des
jungen Werthers.
in der Weygandſchen Buchhandlung.
1774.
Geſtern ſind wir hier angelangt. Der
Geſandte iſt unpaß, und wird ſich al-
ſo einige Tage einhalten, wenn er nur
nicht ſo unhold waͤre, waͤr alles gut. Jch merke,
ich merke, das Schikſal hat mir harte Pruͤfungen
zugedacht. Doch gutes Muths! ein leichter Sinn
traͤgt alles! Ein leichter Sinn! das macht mich
zu lachen, wie das Wort in meine Feder kommt.
O ein Bißgen leichteres Blut wuͤrde mich zum
gluͤklichſten Menſchen unter der Sonne machen.
Was! Da wo andre, mit ihrem Bißgen Kraft und
Talent, vor mir in behaglicher Selbſtgefaͤlligkeit
H 2herum
[116]
herum ſchwadroniren, verzweifl’ ich an meiner
Kraft, an meinen Gaben. Guter Gott! der du
mir das alles ſchenkteſt, warum hielteſt du nicht
die Haͤlfte zuruͤk und gabſt mir Selbſtvertrauen
und Genuͤgſamkeit!
Gedult! Gedult! Es wird beſſer werden.
Denn ich ſage dir, Lieber, du haſt Recht. Seit ich
unter dem Volke ſo alle Tage herumgetrieben wer-
de, und ſehe was ſie thun und wie ſie’s treiben,
ſteh ich viel beſſer mit mir ſelbſt. Gewiß, weil
wir doch einmal ſo gemacht ſind, daß wir alles mit
uns, und uns mit allem vergleichen; ſo liegt
Gluͤk oder Elend in den Gegenſtaͤnden, womit
wir uns zuſammenhalten, und da iſt nichts ge-
faͤhrlicher als die Einſamkeit. Unſere Einbildungs-
kraft, durch ihre Natur gedrungen ſich zu erheben,
durch die phantaſtiſche Bilder der Dichtkunſt ge-
naͤhrt, bildet ſich eine Reihe Weſen hinauf, wo wir
das unterſte ſind, und alles auſſer uns herrlicher
erſcheint, jeder andre vollkommner iſt. Und das
geht ganz natuͤrlich zu: Wir fuͤhlen ſo oft, daß
uns manches mangelt, und eben was uns fehlt
ſcheint uns oft ein anderer zu beſizzen, dem wir
denn
[117]
denn auch alles dazu geben was wir haben, und
noch eine gewiſſe idealiſche Behaglichkeit dazu.
Und ſo iſt der Gluͤkliche vollkommen fertig, das
Geſchoͤpf unſerer ſelbſt.
Dagegen wenn wir mit all unſerer Schwachheit
und Muͤhſeligkeit nur gerade fortarbeiten, ſo fin-
den wir gar oft, daß wir mit all unſerm Schlen-
dern und Laviren es weiter bringen als andre
mit ihren Segeln und Rudern — und — das
iſt doch ein wahres Gefuͤhl ſeiner ſelbſt, wenn
man andern gleich oder gar vorlauft.
Jch fange an mich in ſofern ganz leidlich hier
zu befinden. Das beſte iſt, daß es zu thun
genug giebt, und dann die vielerley Menſchen, die
allerley neue Geſtalten, machen mir ein buntes
Schauſpiel vor meiner Seele. Jch habe den Gra-
fen C.. kennen lernen, einen Mann, den ich jeden
Tag mehr verehren muß. Einen weiten groſſen
Kopf, und der deswegen nicht kalt iſt, weil er
viel uͤberſieht|; aus deſſen Umgange ſo viel Em-
H 3pfin-
[118]
pfindung fuͤr Freundſchaft und Liebe hervorleuch-
tet. Er nahm Theil an mir, als ich einen Ge-
ſchaͤftsauftrag an ihn ausrichtete, und er bey den
erſten Worten merkte, daß wir uns verſtunden,
daß er mit mir reden konnte wie nicht mit jedem.
Auch kann ich ſein offnes Betragen gegen mich
nicht genug ruͤhmen. So eine warme groſſe
Freude iſt nicht in der Welt, als eine groſſe See-
le zu ſehen, die ſich gegen einen oͤffnet.
Der Geſandte macht mir viel Verdruß, ich hab
es voraus geſehn. Es iſt der puͤnktlichſte
Narre, den’s nur geben kann. Schritt vor Schrit
und umſtaͤndlich wie eine Baaſe. Ein Menſch
der nie ſelbſt mit ſich zufrieden iſt, und dem’s da
her niemand zu Danke machen kann. Jch arbei
te gern leicht weg, und wie’s ſteht ſo ſteht’s, da iſt
er im Stande, mir einen Aufſaz zuruͤkzugeben und
zu ſagen: er iſt gut, aber ſehen ſie ihn durch,
man findt immer ein beſſer Wort, eine reinere
Partikel. Da moͤcht ich des Teuſels werden. Kein
und,
[119]
und, kein Bindwoͤrtchen ſonſt darf auſſenbleiben,
und von allen Jnverſionen die mir manchmal entfah-
ren, iſt er ein Todtfeind. Wenn man ſeinen Pe-
riod nicht nach der hergebrachten Melodie herab-
orgelt; ſo verſteht er gar nichts drinne. Das iſt
ein Leiden, mit ſo einem Menſchen zu thun zu
haben.
Das Vertrauen des Grafen von C.. iſt noch
das einzige, was mich ſchadlos haͤlt. Er ſagte
mir lezthin ganz aufrichtig: wie unzufrieden er
uͤber die Langſamkeit und Bedenklichkeit meines
Geſandten ſey. Die Leute erſchweren ſich’s und
andern. Doch, ſagt er, man muß ſich darein re-
ſigniren, wie ein Reiſender, der uͤber einen Berg
muß. Freylich! waͤr der Berg nicht da, waͤre der
Weg viel bequemer und kuͤrzer, er iſt nun aber
da! und es ſoll druͤber! —
Mein Alter ſpuͤrt auch wohl den Vorzug,
den mir der Graf vor ihm giebt, und das aͤrgert
ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, uͤbels gegen
mich vom Grafen zu reden, ich halte, wie natuͤr-
lich, Widerpart, und dadurch wird die Sache nur
ſchlimmer. Geſtern gar bracht er mich auf, denn
H 4ich
[120]
ich war mit gemeint. Zu ſo Weltgeſchaͤften waͤ-
re der Graf ganz gut, er haͤtte viel Leichtigkeit zu
arbeiten, und fuͤhrte eine gute Feder, doch an gruͤnd-
licher Gelehrſamkeit mangelt es ihm, wie all den
Bellettriſten. Daruͤber haͤtt ich ihn gern ausge-
pruͤgelt, denn weiter iſt mit den Kerls nicht zu
raiſonniren, da das aber nun nicht angieng, ſo
focht ich mit ziemlicher Heftigkeit, und ſagt ihm,
der Graf ſey ein Mann, vor dem man Achtung ha-
ben muͤßte, wegen ſeines Charakters ſowohl, als
ſeiner Kenntniſſe; ich habe, ſagt ich, niemand ge-
kannt, dem es ſo gegluͤkt waͤre, ſeinen Geiſt zu er-
weitern, ihn uͤber unzaͤhlige Gegenſtaͤnde zu ver-
breiten, und doch die Thaͤtigkeit fuͤr’s gemeine Le-
ben zu behalten. Das waren dem Gehirn ſpa-
niſche Doͤrfer, und ich empfahl mich, um nicht
uͤber ein weiteres Deraiſonnement noch mehr Gal-
le zu ſchlukken.
Und daran ſeyd ihr all Schuld, die ihr
mich in das Joch geſchwazt, und mir ſo viel
von Aktivitaͤt vorgeſungen habt. Aktivitaͤt! Wenn
nicht der mehr thut, der Kartoffeln ſtekt, und in
die Stadt reitet, ſein Korn zu verkaufen, als ich,
ſo
[121]
ſo will ich zehn Jahre noch mich auf der Galeere
abarbeiten, auf der ich nun angeſchmiedet bin.
Und das glaͤnzende Elend die Langeweile un-
ter dem garſtigen Volke das ſich hier neben ein-
ander ſieht. Die Rangſucht unter ihnen, wie ſie
nur wachen und aufpaſſen, einander ein Schrittgen
abzugewinnen, die elendeſien erbaͤrmlichſten Leiden-
ſchaften, ganz ohne Roͤkgen! Da iſt ein Weib,
zum Exempel, die jederman von ihrem Adel und
ihrem Lande unterhaͤlt, daß nun jeder Fremde den-
ken muß: das iſt eine Naͤrrin, die ſich auf das
Bißgen Adel und auf den Ruf ihres Landes Wun-
derſttreiche einbildet — Aber es iſt noch viel
aͤrger, eben das Weib iſt hier aus der Nachbar-
ſchaft eine Amtſchreibers Tochter. — Sieh, ich kann
das Menſchengeſchlecht nicht begreifen, das ſo we-
nig Sinn hat, um ſich ſo platt zu proſtituiren.
Zwar ich merke taͤglich mehr, mein Lieber,
wie thoͤricht man iſt andre nach ſich zu berechnen.
Und weil ich ſo viel mit mir ſelbſt zu thun ha-
be, und dieſes Herz und Sinn ſo ſtuͤrmiſch iſt,
ach ich laſſe gern die andern ihres Pfads gehen,
wenn ſie mich nur auch koͤnnten gehn laſſen.
H 5Was
[122]
Was mich am meiſten nekt, ſind die fatalen
buͤrgerlichen Verhaͤltniſſe. Zwar weis ich ſo gut
als einer, wie noͤthig der Unterſchied der Staͤnde
iſt, wie viel Vortheile er mir ſelbſt verſchafft, nur
ſoll er mir nicht eben grad im Wege ſtehn, wo ich
noch ein wenig Freude, einen Schimmer von
Gluͤk auf dieſer Erden genieſſen koͤnnte. Jch lern-
te neulich auf dem Spaziergange ein Fraͤulein von
B.. kennen, ein liebenswuͤrdiges Geſchoͤpf, das
ſehr viele Natur mitten in dem ſteifen Leben er-
halten hat. Wir gefielen uns in unſerm Geſpraͤ-
che, und da wir ſchieden, bat ich ſie um Erlaub-
niß, ſie bey ſich ſehen zu duͤrfen. Sie geſtattete
mir das mit ſo viel Freymuͤthigkeit, daß ich den
ſchiklichen Augenblik kaum erwarten konnte, zu ihr
zu gehen. Sie iſt nicht von hier, und wohnt bey
einer Tante im Hauſe. Die Phyſiognomie der al-
ten Schachtel gefiel mir nicht. Jch bezeigte ihr
viel Aufmerkſamkeit, mein Geſpraͤch war |meiſt an
ſie gewandt, und in minder als einer halben Stun-
de hatte ich ſo ziemlich weg, was mir das Fraͤu-
lein nachher ſelbſt geſtund: daß die liebe Tante
in ihrem Alter, und dem Mangel von allem, vom
an-
[123]
anſtaͤndigen Vermoͤgen an bis auf den Geiſt, kei-
ne Stuͤzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei-
nen Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich ver-
palliſadirt, und kein Ergoͤzzen, als von ihrem Stok-
werk herab uͤber die buͤrgerlichen Haͤupter weg zu
ſehen. Jn ihrer Jugend ſoll ſie ſchoͤn geweſen
ſeyn, und ihr Leben ſo weggegaukelt, erſt mit ih-
rem Eigenſinne manchen armen Jungen gequaͤlt,
und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam
eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die-
ſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr-
ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und
nun ſieht ſie im eiſernen ſich allein, und wuͤrde
nicht angeſehn, waͤr ihre Nichte nicht ſo liebens-
wuͤrdig.
Was das fuͤr Menſchen ſind, deren ganze See-
le auf dem Ceremoniel ruht, deren Dich-
ten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie ſie
um einen Stuhl weiter hinauf bey Tiſche ſich ein-
ſchieben wollen. Und nicht, daß die Kerls ſonſt
keine
[124]
keine Angelegenheit haͤtten, nein, vielmehr haͤufen
ſich die Arbeiten, eben weil man uͤber die kleinen
Verdruͤßlichkeiten, von Befoͤrderung der wichtigen
Sachen abgehalten wird. Vorige Woche gabs
bey der Schlittenfahrt Haͤndel, und der ganze Spas
wurde verdorben.
Die Thoren, die nicht ſehen, daß es eigent-
lich auf den Plaz gar nicht ankommt, und daß der,
der den erſten hat, ſo ſelten die erſte Rolle ſpielt!
Wie mancher Koͤnig wird durch ſeinen Miniſter,
wie mancher Miniſter durch ſeinen Sekretaͤr re-
giert. Und wer iſt dann der Erſte? der, duͤnkt
mich, der die andern uͤberſieht, und ſo viel Ge-
walt oder Liſt hat, ihre Kraͤfte und Leidenſchaften
zu Ausfuͤhrung ſeiner Plane anzuſpannen.
Jch muß Jhnen ſchreiben, liebe Lotte, hier in der
Stube einer geringen Bauernherberge, in
die ich mich vor einem ſchweren Wetter gefluͤchtet
habe. So lange ich in dem traurigen Neſte D..
unter dem fremden, meinem Herzen ganz fremden
Volke,
[125]
Volke, herumziehe, hab’ ich keinen Augenblik ge-
habt, keinen, an dem mein Herz mich geheiſſen
haͤtte Jhnen zu ſchreiben. Und jezt in dieſer Huͤt-
te, in dieſer Einſamkeit, in dieſer Einſchraͤnkung,
da Schnee und Schloſſen wider mein Fenſtergen
wuͤthen, hier waren Sie mein erſter Gedanke. Wie
ich herein trat, uͤberfiel mich Jhre Geſtalt, Jhr An-
denken. O Lotte! ſo heilig, ſo warm! Guter
Gott! der erſte gluͤkliche Augenblik wieder.
Wenn Sie mich ſaͤhen meine Beſte, in dem
Schwall von Zerſtreuung! Wie ausgetroknet mei-
ne Sinnen werden, nicht Einen Augenblik der Fuͤl-
le des Herzens, nicht Eine ſelige thraͤnenreiche Stun-
de. Nichts! Nichts! Jch ſtehe wie vor einem
Raritaͤtenkaſten, und ſehe die Maͤnngen und Gaͤul-
gen vor mir herumruͤkken, und frage mich oft, ob’s
nicht optiſcher Betrug iſt. Jch ſpiele mit, viel-
mehr, ich werde geſpielt wie eine Marionette, und
faſſe manchmal meinen Nachbar an der hoͤlzernen
Hand und ſchaudere zuruͤk.
Ein einzig weiblich Geſchoͤpf hab ich hier
gefunden. Eine Fraͤulein von B.. Sie gleicht
Jhnen liebe Lotte, wenn man Jhnen gleichen kann.
Ey!
[126]
Ey! werden Sie ſagen: der Menſch legt ſich auf
niedliche Komplimente! Ganz unwahr iſt’s nicht.
Seit einiger Zeit bin ich ſehr artig, weil ich doch
nicht anders ſeyn kann, habe viel Wiz, und die
Frauenzimmer ſagen: es wuͤſte niemand ſo ſein
zu loben als ich (und zu luͤgen, ſezzen Sie hinzu,
denn ohne das geht’s nicht ab, verſtehen Sie:) Jch
wollte von Fraͤulein B.. reden! Sie hat viel
Seele, die voll aus ihren blauen Augen hervorblikt, ihr
Stand iſt ihr zur Laſt, der keinen der Wuͤtiſche ih-
res Herzens befriedigt. Sie ſehnt ſich aus dem
Getuͤmmel, und wir verphantaſiren manche Stun-
de in laͤndlichen Scenen von ungemiſchter Gluͤk-
ſeligkeit, ach! und von Jhnen! Wie oft muß ſie
Jhnen huldigen. Muß nicht, thut’s freywillig,
hoͤrt ſo gern von Jhnen, liebt Sie —
O ſaͤs ich zu Jhren Fuͤſſen in dem lieben ver-
traulichen Zimmergen, und unſere kleinen Lieben
waͤlzten ſich miteinander um mich herum, und wenn
ſie Jhnen zu laut wuͤrden, wollt ich ſie mit einem
ſchauerlichen Maͤhrgen um mich zur Ruhe ver-
ſammlen. Die Sonne geht herrlich unter uͤber
der ſchneeglaͤnzenden Gegend, der Sturm iſt hin-
uͤber
[127]
uͤber gezogen. Und ich — muß mich wieder in
meinen Kaͤfig ſperren. Adieu! Jſt Albert bey
Jhnen? Und wie —? Gott verzeihe mir dieſe
Frage!
Jch fuͤrchte, mein Geſandter und ich, haltens nicht
lange mehr zuſammen aus. Der Menſch iſt
ganz und gar unertraͤglich. Seine Art zu arbei-
ten und Geſchaͤfte zu treiben iſt ſo laͤcherlich, daß
ich mich nicht enthalten kann ihm zu widerſpre-
chen, und oft eine Sache nach meinem Kopfe und
Art zu machen, das ihm denn, wie natuͤrlich, nie-
mals recht iſt. Daruͤber hat er mich neulich bey
Hofe verklagt, und der Miniſter gab mir einen
zwar ſanften Verweis, aber es war doch ein Ver-
weis, und ich ſtand im Begriffe, meinen Abſchied
zu begehren, als ich einen Privatbrief *) von ihm
erhielt,
[128]
erhielt, einen Brief, vor dem ich mich niederge-
kniet, und den hohen, ed en, wei en Sinn angebe-
tet habe, wie er meine allzugroſſe Empfindlichkeit
zurechte weißt, wie er meine uͤberſpannte Jdeen
von Wuͤrkſamkeit, von Einfluß auf andre, von
Durchdringen in Geſchaͤften als jugendlichen guten
Muth zwar ehrt, ſie nicht auszurotten, nur zu
mildern und dahin zu leiten ſucht, wo ſie ihr wah-
res Spiel haben, ihre kraͤftige Wuͤrkung thun koͤn-
nen. Auch bin ich auf acht Tage geſtaͤrkt, und in
mir ſelbſt einig geworden. Die Ruhe der Seele
iſt ein herrlich Ding, und die Freude an ſich ſelbſt,
lieber Freund, wenn nur das Ding nicht eben ſo
zerbrechlich waͤre, als es ſchoͤn und koſtbar iſt.
Gott ſegne euch, meine Lieben, |geb euch all die
guten Tage, die er mir abzieht.
Jch danke dir Albert, daß du mich betrogen
haſt, ich wartete auf Nachricht, wann euer Hochzeit-
tag ſeyn wuͤrde, und hatte mir vorgenommen, feyer-
lichſt an demſelben Lottens Schattenriß von der
Wand
[129]
Wand zu nehmen, und ſie unter andere Papiere
zu begraben. Nun ſeyd ihr ein Paar, und ihr
Bild iſt noch hier! Nun ſo ſoll’s bleiben! Und
warum nicht? Jch weis, ich bin ja auch bey euch,
bin dir unbeſchadet in Lottens Herzen. Habe, ja
ich habe den zweyten Plaz drinne, und will und
muß ihn behalten. O ich wuͤrde raſend werden,
wenn ſie vergeſſen koͤnnte — Albert in dem Ge-
danken liegt eine Hoͤlle. Albert! Leb wohl. Leb
wohl, Engel des Himmels, leb wohl, Lotte!
