Welträthſel.
über
Moniſtiſche Philoſophie.
Verlag von Emil Strauß.
1899.
[[II]][[III]]
Vorwort.
Die vorliegenden Studien über moniſtiſche Philoſophie
ſind für die denkenden, ehrlich die Wahrheit ſuchenden Gebildeten
aller Stände beſtimmt. Zu den hervorragenden Merkmalen des
neunzehnten Jahrhunderts, an deſſen Ende wir ſtehen, gehört
das lebendige Wachsthum des Strebens nach Erkenntniß
der Wahrheit in weiteſten Kreiſen. Dasſelbe erklärt ſich
einerſeits durch die ungeheuren Fortſchritte der wirklichen Natur-
Erkenntniß in dieſem merkwürdigſten Abſchnitte der menſchlichen
Geſchichte, andererſeits durch den offenkundigen Widerſpruch, in
den dieſelbe zur gelehrten Tradition der „Offenbarung“ gerathen
iſt, und endlich durch die entſprechende Ausbreitung und Ver-
ſtärkung des vernünftigen Bedürfniſſes nach Verſtändniß der
unzähligen neu entdeckten Thatſachen, nach klarer Erkenntniß
ihrer Urſachen.
Den gewaltigen Fortſchritten der empiriſchen Kenntniſſe in
unſerem „Jahrhundert der Naturwiſſenſchaft“ ent-
ſpricht keineswegs eine gleiche Klärung ihres theoretiſchen Ver-
ſtändniſſes und jene höhere Erkenntniß des kauſalen Zuſammen-
hanges aller einzelnen Erſcheinungen, die wir mit einem Worte
Philoſophie nennen. Vielmehr ſehen wir, daß die abſtrakte
und größtentheils metaphyſiſche Wiſſenſchaft, welche auf unſeren
Univerſitäten ſeit Jahrhunderten als „Philoſophie“ gelehrt wird,
*
[IV]Vorwort.
weit davon entfernt iſt, jene neu erworbenen Schätze der Er-
fahrungswiſſenſchaft in ſich aufzunehmen. Und mit gleichem
Bedauern müſſen wir auf der anderen Seite zugeſtehen, daß die
meiſten Vertreter der ſogenannten „exakten Naturwiſſenſchaft“
ſich mit der ſpeciellen Pflege ihres engeren Gebietes der Beob-
achtung und des Verſuchs begnügen und die tiefere Erkenntniß
des allgemeinen Zuſammenhanges der beobachteten Erſcheinungen
— d. h. eben Philoſophie! — für überflüſſig halten. Während
dieſe reinen Empiriker „den Wald vor Bäumen nicht ſehen“,
begnügen ſich jene Metaphyſiker mit dem bloßen Begriffe des
Waldes, ohne ſeine Bäume zu ſehen. Der Begriff der „Natur-
philoſophie“, in welchem ganz naturgemäß jene beiden Wege
der Wahrheitsforſchung, die empiriſche und die ſpekulative
Methode, zuſammenlaufen, wird ſogar noch heute in weiten
Kreiſen beider Richtungen mit Abſcheu zurückgewieſen.
Dieſer unnatürliche und verderbliche Gegenſatz zwiſchen
Naturwiſſenſchaft und Philoſophie, zwiſchen den Ergebniſſen der
Erfahrung und des Denkens wird unſtreitig in weiten gebildeten
Kreiſen immer lebhafter und ſchmerzlicher empfunden. Das be-
zeugt ſchon der wachſende Umfang der ungeheuren populären
„naturphiloſophiſchen“ Literatur, die im Laufe des letzten halben
Jahrhunderts entſtanden iſt. Das bezeugt auch die erfreuliche
Thatſache, daß trotz jener gegenſeitigen Abneigung der beobach-
tenden Naturforſcher und der denkenden Philoſophen dennoch
hervorragende Männer der Wiſſenſchaft aus beiden Lagern ſich
gegenſeitig die Hand zum Bunde reichen und vereinigt nach der
Löſung jener höchſten Aufgabe der Forſchung ſtreben, die wir
kurz mit einem Worte als „die Welträthſel“ bezeichnen.
Die Unterſuchungen über dieſe „Welträthſel“, welche ich in
der vorliegenden Schrift gebe, können vernünftiger Weiſe nicht
den Anſpruch erheben, eine vollſtändige Löſung derſelben zu
bringen; vielmehr ſollen ſie nur eine kritiſche Beleuchtung
[V]Vorwort.
derſelben für weitere gebildete Kreiſe geben und die Frage zu
beantworten ſuchen, wie weit wir uns gegenwärtig deren Löſung
genähert haben. Welche Stufe in der Erkenntniß der
Wahrheit haben wir am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts wirklich erreicht? Und welche Fortſchritte
nach dieſem unendlich entfernten Ziele haben wir im Laufe des-
ſelben wirklich gemacht?
Die Antwort auf dieſe großen Fragen, die ich hier gebe,
kann naturgemäß nur ſubjektiv und nur theilweiſe richtig
ſein; denn meine Kenntniſſe der wirklichen Natur und meine
Vernunft zur Beurtheilung ihres objektiven Weſens ſind beſchränkt,
ebenſo wie diejenigen aller anderen Menſchen. Das Einzige,
was ich für dieſelben in Anſpruch nehme, und was ich auch von
meinen entſchiedenſten Gegnern verlangen muß, iſt, daß meine
moniſtiſche Philoſophie von Anfang bis zu Ende ehrlich iſt,
d. h. der vollſtändige Ausdruck der Ueberzeugung, welche ich
durch vieljähriges eifriges Forſchen in der Natur und durch
unabläſſiges Nachdenken über den wahren Grund ihrer Erſchei-
nungen erworben habe. Dieſe naturphiloſophiſche Gedanken-
Arbeit erſtreckt ſich jetzt über ein volles halbes Jahrhundert, und
ich darf jetzt, in meinem 66. Lebensjahre, wohl annehmen, daß
ſie reif im menſchlichen Sinne iſt; ich bin auch völlig gewiß,
daß dieſe „reife Frucht“ vom Baume der Erkenntniß für die
kurze Spanne des Daſeins, die mir noch beſchieden iſt, keine
bedeutende Vervollkommnung und keine principiellen Verände-
rungen erfahren wird.
Alle weſentlichen und entſcheidenden Anſchauungen meiner
moniſtiſchen und genetiſchen Philoſophie habe ich ſchon vor
33 Jahren in meiner „Generellen Morphologie der
Organismen“ niedergelegt, einem weitſchweifigen und ſchwer-
fällig geſchriebenen Werke, welches nur ſehr wenig Leſer gefunden
hat. Es war der erſte Verſuch, die neu begründete Entwickelungs-
[VI]Vorwort.
lehre für das ganze Gebiet der organiſchen Formen-Wiſſenſchaft
durchzuführen. Um wenigſtens einen Theil der neuen, darin
enthaltenen Gedanken zur Geltung zu bringen und um zugleich
einen weiteren Kreis von Gebildeten für die größten Erkenntniß-
fortſchritte unſeres Jahrhunderts zu intereſſiren, veröffentlichte ich
zwei Jahre ſpäter (1868) meine „Natürliche Schöpfungs-
geſchichte“. Da dieſes leichter geſchürzte Werk trotz ſeiner
großen Mängel in neun ſtarken Auflagen und zwölf verſchiedenen
Ueberſetzungen erſchien, hat es nicht wenig zur Verbreitung der
moniſtiſchen Weltanſchauung beigetragen. Dasſelbe gilt auch
wohl von der weniger geleſenen „Anthropogenie“, in welcher
ich (1874) die ſchwierige Aufgabe zu löſen verſuchte, die wich-
tigſten Thatſachen der menſchlichen Entwickelungsgeſchichte einem
größeren Kreiſe von Gebildeten zugänglich und verſtändlich zu
machen; die vierte, umgearbeitete Auflage derſelben erſchien 1891.
Einige bedeutende und beſonders werthvolle Fortſchritte, welche
neuerdings dieſer wichtigſte Theil der Anthropologie gemacht hat,
habe ich in dem Vortrage beleuchtet, den ich 1898 „Ueber unſere
gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen“ auf
dem vierten internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge
gehalten habe (ſiebente Auflage 1899). Mehrere einzelne Fragen
unſerer modernen Naturphiloſophie, die ein beſonderes Intereſſe
bieten, habe ich behandelt in meinen „Geſammelten populären
Vorträgen aus dem Gebiete der Entwickelungslehre“ (1878).
Endlich habe ich die allgemeinſten Grundſätze meiner moniſtiſchen
Philoſophie und ihre beſondere Beziehung zu den herrſchenden
Glaubenslehren kurz zuſammengefaßt in dem „Glaubensbekenntniß
eines Naturforſchers: Der Monismus als Band zwiſchen
Religion und Wiſſenſchaft“ (1892, achte Auflage 1899).
Die vorliegende Schrift über die „Welträthſel“ iſt die
weitere Ausführung, Begründung und Ergänzung der Ueber-
zeugungen, welche ich in den vorſtehend angeführten Schriften
[VII]Vorwort.
bereits ein Menſchenalter hindurch vertreten habe. Ich gedenke
damit meine Studien auf dem Gebiete der moniſtiſchen Welt-
anſchauung abzuſchließen. Der alte, viele Jahre hindurch gehegte
Plan, ein ganzes „Syſtem der moniſtiſchen Philoſophie“
auf Grund der Entwickelungslehre auszubauen, wird nicht mehr
zur Ausführung gelangen. Meine Kräfte reichen dazu nicht
mehr aus und mancherlei Mahnungen des herannahenden Alters
drängen zum Abſchluß. Auch bin ich ganz und gar ein Kind
des neunzehnten Jahrhunderts und will mit deſſen
Ende einen Strich unter meine Lebensarbeit machen.
Die unermeßliche Ausdehnung, welche das menſchliche Wiſſen
in Folge fortgeſchrittener Arbeitstheilung in unſerm Jahrhundert
erlangt hat, läßt es ſchon heute unmöglich erſcheinen, alle Zweige
desſelben mit gleicher Gründlichkeit zu umfaſſen und ihren inneren
Zuſammenhang einheitlich darzuſtellen. Selbſt ein Genius erſten
Ranges, der alle Gebiete der Wiſſenſchaft gleichmäßig beherrſchte,
und der die künſtleriſche Gabe ihrer einheitlichen Darſtellung in
vollem Maße beſäße, würde doch nicht im Stande ſein, im Raume
eines mäßigen Bandes ein umfaſſendes allgemeines Bild des
ganzen „Kosmos“ auszuführen. Mir ſelbſt, deſſen Kenntniſſe
in den verſchiedenen Gebieten ſehr ungleich und lückenhaft ſind,
konnte hier nur die Aufgabe zufallen, den allgemeinen Plan
eines ſolchen Weltbildes zu entwerfen und die durchgehende Ein-
heit ſeiner Theile nachzuweiſen, trotz ſehr ungleicher Ausführung
derſelben. Das vorliegende Buch über die Welträthſel trägt
daher auch nur den Charakter eines „Skizzenbuches“, in welchem
Studien von ſehr ungleichem Werthe zu einem Ganzen zu-
ſammengefügt ſind. Da die Niederſchrift derſelben zum Theil
ſchon in früheren Jahren, zum anderen Theil aber erſt in der
letzten Zeit erfolgte, iſt die Behandlung leider oft ungleichmäßig;
auch ſind mehrfache Wiederholungen nicht zu vermeiden geweſen;
ich bitte dieſelben zu entſchuldigen.
[VIII]Vorwort.
Jedem der zwanzig Kapitel iſt ein Titelblatt vorgeſetzt,
deſſen Rückſeite eine kurze Ueberſicht ſeines Inhalts enthält.
Die Angaben über Literatur, welche darunter folgen, erheben
in keiner Weiſe Anſpruch auf Vollſtändigkeit. Vielmehr ſollen
ſie nur einerſeits die grundlegenden Hauptwerke über den
betreffenden Gegenſtand hervorheben, andererſeits aber den Leſer
auf diejenigen neueren Schriften hinweiſen, welche vorzugs-
weiſe geeignet erſcheinen, tiefer in denſelben einzudringen und
die Lücken meines Buches zu ergänzen.
Indem ich hiermit von meinen Leſern mich verabſchiede,
ſpreche ich die Hoffnung aus, daß ich durch meine ehrliche und
gewiſſenhafte Arbeit — trotz ihrer mir wohl bewußten Mängel —
ein kleines Scherflein zur Löſung der „Welträthſel“ beigetragen
habe, und daß ich im Kampfe der Weltanſchauungen manchem
ehrlichen und nach reiner Vernunft-Erkenntniß ringenden Leſer
denjenigen Weg gezeigt habe, der nach meiner feſten Ueber-
zeugung allein zur Wahrheit führt, den Weg der empiriſchen
Naturforſchung und der darauf gegründeten moniſtiſchen
Philoſophie.
Jena, am Oſterſonntage, 2. April 1899.
Ernſt Haeckel.
[]
Inhalt:
I.Anthropologiſcher Theil:
Der Menſch.
Seite
- 1. Stellung der Welträthſel 1
- 2. Unſer Körperbau 25
- 3. Unſer Leben 45
- 4. Unſere Keimesgeſchichte 61
- 5. Unſere Stammesgeſchichte 81
II.Pſychologiſcher Theil:
Die Seele.
- 6. Das Weſen der Seele 101
- 7. Stufenleiter der Seele 125
- 8. Keimesgeſchichte der Seele 153
- 9. Stammesgeſchichte der Seele 171
- 10. Bewußtſein der Seele 195
- 11. Unſterblichkeit der Seele 217
III.Kosmologiſcher Theil:
Die Welt.
- 12. Das Subſtanz-Geſetz 243
- 13. Entwickelungsgeſchichte der Welt 269
- 14. Einheit der Natur 293
- 15. Gott und Welt 317
IV.Theologiſcher Theil:
Der Gott.
- 16. Wiſſen und Glauben 337
- 17. Wiſſenſchaft und Chriſtenthum 355
- 18. Unſere moniſtiſche Religion 381
- 19. Unſere moniſtiſche Sittenlehre 399
- 20. Löſung der Welträthſel 421
- Anmerkungen und Erläuterungen 441
- Regiſter 465
Verzeichniß der Anmerkungen und
Erläuterungen.
