrichtung vor allen Häusern des Insel-
chens auszeichnet. An Bequemlichkeit und Comfort fehlt es in
keinem; die Fussböden sind mit japanischen Matten bedeckt, Möbel
und Geräthe von europäischer, amerikanischer, chinesischer Arbeit,
Alles wohlhäbig und behaglich, wie sich denn auch die heutigen
Bewohner von Desima nach altem gutem Herkommen nichts abgehen
lassen. Sie wissen die geselligen Freuden zu schätzen und üben die
liebenswürdigste Gastfreundschaft. Küche und Keller sind vortrefflich;
die Tafeln strotzen von japanischen, javanischen und westländischen
Leckerbissen und ausgesuchten Getränken; die Zusammenkünfte sind
zwanglos und unbefangen. So lange wir dort waren drängte ein
Fest das andere, die Gastfreiheit kannte keine Gränzen; man führte
ein wahres Phäakenleben, in einem oder dem anderen Hause klan-
gen die Gläser immer bis tief in die Nacht. Eines der ersten Hand-
lungshäuser auf Desima ist ein deutsches, das bis dahin unter hol-
ländischem Schutze gestanden hatte; der Chef, Herr K., jetzt
preussischer Vice-Consul in Naṅgasaki, war damals in Europa; sein
[190]Desima. Naṅgasaki. XI.
Vertreter aber, Herr G. aus Bremen, bei welchem Regierungsrath
Wichura während seiner ganzen Anwesenheit in Naṅgasaki wohnte,
überhäufte die Mitglieder unserer Expedition mit endlosen Gefällig-
keiten, und sein Entgegenkommen war so offen, herzlich und an-
spruchslos, dass man gern ohne Bedenken und Rückhalt jede Ver-
bindlichkeit annahm. Seine Liebenswürdigkeit und Ortskenntniss
wurde unausgesetzt in Anspruch genommen, aber er blieb sich unter
allen Umständen gleich und ermüdete nicht, uns den Aufenthalt so
angenehm als möglich zu machen. Herr G. lebte mit seinen hollän-
dischen Nachbarn im besten Einvernehmen und wetteiferte mit ihnen
in zuvorkommender Gastfreundschaft. — Der General-Consul De Witt
war noch nicht aus Yokuhama zurückgekehrt; Herr Metmann aber
machte die Honneurs des niederländischen Consulates mit ausge-
suchter Artigkeit.


Naṅgasaki liegt in der Mündung eines Thales, das sich zwi-
schen bewaldeten Bergen nach Westen öffnet. Eine engere Schlucht
mündet von Süden ein; die Höhe zwischen dieser und dem Meere
sieht, mit Wohngebäuden und Tempeln bedeckt, nach der einen
Seite auf Desima und die Bai, nach der anderen in die Schlucht
hinab, durch welche sich ein rauschendes Bergwasser drängt. Ein
zweites Flüsschen strömt das grössere Thal hinab, und, in mehrere
Canäle gefasst, durch die Stadt. Man passirt das Wasser auf höl-
zernen und steinernen Brücken; letztere bestehen meist aus einem
einzigen kühn gespannten Bogen von wohlgefügten Quadern. Die
Stadt zählt gegen achtzigtausend Einwohner; ihre Strassen sind ein-
förmig und weniger belebt als die von Yeddo, die meisten Häuser
haben zwei Stockwerke. Man sieht wenig Kaufläden von Bedeutung;
in den meisten wird das Allerlei des japanischen Haus- und Lebens-
bedarfes feilgeboten, in vielen auch europäische Waaren: englische
Baumwollenstoffe, Streichhölzer, Gläser, und vor allen grosse Men-
gen leerer Wein- und Bierflaschen, deren bunte Etiquetten sorg-
fältig conservirt werden. Es gibt Thierhandlungen, wo die berühmten
kleinen Hunde und köstliches Federvieh aus dem Hühnergeschlecht
in Käfigen ausgestellt sind; dort findet man auch einzelne Exemplare
des japanischen Riesensalamanders 1), welcher nur in Teichen der
[191]XI. Naṅgasaki.
Vulcanberge, auf vier- bis fünftausend Fuss Meereshöhe lebt. Die
meisten die wir sahen maassen kaum zwei, einer jedoch über vier
Fuss. — Von den in Japan gekauften Hunden starben die meisten
unterwegs merkwürdiger Weise an einer Seuche, welche bald
nach unserer Abreise auch unter denen ihres Heimathlandes aus-
brach; ein ausgezeichnetes Exemplar im Besitze des Grafen zu
Eulenburg
überstand die Reise aber gut und ist noch heute sehr
munter. Die schönsten sind im Lande selbst theuer, wenn auch
nicht in dem Maasse wie ihre englischen Abkömmlinge, die ächten
»King Charles« 2). — Auch Hühner wurden in Menge, besonders
von den Officieren der Arkona an Bord genommen; es gibt davon
viele Varietäten, manche von ausgezeichneter Gestalt und köstlichem
Gefieder. Die ächtjapanischen Racen sind klein, die Hähne aber so
stark und kampflustig, dass sich auf der Arkona doppelt so grosse
Cochinchina-Hähne ängstlich vor ihnen in die Ecken duckten; sie
haben gewaltige Kämme und Sporen, und dichte wallende Schwanz-
federn, oft von der schönsten Zeichnung.


Von Bedeutung sind unter den Kaufläden nur einige Bronze-
und Porcelan-Handlungen; in letzteren wurden jedoch die in Yeddo
davon erregten Erwartungen nicht erfüllt. Die namhaftesten Porcelan-
Fabriken liegen im Fürstenthum Fidsen, nicht weit von Naṅgasaki;
hier sollte man grosse Auswahl und das Allerbeste finden. Alle
Gefässe aber die wir sahen waren von gröberer Masse und weniger
eigenthümlich als die in Yeddo feilgebotenen; das dortige Porcelan
sieht dem alten japanischen viel ähnlicher, Malerei und Zeichnung
sind sorgfältiger, künstlerischer, die Formen geschmackvoller und
origineller. Das in Naṅgasaki verkäufliche ist meist gewöhnliche
Fabrikwaare von grober bunter Malerei, die Muster selten von gutem
Geschmack. Hier ist Alles auf das europäische Bedürfniss berechnet;
man kauft ganze Tafel-Service mit Suppenterrinen, Saucièren, Tellern
jeder Grösse u. s. w., wie der Japaner sie niemals braucht, während
1)
[192]Umgegend von Naṅgasaki. XI.
man in Yeddo freilich nur Theekannen und Tässchen, Saki-Flaschen,
Schüsseln und dgl., und selten mehrere von demselben Muster be-
kommen konnte. Recht schön waren in Naṅgasaki einige grosse
Becken, Schüsseln und Vasen, zu deren Dimensionen die bunte
phantastische Malerei besonders passt; vor allem erregte aber das
sogenannte Eierschalen-Porcelan die Kauflust, Tassen die kaum
dicker sind als ein Kartenblatt, die meisten leicht und skizzenhaft
aber sehr geschickt mit Blumen und Schmetterlingen bemalt. — Die
lange Seefahrt hatte unseren Schacher-Appetit wieder geschärft,
und so wanderte zum Schrecken der Schiffscommandanten noch
manche Kiste an Bord, denn auf Kriegsschiffen ist niemals Platz.


Die Schönheit der Umgebungen ist kaum zu beschreiben;
wohin man sich wendet, die reichste, herrlichste Landschaft. Südlich
erhebt sich der Bergeshang steil aus dem ebenen bis zum Rande
mit dichten Häusermassen gefüllten Thalboden; an der äussersten
Strasse, welche am Fuss der Höhe hinläuft, liegen nebeneinander
auf Felsfundamenten stattliche Tempelportale in langer Reihe.
Breite steinerne Treppen führen hinan zu geräumigen Terrassen,
beschattet vom dichten Wipfelgewölbe ehrwürdiger Riesenkiefern.
Dort stehen Glockenhäuser und Reinigungshallen, Monumente und
Nebencapellen von mancherlei Form, bald schlank und zierlich,
bald breit und massig, meist in einfachen ernsten Verhältnissen
gebaut, dazwischen Gruppen schöner Gewächse, besonders Ci-
cadeen, deren dunkele unförmliche Stämme und krause Wipfel
mit den lederartig glänzenden Wedeln eine charakteristische
Zierde bilden. Die Form und Anlage dieser Höfe ist unregelmässig
und bei jedem Tempel anders, der Bewegung des Bodens und vor
Allem dem Bedürfniss der Landschaft angepasst. Hier zeigt sich
die ganze Meisterschaft der Japaner in geschickter Benutzung der
Bodengestalt. — Bahnen von breiten Quadern durchschneiden die Höfe
und führen auf die einzelnen Gebäude oft in schiefen und diagonalen
Linien zu, den Flächenraum in angenehmen Verhältnissen abtheilend,
wie accentuirte Striche, die in wenigen Zügen den geometrischen
Gedanken des unregelmässigen Grundrisses ausdrücken. Zuweilen
steigt man über mehrere solcher Terrassen durch reiche Portale
zum Haupttempel hinan, der, von Priesterwohnungen umgeben, bald
gradeaus, bald seitwärts vom Aufgange liegt. Der Eindruck dieser
Höfe, welche lachende Aussichten über das Häusermeer und den
belebten Hafen bieten, ist ernst und grossartig. Die gewaltigen
[193]XI. Friedhöfe.
Baumgruppen bekunden mehrhundertjähriges Alter; die wuchtigen
Dächer der Tempel und Portale ruhen auf stämmigen Säulenpfosten,
deren Holz durch die Zeit tief dunkele Färbung angenommen hat;
ihre Ornamentik beschränkt sich in edelem Maasse auf die Balken-
köpfe, Verkröpfungen und Füllungen, die in breitem markigem
Schnitzwerk bald phantastische Ungeheuer, bald stylisirte Pflanzen-,
auch Wogen- und Wolkengebilde darstellen. Der Ton des Ganzen
ist tief gesättigt; dichte Epheumassen bekleiden die aus bläulich-
grauen Quadern meist polygonisch gefügten Strebemauern der
Terrassen; die weissen Papierfenster der Priesterwohnungen und
die hellen Fugen der schwärzlichen Dächer vertiefen wie Glanzlichter
die dunkele Wirkung.


Hinter den Tempeln bauen die Gräberstätten sich auf, welche
an dieser Seite den Bergeshang auf der ganzen Länge der Stadt bis
zur Höhe von vier- bis fünfhundert Fuss einnehmen. Endlose
Treppchen führen, in verschiedenen Höhen von ebenlaufenden
Pfaden geschnitten, bis oben hinauf; dazwischen liegen auf unzähl-
baren unregelmässigen Terrassen die Ruhestätten, vielleicht familien-
weise abgetheilt, in Gruppen, deren jede von einer niedrigen Mauer
umgeben ist. Aus den gedrängten Reihen der vielgestaltigen Grab-
steine ragen Laternensäulen und Buddastatuen hervor, letztere oft
in ganzen Reihen von einförmiger Bildung; hier und da ein statt-
liches Denkmal. Alles ist, besonders in den tiefer gelegenen älteren
Theilen, mit Moos, Epheu, Immergrün und zierlichen Farrenkräutern
dicht bewachsen. Wo der vorspringende Boden einen Absatz bildet
ist der Raum zu einer grösseren Anlage benutzt; stattliche Strebe-
mauern stützen hier die Terrasse, das Erbbegräbniss eines ange-
sehenen Hauses tragend. Kiefern, Cryptomerien, herrliche Kampher-
bäume, Eichen, Lorbeern, Cypressen, Thuja, Ahorn und Podocarpus
ragen in prächtigen Gruppen aus dem Orangen-, Camelien-, Bam-
bus- und Myrthen-Gebüsch, aus Stechpalmen, Aralien-, Ligustrum-,
Viburnum-, Elaeagnus-Sträuchern hervor, den abschüssigen Fels-
boden beschattend, wo zwischen Moos und Epheuranken eine Fülle
wuchernder Kräuter spriesst. Hier und da steht die malerische
Wohnung eines Todtengräbers oder ein Vorrathsschuppen mit fer-
tigen Grabsteinen und Götzenbildern. Das Ganze liegt in reizender
Verwilderung; man kann hier Tage lang umherirren, ohne sich an
der Anmuth und Lieblichkeit der Landschaft zu sättigen. Die Lage
nach Norden schützt den Hang vor Sonnengluth, daher die unver-
II. 13
[194]Friedhöfe. Umgebungen. XI.
gleichliche Ueppigkeit des Pflanzenwuchses. Früh Morgens perlt
der Thau auf jedem Blättchen, die erfrischten Laubmassen strotzen
in Kraft und Fülle und schwängern die Luft mit erquickenden wür-
zigen Düften. Man klettert staunend von Terrasse zu Terrasse, —
denn jedes Fleckchen ist zugänglich, — und gewinnt bei jeder Wen-
dung, bei jeder veränderten Beleuchtung ein neues überraschendes
Bild. Der Blick auf die Bai und das ferne Meer, auf das Stadt-
gewimmel unten und die gegenüberliegenden Höhen wird immer
schöner und erhält den mannichfaltigsten Reiz durch die reichen
wechselnden Vordergründe. An Staffage fehlt es nicht, denn die
Bürger von Naṅgasaki lustwandeln an schönen Tagen mit Frau und
Kind auf diesen Friedhöfen. Der Verfasser, der dort viel zeichnete,
ward oft freundlich von ihnen angeredet und auf die Herrlichkeit
der Landschaft aufmerksam gemacht; so viel, und dass sie selbst
die schöne Natur recht freudig genossen, liess sich aus Mienen und
Gebehrden deutlich abnehmen. — Hier und da sah man auch
Frauengestalten in schneeweissem Trauergewande vor den Gräbern
beten, sie knieten oft lange in tiefe Andacht versunken. Der
Japaner hat überhaupt die rührendste Pietät für seine Todten: vor
allen neuen Gräbern und vor vielen, deren dichte Berankung von
längst vergangenen Zeiten spricht, findet man frische Sträusse und
Opferkerzchen, und am Laternenfest werden die Todtenäcker
glänzend erleuchtet.


Auch die Berge jenseit des stadterfüllten Thales sind mit
Friedhöfen bedeckt. Dort liegen mehrere Tempel hoch am Abhange
in der Axenrichtung der Bucht, die reichste Aussicht über das
ganze Becken beherrschend. Die Natur von Naṅgasaki vereinigt
die Frische der Schweiz mit der Fülle des Südens. Rauschende
Giessbäche treiben malerische lorbeerbeschattete Mühlen; zwischen
moosbedeckten Steinen spriessen Palmen, Bambus, Camelien; überall
glüht die Orange unter üppigen Geländen. — Ebene Wege gibt es
wenig, aber die Luft war frisch und erquickend, man stieg und
kletterte mit Lust.


Wir genossen köstliche Tage; die Abende wurden in trau-
lichem Gespräch mit den Bewohnern von Desima und der neuen An-
siedelung bald am Lande, bald an Bord der Schiffe verbracht. Der
Gesandte sah fast täglich Gäste zu Tisch, und die Musik der Arkona
übte ihre gewöhnliche Anziehungskraft auf die von heimischen
Lebensgenüssen entwöhnten Europäer. Während ringsum in Berg und
[195]XI. Die Holländer auf Desima.
Thal und am Himmel über uns sich Tausende von Lichtern entzün-
deten, wiedergespiegelt in der glatten dunkelen Fluth, sassen wir
oft bis spät in die Nacht auf dem Verdeck beisammen und lauschten
den Erzählungen unserer Gäste. Naṅgasaki hat den grossen Vor-
zug, dass hier der Verkehr mit den Japanern seit zwei Jahrhun-
derten eingelebt ist. Ganze Geschlechter von Beamten, Dolmetschern
und Kaufleuten sind durch Familientradition an den Umgang und
die Geschäfte der Holländer gefesselt; auf dem niederländischen
General-Consulat gibt es Diener und Aufseher, deren Vorfahren
durch mehrere Generationen bei den Handelsvorstehern dieselben
Posten mit erprobter Treue bekleidet haben. So erfährt man denn
hier mehr Zuverlässiges über japanische Verhältnisse als irgendwo
anders; vor Allen hatte sich Doctor Pompe im täglichen Verkehr
mit seinen Schülern und Patienten die eingehendste Kenntniss der
Zustände zu erwerben gewusst und machte täglich bemerkenswerthe
Mittheilungen. — Sein japanisches Auditorium bestand aus zwölf
jungen Aerzten unter Aufsicht des Doctor Mats-moto, Adoptiv- und
Schwiegersohnes des kaiserlichen Leibarztes. Alle verstanden hol-
ländisch, Mats-moto, ein fähiger aufgeweckter junger Mann so voll-
kommen, dass er Herrn Pompe’s Vorträge japanisch nachzuschreiben
pflegte um sie Abends mit seinen Commilitonen zu repetiren. Er
war voll Lebensfrische und Eifer für die Wissenschaft, hatte allerlei
vom deutschen Studentenleben gehört und ahmte es in seiner
Weise nach. So wurde alle Sonnabend tüchtig gekneipt; erlaubte
sich aber einer seiner Genossen nebenbei noch andere Gelage, so
steckte er ihn auf gut japanisch in das Carcer. Mats-moto hatte
sich im Voraus lange auf die Ankunft der deutschen Gelehrten
gefreut und überhäufte Wichura mit freundlichen Aufmerksamkei-
ten; er lud ihn wiederholt zu sich zu Tisch, suchte ihm alle Wünsche
abzulauschen und benahm sich in allen Stücken mit so uneigen-
nütziger Liebenswürdigkeit, wie man sie nur unter wahrhaft gebil-
deten Menschen findet. Die Holländer auf Desima verkehrten mit
ihm durchaus wie mit Ihresgleichen, und er bewies sich in der That
als der beste Gesellschafter, freimüthig, witzig und jovial, von
feinen, einfachen Formen. — Doctor Pompe hatte grosse Freude
an seiner Wirksamkeit und wurde von seinen Schülern auf Händen
getragen. Er richtete damals im Auftrag und auf Kosten der japa-
nischen Regierung ein Hospital nach europäischem Muster ein, wo
die Krankenpflege und Behandlung practisch gelehrt werden sollte.
13*
[196]Krankheiten. Leichensectionen. Verkehr mit Daïmio’s. XI.
Es fehlte indessen nicht an Praxis in der Stadt und Umgegend.
Phthisis und Scrophulosis waren häufig und wurden von dem Arzt
vorzüglich der unzureichenden Nahrung zugeschrieben 3); der Typhus
kam sporadisch vor und Augenkrankheiten in grosser Anzahl. Mit
dem Hospital sollte ein chemisches Laboratorium und ein Sections-
saal verbunden werden. Bis zur Zeit unserer Anwesenheit waren
erst zwei Leichen zergliedert worden; dieser Punct machte dem
holländischen Arzte die grössten Schwierigkeiten. Er suchte von
Anfang seiner Thätigkeit an den japanischen Behörden die Unmög-
lichkeit begreiflich zu machen, ohne Leichensectionen mit Vortheil
zu dociren, und liess nicht ab mit dringenden Vorstellungen; aber
die Berührung der Leichen gilt dem Japaner für verunreinigend,
und vor Allem sträubt sich die Verwandtenliebe gegen jede Zer-
fleischung des todten Körpers. Die Behörden wagten nicht das
Volksgefühl in diesem Puncte zu verletzen und fanden nach langem
Besinnen endlich folgenden Ausweg. Man erinnert sich, dass bei
dem Laternenfeste in Naṅgasaki4) die Seelen der Verstorbenen von
deren Verwandten auf den Friedhöfen eingeholt und in der letzten
Nacht vor allen Gräbern Leuchten angezündet werden. Letzteres
war bis dahin für die Gräber der Hingerichteten verboten, und
diese Ausschliessung soll deren Hinterbliebenen immer schmerzlich
gewesen sein. Jetzt erlaubte die Regierung das Aufstecken von
Laternen vor den Gräbern der Missethäter, liess aber dafür ihre
Leichname der ärztlichen Schule zur Section überweisen. So war
beiden Theilen geholfen.


Herr Pompe war wiederholt von den Daïmio’s der benach-
barten Fürstenthümer auf deren Landsitze eingeladen worden,
um über wissenschaftliche und industrielle Fragen Auskunft zu
geben; aber dieser Verkehr blieb sehr beschränkt, denn der be-
treffende Landesfürst bedurfte zu einer solchen Zusammenkunft
immer der ausdrücklichen Erlaubniss der Regierung, welche jedesmal
einen besonderen Aufpasser dazu sandte. Dieser musste allen
Besprechungen beiwohnen und die Mittheilungen genau aufzeichnen.
Doctor Pompe hatte trotzdem lange Listen wissenschaftlicher und
technischer Fragen zu beantworten, und fand namentlich in dem
[197]XI. Verkehr mit dem Statthalter.
Fürsten von Ovomura einen strebsamen gebildeten Mann, welcher alle-
wissenschaftlichen Bücher und Jnstrumente anschaffte, deren er
habhaft werden konnte.


Den Tag nach unserer Ankunft begaben sich der Legations-
Secretär Pieschel und der Flaggen-Officier Freiherr von Schleinitz
mit einem Schreiben der Regierung, das die Minister dem Gesandten
noch den letzten Tag nach Yokuhama geschickt hatten, zum Statt-
halter von Naṅgasaki. Er wurde darin von dem Abschlusse unseres
Vertrages unterrichtet und zum gebührenden Empfange des preussi-
schen Geschwaders angewiesen. Am folgenden Tage besuchte ihn
auch der Commodore mit mehreren Officieren, denen ein japanisches
Diner vorgesetzt wurde; das Zuckerwerk des Desserts schickte man
ihnen, für Jeden besonders und auf das sauberste verpackt, nachher
an Bord der Arkona. Es bestand in Schmetterlingen, Blumen und
anderen zierlichen Gegenständen, sehr geschickt und künstlich aus
Zucker und Kraftmehl geformt und in den buntesten Farben prangend.
Die Gäste waren mit ihrer Aufnahme sehr zufrieden. Okabe Suruṅga-
no-kami
stand in grosser Achtung auch bei den angesessenen Aus-
ländern, welche einstimmig seinen humanen Sinn und redlichen
Willen rühmten, den Fremden gerecht zu werden.


Am 20. Februar gegen ein Uhr kam der Statthalter an Bord
der Arkona. Er legte die halbe Strecke vom Lande her in einem
Cutter europäischer Bauart zurück, welcher bugsirt wurde, und
bestieg dann mit seinem zahlreichen Gefolge und dem zweiten
Gouverneur die Ruderboote. Der Commodore empfing die Herren
auf Deck und führte sie in die Cajüte zum Gesandten; man setzte
sich zum Frühstück. Es schien den Japanern herrlich zu munden,
namentlich die kalte Zunge und ein an Bord gebackener Kuchen,
ein Meisterstück des in der preussischen Marine allbekannten
Herrn Bethge, der, ursprünglich für die Officiersmesse der Arkona
engagirt, seit Entlassung des trunkenen englischen Koches auch die
Tafel des Gesandten und des Commodore versah. Er war für
unsere Expedition ein wahrer Schatz, unerschöpflich an Auskunfts-
mitteln, geschickt im fremdesten Hafen gleich die besten Lebens-
mittel und alle Leckerbissen aufzuspüren, erfinderisch ohne Gleichen
und immer guter Laune. Er kennt keine Schwierigkeiten, geräth
niemals in Verlegenheit und besitzt den einem rechten »Chef«
so nothwendigen culinarischen Ehrgeiz. — Die Reste seines
[198]Okabe Suruṅga-no-kami. Ausflug nach Mogi. XI.
Kuchens mussten bei dieser Gelegenheit dem Statthalter nach-
geschickt werden.


Okabe Suruṅga-no-kami machte den angenehmsten Eindruck;
er sprach dem Gesandten seine Freude über den Abschluss des
Vertrages aus, that auch theilnehmende Fragen über dessen Aufent-
halt in Yeddo und die japanischen Bevollmächtigten, welche ihm
befreundet waren. Die Unterhaltung wurde diesmal englisch geführt,
das der japanische Dolmetscher ganz fliessend sprach. Graf Eulen-
burg
beschenkte seine Gäste nach dem Essen in der gewöhnlichen
Weise und verabschiedete sich dann um einen Spaziergang am
Lande zu machen, während Jene noch eine Weile an Bord blieben.
Okabe befand sich zum ersten Mal auf einem so grossen Kriegsschiff,
wurde in allen Räumen herumgeführt und besah unter tausend
Fragen die Einrichtung sehr genau.


Zum 21. Februar hatte der niederländische Consul den Ge-
sandten mit seinen Begleitern und das Officiercorps der beiden
Schiffe zu einer Landparthie nach Mogi eingeladen, an der auch
die anderen Consuln und die meisten in Naṅgasaki angesessenen
Fremden Theil nahmen. Wir brachen gegen zehn Uhr von Desima
auf, die Meisten zu Fuss, Einige zu Pferde; der Weg ist bergig
und besteht grossentheils in schlüpferigen Treppenpfaden. Man
steigt zunächst den Westabhang des kleineren Thales hinan, das
sich von Süden her auf die Stadt öffnet, dann allmälich bis zur
Höhe des Joches, welches das Südufer der Bucht bildet. Die
Gegend hat Aehnlichkeit mit Gebirgslandschaften an den Süd-
Abhängen der Alpen: theils bewaldete, theils kahle Gipfel, überragt
von schroffem Felsgrat; die Abhänge mit Nadelholz und immer-
grünem Gesträuch bestanden, tiefer unten Raps- und Gerstenfelder.
Hier und da liegen ärmliche Bauernhütten; der Boden ist mager
und steinig, die Cultur auf diesen Höhen nicht reihenweise wie
sonst, sondern der unseren ähnlich. Eine Daphne mit weissen
wohlriechenden Blüthen zierte das Gebüsch. — Man steigt in ein
Thälchen hinunter, dann über einen zweiten Kamm zum jenseitigen
weiten Golf hinab, an dessen Ufer das Fischerdorf Mogi, das Ziel
unserer Wanderung liegt. Die Entfernung von Naṅgasaki beträgt
reichlich zwei Stunden.


Der Ortsvorsteher hatte Herrn Metmann bereitwillig sein Haus
zur Bewirthung der Gäste eingeräumt; man nahm dort vorläufig ein
kleines Frühstück und machte dann einen Spaziergang am See-
[199]XI. Simabara. Der Wuntsen-take.
gestade, das reich ist an schönen Felsparthieen. Der weite Golf
lag in spiegelglatter Ruhe, von jenseit schimmerten die Gebirge der
Halbinsel Simabara aus bläulichem Dufte herüber; sie gipfeln in der
breiten Masse des übel berufenen Wuntsen-take, eines mächtigen
Vulcanberges, der, soweit die geschichtliche Ueberlieferung reicht,
im Jahre 1792 seinen ersten Ausbruch hatte. Erscheinungen vul-
canischer Thätigkeit zeigte der Berg schon seit Jahrhunderten; die
siedenden Quellen an seinen Abhängen, Oho-tsigok und Ko-tsigok
— die grosse und die kleine Hölle — dienten schon in den Christen-
verfolgungen des siebzehnten Jahrhunderts zu den grausamsten
Foltern der Märtyrer. — Die Ausbrüche des Jahres 1792 aber ge-
hören zu den gewaltsamsten Ereignissen der neueren Erdgeschichte.
Am 18. des ersten japanischen Monats Nachmittags sank plötzlich
der ganze Gipfel des Wuntsen-take zusammen; Ströme siedenden
Wassers stiegen, dichte Dampfwolken über den Himmel verbreitend,
aus dem Abgrunde und ergossen sich in die Thäler. Am 6. des
zweiten Monats erfolgte ein Ausbruch des Nebengipfels Bivo-no-
kubi
; der Berg spie Flammen und Feuer, steckte die Wälder der
Umgegend in Brand und füllte ein benachbartes Thal mit Asche und
Steinen. Am 2. des dritten Monats Nachts um zehn Uhr wurde die
ganze Insel Kiusiu, besonders die Halbinsel Simabara durch heftige
Erdstösse erschüttert. Der erste Ruck war so gewaltig, dass man
sich kaum auf den Füssen halten konnte; von den Abhängen des
Wuntsen rollten ungeheuere Felsmassen herab, und die Erde öffnete
sich in weiten Spalten. In dieser Nacht gingen viele Häuser zu
Grunde; die ganze Bevölkerung von Simabara zog mit Kranken und
Kindern aus, kehrte aber, als es ruhiger wurde, wieder zu ihren
Wohnungen zurück. Der Berg fuhr unterdessen fort Flammen zu
speien und die Lava strömte langsam an den Seiten herab. Am 1.
des vierten Monats begann die Erde abermals zu schwanken; die
Stösse hielten ununterbrochen anderthalb Stunden an und drohten
gänzliche Vernichtung. Felstrümmer rollten Alles begrabend in
Lawinen von den Bergen, der unterirdische Donner glich einer an-
haltenden Kanonade. Dann flog plötzlich unter furchtbarem Gekrach
der Mioken-yama, ein nördlicher Gipfel des Wuntsen in die Luft;
gewaltige Felsmassen stürzten in die See und trieben sie aus ihren
Ufern, so dass der Wogenschwall die an der Küste der Halbinsel
gelegene Stadt Simabara überströmte. Zu gleicher Zeit rauschten
Ströme siedenden Wassers aus den Spalten des Berges nieder,
[200]Vulcanische Verheerungen. Die russische Niederlassung. XI.
prallten gegen die aufwärts wallende Meeresfluth und bildeten
dampfende Wasserhosen, welche auf ihrem Wege die Häuser mit
den Fundamenten wegspülten. Die Stadt wurde gänzlich vernichtet,
nur die polygonischen Grundmauern des Kastelles blieben stehen,
in welches viele Bewohner geflüchtet waren, — ein Denkmal der
alten Christenverfolgung. Die wirbelnde Wasserfluth deckte Gräber
auf und schleuderte Menschen und Thiere hoch in die Luft; man
fand sie mit zerbrochenen Gliedern in den Bäumen hängend oder
mit den Köpfen tief im Schlamme steckend. Dreiundfunfzigtausend
Menschen sollen in jenen Tagen umgekommen, die Verwüstungen
unbeschreiblich gewesen sein. Die Simabara östlich gegenüberliegende
Küste der Landschaft Figo wurde durch die gewaltsam aufwallenden
Meereswogen gänzlich umgestaltet und war nach der Verheerung
kaum wiederzukennen. — Merkwürdiger Weise scheint das dem
vulcanischen Heerde so nah gelegene Naṅgasaki wenig von Erd-
beben zu leiden; man verspürt auch dort bisweilen schwache Stösse,
aber die alten wohlerhaltenen Tempel und die schönen aus Quadern
gewölbten Brückenbogen zeigen deutlich, dass die Stadt an einem
Knotenpuncte der Schwingungen gelegen und von heftigen Er-
schütterungen lange Zeit verschont geblieben sein muss.


Die Gesellschaft in Mogi setzte sich gegen drei Uhr, etwa
vierzig Personen stark, in dem mit den holländischen Farben ge-
schmückten Hause des Ortsvorstehers zu Tisch. Der weite beschwer-
liche Weg und die frische Seeluft hatten den Appetit der Gäste geschärft;
man richtete grausame Verwüstungen unter dem Festen und Flüssigen
an; es fehlte auch nicht an Toasten, die Musik der Arkona that
das Ihre zur Erheiterung des Males. — Auf dem Rückwege zer-
splitterte sich die Gesellschaft in kleine Abtheilungen; der Gesandte
traf schon gegen acht wieder auf der Arkona ein, während Andere
noch bis spät nach Mitternacht mit den Freunden in Desima beim
heiteren Glase die Abentheuer des Tages beschwatzten.


Am 22. Februar machte der Gesandte dem Major Hytrowo
einen Besuch, der seit mehreren Monaten mit seiner jungen Gemalin
in dem russischen Etablissement seinen Wohnsitz aufgeschlagen
hatte. Es liegt an der Nordwestseite der Bucht der Stadt gegen-
über, in einer grünen heimlichen Senkung, von steil ansteigenden
Waldhängen beschattet. Vorrathshäuser und Kohlenlager säumen
den Strand; weiter hinauf stehen die Wohnungen der Officiere und
Mannschaften. Die Anlage datirt aus dem Jahre 1859: damals traf
[201]XI. Inasia. Dampfmaschinenfabrik.
die russische Fregatte Aschol in einem Zustande hier ein, der um-
fassende Reparaturen nothwendig machte; die Mannschaft wurde
ausgeschifft und liess sich auf diesem von den Behörden angewie-
senen Grundstück häuslich nieder. Seitdem haben die Russen den
Platz nicht wieder herausgegeben, sondern als Kohlenlager und
Proviantstation für ihre im Stillen Ocean kreuzenden Kriegsschiffe
benutzt. Sie besitzen dort auch einen Begräbnissplatz, wo am
22. Februar die Leiche eines auf der Arkona gestorbenen Unteroffi-
ciers beigesetzt wurde. Der Ort heisst Inasia.


Nicht weit von dieser Niederlassung liegt die Dampfmaschinen-
Fabrik des Fürsten von Fidsen. Die ganze Anstalt wurde für den
Besitzer vor einigen Jahren in Holland ausgeführt und dann unter
Aufsicht des Capitän Kattandyck, späteren niederländischen Marine-
Ministers und eines Oberingenieurs an ihrem jetzigen Standorte auf-
gestellt. Sie enthält einen Dampfhammer, Giessereien und Werk-
stätten zur Fabrication aller möglichen Dampfmaschinentheile, und
ist beständig in vollem Gange. Anfangs von holländischen Arbeitern
betrieben war sie zur Zeit unserer Anwesenheit bis auf die oberste
Leitung ganz in den Händen der Japaner. Der zurückgebliebene
holländische Vorsteher rühmte die Einsicht und Anstelligkeit seiner
japanischen Schüler und hat jetzt dieselben wohl längst sich selbst
überlassen. Die Anstalt bewahrt übrigens einen glänzenden Beweis
für die Intelligenz und Geschicklichkeit der Eingeborenen in einer
Dampfmaschine mit röhrenförmigem Kessel, welche von japanischen
Mechanikern verfertigt und mit Erfolg zur Fortbewegung eines Bootes
angewendet worden ist, ehe irgend ein Dampfschiff die japanischen
Gewässer besuchte. Die Angabe dass sie erst nach Ankunft des
amerikanischen Dampfers Missisippi gebaut wäre, beruht auf einem
Irrthum. Die Maschine ist natürlich sehr unvollkommen; aber die
Thatsache, dass sie bloss nach Abbildungen und Beschreibungen
ohne irgend ein europäisches Modell gebaut wurde, ist ein redendes
Zeugniss von dem Verständniss der japanischen Ingenieure für die
Gesetze der Physik und Mechanik.


Der Gesandte empfing an Bord der Arkona täglich viele Be-
suche, unter denen vor allen der des Oberst von Siebold zu erwähnen
ist. Er lebte damals auf einem Landhause in der Nähe der Stadt,
wo Graf Eulenburg noch am Tage vor der Abreise seinen Besuch
erwiederte. Die Wohngebäude liegen sehr hübsch am Fusse des
Berges: der umgebende Garten zieht sich den Abhang hinan: hier
[202]Oberst von Siebold. Die neue Ansiedlung. XI.
hatte der Besitzer eine reiche Sammlung japanischer Gewächse aus
allen Theilen und Lagen des Reiches gepflanzt und die Bodenver-
hältnisse seines Grundstückes mit grosser Einsicht benutzt, um jeder
Pflanze die ihrer Entwickelung zuträglichen Lebensbedingungen zu
schaffen. Er verfügte über eine reichhaltige wissenschaftliche Bibliothek
und sammelte eifrig Material zur Vollendung seines encyclopädischen
Werkes. Die Schwierigkeit japanische Karten und Bücher historischen
oder geographischen Inhalts zu erlangen, war seit Zulassung der
Fremden viel geringer als früher; Herr von Siebold hatte zur Zeit
unserer Anwesenheit wieder eine Sammlung von achthundert Bänden
zusammengebracht und vermehrte deren Zahl bei seinem Aufenthalt
in Yeddo, im Sommer desselben Jahres, wahrscheinlich noch be-
deutend. — Er und sein ältester Sohn, der später als Dolmetscher
und Gesandtschafts-Attaché in englische Dienste getreten ist, lebten
in Naṅgasaki fast ausschliesslich im Verkehr mit Japanern und
kamen mit den Bewohnern von Desima und den übrigen Fremden
wenig in Berührung. Herr von Siebold ist bekanntlich ein grosser
Bewunderer des japanischen Volkes und tief durchdrungen von dessen
hoher Begabung, Intelligenz und Tüchtigkeit. Er schien bei seinen
einheimischen Nachbarn grosser Achtung und Freundschaft zu
geniessen.


An der neuen Ansiedlung der Fremden am Südost-Ufer der
Bai wurde damals rüstig gearbeitet. Der Baugrund ist eben; man
hat eine Bucht, deren seichtes Wasser zur Ebbezeit den Boden fast
trocken zu lassen pflegte, durch einen Damm vom Meere abgeschnit-
ten, entwässert und ausgefüllt. Ein schnurgrader stattlicher Quai
begränzt die Niederlassung nach dem Hafen zu, auf der Landseite
umgibt sie ringsum ein grüner Hügelkranz, an dessen Abhängen die
Consuln in Tempeln und zierlichen Landhäuschen mitten im Camelien-,
Lorbeer- und Myrthengebüsch wohnen. — Die Niederlassung ist
städtisch angelegt, mit graden, rechtwinkligen Strassen; nur wenige
Häuser waren zur Zeit unserer Anwesenheit fertig, aber man baute
mit grossem Eifer.


Der Weg von da nach der Stadt führt am Seegestade entlang
und an dem TodŽin-Yasiki, dem mauerumschlossenen Stadtviertel
der Chinesen vorüber. Ihr jetziger Handel scheint gering, was
theils in der steigenden Concurrenz der westländischen Fremden,
zumeist aber wohl in der Erschlaffung der Nation, dem Verfall
ihrer politischen Einrichtungen, und der Verwüstung der gewerb-
[203]XI. Das TodŽin-Yasiki. Desima.
reichsten Provinzen durch die Rebellen seinen Grund hat; es mag
an Capital und Unternehmungslust fehlen. Die Chinesen haben
keinen Vertrag mit Japan, sondern werden nur aus Gewohnheit und
auf Grund uralten Uebereinkommens in Naṅgasaki geduldet. Sie
besitzen auf den benachbarten Höhen ihre eigenen Tempel und
bilden eine abgeschlossene Gemeinde, die sich allem Anschein nach
ohne Einfluss der heimischen Behörden constituirt und verwaltet,
eine selbständige kleine Handelsrepublik von sehr losem Zusammen-
hange. Sie scheint nicht aus den besten Elementen des chinesischen
Volkes zu bestehen und in ihren vier Pfählen ziemlich gesetz- und
sittenlos zu leben. Kein Europäer, dem seine Haut lieb ist, wagt
sich in die Einzäunung; die es gethan, sind jedesmal übel
zugerichtet worden, oft kaum mit dem Leben davongekommen. —
Jetzt wohnen auch viele Chinesen als Commis und Diener der west-
ländischen Handelshäuser in Naṅgasaki; diese haben mit dem
TodŽin-Yasiki keine Gemeinschaft.


Beim Abschied von Naṅgasaki, dessen Herrlichkeiten sattsam
zu geniessen unsere Zeit leider viel zu kurz war, möge es erlaubt
sein, noch Einiges über die merkwürdige Vergangenheit des kleinen
Desima nachzutragen. Von seiner Lage, Grösse und Geschichte
ist schon im einleitenden Abschnitt gehandelt worden; hier soll
versucht werden, ein Bild von dem Zustande des Inselchens und
den Leiden und Freuden der Niederländer in den verschiedenen
Phasen ihrer Einschliessung zu entwerfen.


Das alte Desima war von dem heutigen sehr verschieden.
Hohe Stackete und Zäune umschlossen die Insel; ringsumher stand in
geringer Entfernung eine Reihe Pfähle im Wasser, mit Warnungen,
dass sich bei Todesstrafe niemand unterstehen möge, mit Booten
dort anzulegen oder zwischen den Pfählen und unter der nach
dem Lande führenden Brücke durchzufahren. In der Mitte der Insel
lief, wie noch heut, eine Strasse quer durch ihre Länge, gekreuzt
von einer zweiten kürzeren, die auf das Brückenthor stiess. Die
Häuser dieser Strassen beschreibt Kämpfer als »schlechte, aus
Tannenholz und Leimen zusammengepappte Bauten. die etwa das
Ansehen von Ziegenställen haben;   das untere Stockwerk dient
zu Packkellern und Niederlagen, der Söller aber zur Wohnung.«
Ausserhalb dieser Häuserreihen, welche Bürgern von Naṅgasaki
[204]Das alte Desima. XI.
gehörten, bauten die Holländer, zum Theil aus eigenen Mitteln,
zwei feuerfeste Vorrathshäuser, ein zu Geschäftsverhandlungen be-
stimmtes Comtoir, »eine ansehnliche Küche«, ein Haus zum Aufent-
halt der Deputirten des Statthalters von Naṅgasaki und ein anderes
für den Dolmetscher; sie legten dort auch einen Küchengarten und
»einen anderen zum Vergnügen«, einige kleine Privatgärten und ein
Badehaus an. »Einen Theil des Raumes hatte der japanische
Gassenrichter zu seinen Wohn- und Lusthäusern, Küche und einem
Gärtchen, das bloss zum Vergnügen diente, eingenommen. Ein
Theil des Platzes bleibt endlich noch übrig für die Kramläden, die
bei Anwesenheit der Schiffe aufgestellt werden, und ein anderer
dient zur Niederlage der ausgepackten Waaren; auch ist hier ohn-
längst noch ein blutiger Gerichtshof eingeweiht worden, wo die
Schleichhändler künftig hingericht werden sollen, und zwar, wie
uns der Statthalter noch ohnlängst versicherte, nicht nur Japaner,
sondern auch Holländer.« Es ist aber, soviel bekannt wurde, bei
der Drohung geblieben.


Seit Kämpfer’s Zeit ist Desima öfters abgebrannt, das heutige
Etablissement gibt von dem alten keine Vorstellung. Alle jene Ge-
bäude und Gärten waren auf den engen Raum von fünfhundert-
sechszehn Fuss Länge und zweihundertzwanzig Fuss Breite zu-
sammengedrängt. So lange die Factoreibeamten allein waren hatten
sie Platz genug, aber bei Anwesenheit der Schiffe, deren in den
blühenden Zeiten des Handels jährlich acht bis neun kamen. muss
dort ein buntes Gedränge geherrscht haben. Die Schiffsmannschaften
wurden abtheilungsweise »um sich zn verfrischen«, auf die Insel
gebracht, und von der Stadt strömten die japanischen Händler und
Krämer herbei um die ausgestellten Waaren zu besehen, öffentlich
und heimlich zu kaufen, zu schachern. Die Aufsichtsbeamten mögen
alle Hände voll zu thun gehabt haben, denn Schmuggeln war die
allgemeine Losung. Die weiten Pumphosen der Matrosen bargen
ganze Ladungen von Conterbande, oft krähte sehr zur Unzeit ein
vorwitziger Cacadu daraus hervor. Die wohlbeleibten Schiffscapitäne,
welche allein mit den Handelsvorstehern des Vorrechtes genossen,
nicht am Körper untersucht zu werden, kamen alle Tage nach
Desima, den künstlichen Bauch voll kostbarer Waare, die sie bei
der Rückfahrt durch ein dickes Kissen ersetzten. Erst im Jahre
1772 entdeckten die Japaner auf einem von den Holländern im
Sturme verlassenen und nach den Goto-Inseln getriebenen Schiff
[205]XI. Leben der Holländer auf Desima.
diese Schmuggelbäuche, und die Bevölkerung von Naṅgasaki, wo
man seit über hundert Jahren Corpulenz für ein nothwendiges
Attribut des Schiffscommando’s gehalten hatte, soll sehr erstaunt
gewesen sein, als seitdem auch magere Capitäne kamen.


Mitte August pflegten die niederländischen Schiffe vor Naṅ-
gasaki
einzutreffen und Anfang November fuhren sie wieder ab.
So lange gab es Leben und Bewegung genug auf der Insel, ihre
Bewohner hatten Beschäftigung und Aufregung in Fülle, waren
aber nachher der tödtlichsten Langeweile preisgegeben. Männern,
die höheren Lebensgenusses und wissenschaftlichen Strebens fähig
gewesen wären, begegnet man selten unter dem Personal der
Factorei; unter den Aerzten des 17. und 18. Jahrhunderts scheinen
sich nur zwei, der Deutsche Kämpfer und der Schwede Thunberg
um die Natur und den Zustand des Landes gekümmert zu haben.
Einzelne holländische Aerzte haben auch meteorologische Beobach-
tungen veröffentlicht, sonst aber nichts von Bedeutung. Auch unter
den Handelsvorstehern jener Zeit können nur wenige genannt
werden, die für etwas anderes als ihre Handelsgeschäfte Sinn gehabt
und Beiträge zur Kenntniss des Landes geliefert hätten, wie Titsingh,
der mit Eifer und Verständniss sammelte und mit Hülfe der Dol-
metscher wichtige japanische Werke übersetzte. Die meisten führten,
soweit das in solchem Gefängniss möglich ist, ein Schlaraffenleben.
Man versah sich reichlich mit allen Luxusartikeln europäischer
Schwelgerei und suchte sein Heil in den Freuden der Tafel. Wie
noch heut in manchen chinesischen Häfen, so verschwanden auch
auf Desima die Ausgaben des ausschweifendsten Lebens gegen
den ungeheueren Gewinn, den der Handel abwarf; es war Ton,
sich nichts Erreichbares zu versagen. Die höheren Beamten der
Factorei assen bei dem Handelsvorsteher auf Kosten der Compagnie.
Nachmittags machte sich die ganze Gesellschaft, einige Dutzend
Mal um die Insel spazierend, die nöthige Leibesbewegung, und den
Abend brachten die Meisten bei dem Handelsvorsteher zu. Hier
scheinen die Herren einander meist gravitätisch gegenüber gesessen
und aus mächtigen Pfeifen den Tabaksqualm in die Luft geblasen,
dabei auch nicht allzuviel geredet zu haben. Thunberg wenigstens
nennt seine Genossen auf Desima Automaten, deren einziger Genuss
in ihrer Tabakspfeife stecke. — Spuren der alten Gewohnheiten
haben sich bis auf unsere Tage vererbt; man lebt noch heute auf
Desima herrlich und in Freuden; noch heute geht die ganze dort
[206]Neujahr auf Desima. Die Hofreise. XI.
wohnende Gesellschaft alle Abend um die Insel spazieren, und
zwar immer in derselben Richtung wie seit vielleicht zweihundert
Jahren, und niemals in der entgegengesetzten.


November, December, Januar waren die stillsten Monate.
Am Neujahrstage erschienen die Ober-Banyosen als Deputirte des
Statthalters, der Ottona und die Ober-Dolmetscher in Gala zur
Gratulation bei dem Handelsvorsteher, der sie regelmässig zum
Essen einlud. Wie lange die Sitzung des schwelgerischen Males
gewöhnlich dauerte ist uns nicht aufbewahrt; man trank aber nach-
her noch die ganze Nacht durch und trennte sich erst gegen fünf
Uhr Morgens. Der Handelsvorsteher liess zur Aufwartung die
schönsten Mädchen aus den Džoro-ya von Naṅgasaki kommen,
welche nachher den Gästen die Nacht durch Musik und Tanz ver-
kürzen mussten. Die Japaner sollen bei diesen Schmäusen immer
sehr mässig gegessen, aber jeder von jedem Gericht einen ganzen
Teller an ihre Familien in die Stadt geschickt haben; es muss also
vollauf gewesen sein.


Anfang Februar schickte man sich zur Hofreise an, auf wel-
cher gewöhnlich der Secretär und der Arzt den Handelsvorsteher
begleiteten. Man erwies den Holländern auf dem Wege ähnliche
Ehren wie den einheimischen Fürsten, bewachte sie aber dabei wie
Gefangene und verhinderte jeden Verkehr mit den Landesbewohnern.
Zu Kämpfer’s Zeit wurde nur der Handelsvorsteher in Norimon be-
fördert, sein Assistent und der Arzt mussten auf Packpferden reiten;
Thunberg dagegen reiste wie sein Chef in einer Sänfte und weiss
deren Bequemlichkeit nicht genug zu rühmen. Der Aufenthalt in
Yeddo war nicht der angenehmste Theil des Ausfluges; die Hollän-
der mussten oft Wochen lang auf die Audienz warten und durften
vorher weder ausgehen, noch, der Regel nach, Besuche empfangen.
Die Audienz, zu der nur von dem excentrischen Tsuna-yosi neben
dem Handelsvorsteher auch der Arzt berufen wurde, war eine blosse
Formalität: der Vorsteher kniete nach Landessitte vor dem Siogun
nieder [und] berührte mit der Stirn den Boden. Seine Begleiter
warteten unterdessen im Vorgemach und liessen sich von vorneh-
men Staatsbeamten geduldig begaffen und ausfragen. Bei der Ab-
schiedsaudienz war es wenig anders. — Auf der Rückreise pflegte
man den Holländern freiere Bewegung zu gestatten; — der Handels-
vorsteher war ja durch den Anblick des Siogun gewürdigt. Thun-
berg
durfte in Miako die merkwürdigsten Tempel, darunter den
[207]XI. Leben der Holländer auf Desima.
berühmten mit der kolossalen Statue des Daï-buds besuchen, an
der sich Taïko-sama’s Sohn Fide-yori auf Anordnung des Jyeyas
zu Grunde richten musste. Sie machten in Miako und Osaka immer
bedeutende Einkäufe, scheinen auch etwas Schleichandel mit aus-
ländischen Kostbarkeiten getrieben zu haben; wenigstens musste seit
Entdeckung der künstlichen Schmuggel-Einrichtungen auf dem 1772
bei den Goto-Inseln gestrandeten Schiff immer eine ganze Schaar
Zollbeamten die Handelsvorsteher auf ihren Hofreisen bewachen.
Auch Conspirationen mit den Landesfürten sollen vorgekommen sein
und es mag sich da mancher kleine Roman abgespielt haben, der
nie an das Tageslicht kam; so auch auf Desima selbst, wo die Rei-
senden im Mai wieder einzutreffen pflegten. — Im Sommer wurden
die Eingeschlossenen auf Befehl des Statthalters regelmässig einmal
in der Umgebung von Naṅgasaki spazieren geführt, mussten aber
bei dieser Gelegenheit ihr zahlreiches Gefolge von Dolmetschern
und Aufsehern festlich bewirthen. Zu Zeiten durften sie unter
starker Bedeckung den Aufzügen und Maskeraden am Jahrestage
des Suwa, des Schutzpatrons von Naṅgasaki beiwohnen, welche
besonders Kämpfer sehr ergötzlich beschreibt.


An kleinen Aufregungen und Stoff zur Unterhaltung scheint
es auch während der stillen Zeit auf Desima nicht gefehlt zu haben.
Kämpfer’s Tagebuch spricht auf jeder Seite von eingefangenen Die-
ben, Japanern die Morgens mit abgeschnittenen Kehlen auf den
Strassen des Inselchens gefunden werden, Schleichändlern die man
lebendig oder, wenn sie Harakiru begangen, gepökelt einbringt,
Schmugglern, die sich »boshafter Weise« die Zunge abbeissen um
ihre Genossen nicht zu verrathen, von Spitzbübereien der Chinesen
und mehr solcher Erbaulichkeiten. Ein Bedienter schlitzt sich wegen
Ehrenkränkung den Bauch auf, ein anderer die Kehle, weil er keine
Genugthuung erlangen kann; einen Tag werden dreizehn Schmuggler
an das Kreuz geschlagen, den nächsten eine noch grössere Zahl
geköpft; — das sind so die Tagesneuigkeiten. — Kämpfer’s Anwesen-
heit fällt freilich in die Blüthezeit des Schleichhandels, der erst seit
den Bedrückungen von 1672 in Schwang gekommen zu sein scheint.
Er und andere holländische Schriftsteller suchen die Ursache dieser
ersten Beschränkung, welche alle späteren nach sich zog, in einer
Zufälligkeit. Ein einflussreicher Minister Mino-sama, der die Auf-
sicht über den fremden Handel führte, bestellt bei den Holländern
einen kostbaren Kronleuchter, um ihn seinem Herrn, dem Siogun
[208]Handel der Holländer. XI.
zu verehren. Der Kronleuchter kommt an, wird aber, wahrscheinlich
aus Missverständniss, nicht jenem Minister, sondern dem Kaiser
selbst mit den Geschenken der Holländer überreicht. Von da an
hätte Mino-sama’s Rachsucht nicht geruht ihnen alle möglichen
Vexationen zu bereiten. Er wusste 1672 einen ihm ergebenen Ver-
wandten zum Statthalter von Naṅgasaki zu erheben, von welchem
die Einführung des Taxationshandels ausging; und als zwölf Jahre
später ein Edict des Tsuna-yosi (er regierte seit 1680) den Hollän-
dern ihre alten Handelsfreiheiten wiedergab, soll er es gewesen sein,
der die Beschränkung der Einfuhr auf die Summe von 300,000 Taels
durchsetzte.


Der ungeheure Vortheil, welchen der Taxationshandel wäh-
rend seines zwölfjährigen Bestehens allen Beamten und Dolmetschern
von Naṅgasaki gebracht hatte, war die Quelle der Entsittlichung
für alle Zukunft; wie aber die Japaner an diese Periode, so gedach-
ten die Niederländer der früheren goldenen Zeiten und strebten
ängstlich, ihre Einkünfte auf die alte Höhe zu bringen. Für beide
Theile war das nur durch den Schleichhandel möglich. — Wie
gross der Gewinn des Einzelnen in jener Zeit gewesen sein muss
beweist die Angabe, dass ein Handelsvorsteher dieses Amt nur
zweimal ein Jahr lang zu bekleiden brauchte, um sich mit einem
grossartigen Vermögen zurückzuziehen. Zu Thunberg’s Zeit, fast
hundert Jahre später, wird wehmüthig geklagt, dass schon eine
vier- bis fünfjährige Amtsdauer dazu gehöre um ein ausreichendes
Vermögen mit nach Hause zu nehmen. — Der Gewinn der Com-
pagnie an der Umprägung des ausgeführten Goldes betrug noch
1670 und 1671 über eine Million Gulden, und man nahm doch nur
soweit Gold in Zahlung als nicht Kupfer zu erhalten war. Von
dieser Zeit an wurden die Vortheile immer geringer: nachdem die
Japaner einmal erfahren hatten, welchen Druck der Handel der
Holländer ertragen konnte, hörten sie nicht auf mit Beschränkungen
und scheinen es wirklich dahin gebracht zu haben, dass die Com-
pagnie
gegen Ende des Jahrhunderts Schaden an ihren Geschäften
hatte. Aber die Factoreibeamten zogen aus ihren Privatoperationen,
die fast nur auf Schleichwegen gingen, noch immer ungeheueren
Vortheil und hintertrieben beharrlich das Vorhaben der Direction,
Desima ganz aufzugeben. Die dortigen Vorsteher scheinen über ein
Jahrhundert lang die ostindische Compagnie systematisch betrogen
zu haben; sie verletzten täglich die Monopolrechte, zu deren Auf-
[209]XI. Unwesen auf dem alten Desima.
rechthaltung sie bestellt waren, liessen mit Absicht die Bücher in
Unordnung gerathen und fischten mit bestem Erfolge im Trüben.
Die Unterbeamten nahmen Theil an ihren Betrügereien, und ihre
Vorgesetzten in Batavia, die meist auch einmal Handelsvorsteher
auf Desima gewesen waren, hatten guten Grund zu schweigen.
Gegen Ende des Jahrhunderts sah sich die ostindische Regierung
veranlasst auf den unerlaubten Handel mit Kupfer und anderen
Monopolartikeln die strengsten entehrenden Strafen zu setzen, und
etwas später scheint Ordnung in die Verwaltung gekommen zu sein.


Die Entsittlichung des an dem Handel auf Desima betheiligten
japanischen Personals im 17. und 18. Jahrhundert übersteigt allen
Glauben. Das Dolmetscher-Collegium, der Ottona und viele andere
Beamten hatten vorzüglich den Beruf, die Holländer während An-
wesenheit der Schiffe zu bewachen, und zogen aus ihrer Stellung
neben dem von der ostindischen Compagnie gezahlten Gehalte sehr
bedeutende gesetzliche Emolumente. Sie machten trotzdem, wo es
Gewinn brachte, mit den Holländern gemeinschaftliche Sache zu Umge-
hung der Landesgesetze und Beschädigung der Compagnie, bekamen
Jene dadurch in ihre Gewalt und wussten diesen Vortheil sehr wohl
zu benutzen. Man überbot einander in List und Betrug, und lebte
bei glühendem Hass und verzehrender Eifersucht doch in strafbarem
Einverständniss. Es war ein Kampf der alle schlechten Leiden-
schaften weckte, und man kann sich nicht über Kämpfer’s Aeusserung
wundern, dass die Holländer behandelt und bewacht würden, »nicht
wie ehrliche Menschen, sondern wie Uebelthäter, Verräther, Kund-
schafter und Gefangene«. Sie liessen sich alle Bedrückungen ge-
fallen, welche ja meist die Compagnie trafen, um heimlich auf un-
erlaubtem Wege für den eigenen Vortheil zu sorgen; die Japaner aber
waren unerschöpflich in Erfindung neuer Mittel ihren Gewinn zu
mehren, und ersannen dazu die künstlichsten Maassregeln. So be-
stand eine indirecte Steuer in folgender Einrichtung: nachdem ein
Kaufgeschäft über eine Quantität Waaren geschlossen war, durften
sich zuerst die Statthalter, dann die Ober-Banyosen, die Bürger-
meister, Dolmetscher u. s. w. nach der Reihe eine bestimmte Anzahl
Stücke je nach ihrem Range aus der verkauften Masse zum Engros-
Preise aussuchen. Sie wählten natürlich nicht das Schlechteste und
hatten daran grossen Vortheil, während der Kaufpreis der Masse
erhebliche Einbusse litt. Solcher Vexationen kamen jährlich neue;
die Holländer schelten in ihren Berichten bitter auf die Unredlich-
II. 14
[210]Stellung der Holländer zu den Japanern. XI.
keit und Tyrannei der Japaner, und waren doch deren Mitschuldige.
Die allgemeine Complicität muss alle Offenheit, alles Vertrauen zer-
stört haben; Jeder lebte in beständiger Furcht von seinem Nachbar
verrathen zu werden, suchte sich aber auf dessen Kosten zu
bereichern. Die Statthalter und Handelsvorsteher überlisteten ein-
ander im Grossen, die Gassenrichter, Dolmetscher, Unterkaufleute,
Kuli’s, Matrosen und Handlanger im Kleinen und Kleinsten. Gewinn-
süchtige Beamte fanden immer Mittel ihre Habsucht zu befriedigen,
und die hochfahrende Willkür der Dolmetscher machte die Lage
der Holländer oft unerträglich. Intrigue und Conspiration waren an
der Tagesordnung; auch Frauen wurden hineingezogen, mancher
Diebs- und Liebesroman gedieh zur Catastrophe aufgeschlitzter
Kehlen und Leiber, der stäten Zuflucht des bedrängten Japaners.


