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Neue
Reiſe durch Italien


Erſter Band.
Erſtes Heft
.

Berlin: 1797,
bei Friedrich Vieweg dem Aeltern.
[][[1]]

Neue
Reiſe durch Italien
.


Siebentes Heft. A
[4]

gen. Beſtaͤndig wollten, dachten und tha-
ten wir beyde Einerley. Es iſt hier mehr,
als Damon und Pythias. Wir waren
immer, im eigentlichſten Sinne der Re-
densart, Ein Herz und Eine Seele.


Dieſe Nachricht ſchicke ich voraus, da-
mit es den Leſer weniger befremden moͤge,
daß ich nachſtehende Reiſe durch Italien
als die Fortſetzung der Reiſe eines Lieflaͤn-
ders angebe. Sie iſt es in der That, weil
ſie da anhebt, wo letztere aufhoͤrt, und
weil der Lieflaͤnder, vermoͤge ſeiner gedach-
ten engen Verbindung mit mir, die zugleich
eine voͤllige Gleichheit in der Art zu ſehen,
zu fuͤhlen, zu urtheilen, ja ſogar ſich aus-
zudrucken, vorausſetzt, dieſe Reiſe mit mir
gemacht und mir erlaubt hat, ſie eine Fort-
ſetzung der ſeinigen zu nennen.


[5]

Wenn aber dieſer Umſtand den Zuſatz
auf dem Titel rechtfertiget, ſo entſchuldigt
er nicht zugleich, daß ich unternehme, nach
ſo vielen Hunderten, noch eine neue Reiſe
durch Italien zu beſchreiben. Sollten die
Verhandlungen uͤber dieſes Land nicht auf
funfzig und mehr Jahre, oder wenigſtens
auf ſo lange, geſchloſſen werden, bis gro-
ße politiſche, oder natuͤrliche, oder ſittliche
Veraͤnderungen darin vorgegangen ſind?
Sollte es, in ſeinem gegenwaͤrtigen Zuſtan-
de, nicht bis in die innerſten Winkel der
Staatskunde, der Naturbeſchreibung, der
Einwohnerkenntniß, des Alterthums und
der Kunſt erforſcht und beſchrieben ſeyn?
Und ſollte jetzt noch ein Reiſender etwas
Neues
uͤber die tauſendmal beſchriebe-
nen, gezeichneten und gemalten Gegenſtaͤn-
de aufbringen koͤnnen?


[6]

Etwas Neues aufzubringen, iſt uͤber-
haupt ſehr ſchwer, iſt, wenn man es ge-
nau nach dem Worte nimmt, unmoͤglich.
Die Elemente der natuͤrlichen und morali-
ſchen Dinge, die wir mit unſern Augen ſe-
hen, ſind einfach und bekannt; und was
im Ganzen neu ſcheint, iſt alt, wenn man
es in ſeine Beſtandtheile zerlegt. Im Grun-
de gelten uns auch bekannte Dinge, die
man von neuem und auf eine neue Art an-
ſieht, auffaßt, miſcht und vortraͤgt, und
die, in dieſer Geſtalt, eine andere Wirkung
thun, oder einen andern Ausfall geben,
als bisher, gewoͤhnlich ſchon fuͤr neu.
Dieſes Neue, oder vielmehr dieſes Andere,
koͤnnen wir immer noch an einem Gegen-
ſtande finden, den Tauſende vor uns an-
geſehen und beſchrieben haben. Der eigen-
thuͤmliche Geiſt des Schriftſtellers, der den
Bindeſtoff zu dieſer neuen Miſchung her-
[7] giebt, iſt es eigentlich, der den Leſer reizt,
einen neu aufgeſtellten alten Gegenſtand
noch einmal anzuſehen. Dieß muß mit
den zahlreichen Reiſebeſchreibungen durch
Italien beſonders der Fall geweſen ſeyn,
weil ſie ſonſt nicht ſo zahlreich geworden
waͤren.


Daß Italien, bey der großen Menge
von Nachrichten, die in allen Zungen da-
von vorhanden ſind, erſchoͤpfend, vom Grun-
de aus, beſchrieben ſey, kann man am we-
nigſten zugeben, wenn man den groͤßeſten
Theil dieſer Werke geleſen hat. Die
Staatskunde dieſes Landes iſt, z. B.,
immer noch ſehr duͤrftig. Roͤmer, Neapo-
litaner, Turiner, Venetianer und Genueſer
haben zwar die Haupt- und Mittelſtaͤdte
ihres Vaterlandes beſchrieben, und recht
nach ihrer Weiſe gelobt, nichts oder wenig
[8] aber von des letztern Regierung, Bevoͤlke-
rung, Kunſtfleiß und Handel geſagt. Ein-
ſeitig haben ſie ſich auf ihre „cose stu-
pende“
, worunter ſie ihre Kirchen, Gemaͤhl-
de und Bildſaͤulen verſtehen, eingeſchraͤnkt,
und die genannten Gegenſtaͤnde unberuͤhrt
gelaſſen, nicht ſowohl, weil ihnen deren
Erwaͤhnung durchaus verboten war, als
vielmehr, weil ſie keine Kenntniß davon
hatten. Wenn aber Einheimiſche dieſe
große Luͤcke in der Kunde des geſammten
Italiens nicht ausfuͤllten, wie konnten es
Fremde, die nur durchreiſeten? Und man
kann Italien nach allen Seiten, von Tu-
rin nach Genua, und von Venedig nach
Rom und Neapel, durchreiſen, uͤberall
tappt man in den verſchiedenen Zwei-
gen der Staatskunde im Finſtern, und
man hoͤrt, bey aller Muͤhe, die man
ſich giebt, ſo wenig davon, als man daruͤ-
[9] ber lieſet. Nur Florenz iſt durch Leopolds
Fuͤrſorge bekannt geworden, und auch
Mayland kann ſich faſt, wie es iſt, dem
Lichte zeigen, weil es in neuern Zeiten ein-
ſichtsvolle Herren und treue Verwalter ge-
habt hat und noch hat.


Wer kann ferner ſagen, daß die Na-
turbeſchreibung
dieſes Landes erſchoͤpft
ſey? Ferber ſah zuerſt einen Theil der-
ſelben, die Mineralogie, mit denjenigen
Kenntniſſen an, die damals in Schweden
und Deutſchland von dieſer Wiſſenſchaft
in Umlauf waren; und er gab einzelne
ſchaͤtzbare Nachrichten davon. Einzeln wa-
ren und ſind jetzt immer noch die Berichte,
welche geborne Italiener, theils in eigenen
Werken, theils in den Verhandlungen ei-
niger ihrer gelehrten Geſellſchaften davon
mittheilen; und das neueſte naturhiſtoriſche
[10] Werk von Umfang, das Italien geliefert
hat, Spallanzani’s Reiſe nach den
beyden Sicilien
*), enthaͤlt auch
nur Beytraͤge, die uͤberdieß den gelehrtern
deutſchen Chemico-Mineralogen nicht in
allen Stuͤcken ein Genuͤgen leiſten werden.
Targioni Tozzetti behandelt nur Ein
Land und dazu eines der kleinſten; und die
aͤltern Schriftſteller des Veſuv und des
Aetna haben wohl die Erſcheinungen die-
ſer Berge erſchoͤpft, aber, aus Mangel
an chemiſchen Kenntniſſen, wenig zur
Aufklaͤrung ihrer Urſachen beygetragen.
Eben ſo verhaͤlt es ſich mehr oder we-
[11] niger mit den uͤbrigen Zweigen der Na-
turbeſchreibung.


Die Kenntniß der Bewoh-
ner
der einzelnen Laͤnder Italiens, ih-
rem hoͤchſt verſchiedenen, oͤkonomiſchen und
buͤrgerlichen Zuſtande, ihrem Charakter
und ihren Sitten nach, iſt vielleicht
noch am allerunvollſtaͤndigſten behandelt.
Kein Eingebohrner hat etwas Befriedi-
gendes daruͤber geſchrieben; denn Ba-
retti’s
kurze, einſeitige, vertheidigende
Bemerkungen daruͤber, koͤnnen nicht fuͤr
zuverlaͤſſig gelten. Was man uͤber dieſen
Gegenſtand in deutſchen, engliſchen und
franzoͤſiſchen Reiſebeſchreibern findet, iſt
theils unzulaͤnglich, theils trift es nur
den Poͤbel in den Staͤdten, theils ein
Volk, das ſie Italiener nennen, worunter
ſie die Piemonteſer, die Maylaͤnder, die
[12] Genueſer, die Venetianer, die Bologneſer,
die Florentiner, die Roͤmer, die Neapolita-
taner, Kalabrier und Sicilier ſammt und
ſonders begreifen, und die ſie als arm,
roh, diebiſch, betruͤgeriſch, faul, aberglaͤu-
biſch, meuchelmoͤrderiſch, unnatuͤrlich-wolluͤ-
ſtig, ſchmutzig und feig ſchildern.


Was endlich das Alterthum und die
Kunſt betrift, ſo ſcheinen dieſe Gegenſtaͤn-
de, auf den erſten Blick, wirklich erſchoͤpft
zu ſeyn; denn uͤber ſie iſt das meiſte — ge-
ſammlet und verhandelt worden. Allein,
wenn man die Schriften weniger philoſo-
phiſchen Alterthums- und Kunſtforſcher
ausnimmt, die uns mit neuen Reſul-
taten beſchenkt haben: ſo iſt alles uͤbrige,
in dieſen Faͤchern geleiſtete, faſt nichts,
als Namenverzeichniß, als nuͤchterne oder
dichteriſche Beſchreibung, als ſogenann-
[13] te gelehrte Unterſuchung und als uͤber-
lieferte, oft ungefuͤhlte, Bewunderung
der Kunſtwerke des Alterthums, und der
neuern Zeiten, die Ein ſogenannter For-
ſcher, Kunſtkenner und Reiſebeſchreiber dem
Andern nachgeſchrieben hat, oft ohne ſie
geſehen zu haben, oft ohne ſie zu kennen,
wenn er ſie, nach einer ſchon herausgege-
benen Abhandlung daruͤber, erſt ſahe.


Sind vorſtehende Bemerkungen uͤber
das, was wir von Italien in den erwaͤhn-
ten vier Hauptfaͤchern wiſſen, richtig; ſo
iſt, die Verhandlungen uͤber Italien auf
eine Weile zu ſchließen, eben ſo unnoͤthig,
als es unthunlich ſeyn wuͤrde; und ſo kann
uns immer noch jeder Beytrag zu jenen
Beytraͤgen willkommen ſeyn, bis da-
hin, wo einmal alle Quellen geoͤfnet,
alle Luͤcken gefuͤllt, alle Verwirrung geloͤst,
[14] alle Dunkelheiten aufgeklaͤrt, alle Gefuͤhle
beſtimmt und alle Urtheile uͤber Italien
und Italieniſche Dinge zur Feſtigkeit ge-
kommen ſeyn werden.


In Erwartung dieſes, noch etwas
weit hinaus zu ſetzenden, Zeitpunkts, bitte
ich Kunſtrichter und Leſer, die Reihe von
Beitraͤgen aller Art, die ſie in folgenden
Blaͤttern finden werden, nach ſo vielen an-
dern, noch ohne Unwillen aufzunehmen
und, wo moͤglich, auch zu leſen. Ich
kann ihnen dafuͤr mit Wahrheit verſprechen,
daß ſie uͤber manchen darin behandelten Ge-
genſtand mehr finden, und daß ſie, wenn
ſie nicht ganz neue Dinge antreffen, doch
andere Seiten an den alten bemerken ſol-
len, als ſie in den ſchon bekannten Reiſe-
beſchreibungen, deutſchen Urſchriften, wie
Ueberſetzungen, ſchon gefunden haben.
[15] Den Namen des geſammten Landes, ſei-
ner einzelnen Theile, ſeiner Staͤdte und
deren Merkwuͤrdigkeiten, habe ich leider!
nicht aͤndern koͤnnen, ſo ſehr ich es, vieler
Leſer wegen, haͤtte wuͤnſchen moͤgen, die
dieſe Namen ſo oft gehoͤret und geleſen ha-
ben, daß ſie endlich wohl glauben duͤrfen,
alles zu wiſſen, was daruͤber geſagt wer-
den koͤnne. Dieſe Leſerklaſſe bitte ich beſon-
ders bey dem Anblicke dieſes Buches um
Nachſicht, und, bey deſſen etwaniger Le-
ſung, um die ſtrengſte Vergleichung mit
meinen reiſebeſchreibenden Vorgaͤngern. Ich
will keinen derſelben uͤbertroffen, moͤchte
auch keinen derſelben ausgeſchrieben, aber
wohl hier und da manchen ergaͤnzt, erwei-
tert, und ſtillſchweigend berichtiget haben.


Uebrigens iſt auch in dieſer Schrift der
Menſch mein vorzuͤglichſtes Augenmerk ge-
[16] weſen; und ich bekenne gerne, daß ich mich
an ihm nicht ſatt ſehen kann, und daß ich
dieſen anlagereichen Queerkopf recht herzlich
liebe.


Mitau, den 1ſten May, 1796.


Erſter
[17]

Erſter Abſchnitt.


  • Abreiſe von Votzen. Weg und Gegend. Aeußeres der
    Landleute in dieſen Gegenden. Salurn. Deſſen alte
    Burg. Oedes Thal. Drohendes Gewitter in den
    Alpen. Wälſch-Michel. Schönheit und Fruchttrieb
    der dortigen Gegend. Trient. Einige Bemerkungen
    über dieſe Stadt. Noveredo. Eingeſperrter Weg
    bis dahin. Blühender Zuſtand dieſer Stadt. Zer-
    riſſene und zerſchmetterte Felſen, ein großes Natur-
    ſchauſpiel. Eintritt in Italien. Wahrnehmungen
    von den allmählichen Uebergängen in der Natur.
    Venetianiſcher Gränzzoll. Venetianiſche Flecken. Häu-
    ſer und Menſchen in Peri, nach der Natur gemalt.
    Venetianiſche Großmuth, durch die Regierung beför-
    dert. Heuſchreckenbrut auf den Poſten. Ende der
    Alpen. Erſter Blick in die Ebene. Bemerkungen
    über die zurückgelegte Reiſe durch die Alpen. Gränz-
    feſtung Chiuſa[.] Anbau der Lombardiſchen Felder.
    Landhaus. Verona. Flüchtiger Blick auf einen Ve-
    netianiſchen Soldaten. Vierfacher Ueberblick von
    Verona und deſſen umliegenden Gegenden. Feſtungs-
    werke. Kaſamatte delle Boccare, als Kunſtwerk
    ſehenswerth. Merkwürdige Brücke am Castel vec-
    Siebentes Heft. B
    [18]chio. Anſicht des Innern von Verona. Straßen.
    Pflaſter. Bürgerhäuſer. Palläſte und Häuſer des
    Adels. Oeffentliche Plätze. Der Herrenplatz. Der
    Kräuterplatz. Der Platz Bra. Das alte Amphi-
    theater. Was ein Laye darüber urtheilen könnte.
    Altes und neues Schöne. Das neue Hoſpital. Un-
    vollendeter Pallaſt des Proveditore. Gebäude der
    Philharmoniſchen Akademie und deren verſchiedene
    Inſtitute. Lapidariſches Muſeum. Akademie der
    Philotimi. Adeliches Kaſino. Großes Schauſpiel-
    haus. Ein Blick auf italieniſche — Natürlichkeit.
    Unbedeutende Alterthümer. Kirchen. Kapelle Pel-
    legrini. Uebergang auf die Einwohner.

Den 14ten September 1793, reis’te ich von
Botzen ab. Der Weg lief in Kruͤmmungen
bald nach Weſten, bald nach Suͤdweſten.
Mir zur Seite erhoben ſich rechts und links
Berge, die aber minder hoch, ſchroff und rauh
waren, als die jenſeits Botzen. Anſtatt der
Eiſach, hatte ich jetzt die Etſch, die jene
dieſſeits Botzen aufgenommen, zur Seite.
Die Thaͤler, durch die ich kam, dehn-
ten ſich mehr aus, oͤfneten ſich eines in das
andere, wie eine Reihe zuſammen hangender
[19] Becken, und zeigten den herrlichſten Fruchttrieb.
Maulbeerbaͤume, oder Obſtbaͤume, oder Mays,
umkraͤnzten ihre Raͤnder; Wieſen, die zum drit-
tenmal die Senſe erwarteten, gruͤnten in ihrer
Mitte. Die Berge zur Rechten waren unfrucht-
bar, die zur Linken nicht alle, denn an vielen
zogen ſich Pflanzungen von Weinreben hoch
hinan. Die zur Rechten liefen in Doppel-
reihen wellenfoͤrmig fort, (ungefaͤhr eben ſo,
nur weit ſtattlicher, als die Berge bey Wiene-
riſch-Neuſtadt) und die hinteren ragten uͤber
die vorderen amphitheatraliſch hervor. Man
koͤmmt auf dieſem Wege vor einer Menge von
kleinen Haͤuſern vorbey, die, niedriger oder
hoͤher, an dem Gehaͤnge der Berge gleichſam
ſchweben; und durch zwey maͤßige Flecken,
auf die ein dritter, Branſol, folgt, worin
ſich die naͤchſte Poſt (2 M.) befindet.


Es begegneten mir dieſen Morgen große
Zuͤge von Landleuten, die, in ihrem beſten
Putze, nach Botzen zum Jahrmarkte gingen.
Dieſer Putz hatte viel Abenteuerliches, und
B 2
[20] unterſchied ſich beſonders durch die ſchreyenden
Farben, die ohne alle Wahl, eine auf die an-
dere geladen waren, und durch allerley Baͤn-
derwerk, Einfaſſungen, bunte Naͤthe und Zwi-
ckel, von dem Anzuge der angraͤnzenden Kaͤrn-
thner, Krainer und Salzburger. Ich bemerk-
te unter dem bunten Getuͤmmel beſonders
vier Gattungen von Trachten: eine, fuͤr die
Maͤdchen und jungen Weiber; die andere, fuͤr
bejahrte Frauen; die dritte, fuͤr unverheura-
thete junge, die vierte, fuͤr verheurathete [aͤl-
tere]
Maͤnner und fuͤr Greiſe.


Die jungen Maͤdchen und Weiber erſchie-
nen entweder im bloßen Kopfe, das Haar in
Flechten geſchlagen, auf dem Wirbel in ein
Neſt gewunden und mit einer Neſtelnadel be-
feſtigt, oder in kleinen, runden, gruͤnen, auch
gelben, mit flatternden Baͤndern verzierten,
Huͤten, die ſie leicht auf jenen Kopfputz ge-
ſtuͤlpt hatten. Bruſt und Schultern waren ganz
bedeckt, theils durch den hohen und dicken Kra-
gen des Kamiſols, theils durch das ſteife Mie-
[21] der, das bis unter das Kinn hinauf ſtieg und
noch queervor durch einen Latz unuͤberwind-
licher gemacht wurde. Die Farben dieſer
Kleidungsſtuͤcke waren hochroth, hochgelb, hell-
gruͤn, himmelblau u. ſ. w. Im Ruͤcken des
Kamiſols, das einen ſehr kurzen und breiten
Leib hatte, liefen entweder dreyfache Nathbe-
ſetzungen von anderer Farbe, in der Geſtalt
eines Dreyecks, deſſen Grundlage zwiſchen den
Schultern war, zwiſchen die Huͤften herab;
oder ſie ſtiegen in einer doppelten Reihe von
dem Schnitt herauf und zogen ſich an beyden
Seiten unter den Armen herum. Ueber den
Huͤften endigte ſich das Kamiſol in vier duͤten-
artige Falten. Es war von Tuch, ſo wie die
vielfaltigen Roͤcke, die, wie Glocken, um den
Untertheil des Leibes bauſchten, und ein ſtaͤm-
miges Bein, mit rothen, blauen, gruͤnen, und
gelben Struͤmpfen bezogen, freygebig genug
ſehen ließen. Den Fuß bekleidete ein ſchwar-
zer lederner Schuh mit ſpitzen Abſaͤtzen und
bunten Bandſchleifen.


[22]

Die aͤlteren Frauen hatten eben dieſelben
Kamiſoͤler, Mieder, Laͤtze und Roͤcke, aber die
Zierrathen waren daran mehr geſpart, die Far-
ben, Schleifen und Schnuͤre minder lebhaft
und zahlreich, der Schnitt weniger zierlich,
der Koͤrper weniger eingerammelt. Statt des
bloßen Kopfes, oder des Hutes, trugen ſie ei-
ne baumwollene Zottelmuͤtze, in Geſtalt der al-
ten Stutzperuͤcken, die den Kopf mit Stirn
und Nacken ganz bedeckte und einen abſcheuli-
chen Anblick giebt, zu der aber im Winter auch
die juͤngern Weiber und Maͤdchen zu greifen
pflegen.


Der Anzug der jungen Maͤnner war un-
gleich vortheilhafter, als der weibliche, und
verbeſſerte den Wuchs in eben dem Grade, als
ihn jener verſchlimmerte. Ich zeichne hier ei-
nen jungen Kerl, der zur feineren Gattung
gehoͤrte, genau ſo, wie er mir begegnete. Er
war groß und ohne Tadel gewachſen. Eine
hellrothe Jacke, die weit kuͤrzer und ſchmaler
geſchnitten war, als alle uͤbrige, die ich ſah,
[23] hing ihm ungezwungen uͤber den Schultern, und
war mit eng an einander geſetzten, ſilbernen
Knoͤpfen verzieret. Darunter trug er ein ſtroh-
farbenes Leibchen, mit hellblauen Knopfloͤchern
und glatten Knoͤpfchen von blaßgelbem Bern-
ſtein. Die Beinkleider waren ſchwarzledern, wie
an die Schenkel gegoſſen, mit gelber Naͤtherey
am Latze, an den Knopfloͤchern und an den
Guͤrteln, die ſich an der Seite in gelbe Qua-
ſten endigten. Die Struͤmpfe waren von fei-
ner, hellrother Wolle, und hatten gelbe Zwi-
ckel; die Schuh waren wie Pantoffel gemacht
und mit gelben Schleifen zugebunden. Sein
runder Hut war gruͤn, und hatte vorne eine
maͤchtige, gruͤne, flatternde Bandſchleife. Das
ſchwarze Haar hatte er vorne in die Stirn
gekaͤmmt, und im Nacken ſauber verſchnitten.
So trug er ein Geſicht, worauf die Geſund-
heit gluͤhete, zwiſchen drey oder vier ſeiner
Landsmaͤnninnen einher, und er war, ſeine
Bluͤthe und Kraft ihm vorbehalten, in ſeiner
[24] Art kein kleinerer Stutzer, als die in den gro-
ßen Staͤdten.


Die aͤlteren Maͤnner waren weder ſo bunt,
noch ſo leicht gekleidet. Sie hatten uͤber ihre
Jacken noch weite Kamiſoͤler gezogen, die bis
in die Kniekehle reichten, einen ſehr breiten
Schnitt, weite Schoͤße und Aufſchlaͤge von an-
derem Tuch, auch auf den Naͤthen und um die
Knopfloͤcher, Schnuͤre oder Baͤndereinfaſſungen
hatten. Ihre Beinkleider waren mit Traͤgern
verſehen, ihre Huͤte groͤßer und mit ſchma-
len Schleifen verziert; die Schuh waren mit
ſchwarzen Baͤndern zugebunden. Ihre Strumpf-
baͤnder, von allerley Farben, meiſt aber roth
oder gruͤn, waren unter dem Knie uͤber blauen,
rothen und gruͤnen Struͤmpfen befeſtigt.


Uebrigens nahm das Aeußere dieſer Men-
ſchen fuͤr ſie ein. Sie waren ſehr hoͤflich,
aber nicht kriechend; offen und zutraulich,
aber nicht zudringlich; ſonſt von einem vier-
ſchroͤtigen, ſtarken Schlage.


[25]

Von Branſol aus bleiben Weg und Gegend
wie auf dem vorigen Poſtlaufe. Das Thal
verengert und erweitert ſich wechſelsweiſe, und
die Becken, die es im letztern Falle bildet, ſind
immer noch fruchtbar und reizend. Maulbeer-
und Obſtbaͤume, Mayspflanzungen und Wie-
ſen verfolgen den Reiſenden auf beyden Sei-
ten, und es dauert bis zu dem Poſtflecken
Neumarkt (2 M.) und von da bis zu einem
aͤhnlichen Flecken, Salurn, (2 M.) auf dieſe
Art fort.


Von Salurn aus wurde die Gegend, auf
eine ziemliche Strecke, wieder wilder und ſtel-
lenweiſe ſogar fuͤrchterlich. Am Ausgange han-
gen einem ſchroffe Kalkfelſen entgegen, die von
oben herab, bis zu ihrer Wurzel, zum Theil
geborſten, zum Theil in ungeheuere Steinſtroͤ-
me zerbroͤckelt ſind: dennoch hat hier der Un-
ternehmungsgeiſt der mittleren Zeiten, auf ei-
nem kleineren Felſen, der nur durch Ver-
ſchwemmung und Erſchuͤtterung von den groͤ-
ßeren abgeriſſen iſt, eine Burg, und zwar mit
[26] ſolcher Keckheit angebracht, daß deren Grund-
mauer gleich ſo ſenkrecht empor ſteigt, wie der
Felſen ſelbſt, daß man mithin vor deſſen Ver-
witterung gar nicht beſorgt geweſen ſcheint;
und doch war dieſe Burg, wie es von unten
herauf das Anſehen hat, nicht unuͤberwindlich,
weil man ſie, von den heruͤber ragenden Berg-
ſpitzen her, mit etwas Mechanick, unter Fel-
ſenſtuͤcken begraben und die Belagerten mit
Steinen haͤtte zerſchmettern koͤnnen. Sie iſt
uͤbrigens ſeit lange nicht mehr bewohnt, und
zwar wie ein uralter deutſcher Reiſebeſchreiber,
Herr Johann Wilhelm Neumair von
Ramßla
, ſagt: „wegen der Geſpenſt,
ſo ſich darin aufhalten ſollen
.“


Das Thal, welches hier auf beyden Seiten
von unwirthbaren Felſen eingeſchloſſen, und
von der Etſch durchſtroͤmt wird, giebt eine oͤde,
arme Anſicht. Es iſt ſtreckenweiſe ſumpfig,
und ſtreckenweiſe von dem Strome ſo aufgeriſ-
ſen, daß der Boden kein Graͤschen zeigt, ſon-
dern nichts, als Stein und Stein, zwiſchen
[27] denen an der linken Seite ein ausgetretenes,
gruͤngelbes Waſſer ſtauet und ſtockt. Armſeli-
ge Huͤtchen ſtehen einzeln, auf dieſem undankba-
ren Boden und preſſen dem Reiſenden die trau-
rige Frage ab, wie und womit ihre Bewohner
ein duͤrftiges Leben friſten moͤgen?


Als ich von Salurn abreis’te hingen ſchwar-
ze Wolken in den Alpen, durch die mein Weg
fuͤhrte. Man rieth mir, das drohende Wetter
erſt abzuwarten, weil der Donner in jenen
Schluͤchten fuͤrchterlich, der Blitz zerſtoͤrend,
und der Regen ſelten etwas anderes, als ein
Wolkenbruch ſey, der, wie der Blitz mit ſei-
nem Strahle, ſo mit ſeinen Stroͤmen, große
Felſenſtuͤcke in die Thaͤler herabzuwaͤlzen pflege.
Dieſe Warnung war wohlgemeynt, auch mir
nicht gleichguͤltig geweſen; eine Erſcheinung
aber, wie dieſe, war mir auf einem ſolchen
Lokale noch nicht vorgekommen, hatte ich mir,
ihrer Groͤße und Furchtbarkeit nach, als ein-
zig gedacht, und ſo oft zu erleben gewuͤnſcht,
daß ich, freylich nicht ohne ein lebhaftes Ge-
[28] fuͤhl von Aengſtlichkeit, auf meinen Kopf be-
ſtanden und der zu fuͤrchtenden Gefahr entge-
gen geeilt war.


Indem ich um einen vorſtehenden Felſen
in das wuͤſte Thal hinein fuhr, das ich vor-
hin beſchrieben habe, flog mir eine dicke, zu-
ſammen gepreßte, ſchwuͤle Luft entgegen, und
ließ mich einige Augenblicke in der phyſiſchen
und moraliſchen Bewegung, worein ſie mich
verſetzt hatte; auf einmal folgte ihr ein ra-
ſcher, kuͤhlender Wind; ein entfernter Donner
ließ ſich hoͤren, und einige hoͤchſt feine, gleich-
ſam diamantene, Blitze, beſchnoͤrkelten raſch
hinter einander den ſchwarzen Hintergrund.
Einzelne große Regentropfen, anſtatt eines
Wolkenbruchs, fuhren mir auf Geſicht und
Haͤnde. Mit einem Worte, das Wetter blieb
in einer entfernten Alpengruppe hangen und
tobte dort aus. Wenn ich ſonach das Unge-
witter ſelbſt nicht in der Naͤhe ſah, ſo hatte
ich dafuͤr bald nachher eine andre Erſcheinung
unmittelbar uͤber meinem Haupte, die mir
[29] nicht weniger neu, aber zugleich im hoͤchſten
Grade angenehm war. Jener Windſtoß hatte
die Wetterwolken aus einander geriſſen und
ſie gruppenweiſe in die Schluchten und Zwi-
ſchenraͤume der Berge gejagt, aus denen er ſie
nicht wieder vertreiben konnte. Bald nachher
legte er ſich. Die Wolken ſchnellten wieder
aus. Sie uͤberzogen terraſſenmaͤßig die Gipfel
der Felſen, arbeiteten wurmfoͤrmig in ſich ſelbſt,
und Stuͤck vor Stuͤck riß ſich los, hob ſich
langſam bis zur Spitze des Felſens empor
und ſtieg ſodann, unendlich verduͤnnt, wie ein
Nebel oder Dunſt, uͤber denſelben hinaus, in
den großen allgemeinen Luftſtrom. Jetzt blickte
die Sonne wieder hervor und verwandelte das
Ganze in ein gold- und ſilberfarbiges, mehr
oder weniger durchſichtiges, Flockengewebe,
das, in mancherley Geſtalten, beſonders aber
in wellenartigen Zuͤgen und Streifen, die aͤu-
ßerſten Spitzen der Felſen umwebte und all-
maͤhlig, je mehr es dem Zuge der aͤußeren Luft
wieder ausgeſetzt wurde, in den abgeklaͤrten
[30] Horizont verſchwand, ohne dem Auge eine
Spur des vorigen Schreckens zuruͤck zu laſſen.


Die kahle Anſicht des Thales verwandelte
ſich, nach Verlauf von einer Stunde, in eine
mehr fruchtbare, und weiterhin allmaͤhlig in
eine wahrhaft angenehme und lachende. Be-
ſonders war dieß der Fall vor Waͤlſch-Mi-
chel
, einem ganz artigen Flecken, auf welchen,
von einem hohen Felſen, ein ſtattliches Augu-
ſtinerkloſter herabſieht. Das Thal dehnte ſich
hier in ein Becken, wie das um Botzen, aus,
und war mit allen Gaben der mildeſten Na-
tur ausgeſtattet. Weinſtoͤcke bedeckten den Ab-
hang der Berge, und unter ihren Blaͤttern
ſahen die ſchwarzen, angeſchwollenen Beeren
in maͤchtigen Trauben hervor. Pfirſchenbaͤu-
me, mit herrlichen Fruͤchten belaſtet, draͤngten
ſich mitten unter ihnen, und der niedliche Ty-
roler Apfel zitterte in ſeinem matten Golde
an der Spitze zarter Zweige. Mays, mit
dichten gelben Kronen, die ein Stamm von
ſechs Schuh uͤber den laͤngſten Mann empor-
[31] hielt, und Maulbeerbaͤume, die in der ganzen
Schoͤnheit ihres muͤtterlichen Bodens prang-
ten, ſtanden mir wechſelsweiſe zur Seite,
waͤhrend unter mir ein lebhafter Fluß rauſchte,
der bluͤhende Wieſen waͤſſerte, und um mich
her maͤchtige Gebuͤrge roͤthlichſchillernden Mar-
mors eines uͤber das andere emporſtiegen. Ein
paar Flecken, mit heitern und geſunden Men-
ſchen bevoͤlkert, verliehen dieſer ſchoͤnen Land-
ſchaft vollends Intereſſe und belebten ſie.


So dauerte Gegend und Weg bis Lavis
(3 M.) einem gut gebaueten Flecken, fort[.]
Von da faͤhrt man auf einer ſchnurgeraden,
wie geſtampften, Straße, zwiſchen Weingaͤr-
ten, die mit Maulbeerbaͤumen eingefaßt ſind,
weiter. Die Rebe hat ſich an dem Baum
hinaufgewunden, und dieſer laͤßt die Traube
als ſeine eigene Frucht herabhangen. Oefnen
ſich endlich dieſe gruͤnen Verſchlingungen, ſo
hat man die Etſch wieder vor ſich, und an
ihrem linken Ufer das alte Trento (2 M.)
deſſen ſchwarze Daͤcher und Thuͤrme ſich an
[32] derſelben amphitheatraliſch erheben und auf
der einen Seite das ganze Thal dergeſtalt
verriegeln, daß es ſcheint, als ob man nur zu
Waſſer auf der andern Seite weiter kommen
koͤnnte.


Das Innere der Stadt nimmt ſich nicht
ganz ſo alt aus, als das Aeußere. Die
Straßen ſind zwar nicht gerade, aber meiſt
geraͤumig. Um den unregelmaͤßigen Markt
her, iſt faſt Gewoͤlbe an Gewoͤlbe, die
von außen und innen mit einem Ueberfluß
von Waaren aller Art verſehen ſind; ſo wie
der Markt ſelbſt reichlich mit ſchoͤnem Obſt
und andern Lebensmitteln beſetzt iſt. Die
Bauart hat Aehnliches von der Botzener. Die
Haͤuſer ſind ſehr gruͤndlich von roͤthlichem
Marmor aufgefuͤhrt, zwiſchen zwey und drey
Stock hoch, und mit Lauben, mit Balkons,
und Altanen verſehen. Auch ſind viele durch
Saͤulen geſtuͤtzt, die zum Theil hoͤlzerne Ga-
lerien tragen, welche die Stadt in der That
nicht zieren. Einzeln ſteht manches neuere
Buͤr-
[33] Buͤrgerhaus und mancher gute Privatpallaſt
in den verſchiedenen Gegenden der Stadt,
und die Kirchen fallen meiſt alle gut in die
Augen, ſind zum Theil ganz von Marmor-
quadern aufgefuͤhrt, und fuͤr den Geſchmack,
worin man ſie anlegte, immer merkwuͤrdig.
So iſt der Dom gothiſch genug, aber von
Marmor und nicht unangenehm. Er beſitzt
einen praͤchtigen Hochaltar, ein beruͤhmtes
Kreuzbild, das zu reden — laͤngſt aufgehoͤrt
hat, und eine Kapelle, die Lotti malte, deſ-
ſen Werke aber durch die Zeit faſt unkenntlich
geworden ſind. S. Maria Maggiore iſt eben-
falls ganz von Marmor, uͤbrigens nicht von
Umfang. Hier wird die Darſtellung der be-
ruͤhmten Tridentiniſchen Kirchenverſammlung
aufbewahrt, die freylich ſo ausgefallen iſt, als
gemalte Sitzungen, die aus Hunderten von
Koͤpfen und Bruſtbildern beſtehen, auf einem
kleinen Raume ausfallen koͤnnen: unbeſtimmt,
ſteif und wie eine Apotheke angeordnet. Der
Kuͤſter kannte indeſſen alle die merkwuͤrdigern
Siebentes Heft. C
[34] geiſtlichen Herren darunter, und nannte mir
ſehr fertig die Namen derer, die waͤhrend der
Dauer jener Verſammlung in Trient geſtor-
ben ſind. Die uͤbrigen Gemaͤlde in dieſer
Kirche fand ich nicht minder matt und geiſt-
los. Niedlich iſt die ehemalige Kirche der
Jeſuiten, wie faſt alles, was ſie gebauet ha-
ben. Das biſchoͤfliche Schloß iſt altmodiſch
und Kloſterartig. Die Peterskirche und das
Rathhaus ſieht man auch wohl, wenn in ei-
ner Stadt nicht viel zu ſehen iſt. Ich wenig-
ſtens hatte die Merkwuͤrdigkeiten von Trient
in weniger als zwey Stunden gemuſtert.


An den Einwohnern bemerkte ich nur
noch entfernte Spuren von deutſcher Art, und
die deutſche Sprache ſchien ganz verſchwun-
den. Das Italieniſche, das ich an ein paar
oͤffentlichen Oertern hoͤrte, klang rauh genug,
und wurde in Venetianiſcher gemeiner Mund-
art geſprochen. Die Kaffeehaͤuſer waren
ſchon nach italieniſcher Sitte eingerichtet,
d. i. ohne Billard, mehr wie die deutſchen
[35] Schweizerladen. Die Gaͤſte hatten ganz das
Anſehen, als ob ſie den langen Tag hindurch
bald davor, bald darin geſeſſen und auf jede
Weiſe lange Weile gehabt haͤtten. Als das
Ave Maria gelaͤutet wurde, ſetzten ſie das
eine Knie auf die Baͤnke und Stuͤhle, nah-
men den Hut herunter und fluͤſterten ein paar
dahin gehoͤrige Worte. Sodann klapperten
die Steine auf dem Damenbrete wie vorher,
und die Unbeſchaͤftigten gaͤhnten dazwiſchen.


Meine eigene Fahrlaͤſſigkeit war Schuld
daran geweſen, daß mich mein Poſtknecht in
einen Gaſthof, wo es ihm ſehr gefiel, hatte
fahren duͤrfen. In der That, es waͤre eine
Schande fuͤr dieſe beruͤhmte alte Stadt, wenn
ſie nur Einen und nur Solchen Gaſthof be-
ſaͤße, als der meinige war. Ich muͤßte mich
ſehr irren, wenn nicht ſchon ein Mitglied je-
ner Kirchenverſammlung in dem Zimmer, das
mir zu Theil wurde, gewohnt haben ſollte;
wenigſtens deutete die Taͤfeley, womit daſſelbe
geziert war, auf zwey Jahrhunderte und dar-
C 2
[36] uͤber. Mein Abendeſſen war zum erſtenmal ganz
Italieniſch von der geringeren Art. Harter
Reis, mit einer zerkochten Taube, grobe Ma-
karoni, gebratene Leber, ein Schnitt Bisquit
und zwey kleine Aepfel, in Begleitung einer
Flaſche rothen trientiner Weins, zum Er-
ſchrecken fuͤr Jeden, der ihn nicht wie Waſſer
trinkt — waren die Zuthaten. In einem
Bette, fuͤr eine ganze Geſellſchaft groß genug,
ſchlief ich — vortreflich. Ueberſetzt wurde ich
den andern Morgen nach Gebuͤhr, denn der
Wirth, der den Tag vorher mein „Cicerone“
geweſen war, hatte die Großmuth gehabt,
dafuͤr nichts von mir zu nehmen.


Uebrigens erreicht die Bevoͤlkerung von
Trient die von Botzen nicht. Die Stadt hat
nicht den Handel und nicht die Erzeugniſſe.
Letztere ſind beſonders Wein und Oehl, die in
ihrem Gebiete von einem ſtarken, ausgezeich-
net gutmuͤthigen, Volke gebauet werden.
Trient iſt keine Handels- und keine Manu-
faktur-, ſondern eine Geiſtlich-Adeliche Stadt,
[37] deren leere Kirchen, und fuͤr ihre Bewohner
zu große Kloͤſter und Pallaͤſte, ſchon eine mit-
telmaͤßige Volksmenge andeuten. Man gab
mir letztere zu Eilftauſend an, und ſelbſt dieſe
Zahl ſchien mir zu hoch angeſetzt.


Die naͤchſte Poſt iſt nicht mehr „Acqua-
viva“
, wie die Poſtbuͤcher melden, ſondern
Messina (2 M.), ein einzeln ſtehendes Haus.
Der Weg von Trient bis dahin, und deſſen
Umgebungen, ſind bey weitem nicht ſo ange-
nehm, als vorher. Man faͤhrt naͤmlich zwi-
ſchen hohen Mauern, welche an beyden Sei-
ten Weingaͤrten einſchließen und zugleich die
Ausſicht verſperren, wie in einem wahren
Hohlwege und, des Staubes halber, faſt aͤr-
ger noch. Die Berge dauern wie vorher
fort, und die Fruchtbarkeit des Thals bleibt
ſich gleich. Letzteres erweitert ſich merklich,
der Fluß wird breiter und, was man aus die-
ſen beyden Umſtaͤnden von ſelbſt ſchließen wird,
auch die Berge ſenken ſich allmaͤhlig, und der
Hintergrund zeigt kein ſo mannichfaches Ge-
[38] draͤnge von Klippen mehr; mit einem Worte,
man merkt deutlich, daß man nicht in ein
großes Gebuͤrge hinein, ſondern aus einem
ſolchen hinaus faͤhrt, und ſich einer Ebene naͤ-
hert. Doch geht es ſo ſchnell damit nicht,
weil die Natur die Spruͤnge nicht liebt. Zwi-
ſchen Meſſina und Roveredo, der naͤchſten
Poſt (2 M.), hat ſie Stellenweiſe wieder
Ruͤckfaͤlle, und es thuͤrmen ſich abermals Stein-
maſſen an den Seiten engerer Thaͤler auf,
die den vorigen nichts nachgeben; hat man
ſie aber im Ruͤcken, ſo wird der Abfall bald
wieder deſto merkbarer.