Seite
1 (zu S. 17). Kosmologiſche Perſpektive 441
2 (zu S. 58). Weſen der Krankheit 443
3 (zu S. 111). Impotenz der introſpektiven Pſychologie 443
4 (zu S. 119). Der Völkergedanke 444
5 (zu S. 52). Neovitalismus 444
6 (zu S. 178). Plasmodomen und Plasmophagen 445
7 (zu S. 179). Entwickelungsſtufen der Zellſeele 445
8 (zu S. 181). Hauptformen der Cönobien 449
9 (zu S. 186). Pſychologie der Neſſelthiere 450
10 (zu S. 194). Pſychologie der Affen 453
11 (zu S. 299). Teleologie von Kant 453
12 (zu S. 361). Kritik der Evangelien 455
13 (zu S. 376). Chriſtus und Buddha 457
14 (zu S. 379). Abſtammung Chriſti 458
15 (zu S. 412). Das Chriſtenthum und die Familie 459
16 (zu S. 373). Verfluchung der Wiſſenſchaft durch den Papſt 460
17 (zu S. 380). Theologie und Zoologie 461
18 (zu S. 398). Die moniſtiſche Kirche 462
19 (zu S. 405). Egoismus und Altruismus 463
20 (zu S. 440). Ausblick in das zwanzigſte Jahrhundert 463
Erſtes Kapitel.
Stellung der Welträthſel.
Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts.
Der Kampf der Weltanſchauungen.
Monismus und Dualismus.
„Freudig war, ſeit vielen Jahren,Eifrig ſo der Geiſt beſtrebt,Zu erforſchen, zu erfahren,Wie Natur im Schaffen lebt.Und es iſt das ewig Eine,Das ſich vielfach offenbart;Klein das Große, groß das Kleine,Alles nach der eig'nen Art.\>Immer wechſelnd, feſt ſich haltend,Nah und fern, und fern und nah;So geſtaltend, umgeſtaltend —Zum Erſtaunen bin ich da.“
Goethe.
Haeckel, Welträthſel. 1
[[2]]
Stand der menſchlichen Kultur und Weltanſchauung am Schluſſe des
19. Jahrhunderts. Fortſchritte der Natur-Erkenntniß, der organiſchen und
anorganiſchen Naturwiſſenſchaft. Subſtanz-Geſetz und Entwickelungs-Geſetz.
Fortſchritte der Technik und der angewandten Chemie. Stillſtand auf anderen
Kultur-Gebieten: Rechtspflege, Staatsordnung, Schule, Kirche. Konflikt
zwiſchen Vernunft und Dogma. Anthropismus. Kosmologiſche Perſpektive.
Kosmologiſche Lehrſätze. Widerlegung des anthropiſtiſchen Größenwahns.
Zahl der Welträthſel. Kritik der ſieben Welträthſel. Wege zu ihrer Löſung.
Thätigkeit der Sinne und des Gehirns. Induktion und Deduktion. Ver-
nunft, Gemüth und Offenbarung. Philoſophie und Naturwiſſenſchaft.
Empirie und Spekulation. Dualismus und Monismus.
Charles Darwin, Ueber die Entſtehung der Arten im Thier- und Pflanzen-
reich durch natürliche Züchtung. (London 1859.) Stuttgart 1860.
Sechſte Auflage 1876.
Jean Lamarck, Zoologiſche Philoſophie. 1809. (Deutſche Ueberſetzung von
Arnold Lang. Leipzig 1879.)
Ernſt Haeckel, Die Entwickelungsgeſchichte der Organismen in ihrer Be-
deutung für die Anthropologie und Kosmologie. Siebentes und achtes
Buch der Generellen Morphologie. Berlin 1866.
Carl Guſtav Reuſchle, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Bonn 1874.
Konrad Dieterich, Philoſophie und Naturwiſſenſchaft, ihr neueſtes Bündniß
und die moniſtiſche Weltanſchauung. Stuttgart 1875.
Herbert Spencer, Syſtem der ſynthetiſchen Philoſophie. Stuttgart 1875.
Friedrich Ueberweg, Grundriß der Geſchichte der Philoſophie. Achte Auf-
lage, bearbeitet von Max Heinze. Berlin 1897.
Friedrich Paulſen, Einleitung in die Philoſophie. Berlin 1892. Fünfte
Auflage 1898.
Ernſt Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Gemeinverſtändliche wiſſen-
ſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre. Berlin 1868. Neunte
Auflage 1898.
[[3]]
Am Schluſſe des neunzehnten Jahrhunderts, vor dem wir
heute ſtehen, bietet ſich dem denkenden Beobachter eines der
merkwürdigſten Schauſpiele. Alle Gebildeten ſind darüber einig,
daß dasſelbe in vieler Beziehung alle ſeine Vorgänger unendlich
überflügelt und Aufgaben gelöſt hat, welche in ſeinem Anfange
unlösbar erſchienen. Nicht nur die überraſchenden theoretiſchen
Fortſchritte in der wirklichen Natur-Erkenntniß, ſondern auch
deren erſtaunlich fruchtbare praktiſche Verwerthung in Technik,
Induſtrie, Verkehr u. ſ. w. haben unſerem ganzen modernen
Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Auf der anderen
Seite haben wir aber auf wichtigen Gebieten des geiſtigen
Lebens und der Geſellſchafts-Beziehungen wenige oder gar keine
Fortſchritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweiſen, oft ſogar
leider bedenkliche Rückſchritte. Aus dieſem offenkundigen Kon-
flikte entſpringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zer-
riſſenheit und Unwahrheit, ſondern auch die Gefahr ſchwerer
Kataſtrophen auf politiſchem und ſocialem Gebiete. Es erſcheint
daher nicht nur als das gute Recht, ſondern auch als die
heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menſchenliebe beſeelten
Forſchers, nach beſtem Gewiſſen zur Löſung jenes Konfliktes und
zur Vermeidung der daraus entſpringenden Gefahren beizutragen.
Dies kann aber nach unſerer Ueberzeugung nur durch muthiges
1 *
[4]Fortſchritte der modernen Naturkunde. I.
Streben nach Erkenntniß der Wahrheit geſchehen und
durch Gewinnung einer klaren, feſt darauf gegründeten, natur-
gemäßen Weltanſchauung.
Fortſchritte der Natur-Erkenntniß. Wenn wir uns den
unvollkommenen Zuſtand der Natur-Erkenntniß im Anfang des
19. Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden
Höhe an deſſen Schluſſe vergleichen, ſo muß jedem Sachkundigen der
Fortſchritt innerhalb desſelben erſtaunlich groß erſcheinen. Jeder
einzelne Zweig der Naturwiſſenſchaft darf ſich rühmen, daß er
innerhalb unſers Jahrhunderts — und beſonders in deſſen zweiter
Hälfte — extenſive und intenſive Gewinne von größter Trag-
weite erzielt habe. In der mikroſkopiſchen Kenntniß des Klein-
ſten, wie in der teleſkopiſchen Erforſchung des Größten haben
wir jetzt unſchätzbare Einſichten gewonnen, die vor hundert Jahren
undenkbar erſchienen. Die verbeſſerten Methoden der mikroſko-
piſchen und biologiſchen Unterſuchungen haben uns nicht nur
überall im Reiche der einzelligen Protiſten eine „unſichtbare
Lebenswelt“ voll unendlichen Formen-Reichthums offenbart, ſon-
dern auch in der winzigen kleinen Zelle den gemeinſamen „Ele-
mentar-Organismus“ kennen gelehrt, aus deſſen ſocialen Zell-
verbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen
und Thiere ebenſo wie der des Menſchen zuſammengeſetzt iſt.
Dieſe anatomiſchen Kenntniſſe ſind von größter Tragweite; ſie
werden ergänzt durch den embryologiſchen Nachweis, daß jeder
höhere vielzellige Organismus ſich aus einer einzigen einfachen
Zelle entwickelt, der „befruchteten Eizelle“. Die bedeutungsvolle,
hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erſt das wahre
Verſtändniß für die phyſikaliſchen und chemiſchen ebenſo wie für
die pſychologiſchen Proceſſe des Lebens eröffnet, jene geheimniß-
vollen Erſcheinungen, für deren Erklärung man früher eine über-
natürliche „Lebenskraft“ oder ein „unſterbliches Seelenweſen“
annahm. Auch das eigentliche Weſen der Krankheit iſt durch
[5]I. Einheit der Naturkräfte.
die damit verknüpfte Cellular-Pathologie dem Arzte erſt klar
und verſtändlich geworden.
Nicht minder gewaltig ſind aber die Entdeckungen des
19. Jahrhunderts im Bereiche der anorganiſchen Natur. Die
Phyſik hat in allen Theilen ihres Gebiets, in der Optik und Akuſtik,
in der Lehre vom Magnetismus und der Elektricität, in der Me-
chanik und Wärmelehre die erſtaunlichſten Fortſchritte gemacht;
und, was wichtiger iſt, ſie hat die Einheit der Naturkräfte
im ganzen Univerſum nachgewieſen. Die mechaniſche Wärme-
Theorie hat gezeigt, wie eng dieſelben zuſammenhängen, und
wie jede unter beſtimmten Bedingungen ſich direkt in die andere
verwandeln kann. Die Spektral-Analyſe hat uns gelehrt, daß
dieſelben Stoffe, welche unſeren Erdkörper und ſeine leben-
digen Bewohner zuſammenſetzen, auch die Maſſe der übrigen
Planeten, der Sonne und der entfernteſten Fixſterne zuſammen-
ſetzen. Die Aſtrophyſik hat unſere Weltanſchauung im groß-
artigſten Maaßſtabe erweitert, indem ſie uns im unendlichen
Weltraum Millionen von kreiſenden Weltkörpern nachgewieſen
hat, größer als unſere Erde, und gleich dieſer in beſtändiger
Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechſel von „Werden
und Vergehen“. Die Chemie hat uns mit einer Maſſe von
neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus
Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr
ſiebzig) beſtehen, und die zum Theil die größte praktiſche Be-
deutung in allen Lebensgebieten gewonnen haben. Sie hat
gezeigt, daß eines von dieſen Elementen, der Kohlenſtoff, der
wunderbare Körper iſt, welcher die Bildung der unendlich mannich-
faltigen organiſchen Verbindungen bewirkt und ſomit die „che-
miſche Baſis des Lebens“ darſtellt. Alle einzelnen Fortſchritte der
Phyſik und Chemie ſtehen aber an theoretiſcher Bedeutung der
Erkenntniß des gewaltigen Geſetzes nach, welches alle in einem
gemeinſamen Brennpunkt vereinigt, des Subſtanz-Geſetzes.
[6]Subſtanz-Geſetz und Entwickelungslehre. I.
Indem dieſes „kosmologiſche Grundgeſetz“ die ewige Erhaltung
der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Conſtanz der Energie
und der Materie im ganzen Weltall nachweiſt, iſt es der ſichere
Leitſtern geworden, der unſere moniſtiſche Philoſophie durch das
gewaltige Labyrinth der Welträthſel zu deren Löſung führt.
Da es unſere Aufgabe ſein wird, in den folgenden Kapiteln
eine allgemeine Ueberſicht über den jetzigen Stand unſerer Natur-
Erkenntniß und über ihre Fortſchritte in unſerem Jahrhundert
zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Muſterung
der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortſchritt
wollen wir noch hervorheben, welcher dem Subſtanz-Geſetz eben-
bürtig iſt und welcher dasſelbe ergänzt, die Begründung der
Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forſcher
ſchon ſeit Jahrtauſenden von „Entwickelung“ der Dinge ge-
ſprochen; daß aber dieſer Begriff das Univerſum beherrſcht,
und daß die Welt ſelbſt weiter Nichts iſt, als eine ewige „Ent-
wickelung der Subſtanz“, dieſer gewaltige Gedanke iſt ein Kind
unſeres 19. Jahrhunderts. Erſt in der zweiten Hälfte deſſelben
gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung.
Das unſterbliche Verdienſt, dieſen höchſten philoſophiſchen Begriff
empiriſch begründet und zu umfaſſender Geltung gebracht zu
haben, gebührt dem großen engliſchen Naturforſcher Charles
Darwin; er lieferte uns 1859 den feſten Grund für jene
Abſtammungslehre, welche der geniale franzöſiſche Natur-
philoſoph Jean Lamarck ſchon 1809 in ihren Hauptzügen
erkannt, und deren Grundgedanken unſer größter deutſcher
Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, ſchon 1799 pro-
phetiſch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüſſel
zur „Frage aller Fragen“ geſchenkt, zu dem großen Welträthſel
von der „Stellung des Menſchen in der Natur“ und von ſeiner
natürlichen Entſtehung. Wenn wir heute, 1899, im Stande
[7]I. Praktiſche Fortſchritte der Kultur.
ſind, die Herrſchaft des Entwickelungs-Geſetzes — und
zwar der „moniſtiſchen Geneſis!“ — im Geſammtgebiete
der Natur klar zu erkennen und ſie in Verbindung mit dem
Subſtanz-Geſetze zur einheitlichen Erklärung aller Natur-
erſcheinungen zu benutzen, ſo verdanken wir dies in erſter Linie
jenen drei genialen Naturphiloſophen; ſie leuchten uns deßhalb
als drei Sterne erſter Größe unter allen anderen großen Männern
unſeres Jahrhunderts*).
Dieſen erſtaunlichen Fortſchritten unſerer theoretiſchen
Natur-Erkenntniß entſpricht deren mannichfaltige praktiſche
Anwendung auf allen Gebieten des menſchlichen Kulturlebens.
Wenn wir heute im „Zeitalter des Verkehrs“ ſtehen, wenn der
internationale Handel und das Reiſen eine früher nicht geahnte
Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittels Telegraph und
Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben,
ſo verdanken wir das in erſter Linie den techniſchen Fortſchritten
der Phyſik, beſonders in der Anwendung der Dampfkraft und
der Elektricität. Wenn wir durch die Photographie mit größter
Leichtigkeit das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick
naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenſtande zu ver-
ſchaffen, wenn wir in der Landwirthſchaft und in den ver-
ſchiedenſten Gewerben erſtaunliche praktiſche Fortſchritte gemacht
haben, wenn wir in der Medicin durch Chloroform und Mor-
phium, durch antiſeptiſche und Serum-Therapie die Leiden der
Menſchheit unendlich gemildert haben, ſo verdanken wir dies
der angewandten Chemie. Wie ſehr wir durch dieſe und andere
Erfindungen der Technik alle früheren Jahrhunderte weit über-
flügelt haben, iſt ſo allbekannt, daß wir es hier nicht weiter
auszuführen brauchen.
[8]Zuſtand der modernen Rechtspflege. I.
Fortſchritte der ſocialen Einrichtungen. Während wir ſo
heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortſchritte des
19. Jahrhunderts in der Natur-Erkenntniß und deren praktiſcher
Verwerthung zurückblicken, ſo bietet ſich uns leider ein ganz
anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir nun andere,
nicht minder wichtige Gebiete dieſes modernen Kultur-Lebens
in's Auge faſſen. Zu unſerem Bedauern müſſen wir da den
Satz von Alfred Wallace unterſchreiben: „Verglichen mit
unſeren erſtaunlichen Fortſchritten in den phyſikaliſchen Wiſſen-
ſchaften und in ihrer praktiſchen Anwendung, bleibt unſer Syſtem
der Regierung, der adminiſtrativen Juſtiz, der National-Erziehung
und unſere ganze ſociale und moraliſche Organiſation in einem
Zuſtande der Barbarei.“ Um uns von der Wahrheit
dieſer ſchweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen
unbefangenen Blick mitten in unſer öffentliches Leben hinein zu
werfen oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unſere
Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.