Wer Kämpfer’s Berichte mit denen Thunberg’s und späterer
Factorei-Beamten vergleicht, kann eine erhebliche Besserung der
Sitten bei Holländern und Japanern wahrnehmen. In denen der
letzten Jahrzehnte findet sich kaum noch eine Spur der alten
Rohheit; Japan ist in ähnlichem Maasse vorwärts geschritten, wie
europäische Länder die eines langen Friedens genossen. An einzelnen
Beispielen erfreulicher Verhältnisse zwischen Holländern und Japanern
fehlt es auch in den früheren Zeiträumen nicht; sie nehmen aber
zu, je näher die Berichte der Gegenwart rücken. Es gibt kaum
Japan-Reisende, die nicht von rührenden Zügen der Freundschaft,
Uneigennützigkeit und kindlichen Herzensgüte zu erzählen wüssten;
Manche, die länger dort weilten, haben Männer gefunden, eines
bleibenden Freundschaftsbundes so würdig als irgend ein Landsmann.
Die Stellung der fremden Kaufleute in den neu geöffneten Häfen ist
schwierig; sie kommen meist nach Japan ohne einen Begriff von
der Geschichte, den Institutionen und Zuständen des Landes, finden
die Kaufleute, mit denen sie verkehren, weit unter ihrer Würde und
urtheilen danach über das ganze Volk; daher die gewönliche Ueber-
hebung. Sie selbst gelten aber den höheren Ständen des Landes
nicht für ebenbürtig und werden von ihnen geflissentlich gemieden.
Mit den Handelsagenten auf Desima war es anders; diese galten als
Beamte und wurden, als Repräsentanten der holländisch-ostindi-
schen Regierung, bei aller Beschränkung doch mit gewissen Rück-
sichten der Ehrerbietung behandelt. Die obersten Vertreter des
Statthalters, welche ihr eigenes Haus auf Desima hatten, mussten
sich zu allen Verhandlungen mit dem Vorsteher in dessen Wohnung
[211]XI. Stellung der Fremden. Wachsamkeit der Japaner.
begeben; er genoss auf den Hofreisen fürstlicher Ehren und wurde
zur Gegenwart des Siogun zugelassen. Auch die Aerzte erfreuten sich
als Diener der Wissenschaft grosser Achtung und erhielten in Yeddo
Besuche von gelehrten und vornehmen Männern. So war es be-
sonders für diese beiden Classen leichter als für die heutigen Kauf-
leute, mit Japanern von Bildung Verkehr anzuknüpfen, und wo
das erst geschah, trat der persönliche Werth immer bald in seine
Rechte. Bei näherem unbefangenem Umgang sind wohl auch heut
die einer erspriesslichen Entwickelung so schädlichen Vorurtheile
häufig auf beiden Seiten geschwunden.


Einnehmende, bedeutende Persönlichkeiten haben in Japan
niemals verfehlt grossen Einfluss zu üben, wie in neuerer Zeit
die Erfolge der Herren Donker Curtius, Harris und Heusken
bewiesen. Ersterem gelang es durch seinen persönlichen Einfluss
leicht, die Abschaffung des zweihundertjährigen Gebrauches der
Kreuztretung bei den Japanern durchzusetzen, welcher bis dahin in
und bei Naṅgasaki gegen Ende Februar regelmässig mit grosser
Pünctlichkeit begangen wurde. — Bei unserer Anwesenheit hiess
es, dass die Japaner ihn nach der Abreise des niederländischen
Commissars, die nicht lange zuvor erfolgt war, wieder eingeführt
hätten, — was sich hoffentlich nicht bestätigen wird.


So erklärlich und politisch begründet die Verbannung des
Christenthumes im 17. Jahrhundert, so kleinlich und lächerlich
erscheint die bis zur Zeit der Aufschliessung sehr lebhafte und noch
heute nicht ganz beseitigte Angst der Japaner, dass sich christliche
Priester in das Land schleichen, oder Nachrichten über japanische
Zustände nach Europa gelangen könnten. Die Behörden verhin-
derten die Erlernung der Landessprache auf jede Weise. Wenn
Schiffe vor Naṅgasaki lagen, wurde Abends die ganze Mannschaft
gemustert und aufgeschrieben, dann das Schiff versiegelt, die Nacht
durch bewacht und Morgens die Mannschaft wieder durchgezählt.
Einst war während Kämpfer’s Anwesenheit ein Matrose ertrunken,
ohne dass jemand es wusste; das Entsetzen der Japaner bei der
Entdeckung, dass Einer fehlte, soll gränzenloss gewesen sein; man
fürchtete, ein verkleideter Priester wäre auf das Land entwischt,
und die Wächter machten schon Anstalt sich aufzuschlitzen, als
man den Unglücklichen aus dem Wasser zog. Thunberg berichtet
einen ähnlichen Fall. Die Schiffe mussten bei ihrer Ankunft die
von den Behörden in Batavia beglaubigten Musterrollen alles
14*
[212]Consequenz der Japaner. XI.
Lebenden abliefern, und, wenn unterwegs Einer gestorben war,
die gültigsten Beweise, wo möglich den Leichnam produciren.
Kämpfer behauptet sogar, die Japaner hätten die unterwegs ver-
endeten Affen und Papageyen untersucht, »ob sie auch eines natür-
lichen Todes gestorben wären.«


Die Neigung, jedes einmal angenommene Princip bis zum
Extrem aufrecht zu halten, liegt im Volkscharakter und erschwert
wesentlich den Verkehr mit den Behörden; wir erlebten manches
schlagende Beispiel davon. So zeigte Graf Eulenburg Anfang
December dem Minister des Auswärtigen an, dass er den Re-
gierungsrath Wichura nach Naṅgasaki zu Erforschung der dortigen
Pflanzenwelt zu senden beabsichtige, erhielt aber zur Antwort,
das könne, so lange kein Vertrag mit Preussen bestände, nicht
erlaubt werden. Der Gesandte ignorirte dieses Schreiben, liess
Wichura ruhig abreisen, und sagte dem Minister in der Conferenz
vom 24. December davon. Ando Tsus-sima aber fasste die Sache
sehr ernst auf und remonstrirte aus allen Kräften gegen diese »Ver-
letzung der Landesgesetze«; in Yeddo und Yokuhama gehöre der
Botaniker zum Gefolge des Gesandten; sein unabhängiger Aufenthalt
in Naṅgasaki sei aber ungesetzlich, gleichviel ob er einen Tag oder
ein Jahr dauere. — Graf Eulenburg erklärte sich endlich bereit ihm
ein Kriegsschiff nachzusenden, — die Thetis sollte damals voraus-
gehen, — worauf sich der Minister beruhigte. Er wahrte hier
übrigens sein Recht nur formell und liess Wichura in Naṅgasaki
auf keine Weise belästigen.


Der schnelle Verfall des niederländischen Handels hatte seine
Ursache wohl theils in der Demoralisation und maasslosen Gewinn-
sucht der Agenten, vor allem aber in seinen unsoliden Grundlagen.
Der Verkehr beruhte nicht auf einem beiderseitig vortheilhaften
Austausch wirklicher Bedürfnisse, sondern grossentheils auf der
Einfuhr solcher Luxus-Artikel, an welchen die japanischen Händler
den grössten Gewinn machen konnten, und der Ausfuhr von Metallen.
Von den übrigen Export-Artikeln hatte nur der Kampher Bedeutung;
Porcelan, Lack und andere Manufacturen kommen verhältnissmässig
kaum in Betracht; Seide wurde früher sogar aus China und Indien
eingeführt. Ein Importhandel aber, der fast nur Luxus-Artikel
begreift und sich dieselben baar bezahlen lässt, kann zwar zeitweise
grossen Gewinn bringen, aber nie zu gesunder Entwickelung ge-
deihen. Die Japaner merkten sehr wohl den Nachtheil in den sie
[213]XI. Metall-Ausfuhr.
geriethen, und ihre Unbeholfenheit sich dagegen zu wahren ist
kaum zu begreifen. Sie haben sich auch in neuester Zeit wieder
der sonderbarsten Mittel bedient um die Ausfuhr der Metalle zu
hindern, und lange die leichtesten und natürlichsten Wege verschmäht,
selbst wenn fremde Diplomaten, denen nur an einer gesunden
Entwickelung des Verkehrs liegen kann, sie ihnen an die Hand
gaben. — Warum man den Holländern wohl über ein Jahrhundert
lang das Kupfer in grossen Massen zu Preisen überliess, die, wie
es scheint, nicht die Kosten der Gewinnung deckten, während die
Chinesen es gern viel höher bezahlten, bleibt ebenfalls räthselhaft.
Die Regierung machte daran jährlich bedeutenden Schaden, — den
Vortheil an den eingetauschten Import-Artikeln hatten die Beamten,
die Geldkammer, — beschränkte auch die Kupferausfuhr der Hol-
länder immer mehr, kam aber nie auf das einfache Mittel, den
Preis zu erhöhen. Die Goldausfuhr brachte bis 1672 enormen Gewinn;
man rechnete in Silber und zahlte in Gold, das Verhältniss war
ganz ähnlich wie nach Eröffnung von Yokuhama, nur dass die
Kobaṅgs für Waaren statt für Silber eingetauscht wurden. Statt
nun das Gleichgewicht durch eine Veränderung des landesüblichen
Münzfusses herzustellen, gab man den Holländern seit 1696 einen
für sie allein geprägten kleineren Kobaṅg in Zahlung, dann 1710
und 1720 wieder neue immer kleinere Sorten, und zwang sie durch
Beschränkung der Kupferausfuhr die leichte Münze zu dem alten
Course zu nehmen. 1730 kam das alte grosse Goldstück endlich
wieder zum Vorschein, wurde aber jetzt zum doppelten Werthe
gerechnet, während es im Lande die ganze Zeit seinen früheren
Cours behalten zu haben scheint. Aehnliche Operationen wurden auch
bei Eröffnung von Yokuhama versucht, sind aber bei dem jetzigen
freien Verkehr nicht durchzuführen. Die Schwierigkeit ist deshalb
nicht gehoben. In den Hafenstädten hat die Sache ihren natür-
lichen Gang genommen: die japanischen Kaufleute nehmen den
Dollar zu einem Course, der nach den Phasen der Silberpreise
fluctuirt. Zur Zeit unseres Aufenthaltes erhielt man in Naṅgasaki
für 100 Dollar 230 Itsibu, während die Regierung den Diplomaten
für dieselbe Summe 300 Itsibu, das Silbergewicht nach Abzug
einiger Procente für Umprägung zahlte. Mit der Zeit wird sich
der Wechselcours von selbst in Gleichgewicht setzen, denn der
Handel entwickelt sich jetzt auf gesunden Grundlagen und geht
einer blühenden Zukunft entgegen.


[214]Abschied. XI.

Unsere Zeit war abgelaufen, wir begaben uns am 23. Abends
an Bord der Schiffe; einige der holländischen Gastfreunde und
Matsmoto leerten dort noch spät ein Abschiedsglas. Letzterem gab
Regierungsrath Wichura sein Stammbuch mit der Bitte sich einzu-
zeichnen, und er schrieb nach kurzem Besinnen wie folgt:


Auf Reisen denkt man immer an sein Vaterland.


Eine grosse Gesellschaft machte sich auf den Weg und
unternahm ein weite Reise.


Viele kehrten zurück, hörten den Gesang der Nachti-
gallen in ihrer Heimath und waren heiter und wohlgemuth.


Ein anderer blieb in der Fremde und hörte denselben
Gesang.


Aber er gedachte der Nachtigallen seiner Heimath und
weinte.


Matsmoto setzte gleich die holländische Uebersetzung neben
die japanischen Verse, die voll Beziehung auf unseren Freund waren:
Wichura wünschste damals dringend noch einige Monate in dem
schönen Naṅgasaki zu bleiben und das Erwachen des Frühlings
zu belauschen, was sich mit dem Plan der Expedition nicht ver-
einigen liess. Die Verse waren ein Abschiedstrost.


[[215]]

XII.
REISE DER ARKONA UND DER THETIS VON NAṄGASAKI
NACH DEM YAṄGTSE-KIAṄG.

VOM 24. FEBRUAR BIS 2. MÄRZ.


Der Morgen des 24. Februar war windstill, der Himmel leicht be-
deckt, die Luft milde und frühlingsmässig. Die Kessel der Arkona
waren schon früh geheizt worden; gegen acht lichtete sie Anker,
nahm Thetis in das Schlepptau und dampfte dem Ausgange der
Bucht zu. Das russische Flaggschiff Svetlana salutirte den Gesandten
mit siebzehn Schüssen, welche die preussischen Schiffe erwiederten
als sie grade die engste Stelle des langgestreckten Beckens passirten.
Die Vorgebirge und winkligen Thalwände warfen die Schallwellen
die Kreuz’ und Queere durcheinander, und da die Schiffe noch dazu
bei jedem Schusse die Stelle veränderten, so entsand ein Polterecho
von unbeschreiblicher Verwirrung, das aus den fernsten Winkeln
der Seitenbuchten wiederklang und garnicht enden wollte. — Draussen
sprang ein leichter Ostwind auf. Capitän Sundewall liess die Thetis
loswerfen, mit dem Befehl ihren Weg nach Shanghai allein fort-
zusetzen, und dampfte alle Segel setzend weiter. Bald darauf be-
gann es zu regnen, und die herrliche Küste verschwand im grauen
Dunst. Nachmittags wurde es wieder hell; man genoss etwa
zwei Stunden des Anblicks der Goto-Inseln, einer Unzahl von
Felskegeln, grünen Höhen und Kratergipfeln, die sich zu unserer
Rechten in mannichfaltiger Beleuchtung zu unaufhörlich wech-
selnden malerischen Gruppen durcheinanderschoben. Sie gehören
zum japanischen Reiche und scheinen sorgfältig angebaut. — Der
günstige Wind wurde am 25. stärker; man löschte die Feuer und
das Flaggschiff machte gute Fahrt, ebenso den folgenden Tag.26. Febr.
An beiden aber war der Himmel bedeckt, so dass keine Sonnen-
höhe genommen werden konnte. Gegen zehn Uhr Morgens kam
Land in Sicht: man erkannte die südlich von der Mündung des
Yaṅgtse-kiaṅg liegenden Saddle-Islands. Wir waren etwas südlich
[216]In der Mündung der Yaṅgtse. XII.
getrieben. Da nun das Wetter dick und nebelig wurde und die
Einfahrt in den Yaṅgtse wegen der davor liegenden Barre sehr ge-
fährlich ist, so musste man sich daran genügen lassen, hin- und
herkreuzend wo möglich auf derselben Höhe zu bleiben. Es war
immer kälter geworden je mehr wir uns der chinesischen Küste
näherten; das Thermometer zeigte am folgenden Nachmittage, den
27. Febr.27., wo der Himmel sich zwar auf Augenblicke erheiterte, der Wind
aber heftiger und ungünstig wurde, nur noch drei Grad Wärme.
Das Meer glich, durch die ungeheueren Wassermassen des Yaṅgtse
und des Tsientaṅg getrübt, einer dicken gelben Lehmbrühe und
brach sich in hässlichen regellosen Spritzwellen; die Farbe der
Luft und selbst der Sonnenschein, wo er durchbrach, waren kalt
und bleiern, die ganze Seelandschaft so graugelb und unfreund-
lich, wie man sie wohl vor der Scheldemündung findet. Thetis
und ein amerikanisches Barkschiff, die zugleich mit uns Naṅgasaki
verlassen und den Cours besser getroffen hatten, kamen nordöst-
lich in Sicht. Arkona suchte den ganzen Nachmittag an den
Saddle-Islands vorbeizukreuzen, bewerkstelligte das aber erst in der
Nacht, als Wind und Wellen sich etwas gelegt hatten, mit Hülfe
ihrer Schraube.


28. Febr.Am Morgen des 28. war die See ruhiger, der Wind nicht
ungünstig. Die Thetis hatte glücklich manövrirt und war uns etwas
vorausgekommen. Wir steuerten nord-nord-westlich auf Gützlaff-
Island
, eine Lootsenstation, die im Ausflusse des Yaṅgtse liegt,
dann auf ein Lootsenboot zu, das uns entgegenkam, und sandten
ein zweites das sich uns näherte, nach der Thetis. Gegen zwölf
passirte Arkona die Barre, auf der ein Leuchtschiff einsam in der
weiten Wasserwüste liegt. Eine Stunde später kam zu unserer
Rechten Land in Sicht, die Insel Tsuṅg-miṅg, welche die hier vier-
zehn bis funfzehn deutsche Meilen breite Mündung des Yaṅgtse
in zwei Arme spaltet, ein langer flacher Streifen. Dann wurde das
Südufer des Stromes sichtbar, dem wir uns immer mehr näherten.
Eine Menge chinesischer Dschunken und europäischer Kriegs- und
Handelsschiffe ankerten im Flusse, und über die niedrige mit Wei-
den bewachsene Landzunge, welche uns vom Wusuṅg-Flusse
trennte, ragte ein ganzer Wald von Masten. Der Lootse, ein Ameri-
kaner, führte die Arkona nah an das Ufer, und der Commodore
liess um halb vier an der von ihm bezeichneten Stelle Anker werfen.
Die Kette riss: sogleich wurde ein zweiter ausgworfen. Das Schiff
[217]XII. Arkona gestrandet.
kam zum Stehen, bewegte sich aber nicht mit der Strömung um
seinen Anker — wir sassen fest. Der Yankee hatte verstanden uns
auf eine kleine ringsum von tiefem Fahrwasser umgebene Sandbank
zu führen, die einzige Untiefe der ganzen Gegend, deren Lage durch
weithin sichtbare Landmarken für die Lootsen sehr deutlich bezeichnet
ist. Das Schiffscommando traf keine Schuld.


Da die Arkona beim höchsten Wasserstande der Springfluth
auflief, so war der Fall bedenklich. Sie ging zwanzig Fuss tief,
und konnte sich bei der nächsten Ebbe, wo an dieser Stelle nur
neun Fuss Wasser sein sollten, leicht stark auf die Seite legen
oder gar kentern. Alle nächsten Fluthen mussten niedriger sein:
ein so hoher Wasserstand wie zur Zeit des Auflaufens konnte erst
nach vierzehn Tagen wieder eintreten. Es musste also Alles daran
gesetzt werden, sogleich oder bei der nächsten Fluth loszukommen.
Die Lothungen ergaben, dass rings um das Schiff und auch vor
seinem Buge das Wasser tiefer war, doch misslangen alle Versuche,
sich mit der vollen Kraft der Schraube hinüberzuschieben. Capitän
Sundewall liess deshalb alle Stengen und Raaen an Deck bringen,
alle Boote aussetzen und das Schiff auf den Seiten stützen, sandte
auch den Flaggenofficier an die commandirenden englischen und
französischen Schiffe, um Unterstützung nachzusuchen, die bereit-
willig zugesagt wurde.


Um eilf Uhr Abends trat der niedrigste Wasserstand ein:
der starke Nordost-Wind staute aber glücklicherweise das Fluss-
wasser zurück, so dass es nicht so tief sank als erwartet wurde.
Das Schiff hatte sich zudem mit dem Kiel tief in den Schlamm ge-
rannt und neigte sich, auf den Seiten gestützt, nur um drei bis
vier Grad. Das englische Kanonenboot No. 93. und der französische
Aviso Hoṅgkoṅg stellten sich auf Befehl der beiden Stationscom-
mandanten noch denselben Abend zur Verfügung des Commodore
und legten sich langseit der Arkona. Zur Zeit des Hochwassers,
von halb drei bis vier Uhr Morgens arbeitete deren Maschine wie-
der mit voller Kraft, aber vergebens. Unsere Mannschaft mühte
sich die ganze Nacht rastlos das Schiff zu erleichtern: die Eisen-
munition wurde auf den französischen, das Geschütz auf den eng-
lischen Dampfer gebracht, und um zwei Uhr den folgenden Nach-
mittag war schon ein Gewicht von über 150,000 Pfund ausgeladen.
Die englische Dampffregatte Chesapeake hatte sich kaum eine Schiffs-
länge vor unserem Buge vor zwei Anker in das Fahrwasser gelegt
[218]Arkona flott. XII.
und zwei Trossen herübergeschickt, um die Arkona abzuwinden;
auch das englische Kanonenboot und der französische Aviso wurden
mit Trossen an sie befestigt. Bald nach zwei begannen nun die
Maschinen aller drei Schiffe und die Matrosen am Gangspill des
Chesapeake mit voller Kraft zu arbeiten. Die eine Trosse des
Chesapeake riss, der französische Dampfer wurde bald unbrauchbar,
da an seiner Maschine ein Kolben brach, und die Arkona schien
sich nicht bewegt zu haben. Schon hatte man die Hoffnung auf-
gegeben sie loszubringen, als sie bald nach vier sich langsam zu
drehen begann, und dem Steuer gehorchend vorwärts ging. Eine
Minute darauf schwamm sie in tiefem Wasser und warf an ge-
eigneter Stelle Anker.


Das preussische Schiffscommando ist dem englischen und dem
französischen Stationscommandanten, vor Allem aber dem Befehls-
haber der Chesapeake, welcher mit Hintansetzung seiner eigenen
Sicherheit, an einer gefährlichen Stelle ankernd, unter Aufbietung
aller Kräfte ohne Zögern den wirksamsten Beistand leistete, für ihre
Bereitwilligkeit den wärmsten Dank schuldig. Zugleich müssen hier
aber die Leistungen der preussischen Schiffsmannschaft gerühmt
werden, welche vierundzwanzig Stunden lang unausgesetzt, ohne
einen Moment zu erschlaffen, mit voller Freudigkeit so schwere
Arbeit verrichtete, als menschliche Kräfte irgend vermögen. Das
Ausladen aller Geschütze und Munition, das Aussetzen der Boote,
das Herunterbringen aller Stengen, Raaen und Spieren in so kurzer
Zeit, — denn das ganze Schiff wurde abgetakelt, nur das unterste
Stück der Masten blieb stehen, — wurde von den Commandanten
der ringsum ankernden Kriegsschiffe als eine Riesenarbeit angesehen,
welche nur auserlesene Mannschaft zu leisten vermag. Die preussi-
schen Seeleute haben hier diejenige Haltung bewiesen, welche mit
Selbstverleugnung bis zum Aeussersten alle Kräfte aufbietet, wo
das allgemeine Beste es fordert.


2. März.Den 2. März Morgens lief Arkona in den Wusuṅg-Fluss
ein und warf vor der, nah seiner Mündung in den Yaṅgtse-kiaṅg
liegenden Stadt gleichen Namens Anker. Man nahm die Geschütze
und Eisenmunition aus dem französischen und dem englischen Dampfer
wieder an Bord. Gegen Abend langte Thetis, die wegen man-
gelnder Dampfkraft nur langsam hatte folgen können, auf unserem
letzten Ankerplatz im Yaṅgtse an, und lief den folgenden Morgen
ebenfalls in den Wusuṅg-Fluss ein. — Die »Elbe«, die am 28. Januar
[219]XII. Huldigung.
Yokuhama mit der Nachricht vom japanischen Vertrage verlassen
hatte, kam nach stürmischer Fahrt und nachdem sie durch Nebel
zwei Tage in der Mündung des Yaṅgtse aufgehalten worden war,
am 7. Februar in dem Momente vor Shanghai an, als das Postschiff
abging, so dass unsere Packete noch an Bord gelangten. Arkona
und Thetis mussten einstweilen vor Wusuṅg liegen bleiben, da der
seichte Fluss bis zu dem einige Meilen höher hinauf gelegenen
Shanghai nur zur Zeit der Springfluth für Schiffe ihrer Grösse fahr-
bar ist. Die Landschaft ist unfreundlich, die Stadt Wusuṅg schmutzig
und elend; vom Himmel strömte unablässig kalter Regen.


Am 1. März Morgens hatten sich die Legations-Attaché’s Graf
A. zu Eulenburg und von Bunsen auf dem von dem französischen
Stationscommandanten bereitwilligst zur Verfügung gestellten Dampfer
Filoṅg nach Shanghai begeben um unsere Post zu holen, und trafen
damit spät Abends auf der Arkona ein. Unmittelbar nach Eröffnung
der Briefe, welche die Trauerbotschaft von dem Heimgange Seiner
Majestät König Friedrich Wilhelm IV. brachten, wurde den Officieren
und Mannschaften der Eid der Treue für Seine Majestät König
Wilhelm I. abgenommen. — Am 5. März, als die Arkona wieder5. März.
vollständig aufgetakelt und mit ihren Geschützen versehen war, liess
der Commodore auf beiden Schiffen von sechs Uhr Morgens an den
Trauersalut von sechsundsechszig Schüssen in Zwischenräumen von
fünf Minuten feuern. Nach Beendigung desselben kleideten sich
beide in festlichen Flaggenschmuck und feuerten den königlichen
Salut von dreiunddreissig Schüssen in rascher Folge, während das
Personal der Gesandtschaft, das Officier-Corps und die Beamten in
Gala, die Mannschaften im Parade-Anzuge auf Deck Seiner Majestät
König Wilhelm I. ein dreifaches donnerndes Hurra brachten.


[[220]][[221]]

ANHANG I.
DER VERTRAG MIT JAPAN.


[[222]][[223]]

FREUNDSCHAFTS-, HANDELS- UND SCHIFFAHRTS-VERTRAG
ZWISCHEN PREUSSEN UND JAPAN.


Seine Königliche Hoheit der Regent, Prinz von Preussen, im
Namen Seiner Majestät des Königs von Preussen,
und

Seine Majestät der Taïkün von Japan,
von dem aufrichtigen Wunsche beseelt, freundschaftliche Beziehun-
gen zwischen den beiden Reichen zu begründen, haben beschlossen,
solche durch einen gegenseitig vortheilhaften und den Unterthanen
der hohen vertragenden Mächte nützlichen Freundschafts- und Han-
delsvertrag zu befestigen, und haben zu diesem Ende zu ihren Be-
vollmächtigten ernannt, nämlich:
Seine Königliche Hoheit der Regent, Prinz von Preussen,
den Kammerherrn Friedrich Albrecht Grafen zu Eulen-
burg
, Allerhöchstihren ausserordentlichen Gesandten und
bevollmächtigten Minister, Ritter des rothen Adler-Ordens
dritter Classe mit der Schleife, Ritter des Johanniter-
Ordens u. s. w.
und

Seine Majestät der Taïkün von Japan,
Muragaki Awadsi-no-kami,
Takemoto Dsusio-no-kami,
Kurokawa Satsiu,

welche, nachdem sie ihre Vollmachten sich mitgetheilt und solche
in guter und gehöriger Form befunden haben, über nachstehende
Artikel übereingekommen sind.


[224]Der Vertrag mit Japan. Anh. I.

Artikel 1.


Es soll ewiger Friede und beständige Freundschaft bestehen
zwischen Seiner Majestät dem Könige von Preussen und Seiner
Majestät dem Taïkün von Japan, ihren Erben und Nachfolgern,
sowie auch zwischen den beiderseitigen Unterthanen.


Artikel 2.


Seine Majestät der König von Preussen soll das Recht haben,
wenn er es für gut befindet, einen diplomatischen Agenten zu er-
nennen, welcher in der Stadt Yeddo seinen Wohnsitz nehmen wird.


Er soll ausserdem das Recht haben, für die dem preussischen
Handel zu öffnenden Häfen Consularbeamte zu ernennen.


Sowohl der von Seiner Majestät dem Könige von Preussen
ernannte diplomatische Agent, als auch der General-Consul sollen
das Recht haben, frei und unbehindert in allen Theilen des Kaiser-
reichs Japan umherzureisen.


Seine Majestät der Taïkün von Japan, kann einen diploma-
tischen Agenten beim Hofe von Berlin und Consularbeamte für die
preussischen Häfen ernennen.


Der diplomatische Agent und der General-Consul Japans
sollen das Recht haben, überall in Preussen umherzureisen.


Artikel 3.


Die Städte und Häfen von Hakodade, Kanagava und Naṅgasaki
sollen von dem Tage an, wo dieser Vertrag in Kraft tritt, für die
Unterthanen und den Handel Preussens eröffnet sein.


In den vorgedachten Städten und Häfen sollen Preussische
Unterthanen dauernd wohnen können; sie sollen das Recht haben,
daselbst Grundstücke zu miethen und Häuser zu kaufen, und sie
sollen Wohnungen und Magazine daselbst erbauen dürfen.


Aber Befestigungen oder Festungswerke sollen sie, unter dem
Vorwande der Erbauung von Wohnungen und Magazinen, nicht er-
richten dürfen; und die competenten japanischen Behörden sollen,
um sich der getreuen Ausführung dieser Bestimmung zu versichern,
das Recht haben, von Zeit zu Zeit die Arbeiten an jedem Bauwerke
zu besichtigen, welches errichtet, verändert oder ausgebessert wird.


Der Platz, welchen Preussische Unterthanen bewohnen und
auf welchem sie ihre Gebäude errichten sollen, wird von den preussi-
schen Consularbeamten im Einverständniss mit den competenten
[225]Anh. I. Der Vertrag mit Japan.
japanischen Ortsbehörden angewiesen werden; auf gleiche Art sollen
die Hafenordnungen festgesetzt werden; können sich der preussische
Consularbeamte und die japanischen Behörden in diesen Beziehungen
nicht einigen, so soll die Frage dem diplomatischen Agenten und
der japanischen Regierung unterbreitet werden.


Um die Orte, wo Preussische Unterthanen sich niederlassen
werden, soll von den Japanern weder Mauer, noch Zaun oder
Gitter, noch irgend ein anderer Abschluss errichtet werden, welcher
den freien Ein- und Ausgang dieser Orte beschränken könnte.


Den Preussischen Unterthanen soll es gestattet sein, sich
innerhalb folgender Gränzen frei zu bewegen:


Von Kanagava bis zum Flusse Logo, welcher sich
zwischen Kavasaki und Sinagava in den Meerbusen von
Yeddo ergiesst und in jeder anderen Richtung bis zu
einer Entfernung von 10 Ri;


Von Hakodade in jeder Richtung bis zu einer Entfer-
nung von 10 Ri.


Diese Entfernungen sollen zu Lande gemessen werden vom
Goyošio oder Rathhause jedes der vorgenannten Häfen an.


Ein Ri kommt gleich:
12,456 Fuss Preussisch,
4,275 Yards Englisch,
3,910 Metres Französisch.


Von Naṅgasaki aus sollen sich die Preussischen Unterthanen
überall in das benachbarte Kaiserliche Gebiet begeben können.


Artikel 4.


Die in Japan sich aufhaltenden Preussen sollen das Recht
freier Religionsübung haben. Zu diesem Behufe werden sie auf dem
zu ihrer Niederlassung bestimmten Terrain Gebäude zur Ausübung
ihrer Religionsgebräuche errichten können.


Artikel 5.


Alle Streitigkeiten, welche sich in Bezug auf Person oder
Eigenthum zwischen in Japan sich aufhaltenden Preussen erheben
sollten, werden der Entscheidung der preussischen in Japan con-
stituirten Behörde unterworfen werden.


Hat ein Preusse eine Klage oder Beschwerde gegen einen
Japaner, so entscheidet die japanische Behörde.


II. 15
[226]Der Vertrag mit Japan. Anh. I.

Hat dagegen ein Japaner eine Klage oder Beschwerde gegen
einen Preussen, so entscheidet die preussische Behörde.


Wenn ein Japaner nicht bezahlen sollte, was er einem Preussen
schuldig ist, oder wenn er sich betrügerischer Weise verborgen
halten sollte, so werden die competenten japanischen Behörden
Alles, was in ihrer Macht steht, thun, um ihn vor Gericht zu zie-
hen, und die Bezahlung der Schuld von ihm zu erlangen. Und
wenn ein Preusse sich betrügerischer Weise verbergen, und seine
Schulden an Japaner nicht bezahlen sollte, so werden die preussi-
schen Behörden Alles, was in ihrer Macht steht, thun, um den
Schuldigen vor Gericht zu ziehen, und zur Bezahlung der Schuld
anzuhalten.


Weder die preussischen, noch die japanischen Behörden
sollen für die Bezahlung von Schulden verantwortlich sein, welche
von Preussischen oder Japanischen Unterthanen contrahirt wor-
den sind.


Artikel 6.


Preussische Unterthanen, welche ein Verbrechen gegen Ja-
panische Unterthanen oder gegen Angehörige einer anderen Nation
begehen sollten, sollen vor den preussischen Consularbeamten ge-
führt und nach preussischen Gesetzen bestraft werden.


Japanische Unterthanen, welche sich einer verbrecherischen
Handlung gegen Preussische Unterthanen schuldig machen, sollen
vor die japanischen Behörden geführt und nach japanischen Ge-
setzen bestraft werden.


Artikel 7.


Alle Ansprüche auf Geldstrafen oder Confiscationen für Zu-
widerhandlungen gegen diesen Vertrag oder gegen das beigefügte
Handels-Regulativ sollen bei den preussischen Consularbehörden
zur Entscheidung gebracht werden. Die Geldstrafen oder Confisca-
tionen, welche von diesen letzteren ausgesprochen werden, sollen
der japanischen Regierung zufallen.


Artikel 8.


In allen dem Handel zu öffnenden Häfen Japans soll es
Preussischen Unterthanen freistehen, aus dem Gebiete Preussens
oder aus fremden Häfen alle Arten von Waaren, die nicht Contre-
[227]Anh. I. Der Vertrag mit Japan.
bande sind, einzuführen und zu verkaufen, sowie zu kaufen, und
nach preussischen Häfen oder nach anderen fremden Häfen auszu-
führen. Sie sollen nur die Zölle bezahlen, welche in dem, dem
gegenwärtigen Vertrage beigefügten Tarif verzeichnet sind, und frei
von allen sonstigen Abgaben sein.


Preussische Unterthanen sollen alle Arten von Artikeln von
den Japanern kaufen und an dieselben verkaufen dürfen, und zwar
ohne Dazwischenkunft eines japanischen Beamten, weder beim Kaufe,
noch beim Verkaufe, noch bei der Bezahlung oder Empfangnahme
des Kaufpreises.


Allen Japanern soll es erlaubt sein, alle Arten von Artikeln
von Preussischen Unterthanen zu kaufen, und, was sie gekauft haben,
entweder zu behalten und zu benutzen, oder wieder zu verkaufen.


Artikel 9.


Die japanische Regierung wird es nicht verhindern, dass
Preussen, welche sich in Japan auf halten, Japaner in Dienst neh-
men, und sie zu allen Beschäftigungen zu verwenden, welche die
Gesetze nicht verbieten.


Artikel 10.


Das dem gegenwärtigen Vertrage beigefügte Handels-Regulativ
soll als ein integrirender Theil dieses Vertrages und deshalb als
bindend für die hohen contrahirenden Theile angesehen werden.


Der preussiche diplomatische Agent in Japan soll das Recht
haben, in Gemeinschaft und Uebereinstimmung mit denjenigen Be-
amten, welche von der japanischen Regierung zu diesem Zwecke
bezeichnet werden möchten, für alle dem Handel offenen Häfen
diejenigen Reglements zu erlassen, welche erforderlich und geeignet
sind, die Bestimmungen des beigefügten Handels-Regulativs in Aus-
führung zu bringen.


Artikel 11.


Die japanischen Behörden werden in jedem Hafen solche
Maassregeln treffen, wie sie ihnen am geeignetsten scheinen werden,
um dem Schmuggel und der Contrebande vorzubeugen.


Artikel 12.


Wenn ein preussiches Schiff bei einem offenen Hafen Japans
anlangt, soll es ihm freistehen, einen Lootsen anzunehmen, der es
15*
[228]Der Vertrag mit Japan. Anh. I.
in den Hafen führt. Ebenso soll es, wenn es alle gesetzlichen
Gebühren und Abgaben entrichtet hat und zur Abreise fertig ist,
einen Lootsen annehmen können, um es aus dem Hafen hinaus-
zuführen.


Artikel 13.


Preussische Kaufleute sollen, wenn sie Waaren in einen
offenen Hafen Japans eingeführt und die darauf haftenden Zölle
entrichtet haben, berechtigt sein, von der japanischen Zollbehörde
ein Certificat über die geschehene Entrichtung dieser Zölle zu ver-
langen, und auf Grund dieses Certificats soll ihnen freistehen, die-
selben Waaren wieder aus- und in einen anderen offenen Hafen
Japans einzuführen, ohne dass sie nöthig hätten, irgend welche
weiteren Zölle davon zu entrichten.


Artikel 14.


Alle von Preussischen Unterthanen in einen offenen Hafen
Japans eingeführten Waaren, von welchen die in diesem Vertrage
festgesetzten Zölle entrichtet worden sind, sollen von den Japanern
nach allen Theilen des Kaiserreichs versandt werden können, ohne
dass davon irgend eine Abgabe oder Transitzoll, welchen Namen
dieselben auch haben möchten, gezahlt zu werden braucht.


Artikel 15.


Alle fremden Münzen sollen in Japan Cours haben und so
viel gelten, als ein gleiches Gewicht japanischer Münzen derselben
Gattung.


Preussen und Japaner können sich bei Zahlungen, die sie
sich gegenseitig zu machen haben, nach Belieben fremder oder ja-
panischer Münzen bedienen.


Münzen aller Art, mit Ausnahme von japanischen Kupfer-
münzen, und fremdes ungemünztes Gold und Silber können aus
Japan ausgeführt werden.


Artikel 16.


Wenn die japanischen Zollbeamten mit dem Werthe, welcher
von Kaufleuten für einige ihrer Waaren angegeben werden sollte,
nicht einverstanden sind, so soll es denselben freistehen, diese
Waaren selbst zu taxiren, und sich zu erbieten, sie zu dem von
ihnen festgesetzten Taxwerthe zu kaufen.


[229]Anh. I. Der Vertrag mit Japan.

Sollte der Eigenthümer sich weigern, auf dies Anerbieten
einzugehen, so soll er den Zoll von dem Werthe zahlen, wie die
japanischen Zollbeamten ihn taxirt haben. Im Falle der Annahme
des Anerbietens aber soll ihm der offerirte Werth sofort und ohne
Abzug von Rabatt oder Disconto gezahlt werden.


Artikel 17.


Wenn ein preussisches Schiff Schiffbruch leidet, oder an den
Küsten des Kaiserreiches Japan strandet, oder wenn es gezwungen
sein sollte, Zuflucht in einem Hafen innerhalb des Gebietes des
Taïkūn von Japan zu suchen, so sollen die competenten japanischen
Behörden, sobald sie davon hören, dem Schiffe allen möglichen
Beistand leisten. Die Personen an Bord desselben sollen wohl-
wollend behandelt und, wenn nöthig, mit Mitteln versehen werden,
um sich nach dem Sitze des nächsten preussischen Consulats zu
begeben.


Artikel 18.


Provisionen aller Art für preussische Kriegsschiffe sollen zu
Kanagava, Hakodade und Naṅgasaki ausgeschifft, und in Magazine
unter der Bewachung preussischer Beamten niedergelegt werden
können, ohne dass Zölle davon entrichtet zu werden brauchen. Wenn
solche Provisionen aber an Japaner oder Fremde verkauft werden,
so sollen die Erwerber an die japanischen Behörden den Zoll ent-
richten, der auf dieselben anwendbar ist.


Artikel 19.


Es wird ausdrücklich festgesetzt, dass die Königlich preussische
Regierung und ihre Unterthanen von dem Tage an, an welchem
der gegenwärtige Vertrag in Kraft tritt, ohne Weiteres alle Rechte,
Freiheiten und Vortheile geniessen sollen, welche von Seiner Ma-
jestät dem Taïkūn von Japan an die Regierungen und Unterthanen
irgend eines anderen Staates gewährt worden sind oder in Zukunft
gewährt werden sollten.


Artikel 20.


Man ist übereingekommen, dass die hohen contrahirenden
Theile vom 1. Juli 1872 an die Revision dieses Tractates sollen be-
antragen können, um solche Aenderungen oder Verbesserungen
[230]Der Vertrag mit Japan. Anh. I.
daran vorzunehmen, welche die Erfahrung als nothwendig heraus-
gestellt haben sollte. Ein solcher Antrag muss jedoch mindestens
ein Jahr zuvor angekündigt werden.


Artikel 21.


Alle amtlichen Mittheilungen des preussischen diplomatischen
Agenten oder der Consularbeamten an die japanischen Behörden
werden in deutscher Sprache geschrieben werden. Um jedoch die
Geschäftsführung möglichst zu erleichtern, sollen diese Mittheilun-
gen während fünf Jahre von dem Zeitpuncte an, wo dieser Vertrag
in Wirksamkeit treten wird, von einer Uebersetzung in’s Hollän-
dische oder Japanische begleitet sein.


Artikel 22.


Der gegenwärtige Vertrag ist vierfach in deutscher, japani-
scher und holländischer Sprache ausgefertigt. Alle diese Ausferti-
gungen haben denselben Sinn und dieselbe Bedeutung, aber die
holländische soll als der Originaltext des Vertrages angesehen wer-
den, dergestalt, dass, wenn eine verschiedene Auslegung des deut-
schen und japanischen Textes irgendwo einträte, die holländische
Ausfertigung entscheidend sein soll.


Artikel 23.


Der gegenwärtige Vertrag soll von Seiner Majestät dem
König von Preussen und von Seiner Majestät dem Taïkūn von Japan,
unter Namensunterschrift und Siegel, ratificirt werden, und sollen
die Ratificationen in Yeddo ausgewechselt werden.


Dieser Vertrag tritt am 1. Januar 1863 in Wirksamkeit.


Dessen zu Urkund haben die resp. Bevollmächtigten diesen
Vertrag unterzeichnet und ihre Siegel beigedrückt.


So geschehen zu Yeddo den vier und zwanzigsten Januar im
Jahre unseres Herrn ein tausend acht hundert und ein und sechszig,
oder am vierzehnten Tage des zwölften Monats des ersten Jahres
von Man-En der japanischen Zeitrechnung.


(L. S.) (gez.) Graf zu Eulenburg.
Muragaki Awadsi-no-kami.
Takemoto Dsusio-no-kami.
Kurokawa Satsiu
.


[231]

BESTIMMUNGEN, UNTER WELCHEN DER HANDEL PREUSSENS IN
JAPAN GETRIEBEN WERDEN SOLL.


Bestimmung I.


Innerhalb achtundvierzig Stunden (Sonntage ausgenommen)
nach der Ankunft eines preussischen Schiffes in einem japanischen
Hafen soll der Capitän oder Commandant den japanischen Zoll-
behörden einen Empfangschein des preussischen Consuls vorzeigen,
aus welchem hervorgeht, dass er alle Schiffspapiere, Connoissemente
u. s. w. auf dem preussischen Consulate niedergelegt hat, und er
soll dann sein Schiff einclariren durch Uebergabe eines Schreibens,
welches den Namen des Schiffes angibt, und den des Hafens, von
welchem es kommt, seinen Tonnengehalt, den Namen seines Capi-
täns oder Commandanten, die Namen der Passagiere (wenn es deren
gibt) und die Zahl der Schiffsmannschaft. Dieses Schreiben muss
vom Capitän oder Commandanten als eine wahrhafte Angabe be-
scheinigt und unterzeichnet werden; zu gleicher Zeit soll er ein
schriftliches Manifest seiner Ladung niederlegen, welches die Zeichen
und Nummern der Frachtstücke und ihren Inhalt angibt, sowie sie
in seinem Connoissemente bezeichnet sind, nebst den Namen der
Person oder Personen, an welche sie consignirt sind. Eine Liste
der Schiffsvorräthe soll dem Manifest hinzugefügt werden. Der
Capitän oder Commandant soll das Manifest als eine zuverlässige
Angabe der ganzen Ladung und aller Vorräthe an Bord bescheini-
gen und dies mit seinem Namen unterzeichnen.


Wird irgend ein Irrthum in dem Manifest entdeckt, so darf
derselbe innerhalb vierundzwanzig Stunden (Sonntage ausgenommen)
ohne Zahlung einer Gebühr berichtigt werden, aber für jede Aende-
rung oder spätere Eintragung in das Manifest nach jenem Zeitraum
soll eine Gebühr von 15 Dollars bezahlt werden.


Alle in das Manifest nicht eingetragenen Güter sollen dop-
pelten Zoll entrichten, wenn sie gelandet werden.


Jeder Capitän oder Commandant, der es versäumen sollte,
sein Schiff bei dem japanischen Zollamte binnen der durch diese
[232]Bestimmungen über den Handel mit Japan. Anh. I.
Bestimmung festgesetzten Zeit einzuclariren, soll eine Busse von
60 Dollars für jeden Tag entrichten, an welchem er die Einclarirung
seines Schiffes versäumt.


Bestimmung II.


Die japanische Regierung soll das Recht haben, Zollbeamte
an Bord eines jeden Schiffes in ihren Häfen zu setzen, Kriegsschiffe
ausgenommen. Die Zollbeamten sollen mit Höflichkeit behandelt
werden, und ein geziemendes Unterkommen erhalten, wie das Schiff
es bietet.


Keine Güter sollen von einem Schiffe zwischen Sonnenunter-
gang und Sonnenaufgang abgeladen werden, ausser auf besondere
Erlaubniss der Zollbehörden, und es dürfen die Luken und alle
übrigen Eingänge zu dem Theile des Schiffes, wo die Ladung ver-
staut ist, von japanischen Beamten zwischen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang durch Siegel, Schlösser oder anderen Verschluss
gesichert werden, und wenn irgend Jemand, ohne gehörige Erlaub-
niss, einen so gesicherten Eingang eröffnen, oder irgend ein Siegel,
Schloss oder sonstigen von den japanischen Zollbeamten angelegten
Verschluss erbrechen oder abnehmen sollte, so soll jeder, der sich
so vergeht, für jede Uebertretung eine Busse von 60 Dollars zahlen.


Güter, die von einem Schiffe, sei es gelöscht, sei es zu lö-
schen versucht worden, ohne dass sie beim japanischen Zollamte,
wie nachfolgend bestimmt, gehörig angegeben sind, sollen der Be-
schlagnahme und Confiscation unterliegen.


Waarencolli, welche mit der Absicht verpackt sind, die Zoll-
einnahmen von Japan zu benachtheiligen, indem sie Artikel von
Werth verbergen, welche in der Factura nicht aufgeführt sind,
sollen der Confiscation verfallen sein.


Sollte ein preussisches Schiff in irgend einen der nicht ge-
öffneten Häfen von Japan Güter einschmuggeln oder einzuschmuggeln
versuchen, so verfallen alle solche Güter an die japanische Regie-
rung, und das Schiff soll für jedes derartige Vergehen eine Busse
von 1000 Dollars zahlen.


Fahrzeuge, welche der Ausbesserung bedürftig sind, dürfen
zu diesem Zwecke ihre Ladung landen, ohne Zoll zu bezahlen. Alle
so gelandeten Güter sollen in Verwahrung der japanischen Behörden
bleiben, und alle gerechten Forderungen für Aufbewahrung, Arbeit
und Aufsicht sollen dafür bezahlt werden. Wird indessen ein Theil
[233]Anh. I. Bestimmungen über den Handel mit Japan.
solcher Ladung verkauft, so sollen für diesen Theil die regelmässi-
gen Zölle entrichtet werden.


Waaren können auf ein anderes Schiff im nämlichen Hafen
umgeladen werden, ohne Zoll zu zahlen, aber das Umladen muss
stets unter Aufsicht von japanischen Beamten vor sich gehen, und
nachdem der Zollbehörde hinlänglicher Beweis von der Unverfäng-
lichkeit der Operation gegeben ist, sowie auch mit einem zu dem
Zwecke von dieser Behörde ausgestellten Erlaubnissscheine.


Da die Einfuhr von Opium verboten ist, so darf — falls ein
preussisches Schiff in Handelszwecken nach Japan kommt, und ein
Gewicht von mehr als 3 Cattie Opium am Bord hat — der Ueber-
schuss von den japanischen Behörden mit Beschlag belegt und ver-
nichtet werden; und jede Person oder alle Personen, die Opium
einschmuggeln oder einzuschmuggeln versuchen, sollen in eine Busse
von 15 Dollars verfallen sein für jedes Cattie Opium, welches sie
einschmuggeln oder einzuschmuggeln versuchen.


Bestimmung III.


Der Eigenthümer oder Consignatär von Gütern, welcher sie
zu landen wünscht, soll eine Declaration derselben bei dem japani-
schen Zollamte eingeben. Die Declaration soll schriftlich sein und
angeben: den Namen der Person, welche die Declaration macht,
den Namen des Schiffes, auf welchem die Waaren eingeführt wur-
den, die Zeichen, Nummern, Colli und deren Inhalt, mit dem Werthe
jedes Colli besonders in einem Betrage ausgeworfen; und am Ende
der Declaration soll der Gesammtwerth aller in der Declaration ver-
zeichneten Güter angegeben werden. Auf jeder Declaration soll der
Eigenthümer oder Consignatär schriftlich versichern, dass die so
überreichte Declaration den wirklichen Preis der Güter angibt, und
dass nichts zum Nachtheile der japanischen Zölle verheimlicht wor-
den ist, und unter solches Certificat soll der Eigenthümer oder
Consignatär seine Namens-Unterschrift setzen.


Die Original-Factur oder Facturen der so declarirten Güter
sollen den Zollbehörden vorgelegt werden und in deren Besitz ver-
bleiben, bis sie die declarirten Güter untersucht haben.


Die japanischen Beamten dürfen einige oder alle so declarir-
ten Colli untersuchen und zu diesem Zwecke auf das Zollamt bringen;
es muss aber solche Untersuchung ohne Kosten für den Einführen-
[234]Bestimmungen über den Handel mit Japan. Anh. I.
den und ohne Beschädigung der Waaren vor sich gehen, und nach
geschehener Untersuchung sollen die Japaner die Güter in ihrem
vorigen Zustand in die Colli wieder hineinthun (soweit dies aus-
führbar ist) und die Untersuchung soll ohne ungerechtfertigten Ver-
zug vor sich gehen.


Wenn ein Eigenthümer oder Importeur entdeckt, dass seine
Güter auf der Herreise Schaden gelitten haben, ehe sie ihm über-
liefert worden sind, kann er die Zollbehörden von solcher Beschä-
digung unterrichten, und er kann die beschädigten Güter von zwei
oder mehr competenten und unpartheiischen Personen schätzen lassen;
diese sollen nach gehöriger Untersuchung eine Bescheinigung aus-
stellen, welche den Schadensbetrag von jedem einzelnen Colli pro-
centweise angibt, indem es dasselbe nach Marke und Nummer be-
schreibt: welches Certificat von den Taxatoren in Gegenwart der
Zollbehörden unterschrieben werden soll, und der Importeur kann
das Certificat seiner Declaration beifügen und einen entsprechenden
Abzug machen.


Dies soll jedoch die Zollbehörden nicht verhindern, die Güter
in der Weise zu schätzen, die im Artikel 16. des Vertrages, dem
diese Bestimmungen angehängt sind, vorgesehen ist.


Nach Entrichtung der Zölle soll der Eigenthümer einen Er-
laubnissschein erhalten, welcher die Uebergabe der Güter an ihn
gestattet, mögen dieselben sich auf dem Zollamte oder an Bord des
Schiffes befinden.


Alle zur Ausfuhr bestimmten Güter sollen, bevor sie an Bord
gebracht werden, auf dem japanischen Zollamte declarirt werden.
Die Declaration soll schriftlich sein und den Namen des Schiffes,
worin die Güter ausgeführt werden sollen, mit den Zeichen und
Nummern der Colli, und die Menge, die Beschaffenheit und den
Werth ihres Inhalts angeben. Der Exporteur muss schriftlich be-
scheinigen, dass seine Declaration eine wahre Angabe aller darin
erwähnten Güter ist, und soll dies mit seinem Namen unterzeichnen.


Güter, die zum Zwecke der Ausfuhr an Bord gebracht wer-
den, ehe sie auf dem Zollamte angegeben sind, sowie alle Colli,
welche verbotene Gegenstände enthalten, sollen der japanischen
Regierung verfallen sein.


Provisionen zum Gebrauch der Schiffe, ihrer Mannschaften
und Passagiere, sowie Kleidung u. s. w. von Passagieren brauchen
nicht beim Zollamte angegeben zu werden.


[235]Anh. I. Bestimmungen über den Handel mit Japan.

Halten die japanischen Zollbeamten ein Colli für verdäch-
tig, so können sie dasselbe in Beschlag nehmen, müssen aber den
preussischen Consularbeamten davon Anzeige machen.


Die Güter, welche nach dem Ausspruche der preussischen
Consularbeamten der Confiscation verfallen sind, sollen alsbald den
japanischen Behörden ausgeliefert werden, und der Betrag der Geld-
strafen, welche die preussischen Consularbeamten erkannt haben,
soll durch dieselben schleunigst eingezogen und an die japanischen
Behörden gezahlt werden.


Bestimmung IV.


Schiffe, die auszuclariren wünschen, müssen vierundzwanzig
Stunden zuvor davon bei dem Zollamte Anzeige machen, und nach
dem Ablauf dieser Zeit sollen sie zur Ausclarirung berechtigt sein.
Wird ihnen solche verweigert, so haben die Zollbeamten sofort dem
Capitän oder Consignatär des Schiffes die Gründe anzugeben, wes-
halb sie die Ausclarirung verweigern, und die nämliche Anzeige
haben sie auch an den preussischen Consul zu machen.


Preussische Kriegsschiffe brauchen beim Zollamte weder ein-
noch auszuclariren, noch sollen sie von japanischen Zoll- oder
Polizeibeamten besucht werden.


Dampfschiffe, welche die preussische Briefpost mit sich führen,
dürfen am nämlichen Tage ein- und ausclariren, und sollen kein
Manifest zu machen brauchen, ausser für solche Passagiere und
Güter, die in Japan abgesetzt werden sollen. Solche Dampfer sollen
jedoch in allen Fällen bei dem Zollamte ein- und ausclariren.


Wallfischfahrer, die zur Verproviantirung einlaufen, sowie in
Noth befindliche Schiffe sollen nicht nöthig haben, ein Manifest
ihrer Ladung zu machen; wenn sie aber nachträglich Handel zu
treiben wünschen, sollen sie dann ein Manifest niederlegen, wie es
die Bestimmung I. vorschreibt.


Wo nur immer in diesen Bestimmungen oder im Vertrage,
dem sie angehängt sind, das Wort »Schiff« vorkommt, soll ihm die
Bedeutung beigelegt werden von Schiff, Barke, Brigg, Schooner,
Schaluppe oder Dämpfer.


Bestimmung V.


Jemand, der mit der Absicht, die japanischen Staatseinkünfte
zu beeinträchtigen, eine falsche Declaration oder Bescheinigung un-
[236]Bestimmungen über den Handel mit Japan. Anh. I.
terzeichnet, hat für jedes Vergehen eine Busse von (125) Einhun-
dertfünfundzwanzig Dollars zu bezahlen.


Bestimmung VI.


Keine Tonnengelder sollen in den japanischen Häfen von
preussischen Schiffen erhoben werden, aber die folgenden Gebühren
sollen an die japanischen Zollbehörden bezahlt werden:


  • Für das Einclariren eines Schiffes 15 Dollars.
  • Für das Ausclariren eines Schiffes 7 Dollars.
  • Für jeden Erlaubnissschein 1½ Dollars.
  • Für jeden Gesundheitspass 1½ Dollars.
  • Für jedes andere Document 1½ Dollars.

Bestimmung VII.


Von allen in Japan gelandeten Gütern sollen an die japanische
Regierung Zölle entrichtet werden nach dem folgenden Tarif:


Classe 1.

Alle Artikel in dieser Classe sollen zollfrei sein:


  • Gold und Silber, gemünzt oder ungemünzt.
  • Kleidungsstücke im Gebrauch.
  • Hausgeräthe und gedruckte Bücher, welche nicht zum
    Verkaufe bestimmt, sondern Eigenthum von Per-
    sonen sind, die sich in Japan niederlassen wollen.
  • Hausrath, Bücher und Consumtions-Gegenstände für
    preussische Beamte in Japan. Sollten diese drei
    Artikel verkauft werden, so sollen die festgesetzten
    Zölle davon entrichtet werden.

Classe 2.

Ein Zoll von (5) fünf Procent soll von den folgenden Gegen-
ständen erhoben werden:


  • Alle Gegenstände, welche zum Zwecke des Baues, der
    Betakelung, Ausbesserung oder Ausrüstung von Schiffen
    gebraucht werden.
  • Alles Geräthe zum Wallfischfang.
  • Alle Sorten gesalzener Esswaaren.
[237]Anh. I. Bestimmungen über den Handel mit Japan.
  • Brod und Brodstoffe.
  • Lebende Thiere aller Art.
  • Steinkohlen.
  • Bauholz zum Bauen von Häusern.
  • Reis.
  • Paddie.
  • Dampfmaschinerie.
  • Zink.
  • Blei.
  • Zinn.
  • Rohseide.
  • Alle leinenen, baumwollenen und wollenen Stoffe.

Classe 3.

Ein Zoll von (35) fünfunddreissig Procent soll von allen be-
rauschenden Getränken gezahlt werden, seien sie durch Destilla-
tion, Gährung oder auf andere Weise bereitet.


Classe 4.

Alle in den vorstehenden Classen nicht erwähnten Güter sollen
einen Einfuhrzoll von (20) zwanzig Procent bezahlen.


Kriegsmunition darf nur an die japanische Regierung und an
Fremde verkauft werden.


Bestimmung VIII.


Mit Ausnahme von goldenen und silbernen Münzen und
Kupfer in Stäben sollen alle japanischen Producte, welche als La-
dung ausgeführt werden, einen Ausgangszoll von (5) fünf Procent
bezahlen.


Die japanische Regierung wird von Zeit zu Zeit in öffent-
licher Auction den Ueberschuss von Kupfer, der producirt werden
sollte, verkaufen.


Reis und Weizen japanischen Ursprungs darf nicht als La-
dung aus Japan ausgeführt werden, aber Preussische Unterthanen,
welche in Japan wohnen, und preussische Schiffe, für ihre Mann-
schaft und Passagiere, sollen mit hinreichenden Vorräthen davon
versehen werden.


[238]Bestimmungen über den Handel mit Japan. Anh. I.

Bestimmung IX.


Fünf Jahre, nachdem dieser Vertrag in Kraft getreten ist,
sollen die Ein- und Ausfuhrzölle einer Revision unterworfen wer-
den, falls die preussische oder die japanische Regierung solches
wünscht. Sollte aber, vor Ablauf dieses Zeitraums, die japanische
Regierung mit der Regierung einer anderen Nation zu einer solchen
Revision schreiten, so wird die preussische Regierung auf Wunsch
der japanischen, daran Theil nehmen.


(gez.) Graf zu Eulenburg.
Muragaki Awadsi-no-kami.
Takemoto Dsusio-no-kami.
Kurokawa Satsiu
.


[[239]]

ANHANG II.
DIE EREIGNISSE DER LETZTEN JAHRE.


[[240]][[241]]

DIE ENTWICKELUNG DER POLITISCHEN VERHÄLTNISSE UND DES
FREMDENVERKEHRS IN JAPAN SEIT 1861.


Der Darstellung der neuesten Ereignisse muss hier eine kurze
Schilderung der Handelsverhältnisse seit Eröffnung der Häfen vor-
angehen, welche sich der Erzählung unserer Erlebnisse nicht ein-
flechten liess. Damals war der Verkehr noch in seinen Anfängen
und gestattete keine Uebersicht.


Als im Juli 1859 die Häfen von Yokuhama, Naṅgasaki und
Hakodade dem Verkehr übergeben wurden, war Japan für den
westländischen Handel ein neu-entdecktes Land, von dessen Be-
dürfnissen und Leistungsfähigkeit man keinen Begriff hatte. Die
von den Holländern auf Desima gemachten Erfahrungen bewiesen
im Wesentlichen nur zwei Dinge: dass Japan fähig ist, alle seine
Bedürfnisse selbst zu erzeugen und dass die traditionelle Handels-
politik der Regierung der Ausfuhr der Landeserzeugnisse abhold ist.
Die Einfuhr begriff meist Luxusartikel und stand in ihrer geringen
Ausdehnung zur Grösse der Bevölkerung in gar keinem Verhältniss.1)
Für die Ausfuhr war nur das Kupfer von wirklicher Bedeutung,
und grade die Kupferausfuhr suchte die Regierung von Jahr zu
Jahr zu beschränken. Diejenigen Artikel, welche seit Eröffnung
von Yokuhama für den Ausfuhrhandel die wichtigsten wurden,
namentlich Seide und Thee, haben die Niederländer garnicht exportirt.
Sie führten sogar geraume Zeit Seide aus China und Bengalen
in grossen Quantitäten nach Japan ein.