Jch hab einen Verdruß gehabt, der mich von
hier wegtreiben wird, ich knirſche mit den Zaͤh-
nen! Teufel! Er iſt nicht zu erſezzen, und ihr
ſeyd doch allein ſchuld daran, die ihr mich ſporntet
und triebt und quaͤltet, mich in einen Poſten zu
begeben, der nicht nach meinem Sinne war. Nun
hab ich’s nun habt ihr’s. Und daß du nicht wie-
der ſagſt: meine uͤberſpannten Jdeen verduͤrben
alles; ſo haſt du hier lieber Herr, eine Erzaͤh-
Jlung,
[130]
lung, plan und nett, wie ein Chronikenſchreiber
das aufzeichnen wuͤrde.
Der Graf v. C. liebt mich, diſtingwirt mich,
das iſt bekannt, das hab ich dir ſchon hundertmal
geſagt. Nun war ich bey ihm zu Tiſche geſtern,
eben an dem Tage, da Abends die noble Geſellſchaft
von Herren und Frauen bey ihm zuſammenkommt,
an die ich nie gedacht hab, auch mir nie aufge-
fallen iſt, daß wir Subalternen nicht hinein gehoͤ-
ren. Gut. Jch ſpeiſe beym Grafen und nach Ti-
ſche gehn wir im groſſen Saale auf und ab, ich re-
de mit ihm, mit dem Obriſt B. der dazu kommt,
und ſo ruͤkt die Stunde der Geſellſchaft heran.
Jch denke, Gott weis, an nichts. Da tritt herein
die uͤbergnaͤdige Dame von S.. mit Dero Herrn
Gemahl und wohl ausgebruͤteten Gaͤnslein Toch-
ter mit der flachen Bruſt und niedlichem Schnuͤr-
leib, machen en passant ihre hergebrachten hoch-
adlichen Augen und Nasloͤcher, und wie mir die
Nation von Herzen zuwider iſt, wollt ich eben
mich empfehlen, und wartete nur, bis der Graf
vom garſtigen Gewaͤſche frey waͤre, als eben mei-
ne Fraͤulein B.. herein trat, da mir denn das
Herz
[131]
Herz immer ein bißgen aufgeht, wenn ich ſie ſe-
he, blieb ich eben, ſtellte mich hinter ihren Stuhl,
und bemerkte erſt nach einiger Zeit, daß ſie mit
weniger Offenheit als ſonſt, mit einiger Verlegen-
heit mit mir redte. Das fiel mir auf. Jſt ſie
auch wie all das Volk, dacht ich, hohl ſie der Teu-
fel! und war angeſtochen und wollte gehn, und
doch blieb ich, weil ich intriguirt war, das Ding
naͤher zu beleuchten. Ueber dem fuͤllt ſich die Ge-
ſellſchaft. Der Baron F.. mit der ganzen Gar-
derobe von den Kroͤnungszeiten Franz des erſten
her, der Hofrath R.. hier aber in qualitate Herr
von R.. genannt mit ſeiner tauben Frau ꝛc. den
uͤbel fournirten J. nicht zu vergeſſen, bey deſſen
Kleidung, Reſte des altfraͤnkiſchen mit dem neu’ſt
aufgebrachten kontraſtiren ꝛc. das kommt all und
ich rede mit einigen meiner Bekanntſchaft, die alle
ſehr lakoniſch ſind, ich dachte — und gab nur auf
meine B.. acht. Jch merkte nicht, daß die Wei-
ber am Ende des Saals ſich in die Ohren pis-
perten, daß es auf die Maͤnner zirkulirte, daß
Frau von S.. mit dem Grafen redte (das alles
hat mir Fraͤulein B.. nachher erzaͤhlt:) biß end
J 2lich
[132]
lich der Graf auf mich losgieng und mich in ein
Fenſter nahm. Sie wiſſen ſagt er, unſere wun-
derbaren Verhaͤltniſſe, die Geſellſchaft iſt unzufrie-
den, merk ich, ſie hier zu ſehn, ich wollte nicht um
alles — Jhro Excellenz, fiel ich ein, ich bitte tau-
ſendmal um Verzeihung, ich haͤtte eher dran den-
ken ſollen, und ich weis, Sie verzeihen mir dieſe
Jnkonſequenz, ich wollte ſchon vorhin mich empfeh-
len, ein boͤſer Genius hat mich zuruͤk gehalten,
ſezte ich laͤchelnd hinzu, indem ich mich neigte. Der
Graf druͤkte meine Haͤnde mit einer Empfindung,
die alles ſagte. Jch machte der vornehmen Ge-
ſellſchaft mein Compliment, gieng und ſezte mich in
ein Cabriolet und fuhr nach M.. dort vom Huͤ-
gel die Sonne untergehen zu ſehen, und dabey in
meinem Homer den herrlichen Geſang zu leſen,
wie Ulyß von dem treflichen Schweinhirten bewir-
thet wird. Das war all gut.
Des Abends komm ich zuruͤk zu Tiſche. Es
waren noch wenige in der Gaſtſtube, die wuͤrfelten
auf einer Ekke, hatten das Tiſchtuch zuruͤk geſchla-
gen. Da kommt der ehrliche A.. hinein, legt ſei-
nen Hut nieder, indem er mich anſieht, tritt zu mir
und
[133]
und ſagt leiſe: Du haſt Verdruß gehabt? Jch?
ſagt ich — der Graf hat dich aus der Geſellſchaft
gewieſen — Hol ſie der Teufel, ſagt ich, mir war’s
lieb, daß ich in die freye Luft kam — Gut, ſagt
er, daß du’s auf die leichte Achſel nimmſt. Nur
verdrießt mich’s. Es iſt ſchon uͤberall herum. —
Da fieng mir das Ding erſt an zu wurmen. Al-
le die zu Tiſche kamen und mich anſahen, dacht
ich die ſehen dich darum an! Das fieng an mir
boͤſes Blut zu ſezzen.
Und da man nun heute gar wo ich hin-
trete mich bedauert, da ich hoͤre, daß meine Nei-
der nun triumphiren und ſagen: Da ſaͤhe man’s,
wo’s mit den Uebermuͤthigen hinausgieng, die ſich
ihres bißgen Kopfs uͤberhuͤben und glaubten, ſich
darum uͤber alle Verhaͤltniſſe hinausſezzen zu duͤr-
fen, und was des Hundegeſchwaͤzzes mehr iſt.
Da moͤchte man ſich ein Meſſer in’s Herz bohren.
Denn man rede von Selbſtſtaͤndigkeit was man
will, den will ich ſehn der bulden kann, daß Schur-
ken uͤber ihn reden, wenn ſie eine Priſe uͤber ihn
haben. Wenn ihr Geſchwaͤtz leer iſt, ach! da kann
man ſie leicht laſſen.
J 3am
[134]
Es hezt mich alles! Heut tref ich die Fraͤu-
lein B.. in der Allee. Jch konnte mich nicht
enthalten ſie anzureden, und ihr, ſobald wir etwas
entfernt von der Geſellſchaft waren, meine Empfind-
lichkeit uͤber ihr neuliches Betragen zu zeigen. O
Werther, ſagte ſie mit einem innigen Tone, konn-
ten Sie meine Verwirrung ſo auslegen, da Sie
mein Herz konnen. Was ich gelitten habe um
ihrentwillen, von dem Augenblikke an, da ich in
den Saal trat. Jch ſah’ alles voraus, hundert-
mal ſaß mir’s auf der Zunge, es Jhnen zu ſagen,
ich wußte, daß die von S.. und T.. mit ihren
Maͤnnern eher aufbrechen wuͤrden, als in Jhrer
Geſellſchaft zu bleiben, ich wußte, daß der Graf es
nicht mit Jhnen verderben darf, und jezo der
Laͤrm — Wie Fraͤulein? ſagt’ ich, und verbarg
meinen Schrekken, denn alles, was Adelin mir eh-
geſtern geſagt hatte, lief mir wie ſiedend Waſſer
durch die Adern in dieſem Augenblikke. — Was
hat mich’s ſchon gekoſtet! ſagte das ſuͤſſe Geſchoͤpf,
indem
[135]
indem ihr die Thraͤnen in den Augen ſtunden.
Jch war nicht Herr mehr von mir ſelbſt, war im
Begriff, mich ihr zu Fuͤſſen zu werfen. Erklaͤren
ſie ſich, ruft ich: Die Thraͤnen liefen ihr die
Wangen herunter, ich war auſſer mir. Sie trok-
nete ſie ab, ohne ſie verbergen zu wollen. Mei-
ne Tante kennen ſie, fieng ſie an; ſie war gegen-
waͤrtig, und hat, o mit was fuͤr Augen hat ſie
das angeſehn. Werther, ich habe geſtern Nacht
ausgeſtanden, und heute fruͤh eine Predigt uͤber
meinen Umgang mit Jhnen, und ich habe muͤſſen
zuhoͤren Sie herabſezzen, erniedrigen, und konn-
te und durfte Sie nur halb vertheidigen.
Jedes Wort, das ſie ſprach, gieng mir wie
Schwerder durch’s Herz. Sie fuͤhlte nicht, welche
Barmherzigkeit es geweſen waͤre, mir das alles zu
verſchweigen, und nun fuͤgte ſie noch all dazu, was
weiter wuͤrde getraͤtſcht werden, was die ſchlechten
Kerls alle daruͤber triumphiren wuͤrden. Wie
man nunmehro meinen Uebermuth und Gering-
ſchaͤzzung andrer, das ſie mir ſchon lange vorwer-
fen, geſtraft, erniedrigt ausſchreien wuͤrde. Das
alles, Wilhelm, von ihr zu hoͤren, mit der Stimme
J 4der
[136]
der wahrſten Theilnehmung. Jch war zerſtoͤrt,
und bin noch wuͤthend in mir. Jch wollte, daß
ſich einer unterſtuͤnde mir’s vorzuwerfen, daß ich
ihm den Degen durch den Leib ſtoſſen koͤnnte!
Wenn ich Blur ſaͤhe wuͤrde mir’s beſſer werden.
Ach ich hab hundertmal ein Meſſer ergriffen, um
dieſem gedraͤngten Herzen Luft zu machen. Man
erzaͤhlt von einer edlen Art Pferde, die, wenn ſie
ſchroͤklich erhizt und aufgejagt ſind, ſich ſelbſt aus
Jnſtinkt eine Ader aufbeiſſen, um ſich zum Athem
zu helfen. So iſt mir’s oft, ich moͤchte mir eine
Ader oͤfnen, die mir die ewige Freyheit ſchaffte.
Jch habe meine Dimißion bey Hofe verlangt,
und werde ſie, hoff ich erhalten, und ihr wer-
det mir verzeihen, daß ich nicht erſt Permißion
dazu bey euch geholt habe. Jch mußte nun ein-
mal fort, und was ihr zu ſagen hattet, um mir
das Bleiben einzureden weis ich all, und alſo —
Bring das meiner Mutter in einem Saͤſtgen bey,
ich kann mir ſelbſt nicht helfen, alſo mag ſie ſich’s
gefallen
[137]
gefallen laſſen, wenn ich ihr auch nicht helfen
kann. Freylich muß es ihr weh thun. Den
ſchoͤnen Lauf, den ihr Sohn grad zum Geheim-
derath und Geſandten anſezte, ſo auf einmal Hal-
te zu ſehen, und ruͤkwaͤrts mit dem Thiergen in
Stall. Macht nun draus was ihr wollt und kom-
binirt die moͤgliche Faͤlle, unter denen ich haͤtte
bleiben koͤnnen und ſollen. Genug ich gehe. Und
damit ihr wißt wo ich hinkomme, ſo iſt hier der
Fuͤrſt * * der viel Geſchmak an meiner Geſellſchaft
findet, der hat mich gebeten, da er von meiner Ab-
ſicht hoͤrte, mit ihm auf ſeine Guͤter zu gehen, und
den ſchoͤnen Fruͤhling da zuzubringen. Jch ſoll
ganz mir ſelbſt gelaſſen ſeyn, hat er mir verſpro-
chen, und da wir uns zuſammen bis auf einen
gewiſſen Punkt verſtehn, ſo will ich’s denn auf gut
Gluͤk wagen, und mit ihm gehn.
Zur Nachricht.
Danke fuͤr deine beyden Briefe. Jch ant-
wortete nicht, weil ich dieſen Brief liegen ließ, bis
mein Abſchied von Hofe da waͤre, weil ich fuͤrch-
J 5tete
[138]
tete, meine Mutter moͤchte ſich an den Miniſter
wenden und mir mein Vorhaben erſchweren. Nun
aber iſt’s geſchehen, mein Abſchied iſt da. Jch
mag euch nicht ſagen, wie ungern man mir ihn
gegeben hat, und was mir der Miniſter ſchreibt,
ihr wuͤrdet in neue Lamentationen ausbrechen.
Der Erbprinz hat mir zum Abſchiede [fuͤnf] und
zwanzig Dukaten geſchikt, mit einem Wort, das
mich bis zu Thraͤnen geruͤhrt hat. Alſo braucht
die Mutter mir das Geld nicht zu ſchikken, um
das ich neulich ſchrieb.
Morgen geh ich von hier ab, und weil mein
Geburtsort nur ſechs Meilen vom Wege
liegt, ſo will ich den auch wieder ſehen, will mich
der alten gluͤklich vertraͤumten Tage erinnern. Zu
eben dem Thore will ich hineingehn, aus dem
meine Mutter mit mir herausfuhr, als ſie nach
dem Tode meines Vaters den lieben vertraulichen
Ort verließ, um ſich in ihre unertraͤgliche Stadt
einzu-
[139]
einzuſperren. Adieu, Wilhelm, du ſollſt von mei-
nem Zuge hoͤren.
Jch habe die Wallfahrt nach meiner Heimath
mit aller Andacht eines Pilgrims vollendet,
und manche unerwartete Gefuͤhle haben mich er-
griffen. An der groſſen Linde, die eine Viertelſtun-
de vor der Stadt nach S.. zuſteht, ließ ich halten,
ſtieg aus und hieß den Poſtillion fortfahren, um
zu Fuſſe jede Erinnerung ganz neu, lebhaft nach
meinem Herzen zu koſten. Da ſtand ich nun un-
ter der Linde, die ehedeſſen als Knabe das Ziel
und die Graͤnze meiner Spaziergaͤnge geweſen.
Wie anders! Damals ſehnt ich mich in gluͤklicher
Unwiſſenheit hinaus in die unbekannte Welt, wo
ich fuͤr mein Herz alle die Nahrung, alle den Ge-
nuß hoffte, deſſen Ermangeln ich ſo oſt in meinem
Buſen fuͤhlte. Jezt kam ich zuruͤk aus der weiten
Welt — O mein Freund, mit wie viel fehlgeſchla-
genen Hofnungen, mit wie viel zerſtoͤrten Pla-
nen! — Jch ſah das Gebuͤrge vor mir liegen, das
ſo
[140]
ſo tauſendmal der Gegenſtand meiner Wuͤnſche ge-
weſen. Stundenlang konnte ich hier ſizzen, und
mich hinuͤber ſehnen, mit inniger Seele mich in
denen Waͤldern, denen Thaͤlern verliehren, die ſich
meinen Augen ſo freundlich daͤmmernd darſtell-
ten — und wenn ich denn nun die beſtimmte
Zeit wieder zuruͤk mußte, mit welchem Widerwillen
verließ ich nicht den lieben Plaz! Jch kam der
Stadt naͤher, alle alte bekannte Gartenhaͤusgen
wurden von mir gegruͤßt, die neuen waren mir
zuwider, ſo auch alle Beraͤnderungen, die man ſonſt
vorgenommen hatte. Jch trat zum Thore hinein,
und fand mich doch gleich und ganz wieder. Lie-
ber, ich mag nicht in’s Detail gehn, ſo reizend als
es mir war, ſo einfoͤrmig wuͤrde es im der Erzaͤh-
lung werden. Jch hatte beſchloſſen auf dem Mark-
te zu wohnen, gleich neben unſerm alten Hauſe.
Jm Hingehen bemerkte ich daß die Schulſtube,
wo ein ehrlich altes Weib unſere Kindheit zuſam-
mengepfercht hatte, in einen Kram verwandelt war.
Jch erinnerte mich der Unruhe, der Thraͤnen, der
Dumpfheit des Sinnes, der Herzensangſt, die ich
in dem Loche ausgeſtanden hatte — Jch that kei-
nen
[141]
nen Schritt, der nicht merkwuͤrdig war. Ein Pil-
ger im heiligen Lande trifft nicht ſo viel Staͤten
religioſer Erinnerung, und ſeine Seele iſt ſchwer-
lich ſo voll heiliger Bewegung. — Noch eins fuͤr
tauſend. Jch gieng den Fluß hinab, bis an einen
gewiſſen Hof, das war ſonſt auch mein Weg, und
die Plaͤzgen da wir Knaben uns uͤbten, die mei-
ſten Spruͤnge der flachen Steine im Waſſer her-
vorzubringen. Jch erinnere mich ſo lebhaft, wenn
ich manchmal ſtand, und dem Waſſer nachſah, mit
wie wunderbaren Ahndungen ich das verfolgte, wie
abenteuerlich ich mir die Gegenden vorſtellte, wo
es nun hinfloͤſſe, und wie ich da ſo bald Gren-
zen meiner Vorſtellungskraft fand, und doch mußte
das weiter gehn, immer weiter, bis ich mich ganz
in dem Anſchauen einer unſichtbaren Ferne ver-
lohr. Siehe mein Lieber, das iſt doch eben das
Gefuͤhl der herrlichen Altvaͤter! Wenn Ulyß von
dem ungemeſſenen Meere, und von der unendlichen
Erde ſpricht, iſt das nicht wahrer, menſchlicher, in-
niger, als wenn jezzo jeder Schulknabe ſich wun-
der weiſe duͤnkt, wenn er nachſagen kann, daß ſie
rund ſey.
Nun
[142]
Nun bin ich hier auf dem fuͤrſtlichen Jagd-
ſchloſſe. Es laͤßt ſich noch ganz wohl mit dem Herrn
leben, er iſt ganz wahr, und einfach. Was mir
noch manchmal leid thut, iſt, daß er oft uͤber Sa-
chen redt, die er nur gehoͤrt und geleſen hat, und
zwar aus eben dem Geſichtspunkte, wie ſie ihm
der andere darſtellen mochte.
Auch ſchaͤzt er meinen Verſtand und Talente
mehr als dies Herz, das doch mein einziger Stolz
iſt, das ganz allein die Quelle von allem iſt, aller
Kraft, aller Seligkeit und alles Elends. Ach was
ich weis, kann jeder wiſſen. — Mein Herz hab
ich allein.
Jch hatte etwas im Kopfe, davon ich euch nichts
ſagen wollte, bis es ausgefuͤhrt waͤre, jezt da
nichts draus wird, iſt’s eben ſo gut. Jch wollte
in Krieg! Das hat mir lang am Herzen gelegen.
Vornehmlich darum bin ich dem Fuͤrſten hieher ge-
folgt, der General in * * * ſchen Dienſten iſt.