Unſere Rechtspflege. Beginnen wir unſere Rundſchau
mit der Juſtiz, dem „Fundamentum regnorum“. Niemand
wird behaupten können, daß deren heutiger Zuſtand mit unſerer
fortgeſchrittenen Erkenntniß des Menſchen und der Welt in Ein-
klang ſei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richter-
lichen Urtheilen leſen, über welche der „geſunde Menſchen-Ver-
ſtand“ bedenklich das Haupt ſchüttelt; viele Entſcheidungen
unſerer höheren und niederen Gerichtshöfe erſcheinen geradezu
unbegreiflich. Wir ſehen bei Behandlung dieſes „Welträthſels“
ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der
auf Papier gedruckten Verfaſſung — noch thatſächlich der Abſo-
lutismus herrſcht, und daß viele „Männer des Rechts“ nicht
nach ehrlicher Ueberzeugung urtheilen, ſondern entſprechend dem
„höheren Wunſche von maßgebender Stelle“. Wir nehmen viel-
mehr an, daß die meiſten Richter und Staatsanwälte nach
[9]I. Zuſtand der modernen Staatsordnung.
beſtem Gewiſſen urtheilen und nur menſchlich irren. Dann er-
klären ſich wohl die meiſten Irrthümer durch mangelhafte Vor-
bildung. Freilich herrſcht vielfach die Anſicht, daß gerade die
Juriſten die höchſte Bildung beſitzen; werden ſie ja doch gerade
deßhalb bei der Beſetzung der verſchiedenſten Aemter vorgezogen.
Allein dieſe vielgerühmte „juriſtiſche Bildung“ iſt größtentheils
eine rein formale, keine reale. Das eigentliche Haupt-Objekt
ihrer Thätigkeit, den menſchlichen Organismus, und ſeine wich-
tigſte Funktion, die Seele, lernen unſere Juriſten nur oberflächlich
kennen; das beweiſen z. B. die wunderlichen Anſichten von
„Willensfreiheit, Verantwortung“ u. ſ. w., denen wir täglich
begegnen. Als ich einmal einem bedeutenden Juriſten verſicherte,
daß die winzige kugelige Eizelle, aus der ſich jeder Menſch ent-
wickelt, lebendig ſei, ebenſo mit Leben begabt, wie der Embryo
von zwei oder ſieben oder neun Monaten, fand ich nur un-
gläubiges Lächeln. Den meiſten Studirenden der Jurisprudenz
fällt es gar nicht ein, Anthropologie, Pſychologie und
Entwickelungsgeſchichte zu treiben, die erſten Vorbedin-
gungen für richtige Beurtheilung des Menſchen-Weſens. Freilich
bleibt dazu auch „keine Zeit“; dieſe wird leider nur zu ſehr
durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anſpruch
genommen, ſowie das „veredelnde“ Menſuren-Weſen; der Reſt
der koſtbaren Studien-Zeit aber iſt nothwendig, um die Hunderte
von Paragraphen der Geſetzbücher zu erlernen, deren Kenntniß
den Juriſten zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kultur-
Staate befähigt.
Unſere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik
wollen wir hier nur ganz flüchtig ſtreifen, da die unerfreulichen
Zuſtände des modernen Staatslebens allbekannt und Jedermann
täglich fühlbar ſind. Zum großen Theile erklären ſich deren
Mängel daraus, daß die meiſten Staatsbeamten eben Juriſten
ſind, Männer von ausgezeichneter formaler Bildung, aber ohne
[10]Zuſtand der modernen Staatsordnung. I.
jene gründliche Kenntniß der Menſchen-Natur, die nur durch
vergleichende Anthropologie und moniſtiſche Pſychologie erworben
werden kann, — ohne jene Kenntniß der ſocialen Verhältniſſe,
deren organiſche Vorbilder uns die vergleichende Zoologie und
Entwickelungsgeſchichte, die Zellen-Theorie und die Protiſtenkunde
liefert. „Bau und Leben des ſocialen Körpers“, d. h. des
Staates, lernen wir nur dann richtig verſtehen, wenn wir
naturwiſſenſchaftliche Kenntniß von „Bau und Leben“ der Per-
ſonen beſitzen, welche den Staat zuſammenſetzen, und der
Zellen, welche jene Perſonen zuſammenſetzen*). Wenn dieſe
unſchätzbaren biologiſchen und anthropologiſchen
Vorkenntniſſe unſere „Staatslenker“ beſäßen, und unſere
„Volksvertreter“, die mit ihnen zuſammenwirken, ſo würde
unmöglich in den Zeitungen täglich jene entſetzliche Fülle von
ſociologiſchen Irrthümern und von politiſcher Kannegießerei zu
leſen ſein, welche unſere Parlaments-Berichte und auch viele
Regierungs-Erlaſſe nicht gerade erfreulich auszeichnen. Das
Schlimmſte freilich iſt, wenn der moderne Kulturſtaat ſich der
kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und wenn der
bornirte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurz-
ſichtigen Parteiführer die Hierarchie unterſtützt. Dann entſtehen
ſo traurige Bilder, wie ſie uns leider jetzt am Schluſſe des
19. Jahrhunderts der deutſche Reichstag vor Augen führt: die
Geſchicke des gebildeten deutſchen Volkes in der Hand des ultra-
montanen Centrums, unter der Leitung des römiſchen Papismus,
der ſein ärgſter und gefährlichſter Feind iſt. Statt Recht und
Vernunft regiert dann Aberglaube und Verdummung. Unſere
Staatsordnung kann nur dann beſſer werden, wenn ſie ſich von
den Feſſeln der Kirche befreit, und wenn ſie durch allgemeine
naturwiſſenſchaftliche Bildung die Welt- und Menſchen-
[11]I. Zuſtand der modernen Schule.
Kenntniß der Staatsbürger auf eine beſſere Stufe hebt. Dabei
kommt es gar nicht auf die beſondere Staatsform an. Ob
Monarchie oder Republik, ob ariſtokratiſche oder demokratiſche
Verfaſſung, das ſind untergeordnete Fragen gegenüber der großen
Hauptfrage: Soll der moderne Kulturſtaat geiſtlich oder weltlich
ſein? ſoll er theokratiſch durch unvernünftige Glaubensſätze
und klerikale Willkür, oder ſoll er nomokratiſch durch ver-
nünftige Geſetze und bürgerliches Recht geleitet werden? Die Haupt-
aufgabe iſt, unſere Jugend zu vernünftigen, vom Aberglauben
befreiten Staatsbürgern heranzuziehen, und das kann nur durch
eine zeitgemäße Schul-Reform geſchehen.
Unſere Schule. Ebenſo wie unſere Rechtspflege und Staats-
ordnung, entſpricht auch unſere Jugenderziehung durchaus nicht
den Anforderungen, welche die wiſſenſchaftlichen Fortſchritte des
19. Jahrhunderts an die moderne Bildung ſtellen. Die Natur-
wiſſenſchaft, die alle anderen Wiſſenſchaften ſo weit über-
flügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle ſogenannten
Geiſteswiſſenſchaften in ſich aufgenommen hat, wird in unſeren
Schulen immer noch als Nebenſache behandelt oder als Aſchen-
brödel in die Ecke geſtellt. Dagegen erſcheint unſeren meiſten
Lehrern immer noch als Hauptaufgabe jene todte Gelehrſamkeit,
die aus den Kloſterſchulen des Mittelalters übernommen iſt; im
Vordergrunde ſteht der grammatikaliſche Sport und die zeit-
raubende „gründliche Kenntniß“ der klaſſiſchen Sprachen, ſowie
der äußerlichen Völkergeſchichte. Die Sittenlehre, der wichtigſte
Gegenſtand der praktiſchen Philoſophie, wird vernachläſſigt und
an ihre Stelle die kirchliche Konfeſſion geſetzt. Der Glaube ſoll
dem Wiſſen vorangehen; nicht jener wiſſenſchaftliche Glaube,
welcher uns zu einer moniſtiſchen Religion führt, ſondern jener
unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunſtalteten
Chriſtenthums bildet. Während die großartigen Erkenntniſſe der
modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie
[12]Zuſtand der modernen Kirche. I.
und Entwicklungslehre auf unſeren höheren Schulen gar keine
oder nur ganz ungenügende Verwerthung finden, wird das Ge-
dächtniß mit einer Unmaſſe von philologiſchen und hiſtoriſchen
Thatſachen überladen, die weder für die theoretiſche Bildung
noch für das praktiſche Leben von Nutzen ſind. Aber auch die
veralteten Einrichtungen und Fakultäts-Verhältniſſe der Univerſi-
täten entſprechen der heutigen Entwicklungsſtufe der moniſtiſchen
Weltanſchauung ebenſo wenig, als die Unterrichts-Leitung in
den Gymnaſien und in den niederen Schulen.
Unſere Kirche. Den Gipfel des Gegenſatzes gegen die
moderne Bildung und gegen deren Grundlage, die vorgeſchrittene
Natur-Erkenntniß, erreicht unſtreitig die Kirche. Wir wollen
hier gar nicht vom ultramontanen Papismus ſprechen, oder von
den orthodoxen evangeliſchen Richtungen, welche dieſem in Bezug
auf Unkenntniß der Wirklichkeit und Lehre des kraſſeſten Aber-
glaubens nichts nachgeben. Vielmehr verſetzen wir uns in die
Predigt eines liberalen proteſtantiſchen Pfarrers, der gute Durch-
ſchnittsbildung beſitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr
gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sitten-
lehren, die mit unſerer moniſtiſchen Ethik (im 19. Kapitel) voll-
kommen harmoniren, und neben humaniſtiſchen Erörterungen, die
wir durchaus billigen, Vorſtellungen über das Weſen von Gott
und Welt, von Menſch und Leben, welche allen Erfahrungen der
Naturforſchung direct widerſprechen. Es iſt kein Wunder, wenn
Techniker und Chemiker, Aerzte und Philoſophen, die gründlich
über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, ſolchen Pre-
digten kein Gehör ſchenken wollen. Es fehlt eben unſeren Theo-
logen ebenſo wie unſeren Philologen, unſeren Politikern ebenſo
wie unſeren Juriſten an jener unentbehrlichen Natur-
kenntniß, welche ſich auf die moniſtiſche Entwickelungslehre
gründet, und welche bereits in den feſten Beſitzſtand unſerer
modernen Wiſſenſchaft übergegangen iſt.
[13]I. Vernunft und Offenbarung.
Konflikt zwiſchen Vernunft und Dogma. Aus dieſen
bedauerlichen, hier nur kurz angedeuteten Gegenſätzen ergeben
ſich für unſer modernes Kultur-Leben ſchwere Konflikte, deren
Gefahr dringend zur Beſeitigung auffordert. Unſere heutige
Bildung, als Ergebniß der mächtig vorgeſchrittenen Wiſſenſchaft,
verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und
privaten Lebens; ſie wünſcht die Menſchheit mittels der Ver-
nunft auf jene höhere Stufe der Erkenntniß und damit zugleich
auf jenen beſſeren Weg zum Glück erhoben zu ſehen, welche wir
unſerer hoch entwickelten Naturwiſſenſchaft verdanken. Dagegen
ſträuben ſich aber mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreiſe,
welche unſere Geiſtesbildung in betreff der wichtigſten Probleme
in den überwundenen Anſchauungen des Mittelalters zurückhalten
wollen: ſie verharren im Banne der traditionellen Dogmen
und verlangen, daß die Vernunft ſich unter dieſe „höhere Offen-
barung“ beugen ſolle. Das iſt der Fall in weiten Kreiſen der
Theologie und Philologie, der Sociologie und Jurisprudenz.
Die Beweggründe dieſer letzteren beruhen zum größten Theile
gewiß nicht auf reinem Egoismus und auf eigennützigem Streben,
ſondern theils auf Unkenntniß der realen Thatſachen, theils auf
der bequemen Gewohnheit der Tradition. Von den drei großen
Feindinnen der Vernunft und Wiſſenſchaft iſt die gefährlichſte
nicht die Bosheit, ſondern die Unwiſſenheit und vielleicht noch
mehr die Trägheit. Gegen dieſe beiden letzteren Mächte kämpfen
ſelbſt Götter dann noch vergebens, wenn ſie die erſtere glücklich
überwunden haben.
Anthropismus. Eine der mächtigſten Stützen gewährt
jener rückſtändigen Weltanſchauung der Anthropismus oder
die „Vermenſchlichung“. Unter dieſem Begriffe verſtehe ich
„jenen mächtigen und weit verbreiteten Complex von irrthüm-
lichen Vorſtellungen, welcher den menſchlichen Organismus in
Gegenſatz zu der ganzen übrigen Natur ſtellt, ihn als vor-
[14]Anthropiſtiſche Irrthümer. I.
bedachtes Endziel der organiſchen Schöpfung und als ein prin-
cipiell von dieſer verſchiedenes, gottähnliches Weſen auffaßt. Bei
genauerer Kritik dieſes einflußreichen Vorſtellungs-Kreiſes ergiebt
ſich, daß derſelbe eigentlich aus drei verſchiedenen Dogmen beſteht,
die wir als den anthropocentriſchen, anthropomor-
phiſchen und anthropolatriſchen Irrthum unterſcheiden“*).
I. Das anthropocentriſche Dogma gipfelt in der Vor-
ſtellung, daß der Menſch der vorbedachte Mittelpunkt und End-
zweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Faſſung der ganzen
Welt — ſei. Da dieſer Irrthum dem menſchlichen Eigennutz
äußerſt erwünſcht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der
drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der
moſaiſchen, chriſtlichen und mohammedaniſchen Lehre
innig verwachſen iſt, beherrſcht er auch heute noch den größten
Theil der Kulturwelt. — II. Das anthropomorphiſche
Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei
genannten, ſowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht
die Weltſchöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunſt-
ſchöpfungen eines ſinnreichen Technikers oder „Maſchinen-In-
genieurs“ und mit der Staatsregierung eines weiſen Herrſchers.
„Gott der Herr“ als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt
wird dabei in ſeinem Denken und Handeln durchaus menſchen-
ähnlich vorgeſtellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß
der Menſch gottähnlich iſt. „Gott ſchuf den Menſchen nach
ſeinem Bilde.“ Die ältere naive Mythologie iſt reiner Homo-
theismus und verleiht ihren Göttern Menſchengeſtalt, Fleiſch
und Blut. Weniger vorſtellbar iſt die neuere myſtiſche Theoſophie,
welche den perſönlichen Gott als „unſichtbares“ — eigentlich
gasförmiges! — Weſen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach
[15]I. Anthropiſtiſche Irrthümer.