Bald nach Eröffnung der Häfen zeigte sich, dass Hakodade
nur für Wallfischfahrer und solche Schiffe Bedeutung hat, die nach
der Amur-Mündung, Kamschatka und anderen Küstenpuncten des
nördlichen Weltmeers gehen. Nur Russland, welches sich bei
vertragsmässiger Gleichberechtigung mit den anderen Mächten am
II. 16
[242]Hakodade, Naṅgasaki, Yokuhama. Anh. II.
Handel von Naṅgasaki und Yokuhama garnicht betheiligt, hat
Hakodade zum Mittelpunct seiner Beziehungen zu Japan gemacht,
die bis jetzt wesentlich politischer Natur sind. Die Regierung des
Czaaren sichert sich durch fortschreitende Gränzerweiterung nach
Süden auf dem Continent und achtunggebietende Geschwader in
den japanischen Meeren eine Machtstellung, deren Wachsen die
englischen Behörden lebhaft beunruhigt. Die dafür gebrachten
Opfer stehen kaum im Verhältniss zu der jetzigen Bedeutung der
russischen Culturgebiete im östlichen Asien, werden aber die weise
Fürsorge in Zukunft sicher lohnen. Das Aufblühen dieser Land-
striche liegt vielleicht noch in weiter Ferne, kann aber bei hin-
reichend angewachsener Bevölkerung kaum ausbleiben. — Als Aus-
fuhrartikel scheint bis jetzt in Hakodade nur Brenn- und Bauholz
wichtig zu sein, an welchem das nördliche China Mangel leidet.
Ein unternehmender Engländer hat dort in neuester Zeit Dampf-
Sägemühlen angelegt, wo besonders Eichen, Buchen und vielerlei
Nadelhölzer verarbeitet werden. Der Holzreichthum der Insel scheint
unerschöpflich. — Es gibt dort ergiebige Bergwerke, die aber nur
spärlich gebaut werden; man sagt, die japanische Regierung ver-
wahre sie für künftige Jahrhunderte. — Die Einfuhr der Fremden
ist gering. Man hatte sich bei der nördlichen Lage von Yeso dort
einigen Absatz für Wollenstoffe versprochen, aber die japanische
Bevölkerung ist sehr dünn gesät, und die eingeborenen Aïno’s stehen
für solches Bedürfniss noch auf zu niedriger Stufe der Cultur und
Wohlhabenheit.


Auch Naṅgasaki hat den Erwartungen nicht völlig ent-
sprochen; es liegt zu weit von den Thee- und Seidendistricten, um
in diesen Hauptartikeln mit Yokuhama concurriren zu können, ist
jedoch wichtig für die Ausfuhr von vegetabilischem Wachs, Kampher
Rübsaat, Porcelan, und als Kohlenstation.


Von den Umständen und Ereignissen, welche die Erschliessung
von Yokuhama begleiteten, ist schon im I. Bande (S. 273) gehandelt
worden. Nach diesem Hafen strömte vorzugsweise, neben den
Agenten der westländischen Häuser in China, die grosse Schaar
jener Abentheurer, welche alle neuen Verkehrsplätze in der Hoffnung
überschwemmen, durch vorgreifende Beschlagnahme jeglichen Vor-
theils ohne Mühe und Mittel Reichthümer zu erwerben. Für die
achtbare Classe der Kaufleute war die Invasion dierer Glücksritter
ein grosses Unglück, denn ihrer Rohheit und Insolenz ist vorzüglich
[243]Anh. II. Handel von Yokuhama.
die schlimme Gestaltung des Verhältnisses zu den einheimischen
Behörden zuzuschreiben. Die Manie der Goldausfuhr ergriff wohl
die meisten Ankömmlinge, doch verwendeten auch schon damals
die Agenten der grösseren Firmen einen Theil ihres Silbers auf den
Ankauf von Producten und machten damit glänzende Geschäfte.
Der Markt bot Kampher, Kupfer, Seide, Thee, Oel, Wachs u. s. w.,
ferner getrocknete Fische, Muscheln, Pilze, Seetang und andere
»Chow-chow-Artikel«2) für die chinesische Consumtion zu lächer-
lichen Preisen; die Anfuhr blieb weit hinter der Nachfrage zurück.
Anders war es mit der Einfuhr der Fremden, welche anfänglich
gar keinen Absatz fand.


Als nun die japanische Regierung die Umwechselung der
fremden Geldmünzen, welche nach den Verträgen ein ganzes Jahr
dauern sollte, im November 1859 plötzlich ganz einstellte, kam eine
grosse Veränderung über den Handelsverkehr. Der Werth des
mexicanischen Dollars, der gewöhnlichen Verkehrsmünze der Frem-
den in allen ostasiatischen Ländern, sank um 30 Procent. Die
Ausländer konnten in Folge dessen den japanischen Händlern die
alten Preise nicht mehr bewilligen; diese fingen dagegen an aus-
ländische Waare einzukaufen, um nicht an ihren Dollars, deren sie
grosse Massen in Händen hatten, beim Umtausch gegen die Landes-
münze 30 Procent einzubüssen. So entwickelte sich plötzlich
ein lebhafter Einfuhrhandel. Die Fremden setzten in Kurzem nicht
nur ihre mitgebrachten Vorräthe, sondern auch grosse in China
aufgehäufte, dort unverkäufliche Posten mit erheblichem Vortheil
ab und verschrieben neue Sendungen aus Europa. So bahnte jene
vielgeschmähte Maassregel der Regierung dem Einfuhrhandel den
Weg; die Landesbewohner lernten die fremden Erzeugnisse, nament-
lich Baumwollenstoffe, kennen und schätzen, und der Verkauf ging
geraume Zeit lang glänzend, — stockte aber Anfang 1861 plötzlich
ganz. Die japanischen Händler leugneten nicht, dass sie an ihren
Einkäufen guten Vortheil gehabt und dass es an Nachfrage nicht
fehle, wollten sich aber auf kein weiteres Geschäft einlassen. Die
Fremden setzten vergebens ihre Preise herab und konnten trotzdem
viele sonst gesuchte Artikel garnicht mehr, andere nur mit Schaden
verkaufen. Der Grund blieb lange ein Räthsel. Die Einfuhr
belief sich während des Jahres 1860 nach amtlichen Angaben auf
16*
[244]Hemmnisse des Handels. Die Münzfrage. Anh. II.
197,023 Pfund Sterling. — Die Ausfuhr hob sich trotz dem nach-
theiligen Einfluss, den die Entwerthung des Dollars übte, und trotz
den gesteigerten Preisen der Landesproducte in diesem Zeitraum
schon auf 823,812 Pfund Sterling.3) Der Gewinn der Fremden an
den einzelnen Posten verringerte sich, doch kamen grössere Mengen
in den Handel.


Die den naturgemässen Aufschwung des Verkehrs lähmenden
Umstände lassen sich in folgende Puncte zusammenfassen:


Bruch des Vertrags-Artikels, nach welchem fremde
Münzen in Japan Cours haben und Gewicht für Gewicht
gegen einheimische gewechselt werden sollten;


Nichterfüllung von Contracten und Verbindlichkeiten von
Seiten japanischer Kaufleute, und mangelhafte gerichtliche
Unterstützung der beschädigten Fremden durch die ein-
heimischen Behörden;


Ordnungswidrige Verwaltung des Zollamtes, mangelhafte
Einrichtung, Monopolisirung und willkürliche Kostenbe-
rechnung für alle die Waaren-Beförderung betreffenden
Leistungen;


Unzureichende Landanweisung an die fremden Ansiedler;


Willkürliche Beschränkung des Ankaufes von Landes-
producten und des Verkaufes von Einfuhr-Artikeln durch
die japanische Regierung.


In Betreff des ersten Punctes blieben alle Vorstellungen er-
folglos. Die Regierung fuhr fort den fremden Diplomaten und
Consuln monatlich bestimmte, sehr reichlich bemessene Summen
zum vollen Metallwerth zu wechseln und übte dadurch, wenigstens
in ihrem Sinne, eine Art Bestechung aus. Die einzigen Diplomaten,
welche bis jetzt diese vielen Ansiedlern sehr missliebige Vergünstigung
mit ihrer Stellung unverträglich gefunden und darauf Verzicht ge-
leistet haben, sind der frühere niederländische Regierungs-Commissar,
Herr Donker-Curtius, und der preussische Consul in Yokuhama,
Herr von Brandt. Die japanische Regierung wendet diesen Vortheil
auch den unbesoldeten Handels-Agenten und Vice-Consuln zu,
welche dadurch eines regelmässigen Einkommens geniessen; sie
kaufen monatlich für 1100 bis 1200 Itsibu 500 Dollars, und wechseln
[245]Anh. II. Die Münzfrage.
diese bei den Kassen der japanischen Regierung für 1500 Itsibu
um. Sie geniessen sonach durch den blossen Vortheil ihres Titels
bei einmaliger Capital-Anlage von 700 Thalern eines jährlichen Ein-
kommens von über 2000 Thalern. Die den Consuln, diplomatischen
Agenten und deren Attaché’s bewilligten Summen sind nach dem
Range eines jeden viel höher bemessen und steigen bis 4000 Dollars
monatlich. — Der wichtigere Theil der betreffenden Vertrags-
Bestimmung war der, dass die fremden Münzen später bei der
Bevölkerung des ganzen Reiches zum vollen Werthe ihres Metall-
gewichtes coursiren sollten; sie sicherte, wenn ausführbar, dem
Handel eine feste Grundlage. Die Maassregel des vorläufigen Um-
tausches durch die Regierung hatte nur den Zweck, die Be-
völkerung an die fremden Münzen zu gewöhnen, konnte aber, da
die Kassen des Zollamtes von Yokuhama mit Millionen über Millio-
nen bestürmt wurden, nicht durchgeführt werden.4) Als nun die
japanischen Kaufleute den Dollar nicht mehr zum vollen Werthe
des Silbergewichtes wechseln wollten, verlangten die Repräsentanten
der Vertragsmächte von der Regierung, dass sie ihre Unterthanen
dazu zwingen solle. Sie versprach ihr Möglichstes zu thun, be-
theuerte auch eine Verordnung erlassen zu haben, dass alle fremden
Münzen zum vollen Gewichtswerthe im Lande Cours haben sollten;
es blieb aber Alles beim Alten. Die Bevölkerung, hiess es, wolle
die fremden Münzen nicht, und die Regierung sei ausser Stande
den Zwangscours durchzusetzten. Sie liess, um scheinbar den
Fremden gerecht zu werden, alle beim Zollamt präsentirten Dollars
mit dem Zeichen »Drei Itsibu« stempeln; die Japaner nahmen diese
aber nicht höher an als die ungestempelten. Die Fremden zweifelten
wohl mit Recht an der Wahrhaftigkeit der japanischen Behörde und
beschuldigten sie, den Umlauf des Dollars auf die geöffneten Häfen
beschränkt und im ganzen übrigen Lande verboten zu haben. Man
behauptete, dass sie selbst die Münze ihren Unterthanen zum Dis-
conto von 30 Procent wechsele und dadurch den Cours fixire. Die
plötzliche Stockung des Exporthandels wurde damit in Zusammen-
hang gebracht: die Regierung hatte wahrscheinlich dem Ankauf der
fremden Waare durch Verbot an die japanischen Händler ein Ziel
gesetzt, um sich den aus Umwechselung der Dollars ihr zufliessenden
Vortheil nicht entgehen zu lassen. Ueberführen konnte man sie
nicht; die Beamten leugneten hartnäckig jede Einmischung, und die
[246]Die Münzfrage. Anh. II.
Diplomaten durften keine Beschuldigung laut werden lassen, die
sie nicht beweisen konnten. Einmal stieg das Disconto sogar auf
50 Procent; das Zollamt, welches wohl nicht unschuldig daran
war, soll darauf grosse Massen des in Umlauf befindlichen fremden
Silbers angekauft haben; wenigstens stellte sich das alte Verhältniss
schnell wieder her, ohne dass ein anderer Grund zu entdecken war.


Man kann trotz allem Leugnen der Regierung mit Sicherheit
annehmen, dass die Entwerthung des Dollars von ihr ausgegangen
ist, wie sich aus folgender Betrachtung ergibt. Die Münze liefert
einen bedeutenden Theil des japanischen Staatseinkommens. Die
Verarbeitung der edelen Metalle zu anderen Zwecken ist seit Jahr-
hunderten verboten; sie haben also nur als Tauschmittel Werth,
und zwar denjenigen Werth, welchen die Behörde ihnen aufprägt.
Nun hat man in Erfahrung gebracht, dass die Kosten der Silber-
gewinnung, oder die Preise, welche die Obrigkeit für das unge-
münzte Metall bezahlt, 30 Procent niedriger sind als der Präge-
werth der Itsibu’s. Sie kauft für 70, was sie für 100 ausgibt.
Wenn dem so ist, so muss man es für eine Illusion halten, dass
der Dollar in Japan jemals höheren Cours haben wird. Hätte er
im Lande allgemeinen Umlauf, könnten die Japaner unter sich dafür
kaufen und verkaufen, so wäre die Sache gleichgültig; der Preis der
Waaren würde sich dann reguliren. Das wird aber die Regierung
nicht zugeben, so lange sie es verhindern kann; denn der Dollar
würde den Umlauf des Itsibu beeinträchtigen. Wollte sie dem
Dollar gar Zwangscours verleihen, so würde sie sich gewaltsam
eines Monopols berauben, aus dem sie seit Jahrhunderten erheb-
lichen Gewinn zieht. So lange die Landesbewohner aber darauf
angewiesen sind, den Dollar bei den öffentlichen Kassen umzu-
wechseln, kann sich die Sache nicht ändern: denn die Regierung,
welche ihn nur zum Zwecke der Umprägung kauft, wird ihn niemals
theuerer bezahlen als das rohe Metall, also 30 Procent unter dem
Münzwerthe; jede höhere Zahlung brächte ihr baaren Verlust. Die
kleinen Fluctuationen erklären sich aus den Schwankungen der
Metallgewinnungs-Kosten.


In mehreren Zusammenkünften der angesehensten fremden
Kaufleute von Yokuhama sprach sich die Mehrheit wiederholt dafür
aus, den betreffenden Vertragsartikel ganz fallen zu lassen; der
Handel müsse sich den localen Verhältnissen gemäss entwickeln und
die fremde Münze von selbst den entsprechenden Cours finden.
[247]Anh. II. Rechtspflege. Verwaltung des Zollamtes.
Dabei ist es denn auch trotz vielfachen Bemühungen der Diplomaten
und allerlei Vorschlägen der Münzregelung von Seiten der japani-
schen Regierung in der That geblieben. Aus der wachsenden Schwäche
der letzteren ist wohl zu erklären, dass die geheime Beschränkung
des Ankaufes fremder Waaren nicht aufrecht gehalten wurde; denn
das Import-Geschäft nahm bald wieder bedeutenden Aufschwung.
In der neuesten Zeit aber, da die Fremden vielfach in directen —
freilich ungesetzlichen — Verkehr mit den Daïmio’s getreten sind,
und angefangen haben deren Häfen zu besuchen, verspricht der
Dollar sich allgemeine Verbreitung im Lande zu verschaffen.


Die ungenügende Erfüllung von japanischen Kaufleuten ein-
gegangener Verpflichtungen und die mangelhafte Rechtspflege drück-
ten schwer auf den Handel. Einige Häuser in Yokuhama hatten
grosse Waarenposten auf Credit an japanische Händler verkauft,
die damit auf immer spurlos verschwanden. Andere vertrauten ein-
heimischen Kaufleuten bedeutende Summen, — man rechnete 1860
bis 200,000 Dollars, — zum Einkauf von Landesproducten an, und
mussten zusehen, wie Jene ihr Geld in den schamlosesten Aus-
schweifungen durchbrachten. Alle Beschwerden waren vergeblich.
Die Consuln riefen umsonst den durch die Verträge verheissenen
Rechtsschutz der Behörden an; die Schuldner waren entweder
nicht zu finden oder insolvent. In letzterem Falle erbot sich die
Regierung wohl diesen oder jenen köpfen zu lassen, womit den
Gläubigern wenig gedient war. Nicht der zwanzigste Theil der
creditirten Summen wurde eingetrieben, und man musste sich be-
schränken, Geschäfte nur gegen Baarzahlung zu machen.


Die Verwaltung des Zollamtes von Yokuhama gab ebenfalls
zu ernstlichen Klagen Anlass. Die Expedirung erfolgte nach Willkür
der Unterbeamten, und man musste oft Stunden lang auf Erledigung
der kleinsten Formalität warten. Die Vorsteher verschlossen sich
in die inneren Gemächer, zu denen kein Kaufmann Zutritt hatte;
nahm einmal der Consul einen solchen mit hinein, so weigerte der
Beamte sich jeder Verhandlung, da seine Stellung ihm verbiete, mit
einem Kaufmann in demselben Zimmer zu verweilen. — Die Abfer-
tigung geschah unpünctlich und langsam; es fehlte an Booten und
Leuten zur Fortschaffung der Waaren. Andere als die von der
Regierung gestellten durften nicht benutzt werden, und die Normi-
rung des Arbeitslohnes, der Bootsmiethe und sonstiger Leistungen
geschah nach Willkür des japanischen Packmeisters. Später ver-
[248]Landanweisung. Verkauf von Landesproducten. Anh. II.
stand sich die Regierung zur Aufstellung eines Tarifes, Vermehrung
der Boote und Arbeiter, und als es nöthig wurde, auch zur Ver-
längerung des Bollwerkes und Einrichtung neuer Landungsplätze.


Was die unzureichende Land-Anweisung betrifft, so trugen
die fremden Ansiedler selbst den grössten Theil der Schuld. Sie
hatten die Bemühungen der Diplomaten um die vertragsmässige
Freigebung von Kanagava, wo der Ausdehnung der Ansiedlung
kein physisches Hinderniss entgegenstand, durch ihr Verharren in
Yokuhama und die Besitznahme des hier angewiesenen Landes ver-
eitelt.5) Dieser Ort ist aber von Sümpfen umgeben. Fast alles
disponible Land war an die ersten Ankömmlinge ausgetheilt worden,
die damit glänzende Geschäfte machten, und nun wusste man keinen
Rath. Nach langen Verhandlungen, die im Frühjahr 1861 zum Ab-
schluss gediehen, verstand sich die Regierung dazu, die Bevölkerung
des den Kern der Niederlassung bildenden ursprünglichen Fischer-
dorfes auszukaufen und deren Besitz den Fremden zu überlassen.
Bei der neuen Land-Anweisung wurde auch die Ausstellung gesetz-
licher Besitztitel durchgesetzt, nach denen die Ansiedler und deren
Erben gegen Zahlung eines jährlichen Grundzinses auf immer im
Genusse ihres Besitzrechtes bleiben und dasselbe ohne Zuziehung
der Behörden nach Gefallen an Andere sollten übertragen können.
Solche förmliche Legalisirung war in den Verträgen nicht vorge-
sehen, bei der ersten Land-Anweisung auch nicht verlangt worden.
Später bei vermehrtem Zuzug machte der Punct der Landverthei-
lung neue Schwierigkeiten und scheint auch jetzt noch nicht ge-
nügend geregelt zu sein.


Dass die japanische Regierung dem Verkauf der Landeser-
zeugnisse Hindernisse bereitete, liess sich nur in wenigen Fällen
beweisen. Sie machte kein Hehl aus ihrem Wunsche die Ausfuhr
zu beschränken, da nach der »öffentlichen Meinung« die steigende
Vertheuerung aller Bedürfnisse das Land zu Grunde richten müsse,
leugnete aber jede thätige Einmischung. Das Verlangen die Ausfuhr
zu beschränken sprach sich auch in der von Ando Tsus-sima für
den Abschluss des preussischen Vertrages anfänglich gestellten Be-
dingung aus, dass die japanische Regierung berechtigt sein sollte
die Verschiffung gewisser Artikel zeitweise zu verbieten, und die
Diplomaten wurden 1861 bei jeder Gelegenheit mit dem Anliegen
bedrängt, ihre Regierungen möchten im directen Widerspruch mit
[249]Anh. II. Beschränkung des Ausfuhrhandels.
den Verträgen in die Limitirung der Ausfuhr gewisser Hauptartikel
auf bestimmte Quantitäten für eine lange Reihe von Jahren willigen.
Die Tendenz zur Beschränkung war also offenbar, die Thatsache
wurde aber geleugnet. In den ersten sechs Monaten des Jahres
1861 nahm nun besonders der Ausfuhrhandel einen solchen Auf-
schwung, dass die Vertreter der angesehensten Firmen in Yokuhama
den Argwohn einer ernstlichen Einmischung der Regierung fallen
liessen. Allerdings musste jedes Geschäft auf dem Zollamte gemel-
det und sanctionirt werden; kein Japaner durfte ohne dessen Er-
laubniss liefern oder empfangen; die Behörde nahm auch den ein-
heimischen Verkäufern eine Advalorem-Steuer von 1 Procent zur
Bestreitung der Verwaltungskosten ab; — die meisten Fremden
sahen aber diese Einrichtung für keine wesentliche Beschränkung,
sondern nur für eine Ueberwachung des Verkehrs zu statistischen
Zwecken und zur Controle der Agenten an, welche die Geschäfte
der grossen Handelsgilden in Yeddo vermitteln. Dagegen klagten
einzelne Kleinhändler in Yokuhama, von denen die Fremden die
Rohseide in kleinen Posten, oft Sack für Sack einkauften, über den
unerträglichen Druck, welchen jene Gilden durch ihre Preiserhö-
hungen auf sie übten. Yeddo ist ein grosser Mittelpunct des Pro-
ductenhandels, und die dortigen Handelsgesellschaften haben, soweit die
Regierung sie gewähren lässt6), den Markt vollständig in der Hand.
Ihrem einmüthigen Zusammenwirken wurde denn auch vorzüglich
die bedeutende Steigerung der Preise zugeschrieben. In späteren
Perioden bestätigte sich aber die schon damals von Vielen gehegte
Meinung, dass die Regierung die Zufuhr der Waaren nach Yokuhama
theils gradezu verbiete, theils den Verkauf nur gegen hohe Abgaben
gestatte. — Was die Einfuhr betrifft, so kannte man damals nur
ein Verbot an die Japaner, fremde Rohbaumwolle zu kaufen, wel-
ches zum Schutz der einheimischen Production erlassen wurde und
von Seiten der Fremden keine Anfechtung fand. — Später wurde
Baumwolle sogar in grossen Massen ausgeführt.


Die Verträge waren von den Contrahenten verschieden ge-
meint. Die Fremden wollten freien Handelsverkehr mit der Be-
völkerung anbahnen; die japanische Regierung aber glaubte, in
[250]Bedeutung der Verträge. — Reise des englischen Gesandten. Anh. II.
gänzlicher Unkenntniss des Charakters der seefahrenden Nationen,
ihrer Stellung, Gewohnheiten und Ansprüche, aus Yokuhama ein
erweitertes Desima machen, vor allen Dingen den ganzen Ver-
kehr in Händen behalten
und allein allen Vortheil daraus zie-
hen zu können. Sie wusste sehr wohl, dass das alte System der
Siogun-Herrschaft mit wirklich freiem Verkehr unverträglich ist,
glaubte aber, da sie sich den darauf zielenden Stipulationen nicht
entziehen konnte, durch engste Beschränkung desselben auf
die geöffneten Häfen
ihren Zweck erreichen zu können, indem
sie ihre dort verkehrenden Unterthanen beaufsichtigte. — Verträge
mussten geschlossen werden; die Regierung wollte sie so handhaben,
wie es sich mit dem alten System vertrüge und ihr allein materiellen
Vortheil brächte, hatte aber weder die Kraft noch die Geschick-
lichkeit ihr Vorhaben durchzuführen. Die folgenden Blätter mögen
zur Anschauung bringen, dass die Verträge, wie die Regierung von
Yeddo sie meinte, eine Unmöglichkeit für die Fremden, wie die
fremden Diplomaten sie meinten, eine Unmöglichkeit für Japan
waren. Sie werden wahrscheinlich mittelbar die Siogun-Herrschaft
stürzen und eine Umwälzung herbeiführen, welche Japan dem freie-
sten Verkehr der westlichen Völker erschliesst.


Herr Alcock, der sich Anfang März 1861 mit dem französi-
schen Geschäftsträger wieder feierlich zu Yeddo installirt hatte, ging
bald nachher auf kurze Zeit nach China und kehrte erst im Mai
nach Naṅgasaki zurück, um von da mit dem niederländischen Ge-
neral-Consul zu Lande nach Yeddo zu reisen. Sie legten den Weg
ohne alle Hindernisse zurück und fanden bei der Bevölkerung keine
Spur jener »Erregung der öffentlichen Meinung«, welche die japa-
nischen Beamten beständig im Munde führten. In Osaka trafen sie
einen Bunyo der auswärtigen Abtheilung, Takemoto Kaï-no-kami,
der ihnen von Yeddo ausdrücklich entgegengesandt wurde, um den
Besuch von Miako zu hintertreiben. Dort, hiess es zuerst, seien
eine Menge Lonine versammelt, verzweifeltes brotloses Gesindel,
welches die Verträge und deren Urheber auf das bitterste hasse;
die Reise sei mit der grössten Lebensgefahr verbunden. Als diese
Vorstellungen nicht fruchteten, kam die Wahrheit zu Tage, die
man bis dahin sorgsam verheimlicht hatte. Seit einem Jahre, erklärte
[251]Anh. II. Die politische Lage.
Takemoto, sei zwischen dem Mikado und dem Taïkūn eine Span-
nung eingetreten, die zum grossen Theil von der Frage über
Zulassung der Fremden herrühre; der Taïkūn habe diese Angelegen-
heit freier aufgefasst als man am Hofe von Miako billige, dürfe sich
aber nicht verhehlen, dass der dadurch hervorgerufene Zwiespalt
für das Land die traurigsten Folgen haben könne, und wolle sich
nun, um Alles in das Gleiche zu bringen, der Schwester des Mikado
vermälen. Die Verhandlungen darüber schwebten noch, könnten
sich aber leicht zerschlagen, wenn Fremde, und sogar Fremde von
so hohem Range jetzt nach Miako kämen; ihre Anwesenheit würde
den dortigen Hof auf das neue erbittern. — Auf diese Mittheilung
standen die Reisenden von ihrem Vorhaben ab und umgingen die
Residenz des Erbkaisers.


Hier wurde also die Autorität des Erbkaisers zum ersten
Male gegen Ausländer zur Sprache gebracht. Bisher war nur immer
von den »publiken Gevoelen«, der öffentlichen Meinung als Feindin
der Fremden die Rede gewesen; jetzt setzte man den Mikado in
Scene, ohne jedoch der Daïmio’s, deren Anhang allein ihn furcht-
bar macht, mit einer Silbe zu erwähnen. Diesen hatte die alters-
schwache Siogun-Herrschaft in den letzten Jahrzehnten weit mehr
Spielraum gegönnt, als sich mit dem Systeme vertrug. Eine Parthei
reicher und angesehener Fürsten wollte das lästige Joch ganz ab-
schütteln, das ihnen zwei Jahrhunderte lang keinen Zollbreit freier
Bewegung liess; als Vorwand mussten die ohne Sanction des Mikado
geschlossenen Verträge dienen. Auf bleibende Vertreibung der
Fremden war es dabei nicht abgesehen. Im Gegentheil soll schon
1858 die Mehrzahl der Daïmio’s eine viel freisinnigere Politik, den
Abschluss von Verträgen gewünscht haben, welche Japan dem freie-
sten Verkehr der westlichen Völker öffneten. Auch auf diese Weise
war das System des Jyeyas zu stürzen, dessen Grundlagen ja die
hermetische Verschliessung nach aussen und despotische Ueber-
wachung im Inneren sind. Das wusste aber die Regierung von
Yeddo eben so gut. Sie hätte sich den Verträgen am liebsten ganz
entzogen und gab ihnen, als das nicht möglich war, eine Fassung,
welche ihr allein alle Vortheile bringen und die engste Beschränkung
des Verkehrs auf die geöffneten Häfen sichern sollte. Sie hatte
sich aber verrechnet und sowohl die Fremden als sich selbst ver-
kannt. Denn Jene liessen sich die Beschränkungen des Handels
nicht gefallen, und die Regierung hatte nicht die Kraft sie durch-
[252]Die politische Lage. Anh. II.
zusetzen. Die starke Ausfuhr von Landeserzeugnissen steigerte
erheblich die Preise aller Lebensbedürfnisse, und die Obrigkeit
konnte der Versuchung nicht widerstehen, allen Nutzen für sich zu
nehmen. Sie glaubte mit dem ihr daraus erwachsenden Reichthum
den Daïmio’s neue Fesseln schmieden zu können, gab ihnen aber
eine gefährliche Waffe in die Hand. Einige Fürsten sollen ihr das
begangene Unrecht in aufrührerischen Schriften vorgehalten und
sie ohne Umschweif beschuldigt haben, dass sie jedes Geschäft mit
den Fremden schwer besteuere und die Preise lediglich zu ihrem
eigenen Vortheil in die Höhe treibe, dass sie Theuerung und Ver-
derben über das Land bringe. Die Hauptproducenten, die Daïmio’s,
waren von allem Verkehr ausgeschlossen; sie mussten diesen
Verträgen feind sein und eine ganz neue Ordnung der Dinge, vor
Allem den Sturz der Centralgewalt wünschen. Die Verfeindung
der Linien Kiï und Mito und die Unmündigkeit des Siogun be-
günstigten ihre Anschläge; sie schürten die Zwietracht im Herrscher-
hause, weckten den alten Ehrgeiz des Mikado-Thrones durch An-
rufung seiner Suprematie über den Siogun, liessen die Erblande
des letzteren durch fanatische Banden beunruhigen, welche, ihre
Drohungen bis in die Hauptstadt tragend, das Ansehn der schwäch-
lichen Regierung untergraben und sie durch Ermordung von Fremden
in Conflict mit dem Auslande bringen sollten. Wäre Einheit im
Regiment, das alte System noch in voller Kraft gewesen, so konnte
solche Bewegung nicht aufkommen. Aber die Spaltung im Herr-
scherhause wuchs; die Parthei des Prinzen von Mito, — dessen
Sohn seine ehrgeizigen Ansprüche geerbt hatte, — conspirirte, wie
es scheint, mit den rebellischen Fürsten und lähmte alle Schritte
der Regierung. Die meisten Daïmio’s wollten wohl nur Unabhängig-
keit, einige mächtigere und der Fürst von Mito die Siogun-Würde
für sich selbst; alle aber waren einig in dem Streben, die Macht
der Centralgewalt zu brechen. Sie benutzten dazu die Verträge,
nicht in der Absicht die Fremden, sondern den Taïkūn zu vertreiben.
Ein bestimmter gemeinsamer Plan und ein klarer Gedanke von dem,
was nachher werden soll, ist in der Bewegung nicht zu erkennen,
und das schliessliche Resultat lässt sich auch jetzt noch nicht ab-
sehen; man geht unter Benutzung aller Hülfsmittel einfach auf den
Sturz der alten Ordnung los. Die regierungsfeindlichen Fürsten
rufen den Mikado an, die ohne seine Sanction geschlossenen Verträge
für ungültig zu erklären und den Befehl zur Vertreibung der Fremden
[253]Anh. II. Die politische Lage.
zu geben, — deren Verkehr sie im Grunde wünschen, — nur um
den Taïkūn in Krieg mit ihnen zu verwickeln und seinen Thron um
so leichter zu stürzen. Sie benutzen die durch Vertheuerung der
Lebensmittel hervorgerufene Unzufriedenheit, um die öffentliche
Meinung zu erregen und durch Conflicte mit den Fremden einen
ernsten Zusammenstoss herbeizuführen. Die am meisten unter der
Theuerung leidenden Classen sind die Soldaten und niederen Be-
amten, welche bei Ansprüchen äusseren Anstandes nur knapp zu
leben haben. Diese zahlreiche vom alten japanischen Nationalstolz
durchdrungene Classe wird fanatisirt zum äussersten Hass gegen
die Fremden und gegen die Regierung, welche sie duldet. Es ist
sehr unwahrscheinlich, dass irgend ein Angriff auf Ausländer oder
fremdenfreundliche Japaner auf unmittelbare Anstiftung eines be-
stimmten Daïmio erfolgte, aber es war genug die heissblütigen
Samraï zum Fremdenhass aufzustacheln und sie gewähren zu lassen.
Dieser Schlag bildete wohl den Kern der Lonin-Banden7), welche
sich dann durch Zuzug von gesetzlosem Gesindel verstärkten. —
Die schwächliche Regierung wusste sich nicht zu helfen. Der Krieg
mit dem Auslande brachte ihr sicheren Untergang; ein enges
Bündniss mit demselben mehrte den Anhang ihrer Gegner. Daher
die beständigen Schwankungen, das Laviren nach beiden Seiten.
Sie suchte die Ausfuhr zu beschränken, welche Theuerung her-
vorrief, und sich den Mikado zu verbinden, dessen Autorität die
Siogun-Herrschaft in ihrer Blüthezeit niemals angerufen hat.
Der Erbkaiser sollte durch Vermälung seiner Schwester mit dem
Taïkūn dessen Politik und die Verträge mit den Fremden still-
schweigend sanctioniren.


Herr Alcock traf nach kurzem Verweilen in Kanagava am
4. Juli wieder in Yeddo ein. In der Nacht vom 5. zum 6. erfolgte
der im X. Abschnitt des Reiseberichtes erwähnte Angriff auf die
Gesandtschaft.


Das Grundstück von To-džen-dži gränzt östlich an den
Tokaïdo, von wo ein dreihundert Schritt langer, breiter und ebener
Weg nach dem Tempel führt; hinter diesem liegt die Gräberstätte
[254]Angriff auf die englische Gesandtschaft. Anh. II.
am Abhange der dicht bewachsenen Höhe, welche weiter nördlich
den Tempel von Sakaidži trägt. Von den im Rücken des Grund-
stückes liegenden Stadtvierteln laufen zu beiden Seiten desselben
abschüssige Wege nach dem Tokaïdo hinab, auf welchen das
Hauptportal mündet; Nebeneingänge befinden sich auf der Höhe
und an der nördlichen Seite. Der ausgedehnte Tempelgarten ist
also von allen Seiten zugänglich und überdies nur mit Hecken und
schwachen Zäunen eingefriedigt, welche leicht zu durchbrechen sind.
Der kleine Vorhof vor dem Haupteingange des Gesandtschaftshauses,
welches mit dem Tempel zusammenhängt, war seit Heuskens Er-
mordung durch einen Palisadenzaun abgegränzt und mit verchliess-
barer Thür versehen; nach den anderen Seiten ist das Gebäude
offen und auch vom Tempel aus leicht zugänglich. In den warmen
Sommernächten liessen die Bewohner nicht einmal die Holzläden
vorsetzen, mit welchen sonst die japanischen Häuser Abends ge-
schlossen zu werden pflegen. Die Wache von To-džen-dži bestand
seit Heuskens Ermordung aus hundertfunfzig Zweischwertigen, kaiser-
lichen und Daïmio-Soldaten, die theils in den an das Wohnhaus
gränzenden Gebäuden, theils in besonderen Wachthäusern an den
Eingängen und längs des von dem Hauptportal nach dem Tempel
führenden Weges untergebracht waren. In das Innere des Wohn-
gebäudes eine Yakunin-Wache aufzunehmen, wo sie nach Ansicht
der japanischen Staatsbeamten allein Sicherheit gewähren konnte,
hatte Herr Alcock sich niemals entschliessen können. — Zwei
Nachtwächter im Dienste der Gesandtschaft mussten die Nacht
durch auf dem ganzen Grundstück die Runde machen.


Herr Alcock ging am 5. Juli gegen eilf Uhr zur Ruhe, wurde
aber bald von einem seiner Attaché’s mit der Nachricht geweckt,
dass draussen ein grosser Tumult sei und der vordere Eingang
forcirt werde. Er hatte sich kaum erhoben als der kurz vorher ein-
getroffene Gesandtschafts-Secretär Oliphant und der Consul Morrison
aus Naṅgasaki, der Herrn Alcock nach Yeddo begleitet hatte, in
das Zimmer stürzten, ersterer aus zwei schweren Wunden am Arm
und im Nacken, letzterer aus einer Schramme an der Stirn blutend.
Zwei andere Attaché’s folgten. Kurz darauf hörte man Leute von
der Gartenseite in den anstossenden Raum brechen, welche dann
aber eine falsche Richtung einschlugen und das Zimmer, wo Herr
Alcock mit den Seinen ganz stille blieb, verfehlten, obgleich nur ein
leichter Gaze-Vorsatz sie davon trennte. Auf der Vorderseite hörte
[255]Anh. II. Angriff auf die englische Gesandtschaft.
man dann, wie der Lärm sich allmälich entfernte; der Angriff schien
hier also abgeschlagen. — Herr Alcock wollte jetzt nach dem Lega-
tions-Attaché Macdonald sehen, der in einem entfernten Ausbau des
Hauses wohnte, und musste auf dem Wege einen dunkelen Gang
passiren; am Ende desselben zeigten sich Gestalten, die aber ver-
schwanden, als einer seiner Begleiter Feuer gab. Man hörte draussen
noch ab und zu wildes Geschrei und Schwerterklang; endlich wurde
es ganz still. Jetzt erschien einer der Haus-Yakunine mit dem feh-
lenden Attaché und bat die Herren sich ruhig zu verhalten, bis das
ganze Haus durchsucht wäre. Der Gesandte blieb natürlich mit
seinen Leidensgefährten die ganze Nacht auf, verband die Verwun-
deten und traf in Erwartung eines erneuten Angriffs Vertheidi-
gungsmaassregeln; die Japaner schlugen auch mehrfach Lärm, da
einige der Banditen sich in das Dickicht des Friedhofes geflüchtet
hatten und dort gesucht wurden; doch erfolgte keine weitere
Belästigung. — Der Attaché Macdonald hatte beim Schlafengehen
gehört, wie Leute in das anstossende Badezimmer einbrachen, und
vergebens nach der Wache gerufen; war dann aber von aussen
herum nach dem Hofe geeilt, wo er mehrere Gruppen in wüthen-
dem Schwertkampfe fand. Bewaffnete mit Laternen strömten von
allen Seiten zu, und die Angreifer sollen gerufen haben, dass sie
mit ihren Landsleuten nichts zu schaffen hätten und nur den Frem-
den an den Leib wollten. Einige Yakunine zogen den Attaché, der
in seinem weissen Nachtzeug sehr kenntlich war, schnell bei Seite
und bedeckten ihn mit ihren eigenen Röcken.


Die Angreifer waren von vorn gekommen und, da sie das
auf den Tokaïdo führende Hauptthor verschlossen fanden, daneben
über den Zaun gesprungen, hatten den Thorhüter, der auf den Lärm
herauskam, niedergehauen, und die Richtung nach dem Tempel
eingeschlagen. Sie stürmten an den dicht am Wege stehenden
Wachthäusern vorbei, stiessen einen Betto und einen bellenden
Hund nieder, die ihnen in den Wurf kamen, verwundeten einen
japanischen Koch der Gesandtschaft und ergriffen vor dem Thor
des abgezäunten Vorhofes den Wächter desselben, dem sie unter
wüsten Drohungen befahlen, sie nach den Schlafgemächern der
Barbaren zu führen. Der Wächter heuchelte Gehorsam, entsprang
aber plötzlich und erhielt einen furchtbaren Hieb zwischen die
Schultern; es gelang ihm dann in einen lotusbewachsenen Teich zu
entschlüpfen, und er ist von seiner schweren Wunde schliesslich
[256]Angriff auf die englische Gesandtschaft. Anh. II.
genesen. — Jetzt scheint die Bande sich in drei Rotten getheilt zu
haben: die eine schlug das Thor des Vorhofes ein und zertrümmerte
die Schiebethüren des Haupteinganges, bekam aber dabei die alar-
mirten Wachen auf den Hals. Der zweite Trupp gelangte, die rechts
gelegenen Ställe umgehend, nach der Hinterseite des Wohngebäudes;
der dritte drang in den Tempel, verwundete dort einen Priester
und brach, die leichten Schiebewände einstossend, an zwei Stellen
in die Wohnräume der Engländer ein. Ein chinesischer Diener des
Consul Morrison, der in diesem Theil des Hauses schlief, sah einen
Mann im Panzerhemde und schwarzer Maske eindringen, stahl sich
unbemerkt fort und weckte schnell seinen Herrn, dem er zugleich
den Säbel und Revolver reichte. Herr Oliphant, der in einem Anbau
wohnte, bewaffnete sich, von dem Lärmen draussen geweckt, in der
Meinung es sei eine Schlägerei des Gesindes, mit einer schweren
Hetzpeitsche und rannte den Gang hinunter, auf den sich die Zim-
mer des Consul Morrison und des Attaché Russel öffnen, weckte
letzteren und stiess, seinen Weg fortsetzend, auf mehrere Banditen.
Er sah einen derselben mit dem zweihändigen Schwerte einen Hieb
nach seinem Kopfe führen, wich aber aus und retirirte, die Streiche
mit seiner Hetzpeitsche nach Möglichkeit parirend, in Herrn Russel’s
Zimmer; Consul Morrison aber stürzte die Schiebethüren des daneben
liegenden Raumes um, feuerte zwei Revolver-Schüsse in den dun-
kelen Knäuel und entkam dann, der Localität kundig, mit seinen
beiden Genossen nach Herrn Alcock’s Zimmer; die Angreifer ver-
loren ihre Spur. Die wuchtigen Schwertstreiche waren im Dunkel
der Nacht meist von den niedrigen Querbalken der Schiebethüren
aufgefangen worden, die man am folgenden Tage ganz zerhackt
fand; sonst kamen die Betroffenen schwerlich mit dem Leben davon.
Herr Oliphant erhielt, wie gesagt, schwere Wunden im Arm und im
Nacken und Consul Morrison eine Schramme auf der Stirn.


Im Schwertkampf mit den Yakuninen waren zwei der Lonine
bis zur Unkenntlichkeit der menschlichen Gestalt in Stücke gehauen,
ein dritter schwer verwundet gefangen worden; alle übrigen entka-
men im Schutze der Nacht und des Waldesdickichts hinter dem
Tempel. Bei den Gebliebenen und dem Gefangenen fand man gleich-
lautende Schriftstücke, mit vierzehn Namen unterzeichnet; dies muss
also die Zahl der Bande gewesen sein. Von dreien, die am folgen-
den Morgen in Sinagava aufgespürt wurden, hatten zwei eben das
Harakiru vollzogen, als die Häscher sie fanden; der dritte, der sich
[257]Anh. II. Die bei den Loninen gefundene Schrift.
ungeschickt aufschlitzte, fiel lebend in deren Hände. Nachher sollen
noch zwei entdeckt worden sein, die sich gleichfalls entleibt hatten.
Zwei verwundete Lonine wurden bald darauf in einem Dorfe bei
Kanagava gesehen, entkamen jedoch. — Von der Gesandtschafts-
wache blieb ein Leibgardist des Taïkūn auf dem Platze; ein zweiter
und ein Daïmio-Soldat wurden schwer, sieben Leibgardisten und
zwei Daïmio-Soldaten leicht verwundet. Im Ganzen belief sich die
Zahl der in To-džen-dži Getödteten und Blessirten, Europäer
und japanische Dienstleute mitgerechnet, auf dreiundzwanzig.


Die bei den Loninen gefundene Schrift war in einem für ge-
bildete Japaner kaum verständlichen Gebirgsdialect abgefasst und
lautete ungefähr so:


Obwohl von geringer Herkunft kann ich doch nicht ge-
duldig zusehen, wie das heilige Reich von den Fremden
beschimpft wird. Ich will, obgleich so niedriger Geburt,
eine Waffenthat vollbringen, welche die Tapferkeit meiner
Landsleute weithin berühmt machen soll. Die Unterneh-
mung ist schwer für einen Geringen; aber mit Muth und
Vertrauen kann auch der Geringe sie ausführen. Das
Gelingen meines Anschlages würde mir zu hohem Ruhme
gereichen, wenn ich dadurch die Gemüther des Mikado
und des Taïkūn (oder die Manen der Erbkaiser und des
Goṅgen-sama
8)nur etwas beruhigen könnte. Ich achte
nicht mein Leben und bin entschlossen es zu opfern.


Im Original sind Ausdruck und Fügung schwülstig, pleonastisch,
unklar, und lassen auf den niedrigsten Bildungsgrad des Verfassers
schliessen. Die vier auf Herrn Alcock’s Veranlassung durch Ver-
schiedene davon gemachten Uebersetzungen stimmen nicht genau
überein; aus einer derselben scheint hervorzugehen, dass die Ver-
schworenen den Willen ihres Gebieters erfüllten. Die Regierungs-
beamten behaupteten, dass sie zur niedrigsten Classe gesetzloser
Banditen gehörten, doch lässt der Inhalt jenes Zettels eher auf ver-
kommene Samraï schliessen, welche aus Verzweiflung und fanati-
schem Patriotismus mordeten. Der Gefangene stiess, obgleich ver-
wundet und gebunden, in Gegenwart der Engländer die grässlich-
sten Verwünschungen gegen die Fremden aus und schäumte vor
Wuth über den misslungenen Anschlag.


II. 17
[258]Die Russen auf Tsus-sima. Anh. II.

Herr Alcock war unter der Einwirkung des Augenblicks
geneigt, einem damals verbreiteten Gerüchte über die Veranlassung
des Attentates Glauben zu schenken. Kurz vor seiner Ankunft in
Naṅgasaki warf bei der Insel Tsus-sima eine russische Corvette
Anker, deren Befehlshaber sich mit einem Theil der Mannschaft
ohne viel Umstände am Lande niederliess: der dort regierende Fürst
hätte diese Kränkung, da ihm die Russen zu stark waren, an dem
ersten besten Ausländer rächen wollen und auf die Nachricht von
Herrn Alcock’s Reise durch das Land diesem seine Mörder nach-
gesandt, welche ihn zwar in Osaka eingeholt, die That aber unter-
wegs nicht hätten vollbringen können, ohne den Daïmio, in dessen
Gebiet das geschah, in Schwierigkeiten zu verwickeln. Eine andere
Version lautete, dass ein nachgeschickter Trabant die Mörder erst
in Yeddo gedungen hätte. Wenn nun auch das Treiben der Lonine
im Allgemeinen von den regierungsfeindlichen Daïmio’s begünstigt
wurde, so scheinen doch die einzelnen Angriffe fast überall direct
aus dem fanatischen Patriotismus der Thäter entsprungen zu sein,
und die abweichende Uebersetzung jener dunkelen Urkunde, welche
auf einen Befehl zu deuten scheint, gibt bei der Uebereinstimmung
der drei anderen keine Veranlassung an besondere Anstiftung zu
glauben. — Die Russen blieben übrigens zum Verdruss der japani-
schen Regierung noch eine Zeit lang auf Tsus-sima. Herr Alcock
wurde von den Ministern in Yeddo ersucht, sich in das Mittel zu
legen, und schickte den Legations-Secretär Oliphant nach dessen
Genesung mit einem Kriegsschiff dahin ab, um sich nach den Ab-
sichten des Corvetten-Capitäns und der vermuthlichen Dauer seines
Aufenthaltes zu erkundigen. Capitän Biriliff antwortete höflich,
dass er auf Befehl seiner Vorgesetzten handle und in Tsus-sima
bleiben müsse, bis er abberufen werde, dass er übrigens mit dem
Fürsten und dessen Unterthanen in bester Eintracht lebe. Damit
endete die Einmischung. Die Russen erhielten aber bald darauf
Segel-Ordre und befreiten die geängsteten Beamten von ihrer
Gegenwart. Man erzählt, dass ein Bunyo, den die Regierung nach
Tsus-sima geschickt hatte um Jene zum Abzug zu bewegen, sich
nach dem Misslingen seiner Aufgabe auf der Rückreise den Leib
aufschlitzte.


Am Morgen nach dem Attentat lies Herr Alcock das Kanonen-
boot Ringdove von Yokuhama herüberkommen, dessen Capitän
ausser fünfundzwanzig Seesoldaten auch Herrn von Bellecourt
[259]Anh. II. Sicherheitsmaassregeln.
landete; dieser wollte die Gefahren seines Amtsgenossen theilen
und brachte eine Wache französischer Marine-Füsiliere 9) von dem
Transportschiff Dordogne mit. Später liess sich der englische Ge-
sandte noch eine Abtheilung berittener Sikhs von dem damals in
Tientsin stationirten Regimente »Fane’s horse« kommen. Der Befehls-
haber des mit Küstenaufnahmen bei Naṅgasaki beschäftigten Ge-
schwaders begab sich mit dem Actaeon und drei Kanonenbooten
auf die Nachricht des Geschehenen auch sogleich nach Yeddo;
nicht lange nachher kam Admiral Sir James Hope mit seinen Schiffen
herbei; — die Japaner müssen erstaunt gewesen sein über die
ansehnlichen Streitkräfte, welche der Vertreter Grossbritanniens
in so kurzen Wochen heraufbeschwören konnte. Die Minister ver-
sprachen ihr Möglichstes zu seinem Schutze zu thun, erklärten sich
aber nachdrücklich gegen jede Besetzung der Gesandtschaft durch
fremde Soldaten, welche zumal bei nächtlichem Kampfe den
Freund vom Feinde nicht unterscheiden und mit ihren Schuss-
waffen die Action der Japaner nur lähmen würden. Sie beschworen
den Gesandten wieder eine Abtheilung ihrer Soldaten in das
Wohnhaus aufzunehmen, was dieser um so mehr ablehnen zu
müssen glaubte, als sie auch so keine Bürgschaft für seine Sicher-
heit leisten wollten. Sie erklärten wie gewöhnlich, das Volk sei
theils durch die Vertheuerung aller Bedürfnisse, theils aus National-
stolz und Anhänglichkeit an die alten Ueberlieferungen gegen die
Verträge erbittert; die Theuerung und daraus fliessende Verarmung
mehre täglich die Anzahl der Lonine, welche in zahlreichen
Banden die Hauptstadt umschwärmten und nicht nur die Fremden,
sondern sie selbst, die Minister bedrohten; die Wachen hätten sich
tapfer geschlagen, und doch wäre der Anschlag bei einem Haare
gelungen; es stehe nicht in ihrer Macht die Sicherheit der Fremden
zu verbürgen, und sie könnten dafür keine anderen Maassregeln
treffen als für ihre eigene. Sie versprachen die Banditen zu verfolgen,
machten aber zugleich den Gesandten darauf aufmerksam, dass von
den Mördern des Regenten, die man sämmtlich kenne, bis dahin, also
nach Jahresfrist erst ein einziger ergriffen worden sei. — Die Re-
gierung liess jetzt das Grundstück von To-džen-dži mit festen
17*
[260]Beabsichtigte Verlegung der Gesandtschaften. Anh. II.
Palisadenzäunen einfriedigen, brachte die Yakunin-Wache des Ge-
sandten auf fünfhundert Mann und vermehrte auch die Zahl seiner
berittenen Begleiter.


Dass die Ueberrumpelung am 5. Juli nicht vollständig gelang
und mit Ermordung aller Insassen des Hauses endete, war eine
wundersame Fügung. Man fand am folgenden Tage die Spuren der
Banditen an der Schwelle von Herrn Alcock’s Zimmer, und auf
der anderen Seite waren sie ihm ebenso nah. Sie rasten durch alle
übrigen Räume des Gebäudes und zerhackten mit ihren scharfen
Klingen im Dunkel der Nacht Alles was ihnen im Wege war. Die
japanische Streitmacht sowohl als die europäischen Wachen konnten
für künftige Eventualitäten wohl nützlich sein, unbedingte Sicher-
heit aber niemals gewähren. Jede Wachsamkeit pflegt zu erschlaffen,
die nicht durch tägliche Beunruhigung rege gehalten wird, und ge-
gen entschlossene Meuchelmörder gibt es keinen Schutz. Der ameri-
kanische Minister-Resident, der niemals aus Yeddo gewichen war,
lebte die ganze Zeit in seinem Tempel unangefochten, und doch
darf man nicht mit den englischen Blättern in China annehmen,
dass eine besondere Animosität gegen Herrn Alcock herrschte; dass
der eine verschont und der andere angegriffen wurde, ist wahr-
scheinlich nur dem Umstande zuzuschreiben, dass dieser durch seine
Reisen und freiere Bewegung mehr die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich zog. Man erzählte bald nach dem Angriff auf To-džen-dži
von bewaffneten Banden, welche die Zugänge des amerikanischen
Tempels recognoscirt hätten; in einer der folgenden Nächte wurden
die dortigen Wachen durch Schüsse alarmirt, doch erfolgte weder
jetzt noch später ein Ueberfall. — Die Repräsentanten der Vertrags-
mächte entschlossen sich nun wegen der exponirten und schutzlosen
Lage ihrer bisherigen Wohnungen, auf den oft wiederholten Vor-
schlag der Regierung, dass sämmtliche Gesandtschaften auf einem
Grundstück vereinigt würden, unter erheblichen Modificationen ein-
zugehen. Absicht der Japaner war, ihnen ein grosses Yamaske im
Siro, innerhalb der zweiten Enceinte der kaiserlichen Stadt anzu-
weisen; die Diplomaten fürchteten aber dort die Freiheit ihrer Be-
wegung beschränkt und sich einer unerträglichen Beaufsichtigung
unterworfen zu sehen. Die Minister verstanden sich denn auch dazu
ihnen ein Grundstück auf dem Goten-yama, der Höhe über Sinagava,
zu überlassen und ohne Entschädigung mit Gräben und Palisaden
zu umgeben; der Bau der Wohngebäude sollte jedoch auf Kosten
[261]Anh. II. Gerüchte.
der fremden Regierungen nach den Bedürfnissen und Ansprüchen
der einzelnen Vertreter ausgeführt werden. Ob die Lage dem Zweck
entsprach, lässt sich bezweifeln. Die Gesandten liessen sich bis an
die äusserste Gränze der Vorstädte von Yeddo verdrängen, und die
Regierung konnte sie hier leichter isoliren, als irgendwo. Zur wirk-
lichen Niederlassung auf dem Goten-yama kam es aber niemals: das
Grundstück wurde abgesteckt und eingezäunt, der Raum an die
Vertragsmächte vertheilt und die ausgedehnten Wohngebäude
der englischen Gesandtschaft vollendet; die Häuser der anderen
Diplomaten kamen, erst später in Angriff genommen, kaum
über die Fundamente hinaus, wodurch sie vor Schaden bewahrt
wurden.


Den ganzen Juli und August hindurch coursirten in Yeddo
beunruhigende Gerüchte, welche nur auf Umwegen an die Fremden
gelangten, aber deutlich bewiesen dass die Gährung zunahm. Der
erste Minister Kudse Yamatto-no-kami hätte sich vor den Insulten
und Drohungen der Lonine auf sein Schloss zurückziehen müssen;
zwei andere Mitglieder des Reichsrathes wären, aus dem Palast
kommend, von zahlreichen Banden angegriffen und nur durch die
Tapferkeit ihrer Trabanten gerettet; der Gouverneur von Yeddo
durch die gegen die englische Legation Verschworenen oder deren
Verbündete aus Rache für seine energische Verfolgung im eigenen
Hause überfallen und gemordet worden. Dann hiess es wieder, er
habe auf Befehl des Reichsrathes Harakiru begangen, und zwar
wegen einer sehr richtigen, aber scharfen und unberufenen Meinungs-
äusserung: bei einer Berathung, ob der Taïkūn vor der Vermälung
mit der Schwester des Mikado diesem in Miako die Huldigung lei-
sten solle oder nicht, hätte der Gouverneur, die Befugnisse seiner
Stellung überschreitend, sich sehr energisch und bedeutsam dagegen
ausgesprochen. — Diese Gerüchte sind bezeichnend für die Lage;
die Schwäche der Regierung und die Unsicherheit der Verhältnisse
trat überall zu Tage. In Kanagava wurde das englische Consulat
bedroht, Consul Vyse musste sich eine Schutzwache nehmen; die
Lonine trieben sich dort, den Behörden offenen Trotz bietend,
in hellen Haufen herum; man sprach sogar von Gefechten, die sie
den kaiserlichen Truppen geliefert hätten. — Am 17. August wurde
an die Hausthür des Ministers Ando Tsus-sima-no-kami ein Placat
mit Drohungen geheftet, deren Ausführung nicht lange auf sich
warten liess.


[262]Die politische Lage. Anh. II.

Die fremden Diplomaten gewannen aus den Aeusserungen der
Minister die Ueberzeugung, dass die regierungsfeindliche, — nach
den Japanern die »fremdenfeindliche« Parthei es zum offenen Bruch
bringen wolle, und dass die Centralgewalt nicht stark genug sei
sich ihrer nachdrücklich zu erwehren. Die Verträge waren ein
missglücktes Experiment, die völlige Isolirung der Fremden in
Yokuhama unausführbar; die materiellen Vortheile wogen nicht den
Verlust des Ansehns auf, welcher der Regierung aus der geschick-
ten Benutzung ihrer auswärtigen Politik durch die Gegner erwuchs.
Man merkte den Würdenträgern deutlich an, dass sie sich der
Fremden am liebsten ganz entledigt oder wenigstens den Verkehr
auf Naṅgasaki beschränkt hätten. Es gab wohl im Reichsrath selbst,
— denn dieser musste bei der Unmündigkeit des Taïkūn als leitende
Staatsbehörde gelten, — mannichfache Nüancen der Ansicht; die
Einen mochten den Fremden weniger geneigt sein als die Anderen,
und, sei es aus Furcht oder Hass, sei es aus Gründen der blossen
Opportunität für gemässigte oder extreme Maassregeln stimmen.
Sicher sassen im Gorodžio auch geheime oder offene Partheigänger
des Prinzen von Mito, welche alles consequente Handeln der Re-
gierung lähmten, mit Bewusstsein und Absicht die Verhältnisse immer
mehr trübten. Die Parthei war zu stark um sie von der Verwaltung
auszuschliessen, und es wäre gefährlich gewesen einen Zweig des
Herrscherhauses durch gewaltsame Unterdrückung offen in das Lager
des Gegners hinüberzutreiben. Wahrscheinlich forderten schon da-
mals die regierungsfeindlichen Daïmio’s durch den Mikado die Ver-
treibung der Fremden, welche den Krieg zur Folge gehabt hätte;
die Lonine thaten das Ihre um diese zum Angriff zu reizen und die
Würdenträger einzuschüchtern, und die Parthei des Prinzen von
Mito suchte arglistig die Regierung in die Falle zu treiben. Ihren
Machinationen ist es vielleicht zuzuschreiben, dass der Reichsrath
sich nicht eng mit den Fremden verbündete, — eine Eventualität,
deren mögliche Tragweite sich nicht beurtheilen lässt. Die Minister
Kudse Yamatto und Ando Tsus-sima-no-kami waren allem Anschein
nach wohlmeinende, zu Fortschritt und Bildung geneigte, den Frem-
den gewogene Männer, und die Vertreter von England und Frank-
reich
hätten sich nach ihrer damaligen Anschauung der japanischen
Verhältnisse auf das Bündniss wohl eingelassen; aber die Lonine
und die Parthei Mito, vielleicht auch diese durch jene, wussten es
zu vereiteln.


[263]Anh. II. Gesandtschaft nach Europa.

Zur Vertreibung der Fremden liessen sich also die Minister
trotz allen Reizungen und Einschüchterungen nicht herbei, und dass
sie die Verträge weder auf gütlichem Wege rückgängig machen,
noch den Verkehr in den geöffneten Häfen nach Wunsch in ihre
Gewalt bekommen konnten, musste ihnen das Auftreten der Gesand-
ten zeigen. Sie waren also in der Lage das unvermeidliche Uebel
dulden zu müssen und konnten nur auf dessen möglichste Beschrän-
kung sinnen, verlangten daher, während sie sich nach innen durch
die Verbindung des Taïkūn mit dem Mikado-Hause zu stärken
suchten, von den Gesandten immer dringender die aufzuschiebende
Eröffnung der Häfen von Neagata und Fiogo, der Städte Yeddo
und Osaka für den allgemeinen Verkehr, daneben auch das Zu-
geständniss eines Ausfuhrverbotes für die wichtigsten Landes-
erzeugnisse. Sie motivirten ihre Anträge weitläufig in einer schon
unter dem 30. Mai an Herrn Alcock gerichteten Note und fügten
derselben ein eigenhändiges Schreiben des Taïkūn an die Königin
Victoria bei, welche Actenstücke erst durch Herrn Oliphant, der
im Herbst genesen nach Europa zurückkehrte, an die englische
Regierung gelangten. Der Reichsrath entschloss sich nun auch, zu
Erledigung dieses und anderer Puncte von minderer Wichtigkeit
eine Gesandtschaft an die Höfe der europäischen Vertragsmächte
zu schicken, theilte seine Absicht deren Repräsentanten in Japan
und brieflich auch dem Grafen Eulenburg mit, der damals in Tientsin
den Vertrag mit China schloss, und trat mit den englischen und
französischen Diplomaten über die Beförderung der Gesandten nach
Europa in Unterhandlung. Es kostete grosse Mühe, die japanischen
Würdenträger von der Zwecklosigkeit und Unbequemlichkeit eines
so grossen Gefolges zu überzeugen, wie die Gesandten nach Amerika
mitgenommen hatten, gelang aber endlich das Personal auf fünf-
unddreissig Köpfe zu beschränken, die sich am 23. Januar 1862 an
Bord der englischen Corvette Odin einschifften. — Herr Alcock,
der zu gleicher Zeit einen längeren Urlaub nach der Heimath erhielt,
wartete noch die Antwort auf seine mit dem Schreiben des Taïkūn
nach London gesandten Depeschen ab, und wohnte in der Zwischen-
zeit meist in Yokuhama.


