[][][][][][][[I]]
Vollſtaͤndiger Lehrbegriff
der
hoͤhern Analyſis


Erſter Theil.
Die Differenzialrechnung
.

Mit zwey Kupfertafeln.

Goͤttingen,:
Im Verlage bey Vandenhoek und Ruprecht.
1818.

[[II]][[III]]

Vorerinnerung.


Gegenwaͤrtige Anleitung zur hoͤhern Ana-
lyſis, in ſo weit ſie die Differenzial- und In-
tegralrechnung umfaſſet, wird hoffentlich de-
nen nicht unangenehm ſeyn, welche ſich von
den mancherley Kunſtgriffen, womit insbe-
ſondere die Integralrechnung bereichert wor-
den iſt, vollſtaͤndiger zu unterrichten wuͤn-
ſchen, als es aus den bisher in Deutſchland
erſchienenen Lehrbuͤchern jener Wiſſenſchaft
geſchehen kann. Mir iſt keine Anleitung in
unſerer Sprache bekannt, welche außer der
gewoͤhnlichen Integralrechnung, ſich insbeſon-
dere auch uͤber die Integration der hoͤhern
Differenzialgleichungen, der Gleichungen mit
partiellen Differenzialen, und uͤber mehr an-
dere hieher gehoͤrige Gegenſtaͤnde, mit einiger
Vollſtaͤndigkeit verbreitete, und darum glaubte
ich keine unnuͤtze Arbeit zu uͤbernehmen, die-
ſem
[IV]Vorerinnerung.
ſem Mangel abzuhelfen, und von der geſamm-
ten Integralrechnung, ſo weit ſie in unſerer
Gewalt ſteht, mit moͤglichſter Befolgung der
gewoͤhnlichen Form der mathematiſchen Me-
thode, welche ohnſtreitig eine beſſere Ueber-
ſicht des Ganzen, als jede andere Lehrart ver-
ſtattet, das wichtigſte und unentbehrlichſte
beyzubringen, auch alles durch zweckmaͤßige
Beyſpiele zu erlaͤutern. Ich hoffe dadurch
zugleich, ohne Nachtheil der Gruͤndlichkeit
und Vollſtaͤndigkeit, jede ermuͤdende Weit-
ſchweifigkeit vermieden zu haben, welche man
insbeſondere an denjenigen Schriften zu tadeln
hat, welche von jener Form der mathemati-
ſchen Methode abgegangen ſind.


Daß das gegenwaͤrtige Werk nicht als
ein bloßes Lehrbuch zu betrachten iſt, wird
die Menge der darin behandelten Gegenſtaͤnde
ausweiſen. Will ſich aber ein Lehrer auch
deſſelben zum Unterrichte bedienen, ſo wird
er von den darin vorkommenden Lehrſaͤtzen,
Aufgaben und Beyſpielen, leicht diejenigen
auszuwaͤhlen wiſſen, welche ſeinem Zwecke an-
gemeſſen ſind. Das uͤbrige bleibt dem Schuͤler
zum
[V]Vorerinnerung.
zum Selbſtſtudium uͤberlaſſen, zu welchem
Behuf man in dieſem Lehrbegriff ſchwerlich
irgend einen weſentlichen Gegenſtand vermiſ-
ſen wird.


Man wird finden, daß ich mich insbe-
ſondere in der Integralrechnung bemuͤht habe,
immer ſo viel als moͤglich das allgemeine und
brauchbare auszuheben, und dadurch die un-
nuͤtze Weitlaͤuftigkeit zu vermeiden, die die
Betrachtung viel einzelner Faͤlle verurſacht,
und wodurch viel voluminoͤſere Werke deswe-
gen nicht fuͤr vollſtaͤndiger gehalten werden
koͤnnen (M. ſehe z. B. den 244ſten §. der
Integralrechnung.)


Bey Entwickelung der Grundbegriffe der
Differenzialrechnung habe ich der bisher bey
den beſten Schriftſtellern Deutſchlands uͤblich
geweſenen Darſtellungsart den Vorzug er-
theilt, und daruͤber wird, nach den §. 1 — 3
gegebenen Erlaͤuterungen, keine weitere Recht-
fertigung noͤthig ſeyn. Indeſſen habe ich auch
von andern Anſichten des Differenzialcalculs
geſprochen. Bey ihrer Anwendung auf wirk-
liche Gegenſtaͤnde der Geometrie, Mechanik
u. ſ. w.
[VI]Vorerinnerung.
u. ſ. w. hat ſich ergeben, daß das Unendlich-
kleine ſich doch uͤberall mehr oder weniger in
die Unterſuchungen einſchleicht, oder man doch
in große Weitlaͤuftigkeit verfaͤllt, wenn die
einem ſolchen Gegenſtande entſprechende fon-
ction prime
oder seconde, ohne alle Be-
trachtung des unendlich Kleinen gehoͤrig ent-
wickelt werden ſoll. So bald naͤmlich eine
Funktion φx wirklich vorgegeben iſt, ſo hat
es freilich keine Schwuͤrigkeit, die φ'x, φ''x
ꝛc. alſo die fonctions prime, seconde ꝛc.
daraus abzuleiten. Wenn aber eine Aufgabe
vorgegeben iſt, aus deren Natur und Be-
ſchaffenheit ſelbſt, jene φ'x, φ''x erſt entwi-
ckelt werden ſollen, ohne die der Aufgabe
entſprechende urſpruͤngliche Function φx ſelbſt
zu kennen, ſo entſtehen oft große Schwuͤrig-
keiten, wenn die fuͤr φ'x, φ''x ꝛc. aufgefun-
denen Formen in der gehoͤrigen Schaͤrfe, und
mit Ausſchluß jeder Betrachtung des unend-
lich Kleinen ſollen erwieſen werden koͤnnen,
wovon ich leicht Beyſpiele anfuͤhren koͤnnte,
wenn hier der Ort dazu waͤre. Die pedan-
tiſche Aengſtlichkeit, mit der man das unend-
liche
[VII]Vorerinnerung.
liche Abnehmen von Groͤßen bey der Darſtel-
lung der Differenzialrechnung zu vermeiden
ſucht, hat der Wiſſenſchaft mehr geſchadet als
genuͤtzt, und ſchwerlich wird ein Mathematiker
bey den Anwendungen der Differenzial- und
Integralrechnung auf wirkliche Gegenſtaͤnde
der Natur, ſich des ſchwerfaͤlligen Ganges der
La Grangiſchen Funktionen Lehre, der darin
gebrauchten ungewoͤhnlichen Bezeichnungsar-
ten u. ſ. w. bedienen.


In der Differenzialrechnung habe ich
durch allerley Anwendungen, ſowohl den Geiſt
dieſer Rechnung noch mehr zu erlaͤutern ge-
ſucht, als auch in dieſen Anwendungen und
deren Folgerungen diejenigen Saͤtze zugleich
mit entwickelt, welche fuͤr die Integralrech-
nung unentbehrlich waren. Aber Anwendun-
gen der Integralrechnung wird in einer Anlei-
tung zu dieſer Wiſſenſchaft Niemand verlan-
gen, da ſie auch zur Erlaͤuterung des eigent-
lichen Weſens dieſer Rechnung weniger, als
bey der Differenzialrechnung erforderlich wa-
ren. Auf eine große Menge der in der Inte-
gralrechnung vorkommenden Formeln iſt man
ohne-
[VIII]Vorerinnerung.
ohnehin durch die wuͤrkliche Anwendung ge-
kommen, aber es wuͤrde ſehr weitlaͤuftig ge-
weſen ſeyn, wenn ich uͤberall eine mathema-
tiſche Unterſuchung haͤtte anfuͤhren wollen,
wodurch man auf eine ſolche Formel geleitet
worden war. Indeſſen kann man die An-
wendung von einigen ſolchen Integralen auf
geometriſche Gegenſtaͤnde in dem 5ten Theile
meiner practiſchen Geometrie, welcher die Ste-
reometrie behandelt, nachſehen.


Ohngeachtet die Variationsrechnung dem-
jenigen keine Schwuͤrigkeit machen wird, wel-
cher das in gegenwaͤrtigen beyden Baͤnden der
hoͤhern Analyſis vorkommende ſich gehoͤrig be-
kannt gemacht hat, ſo kann es doch ſeyn,
daß ich auch dieſe noch in einem beſondern
Baͤndchen nachfolgen laſſe.


In-
[[IX]]

Inhalt der Differenzialrechnung.


  • Einleitung.
  • Einige allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
  • Erklaͤrung und Bezeichnungsart der Funktionen §. I:
  • Algebraiſche, rationale, irrationale, gleichartige ꝛc. Funk-
    tion §§. II — VI.
  • Allgemeiner Ausdruck fuͤr jede Function von einer oder
    zwey veraͤnderlichen Groͤßen §§. VII. VIII.
  • Functionen mit imaginaͤren Ausdruͤcken §. IX.
  • Zerlegung der Bruchfunctionen in einfache Bruͤche ꝛc. §§.
    X — XVI.
  • Vorbegriffe der Differenzialrechnung.
  • Erlaͤuterungen uͤber den Begriff des Unendlichen §. 1.
  • Verſchiedene Ordnungen oder Dimenſionen des Unendli-
    chen daſ. XVII.
  • Das Unendlichkleine daſ. XIX. ꝛc.
  • Graͤnzverhaͤltniſſe daſ. XXXIV.
  • Erſtes Kapitel.
  • Verſchiedene Vorſtellungsarten des Grundbegriffs der
    Differenzialrechnung 1) als Lehre von den Graͤnzver-
    haͤltniſſen §. 2. I — XIII. 2) Nach den Anſichten
    La Granges, Arbogaſts, Kluͤgels daſ. XIV
    — XVII.
  • La Croix’s Urtheil uͤber die gewoͤhnliche Vorſtellungs-
    art, und ihren Vorzuͤgen bey der Anwendung. daſ.
    XVIII.
  • Die Function A xn + B zu differenziiren §§. 3. 4.
  • Differenzial einer aus mehreren veraͤnderlichen Theilen zu-
    ſammengeſetzte Function, nebſt Beyſpielen §. 5. ꝛc.
  • Differenzial eines Products §. 8. ꝛc. nebſt Beyſpielen.
  • Differenzial eines Quotienten, oder Bruchfunction §. 15.
    ꝛc. von ſo viel veraͤnderlichen Groͤßen als man will
    §. 17.
  • Partielle Differenziale und deren Bezeichnungsart §. 17.
    V. ꝛc.
  • Logarithmiſche Functionen zu differenziiren §§. 18 — 32.
  • Exponenzial-Groͤßen zu differenziiren §. 33. ꝛc.
  • Differenziale von trigonometriſchen und Kreis-Functionen
    §. 38. ꝛc., nebſt daraus abgeleiteten imaginaͤren For-
    men, zum Behuf der Integralrechnung im folgenden.
    §. 48.
  • Daraus ferner Vorſchriften fuͤr die Zerfaͤllung rationaler
    ganzer Functionen von der Form xn ± an in einfa-
    che und Trimonialfactoren, gleichfalls fuͤr den Ge-
    brauch in der Integralrechnung. §. 48. XVI. ꝛc.
  • Von den hoͤhern Differenzialen §. 49.
  • Noͤthige Erlaͤuterungen uͤber hoͤhere Differenzialausdruͤcke,
    welche keine beſtimmte Werthe haben, wenn nicht ein
    gewiſſes Differenzial als unveraͤnderlich angenommen
    wird §. 50. ꝛc.
  • Ausdruͤcke in hoͤhern Differenzialen, welche fuͤr ein ge-
    wiſſes conſtant geſetztes erſtes Differenzial, einen be-
    ſtimmten Werth erhalten, in andere zu verwandeln,
    welche denſelben Werth geben, was fuͤr ein anderes
    Differenzial auch conſtant geſetzt werden mag, eine
    nuͤtzliche Aufgabe bey manchen Anwendungen der Dif-
    ferenzial- und Integralrechnung §. 57.
  • Eigenſchaften von Differenzialgleichungen — Bedingungs-
    gleichungen, wenn P d x + Q d y + R d z ein wuͤrk-
    liches Differenzial ſoll ſeyn koͤnnen §. 58 — 63. Boſ-
    ſut, Fontaine, Clairaut, Euler
    §. 61.
  • Eigenſchaften gleichartiger Functionen §. 62. 64.
  • Beweis des wichtigen Lehrſatzes
    dn
    [XI]Inhalt der Differenzialrechnung.
    §. 66. ꝛc.
    nebſt Beyſpielen.
  • Ein anderer wichtiger Lehrſatz, hoͤhere Differenzialquo-
    tienten betreffend, durch eine Bedingungsgleichung
    ausgedruͤckt §. 68. 69.
  • Eulers Ableitung deſſelben aus der Variationsrechnung
    §. 70.
  • Taylors Lehrſatz §. 71. nebſt mehreren Beyſpielen, zum
    Behufe des Folgenden in der Integralrechnung §. 73.
  • Reihen fuͤr logarithmiſche und andere transſcendente Groͤ-
    ßen §. 74.
  • La Grange’s Theorem §§. 75. 76., nebſt Beyſpielen
    §. 77.
  • Zweytes Kapitel.
  • Fernere Anwendungen der Differenzialrechnung zum Be-
    huf einer genauern Kenntniß des wahren Geiſtes
    dieſer Rechnung, und in Ruͤckſicht auf die Anwen-
    dung vieler bey dieſer Gelegenheit entwickelter For-
    mein auf die Integralrechnung im Folgenden.
    Reihen auf Potenzen zu erheben, durch Anwendung der
    Differenzialrechnung §. 78.
  • Den Werth des Quotienten zu beſtimmen, wenn f x,
    und φx fuͤr x = a verſchwinden, und alſo der ange-
    fuͤhrte Quotient unbeſtimmt zu ſeyn ſcheint §. 79.
    nebſt Beyſpielen §. 80.
  • Den Unterſchied zweyer unendlich werdenden Ausdruͤcke
    zu beſtimmen §. 81.
  • Bruchfunctionen in einfache Bruͤche zu zerlegen, durch
    Beihuͤlfe der Differenzialrechnung, zum Gebrauch
    fuͤr die Integralrechnung §. 82.
  • Vom Groͤßten und Kleinſten §. 85. 86. nebſt Beyſpielen
    §. 87 ꝛc. Wie bey vielfoͤrmigen Functionen zu ver-
    fahren iſt §. 88.
  • Groͤßte und kleinſte Werthe einer Function von zwey ver-
    aͤnderlichen Groͤßen §. 89. nebſt Beyſpielen. daſ.
    XV. ꝛc.
  • Bemerkungen in dieſer Lehre, wenn die Gleichung ,
    Werthe von x giebt, fuͤr welche mehrere von den
    Differenzialquotienten , ꝛc. unendlich wer-
    den §. 90.
  • Tangenten und Normallinien an krumme Linien zu ziehen,
    wenn die Coordinaten rechtwinklicht auf einander
    ſtehen §§. 91, 92.
  • Eben dieſe Aufgaben fuͤr Ordinaten aus einem Punkte
    §§. 93. 94.
  • Erlaͤuterung durch Beyſpiele §. 95.
  • Beſtimmung des Differenzialverhaͤltniſſes , wenn s
    den Bogen einer krummen Linie bezeichnet, zu dem
    die Abſciſſe x gehoͤrt §. 96.
  • Kruͤmmungskreiſe, Kruͤmmungshalbmeſſer, nebſt noch
    einigen andern damit in Verbindung ſtehenden Be-
    trachtungen §. 97. 98. ꝛc.

Einige Druckfehler.


  • S. 41. Zeile 11 ſtatt, als ∞ lies als ∞2.
  • — 134. Z. 3 ſt. √ 1 — 1. √ — 1.
  • — 153. Z. 21 ſt. P d l. d P.
    Z. 22 ſt. Q d l. d Q.
  • — 188. Z. 12 ſt. Aufg. l. Aufl.
  • — 321. Z. 3 ſt. y l. 2 y.
[[1]]

Einleitung.
Einige allgemeine Saͤtze uͤber die
Functionen.


§. I.


1. Wenn x, y, z nach Gefallen veraͤnderliche
Groͤſſen bedeuten, ſo wird ein jeder Ausdruck,
welcher durch eine oder mehrere ſolcher veraͤnderli-
cher Groͤſſen gegeben iſt z. B. a x2 + b;
x3 + 2 y2 + 5; x y2 + z + b x; √ (a x + b y);
log
u. d. gl. eine Function dieſer
veraͤnderlichen Groͤſſen genannt.


2. Man bezeichnet gewoͤhnlich die veraͤnder-
lichen Groͤſſen
mit den letztern Buchſtaben des
Alphabeths, und die unveraͤnderlichen d. i.
diejenigen deren Werth man ungeaͤndert laͤßt,
Awaͤh-
[2]Einleitung.
waͤhrend jene als variabel betrachtet
werden
, mit den erſtern Buchſtaben deſſelben.


3. Oft werden ganze Functionen ſelbſt wieder
mit beſondern Buchſtaben bezeichnet, wozu man
denn gewoͤhnlich die groͤſſern des Alphabeths ge-
braucht z. B. X, Y, um eine Function von x
oder y anzudeuten.


4. In der neuern Analyſis bedient man ſich
oͤfters des Buchſtabens f (lateiniſch oder griechiſch)
ſtatt des Worts Function. Z. B. f (x),φ (x)
oder auch ſchlechtweg f x, φx um eine Function
von x anzudeuten; f (x, y); f (x, y, z) um
eine von x und y, oder von x, y, und z u. ſ. w.
zu bezeichnen.


5. Unterweilen findet man auch Ausdruͤcke
von der Form f (φx), welche andeuten wollen,
daß man von φx einer Function von x, wieder
eine Function nehmen ſoll. Z. B. wenn φx
= a + b x2 waͤre, ſo wuͤrde f (φx) wieder eine
Function von a + b x2 bedeuten, z. B. (a + b x2)m;
√ (a + b x2); log (a + b x2)
u. d. gl.


Andere Schriftſteller bedienen ſich auch noch
anderer Zeichen fuͤr dieſe oder jene unbeſtimmten
Functionen.


§. II.
[3]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.

§. II.


1. Algebraiſch heißt eine Function, wenn
ſie in einem Ausdrucke beſteht, worin die veraͤnder-
lichen Groͤſſen bloß durch algebraiſche Operatio-
nen, nemlich durch die vier Rechnungsſpezies, oder
auch durch Potenziirungen oder Wurzelausziehun-
gen in Verbindung ſtehen z. B. die erſtern vier
Ausdruͤcke in (§. I).


2. Kommen aber in einem ſolchen Ausdrucke
auch Bezeichnungen vor, von denen man zeigen
kann, daß ihnen eigentlich unendlich viele
Werthe
entſprechen, ſo wird er eine tranſcen-
dente Function
in Beziehung auf die veraͤn-
derlichen Groͤſſen genannt. So weiß man z. B.
aus der Trigonometrie, daß einer jeden trigonome-
triſchen Linie unzaͤhlig viele Boͤgen entſprechen.
Bedeutet daher die Bezeichnung Arc sin x
Arc tang x
einen Bogen deſſen Sinus oder Tan-
gente = x iſt, ſo iſt der Ausdruck Arc sin x;
Arc tang x
u. dgl. eine tranſcendente Function von x.
So auch xm + Arc sin x; √ (a + b Arc sin x)
u. d. gl.


3. So iſt auch bekannt, daß in einem und
demſelben logarithmiſchen Syſteme zu jeder Zahl x
nicht nur ein moͤglicher Logarithme, ſondern auch
unzaͤhlige von einer unmoͤglichen oder imaginaͤren
A 2Form
[4]Einleitung.
Form gehoͤren, ſo wie es Gleichungen giebt, worin
die unbekannte Groͤſſe nicht nur moͤgliche ſondern
auch unmoͤgliche Werthe hat, die ihnen ein Genuͤge
leiſten. Daher ſind alſo auch Ausdruͤcke wie log x;
(a + b log x)m
u. d. gl. transſcendente Functionen
von x. Hieher gehoͤren auch unendliche Reihen,
welche durch eine veraͤnderliche Groͤſſe gegeben ſind,
wenn ſich zeigen laͤßt, daß der Werth einer ſolchen
Reihe durch keinen algebraiſchen Ausdruck (§. II. 1.)
in einer endlichen Anzahl von Gliedern ſich darſtel-
len laͤßt.


§. III.


1. Die algebraiſchen Functionen ſind entwe-
der rationale oder irrationale, je nachdem
ſie Potenzen der veraͤnderlichen Groͤſſen nur allein
mit ganzen Exponenten, oder auch mit Bruchexpo-
nenten enthalten. So z. B. iſt eine
rationale Function von x wenn die Exponenten m,
n,
μ, ν, P lauter ganze Zahlen ſind. Beſtehen
ſie aber alle oder auch nur zum Theil aus Bruͤchen,
ſo wuͤrde der Ausdruck eine irrationale Function
von x genannt werden muͤſſen.


2. Ausdruͤcke in Bruchform z. B.
heißen
[5]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
heißen Bruchfunctionen (functiones fractae).
Ganze Functionen (functiones integrae)
ſind ſolche, welche weder negative Exponenten von x,
y,
enthalten, noch auch ſonſt in Bruchform ange-
geben ſind. Die unveraͤnderlichen Groͤſſen koͤnnen
nach Gefallen Bruͤche ſeyn.


§. IV.


1. Gleichartig (homogenea) heiſt eine
Function. Z. B.
wenn die Summe der Exponenten von x und y in
jedem Gliede gleich groß iſt, nemlich ,
wie auch uͤbrigens α, β, γ ꝛc. be-
jaht oder verneint ſeyn moͤgen.


So auch bey Bruchfunctionen, z. B.
wenn .


2. Die Summe jener Exponenten wird die
Dimenſion der gleichartigen Function genannt.


3. Ein ganz unveraͤnderliches Glied darf eine
ſolche Function nicht enthalten. So wuͤrde z. B.
keine gleichartige Fun-
ction
[6]Einleitung.
ction ſein, wenn gleich waͤre,
es muͤſte denn , alſo
; , mithin die Function
ſelbſt von der Dimenſion Null ſeyn, wie es das
unveraͤnderliche Glied A iſt, welches man anſehen
kann, als in xo yo multiplicirt.


§. V.


1. Wenn ein Functional-Ausdruck in Form
einer Gleichung vorgegeben iſt, z. B.
ſo laͤßt ſich fuͤr jedes x der Werth von y finden,
d. h. y iſt eine Function von x, und umgekehrt
auch x wieder eine Function von y.


2. In ſo fern man aber die Gleichung erſt
aufloͤſen muß, um die eine Groͤße z. B. y von
der andern x rein oder abgeſondert zu erhalten,
nennt man das y in jener Gleichung eine unge-
ſonderte
(unentwickelte) Function von x
(functio implicita)
.


3. Loͤßt man aber die Gleichung auf und ſetzt
ſo iſt nunmehr der algebraiſche Ausdruck angege-
ben, wodurch y durch x beſtimmt wird, d. h. y
iſt nunmehr eine geſonderte (entwickelte)
Function von x (functio explicita).


Eben
[7]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.

Eben ſo iſt aus jener Gleichung
eine geſonderte Function von y.


§. VI.


Da die allgemeine Aufloͤſung hoͤherer Glei-
chungen als vom vierten Grade, nicht in un-
ſerer Gewalt ſteht, ſo laſſen ſich ſolche ungeſon-
derte Functionen von hoͤhern Graden allgemein auch
nicht in geſonderte verwandeln; oder man muͤſte denn
unendliche Reihen zu Huͤlfe nehmen, in welchem
Falle man denn fuͤr y eine ſolche Reihe annimmt,
und deren Coefficienten nach den in der Analyſis
bekannten Methoden zu beſtimmen ſucht. Den
nuͤtzlichen Gebrauch des Neutonianiſchen Pa-
rallelogramms
hiebey, hat umſtaͤndlich Kaͤſt-
ner
in ſeiner Analyſis des Endlichen §. 631. u. f.
gelehrt, auf welche Schrift ich alſo meine Leſer
verweiſe.


§. VII.


1. Es mag nun y eine ſolche geſonderte oder
auch ungeſonderte Function von x ſeyn, ſo muß
doch y aus x immer durch eine gewiſſe Rechnung
entweder voͤllig genau, oder durch Annaͤherung ge-
funden werden koͤnnen, auch mag dabey y eine
alge-
[8]Einleitung.
algebraiſche oder transſcendente Function von x
ſeyn.


2. Aber jede Rechnung, welche mit einer
Groͤße x vorgenommen wird, um daraus eine an-
dere y, welche als Function von jener betrachtet
wird, abzuleiten, iſt nur ein Reſultat einfacher
oder wiederhohlter Verbindungen von x oder von
Theilen des x, ſowohl unter ſich ſelbſt, als auch
mit andern von x unabhaͤngigen oder conſtan-
ten Groͤſſen und Zahlen, durch den Weg der
vier arithmetiſchen Spezies (wohin wir auch noch
die Wurzelausziehungen rechnen koͤnnen), woraus
ſich denn weiter ergiebt, daß y als Function von
x, ſich allemahl in der groͤßten Allgemeinheit
durch einen Ausdruck von der Form
u. ſ. w.
muß darſtellen laſſen, wobey wir uns jetzt nicht
darum bekuͤmmern, was fuͤr dieſen oder jenen
beſondern Fall die Groͤſſen A, B, C ꝛc. α, β, γ
fuͤr beſtimmte bejahte oder verneinte Werthe oder
Zahlen ſeyn muͤſſen, um den Werth von y durch
x zu erhalten, es ſey voͤllig genau, oder durch
Annaͤherung.


Denn wenn kein ſolcher Ausdruck ſich fuͤr
y angeben ließe, ſo wuͤrde y aus x ſich auch
nicht beſtimmen laſſen, und dennoch iſt klar daß
y
[9]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
y aus x muß berechnet werden koͤnnen. Jener
Ausdruck fuͤr y enthaͤlt alle einzelnen algebraiſchen
Operationen, welche mit x, oder auch mit Thei-
len von x vorgenommen werden koͤnnen, und
wollten wir auch ſtatt jenes Ausdrucks noch einen
allgemeinern oder mehrere dergleichen z. E. von
der Form uns gedenken,
um dadurch die Operationen auszudruͤcken, welche
mit der veraͤnderlichen Groͤſſe x vorgenommen wer-
den muͤſten, um das y zu beſtimmen, ſo weiß
man doch, daß ſolche Ausdruͤcke am Ende ſich im-
mer in u. ſ. w. verwandeln
laſſen.


3. Daher alſo eine jede Function von x, ſie
ſey algebraiſch oder transſcendent, ſich allgemein
immer durch u. ſ. w. muß
ausdruͤcken laſſen, wobey wir uns hier nicht dar-
um bekuͤmmern, wie in einzeln Faͤllen dieſer Aus-
druck aus einer endlichen Anzahl von Gliedern oder
aus einer unendlichen beſtehen mag.


§. VIII.


1. So erhellet denn auf eine aͤhnliche Weiſe,
daß auch jede Function zwiſchen zwey veraͤnder-
lichen Groͤſſen immer auf die Form
Axα
[10]Einleitung.
u. ſ. w.
muß zuruͤckgebracht werden koͤnnen, die Function
ſey algebraiſch oder tranſcendent. Denn dieſer Aus-
druck enthaͤlt alle moͤglichen Verbindungen in wel-
che die Groͤſſen x und y durch die vier arithme-
ſchen Spezies gebracht werden koͤnnen, um durch
irgend eine Rechnung den Werth der Function zu
erhalten. Was aber in einem vorkommenden
Falle z. B. fuͤr √ (a + c x y), fuͤr die trans-
ſcendente Function Arc ſin u. dergl. jene
Coefficienten A, B, C ꝛc. und Exponenten α, β,
γ ꝛc. fuͤr Werthe haben wuͤrden, ferner ob jener
Ausdruck aus einer endlichen oder unendlichen
Zahl von Gliedern beſtehen wird, gehoͤrt jetzt
nicht hieher. Zu dem Gebrauche den wir in der
Folge hievon machen, iſt es hinlaͤnglich gezeigt zu
haben, daß es einen ſolchen Ausdruck allemahl
muß geben koͤnnen, wenn es anders moͤglich ſeyn
ſoll, den Werth einer ſolchen Function aus ihren
veraͤnderlichen Groͤſſen zu berechnen.


2. Es giebt Faͤlle wo eine ſolche Function
fuͤr gewiſſe Werthe von x und y eine Abſurditaͤt
oder auch etwas unmoͤgliches involvirt. Gewoͤhn-
lich zeigt ſich dies auch ſchon aus der Beſchaf-
fenheit des dafuͤr gefundenen Ausdrucks
A xα
[11]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
So z. B. erhaͤlt man fuͤr die Function Arc ſin
nie eine convergirende Reihe
u. ſ. w. ſobald x groͤßer iſt als y,
weil alsdann ſeyn wuͤrde, und ein Bo-
gen deſſen Sinus iſt, eine Abſurditaͤt
in ſich faſt d. h. man mag durch irgend eine
Rechnungsoperation, welche bey zwey veraͤnder-
lichen Groͤſſen x und y immer unter der Form
u. ſ. w. enthalten ſeyn muß,
die Groͤſſen x und y, wie man will, unter einan-
der combiniren, ſo wird fuͤr einen ſolchen Bogen
deſſen Sinus iſt, nie ein angenaͤherter
Werth herauskommen koͤnnen. Die Reihe
.... wird alſo auch ſelbſt
in dieſem Falle die Abſurditaͤt von Arc ſin
wenn x \> y iſt, ausdruͤcken.


§. IX.
[12]Einleitung.

§. IX.


Aus der Lehre von den unmoͤglichen Groͤſſen
oder vielmehr imaginaͤren Ausdruͤcken, z. B.
a + b √ — 1; c + d √ — 1 u. d. gl. auf
welche man unter andern bey der Aufloͤſung der
Gleichungen gelangt, ſetze ich als bekannt voraus,
daß gewiſſe Combinationen ſolcher Ausdruͤcke den-
noch auf reelle oder moͤgliche Reſultate fuͤhren,
wenn dieſe Combinationen ſo beſchaffen ſind, daß
die imaginaͤren Formen ſich gegenſeitig aufheben.
Es kann alſo ſeyn, daß eine Function zwiſchen ver-
aͤnderlichen Groͤſſen, ſolche imaginaͤre Formen
in ſich faßt, und bey gehoͤriger Entwickelung den-
noch eine reelle und moͤgliche Bedeutung hat.
Eine Function z. B. von der imaginaͤren Form
iſt nichts weniger als etwas Abſurdes, wie wir
in der Folge ſehen werden. Aber es iſt oft fuͤr
manche Folgerungen wichtig, ſtatt des reellen
Ausdrucks, den dieſe Function bezeichnet, ihre ima-
ginaͤre Form zu gebrauchen.


§. X.


1. Wenn eine Bruchfunction von der Form
vor-
[13]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
vorgegeben iſt, und es iſt n \< m, ſo laͤßt ſich
dieſe Function allemahl in ſo viel einfache Bruͤche
von der Form
u. ſ. w.
zerlegen, als ſo viele Einheiten der hoͤchſte Expo-
nent m im Nenner jener Bruchfunction enthaͤlt,
wobey denn α + βx;γ + δx;ε + ζx u. ſ. w.
die einfachen Factoren bezeichnen, in welche ſich
die Function a xm + b xm — 1 … f x + g zerle-
gen laͤßt, und welche Factoren man bekanntlich er-
haͤlt, wenn man dieſe Function als Gleichung
anſetzt, und die Wurzeln dieſer Gleichung ſucht,
welches ich alles aus der Lehre von den Gleichun-
gen als bekannt vorausſetzen muß.


2. Die Moͤglichkeit jener Zerlegung in ein-
fache Bruͤche, wird durch ein Beyſpiel hinlaͤng-
lich klar werden.


Geſetzt es ſey die Bruchfunction
vorgegeben, deren Nenner a x2 + b x + c aus der
Multiplication der beyden einfachen Factoren
βx + α und δx + γ entſtehe.


3.
[14]Einleitung.

3. Man ſetze demnach
ſo wird, wenn man die Bruͤche rechter Hand des
Gleichheitszeichens unter einerley Benennung bringt,
und hierauf in der Gleichung den gemeinſchaftli-
chen Nenner a x2 + b x + c = (βx + α) (δx + γ)
weglaͤßt
Da nun dieſe Ausdruͤcke fuͤr jeden Werth von x
mit einander uͤbereinſtimmen muͤſſen, ſo erhaͤlt
man die Gleichungen
woraus
mithin die Zaͤhler der einfachen Bruͤche gefunden
ſind.


4. Fehlen in dem Zaͤhler der vorgegebenen
Bruchfunction einige Glieder, ſo muß man ſich
vorſtellen, daß ſie vorhanden ſind, aber o zn ih-
ren Coefficienten haben. Z. B. fehlte das Glied
a x, ſo muͤſte man a = o; alſo auch
Aδ + Bβ = o ſetzen. Fehlte das Glied b;
ſo
[15]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
ſo muͤſte man auch in den gefundenen Werthen
von A und B, dies b = o ſetzen u. ſ. w.


§. XI.


1. Das bisherige ſetzt voraus, daß der Nenner
a x2 + b x + c aus zwey von einander verſchie-
denen Factoren zuſammengeſetzt ſey. Waͤren aber
die beyden Factores einander gleich, alſo β = α =
δ = γ mithin a x2 + b x + c = (βx + α)2,
ſo wuͤrden die Werthe von A und B in dieſem
Falle unendlich, weil α γδ β = o wird, wenn
β = α = δ = γ, welches anzeigt, daß in ſol-
chem Falle keine Zerlegung des Bruchs
in einfache von der angegebenen Form ſtatt fin-
den kann.


2. Die wahre Bedeutung wuͤrde eigentlich
dieſe ſeyn. Wenn α = β = γ = δ, ſo wird
; und ; alſo
A und B zwar beyde unendlich, aber zugleich
B = — A. Alſo waͤre jetzt eigentlich der
Bruch
a x + b
[16]Einleitung.
dem Unterſchiede zweyer unendlichen Groͤſſen gleich,
welches immer einer endlichen Groͤſſe, nemlich
der vorgegebenen Bruchfunction
gleich ſeyn kann, weil man zu einer unendlichen
Groͤſſe ſich immer endliche von jedem Werthe hin-
zugeſetzt gedenken kann, ohne daß dadurch das
Unendliche als veraͤndert angeſehen wird. Doch
dieſes wird bey der naͤhern Betrachtung des Un-
endlichen in den erſten §§en dieſes Buches noch
deutlicher werden. So viel erhellet aber, daß
wenn a x2 + b x + c aus zwey gleichen Facto-
ren beſteht, die einfachen Bruͤche unter der Form,
wie ſie eben gefunden worden ſind, nicht gebraucht
werden koͤnnen.


§. XII.


1. Aber die Bruchfunction
laͤßt ſich in dieſem Falle in ein paar andere von
der Form verwan-
deln,
[17]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
deln, ſo daß in keinem Zaͤhler dieſer Bruͤche die
veraͤnderliche Groͤſſe x vorkoͤmmt, welches in der
Folge fuͤr die Integralrechnung von erheblichen
Vortheil iſt.


2. Setzt man nemlich jetzt
ſo erhaͤlt man, wenn die Bruͤche rechter Hand
des Gleichheitszeichens unter den gemeinſchaftli-
chen Nenner (α + βx)2 gebracht werden
a x + b = A + B (βx + α)
nach Weglaſſung des gemeinſchaftlichen Nenners
a x2 + b x + c = (βx + α)2.
Mithin a x + b = Bβx + A + Bα; folglich
woraus denn und
daher oder fuͤr gegenwaͤrtigen
Fall
wird.


B§. XIII.
[18]Einleitung.

§. XIII.


Das in dem Beyſpiel (§. X.) angewandte
Verfahren laͤßt ſich, wie nach einiger Ueberlegung
klar iſt, auf ſo viel Factoren, als auch der Nen-
ner der vorgegebenen Bruchfunction enthalten
mag, anwenden. Bringt man alle daraus for-
mirten einfachen Bruͤche unter einerley Nenner,
und addirt die Zaͤhler zuſammen, nachdem man
die Producte woraus ſie beſtehen einzeln entwik-
kelt hat, ſo erhaͤlt man zur Summe allemahl eine
Function von x, welche um einen Grad niedri-
ger iſt, als der gefundene gemeinſchaftliche Nenner,
welcher auch demjenigen der vorgegebenen Bruch-
function gleich iſt, weil er aus dem Product ih-
rer einfachen Factoren beſteht. Die Vergleichung
des gefundenen Zaͤhlers mit demjenigen der vor-
gegebenen Bruchfunction, d. h. die Gleichſetzung
derjenigen Coefficienten, welche in beyden Zaͤhlern
zu einerley Potenz von x gehoͤren, wird alsdann
wie in dem Beyſpiele (§. X.) die einzelnen Glei-
chungen geben, aus denen man die Werthe der
angenommenen Groͤſſen A, B, C u. ſ. w. be-
ſtimmen kann, vorausgeſetzt, daß alle Factoren
des Nenners der vorgegebenen Bruchfunction von
einander unterſchieden ſind, weil bey gleichen
Factoren, Unbequemlichkeiten wie in (§. XI.)
entſtehen wuͤrden.


In-
[19]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.

Indeſſen wuͤrde nach dieſem Verfahren doch
immer eine etwas beſchwerliche Rechnung entſte-
hen, jene Werthe von A, B, C ꝛc. aus den da-
fuͤr gefundenen Gleichungen zu entwickeln. Wir
werden unten in der Differenzialrechnung ein leich-
teres Verfahren angeben. Aber das bisherige
zeigt denn doch die Moͤglichkeit, eine ſolche vor-
gegebene Bruchfunction wie (§. X.) in einfache
Bruͤche zu zerlegen, und dieſe wird bey dem
Verfahren in der Differenzialrechnung als bewie-
ſen vorausgeſetzt.


§. XIV.


Enthaͤlt der Nenner der vorgegebenen Bruch-
function eine gewiſſe Anzahl gleicher Factoren,
waͤre z. E.


a xm + b xm — 1 … + f x + g = S (α + βx)4,
ſo daß dieſer Nenner, (ich will ihn der Kuͤrze hal-
ber mit N bezeichnen) aus einer gewiſſen Anzahl
ungleicher Factoren, deren Product der Function
S gleich ſey, und aus 4 gleichen Factoren
= α + βx deren Product die vierte Potenz von
α + βx gebe, beſtaͤnde, ſo erhaͤlt man aus den
ungleichen Factoren von S einfache Bruͤche von
der Form ; , u. ſ. w.
B 2Aber
[20]Einleitung.
Aber aus den 4 gleichen Factoren 4 Bruͤche von
der Form
oder vielmehr wenn die vorgegebene Bruch-
function (§. X.) bezeichnet, ſo wird ſeyn
wo den Bruch bedeutet, welcher der Summe
von den einfachen
u. ſ. w. welche aus den ungleichen Factoren von
S entſtehen wuͤrden, gleich waͤre.


Man wird nemlich finden, daß wenn man ſich
ſtatt alle die einfachen Bruͤche
hingeſchrieben gedenkt, und man ſie mit den
uͤbrigen
unter einen gemeinſchaftlichen Nenner bringt, die
Zaͤhler hierauf gehoͤrig entwickelt, und zuſammen-
ad-
[21]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
addirt, zur Summe allemahl eine Function von x
herauskommen wird, welche mit dem Zaͤhler M
der vorgegebenen Bruchfunction verglichen, ſo viel
Gleichungen fuͤr die Beſtimmung der Groͤſſen
A, B … A, B … darbieten wird, als ihrer
der Zahl nach ſelbſt vorhanden ſind. Aber es
wuͤrde ebenfalls etwas muͤhſam ſeyn dies Verfah-
ren anzuwenden, um die gedachten Werthe von
A, B … A, B … zu entwickeln, und da die
Differenzialrechnung ein leichteres darbietet, ſo
uͤbergehn wir jenes. Aber es war doch noͤthig
im Allgemeinen die Moͤglichkeit der Zerlegung
der vorgegebenen Bruchfunction in ſolche
einfachere Bruͤche zu zeigen, welche denn auch
nach einigen Nachdenken, nicht ſchwer zu uͤberſe-
hen iſt.


§. XV.


Wenn die Gleichung (§. X.) nemlich
unmoͤgliche Wurzeln, mithin der Nenner N der
vorgegebenen Bruchfunction imaginaͤre oder
unmoͤgliche Factoren hat, ſo ſey z. B.
βx + μ + ν √ — 1 ein ſolcher Factor. Dann
muß
[22]Einleitung.
muß, wie aus der Lehre von den Gleichungen be-
kannt, iſt auch βx + μν √ — 1 ein Factor
jenes Nenners ſeyn, aus welchen beyden zuſam-
mengehoͤrigen Factoren
ſich denn die Bruͤche
ergeben.


Addirt man beyde zuſammen, ſo erhaͤlt man
einen Bruch, deſſen Nenner dem Product jener
beyden imaginaͤren Factoren gleich iſt. Dieſes
Product findet ſich
ganz ohne imaginaͤre Form. Da es in Bezie-
hung auf x von der zweyten Dimenſion iſt, ſo
wird es ein quadratiſcher Factor, auch
wohl ein dreytheiligter oder Trinomial-
factor
, genannt, in ſo fern man das Glied
μ2 + ν2 als in xo multiplicirt, und alſo jenes
Product als aus 3 Gliedern beſtehend anſehen
kann. So viel paare zuſammengehoͤriger imagi-
naͤrer Factoren der Nenner N hat, ſo viel qua-
dratiſche Factoren ergeben ſich daraus.


§. XVI.


1. Man kann einen einfachen Factor wie
βx + μ + ν √ — 1 auch ausdruͤcken durch
βx
[23]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
Was nun auch ν
und μ fuͤr Zahlen ſeyn moͤgen, ſo kann man
immer als Tangente eines gewiſſen Winkels φ be-
trachten. Man ſetze alſo = tangφ, ſo wird
jener einfache Factor = βx + μ (1 + tangφ √ — 1)

2. Man ſetze der Kuͤrze halber
alſo μ = λcoſφ; dann wird die Form des ein-
fachen Factors = βx + λ (coſφ + ſinφ √ — 1)
und eben ſo des andern einfachen Factors
= βx + λ (coſφſinφ √ — 1). Aus bey-
den entſteht demnach ein quadratiſcher Factor von
der Form β2x2 + 2 λ βx coſφ + λ2.


3. Umgekehrt wird alſo jeder quadratiſcher
Factor dieſer Form, auch wieder in zwey einfache
Factoren von der angefuͤhrten imaginaͤren Form
zerfallen.


Waͤre z. B. 4 x2 + 3 x + 1 ein quadra-
tiſcher Factor des Nenners N, ſo iſt β2 = 4;
2 λ βcoſφ = 3; λ2 = 1. Hieraus λ = 1;
β = 2
[24]Einleitung.
β = 2, mithin
und die beyden einfachen Factores wuͤrden ſeyn
zugleich erſieht man daß die angegebene Function
4 x2 + 3 x + 1 wuͤrklich unter der obigen Form
des quadratiſchen Factors, welcher in zwey ima-
ginaͤre zerfaͤllt, enthalten iſt, weil fuͤr coſφ ein
eigentlicher Bruch herauskam. Waͤre dies
aber nicht der Fall, erhielte man fuͤr coſφ
einen uneigentlichen Bruch, ſo zeigt dies
an, daß der vorgegebene Factor nicht in einfa-
che imaginaͤre
zerlegt werden kann, ſondern
aus zwey einfachen moͤglichen zuſammenge-
ſetzt iſt. Um ſolche zu erhalten, betrachtet man
in dieſem Falle das coſφ nicht als den wuͤrkli-
chen Coſinus eines gewiſſen Winkels, ſondern
bloß als ein Zeichen fuͤr eine gewiſſe Groͤſſe, aus
der ſich aber eine andere mit ſinφ bezeichnete
imaginaͤre (1 — coſφ2) finden wuͤrde, welche
denn mit — 1 multiplicirt, fuͤr den Ausdruck
ſinφ √ — 1 (1) etwas moͤgliches giebt, ſo daß da-
durch obige beyde imaginaͤre Factoren (2) wuͤrklich
in zwey einfache moͤgliche uͤbergehn, aus denen in
ſol-
[25]Allgemeine Saͤtze uͤber die Functionen.
ſolchem Falle der quadratiſche Factor zuſammen-
geſetzt iſt.


4. Es ſey z. B. der vorgegebene quadrati-
ſche Factor = 4 x2 + 9 x + 1; ſo iſt β2 = 4
2 λ βcoſφ = 9; λ2 = 1; alſo wieder wie vor-
hin (2) β = 2; λ = 1; alſo 4 coſφ = 9;
und coſφ = alſo \> 1; daher hier die
Groͤſſe nur mit coſφbezeichnet iſt, und
keinen wuͤrklichen Coſinus bedeuten kann. Man
kann aber dies Zeichen coſφ fuͤr die gefundene
Groͤſſe ſtehen laſſen, ſo wie man dafuͤr auch
ſonſt nur einen Buchſtaben ſetzen koͤnnte, und fin-
det daraus alsdann eine andere mit ſinφ be-
zeichnete imaginaͤre Groͤſſe = (1 — coſφ2) =

5. Subſtituirt man hierauf die fuͤr β, λ,
coſφ und ſinφ gefundenen Werthe in den Aus-
druck βx + λ (coſφ ± ſinφ √ — 1) ſo er-
haͤlt man wegen ſinφ √ — 1 = — ; die
beyden moͤglichen Factoren
2 x
[26]Einleitung.
fuͤr den vorgegebenen quadratiſchen.


Die bisherigen allgemeinen Betrachtungen
uͤber die Functionen, habe ich zu beſſern Ver-
ſtaͤndniſſe des Folgenden hier vorausſchicken
muͤſſen.


Hoͤhere
[[27]]

Hoͤhere Analyſis.


Erſter Theil.
Differenzial-Rechnung.


[[28]][[29]]

Differenzial-Rechnung.


Vorbegriffe.


§. 1.

I.Da man ſich in der Mathematik bloß
mit Vergleichungen von Groͤſſen beſchaͤftiget, ſo
nennt man jede Groͤſſe A in Beziehung auf eine
andere gleichartige aendlich, wenn ſich der
Werth von A in Vergleichung von a immer
durch eine Zahl angeben laͤßt, dieſe Zahl mag nun
eine ganze Zahl, ein Bruch oder auch eine Irra-
tionalzahl ſeyn, in welchem letztern Falle man ſich
denn von der zur Vergleichung angenommenen
Groͤſſe a ſelbſt wieder Theile gedenken muß, un-
bekuͤmmert ob durch einen ſolchen Theil = α
die Groͤſſe A voͤllig genau gemeſſen, oder wie mei-
ſtens der Fall iſt, nur durch eine Naͤherung aus-
gedruͤckt werden kann.


II.
[30]Erſter Theil.

II. In dem letztern Falle nennt man die
Groͤſſe A endlich, wenn ſich zwey naͤchſt auf ein-
ander folgende vielfache von α angeben laſſen,
zwiſchen denen die Groͤſſe A enthalten iſt, d. h.
wenn man zeigen kann, daß A \> mα aber
\< (m + 1) α iſt, was auch m fuͤr eine ganze
Zahl iſt, wenn ſie nur angegeben, hingeſetzt, oder
als beſtimmt gedacht werden kann.


III. Je groͤßer die Zahl m iſt, deſto groͤ-
ßer iſt A in Vergleichung mit α. Aber jede fuͤr
m hingeſchriebene Zahl, aus ſo viel Ziffern ſie
auch beſtehen mag, iſt endlich, d. h. man kann
ſich eine Zahl gedenken, welche noch groͤſſer als
dieſe ſeyn wuͤrde.


IV. So wie man in der Geometrie keine
Graͤnze kennt, uͤber welche eine Linie, ſo lang
ſie auch ſeyn mag, nicht noch weiter verlaͤngert
werden koͤnnte, ſo wenig kennt der Verſtand auch
eine Graͤnze, uͤber welche eine Zahl (oder Groͤße
uͤberhaupt), ſo groß als ſie auch ſeyn mag,
ſich nicht noch weiter vermehren ließe. Eine
Zahl kann alſo groͤßer gedacht werden als jede
angebliche, d. h. groͤßer als jede, die auch
mit noch ſo viel Ziffern hingeſchrieben oder gedacht
werden mag (major dato quovis numero ad-
ſigna-
[31]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
ſignabili). Man ſagt in dieſem Falle daß ſie
unendlich werde.