Menſchenart denken, ſprechen und handeln läßt; ſie gelangt da-
durch zu dem paradoxen Begriff eines „gasförmigen Wirbel-
thieres“. — III. Das anthropolatriſche Dogma ergiebt
ſich aus dieſer Vergleichung der menſchlichen und göttlichen
Seelenthätigkeit von ſelbſt; es führt zu der göttlichen Ver-
ehrung des menſchlichen Organismus, zum „anthropiſtiſchen
Größenwahn“. Daraus folgt wieder der hochgeſchätzte „Glaube
an die perſönliche Unſterblichkeit der Seele“, ſowie das dualiſtiſche
Dogma von der Doppelnatur des Menſchen, deſſen „unſterbliche
Seele“ den ſterblichen Körper nur zeitweiſe bewohnt. Indem
nun dieſe drei anthropiſtiſchen Dogmen mannichfach ausgebildet
und der wechſelnden Glaubensform der verſchiedenen Religionen
angepaßt wurden, erlangten ſie im Laufe der Zeit eine außer-
ordentliche Bedeutung und wurden zur Quelle der gefährlichſten
Irrthümer. Die anthropiſtiſche Weltanſchauung, die
daraus entſprang, ſteht in unverſöhnlichem Gegenſatz zu unſerer
moniſtiſchen Natur-Erkenntniß; ſie wird zunächſt ſchon durch
deren kosmologiſche Perſpektive widerlegt.
Kosmologiſche Perſpektive. Nicht allein die drei anthro-
piſtiſchen Dogmen, ſondern auch viele andere Anſchauungen der
dualiſtiſchen Philoſophie und der orthodoxen Religion offenbaren
ihre Unhaltbarkeit, ſobald wir ſie aus der kosmologiſchen
Perſpektive unſers Monismus kritiſch betrachten. Wir ver-
ſtehen darunter jene umfaſſende Anſchauung des Welt-
ganzen, welche wir vom höchſten erklommenen Standpunkt der
moniſtiſchen Natur-Erkenntniß gewonnen haben. Da überzeugen
wir uns von folgenden wichtigen, nach unſerer Anſicht jetzt
größtentheils bewieſenen „kosmologiſchen Lehrſätzen“.
1. Das Weltall (Univerſum oder Kosmos) iſt ewig, un-
endlich und unbegrenzt. 2. Die Subſtanz deſſelben mit ihren
beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen
Raum und befindet ſich in ewiger Bewegung. 3. Dieſe Bewegung
[16]Kosmologiſche Lehrſätze. I.
verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwicklung,
mit periodiſchem Wechſel von Werden und Vergehen, von Fort-
bildung und Rückbildung. 4. Die unzähligen Weltkörper, welche
im raumerfüllenden Aether vertheilt ſind, unterliegen ſämmtlich
dem Subſtanz-Geſetz; während in einem Theile des Univerſum
die rotirenden Weltkörper langſam ihrer Rückbildung und ihrem
Untergang entgegen gehen, erfolgt in einem andern Theile des
Weltraums Neubildung und Fortentwicklung. 5. Unſere Sonne
iſt einer von dieſen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und
unſere Erde iſt einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten,
welche dieſelbe umkreiſen. 6. Unſere Erde hat einen langen
Abkühlungs-Proceß durchgemacht, ehe auf derſelben tropfbar
flüſſiges Waſſer und damit die erſte Vorbedingung organiſchen
Lebens entſtehen konnte. 7. Der dann folgende biogenetiſche
Proceß, die langſame Entwicklung und Umbildung zahlloſer
organiſcher Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über
hundert!) in Anſpruch genommen *). 8. Unter den verſchiedenen
Thier-Stämmen, welche ſich im ſpäteren Verlaufe des biogene-
tiſchen Proceſſes auf unſerer Erde entwickelten, hat der Stamm
der Wirbelthiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle
anderen weit überflügelt. 9. Als der bedeutendſte Zweig des
Wirbelthier-Stammes hat ſich erſt ſpät (während der Trias-
Periode) aus niederen Reptilien und Amphibien die Klaſſe der
Säugethiere entwickelt. 10. Der vollkommenſte und höchſt ent-
wickelte Zweig dieſer Klaſſe iſt die Ordnung der Herrenthiere
oder Primaten, die erſt im Beginne der Tertiär-Zeit (vor min-
deſtens drei Millionen Jahren) durch Umbildung aus niederſten
Zottenthieren (Prochoriaten) entſtanden iſt. 11. Das jüngſte und
vollkommenſte Aeſtchen des Primaten-Zweiges iſt der Menſch,
[17]I. Kosmologiſche Perſpektive.
der erſt gegen Ende der Tertiär-Zeit aus einer Reihe von
Menſchen-Affen hervorgegangen iſt. 12. Demnach iſt die ſo-
genannte „Weltgeſchichte“ — d. h. der kurze Zeitraum von
wenigen Jahrtauſenden, innerhalb deſſen ſich die Kulturgeſchichte
des Menſchen abgeſpielt hat, eine verſchwindend kurze Epiſode
in dem langen Verlaufe der organiſchen Erdgeſchichte, ebenſo
wie dieſe ſelbſt ein kleines Stück von der Geſchichte unſeres
Planeten-Syſtems; und wie unſere Mutter Erde ein vergäng-
liches Sonnenſtäubchen im unendlichen Weltall, ſo iſt der einzelne
Menſch ein winziges Plasma-Körnchen in der vergänglichen or-
ganiſchen Natur.
Nichts ſcheint mir geeigneter als dieſe großartige kosmo-
logiſche Perſpektive, um von vornherein den richtigen Maaß-
ſtab und den weitſichtigen Standpunkt feſtzuſetzen, welchen wir zur
Löſung der großen, uns umgebenden Welträthſel einhalten müſſen.
Denn dadurch wird nicht nur die maaßgebende „Stellung des
Menſchen in der Natur“ klar bewieſen, ſondern auch der herr-
ſchende anthropiſtiſche Größenwahn widerlegt, die An-
maaßung, mit der der Menſch ſich dem unendlichen Univerſum
gegenüberſtellt und als wichtigſten Theil des Weltalls verherrlicht.
Dieſe grenzenloſe Selbſtüberhebung des eiteln Menſchen hat ihn
dazu verführt, ſich als „Ebenbild Gottes“ zu betrachten, für
ſeine vergängliche Perſon ein „ewiges Leben“ in Anſpruch zu
nehmen und ſich einzubilden, daß er unbeſchränkte „Freiheit des
Willens“ beſitzt. Der lächerliche Cäſaren-Wahn des Caligula iſt
eine ſpecielle Form dieſer hochmüthigen Selbſtvergötterung des
Menſchen. Erſt wenn wir dieſen unhaltbaren Größenwahn auf-
geben und die naturgemäße kosmologiſche Perſpektive einnehmen,
können wir zur Löſung der „Welträthſel“ gelangen 1.
Zahl der Welträthſel. Der ungebildete Kulturmenſch iſt
noch ebenſo wie der rohe Naturmenſch auf Schritt und Tritt
von unzähligen Welträthſeln umgeben. Je weiter die Kultur
Haeckel, Welträthſel. 2
[18]Zahl der Welträthſel. I.
fortſchreitet und die Wiſſenſchaft ſich entwickelt, deſto mehr wird
ihre Zahl beſchränkt. Die moniſtiſche Philoſophie wird
ſchließlich nur ein einziges, allumfaſſendes Welträthſel anerkennen,
das „Subſtanz-Problem“. Immerhin kann es aber zweck-
mäßig erſcheinen, auch eine gewiſſe Zahl von ſchwierigſten Pro-
blemen mit jenem Namen zu bezeichnen. In der berühmten Rede,
welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz-
Sitzung der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften hielt, unter-
ſcheidet er „Sieben Welträthſel“ und führt dieſelben in nach-
ſtehender Reihenfolge auf: I. das Weſen von Materie und Kraft,
II. der Urſprung der Bewegung, III. die erſte Entſtehung des
Lebens IV. die (anſcheinend abſichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung
der Natur, V. das Entſtehen der einfachen Sinnesempfindung und
des Bewußtſeins, VI. das vernünftige Denken und der Urſprung
der damit eng verbundenen Sprache, VII. die Frage nach der
Willens-Freiheit. Von dieſen ſieben Welträthſeln erklärt der
Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transcendent und
unlösbar (das erſte, zweite und fünfte); drei andere hält er
zwar für ſchwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und
ſechſte); bezüglich des ſiebenten und letzten „Welträthſels“, wel-
ches praktiſch das wichtigſte iſt, nämlich der Willensfreiheit, ver-
hält er ſich unentſchieden.
Da mein Monismus ſich von demjenigen des Berliner
Rhetors weſentlich unterſcheidet, da aber anderſeits ſeine Auf-
faſſung der „ſieben Welträthſel“ großen Beifall in weiten Kreiſen
gefunden hat, halte ich es für zweckmäßig, gleich hier von vorn-
herein zu denſelben klare Stellung zu nehmen. Nach meiner
Anſicht werden die drei „transcendenten“ Räthſel (I, II, V)
durch unſere Auffaſſung der Subſtanz erledigt (Kapitel 12);
die drei anderen, ſchwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV,
VI) ſind durch unſere moderne Entwicklungslehre endgültig
gelöſt; das ſiebente und letzte Welträthſel, die Willensfreiheit,
[19]I. Löſung der Welträthſel.
iſt gar kein Objekt kritiſcher wiſſenſchaftlicher Erklärung, da ſie
als reines Dogma nur auf Täuſchung beruht und in Wirk-
lichkeit gar nicht exiſtirt.
Löſung der Welträthſel. Die Mittel und Wege, welche
wir zur Löſung der großen Welträthſel einzuſchlagen haben, ſind
keine anderen als diejenigen der reinen wiſſenſchaftlichen Er-
kenntniß überhaupt, alſo erſtens Erfahrung und zweitens
Schlußfolgerung. Die wiſſenſchaftliche Erfahrung erwerben
wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erſter
Linie unſere Sinnes-Organe, in zweiter die „inneren Sinnes-
herde“ unſerer Großhirnrinde thätig ſind. Die mikroſkopiſchen
Elementar-Organe der erſteren ſind die Sinneszellen, die der
letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche
wir von der Außenwelt durch dieſe unſchätzbarſten Organe
unſers Geiſteslebens erhalten haben, werden dann durch andere
Gehirntheile in Vorſtellungen umgeſetzt und dieſe wiederum
durch Aſſociation zu Schlüſſen verknüpft. Die Bildung dieſer
Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verſchiedenen Wegen, die
nach meiner Ueberzeugung gleich werthvoll und unentbehrlich
ſind: Induktion und Deduktion. Die weiteren ver-
wickelten Gehirn-Operationen, die Bildung von zuſammenhängen-
den Kettenſchlüſſen, die Abſtraktion und Begriffsbildung, die
Ergänzung des erkennenden Verſtandes durch die plaſtiſche Thätig-
keit der Phantaſie, ſchließlich das Bewußtſein, das Denken und
Philoſophiren, ſind ebenſo Funktionen der Ganglien-Zellen der
Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelenthätig-
keiten. Alle zuſammen vereinigen wir in dem höchſten Begriffe
der Vernunft*).
Vernunft, Gemüth und Offenbarung. Durch die Ver-
nunft allein können wir zur wahren Natur-Erkenntniß und zur
2 *
[20]Vernunft, Gemüth und Offenbarung. I.
Löſung der Welträthſel gelangen. Die Vernunft iſt das höchſte
Gut des Menſchen und derjenige Vorzug, der ihn allein von
den Thieren weſentlich unterſcheidet. Allerdings hat ſie aber
dieſen hohen Werth erſt durch die fortſchreitende Kultur und
Geiſtesbildung, durch die Entwickelung der Wiſſenſchaft er-
halten. Der ungebildete Menſch und der rohe Naturmenſch ſind
ebenſo wenig (oder ebenſo viel) „vernünftig“ als die nächſt-
verwandten Säugethiere (Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w.).
Nun iſt aber in weiten Kreiſen noch heute die Anſicht verbreitet,
daß es außer der göttlichen Vernunft noch zwei weitere (ja
ſogar wichtigere!) Erkenntniß-Wege gebe: Gemüth und Offen-
barung. Dieſem gefährlichen Irrthum müſſen wir von vorn-
herein entſchieden entgegentreten. Das Gemüth hat mit
der Erkenntniß der Wahrheit gar Nichts zu thun.
Was wir „Gemüth“ nennen und hochſchätzen, iſt eine ver-
wickelte Thätigkeit des Gehirns, welche ſich aus Gefühlen der Luſt
und Unluſt, aus Vorſtellungen der Zuneigung und Abneigung,
aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zuſammenſetzt.
Dabei können die verſchiedenſten anderen Thätigkeiten des Or-
ganismus mitſpielen, Bedürfniſſe der Sinne und der Muskeln,
des Magens und der Geſchlechtsorgane u. ſ. w. Die Erkenntniß
der Wahrheit fördern alle dieſe Gemüths-Zuſtände und Gemüths-
Bewegungen in keiner Weiſe; im Gegentheil ſtören ſie oft die
allein dazu befähigte Vernunft und ſchädigen ſie häufig in
empfindlichem Grade. Noch kein „Welträthſel“ iſt durch die
Gehirn-Funktion des Gemüths gelöſt oder auch nur gefördert
worden. Daſſelbe gilt aber auch von der ſogenannten „Offen-
barung“ und den angeblichen, dadurch erreichten „Glaubens-
wahrheiten“; dieſe beruhen ſämmtlich auf bewußter oder
unbewußter Täuſchung, wie wir im 16. Kapitel ſehen werden.
Philoſophie und Naturwiſſenſchaft. Als einen der er-
freulichſten Fortſchritte zur Löſung der Welträthſel müſſen wir
[21]I. Erfahrung und Denken.
es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen,
dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken — oder
Empirie und Spekulation — als gleichberechtigte und ſich
gegenſeitig ergänzende Erkenntniß-Methoden anerkannt worden
ſind. Die Philoſophen haben allmählich eingeſehen, daß die reine
Spekulation, wie ſie z. B. Plato und Hegel zur idealen
Welt-Conſtruction benutzten, zur wahren Erkenntniß nicht aus-
reicht. Und ebenſo haben ſich anderſeits die Naturforſcher
überzeugt, daß die bloße Erfahrung, wie ſie z. B. Baco und
Mill zur Grundlage der realen Weltanſchauung erhoben, für
deren Vollendung allein ungenügend iſt. Denn die zwei großen
Erkenntniß-Wege, die ſinnliche Erfahrung und das vernünftige
Denken, ſind zwei verſchiedene Gehirn-Functionen;
die erſtere wird durch die Sinnesorgane und die centralen
Sinnesherde, die letztere durch die dazwiſchen liegenden Denk-
herde, die großen „Aſſocions-Centren der Großhirnrinde“ ver-
mittelt. (Vergl. Kapitel 7 und 10.) Erſt durch die vereinigte
Thätigkeit beider entſteht wahre Erkenntniß. Allerdings giebt
es auch heute noch manche Philoſophen, welche die Welt bloß
aus ihrem Kopfe conſtruiren wollen, und welche die empiriſche
Naturerkenntniß ſchon deßhalb verſchmähen, weil ſie die wirkliche
Welt nicht kennen. Anderſeits behaupten auch heute noch manche
Naturforſcher, daß die einzige Aufgabe der Wiſſenſchaft das
„thatſächliche Wiſſen, die objektive Erforſchung der einzelnen
Natur-Erſcheinungen ſei“; das „Zeitalter der Philoſophie“ ſei
vorüber, und an ihre Stelle ſei die Naturwiſſenſchaft getreten *).