Die im Herbst gegen Ando Tsus-sima-no-kami laut ge-
wordene Drohung wurde am 14. Februar 1862 zur That. Er begab
sich an diesem Tage, wie gewöhnlich, im Norimon mit zahlreichem
Gefolge nach dem Palast des Taïkūn; der Zug war eben auf dem
[264]Attentat auf Ando Tsus-sima. Anh. II.
freien Platz vor der Brücke angelangt, welche über den Festungs-
graben der innersten Ringmauer führt, als acht Bravo’s auf die
Sänfte anstürmten. Der Minister hört einen Schuss, springt heraus
und wehrt sich tapfer mit der blanken Klinge, erhält aber einen
Schwerthieb in das Gesicht und einen Lanzenstich in den Rücken.
Das Handgemenge dauerte wenige Secunden; sieben der Angreifer
lagen todt oder aus schweren Wunden blutend auf dem Platze. —
Ando [Tsus-sima] war lange in Lebensgefahr, genas nur langsam
und wurde dann unter Rangerhöhung seines Amtes entlassen. Die
gefangenen Lonine gestanden, — nach Aussage der Beamten, —
zu derselben Bande zu gehören, welche die englische Legation
überfallen hatte, und theils aus denselben Motiven, theils aus
Rache gegen den Minister wegen der energischen Verfolgung ihrer
Genossen gehandelt zu haben. In wiefern die regierungsfeindliche
Parthei und die Anhänger des Prinzen von Mito ihre Hand dabei
direct im Spiele gehabt, ist ungewiss; Ando Tsus-sima war der
Hauptträger einer versöhnlichen auswärtigen Politik und dadurch
eine Hauptstütze des Siogun-Thrones. Seine geschickte Amts-
führung hatte bis dahin alle zum Kriege drängenden Machinationen
vereitelt; die Einschüchterungsversuche seiner Gegner waren frucht-
los geblieben, und der Gedanke liegt nah, dass sie nun zu dem
schärferen Mittel griffen.


Herr Alcock erhielt die Antwort auf seine Depesche erst
Anfang März und ging nach Yeddo um sie den Vertretern des
Reichsrathes mitzutheilen. Lord Russel verlangte als Aequivalent
für die zu verschiebende Eröffnung der Häfen mehrere Zugeständ-
nisse, auf welche die Japaner garnicht vorbereitet waren, und der
englische Gesandte konnte sie mit der Beantwortung nur an seine
Regierung verweisen; er schlug ihnen deshalb vor, ihre Sendboten
mit neuen Instructionen zu versehen und zu diesem Zwecke einen
Beamten mit ihm nach England zu schicken. Dazu wurde der oft
genannte Dolmetscher Moriyama ersehen, der sich in der Qualität
eines japanischen Gesandtschafts-Secretärs am 23. März mit Herrn
Alcock nach China und von da weiter nach England einschiffte.


Die japanischen Gesandten waren mit dem Odin bis Suez,
von da über Alexandrien nach Marseille gegangen, besuchten im
Laufe des Sommers die Höfe von Frankreich, England, Holland,
Preussen, Russland und Portugal, und kehrten im Herbst über
Suez, von da auf einem französischen Dampfer wieder in ihre
[265]Anh. II. Die japanischen Gesandten in Europa.
Heimath zurück. Die Regierungen, gegen welche Japan sich zur
baldigen Eröffnung von Yeddo, Osaka, Neagata[und]Fiogo in
den Verträgen verpflichtet hatte, gestanden sämmtlich die dafür
beantragte Frist von fünf Jahren, welche Amerika schon früher be-
willigt hatte, unter der Bedingung zu, dass alle Beschränkungen des
Ankaufes von Landesproducten, der Anstellung von Arbeitern, Lehrern
und Dienstboten durch Fremde, alle Beschränkungen der Grundbe-
sitzer in Feilbietung ihrer Bodenerzeugnisse, alle Beschränkungen des
Verkehrs und des Handels auf bestimmte Volksclassen und Personen,
ferner alle Missbräuche des Zollamtes in Zukunft abgestellt werden
sollten. Wenn die japanische Regierung diese Bedingung nicht in
ihrem vollen Umfang erfüllte, sollten auch die Vertragsmächte
nicht an ihre Zusage gebunden sein und die sofortige Freigebung
der genannten Plätze beanspruchen können. — Die Gesandten stellten
bei den ersten Höfen, welche sie besuchten, noch andere Anträge,
welche auf maasslose Beschneidung der durch die Verträge ge-
währleisteten Freiheiten und vollständige Absperrung der fremden
Niederlassungen im Sinne von Desima hinausliefen, wurden damit
aber kurz abgewiesen und berührten diese Puncte bei den anderen
Regierungen nicht weiter. In Berlin kam die aufzuschiebende Frei-
gebung von Osaka, Yeddo, Fiogo und Neagata garnicht zur
Sprache, weil der preussische Vertrag deren Eröffnung nicht aus-
drücklich in Anspruch nimmt; die Gesandten beantragten dagegen,
dass unsere Kriegsschiffe nur die geöffneten Häfen anlaufen sollten,
dass die Ausfuhr von Waffen und Eiern der Seidenwürmer ein für
allemal untersagt würde, dass temporäre Ausfuhrverbote für andere
Landesproducte erlassen werden dürften, und dass Consularbeamte,
die zugleich Kaufleute wären, keine Zollfreiheit geniessen sollten.
Von diesen Puncten wurden die beiden ersten als den Bestimmungen
des Vertrages zuwiderlaufend abgelehnt, der dritte für den Fall
zugestanden, dass die Vertreter von Preussen sich in Ueberein-
stimmung mit denen anderer Staaten von der Nothwendigkeit eines
temporären Ausfuhrverbotes überzeugten, der vierte für den Fall,
dass andere Vertragsmächte dieselbe Concession machten. Die
Gesandten brachten neben den genannten Puncten an allen Höfen
auch die Münzfrage zur Sprache, wurden aber für die Regelung
derselben überall an deren Vertreter in Japan verwiesen.


Weit entfernt die für die verschobene Eröffnung der Häfen
gestellten Bedingungen zu erfüllen, hat die japanische Regierung in
[266]Die politische Lage. Anh. II.
der Folge fortgefahren den Handel und freien Verkehr in Yoku-
hama
auf jede Weise und immer offener zu beschränken. Seit dem
Rücktritt des Ministers Ando Tsus-sima wurde ihre Politik immer
schwankender und haltungsloser; die Partheien in ihrem Schoosse
scheinen sich ziemlich das Gleichgewicht gehalten zu haben, und
die fremden Diplomaten wussten niemals woran sie waren. Während
die früheren Minister der Bewegung noch einigermaassen die Spitze
boten und wenigstens eine bestimmte Richtung verfolgten, tritt jetzt
eine Periode der Zersetzung ein. Es gelang den Anhängern des
Fürsten von Mito, jeden bleibenden Einfluss einsichtsvoller Staats-
männer zu beseitigen und die Regierung von einer Inconsequenz
zur anderen zu treiben. Tendenz der conservativen Parthei musste
die Beschränkung des Fremdenverkehrs sein, soweit sie sich ohne
Bruch der Verträge ausführen liess. Dieses Streben tritt im Ganzen
auch sehr deutlich hervor, aber gemischt bald mit Versuchen die
Fremden auf friedlichem Wege oder mit Gewalt aus Japan zu ent-
fernen, bald mit freundlichem Entgegenkommen und der Neigung
sich ihnen gegen die freiheitslüsternen Daïmio’s zu verbünden, je
nachdem die inneren und äusseren Verhältnisse oder die Zusammen-
setzung des Reichsrathes wechselten. Zunächst zeigte sich ganz
deutlich die Absicht, Yokuhama nach Art von Desima zu isoliren,
alle Fremden aus Kanagava und Yeddo zu entfernen. Kein Ja-
paner durfte ohne Erlaubniss der Regierung nach der Niederlassung
kommen, mit deren Bewohnern verkehren oder Handel treiben.
Wenn trotzdem die Ausfuhr bedeutend stieg, so ist der Grund
davon wohl nur in dem grossen Gewinn zu suchen, welchen die
japanische Regierung daraus zog; und wenn die fremden Vertreter
trotz der Verletzung der gestellten Bedingungen nicht alsbald auf
die Eröffnung der anderen Häfen zurückkamen, so kann man das
theils den Hoffnungen für die Zukunft, welche sie an das mächtige
Aufblühen des Handels von Yokuhama knüpften, theils periodischen
Zugeständnissen der japanischen Regierung, theils auch der Ansicht
zuschreiben, dass die Eröffnung anderer Häfen nicht gedeihlich ab-
laufen könne oder nicht durchzusetzen wäre. Ein consequentes
Handeln war für sie bei dem auf den inneren Verhältnissen ruhenden
Dunkel garnicht möglich. Dann trieben die Ereignisse rasch einer
gewaltsamen Lösung zu, welche das Fortbestehen der Niederlassung
von Yokuhama ernstlich in Frage stellte; alle anderen Wünsche wurden
vergessen und der Kampf drehte sich lange nur um diesen Punct.


[267]Anh. II. Ermordung englischer Schildwachen.

Von den Vertretern des Auslandes blieb, wie gesagt, nur
der amerikanische ganz in Yeddo wohnen. Herr Harris wurde im
Frühjahr 1862 abberufen und durch General Pruyn ersetzt, der
seinen Wohnsitz ebenfalls in der Hauptstadt nahm. Herr von Belle-
court
lebte meist in Yokuhama und ging nur zu den Geschäften nach
Yeddo. Der englische Geschäftsträger, Legations-Secretär St. John
Neale
traf bald nach Herrn Alcock’s Abreise in Japan ein und wohnte
abwechselnd in Yeddo und Yokuhama. Am Jahrestage des Angriffes
auf To-džen-dži nach japanischer Zeitrechnung, — den 28. Juni, —
stattete ihm dort ein Bunyo der auswärtigen Abtheilung einen Glück-
wunschbesuch ab. Abends waren alle Hausgenossen bis auf die
wenigen Schildwachen, — Matrosen und Seesoldaten vom Kriegs-
schiff Reynard, — zur Ruhe gegangen, als der Geschäftsträger den
vor seiner Thür stehenden Posten jemand anrufen hörte; wenige
Secunden darauf ertönte das Angstgeschrei eines Sterbenden und
der dumpfe Laut schwerer Streiche; dann fiel ein Schuss. Herr
Neale sprang auf und rannte nach dem Wachtzimmer; alle Haus-
bewohner waren im Nu auf den Füssen und bewaffnet, — da wankte
aus klaffenden Wunden blutend die Schildwache mitten unter sie.
Die Engländer zogen sich nun sämmtlich in das grösste Zimmer
zurück, um dort dem erwarteten Angriff die Stirn zu bieten, doch
blieb Alles ruhig. Man vermisste erst jetzt einen Unterofficier der
Seesoldaten; ihn zu suchen ging der Commandeur der Gesandtschafts-
wache mit einigen Leuten hinaus und fand ihn todt an der Schwelle
von Herrn Neale’s Zimmer, vor der Thür nach dem Garten, mit
Schwert- und Lanzenwunden bedeckt. — Der sterbende Matrose
konnte noch Folgendes aussagen. Die Nacht war sehr dunkel, und
er hatte wie gewöhnlich einen japanischen Soldaten mit seiner Pa-
pierlaterne bei sich; da nähert sich ein dunkeles Ding auf der
Brücke, die über den Goldfischbach dicht vor dem Hause führt.
Er rief es an und erhielt die richtige Parole »Tama« zurück, ging
aber, da es ihm verdächtig schien, darauf los, als ein Mensch, der
auf allen Vieren über die Brücke gekrochen war, plötzlich aufsprang
und mit der Lanze nach ihm stach. Im nächsten Augenblick trennte
ein Schwertstreich seine Hand, welche die Muskete hielt, fast ganz
vom Arme, dann folgte eine Fluth scharfer Hiebe, als der Unter-
officier zu Hülfe kam und Feuer gab. Der Mörder stürzte sich nun
sogleich auf diesen, verfolgte ihn unter wüthenden Streichen bis an
die Thürschwelle und hieb ihn fast in Stücke. Der Japaner mit der
[268]Ermordung des Engländers Richardson. Anh. II.
Laterne gestand fortgelaufen zu sein, angeblich um Hülfe zu holen.
Am Morgen fand man unter der Veranda des Hauses eine grosse
Blutlache; dort hatte der verwundete Mörder sich also geborgen.
Man verfolgte die Blutspur eine Strecke durch den Garten, wurde
aber bald alles Suchens überhoben: ein Trabant des Fürsten Matsdaïra
Tamba-no-kami
, welchem mit mehreren anderen Daïmio’s die Bewa-
chung der Gesandtschaft oblag, hatte eben Harakiru begangen,
nachdem er sich der That vor den Seinen gerühmt.


Hier hatte man es also nicht mit Banditen zu thun, sondern
mit einem Fanatiker reinsten Wassers. Der glühende Fremdenhass,
der ihn trieb, lebt sicher in einem grossen Theile der vom altjapa-
nischen Feudalismus zehrenden Samraï niederen Grades, mit welchen
es auch dann nicht an Conflicten fehlen kann, wenn die Machthaber
das Land dem freiesten Verkehr der Fremden aus Ueberzeugung
erschlossen haben werden. — Als den Tag nach der That Herr
Neale die Leiche des Mörders zu sehen wünschte, gaben dessen
Gefährten nach einigem Zögern die Erlaubniss mit dem drohenden
Bedeuten, dass sie, von ihnen bewacht, im Tempel ausgestellt sein
würde. Der Geschäftsträger unterliess es unter diesen Umständen
lieber und hörte nachher, dass die Trabanten das ganze Per-
sonal der Gesandtschaft hätten niederhauen wollen, wenn eine un-
geweihte Hand ihren Cameraden berührte. Das waren die Schutz-
wächter!


Im September wurde abermals ein Mord durch Daïmio-Tra-
banten verübt. Drei englische Kaufleute von Yokuhama und eine
Dame ritten auf dem Tokaïdo spazieren und begegneten dort dem
Zuge des nach Yeddo reisenden Šimadso Saburo, Vaters des regie-
renden Fürsten von Satsuma. Ueber den Hergang herrscht nicht
völlige Klarheit. Die Trabanten sollen den Fremden gewinkt haben
umzukehren, die Engländer aber ihren Weg verfolgt und auf eine
zweite Aufforderung nur still gehalten haben, um den Zug passiren
zu lassen. Da wären die Trabanten mit wüthenden Streichen auf
sie eingedrungen. Die Dame entfloh im Galopp und brachte die
Nachricht dem Consul Vyse, der sich mit seiner englischen Schutz-
wache sogleich an Ort und Stelle begab. Er fand den entseelten
Körper des Herrn Richardson im Felde liegen, den Kopf vom Rumpfe
getrennt, die beiden anderen Herren schwer verwundet am Wege.
Diese sind später genesen. Sie behaupten, dass Šimadso selbst
den Befehl zur Niedermetzelung gegeben hätte, was sich niemals
[269]Anh. II. Benehmen der japanischen Regierung.
ermitteln lassen wird; denn im Zuge eines so grossen Herrn werden
immer mehrere seiner Beamten in Sänften getragen, und wenn die
Engländer sahen, dass der Wink von einer solchen ausging, woran
erkannten sie den Fürsten, den sie niemals gesehen? — Die Auf-
regung der Ansiedler in Yokuhama war so gross, dass sie augen-
blickliche Rache verlangten und zu Admiral Kuper, dessen Flagg-
schiff Euryalus grade auf der Rhede lag, eine Deputation mit dem
Gesuche schickten, den Šimadso, welcher mit seinem Gefolge für
die Nacht in Kavasaki eingekehrt war, durch seine Mannschaft
überfallen und aufheben zu lassen. Der Geschäftsträger legte
dagegen Verwahrung ein und verbat sich zur grossen Entrüstung
seiner Schutzbefohlenen jede Gewaltthat. Šimadso erhielt von den
Absichten der Ansiedler auch Nachricht und brach noch um acht
Uhr Abends nach Yeddo auf.


Hier war also ein Fall, wo die Regierung sich nicht mit
Unkenntniss der Mörder entschuldigen konnte. Sie behauptete jedoch,
vom englischen Geschäftsträger zu deren Bestrafung aufgefordert,
dass Šimadso sich schon wieder von Yeddo entfernt habe und die
nachträgliche Entdeckung der Thäter schwierig sei; der Fürst von
Satsuma würde sich jeder Untersuchung mit Gewalt widersetzen.
Sie fürchtete offenbar es mit einem so mächtigen Herrn zu verder-
ben, und zog vor ihre Schwäche zu gestehen, auf die Gefahr sich
der Rache der Fremden auszusetzen.


Die nachträgliche Aufzählung der auf Ausländer in Japan
gerichteten Mordanfälle erfüllt mit Schauder über die Masse des im
Laufe weniger Jahre dort geübten Verbrechens. Bedenkt man aber,
dass zwischen den einzelnen Attentaten immer mehrere Monate
liegen, lange Fristen in der lebendigen Gegenwart, so ist die Sorg-
losigkeit leicht zu begreifen, mit der die Fremden, die Gefahr immer
wieder vergessend, sich täglich blossstellten. Die Abschlachtung der
beiden englischen Schildwachen durch einen entschlossenen Mörder
beweist deutlich genug, dass auch die äusserste Wachsamkeit gegen
solche keinen Schutz bietet, und wer möchte im frischen, thätigen
Leben stündlich und unablässig auf seiner Hut sein? Dazu ge-
hört eine Concentrirung der Aufmerksamkeit auf einen Punct, welche
die Lebenskraft ermüdet, eine beständige Anspannung, wie sie
im Kriege vom Wachtposten nur auf wenige Stunden verlangt
wird. Das Leben ist nicht des Lebens werth, das man jede Minute
bewachen muss; die es versuchen, werden beim Mangel neuer Reizung
[270]Innere Gährung. Anh. II.
schon nach wenigen Tagen ermatten, und die Abspannung macht
beim Gesunden bald der natürlichen Lebensfrische Platz.


Wurde nach Richardson’s Ermordung über ein Jahr lang
kein Attentat auf Fremde verübt, so lag der Grund wohl vorzüglich
in ihrer engeren Einschliessung in Yokuhama und dem Kriegszustande,
welcher jetzt folgte. Die Symptome der inneren Gährung mehrten
sich in bedenklicher Weise. Schon im Spätherbst 1862 gelangten
vielfach beunruhigende Gerüchte nach der Niederlassung: die mäch-
tigsten Daïmio’s hätten den Taïkūn bei dem Mikado verklagt die
Heiligkeit des Landes und die Gesetze seiner Vorfahren verletzt zu
haben; Dieser hätte Jenen vor seinen Thron gefordert. Die nun-
mehr vollzogene Heirath des Taïkūn mit der Schwester des Mikado,
welche eine nachträgliche Anerkennung seiner Politik sein sollte,
hatte den Zwiespalt also nicht ausgefüllt; die Lehnsfürsten
kehrten sich wenig daran und wurden immer lauter. Man verkaufte
in den europäischen Strassen von Yokuhama aufrührerische Flug-
schriften, als deren Verfasser Mori Daïsen-no-daïbu, Fürst von
Naṅgato
, genannt wurde, der in der späteren Entwickelung eine
Hauptrolle spielte. »Weder der Mikado«, hiess es darin, »noch der
Taïkūn sind auf richtigem Wege. Es gibt nur ein Mittel: schwingt die
Fahne von Japan über die aller anderen Länder und jagt die frem-
den Barbaren mit eiserner Ruthe aus dem Lande.« Der Zweck
dieser Schrift war zum Kriege zu reizen. Dass die Behörden von
Yokuhama, deren Controle sie sicher nicht entging, die Feilbietung
in der Niederlassung duldeten, lässt sich entweder aus dem Wunsch
der Regierung erklären, die Fremden einzuschüchtern und zu ent-
fernen, oder aus einem Uebergewicht der Parthei im Reichsrath,
welche im Geheimen den Krieg heraufzubeschwören wünschte.


Gegen Ende des Jahres, bald nach dem Eintreffen des preussi-
schen Consuls von Brandt in Yokuhama zeigte die Obrigkeit den
fremden Diplomaten an, dass sich zahlreiche Lonin-Banden in der
Umgegend sammelten und die Niederlassung anzugreifen gedächten.
Die im Hafen liegenden englischen und französischen Kriegsschiffe
landeten zu deren Schutz zahlreiche Mannschaften. Dem Volke
war eine andere Version geläufig: einige Daïmio’s wollten, unzufrie-
den über die Ausschliessung ihrer Producte vom Markte von Yoku-
hama
, das dortige Zollhaus niederbrennen, und die Regierung machte
daraus eine Feindseligkeit gegen die Fremden, um sich den Beistand
ihrer Kriegsschiffe zu sichern. Solche Gerüchte wiederholten sich
[271]Anh. II. Decret des Mikado.
noch mehrfach, doch blieb Alles ruhig. Anfang 1863 gelangte aus
Hakodade die Abschrift eines Decretes nach Yokuhama, das der
Mikado an den Taïkūn gerichtet haben sollte:


»Wir haben schon lange den Plan in unserem Busen
gehegt die Fremden zu vertreiben, und der erhabene
Willen kann nicht wanken, wenn auch die Ausführung
bis zur gegenwärtigen Zeit verschoben worden ist. Die
Veränderungen, welche der Taïkūn zur Ausführung eines
neuen Systemes in alle Theile der Verwaltung gebracht
hat, beweisen seine Achtung vor unserem Willen. Aber
die Herzen der Bevölkerung werden sich nicht beruhigen,
wenn nicht jetzt die Vertreibung der Fremden sicher vor
sich geht. Dies macht dem kaiserlichen Busen grosse
Sorge. Der Taïkūn soll seine ganze Kraft auf die Ver-
jagung der Barbaren richten und den Fürsten schleunigst
den Befehl dazu ertheilen. Die Ausführung dieser Maass-
regel ist Pflicht des Siogun. Schnell und ohne Verzug
bringe er den Plan zum Abschluss, vollbringe, was nach
langer Berathung jetzt für den Staat beschlossen ist, und
bestimme die Zeit, wann der Verkehr mit den hässlichen
Barbaren aufhören soll. Du wirst uns darüber Bericht
erstatten.«


Später soll sich herausgestellt haben, dass der Fürst von
Naṅgato, — oder wie Andere ihn mit seinem chinesischen Namen
nennen, Tšo-šiu, — der als Haupt der Bewegung gegen die Siogun-
Herrschaft immer mehr in den Vordergrund tritt, dieses Document
im Verein mit seinem Verbündeten am Hofe des Mikado, dem
Kuanbak Fudsiwara, gefälscht und sogar die Regierung in Yeddo
damit getäuscht hätte. Unmöglich ist das durchaus nicht bei der
Unnahbarkeit des Erbkaisers und der Etiquette, welche ihn seit
Jahrhunderten künstlich von jeder directen Betheiligung an den
Staatsgeschäften ausschliesst. Der Kuanbak ist sein Vertreter
und Organ in politischen Angelegenheiten. — Die Regierung von
Yeddo erklärte, von den fremden Diplomaten befragt, das Document
für authentisch. Zu gleicher Zeit damit wurde ein Protest der Fürsten
von Naṅgato, Satsuma und anderer mächtigen Daïmio’s gegen die
Missregierung des Taïkūn bekannt: er hätte beim Abschluss der
Verträge versprochen, dass durch sie die Lebensbedürfnisse wohl-
feiler werden sollten; statt dessen kosteten sie jetzt das Dreifache;
[272]Beschwerden der Daïmio’s. Anh, II.
die Zölle hätten das Land bereichern sollen, seien aber nicht ein-
mal zum Bau von Festungen und Ankauf von Kriegsschiffen, sondern
nur für die prächtige Ausschmückung des kaiserlichen Palastes, für
eine pomphafte Reise der Schwester des Mikado und verschwen-
derische Einrichtungen des Hof-Adels ausgegeben worden. Der
Protest führt Klage über die Unredlichkeit und unersättliche Hab-
sucht der höchsten Staatsbeamten, über die seit Aufgabe des alten
Systemes ganz unnöthigen, mit unendlichen Kosten, Vexationen und
Beschwerden verbundenen Hofreisen und den gezwungenen Aufent-
halt in Yeddo: »Die Zeit sei gekommen, diese drückenden Verpflich-
tungen gänzlich aufzuheben. KanagavaYokuhama — müsse ge-
schlossen und kein anderer Hafen geöffnet werden, wenn man
sich nicht herbeilassen könne, ganz Japan dem freien
Verkehr der Fremden zu übergeben
.« Die Unterzeichner
verwahren sich feierlich gegen die Beschuldigung feindseliger Ge-
sinnung gegen die Ausländer und werfen der Regierung vor, dass
sie selbst jene in den Augen der Landesbewohner überall herabsetze,
dass hohe Staatsbeamte unverhohlen geäussert hätten, man könne
alle fremden Nationen mit Ausnahme einer einzigen ungestraft
beleidigen.


Obgleich die Aechtheit dieser Schrift, welche ebenfalls aus
Hakodade durch einen Missionar brieflich nach Yokuhama gelangte,
nicht erwiesen ist, so lassen doch die späteren Ereignisse sie mit
grosser Wahrscheinlichkeit vermuthen. Ihre geringe Uebereinstim-
mung mit dem gehässigen Pamphlet, welches rücksichtslose Vertrei-
bung der Barbaren predigt, erklärt sich leicht, wenn dieses nur den
Zweck hatte das Volk aufzuwiegeln, den Krieg mit dem Auslande
herbeizuführen. Dass der Fürst von Naṅgato danach strebte und
andererseits doch den Verkehr mit den Fremden wünschte, zeigt
sein späteres Auftreten: zuerst Sturz der Centralgewalt, welche sich
durch den Handel auf Kosten des Landes bereichert um den
Daïmio’s neue Fesseln zu schmieden, durch auswärtigen Krieg;
dann freie Zulassung der Fremden unter einem neuen politischen
System. Der Gewinn der Regierung am europäischen Handel muss
wahrhaft ungeheuer gewesen sein. Man rechnet, dass die Fremden
im Laufe des Jahres 1862 baares Silber im Werthe von zwanzig
Millionen Itsibu in Yokuhama einführten, wovon sechs Millionen
für das Umwechseln und eine etwas höhere Summe für Zwischen-
zölle aller Art in die Kassen der Regierung flossen. Addirt man
[273]Anh. II. Reise des Taïkūn nach Miako.
dazu noch eine Million für Ein- und Ausgangszölle, für die Mono-
polisirung aller Leistungen — Lichterboote, Arbeiter, Ballast- und
Wasserlieferung u. s. w., so ist der Regierung für Yokuhama allein
auf jenes Jahr ein Gewinn von 14 bis 15 Millionen Itsibu’s —
über 7 Millionen Thaler — nachzurechnen. Die nähere Bekanntschaft
mit den Handelsverhältnissen erweckte bei den Kaufleuten tiefes
Bedauern über die verschobene Eröffnung von Osaka, dem Sitze
der reichsten Kaufleute, die zugleich Banquiers und Agenten der
Daïmio’s sind. Man wurde erst jetzt mit der Leistungsfähigkeit
des Landes bekannt und durfte annehmen, dass die Regierung des
Taïkūn in dem entfernten Osaka nicht im Stande wäre denselben
Druck wie in Yokuhama zu üben, wo jetzt Alles einer gewaltsamen
Crisis entgegendrängte.


Ende Januar 1863 gelangte die amtliche Mittheilung an die
Diplomaten in Yokuhama, dass der Taïkūn sich zu Lande, einer
seiner Minister zur See nach Osaka und Miako begeben hätten.
Im Vertrauen gestanden die Bunyo’s, dass der Mikado die Ver-
treibung der Fremden allen Ernstes verlangt habe; offener Wider-
stand würde dem Taïkūn den Thron kosten, er ginge deshalb nach
Miako um die Sache friedlich auszugleichen und den Mikado auf
andere Wege zu bringen. Die Vertreter von England und Frank-
reich
sollen schon damals der Regierung gegen die Daïmio’s, deren
Machinationen sich hinter dem Auftreten des Mikado versteckten,
den Beistand ihrer Kriegsschiffe angeboten, aber die Antwort er-
halten haben, dass jeder offene Ungehorsam des Taïkūn gegen dessen
Befehle die Fürsten sofort von ihrem Lehnseide entbinden würde;
dass er für den Kriegsfall die feste Stellung des Kuanto, die seinem
Hause eng verbundenen Gofudaï-Familien, die Leibwache der
achtzigtausend Hatamoto’s und zahlreiche Soldaten für sich hätte,
welche hinreichten, seine Herrschaft zu vertheidigen und selbst das
Gebiet des Feindes anzugreifen. Der fremde Beistand sei ein
extremes Mittel; man müsse Japan einem mit Geschwüren behafteten
Körper vergleichen, deren Ausschneidung ihn vielleicht schnell
heilen, aber auch verderben könnte; man hoffe noch immer das
Uebel durch gelinde innere Mittel zu heben. — Die Regierung
rüstete indessen mit Macht, richtete Kanonen-, Gewehr- und Re-
volverfabriken ein, schickte junge Leute nach Holland, welche den
Kern eines Ingenieur-Corps bilden sollten, befestigte die Küsten,
organisirte ihre Infanterie nach europäischem Muster und kaufte
II. 18
[274]Rüstungen. Zerstörung des englischen Gesandtschaftshauses. Anh. II.
eine Menge Dampfboote. Sie erlaubte auch einigen Daïmio’s solche
zu erstehen, entweder weil sie es nicht hindern, oder weil sie der
Lockung des grossen Gewinnes nicht widerstehen konnte, der ihr
daraus erwuchs; denn sie verkaufte den Fürsten die zur Bezahlung
erforderlichen Dollars zum vollen Silberwerthe, 30 Procent über
den Wechselcours. Schon gegen Ende des Jahres 1862 lagen in
den Häfen etwa dreissig Dampfboote japanischen Eigenthums, von
denen freilich die wenigsten Kanonen führen konnten. Die Fürsten
von Fidsen und Satsuma brauchten die ihren vielfach zum Küsten-
handel und scheinen erfahrene Leute mit der Führung betraut zu
haben. Unter den von der Regierung gekauften waren manche von
Hause aus unbrauchbar; andere wurden es bald durch ungeschickte
Handhabung der Maschinen.


An dem englischen Gesandtschaftshause auf dem Goten-
yama
war fleissig gearbeitet worden und im Januar 1863 stand es
fertig da, doch sprach man unter den Japanern schon früher von
Bedenklichkeiten wegen wirklicher Besitznahme der Fremden. Der
Fürst von Naṅgato hätte gegen die Entweihung des Goten-
yama
in Miako feierlich protestirt und der Mikado Mitte Januar
einen Gesandten nach Yeddo geschickt, welcher vom Taïkūn kate-
gorisch die sofortige Zerstörung des Gebäudes fordern sollte. Kurz
darauf reiste dieser nach Miako ab, und gegen Ende des Monats
theilte die Regierung dem englischen Geschäftsträger mit, dass die
Uebernahme des Gebäudes ihn in grosse Gefahr bringen würde. Sie
sei bereit es auf ihre Kosten an einem anderen Ort aufbauen zu
lassen, da der Niederlassung der Fremden auf dem Goten-yama
unüberwindliche Hindernisse entgegenständen. Dieser Antrag wurde
am 30. Januar in sehr dringenden Ausdrücken wiederholt; Herr
Neale glaubte aber den Platz um so weniger aufgeben zu dürfen,
als der Gesandte selbst ihn ausgesucht hatte, und bestand auf
pünctlicher Erfüllung der eingegangenen Verpflichtungen. Am 1. Fe-
bruar erhielt er die Nachricht, dass das Gebäude abgebrannt
sei. Der Wächter des Grundstückes hatte an diesem Tage plötzlich
Flammen aus dem leeren Hause auflodern gesehen; dann folgten
heftige Detonationen, und nach wenigen Minuten war das Ganze
ein Schutthaufen. Massen von Schiesspulver und brennbaren Stoffen,
deren man in einem unversehrten Nebengebäude noch einen grossen
Vorrath fand, hatten die Vernichtung beschleunigt. Der das
Grundstück umgebende Palisadenzaun war durchbrochen und eine
[275]Anh. II. Englische Forderungen.
Pulverleitung durch die Oeffnung gelegt worden. — Die Regierung
schob die Brandstiftung natürlich der »fremdenfeindlichen« Parthei
in die Schuhe. Im Volke hiess es, ein Schloss des Mikado habe
einst auf dem Goten-yama gestanden und der Platz gelte für heilig:
dann wieder, der dortige Pflaumengarten sei ein Lieblingsspaziergang
der Nachbarn, welche über dessen Einhegung erzürnt gewesen wären.
Doch lässt sich die Katastrophe sicher unter die Zahl der Gewalt-
acte rechnen, welche aus fanatischem Fremdenhass verübt wurden;
wenn nicht etwa die Regierung, durch den Einspruch des Mikado
wirklich beunruhigt, von der Besitznahme der Engländer ernste
Verwickelungen fürchtete und selbst die Zerstörung bewirkte.


Der englische Geschäftsträger hatte als Sühne für Er-
mordung der beiden Schildwachen 10,000 Pfund Sterling für
deren Hinterbliebene und die Entsetzung des Daïmio gefordert, zu
dessen Mannschaft der Mörder gehörte. Die Regierung antwortete,
der Fürst sei bereits nach japanischen Gesetzen bestraft und
könne nicht anders bestraft werden; eine Geldentschädigung aber
für ein Attentat, an dem sie keine Schuld habe, dürfe man
nicht von ihr verlangen. Da Herr Neale nun keine Macht hatte
seine Forderung durchzusetzen, so berichtete er über diesen und
den an Herrn Richardson verübten Mord an die englische Regierung,
welche seine Geldforderung für die Hinterbliebenen der Schild-
wachen billigte und ihn anwies, für Richardson die Hinrichtung
von dessen Mördern, eine namhafte Geldbusse, und nebenbei eine
Entschädigung für dessen Angehörige und die beiden mit ihm
Verwundeten, ferner eine amtliche Entschuldigung der Regierung
zu fordern, unter Androhung von Zwangsmaassregeln, wenn nicht
alle diese Puncte erfüllt würden. Die Dauer und Ausdehnung der
Feindseligkeiten wurde dem Ermessen des Geschäftsträgers anheim
gegeben und sollte sich nach der Hartnäckigkeit im Widerstande
der Japaner richten; zu ihrer Bewerkstelligung dirigirte Admiral
Kuper im Laufe des März nach der Bai von Yokuhama ein Ge-
schwader von zwölf englischen Kriegsschiffen, neben denen auch
zwei französische und ein holländisches erschienen. — Die von
Herrn Neale als Ultimatum bezeichnete Note fixirte das von der
Central-Regierung für Richardsons Ermordung zu zahlende Strafgeld
auf 100,000 Pfund Sterling und die Entschädigung für seine Ange-
hörigen und die Verwundeten auf 25,000 Pfund. Die Zahlung
letzterer Summe und die Hinrichtung der Mörder in Gegenwart
18*
[276]Ultimatum. Verwickelung. Anh. II.
englischer Officiere wurde dem Fürsten von Satsuma auferlegt, und
der Reichsrath zur Uebermittellung dieser Forderung unter dem
Zusatz ersucht, dass der Geschäftsträger sie im Weigerungsfalle an
den Fürsten selbst in einem von dessen Häfen stellen werde, da
die Centralgewalt sich unfähig erkläre ihn zur Rechenschaft zu
ziehen. Diese Note wurde am 6. April überreicht und stellte
eine Frist von zwanzig Tagen, nach deren Ablauf die Feindselig-
keiten beginnen sollten. Herr Neale liess den Inhalt derselben
zugleich den englischen Unterthanen in Yokuhama mittheilen und
forderte sie zu Maassregeln der Sicherung ihres Eigenthumes und
ihrer Handelsinteressen für die Eventualität des Krieges auf, unter
der Benachrichtigung, dass der Chef des englischen Geschwaders
sich mit den Diplomaten und Schiffscommandanten der anderen
Nationen über die gemeinsamen Schutz- und Vertheidigungsanstalten
der Niederlassung für den Fall eines Angriffs verständigen würde.


Die japanische Regierung erklärte bald nach Empfang des
Ultimatums, dass in Abwesenheit des Taïkūn nichts entschieden
werden könne; dieser würde sich nach seiner Rückkehr mit den
englischen Forderungen beschäftigen, aber schon die Nothwendig-
keit mit ihm zu communiciren mache eine längere Frist nothwendig;
den Schritten gegen Satsuma könne sie nicht beitreten, ohne ge-
wissermaassen ihre Existenz zu leugnen. — Herr Neale fragte an,
wie viel Zeit die Regierung brauche, um eine definitive Antwort zu
geben; sie liess aber lange garnichts von sich hören und schien
durch das Ultimatum nicht sehr beunruhigt. Man hörte die Bunyo’s
die Hoffnung aussprechen, dass die Engländer sich von der Unge-
hörigkeit ihrer Forderungen überzeugen und davon abstehen wür-
den. Die Fremden lebten unterdessen in grosser Spannung. Die Japaner
in Yokuhama erzählten wieder von Lonin-Banden, welche sich in der
Umgegend herumtrieben und einen Angriff auf die Niederlassung
beabsichtigten, von Truppen, die sich in der Nähe sammelten, und
versteckten Batterieen auf den das Städtchen dominirenden Höhen.
Die Ansiedler gingen bewaffnet und verbarricadirten sich Nachts in
den Häusern. Es schien in der That, als wolle die Regierung den
Forderungen nicht weichen: sämmtliche Dampf- und Segelschiffe
des Taïkūn gingen aus dem Golf von Yeddo nach dem Binnen-
meere ab, und die Daïmio’s verliessen mit ihren Familien in langen
Zügen die Hauptstadt, deren Beschiessung man für den Kriegsfall
wohl zunächst erwartete. Mitte April setzte das Gerücht die An-
[277]Anh. II. Lage der Niederlassung.
siedler in Bestürzung, dass Admiral Kuper sie gegen etwaige An-
griffe nicht schützen, sondern beim Beginn der Feindseligkeiten ihrem
Schicksal überlassen werde. Er hatte am 16. in einer Conferenz
mit den fremden Diplomaten und Schiffscommandanten seine Streit-
kräfte für unzulänglich erklärt, um zugleich offensiv aufzutreten und
Yokuhama zu vertheidigen. Die Offensive aber stand nach den
Instructionen der englischen Regierung in erster Linie, und musste
es, wenn nicht das Ultimatum eine leere Drohung sein sollte. Herr
Neale theilte diese Betrachtung seinen Schutzbefohlenen mit und
forderte sie auf, bis zum 26. April für die Sicherheit ihrer Personen
und ihrer Habe zu sorgen, da im Kriegsfalle der Platz nicht zu
halten sei. Im Falle einer plötzlichen Berennung sollten die Schiffs-
commandanten in Verbindung mit den Gesandtschaftswachen den
Rückzug und die Einschiffung der Ansiedler decken; mehr könne
man nicht versprechen. — Der Geschäftsträger und der Geschwader-
commandant wünschten offenbar, um freiere Hand zu haben, dass
die Fremden Yokuhama ganz räumen möchten, wollten aber die
Verantwortlichkeit eines dahin gehenden Befehls nicht auf sich
nehmen. Die englischen Kaufleute hingegen waren zur Aufgabe
ihrer Etablissements und Handelsinteressen, der Früchte mehr-
jähriger Anstrengungen, nicht so leicht zu bewegen, und erklärten
Herrn Neale, dass nach ihrem Ermessen der Schutz ihrer Person
und ihres Eigenthumes auch im Kriegsfalle seine erste Pflicht
bleibe; dass die Gemeinde durchaus abgeneigt sei ihren Sitz zu
verlassen, und sich nur dem positiven Befehle der Schutzbehörden
fügen werde, und dass eine zu ihrer Aufnahme hinreichende Anzahl
Handelsschiffe garnicht vorhanden sei. Der Geschäftsträger wies
sie in seiner Erwiederung darauf hin, dass Eventualitäten wie die
gegenwärtige mit jeder Niederlassung in einem fremden Lande ver-
bunden seien, sofern die Ansiedler eines wirklichen Schutzes der
Verträge geniessen sollten; dass im Kriegsfall der Geschwaderchef
den grössten Theil seiner Streitmacht nothwendig nach einem anderen
Puncte dirigiren müsse und nur ein grösseres Kriegsschiff mit zwei
Kanonenbooten vor Yokuhama zurücklassen könne. Er versprach
jedoch die Räumung nur im äussersten Nothfall zu verlangen, und
wünschte offenbar lebhaft den Bruch zu vermeiden, der nicht bloss
den englischen Unterthanen, sondern auch denen der anderen Ver-
tragsmächte schwere Verluste und Leiden drohte. Herr von Belle-
court
suchte den Reichsrath aus seiner impassiblen Haltung zu
[278]Auswanderung von Yokuhama. Anh. II.
reissen, indem er die Interessen der fremden Nationen für solidarisch
erklärte, und brachte es durch seine vermittelnden Bemühungen
wenigstens dahin, dass Herr Neale noch kurz vor Ablauf der Frist
eine Verlängerung derselben bis zum 11. Mai bewilligte.


Die Aussichten der Niederlassung für den Kriegsfall blieben
trostlos, bis am 26. April der Obercommandant des französischen
Geschwaders in diesen Gewässern, Contre-Admiral Jaurès, auf der
Fregatte Semiramis vor Yokuhama erschien. Er bot dem englischen
Vice-Admiral seine Unterstützung an, erklärte für alle Eventualitäten
Yokuhama nach Kräften vertheidigen zu wollen und flösste durch
sein energisches Auftreten den geängsteten Ansiedlern neues Vertrauen
ein. Die Nachrichten aus Miako wurden immer bedenklicher: die
Daïmio’s hätten beim Mikado die Verbannung der Ausländer durch-
gesetzt, der Taïkūn müsse nachgeben und sei nun zur Ausführung
des Decretes verpflichtet. — Am 4. Mai gerieth urplötzlich die ganze
japanische Bewohnerschaft von Yokuhama in Bewegung: die Kauf-
leute und Handwerker wanderten mit Weib und Kind, mit Hab
und Gut nach Kanagava aus; die Diener und Arbeiter forderten von
den Fremden ihren rückständigen Lohn, drangen, als man sich
dessen um sie festzuhalten weigerte, zu starken Rotten in die Häuser,
misshandelten die Bewohner und verübten gewaltsamen Diebstahl.
Dieser Unfug wiederholte sich am 5. und 6., bis ein Franzose einen
japanischen Arbeiter niederschoss. Es blieb zweifelhaft, ob die
Auswanderung nur von Yeddo aus angeordnet wäre um einen Druck
auf die Engländer zu üben, oder von Miako, als Vorspiel der ge-
waltsamen Vertreibung aller Fremden. Man erwartete zunächst
die Abschneidung der Lebensmittel und trug sich mit den tollsten
Gerüchten von Vergiftung und Ueberfall. Die japanischen Behör-
den erklärten, ihren Unterthanen die Auswanderung angesichts der
zu erwartenden Feindseligkeiten der Engländer nur erlaubt zu
haben; doch ging aus den Aussagen Jener deutlich hervor, dass sie
die Räumung befohlen hatten. Die Bevölkerung gehorchte ohne
Murren. In den nächsten Tagen dauerte die Auswanderung der
Kaufleute und Handwerker noch fort, während eine Menge Arbeiter
und Tagelöhner sich wieder einstellten, darunter viele ganz fremde,
mit denen die treu gebliebenen Japaner nicht zusammen dienen
wollten. Es hiess, die Regierung habe eine Schaar Verbrecher aus
den Gefängnissen auf die Ansiedlung losgelassen. Die Aufregung
stieg auf das höchste; die europäischen Kaufleute brachten ihre
[279]Anh. II. Hülfserbietungen. Lage der Fremden in Naṅgasaki.
Bücher und Kostbarkeiten an Bord der Kriegsschiffe in Sicherheit
und waren des Schlimmsten gewärtig. Der Mikado hatte nach Aus-
sage der japanischen Beamten die Verbannung fest beschlossen; sie
sprachen von beunruhigenden Fortschritten der regierungsfeindlichen
Parthei, welche zur Zeit jedes freie Handeln des Taïkūn lähmten.
Angesichts dieses bedrohlichen Zustandes liess nun der englische
Geschäftsträger für den Augenblick seine Forderungen fallen, ge-
währte eine weitere Frist bis zum 21. Mai, und bot in Ueberein-
stimmung mit den Vertretern von Frankreich und Holland der Re-
gierung die Hülfe der europäischen Geschwader unter der Bedingung
an, dass die japanische Bevölkerung augenblicklich nach Yokuhama
zurückkehre; eine Weigerung letzteren Punctes werde man aber
als Eröffnung der Feindseligkeiten betrachten und Yokuhama mili-
tärisch besetzen lassen. — Sei es nun, dass die conservative Parthei
im Reichsrath durchdrang, sei es, dass die ernstliche Kriegsdrohung
ihn schreckte, — kurz, er ging auf das Anerbieten ein und sandte
einen Bunyo der auswärtigen Abtheilung, Takemoto Kaï-no-kami, —
der als gewandter Unterhändler vielfach den diplomatischen Verkehr
vermittelte, — mit den Propositionen der Gesandten nach Miako.
Die japanische Bevölkerung von Yokuhama kehrte eben so schnell
und willig zurück als sie ausgewandert war, und es trat ein kur-
zer Zeitraum der Ruhe ein, während dessen zwar der Handel
gänzlich stockte, der übrige Verkehr aber wieder in das alte
Gleise kam.


Die Ausländer in Naṅgasaki befanden sich unter der Zeit in
ähnlicher Lage. Der Statthalter, über dessen Ehrenhaftigkeit und
wohlwollende Gesinnung nur eine Stimme herrschte, hatte den
Consuln der Vertragsmächte notificirt, dass im Falle der Kriegs-
erklärung alle Fremden ausser den Russen, welche sich für die
Zeit der Reparaturarbeiten an dem Kriegsdampfer Amerika in ihrer
Niederlassung Inasia ausgeschifft hatten, binnen achtundvierzig Stun-
den Naṅgasaki verlassen müssten. Die Consuln der im Frieden mit
Japan lebenden Mächte remonstrirten vergebens; der Statthalter
erklärte, es würde für die Japaner unmöglich sein die Nationalität
der Ausländer zu unterscheiden; alle zurückbleibenden setzten sich
der grössten Lebensgefahr aus. Ein Gleiches war auch den An-
siedlern von Yokuhama angekündigt worden, vielleicht um durch die
anderen, zahlreich vertretenen Nationen einen Druck auf die Eng-
länder zu üben. — Auf den Uferhöhen der Bucht von Naṅgasaki
[280]Spannende Lage. Anh. II.
herrschte rege Thätigkeit: die Japaner bauten neue Batterieen, ver-
sahen die alten mit schwerem Geschütz und verstärkten deren Be-
satzungen. In der Maschinenfabrik zu Aku-no-ura wurden Tag und
Nacht Kugeln gegossen. Die Umgegend wimmelte von Soldaten, die in
starken Abtheilungen aus dem Inneren anrückten, während die fried-
lichen Bewohner der Stadt und der umliegenden Dörfer in grossen
Schaaren mit Hab und Gut abzogen. Auch die meisten Tagelöhner
verliessen die Niederlassung oder waren nur durch verdreifachten
Lohn zu halten; aller Handelsverkehr hörte auf und die Unsicherheit
stieg von Tage zu Tage. Der Statthalter war sichtlich besorgt und
gab der Niederlassung eine Wache, ersuchte jedoch die Fremden
auf ihrer Hut zu sein, da er bei der starken Ansammlung von Sol-
daten und der unter ihnen herrschenden Aufregung für nichts bürgen
könne. Die Japaner in Naṅgasaki waren vom Vornehmsten bis zum
Geringsten überzeugt, dass man die Forderungen der Engländer
nicht erfüllen werde, und der Statthalter drang mit wohlwollender
Fürsorge in die Fremden, Alles zur schleunigen Einschiffung bereit
zu halten, da es ausser seiner Macht stehe, sie beim Eintreffen der
Nachricht vom Ausbruch des Krieges vor Unbilden zu schützen.
Sie hatten auch ihre Bücher und Kostbarkeiten sowie die werth-
vollsten Waarenvorräthe auf die Schiffe gebracht, und versammelten
sich, einen nächtlichen Angriff befürchtend, allabendlich in zwei
dem Landungsplatze zunächst gelegenen Häusern der Niederlassung,
während der englische Consul, der seine Person besonders exponirt
glaubte, die Nächte an Bord eines der englischen Kanonenboote —
Swallow und Ringdove — zuzubringen pflegte. Für den Kriegsfall
hatte der Admiral ein grösseres Schiff versprochen.


An den Schutzmaassregeln für die Niederlassung in Yokuhama
betheiligten sich die diplomatischen Agenten und Consuln aller Ver-
tragsmächte ausser den amerikanischen, welche noch immer eine Aus-
nahme-Stellung einnahmen und, die Solidarität der Interessen ver-
kennend, sich von den gemeinsamen Handlungen der übrigen Ver-
treter ausschlossen. Eine amerikanische Handelsgesellschaft versorgte
die Regierung des Taïkūn mit Waffen und Kriegsmaterial aller Art
und hatte sogar die Lieferung grosser Kriegsschiffe zugesagt. Dieser
Handel nahm besonders seit Beginn der kriegdrohenden Ver-
wickelungen mit England einen lebhaften Aufschwung, und man
glaubte in der Niederlassung, dass der amerikanische Minister-
Resident — ohne Wissen seiner Regierung — sich mit grossen
[281]Anh. II. Brand der amerikanischen Gesandtschaft.
Summen daran betheilige. Herr Pruyn hatte von Herrn Harris
dessen Vertrauensstellung und Antagonismus gegen die Vertreter
einiger europäischen Mächte, aber nicht dessen Tact und Einsicht
geerbt, und zerstörte durch sein Auftreten allmälich das Werk seines
Vorgängers, dessen Früchte er anfangs genoss. Bis zum Mai 1863
war er der einzige Diplomat, der seinen Sitz bleibend in Yeddo
behielt, — denn die Vertreter der anderen Mächte gingen schon
lange nur zur Abwickelung ihrer Geschäfte hinüber, — der amerika-
nische Consul und einige Missionare die einzigen, die noch in
Kanagava wohnten. Der Reichsrath hatte Herrn Pruyn schon
wiederholt deutlich zu verstehen gegeben, dass er seine Uebersiede-
lung nach Yokuhama wünsche. In der Nacht des 23. Mai brach
dann plötzlich in dem an die Gesandtschaft stossenden Priesterhause
Feuer aus und griff so rasch um sich, dass Herr Pruyn mit Mühe
nur das Archiv rettete. Er siedelte nun in einen kleinen Tempel
in der Nähe über und bestand darauf in Yeddo zu bleiben, wurde
aber in der Nacht zum 1. Juni unter Vorspiegelung einer grossen
Lebensgefahr plötzlich halb gewaltsam aufgehoben und an Bord
eines japanischen Dampfers gebracht, der ihm am folgenden Morgen
in Yokuhama absetzte. Zu gleicher Zeit mussten auch der amerika-
nische Consul und die Missionare aus Kanagava dahin übersiedeln.


Am 24. Mai kehrte Takemoto Kaï-no-kami aus Miako nach
Yeddo zurück und hatte am 25. eine Unterredung mit dem eng-
lischen Geschäftsträger, welcher auch Herr von Bellecourt und die
Geschwadercommandanten beiwohnten. Aus seinen Mittheilungen
ergab sich, dass der Taïkūn für jetzt nicht an Feindseligkeiten denke,
also die Anerbietungen der fremden Vertreter ablehnen müsse. Die
regierungsfeindliche Bewegung trete in Gestalt zahlreicher Lonin-
Banden auf, welche das Land beunruhigten und die Bevölkerung
aufhetzten. Der Taïkūn habe sich mit dem Mikado ausgesöhnt
und wünsche nach Yeddo zurückzukehren, aber die um Miako ver-
sammelten aufrührerischen Heerhaufen beeinflussten den dortigen
Hof und widersetzten sich seiner Abreise. Die Majorität des Reichs-
rathes und der den Taïkūn vertretende Fürst von Owari hätten die
Zahlung der Strafsumme beschlossen, doch könne man sie vor Rück-
kehr des Taïkūn ohne grosse Gefahr für die Fremden sowohl als
für die Regierung nicht öffentlich vollziehen; die Erbitterung der
Lonine würde sonst den höchsten Grad erreichen und einen Angriff
auf Yokuhama zur Folge haben, die regierungsfeindliche Parthei
[282]Takemoto’s Eröffnungen. Unsicherheit. Anh. II.
aber den Sturz des Taïkūn zu Gunsten eines anderen Fürsten ver-
suchen. — Takemoto soll Herrn Neale mündlich die geheime Zah-
lung des Geldes durch Anweisung auf die Zölle von Yokuhama an-
geboten und der Geschäftsträger diese Proposition angenommen
haben, ohne die anderen Puncte zu berühren; dies wäre ein starkes
Zugeständniss an die japanische Regierung gewesen, denn sie konnte
dann gegen ihre Unterthanen den Schein wahren, als ob sie wider-
standen und die Engländer keinen Angriff gewagt hätten. — Die
Eröffnungen Takemoto’s waren offenbar ein Gemisch von Trug und
Wahrheit. Auffallend ist vor allem die oft bewiesene Abneigung der
Regierung, die Landesfürsten als Feinde des Systemes und der
bestehenden Verträge zu nennen. Der Mikado und die Lonine wur-
den wieder und wieder in den Vordergrund gestellt, die Daïmio’s
dagegen, welche, die wirkliche Triebfeder der Bewegung, ganz
allein zu fürchten waren, der Aufmerksamkeit der Fremden entzogen,
aus Besorgniss dass diese deren politische Stellung erkennen und
in directe Verbindung mit ihnen treten möchten. Die Schwäche
und das wankende Ansehn der Regierung zeigten sich bei jeder
Gelegenheit. Ein englischer Consularbeamter, der nach Kanagava
hinübergefahren war, wurde dort auf der Strasse angesichts der
japanischen Wachen insultirt und mit der blanken Waffe bedroht;
er entging Thätlichkeiten nur durch den Respect, welchen sein
Revolver einflösste, während die an Zahl weit überlegenen Soldaten
den beiden Fanatikern nur gütlich zuredeten, ohne Hand an sie zu
legen. Die Bewohner von Yokuhama, welche die Ansiedlung auf
Befehl der Regierung verlassen und wieder bezogen hatten, erhielten
jetzt Geldentschädigung, die ansässigen Kaufleute je sechszig, Tage-
löhner und Dienstboten je sechs Itsibu. Man suchte Anhänger in
allen Volksschichten zu gewinnen.


Die Aussichten der Fremden verschlimmerten sich. Man hörte
aus Miako, dass der fremdenfreundliche Minister Matsdaïra Sangakfu
entlassen und Prinz Ftutsbaši, der Sohn des verstorbenen Fürsten
von Mito durch den Einfluss des Mikado zum Vice-Siogun ernannt
worden sei. Dieser junge Fürst war es, welchen sein Vater 1858
auf den Thron zu erheben versuchte, als der jetzige Taïkūn ihn
unter dem Einfluss des Ikamo-no-kami überflügelte. Die Successions-
gesetze im Siogun-Hause scheinen noch complicirter zu sein, als im
einleitenden Abschnitt angegeben ist, müssen aber, da dem Verfasser
das erst neuerlichst vom Consul von Brandt aufgedeckte Material
[283]Anh. II. Erbfolge. Prinz Ftutsbaši.
nicht vollständig vorliegt, unerörtert bleiben; doch sei hier gesagt,
dass im Falle der Unfähigkeit eines Siogun zur Regierung die Linie
Mito den Vice-Siogun zu stellen hat, dass die Nebenlinie Ftutsbaši
in gewissen Fällen zu den thronberechtigten gehört, und dass
der Fürst von Mito die Adoption seines Sohnes durch den Repräsen-
tanten dieses Hauses erwirkte, um ihm Anspruch auf den Thron
zu verschaffen. Ikamo war stärker, schob den Prätendenten bei
Seite, und wurde durch Trabanten des Mito ermordet, der bald
darauf selbst eines gewaltsamen Todes starb. Ftutsbaši-Mito
musste seinen Thronrechten entsagen, stand aber noch immer an der
Spitze der mächtigen Parthei, welche im Geheimen am Sturze der herr-
schenden Linie arbeitete und, durch das Streben der freiheitslüsternen
Daïmio’s unterstützt, den Krieg mit dem Auslande heraufzubeschwö-
ren suchte. Seine Erhebung zur Würde des Vice-Siogun, auf welche
er wahrscheinlich als Prinz von Mito unter gewissen Verhältnissen
Anspruch hatte, war sicher ein Compromiss, durch welchen zwar
sein Anrecht auf den Thron nichtig, sein politischer Einfluss aber
bedeutend erhöht wurde. Offenbar geben die verwickelten Erbfolge-
Verhältnisse jetzt wie vor tausend Jahren der Cabale und Ver-
schwörung freien Spielraum. Für die Fremden musste diese Erhe-
bung in einem Lande bedenklich sein, wo durchschlagende Herrscher-
gewalt immer anerkannt worden ist; denn, wenn auch sein Recht
auf den Thron erlosch, so waren damit noch keineswegs seine An-
sprüche
beseitigt, im Gegentheil seiner auf Krieg mit dem Aus-
lande zielenden Politik nur freiere Wirksamkeit eingeräumt; es war
sicher eine Schlappe der conservativen Parthei.