V. Der Begriff des Unendlichen beruht alſo
bloß auf der denkbaren Moͤglichkeit des Wachs-
thums einer Zahl oder Groͤſſe uͤberhaupt, uͤber
jede angebliche Graͤnze hinaus. Aber wir duͤr-
fen uns das Unendliche nie als voͤllig erreicht,
als ein voͤllig beſtimmtes, das durch irgend eine
Zahl dargeſtellt werden koͤnnte, gedenken. Man
hat daher zur Bezeichnung des Unendlichen das
Zeichen ∞ eingefuͤhrt, um dem Verſtande die
Freyheit zu laſſen, die Graͤnze uͤber welche eine
Zahl oder Groͤſſe ſteigt, ſich ſo weit als man
will hinauszudenken. Aber jede Graͤnze die man
fuͤr ein ſolches Wachsthum wuͤrklich ſetzt, iſt end-
lich, und bloß darin, daß jede Graͤnze uͤber-
ſchritten, und keine letzte gedacht werden kann,
ſetzen wir den Begriff des Unendlichen, der denn
in der hoͤhern Mathematik, als abſtracter Be-
griff eben ſo gut ohne Anſtoß gebraucht werden
kann, als viel andere Begriffe, die auch nur in
der Abſtraction ſtatt finden, und doch den Ge-
genſtand einer ganzen Wiſſenſchaft ausmachen.


VI. So ſprechen wir in der Geometrie von
einer Linie, ohne an die Flaͤche zu denken,
von
[32]Erſter Theil.
von der ſie die Graͤnze iſt; von einer Flaͤche,
ohne uns den Koͤrper vorzuſtellen, von der
dieſe Flaͤche wieder die Graͤnze iſt, und ohne wel-
chen weder Flaͤche, Linie, noch Punkt exiſtiren
wuͤrde. Wir reden von der unendlichen Verlaͤn-
gerung einer Linie, von einer unendlichen Linie,
ohngeachtet ſie von uns nur gedacht, nie aber ob-
jectiv in ihrer voͤlligen Ausdehnung dargeſtellt
werden kann, und alle Saͤtze die aus dieſen und
aͤhnlichen Abſtractionen abgeleitet werden, machen
doch den Gegenſtand der erhabenſten aller Wiſſen-
ſchaften aus.


VII. Man wird in der Mathematik ſo oft auf
die Vorſtellung eines uͤber alle Graͤnzen hinaus-
gehenden Wachsthums einer Groͤſſe geleitet, daß
man ſich an bloße Spitzfindigkeiten ſtoͤßt, wenn
man ſich zur Bezeichnung eines ſolchen Begriffs
nicht des Worts Unendlich bedienen will, und
Unterſuchungen, die durch den richtigen Begriff
des unendlich Groſſen, oft ungemein erleichtert
und abgekuͤrzt werden, durch Vermeidung dieſes
Begriffs unnoͤthiger Weiſe ein ſchwerfaͤlliges An-
ſehen giebt. Ja ſehr oft glaubt man bey dieſen
oder jenen Unterſuchungen den Begriff des Un-
endlichen vermieden zu haben, und verſteckt liegt
er bey denſelben dennoch zum Grunde.


VIII.
[33]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.

VIII. Ueberhaupt gedenken wir uns in der
Mathematik das Unendliche nie im Zuſtande des
wuͤrklichen Seyns, ſondern nur im Zu-
ſtande des Werdens. Wir ſagen nie eine
Groͤſſe iſt unendlich, ſondern ſie wird unendlich,
d. h. wir gedenken uns, daß keine Graͤnze
vorhanden iſt, die ſie in ihrem Wachsthum nicht
noch uͤberſteigen koͤnnte oder uͤberſtiegen haͤtte,
und betrachten Verhaͤltniſſe, die zwey Groͤſſen bey
immer fortdaurenden Wachsthume derſelben ha-
ben, als wenn dieſe Verhaͤltniſſe auch uͤber jede
angebliche Graͤnze hinaus, d. h. im Unendlichen
ſelbſt ſtatt finden wuͤrden.


Es ſey z. B.
m = 1 + 1 + 1 + 1 ..... ohne Ende fort
und eben ſo
p = 2 + 2 + 2 + 2 ..... ohne Ende
ſo erhellet, daß zwar jede dieſer Zahlreihen fuͤr ſich
ein Unendliches iſt, und mit ∞ bezeichnet wer-
den kann; aber gleichviel Zahlen aus jeder ein-
zelnen Reihe, geben Summen, die beſtaͤndig in
dem Verhaͤltniſſe 1 : 2 ſtehen, z. B.
1 + 1 + 1 + 1 : 2 + 2 + 2 + 2 = 1 : 2.
Alſo findet der Verſtand darin nichts Ungereimtes,
daß jene Summen m und p, auch im Zuſtande
Cihres
[34]Erſter Theil.
ihres unendlich fortgeſetzten Wachsthums betrach-
tet, noch immer jenes Verhaͤltniß behalten, oder
beſtaͤndig m : p = 1 : 2 ſeyn werde, wenn man
nur immer gleich viel Zahlen aus jeder Reihe zu-
ſammennimmt. Ja es iſt nicht der geringſte Grund
vorhanden, warum bey dem angefuͤhrten ohne
Ende fortgeſetzten Wachsthum von m und p, je
ein anderes Verhaͤltniß ſollte ſtatt finden koͤnnen.
Und ſo koͤnnen demnach zwey Groͤſſen m, p auch
wenn ſie unendlich werden, dennoch immer in ei-
nen gewiſſen geometriſchen Verhaͤltniſſe ſtehen.
Es iſt alſo in voͤlliger Strenge wahr, daß
∞ . 1 : ∞ . 2 = 1 : 2
iſt, und nur der irrige Begriff von dem wuͤrkli-
chen Seyn einer unendlichen Groͤſſe kann den
Einwurf veranlaſſen, daß zwiſchen Groͤſſen im un-
endlichen Zuſtande keine weitere Vergleichung ſtatt
finde. Die unendliche Reihe p = 2 + 2 + 2 …
will ja weiter nichts ſagen, als daß man ſich
die erſtere m = 1 + 1 + 1 + 1 … nur zwey-
mahl vorſtellet, oder p = 1 + 1 + 1 + 1 .....
+ 1 + 1 + 1 + 1 .....
ſetzen ſoll, welches denn der Kuͤrze halber durch
2 . ∞ ausgedruͤckt wird.


Iſt ferner in (1 — III) A = m . α
oder = m = 1 + 1 + 1 + 1 ....., und
fuͤr
[35]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
fuͤr eine andere mit α gleichartige Groͤſſe B der
Bruch oder Quotient = p = 2 + 2 + 2 + 2 ....,
ſo werden zwar A und B fuͤr ſich in Vergleichung
mit α unendlich groß, aber immer bleibt auch
beym unaufhoͤrlichen Wachsthum von m und p,
A : B
= 1 : 2.


IX. Ferner ſey z. B. fuͤr eine gerade Linie
A Q (Fig. I.) welche von einer andern A R in A
geſchnitten wird, die welchem Punkte M man will
zugehoͤrige Abſciſſe A P = x und Ordinate
P M = y, ſo iſt beſtaͤndig x : y = 1: tang A,
auch wenn man den Punkt M ſo weit man will
hinausſetzt, mithin die zuſammengehoͤrigen x und
y uͤber alle Graͤnzen hinauswachſen laͤßt, d. h.
ſie im Zuſtande ihres Unendlichwerdens betrach-
tet, und wuͤrde jenes Verhaͤltniß 1 : tang A nicht
ohne Ende hinaus ſtatt finden, ſo wuͤrden nicht
alle moͤglichen oder gedenkbaren Punkte M in der
geraden Linie A Q bleiben, wie doch vorausge-
ſetzt wird. Es kann alſo nie, auch bey der un-
endlichen Verlaͤngerung der Linie A Q, ein ande-
res als das angegebene Verhaͤltniß ſtatt finden.


So kann man ſich den ins Unendliche fort-
laufenden Flaͤchenraum zwiſchen den beyden Schen-
C 2keln
[36]Erſter Theil.
keln eines Winkels b a d (Fig. II) gedenken. Iſt
nun der Winkel c a d = 2 . b a d, und gedenkt
man ſich auch den Flaͤchenraum c a d ohne Ende
fort, ſo bleibt nicht der geringſte Zweifel, daß
auch bey dieſen unendlich fortlaufenden Winkel-
flaͤchen noch immer das Verhaͤltniß 2 : 1 ſtatt fin-
den werde.


X. Wenn wir demnach unter dem Zeichen
∞ eine Zahl verſtehen, welche uͤber alle angebli-
chen Graͤnzen hinausgeht, ohne je eine letzte zu
erreichen, eine Zahl alſo, welche immer waͤchſt,
immer groͤſſer wird, ohne je eine Groͤſte zu ſeyn,
ſo kann ſie in dieſem Zuſtande des Unendlichwer-
dens, dennoch beſtaͤndig in einem angeblichen Ver-
haͤltniſſe zu einer aͤhnlichen unendlich werdenden
ſtehen, und der Verſtand wird Saͤtze, welche aus
einer ſolchen Abſtraction abgeleitet worden, fuͤr
eben ſo wahr halten muͤſſen, als die Saͤtze, die
der Geometer von Linien beweißt, wenn gleich
eine Linie fuͤr ſich allein nur immer in der blo-
ßen Abſtraction beſtehet, und nie in der Wuͤrk-
lichkeit fuͤr ſich allein dargeſtellt werden kann (IV).


XI. Man gedenke ſich ferner durch A (Fig. 1.)
eine andere gerade Linie A W ohne Ende fortgezo-
gen, aber unter einem groͤßern ſpitzigen Winkel gegen
A R,
[37]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
A R, als die vorige A Q, und der Winkel den ſie
mit A R macht, heiße B. Wird nun fuͤr dieſelbe
Abſciſſe x die Ordinate P L mit z bezeichnet, ſo
iſt beſtaͤndig x : z = 1 : tang B, ſo weit man
auch den Punkt L ſich hinausgedenken mag. Dem-
nach beſtaͤndig y : z = tang A : tang B, d. h. z
immerfort groͤßer als y (IX), auch wenn man beyde
im Zuſtande des Unendlichwerdens betrachtet.
Nie kann y = z werden, weil ſonſt die gerade
Linie A W ohne Ende verlaͤngert, noch einmahl die
erſtere A Q wuͤrde durchſchneiden koͤnnen. Wollten
wir nicht annehmen, daß Groͤſſen wie y, z im
Zuſtande ihres Unendlichwerdens nicht noch ge-
wiſſe Verhaͤltniſſe gegen einander haben koͤnnten,
ſondern vielmehr in abſoluter Gleichheit ſtehen
muͤſten, ſo wuͤrden daraus die groͤſten Abſur-
ditaͤten folgen.


XII. Es hindert nichts ſich eine unendliche
Reihe wie m = 1 + 1 + 1 + 1 ......, ſo
viel mahl als man will, d. h. auch unendliche
mahle hingeſchrieben zu gedenken, z. B.


A1
[38]Erſter Theil.
  • A1 + 1 + 1 + 1 ...... ohne EndeC
  • + 1 + 1 + 1 + 1 ...... ohne Ende
  • + 1 + 1 + 1 + 1 ......
  • + 1 + 1 + 1 + 1 ......
  • . . . .
  • . . . .
  • . . . .
  • . . . .
  • Bohne Ende.

Das Aggregat von allen wuͤrde auch ein Unend-
liches ſeyn, aber ein Unendliches gleichſam von
einer hoͤhern Ordnung oder Dimenſion,
als jedes einzelne in jeder Horizontal- oder Ver-
ticalreihe hingeſetzte Unendliche. So lange man
nur eine endliche Menge von Einheiten in jeder
Vertical- und Horizontalreihe nimmt, wie groß
man ſich auch dieſe Menge = x gedenken
mag, wenn man nur immer gleich viel ſolcher
Einheiten, ſich in jeder Reihe A B, A C vorſtellt,
wird das Aggregat von allen immer durch
x . x = x2 ausgedruͤckt werden muͤſſen. Nimmt
man nun x uͤber alle Graͤnzen, und ſetzt dafuͤr
das Zeichen ∞, ſo muß das erwaͤhnte unendliche
Aggregat nothwendig durch ∞ . ∞ oder ∞2 aus
gedruͤckt werden; wuͤrde man ſich ſtatt der Eine[r]
lauter Zweyer gedenken, ſo wuͤrde das Aggre-
gat
[39]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
gat durch 4 . ∞2 ausgedruͤckt werden muͤſſen
u. ſ. w. An welchen Bezeichnungen ſich der Ver-
ſtand nicht ſtoſſen wird, wenn man die richtigen
Ideen damit verknuͤpft.


XIII. Fuͤr jedes endliche x wuͤrde immer
x2 : x = x : 1 ſeyn, alſo auch wenn man x
uͤber alle Graͤnzen ſich wachſend gedenkt, d. h. x
durch ∞ ausdruͤckt, wird ∞2 : ∞ = ∞ : 1
ſeyn.


Es hat alſo das hoͤhere Unendliche zu dem
niedrigern, ein Verhaͤltniß, deſſen erſtes Glied
man ſich gleichfalls uͤber alle angeblichen Graͤn-
zen hinauswachſend gedenken muß.


XIV. Zufolge der angegebenen Vorſtellung,
wird man keinen Anſtand finden, ſich auch ein
Unendliches von der dritten Ordnung, z. B. ∞3,
und ſo mehrere von hoͤhern Ordnungen ∞4, ∞5
u. ſ. w. mit ihren Verhaͤltniſſen zu gedenken.


XV. Wenn man von einer unendlichen
Reihe wie
m = 1 + 1 + 1 + 1 .......
jede endliche Menge von Einheiten, womit man
die Reihe zu ſchreiben angefangen hat, weglaͤßt,
ſo aͤndert man nur den ter[m] [...] quo, von
wel-
[40]Erſter Theil.
welchem man die Reihe anfaͤngt hinzuſchreiben,
der Werth der Reihe ſelbſt, d. h. das Unendliche,
wird dadurch im geringſten nicht geaͤndert. Jede
vorne weggelaſſene endliche Menge von Einheiten
wird gleichſam der Unendlichen hinten immer wie-
der in der Abſtraction zugeſetzt, eben weil ſie die
immer fortwachſende iſt, und in ihrem Wachs-
thum kein Ende hat. Eben ſo bleibt eine ge-
rade Linie, die man von einem Punkte aus ſich
ohne Ende fortgezogen gedenkt, immer die un-
endliche, was fuͤr ein endliches Stuͤck man auch
von ihrem Anfangspunkte abſchneidet, und nur
der Anfangspunkt der ohne Ende fortgezogenen
Linie wird dadurch geaͤndert.


XVI. Daſſelbe wuͤrde ſtatt finden, wenn
man eine endliche Menge von Einheiten zu der
unendlichen m, linker Hand ihres termini a
quo
noch hinzuſetzte. Dies alles heißt mit an-
dern Worten ſo viel, der Werth einer unendli-
chen Groͤſſe, oder vielmehr das Unendliche, bleibt
voͤllig ungeaͤndert, ob man eine endliche Groͤſſe
hinzuſetzt, oder wegnimmt, oder in Zeichen, es iſt
∞ ± a = ∞, was auch a fuͤr einen endlichen
Werth hat.


XVII.
[41]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.

XVII. Ferner erhellt auf dieſelbe Weiſe,
daß auch das Aggregat (XII) oder das unendliche
der zweyten Ordnung ∞2 voͤllig daſſelbe bleibt,
ob man eine Reihe wie 1 + 1 + 1 + 1 ......
horizontal oder vertical davon wegnimmt, oder
hinzuſetzt. Es werden hier gleichſam auch nur
die termini a quo (A C und A B) geaͤndert, von
denen man das Aggregat hinzuſchreiben anfaͤngt.
Da nun m = 1 + 1 + 1 + 1 ..... das Un-
endliche der erſten Ordnung bedeutet, ſo iſt be-
ſtaͤndig ∞2 ± ∞ ſo viel als ∞ ſelbſt, oder
das Unendliche der hoͤhern Ordnung wird durch
dasjenige einer niedrigern im geringſten nicht
geaͤndert; ſo iſt auch uͤberhaupt ∞2 + μ . ∞
immer = ∞2, was auch μ fuͤr einen endlichen
Factor bezeichnen mag.


XVIII. Auf dieſe Weiſe iſt allgemein
k + ∞t; oder auch ∞k + μ . ∞t
immer nur einerley mit mit ∞k, wofern k \> t
und μ eine endliche Zahl iſt. Oder auch, wenn
x erſtlich eine endliche Groͤſſe bezeichnet, iſt
xk : xk + μxt = 1 : 1 + d. h. das
Verhaͤltniß xk zu xk + μxt naͤhert ſich mit dem
Wachsthum von x dem Verhaͤltniß der Gleich-
heit 1 : 1 ohne Ende immer mehr und mehr,
weil
[42]Erſter Theil.
weil der Bruch immer deſto kleiner wird,
je groͤßer man x ſich gedenkt. Laͤßt man x uͤber
jede angebliche Graͤnze wachſen, d. h. ſetzt man
x = ∞ ſo naͤhert ſich ∞k : ∞k + μt ohne
Ende dem Verhaͤltniß 1 : 1, d. h. wenn x un-
unendlich (= ∞) wird, iſt auch ∞k =
k + μt, wofern k \> t.


So bald man den richtigen Begriff des Un-
endlichen hat, kann auch die geſuchteſte Spitzfin-
digkeit nichts gegen dieſe Saͤtze einwenden. Durch
die angefuͤhrten figuͤrlichen Darſtellungen, die ſich
nach einigem Nachdenken noch leicht erweitern
laſſen, werden die anfangs etwas befremdenden
Vorſtellungen vom Unendlichen verſchiedener Ord-
nungen, alles Geheimnißvolle verliehren.


XIX. So wie der Verſtand dem Wachs-
thum einer Groͤſſe keine Graͤnzen ſetzt, und auf
dieſe Weiſe zu dem Begriff einer unendlichen
Groͤſſe, oder vielmehr des unendlich Groſſen ge-
langt, ſo kann man auch umgekehrt eine Groͤſſe
immer kleiner und kleiner werden laſſen, ohne daß
man dieſer Abnahme je ein Ende ſetzte. Gedenkt
man ſich eine Groͤſſe in einem ſolchen Zuſtande
der unendlichen Abnahme, ſo ſagt man daß ſie
un-
[43]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
unendlich klein werde, aber nie kann man ſagen
daß ſie unendlich klein ſey, weil dies ſo viel
hieße, als eine Graͤnze ſetzen, uͤber die ſie nicht
noch kleiner werden koͤnnte.


XX. Zwar koͤnnte man ſagen, Null oder
Nichts ſey die Graͤnze bey immerwaͤhrender Ab-
nahme oder das unendlich Kleine ſelbſt. Aber
dies widerſpricht dem feſtgeſetzten Begriff, daß
die Groͤſſe ohne Ende abnehme, daß ſie immer
kleiner werde, daß immer noch etwas von ihr
vorhanden ſeyn ſoll, ſo weit man ſich auch die
Verminderung derſelben gedenken will, und daß
dies Vorhandene noch immer ſoll kleiner werden
koͤnnen.


Die Moͤglichkeit einer ſolchen unendlichen Ab-
nahme, ohne je Null zu werden, kennt man ja
ſchon aus der gemeinen Arithmetik, z. B. bey
der Bruchreihe
oder allgemein
wie weit man auch hier die fortgeſetzte Eintheilung
der Einheit ſich hinausgedenkt, ſo werden wir nie
auf
[44]Erſter Theil.
einen Bruch oder auf ein Stuͤck der Einheit kom-
men, welches voͤllig = o waͤre, d. h. die Null
iſt nicht das uͤber alle Graͤnzen Kleine, das un-
endlich Kleine. Die Null oder das Nichts kann
weder eine Groͤſſe, noch eine unendlich kleine
Groͤſſe genannt werden.


XXI. Zwar koͤnnen wir eine Groͤſſe, durch
beſtaͤndige Subtraction eines aliquoten Theiles
derſelben vermindern, daß Nichts mehr von ihr
uͤbrig bleibt, daß ſie verſchwindet (evaneſcit),
aber das heißt nicht eine Groͤſſe ohne Ende ver-
mindern, oder ſie unendlich klein werden laſſen.
Dadurch daß man dieſe Begriffe nicht ſorgfaͤltig
von einander unterſchieden hat, ſind in der Ana-
lyſis des Unendlichen, die groͤßten Abſurditaͤten
entſtanden, z. B. daß Nullen oder Nichtſe, wie
wuͤrkliche Groͤſſen, noch ein Verhaͤltniß gegen ein-
ander haben koͤnnen u. dgl., und man hat ſogar
die ganze Differenzialrechnung auf eine ſolche Nul-
lenrechnung gebracht, und dadurch das Princip
derſelben, mit Ungereimtheiten und Schwuͤrigkei-
ten uͤberhaͤuft.


XXII. Soll eine Groͤſſe unendlich klein wer-
den, ſo darf man ſie nicht dergeſtalt abnehmen
laſſen, daß ſie endlich Null wird (alſo durch Sub-
traction),
[45]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
traction), weil man ſie ja nach dieſer Weiſe noch
weiter vermindern, und gar in den negativen Zu-
ſtand uͤbergehen laſſen koͤnnte, ſondern die Ver-
minderung muß ſo beſchaffen ſeyn, daß die Groͤſſe
wenn ſie auch immerfort abnimmt, doch nie den
voͤlligen Nullzuſtand erreicht. Dann hat man
den wahren Begriff des ohne alle Ende Kleinen,
des unendlich Kleinen, welches man ſich gleich-
falls nie im Zuſtande des wuͤrklichen Seyns,
d. h. als voͤllig erreicht, ſondern auch immer nur
im Zuſtande des Werdens gedenken muß.


So ſagen wir alſo daß in der Reihe (XX)
die Bruͤche immer kleiner und kleiner werden,
daß ſie uͤber alle Graͤnzen klein, unendlich klein
werden, aber nie laͤßt ſich einer angeben, der wuͤrk-
lich der Kleinſte waͤre, und dies verlangt man
auch bey keiner Unterſuchung, auf welche man
durch die Betrachtung einer unaufhoͤrlich uͤber
alle Graͤnze hinausgehenden Abnahme einer Groͤſſe
geleitet wird.


XXIII. Wenn A eine Groͤſſe welche man will,
und m eine Zahl ſo groß man will bedeutet, ſo
bezeichnet der Ausdruck immer ein beſtimm-
tes Stuͤck der Groͤſſe A, aber ein immer kleineres
je
[46]Erſter Theil.
je groͤſſer man ſich die Zahl m gedenkt. Waͤchſt
m uͤber alle Graͤnzen, ſo nimmt das Stuͤck
uͤber alle Graͤnzen ab, es wird ohne Ende oder
unendlich klein, wenn man m ſich unendlich groß
gedenkt; aber nie wird es voͤllig = o. Wird
demnach eine unendlich große Zahl mit ∞ bezeich-
net, ſo wird der Ausdruck einen unendlich
kleinen Theil der Groͤſſe A bezeichnen, der alſo
nur in der Abſtraction gedacht, aber nie wuͤrklich
dargeſtellt werden kann, was man auch fuͤr das
Zeichen ∞ fuͤr eine Zahl hinſetzen mag. Bey
den Bruchreihen (XX) wuͤrde A eine Zahl = 1,
und m eine uͤber alle Graͤnzen hinausgehende Po-
tenz der Zahl 2 oder n bezeichnen.


XXIV. Daß unendlich kleine Groͤſſen, nach
den bisherigen Begriffen, in einem angeblichen
geometriſchen Verhaͤltniſſe ſtehen koͤnnen, wird
man ſo wenig bezweifeln, als es oben von dem
unendlich Groſſen erwieſen worden iſt. Man
gedenke ſich z. B. die beyden Reihen
M = 1; ; … ohne Ende fort
N = 1; ; … ‒ ‒ ‒
So
[47]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
ſo wird jedes Glied der Reihe N zu dem dar-
uͤberſtehenden der Reihe M, immer in dem Ver-
haͤltniſſe 2 : 1 ſtehen, wenn man auch beyde
Reihen ohne Ende fortſetzt, d. h. die Glieder
derſelben ohne Ende klein werden laͤßt. Da die
Nenner der Bruͤche in beyden Reihen Potenzen
der Zwey ſind, ſo iſt der allgemeine Ausdruck
fuͤr den unendlich Kleinen in der Reihe ,
und fuͤr den darunter ſtehenden in der Reihe
; beyde werden fuͤr ſich ohne Ende klein,
aber immer ſtehen ſie in dem Verhaͤltniſſe 1 : 2.


XXV. So wie wir im Vorhergehenden auf
den Begriff des unendlich Groſſen verſchiedener
Ordnungen geleitet worden ſind, ſo koͤnnen wir
uns in der Abſtraction auch unendlich Kleine von
verſchiedenen Ordnungen gedenken, welche man
denn auf folgende Weiſe bezeichnen kann
u. ſ. w.
So wie nemlich ∞2 als unendlich gegen ∞ be-
trachtet wird, ſo wird dagegen immer als un-
endlich klein in Vergleichung mit angeſehen
wer-
[48]Erſter Theil.
werden muͤſſen. Voͤllig wie nemlich ∞2:
∞ = ∞ : 1, ſo verhaͤlt ſich auch
Ueberhaupt
Iſt demnach k \> t, ſo iſt immer als un-
endlich klein gegen zu betrachten, und
wird nicht geaͤndert, wenn man ein unendlich
Kleines von einer hoͤhern Ordnung dazu ſetzt,
oder davon abzieht.


XXVI. Zu fernerer Erlaͤuterung des unend-
lich Groſſen und unendlich Kleinen, und der ver-
ſchiedenen Ordnungen derſelben, iſt zu bemerken,
daß man zugleich auf die urſpruͤnglichen Formen
Ruͤckſicht nehmen muß, in welchen man die
Groͤſſen, als noch im endlichen Zuſtand exiſtirend,
betrachtete, und welche Formen man nicht ver-
nachlaͤſſigen darf, wenn man einen richtigen Be-
griff ſowohl von dem Unendlichen, als auch den
verſchiedenen Ordnungen und Verhaͤltniſſen deſſel-
ben erhalten will.


Es
[49]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.

Es iſt kein Zweifel, daß Ausdruͤcke wie ∞;
2; ∞m; a; log ∞ abſolut genommen, lau-
ter in den unendlichen Zuſtand uͤbergehende Groͤſ-
ſen bezeichnen, aber in den Formen, wie ſie hier
gegeben ſind, und uͤberall in der Mathematik vor-
kommen koͤnnen, ſobald man in den aͤhnlichen
Ausdruͤcken endlicher Form x, x2, xm, ax;
log x
die Groͤſſe x ohne Ende wachſen laͤßt, be-
zeichnen jene Ausdruͤcke, Unendliche von ſehr un-
terſchiedenen Ordnungen, deren Verhaͤltniſſe aus
jenen Formen ſelbſt abgeleitet werden koͤnnen. Ei-
nige Beyſpiele werden dies erlaͤutern.


1ſtes Beyſpiel. Es ſeyen in zwey krum-
men Linien, fuͤr einerley Abſciſſe x die Ordinaten
wo a, b gewiſſe unveraͤnderliche Linien bezeichnen,
ſo wachſen zwar y und z, unaufhoͤrlich mit x,
beyde werden unendlich, ſo wie x unendlich wird,
aber je mehr ſich y und z dem unendlichen Zu-
ſtande naͤhern, deſto mehr waͤchſt y in Verglei-
chung mit z, und wird unendlich groß gegen z,
wenn beyde ſelbſt unendlich werden. Denn im-
Dmer
[50]Erſter Theil.
mer iſt y : z = b x : a2, alſo fuͤr x = ∞,
wird y : z = b . ∞ : a2, demnach y ein Unend-
liches gegen z, und z alſo von einer niedrigern
Ordnung als y.


2tes Beyſpiel. Waͤre fuͤr eine dritte
krumme Linie die Ordinate w = b . , wo
b und c wieder unveraͤnderliche Linien bezeichnen,
ſo iſt fuͤr x = ∞ zwar auch w = ∞, aber
von einer hoͤhern Ordnung als y (1. Beyſp.) Denn
verwandelt man die Exponentialgroͤſſe oder
nach dem binomiſchen Lehrſatz in eine
unendliche Reihe
ſo wird ſolche fuͤr den Fall, daß x unendlich wird =
weil vorne die 1 als eine endliche Groͤſſe wegge-
laſſen, und ſtatt x — c, x — 2 c ꝛc. bloß x ge-
ſetzt werden kann (XVI.). Alſo iſt fuͤr x = ∞
w = b
[51]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
oder
Aber die erſten zwey Glieder dieſer Reihe, ſind
wenn x unendlich groß wird, unendlich klein, und
das dritte Glied iſt eine endliche Groͤſſe, alle 3
koͤnnen alſo gegen die folgenden Glieder wegge-
laſſen werden, weil ſolche unendlich groß werden.
Alſo iſt w unendlich groß gegen y fuͤr den Fall
daß beyde unendlich werden. Mithin iſt y ein
unendliches von einer niedrigern Ordnung als w;
und folglich z noch von einer niedrigern Ordnung
gegen w als y (Beyſp. 1.).


3tes Beyſpiel. Es ſey wieder fuͤr eine
andere krumme Linie, die Ordinate u = f log,
wo f und g wieder beſtaͤndige Linien bezeichnen,
und log den natuͤrlichen Logarithmen bedeu-
ten mag.


D 2Nun
[52]Erſter Theil.

Nun iſt, wie wir in der Folge ſehen werden,
Iſt alſo x, und folglich auch unendlich, ſo
kann man die 1 weglaſſen, und erhaͤlt fuͤr die-
ſen Fall
Demnach das Verhaͤltniß der Ordinaten z und u
in beyden krummen Linien (1tes u. 3tes Beyſp.),
fuͤr den Fall daß dieſe Ordinaten unendlich werden
z : u = x2 : b . f log
Oder ſtatt x2 den Werth der dafuͤr gefundenen
Reihe ſubſtituirt
Alſo wird z unendlich gegen u; oder die unend-
liche Ordinate u fuͤr x = ∞, iſt ein Unendliches
von einer niedrigern Ordnung, als die Ordinate z.


XXVII. Wenn demnach die Ordinaten y,
z, w, u,
in den erwaͤhnten krummen Linien un-
end-
[53]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
endlich werden, ſo iſt w = ein Unendli-
ches von einer hoͤhern Ordnung als y = ,
und noch von einer hoͤhern, als z = ,
endlich noch von einer hoͤhern, als u = f log.
Woraus denn weiter folgt, daß wenn man ſtatt
der Linien ſich Zahlen gedenkt, und z. B.
b = a = f = g = 1 ſetzt, die Exponentialgroͤſſe
2x fuͤr den Fall daß x = ∞ wird, ein hoͤheres
Unendliche als x3, dieſes wieder ein hoͤheres als
x2, und dieſes ein hoͤheres als log x bezeich-
nen wird.


XXVIII. Haͤtte man alſo z. B. einen Aus-
druck von der Form
S = 2x + x3 + x2 + log x
ſo wird ſich S dem Werthe 2x ohne Ende immer
mehr und mehr naͤhern, je groͤſſer man x nimmt,
und wenn x uͤber jede angebliche Graͤnze waͤchſt,
d. h. unendlich wird, ſo verſchwinden die niedern
Unendliche x3, x2, log x, gegen das hoͤchſte
2x, und es wird ſchlechtweg S = 2x.


XXIX.
[54]Erſter Theil.

XXIX. Umgekehrt, wenn die Bruͤche
vorgegeben waͤren, ſo wuͤrden ſie zwar, wenn x
unendlich groß wird, ſaͤmmtlich unendlich klein,
aber unter allen, wuͤrde der unendlich Klein-
ſte, d. h. der unendlich Kleine von der hoͤchſten
Ordnung
ſeyn, und in einem Ausdrucke wie
wuͤrde ſich T dem Werthe ohne Ende im-
mer mehr und mehr naͤhern, je groͤſſer man x
nimmt, und fuͤr x = ∞, verſchwinden die Glie-
der gegen , ſo daß es ver-
ſtattet iſt fuͤr dieſen Fall bloß
zu ſetzen.


XXX. Wollte man einwenden, daß ſo groß
man auch x nimmt, doch nie voͤllig genau
ſeyn
[55]Differential-Rechnung. Vorbegriffe.
ſeyn koͤnne, ſo wird man doch zugeben muͤſſen,
daß je groͤſſer x wird, deſto mehr ſich auch T
dem Werthe von naͤhern muͤſſe, und wenn
man fuͤr x = ∞, T = ſetzt,
ſo will man durch das Zeichen = nichts anders
als dieſe unendliche Annaͤherung bezeich-
nen. Haͤtte man in der Analyſis ein beſonderes
Zeichen eingefuͤhrt, um eine ſolche unendliche Annaͤ-
herung einer Groͤſſe zu einer andern anzudeuten,
z. B. etwa das Zeichen ≡, ſo wuͤrde Niemand
daran einen Anſtoß finden, daß wenn in einer Glei-
chung wie
die Groͤſſe x ohne Ende waͤchſt, d. h. unendlich
wird
ſeyn werde, da man hingegen bey der Bezeichnung
ſich gewoͤhnlich den Werth von T als ſchon er-
reicht gedenkt, eine Vorſtellung, die bey der Be-
trachtung des unendlich Groſſen oder unendlich
Kleinen, nur in der Abſtraction ſtatt finden kann.


XXXI.
[56]Erſter Theil.

XXXI. Man kann alſo behaupten, daß
wenn in dem fuͤr T angegebenen Ausdrucke
x ≡ ∞ wird, d. h. xſich dem Unendli-
chen immer mehr und mehr naͤhert
, als-
dann in voͤlliger Schaͤrfe auch
d. h. Tſich dem Werthe ohne Ende
immer mehr und mehr naͤhern werde
.
Da indeſſen ein ſolches Zeichen fuͤr die unendli-
che Annaͤherung einer Groͤſſe zu einer andern,
bis jetzt nicht eingefuͤhrt iſt, ſo erinnere ich doch
ein fuͤr allemahl, daß wenn man fuͤr x = ∞ den
Werth von ſetzt, man unter dem Zei-
chen = bloß eine ſolche unendliche Annaͤherung
ſich gedenken muß.


XXXII. Es verhaͤlt ſich in dem angegebe-
nen Beyſpiele ohngefaͤhr wie in der Arithmetik,
wenn man den Bruch ⅓ = o, 33333 ....
ſetzt, da doch eigentlich das Zeichen = ſich nur in
der Abſtraction rechtfertigt, in ſo ferne man ſich
den hingeſchriebenen Decimalbruch als voͤllig er-
reicht oder vollendet gedenkt, wenn derſelbe gleich
nie voͤllig dargeſtellt werden kann.


Fer-
[57]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.

Ferner ſetzt man in der Arithmetik die Sum-
me der unendlichen Reihe
\frac12+\frac14+\frac18+\frac{1}{16}\ldots=1
und man weiß, daß dieſe Bezeichnung doch nichts
anders ſagen will, als daß ſich dieſe Reihe ohne
Ende immer mehr und mehr der 1 naͤhert.


Wenn demnach in einem Ausdrucke wie
ſich T dem Werthe von immer mehr und
mehr naͤhert, je groͤſſer man x nimmt, ſo kann
man auch mit eben dem Rechte, wie bey jenen
arithmetiſchen Beyſpielen ſagen, daß
werde, wenn man x uͤber jede angebliche Graͤn-
zen hinaus, d. h. unendlich wachſen laͤſt.


XXXIII. Eben ſo laſſe man in nachſtehen-
der Gleichung zwiſchen zwey veraͤnderlichen Groͤſ-
ſen x, y, nemlich
y = a x + b x2 + c x3
den Werth von x ohne Ende abnehmen, ſo wird
zwar
[58]Erſter Theil.
zwar auch y ohne Ende abnehmen, aber wenn
man das Verhaͤltniß von y zu x nemlich
y : x = a + b x + c x2 : 1
betrachtet, ſo wird ſich ſolches dem Verhaͤltniſſe
a : 1 immer mehr und mehr naͤhern, je kleiner x
[und] folglich auch y wird. Nehmen alſo beyde
ohne Ende ab, ſo daß man x und folglich auch
y als unendlich klein betrachtet, ſo verſchwinden
die unendlich kleinen Glieder b x, c x2 in Ver-
gleichung mit der endlichen Groͤſſe a, und giebt
man nun dem Zeichen = die Bedeutung
(XXXI), ſo iſt in voͤlliger Schaͤrfe
y : x = a : 1.


XXXIV. Wollte man in dem angefuͤhrten
Beyſpiele x bis auf Null ſelbſt abnehmen laſſen,
ſo wuͤrde auch y = o und die Proportion
(XXXIII) hieße nun
o : o = a : 1
Aber dann begreift man nicht leicht, wie zwey
Nullen oder Nichtſe noch in einem gewiſſen Ver-
haͤltniſſe ſtehen koͤnnen, wie eine Null kleiner als
eine andere ſeyn kann. So bald zwey von ein-
ander abhaͤngige Groͤſſen wie y und x voͤllig ver-
ſchwinden, hoͤrt alle weitere Vergleichung derſelben
auf, da hingegen, ſo lange ſie ſich noch im Zu-
ſtande ihrer Abnahme befinden, ſelbſt wenn dieſe
Ab-
[59]Differenzial-Rechnung. Vorbegriffe.
Abnahme uͤber alle angeblichen Graͤnzen hinaus-
gedacht wird, alſo die Groͤſſen y und x unend-
lich klein werden, noch immer ein Verhaͤltniß der-
ſelben gedacht werden kann.


Ohne demnach y und x voͤllig verſchwinden zu
laſſen, betrachtet man das Verhaͤltniß a : 1 als
das Graͤnzverhaͤltniß, dem ſich das von
y : x ohne Ende immer mehr und mehr naͤhert,
und man darf nun mit eben dem Rechte
y : x = a : 1 ſetzen, als man z. B. die Summe
der unendlichen Reihe (XXXII) = 1 ſetzt, da
ſie ſich doch eigentlich dieſem Werthe, nur ohne
Ende naͤhert.


XXXV. Manche Schriftſteller betrachten die
Null als die Graͤnze, der ſich eine ohne Ende
abnehmende Groͤſſe immer mehr und mehr naͤ-
hert. Dieſe Vorſtellung kann man immer gelten
laſſen, wenn man die ohne Ende abnehmende oder
unendlich kleine Groͤſſe, nur nicht ſelbſt fuͤr Null
haͤlt, oder glaubt daß ſie es voͤllig werden koͤnnte,
weil dies dem Begriffe einer ohne Ende abneh-
menden Groͤſſe widerſpricht (XX). Noch weniger
darf man ſich erlauben, eine unendlich kleine Groͤſſe
bald fuͤr Null zu halten, bald aber auch wieder
als eine wuͤrkliche Groͤſſe zu behandeln, wie ſo
haͤu-
[60]Erſter Theil. Differ. Rechn. Vorbegr.
haͤufig in der Differenzialrechnung und den An-
wendungen derſelben zu geſchehen pflegt. Aber
dieſe Wiederſpruͤche vermeidet man durch den rich-
tigen Begriff des unendlich Kleinen, wie ſolcher bis-
her, wie ich glaube, ſo deutlich entwickelt worden
iſt, als es bey abſtracten Begriffen nur moͤglich iſt.


Will man daher die Proportion (XXXIV)
o : o = a : 1
rechtfertigen, oder ihr einen vernuͤnftigen Sinn un-
terlegen, ſo muß man ſich unter dieſen Nullen die
ohne Ende abnehmenden Groͤſſen y, x ſelbſt geden-
ken, in ſo fern ſie bey dieſer Abnahme ſich den Nul-
len ohne Ende immer mehr und mehr naͤhern, ohne
ſich jedoch je in ſolche Nullen ſelbſt zu verwandeln,
wie z. B. die Bruͤche in den Reihen (XX.).


Oder man kann ſich auch vorſtellen, daß die
Groͤſſen y, x das Verhaͤltniß a : 1 haben, in dem
Augenblicke da ſie nach dem Geſetz der Stetigkeit
und ihrer gegenſeitigen Dependenz von einander, im
Begriff ſind in den Nullzuſtand uͤberzugehen, da ſie
alſo beyde noch einen Werth haben, aber doch noch
nicht voͤllig zu Null geworden ſind. Daher nen-
nen auch einige das Verhaͤltniß a : 1 das Ver-
ſchwindungsverhaͤltniß
der Groͤſſen y, x,
welche Benennung denn auch ſtatt des Worts
Graͤnzverhaͤltniß gebraucht werden kann.


Erſtes
[61]

Erſtes Kapitel.
Differenzialrechnung.


§. 2.

I.Es ſey y eine Function von x, und x aͤn-
dere ſich um einen gewiſſen Werth oder um eine
gewiſſe Differenz, welche ich mit Δx bezeichnen will,
ſo wird ſich auch y um einen gewiſſen Werth
oder um eine gewiſſe Differenz = Δ y veraͤndern,
alſo y ſich in y + Δ y verwandeln, wenn x ſich
in x + Δ x veraͤndert.


II. Da y durch x vermoͤge einer Gleichung
gegeben iſt, ſo muß ſich daraus auch eine Glei-
chung zwiſchen Δy und Δx finden laſſen. Sucht
man nun aus dieſer Gleichung das Verhaͤltniß
von Δ y : Δ x, oder auch den Exponenten dieſes
Verhaͤltniſſes, d. h. den Quotienten , ſo
nennt man Δ y : Δ x das Differenzverhaͤlt-
niß
und den Differenzquotienten,
und
[62]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
[und] ſucht man endlich dies Verhaͤltniß fuͤr den
Fall, daß die Differenzen Δ x, Δ y ohne Ende
immer kleiner und kleiner werden, oder ſich in ſo-
genannte Differenziale verwandeln, ſo wird
jenes Verhaͤltniß das Differenzialverhaͤlt-
niß
, der Quotient der Differenzial-
quotient
, und die Auffindung dieſes Verhaͤlt-
niſſes oder Quotienten die Differenzialrech-
nung
genannt. Ein Beyſpiel wird die Sache
am beſten erlaͤutern.


III. Es ſey alſo z. B. y = a x2, ſo iſt,
x + Δ x ſtatt x, und y + Δ y ſtatt y geſetzt,
y + Δ y = a (x + Δ x)2
Oder y + Δ y = a x2 + 2 a x . Δ x + a (Δ x)2
Hievon ziehe man die ungeaͤnderte Function (nem-
lich y = a x2) ſelbſt ab, ſo erhaͤlt man die Dif-
ferenzgleichung
Δ y = 2 a x . Δ x + a (Δ x)2.


IV. Und hieraus das Differenzverhaͤltniß,
und den Differenzquotienten, nemlich
Δ y : Δ x = 2 a x + a . Δ x : 1
und = 2 a x + a . Δ x.


V.
[63]Differenzialrechnung.

V. Laͤßt man nun Δ x ohne Ende abnehmen
(in welchem Falle auch Δ y ohne Ende abnimmt),
ſo naͤhert ſich der Ausdruck 2 a x + a . Δ x
ohne Ende immer mehr und mehr dem von Δ x
unabhaͤngigen Gliede 2 a x, und man erhaͤlt fuͤr
das Graͤnzverhaͤltniß von Δ y : Δ x in die-
ſem Falle 2 a x : 1, oder Δ y : Δ x = 2 a x : 1
und = 2 a x.


VI. Man nennt die Differenzen Δ y, Δ x,
wenn ſolche unendlich abnehmen, ohne jedoch voͤl-
lig zu verſchwinden, Differenziale, und be-
zeichnet ſie dann mit d y, d x, wo denn der
Buchſtabe d bey unendlich kleinen Differenzen,
ſo gut wie der Buchſtabe Δ bey endlichen Diffe-
renzen ein bloßes Zeichen iſt, welches, ſo bald in
Rechnungen von Differenzialien die Rede iſt, ſo
wenig mit einem Factor, als d y mit einem Pro-
ducte zu verwechſeln iſt.


Auch ſchreibt man um Verwirrung zu ver-
meiden, in jedem Product, worin ein Differen-
zial vorkoͤmmt, das Differenzial gern zuletzt,
z. B. a . Δ x ſtatt Δ x . a, oder a . d x ſtatt dx . a.


VII. Demnach hat man fuͤr die angenom-
mene Funktion (III) das Differenzialverhaͤltniß
d y
[64]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
d y : d x = 2 a x : 1
und den Differenzialquotienten
= 2 a x.


VIII. Da y nichts als den Ausdruck a x2
ſelbſt bedeutet, ſo heißt d y auch das Differen-
zial von a x2, wenn d x das Differenzial der ver-
aͤnderlichen Groͤſſe x ſelbſt bedeutet. Demnach
kann man die Ausdruͤcke (VII.) auch ſo darſtellen
d (a x2) : d x = 2 a x : 1
.


IX. Setzt man ſtatt der Proportion (VII.)
die Gleichung
d y = 2 a x . d x
ſo nennt man dies die Differenzialglei-
chung
von (III.), [wofuͤr] auch
d (a x2) = 2 a x . d x
geſchrieben werden kann.


X. Wollte man die Differenzialien d x, dy,
voͤllig als Nullen betrachten, wie von einigen
Schriftſtellern zu geſchehen pflegt, ſo wuͤrde die
Proportion (VII.) auch ſo heißen
o : o = 2 a x : 1
wo-
[65]Differenzialrechnung.
wogegen aber Erinnerungen wie (§. 1. XXXIV.)
auf keinerley Weiſe zu vermeiden ſind.


XI. Indeſſen glaubt man, daß die Propor-
tion (VII.) nicht in voͤlliger Schaͤrfe ſtatt finden
koͤnnte, wenn man in derjenigen (IV.) fuͤr end-
liche Differenzen, nicht Δ x voͤllig = o ſetzt, in
welchem Falle denn auch Δ y = o wuͤrde; und
ſo will man denn, daß die Zeichen d y, und d x,
welche man ſtatt der Nullen hinzuſetzen beliebt,
nur ausdruͤcken ſollen, daß es die Differenzen Δy,
und Δ x ſind, welche in den Null-Zuſtand uͤber-
gehen, und daß ſie in dieſem Falle genau das
Verhaͤltniß 2 a x : 1 haben. Allein durch dies
Hinſchreiben der Zeichen dy, dx, ſtatt der Nul-
len, welche ſie bedeuten ſollen, ſind die (§. 1.
XXXIV.) ſtatt findenden Erinnerungen auf keiner-
ley Weiſe beſeitiget, und es bleibt, um einer ſol-
chen Proportion wie o : o = 2 a x : 1 eine an-
nehmbare Bedeutung zu verſchaffen, nichts uͤbrig,
als ſich vorzuſtellen, daß jene Nullen die ohne
Ende abnehmenden Differenzen dy, dx ſelbſt be-
deuten, in ſo fern ſich dieſe Differenzen den Nul-
len ohne Ende immer mehr und mehr naͤhern,
ohne jedoch je ſich in ſolche ſelbſt zu verwandeln.


EXII.
[66]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

XII. Die Behauptung daß d y : d x
= 2 a x : 1
nie in voͤlliger Schaͤrfe wahr ſeyn
koͤnne, ſo lange dy, dx noch angebbare Werthe
haben, hat zwar ihre voͤllige Richtigkeit. Allein
in der Differenzialrechnung verlangt man auch
nicht daß d y, d x noch angebbare Werthe (etwa
wie Wolfs Sandkoͤrner in Vergleichung eines
Berges. M. ſ. deſſen Anfangsgr. d. Math.
IV. Theil. Differenzialrechnung §. 6.) haben ſol-
len. Sie ſollen kleiner als jede angebbare Groͤſſe
ſeyn. Da dies moͤglich iſt zu gedenken, ſo klein
auch d y, d x ſeyn moͤgen, unbekuͤmmert wie
groß ſie an und fuͤr ſich ſelbſt ſind, wenn ſie
nur nicht voͤllige Nullen oder Nichtſe ſind, ſo
enthaͤlt die Proportion d y : d x = 2 a x : 1
auch nicht den geringſten Widerſpruch, weil es
gewiß iſt, daß die Graͤnze des Verhaͤltniſ-
ſes
2 a x + a Δ x : 1 bey unendlich fortdau-
render Abnahme von Δ x, kein anderes als
2 a x : 1 ſeyn kann. Haͤtte man um die unend-
liche Annaͤherung von 2 a x + a Δ x zu dem Wer-
the 2 a x anzudeuten, ein eigenes Zeichen etwa
wie (§. 1. XXX.) eingefuͤhrt, ſo wuͤrde nie je-
mand gegen einen Ausdruck wie dy : dx ≡ 2ax : 1
etwas zu erinnern gefunden haben.