Dieſe einſeitige Ueberſchätzung der Empirie iſt ebenſo ein gefähr-
licher Irrthum wie jene entgegengeſetzte der Spekulation. Beide
Erkenntniß-Wege ſind ſich gegenſeitig unentbehrlich. Die größten
[22]Empirie und Spekulation. I.
Triumphe der modernen Naturforſchung, die Zellentheorie und
die Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Subſtanz-
Geſetz, ſind philoſophiſche Thaten, aber nicht Ergebniſſe
der reinen Spekulation, ſondern der vorausgegangenen, aus-
gedehnteſten und gründlichſten Empirie.
Am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts rief unſer größter
idealiſtiſcher Dichter, Schiller, den beiden ſtreitenden Heeren,
den Philoſophen und Naturforſchern, zu:
„Feindſchaft ſei zwiſchen Euch! Noch kommt das Bündniß zu frühe!
„Wenn Ihr im Suchen Euch trennt, wird erſt die Wahrheit erkannt!“
Seitdem hat ſich das Verhältniß zum Glück gründlich ge-
ändert; indem beide Heere auf verſchiedenen Wegen nach dem-
ſelben höchſten Ziele ſtrebten, haben ſie ſich in demſelben zu-
ſammengefunden und nähern ſich im gemeinſamen Bunde immer
mehr der Erkenntniß der Wahrheit. Wir ſind jetzt am Ende
des Jahrhunderts zu jener moniſtiſchen Erkenntniß-
Methode zurückgekehrt, welche ſchon an deſſen Anfang von
unſerm größten realiſtiſchen Dichter, Goethe, als die einzig
naturgemäße anerkannt war *).
Dualismus und Monismus. Alle verſchiedenen Rich-
tungen der Philoſophie laſſen ſich, vom heutigen Standpunkte
der Naturwiſſenſchaft beurtheilt, in zwei entgegengeſetzte Reihen
bringen, einerſeits die dualiſtiſche oder zwieſpältige, anderſeits
die moniſtiſche oder einheitliche Weltanſchauung. Gewöhnlich
iſt die erſtere mit teleologiſchen und idealiſtiſchen Dogmen ver-
knüpft, die letztere mit mechaniſtiſchen und realiſtiſchen Grund-
begriffen. Der Dualismus (im weiteſten Sinne!) zerlegt
das Univerſum in zwei ganz verſchiedene Subſtanzen, die mate-
rielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer,
Erhalter und Regierer gegenüberſteht. Der Monismus hin-
[23]I. Monismus und Dualismus.
gegen (ebenfalls im weiteſten Sinn begriffen!) erkennt im Uni-
verſum nur eine einzige Subſtanz, die „Gott und Natur“ zugleich
iſt: Körper und Geiſt (oder Materie und Energie) ſind für ſie
untrennbar verbunden. Der extramundane Gott des Dualis-
mus führt nothwendig zum Theismus; hingegen der intra-
mundane Gott des Monismus zum Pantheismus.
Materialismus und Spiritualismus. Sehr häufig wer-
den auch heute noch die verſchiedenen Begriffe Monismus und
Materialismus und ebenſo die weſentlich verſchiedenen Rich-
tungen des theoretiſchen und des praktiſchen Materialismus ver-
wechſelt. Da dieſe und andere ähnliche Begriffs-Verwirrungen
höchſt nachtheilig wirken und zahlreiche Irrthümer veranlaſſen,
wollen wir zur Vermeidung aller Mißverſtändniſſe nur kurz noch
Folgendes bemerken: I. Unſer reiner Monismus iſt weder
mit dem theoretiſchen Materialismus identiſch, welcher den
Geiſt leugnet und die Welt in eine Summe von todten Atomen
auflöſt, noch mit dem theoretiſchen Spiritualismus (neuer-
dings von Oſtwald als Energetik bezeichnet *), welcher die
Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete
Gruppe von Energien oder immateriellen Naturkräften betrachtet.
II. Vielmehr ſind wir mit Goethe der feſten Ueberzeugung,
daß „die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie
exiſtirt und wirkſam ſein kann“. Wir halten feſt an dem reinen
und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie,
als die unendlich ausgedehnte Subſtanz, und der Geiſt (oder die
Energie), als die empfindende oder denkende Subſtanz, ſind die
beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenſchaften des
allumfaſſenden göttlichen Weltweſens, der univerſalen Subſtanz.
(Vergl. Kapitel 12.)
[[24]][[25]]
Zweites Kapitel.
Unſer Körperbau.
Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende
Anatomie. Uebereinſtimmung in der gröberen und feineren
Organiſation des Menſchen und der Säugethiere.
‘„Wir mögen ein Syſtem von Organen
vornehmen, welches wir wollen, die Ver-
gleichung ihrer Modifikationen in der
Affenreihe führt uns zu einem und dem-
ſelben Reſultate; daß die anatomiſchen
Verſchiedenheiten, welche den Menſchen
vom Gorilla und Schimpanſe ſcheiden,
nicht ſo groß ſind als diejenigen, welche
den Gorilla von den übrigen Affen
trennen.“
Thomas Huxley (1863).’ ()
[[26]]
Grundlegende Bedeutung der Anatomie. Menſchliche Anatomie. Hippo-
krates. Ariſtoteles. Galenus. Veſalius. Vergleichende Anatomie. George
Cuvier. Johannes Müller. Carl Gegenbaur. Gewebelehre. Zellentheorie.
Schleiden und Schwann. Kölliker. Virchow. Wirbelthier-Natur des
Menſchen. Tetrapoden-Natur des Menſchen. Säugethier-Natur des Menſchen.
Placentalien-Natur des Menſchen. Primaten-Natur des Menſchen. Halb-
affen und Affen. Katarrhinen. Papiomorphen und Anthropomorphen.
Weſentliche Gleichheit im Körperbau des Menſchen und der Menſchenaffen.
Carl Gegenbaur, Lehrbuch der Anatomie des Menſchen. 2 Bände. Leipzig
1883. Siebente Auflage 1899.
Rudolf Virchow, Geſammelte Abhandlungen zur wiſſenſchaftlichen Medicin.
I. Die Einheits-Beſtrebungen. Frankfurt a. M. 1856.
Johannes Rauke, Der Menſch (mit über tauſend Abbildungen). Leipzig 1887.
Robert Wiedersheim, Der Bau des Menſchen als Zeugniß für ſeine Ver-
gangenheit. Zweite Auflage. Leipzig 1893.
Robert Hartmann, Die menſchenähnlichen Affen und ihre Organiſation im
Vergleich zur menſchlichen. Leipzig 1883.
Ernſt Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeſchichte des Menſchen.
XI. Die Wirbelthier-Natur des Menſchen. Leipzig 1874. Vierte
Auflage 1891.
Theodor Schwann, Mikroſkopiſche Unterſuchungen über die Uebereinſtimmung
in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen.
Berlin 1839.
Albert Kölliker, Handbuch der Gewebelehre des Menſchen. (Für Aerzte
und Studirende.) Leipzig 1852. Sechſte Auflage 1889.
Philipp Stöhr, Lehrbuch der Hiſtologie und der mikroſkopiſchen Anatomie
des Menſchen. Achte Auflage. Jena 1898.
Oscar Hertwig, Die Zelle und die Gewebe. Grundzüge der allgemeinen
Anatomie und Phyſiologie. Jena 1896.
[[27]]
Alle biologiſchen Unterſuchungen, alle Forſchungen über die
Geſtaltung und Lebensthätigkeit der Organismen haben zunächſt
den ſichtbaren Körper in's Auge zu faſſen, an welchem uns
die betreffenden morphologiſchen und phyſiologiſchen Er-
ſcheinungen entgegentreten. Dieſer Grundſatz gilt ebenſo für
den Menſchen wie für alle anderen belebten Naturkörper.
Dabei darf ſich die Unterſuchung nicht mit der Betrachtung
der äußeren Geſtalt begnügen, ſondern ſie muß in das Innere
derſelben eindringen und ihre Zuſammenſetzung aus den gröberen
und feineren Beſtandtheilen erforſchen. Die Wiſſenſchaft, welche
dieſe grundlegende Unterſuchung im weiteſten Umfange aus-
zuführen hat, iſt die Anatomie.
Menſchliche Anatomie. Die erſte Anregung zur Er-
kenntniß des menſchlichen Körperbaues ging naturgemäß von der
Heilkunde aus. Da dieſe bei den älteſten Kulturvölkern ge-
wöhnlich von den Prieſtern ausgeübt wurde, dürfen wir an-
nehmen, daß dieſe höchſten Vertreter der damaligen Bildung
ſchon im zweiten Jahrtauſend vor Chriſto und früher über ein
gewiſſes Maaß von anatomiſchen Kenntniſſen verfügten. Aber
genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von
Säugethieren und von dieſen übertragen auf den Menſchen,
finden wir erſt bei den griechiſchen Natur-Philoſophen des
ſechſten und fünften Jahrhunderts vor Chr., bei Empedokles
(von Agrigent) und Demokritos (von Abdera), vor Allen
aber bei dem berühmteſten Arzte des klaſſiſchen Alterthums, bei
[28]Menſchliche Anatomie im Alterthum. II.
Hippokrates (von Kos). Aus ihren und anderen Schriften
ſchöpfte auch (im vierten Jahrh. v. Chr.) der große Ariſto-
teles, der hochberühmte „Vater der Naturgeſchichte“, gleich um-
faſſend als Naturforſcher wie als Philoſoph. Nach ihm er-
ſcheint nur noch ein bedeutender Anatom im Alterthum, der
griechiſche Arzt Claudius Galenus (von Pergamus); er
entfaltete im zweiten Jahrhundert nach Chr. in Rom unter
Kaiſer Marcus Aurelius eine reiche Praxis. Alle dieſe älteren
Anatomen erwarben ihre Kenntniſſe zum größten Teile nicht
durch die Unterſuchung des menſchlichen Körpers ſelbſt — die
damals noch ſtreng verboten war! —, ſondern durch diejenige
der menſchenähnlichſten Säugethiere, beſonders der Affen; ſie
waren alſo alle eigentlich ſchon „vergleichende Anatomen“.
Das Emporblühen des Chriſtenthums und der damit
verknüpften myſtiſchen Weltanſchauung bereitete der Anatomie,
wie allen anderen Naturwiſſenſchaften, den Niedergang. Die
römiſchen Päpſte, die größten Gaukler der Weltgeſchichte,
waren vor Allem beſtrebt, die Menſchheit in Unwiſſenheit
zu erhalten, und hielten die Kenntniß des menſchlichen Orga-
nismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung
über unſer wahres Weſen. Während des langen Zeitraums von
dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus
faſt die einzige Quelle für die menſchliche Anatomie, ebenſo wie
diejenigen des Ariſtoteles für die geſammte Naturgeſchichte.
Erſt als im ſechzehnten Jahrhundert n. Chr. durch die Refor-
mation die geiſtige Weltherrſchaft des Papismus gebrochen
und durch das neue Weltſyſtem des Kopernikus die eng
damit verknüpfte geocentriſche Weltanſchauung zerſtört wurde,
begann auch für die Erkenntniß des menſchlichen Körpers eine
neue Periode des Aufſchwungs. Die großen Anatomen Veſa-
lius (aus Brüſſel), Euſtachius und Fallopius (aus
Modena) förderten durch eigene gründliche Unterſuchungen die
[29]II. Menſchliche Anatomie im Mittelalter.
genaue Kenntniß unſeres Körperbaues ſo ſehr, daß ihren zahl-
reichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältniſſe haupt-
ſächlich nur Einzelheiten feſtzuſtellen übrig blieben. Der ebenſo
kühne als geiſtreiche und unermüdliche Andreas Veſalius
(deſſen Familie, wie der Name ſagt, aus Weſel ſtammte)
ging bahnbrechend Allen voran; er vollendete ſchon in ſeinem
28. Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk „De
humani corporiſ fabrica“, 1543; er gab der ganzen menſch-
lichen Anatomie eine neue, ſelbſtſtändige Richtung und ſichere
Grundlage. Dafür wurde Veſalius ſpäter in Madrid — wo
er Leibarzt Karls V. und Philipps II. war — von der Inquiſition
als Zauberer zum Tode verurtheilt. Er rettete ſich nur dadurch,
daß er eine Reiſe nach Jeruſalem antrat; auf der Rückreiſe litt
er bei der Inſel Zante Schiffbruch und ſtarb hier im Elend,
krank und aller Mittel beraubt.