Auf einem Spaziergange entdekte ich ihm mein
Vor-
[143]
Vorhaben, er widerrieth mir’s, und es muͤßte bey
mir mehr Leidenſchaft als Grille geweſen ſeyn,
wenn ich ſeinen Gruͤnden nicht haͤtte Gehoͤr geben
wollen.
Sag was Du willſt, ich kann nicht laͤnger blei-
ben. Was ſoll ich hier? Die Zeit wird
mir lang. Der Fuͤrſt haͤlt mich wie ſeines Glei-
chen gut, und doch bin ich nicht in meiner Lage.
Und dann, wir haben im Grunde nichts gemeines
mit einander. Er iſt ein Mann von Verſtande,
aber von ganz gemeinem Verſtande, ſein Umgang
unterhaͤlt mich nicht mehr, als wenn ich ein wohl-
geſchrieben Buch leſe. Noch acht Tage bleib ich,
und dann zieh ich wieder in der Jrre herum. Das
beſte, was ich hier gethan habe, iſt mein Zeichnen.
Und der Fuͤrſt fuͤhlt in der Kunſt, und wuͤrde noch
ſtaͤrker fuͤhlen, wenn er nicht durch das garſtige,
wiſſenſchaftliche Weſen, und durch die gewoͤhnliche
Terminologie eingeſchraͤnkt waͤre. Manchmal
knirſch ich mit den Zaͤhnen, wenn ich ihn mit war-
mer Jmagination ſo an Natur und Kunſt herum
fuͤhre
[144]
fuͤhre und er’s auf einmal recht gut zu machen
denkt, wenn er mit einem geſtempelten Kunſtworte
drein toͤlpelt.
Wo ich hin will? Das laß Dir im Vertrauen
eroͤfnen. Vierzehn Tage muß ich doch noch
hier bleiben, und dann hab ich mir weis gemacht,
daß ich die Bergwerke in * * ſchen beſuchen wollte,
iſt aber im Grunde nichts dran, ich will nur Lot-
ten wieder naͤher, das iſt alles. Und ich lache
uͤber mein eigen Herz — und thu ihm ſeinen
Willen.
Nein es iſt gut! Es iſt alles gut! Jch ihr
Mann! O Gott, der du mich machteſt, wenn
du mir dieſe Seligkeit bereitet haͤtteſt, mein ganzes
Leben ſollte ein anhaltendes Gebet ſeyn. Jch will
nicht rechten, und verzeih mir dieſe Thraͤnen, ver-
zeih mir meine vergebliche Wuͤnſche. — Sie meine
Frau! Wenn ich das liebſte Geſchoͤpf unter der
Sonne in meine Arme geſchloſſen haͤtte — Es
geht
[145]
geht mir ein Schauder durch den ganzen Koͤrper,
Wilhelm, wenn Albert ſie um den ſchlanken Leib
faßt.
Und, darf ich’s ſagen? Warum nicht, Wil-
helm, ſie waͤre mit mir gluͤklicher geworden als
mit ihm! O er iſt nicht der Menſch, die Wuͤn-
ſche dieſes Herzens alle zu fuͤllen. Ein gewiſſer
Mangel an Fuͤhlbarkeit, ein Mangel — nimm’s
wie du willſt, daß ſein Herz nicht ſympathetiſch
ſchlaͤgt bey — Oh! — bey der Stelle eines
lieben Buchs, wo mein Herz und Lottens in einem
zuſammen treffen. Jn hundert andern Vorfaͤllen,
wenn’s kommt, daß unſere Empfindungen uͤber eine
Handlung eines dritten laut werden. Lieber Wil-
helm! — Zwar er liebt ſie von ganzer Seele,
und ſo eine Liebe was verdient die nicht —
Ein unertraͤglicher Menſch hat mich unterbro-
chen. Meine Thraͤnen ſind getroknet. Jch bin
zerſtreut. Adieu Lieber.
Kam
[146]
Es geht mir nicht allein ſo. Alle Menſchen
werden in ihren Hofnungen getaͤuſcht, in ih-
ren Erwartungen betrogen. Jch beſuchte mein gu-
tes Weib unter der Linde. Der aͤltſte Bub lief
mir entgegen, ſein Freudengeſchrey fuͤhrte die Mut-
ter herbey, die ſehr niedergeſchlagen ausſah. Jhr
erſtes Wort war: Guter Herr! ach mein Hanns
iſt mir geſtorben, es war der juͤngſte ihrer Knaben,
ich war ſtille, und mein Mann ſagte ſie, iſt aus
der Schweiz zuruͤk, und hat nichts mit gebracht,
und ohne gute Leute haͤtte er ſich heraus betteln
muͤſſen. Er hatte das Fieber kriegt unterwegs.
Jch konnte ihr nichts ſagen, und ſchenkte dem klei-
nen was, ſie bat mich einige Aepfel anzunehmen,
das ich that und den Ort des traurigen Andenkens
verließ.
Wie man eine Hand umwendet, iſt’s anders
mit mir. Manchmal will ſo ein freudiger
Blik des Lebens wieder aufdaͤmmern, ach nur fuͤr
einen
[147]
einen Augenblik! Wenn ich mich ſo in Traͤumen
verliehre, kann ich mich des Gedankens nicht er-
wehren: Wie, wenn Albert ſtuͤrbe! Du wuͤrdeſt!
ja ſie wuͤrde — und dann lauf ich dem Hirnge-
ſpinſte nach, bis es mich an Abgruͤnde fuͤhrt, vor
denen ich zuruͤkbebe.
Wenn ich ſo dem Thore hinaus gehe, den Weg
den ich zum erſtenmal fuhr, Lotten zum Tanze zu
holen, wie war das all ſo anders! Alles, alles iſt
voruͤber gegangen! Kein Wink der vorigen Welt,
kein Pulsſchlag meines damaligen Gefuͤhls. Mir
iſt’s, wie’s einem Geiſte ſeyn muͤßte, der in das
verſengte verſtoͤrte Schloß zuruͤkkehrte, das er als
bluͤhender Fuͤrſt einſt gebaut und mit allen Gaben
der Herrlichkeit ausgeſtattet, ſterbend ſeinem ge-
liebten Sohne hoffnungsvoll hinterlaſſen.
Jch begreife manchmal nicht, wie ſie ein ande-
rer lieb haben kann, lieb haben darf, da ich
ſie ſo ganz allein, ſo innig, ſo voll liebe, nichts
anders kenne, noch weis, noch habe als ſie.
K 2am
[148]
Es hat ſchwer gehalten, bis ich mich entſchloß,
meinen blauen einfachen Frak, in dem ich mit
Lotten zum erſtenmal tanzte, abzulegen, er ward
aber zulezt gar unſcheinbar. Auch hab ich mir ei-
nen machen laſſen, ganz wie den vorigen, Kragen
und Aufſchlag und auch wieder ſo gelbe Weſt und
Hoſen dazu.
Ganz will’s es doch nicht thun. Jch weis
nicht — Jch denke mit der Zeit ſoll mir der auch
lieber werden.
Man moͤchte ſich dem Teufel ergeben, Wilhelm,
uͤber all die Hunde, die Gott auf Erden dul-
det, ohne Sinn und Gefuͤhl an dem wenigen, was
drauf noch was werth iſt. Du kennſt die Nuß-
baͤume, unter denen ich bey dem ehrlichen Pfarren
zu St.., mit Lotten geſeſſen, die herrlichen Nuß-
baͤume, die mich, Gott weis, immer mit dem
groͤſten Seelenvergnuͤgen fuͤllten. Wie vertraulich
ſie
[149]
ſie den Pfarrhof machten, wie kuͤhl und wie herr-
lich die Aeſte waren. Und die Erinnerung bis zu
die guten Kerls von Pfarrers, die ſie von ſo viel
Jahren pflanzten. Der Schulmeiſter hat uns den
einen Namen oft genannt, den er| von ſeinem Gros-
vater gehoͤrt hatte, und ſo ein braver Mann ſoll
er geweſen ſeyn, und ſein Andenken war mir im-
mer heilig, unter den Baͤumen. Jch ſage Dir,
dem Schulmeiſter ſtanden die Thraͤnen in den Au-
gen, da wir geſtern davon redeten, daß ſie abge-
hauen worden — Abgehauen! Jch moͤchte ra-
ſend werden, ich koͤnnte den Hund ermorden, der
den erſten Hieb dran that. Jch, der ich koͤnnte
mich vertrauren, wenn ſo ein paar Baͤume in
meinem Hofe ſtuͤnden, und einer davon ſtuͤrbe vor
Alter ab, ich muß ſo zuſehn. Lieber Schaz, eins
iſt doch dabey! Was Menſchengefuͤhl iſt! Das
ganze Dorf murrt, und ich hoffe, die Frau Pfar-
rern ſoll’s an Butter und Eyern und uͤbrigem Zu-
trauen ſpuͤren, was fuͤr eine Wunde ſie ihrem Orte
gegeben hat. Denn ſie iſt’s, die Frau des neuen
Pfarrers, unſer Alter iſt auch geſtorben, ein ha-
geres, kraͤnkliches Thier, das ſehr Urſache hat an
K 3der
[150]
der Welt keinen Antheil zu nehmen, denn niemand
nimmt Antheil an ihr. Eine Frazze, die ſich ab-
giebt gelehrt zu ſeyn, ſich in die Unterſuchung des
Canons melirt, gar viel an der neumodiſchen mo-
raliſch kritiſchen Reformation des Chriſtenthums ar-
beitet, und uͤber Lavaters Schwaͤrmereyen die Achſeln
zukt, eine ganz zerruͤttete Geſundheit hat, und auf
Gottes Erdboden deswegen keine Freude. So ein
Ding war’s auch allein, um meine Nußbaͤume ab-
zuhauen. Siehſt du, ich komme nicht zu mir!
Stelle dir vor, die abfallenden Blaͤtter machen ihr
den Hof unrein und dumpfig, die Baͤume neh-
men ihr des Tageslicht, und wenn die Nuͤſſe reif
ſind, ſo werfen die Knaben mit Steinen darnach,
und das faͤllt ihr auf die Nerven, und das ſtoͤrt ſie
in ihren tiefen Ueberlegungen, wenn ſie Kennikot,
Semler und Michaelis, gegen einander abwiegt.
Da ich die Leute im Dorfe, beſonders die Alten, ſo
unzufrieden ſah, ſagt’ ich: warum habt ihr’s ge-
litten? — Wenn der Schulz will, hier zu Lande,
ſagten ſie, was kann man machen. Aber eins iſt
recht geſchehn, der Schulz und der Pfarrer, der
doch auch von ſeiner Frauen Grillen, die ihm ſo
die
[151]
die Suppen nicht fett machen, etwas haben wollte,
dachtens mit einander zu theilen, da erfuhr’s die
Kammer und ſagte: hier herein! und verkaufte
die Baͤume an den Meiſtbietenden. Sie liegen!
O wenn ich Fuͤrſt waͤre! Jch wollt die Pfarrern,
den Schulzen und die Kammer — Fuͤrſt! —
Ja wenn ich Fuͤrſt waͤre, was kuͤmmerten mich die
Baͤume in meinem Lande.
Wenn ich nur ihre ſchwarzen Augen ſehe, iſt
mirs ſchon wohl! Sieh, und was mich ver-
druͤſt, iſt, daß Albert nicht ſo begluͤkt zu ſeyn ſchei-
net, als er — hoffte — als ich — zu ſeyn glaub-
te — wenn — Jch mache nicht gern Gedanken-
ſtriche, aber hier kann ich mich nicht anders aus-
drukken — und mich duͤnkt deutlich genug.
Oſſian hat in meinem Herzen den Homer ver-
dr ngt. Welch eine Welt, in die der Herr-
liche mich fuͤhrt. Zu wandern uͤber die Haide,
K 4um-
[152]
umſaußt vom Sturmwinde, der in dampfenden
Nebeln, die Geiſter der Vaͤter im daͤmmernden
Lichte des Mondes hinfuͤhrt. Zu hoͤren vom Ge-
buͤrge her, im Gebruͤlle des Waldſtroms, halb ver-
wehtes Aechzen der Geiſter aus ihren Hoͤlen, und
die Wehklagen des zu Tode gejammerten Maͤdgens,
um die vier moosbedekten, grasbewachsnen Steine
des edelgefallnen ihres Geliebten. Wenn ich ihn
denn finde, den wandelnden grauen Barden, der
auf der weiten Haide die Fustapfen ſeiner Vaͤter
ſucht und ach! ihre Grabſteine findet. Und dann
jammernd nach dem lieben Sterne des Abends hin-
blikt, der ſich in’s rollende Meer verbirgt, und die
Zeiten der Vergangenheit in des Helden Seele le-
bendig werden, da noch der freundliche Stral den
Gefahren der Tapfern leuchtete, und der Mond
ihr bekraͤnztes, ſiegruͤkkehrendes Schiff beſchien,
Wenn ich ſo den tiefen Kummer auf ſeiner Stirne
leſe, ſo den lezten verlaßnen Herrlichen in aller
Ermattung dem Grabe zu wanken ſehe, wie er im-
mer neue ſchmerzlich gluͤhende Freuden in der kraft-
loſen Gegenwart der Schatten ſeiner Abgeſchiede-
nen einſaugt, und nach der kalten Erde dem hohen
wehen-
[153]
wehenden Graſe niederſieht, und ausruft: Der
Wanderer wird kommen, kommen, der mich kannte
in meiner Schoͤnheit und fragen, wo iſt der Saͤn-
ger, Fingals treflicher Sohn? Sein Fustritt geht
uͤber mein Grab hin, und er fragt vergebens nach
mir auf der Erde. O Freund! ich moͤchte gleich
einem edlen Waffentraͤger das Schwerd ziehen und
meinen Fuͤrſten von der zuͤkkenden Quaal des lang-
ſam abſterbenden Lebens auf einmal befreyen, und
dem befreyten Halbgott meine Seele nachſenden.
Ach dieſe Luͤkke! Dieſe entſezliche Luͤkke, die ich
hier in meinem Buſen fuͤhle! ich denke oft! —
Wenn du ſie nur einmal, nur einmal an dieſes
Herz druͤkken koͤnnteſt. All dieſe Luͤkke wuͤrde aus-
gefuͤllt ſeyn.
Ja es wird mir gewiß, Lieber! gewiß und im-
mer gewiſſer, daß an dem Daſeyn eines Ge-
ſchoͤpfs ſo wenig gelegen iſt, ganz wenig. Es kam
K 5eine
[154]
eine Freundinn zu Lotten, und ich gieng herein in’s
Nebenzimmer, ein Buch zu nehmen, und konnte
nicht leſen, und dann nahm ich eine Feder zu ſchrei-
ben. Jch hoͤrte ſie leiſe reden, ſie erzaͤhlten ein-
ander inſoſern unbedeutende Sachen, Stadtneuig-
keiten: wie dieſe heyrathet, wie jene krank, ſehr
krank iſt. Sie hat einen troknen Huſten, die Kno-
chen ſtehn ihr zum Geſichte heraus, und kriegt
Ohnmachten, ich gebe keinen Kreuzer fuͤr ihr Leben,
ſagte die eine. Der N. N. iſt auch ſo uͤbel dran,
ſagte Lotte. Er iſt ſchon geſchwollen, ſagte die an-
dre. Und meine lebhafte Einbildungskraft verſezte
mich an’s Bette dieſer Armen, ich ſah ſie, mit wel-
chem Widerwillen ſie dem Leben den Ruͤkken wand-
ten, wie ſie — Wilhelm, und meine Weibgens
redeten davon, wie man eben davon redt: daß
ein Fremder ſtirbt. — Und wenn ich mich um-
ſehe, und ſeh das Zimmer an, und ringsum
mich Lottens Kleider, hier ihre Ohrringe auf
dem Tiſchgen, und Alberts Scripturen und dieſe
Meubels, denen ich nun ſo beſreundet bin, ſo gar
dieſem Dintenſaß; und denke: Sieh, was du nun
dieſem Hauſe biſt! Alles in allem. Deine Freunde
ehren
[155]
ehren dich! Du machſt oft ihre Freude, und dei-
nem Herzen ſcheint’s, als wenn es ohne ſie nicht
ſeyn koͤnnte, und doch — wenn du nun giengſt?
wenn du aus dieſem Kreiſe ſchiedeſt, wuͤrden ſie?
wie lange wuͤrden ſie die Luͤkke fuͤhlen, die dein
Verluſt in ihr Schikſal reißt? wie lang? —
O ſo vergaͤnglich iſt der Menſch, daß er auch da,
wo er ſeines Daſeyns eigentliche Gewißheit hat,
da, wo er den einzigen wahren Eindruk ſeiner Ge-
genwart macht; in dem Andenken in der Seele
ſeiner Lieben, daß er auch da verloͤſchen, verſchwin-
den muß, und das — ſo bald!
Jch moͤchte mir oft die Bruſt zerreiſſen und das
Gehirn einſtoßen, daß man einander ſo we-
nig ſeyn kann. Ach die Liebe und Freude und
Waͤrme und Wonne, die ich nicht hinzu bringe,
wird mir der andre nicht geben, und mit einem
ganzen Herzen voll Seligkeit, werd ich den andern
nicht begluͤkken der kalt und kraftlos vor mir ſteht.
am
[156]
Wenn ich nicht ſchon hundertmal auf dem Punkte
geſtanden bin ihr um den Hals zu fallen.
Weis der große Gott, wie einem das thut, ſo viel
Liebenswuͤrdigkeit vor ſich herumkreuzen zu ſehn und
nicht zugreifen zu duͤrfen. Und das Zugreifen iſt
doch der natuͤrlichſte Trieb der Menſchheit. Grei-
fen die Kinder nicht nach allem was ihnen in Sinn
faͤllt? Und ich?
Weis Gott, ich lege mich ſo oft zu Bette mit
dem Wunſche, ja manchmal mit der Hof-
nung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens
ſchlag ich die Augen auf, ſehe die Sonne wieder,
und bin elend. O daß ich launiſch ſeyn koͤnnte,
koͤnnte die Schuld auf’s Wetter, auf einen drit-
ten, auf eine fehlgeſchlagene Unternehmung ſchie-
hen; ſo wuͤrde die unertraͤgliche Laſt des Unwillens
doch nur halb auf mir ruhen. Weh mir, ich
fuͤhle zu wahr, daß an mir allein alle Schuld
liegt,
[157]
liegt, — nicht Schuld! Genug daß in mir die
Quelle alles Elendes verborgen iſt, wie es ehemals
die Quelle aller Seligkeiten war. Bin ich nicht
noch eben derſelbe, der ehemals in aller Fuͤlle der
Empfindung herumſchwebte, dem auf jedem Tritte
ein Paradies folgte, der ein Herz hatte, eine ganze
Welt liebevoll zu umfaſſen. Und das Herz iſt jezo
todt, aus ihm fließen keine Entzuͤkkungen mehr,
meine Augen ſind trokken, und meine Sinnen, die
nicht mehr von erquikkenden Thraͤnen gelabt wer-
den, ziehen aͤngſtlich meine Stirne zuſammen.
Jch leide viel, denn ich habe verlohren was mei-
nes Lebens einzige Wonne war, die heilige bele-
bende Kraft, mit der ich Welten um mich ſchuf.