Die dem Vernehmen nach mit Takemoto mündlich verabredete
geheime Zahlung kam nicht zur Ausführung; die Japaner selbst
scheinen die Bedingung des Geheimnisses fallen gelassen zu haben,
und versprachen am 18. Juni die Summe von 140,000 Dollars, von
da an wöchentlich 50,000 abzutragen. Der genannte Tag verstrich.
Herr Neale stellte eine neue Frist bis zum 19. Abends, erhielt jedoch
auch bis dahin nur die Nachricht, dass das Geld zwar bereit liege,
der Taïkūn aber Gegenbefehl geschickt habe. Der Gouverneur von
Kanagava schob in einem Gespräch mit Herrn von Bellecourt die
Schuld auf den Mikado: jeder vernünftige Japaner sehe ein, dass
sein Vaterland im Kriege mit den Fremden unterliegen müsste: nur
der Mikado halte in seiner beschränkten Vorstellung Japan für das
mächtigste Reich der Welt, und habe streng befohlen die Fremden
[284]Admiral Jaurès. Anh. II.
auszuweisen. — Am 20. erklärte der englische Geschäftsträger seine
Beziehungen zur japanischen Regierung für abgebrochen und legte
die weitere Lösung in die Hände des Admiral Kuper, welcher die
Eröffnung der Feindseligkeiten auf den 1. Juli festsetzte. Er gab
abermals sein Unvermögen kund Yokuhama zu halten, und die
meisten Bewohner machten schon Anstalt sich mit ihrer Habe ein-
zuschiffen, als Admiral Jaurès sein Versprechen wiederholte, sie
nach Kräften zu schützen. Diese von den Ansiedlern aller Na-
tionen freudig begrüsste Erklärung bewirkte eine günstige Wendung;
ohne sie hätten wahrscheinlich alle Europäer Yokuhama verlassen,
der Verkehr wäre abgebrochen und der Krieg unvermeidlich gewesen.
Der Chef des französischen Geschwaders trat jetzt in Verbindung
mit den Bevollmächtigten des Reichsrathes und verabredete die zur
Vertheidigung des Städtchens zu treffenden Anstalten: man kam
überein, dass alle japanischen Truppen aus demselben entfernt und
ausserhalb aufgestellt, die Niederlassung selbst aber von europäi-
schen Matrosen, Seesoldaten und von dem Freiwilligen-Corps der
Ansiedler besetzt werden sollte. Diese Maassregeln wurden denn
auch sofort ausgeführt und es kam wieder ein Gefühl der Sicherheit
über die Bewohner, obgleich Admiral Kuper sich ernstlich zur
Offensive bereitete. Die Bunyo’s hatten gegen den französischen
Admiral die Hoffnung ausgesprochen, dass die Feindseligkeiten der
Engländer sich weder gegen Yeddo noch auf die Umgebung von
Yokuhama richten würden, und deutlich zu verstehen gegeben, dass
sich von Operationen gegen Osaka eine weit grössere Wirkung er-
warten liesse. Der Admiral machte ihnen jetzt nochmals die traurigen
Folgen des thörichten Widerstandes klar, welcher die Regierung in
unabsehbare Verwickelungen und einen verderblichen Krieg mit
dem Auslande stürze; die Bevollmächtigten schützten Uneinigkeit im
Gorodžio und die Besorgniss vor, dass die Zahlung die Sicherheit
der Fremden nicht fördern würde, fragten aber beim Abschied,
ob es nicht zu spät, ob der Krieg noch zu vermeiden sei.


Am 23. Juni liess Admiral Kuper die Corvette Pearl und ein
Kanonenboot vor Yeddo kreuzen; Abends kehrte letzteres in Be-
gleitung eines japanischen Dampfers nach Yokuhama zurück. Man
wusste, dass die ganze Strafsumme schon seit mehreren Tagen im
Zollhause bereit lag. Gegen Mitternacht kamen Bevollmächtigte des
Reichsrathes zum französischen Geschäftsträger und zeigten ihm
an, dass die Zahlung auf seinen Rath beschlossen worden sei; sie
[285]Anh. II. Zahlung der Geldbusse. Schliessung der Häfen angezeigt.
wünschten, da die Beziehungen zur englischen Gesandtschaft ab-
gebrochen wären, das Geld in seine Hände niederzulegen. Herr
von Bellecourt bot ihnen seine Vermittelung an und suchte noch
in der Nacht Herrn Neale auf, der sich zur Empfangnahme bereit
erklärte, wenn neben den 100,000 Pfund Sterling für Richardson
auch die seit einem Jahre beanspruchten 10,000 für die ermordeten
Schildwachen auf einmal abgetragen würden. Er stellte die Frist
bis sieben Uhr Morgens; die Zahlung begann aber schon vor Sonnen-
aufgang und wurde mit 440,000 mexicanischen Dollars ohne weitere
Zögerung richtig geleistet. Das in dem Ultimatum geforderte Ent-
schuldigungsschreiben des Reichsrathes ging nach einigen Tagen
ebenfalls ein, und so war jeder Anlass zum Kriege gegen die Re-
gierung von Yeddo beseitigt. Die conservative Parthei hatte also
die Oberhand behalten; sie scheint immer noch die mächtigere, aber
in thatenlose Lethargie versunken gewesen zu sein, und sich in
diesem wie in vielen anderen Fällen erst im Augenblick der unmittel-
baren Gefahr zu entschiedenem Auftreten ermannt zu haben.


In Yokuhama war nach kurzer Zeit wieder Alles beim Alten,
obgleich die Minister des Taïkūn noch am 24. Juni, dem Tage der
Indemnitäts-Zahlung, den Vertretern des Auslandes amtlich notifi-
cirten, dass sie zur Schliessung aller Häfen und Ausweisung der
Fremden beauftragt seien. Mündlich und vertraulich liessen sie ihnen
mittheilen, es sei damit nicht ernst gemeint; die Regierung könne
nur den Befehlen des Mikado nicht länger offenen Widerstand leisten
und müsse scheinbar gehorchen; sie wolle durch Scheinverhand-
lungen mit den Fremden Zeit gewinnen, um der inneren Zerwürf-
nisse Meister zu werden. Dem Vernehmen nach wünschte der
Minister Ongasavara Dzuzio-no-kami, welcher sowohl die Zahlung
durchgesetzt, als das Verbannungsdecret unterzeichnet hatte, damals
sogar ein offenes Bündniss mit den Vertragsmächten gegen den
Mikado, drang damit aber nicht durch. Die Diplomaten konnten
bei der unverbesserlichen Geheimnisskrämerei der Japaner zu keiner
klaren Anschauung gelangen. Unter dem Volke lief das Gerücht
um, die Fremden würden das Land binnen fünf Monaten verlassen;
und es ist wahrscheinlich, dass die Regierung die Nachricht solches
angeblichen Resultates ihrer Verhandlungen mit den Vertretern des
Westens aussprengte, um der Gegenparthei jeden Vorwand zu neuen
Anklagen am Hofe von Miako zu nehmen. Ein später bekannt ge-
wordenes Schreiben des Fürsten von Naṅgato bestätigt diese Ver-
[286]Truppen nach Miako. Kaiserliche Miliz. Anh. II.
muthung. Sicher hatte in Yeddo die conservative Parthei, welche
den freundschaftlichen Verkehr mit den Fremden zu erhalten wünschte,
für den Augenblick die Oberhand. Die Geschäftsträger von England
und Frankreich waren sehr erstaunt, als wenige Tage nach Insinuirung
des Verbannungsdecretes die Minister mit dem Anliegen hervortraten,
ihnen einige der grössten vor Yokuhama liegenden Kriegsschiffe zum
Truppentransport nach Osaka zu leihen. Der Taïkūn, hiess es, sei
in Miako von Feinden umringt, die seinen Thron zu stürzen such-
ten; er müsse befreit werden, um dem Mikado wieder offen entge-
gentreten, ihn von seinen unklugen und unausführbaren Beschlüssen
gegen die Fremden zurückbringen zu können. Die Diplomaten
mussten, da der Reichsrath den Transport der Truppen unter
japanischer Flagge
verlangte, das Gesuch natürlich ablehnen,
boten aber die Mitwirkung ihrer Geschwader in der Weise an, dass
diese unter ihren eigenen Flaggen vor Osaka erscheinen und dort
die japanischen Truppen ausschiffen sollten. Darauf ging man nicht
ein: jedes offene Bündniss mit den Fremden müsse zum Bürgerkriege
führen, und man hoffe noch auf friedlichem Wege, durch Demon-
strationen zum Ziele zu gelangen. Die Vertreter erlaubten ihnen
darauf, einige im Hafen liegende europäische Handelsdampfer zu
miethen, auf welchen am 9. Juli eine ansehnliche Streitmacht nach
dem Binnenmeere abging.


Gegen die Schliessung der Häfen hatten die Repräsentanten
der Vertragsmächte natürlich sofort formellen Protest erhoben und
erklärt, dass die Commandanten der Kriegsschiffe zur gewaltsamen
Wahrung der Vertragsrechte angewiesen seien. Es war auch weiter
nicht die Rede davon; im Gegentheil trat die japanische Obrigkeit
in noch engere Verbindung mit den Befehlshabern des englischen
und französischen Geschwaders und bevollmächtigte dieselben förmlich
zur Vertheidigung von Yokuhama. Die Japaner sagten dort allge-
mein, dass die Nachgiebigkeit des Reichsrathes gegen Herrn Neale
im Lande sehr schlechten Eindruck gemacht, den stolzen Trabanten-
Adel auf das Aeusserste erbittert habe; die Umgegend war unsicherer
als jemals. Die Regierung zog denn auch die dort stehenden Daïmio-
Soldaten zurück und ersetzte sie durch kaiserliche Miliz, eine Truppe
aus bewaffneten Bauern mit einem Säbel, zu der die Dörfer auf
je zweihundert Kok Einkommen einen Mann zu stellen haben.
Der Generalstabs-Officier des französischen Admirals ordnete im
Einverständniss mit dem japanischen Anführer ihre Aufstellung auf
[287]Anh. II. Sicherheitsmaassregeln. — Angriff auf den Pembroke.
den benachbarten Höhen. In Yokuhama lagen nur europäische
Mannschaften: die französische Corvette Monge brachte Anfang Juli
zweihundertfunfzig Mann vom dritten afrikanischen Jägerbataillon aus
China herüber, die englischen Kriegsschiffe landeten zahlreiche
Matrosen und Marine-Soldaten, die holländischen und amerikanischen
kleinere Detachements. Capitän Roderik Dew vom Encounter und
der französische Generalstabs-Officier Layrle führten den Oberbefehl
und organisirten einen regelmässigen Wacht- und Ronden-Dienst.
Das für die Vertheidigung sehr wichtige Vorgebirge südlich von
Yokuhama hatte die japanische Regierung den Franzosen überwiesen
und dort verpallisadirte Schanzen bauen lassen, wo eine Abtheilung
Marine-Füsiliere Stellung nahm.


Am verhängnissvollen 24. Juni 1863, dem Tage an dem in
Yokuhama die Entschädigung gezahlt und die Ausweisung der
Fremden insinuirt wurde, ging der amerikanische Handelsdampfer
Pembroke auf seiner Reise durch das Binnenmeer Abends unter dem
Schutz der kleinen Insel Naṅgasima östlich von Simonoseki10) vor
Anker. Bald nach ihm kam eine Brigg europäischer Bauart unter
japanischer Flagge dort an, legte sich auf kurze Entfernung neben
ihn und feuerte einen blinden Schuss, der von verschiedenen Küsten-
puncten beantwortet wurde. Gegen ein Uhr Nachts lief dann noch
ein japanischer Dampfer ein und eröffnete plötzlich zugleich mit der
Brigg eine heftige Kanonade auf den Pembroke. Glücklicherweise
war es dunkel und der Commandant hatte, Argwohn schöpfend,
seine Feuer brennen lassen; er lichtete sofort Anker, entkam mit
Verlust des Vormastes und der grossen Raae, und dampfte direct
nach Shanghai.


Am 2. Juli ging der französische Dampf-Aviso Kien-tšaṅ von
Yokuhama nach China ab und nahm seinen Weg durch das Binnen-
[288]Angriff auf den Kien-tšaṅ. Anh. II.
meer, um in Naṅgasaki ein Schreiben der Regierung über die Her-
stellung des freundschaftlichen Verhältnisses zu den Fremden abzu-
geben. Er hatte am 7. Juli Abends vor dem inneren Eingange der
Strasse von Simonoseki Anker geworfen und schickte sich am fol-
genden Morgen zur Weiterreise an, als von der Küste von Naṅgato
her ein Boot mit japanischen Beamten kam, welche allerlei Fragen
über seine Herkunft, Bestimmung u. s. w. thaten und nach kurzem
Bescheide abgewiesen wurden. Bald darauf hörte man Signal-
schüsse am Ufer. Der Capitän, welcher vom Angriff auf den
Pembroke nichts wusste, hatte kein Arg, liess Anker lichten
und fuhr in die Meerenge ein, als plötzlich eine Batterie zwei
scharfe Schüsse feuerte, deren Kugeln weit hinter dem Heck des
Dampfers einschlugen. Man hielt es für eine Schiessübung. Als
aber die nächste Kugel dicht über das Schiff wegsauste und noch
zwei andere Batterieen zu spielen begannen, ging der Capitän, um
die Bedeutung des Grusses zu erfahren, vor Anker und brachte ein
Boot zu Wasser, das im nächsten Augenblick von einem schweren
Geschosse zerschmettert wurde. Zu gleicher Zeit eröffneten auch
zwei vor Simonoseki liegende Schiffe europäischer Bauart das Feuer.
Da galt also kein Zaudern, der Capitän liess Anker und Kette im
Stich und setzte seine Fahrt mit voller Dampfkraft fort, während
ein eiserner Hagel sein Takelwerk zerriss und die Brustwehr zer-
trümmerte. Die beiden Schiffe vor Simonoseki hatten unterdessen
Segel gesetzt und liefen bei dem günstigen Winde dem Kien-tšaṅ
rasch auf; der Capitän entschloss sich daher mit seinem flach gehen-
den Dampfer durch einen bis dahin unversuchten Seitenarm der
Meerenge zu laufen, den gewöhnlieh nur Dschunken benutzen, und
rettete sich dadurch; denn die weit grösseren Schiffe mit der Flagge
von Naṅgato wagten sich nicht in das seichte Fahrwasser. Er
musste zwanzig Minuten lang das wohlunterhaltene Feuer mehrerer
Batterieen und Schiffe aushalten, entkam aber ohne Verlust an
Menschenleben und ohne Leck, obgleich der Rumpf des Kien-tšaṅ
an Steuerbord mit Kugeln gespickt wurde. Einige Matrosen waren
durch Holzsplitter leicht verletzt.


Auf der Weiterreise nach Naṅgasaki begegnete der Kien-tšaṅ
der niederländischen Dampfcorvette Medusa, welche mit dem unter-
dess zum General-Consul ernannten Herrn de Graeff van Polsbroek
an Bord auf dem Wege nach Yokuhama war und ebenfalls durch
das Binnenmeer gehen sollte. Der Capitän des Kien-tšaṅ sprach
[289]Anh. II. Angriff auf die Medusa. Der Wiomiṅg.
sie an, berichtete sein Abentheuer und gab Depeschen für den
Admiral Jaurès mit. Die Medusa war also einigermaassen vorbe-
reitet, als sie in die Strasse von Simonoseki einlief.


Vor der Stadt lagen wieder die beiden Schiffe, eine Brigg
und eine Bark mit der Flagge des Fürsten von Naṅgato im Gross-
top. Sie gaben Signalschüsse ab, und der Commandant der Medusa,
Capitän van Casembroot, machte die Corvette gefechtsklar. Als
sie sich auf drei Kabellängen genähert hatte, eröffneten die beiden
Schiffe und die nächste Batterie ein heftiges Feuer. Capitän Ca-
sembroot
antwortete sehr nachdrücklich aus seinen acht Backbords-
geschützen, brachte auch, langsam avancirend, jene Batterie zum
Schweigen, und beabsichtigte die Schiffe in Grund zu bohren; doch
war das Wasser nicht tief genug, und er musste, von drei anderen
im Gebüsch versteckten Batterieen jetzt mit einem Kugelregen über-
schüttet, bei der Ungleichheit des Kampfes seinen Weg schneller
fortsetzen. Die Medusa erhielt in dem anderthalbstündigen Kampfe
einunddreissig Schüsse, davon siebzehn in den Rumpf. Ein dreissig-
pfündiges Geschoss tödtete drei Mann und verwundete einige andere
mehr oder weniger schwer. Mehrere sechzehnzöllige Granaten
platzten an Bord, und zweimal brach Feuer aus, das bald wieder
gelöscht wurde. Hätte eine Kugel das Steuerruder oder die Maschine
beschädigt, so war das Schiff verloren.


Als der Pembroke in Shanghai eintraf, lag dort die ameri-
kanische Dampfcorvette Wiomiṅg, ein Schiff von geringem Tief-
gange und grosser Schnelligkeit, mit wenigen Kanonen vom stärksten
Kaliber. Der Capitän beschloss sogleich an den Japanern Rache
zu üben, dampfte wenige Tage nach der Medusa in die Strasse von
Simonoseki
hinein und fand ausser den beiden Segelschiffen noch
einen Dampfer des Fürsten von Naṅgato vor der Stadt. Er lief,
auf den geringen Tiefgang seines Fahrzeugs vertrauend, mit voller
Schnelligkeit ohne einen Schuss abzugeben durch das Feuer der
Batterieen, dann mitten zwischen den Dampfer und die Segel-
schiffe hinein, denen er seine Breitseiten gab. Der Dampfer,
der eben angreifen wollte, war stark bemannt; eine Kugel scheint
durch seinen Kessel gegangen zu sein, wenigstens strömte der
siedende Dampf in dichten Wolken aus dem Rumpf, und die
Bemannung warf sich Rettung suchend in das Wasser. Der
Wiomiṅg sollte nun umwenden um den Kampf mit den Schiffen
wieder aufzunehmen, gerieth aber bei der geringen Breite des
II. 19
[290]Operationen gegen Simonoseki. Anh. II.
Fahrwassers auf den Sand und blieb einige Minuten lang die unbe-
wegliche Zielscheibe der Strandbatterieen. Sein dem Lande zuge-
wendeter Bord wurde denn auch dicht mit Kugeln bepflastert, und
auf dem Verdeck fielen zwölf Mann, davon fünf zum Tode ver-
wundet. Flott geworden ging er wieder zwischen den Schiffen
durch, gab ihnen noch zwei Breitseiten, brachte das eine Segel-
schiff zum Sinken, kehrte dann abermals um und gewann, ohne
einen Schuss an den Batterieen vorübergleitend, das freie Wasser
des Binnenmeeres.


Ein von Naṅgasaki direct gehendes Packetboot hatte schon
am 15. Juli die Nachricht von dem auf den Kien-tšaṅ verübten
Angriff nach Yokuhama gebracht, wo das seeräuberische Gebahren
des Fürsten von Naṅgato Staunen und Entrüstung weckte. Seit
Jahren war der Weg nach Naṅgasaki und Nord-China durch das
Binnenmeer und die Strasse von Simonoseki für Dampfer der ge-
wöhnliche; jetzt wurde aus heiterer Luft auf friedlich passirende
Schiffe gefeuert. Admiral Jaurès beschloss diese beispiellose Ver-
letzung des Völkerrechtes und die Kränkung der französischen
Flagge sofort exemplarisch zu bestrafen, und liess schon am 15. den
Aviso Tancrède in See gehen, mit dem Befehl, ihn im Bungo-Canal
zu erwarten. Er selbst brach mit der Semiramis am 16. Juli dahin
auf, nachdem der englische Geschwader-Commandant ihm ver-
sprochen, seine Operationen gegen Satsuma bis zur Rückkehr der
französischen Schiffe aufzuschieben. Die Corvetten Monge und
Dupleix blieben vor Yokuhama. — Am Eingange des Golfes
von Yeddo begegnete die Semiramis der Medusa und nahm die
Depeschen vom Kien-tšaṅ nebst dem Schlachtbericht des Capitän
van Casembroot an Bord. Den 18. holte sie den Tancrède ein,
lief mit ihm den 19. durch den Canal von Buṅgo, und ging
Abends vor dem inneren Eingang der Strasse von Simonoseki unter
dem südlichen Ufer zu Anker. Am folgenden Morgen lässt Admiral
Jaurès Generalmarsch schlagen und fährt mit beiden Schiffen langsam
die Küste von Kiusiu hinauf. Bald signalisiren zwei ferne Kanonen-
schüsse ihre Ankunft. Gegen sechs Uhr werden auf dem nörd-
lichen Ufer, dem Territorium des Fürsten von Naṅgato zwei Batte-
rieen sichtbar; die Fregatte ist in dem starken Strom schwer zu
regieren, fährt sich fest, wird aber nach einer Viertelstunde wieder
flott und ankert etwas höher hinauf vor dem Städtchen Tana-ura, in
Schussweite des gegenüberliegenden nördlichen Ufers. Dort bemerkt
[291]Anh. II. Operationen gegen Simonoseki.
man durch das Fernrohr grosse Bewegung; Soldaten laufen zwischen
den Schanzen ab und zu und nach den höher gelegenen Dörfern
hinauf, reitende Boten fliegen den Strand entlang nach Simonoseki.
Die Brustwehren bedecken sich mit Mannschaft, man erkennt
deutlich die blinkende Rüstung der Officiere. Um sieben Uhr hat
die Semiramis sich auf den Spring gelegt 11) und eröffnet das Feuer
gegen die nächste Batterie, die Dörfer wo man Truppen bemerkt
hatte und ein dahinter liegendes castellartiges Gebäude. Die feind-
liche Schanze antwortet nicht, vielleicht wegen des Städtchens
auf der Küste von Kiusiu, das in der Schusslinie der Semiramis
lag; ihre Brustwehr wird zerschossen und die Besatzung flüchtet in
den Wald. Die Semiramis bewirft jetzt auch die am Ufer hin-
laufende Strasse nach Simonoseki, wo man grosse Bewegung wahr-
nimmt. Um neun Uhr wird der Tancrède zum Recognosciren
vorgeschickt; da kommen in der beschossenen Batterie wieder
Leute zum Vorschein, welche aus allen Stücken gegen ihn Feuer
geben. Er antwortet aus vier Geschützen, während die Semiramis
einen Hagel von Granaten über die Batterie ausschüttet, die nach
einem Dutzend Schüssen das Feuer einstellt und von der Bedie-
nungsmannschaft geräumt wird. Der Tancrède ist unterdessen
weiter vorgegangen und berichtet zurückkehrend, dass weiter nach
Simonoseki hinauf andere Werke sichtbar werden, die sich zum
Angriff bereiten; er hat aus denselben drei Kugeln erhalten, davon
eine dicht an der Wasserlinie in den Rumpf. Der Admiral beschliesst
jetzt eine Landung und unterhält, während die dazu bestimmten
Mannschaften ausruhen und frühstücken, ein langsames Feuer auf
die erste Batterie und ihre Umgebung.


Wie bei den früheren Angriffen, so nahm auch diesmal die
Bevölkerung des Fürstenthumes Budsen — auf der Küste von
Kiusiu — an den Feindseligkeiten keinen Antheil. Die Bewohner
von Tana-ura bedeckten in dichten Schaaren jede vorspringende
Uferstelle, alle Dschunken und nach den hochgelegenen Tempeln
19*
[292]Operationen gegen Simonoseki. Anh. II.
führenden Treppen, und schienen dem Kampf mit grosser Spannung
zuzusehen. Der Admiral hatte eine Proclamation über seine fried-
lichen Absichten gegen die Bevölkerung und die Veranlassung seiner
Fehde mit dem Fürsten von Naṅgato erlassen, welche der an Bord
befindliche Dolmetscher der französischen Gesandtschaft, Abbé
Girard, übersetzte und im Laufe des Vormittags unter militärischer
Escorte nach der Stadt brachte. Er wurde durch dichte Volks-
haufen, unter denen sich kein Ton des Missfallens hören liess,
zum Ortsvorsteher geleitet, der ihn sehr freundlich und ehrenvoll
empfing, und die Proclamation sofort durch einen reitenden Boten
an den Landesfürsten sandte.


Um Mittag wurden die Boote armirt, und eine Compagnie
Marine-Füsiliere nebst den aus Yokuhama mitgenommenen Chasseurs
d’Afrique, zusammen etwa zweihundertfunfzig Mann, unter Befehl
des Linienschiff-Capitäns Le Couriault du Quilio eingeschifft. Sie
kamen, mit dem starken Strome kämpfend, nur langsam vorwärts,
richteten einige Schüsse auf das Ufergebüsch und landeten dann
unbelästigt. Die Chasseurs d’Afrique erklimmen, den im Gebüsche ver-
steckten Feind zurückwerfend, die Strandhöhen und avanciren gegen
die Dörfer; die Japaner feuern ihre Gewehre ab und laufen davon.
Die Marine-Füsiliere rücken ohne Belästigung seitwärts in die ver-
lassene Schanze, eine Abtheilung Matrosen zieht nach dem castell-
artigen Gebäude hinauf. Hin und wieder fallen unsichere Schüsse
aus dem Gebüsch, sonst kein Widerstand. Von den Schiffen
aus bemerkt man aber, dass auf der Strasse von Simonoseki her,
welche hier ungedeckt am Strande hinläuft, starke Truppenkörper
sich gegen die Batterie bewegen. Ein Hagel von Granaten zersprengt
die Colonne, die sich, am Vordringen gehindert, in einer gedeckten
Stellung weiter rückwärts wieder sammelt und ein unwirksames Ge-
wehrfeuer auf die Franzosen in der Schanze richtet. Diese haben dort
fünf Geschütze vernagelt, deren Laffetten in Brand gesteckt und die
vorräthige Munition in das Wasser geworfen. Leichen und blutige
Kleiderfetzen lagen umher. — Die Chasseurs d’Afrique zünden
in den Dörfern die Baracken der japanischen Soldaten an, er-
beuten dort allerlei Waffenstücke und holländische Werke über
Tactik, deren eines grade an der Stelle »Vom Angriff einer Batterie
auf Schiffe die mit starker Strömung kämpfen« aufgeschlagen ist. —
Das castellartige Gebäude enthält neben ansehnlichen Wohnräumen
grosse Magazine mit Pulver und Munition; die Matrosen legen Feuer
[293]Anh. II. Conferenz in Yokuhama.
an und es fliegt unter furchtbarem Knall in die Luft. Darauf gab
der Admiral das Signal zur Rückkehr. Die Mannschaften sammelten
sich in der Batterie und wurden dabei ebensowenig als bei der Ein-
schiffung belästigt; sie trafen schon um drei Uhr wieder an Bord
ein und brachten drei Leicht- und einen Schwerverwundeten mit,
die einzigen Opfer des ganzen Unternehmens. Die Japaner haben
ihren Verlust nachträglich auf hundertfunfzig Mann angegeben, doch
fanden die Franzosen nur wenige Todte.


Am 24. Juli traf die Semiramis wieder vor Yokuhama ein;
am 25. versammelten sich dort die Admiräle und die Vertreter von
England, Frankreich und Niederland zu einer Verabredung der ferner
gegen den Fürsten von Naṅgato zu treffenden Maassregeln. Die
der französischen und der amerikanischen Flagge zugefügten Be-
schimpfungen waren zwar gerächt, die Meerenge aber keineswegs
dem Verkehr der Kauffahrer geöffnet, für den sie, als die kürzeste
und sicherste Strasse nach Naṅgasaki und dem nördlichen China,
von der äussersten Wichtigkeit ist. Man stellte einerseits die An-
sicht auf, dass die in den japanischen Gewässern befindlichen Ge-
schwader unter einfacher Anzeige an die Landesregierung gemein-
schaftlich gegen den Fürsten von Naṅgato operiren und dessen
Batterieen zerstören müssten, fand aber andererseits solches Vor-
gehen nicht vollkommen gerechtfertigt. Als Herr von Bellecourt
nach der Abreise der Semiramis dem Gorodžio die Veranlassung
und den Zweck von deren Sendung notificirte, — auf die frühere
Erklärung hindeutend, dass die Centralregierung die Daïmio’s nicht
zu zwingen vermöge, — hatte er die Antwort erhalten, dass diese
Aeusserung auf einem Missverständniss beruhen müsse und der
wahren Sachlage durchaus widerspreche. Nun waren besonders
die Admiräle der Ansicht, dass zunächst die Centralbehörde zur
Züchtigung des Fürsten aufzufordern sei, ehe man zu weiterer
Selbsthülfe schritte. Da überdies Admiral Kuper in der nächsten
Zeit mit seinem Geschwader nach der Küste von Satsuma zu gehen
beabsichtigte, so wurden die Operationen gegen Simonoseki für jetzt
aufgegeben; man beschränkte sich auf eine gemeinsame Aufforderung
an den Reichsrath, die Verträge zu erfüllen und den Verkehr durch
die Meerenge vor Gewaltsamkeiten zu sichern.


Der Eindruck, welchen die Erfolge der Franzosen auf die
Japaner machten, war überraschend: die Behörden von Yokuhama
und Naṅgasaki wünschten den Fremden ganz offen dazu Glück und
[294]Rückkehr des Taïkūn. Anh. II.
erklärten, dass die Demüthigung Naṅgato’s der Sache des Taïkūn
sehr förderlich sei. Die Menge hörte die Berichte ohne jede Parthei-
lichkeit für ihre Landsleute mit der Neugier eines Kindes an, das
sich jeder erfolgreichen Handlung freut. Dass der Eindruck auf den
Trabanten-Adel, den eigentlichen Träger der öffentlichen Meinung,
derselbe gewesen sei, ist sehr unwahrscheinlich. Die Fremden kamen,
seitdem die um Yokuhama aufgestellten Daïmio-Soldaten durch
kaiserliche Miliz ersetzt worden waren, garnicht mehr mit solchen in
Berührung; doch lässt die Ende Juli erfolgte Concentrirung von
achttausend Mann kaiserlicher Truppen um die Niederlassung auf
feindselige Bewegungen der Fanatiker schliessen. — Am 31. Juli
wurde den fremden Vertretern die bevorstehende Rückkehr des
Taïkūn notificirt, welchem nach den mündlichen Mittheilungen der
Bunyo’s »der Mikado erlaubt hatte, sich zur Abwickelung drin-
gender Regierungsgeschäfte nach Yeddo zu begeben«. Einige Tage
darauf langte er zur See dort an, geleitet von einem zahlreichen
Geschwader japanischer Dampfer. Ueber seine politischen Erfolge
und die daraus resultirende Stellung der kaiserlichen Regierung zu
den Fremden konnten die Diplomaten keinen Aufschluss erlangen;
die Beamten hüllten sich in ihre gewohnte Unergründlichkeit. Da
sich nun in der Lage nichts geändert hatte, so kündigte der eng-
lische Geschäftsträger dem Gorodžio jetzt seine Absicht an, die von
dem Fürsten von Satsuma geforderte Genugthuung für die Ermor-
dung Richardson’s mit Gewalt der Waffen von ihm selbst zu er-
zwingen. Die Antwort fiel so unbefriedigend aus wie sonst: die
Regierung habe verschiedene Pläne ausgedacht um die Sache zu
arrangiren, die Maassregeln der Engländer würden sie aber durch-
kreuzen; man möge die Abfahrt des Geschwaders noch aufschieben.
Auf so unbestimmte Aeusserungen konnte der englische Geschäfts-
träger nichts geben, und so lief Admiral Kuper mit dem grössten
Theile seines Geschwaders — der Schraubenfregatte Euryalus, den
Corvetten Perseus, Pearl, Argus und den Kanonenbooten Coquette,
Racehorse und Havoc — am 6. August nach Kagosima aus. An
Bord des Flaggschiffes befand sich Herr Neale, während seine mehr
oder weniger mit der Landessprache vertrauten Attaché’s auf die
übrigen Schiffe vertheilt wurden.


Am 11. August fuhr das Geschwader durch die Vandiemens-
Strasse
, lief noch denselben Tag in den Golf von Kagosima ein und
ging, nach einigen Schwierigkeiten wegen der grossen Wasser-
[295]Anh. II. Das englische Geschwader vor Kagosima.
tiefe, gegen zehn Uhr Abends an einer geeigneten Stelle zu
Anker. Früh am nächsten Morgen kam vom Ufer ein Boot mit
zwei Beamten, welche allerlei Fragen über die Herkunft, Bestim-
mung, Kanonenzahl der Schiffe u. s. w. thaten und sich dann wie-
der entfernten. Einige Stunden darauf gingen die Schiffe unter
Dampf die Bai hinauf und legten sich vor die Batterieen der Stadt.
Bald erschien ein Boot mit vier Beamten: man habe erfahren,
dass ein Schreiben an den Fürsten von Satsuma abgegeben werden
solle; sie seien zu dessen Empfangnahme ermächtigt. Der Geschäfts-
träger liess ihnen seine Note mit den Forderungen der englischen
Regierung, — Bestrafung der Mörder Richardson’s und 25,000 Pfund
Sterling Entschädigung — nebst einer Anzeige vom Eintreffen des
Geschwaders und seiner Anwesenheit an Bord des Flaggschiffes
übermitteln; die Beamten kehrten nach einigen Stunden mit dem
Empfangsscheine zurück und erklärten, dass der Fürst sich
nicht in der Stadt, sondern auf seinem Schloss, einige Meilen
landeinwärts befinde. Sie kamen an demselben Tage noch einmal
an Bord und ersuchten den Geschäftsträger mit dem Admiral an
das Land zu kommen, wo drei Räthe des Fürsten sie in einem
zu ihrem Empfange gebührend eingerichteten Hause erwarteten.
Diesem Ansinnen, welches in sehr dringender Weise wiederholt
wurde, glaubte der Geschäftsträger nicht entsprechen zu können
ohne sich der Gefahr einer verrätherischen Gefangennehmung aus-
zusetzen, wie Golownin sie erfahren hat. Er antwortete, dass der
Zweck seines Kommens in dem übergebenen Schreiben dargelegt
sei und dass er keine weitere Mittheilung zu machen habe. Am
folgenden Tage, den 13., kam ein Beamter höheren Ranges langseit
des Flaggschiffes, gefolgt von mehreren Booten mit zweischwer-
tigen Trabanten; er liess fragen, ob der Geschäftsträger ihn selbst
empfangen würde und stellte seinerseits zur Bedingung, vierzig Be-
waffnete mitbringen zu dürfen. Der Admiral liess dem Fallrep
gegenüber einen Zug Seesoldaten unter Gewehr treten; die Tra-
banten kamen an Bord, wurden in einer Reihe neben den Geschützen
aufgestellt und hockten sogleich nach japanischer Art auf ihre Fersen
nieder. Nun kam der Bevollmächtigte und wurde zu Herrn Neale
in die Kajüte geführt, war aber in solcher Aufregung, dass ihm
die Sprache stockte. Einer seiner Begleiter ergriff das Wort und
erklärte, dass sie eine schriftliche Antwort zu übergeben, zugleich
aber eine mündliche Mittheilung von Wichtigkeit zu machen hätten.
[296]Das englische Geschwader vor Kagosima. Anh. II.
In dem Augenblick wurde er unterbrochen: ein Boot mit Beamten,
die schon von weitem mit Fahnen winkten, ruderte eiligst vom
Lande heran. Der Bevollmächtigte erhielt aus demselben eine Mit-
theilung, stand eiligst auf und verliess die Cajüte; er kam dann
wie unschlüssig wieder, entfernte sich aber endlich mit der Er-
öffnung, dass das Schreiben nicht übergeben werden könne: es sei
ein Fehler darin, der erst verbessert werden müsse.


Die ganze Zeit über bemerkte man in den Uferbatterieen, in
deren Bereich das Geschwader lag, grosse Bewegung. Alle Geschütze
waren auf die englischen Schiffe, die meisten auf den Euryalus ge-
richtet. Mehrere grosse Dschunken von den Liukiu-Inseln, welche
in der Schusslinie lagen, wurden auf die Seite bugsirt, wo sie
der Action nicht im Wege sein konnten. Kurz vor Ankunft der
japanischen Bevollmächtigten waren auch viele Boote von Kagosima
ausgelaufen, die neben einer Bemannung von Soldaten jedes einen
kleinen Vorrath frischer Lebensmittel an Bord hatten. Solche
waren den Abend vorher versprochen worden und man glaubte sie
sollten an Bord gebracht werden, überzeugte sich aber bald, dass
sie nur zur Schau ausgelegt waren, damit man die Boote heran-
kommen liesse. Es war auf eine Recognoscirung abgesehen; die
Späher entfernten sich ohne auszuladen. — Der Admiral be-
schloss nun sich so weit aus dem Bereiche der Batterieen zu ent-
fernen als die grosse Wassertiefe gestattete; die Anker wurden
in dem Augenblick gelichtet, als der Bevollmächtigte Satsuma’s
den Euryalus verliess. Dieser und der Perseus legten sich etwa
auf die doppelte Entfernung ihres ersten Ankerplatzes hinaus,
während die anderen Schiffe in einer Bucht der Kagosima gegen-
überliegenden hohen Insel Sakurasima eine vortheilhafte Stellung
nahmen. — Am Abend desselben Tages kam der japanische Be-
vollmächtigte nochmals an Bord des Flaggschiffes und übergab
folgendes Antwortschreiben:


Es ist gerecht, dass ein Mensch, der einen anderen
getödtet hat, ergriffen und mit dem Tode bestraft werde,
denn nichts ist so heilig als das menschliche Leben.
Obgleich wir die Mörder festzunehmen wünschen und uns
seit dem vorigen Jahre darum bemüht haben, so ist uns
das doch unmöglich bei dem jetzigen politischen Zwiespalt
unter den japanischen Daïmio’s, von denen einige solche
Leute sogar bergen und schützen. Ausserdem ist es nicht

[297]Anh. II. Das englische Geschwader vor Kagosima.
einer, sondern es sind mehrere Mörder, die um so leichter
entschlüpfen.


Die Reise des Šimadso Saburo nach Yeddo hatte nicht
den Zweck Morde zu begehen, sondern die Höfe von
Yeddo und Miako zu versöhnen; ihr werdet uns deshalb
glauben, dass unser Herr den Mord nicht befohlen haben
kann. Verbrecher gegen die japanischen Gesetze, welche
entweichen, sind der Todesstrafe verfallen. Wenn wir
nun diese Männer entdeckt und nach japanischem Gesetze
schuldig befunden haben werden, so sollen dieselben be-
straft werden; wir wollen es dann eueren Schiffscomman-
danten in Naṅgasaki oder Yokuhama mittheilen, damit
sie der Hinrichtung beiwohnen. Ihr müsst also in die
unvermeidliche Verzögerung willigen, welche die Aus-
führung dieser Maassregel erheischt. Wenn wir Verbrecher
hinrichteten, die für andere Vergehen verurtheilt sind,
und euch sagten, dies seien die Mörder, so wäret ihr
nicht im Stande sie zu unterscheiden. Damit würden wir
euch aber täuschen, ganz gegen den Geist, der unsere
Vorfahren beseelte.


Die Regierungen von Japan sind der Regierung von
Yeddo unterthan und gehorchen, wie ihr wohl wisst,
deren Befehlen. Wir haben nun gehört, dass ein Ver-
trag geschlossen worden ist, nach welchem die Fremden
sich in einem gewissen Umkreise frei bewegen können,
aber wir haben nicht gehört, dass sie die Landstrasse
sperren dürfen. Gesetzt das geschähe in euerem Lande,
und ihr reistet, wie wir, mit grossem Gefolge von Tra-
banten: würdet ihr nicht Jeden züchtigen (bei Seite
stossen und schlagen) der die Landesgesetze so höhnte
und verletzte? Wenn das nicht geschähe, so könnte kein
Fürst mehr eine Reise machen. Die Regierung zu Yeddo,
welche Alles lenkt und ordnet, zeigt nur ihre Unzuläng-
lichkeit, wenn sie in den Verträgen die Landesgesetze bei
Seite setzt, welche seit alten Zeiten in Kraft sind. Um
über diesen wichtigen Punct in das Reine zu kommen,
sollte ein hoher Beamter der Regierung zu Yeddo und
einer von unserer Regierung die Frage in euerer Gegen-
wart besprechen und das Richtige ausfindig machen. Nach-

[298]Das englische Geschwader vor Kagosima. Anh. II.
dem obige Fragen beurtheilt und zur Entscheidung ge-
bracht sind, soll die Geldentschädigung gezahlt werden.


Wir haben von dem Taïkūn keinen Befehl noch eine
Anzeige von dem Kommen eueres Geschwaders erhalten
12).
Die Angabe von solchen Mittheilungen ist wahrscheinlich
nur gemacht, um uns in schlechtem Lichte darzustellen.
Wenn dem nicht so ist, so habt ihr darüber sicher ein
Schreiben des Gorodžio, und wir bitten euch uns dasselbe
zu zeigen. Aus solchen falschen Angaben entstehen Ver-
wirrungen. Alles dieses überrascht uns sehr; überrascht
es euch nicht auch? Unsere Regierung handelt durchaus
nach den Befehlen der Regierung von Yeddo. — Dieses
ist unsere offenherzige Antwort auf alle die verschiedenen
Puncte eueres Schreibens.


Am neunundzwanzigsten Tage des sechsten Monats
im dritten Jahre Bunkiu (13. August 1863).


Kavakami Tayima.


Šisei, Minister13).


Den folgenden Morgen, am 14. August, erschienen noch zwei
Beamten an Bord des Euryalus, welche einen Empfangsschein über
das Schreiben verlangten und auf der darin vorgeschlagenen Lösung
bestanden. Das Haupt der Regierung von Yeddo hätte den Šimadso
Saburo
bedeutet, dass Satsuma sich in keinerlei directe Verhand-
lungen mit den Engländern einlassen sollte; dieser sei folglich nicht
berechtigt, deren Forderungen zu erfüllen noch sie abzuweisen.
Herr Neale sah aber das Schreiben als eine kategorische Weigerung
an und beauftragte den Admiral, vorläufig solche Gewaltmaassregeln
anzuwenden, als geeignet wären die Japaner zur Besinnung und
zum Nachgeben zu bringen. Der Geschwader-Commandant recognos-
cirte in Folge dessen die obere Bai auf dem Kanonenboot Havoc,
untersuchte die Stellung von drei schon am Tage vorher durch
seine Boote entdeckten Dampfern in einer kleinen Bucht nördlich
von Kagosima, und fand durchgängig tiefes Fahrwasser, funfzig
[299]Anh. II. Beschiessung von Kagosima.
Faden auf hundert Schritt vom Ufer. Capitän Borlase von der Pearl
wurde beordert am folgenden Morgen mit seinem Schiffe und der
Coquette, dem Argus, Racehorse und Havoc diese Dampfer wo
möglich ohne Blutvergiessen zu nehmen und nach dem Ankerplatz
des Geschwaders zu bringen; er führte diesen Auftrag auch ohne
Schwierigkeiten aus, da die schwache Besatzung sich gutwillig auf
Sakurasima aussetzen liess. Es waren drei englische Schiffe, Contest,
England, Sir George Grey, welche der Fürst von Satsuma für zu-
sammen 305,000 Dollars gekauft hatte, jetzt mit einer kostbaren
Ladung von Seide, Reis und Zucker befrachtet; sie wurden langseit
der Coquette, des Argus und der Racehorse festgelascht und ankerten
mit diesen am Morgen des 15. August gegen zehn Uhr an der alten
Stelle unter Sakurasima.


Schon früh war ein heftiger Ostwind aufgesprungen, und das
schnelle Fallen des Barometers liess schweres Wetter befürchten.
In der That nahm der Wind an Heftigkeit zu. Gegen zwölf Uhr
Mittags, als sich grade eine tobende Regenboe über die Schiffe er-
goss, eröffneten plötzlich die Küstenbatterieen ein heftiges Feuer
auf den Euryalus, der allein in ihrem Bereiche lag. Da es nun bei
dem starken Winde unmöglich war, zugleich jene Dampfer zu be-
wachen und den Kampf mit den Batterieen aufzunehmen, so beauf-
tragte der Admiral den Befehlshaber des Havoc die Prisen zu
verbrennen, was sogleich bewerkstelligt wurde. Der Perseus erhielt
Befehl, seinen Anker im Stiche zu lassen und auf die nördlichste
Verschanzung zu feuern; bald darauf stellten sich die übrigen Schiffe
auf das Signal des Admirals nach ihrer Rangordnung in Schlacht-
reihe auf, in welche dann auch der Perseus eintrat. Der Euryalus
führte, mit halber Dampfkraft auf kurze Distance die Batterieen
entlang fahrend; man zählte dort über achtzig Feuerschlünde. Der
Wind war äusserst heftig, der Seegang dagegen in dem rings ge-
schlossenen Becken gering, daher es möglich wurde genau zu zielen.
Da wegen des starken Wehens die anderen Schiffe nicht schnell
genug folgen konnten, so hatte der Euryalus geraume Zeit das
Kreuzfeuer mehrerer Batterieen auszuhalten und litt beträchtlichen
Schaden; der Commandant, Capitän Josling und der erste Officier.
Commander Wilmot wurden an der Seite des Admirals durch die-
selbe Kugel getödtet. Der Pulverdampf und der strömende Regen
erlaubten nicht den dem Feinde zugefügten Schaden genau zu er-
kennen, doch bemerkte man vom Flaggschiffe aus, als es an der
[300]Das englische Geschwader vor Kagosima. Anh. II.
letzten, der südlichsten Schanze vorüber war, dass eine grosse
Kanonengiesserei des Fürsten und die Stadt selbst an mehreren
Stellen brannten. Das Wetter wurde immer schlimmer; der Admiral
beschloss jetzt, seine Schiffe aus dem Feuer zurückzuziehen und
einen sicheren Ankerplatz aufzusuchen. Unglücklicherweise war das
Kanonenboot Racehorse der nördlichsten Schanze gegenüber auf
den Grund gerathen, wurde jedoch durch die vereinten Anstrengun-
gen der Schiffe Coquette, Argus und Havoc wieder flott, ohne er-
heblichen Schaden zu leiden. Der Havoc steckte dann auf Befehl
des Admirals noch fünf grosse Dschunken des Fürsten von Satsuma
in Brand, und die Schiffe gingen der Stadt gegenüber, unter Sakurasima,
ausser Schussweite der Batterieen zu Anker. Die ganze Nacht durch
wehte es orkanartig; der Perseus schleppte seinen Anker in eine
Wassertiefe von funfzig Faden hinaus und musste ihn schliesslich
mit der Kette fahren lassen. Die brennende Stadt, wo der Sturm-
wind das Feuer immer weiter verbreitete, erleuchtete den ganzen
Golf. Am folgenden Morgen bemerkte man, dass die Japaner im
Gebüsch der abschüssigen Ufer von Sakurasima eifrig Batterieen
bauten, die namentlich den kleineren Schiffen gefährlich werden
konnten. Der Admiral liess deshalb um drei Uhr Nachmittags, als
der Wind sich etwas gelegt hatte, Anker lichten, dampfte mit seinem
Geschwader zwischen der Insel und den Küstenwerken durch, und
beschoss unterwegs den Palast des Fürsten in Kagosima sowie
einige Batterieen auf Sakurasima, die an dem Kampfe des vorher-
gehenden Tages nicht theilgenommen hatten. Sie erwiderten das
Feuer lebhaft und thaten den letzten Schuss. Das Geschwader
ankerte dann für die Nacht unter der Südküste der Insel und trat
am 17. August Nachmittags die Rückreise nach Yokuhama an, wo
es am 24. eintraf. Bei der Abfahrt, also über achtundvierzig Stun-
den nach Beginn des Kampfes, stand die Stadt noch in hellen
Flammen, und man hatte, wie der Admiral sich in seiner Depesche
ausdrückt, »jeden vernünftigen Grund, an ihre völlige Zerstörung
zu glauben.«


Der Eindruck der durch das Geschwader selbst nach Yo-
kuhama
gebrachten Nachrichten von dem Kampfe war der einer
argen Niederlage. Man hatte an Menschenleben und Material be-
trächtliche Verluste erlitten; einige Schiffe entkamen übel zuge-
richtet. Die Engländer thaten zwar mit ihren Geschossen grossen
Schaden, erreichten aber die Erfüllung ihrer Forderungen in keinem
[301]Anh. II. Eindruck der englischen Operationen.
Puncte und mussten unverrichteter Sache heimziehen; denn das
Brennmaterial ging schon aus und sie konnten den Kampf nicht
wieder aufnehmen. Unter Officieren und Mannschaften, — die sich
ja so pflichttreu und kaltblütig benahmen, wie man es von eng-
lischen Seeleuten gewohnt ist, — soll Unzufriedenheit mit der Füh-
rung geherrscht haben; doch trug wohl auch das arge Wetter, das
die Operationen wesentlich erschwerte, zum schlechten Erfolge bei.
Das Resultat für einen Sieg auszugeben, wie nachträglich geschehen
ist, hatte man gewiss keinen Grund. Die Engländer brachten keine
Batterie zum Schweigen; die Japaner bezeigten bis zum letzten
Augenblick das grösste Verlangen die Kanonade wieder aufzuneh-
men und feuerten nach der Aussage englischer Officiere den letzten
Schuss. Das Geschwader zog sich sowohl am 15. als am 16. August
aus dem Kampfe zurück. Man glaubte in Yokuhama lange, dass
der Admiral die Operationen gegen Kagosima wieder aufnehmen
würde, in der Anschauung, dass die englische Flagge beschimpft
wäre. Letzteres ist unrichtig, denn die Bemannung that ihre volle
Schuldigkeit, und kein Schiff hat die Flagge gestrichen. Kriegs-
unglück, durch mangelhafte Führung und zufällige Umstände ver-
anlasst, ist kein Schimpf; aber ein militärischer Erfolg war die
Affaire sicher nicht. Admiral Kuper verbrannte wehrlose Dampfer
und Dschunken mit kostbaren Ladungen, äscherte eine Stadt und
grosse Fabrikgebäude ein und demontirte einige Geschütze. Der
dem Fürsten von Satsuma dadurch zugefügte Schaden war gewiss
beträchtlich, stand aber ausser Verhältniss zu dem Verlust seiner
friedlichen Unterthanen. Wenn auch, wie Herr Neale später aus
den Mittheilungen der Gesandten von Satsuma bewiesen hat, das
Bombardement den Japanern wenig Menschenleben kostete, da die
Meisten schon nach den ersten Schüssen landeinwärts flohen, so
büssten die Bewohner doch ihre ganze Habe ein. Der Werth der
japanischen Stadthäuser ist durchaus nicht so gering, wie der eng-
lische Geschäftsträger in den zu seiner Rechtfertigung geschriebenen
Depeschen angibt, und der Reichthum einer Handelsstadt pflegt
nebenbei noch in anderen Dingen, vor Allem in ausgedehnten Waaren-
lagern zu bestehen, die sich nicht fortschleppen lassen und wohl
sämmtlich ein Raub der Flammen wurden.


Der moralische Eindruck auf die Japaner war sicher gering.
Ein Geschwader, wie das Land es kaum noch gesehen, hatte bei
voller Kraftentwickelung ohne Erreichung kriegerischer Erfolge nur
[302]Zahlung der Geldbusse. Anh. II.
Verwüstungen angerichtet. Der Geldpunct steht den Japanern nie-
mals in erster Linie: der Fürst von Satsuma leistete einige Monate
später freiwillig die Geldentschädigung, zu der er sich schon vor
dem Bombardement unter Vorbehalt der Uebereinstimmung mit der
Regierung von Yeddo bereit gezeigt hatte, und konnte es, ohne
sich für besiegt zu erklären. Er liess zugleich ein schriftliches Ver-
sprechen ausstellen, dass die Mörder verfolgt und bestraft werden
sollten, genau wie in dem vor Kagosima übergebenen Antwort-
schreiben ausgedrückt ist. Die Engländer erreichten durch das
Bombardement nicht einen Buchstaben mehr, als vorher zugestanden
war. Wenn die Regierung sich nachträglich mit der Zahlung ein-
verstanden erklärte und die Gesandten von Satsuma nach Yokuhama
liess 14), so geschah das wohl nur in der Besorgniss, dass bei einem
zweiten Besuche des Admirals der Fürst sich lieber ohne Rücksicht
auf das Verbot des Gorodžio mit ihm verständigen, als einiger
Uebelthäter wegen noch einmal seine Stadt zusammenschiessen, seine
Schiffe verbrennen lassen möchte. Die Bande des Lehnsgehorsams
lockerten sich immer mehr, und die Regierung des Taïkūn fürchtete
nichts so sehr, als den directen Verkehr der Fremden mit den
Daïmio’s. Damals waren die Fesseln noch nicht abgestreift — wie
schon ein Jahr nachher. Der Fürst von Satsumakonnte ohne
Verletzung seiner Lehnspflicht keine weiteren Zugeständnisse machen,
als er in dem Antwortschreiben that, erklärte aber wahrscheinlich
nachher dem Reichsrath offen, dass er sich bei Wiederholung des
Besuches nicht an seine Befehle kehren würde. Deshalb erlaubte
[303]Anh. II. Das Verfahren des englischen Geschäftsträgers.
man ihm lieber, oder trieb ihn sogar die Sache abzuthun, ehe die
Engländer wiederkämen. Dass der Fürst den Verkehr mit ihnen
wünschte und worauf es ihm ankam, zeigt deutlich das Auftreten
seiner Bevollmächtigten und die bei Zahlung der Entschädigung
dem Geschäftsträger gestellte Bedingung, — Befürwortung der
Erlaubniss zum Bau eines Kriegsschiffes in England, — vor Allem
aber das freundschaftliche Verhältniss, in das er seitdem mit ihnen
trat. Der jetzige englische Gesandte lebt in vertrautem Verkehr mit
dem Fürsten von Satsuma; dieser hat englische Agenten in seinem
Dienst, lässt durch solche seine Zuckerfabriken auf den Liukiu-
Inseln
einrichten und verwalten, und junge Leute aus seiner Um-
gebung in England ausbilden. Der halbe Widerstand des vor
Kagosima überreichten Antwortschreibens war der letzte Paroxysmus
altjapanischen Lehnsgehorsams und wäre durch geschickte diploma-
tische Behandlung sicher zu überwinden gewesen. Gewalt aber ver-
trieb man mit Gewalt.


Die Handlungsweise des englischen Geschäftsträgers hat in
seinem Vaterlande eine so scharfe Kritik erfahren, dass jede weitere
Erörterung überflüssig scheinen mag; Earl Russel hat sie aber ge-
billigt. Der Standpunct der Menschlichkeit, von welchem sie die
grösste Anfechtung gefunden hat, muss ja in gewissem Maasse zu-
rücktreten, wo es sich um Wahrung der politischen Ehre handelt;
die Frage ist nur, ob ein solcher Fall hier vorlag.


Zunächst die Forderungen: 100,000 Pfund Sterling und ein
Entschuldigungsschreiben von der Regierung des Taïkūn für ein
Vergehen, dessen Verhütung ausser ihrer Macht stand; vom Fürsten
von Satsuma 25,000 Pfund Sterling und Bestrafung der Mörder.
Rechtlich und sittlich begründet scheint dem Verfasser nur die letzte
Forderung. Die Mächte des äussersten Westens glauben aber
durch schwere Geldbussen den stärksten Druck üben zu können,
und diese Politik wäre practisch gerechtfertigt, wenn sie erfolgreich
wäre, d. h. Besserung der Zustände bewirkte. Die Völker des öst-
lichen Europa haben immer einen Widerwillen dagegen gehabt, weil
es den Anschein hat, als liessen sich Menschenleben durch Geld-
bussen sühnen; sicher verlangt die politische Ehre nicht die Forde-
rung solcher Entschädigung, wohl aber die Bestrafung der Schul-
digen, wo sie in der Macht der Landesbehörden liegt. Dagegen
muss hier constatirt werden, dass Herr Neale das schriftliche Ver-
sprechen, die Mörder Richardson’s zu verfolgen und zu strafen, zu
[304]Das Verfahren des englischen Geschäftsträgers. Anh. II.
den Acten legte und nie wieder berührte, nachdem das Geld ge-
zahlt war.


Zugestanden aber die volle Berechtigung der Forderungen
an Satsuma, so ist zunächst dessen Schreiben zu untersuchen. Es
beginnt mit der feierlichen Erklärung, dass Mörder mit dem Tode
bestraft werden müssen, sucht mit keinem Worte das Verbrechen
zu beschönigen, — wie man bei den japanischen Begriffen der Ehre
hätte erwarten sollen, — erklärt, dass schon nach den Mördern
geforscht worden, dass man sie auch ferner verfolgen und nach
ihrer Ergreifung in Gegenwart von Engländern hinrichten lassen
werde. Ob dieses Versprechen aufrichtig gemeint war, ob man
der Schuldigen wirklich nicht habhaft werden konnte, würde nur
dann in Betracht kommen, wenn das Gegentheil zu beweisen und
bis zuletzt auf Bestrafung bestanden worden wäre. Nachträglich
begnügte sich der englische Geschäftsträger mit demselben Ver-
sprechen und forschte nicht weiter nach seiner Wahrhaftigkeit. —
Der zweite Theil des Antwortschreibens behandelt die Geldent-
schädigung, welche von den Japanern offenbar als Sühne für das
verletzte Vertragsrecht des freien Verkehrs angesehen wurde. Der
Fürst zieht das Recht des Taïkūn in Zweifel, Verträge zu machen,
welche den Landesgesetzen widersprechen, die Strassen der Circu-
lation der Fremden freigeben und die Daïmio’s empfindlichen Ehren-
kränkungen aussetzen; die Frage soll aber in Gegenwart der Fremden
von Beamten Satsuma’s und des Taïkūn erörtert, und »nachdem
sie zur Entscheidung gebracht, die Geldentschädigung gezahlt
werden.« Mehr konnte der Fürst ohne Verletzung seiner Lehns-
pflicht nicht zugestehen, denn dass der Taïkūn ihm jede Unter-
handlung, geschweige Zahlung verboten hatte, erhellt deutlich aus
dem Schreiben und der Aeusserung der Beamten. Die Regierung
von Yeddo hatte die Uebermittelung der englischen Forderungen
an Satsuma anfangs als unverträglich mit ihrer Würde abgelehnt,
dann ganz unbestimmte Aeusserungen darüber gethan. Der letzte
Absatz des Schreibens zeigt, dass sie den Fürsten im Unklaren
gelassen; dieser fordert natürlich Beweise, wenn der Reichsrath
die Engländer anders berichtet hätte. Das konnte bei der ge-
wohnten Doppelzüngigkeit der Regierungsbeamten durchaus nicht
überraschen.


Der Verfasser hat das Document getreu nach der vom eng-
lischen Geschäftsträger publicirten Uebersetzung wiedergegeben, und
[305]Anh. II. Das Verfahren des englischen Geschäftsträgers.
muss es dem Urtheil des Lesers überlassen, ob es eine bestimmte,
geschweige kategorische Ablehnung der Forderungen enthält. Herr
Neale findet Inhalt und Haltung desselben höhnisch und verletzend.
Abgerechnet die japanische Fremdartigkeit des Ausdrucks scheint
es dem Verfasser so eingehend und verständig, als sich mit der
Würde und der Lehnspflicht des Fürsten vertrug. Spricht keine
demüthige Furcht, keine kriechende Nachgiebigkeit daraus, so kann
man die Satsumaner, der verderbendrohenden Schlachtreihe des
Feindes gegenüber, dafür nur höher achten. Mangelnde Servilität für
Insolenz zu nehmen ist Charakterschwäche. Unzweifelhaft bot das
Schreiben Anknüpfungspuncte für weitere Unterhandlungen; wenn
diese nicht zu ehrenvollem Ziele führten, so lag der Fall wenig-
stens klar.


Der englische Geschäftsträger gründet seine Rechtfertigung
darauf, dass die Japaner zuerst geschossen hätten. — Er beauf-
tragt den Admiral schriftlich, Gewalt anzuwenden, und dieser nimmt
drei Dampfer fort. Wie wenig man auf solche Antwort vorbereitet
war, beweist der Umstand, dass der erste Schuss nicht gleich
nach diesem Friedensbruche fiel. Man sandte einen Boten um Ver-
haltungsbefehle an den Fürsten 15), der Gewalt mit Gewalt zu ver-
treiben gebot. Eröffnet wurden die Feindseligkeiten durch die
Wegführung der Dampfer. Wenn die Engländer als Zeichen ihrer
Friedfertigkeit anführen, dass die Kanonen des Euryalus bei Er-
öffnung des Feuers durch die Japaner nicht geladen waren, so
möchte man das als eine sonderbare Verblendung des Befehlshabers
ansehen, welcher dermaassen auf den imposanten Eindruck seines
Geschwaders rechnete, dass er den Gegner ungestraft plündern
zu dürfen glaubte. — Stand die politische Ehre auf dem Spiel, so
wurde sie durch die Wegnahme der Dampfer nicht gewahrt. Ihr
»Prestige« aber — jenen Ruf unüberwindlicher Furchtbarkeit, den
die Engländer als Mittel der Herrschaft in Asien mit Recht so hoch
halten, — retteten sie in diesem Falle gewiss nicht. So tüchtig die
Nation, so traurig ist zuweilen ihre Vertretung im Auslande.