Der Weg, der unmittelbar nach Rove-
redo
(Rovereit) hinein fuͤhrt, hat wiederum
die Unbequemlichkeit, daß man zwiſchen Gar-
tenmauern eng eingeſchloſſen iſt, und nur die
kahlen Felſenkoppen uͤber ſeinem Haupte ſieht,
ohne ſich dafuͤr an den Herrlichkeiten des
Thals ſchadlos halten zu koͤnnen. Aus dieſer
Urſache ſieht man auch Roveredo nicht eher,
als bis man dicht davor iſt; ungeachtet dieſe
[39] Stadt, bey einem zwar nicht betraͤchtlichen
Umfange, doch anſehnliche Haͤuſer, Privat-
pallaͤſte *) und Kirchen hat. Gleich beym
Eintritt in dieſelbe uͤberraſchte mich ein an-
genehmer Anblick, den ich mir auf dieſer Reiſe
noch oft zu haben verſpreche: der Anblick ei-
nes ganz neuen Pallaſtes, der, mit einer rei-
zenden Einfalt und in den ſchoͤnſten Verhaͤlt-
niſſen, ſo eben aus den Haͤnden des Baumei-
[40] ſters hervor gegangen und noch nicht einmal
mit Hausgeraͤth verſehen war. Ich bekenne
gern, nichts aͤhnliches an Leichtigkeit in der
Zeichnung, an anſpruchsloſer Eleganz in der
Verzierung, und an Sorgfalt in der mecha-
niſchen Ausfuͤhrung des Maurers, des Zim-
mermanns und des Gypsarbeiters, geſehen
zu haben.


Ich wuͤrde aber getaͤuſcht worden ſeyn,
wenn ich dies Gebaͤude fuͤr das Muſter der
allgemeinen Bauart von Roveredo genommen
haͤtte. Man hat es kaum hinter ſich, ſo ſieht
man ſich zwiſchen ſchwarzen, altmodiſchen,
drey- und vierſtoͤckigen Haͤuſern, in einer en-
gen Straße, die das Bild der meiſten uͤbrigen
iſt, eingeſchloſſen, und dem Auge wird nur
noch hier und da durch einzelne gute Werke
der Baukunſt Genuß geboten. Dafuͤr hat
man aber den Anblick einer lebhaften Volks-
menge, die auf den Straßen und in den Haͤu-
ſern geſchaͤftig, und freylich wohl eben ſo viel
werth iſt, als die ſchoͤne Vorderſeite eines
[41]„Palazzo“. Ein thaͤtiger Handel und eine
mannigfaltige Gewerbſamkeit, die ihre Ge-
ſchaͤfte und Arbeiten mit Seide, Tabak,
Baumwollenwaaren, Haͤuten, geſalzenen Le-
bensmitteln und andern Artikeln, ununterbro-
chen forttreiben, haben dieſe kleine Stadt in
noch nicht hundert Jahren faſt um mehr als
die Haͤlfte volkreicher gemacht; denn die
Zahl ihrer Einwohner, die zu Anfange dieſes
Jahrhunderts gegen acht tauſend war, iſt ſeit
jener Zeit uͤber achtzehn tauſend geſtiegen.


Dieſer Anwachs iſt freylich nicht aus dem
urſpruͤnglichen Stamme der Einwohner her-
vorgeſchoſſen. Es ſind meiſt lauter fremde
Handelsleute und Manufakturiſten, Deutſche,
Schweizer und Italiener, die ſich ſeit unge-
faͤhr hundert und funfzig Jahren hier nieder-
ließen, und die Stadt und ihre Geſchaͤfte im-
mer lebhafter machten. Dieſe Anſiedelung
wurde beſonders dadurch mit befoͤrdert, daß
Maximilian der Erſte, dem ſich dieſe
Stadt zu Anfange des Sechzehnten Jahrhun-
[42] derts freywillig unterwarf, derſelben eine Zoll-
freyheit fuͤr alle Waaren, die ſie einfuͤhrte
und brauchte, und zugleich die freye Wahl ih-
rer eigenen Obrigkeit zugeſtand.


Die Seidenwaaren von Roveredo ſind
wegen ihrer Gruͤndlichkeit und ihrer ſchoͤnen
Farbe geſchaͤtzt und geſucht. Die letztere Voll-
kommenheit ſchreibt man der Wirkung des
Waſſers aus dem Fluͤßchen Leno zu, das ſich
hier in die Etſch ergießt.


Die Seide beſchaͤftigt faſt alle junge und
alte Haͤnde der Buͤrger in den untern Ge-
ſchoſſen und in den kleinern Haͤuſern der
Stadt; aber nicht bloß ſie, ſondern ihr gan-
zes Gebiet, verbeſſert durch dieſe Beſchaͤfti-
gung die Natur, die hier in Abſicht der erſten
Beduͤrfniſſe karg geweſen iſt.


Da ein Theil der Bewohner von Rove-
redo aus Guͤterbeſitzern und Rentnern vom
Adel und vom Buͤrgerſtande beſteht, ſo bildet
ſich mitten unter dem groͤßeren Haufen der
handelnden und arbeitenden Klaſſen ein innerer
[43] Kreis, der, aus den gewoͤhnlichen Bewegungs-
gruͤnden, ſich mit den Kuͤnſten und Wiſſen-
ſchaften abgiebt und immer ſchon abgab; und
aus deſſen Schooße die Denkmale der beſſern
Baukunſt und anderer Kuͤnſte, die man in
Roveredo ſieht, und die Namen, die man in
der Gelehrten-Geſchichte dieſer Stadt nennt,
hervor gegangen ſind. Die hieſige Akademie
der „Agiati“ wurde von dem Ritter Van-
netti
und ſeiner Gemahlin, Laura Sai-
banti
, geſtiftet, und von Maria There-
ſia
, im Jahre 1750, beſtaͤtigt. Sie zaͤhlte
gelehrte, einheimiſche und fremde, Mitglieder,
doch deren mehr bey ihrem Anfange, als in
der Folge der Zeit.


Uebrigens iſt das Becken, worin Roveredo
liegt, angenehm. Um die Stadt her iſt Wein-
garten an Weingarten, die, wie wir ſchon ge-
wohnt ſind, auch ſchoͤne Fruͤchte hervorbrin-
gen. Deutſch hoͤrt man wenig, doch wieder
mehr als in Trient. Die Speiſen, der Haus-
rath, die Kleidung, das Benehmen und die
[44] Gemuͤthsart der oberen und niederen Klaſſen
ſind ſchon ganz italieniſch.


Den andern Tag (den 17. Sept.) fuhr ich
von Roveredo ab. Man bleibt abermals,
waͤhrend einer Strecke, zwiſchen Gartenmauern
eingeſchloſſen. Koͤmmt man aber ins Freye,
ſo wird man ſogleich von einem jener Schau-
ſpiele uͤberraſcht, welche die Natur zuweilen
in einer Anwandlung von Laune giebt, und
die uns ſo groß, ſo erhaben ſcheinen, ihr aber
ſo wenig koſten moͤgen. Man ſieht eine ſtar-
rende, unfruchtbare Felſenrinde vor ſich ausge-
breitet, welche die deutlichſten Zeichen traͤgt,
daß ſie vormals in hochgewoͤlbter Geſtalt auf
dieſem Platze geſtanden habe, durch irgend
eine Kraft aber in ihren Grundfeſten erſchuͤt-
tert und ausgedehnt, und ſo von oben herab
in ſich ſelbſt zuſammen geſunken und faſt zur
Flaͤche geworden ſey. Sie zieht ſich rechts
bis zu der Etſch herab und iſt links eine maͤ-
ßige Anhoͤhe geblieben, deren Schichten, durch
die erwaͤhnte Kraft, langſam gehoben und auf
[45] die Seite gelehnt ſind, aber unzerriſſen und
dicht auf einander gepreßt, wie eine ungeheure
graue Moſaik, da liegen. Der Weg laͤuft am
Abhange hin, und nichts erquickt das Auge
auf dieſer todten Kruſte.


Daß dieſe Kruſte nur durch die letzte
Schwingung einer großen Kraft ihre Bildung
erhielt, zeigt ſich da, wo ſie aufhoͤrt, ganz
deutlich. Denn wenn ſie der Ueberreſt Eines
bloß zuſammen geſunkenen Felſen iſt, ſo ſteht
man nun vor den Truͤmmern um und um ge-
kehrter, aus ihren Wurzeln geriſſener, von ih-
rem Standplatz hinweg geſchleuderter Alpen.
Felſenbloͤcke, Hunderte von Zentnern ſchwer,
liegen hier wie Kieſel verſtreuet, die Anhoͤhe
hinan, das Thal herab. Unordentlich erſchei-
nen ſie bald auf einander gethuͤrmt, bald ne-
ben einander gelagert, bald einzeln auf ihren
ſcharfen Ecken empor gerichtet. Um, zwiſchen
und neben ihnen ſieht man gleichſam Guͤſſe
von kleinern Steinen, die theils die Kluͤfte
ausfuͤllen, theils die Flaͤche uͤberſchwemmen.
[46] Kein Baum, keine Staude — was ſage ich?
kein Grashalm zeigt ſich hier, weil er kein
Wurzelfaͤdchen ausrecken konnte.


Durch dieſe Verwuͤſtung faͤhrt man uͤber
eine halbe Stunde fort, und man iſt, bei der
Menge von Betrachtungen, die ſich einem dar-
bieten, wie betaͤubt. Auf einmal ſieht man
ſich vor einem neuen Meere von Steinen, die
an Groͤße alle vorigen uͤbertreffen. So weit
dem Auge zu blicken geſtattet iſt, erſcheinen
Anhoͤhe und Thal mit dieſen, wild durch ein-
ander geworfenen, in einander geruͤttelten, auf
einander gethuͤrmten, uͤber einander ſchweben-
den, ungeheuren Felſenklumpen, fuͤr die der
Zentner ein Kindergewicht iſt, beſtreuet und
uͤberſchuͤttet. Bald ſind ſie eckigt, bald abge-
rundet, bald flach, bald keilfoͤrmig; nie haben
ſie die Lage, die ihre Schwere ſich gegeben
haben wuͤrde; ſie waren, als ſie ſtuͤrzten, in
Reibung mit tauſend andern die zugleich ſtuͤrz-
ten, und arbeiteten im Gegendrucke von tau-
ſend andern als ſie ſich lagerten. Man ſieht
[47] ungeheure Bloͤcke gegen einander ſtrebend da
ſtehen, deren keiner zum Liegen gekommen iſt,
und auf ihren Haͤuptern ruhen kleinere, denen
ſie zu Traͤgern dienen. Wiederum liegt auf
einem kleineren eine ungeheure Wacke, die ihn
in den Boden gedruͤckt hat. Dort ſtehen die
einzelnen Theile einer ganzen herausgetriebe-
nen und umgekehrten Schicht hinter einander
wie Borſten; hier iſt die Koppe einer ganzen
Klippe wie ein verkehrter Kegel aufgepflanzt.
So ſieht man die ſeltſamſten Gruppen um
ſich her gelagert und ſo lange feſtgeſtellt, bis
eine neue Kraft ſie von neuem wie einen Sack
voll Tonkugeln aufruͤtteln und anders wohin
aus einander ſchnellen wird.


Sehr anziehend wurde mir dies Feld der
Verwuͤſtung dadurch, daß es doch einige Stel-
len zeigte, die ſich entweder gebildet oder er-
halten hatten, und durch ein ſparſames Gruͤn
Auge und Herz wieder erquickten. Bald wa-
ren es zwei Schritt Flaͤche, mit Grashalmen
bekleidet und mit ein paar Baͤumchen beſetzt;
[48] bald war es ein Keſſel von betraͤchtlicherem
Umfange, der in ſeiner Tiefe Waſſer enthielt
und rund herum an ſeinem Abhange Maulbeer-
oder Weidenbaͤume naͤhrte, die, fuͤr ihre be-
druͤckte Lage, muthig genug gruͤnten; bald
waren es Truͤmmer ehemaliger Terraſſen, auf
denen Weinſtoͤcke in einer aͤrmlichen Geſtalt
herum krochen; bald ein paar maͤchtige Stein-
kloͤtze, deren Oberflaͤche Zeit und Wetter zu
erweichen anfingen und in deren verwitterten
Theilen feine Mooſe ſich anzuſiedeln wagten.
Dieſe Zeichen von der unermuͤdlichen Guther-
zigkeit der Natur, die den Tod ſelbſt zur Ge-
burt und die Faͤulniß zur Bluͤthe macht, be-
wegten mich wunderbar und beſchaͤftigten mich
ſehr angenehm bey meiner Durchfahrt durch
dieſe Steinhaufen, die uͤbrigens keine Spur
von Feuer zeigen, mithin wohl die Kinder ei-
nes Erdbebens ſeyn moͤgen.


Nach einer betraͤchtlichen Strecke wird der
Weg beſſer, die Berge ſtehen wieder aufrecht,
das Thal wird wieder fruchtbar und iſt ent-
weder
[49] weder mit Maulbeerbaͤumen oder mit Wein
bepflanzt, oder mit gruͤnenden Wieſen uͤber-
zogen. Man ſchoͤpft freyern Athem, und es
wird einem um ſo behaglicher, da ſich die
Berge immer mehr abſenken und das Thal
ſich merklich erweitert. So erreicht man die
naͤchſte Poſt, Ala oder Hall (3 M.), eine
zwar kleine, aber lebhafte und wohlgebauete
Stadt, die durch ein in der Naͤhe befind-
liches, ergiebiges Salzwerk bekannt und die
letzte im oͤſterreichiſchen Gebiet iſt. Nach ei-
ner halbſtuͤndigen Fahrt befindet man ſich vor
der kaiſerlichen Graͤnzmaut, wo man ſeinen
Paß vorzeigt und dem Zollbeamten verſichert,
daß man nichts Mautbares fuͤhrt, ſodann ei-
nen Schlag zufahren laͤßt und jenſeit der
Graͤnze iſt.


Man ſieht ſich nun in Italien, und nichts
veraͤndert ſich, und doch iſt alles anders als
in Deutſchland. — Dieſe Erſcheinung hat
man den allmaͤhligen Uebergaͤngen zu danken,
welche die Natur uͤberall ſo gern anbringt.
Siebentes Heft. D
[50] Koͤnnte man aus der Gegend von Berlin mit
Einem Sprunge in die Gegend von Verona
gelangen, ſo waͤre einem Alles neu; da man
aber uͤber Wien oder Augsburg allmaͤhlig nach
Italien hinein faͤhrt, ſo muß man ſich von
der Natur darauf vorbereiten laſſen.


In Wien ſieht man ſchon eine Menge
Italiener, vom veroneſiſchen Wurſthaͤndler, vom
venetianiſchen Muſikmeiſter und maylaͤndiſchen
Operiſten an, bis zum Mann von Stande,
bis zum Miniſter des Koͤnigreichs beyder Si-
cilien. Man ſieht ſie, und hundert Andre von
anderer Beſtimmung und Art, mehreremal,
und ihre Bildung, ihr Weſen, ihre Kleidung
fallen einem auf; weil ſie in irgend etwas von
denen verſchieden ſind, die man ſonſt vor Au-
gen hat. Man reiſet von Wien ab, und na-
tuͤrlich nimmt man einen der Hauptwege,
mittelſt deſſen Italien und Deutſchland zuſam-
men hangen, und beyde Laͤnder einander ihre
Menſchen und Waaren zukommen laſſen.
Auf dieſem Wege begegnen einem italieniſche
[51] Fuhrwerke mit ihren Zugthieren, ihren Ge-
ſchirren und ihren Reiſenden und Fuͤhrern;
ferner herum ziehende Kleinkraͤmer, ihren
Handel auf dem Ruͤcken; und auswandernde
Familien, die in Deutſchland reiche Verwandte
oder uͤberhaupt ein beſſeres Schickſal auf-
ſuchen. Man bemerkt an allen dieſen Gegen-
ſtaͤnden gewiſſe neue Dinge, die einem von
dem Augenblick an nicht mehr neu ſind.
Man ſetzt ſeine Reiſe fort und ſieht unter-
wegs Landhaͤuſer, Gaͤrten, Saͤulen, Statuen,
Gemaͤlde, Kirchen in italieniſchem Ge-
ſchmack; weiterhin Kamine, Kaffeehaͤuſer,
Balkons, Altane nach italieniſcher Sitte; zwar
immer noch einzeln, aber ſo verſteht es ſich. So
wie man weiter vorruͤckt, vermehren ſich die
italieniſchen Vorboten. Hinter Klagenfurt
ſetzt man einem Gemuͤſe mit Oehl gekocht
vor, zu Lienz eine Pollenta, in Brixen waͤl-
ſches Brot. Hier findet man ſchon zahme
Kaſtanienbaͤume; zu Botzen feinere Fruͤchte,
Maulbeerbaͤume, Mays, ein italieniſches Klima,
D 2
[52] italieniſche Bauart, Menſchen von italieniſcher
Abkunft. Die runden, fleiſchigten, gutmuͤthi-
gen deutſchen Geſichter verſchwinden nach und
nach, und machen den ſchwarzen hageren, oder
gelben aufgetriebenen, mit ſchwarzen Baͤrten
und ſprechenden trotzigen Augen, Platz. Ein
gewiſſer Leichtſinn wird bey der dienenden,
und eine große Fertigkeit im Uebervortheilen
bey der handelnden Klaſſe ſichtbar. Ernſt
und Beſcheidenheit verlieren ſich in den Far-
ben der Kleidung, d. i. grau, blau, dunkel-
gruͤn, braun und ſchwarz werden den Leuten
zu unſcheinbar; aber roth, hochgelb, hellgruͤn,
hellblau, in der ſchreyendſten Miſchung, wer-
den immer mehr Leibfarben. Der gemeine
Mann zeigt immer weniger Gefuͤhl fuͤr einen
anſtaͤndigen Anzug. Auf dem Kopfe traͤgt er
bald keinen Hut mehr, ſondern eine ſchmu-
tzige wollene Muͤtze, oder auch gar nichts;
die Bruſt hat er bis zu dem Nabel bloß;
uͤber die Schenkel ſchlottern ihm Beinkleider
herab, die er am Knie nicht zuknoͤpft; die
[53] Beine ſind ohne Struͤmpfe, die Fuͤße ohne
Schuh; beydes iſt in Monaten nicht gewa-
ſchen. Weiterhin begegnen einem ſchon haͤu-
fig Leute in ſeidenen Lumpen.


Abzeichen dieſer Art hatte ich von Wien
an, und ſie wurden immer haͤufiger, je mehr
ich mich der Graͤnze naͤherte. Zu Trient bet-
telte ſchon der Poſtknecht gebrochen Deutſch
noch um einige „Sololi“ uͤber ein reichliches
Trinkgeld; und ein Kerl, der ihm die Pferde
vom Wagen geſpannt hatte, erpochte dafuͤr
von mir ein Geſchenk. Bis Roveredo iſt
alles, womit der Fremde zu handeln kommt,
Italieniſch geworden; und alles geht Italie-
niſch mit ihm um. Wirth, Kellner, Lohnbe-
dienter, Poſtknecht, Hausknecht, Hausmagd,
alles betruͤgt ihn, jeder bettelt von ihm, je-
der beluͤgt ihn, jeder bleibt in der beſten
Laune, wenn er ihn uͤber die mannigfachen
Plackereyen verdrießlich ſieht, oder wenn ihm
die Woͤrter Gauner, Betruͤger, unverſchaͤmte
Luͤgner, Bettler, entwiſchen. Hoͤchſtens ſagen
[54] ſie: es ſey einmal in Italien ſo! Er werde
ſehen! Mein Kellner in Roveredo, dort ſchon
„cameriere“ genannt, machte mir beym Ein-
ſteigen in den Wagen noch eine zweyte Rech-
nung, weil er, wie er ſagte, in der ſchon be-
zahlten einige Artikel vergeſſen haͤtte, die er
aus ſeiner Taſche bezahlen muͤßte, was „un
tal’ Signor“
doch nicht zugeben wuͤrde. Ich
warf ihm ein kleines Silberſtuͤck zugleich mit
einem „gran’ bricone“ zu, der ſo ernſthaft
nicht gemeynt war. „Eccellenza!“ rief er
aus, zog die Achſeln zuſammen, lehnte den
Kopf demuͤthiglich an die rechte Schulter und
druͤckte die aufgefangene Muͤnze an die Bruſt.
Als der Poſtknecht fortfuhr, ſagte er zu den
Umſtehenden, ſo laut daß ich es wohl hoͤren
mußte, „un buon’ Signor!“ und als ich
den Kopf herum drehte, um den Gaudieb noch
einmal anzuſehen, uͤberraſchte ich ihn bey ei-
nem großen Kreutze, das er mir nachſchlug.


Alle dieſe und hundert andere kleine Zuͤge
und Erſcheinungen ſind Italieniſch, und dem
[55] Reiſenden ſchon gelaͤufig, wenn er nach Ita-
lien ſelbſt koͤmmt. Er kennt die Menſchen
ſchon, das heißt den kleinen Theil derſelben,
den er auf der Reiſe braucht; er kennt die
Natur ſchon, das heißt diejenige, die er bey
ſeinem erſten Eintritt in Italien findet. Nichts
daran ſcheint ihm mehr neu, und doch hatte
er, noch vor Wien, weder ſolche Menſchen,
noch ſolch eine Natur geſehen. Gerade ſo
wird ihm ſeyn, wenn er vor dem Amphi-
theater von Genua, auf der Kuppel vom
St. Peter in Rom, und an dem Rande des
Aetnaſchlundes ſtehet.


Von Ala fuͤhrt der Weg auf Peri, die
naͤchſte Station. (Eine Poſt *)) Die Straße
iſt nicht ſo ſorgfaͤltig gemacht, als bisher;
aber die Gegend iſt ganz dieſelbe. Nach ei-
ner Fahrt von anderthalb Stunden befindet
man ſich vor dem venetianiſchen Graͤnzzoll
Borghetta. Es ſind zwey kleine, einzeln
[56] am Wege einander gegen uͤber ſtehende, und
durch ein Wetterdach, das den Wagen Schutz
giebt, mit einander verbundene Haͤuſer. Aus
dem einen trat mir ein Zollbedienter mit dem
hoͤflichſten Weſen entgegen, war voͤllig uͤber-
zeugt, daß ich keine verbotenen Waaren bey
mir fuͤhrte, und bat ſich fuͤr dieſe Ueberzeu-
gung, mit in dem Wagen geſtreckter Hand
und ſpielenden Fingern, „dalla bona grazia
dell’ excellentissimo Signor forestiero“

ein kleines Geſchenk aus. Dieſer gab ihm
eins; da es jener aber gern groͤßer gehabt
haͤtte und dies mit einem „è poco Excel-
lenza!“
deutlich zu erkennen gab; ſo erwie-
derten die Exzellenz: „basta così, amico!“
und fuhren hartherzig weiter nach Peri.


Dies iſt ein unanſehnlicher Flecken, wie
ein paar andere, durch die ich, von Ala aus,
im venetianiſchen Gebiete gekommen war.
Das Aeußere dieſer Oerter iſt in der That
hoͤchſt abſchreckend. Sie ſind ganz offen, ihre
Haͤuſer ſind zwar gemauert, aber von eben
[57] den Steinſtuͤcken, die im Wege herum liegen,
und wie man ſie ohne Auswahl aufrafft:
groß und klein, rund und eckigt, von allerley
Bergarten. Sie erſcheinen wie bloß auf ein-
ander gelegt, nicht mit Moͤrtel ausgefuͤllt,
noch weniger beworfen. Dieſe rauhen Mau-
ern ſtehen da, Theilweiſe verwittert, Theil-
weiſe aus einander gegangen, Theilweiſe von
Luft, Regen und Sonne grau oder ſchwarz
gefaͤrbt. Sie haben im unterſten Geſchoß
eine Oeffnung, welche Thuͤre und Fenſter zu-
gleich bildet und in ein ſchwarzes, mit Stei-
nen ausgeſetztes oder mit Lehm ausgeſchlage-
nes, Gemach fuͤhrt, das eine Familienwoh-
nung vorſtellt. Das zweyte Geſchoß hat
zwar drey oder vier kleine Fenſteroͤffnungen,
aber Glasſcheiben ſind nicht darin zu ſehen,
ſondern bloß ein paar eiſerne Staͤbe, und
dahinter hoͤlzerne Laden. Das Dach iſt mit
Schindeln gedeckt, die von der Sonne ver-
kohlt und nicht angenagelt, ſondern um die
Koſten fuͤr die — Naͤgel zu erſparen, mit
[58] Steinen belegt ſind, wodurch ſie feſt gehalten
werden.


In und vor ſolchen Haͤuſern ſieht man
Menſchen, ſchwarzgelb von der Fußſpitze bis
zum Wirbel; die Maͤnner bloß mit einem
Hemde und mit einer Hoſe — nicht beklei-
det — ſondern nur behaͤngt; die Weiber
baarfuß, baarkoͤpfig, nur mit einem zerlump-
ten Unterrocke, mit einem erdſchwarzen Hals-
tuch und einem ſteifen, rothen oder gelben
Mieder halb und halb bekleidet; das raben-
ſchwarze Haar in ein Neſt auf dem Hinter-
kopfe zuſammen gewickelt, und unter dem
Arm einen Rocken, dem ſie dicke Faden ab-
zupfen, die ſie mittelſt einer in der Luft
ſchwebenden Spindel zugleich drehen und auf-
winden.


Die Honoratioren von Peri zeigten ſich
zwar angekleidet, aber wunderlich genug.
Ein abge[ſ]chabter Rock von hellerothem,
wollenen Sommerzeuge, oder von gruͤner,
oder hellblauer, verſchoſſener Seide; eine
[59] ſtrohfarbene, oder hochgelbe, oder purpurfar-
bige Weſte, nur in der Mitte oder unten
mit Einem Knopfe befeſtigt, weil die uͤbrigen
fehlten; Beinkleider, theils von der Farbe
des Rocks, theils von allen uͤbrigen ſchreyen-
den Farben, uͤber dem Knie nicht zugeknoͤpft;
Zwirnſtruͤmpfe, ſo duͤnne, daß man ſie nur
durch ihre groͤßere Schwaͤrze auf der Haut
unterſcheiden konnte; Pantoffeln, oder viel-
mehr eingetretene Schuhe; ein langer Zopf,
der bald geflochten und oben mit einem Bind-
faden eingebunden, bald mit einem rothge-
wordenen ſchwarzen Seidenbande umwickelt
war, und uͤberall Buͤſchel von Haaren heraus
ließ; breite Manſchetten und große ſchmutzige
Buſenſtreifen von grobem Zwirnfilet; eine
duͤnne ſchmale Halsbinde, mit einer gewalti-
gen Schnalle im Nacken befeſtigt — dies
waren die Toilettenſtuͤcke ſolch eines Ehren-
mannes, denen er durch ein ungekaͤmmtes
Haar, in welchem die Federn und Dunen
aus dem Bette flatterten, und durch eine
[60] baumwollene Nachtmuͤtze, die ſich in eine
lange, zwiſchen den Schultern ſchwebende
Trottel endigte, die Krone aufzuſetzen gewußt
hatte.


Meine Vorgaͤnger und Nachfolger auf
der Reiſe durch Peri werden dieſe Zeichnun-
gen treu finden. Ich habe ſie nach der Na-
tur gemacht, indem ich vor dem Poſthauſe
ſaß und meine Pferde erwartete.


Die Regierung hat anbefohlen, daß jeder
Reiſende, der durch ihre Staaten mit Extra-
poſt geht, ein „Bollettone“ von dem Ober-
poſtmeiſter aus Venedig vorzeigen ſoll. Man
kann ſich durch einen Freund, oder durch ſei-
nen Wechsler, ſolch einen Eingangsſchein
entgegen ſchicken laſſen; oder ihn auch in
Wien von dem dortigen Geſandten der Re-
publik erhalten. Auf deſſen Vorzeigung muͤſ-
ſen ihm die Poſtmeiſter fuͤr acht Paoli mit
zwey Pferden eine Station, oder zwey deut-
ſche Meilen fortſchaffen. Hat er aber kei-
nen, ſo koͤnnen ſie nach Willkuͤhr, anſtatt
[61] acht Paoli, zwoͤlf bis funfzehn nehmen und
der Reiſende darf ſich nicht beſchweren. Ich
hatte um ſolch ein Bolletton geſchrieben und
es in Roveredo zu finden geglaubt, aber
nicht gefunden. Dieſer Umſtand half mir
nichts bey dem Poſtmeiſter in Peri. „Ich
muͤßte Sie fuͤr acht Lire fahren,“ ſagte er,
„wenn Sie eins haͤtten; aber Sie haben
keins! Da es mir alſo erlaubt iſt, mehr zu
nehmen, ſo kann ich nicht gegen meinen Vor-
theil handeln, und ich muß mehr nehmen.
Sie ſollen aber ſehen, daß Sie mit einem
großmuͤthigen Venetianer zu thun haben.
Ich verlange nur zwoͤlf Paoli; dem Folgen-
den muͤſſen Sie funfzehn geben! Das ſag’
ich Ihnen vorher!“


In der beſten Laune uͤber ſeine ganz
neue Art von Großmuth gab ich ihm die
verlangten zwoͤlf Paoli, und die uͤbrigen drey
einem Bettler, der neben mir ſtand; wobey
ich ihm recht ernſthaft dankte, daß er mir
Gelegenheit gaͤbe, gegen ſeinen armen Lands-
[62] mann meinerſeits auch großmuͤthig zu ſeyn.
Dieſe Wendung ſchien doch ſein edles Herz
ſo in Bewegung zu ſetzen, daß es ſich ver-
gaß und in einige harte Worte gegen den
Bettler ausbrach; allein dieſer, der alles vor-
trefflich begriff, lachte ihn aus und mir —
dankte er fuͤr mein Almoſen nicht.


Dieſer Wettſtreit der Großmuth hatte
nicht die geringſte Wirkung auf die Unter-
heuſchrecken des Poſthauſes gethan. Es wa-
ren ihrer ſechs trotzige, zerlumpte Kerl, wo-
von der Eine mir die Vorder- und der An-
dere die Hinterraͤder beſprengt, der Dritte den
Koffer angezogen, der Vierte die Pferde ge-
bracht, der Fuͤnfte ſie dem Poſtknecht ange-
ſpannt, und der Sechſte mich gefragt hatte:
ob ich etwas aus dem benachbarten Wirths-
hauſe befoͤhle? — Was ſie haben wollten,
war, wie ſie es nannten, „per la bona ma-
no“
(fuͤr willige Handreichung), und ſie for-
derten es in einem Tone, daß ich lieber gleich
geben, als mir Stationen machen wollte, wie
[63] der uͤbellaunige Smollet, der ſie immer
mit Gallenfiebern verließ und doch am Ende
alles, was man von ihm haben wollen, be-
zahlt hatte.


Hinter Peri hoͤren endlich die Berge auf,
doch nicht ohne ſich noch einmal in ihrer
Furchtbarkeit zu zeigen. Man koͤmmt nach
„Chiusa“, einem Graͤnzſchloſſe, das an dem
Gehaͤnge eines ſteilen Berges angebracht iſt.
Man braucht Vorſpann, um den Weg hinan
zu kommen, der dem Berge durch Kunſt ab-
gewonnen und nur ſo breit iſt, daß zwey
Wagen einander ſo eben ausweichen koͤnnen.
Man haͤngt auf demſelben gleichſam uͤber der
Etſch, ſo wie der Felſen drohend uͤber den
Weg haͤngt. Unter einem, in einer Tiefe von
wenigſtens 150 Schuh, draͤngt ſich die Etſch
zwiſchen dieſen und dem gegen uͤber ſtehen-
den, noch rauhern und ganz ſchroffen, Felſen
hinein und rauſcht an den Wurzeln beyder,
ohne ſelbſt dem Fußgaͤnger an den Seiten
Platz zu laſſen. Sie kann hier auch
[64] noch mittelſt einer ſtarken Kette geſchloſſen
werden.


Wenn man uͤber den hoͤchſten Punkt des
Weges gekommen iſt, ſo hat man im Herab-
ſteigen das Schloß vor ſich, zu welchem man
uͤber eine Zugbruͤcke gelangt. Es iſt klein
und ſchmal, und giebt in der That einen
armſeligen Anblick. Das Mauerwerk iſt ver-
altet, und aus den wenigen Schießſcharten
ſehen roſtige Kanonen hervor. Vor demſel-
ben hat man im Felſen ſelbſt ein Kaͤmmer-
chen fuͤr den Waͤchter ausgehauen, zu wel-
chem man auf kurzen Stufen gelangt. Un-
mittelbar uͤber dem Schloſſe hat man Kaſa-
matten angebracht, die theils in den Felſen
ſelbſt gehauen, theils durch Mauerwerk an
demſelben angebauet ſind. Alles iſt klein und
enge; aber als Anhang zu der Feſtung, welche
die Natur ſelbſt hier gebauet hat, wuͤrde dies
Schloͤßchen doch dazu beytragen, den Feind,
der durch dieſen Paß eindringen wollte, eine
Weile abzuhalten.


Jen-
[65]

Jenſeit dieſes Schloſſes fuͤhrt der Weg
am Fuße des Felſens und hart am Ufer der
Etſch fort, die hier als ein anſehnlicher Fluß
erſcheint. Die Durchfahrt zwiſchen Felſen
und Fluß iſt ſo ſchmal, daß man, um Plaͤtze
zu gewinnen wo die Wagen einander aus-
weichen koͤnnen, erſtern hat ausſchweifen muͤſ-
ſen. Auf dieſe Art zieht ſich der Weg nach
Volargine (eine Poſt), von wo aus man
endlich auch zur Linken die Ebene uͤberſieht,
die man ſchon eine Weile zur Rechten hat
uͤberſehen koͤnnen. Hier hatte ich nun die
Gebirge, in welchen ich, von Schottwien an,
verſchloſſen geweſen war, mit ihren angeneh-
men und fuͤrchterlichen Stellen im Ruͤcken,
und ich blickte mit freyerem Athem in das
Paradies — Lombardey.


Uebrigens iſt vielleicht keines der großen
Gebirge ſo leicht und anmuthig zu bereiſen,
als das, welches ich von dem Semmering
an bis hieher durchfahren hatte. Der Weg
laͤuft beſtaͤndig, theils im Grunde der Thaͤler,
Siebentes Heft. E
[66] theils am Gehaͤnge der Berge fort. Er iſt
durchweg vortrefflich unterhalten, und nur an
zwey oder drey Stellen etwas enge und nicht
genug durch Gelaͤnder geſichert. Er iſt hin-
laͤnglich mit Bruͤcken verſehen, um mit Si-
cherheit uͤber die kleinern und groͤßern Fluͤſſe
zu kommen die einem ſo haͤufig begegnen,
oder welchen man folgt. Er iſt ſicher zu be-
reiſen, weil die Menſchen gut ſind, die laͤngs
demſelben wohnen. Er bietet viel Abwechs-
lung dar, weil er zugleich eine lebhafte Han-
delsſtraße iſt. Das Land ſelbſt, durch das er
fuͤhrt, iſt anziehend. Ungeachtet Berge und
nichts als Berge um den Reiſenden her ſte-
hen, ſo gewaͤhrt doch die unendliche Abwechs-
lung ihrer Geſtalten und Zuſammenſtellungen,
ihrer An- und Ausſichten, ihrer Erleuchtung,
ihrer ungeheuren Maſſen und ihrer mannig-
faltigen Beſtandtheile großen Genuß. Die
Thaͤler zwiſchen ihnen ſind groͤßtentheils ſchoͤn,
oft wahrhaft reizend, meiſt immer fruchtbar;
und das fleißige, unverdorbene Volk, das ſie
[67] bewohnt, das ſich in vielen Dingen uner-
ſchrocken mit der Natur ſelbſt in Kampf ein-
laͤßt, erfuͤllt das Herz mit Theilnehmung und
freudigem Erſtaunen. Ich bekenne, noch keine
Reiſe mit ſo viel Vergnuͤgen gemacht zu ha-
ben, als dieſe Bergreiſe; und wenn ich jetzt
wieder die Ebene mit Freudigkeit empfing,
ſo lag derſelben nicht Ueberdruß der Berge,
ſondern der natuͤrliche Gefallen des menſchli-
chen Herzens an Abwechslung zum Grunde.


Von Volargine bis Verona (1 ½ Poſt)
fuͤhrt der Weg durch eine Landſchaft, die ei-
nem großen, zuſammenhaͤngenden Garten
gleicht. Pflanzungen von Maulbeerbaͤumen,
oder von Ulmen und Ahorn, alleenweiſe ver-
theilt, bedecken die Felder. Maͤchtige Wein-
ſtoͤcke lehnen ſich an dieſe Baͤume und trei-
ben Ranken, Blaͤtter und Fruͤchte bis in de-
ren Kronen hinauf; von dort fallen ſie her-
ab und finden andere, die, wie ſie, eines
Anhalts beduͤrftig ſind. Der Winzer nimmt
ſich ihrer an, fuͤgt ſie zuſammen, und ſo ver-
E 2
[68] ſchlingen ſie ſich in einander und laufen in
Gewinden durch alle Alleen. Das Land zwi-
ſchen dieſen iſt bearbeitet, und Feldfruͤchte al-
ler Art werden auf demſelben gezogen. Es
iſt ein Gedanke, der fuͤr den Boden der
Lombardey Achtung erweckt, daß er faſt zu
gleicher Zeit Getreide und Wein hervorbringt
und den Seidenbau moͤglich macht. Hier
herum iſt er uͤbrigens noch ſo ſteinigt, daß
die Baͤume aus den Steinen ſelbſt hervor-
zuwachſen ſcheinen, und daß die eigentliche
Erde kaum ſichtbar wird. Dieſe iſt ocker-
braun gefaͤrbt, wie die Steine, die ganz die-
ſelben ſind aus welchen die Berge von Sa-
lurn bis vor Volargine beſtehen. Je mehr
der Fleiß dieſen Boden uͤberwindet, deſto
fruchtbarer wird er; und je weiter man ge-
gen Verona hinab koͤmmt, in deſto ergiebi-
gerem Stande iſt er ſchon. Um die Mitte
des Weges fand ich ein artiges Luſtſchloß,
das die Naͤhe einer großen Stadt verkuͤn-
digte. Es war juͤngſt erſt angelegt und fiel
[69] angenehm in die Augen. Der dazu gehoͤrige
Garten war ſchon mit Mauern eingefangen,
ſchien aber nur ein Ziergarten werden zu ſol-
len, denn ich ſah wohl ziemlich mittelmaͤßige
Bildſaͤulen, aber keine Spur, daß man auch
fuͤr Schatten ſorgen wolle, in einem Lande,
wo man deſſen ſo viel braucht.


Verona ſieht man nicht eher, als bis
man nur noch eine halbe Stunde davon ent-
fernt iſt. Dieſe Stadt liegt gerade da, wo
die Alpen allmaͤhlig bis zu ihrer tiefſten Ab-
dachung gelangt ſind, und dieſe in wahre
Flaͤche uͤbergeht. Iſt man alſo uͤber den letz-
ten Abſatz hinunter, ſo erſcheint ſie an eben
dieſen Abſatz gelehnt, der Laͤnge nach ausge-
breitet, mithin ganz eigentlich an den Wur-
zeln der Alpen gelagert und von der Etſch
durchſtroͤmt, die ich in Italien auch italie-
niſch, Adige, nennen will. Nach wenig
Augenblicken iſt man vor ihren Thoren. Ich
fuhr durch das aͤußere Biſchofsthor hinein,
ohne von den Zollbedienten anders, als zu
[70] Borghetta, belaͤſtigt zu werden. Unter dem
innern fragte mich ein Soldat — großer
Gott, was fuͤr ein Soldat! — nach Namen
und Vaterland, und ſchrieb beydes mit einer
Feder! aus einem Tintenfaß! auf Papier! —
wahrlich, daß ich zur Schande des gefluͤgelten
Loͤwen, ſeiner Vogelſcheuche von Soldaten —
kein Trinkgeld, wie er verlangte, ſondern ein
wahres, von chriſtlicher Milde hervorgebrach-
tes, Almoſen darreichte. Ich fuhr in den
Gaſthof „alle due torre“, behandelte aus
noͤthiger Vorſicht, ehe ich abpacken ließ, mit
dem „cameriere“ Zimmer, Tiſch, Bedienung
und alles uͤbrige, und ließ mich ſodann erſt
in einer Stadt nieder, worin ich einige an-
genehme und lehrreiche Tage zu verweilen be-
ſchloſſen hatte.