Sie iſt dahin! — Wenn ich zu meinem Fenſter
hinaus an den fernen Huͤgel ſehe, wie die Morgen-
ſonne uͤber ihn her den Nebel durchbricht und den
ſtillen Wieſengrund beſcheint, und der ſanfte Fluß
zwiſchen ſeinen entblaͤtterten Weiden zu mir her-
ſchlaͤngelt, o wenn da dieſe herrliche Natur ſo ſtarr
vor mir ſteht wie ein lakirt Bildgen, und all die
Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Her-
zen herauf in das Gehirn pumpen kann, und der
ganze
[158]
ganze Kerl vor Gottes Angeſicht ſteht wie ein ver-
ſiegter Brunn, wie ein verlechter Eymer! Jch habe
mich ſo oft auf den Boden geworfen und Gott um
Thraͤnen gebeten, wie ein Akkersmann um Regen,
wenn der Himmel ehern uͤber ihm iſt, und um ihn
die Erde verduͤrſtet.
Aber, ach ich fuͤhls! Gott giebt Regen und
Sonnenſchein nicht unſerm ungeſtuͤmen Bitten, und
jene Zeiten, deren Andenken mich quaͤlt, warum
waren ſie ſo ſelig? als weil ich mit Geduld ſeinen
Geiſt erwartete, und die Wonne, die er uͤber mich
ausgoß mit ganzem, innig dankbarem Herzen auf-
nahm.
Sie hat mir meine Exzeſſe vorgeworfen! Ach
mit ſo viel Liebenswuͤrdigkeit! Meine Ex-
zeſſe, daß ich mich manchmal von einem Glas Wein
verleiten laſſe, eine Bouteille zu trinken. Thun
Sie’s nicht! ſagte ſie, denken Sie an Lotten! —
Denken! ſagt’ ich, brauchen Sie mir das zu heiſ-
ſen? Jch denke! — Jch denke nicht! Sie ſind
immer vor meiner Seelen. Heut ſaß ich an dem
Flekke,
[159]
Flekke, wo Sie neulich aus der Kutſche ſtiegen —
Sie redte was anders, um mich nicht lieſer in den
Text kommen zu laſſen. Beſter, ich bin dahin!
Sie kann mit mir machen was ſie will.
Jch danke Dir, Wilhelm, fuͤr Deinen herzlichen
Antheil, fuͤr Deinen wohlmeynenden Rath,
und bitte Dich, ruhig zu ſeyn. Laß mich ausdul-
den, ich habe bey all meiner Muͤdſeligkeit noch
Kraft genug durchzuſezzen. Jch ehre die Religion,
das weiſt Du, ich fuͤhle, daß ſie manchem Ermatte-
ten Stab, manchem Verſchmachtenden Erquikkung
iſt. Nur — kann ſie denn, muß ſie denn das ei-
nem jeden ſeyn? Wenn Du die große Welt an-
ſiehſt; ſo ſiehſt du Tauſende, denen ſie’s nicht war,
Tauſende denen ſie’s nicht ſeyn wird, gepredigt
oder ungepredigt, und muß ſie mir’s denn ſeyn?
Sagt nicht ſelbſt der Sohn Gottes: daß die um
ihn ſeyn wuͤrden, die ihm der Vater gegeben hat.
Wenn ich ihm nun nicht gegeben bin! Wenn
mich nun der Vater fuͤr ſich behalten will, wie mir
mein
[160]
mein Herz ſagt! Jch bitte Dich, lege das nicht
falſch aus, ſieh nicht etwa Spott in dieſen unſchul-
digen Worten, es iſt meine ganze Seele, die ich dir
vorlege. Sonſt wollt ich lieber, ich haͤtte geſchwie-
gen, wie ich denn uͤber all das, wovon jedermann
ſo wenig weis als ich, nicht gern ein Wort ver-
liehre. Was iſt’s anders als Menſchenſchikſal, ſein
Maas auszuleiden, ſeinen Becher auszutrinken. —
Und ward der Kelch dem Gott vom Himmel auf
ſeiner Menſchenlippe zu bitter, warum ſoll ich gros
thun und mich ſtellen, als ſchmekte er mir ſuͤſſe.
Und warum ſollte ich mich ſchaͤmen, in dem ſchroͤk-
lichen Augenblikke, da mein ganzes Weſen zwiſchen
Seyn und Nichtſeyn zittert, da die Vergangenheit
wie ein Bliz uͤber dem finſtern Abgrunde der Zu-
kunft leuchtet, und alles um mich her verſinkt, und
mit mir die Welt untergeht. — Jſt es da nicht
die Stimme der ganz in ſich gedraͤngten, ſich ſelbſt
ermangelnden, und unaufhaltſam hinabſtuͤrzenden
Creatur, in den innern Tiefen ihrer vergebens auf-
arbeitenden Kraͤfte zu knirſchen. Mein Gott!
Mein Gott! warum haſt du mich verlaſſen? Und
ſollt ich mich des Ausdruks ſchaͤmen, ſollte mir’s
vor
[161]
vor dem Augenblikke bange ſeyn, da ihm der nicht
entgieng, der die Himmel zuſammenrollt wie ein
Tuch.
Sie ſieht nicht, ſie fuͤhlt nicht, daß ſie einen
Gift bereitet, der mich und ſie zu Grunde
richten wird. Und ich mit voller Wolluſt ſchlurfe den
Becher aus, den ſie mir zu meinem Verderben reicht.
Was ſoll der guͤtige Blik, mit dem ſie mich oft —
oft? — nein nicht oft, aber doch manchmal an-
ſieht, die Gefaͤlligkeit, womit ſie einen unwillkuͤhr-
lichen Ausdruk meines Gefuͤhls aufnimmt, das Mit-
leiden mit meiner Duldung, das ſich auf ihrer
Stirne zeichnet.
Geſtern als ich weggieng, reichte ſie mir die
Hand und ſagte: Adieu, lieber Werther! Lieber
Werther! Es war das erſtemal, daß ſie mich
Lieber hies, und mir giengs durch Mark und Bein.
Jch hab mir’s hundertmal wiederholt und geſtern
Nacht da ich in’s Bette gehen wollte, und mit
mir ſelbſt allerley ſchwazte, ſag ich ſo auf einmal:
Lgute
[162]
gute Nacht, lieber Werther! Und mußte hernach
ſelbſt uͤber mich lachen.
Sie fuͤhlt, was ich dulde. Heut iſt mir ihr
Blik tief durch’s Herz gedrungen. Jch fand
ſie allein. Jch ſagte nichts und ſie ſah mich an.
Und ich ſah nicht mehr in ihr die liebliche Schoͤn-
heit, nicht mehr das Leuchten des treflichen Gei-
ſtes; das war all vor meinen Augen verſchwun-
den. Ein weit herrlicherer Blik wuͤrkte auf mich,
voll Ausdruk des innigſten Antheils des ſuͤßten
Mileidens. Warum durft’ ich mich nicht ihr zu
Fuͤſſen werfen! warum durft ich nicht an ihrem
Halſe mit tauſend Kuͤſſen antworten — Sie nahm
ihre Zuflucht zum Claviere und hauchte mit ſuͤſſer
leiſer Stimme harmoniſche Laute zu ihrem Spiele.
Nie hab ich ihre Lippen ſo reizend | geſehn, es
war, als wenn ſie ſich lechzend oͤffneten, jene ſuͤſſe
Toͤne in ſich zu ſchluͤrfen, die aus dem Jnſtru-
mente hervorquollen, und nur der heimliche Wie-
derſchall aus dem ſuͤſſen Munde zuruͤkklaͤnge —
Ja
[163]
Ja wenn ich dir das ſo ſagen koͤnnte! Jch wi-
derſtund nicht laͤnger, neigte mich und ſchwur:
Nie will ich’s wagen, einen Kuß euch einzudruͤk-
ken Lippen, auf denen die Geiſter des Himmels
ſchweben — Und doch — ich will — Ha ſiehſt
du, das ſteht wie eine Scheidewand vor meiner
Seelen — dieſe Seligkeit — und da untergegan-
gen, die Suͤnde abzubuͤſſen — Suͤnde?
Jch ſoll, ich ſoll nicht zu mir ſelbſt kommen, wo
ich hintrete, begegnet mir eine Erſcheinung, die
mich aus aller Faſſung bringt. Heut! O Schik-
ſal! O Menſchheit!
Jch gehe an dem Waſſer hin in der Mit-
tagsſtunde, ich hatte keine Luſt zu eſſen. Alles war
ſo oͤde, ein naßkalter Abendwind blies vom Ber-
ge, und die grauen Regenwolken zogen das Thal
hinein. Von ferne ſeh ich einen Menſchen in ei-
nem gruͤnen ſchlechten Rokke, der zwiſchen den Fel-
ſen herumkrabelte und Kraͤuter zu ſuchen ſchien.
Als ich naͤher zu ihm kam und er ſich auf das
L 2Geraͤuſch
[164]
Geraͤuſch, das ich machte, herumdrehte, ſah ich ei-
ne gar intereſſante Phyſiognomie,| darinn eine
ſtille Trauer den Hauptzug machte, die aber ſonſt
nichts als einen graden guten Sinn ausdruͤkte,
ſeine ſchwarzen Haare waren mit Nadeln in zwey
Rollen geſtekt, und die uͤbrigen in einen ſtarken
Zopf geflochten, der ihm den Ruͤkken herunter hieng.
Da mir ſeine Kleidung einen Menſchen von ge-
ringem Stande zu bezeichnen ſchien, glaubt’ ich,
er wuͤrde es nicht uͤbel nehmen, wenn ich auf ſei-
ne Beſchaͤftigung aufmerkſam waͤre, und daher frag-
te ich ihn, was er ſuchte? Jch fuche, antwortete
er mit einem tiefen Seufzer, Blumen — und fin-
de keine — Das iſt auch die Jahrszeit nicht,
ſagt’ ich laͤchelnd. — Es giebt ſo viel Blumen,
ſagt er, indem er zu mir herunter kam. Jn mei-
nem Garten ſind Roſen und Je laͤnger ie lieber
zweyerley Sorten, eine hat mir mein Vater ge-
geben, ſie wachſen wie’s Unkraut, ich ſuche ſchon
zwey Tage darnach, und kann ſie nicht finden.
Da haußen ſind auch immer Blumen, gelbe und
blaue und rothe, und das Tauſend Guͤldenkraut
hat ein ſchoͤn Bluͤmgen. Keines kann ich finden.
Jch
[165]
Jch merkte was unheimliches, und drum fragte
ich durch einen Umweg: Was will er denn mit
den Blumen? Ein wunderbares zukkendes Laͤch-
len verzog ſein Geſicht. Wenn er mich nicht ver-
rathen will, ſagt er, indem er den Finger auf den
Mund druͤkte, ich habe meinem Schazze einen
Straus verſprochen. Das iſt brav, ſagt ich. O
ſagt’ er, ſie hat viel andre Sachen, ſie iſt reich.
Und doch hat ſie ſeinen Straus lieb, verſezt ich.
O! fuhr er fort, ſie hat Juwelen und eine Krone.
Wie heißt ſie denn? — Wenn mich die General-
ſtaaten bezahlen wollten! verſezte er, ich waͤr ein
anderer Menſch! Ja es war einmal eine Zeit,
da mir’s ſo wohl war. Jezt iſt’s aus mit mir,
ich bin nun — Ein naſſer Blik zum Himmel druͤk-
te alles aus. Er war alſo gluͤklich? fragt ich.
Ach ich wollt ich waͤre wieder ſo! ſagt’ er, da war
mir’s ſo wohl, ſo luſtig, ſo leicht wie ein Fiſch im
Waſſer! Heinrich! rufte eine alte Frau, die den
Weg herkam. Heinrich, wo ſtikſt du. Wir ha-
ben dich uͤberall geſucht. Komm zum Eſſen. Jſt
das euer Sohn? fragt’ ich zu ihr tretend. Wohl
mein armer Sohn, verſezte ſie. Gott hat mir ein
L 3ſchwe-
[166]
ſchweres Kreuz aufgelegt. Wie lang |iſt er ſo?
fragt ich. So ſtille, ſagte ſie, iſt er nun ein halb
Jahr. Gott ſey Dank, daß es nur ſo weit iſt.
Vorher war er ein ganz Jahr raſend, da hat er
an Ketten im Tollhauſe gelegen. Jezt thut er
niemand nichts, nur hat er immer mit Koͤnigen
und Kayſern zu thun. Es war ein ſo guter ſtil-
ler Menſch, der mich ernaͤhren half, ſeine ſchoͤne
Hand ſchrieb, und auf einmal wird er tiefſinnig,
faͤllt in ein hitzig Fieber, daraus in Raſerey, und
nun iſt er, wie ſie ihn ſehen. Wenn ich ihm er-
zaͤhlen ſollt, Herr — Jch unterbrach ihren Strom
von Erzaͤhlungen mit der Frage: was denn das
fuͤr eine Zeit waͤre von der er ſo ruͤhmte, daß er
ſo gluͤklich, ſo wohl darinn geweſen waͤre. Der
thoͤrige Menſch, rief ſie mit mitleidigem Laͤchlen,
da meint er die Zeit, da er von ſich war, das
ruͤhmt er immer! Das iſt die Zeit, da er im
Tollhauſe war, wo er nichts von ſich wußte —
Das fiel mir auf wie ein Donnerſchlag, ich druͤk-
te ihr ein Stuͤk Geld in die Hand und verließ
ſie eilend.
Da
[167]
Da du gluͤklich warſt! rief ich aus, ſchnell
vor mich hin nach der Stadt zu gehend. Da
dir’s wohl war wie einem Fiſch im Waſſer! —
Gott im Himmel! Haſt du das zum Schikſaal
der Menſchen gemacht, daß ſie nicht gluͤklich ſind,
als eh ſie zu ihrem Verſtande kommen, und wenn
ſie ihn wieder verliehren! Elender und auch wie
beneid ich deinen Truͤbſinn, die Verwirrung dei-
ner Sinne, in der du verſchmachteſt! Du gehſt
hoffnungsvoll aus, deiner Koͤnigin Blumen zu
pfluͤkken — im Winter — und traureſt, da du
keine findeſt, und begreifſt nicht warum, du keine
finden kannſt. Und ich — und ich gehe ohne
Hoffnung ohne Zwek heraus, und kehr wieder heim
wie ich gekommen bin. — Du waͤhnſt, welcher
Menſch du ſeyn wuͤrdeſt wenn die Generalſtaaten
dich bezahlten. Seliges Geſchoͤpf, das den Man-
gel ſeiner Gluͤkſeligkeit einer irdiſchen Hinderniß
zuſchreiben kaͤnn. — Du fuͤhlſt nicht! Du fuͤhlſt
nicht! daß in deinem zerſtoͤrten Herzen, in deinem
zerruͤtteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle
Koͤnige der Erde dir nicht helfen koͤnnen.
L 4Muͤſſe
[168]
Muͤſſe der troſtlos umkommen, der eines
Kranken ſpottet, der nach der entfernteſten Quelle
reiſt die ſeine Krankheit vermehren, ſein Ausleben
ſchmerzhafter machen wird, der ſich uͤber das be-
draͤngte Herz erhebt, das, um ſeine Gewiſſensbiſſe
los zu werden und die Leiden ſeiner Seele abzu-
thun, ſeine Pilgrimſchaft nach dem heiligen Gra-
be thut! Jeder Fußtritt der ſeine Solen auf un-
gebahntem Wege durchſchneidet, iſt ein Lindrungs-
tropfen der geaͤngſteten Seele, und mit jeder aus-
gedauerten Tagreiſe legt ſich das Herz um viel
Bedraͤngniß leichter nieder. — Und duͤrft ihr
das Wahn nennen — Jhr Wortkraͤmer auf eu-
rem Polſtern — Wahn! — O Gott! du ſiehſt
meine Thraͤnen — Mußteſt du, der du den Men-
ſchen arm genug erſchufſt, ihm auch Bruͤder zu-
geben, die ihm das bisgen Armuth, das bisgen
Vertrauen noch raubten, das er auf dich hat, auf
dich, du Allliebender, denn das Vertrauen zu einer
heilenden Wurzel, zu den Thraͤnen des Weinſtoks,
was iſt’s, als Vertrauen zu dir, daß du in alles,
was uns umgiebt, Heil und Lindrungskraft gelegt
haft, der wir ſo ſtuͤndlich beduͤrfen. — Vater, den
ich
[169]
ich nicht kenne! Vater, der ſonſt meine ganze See-
le fuͤllte, und nun ſein Angeſicht von mir gewen-
det hat! Rufe mich zu dir! Schweige nicht laͤn-
ger! Dein Schweigen wird dieſe durſtende See-
le nicht aufhalten — Und wuͤrde ein Menſch, ein
Vater zuͤrnen koͤnnen, dem ſein unvermuthet ruͤk-
kehrender Sohn um den Hals fiele und rief: Jch
bin wieder da |mein Vater. Zuͤrne nicht, daß ich
die Wanderſchaft abbreche, die ich nach deinem
Willen laͤnger aushalten ſollte. Die Welt |iſt
uͤberall einerley, auf Muͤh und Arbeit, Lohn und
Freude; aber was ſoll mir das? mir iſt nur
wohl wo du biſt, und vor deinem Angeſichte will
ich leiden und genieſſen — Und du, lieber himm-
liſcher Vater, ſollteſt ihn von dir weiſen?
Wilhelm! der Menſch, von dem ich dir ſchrieb,
der gluͤkliche Ungluͤkliche, war Schreiber
bey Lottens Vater, und eine ungluͤkliche Leiden-
ſchaft zu ihr, die er naͤhrte, verbarg, entdekte, und
aus dem Dienſt, geſchikt wurde, hat ihn raſend ge-
L 5macht.
[170]
macht. Fuͤhle Kerl, bey dieſen |troknen Worten, mit
welchem Unſinne mich die Geſchichte ergriffen hat,
da mir ſie Albert eben ſo gelaſſen erzaͤhlte, als
dus’ velleicht lieſeſt.
Jch bitte dich — ſiehſt du, mit mir iſt’s aus —
Jch trag das all nicht laͤnger. Heut ſas ich
bey ihr — ſas, ſie ſpielte auf ihrem |Clavier, manch-
faltige Melodien und all den Ausdruk! all! all! —
Was willſt du? — Jhr Schweſtergen puzte ihre
Puppe auf meinem Knie. Mir kamen die Thraͤ-
nen in die Augen. Jch neigte mich und ihr Trau-
ring fiel mir in’s Geſicht — Meine Thraͤnen
floſſen — Und auf einmal fiel ſie in die alte him-
melſuͤſſe Melodie ein, ſo auf einmal, und mir durch
die Seele gehn ein Troſtgefuͤhl und eine Erinne-
rung all des Vergangenen all der Zeiten, da ich
das Lied gehoͤrt, all der duͤſtern Zwiſchenraͤume
des Verdruſſes, der fehlgeſchlagenen Hoffnungen,
und dann — Jch gieng in der Stube auf und
nieder, mein Herz erſtikte unter all dem. Um
Gottes
[171]
Gottes Willen, ſagt ich mit einem heftigen Aus-
bruch hin gegen ſie fahrend, um Gottes Willen hoͤ-
ren ſie auf. Sie hielt, und ſah mich ſtarr an.