II. 20
[306]Ministerwechsel. Anh. II.

Der Taïkūn war, wie oben berichtet, kurz vor Abfahrt des
englischen Geschwaders in Yeddo wieder eingetroffen. Gleich
darauf erfolgte die Amtsentlassung des ersten Ministers Ongasa-
vara Dsusio-no-kami
, welcher sowohl die Zahlung der englischen
Entschädigung durchgesetzt, als auch den Befehl zur Schliessung
der Häfen unter beruhigenden Versicherungen angezeigt hatte.
Dem Gerüchte nach war er sogar unter Arrest. In ihm schied
aus dem Reichsrath wahrscheinlich der letzte energische Vertreter
der conservativen Politik, welche Erhaltung der Verträge wünschte,
soweit sie sich mit möglichster Isolirung der Fremden vertrug, den
Krieg mit dem Auslande aber um jeden Preis zu vermeiden strebte.
Der Taïkūn war in Miako offenbar überflügelt worden, die Ver-
treibung der Fremden seitdem bei der Regierung beschlossene Sache;
der Kampf der Partheien drehte sich nur noch darum, ob sie, wie
die Anhänger des Taïkūn und seiner Linie wollten, langsam ange-
bahnt und auf friedlichem Wege bewirkt, oder schnell und ge-
waltsam durchgeführt werden sollte, wie die regierungsfeindlichen
Daïmio’s offen verlangten, die Parthei Mito wahrscheinlich im Ge-
heimen betrieb, um den Krieg heraufzubeschwören. Man erhielt
in Yokuhama Nachricht von einer grossen Daïmio-Versammlung,
welche der Fürst von Owari in feuriger Anrede zum Verlassen ihrer
Vergnügungen und zu kriegerischen Rüstungen aufgefordert hätte,
um die Fremden nach fünf Jahren vertreiben zu können. Zugleich
wurden folgende angebliche Manifeste der Regierung verbreitet:


  • I. An alle Bewohner von Yeddo und von Japan überhaupt,
    welche die Schusswaffe, die Lanze und den Säbel zu
    führen wissen, an die Lonine und Bergbewohner:
  • Wer unter euch fähig ist die Waffen zu brauchen,
    melde sich bei den Polizei-Obersten, die euch zu fol-
    genden Bedingungen in Dienst nehmen werden:
  • Tüchtige Soldaten erhalten 400 Itsibu und 200
    Säcke Reis jährlich;
  • Leute zweiten Ranges 200 Itsibu und 200 Säcke
    Reis;
  • Alle übrigen 120 Itsibu und 70 Säcke Reis.
  • II. An Alle welche Waffen, — Gewehre, Kanonen, Säbel,
    Lanzen und alle Art Kriegswerkzeuge zu machen verstehen:
  • Wenn ihr euch bei uns melden wollt, so sollt ihr
    zu sehr vortheilhaften Bedingungen beschäftigt werden.
[307]Anh. II. Angeblicher Angriff auf den Mikado-Palast.

Aus dem Inneren des Landes hörte man, dass der Fürst
von Naṅgato, die Verträge mit den Fremden zum Vorwande
nehmend, in offener Auflehnung gegen den Taïkūn stehe und
einen Angriff auf den Palast in Miako gemacht habe. Er strebe,
hiess es im Volke, nach der Siogun-Würde, wolle sich zu
dem Zweck der Person des Mikado bemächtigen und den
Taïkūn in Krieg mit dem Auslande verwickeln. Die mit den
Diplomaten in Yokuhama verkehrenden Bunyo’s erklärten das
Gerücht von jenem Angriff für falsch: eine Räuberbande hätte
das Zollamt der Landschaft Yamatto in Miako, aus dem der
Mikado sein Einkommen beziehe, gewaltsam zu plündern versucht,
wäre aber mit Verlust einiger Todten abgeschlagen worden. Die
Zeitungen der europäischen Niederlassung 16) machten gar eine
Armee daraus, die Osaka genommen hätte und auf Yokuhama
marschirte. — Offenbar walteten im Herzen des Landes anarchische
Zustände; die Centralgewalt hatte dort keine Macht mehr, und
die Siogun-Herrschaft beschränkte sich thatsächlich nur noch
auf das Kuanto, wo ihr Ansehn gleichfalls in raschem Schwinden
war. Ihre veränderte Politik gegen die Fremden trat nicht sogleich
offen hervor; aber der Handel, welcher gleich nach der Zahlung
der englischen Indemnität einen lebhaften Aufschwung genommen
hatte 17), begann in Folge der gewaltsam beschränkten Zufuhr wie-
der zu stocken; die Haltung der Beamten verschlimmerte sich
augenscheinlich, die Stimmung war beklommen. Sämmtliche Re-
präsentanten der Vertragsmächte hatten von ihren Regierungen
die friedfertigsten Instructionen erhalten und durften auf keine
20*
[308]Die Gazelle vor Yokuhama. Anh. II.
Verstärkungen hoffen, mussten sich daher auf allgemein gehaltene
Remonstrationen beschränken. Der Reichsrath schickte dann von
Zeit zu Zeit einen Bunyo nach Yokuhama, mit Freundschafts-
versicherungen und dem Versprechen einer besseren Zukunft, doch
merkte man deutlich, dass es nur Form war. Herr von Bellecourt
erliess, um ein freundschaftliches Verhältniss anzubahnen, schon
bei Gelegenheit des Ministerwechsels ein Schreiben an den Reichs-
rath, worin er an die Verträge mahnte und auf Erschliessung der
Strasse von Simonoseki drang, erhielt aber nur ausweichende,
nichtssagende Phrasen zurück: der Taïkūn beschäftige sich lebhaft
mit Regelung der Vertragsfragen, könne aber bei der herrschenden
feindseligen Stimmung nur langsam vorgehen; er beabsichtige auch
den Fürsten von Naṅgato zu strafen, müsse aber behutsam auf-
treten, weil Jener der Liebling des Mikado sei. — Irgend welche
Auskunft über die politischen Vorgänge in Miako während der An-
wesenheit des Taïkūn zu erlangen gelang den Diplomaten niemals.
Sicher aber suchten die Partheien sich dort mit List und Gewalt
zu überflügeln, und der Hof des Erbkaisers war auf das Engste in
die Intriguen verstrickt.


Anfang August war Seiner Majestät Corvette Gazelle mit
dem königlichen General-Consul für China, Herrn von Rehfues an
Bord, vor Yokuhama eingetroffen. Admiral Jaurès, unter dessen
Oberbefehl damals die Vertheidigungsanstalten der Niederlassung
standen, sprach sogleich den Wunsch aus, dass die preussische
Schiffsmannschaft sich an dem Dienste betheiligen möchte. Der
Commandant, Capitän z. S. von Bothwell, ging bereitwillig auf die-
sen Vorschlag ein und schiffte nebst zwei Bootsgeschützen hundert
Matrosen und Seesoldaten aus, welche in dem Waarenmagazin eines
preussischen Kaufmannes einquartiert wurden. Die befehligenden
Officiere und Cadetten bezogen das Haus des preussischen Vice-
Consuls zu Shanghai, Herrn Probst, der es zur freien Verfügung
des General-Consuls gestellt hatte; sie verständigten sich über die
gemeinsamen Schutzmaassregeln mit dem französischen Obercom-
mandanten und besetzten einen besonders exponirten Theil der
Niederlassung, zu dessen Bewachung es bisher an Mannschaft
gefehlt hatte. Die Diplomaten und Schiffscommandanten waren
unausgesetzt auf die Sicherheit der Ansiedler bedacht, während
diese sich nach der Indemnitätszahlung bald wieder der alten
Sorglosigkeit überlissen. Sie wurden zuweilen durch Gerüchte von
[309]Anh. II. Ermordung des Lieutenant Camus.
drohenden Lonin-Banden aus ihrer Ruhe geschreckt, gewöhnten
sich aber, da nichts vorfiel, auch daran, und nahmen im Laufe
der nächsten Monate ganz ihre alte Lebensweise wieder auf. Viele
Kaufleute und Officiere machten täglich Spazierritte in die Um-
gegend, wo sie allenthalben Observationsposten der kaiserlichen
Truppen fanden; das Land schien gut bewacht zu sein. Seit
Richardson’s Ermordung war ein Jahr vergangen; man glaubte,
dass die schwere Geldbusse der Regierung eine heilsame Lehre
gewesen sei, vergass aber, dass keine Behörde der Welt fähig ist,
dem Meuchelmorde vorzubeugen.


Am 14. October Nachmittags brachten Japaner die Nachricht
nach Yokuhama, dass auf einem Feldwege, eine Stunde von der
Stadt, die Leiche eines Ausländers läge. Mehrere Consuln und
Officiere machten sich mit einer japanischen Patrouille alsbald dahin
auf und fanden den verstümmelten Körper eines Officiers vom dritten
afrikanischen Jäger-Bataillon. Lieutenant Camus war an diesem Tage
gegen seine Gewohnheit ohne Revolver ausgeritten und schien von
mehreren Banditen aus dem Hinterhalt angegriffen worden zu sein.
Die rechte Hand lag, durch einen Säbelhieb glatt vom Arme ge-
trennt, ein Stück des Zügels haltend nicht weit vom Körper, der
von klaffenden Hiebwunden starrte. Das leicht verletzte blutbegossene
Pferd lief scheu in den nächsten Feldern umher. Den Mördern hatte
das coupirte buschige Terrain schnelle Bergung gestattet; doch
stellten die polizeilichen Nachforschungen heraus, dass ein Bauer
der That von weitem zusah. Nach seiner Aussage waren es
drei Zweischwertige. die nachher in der Richtung des Tokaïdo
flüchteten. Die Polizei verfolgte durch ihre Spione die Spur noch
auf grosse Entfernung, verlor sie dann aber, und erklärte nun am
Ende ihrer Hülfsmittel zu sein.


Der Charakter und die Verhältnisse des Lieutenant Camus
schlossen jeden Gedanken an persönliche Rache aus; es war wieder
eine Handlung des Fanatismus und ein neues Zeichen der Gegen-
wart blutdürstiger Banditen in der Umgebung von Yokuhama. Die
Repräsentanten der Vertragsmächte traten mit den Schiffscomman-
danten am 19. October zur Verabredung neuer Schutzmaassregeln
zusammen, denn man erkannte, nachdem das Bewusstsein der Ge-
fahr wieder geweckt, die getroffenen Anstalten für unzureichend.
Aber Admiral Kuper, der über die ansehnlichsten Kräfte verfügte,
glaubte seine zweitausendfünf hundert Mann nicht durch Wachtdienst
[310]Drohung gegen japanische Kaufleute. Anh. II.
ermüden zu dürfen; der englische Geschäftsträger erklärte, die Ge-
sandtschaftswache sei nur zum Schutze seiner Person berufen, und
so fiel die ganze Last auf die anderen, vorzüglich die französischen
und die preussischen Truppen. Einziges Ergebniss der Conferenz
war der Beschluss, täglich eine Streifpatrouille in die Umgegend zu
senden, deren Bewachung bis dahin ganz den Japanern zustand.
Die Ansiedler wünschten dringend Organisirung eines nächtlichen
Patrouillendienstes in dem Städtchen, wozu bei der Weigerung der
Engländer die Kräfte nicht ausreichten. Die Mannschaft der Gazelle
nahm während der ganzen Dauer ihrer Anwesenheit vollen Antheil
an der Bewachung und machte hin und wieder unter Führung ihres
Commandeurs Uebungsmärsche in die Umgegend.


In der zweiten Hälfte des October mehrten sich die Zeichen
der Unsicherheit in bedenklicher Weise: man fand eines Morgens
ein Placat an der Thür des Gouverneurs von Kanagava, welches
zweiundzwanzig der angesehensten japanischen Kaufleute in Yokuhama
mit dem Tode bedrohte, wenn sie den Handel mit den Fremden
nicht aufgäben. Die Namen waren strassenweise geordnet, und der
Mordbrief gab als Motiv an, dass Jene die unglückliche Krisis über
das Land gebracht und für die Noth der leidenden Bevölkerung
niemals ein Herz gezeigt hätten. Der Umstand, dass mehrere der
Genannten die Geschäfte der Regierung vermittelten, schloss den
Gedanken einer Spiegelfechterei von dieser Seite aus. Schon waren
mehrere japanische Kaufleute, die mit Fremden gehandelt hatten,
in Yeddo, Osaka und Fiogo umgebracht worden, und man durfte
am Ernste der Drohung nicht zweifeln. Von den jetzt genannten
stellten zwölf sofort die Geschäfte ein und verliessen meist unter
Schliessung ihrer Häuser die Niederlassung. Der Handel gerieth
immer mehr in das Stocken, alle Beschwerden bei der Regierung
blieben fruchtlos. Im Gegentheil drückte diese den Verkehr jetzt
nicht nur durch solche Lasten, welche ihr selbst Vortheil brachten,
sondern beschränkte die Zufuhr auf das kleinste Maass; das Gerücht
behauptet, sie habe damals drei Viertheile aller Seidenwürmer ver-
tilgen lassen. Man näherte sich offenbar einer Krisis.


Am 24. October liess der Reichsrath die Vertreter von Nieder-
land
und Amerika nach Yeddo bescheiden, wo er ihnen wichtige
Mittheilungen zu machen habe. Die Herren van Polsbroek und Pruyn
erschienen dort am 26. und wurden zu ihrem Erstaunen in ein ihnen
ganz fremdes, des Empfanges von Diplomaten nicht sehr ange-
[311]Anh. II. Notification der Schliessung von Yokuhama.
messenes Local in der Vorstadt Sinagava geführt. Es soll ein altes
Schiffsdock gewesen sein. Ausser den Mitgliedern des Gorodžio
waren dort auch der zweite Reichsrath, der Statthalter von Naṅgasaki
und andere Würdenträger gegenwärtig; man wollte offenbar der
Versammlung das Ansehn äusserster Wichtigkeit geben. Der Wort-
führer begann mit der Eröffnung, dass die Regierung ihre am 24. Juni
durch Ongasavara Dsusio-no-kami an die diplomatischen Agenten
gerichtete Notification von der Schliessung der Häfen jetzt amtlich
zurückziehe; dass aber die grossen Verlegenheiten, welche die An-
wesenheit der Fremden in Japan ihr bereite, eine erhebliche
Modification der Verträge erheischten. Diese seien ihrer Zeit ge-
schlossen worden, um Verwickelungen mit dem Auslande vorzubeu-
gen, aber unter dem Vorbehalt, dass sie nur als Versuch
gelten sollten
. Jetzt drohe in Folge derselben eine politische Um-
wälzung, die nur vermieden werden könne, wenn die Fremden sich mit
dem Verkehr in Naṅgasaki und Hakodade begnügten. Der Hafen
von Kanagava solle deshalb geschlossen werden, und die Fremden
müssten Yokuhama räumen. Widersetzten sich die Diplomaten, so
werde nicht nur der Handel, sondern auch die Freundschaft aufhören.


Diese Mittheilung wurde in trotzigem Tone, mit Umgehung
der gewohnten höflichen Formen gemacht. Die beiden Diplomaten
verstanden deren Tragweite vollkommen: man wollte die Fremden
in diejenige Stellung zurückweisen, welche die Holländer während
ihrer Absperrung auf Desima eingenommen hatten. Sie antworteten,
dass es ihnen nicht zustehe eine Eröffnung mit anzuhören, welche
den offenen Bruch der Verträge in sich schliesse; dass sie dieselbe
als nicht geschehen betrachteten und ihre Regierungen wie die
Repräsentanten der anderen Vertragsmächte von dem völkerrechts-
widrigen Gebahren der japanischen Regierung benachrichtigen wür-
den. Die Minister bestanden auf der Räumung von Yokuhama, gaben
deutlich zu verstehen, dass der Widerstand der Fremden zum offenen
Bruch, zu Feindseligkeiten führen werde, und ersuchten die beiden
Diplomaten, ihren Amtsgenossen in Yokuhama nichts von der Mit-
theilung zu sagen, da diese sich sonst der Einladung nach Yeddo
entziehen würden. Herr Polsbroek und General Pruyn wiesen dieses
in dringender Weise wiederholte Ansinnen kategorisch zurück und
entfernten sich unter Protest.


Am folgenden Tage erhielten denn auch die Vertreter von
England und Frankreich Einladungen nach Yeddo, antworteten aber
[312]Fort in Yokuhama projectirt. Anh. II.
mit einer bündigen Weigerung, die Frage der Räumung von Yoku-
hama
mündlich oder schriftlich mit der japanischen Staatsregierung
irgendwie zu erörtern. Der Reichsrath sandte ihnen darauf eine Art
Protocoll der Sitzung vom 26. October und stellte nebenbei eine
Erhebung der fremdenfeindlichen Bevölkerung in Aussicht, deren
Unterdrückung nicht in der Macht der Behörden stände. Die beiden
Geschäftsträger versprachen nur, das Actenstück in ihre Heimath
zu senden.


Nachdem nun die Regierung des Taïkūn mit ihrer Forderung
an der einmüthigen Weigerung der Diplomaten gescheitert war, sich auf
Erörterungen über die Räumung von Yokuhama überhaupt einzu-
lassen, versuchte sie einen anderen Weg: sie zeigte einfach an, dass
sie »zum gegenseitigen Schutz« an einer näher bezeichneten Stelle
innerhalb der Niederlassung ein Festungswerk erbauen werde. Vom
völkerrechtlichen Standpunct konnten die Fremden keine Einwen-
dungen dagegen erheben; die Geschwader-Commandanten besahen
sich aber die Localität und fanden, dass eine dort angelegte Batterie
nicht nur Yokuhama sondern auch die Rhede beherrschen würde.
Sie erklärten nun der Regierung, sich dem Bau so lange widersetzen
zu müssen, als ihr Mandat zur Vertheidigung von Yokuhama, um
welche der Reichsrath sie schriftlich ersucht, noch Geltung hätte; man
werde alle Arbeiten an jener Stelle mit Gewalt verhindern. Die
Japaner machten denn auch keinen Versuch und meldeten einige
Wochen später, dass sie den Plan aufgegeben hätten. — Am 14. No-
vember zeigte der Reichsrath den fremden Vertretern an, dass er
seine Politik geändert habe und das Verbannungsdecret vom 24. Juni
jetzt ohne Bedingung zurückziehe, liess aber deshalb die Forderung
der Räumung von Yokuhama nicht fallen. Die Bunyo’s suchten bei
jeder Besprechung mit den Diplomaten vergebens die Rede darauf
zu bringen, verlangten dann im Namen des Gorodžio ausdrückliche
Conferenzen über diesen Gegenstand, und hinterliessen, damit ab-
gewiesen, Manifeste, welche die Räumung nochmals als unvermeid-
lich darstellten.


Die Regierung war offenbar in grosser Verlegenheit. Auf
der einen Seite drohten die feindlichen Daïmio’s mit nationaler
Schilderhebung unter Aegide des Mikado, einem Kriege für die
heiligen Rechte des Landes, zu dessen Panier, wenn auch den
Führern die Vertreibung der Fremden nur Vorwand war, die ganze
fanatische Kriegerkaste stand. Auf der anderen Seite Bruch mit
[313]Anh. II. Gesandtschaft nach Europa.
den Vertragsmächten, der gleichfalls sicheren Untergang brachte.
Es gab nur den einen Ausweg: gütliche Entfernung der Fremden.
Man ermannte sich einen Augenblick zu festem Auftreten, forderte
entschieden die Räumung von Yokuhama und liess sogar Drohungen
einfliessen, musste aber bald erkennen, wie sehr man sich ver-
rechnet hatte. Nachdem nun alle Versuche bei den Diplomaten in
Yokuhama fehlgeschlagen waren, blieb nur noch das Mittel einer
Gesandtschaft an die europäischen Höfe. Der Gedanke lag nah,
nachdem 1862 auf demselben Wege die verschobene Freigebung der
Häfen gelungen war; und wenn auch die Regierung aus der Haltung
der Diplomaten abnehmen konnte, dass ihre Bemühungen diesmal
scheitern würden, so gewann sie doch Zeit. Der Taïkūn hatte,
dem Mikado gehorsam, die Räumung von Yokuhama gefordert, und
durfte von diesem eine neue Frist bis zur Rückkehr seiner Gesandten
erwarten, welche die Entfernung der Fremden durchsetzen sollten.
Der englische Geschäftsträger erklärte, als die Bunyo’s ihre Absicht
merken liessen, das ganze Beginnen für eitel, und sprach sich sehr
entschieden gegen die Mission aus, welche mit solchem Gesuche
garnicht empfangen werden würde. Man suchte also einen An-
knüpfungspunct. Herr von Bellecourt drang schon seit langer Zeit
auf Genugthuung für den Angriff auf den Kien-tšaṅ in der Strasse
von Simonoseki
und für die Ermordung des Lieutenant Camus. Er
hatte, abgesehen von einer Entschädigung für die Hinterbliebenen
des Letzteren, jede noch so bedeutende Geldbusse, — welche der
Reichsrath, durch die gemachten Erfahrungen belehrt, der franzö-
sischen Regierung unter der Hand anbieten liess, — in Ueberein-
stimmung mit Admiral Jaurès zurückgewiesen und das Attentat als
eine Beleidigung der französischen Armee dargestellt, welche eine
beim Kaiser der Franzosen persönlich anzubringende Entschuldigung
fordere. Anfang December benachrichtigte ihn nun die Regierung,
dass zwei Beamte fürstlichen Ranges, — sogenannte Vice-Minister
— sich an Bord der Semiramis verfügen würden, um darüber Rück-
sprache zu nehmen. Das Erste, was diese bei ihrem Besuche vor-
brachten, war wieder die Schliessung von Yokuhama, die für den
Augenblick nothwendig, aber nur vorübergehend sein sollte. Der
Geschäftsträger schnitt ihnen aber das Wort ab, worauf sie das
Thema fallen liessen und von der Genugthuung anfingen, welche
ihre Regierung dem Kaiser der Franzosen für die bewussten Krän-
kungen zu geben wünsche; nebenbei sollten dann auch die aus den
[314]Die politische Lage. Anh. II.
Verträgen erwachsenen Schwierigkeiten behandelt werden. — Herr
von Bellecourt stellte als Bedingung, dass die Träger der Gesandt-
schaft Männer von hohem Range wären und ein eigenhändiges
Schreiben des Taïkūn überreichten, vor Allem aber, das sie mit
Vollmachten versehen
würden, was bei der Gesandtschaft von
1862 unterblieben war; für die französischen Behörden müsse die
Genugthuung der ostensibele Gegenstand der Gesandtschaft sein,
wenn sie auch im Geheimen noch andere Zwecke verfolgte. Diese
Bedingungen wurden von der japanischen Regierung angenommen.
Die Gesandtschaft sollte sich zuerst nach Paris, dann an die anderen
Höfe begeben.


December und Januar gingen über die Vorbereitungen hin.
In dieser Zeit verbreitete sich abermals das Gerücht von einem
Angriff Naṅgato’s auf den Palast des Mikado, gegen den er jetzt
auch in Auflehnung stände. Die Regierung hatte schon im September
von den Diplomaten in Yokuhama verlangt, dass keine fremden
Schiffe durch die Strasse von Simonoseki passirten, »weil sie mit
der Bestrafung des Fürsten beschäftigt sei«, in Wahrheit wohl,
weil sie Anknüpfung des Verkehrs mit ihm fürchtete. Man be-
hauptete, dass sie ein Bündniss mit dem Fürsten von Satsuma und
anderen Daïmio’s auf Kiusiu suche, um ihn zu unterdrücken; dass
diese jedoch im Geheimen die Throne von Miako und Yeddo zu
stürzen, mit den Fremden in freien Verkehr zu treten, eine liberale
Regierungsform und europäische Cultur einzuführen wünschten. Die
Auflösung schritt augenscheinlich rasch vorwärts. Nur der viel-
fachen Kreuzung und Zersplitterung der Interessen wie dem Um-
stande, dass die Partheien nicht deutlich gesondert, bestimmte
klare Ziele verfolgend einander gegenüberstanden, ist es zuzu-
schreiben, dass es nicht schneller, und auch jetzt noch nicht zu
bedeutsamen durchschlagenden Ereignissen gekommen ist, welche
den Abschluss bilden und eine neue Gestaltung anbahnen könnten.
Die nach Unabhängigkeit lüsternen Fürsten scheinen deshalb zu
keiner rechten Einigung gekommen zu sein, weil Jeder am liebsten
für sich selbst arbeitete, und die innerlich zerrüttete Centralgewalt
immer weniger furchtbar wurde. Jeder verfolgte seine Sonder-In-
teressen, und je weniger die Regierung von Yeddo ihn darin be-
schränken konnte, desto mehr schwand das Bedürfniss der Eini-
gung zu deren gewaltsamem Sturz. Das System des Jyeyas war
schon vor Zulassung der Fremden unhaltbar geworden; diese hat
[315]Anh. II. Feuersbrünste. Handelspolitik.
seinen Verfall aber beschleunigt, und jetzt scheint es ohne gewalt-
same Katastrophe unrühmlich zusammensinken zu sollen.


Eine Feuersbrunst, die drei Tage lang in Osaka wüthete,
wurde in Zusammenhang mit den politischen Vorgängen gebracht,
ebenso der Brand des Taïkūn-Palastes in Yeddo am 25. December.
Es hiess, dass der zum »Vice-Taïkūn« ernannte Ftutsbaši, Prinz
von Mito, ihn in die Luft gesprengt, der Kaiser aber mit dem Leben
entronnen sei. Die Beamten sagten nichts, aber die Stimmung
wurde schwüler. Mit dem Handel von Yokuhama, dem besten
Barometer der politischen Lage, ging es rückwärts. Man hörte
jetzt sogar bei den japanischen Kaufleuten die Aeusserung laut
werden, dass die Unzufriedenheit des Volkes wesentlich in dem
Verfahren der Regierung begründet sei, welche allen Vortheil des
Handels an sich reisse. Dass sie eine freie Handelspolitik nicht
fassen konnte, welche Volk und Obrigkeit zugleich bereichert, ist
nicht zu verwundern; aber die Regierung von Yeddo steckte gradezu
allen Nutzen aus dem Verkauf der Landeserzeugnisse in die Tasche
und liess das Volk die ganze Last der durch starke Ausfuhr
hervorgerufenen Theuerung tragen. Sie kannte nur zwei Wege:
eigennützige Beschränkung des Fremdenverkehrs oder völlige Aus-
schliessung. Die Räumung von Yokuhama wurde auf einer Conferenz
bei dem englischen Geschäftsträger am 4. Januar 1864 wieder zur
Sprache gebracht. Die Bunyo’s bestanden darauf, dass die Ver-
träge nur als Versuche gemeint und unhaltbar wären; das Volk sei
ihnen entgegen und eine Aenderung nothwendig, welche die Ge-
sandtschaft in Europa erwirken solle. Herr Neale bedeutete sie,
dass er in der Zwischenzeit über Aufrechthaltung der Vertragsrechte
wachen und nöthigenfalls Repressalien brauchen würde. Er klagte
die Regierung offen der Vorenthaltung grosser Massen von Seide
an, welche, für den Markt von Yokuhama bestimmt, schon lange
in Yeddo lagerten; die Bunyo’s leugneten das aber feierlichst und
schoben Alles auf die Feindlichkeit des Volkes, die Furcht der
Kaufleute vor den Loninen, deren Fanatismus schon viele zum Opfer
geworden wären. — Sonderbarer Weise bewilligte die Regierung grade
jetzt, wo sie die Räumung von Yokuhama so dringend betrieb,
wichtige Zollermässigungen18), die schon 1862 beantragt, aber bis
[316]Der Taïkūn nach Miako. Abreise der japanischen Gesandten. Anh. II.
dahin trotz allen Bemühungen der Diplomaten nicht durchzusetzen
gewesen waren. Dieses Zugeständniss sollte wohl den Gesandten
günstige Aufnahme in Europa verschaffen, hatte aber keinen Werth,
wenn Yokuhama geräumt werden musste. Die Diplomaten waren
natürlich entschlossen diesem Verlangen den beharrlichsten Wider-
stand entgegenzusetzen, und konnten, da es sich hier um Wahrung
der Ehre, um das wohlerworbene Recht der Verträge und materielle
Interessen von der grössten Bedeutung handelte, mit Sicherheit auf
den Beistand ihrer Regierungen rechnen, die von der Lage der
Dinge benachrichtigt waren. Die Gesandtschaft nach Europa leistete
Bürgschaft, dass es so bald nicht zu Feindseligkeiten kommen würde;
an Phrasen war man nachgrade gewöhnt und hatte einstweilen keinen
Grund an deren Ernst zu glauben. Ende Januar zeigte die Regierung
den Repräsentanten der Vertragsmächte an, dass der Taïkūn sich
abermals nach Miako begeben werde, um eine grosse Daïmio-Ver-
sammlung, eine Art Reichstag abzuhalten. Er reiste am 5. Fe-
bruar 1864 mit vier Dampfern dahin ab, wie das Gerücht sagte, mit
seiner Gemalin und Tochter, zu einem längeren Aufenthalt. Letzteres
bestätigte sich nicht. Dass die Verträge in erster Linie Gegenstand
der Berathungen sein würden, durfte man annehmen; die Angelegen-
heit schien in eine neue Phase zu treten. — Am 6. Februar schiffte
sich dann auch die japanische Gesandtschaft auf der Corvette Monge
nach Shanghai ein, um von da die Reise nach Europa auf einem
Dampfboot der Messageries imperiales fortzusetzen. Sie nahm
Wechsel auf London im Betrage von fünf Millionen Francs mit,
welche in baarem Silber an ein Bankhaus in Yokuhama eingezahlt
wurden.



[317]Anh. II. Der General-Consul von Rehfues in Japan.

Grade in die bewegte Zeit von der ersten Rückkehr des
Taïkūn aus Miako Anfang August 1863 bis zu seiner zweiten Reise
dahin im Februar 1864, in der die Japaner sich so dringend um die
Räumung von Yokuhama bemühten, fällt die Anwesenheit des Ge-
neral-Consuls von Rehfues, der mit Seiner Majestät Corvette Gazelle
aus China herübergekommen war, um die Ratifications-Instrumente
des preussischen Vertrages auszuwechseln. Der Taïkūn wollte sich
mit aller Gewalt der Verträge entledigen und sollte jetzt noch einen
ratificiren! Es war der ungünstigste Moment in der ganzen Ent-
wickelung. Glücklicherweise hatte aber der Consul von Brandt sich
durch eifrige Studien und den lebendigen Verkehr mit japanischen
Dolmetschern in den wenigen Monaten seiner Anwesenheit — seit
dem Herbst 1862 — ein so richtiges Urtheil über die politische Lage
und den Charakter der japanischen Würdenträger zu bilden ver-
mocht, dass er den einzuschlagenden Weg klar vor sich sah, und
unbeirrt von allen Spiegelfechtereien und künstlichen Hindernissen
mit sicherem Bewusstsein das vorgesteckte Ziel verfolgen konnte.
Mit seiner und des Legations-Secretärs von Radowitz Unterstützung
wusste Herr von Rehfues durch festes Auftreten und die beharrliche
Durchführung consequenter, wohlberechneter Maassregeln denjenigen
Druck auf die japanischen Behörden auszuüben, durch welchen
allein die passive Hartnäckigkeit einer haltungslosen, nach allen
Richtungen ausweichenden, jeder Negation, aber keines festen Ent-
schlusses fähigen Politik zu überwinden ist.


Als Herr von Rehfues Anfang August mit der Gazelle vor
Yokuhama eintraf, war das völkerrechtswidrige Decret vom 24. Juni
1863, die Schliessung der japanischen Häfen betreffend, noch nicht
widerrufen. Von einem diplomatischen Verkehr nach europäischen
Begriffen konnte deshalb streng genommen keine Rede sein. Der
General-Consul wartete zunächst die Rückkehr des englischen Ge-
schwaders aus dem Golf von Kagosima ab, von dessen Erfolgen
man sich einige Wirkung auf die japanische Regierung versprach,
und kündigte, da sich diese Erwartung nicht rechtfertigte, dem
Gorodžio Anfang September einfach an, dass er zur Ratification des
preussischen Vertrages nach Japan gekommen sei, — erhielt aber keine
Antwort. Die Regierung schickte zu seiner amtlichen Begrüssung
am 10. September einige Bunyo’s der auswärtigen Angelegenheiten
nach Yokuhama, die keine geschäftlichen Mittheilungen zu machen
hatten. Er zeigte ihr dann seinen Entschluss an, sich die Antwort
[318]Verhandlungen um die Ratification des preussischen Vertrages. Anh. II.
auf sein Schreiben mit der Gazelle aus Yeddo selbst zu holen,
wartete, durch vielerlei Ausflüchte hingehalten, noch vierzehn Tage,
und richtete am 25. September ein Schreiben an den Reichsrath,
mit der Forderung, dass zunächst die Notification vom 24. Juni
zurückgenommen, dann eine Audienz beim Taïkūn zu Ueberreichung
seiner Creditive und ein Termin zu Auswechselung der Ratifications-
Instrumente anberaumt würde. Auch auf diese Note erfolgte keine
bestimmte Antwort; die wachsende Unsicherheit der Verhältnisse
gebot aber ruhiges Abwarten. — Am 14. October erfolgte die
Ermordung des Lieutenant Camus, am 26. die Aufforderung Yokuhama
zu räumen. — Am 28. October stellte endlich der General-Consul
der Regierung in kategorischen Ausdrücken eine achttägige Frist
zur definitiven Beantwortung seiner Anträge. Bald darauf liessen
Bevollmächtigte des Gorodžio ihn um eine Besprechung der Ratifi-
cations-Angelegenheit ersuchen, die Herr von Rehfues unter der Be-
dingung zugestand, dass von keiner Schmälerung des Vertrages die
Rede sein dürfe. Er ersuchte die Regierung zugleich, ihm eine
Wohnung in Yeddo zur Verfügung zu stellen, da er sonst mit der
Gazelle dahin kommen würde. Die Erscheinung eines Kriegsschiffes
wünschte man dort aber um jeden Preis zu vermeiden und bot alle
Mittel auf, den Besuch abzuwenden. Der Reichsrath antwortete nur
durch seine Bevollmächtigten unter vielen höflichen Phrasen, dass
er sich der Ratification des preussischen Vertrages durchaus nicht
weigere, aber einen günstigeren Moment abwarten müsse.


Der November verging unter weiteren Verhandlungen mit
den Bunyo’s der auswärtigen Abtheilung, welche die preussischen
Diplomaten in stundenlangen Sitzungen von der dermaligen Unmög-
lichkeit der Ratifications-Auswechselung zu überzeugen suchten.
Herr von Rehfues drückte dann am 2. December seine Bereitwillig-
keit aus, der Regierung Zeit zu gönnen, und zeigte ihr zugleich
seine Absicht an, unterdessen mit der Gazelle eine Reise nach dem
Binnenmeer und den südlichen Küsten des Reiches zu machen,
wozu er sie um einen Lootsen ersuche. — Der Vertrag, der einer
ausdrücklichen Stipulation gemäss ohne Ratification schon am 1. Ja-
nuar 1863 in Wirksamkeit getreten war, gibt unseren Kriegsschiffen
das Recht, alle Häfen des Reiches anzulaufen. Die Regierung konnte
sonach dieser Reise rechtlich kein Hinderniss bereiten und hatte
sogar die Verpflichtung, dazu Lootsen zu stellen. In diesem Momente
der höchsten Spannung musste ihr aber das Erscheinen eines Kriegs-
[319]Anh. II. Verhandlungen um die Ratification des preussischen Vertrages.
schiffes in jenen Gewässern, das den feindlichen Daïmio’s willkom-
menen Stoff zur neuen Aufstachelung des Mikado und zur Erregung
des Fanatismus bot, in hohem Grade missfallen. Sie lenkte denn
auch ein, stellte die Möglichkeit einer baldigen Ratification in Aus-
sicht, deutete aber zugleich auf die Schliessung von Yokuhama hin.
Herr von Rehfues erbat sich eine definitive Antwort bis zum 21. De-
cember. An diesem Tage erschien der oft genannte Takemoto mit
zwei anderen Beamten im preussischen Consulat zu einer langen
Sitzung. Er hatte offenbar den Auftrag zu sondiren, inwiefern es
mit der Reise ernst gemeint sei, suchte den General-Consul zur
Abreise nach China und Rückkehr in einigen Monaten unter den
feierlichsten Versprechungen zu überreden, musste sich aber bald
von der Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen überzeugen. Herr
von Rehfues erklärte bestimmt, dass er Japan nicht verlassen werde,
ehe der Vertrag ratificirt wäre. Darauf wurde die Auswechselung
in Yokuhama vorgeschlagen; der Vertrag bestimmte aber ausdrücklich
Yeddo dazu. Dann wollte man den Austausch in Yeddo zugestehen
unter der Bedingung eines geheimen Reverses, dass Preussen in
die Räumung von Yokuhama willigen werde, falls irgend eine andere
Macht sich dazu verstände. Auch das musste zurückgewiesen wer-
den. Takemoto verweigerte nun im Namen des Gorodžio definitiv
die Auswechselung in Yeddo, worauf Herr von Rehfues den Gegen-
stand fallen liess und die Reise nach dem Binnenmeer zur Sprache
brachte. Der Gouverneur von Kanagava hatte geäussert, dass die
Regierung sich nicht weigere, ihrer Verpflichtung zur Stellung eines
Lootsen nachzukommen, dass aber bei der dermaligen Einschüchte-
rung des Volkes durch die Lonine niemand zu finden sein würde,
der sich dazu hergäbe. Der General-Consul erklärte jetzt den
Bunyo’s, dass er die Reise auch ohne Lootsen unternehmen werde.
Die Unterhaltung führte zu keinem Resultat, doch war die Möglich-
keit der Auswechselung in Yeddo eingeräumt worden, wenn auch
unter unannehmbaren Bedingungen. Herr von Rehfues bestand auf
seinen Forderungen, und die Bunyo’s versprachen bald wieder zu
kommen.


Die Ueberreichung des königlichen Handschreibens war für
den preussischen General-Consul eine Nothwendigkeit, da es seine
Beglaubigung bei der japanischen Regierung enthielt. Einige andere
Diplomaten in Yokuhama hatten schon seit langer Zeit Schreiben
ihrer Souveraine in Händen, konnten aber keine Audienz beim Taïkūn
[320]Verhandlungen um die Ratification des preussischen Vertrages. Anh. II.
erlangen. Am 24. December verzehrte nun gar eine Feuersbrunst
dessen Palast, wodurch, nach den vom Grafen zu Eulenburg ge-
machten Erfahrungen, jede Möglichkeit des persönlichen Empfanges
abgeschnitten war. Nun erschienen die Bunyo’s und baten, der Re-
gierung in Rücksicht auf jenes Ereigniss bis zum 1. Januar Zeit zu
lassen. Sie versuchten in einer fünfstündigen Unterredung abermals
alle erdenklichen Mittel um Herrn von Rehfues von seinem Vor-
haben abzubringen, schlugen baldige Auswechselung in Berlin durch
die japanische Gesandtschaft und endlich das unpassende Local
in Sinagava vor, wo man die Vertreter von Niederland und Amerika
am 26. October empfangen hatte. Der General-Consul bestand
dagegen auf angemessenen Formen, und man trennte sich wieder
unverrichteter Sache, nachdem Takemoto noch erklärt hatte, dass
die Reise der Gazelle nach dem Süden der Regierung ernste Ver-
wickelungen bereiten werde. — Am 30. December erschien er mit
der Eröffnung, dass die Regierung wegen Zerstörung des Taïkūn-
Palastes den Austausch auf einige Zeit hinausschieben müsse; zuerst
hiess es auf zwei Monate, dann, als das nicht angenommen wurde,
auf zwei Wochen. Der Reichsrath ersuche den General-Consul
dringend, die Reise nach dem Binnenmeere aufzugeben, und biete
ihm, wenn er in Yokuhama warten wolle, für die ganze, auch die
verstrichene Zeit seines Aufenthaltes das höchste Wechselquantum
von 4000 Dollar monatlich an, — eine Bestechung die sich auf etwa
10,000 Thaler belaufen haben würde. Natürlich verbat sich Herr
von Rehfues sehr nachdrücklich jede derartige Proposition, wie es
schien zum grossen Erstaunen der Bunyo’s. Sie verwahrten sich
dann im Namen des Gorodžio feierlichst vor jeder Verantwortlich-
keit für die Sicherheit der Gazelle auf der beabsichtigten Reise, und
entfernten sich sehr unzufrieden.


Der 1. Januar 1864 verstrich, ohne weitere Eröffnungen zu
bringen. Am 2. legte die Gazelle sich vor die Hauptstadt; Herr
von Rehfues forderte von Bord aus den Reichsrath auf, ihm binnen
drei Tagen einen Termin zum Austausch der Ratificationen zu be-
stimmen. Statt dessen kam eine Aufforderung, nach Yokuhama zu-
rückzukehren, wohin die Regierung ihre Bevollmächtigten senden
werde. Am 6. Januar zeigte darauf der General-Consul der Regie-
rung an, dass er am folgenden Tage landen und sich im Tempel
von Sakaïdži, — welchen Herr von Bellecourt bereitwilligst zur
Verfügung gestellt hatte, — häuslich einrichten würde. Alsbald
[321]Anh. II. Der General-Consul in Yeddo.
erschienen mehrere Bunyo’s an Bord, welche ihm die Gefahr, in
die er sich begeben wolle, sehr schrecklich ausmalten, aber durch-
aus keinen Eindruck machten. Am 7. erfolgte die Ausschiffung. Die
Wache am Landungsplatze weigerte sich das nach der Stadt
führende Thor der Einzäunung zu öffnen, so dass Consul von Brandt
in seiner Ungeduld die Riegel mit eigener Hand zurückschob, um
mit dem General-Consul und Herrn von Radowitz unter Bedeckung
von Seesoldaten der Gazelle nach Sakaïdži hinaufzumarschiren.
Nun schickte der Reichsrath den Diplomaten einen Beamten nach
dem anderen auf den Hals, um sie zum Rückzug nach Yokuhama
zu bewegen: die Würde des japanischen Reiches und die Rücksicht
auf die anderen Gesandten erlaube ihm nicht in Yeddo zu unter-
handeln. Als aber weder Trotz noch Bitten und die Vorspiegelung
dringender Gefahr irgend eine Wirkung hervorbrachten, bot die
Regierung ein schriftliches Versprechen an, die Ratification in Yeddo
an einem bestimmten Tage zu vollziehen, wenn der General-Consul
bis dahin, — nur der Form halber, damit der Taïkūn sich nicht
zwingen zu lassen scheine, — nach Yokuhama zurückkehrte. Auch
darauf konnte Jener wegen der oft erprobten Doppelzüngigkeit der
Beamten nicht eingehen, und schlug nun vor, dass die Ratifications-
Urkunden an Bord der Gazelle ausgetauscht würden. Die Antwort
des Gorodžio lautete zustimmend für den Fall, dass die Diplo-
maten bis dahin nach Yokuhama oder wenigstens an Bord der Cor-
vette gingen.


Herr von Rehfues blieb aber mit seinen Begleitern im Tempel
von Sakaïdži unter Bedeckung von zwanzig Seesoldaten ruhig
wohnen. Die Regierung umgab die Diplomaten mit einer Schutzwache
von dreihundert Mann und liess sie auf ihren Spaziergängen durch
die Stadt von starken Abtheilungen berittener Yakunine geleiten.
Sie hatte unterdessen bei Herrn von Bellecourt gegen Abtretung
des Tempels von Sakaïdži an den preussischen Bevollmächtigten
ohne Erfolg protestirt, verwahrte sich feierlichst vor jeder Verant-
wortlichkeit für dessen Sicherheit und suchte vergebens ihn am
Ausgehen zu verhindern. Der Reichsrath liess ihm jetzt sagen,
dass der Taïkūn sich am 17. Januar zu einem Fürstentage nach
Miako begeben werde, — wie einige Wochen später in Wahrheit
geschah: ob er gesonnen sei, dessen Rückkehr in Yeddo abzu-
warten. Herr von Rehfues antwortete, dass er dann dem Kaiser
mit der Gazelle nach Osaka folgen würde, um sogleich Aufschluss
II. 21
[322]Austausch der Ratifications-Instrumente. Anh. II.
über die Ergebnisse der Berathung zu erhalten. Nun schienen die
Minister am Ende ihrer Ausflüchte zu sein und stellten den Aus-
tausch auf der Gazelle in nahe Aussicht, versuchten jedoch noch-
mals, die Preussen zu einem kurzen Rückzug nach Yokuhama zu
bewegen, »nur damit die Regierung nicht gezwungen zu handeln
scheine.« Der General-Consul gab dagegen für seinen Vorschlag
nur eine Frist bis zum 19. Januar und erklärte sich nach diesem
Datum nicht mehr daran gebunden zu halten; dehnte jedoch auf
Ersuchen die Frist bis zum 22. aus. Am 19. erschien der zur Aus-
wechselung der Urkunden bevollmächtigte Commissar Tamura Figo-
no-kami
bei ihm zur Feststellung des Ceremoniels, womit man
nach einigen Schwierigkeiten zu Stande kam. Die Schlacht war
glänzend gewonnen.


Die Feierlichkeit war auf den 21. Januar anberaumt. Am
Morgen dieses Tages begab sich der General-Consul mit seinen
beiden Begleitern an Bord der Gazelle, hielt aber den Tempel von
Sakaïdži trotz allen Gegenvorstellungen der Japaner durch preussische
Seesoldaten noch besetzt. Um ein Uhr Nachmittags legte sich ein
japanischer Dampfer mit den Bevollmächtigten neben der Corvette
vor Anker. Die Mannschaft der letzteren war im Paradeanzuge an
Deck aufgestellt, sämmtliche Officiere erschienen in Gala. Als Bevoll-
mächtigte zum Austausch der Ratifications-Instrumente präsentirten
sich die Bunyo’s Tamura Figo-no-kami und Kavadsi Idsu-no-kami,
zum Empfange des königlichen Handschreibens die »Vice-Minister«
Suva Inaba-no-kami und Tatsibana Idsu-no-kami, beide fürst-
lichen Ranges. Nach gegenseitiger Prüfung der Vollmachten er-
folgte die Auswechselung der Urkunden 19) und die Unterzeichnung
der darauf bezüglichen Protocolle in deutscher, holländischer und
japanischer Sprache. Ein und zwanzig Kanonenschüsse der Gazelle
verkündeten der Hauptstadt die Vollziehung dieser Handlung, und
ein Hoch auf Seine Majestät den König beschloss die Feierlichkeit. —
Die Bevollmächtigten und die japanische Flagge erhielten keinen
Salut, weil sie nicht zur Erwiederung bereit waren. Sie hätten am
[323]Anh. II. Austausch der Ratifications-Instrumente.
liebsten die Sache in grösster Heimlichkeit abgemacht. — Fürst
Suva Inaba-no-kami hielt noch eine kurze Anrede über die Freund-
schaft der Japaner für Preussen und die politischen Verwickelungen
seines Heimathlandes, welche eine vorübergehende Schliessung
des Hafens von Yokuhama nothwendig machten, bat auch den
General-Consul um seine Fürsprache für günstige Aufnahme der
Gesandtschaft, welche diese Maassregel bei den europäischen
Höfen durchzusetzen bezweckte. Herr von Rehfues erklärte ihm
deutlich, dass dazu keine Aussicht sei, versprach aber im übrigen
freundschaftlichen Empfang. Die Bevollmächtigten überreichten
zum Abschied noch einige Körbe mit Hühnern, Enten und Ge-
müsen »statt des Gastmahles, das sie bei solchen Gelegenheiten zu
geben pflegten.« Nachdem sie sich entfernt, zog der Commandant
der Gazelle seine kleine Besatzung aus dem Tempel von Sakaïdži
zurück und führte noch am Abend das Schiff nach der Rhede von
Yokuhama. — Der General-Consul und der Legations-Secretär
von Radowitz kehrten nach kurzem Aufenthalt daselbst mit der
Corvette über Naṅgasaki nach China zurück.


Die Beharrlichkeit und Energie, mit welcher die preussischen
Diplomaten die Ausführung ihres Auftrages unter den misslichsten
Verhältnissen durchsetzten, fand bei allen Europäern in Japan
und China, wo man die Schwierigkeit der Aufgabe zu beurtheilen
wusste, die höchste Anerkennung, und brachte den Japanern grosse
Achtung vor der Haltung und Willenskraft der Preussen bei. Die
Regierung von Yeddo stellte in der That ihrem Vorhaben den
äussersten Widerstand bis zur Gränze der offenen Gewalt entgegen.
Grosses Verdienst um den Erfolg hat sich, wie gesagt, der Consul
von Brandt erworben, dessen Kenntniss von der Sprache und den
Verhältnissen des Landes, vom Charakter und der politischen Tactik
der japanischen Regierungsbeamten Herrn von Rehfues wesentlich
unterstützen musste. Seine Stellung in Yokuhama ist äusserst
schwierig. Während Frankreich, England, Holland und Amerika
durch General-Consuln und diplomatische Agenten vertreten
werden, hat Preussen nur einen Consul daselbst. Und doch ist die
deutsche Handelsmarine, deren Interessen er wahrzunehmen hat,
notorisch die dritte der Welt. Der preussische Handel überwiegt
schon jetzt in Japan zwar nicht denjenigen der Niederländer, welcher
in Folge der alten Verbindung mit diesem Lande und wegen der
nahgelegenen ostindischen Besitzungen dort speciell eine grosse Aus-
21*
[324]Diplomatische Vertretung. Anh. II.
dehnung erlangt hat, — wohl aber den französischen. 20) Während
die Vertreter jener Mächte beständig durch eine achtunggebietende
Reihe von Kriegsschiffen unterstützt werden, ist es bei dem gegen-
wärtigem Umfange unserer Marine seit der Expedition nur einmal
möglich gewesen, eine preussische Corvette auf einige Monate in
jene Gewässer zu senden. In Folge dessen hat denn auch der
Consul von Brandt an den späteren wichtigen Demonstrationen der
vier Mächte vor Simonoseki und Osaka nicht theilnehmen können.
Er hat durch seine Persönlichkeit ersetzen müssen, was ihm an
diplomatischem Rang und militärischer Unterstützung fehlte; aber
Persönlichkeit genügt nicht in allen Fällen, weder den japanischen
Behörden, noch dem diplomatischen Corps gegenüber, zur Wahrung
der Würde und der materiellen Interessen, welche der preussische
Consul vertritt. Die Anforderungen des überseeischen Handels an
unsere Regierung haben bis jetzt deren Kräfte weit überstiegen;
doch ist hoffentlich der Zeitpunct nicht fern, wo ihnen in höherem
Maasse entsprochen werden kann. Preussen ist freilich kein Han-
delsstaat in dem Sinne von England und Holland, dessen Bewohner
sich als ein Ganzes fühlen mit ihren fernsten Colonieen. Während
[325]Anh. II. Der schweizerische Vertrag.
bei uns heute noch sehr Wenige selbst aus den gebildeten Ständen
einen Begriff von der Ausdehnung und Wichtigkeit des überseeischen
Handels ihres Heimathlandes haben, lebt in Holland und England
das Bewusstsein davon in Jedermann. Dort hat fast jede Familie
ihre Freunde und Verwandten über dem Meere; man geht und
kommt. Viele haben einen Theil ihres Lebens in den fernen Be-
sitzungen zugebracht, und kehren periodisch dahin zurück, wie man
auf das Land geht. Die Verbindung ist regelmässig und beständig.
Was in Batavia geschieht, berührt den Holländer näher, als was
sich in Brüssel ereignet. Man geht nach Borneo, aber man reist
nach Deutschland. Preussens Stellung ist dagegen bis jetzt nur
eine europäische gewesen; es musste alle seine Kräfte auf die
innere Ausbildung concentriren, um durch Qualität zu ersetzen,
was ihm an Ausdehnung fehlte. Das hat denn auch gute Früchte
getragen. Der gesunde Körper ist zu einer Reife gediehen, die sich
fühlt und zum Schaffen berufen ist. Deutschlands neue Gestaltung
muss auch seinem Weltverkehr grössere Ausdehnung geben; es
wird unter dem Schutze der wachsenden Flotte seiner Cultur in
fernen Ländern die Wege bahnen, gebend und empfangend zu
eigenem und fremdem Nutzen seine Kräfte brauchen.


Bald nach Auswechselung der preussisch-japanischen Ratifi-
cationen erfolgte — am 6. März 1864 — die Unterzeichnung des
schweizerischen Vertrages, welcher mit dem preussischen, nach
Eliminirung aller auf die Schiffahrt bezüglichen Artikel, genau über-
einstimmt. Der schweizerische Regierungscommissar war schon im
Frühjahr 1863 auf einem holländischen Kriegsschiff in Yokuhama
angelangt, stiess aber, — obgleich die Schweiz den schwierigsten
Punct, Schiffahrtsrechte garnicht beanspruchte, obgleich ihr Vertrag
nur so lange bestehen kann als die Kriegsschiffe der seefahrenden
Nationen die ihrigen aufrecht halten, obgleich die Diplomaten der
befreundeten Mächte ihn nachdrücklich unterstützten, — lange Zeit
auf unüberwindlich scheinende Schwierigkeiten und hatte grosse
Mühe die schliessliche Unterzeichnung durchzusetzen.


[326]Die Lage im Sommer 1864. Anh. II.

Der Taïkūn kehrte wider Erwarten schnell aus Miako zurück.
Man sagte, er sei dort sehr schlecht, ohne alle seinem Range ge-
bührenden Rücksichten empfangen worden; der Fürst von Naṅgato
stehe zwar, nach einem Versuche sich des Mikado zu bemächtigen, bei
diesem nicht mehr in Gnaden und müsse vom Hofe entfernt bleiben,
doch hätte die fremdenfeindliche Politik dort festen Fuss gefasst;
der Erbkaiser habe abermals die baldige Schliessung von Yokuhama
befohlen, und den Prinzen von Ftutsbaši, — den Vice-Siogun — zum
Gouverneur von Osaka und obersten Befehlshaber der Küstenver-
theidigung ernannt. Alles dieses war nur Gerücht; dass sich aber
in der auswärtigen Politik nichts geändert hatte, merkte man an den
fortgesetzten Beschränkungen des Handels und dem ewigen Refrain
der Beamten auf alle dagegen erhobenen Beschwerden: die Räumung
von Yokuhama sei unvermeidlich. Als Termin dieser Maassregel
wurde die Rückkehr der japanischen Gesandtschaft aus Europa be-
zeichnet. Die Regierung rüstete zwar mächtig und erhielt aus Amerika
eine Menge gezogener Geschütze, aber ihre Ohnmacht und Haltungs-
losigkeit blieb dieselbe; die Phrase von der Schliessung Yokuhama’s
verlor alle Bedeutung, da man dem Reichsrath keine energische
Handlung zutraute. Die Fremden waren nichts destoweniger auf
alle Eventualitäten vorbereitet und verfügten über hinreichende
Streitkräfte, um der Gewalt die Spitze zu bieten. Die meisten eng-
lischen und ein Theil der französischen Schiffe blieben den ganzen
Winter vor Yokuhama. Im Frühjahr trafen noch drei holländische
Corvetten ein, welche die Regierung im Haag zum speciellen Schutze
ihrer japanischen Handelsinteressen ausrüstete und der Medusa zu
Hülfe schickte. Der englische Gesandte, welchem die Königin Victoria
die Ritterwürde verliehen hatte, verschrieb, im März auf seinen
Posten zurückkehrend, aus Hoṅgkoṅg das zu seiner Verfügung ge-
stellte zwanzigste englische Linienregiment, Admiral Kuper ein Bataillon
Seesoldaten. Ein Theil dieser Truppen, welche im Juni eintrafen,
bivouakirte auf den Höhen um Yokuhama. Zu derselben Zeit kehrte
auch Admiral Jaurès auf der Semiramis von einer Kreuzfahrt an den
chinesischen Küsten dahin zurück, und so war denn um die Mitte
des Jahres 1864 eine allen Eventualitäten gewachsene Streitmacht
zu Lande und zur See in der Nähe der Hauptstadt versammelt.


Sir Rutherford Alcock gab seinen Willen, handelnd in die
Verhältnisse einzugreifen und wo möglich Einfluss auf die innere
Politik des Landes zu üben, gleich nach seiner Rückkehr durch
[327]Anh. II. Operationen gegen Naṅgato beschlossen.
ein Circular zu erkennen, in welchem er die Vertreter der anderen
Mächte um moralische und thätige Mitwirkung zunächst zur nach-
drücklichen Bestrafung des Fürsten von Naṅgato ersuchte. Der
niederländische General-Consul konnte, von seiner Regierung zu
energischen Maassregeln ermächtigt, solchen Beistand sofort im
vollen Umfange seiner Kräfte versprechen; der französische Ge-
schäftsträger Herr Léon Roches dagegen, welcher kurz vorher, im
März 1864, Herrn von Bellecourt auf diesem Posten abgelöst hatte,
war noch zu neu in den Verhältnissen und vom Tuilerien-Cabinet
zur friedlichen Lösung der streitigen Fragen zu deutlich instruirt,
um sich sogleich zur Theilnahme an kriegerischen Operationen ent-
schliessen zu können. Er verlangte Aufschub und ersuchte zunächst
den Reichsrath um eine Antrittsaudienz, die nach vielerlei Aus-
flüchten im Mai endlich gewährt wurde. Obgleich nun aus-
drücklich abgemacht war, dass diese Zusammenkunft nur der
formellen Einführung des Geschäftsträgers, aber keinerlei politischen
Erörterungen gelten sollte, so empfing man ihn doch aus heiterer
Luft mit der Anrede, dass die Fremden Yokuhama aufgeben müssten.
Diese im Tone gesuchten Trotzes vorgebrachte bundbrüchige
Aeusserung beantwortete der überraschte Diplomat mit der Erklä-
rung, dass er zur Aufrechthaltung der Verträge nach Japan ge-
kommen sei und Gewalt mit Gewalt vertreiben werde. Er konnte
nach solchem Debut über den Standpunct der japanischen Regierung
nicht mehr zweifelhaft sein und durfte aus voller Ueberzeugung die
Mitwirkung des französischen Geschwaders bei den beabsichtigten
Operationen versprechen.


Die Forderungen der Vertreter richteten sich nun zunächst
auf definitive Zurücknahme der Mittheilung vom 26. October 1863,
betreffend die Schliessung von Yokuhama, auf Züchtigung des
Fürsten von Naṅgato und Sicherung des Verkehrs durch die
Strasse von Simonoseki. Der Reichsrath erwiederte, dass die zuletzt
genannten Maassregeln längst beschlossen seien, ein bestimmter
Termin ihrer Ausführung aber nicht versprochen werden könne,
und liess den ersten Punct unberührt. Nun wurde eine Expedition
nach dem Binnenmeere von den Diplomaten ernstlich in Aussicht
genommen; die Verhandlungen darüber zogen sich aber in die Länge,
theils weil die Geschwader-Commandanten den Schutz der Nieder-
lassung in erste Linie stellten, theils auch weil man sich über
den Operationsplan nicht einigen konnte. Der englische Gesandte
[328]Zwei Japaner aus England. Anh. II.
wünschte Einfluss auf die innere Politik des Landes zu gewinnen
und verlangte mehrwöchentliche Demonstrationen vor Osaka; Herr
Léon Roches dagegen, welchem es, dem Standpuncte seiner Re-
gierung gemäss, weniger auf Ausbreitung des französischen Handels-
verkehrs, als auf Wahrung der politischen Ehre und Gleichgewicht
mit der englischen Machtentfaltung zu thun war, wollte die Opera-
tionen auf gründliche Züchtigung des Fürsten von Naṅgato be-
schränkt wissen. Man einigte sich am 5. Juli zu einer Art Ultimatum
an die Regierung von Yeddo, das aber nicht abgeschickt wurde.
Bald darauf erhielt die Sache einen neuen Anstoss. Den 17. Juli
kamen mit dem Postschiff 21) ganz unerwartet zwei europäisch ge-
kleidete Japaner in Yokuhama an, die geläufig englisch sprachen
und sich den fremden Vertretern als Unterthanen des Fürsten von
Naṅgato zu erkennen gaben. Sie hätten, in England mit Studien
beschäftigt, von den thörichten Feindseligkeiten ihres Gebieters
gegen die Ausländer Nachricht erhalten, seien eilig zurückgekehrt,
um diesen vor so gefährlichen Schritten zu warnen, und bäten nun,
auf einem englischen Schiff nach ihrer Heimath befördert zu werden,
die sie auf anderem Wege, durch die Länder des Taïkūn, niemals
erreichen würden. Herr Alcock sah hier eine gute Gelegenheit mit
dem rebellischen Fürsten in Verbindung zu treten; der Admiral
stellte ihm die Corvette Barossa zur Verfügung, welche die beiden
Anglo-Japaner an Bord nahm und, von dem Kanonenboot Cormo-
rant begleitet, alsbald die Reise nach Simonoseki antrat. Ein nieder-
ländischer Marine-Officier und der Chef des französischen General-
stabes gingen ebenfalls mit den Schiffen, welche zugleich das
Terrain der künftigen Operationen recognosciren sollten.