Vergleichende Anatomie. Die Verdienſte, welche unſer
neunzehntes Jahrhundert ſich um die Erkenntniß des menſchlichen
Körperbaues erworben hat, beſtehen vor Allem in dem Ausbau
von zwei neuen, überaus wichtigen Forſchungsrichtungen, der
„vergleichenden Anatomie“ und der „Gewebelehre“
oder der „mikroſkopiſchen Anatomie“. Was zunächſt die erſtere
betrifft, ſo war ſie allerdings ſchon von Anfang an mit der
menſchlichen Anatomie eng verknüpft geweſen; ja, die letztere
wurde ſogar ſo lange durch die erſtere erſetzt, als die Sektion
menſchlicher Leichen für ein todeswürdiges Verbrechen galt —
und das war ſogar noch im 15. Jahrhundert der Fall! Aber die
zahlreichen Anatomen der folgenden drei Jahrhunderte be-
ſchränkten ſich größtentheils auf die genaue Unterſuchung des
menſchlichen Organismus. Diejenige hoch entwickelte Disciplin,
die wir heute vergleichende Anatomie nennen, wurde erſt im
Jahre 1803 geboren, als der große franzöſiſche Zoologe George
Cuvier (aus Mömpelgard im Elſaß ſtammend) ſeine grund-
[30]Vergleichende Anatomie. II.
legenden „Leçonſ ſur l'Anatomie comparée“ herausgab und
damit zum erſten Male beſtimmte Geſetze über den Körperbau
des Menſchen und der Thiere feſtzuſtellen ſuchte. Während ſeine
Vorläufer — unter ihnen auch Goethe 1790 — hauptſächlich
nur das Knochengerüſte des Menſchen mit demjenigen der
übrigen Säugethiere eingehend verglichen hatten, umfaßte
Cuvier's weiter Blick die Geſammtheit der thieriſchen Orga-
niſation; er unterſchied in derſelben vier große, von einander
unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbelthiere (Verte-
brata), Gliederthiere (Articulata), Weichthiere (Molluſca) und
Strahlthiere (Radiata). Für die „Frage aller Fragen“ war
dieſer Fortſchritt inſofern epochemachend, als damit klar die
Zugehörigkeit des Menſchen zum Typus der Wirbelthiere
— ſowie ſeine Grundverſchiedenheit von allen anderen Typen —
ausgeſprochen war. Allerdings hatte ſchon der ſcharfblickende
Linné in ſeinem erſten „Syſtema naturae“ (1735) einen be-
deutungsvollen Fortſchritt damit gethan, daß er dem Menſchen
definitiv ſeinen Platz in der Klaſſe der Säugethiere(Mam-
malia) anwies; ja er vereinigte ſogar in der Ordnung der
Herrenthiere(Primateſ) die drei Gruppen der Halbaffen,
Affen und Menſchen (Lemur, Simia, Homo). Aber es fehlte
dieſem kühnen, ſyſtematiſchen Griffe noch jene tiefere empiriſche
Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erſt Cuvier
herbeiführte. Dieſe fand ihre weitere Ausführung durch die
großen vergleichenden Anatomen unſeres Jahrhunderts, durch
Friedrich Meckel (in Halle), Johannes Müller (in Berlin),
Richard Owen und Thomas Huxley (in England),
Carl Gegenbaur (in Jena, ſpäter in Heidelberg). Indem
dieſer Letztere in ſeinen Grundzügen der vergleichenden Ana-
tomie (1870) zum erſten Male die durch Darwin neu be-
gründete Abſtammungslehre auf jene Wiſſenſchaft anwendete,
erhob er ſie zum erſten Range unter den biologiſchen Disci-
[31]II. Gewebelehre und Zellentheorie.
plinen. Die zahlreichen vergleichend-anatomiſchen Arbeiten
von Gegenbaur ſind, ebenſo wie ſein allgemein verbreitetes
„Lehrbuch der Anatomie des Menſchen“, gleich ausgezeichnet durch
die gründliche empiriſche Kenntniß eines ungeheuren Thatſachen-
Materials, wie durch die umfaſſende Beherrſchung desſelben und
ſeine philoſophiſche Verwerthung im Sinne der Entwickelungs-
lehre. Seine kürzlich erſchienene „Vergleichende Anatomie der
Wirbelthiere“ (1898) legt den unerſchütterlichen Grund feſt, auf
welchem ſich unſere Ueberzeugung von der Wirbelthier-Natur
des Menſchen nach allen Richtungen hin klar beweiſen läßt.
Gewebelehre(Hiſtologie) und Zellenlehre(Cyto-
logie). In ganz anderer Richtung als die vergleichende, ent-
wickelte ſich im Laufe unſeres Jahrhunderts die mikroſkopiſche
Anatomie. Schon im Anfange desſelben (1802) unternahm
ein franzöſiſcher Arzt, Bichat, den Verſuch, mittelſt des
Mikroſkopes die Organe des menſchlichen Körpers in ihre ein-
zelnen feineren Beſtandtheile zu zerlegen und die Beziehungen
dieſer verſchiedenen Gewebe(Hiſta oder Tela) feſtzuſtellen.
Aber dieſer erſte Verſuch führte nicht weit, da ihm das gemein-
ſame Element für die zahlreichen verſchiedenen Gewebe unbekannt
blieb. Dies wurde erſt 1838 für die Pflanzen in der Zelle
von Matthias Schleiden (in Jena) entdeckt und gleich
darauf auch für die Thiere von Theodor Schwann nach-
gewieſen, dem Schüler und Aſſiſtenten von Johannes Müller
in Berlin. Zwei andere berühmte Schüler dieſes großen Meiſters,
die heute noch leben, Albert Kölliker und Rudolf
Virchow, führten dann im ſechſten Decennium des 19. Jahr-
hunderts (in Würzburg) die Zellentheorie und die darauf ge-
gründete Gewebelehre für den geſunden und kranken Organismus
des Menſchen im Einzelnen durch; ſie wieſen nach, daß auch im
Menſchen, wie in allen andern Thieren, alle Gewebe ſich aus
den gleichen mikroſkopiſchen Formbeſtandtheilen, den Zellen,
[32]Mikroſkopiſche Anatomie des Menſchen. II.
zuſammenſetzen, und daß dieſe „Elementar-Organismen“ die
wahren, ſelbſtthätigen Staatsbürger ſind, die, zu Milliarden ver-
einigt, unſern Körper, den „Zellenſtaat“, aufbauen. Alle dieſe
Zellen entſtehen durch oft wiederholte Theilung aus einer ein-
zigen, einfachen Zelle, aus der „Stammzelle“ oder „be-
fruchteten Eizelle“ (Cytula). Die allgemeine Struktur und Zu-
ſammenſetzung der Gewebe iſt beim Menſchen dieſelbe wie bei
den übrigen Wirbelthieren. Unter dieſen zeichnen ſich die
Säugethiere, die jüngſte und höchſt entwickelte Klaſſe, durch ge-
wiſſe beſondere, ſpät erworbene Eigenthümlichkeiten aus. So
iſt z. B. die mikroſkopiſche Bildung der Haare, der Hautdrüſen,
der Milchdrüſen, der Blutzellen bei den Mammalien ganz eigen-
thümlich und verſchieden von derjenigen der übrigen Vertebraten;
der Menſch iſt auch in allen dieſen feinſten hiſtologiſchen Be-
ziehungen ein echtes Säugethier.
Die mikroſkopiſchen Forſchungen von Albert Kölliker
und von Franz Leydig (ebenfalls in Würzburg) erweiterten
nicht nur unſere Kenntniß vom feineren Körperbau des Menſchen
und der Thiere nach allen Richtungen, ſondern ſie wurden auch
beſonders wichtig durch die Verbindung mit der Entwicke-
lungsgeſchichte der Zelle und der Gewebe; ſie beſtätigten
namentlich die wichtige Theorie von Carl Theodor Siebold
(1845), daß die niedrigſten Thiere, die Infuſorien und Rhizo-
poden, einzellige Organismen ſind.
Wirbelthier-Natur des Menſchen. Unſer geſammter
Körperbau zeigt ſowohl in der gröberen als in der feineren Zu-
ſammenſetzung den charakteriſtiſchen Typus der Wirbelthiere
(Vertebrata). Dieſe wichtigſte und höchſt entwickelte Haupt-
gruppe des Thierreichs wurde in ihrer natürlichen Einheit zuerſt
1801 von dem großen Lamarck erkannt; er faßte unter dieſem
Begriffe die vier höheren Thierklaſſen von Linné zuſammen:
[33]II. Wirbelthier-Natur des Menſchen.
Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen
Klaſſen: Inſekten und Würmer, ſtellte er jenen als „Wirbel-
loſe“ (Invertebrata) gegenüber. Cuvier beſtätigte (1812)
die Einheit des Vertebraten-Typus und begründete ſie feſter
durch ſeine vergleichende Anatomie. In der That ſtimmen alle
Wirbelthiere, von den Fiſchen aufwärts bis zum Menſchen, in
allen weſentlichen Hauptmerkmalen überein; ſie beſitzen alle ein
feſtes inneres Skelett, Knorpel- und Knochengerüſt, und dieſes
beſteht überall aus einer Wirbelſäule und einem Schädel; die
verwickelte Zuſammenſetzung des letzteren iſt zwar im Einzelnen
ſehr mannigfaltig, aber im Allgemeinen ſtets auf dieſelbe Urform
zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Vertebraten auf der
Rückenſeite dieſes Axenſkeletts das „Seelenorgan“, das centrale
Nervenſyſtem, in Geſtalt eines Rückenmarks und eines Gehirns;
und auch von dieſem wichtigen Gehirn — dem Werkzeuge des
Bewußtſeins und aller höheren Seelenthätigkeiten! — gilt
dasſelbe wie von der es umſchließenden Knochenkapſel, dem
Schädel; im Einzelnen iſt ſeine Ausbildung und Größe höchſt
mannigfaltig abgeſtuft, im Großen und Ganzen bleibt die
charakteriſtiſche Zuſammenſetzung dieſelbe.
Die gleiche Erſcheinung zeigt ſich nun auch, wenn wir die
übrigen Organe unſeres Körpers mit denen der anderen Wirbel-
thiere vergleichen: überall bleibt in Folge von Vererbung die
urſprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe
dieſelbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Theile
höchſt mannigfaltig ſich ſondert, entſprechend der Anpaſſung
an ſehr verſchiedene Lebensbedingungen. So ſehen wir, daß
überall das Blut in zwei Hauptröhren kreiſt, von denen die eine
(Aorta) über dem Darm, die andere (Principalvene) unter dem
Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an
einer ganz beſtimmten Stelle das Herz entſteht; dieſes „Ventral-
Herz“ iſt für alle Wirbelthiere ebenſo charakteriſtiſch wie um-
Haeckel, Welträthſel. 3
[34]Tetrapoden-Natur des Menſchen. II.
gekehrt das Rückengefäß oder „Dorſal-Herz“ für die Glieder-
thiere und Weichthiere. Nicht minder eigenthümlich iſt bei allen
Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen
zur Athmung dienenden Kopfdarm (oder „Kiemendarm“) und
einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber
(daher „Leberdarm“); ferner die Gliederung des Muskel-
ſyſtems, die beſondere Bildung der Harn- und Geſchlechtsorgane
u. ſ. w. In allen dieſen anatomiſchen Beziehungen iſt der
Menſch ein echtes Wirbelthier.
Tetrapoden-Natur des Menſchen. Mit der Bezeichnung
Vierfüßer(Tetrapoda) hatte ſchon Ariſtoteles alle jene
höheren, blutführenden Thiere belegt, welche ſich durch den Beſitz
von zwei Beinpaaren auszeichnen. Später wurde dieſer Begriff
erweitert und mit der lateiniſchen Bezeichnung Quadrupeda
vertauſcht, nachdem Cuvier gezeigt hatte, daß auch die „zwei-
beinigen“ Vögel und Menſchen eigentlich Vierfüßer ſind; er
wies nach, daß das innere Knochengerüſte der vier Beine bei
allen höheren landbewohnenden Vertebraten, von den Amphibien
aufwärts bis zum Menſchen, urſprünglich in gleicher Weiſe aus
einer beſtimmten Zahl von Gliedern zuſammengeſetzt iſt. Auch
die „Arme“ des Menſchen, die „Flügel“ der Fledermäuſe und
Vögel zeigen denſelben typiſchen Skelettbau wie die „Vorder-
beine“ der laufenden, eigentlich vierfüßigen Thiere.
Dieſe anatomiſche Einheit des verwickelten Knochen-
gerüſtes in den vier Gliedmaßen aller Tetrapoden iſt ſehr
wichtig. Um ſich wirklich davon zu überzeugen, braucht man
bloß das Skelett eines Salamanders oder Froſches mit dem-
jenigen eines Affen oder Menſchen aufmerkſam zu vergleichen.
Da ſieht man ſofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten
der Beckengürtel aus denſelben Hauptſtücken zuſammengeſetzt iſt
wie bei den übrigen „Vierfüßern“. Ueberall ſehen wir, daß das
erſte Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen ſtarken
Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, Humeruſ; hinten den
[35]II. Tetrapoden-Natur des Menſchen.
Oberſchenkel, Femur); dagegen wird das zweite Glied urſprünglich
ſtets durch zwei Knochen geſtützt (vorn Ellbogen, Ulna, und
Speiche, Radiuſ; hinten Wadenbein, Fibula, und Schienbein,
Tibia). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des
eigentlichen Fußes, ſo überraſcht uns die Wahrnehmung, daß
die zahlreichen, denſelben zuſammenſetzenden, kleinen Knochen
ebenfalls überall ähnlich angeordnet und geſondert ſind; vorn
entſprechen ſich in allen Klaſſen der Tetrapoden die drei Knochen-
gruppen des Vorderfußes (oder der „Hand“): I. Handwurzel
(Carpuſ), II. Mittelhand (Metacarpuſ) und III. fünf Finger
(Digiti anterioreſ); ebenſo hinten die drei Knochengruppen
des Hinterfußes: I. Fußwurzel (Tarſuſ), II. Mittelfuß (Meta-
tarſuſ) und III. fünf Zehen (Digiti poſterioreſ). Sehr
ſchwierig war die Aufgabe, alle dieſe zahlreichen kleinen Knochen,
die im Einzelnen höchſt mannigfaltig geſtaltet und umgebildet,
theilweiſe oft verſchmolzen oder verſchwunden ſind, auf eine
und dieſelbe Urform zurückzuführen, ſowie die Gleichwerthigkeit
(oder Homologie) der einzelnen Theile überall feſtzuſtellen. Dieſe
wichtige Aufgabe wurde erſt vollſtändig von dem bedeutendſten
vergleichenden Anatomen der Gegenwart gelöſt, von Carl
Gegenbaur. Er zeigte in ſeinen „Unterſuchungen zur ver-
gleichenden Anatomie der Wirbelthiere“ (1864), wie dieſe charakte-
riſtiſche „fünfzehige Beinform“ der landbewohnenden Tetrapoden
urſprünglich (erſt in der Steinkohlen-Periode) aus der viel-
ſtrahligen „Floſſe“ (Bruſtfloſſe oder Bauchfloſſe) der älteren,
waſſerbewohnenden Fiſche entſtanden war. In gleicher Weiſe
hatte Derſelbe in ſeinen berühmten Unterſuchungen über „das
Kopfſkelett der Wirbelthiere“ (1872) den jüngeren Schädel der
Tetrapoden aus der älteſten Schädelform der Fiſche abgeleitet,
derjenigen der Haifiſche (Selachier).
Beſonders bemerkenswerth iſt noch, daß die urſprüngliche,
zuerſt bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entſtandene
3 *
[36]Säugethier-Natur des Menſchen. II.
Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen — die Penta-
dactylie — ſich in Folge ſtrenger Vererbung noch beim Menſchen
bis auf den heutigen Tag conſervirt hat. Selbſtverſtändlich iſt dem
entſprechend auch die typiſche Bildung der Gelenke und Bänder,
der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Haupt-
ſache dieſelbe geblieben wie bei den übrigen „Vierfüßern“; auch
in dieſen wichtigen Beziehungen iſt der Menſch ein
echter Tetrapode.
Säugethier-Natur des Menſchen. Die Säugethiere
(Mammalia) bilden die jüngſte und höchſt entwickelte Klaſſe der
Wirbelthiere. Sie ſind zwar ebenſo wie die Vögel und Repti-
lien aus der älteren Klaſſe der Amphibien abzuleiten; ſie
unterſcheiden ſich aber von allen dieſen anderen Tetrapoden durch
eine Anzahl von ſehr auffallenden anatomiſchen Merkmalen.