Es ſind mehrere Punkte in der Stadt
und um dieſelbe, wo man ſie, ihrer ganzen
Lage und Geſtalt nach, uͤberſehen kann. Man
mag einen ihrer Kirchthuͤrme, eines ihrer
Thore, eines ihrer Außenwerke, oder eines
[71] ihrer Schloͤſſer waͤhlen, immer hat man eine
anziehende Ausſicht; die weitlaͤuftigſte aber
findet man auf dem Schloſſe S. Felice,
und dieſe wollte ich zuerſt aufſuchen.


Ich gelangte durch einige ziemlich ver-
ſchlungene und unreinliche Straßen zu der
Bruͤcke „della Pietra“, die uͤber die Adige
fuͤhrt, und beſahe im Vorbeygehen zwey ih-
rer Bogen, die noch von altroͤmiſcher Arbeit
ſind und gegen welche die benachbarten aller-
dings ſehr abſtechen. Jenſeits dieſer Bruͤcke
erhebt ſich die Anhoͤhe, auf welcher das feſte
Schloß S. Felice uͤber dem andern feſten
Schloſſe S. Pietro liegt. Eine Anzahl von
Haͤuſern iſt amphitheatraliſch an derſelben
hinangebauet, die ſich zwar, weder durch
Neuheit, noch Groͤße, noch Geſchmack em-
pfehlen, dennoch aber dieſes Ufer der Adige
gut verzieren. Ich ſtieg langſam die Anhoͤhe
hinauf, ohne die Truͤmmer zu ſuchen, die an
derſelben von einem alten Theater und einem
alten Kapitolium — nicht mehr zu ſehen ſind,
[72] und uͤberrumpelte die Feſtung S. Pietro, die
freylich keine Thore hatte, und deren Ring-
mauer an mehreren Stellen ohne Kanonen
und Kugeln eingeſchoſſen war. Ich beſtieg
ihre Schanzen und Waͤlle, fand aber keinen
Punkt, von welchem ich Stadt und Gegend
ganz ohne Hinderniß fuͤr das Auge haͤtte
uͤberſehen koͤnnen; eilte alſo vollends nach
S. Felice hinan, und traf es wirklich mit
Thoren, mit wohlerhaltenen Ringmauern,
mit Kanonen und Beſatzung verſehen, und
ſonderbar! aus eben dem Grunde, aus wel-
chem S. Pietro nichts von dem allen hat.
Um dies Raͤthſel zu loͤſen, erinnere man ſich,
daß der Loͤwe, der von hier herab Verona
beherrſcht, trotz ſeinen Fluͤgeln, zu einem ſehr
mißtrauiſchen Geſchlechte gehoͤrt; und daß er
dieſen obern Platz fuͤr ſich behalten, den un-
teren aber, ſo wie die ganze Stadt, in den
Haͤnden der Veroneſer gelaſſen hat.


Auf einem der hoͤchſten Außenwerke von
S. Felice fand ich, was ich ſuchte: einen
[73] Platz, der zu einer allgemeinen Ueberſicht der
Stadt und Gegend alle Erforderniſſe hatte.
Er war mit einem Altan bezeichnet, den ich
zwar nur mit Ziegelſteinen ausgeſetzt, und mit
einem alten Dache, auf vier verwitterten Saͤu-
len ruhend, bedeckt fand, der aber nach allen
Seiten offen war, und ſeine Beſtimmung vor-
trefflich erfuͤllte. Die ganze Stadt lag vor
mir ausgedehnt da, ſo klar und hell, daß ich
das entfernteſte Gartenhaͤuschen unterſcheiden
konnte. Von der umliegenden koͤſtlichen Flaͤche
uͤberſah ich einen Halbcirkelſchlag von vier
bis fuͤnf Meilen, und nordweſtlich zitterte da,
wo der dunkelblaue, ganz reine Horizont ſich
auf die ſchwarzgruͤne Scheibe lehnte, Man-
tua
mit ſeinen Thuͤrmen, waͤhrend die naͤhe-
ren Staͤdte und Flecken, weiß und roth, wie
hollaͤndiſche Doͤrfer in einem großen Luſtgar-
ten, gelagert erſchienen. Auf der entgegen
geſetzten Seite hingen die Alpen, durch die
ich gekommen war, mir noch einmal uͤber dem
Haupte, ſo nahe ſchienen ſie. Der Baldo
[74] ragte hier am hoͤchſten unter ihnen hervor,
und an ſeiner Seite liefen nach Nordoſten
kleinere Berge herab, deren Gipfel mit Baͤu-
men gekroͤnt waren, unter denen ein Volk
lebt, das, ſo wie ſeine Berge einzeln ſtehen,
einzeln fuͤr ſich beſteht, nicht mehr zu den
Deutſchen gehoͤrt, und noch nicht zu Waͤlſchen
umgeſchaffen iſt: ich meyne die ſogenannten
Cimbern, welche die bekannten dreyzehn Ge-
meinen bilden. Von ihrem Wohnort an da-
chen ſich wellenfoͤrmig immer niedrigere Berge
dergeſtalt ab, daß ſie in der Ferne nur noch
als Anhoͤhen das Land umſchließen, und ſich
allmaͤhlig in die ſchoͤne Ebene verlieren, die,
durch nichts mehr unterbrochen, als der uͤp-
pigſte, fruchtbarſte, wohlhabendſte Theil von
Italien, ſich uͤber Mantua, Mayland und
Turin bis an die Wurzeln der jenſeitigen Al-
pen hinzieht, durch welche die Schweitz und
Frankreich von Italien geſchieden werden.


Nachdem ich uͤber eine Stunde auf dieſem
anziehenden Platze zugebracht hatte, ſtieg ich
[75] die Anhoͤhe wieder hinunter und ließ mich zu
der Stelle fuͤhren, wo man vermuthet, daß
vor Alters Baͤder geſtanden haben. Man
ſchließt dieß aus einigen Roͤhren, die man
dort gefunden hat. Jetzt dringt noch aus
dem Felſen ein ſehr lebhafter Strahl von
Waſſer hervor, der mit einer Roͤhre einge-
faßt und mit einem Becken verſehen iſt.
Dieſe Quelle wird im Fruͤhling und Som-
mer von den Einwohnern haͤufig beſucht und
als Geſundbrunn getrunken. Das Waſſer hat
im Geſchmack viel Aehnliches mit dem Eger-
brunnen und ſoll auch eine aufloͤſende Kraft
haben.


Als ich zu der Bruͤcke „della Pietra“ zu-
ruͤck kam, verweilte ich auf derſelben, um ſie
als Standpunkt fuͤr eine Ausſicht uͤber einen
Theil des Inneren der Stadt zu benutzen.
Maffei empfiehlt ſie als einen ſolchen, ich
bekenne aber, daß in dieſem Fall, wie in vie-
len andern, ſeine Vaterſtadtsliebe ihn zuviel
hat ſagen laſſen. Das linke Ufer des Fluſſes,
[76] an welchem die Anhoͤhe, die ich beſtiegen hatte,
ſich hinzieht, gewaͤhrt wohl eine angenehme
Ausſicht, aber das rechte eine deſto unange-
nehmere; denn die daran ſtehenden Haͤuſer
kehren demſelben alle ihre roſtigen, hoͤlzernen
Gaͤnge, Altane und heimlichen Gemaͤcher, und
ihre uͤber dieſelben hingebreitete Sudelwaͤſche
zu; und auf den Balkonen der oberen Ge-
ſchoſſe bemerkte ich einige ſorgfaͤltige Haus-
wirthinnen, die ihre frechſten Feinde in den
Falten der Bettdecken aufſuchten und ſie, wo
nicht erhaſchten, doch in die Adige ſprengten.
Dieß war fuͤr mich kein Standpunkt — per
formare prospettive così nobili et cosi
vaghe, che scene non si videro mai meglio
ideate
. *) Vielleicht benahmen ſich Maffei’s
Landsleute zu ſeiner Zeit aͤſthetiſcher oder we-
nigſtens verſchaͤmter.


Angenehmer uͤberſieht man von dem Neuen
Thor
herab einen Theil der Stadt, und zwar
[77] einen der ſchoͤnſten. Dieſes Thor, das auch,
wie das Thor „del Pallio“, als Werk der
Kunſt ſehenswerth iſt, liegt auf der andern
Seite der Stadt, den Schloͤſſern S. Pietro
und S. Felice gerade gegenuͤber. Im Vor-
dergrunde hat man die Ueberſicht der ganzen
Neuen Straße, einer der ſtattlichſten und
lebhafteſten in der Stadt. Dieß wird ſie be-
ſonders um die Zeit der Korſofahrt. Sie iſt
ſehr lang, verhaͤltnißmaͤßig breit, an beyden
Seiten mit erhoͤheten Fußwegen, und in der
Mitte mit einem gut gepflaſterten Fahrwege,
verſehen. Gegen Abend ſind ſo viel Wagen
auf dieſer Straße, als in der Stadt gehalten
werden, weil ſie einen Theil des Korſo aus-
macht, den niemand verſaͤumt, der ein Fuhr-
werk beſitzt, und den zu beſuchen, manche Fa-
milie ſich den Koſten eines Zwey- oder Vier-
ſpannes unterzieht. Dieſe Korſofahrer neh-
men ſodann ihren Weg unter dem gedachten
Neuen Thore hin und man uͤberſieht das Ge-
draͤnge, welches ſich hier durch die Heraus-
[78] und Hereinfahrt bildet, von oben herab ganz
in der Naͤhe. Die Fußgaͤnger, die unterdeſſen
die Wege an den Seiten fuͤllen, ziehen in
mannigfachen Gruppen von dem Platze Bra
daher, draͤngen ſich zwiſchen den Wagen hin-
durch und bilden außerhalb der Stadt auf der
Bruͤcke und in den daran ſtoßenden Alleen
bunte Reihen, durch welche die Wagen hin-
fahren. Viele der Fußgaͤnger kommen auch
auf die Waͤlle, die zu beyden Seiten des
Neuen Thors hinlaufen, gehen auf denſelben
ſpatzieren oder ſetzen ſich in langen Reihen
nieder, um das Getuͤmmel auf der Bruͤcke
und in den Alleen zu beobachten.


Die Ausſicht uͤber den lebendigen Theil
von Verona machte mir dieſen Standpunkt
lieber, als irgend einen andern in der Stadt.
Er beſchraͤnkt ſich aber nicht auf das Getuͤm-
mel des Korſo allein, er beherrſcht zugleich
die Haͤuſermaſſe der Stadt, in ihrer ganzen
Ausdehnung, nach allen Seiten. Man ſieht,
wie ſie ſich noͤrdlich und nordoͤſtlich an den
[79] Wurzeln der Alpen erhebt, und in die beyden
aͤuſſerſten Baſtionen des Schloſſes S. Felice
auslaͤuft; wie nordweſtwaͤrts die Adige hinein-,
und nach einer Schlangenwindung durch die
Stadt, ſuͤdlich wieder hinausſtroͤmt; und wie
oͤſtlich, ſuͤdlich und weſtlich jener große Lom-
bardiſche Garten an ihre Mauern ſtoͤßt und
ſie gleichſam zu einem der großen Gartenhaͤu-
ſer macht, deren er ſo viele in ſeinen gruͤnen-
den Labyrinthen einſchließt.


Eine dritte angenehme Ausſicht uͤber die
Stadt gewaͤhrt der Garten des Grafen Giuſti,
deſſen Terraſſen bis zu dem Fuße der Mauern
des Schloſſes S. Pietro hinan ſteigen. Man
uͤberſieht hier beſonders ihre Geſtalt und den
eigentlichen Lauf der Adige. Der Garten
ſelbſt iſt nicht von Umfange, auch in Abſicht
ſeiner Anlagen nicht auſſerordentlich. Dieſe
ſind nach altem Geſchmack, und beſtehen in
Heckenlabyrinthen, in kleinen, mit Marmor
eingefaßten, Springbrunnen und andern Waſ-
ſerſpielereyen; in Grotten, aus Muſcheln und
[80] Steinſtuͤcken zuſammen geſetzt, und andern
altmodiſchen Verzierungen. Auch iſt der Gar-
ten ſchon ziemlich bejahrt, und Burnet und
Addiſon, die zu Ende des vorigen Jahr-
hunderts hier waren, erwaͤhnen ſeiner ſchon
in dieſer Geſtalt. Fuͤr den Nordlaͤnder er-
haͤlt er durch eine vortreffliche Weinterraſſe
und eine Reihe koͤſtlicher Cypreſſen, die man
vielleicht in ganz Italien nicht ſo ſchoͤn wie-
der findet, viel Anziehendes.


Meine naͤchſten Ausfluͤchte hatten die Kennt-
niß des Innern der Stadt zum Zweck.


Verona iſt wie eine altgewordene Schoͤne,
die noch in dem altmodiſchen Anzuge, der in
ihrer Jugend fein und zierlich war, einher
tritt, und der man wegen der Ueberbleibſel
von vormaligen Reizen, die man an ihr ent-
deckt, Gerechtigkeit wiederfahren laͤßt.


Die Stadt iſt theils mit einer bloßen
Mauer, theils mit Waͤllen und Graben um-
geben, theils wird ſie durch den Fluß und
theils durch die beyden erwaͤhnten Kaſtelle
ein-
[81] eingeſchloſſen. Ein drittes, das „castel vecchio“
liegt in der Stadt ſelbſt am rechten Ufer des
Fluſſes und beherrſcht dieſen da, wo er herein
tritt.


Die Mauern ſind ſehr hoch, von laͤnglich-
viereckigten Werkſtuͤcken erbauet, oben mit ei-
nem nach alter Weiſe ausgezackten Kranze
verſehen, alt und verwittert, doch nirgends
noch bis zum Einfallen vernachlaͤßigt. Den
Waͤllen, Graben und Außenwerken kann man
dieß eher nachſagen. Die Bruſtwehren ſind
zum Theil eingeſchoſſen und in die Graben
gefallen; letztere ſind mit Schutt und ande-
rem Unrath ausgefuͤllt, und die Kaſamatten
und bedeckten Gaͤnge großentheils zuſammen
geſtuͤrzt. Auch gehen dieſe Werke nicht hin-
ter einander fort, und ſind an einigen Stel-
len unvollendet geblieben. Was aber davon
uͤbrig iſt, zeigt in der That von Einſicht in
der Kriegsbaukunſt, von Feſtigkeit, und von
gluͤcklicher Benutzung oder Ueberwindung des
Lokals. Reiſende, die ſich uͤber dieſen Gegen-
Siebentes Heft. F
[82] ſtand Kenntniſſe und Unterricht verſchaffen
wollen, finden in Verona Gelegenheit dazu.
Zwar ſind viele der hieſigen Befeſtigungsarten
durch neuere Erfindungen verdraͤngt worden,
viele andere aber gelten auch jetzt noch, und
ſind in der That ungleich lehrreicher, als die
zu Graudenz und Pleſſe, weil man ſich
ihnen mit der Bleyfeder naͤhern darf, ohne zu
fuͤrchten, daß die Signorie von Venedig eine
edle Lernbegierde in eine ihrer Kaſamatten
verſchließen moͤchte. Es iſt in der That vor
keiner derſelben eine Thuͤre mehr.


Ich mache dieſe Anmerkung, um die Ma-
nen des, fuͤr den Ruhm ſeines Vaterlandes
und ſeiner Vaterſtadt, ſo eifrigen Maffei be-
ſaͤnftigen zu helfen. Er klagt, *) daß noch
kein Reiſender dieſer merkwuͤrdigen Seite von
Verona erwaͤhnt hat. „Gewoͤhnlich glaubt
man,“ ſagt er, „daß die Befeſtigungskunſt in
Italien nicht zu Hauſe ſey, und man ſtellt
[83] nur immer die franzoͤſiſchen, hollaͤndiſchen und
deutſchen Erfindungen zur Schau; und doch
iſt dieſe Kunſt in Italien geboren und ausge-
bildet. Man kennt aber die Bosheit der Al-
tromontaniſchen Schriftſteller. Weil die Ita-
lieniſche Sprache bey ihnen nicht getrieben
wird, ſo legen ſie ſich wenigſtens mit Fleiß
darauf, um ſich in vielen Dingen unentdeckt
fuͤr Erfinder ausgeben zu koͤnnen. Mit wenig
Worten zu zeigen, daß die Befeſtigungskunſt
ganz unſere iſt, darf ich nur die Buͤcher an-
geben, durch die ſich der Leſer davon ver-
ſichern kann.“ — Hier zieht er eine Reihe
von Werken an, die im ſechzehnten und ſieb-
zehnten Jahrhundert uͤber jene Wiſſenſchaft
in Italien geſchrieben ſind; und zeigt ſodann,
daß eine Menge von Befeſtigungsarten, wo-
durch Vauban und die deutſchen und hollaͤn-
diſchen Kriegsbaumeiſter beruͤhmt geworden
ſind, lange vorher von italieniſchen vorgeſchla-
gen waren. Sein Landsmann, San Mi-
chele
, ein vorzuͤglicher Baumeiſter, habe
F 2
[84] viele davon bey den drey Feſtungen von Ve-
rona wirklich ausgefuͤhrt.


Man zeigt in Verona gern die Baſtion
„delle Boccare“, und ſie verdient in der
That, wegen einer Kaſamatte geſehen zu wer-
den, die unter derſelben angebracht iſt. Die
Veroneſer fuͤhren ſie als ein Probeſtuͤck von
der ehemaligen Vorzuͤglichkeit ihrer Befeſti-
gungen an und nehmen dieſe Gelegenheit
wahr, um durch ein bedeutendes Achſelzucken
den Fremden errathen zu laſſen, was ſie da-
von halten, daß die Regierung ſie abſichtlich
hat verfallen laſſen. Jene Kaſamatte nimmt
den ganzen Umfang der uͤber ihr liegenden
Baſtion ein. Sie hat die Figur eines Cirkels,
und hundert und fuͤnf Schuh im Durchmeſ-
ſer. In der Mitte ſteht ein runder Pfeiler,
gegen fuͤnf und zwanzig Schuh dick, auf wel-
chen die ganze gewoͤlbte Decke zuſammen laͤuft,
die in der Mitte vier und zwanzig Schuh
uͤber den Boden erhaben, und von dem Pfei-
ler an, nach allen Punkten der Mauer hin,
[85] vierzig Schuh breit, und doch ſo flach gehal-
ten iſt, daß ſie in einem Winkel von nur
fuͤnf und vierzig Graden ſich an die Mauer
lehnt. Dieſe ſchwere architektoniſche Aufgabe
iſt mit einer Leichtigkeit ausgefuͤhrt, und mit
einer Feſtigkeit, welcher drey Jahrhunderte,
mit allem ihren Regen und Schnee, noch kei-
nen Riß, noch keinen ausgeſprungenen Stein,
haben abgewinnen koͤnnen. Der breite und
hohe Eingang, einige Schießſcharten und uͤber
denſelben und in der Decke angebrachte Luft-
loͤcher, geben dem Ganzen ein trefliches Licht.
Einem deutſchen Fuͤrſten, der dieſe Kaſamatte
beſah, gefiel ſie ſo wohl, daß er eine Zeich-
nung davon mitnahm, um einen Pferdeſtall
darnach anlegen zu laſſen.


Die vier Bruͤcken, die uͤber die Adige
laufen, ſind, in Ruͤckſicht der Laͤnge und der
Groͤße des Anblicks, mit keiner der beruͤhm-
tern deutſchen zu vergleichen. Die einzige
Bruͤcke beym alten Schloſſe (Castel vecchio)
hat einen Bogen, der ſich durch die kuͤhne
[86] Ausſpannung ſeines Gewoͤlbes, die, nach
Maffei 142 Fuß betraͤgt, und durch Zierlich-
keit und Leichtigkeit empfiehlt. Dieſe beyden
Vorzuͤge, die freylich durch Backſtein beque-
mer zu erreichen ſind, als durch Werkſtuͤcke,
machen aber den Veroneſern bange, daß der
Bogen unter der Laſt eines Wagens einfallen
moͤchte, und ſie halten deswegen dieſe Bruͤcke
geſperrt. Die Fuͤrſorge, ihrer Stadt ein
Kunſtwerk zu bewahren, traͤgt zu dieſer Maß-
regel mit bey. Die drey uͤbrigen Bruͤcken ka-
men mir ganz gemein vor.


Die Straßen von Verona ſind großen-
theils gerade und haben eine verhaͤltnißmaͤßige
Breite. Einige darunter, z. B. der Korſo
und die Neue Straße, ſind wegen ihrer
Geradheit, Breite und guten Haͤuſer und
Pallaͤſte, wirklich ſchoͤn. Auch bleiben ſie den
ganzen Tag uͤber ſehr lebhaft, theils, weil ſie
zu den beyden Marktplaͤtzen, dem Herren-
und Kraͤuterplatz, und uͤberhaupt zum
volkreichern Mittelpunkt der Stadt fuͤhren;
[87] theils, weil ſie mit Gewoͤlben fuͤr Waaren
aller Art, mit Trink- Speiſe- und Kaffeehaͤu-
ſern, mit Laͤden fuͤr erfriſchende Naͤſchereyen
und mit Werkſtaͤtten verſchiedener Kuͤnſtler
und Handwerker, dicht beſetzt ſind; theils,
weil ſie gegen Abend der Tummelplatz der
großen, oder der muͤßigen Welt uͤberhaupt,
und mit Wagen und mit Spatziergaͤngern an-
gefuͤllt, werden. Die uͤbrigen Straßen um
und an dem Kerne der Stadt und bey den
Bruͤcken, ſind auch lebhaft, aber nicht zugleich
ſo glaͤnzend; die entferntern hingegen ſind
menſchenleer, ſtille und zum Theil ſehr enge
und unanſehnlich.


Die meiſten dieſer Straßen moͤgen vor
Alters ein gutes Pflaſter gehabt haben,
aber jetzt iſt es ſehr vernachlaͤßigt und be-
ſchwerlich. Die Seitenwege fuͤr Fußgaͤnger
ſind aus kleinen Steinen, wie ſie der Fluß
fuͤhrt, zuſammen geſetzt, und durch die Traufe
in eben ſo viel Stacheln verwandelt worden.
Dieſe Moſaik wird durch eiſerne, zum Theil
[88] eingetretene, zum Theil wandelbare Gitter,
die uͤber den Luftloͤchern der Keller liegen,
unterbrochen und in der That gefaͤhrlich. In
manchen Straßen ſind die Fußpfade auch mit
Marmorplatten belegt, die aber theils auf der
einen Seite verſunken, theils in Stuͤcke ge-
ſprengt ſind, und einen ungewiſſen Schritt
veranlaſſen. Da, wo dieſes Seitenpflaſter
klaͤfft, waͤchſt ungeſtoͤrt langes Gras hervor,
außer an gewiſſen Stellen, die man erraͤth,
und die zu keiner Zeit des Tages und in der
Nacht mit Sicherheit zu betreten ſind. Das
Mittelpflaſter iſt nicht minder vernachlaͤßigt,
beſonders in den entlegenern Straßen, in die
vielleicht binnen Jahren kein Fuhrwerk koͤmmt,
und die wie Wieſen gruͤnen.


Die Buͤrgerhaͤuſer in der Stadt ſind
ohne Ausnahme alt und raͤuchrig, und haben
im untern Geſchoſſe mehrentheils finſtre Ge-
woͤlbe oder Lauben, mit ſchwarzen, hoͤlzernen
Wetterdaͤchern daruͤber. Der erſte Stock hat
meiſt immer zwey hohe und breite Fenſter,
[89] mit Saͤulen eingefaßt, und vor denſelben ei-
nen Balkon, mit einem eiſernen oder mar-
mornen Gelaͤnder umgeben. Der zweyte Stock
hat bald Austritte vor den Fenſtern, bald
nicht, und im dritten ſind die Fenſter meiſt
immer mit ſchwarzen Laden vermacht, uͤber
welche die eben ſo ſchwarze Dachtraufe weit
heruͤber ſteht. Auf dem flach gehaltenen Dache
ſchwanken hoͤlzerne Altane, unter welchen die
Waͤſche der Hausbewohner ſehr widerwaͤrtig
im Winde ſpielt. Ein deutſches Auge, das
an abgeputzte, oder wenigſtens reinliche, Auſ-
ſenſeiten der Haͤuſer gewoͤhnt iſt, findet in
Verona ſeine Rechnung nicht. Die urſpruͤng-
liche Beraffung iſt abgefallen und die Steine,
woraus die Mauern beſtehen, in welchen
Bruchſteine, Werkſtuͤcke und Backſteine unter
einander gemengt ſind, erſcheinen in ihrer gan-
zen Nacktheit. Um den Eindruck von Duͤſter-
keit zu vollenden, bemerkt man noch den Um-
ſtand, daß alle Haͤuſer geſperrt gehalten wer-
den, und daß die Bewohner derſelben nur
[90] mit dem Hausſchluͤſſel heraus und hinein
koͤnnen. Die Straßen beſonders, die keine
Gewoͤlbe und Kramladen im Erdgeſchoſſe ha-
ben, geben ein wahres Bild der Veroͤdung,
und ihrer findet man immer mehrere, je wei-
ter man ſich von den lebhaftern, oͤffentlichen
Plaͤtzen entfernet.


Die Gegenden um letztre her, ſind in Ve-
rona, wie uͤberall, auch heiterer und lebendi-
ger. Hier ſtehen die groͤßeren und ſchoͤneren
Haͤuſer des Adels und ſeine Pallaͤſte.
Von beyden Arten ſind viele in Verona, und
man findet ſie, bis auf einige, ziemlich in und
an dem Mittelpunkte der Stadt beyſammen,
z. B. um und an dem Platze Bra, dem
Herrenplatze, dem Kraͤuterplatz und in
den Straßen, die mit zum Korſo gehoͤren.
In dieſen Gegenden ſieht man auch die merk-
wuͤrdigen oͤffentlichen Gebaͤude und die Ueber-
bleibſel aus den mittlern und aͤltern Zeiten,
deren Verona einige ganz merkwuͤrdige und
ein faſt einziges aufzuweiſen hat.


[91]

Die Haͤuſer und Pallaͤſte des Adels fallen,
wie vorhin erwaͤhnt, weniger oͤde und duͤſter
in die Augen, aber den allgemeinen Anſtrich
von Veraltung und Vernachlaͤſſigung tragen
doch die meiſten. Hier muß man das Auge
zwingen, ſich nur ſchoͤnen Verhaͤltniſſen und
an die Nettigkeit und Leichtigkeit, die ſie her-
vorbringen, zu halten, und nicht bey dem
Roſt und der Vernachlaͤſſigung zu verweilen;
man muß es anleiten, ein zierliches Portal
zu bemerken, wenn es auch mit Brettern ver-
ſchlagen iſt; eine geſchmackvoll verzierte Vor-
derſeite, nach Verdienſt zu ſchaͤtzen, ungeachtet
man ſie nicht vollendet hat; ein kuͤhn empor
geworfenes Treppengewinde gehoͤrig zu ſchaͤ-
tzen, obgleich es von Staub und Unrath
ſtarrt; und endlich eine Reihe, im gefaͤlligſten
Maaß und in Licht und Luft ſtehender, Zim-
mer, bey noch nicht fertigem Fußboden, mei-
ſterhaft zu finden. Es iſt in der That in ganz
Verona kein ſehenswuͤrdiges Haus, kein Pal-
laſt, keine Kirche, kein oͤffentliches Werk, wo
[92] man nicht das muthwillige und einſeitige Auge
im Zaume halten muͤßte, damit es nicht uͤber
der Menge von oft ſehr laͤcherlichen und un-
anſtaͤndigen Abſtichen, ſehr ſchoͤne und vollen-
dete Dinge uͤberſieht oder verſchmaͤhet.


Die Plaͤtze der Stadt ſind, bis auf den
Platz Bra, mehr enge als geraͤumig, und
fallen altmodiſch in die Augen, weil ſie zum
Theil oͤffentliche Gebaͤude einſchließen, deren
Anlage in ſehr fruͤhe Zeiten faͤllt. Dahin
gehoͤren der Herrenplatz und der Kraͤu-
terplatz
.


Der Herrenplatz iſt ein regelmaͤßiges Vier-
eck. Auf demſelben ſteht der Stadtpallaſt,
ein altes Gebaͤude, mit einer geraͤumigen Loge,
und einem Engel und einer Maria in Bronze,
von dem veroneſiſchen Kuͤnſtler Campagna.
Anziehender ſind die Bildſaͤulen einiger be-
ruͤhmten, aus Verona gebuͤrtigen, aͤltern Ge-
lehrten, welche die Stadt zu Ende des funf-
zehnten Jahrhunderts dort hat aufſtellen laſ-
ſen; es ſind Katullus, Kornelius Ne-
[93] pos, Aemilius Macrus, Vitruvius

und Plinius der aͤltere. Den Fraca-
ſtor
und Maffei ſieht man auf den beyden
Bogen, durch die man zu dieſem Platze ge-
langt. In den Saͤlen des gedachten Stadt-
pallaſtes ſind einige hiſtoriſche Gemaͤlde, die
meiſt auf die Kriegsthaten der Stadt Verona
Bezug haben, die aber die Zeit ſehr unſchein-
bar gemacht hat. Der Pallaſt des Podeſta
und des Capitano, beydes veraltete Wer-
ke, ſtehen auch auf dieſem Platze; und in deſ-
ſen Naͤhe findet man die Grabmaͤler einiger
ehemaligen Beherrſcher von Verona aus dem
Hauſe Scala, als des „Can Grande“, des
„Can Signorio“ und des „Can Mastino“,
Werke in gothiſchem Geſchmack, die im Gan-
zen eben keine gefaͤllige Wirkung thun, deren
einzelne Theile aber mit viel Feinheit und Leich-
tigkeit gemeiſelt ſind.


Der Kraͤuterplatz, ein laͤngliches Vier-
eck, wenigſtens noch einmal ſo groß als der
Herrenplatz, iſt, beſonders des Vormittags,
[94] einer der lebhafteſten Punkte in Verona, und
vorzuͤglich geſchickt, von dem Aeußern, der
Sprache und dem Weſen der niederen Volks-
klaſſen einen Begriff zu geben. Maͤnner und
Weiber kaufen hier die Beduͤrfniſſe fuͤr den
Mittag ein; und ich glaube die erſtern zahl-
reicher auf dieſem Markte geſehen zu haben,
als die letztern. Die Gewohnheit, daß Haus-
vaͤter fuͤr die Kuͤche ſorgen und den Einkauf
in eigener Perſon nach Hauſe tragen, war
mir nicht neu mehr, weil ich ſie ſchon in Ro-
veredo geſehen hatte; Maͤnner aber mit eben
der Beredſamkeit, Waarenkenntniß und Zaͤhig-
keit, (wenn man mir dieſen Ausdruck erlauben
will) feilſchen und bieten zu ſehen, als die
Weiber, war mir ganz neu und beluſtigte mich
außerordentlich. Ueberhaupt hat die Art, wie
die Italiener handeln, ſo viel Eigenthuͤmliches,
daß ich vielleicht weiter unten der Verſuchung
nachgebe, einige Bemerkungen daruͤber mitzu-
theilen. Im Ganzen genommen iſt es eine
Art von Krieg, den man mit großer Heftig-
[95] keit fuͤhrt, waͤhrend deſſen man ſich eine Men-
ge boͤſer und hoͤhniſcher Worte ſagt, und der
endlich, wie alle, doch damit endigt, daß einer
der ſtreitenden Theile hinter das Licht gefuͤhrt
wird. Außer den gruͤnen Waaren, die dieſem
Platze den Namen geben, ſind in den Ge-
woͤlben, die das Erdgeſchoß der Haͤuſer ent-
haͤlt, eine Menge anderer von jeder Art feil.


Hier ſteht das große Kaufhaus (Casa
de’ Mercanti
), das ſchon zu Anfange des
vierzehnten Jahrhunderts erbauet wurde. In
demſelben ſind Boͤrſe, Niederlage, und Ge-
richtshof der Kaufleute in Handelsſachen, bey
einander. Man ſieht hier abermals ein Ma-
rienbild in Bronze von Campagna; und uͤber
einem benachbarten Springbrunnen eine noch
weit aͤltere marmorne Bildſaͤule (vom Jahre
806, nach Maffei) welche die Stadt Verona
vorſtellt, mit einer Krone auf dem Haupt und
einem Papier in der Hand, worauf die Worte
ſtehen:
[96]Est iusti latrix
Urbs haec, et laudis amatrix.
*)


Das hieſige Kollegium der Advokaten gruͤn-
det auf dieſe Inſchrift ſein Alterthum und
ſeine Gerechtigkeitsliebe; der Adel ſein Ehr-
gefuͤhl; die Gelehrten und Kuͤnſtler ihren
ſchon fruͤh erkannten Eifer fuͤr Gelehrſamkeit
und Kunſt; und alle wiederholen dem Frem-
den gern dieſe kurze Charakteriſtik ihrer Stadt,
die, was wenigſtens den letzten Zug derſelben
betrifft, in der That noch jetzt paſſend iſt.
Wie man aber mit dem erſteren das wunder-
liche Vorrecht reimen will, das eine benach-
barte, noch ſtehende, oben mit einem Loͤwen
beſetzte, Saͤule hatte, vermoͤge deſſen ein
Schuldner, der ſie beruͤhrte, vor allen Verfol-
gungen ſeiner Glaͤubiger ſicher war, ſehe ich
nicht wohl ein; und Verona mag ſich mit
Padua und Neapel, die aͤhnliche Inſtitute
haben,
[97] haben, und mit den deutſchen Gerichtshoͤfen,
die eiſerne Briefe geben, vereinigen,
um die Gerechtigkeit fuͤr dieſe Sitte zu ge-
winnen.


Einige rieſenhafte, gemalte Figuren, ein
großer Heiliger, Chriſtoph, und ein hoher
Thurm, der mit zu den ſieben oder acht
Wunderthuͤrmen Italiens gehoͤrt, verſchoͤnern
noch, ſo gut ſie koͤnnen, dieſen Platz. Der
Pallaſt Maffei, der die obere ſchmale Seite
deſſelben einnimmt, thut dies auf eine mehr
befriedigende Art. Doch koͤnnte er noch ſchoͤ-
ner ſeyn, wenn ſeine Vorderſeite nicht zu
ſehr mit Zierrathen des Steinmetzen uͤberla-
den waͤre. Die uͤbrigen Haͤuſer um dieſen
Platz ſind meiſt anſehnlich genug, aber ver-
altet, wie alle uͤbrige, und ohne Merkwuͤrdig-
keiten in Abſicht der Bauart. Nichts kann
haͤßlicher ſeyn, als der Anblick ihrer Erdge-
ſchoſſe an einem Sonntage, wenn die alten
verwitterten Thuͤren und Fenſterladen der Ge-
woͤlbe geſchloſſen ſind.


Siebentes Heft. G
[98]

Heiterer, neuer und geraͤumiger, obgleich
unregelmaͤßig, iſt der Platz Bra. Er wird
von dem alten Amphitheater, von dem neuen
Hoſpital, von dem angefangenen, aber nicht
vollendeten, Pallaſte fuͤr den Proveditore,
von den Gebaͤuden der philharmoniſchen Aka-
demie, von drey oder vier neuen, in die
Augen fallenden, Pallaͤſten, worunter ſich der
Pallaſt Verza beſonders auszeichnet, und von
einer Reihe guter Buͤrgerhaͤuſer eingeſchloſſen.
Rund herum vor dieſen Haͤuſern und Pallaͤ-
ſten laufen breite Leiſten von Marmorplatten,
zur Bequemlichkeit der Spatziergaͤnger, die
beſonders gegen Abend dieſen Platz aufſuchen,
und ihn bis nach Mitternacht anfuͤllen. Un-
ter den Arkaden der Haͤuſer ſind Kaffee-,
Feinbaͤcker- und Kaufmanns-Gewoͤlbe aller
Art hart neben einander, vor welchen Stuhl
an Stuhl ſteht, die immer mit Menſchen be-
ſetzt ſind, waͤhrend der Reſt innerhalb oder
außerhalb dieſer Arkaden ſich auf- und ab-
draͤngt, oder ſich Zugweiſe in die daran ſtoßende
[99] Neue Straße verliert, von daher aber beſtaͤn-
dig zu dieſer Stelle zuruͤckkoͤmmt. Die Naͤhe
jener Straße vermehrt uͤberhaupt die Lebhaf-
tigkeit des Platzes Bra, weil die Korſofahrer
immer ein Stuͤck deſſelben beruͤhren; wer in
das Theater faͤhrt oder geht, koͤmmt gewoͤhn-
lich auch uͤber dieſen Platz, weil es unmittel-
bar an denſelben ſtoͤßt.


In der Mitte dieſes Platzes ſteht ein
Denkmal, welches die Vereinigung der Adige
und Venedigs, mithin die Unterwerfung von
Verona an dieſen Freyſtaat, vorſtellt, das
aber weder anſehnlich genug iſt, um dieſen
Platz zu zieren, noch gut genug gearbeitet,
um den Kenner anzulocken und zu feſſeln.
Als eine Schmeicheley fuͤr Venedig iſt es zu
ſchwach, als ein Kunſtwerk fuͤr Verona zu
ſchlecht.


Die Zierde, die das alte Amphitheater die-
ſem Platze verſchafft, muß ein wenig durch
Gelehrſamkeit, Einbildungskraft und Liebha-
berey heraus gehoben werden, wenn ſie nicht
G 2
[100] fuͤr eine Verunſtaltung deſſelben gelten ſoll.
Wer bloß Laye iſt, ſieht an dem Aeußern deſ-
ſelben nichts, als eine hoͤhere Mauer, die ſo
alt, ſo roſtig, und eine niedrigere, die ſo zu-
ſammen gedruͤckt, ſo verwittert und benagt
iſt, daß ſie ein Bild der Verwuͤſtung vorſtel-
len koͤnnte. Er hat wohl einmal davon gele-
ſen, aber was er las, nicht im Geiſte des Al-
terthums genommen; deshalb vermuthet er
ein glattes, feſtes, majeſtaͤtiſches Werk, etwa
nach altdeutſcher Art von großen Werkſtuͤcken
aufgefuͤhrt, zu ſehen; aber er findet in dieſen
Mauern kleine, groͤßere und große Steine
durch einander gemengt und plump mit Moͤr-
tel beworfen. Betritt er das Innere, ſo ſieht
er links [und] rechts gewoͤlbte Gaͤnge, die hoͤchſt
unanſehnlich ſind, weil ſie aus kleinen, run-
den Steinen beſtehen, zwiſchen welche der
Moͤrtel abermals Klumpenweiſe hinein gewor-
fen iſt, und die eben ſo wenig berafft ſind,
als die Haͤuſer in Peri. Die Kieſel, die nun
ſchon ſeit Jahrhunderten unerſchuͤttert an ein-
[101] ander kleben, ſcheinen ihm endlich auf den
Kopf fallen zu wollen, und er ſchaͤmt ſich, daß
er nicht einmal von einem ſtattlichen Quader-
ſtein erſchlagen werden ſoll. Der innere
Umgang des Erdgeſchoſſes iſt ihm unertraͤg-
lich ſchmutzig; er findet ihn voll Waſſer; und
die Ein- und Ausgaͤnge der Arena ſind ihm
zu klein, und die Treppen zu enge nach Ver-
haͤltniß des Ganzen. Eine beſſere, aber keine
große, Wirkung thut auf ihn die Arena ſelbſt,
mit den rund herum emporſteigenden Sitzen.
Er verwundert ſich uͤber die aufgethuͤrmte
Steinmaſſe, aber er bewundert ſie nicht; er
hat, nach ſeiner Meynung, nicht den Genuß
des Schoͤnen und Großen. Die uͤber einan-
der gereiheten Sitze druͤcken ſich, von der ent-
gegen geſetzten Seite geſehen, ganz auf einan-
der, und er bemerkt nichts, als eine Ring-
mauer, in Abſaͤtzen aufgefuͤhrt. Und wie moͤ-
gen, ſagt er laut, die ſchmutzigen Fuͤße deſſen,
der auf der naͤchſten Stufe uͤber dem Andern
ſaß, dieſem zwiſchen den Schultern geſpielt
[102] und ihm die Toga verdorben haben! Die
beyden Ehrenplaͤtze des Ovals, die einander
gegenuͤber ſtehen, und die ihm wohl auch
Staͤnde fuͤr die Spielleute geweſen ſind, was
ſie ihm klein und unanſehnlicher ſcheinen! Die
Vomitorien, die zwey und zwanzig tau-
ſend Menſchen zu Ausgaͤngen dienen ſollen,
duͤnken ihm bloße Luftloͤcher; und wenn man
ihm vorſtellt, daß alle dieſe Dinge, eben we-
gen der Groͤße des Ganzen, ihm ſo klein
vorkommen, ſo antwortet er mit der wunder-
lichen Frage: warum hat der Baumeiſter
nicht fuͤr Verhaͤltniſſe geſorgt, die dem Um-
fange des Ganzen und dem Vermoͤgen des
Geſichts beſſer entſprechen?