XIII.
[67]Differenzialrechnung.

XIII. Nie verlangt man uͤbrigens in der
Differenzialrechnung auch etwas anders, als ſol-
che Annaͤherungs- oder Graͤnzverhaͤlt-
niſſe
zwiſchen Δ y und Δ x, was auch y fuͤr
eine Function von x ſeyn mag. Man bekuͤm-
mert ſich weder darum, wie groß die Differenzen,
oder Differenzialien, an und fuͤr ſich ſelbſt ſind,
noch auch wie viel das Graͤnzverhaͤltniß von dem
wahren unterſchieden iſt, wenn nur beyde Ver-
haͤltniſſe einander ſo nahe kommen, daß ſich der
Unterſchied uͤber jede denkbare Graͤnze vermin-
dern laͤſt.


XIV. Andere haben den Begriff des unend-
lich Kleinen in der Differenzialrechnung, ſo wie
uͤberhaupt in der hoͤhern Analyſis, ganz zu ver-
meiden geſucht, und das Geſchaͤft der Differen-
zialrechnung bloß darin geſetzt, in einer vollſtaͤn-
digen Differenzengleichung, wie z. B.
Δ y = 2 a x . Δ x + a (Δ x)2. (III.)
oder allgemeiner
Δ y = P . Δ x + Q (Δ x)2 + R (Δ x)3 u. ſ. w.
(wo P, Q, R ꝛc. wiedet oeſondere Functionen von
x bedeuten), dieſe Functionen ſelbſt, aus der fuͤr y
angegebenen primitiven, auf eine leichte Art zu fin-
den oder abzuleiten, ohne den directen Weg wie
E 2(III,)
[68]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
(III.) zu befolgen, nach welchem z. B. fuͤr die
Function (III.)
P = 2 a x; Q = a; R = o ꝛc.
gefunden wurde.


XV. Darauf gruͤndet ſich z. B. die Functio-
nen-Lehre
von La Grange; der Deriva-
tionscalcul
von Arbogaſt u. dgl.


Allein ſo ſinnreich auch dieſe Theorien aus-
gefuͤhrt ſind, ſo geraͤth man doch auf ſo große
Weitlaͤuftigkeiten, bey der Anwendung der-
ſelben auf allerley Gegenſtaͤnde der
Analyſis, hoͤhern Geometrie, Mecha-
nik
ꝛc.; daß ich es wenigſtens nicht fuͤr raͤthlich
gefunden habe, den Differenzialcalcul nach dieſen
Anſichten zu behandeln, bey deren Anwendung,
wenn man alles genau erwaͤgt, doch der Begriff
des unendlich Kleinen, oder einer unendlichen An-
naͤherung (XII) zu einem gewiſſen Werthe, nicht zu
vermeiden iſt, ſo kuͤnſtlich derſelbe auch in jenen
Theorien verſchleyert zu ſeyn ſcheint.


XVI. Andere Schriftſteller z. B. Kluͤgel
(Mathem. Woͤrterbuch Art. Differenzial) wollen
unter einem Symbol wie nichts anders als
den
[69]Differenzialrechnung.
den von Δ x ganz unabhaͤngigen Theil P des
Differenzquotienten
= P + Q . Λ x + R . Δ x2 .. (XIV.)
verſtehen. Die Glieder wie Q . Δ x, R Δ x2 ꝛc.,
die man in der allgemeinen Gleichung fuͤr
weglaſſe, wuͤrden nicht als Nullen, oder als un-
endlich klein, als unvergleichbar klein betrachtet,
ſondern ſie wuͤrden weggelaſſen, weil ſie gar nicht
zu dem gehoͤrten, was man eigentlich ſuche, und
durch das Symbol anzeigen wolle. Man
nenne zwar d x, d y, Differenziale, aber man
muͤſſe ſie durchaus nicht als Groͤſſen betrachten,
ſo klein man ſich dieſe auch vorſtellen moͤgte.
Der Buchſtabe d gebe bloß den Urſprung der
Function P = zu erkennen, daß ſie der we-
ſentlichſte und charakteriſtiſche Theil des Quotien-
ten , der endlichen Veraͤnderungen von y und
x ſey. So bleibe es voͤllig gleichguͤltig, wie groß
oder klein man ſich auch das Δ x oder Δ y ge-
denken wolle, und wenn man das Gleichheitszei-
chen gebrauche und = P ſetze, ſo ſolle man
nicht
[70]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
nicht ſagen ſey gleich P, ſondern zeige nur
an, daß man darunter den Theil P des Differenz-
quotienten verſtehe.


So will man alſo auch durch dieſe Anſichten
dem Begriff des unendlich Kleinen ausbeugen.
Allein bey der wuͤrklichen Anwendung derſelben
zeigt ſich doch wieder ſo manche Veranlaſſung,
bey der man ſich unter den Zeichen d y, d x,
wuͤrkliche uͤber alle Graͤnzen abnehmende Groͤſſen
gedenken muß, daß man den Begriff des unend-
lich Kleinen nur auf eine kuͤnſtliche Weiſe ver-
ſchleyert, wenn man dem Symbol die ange-
fuͤhrte Bedeutung geben will.


XVII. Es bleibt einmahl fuͤr den Verſtand
nichts befriedigender, als unter einem Ausdrucke
wie = P ſich bloß die unendliche Annaͤhe-
rung des Quotienten zu dem Werthe von P
zu gedenken. Was ſich einem gewiſſen Werthe P
unendlich naͤhert, wird in der Abſtraction als die-
ſem Werthe gleich angeſehen, weil wenn ſich ein
Un-
[71]Differenzialrechnung.
Unterſchied angeben ließe, dies ſo viel heißen
wuͤrde, man ſoll die Annaͤherung noch weiter trei-
ben, und da nun dieſe Forderung kein Ende hat,
ſo kann ſich alſo auch kein Unterſchied angeben
laſſen, ſo klein ſich ihn der Verſtand auch geden-
ken mag, d. h. man gedenkt ſich den Werth von
P erreicht, wenn Δ y, Δ x ſo klein werden, daß
ſie um weniger als jede angebliche Groͤſſe von
wuͤrklichen Nullen unterſchieden ſind, und daß
dies moͤglich iſt zu gedenken, erhellet aus den
oben angefuͤhrten Beyſpielen. Dieſe Vorſtellung ei-
ner unendlichen Abnahme von Δ y, Δ x, und folglich
auch einer unendlichen Annaͤherung (XII.) des
Quotienten zu dem Werthe von P, iſt dem
Verſtande genuͤgender, als Δ y, Δ x in voͤllige
Nullen uͤbergehen zu laſſen, und dadurch die ganze
Differenzialrechnung bloß in eine kuͤnſtliche Nul-
lenrechnung zu verwandeln.


So bald alſo die Rede davon iſt, die un-
endliche Annaͤherung des Quotienten zu ei-
nem gewiſſen Werthe = P zu finden, fuͤr den
Fall daß die zuſammengehoͤrigen Differenzen Δ y,
Δ x
ohne Ende immer kleiner und kleiner werden,
ſchreibt
[72]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ſchreibt man ſtatt Δ y, und Δ x, die Ausdruͤcke
d y, d x, und druͤckt nun jene Forderung aus
durch = P.


XVIII. In der That laͤuft es auch voͤllig
auf eins hinaus, ob man ſagt ſolle den von
Δ x ganz unabhaͤngigen Theil P des Quotienten
(XVI), oder die unendliche Annaͤherung dieſes
Quotienten zu dem Werthe P bedeuten, weil es kein
Zweifel bleibt, daß wenn anders P, Q ꝛc. in dem
Ausdrucke fuͤr (XIV) endliche Werthe haben,
und Δx ohne Ende abnimmt, der Quotient ſich
ohne Ende dem Werthe von P naͤhert; und wei-
ter ſoll auch der Ausdruck = P nichts be-
deuten, auch hat er nie bey irgend einer wuͤrkli-
chen Anwendung auf Gegenſtaͤnde der Geometrie,
Mechanik u. dergl. eine andere Bedeutung. Man
verlangt nicht den eigentlichen Werth von
wenn Δ y und Δ x verſchwinden, ſondern den Werth
wel-
[73]Differenzialrechnung.
welchem ſich ohne Ende immer mehr und
mehr naͤhert. Le limite d’un rapport
Δ y : Δ x ſagt la Croix (Traité du Calcul
différentiel etc.
Paris 1797. S. 192) n’est
point le rapport lui-même, mais une quan-
tité, dont il peut approcher d’aussi près
qu’on voudra,
und dies kann man von dem
Ausdruck behaupten, ohne anzunehmen,
daß hiebey d y, d x ſelbſt als Nullen betrach-
tet werden.


Aber die letztere Darſtellungsart des Diffe-
renzialcalculs, nemlich dem Ausdruck
die Bedeutung einer unendlichen Annaͤherung des
Quotienten zu dem Werthe von P zu geben,
iſt fuͤr die Anwendung die brauchbarſte, daher
auch la Croix, indem er ſolche mit andern
Darſtellungsarten des Differenzialcalculs vergleicht,
ganz richtig urtheilt: “Le rapprochement de
ces méthodes prouvera surement aux lecteurs
attentifs, qu’elles ne diffèrent, que dans les
expressions, et peut être penseront-ils,

com-
[74]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
comme moi, que la dernière (nemlich die Me-
thode der Graͤnzverhaͤltniſſe oder limites) lors-
qu’elle a été bien expliquèe, est précieuse
par la facilité, qu’elle donne, a resondre de
nouvelles questions, facilité dont la theorie
des courbes a double courbure de Monge,
que j’ai exposée, offre un exemple remar-
quable
u. ſ. w. (Prèface p. XXVII.)


In der That iſt es laͤcherlich, mit welcher
Aengſtlichkeit man ſich dem Begriffe des unend-
lich Kleinen in der Mathematik uͤberall zu entzie-
hen ſucht, da doch ſo viele Unterſuchungen uns
auf jenen Begriff zuruͤckfuͤhren, durch welche ſie
nur allein auf eine geſchmeidige Art ſich entwik-
keln laſſen. Es iſt alſo von der groͤßten Wich-
tigkeit, Anfaͤnger ſobald als moͤglich an dieſe
Begriffe zu gewoͤhnen, und ſie mit der wahren
Bedeutung derſelben vertraut zu machen. Man
raubt ihnen ſonſt die ſchoͤnſte und brauchbarſte
Anſicht der hoͤhern Analyſe, und die reichhaltigſte
Quelle zu neuen Unterſuchungen und Erfindungen,
zu welchen ſie ohne die Betrachtung des unend-
lich Kleinen, nur auf einem ſehr dornigten und
unbehaglichen Wege gelangen wuͤrden.


§. 3.
[75]Differenzialrechnung.
§. 3.
Aufgabe.

Es iſt die Function
gegeben, man ſoll die Graͤnze des Ver-
haͤltniſſes Δ y : Δ x
, d. h. das Verhaͤlt-
niß der Differenzialien d y : d x finden
.


Aufl. I. Weil A, B, unveraͤnderliche
Groͤſſen bedeuten, ſo iſt die geaͤnderte Function,
wenn x um Δ x, und y um Δ y ſich aͤndert

II. Nun iſt nach dem binomiſchen Lehrſatz
Demnach
.


III. Hievon ziehe man die urſpruͤngliche
Function y = A xn + B ab, ſo erhaͤlt man,
fuͤr die Differenzengleichung
..
in
[76]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
in welcher Reihe die folgenden Glieder, der Ord-
nung nach den Factor (Δ x)3; (Δ x)4 u. ſ. w.
enthalten.


IV. Demnach wird das Verhaͤltniß
und der Quotient

V. Dieſer Ausdruck naͤhert ſich dem Gliede
n A xn — 1, worin Δ x nicht vorkommt, ohne Ende
immer mehr und mehr, je kleiner man Δ x
nimmt. Verwandeln ſich alſo Δ y, Δ x, in die
Differenzialien, ſo erhaͤlt man
oder den Differenzialquotienten
wofuͤr man als bequemern Ausdruck, auch die
Differenzialgleichung
zu ſchreiben pflegt.


§. 4.
[77]Differenzialrechnung.
§. 4.

Zuſatz. Da y den Ausdruck A xn + B
bedeutet, ſo ſagt man auch n A xn — 1 d x ſey
das Differenzial von A xn + B, oder
Auf das Differenzial hat alſo die conſtante Groͤſſe
B nicht den geringſten Einfluß, und es iſt einer-
ley A xn oder A xn + B zu differenziiren, wo-
von die Urſache aus (II. III.) leicht einzuſehen
iſt. Nur ſolche unveraͤnderliche Groͤſſen wie A,
welche in der vorgegebenen Function y in veraͤn-
derliche multiplicirt ſind, kommen auch in den
Differenzialen gewoͤhnlich vor.


§. 5.
Aufgabe.

Es ſey Ψ = P + Q + R + S + C, wo C
eine unveraͤnderliche Groͤſſe, P, Q, R,
S
ꝛc. lauter veraͤnderliche Groͤſſen ſind;
man ſoll das Differenzial von Ψ fin-
den
.


Aufl. Es iſt klar, daß in dieſem Falle
das Differenzial von Ψ, aus der Summe der
Differenzialien von den veraͤnderlichen Groͤſſen P,
Q, R, S
ꝛc. beſtehen wird. Denn die geaͤnderte
Function
[78]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Function Ψ iſt Ψ + d Ψ, die geaͤnderte Groͤſſe
P = P + d P, die geaͤnderte Q = Q + d Q
u. ſ. w., und die unveraͤnderliche Groͤſſe C hat
kein Differenzial alſo d C = o. Demnach
Ψ + d Ψ = P + d P + Q + dQ + R + dR + S + dS + C
hievon abgezogen die ungeaͤnderte
Ψ = P + Q + R + S + C
ſo iſt die Differenzialgleichung
d Ψ = d P + d Q + d R + d S.
Sind einige von den Groͤſſen P, Q ꝛc. negativ,
ſo werden begreiflich auch die zugehoͤrigen Diffe-
renziale in dem Ausdrucke fuͤr d Ψ negativ geſetzt.


§. 6.

Zuſ. Begreiflich koͤnnen die veraͤnderlichen
Groͤſſen P, Q ꝛc. auch wieder Functionen von
andern ſeyn, oder auch Functionen von einer und
derſelben veraͤnderlichen Groͤſſe, z. B. von x.
Ein paar Beyſpiele werden dieſes erlaͤutern.


Erſtes Beyſpiel. Man ſoll das Dif-
ferenzial von
Ψ = 4 x5 + 7 x3 + 5 x + 8
finden.


Hier waͤre alſo P = 4 . x5, alſo dP = 5 . 4 x4 dx
nach der gefundenen allgemeinen Formel (§. 4.)
wor-
[79]Differenzialrechnung.
worin fuͤr gegenwaͤrtigen Fall A = 4; n = 5
ſeyn wuͤrde.


Ferner Q = 7 x3 alſo d Q = 3 . 7 x2 d x (§. 4.)
R = 5 x alſo d R = 5 dx
C = 8
alſo d C = o

demnach die Differenzialgleichung
d Ψ = (20 x4 + 21 x2 + 5) d x
oder (20 x4 + 21 x2 + 5) d x iſt das Differen-
zjal von 4 x5 + 7 x3 + 5 x + 8, wo ſtatt der 8
auch jede andere unveraͤnderliche Groͤſſe ſtehen
koͤnnte.


Zweytes Beyſpiel.
Ψ = 4 x7 + 3 y2 + 5 z.
Alſo P = 4 x7; d P = 28 x6 d x; Q = 3 y2;
d Q = 6 y d y; R = 5 z; d R = 5 d z.

Mithin
d Ψ = 28 x6 d x + 6 y d y + 5 d z.


§. 7.

Zuſatz. Verlangte man nicht die Diffe-
renzialgleichungen ſondern die Differenzialquotien-
ten, ſo haͤtte man fuͤr Beyſpiel I.
und
[80]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
und fuͤr Beyſpiel II.
Wo alſo in dem letztern Falle wieder be-
ſondere Differenzialquotienten bezeichnen, welche
bekannt ſeyn muͤſſen, wenn der erſtere ſoll ge-
funden werden koͤnnen.


So waͤre auch fuͤr das Verhaͤltniß von d Ψ
zu d y
in welchem Falle alſo die Werthe der Differen-
zialquotienten als bekannt angeſehen
werden muͤſſen.


§. 8.
Aufgabe.

Wenn P, Q nach Gefallen veraͤn-
derliche Groͤſſen ſind, das Differen-
zial des Products P. Q zu finden, d. h.
P. Q zu differenziiren
.


Aufl.
[81]Differenzialrechnung.

Aufl. I. Man nenne das Product P. Q
der Kuͤrze halber Z, ſo ſoll man aus der Glei-
chung Z = P . Q
die Differenzialgleichung finden.


II. Man ſchreibe demnach Z + d Z ſtatt Z
. . . P + d P ſtatt P
. . . Q + d Q ſtatt Q
ſo wird die geaͤnderte Function heißen
Alſo (nach Abzug der ungeaͤnderten Z = P . Q)
d Z = P d Q + Q d P + d Q d P
Weil aber hier d Q, d P keine endlichen Differen-
zen ſondern Differenzialien bedeuten ſollen, ſo ver-
haͤlt ſich z. B.
d Q d P : P d Q = d P : P
d Q d P : Q d P = d Q : Q

d. h. das Product d Q . d P verſchwindet gegen
P d Q, und Q d P, weil es ſich gegen dieſe beyde
verhaͤlt, wie ein unendlich Kleines zu einer endli-
chen Groͤſſe. Demnach naͤhert ſich d Z ohne Ende
immer mehr und mehr dem Ausdruck PdQ + QdP,
d. h. die Differenzialgleichung iſt
d Z = P d Q + Q d P.


Oder d (P . Q) = P d Q + Q d P
FUm
[82]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Um das Differenzial eines Products zu finden,
multipliret man alſo jeden Factor in das Differen-
zial des andern, und addirt die einzelnen Producte.


§. 9.

BeyſpielI. Es ſey Z = yn xm zu
differenziiren.


Man ſetze demnach
P = yn; alſo d P = n yn — 1 d y (§. 4.)
Q = xm; alſo d Q = m xm — 1 d x

ſo wird d Z oder
d (yn xm) = m yn xm — 1 d x + n xm yn — 1 dy
welches man der Kuͤrze halber = P d x + Q d y
ſetzen kann, wo denn P = m yn xm — 1; und
Q = n xm yn — 1 auch wieder Functionen von
x und y ſind.


BeyſpielII. Es ſeyen P, Q complexe
Groͤſſen z. B.
Z = (a x + b y) . (α x + β y)
alſo P = ax + by; Q = α x + β y; ſo iſt
dQ = α dx + β dy; dP = adx + bdy;
demnach
dZ oder d (ax + by) . (αx + βy) = Pdx + Qdy
wo
[83]Differenzialrechnung.
wo jetzt
alſo auch wieder Functionen von x und y ſind.


§. 10.

Zuſatz. Waͤre ein Product aus 3 Factoren,
z. B.
zu differenziiren, ſo ſetze man auf einen Augenblick
Aber wegen W = QR iſt dW = QdR + RdQ,
demnach
Um uͤberhaupt ein Product aus ſo viel Factoren
man will zu differenziiren, wird das Differenzial
jedes einzelnen Factors allemahl in das Product
aller uͤbrigen Factoren multiplicirt, und alles zu-
ſammen addirt.


§. 11.

Zuſatz. Waͤren nun z. B. P, Q, R nach
Gefallen Functionen von x, y, z, ſo wird ſich
allemahl
F 2er-
[84]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ergeben, ſo daß π, π' ꝛc. ρ, ρ' ꝛc. ς, ς' ꝛc.; auch
wieder Functionen jener veraͤnderlichen Groͤſſen ſind.
Daraus findet ſich dann
oder
wo P, Q, R, aus den Factoren P, Q, R, und
ihren Differenzialien leicht gefunden werden koͤnnen.


§. 12.

Zuſatz. In der Aufgabe (§. 3.) iſt zwar
nicht beſonders erwaͤhnt worden, daß n jede
ganze, gebrochene [und] verneinte Zahl bedeuten
kann; indeſſen weiß man doch, daß der binomiſche
Lehrſatz (§. 3. II.) und die daraus abgeleitete
Differenzialgleichung (V.) in der groͤſten Allgemein-
heit ihre Richtigkeit haben.


Geſetzt aber, man wolle vorlaͤufig den bino-
miſchen Lehrſatz nur fuͤr n = einer ganzen Zahl
gelten laſſen, ſo wird doch die Differenzialgleichung
(§. 3. V.) ſtatt finden, auch wenn n ein gebro-
chener Exponent iſt.


Denn man ſetze , ſo daß μ und ν
ganze Zahlen ſind, ſo wird, aus der Gleichung
(auf die conſtante Groͤſſe C brauchen
wir nicht Ruͤckſicht zu nehmen)
y =
[85]Differenzialrechnung.
Demnach , und auf beyden Seiten
differenziirt
Mithin
Aber
Mithin
Alſo voͤllig die Formel §. 3. V., wenn man dor-
ten ſetzt.


§. 13.

Zuſatz. So wird auch jene Formel (§. 3. V.) ihre
Richtigkeit haben, wenn n eine negative Zahl iſt.


Man
[86]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

Man ſetze nemlich n = — m, ſo hat man
Mithin
folglich wenn man auf beyden Seiten differen-
ziirt, nach (§. 9.)
wegen d A = o, als dem Differenzial einer con-
ſtanten Groͤſſe. Alſo
voͤllig wie (§. 3. V.) wenn man das dortige
n = — m ſetzt.


Die Formel (§. 3. V.) iſt allgemein richtig,
was auch n fuͤr einen Werth haben mag.


§. 14.

Zuſatz. Es bedeute U eine Function von
ſo viel veraͤnderlichen Groͤſſen als man will, und
es ſey
wo m jeden Exponenten bedeuten kann, ſo hat
man nach der allgemeinen Formel (§. 3. V.) wo
die veraͤnderliche Groͤſſe x jetzt das U bedeutet
wo
[87]Differenzialrechnung.
wo denn nur der Werth von d U, der ſich durch
die Differenziirung der Function U ergiebt, ſubſti-
tuirt werden darf. Einige Beyſpiele werden dies
erlaͤutern.


BeyſpielI. Es ſey
zu differenziiren, ſo iſt
demnach , weil a2 als eine con-
ſtant angenommene Groͤſſe kein Differenzial hat.
Und nun wegen
d Y oder

BeyſpielII. Es ſey
zu differenziiren, ſo hat man ;
alſo
Mit-
[88]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Mithin d Y oder
und ſo in andern Faͤllen.


§. 15.
Aufgabe.

Es ſey der Bruch oder Quotient
zu differenziiren, wo X, Y, welche
veraͤnderliche Groͤſſen oder Functio-
nen man will, bezeichnen
.


Aufloͤſung. Man ſetze der Kuͤrze halber
ſo iſt Z . Y = X und Z d Y + Y d Z = dX
Mithin
oder in dem Gliede den Werth von Z
hergeſtellt
d Z
[89]Differenzialrechnung.
d. h., man multipliciret den Nenner Y in das
Differenzial des Zaͤhlers X, und zieht davon ab
das Product aus dem Zaͤhler X in das Differenzial
des Nenners Y. Den Reſt dividirt man mit
dem Quadrate des Nenners, ſo hat man das
Differenzial des Bruchs oder Quotienten .


§. 16.

Beyſp. I. Es ſey X eine conſtante Groͤſſe
= A; ſo iſt d X = o; mithin
.


Beyſp. II. Es ſey ;
alſo der Bruch
zu differenziiren, ſo hat man
. Alſo
Y d X
[90]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
demnach oder
Und ſo in andern Faͤllen.


§. 17.

Anmerkung. I. Nach den bisherigen Vor-
ſchriften laſſen ſich alle algebraiſche Functionen, es
ſeyen ganze, gebrochene, rationale oder irratio-
nale Functionen von einer oder ſo viel
veraͤnderlichen Groͤſſen als man will
,
differenziiren, und das Differenzial wird ſich alle-
mahl durch
ausdruͤcken laſſen, wenn Z eine ſolche Function
von x, y, z … bedeutet, wo denn die Werthe
von P, Q, R durch die bisherigen Vorſchriften
gefunden werden koͤnnen, und wie z. B. (§. 9. 10.)
ebenfalls wieder Functionen der in Z vorkommen-
den veraͤnderlichen Groͤſſen ſeyn werden.


II.
[91]Differenzialrechnung.

II. Dieſer Ausdruck
iſt allgemein richtig, was auch ſonſt Z fuͤr eine
Function von x, y, z .. ſeyn mag, wenn auch die
Function nicht algebraiſch ſondern tranſcen-
dent
(Einleitung §. II.) ſeyn wuͤrde, denn es iſt
klar, daß d Z allemahl durch d x, d y, d z
beſtimmt ſeyn muß, und daß denn dieſe Diffe-
renzialien durch gewiſſe Functionen, P, Q, R die
ſich durch die Differenziation von Z ſelbſt ergeben,
werden multiplicirt ſeyn muͤſſen, welche nun in
Anſehung der primitiven Function Z,abge-
leitete Functionen
(fonctions derivées)
genannt werden, weil ſie ſich aus jener Z be-
ſtimmen laſſen, wenn man Z ſo differenziirt, daß
man entweder alle Groͤſſen x, y, z zu-
gleich
, oder nur eine nach der andern
als veraͤnderlich
betrachtet.


III. Um dieſes zu erlaͤntern ſey z. B. Z
eine Function von 3 veraͤnderlichen Groͤſſen x,
y, z
, alſo
Hier iſt nun klar, daß wenn man Z ſo differen-
ziirt haͤtte, daß man bloß x als veraͤnderlich, y
und
[92]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
und z hingegen als unveraͤnderliche Groͤſſen be-
trachtet haͤtte, ſchlechtweg
ſeyn wuͤrde, wegen d y = o, und d z = o.


Demnach haͤtte man die derivirte oder abge-
leitete Function ; d. h. die primiti-
ve Function Z ſo differenziirt, daß
man bloß x als veraͤnderlich betrachtet,
und dann dieſes Differenzial mit d x
dividirt
.


IV. Eine ſolche Operation, wodurch man
bey der Differenziation einer Function Z nur eine
Groͤſſe, z. B. x als veraͤnderlich, die uͤbrigen
hingegen waͤhrend der Arbeit als unveraͤnderlich
anſieht, wird dadurch angedeutet, daß man den
Ausdruck wie in eine Parentheſe einſchließt
.


Auf dieſelbe Art bedeutet , daß man
bey der Differenziation von Z bloß y als veraͤn-
derlich betrachten, und das erhaltene Differenzial
mit d y dividiren ſoll.


So
[93]Differenzialrechnung.

So wie man demnach
erhielt, ſo wird auf eben die Art
werden.
P, Q, R ſind alſo abgeleitete Functionen
von Z, weil ſie ſich durch die Differenziirung von
Z auf die angezeigte Weiſe ergeben.


V. Der Kuͤrze halber wollen wir kuͤnftig
P = den Differenzialquotien-
ten von Z nach
x; Q = den Diffe-
renzialquotienten von Z nach
y u. ſ. w.
neunen. Man nennt dieſe Ausdruͤcke auch par-
tielle Differenzialquotienten von
Z.
Zu ihrer Bezeichnung laͤſſet man ſehr oft auch
die Parentheſen weg, welches aber nur Verwirrung
verurſacht.


VI. Zur Erlaͤuterung diene das Beyſpiel
(§. 9.) fuͤr zwey veraͤnderliche Groͤſſen.


Differenziirt man den dortigen Ausdruck
Z = (a x + b y) . (αx + βy) erſtlich ſo,
daß
[94]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
daß man bloß x als veraͤnderlich, y hingegen
als conſtant betrachtet, ſo erhaͤlt man
.


Differenziirt man nun aber zweytens Z ſo,
daß man bloß y als veraͤnderlich anſieht, ſo wird
voͤllig wie §. 9., wo die Werthe von P, Q, aus
den dortigen Producten, P d Q + Q d P durch
eine etwas weitlaͤuftigere Rechnung gefunden wor-
den ſind.


VII. Subſtituirt man demnach ſtatt P, Q, die
gefundenen Werthe, ſo erhaͤlt man das voll-
ſtaͤndige
Differenzial, d. h. wenn man beyde
Groͤſſen x, y, zugleich als veraͤnderlich
anſieht
iſt d Z = P d x + Q d y; oder in den
Bezeichnungen (IV.)
.
Und eben ſo wenn Z eine Function von 3 ver-
aͤnderlichen Groͤſſen x, y, z ſeyn wuͤrde
d Z =
[95]Differenzialrechnung.
d Z = P d x + Q d y + R d z oder
d Z = d z

z. B. waͤre Z = x y z2 + y4 + x z3
ſo haͤtte man
Jetzt wollen wir unterſuchen, wie die Werthe von
P, Q, R u. ſ. w. ſich aus Z ableiten laſſen,
wenn Z eine tranſcendentiſche Function, z. B. eine
logarithmiſche Groͤſſe, eine Exponential-
Groͤſſe, einen Kreisbogen deſſen trigono-
metriſche Linie
gegeben iſt u. dergl. bedeu-
ten wuͤrde.


§. 18.
Lehrſatz.

Wenn c eine gewiſſe Zahl, und μ
einen kleinen Bruch bedeutet, ſo naͤ-
hert ſich der Ausdruck
ohne Ende
immer mehr und mehr einer unveraͤn-

der-
[96]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
derlichen bloß von c abhaͤngigen Groͤſ-
ſe, je kleiner μ iſt
.


Bew. Man ſetze c = 1 + a; ſo wird nach
dem binomiſchen Lehrſatz
..


Mithin
Nun iſt klar, je kleiner man μ nimmt, deſto mehr
naͤhert ſich 1 — μ der Zahl 1; 2 — μ der Zahl 2;
3 — μ der Zahl 3 u. ſ. w.


Mithin naͤhert ſich ohne Ende
(1 — μ) (2 — μ) dem Producte 1. 2
(1 — μ) (2 — μ) (3 — μ) dem Producte 1. 2. 3
u. ſ. w.
Alſo naͤhert ſich
ohne Ende der Reihe
.

d.
[97]Differenzialrechnung.
d. h. einer beſtaͤndigen von μ nicht abhaͤngigen
Groͤſſe, welche ich mit A bezeichnen will.


Wird alſo μ unendlich klein, ſo hat man
u. ſ. w.
— u. ſ. w.

Alſo iſt A eine unveraͤnderliche von c abhaͤngige
Groͤſſe.


§. 19.

Zuſ. Aus = A folgt
cμ = 1 + A . μ
d. h. cμ naͤhert ſich ohne Ende dem Werthe 1
je kleiner man μ nimmt, welches ohnehin aus
der gemeinen Arithmetik bekannt iſt. Aber die
Graͤnze des Verhaͤltniſſes
: 1 iſt A : 1.


§. 20.
Aufgabe.

Es ſeyy = log x.Wenn nun die
veraͤnderliche Groͤſſe x um die Diffe-

Grenz
[98]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
renz Δ x, folglich y um die Differenz
Δ y waͤchſt, die Graͤnze des Verhaͤltniſ-
ſes Δ y : Δ x oder den Quotienten
zu beſtimmen, wenn Δ x und folglich
auch Δ y ohne Ende immer mehr und
mehr abnehmen, d. h. ſich in die Dif-
ferenziale d y, d x verwandeln
.


Aufl. I. Wenn c die Baſis des loga-
rithmiſchen Syſtems iſt, zu welchem log x gehoͤrt,
ſo hat man bekanntlich
cy = x
Mithin cy + Δ y = x + Δx = x
d. h. cy + Δ y = cy
Oder auf beyden Seiten mit cy dividirt
cΔ y = 1 +
Mithin .


II. Werden nun Δ y, Δ x unendlich klein,
d. h. verwandeln ſie ſich in die Differenziale dy, dx,
und
[99]Differenzialrechnung.
und laͤßt man ferner das unendlich kleine dy das
μ in (§. 19.) bedeuten, ſo hat man
Demnach A = (I.)
Oder
d. h. iſt die Graͤnze, der ſich der Quotient
ohne Ende immer mehr und mehr naͤhert,
welche Naͤherung denn durch die Gleichung
oder d y =
ausgedruͤckt wird.


§. 21.

Wegen y = log x, bedeutet d y alſo auch
das Differenzial des Logarithmen von x. Man
kann demnach die Differenzialgleichung (§. 20. II.)
auch ſo ausdruͤcken
d log x =
G 2d.
[100]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
d. h., man bekoͤmmt das Differenzial des Loga-
rithmen einer Zahl x, wenn man das Differen-
zial der Zahl x mit der Zahl ſelbſt dividirt,
und den Quotienten mit der unveraͤnderlichen
Groͤſſe , welche von der Baſis c des logarith-
miſchen Syſtems abhaͤngt (§. 18.) multiplicirt.


Ich will der Kuͤrze halber mit M be-
zeichnen, ſo iſt
d log x = M .


§. 22.

Um zu ſehen, was A und folglich auch M,
fuͤr eine Zahl fuͤr das briggiſche Syſtem ſeyn
wuͤrde, ſo kann man ſich der briggiſchen Loga-
rithmentafeln auf folgende Art dazu bedienen.


Man ſetze fuͤr μ einen ſehr kleinen Bruch,
je kleiner je beſſer, ſo wird cμ ſehr wenig von
1 unterſchieden ſeyn, und folglich wenn man der
Kuͤrze halber cμ = 1 + m ſetzt, m ebenfalls
ein ſehr kleiner Bruch ſeyn.


Nun
[101]Differenzialrechnung.

Nun hat man aus der Gleichung cμ = 1 + m;
μlog c = log (1 + m); alſo μ =
und folglich oder
weil fuͤr das briggiſche Syſtem c = 10 und
log 10 = 1 iſt. Je kleiner man alſo m nimmt,
deſto mehr wird ſich die Groͤſſe dem
Werthe von A naͤhern.


Es ſey z. B. m = 0,0000001, ſo wird
aus Gardiners oder Vega’s groſſen Loga-
rithmentafeln
log (1 + m) = log 1,0000001 = 0,00000043429
Mithin
oder A = 2,30258. Mithin
M = = 0,43429.


Wir werden indeſſen in der Folge ſehen, wie
man den Werth von M auch unmittelbar, ohne
Loga-
[102]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Logarithmentafeln berechnen kann. (M. ſ. unten
§. 74. I. Beyſp. (11.)).


Man koͤnnte ſich zwar der Reihe (§. 18.)
— u. ſ. w.
= 9 — — u. ſ. w.
dazu bedienen, allein dieſe Reihe iſt von der Be-
ſchaffenheit daß ſie geradezu zu dem Zwecke nicht
gebraucht werden kann.


§. 23.

Setzt man A und folglich auch M = 1, ſo
nennt man das Logarithmenſyſtem, dem dieſer
Werth entſpricht, das natuͤrliche Syſtem,
und die zugehoͤrigen Logarithmen die natuͤrli-
chen
. Um die Baſis c dieſes Syſtems zu fin-
den, ſetzt man in die Gleichung
A = 1 dies giebt denn log c = ;
alſo z. B. fuͤr m = 0,0000001;
log c = = 0,43429
Mithin c = 2,71828.


Dieſe
[103]Differenzialrechnung.

Dieſe Zahl, als Baſis des natuͤrlichen Sy-
ſtems, wird gewoͤhnlich mit dem Buchſtaben e
bezeichnet. Wir werden in der Folge zeigen, ſie
auch unmittelbar zu beſtimmen, und zwar in noch
mehr Decimalſtellen, als ſie hier gefunden wor-
den iſt. M. ſ. unten (§. 74. zw. Beyſp. (5)).


§. 24.

Bedeutet alſo y den natuͤrlichen Logarith-
men einer Zahl x, ſo iſt ey = x, und die Dif-
ferenzialgleichung (§. 21.) heißt dann ſchlechtweg
dy oder d log nat x = ; wegen M = 1
wo denn der Ausdruck log nat x den natuͤrlichen
Logarithmen von x bezeichnet.


Aber fuͤr jedes andere Logarithmenſyſtem iſt
d log x = M .
und muß man alſo, um das Differenzial eines
ſolchen Logarithmen zu finden, die Zahl M, den
ſogenannten Modulus dieſes Syſtems wiſſen.


§. 25.

Zuſ. Weil die Baſis eines Logarithmenſy-
ſtems allemahl diejenige Zahl iſt, deren Loga-
rithme
[104]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
rithme in dieſem Syſtem = 1 iſt, ſo hat man
log nat e oder log nat 2,718 . . = 1.


§. 26.

Anm. Kuͤnftig werden wir, wenn nicht
ausſchließlich ein Logarithmenſyſtem benannt iſt,
unter einem Ausdruck wie log x immer den na-
tuͤrlichen Logarithmen
verſtehen, und alſo
ſchlechtweg d log x = ſetzen.


Waͤre aber z. B. von briggiſchen Loga-
rithmen die Rede, ſo wuͤrde man ſchreiben muͤſſen
d log brigg. x = 0,43429 .
weil fuͤr dieſes Syſtem der Modulus
M = 0,43429 … iſt (§. 22.).


§. 27.

Zuſ. 1. Man kann ſich von einem Lo-
garithmen, wieder den Logarithmen gedenken,
von dieſem abermahls den Logarithmen u. ſ. w.
Dies ſchreibt man auf folgende Art log log x
oder ſchlechtweg ll x; lll x u. ſ. w.


2. Das Differenzial eines Ausdrucks, z. B.
l l x zu finden, ſetze man der Kuͤrze halber lx = z;
ſo
[105]Differenzialrechnung.
ſo iſt l lx = l z alſo d (l l x) = d log z =
weil d l x = (§. 26.)


3. Um l l l x zu differenziiren, ſetze man
jetzt l l x = u ſo iſt l l l x = l u.


Demnach
oder
(2)

Dieſe Schluͤſſe kann man leicht weiter fortſetzen.


§. 28.

Einen Ausdruck z. B. (l x)n zu differenzii-
ren, ſetze man l x = w, ſo iſt
(lx)n = wn; alſo d (lx)n = n. wn—1 d w (§. 3. V)
d. h. wegen dw =
d (l x)n = n (l x)n—1.
Wo n jeden ganzen, gebrochenen oder negativen
Exponenten bezeichnen kann.


§. 29.
[106]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
§. 29.

Zuſ. Bedeutet X welche Function von x
man will, ſo iſt allgemein
d log X = .


Beyſp. I. Es ſey X = a + x alſo
d X = d x ſo hat man
d log (a + x) =
und wenn x negativ iſt
d log (a — x) = — .


Beyſp. II. Es ſey X = ; al-
ſo d X = (§. 15.). Mithin
d log X oder d log


Beyſp. III. Es ſey X = x + √ (1 + x2),
ſo iſt d X = d x +
Alſo
[107]Differenzialrechnung.
Alſo d log X, oder
d log (x + √ (1 + x2)) = .


§. 30.

Zuſ. Iſt Z eine Function von ſo viel ver-
aͤnderlichen Groͤſſen, x, y, z als man will, ſo
iſt auch
d log Z =
wo denn der Werth von dZ = P dx + Q dy + R dz
am bequemſten nach (§. 17.) gefunden werden kann.


§. 31.

Zuſ. Z koͤnnte ein Product aus zwey oder
mehreren Factoren ſeyn; z. B. Z = P. Q. R, ſo
waͤre log Z = log P + log Q + log R; und
folglich d log Z = , z. B.
d log [(a+x) (b+x)] = d log (a+x) + d log (b+x)
.


§. 32.

Zuſ. Oder Z ein Quotient = , ſo
waͤre
log
[108]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
log Z = log T — log W und
d log Z =

z. B. Z = ; alſo T = 1 + x; W = 1 — x.
Mithin ; ,
und folglich
d log Z oder d log
d. h. d log.


§. 33.
Aufgabe.

Eine Groͤſſe deren Exponent als
veraͤnderlich betrachtet wird, oder eine
ſogenannte Exponentialgroͤſſe, z. B.
yx zu differenziiren, die Wurzel y mag
ſelbſt auch veraͤnderlich, oder auch un-
veraͤnderlich ſeyn
.


Aufl. Man ſetze der Kuͤrze halber yx = z,
ſo iſt wenn man auf beyden Seiten Logarithmen
nimmt
log z = x log y.
Mithin
[109]Differenzialrechnung.
Mithin weil x. log y ein Product iſt, deſſen Dif-
ferenzial nach der Regel §. 8. gefunden werden
kann, wenn man das dortige P = x; Q = log y
ſetzt
= x . d (log y) + log y . d x
Oder + d x . log y
Alſo d z = z . d y + z log y . d x
Oder ſtatt z ſeinen Werth yx geſetzt
d (yx) = x yx — 1 d y + yx log y dx.


§. 34.

Zuſ. Waͤre y = a unveraͤnderlich, alſo
d y = o, ſo haͤtte man
d (ax) = ax . log a . d x
unter den Logarithmen immer die natuͤrlichen
verſtanden (§. 25.). Fuͤr den Fall daß a = e
(§. 23.), alſo log e = 1 waͤre, haͤtte man
d ex = ex . d x.


§. 35.

Zuſ. Fuͤr y = x haͤtte man
d (xx) = (1 + log x) xx d x.


§. 36.
[110]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
§. 36.

Zuſ. Allgemein iſt d (eZ) = eZ d Z, wo
Z jede Function von ſo viel veraͤnderlichen Groͤſ-
ſen, als man will, bedeuten kann, deren Differen-
zial d Z nach (§. 17.) am bequemſten gefunden
wird.


§. 37.

Zuſ. Z koͤnnte wieder eine Exponential-
groͤſſe z. E. xx ſeyn, dann waͤre
d exx = exx (1 + log x) xx d x (§. 35.)
Oder waͤre Z = ex alſo d Z = ex d x (§. 34.),
ſo haͤtte man
d eex = eex ex d x.
Und ſo in andern Faͤllen.


§. 38.
Aufgabe.

Es ſeyy = ſinφ, man ſoll d y oder
d ſinφ finden
.


Aufl. I. Wenn der Bogen φ um die Dif-
ferenz Δ φ waͤchſt, ſo wachſe y um die Differenz
Δ y; alſo hat man
y + Δ y = ſin (φ + Δ φ)
und
[111]Differenzialrechnung.
und folglich
Δ y = ſin (φ + Δ φ) — y = ſin (φ + Δ φ) — ſinφ.


II. Aber
ſin (φ + Δ φ) = ſinφ. coſ Δ φ + ſin Δ φ . coſφ
Demnach
Δ y = ſinφ (coſ Δφ — 1) + ſin Δφ. coſφ
Nun naͤhert ſich aber coſ Δ φ ohne Ende immer
mehr und mehr dem Sinus totus 1, je kleiner man
Δ φ nimmt; und ſin Δ φ naͤhert ſich ohne Ende
dem Bogen Δ φ ſelbſt; wird alſo Δ φ unendlich
klein = dφ alſo auch Δ y = dy, ſo naͤhert ſich
coſ Δ φ — 1, und folglich auch das Product ſinφ
(coſ dφ — 1) ohne Ende der Null, und das
Product ſin dφ. coſφ ohne Ende dem Werthe
dφcoſφ; demnach hat man
d y = dφcoſφ d. h.
d ſinφ = dφ. coſφ;

die Graͤnze des Verhaͤltniſſes d y : dφ iſt alſo =
coſφ : 1, oder der Quotient
naͤhert ſich ohne Ende dem Werthe coſφ, wel-
ches denn durch die Gleichung = coſφ,
oder d y = dφ . coſφ ausgedruͤckt wird.


§. 39.
[112]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
§. 39.

Bedeutet Z eine beliebige Function von φ,
ſo iſt eben ſo d ſin Z = d Z coſ Z.


Waͤre z. B. Z = mφ, was auch m fuͤr
eine Zahl ſeyn mag, ſo iſt d Z = m dφ. Mithin
d Z = d ſin mφ = m dφcoſ mφ)
Oder haͤtte man z. B. Z = α + φ; wo α einen
conſtanten Bogen bezeichen, ſo iſt d Z = dφ und
d ſin Z oder
d ſin (α + φ) = dφcoſ (α + φ)
Oder wenn α auch veraͤnderlich geſetzt wuͤrde
d ſin (α + φ) = (dα + dφ) coſ (α + φ).


§. 40.

Zuſ. Man ſetze Z = 90° — φ; ſo iſt
dZ = — dφſin Z = coſφ; coſ Z = ſinφ;
dieſe Werthe in (§. 39.) ſubſtituirt, geben das
Differenzial eines Coſinus
d coſφ = — dφſinφ.


§. 41.

Zuſ. Haͤtte man die Potenz m eines Si-
nus alſo (ſinφ)m zu differenziiren, ſo gaͤbe dies
nach (§. 4.) das dortige n = m, A = 1 und
x = ſinφ geſetzt
d
[113]Differenzialrechnung.
d (ſinφ)m = m (ſinφ)m — 1 d ſinφ
= m (ſinφ)m — 1 dφcoſφ (§. 38.)

welches man denn auch wohl der Kuͤrze halber mit
Weglaſſung der Parentheſe auf folgende Art ſchreibt:
d ſinφm = m ſinφm — 1 dφcoſφ
welche Art zu ſchreiben wir denn auch kuͤnftig bey-
behalten wollen.


§. 42.

Zuſ. So findet ſich auf eine aͤhnliche Weiſe
d coſφm = — m coſφm — 1 . dφſinφ.


§. 43.

Zuſ. Ein Product z. B. ſinψn . ſinφm,
oder ſinφm . coſψn zu differenziiren, verfaͤhrt
man nach (§. 8.),
z. B. das dortige P = ſinψn; und Q = ſinφm
geſetzt,
d ſinψn. ſinφm = ſinψn . d ſinφm
+ ſinφm. d ſinψn

wo denn die Differenziale d ſinφm; d ſinψn nach
(§. 41.) gefunden, und ſubſtituirt werden
koͤnnen.


H§. 44.
[114]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
§. 44.
Aufgabe.

Die Ausdruͤcke, tangφ; ſecφ; cotφ;
coſecφzu differenziiren.


Aufl. I. Weil ; ſo hat
man nach der §. 15. angegebenen Art einen Quo-
tienten zu differenziiren
oder
(§. 38-40.) .
Aber fuͤr den Sinus totus 1, iſt
coſφ2 + ſinφ2 = 1 alſo


II. Oder uͤberhaupt

was auch Z fuͤr eine Function von φ ſeyn mag.


III. Setzt man alſo Z = 90° — φ; alſo
d Z = — dφ ſo erhaͤlt man
.


IV.
[115]Differenzialrechnung.

IV. Ferner iſt ; demnach
(§. 15.)

V. Und wegen nach einer
aͤhnlichen Rechnung
.


§. 45.

Dieſe Differenzialformeln ſind durchaus von
dem weitlaͤuftigſten Gebrauche; wozu denn auch
noch folgende gehoͤren, die aus den bisherigen
und aus (§. 26.) leicht abgeleitet werden.


VI.


VII.


VIII. .


H 2IX.
[116]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

IX. .


X. .


XI. d\log\text{co\longs ec}\phi=-d\phi\cot\phi.


§. 46.

Man bezeichne einen Bogen deſſen Sinus
= x gegeben iſt, auf folgende Art, Arc ſin x
(von arcus Bogen) oder Bogen ſin x oder auch
ſchlechtweg durch B ſin x; werden nun die Be-
zeichnungen Arc tang x; Arc coſ x u. ſ. w. oder
auch B tang x; B coſ x auf eine aͤhnliche Art
verſtanden, ſo ergeben ſich aus den Formeln (§. 44.
45.) noch andere welche ebenfalls von ſehr haͤufi-
gen Gebrauche ſind.


I. Nemlich wenn man ſinφ = x ſetzt ſo
iſt umgekehrt φ = Arc ſin x; und dφ =
d Arc ſin x; coſφ = (1 — x2). Subſtituirt
man alſo dieſe Ausdruͤckungen in die Formel
(§. 38.) ſo erſcheint ſie jetzt
auf folgende Art:
.


II.
[117]Differenzialrechnung.

II. Ferner ſetze man in (§. 40.) coſφ = x,
alſo d coſφ = d x ſo iſt jetzt φ = Arc coſ x;
ſin
φ = (1 — x2), und die Gleichung
erhaͤlt jetzt die Form
.


III. Setzt man in (§. 44.) tangφ = x,
ſo wird φ = Arc tang x;
und die Formel
dφ = d tangφ . coſφ2
verwandelt ſich jetzt in
.


IV. Nach voͤllig aͤhnlichen Subſtitutionen er-
haͤlt man aus den Formeln §. 44. III. IV. V.
folgende
.


V. .


VI. .


§. 47.
[118]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
§. 47.