Aeußerlich tritt vor Allem die Haarbedeckung der Haut
hervor, ſowie der Beſitz von zweierlei Hautdrüſen: Schweiß-
drüſen und Talgdrüſen. Aus einer lokalen Umbildung dieſer
Drüſen an der Bauchhaut entſtand (während der Trias-
Periode?) dasjenige Organ, welches für die Klaſſe beſonders
charakteriſtiſch iſt und ihr den Namen gegeben hat, das „Ge-
ſäuge“ (Mammarium). Dieſes wichtige Werkzeug der Brutpflege
iſt zuſammengeſetzt aus den Milchdrüſen(Mammae) und
den „Mammar-Taſchen“ (Falten der Bauchhaut); durch ihre
Fortbildung entſtanden die Zitzen oder „Milchwarzen“,
(Maſta), aus denen das junge Mammale die Milch ſeiner
Mutter ſaugt. Im inneren Körperbau iſt beſonders bemerkens-
werth der Beſitz eines vollſtändigen Zwerchfells(Diaphragma),
einer muskulöſen Scheidewand, welche bei allen Säugethieren —
und nur bei dieſen! — die Bruſthöhle von der Bauchhöhle
gänzlich abſchließt; bei allen übrigen Wirbelthieren fehlt dieſe
Trennung. Durch eine Anzahl von merkwürdigen Umbildungen
zeichnet ſich auch der Schädel der Mammalien aus, beſonders
[37]II. Säugethier-Natur des Menſchen.
der Bau des Kiefer-Apparates (Oberkiefer, Unterkiefer und Gehör-
knochen). Aber auch das Gehirn, das Geruchsorgan, das Herz,
die Lungen, die inneren und äußeren Geſchlechtsorgane, die
Nieren und andere Körpertheile zeigen bei den Säugethieren
beſondere Eigenthümlichkeiten im gröberen und feineren Bau:
dieſe alle vereinigt weiſen unzweideutig auf eine frühzeitige
Trennung derſelben von den älteren Stammgruppen der Reptilien
und Amphibien hin, welche ſpäteſtens in der Trias-
Periode — vor mindeſtens zwölf Millionen Jahren! — ſtatt-
gefunden hat. In allen dieſen wichtigen Beziehungen iſt der
Menſch ein echtes Säugethier.
Placentalien-Natur des Menſchen. Die zahlreichen
Ordnungen (12-33), welche die moderne ſyſtematiſche Zoologie
in der Claſſe der Säugethiere unterſcheidet, werden ſchon ſeit
1816 (nach Blainville) in drei natürliche Hauptgruppen ge-
ordnet, welchen man den Werth von Unterklaſſen zuſpricht:
I.Gabelthiere(Monotrema), II.Beutelthiere(Marſu-
pialia) und III.Zottenthiere(Placentalia). Dieſe drei
Subklaſſen unterſcheiden ſich nicht nur in wichtigen Verhältniſſen
des Körperbaues und der Entwickelung, ſondern entſprechen auch
drei verſchiedenen hiſtoriſchen Bildungsſtufen der Klaſſe,
wie wir ſpäter ſehen werden. Auf die älteſte Gruppe, die
Monotremen der Trias-Periode, ſind in der Jura-Zeit die
Marſupialien gefolgt und auf dieſe erſt in der Kreide-Periode
die Placentalien. Zu dieſer jüngſten Subklaſſe gehört auch
der Menſch; denn er zeigt in ſeiner Organiſation alle die Eigen-
thümlichkeiten, durch welche ſich ſämmtliche Zottenthiere von den
Beutelthieren und den noch älteren Gabelthieren unterſcheiden.
In erſter Linie gehört dahin das eigenthümliche Organ, welches
der Placentaliengruppe ihren Namen gegeben hat, der Mutter-
kuchen(Placenta). Dasſelbe dient dem jungen, im Mutterleibe
noch eingeſchloſſenen Mammalien-Embryo längere Zeit zur Er-
[38]Primaten-Natur des Menſchen. II.
nährung; es beſteht aus blutführenden Zotten, welche von
der Zottenhaut (Chorion) der Keimhülle auswachſen und in
entſprechende Grübchen der Schleimhaut des mütterlichen Frucht-
behälters (Uteruſ) eindringen; hier wird die zarte Haut zwiſchen
beiden Gebilden ſo ſehr verdünnt, daß unmittelbar die er-
nährenden Stoffe aus dem mütterlichen Blute durch dieſelbe
hindurch in das kindliche Blut übertreten können. Dieſe
vortreffliche, erſt ſpät entſtandene Ernährungsart des Keimes
ermöglicht demſelben einen längeren Aufenthalt und eine weitere
Ausbildung in der ſchützenden Gebärmutter; ſie fehlt noch den
Implacentalien, den beiden älteren Subklaſſen der Beutelthiere
und Gabelthiere. Aber auch durch andere anatomiſche Merk-
male, insbeſondere die höhere Ausbildung des Gehirns und den
Verluſt der Beutelknochen, erheben ſich die Zottenthiere über
ihre Implacentalien-Ahnen. In allen dieſen wichtigen Be-
ziehungen iſt der Menſch ein echtes Zottenthier.
Primaten-Natur des Menſchen. Die formenreiche Sub-
klaſſe der Placental-Thiere wird neuerdings in eine große Zahl
von Ordnungen getheilt; gewöhnlich werden deren 10-16
angenommen; wenn man aber die wichtigen, in neueſter Zeit
entdeckten, ausgeſtorbenen Formen gehörig berückſichtigt, ſteigt
ihre Zahl auf mindeſtens 20-26. Zur beſſeren Ueberſicht dieſer
zahlreichen Ordnungen und zur tieferen Einſicht in ihren
verwandtſchaftlichen Zuſammenhang iſt es ſehr wichtig, ſie in
natürliche größere Gruppen zuſammenzuſtellen, denen ich den
Werth von Legionen gegeben habe. In meinem neueſten Ver-
ſuche *), das verwickelte Placentalien-Syſtem phylogenetiſch zu
ordnen, habe ich zur Aufnahme der 26 Ordnungen 8 ſolche
Legionen aufgeſtellt und gezeigt, daß dieſe ſich auf 4 Stamm-
gruppen zurückführen laſſen. Dieſe letzteren ſind wiederum auf
[39]II. Primaten-Natur des Menſchen.
eine gemeinſame älteſte Stammgruppe aller Placentalien zurück-
führbar, auf die foſſilen Urzottenthiere, die Prochoriaten
der Kreideperiode. Dieſe ſchließen ſich unmittelbar an die
Marſupalien-Ahnen der Juraperiode an. Als wichtigſte Vertreter
jener vier Hauptgruppen in der Gegenwart führen wir hier nur
die Nagethiere, Hufthiere, Raubthiere und Herrenthiere an. Zur
Legion der Herrenthiere(Primateſ) gehören die drei
Ordnungen der Halbaffen (Proſimiae), der echten Affen (Simiae)
und der Menſchen (Anthropi). Alle Angehörigen dieſer drei
Ordnungen ſtimmen in vielen wichtigen Eigenthümlichkeiten
überein und unterſcheiden ſich dadurch von den 23 übrigen
Ordnungen der Zottenthiere. Beſonders zeichnen ſie ſich durch
lange Beine aus, welche urſprünglich der kletternden Lebensweiſe
auf Bäumen angepaßt ſind. Hände und Füße ſind fünfzehig,
und die langen Finger vortrefflich zum Greifen und zum Um-
faſſen der Baumzweige geeignet; ſie tragen entweder theilweiſe
oder ſämmtlich Nägel (keine Krallen). Das Gebiß iſt voll-
ſtändig, aus allen vier Zahngruppen zuſammengeſetzt (Schneide-
zähne, Eckzähne, Lückenzähne, Backenzähne). Auch durch wichtige
Eigenthümlichkeiten im beſonderen Bau des Schädels und des
Gehirns unterſcheiden ſich die Herrenthiere von den übrigen
Zottenthieren, und zwar um ſo auffälliger, je höher ſie aus-
gebildet, je ſpäter ſie in der Erdgeſchichte aufgetreten ſind. In
allen dieſen wichtigen anatomiſchen Beziehungen ſtimmt unſer
menſchlicher Organismus mit demjenigen der übrigen Primaten
überein: der Menſch iſt ein echtes Herrenthier.
Affen-Natur des Menſchen. Eine unbefangene und
gründliche Vergleichung des Körperbaues der Primaten läßt
zunächſt in dieſer höchſt entwickelten Mammalien-Legion zwei
Ordnungen unterſcheiden: Halbaffen (Proſimiae oder
Hemipitheci) und Affen (Simiae oder Pitheci). Die erſteren
erſcheinen in jeder Beziehung als die niedere und ältere, die
[40]Körperbau des Menſchen und Affen. II.
letzteren als die höhere und jüngere Ordnung. Die Gebär-
mutter der Halbaffen iſt noch doppelt oder zweihörnig,
wie bei allen übrigen Säugethieren; bei den Affen dagegen
ſind rechter und linker Fruchtbehälter völlig verſchmolzen;
ſie bilden einen birnförmigen Uterus, wie ihn außer-
dem nur der Menſch beſitzt. Wie bei dieſem, ſo iſt auch
bei den Affen am Schädel die Augenhöhle von der
Schläfengrube durch eine knöcherne Scheidewand vollſtändig
getrennt; bei den Halbaffen iſt dieſe noch gar nicht oder nur
unvollſtändig ausgebildet. Endlich iſt bei den Halbaffen das
große Gehirn noch glatt oder nur ſchwach gefurcht, verhältniß-
mäßig klein; bei den Affen iſt es viel größer, und beſonders der
graue Hirnmantel, das Organ der höheren Seelenthätigkeiten,
iſt viel beſſer entwickelt; an ſeiner Oberfläche ſind die charakte-
riſtiſchen Windungen und Furchen um ſo mehr ausgeprägt, je
mehr er ſich dem Menſchen nähert. In dieſen und anderen
wichtigen Beziehungen, beſonders auch in der Bildung des
Geſichts und der Hände, zeigt der Menſch alle ana-
tomiſchen Merkmale der echten Affen.
Katarrhinen-Natur des Menſchen. Die formenreiche
Ordnung der Affen wurde ſchon 1812 von Geoffroy in zwei
natürliche Unterordnungen getheilt, die noch heute allgemein in
der ſyſtematiſchen Zoologie angenommen ſind: Weſtaffen (Platyr-
rhinae) und Oſtaffen (Catarrhinae); erſtere bewohnen aus-
ſchließlich die weſtliche, letztere die öſtliche Erdhälfte. Die ame-
rikaniſchen Weſtaffen heißen „Plattnaſen“ (Platyrrhinae),
weil ihre Naſe plattgedrückt, die Naſenlöcher ſeitlich gerichtet
und deren Scheidewand breit iſt. Dagegen ſind die Oſtaffen,
welche die Alte Welt bewohnen, ſämmtlich „Schmalnaſen“
(Catarrhinae); ihre Naſenlöcher ſind wie beim Menſchen nach
unten gerichtet, da ihre Scheidewand ſchmal iſt. Ein weiterer
[41]II. Körperbau des Menſchen und Affen.
Unterſchied beider Gruppen beſteht darin, daß das Trommelfell
bei den Weſtaffen oberflächlich, dagegen bei den Oſtaffen tiefer,
im Innern des Felſenbeins liegt; hier hat ſich ein langer und
enger knöcherner Gehörgang entwickelt, während dieſer bei den
Weſtaffen noch kurz und weit iſt oder ſelbſt ganz fehlt. Endlich
zeigt ſich ein ſehr wichtiger und durchgreifender Gegenſatz beider
Gruppen darin, daß alle Katarrhinen die Gebiß-Bildung des
Menſchen beſitzen, nämlich 20 Milchzähne und 32 bleibende
Zähne (in jeder Kieferhälfte 2 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 2 Lücken-
zähne und 3 Mahlzähne). Die Platyrrhinen dagegen zeigen in
jeder Kieferhälfte einen Lückenzahn mehr, alſo im Ganzen
36 Zähne. Da dieſe anatomiſchen Unterſchiede beider Affen-
gruppen ganz allgemein und durchgreifend ſind, und da ſie mit
der geographiſchen Verbreitung in den beiden getrennten Hemi-
ſphären der Erde zuſammenſtimmen, ergiebt ſich daraus die
Berechtigung ihrer ſcharfen ſyſtematiſchen Trennung, und weiter-
hin der daran geknüpften phylogenetiſchen Folgerung, daß ſeit
ſehr langer Zeit (ſeit mehr als einer Million Jahre) ſich
beide Unterordnungen in der weſtlichen und öſtlichen Hemi-
ſphäre getrennt von einander entwickelt haben. Das iſt für
die Stammesgeſchichte unſeres Geſchlechts überaus wichtig; denn
der Menſch theilt alle Merkmale der echten Katarrhinen;
er hat ſich aus älteren ausgeſtorbenen Affen dieſer Unterordnung
in der Alten Welt entwickelt.
Anthropomorphen-Gruppe. Die zahlreichen Formen der
Katarrhinen, welche noch heute in Aſien und Afrika leben,
werden ſchon ſeit langer Zeit in zwei natürliche Sectionen
getheilt: die geſchwänzten Hundsaffen(Cynopitheca) und
die ſchwanzloſen Menſchenaffen(Anthropomorpha). Dieſe
letzteren ſtehen dem Menſchen viel näher als die erſteren, nicht
nur in dem Mangel des Schwanzes und in der allgemeinen
[42]Menſchen und Menſchenaffen. II.
Geſtaltung des Körpers (beſonders des Kopfes), ſondern auch
durch beſondere Merkmale, die an ſich unbedeutend, aber wegen
ihrer Beſtändigkeit wichtig ſind. Das Kreuzbein iſt bei den
Menſchenaffen, wie beim Menſchen, aus fünf verſchmolzenen
Wirbeln zuſammengeſetzt, dagegen bei den Hundsaffen nur aus
drei (ſeltener vier) Kreuzwirbeln. Im Gebiß der Cyno-
pitheken ſind die Lückenzähne (Praemolareſ) länger als breit,
in demjenigen der Anthropomorphen breiter als lang; und
der erſte Mahlzahn (Molariſ) zeigt bei den erſteren vier, bei den
letzteren dagegen fünf Höcker. Ferner iſt im Unterkiefer jeder-
ſeits bei den Menſchenaffen, wie beim Menſchen, der äußere
Schneidezahn breiter als der innere, bei den Hundsaffen um-
gekehrt ſchmäler. Endlich iſt von beſonderer Bedeutung die
wichtige, erſt 1890 durch Selenka feſtgeſtellte Thatſache, daß
die Menſchenaffen mit dem Menſchen auch die eigenthümlichen
feineren Bildungsverhältniſſe ſeiner ſcheibenförmigen Placenta,
der Decidua reflexa und des Bauchſtiels theilen (vergl.