Gelehrte und Alterthumsforſcher wiſſen,
wie ſolchen Layen zu antworten iſt. Sie
kennen aus Kupfern und Beſchreibungen die-
ſes Werk des Alterthums zu gut, und haben
das Maaß ſeines Umfangs von außen und
innen, die Anzahl der Sitze, die Ordnung der
Bauart, den Namen des vermuthlichen
[103] Erbauers und die uͤbrigen Merkwuͤrdigkeiten
deſſelben zu ſehr im Gedaͤchtniſſe, als daß ich
noͤthig haͤtte, es noch einmal zu beſchreiben,
und dadurch die Bemerkungen aller und jeder
Layen und zugleich die, an modernen Putz
gewoͤhnten, Kunſtkenner zu widerlegen. Ge-
gen die letzteren wiederhole ich nur, daß man
in Italien einen gewiſſen Stutzerſinn in Be-
urtheilung der Werke der Kunſt ablegen
muͤſſe, den man ſich ſo leicht in Frankreich
und England angewoͤhnt. Wer in dieſen
Laͤndern ſein Kunſtgefuͤhl gebildet hat, laͤßt
erſt etwas ſpaͤt den Alten und ihren Nachah-
mern Gerechtigkeit widerfahren, weil er das,
was er fuͤr ſchoͤn und vollkommen haͤlt, von
dem Charakter der neuern Schoͤnheit und
Vollkommenheit abgezogen hat. Dieſer iſt
Nettigkeit, Glanz und Vollendung; bey den
Alten war er nichts, als Erfuͤllung des
Zwecks. Wer auf der andern Seite ſein
Kunſtgefuͤhl aus Italien holte, befreundet ſich
wiederum ſchwer mit den Werken der fran-
[104] zoͤſiſchen und engliſchen Meiſter. Hat man
alſo einen recht aufrichtigen, gefuͤhlten Ge-
fallen an dem Dom der Invaliden zu
Paris, ſo haͤlt man die aͤußere Form des
Pantheons in Rom fuͤr einen großen
Backofen, mit einem ſchoͤnen Portikus, der
nicht dazu gehoͤrt; und das Innere, beſonders
nach einem ſtarken Regen, fuͤr eine Art von
Marſtall; hat man hingegen einen aͤhnlichen
Gefallen am Pantheon, ſo vergleicht man
jenen Dom, ſeiner aͤußern Form nach, mit
einer Nuͤrnbergiſchen Bindfadenbuͤchſe, und
ſeiner innern Geputztheit nach, mit dem Gar-
tenpavillon einer galanten Frau.


Das neue Hoſpital, das man nahe
an dem Amphitheater jetzt auffuͤhrt, ſcheint
eins der ſchoͤnſten in Italien zu werden. Die
Anlage iſt groß und erhaͤlt durch eine Saͤu-
lenſtellung, die an der Vorderſeite hinlaͤuft,
jetzt ſchon, da ſie noch nicht vollendet iſt, ei-
nen Anblick von Pracht und Groͤße. Aber
eben dieſe Groͤße und Pracht laſſen fuͤrchten,
[105] daß die Liebe zur Kunſt und Wohlthaͤtigkeit,
zwar nicht nachlaſſen, aber ſich an den Mit-
teln erſchoͤpfen moͤchte, die zu ihren Werken
unentbehrlich ſind. Dieſe Furcht begruͤndet
der unvollendete, in der Naͤhe ſtehende Pal-
laſt des Proveditore
, der ſeit dem
Jahre 1609, wo er angefangen wurde, noch
nicht zur Haͤlfte vollendet iſt, auch wohl
ſchwerlich vollendet werden wird, da ſeit mehr
als hundert Jahren kein Stein hinzu gekom-
men, und jetzt weder Verona noch die Repu-
blik in den Umſtaͤnden iſt, dem praͤchtigen
und geſchmackvollen Anfang ein aͤhnliches
Ende hinzu zu fuͤgen. Von dieſem Pallaſt iſt
das Gebaͤude der Philharmoniſchen
Akademie
nur durch zwey neben einander
ſtehende Bogen getrennt, durch die man von
dem Platze Bra in die neue Straße gelangt.
Es macht den Veroneſern Ehre, daß eine
oͤffentliche Anlage, die mit zum Anbau der
ſchoͤnen Kuͤnſte und Wiſſenſchaften beytraͤgt,
in ihrer Stadt nicht unvollendet geblieben iſt.
[106] Man war aber auch vorſichtig genug, dieſes
Muſeum nicht ausſchließend auf den Eifer
fuͤr die Muſenkuͤnſte zu gruͤnden, ſondern den
ſinnlichen Genuß, die Bequemlichkeit und
Wirthſchaftlichkeit zu Miterbauern und Mit-
erhaltern deſſelben zu machen. Die verſchie-
denen Anlagen dieſes Gebaͤudes werden dar-
uͤber naͤhere Aufklaͤrung geben.


Vor demſelben, nach dem Platze Bra zu,
iſt ein Vorhof, der auf drey Seiten von ei-
ner Galerie umſchloſſen wird, die auf Dori-
ſchen Saͤulen ruhet, und ſich nach innen oͤff-
net. Die Umgaͤnge enthalten eine Menge
von Alterthuͤmern, die in der Gegend von
Verona und in dieſer Stadt ſelbſt gefunden
ſind, und hier nach einer gewiſſen Ordnung
aufbewahrt werden. Dem Reiſenden duͤnken
ſie mehr oder weniger merkwuͤrdig, je nach-
dem er von Rom oder aus Deutſchland
koͤmmt. Im letztern Falle wird ihm die
große Sammlung alter Inſchriften, die in die
Mauern der Galerie eingelegt, und alter Al-
[107] taͤre, Basreliefs, Meilenzeiger, Fußgeſtelle ꝛc.
die zwiſchen den Saͤulen aufgeſtellt ſind, viel
Unterrichtendes und Anziehendes darbieten;
im erſteren Falle wird er freylich in dieſer
ganzen Sammlung nichts mehr finden, was
ihm neu waͤre, und er wird ſich ſogar wun-
dern, wie eine Menge Dinge als Merkwuͤr-
digkeiten hier aufgenommen worden, die theils
hoͤchſt unbedeutend, theils wohl auch ſichtbar
von neueren Pfuſchern nachgemacht ſind.


Der innere Raum, den der Vorhof ein-
ſchließt, iſt urſpruͤnglich zu einem botaniſchen
Garten beſtimmt, der aber bis jetzt noch ver-
mißt wird.


Die beſchriebene bedeckte Galerie und ihr
Vorrath, fuͤhren den Namen des Lapida-
riſchen Muſeums
und ſind fuͤr die Phil-
harmoniſche Akademie, eine gelehrte Geſell-
ſchaft, berechnet und ihr zur Aufſicht anver-
trauet worden. Niemand konnte auch dieſer
Pflicht ſich beſſer entledigen, als ſie, da ſie
mehrere Mitglieder beſitzt, die in den dahin
[108] gehoͤrigen Kenntniſſen theils ſehr bewandert
ſind, theils ſie zu ihrer Liebhaberey gemacht
haben. Dem gelehrten Grafen Muſelli
hat dies Muſeum ſeine jetzige Ordnung zu
danken.


Ehe man in das Hauptgebaͤude der Aka-
demie eintritt, laͤßt man das Auge bey dem
Portikus deſſelben, der auf ſechs Joniſchen
Saͤulen ruhet, wohlgefaͤllig verweilen, und
ſieht mit Vergnuͤgen das Bruſtbild Maffei’s,
der ſo viel gruͤndliche Verdienſte um ſeine
Vaterſtadt und beſonders auch um dieſe Aka-
demie hatte, uͤber der Thuͤre. Man tritt ſo-
dann in einen großen Saal zu ebener Erde,
der links zu den Verſammlungszimmern der
Philharmoniſchen, und uͤberhaupt der guten,
Geſellſchaft von Verona, rechts aber zur
Akademie der „Philotimi“ fuͤhrt. Der Name
deutet den Zweck dieſer Geſellſchaft an: ſie
ſollte eine Schule ſeyn, worin der Adel ſich
im Fechten, Reiten, Springen und andern
Kuͤnſten, die ſeinem Stande, theils aus Be-
[109] duͤrfniß, theils aus Vorurtheil, unentbehrlich
ſind, uͤben ſollte — nur der Adel, denn ein
jeder, der daran Theil nehmen will, muß ſich
der Adelsprobe unterziehen. Dies iſt das
zweyte Inſtitut der Akademie.


Auf das dritte habe ich oben ſchon hinge-
winkt. Sie ſoll der Sammelplatz der beſten
Geſellſchaft in Verona ſeyn, und ſie iſt es
auch als „Casino della Nobilità.“ Die
meiſten adelichen Haͤuſer nehmen Theil daran
und ſetzen einen Werth auf dieſe Theilnahme.
Man findet woͤchentlich mehrere Tage eine
Geſellſchaft von beyden Geſchlechtern dort,
und einen angenehmen Zeitvertreib, mag man
ihn am Spieltiſch, oder in der Unterhaltung,
oder vor einem Orcheſter ſuchen. Der Fremde
iſt hier eingefuͤhrt, wenn er eine Empfehlung
an irgend ein adeliches Haus hat. Dieſe
Leichtigkeit erkauft er freylich damit, daß er
in dem Hauſe [ſelbſt], dem er empfohlen iſt,
nie ſo eingefuͤhrt wird, wie man es in
Deutſchland verſteht; und dies iſt eben der
[110] Umſtand, weshalb ich oben geſagt habe, daß
auch Wirthſchaftlichkeit dazu tritt, dieſe Aka-
demie aufrecht zu erhalten. Außer der in
Italien uͤblichen, ſparſamen haͤuslichen Ein-
richtung, die einen ſolchen oͤffentlichen Ver-
ſammlungsort noͤthig macht, wird auch kein
Land ſo von Fremden angefallen; und das
Haus, das ihnen mit Gaſtfreyheit entgegen
kaͤme, wuͤrde bald in einen Gaſthof verwan-
delt werden, den Umſtand ungerechnet, daß
ein gefaͤlliger Hauswirth ſeinen Gaſtfreunden
Dinge zeigen, und Dinge daruͤber ſagen
muͤßte, die er tauſendmal ſchon gezeigt und
geſagt haͤtte. Ich halte dieſe beyden Gruͤnde
fuͤr ſtark genug, die Italiener zu entſchuldi-
gen, daß ſie ſich der Fremden ſo wenig an-
zunehmen, und ſie mit Fleiß der Raubſucht
der Gaſtwirthe und noch mehr ihres Geſin-
des zu uͤberlaſſen ſcheinen. Es ſind nur drey
oder vier Haͤuſer in ganz Verona, die zu
Gunſten regierender Fremden eine Aus-
nahme machen und ſie zu einem Thee oder
[111] Gefrornem einladen, aber auch, bey ihrer Ab-
reiſe, fuͤr dieſe gaſtfreundliche Aufnahme, ein
gut gewaͤhltes und dargebotenes Andenken
nicht verſchmaͤhen.


Das vierte Stuͤck der Akademie iſt end-
lich noch das große Schauſpielhaus, welches
ſie in ihrem Gebiete einſchließt. Es ſteht erſt
ſeit 1750, in welchem Jahre das vorige ab-
brannte. Der Saal iſt geraͤumig und laͤßt
dem Auge, in Ruͤckſicht ſeiner Verhaͤltniſſe,
nichts zu wuͤnſchen uͤbrig. Die Buͤhne ſelbſt
iſt zwar nur mit mittelmaͤßiger Mechanik
verſehen, und die Dekorationen ſind etwas
abgenutzt, ſie hat aber hinlaͤngliche Breite und
Tiefe und erhebt ſich, auf beyden Seiten mit
ſtattlichen Saͤulen verziert, uͤber das Par-
terre. Fuͤnf Reihen Logen ſteigen eine uͤber
die andre empor. Die Logen der drey erſten
Reihen haben Zimmer hinter ſich, um die
Beſitzer des Theaters deſto bequemer ſo ge-
nießen zu laſſen, wie es in Italien Sitte iſt.
Die Umlaͤufe ſind geraͤumig, die Treppen
[112] breit und von Stein. Aber auch hieher fol-
gen uns Ungehoͤrigkeiten, woraus dieſes, in
ſolchen Stuͤcken hoͤchſt natuͤrliche, Volk kein
Arg hat. Hinter jedem Vorſprunge dieſer
Umlaͤufe, ſteht eine Pfuͤtze, uͤber die man mit
Bedacht ſchreiten muß, woran ihr Geruch er-
innert; und in jeder Vorſtellung, der ich bey-
wohnte, ſah ich Eine oder Zwey Fledermaͤuſe,
die im Saale mit ſolcher Dreiſtigkeit herum
flogen, daß man wohl ſah, wie ungeſtoͤrt ſie
dies Weſen ſchon eine gute Weile getrieben
haben mußten.


Man ſieht endlich, in der Naͤhe des Pla-
tzes Bra, noch einige Truͤmmer von Alter-
thuͤmern, z. B. einen Bogen und ein Stadt-
thor, beyde ſehr ſchadhaft, aber auch beyde,
ſelbſt wenn ſie unbeſchaͤdigt waͤren, ohne alle
Bedeutung von Seiten des Geſchmacks und
der Kunſt.


Ich erlaube mir noch ein paar Bemer-
kungen uͤber die Kirchen dieſer Stadt.


Es
[113]

Es ſind ihrer in Verona weder ſo viele,
noch ſo praͤchtige, in Ruͤckſicht des Aeußern
und Innern, als verhaͤltnißmaͤßig in andern
großen italieniſchen Staͤdten. Ein paar aus-
genommen, ſchreiben ſie ſich alle aus dem 9ten,
11ten, 12ten, 13ten und 14ten Jahrhundert
her. Sie ſind groͤßeſtentheils von Backſteinen
aufgefuͤhrt; einige darunter zwar auch von
Marmor, aber von dem gemeinſten aus der
Nachbarſchaft, und immer ſind große Par-
tien von Backſteinen dazwiſchen gemauert.
Die Mauern ſelbſt ſtehen in ihrer natuͤrlichen
Geſtalt, unbeworfen, da; und Bauart, Faça-
den, Thuͤrme, Pfeiler und Gewoͤlbe ſind go-
thiſch, verſchnoͤrkelt und finſter, und die darin
befindlichen Bildhauereyen nicht durch ihre
Ausfuͤhrung ſowohl, als vielmehr durch ihren
Zweck merkwuͤrdig, der dahin geht, das An-
denken verdienter Maͤnner aufzubewahren.
Unter den Malereyen, die ſie beſitzen, ſind
merkwuͤrdigere, beſonders in Ruͤckſicht des
Anfangs und Fortgangs der Kunſt; und die
Siebentes Heft. H
[114] beruͤhmtern veroneſiſchen aͤltern Meiſter haben
Beytraͤge zu ihrer Verzierung geliefert, wie
z. B. Orbetti, Farinati, Tintoretti, Baſſetti,
Barbieri, Bruſaſorzi, Cignaroli, Paul Vero-
neſe u. v. a. m. Ich zeichne fuͤr meine rei-
ſenden Landsleute nur Zehn Kirchen aus,
worin ſie alles beiſammen finden werden, was
dieſe Meiſter Gutes fuͤr die Gotteshaͤuſer
ihrer Vaterſtadt gemalt haben, obgleich man
in allen uͤbrigen, ſelbſt den kleinſten Kloſter-
kirchen, wenigſtens Ein Bild antreffen wird,
das eines Beſuchs werth iſt. Ueberhaupt,
wenn gedachte Meiſter nicht Rafaele, Corre-
gio, Guido Reni, mit einem Worte, nicht
ganz vortrefliche Kuͤnſtler ſind, ſo gehoͤren ſie
doch zu den Guten, und man darf nicht be-
ſorgen, ſich den Geſchmack bey ihnen zu ver-
derben. Die gedachten zehn Kirchen ſind fol-
gende: S. Anaſtaſia, S. Biagio, der Dom,
S. Bernardino, S. Zenone, S. Luca, S.
Niccolo, S. Fermo, S. Stefano und endlich
S. Giorgio. Letztere iſt von außen und innen
[115] die neueſte und geſchmackvolleſte, und eine
wahre Gemaͤldeſammlung. In der Kirche
S. Bernardino feſſelt die Kapelle Pellegrini
am laͤngſten: ein wahres Kleinod in ihrer
Art, dergleichen ich vielleicht, an Einfalt, Ge-
ſchmack und Sorgfalt in der Ausfuͤhrung, in
ganz Italien nicht wiederfinden werde. *)
San Micheli hat ſie angegeben.


Ich gehe zu der lebendigen Merkwuͤrdig-
keit von Verona, zu dem Menſchen, uͤber.


H 2
[116]

Zweyter Abſchnitt.


  • Boden und Himmelsſtrich von Verona. Erzeugniſſe.
    Wetterbeobachtungen. Geringe Sterblichkeit. Volks-
    menge. Urſachen ihrer Verminderung. Der vero-
    neſiſche Adel. Deſſen Tracht. Anzug der ältern
    adelichen Damen und Anſtand der jüngern. Aus-
    gezeichnete körperliche Bildung. Zug von Winkel-
    mann, ſein Schönheitsgefühl betreffend. Unausge-
    bauete, nicht eingerichtete, Palläſte. Menge von
    Bedienten, beſonders Läuſern. Ungeſelligkeit. Sel-
    tenheit der Beſuche in den Häuſern. Falſche
    Schaam, eine ſeltene Erſcheinung. Graf Alexander
    Bevilacqua, ein Lohnbedienter. Anmerkung über
    ein paar italieniſche Charakterzüge. Liebhaberey der
    ſchönen und nützlichen Wiſſenſchaften und Künſte.
    Sammlungen von Kunſt-, Natur- und litterariſchen
    Merkwürdigkeiten. Große Meynung der Veroneſer
    von ihren Sehenswürdigkeiten. Ein dahin gehöriger,
    beſchreibender Zug. Ihre Willigkeit, ſie zu zeigen.
    Verhältniß der Stadt Verona mit Venedig. Der
    Mittelſtand oder der niedere Adel. Regierungspoli-
    tik der Signoria von Venedig. Die Kaufmann-
    ſchaft. Manufakturen und Handel. Schafzucht.
    [117] Seiden- und Weinbau. Die Geiſtlichkeit. Gerin-
    gere Klaſſen der Einwohner. Handwerker. Pöbel.
    Ein veroneſiſches Parterre. Lärm auf den Straßen.
    Anzug der gemeinen Bürger und Handwerker.
    Aeußeres des Pöbels. Bettler. Ihre Lebensart,
    Menge und Kunſtgriffe. Oeffentliche Vergnügungen.
    Der Korſo. Das adeliche Kaſino. Eingeſchränkt-
    heit der Unterhaltungen. Erſcheinungen von Rach-
    ſucht und Meuchelmord. Verſchwundene Galanterie.
    Das große Theater. Benehmen in demſelben, von
    Seiten der Zuſchauer und der Schauſpieler. Dra-
    matiſche Bude in dem alten Amphitheater. Waiſen-
    und Findelkinder, feyerlich in dieſe Theater geführt.
    Wettrennen junger Läufer, umſtändlich beſchrieben.
    Abreiſe von Verona.

    Reiſe nach Mantua. Land um Verona. Horn-
    vieh, Schafe, Schweine. Villa Franca. Maſſecane,
    ein Städtchen von lauter Landhäuſern. Roverbella,
    erſter kayſerlicher Ort. Abſtich gegen die Venetia-
    niſchen. Veränderung des Weges, des Bodens und
    der Gegend. Anſicht von Mantua. Große Brücke.
    Großer Gaſthof. Pallaſt del Te. Ueber deſſen
    Form und Namen. Bemerkungen über Julius
    Romanus, als Baumeiſter und Maler. Wie viele
    junge Engländer reiſen. Inneres von Mantua.
    Palläſte. Verdienſte des Julius Romanus um die
    Lokalität dieſer Stadt. Die Domkirche. Der Her-
    zogliche Pallaſt. Die Andreaskirche. Beſteigung
    ihrer Kuppel. Ausſicht von derſelben. Bevölkerung
    der Stadt, auffallend gering. Politiſche und phyſi-
    ſche Urſachen davon. Anſicht der entferntern Stra-
    ßen. Mangel an Unterhaltung für Fremde. Ab-
    [118] reiſe nach Kremona. Schnelle Fahrt. Beſchaffen-
    heit des Landes und der Straße. Oerter, durch
    die man kömmt. Anſicht und Lage von Kremona.
    Inneres. Volksmenge. Ariſtokratiſche Verfaſſung.
    Menge des Adels. Geſellſchaftliches Leben. Der
    Dom. Der hohe Thurm. Entwicklung eines all-
    gemeinen italieniſchen Charakterzuges. Ariette, auf
    Sieben Glocken geſpielt. Taufkapelle. Schulen.
    Abreiſe nach Mayland. Umſatz des Bodens und
    zum Theil der Landſchaft. Wohlhabende Anſicht
    derſelben. Oerter, durch die man kömmt. Lodi.
    Anſicht von Mayland und Eintritt in dieſe Stadt.


Der Erdſtrich, auf welchem, und der Him-
melsſtrich, unter welchem, der veroneſiſche
Menſch lebt, ſind beyde zu ſeinem Gedeihen
ſehr vortheilhaft gewaͤhlt.


Der Boden des veroneſiſchen Gebiets,
das jetzt nur noch 70 ital. Meilen in die
Laͤnge, und ungefaͤhr 40 dergleichen in die
Breite hat, iſt von ſehr verſchiedener Art,
und bringt deshalb eine große Abwechslung
von Erzeugniſſen hervor. Die Berge liefern
heilſame Kraͤuter, Holz und Marmor; die
[119] Anhoͤhen geben Wein, Oehl und Obſt, und
ernaͤhren Heerden; die Ebenen ſind der Maul-
beerzucht und dem Ackerbau guͤnſtig; die Nie-
derungen bringen Reis. Ein großer See
(lago di Garda), ein großer Fluß (die Adige)
und mehrere kleinere, geben Fiſche und bewaͤſ-
ſern das Land. Nur Eine Wunde hat dies
Gebiet, die ſich jaͤhrlich verſchlimmert; es
ſind die Suͤmpfe, die das Austreten der
Fluͤſſe, beſonders der Adige, verurſacht, die
oft genug ſelbſt der Stadt großen Schaden
zufuͤgt.


Verona liegt, nach dem Auszuge des
Maffei, unter dem 46ſten Grade, 26 Minuten
und 26 Sekunden der Breite, und unter dem
28ſten Grade und 50 Minuten der Laͤnge.
Nach den neueſten Wetterbeobachtungen von
1788 bis 1791 *) war die mittlere Hitze in
Verona 11 Grad des Reaumuͤrſchen Thermo-
[120] meters. Die Stadt genoß 129 heitere, und
111 zum Theil heitere, zum Theil nebeligte,
Tage. Ihrer 125 waren durchaus nebeligt,
und 102 regneriſch. Der Oſtwind herrſchte
vor allen uͤbrigen, ſeltener der Suͤdweſt- und
Suͤdwind. Die Monate, wo es in Verona
am meiſten regnet, ſind der Junius und
Oktober; wo es am wenigſten regnet, der
Februar und Maͤrz. Im Jahre 1791 waren
der Geſtorbenen nur 1571, gewoͤhnlich ſind
ihrer ein Sechſtel mehr. Eine faſt unglaub-
lich geringe Sterblichkeit fuͤr die Bevoͤlkerung
der Stadt, die nur ein gluͤckliches Klima und
Maͤßigkeit moͤglich machen koͤnnen.


Man ſetzt die Volksmenge von Ve-
rona in deutſchen Erd- und Reiſebeſchreibun-
gen gewoͤhnlich auf 45 bis 55,000 Seelen.
Dieſe Zahl iſt ganz willkuͤhrlich, und nach der
„Verona illustrata“, angenommen, die „in-
circa“
45,000 zaͤhlt. Der Auszug dieſes
Buches, der im Jahre 1771 erſchien, berech-
net ſie nicht hoͤher. Wenn neuere Schrift-
[121] ſteller alſo 50 oder 55,000 zaͤhlen, ſo wollten
ſie nur eine andere Summe ſetzen, als Maf-
fei; und ſie fielen dabey in einen großen Irr-
thum, indem ſie annahmen, die Stadt muͤſſe
ſeit jenes Mannes Zeiten an Einwohnern ge-
wonnen haben. Dieſe Vorausſetzung hat
aber nicht die geringſte Wahrſcheinlichkeit, da
Verona ſchon ſeit ſeiner Unterwerfung an
Venedig (1405) in beſtaͤndigem Abnehmen
geweſen iſt. Schon um jene Zeit zogen ſich
viele anſehnliche Familien vom Adel aus die-
ſer Stadt, und ihr Verkehr ward von einer
Hauptſtadt, die auch Handelsplatz iſt, nach
und nach eingeſchraͤnkt, ſo feyerlich ſie auch
angelobt hatte, die kaufmaͤnniſchen Vorrechte
von Verona zu beachten. Ueberdies verlor
dieſe Hauptſtadt ſelbſt allmaͤhlig ihr großes
Handelsgebiet, und konnte die veroneſiſchen
Waaren, die ihr zugefuͤhrt wurden, nicht
mehr in voriger Menge vertreiben. Die
Manufakturen in Seide und Wolle, die in
Verona vorzuͤglich bluͤheten, ſanken ſonach.
[122] In der Nachbarſchaft kam Roveredo in Auf-
nahme und machte faſt in allen den Artikeln
Geſchaͤfte, die Verona hervorbrachte. Der
Handel von und nach Deutſchland, fuͤr wel-
chen Verona ein Legeplatz war, nahm ab,
weil die franzoͤſiſchen und engliſchen Seiden-,
Wollen- und Baumwollen-Waaren, die ita-
lieniſchen Fabrikate in Deutſchland und die
deutſchen in Italien verdraͤngten. Endlich
wurden noch einige der reichſten Familien
nach und nach dem goldnen Adelsbuch in Ve-
nedig einverleibt und gingen dadurch fuͤr Ve-
rona verloren. — Dieſe und andere Um-
ſtaͤnde bewirkten die Abnahme der Stadt,
und haben noch nicht aufgehoͤrt, ſie zu bewir-
ken, wie ein geuͤbtes Auge, bey der Muſte-
rung ihres Innern und ihrer Einwohner, auf
den erſten Blick, leicht bemerken kann. Ihr
Umfang, den man zu 6 ital. Meilen angiebt,
und ihre Haͤuſermaſſe koͤnnten uͤber hundert-
tauſend Einwohner bequem faſſen, ich zweifle
aber, daß ſie jetzt uͤber 36 bis 40,000 ein-
[123] ſchließen. Dieſe Angabe kann ich mit keiner
Berechnung aus Kirchen-, oder Raths-, oder
Polizeybuͤchern belegen; wie ſollt’ ich es auch,
da ſelbſt Maffei, der den letzten Stein in ſei-
ner Vaterſtadt kannte, hier ein „incirca[“] ſetzt;
ich baue aber auf jene Thatſachen, die gewiß
nicht auf Wachsthum ſchließen laſſen. Viel-
leicht koͤnnte ich mich auch auf eine Art von
Maaßſtab berufen, der Reiſenden nicht entſte-
hen kann, die viele Staͤdte geſehen, und ihre
Lebhaftigkeit mit ihrem Umfange und der
Groͤße und Anzahl ihrer Haͤuſer verglichen,
auch das wohlhabende oder armſelige Anſe-
hen, und die froͤhliche und reichliche, oder die
traurige und ſparſame, Lebensweiſe ihrer Ein-
wohner beobachtet haben. Es waͤre allerdings
ſeltſam, aus ſolchen Beobachtungen und Schluͤſ-
ſen zuverlaͤſſige Angaben ziehen zu wollen;
indeſſen kann man doch damit der Wahrheit
nahe kommen, oder wird wenigſtens nicht zu
weit daruͤber hinaus gehen.


[124]

Das lebendige Getuͤmmel in Verona ver-
raͤth eben ſo wenig Pracht und Glanz, als
die Haͤuſer, Kirchen und Pallaͤſte; oder zei-
gen ſie ſich, ſo iſt es in veralteter, verblaßter
Geſtalt.


Der Adel, der, nach Verhaͤltniß, der
wohlhabendſte Stand in Verona iſt, traͤgt
ganz auffallend dieſe Charakteriſtik. Die be-
jahrten Perſonen dieſer Klaſſe, die zum Theil
ſehr alte, und in der Landesgeſchichte ſehr
beruͤhmte, Namen haben, durchſchreiten die
Straßen zu Fuße, und erſcheinen in den ge-
woͤhnlichen Kaffeehaͤuſern, im Theater und im
adelichen „Casino“ ſelbſt, in einem Anzuge,
den man in Wien und in andern großen
deutſchen Staͤdten den geringern bejahrten
Schreibern und Regiſtratoren kaum verzeihen
wuͤrde. Gewoͤhnlich beſteht er in einem ver-
ſchoſſenen, ſeidenen Kleide, in einer gelbge-
wordenen geſtickten Weſte, in uralten ſeide-
nen Struͤmpfen, einem kurzen verroſteten
Stahldegen, und einem mit Taffet oder Wachs-
[125] tuch uͤberzogenen Hute; und man wundert
ſich, wenn man die deutſchen Begriffe noch
nicht abgelegt hat, Maͤnner von dieſem Aeu-
ßern mit „Conte Bevilacqua“, „Pellegrini“,
„Giusti“, „Pompei“, „Canossa“
ꝛc. anre-
den zu hoͤren. Die Juͤngeren von Adel tra-
gen ſich allerdings neuer, und zwar, ſeit ei-
niger Zeit, in ſeynſollenden engliſchem Ge-
ſchmack; aber die Zuſammenſetzung ihres An-
zuges iſt zum Theil ſehr wunderlich; und was,
zum Beyſpiel, bey den Englaͤndern durchaus
Tuch, oder Leder, oder Baumwolle ſeyn muß,
iſt hier Seide, Seide und Seide. Die Fein-
heit und Sauberkeit der Englaͤnder in ihren
Kleidungsſtuͤcken, ihre beſcheidenen und halt-
baren Farben, ihre Einfachheit in Schnallen,
Uhrketten und Haarputz, ihr runder Hut, ihr
ungezwungener, oft auch ungezogener, An-
ſtand — ſind lauter Dinge, die gegen den
Charakter und mithin gegen den Geſchmack
der Italiener anſtoßen; und wenn ſie ſich ein-
zeln in einem engliſchen Frack, oder in einem
[126] runden Hute, oder in einem ſchlichten Haare
zeigen, ſo kann man darauf rechnen, daß ſie
wiederum zu dem erſtern eine hoͤchſt ſorgfaͤl-
tige Friſur und den Hut unter dem Arm, zu
dem andern, einen Haarbeutel und Degen,
und zu dem dritten, ein ſeidenes Kleid, tra-
gen werden. Dieſer Mangel an Geſchmack
und Paßlichkeit wird dadurch unterhalten,
daß der juͤngere Adel von Verona nicht rei-
ſet, ſondern ſeine Moden von den einzelnen
Reiſenden abnimmt, die er in ſeiner Vater-
ſtadt ſieht.


Mit der weiblichen Haͤlfte des Adels iſt
es derſelbe Fall. Die aͤlteren Damen ſchei-
nen noch ganz nach dem Geſchmack ihrer
Muͤtter gekleidet zu ſeyn, und ich getrauete
mir kaum, ſie von den aͤltern Rathsfrauen
der großen deutſchen Reichsſtaͤdte zu unter-
ſcheiden, wenn nicht Anſtand und Miene und,
bey feyerlichen Gelegenheiten, auch alte, aber
gehaltvolle, Geſchmeide von Brillanten und
Perlen, einen Unterſchied bemerklich machten.
[127] Die Juͤngern kleiden ſich allerdings beſſer,
aber doch nur immer ſo, daß es allenfalls in
Leipzig und Dresden, aber nicht einmal in
Berlin und Muͤnchen, noch weniger in Wien
und Warſchau, fuͤr ihren Stand hingehen
koͤnnte. Den Anſtand und das ungezwungene
Weſen der Weiber aus den hoͤhern Klaſſen
in Berlin, Wien und Warſchau ſucht man
hier vergebens; deſto ſichtbarer wird dagegen
ein gewiſſes ſteifes, kleinſtaͤdtiſches Benehmen,
welches ſelbſt ein hier ſehr haͤufiger ſchoͤner
Wuchs und ein großes, ſchwarzes Auge nicht
verſtecken koͤnnen.


In Ruͤckſicht der koͤrperlichen Bildung
ſcheint der veroneſiſche Adel von einer ganz
andern Voͤlkerſchaft zu ſtammen, als der ve-
roneſiſche Buͤrger und gemeine Mann. Man
ſieht unter demſelben viel große, wohlgebauete
Figuren, mit ausdrucksvollen, maͤnnlichen Ge-
ſichtern, einem feinen Mund und einer ſtatt-
lichen Habichtsnaſe. Die Geſichtsfarbe faͤllt
mehr ins Braune, laͤßt aber in den oberen
[128] Gegenden der Wangen ein feines Roth her-
durch ſchimmern. Das Auge iſt groß, ſchwarz
und geiſtreich, der Bart, wie das Haupthaar,
ſchwarz und ſtark.


Bey dem erſten Anblick dieſer Menſchen
erkannte ich eine kleine Ungerechtigkeit, die
ich an Winkelmann begangen hatte, als ich
den Zug von ihm hoͤrte oder las, daß er ſich,
bey ſeiner ungluͤcklichen Ruͤckreiſe nach Deutſch-
land, mit den deutſchen Geſichtern nicht habe
ausſoͤhnen koͤnnen. Ich hielt dies damals
fuͤr Ziererey; jetzt aber widerrufe ich mein
Urtheil. Schon in Verona iſt mir keines
der unbedeutenden, rothen und runden Geſich-
ter vorgekommen, die einem in Franken,
Bayern und Oeſterreich ſo oft begegnen, und
deren es in England vielleicht noch mehr ge-
ben wuͤrde, als in Deutſchland, wenn die
Verfaſſung jenes Landes nicht ihre Buͤrger
vor Charakterloſigkeit bewahrte.


So wie der veroneſiſche Adel ſeinen An-
zug vernachlaͤßigt und ungebuͤhrlich veralten
laͤßt,
[129] laͤßt, ſo haͤlt er es auch mit allen ſeinen
uͤbrigen Umgebungen. Ich habe geſagt, daß
er ſeine Haͤuſer und Pallaͤſte von außen und
innen ſelten ausbauet. Wie ſie der Sohn
von dem Vater erhaͤlt, ſo laͤßt er ſie, und
waͤre auch nur die letzte Hand anzulegen.
Dies iſt allerdings nicht immer Geitz, ſon-
dern dringende Nothwendigkeit, weil ſich oft
genug der Vater durch den Bau eines Palla-
ſtes, durch die Anhaͤufung von Kunſt- und
Naturprodukten erſchoͤpft hat; aber welcher
Deutſche machte nicht lieber Schulden, um
ein vollendetes Haus zu bekommen, um ir-
gend eine Sammlung zu einem gewiſſen be-
ſtimmten Grade von Vollſtaͤndigkeit zu brin-
gen? Ueberlegung und eigner Vortheil, und
mehr noch, eine gewiſſe Schaam, dringen ihm
dazu. Die Italiener haben aber ſolche Be-
weggruͤnde nicht; und es werden ſich weiter
unten mehrere Umſtaͤnde hervor thun, die die-
ſen auffallenden Unterſchied zwiſchen der deut-
Siebentes Heft. J
[130] ſchen und italieniſchen Art, hierin zu denken,
veranlaſſen.


Man kommt in Verona in Pallaͤſte, die
von außen ganz vollendet, im Innern aber
hoͤchſtens mit drey oder vier eingerichteten
Zimmern verſehen ſind, womit ſich die Herr-
ſchaft behilft. Alle uͤbrigen ſtehen leer, und
haben weder Tiſch noch Stuhl, weder Vor-
hang noch Tapete. Dafuͤr ſind ſie mit Ge-
maͤlden behaͤngt, deren Ankauf leicht zehn bis
funfzehn tauſend Zechinen gekoſtet haben kann,
und ſonach freylich mehr, als der praͤchtigſte
Hausrath gekoſtet haben wuͤrde. Hier zeigt
ſich ein großer Unterſchied zwiſchen der italie-
niſchen und engliſchen Denkungsart. Ein
Englaͤnder, der erſt zehn bis funfzehn tauſend
Zechinen fuͤr Gemaͤlde ausgiebt, wendet, wie
es ſich bey ihm von ſelbſt verſteht, verhaͤlt-
nißmaͤßig eben ſo viel auf die Saͤle, worin
er ſie aufhaͤngt, damit eines zu dem andern paſſe.


Die adelichen Haͤuſer der erſten Klaſſe in
Verona haben viel Bediente, beſonders Laͤufer,
[131] die bey den Korſofahrten nie fehlen duͤrfen;
wie ſchlecht ſie aber bezahlt ſind, zeigt ihr
Aeußeres. Drey hinten auf dem Wagen ſte-
hende Bedienten wetteifern in ungekaͤmmten
Haaren, ungewaſchenen Struͤmpfen und kah-
len Roͤcken; drey Laͤufer, deren einer lang-
ſam voran trabt, und zwey neben dem Wa-
gen bleiben, ſind noch armſeliger, und zeigen
ſich in kurzen Jaͤckchen von Kannefas, in
Beinkleidern von Nanking und in Zwirn-
ſtruͤmpfen, die von Schmutz ſtarren.


Was man in Deutſchland „ſeine Freun-
de bey ſich ſehen
“ nennt, verſteht man
hier nicht. Wer ſeinen Freund oder ſeine
Freunde ſehen will, weiß die Kaffeehaͤuſer,
wo ſie taͤglich zu gewiſſen Stunden zu finden
ſind. Dort wird ausgemacht, was man mit
einander zu thun hat. Sind es Sachen, die
nicht dringen, ſo wartet man auch bis zum
naͤchſten Kaſinotag. Nur die Damen nehmen
und geben Beſuche, da ſie hier, wie ander-
waͤrts, nicht ohne dieſelben beſtehen koͤnnen,
J 2
[132] und da ſie in ſolchen Faͤllen einander gewiſſe
Unordnungen wechſelſeitig uͤberſehen. Auch
die „Cavalieri serventi“ werden von den
„Dame servite“ angenommen, weil man ſie
als Hausgenoſſen betrachtet, denen die Sitte
ihres eigenen Landes nicht auffallen kann.


In dieſer Gewohnheit liegt eine der Ur-
ſachen, warum man in Verona ſo wenig
darauf denkt, in ſeinem Hauſe eingerichtet zu
ſeyn und geſchmackvoll zu wohnen. Gewoͤhn-
lich iſt man fuͤr ſich ſelbſt ſehr genuͤgſam
und verſchwendet bloß fuͤr Andre. Hier aber
kommen keine große Geſellſchaften in das
Haus Anderer, warum alſo einen Aufwand
machen, der unnuͤtz iſt? Waͤre Geſelligkeit in
Verona, ſo wuͤrde die Oede im Innern der
Haͤuſer bald verſchwinden; aber einer thut
hierin wie der Andre, und wenn es Alle
thun, wie koͤnnte Einer auf die Frage kom-
men, die uns Deutſchen noch oft ſo wichtig
und ſo fuͤrchterlich iſt: was werden die Leute
ſagen? Von dieſer Bedenklichkeit weiß man
[133] in der That in Verona nichts, und wird
man wohl in wenig italieniſchen Staͤdten et-
was wiſſen. Wenn die Italiener deshalb
ein feines Gefuͤhl fuͤr Schaam nicht kennen,
ſo kennen ſie wiederum auch nicht die falſche
Schaam, haben deshalb mehr Charakter, und
richten ſich nicht bloß ihretwegen zu Grunde.


Ich will ein Beyſpiel anfuͤhren, das die-
ſen Unterſchied zwiſchen der italieniſchen und
deutſchen Art zu denken recht auffallend dar-
legen wird.