Werther, ſagte ſie, mit einem Laͤchlen, das mir
durch die Seele gieng, Werther, ſie ſind ſehr krank,
ihre Lieblingsgerichte widerſtehen ihnen. Gehen
ſie! Jch bitte ſie, beruhigen ſie ſich. Jch riß
mich von ihr weg, und — Gott! du ſiehſt mein
Elend, und wirſt es enden.
Wie mich die Geſtalt verfolgt. Wachend und
traͤumend fuͤllt ſie meine ganze Seele.
Hier, wenn ich die Augen ſchlieſſe, hier in mei-
ner Stirne, wo die innere Sehkraft ſich verei-
nigt, ſtehen ihre ſchwarzen Augen. Hier! Jch
kann dir’s nicht ausdruͤkken. Mach ich meine Au-
gen zu, ſo ſind ſie da, wie ein Meer, wie ein
Abgrund ruhen ſie vor mir, in mir, fuͤllen die
Sinnen meiner Stirne.
Was iſt der Menſch? der geprieſene Halb-
gott! Ermangeln ihm nicht da eben, die Kraͤfte
wo
[172]
wo er ſie am noͤthigſten braucht? Und wenn er
in Freude ſich aufſchwingt, oder im Leiden ver-
ſinkt, wird er nicht in beyden eben da aufgehal-
ten, eben da wieder zu dem ſtumpfen kalten Be-
wuſtſeyn zuruͤk gebracht, da | er ſich in der Fuͤlle
des Unendlichen zu verliehren ſehnte.
Lieber Wilhelm, ich bin in einem Zuſtande, in dem
jene Ungluͤklichen muͤſſen geweſen ſeyn, von
denen man glaubte, ſie wuͤrden von einem boͤſen
Geiſte umher getrieben. Manchmal ergreift mich’s,
es iſt nicht Angſt, nicht Begier! es iſt ein inne-
res unbekanntes Toben, das meine Bruſt zu zer-
reiſſen droht, das mir die Gurgel zupreßt! We-
he! Wehe! Und dann ſchweif ich umher in den
furchtbaren naͤchtlichen Scenen dieſer menſchen-
feindlichen Jahrszeit.
Geſtern Nacht mußt ich hinaus. Jch hatte
noch Abends gehoͤrt, der Fluß ſey uͤbergetreten und
die Baͤche all, und von Wahlheim herunter all
mein Liebesthal uͤberſchwemmt. Nachts nach eilf
rannt
[173]
rannt ich hinaus. Ein fuͤrchterliches Schauſpiel.
Vom Fels herunter die wuͤhlenden Fluthen in dem
Mondlichte wirbeln zu ſehn, uͤber Aelker und Wie-
ſen und Hekken und alles, und das weite Thal
hinauf und hinab eine ſtuͤrmende See im Sau-
ſen des Windes. Und wenn denn der Mond wie-
der hervortrat und uͤber der ſchwarzen Wolke ruh-
te, und vor mir hinaus die Fluth in fuͤrchterlich
herrlichen Wiederſchein rollte und klang, da uͤber-
fiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen!
Ach! Mit offenen Armen ſtand ich gegen den
Abgrund, und athmete hinab! hinab, und ver-
lohr mich in der Wonne, all meine Quaalen all
mein Leiden da hinab zu ſtuͤrmen, dahin zu brau-
ſen wie die Wellen. Oh! Und den Fuß vom
Boden zu heben! Vermochteſt du nicht und alle
Qualen zu enden! — Meine Uhr iſt noch nicht
ausgelaufen — ich fuͤhl’s! O Wilhelm, wie gern
haͤtt ich all mein Menſchſeyn drum gegeben, mit
jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreiſſen, die
Fluthen zu faſſen. Ha! Und wird nicht vielleicht
dem Eingekerkerten einmal dieſe Wonne zu Theil! —
Und
[174]
Und wie ich wehmuͤthig hinab ſah auf ein
Plaͤzgen, wo ich mit Lotten unter einer Weide ge-
ruht, auf einem heiſſen Spaziergange, das war auch
uͤberſchwemmt, und kaum daß ich die Weide er-
kannte! Wilhelm. Und ihre Wieſen, dacht ich,
und all die Gegend um ihr Jagdhaus, wie jezt
vom reiſſenden Strome, verſtoͤrt unſere Lauben,
dacht ich. Und der Vergangenheit Sonnenſtrahl
blikte herein — Wie einem Gefangenen ein
Traum von Heerden, Wieſen und Ehrenaͤmtern.
Jch ſtand! — Jch ſchelte mich nicht, denn ich ha-
be Muth zu ſterben — Jch haͤtte — Nun ſiz
ich hier wie ein altes Weib, das ihr Holz an Zaͤu-
nen ſtoppelt, und ihr Brod an den Thuͤren, um
ihr hinſterbendes freudloſes Daſeyn noch einen Au-
genblik zu verlaͤngern und zu erleichtern.
Was iſt das, mein Lieber? Jch erſchrekke vor
mir ſelbſt! Jſt nicht meine Liebe zu ihr
die heiligſte, reinſte, bruͤderlichſte Liebe? Hab ich
jemals einen ſtrafbaren Wunſch in meiner Seele
ge-
[175]
gefuͤhlt — ich will nicht betheuren — und nun —
Traͤume! O wie wahr fuͤhlten die Menſchen, die
ſo widerſprechende Wuͤrkungen fremden Maͤchten
zuſchrieben. Dieſe Nacht! Jch zittere es zu ſa-
gen, hielt ich ſie in meinen Armen, feſt an mei-
nen Buſen gedruͤkt und dekte ihren lieben lispeln-
den Mund mit unendlichen Kuͤſſen. Mein Auge
ſchwamm in der Trunkenheit des ihrigen. Gott!
bin ich ſtrafbar, daß ich auch jezt noch eine Selig-
keit fuͤhle, mir dieſe gluͤhende Freuden mit voller
Jnnigkeit zuruͤk zu rufen, Lotte! Lotte! — Und
mit mir iſt’s aus! Meine Sinnen verwirren ſich.
Schon acht Tage hab ich keine Beſinnungskraft,
meine Augen ſind voll Thraͤnen. Jch bin nir-
gends wohl, und uͤberall wohl. Jch wuͤnſche nichts,
verlange nichts. Mir waͤrs beſſer ich gienge.
Der
[176]
Der Herausgeber
an den Leſer.
Die ausfuͤhrliche Geſchichte der lezten merkwuͤr-
digen Tage unſers Freundes zu liefern, ſeh
ich mich genoͤthiget ſeine Briefe durch Erzaͤhlung
zu unterbrechen, wozu ich den Stof aus dem Mun-
de Lottens, Albertens, ſeines Bedienten, und an-
derer Zeugen geſammlet habe.
Werthers Leidenſchaft hatte den Frieden zwi-
ſchen Alberten und ſeiner Frau allmaͤhlig unter-
graben, dieſer liebte ſie mit der ruhigen Treue ei-
nes rechtſchafnen Manns, und der freundliche Um-
gang mit| ihr ſubordinirte ſich nach und nach ſei-
nen Geſchaͤften. Zwar wollte er ſich nicht den Un-
terſchied geſtehen, der die gegenwaͤrtige Zeit den
Braͤutigams-Tagen ſo ungleich machte: doch fuͤhl-
te er innerlich einen gewiſſen Widerwillen gegen
Werthers Aufmerkſamkeiten fuͤr Lotten, die ihn zu-
gleich ein Eingriff in ſeine Rechte und ein ſtiller
Vorwurf zu ſeyn ſcheinen mußten. Dadurch ward
der uͤble Humor vermehrt, den ihm ſeine uͤber-
haͤuften, gehinderten, ſchlecht belohnten Geſchaͤfte
manchmal gaben, und da denn Werthers Lage auch
ihm
[177]
ihn zum traurigen Geſellſchafter machte, indem die
Beaͤngſtigung ſeines Herzens, die uͤbrige Kraͤfte
ſeines Geiſtes, ſeine Lebhaftigkeit, ſeinen Scharfſinn
aufgezehrt hatte; ſo konnte es nicht fehlen daß Lotte
zulezt ſelbſt mit angeſtekt wurde, und in eine Art von
Schwermuth verfiel, in der Albert eine wachſende
Leidenſchaft fuͤr ihren Liebhaber, und Werther einen
tiefen Verdruß uͤber das veraͤnderte Betragen ihres
Mannes zu entdekken glaubte. Das Mistrauen,
womit die beyden Freunde einander anſahen, machte
ihnen ihre wechſelſeitige Gegenwart hoͤchſt beſchwer-
lich. Albert mied das Zimmer ſeiner Frau, wenn
Werther bey ihr war, und dieſer, der es merkte,
ergriff nach einigen fruchtloſen Verſuchen ganz von
ihr zu laſſen, die Gelegenheit, ſie in ſolchen Stun-
den zu ſehen, da ihr Mann von ſeinen Geſchaͤften
gehalten wurde. Daraus entſtund neue Unzufrie-
denheit, die Gemuͤther verhezten ſich immer mehr
gegen einander, bis zulezt Albert ſeiner Frau mit
ziemlich troknen Worten ſagte: ſie moͤchte, wenig-
ſtens um der Leute willen, dem Umgange mit Wer-
thern eine andere Wendung geben, und ſeine allzu-
oͤfteren Beſuche abſchneiden.
MOhn-
[178]
Ohngefaͤhr um dieſe Zeit hatte ſich der Ent-
ſchluß, dieſe Welt zu verlaſſen, in der Seele des
armen Jungen naͤher beſtimmt. Es war von je
her ſeine Lieblingsidee geweſen, mit der er ſich, be-
ſonders ſeit der Ruͤkkehr zu Lotten, immer getragen.
Doch ſollte es keine uͤbereilte, keine raſche
That ſeyn, er wollte mit der beſten Ueberzeugung,
mit der moͤglichſten ruhigen Entſchloſſenheit dieſen
Schritt thun.
Seine Zweifel, ſein Streit mit ſich ſelbſt,
blikken aus einem Zettelgen hervor, das wahrſchein-
lich ein angefangener Brief an Wilhelmen iſt, und
ohne Datum, unter ſeinen Papieren gefunden
worden.
Jhre Gegenwart, ihr Schikſal, ihr Theilneh-
men an dem meinigen, preßt noch die lezten
Thraͤnen aus meinem verſengten Gehirn.
Den Vorhang aufzuheben und dahinter zu
treten, das iſt’s all! Und warum das Zaudern
und Zagen? — Weil man nicht weis, wie’s da-
hin-
[179]
hinten ausſieht? — und man nicht zuruͤkkehrt? —
Und daß das nun die Eigenſchaft unſeres Geiſtes
iſt, da Verwirrung und Finſterniß zu ahnden,
wovon wir nichts Beſtimmtes wiſſen.
Den Verdruß, den er bey der Geſandtſchaft ge-
habt, konnte er nicht vergeſſen. Er erwaͤhnte deſ-
ſen ſelten, doch wenn es auch auf die entfernteſte
Weiſe geſchah, ſo konnte man fuͤhlen, daß er ſeine
Ehre dadurch unwiederbringlich gekraͤnkt hielte, und
daß ihm dieſer Vorfall eine Abneigung gegen alle
Geſchaͤfte und politiſche Wirkſamkeit gegeben hatte.
Daher uͤberließ er ſich ganz der wunderbaren Em-
pfind- und Denkensart, die wir aus ſeinen Brie-
fen kennen, und einer endloſen Leidenſchaft, wor-
uͤber noch endlich alles, was thaͤtige Kraft an ihm
war, verloͤſchen mußte. Das ewige einerley eines
traurigen Umgangs mit dem liebenswuͤrdigen und
geliebten Geſchoͤpfe, deſſen Ruhe er ſtoͤrte, das
ſtuͤrmende Abarbeiten ſeiner Kraͤfte, ohne Zwek
und Ausſicht, draͤngten ihn endlich zu der ſchroͤkli-
chen That.
M 2
[180]
Jch danke Deiner Liebe, Wilhelm, daß Du das
Wort ſo aufgefangen haſt. Ja Du haſt recht:
Mir waͤre beſſer, ich gienge. Der Vorſchlag, den
Du zu einer Ruͤkkehr zu euch thuſt, gefaͤllt mir
nicht ganz, wenigſtens moͤcht ich noch gern einen
Umweg machen, beſonders da wir anhaltenden Froſt
und gute Wege zu hoffen haben. Auch iſt mir’s
ſehr lieb daß Du kommen willſt, mich abzuholen, ver-
zieh nur noch vierzehn Tage, und erwarte noch ei-
nen Brief von mir mit dem weitern. Es iſt noͤ-
thig, daß nichts gepfluͤkt werde, eh es reif iſt. Und
vierzehn Tage auf oder ab thun viel. Meiner
Mutter ſollſt Du ſagen: daß ſie fuͤr ihren Sohn
beten ſoll und daß ich ſie um Vergebung bitte, we-
gen all des Verdruſſes, den ich ihr gemacht habe.
Das war nun mein Schikſal, die zu betruͤben, de-
nen ich Freude ſchuldig war. Leb wohl, mein
Theuerſter. Allen Segen des Himmels uͤber Dich!
Leb wohl!
An
[181]
An eben dem Tage, es war der Sonntag
vor Weihnachten, kam er Abends zu Lotten, und
fand ſie allein. Sie beſchaͤſtigte ſich, einige Spiel-
werke in Ordnung zu bringen, die ſie ihren kleinen
Geſchwiſtern zum Chriſtgeſchenke zurecht gemacht
hatte. Er redete von dem Vergnuͤgen, das die Klei-
nen haben wuͤrden, und von den Zeiten, da einen
die unerwartete Oeffnung der Thuͤre, und die Er-
ſcheinung eines aufgepuzten Baums mit Wachs-
lichtern, Zukkerwerk und Aepfeln, in paradiſiſche
Entzuͤkkung ſezte. Sie ſollen, ſagte Lotte, indem
ſie ihre Verlegenheit unter ein liebes Laͤcheln ver-
barg: Sie ſollen auch beſche ert kriegen, wenn Sie
recht geſchikt ſind, ein Wachsſtoͤkgen und noch was.
Und was heißen Sie geſchikt ſeyn? rief er aus,
wie ſoll ich ſeyn, wie kann ich ſeyn, beſte Lotte?
Donnerſtag Abend, ſagte ſie, iſt Weyhnachtsabend,
da kommen die Kinder, mein Vater auch, da kriegt
jedes das ſeinige, da kommen Sie auch — aber
nicht eher. — Werther ſtuzte! — Jch bitte Sie,
fuhr ſie fort, es iſt nun einmal ſo, ich bitte Sie
um meiner Ruhe willen, es kann nicht, es kann
nicht ſo bleiben! — Er wendete ſeine Augen von
M 3ihr,
[182]
ihr, gieng in der Stube auf und ab, und mur,
melte das: es kann nicht ſo bleiben! zwiſchen den
Zaͤhnen. Lotte, die den ſchroͤklichen Zuſtand fuͤhlte,
worinn ihn dieſe Worte verſezt hatten, ſuchte durch
allerley Fragen ſeine Gedanken abzulenken, aber
vergebens: Nein, Lotte, rief er aus: ich werde Sie
nicht wieder ſehn! — Warum das? verſezte ſie,
Werther, Sie koͤnnen, Sie muͤſſen uns wieder
ſehen, nur maͤſſigen Sie ſich. O! warum mußten
Sie mit dieſer Heſtigkeit, dieſer unbezwinglich haf-
tenden Leidenſchaft fuͤr alles, das Sie einmal an-
faſſen, gebohren werden. Jch bitte Sie, fuhr ſie
fort, indem ſie ihn bey der Hand nahm, maͤſſigen
Sie ſich, Jhr Geiſt, Jhre Wiſſenſchaft, Jhre
Talente, was bieten die Jhnen fuͤr mannigfaltige
Ergoͤzzungen dar! ſeyn Sie ein Mann, wenden
Sie dieſe traurige Anhaͤnglichkeit von einem Ge-
ſchoͤpſe, das nichts thun kann als Sie bedauren. —
Er knirrte mit den Zaͤhnen, und ſah ſie duͤſter an.
Sie hielt ſeine Hand: Nur einen Augenblik ru-
higen Sinn, Werther, ſagte ſie. Fuͤhlen Sie
nicht, daß Sie ſich betruͤgen, ſich mit Willen zu
Grunde richten? Warum denn mich! Werther!
Juſt
[183]
Juſt mich! das Eigenthum eines andern. Juſt
das! Jch fuͤrchte, ich fuͤrchte, es iſt nur die Un-
moͤglichkeit mich zu beſizzen, die Jhnen dieſen
Wunſch ſo reizend macht. Er zog ſeine Hand aus
der ihrigen, indem er ſie mit einem ſtarren un-
willigen Blikke anſah. Weiſe! rief er, ſehr weiſe!
hat vielleicht Albert dieſe Anmerkung gemacht?
Politiſch! ſehr politiſch! — Es kann ſie jeder ma-
chen, verſezte ſie drauf. Und ſollte denn in der
weiten Welt kein Maͤdgen ſeyn, das die Wuͤnſche
Jhres Herzens erfuͤllte. Gewinnen Sie’s uͤber
ſich, ſuchen| Sie darnach, und ich ſchwoͤre Jhnen,
Sie werden ſie finden. Denn ſchon lange aͤngſtet
mich fuͤr Sie und uns die Einſchraͤnkung, in die
Sie ſich dieſe Zeit her ſelbſt gebannt haben. Ge-
winnen Sie’s uͤber ſich! Eine Reiſe wird Sie,
muß Sie zerſtreuen! Suchen Sie, finden Sie
einen werthen Gegenſtand all Jhrer Liebe, und
kehren Sie zuruͤk, und laſſen Sie uns zuſammen
die Seligkeit einer wahren Freundſchaft genießen.
Das koͤnnte man, ſagte er mit einem kalten
Lachen, drukken laſſen, und allen Hofmeiſtern em-
M 4pfeh-
[184]
pfehlen. Liebe Lotte, laſſen Sie mir noch ein klein
wenig Ruh, es wird alles werden. — Nur das
Werther! daß Sie nicht eher kommen als Weyh-
nachtsabend! — Er wollte antworten, und Al-
bert trat in die Stube. Man bot ſich einen fro-
ſtigen guten Abend, und gieng verlegen im Zim-
mer neben einander auf und nieder. Werther fieng
einen unbedeutenden Diskurs an, der bald aus
war, Albert desgleichen, der ſodann ſeine Frau nach
einigen Auftraͤgen fragte, und als er hoͤrte, ſie ſeyen
noch nicht ausgerichtet, ihr ſpizze Reden gab, die
Werthern durch’s Herz giengen. Er wollte gehn,
er konnte nicht und zauderte bis Acht, da ſich denn
der Unmuth und Unwillen an einander immer ver-
mehrte, bis der Tiſch gedekt wurde und er Huth
und Stok nahm, da ihm denn Albert ein unbedeu-
tend Kompliment, ob er nicht mit ihnen vorlieb
nehmen wollte? mit auf den Weg gab.