Man setzte die Japaner auf der Insel Hime-sima in der
inneren Einfahrt des Buṅgo-Canals aus, wo sie sich nach zehn
Tagen mit dem Bescheide ihres Herrn wieder einstellen sollten.
Der Ortsvorsteher bat die Schliffscommandanten dort nicht zu landen,
um nicht seinen Gebieter in Schwierigkeiten mit dem Fürsten von
Naṅgato zu verwickeln; vom Festlande her kamen Boote mit etwa
funfzig Soldaten, welche das Inselchen besetzten. Die Schiffe liefen
alsbald zur Recognoscirung in die Strasse von Simonoseki ein, der
Cormorant voran mit dem französischen Generalstabsofficier, welcher
die Affaire unter Admiral Jaurès mitgemacht hatte. Dieser fand die
[329]Anh. II. Recognoscirung von Simonoseki. Ministerwechsel.
alten Batterieen der Nordküste bedeutend verstärkt und mehrere
neue Werke theils fertig, theils im Bau; an der Stelle, wo die
japanischen Truppen auf der Landstrasse von Simonoseki zusammen-
geschossen wurden, stand jetzt ein umfangreiches Erdwerk. — Bei
Annäherung der Schiffe hissten alle Schanzen die japanische Flagge,
die Bedienungsmannschaften eilten an die Geschütze und warfen
einige Vollkugeln, die etwa tausend Schritt vor dem Cormorant
einschlugen; der englische Commandeur hatte aber Befehl sich auf
kein Gefecht einzulassen und musste umkehren. Er nahm an den
folgenden Tagen hydrographische Arbeiten vor und ging dann nach
Hime-sima zurück, wo die beiden Japaner sich zur verabredeten
Zeit richtig einfanden. Sie waren aber wie umgewandelt und brachten
mit der japanischen Tracht, die sie wieder angenommen hatten,
statt der früheren enthusiastischen Freundschaft für die Europäer
und der freimüthigen Zuversicht des Erfolges das undurchdring-
liche zurückhaltende Wesen des ächten japanischen Beamten mit.
Ihre Eröffnungen lauteten, »dass der Fürst vom Mikado und dem
Taïkūn Befehl habe, auf alle fremden Schiffe zu schiessen, aber
bereit sei noch einmal Verhaltungsbefehle in Yeddo und Miako
einzuholen; dazu brauche er eine Frist von drei Monaten.« Er
wollte offenbar Zeit zur Vollendung seiner Rüstungen gewinnen und
die Centralregierung in Conflict mit den Fremden bringen.


In Yokuhama, wo der Barossa am 10. August wieder eintraf,
waren unterdessen die kriegerischen Vorbereitungen etwas weiter
gediehen. Ein Ministerwechsel in Yeddo, über dessen Veranlassung
man keine volle Klarheit gewann, schien den Fremden günstig zu
sein, musste aber die Diplomaten in ihren Entschlüssen bestärken.
Amtlich wurde nur die Entlassung des ersten Ministers Matsdaïra
Yamatto-no-kami
und einiger anderen Würdenträger angezeigt;
das Gerücht erzählte aber von einer Verschwörung gegen das
Leben des Taïkūn und aller Ausländer. Der Mikado sollte, nach-
dem bei Anwesenheit des Taïkūn in Miako die Verbannung der
Fremden mit seiner Zustimmung bis zur Rückkehr der japanischen
Gesandtschaft verschoben worden sei, jetzt kategorisch die sofor-
tige Ausführung dieser Maassregel verlangt und im Weigerungs-
falle einen anderen Siogun zu bestellen gedroht haben; — man
nannte den Vice-Siogun Ftutsbaši. Dieses Decret hätte eine Spal-
tung im Reichsrath und schliesslich dessen völlige Umwandlung
herbeigeführt. Folgendes Manifest des Taïkūn an die Daïmio’s,
[330]Manifest des Taïkūn. Anh. II.
dessen Aechheit wahrscheinlich ist, wirft einiges Licht auf den
Charakter dieser Umwälzung.


Unser Herz ist bewegt von der Angst und dem Schrecken
des Volkes; wir können nicht sagen, dass dessen Besorg-
nisse grundlos gewesen wären. Wenn die Götter nicht
Japan beschützten, so wäre Yeddo niedergebrannt und
seine Bevölkerung zerstreut worden. Möge die Leichtig-
keit, mit der wir der Gefahr entgangen sind, das Volk
für zukünftige Gefahren mit Vertrauen erfüllen.


Seitdem der Himmel und der Mikado mir die Herr-
schaft anvertraut, was habe ich nicht gethan, um Alle
zufrieden zu stellen! Habe ich nicht die Reisen der Daïmio’s
erleichtert und seltener gemacht? Habe ich nicht das Bei-
spiel der Sparsamkeit gegeben? Habe ich nicht in weniger
als zwölf Monaten zwei Reisen nach Kioto
22)gemacht,
um mich mit dem Mikado und den Daïmio’s über die
Mittel zu verständigen, Japan stark und glücklich zu
machen!


Die Vernunft gebot, dass man meine Bemühungen,
meine Sorgen um das Wohl des Landes berücksichtigte.
Wenn die gewaltsame Vertreibung der Fremden so leicht
wäre, warum sollte ich sie nicht unternehmen, statt mich
Beunruhigungen aller Art auszusetzen? Man ruft immer
die Machtvollkommenheit des Mikado an, aber diese
Machtvollkommenheit ist nur eine bedingte. Der Mikado
hat nicht vergessen, dass meine Vorfahren einst die Frem-
den aus dem Lande gejagt und deren Freunde gegen den
Willen einer grossen Zahl von Daïmio’s ausgerottet haben.
Der Mikado will nicht das Elend des Landes; man hat
seinen Verstand durch Lügen irre leiten können, aber
niemals sein grosses Herz.


Die Hoffnung schien berechtigt, dass meine Rückkehr
nach Yeddo die Mitglieder des Gorodžio einigen, dass
ich durch sie gegen unverständige Gelüste und Zumuthun-
gen unterstützt werden würde. Im Gegentheil war meine
Rückkehr der Vorwand eines grossen Uebels, welches
ränkesüchtigen Menschen Schwächen und Gefahren ent-
deckt.


[331]Anh. II. Manifest des Taïkūn.

Bei Gelegenheit einiger vom Mikado verlangten Er-
klärungen, die missverstanden wurden, haben mehrere
Würdenträger aus ihrem Range heraustreten wollen, und
sind, das Herz des Mikado missdeutend, über dessen
Absichten hinausgegangen. Sie haben nicht nur meine
Klugheit verkannt, die sie Verrath und Feigheit nannten,
sondern auch meine Person angreifen wollen, und dadurch
gezeigt, dass sie nicht von Eifer gegen die Fremden,
sondern von bösartigem Ehrgeiz getrieben werden.


Man hat selbst Lonine in das Spiel bringen wollen.
Es ist nicht genug an der guten Sache, auch die Mittel
müssen ehrenhaft sein. Wenn ein Daïmio, ohne sich mit
der Regierung zu verständigen, die Fremden angreift,
wirft er sich nicht selbst zum Herrscher auf? Um wie
vielmehr nicht solche Leute, die keinen Herrn haben und
auf sich selbst angewiesen sind!


Wer die Sache so übereilen will, darf sich keiner
Vaterlandsliebe rühmen. Wenn Matsdaïra Yamatto-no-
kami
, — statt heftige Männer in das Gorodžio zu berufen
und sich aus ihnen eine Majorität zur Beschleunigung von
Angelegenheiten zu bilden, welche Zeit und Umstände
allein zur Reife bringen können, — uns geholfen hätte
die Gemüther zu besänftigen, so wären alle diese Auf-
regungen vermieden worden. Aber das Volk möge sich
beruhigen, sein Murren kann die Schwierigkeiten nur er-
höhen. Es ist ein Irrthum, alles Elend des Landes auf
die Zulassung der Fremden zu schieben. Man gleicht
dadurch einem Kranken, der, an allen Gliedern leidend,
die Schuld auf ein Sandkorn schieben wollte, das ihn am
Fusse gedrückt hat.


Glaubet nicht denen, die euch sagen, ich sei nicht
einer Meinung mit dem Mikado. Wir haben immer das-
selbe Gefühl gehabt, wenn wir auch, verschieden über die
Lage der Dinge unterrichtet, zuweilen verschieden geurtheilt
haben.


Die Bauern sollen auf ihre Felder, die Handwerker
an ihre Arbeit, der Kaufmann zu seinem Geschäft zurück-
kehren. Neue Beamten werden mit Weisheit regieren.
Mögen Diejenigen, welche die tragischen Scenen aus dem

[332]Operationen gegen Lonin-Banden. Anh. II.
Anfang meiner Regierung zu erneuern denken, jede Hoff-
nung des Erfolges aufgeben. Wenn ich vor dem ganzen
Reich erklärte, dass ich gegen die Fremden bin, würden
dadurch die Schwierigkeiten gelöst? Wenn Diejenigen, die
sich weise dünken, das glauben, so irren sie; eine solche
Versicherung würde nur die Geister noch mehr erregen,
ohne den Fremden das Schwert aus der Hand zu nehmen.


Theilt dieses in den Wohnungen aller Daïmio’s aus,
damit es sofort an die Besitzer geschickt werde. Den
fünften Tag des sechsten Monats (29. Juli).


Dieses Manifest und die darauf folgenden Maassregeln geben
Aufschluss über die Lage. Seit der ersten Reise des Taïkūn erhielt
die Parthei Mito im Reichsrath grossen Einfluss, vermochte aber die
gewaltsame Vertreibung der Fremden, den Krieg nicht durchzusetzen.
Der Minister Ongasavara und alle die Erhaltung der Verträge wün-
schenden Würdenträger waren vom Staatsruder entfernt, die Ver-
treibung der Fremden beschlossen, doch hatte diejenige Parthei noch
das Uebergewicht, welche eine friedliche Lösung dieser Frage
anstrebte. Mit der zweiten Reise des Taïkūn erlangt Ftutsbaši,
der Prinz von Mito eine unabhängige Machtstellung im Herzen des
Landes; er zieht Schaaren fanatischer Lonine an sich und lässt von
der bergigen Landschaft Yamatto, dem urältesten Sitz der japani-
schen Herrschaft aus, durch Mordbanden die Bevölkerung des
Kuanto bis in die Vorstädte von Yeddo hinein terrorisiren. Mit
ihrer Hülfe soll der Taïkūn Jye-motsi beseitigt werden. Ein viel-
leicht gefälschter Befehl des Mikado zur sofortigen Vertreibung der
Fremden muss zum Vorwande dienen, der Gewalt den Anschein des
Rechtes geben; aber der Anschlag misslingt, Jye-motsi behält die
Oberhand. — Die Regierung schien sich nun zu kräftigem Handeln
ermannen zu wollen. Sie schickte eine Heeresmacht in die Berge
von Yamatto, welche die Lonine in mehreren Treffen schlug und
ihre Banden zerstreute, liess viele in Yeddo gefangene öffentlich hin-
richten und stellte für den Augenblick die bürgerliche Ordnung
wieder her. Die Taïkūn-Herrschaft blieb bei aller Schwäche immer
die einzige Macht, welche einen Rest von Haltung und An-
sehn besass; sie hatte dem Drängen nach Gewaltsamkeit kräftig
widerstanden, die Lonine unterdrückt, und musste schon deshalb
von den Fremden gestützt werden. Als ihr gefährlichster Gegner
galt der Fürst von Naṅgato; es schien jetzt also doppelt wünschens-
[333]Anh. II. Uebereinkommen der Diplomaten.
werth, dessen Macht und Willkür zu brechen. Er that überdies
dem Handel der Fremden directen Schaden, und hatte noch kürzlich
mehrere mit Waaren für den Markt von Yokuhama beladene Dschunken
bei Simonoseki angehalten und verbrannt.


Die Diplomaten in Yokuhama hielten zahlreiche Conferenzen
und einigten sich, die Solidarität der Interessen anerkennend, mehr
und mehr über die einzuschlagenden Wege, zogen auch den oftge-
nannten Takemoto in das Vertrauen, welcher nun wieder häufiger in
der Niederlassung erschien. Die Politik der Regierung war von jetzt
an lediglich die der Selbsterhaltung; sie strebte noch eine Zeit lang
die Fremden auf gütlichem Wege los zu werden, um den Gegnern
jeden Vorwand des Streites zu rauben und wo möglich das alte
System wieder herzustellen. Der Taïkūn legt in seinem Circular
grossen Nachdruck auf seine Einmüthigkeit mit dem Mikado, und
erklärt sich offen als Gegner der Fremden, sucht aber mit deren
Hülfe seine Kriegsmacht zu stärken, und billigt, jedes offene Bünd-
niss perhorrescirend, im Geheimen ihre Operationen gegen seine
Feinde. Takemoto erklärte im Vertrauen, dass die Expedition gegen
Simonoseki den Interessen des Taïkūn nur förderlich sein könne,
bat aber, sie bis nach Abgang des Geschwaders geheim zu halten;
dann werde die Regierung laut dagegen protestiren. Gleich nach
Rückkehr des Barossa einigten sich nun die Diplomaten und
Admiräle über folgende Puncte: Erstere erklärten die Geschwader-
Commandanten von jeder Verantwortlichkeit für die Sicherheit der
Niederlassung entbunden; die Verschanzungen von Simonoseki sollten
auch in dem Falle zerstört werden, dass sie das Geschwader nicht
angriffen; dieses sollte nach Vollendung seiner Aufgabe einige Schiffe
dort lassen um die Strasse offen zu halten, die übrigen aber zurück-
senden; der Fürst von Naṅgato sollte als Seeräuber behandelt und
keine Unterhandlungen mit ihm gepflogen werden; das Geschwader
sollte sich aller Demonstrationen vor Osaka enthalten. — In die
beiden letzten Puncte willigte der englische Gesandte wohl sehr
ungern; der französische Geschäftsträger und Admiral Jaurès bestan-
den aber darauf und beugten dadurch jeder Einwirkung der Eng-
länder auf die inneren Angelegenheiten des Landes sowie der im Ge-
heimen vielleicht gewünschten Occupation von Simonoseki vor.
Die Gesandten glaubten nun wegen des ersten Punctes, die Sicher-
heit von Yokuhama betreffend, noch mit den japanischen Behörden
in Verhandlung treten zu müssen. Diese liessen aber durch Takemoto
[334]Rückkehr der japanischen Gesandten. Anh. II.
sogleich erklären, dass aus der Entfernung des Geschwaders die
grösste Gefahr für die Niederlassung entstände; die Fremden möch-
ten sie räumen; die Gebäude und das zurückgelassene Eigenthum
werde die Regierung schützen. Man wollte offenbar die günstige
Gelegenheit ergreifen und hätte die Ansiedler schwerlich wieder auf-
genommen. — Der englische Gesandte trug nach dieser Mittheilung
Bedenken, das Protocoll zu unterzeichnen; Herr Léon Roches aber,
welcher die ganze Zeit zur Action gedrängt hatte, erklärte dem
Reichsrath mit Nachdruck, dass, wenn in Abwesenheit des Geschwa-
ders auch nur ein Schuss gegen Yokuhama fiele, Yeddo und Osaka
dem Boden gleich gemacht werden sollten. Takemoto brachte
darauf die beruhigende Erklärung, dass für die Niederlassung nichts
zu fürchten sei; das Protocoll wurde unterzeichnet und die Abfahrt
des Geschwaders auf den 20. August anberaumt.


Am 19. traf ein englischer Postdampfer in Yokuhama ein und
brachte zur allgemeinen Ueberraschung das Personal der japanischen
Gesandtschaft mit, die nach dem ursprünglichen Plan geraume Zeit
in Europa verweilen sollte. Der französische Geschäftsträger erhielt
zugleich vom Tuilerien-Cabinet die Abschrift einer Convention, welche,
von den Japanern in Paris unterzeichnet, unverzüglich und ohne
Ratification als integrirender Theil des Vertrages von 1858 in Kraft
treten sollte. Im ersten Artikel derselben verpflichten sich die Ja-
paner, für den in der Strasse von Simonoseki auf den Kien-tšaṅ
verübten Angriff eine Geldbusse von 140,000 Dollars zu zahlen,
wovon 40,000 vom Fürsten von Naṅgato eingetrieben werden sollen.
Der zweite Artikel verspricht, dass binnen drei Monaten alle Hin-
dernisse aus dem Wege geräumt sein sollen, welche gegenwärtig
die Strasse von Simonoseki sperren; dass von da an die Meerenge
auf immer dem Fremdenverkehr offen bleiben, und eventuell gegen
Störung desselben von der japanischen Regierung in Gemeinschaft
mit dem französischen Geschwader eingeschritten werden soll. Die
übrigen Bestimmungen handeln von Zoll-Ermässigungen und Er-
leichterungen des Handels. — Angesichts dieser Urkunde musste
nun der französische Geschäftsträger seine Theilnahme an den
Operationen für den Augenblick versagen; man schob in Folge dessen
die Abfahrt des Geschwaders auf, um das Verhalten des Reichs-
rathes abzuwarten.


Die japanischen Gesandten waren vom Tuilerien-Cabinet mit
Zuvorkommenheit empfangen worden und hatten, um sich dessen
[335]Anh. II. Erfolge und Empfang der Gesandten.
Gunst zu erwerben, die Beziehungen mit Zugeständnissen für den
Handelsverkehr eingeleitet. Als sie aber mit dem eigentlichen Ge-
genstande ihrer Sendung, der Räumung von Yokuhama hervortraten,
wies der französische Minister des Auswärtigen sie rundweg ab und
verbat sich jede darauf zielende Insinuation. Die Höfe der anderen
Vertragsmächte waren durch ihre Repräsentanten von dem Zwecke
der Gesandtschaft unterrichtet und liessen ihr nach Paris sagen,
dass sie überall denselben Bescheid zu erwarten habe. Die Japaner
standen deshalb von der weiteren Reise ab, unterzeichneten ohne
vieles Sträuben am 20. Juni 1864 die erwähnte Convention, zahlten
eine Entschädigung von 200,000 Francs an die Hinterbliebenen
des Lieutenant Camus, und schifften sich, nachdem sie noch die
ersten Waffenfabriken des Landes besucht und ansehnliche Be-
stellungen gemacht hatten, alsbald wieder nach der Heimath ein.
Sie hatten sich hier, wo ihre Rückkehr eben so ungelegen als un-
erwartet kam, keiner angenehmen Aufnahme zu erfreuen. Die Re-
gierung glaubte für die versprochene Schliessung von Yokuhama
noch eine lange Frist vor sich zu haben und sah sich nun plötzlich
der Erfüllung gegenüber. Zudem hatte sich die Zusammensetzung
des Reichsrathes seit der Abreise der Gesandten sehr wesentlich
und vielleicht nicht zu deren Gunsten geändert; sie wurden in
Kanagava zurückgehalten und durften sich der Hauptstadt nicht
nähern. Schon vier Tage nach ihrer Ankunft erschien Takemoto
bei den Diplomaten und erklärte im Namen des Gorodžio, dass die
Gesandten ihre Vollmachten überschritten und den Auftrag, die
Höfe aller Vertragsmächte zu besuchen, unerfüllt gelassen hätten.
Die Regierung habe sie deshalb mit Hausgefängniss bestraft und
werde sogleich eine neue Gesandtschaft abschicken. Sie sei ausser
Stande, dem zweiten Artikel der Pariser Convention Folge gebend,
mit den Fremden gemeinschaftliche Sache gegen den Fürsten von
Naṅgato zu machen. — Darauf beschlossen die Diplomaten das Ge-
schwader sogleich nach Simonoseki abgehen zu lassen. — Von einer
bevorstehenden Schliessung Yokuhama’s war nicht mehr die Rede.
Die Beamten sprachen noch eine Zeit lang von der neuen Gesandt-
schaft und scheinen sich dem Mikado gegenüber ernstlich den Schein
gegeben zu haben, als werde eine solche zur Betreibung der bewussten
Angelegenheit schleunigst abgehen. Eine Zeit lang hiess es, man
wolle, um den Hof von Miako zu beruhigen, ein Paar untergeordnete
Beamten nach Singapore schicken; aber der Umschwung, welchen
[336]Expedition nach Simonoseki. Anh. II.
das Unternehmen gegen Simonoseki und gleichzeitige innere Be-
gebenheiten in den japanischen Verhältnissen hervorbrachten,
machte auch dieses Manöver unnöthig, und die Sache gerieth bald
in Vergessenheit.


Vice-Admiral Kuper führte von Yokuhama aus folgende Schiffe
gegen Simonoseki: die Fregatte Euryalus, auf welcher er seine Flagge
hisste; den Zweidecker Conqueror, die Räderfregatte Leopard, die
Corvetten Tartar, Barossa, Coquette, die Kanonenboote Bouncer
und Argus. Contre-Admiral Jaurès befehligte die Fregatte Semiramis,
die Corvette Dupleix und den Aviso Tancrède; der königlich nieder-
ländische Capitän De Man die Corvetten Amsterdam, Medusa,
Metalcruis und Djambi. Der amerikanische Minister-Resident hatte den
Packetdampfer Takiang gemiethet und mit Artillerie und Mannschaft
von der Segel-Corvette Jamestown ausgerüstet, welche, zu der
Expedition nicht geeignet, mit vier englischen Fahrzeugen, einer
Corvette und drei Kanonenbooten, vor Yokuhama zurückblieb. Das
zwanzigste und ein Detachement des siebenundsechszigsten englischen
Linien-Regiments bivouakirten zum Schutze der Niederlassung auf
den umliegenden Höhen. — Am 28. und 29. August lief das Expedi-
tions-Geschwader in verschiedenen Abtheilungen von Yokuhama aus
und war am 3. September am Orte des Rendezvous, bei der Insel
Himesima, vollständig beisammen. Dort traf von Shanghai aus auch
die englische Corvette Perseus in Begleitung eines kohlenbeladenen
Transportschiffes ein.


Den 4. September Morgens brach das ganze Geschwader
unter Dampf nach dem Eingang der Meerenge auf, von welchem
Himesima etwa dreissig Seemeilen entfernt ist, näherte sich in drei
parallelen Reihen, — die Franzosen und die Amerikaner links, die
Engländer in der Mitte, die Holländer rechts, — der inneren Einfahrt
der Strasse bis auf viertausend Schritt und ging dann zu Anker.
Die commandirenden Officiere versammelten sich an Bord der Coquette
zu einer Recognoscirung; sie liefen mit diesem Schiff, ohne beun-
ruhigt zu werden, auf Kanonenschussweite unter Cap Kusisaki vorbei,
das auf der nördlichen Seite den Eingang der Meerenge beherrscht
und sich nach dem Innern derselben in waldbedeckte Hügelreihen fort-
setzt. Die erste Schlucht, welche sich hier nach dem Wasser öffnet,
deckte eine Batterie, und zwischen den Felsen des Vorgebirges
[337]Anh. II. Operationen des Geschwaders.
standen Feldgeschütze. Sechshundert Schritt weiter hinein lag die
zweite Strandbatterie, welche die Franzosen das Jahr vorher ge-
nommen hatten; nicht weit davon zwei neue Schanzen und das
auf der Recognoscirung des Cormorant wahrgenommene grössere
Werk, auf dessen Brüstung bunte Flaggen wehten. Noch weiter
die Meerenge hinauf liess sich nichts erkennen als viele weisse Zelte
und Schanzbehänge mit dem Wappen des Fürsten von Naṅgato,
drei schwarzen Kugeln im Dreieck mit einem wagerechten Strich
darunter. Das Südufer der Strasse war, wie früher, unbefestigt;
die Batterieen der Nordseite schwiegen trotz dem Vorgehen der
Coquette hartnäckig.


Da der Strom in der Meerenge mit Ebbe und Fluth umsetzt
und zuweilen sehr stark ist, so mussten die Operationen auf den
folgenden Nachmittag verschoben werden. Am Abend des 4. Septem-
ber erschienen noch die Ortsvorsteher von Tana-ura, auf der Küste
von Budsen, an Bord der Semiramis: sie hätten auf ihrer Seite auch
einige Batterieen, die aber nur zu ihrem Schutze da seien und
hoffentlich verschont bleiben würden. In der Nacht kam auch
ein Boot von der nördlichen Küste langseit des Euryalus; Beamte
niederen Ranges wünschten den Admiral zu sprechen, wurden aber
mit dem Bedeuten abgewiesen, dass nur hochgestellte, vom Fürsten
beglaubigte Parlamentäre empfangen werden könnten.


Man hatte das Geschwader in drei Divisionen getheilt, von
denen die erste unter der Küste von Budsen hinlaufen und bis
zur Verengung der Strasse bei Cap Mozisaki hinauf in Schlacht-
linie vor Anker gehen sollte. Die zweite, bestehend aus den kleineren
Schiffen, sollte unter Dampf die schwächeren Werke auf Cap Kusisaki
angreifen, die dritte, gebildet aus den Flaggschiffen Euryalus und
Semiramis, dem Amsterdam, Takiang und dem Zweidecker Conqueror,
in der Mitte der Strasse auffahren, um mit ihrem schweren Ge-
schütze den Ausschlag zu geben. Als der Strom am 5. gegen halb
drei Uhr Nachmittags in der erwarteten Weise aus der Meerenge
entgegenlief, gingen die Schiffe der ersten Division in folgender
Ordnung, von Cap Mozisaki an gerechnet, zu Anker: Tartar, Dupleix,
Metalcruis, Barossa, Djambi, Leopard; diese Schiffe legten sich auf
den Spring. Die zweite Division, bestehend aus Perseus, Coquette,
Medusa, Tancrède, Bouncer und Argus dampfte auf Cap Kusisaki
los, und die dritte nahm Stellung im Centrum. Die feindlichen
Werke störten diese Bewegungen mit keinem Schuss. Vom Ufer
II. 22
[338]Beschiessung der Schanzen. Anh. II.
stiess, augenscheinlich zum Parlamentiren, jetzt ein Boot ab, das
man zurückschickte, um sogleich das Feuer zu eröffnen. Kaum
war der erste Schuss gefallen, als die ganze Reihe der Schanzen
sich in weisse Dampfwolken hüllte; — man hätte offenbar den
Kampf lieber vermieden, nahm ihn aber ohne Zögern auf. Die be-
schriebenen und mehrere verborgene Batterieen richteten besonders
auf die Schlachtlinie der ersten Division ein so lebhaftes Feuer, dass
sich das Meer von den ringsum einschlagenden Kugeln mit weissem
Schaum bedeckte.


Die Schiffe des Centrums warfen fast in der Mitte der öst-
lichen Einfahrt der Meerenge Anker und suchten sich auf den
Spring zu legen, bei der starken Strömung ein schwieriges Manöver,
mit welchem Semiramis gegen vier Uhr fertig wurde; dem Euryalus
hingegen riss eine Ankerkette, so dass er nur wenige Stücke in
Thätigkeit bringen konnte. Das wohlgezielte Feuer der beiden
Flaggschiffe, welche ausser Schussweite des Feindes lagen, und der
Kugelregen der ersten Division brachten die Hauptwerke bald zum
Schweigen; von halb fünf Uhr an feuerten diese nur noch in langen
Zwischenräumen einzelne Schüsse. Die dritte Division hatte indessen
unter Dampf Cap Kusisaki angegriffen und geringen Widerstand
gefunden; gegen Einbruch der Nacht brannte es in mehreren
Batterieen. Der Commandant des Perseus sah die nächsten Schanzen
verlassen und sandte, dicht unter Land gehend, einige Boote dahin
ab, deren Mannschaft vereint mit holländischen Matrosen von der
Medusa zwanzig Geschütze vernagelte und nach Erbeutung einiger
Trophäen unbehelligt an Bord zurückkehrte. Verluste litten an
diesem Tage nur die Corvetten der ersten Division, welche den
ganzen Nachmittag dem feindlichen Feuer ausgesetzt waren und
viele Kugeln in Rumpf und Takelage erhielten. Man zählte drei
Todte und funfzehn Verwundete.


Für den folgenden Tag beschlossen die Admiräle eine Lan-
dung, um die Werke an der Einschnürung der Strasse, Cap Mozisaki
gegenüber, vollends zu zerstören. In der Nacht bemerkte man dort
Licht, und bei Morgengrauen eröffneten diese Schanzen ein mörderi-
sches Feuer auf die vordersten Corvetten. Tartar und Dupleix hatten
beim Umsetzen des Stromes ihre Ankerketten verwickelt und be-
fanden sich in einer so ungüntigen Stellung, dass alle Treffer des
Feindes wirkten. Auf dem Tartar wurden zwei Officiere schwer
verwundet, auf dem Dupleix dem Obersteuermann der Kopf weg-
[339]Anh. II. Landung.
gerissen und mehrere Leute über den Haufen geworfen. Man beeilte
sich nun mit der Landung, die von zweitausend Mann ausgeführt
wurde: vierzehnhundert englischen Matrosen und Seesoldaten unter
Befehl des Capitän Alexander, dreihundertfünfzig französischen
Marine-Füsilieren unter dem Linienschiff-Capitän Le Couriault du
Quilio
, etwa zweihundertfünfzig holländischen Seeleuten und einem
kleinen Detachement Amerikanern. Um sieben Uhr begannen die
Mannschaften sich mit den Bootsgeschützen und einigen Feldstücken
einzuschiffen und wurden um halb neun damit fertig. Die kleineren
Dampfer nahmen das Bootsgeschwader abtheilungsweise in das
Schlepptau und bewegten sich gegen die Küste; links die Franzosen,
welche an der Spitze der Colonne gegen Simonoseki marschiren
sollten, in der Mitte die Engländer, rechts die Holländer. Die
schleppenden Schiffe säuberten auf der Fahrt die zur Landung
bestimmte Uferstrecke durch lebhaftes Kartätschfeuer; um neun
Uhr war die Landung bewerkstelligt und die Truppe auf dem hier
etwa zwölf Schritte breiten Sandgestade, am Fusse der steilen mit
Gesträuch bewachsenen Uferhöhen aufmarschirt. Unterdessen sind
auch die Admiräle mit ihren Stäben eingetroffen und commandiren
Vorwärts; einige Compagnieen englischer Seesoldaten erklimmen die
Höhen, die Franzosen dringen ohne Aufenthalt in die seitwärts ge-
legene östliche Strandbatterie. Das Werk besteht aus zwei Schanzen,
die am Orte der vor einem Jahre von den Franzosen zerstörten er-
baut sind; die Geschütze, meist Achtzehn- und Vierundzwanzig-
pfünder, waren schon den Abend vorher vernagelt, und wurden
durch Zerstörung der Wischer, Visirschrauben und Visire jetzt
völlig unbrauchbar gemacht. — Die englischen Seesoldaten haben
auf dem Kamm der Uferhügel eine Abtheilung japanischer Infanterie
zurückgeworfen, die sich aufgelöst in die jenseitige, nach den
Schanzen auslaufende Schlucht zurückzieht; die französische Colonne
geht über das derselben entströmende Flüsschen auf die nächste
Strandbatterie los, deren Geschütze ebenfalls unbrauchbar gemacht
werden. Während man damit beschäftigt ist, fallen einige Voll-
kugeln, von der Höhe des Thales geworfen, ohne Schaden anzu-
richten in die Batterie. Die Admiräle beschliessen, dass die
englischen Matrosen unter Capitän Alexander die genommenen
Werke halten und zerstören sollen, während die übrigen Truppen
unter Befehl des Linienschiff-Capitän Le Couriault du Quilio gegen
Simonoseki vorgehen. Die Franzosen und die Holländer marschiren
22*
[340]Zerstörung der Batterieen. Anh. II.
auf der in geringer Höhe über dem Strand hinlaufenden Strasse,
die englischen Seesoldaten parallel mit ihnen auf dem waldbe-
deckten Abhange oberhalb; die gefechtsklaren Boote folgen. Auf
Hindernisse stossen die Truppen nirgends. Um halb elf kommt die
Colonne bei dem grösseren Werke an, das seit dem vorigen Jahre
nach den Regeln der modernsten Befestigungskunst neu gebaut
war. Die Japaner haben noch wenige Minuten vorher von da einen
Schuss nach dem Ankerplatz der Schiffe gerichtet und sich dann
schnell in den Wald geworfen, von wo sie mit Gewehrfeuer fort-
fahren. Die Truppen halten sie tiraillirend in der Defensive und
dringen in die Verschanzung, welche nach dem Abhang der Höhe
durch starke Palisadenzäune geschlossen ist. Im Innern findet
man mehrere Brunnen, ein Pulvermagazin und vierzehn bronzene
Wallgeschütze. Etwa hundert Schritt vom Ufer liegt in einer
Terrainfalte ein grösseres Magazin, angefüllt mit Munition und
Waffen, besonders Bogen und Pfeilen.


Dieses Werk ist das letzte vor Simonoseki; die Küste biegt
hier aber in convexer Linie ein, so dass die Stadt nicht sichtbar
ist. Man gewahrt nur ein Stück der Insel Hikusima, welche, durch
einen schmalen Meeresarm von Simonoseki getrennt, das Nordufer
der westlichen Einfahrt bildet. An ihrer südöstlichen Spitze liegen
Strandbatterieen, die, obgleich ausser Schussweite, jetzt Feuer
geben. Die Recognoscirung wird weiter östlich nach dem Uferhang
vorgeschoben, unter welchem die lange Häuserreihe einer Vorstadt
das Gestade säumt. Höher den Berg hinauf stehen im dichten Ge-
büsch mehrere Tempel, von wo der versteckte Feind ein unregel-
mässiges Gewehrfeuer auf die Truppen richtet. Diese machen jetzt auf
Commando Halt und kochen an der Stelle ab, wo sie sich befinden,
während eine Tirailleurlinie den Feind in passender Entfernung hält. —
Man schreitet dann zur Zerstörung der in den Schanzen gefundenen
Vorräthe: das Pulver wird in das Wasser versenkt, die Lafetten ver-
brannt, das grosse Magazin des Hauptwerkes in die Luft gesprengt.
Gegen zwei Uhr Nachmittags dehnen die Franzosen und Holländer
mit Unterstützung der Boote ihre Recognoscirung bis zum Eingange
der Vorstadt aus, welche von den Bewohnern verlassen ist; nur
wenige Flintenschüsse antworten aus den entferntesten Häusern
den Granaten, welche die Bootsgeschütze auf die Strasse werfen.
Die Colonne concentrirt sich darauf rückwärts auf die Batterieen;
die Franzosen und Holländer besteigen zwischen drei und vier Uhr
[341]Anh. II. Weitere Operationen.
bei der grossen Verschanzung ihre Boote und kehren an Bord zu-
rück, während die englischen Seesoldaten aus dem Walde auf
die östlichen Batterieen dirigirt werden. Capitän Alexander
benutzt ihre Anwesenheit um in die Schlucht hinauf zu dringen,
von wo aus seine Matrosen den ganzen Tag durch Flintenschüsse
und einselne Granaten belästigt worden waren. Unten im Grunde
läuft der Weg zwischen stufenförmig ansteigenden Reisfeldern hin;
hier avanciren die Matrosen, auf den bewaldeten Hängen zu beiden
Seiten die Seesoldaten. Am oberen Ende des Thälchens finden
sie eine verpalisadirte Schanze, mit zahlreicher Infanterie und
einigen Feldgeschützen besetzt. Capitän Alexander befiehlt sie zu
nehmen. Der Feind verdoppelt sein Feuer, retirirt aber, als die
Engländer sich auf vierzig Schritte genähert haben, und nimmt
seine Verwundeten mit; nur einige Nachzügler werden in der
Schanze gefangen, die offenbar für ein Reserve-Corps bestimmt
war und neben einigen Geschützen eine Menge Waffen und Munition
barg. Dieses Gefecht kostete den Engländern acht Todte und über
vierzig Verwundete, unter letzteren Capitän Alexander und zwei
Officiere der Seesoldaten.


Die eine Hälfte der Meerenge war jetzt in den Händen der
Alliirten; sie hatten dort zweiundvierzig Geschütze unbrauchbar
gemacht, welche den folgenden Morgen an Bord der Schiffe gebracht
wurden. Zum Schutze dieser Arbeit stellten sich Truppenkörper
im Walde auf, während die Semiramis bis Cap Mozisaki vorging
und, um jedem Angriff von dieser Seite vorzubeugen, die Vorstadt
von Simonoseki beschoss. Die Corvetten Tartar, Dupleix, Metalcruis
und Djambi fuhren zur Recognoscirung des westlichen Theiles der
Strasse gegen fünf Uhr Nachmittags um die Spitze von Mozisaki
herum, fanden aber keine Batterieen ausser den erwähnten auf
Hikusima, welche ihr Feuer nicht zurückgaben. Die eine, ein un-
vollendetes Werk von bedeutender Ausdehnung, entbehrte noch der
Armirung; in der anderen wurden sieben Geschütze vernagelt. Die
gelandeten Seeleute marschirten darauf gegen das Innere, fanden dort
ein von den Japanern eben verlassenes Wachthaus, und erbeuteten
viele Waffen. — Den 8. September Morgens gingen die Geschwader-
chefs, nachdem sie durch Boote mit den vorgeschickten Corvetten
communicirt, auf der »Coquette« nach deren Ankerplatz ab, und er-
theilten Befehl auch die Kanonen von Hikusima einzuschiffen; sie
fuhren dann noch weiter hinauf, am Schlosse von Kokura auf der
[342]Einstellung der Feindseligkeiten. Anh. II.
Südküste vorbei bis zur Mündung der Strasse in das offene Meer,
entdeckten aber auf der ganzen Strecke keine Befestigung. — Bald
nachdem sie auf den alten Ankerplatz und an Bord ihrer Flaggschiffe
zurückgekehrt waren, fielen auf den Tancrède, der sich der Vor-
stadt von Simonoseki auf dreihundert Schritt genähert hatte, aus
den dortigen Tempeln noch einige Gewehrschüsse, die mit Kartätsch-
feuer beantwortet wurden; gegen Mittag aber kam ein Parlamentär
an Bord des Euryalus, wohin sich sogleich auch Admiral Jaurès
begab. Es war einer der Karo’s oder Minister des Fürsten, den
sein englisch redender Dolmetscher mit den Worten einführte: »The
prince has had enough; his soldiers [are] very tired and he wishes
to make a peace with you«. Der Parlamentär prosternirte sich nach
japanischer Sitte vor den Admirälen, stellte die ganze Sache als
Folge eines Missverständnisses dar und sprach im Namen seines
Herrn den Wunsch aus, dem Kampf ein Ende zu machen. Die
Admiräle stellten als Bedingung des Waffenstillstandes die sofortige
Herausgabe aller noch übrigen Geschütze und dictirten den Entwurf
einer Convention, nach welcher die Meerenge in Zukunft dem Ver-
kehr aller Schiffe offen stehen, die Befestigungen eingehen und allen
Kriegs- und Handelsfahrzeugen die Verproviantirung in Simonoseki
erlaubt werden sollte; eine bedeutende Geldbusse, deren Höhe die
Vertreter der an der Expedition betheiligten Mächte normiren wür-
den, sollte als Kriegsentschädigung und Lösegeld der bisher ge-
schonten Stadt Simonoseki gezahlt werden. — Da das Residenz-
schloss Aṅgi des Fürsten von Naṅgato eine Tagereise von Simonoseki
liegt, so konnte die Antwort erst in einigen Tagen erwartet werden.
Folgendes Schreiben 23), welches der Parlamentär überreicht haben
soll, wurde gleich nach Rückkehr des Geschwaders in einer Zeitung
von Yokuhama veröffentlicht.


Eine ehrfurchtsvolle Vorstellung an den Admiral der
vereinigten Staaten.


[343]Anh. II. Schreiben des Fürsten von Naṅgato.

Die Befehle des Kaisers von Japan und die des Taïkūn
sind verschieden. Weil ich gehorsam den Befehlen des
Kaisers
24)hier in Simonoseki auf fremde Schiffe feuerte,
bin ich ein Rebell genannt worden. Da es schien, dass
ich im Widerspruch mit den kaiserlichen Befehlen han-
delte, kam eine Botschaft von den fremden Nationen, um
mir dies mitzutheilen und mich zur Einstellung dieser
Feindseligkeiten aufzufordern. Da die Sache sich so ver-
hielt, so begab sich Naṅgato-no-kami (der Erbprinz)
zu Pferde nach Kioto, um des Kaisers Willensmeinung zu
erforschen. Bevor er aber dahin gelangte, brach eine
Empörung in Kioto aus, und es blieb ihm nichts übrig als
unverrichteter Sache heimzukehren. Drei Tage darauf
hörte ich, dass eueres berühmten Landes Schiffe nach
Himesima gekommen seien, und ich schickte daher mit
einem Boote einen Gesandten, um euch mitzutheilen, dass
es mir gleichgültig sei ob ihr durch die Strasse passirtet
oder nicht. Während er unterwegs war, verliesset ihr aber
Himesima, und der Gesandte kehrte hierher zurück, mit der
Absicht euch von Simonoseki aus aufzusuchen. Inzwischen
war viel Zeit vergangen und die Feindseligkeiten kamen
zum Ausbruch. Es schmerzt mich, dass ich den Krieg
nicht verhindern konnte; ich habe die Fremden nie ge-
hasst. Ich sehe dieses als eine grosse Heimsuchung für
Tausende von Menschen an. Nehmt diese Sache in Ueber-
legung. Mein Minister Moori Idzumo und seine Genossen
werden euch die Einzelnheiten mittheilen.


Am neunten Tage des achten Monats im ersten Jahre
Genži (9. September 1864).


Matsdaïra Daïsen-no-daïbu.


Schon am Morgen des 9. September wurden die auf Cap
Kusi-saki
und einigen anderen Puncten noch vorhandenen Geschütze
ausgeliefert; die japanischen Soldaten halfen eifrig bei der Einschiffung
und konnten ihre Freude nicht verbergen, dass das Schiessen vor-
bei wäre. Die erbeuteten Kanonen, im Ganzen über siebzig, wurden
an die Schiffe vertheilt; nur wenige waren aus der Fremde, die
meisten, wie die Inschriften bewiesen, japanischer Arbeit, bronzene
Rohre von jedem Kaliber. — Die Admiräle expedirten den Tancrède
[344]Convention mit Naṅgato. Sein Angriff auf Miako. Anh. II.
nach Shanghai mit der Nachricht ihres glücklichen Erfolges und
allen Verwundeten, welche die Ueberschiffung vertragen konnten.
Ein Theil des Geschwaders ging in langer Linie vor Simonoseki zu
Anker um die ganze Küste zu bewachen; die Officiere erhielten Er-
laubniss auf ihre Gefahr zu landen, und traten in freundlichen Ver-
kehr mit der Bevölkerung, die sich nach wenigen Tagen wieder
einfand. Das Geschwader blieb nach Einstellung der Feindselig-
keiten noch zehn Tage. Die Convention wurde unter dem Vorbehalt,
dass sie neben allen zwischen den Diplomaten und der Regierung
in Yeddo über den Fürsten zu treffenden Verabredungen Geltung
haben sollte, von diesem und den Admirälen unterzeichnet. Dem
Ansinnen der letzteren, persönlich an Bord zu erscheinen, wich der
Fürst mit dem Vorgeben aus, dass der Mikado ihn als der Rebellion
beschuldigt auf sein Schloss gebannt habe; sein Sohn sei nach
Miako gegangen, um das der Familie drohende Unheil abzuwenden.
— Am 19. und 20. September brach das Geschwader nach Yokuhama
auf. Eine englische, eine französische und eine holländische Cor-
vette blieben der getroffenen Verabredung gemäss vor Simonoseki
zurück.


Die überraschenden Andeutungen im Schreiben des Fürsten
von Naṅgato über sein Verhältniss zum Mikado klärten sich in
Yokuhama einigermaassen auf. Dort traf unmittelbar nach Ab-
gang des Geschwaders
die Nachricht von Bewegungen in Miako
ein. Nach den theils amtlichen, theils vertraulichen Mittheilungen
Takemoto’s an die Diplomaten wären plötzlich Truppen des Fürsten
von Naṅgato in die Stadt und auf den Palast eingedrungen, aber
nach blutigem Kampfe von den Thorwachen geworfen worden; ein
Theil von Miako sei in Flammen aufgegangen, der Palast des Mikado
aber, welcher nach einem Tempel geflohen, unversehrt geblieben.
Der Erbkaiser habe nun den Fürsten geächtet und den Taïkūn mit
dessen Züchtigung beauftragt; dieser gebe ihm eine vierzehntägige
Frist zu seiner Rechtfertigung, um ihn dann als Reichsfeind zu be-
fehden; die regierungstreuen Daïmio’s harrten nur eines Winkes, um
über ihn herzufallen. — Gegen das Unternehmen der Alliirten pro-
testirte der Reichsrath der Verabredung gemäss gleich nach Abgang
des Geschwaders und forderte amtlich dessen Zurückberufung, unter
der Mittheilung, dass er selbst gegen Naṅgato einschreiten und
binnen zwanzig Tagen eine Armee in das Feld stellen werde; die
Nachrichten aus Miako waren damals eben eingegangen. An das
[345]Anh. II. Schreiben des Fürsten von Naṅgato.
Volk erliess die Regierung folgende Proclamation, welche auch in
den Strassen von Yokuhama angeschlagen wurde.


Da die Stadt und der Palast des Mikado abgebrannt
sind, so werden hiermit alle theatralischen und musika-
lischen Aufführungen, lustigen Aufzüge, überhaupt alle
öffentlichen Vergnügen verboten. Diese Verordnung ist
bis auf weiteren Befehl streng zu beobachten.


Um dieselbe Zeit wurde in Yokuhama auch das Bruchstück
eines Schreibens des Fürsten von Naṅgato bekannt, das die be-
kannten Ereignisse und umlaufenden Gerüchte in auffallender Weise
ergänzt und deshalb wohl für ächt zu halten ist. Es datirt aus
dem Anfang des Jahres, etwa Januar 1864. Der Fürst beginnt mit
der Aussage, dass er schon bei Abschluss des ersten amerikanischen
Vertrages 1854 auf Abweisung der Fremden gedrungen habe; der
Mikado und der Taïkūn wären anfangs auch einverstanden ge-
wesen. — Bei Anwesenheit des Taïkūn in Miako 1862 sei die Ver-
bannung der Fremden abermals verfügt, aber nicht ausgeführt worden.
Er habe daran gemahnt, und dann, auf den Juni des Jahres 1863
vertröstet, seinen Unterthanen dieses verkündet. Ein Decret des
Mikado habe ihm darauf den 24. Juni als Termin der gewaltsamen
Vertreibung genannt, ein anderes des Taïkūn den 28. Juni; da aber
dieser zugleich befohlen hätte, den Weisungen des Mikado nach-
zukommen, so habe er, einen Irrthum im Schreiben des Taïkūn
vermuthend, am 24. Juni ein Schiff angegriffen. Zugleich habe er
den Mikado aufgefordert alle Daïmio’s zur Vertreibung der Fremden
anzuweisen; der ganze Westen des Reiches wäre kriegsbereit ge-
wesen; der Erbkaiser habe ihn durch seine Gesandten trösten und
ermuthigen lassen. Nun sei er durch widersprechende Nachrichten
verwirrt worden. Der Fürt von Mito habe dem Kuanbak in Miako
geschrieben, dass der Reichsrath in sich uneinig sei; Midsuno
Idsumi-no-kami
25) habe ihn benachrichtigt, dass keine Feindselig-
keiten verübt werden dürften, während die Verhandlungen in
Yokuhama schwebten; dass ohne Befehl des Taïkūn auf kein Schiff
geschossen werden dürfe, weil der Mikadoihm, dem Kaiser, die
Vertreibung der Ausländer übertragen habe. Er hätte darauf ge-
antwortet, dass der Taïkūn nicht anderen Sinnes sein dürfe als der
Mikado, dass die Vertreibung, einmal beschlossen, auch durchge-
führt werden müsse. Er habe deshalb recht gehabt auf die Schiffe
[346]Schreiben des Fürsten von Naṅgato. Anh. II
zu schiessen; die Einstellung der Feindseligkeiten würde unter
seinen Vasallen die grösste Entrüstung hervorgerufen haben. — Nun
seien Gesandte des Taïkūn gekommen mit dem Vorwurf, dass er
rücksichtslos die Schiffe angegriffen hätte, während die Verhand-
lungen in Yokuhama noch schwebten; er habe sich aber auf den
Befehl des Mikado berufen, die Feindseligkeiten am 24. Juni zu
eröffnen, und geglaubt, dass die Verhandlungen nur den Bruch
hätten einleiten sollen. Der Taïkūn habe damals seine Vorstellungen
nicht beantwortet, ihm aber durch den Fürsten von Mito ange-
kündigt, dass die Vertreibung der Fremden fest beschlossen und
ein neuer Termin dafür anberaumt sei; dass der Taïkūn den Fremden
die Ungültigkeit der ohne Zustimmung des Mikado geschlossenen
Verträge notificirt habe. Ein Fürst aus dem Hause des Erbkaisers
habe offen ausgesprochen, dass, wenn ein Theil der Daïmio’s die
Fremden begünstige, die Intriguen des Hofes von Yeddo an dieser
Spaltung schuld seien. — Er — Naṅgato — habe den Mikado auf-
gefordert, eine Versammlung nach dem grossen Tempel des Kriegs-
gottes bei Miako zu berufen, die gewaltsame Vertreibung der
Fremden aus eigener Macht zu beschliessen und dazu gemessenen
Befehl zu ertheilen. Jener habe geantwortet, er wolle nach dem
Grabe des Dsinmu in der Landschaft Yamatto wallfahrten, dann
im Tempel des Kasuṅga beten und Kriegsrath halten, endlich
auch nach Isye gehen. Er und sein Sohn hätten ihm zu dieser
Reise eine militärische Bedeckung angeboten und nach Miako ge-
sandt. Dort sei aber am 30. October 1863 das Palastthor Takaï-
Motši
plötzlich von den Truppen des Taïkūn mit Artillerie besetzt,
seinen Leuten aber die Thorwache abgenommen worden. Diese
hätten ihre militärische Haltung bewahrt und sich in ihre Provinz
zurückgezogen, worauf er ihnen verboten habe, Miako und den
kaiserlichen Palast wieder zu betreten. Er habe nun Befehl er-
halten, gegen seine Leute die Untersuchung einzuleiten; diese be-
haupteten aber, ihren kriegerischen Eifer unterdrückt und die
Heiligkeit des Palastes respectirt zu haben. Er könne sie nicht
bestrafen, da sie nur ihre Pflicht gegen den Mikado zu thun und
zur Vertreibung der Fremden beizutragen gewünscht hätten. Er
habe nun ein Gesuch eingereicht, mit seinem Sohne zur Rechtfer-
tigung vor dem Mikado erscheinen zu dürfen.


So dunkel dieses Schreiben, — theilweise wohl auch wegen
der mangelhaften Uebersetzung ist, so wirft es doch einiges Licht
[347]Anh. II. Politik der japanischen Partheien.
auf das Intriguen-Gewebe der Partheien und die zweideutige Poli-
tik der Regierung. Dass der Fürst von Naṅgato jemals aufrichtig
die Vertreibung der Fremden wünschte, wie er behauptet, ist nach
seinem späteren Verhalten sehr zweifelhaft. Jedenfalls conspirirte
er wohl mit dem Prinzen von Mito, um der Regierung Verlegen-
heiten zu bereiten. Das Auftreten seiner Trabanten in Miako im
October 1863, die vorhergehende Aufforderung zur Reise und die
Absendung der militärischen Bedeckung schmecken trotz allen
dunkelen Redensarten sehr nach einem Gelüst, sich der Person
des Mikado zu bemächtigen, — wofür die damals nach Yokuhama
gelangenden Gerüchte sie auch ausgaben. Die Notification des
Verbannungsdecretes am 24. Juni 1863, welche am Tage der güt-
lichen Beilegung des Conflictes wie aus heiterster Luft auf die
Diplomaten herabfiel, sowie die Beschiessung des Pembroke an
demselben Tage erklären sich nun aus der Fixirung des Termines,
welchen auch die Regierung formell wenigstens einhalten zu
müssen glaubte. Die Willensäusserung des Mikado hatte damals
grosses Gewicht, weil die Kriegsmacht des Fürsten von Naṅgato
hinter ihm stand und der Einfluss der Parthei Mito im Steigen
war. Diese arbeiteten mit dem Erbkaiser vereint auf Krieg mit
dem Auslande hin, wozu es im Juni 1863 wahrscheinlich gekommen
wäre, wenn nicht noch im letzten Augenblicke Ongasavara und
seine conservativen Freunde ihr Uebergewicht im Reichsrathe gel-
tend machten. Nun hatte die Lage sich völlig geändert: der Fürst
von Naṅgato, der vielleicht auch dem Vice-Siogun gefährlich war,
stand in Miako schon seit October 1863 nicht mehr in Gnaden;
die Macht des Ftutsbaši stieg noch eine Weile, unterlag aber in
dem Augenblick, als sie mit Umsturz des Thrones drohte. Seit
August 1864 ist dieser Fürst aus der Geschichte verschwunden;26)
der Einfluss der Parthei Mito wurde wahrscheinlich durch Besei-
tigung seiner Anhänger in Yeddo und den Feldzug in das Yamatto
völlig gebrochen. — Dann das gewaltsame Unternehmen Naṅgato’s
gegen Miako, wo seine Truppen unter dem Erbprinzen während
der Katastrophe von Simonoseki noch engagirt gewesen sein müssen.
Die Regierung sah sich plötzlich in der günstigsten Lage: ihr
[348]Zerstörung von Naṅgato’s Palästen. Anh. II.
mächtigster Gegner verging sich gegen den Mikado, dessen Willen
nur durch thatkräftigen Beistand Gewicht erhält, und erlitt oben-
drein eine arge Niederlage durch die Fremden. Zu gleicher Zeit
änderte sich die Politik der feindlichen Daïmio’s, die, nach ver-
geblichen Versuchen den Taïkūn in Krieg mit den Fremden zu ver-
wickeln, jetzt die Maske abwarfen und eifrig deren Freundschaft
suchten. Beide Partheien, der Taïkūn und die Daïmio’s haben seit-
dem nur gestrebt, ihre materielle Macht mit Hülfe des Auslandes
zu stärken, um einander die Spitze zu bieten. Den Fremden ge-
fährlich sind nur noch fanatische Lonine, die, jetzt wohl ohne
anderen Rückhalt als den ohnmächtigen des altjapanisch-dünkel-
haften Hofes von Miako, hin und wieder Gewaltthaten verüben.


Dass der Reichsrath gegen den Fürsten von Naṅgato Ernst
machen wolle, bewies er zunächst durch Zerstörung seiner Paläste
in Yeddo. Dort wurde eines Tages im September eine Procla-
mation in den Strassen angeheftet, welche seine Vergehungen gegen
den Mikado aufzählte und den Bewohnern der Hauptstadt verbot,
den folgenden Morgen von acht bis zehn Uhr ihre Häuser zu ver-
lassen; nachher dürften sie sich das Zerstörungswerk ansehen. Die
Paläste wurden dem Boden gleich gemacht. Nach alt-japanischem
Gesetze waren auch alle Trabanten des Fürsten und deren Familien
dem Tode verfallen, doch scheinen nur wenige, die freiwillig aus-
harrten, von der Katastrophe betroffen worden zu sein.


Die Regierungsbeamten verbargen bei Rückkehr der Alliirten
nach Yokuhama ihre Freude über deren Erfolge durchaus nicht,
drangen aber ängstlich auf Zurückberufung der vor Simonoseki ge-
bliebenen Schiffe; mit der wahren Gesinnung des Fürsten vertraut,
befürchteten sie offenbar die Anbahnung freundschaftlichen Verkehrs.
Die Repräsentanten der Vertragsmächte suchten diese Stimmung zur
Beseitigung drückender Uebelstände zu benutzen und fanden williges
Gehör. Nachdem am 30. September die letzten Schiffe in Yokuhama
eingetroffen, gingen am 5. October die vereinigten Geschwader nach
Yeddo; die Diplomaten bezogen mit Gefolge und militärischer Be-
deckung ihre früheren Wohnsitze und wurden schon am nächsten
Tage vom Gorodžio in feierlicher Sitzung empfangen. Sie schlossen
mit demselben eine Convention ab, in welcher die Regierung des Taïkūn,
als verantwortlich für allen aus Verletzung der Verträge erwachsen-
den Schaden, zur Zahlung von drei Millionen Dollars Kriegs-
kosten und Lösegeld verpflichtet, ihr jedoch die Wahl gelassen
[349]Anh. II. Convention in Yeddo geschlossen. Englische Officiere ermordet.
wird, statt dessen die Eröffnung von Simonoseki oder einem anderen
günstig gelegenen Hafen des Binnenmeeres anzubieten; die Annahme
solchen Hafens statt der Zahlung sollte jedoch vom Ermessen der
Vertragsmächte abhängen. Ferner wurde das Verlangen der Räu-
mung Yokuhama’s amtlich zurückgezogen und das von den Gesandten
in Paris unterzeichnete Protocoll in allen Puncten ratificirt. Die
Zahlung der drei Millionen versprach der Reichsrath wohl nur, um
jede Veranlassung des weiteren Verkehrs mit dem Fürsten zu be-
seitigen.


Die öffentliche Sicherheit schien trotz dem Umschwunge in
der japanischen Politik nicht zugenommen zu haben. Während der
kurzen Anwesenheit der Vertreter in Yeddo brach zur Nachtzeit
ein Fanatiker in den Tempel der niederländischen Legation, wurde
aber von den Yakuninen, deren er mehrere verwundete, in Stücke
gehauen. — Später, im November, ermordeten Lonine zwei Offi-
ciere vom zwanzigsten englischen Linienregiment in der Nähe von
Kamakura, dessen herrlich gelegene Tempel jetzt ein beliebtes Ziel
der Ansiedler von Yokuhama geworden sind. Einer der Thäter, ein
fanatischer Abentheuerer, wurde drei Wochen später ergriffen und
gestand sein Verbrechen unter Verwünschungen gegen die Ausländer,
welche Japan in das Verderben stürzten. Er hörte auch auf der
Richtstätte nicht auf mit Schmähungen, sang bis zum letzten Augen-
blick Schandlieder auf die Barbaren, und empfing den Todesstreich
mit einer Entschlossenheit, welche den japanischen Zuschauern Be-
wunderung einflösste. —


Die Regierung zeigte jetzt guten Willen und liess dem Handel
freieren Lauf, fuhr aber fort, ihn zu ihrem Vortheil auszubeuten.
Seide und andere Erzeugnisse strömten in Menge auf den Markt von
Yokuhama. Takemoto hatte dort vielfach vertrauliche Besprechun-
gen mit den Diplomaten über die fernere Regelung des Verkehrs,
und äusserte häufig, dass die Ratification des Mikado für die volle
Gültigkeit der Verträge nothwendig sei; der Taïkūn werde sich nach
Besiegung des Fürsten von Naṅgato damit beschäftigen. Dieser
schickte noch Mitte October Bevollmächtigte an die fremden Ver-
treter in Yokuhama, um deren Vermittelung bei dem Taïkūn und
Ermässigung der Kriegskosten nachzusuchen. Letztere konnten die
Diplomaten nicht zugestehen; die Regierung aber schien zu seiner
Vernichtung entschlossen, erklärte ihn aller Titel, Würden und
Länder verlustig und rüstete aus allen Kräften. Die Truppen ver-
[350]Neugestaltung des Verkehrs. Anh. II.
sammelten sich noch im Herbst bei Osaka unter Oberbefehl der
Fürsten von Owari und Etsizen.