Am Tage meiner Ankunft in Verona ver-
langte ich einen Lohnbedienten, und man ver-
ſprach, mir einen kommen zu laſſen. Nach
einigen Minuten pochte jemand an meine
Thuͤr, und ein mitteljaͤhriger Mann trat mir
mit einer anſtaͤndigen Verbeugung, in einem
ſaubern Frack, mit einer feinen Weſte, und
in ſeidenen Struͤmpfen, entgegen. Ich ſtand
vor ihm, hatte meinen Reiſehut in der Hand,
und fragte ihn, wie man einen rechtlichen
Kaufmann fragt, der einem Waaren anzubie-
[134] ten hat: was er mir braͤchte? — „Sie ha-
ben einen Lohnbedienten verlangt?“ ſagte
er. — Ja, man holt mir einen, erwiederte
ich. — „Ich bin es, zu Ihrem Befehl!“ —
So? ſagte ich, und ſetzte meinen Hut lang-
ſam wieder auf, denn ich war noch ſehr er-
hitzt. Beynahe haͤtte ich ihn daruͤber unwill-
kuͤhrlich um Verzeihung gebeten. Ich hatte
freylich ſchon oͤfter weit geputztere Lohnbedien-
ten geſehen; und gerade dieſer Putz hatte
mir verrathen, wer ſie waren; aber ſolch ein
Geſicht, ſolch ein Weſen und Anſtand hatten
mir nie das Erbtheil eines Lohnbedienten ge-
ſchienen. Hier indeſſen ſcheiterte meine Ge-
ſichterkunde gaͤnzlich. Er erfuͤllte mit ſo viel
Geſchicklichkeit und Schnelligkeit ſeine Pflicht,
daß er zeitlebens nichts gethan zu haben ſchien,
als Schuh abbuͤrſten und Kleider auspochen.
In weniger als einer halben Stunde war ich
auf dem Korſo. Er ging nicht hinter mir,
ſondern neben mir, weil ich ihn bald nach
den Beſitzern anſehnlicher Haͤuſer, bald nach
[135] den Namen der Voruͤberfahrenden fragte, von
denen er manche gruͤßte, die ihm den Gruß
hoͤflich und freundlich zuruͤckgaben. Ich freuete
mich, einen Menſchen gefunden zu haben, der
dieſen Herrſchaften als ein ehrliebender Be-
diente vortheilhaft bekannt ſeyn muͤßte, weil
ſie ſich ſo guͤtig gegen ihn bezeigten.


Er fuͤhrte mich in ein Kaffeehaus am
Platze Bra. Im Hereintreten kam uns ein
aͤltlicher Kavalier entgegen, der ihm eine
Kußhand zuwarf, und hoͤchſt freundlich ſagte:
bona sera, caro — ich verſtand — Ponte.
Waͤhrend ich mein Eis nahm, unterhielt er
ſich am andern Ende des Saals mit den
rechtlichſten Gaͤſten, die da waren: mit Geiſt-
lichen und Edelleuten.


Wir gingen darauf ins Theater. Unter-
wegs fragte ich ihn: ob ſein Name Ponta
ſey? — „Nein, Aleſſandro, zu dienen!“
erwiederte er. — Sehr vornehm! dachte ich:
aber in Italien traͤgt man ja ſo gern große
Helden- oder Heiligen-Namen zu Vornamen!


[136]

Vor dem Schauſpielhauſe winkte er einem
Livreebedienten, ungefaͤhr ſo, wie ihm ſein
eigener Herr gewinkt haben wuͤrde. Jener
kam geſprungen und behielt den Hut in der
Hand. Er behandelte mit ihm den Schluͤſſel
zu einer Loge des dritten Ranges, zu meinem
Gebrauch. Dieſer Schluͤſſelverkauf iſt ein
Vortheil, den ſich der aͤlteſte Bediente macht,
wenn ſeine Herrſchaft nicht in der Stadt iſt,
oder nicht ins Schauſpiel geht; er koͤmmt
auch den Fremden zu ſtatten, die ſonſt, da die
Logen an Familien vermiethet ſind, in das
Parterre unter die dortige ſchmutzige und laͤr-
mende Zuſchauerſchaft gehen muͤßten.


Im Theater ſelbſt nannte mir Aleſſandro
alle Namen der weiblichen und maͤnnlichen
Zuſchauer, die unter und neben mir in den
andern Logen waren, und mir durch irgend
etwas auffielen. Die uns am naͤchſten ſaßen,
gruͤßte er, und ſie dankten ihm ſo, wie es
noch immer geſchehen war. Mich traf kein
einziger befremdlicher Blick, daß ich mich etwa
[137] mit meinem Lohnlakayen ſehr gemein machen
moͤchte, da ich ihn bey mir in der Loge be-
hielte.


Solche Zuͤge entwickelten ſich die uͤbrigen
Tage zu hunderten, wenn ich mit ihm auf
der Straße, oder Merkwuͤrdigkeiten zu ſehen,
ging. Den zweyten Tag zeigte es ſich, daß
er Franzoͤſiſch ſprach; ein ziemlich ſeltener
Fall in Verona, wo, außer dem hoͤhern Adel,
faſt jedermann dieſe Sprache vernachlaͤßigt;
es zeigte ſich auch, daß er Alterthums- und
Kunſtkenner, mithin zugleich „Cicerone“, war.
Er kannte in der That das Amphitheater,
mit allen ſeinen Vermeſſungen und andern
Merkwuͤrdigkeiten, von außen und innen.
Den dritten Tag waren wir unter andern in
dem Pallaſte des Grafen Bevilacqua. Er
kannte deſſen Gemaͤlde und Bildhauereyen
nicht minder genau, als alle uͤbrige Schaͤtze
dieſer Art in der Stadt. Indem wir den
Pallaſt Bevilacqua verließen, kam uns deſſen
Beſitzer, der Graf gleiches Namens, auf der
[138] Treppe entgegen. Er gruͤßte Aleſſandro zu-
erſt, und dieſer gab ihm den Gruß zuruͤck,
ohne daß ich irgend eine Veraͤnderung an ih-
nen beyden bemerkte.


Die vielerley Talente, die Aleſſandro ent-
wickelte, nahm ich fuͤr einen hinlaͤnglichen
Aufſchluß uͤber ſein Weſen, ſeinen Anſtand,
ſeine Kleidung und Bekanntſchaften. Uebri-
gens ſah ich, daß er von mir nicht mehr Ge-
halt verlangt hatte, als jeder gewoͤhnliche
Lohnbediente, und daß er, ohne Ausnahme,
alle die Dienſte verrichtete, denen ſich kein
Platzbedienter entziehen kann. Mein Urtheil
uͤber ihn fiel dahin aus, daß er von rechtlichen
Eltern ſtammen, ſich durch Zeit, Uebung und
Reiſen die Bildung verſchafft, und ſich, bey
dem ſteten Durchfluge von Reiſenden, ein
kleines Vermoͤgen erſpart haben koͤnne, wo-
durch er ſein Aeußeres ſo ſauber und ge-
ſchmackvoll zu unterhalten im Stande waͤre.


Dabey blieb es bis an den Tag meiner
Abreiſe. Als ich ihm ſeinen Gehalt, (den er
[139] bey mir ſtehen laſſen) nebſt einer „mancia“*),
ausgezahlt hatte, uͤberreichte er mir ein klei-
nes Buch, das ziemlich zergriffen und mit
Namen und Anmerkungen angefuͤllt war;
und bat mich, ihm meinen Namen zu ſchen-
ken — „die Fremden, denen er gedient, haͤt-
ten ſich alle eingeſchrieben.“ — Ich blaͤtterte,
und auf allen Seiten las ich in allerley
Sprachen: der Graf Bevilacqua, Be-
ſitzer dieſes, Traͤger dieſes ꝛc. ver-
dient die Achtung, das Mitleid al-
ler ꝛc. hat mir mit ſo viel Treue,
Aufmerkſamkeit ꝛc. gedient
— Ich
war in der That ſehr uͤberraſcht. Aleſſandro,
ſagte ich: Sie ſind der Bevilacqua? —
„Nein,“ erwiederte er: „das war mein Va-
ter. Weiterhin kommen erſt die Blaͤtter, die
mich angehen.“ — Ich blaͤtterte weiter und
[140] es fand ſich ſo. Unterdeſſen erzaͤhlte er mir:
ſein Vater habe in ſeinem Alter das Gewerbe
zu treiben angefangen, was er jetzt nach ihm
triebe. Der Pallaſt, worin wir geſtern gewe-
ſen, ſey ſein Pallaſt geweſen, aber er habe
„mangiato tutto il suo ben“, und nur
dies Brod ſey ihm nachmals uͤbrig geblieben.
Er, Aleſſandro, habe ſeines Vaters Gaͤnge
mit den Fremden gemacht, und ſo ſeine anti-
quariſchen Kenntniſſe erworben, die ihm jetzt,
nebſt dem Dazugehoͤrigen, ſeinen Unterhalt
verſchafften. Er lerne ſeinen Sohn wiederum
dazu an, und dieſer gebe alle Hoffnung zu
einem brauchbaren „antiquario“ — — Das
Uebrige gehoͤrt nicht mehr hieher.


Wird ein adeliches deutſches Haus von
dem Alter und Anſehen, wie das von Bevi-
lacqua, zugeben, daß Einer aus der Familie
den Lohnbedienten, wenn auch unter dem
Namen „antiquario“ mache? In derſelben
Stadt, wo deſſen Vorfahren die ehrenvollſten
Stellen bekleideten und noch bekleiden? Im
[141] Mittelpunkt des Adels einer ſo adelsreichen
Provinz? Wuͤrde ein Mitglied dieſes letztern
den Aleſſandro Bevilacqua kennen, oder auch
nur ſehen wollen? Wuͤrde Familie und Adel
zugleich, ihn nicht auf irgend eine Art weg-
ſchaffen und ſonſt unterſtuͤtzen, ihm vielleicht
reichlich geben, wenn er es verlangte? Hier
iſt nichts von dem Allen! Der ehrliche Aleſ-
ſandro iſt fleißig, naͤhrt ſich, und falſche Schaam
ſtoͤrt ihn nicht darin, und ſeine Standes- und
Geburtsgenoſſen behandeln ihn, aus eben der
Urſache, freundſchaftlich nach wie vor. *)


Wenn die Italiener in der gottesdienſtli-
chen und philoſophiſchen Aufklaͤrung hinter
den Deutſchen, Englaͤndern und Franzoſen zu-
ruͤck ſind; in derjenigen, die aus dem geſun-
den Verſtande fließt, ſind ſie vor ihnen. Ihre
Liebe faͤngt in eigentlichem Sinne bey ihnen
ſelbſt an, und auf ihre Koſten lebt man unter
ihnen nie. Ihre Menſchenfreundlichkeit iſt
[142] ſehr nuͤchtern und uͤberlegt, und gewiſſe An-
wandlungen von Großmuth, von koſtſpilliger
Theilnehmung, von gutherziger Pralerey, die
bey den genannten Nationen noch haͤufig ge-
nug ſind, werden unter ihnen nicht bemerkt.
Wer deshalb nicht ſelbſt fuͤr ſich ſorgt, koͤnnte
leicht vor den Pallaͤſten ſeiner reichen Ver-
wandten verhungern. Dieſer Umſtand fuͤhrt
den andern herbey, daß in Italien nichts um-
ſonſt geſchieht, daß man Gefaͤlligkeiten, Lie-
besdienſte, Aufopferungen nicht kennt, und daß
man nirgends in der Welt, von fruͤher Kind-
heit an, ſeinen Vortheil ſo wohl verſteht.
Es iſt auffallend, wie kindlich unter andern
der deutſche Charakter in dieſem Punkt gegen
den italieniſchen erſcheint. Dahin gehoͤrige
Aeußerungen des erſtern begreift der letztere
nicht, oder findet ſie einfaͤltig und laͤcherlich.


Der veroneſiſche Adel iſt Liebhaber und
Befoͤrderer der ſchoͤnen und nuͤtzlichen Wiſſen-
ſchaften und Kuͤnſte. Seine Vaterſtadt ſteht
ſeit lange ſchon in dem Rufe, daß ſie dieſelben
[143] mit Eifer und Erfolg beſchuͤtzt und treibt.
Dieſem Ruf ſucht er mit lobenswuͤrdigem
Wetteifer aufrecht zu erhalten, und ſelbſt das
weibliche Geſchlecht nimmt an dieſem Beſtre-
ben Theil. Da er uͤberdies aus ſeinem Mit-
tel viele Stellen in der Regierung ſeiner Va-
terſtadt beſetzt, die eine gewiſſe Gabe von
Kenntniſſen erfordern, ſo iſt er gewohnt, ſeine
Geiſteskraͤfte zu uͤben. Es waͤre aber zu ſpaͤt,
wenn ich umſtaͤndlicher hieruͤber ſeyn wollte,
da einer meiner neueſten Vorgaͤnger *) ſich
[144] hinlaͤnglich daruͤber hat vernehmen laſſen;
auch zuverlaͤßig, denn ich habe ſeine Nach-
richten an Ort und Stelle gepruͤft und ver-
glichen, und ich unterſchreibe ſie mit dem be-
ſten Gewiſſen; nur bin ich nicht ſo willig,
wie der gutmuͤthige Spanier, Alles ſchoͤn,
vortrefflich und unverbeſſerlich zu finden.


Ueberhaupt genommen iſt faſt keine ade-
liche Familie in Verona, die nicht einen be-
ruͤhmten oder bekannten Namen fuͤr die Ge-
lehrten- und Kunſtgeſchichte von Verona ge-
ſtellt; *) faſt keine, die nicht irgend eine
Sammlung von Merkwuͤrdigkeiten fuͤr die
Alterthums- und Naturkunde, fuͤr die Kunſt
und Litteratur zuſammen getragen haͤtte und
noch zuſammen truͤge. Die Muſterung der-
ſelben macht den Aufenthalt in Verona vor-
zuͤglich angenehm und lehrreich, und die Leich-
tigkeit und Gefaͤlligkeit, womit dem Fremden
alle
[145] alle dieſe Schaͤtze geoͤffnet werden, verbreiten
ein ſehr guͤnſtiges Licht uͤber den Charakter
der Veroneſer.


Daß ihnen die Ueberzeugung ein wenig zu
nahe liegt, als ob Alles, was ſie beſitzen, den
Fremden fremd ſeyn muͤſſe, iſt ganz natuͤrlich.
Vor zwey Jahren entſchluͤpfte einer veroneſi-
ſchen Dame ein hieher gehoͤriger, hoͤchſt naifer
Zug, der fuͤr ihre Fortſchritte in der Laͤnder-
kunde ſehr wenig, aber fuͤr ihre Gefaͤlligkeit
und Gutmuͤthigkeit, Fremde mit veroneſiſchen
Seltenheiten bekannt zu machen, deſto mehr
beweiſet. Ein junger Ruſſe, aus einem guten
Hauſe, brachte einen Theil des Winters in
Verona zu. Es war der ſeltene Fall, daß
waͤhrend einer Nacht ein ſehr ſtarker Schnee
fuͤr hieſige Landesart fiel. Zwey Laͤufer kom-
men außer Athem in ſeinen Gaſthof, und la-
den ihn ein, ſich eiligſt in dem Kaſino einzu-
finden. Er fliegt dahin, und trifft eine große
Geſellſchaft von Herren und Damen bey ei-
nem Fruͤhſtuͤck an. Unterwegs iſt ihm auf
Siebentes Heft. K
[146] dem Korſo ein Zuſammenlauf von Volk vor-
gekommen. Er erkundigt ſich bey der Geſell-
ſchaft, was das ſeyn koͤnnte, aber man thut
geheimnißvoll, und er erhaͤlt keine deutliche
Auskunft. Unterdeſſen verwickelt er ſich mit
einer Dame in eine Unterhaltung und vergißt
ſeine Frage. Ploͤtzlich laͤuft die ganze Geſell-
ſchaft zu den Fenſtern, die uͤbereilt aufgeriſſen
werden. Dem jungen Ruſſen laͤuft ſeine Dame
auch davon und er folgt langſam, koͤmmt
mithin ſo zu ſtehen, daß ihm die Ausſicht
aus dem Fenſter durch die Uebrigen verſperrt
iſt. Seine Dame ſieht ihn, thut auf einmal
einen lauten aͤngſtlichen Schrey: Per pietà!
Meine Herren und Damen, machen
Sie doch Platz, daß der arme Fremde
unſre Schlittenfahrt ſehen kann
! —
Sogleich tritt Alles zuruͤck, und dieſelbe Dame
zieht ihn bey der Hand eiligſt zum Fenſter;
die Umſtehenden helfen ihm ſchnell nach, und
ſo zeigen ſie feyerlichſt dieſem — Ruſſen
dieſe Schlittenfahrt — die auf ſechs
[147] unanſehnlichen Schlitten, auf zuſammen
gekehrtem
Schnee, unter großem Jubel ei-
nes zahlreichen Volks, vor ſich geht, und fra-
gen ihn mit innigem Wohlbehagen, ob er je
ein „così curiosissimo e nobilissimo ſpet-
tacolo“
geſehen habe?


So wollte auch Aleſſandro außer ſich
kommen, als er mir die alten roͤmiſchen Ueber-
bleibſel, den Arco de’ Gavi, die Porta Bor-
sari,
die Truͤmmer von Saͤulen und Woͤlbun-
gen eines vermeynten alten Theaters u. a. m.
zeigte, und ich nichts Beſonderes daran finden
wollte, weil ſie in der That unbedeutend ſind,
und nichts weniger, als Spuren einer edlen
Baukunſt, verrathen. Dagegen begriff er
mich nicht, als ich die Dogana und die Fiera
wegen ihrer guten Bauart, und ihrer hoͤchſt
paßlichen und bequemen Einrichtung, ſo lobte,
wie es dieſe beyden bekannten und wirklich
nachahmungswuͤrdigen Anlagen verdienen.


Gingen aber auch die Veroneſer in der
Wuͤrdigung ihrer Seltenheiten zu weit, ſo
K 2
[148] kann man ihnen den Ruhm doch nicht neh-
men, daß ſie mit wahrer Vaterlandsliebe die-
ſelben erhalten und bewahren und mit liebens-
wuͤrdiger Gefaͤlligkeit zeigen. Die Erhaltung
des alten Amphitheaters hat die Stadtkaſſe
uͤbernommen und beſtreitet ſie von der Miethe
der Gewoͤlbe, die in der Ringmauer ange-
bracht ſind und von dem Pacht, den der
Schluͤſſel zum Innern traͤgt. Die Alterthuͤ-
mer der Philharmoniſchen Akademie erhaͤlt
dieſe Geſellſchaft; die oben erwaͤhnte Bruͤcke,
das Castel vecchio, ſteht ebenfalls unter oͤf-
fentlicher Vorſorge; ſelbſt der Poͤbel, hat Ach-
tung fuͤr dieſe alten Denkmale und ihre
Truͤmmer. Der Preis, wofuͤr man dieſe
Dinge ſehen kann, iſt aͤußerſt gering. Die
unverſchloſſenen ſieht man natuͤrlich umſonſt;
die verſchloſſenen fuͤr 2 Paoli (ungefaͤhr 6 Gr.
Saͤchſ.), und dahin gehoͤren alle die Kunſt-,
Muͤnz- und Naturalien-Sammlungen, die
hier ſo zahlreich aufbewahrt werden. Die
Beſitzer haben das Geſchaͤft des Vorzeigens
[149] gewoͤhnlich einem ihrer Bedienten uͤberlaſſen,
der auch die Trinkgelder einnimmt, ohne ſie,
wie man einigen roͤmiſchen „Principi“ nach-
ſagt, mit ihren Herren theilen, oder ihnen
jaͤhrlich einen gewiſſen Pacht davon geben,
oder ihnen dafuͤr ohne Gehalt dienen zu muͤſ-
ſen. In Verona treiben die Beſitzer oder
Beſitzerinnen ſolcher Sammlungen ihre Ge-
faͤlligkeit ſo weit, daß ſie, wenn ſich Merk-
wuͤrdigkeiten der Kunſt oder des Alterthums
in ihren innerſten Kabinetten oder Schlafzim-
mern befinden, ſich daraus ſo lange entfernen,
bis ſie der Fremde mit Muße beſehen hat,
er komme zu welcher Zeit er wolle.


Alle dieſe Umſtaͤnde zuſammen genommen,
verleihen der Stadt Verona einen gewiſſen
eigenthuͤmlichen Charakter, den man ſonſt aus-
ſchließend an Florenz ruͤhmt, und den ich alſo,
wenn es ſich ſo verhaͤlt, zu ſeiner Zeit dort
wieder finden werde. Gewiß iſt, daß die Ve-
roneſer den Fremden merken laſſen, wie viele
Urſachen ſie haben, auf feine und wohlgefaͤl-
[150] lige Sitten, auf Kenntniſſe, und auf reine
Sprache, Anſpruͤche zu machen; und ſie zie-
hen mit Wohlgefallen Beyſpiele aus aͤltern
und neuern Zeiten von erlauchten Fremden an,
die eine kuͤrzere oder laͤngere Weile mit Be-
hagen unter ihnen gelebt haben. Beſonders
ſcheint es mir, als ob ſie mit einer kleinen Bewe-
gung von Eiferſucht auf Venedig blicken und, bey
einer Vergleichung mit dieſer Stadt, in Ruͤckſicht
der Litteratur und Kunſt, vortheilhafter zu
ſtehen glauben. Es waͤre ganz natuͤrlich,
wenn die Veroneſer litterariſch und artiſtiſch
die Venetianer, ihre jetzigen Gebieter, zu
uͤbertreffen ſuchten, da es ihnen nicht mehr
erlaubt iſt, politiſch mit ihnen zu wetteifern.
Ehedem verhielten ſie ſich freylich zu den
Staͤdten Brescia, Padua, Vicenza, Treviſo
u. a. m. wie ſich jetzt Venedig zu dieſen Staͤd-
ten und zu Verona ſelbſt verhaͤlt, das heißt,
ſie waren ihre Beherrſcher und ſtanden, mit
den Venetianern auf gleich und gleich in Ver-
bindung, als Freyſtaat; ſeitdem ſie aber ihr
[151] Gebiet und ihre Macht an letztre verloren
haben, muß ſich die ehemalige politiſche Ne-
benbuhlerſchaft wohl nur auf einen wiſſen-
ſchaftlichen Wetteifer einſchraͤnken, weil der
geringſte Ausbruch einer andern, nicht ohne
eine harte Zuͤchtigung hingehen wuͤrde. Ve-
nedig iſt deshalb beſonders aufmerkſam auf
Verona, ſchont aber auch ſeinerſeits mit ziem-
licher Treue die alten Vorrechte, die es die-
ſer Stadt, bey ihrer Unterwerfung, zu erhal-
ten gelobt hat. Dies geht ſo weit, daß Ve-
rona in ſeinen Statuten, die, freylich nicht
ohne Dareinmiſchung venetianiſcher Grund-
ſaͤtze, in dieſem Jahrhundert zuſammen ge-
tragen worden, noch ein Freyſtaat heißt und
ſich durch ſeinen eigenen großen und kleinen
Rath regiert: doch iſt dies nur in Ruͤckſicht
buͤrgerlicher Angelegenheiten und immer unter
Vorſitz des venetianiſchen Beamten. Die
Statthalterſchaft, die ausuͤbende Gewalt, die
Kriegsſachen und das Kaſtell, S. Felice,
das die beyden andern und die Stadt ſelbſt
[152] beſtreicht, hat die Signoria fuͤr ſich be-
halten.


Unmittelbar an den Adel ſchließt ſich in
Verona ein Mittelſtand, der eine Art
von niederem oder buͤrgerlichen Adel, oder Pa-
triziat behauptet, weil aus ihm viele Stellen
in dem großen und kleinen Rathe und uͤber-
haupt in der Stadtregierung beſetzt werden.
Dies ſind die Kollegien der Advokaten, Pro-
kuratoren, Rechtslehrer und Doktoren der
Medicin, auch die Mitglieder der Kaufmann-
ſchaft. Da Verona bey ſeiner Unterwerfung
an Venedig eine demokratiſche Verfaſſung
hatte, welche die Oberherren der Stadt, um
ſich ſelbſt gegen die Uebermacht des Adels zu
erhalten, beſtaͤndig beguͤnſtigten: ſo blieben
dieſem Mittelſtande ſeine Rechte auf den Zu-
tritt zum großen Rathe auch nach der Unter-
werfung, und Venedig benutzt denſelben eben-
falls, um den hoͤhern Adel in Zaum zu hal-
ten, doch nicht ohne zugleich auch auf ihn ein
wachſames Auge zu haben. Denn da viele
[153] aus ſeinem Mittel zum Handels- und Ge-
werbsſtande gehoͤren, die, in der Nachbarſchaft,
ihre ehemalige Schweſter Roveredo, unter
Kaiſerlicher Herrſchaft ſo gluͤcklich gedeihen
ſehen; ſo ſetzt die Signoria voraus, daß ſie
die Kaiſerliche Regierung lieben, und beobach-
tet ſie genau; um ſo mehr, da ſie, bis zu ei-
nem gewiſſen Punkt, mit dem Adel, der wie-
derum dafuͤr geachtet wird, nicht vergeſſen zu
koͤnnen, daß er von Seinesgleichen (denn da-
fuͤr haͤlt er den Adel der Hauptſtadt) beherrſcht
wird, ohne ſelbſt an der Beherrſchung des
ganzen Staats Theil zu haben, ihr Intereſſe
vereinigen und, bey einer guͤnſtigen Gelegen-
heit, an den naͤchſten und fuͤrchterlichſten Feind
der Republik uͤbergehen koͤnnten, der in ſei-
nen aͤltern Verbindungen mit Verona, dem
ehemaligen Freyſtaate, hinlaͤngliche Gruͤnde
finden wuͤrde, ihnen ihr Verlangen nicht zu
verſagen, und ſich daruͤber zugleich diploma-
tiſch vor Europa zu rechtfertigen. Deshalb
hat die Republik ihrer Herrſchaft uͤber Verona
[154] noch zwey andere Pfeiler untergeſtellt — die
Eiferſucht der gemeinen Buͤrger und Hand-
werker auf dieſen Mittelſtand und den Adel,
die ſie ganz von der Stadtregierung ausſchlie-
ßen, und die Mißgunſt des Poͤbels, die die-
ſem gegen alles, was mehr hat, als er, zur
Natur zu werden pflegt. So wie die Signo-
ria den gemeinen Mann und den Poͤbel von
Venedig in einer Ehrfurcht, die nahe an An-
betung graͤnzt, gegen ſich zu erhalten weiß,
ſo verſtehen dies auch ihre Beamten bey dem
kleinen Buͤrger und Poͤbel in Verona zu be-
wirken, durch Mittel, die ziemlich einfach ſind
und nachher bey der Schilderung dieſer Volks-
klaſſen vorkommen werden.


Der gedachte Mittelſtand ſchließt eigent-
lich den Kern der Einwohner von Verona,
in Ruͤckſicht der buͤrgerlichen Stadt- und
Handelsgeſchaͤfte, ein. Die Zuͤnfte der Advo-
katen und Prokuratoren ſind die Seele aller
Rechts- und Gerichtsgeſchaͤfte, weil ſie, wie
uͤberall, nicht bloß Rechtshaͤndel, ſondern auch
[155] die Richter, zu fuͤhren verſtehen; weil ſie uͤber-
dies, neben ihrer Wiſſenſchaft, auch den Saͤckel
der Parten vor dieſen Richtern voraus ha-
ben; und weil ſie endlich in jeder Sache, die
mehr als 20 Paoli betraͤgt, an den venetia-
niſchen Beamten verwieſen ſind, und mithin
weiter reichen, als der laͤngſte veroneſiſche ade-
liche Arm, welche Stelle ſein Beſitzer auch
bekleide. Dieſer Standpunkt verſchafft ihnen
alſo nicht bloß Einfluß, ſondern auch gute
Einkuͤnfte, und ihr Orden gehoͤrt zu den wohl-
habenden, geachteten und gefuͤrchteten, in den
die aͤrmern Mitglieder des hoͤhern Adels, mit-
telſt eines Doktorpatents aus Padua, haͤufig
ſelbſt treten. Da ihrer Viele ſind, ſo fehlt
es auch nicht an Vielen Rechtshaͤndeln, und
man macht hier in Ruͤckſicht ihrer eine Fol-
gerung, die man wohl ſonſt zu Laſten der
Aerzte macht, daß nach ihrer Anzahl ſich die
Anzahl der Kranken richte. Wie uͤbrigens
dieſe Klaſſe ſich hier naͤhrt und erhebt, und
wie manche Familien der hieſigen „Conti“
[156] und „Marchesi“ entſtanden ſind — davon er-
zaͤhlt Keyßler, nach welchem noch manche
Reiſebeſchreibung aus den Neunziger Jahren
trefflich berichtigt werden koͤnnte, einen jetzt
noch charakteriſtiſchen Zug, den ich nicht wie-
derhole, da er einmal Deutſch gedruckt iſt. *).


Die Innung der Kaufleute in Verona hat
betraͤchtliche Vorrechte, die aus alten Zeiten
ſtammen und ihr bey der Unterwerfung ſind
verſichert worden. Die Wollen- und Seiden-
manufakturen waren von jeher der wichtigſte
Nahrungszweig der Stadt, und der Signo-
ria lag ſelbſt daran, daß er in ſeiner Bluͤthe
erhalten wurde, weil die Veroneſer ihre da-
hin gehoͤrigen Fabrikate der Hauptſtadt mit
Leichtigkeit und in Menge zufuͤhrten. In der
oben erwaͤhnten „Casa de’ Mercanti“, auf
dem Herrenplatze, hat ein „Vicariato“ ſei-
nen Sitz, das uͤber die Statuten der Kauf-
leute wacht, in Handelsangelegenheiten ent-
[157] ſcheidet, und von dem man unmittelbar an
den Podeſta und Cammerlengo appelliret.
Uebrigens nimmt die Kaufmannſchaft nur von
dem Rathe der Zwoͤlf und der Funfziger Ge-
ſetze an.


Die Kaufmannſchaft iſt, bis zu einem ge-
wiſſen Grade, immer noch wohlhabend in
Verona, und es iſt nicht Mangel an Eifer
und Aufmunterung, wenn ihr Handel und
ihre Manufakturen nicht mehr ſo bluͤhen, als
in aͤltern Zeiten, ſondern derſelbe anders ge-
richtete Zug des Weltverkehrs, der Venedig,
Genua und Holland herunter gebracht hat.
Bey Verona kommen oͤrtliche Urſachen hinzu.
Die Schafzucht z. B., war ehedem ſtaͤrker;
jetzt verwandeln die immer haͤufiger werdenden
Ueberſchwemmungen der Adige die Wieſen
und Aenger ihres Gebiets in Moraͤſte und
Suͤmpfe; und die Habſucht der Gutsbeſitzer
laͤßt die Berge und Huͤgel aufreiſſen, das
Buſchwerk ausrotten und verbrennen, um deſto
mehr Acker zu gewinnen. Dieſer doppelte
[158] Umſtand bewirkt die Verminderung der Schafe
von Jahr zu Jahr. Auch der Seidenbau
hat ſeit einer Reihe von Jahren abgenom-
men, welches man zum Theil der eingeriſſenen
Voreiligkeit der Landleute, die Seidenraupen
auskriechen zu laſſen, zuſchreibt. Die Seiden-
manufakturen ſelbſt, die ſich nie auf praͤchtige,
ſondern bloß auf gemeine, aber gangbare,
Waaren einließen, ſind ebenfalls ſehr geſun-
ken, doch beſchaͤftigen ſie jetzt noch die meiſten
Haͤnde in Verona, wie es deutlich in die Au-
gen faͤllt, wenn man auf den Straßen um
ſich ſieht. In und vor den Haͤuſern iſt Alt
und Jung mit Weben, Zwirnen und Spuh-
len der Seide beſchaͤftigt. Sonſt werden die
veroneſiſchen Lederbereitungen, ein paar Wein-
gattungen und geraͤucherte Waaren noch ge-
ſucht.


An die Klaſſe der Rechtsgelehrten und
Kaufleute ſchließt ſich die Geiſtlichkeit im
ſtaatsbuͤrgerlichen und im geſellſchaftlichen Le-
ben. Sie iſt wohlhabend und dieſe Wohlha-
[159] benheit ſchreibt ſich noch aus den Zeiten her,
wo Verona ein Freyſtaat war. Die politi-
ſchen Grundſaͤtze der Signoria ſind dem Ein-
fluß und dem Wachsthume der Geiſtlichkeit
an ſich nicht guͤnſtig, mithin iſt ſie hier in
ziemlich enge Schranken geſetzt, und ſie hat
nicht einmal den Vorzug, ſich ſelbſt zu richten,
den ſie ſelten entbehrt; ſondern der Podeſta,
der von Venedig geſetzt wird, ſpricht auch den
geiſtlichen Perſonen, doch unter einer gewiſſen
Formalitaͤt *) Recht. Uebrigens legen ſich
viele aus ihrem Mittel mit Eifer und Vor-
liebe auf klaſſiſche Gelehrſamkeit und auf
ſchoͤne Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, und ſie er-
ſcheinen literariſch und artiſtiſch mit dem Adel
und dem Mittelſtande genau verbunden, ſind
zum Theil Mitglieder der verſchiedenen hieſi-
gen Akademien, und haben, Moͤnche wie
[160] Weltgeiſtliche, ein gewiſſes feines Aeußeres,
welches ſonſt das Erbtheil der erſtern nicht zu
ſeyn pflegt, hier aber mit daher ruͤhrt, daß
jene in den Familien des kleinen Buͤrgers
Hausfreunde, und dieſe in den Haͤuſern des
Mitteladels „cavalieri serventi“ ſind. Ihre
Anzahl iſt uͤbrigens ſo betraͤchtlich in Verona,
daß ſie des Abends den Korſo, die neue Straße,
die Kaffeehaͤuſer und die Schnupftobacksladen
ſchwarz faͤrben.


Die Klaſſen der geringeren Einwohner,
vom kleinen Kraͤmer bis zum Bettler, haben
im Aeußeren und Inneren nichts mit den be-
ſchriebenen, hoͤhern gemein. Sie ſind mehr
uͤbel als wohl gebildet, und die, theils frey-
willige, theils nothgedrungene, Liederlichkeit in
ihrem Anzuge, traͤgt nicht dazu bey, ſie zu ver-
ſchoͤnern[.] Eine gelbe Farbe, viel Magerkeit,
krumme Kniee, ſchwarzes Haar, eine ſtarke
aber heiſere Stimme, ſind faſt allen gemein;
indeſſen, in den Zuͤgen ſelbſt habe ich noch in
keiner Stadt, Paris ausgenommen, ſolch eine
mannig-
[161] mannigfache Abwechslung gefunden, und an
eine Nationalaͤhnlichkeit, die eine gewiſſe, im-
mer wieder kommende, Falte, in Ruͤckſicht der
Mienen, der Bewegungen, des Accents in der
Sprache, des Totaleindrucks der Geſichter und
Gebaͤhrden ꝛc. dergleichen man in Hamburg,
Nuͤrnberg und Augsburg, ja in großen Haupt-
ſtaͤdten, wie in Berlin und Wien, ſogar noch
findet, iſt hier nicht zu denken. Dieſe Man-
nigfaltigkeit hat, außer ihren hiſtoriſchen Ur-
ſachen, auch die politiſche, daß der gemeine
Mann, weniger noch, als die hoͤheren Staͤnde,
ſich einer um den andern bekuͤmmert, und ohne
Scheu ſich ſo traͤgt und benimmt, wie ſeine
eigenthuͤmliche Bildung, Lage und Gemuͤths-
art es ihm eingeben. Daraus iſt der oben
erwaͤhnte Zug von den unanſtaͤndigen Jagden
der Hausmuͤtter an der Adige zu erklaͤren,
die anderwaͤrts, ſelbſt vom Poͤbel, insgeheim
gehalten werden; und daher faͤllt es hier
nicht auf, wenn ein Menſch vom Poͤbel, mit
ſchmutzigen Fuͤßen, ohne Schuh und Struͤmpfe,
Siebentes Heft. L
[162] ohne Muͤtze und Hut, mit bloßer Bruſt, durch
die Geſellſchaften auf dem Korſo und dem
Platze Bra ſich frey hindurch draͤngt; ſich
mitten unter ihnen mit andern ſeines Glei-
chen herum balgt; raſet und bruͤllt; ohne
Scheu und Ruͤckſicht allen natuͤrlichen Ver-
richtungen oͤffentlich obliegt, und ſich uͤber-
haupt ſo benimmt, als ob der Spatziergang,
oder der oͤffentliche Ort, wo er ſich befindet,
ihm ausſchließend zugehoͤre. Man kann un-
ter andern ſich die Ungezogenheit nicht den-
ken, die im Parterre eines veroneſiſchen
Schauſpielhauſes herrſcht. Da der Eintritt
in das erſte Parterre des großen Schauſpiel-
hauſes nur 30 Soldi, und in das zweyte,
nur 20 Soldi (oder 18 und 12 Kreutzer) ko-
ſtet, ſo ſind beyde ganz von dem gemeinen
Manne beſetzt, der ſeine Weiber, Toͤchter,
Beyſchlaͤferinnen und Kinder hereinbringt, ſo
wie ſie des Morgens aufgeſtanden ſind und
zu Hauſe zu gehen pflegen, und die ſich in
nichts irgend einen Zwang unter den Augen
[163] ihrer venetianiſchen Vorgeſetzten und ihres
doppelten Adels anthun. Sie klatſchen oder
ziſchen und pochen ausſchließlich; ſie zwingen
die Schauſpieler und Schauſpielerinnen durch
ein fuͤrchterliches Geraͤuſch, Lieder und Auf-
tritte, die ihnen beſonders behagen, drey bis
viermal zu wiederholen; ſie lachen und ſpre-
chen aus vollem Halſe, zanken ſich, ſchimpfen
einander, drangen ſich, laufen heraus, und
kommen wieder herein, alles mit gleichem Un-
geſtuͤm, mit gleichem Trotze. Geſchrey, Plau-
dern und Stampfen reißen nicht ab. Ein
Fremder iſt waͤhrend der Vorſtellung auf der
Folter und genießt von derſelben nichts. Eben
ſo wird er, beſonders des Abends, bey dem
ſchrecklichen Heulen und Bruͤllen auf den
Straßen und oͤffentlichen Plaͤtzen, in immer-
waͤhrender Beſorglichkeit erhalten, ob er ſich
nicht etwan in einer Stadt befinde, deren
Poͤbel zur Empoͤrung aufgeſtanden und ſchon
in der Arbeit begriffen iſt, die Stadt anzu-
L 2
[164] zuͤnden und was ihm vorkoͤmmt zu ermorden.
An eine Polizey iſt nicht zu denken.


Hierin liegt der Kunſtgriff, deſſen ſich die
Signoria von Venedig bedient, um das Volk
auf ihrer Seite zu behalten. Dieſes bildet
ſich ein, vollkommen frey zu leben, weil man
ihm erlaubt, ſich ſo ungebunden zu betragen,
als es Luſt hat, und weil ſeine Vornehmen es
ſich gefallen laſſen muͤſſen. Dazu koͤmmt,
daß es wenig oder nichts an Abgaben unmit-
telbar zahlt, und kurzſichtig genug iſt, nicht
zu bemerken, daß es doch mittelbar alle Auf-
lagen denjenigen Klaſſen erſetzen muß, die der
Republik baar ſteuern. Daß gerade die un-
entbehrlichſten ſeiner Beduͤrfniſſe, Brot, Oel
und Fleiſch, nach Verhaͤltniß, die theuerſten
ſind, daruͤber faͤllt es ihm nicht ein, Bemer-
kungen zu machen, welche die Liebe zu ſeiner
Durchlauchtigſten Wohlthaͤterin etwas vermin-
dern koͤnnten.