Es bedarf keines Beweiſes, daß jeder ver-
aͤnderlichen Groͤſſe oder Function, die wir bisher
differenziirt haben, auch noch eine beſtaͤndige oder
unveraͤnderliche Groͤſſe, durch die Addition oder
Subtraction, haͤtte hinzugefuͤgt geweſen ſeyn koͤn-
nen, ohne daß dadurch das Differenzial im ge-
ringſten wuͤrde geaͤndert worden ſeyn; denn wenn
Z welche Function man will, bedeutet, ſo iſt allge-
mein, wenn A eine unveraͤnderliche Groͤſſe be-
zeichnet, d (Z ± A) allemahl = d Z.
Alſo z. B.
d (ſinφ ± A) = d ſinφ = dφcoſφ.
Sind aber die Functionen welche differenziirt wer-
den ſollen, in einen unveraͤnderlichen Factor mul-
tiplicirt, ſo wird mit dieſem Factor auch das Diffe-
renzial multiplicirt. Denn es iſt allgemein
d . M Z = M d Z + Z d M (§. 8.)
Iſt demnach M unveraͤnderlich alſo d M = o,
ſo iſt d M Z = M d Z.
Man differenziirt alſo bloß Z, und multiplicirt
das Differenzial in den unveraͤnderlichen Factor M.


§. 48.

Zuſ. Aus den bisherigen Differenzialfor-
meln laſſen ſich durch Combinationen unzaͤhlige
andere
[119]Differenzialrechnung.
andere ableiten, wie wir unter andern in der In-
tegralrechnung ſehen werden. Hier begnuͤge ich
mich nur vorlaͤufig nachſtehende ſehr wichtige For-
meln, aus den vorhergehenden abzuleiten.


I. Man ſetze in die Formel §. 32. ſtatt x
eine imaginaͤre oder unmoͤgliche Groͤſſe von der
Form tangφ . √ — 1, ſo wird daſelbſt
d x = — 1 . d tangφ =
(§. 44. I.); und 1 — x2 = 1 + tangφ2;
demnach
d log =
2 — 1 .

Aber 1 + tangφ2 = ſecφ2 = ; dem-
nach d log
Aber 2 — 1 . dφ iſt das Differenzial von
2 — 1 . φ wozu aber noch eine conſtante Groͤſſe
= A geſetzt werden koͤnnte (§. 47.). Alſo iſt
d (A + 2 — 1 . φ)
Mit-
[120]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Mithin auch die Function
Weil aber fuͤr φ = o auch tangφ = o iſt, ſo er-
haͤlt man fuͤr die beſtaͤndige Groͤſſe A die Gleichung
A = log = log 1 = o
Alſo iſt A = o, und folglich ſchlechtweg
.
Eine ſehr merkwuͤrdige Gleichung, wovon in der
Analyſis der haͤufigſte Gebrauch gemacht wird.
Sie zeigt wie Kreisbogen und Logarithmen un-
moͤglicher Groͤſſen in Verbindung ſtehen, und ſich
gegenſeitig in einander verwandeln laſſen. Aber
das Unmoͤgliche rechter Hand des Gleichheitszei-
chens iſt, wie wir in der Folge ſehen werden, nur
ſcheinbar, und das Unmoͤgliche verſchwindet,
wenn man den Logarithmen der angegebenen Groͤſſe
in eine Reihe verwandelt, und ſie mit
multiplicirt. M. ſ. unten (§. 74. Beyſpiel III. 6).


1. Man kann dieſer Gleichung noch verſchie-
dene andere Formen geben, wenn man
tang
[121]Differenzialrechnung.
tangφ = ſetzt. Dann iſt nemlich
φ = Arc tang und folglich
Arc tang
wo B und C jede Zahlen bedeuten koͤnnen.


2. Auch iſt dieſer Ausdruck identiſch mit
folgenden:
Arc tang


3. Dann iſt auch wegen
tang
2 Arc tang = Arc tang;

mithin auch
Arc
[122]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Arc tang


4. Ein Bogen deſſen Tangente iſt, hat
zum Sinus den Ausdruck und zum
Coſinus den Ausdruck . Daher
denn die logarithmiſchen Ausdruͤcke (2) fuͤr
Arc tang; auch die Werthe von
Arc ſin und
Arc coſ bezeichnen.


Ein Bogen deſſen Tangente =
iſt, hat zum Sinus die Groͤſſe , und
zum Coſinus die Groͤſſe ; daher ſind
die
[123]Differenzialrechnung.
die logarithmiſchen Ausdruͤcke (3) auch identiſch
mit Arc ſin und Arc coſ.


II. Setzt man tang, ſo erhaͤlt
man auch (I.)

III. Oder auch
.


IV. Man multiplicire des Bruchs wovon
der Logarithme genommen iſt, Zaͤhler und Nen-
ner in (II.) gemeinſchaftlich mit (coſφ + ſin — 1),
ſo erhaͤlt man wegen
(coſφ + ſinφ √ — 1) (coſφſinφ √ — 1
= coſφ2 + ſinφ2 = 1
Auch

log (coſφ + ſinφ √ — 1)2 d. h.
log (coſφ + ſinφ √ — 1). Alſo
φ √ — 1 = log (coſφ + ſinφ √ — 1).
Und
[124]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Und eben ſo aus (III.) wenn man Zaͤhler und
Nenner gemeinſchaftlich mit coſφſinφ √ — 1
multiplicirt
φ √ — 1 = log (coſφſinφ √ — 1).


V. Nun ſey e die Zahl, deren natuͤrlicher Lo-
garithme = 1 (§. 25.) ſo hat man (IV.) die
Gleichungen
eφ √ — 1 = coſφ + ſinφ √ — 1
eφ √ — 1 = coſφſinφ √ — 1.

Mithin die Formeln, welche ebenfalls ſehr haͤufig
vorkommen

VI. Aus (IV.) wird auch, wenn n welche
Zahl man will, bedeutet
nφ √ — 1 = n log (coſφ + ſinφ √ — 1).


VII. Nun bleibt aber die Gleichung (IV.)
φ √ — 1 = log (coſφ + ſinφ √ — 1)
auch richtig wenn man ſtatt φ, den n fachen Bo-
gen
[125]Differenzialrechnung.
gen alſo nφ ſetzt, weil φ jeden Bogen uͤberhaupt
bezeichnet, mithin hat man auch
nφ √ — 1 = log (coſ nφ + ſin nφ √ — 1).


VIII. Demnach (VI. VII.)
n log (coſφ + ſinφ √ — 1)
= log (coſ nφ + ſin nφ √ — 1)
oder log (coſφ + ſinφ √ — 1)n
= log (coſ nφ + ſin nφ √ — 1)

d. h. (coſφ + ſinφ √ — 1)n
= coſ nφ + ſin nφ √ — 1.
Abermahls eine ſehr wichtige Gleichung, welche
zeigt wie Sinus und Coſinus des n fachen Bogens,
aus dem Sinus und Coſinus des einfachen gefun-
den werden koͤnnen.


IX. Es iſt nemlich wenn φ negativ geſetzt
wird, auch
(coſφſinφ √ — 1)n = coſ nφſin nφ √ — 1
weil die Sinuſſe negativer Bogen negativ werden,
die Coſinuſſe aber poſitiv bleiben.


X. Demnach aus (VIII. IX.)
.
(coſ
[126]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
.
Wo n jede ganze oder gebrochene Zahl bedeu-
ten kann.


XI. Es ſey z. B. n = 3, ſo erhaͤlt man
coſ 3 φ = coſφ3 — 3 coſφſinφ2
ſin 3 φ = 3 coſφ2ſinφſinφ3

Dieſe und mehr andere Saͤtze die jetzt nicht hie-
her gehoͤren, werden ſonſt auch wohl auf andere
Art erwieſen, aber nicht in der Allgemeinheit, in
der hier n jede ganze gebrochene oder verneinte
Zahl bedeuten kann.


XII. Man ſetze in (I) den Bogen φ = ei-
nem Vielfachen des Halbkreiſes π alſo = kπ, ſo
iſt tangφ = tang kπ = o; demnach
2 kπ √ — 1 = log = log 1.
Es hat alſo log 1 unzaͤhlig viele Werthe, weil
weil k jede ganze Zahl bedeuten kann; aber alle
dieſe Werthe ſind unmoͤglich, und nur der einzige,
nemlich fuͤr k = o iſt moͤglich, nemlich fuͤr k = o
iſt 2 kπ √ — 1 auch = o, mithin log 1 = o,
wie bekannt.


Weil
[127]Differenzialrechnung.

Weil nun log b = log b . 1 = log b
+ log
1; ſo iſt, wenn log b = L genannt wird
log b = L + 2 kπ √ — 1.


Alſo hat auch der Logarithme einer jeden
andern Zahl b unzaͤhlig viele Werthe, aber nur
den einzigen moͤglichen nemlich fuͤr k = o, wo
dann der unmoͤgliche Theil 2 kπ √ — 1 verſchwin-
det, und log b = L wird.


XIII. Setzt man in (I) φ negativ und zwar
= — kπ ſo hat man auch
— 2 kπ √ — 1 = log 1.


XIV. Mithin auch
log b = L — 2 kπ √ — 1
Alſo iſt uͤberhaupt
log b = L ± 2 kπ √ — 1.


XV. Setzt man in (I) ſtatt tangφ,
ſo iſt auch
.
Iſt nun ; oder oder uͤberhaupt
ſo wird allemahl cot;
dem-
[128]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
demnach
Hier mag nun m = o, oder was fuͤr eine ganze
Zahl man will, ſeyn, ſo iſt log — 1 allemahl unmoͤg-
lich, und ſo findet man denn uͤberhaupt log — b =
log (b . — 1 = log b + log — 1 =

L ± (2 m + 1) π √ — 1
d. h. der Logarithme einer negativen Zahl iſt alle-
mahl unmoͤglich, aber es ſind der unmoͤglichen
Werthe unzaͤhlige. Iſt alſo y = log x, ſo ge-
hoͤren zu jedem x unzaͤhlig viele y, d. h. y oder
log x iſt eine tranſcendentiſche Function von x.
Dies dient zur Erlaͤuterung von Einleitung (§. II.
2. 3.)


XVI. Weil nach (XII.) 2 kπ √ — 1 = log 1,
ſo hat man umgekehrt e2 kπ √ — 1 = 1.
Dieſer Ausdruck e2 kπ √ — 1 iſt hier offenbar
nur ſcheinbar imaginaͤr. Denn ſetzt man in (V)
das dortige φ = 2 kπ, ſo iſt
e2 kπ √ — 1 = coſ 2 kπ + ſin 2 kπ √ — 1
welches wegen coſ 2 kπ = 1 und ſin 2 kπ = o,
ſich in e2 kπ √ — 1 = 1 verwandelt. Hier
hat man ein Beyſpiel zu (Einleitung §. IX.)
Dies
[129]Differenzialrechnung.
Dies fuͤhrt auf ein leichtes Verfahren, die Wur-
zeln einer Gleichung wie xn — an = o zu finden.
Denn man erhaͤlt , alſo
demnach
oder wenn man in (V) ſetzt
.
Weil aber auch k negativ geſetzt werden kann, wo-
durch coſ wie fuͤr ein poſitives k; ſin
aber entgegengeſetzt zu nehmen iſt, ſo hat man auch
d. h. alle Wurzeln der Gleichung xn — an = o
ſind unter der allgemeinen Form
enthalten, wo denn fuͤr 2 k jede gerade Zahl,
welche nicht groͤßer als n iſt, genommen werden
darf.


JNaͤhme
[130]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

Naͤhme man 2 k \> n, ſo wuͤrden wieder dieſel-
ben Werthe von x zum Vorſchein kommen, welche
man fuͤr 2 k \< n erhalten hatte, daher man 2 k nie
\> n nimmt.


Es ſey z. B. x5a5 = o, ſo erhaͤlt man
fuͤr
k = o d. Wurzel x=a
.


Wollte man nun z. B. k = 3, alſo
nehmen, ſo wuͤrden, weil coſ;
und ſin, wieder eben die Wur-
zeln x zum Vorſchein kommen, welche man fuͤr k = 2
erhalten hatte, und ſo ferner fuͤr k = 4 eben die
Wurzeln, welche man fuͤr k = 1 erhalten hatte u.
ſ. w. Die Gleichung x5a5 = o hat alſo keine
anderen Wurzeln, als die 5, welche ſich fuͤr k = o;
1; 2; ergeben hatten.


Fuͤr x6a6 = o, wuͤrde man eben ſo die Wur-
zeln
x
[131]Differenzialrechnung.
x = a
.

Oder auch
x = a
x = — a

(wegen coſπ = coſπ = — 1 und ſin
= ſinπ = o) erhalten.


XVII. Auf eine aͤhnliche Art kann man die
Wurzeln der Gleichung xn + an = o finden.
Denn man erhaͤlt jetzt
.
± (2 k + 1) π √ — 1

Aber — 1 = e(XV).
J 2Dem-
[132]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Demnach
x = a e
d. h. wenn man jetzt in
ſetzt
wo jetzt fuͤr 2 k + 1 jede ungerade Zahl, die nicht
groͤßer als n iſt, geſetzt werden kann.


XVIII. Hieraus ergiebt ſich denn weiter, daß
ein Ausdruck wie xn — aneinfache Factoren von
der Form
und
d. h. quadratiſche oder vielmehr dreythei-
ligte
Factoren von der Form
haben wird, weil dieſer quadratiſche Ausdruck das
Produkt aus den angefuͤhrten einfachen Factoren iſt.


Hiebey
[133]Differenzialrechnung.

Hiebey iſt jedoch zu bemerken, daß fuͤr k = o
kein quadratiſcher Factor, ſondern nur ein einfacher
x — a zu ſetzen iſt, wie z. B. x5 — a5 in (XVI)
bloß die Factoren x — a;
x2 — 2 a x coſ ⅖π + a2
x2 — 2 a x coſ ⅘
π + a2

haben kann.


Iſt n gerade, ſo iſt fuͤr 2 k = n auch kein qua[-]
dratiſcher Factor, ſondern bloß ein einfacher x + a
zu ſetzen. So hat z. B. x6 — a6 in (XVI) bloß
die Factoren.


x — a
x2 — 2 a x coſ ⅓
π + a2
x2 — 2 a x coſ ⅔
π + a2
x + a

wo denn freylich ſtatt (x — a) (x + a) auch ein
quadratiſcher x2 — a2 geſetzt werden koͤnnte, der
aber nicht mit den dreytheiligten von der allge-
meinen Form x2 — 2 a x coſπ + a2 zu
einer Claſſe gehoͤrt.


XIX.
[134]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

XIX. Fuͤr einen Ausdruck wie xn + an wuͤr-
den die einfachen Factoren ſeyn
die dreytheiligten Factoren von xn + an wuͤrden
denn unter der Form
enthalten ſeyn, wobey aber zu merken iſt, daß wenn
n ungerade iſt, fuͤr 2 k + 1 = n kein quadratiſcher,
ſondern blos der einfache Factor x + a genommen
werden muß.


§. 49.
Von den hoͤhern Differenzialen.

Erklaͤrung. I. Wenn Z eine Funktion von
x, alſo d Z = P d x, oder iſt, ſo kann
man, falls die abgeleitete Function P nicht etwa
eine beſtaͤndige Groͤße iſt, ſolche auch wieder diffe-
renziiren. Findet man nun d P = Q d x, und iſt
Q auch noch veraͤnderlich, ſo kann man ferner Q
wieder differenziiren, und dieß Verfahren, ſo weit
es angeht, fortſetzen.


Iſt
[135]Differenzialrechnung.

Iſt nun auf dieſe Art


  • d Z = P d x
  • d P = Q d x
  • d Q = R d x u. ſ. w.

ſo nennt man P die erſte abgeleitete Funk-
tion
von Z; Q die zweyte abgeleitete, R
die dritte u. ſ. w. (Prèmiere fonction de-
rivée; ſeconde fonction derivée
u. ſ. w.)


II. Da man bey allen dieſen Differenziationen
das d x immer gleich groß, alſo als unveraͤnderlich
anſiehet, ſo iſt, wenn man P d x als ein Produkt
aus einer veraͤnderlichen Groͤße P in eine unveraͤn-
derliche d x betrachtet, das Differenzial von P d x
= d P · d x
; weil aber P d x ſelbſt ſchon das Dif-
ferenzial von Z iſt, ſo wird das Differenzial von
P d x das Differenziodifferenzial oder das
zweyte Differenzial von Z genannt, und durch
d d Z, oder d2 Z angezeigt, in welchem Ausdrucke
man denn das d2 nicht, wie ſonſt, mit der Bezeich-
nung eines Quadrats verwechſeln darf.


III. Alſo hat man
d d Z = d P · d x = Q d x2
oder


IV.
[136]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

IV. Nun kann man aber in dem Ausdrucke
Q d x2 das Q, wenn es die veraͤnderliche Groͤße x
enthaͤlt, wieder als einen veraͤnderlichen Factor be-
handeln, und Q d x2 abermahls differenziiren, in-
dem d x2 als unveraͤnderlich angeſehen wird.
Dann wird dieſes Differenzial das dritte Diffe-
renzial
von Z genannt, und durch d d d Z, oder
d3 Z angezeigt. Es iſt alſo
d3 Z = d Q d x2 = R d x3
Mithin
Und ſo ferner wenn d R = S d x iſt
u. ſ. w.


Die Ausdruͤcke d2 Z, d3 Z, d4 Z … dn Z
bedeuten alſo fortgeſetzte Differenziationen von Z,
hoͤhere Differenziale von Z, wobey denn d x
immer als unveraͤnderlich behandelt wird.


V. Da in dem Ausdrucke
Q eine endliche Groͤße iſt, ſo erhellet, daß das d x2
oder das Quadrat des Differenzials d x, als ein
unendlich kleines von einer hoͤhern Ordnung, den-
noch
[137]Differenzialrechnung.
noch mit dem Differenziodifferenzial d d Z von einer-
ley Ordnung ſeyn wird, weil ſonſt beyde in einan-
der dividirt, keine endliche Groͤße Q zum Quo-
tienten geben koͤnnten; denn waͤre Q z. B. ſelbſt ein
unendlich Kleines, ſo waͤre in der Proportion
d d Z : d x2 = Q : 1
d d Z gegen d x2 ein unendlich Kleines, weil Q
gegen 1 ein unendlich Kleines iſt. Alſo muͤßte d d Z
ein unendlich Kleines von einer hoͤhern Ordnung als
d x2 ſeyn (§. 1. XXIX.). Waͤre aber dagegen Q
unendlich groß, ſo wuͤrde auch d d Z gegen d x2
unendlich groß, alſo d d Z ein unendlich Kleines von
einer niedrigern Ordnung als d x2 ſeyn. Alſo muß
d d Z nothwendig als ein unendlich Kleines von
einerley Ordnung mit d x2 betrachtet werden.


Auf dieſelbe Art erhellet, daß auch d3 Z und
d x3 als unendlich Kleine von einerley Ordnung zu
betrachten ſind. Und ſo uͤberhaupt dn Z und d xn.


Beyſpiel. Es ſey Z = (a + b x)n. F x,
wo F x welche Funktion von x man will bedeute,
ſo iſt
d Z = (a + b x)n d F x + n b d x (a + b x)n—1 F x
demnach P oder
Nennt
[138]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Nennt man alſo den Differenzialquotienten
wo F' x wieder eine Funktion von x ſeyn wird, ſo
hat man
oder wenn man die Funktion (a + b x) F' x + nbFx
mit f x bezeichnet
Ein Ausdruck, welcher dem anfaͤnglich fuͤr Z
vorgegebenen voͤllig aͤhnlich iſt, nur daß f x ſtatt
F x ſteht, und ſtatt (a + b x)n die naͤchſtniedri-
gere Potenz (a + b x)n—1.


Differenziirt man nun weiter, und ſetzt auf eine
aͤhnliche Art
, und (a + b x) f' x + n b f x = φx,
ſo erhaͤlt man
.


Ein Ausdruck, welcher dem fuͤr Z vorgegebenen
abermahls aͤhnlich iſt, nur daß jetzt φx ſtatt F x,
und (a + b x)n—2 ſtatt (a + b x)n ſteht.


Setzt
[139]Differenzialrechnung.

Setzt man dieſe Rechnung weiter fort, ſo
werden die folgenden Differenzialquotienten ,
, ꝛc. immer eine niedrigere Potenz von a + b x
enthalten, und ſo iſt denn durch dieſes Beyſpiel zu-
gleich der Satz erwieſen, daß wenn eine Funktion
Z von x, einen Factor wie z. B. a + b x, n mahl
enthaͤlt, auch alle folgenden Differenziale
ꝛc. dieſen Factor enthalten, daß aber die Zahl
dieſer Factoren immer um 1 abnimmt, bis endlich
den Factor a + b x gar nicht mehr enthalten
wird.


VI. Wenn wir bey den fortgeſetzten Differenzia-
tionen von Z das Differenzial d x als unveraͤnder-
lich betrachtet haben, ſo ſieht man doch leicht, daß
dies keine nothwendige Vorausſetzung iſt, ſon-
dern in den zu differenziirenden Produkten P d x,
Q d x
u. ſ. w. das Differenzial d x auch wieder als
veraͤnderlich behandelt werden kann, ſo daß auch von
dieſem ſich wieder Differenziale d d x, d3 x u. ſ. w.
gedenken laſſen, unter welcher Vorausſetzung denn
obige Ausdruͤcke P d x, Q d x u. ſ. w. voͤllig nach
der
[140]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
der Art, wie Produkte aus zwey veraͤnderlichen
Factoren, zu differenziiren ſind. (§. 8.)


VII. Fuͤr dieſen Fall erhaͤlt man demnach
d d Z = d P · d x + P d d x.
Oder wegen d P = Q d x
d d Z = Q d x2 + P d d x.
In welcher differenziodifferenzial-Glei-
chung
die unendlich kleinen Groͤßen d d Z, d x2,
d d x
, als von einerley Ordnung zu betrachten ſind.


VIII. Wird die Gleichung (VII.) auf beyden
Seiten von neuen differenziirt, ſo ergiebt ſich nach
der Art, wie das in dem Ausdrucke Q d x2 vorkom-
mende Quadrat der veraͤnderlichen Groͤße d x nach
(§. 4.) zu differenziiren ſeyn wuͤrde
d3 Z = dx2 · dQ + 2Qdx · ddx + ddxdP + Pd3x
oder ſtatt d Q, d P die Werthe (I) ſubſtituirt
d3 Z = R d x3 + 3 Q d x d d x + P d3 x.
In welcher Differenzialgleichung vom
dritten Grade
denn d 3 Z; d x3; d x d d x;
d3 x
auch wieder als unendlich Kleine von einerley
Ordnung zu betrachten ſind.


Auf dieſe Weiſe kann man weiter fortfahren,
und d4 Z, d5 Z ꝛc. erhalten, wenn es zu einem
Gebrauche erforderlich ſeyn ſollte. Ein Beyſpiel
wird hinlaͤnglich ſeyn, das bisherige zu erlaͤutern.


IX.
[141]Differenzialrechnung.

IX. Es ſey alſo Z = A + Bx + Cx2 + Dx3
ſo hat man

Dieſe Werthe alſo in die Gleichungen (VII.
VIII.
) ſubſtituirt geben
d d Z = (2 C + 6 D x) d x2 + (B + 2 C x
+ 3 D x2) d d x
d3 Z = 6 D d x3 + 3 (2 C + 6 D x) d x d d x
+ (B + 2 C x + 3 D x2) d3 x
.


X. Betrachtete man aber d x als eine conſtante
Groͤße, ſo erhielte man d d x = o; d3 x = o,
und ſchlechtweg
.

XI.
[142]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

XI. Man ſieht alſo, daß Ausdruͤcke wie ,
u. ſ. w. auch gewiſſe Funktionen von x bezeich-
nen, ſo bald Z eine dergleichen Funktion iſt; und
daß wenn man dieſe Ausdruͤcke jenen Funktionen
gleich ſetzt, dies weiter nichts ſagen will, als daß
ſie ſich denſelben nur ohne Ende immer mehr und
mehr naͤhern, je kleiner man d x nimmt, ſo wie es
im vorhergehenden von gezeigt worden iſt.
Die Ausdruͤcke , u. ſ. w. erhalten denn
ſchlechtweg die Werthe P, Q, u. ſ. w. (X), wenn
man das d x in allen Differenziationen, ſich immer
gleich bleiben laͤßt, und alſo in ſo fern als eine con-
ſtante Groͤße betrachtet.


XII. Laͤßt man aber das unendlich abnehmende
d x nicht immer ſich gleich verbleiben, waͤhrend
man die Funktion Z zu wiederhohlten mahlen diffe-
renziirt, gedenkt man ſich alſo, daß die veraͤnder-
liche Groͤße x, nicht immer um ein gleich großes
differenzial d x ſich aͤndert, ſondern dies Differenzial
ſelbſt wieder veraͤnderlich iſt, dann kommen auch
die Differenziale dieſes Differenzials, d. h. auch
die
[143]Differenzialrechnung.
die Werthe von d d x, d3 x u. ſ. w. in Betrach-
tung, und dann iſt z. B. nicht mehr ſchlecht-
weg der Funktion Q (X) gleich, ſondern es iſt als-
dann in (VII.)
d. h. es haͤngt der Quotient nunmehr auch zu-
gleich von P, und von dem Verhaͤltniſſe d d x zu
d x2, oder von dem endlichen Werthe des Quotien-
ten ab, oder vielmehr von dem Werthe, dem
dieſer Quotient ſich ohne Ende immer mehr und
mehr naͤhern wuͤrde.


XIII. Dies alles wird noch deutlicher werden,
wenn wir ſtatt unendlich kleine Differenzen, erſt
endliche Differenzen ſetzen.


Es ſey alſo die Funktion Z = A + B x + C x2,
ſo iſt, wenn wir erſtlich x um Δ x; und folglich Z
um Δ Z ſich aͤndern laſſen
Z + Δ Z = A + B (x + Δ x) + C (x + Δ x)2.
Oder
Δ Z = (B + 2 C x) Δ x + C (Δ x)2.
Hier
[144]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Hier naͤhert ſich alſo erſtlich der Quotient
ohne Ende dem Werthe B + 2 C x,
d. h. es iſt der Differenzial-
quotient wie gewoͤhnlich.


XIV. Nun laſſe man aber in der (XIII) erhal-
tenen Differenzgleichung
Δ Z = (B + 2 C x) Δ x + C (Δ x)2
ſich x wieder um Δ x aͤndern, ſo aͤndert ſich Δ Z um
Δ Δ Z. Laͤßt man nun erſtlich dies Δ x eben den
Werth haben, den es in (XIII.) hatte, und laͤßt
es alſo unveraͤndert, d. h. conſtant, ſo iſt fuͤr die-
ſen Fall
Δ Z + Δ Δ Z = B Δ x + 2 C (x + Δ x) Δ x
+ C (Δ x)2

und folglich, wenn man von dieſer geaͤnderten Glei-
chung die erſtere abzieht
Δ Δ Z = 2 C · (Δ x)2.
Mithin der Differenzdifferenz-quotient
oder wenn man die Differenzen unendlich klein ſich
gedenkt, der Differenziodifferenzial-quotient

XV.
[145]Differenzialrechnung.

XV. Jetzt wollen wir aber das x in (XIV.)
nicht um dieſelbe Differenz wie in (XIV.) ſich aͤn-
dern laſſen, ſondern um eine andere = Δ x + Δ Δ x;
wo demnach Δ Δ x ausdruͤcke, um wie viel das jetzige
Δ x groͤßer als das vorige iſt. Dann betrachtet
man alſo das Δ x in (XIV.) ſelbſt als veraͤnderlich,
und erhaͤlt dann fuͤr dieſen Fall
Δ Z + Δ Δ Z = B (Δ x + Δ Δ x) + 2 C (x + Δ x
+ Δ Δ x) (Δ x + Δ Δ x) + C (Δ x + Δ Δ x)2
.
Entwickelt man nun die Produkte rechter Hand des
Gleichheitszeichens, und ziehet von der erhaltenen
Gleichung die erſtere (XIV.)
Δ Z = B Δ x + 2 C x Δ x + C (Δ x)2
ab, ſo erhaͤlt man, wenn zuletzt alles mit (Δx)2
dividirt wird
.


XVI. In dieſem Ausdrucke naͤhert ſich nun
der in multiplicirte Factor, ohne Ende im-
mer mehr und mehr dem Werthe B + 2 C x, je
kleiner man Δ x, und folglich auch Δ Δ x nimmt, und
wenn man daher Δ x und Δ Δ x unendlich klein wer-
Kden,
[146]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
den, d. h. ſich in die Differenziale d x, d d x ver-
wandeln laͤßt, in welchem Falle ſich denn Δ Δ Z in
das Differenziodifferenzial verwandelt, ſo hat man
d. h. naͤhert ſich ohne Ende dem Werthe
rechter Hand des Gleichheitszeichens, und dieſe un-
endliche Annaͤherung will man durch das Zeichen
= ſelbſt andeuten.


XVII. So koͤnnte man alſo aus der Betrach-
tung, daß man die Differenzen alle zuerſt blos end-
lich annaͤhme, und ſie nun in den erhaltenen For-
meln allmaͤhlig immer mehr abnehmen oder unend-
lich klein werden ließe, alle Vorſchriften fuͤr die
Verhaͤltniſſe der hoͤhern Differenziale ableiten. Aber
die Rechnung wird unſtreitig kuͤrzer, wenn man die
Formeln fuͤr die hoͤhern Differenzialverhaͤltniſſe, ſo-
gleich auf die Betrachtung des unendlich Kleinen
gruͤndet, ſo wie z. B. das Verfahren (IX) (das
dortige D = o geſetzt) ſogleich
giebt, wie in (XVI).


XVIII.
[147]Differenzialrechnung.

XVIII. Indeſſen erhellet aus der Betrachtung
der endlichen Differenzen nunmehr noch deutlicher,
wie auch Ausdruͤcke von der Form ; eben-
falls nur gewiſſe Graͤnzverhaͤltniſſe oder Graͤnzquo-
tienten bezeichnen wollen, oder daß ſie die Werthe
von ; darſtellen, fuͤr den Fall, daß
die endlichen Differenzen unendlich klein werden,
oder wenn man will, ſich der Null ohne Ende im-
mer mehr und mehr naͤhern. Und ſo wuͤrden denn
Ausdruͤcke wie ; ; ; ,
dergleichen man z. B. aus (IX) ableiten koͤnnte,
auf eine aͤhnliche Art zu verſtehen ſeyn.


XIX. Der Bequemlichkeit wegen, werden aber
Gleichungen zwiſchen ſolchen Graͤnzquotienten nicht
wie z. B. in (XVII) geſchrieben, ſondern kuͤrzer
wie in (VIII) als Gleichungen zwiſchen den Diffe-
renzialen ſelbſt dargeſtellt, wiewohl der wahre Zweck
der Differenzialrechnung immer nur auf das Ver-
halten der Graͤnzquotienten, als endlicher Groͤßen,
hingerichtet ſeyn kann. Denn es iſt klar, daß nur
dadurch die Differenzialgleichungen eine beſtimmte
Bedeutung erhalten, da hingegen die Differenziale
K 2ſelbſt
[148]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ſelbſt, als unendlich kleine, oder immerfort abneh-
mende Groͤßen, an und fuͤr ſich nicht beſtimmt ange-
geben, ſondern bey ihrer unendlichen Abnahme nur
in ihren gegenſeitigen Verhaͤltniſſen betrachtet werden
koͤnnen, deren Exponenten denn beſtimmte endliche
Groͤßen ſind.


§. 50.

Zuſatz. Aus dem bisherigen ergiebt ſich aber
nun zugleich noch eine andere wichtige Betrachtung.
Soll nemlich eine Differenzialgleichung wie (§. 49.
IX.) oder vielmehr wie (§. 49. XVII.) eine be-
ſtimmte Bedeutung haben, ſo muß nothwendig an-
gegeben ſeyn, in welchem Verhaͤltniſſe d d x zu d x2
ſtehe; dann weiß man auch was d d Z zu d x2 fuͤr
ein Verhaͤltniß haben wird, und umgekehrt, d. h.
man muß das Geſetz angeben, nach welchem d x
in (§. 49. VI.) variabel geſetzt wird, um daraus
ableiten zu koͤnnen, was fuͤr eine beſtimmte
endliche Funktion ſeyn wird. Einige Beyſpiele wer-
den dieſes erlaͤutern.


I.Beyſpiel. Geſetzt dx (§. 49. XVII) ſolle eine
unveraͤnderliche Groͤße ſeyn, d. h. bey den hoͤhern Dif-
ferenziationen ſich immer gleich verbleiben, ſo iſt d d x
=
[149]Differenzialrechnung.
= o zu ſetzen, wodurch denn der Quotient eben-
falls = o wird. Unter dieſer Vorausſetzung wird
der Quotient ſchlechtweg = 2 C, und hat al-
ſo hiedurch einen beſtimmten Werth, da er hinge-
gen zuvor da noch unbeſtimmt war, eine eben-
falls vage und unbeſtimmte Bedeutung hatte.


II.Beyſpiel. Geſetzt aber, es ſolle d x
nicht conſtant, ſondern ſelbſt veraͤnderlich ſeyn, ſo
iſt d d x nicht = o, mithin auch nicht = o.
Man nehme aber an, es ſolle allemahl ddx = adx2,
oder einer conſtanten Groͤße gleich ſeyn.
Dann wird nicht mehr unbeſtimmt bleiben,
ſondern die beſtimmte Funktion 2 C + (B + 2 C x) a
oder 2 C + B a + 2 C a x bezeichnen.


III.Beyſpiel. Oder waͤre d d x = X d x2,
wo X, welche Funktion von x man will bezeichne,
ſo iſt die nunmehr ebenfalls beſtimmte Funktion

IV.
[150]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

IV.Beyſpiel. Es koͤnnte aber auch angege-
ben werden, was fuͤr einen beſtimmten Werth
erhalten ſoll, dann wird ſich daraus ableiten laſſen,
in welchem Verhaͤltniſſe d d x zu d x2 wird ſtehen
muͤſſen.


Sollte z. B. werden, ſo hat man
die Gleichung
Woraus die beſtimmte Funktion
folgt, d. h. es wird d d x zu d x2 allemahl in dem
Verhaͤltniſſe x — 2 C : B + 2 C x genommen werden
muͤſſen, wenn werden ſoll.


Und ſo in andern Faͤllen.


§. 51.

I. Die bisherigen Betrachtungen laſſen ſich
leicht auf alle Ausdruͤcke anwenden, worinn hoͤhere
Differenzialquotienten vorkommen. Z. B. ein Aus-
druck wie hat keinen beſtimmten Werth,
wenn
[151]Differenzialrechnung.
wenn nicht angegeben wird, was und ,
oder fuͤr beſtimmte Funktionen ſind, weil
der angegebene Ausdruck ſich auch in folgender Form
darſtellen laͤßt.


Da indeſſen die hoͤhern Differenzialquotienten
von den niedrigern abhaͤngen, ſo ſind jene beſtimmt,
ſo bald dieſe auf irgend eine Weiſe angegeben wer-
den. Man darf alſo nur angeben, was fuͤr
eine Funktion von x ſeyn ſoll, ſo wird ſich daraus
auch finden, was fuͤr eine Funktion von x iſt.


Es ſey z. B. allgemein , und X
welche Funktion von x man will, ſo iſt
d d x = X d x2.
Und folglich, wenn man auf beyden Seiten diffe-
renziirt
d3 x = 2 X d x d d x + d x2 · d X.
Wenn in dieſe Gleichung ſtatt d d x der Werth
X d x2, und d X = W d x geſetzt wird, wo W
ſich
[152]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ſich durch die Differenziirung der Funktion X er-
giebt, ſo erhaͤlt man
d3 x = 2 X2 d x3 + W d x3.
Mithin , d. h. die Funk-
tion welche durch angezeigt wird, iſt jetzt in
endlichen Groͤßen dargeſtellt, und der ganze Diffe-
renzial-Ausdruck oder
erhaͤlt jetzt den beſtimmten endlichen Werth
.


II. Sehr oft pflegt man die Gleichung zwiſchen
ein paar Differenzialen wie z. B. zwiſchen d d x und
d x2 (in I) auch dadurch beſtimmen, daß man das
Differenzial einer beliebigen Funktion von x als un-
veraͤnderlich annimmt. So z. B. wenn das Diffe-
renzial von x2 unveraͤnderlich, alſo d (x)2 d. h.
2 x d x = a geſetzt wuͤrde, erhielte man durch aber-
mahlige Differenziation
2 x d d x + 2 d x2 = o
oder .
Dies hieße denn ſo viel als in (I) den Werth von
X
[153]Differenzialrechnung.
annehmen, wodurch denn den
beſtimmten Werth — 3 x2 erhaͤlt, wegen
.


Man ſieht hieraus, daß es einerley iſt, fuͤr
ſogleich eine beſtimmte Funktion anzunehmen,
oder dieſe erſt dadurch zu beſtimmen, daß man das
Differenzial irgend einer Funktion von x unveraͤn-
derlich ſetzt.


§. 52.

Wenn Z (§. 49. I) eine Funktion von zwey
veraͤnderlichen Groͤßen y und x iſt, ſo kann man
die hoͤhern Differenziale auf folgende Art erhalten.


Erſtlich iſt
d Z = P d x + Q d y (§. 17.)
Und wenn man nun weiter differenziirt,
d d Z = P d d x + d x d P + Q d d y + d y d Q.
Weil aber nun P, Q wieder Funktionen von x, y
ſind, wenn ſie nicht vermoͤge der Beſchaffenheit der
Funktion Z etwa conſtante Groͤßen werden, ſo er-
haͤlt man
P d = πd x + ρd y
Q d = π'd x + ρ'd y,

wo
[154]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
wo π, π'; ρ, ρ' auch wieder Funktionen von x, y
ſeyn koͤnnen.


Dies giebt demnach
ddZ = Pddx + πdx2 + ρ'dy2 + (ρ + π') dydx + Qddy.
Oder
.
Hier erhellet alſo gleichfalls, daß die einzelnen Dif-
ferenzialquotienten
; ; als gegeben angeſehen werden
muͤſſen, wenn der Differenzialquotient einen
beſtimmten Werth erhalten ſoll.


Es iſt unnoͤthig das Verfahren fuͤr noch hoͤhere
Differenziale, oder auch wenn Z eine Funktion von
noch mehr veraͤnderlichen Groͤßen waͤre, hier aus-
einander zu ſetzen.


§. 53.

I. Indeſſen erſiehet man, wie man auf dem
Wege der Differenziation auf allerley Differenzial-
ausdruͤcke gelangen kann, die keine beſtimmte Werthe
haben, wenn nicht andere als beſtimmt angeſehen
werden. Geſetzt man ſey z. B. durch irgend eine
Auf-
[155]Differenzialrechnung.
Aufgabe auf einen Differenzialquotienten von der
Form gekommen, ſo iſt klar,
daß dieſer keinen beſtimmten Werth haben kann,
wenn nicht 1) y eine Funktion von x iſt, wodurch
alſo die Differenziale von y in einem beſtimmten
Verhaͤltniſſe gegen die Differenziale von x ſtehen,
und 2) nicht das Differenzial einer beliebigen Funk-
tion von x als unveraͤnderlich angeſehen wird, wie
(§. 51. II).


II. Setzt man in dem obigen Ausdrucke, daß
y eine Funktion von x iſt, ſo hat man erſtlich d y
= p d x
; mithin d d y = p d d x + d x d p =
p d d x + q d x2
, wenn d p = q d x geſetzt wird.


III. Dieſe Werthe in obigen Ausdruck ſubſti-
tuirt, geben
.
Hier muß alſo entweder unmittelbar gegeben,
oder aus einem gewiſſen Differenzial, welches man
conſtant ſetzt, beſtimmt werden (§. 51. II), wenn
der vorgegebene Ausdruck eine beſtimmte Bedeutung
erhalten ſoll.


IV.
[156]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

IV. Setzte man alſo z. B. wie (§. 51. II) das
Differenzial von x2 conſtant, alſo ,
ſo haͤtte man alſo
einer beſtimmten Funktion von x gleich, weil y, p,
q Funktionen von x ſind. Aber fuͤr jede andere
Funktion von y wuͤrde freylich dieſer Ausdruck auch
einen anderen Werth erhalten.


V. Wuͤrde dagegen das Differenzial y d x con-
ſtant geſetzt, ſo iſt, wenn man differenziirt, y d d x
+ d x d y = o
. Alſo y d d x + p d x2 = o,
d. h. . Mithin jetzt
.
Wieder einer beſtimmten Funktion von x gleich, und
ſo in andern Faͤllen.


§. 54.

I. In manchen Faͤllen braucht man gar kein
Differenzial als unveraͤnderlich anzunehmen, ſo daß
alſo die zweyte Bedingung in (§. 53. I) ganz weg-
fallen kann, und dennoch erhaͤlt der Differenzial-
ausdruck einen beſtimmten Werth. Dies iſt z. B.
der
[157]Differenzialrechnung.
der Fall in (§. 53. III), wenn y — p x = o, wo-
durch der unbeſtimmte Theil ganz
wegfaͤllt.


II. Ein anderes Beyſpiel giebt die Formel
Verfaͤhrt man mit dieſer wie in §. 53. II., ſo wird
dyddx = pdxddx; dxddy = pdxddx + qdx3;
alſo , d. h. einem be-
ſtimmten von der Funktion y abhaͤngigen Werthe
q gleich, ohne daß es noͤthig waͤre, irgend ein
Differenzial conſtant anzunehmen, begreiflich, weil
in den Werthen von d y d d x und d x d d y das ge-
meinſchaftliche Glied p d x d d x vorhanden iſt, wel-
ches bey der Subtraktion ſich aufhebt.


§. 55.

In dem letztern Falle (§. 54. II) iſt es alſo
gleichguͤltig, was man fuͤr ein Differenzial conſtant
annehmen will, ja man braucht gar keines conſtant
zu ſetzen, und die Formel behaͤlt immer den von
der Funktion y abhaͤngigen Werth — q.


Um dies mit einem Beyſpiele zu erlaͤutern, ſo
ſey y = x3. Dann iſt


I.
[158]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

I.Wenn gar kein Differenzial con-
ſtant angenommen wird

d y = 3 x2 d x
d d y = 3 x2 d d x + 6 x d x2
.

Alſo die Formel
Wo denn dieſes 6 x der Werth von q iſt; weil
und p wegen dy = 3 x2dx gleich 3x2 iſt.


II.Wenn das Differenziald xcon-
ſtant angenommen wird
, dann iſt ddx = o,
und die Formel heißt dann ſchlechtweg
= — 6 x.


III.Wenn das Differenziald ycon-
ſtant genommen wird
, ſo hat man ddy = o,
d. h. 3 x2 d d x + 6 x d x2 = o, oder
;
und die Formel heißt dann
wieder = — 6 x.


IV. Ueberhaupt ſieht man leicht, daß welches
Differenzial man auch conſtant annehmen mag, um
dar-
[159]Differenzialrechnung.
daraus d d x zu beſtimmen, dies auf den Werth
der Formel nicht den gering-
ſten Einfluß haben kann, weil die zwey Glieder,
worinn d d x vorkoͤmmt, in dem (I) entwickelten
Ausdrucke dieſer Formel ſich immer gegen einander
aufheben.


§. 56.

So iſt es denn auch klar, daß wenn eine Dif-
ferenzialformel z. B. §. 53. da-
durch daß man ein gewiſſes Differenzial conſtant
ſetzte, einen beſtimmten Werth erhalten hat, z. B.
§. 53. V. den Werth
und nun in dieſen Ausdruck ſtatt p wiederum ,
und ſtatt q der Werth
ſubſtituirt wird, man einen unbeſtimmten Ausdruck,
d. h. einen Ausdruck in hoͤhern Differenzialen erhalten
wird, in welchem jedes Differenzial, oder auch gar
keines, conſtant angenommen zu werden braucht,
und
[160]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
und der doch eben den Werth behaͤlt, welchen der
urſpruͤngliche fuͤr das Differen-
zial, welches man conſtant geſetzt hatte (§. 53. V.)
erhielt.


Macht man die angefuͤhrte Subſtitution, ſo er-
haͤlt man fuͤr den Ausdruck T die Formel
y mag alſo fuͤr eine Funktion von x ſeyn, welche
man will, und man mag in dem Ausdrucke W fuͤr
ein Differenzial unveraͤnderlich annehmen, welches
man will, um daraus wie in (§. 55.) den Werth
von d d x ableiten, ſo wird doch immer die Formel
W durch die Subſtitution d y = p d x, und d d y
= p d d x + q d x2
, ſich wieder in T = — 1 +
d. h. in den Werth verwandeln, den die
urſpruͤngliche Formel fuͤr das in
(§. 53. V) conſtant geſetzte Differenzial erhielt, weil
ſich durch die angefuͤhrte Subſtitution in dem Aus-
drucke W immer die Glieder aufheben werden,
welche das ddx enthalten, wie (§. 54. II. §. 55. IV)
und es alſo ganz gleichguͤltig iſt, was man in W fuͤr
ein
[161]Differenzialrechnung.
ein Differenzial conſtant ſetzen will, um daraus ddx
zu beſtimmen.


V. Wenn alſo gleich die Formel W oder
eine ganz andere Geſtalt hat, als die urſpruͤngliche
ſo geben doch beyde fuͤr das conſtant geſetzte Diffe-
renzial y d x §. 53. V. einerley beſtimmten Werth;
ja die erſtere Formel giebt ſo gar eben dieſen
Werth fuͤr jedes andere Differenzial, das man fuͤr
ſie als conſtant annehmen wuͤrde.


Die bisherigen Betrachtungen fuͤhren zu einer
Aufgabe im naͤchſten §, von der man bey den An-
wendungen der Differenzialrechnung, ſo wie auch
in der Integralrechnung ſehr haͤufigen Gebrauch
macht.


§. 57.
Aufgabe.

Es iſt ein Ausdruck in hoͤhern Dif-
ferenzialen vorgegeben, welcher fuͤr ein
gewiſſes conſtant geſetztes erſtes Diffe-
renzial, einen beſtimmten Werth
= T
Ler-
[162]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
erhaͤlt, d. h. ſich in eine beſtimmte Funk-
tion = T verwandelt. Man ſoll jenen
Ausdruck in einen andern W verwandeln,
in welchem jedes Differenzial conſtant
geſetzt werden kann, und welcher doch
eben den beſtimmten Werth T giebt
.


AufloͤſungI. Man verwandele den vorge-
gebenen Ausdruck durch die Subſtitutionen
dy = pdx; dp = qdx; dq = rdx ꝛc.
ddy = pddx + qdx2 (§. 53. II.)
d3y = pd3x + 3 qdxddx + rdx3 (§. 49. VIII.)
u. ſ. w.

in einen andern, worin nur die unbeſtimmten Dif-
ferenziale d d x, d3 x ꝛc. vorkommen, wie z. B.
(§. 53. III).


II. Dann hebe man die Unbeſtimmtheit des
erhaltenen Ausdrucks auf, durch Huͤlfe desjenigen
erſten Differenzials, welches man conſtant ſetzt, und
woraus ſich die Werthe von ddx, d3x ꝛc. ableiten
laſſen (wie z. B. §. 53. III. IV).


III. So erhaͤlt man einen Ausdruck T in end-
lichen Groͤßen, der wie in den Beyſpielen (§. 53.
III. IV. V.) aus den Groͤßen, y, x, p, q ꝛc. zuſam-
mengeſetzt iſt.


IV.
[163]Differenzialrechnung.

IV. In dieſen Ausdruck T ſetze man nun wie-
der wie z. B. §. 56. ſtatt p den Werth , ſtatt
q den Werth , ſtatt
r den Werth , wofuͤr man nach gehoͤri-
ger Rechnung findet
ſo wird der neue Ausdruck W ſo beſchaffen ſeyn,
daß er [wie z. B. W (§. 56.)] mit dem urſpruͤng-
lich vorgegebenen gleichen Werth T hat, was man
auch in W fuͤr ein erſtes Differenzial conſtant ſetzen
mag.


Es iſt unnoͤthig, dieſe allgemeine Vorſchrift
noch durch Beyſpiele zu erlaͤutern, da fuͤr jeden an-
dern Ausdruck in hoͤhern Differenzialen, eben ſo
verfahren werden kann, als es mit dem vorgegebe-
nen (§. 53. I.) gezeigt worden iſt.


§. 58.
Lehrſatz.

Wenn Z eine Funktion von zwey ver-
aͤnderlichen Groͤßen x und y iſt, folglich

L 2dZ
[164]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
d Z = P d x + Q d y
iſt, wo P, Q auch wieder Funktionen von
x und y ſeyn werden, ſo wird

.


Bew. I. Der Ausdruck bedeutet
nach (§. 17. III. IV.) daß man P ſo differenziiren
ſoll, daß man nur y als veraͤnderlich betrachtet,
d. h. P blos nach y differenziiren, und dann dieſes
Differenzial mit d y dividiren ſoll.


Hingegen will bedeuten, daß man Q
blos nach x differenziiren, und das erhaltene Diffe-
renzial mit d x dividiren ſoll. Daß nun in beyden
Faͤllen gleiche Quotienten zum Vorſchein kommen,
erhellet ſo.