Er kam nach Hauſe, nahm ſeinem Burſchen,
der ihm leuchten wollte, das Licht aus der Hand,
und gieng allein in ſein Zimmer, weinte laut, re-
dete aufgebracht mit ſich ſelbſt, gieng heftig die
Stube
[185]
Stube auf und ab, und warf ſich endlich in ſeinen
Kleidern auf’s Bette, wo ihn der Bediente fand,
der es gegen Eilf wagte hinein zu gehn, um zu fra-
gen, ob er dem Herrn die Stiefel ausziehen ſollte,
das er denn zuließ und dem Diener verbot, des an-
dern Morgens nicht in’s Zimmer zu kommen, bis
er ihm rufte.
Montags fruͤh, den ein und zwanzigſten De-
cember, ſchrieb er folgenden Brief an Lotten, den
man nach ſeinem Tode verſiegelt auf ſeinem
Schreibtiſche gefunden und ihr uͤberbracht hat, und
den ich Abſazweiſe hier einruͤkken will, ſo wie aus
den Umſtaͤnden erhellet, daß er ihn geſchrieben
habe.
Es iſt beſchloſſen, Lotte, ich will ſterben, und das
ſchreib ich Dir ohne romantiſche Ueberſpan-
nung gelaſſen, an dem Morgen des Tags, an
dem ich Dich zum lezten mal ſehn werde. Wenn
Du dieſes lieſeſt, meine Beſte, dekt ſchon das kuͤhle
Grab die erſtarrten Reſte des Unruhigen, Ungluͤk-
M 5lichen
[186]
lichen, der fuͤr die lezten Augenblikke ſeines Lebens
keine groͤſſere Suͤſſigkeit weis, als ſich mit Dir zu
unterhalten. Jch habe eine ſchroͤkliche Nacht ge-
habt, und ach eine wohlthaͤtige Nacht, ſie iſt’s, die
meinen wankenden Entſchluß beſeſtiget, beſtimmt
hat: ich will ſterben. Wie ich mich geſtern von
Dir riß, in der fuͤrchterlichen Empoͤrung meiner
Sinnen, wie ſich all all das nach meinem Herzen
draͤngte, und mein hoffnungloſes, freudloſes Daſeyn
neben Dir, in graͤßlicher Kaͤlte mich anpakte; ich
erreichte kaum mein Zimmer, ich warf mich auſſer
mir auf meine Knie, und o Gott! du gewaͤhrteſt
mir das lezte Labſal der bitterſten Thraͤnen, und
tauſend Anſchlaͤge, tauſend Ausſichten wuͤtheten
durch meine Seele, und zuletzt ſtand er da, feſt
ganz der lezte einzige Gedanke: Jch will ſterben! —
Jch legte mich nieder, und Morgens, in all der
Ruh des Erwachens, ſteht er noch feſt, noch ganz
ſtark in meinem Herzen: Jch will ſterben! —
Es iſt nicht Verzweiflung, es iſt Gewißheit, daß
ich ausgetragen habe, und daß ich mich opfere fuͤr
Dich, ja Lotte, warum ſollt ich’s verſchweigen:
eins von uns dreyen muß hinweg, und das will
ich
[187]
ich ſeyn. O meine Beſte, in dieſem zerriſſenen
Herzen iſt es wuͤthend herum geſchlichen, oft —
Deinen Mann zu ermorden! — Dich! — mich! —
So ſey’s denn! — Wenn du hinauf ſteigſt auf
den Berg, an einem ſchoͤnen Sommerabende, dann
erinnere Dich meiner, wie ich ſo oft das Thal
herauf kam, und dann blikke nach dem Kirchhofe
hinuͤber nach meinem Grabe, wie der Wind das
hohe Gras im Schein der ſinkenden Sonne, hin
und her wiegt. — Jch war ruhig da ich anfieng,
und nun wein ich wie ein Kind, da mir all das
ſo lebhaft um mich wird. —
Gegen zehn Uhr rufte Werther ſeinem Be-
dienten, und unter dem Anziehen ſagte er ihm:
wie er in einigen Tagen verreiſen wuͤrde, er ſolle
daher die Kleider auskehren, und alles zum Ein-
pakken zurechte machen, auch gab er ihm Befehl,
uͤberall Contis zu fordern, einige ausgeliehene Buͤ-
cher abzuholen, und einigen Armen, denen er woͤ-
chentlich etwas zu geben gewohnt war, ihr Zuge-
theiltes auf zwey Monathe |voraus zu bezahlen.
Er
[188]
Er ließ ſich das Eſſen auf die Stube bringen,
und nach Tiſche ritt er hinaus zum Amtmanne,
den er nicht zu Hauſe antraf. Er gieng tieffinnig
im Garten auf und ab, und ſchien noch zulezt alle
Schwermuth der Erinnerung auf ſich haͤufen zu
wollen.
Die Kleinen ließen ihn nicht lange in Ruhe,
ſie verfolgten ihn, ſprangen an ihn hinauf, er-
zaͤhlten ihm: daß, wenn Morgen und wieder
Morgen, und noch ein Tag waͤre, daß ſie die
Chriſtgeſchenke bey Lotten holten, und erzaͤhlten
ihm Wunder, die ſich ihre kleine Einbildungskraft
verſprach. Morgen! rief er aus, und wieder
Morgen, und noch ein Tag! Und kuͤßte ſie alle
herzlich, und wollte ſie verlaſſen, als ihm der kleine
noch was in’s Ohr ſagen wollte. Der verrieth
ihm, daß die großen Bruͤder haͤtten ſchoͤne Neu-
jahrswuͤnſche geſchrieben, ſo gros, und einen fuͤr
den Papa, fuͤr Albert und Lotte einen, und auch
einen fuͤr Herrn Werther. Die wollten ſie des
Neujahrstags fruͤh uͤberreichen.
Das
[189]
Das uͤbermannte ihn, er ſchenkte jedem was,
ſezte ſich zu Pferde, ließ den Alten gruͤßen, und
ritt mit Thraͤnen in den Augen davon.
Gegen fuͤnfe kam er nach Hauſe, befahl der
Magd nach dem Feuer zu ſehen, und es bis in die
Nacht zu unterhalten. Dem Bedienten hieß er
Buͤcher und Waͤſche unten in den Coffer pakken,
und die Kleider einnaͤhen. Darauf ſchrieb er
wahrſcheinlich folgenden Abſaz ſeines lezten Briefes
an Lotten.
Du erwarteſt mich nicht. Du glaubſt, ich wuͤr-
de gehorchen, und erſt Weyhnachtsabend Dich wie-
der ſehn. O Lotte! Heut, oder nie mehr. Weyh-
nachtsabend haͤltſt Du dieſes Papier in Deiner
Hand, zitterſt und benezt es mit Deinen lieben
Thraͤnen. Jch will, ich muß! O wie wohl iſt
mir’s, daß ich entſchloſſen bin.
Um
[190]
Um halb ſieben gieng er nach Albertens Hauſe,
und fand Lotten allein, die uͤber ſeinen Beſuch ſehr
erſchrokken war. Sie hatte ihrem Manne im
Diskurs geſagt, daß Werther vor Weyhnachts-
abend nicht wiederkommen wuͤrde. Er ließ bald
darauf ſein Pferd ſatteln, nahm von ihr Abſchied
und ſagte, er wolle zu einem Beamten in der Nach-
barſchaft reiten, mit dem er Geſchaͤfte abzuthun
habe, und ſo machte er ſich truz der uͤbeln Witte-
rung fort. Lotte, die wohl wußte, daß er dieſes
Geſchaͤft ſchon lange verſchoben hatte, daß es ihn
eine Nacht von Hauſe halten wuͤrde, verſtund die
Pantomime nur allzu wohl und ward herzlich be-
truͤbt daruͤber. Sie ſaß in ihrer Einſamkeit, ihr
Herz ward weich, ſie ſah das Vergangene,
fuͤhlte all ihren Werth, und ihre Liebe zu ihrem
Manne, der nun ſtatt des verſprochenen Gluͤks
anfieng das Elend ihres Lebens zu machen. Jhre
Gedanken fielen auf Werthern. Sie ſchalt ihn,
und konnte ihn nicht haſſen. Ein geheimer Zug
hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntſchaft
theuer gemacht, und nun, nach ſo viel Zeit, nach
ſo manchen durchlebten Situationen, mußte ſein
Ein-
[191]
Eindruk unausloͤſchlich in ihrem Herzen ſeyn. Jhr
gepreßtes Herz machte ſich endlich in Thraͤnen Luft
und gieng in eine ſtille Melancholie uͤber, in der
ſie ſich je laͤnger je tiefer verlohr. Aber wie ſchlug
ihr Herz, als ſie Werthern die Treppe herauf kom-
men und außen nach ihr fragen hoͤrte. Es war zu
ſpaͤt, ſich verlaͤugnen zu laſſen, und ſie konnte ſich
nur halb von ihrer Verwirrung ermannen, als er
ins Zimmer trat. Sie haben nicht Wort gehalten!
rief ſie ihm entgegen. Jch habe nichts verſprochen,
war ſeine Antwort. So haͤtten Sie mir wenig-
ſtens meine Bitte gewaͤhren ſollen, ſagte ſie, es
war Bitte um unſerer beyder Ruhe willen. Jn-
dem ſie das ſprach, hatte ſie bey ſich uͤberlegt, ei-
nige ihrer Freundinnen zu ſich rufen zu laſſen. Sie
ſollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern
ſeyn, und Abends, weil er ſie nach Hauſe fuͤhren
mußte, ward ſie ihn zur rechten Zeit los. Er hatte
ihr einige Buͤcher zuruͤk gebracht, ſie fragte nach
einigen andern, und ſuchte das Geſpraͤch in Er-
wartung ihrer Freundinnen, allgemein zu erhalten,
als das Maͤdgen zuruͤk kam und ihr hinterbrachte,
wie ſie ſich beyde entſchuldigen ließen, die eine habe
unan-
[192]
unangenehmen Verwandtenbeſuch, und die andere
moͤchte ſich nicht anziehen, und in dem ſchmuzigen
Wetter nicht gerne ausgehen.
Daruͤber ward ſie einige Minuten nachdenkend,
bis das Gefuͤhl ihrer Unſchuld ſich mit einigem
Stolze empoͤrte. Sie bot Albertens Grillen Truz,
und die Reinheit ihres Herzens gab ihr eine Feſtig-
keit, daß ſie nicht, wie ſie anfangs vorhatte, ihr
Maͤdgen in die Stube rief, ſondern, nachdem ſie
einige Menuets auf dem Clavier geſpielt hatte, um
ſich zu erholen, und die Verwirrung ihres Her-
zens zu ſtillen, ſich gelaſſen zu Werthern auf’s
Canapee ſezte. Haben Sie nichts zu leſen, ſagte
ſie. Er hatte nichts. Da drinne in meiner
Schublade, fieng ſie an, liegt ihre Ueberſezzung
einiger Geſaͤnge Oſſians, ich habe ſie noch nicht
geleſen, denn ich hoffte immer, ſie von Jhnen zu
hoͤren, aber zeither ſind Sie zu nichts mehr taug-
lich. Er laͤchelte, holte die Lieder, ein Schauer
uͤberfiel ihn, als er ſie in die Hand nahm, und
die Augen ſtunden ihm voll Thraͤnen, als er hin-
ein ſah, er ſezte ſich nieder und las:
Stern
[193]
Stern der daͤmmernden Nacht, ſchoͤn funkelſt
du in Weſten. Hebſt dein ſtrahlend Haupt aus
deiner Wolke Wandelſt ſtattlich deinen Huͤgel
hin. Wornach blikſt du auf die Haide? Die
ſtuͤrmende Winde haben ſich gelegt. Von ferne
kommt des Giosbachs Murmeln. Rauſchende Wel-
len ſpielen am Felſen ferne. Das Geſumme der
Abendfliegen ſchwaͤrmet uͤber’s Feld. Wornach
ſiehſt du, ſchoͤnes Licht? Aber du laͤchelſt und gehſt,
freudig umgeben dich die Wellen und baden dein
liebliches Haar. Lebe wohl ruhiger Strahl. Er-
ſcheine du herrliches Licht von Oſſians Seele.
Und es erſcheint in ſeiner Kraft. Jch ſehe
meine geſchiedene Freunde, ſie ſammeln ſich auf
Lora, wie in den Tagen, die voruͤber ſind. —
Fingal kommt wie eine feuchte Nebelſaͤule; um
ihn ſind ſeine Helden. Und ſieh die Barden des
Geſangs! grauer Ullin! ſtatlicher Ryno! Alpin
lieblicher Saͤnger! Und du ſanft klagende Mino-
na! — Wie veraͤndert ſeyd ihr meine Freunde
ſeit den feſtlichen Tagen auf Selma! da wir buhl-
ten um die Ehre des Geſangs, wie Fruͤhlingsluͤf-
Nte
[194]
te den Huͤgel hin wechſelnd beugen das ſchwach
lispelnde Gras.
Da trat Minona hervor in ihrer Schoͤnheit,
mit niedergeſchlagenem Blik und thraͤnenvollem Au-
ge. Jhr Haar floß ſchwer im unſteten Winde
der von dem Huͤgel herſties. — Duͤſter wards in
der Seele der Helden als ſie| die liebliche Stim-
me erhub; denn oft hatten ſie das Grab Sal-
gars geſehen, oft die finſtere Wohnung der weiſſen
Colma. Colma verlaſſen auf dem Huͤgel, mit all
der harmoniſchen Stimme. Salmar verſprach zu
kommen; aber rings um zog ſich die Nacht. Hoͤ-
ret Colmas Stimme, da ſie auf dem Huͤgel allein
ſaß.
Colma.
Es iſt Nacht; — ich bin allein, verlohren
auf dem ſtuͤrmiſchen Huͤgel. Der Wind ſauſt im
Gebuͤrg, der Strohm heult den Felſen hinab. Kei-
ne Huͤtte ſchuͤzt mich vor dem Regen, verlaſſen
auf dem ſtuͤrmiſchen Huͤgel.
Tritt, o Mond, aus deinen Wolken; erſchei-
net Sterne der Nacht! Leite mich irgend ein
Strahl zu dem Orte wo meine Liebe ruht von den
Be-
[195]
Beſchwerden der Jagd, ſein Bogen neben ihm ab-
geſpannt, ſeine Hunde ſchnobend um ihn! Aber
hier muß ich ſizzen allein auf dem Felſen des
verwachſenen Strohms. Der Strohm und der
Sturm ſauſt, ich hoͤre nicht die Stimme meines
Geliebten.
Warum zaudert mein Salgar? Hat er ſein
Wort vergeſſen? — Da iſt der Fels und der
Baum und hier der rauſchende Strohm. Mit
der Nacht verſprachſt du hier zu ſeyn. Ach! wo-
hin hat ſich mein Salgar verirrt? Mit dir wollt
ich fliehen, verlaſſen Vater und Bruder! die Stol-
zen! Lange ſind unſere Geſchlechter Feinde, aber
wir ſind keine Feinde, o Salgar.
Schweig eine Weile o Wind, ſtill eine klei-
ne Weile o Strohm, daß meine Stimme klinge
durch’s Thal, daß mein Wandrer mich hoͤre. Sal-
gar! Jch bin’s die ruft. Hier iſt der Baum
und der Fels. Salgar, mein Lieber, hier bin ich.
Warum zauderſt du zu kommen?
Sich, der Mond erſcheint. Die Fluth glaͤnzt
im Thale. Die Felſen ſtehn grau den Huͤgel hin-
auf. Aber ich ſeh ihn nicht auf der Hoͤhe. Sei-
N 2ne
[196]
ne Hunde vor ihm her verkuͤndigen nicht ſeine An-
kunft. Hier muß ich ſizzen allein.
Aber wer ſind die dort unten liegen auf der
Haide — Mein Geliebter? Mein Bruder? —
Redet o meine Freunde! Sie antworten nicht.
Wie geaͤngſtet iſt meine Seele — Ach ſie ſind
todt! — Jhre Schwerdte roth vom Gefecht. O
mein Bruder, mein Bruder, warum haſt du mei-
nen Salgax erſchlagen? O mein Salgar, warum
haſt du meinen Bruder erſchlagen? — Jhr wart
mir beyde ſo lieb! O du warſt ſchoͤn an dem
Huͤgel unter Tauſenden; er war ſchroͤklich in der
Schlacht. Antwortet mir! Hoͤrt meine Stimme,
meine Geliebten. Aber ach ſie ſind ſtumm.
Stumm vor ewig. Kalt wie die Erde iſt ihr
Buſen.
O von dem Felſen des Huͤgels, von dem
Gipfel des ſtuͤrmenden Berges, redet Geiſter der
Todten! Redet! mir ſoll es nicht grauſen! —
Wohin ſeyd ihr zur Ruhe gegangen? Jn wel-
cher Gruft des Gebuͤrges ſoll ich euch finden! —
Keine ſchwache Stimme vernehm ich im Wind,
keine wehende Antwort im Sturme des Huͤgels.
Jch
[197]
Jch ſizze in meinem Jammer, ich harre auf
den Morgen in meinen Thraͤnen. Wuͤhlet das
Grab, ihr Freunde der Todten, aber ſchließt es nicht,
bis ich komme. Mein Leben ſchwindet wie ein
Traum, wie ſollt ich zuruͤk bleiben. Hier will ich
wohnen mit meinen Freunden an dem Strohme des
klingenden Felſen — Wenns Nacht wird auf dem
Huͤgel, und der Wind kommt uͤber die Haide, ſoll
mein Geiſt im Winde ſtehn und trauren den Tod
meiner Freunde. Der Jaͤger hoͤrt mich aus ſei-
ner Laube, fuͤrchtet meine Stimme und liebt ſie,
den ſuͤß ſoll meine Stimme ſeyn um meine Freun-
de, ſie waren mir beyde ſo lieb.
Das war dein Geſang, o Minona, Tormans
ſanfte erroͤthende Tochter. Unſere Thraͤnen floſſen
um Colma, und unſere Seele ward duͤſter — Ul-
lin trat auf mit der Harfe und gab uns Alpins
Geſang — Alpins Stimme war freundlich, Rynos
Seele ein Feuerſtrahl. Aber ſchon ruhten ſie im
engen Hauſe, und ihre Stimme war verhallet in
Selma — Einſt kehrt Ullin von der Jagd zuruͤk,
eh noch die Helden fielen, er hoͤrte ihren Wette-
geſang auf dem Huͤgel, ihr Lied war ſanft, aber
N 3traurig,
[198]
traurig, ſie klagten Morars Fall, des erſten der
Helden. Seine Seele war wie Fingals Seele;
ſein Schwerdt wie das Schwerdt Oslars — Aber
er fiel und ſein Vater jammerte und ſeiner Schwe-
ſter Augen waren voll Thraͤnen — Minonas Au-
gen waren voll Thraͤnen, der Schweſter des herr-
lichen Morars. Sie trat zuruͤk vor Ullins Ge-
ſang, wie der Mond in Weſten, der den Sturm-
regen vorausſieht und ſein ſchoͤnes Haupt in eine
Wolke verbirgt. — Jch ſchlug die Harfe mit Ul-
lin zum Geſange des Jammers.
Ryno.
Vorbey ſind Wind und Regen, der Mittag
iſt ſo heiter, die Wolken theilen ſich. Fliehend be-
ſcheint den Huͤgel die unbeſtaͤndge Sonne. So
roͤthlich fließt der Strohm des Bergs im Thale hin.