Das Aeußere der Buͤrger und Handwer-
ker iſt ſehr armſelig. Sie erſcheinen in bloßen
[165] Bruſtlaͤtzen, oder, wie man es im noͤrdlichen
Deutſchlande nennt, im linnenen Aermel,
oder auch nur in Hemde und Hoſen, die Bruſt
bloß und das Haar ungekaͤmmt. Ihre Wei-
ber tragen das Haar in Flechten auf dem
Wirbel zuſammen geſchlagen; oberhalb der
Stirn, zwiſchen beyden Schlaͤfen ein ſchmales
und niedriges Tappee, und an beyden Seiten
einen Buͤſchel von Haaren, ſchlicht herabge-
kaͤmmt. Ein ſteifer Bruſtlatz und ein paar
kurze Roͤcke uͤber einander, machen ihre ganze
Bekleidung aus. Gehen ſie aus auf den
Markt, oder in die Kirche, oder zu einem
Beſuche, ſo ziehen ſie ein kurzes Kamiſol dar-
uͤber, oft auch nichts weiter, nehmen aber den
Mezzaro, ein weibliches Nationalkleidungs-
ſtuͤck im Venetianiſchen, um, und verdecken da-
mit ihren gewoͤhnlichen Anzug. Dieſer Mez-
zaro
beſteht aus einem langen Stuͤcke ſchwar-
zen Taffet, das uͤber ein, auf dem Kopfe befe-
ſtigtes, Drathgeſtell gezogen wird, vorne bis
uͤber die Stirn herab faͤllt, und hier in einen
[166] Flor auslaͤuft, der bis auf die Bruſt herab-
faͤllt und, je nachdem die Traͤgerin gefallen
oder nicht gefallen will, je nachdem ſie ſchoͤn
oder haͤßlich iſt, zuruͤck oder herunter geſchla-
gen wird. Es iſt eine Art von Schleyer,
der die Schultern und die Arme bis zum El-
lenbogen bedeckt, und im Ruͤcken in eine lo-
ckere Schleife geſchlagen wird, die uͤber einen
dazu gehoͤrigen ſchwarztaffetnen Rock, bis zu
den Abſaͤtzen, hinabfließt. Dieſen Mezzaro,
der nicht ſchlecht ſteht, trugen ehedem die hoͤ-
heren Klaſſen ausſchließend, jetzt iſt er in die
niederen hinab geſunken, und jene brauchen
ihn nur noch, wenn ſie zur Kirche gehen und
ſich die Muͤhe des foͤrmlichen Ankleidens er-
ſparen wollen.


Die Einwohner aus den erwaͤhnten Buͤr-
gerklaſſen ſind geſchaͤftig und fleißig, und ſie
ſtrafen die Reiſebeſchreiber Luͤgen, die allen
Italienern Faulheit vorwerfen. Jeder Vor-
uͤbergehende kann Zeuge ihrer Thaͤtigkeit ſeyn,
weil ſie theils im Erdgeſchoſſe der Haͤuſer in
[167] Gewoͤlben, theils vor denſelben auf den Stra-
ßen, arbeiten. Die Schneider ſitzen, mit
drey oder vier Geſellen um ſich her, auf ho-
hen hoͤlzernen Stuͤhlen, wie auf Thronen,
und beherrſchen die Nachbarſchaft; und zu ih-
ren Fuͤßen auf niedrigern Schemeln, hocken
ihre Lehrburſchen. Eben ſo die Sattler,
Schumacher, Riemer und andere Handwerker.


Von Bettlern wimmelt es in Verona und
ihr Aufzug iſt ſcheußlich. Je groͤßer im Som-
mer ihre Nacktheit, und im Winter die Lum-
penmaſſe um ſie her iſt, deſto groͤßer ſind ihre
Anſpruͤche auf die Barmherzigkeit, und deſto
trotziger fordern ſie die Steuer derſelben.
Sie liegen in allen Straßen, auf allen Plaͤ-
tzen, vor allen Kirchen umher, und vertreiben
ſich die lange Weile mit Eſſen, oder mit
Durchſuchung ihrer Hemden, wenn ſie der-
gleichen haben, oder auch mit einem Spiel-
chen unter ſich. Alles, was Talente zum
Betteln hat, das heißt, irgend eine haͤßliche
Krankheit, oder eine unheilbare Wunde, oder
[168] einen Arm oder Fuß weniger, als andere,
draͤngt ſich aus der Nachbarſchaft nach der
Stadt und geht ſelten wieder heraus. Die
zahlreiche Dienerſchaft, welche die Mode und
eine, von außen wirklich bettelhafte, Pral-
ſucht unterhalten, liefert keinen geringen Bey-
trag zu der hieſigen Bettlermenge. Da die
Beſoldung der Bedienten, Kutſcher und Laͤu-
fer ſehr ſchlecht iſt, ſo koͤnnen ſie fuͤr Noth-
faͤlle nichts ſparen; ſie haben alſo, wenn ſie
verabſchiedet oder weggejagt werden, keine an-
dre Zuflucht uͤbrig, als zu betteln oder zu
ſtehlen, oder beydes zugleich zu treiben. Es
fehlt hier zwar nicht an Kranken- und Ar-
menanſtalten, aber in die erſteren geht ſelten
ein Bettler freywillig, und die Wohlthaten
der letztern nimmt er mit.


Da, wo die Einwohner am zahlreichſten
ſich verſammlen, ſind dieſe wirklich Nothlei-
denden, oder nur liederlichen und faulen Tau-
genichts, auch am haͤufigſten. So finden ſie
gegen Abend auf dem Korſo, der Neuen
[169] Straße und dem Platze Bra, beſonders eine
reichliche Aernte. Auf dem letzteren ſah ich
eine, mir ganz neue, Art von betruͤgeriſcher
Betteley. Ein junger Kerl, der mehr lieder-
lich und faul, als nothleidend und krank, aus-
ſah, bot den Spatziergaͤngern ein Scheermeſ-
ſer an, mit der Verſicherung, er ſey ſo hungrig
und durſtig, daß er dieſes unentbehrliche Stuͤck
ſeiner Habſeligkeiten verkaufen muͤſſe, um
nicht zu verſchmachten. Dies ſagte er in ei-
nem uͤberaus klaͤglichen Tone und forderte zu-
gleich die Haͤlfte mehr fuͤr das Meſſer, als
es ihm gekoſtet hatte. Fand ſich jemand,
der ſolch ein Werkzeug brauchte, der handelte
nicht lange mit einem Menſchen, der Hun-
gers ſterben wollte und war betrogen. Unter-
deſſen ging der Gauner weiter und bot An-
dern wieder andere Waaren an, die er mit-
telſt eines gewiſſen Takts immer ſo waͤhlte,
wie er glaubte, daß die angebettelten Perſo-
nen ſie brauchen koͤnnten.


[170]

Die Menge von Armenanſtalten, die Aus-
theilung der Kloſterſuppen, eine ausgedehntere
Privatwohlthaͤtigkeit, und die Mildigkeit des
Himmelsſtriches machen die Erhaltung von
Tauſenden ſolcher Bettler nur allein moͤglich.
Sie ſind Tag und Nacht unter freyem Him-
mel, oder liegen unter den Eingaͤngen der
Kirchen, der oͤffentlichen Haͤuſer und in den
verfallenen Feſtungswerken. Wenn ſie das
ihnen noͤthige Brod erſchwingen, ſo koſtet ih-
nen, was ſie noch dazu brauchen, ſehr wenig.
Die Gaͤrtnerey iſt hier und in den umliegen-
den Gegenden aͤußerſt ergiebig, und auf allen
Maͤrkten und Straßen ſteht und liegt Obſt
von jeder Gattung, von der ſchoͤnſten Art,
fuͤr den wohlfeilſten Preis, in großen Hau-
fen herum. Arbuſen und Melonen, die wir
im Norden mit Thalern bezahlen, eſſen hier
die Bettler fuͤr Soldi zu ihrem Stuͤcke Brod,
und eben ſo Weinbeeren, Birnen und Pfir-
ſchen. So ſtillen ſie mit fuͤnf bis ſechs Soldi
ihr taͤgliches Beduͤrfniß, und derjenige Bettler
[171] haͤtte viel Ungluͤck, der nicht taͤglich die dop-
pelte Summe einnaͤhme; ſo kann er den
Ueberſchuß erſparen, um ſich zuweilen eine
Guͤte zu thun, oder ein paar alte Lappen und
Lumpen zu kaufen, die er anſtatt eines Hem-
des oder Bruſtlatzes traͤgt.


Ich ſchließe meinen Abriß von dem leben-
digen Verona mit einigen Nachrichten von
den oͤffentlichen Vergnuͤgungen, und theile
uͤber diejenigen davon, die ich ſelbſt geſehen
habe, ein paar Bemerkungen mit.


Der Lebensgenuß iſt hier in allen Staͤn-
den einfacher und maͤßiger, als man ihn in
jeder deutſchen Stadt von dieſer Bevoͤlke-
rung und Wohlhabenheit, mit dieſer Menge
von Adel und Adelsgleichen, und unter einem
aͤhnlichen unaufhoͤrlichen Durchzuge von Frem-
den, findet. Der hohe Adel hat ſeinen Kor-
ſo
, ſein Kaſino, ſein Theater, und ſei-
ne gelehrten Akademieen, die hier mit
als Zeitvertreib angeſchlagen werden muͤſſen.
Der Patriciſche Stand und die angeſehenen
[172] Kaufleute haben daſſelbe, nur das Kaſino
ausgenommen. Der gemeine Buͤrger erſcheint
auch auf dem Korſo, aber zu Fuße, geht auch
in das Theater, aber auf das Parterre, wo
er aber nicht ſpielt, ſondern bloß Obſt oder
andere Naͤſchereyen ißt, und ein Glas Limo-
nade oder Punſch trinkt und nebenher Laͤrm
macht. Auch der Poͤbel beſucht ein Schau-
ſpiel, und dies iſt bald die Puppenkomoͤdie,
bald die dramatiſche Bude, die in der Arena
des alten Amphitheaters ſteht. Vergnuͤgun-
gen, die jaͤhrlich nur einmal wiederkommen,
und woran das ganze Publikum Theil nimmt,
ſind das Karneval, das Nockenfeſt, das
Pferderennen, die Ochſenhetze, *)
kirchliche Aufzuͤge, der Jahrmarkt
und das Wettrennen junger Laͤufer.
Alletagszeitvertreib fuͤr den Poͤbel, auch fuͤr
[173] den geringeren Buͤrger, iſt das Ballſpiel
und das Kugelſpiel.


Wie der Korſo in Verona iſt, ſo koͤmmt
er in allen, ſelbſt den unbetraͤchtlichſten Staͤd-
ten Italiens, wenn ſie nur einige Wagen
aufbringen koͤnnen, wieder vor. Es iſt be-
kanntlich ein trockenes Herumfahren in gewiſ-
ſen Straßen, oder vor gewiſſen Thoren, oder
auf den Waͤllen, oder am Hafen, je nachdem
eine Stadt geraͤumige Straßen, oder andere
dazu bequeme Plaͤtze, beſitzt. Das Vergnuͤ-
gen ſelbſt iſt inſoferne nuͤchtern, als keine ge-
ſellſchaftliche Annaͤherung und Unterhaltung
dabey Statt findet; inſoferne aber anziehend,
als Maͤnner und Weiber dabey Gelegenheit
finden, ihre Pracht in Kleidung, Fuhrwerk
und Geſpann, und in einem Gefolge und
Vortrabe von Bedienten und Laͤufern zu zei-
gen. Da die beſſeren Klaſſen wenig Gele-
genheiten haben, ſich fuͤr Geſellſchaften anzu-
kleiden, ſo kleiden ſie ſich hier fuͤr das ganze
Publikum, und ſie ſind ſicher, von ihren
[174] Nebenbuhlerinnen und Nebenbuhlern beneidet
und von den Fußgaͤngern ausgezeichnet zu
werden, wenn ſie in irgend etwas jene uͤber-
treffen. Aus dieſem Grunde macht, wie ich
ſchon erwaͤhnt habe, manche Familie ihren
einzigen Aufwand fuͤr den Korſo und lebt
im uͤbrigen ſehr kaͤrglich. Dies iſt in Verona
beſonders der Fall, wo man aber auch ſelbſt
in dieſem Stuͤcke ſehr philoſophiſch denkt;
denn ich erinnere mich, unter einer Zahl von
hundert und funfzig Kutſchen, kaum zwey
oder drey geſehen zu haben, worin eine Wie-
neriſche Hofraͤthin Sonntags nach dem Pra-
ter fahren wuͤrde. Auch moͤchte man in Wien
ein Gefolge veroneſiſcher Bedienten, wie es
oft auf dem Korſo erſcheint, vielleicht fuͤr
halbverhungerte Ofenheitzer, beſonders aber
die Laͤufer, fuͤr Bettler halten, die der Po-
lizey entlaufen wollen. Die Kleidung der ve-
roneſiſchen Herren und Frauen ſelbſt habe ich
ſchon oben bezeichnet, auch ihre Sparſamkeit
und Maͤßigkeit. Die Faͤlle ſind nach Ver-
[175] haͤltniß ziemlich ſelten, daß ein Wagen nach
Endigung des Korſo vor ein Kaffeehaus faͤhrt
und ein paar Sorbetti oder ein Glas Limo-
nade verbraucht; geſchieht es, ſo kann man
annehmen, daß mit dieſer Ausgabe zugleich
das Abendeſſen beſtritten iſt.


Die Vergnuͤgungen des „Casino della
Nobilità“
und deſſen Sitz, habe ich ſchon
vorhin angegeben. Letzterer hat einige gute
Zimmer und Saͤle, die zu Baͤllen, Konzerten
und zum Spiel eingerichtet ſind. Ein Frem-
der, woher er auch komme, muß die verone-
ſiſche Geſellſchaftlichkeit ſehr hoͤlzern, matt
und langweilig finden. Die Politik iſt uͤber-
all vortrefflich, um ſich vor der Langenweile
auf eine Zeitlang zu retten; hier aber hat
ſie nur wenig Seiten, die eine oͤffentliche Un-
terhaltung erlaubten; manche Punkte auch
nur hiſtoriſch, ohne alle Anmerkung zu beruͤh-
ren, waͤre bedenklich und koͤnnte Auslegungen
befuͤrchten laſſen. Deshalb enthaͤlt man ſich
dieſes Gegenſtandes in Verona oͤffentlich ganz,
[176] und von Venedig beſonders hoͤrt man kein
Wort, nicht zum Lobe, noch weniger zum Ta-
del. So iſt hier auch die Kunſt, uͤber die
Leute zu ſprechen, die „medisance“, bey wei-
tem keine ſo ergiebige Huͤlfsquelle fuͤr die Un-
terhaltung, als anderwaͤrts. Es iſt hier alles
voller Parteyen, die in der Afterregierung
des kleinen, noch ſo genannten, Freyſtaats
ihren Grund haben. Auf jemand ſticheln,
uͤber jemand lachen, jemand mit Verſen und
Sinngedichten verfolgen, waͤre zugleich eine
politiſche und geſellſchaftliche Kriegserklaͤrung,
die nicht mit aͤhnlichen, ſondern mit ernſthaf-
ten Waffen erwiedert werden wuͤrde; denn
die Veroneſer ſind bey aller Feinheit der Sit-
ten, bey aller Bildung durch ſchoͤne Kuͤnſte
und Wiſſenſchaften, und bey aller Artigkeit
im Aeußern, dennoch im Rufe der Rachſucht,
die indeſſen, unter den hoͤheren Staͤnden we-
niger oͤffentlich zum Ausbruch koͤmmt, ſon-
dern ſich mehr in Raͤnken, in Kraͤnkungen
durch die zweyte Hand und Untergrabungen
zeigt.
[177] zeigt. Der gemeine Mann und der Poͤbel
hingegen uͤben noch fleißig die Wundaͤrzte in
den Krankenhaͤuſern in Heilung der Meſſer-
ſtiche; und ein Veroneſer ſelbſt geſtand mir,
daß man, ein Jahr in das andere gerechnet,
immer noch Acht bis Zehn Geſtochene und
Ermordete zaͤhlen koͤnnte. Ehedem aber ſey
es doch weit aͤrger geweſen! Es waͤren wohl
manches Jahr 150 und 200 geblieben.


Scherzen ſonach die Veroneſer mit oder
uͤber einander, ſo hat es etwas Plattes und
Kindiſches, und es laͤuft auf Gegenſtaͤnde hin-
aus, die nicht leicht beleidigend werden, z. B.
auf die Verliebtheit, auf den guten Appetit,
auf den genaͤhrten Bauch ꝛc. eines Dritten —
lauter Dinge, die zugleich den Ton des Pul-
cinella erlauben, der hier ſehr ergetzt, aber
ſelbſt dem duldſamſten, aufgeweckteſten Frem-
den, plump und abgeſchmackt vorzukommen
pflegt. Wird der Ton ernſthaft, ſo iſt er ſo
pedantiſch, daß ich nicht leicht einer mittelmaͤ-
ßigen deutſchen Reichsſtadt einen aͤhnlichen
Siebentes Heft. M
[178] nachſagen moͤchte; denn dort bleibt er doch
wenigſtens offen und natuͤrlich. Wendet man
ſich in Verona an unterrichtete Maͤnner, um
eine Unterhaltung anzuknuͤpfen, ſo iſt es nur
immer das Fach, das ſie beſchaͤftiget, worin
ſie unterhaltungsfaͤhig ſind, und jede Abſchwei-
fung von demſelben macht ſie untheilnehmend
und ſtumm. Solche Faͤcher ſind in Verona
beſonders ſchoͤne Kuͤnſte und Alterthuͤmer,
(vorzuͤglich veroneſiſche) ferner Mathematik
und Naturgeſchichte. Was aber in den letz-
teren ſeit Jahren im Auslande gethan und
erfunden iſt, davon wiſſen ſie wenig oder
nichts; ſo wie ſie uͤberhaupt in ſogenannten
ultramontaniſchen Dingen in einem erſtaunli-
chen Grade unwiſſend ſind.


Was man in aͤltern Reiſebeſchreibungen,
mehr aber noch in den Romanen des vorigen
Jahrhunderts, von dem Geiſt der Galanterie
unter den italieniſchen Weibern, beſonders de-
nen in Venedig und im Venetianiſchen, lie-
ſet, iſt entweder nie in dem Grade wahr ge-
[179] weſen, oder hat ſich ſo verloren, daß man
jetzt auch nicht die entfernteſte Spur mehr
davon findet. Dieſer Geiſt verraͤth, wie es
ſehr natuͤrlich iſt, ſein Daſeyn bald, wo er
herrſcht. In den veroneſiſchen Geſellſchaften
iſt es wahrlich nicht die beruͤchtigte altfran-
zoͤſiſche Decenz, die dem ernſthaften, aͤngſtli-
chen und ſtummen Benehmen der Verone-
ſerinnen zum Grunde liegt, ſondern wahre,
unverſtellte, kleinſtaͤdtiſche Schuͤchternheit und
Eingeſchraͤnktheit, und ein erklaͤrter Mangel
an Koketterie. Hat man mit einem Weibe
uͤber das Theater und den Korſo und ein paar
aͤltere italieniſche Dichter ausgeſprochen, ſo
hat man uͤber alles mit ihr ausgeſprochen;
und von der Kunſt, welche die Franzoͤſinnen,
und nach ihnen die Polinnen, am beſten ver-
ſtehen, jeden andern Gegenſtand des Wiſſens,
des Geſchmacks und des Gefuͤhls, durch zu
vernuͤnfteln, oder leicht zu uͤberblicken und da-
bey in witzigen Einfaͤllen uͤberzufließen, weiß
das zweyte Geſchlecht in Verona nichts. Hier
M 2
[180] zeigt ſich ihre pedantiſche und beſchraͤnkte Er-
ziehung beſonders, und man hat nicht noͤ-
thig, es etwa dem eiferſuͤchtigen Auge eines
Gemahls, oder der mißguͤnſtigen Wachſamkeit
eines „Cavaliere servente“ beyzumeſſen,
wenn eine veroneſiſche Dame einem Fremden
in der Unterhaltung nicht lange Stich haͤlt,
ſondern ihm mit einer gewiſſen Unruhe und
Aengſtlichkeit zuhoͤrt und antwortet, und nur
immer bedacht iſt, mehrere Zuhoͤrerinnen und
Zuhoͤrer anzurufen und herbey zu ziehen.


Einen Reitz, den beſonders in Deutſchland
die Geſellſchaften großer Staͤdte gewaͤhren,
daß man zugleich eine bluͤhende Jugend um
ſich her ſieht, die auch ihrerſeits ſich zu ver-
gnuͤgen beſchaͤftigt iſt, vermißt man hier ganz.
Nur verheurathete Damen erſcheinen in Ge-
ſellſchaften, und unverheurathete junge Maͤn-
ner werden erſt geſellſchaftsfaͤhig, wenn ſie
großjaͤhrig und aͤmterfaͤhig ſind. Daher eine
auffallende Ungleichheit in der Zahl der Wei-
ber und Maͤnner, und wiederum in der Zahl
[181] der juͤngeren und aͤlteren Weiber und Maͤn-
ner. Es faͤllt in die Augen, daß der Maͤn-
ner mehr ſeyn muͤſſen, als der Weiber, und
der aͤlteren Maͤnner und Weiber mehr, als
der juͤngeren.


Das Vergnuͤgen des Theaters ſetzt man
in Verona noch in etwas anderes, als in den
Genuß des Schauſpiels. Man koͤmmt dort-
hin, um zu ſehen und geſehen zu werden, um
zu ſpielen, um ſeine Freunde zu ſprechen, um
mit Geſchaͤftsleuten Geſchaͤfte abzuthun. Nur
ein beliebter Auftritt, oder eine beruͤhmte
Ariette, lockte die Zuſchauer der beſſern Klaſ-
ſen aus den Logenzimmern hervor, und brachte
Stille und Aufmerkſamkeit in das Parterre,
und Luſt und Anſtrengung unter die Schau-
ſpieler ſelbſt; denn dieſe vernachlaͤßigten das
Publikum die uͤbrige Zeit auf eine nicht min-
der aͤrgerliche Weiſe, als das Publikum ſie
vernachlaͤßigte. Sie ſprachen und liebaͤugel-
ten ins Orcheſter, plauderten unter einander
ſelbſt, traten auch wohl an die Logen auf der
[182] Buͤhne, und knuͤpften eine foͤrmliche Unter-
haltung an. Der handelnde Schauſpieler,
war immer der einzige, der ſpielte. Dieſer
wechſelſeitige Mangel an Achtung verdirbt
alle Vorſtellungen. Bey den Zuſchauern ent-
ſteht er aus einer hergebrachten Sitte, im
Schauſpielhauſe Dinge zu treiben, die nicht
dahin gehoͤren, und dieſe Sitte entſtand
wahrſcheinlich aus der Saumſeligkeit und Ar-
muth der Theaterunternehmer, die an neue
Dekorationen und Schauſpiele nicht dachten,
oder nichts darauf verwenden konnten. Man
fuͤhrte waͤhrend meiner Anweſenheit eine
Operette, „la Pianella“ (der Pantoffel) und
nichts, als die Pianella, in dem großen Thea-
ter auf, ungeachtet doch nur zwey kleine
Arien darin waren, die dem Publikum gefie-
len, was ſich daraus ſchließen ließ, daß, ſo-
bald ſie vorkamen, der unſaͤgliche Laͤrm im
Parterre und das Geraͤuſch in den Logen
aufhoͤrte. Dieſe Saͤchelchen mußten drey bis
viermal wiederholt werden, und dann war es
[183] wieder, als ob man ſich auf offener Straße
befaͤnde. Die Zuſchauer ſahen keine Buͤhne,
und die Schauſpieler kein Parterre und keine
Logen mehr. Letztre enthielten ſich auch des
Klatſchens und ließen den Poͤbel im Par-
terre dafuͤr ſorgen.


Die Schauſpielergeſellſchaft war auch in
der That ſo mittelmaͤßig, als die beſte bey
ſolch einer Behandlung werden muß. Nur
der erſte Saͤnger, die erſte Saͤngerin und der
erſte Buffone zeichneten ſich aus, weil ſie die
einzigen waren, die bemerkt und beklatſcht
wurden. Alle uͤbrigen arbeiteten von Anfang
bis zu Ende in den Wind, und ſie lieferten
Arbeit danach; indeſſen war ſie immer noch
beſſer, als die beſte deutſche unter ſolchen Um-
ſtaͤnden ſeyn wuͤrde.


Der Unternehmer dieſer Geſellſchaft un-
terhielt noch eine zweyte Buͤhne in der Arena
des alten Amphitheaters. Es war eine offene
Bude, von Brettern zuſammen geſchlagen,
mit ſchlechten Dekorationen, die das Tages-
[184] licht vollends in ihrer ganzen Armſeligkeit
zeigte. Die Vorſtellungen gingen um halb
fuͤnf Uhr an und dauerten bis um halb acht,
mithin hatte die Sonne Zeit, den ganzen
Verlauf des Stuͤckes und die ganze ehrenwer-
the Zuſchauerſchaft zu beleuchten. Wie der
groͤßeſte Theil derſelben beſchaffen war, kann
man ſich ſehr lebhaft denken, wenn man den
Umſtand erwaͤgt, daß der Eintritt zum Par-
terre fuͤnf Soldi, ſage fuͤnf Soldi (unge-
faͤhr 9 deutſche Pfennige) koſtete, und wenn
man ſich der Winke erinnern will, die ich
oben von dem Aeußeren des gemeinen Man-
nes und des Poͤbels von Verona gegeben
habe. Indeſſen belachte und beklatſchte dies
Parterre eben das, was ich zu belachen und
zu beklatſchen nur dann haͤtte unterlaſſen koͤn-
nen, wenn ich haͤtte hochmuͤthig oder eigen-
ſinnig ſeyn wollen. Ein gewiſſes Gefuͤhl fuͤr
das Laͤcherliche und fuͤr das Schoͤne, war die-
ſem veroneſiſchen Poͤbel eben ſo wenig abzu-
ſprechen, als ich es ehedem den Pariſer Fiſch-
[185] weibern und Kohlentraͤgern hatte abſprechen
koͤnnen. Das Hauptſtuͤck war ein Trauer-
ſpiel, das Nachſpiel eine Goldoniſche Poſſe,
mit Arlechino, Pantalone, Kolom-
bina
und Geſellſchaft, im bekannten Koſtume.


Dieſe Bude hatte aber auch Logen und
ſie waren mit Herren vom hohen Adel beſetzt.
Der Eintritt dazu koſtete zwanzig Soldi.
Aus dem erſten Parterre, das funfzehn Soldi
koſtete, ſahen auch Geiſtliche, mit andern
rechtlichen Leuten, fleißig durch ihre Glaͤſer
nach den Schauſpielerinnen, die uͤbrigens,
wie die Schauſpieler, eben dieſelben waren,
die in dem großen Theater auftraten. Man
ſieht wohl, daß hier die Signoria abermals
im Spiel iſt, und daß ſie ihrem unbeſchaͤftig-
ten Poͤbel, neben der belobten Freyheit, auch
Vergnuͤgungen um einen Spottpreis ver-
ſchafft. Charakteriſtiſch iſt es endlich noch,
daß die Zoͤglinge der Armen- und Fuͤndlings-
Anſtalten in dies Schauſpiel gefuͤhrt werden,
wie man ſie in England und Deutſchland
[186] zum Spatziergange und in die Kirche fuͤhrt.
Ein paar Haufen von wenigſtens zwey hun-
dert ſolcher Knaben, hatten, mit ihren geiſtli-
chen Lehrern an der Spitze, auf den Stufen
des alten Amphitheaters, der Bude gegen
uͤber, Platz genommen, und klatſchten bey je-
der Gelegenheit recht kunſtverſtaͤndig mit.
Ich war bey dem Ganzen in der That ein
wenig in einer neuen Welt.


Das Nockenfeſt, welches alle Jahre
den letzten Freytag vor der Faſten gefeyert
wird, wuͤrde mir nicht weniger eine unge-
wohnte Welt gezeigt haben, wenn ich es mit
eignen Augen geſehen haͤtte. Es muß im
aͤußerſten Grade abentheuerlich und poßierlich
ſeyn. Zum Gluͤck hat es einer meiner neue-
ſten Vorgaͤnger, der Augenzeuge dabey war,
ſehr lebhaft beſchrieben. *) Uebrigens ſcheint
[187] es klar, daß dies Feſt abermals von der
Signoria beguͤnſtigt wird, um das Volk bey
guter Laune zu erhalten und den Adel ein
wenig zu kraͤnken; denn der Podeſta, unmit-
telbar als Stellvertreter des Doge, und Pul-
cinella, unmittelbar als Stellvertreter des ve-
roneſiſchen Volks, haben die Hauptrollen
dabey.


Ein oͤffentliches Vergnuͤgen, das jaͤhrlich
einigemal den groͤßeſten Theil des veroneſi-
ſchen Publikums auf den Platz Bra und in
die Neue Straße zieht, iſt das Wettren-
nen junger Laͤufer
. Da dieſe Bedien-
tengattung hier haͤufig gebraucht wird, ſo
giebt es auch viel junge Leute, die ſich der
Laufkunſt befleißigen und oͤffentlich Proben
davon ablegen. Sie thun dies, um bekannt
zu werden und deſto eher Dienſte zu bekom-
men; und es iſt auch gewiß, daß derjenige,
der ſich als der ſtaͤrkſte in ſeiner Kunſt ge-
zeigt hat, immer zuerſt verſorgt wird. Solche
[188] junge Leute, die gemeiniglich aus den gering-
ſten Staͤnden, meiſtens aber aus Laͤufer-
oder andern Bedienten-Familien ſind, brin-
gen ſo viel zuſammen, daß ſie ſich fuͤr einen
oͤffentlichen Wettlauf ertraͤglich kleiden koͤnnen,
wozu ſich ihrer drey oder vier zu bereden
pflegen. Sie ſuchen einen oder mehrere
Goͤnner, die eine kleine Summe zuſammen
ſchießen, welche als der Preis fuͤr den Sie-
ger niedergelegt wird. Der Tag wird anbe-
raumt, der Platz beſtimmt. Die Laufbahn
erſtreckt ſich gewoͤhnlich von einem gewiſſen
Punkt auf dem Platze Bra, bis hinunter
nach dem neuen Thore, und ſie moͤchte unge-
faͤhr in zwanzig Minuten, mit maͤßig ſchnellen
Schritten, zuruͤck gelegt werden koͤnnen.
Dieſe Strecke muͤſſen ſie, in Einem Zuge,
drey mal hinab und drey mal herauf rennen,
und wer zuerſt am Ziel iſt, erhaͤlt den Preis
und iſt Sieger.


Diesmal waren der Wettrenner drey.
Beyde Seiten der Neuen Straße waren
[189] bis zum Thore hinunter mit Zuſchauern,
und die Fenſter der Haͤuſer, mit Zu-
ſchauerinnen beſetzt; eben ſo der Platz
Bra. Die jungen Leute fingen mit einem
gemaͤßigten Trab an. Da man ihnen nicht
folgen kann, ſo ſchließt ſich jedesmal das
Getuͤmmel hinter ihnen, und man verliert ſie
aus den Augen; kommen ſie aber zuruͤck, ſo
finden ſie wieder eine Reihe, durch die ſie
hin koͤnnen, weil jeder ſorgſam iſt, ihnen
Platz zu machen. Sie kamen, bey dem er-
ſten Hin- und Herlauf, noch alle drey in Ei-
ner Reihe zuruͤck, und liefen auch in Einer
Reihe wieder ab. Kenner um mich her woll-
ten bemerkt haben, daß der mittlere den Preis
ſicher nicht bekommen wuͤrde, weil die Erhi-
tzung ihn blaß gemacht habe, was Mangel
an Kraft vorausſetze; daß aber der zur Rech-
ten, den der erſte Lauf gar nicht angegriffen
wahrſcheinlich der Sieger ſeyn werde.


Sie kamen das zweytemal zuruͤck, und es
zeigte ſich ein merklicher Unterſchied. Der
[190] Mittelſte war um zwey Schritt vorgekom-
men, der zur Linken war dem zur Rechten
um Einen Schritt vor. Die Kenner um
mich her, blieben aber doch ihrer vorigen
Meynung. Sie hatten bemerkt, daß der
Mittelſte ſeinen Vorſprung mit einer Anſtren-
gung erkaufte, die auf dem Punkt war, ihn
ganz zu erſchoͤpfen; daß er beym Umkehren
beynah uͤber ſeine eigenen Fuͤße gefallen ſey,
und daß wahre Todtenblaͤſſe und Todesſchweiß
ſein Geſicht uͤberzogen habe. Sie verſicher-
ten, daß der zur Linken ſeinen Vorſchritt
nicht behaupten wuͤrde, weil er mehrere Mo-
mente ſchneller liefe, als der zur Rechten,
und doch nur einen Einzigen Schritt vor
dieſem voraus habe, der allerdings auch ſehr
erhitzt ſey, aber noch unendlich mehr Kraft
beſaͤße und ſie zu ſparen verſtaͤnde; was man
daran ſehe, daß er noch ſchnurgeradeaus liefe,
indeß die andern, beſonders der mittlere, hin
und her ſchwankte, und der zur Linken Schul-
[191] tern und Kopf vorweg hangen ließe, wodurch
ſeine ganze Laſt auf die Kniee fiele, und ihm
das Laufen um ein Drittel erſchwert wuͤrde.


Ich war ſehr begierig, wie dieſe feinen
Bemerkungen eintreffen wuͤrden. Es dauerte
nicht lange, ſo ſtieg es von Mund zu Mund
herauf, der zur Linken habe den Mittlern
uͤberlaufen; gleich nachher: der zur Rechten
habe den Mittlern eingeholt; und in dem
naͤchſten Augenblick: der Mittlere ſey fuͤr
todt niedergefallen. Nun dauerte es ein paar
Minuten, ohne daß Nachrichten kamen. End-
lich kam die, gerade von der Mitte der Lauf-
bahn, daß der zur Linken den Moment des
Umkehrens vor dem zur Rechten voraus habe.
„Alſo etwas mehr als einen Schritt!“ rief
einer meiner Kenner: „Der zur Rechten ge-
winnt!“ — Ich erkundigte mich, woraus er
das ſchloͤſſe? Der zur Linken haͤtte doch
noch vor? — „Ma, V. S. veda!“ erwie-
derte er mit einer Art von Eyfer: „Der
[192] Hinterſte ſtrengt immer zuerſt ſeine letzten
Kraͤfte an, der Vorderſte zuletzt; mit dem er-
ſten verſtaͤrkten Sprunge iſt der Hinterſte ne-
ben dem Vorderſten; mit dem zweyten iſt er
ihm vor, denn er iſt im Schwunge und der
andre koͤmmt erſt durch den erſten Sprung
hinein. Der zur Rechten hatte auch hier
oben noch mehr Athem und Kraͤfte, als der
zur Linken — Sie ſollen ſehen, daß er gewin-
nen wird!“ — Nach zwey oder drey Minu-
ten ſtellte ſich alles eiligſt in Reih’ und Glie-
der, und die Wettrenner erſchienen, triefend
von Schweiß mit Puder vermiſcht, die Bruſt
aufgeriſſen, die Struͤmpfe herabgefallen, die
Augen wie erſtarrt, den Mund weit offen,
der zur Rechten etwas hinkend, weil er einen
Schuh verloren hatte, in einer Entfernung
von einander, daß der Hintere den Vorderen
mit der Hand erreichen konnte. Der zur
Linken war der Hintere, der zur Rechten in
der That der Vordere, und er erhielt den
Preis. Das Volk war ſchreyend und froͤhlich
um
[193] um ihn herum. Es erhob ſeinen Sieg nicht
wenig, daß er hinkend den Preis gewon-
nen, wie ein witziger Kopf aus dem Poͤbel
bemerkt hatte. Er ſelbſt fuͤhlte ſeine Erſchoͤ-
pfung vor Freude nicht; bey dem Andern
rannen die Thraͤnen mit den Schweißtropfen
in die Wette. Den Dritten brachte man
ohne Bewußtſeyn getragen und legte ihn beym
Ziele nieder. Man ſteckte ihm reichlich Almo-
ſen in die Taſchen. Um den Andern waren
Bekannte und Unbekannte beſchaͤftigt, ihn
mit wahrer Theilnehmung zu troͤſten. Der
Sieger wurde, nachdem ſein Name und Alter
von den Kampfrichtern aufgezeichnet worden,
von dem Volk in Triumph abgefuͤhrt.


So ſahe ich noch am letzten Tage meiner
Anweſenheit in Verona ein allgemeines Volks-
ſchauſpiel, das alle Bedingungen dieſer Spiel-
gattung erfuͤllte, tragiſch und komiſch war,
und Theilnehmung und Leidenſchaft durch die
hoͤchſte Anſtrengung der Naturkraͤfte erregte.
Ob es gleich auf das ſehr moderne Beduͤrfniß
Siebentes Heft. N
[194] der Lauferkunſt gegruͤndet war, hatte es den-
noch viel Antikes, welches nicht bloß daher
entſprang, daß Ziel und Preis dem alten
Amphitheater gegenuͤber waren. Wetten habe
ich uͤbrigens dabey nicht ſehen.


Den 24ſten September, der ein Feyertag
war, ging ich von Verona ab. Vor der
Stadt begegneten mir Haufen von juͤngern
und aͤltern Landleuten, beyderley Geſchlechts,
ſehr ſtattlich und ſehr bunt, mit Gold- und
Silberband, und mit Zweigen und Blumen
aufgeputzt, die Gemuͤſe und Fruͤchte nach der
Stadt brachten, durch deren Verkauf ſie ſich
wahrſcheinlich dort einen Sonntagsgenuß,
oder ſonſt kleine Beduͤrfniſſe, verſchaffen woll-
ten. Ich wuͤrde ein Gemaͤlde von ihrer
Tracht, die viel Beſonderes hatte, hier mitthei-
len, wenn wir nicht ſchon von einem Maler
ſelbſt eines beſaͤßen, das wenigſtens ſehr tref-
[195] fend und lebhaft iſt, wenn auch die Farben
feiner gerieben ſeyn koͤnnten. *)


Mein Weg ging auf Mantua, und
fuͤhrte gerade in die reizende Ebene hinein,
die man von Verona aus ſo oft zu uͤberbli-
cken Gelegenheit gehabt hat. Sie iſt, wie ſie
ſchien. Zwar ſieht man rechts am Wege we-
niger Weinbau und Rebengewinde, deſto fri-
ſcher aber ſteht der Maulbeerbaum in unuͤber-
ſehlichen Reihen da, deſto ſorgfaͤltiger iſt das
Land unter und zwiſchen ihm bearbeitet, deſto
heiterer und wohlhabender fallen die einzelnen
Haͤuſer der Landleute in die Augen. Das
Hornvieh, das einem begegnet, iſt gedrungen
und maͤchtig, das Schaf groß und ſeidenartig
bekleidet. Selbſt das — Schwein — iſt hier
N 2
[196] zahmer, wohl gar auch kluͤger — denn es hat
nicht die wilden Hauer und großen Ohren
des Polniſchen und Ungariſchen, auch nicht
ihre ſtarrenden, dicken Borſten und ihre
Groͤße — ſondern iſt faſt kahl, klein, lang
und rund wie eine Walze, und bald goldgelb,
bald — ſeinen Sitten angemeſſener — „boue
de Paris.“
— Auch ſind die Wuͤrſte und
Schinken, die das Veroneſiſche durch ganz
Italien und nach Augsburg und Wien ſchickt,
nicht minder beruͤhmt, als die Bologneſiſchen.


Man koͤmmt auf einem ſteinigten, nach-
laͤßig unterhaltenen, Wege zuerſt nach Villa
Franca
, einem alten, noch venetianiſchen,
Staͤdtchen, mit einem ziemlich weitlaͤuftigen
Schloſſe, das queer uͤber den Weg gebauet
iſt, mithin urſpruͤnglich als ein Graͤnzbollwerk
da ſteht, jetzt aber nur noch als Geſpennſt
wirkt. Seine aͤußeren Mauern haben noch
große Feſtigkeit, aber die Thuͤrme und Bruſt-
wehren ſind theils herunter geſchoſſen, theils
in ſich ſelbſt zuſammen geſtuͤrzt. Die be-
[197] jahrte Anſicht dieſes Staͤdtchens, das nur
aus einer einzigen Straße beſteht, und die
Truͤmmer des erwaͤhnten Schloſſes, unter
deſſen ausgerupften Fluͤgeln es liegt, paſſen
vortrefflich zuſammen, und ich nahm beydes
fuͤr eine Ruinen-Verzierung auf, die in dem
großen Garten, worin ich mich befand, ſey
angebracht worden.


Hinter Villa Franca werden Weg und
Boden minder ſteinigt. Außer den Maulbeer-
baͤumen zeigen ſich wieder Ahorn und Ulmen,
mit ihren treuen Begleitern, den Weinſtoͤcken,
Mitten unter ihnen erſcheint ein anmuthiges
Oertchen, das noch venetianiſch iſt, Maſſe-
cane
heißt, und faſt ganz aus kleinern und
groͤßern Landhaͤuſern beſteht, die im Durch-
ſchnitt noch ganz neu ſind und ſaͤmmtlich ve-
roneſiſchen Familien gehoͤren. Jedes iſt in
einer beſondern Bauart und in einem andern
Geſchmack aufgefuͤhrt, und keines iſt darun-
ter, das nicht das Auge ſehr angenehm be-
friedigte. Fremden Baukuͤnſtlern moͤchte ich
[198] rathen, dies Staͤdtchen, als eine wahre Ga-
lerie von Landſitzen, gezeichnet mitzunehmen,
und ſie den Liebhabern in ihrem Vaterlande
als eine Muſterkarte zu aͤhnlichen Gebaͤuden
vorzulegen. Der Erfindungsgeiſt der Bau-
meiſter ſcheint hier in der That in Nettigkeit,
Bequemlichkeit, Einfalt und Gefaͤlligkeit ge-
wetteifert zu haben, und die meiſten ſeiner hieſigen
Werke verdienten als Typen dieſer Gebaͤude-
gattung durch Europa aufgeſtellt zu werden.