II. Was auch Z fuͤr eine algebraiſche oder
tranſcendentiſche Funktion von x, y ſeyn mag, ſo
wird Z immer unter der allgemeinen Form (Einlei-
tung §. IV.) nemlich
Z = A xαyβ + B xγyδ + C xεyζ + u. ſ. w.
enthalten ſeyn. Dies giebt
dZ = (Aαyβxα — 1 + Bγyδxγ — 1 + Cεy3 xε — 1 + …) d x
+ (A
βxαyβ — 1 + Bδxγyδ — 1 + Cζxεy3 — 1 + …) d y


III.
[165]Differenzialrechnung.

III. Demnach
P — Aαyβxα — 1 + Bγyδxγ — 1 + Cεy3 xε — 1 + ꝛc.
Q — Aβxαyβ — 1 + Bδxγyδ — 1 + Cζxεy3 — 1 + ꝛc.


IV. Alſo

Alſo offenbar .


Anmerkung.

Nach der Bezeichnungs-Art (§. 17. III. IV.)
iſt , d. h. = dem Differenzialquotien-
ten der Funktion Z nach x, und
dem Differenzialquotienten der Funktion Z nach y


Es iſt alſo klar, daß wenn man von jenem P
oder wieder den Differenzialquotienten nach
y, und von Q oder wieder den Differen-
zial-
[166]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
zialquotienten nach x ſucht, beyde Reſultate einer-
ley geben, welchen Satz man in Zeichen auch ſo
ausdruͤcken kann
oder die Ausdruͤcke
und
ſind gleichlautend, d. h. es iſt auch einerley, eine
Funktion Z erſt nach x, und dann das herauskom-
mende Differenzial wieder nach y zu differenziiren,
oder Z erſt nach y, und das was herauskommt,
wieder nach x zu differenziiren.


§. 59.

Zuſ. Iſt Z eine tranſcendentiſche Funktion von
x y, alſo z. B. durch Kreisbogen, Logarithmen,
oder Kreisſunktionen gegeben, ſo aͤndert dies nach
(Einl. VIII.) keinesweges die Allgemeinheit des ge-
gebenen Beweiſes; waͤre alſo z. B.
Z = ſin x ſin y
Alſo d Z = ſin y coſ x. d x + ſin x coſ y . d y
ſo iſt P = ſin y coſ x; Q = ſin x coſ y
und
[167]Differenzialrechnung.
und folglich = coſ x coſ y
= coſ y coſ x
Demnach wieder und ſo in an-
dern Faͤllen.


§. 60.

Zuſ. Der bewieſene Lehrſatz iſt ſehr wichtig
als Kennzeichen, um zu beurtheilen, ob ein vorge-
gebener Differenzialausdruck z. B.
d Z = P d x + Q d y
das wirkliche Differenzial einer Funktion Z von zwey
veraͤnderlichen Groͤßen x und y ſeyn koͤnne. Findet
man nemlich nicht die Bedingungsgleichung
(équation de condition)
beſtaͤtigt, ſo kann P d x + Q d y nicht das Diffe-
renzial einer Funktion Z von beyden veraͤnderlichen
Groͤßen x, y ſeyn.


Es ſey z. B. die Differenzialgleichung
d Z = a3 y x d x + x2 y3 d y
vorgegeben, alſo P = a3 y x; Q = x2 y3, ſo hat
man
[168]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
man
alſo nicht .
Mithin kann a3 y x d x + x2 y3 d y nicht das Dif-
ferenzial einer Funktion Z von den beyden veraͤnder-
lichen Groͤßen x und y ſeyn, oder es iſt unmoͤglich,
eine ſolche Funktion anzugeben, von der der Aus-
druck a3 y x d x + x2 y3 d y das Differenzial ſeyn
koͤnnte.


§. 61.

Anmerkung. Der angefuͤhrte Lehrſatz iſt in
der Integralrechnung von ſehr großem Nutzen.
Euler hat ihn zuerſt in den Comment. acad. Pe-
tropol
. (T. VII. ad a. 1734 u. 1735, die jedoch
erſt 1740 erſchienen ſind) bey gewiſſen Unterſuchun-
gen uͤber krumme Linien vorgetragen. Boſſut
behauptet, daß um das J. 1739 auch die Herren
Fontaine und Clairaut auf eben dieſen Satz
gekommen ſeyn, ohne von Eulers Erfindung et-
was gewußt zu haben (Traité de Calcul différen-
tiel et integral. à Paris an VI.
im Discours pré-
liminaire p.
65) laͤßt jedoch Eulern die Gerech-
tig-
[169]Differenzialrechnung.
tigkeit wiederfahren, den Satz zuerſt gelehrt zu
haben.


§. 62.

Zuſ. Aus (§. 58. III.) wird nach einer leich-
ten Rechnung
P x + Q y = A (α + β) xαyβ + B(γ + δ) xγyδ + C(ε + ζ) xεy3
Geſetzt nun, die Funktion Z ſey gleichartig (Ein-
leitung §. IV.), ſo hat man α + β = γ + δ = ε + ζ
ꝛc. Nennt man demnach dieſe conſtante Summe
beyder Exponenten von y und x in jedem Gliede
der Funktion = m, ſo wird
P x + Q y = m Z
wo denn m die Dimenſion der gleichartigen
Funktion Z darſtellt.


Dieſe Eigenſchaft gleichartiger Funktionen iſt
ebenfalls ſehr merkwuͤrdig, und bereits von Eu-
lern
in ſeiner Mechanica ſ. motus ſcientia analy-
tice expoſita Petrop
. 1736. Tom. II.
§. 497 vor-
getragen und an a. O. mit Nutzen gebraucht worden.


§. 63.

Zuſ. Es ſey Z eine Funktion von 3 veraͤn-
derlichen Groͤßen x, y, z, ſo hat man
d Z = P d x + Q d y + R d z
ſo
[170]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ſo oft man nun eine von den 3 Groͤßen conſtant
betrachten wuͤrde, wuͤrde ſich die Differenzialglei-
chung um ein Glied vermindern, und z. B. in
d Z = P d x + Q d y verwandeln, wenn z con-
ſtant alſo d z = o waͤre, oder in d Z = Q d y
+ R d z
, wenn x conſtant alſo d x = o waͤre,
oder in d Z = P d x + R d z, wenn y conſtant
mithin d y = o waͤre. Auf jede dieſer drey beſon-
dern Gleichungen laͤßt ſich der Satz §. 60. anwen-
den, daher erhaͤlt man, wenn P d x + Q d y
+ R d z
, das wirkliche Differenzial einer Funktion
von 3 veraͤnderlichen Groͤßen iſt, allemahl
I)
II)
III) .

Wuͤrden bey einem vorgegebenen Differenzial wie
P d x + Q d y + R d z, nicht dieſe 3 Bedin-
gungsgleichungen ſtatt finden, ſo koͤnnte das vorge-
gebene Differenzial kein wirkliches von 3 veraͤnder-
lichen Groͤßen ſeyn, oder es wuͤrde ſich keine Funk-
tion Z von x, y, z angeben laſſen, deren Differen-
zial d Z = P d x + Q d y + R d z ſeyn wuͤrde,
wie
[171]Differenzialrechnung.
wie man denn ſolches z. B. fuͤr zwey veraͤnderliche
Groͤßen in §. 60. geſehen hat.


§. 64.

Zuſatz. So findet man auch, wenn Z eine
gleichartige Funktion von 3 veraͤnderlichen Groͤßen
x, y, z, und von der Dimenſion m iſt, auf eine
aͤhnliche Weiſe wie §. 62.


P x + Q y + R z = m Z
Wenn d Z = P d x + Q d y + R d z.


Beyſp. Es ſey Z = x3 y + z2 y x, ſo iſt
m = 4 und
d Z = (z2 y + 3 y x2) d x + (x3 + z2 x) d y + 2 x y z d z.
Demnach
P = z2 y + 3 y x2 Alſo P x = z2 y x + 3 y x3
Q = x3 + z2 x
alſo Q y = z2 y x + y x3
R = 2 x y z
alſo R z = 2 z2 y x

Mithin P x + Q y + R z = 4 z2 x y + 4 y x3
welches offenbar = 4 Z iſt.


§. 65.

Zuſ. Aehnliche Saͤtze wie (§. 63. 64.) laſſen
ſich fuͤr Funktionen von ſo viel veraͤnderlichen Groͤ-
ßen als man will, leicht beweiſen.


§. 66.
[172]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
§. 66.
Lehrſatz.

Wenn Z eine Funktion von zwey ver-
aͤnderlichen Groͤßen x, y iſt, ſo iſt

Bew. Um erſtlich die Bedeutung dieſer Aus-
druͤcke zu verſtehen, ſo bemerke ich, daß


I. den mten Differenzialquotien-
ten der Funktion Z nach x (d. h. bey der Differen-
ziation blos x als veraͤnderlich geſetzt) bedeutet.


II. Hingegen den nten Differenzial-
quotienten der Funktion Z nach y (d. h. blos y ver-
aͤnderlich geſetzt) vorſtellt.


III. Man ſoll nun von jenem (I) wieder den
nten Differenzialquotienten nach y, und von dieſem
(II) wieder den mten nach x nehmen. In beyden
Faͤllen behauptet der Lehrſatz, werde gleich viel her-
auskommen.


IV. Um alſo dies zu beweiſen, nehme ich aus
dem allgemeinen Ausdrucke jeder Funktion (§. 58.
II.)
[173]Differenzialrechnung.
II.) von zwey veraͤnderlichen Groͤßen, bloß ein Glied
z. B. A xαyβ, welches als allgemeines Glied,
jedes andere der Funktion bedeuten kann. Was
von dieſem gilt, wird begreiflich von mehreren der-
gleichen, die durch Addition oder Subtraktion mit
einander verbunden ſind, d. h. von der ganzen Funk-
tion ſelbſt gelten.


V. Ich ſetze alſo Z = A xαyβ, und der Kuͤrze
halber A xα = X; yβ = Y, demnach Z = X Y
in welchem Ausdrucke alſo X kein y, und Y kein x
enthaͤlt.


VI. Dies giebt folglich
(weil Y kein x enthaͤlt).
Und (weil X kein y enthaͤlt).


VII. Nun nehme man von d. h. von
den nten Differenzialquotienten nach y,
ſo erhaͤlt man, weil X kein y enthaͤlt,

VIII.
[174]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

VIII. Und eben ſo weil Y kein x enthaͤlt, wird
der mte Differenzialquotient von oder von
nach x, d. h.

IX. Beyde Ausdruͤcke (VII. VIII.) ſind alſo
offenbar einander gleich, mithin erhellet hieraus die
Richtigkeit des zu erweiſenden Lehrſatzes.


Sehr oft laͤßt man auch die beyden aͤußerſten
Parentheſen in den Ausdruͤcken des Lehrſatzes weg
und ſchreibt blos z. E.

Beyſpiel.

X. Es ſey Z = x8 y3 + x6 y5 + x y7,
und m = 3, n = 2, ſo hat man erſtlich fuͤr den
3ten Differenzialquotienten von Z nach x, der
Ordnung nach
(d Z)
[175]Differenzialrechnung.
([☽])
Und fuͤr den 2ten Differenzialquotienten von Z nach
y der Ordnung nach
(☉)


Nimmt man nun weiter den 2ten Differenzial-
quotienten von [⊃] nach y, und den 3ten von ☉ nach
x, ſo ergiebt ſich


Sodann


Es
[176]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

Es erhellet alſo, daß
d. h.

§. 67.

Zuſ. Es iſt alſo einerley, ob man von einer
Funktion Z zweyer veraͤnderlichen Groͤßen x, y zu-
erſt das mte Differenzial nach x, und von dieſem
wieder das nte nach y nimmt, oder Letzteres zuerſt
thut und dann Erſteres. Es verhaͤlt ſich hier wie
mit mehr andern analogen Saͤtzen, ſowohl in der
Analyſis, als auch ſelbſt in der gemeinen Arithme-
tik z. B. a oder
u. d. gl.


Uebrigens iſt klar, daß der Lehrſatz (§. 58. An-
merk.) nur ein ſpecieller Fall des weit allgemeinern
(§. 66.) iſt, und aus letzterm ſich ergiebt, wenn man
m = n = 1 ſetzt.


§. 68.
Vorbereitung zu folgendem Lehrſatze.

I. Wenn ein Ausdruck Z zwiſchen zwey ver-
aͤnderlichen Groͤßen x, y vorgegeben iſt, in welchem
zugleich die Differenzialquotienten
d y
[177]Differenzialrechnung.
= p
= q
= r

u. ſ. w. vorkommen (das Differenzial d x unveraͤn-
derlich angenommen) ſo kann man Z als eine Funk-
tion von x, y, p, q, r u. ſ. w. anſehen, deren Dif-
ferenzial d Z ſich durch μd x + νd y + πd p
+ κd q u. ſ. w. wird ausdruͤcken laſſen, worin
μ, ν, π, κ ꝛc. auch wieder Funktionen von x, y, p, q
ꝛc. ſeyn koͤnnen, welche ſich denn leicht durch die
Differenziation von Z finden laſſen.


II. Der Differenzialquotient , welchen ich
mit V bezeichnen will, wird dann die Form
..
oder
V = μ + νp + πq + κr
haben (I).


III. Nun ſuche man das naͤchſtfolgende Diffe-
renzial d d Z, ſo iſt, weil d x conſtant geſetzt
worden
MddZ
[178]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
d d Z = dμd x + dνd y + νd d y + dπd p + πd d p
+ d
κd q + κd d q u. ſ. w.
und folglich auf beyden Seiten mit d x2 dividirt,
der Differenzialquotient
u. f. w.
welches wegen
= q; = r u. ſ. w. (I)
ſich in
r ..
verwandelt.


IV. Da nun ; ; ν + ; u. ſ. w.
auch wieder Funktionen von x, y, p, q ꝛc. ſeyn koͤn-
nen, ſo will ich, wie ſie auch beſchaffen ſeyn moͤ-
gen, der Kuͤrze halber
dμ
[179]Differenzialrechnung.
= M
= N
ν + = P
π + = Q
κ + = R

u. ſ. w. nennen, ſo hat man
= M + N p + P q + Q r + R s ꝛc.
eine Form, welche derjenigen fuͤr das naͤchſt niedri-
gere Differenzial
= μ + νp + πq + κr ꝛc.
in (I. II.) voͤllig aͤhnlich iſt.


V. Indeſſen erhellet, daß wenn z. B. die
Funktion Z bis auf den Differenzialquotienten
= q gienge, der Differenzialquotient nur bis auf
oder , d. h. bis auf r gehen kann, und
daß in dem Ausdrucke
M 2d Z
[180]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
= μ + νp + πq + πr
die Funktionen μ, ν, π, κ, zwar p und q aber
nicht r enthalten koͤnnen.


VI. Der Differenzialquotient , den ich mit
W bezeichnen will, kann alsdann auch nur bis
d. h. bis s gehen, und in dem Ausdrucke
= M + N p + P q + Q r + R s
koͤnnen M, N, P, Q, R, zwar die Groͤßen p, q,
aber weder r noch s enthalten.


Dieſe Schluͤſſe laſſen ſich leicht auch auf die
Faͤlle erweitern, wenn z. B. die anfaͤngliche Funk-
tion Z bis auf , oder u. ſ. w. gienge.


§. 69.
Lehrſatz.

Wenn
W = M + N p + P q + Q r + R s
der naͤchſt hoͤhere Differenzialquotient
von

V = μ + νp + πq + κr
iſt
[181]Differenzialrechnung.
iſt, ſo daßM, N, P, Q, Rdie Werthe
§. 68. V. VI.haben, ſo iſt
N — = o.


Bew.I. Wenn V nur bis r geht, ſo ſind
die auf κ folgenden Coefficienten ς, σ, τ ꝛc. alle = o.


II. Dies giebt in §. 68. IV. wegen dς = o
fuͤr R bloß den Werth κ, und folglich


III. Der Werth von
iſt = (§. 68. IV.)
N .. = .


IV. Demnach
N — = o.


V. Ich habe bloß zum Beyſpiel angenommen,
daß der Differenzialquotient V nur bis r, alſo W
nur
[182]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
nur bis s gehet. Man wird auf eine aͤhnliche Art
finden, daß wenn V nur bis s, und folglich W bis
auf t gienge, alſo
V = μ + νp + πq + κr + ςs.
Mithin
W = M + N p + P q + Q r + R s + S t
waͤre
N — = o
ſeyn wuͤrde u. ſ. w.


§. 70.

Anmerk. Dieſer Lehrſatz iſt, wie wir in der
Integralrechnung ſehen werden, von ſehr großer
Wichtigkeit. Denn man kann durch denſelben alle-
mahl beurtheilen, ob ein Differenzialquotient, der
durch hoͤhere Differenziale gegeben iſt, wie z. B.
W = M + N p + P q + Q r + R s
oder auch ein Differenzial wie
W d x = M d x + N p d x + P q d x + Q r d x + R s d x ..
oder auch wie
M d x + N d y + P d p + Q d q + R d s
ein wirkliches Differenzial einer Funktion zwiſchen
x, y, p, q u. ſ. w. ſeyn kann. Iſt nemlich das
Verhalten der Funktionen M, N, P, Q ꝛc. nicht von
der Beſchaffenheit, daß der Bedingungsgleichung
N
[183]Differenzialrechnung.
N — … = o
ein Genuͤge geſchieht, ſo kann der Ausdruck
M d x + N d y + P d p + Q d q
weder ein wirkliches Differenzial einer Funktion von
x, y, p, q … noch auch der Differenzialquotient
M + N p + P q + Q r
aus einer ſolchen Funktion entſtanden ſeyn.


Findet dagegen die angefuͤhrte Bedingungsglei-
chung ſtatt, ſo laſſen ſich aus den gegebenen Funk-
tionen M, N, P, Q … durch Huͤlfe der Gleichungen
§. 68. IV. und durch Zuziehung noch einiger an-
derer Betrachtungen in vorgegebenen Faͤllen, ruͤck-
waͤrts auch wieder die Funktionen μ, ν, π, κ ꝛc. be-
ſtimmen (welches aber jetzt noch nicht hieher gehoͤrt),
woraus ſich denn die Funktion V = μ + νp + πq
u. ſ. w. ergiebt, aus deren Differenziation die vor-
gegebene W = M + N p + P q ꝛc. oder auch das
Differenzial M d x + N d y + P d p ꝛc. entſtehen
wuͤrde.


Den Lehrſatz §. 69. hat Euler in ſeiner Inte-
gralrechnung aus der Lehre von den Variationen
oder dem Variationscalcul abgeleitet. (M. ſ. deſſen
Instit. Calc. Integr. Petrop. 1770. Vol III. in
Append. de calc. Var. §. 92.) Daß das Euler-
M 4ſche
[184]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ſche Theorem kein anderes als das bisher betrachtete
iſt, wird in der Folge noch beſonders erhellen. Eu-
ler
hielt den Beweis deſſelben ohne Beyhuͤlfe der
Variationsrechnung fuͤr ſchwer (daſ. §. 96). In-
deſſen haben Couſin, la Croix u. a. Beweiſe
aus andern Principien gegeben, die aber Anfaͤngern
nicht ſo ganz klar ſeyn moͤgten. Das von mir ge-
waͤhlte Verfahren iſt ſehr einfach, und beruht bloß
auf gewoͤhnlichen Saͤtzen der Differenzialrechnung.


CousinCalcul. diff. et integral. Tom. I. §. 240.


La CroixTraité du Calc. diff. et integral. T. I.
§. 84 etc.


§. 71.
Lehrſatz.

Wenn y eine Funktion von x bedeu-
tet und y ſich in Y verwandelt, wenn x
um die endliche Groͤße c zunimmt, ſo iſt

Y = y + u. ſ. w.
wo, u. ſ. w. die Differenzialquo-
tienten der Funktion y bedeuten, d x bey
der Differenziation als conſtant ange-
nommen.


Bew.
[185]Differenzialrechnung.

Bew.I. Was auch y fuͤr eine Funktion von
x ſeyn mag, ſo laͤßt ſie ſich allgemein durch eine
Reihe, wie
y = A xα + B xβ + C xγ
darſtellen. (Einl. VII.)


II. Dies giebt erſtlich
= Aαxα — 1 + Bβxβ — 1 + Cγxγ — 1 u. ſ. w.
= Aα (α — 1) xα — 2 + Bβ (β — 1) xβ — 2
+ Cγ (γ — 1) xγ — 1 ꝛc.
= Aα (α — 1) (α — 2) xα — 3 + Bβ (β — 1)
(β — 2) xβ — 3 + u. ſ. w.
wovon das Geſetz einleuchtend iſt, ohne daß es noͤ-
thig iſt, das allgemeine Glied davon hinzuſchreiben.


III. Setzt man nun in (I) x + c ſtatt x, ſo iſt
Y = A (x + c)α + B (x + c)β + C (x + c)γ ꝛc.
oder nach dem Binomiſchen Lehrſatz
Y = A xα + Aαxα — 1c + xα — 2c2 + ꝛc.
+ B xβ + Bβxβ — 1c + xβ — 2c2 + ꝛc.
+ C xγ + Cγxγ — 1c + xγ — 2c2 + ꝛc.


M 5IV.
[186]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

IV. Hier ſieht man nun ſogleich, daß erſtlich
die Summe aller Glieder in der erſten Vertikalreihe
rechter Hand des Gleichheitszeichens die gegebene
Funktion y ſelbſt iſt. (I.)


V. Die Summe aller Glieder in der zweyten
Verticalreihe iſt
.


VI. Die Summe aller Glieder in der dritten
iſt
.


VII. Setzt man dieſe Betrachtungen weiter fort,
ſo ergiebt ſich fuͤr die Summe aller Glieder in der
vierten Verticalreihe der Ausdruck
u. ſ. w.


Demnach uͤberhaupt
u. ſ. w.
wo-
[187]Differenzialrechnung.
wovon das allgemeine Glied ſeyn
wuͤrde.


AnmerkungI.

Dieſen Lehrſatz hat Taylor erfunden, und
man nennt ihn deswegen gewoͤhnlich auch den Tay-
loriſ
chen Lehrſatz.


TayloriMethodus incrementorum. Londini
1715.


Man kann den Satz auf viel andere Arten be-
weiſen. Die meiſten Beweiſe die ich kenne, ſetzen
voraus, daß eine jede Funktion von x durch eine
Reihe von Potenzen der Groͤße x ausgedruͤckt wer-
den koͤnne, und da hieran wohl Niemand zweifeln
wird (Einl. §. VII.), ſo habe ich den Beweis des
Lehrſatzes nach dieſem Princip gegeben. Sonſt
kann man ihn auch aus der Lehre von den endli-
chen Differenzen, wie es z. B. von Eulern (Inst.
Calc. diff. P. II. Cap. III.
) in der Hauptſache ge-
ſchehen iſt, ableiten. M. ſ. auch Herrn Prof.
Buſſe Neue Methode des Groͤßten und
Kleinſten.
Freyb. 1808. S. 31.) Aber ich
finde gegen dieſen Beweis auf die Art, wie er ge-
woͤhnlich z. B. von Eulern gefuͤhrt wird, verſchie-
denes
[188]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
denes zu erinnern, und darum habe ich mich deſſel-
ben nicht bedienen wollen.


Anmerkung II.
Aufgabe.

Es ſey z eine Funktion von zwey
veraͤnderlichen Groͤßen x und y. Man
ſucht den Werth dieſer Funktion, wenn
x ſich in x + c und y ſich in y + k ver-
wandelt. (Der Tayloriſche Lehrſatz fuͤr
eine Funktion von zwey veraͤnderlichen
Groͤßen.)


Aufg.I. Es verwandele ſich erſtlich z in
z', wenn man blos x um c ſich aͤndern laͤßt, y
aber einſtweilen als eine conſtante Groͤße in der
Funktionz betrachtet, ſo iſt nach Taylors Lehr-
ſatz
z' = z + c + u. ſ. w.
wo ; ꝛc. die Differenzialquotien-
ten der Funktion V bedeuten, bey der Differenzia-
tion blos x als veraͤnderlich angenommen.


II.
[189]Differenzialrechnung.

II. Ich will der Kuͤrze halber dieſe partiellen
Differenzialquotienten, der Ordnung nach mit p, q,
r
ꝛc. bezeichnen, alſo
z' = z + c p + r + ꝛc.
ſetzen.


III. Nun ſuche man weiter, in welchen Werth
ſich z' verwandelt, wenn man x als unveraͤnderlich
behandelt, und blos y ſich in y + k verwandeln
laͤßt. Man ſetze, aus z' werde dann z'', ſo iſt
abermahls nach dem Tayloriſchen Lehrſatze
z'' = z' + k + u. ſ. w.
Und z'' wird nun den Werth der Funktion z aus-
druͤcken, wenn nicht allein x ſich in x + c (I), ſon-
dern auch y ſich in y + k verwandelt hat.


IV. Es kommt alſo nun noch blos darauf
an, die Werthe der Differenzialquotienten ;
ꝛc. zu beſtimmen und in die Reihe (III)
zu ſubſtituiren.


Da nun aber z' ſelbſt ſchon durch die Reihe (II)
gefunden iſt, ſo hat man weiter nichts noͤthig, als
die
[190]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
die Glieder dieſer Reihe ſelbſt wieder und zwar nach
y zu differenziiren. Dies giebt denn wegen

ꝛc.
ꝛc.
u. ſ. w.


V. Hierauf wird denn nach gehoͤriger Subſti-
tution in (III)


VI. Ich habe in dieſer Reihe alle diejenigen
Differenzialquotienten, welche zu einerley Ordnung
oder Dimenſion gehoͤren, unter einander geſetzt. So
gehoͤren z. B. die Glieder c . p und als erſte
Diffe-
[191]Differenzialrechnung.
Differenzialquotienten zuſammen, indem p =
das erſte Differenzial der Funktion z nach x, ſo
wie das erſte Differenzial der Funktion z
nach y bedeutet. Ferner gehoͤren als zweyte Diffe-
renzialquotienten zuſammen, die Glieder
q; k c; .
Denn es iſt q = ein zweyter Differen-
zialquotient, ſo wie , und mit dieſem iſt
homogen der Quotient , weil p ſchon fuͤr ſich
ein erſter Differenzialquotient = iſt, und alſo
eigentlich
ebenfalls durch eine doppelte Differenziation erhal-
ten wird.


So wird man auf eine aͤhnliche Art ſich bald
uͤberzeugen, daß die Differenzialquotienten, welche
in dem vierten Gliede von z'' unter einander ſtehen,
nem-
[192]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
nemlich r,; ſaͤmmtlich
von der dritten Ordnung ſind, und alſo in ſo fern
zuſammengehoͤren.


VI. Zugleich wird nach der von mir gewaͤhlten
Bezeichnungsart, auch ſehr leicht das Geſetz des
Fortgangs in (V) erhellen.


Man nenne die Summe der zuſammengehoͤri-
gen Glieder, nemlich
= A
= B
ſo iſt auch
A =
B =


Hier bemerkt man z. B. in A, daß die Coefi-
cienten der in A vorkommenden Differentialquotien-
ten, der Ordnung nach die einzelnen Glieder von
(c
[193]Differenzialrechnung.
(c + k)2 = c2 + 2 k c + k2 ſind, daß die
Coeficienten in B die einzelnen Glieder von (c + k)3
= c3 + 3 k c2 + 3 k2 c + k3
ſind u. ſ. w. Nimmt
man nun zugleich Ruͤckſicht darauf, wie in A und
B nach der Ordnung der Buchſtaben r, q, p, .. z,
die Differenzialquotienten gebildet ſind, ſo wird
man nach dem beobachteten Geſetz bald bemerken, daß
z. B. das auf B folgende Glied C wuͤrde heißen
muͤſſen .


Und ſo allgemein
,
wenn der Kuͤrze halber
u. ſ. w. geſetzt wird. Eine Anwendung die-
ſes Satzes wird unten in der Lehre vom Groͤſten und
Kleinſten vorkommen.


§. 72.

Bezeichnet man eine Funktion von x nach La
Grange
u. a. neuern Analyſten durch φ(x) oder
Nauch
[194]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
auch ſchlechtweg durch φx, und den Werth von
φx, wenn ſich x in x + c verwandelt durch φ(x + c),
ſo hat man fuͤr Y (§. 71.) auch die Bezeichnung
ꝛc.
Die Differenzialquotienten ; u. ſ. w.
nennt La Grangeſonction prime, ſeconde ꝛc.
von φx, und bezeichnet ſie mit φ' x, φ'' x, u. ſ. w.
wodurch denn die Reihe fuͤr φ(x + c) auch ſo aus-
ſieht
ꝛc.
Statt des griechiſchen φ, werden auch haͤufig die
lateiniſchen Buchſtaben F, oder f gebraucht, das
Wort Funktion anzudeuten.


Arbogaſt nennt die Funktionen φ' x, φ'' x
auch fonctions derivées. (Man vergleiche hiemit
§. 49.)


Ich finde keinen hinlaͤnglichen Grund, dieſe
Benennungen ſtatt des Worts Differenzialquotien-
ten zu gebrauchen, noch auch die aͤltere Bezeich-
nungsart u. ſ. w. fuͤr den erſten,
zweyten ꝛc. Differenzialquotienten, mit den Zeichen
φ' x, φ'' x ꝛc. zu vertauſchen.


Euler
[195]Differenzialrechnung.

Euler bedient ſich meiſt der Buchſtaben p, q,
r ꝛc., um der Ordnung nach die Differenzialquo-
tienten , , ꝛc. oder , ;
ꝛc. damit zu bezeichnen, und dieſe Bezeich-
nungen haben ſich, ſo bald von Differenzialquotien-
ten die Rede iſt, gewiſſer maaßen ein Eigenthums-
recht erworben, wie z. B. der Buchſtabe π fuͤr die
bekannte Ludolphiſche Zahl. Kommen in einer
Rechnung Potenzen von Differenzialquotienten vor,
ſo iſt es ohnſtreitig bequemer, ſich der Buchſtaben
p, q, r ꝛc. als der Bezeichnungen φ' x, φ'' x u. ſ. w.
zu bedienen. Aber ſo glaubt man oft durch neue
Zeichen einer Unterſuchung ein neues Anſehen zu
geben, und wenn man die neuen Zeichen wegſchafft,
ſo findet man oft eine gewoͤhnliche und ſchon laͤngſt
bekannte Sache.


§. 73.

Den Tayloriſchen Lehrſatz durch einige Bey-
ſpiele zu erlaͤutern, ſo ſey


I.Beyſp. y oder φx = x3 + 4 x2 + 7.
Man verlangt den Werth von y, wenn x ſich in
x + 5 verwandelt. Man hat alſo erſtlich
N 2d y
[196]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
.
.

; da dieſer Differenzialquotient
bereits eine conſtante Zahl iſt, ſo ſind alle folgen-
den wie ; ꝛc. = o.


Da nun c = 5 iſt, ſo erhaͤlt man


Dies iſt alſo der Werth von x3 + 4 x2 + 7
wenn x ſich in x + 5 verwandelt, wie auch er-
hellen wird, wenn man den Ausdruck (x + 5)3
+ 4 (x + 5)2 + 7
unmittelbar berechnen wollte.


Man ſieht leicht, daß ſo oft y durch eine Poten-
zenreihe von x, deren Exponenten lauter ganze Zah-
len
[197]Differenzialrechnung.
len ſind, gegeben iſt, die Tayloriſche Reihe alle-
mahl abbrechen wird, wie auch nach der Natur der
Sache nicht anders ſeyn kann.


II.Beyſp. ; man ver-
langt den Werth von , wenn ſich x in x + c
verwandelt. Jetzt erhaͤlt man
So findet man weiter
u. ſ. w. demnach Y oder
.


In dieſem Beyſpiele bricht alſo die Reihe nicht
ab, ſondern laͤuft ins unendliche fort. Indeſſen
giebt ſie Veranlaſſung, Wurzelgroͤßen durch eine
brauchbare Naͤherung auszudruͤcken, wozu nicht
allein die ſo eben gefundene Reihe, ſondern auch
folgende dienen kann.


N 3Man
[198]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

Man ſetze m und c negativ, ſo wird
Wird nun der Kuͤrze halber
u. ſ. w.
geſetzt, ſo iſt
Mithin x + c ſtatt x geſetzt

Man ſieht leicht, daß dieſe Reihe in jedem Falle
ſich naͤhern wird, und zwar deſto ſchneller, je klei-
ner c in Vergleichung von x + c iſt.


Verlangte man z. B. die Cubikwurzel von 34;
ſo zerlege man 34 in ein paar Theile = 27 + 7
= x + c aus deren einem x die Cubikwurzel ratio-
nal
[199]Differenzialrechnung.
nal iſt, wie hier aus 27. Setzt man alſo in die ſo
eben gefundene Formel m = 3; x = 27; c = 7;
ſo iſt erſtlich
und folglich

§. 74.

Vorzuͤglich brauchbar zeigt ſich das Tayloriſche
Theorem in der Entwickelung von allerley Reihen
fuͤr logarithmiſche, trigonometriſche, und andere
Funktionen, wie folgende Beyſpiele ausweiſen.


Erſtes Beyſp. Man ſetze y = log x;
ſo iſt , oder , wenn M die
Bedeutung (§. 21.) hat. Demnach ;
; ;
u. ſ. w. Demnach iſt
der Werth von y oder log x, wenn ſich x in x + c
verwandelt, d. h. Y oder
N 4log
[200]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
ꝛc.

Iſt alſo log x gegeben, ſo kann man durch
Huͤlfe dieſer Reihe, auch den log (x + c) finden.


2. Auch wird wegen log (x + c) — log x
= log
log


Oder wenn man ſetzt
log
Und wenn u negativ iſt
log
Mithin log (1 + u) — log (1 — u) oder
log
Fuͤr die natuͤrlichen Logarithmen iſt M = 1.


3.
[201]Differenzialrechnung.

3. Setzt man alſo zur Abkuͤrzung ,
wodurch wird, ſo hat man fuͤr die Be-
rechnung des Logarithmen einer jeden Zahl N, in
einem Syſtem, dem der Modulus M (§. 24.) zu-
gehoͤrt, die in jedem Falle ſich naͤhernde Reihe
log


4. Will man umgekehrt den Modulus M fin-
den, ſo nenne man die in M multiplicirte Reihe
= N, ſo hat man .


Z. B. fuͤr das Briggiſche Syſtem iſt, wenn
N = 10 iſt, log N = 1; und ; daher

5. Da aber die Reihe im Diviſor ſich langſam
naͤhert, ſo hat man andere Mittel angewandt, ſo-
wohl M als auch die Logarithmen von Zahlen uͤber-
haupt zu berechnen. Folgendes Verfahren wuͤrde
fuͤr die Berechnung der Tafeln vorzuͤglich brauch-
bar geweſen ſeyn.


N 5Man
[202]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

Man ſetze in (2) ; ſo fin-
det ſich ; und nun wegen log
Mithin

Durch Huͤlfe dieſer Formel kann man alſo leicht
den Logarithmen jeder ganzen Zahl m aus den Lo-
garithmen der vorhergehenden und naͤchſtfolgenden
Zahl finden. Iſt nun m eine Primzahl, worauf
es bey der Berechnung der Logarithmen-Tafeln
hauptſaͤchlich ankam, weil die Logarithmen der zu-
ſammengeſetzten Zahlen durch die bloße Addition der
Logarithmen der Primzahlen entſtehen, ſo iſt ſo-
wohl m — 1 als m + 1 allemal eine durch 2 theil-
bare Zahl, mithin aus Primzahlen zuſammen ge-
ſetzt,
[203]Differenzialrechnung.
ſetzt, die kleiner als die geſuchte m ſind, und wenn
man daher die Logarithmen der Primzahlen nach der
Ordnung, wie ſie auf einander folgen, ſucht, ſo
ſind die Logarithmen derjenigen, woraus m — 1 und
m + 1 beſtehen, als bereits gefunden anzuſehen.


6. Ich will M = 1 ſetzen, ſo erhaͤlt man die
natuͤrlichen Logarithmen.


Alſo zuerſt wenn m = 2, ſo iſt wegen log
(m — 1) = log 1 = o

log ꝛc.
Oder wenn man die ſehr ſtark convergirende Reihe
mit K bezeichnet
log 2 = ½ log 3 + K.


7. Ferner iſt fuͤr m = 3, wegen log (m + 1)
= l 4 = 2 l 2

ꝛc.
Oder wenn dieſe ſtark convergirende Reihe mit L
bezeichnet wird
log 3 = \frac{3}{2} log 2 + L.


8.
[204]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

8. Subſtituirt man dieſen Werth in (6) ſtatt
log 3, ſo erhaͤlt man
log 2 = ¾ log 2 + ½ L + K;
demnach
log 2 = 2 L + 4 K = 2 (L + 2 K).
Weil nun L und K ſich leicht berechnen laſſen, ſo
iſt hiemit zuerſt log 2 gefunden; mithin in (7) auch
log 3.


9. Setzt man nun ferner m = 5, ſo wird (5)
log ꝛc.
Und fuͤr m = 7
log ꝛc.
u. ſ. w.


10. Man ſieht, daß dieſe Reihen immer deſto
ſchneller convergiren, je groͤßer m iſt, und folglich
fuͤr je groͤßere Primzahlen man die Logarithmen
ſucht, ſo daß ſehr bald nur die erſten Glieder ſol-
cher Reihen hinlaͤnglich ſind, die Logarithmen auf
7 und mehrere Decimalſtellen zu erhalten. Zugleich
erhellet aus den angefuͤhrten Beyſpielen, daß log 4,
log 6, log 8 bereits aus log 2; log 3 als gefun-
den angeſehen werden koͤnnen u. ſ. w.


So
[205]Differenzialrechnung.

So waͤre es alſo ein Leichtes geweſen, vermit-
telſt der Formel (5) die Logarithmentafeln zu be-
rechnen.


11. Da in (3) fuͤr M = 1
log nat


Hingegen fuͤr ein anderes Syſtem z. B. das
Briggiſche
log brigg
So folgt hieraus
log brigg N = M log nat N
d. h. Man darf nur den natuͤrlichen Logarithmen
einer Zahl N in den Modulus M, der einem an-
dern z. B. dem Briggiſchen Syſteme zukoͤmmt, mul-
tipliciren, um den Logarithmus dieſer Zahl fuͤr das
andere Syſtem zu erhalten.


11. Hieraus findet ſich umgekehrt der Modu-
lus M fuͤr ein gewiſſes Syſtem, wenn man den Lo-
garithmen einer gewiſſen Zahl in dieſem Syſteme,
mit dem natuͤrlichen Logarithmen eben dieſer Zahl
dividirt. Z. B. fuͤr das Briggiſche Syſtem
Fuͤr
[206]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Fuͤr das Briggiſche Syſtem iſt fuͤr N = 10, log
brigg
10 = 1. Mithin fuͤr dieſes Syſtem
Aber log nat 10 hat man = 2,302585092994
gefunden. (Z. B. nach (8) aus log 2 + log 5,
oder nach andern Methoden. M. ſ. EuleriIntro-
duct. in Anal. Inf.
P. I.
(§. 123), woſelbſt log
nat
10 bis auf 25 Decimalſtellen angegeben iſt).
Dies giebt nach gehoͤriger Rechnung den Modulus
M des Briggiſchen Syſtems = 0,434294480903.
(M. ſ. Eul. a. a. O. §. 124.)


Zweytes Beyſpiel. 1. Es ſey in der
Tayloriſchen Formel y eine Exponentialgroͤße
= ax, wo a unveraͤnderlich ſey, ſo ergiebt ſich
d y = ax d x log a, wo unter log a der natuͤr-
liche verſtanden wird; alſo
; Hieraus weiter
,
u. ſ. w. Mithin Y oder
von
[207]Differenzialrechnung.
von welcher Reihe das Geſetz klar vor Augen
liegt.


2. Dividirt man auf beyden Seiten mit ax, ſo
hat man auch
ꝛc.


3. Dieſe Reihe bekoͤmmt eine andere Form,
wenn man ac = u ſetzt; dann hat man fuͤr na-
tuͤrliche Logarithmen, welche hier beſtaͤndig verſtan-
den werden (§. 26), c log a = log u, folglich
ꝛc.
eine ſehr nuͤtzliche Reihe, welche zeigt, wie aus
dem natuͤrlichen Logarithmen einer Zahl u, die Zahl
u ſelbſt beſtimmt wird.


4. Setzt man in (2) a = e = der Baſis des
natuͤrlichen Syſtems (§. 23), ſo hat man log a =
log e
= 1. Mithin
ꝛc.
Oder wenn man ſtatt c den Buchſtaben z ſetzen will
ꝛc.


5.
[208]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

5. Fuͤr z = 1 wuͤrde dann
ꝛc.
welche Reihe fuͤr die Baſis e des natuͤrlichen Loga-
rithmenſyſtems den Werth e = 2,718281828459
giebt. (Eul.Intr. L. I. §. 122.)


Drittes Beyſpiel. 1. Es ſey in der Tay-
loriſchen Reihe
y = ſin x; ſo wird
(§. 38. das dortige φ = x geſetzt)
;

jetzt koͤmmt in den naͤchſtfolgenden Differenzialquo-
tienten wieder dieſelbe Folge von Zeichen, und man
erhaͤlt
.


2.
[209]Differenzialrechnung.

2. Auf eine aͤhnliche Art findet man fuͤr y =
coſ x
, den Werth von Y oder
.


3. Aus dieſen Formeln ergeben ſich Reihen, den
Sinus oder Coſinus eines Bogens aus dem Bo-
gen ſelbſt zu finden, der aber alsdann in Decimal-
theilen des Halbmeſſers, gegeben ſeyn muß. Denn
ſetzt man x = o, ſo wird ſin x = o; und coſx = 1.
Demnach
.
.


Iſt alſo der Bogen c in Decimaltheilchen des
Halbmeſſers 1 gegeben, ſo erhaͤlt man auch ſin c,
und coſ c in ſolchen Theilchen. Dieſe Formeln ſind
ſonſt von mannichfaltigem Gebrauche.


4. Man kann ſie auch aus den imaginaͤren Aus-
druͤcken (§. 48. V.) ableiten. Man ſetze erſtlich in
[Beyſp. II. (4)] das dortige z = φ √ — 1; ſo iſt
z2 = — φ2; z3 = — φ3 √ — 1; z4 = φ4 u. ſ. w.
alſo
ꝛc.
OUnd
[210]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
Und eben ſo, z = — φ √ — 1 geſetzt;
ꝛc.
Demnach (§. 48. V.)
φV — 1 — φ V — 1
ꝛc.
φV — 1 — φ V — 1
ꝛc.

welches dieſelben Reihen (3) ſind, wenn man φ
ſtatt des dortigen c ſetzt.


5. Es erhellet hieraus zugleich, wie das Un-
moͤgliche oder Imaginaͤre in den Ausdruͤcken wie
(§. 48.) nur ſcheinbar iſt, und bey der gehoͤrigen
Verwandlung dieſer Ausdruͤcke in Reihen, voͤllig
verſchwindet.


6. So verhaͤlt es ſich auch z. B. mit dem Aus-
drucke (§. 48. I.)
.
Man ſetze in BeyſpielI. (2) in der Reihe fuͤr
log, worunter ich den natuͤrlichen Logarith-
men verſtehe, u = tang φ . √ — 1; M = 1; ſo
wird
[211]Differenzialrechnung.
wird u3 = — tang φ3 . √ — 1; u5 =
+ tang φ5 √ — 1
ꝛc.; und man erhaͤlt
log
Demnach
φ = tang φ — ⅓ tang φ3 + ⅕ tang φ5 — ⅐ tang φ7 ꝛc.
Eine Reihe, worinn nichts imaginaͤres vorkoͤmmt,
und welche zeigt, wie der Bogen φ aus deſſen Tan-
gente berechnet werden koͤnnte.


Iſt z. B. φ = 45 ° alſo tangφ = 1, ſo waͤre
φ = 1 — ⅓ + ⅕ — ⅐ + ꝛc.
Die bekannte Leibnitziſche Reihe, wodurch der
Bogen von 45° in Theilen des Halbmeſſers 1 gefun-
den werden kann. Aber freylich naͤhert ſich dieſe Reihe
nur langſam. Setzte man dagegen φ = 30°; alſo
tang, ſo wird
Eine Reihe, welche ſich ſchon ziemlich ſchnell naͤhert.
Durch ſolche und aͤhnliche Reihen hat man das Ver-
haͤltniß des Halbmeſſers 1 zum Halbkreiſe π, oder
auch das Verhaͤltniß des Durchmeſſers zum Um-
O 2fange
[212]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
fange gefunden, wovon aber die weitere Ausſuͤh-
rung nicht hieher gehoͤrt. M. ſ. Eul.An. Infin.


7. Bey dieſer Gelegenheit koͤnnen noch ein paar
andere Folgerungen aus den fuͤr ſinφ, coſφ ge-
fundenen Reihen (4) beygebracht werden. Wegen
ſin
folgt, daß weil die in φ multiplicirte Reihe lauter
gerade Exponenten hat, ſie ſich in lauter Facto-
ren von der Form 1 — α φ2; 1 — β φ2;
1 — γ φ2 u. ſ. w. muß zerfaͤllen laſſen. Ich will
jene Reihe mit S bezeichnen und alſo
ſinφ = φ-S = φ (1 — α φ2) (1 — β φ2) (1 — γ φ2) u. ſ. w.
ſetzen.


Weil nun ſinφ = o wird nicht allein fuͤr φ = o,
ſondern auch fuͤr φ = π φ = 2 π φ = 3 π ꝛc., wo
π den halben Umkreis bedeutet, ſo wird ſich hier-
aus das Mittel darbieten, der Ordnung nach, die an-
genommenen Coefficienten α, β, γ ꝛc. zu beſtimmen.


Man ſetze erſtlich φ = o, ſo iſt auch φ. S oder
ſinφ = o wie ſichs gebuͤhret.


Da nun aber auch ſinφ d. h. φ. S = o wird,
fuͤr φ = π, ſo erhellet, daß unter den Factoren von
S einer vorhanden ſeyn muß, welcher fuͤr φ = π
ver-
[213]Differenzialrechnung.
verſchwindet. Man ſetze, da es gleichguͤltig iſt,
welchen Factor man waͤhlen will, daß ſogleich der
erſte 1 — α φ2 fuͤr φ = π verſchwindet, ſo hat
man 1 — α π2 = o, alſo .


Nun wird ſinφ oder φ . S auch = o fuͤr φ =
2π. Alſo muß fuͤr dieſen Werth einer der folgen-
den Factoren von S verſchwinden. Man ſetze, es ſey
1—βφ2, ſo hat man φ=2π geſetzt 1—4βπ2 = o,
demnach .


Setzt man dieſe Schluͤſſe fuͤr φ = 3 π; φ = 4 π
u. ſ. w. fort, ſo erhaͤlt man 1 — 9 γ π2 = o;
1 — 16 δ π2 = o u. ſ. w.; oder
u. ſ. w. Mithin
ſin ꝛc.
Oder auch wegen
u. ſ. w.
O 3den
[214]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
den Werth von
ſin ꝛc.
Dieſe Reihe von Factoren geht begreiflich ohne Ende
fort, weil die Reihe S ohne Ende fortlaͤuft.


8. Auf eine aͤhnliche Art laͤßt ſich auch die Reihe
fuͤr den Coſinus (4) in Faktoren zerfaͤllen, und man
erhaͤlt, weil coſφ = o wird fuͤr φ = π u. ſ. w. nach demſelben Verfahren
coſ.
wo 1, 9, 25 ꝛc. der Ordnung nach, die Quadrate
der ungeraden Zahlen 1, 3, 5, ꝛc. ſind.


Sodann auch wegen
den Werth von
coſ ꝛc.
wo das allgemeine Glied, dieſer
ohne Ende fortlaufenden Factoren iſt.


Aus
[215]Differenzialrechnung.

Aus dieſen Saͤtzen laſſen ſich viel andere
merkwuͤrdige ableiten, woruͤber man EuleriIn-
trod. in Anal. Infinit.
T. I. Cap. XI.
nachſehen
kann. Ich habe hier nur den weitlaͤuftigen Ge-
brauch der Tayloriſchen Formel, Funktionen in Rei-
hen zu verwandeln, in einigen der vorzuͤglichſten
Beyſpielen zeigen wollen. Sonſt laſſen ſich die
angefuͤhrten Saͤtze aus viel anderen Principien ab-
leiten. Den Nutzen der Tayloriſchen Formel zur
Summirung der Reihen zeigt EulerInst. Calc.
diff.
Cap. V. VI. VII
.


Folgende Aufgabe iſt eine Erweiterung des Tay-
loriſchen Lehrſatzes, welche wir Hrn. La Grange
verdanken.


§. 75.
Aufgabe.