Suͤß iſt dein Murmeln Strohm, doch ſuͤſſer die
Stimme, die ich hoͤre. Es iſt Alpin’s Stimme,
er bejammert den Todten. Sein Haupt iſt vor
Alter gebeugt, und roth ſein thraͤnendes Auge. Al-
pin treflicher Saͤnger, warum allein auf dem ſchwei-
genden Huͤgel, warum jammerſt du wie ein Wind-
ſtos im Wald, wie eine Welle am fernen Geſtade.
Alpin.
[199]
Alpin.
Meine Thraͤnen Ryno, ſind fuͤr den Tod-
ten, meine Stimme fuͤr die Bewohner des Grabs.
Schlank biſt du auf dem Huͤgel, ſchoͤn unter den
Soͤhnen der Haide. Aber du wirſt fallen wie
Morar, und wird der traurende |ſizzen auf deinem
Grabe. Die Huͤgel werden dich vergeſſen, dein
Bogen in der Halle liegen ungeſpannt.
Du warſt ſchnell o Morar, wie ein Reh auf
dem Huͤgel, ſchreklich wie die Nachtfeuer am Him-
mel, dein Grimm war ein Sturm. Dein Schwerdt
in der Schlacht wie Wetterleuchten uͤber der Hai-
de. Deine Stimme glich dem Waldſtrohme nach
dem Regen, dem Donner auf fernen Huͤgel. Man-
che fielen vor deinem Arm, die Flamme deines
Grimms verzehrte ſie. Aber wenn du kehrteſt
vom Kriege, wie friedlich war deine Stimme!
Dein Angeſicht war gleich der Sonne nach dem
Gewitter, gleich dem Monde in der ſchweigenden
Nacht. Ruhig deine Bruſt wie der See, wenn
ſich das Brauſen des Windes gelegt hat.
Eng iſt nun deine Wohnung, finſter deine
Staͤte. Mit drey Schritten meß ich dein Grab,
N 4o
[200]
o du, der du ehe ſo gros waͤrſt! Vier Steine
mit moſigen Haͤuptern ſind dein einzig Gedaͤcht-
niß. Ein| entblaͤtterter Baum, lang Gras; das
wiſpelt im Winde, deutet dem Auge des Jaͤgers
das Grab des maͤchtigen Morars. Keine Mut-
ter haſt du, dich zu beweinen, kein Maͤdgen mit
Thraͤnen der Liebe. Todt iſt, die dich gebahr.
Gefallen die Tochter von Morglan.
Wer auf ſeinem Stabe iſt das? Wer iſt’s,
deſſen Haupt weis iſt vor Alter, deſſen Augen
roth ſind von Thraͤnen? — Es iſt dein Vater,
o Morar! Der Vater keines Sohns auſſer dir!
Er hoͤrte von deinem Rufe in der Schlacht; er
hoͤrte von zerſtobenen Feinden. Er hoͤrte Mo-
rars Ruhm! Ach nichts von ſeiner Wunde?
Weine, Vater Morars! Weine! aber dein Sohn
hoͤrt dich nicht. Tief iſt der Schlaf der Todten,
niedrig ihr Kuͤſſen von Staub. Nimmer achtet
er auf die Stimme, nie erwacht er auf deinen
Ruf. O wann wird es Morgen im Grabe? zu
bieten dem Schlummerer: Erwache!
Lebe wohl, edelſter der Menſchen, du Eroberer
im Felde! Aber nimmer wird dich das Feld ſehn,
nimmer
[201]
nimmer der duͤſtere Wald leuchten vom Glanze dei-
nes Stahls. Du hinterlieſeſt keinen Sohn, aber
der Geſang ſoll deinen Nahmen erhalten. Kuͤnf-
tige Zeiten ſollen von dir hoͤren, hoͤren ſollen ſie
von dem gefallenen Morar.
Laut ward die Trauer der Helden, am laut-
ſten Armins berſtender Seufzer. Jhn erinnert’s
an den Todt ſeines Sohns, der fiel in den Ta-
gen ſeiner Jugend. Carmor ſas nah bey dem
Helden, der Fuͤrſt des hallenden Galmal. Warum
ſchluchſet der Seufzer Armins? ſprach er, was
iſt hier zu weinen? Klingt nicht Lied und Ge-
ſang, die Seele zu ſchmelzen und zu ergoͤzzen.
Sind wie ſanfter Nebel der ſteigend vom See
auf’s Thal ſpruͤht, und die bluͤhenden Blumen fuͤl-
let das Naß, aber die Sonne kommt wieder in
ihrer Kraft und der Nebel iſt gangen. Warum
biſt du ſo jammervoll, Armin, Herr des ſeeumfloſ-
ſenen Gorma?
Jammervoll! Wohl das bin ich, und nicht
gering die Urſach meines Wehs. — Carmor, du
verlohrſt keinen Sohn; verlohrſt keine bluͤhende
Tochter! Colgar der Tapfere lebt; und Amira,
N 5die
[202]
die ſchoͤnſte der Maͤdgen. Die Zweige deines Hau-
ſes bluͤhen, o Carmor, aber Armin iſt der lezte
ſeines Stamms. Finſter iſt dein Bett, o Dau-
ra! Dumpf iſt dein Schlaf in dem Grabe —
Wann erwachſt du mit deinen Geſaͤngen, mit dei-
ner melodiſchen Stimme? Auf! ihr Winde des
Herbſt, auf! Stuͤrmt uͤber die finſtre Haide!
Waldſtroͤhme brauſt! Heult Stuͤrme in dem Gip-
fel der Eichen! Wandle durch gebrochene Wol-
ken o Mond, zeige wechſelnd dein bleiches Ge-
ſicht! Erinnere mich der ſchroͤklichen Nacht, da
meine Kinder umkamen, Arindal der maͤchtige fiel,
Daura, die liebe, vergieng.
Daura, meine Tochter, du warſt ſchoͤn! ſchoͤn
wie der Mond auf den Huͤgeln von Fura, weiß
wie der gefallene Schnee, ſuͤß wie die athmende
Luft. Arindal, dein Bogen war ſtark, dein Speer
ſchnell auf dem Felde, dein Blik wie Nebel auf
der Welle, dein Schild eine Feuerwolke im Sturme.
Armar beruͤhmt im Krieg, kam und warb um Dau-
ras Liebe, ſie widerſtund nicht lange, ſchoͤn waren
die Hoffnungen ihrer Freunde.
Erath
[203]
Erath, der Sohn Odgals, grollte, denn ſein
Bruder lag erſchlagen von Armar. Er kam in
einen Schiffer verkleidet, ſchoͤn war ſein Nachen
auf der Welle; weiß ſeine Lokken vor Alter, ru-
hig ſein ernſtes Geſicht. Schoͤnſte der Maͤdgen,
ſagt er, liebliche Tochter von Armin. Dort am
Fels nicht fern in der See, wo die rothe Frucht
vom Baume herblinkt, dort wartet Armar auf
Daura. Jch komme, ſeine Liebe zu fuͤhren uͤber
die rollende See.
Sie folgt ihm, und rief nach Armar. Nichts
antwortete als die Stimme des Felſens. Armar
mein Lieber, mein Lieber, warum aͤngſteſt du mich
ſo|? Hoͤre, Sohn Arnats, hoͤre. Daura iſt’s, die
dich ruft!
Erath, der Verraͤther, floh lachend zum Lande.
Sie erhub ihre Stimme, rief nach ihrem Vater und
Bruder. Arindal! Armin! Jſt keiner, ſeine Dau-
ra zu retten?
Jhre Stimme kam uͤber die See. Arindal
mein Sohn, ſtieg vom Huͤgel herab rauh in der
Beute der Jagd. Seine Pfeile raſſelten an ſeiner
Seite. Seinen Begen trug er in der Hand.
Fuͤnf
[204]
Fuͤnf ſchwarzgraue Dokken waren um ihn. Er ſah
den kuͤhnen Erath am Ufer, faßt und band ihn an
die Eiche. Feſt umflocht er ſeine Huͤften, er fuͤllt
mit Aechzen die Winde.
Arindal betritt die Welle in ſeinem Boote,
Daura heruͤber zu bringen. Armar kam in ſei-
nem Grimm, druͤkt ab den grau befiederten Pfeil,
er klang, er ſank in dein Herz, o Arindal, mein
Sohn! Statt Erath des Verraͤthers kamſt du um,
das Boot erreicht den Felſen, er ſank dran nieder
und ſtarb. Welch war dein Jammer, o Daura,
da zu deinen Fuͤſſen floß deines Bruders Blut.
Die Wellen zerſchmettern das Boot. Armar
ſtuͤrzt ſich in die See, ſeine Daura zu retten oder
zu ſterben. Schnell ſtuͤrmt ein Stos vom Huͤgel
in die Wellen, er ſank und hub ſich nicht wieder.
Allein auf dem ſeebeſpuͤlten Felſen hoͤrt ich
die Klage meiner Tochter. Viel und laut war
ihr Schreyen; doch konnt ſie ihr Vater nicht
retten. Die ganze Nacht ſtund ich am Ufer, ich
ſah ſie im ſchwachen Strahle des Monds, die gan-
ze Nacht hoͤrt ich ihr Schreyn. Laut war der
Wind, und der Regen ſchlug ſcharf nach der Sei-
te
[205]
te des Bergs. Jhre Stimme ward ſchwach, eh
der Morgen erſchien, ſie ſtarb weg wie die Abend-
luft zwiſchen dem Graſe der Felſen. Beladen mit
Jammer ſtarb ſie und ließ Armin allein! dahin
iſt meine Staͤrke im Krieg, gefallen mein Stolz
unter den Maͤdgen.
Wenn die Stuͤrme des Berges kommen, wenn
der Nord die Wellen hoch hebt, ſiz ich am ſchal-
lenden Ufer, ſchaue nach dem ſchroͤklichen Felſen.
Oft im ſinkenden Mond ſeh ich die Geiſter meiner
Kinder, halb daͤmmernd, wandeln ſie zuſammen
in trauriger Eintracht.
Ein Strohm von Thraͤnen, der aus Lottens
Augen brach und ihrem gepreßten Herzen Luft
machte, hemmte Werthers Geſang, er warf das
Papier hin, und faßte ihre Hand und weinte die
bitterſten Thraͤnen. Lotte ruhte auf der andern
und verbarg ihre Augen in’s Schnupftuch, die
Bewegung beyder war fuͤrchterlich. Sie fuͤhlten
ihr eigenes Elend in dem Schikſal der Edlen,
fuͤhlten es zuſammen, und ihre Thraͤnen vereinig-
ten ſie. Die Lippen und Augen Werthers gluͤhten
an Lottens Arme, ein Schauer uͤberfiel ſie, ſie woll-
te
[206]
te ſich entfernen und es lag all der Schmerz, der
Antheil betaͤubend wie Bley auf ihr. Sie athmete
ſich zu erholen, und bat ihn ſchluchſend, fortzu-
fahren, bat mit der ganzen Stimme des Himmels,
Werther zitterte, ſein Herz wollte berſten, er hub
das Blatt auf und las halb gebrochen:
Warum wekſt du mich Fruͤhlingsluft, du
buhlſt und ſprichſt: ich bethaue mit Tropſen des
Himmels. Aber die Zeit meines Welkens iſt nah,
nah der Sturm, der meine Blaͤtter herabſtoͤrt!
Morgen wird der Wandrer kommen, kommen der
mich ſah in meiner Schoͤnheit, rings wird ſein
Aug im Felde mich ſuchen, und wird mich nicht
finden. —
Die ganze Gewalt dieſer Worte fiel uͤber
den Ungluͤklichen, er warf ſich vor Lotten nieder
in der vollen Verzweiflung, faßte ihre Haͤnde,
drukte ſie in ſeine Augen, wider ſeine Stirn, und
ihr ſchien eine Ahndung ſeines ſchroͤklichen Vor-
habens durch die Seele zu fliegen: Jhre Sinnen
verwirrten ſich, ſie drukte ſeine Haͤnde, drukte ſie
wider ihre Bruſt, neigte ſich mit einer wehmuͤthi-
gen Bewegung zu ihm, und ihre gluͤhenden Wan-
gen
[207]
gen beruͤhrten ſich. Die Welt vergieng ihnen, er
ſchlang ſeine Arme um ſie her, preßte ſie an ſei-
ne Bruſt, und dekte ihre zitternde ſtammelnde Lip-
pen mit wuͤthenden Kuͤſſen. Werther! rief ſie
mit erſtikter Stimme ſich abwendend, Werther!
und druͤkte mit ſchwacher Hand ſeine Bruſt von
der ihrigen! Werther! rief ſie mit dem gefaßten
Tone des edelſten Gefuͤhls; er widerſtund nicht,
lies ſie aus ſeinen Armen, und warf ſich unſin-
nig vor ſie hin. Sie riß ſich auf, und in aͤngſt-
licher Verwirrung, bebend zwiſchen Liebe und Zorn
ſagte ſie: Das iſt das leztemal! Werther! Sie
ſehn mich nicht wieder. Und mit dem vollſten
Blik der Liebe auf den Elenden eilte ſie in’s Ne-
benzimmer, und ſchloß hinter ſich zu. Werther
ſtrekte ihr die Arme nach, getraute ſich nicht ſie
zu halten. Er lag an der Erde, den Kopf auf dem
Canapee, und in dieſer Stellung blieb er uͤber ei-
ne halbe Stunde, biß ihn ein Geraͤuſch zu ſich
ſelbſt rief. Es war das Maͤdgen, das den Tiſch
dekken wollte. Er gieng im Zimmer auf und ab,
und da er ſich wieder allein ſah, gieng er zur
Thuͤre des Cabinets, und rief mit leiſer Stimme,
Lotte!
[208]
Lotte! Lotte! nur noch ein Wort, ein Lebe wohl! —
Sie ſchwieg, er harrte — und bat — und harr-
te, dann riß er ſich weg und rief, Leb wohl, Lotte!
auf ewig leb wohl!
Er kam an’s Stadtthor. Die Waͤchter die
ihn ſchon gewohnt waren, ließen ihn ſtillſchweigend
hinaus, es ſtuͤbte zwiſchen Regen und Schnee,
und erſt gegen eilfe klopfte er wieder. Sein Die-
ner bemerkte, als Werther nach Hauſe kam, daß ſei-
nem Herrn der Huth fehlte. Er getraute ſich
nichts zu ſagen, entkleidete ihn, alles war naß.
Man hat nachher den Huth auf einem Felſen, der
an dem Abhange des Huͤgels in’s Thal ſieht ge-
funden, und es iſt unbegreiflich, wie er ihn in einer
finſtern feuchten Nacht ohne zu ſtuͤrzen erſtiegen
hat.
Er legte ſich zu Bette und ſchlief lange.
Der Bediente fand ihn ſchreiben, als er ihm den
andern Morgen auf ſein Rufen den Caffee brach-
te. Er ſchrieb folgendes am Briefe an Lotten:
Zum
[209]
Zum leztenmale denn, zum leztenmale ſchlag ich
dieſe Augen auf, ſie ſollen ach die Sonne nicht mehr
ſehen, ein truͤber neblichter Tag haͤlt ſie bedeckt.
So traure denn, Natur, dein Sohn, dein Freund,
dein Geliebter naht ſich ſeinem Ende. Lotte, das
iſt ein Gefuͤhl ohne gleichen, und doch kommt’s dem
daͤmmernden Traume am naͤchſten, zu ſich zu ſagen:
das iſt der lezte Morgen. Der lezte! Lotte, ich
habe keinen Sinn vor das Wort, der lezte! Steh
ich nicht da in meiner ganzen Kraft, und Morgen
lieg ich ausgeſtreckt und ſchlaff am Boden. Ster-
ben! Was heiſt das? Sieh wir traͤumen, wenn
wir vom Tode reden. Jch hab manchen ſterben ſe-
hen, aber ſo eingeſchraͤnkt iſt die Menſchheit, daß
ſie fuͤr ihres Daſeyns Anfang und Ende keinen Sinn
hat. Jezt noch mein, dein! dein! o Geliebte,
und einen Augenblick — getrennt, geſchieden —
vielleicht auf ewig. — Nein, Lotte, nein —
Wie kann ich vergehen, wie kannſt du vergehen,
wir ſind ja! — Vergehen! — Was heißt das?
das iſt wieder ein Wort! ein leerer Schall ohne Ge-
fuͤhl fuͤr mein Herz. — — Todt, Lotte! Ein-
Oge-
[210]
geſcharrt der kalten Erde, ſo eng, ſo finſter! —
Jch hatte eine Freundin, die mein Alles war mei-
ner huͤlfloſen Jugend, ſie ſtarb und ich folgte ih-
rer Leiche, und ſtand an dem Grabe. Wie ſie
den Sarg hinunter ließen und die Seile ſchnurrend
unter ihm weg und wieder herauf ſchnellten, dann
die erſte Schaufel hinunter ſchollerte und die aͤngſt-
liche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dump-
fer und immer dumpfer und endlich bedecktwar! —
Jch ſtuͤrzte neben das Grab hin — Ergriffen erſchuͤt-
tert geaͤngſtet zerriſſen mein innerſtes, aber ich wuſte
nicht wie mir geſchah, — wie mir geſchehen wird —
Sterben! Grab! Jch verſtehe die Worte nicht!
O vergieb mir! vergieb mir! Geſtern! Es haͤt-
te der lezte Augenblik meines Lebens ſeyn ſollen.
O du Engel! zum erſtenmale, zum erſtenmale ganz
ohne Zweifel durch mein innig innerſtes durchgluͤhte
mich das Wonnegefuͤhl: Sie liebt mich! Sie liebt
mich. Es brennt noch auf meinen Lippen das
heilige Feuer das von den deinigen ſtroͤhmte, neue
warme Wonne iſt in meinem Herzen. Vergieb
mir, vergieb mir.
Ach ich wuſte, daß du mich liebteſt, wuſte es
an den erſten ſeelenvollen Blikken, an dem erſten
Haͤn-
[211]
Haͤndedruk, und doch wenn ich wieder| weg war,
wenn ich Alberten an deiner Seite ſah, verzagt’
ich wieder in fieberhaften Zweiſeln.
Erinnerſt du dich der Blumen die du mir ſchik-
teſt, als du in jener fatalen Geſellſchaft |mir kein
Wort ſagen, keine Hand reichen konnteſt, o ich
habe die halbe Nacht davor gekniet, und ſie ver-
ſiegelten mir deine Liebe. Aber ach! dieſe Ein-
druͤkke gingen voruͤber, wie das Gefuͤhl der Gna-
de ſeines Gottes allmaͤhlig wieder aus der See-
le des Glaͤubigen weicht, die ihm mit ganzer
Himmelsfuͤlle im heiligen ſichtbaren Zeichen ge-
reicht ward.
Alles das iſt vergaͤnglich, keine Ewigkeit ſoll
das gluͤhende Leben ausloͤſchen, das ich geſtern auf
deinen Lippen genoß, das ich in mir fuͤhle. Sie
liebt mich! Dieſer Arm hat ſie umfaſt, dieſe Lip-
pen auf ihren Lippen gezittert, dieſer Mund am
ihrigen geſtammelt. Sie iſt mein! du biſt mein!
ja Lotte auf ewig!
Und was iſt das? daß Albert dein Mann iſt!