Roverbella (2 Poſten von Verona) iſt
der erſte Ort in der oͤſterreichiſchen Lombar-
dey. Er ſticht gegen die venetianiſchen Fle-
cken, durch die ich gekommen bin, ſehr zu ſei-
nem Vortheil ab. Seine Anſicht iſt heiter
und reinlich. Die Haͤuſer ſind von Stein,
meiſt ganz neu, und mit Einwohnern beſetzt,
die ungleich anſtaͤndiger gekleidet ſind, als
ihre Nachbarn, und eine gewiſſe Bildung ver-
rathen. Ich ſahe weder Bettler noch andre
Taugenichts auf der Straße herum liegen,
noch Haufen von muͤßigen Leuten Ball ſpie-
[199] len, oder Kugeln werfen; mit einem Worte,
eine mehr geordnete Verfaſſung kuͤndigte ſich
in allen Dingen an. Auch die Mauthbedien-
ten begnuͤgten ſich nicht damit, daß ſie mein
Gepaͤck von außen anſahen und mir dann ver-
ſicherten, ſie waͤren uͤberzeugt, daß ich nichts
Verbotenes bey mir fuͤhre; nein, es mußte
auf die Mauth gebracht, durchgeſehen und
ſonach auch von neuem gepackt werden; frey-
lich ein Geſchaͤft, das die Bequemlichkeit ei-
nes ehrlichen Reiſers mit ſeiner Liebe zur po-
litiſchen Ordnung ein wenig in Reibung
bringt, wofuͤr er aber ſogleich den Erſatz
darin [findet], daß die Gegenwart eines Poli-
zeyſoldaten ihn vor den Zudringlichkeiten
hungriger Zoll- und Poſtbeamten und fliegen-
artiger Bettler ſichert.


Von Roverbella bis Mantua (1 Poſt)
hatte ich wiederum einen gemachten Weg, ſo
vortrefflich, wie man ihn im oͤſterreichiſchen
Gebiete zu finden gewohnt iſt. Der ſteinigte
Boden hatte ſich ſchon vor Roverbella ver-
[200] loren und, mit einer merklichen Abdachung,
auch ein anderes Anſehen gewonnen. Wieſen
gruͤnten uͤppig um mich her, niedrige Stellen
waren mit Graben durchzogen, kleine Baͤche
mit Daͤmmen eingefaßt und mit ſchlanken
Pappeln beſetzt. Natur und Menſchen hat-
ten ſich vereinigt, um unſerem großen Garten
neue reizende Anſichten zu verſchaffen. Die
anziehendſte darunter war die von Mantua
ſelbſt und der umliegenden Gegend.


Verona lag neben und zum Theil auf An-
hoͤhen, und hatte einen ſchoͤnen Fluß in ſei-
nem Schooße; hier ſieht man, was recht ſehr
zu einem großen Garten gehoͤrt — einen
weit ausgebreiteten See, der rund herum
mit Gehoͤlz umgeben iſt, eine Inſel in ſeiner
Mitte hat, und auf dieſer Inſel, eine be-
traͤchtliche Stadt. Dieſe iſt Mantua ſelbſt!
Da ſie ganz flach liegt, ſo bietet ſich nur ein
Theil derſelben dem Auge dar, der aber ſehr
vortheilhaft auf die uͤbrigen ſchließen laͤßt.
Schon von außen erſcheint ſie weit lichter
[201] und neuer, als Verona. Die Thuͤrme ſind
ſtattlicher, die Auſſenwerke, Mauern und
Waͤlle hoͤher, und gut unterhalten; der Spie-
gel des Sees, von Wieſen und Gehoͤlz um-
geben, beleuchtet mit ſeiner Lichtmaſſe den
Zugang, und zwey Stroͤme des Sees, die
unter zwey Jochen einer großen Bruͤcke rau-
ſchend heraus ſtuͤrzen, machen das Ganze
durch einen Waſſerfall noch maleriſcher.


Ich fuhr zum Thore „della Cittadella“,
das nach einer Zeichnung von Giulio Ro-
mano
ausgefuͤhrt iſt, herein, und gelangte
uͤber die breite Hauptſtraße der Vorſtadt auf
die vorhin erwaͤhnte Bruͤcke, die ein ausge-
zeichnetes Werk der Baukunſt von Azzolini
iſt, und durch ihre maͤchtigen Bogen, durch
ihre Laͤnge, Hoͤhe und Maſſe auffaͤllt. Sie
iſt uͤberwoͤlbt und ſchließt zwoͤlf Mahlmuͤhlen,
eine Schneidemuͤhle mit drey Saͤgen, und
mehrere große Korn- und Mehl-Niederlagen ein.


Ich fuhr in einen Gaſthof, der groͤßer iſt,
als der groͤßeſte, den ich je geſehen habe, ich
[202] meyne das rothe Haus in Frankfurt; der
aber in Ruͤckſicht der innern Einrichtung, des
Tiſches, der Aufwartung, der Reinlichkeit und
der Eleganz dieſem nicht beykommt. Er heißt
vorzugsweiſe „Albergo Reale“, liegt faſt in
der Mitte der Stadt und hat die Bequem-
lichkeit, daß er zugleich die Poſt einſchließt,
die der Fremde jeden Augenblick aus ſeinem
Fenſter beſtellen kann. Er beſteht aus einem
pallaſtaͤhnlichen Hauſe und aus einem wirkli-
chen, daranſtoßenden Pallaſt, der in einem
guten Geſchmack, nach Doriſcher und Joni-
ſcher Ordnung, erbauet iſt. Beyde Anlagen
gehoͤren dem K. K. Staatsrath, Marcheſe
Canossa, und ſchließen, drey Geſchoß hoch,
zwey große Hoͤfe ein. Jetzt wohnte ich mit
einem Englaͤnder in dieſen ungeheuren Gebaͤu-
den ganz allein; zur Zeit der Jahrmaͤrkte
ſind aber beyde bis auf den letzten Winkel be-
ſetzt. Der Grund dieſer Ueberfuͤllung liegt
in der Gewohnheit, daß der muͤßige Adel des
Landes die Jahrmaͤrkte der umliegenden be-
[203] traͤchtlichen Staͤdte zum Zeitvertreib beſucht
und ſich dann, wie natuͤrlich, in dem glaͤn-
zendſten Gaſthofe ausſchließend niederlaͤßt.


Ich hatte die vier und zwanzig ital. Mei-
len von Verona bis Mantua, binnen etwas
mehr, als vier Stunden, zuruͤck gelegt und
konnte den ganzen Nachmittag zur Beſichti-
gung des Pallaſtes Te nutzen, der durch den
Namen des Giulio Pippi aus Rom
(ſonſt ſchlechtweg Julius Romanus ge-
nannt) beruͤhmt geworden iſt. Mantua, die
Ernaͤhrerin dieſes Kuͤnſtlers, bauet auf ihn,
naͤchſt dem Virgil, der ſich durch ſein „pri-
mus referam tibi, Mantua“
— zu ihrem
Sohne macht, ob er gleich in einem benach-
barten Dorfe geboren iſt, die Ehrenſtelle, die
ſie in der Geſchichte der ſchoͤnen Wiſſenſchaf-
ten und Kuͤnſte einnimmt. Sie bewahrt auch
in der That mehr von den Werken dieſes
Kuͤnſtlers, aus der Malerey und Baukunſt,
als Rom, der Ort ſeiner Geburt und ſeiner
artiſtiſchen Ausbildung. Beſonders iſt der
[204] Pallaſt Te, oder The, gemeiniglich T, den
er ſelbſt gebauet hat, auch faſt ganz von ihm
mit Malereyen verziert.


Man gelangt dahin auf einer geraͤumigen
Straße, die theils mit lebendigen Hecken,
theils mit Baumpflanzungen eingefaßt iſt,
und einen angenehmen Spatzierplatz fuͤr Fah-
rende und Fußgaͤnger darbietet, in deſſen Hin-
tergrunde der Pallaſt ſich erhebt. Dieſen
ſchoͤnen Zugang und eine Menge Ausbeſſerun-
gen des Pallaſtes ſelbſt, dankt man dem jetzi-
gen Statthalter der oͤſterreichiſchen Lombar-
dey, dem Erzherzoge Ferdinand, ohne deſ-
ſen Fuͤrſorge er vollends noch durch die Zeit
das verloren haben wuͤrde, was ihm der
Krieg und der rohe Soldat uͤbrig gelaſſen hat-
ten. Zwar ſieht man von der Veroͤdungsluſt
des letztern noch Spuren genug, und diejeni-
gen, die man uͤbertuͤncht oder uͤbermalt hat,
verrathen ſich eben dadurch nicht weniger deut-
lich; aber lobenswuͤrdig bleibt dieſe Aufmerk-
ſamkeit immer, ſey ſie aus Kunſtliebe, oder
[205] aus Finanzruͤckſichten entſtanden. In Italien
iſt es naͤmlich auch dem Staate nuͤtzlich, be-
ruͤhmte Kunſtwerke zu unterhalten. Bey der
Menge von Fremden, die dahin kommen, ma-
chen ihre Zehrung und ihre ſonſtigen Beduͤrf-
niſſe keinen zu verachtenden Gegenſtand. Man-
tua beſonders, das arm an Erwerbsquellen
iſt, muß dieſe mit Dank annehmen.


Ich machte dieſe kleine Reiſe mit meinem
Hausgenoſſen, dem Englaͤnder, einem jungen
Mann, der zwar hier herum „Milordo“ war,
aber in Mancheſter oder Hallifax, ſeinen Be-
griffen und Kenntniſſen nach zu ſchließen, der
Sohn eines ehrlichen Wollen- oder Baum-
wollenfabrikanten ſeyn mochte. Wir hatten
beyde einen „Cicerone“ in der Taſche und
einen hinten auf dem Wagen. Der meinige
hieß: Descrizione storica delle Pitture del
regio-ducal Palazzo del Te etc. Mantova,

1783; und der ſeinige: Breve descrizione
delle Pitture, Sculture ed Architetture,
che si osservano nella Città di Mantova
[206] e ne’ suoi contorni; fatta stampare nuo-
vamente con molte aggiunte, a commodo
singolarmente de’ Forestieri, da Francesco
Pagliari, Mantovano, servitore di Piazza;
dedicata al merito impareggiabile de’ piu
Illustri Signori Viaggiatori. Mantova,
mdcclxxxviii.
Der dritte, lebendige, hieß
kurzweg Antonio, und war auf die beyden
Todten hoͤchſt eiferſuͤchtig, ſobald er ſie er-
blickte. Er verſicherte, durch ſolche Geſchreib-
ſel wuͤrden die Fremden nur irre gefuͤhrt; ſie
kaͤmen von „povretti Abbatini“, die nicht
einen zehnten Theil von dem wuͤßten, was
ein ehrlicher Platzbedienter an den Schuhen
abgelaufen haͤtte. Mein Englaͤnder verſicherte,
ſein Buch ſey von einem Lohnbedienten ſelbſt
geſchrieben, der Pagliari heiße und aus Man-
tua gebuͤrtig ſey, mithin am beſten Beſcheid
wiſſen muͤſſe. Antonio fuhr mit dem Zeige-
und Mittelfinger vom Halſe bis zum Kinn
herauf und ſagte: V. E. lo prenda al suo
servigio
! — Auch mir ſchien der abge-
[207] ſchmackte Titel und der, einem Platzlakeyen
angemeſſen ſeyn ſollende, Vortrag zu bewei-
ſen, daß ein armer Abbate um ein paar Phi-
lippsthaler dieſen Scherz gemacht habe. *)


Daß die Italiener ſelbſt, und nach ihnen
die Franzoſen, Englaͤnder und Spanier, im-
mer noch glauben, der beruͤhmte Pallaſt des
Julius Romanus ſey in der Form eines T
gebauet, und habe von dieſem Buchſtaben ſei-
nen Namen, kann dieſen Nationen leichter
hingehen, als uns Deutſchen, die wir in dem
Ruf und im wirklichen Beſitze ſind, auswaͤr-
tige Laͤnder und ihre Merkwuͤrdigkeiten ſo
[208] gut und gruͤndlich und oft weit beſſer zu ken-
nen, als unſre eigenen. Ich glaube mir ein
kleines Verdienſt zu ſtiften, wenn ich an dem
Irrthum mit dem T etwas ruͤttele, der ſich
in allen deutſchen Reiſebeſchreibungen eben ſo
gut findet, als in allen engliſchen und franzoͤ-
ſiſchen. Damit die Leſer trauen koͤnnen, will
ich alles mit den Worten des gedachten Di-
rektors der Malerakademie von Mantua be-
legen.


Der bewußte Pallaſt iſt nach Doriſcher
Ordnung ins Gevierte gebauet *) und ſchließt
einen geraͤumigen Hof ein. Queer uͤber die-
ſen Hof, von dem Fluͤgel, durch den man
hineintritt, an, bis zu dem entgegen geſetzten
hinuͤber, laͤuft ein bedeckter Gang. Dieſer
Gang mußte einer lebhaften Einbildungskraft
die Perpendikularlinie, und der Fluͤgel, an
den er ſich lehnt, mußte die Transverſallinie
des
[209] des T hergeben, und ſo erhielt der Pallaſt
ſeinen Namen.


Aber außer der Unerweislichkeit dieſer
Buchſtabengeſtalt *) die Julius Romanus,
der große Kenner und eifrige Nachahmer des
Alterthums, in der That in den alten Truͤm-
mern zu Rom nicht gefunden haben wird,
und die er, wenn er ſie haͤtte finden koͤnnen,
nicht nachgeahmt haben wuͤrde — iſt beſon-
ders zu bemerken, daß der Ort, wo der Pal-
laſt ſteht, auf alten Karten unter der Benen-
nung The vorkommt, und daß er bis zur
Oberherrſchaft der Familie Bonacalsi im drey-
zehnten Jahrhundert uͤber Mantua, wie man
aus den Statuten der Stadt von der dama-
ligen Zeit ſieht, Tejetto iſt genannt wor-
den, was die Ueberſchriften eben dieſer Sta-
tuten: de dominabus Thayeti — de fra-
tribus S. Matthaei de Theyeto — de cu-
stodia Theyeti etc.
klar beweiſen **) Der
Siebentes Heft. O
[210] Pallaſt hatte alſo ſeinen Namen von dem
Platze, auf welchem er erbauet wurde; dieſer
Name wurde im gemeinen Leben bis zu The,
zu Te, und endlich bis zu einem T zuſam-
men gezogen; und als man zuletzt gar in ſei-
ner Geſtalt ſelbſt ein ſolches fand, ſo blieb
ihm die Benennung davon ohne Widerſpruch
eigen. Wenn es richtig iſt, daß in manchen
franzoͤſiſchen Provinzen die Edelleute in aͤltern
Zeiten ihren Pallaͤſten die Geſtalt des erſten
Buchſtabens in ihrem Familien- oder Vorna-
men gaben, ſo hatten diejenigen, die den
Mantuaniſchen Pallaſt einem T aͤhnlich fan-
den und ihn danach benannten, eine Autori-
taͤt, die ſie in dieſem Irrthume beſtaͤrkte,
aber ſie vergaßen, daß der Familienname des
Erbauers kein T ſondern ein G (onzaga)
und ſein Taufname ein F (riederich) war.


Gewiß iſt, daß es groͤßere und praͤchtigere
Pallaͤſte geben kann und wirklich giebt, als
dieſer Tepallaſt, aber nach richtigern und ſchoͤ-
nern Verhaͤltniſſen erbauete, duͤrfte man wohl
[211] wenig finden. Er hat nur zwey Geſchoß;
ein ganzes, in ruſtiſchem Geſchmack, und ein
halbes, das, ohne Fenſterverzierungen, auf
dieſes geſetzt iſt. An den Vorderſeiten der
Fluͤgel laufen vierzehn und ſechzehn Doriſche
Wandpfeiler hin, die von der Unterlage bis
zum Kranz hinauf ſteigen und dieſen, der
uͤberaus gefaͤllig gezeichnet iſt, und das Dach,
emporhalten. Der Geſchmack in dem Gan-
zen und deſſen einzelnen Theilen iſt der Be-
ſtimmung dieſer Anlage ganz angemeſſen, und
athmet eine auffallende Feſtigkeit, Maͤnnlich-
keit und Einfalt, die alles, was Schnoͤrkel
ſcheinen koͤnnte, ſtandhaft verſchmaͤhet hat;
mit einem Worte, Julius brachte in dieſem
Pallaſt ein Kunſtwerk hervor, das mit dem
Geiſte des Alterthums die neueren Erfindun-
gen zur Bequemlichkeit verband und zugleich
die Stufe angiebt, welche die Baukunſt und
die Malerey zu ſeiner Zeit, unter Mitwirkung
ſeines großen Meiſters und ſeiner eigenen und
vieler andern gluͤcklichen Geiſter, erſtiegen
O 2
[212] hatten. Denn Julius hat auch das Innere
des Pallaſtes mit ſeinem zweyten Talent, der
Malerkunſt, verſchoͤnert.


Wenn es moͤglich waͤre, in dem Falle, daß
Ein großer Kopf Zwey oder Drey Kuͤnſte in
einem vorzuͤglichen Grade verſteht und aus-
uͤbt, genau zu entſcheiden, in welcher von die-
ſen Kuͤnſten er vorzuͤglich Meiſter iſt: ſo
wuͤrde es bey Julius Romanus gleichwohl
ſchwerer, als bey andern aͤhnlichen Kuͤnſtlern
werden, zu beſtimmen, ob er ein groͤßerer
Maler, oder ein groͤßerer Baumeiſter geweſen
ſey. Mir ſcheint er beyde Kuͤnſte in gleich
hohem Grade beſeſſen zu haben, und ich fuͤhre
zur Beſtaͤtigung meiner Meynung nur die
Wahrnehmung an, daß die Baumeiſter und
die Maler wechſelſeitig den groͤßeſten Antheil
an ſeinem Genie ſich anmaaßen. Die bloßen
Theoretiker und Kunſtrichter halten es hierin
theils mit den Malern, theils mit den Bau-
kuͤnſtlern. Raphael war auch Baumeiſter,
aber es iſt ausgemacht, daß er ein groͤßerer
[213] Maler war; Michel Angelo war Bild-
hauer, Maler und Baukuͤnſtler zugleich, alles
in einem vorzuͤglichen Grade, aber die Mehr-
heit haͤlt ihn, ſeit der Empfaͤngniß des gro-
ßen Gedankens, ein Pantheon als Kuppel
auf die Peterskirche in Rom zu ſetzen, als
Baumeiſter fuͤr groͤßer, denn als Maler und
Bildhauer.


Gerade dadurch gewinnt der Pallaſt Te
ſo ſehr an Merkwuͤrdigkeit, daß er von den
beyden Virtnoſitaͤten ſeines Meiſters anſchau-
liche Probeſtuͤcke enthaͤlt. Wie in ſeiner Va-
terſtadt kein ſo großes Werk der Baukunſt
von ihm vorhanden iſt, als das hieſige, ſo
ſind auch die dortigen Ueberbleibſel ſeines
Pinſels theils geringer, theils zweifelhafter.
Er hat Antheil an manchen Werken Raphaels,
die dieſer bloß zeichnete oder anlegte, und Ju-
lius mit andern Schuͤlern deſſelben ausmalte;
und man zeigt in den „Stanze“ und in der
„Farnesina“ zu Rom, Figuren und ganze
Gruppen, welche die Ueberlieferung dem Ju-
[214] lius zuſchreibt. Aber außerdem, daß ſolche
Nachrichten nicht als zuverlaͤßig verbuͤrgt wer-
den koͤnnen, bleibt auch das Vorurtheil gegen
ihn, daß die Erfindung, das Hauptſtuͤck des
Genies, an dieſen Werken nicht von ihm ſey.
Von dieſem Vorwurf erſcheint er in den Ar-
beiten des Pallaſtes Te ganz frey, und was
von ihm ſelbſt noch darin vorhanden iſt,
giebt einen ganz reinen Stoff zur ſichern Be-
urtheilung ſeines Geiſtes und ſeiner Talente
als Maler, oder wenigſtens als Zeichner,
wenn man ſich der Unbilde wegen, welche Zeit
und Menſchen ſeinen Farben zugefuͤgt ha-
ben, *) lieber nicht auf ſeine Kunſt in der
Farbengebung einlaſſen will. Auch iſt be-
kannt, daß viele ſeiner Zeichnungen nicht von
ihm, ſondern von ſeinen Schuͤlern, Prima-
ticcio
und Johann Briziano von
Mantua
, gefaͤrbt, und daß ſelbſt dieſe in
ganz neueren Zeiten theils von dem Direktor
[215]Bottani ſelbſt, theils unter ſeinen Augen,
ſind nach- und uͤbermalt worden.


Die noch von Julius in dieſem Pallaſt
vorhandenen und erhaltenen Malereyen ſind
von verſchiedenem Werth und Umfange.
Viele erheben ſich wenig uͤber gewoͤhnliche me-
chaniſche Zimmerverzierungen und beſtehen in
Medaillons, Basreliefs und andern kleinern
Erfindungen, woran beſonders die oben ge-
nannten Schuͤler des Julius, Antheil gehabt
haben; andere tragen aber ſo unverkennbar
den Charakter ihres Meiſters, daß dieſer auf
den erſten Blick hervorſpringt. Eine gewiſſe
Kuͤhnheit und Groͤße in der Zeichnung, eine
ganz antike Wendung in den Figuren und in
dem Schlage der Gewaͤnder, und eine große
Einſicht in Zuſammenſtellung der einzelnen
Gruppen und in Anordnung des Ganzen;
mit einem Worte, die anerkannten Vorzuͤge
des Julius, als Malers, treten hier ſtaͤrker
und reichlicher hervor, als in allen uͤbrigen
Werken, die ſich von ihm erhalten haben.
[216] Ohne mich in eine umſtaͤndliche Beſchreibung
der vorzuͤglichſten hieſigen einzulaſſen, iſt es
fuͤr meinen Zweck hinlaͤnglich, nach den oben-
ſtehenden Bemerkungen, ſie nur noch fuͤr
meine reiſenden Landsleute namentlich zu be-
zeichnen. Das erſte und vorzuͤglichſte iſt der
Sturz der Giganten, der das ſogenannte
Rieſenzimmer einnimmt; das zweyte der
Fall Phaͤtons vom Sonnenwagen
;
das dritte Poliphem; das vierte Pſy-
chens Geſchichte mit Amor
; das fuͤnfte
Mars, Venus und Adonis; und das
ſechſte endlich, Caͤſar, von ſeinen Likto-
ren umgeben, der Buͤcher verbren-
nen laͤßt
. Ich kann nicht entſcheiden, ob
dies der wirkliche Gegenſtand dieſes Gemaͤldes
ſeyn mag. Wenigſtens geben ihn die Reiſe-
beſchreiber ſo an und der Direktor Bottani
widerſpricht ihnen nicht. Wenn ich die uͤbri-
gen zahlreichen Freskomalereyen, die als Ar-
beiten des Julius nicht zu verkennen ſind,
hier uͤbergehe, ſo habe ich oben den Grund
[217] davon angegeben. Man wird ſie aber alle
ohne Ausnahme mit großem Genuß ſelbſt ſe-
hen und uͤberall die Spuren von dem Geiſte
ihres Urhebers wiederfinden.


Mir war der Nachmittag faſt zu kurz ge-
worden, um alles zu ſehen, aber mein Reiſe-
gefaͤhrt hatte nicht voͤllig drey Viertelſtunden
dazu gebraucht. Der Pallaſt war ihm zu
klein, zu raͤucherig und zu unanſehnlich, und
nur der Umſtand, den ich ihm aus meinem
„Cicerone“ zum beſten gab — „daß er Stu-
terey und Marſtall geweſen ſey, ehe ihn Ju-
lius umſchuf“ — ſchien ihm in ſeinen Augen
etwas mehr Merkwuͤrdigkeit zu geben. So
ſuchte er auch unter den Gemaͤlden beſonders
die Thierſtuͤcke, und in dieſen wiederum,
die Pferde auf, uͤber deren Bau und Stel-
lung er dem Julius viel Einwendungen machte,
die bey weitem nicht ſo gegruͤndet waren, als
diejenigen ſeyn wuͤrden, die Kenner des Schoͤ-
nen dem engliſchen Zeichner machen moͤchten,
der einen ſpitzkoͤpfigen Englaͤnder, mit hervor-
[218] ſtehenden Huͤften und abgehauenem Schweife,
als Muſter einer ſchoͤnen Pferdegeſtalt dar-
ſtellen wollte. Da er nach engliſcher Sitte,
einen Pferdeknecht und drey Reitpferde aus
„Old-England“ bey ſich hatte, ſo brauchte
er nicht wegen des Wagens auf mich zu war-
ten, ſondern konnte ſein „comfortable“ zu
Hauſe ſuchen, wo ich ihn auch des Abends,
bis aufs Hemde ausgezogen, hinter einer
Flaſche Rheinwein und einer Schuͤſſel vor-
trefflichen Obſtes, auf dem Kanapee wieder-
fand. In dieſer behaglichen Lage war er
auch nicht zu bewegen, mit in das Theater
zu gehen, ungeachtet eines der beſſern Stuͤcke
von Goldoni (die gewandte Frau, la
Moglie saggia
) gegeben wurde, und das
Schauſpielhaus ſelbſt, als ein gutes Werk der
Baukunſt von Franz Bibbiena geſehen zu
werden verdiente.


Das Innere von Mantua iſt weit geraͤu-
miger und lichter, als das von Verona. Die
Straßen ſind breit und groͤßeſtentheils gerade;
[219] die Haͤuſer ſind weit neuer und haben nicht
den altmodiſchen Putz von Altanen, Balkonen
und Galerien. Ihre Hoͤhe iſt gewoͤhnlich
drey bis vier Geſchoß, und wenn in ihrer
Mitte nicht ſo viel Pallaͤſte vorkommen, als
in Verona, ſo ſind ſie doch laͤnger und min-
der roſtig. Einige darunter, z. B. die Pal-
laͤſte Colloredo, Valenti, Sordi,
d’Arco, Cavriani, Gonzaga, Arri-
vabene, Andreaſi
u. a. zeichnen ſich durch
gute Bauart im Aeußern, und im Innern
durch manche artiſtiſche und gelehrte Vorraͤthe
aus. Der erſtre iſt nach einer Zeichnung von
Julius Romanus ausgefuͤhrt. Sein eigenes
Haus, das er ſelbſt in ziemlich barockem Ge-
ſchmack angab und bauete, iſt auch noch vor-
handen, ſo wie einige oͤffentliche Anlagen, z.
B. die Fleiſch- und Fiſchbaͤnke und der
Stall fuͤr die reitende Leibwache, die von
ſeiner Zeichnung ſind. Die Stadt Mantua
dankt ihm uͤberhaupt viel in Ruͤckſicht ihres
Grundes und ihrer Zierde. Der Herzog
[220] Friedrich brauchte ihn bey Ausfuͤllung der
ſumpfigten Stellen, bey Erhoͤhung des Bo-
dens und bey Herſtellung der Haͤuſer, die
durch Ueberſchwemmungen gelitten hatten;
und niemand durfte ein neues Haus bauen,
der ſich nicht bey ihm gemeldet und ſeinen
Rath und Plan daruͤber vernommen haͤtte.
Eben dieſer Herzog ernannte ihn, kurz vor
ſeinem Tode, zum Aufſeher des Waſſer- und
Haͤuſerbaues, und er blieb bis an ſein Ende
mit den Pflichten dieſer Stelle beſchaͤftiget.


Verona hat unter allen ſeinen Kirchen
keine aufzuweiſen, die als Werk der Baukunſt
ſolch einen Genuß gewaͤhrte, als die hieſige
Domkirche, die nach einer Zeichnung von
Julius aufgefuͤhrt iſt. Schon das Portal
derſelben kuͤndigt ſelbſt dem Auge des Layen
das Werk des Meiſters an, und das Innere,
auf vier Reihen praͤchtiger Saͤulen geſtuͤtzt,
vollendet den vortheilhafteſten Eindruck. Man
tadelt, daß das Ganze fuͤr ſeine Laͤnge zu
breit ſey und vergißt dabey, daß es von einem
[221] eifrigen Nachahmer der Alten entworfen wurde,
die ihre Tempel uͤberhaupt breiter machten,
da wir die unſrigen mehr in die Laͤnge hal-
ten. Waͤre es billig, Werke, deren meiſte
Theile vollkommen ſind, der wenigſten wegen,
die Fehler haben, zu tadeln, ſo koͤnnte man
ſagen, daß die Saͤulen fuͤr die Hoͤhe der
Schiffe, die ſie tragen, zu ſchwerfaͤllig ſind,
und daß das Ganze nicht Licht genug hat.
Kenner werden aber auch dieſen beyden Vor-
wuͤrfen dadurch begegnen, daß die Alten ihre
Saͤulen ſtaͤrker machten, als wir Neueren,
durch die ſchlankern Pfeiler der deutſchen Bau-
kunſt verwoͤhnt, ſie zu ſehen gewohnt ſind,
und daß ſie mit Fleiß ein gewiſſes feyerliches
Dunkel in ihren Gotteshaͤuſern herrſchen lie-
ßen. Gegen die Verhaͤltniſſe der Kuppel
moͤchte ſchwerlich das eigenſinnigſte architekto-
niſche Auge etwas einwenden.


In dieſem Dom iſt eine Seitenkapelle,
zwar groͤßer und praͤchtiger, aber ſicher nicht
ſchoͤner, als die Kapelle Pellegrini in Verona.
[222] Ihre Verzierungen paſſen wohl fuͤr eine
Schaubuͤhne, aber nicht fuͤr ein Bethaus;
ſie ſind bunter, als die bunteſten in der unten
zu erwaͤhnenden Andreas-Kirche, und
uͤberall ſo mit hellblau, hellroth, hellgruͤn,
hellgelb und, zu allem Ueberfluß noch, mit
Gold uͤberladen, daß das Auge geblendet
wird und ſich bald geſaͤttigt wegwendet. Dieſe
Zierrathen ſind ſicher nicht im Geiſte des
Baumeiſters ausgefuͤhrt. Man ſieht auch ei-
nige gute Gemaͤlde in dieſer Kirche: eine Be-
rufung des Petrus und Andreas zum
Apoſtolat, von Julius; eine Verſuchung des
heil. Antonius von Paul von Verona;
und die Anſetzung eines abgehackten Pferde-
fußes durch das bloße Zeichen des Kreutzes,
von Guercino di Cento.


Dem Dom gegenuͤber, auf dem ſogenann-
ten Waffenplatze, ſteht der alte herzog-
liche Pallaſt
, der ſehr roſtig in die Augen
faͤllt und nur noch durch einige Anlagen und
Malereyen des Julius Romanus merkwuͤrdig
[223] bleibt. Das Hauptgeſchoß iſt, wie ſich das
an weit neueren Pallaͤſten in Italien ſo haͤufig
findet, mit Brettern vernagelt. Unter mehre-
ren Hoͤfen, die er einſchließt, iſt nur Einer
etwas erneuert worden, weil die Zimmer der
Erzherzogin Maria von Eſte, Gemalin
des jetzigen Statthalters der oͤſterreichiſchen
Lombardey, die zuweilen hieher koͤmmt, nach
demſelben hinaus gehen. Sonſt iſt er ſehr
weitlaͤuftig; aber ganze Reihen Zimmer ſind
entweder gar nicht, oder ſehr armſelig oder
altmodiſch, aufgeputzt. Auch hier zeigt man
mehrere Werke von Julius Romanus und
von ſeinen Schuͤlern. Der ſogenannte Saal
der Zeichen
hat ein Deckenſtuͤck von ſeiner
Hand: die Zeichen des Thierkreiſes, in
rieſenhafter Form. Der Trojaniſche Saal,
mit der Darſtellung einiger Begebenheiten aus
dem Trojaniſchen Kriege, iſt ebenfalls ſein
Werk; ſo wie die ſogenannte alte Gale-
rie
, die er gebauet hat, die aber weiter keine
artiſtiſche Merkwuͤrdigkeiten einſchließt. Auch
[224] die Decke der großen Galerie iſt von ihm
und ſeinen Schuͤlern gemalt. In einem an-
dern großen, aber veralteten und raͤucherigen
Saal, hangen ſechs große Gemaͤlde, die ihn
ganz ausfuͤllen und von Bruſaſorzi ſeyn
ſollen. Vier davon ſtellen Momente aus der
Fabel vom Sturze des Phaͤton vor, das
fuͤnfte Deukalion und Pyrrha, das
ſechſte die Giganten, die Zevs in den
Abgrund ſchleudert. Noch ſind einige Zimmer
voll Niederlaͤndiſcher Tapeten da, die nach
Zeichnungen von Raphael gearbeitet ſeyn ſol-
len. Guercino di Cento, Bruſaſorzi und Pri-
maticcio haben auch einige Gemaͤlde hieher
geliefert. Noch iſt ein kleiner hangender Gar-
ten, mit einem Portikus von einer Doppel-
reihe toskaniſcher Marmorſaͤulen, nach einer
Zeichnung von Palladio, wie man ſagt, da,
und des Sehens werth.


Eine Kirche, wie die Andreaskirche,
hat Verona ebenfalls nicht aufzuweiſen. Ihr
Baumeiſter iſt Leon Battiſta Alberti,
ein
[225] ein aͤlterer, vorzuͤglicher Baumeiſter, der die
Alten fleißig ſtudierte und nachahmte; das
Innere ſeines Werkes iſt indeſſen durch das,
was man neuere Verbeſſerungen nennt, gro-
ßentheils verdorben worden, *) beſonders durch
eine Kuppel, die ein neuerer Baumeiſter,
Philipp Giovara, darauf geſtuͤlpt hat.
Dieſe iſt fuͤr ihren Durchmeſſer zu hoch, wo-
durch ſie den Fehler bekoͤmmt, daß ſie gleich-
ſam zuckerhutaͤhnlich ſich nach oben zuzuſpitzen
ſcheint. Das Schiff ſelbſt, ein Ueberbleibſel
des alten Plans, iſt geraͤumig, und leicht ge-
woͤlbt, obwohl, wie das ganze Innere, mit
unuͤberſehlichen, neuern, gemalten Schnoͤrkeln
uͤberladen. Die meiſten darin befindlichen
Gemaͤlde haben denſelben Fehler der Buntheit
und ſind, nicht vor langer Zeit, wie mir der
herumfuͤhrende Vater Franciskaner mit Ge-
wicht ſagte, von der Mantuaniſchen
Schule
gemalt, woraus er mir auch einige
Siebentes Heft. P
[226] Namen mit eben ſo viel Gewicht nannte.
Ich hoͤrte ſie zum erſtenmal nennen. Viel-
leicht werden ſie einmal beruͤhmt, wenn ſie
ſterben, oder wenn ſie erſt noch laͤnger todt
ſind. Jetzt ſchienen mir ihre Arbeiten noch
mittelmaͤßig.


Ich hatte den Einfall, die Kuppel dieſer
Kirche beſteigen zu wollen, um die Stadt zu
uͤberſehen. Man gab mir einen Chorknaben
zur Begleitung, und es fiel mir ſehr auf, daß
er ſich dazu mit einem Lichte verſehen hatte.
Wir brauchten es aber ſehr noͤthig. Ich
hatte hier abermals einen Beweis von dem
ganz eigenen Charakterzuge der Italiener,
daß ſie ſo fruͤh als moͤglich, wenn auch nicht
lange und nicht recht, genießen wollen. Hier
hatte man nur geeilt, dasjenige an der neuen
Kuppel fertig zu haben, was von außen in
die Augen faͤllt; an die Vollendung des In-
nern hatte man nicht gedacht und es duͤrfte
nun wohl, ſo lange die Kirche ſteht, ſo blei-
ben, wie ich es fand.


[227]

Mein Fuͤhrer kroch, mit ſeinem Licht-
ſtumpen, den er in freyer Hand hielt, durch
eine niedrige Thuͤre voran. Sie fuͤhrte zu
einer Treppe, oder vielmehr zu etwas, das
eine Treppe werden ſollte; denn, o Grauſen
und Entſetzen! anſtatt Stufen zu finden, ſah
ich einen Haufen von Schaͤdeln, Armen und
Beinen vor mir, die mein Fuͤhrer ohne Scheu
und Gewiſſen bekletterte und zwar mit ſo viel
Uebereilung, daß ſeine kleine Perſon mit fuͤnf
oder ſechs Koͤpfen und mit einer verhaͤltniß-
maͤßigen Anzahl von Beinen und Armen mir
vor die Fuͤße rollte. Ich half ihm wieder
auf, und folgte ihm dann getreulich uͤber die
ſeltſame Treppe von Knochen, freylich nicht
ohne Kopfſchuͤtteln, als ich, auf Erkundigung,
vernahm, daß ſie ſeit Gruͤndung der Kuppel
dalaͤgen, und zwar recht bequem, weil doch
ſehr ſelten jemand dahin kaͤme, als etwa ein
„Inglése“ oder „Tedesco curioso.“


Nach einer Weile gelangten wir zu einer
wirklichen Treppe, die ſich ſchneckenartig und
P 2
[228] ſehr enge hinauf wand, aber bald wieder auf-
hoͤrte. Ein paarmal mußte ich unter ſchon
geſtuͤtzten Wetterdaͤchern hinweg kriechen, auf
denen die Ziegel nur weitlaͤuftig lagen; ein
paarmal mußte ich uͤber dieſe lockern Ziegel
ſelbſt mit wirklicher Gefahr auf Haͤnden und
Fuͤßen hinweg klettern. Dies alles war nur
auf Unterdeſſen da, aber es wird noch
nach funfzig Jahren, von Reiſenden, die mir
dieſe finſtre und beſchwerliche Reiſe nachthun,
eben ſo gewiß dort faulend gefunden werden,
als die Todtenknochen.


Endlich gelangte ich an das Dach der
Kuppel, um welche ein ziemlich ſchmaler
Gang — ohne Gelaͤnder — laͤuft. Hier wurde
ich allerdings fuͤr meine Muͤhe reichlich belohnt.
Die Ausſicht von da herab iſt ſo ſchoͤn, als
irgend eine um und in Verona; und da
Mantua ſchon tiefer in der Ebene liegt, ſo
hat man auch die Alpen, die in einem Halb-
cirkel ſie im Hintergrunde umſchließen, ſchon
beſtimmter und uͤberſehbarer vor ſich. Das
[229] Auge umſpannt mehrere Meilen in die Runde.
Der See, worin Mantua liegt, tritt, von
Weſten her, in einem ſchoͤnen Spiegel, der
von Pappeln, Maulbeerbaͤumen und Cypreſ-
ſen beſchattet wird, auf ſie zu, und ſtreckt
zwey Arme um ſie her aus. Die Stadt
ſelbſt hat man zu ſeinen Fuͤßen und ſie er-
ſcheint faſt ſo groß als Verona, nur iſt ihre
Geſtalt mehr rund. Auch der große Fluß
fehlt ihr, der Verona verſchoͤnert, und die
Bruͤcken daruͤber und die gruͤnen, mit Cypreſ-
ſen und Weingaͤrten beſetzten, Terraſſen.
Zwar geht ein Arm des Mincio durch ſie
hin, aber er iſt ſehr ſchmal, und von den
ſechs Bruͤcken, welche die Theile der Stadt,
die er trennt, wieder verbinden, bemerkt man
nichts.