Es ſey φx eine Funktion von x und
zwiſchen den 3 veraͤnderlichen Groͤßen
x, y, z eine Gleichung von der Form

x = y + zφx
vorgegeben, man ſoll die Funktion φx
durch y und z ausdruͤcken
.


Aufl. I. Wegen x = y + zφx hat man
erſtlich φx = φ (y + zφx)
O 4und
[216]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
und nun nach dem Tayloriſchen Lehrſatz (§. 72.)
das dortige c = zφx geſetzt
ꝛc.


II. Oder wenn man der Kuͤrze halber
u. ſ. w. ſetzt, φ (y + zφx) oder (I)
φx = Y + Y' zφx + Y''z2 (φx)2 + Y'''z3 (φx)3 ꝛc.


III. Die Geſtalt dieſer Reihe, in der hier von
φx und z lauter Potenzen von ganzen Exponenten,
und zwar nach der Ordnung der natuͤrlichen Zahlen
vorkommen, verſtattet durch Umkehrung, fuͤr φx
folgende nach den Potenzen von z fortgeſetzte Reihe
anzunehmen
φx = A + A' z + A'' z2 + A''' z3 u. ſ. w.
in der die Coefficienten A, A', A'' ꝛc. durch die
Coefficienten Y, Y', Y'' ꝛc. der Reihe (II) d. h.
durch Funktionen von y gefunden werden koͤnnen.


IV. Man mache nemlich von der Reihe (III)
der Ordnung nach, die Potenzen, und ſetze der Kuͤrze
halber
(φx)2 = B + B' z + B'' z2 + B''' z3
(φx)3 = C + C' z + C'' z2 + C''' z3
(φx)4 = D + D' z + D'' z2 + D''' z4

ſo
[217]Differenzialrechnung.
ſo werden dieſe Coefficienten ſaͤmmtlich durch A,
A', A'' ꝛc. beſtimmt ſeyn. Z. B.
B = A2
B' = 2 A' A; B'' = (A')2 + 2 A A''
C = A3; C' = 3 A2 A'
D = A
4 u. ſ. w.


V. Subſtituirt man nun dieſe Reihen uͤberall
ſtatt φx, (φx)2, (φx)3 in die Reihe (II) und
ordnet die Glieder nach den Potenzen von z, ſo
erhaͤlt man (II. III.)
φx oder A + A' z + A'' z2 + A''' z3 + A⁗ z4 u. ſ. w.
z4 u. ſ. w.


Demnach durch Vergleichung der Coefficienten,
welche in beyden Reihen zu einerley Potenzen von
z gehoͤren
A = Y
A' = A Y'
A'' = A' Y' + B Y''
A''' = A'' Y' + B'Y'' + C Y'''
A⁗ = A''' Y' + B''Y'' + C' Y''' + D Y'''

u. ſ. w.
O 5von
[218]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
von welchen Ausdruͤcken das Geſetz des Fortgangs
klar vor Augen liegt.


VI. Subſtituirt man nun ſtatt Y, Y', Y'', ꝛc.
die obigen Werthe (II), ſo wie ſtatt B, B', C, C'
ꝛc. die Werthe (IV.), ſo erhaͤlt man nach und nach
die Werthe der angenommenen Coefficienten A, A'
ꝛc. wie folget. Erſtlich
A = Y = φy. (I.)
wo denn φy eine Funktion von y bedeutet, welche
derjenigen, welche mit φx bezeichnet iſt, voͤllig
aͤhnlich iſt, ſo daß φy ſich von φx nur in dem
Buchſtaben, womit die veraͤnderliche Groͤße be-
zeichnet iſt, unterſcheidet. Z. B. wenn φx =
αx + βx3 waͤre, ſo muß man ſtatt φy ſetzen
αy + βy3, und ſo in andern Faͤllen.


Ferner wird
A' = A Y' = φy . (I).


Hieraus und aus B = A2 = (φy)2 ferner
A'' = A' Y' + B Y''

Setzet
[219]Differenzialrechnung.

Setzet man dieſe Rechnungen weiter fort, ſo
erhaͤlt man
u. ſ. w. Demnach (III)
eine Reihe, deren allgemeines Glied
ſeyn wird, wie wir bald hernach auf eine Art bewei-
ſen werden, welche die Richtigkeit dieſes allgemei-
nen Ausdrucks leichter, als durch eine Ableitung
deſſelben, aus den Gleichungen (V) uͤberſehen laͤßt.
Indeſſen ſind dieſe Gleichungen vortheilhaft fuͤr die
Ausuͤbung zu gebrauchen, weil es in vielen Faͤllen
leichter iſt, jeden folgenden Coefficienten aus den
bereits gefundenen vorhergehenden zu beſtimmen,
als jeden beſonders aus der directen Formel
wofuͤr auch wegen (φy)n
AN
[220]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
geſetzt werden kann,
zu berechnen.


§. 76.
Aufgabe.

Wenn wiederum die Gleichung
x = y + zφx
vorgegeben iſt, jede andere Funktion
von x, welche f x heißen mag, durch y
und z auszudruͤcken
.


Aufg. I. Weil jetzt
f x = f (y + zφx)
ſeyn wird, ſo hat man nach dem Tayloriſchen
Lehrſatze
oder wenn der Kuͤrze wegen
u. ſ. w. geſetzt wird
f x = f y + y' zφx + y'' z2 (φx)2 + y''' z3 (φx)3.


II. Subſtituirt man nun ſtatt φx, (φx)2,
(φx)3 die Reihe §. 75. III.) ſo wird nach gehoͤri-
ger Rechnung
f x
[221]Differenzialrechnung.
z3 u. ſ. w.
wo hier die Coefficienten in z, z2, z3 der Form nach
denen in (§. 75. V.) voͤllig aͤhnlich ſind, nur daß
ſtatt der dortigen Y', Y'' ꝛc. hier y' y'' ꝛc. ſteht.


III. Subſtituirt man nun weiter, ſtatt A, A' ..;
B, B' .. ꝛc. die (§. 75.) gefundenen Werthe, ſo
wird

IV. Setzt man dieſe Rechnung weiter fort, ſo
findet ſich der Coefficient in z3 oder
u. ſ. w. Demnach (II)
f x
[222]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
in welcher Reihe das zu zn gehoͤrige allgemeine
Glied ſeyn wird

V. Um die Richtigkeit dieſes aus Induction
geſchloſſenen allgemeinen Ausdrucks, auf eine moͤg-
lichſt kurze und leichte Art zu beweiſen, ſo wollen
wir die Coefficienten der fuͤr f x (II.) gefundenen
Reihe mit A', A'', A''' ꝛc. AN .. bezeichnen, mit-
hin der Kuͤrze halber
f x = f y + A' z + A'' z2 + A''' z3 .. + AN zn
ſetzen, und nunmehr die Reihe nach z differenziiren,
ſo wird


VI. = A' + 2 A'' z + 3 A''' z2 .. +
n AN zn—1


VII. Nimmt man den Werth dieſes Differen-
zialquotienten fuͤr z = o; ſo hat man
.
Oder es iſt fuͤr z = o.


VIII.
[223]Differenzialrechnung.

VIII. Man differenziire die Reihe (VI.) aber-
mals, ſo wird
= 2.1 A'' + 3.2 A''' z .. + n (n—1) ANzn—2.
welche Reihe fuͤr z = o ſich in 2 . 1 A'' verwandelt.
Alſo iſt
A'' = fuͤr z = o.


IX. So wird ferner durch abermahlige Diffe-
renziation
= 3.2.1 A''' + 4.3.2. AIVz .. + n (n‒1)(n‒2)ANzn—3
Mithin fuͤr z = o
= 3 . 2 . 1 A''' oder
A''' = fuͤr z = o.


X. Hieraus ſieht man leicht, daß allgemein
AN = dem Werthe des nten Differenzialquotienten
fuͤr z = o gleich ſeyn wird.


XI. Es koͤmmt alſo jetzt darauf an, die Wer-
the der Differenzialquotienten
,
fuͤr
[224]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
fuͤr z = o zu beſtimmen, um der Ordnung nach
die Coefficienten A'; A'' .. AN zu erhalten.


XII. Hiezu bietet ſich folgendes Verfahren dar.
Man differenziire die in der Aufgabe vorgegebene
Gleichung x = y + zφx, ſo erhaͤlt man
d x = d y + z . dφx + φx . d z
oder wenn man dφx = φ' x . d x ſetzt
(1 — zφ'x) d x = d y + φx d z.
Alſo .


XIII. Man multiplicire auf beyden Seiten mit
, ſo wird
d f x = R d y + S d z
wenn man der Kuͤrze halber
und
nennt.


XIV. Wuͤrde man hier d f x ſo nehmen, daß
blos z als veraͤnderlich angeſehen wuͤrde, ſo waͤre
d y = o, und man haͤtte nach der Bezeichnungsart
(§. 17. IV.) den partiellen Differenzialquotienten
.


XV.
[225]Differenzialrechnung.

XV. Wuͤrde man aber d f x ſo nehmen, daß
bloß y veraͤnderlich geſetzt wuͤrde, alſo d z = o
waͤre, ſo haͤtte man
.


XVI. Nun iſt aber wie aus (XIII.) leicht er-
hellet S = φx . R. Mithin
. (XIV. XV.)


XVII. Auf eine voͤllig aͤhnliche Art erhaͤlt man,
wenn die Gleichung (XII.) auf beyden Seiten ſtatt
mit (XIII), mit multiplicirt wird
.


XVIII. Man ſetze der Kuͤrze halber φx = u;
f x = w, ſo hat man die beyden Gleichungen.


XIX. (XVI.)


XX. (XVII.)


XXI. Man differenziire die Gleichung XIX. von
neuen nach z, ſo wird
P(ddw)
[226]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
oder


XXII. Aber aus (§. 58. Anm. u. §. 66.) iſt
. (XIX.)
Setzt man nun in die Gleichung (XXI) zugleich
ſtatt ſeinen Werth aus (XX) ſo wird (XXI)
wofuͤr der Kuͤrze halber auch bloß
geſchrieben werden kann (§. 66. IX.)


XXIII. Es erhellet, daß ſich dieſe Rechnung
wiederhohlen laͤßt, und daß allgemein
ſeyn wird.


Um
[227]Differenzialrechnung.

Um dies indeſſen vollkommen genuͤgend darzu-
thun, ſo ſetze man, dieſe Gleichung gelte fuͤr ein
beſtimmtes n, wie z. B. in (XVI) fuͤr n = 1, in
(XXII.) fuͤr n = 2, und es wird ſich leicht bewei-
ſen laſſen, daß ſie auch fuͤr das naͤchſt hoͤhere n,
alſo fuͤr n + 1 gelten wird.


XXIV. Man ſetze fuͤr φx, f x wieder die obi-
gen Buchſtaben u, w, und nehme alſo an, es ſey
wo un der Kuͤrze halber mit U bezeichnet iſt.


XXV. Differenziirt man von neuen nach z, ſo
wird
nach (§. 66.)


XXVI. Aber (XXIV.)
Oder ſtatt , und die Werthe aus
(XXII) (XX) geſetzt
P 2(d U)
[228]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.
d. h.
Mithin (XXV. u. §. 66. IX)
Oder
Man ſieht alſo, daß der Satz (XXIII) auch fuͤr
n + 1 ſeine Richtigkeit hat, und alſo allgemein
wahr iſt.


XXVII. Aber um jeden Coefficienten wie AN-
zu erhalten, muß man das Differenzial fuͤr
z = o nehmen (X), und mit 1 . 2 . 3 .. n dividiren.


Da nun aber vermoͤge der Gleichung
x = y + zφx
fuͤr z = o; x = y wird, mithin auch f x = f y;
φx = φy, ſo hat man (XXIII) den Werth von
1
[229]Differenzialrechnung.
d. h.
Mithin hat das Geſetz der Reihe (IV) fuͤr f x ſeine
vollkommene Richtigkeit.


Setzt man φy ſtatt f y, ſo hat man den ſpeciel-
len Fall der Aufgabe (§. 75.) fuͤr welche denn der
fuͤr AN (daſ. VII) gegebene allgemeine Ausdruck
gleichfalls durch die bisherige Rechnung erwieſen iſt.


§. 77.
Beyſpiele.

Beyſp. I. Um das bisherige durch ein paar
Beyſpiele zu erlaͤutern, ſo ſey die Gleichung
x = y + z xm
vorgegeben, man ſoll x durch y und z finden.


Weil alſo die durch y und z auszudruͤckende
Funktion von x, die Groͤße x ſelbſt ſeyn ſoll, ſo
hat man f x = x; mithin auch f y = y; ferner iſt
φx = xm, alſo auch φy = ym (§. 75. VI.)


P 3Dies
[230]Erſter Theil. Erſtes Kapitel.

Dies giebt erſtlich , und
folglich f x oder
ꝛc.
Aber d (y2m) = 2 m y2m—1 d y
d (y3m) = 3 m y3m—1 d y, und nochmahls dif-
ferenziirt d2 (y3m) = 3m (3 m—1)y3m—2 d y2 u. ſ. w.
Folglich
u. ſ. w.


Da dieſe Reihe fuͤr gegebene Werthe von z und
y offenbar eine Wurzel der Gleichung x = y +
z xm
darſtellt, ſo erhellet, daß der Lehrſatz (§. 76.)
dienen kann, Wurzeln von Gleichungen zu finden.
Aber die vollſtaͤndige Ansfuͤhrung hievon gehoͤrt
nicht hieher, und laͤßt ſich auch hier in der Kuͤrze
nicht entwickeln, zumahl wenn von allen Wur-
zeln der Gleichung die Rede iſt. Man ſ. indeſſen
hieruͤber La Grange in den Mem. de l’Acad. de
Berlin
1768, womit auch Lamberts Abhand-
lung
[231]Differenzialrechnung.
lung in den Actis Helveticis 1757 verglichen wer-
den kann.


So erhellet denn leicht, daß wenn fuͤr φx eine
beliebige nach den Potenzen von x fortgehende Reihe
geſetzt wird, der bisherige Lehrſatz auch das allge-
meine Problem der Umkehrung der Reihen aufloͤſt.
M. ſ. hieruͤber Hrn. Hofrath J. F. Pfaffs
Abhandl. in dem Hindenburgiſchen Archiv
der Math
. 1. Heft. Abhandl. VI. Auch deſſen
Disquis. analyt. in tractatu de reversione serierum
§. IV. seq.


II.Beyſpiel. Es ſey aus der Gleichung
ψ = ωe ſinψ
der Winkel ψ durch ω, oder in der Aſtronomie die
excentriſche Anomalie ψ aus der mittlern Anomalie
ω, und der Excentricitaͤt e der Planetenbahn zu
beſtimmen, fuͤr welche 3 Groͤßen gedachte Gleichung
herauskoͤmmt, wenn die Winkel ω, ψ von der
Sonnenferne angerechnet werden.


Man ſetze demnach in obige Formel (§. 76.)
x = ψ; y = ω; z = e
f x
= ψ; t y = ω; φx = ſinψ; φy = ſinω (§. 75. VI.)
ſo wird , und die Reihe (§. 76.
IV.) verwandelt ſich in
P 4ψ
[232]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
ꝛc.


Es koͤmmt alſo nur noch darauf an, die Wer-
the der in dieſer Reihe vorkommenden Differenzial-
quotienten fuͤr den aſtronomiſchen Gebrauch auf die
moͤglichſt bequeme Weiſe zu entwickeln, und zum
Behufe der numeriſchen Berechnung einzurichten.
Da aber die weitere Ausfuͤhrung hievon fuͤr die
Aſtronomie gehoͤrt, ſo war es hier hinlaͤnglich, die
Anwendung des Lehrſatzes (§. 76.) nur im allge-
meinen gezeigt zu haben.


Zweytes Kapitel.
Einige Anwendungen der Differen-
zialrechnung
.


Ohngeachtet ſchon in den bisher gegebenen Bey-
ſpielen zu dieſen oder jenen Lehrſaͤtzen und Aufga-
ben, allerley nuͤtzliche Anwendungen der Differen-
zialrechnung liegen, ſo wird es doch ſo wohl zur
genauern Kenntniß des wahren Geiſtes dieſer Rech-
nung ſelbſt, als auch ihres mannigfaltigen Ge-
brauchs nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, noch verſchiedenes
Hiehergehoͤrige beyzubringen, und insbeſondere auch
den Nutzen derſelben in der hoͤheren Geometrie durch
einige Aufgaben zu erlaͤutern.


§. 78.
[233]Differenzialrechnung.
§. 78.
Aufgabe.

Eine Reihe 1 + α x + β x2 + γ x3 u. ſ. w.
auf eine beliebige Potenz m zu erhe-
ben, wo die griechiſchen Buchſtaben ge-
gebene Coefficienten bedeuten
.


Aufg. I. Man ſetze jene Reihe = 1 + y
und ihre Potenz m ſey 1 + A x + B x2 + C x3
u. ſ. w., welche Form ſie nothwendig haben muß.
Man ſucht die Coefficienten A, B, C ꝛc.


II. Ich will 1 + A x + B x2 + C x3 ..
= w nennen. Alſo ſoll ſeyn
(1 + y)m = w.
Dies giebt durch Differenziation
m (1 + y)m—1d y = d w
oder auf beyden Seiten mit 1 + y multiplicirt.
m (1 + y)md y = (1 + y) d w
d. h. m w d y = (1 + y) d w.


III. Dies giebt
.


IV. Nun iſt
....


P 5V.
[234]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

V. Alſo mit 1 + y oder 1 + α x + β x2
+ γ x3 … multiplicirt
u. ſ. w.


VI. Ferner iſt
ꝛc.
welches mit m w = m + m A x + m B x2 + ꝛc.
multiplicirt
u. ſ. w.
giebt.


VII.
[235]Differenzialrechnung.

VII. Da nun beyde fuͤr und
m w gefundene Reihen nach (III) einander
gleich ſind, ſo erhaͤlt man durch Gleichſetzung der
Coefficienten, welche in beyden Reihen zu einerley
Potenz von x gehoͤren,
A = m α
A α + 2 B = 2 m β + m A α
A β + 2 B α + 3 C = 3 m γ + 2 m A β + m B α
u. ſ. w.
Woraus
A = m α
folgt, von welchen Ausdruͤcken das Geſetz ſo klar
vor Augen liegt, daß es unnoͤthig iſt, ſowohl das
allgemeine Glied davon hinzuſetzen, als auch daſ-
ſelbe durch die gewoͤhnliche Schlußform vom naͤchſt-
niedrigern zum naͤchſthoͤhern zu rechtfertigen.


Man
[236]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Man ſieht indeſſen leicht, daß ſehr zuſammen-
geſetzte Ausdruͤcke zum Vorſchein kommen wuͤrden,
wenn man nun weiter in dem Werthe von B den
Werth von A, ſodann ferner die erhaltenen B und A
in dem Werthe von C u. ſ. w. ſubſtituiren wollte,
um die Coefficienten A, B, C bloß allein durch die-
jenigen der vorgegebenen Reihe 1 + α x + β x2 ꝛc.
zu beſtimmen. Es iſt hier hinlaͤnglich, das Geſetz
gezeigt zu haben, wie jeder folgende Coefficient der
Reihe w, durch die vorhergehenden gefunden wer-
den kann. Vollſtaͤndigere Entwickelungen gehoͤren
fuͤr die Combinatoriſche Analyſis, wovon
man in mehreren Heften des Hindenburgiſchen
Archivs fuͤr reine und angewandte Ma-
thematik
, ſo wie in den uͤber jene Analyſis her-
ausgekommenen Schriften das weitere nachſehen
kann.


  • Sammlung combinatoriſch analyti-
    ſcher Abhandlungen herausgege-
    ben von Hindenburg
    . Erſte Samml.
    1796 (unter dem Titel: der Polynomiſche
    Lehrſ.) Zweyte 1800.
  • Toͤpfer combinatoriſche Analytik. Leipz.
    1793.
  • Lorenz Syntactik u. d. gl.

VIII.
[237]Differenzialrechnung.

VIII. Zuſatz. Setzt man α = 1; β = o;
γ = o u. ſ. w. ſo erhaͤlt man die Potenz m von
1 + x; und die Coefficienten derſelben werden
A = m;; ꝛc.
oder
.
wo m jede ganze, gebrochene und negative Zahl be-
deuten kann; denn das Differenzial von (1 + y)m
(II) woraus die Gleichung (III) abgeleitet wurde,
hat die Form m (1 + y)m—1d y, es mag m ſeyn
was es will, wie aus den Schluͤſſen des 12ten und
13ten §es klar iſt.


So iſt denn durch die Differenzialrechnung der
Binomiſche Lehrſatz allgemein erwieſen.


Aber auch fuͤr die Potenz m der polynomiſchen
Groͤße 1 + α x + β x2 + γ x3 … gelten die For-
meln (VII) m mag ſeyn was es will.


§. 79.
Aufgabe.

Es ſeyenf x, φ xbeliebige Funktio-
nen von x, deren jede fuͤr einen gewiſ-
ſen Werth von x verſchwindet, ſo daß

z. B.
[238]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
z. B. fuͤrx = a, ſo wohl f x als φ x = o
werden, man verlangt den Werth des
Quotienten fuͤr jenen Werth von x
zu beſtimmen
.


Aufg. I. Man laſſe x um einen beliebigen
Werth = c wachſen, ſo hat man nach dem Taylo-
riſchen Lehrſatz
ꝛc.


Wenn man der Kuͤrze wegen die Werthe der
Differenzialquotienten ; ;
ꝛc. der Ordnung nach mit p, q, r ꝛc. bezeichnet.


II. Voͤllig eben ſo
ꝛc.
wenn ; ; mit P, Q, R ꝛc. be-
zeichnet werden.


III. Dies giebt

IV.
[239]Differenzialrechnung.

IV. Nun ſoll fuͤr x = a, ſowohl f a, als φ a
= o
ſeyn, folglich hat man a ſtatt x geſetzt,
nachdem man Zaͤhler und Nenner des Bruchs (III)
rechter Hand des Gleichheits Zeichens gemeinſchaft-
lich mit c dividirt hat.


V. Jetzt ſetze man nun auch c = o, ſo wird
; oder iſt der Werth von
wenn x ſich in a, mithin f x ſich in f a, und φ x
in φ a, verwandelt, in welchem Falle aber der
Vorausſetzung gemaͤß f a und φ a zugleich ver-
ſchwinden ſollen.


Man ſieht alſo, daß fuͤr dieſen Fall, wegen
und , der Werth des Quo-
tienten
iſt, wo denn nach geſche-
hener Differenziation, in den Differenzialquotienten
ebenfalls x = a zu ſetzen iſt.


VI.
[240]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

VI. Nun koͤnnte es aber geſchehen, daß der
Quotient oder fuͤr x = a auch =
wurde, d. h. P = o und p = o wuͤrden.


In dieſem Falle iſt in (IV)
Folglich fuͤr c = o
oder der Werth von iſt dem zweyten Diffe-
renzialquotienten fuͤr x = a gleich.


VII. Wenn aber auch in dieſem ſowohl d2 f x,
als auch d2 φ x fuͤr x = a verſchwinden, ſo ſiehet
man nach aͤhnlichen Schluͤſſen leicht, daß alsdann
werden wuͤrde u. ſ. w.


Auf ſolche Art erhaͤlt man zuletzt den geſuchten
Werth des Quotienten , der denn entweder end-
lich iſt, oder auch = o, oder unendlich groß ſeyn
kann.


§. 80.
[241]Differenzialrechnung.
§. 80.
Beyſpiele.

Beyſp. I. Man fraͤgt nach dem Werthe von
fuͤr den Fall, daß x = o iſt.
Es erhellet, daß fuͤr dieſen Fall, ſowohl der Zaͤh-
ler als Nenner des vorgegebenen Ausdrucks = o
werden, und demnach der Quotient unbe-
ſtimmt
zu ſeyn ſcheint, weil im allgemeinen
jeden Werth haben kann. Daß aber dennoch
die vorgegebene Funktion fuͤr x = o
einen beſtimmten Werth hat, erhellet daraus,
wenn man Zaͤhler und Nenner gemeinſchaftlich mit
b + √ (b2 — x2) multiplicirt. Denn es wird
d. h.
Alſo fuͤr x = o wird
.


QEben
[242]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Eben dieſes wird ſich auf dem Wege der Diffe-
renziation finden, denn ſetzt man in (§. 79)
f x = b — √ (b2 — x2); φ x = x2, ſo iſt oder
; welches fuͤr x = a = o
ſich in verwandelt. Daher iſt oder
.


BeyſpielII. Man verlangt den Werth des
Quotienten fuͤr x = 1, fuͤr welchen
Werth Zaͤhler und Nenner = o werden, und alſo
unbeſtimmt zu ſeyn ſcheint.


Jetzt iſt alſo in der Aufgabe des vorhergehen-
den §es a = 1
f x = x — xn + 1; alſo d f x = (1 — (n + 1) xn) d x
φ x = 1 — x; alſo d φ x = — d x.
Mithin
welches fuͤr x = a = 1 ſich in
ver-
[243]Differenzialrechnung.
verwandelt. Dies iſt demnach der Werth des
Quotienten fuͤr x = 1.


Es erhellet dies auch durch folgende Betrach-
tung. Es iſt
(oder wenn man 1 — xn
mit 1 — x dividirt) = x (1 + x + x2 … + xn—1).
Aber fuͤr x = 1 wird die in der Parentheſe einge-
ſchloſſene Reihe offenbar = 1 + n — 1 = n; weil
jede Potenz von x ſich in 1 verwandelt und n — 1
ſolcher Potenzen vorhanden ſind. Alſo iſt

Beyſp. III. Es ſey der Werth des Bruchs
fuͤr x = 1 zu beſtimmen.


Hier iſt alſo f x = 1 — 2 x + 2 x3x4
φ x = (1 — x)3.
Demnach ; da die-
ſer Ausdruck fuͤr x = 1 noch unbeſtimmt bleibt,
weil Zaͤhler und Nenner zugleich verſchwinden; ſo
muß man jetzt nach (§. 79.) im Zaͤhler und Nen-
ner abermahls differenziiren, dann wird
Q 2d2 ſ x
[244]Erſter Theil. Zweites Kapitel.
Dieſer Ausdruck wird im Zaͤhler und Nenner noch
immer = o fuͤr x = 1; folglich muß man aber-
mahls differenziiren und man erhaͤlt
Da dieſes fuͤr x = 1 ſich in + 2 verwandelt, ſo
iſt der Werth des Bruchs oder

Beyſp. IV. Es ſey der Bruch fuͤr
x = 1 zu beſtimmen. Man hat alſo jetzt
aber (§. 21.) und d √ (1 — x)
= — ; alſo
Da dies fuͤr x = 1 den Werth o hat, ſo iſt auch
fuͤr x = 1.


Bey-
[245]Differenzialrechnung.

Beyſp. V. Man ſucht den Werth des Aus-
drucks fuͤr x = 90°, fuͤr wel-
chen Fall wegen ſin x = 1 und coſ x = o Zaͤhler
und Nenner zugleich = o werden. Man hat alſo
(§. 39. 40.)
Da der Werth dieſes Bruchs fuͤr x = 90° ſich in
verwandelt, ſo iſt + 1 der Werth
des vorgegebenen Ausdrucks.


BeyſpielVI. Den Werth des Ausdrucks
fuͤr x = 1 zu finden.


Alſo iſt
d φ x = — 2 (1 — x) d x
Mithin
Da dies fuͤr x = 1 ſich in oder in ver-
Q 3wan-
[246]Erſter Theil. Zweites Kapitel.
wandelt, und eine unendliche Groͤße bezeichnet,
ſo iſt der Werth des vorgegebenen Ausdrucks = ∞
fuͤr x = 1; ein Beyſpiel, daß Bruͤche, deren Zaͤh-
ler und Nenner verſchwinden (wie der vorgegebene
fuͤr x = 1) auch einen unendlichen
Werth haben koͤnnen.


§. 81.
Zuſatz.

Das bisherige Verfahren kann auch in vielen
Faͤllen dienen, den Unterſchied zweyer unendlich wer-
denden Groͤßen zu beſtimmen, wenn die Formen,
unter denen ſie unendlich werden, gegeben ſind. Daß
dieſer Unterſchied ſehr oft einer endlichen Groͤße gleich
ſeyn kann, wird daraus erhellen, daß jede endliche
Groͤße, in Vergleichung einer unendlichen, als ver-
ſchwindend betrachtet werden kann.


Man betrachte ſogleich das Beyſpiel I im vor-
hergehenden §. Der Ausdruck
zerfaͤllt in die beyden Theile ; und
Ihre Differenz iſt der vorgegebene Ausdruck ſelbſt.


Aber
[247]Differenzialrechnung.

Aber jeder von dieſen beyden Theilen waͤchſt
unendlich, wenn x unendlich abnimmt, und fuͤr
x = o wird und .


Aber beyde Unendliche unter den Formen
und , wie ſie hier vorgegeben ſind,
haben den endlichen Unterſchied , weil
, oder
wie wir oben gefunden haben = iſt, fuͤr x = o,
alſo fuͤr den Werth, fuͤr welchen jene Formen
und ſich ins Unendliche verwandeln.


II. Um es durch ein anderes Beyſpiel zu erlaͤu-
tern, ſo ſeyen die Groͤßen und vorge-
geben. Beyde werden fuͤr x = 1 unendlich. Man
verlangt ihren Unterſchied fuͤr den Fall, daß ſie un-
endlich werden.


Q 4Der
[248]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Der Unterſchied iſt

Man ſuche alſo den Werth dieſes Ausdrucks fuͤr
x = 1. Da nun aber Zaͤhler und Nenner fuͤr die-
ſen Werth von x verſchwinden, ſo erhaͤlt man nach
dem Verfahren des vorigen §es
Aber .
Und
Demnach

Da dies fuͤr x = 1 abermahls giebt, ſo muß
man im Zaͤhler und Nenner nochmahls differenzii-
ren und man erhaͤlt nach gehoͤriger Rechnung

Da
[249]Differenzialrechnung.

Da dies fuͤr x = 1 den Bruch ½ giebt, ſo er-
hellet, daß wenn die beyden Groͤßen und
fuͤr x = 1 unendlich werden, ſie in dieſem
Zuſtande noch um die endliche Differenz ½ von ein-
ander unterſchieden ſind.


§. 82.
Aufgabe.

Es ſeyen M, N ganze rationale Funk-
tionen von x und die Bruchfunktion
vorgegeben, in welcher die hoͤchſte Po-
tenz von x im Zaͤhler M niedriger ſey,
als im Nenner N. Der Nenner enthalte
den Factor α + β x aber nur einmahl,
man ſoll den Zaͤhler A des aus dieſem
Factor entſtehenden einfachen Bruchs
beſtimmen
.


Aufl. I. Da unter der Vorausſetzung, daß
M von einer niedrigern Dimenſion als N iſt, aus
Q 5dem
[250]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
dem Factor α + β x des Nenners N ein Bruch
entſteht, deſſen Zaͤhler A kein x enthaͤlt (§. X. Ein-
leitung), ſo ſey nunmehr N = (α + β x) S, ſo daß
S das Produkt der uͤbrigen Factoren des Nenners N
bedeutet, ſo wird ſich die Bruchfunktion in die
beyden Bruͤche zerlegen, wo P
ebenfalls eine ganze rationale Funktion von x ſeyn
wird, und zwar von einer niedrigern Dimenſion
als S.


II. Da alſo , ſo hat
man, wenn die beyden Bruͤche rechter Hand des
= Zeichens unter einerley Benennung gebracht
werden
M = A . S + P (α + βx).
Alſo


III. Da nun P eine ganze rationale Funktion
von x iſt, ſo muß ſich nothwendig M — A S mit
α + β x ohne Reſt dividiren laſſen, d. h. α + β x
muß ein Factor von M — A S ſeyn. Folglich muß
M — A S = o werden, wenn man dieſen Factor
= o
[251]Differenzialrechnung.
= o ſetzt, d. h. wenn in den Ausdruck M — A S
geſetzt wird.


IV. Man hat demnach aus der Gleichung
M — A S = o, den Werth von , wenn in
die Funktionen M und S der Werth von
geſetzt wird. Und ſo iſt denn auf dieſe Art, der
Zaͤhler A des einfachen Bruchs gefunden.


V. Dieſes Verfahren kann gebraucht werden,
wenn man S weiß. Da aber dieſer Factor des Nen-
ners N erſt durch die Diviſion gefunden
werden muß, wenn nicht etwa die Factoren von S
auch ſchon gegeben ſind, ſo kann man, um die Laͤ-
ſtigkeit jener Diviſion zu erſparen, den Werth von
A auch auf folgende Art finden.


VI. Wegen iſt auch
(IV) wenn uͤberall — ſtatt x ge-
ſetzt wird. Aber fuͤr dieſen Werth von x verwan-
delt
[252]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
delt ſich in , weil auch N den
Factor α + β x enthaͤlt, welcher fuͤr
verſchwindet.


Mithin erhaͤlt man nach (§. 79.)
,
in welchem Ausdrucke fuͤr
verſchwindet.


Alſo iſt ſchlechtweg ,
wenn man in dieſen Quotienten, nachdem man d N
durch die Differenziation gefunden hat, uͤberall —
ſtatt x ſetzt.


VII. BeyſpielI. Es ſey
ſo entſteht aus dem Factor α + x des Nenners ein
Bruch, deſſen Zaͤhler
wird,
[253]Differenzialrechnung.
wird, wo ſtatt x uͤberall — α geſetzt werden muß,
weil fuͤr den Factor α + x, β = 1 iſt. Dies giebt
.
So wird aus dem Factor γ + x des Nenners N ein
Bruch, deſſen Zaͤhler
; u. ſ. w. .
Daher die Bruchfunktion
ſich in die drey einfachen Bruͤche
zerlegt, ſtatt A, B, C die gefundenen Werthe ſub-
ſtituirt.


VIII.BeyſpielII. Es ſey
Daß hier der Nenner den Factor 1 — x hat, er-
kennt man daran, daß fuͤr x = 1 der Nenner
1 + 2 x — 3 x2 + 4 x3 — 4 x4 = o wird, oder
x = 1 eine Wurzel dieſer Gleichung iſt.


Ohne nun hier den Quotienten
durch die Diviſion
zu
[254]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
zu entwickeln, kann man den Werth von A nach der
Formel (VI) finden, in welcher fuͤr
den Factor α + βx = 1 — x;α = 1; β = — 1
iſt, wodurch ſchlechtweg wird. Nun
iſt aber d N = (2 — 6 x + 12 x2 — 16 x3) d x;
alſo wegen M = 1 + x2
wo uͤberall — oder hier + 1 ſtatt x geſetzt
werden muß, wodurch erhal-
ten wird.


§. 83.
Aufgabe.

Wenn in der vorigen Aufgabe der Nen-
ner N den Factor
α + βxmehrere mahle,
alſo eine Potenz deſſelben, z. B. die
vierte, enthaͤlt, ſo daß
N = (α + βx)4. S
iſt, S aber den Factorα + βxnicht ent-
haͤlt, die Zaͤhler der aus dem Factor
(α
+ βx)4entſtehenden Bruͤche zu finden.


Aufl.
[255]Differenzialrechnung.

Aufl. I. Nach (Einleitung §. XIV.) entſte-
hen aus (α + βx)4 und dem Factor S die Bruͤche
.


II. Dies giebt, alle unter einerley Nenner
gebracht, den Zaͤhler M = A S + B S (α + βx)
+ C S (α + βx)2 + D S (α + βx)3 + P (α + βx)4.


Woraus
folgt.


III. Da nun P eine ganze Funktion iſt, ſo
muß ſich der Zaͤhler von P mit (α + βx)4 ohne Reſt
dividiren laſſen, oder (α + βx)4 muß ein Factor
von M — A S — B S (α + βx) — C S (α + βx)2
D S (α + βx)3, oder auch von
ſeyn.


IV. Da nun aber, vermoͤge der Vorausſetzung,
S den Factor α + βx nicht enthalten ſoll, ſo wird
bloß
[256]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
bloß die Funktion ‒ A ‒ B (α + βx) ‒ C (α + βx)2
D (α + βx)3,
welche ich mit Z bezeichnen will,
ſich mit (α + βx)4 muͤſſen dividiren laſſen, oder
Z wird den Factor α + βx viermahl enthalten
muͤſſen.


V. Daraus folgt denn (§. 49. V.), daß auch
die Differenzialquotienten oder Funktionen ; ;
; noch dieſen Factor α + βx enthalten werden.


VI. Setzt man alſo dieſen Factor = o, mit-
hin , ſo wird fuͤr dieſen Werth von x
nicht allein die Funktion Z, ſondern auch ; ;
verſchwinden.


VII. Wird nun der Kuͤrze halber ge-
ſetzt, ſo hat man fuͤr
1) Z d. h. W — A — B (α + βx) — C (α + βx)2
D (α + βx)3 = o

d Z
[257]Differenzialrechnung.
2)
3)
4) .

Oder wenn man wirklich ſetzt, ſchlecht-
weg
1) W — A = o oder A = W
2)
3)
4)

wovon das Geſetz des Fortgangs klar vor Augen
liegt, dergeſtalt, daß wenn der Nenner N auch den
Factor α + βx mehr als 4 mahl enthielte, z. B.
n mahl, ſich nach eben dieſen Formeln die Zaͤhler
der aus (α + βx)n entſtehenden Bruͤche
wuͤrden berechnen laſſen, wo denn, wenn
der letzte Bruch iſt, der Zaͤhler
RH
[258]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
(in dieſen Differenzialquotienten, ſo wie in alle vor-
hergehenden geſetzt) ſeyn wuͤrde.


VIII.Beyſpiel. Es ſey
wo alſo der Nenner N den Factor α + x fuͤnfmahl
enthielte. Hier waͤre alſo n = 5; M = a + x;
S
= γ + x; der Factor α + βx hier α + x, alſo
β = 1; und — , und W oder .


Wegen n = 5 muß man alſo hier die Differen-
zialquotienten von W, bis auf den 4ten ſuchen.


Dies giebt

Setzt man jetzt in alle dieſe Ausdruͤcke —
oder hier — α ſtatt x, ſo erhaͤlt man aus (VII)
die
[259]Differenzialrechnung.
die Werthe der Zaͤhler A, B, C, D, E auf folgende
Art
; ;
;


Wollte man nun hier auch noch den Zaͤhler P
des aus dem Factor γ + x des Nenners N entſte-
henden Bruchs berechnen, ſo ſetze man in (§. 82.)
das dortige M hier = a + x, das dortige S hier
= (α + x)5, das dortige α + βx hier = γ + x,
alſo das dortige α hier = γ, das dortige β hier
= 1; mithin das dortige — hier = — γ, ſo
wird der erwaͤhnte Zaͤhler hier
oder uͤberall — γ ſtatt x geſetzt .


Demnach wuͤrde die Bruchfunktion oder
in folgende Bruͤche zerfallen
ſtatt A, B, C, D, E, P uͤberall die gefundenen
Werthe ſubſtituirt.


R 2§. 84.
[260]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
§. 84.
Anmerkung.

1. Die bisherigen Vorſchriften ſind allgemein
und gelten, wenn in dem Nenner N der vorgege-
benen Bruchfunktion auch imaginaͤre einfache Fac-
toren von der Form x — a (coſφ + ſinφ √ — 1);
x — a (coſφſinφ √ — 1), welche in einander
multiplicirt den quadratiſchen moͤglichen Factor
x2 — 2 a coſφ . x + a2 geben wuͤrden, vorkom-
men. Man vergleiche hiemit (§. XV. ꝛc. der Ein-
leitung.) Denn ſetzt man
ſeyen die aus dieſen Factoren entſtehenden einfachen
Bruͤche, ſo iſt fuͤr den erſteren das α in (§. 82.)
hier = — (a coſφ + ſinφ √ — 1); und das β
hier = 1, mithin — hier = a (coſφ + ſinφ √ ‒ 1);
oder dieſen Werth muß man in den Ausdruck
d. h. wegen β = 1 hier in den Quotienten M:
ſtatt x ſetzen, um A zu bekommen. Ich will der
Kuͤrze halber nennen, ſo iſt
ſtatt
[261]Differenzialrechnung.
ſtatt x uͤberall den Werth a (coſφ + ſinφ √ — 1)
geſetzt.


2. Weil nun M L ganze rationale Funktio-
nen von x ſind, ſo ſetze man in M oder L heiße ein
unbeſtimmtes Glied xμ, ſo verwandelt ſich dieſes
durch die erwaͤhnte Subſtitution in aμ (coſφ +
ſinφ √ — 1)μ oder in aμ (coſμ φ + ſinμ φ. √ — 1)
(§. 48. VIII) d. h. in einen moͤglichen Theil aμcoſμ φ
und einen unmoͤglichen aμſinμ φ . √ — 1.


Alſo zerfallen M und L, aus ſo viel Potenzen
von x ſie auch beſtehen, in einen moͤglichen und un-
moͤglichen Theil. Die moͤglichen von M und L
ſollen M, L, und die unmoͤglichen m √ — 1; l √ — 1
heißen, ſo iſt ; und ſo wird auf
eine voͤllig aͤhnliche Art , weil
ſich der Nenner des zweyten Bruchs in (1) von dem
des erſtern nur darin unterſcheidet, daß in ihm das
√ — 1 negativ iſt.


3. Wenn man die beyden Bruͤche in (1) zu-
ſammen addirt, ſo erhaͤlt man den Bruch
R 3alſo
[262]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
alſo einen Bruch, deſſen Nenner der quadratiſche
oder Trinomialfactor iſt, welcher aus den beyden
einfachen unmoͤglichen Factoren (1) entſteht.


4. Nun iſt A + B (2) nach gehoͤriger Rech-
nung und
Und der Bruch (3) verwandelt ſich in
wo und
iſt.


5. So koͤnnen auf eine aͤhnliche Art, wenn
der Nenner N noch andere quadratiſche Factoren,
z. B. x2 — 2 b coſψ . x + b2, welche in einfache
von der Form (1) zerfielen, (wo nur b, ψ, ſtatt a,
φ zu ſetzen waͤre) enthielte, die zugehoͤrigen Bruͤche
wie (1) oder (4) gefunden werden. Die vollſtaͤn-
dige Ausfuͤhrung hievon findet man in Eulers
Differenzialrechnung P. II. Cap. XVIII. Das
bisher beygebrachte iſt fuͤr den meiſten Gebrauch
vollkommen hinlaͤnglich.


Vom
[263]Differenzialrechnung.
Vom Groͤßten oder Kleinſten.
§. 85.

Erklaͤrung. 1. Wenn y eine Funktion von
x iſt, ſo kann y fuͤr ein gewiſſes x einen Werth be-
kommen, welcher groͤßer iſt, als diejenigen, welche
einem etwas groͤßern oder kleinern x entſprechen wuͤr-
den. Es kommt dies auf die Beſchaffenheit der
Funktion an. Geſetzt ſie ſey ,
welches die bekannte Gleichung fuͤr die Ellipſe iſt,
wenn die Abſciſſen vom Anfangspunkte der großen
Axe α genommen werden. Hier waͤchſt die Ordi-
nate y von x = o bis x = ½ α, fuͤr welchen Werth
von x das y = ½ γ, oder der halben kleinen Axe
gleich wird. Laͤßt man nun x noch weiter wachſen,
ſo nimmt y wieder ab, und fuͤr x = α iſt y wieder
= o, wie fuͤr x = o. Wuͤrde man x auch um die
mindeſte Differenz = Δx groͤßer oder kleiner, als
x = ½ α nehmen, ſo wird y kleiner, als es fuͤr x
= ½ α war, d. h. \< ½ γ. Man kann alſo ſagen,
daß die Ordinate y fuͤr x = ½ α einen groͤßten
Werth
habe, oder daß y fuͤr x = ½ α ein
Groͤßtes (maximum) ſey.


2. Waͤre die Funktion 6 + 2 x — x2 vorge-
geben, welche ich der Kuͤrze halber mit []y be-
R 4zeich-
[264]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
zeichnen will, wo man y und x auch wieder als
Coordinaten einer krummen Linie betrachten kann,
und ſetzt man x = 1, ſo wird fuͤr dieſen Werth von
x, y = 7. Nimmt man x auch nur um die min-
deſte Differenz Δx, z. B. nur um Δx = 0,001
groͤßer oder kleiner als 1, ſo wird y \< 7.


Iſt z. B. x = 1,001, ſo wird y = 6 + 2,002
— 1,002001 = 6,999999 alſo \< 7.


Iſt x = 1 — 0,001 = 0,999, ſo wird y =
6 + 1,998 — 0,998001 = 6,999999, alſo wie-
der \< 7. Daher iſt der Werth y = 7 fuͤr x = 1
ein Groͤßtes, oder ein Maximum der Funktion y
= 6 + 2 x — x2.


3. Nimmt man in (1) das Wurzelzeichen ne-
gativ, ſo iſt fuͤr x = ½ α, y zwar auch eine groͤßte
Ordinate, aber eine groͤßte verneinte = — ½ γ.
Iſt nemlich x \> \< ½ α, ſo iſt y fuͤr beyde Werthe
eine kleinere verneinte Groͤße.


4. Umgekehrt heißt y ein Kleinſtes (Mini-
mum
) fuͤr einen gewiſſen Werth von x, wenn fuͤr
ein groͤßeres oder kleineres x, ein groͤßeres y heraus-
kommt.


Es ſey z. B. y = x3 — 3 x + 6, ſo iſt fuͤr
x = + 1, der Werth von y = + 4; ein Klein-
ſtes.
[265]Differenzialrechnung.
ſtes. Jeder andere Werth von x, der etwas groͤ-
ßer oder kleiner als + 1 iſt, wird ein groͤßeres y
geben, als + 4 iſt.


5. Aber die Funktion (4) hat auch einen groͤß-
ten Werth; naͤmlich fuͤr x = — 1 wird y = 8 ein
Groͤßtes; weil, wenn man x etwas groͤßer oder
kleiner negativ nimmt, in beyden Faͤllen y \< + 8
werden wird.


Es erhellet aus dieſem Beyſpiele, daß eine und
dieſelbe Funktion groͤßte und kleinſte Werthe haben
kann. Ja ſie kann mehrere groͤßte und kleinſte ha-
ben, welches denn auf ihre Beſchaffenheit ankoͤmmt.


6. Man gedenke ſich eine Gleichung zwiſchen
y und x; x als Abſciſſe einer krummen Linie und y
als Ordinate, und ſetze, die krumme Linie, welche
nach dieſer Gleichung conſtruirt worden, habe die
Geſtalt (Fig. III.); ſo gehoͤret zur Abſciſſe A P,
eine kleinſte poſitive Ordinate P M; denn die benach-
barten Ordinaten, wie p m, p' m', ſind groͤßer
als P M, Hingegen gehoͤret zur Abſciſſe A Q eine
groͤßte poſitive Ordinate Q N, weil die benachbar-
ten q n, q' n' \< Q N. Zur Abſciſſe A R gehoͤret
eine groͤßte negative Ordinate R S, denn die benach-
barten r s, r' s' ſind kleinere negative als R S. End-
lich iſt T W eine kleinſte negative, X Y wieder eine
R 5groͤß-
[266]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
groͤßte negative Ordinate, und nun uͤber Y rechter
Hand, ſo wie uͤber M linker Hand, geht die krumme
Linie mit unendlichen Schenkeln fort, worin weder
groͤßte noch kleinſte Ordinaten mehr ſtatt finden, weil
keine Ordinaten ſich mehr vorfinden, welche zwi-
ſchen zwey kleineren oder groͤßeren benachbarten ent-
halten ſind.


Das bisherige wird den Begriff von den groͤß-
ten oder kleinſten Werthen einer Funktion ſo erlaͤu-
tern, daß daraus zugleich die Methode, dieſe Wer-
the ſelbſt zu finden, erſichtlich wird. Indeſſen muß
ich vorher noch folgende Bemerkung beyfuͤgen.


7. Es iſt bekannt, daß in der Analyſis ein Groͤ-
ßeres negative in Vergleichung des Poſitiven, fuͤr
kleiner gehalten wird, als ein kleineres Negative;
z. B. — 8 fuͤr kleiner als — 6, in ſo fern zu dem
groͤßern negativen — 8 erſt etwas Bejahtes (+ 2)
hinzu addirt werden muß, um das kleinere Nega-
tive — 6 zu erhalten. In dieſer arithmetiſchen
Bedeutung kann eine groͤßte negative Ordinate, wie
R S, auch als ein Kleinſtes betrachtet werden, weil
die benachbarten r s, r' s' kleinere Negative, alſo
in der angefuͤhrten Bedeutung \> R S ſind.


8. In eben dem Sinne (7) wird denn auch eine
kleinſte negative Ordinate wie T W, d. h. eine
ſol-
[267]Differenzialrechnung.
ſolche, welche groͤßere verneinte Nachbarn hat, als
ein Groͤßtes betrachtet werden koͤnnen.