Mann? — das waͤre denn fuͤr dieſe Welt — und fuͤr
dieſe Welt Suͤnde, daß ich dich liebe, daß ich dich aus ſei,
nen Armen in die meinigen reiſſen moͤchte? Suͤnde?
O 2Gut
[212]
Gut! und ich ſtrafe mich davor: Jch hab ſie in
ihrer ganzen Himmelswonne geſchmekt dieſe Suͤn-
de, habe Lebensbalſam und Kraft in mein Herz
geſaugt, du biſt von dem Augenblikke mein! Mein,
o Lotte. Jch gehe voran! Geh zu meinem Va-
ter, zu deinem Vater, dem will ich’s klagen und er
wird mich troͤſten biß du kommſt, und ich fliege
dir entgegen und faſſe dich und bleibe bey dir vor
dem Angeſichte des Unendlichen in ewigen Um-
armungen.
Jch traͤume nicht, ich waͤhne nicht! nah
am Grabe ward mir’s heller. Wir werden ſeyn,
wir werden uns wieder ſehn! Deine Mutter ſehn!
ich werde ſie ſehen, werde ſie finden, ach und vor ihr
all mein Herz ausſchütten. Deine Mutter. Dein
Ebenbild.
Gegen eilfe fragte Werther ſeinen Bedienten,
ob wohl Albert zuruͤk gekommen ſey. Der Be-
diente ſagte: ja er habe deſſen Pferd dahin fuͤh-
ren ſehn. Drauf giebt ihm der Herr ein offenes
Zettelgen des Jnhalts:
Wollten
[213]
Wollten Sie mir wohl zu einer vorhabenden
Reiſe ihre Piſtolen leihen? Leben Sie
recht wohl.
Die liebe Frau hatte die lezte Nacht wenig ge-
ſchlafen, ihr Blut war in einer fieberhaften Em-
poͤrung, und tauſenderley Empfindungen zerruͤtte-
ten ihr Herz. Wider ihren Willen fuͤhlte ſie tief
in ihrer Bruſt das Feuer von Werthers Umar-
mungen, und zugleich ſtellten ſich ihr die Tage ih-
rer unbefangenen Unſchuld, des ſorgloſen Zutrauens
auf ſich ſelbſt in doppelter Schoͤne dar, es aͤng-
ſtigten ſie ſchon zum voraus die Blikke ihres
Manns, und ſeine halb verdruͤßlich halb ſpoͤttiſche
Fragen, wenn er Werthers Beſuch erfahren wuͤr-
de; ſie hatte ſich nie verſtellt, ſie hatte nie gelogen,
und nun ſah ſie ſich zum erſtenmal in der unvermeid-
lichen Nothwendigkeit; der Widerwillen, die Verle-
genheit die ſie dabey empfand, machte die Schuld
in ihren Augen groͤſſer, und doch konnte ſie den
Urheber davon weder haſſen, noch ſich verſprechen,
ihn nie wieder zu ſehn. Sie weinte bis gegen
Morgen, da ſie in einen matten Schlaf verſank,
O 3aus
[214]
aus dem ſie ſich kaum aufgeraft und angekleidet
hatte, als ihr Mann zuruͤkkam, deſſen Gegenwart
ihr zum erſtenmal ganz unertraͤglich war; denn
indem ſie zitterte, er wuͤrde das verweinte uͤber-
wachte ihrer Augen und ihrer Geſtalt entdekken,
ward ſie noch verwirrter, bewillkommte ihn mit
einer heftigen Umarmung, die mehr Beſtuͤrzung
und Reue, als eine auffahrende Freude ausdruͤk-
te, und eben dadurch machte ſie die Aufmerkſam-
keit Albertens rege, der, nachdem er einige Briefe
und Pakets erbrochen, ſie ganz trokken fragte, ob
ſonſt nichts vorgefallen, ob niemand da geweſen
waͤre? Sie antwortete ihm ſtokkend, Werther
ſeye geſtern eine Stunde gekommen. — Er nimmt
ſeine Zeit gut, verſezt er, und ging nach ſeinem
Zimmer. Lotte war eine Viertelſtunde allein
geblieben. Die Gegenwart des Mannes, den ſie
liebte und ehrte, hatte einen neuen Eindruk in ihr
Herz gemacht. Sie erinnerte ſich all ſeiner Guͤ-
te, ſeines Edelmuths, ſeiner Liebe, und ſchalt ſich,
daß ſie es ihm ſo uͤbel gelohnt habe. Ein unbe-
kannter Zug reizte ſie ihm zu folgen, ſie nahm
ihre Arbeit, wie ſie mehr gethan hatte, ging nach
ſeinem Zimmer und fragte, ob er was beduͤrfte?
er
[215]
er antwortete: nein! ſtellte ſich an Pult zu ſchrei-
ben, und ſie ſezte ſich nieder zu ſtrikken. Eine
Stunde waren ſie auf dieſe Weiſe neben einan-
der, und als Albert etlichemal in der Stube auf
und ab ging, und Lotte ihn anredete, er aber we-
nig oder nichts drauf gab und ſich wieder an Pult
ſtellte, ſo verfiel ſie in eine Wehmuth, die ihr um
deſto aͤngſtlicher ward, als ſie ſolche zu verbergen
und ihre Thraͤnen zu verſchlukken ſuchte.
Die Erſcheinung von Werthers Knaben ver-
ſezte ſie in die groͤſte Verlegenheit, er uͤberreichte
Alberten das Zettelgen, der ſich ganz kalt nach
ſeiner Frau wendete, und ſagte: gieb ihm die Pi-
ſtolen. — Jch laß ihm gluͤkliche Reiſe| wuͤnſchen,
ſagt er zum Jungen. Das fiel auf ſie wie ein
Donnerſchlag. Sie ſchwankte aufzuſtehn. Sie
wußte nicht wie ihr geſchah. Langſam ging ſie
nach der Wand, zitternd nahm ſie ſie herunter,
puzte den Staub ab und zauderte, und haͤtte noch
lang gezoͤgert, wenn nicht Albert durch einen fra-
genden Blik: was denn das geben ſollte? ſie ge-
draͤngt haͤtte. Sie gab das ungluͤkliche Gewehr
dem Knaben, ohne ein Wort vorbringen zu koͤn-
nen, und als der zum Hauſe draus war, machte
O 4ſie
[216]
ſie ihre Arbeit zuſammen, ging in ihr Zimmer
in dem Zuſtand des unausſprechlichſten Leidens.
Jhr Herz weiſſagte ihr alle Schroͤkniſſe. Bald
war ſie im Begriff ſich zu den Fuͤſſen ihres Man-
nes zu werfen, ihm alles zu entdekken, die Ge-
ſchichte des geſtrigen Abends, ihre Schuld und ih-
re Ahndungen. Dann ſah ſie wieder keinen Aus-
gang des Unternehmens, am wenigſten konnte ſie
hoffen ihren Mann zu einem Gange nach Wer-
thern zu bereden. Der Tiſch ward gedekt, und
eine gute Freundinn, die nur etwas zu fragen kam
und die Lotte nicht wegließ, machte die Unterhal-
tung bey Tiſche ertraͤglich, man zwang ſich, man
redete, man erzaͤhlte, man vergaß ſich.
Der Knabe kam mit den Piſtolen zu Wer-
thern, der ſie ihm mit Entzuͤkken abnahm, als er
hoͤrte, Lotte habe ſie ihm gegeben. Er ließ ſich
ein Brod und Wein bringen, hies den Knaben zu
Tiſch gehn, und ſezte ſich nieder zu ſchreiben.
Sie ſind durch deine Haͤnde gegangen, du haſt
den Staub davon gepuzt, ich kuͤſſe ſie tau-
ſendmal, du haſt ſie beruͤhrt. Und du Geiſt des
Himmels beguͤnſtigſt meinen Entſchluß! Und du
Lotte
[217]
Lotte reichſt mir das Werkzeug, du, von deren
Haͤnden ich den Tod zu empfangen wuͤnſchte,
und ach nun empfange. O ich habe meinen Jun-
gen ausgefragt, du zitterteſt, als du ſie ihm reich-
teſt, du ſagteſt kein Lebe wohl; — Weh! Weh! —
kein Lebe wohl! — Sollteſt du dein Herz fuͤr
mich verſchloſſen haben, um des Augenbliks wil-
len der mich auf ewig an dich befeſtigte. Lotte,
kein Jahrtauſend vermag den Eindruk auszuloͤ-
ſchen! Und ich fuͤhl’s, du kannſt den nicht haſſen,
der ſo fuͤr dich gluͤht.
Nach Tiſche hieß er den Knaben alles vol-
lends einpakken, zerriß viele Papiere, ging aus,
und brachte noch kleine Schulden in Ordnung.
Er kam wieder nach Hauſe, ging wieder aus, vor’s
Thor ohngeachtet des Regens, in den graͤflichen
Garten, ſchweifte weiter in der Gegend umher,
und kam mit einbrechender Nacht zuruͤk und ſchrieb.
Wilhelm, ich habe zum leztenmale Feld und
Wald und den Himmel geſehn. Leb wohl
auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Troͤſte ſie,
Wilhelm. Gott ſegne euch! Meine Sachen ſind
O 5all
[218]
all in Ordnung. Lebt wohl! Wir ſehen uns
wieder und freudiger.
Jch habe dir uͤbel gelohnt, Albert, und du vergiebſt
mir. Jch habe den Frieden deines Hauſes
geſtoͤrt, ich habe Mißtrauen zwiſchen euch gebracht.
Leb wohl, ich will’s enden. O daß ihr gluͤklich
waͤret durch meinen Tod! Albert! Albert! ma-
che den Engel gluͤklich. Und ſo wohne Gottes
Seegen uͤber dir!
Er kramte den Abend noch viel in ſeinen
Papieren, zerriß vieles und warf’s in Ofen, ver-
ſiegelte einige Paͤkke mit den Addreſſen |an Wil-
helmen. Sie enthielten kleine Aufſaͤzze, abgeriſſene
Gedanken, deren ich verſchiedene geſehen habe; und
nachdem er um zehn Uhr im Ofen nachlegen, und
ſich einen Schoppen Wein geben laſſen, ſchikte er
den Bedienten, deſſen Kammer wie auch die Schlaf-
zimmer der Hausleute weit hinten hinaus waren,
zu Bette, der ſich denn in ſeinen Kleidern nieder-
legte um fruͤh bey der Hand zu ſeyn, denn ſein
Herr hatte geſagt, die Poſtpferde wuͤrden vor ſechſe
vor’s Haus kommen.
nach
[219]
Alles iſt ſo ſtill um mich her, und ſo ruhig mei-
ne Seele, ich danke dir Gott, der du dieſen
lezten Augenblikken dieſe Waͤrme, dieſe Kraft
ſchenkeſt.
Jch trete an’s Fenſter, meine Beſte, und ſeh
und ſehe noch durch die ſtuͤrmenden voruͤberfliehen-
den Wolken einzelne Sterne des ewigen Him-
mels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewi-
ge traͤgt euch an ſeinem Herzen, und mich. Jch
ſah die Deichſelſterne des Wagens, des liebſten un-
ter allen Geſtirnen. Wenn ich Nachts von dir
ging, wie ich aus deinem Thore trat, ſtand er gegen
uͤber! Mit welcher Trunkenheit hab ich ihn oft
angeſehen! Oft mit aufgehabenen Haͤnden ihn zum
Zeichen, zum heiligen Merkſteine meiner gegenwaͤr-
tigen Seligkeit [gemacht], und noch — O Lotte, was
erinnert mich nicht an dich! Umgiebſt du mich
nicht, und hab ich nicht gleich einem Kinde, unge-
nuͤgſam allerley Kleinigkeiten zu mir geriſſen, die
du Heilige beruͤhrt hatteſt!
Liebes Schattenbild! Jch vermache dir’s zu-
ruͤk, Lotte, und bitte dich es zu ehren. Tauſend, tau-
ſend
[220]
ſend Kuͤſſe hab ich drauf gedruͤkt, tauſend Gruͤße
ihm zugewinkt, wenn ich ausgieng, oder nach Hau-
ſe kam.
Jch habe deinen Vater in einem Zettelgen ge-
beten, meine Leiche zu ſchuͤzzen. Auf dem Kirch-
hofe ſind zwey Lindenbaͤume, hinten im Ekke nach
dem Felde zu, dort wuͤnſch ich zu ruhen. Er kann,
er wird das fuͤr ſeinen Freund thun. Bitt ihn
auch. Jch will frommen Chriſten nicht zumuthen,
ihren Koͤrper neben einem armen Ungluͤklichen nie-
derzulegen. Ach ich wollte, ihr begruͤbt mich am
Wege, oder im einſamen Thale, daß Prieſter und
Levite vor dem bezeichnenden Steine ſich ſegnend
voruͤberging, und der Samariter eine Thraͤne weinte.
Hier Lotte! Jch ſchaudere nicht den kalten
ſchroͤklichen Kelch zu faſſen, aus dem ich den Tau-
mel des Todes trinken ſoll! Du reichteſt mir ihn,
und ich zage nicht. All! All! ſo ſind all die Wuͤn-
ſche und Hoffnungen meines Lebens erfuͤllt! So
kalt, ſo ſtarr an der ehernen Pforte des Todes
anzuklopfen.
Daß ich des Gluͤks haͤtte theilhaftig werden
koͤnnen! Fuͤr dich zu ſterben, Lotte, fuͤr dich mich
hinzugeben. Jch wollte muthig, ich wollte freudig
ſterben,
[221]
ſterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines
Lebens wieder ſchaffen koͤnnte; aber ach das ward
nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut fuͤr die Jhri-
gen zu vergieſſen, und durch ihren Tod ein neues
hundertfaͤltiges Leben ihren Freunden anzufachen.
Jn dieſen Kleidern, Lotte, will ich begraben
ſeyn. Du haſt ſie beruͤhrt, geheiligt. Jch habe
auch darum deinen Vater gebeten. Meine See-
le ſchwebt uͤber dem Sarge. Man ſoll meine
Taſchen nicht ausſuchen. Dieſe blaßrothe Schlei-
fe, die du am Buſen hatteſt, als ich dich zum er-
ſtenmale unter deinen Kindern fand. O kuͤſſe ſie
tauſendmal und erzaͤhl ihnen das Schikſal ihres
ungluͤklichen Freunds. Die Lieben, ſie wimmeln
um mich. Ach wie ich mich an dich ſchloß! Seit
dem erſten Augenblikke dich nicht laſſen konnte!
Dieſe Schleife ſoll mit mir begraben werden. An
meinem Geburtstage ſchenkteſt du mir ſie! Wie
ich das all verſchlang — Ach ich dachte nicht, daß
mich der Weg hierher fuͤhren ſollte! — — Sey
ruhig! ich bitte dich, ſey ruhig! —
Sie ſind geladen — es ſchlaͤgt zwoͤlfe! — So
ſey’s denn — Lotte! Lotte leb wohl! Leb wohl!
Ein
[222]
Ein Nachbar ſah den Blik vom Pulver und
hoͤrte den Schuß fallen, da aber | alles ſtill blieb
achtete er nicht weiter drauf.
Morgens um ſechſe tritt der Bediente her-
ein mit dem Lichte, er findet ſeinen Herrn an
der Erde, die Piſtole und Blut. Er ruft, er faßt
ihn an, keine Antwort, er roͤchelt nur noch. Er
lauft nach den Aerzten, nach Alberten. Lotte hoͤr-
te die Schelle ziehen, ein Zittern ergreift all ih-
re Glieder, ſie wekt ihren Mann, ſie ſtehen auf,
der Bediente bringt heulend und ſtotternd die
Nachricht, Lotte ſinkt ohnmaͤchtig vor Alberten
nieder.
Als der Medikus zu dem Ungluͤklichen kam,
fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls
ſchlug, die Glieder waren alle gelaͤhmt, uͤber dem
rechten Auge hatte er ſich durch den Kopf geſchoſ-
ſen, das Gehirn war herausgetrieben. Man ließ
ihm zum Ueberfluſſe eine Ader am Arme, das Blut
lief, er holte noch immer Athem.
Aus dem Blut auf der Lehne des Seſſels
konnte man ſchlieſſen, er habe ſizzend vor dem
Schreibtiſche die That vollbracht. Dann iſt er
herun-
[223]
herunter geſunken, hat ſich konvulſiviſch um den
Stuhl herum gewaͤlzt, er lag gegen das Fenſter
entkraͤftet auf dem Ruͤkken, war in voͤlliger Klei-
dung geſtiefelt, im blauen Frak mit gelber Weſte.
Das Haus, die Nachbarſchaft, die Stadt
kam in Aufruhr. Albert trat herein. Werthern
hatte man auf’s Bett gelegt, die Stirne ver-
bunden, ſein Geſicht ſchon wie eines Todten, er
ruͤhrte kein Glied, die Lunge roͤchelte noch fuͤrchter-
lich bald ſchwach bald ſtaͤrker, man erwartete ſein
Ende.
Von dem Weine hatte er nur ein Glas ge-
trunken. Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufge-
ſchlagen.
Von Alberts Beſtuͤrzung, von Lottens Jam-
mer laßt mich nichts ſagen.
Der alte Amtmann kam auf die Nachricht
hereingeſprengt, er kuͤßte den Sterbenden unter den
heiſſeſten Thraͤnen. Seine aͤltſten Soͤhne kamen
bald nach ihm zu Fuſſe, ſie fielen neben dem Bet-
te nieder im Ausdruk des unbaͤndigſten Schmer-
zens, kuͤßten ihm die Haͤnde und den Mund, und
der aͤltſte, den er immer am meiſten geliebt, hing
an ſeinen Lippen, bis er verſchieden war und man
den
[224]
den Knaben mit Gewalt wegriß. Um zwoͤlfe Mit-
tags ſtarb er. Die Gegenwart des Amtmanns
und ſeine Anſtalten tiſchten einen Auflauf. Nachts
gegen eilfe ließ er ihn an die Staͤtte begraben, die
er ſich erwaͤhlt hatte, der Alte folgte der Leiche
und die Soͤhne. Albert vermochts nicht. Man
fuͤrchtete fuͤr Lottens Leben. Handwerker trugen
ihn. Kein Geiſtlicher hat ihn begleitet.
Appendix A Druckfehler.
- S. 9. Z. 14. ſtatt: als, lis: all.
- — 27. — 3 — ſchwerer — ſchwer.
- — 31. — pen. nach Vetter ſetze ein? Desgleichen.
- — 32. — 2 nach dem Worte ſeyn, auch ein?
- — 90. — 12 ſtatt annahmen — annehmen
- — 116. — vlt. — cheint — ſcheint.
- — 118 — 7 — warme große — wahre warme.
- — 119 — 1 — und, — Und.
- — 194 — 11 — Salmar — Salgar.
- — 199 — 11 — uͤrer — uͤber.
- — — — 13 — Huͤgel — Huͤgeln.
Mann, gedachten Brief, und einen andern, deſ-
ſen weiter hinten erwehnt wird, dieſer Samm-
lung entzogen, weil man nicht glaubte, ſolche
Kuͤhnheit durch den waͤrmſten Dank des Pu-
blikums entſchuldigen zu koͤnnen.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Die Leiden des jungen Werthers. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjnp.0