Mantua hat, fuͤr ſeine Groͤße, eine auf-
fallend geringe Bevoͤlkerung. Noch in den
letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts, ſoll
ſie gegen 50,000 Einwohner gehabt haben,
und dazu waͤre ſie noch geraͤumig genug;
[230] aber ſie hatte und hat noch jetzt mehrere po-
litiſche und phyſiſche Feinde, die ſie zu Grunde
richteten und jetzt noch fortdaurend ihr Auf-
kommen verhindern. Ehedem beſaß ſie einen
Hof innerhalb ihrer Mauern, der Kuͤnſte,
Wiſſenſchaften und Manufakturen beguͤnſtigte
und dadurch ein mannigfaches Verkehr ver-
anlaßte. Um dieſen her lebte ein zahlreicher,
wohlhabender Adel. Dieſer verſchwand, bis
auf wenige alte, im Lande ſelbſt ganz beſitz-
liche, Haͤuſer, mit dem ehemals regierenden
Hauſe der Gonzaga. *) Zwey verheerende
Eroberungen vertrieben noch andre Familien,
die, um ihr Geld zu verzehren, andre Zu-
fluchtsoͤrter aufſuchten, welche nicht bey jeder
Irrung, woran das Haus Oeſterreich Antheil
hatte, kriegeriſchen Anlaͤufen ausgeſetzt waren.
Der Manufakturunternehmer und Handels-
mann waͤhlt aus eben dem Grunde ſolche
[231] Plaͤtze nicht zu Niederlagen ſeines Vermoͤgens
und zu Werkſtaͤtten ſeines Erfindungsgeiſtes
und Fleißes; ſelbſt der mechaniſche Arbeiter
ſcheuet dergleichen, aus Furcht vor Unterbre-
chungen, die ihm mit ſeiner Arbeit zugleich
ſein Brod rauben. Das in Oeſterreich ſeit-
dem ſo oft veraͤnderte, und mit jeder neuen
Veraͤnderung druͤckender gewordene, Mauth-
ſyſtem, kann einer Stadt, die in Handel und
Manufakturen zuruͤck gekommen iſt, auch
nicht aufhelfen, noch weniger ein Verkehr zu
ihr zuruͤck fuͤhren, das einmal einen andern
und freyern Zug genommen hat. Dazu
koͤmmt, daß die Stadt, ihrer moraſtigen Lage
wegen, mehrere Monate jaͤhrlich an einer
ungeſunden Luft leidet, die Anſiedelungen un-
moͤglich macht, weil Fremden die Folgen da-
von fuͤrchterlicher ſcheinen und in der That
ſind, als Einheimiſchen. Aus dieſen Urſachen
ſind alle die Anſtalten, die Maria Thereſia,
Firmian, und Joſeph der Zweyte zur Auf-
nahme von Mantua trafen, nur zum Theil
[232] wirkſam geworden; und wenn dieſe Stadt
jetzt mehr Einwohner zaͤhlt, als zu Keyß-
lers
Zeiten, der (wie auch nach ihm Volk-
mann
und Buͤſching) ihren Beſtand nur
zu 10,000 Seelen berechnet; ſo enthaͤlt ſie
doch auch nicht 20,000 Menſchen, wie de
Luca
und nach ihm Jaͤger angeben. Ein
unterrichteter Mann, der in andern Dingen
nichts uͤbertrieb, die ich ſelbſt unterſuchen
konnte, ſetzte die Seelenzahl auf dreyzehn
bis vierzehn tauſend. Nur der Kern
der Stadt beweiſt durch eine groͤßere Lebhaf-
tigkeit, daß ſie dieſe Anzahl enthalten kann.
Da er den Markt einſchließt, ſo zeigen ſich
auf den dahin fuͤhrenden Straßen die Ein-
wohner am haͤufigſten. Die entferntern aber
ſind menſchenleerer, als in Verona, und man
ſieht da ſtellenweiſe fuͤnf bis ſechs Haͤuſer ne-
ben einander verſchloſſen ſtehen, und an den
Seiten hohes Gras zwiſchen dem Pflaſter
hervorwachſen. Hier und da bemerkt man
eine offene Thuͤr, oder einen Kopf in einem
[233] Fenſter, oder im Erdgeſchoſſe einen armen
Schuſter, oder einen Schneider, oder eine
Obſthoͤkerin oder Schwefelholzhaͤndlerin. Ein
oder ein paar zarthufige Eſelchen trippeln,
anſtatt aller Wagen, an den Seiten hin.


Uebrigens bekenne ich, daß mich an dieſe
Stadt nichts mehr feſſeln konnte, nachdem ich
ihre artiſtiſchen und literariſchen Merkwuͤrdig-
keiten *) geſehen hatte. Es war jetzt weder
eine Societaͤt hier, noch hatte ich irgend ein
Geſchaͤft oder eine Liebhaberey, welche die
leeren Stunden auch nur eines einzigen Ta-
ges haͤtten ausfuͤllen koͤnnen. Ich reiſte alſo
ſchon den andern Morgen (den 25. Sept.)
gegen 11 Uhr ab.


Um Vier Uhr Nachmittags war ich ſchon
in Kremona. Ich hatte waͤhrend dieſer
[234] fuͤnf Stunden eine Strecke Weges zuruͤck ge-
legt, die, nach dem Meilenzeiger der Extra-
poſt, 6 Stationen oder 12 deutſche und 48
ital. Meilen betragen ſollte. Man erraͤth,
daß dieſe außerordentliche Schnelligkeit ihre
guten Gruͤnde haben mußte. Es waren ihrer
zwey: der ſchoͤnſte Weg, den man ſich denken
kann, und das kuͤrzeſte Meilenmaaß, das ir-
gendwo uͤblich und billig iſt.


Die Landſchaft, durch die man faͤhrt,
bleibt der Gegend vor und um Mantua
gleich: Alleen von Baͤumen, Felder dazwi-
ſchen, und Gewinde von Reben, mit dem
ganzen Reichthum eines gluͤcklichen Jahres
prangend. So dauert es fort, bis man ſich
dem maylaͤndiſchen Gebiete naͤhert, wo der
Maulbeerbaum einzelner wird, dafuͤr aber die
ſchoͤnſten Pappeln ſich erheben, die ihrerſeits
fruchtbare Reisfelder einſchließen und den vor-
treflichen Straßendamm zu einer wahren
Gartenallee machen. Da er ſtundenlang nach
der Schnur gezogen iſt; da er, wenn er ſich
[235] auch einigemal zur Rechten oder zur Linken
wendet, ſogleich wieder in eben ſo gerader
Richtung fortlaͤuft; da ſich dort, wo er ſolche
Winkel bildet, immer ein Staͤdtchen, oder ein
Flecken, oder ein ſchoͤnes Poſthaus befindet,
das ſolche unabſehliche Alleen beherrſcht: ſo
tritt hier abermals das Bild eines Gartens
hervor, deſſen Baumgaͤnge im Hintergrunde
mit gemalten Ausſichten auf Staͤdte und Land-
ſchaften verziert ſind. Der letzte Theil des
Weges gewaͤhrt die Ausſicht auf Kremona
ſelbſt. Der beruͤhmte, einzeln da ſtehende,
Thurm dieſer Stadt, ihre Domkirche und ein
paar andre ſtattliche Thuͤrme, beſchraͤnken hier
den Ausgang des angenehmen Weges und
zeigen dem Reiſenden zugleich das Ziel ſeiner
Tagereiſe.


Die Oerter zwiſchen Mantua und Kre-
mona, wo man die Pferde wechſelt, ſind
theils Staͤdtchen oder Flecken ohne große Be-
deutung, theils einzelne Poſthaͤuſer. Nach
der neueſten Einrichtung ſind es Castelluccio
[236] (1 Poſt), Bozzola (1 ½ P.), S. Lorenzo
(1 ½ P.), Cigognola (¾ P.). Von da bis
Kremona iſt noch Eine Poſt.


Weil dieſe Stadt in einer voͤlligen Flaͤche
liegt, und das Auge uͤberdies von den Baͤu-
men an der Straße beſchraͤnkt wird, ſo zeigt
es ſich von außen her nur einem kleinen
Theile nach; koͤmmt man aber hinein, ſo
ſieht man, indem Straßen und Plaͤtze ſich
vor einem ausdehnen, daß ſie nicht zu der
Gattung der kleinen Staͤdte gehoͤrt, worin
die meiſten Reiſebeſchreiber ohne naͤhere Be-
ſtimmung ſie geſetzt haben. Sie ſcheint we-
nig kleiner, als Mantua, und iſt ein wahres
Seitenſtuͤck zu dieſer Stadt. Ihre Haͤuſer
find von derſelben Bauart, ihre Straßen von
gleicher Breite, hier und da eben ſo mit
Gras bewachſen, eben ſo menſchenleer. Wie
das „Calendario di Cremona, per l’anno
1794“
dennoch eine Einwohnerzahl von 25,652
fuͤr dieſe Stadt hat herausbringen koͤnnen,
wuͤrde ich nicht begreifen, wenn es ſich nicht
[237] bey dieſer Nachricht der wunderlichen Worte
bediente „un anno con l'altro“ein
Jahr in das andre gerechnet
. Wer
weiß nun, welche Jahre einer ſtaͤrkern [Bevoͤl-
kerung]
dieſer feine politiſche Rechner ange-
nommen hat, um ſie mit den Jahren einer
ſchwaͤchern Volksmenge zu vergleichen und jene
Mittelzahl zu beſtimmen? Eben dies „Ca-
lendario
giebt weiterhin die Anzahl der Buͤr-
gerhaͤuſer zu 2470 an; viele davon ſtehen,
wie in Mantua, leer. Rechnet man der
ſchlechten Bewohnung wegen Sechs Menſchen
auf ein Haus, ſo bringt man etwas mehr,
als die Volksmenge von Mantua, naͤmlich
etwas uͤber 14,000 Menſchen heraus. Nimmt
man aber dazu noch die Beſatzung, die zu
meiner Zeit nicht uͤber zwey hundert Mann
ſtark war und die Bewohner der Freyhaͤuſer,
geiſtlichen Stifter, Kloͤſter, Hoſpitaͤler, Armen-
und Waiſenhaͤuſer, ſo kann man dieſe Zahl
allenfalls bis auf 17,000 ſteigern, die hoͤchſte,
die man annehmen koͤnnte. Buͤſching zaͤhlt
[238] fuͤr das Jahr 1773 uͤber 26,000; ich weiß
aber nicht, nach welchen Angaben. Vermuth-
lich nach irgend einem aͤhnlichen „Calenda-
rio“
, von welchem ſich auch de Luca und
Jaͤger bey Berechnung der Volksmenge von
Mantua wahrſcheinlich fuͤhren ließen.


Der erwerbende Stand, der gemeine
Mann, und ſelbſt der Poͤbel, erſcheinen hier
in ihrem Aeußern bey weitem nicht ſo armſe-
lig, unordentlich und zerlumpt, als in Verona.
Bettelnde Tagediebe und beduͤrftige Bettler
ſieht man faſt gar nicht. Man hoͤrt weniger
Laͤrm, ſieht weniger Ungezogenheiten; mit ei-
nem Worte, man bemerkt bald, daß eine Po-
lizey vorhanden iſt, die wagen darf, zu han-
deln, weil die Regierung nicht noͤthig hat, zu
fuͤrchten.


Dieſer Abſtich gegen das Venetianiſche
zeigt ſich in den kaiſerlichen Orten zuerſt in
den Thoren. Zu Mantua forderte der Mauth-
ner nicht geradezu ein Trinkgeld, ſondern
machte nur die Miene, als ob er ein kleines
[239] Geſchenk erwartete; der venetianiſche in Ve-
rona aber ſtreckte vor allen Dingen zuerſt die
Hand aus. Der kaiſerliche Poſtknecht war
mit ſeinem Trinkgelde zufrieden und dankte
hoͤflich; der venetianiſche erpreßte das ſeinige
erſt doppelt, bettelte nachher noch um eine
„mancia“ und druͤckte, wenn er ſie erhalten
hatte, den Hut ohne Dank trotzig in die
Augen. Vor den Thoren der kaiſerlichen
Staͤdte tritt einem ein alter beſcheidener und
hoͤflicher Unterofficier entgegen und thut die
noͤthigen Fragen; aus den Thoren der vene-
tianiſchen ſpringt ein lumpigter, ſchmutziger,
verdorrter Kerl mit Habichtsaugen hervor,
fragt, und ſchreibt vor Gier nach der „man-
cia“
nichts recht auf. Iſt man dieſem aus
den Krallen, ſo faͤllt man unter die Bettler,
die einen mit graͤßlichem Geſchrey bis nach
dem Wirthshauſe verfolgen; wogegen eben
dieſe Leute, die ſich in Mantua und Kremona
nur einzeln zeigen, ſehr ſchuͤchtern und be-
ſcheiden bleiben und, nach einer abſchlaͤgigen
[240] Antwort, nicht laͤnger uͤberlaͤſtig ſind. Auch
die Leute in ſchwarzen Roͤcken ſind in den
letztern Staͤdten nicht ſo zahlreich, als in
Verona, weil Joſeph der Zweyte auch hier,
wie in ſeinen deutſchen Staaten, unter ihnen
aufgeraͤumt hat.


Der hieſige Adel iſt, mit dem buͤrgerlichen
Stande verglichen, auffallend zahlreich. Edel-
leute vom Degen findet man wenig unter
demſelben, deſto mehr von der Feder.
Dies liegt in der Verfaſſung der Stadt, die
ſie noch großentheils von den Zeiten her bey-
behalten hat, wo ſie unter Venedig, unter
Mayland und unter der Herrſchaft einheimi-
ſcher Familien ſtand. Die Regierung der
Stadt; die Aemter in den mannigfaltigen
Dikaſterien des geſammten Gebiets; die Auf-
ſicht uͤber oͤffentliche wohlthaͤtige und Handels-
Anſtalten; die Pfruͤnden bey den Stifftern;
die Stellen der Proͤpſte und Erzprieſter in
den Kloͤſtern; der Sachwalter und der An-
walde bey den Gerichtshoͤfen — alles iſt in
den
[241] den Haͤnden gewiſſer patriotiſcher Familien,
die wiederum in gewiſſe Klaſſen und Kolle-
gien oder Zuͤnfte abgetheilt ſind, welche ihre
Graͤnzen eiferſuͤchtig bewachen, im geſelligen
Leben aber ein Ganzes und ziemlich lebhaftes,
genießendes Publikum bilden. Ihre Stellen
und Namen fuͤllen mit Abkuͤrzungen ſehr eng
gedruckt, zwanzig Blaͤtter aus: einen Raum,
den das ganze Perſonale der Staatsbeamten
von Churſachſen kaum einnehmen moͤchte.
Viele dieſer Stellen ſind allerdings nur Eh-
renſtellen, viele bringen nur kleine Zuſchuͤſſe
fuͤr ſolche ein, die eigenes Vermoͤgen haben;
die ergiebigſten aber an Ehre, Einfluß und
Geld, in der Stadregierung, in der Kirche
und im Rechte, ſind auch darunter und wer-
den, zur immerwaͤhrenden Darniederhaltung
des Buͤrgerſtandes, von dieſen patriciſchen
Familien, unter denen es nicht an „Conti“,
„Marchesi“, „Ciambellani di S.M.J.R.A.“

fehlt, die zugleich „Dottori Giurisconsulti“
ſind, ausſchließend beſeſſen. Dieſen, ſo wie
Siebentes Heft. Q
[242] den Kloͤſtern und milden Stiftungen, gehoͤ-
ren denn auch die Haͤuſer in der Stadt und
die Grundſtuͤcke in dem Gebiete von Kremona.
Buͤrger und Bauer ſind hier, wie in dem
groͤßeſten Theile von Italien, nichts weiter
als (erſtere) Miethsleute des Adels, der Pa-
trizier und der Geiſtlichkeit in den Staͤdten,
und (letztre) Knechte oder hoͤchſtens kleine
Pachter derſelben Staͤnde auf dem Lande.


Wer alſo die „Società di Cremona“ bil-
det, darf ich nicht erſt ſagen. Sie iſt hier
in der That ſo zahlreich, wie in Verona,
aber lebhafter und belebter, als dort. Man
bemerkt in derſelben einen gewiſſen deutſch-
franzoͤſiſchen Geſellſchaftston, der mehr Hei-
terkeit und mehr Umfang in die Unterhaltun-
gen bringt, und Privatbekanntſchaften beguͤn-
ſtigt, die ſich auch auf Beſuche in den Fami-
lien und Haͤuſern ausdehnen duͤrfen. Von
Wien uͤber Mayland war auch die Tugend
der Gaſtfreyheit hieher verpflanzt worden,
jetzt aber klagen ſelbſt Eingeborne, daß ſie,
[243] des verheerenden Luxus und der immer mehr
ſteigenden Theure wegen, mit jedem Jahre
ſichtbarer ſich vermindern. Kremona hat
uͤbrigens ſeinen Korſo, ſein Adeliches Kaſino
und ſeine Opern und Koncerte. Das weib-
liche Geſchlecht iſt hier nicht ſo ſchoͤn, als in
Verona, aber mit mehr Geſchmack gekleidet
und geiſtreicher.


Dagegen iſt dieſe Stadt ungleich aͤrmer
an Merkwuͤrdigkeiten des Alterthums (von
dieſen hat ſie keine einzige aufzuweiſen), der
Litteratur und der Kunſt, als Verona und
Mantua. Sie beſitzt aber aus den mittlern
Zeiten ein Werk der Baukunſt, das leicht alle
alte Ueberbleibſel dieſer Kunſt in Verona
(das Amphitheater, wie ſich von ſelbſt ver-
ſteht, ausgenommen) aufwiegt. Es iſt die
Domkirche, ein altes Gebaͤude, das zu den
ehrfurchterweckenden im altdeutſchen Geſchmacke
gehoͤrt. Ihre Vorderſeite iſt ungemein hei-
ter, und ſie erhaͤlt beſonders durch eine Reihe
von ſchlanken Saͤulen, die durch ihre Mitte
Q 2
[244] hinlaͤuft, ein Anſehen von Leichtigkeit und
Kuͤhnheit, die das Auge ſehr angenehm be-
ſchaͤftigen und die Erwartungen des Beſchauers
auf das Innere ſpannen. Dieſes iſt auch ſo
kuͤhn und edel, wie ich es noch bey keiner ih-
rer Schweſtern, deren ich manche geſehen,
angetroffen habe. Das Saͤulenwerk iſt rie-
ſenhaft in Abſicht ſeiner Dicke und Hoͤhe,
aber keineswegs ſchwerfaͤllig in Vergleichung
des Umfangs und des Gewichts der drey
Schiffe, die es empor traͤgt und ſeit Jahr-
hunderten unerſchuͤttert aufrecht erhaͤlt. Dieſe
Saͤulen ſind von lauter Marmorquadern zu-
ſammen geſetzt.


Mehrere Malereyen von guten und vor-
treflichen Meiſtern, von Tizian, Correg-
gio, Paul von Verona
u. a. hangen in
den Kapellen dieſer Kirche und vor und uͤber
ihren Altaͤren; ſie haben aber meiſt alle durch
die Zeit ſehr gelitten und werden durch die
hinzu kommende Dunkelheit dieſes Tempels
dem Auge faſt ganz entzogen.


[245]

Links vom Hochaltar findet man eine
neuere kleine Kapelle, die ſehr zierlich und
geſchmackvoll, und von einem roͤmiſchen Bau-
meiſter angegeben, aber auch, wie die bey
Mantua erwaͤhnte, mit bunten Farben, Ver-
goldungen und Schnoͤrkeleyen uͤberladen iſt.


Ich beſtieg auch den oben erwaͤhnten ein-
zelnen Thurm, der nur ſechs oder acht Schritt
von der Domkirche entfernt ſteht, um der
Anſicht der Stadt und ihrer Gegenden in ih-
rem ganzen Umfange zu genießen. Die Kre-
moneſer halten ihn mit fuͤr den hoͤchſten in
der Welt und ich laſſe ihnen willig dieſe
Freude; aber der Wahrheit zur Steuer muß
ich anfuͤhren, daß ich nur 500 Stufen, jede
kaum einen halben Fuß hoch, zu ſteigen hatte.
Er iſt, bis zu ſeinem erſten Gelaͤnder, von
lauter Backſtein, von jenem dunkelrothen und
feſten erbauet, den man in jenen Zeiten ſo
fein, ſo leicht und ſo genau auf einander,
man moͤchte ſagen, zu kuͤtten nicht zu mauern,
verſtand, daß das Ganze ſich wie ein geſtreifter
[246] Marmorpfeiler, aus einem einzigen ungeheu-
ren Block gehauen, ſich ausnimmt. Und, in
der That, man erblickt noch jetzt keinen aus-
gefallenen oder ausgewitterten Stein daran.
Oberhalb des erwaͤhnten erſten Gelaͤnders, hat
man dieſen Thurm in neuern Zeiten noch mit
zwey andern und mit einer Spitze erhoͤhet;
eine Arbeit, wobey der neuere Baumeiſter das
Vorbild von Einfalt und Kuͤhnheit bey wei-
tem nicht erreicht hat, das ihm der Baumei-
ſter des alten Werks auf eine ſo unverkenn-
bare Art vorgelegt hatte.


Unmittelbar unter dem erſten Gelaͤnder
befindet ſich der Glockenſtuhl, welcher, der
Liebhaberey der Alten gemaͤß, ſieben große,
wohlklingende Glocken enthielt. Der Thuͤr-
mer, mein Fuͤhrer, noͤthigte mich mit auffal-
lender Heiterkeit unter die Balken, woran ſie
hingen, hinein, und ließ mich auf einem hoͤl-
zernen Stuhl Platz nehmen, unter der An-
kuͤndigung: er wolle mir etwas zeigen, daß
ich noch nie geſehen haben muͤßte. Zugleich
[247] lehnte er ſich an einen Balken, den Glocken
gegenuͤber, ordnete einige Seile, die von ih-
ren Kloͤppeln herab hingen, gab eins davon
einem Buben in die Hand, und fing nun an,
mit Haͤnden und Fuͤßen angeſtrengt zu arbei-
ten, und dem Knaben mit dem Kopfe zu win-
ken, wenn er die ſiebente Glocke anſchlagen
ſollte; worauf denn ein gewiſſes Tongemenge
erfolgte, das er „una bella arietta“ nannte
und die er weit ſpaͤter muͤde wurde zu ſpielen
als ich, zu hoͤren. Es that mir leid, daß
ich ſeine Emſigkeit unterbrechen mußte, weil
ich gern auf das oberſte Gelaͤnder des Thur-
mes wollte, um die Gegend zu uͤberſehen.
Gerade, als er die zweyte Ariette anfing,
ſtand ich auf und ſtieg hoͤher, und er gab
mir, auf gut Italieniſch, mit klaren Worten
zu vernehmen, daß es ihn verdroͤße und daß
ich der erſte Fremde ſey, der ſich aus ſeiner
Erfindung nichts mache. Er war mit ſeiner
Beſchwerde leicht zu verſtehen. Zuvoͤrderſt
war ſeine Eigenliebe beleidigt, daß ich gegen
[248] ſeine Erfindung kalt blieb; da aber dieſe Ei-
telkeit, ſo auffallend ſtark ſie auch bey dem
gemeinen Mann in Italien iſt, doch der
Habſucht untergeordnet bleibt, ſo aͤrgerte ihn
der Umſtand beſonders, daß ich nicht wenig-
ſtens drey Arietten angehoͤrt, weil er dann
drey Arietten — bezahlt bekommen haͤtte.
Hier ſchloß er von ſeinen Landsleuten auf
mich. Wenn kein Italiener etwas umſonſt
erhaͤlt, ſo giebt er auch nie etwas fuͤr nichts.
Je mehr er Dienſte verlangt, je mehr er an-
nimmt, deſto mehr, weiß er ſchon, muß er
bezahlen; aber er giebt keinen Soldo aus
Großmuth, ſo wie ſeine Landsleute keinen
Finger fuͤr ihn aus Großmuth ausſtrecken.
Wir Deutſchen ſtehen gegen einander noch
nicht in dieſer kargen Abrechnung. Wir geben
noch oft fuͤr Nichts Geſchenke, und fuͤr wirk-
liche Dienſte, Nichts. Ich war Willens,
meinem Thuͤrmer ſeine einzige Ariette ſo gut
zu bezahlen, als ob er mir zehn geſpielt haͤtte,
weil ich glaubte, ihm ein Pflaſter auf ſeine
[249] verwundete Eigenliebe ſchuldig zu ſeyn; aber
er wußte dies nicht, wuͤrde ſich auch fuͤr ei-
nen Thoren gehalten haben, wenn er es er-
wartet haͤtte; mithin war er muͤrriſch, un-
freundlich, verdroſſen, und beantwortete mir
faſt keine Frage mehr. Artige und hoͤfliche
Worte halfen nicht, wie ſie bey dem italieni-
ſchen gemeinen Mann nie helfen, der ſie ſo-
gar oft fuͤr Spott aufnimmt, wenn ihn et-
was innerlich aͤrgert oder verdrießt. Erſt un-
ten an der letzten Stufe ſeines Thurms ſoͤhnte
er ſich, und dafuͤr deſto geſchwinder, mit mir
aus, als er ſah, daß ſein Trinkgeld ſo aus-
fiel, als ob er ein halbes Dutzend Arietten
mehr geſpielt haͤtte. Ich gab ihm auch noch
ein Lob uͤber ſein muſikaliſches Genie, und
nun war er recht aufrichtig wie in den Him-
mel verzuͤckt.


Uebrigens iſt die Ausſicht von dieſem
Thurme weitſchichtiger, als die ich geſtern
von der Andreaskuppel in Mantua hatte,
aber ſchoͤner iſt ſie nicht, weil die umliegende
[250] Landſchaft ganz dieſelbe bleibt. Zwar geht
der Po, der maͤchtigſte Fluß in Italien, ne-
ben Kremona hin, und windet ſich durch
ſchoͤne Auen und Felder, blickt auch von wei-
tem noch in einzelnen Spiegeln flimmernd
durch das ſchwaͤrzere Gruͤn der Baͤume her;
das aber vergeſſen, was ein großer Fluß vor
einem See voraus hat, thut der letztre um
Mantua keine ſchlechtere Wirkung auf das
Auge, und in weit groͤßeren Partieen.


Nahe bey dem Dom ſteht noch ein Ueber-
bleibſel altdeutſcher Baukunſt von betraͤcht-
lichem Umfange. Es iſt ein „Battisterio“,
eine Taufkapelle, dergleichen bloß zum
Behufe dieſer Handlung in den mittlern Zei-
ten errichtet wurden, und deren ich in Parma,
Piſa, Florenz und Rom wieder finden werde.
Die hieſige iſt von Backſtein im Achteck er-
richtet, und geſchmackvoll genug, fuͤr die da-
malige Zeit. Der Taufſtein, der, von Altaͤren
und ein paar alten Freskogemaͤlden umgeben,
in ihrer Mitte ſteht, und eine anſehnliche
[251] Groͤße hat, ſetzt ſeine Merkwuͤrdigkeit nicht
in eine ſchoͤne Form, ſondern in den Umſtand,
daß er aus einem einzigen Block von verone-
fiſchen Marmor gehauen iſt; ein Vorzug, auf
den wir jetzt keinen hohen Werth mehr legen.
Sein Verfertiger war ein mittelmaͤßiger
Steinhauer.


In einigen andern Kirchen finden ſich
noch Gemaͤlde von guten Meiſtern, z. B. bey
den Auguſtinern, Dominikanern und in der
Peterskirche. Fuͤr die ſchoͤnen Kuͤnſte hat
Kremona keine oͤffentliche Anſtalt; fuͤr die
Wiſſenſchaften aber ein Koͤnigliches Gym-
naſium
(ſo heißt jetzt die ehemalige, herun-
tergekommene Univerſitaͤt) von ganz gewoͤhn-
lichem Schlage, das wenig beſucht wird. Auch
Normalſchulen, nach Art der oͤſterreichiſchen,
ſind drey oder vier vorhanden.


Nach einem zweytaͤgigen angenehmen Auf-
enthalt in Kremona, ging ich den 28. Sep-
tember weiter nach Mayland. Der Weg
wird auf einmal ſandig und deutet auf einen
[252] Umſatz des Bodens, der auch bald ſichtbarer
wird. Ueberall, wo ſich am Wege Anbruͤche
zum Straßenbau fanden, da zeigte ſich eine
Lage von Dammerde, die zwey bis drey Schuh
hoch, und ſehr reichlich mit Sand und Letten
gemiſcht war; und unter dieſen waren Schich-
ten von Steingeſchieben gelagert, von derſel-
ben Art, wie in der Gegend um Muͤnchen.
An der Landſchaft ſelbſt bemerkte ich nicht die
geringſte Veraͤnderung in Ruͤckſicht ihrer
Fruchtbarkeit, aber wohl ihres aͤußeren Anſe-
hens. Die Maulbeeralleen verwandelten ſich
in Weiden- und Pappel-Alleen, und der
Weinbau ſtreckenweiſe ganz in Reisbau. Die
wohlhabende Anſicht der einzelnen Haͤuſer, der
Doͤrfer, Flecken und Staͤdtchen wird immer
allgemeiner. Faſt auf jedem Poſtlaufe koͤmmt
man durch drey oder vier derſelben, und man
uͤberzeugt ſich allmaͤhlig, daß man ſich hier
wohl in einem der volkreichſten und nahrhaf-
teſten Theile von Italien befinden moͤge. Man
koͤmmt uͤber Acquanera (1 P.), uͤber Piz-
[253] zighettone
(1 P.), uͤber Zorlesko oder Ca-
sal Pusturlengo
(1 ¼ P.), uͤber Lodi (1 P.),
uͤber Marignano (1 ¼ P.), auf Mayland
(1 ½ P.). Lodi iſt eine der niedlichſten Staͤdte,
die mir auf dieſer Reiſe vorgekommen ſind;
ſie hat gerade, breite, reinliche, menſchenreiche
Straßen; artige, zwey- und dreyſtoͤckige Haͤu-
ſer; ein vortreffliches Pflaſter; mit einem
Worte, ein Aeußeres, welches das wahre Bild
der Wohlhabenheit aufſtellt.


Die Notitz iſt ſchon ziemlich alt, daß der
beruͤhmte Parmeſaniſche Kaͤſe im Lode-
ſaniſchen
verfertigt wird, und alle aͤltere
und neuere Erd- und Reiſebeſchreiber haben
ſie, mit einem faſt laͤcherlichen Wetteifer, zum
Unterricht ihrer Landsleute verzeichnet; den-
noch iſt ſie (wie beruhigend fuͤr dieſe Erd- und
Reiſebeſchreiber, beſonders fuͤr den juͤngſten!)
noch nicht bis zu den deutſchen Kaͤſekraͤmern
gedrungen, was geſchehen ſeyn wuͤrde, wenn
wir mit unſern Arbeiten ſchon ſo herunter
waͤren, wie die Verfaſſer der Ritterromane.
[254] Aber die Zeit wird auch kommen, wo das Ge-
biet von Lodi wegen der Ungerechtigkeit, die
man zu Ehren des Gebiets von Parma, aus
lauter Unwiſſenheit, an ihm begeht, geraͤcht
werden wird; und jetzt ſchon ſollte, wenig-
ſtens der deutſche Gelehrte, der einen Schnitt
Lodeſankaͤſe und einen Roͤmer Rheinwein
bezahlen kann, und nebenher in den Wiſſen-
ſchaften Richtigkeit und Gerechtigkeit liebt,
ſich des obigen wahren Namens fuͤr denſelben
bedienen, um wenigſtens den Ruhm zu be-
haupten, daß er ihn eher gewußt habe, als
z. B. die Wieneriſchen Kasſtecher.


Von Lodi faͤhrt man uͤber Marignano,
einem Flecken, auf einer vortrefflichen, noch
einmal ſo breiten Straße, als gewoͤhnlich,
nach Mayland hinein. Ich war von Kremona
bis dahin nur Acht Stunden gefahren, unge-
achtet der Weg fuͤr dreyzehn deutſche Meilen,
oder zwey und funfzig italieniſche, gerechnet
und bezahlt wird. Dieſe Meilen ſind aber
wiederum ungewoͤhnlich kurz; der Weg iſt
[255] außerordentlich gut; der Pferdewechſel dauert
nie uͤber fuͤnf Minuten; und ein hieſiger Poſt-
knecht wuͤrde es fuͤr eine Schande halten, ſeine
Roſſe auch nur einmal aus dem raſcheſten Trabe
kommen zu laſſen.


Da die Straße auch hier ſchnurgerade gezo-
gen iſt, ſo ſieht man Mayland lange vor ſich,
ehe man hinein koͤmmt. Der Thurm des be-
ruͤhmten Doms, oder vielmehr die Spitze (ai-
guille
) deſſelben, ragt uͤber die anderen Thuͤrme
— nicht majeſtaͤtiſch — aber hoͤchſt jugendlich
und anmuthig hervor, und ihre blendende Weiſſe,
und ihr durchbrochener, gleichſam in die Luft
zerfließender, zarter Bau, gewaͤhrt dem Auge
einen hoͤchſt angenehmen Genuß. Ihr Bau-
meiſter hat in der That weniger gefuͤrchtet, ſie
zu mager, als zu plump zu machen.


Beym Eintritt in die Stadt hatte ich eine
lange, breite, aber nicht durch aus gerade, Straße
vor mir, die ich eine Strecke hin noch nicht ge-
pflaſtert fand, an deren Seiten aber der dazu
noͤthige Bauſtoff ſchon bereit lag. Die Haͤuſer
[256] auf derſelben gaben zwar nicht den glaͤnzendſten
Anblick, denn ſie waren meiſt nur zwey Geſchoß
hoch, und das zweyte Geſchoß hatte gewoͤhnlich
nur Fenſteroͤffnungen mit eiſernen Staͤben durch-
zogen und Laden davor, oder mit Rahmen, die
ſtatt glaͤſerner Scheiben papierne hatten; indeſ-
ſen war keins verfallen oder ſehr veraltet. Ge-
gen das Ende der Straße wurden die Haͤuſer
immer groͤßer, hoͤher und ſchoͤner, und es zeig-
ten ſich Pallaͤſte zwiſchen ihnen; ich kam aber
bald von der vortheilhaften Erwartung, die mir
dies fuͤr die folgenden Theile der Stadt erweckte,
zuruͤck, als ich mich gleich darauf wieder in eine
enge, krumme und finſtre Straße hinein druͤcken
mußte, auf die lauter aͤhnliche folgten. Ich
ſahe mich endlich ganz von ihnen verſchlungen
und fand den Ausgang dieſes Labyrinths nicht
eher, als auf dem Platze S. Sepolcro, vor dem
Gaſthof zum Maltheſerkreutze.

[][][]
Notes
*)
Die beyden letzten Theile dieſes Werkes
waren kurz vor meiner Durchreiſe durch Pa-
via erſchienen, und ich konnte das ganze
Werk, zu meiner großen Freude, mit nach
Neapel nehmen.
*)

Wenn ich die größeren adelichen Wohnungen in
Trient und Roveredo Palläſte nenne, ſo iſt es
nach der Weiſe der Italiener, die freygebiger mit
dieſem Namen ſind als die Deutſchen. Sie wür-
den die Straße unter den Linden in Berlin,
die Moritzſtraße in Dresden, Straßen mit
Palläſten beſetzt, und Wien ſelbſt, eine Stadt von
lauter Palläſten, nennen. Doch verlangen ſie meiſt
immer, daß ſolch ein zum Pallaſt erhobenes, gro-
ßes Haus einen adelichen Beſitzer habe.


Eben ſo verhält es ſich mit dem Namen „Ca-
ſtello“
, das wir nicht mit Feſtung, ſondern
mit Schloß geben müſſen, weil dieſe Kaſtelle mit
unſern deutſchen Feſtungen nicht verglichen werden
können. Solche Schlöſſer haben Botzen, Trient,
Roveredo und alle übrige beträchtliche Städte und
wichtige Eingänge in Tyrol; aber ſie werden da-
durch nicht zu Feſtungen.

*)
Die italieniſche Poſt haͤlt ſieben, acht, auch wohl
neun Miglien.
*)
Verona illustrata, Tom. II. 4. des Auszugs.
*)
Ver. illustr. Tom. II. 102.
*)
Gerechtigkeit übt dieſe Stadt,
Nach Ehr’ ſie groß Gelüſten hat.
*)
Dieſe Vermuthung, die ich nach der Muſterung
jener Kapelle niederſchrieb, iſt eingetroffen. Ich
habe prächtigere, größere, koſtbarere in Mayland,
Genua, Florenz und Rom geſehen, aber keine, die
eine ſo ganz reine, anſpruchsloſe Wirkung auf mich
gethan hätte.
*)
Folgende Angaben ſind aus dem neueſten Bericht
der Accademia d’agricultura, commercio ed
arti etc. Verona,
1793. gezogen.
*)
„mancia“ iſt eigentlich in Italien das Trinkgeld,
das man noch außer der, für einen gewiſſen Dienſt
beſtimmten, Summe geben muß. So fordert ein
Poſtknecht, oder jeder andre Arbeiter, wenn man
ſeine Dienſte ſchon bezahlt hat, noch eine „mancia.“
*)
Es ſoll auch noch ein Graf Cisa als Lohnbedienter
zu Verona leben.
*)
Don Juan Andres Reiſe durch verſchie-
dene Städte Italiens
ꝛc. 2r. Band, S. 211 fg.
Dieſer Reiſende giebt einen vollſtändigen Abriß von
dem neueſten wiſſenſchaftlichen Zuſtande dieſer Stadt
und von ihren Gelehrten. — Bey ſeiner Nach-
richt von dem Kabinette von Verſteinerungen, das
der Graf Gazola beſitzt, vergißt er, das merkwür-
dige Exemplar eines in Stein abgedruckten Fiſches,
anzuführen, der einen zweyten bis auf die Hälfte
verſchluckt hat. Der Verſchluckte iſt wenig kleiner,
als der Verſchluckende, und dieſer Umſtand giebt
die einzigmögliche Erklärung an die Hand, wie der
Fiſch im Akt ſeiner Seeräuberey hat verſteinert
werden können. Er ſtarb nämlich an ſeiner Beute
und verſank in das kalkſchieferige Material, das ſich
um ihn verhärtete.
*)
Von ältern veroneſiſchen Gelehrten S. Ver. illustr.
Tom. II.
S. 127 — 168. des Auszugs.
*)
Joh. Ge. Keyßlers Neueſte Reiſen ꝛc. Neue Aus-
gabe. Hannover, 1751, S. 1033, oben.
*)
S. darüber Le Vrets Staatgeſchichte der Republik
Venedig, 2ten Bandes 1ſte Abtheil. S. 324 fg.
Dort iſt auch das Nöthige von der veroneſ. Ver-
faſſung längſt Deutſch gedruckt.
*)
Wir haben ſchon eine launigte Beſchreibung von
einem veroneſiſchen Stiergefecht im Becker’ſchen
Taſchenbuche
fuͤr das Jahr 1795.
*)
S. Herrn von Ayrenhoffs ſaͤmmtliche
Werke
, 4r. Bd. Wien, 1789. S. 246. Dieſer
Band enthaͤlt Briefe uͤber Italien, die nicht ſo be-
kannt geworden ſind, als ſie vieler, ſehr treffender,
Bemerkungen wegen verdienen.
*)
S. Maleriſche Reiſe eines deutſchen
Kuͤnſtlers nach Rom ꝛc. Wien
, 1789
S. 178 fg. Der Verfaſſer, Herr Johann Grund,
lebt noch in Rom, und iſt ein ausgezeichneter
Kuͤnſtler, welcher der Miniaturmalerey durch An-
wendung der Enkauſtik einen hohen Grad von
Schoͤnheit zu geben verſteht.
*)
Mein Cicerone war in der That beſſer und zu-
vertäſſiger. Die genannte Descrizione iſt von Gio-
vanni Bottani
, Direktor der Malerakademie in
Mantua, der Auftrag von dem Erzherzog hatte,
an der Ausführung einer Idee Theil zu nehmen,
die dahin ging, die Ueberreſte der Werke des Ju-
lius Romanus, die ſich um und in Mantua befin-
den, von geſchickten Meiſtern in Kupfer ſtechen zu
laſſen. Bottani ſchrieb, und widmete dies kleine
Werk dem Erzherzoge und ſeiner Gemahlin, als ei-
nen Vorlaͤufer des Größern, das aber nicht erſchie-
nen iſt.
*)
Questo rinomato Edificio — è di forma qua-
drangulare, d’ordine dorico etc. etc.
Giov. Bottani Descriz. Stor. p. 26.
*)
l’Insussistenza della stessa pretesa configura-
tione (cio è del T) etc. ibid. p.
24.
**)
Ibid. p. 25. annot.
*)
Sie ſind nämlich theils muthwillig verwiſcht, theils
unangenehm nachgeröthet.
*)
Milizia, Memorie degli Architetti etc. Tom. I.
p.
232.
*)
Nachrichten von dem letzten Zweige dieſes Hauſes
findet man in den letzten ſechs Stuͤcken des Ge-
nius der Zeit
. Jahrgang 1795.
*)
Was dieſe betrifft, ſo verweiſe ich auf Volkmann
(3. Theil, S. 777 fg.) und auf Don Andres
(Bd. 1. S. 339 fg.). Letzterer wohnt ſeit einigen
Jahren hier, aber er war, zu meinem Bedauern,
gerade auf dem Lande.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Reise eines Liefländers von Riga nach Warschau, durch Südpreußen, über Breslau [...] nach Bozen in Tyrol. Heft 7. Reise eines Liefländers von Riga nach Warschau, durch Südpreußen, über Breslau [...] nach Bozen in Tyrol. Heft 7. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjp4.0