9. Ich werde in der Folge, wenn ich nicht das
Gegentheil erinnere, die Bedeutung des Groͤßten
und Kleinſten bey negativen Werthen einer Funk-
tion y, immer nach (7) nehmen, weil alsdann y,
wenn es negativ iſt, eben ſo gut, als wenn es po-
ſitiv iſt, immer ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird,
je nachdem die benachbarten Werthe y, y'' ſo be-
ſchaffen ſind, daß, arithmetiſch genommen, die Un-
terſchiede y — y'; y — y'', beyde zugleich, entweder
poſitiv oder negativ ſind, alſo y groͤßer iſt, als die
benachbarten Werthe y', y'', oder kleiner als y', y''.


§. 86.
Aufgabe.

In der Bedeutung (§. 85. 7—9.) die
groͤßten oder kleinſten Werthe einer
Funktion y von x, zu beſtimmen
.


Aufl. I. Man gedenke ſich, y ſey ein Groͤßtes
oder Kleinſtes fuͤr einen gewiſſen Werth von x, ſo
muͤſſen die Unterſchiede y — y'; y — y'' beyde zu-
gleich etwas bejahtes geben, wenn y ein Groͤßtes
iſt; hingegen beyde zugleich etwas verneintes, wenn
y ein Kleinſtes iſt. (§. 85. 9.)


II.
[268]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

II. Es kommt alſo darauf an, die benachbar-
ten Werthe von y zu beſtimmen, d. h. diejenigen,
welche einem etwas groͤßern oder kleinern Werthe
von x zugehoͤren, alſo zu einem Werthe = x + c,
oder x — c, wo c jede beliebige Differenz bezeich-
nen kann, um welche man x etwas groͤßer oder klei-
ner nimmt.


III. Nun iſt aber nach dem Tayloriſchen Lehr-
ſatze: wenn x + c ſtatt x geſetzt wird, wodurch
y ſich in y'' verwandelt
ꝛc.
und wenn x — c ſtatt x geſetzt wird, wodurch y ſich
in y' verwandelt
ꝛc.


IV. Ich will der Kuͤrze halber die Differenzial-
quotienten , ꝛc. mit p, q, r, s . . bezeich-
nen, ſo erhaͤlt man
ꝛc.
ꝛc.


V. Sind nun die Quotienten p, q, r ꝛc. alle
endlich, ſo kann man ſich c ſo klein gedenken, daß
alle
[269]Differenzialrechnung.
alle Glieder, worin die Potenzen von c vorkom-
men, gegen das erſte c p verſchwinden. Dies
wuͤrde dann ſchlechtweg
y — y' = + c p
y — y'' = — c p

geben.


VI. Da dieſe Unterſchiede entweder beyde zu-
gleich poſitiv, oder beyde zugleich negativ ſeyn muͤſ-
ſen, je nachdem y ein Groͤßtes oder Kleinſtes iſt (§.
85. 9.), hier aber die beyden Unterſchiede y ‒ y' und
y ‒ y'' entgegengeſetzte Werthe haben, ſo iſt klar, daß
es weder ein Groͤßtes noch ein Kleinſtes y geben kann,
wofern nicht p oder iſt. Dieſe Bedin-
gungsgleichung muß alſo nothwendig ſtatt
finden, wenn es groͤßte oder kleinſte y ſoll geben
koͤnnen.


VII. Iſt aber oder p = o, ſo iſt dies eine
Gleichung, aus der ſich die Werthe von x beſtim-
men, zu denen groͤßte oder kleinſte y gehoͤren koͤnnen.


VIII. Denn iſt p = o, ſo hat man jetzt
(aus IV)
y
[270]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
ꝛc.
ꝛc.

Mithin, wenn man c wieder ſo klein ſich gedenkt,
daß alle folgenden Glieder gegen das erſte verſchwin-
den, ſchlechtweg
Iſt alſo q oder poſitiv, ſo ſind beyde Werthe
von y — y', y — y'' negativ, mithin y ein Klein-
ſtes (I). Iſt aber q oder negativ, ſo ſind die
Unterſchiede y — y'; y — y'' beyde zugleich poſi-
tiv, mithin y ein Groͤßtes.


IX. Um alſo zu unterſuchen, ob ein gewiſſes x,
welches aus der Gleichung (VII) abgelei-
tet und in die Funktion y ſubſtituirt wird, dies y zu
einem Kleinſten oder Groͤßten macht, ſo muß man
nachſehen, ob eben dieſes x den Werth von q oder
d2 y
[271]Differenzialrechnung.
poſitiv oder negativ macht. Wird poſi-
tiv, ſo iſt y ein Kleinſtes, wird negativ, ſo iſt
y ein Groͤßtes.


X. Aber es koͤnnte auch werden.
Waͤre dies der Fall, ſo haͤtte man
ꝛc.
ꝛc.

Waͤre nun wieder c ſo klein, daß alle folgenden
Glieder gegen das erſte verſchwinden, ſo haͤtte man
Wofern alſo nicht auch r oder fuͤr den Werth
von x, welchen man aus der Gleichung
(IX) abgeleitet hat, verſchwindet, ſo iſt einer von
den beyden Unterſchieden y — y'; y — y'' poſitiv,
der andere negativ, mithin das y wie in (VI) we-
der ein Groͤßtes noch ein Kleinſtes.


XI.
[272]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

XI. Faͤnde ſich aber auch r oder , ſo
waͤre jetzt
ꝛc.
ꝛc.

folglich c wieder ſo klein genommen, daß die folgen-
den Glieder verſchwinden
Mithin wie in (VIII) y ein Kleinſtes wenn s oder
poſitiv iſt, und y ein Groͤßtes, wenn
negativ iſt.


XII. Ueberhaupt ſeyen und zwey
allgemeine naͤchſtaufeinander folgende Glieder in (IV)
und fuͤr einen gewiſſen Werth von x, den man aus
der Gleichung abgeleitet hat, ſeyen alle
vor
[273]Differenzialrechnung.
vor befindlichen Differenzialquotienten = o, ſo
wird y ein Kleinſtes, wenn poſitiv, und ein
Groͤßtes, wenn negativ wird.


Einige Beyſpiele werden die Sache vollends
klar machen.


§. 87.

BeyſpielI. Es ſey y = x3 — 3 x + 6 wie
oben (§. 85. 4.) man ſucht die Werthe von x, fuͤr
welche y, d. h. x3 — 3 x + 6 ein Groͤßtes oder
Kleinſtes wird.


Man mache alſo
, d. h. 3 x2 — 3 = o; oder x2 — 1 = o;
ſo iſt x = ± 1. Es giebt alſo zwey Werthe von
x fuͤr welche y ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird.


Ob nun erſtlich fuͤr x = + 1 die Funktion y
oder x3 — 3 x + 6 ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird,
entſcheidet ſich aus = 6 x. Da dies fuͤr
x = + 1 poſitiv iſt, ſo wird der zu x = + 1 ge-
Shoͤri-
[274]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
hoͤrige Werth von y = 1 — 3 + 6 = + 4 ein
Kleinſtes ſeyn; wie oben (§. 86. IX.) u. (§. 85. 4.)


Fuͤr x = — 1 wird , oder 6 x negativ.
Mithin iſt der zu x = — 1 gehoͤrige Werth von
y = — 1 + 3 + 6 = + 8 ein Groͤßtes, wie a. a. O.


BeyſpielII. Es ſey die Funktion y =
x5 — 5 x4 + 5 x3 + 1
, ſo iſt = 5 x4
20 x3 + 15 x2.


Setzt man dies = o, ſo werden aus der Glei-
chung 5 x4 — 20 x3 + 15 x2 = o, oder x4 — 4 x3
+ 3 x2 = o
, welche ſich in x2 (x — 1) (x — 3)
= o
zerlegt, die Werthe von x = ± o, ſodann
x = + 1, und x = + 3.


Fuͤr den Werth x = o wird erſtlich auch
oder 20 x3 — 60 x2 + 30 x = o; aber nicht der
Werth von = 60 x2 — 120 x + 30; daher
giebt x = o weder ein groͤßtes noch kleinſtes y (§. 86.
X.)


Fuͤr den Werth x = + 1, wird = 20 —
60 + 30 = — 10 negativ; alſo iſt fuͤr x = + 1
der
[275]Differenzialrechnung.
der Werth von y oder x5 — 5 x4 + 5 x3 + 1 =
1 — 5 + 5 + 1 = + 2 ein Groͤßtes.


Fuͤr den Werth x = + 3 wird = 20.27
— 60.9 + 30.3 = + 90 poſitiv, und daher der zu
x = + 3 gehoͤrige Werth von y = + 243 — 405
+ 135 + 1 = — 26 ein Kleinſtes in der arith-
metiſchen Bedeutung (§. 85. 7.) naͤmlich ein groͤß-
tes Verneinte wie daſelbſt R S.


BeyſpielIII. Es ſey y = , ſo wird
; und .


Setzt man nun = o; d. h.
oder 1 — x2 = o, ſo wird x = ± 1.


Fuͤr x = + 1 wird aber = — ½
negativ. Demnach y oder der Bruch fuͤr x
= + 1 ein Groͤßtes = = + ½.


Fuͤr x = — 1 wird hingegen
= + ½ poſitiv. Demnach y oder fuͤr
S 2x
[276]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
x = — 1 ein Kleinſtes in der Bedeutung (§. 85. 7.)
oder ein Groͤßtes in der Bedeutung des R S da-
ſelbſt, weil fuͤr x = — 1; y = — ½ alſo negativ iſt.


BeyſpielIV. Zu unterſuchen, unter wel-
chen Umſtaͤnden der Quotient einen groͤßten
oder kleinſten Werth erhaͤlt.


Man ſetze = y; ſo wird
und .


Aber d. h. = o geſetzt, giebt
1 — log x = o, d. h. log x = 1.


Verſteht man alſo natuͤrliche Logarithmen, ſo
iſt x = e, wenn e die Zahl 2,71828 … (§. 23.)
iſt, deren natuͤrlicher Logarithme = 1.


Dies giebt denn fuͤr dieſen Werth von x den
Quotienten
negativ. Demnach wird fuͤr x = e die Funktion
y oder ein Groͤßtes. Es wird
alſo
[277]Differenzialrechnung.
alſo beſtaͤndig, was man fuͤr x auch fuͤr eine Zahl
ſetzen mag, der Quotient ..
ſeyn.


BeyſpielV. Es ſeyen in einem Kreiſe (Fig.
IV.
) deſſen Halbmeſſer B C = r; A B, A D zwey
gleiche lange Sehnen, welche bey A einen Winkel
= x einſchließen. Man fraͤgt, wie groß dieſer
Winkel ſeyn muß, daß die drey Sehnen A B, A D,
B D zuſammen die groͤßte Summe ausmachen.


Man ziehe durch A, C eine gerade Linie A C F,
ſo wird dieſe auf B D ſenkrecht ſeyn, und die Win-
kel B A D, B C D halbiren. Faͤllt man nun auch
auf A B ein Perpendikel C E, ſo hat man A B
= 2 A E = 2 A C coſ ½ B A D = 2 r coſ ½ x
, und
B D = 2 B F = 2 B C ſin B C F = 2 r ſin x.


Demnach
A B + A D + B D = 2 A B + B D = 4 r coſ ½ x + 2 r ſin x.
Dieſes ſoll alſo ein Groͤßtes ſeyn.


Man ſetze demnach y = 4 r coſ ½ x + 2 r ſin x,
ſo wird = — 2 r ſin ½ x + 2 r coſ x (in §. 40.
ſtatt coſφ den coſ ½ x, und (§. 38.) ſtatt ſinφ,
ſin x geſetzt. Ferner
= — r coſ ½ x — 2 r ſin x.


S 3Man
[278]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Man erhaͤlt alſo oder — 2 r ſin ½ x + 2 r coſ x
= o
, geſetzt, ſin ½ x = coſ x, oder nach den be-
kannten trigonometriſchen Formeln √
= coſ x, mithin wenn man auf beyden Seiten
quadrirt, die quadratiſche Gleichung
coſ x2 + ½ coſ x = ½;
woraus coſ x = — ¼ ± √ (\frac{1}{16} + ½)
= — ¼ ± √ \frac{9}{16} wird.


Es ſind alſo die beyden Werthe von coſ x fol-
gende coſ x = — ¼ + ¾ = + ½
coſ x = — ¼ — ¾ = — 1.

Der erſtere Werth giebt x = 60°, weil coſ 60°
= ½ = ſin 30°. Fuͤr dieſen iſt
= — r coſ 30° — 2 r ſin 60°
= — 3 r coſ
30°.

Da dies negativ iſt, ſo wird fuͤr x = 60° die
Funktion y, d. h. die Summe der drey Sehnen
A B + A D + B D ein Groͤßtes. Aber fuͤr x =
60° iſt das Dreyeck B A D gleichſeitig. Alſo wenn
die drey Sehnen A B, A D, B D einander gleich
ſind, iſt ihre Summe am Groͤßten.


Der zweyte Werth von coſ x war = — 1.
Dies giebt x = 180°. Aber zu dieſem Werthe
von
[279]Differenzialrechnung.
x gehoͤrt weder ein Groͤßtes noch Kleinſtes. Denn
fuͤr x = 180° wird = - r coſ 90° — 2 r ſin 180°
= o.
Nun aber verſchwindet nicht der Werth von
, welcher = ½ r ſin ½ x — 2 r coſ x = ½ r ſin 90°
— 2 r coſ 180° = ½ r + 2 r = \frac{5}{2} r
wird. Daher
iſt nach (§. 86. X.) fuͤr x = 180° der Werth von y
weder ein Groͤßtes noch ein Kleinſtes. Es fallen
naͤmlich fuͤr x = 180° alle drey Sehnen in einen
einzigen Punkt A zuſammen.


Beyſp. VI. 1. Es ſey (Fig. V.) B A C ein gera-
der Kegel, der Halbmeſſer der Grundflaͤche B F = x,
die Hoͤhe A F = z, alſo die Seitenlinie A B =
√ (x2 + z2)
, und des Kegels krumme Seiten-
flaͤche = πx √ (x2 + z2), der Kubikinhalt =
πx2 z, wenn π die Ludolphiſche Zahl 3,1415..
bedeutet.


2. Geſetzt alſo es ſey der Kubikinhalt gegeben
= a3 = einem Wuͤrfel, deſſen Seite a. Man
fraͤgt, wie groß x und z ſeyn muͤſſen, damit die
krumme Seitenflaͤche des Kegels am Kleinſten werde,
der Kegel alſo bey einem gegebenen koͤrperlichen
Raume = a3, die kleinſte Seitenflaͤche erhalte.


S 43.
[280]Erſter Theil. Zweites Kapitel.

3. Weil demnach ⅓ πx2 z = a3 ſeyn ſoll,
ſo erhaͤlt man z = . Dies fuͤr z in den Aus-
druck fuͤr des Kegels krumme Seitenflaͤche ſubſtituirt,
giebt ſolche = . Dieſer Aus-
druck ſoll alſo ein Kleinſtes ſeyn.


Demnach ſetze man y =
und zugleich der Kuͤrze halber √ (π2x6 + 9 a6)
= w, oder y = Dies giebt
d y =
mithin .


4. Nun iſt π2x6 + 9 a6 = w2, alſo diffe-
renziirt 6 π2x5 d x = 2 w d w.


5. Und folglich . Mithin
;
welches man = o ſetzen muß.


6.
[281]Differenzialrechnung.

6. Man erhaͤlt alſo 3 π2x6 — w2 = o; oder
3 π2x6 = w2 = π2 x6 + 9 a6 (3). Mithin
2 π2x6 = 9 a6, woraus x = folgt.


7. Daß fuͤr dieſen Werth des Halbmeſſers x
die krumme Kegelflaͤche y =
ein Kleinſtes wird, wird ſich aus dem Werthe von
ergeben, welcher fuͤr x = poſitiv
wird.


Denn wegen y x = w (3) erhaͤlt man y d x +
x d y = d w
und wenn man nochmahls differenziirt,
wobey d x conſtant bleibt
2 d y d x + x d d y = d d w.
Mithin .


Nun iſt aber fuͤr x = offenbar
= o, weil eben dieſer Werth von x aus der Glei-
chung = o hergeleitet worden iſt (5. 6). Mit-
hin bleibt nur noch fuͤr jenen
Werth von x zu unterſuchen uͤbrig.


S 5Aber
[282]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Aber wegen (5) wird
.
Und folglich
.


Nun iſt aber fuͤr x = der Werth von
3 π2x6 — w2 = o (6). Alſo ſchlechtweg
.
Da dies poſitiv iſt, weil die Werthe von w in (3)
und von x in (6) wohl nicht negativ zu verſtehen
ſind, ſo iſt klar, daß fuͤr x = die Kegel-
flaͤche y = ein Kleinſtes ſeyn
wird.


8. Setzt man in dieſen Ausdruck wirklich ſtatt
x den gefundenen Werth, alſo π2x6 = \frac{9}{2} a6, ſo
wird
[283]Differenzialrechnung.
wird die kleinſte Kegelflaͤche = oder =
.


9. Der in (6) gefundene Halbmeſſer der Grund-
flaͤche des Kegels wird ſich zur Hoͤhe erhalten, oder
x : z = 1 : √ 2, welches aus (3) und (6) durch
eine leichte Rechnung ſich ergiebt.


§. 88.
Anmerkung.

1. Wir haben bisher angenommen, daß y bloß
eine einfoͤrmige Funktion von x ſey, alſo
jedem Werthe von x nur ein y entſpreche. Allein
es koͤnnen Faͤlle vorkommen, daß y eine vielfoͤr-
mige
Funktion von x iſt, mithin jedem x mehr
als ein y zugehoͤrt, wie z. B. in der Gleichung fuͤr
die Ellipſe (§. 85.) die Ordinate y fuͤr jede Abſciſſe
x eigentlich zwey Werthe hat, naͤmlich y =
√ (αx — x2).


Eben ſo koͤnnte y durch x vermittelſt einer Glei-
chung von einem hoͤhern Grade gegeben ſeyn, z. B.
y3 — 2 x y — x2 = o, wo y fuͤr jedes x ſo viel
Wer-
[284]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Werthe hat, als auf welche Potenz es in der Glei-
chung ſteigt; hier z. B. drey.


2. Man begreift indeſſen leicht, daß die bishe-
rigen Vorſchriften, die groͤßten y zu finden, auch
fuͤr dieſen Fall gelten muͤſſen. Denn wenn wir gleich
keine allgemeine Regel haben, in einer ſolchen hoͤ-
hern Gleichung die Werthe von y allgemein durch
x auszudruͤcken, ſo koͤnnen wir uns doch vorſtellen,
daß es fuͤr y ſo viel verſchiedene Ausdruͤcke durch x
geben muß, als von welchem Grade y in der Glei-
chung iſt. Jeder Ausdruck fuͤr ſich kann als eine
Funktion von x betrachtet werden, und man kann
den Werth von x ſuchen, fuͤr welchen dieſer Aus-
druck ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird.


3. Da wir nur quadratiſche Gleichungen voͤllig
in unſerer Gewalt haben, ſo wollen wir es durch ein
Beyſpiel erlaͤutern.


Es ſey alſo z. B. y2 — x y + x3 = o; ſo iſt
y = ½ x ± x √ (¼ — x).


Alſo kann man erſtlich unterſuchen, fuͤr welche
Werthe von x der Ausdruck y = ½ x + x √ (¼ — x)
ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird, und dazu wuͤrden
alſo die bisherigen Regeln angewandt.


Dann
[285]Differenzialrechnung.

Dann kann man zweytens die Funktion y = ½ x
— x √ (¼ — x)
vornehmen, und beſtimmen, fuͤr
welche Werthe von x ſie ein Groͤßtes oder Klein-
ſtes wird.


4. Und ſo werden demnach alle groͤßte und
kleinſte Werthe der Funktion y uͤberhaupt gefunden
ſeyn.


5. Gedenkt man ſich unter x, y Coordinaten
einer krummen Linie, ſo ſtellen die beſondern Glei-
chungen y = ½ x + x √ (¼ — x)
y = ½ x + x √ (¼ — x)

welche man aus der vorgegebenen y2 — x y + x3
= o
abgeleitet hat, gleichſam die einzelnen Schenkel
dieſer krummen Linie dar, ſo wie z. B. in der Glei-
chung fuͤr die Hyperbel y2 = b x + ; der
Werth y = + √ (b x + ), die obern Schen-
kel der Hyperbel und y = — √ (b x + ) die
untern giebt. Da kann man alſo begreiflich die Ma-
xima
und Minima von y in jedem ſolchen Schenkel
unterſuchen. In dem Beyſpiele (3) wird der eine
Werth von y = ½ x — x √ (¼ — x), oder y =
x [½ — √ (¼ — x)]
gar kein Groͤßtes oder Klein-
ſtes
[286]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
ſtes geben, weil wenn x beſtaͤndig waͤchſt oder ab-
nimmt, auch y beſtaͤndig zugleich waͤchſt oder ab-
nimmt, wie durch eine leichte Betrachtung des Aus-
drucks, ohne weitere Unterſuchung von ſelbſt erhel-
let. Es verſteht ſich, daß wenn x bejaht iſt, es
nicht groͤßer als ¼ genommen werden darf, weil y
ſonſt imaginaͤr wuͤrde. Demnach kann nur in
dem andern Werthe y = ½ x + x √ (¼ — x) vom
Groͤßten oder Kleinſten die Rede ſeyn.


Man findet
.


Setzt man dies = o, alſo √ (¼ — x) = 3 x
— ½, und quadrirt nun auf beyden Seiten, ſo er-
haͤlt man x = \frac{2}{9} und fuͤr dieſen Werth wird y oder
die Funktion ½ x + x √ (¼ — x) = \frac{4}{27} ein Groͤß-
tes, denn man wird finden, daß fuͤr jenen
Werth von x negativ wird.


6. Ohne indeſſen den Ausdruck y = ½ x +
x √ (¼ — x)
erſt aus der Gleichung y2 — x y + x3
= o
zu entwickeln, kann dieſe Gleichung auch ſo-
gleich
[287]Differenzialrechnung.
gleich ſelbſt zu dem verlangten Zwecke angewandt
werden, welches in aͤhnlichen Faͤllen die Rechnung
oft betraͤchtlich abkuͤrzt. Denn wenn man differen-
ziirt, ſo erhaͤlt man
(2 y — x) d y + (3 x2 — y) d x = o.
Mithin
welches = o geſetzt, y — 3 x2 = o, oder y = 3 x2
giebt; und nun dies ſtatt y in die Gleichung y2
x y + x3 = o
ſubſtituirt, 9 x4 — 3 x3 + x3 = o,
oder alles mit x3 dividirt x = \frac{2}{9}, wie vorhin.


7. Um den Werth von fuͤr x = \frac{2}{9} zu un-
terſuchen, ſo ſetze man (6) der Kuͤrze halber y — 3 x2
= P; 2 y — x = Q;
ſo wird
; und : Q2
Nun iſt — 6 x; welches fuͤr x = \frac{2}{9}
ſich in — \frac{12}{9} verwandelt, weil = o iſt, fuͤr
x = \frac{2}{9}; denn dieſer Werth von x ward ja aus der
Gleichung = o ſelbſt abgeleitet. Ferner faͤllt
auch der Theil weg, wegen P = y — 3 x2,
wel-
[288]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
welches fuͤr x = \frac{2}{9}, ebenfalls = o wird (6). Dem-
nach bleibt fuͤr bloß der Werth — ; und
da nun dieſes negativ ausfaͤllt, ſo wird y = 3 x2
= \frac{4}{27} ein Groͤßtes ſeyn.


8. Dies Beyſpiel mag hinreichend ſeyn, den
Gang des Verfahrens in andern Faͤllen, wo y eine
vielfoͤrmige Funktion von x, und als unentwickelte
Funktion von x, durch eine Gleichung zwiſchen y
und x gegeben iſt, zu erlaͤutern. Aber wegen der
Unvollkommenheit, oder vielmehr wegen des Man-
gels einer allgemeinen Aufloͤſungsmethode hoͤherer
Gleichungen, wird es in vielen Faͤllen ſchwer ſeyn,
die maxima und minima ſolcher Funktionen zu
entwickeln, die auch zum Gluͤck nicht haͤufig vor-
kommen.


§. 89.
Aufgabe.

Es ſey z eine Funktion von zwey ver-
aͤnderlichen Groͤßen x, y, man verlangt
die Werthe von x, y, fuͤr welche z ein
Groͤßtes oder Kleinſtes wird
.


Aufl.I. Dieſe Werthe von x und y, welche
einem groͤßten oder kleinſten z zugehoͤren, muͤſſen
ſo
[289]Differenzialrechnung.
ſo beſchaffen ſeyn, daß wenn man ſie um etwas
wachſen oder abnehmen laͤßt, ſo daß x in x ± c;
y
in y ± k ſich verwandeln, die Werthe von z,
welche man alsdann erhaͤlt, und welche ich die be-
nachbarten von z nennen will, ſaͤmmtlich kleiner
werden, als das z, welches ein Groͤßtes ſeyn ſoll,
und ſaͤmmtlich groͤßer, als das z, welches ein Klein-
ſtes ſeyn ſoll.


II. Es iſt hier hinlaͤnglich, bloß den Werth
von z hinzuſchreiben, wenn x ſich in x + c, und
y in y + k verwandeln. Denn wenn man nachher
in dem erhaltenen Ausdrucke c und k negativ ſetzt,
ſo hat man auch die Werthe von z fuͤr x — c und
y — k. Oder man kann auch c poſitiv und k ne-
gativ, oder umgekehrt, nehmen, und ſo die entſpre-
chenden Werthe von z erhalten.


III. Der Werth von z, wenn x ſich in x + c,
und y in y + k verwandelt, heiße Z, ſo hat man
nach (§. 71. Anmerk. II. daſ. V. das dortige z''
hier = Z geſetzt)
TZ
[290]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
wo p = ; q = u. ſ. w. ſind.


IV. Sind nun die Werthe von allen in dieſer
Reihe vorkommenden Differenzialquotienten endlich,
ſo erhellet, daß man c und k ſo klein ſich gedenken
kann, daß alle Glieder, welche c2, k c, k2 und
die hoͤhern Produkte und Potenzen von k und c
enthalten, als ganz unerheblich gegen die Glieder
c p und k betrachtet werden koͤnnen, ſo daß
es verſtattet iſt, alsdann bloß
Z = z + c p + k oder
Z = z +

zu ſetzen.


V. Da nun hier c, k entweder beyde poſitiv,
oder beyde negativ genommen werden koͤnnen, oder
auch nur immer eines poſitiv, das andere negativ
ſeyn kann (II) ſo iſt klar, daß es fuͤr dieſe vier Vor-
aus-
[291]Differenzialrechnung.
ausſetzungen vier Werthe von Z, als benachbarte
von z giebt, welche ich denn der beſſern Ueberſicht
wegen mit Z, Z', Z'', Z''' bezeichnen will. Sie
werden ſeyn

VI. Soll nun z ein Groͤßtes ſeyn fuͤr ein ge-
wiſſes x und y, ſo muͤſſen alle vier Nachbarn von
z, naͤmlich Z, Z', Z'', Z''' kleiner als z ſeyn. Aber
dies iſt hier wegen Verſchiedenheit der Zeichen +
und — in den einzelnen Gliedern, wie man leicht
ſieht, nicht moͤglich. Und eben ſo muͤßten jene vier
Nachbarn ſaͤmmtlich groͤßer ſeyn, als z, wenn z
ein Kleinſtes ſeyn ſoll, welches aus der angefuͤhr-
ten Urſache ebenfalls unmoͤglich iſt.


VII. Man muß alſo nothwendig = o
und = o ſetzen, damit aus dem allgemeinen
T 2Aus-
[292]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Ausdrucke fuͤr Z (III) die zwey unmittelbar auf z
folgenden Glieder c p oder c und k
verſchwinden, weil ſonſt z weder ein Groͤßtes noch
Kleinſtes werden kann.


VIII. Aber wenn = o und = o
iſt, ſo ſind dies ein paar Gleichungen, aus denen
ſich die Werthe von x und y ergeben, fuͤr welche z
ein Groͤßtes oder ein Kleinſtes werden kann.


IX. Ob es dieſes werden kann, koͤmmt nun auf
die folgenden Glieder von Z an. Da naͤmlich, wenn
= o und = o ſind, der Werth
von
wird (III), ſo kann man wieder c und k ſich ſo klein
gedenken, daß die folgenden Glieder, gegen die hier
hingeſchriebenen, worinn c und k blos in der zwey-
ten Dimenſion vorkommen, verſchwinden. Und
ſo
[293]Differenzialrechnung.
ſo waͤre denn z ein Groͤßtes, wenn Z, wie auch
c, k poſitiv oder negativ ſeyn moͤgen, allemahl \< z
wird, und z ein Kleinſtes, wenn Z allemahl \> z
ausfaͤllt.


Es verſteht ſich, daß man


X. in die Differenzialquotienten q, ;
; ſtatt x, y allemahl die aus den Gleichun-
gen (VIII) beſtimmten Werthe dieſer Groͤßen x, y
ſetzen muß, fuͤr welche denn
oder q = J; = K; = L
werde.


XI. Man ſollte nun glauben, daß bey dem
Ausdrucke fuͤr Z in (IX) auch die Schwuͤrigkeit (VI)
ſtatt faͤnde, daß naͤmlich, wegen der verſchiedenen
Bezeichnungen die k und c haben koͤnnen, eben-
falls z weder ein Groͤßtes noch Kleinſtes werden
koͤnnte. Allein durch eine leichte Ueberlegung laͤßt
ſich der Ausdruck (IX) unter einer Form darſtellen,
daß, wie auch c, k bejaht oder verneint ſeyn moͤgen,
man aus dem Ausdrucke immer wird beurtheilen
koͤnnen, unter welchen Umſtaͤnden allemahl Z \< z
oder Z \> z ſeyn wird, mithin z ein Groͤßtes oder
Kleinſtes werden kann.


T 3XII.
[294]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

XII. Man ſetze in den Ausdruck (IX) ſtatt
der Differenzial-Ausdruͤcke erſtlich die Buchſtaben
(X) ſo wird auch
Z = z + J + k c · K + L
= z + ½ (c2 J + 2 k c K + k2 · L)
= z + ½ J (c + k · )2 + (L — )


XIII. Hier erhellet nunmehr, daß es nicht
mehr auf die Verſchiedenheit der Bezeichnung von
k und c ankoͤmmt, um zu beurtheilen, ob Z groͤ-
ßer oder kleiner als z ausſallen wird, ſondern bloß
auf das Verhalten von J, K, L. Denn man laſſe
c, k, wie man will, bejaht oder verneint ſeyn, ſo
ſind (c + )2 und k2 immer bejaht. Es
wird alſo nur auf die Factoren J und L — an-
kommen, ob Z \> oder \< z ſeyn wird. Iſt naͤmlich
J bejaht und L — = o, oder auch bejaht, ſo
iſt allemahl Z \> z, mithin z ein Kleinſtes. Iſt
aber J verneint und L — entweder = o, oder
auch verneint, ſo iſt allemahl Z \< z, folglich z ein
Groͤßtes.


Da
[295]Differenzialrechnung.

Da indeſſen der Ausdruck fuͤr Z ſich auch in
folgender Form darſtellen laͤßt
Z = z + ½ L (k — )2 + ½ c2 (J — )
ſo wird auch Z \> z, mithin z ein Kleinſtes, wenn
L bejaht, und J — = o, oder auch bejaht iſt;
hingegen Z \< z, mithin z ein Groͤßtes, wenn L
verneint, und J — = o, oder auch verneint iſt.


Dieſe Regeln laſſen ſich kuͤrzer ſo zuſammen-
faſſen. Wenn J und L beyde bejaht und J. L \> K2
oder auch nur = K2 iſt, ſo iſt Z \> z, alſo z ein
Kleinſtes.


Sind aber J und L beyde verneint und J. L
\< K2, ſo iſt Z \< z, mithin z ein Groͤßtes.


XIV. Es koͤnnte ſich aber auch eraͤugnen, daß
J = o; L = o und J L — K2 = o waͤren. In
dieſem Falle muß man zu den folgenden Gliedern der
fuͤr Z gefundenen Reihe (III) fortgehen, und daraus
abzuleiten ſuchen, unter welchen Bedingungen z ein
Groͤßtes oder Kleinſtes ſeyn wird. Die Unterſu-
chung wird aber dann zu weitlaͤuftig, als daß ſie
hier vorgetragen werden koͤnnte. Indeſſen wird es
ſelten vorkommen, daß man mit den Vorſchriften
T 4(XIII)
[296]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
(XIII) nicht ausreichen ſollte, die wir jetzt durch
ein paar Beyſpiele erlaͤutern wollen.


XV.Beyſp. I. Es ſeyen x, y, u die drey
Seitenlinien eines rechtwinklichten Parallelepipe-
dum. Man ſucht den Werth dieſer drey Seiten-
linien, wenn die Oberflaͤche des Parallelepipedum
fuͤr einen gegebenen koͤrperlichen Innhalt deſſelben
= a3, ein Kleinſtes ſeyn ſoll.


Die Oberflaͤche des Parallelepipedum wuͤrde
ſeyn z = 2 x y + 2 u x + 2 u y; und der koͤrper-
liche Raum x y u = a3.


Dies giebt wegen u =
z = 2 x y + .
Und dieſer Ausdruck ſoll ein Kleinſtes ſeyn.


Dies giebt nach (§. 17. IV.)
= 2 y — = p (III.)
= 2 x


Alſo vors erſte die Gleichungen (VIII.)
2 y
[297]Differenzialrechnung.
2 y — = o, oder y x2 — a3 = o
2 x — = o, oder x y2 — a3 = o
woraus y x2 = x y2 oder x = y folgt; dies in die
erſte Gleichung ſubſtituirt, giebt y3a3 = o; alſo
y = a; mithin auch x = a; und u = auch = a;
alſo muͤſſen die drey Seitenlinien des Parallelepipe-
dum einander gleich ſeyn, d. h. der Wuͤrfel hat un-
ter allen rechtwinklichen Parallelepipedis von glei-
chem koͤrperlichen Raume = a3 die kleinſte Ober-
flaͤche.


Daß z fuͤr x = y = u = a, wirklich ein Klein-
ſtes iſt, erhellet aus (XIII).


Denn es iſt q =
welches fuͤr x = a ſich in J = + 4 (X), alſo in
eine poſitive Groͤße verwandelt.


Ferner iſt = + 2 = K (XV. X)
(XV.)
welches fuͤr y = a ſich in L = + 4 verwandelt.
Dies giebt L — = + 3 poſitiv. Demnach
T 5iſt
[298]Erſter Theil. Zweites Kapitel.
iſt fuͤr x = y = u = a, der Werth von z wirklich
ein Kleinſtes (XIII).


Beyſp. II. 1. Innerhalb eines Dreyecks A B C
(Fig. VI.)
einen Punkt F zu finden, daß die Summe
der drey Linien A F + B F + C F ein Kleinſtes ſey.


Man nenne B F = w; A F = y; F C = u;
B A = c; A C = b
; den Winkel B A C = α,
und B A F = x, ſo hat man in dem Dreyecke B A F
B F = w = √ (c2 — 2 c y coſ x + y2).
Und
in dem Dreyecke A F C
F C = u = √ (b2 — 2 b y coſ
(αx) + y2).


2. Nennt man alſo A F + B F + C F = z,
ſo ſoll z = y + √ (c2 — 2 c y coſ x + y2)
+ √ (b2 — 2 b y coſ
(αx) + y2)
ein Kleinſtes ſeyn, und der Winkel B A F = x, und
A F = y ſind die Groͤßen, die man ſucht, um den
Punkt F zu beſtimmen, fuͤr welchen z ein Klein-
ſtes iſt.


3. Dies giebt erſtlich, nach gehoͤriger Differen-
ziation p oder
wo w, und u, die Wurzelgroͤßen in dem Ausdrucke
fuͤr z bezeichnen.


4.
[299]Differenzialrechnung.

4. Sodann ferner

5. Die erſte Gleichung = o (VIII.),
giebt ſogleich
; (3)
d. h. wenn man auf die Verlaͤngerung von A F
die Perpendikel B N, C M faͤllt
wegen B N = c ſin x, und C M = b ſin (αx).
Aber = ſin B F N; und = ſin C F M.


6. Alſo ſind die beyden Winkel B F N und
C F N, mithin A F B und A F C von gleicher Groͤße.


7. Die zweyte Gleichung = o (VIII.)
giebt 1 — ; (4)
oder wegen c. cofx — y = F N, und b coſ (αx)
y = F M die Gleichung
1 —
[300]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
1 — d. h.
1 — coſ B F N = coſ C F M

oder wegen B F N = C F M, wie wir bereits ge-
funden haben (6)
1 — coſ B F N = coſ B F N.
Mithin iſt coſ B F N = ½; und folglich B F N = 60°.
Alſo B F C = 120° = A F B = A F C (6).


8. Soll alſo z oder die Summe der drey Linien
A F + B F + C F ein Kleinſtes ſeyn, ſo muß der
Punkt F ſo genommen werden, daß die drey Win-
kel A F B, B F C, A F C einander gleich = 120°,
oder auch die Winkel B F N = C F M = 60° werden.


9. Unter dieſer gefundenen Bedingung iſt es
nunmehr leicht, die Werthe von x und y zu finden,
wodurch denn die Lage des Punkts F beſtimmt wird.
Denn man hat in den Dreyecken A B F, A F C, we-
gen des aͤußern Winkels B F M oder M F C = 60°
ſin 60° : ſin (60° — x) = c : y
ſin 60° : ſin
(60° — α + x) = b : y

Alſo c ſin (60° — x) = b ſin (60° — α + x),
welches wegen
ſin (60° — x) = ſin 60° coſ x — ſin x coſ 60°
und
ſin (60 — α + x) = ſin (60° — α) coſ x + ſin x coſ (60° — α)
nach
[301]Differenzialrechnung.
nach einer leichten Rechnung fuͤr den Winkel x den
Ausdruck
tang x =
giebt, woraus denn, wenn x gefunden worden,
y =
gleichfalls bekannt iſt.


10. Daß fuͤr dieſe Werthe von x, y, der Aus-
druck z (2) wirklich ein Kleinſtes wird, wuͤrde ſich
durch Rechnung zeigen laſſen, wenn man bewieſe,
daß fuͤr jene Werthe von x und y die Werthe der
Differenzialquotienten = J, und =
L beyde bejaht, und J. L \> K2, d. h. groͤßer als
das Quadrat des Differenzialquotienten oder
auch nur J L = K2 ſeyn wuͤrde (XIII). Man wird
aber finden, daß dieſe Unterſuchung auf eine ziem-
lich weitlaͤuftige Rechnung fuͤhrt, ſtatt der man
kuͤrzer auf folgende Art verfahren kann.


Es iſt offenbar einerley, ob man die Werthe
jener Differenzialquotienten fuͤr die (9) gefundenen
Werthe von x und y unterſucht, oder ſie fuͤr den Fall
beſtimmt, daß die Winkel B F N = C F M = 60°
ſind,
[302]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
ſind, weil ja aus eben dieſen Winkeln die Werthe
von x, y ſelbſt abgeleitet worden ſind.


Ich ſuche alſo die Werthe von J, K, L fuͤr den
Fall, daß B F N = C F M = 60° ſind.


Vorerſt muß man aber die Differenzialquotien-
ten ſuchen, ehe die er-
waͤhnten Winkel B F N, C F M, dem gefundenen
Werthe von 60° gleich genommen werden.


11. Ich ſetze demnach B F N = ψ; C F M = ψ'
ſo iſt (3. 5)
= y ſin ψ — y ſin ψ'
und (4. 7)
= 1 — coſ ψ — coſ ψ'
wo wegen ſin ψ = ; und ſin ψ' =
und wegen w = √ (c2 — 2 c y coſ x + y2) und
u = √ (b2 — 2 b y coſ (αx) + y2), ſo wohl
ſin ψ, ſin ψ', als auch coſ ψ, coſ ψ' Funktio-
nen von x und y ſind.


12. Dies giebt durch abermahlige Differen-
ziation
(d2z)
[303]Differenzialrechnung.
welches fuͤr ψ = ψ' = 60° ſich in
J = y coſ 60°
verwandelt, wo denn die Werthe der Differenzial-
quotienten ebenfalls fuͤr ψ = ψ'
= 60° genommen werden muͤſſen. Ich will ſie der
Kuͤrze halber μ und ν nennen, ſo iſt
J = y (μ — ν) coſ 60°.


13. Ferner iſt (11)
welches ſich fuͤr ψ = ψ' = 60°, in
L = (m + n) ſin 60°
verwandelt, wenn m, n, die Werthe von
fuͤr ψ = ψ' = 60° bezeichnen.


14. Endlich iſt (11) oder
= ſin ψ + y eoſ ψ — ſin ψ' + y coſ ψ'
wel-
[304]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
welches ſich fuͤr ψ = ψ' = 60° in
K = y (m + n) coſ 60°
verwandelt. (13.)


15. Nun iſt aber auch
(§§. 66. 67.)
Daher auch
= ſin ψ — ſin ψ' (11)
Oder fuͤr ψ = ψ' = 60° auch
K = (μ — ν) ſin 60°. (12.)


16. Aus
K = y (m + n) coſ 60° in (14)
folgt (13)
L = tang 60°
und aus K (in 15) der Werth von
J = K · y · cot 60° (12.); mithin L. J = K2.


17. Iſt alſo in (16) K, d. h. m + n eine po-
ſitive Groͤße, ſo ſind auch L und J bejaht, und da
J. L = K2 iſt, ſo wuͤrde z ein Kleinſtes ſeyn (10).
Es kommt alſo bloß darauf an, zu zeigen, daß m + n
eine bejahte Groͤße iſt fuͤr ψ = ψ' = 60°, wel-
ches ſich leicht auf folgende Art ergiebt.


18)
[305]Differenzialrechnung.

18. Wegen ſin ψ = und
coſ ψ =
hat man
w ſin ψ = c ſin x
y + w coſ ψ = c coſ x.

Alſo nach y differenziirt
w coſ ψ + ſin ψ = o
1 — w ſin ψ + coſ ψ = o
Multiplicirt man die obere Gleichung mit coſ ψ,
und die untere mit ſin ψ, ſubtrahirt dann die untere
von der obern, ſo wird, wegen ſin ψ2 + coſ ψ2 = 1
ſin ψ.


Nach einer voͤllig aͤhnlichen Rechnung erhaͤlt
man aus den Gleichungen
ſin ψ' =
coſ ψ' =

den Differenzialquotienten
ſin ψ'.


UDies
[306]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Dies giebt fuͤr ψ = ψ' = 60°
= m = ſin 60° (13.)
= n = ſin 60°.

Mithin m + n = ſin 60° offenbar poſi-
tiv. Daher (17) z wirklich ein Kleinſtes.


§. 90.
Anmerkung.

Es kann zuweilen geſchehen, daß die Gleichung
= o (§. 86. IX.) Werthe von x giebt, fuͤr
welche mehrere von den Differenzialquotienten ;
u. ſ. w. unendlich werden. In dieſem Falle
laͤßt ſich bey der Anwendung der Tayloriſchen Reihe
auf die Lehre vom Groͤßten und Kleinſten, nichts aus
ſolchen Werthen von x ſchließen, weil die bisherige
Theorie des Groͤßten und Kleinſten voraus ſetzt, daß
alle Differenzialquotienten in der Tayloriſchen Reihe
endlich ſind, und die Reihe daher convergend iſt,
wenn man c (§. 86.) ſehr klein nimmt.


Auch
[307]Differenzialrechnung.

Auch kann die Gleichung = o in manchen
Faͤllen gar keine Werthe von x zu geben ſcheinen,
fuͤr welche y ein Groͤßtes oder Kleinſtes wuͤrde, und
doch kann es dergleichen geben, wie die Betrachtung
der Funktion y ausweiſet.


Um dies durch ein Beyſpiel zu erlaͤutern, ſo
ſey die Funktion y = b + √3 (a — x)2.


Hier iſt ſogleich von ſelbſt klar, daß x = a die
Funktion y = b zu einem Kleinſten macht, weil,
wenn man ſtatt x einen etwas groͤßeren oder kleine-
ren Werth als a nimmt, man die benachbarten
Werthe von y naͤmlich y', y'' \> b findet. Naͤm-
lich fuͤr x = a + c erhaͤlt man y'' = b + √3 (— c)2
= b + √3 (+ c2)
, und fuͤr x = a — c, wird
y' = b + √3 (+ c2), mithin y', y'' beyde groͤßer
als b; daher y = b ein Kleinſtes.


Wuͤrde man aber dies auf dem gewoͤhnlichen
Wege durch = o ſuchen wollen, ſo wuͤrde man
ſeines Zwecks verfehlen, weil
im Zaͤhler die veraͤnderliche Groͤße x nicht mehr ent-
haͤlt, ſo daß man durch Nullſetzung dieſes Zaͤhlers
U 2eine
[308]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
eine Gleichung erhielte, um das x, fuͤr welches y
ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird, zu finden, und
wollte man den Nenner √3 (a — x) = ∞ nehmen,
um = o zu machen, ſo wuͤrde man daraus
gleichfalls nicht den wahren Werth x = a finden,
fuͤr welchen y ein Kleinſtes iſt. Man wuͤrde viel-
mehr hier den Nenner = o ſetzen muͤſſen, um x = a
zu finden, aber dann iſt nicht allein = ∞, ſon-
dern auch alle hoͤhern Differenzialquotienten wuͤrden
unendlich werden, d. h. man wuͤrde ungewiß ſeyn,
ob fuͤr x = a, y wirklich ein Kleinſtes wuͤrde, wenn
man es nicht aus der Beſchaffenheit der Funktion y
ſelbſt ſchon wuͤßte.


Hr. Prof. Buſſe hat in einer Schrift: Neue
Methode des Groͤßten und Kleinſten
.
(Freyberg 1808) fuͤr den Fall, daß = ∞ wird,
neue Vorſchriften fuͤr die Auffindung des Groͤßten
und Kleinſten zu geben verſucht, welche naͤher un-
terſucht zu werden verdienen.


Zum Gluͤcke kommen ſolche Faͤlle, wo ꝛc.
unendlich werden, nicht haͤufig vor, und oft kann
man
[309]Differenzialrechnung.
man ſich durch andere Betrachtungen in ſolchen
zweifelhaften Faͤllen helfen. Z. B. man ſieht ſo-
gleich, daß in dem vorigen Falle y ein Kleinſtes
oder Groͤßtes ſeyn muß, wenn √3 (a — x)2, d. h.
(a — x)2 ſelbſt ein ſolches iſt, weil (a — x)2 eine
gerade Potenz von (a — x) iſt, und aus dieſer
eine Wurzel von einem ungeraden Exponenten ge-
zogen wird, welche keine Zweydeutigkeit in Anſe-
hung des Bejahten oder Verneinten zulaͤßt. Man
ſuche alſo bloß, unter welchen Umſtaͤnden z =
(a — x)
2 ein Groͤßtes oder Kleinſtes wird.


Weil nun = — 2 (a — x), ſo hat man,
wenn = o geſetzt wird, x = a. Fuͤr dieſen Werth
wird nun z = o und alſo auch y = b ein Kleinſtes,
weil = 2 x bejaht iſt.


Mehrere hieher gehoͤrige Betrachtungen, wo-
durch die Rechnungen fuͤr das Groͤßte oder Kleinſte
oft erleichtert werden koͤnnen; ſ. m. in Eulers
Instit. C. diff. P. II. §. 258. Meine Abſicht
verſtattet nicht, weitlaͤuftiger zu ſeyn.


U 3§. 91.
[310]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
§. 91.
Aufgabe.

Es ſeyA M N Reine krumme Linie
(Fig. VII.), deren Gleichung zwiſchen den
rechtwinklichten Coordinaten
C P = x,
undP M = ygegeben ſey. Auf einem
und demſelben Schenkel dieſer krummen
Linie, ſeyen M und N ein paar belie-
bige Punkte, durch welche man die ge-
rade Linie
M Nziehe, deren Verlaͤnge-
rung die Abſciſſen-Linie
A Win S durch-
ſchneide. Man ſucht die Entfernung
dieſes Punktes S von der gegebenen Or-
dinate
P M, alſo die WeiteP S.


Aufl. I. Wenn C P = x die Abſciſſe zur Or-
dinate P M = y, und C Q = x' die Abſciſſe zur
Ordinate Q N = y' iſt, ſo wird, wenn man M L
mit A W parallel ziehet, das Dreyeck M L N dem
Dreyecke S P M aͤhnlich, mithin
L N : L M = P M : P S
d. h. y' — y : x' — x = y : P S.
Alſo
oder
[311]Differenzialrechnung.
oder wenn man die Differenz x' — x = Δ x, und
y' — y = Δ y nennet
P S = .