Die Verkehrsbeziehungen blieben, wie gesagt, seit dieser
Zeit entschieden freundschaftlich. Wenn auch der Handel fortwäh-
rend mit kleineren Uebelständen, — Bestechlichkeit der Beamten,
Missbräuchen in der Zollverwaltung, Ausfuhrverboten für diesen
oder jenen Artikel — zu kämpfen hatte, so wurde doch das Fort-
bestehen der Verträge nicht wieder in Frage gestellt. Die Expedi-
tion nach Simonoseki gab wohl den Ausschlag, zum grossen Glück
der Diplomaten, deren energisches Auftreten die heimathlichen Re-
gierungen erschreckt zu haben scheint; von diesen trafen jetzt die
friedfertigsten Instructionen ein, welche weitere Forderungen un-
möglich machten. Sir Rutherford Alcock wurde noch vor Ende des
Jahres 1864 von seinem Posten abberufen und im Juli 1865 durch
Sir Harry Parkes, bisherigen Consul in Shanghai ersetzt, welcher
im Verein mit anderen Diplomaten die fernere Befreiung des Handels
von allen lästigen Fesseln anstrebt. Die Verhältnisse sind aber
völlig umgewandelt. Seit dem Herbst 1864 traten die Fürsten von
Kiusiu so wie andere mächtige Daïmio’s ohne Umstände mit den
Fremden in offenen Verkehr und öffneten denselben ihre Häfen, was
noch wenige Jahre zuvor ganz unmöglich gewesen wäre. Der Fürst
von Naṅgato schickte Agenten nach Shanghai um Kriegsmaterial
und Dampfer zu erwerben, lud die Ausländer nach Simonoseki ein,
wohin sich bald ein lebhafter Schiffsverkehr aus den chinesischen Häfen
entwickelte, und nahm über zweihundert Europäer, darunter den
bekannten Burgevine, gegen reiche Besoldung in seine Dienste. Der
Fürst von Satsuma liess unter englischer Leitung Zuckerraffinerieen
auf den Liukiu-Inseln anlegen und trat in Handelsverbindung mit
den grossen europäischen Firmen in China. Die Fürsten von Tsikudsen
und Fidsen besuchten englische Kaufleute in Naṅgasaki, baten sich
bei ihnen zu Gast und schlossen umfangreiche Geschäfte ab. Selbst
in Yokuhama wurden von fremden Kaufleuten, die man als die
Agenten mächtiger Daïmio’s kannte, Kanonen, Gewehre und Muni-
tion in ganzen Ladungen eingeführt und nach den Orten ihrer Be-
stimmung weiter verschifft. Dieser ganze Verkehr ist ungesetzlich,
und namentlich die Lieferung von Kriegsmaterial an die Landes-
fürsten eine offene Verletzung der Verträge; der Reichsrath prote-
stirte bei den Diplomaten gegen jedes Einlaufen fremder Handels-
schiffe in vertragsmässig nicht geöffnete Häfen und drohte mit Be-
[351]Anh. II. Operationen gegen Naṅgato.
schlagnahme aller dahin verkehrenden Fahrzeuge durch die an den
Küsten kreuzenden Kriegsschiffe des Taïkūn; die Vertreter von
England, Frankreich, Holland und Amerika machten auch ihren
Schutzbefohlenen bekannt, dass ihre eigenen Kriegsschiffe zur Unter-
drückung dieses verbotenen Handels angewiesen seien; — aber die
japanischen Kreuzer fürchtete man nicht, die Aufsicht der eigenen
Kriegsschiffe mag keine sehr strenge gewesen sein, und die Kaufleute
zogen aus diesem Handel zu grossen Gewinn, um nicht auch Ver-
luste zu riskiren. Zudem bewies die Emancipation der Daïmio’s un-
widerleglich die völlige Ohnmacht der Regierung ausserhalb der
Yeddo zunächst gelegenen Provinzen. Da nun der Zweck der Ver-
träge Anbahnung des Handels mit dem ganzen japanischen Reiche,
nicht mit einer einzelnen Landschaft ist, so sind die Diplomaten
am Handel bedeutend interessirter Mächte fast gezwungen, den
inneren Verhältnissen Rechnung tragend, eine freiere Praxis ein-
treten zu lassen, als der Buchstabe der Verträge gestattet. Die
Engländer haben denn auch schon offene Beziehungen zu mehreren
Daïmio’s27) angeknüpft und kehren sich wenig an den schwäch-
lichen Einspruch der Regierung. Die Franzosen dagegen, deren
Handels-Interessen nicht so erheblich sind, halten sich mehr an
die Centralgewalt. Wahrscheinlich wird diese, unfähig dem Ver-
kehr mit den Landesfürsten zu steuern, den Handel bald von allen
Fesseln befreien müssen, um ihre eigenen Häfen nicht gar verlassen
zu sehen.


Ueber die Operationen des kaiserlichen Heeres bei Osaka
erfuhr man in Yokuhama nur wenig: der Fürst von Naṅgato hätte
ihm zunächst die Häupter seiner drei an dem Angriff auf Miako
schuldigen Karo’s — Rathgeber oder Minister — entgegengesandt
und seine Unterwerfung unter den Schiedsspruch der Daïmio’s an-
gekündigt, worauf der Feldzug verschoben worden wäre. Das Ur-
theil der Daïmio’s sei ihm günstig ausgefallen, der Taïkūn verpflich-
tet worden, ihn in seine Würden und Lehne wieder einzusetzen,
seine Paläste in Yeddo herzustellen. Die Landesfürsten beförderten
offenbar in Naṅgato die Unabhängigkeit, welche sie selbst anstreb-
ten, und suchten die Centralgewalt zu demüthigen. Diese soll nun
ihrem Ansinnen widerstanden und dem wachsenden Anhang des
[352]Machtentfaltung des Taïkūn. Anh. II.
Feindes gegenüber stärker gerüstet haben. Der Winter verging aber
ohne kriegerische Ereignisse.


Am 9. Juni 1865 brach eine Armee von hunderttausend Mann
mit zahlreichen gezogenen Geschützen amerikanischer und franzö-
sischer Arbeit von Yeddo auf. Die Truppen, meist junge eben aus-
gehobene Bauern, waren grossentheils europäisch mit Hosen und
Schuhen angethan und mit gezogenen Gewehren bewaffnet. Der
Taïkūn ging mit ihnen nach Osaka, dem Gerüchte nach auf längere
Zeit. Die Bauarbeiten am neuen Palast in Yeddo stockten; viele
angesehene Kaufleute siedelten von da nach Osaka über, und die
Geschäftsstille machte sich auch in Yokuhama fühlbar. Von Erfolgen
der Armee erfuhr man niemals etwas; sie scheint noch im Anfang
dieses Jahres unthätig zwisches Miako und Osaka gestanden, keinen
Angriff gewagt zu haben. Man hörte von einer entdeckten Ver-
schwörung gegen das Leben des Taïkūn, dessen Regierung sich
aufzulösen drohte; es fehlte an Führung, an Organisation und
Mitteln; man erwartete in Yokuhama, die Armee auseinanderlaufen
zu sehen. Die Regierung in Yeddo hat es nicht verstanden, die
ungeheuren Hülfsmittel, welche Jahre lang ihr allein aus dem
fremden Handel zuflossen, mit Einsicht zu benutzen. Sie kaufte
Kanonen und Gewehre aller Kaliber und Modelle, steckte ganze
Regimenter in halb-europäische Uniform, sorgte aber nicht für
deren militärische Ausbildung. Sie erstand Dampfboote zu enormen
Preisen, darunter ausgezeichnete Schiffe; statt aber fremde Maschi-
nisten oder tüchtige japanische Ingenieure zu besolden, begnügte
man sich, Zettel mit Namen an die Maschinentheile zu kleben
und Beamte dabei anzustellen, die einmal ein Buch über Dampf-
maschinen gelesen hatten. In Folge dessen sprangen in vielen
Dampfern die Kessel, die Maschinen gingen zu Grunde, und wohl
zwei Drittheile der ganzen Zahl wurden völlig unbrauchbar. Die
in diesen Blättern oft gerühmte japanische Tüchtigkeit scheint der
Regierungsparthei völlig abhanden gekommen zu sein; ihre zahl-
reiche Armee stand bei Osaka dem Gegner wohlgerüstet gegenüber,
verstand aber nicht, ihre Waffen zu brauchen. Die Haltungslosig-
keit, Ueberhebung und der ohnmächtige Eigensinn der Beamten
lassen die Hoffnung immer mehr schwinden, dass der inneren Zer-
rüttung ein Ziel gesetzt werde; selbst eine Veränderung auf dem
Thron kann die Krisis höchstens verschieben. Das System ist
seiner Voraussetzungen, seiner nothwendigsten Grundlagen beraubt,
[353]Anh. II. Verhandlungen um Freigebung eines Hafens.
welche die Functionen des Organismus bedingen; die besten Kräfte
könnten es schwerlich retten. Die Centralgewalt besteht wohl nur
noch durch ihre Ohnmacht, weil sie den einzelnen Landesfürsten
nicht furchtbar ist, und diese keine Veranlassung haben gemein-
schaftliche Sache zu machen. Das politische Drama spielt sich
jetzt im Herzen des Landes, auf dem uralten Schauplatz der Kämpfe
und Umwälzungen bei Osaka und Miako ab, wo seit einem Jahr-
tausend die Mächtigen des Landes periodisch um die Herrschaft
stritten, und heut viel Bedeutsames vorgehen mag ohne dass die
Fremden ein Wort erfahren. Ohne Zweifel ist der Hof des Mikado
in seinem fanatischen Nationalstolz noch immer den Verträgen ab-
hold, und diese Disposition scheint wieder von regierungsfeind-
lichen Fürsten zu Cabalen benutzt worden zu sein; das dem Ver-
fasser vorliegende Material gewährt darüber keinen deutlichen Auf-
schluss.


Der in die Convention vom 22. October aufgenommene Artikel
über eventuelle Freigebung von Simonoseki oder einem anderen
Hafen statt Zahlung der drei Millionen führte zu weiteren Verhand-
lungen. Nach der Verabredung sollte die Summe in vierteljähr-
lichen Raten von 500,000 Dollars abgetragen werden und die Til-
gung beim Eintreffen der Ratifications-Instrumente beginnen. Die
heimathlichen Regierungen wiesen ihre Vertreter nun an, sich über
die Zweckmässigkeit der Annahme eines neuen Hafens zu verstän-
digen und ihr Verhalten den Umständen anzupassen. Der Reichs-
rath erklärte aber alsbald die Freigebung eines solchen für unmög-
lich, — offenbar, weil er dort den Verkehr nicht bewachen konnte,
— und zog vor die Entschädigung zu zahlen, welche durch den
Verkauf von Ländereien des Fürsten von Naṅgato aufgebracht
werden sollte. Da nun die Eroberung dieses Gebietes unterblieb
und die Regierung aus Geldmangel die stipulirten Zahlungen nicht
leisten konnte, so kamen die Diplomaten auf jenen Punct zurück
und forderten die Freigebung von Fiogo zum 1. Januar 1866, wofür
dem Taïkūn zwei Drittheile der Kriegsentschädigung erlassen werden
sollten. — Simonoseki war ja thatsächlich den Fremden schon
zugänglich. — Mittlerweile gelangte aber die Weisung an die
II. 23
[354]Ratification der Verträge durch den Mikado. Anh. II.
Vertreter von England, Frankreich, Holland und Amerika, die Ratifi-
cirung der Verträge durch den Mikado zu betreiben, und, falls
sie zugleich die Freigebung von Fiogo und einige wichtige Zoll-
ermässigungen erlangten, der japanischen Regierung die Kriegsent-
schädigung ganz zu erlassen.


Der Reichsrath hatte zwar aus freien Stücken versprochen
die Ratificirung durch den Mikado anzubahnen, aber nichts dafür
gethan. Seine wachsende Rathlosigkeit liess auch keine Hoffnung
für die Zukunft, und so beschlossen die Diplomaten Ende October
1865, mit einigen Kriegsschiffen nach der Rhede von Fiogo zu
gehen und ihre Forderung dort selbst zu betreiben. Die Minister
in Yeddo zeigten sich über dieses Vorhaben sehr bestürzt, aber
der Zeitpunct war zu günstig um ihn verstreichen zu lassen; denn
man hatte Nachricht von einem Reichstage, zu dem die meisten
Daïmio’s zwischen Osaka und Miako um den Taïkūn und den
Mikado versammelt wären.


Das Geschwader der vier Mächte verliess Yokuhama Anfang
November und ankerte bald darauf vor Fiogo. Die Diplomaten
gingen nach Osaka hinauf und hatten am 11. und 15. November
dort Besprechungen mit den anwesenden Mitgliedern des Reichs-
rathes, welche sich zur Beantwortung der Forderungen eine vier-
zehntägige Frist erbaten. Kurz nach der zweiten Zusammenkunft
erfuhren die Bevollmächtigten aber, dass der Mikado aus eigener
Machtvollkommenheit die Minister des Taïkūn Abe Bungo-no-kami
und Matsmaï Idsu-no-kami, welche mit ihnen verhandelten, des Amtes
und der Kami-Würde verlustig erklärt und auf ihre Besitzungen ver-
bannt habe. Dieser unerhörte Eingriff in die Rechte der Excutivgewalt
machte unter den Japanern die grösste Sensation und zeigte die tiefe
Erniedrigung der Siogun-Herrschaft. Die Vertreter der vier Mächte
richteten nun sogleich identische Schreiben an den Taïkūn, des kurzen
Inhalts, dass sie angewiesen seien, die Aufrechthaltung und Sanctioni-
rung der Verträge nöthigenfalls mit Waffengewalt zu erzwingen.
Schon nach vier Tagen erfolgte die Antwort mit dem Ratifications-
Instrument, einem kurzen Schreiben des Mikado an den Taïkūn:
An Jye-Motsi
Der Vertrag ist angenommen, deshalb sollen die nöthigen
Maasregeln getroffen werden.


Dieses lakonische Document wurde den vier Bevollmächtigten
in gleichlautenden Exemplaren zugestellt; der erste Minister theilte
[355]Anh. II. Ratification des preussischen Vertrages.
ihnen dabei mit, dass eine mächtige Daïmio-Coalition, welche
auf den Sturz der Centralgewalt hinarbeite, die Ratificationsfrage
jetzt wieder zur Aufstachelung des Mikado benutze; dass dieser
nur einer Drohung des Taïkūn, seine Truppen auf Miako marschi-
ren zu lassen, und dem kategorischen Auftreten der Gesandten
gewichen sei.


Bald nach Ankunft des Geschwaders in Yokuhama stellte
das Gorodžio auch dem preussischen Consul von Brandt eine Abschrift
des Ratifications-Instrumentes zu, das der äusseren Form nach mit
denen der anderen Diplomaten nicht übereinstimmte. Das begleitende
Schreiben sagte, »der Vertrag sei von dem Mikadoauf das neue
gut geheissen.« Da nun bei allen Verhandlungen mit ostasiatischen
Behörden die Etiquette niemals ohne Schaden vernachlässigt werden
kann, so verlangte Herr von Brandt für seine Regierung ein auch
in der Form mit den anderen übereinstimmendes Exemplar, und
erhielt ein solches mit der entschuldigenden Bemerkung, dass jenes
erste nur für ihn persönlich bestimmt gewesen sei. Die Worte
»auf das neue gut geheissen« erklärte der Reichsrath für einen
Schreibfehler, wahrscheinlich um weitere Auseinandersetzungen zu
vermeiden. Noch wenige Jahre zuvor war es ja unter der Würde
der Centralgewalt, beim Abschluss der Verträge die Einwilligung
des Mikado einzuholen; dann sprach man von dessen still-
schweigender Anerkennung ihrer Politik durch Vermählung seiner
Schwester an den Taïkūn; jetzt bedurfte dieser der feierlichen
Sanction des Erbkaisers zu jeder wichtigen Handlung, um seiner
Herrschaft ein kümmerliches Dasein zu fristen. Auf jene still-
schweigende Gutheissung bezog sich wahrscheinlich der Ausdruck
»auf das neue.«


Welchen Werth die förmliche Ratification der Verträge, —
wenn das lakonische Document sie wirklich ausdrückt, — für die
Mächte des Westens hat, ist sehr fraglich. Durch die ganze Ge-
schichte des Landes geht der sonderbare Zug, dass alle alten oder
verbrieften politischen Rechte nominell für heilig und unantastbar
gelten, ihre Ausübung aber nur soweit zugelassen wird, als der Be-
rechtigte sie durchsetzen kann. Daher ist denn auch eine Wirk-
samkeit
dieser »Ratification« in bedenklichen Eventualitäten kaum
zu erwarten. Der Japaner wird nominell immer die Heiligkeit der
Verträge anerkennen, wird sie aber nur soweit halten, als er dabei
nicht Schaden nimmt oder durch Kriegsschiffe gezwungen wird.
23*
[356]Der Hof von Miako fremdenfeindlich. Anh. II.
Für jene nominelle Anerkennung ist allerdings die Sanction des
Mikado von grosser Bedeutung, vielleicht auch für das Verhältniss
zu den Fanatikern.


Der Hof von Miako, der Sitz des hierarchisch-feudalen Fana-
tismus, bornirtesten Junkerthumes und maasslosen National-Dünkels
ist der ärgste Feind der Fremden. Ob dieser die dunkele, halb ge-
waltsam erpresste Urkunde als eine Sanction anerkennt, ist sehr
zweifelhaft. Vom Hofe des Mikado geht alle fanatische Erbitterung
gegen die Fremden aus; man kennt ein von seinen Würdenträgern
überreichtes Document, in welchem der Erbkaiser förmlich gegen den
Taïkūn aufgehetzt und zur Action gegen die Fremden gedrängt wird:
aus der Missachtung vor der Göttlichkeit des Mikado entstehe alles
Unheil des Landes; es sei eine Schmach sich vor den Fremden zu
fürchten, die, sobald sie sich das Volk zum Freunde gemacht und
die geographische Beschaffenheit des Reiches kennen gelernt haben,
zu dessen Eroberung schreiten würden. Die zweideutige und man-
telträgerische Politik der Centralgewalt wird derb gegeisselt. Andere
Schriften aus derselben Quelle lauten ähnlich: Schmähungen über
die Verträge, bittere Klagen über die Erniedrigung des heiligen
Reiches, Furcht vor Eroberung. Man wird lebhaft an die Erfah-
rungen des 17. Jahrhunderts erinnert, die auf gegenwärtige Zustände
angewandt sind. Diese Actenstücke sind meist älteren Datums; doch
ist sicher der Hof des Mikado auch heut noch der Mittelpunct der
fremdenfeindlichen Cabale, und wird es immer bleiben. Es wäre,
da Besserung hier nicht zu hoffen ist, wahrscheinlich zweckmässig
ihn ganz aus dem Spiele zu lassen. Die Vertreter der vier Mächte
haben durch ihr Auftreten in Osaka den Taïkūn zwar aus einer
augenblicklichen Verlegenheit gerissen, ihn aber zur offenen Aner-
kennung der Oberhoheit des Mikado gezwungen und dadurch seinem
Ansehn einen harten Schlag versetzt; sie haben vor Allem dessen
oberste Landeshoheit selbst anerkannt, was kaum vortheilhaft sein
möchte. Japan ist ein dankbares Feld für den Diplomaten, seine
politische Zerrüttung die Stärke des Auslandes. Der Taïkūn hat
nur noch in seinen Erblanden einiges Ansehn; ein Theil der Daïmio’s,
wie es scheint der ganze Westen des Reiches, ist in offenem Auf-
stande gegen ihn begriffen; andere mächtige Fürsten halten sich
von entschiedener Partheinahme fern, begnügen sich mit der facti-
schen Unabhängigkeit, und mehren, während die Gegner einander
befehden, ihre materiellen Hülfsmittel um den Ausschlag geben zu
[357]Anh. II. Aussichten.
können, wie vor tausend Jahren und seitdem so häufig. Vielleicht
ist in keinem modernen Volke seine Geschichte so lebendig als im
japanischen Adel; man wird unwillkürlich an frühere Umwälzungen
erinnert, das Auftreten der heutigen Landesfürsten vergegenwärtigt
das ihrer Vorfahren. Zu allen Zeiten waren in Japan politische
Rechte mehr als irgendwo durch die Macht bedingt; letztere wird
anerkannt, so lange sie die gegnerischen Elemente niederhalten kann,
ohne deshalb jemals legitim zu werden. Die einzige Legitimität
ist die des Mikado, ein markloses Luftgebilde, weil in Japan mehr
als irgendwo zur Executive eine ansehnliche Hausmacht gehört,
die der Mikado nicht hat, noch den tausendjährigen Institutionen
gemäss jemals haben kann. Deshalb darf auch die auswärtige
Politik unsere Begriffe von Legitimität auf Japan nicht anwenden.
Die Verträge sind allerdings mit dem Taïkūn geschlossen, und man
wird gut thun sie für seine Erblande so lange aufrecht zu halten,
als seine Regierung dort Ansehn hat. Zweck der Verträge
ist aber Anbahnung des Handelsverkehrs mit ganz Japan, die
nur durch Verbindung mit den unabhängigen Daïmio’s gelingen
kann. Die meisten Landesfürsten sind sicher schon jetzt überzeugt,
dass die Fremden nicht auf Eroberung ausgehen, und wünschen den
Verkehr; es gilt also mit ihnen anzuknüpfen und in allen Theilen
des Reiches festen Fuss zu fassen, wozu die aufblühenden Handels-
verhältnisse des Westens und die Productionskraft des Landes leb-
haft drängen. Nur auf diesem Wege ist Japan auch unserer Cultur
wirklich zu gewinnen, welche durch die wenigen geöffneten Häfen
mit ihrem beschränkten Umkreise nicht eindringen kann. Als die
Verträge geschlossen wurden und noch lange nachher überschätzte
man die Macht der Centralgewalt; noch im Herbst 1864 glaubten
die Fremden entschieden an das Uebergewicht der kaiserlichen
Streitmacht; seitdem hat sich Alles anders gestaltet. Die Verträge
sind mit der Siogun-Herrschaft unvereinbar und würden sich in
ihrem vollen Umfange kaum durch Waffengewalt durchführen lassen.
Soll ihr Zweck erreicht werden, so trete man mit den unabhängigen
Landesfürsten in Verbindung, wo der Handel dazu das Bedürfniss
zeigt. Jeder Druck durch Kriegsgewalt ist schwierig und bedenk-
lich. Die europäischen Waffen würden ohne Zweifel beim Zusam-
menstoss das Uebergewicht behalten, und mit ungeheueren Kosten
liesse sich unter der umsichtigsten Leitung gewiss ein erfolgreicher
Feldzug durchführen; — aber die Erfahrungen aus alter und neuer
[358]Zukunft der Verträge. Anh. II.
Zeit lehren, wieviel widrige Chancen dabei in Rechnung zu bringen
sind: die entfernte Lage, schwierige Verproviantirung, die gefähr-
lichen, stürmischen Küsten, die Natur des Gebirgslandes, der
Patriotismus der Bewohner. Practische Erfolge würde auch der
glücklichste Feldzug kaum haben; denn der japanische Adel ver-
schmerzt leicht materielle Verluste, und das Elend des Volkes würde
ihn kaum rühren. Lehren wie die von Simonoseki lässt der Japaner
sich gefallen und achtet den überlegenen Gegner; im ernsten Kampfe
für die Unabhängigkeit des Landes würde er vielleicht den letzten
Blutstropfen opfern. — Wenn es, was kaum zu fürchten ist, dem
Hofe von Miako nicht etwa gelingt, die Daïmio’s zu fanatisiren, so
können die Völker des Westens bei geschickter, würdiger, auf
achtunggebietende Machtentfaltung gestützter Vertretung wohl sicher
auf friedliche Entwickelung ihres Handelsverkehrs mit Japan rechnen.
Ein kräftiger Rückhalt an Kriegsschiffen ist aber erste Bedingung,
da der Japaner, wie seine Geschichte beweist, immer nur mit that-
sächlicher Macht rechnet, und selbst anerkannte Rechte nur dann
berücksichtigt, wenn er die Kraft sieht, welche sie schützt.


Das Eindringen der Fremden hat die Siogun-Herrschaft viel
schneller untergraben, als erwartet wurde. Der Taïkūn Jye-motsi
erinnert in dem Manifeste vom 29. Juli 1864 daran, dass seine Vor-
fahren die Fremden vor zweihundert Jahren gegen den Willen vieler
Daïmio’s vertrieben haben, und gibt deutlich den Wunsch zu
erkennen, dass ihm etwas ähnliches auch jetzt möglich sein möchte.
Wie bei Consolidirung des Systems im Anfang des 17. Jahrhunderts
die Vertreibung der Fremden nothwendig wurde, so hört mit dem
Verfall desselben die Möglichkeit auf sich ihrer zu erwehren. Die
Staatsgewalt, welche sich nur durch die äusserste Knechtung der
Daïmio’s und die dafür nothwendige Ausschliessung der Fremden
halten konnte, musste rasch zusammensinken, sobald sie diese
beiden Grundbedingungen ihrer Existenz aufgab. Sie hat den
Daïmio’s die Zügel schiessen lassen, und zugleich die Fremden auf-
genommen; wollte sie heut wirklich diese mit Gewalt vertreiben, so
fänden sie den sichersten Rückhalt an den Landesfürsten, über
[359]Anh. II. Japans Zukunft.
welche Jye-motsi nicht so gewaltig ist, wie Jyeyas und dessen Nach-
folger waren. Die Fremden sind jetzt allen Partheien nothwendig;
ihre Vertreibung durch den Taïkūn würde den Sturz seiner Herr-
schaft nur beschleunigen.


Die Diplomaten, welche die ersten Verträge schlossen, konnten
von den Zuständen des Landes keine Ahnung haben; auch ihre
Nachfolger tappten lange im Dunkeln, der Schleier des Geheim-
nisses lüftete sich nur langsam. Man schloss unmögliche Verträge
mit einer in Auflösung begriffenen Regierung und mühte sich ver-
gebens sie zur Ausführung zu bringen; — denn der Verfall der
Siogun-Herrschaft schreitet schon seit mehreren Jahrzehnten fort,
und die Verträge waren unmöglich, weil sie zum freien Verkehr
führten. Die Centralgewalt glaubte dem Adel und dem Auslande
partielle Zugeständnisse machen zu können, beraubte sich aber
damit ihrer Grundlagen. Die Daimio’s werden unabhängiger, der
Verkehr gänzlich befreit werden; das alte System kann dabei nicht
fortbestehen.


Jetzt bahnt der Handel sich Wege in alle Theile des Reiches;
die dabei gemachten Erfahrungen müssen erst zeigen, worauf es
vorzüglich ankommt, und zur Modification der ursprünglichen Ver-
träge führen, welche als Schlüssel, als Grundlage wichtiger Rechte
vom grössten Werthe sind. Beim Verkehr in den Gebieten der unab-
hängigen Landesfürsten wird es aber nothwendig werden, auch mit
diesen Abmachungen zu treffen, welche sich dem örtlichen Bedürf-
niss, der Verfassung und Bevölkerung dieser Landestheile anpassen.
Nur der Ausdruck von Sitte und Nothwendigkeit ist haltbar als
Gesetz; die Erfahrungen der Kaufleute müssen hier die Wege zeigen.
Für jetzt scheinen dem Verfasser der Taïkūn in seinen Erbländern,
die souverainen Daïmio’s in den ihrigen diejenigen Grössen, mit
denen die fremden Diplomaten gesondert zu rechnen haben. Welche
politische Gestaltung folgen wird, ist nicht abzusehen, die Auf-
richtung der alten despotischen Centralgewalt unmöglich. Wahr-
scheinlich werden die Daïmio’s so lange in ihren Erblanden unabhängig
bleiben, bis einer das entscheidende Uebergewicht erhält und die
anderen unterdrückt; vielleicht auch zerfällt das Reich nach seiner
geographischen Eintheilung in mehrere Bundesstaaten, deren jeder
unter Oberhoheit des mächtigsten Territiorialfürsten steht. Jeden-
falls sind die Souverainetätsrechte der Daïmio’s trotz deren langer
Knechtschaft zu lebendig im Bewusstsein des Volkes, zu eng ver-
[360]Schluss. Anh. II.
wachsen mit der ganzen geschichtlichen Entwickelung Japans, um
nicht ein gewaltiger politischer Factor zu bleiben, welche Gestal-
tung das Reich auch erhalten mag. Es wird daher unter allen
Umständen geboten sein mit ihnen Verbindungen anzuknüpfen.


Möge das Land politische Einrichtungen erhalten, welche
seinem wahren Bedürfniss und dem Eintritt in den Weltverkehr ent-
sprechen, zu dem es jetzt berufen ist. Möge es den Fremden be-
schieden sein, Japan der höheren Cultur zu gewinnen, zu der es
seine gesunde Lebenskraft befähigt.


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Appendix A REGISTER ZUM I. UND II. BANDE.


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Notes
1).
Doeff beschreibt eine Feuersbrunst in Yeddo, deren Zeuge er bei seinem
dortigen Aufenthalt im Jahre 1806 wurde, mit folgenden Worten: »Am 22. April
Morgens gegen zehn Uhr hörten wir, dass in der Stadt, etwa zwei Stunden von unserer
Herberge entfernt, Feuer ausgekommen sei. Wir achteten kaum darauf, da man in
Yeddo an Feuersbrünste gewöhnt ist; bei gutem Wetter brennt es wohl jede Nacht,
und da es bei Regenwetter seltener vorkommt, so wünschen die Bewohner einander
Glück, wenn es Abends regnet. Aber der Brand nahte uns mehr und mehr, und
gegen drei Uhr Nachmittags loderten plötzlich, durch Funken, welche der heftige Wind
auf uns zutrieb, entzündet, die Flammen an vier verschiedenen Orten rund um uns
her auf. Wir hatten indessen aus Vorsicht schon um ein Uhr angefangen zu packen,
so dass wir jetzt bei der nahen Gefahr die Flucht ergreifen konnten. Auf die Strasse
kommend sahen wir Alles in Brand stehen; vor dem Winde her aus den Flammen
zu laufen kam uns gefährlich vor, wir rannten deshalb gegen den Wind durch eine
schon brennende Strasse und kamen so hinter die Flammen auf einen freien Platz,
»Hara« genannt. Dieser war dicht bedeckt mit den Flaggen von Fürsten, deren
Paläste verbrannt und deren Frauen und Kinder hierher geflüchtet waren. Wir
folgten ihrem Beispiel und steckten gleichfalls einen Platz ab mit den holländischen
Flaggen, die wir beim Uebergang der Flüsse auf der Reise gebrauchten. So hatten
wir eine freie Aussicht auf den Brand, aber ich habe so Schreckliches niemals gesehen!
Das Grauen des Feuermeers ward noch erhöht durch das herzzerreissende Geschrei
der flüchtenden Frauen und Kinder. — Wir waren nun wohl für den Augenblick
sicher, hatten aber kein Obdach. Der Gouverneur von Naṅgasaki, der sich zu Yeddo
aufhielt, war eben entlassen, das Haus seines Nachfolgers, der an demselben Tage
ernannt worden war, in Asche gelegt. Wir wurden deshalb im Hause des gerade
in Naṅgasaki fungirenden Statthalters einquartiert, das ganz am andern Ende von
Yeddo lag; wir kamen Abends gegen halb elf dort an und wurden vom Sohne des
Statthalters sehr freundlich aufgenommen und mit Allem versehen. — Am folgenden
Tage gegen Mittag löschte starker Regen den Brand. Wir hörten von unserem
Hauswirth, der uns besuchte, dass nicht fünf Minuten nach unserem Abzug die
Flamme sein Haus erreicht und Alles verzehrt hatte, ohne dass er etwas retten
konnte. Um ihm zu Hülfe zu kommen hat ihm unsere Regierung drei Jahre hinter-
einander zwanzig Körbe Zucker geschenkt. Er erzählte dass siebenundfunfzig Daïmio-
Paläste vernichtet und zwölfhundert Menschen, darunter ein Töchterchen des Fürsten
von Ava, verbrannt und ertrunken seien, indem die Brücke Nippon-basi unter dem
Gewicht der flüchtenden Menge zusammenbrach, und in der dahin führenden Strasse
die Hintersten, davon nichts wissend, in ihrer Hast dem Feuer zu entrinnen, die
Vordersten in das Wasser drängten«.
2).
S. Bd. I. S. 285.
3).
Dieser Platz ist dargestellt auf dem 11. Blatt der »Ansichten aus Japan,
China und Siam«.
4).
S. »Ansichten aus Japan u. s. w.« Blatt 12.
5).
Ueber die Grausamkeit der japanischen Strafen in früheren Zeiten sind viel
unverbürgte Gerüchte verbreitet. Die japanischen Henker sollen danach grosse
Virtuosität besessen haben, ihre Schlachtopfer langsam zu Tode zu martern, so
6).
Ueber die »Höllen« s. Bd. I. S. 127.
5).
namentlich durch die Kreuzigung mit dem Kopfe nach unten, wobei dem Gekreuzigten
Einschnitte in die Kopfhaut gemacht würden, damit das Blut Abfluss habe und ihn
nicht zu rasch ersticke. Titsingh erzählt von Henkern, welche die Geschicklichkeit
besessen hätten, dem Hinzurichtenden sechszehn schmerzhafte Wunden beizubringen
ohne ihn zu tödten; Meylan vom sogenannten Todtentanz. wobei das Schlachtopfer in
einen Strohmantel eingenäht und dieser angezündet worden wäre; — Alles dies aber
nur von Hörensagen. Ebenso unverbürgt ist wohl das Gerücht, dass junge Samraï
oder gar Daïmio’s die Schärfe ihrer Klingen an den Leichen der Gerichteten versuchen.
7).
S. Siebold. Pantheon von Nippon. Dieser Abschnitt seines grossen encyclo-
pädischen Werkes ist mit besonderer Vorliebe bearbeitet und enthält sehr treffende
Schilderungen, die der Verfasser hier und in den folgenden Blättern vielfach benutzt hat.
8).
Das Goheï soll ein Sinnbild der Reinheit sein, nach Anderen ständen auf den
Papierstreifen Moral- und Weisheitssprüche.
9).
Ein kurzer Abriss der Mythologie und Götterlehre, soweit sie dem Verfasser
aus den ihm zugänglichen Quellen deutlich wurde, ist Bd. I. S. 13 zu finden. Bei
näherer Erforschung der Einzelheiten geräth man in Verwirrung und Widersprüche,
die schwerlich jemals zu heben sein werden, wenn sich nicht etwa bei näherer Be-
kanntschaft mit den Lehren ein leitender Grundgedanke entdecken lässt. — Der
Ausdruck Kami wird bald für die obersten Gottheiten, bald für vergötterte Menschen
und Naturkräfte gebraucht, während doch Ten-zio-daï-zin als die einzige mensch-
licher Anbetung zugängliche Gottheit zu gelten, die übrigen Kami aber, personificirte
Naturkräfte, canonisirte Herrscher, Helden und Wohlthäter, eher die Rolle von
Heiligen und Mittlern zu spielen scheinen.
10).
Wo Bilder von Kami’s in Tempeln bewahrt werden, betet man sie nicht an.
Ein Bild des höchsten, menschlicher Anbetung zugänglichen Gottes, des Ten-zio-
daï-zin
giebt es nirgends.
11).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam I. 1.; II. 7.
12).
S. Bd. I. S. 34.
13).
Der Verfasser fand oft bei seinen Streifereien auf dem Lande die Leute
selbst im Spätherbst vor ihren Häusern in den Badewannen sitzend. Die öffentlichen
Badehäuser sind durch eine Holzwand in zwei grosse Räume getheilt, einen für die
Männer, den anderen für Frauen und Kinder. Es geht dort sehr lustig her, und da
beim Japaner die Nacktheit keine Schaam erregt, so kann der Fremde ohne Scheu
eintreten und dem Getreibe zuschauen.
14).
Das japanische Schachspiel hat viel mehr Figuren als das unsere; sie bestehen
in Holzblöckchen, mit Zeichen bemalt die ihren Werth ausdrücken. Nicht nur die
Bauern, sondern fast jede Figur erhält, wenn sie die hinterste Reihe des Gegners
erreicht, einen höheren Werth; die Blöckchen tragen auf der Rückseite das Zeichen
desselben, und werden dann einfach umgedreht. Sie sind vierseitig, aber schief ab-
gedacht und die Abdachung stets dem Gegner zugewendet. Dadurch lassen sich die
durch keine Farben unterschiedenen Figuren der beiden Partheien erkennen. Die
genommenen setzt der Spieler als seine eigenen auf das Feld. — Ein anderes Spiel,
das die Kaufleute vielfach in den Läden spielen, gleicht unserem Mühlenziehen. Die
Steine der beiden Partheien haben verschiedene Farbe und werden auf einen Bogen
Papier mit vielen Puncten gesetzt; gelingt es, einen Stein des Gegners vollständig
einzuschliessen, so ist dieser genommen.
15).
Es würde die Mühe und Kosten reichlich lohnen, eine Ladung japanischer
Spielzeuge nach Europa zu schicken. Der vielfachen Kreiselspiele ist schon im ersten
Bande (S. 311, 347) erwähnt worden. Auch die japanischen Drachen würden den
Neid unserer Jugend erregen; sie sind weit kunstreicher gebaut als die unseren und
haben die abentheuerlichsten Formen. Es ist beim Spiel derselben nicht allein auf
das Steigenlassen, sondern auf einen Wettkampf abgesehen. Die Schnüre sind mit
gestossenem Glass überzogen; wem es gelingt mit seiner Schnur die des anderen zu
durchschneiden, so dass der Drachen herunterfällt, dem gehört er.
16).
S. Bd. I., S. 131, 312.
17).
Der Mann soll das Recht haben seine Frau zu tödten, wenn er sie allein
mit einem Anderen im Zimmer findet.
18).
S. Ansichten aus Japan etc. III. 16.
19).
S. Ansichten von Japan etc. III. 13.
20).
S. Bd. I. S. 184, 285.
21).
S. Bd. I. S. 153.
22).
S. Bd. I. S. 113.
23).
Fiogo ist der Hafen von Osaka, welches letztere einige Meilen den Fluss hinauf
liegt und der bedeutendste Geldplatz von Japan ist. Auch die Hauptstadt Yeddo,
der Mittelpunct des Productenhandels, kann wegen ihrer schlechten Rhede kaum als
Hafenplatz gelten und es ist für sie sowohl als für Osaka von den vertragschlies-
senden Diplomaten mehr ein kaufmännischer als ein Schiffahrtsverkehr in Aussicht
genommen worden. Das Aus- und Einladen europäischer Handelsschiffe würde
in Yeddo die grössten Schwierigkeiten machen, und man kann annehmen, dass
Yokuhama auch nach Eröffnung von Yeddo für den Fremdenverkehr dessen Hafen-
station bleiben wird; ebenso Fiogo für Osaka, das an einem zwar grossen, aber
seichten und nur für Boote schiffbaren Flusse liegt.
1).
S. Ansichten aus Japan, China und Siam. III. 17.
2).
Regierungsrath Wichura starb im Februar 1866 zu Berlin an Kohlendampf-
vergiftung.
3).
Fortune theilt in seinem Buche: »Yeddo und Peking« die nachstehenden im
Jahre 1860 angestellten Beobachtungen des amerikanischen Missionars Dr. Hepburn
in Kanagava mit:
Thermometer Fahr.
4).
Thujopsis dolabrata wächst nach Fortune am Abhange des Fusiyama in
Wäldern.
5).
In den folgenden von der Agricultur der Japaner handelnden Blättern hat der
Verfasser vorzüglich die Berichte des landwirthschaftlichen Sachverständigen der
Expedition und die Arbeiten der Herren von Siebold und Fortune benutzt.
6).
Dr. Maron konnte bei fünfmonatlichem Aufenthalt in Yokuhama kein einziges
Trifolium entdecken.
7).
Professor Nees von Esenbeck und Herr L. A. Marquart, welche die von
Herrn von Siebold mitgebrachte Erde einer Theepflanzung untersuchten, fanden
folgende Bestandtheile:
Hundert Gran Erde enthielten
  • Kieselerde   53 Gran,
  • Eisenoxyd   9 »
  • Thonerde   22 »
    • Mangonoxyd
    • Talkerde...
  • Gips   ½ »
  • Humus   1 »
  • Phosphorsäure   Spuren,
  • Hydratwasser   14 Gran.
8).
Nach Siebold. Fortune der die Theedistricte von China bereiste, bezweifelt
diese Angabe; sie ist aber bei der raffinirten Düngerwirthschaft der Japaner nicht
unwahrscheinlich.
9).
Nach Siebold. In China pflückt man nach Fortune immer nur Blätter und
Blattknospen, niemals Zweige ab. Eine Darstellung des Theebaues in China, der
in vielen Stücken von dem japanischen abweicht, soll später folgen.
10).
Feine Theesorten müssen wohl verschlossen und fern von starkriechenden
Gegenständen aufbewahrt werden. Professor Nees von Esenbeck legte mehrere
Päckchen Thee neben Droguen und Chemicalien und fand nach kurzer Zeit, dass
sie alle Würze verloren hatten.
11).
Die Blüthen und Wurzeln folgender Gewächse sollen vorzugsweise zum Par-
fümiren des Thees dienen: Curcuma longa, Iris florentina, Magorium Zambac,
Vitex spicata, Camelia sasanqua, C. oleifera, Olea fragrans, Chloranthus inconspicuus.
Japanische Feinschmecker sollen zuweilen eine Handvoll Thee in die Blüthe
des heiligen Lotus (Nelumbium speciosum) schütten und über Nacht darin lassen, um
ihn am Morgen zu geniessen.
12).
Nach den Angaben der Japaner betrüge der vom Landmann an den Grund-
herrn zu entrichtende Zehnte gewöhnlich ein Fünftel der Aernte. Nach Herrn
Alcocks Beschreibung der auf der Reise von Naṅgasaki nach Yeddo gesehenen
Strecken von Nippon und Kiusiu wäre aber das Aussehen der Landleute fast überall
sehr elend und dürftig. Sie sollen kaum mehr als das nackte Leben haben, mit
Lumpen bekleidet sein und in engen, düsteren Hütten ohne jede Bequemlichkeit
wohnen. Nur in der Nähe der Städte wäre es besser. Danach müsste man auf
einen höheren Grundzins schliessen, der in der That auch durch die Erwägung wahr-
scheinlich wird, dass so viele privilegirte Nichtsthuer — die ungeheuere Anzahl der
zweischwertigen Samraï — vom Schweisse des Landmannes leben. Alle Einkünfte
der Daïmio’s bestehen in den Naturalabgaben ihrer Pächter; jene sind die eigentlichen
Grosshändler des Landes und lassen ihren Bauern wahrscheinlich nur grade so viel,
als diese zu ihrer Existenz brauchen, oder nur geringen Ueberschuss. Die bessere
Lage der Landleute in der Nähe der Städte erklärt sich bei der Unvollkommenheit
der Transportmittel durch die leichtere und somit höhere Verwerthung ihrer Boden-
erzeugnisse.
13).
S. Bd. I., S. 283.
14).
S. Bd. I. S. 281.
1).
S. Ansichten aus Japan etc. II. 7.
1).
Dieses Werk ist seitdem mehrfach übersetzt worden und findet sich im Aus-
zuge in Alcock’s »Capital of the Tycoon«, im »Chinese and Japanese repository«
No. 23. Mai 1865 und in Brennwald’s »Rapport géneral sur la partie commerciale
de la mission Suisse au JaponCaron publicirte schon im 17. Jahrhundert einen
japanischen Staatskalender, der mit dem heutigen eine bemerkenswerthe Ueberein-
stimmung zeigt. S. François Caron. Wahrhaftige Beschreibung dreier mächtigen
Königreiche. Nürnberg 1663.
2).
Während des Druckes ist dem Verfasser aus Japan die zuverlässige Nachricht
zugegangen, dass man dort in späterer Zeit den Mörder Heuskens sehr wohl gekannt
hat. Er war das Haupt einer Lonin-Bande, die viele andere Unthaten verübte,
und soll von der Regierung nur deshalb geschont worden sein, weil sie ihn als
Spion brauchte, wurde aber 1864 wenige Schritte von der Stelle, wo er Heusken
umbrachte, von seinen eigenen Leuten niedergehauen. — Ueber den Tod des Hori-Oribe
haben dessen eigene Verwandten dem preussischen Consul Herrn von Brandt folgende
Aufklärung gegeben. Ando Tsus-sima’s Politik ging auf Unterdrückung der Autorität
des Mikado, welche schon damals der Siogun-Herrschaft gefährlich zu werden
drohte. Er las bei einem Besuche Hori’s diesem ein darauf zielendes, zur Ver-
breitung bestimmtes Pamphlet vor; Hori aber tadelte es in so scharfen Ausdrücken,
dass der Minister ärgerlich das Zimmer verliess. Nun fordert die japanische Sitte,
dass, wer seinen Vorgesetzten beleidigt hat, ihn am folgenden Tage um Entschuldigung
bittet, oder Harakiru begeht. Hori kam nach Hause, und entfernte seine Familie
unter dem Vorwande, er habe Wichtiges zu schreiben; man fand ihn bald darauf in
seinem Blute. Ando Tsus-sima soll bei der Nachricht von Hori’s Tode in Thränen
ausgebrochen und untröstlich gewesen sein, denn sein Verdruss war nur vorüber-
gehend. Die Angabe des Herrn Lindau (Voyage autour du Japon), dass
Ando Tsus-sima von Hori’s Trabanten angegriffen und verwundet worden sei,
entbehrt jeder Begründung; er lässt Hori am 10. Januar 1861 sterben, den Angriff
2).
auf Ando Tsus-sima wenige Tage später und Heuskens Tod am 19. Januar er-
folgen. — Alle diese Daten sind falsch. Hori starb in der zweiten Hälfte des De-
cember 1860, Heusken am 15. Januar 1861; der Angriff auf Ando Tsus-sima erfolgte
im Januar 1862, also ein ganzes Jahr später. Der Umstand, dass die zuerst
in der Revue des deux mondes abgedruckte Darstellung des Herrn Lindau, der
Heusken ebenfalls durch Hori’s Trabanten ermorden lässt, vielfache Verbreitung
gefunden hat, veranlasste den Verfasser zu der obigen weitläufigen Auseinander-
setzung, deren Richtigkeit die oben eingegangenen Nachrichten bestätigen.
3).
Auch die Vertreter dieser Firma sind dem Schicksal durch Aufnahme in den
preussischen Unterthanen-Verband glücklich entgangen.
1).
Salamandra maxima. Siebold brachte das erste Exemplar 1829 nach Europa,
wo es im zoologischen Garten von Amsterdam die Länge von vier Fuss erreichte.
Er hatte zwei Exemplare, von denen aber das männliche das weibliche unterwegs
auffrass. Der Riesensalamander lebt von kleinen Süsswasserfischen, deren man eine
2).
Die Aehnlichkeit der »King Charles« mit den japanischen Hunden ist so
gross, dass man der Ueberlieferung, nach der ihre Ureltern 1673 mit dem Schiffe
»Return« nach England gekommen wären, vollen Glauben schenken muss.
1).
hinreichende Quantität an Bord haben muss, wenn der Transport gelingen soll.
Eine zweite Schwierigkeit ist, das Wundreiben der Thiere an den Borden des Gefässes
zu verhüten, das die beständigen Schwankungen des Schiffes verursachen. Mehrere
Exemplare starben daran, doch gelang es dem Zoologen der Expedition, einen
lebend hinüber zu befördern. Man setzt die Thiere am besten in eine Wanne mit
wenig Wasser, die in einem luftigen Raum unter Deck aufgehängt wird.
3).
Nach Dr. Pompe’s Angaben isst der japanische Arbeiter täglich etwa 500 Gramm
Reis, 150 Gramm Fisch, 150 bis 200 Gramm gesalzenes Grün nebst etwas Soya
und Obst, also etwa 35 Gramm Eiweissstoff.
4).
S. S. 21.
1).
Ueber den Handel der Holländer auf Desima s. Bd. I. SS. 138—155.
2).
Der im chinesischen Handel übliche Ausdruck für die Esswaaren der Einge-
borenen. (Chow-chow = Essen im chinesischen »Pidschen« — Englisch.)
3).
Diese declarirten Werthe sollen zu gering sein. Das englische Consulat
gibt den wahrscheinlichen Werth der Gesammt-Einfuhr von 1860 auf 263,000, den
der Ausfuhr auf 865,000 Pfund Sterling an.
4).
S. Bd. I. S. 279 ff.
5).
S. Bd. I. S. 275.
6).
Die Regierung scheint den inländischen Verkehr sorgsam zu überwachen
und jede künstliche Preissteigerung durch kaufmännische Speculation mit Gewalt zu
unterdrücken. Man erzählt zur Zeit unserer Anwesenheit von einem Getreidehändler,
der wegen Zurückhaltung seiner Vorräthe geköpft worden wäre.
7).
Lonin im eigentlichen Sinne ist jeder Samraï der keinen Herrn hat. Es
gibt darunter viele rechtschaffene Leute, die Vermögen besitzen und auf eigene
Hand leben. Wer dem Gesetze trotz bietet, sagt sich auch von seinem Herrn los;
wegen schlechter Führung aus dem Dienst entlassene Samraï werden gewöhnlich
Banditen, deshalb braucht man auch für letztere im Allgemeinen den Ausdruck
Lonine.
8).
Der göttliche Titel des Jyeyas als Kami nach seinem Tode.
9).
»Fusiliers marins.« Die französische Marine hat keine eigentlichen Seesoldaten,
wie die preussische und die englische. Die militärisch ausgebildeten Matrosen-
Abtheilungen heissen Fusiliers marins, sobald sie mit Gewehr bewaffnet sind; diese
Truppe ist zum Landdienst förmlich organisirt.
10).
S. die Karte im I. Bd. Simonoseki ist eine bedeutende Handelsstadt am
Eingang des Binnenmeeres aus dem Krusenstern- oder Korea-Canal, der Ausgangs-
punct aller Reisenden, welche von Kiusiu nach Fiogo und Osaka gehen. Sie war
eine Hauptstation auf den Hofreisen der holländischen Handelsvorsteher, welche
immer mehrere Tage dort verweilten und sie mit Vorliebe beschreiben. Simonoseki
gehört zum Territorium des Fürsten von Naṅgato und Suwo, das die südwestlichste
Ecke der Insel Nippon bildet, und beherrscht mit seinen Batterieen die westliche
Einfahrt in das Binnenmeer vollständig. Siebold hat die Meerenge »Van der Capellen-
Strasse
« getauft.
11).
Jedes einfach vor Anker gehende Schiff dreht sich bekanntlich, im fliessenden
Wasser der Strömung, im stillen der Windrichtung gehorchend, um seinen Anker.
Soll es eine bestimmte, jenen Kräften widerstehende Stellung erhalten, so wirft man
ausser dem Bug-Anker noch einen zweiten aus, dessen Kette am Heck befestigt
wird; vermittelst dieser beiden festen Puncte hat man es in der Gewalt dem Schiffe
die gewünschte Richtung zu geben. Dieses Manöver heisst »auf den Spring legen«,
und hat in dem vorliegenden Falle den Zweck, die Breitseite des Schiffes der Batterie
zuzuwenden, um die Bordgeschütze spielen lassen zu können.
12).
S. oben. Die Mittheilungen des Gorodžio vor Abgang des Geschwaders
enthalten nichts von einem an den Fürsten gesandten Befehl, doch geht aus der Som-
mation des englischen Geschäftsträgers an denselben hervor, dass die Regierung in
Yeddo früher behauptet hatte, die Auslieferung der Mörder verlangt zu haben.
13).
Nach der englischen Uebersetzung. In der Ueberschrift heisst Kavakami
Tayima
Minister des Matsdaïra Siuri-no-Daïbu, Fürsten von Satsuma.
14).
Die Gesandten des Fürsten von Satsuma trafen Anfang November in Yoku-
hama
ein und wurden durch einen Bevollmächtigten des Gorodžio bei dem englischen
Geschäftsträger eingeführt. Im Volk hiess es damals, die Regierung in Yeddo
wünsche ein Bündniss mit Satsuma und willfahre deshalb seinem Begehren, mit den
Engländern in Verkehr zu treten. Die Gesandten eröffneten die erste Zusammen-
kunft, am 9. November, mit der Erklärung, dass die Engländer die Feindseligkeiten
durch Wegnahme der Dampfer eröffnet hätten, und deshalb eigentlich der Fürst Ent-
schädigung für diese und die eingeäscherte Stadt beanspruchen sollte. Sie stellten
dann bei der zweiten Besprechung, am 15. November, die Zahlung der 25,000 Pfund
Sterling in Aussicht, und gaben den Wunsch ihres Herrn zu erkennen, ein Kriegs-
schiff in England bauen und dreissig junge Leute dort ausbilden zu lassen. — Die
Zahlung wurde am 11. December mit 100,000 Dollars geleistet, wogegen der englische
Geschäftsträger ein schriftliches Versprechen ausstellte, »die Ertheilung der Erlaubniss
zum Bau eines Kriegsschiffes bei seiner Regierung zu befürworten, sofern dadurch
nicht die freundschaftlichen Beziehungen zur Regierung des Taïkūn oder anderen
Mächten verletzt würden.« Die dreissig Satsumaner befinden sich, soviel dem Ver-
fasser bekannt, noch jetzt in England.
15).
Nach einer Mittheilung der Gesandten Satsuma’s an den Geschäftsträger.
16).
In Yokuhama erschienen schon 1863 zwei regelmässige Wochenschriften:
Japan Herald und Japan Commercial News, deren Redactionen auch tägliche Blätter
mit den Neuigkeiten ausgeben und sich natürlich jedes möglichen Stoffes bemächtigen.
17).
Man erhält einen Begriff von der raschen Zunahme des Handels von Yo-
kuhama
durch folgende amtliche Angaben des englischen Consulates. In den
ersten sechs Monaten des Jahres 1862 betrug die englische Einfuhr 68,981 Pfund
Sterling, die Ausfuhr 253,337 Pfund Sterling; in derselben Periode 1863 trotz den
kriegerischen Aussichten, welche eine Zeit lang die Geschäfte ganz unterbrachen,
die Einfuhr 111,470 Pfund Sterling, die Ausfuhr 561,120 Pfund Sterling. In letzterem
Jahre kam zum ersten Male japanische Rohbaumwolle zur Ausfuhr (795,207 Pfund);
das Picul stieg in kurzer Zeit von 5 auf 35 Dollars. So lange der amerikanische
Krieg dauerte, hat die Production bedeutend zugenommen, ist aber nachher schnell
wieder gesunken. — Genauen Aufschluss über den Handel von Yokuhama bis 1863
gibt der Rapport géneral sur la partie commerciale de la mission Suisse au Japon
par C. Brennwald. Zurich. Orell Fussli 1865; und ein guter Artikel der Chinese
and Japanese Review. Dec. 1863. vol. I. n. 6. S. 276.
18).
Den höchsten Zollsatz, 35 Procent des declarirten Werthes, zahlten bis dahin
Weine und Liqueure. Für diesen Artikel, ferner für Maschinen und Maschinentheile,
Glaswaaren, Droguen und Medicinen, Eisen in Stäben und Blöcken, Eisenblech,
18).
Eisendrath, Weissblechplatten, weissen Zucker in Broden oder gestossen, Stutzuhren,
Taschenuhren, Uhrketten wurde jetzt die Steuer auf 5 Procent ermässigt; — für
Bijouterieen, Spiegel, Parfümerieen und Seife, Waffen, Bücher, Scheeren, Messer,
Papeterieen und Zeichnungen von 20 auf 6 Procent. — Blattblei, Bleiloth, Matten,
Rotang, Oel zum Malen, Indigo, Gips, Pfannen, Körbe wurden jetzt steuerfrei
erklärt. Die Opium-Einfuhr blieb verboten. Die Steuer für Wollen-, Leinen- und
Baumwollen-Fabrikate blieb auf 20 Procent, die für die Rohstoffe auf 5 Procent.
Die Advalorem-Besteuerung ist in einem Lande, wo man den Werth der europäischen
Producte nicht beurtheilen kann, natürlich nur eine imaginäre; selbst die hohe Steuer
auf Getränke, 35 Procent, gab keinen erheblichen Kostenzuschlag, da man z. B.
300 Dutzend Kisten Rothwein zu 100 Dollars Werth zu declariren pflegte. Uhren,
Bijouterieen u. s. w. wurden fast immer eingeschmuggelt; auch mit anderen Artikeln
betrieb man den Schleichhandel im Grossen, wozu die Bestechlichkeit der japanischen
Zollbeamten den fremden Kaufleuten die Hand reichte.
19).
Das Aeussere der japanischen Ratifications-Instrumente war sehr prächtig;
man hatte die Urkunden mit der Uebersetzung den Vertrags-Originalen vorgeheftet
und das Ganze in Goldstoff gebunden. Die eigenhändige Unterschrift des Taïkūn
Jye-Motsi
stand mit dessen grossem Siegel auf einem eigenen Blatt. Der Band
lag, in rothe Seide eingewickelt, in einem mit schweren Seidenschnüren umwundenen
Lackkasten auf hohem Untersatz.
20).
Nach vierjähriger Entwickelung des französischen Handels (von Eröffnung
der Häfen an) liefen im Jahre 1863 nach den Handels-Circularen von Yokuhama
daselbst sieben französische Schiffe ein und aus; der Werth ihrer Einfuhr belief sich
auf 10,176 Pfund Sterling, der ihrer Ausfuhr auf 46,789 Pfund Sterling. In dem-
selben Jahre, welches das erste des preussischen Handels war, besuchten
diesen Hafen sieben preussische Schiffe; ihre Einfuhr betrug 19,712 Pfund Sterling,
ihre Ausfuhr 95,177 Pfund Sterling, also etwa das Doppelte der französischen.
Ohne Zweifel haben die Hansestädte bedeutenden Antheil an diesen Quantitäten;
aber diese produciren und consumiren ja doch den geringsten Theil und vermitteln
nur den deutschen Handel, welchen Preussen in Japan allein vertritt. Nur die
preussische Flagge wird zugelassen. Herr von Brandt rechnete das durch die
kriegerischen Aussichten bedrohte Eigenthum seiner Schutzbefohlenen in Yokuhama
auf eine Million Dollars.
Nach amtlichen Angaben belief sich die Gesammt-Einfuhr von Yokuhama
  • im Jahre 1860 auf 197,023 Pfund Sterling,
  • » » 1861 » 310,001 » »
  • » » 1862 » 536,860 » »
  • » » 1863 » 1,595,170 » »

Die Gesammt-Ausfuhr belief sich
  • im Jahre 1860 auf 823,812 Pfund Sterling,
  • » » 1861 » 558,948 » »
  • » » 1862 » 1,313,562 » »
  • » » 1863 » 5,116,634 » »

Detaillirte Tabellen gibt der Rapport géneral etc. von Brennwald. S. oben.
21).
Die Dampfer der P. O. St. N. Company bringen jetzt zweimal monatlich die
Post von Shanghai nach Yokuhama.
22).
Der gewöhnliche Name für Miako.
23).
Das Original dieses Schreibens will die Zeitung von dem amerikanischen
Minister-Residenten erhalten haben. Wahrscheinlich wurde es in gleichlautenden
Exemplaren an die Ober-Commandanten der vier verbündeten Mächte überreicht.
Der Fürst von Naṅgato kann sich nicht wohl an den Vertreter der amerikanischen
Marine, einen Flotten-Lieutenant von der Segelcorvette Jamestown, welcher den
gemietheten Dampfer Takiang commandirte, allein schriftlich gewendet haben, worauf
der Ausdruck »an den Admiral der Vereinigten Staaten« allerdings schliessen lässt.
Entweder die Anglo-Japaner oder der amerikanische Uebersetzer haben wahrscheinlich
»United States« für »alliirte Mächte« gesetzt, welche das japanische Original ohne
Zweifel meint.
24).
Kaiser bedeutet hier Mikado. Kioto ist Miako.
25).
Ein Minister des Taïkūn.
26).
Wenigstens nach dem Material, das dem Verfasser vorliegt. Bei der Un-
vollständigkeit der japanischen Nachrichten und nach der Analogie der Geschichte
kann man immer vermuthen, dass er am Hofe des Mikado wirkt oder im Geheimen
Kriegsmacht sammelt, und plötzlich wieder auftauchen wird.
27).
Eine Notiz des Chinese and Japanese Repository (Januar 1865) spricht von
geschriebenen Verträgen der Engländer mit den Fürsten von Etsizen, Figo, Idsu,
Yossu (Tšošio?)
und Satsuma, worüber dem Verfasser nichts Näheres bekannt ist.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjpg.0