II. Weil nun y' der Werth von y iſt fuͤr x' = x
+ Δ x
, ſo iſt nach dem Tayloriſchen Lehrſatz, das
c in (§. 71.) = Δ x geſetzt
y' — y = Δ y = Δ x. ꝛc.
oder wenn ꝛc. mit p, q ꝛc. bezeichnet wer-
den (§. 72.)
Δ y = p. Δ x + (Δ x)3 ꝛc.


III. Dies giebt den Werth von
P S =


§. 92.

Zuſ. I. Je naͤher man ſich die beyden Punkte
M, N bey einander gedenkt, deſto mehr wird ſich
die gerade Linie N M S einer Tangente an M naͤhern.
Man ſtelle ſich vor, die Linie N M S drehe ſich um
M, ſo, daß N und M immer naͤher zuſammen-
ruͤcken. In dem Augenblicke, daß M und N zu-
U 4ſam-
[312]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
ſammenfallen, mithin Q N = P M; C Q = C P
wird, verwandelt ſich die ſchneidende Linie N S
(Fig. VIII.)
in eine Tangente M T an M, wie
(Fig. VIII.) [und]P S (Fig. VII.) in die ſogenannte
SubtangenteP T (Fig. VIII.)


Zuſ. II. Dieſe Subtangente fuͤr den Punkt M
alſo zu finden, muß man in (§. 91. III.) den
Werth von P S fuͤr x' = x, d. h. fuͤr Δ x = o
(Zuſ. I.) ſuchen.


Alſo iſt die Subtangente
P T = .


Zuſ. III. Dies giebt ferner fuͤr die Laͤnge der
Tangente M T die Formel
M T = √ (P M2 + P T2) = √
oder M T = √ (1 + p2).


Und fuͤr den Winkel T, den die Tangente mit
der Abſciſſen-Linie macht, tang T = oder
tang T = p = .
Aus
[313]Differenzialrechnung.
Aus welchen Formeln denn die Lage der Tangente
gegen die Abſciſſen-Linie beſtimmt werden kann,
wenn der Punkt M gegeben iſt.


Zuſ. IV. Fuͤr den Winkel, welchen die Tan-
gente MT mit der Ordinate P M macht, iſt
tang PMT = cot T =.


Zuſ. V. Wenn MR (Fig. VIII.) auf die Tan-
gente ſenkrecht iſt, und die Abſciſſen-Linie in R durch-
ſchneidet, ſo heißt MR eine Normal-Linie an
M, und PR die Sub-Normal-Linie.


Fuͤr dieſe Sub-Normal-Linie hat man wegen
der Aehnlichkeit der Dreyecke MPR, MPT
PT : PM = PM : PR
d. i. .
Alſo die


Sub-Normal-Linie
und die Normal-Linie MR = √ (PR2 + PM2)
= √ (p2y2 + y2) = y √ (1 + p2).


Endlich fuͤr den Winkel R, welchen die Nor-
mal-Linie mit der Abſciſſen-Linie macht
tang R = cot T =.


U 5An-
[314]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Anmerkung. Gewoͤhnlich leitet man die
Formel fuͤr die Subtangente (Zuſ. II.) ſogleich aus
der Formel
ab, indem man (Fig. VII.) die endlichen Differen-
zen ML = PQ = Δ x und NL = Δ y ſich in die
Differenzialien d x und d y verwandeln laͤßt, wo-
durch die ſchneidende Linie NMS ſich ohne Ende
der Tangente an M, und folglich PS ohne Ende
ſich der Subtangente fuͤr den Punkt M naͤhert.
Man betrachtet hiebey zugleich das Bogenelement
MN als ein unendlich kleines Stuͤckchen der Tan-
gente an M, und den Ausdruck , dem ſich die
Subtangente ohne Ende immer mehr und mehr naͤ-
hert, als den Werth der Subtangente ſelbſt, eine
Vorſtellung, welche durch die zu Anfange der Dif-
ferenzialrechnung vorgetragenen Saͤtze vollkommen
gerechtfertigt wird. Indeſſen moͤgte die (Zuſ. I. II.)
gewaͤhlte Darſtellungsart, vermoͤge der man die
Punkte N, M, nicht bloß ohne Ende ſich immer mehr
und mehr naͤhern, ſondern voͤllig zuſammenfallen
laͤßt, um die ſchneidende Linie NMS in eine Tan-
gente zu verwandeln, vielen doch wohl noch uͤber-
zeugender vorkommen.


§. 93.
[315]Differenzialrechnung.
§. 93.
Aufgabe.

Tangenten an krumme Linien zu zie-
hen, wenn die Ordinaten nicht wie (§. 91.)
mit einander parallel, ſondern aus einem
Punkte ausgehen, wie
CA, CM, CN (Fig.
IX.)
, woCAdie erſte oder Anfangs-Or-
dinate ſey, von der jede andere, wie
CM
= z
, um den veraͤnderlichen WinkelACM
= φabſtehe.


Aufl.I. Da fuͤr dieſen Fall eine Gleichung
zwiſchen CM = z (dem ſogenannten Radius vector)
und dem Winkel ACM = φ gegeben ſeyn muß,
wodurch denn z eine Funktion von φ wird, ſo ſey
nunmehr N welcher andere Punkt man will, und
fuͤr ihn ACN = φ' = φ + Δ φ, und CN = z'
= z + Δ z.
Weil nun z eine Funktion von φ iſt,
ſo wird nach dem Tayloriſchen Lehrſatz
Mithin


II. Man ziehe durch N, M die gerade Linie
NMS, und von M, das Perpendikel ML auf CN,
ſo hat man
ML
[316]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
ML = CM ſin MCL = z ſin (φ' — φ)
CL = CM coſ MCL = z coſ (φ' — φ)

Und folglich
NL = CN — CL = z' — z coſ (φ' — φ)
tang SNC =

oder tang SNC =.


III. Nun iſt nach (§. 74.) das daſelbſt im 3ten
Beyſpiele vorkommende c = Δ φ geſetzt
ſin Δ φ = Δ φ — u. ſ. w.
coſ Δ φ = 1 — u. ſ. w.


IV. Subſtituirt man dieſe Werthe in den Aus-
druck fuͤr tang SNC (II), ſo erhaͤlt man
tang SNC =
und nun ferner ſtatt z' — z den Werth (I) geſetzt
tang SNC =
wo der Kuͤrze halber in (I)
u. ſ. w.
geſetzt worden iſt.


V.
[317]Differenzialrechnung.

V. Nun laſſe man wiederum wie (§. 92. Zuſ. I.)
die ſchneidende Linie NMS um M ſich drehen, daß
der Punkt N mit M zuſammenfaͤllt, ſo wird ſich
die Linie NMS in eine Tangente MT an M
(Fig. X.)
und der Winkel SNC (IV.) in den
Winkel CMT (Fig. X.) verwandeln.


Um demnach dieſes Winkels CMT Groͤße zu
erhalten, muß man in (IV.) Δ φ = o ſetzen. Hie-
durch wird denn
tang CMT = .
Und ſo iſt denn die Lage der Tangente MT gegen
die Ordinate CM = z beſtimmt.


VI. Kuͤrzer kann man dieſe Formel ſogleich aus
dem Ausdruck (II) ableiten, wenn man in dieſem
ſtatt der endlichen Differenz Δ φ, das Differenzial
dφ ſetzt, wodurch ſin Δ φ ſich ohne Ende dem Wer-
the dφ und coſ Δ φ dem Werthe 1 naͤhert. Aber
dann naͤhert ſich zugleich der Winkel SNC ohne
Ende dem Winkel, den die Tangente an M mit der
Ordinate CM macht, d. h. (Fig. X.) dem Winkel
CMT, und man erhaͤlt auf dieſe Art
tang CMT =
wie-
[318]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
wie in (V). Wenn man indeſſen bey dieſer Abkuͤr-
zungsmethode alles vollkommen ſcharf erweiſen will,
ſo wird ſie nicht viel kuͤrzer, als das von mir ge-
waͤhlte Verfahren (IV. V.), bey welchem man wie
(§. 92. Anm.) die Punkte N und M voͤllig zuſam-
menfallen laͤßt, um die Tangente an M zu erhalten.


§. 94.

Zuſ. I. Man ziehe durch C (Fig. X.) eine
gerade Linie CW ſenkrecht auf die Ordinate CM,
ſo iſt, wenn ſie der Tangente an M in T begegnet
CT = CM tang CMT = .


Man darf alſo auch nur CT dem Werthe
gleich nehmen, und von T nach M ziehen, ſo wird
TM die krumme Linie in M beruͤhren.


Fuͤr die Laͤnge MT dieſer Tangente iſt
Oder
.


Zuſ.
[319]Differenzialrechnung.

Zuſ. II. Es ſey MR eine Normal-Linie
an M, welche dem Perpendikel CT auf CM in R
begegne, ſo iſt
CR = CM . tang CMR = z cot CMT.
Oder


Fuͤr den Winkel R iſt
tang R = tang CMT = (§. 93. VI.)
und fuͤr die Laͤnge der Normal-Linie

Zuſ. III. Die Winkel PMT (§. 92. Zuſ. IV.)
und CMT (§. 93. VI.) werden zu rechten Win-
keln, d. h. die Tangenten MT ſtehen auf den Or-
dinaten ſenkrecht, wenn die Differenzialquotienten
unendlich, d. h. = o werden.


Aber die Gleichungen = o ge-
ben diejenigen Werthe von x und φ, fuͤr welche
die Funktionen y, z groͤßte oder kleinſte Werthe er-
halten. (§. 86. VII.)


An
[320]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

An welchen Punkten einer krummen Linie alſo
groͤßte oder kleinſte Ordinaten ſtatt finden, an ſol-
chen ſtehen die Beruͤhrungs-Linien allemahl auf
den Ordinaten ſenkrecht.


§. 95.

Wir wollen nun die Aufgaben (§. 93. 94.)
durch ein paar Beyſpiele erlaͤutern.


Beyſp. I. 1. Die Gleichung fuͤr die krum-
me Linie ſey zwiſchen ſenkrechten Coordinaten
y2 = αx + βx2
ſo iſt die krumme Linie eine Ellipſe, Hyperbel oder
Parabel, je nachdem β negativ, poſitiv, oder =
o iſt. Bey der Parabel iſt dann α der Parameter,
und bey der Ellipſe und Hyperbel α = ,
wenn c, a, die kleine und große Axe be-
deuten.


2. Die Gleichung (1) giebt nun differenziirt,
ſogleich
und hieraus die
Sub-Normal-Linie = .


Fer-
[321]Differenzialrechnung.

Ferner = tang R fuͤr den
Winkel der Normal-Linie mit der Abſciſſen-Linie;
und = tang T fuͤr den Winkel
der Tangente mit der Abſciſſen-Linie. (§. 92. Z. V.)


Sodann die Subtangente = .


3. Fuͤr die Parabel hat man β = o; demnach
die Sub-Normal-Linie = ½ α. (2)


4. Alſo hat die Parabel die Eigenſchaft, daß
die Sub-Normal-Linie einer conſtanten Groͤße,
naͤmlich dem halben Parameter gleich iſt.


Aber die Subtangente der Parabel iſt
= 2 x der doppelten Abſciſſe gleich.


5. Fuͤr Ellipſe und Hyperbel findet ſich ;
(2). Mithin die
Subtangente =
wegen
y2 =
XUnd
[322]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Und die Sub-Normal-Linie =
in welchen Formeln das obere Zeichen fuͤr die Ellipſe,
das untere fuͤr die Hyperbel gilt.


Aus dieſen analytiſchen Ausdruͤcken kann man
leicht Vorſchriften ableiten, die Tangenten und
Normal-Linien durch eine geometriſche Conſtruk-
tion zu finden, woruͤber man in den Schriften,
welche beſonders von den krummen Linien handeln,
das weitere nachleſen kann.


Fuͤr die krummen Linien der zweyten Ordnung
hat Hr. Placidus Heinrich eine Schrift de
sectionibus conicis tractatus analyticus (Ra-
tisb.)
herausgegeben, welche Anfaͤngern empfohlen
zu werden verdient.


Beyſp. II. Es ſey fuͤr Ordinaten aus
einem Punkte

wo der Winkel φ in Graden gegeben ſey, ſo iſt die
krumme Linie eine archimediſche Spiral-Li-
nie
, in der die Anfangs-Ordinate CA = r, d. h.
dem Halbmeſſer des Kreiſes gleich iſt, welcher bey
der Conſtruktion der Spiral-Linie gebraucht wird.
(Fig. X.)


Der
[323]Differenzialrechnung.

Der Quotient iſt auch = ; wenn
man den Winkel φ, oder vielmehr den ihn meſſen-
den Bogen in Decimaltheilen des Halbmeſſers 1
ausdruͤckt, und π die Ludolphiſche Zahl bedeutet.


Dies giebt z = .


Mithin (§. 93. VI.) fuͤr den Winkel der Tan-
gente mit der Ordinate
tang CMT = = φ.
Alſo iſt die Tangente des Winkels CMT gleich dem
Bogen φ oder dem Maaße des Winkels ACM in
Decimaltheilen des Halbmeſſers 1. [Z. B. wenn der
Winkel ACM (Fig. X.) = 30° . 4′ waͤre, ſo haͤtte
man tang CMT = Bog. 30° + Bog. 4′ =
0,5235987 + 0,0011635 = 0,5247622, mithin
CMT = 27° . 41′.]


Ferner wird
CT = (§. 94. Zuſ. I.)
CR =
d. h. C R iſt einer beſtaͤndigen Linie gleich.


X 2Beyſp.
[324]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Beyſp. III. Es ſey fuͤr eine logarithmi-
ſche Linie
die Gleichung zwiſchen rechtwink-
lichten Coordinaten

a log = x
wo a, b beſtaͤndige Linien, und log den Loga-
rithmen der Zahl in einem Syſtem, deſſen Mo-
dulus = M iſt, bezeichne, ſo iſt wegen d log
(§. 24. das dortige x = geſetzt)
.
Alſo die Subtangente der logarithmiſchen
Linie
naͤmlich
einer beſtaͤndigen Groͤße gleich.


Die Beſtimmungen fuͤr die Normallinie u. ſ. w.
uͤbergehe ich, ſo wie es uͤberhaupt unnoͤthig iſt, die
Anwendung der (§§. 93. 94) gefundenen Formeln,
noch durch Beyſpiele von andern krummen Linien
zu erlaͤutern, da die gefundenen Formeln auf bloßen
Dif-
[325]Differenzialrechnung.
Differenziationen beruhen, und der Zweck dieſes
Buches nicht die Lehre von den krummen Linien iſt,
ſondern vielmehr auch aus dieſer nur Beyſpiele zur
Erlaͤuterung des mannichfaltigen Gebrauchs der
Differenzialrechnung genommen werden.


§. 96.
Aufgabe.

Es ſeyAM (Fig. VII.)ein Bogen von
einer krummen Linie, fuͤr welche eine
Gleichung zwiſchen den rechtwinklichten
Coordinaten
GP = xundPM = ygege-
ben iſt. Indem die Abſciſſe
CPumPQ
= Δ x, und die OrdinatePMumNL =
Δ yſich aͤndert, aͤndere ſich der Bogen
AM = sumMN = Δ s.Man ſucht das
Verhaͤltniß des Bogens
MN = Δ s, zu
ſeiner Sehne
MN, fuͤr den Fall, daß
Δ x, und folglich auch Δ yund Δ s, ohne
Ende immer mehr und mehr abnehmen,
oder ſich in die Differenziale
, d x, d y,
d s
, verwandeln.


Aufl. I. Die Sehne oder gerade Linie MN,
als Hypothenuſe des rechtwinklichten Dreyecks MNL
iſt = √ (ML2 + NL2) = √ (Δ x2 + Δ y2).


X 3II.
[326]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

II. Nun iſt der Bogen MN allemahl groͤßer,
als ſeine Sehne, mithin
.
Man ſetze demnach
ſo iſt m eine poſitive Groͤße, die aber ohne Ende
immer mehr und mehr abnimmt, je kleiner Δ x und
folglich auch Δ y, und Δ s werden, weil ſich die
Sehne MN ihrem Bogen, ohne Ende mehr und
mehr naͤhert, je naͤher N an M ruͤckt. Wenn alſo
die endlichen Differenzen Δ x, Δ y, Δ s ohne Ende
immer mehr und mehr abnehmen, d. h. ſich in die
Differenziale d x, d y, d s, verwandeln, ſo naͤhert
ſich der Quotient ohne Ende im-
mer mehr und mehr der 1, d. h. man hat
welches man auch durch die Gleichung d s =
√ (d x2 + d y2) ausdruͤcken kann, wo denn d s
das Differenzial des Bogens s, oder das Bogen-
element
durch die Differenziale der Abſciſſe und
Ordinate gegeben iſt.


III.
[327]Differenzialrechnung.

III. Weil y eine Funktion von x iſt, ſo ſey
d y = p d x; dann hat man auch
d s = d x √ (1 + p2).
s wird alſo eine ſolche Funktion von x ſeyn muͤſſen,
daß d s = d x √ (1 + p2) wird.


§. 97.
Aufgabe.

Eine krumme LinieBMNL (Fig. XI.),
werde von einem KreiſeHMNRin zwey
Punkten
M, Ngeſchnitten. Man fraͤgt
nach den Bedingungsgleichungen, wenn
der Punkt
Nohne Ende immer naͤher und
naͤher an
Mruͤckt, und endlich beyde
Punkte in einen
Mzuſammenfallen, ſo
daß der Kreis die krumme Linie in
Mbe-
ruͤhrt
.


Aufl.I. Dem Punkte M der krummen Linie
gehoͤre die Abſciſſe AP = x und Ordinate PM = y
zu, und beyde ſeyen auf einander ſenkrecht.


II. Zu dem Punkte N gehoͤre eben ſo die Ab-
ſciſſe AQ = x + Δ x, und Ordinate y + Δ y =
y' = QN.


III. In ſo fern aber eben dieſe Punkte auch in
dem Umfange des Kreiſes liegen ſollen, will ich die
X 4Or-
[328]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Ordinaten PM, QN, als zum Kreiſe gehoͤrig, mit
w, w' bezeichnen. So wie naͤmlich y fuͤr die Ab-
ſciſſe x aus der Gleichung fuͤr die krumme Linie be-
ſtimmt wird, erhaͤlt man w fuͤr die Abſciſſe x aus
der Gleichung fuͤr den Kreis.


IV. C ſey der Mittelpunkt des Kreiſes, und
CD auf die Abſciſſen-Linie ſenkrecht, ſo iſt C durch
AD = a, und CD = b beſtimmt. Der Halb-
meſſer CM des Kreiſes heiße c, ſo iſt, wenn CK
parallel mir AD gezogen worden,
CM2 = CK2 + KM2. Oder
c2 = (a — x)2 + (w — b)2

die Gleichung fuͤr den Kreis, in Bezug auf die
Abſciſſen-Linie AD.


V. In ſo ferne nun die Punkte M, N, ſowohl
in der krummen Linie, als in dem Umfange des
Kreiſes liegen ſollen, hat man fuͤr dieſe Punkte
y = w
und y' = w'


VI. Aber weil y eine gegebene Funktion von
x iſt, ſo hat man nach den Tayloriſchen Lehrſatz
.
wo p, q, r ꝛc. der Ordnung nach, die Differenzial-
quotienten ꝛc. bedeuten.


VII.
[329]Differenzialrechnung.

VII. Und eben ſo, in ſo ferne vermoͤge der
Gleichung (IV) auch w eine Funktion von x iſt,
.
wo P, Q, ꝛc. der Ordnung nach, die Differenzialquo-
tienten ꝛc. bezeichnen.


VIII. Weil nun fuͤr die Punkte M, N; y = w;
und y' = w' iſt, ſo erhaͤlt man hieraus und aus
(VI. VII.) ſehr leicht die Gleichung
.


IX. Sollen nun die Punkte N und M zuſam-
menfallen, damit der Kreis die krumme Linie in M
beruͤhre (wie Fig. XII.), ſo muß man Δ x = o ſetzen,
woraus denn (VIII) p = P, folgt.


X. Man ſieht alſo, daß die Bedingungsglei-
chungen unter denen der Kreis HMNR die krumme
Linie beruͤhren wird
w = y (V.)
und (IX.)

ſind.


X 5§. 98.
[330]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
§. 98.

ZuſatzI. Aus den beyden Gleichungen am
Ende des vorigen §es folgt
.
Nun iſt aber der Werth der Sub-Normal-
Linie in dem Kreiſe fuͤr den Punkt M, ſo wie
der Werth der Sub-Normal-Linie in der krummen
Linie fuͤr eben dieſen Punkt M (§. 92. Zuſ. V.)
Alſo haben die krumme Linie und der Kreis an dem
gemeinſchaftlichen Beruͤhrungspunkte M einerley
Sub-Normal-Linie P Z, wo denn Z nothwendig
in der Verlaͤngerung des Halbmeſſers MC liegen
muß, weil die Halbmeſſer auf dem Umfange des
Kreiſes normal ſind.


ZuſatzII. Hieraus folgt denn, daß der
Kreis mit der krummen Linie auch eine gemeinſchaft-
liche Tangente an M haben wird; welches auch aus
der Gleichung
wel-
[331]Differenzialrechnung.
welche man aus obigen ſehr leicht ableitet, gefolgert
werden kann. Denn und druͤcken die
Subtangenten an M aus.


Zuſ. III. Ohnſtreitig laſſen ſich unzaͤhlige
Kreiſe ziehen, welche ſaͤmmtlich die krumme Linie in
M beruͤhren, und mit dieſer eine gemeinſchaftliche
Tangente an M haben. Daß die Mittelpunkte die-
ſer Beruͤhrungskreiſe ſich alle in der Normal-Linie
MZ oder deren Verlaͤngerung befinden, weiß man
ſchon aus der Elementargeometrie. Man kann dieſe
Saͤtze aber auch analytiſch aus der Betrachtung ab-
leiten, daß wenn man fuͤr den gegebenen Punkt M
die Coordinaten x, y, als gegeben, hingegen fuͤr
den Mittelpunkt und Halbmeſſer des zu beſtimmen-
den Beruͤhrungskreiſes die Groͤßen a, b, c als un-
bekannte anſieht, die obigen Bedingungsgleichun-
gen nicht hinreichend ſind, dieſe Groͤßen a, b, c,
vollkommen zu beſtimmen, daß es demnach unzaͤh-
lige Kreiſe durch M geben muß, welche die krumme
Linie beruͤhren.


Um die Sache durch ein Beyſpiel zu erlaͤutern,
ſo ſey die krumme Linie eine Parabel, deren Para-
meter = α, ſo hat man y2 = αx und .


Fer-
[332]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Ferner durch Differenziation aus der Gleichung
fuͤr den Kreis (§. 97. IV.)
(w — b) d w — (a — x) d x = o
oder .


Die Bedingungsgleichung (§. 97.
X.) verwandelt ſich alſo in
oder wegen der zweyten Bedingungsgleichung w
= y
in
.


Es erhellet alſo, daß dieſe Gleichung, worin
a, b fuͤr den geſuchten Mittelpunkt C des Beruͤh-
rungskreiſes, als die unbekannten Groͤßen zu be-
trachten ſind, nicht hinreichend iſt, dieſe Groͤßen
zu beſtimmen. Man kann a willkuͤrlich annehmen,
und daraus b = y — finden. Aber
eben weil man a willkuͤrlich annehmen kann, giebt
es unzaͤhlige Mittelpunkte fuͤr Beruͤhrungskreiſe,
die dann vermoͤge (Zuſ. I.) alle in der Normal-
Linie MZ oder deren Verlaͤngerung liegen werden.
Hat
[333]Differenzialrechnung.
Hat man b aus a gefunden, ſo iſt fuͤr den Halb-
meſſer des Beruͤhrungskreiſes
c = √ [(a — x)2 + (w — b)2]
oder wegen w = y
c = √ [(a — x)2 + (y — b)2]
wo ſtatt y auch √ αx geſetzt werden kann.


Zuſ.IV. Unter den unzaͤhligen Kreiſen, welche
die krumme Linie in M beruͤhren koͤnnen, wird es
einen geben, welcher in Ruͤckſicht ſeiner Kruͤmmung
bey M ſich am wenigſten von der krummen Linie
entfernt, deſſen Ordinaten alſo ſich denen der krum-
mén Linie moͤglichſt naͤhern. Dieſen Kreis nennt
man den Kruͤmmungs-Kreis (circulus oscu-
lator
), und den Halbmeſſer deſſelben, den Kruͤm-
mungs-Halbmeſſer (radius osculi, radius cur-
vaturae
).


Es ſey (Fig. XIII.) M m ein kleiner Bogen
eines die krumme Linie in M beruͤhrenden Kreiſes
Mρ, und T m = W, T n = Y Ordinaten des
Kreiſes und der krummen Linie fuͤr eine gemeinſchaft-
liche Abſciſſe A T = A P + P T = x + k, wo x
die zum Beruͤhrungspunkte M gehoͤrige Abſciſſe,
und k eine ſehr kleine Groͤße bezeichne, ſo hat man
nach dem Tayloriſchen Theorem
W
[334]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
W = w + P k + ½ Q k2 + ⅙ R k3 ꝛc.
Y = y + p k + ½ q k2 + ⅙ r k3 ꝛc.

Weil aber die krumme Linie und der Kreis ſich be-
ruͤhren ſollen, ſo hat man die Bedingungsgleichun-
gen w = y; P = p (§. 97.) Demnach auch w
+ P k = y + p k
, welches ich = A nennen will.
Mithin
W = A + ½ Q k2 + ⅙ R k3 ..
Y = A + ½ q k2 + ⅙ r k3 ..


Man gedenke ſich nun k ſo klein, daß die Glie-
der, worinn k3, k3 … vorkommen, als verſchwin-
dend gegen Q k2, q k2 betrachtet werden koͤnnen,
ſo iſt
W = A + ½ Q k2
Y = A + ½ q k2

oder
d. h. je mehr ſich Q und q dem Verhaͤltniſſe der
Gleichheit naͤhern, deſto mehr wird dies auch der
Fall bey den Ordinaten W und Y ſeyn. Unter
allen Kreiſen, welche die krumme Linie in M beruͤh-
ren, wird alſo derjenige ſich der krummen Linie am
meiſten naͤhern, fuͤr welchen q = Q iſt, und die
Bedingung, unter der ein Beruͤhrungs-Kreis ein
Kruͤmmungs-Kreis werden kann, iſt demnach q = Q
oder
[335]Differenzialrechnung.
oder , aus welchen Betrachtungen
nunmehr leicht die Formel fuͤr den Kruͤmmungs-
Halbmeſſer abgeleitet werden kann.


§. 99.
Aufgabe.

Es iſt fuͤr eine krumme Linie die Glei-
chung zwiſchen ſenkrechten Coordinaten
gegeben, man ſoll fuͤr einen gegebenen
Punkt derſelben, den Kruͤmmungs-Halb-
meſſer finden
.


Aufl. 1. Dem gegebenen Punkte gehoͤre eine
Abſciſſe = x und Ordinate = y zu, und eben die-
ſem Punkte in dem Kruͤmmungs-Kreiſe die Abſciſſe
x und Ordinate w. Der Kruͤmmungs-Halbmeſſer
heiße ρ, ſo hat man vermoͤge der Gleichung des
Kreiſes (§. 97. IV.) ρ ſtatt des dortigen c geſetzt,
ρ = [(a — x)2 + (w — b)2].


2. Sodann vermoͤge deſſen, daß der Kreis die
krumme Linie beruͤhren ſoll (§. 97. V.IX.)
w = y; und P = p
und daß er ein Kruͤmmungs-Kreis ſeyn ſoll
Q = q (§. 98. (Zuſ. IV.)
d. h.
[336]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
d. h. w = y;; und
wobey das Differenzial d x als unveraͤnderlich an-
geſehen wird, wie bey allen Anwendungen des Tay-
loriſchen Lehrſatzes der Fall iſt.


3. Aus (1) wird auch
oder wegen (2) = p
ρ = (w — b) √ (1 + p2).


4. Ferner aus erhaͤlt man

5. Alſo
d. h.
[337]Differenzialrechnung.
d. h. wegen (2)

6. Demnach der Halbmeſſer der Kruͤmmung (3)
oder .


Da nun ; , ſo ſind
in dem Ausdrucke fuͤr ρ, die Groͤßen p, q durch die
Gleichung zwiſchen y und x, d. h. aus der gege-
benen Gleichung der krummen Linie, in jedem Falle
leicht zu beſtimmen. In die Differenzialquotien-
ten p, und q, wird alsdann ſtatt x die Abſciſſe ge-
ſetzt, welche zu dem gegebenen Punkte M der krum-
men Linie gehoͤrt.


Beyſpiel.

7. An einem gegebenen Punkt ei-
nes Kegelſchnittes den Halbmeſſer der
Kruͤmmung zu finden
.


Fuͤr die Kegelſchnitte iſt
y2 = αx + βx2 (§. 95.)


YAlſo
[338]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

8. Alſo (daſ. 2.)
.
Folglich


9. Ferner wegen
durch abermalige Differenziation
2 y d p + 2 p d y = 2 βd x oder
.
Demnach


10. Und folglich aus (8. 9) der Halbmeſſer der
Kruͤmmung (6)
Oder ſtatt y2 ſeinen Werth aus (7) geſetzt

Fuͤr
[339]Differenzialrechnung.

Fuͤr die Parabel iſt β = o alſo
oder .


Alſo z. B. im Scheitelpunkte der Parabel
d. h. fuͤr x = o waͤre der Halbmeſſer der Kruͤm-
mung = ½ α, oder = dem halben Parameter.


Die Werthe von α, β, fuͤr Ellipſe und Hyper-
bel ſind (§. 95. I. 1.) angegeben, mit deren Subſtitu-
tion wir uns aber hier nicht weiter auf halten wollen.


§. 100.

Zuſ. I. Da nach (§. 96.) d s = d x (1 + p2)
das Bogen-element am Punkte M der krummen
Linie bezeichnet, ſo ergiebt ſich hieraus noch ein
anderer Ausdruck fuͤr den Kruͤmmungs-Halbmeſſer,
naͤmlich wegen wird (§. 99. 7.)
Oder auch

Y 2Zuſ.
[340]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Zuſ. II. Zugleich erhellet aus (§. 57.), daß
wenn man in den Ausdruck (§. 99. 6.) fuͤr den
Kruͤmmungs-Halbmeſſer, ſtatt p den Werth ,
und ſtatt q den Werth ſetzt,
man einen Ausdruck fuͤr den Kruͤmmungs-Halb-
meſſer erhalten wird, in welchem ſtatt d x conſtant
zu ſetzen, jedes andere Differenzial conſtant geſetzt
werden kann, ohnbeſchadet des Werthes des Kruͤm-
mungs-Halbmeſſers. Dies giebt ſtatt (1 + p2)\frac{3}{2}
zugleich geſetzt, den Kruͤmmungs-Halbmeſſer
(§. 99. 6.)
Oder auch

Zuſ. III. Wird alſo z. B. d x conſtant ge-
ſetzt, ſo hat man
wegen d d x = o.
Nimmt man aber d y unveraͤnderlich, ſo hat man
wegen d d y = o.
Und
[341]Differenzialrechnung.
Und naͤhme man d s unveraͤnderlich, alſo auch
d s2 = d x2 + d y2 unveraͤnderlich, ſo haͤtte man
in dem Differenziale
2 d d s . d s = 2 d x d d x + 2 d y d d y
d d s = o. Mithin d d y = — d d x.


Und folglich (Zuſ. II.)
.
Oder auch wegen d d x = —
.


Alle dieſe noch ſo verſchieden ſcheinende Aus-
druͤcke fuͤr den Kruͤmmungs-Halbmeſſer geben doch
immer einerley Werth, ſo bald man aus der Glei-
chung fuͤr die krumme Linie die Werthe der Diffe-
renzialien d s, d d y, d d x ſucht. Um es durch
ein Beyſpiel zu erlaͤutern, ſo wollen wir die Formel
nehmen, bey der d s conſtant geſetzt
worden, und ſie durch die Parabel erlaͤutern. Fuͤr
dieſe iſt alſo y2 = αx; mithin ;
demnach d s2 oder d y2 + d x2 =
Y 3α2
[342]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
. Soll nun
d s und folglich auch d s2 unveraͤnderlich ſeyn, ſo
muß ſeyn.


Dies giebt wegen
durch abermahlige Differenziation
.


Oder uͤberall mit 2 d x dividirt
.


Subſtituirt man nun in den Ausdruck fuͤr ρ den
eben gefundenen Werth von d d x, ſo wie
ſtatt d s, und ſtatt d y,
ſo findet ſich ſehr leicht
voͤllig wie oben (§. 99. 10), da das Differenzial
d x unveraͤnderlich angenommen war.


Bey
[343]Differenzialrechnung.

Bey mathematiſchen Unterſuchungen uͤber dieſe
oder jene Gegenſtaͤnde, wobey die Betrachtung von
Kruͤmmungs-Halbmeſſern vorkoͤmmt, iſt es vor-
theilhaft, bald dieſes bald jenes Differenzial unver-
aͤnderlich anzunehmen. Deswegen ſind die ange-
fuͤhrten Formeln von ſehr ausgebreitetem Nutzen.
Sie ſetzen voraus, daß die Gleichung fuͤr die Curve
zwiſchen ſenkrechten Coordinaten gegeben iſt, die
Abſeiſſen-Linie mag uͤbrigens, welche Lage man will,
haben. Die folgende Aufgabe zeigt, den Halb-
meſſer der Kruͤmmung zu finden, wenn die Ordina-
ten aus einem Punkte gehen.


§. 101.
Aufgabe.

Es ſey G A M(Fig. XIV.)eine krumme
Linie, in welcher eine Gleichung zwi-
ſchen dem veraͤnderlichen Winkel A C M
= φ an einem gegebenen Punkte C, und
dem Radius vector C M = z gegeben
iſt, den Halbmeſſer der Kruͤmmung an
dem Punkte M zu finden
.


Aufl. 1. Man gedenke ſich durch den Punkt
C, von welchem die radii vectores, oder Ordina-
ten wie C A, C M ꝛc. ausgehen, eine beliebige ge-
Y 4rade
[344]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
rade Linie C Z als Abſeiſſen-Linie gezogen, welche
mit der Anfangs-Ordinate C A einen gegebenen
Winkel A C Z = β mache, und ziehe nun von M
auf C Z, die Ordinate M P ſenkrecht auf die Ab-
ſeiſſen-Linie, ſo daß C P = x, und P M = y ſenk-
rechte Coordinaten fuͤr den Punkt M darſtellen.


2. Man nenne der Kuͤrze halber den Winkel
M C Z = β — φ = ψ, ſo hat man
y = z ſinψ
x = z coſψ.


3. Dieſe Werthe ſtatt x, y in die Gleichung
fuͤr den Kruͤmmungs Halbmeſſer (§. 100. Z. II.)
geſetzt, geben dieſen Halbmeſſer durch die Groͤßen
z, ψ, ſo, daß wenn alſo fuͤr den Punkt M dieſe
Groͤßen gegeben ſind, daraus der Kruͤmmungs-Halb-
meſſer gefunden werden kann.


4. Nun iſt durch Differenziation
d y = d z ſinψ + z dψcoſψ
d x = d z coſψz dψſinψ

woraus durch eine leichte Rechnung und mit Zuzie-
hung des bekannten Satzes ſinψ2 + coſψ2 = 1,
ſich findet
d s2 = d y2 + d x2 = d z2 + z2 dψ2.


5.
[345]Differenzialrechnung.

5. Nun nenne man der Kuͤrze halber z dψ
= d u; alſo
d y = d z ſinψ + d u coſψ
d x = d z coſψd u ſinψ

ſo erhaͤlt man durch Differenziation
d d y = d2z ſinψ + d z dψcoſψd u dψſinψ + d2u coſψ
d d x = d2 z coſψd z dψſinψd u dψcoſψd2u ſinψ


6. Aus dieſen in (5) gefundenen Ausdruͤcken
wird durch eine leichte Multiplikation, und wieder
mit Zuziehung des Satzes ſinψ2 + coſψ2 = 1,
der Werth des Nenners von ρ (§. 100. Zuſ. II.)
d. h. d y d d x – d x d d y = d u d d z – d z d d u –
d z2 d
ψd u2 dψ. Oder z dψ ſtatt d u und z d dψ
+ dψd z ſtatt d d u geſetzt, d y d d x – d x d d y =
z d
ψd d z — z d z d dψ — 2 d z2 dψz2 dψ3,
welches ſich wegen ψ = βφ, oder wegen dψ
= — dφ und d dψ = — d dφ in 2 d z2 dφ +
z d z d dφ + z2 dφ3z dφd d z verwandelt.


7. Dies giebt denn endlich den Kruͤmmungs-
Halbmeſſer
woraus ſich wieder verſchiedene Ausdruͤcke fuͤr ρ her-
leiten laſſen, je nachdem man dieſes oder jenes Dif-
ferenzial unveraͤnderlich ſetzt.


Y 5Bey-
[346]Erſter Theil. Zweites Kapitel.
Beyſpiel.

8. Fuͤr die Archimediſche Spiral-Linie (§. 95.
Beyſp. II.) hat man
.
Alſo .


Und wenn man das Differenzial dφ conſtant,
alſo d dφ = o ſetzt, auch .


Ferner ; alſo
.
Oder auch ſtatt z ſeinen Werth geſetzt
.
Dieſe Werthe in den Ausdruck fuͤr ρ geſetzt, geben
den Kruͤmmungs-Halbmeſſer (7)
.


§. 102.

9. ZuſatzI. Man kann dem Ausdrucke (7)
fuͤr den Kruͤmmungs-Halbmeſſer noch eine einfa-
chere
[347]Differenzialrechnung.
chere Form geben, wenn man ſtatt des Nenners
daſelbſt, den Ausdruck (6) naͤmlich d u d d z —
d z d d u — (d z2 + d u2) d
ψ, und in dieſem
Ausdrucke d z2 + d u2 = d s2 ſetzt (4. 5). Dann
hat man
.
Und nun ſtatt dψ geſetzt
.


Nun iſt aber wegen d s2 = d z2 + d u2 durch
Differenziation d s d d s = d z d d z + d u d d u,
alſo .


Dies ſtatt d d z in den zuletzt gefundenen Werth
von ρ geſetzt, giebt
Oder wegen d u2 + d z2 = d s2 in den beyden
mittelſten Gliedern des Nenners von ρ
Oder auch
Un-
[348]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Unter welcher Form der Kruͤmmungs-Halbmeſſer
oft mit Vortheil gebraucht werden kann.


10. Zuſ. II. Man faͤlle von C (Fig. XIV.)
das Perpendikel C Q auf die Tangente M T, ſo hat
man, wenn C T ſenkrecht auf C M ſteht (§. 94.)
M T : C T = C M : C Q oder (§. 94.)
.

Alſo wenn ſtatt (d z2 + z2 dφ2) das Bogen-
element d s geſetzt wird (4. 2.)
Man nenne dies Perpendikel auf die Tangente = t,
ſo hat man auch den Kruͤmmungs-Halbmeſſer

11. AnmerkungI. Man pflegt den letzten
Ausdruck fuͤr den Kruͤmmungs-Halbmeſſer auch auf
folgende Art zu erweiſen.


Es ſey m (Fig. XV.) ein Punkt der krummen
Linie, unendlich nahe an M, alſo M m = d s ein
Bogen-element, welches man zugleich als das Ele-
ment des mit dem Kruͤmmungs-Halbmeſſer M U
beſchriebenen Kruͤmmungs-Kreiſes betrachtet.


Sind
[349]Differenzialrechnung.

Sind nun m q, M Q Tangenten an m, M, und
C q, C Q Perpendikel auf dieſe Tangenten, aus
dem Punkte C, von welchem die Ordinaten aus-
gehen, ſo iſt der Winkel Qμq beyder Tangenten
(der ſogenannte Kruͤmmungs-Winkel) gleich
dem Winkel M U m am Mittelpunkte des Kruͤm-
mungs-Kreiſes.


Wenn nun m und M ſich einander ohne Ende
naͤhern, ſo naͤhern ſich auch ohne Ende die Linien
μq, μn, M Q, ſo daß man eine ſtatt der andern
ſetzen kann, ſo wie ſich denn auch q n ohne Ende
einem mit μq oder m q beſchriebenen kleinen Kreis-
bogen naͤhert. Ferner kann man auch q n, als
den Unterſchied von C q und C Q, d. h. als das
Differenzial von C Q = t betrachten.


Da alſo die kleinen Kreisbogen q n = d t, und
M m = d s, gleichen Winkeln bey μ und U zuge-
hoͤren, ſo hat man
.
Oder auch
.
Alſo .


Nun
[350]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.

Nun iſt aber M Q = C M coſ C M Q
(§. 93. VI.) = .
Daher .


Aus dieſem Ausdrucke kann man fuͤr den Kruͤm-
mungs-Halbmeſſer ruͤckwaͤrts auch wieder die For-
meln (9. 7.) ableiten, wenn man ſtatt t den Werth
(10) oder auch — ſubſtituirt.


12. AnmerkungII. Uebrigens bedarf es
keines Beweiſes, daß der Mittelpunkt des Kruͤm-
mungs-Kreiſes allemal nach der Gegend genommen
werden muß, nach welcher das Element der krum-
men Linie, zu dem er gehoͤrt, concav iſt. Alſo z. B.
bey einer krummen Linie, wie (Fig. XVI.), wuͤrde
der Halbmeſſer der Kruͤmmung bey M auf die durch
M gezogene Normal-Linie nicht von M nach H, ſon-
dern M nach U zu genommen werden muͤſſen. Bey
S hingegen wuͤrde der Halbmeſſer der Kruͤmmung
von S nach K und nicht nach L zu fallen.


13.
[351]Differenzialrechnung.

13. Um beſtimmter urtheilen zu koͤnnen, wo
eine krumme Linie gegen eine nach Ge-
fallen gezogene gerade Abſciſſen-Linie
A Z concav oder convex
iſt, ſo ſoll M ein be-
liebiger Punkt der krummen Linie, und T T' eine
Tangente an M; S ein anderer Punkt und tτ eine
Tangente an S ſeyn.


P M = y ſey die Ordinate fuͤr den Punkt M, zur
Abſciſſe A P = x gehoͤrig; p m = y';π μ = y''
ſeyen die benachbarten Ordinaten, zu den Abſciſſen
x — c und x + c gehoͤrig. Man verlaͤngere p m,
π μ, bis ſie in die Tangente bey m', μ' einſchnei-
den, ſo kann man p m' = z';π μ' = z'' als Ordi-
naten der geraden Linie T T' betrachten, welche eben
den Abſciſſen x — c und x + c entſprechen, in-
dem zur Abſciſſe x die Ordinate P M = z = y
gehoͤret.


Iſt nun wie bey M
p m \< p m', oder y' \< z'
π μ \< π μ', oder y'' \< z''

ſo iſt der Theil m Mμ der krummen Linie gegen die
Abſciſſen-Linie concav.


14. Sind hingegen, wie bey S, die zur krummen
Linie gehoͤrigen und dem Punkte S benachbarten Or-
dina-
[352]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
dinaten, groͤßer als die zur Tangente gehoͤrigen, ſo
iſt der Theil der krummen Linie zunaͤchſt um S gegen
die Abſciſſen-Linie convex. Nennt man alſo jetzt
A Q = x, die Ordinaten der krummen Linie, y, y', y'',
und die der Tangente z, z', z'', ſo iſt die krumme
Linie convex gegen die Abſciſſen-Linie, wenn
y' \> z'
und y'' \> z''
gefunden werden.


15. Man gedenke ſich durch M eine Parallele
mit der Abſciſſen-Linie gezogen, und nenne den
Winkel, den die Tangente mit der Abſciſſen-Linie
macht = η, ſo iſt tang, und wie man
leicht finden wird, z'' = z + c tang
= z + c p (wenn genannt wird), oder
auch z'' = y + c p, weil fuͤr den Punkt M, z = y
iſt. Eben ſo wird z' = y — c p.


16. Nun hat man nach dem Tayloriſchen
Lehrſatz
s ꝛc.
s ꝛc.


Oder
[353]Differenzialrechnung.

Oder (15)
s ꝛc.
s ꝛc.


Wird nun c ſo klein genommen, daß die Glie-
der, worin die hoͤhern Potenzen von c vorkommen,
gegen dasjenige, worin c2 vorkoͤmmt, verſchwin-
den, ſo hat man ſchlechtweg

17. Iſt alſo q oder poſitiv, ſo iſt y'' \> z''
und zugleich y' \> z'. Mithin die krumme Linie
convex gegen die Abſciſſen-Linie, vorausgeſetzt, daß
die Ordinaten y, y', y'', z, z', z'', alle poſitiv ſind.


18. Sind ſie negativ, ſo iſt der Groͤße nach
eigentlich y'' \< z'' und y' \< z', wenn qpoſitiv
iſt; mithin fuͤr dieſen Fall die krumme Linie concav
gegen die Abſciſſen-Linie. (14)


19. Eben ſo findet man leicht, daß wenn qne-
gativ
iſt und die Ordinaten poſitiv, die krumme
ZLinie
[354]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Linie gegen die Abſciſſen-Linie concav iſt, hingegen
convex, wenn qnegativ und die Ordinaten eben-
falls negativ ſind.


20. Dies laͤßt ſich kurz ſo ausdruͤcken. Wenn
mit den Ordinaten y einerley Zeichen hat,
alſo das Produkt poſitiv iſt, ſo
iſt die krumme Linie an der Stelle, wo ihr die Or-
dinate y entſpricht, convex gegen die Abſciſſen-Linie.
Haben aber q und y verſchiedene Zeichen, iſt alſo
das Produkt negativ, ſo iſt die krum-
me Linie concav gegen die Abſciſſen-Linie. Es ver-
ſteht ſich, daß der Quotient fuͤr die zur Or-
dinate y gehoͤrige Abſciſſe x genommen werden
muß.


21. Es koͤnnte aber fuͤr einen gewiſſen Werth
der Abſciſſe x auch oder q = o werden.


Fuͤr dieſen Fall waͤre dann in (16)
r ꝛc.
r ꝛc.

wenn
[355]Differenzialrechnung.
wenn jetzt die auf r folgenden Glieder weggelaſſen
werden.


Nunmehr iſt nie zugleich y'' \> z'' und y' \> z',
noch auch y'' \< z'' und y' \< z', wie es die Bedin-
gungen der Convexitaͤt oder Concavitaͤt erfordern.


22. Die krumme Linie kann alſo, wenn q = o,
und nicht zugleich auch r = o iſt, gegen die Ab-
ſciſſen-Linie weder concav noch convex ſeyn. Sie
hat alsdann an der Stelle ς, fuͤr welche der Quo-
tient q oder wird, einen ſogenannten
Wendungspunkt, d. h. an dieſer Stelle iſt der
Uebergang von der Concavitaͤt zur Convexitaͤt oder
umgekehrt.


23. Iſt aber fuͤr q = o auch zugleich r = o,
dann wird ſie gegen die Abſciſſen-Linie convex ſeyn,
wenn das Produkt y . s oder poſitiv iſt, hin-
gegen concav, wenn es negativ iſt, welches ſich auf
eine aͤhnliche Weiſe, wie (19) erweiſen laͤßt u. ſ. w.


24. Die bisherigen Betrachtungen ſetzen vor-
aus, daß die Differenzialquotienten q, r, s ꝛc. end-
liche Werthe haben, wie es gewoͤhnlich der Fall iſt.
Sind ſie aber unendlich, ſo laͤßt ſich die Tayloriſche
Z 2Reihe
[356]Erſter Theil. Zweytes Kapitel.
Reihe ſo wenig als bey der Lehre vom Groͤßten und
Kleinſten anwenden (§. 90). In dieſem Falle muß
man die Ordinaten, wie y, y'', y', z'', z' fuͤr die gege-
benen Abſciſſen x, x + c, x — cunmittelbar aus
der gegebenen Funktion y berechnen, und dann nach
den Bedingungen (13. 14.) die Concavitaͤt oder
Convexitaͤt beurtheilen, wenn man nicht etwa noch
andere Betrachtungen zu Huͤlfe nehmen will, welche
aber fuͤr den gegenwaͤrtigen Zweck zu weitlaͤuftig
ſeyn wuͤrden. Ich habe nur in mehreren Beyſpie-
len die ſo fruchtbare Anwendung des Tayloriſchen
Lehrſatzes zeigen wollen.


25. Wo eine krumme Linie einen Wendungs-
punkt hat, iſt der Kruͤmmungs-Halbmeſſer
(§. 99. 6.)
wegen q = o (21), allemahl unendlich. Indeſſen
wird er es auch fuͤr p = ∞, wenn q endlich iſt.


Ende der Differenzialrechnung.


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CC-BY-4.0
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TextGrid Repository (2025). Mayer, Johann Tobias. Vollständiger Lehrbegriff der höhern Analysis. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjnx.0