Kap. 4)*). Uebrigens ergiebt ſchon die oberflächliche Vergleichung
der Körperform der heute noch lebenden Anthropomorphen, daß
ſowohl die aſiatiſchen Vertreter dieſer Gruppe (Orang und
Gibbon) als die afrikaniſchen Vertreter (Gorilla und Schimpanſe)
dem Menſchen im geſammten Körperbau näher ſtehen als ſämmt-
liche Cynopitheken. Unter dieſen letzteren ſtehen namentlich die
hundsköpfigen Papſtaffen(Papiomorpha), die Paviane und
Meerkatzen, auf einer ſehr tiefen Bildungsſtufe. Der anatomiſche
Unterſchied zwiſchen dieſen rohen Papſtaffen und den höchſt ent-
wickelten Menſchenaffen iſt in jeder Beziehung — welches Organ
man auch vergleichen mag! — größer als derjenige zwiſchen
den letzteren und dem Menſchen. Dieſe lehrreiche Thatſache
wurde beſonders eingehend (1883) von dem Anatomen Robert
[43]II. Menſchen und Menſchenaffen.
Hartmann begründet, in ſeiner Schrift über „Die menſchenähnlichen
Affen und ihre Organiſation im Vergleiche zur menſchlichen“;
er ſchlug daher vor, die Affen-Ordnung in anderer Weiſe ein-
zutheilen, in die beiden Hauptgruppen der Primarier
(Menſchen und Menſchenaffen) und der eigentlichen Simien oder
Pitheken (die übrigen Katarrhinen und alle Platyrrhinen).
Jedenfalls ergiebt ſich daraus die engſte Verwandtſchaft
des Menſchen mit den Menſchenaffen.
Die vergleichende Anatomie ergiebt ſomit für den un-
befangenen und kritiſchen Forſcher die bedeutungsvolle Thatſache,
daß der Körperbau des Menſchen und der Menſchenaffen nicht
nur im höchſten Grade ähnlich, ſondern in allen weſentlichen
Beziehungen derſelbe iſt. Dieſelben 200 Knochen, in der gleichen
Anordnung und Zuſammenſetzung, bilden unſer inneres Knochen-
gerüſt; dieſelben 300 Muskeln bewirken unſere Bewegungen;
dieſelben Haare bedecken unſere Haut, dieſelben Gruppen von
Ganglienzellen ſetzen den kunſtvollen Wunderbau unſeres Gehirns
zuſammen, dasſelbe vierkammerige Herz iſt das centrale Pump-
werk unſeres Blutkreislaufs; dieſelben 32 Zähne ſetzen in der
gleichen Anordnung unſer Gebiß zuſammen; dieſelben Speichel-
drüſen, Leber- und Darmdrüſen vermitteln unſere Verdauung;
dieſelben Organe der Fortpflanzung ermöglichen die Erhaltung
unſeres Geſchlechts.
Allerdings finden wir bei genauer Vergleichung gewiſſe ge-
ringe Unterſchiede in der Größe und Geſtalt der meiſten
Organe zwiſchen dem Menſchen und den Menſchenaffen; allein
dieſelben oder ähnliche Unterſchiede entdecken wir auch bei der
ſorgfältigen Vergleichung der höheren und niederen Menſchen-
raſſen, ja ſogar bei der exakten Vergleichung aller einzelnen
Individuen unſerer eigenen Raſſe. Wir finden nicht zwei Per-
[44]Körperbau des Menſchen und Affen. II.
ſonen in derſelben, welche ganz genau dieſelbe Größe und Form
der Naſe, der Ohren, der Augen u. ſ. w. haben. Man braucht
bloß aufmerkſam in einer größeren Geſellſchaft dieſe einzelnen
Theile der menſchlichen Geſichtsbildung bei zahlreichen Per-
ſonen zu vergleichen, um ſich von der erſtaunlichen Mannichfaltigkeit
in deren ſpecieller Geſtaltung, von der weitgehenden Variabilität der
Species-Form zu überzeugen. Oft ſind ja bekanntlich ſelbſt Ge-
ſchwiſter von ſo verſchiedener Körperbildung, daß ihre Abſtammung
von einem und demſelben Elternpaare kaum glaublich erſcheint. Alle
dieſe individuellen Unterſchiede beeinträchtigen aber nicht das
Gewicht der fundamentalen Gleichheit im Körper-
bau; denn ſie ſind nur bedingt durch geringe Verſchiedenheiten
im Wachsthum der einzelnen Theile.
[[45]]
Drittes Kapitel.
Unſer Leben.
Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende
Phyſiologie. Uebereinſtimmung in allen Lebensfunktionen des
Menſchen und der Säugethiere.
‘„Niemals kann ſich für die Phyſiologie ein
anderes Erklärungs-Princip der körperlichen
Lebens-Erſcheinungen ergeben als für die Phyſik
und Chemie bezüglich der lebloſen Natur. Die
Annahme einer beſonderen „Lebenskraft“ iſt in
jeder Form nicht nur durchaus überflüſſig, ſondern
auch unzuläſſig. — Der Herd aller Lebens-Vor-
gänge und der Elementar-Beſtandtheil aller leben-
digen Subſtanz iſt die Zelle. Will daher die
Phyſiologie die elementaren und allgemeinen
Lebens-Erſcheinungen erklären, ſo wird ſie das
nur erreichen als Cellular-Phyſiologie.“
Max Berworn (1894).’ ()
[[46]]
Entwickelung der Phyſiologie im Alterthum und Mittelalter. Galenus.
Experiment und Viviſektion. Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey.
Lebenskraft (Vitalismus); Haller. Teleologiſche und vitaliſtiſche Auffaſſung
des Lebens. Mechaniſtiſche und moniſtiſche Beurtheilung der phyſiologiſchen
Proceſſe. Vergleichende Phyſiologie des 19. Jahrhunderts: Johannes Müller.
Cellular-Phyſiologie: Max Berworn. Cellular-Pathologie; Virchow. Säuge-
thier-Phyſiologie. Uebereinſtimmung aller Lebensthätigkeiten beim Menſchen
und Affen.
Johannes Müller, Handbuch der Phyſiologie des Menſchen. 3 Bände.
Coblenz 1833. Vierte Auflage 1844.
Rudolf Virchow, Die Cellular-Pathologie in ihrer Begründung auf phyſio-
logiſche und pathologiſche Gewebelehre. Berlin 1858. Vierte Auflage
1871.
Jacob Moleſchott, Kreislauf des Lebens. Phyſiologiſche Antworten auf
Liebig's chemiſche Briefe. Mainz 1852.
Carl Vogt, Phyſiologiſche Briefe für Gebildete aller Stände. Gießen 1854.
Dritte Auflage 1861.
Ludwig Büchner, Phyſiologiſche Bilder. Leipzig 1875.
C. Radenhauſen, Iſis. Der Menſch und die Welt. 4 Bände. Hamburg
1874.
Arnold Dodel, Aus Leben und Wiſſenſchaft. (I. Leben und Tod. II. Natur-
Berachtung und -Betrachtung. III. Moſes oder Darwin.) Stuttgart 1896.
Max Berworn, Allgemeine Phyſiologie. Ein Grundriß der Lehre vom
Leben. Jena 1894. Zweite Auflage 1897.
[[47]]
Unſere Kenntniß vom menſchlichen Leben hat ſich erſt
innerhalb des 19. Jahrhunderts zum Range einer ſelbſtändigen,
wirklichen Wiſſenſchaft erhoben; ſie hat ſich erſt innerhalb
desſelben zu einem der vornehmſten, intereſſanteſten und wichtig-
ſten Wiſſenszweige entwickelt. Dieſe „Lehre von den Lebens-
thätigkeiten“, die Phyſiologie, hat ſich zwar frühzeitig der
Heilkunde als eine wünſchenswerthe, ja nothwendige Vorbedingung
für erfolgreiche ärztliche Thätigkeit fühlbar gemacht, in engem
Zuſammenhang mit der Anatomie, der Lehre vom Körperbau.
Aber ſie konnte erſt viel ſpäter und langſamer als dieſe letztere
gründlich erforſcht werden, da ſie auf viel größere Schwierig-
keiten ſtieß.
Der Begriff des Lebens, als Gegenſatz zum Tode, iſt
natürlich ſchon ſehr frühzeitig Gegenſtand des Nachdenkens ge-
weſen. Man beobachtete am lebenden Menſchen wie an den
lebendigen Thieren eine Anzahl von eigenthümlichen Verände-
rungen, vorzugsweiſe Bewegungen, welche den „todten“
Naturkörpern fehlten: ſelbſtändige Ortsbewegung, Herzklopfen,
Athemzüge, Sprache u. ſ. w. Allein die Unterſcheidung ſolcher
„organiſcher Bewegungen“ von ähnlichen Erſcheinungen bei an-
organiſchen Naturkörpern war nicht leicht und oft verfehlt; das
fließende Waſſer, die flackernde Flamme, der wehende Wind, der
ſtürzende Fels zeigten dem Menſchen ganz ähnliche Verände-
[48]Menſchliche Phyſiologie im Alterthum. III.
rungen, und es war ſehr natürlich, daß der naive Naturmenſch
auch dieſen „todten Körpern“ ein ſelbſtändiges Leben zuſchrieb.
Von den bewirkenden Urſachen konnte man ſich ja bei den
letzteren ebenſo wenig befriedigende Rechenſchaft geben als bei
den erſteren.
Menſchliche Phyſiologie. Die älteſten wiſſenſchaftlichen
Betrachtungen über das Weſen der menſchlichen Lebensthätig-
keiten treffen wir (ebenſo wie diejenigen über den Körperbau des
Menſchen) bei den griechiſchen Naturphiloſophen und Aerzten
im ſechſten und fünften Jahrhundert vor Chr. Die reichſte
Sammlung von bezüglichen, damals bekannten Thatſachen finden
wir in der Naturgeſchichte des Ariſtoteles; ein großer Theil
ſeiner Angaben rührt wahrſcheinlich ſchon von Demokritos
und Hippokrates her. Die Schule des Letzteren ſtellte auch
bereits Erklärungs-Verſuche an; ſie nahm als Grundurſache des
Lebens bei Menſchen und Thieren einen flüchtigen „Lebens-
geiſt“ an (Pneuma); und Eraſiſtratus (280 vor Chr.)
unterſchied bereits einen niederen und einen höheren Lebensgeiſt,
das Pneuma zoticon im Herzen und das Pneuma pſychicon
im Gehirn.
Der Ruhm, alle dieſe zerſtreuten Kenntniſſe einheitlich zu-
ſammengefaßt und den erſten Verſuch zu einem Syſtem der
Phyſiologie gemacht zu haben, gebührt dem großen griechiſchen
Arzte Galenus, demſelben, den wir auch als den erſten großen
Anatomen des Alterthums kennen gelernt haben (vergl. S. 28).
Bei ſeinen Unterſuchungen über die Organe des menſchlichen
Körpers ſtellte er ſich beſtändig auch die Frage nach ihren Lebens-
thätigkeiten oder Funktionen, und auch hierbei verfuhr er
vergleichend und unterſuchte vor Allem die menſchenähnlichſten
Thiere, die Affen. Die Erfahrungen, die er hier gewonnen,
übertrug er direkt auf den Menſchen. Er erkannte auch bereits
den hohen Werth des phyſiologiſchen Experimentes; bei
[49]III. Menſchliche Phyſiologie im Alterthum.
Viviſektionen von Affen, Hunden und Schweinen ſtellte er ver-
ſchiedene intereſſante Verſuche an. Die Viviſektionen ſind
neuerdings nicht nur von unwiſſenden und beſchränkten Leuten,
ſondern auch von wiſſensfeindlichen Theologen und von gefühls-
ſeligen Gemüthsmenſchen vielfach auf das Heftigſte angegriffen
worden; ſie gehören aber zu den unentbehrlichen Metho-
den der Lebens-Forſchung und haben uns unſchätzbare Auf-
ſchlüſſe über die wichtigſten Fragen gegeben; dieſe Thatſache
wurde ſchon vor 1700 Jahren von Galenus erkannt.
Alle verſchiedenen Funktionen des Körpers führt Galenus
auf drei Hauptgruppen zurück, entſprechend den drei Formen
des Pneuma, des Lebensgeiſtes oder „Spiritus“. Das Pneuma
pſychicon — die „Seele“ — hat ihren Sitz im Gehirn und
den Nerven, ſie vermittelt das Denken, Empfinden und den
Willen (die willkürliche Bewegung); das Pneuma zoticon —
das „Herz“ — bewirkt die „ſphygmiſchen Functionen“, den
Herzſchlag, Puls und die Wärmebildung; das Pneuma phyſicon
endlich, in der Leber befindlich, iſt die Urſache der ſogenannten
vegetativen Lebensthätigkeiten, der Ernährung und des Stoff-
wechſels, des Wachsthums und der Fortpflanzung. Dabei legte
er beſonders Gewicht auf die Erneuerung des Blutes in den
Lungen und ſprach die Hoffnung aus, daß es einſt gelingen
werde, aus der atmoſphäriſchen Luft den Beſtandtheil auszu-
ſcheiden, welcher als Pneuma bei der Athmung in das Blut
aufgenommen werde. Mehr als fünfzehn Jahrhunderte verfloſſen,
ehe dieſes Reſpirations-Pneuma — der Sauerſtoff — durch
Lavoiſier entdeckt wurde.
Ebenſo wie für die Anatomie des Menſchen ſo blieb auch
für ſeine Phyſiologie das großartige Syſtem des Galenus
während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten der
Codex aureuſ, die unantaſtbare Quelle aller Kenntniſſe. Der
kulturfeindliche Einfluß des Chriſtenthums bereitete auch auf
Haeckel. Welträthſel. 4
[50]Menſchliche Phyſiologie im Mittelalter. III.
dieſem, wie auf allen anderen Gebieten, der Naturerkenntniß die
unüberwindlichſten Hinderniſſe. Vom dritten bis zum ſechzehnten
Jahrhundert trat kein einziger Forſcher auf, der gewagt hätte,
ſelbſtändig wieder die Lebensthätigkeiten des Menſchen zu unter-
ſuchen und über den Bezirk des Syſtems von Galenus hinaus-
zugehen. Erſt im 16. Jahrhundert wurden dazu mehrere be-
ſcheidene Verſuche von angeſehenen Aerzten und Anatomen
gemacht (Paracelſus, Servetus, Beſalius u. A.). Aber
erſt im Jahre 1628 veröffentlichte der engliſche Arzt Harvey
ſeine große Entdeckung des Blutkreislaufs und wies nach,
daß das Herz ein Pumpwerk iſt, welches durch die regelmäßige,
unbewußte Zuſammenziehung ſeiner Muskeln die Blutwelle un-
abläſſig durch das communicirende Röhrenſyſtem der Adern oder
Blutgefäße treibt. Nicht minder wichtig waren Harvey's
Unterſuchungen über die Zeugung der Thiere, in Folge deren
er den berühmten Satz aufſtellte: „Alles Lebendige entwickelt ſich
aus einem Ei“ (omne vivum ex ovo).
Die mächtige Anregung zu phyſiologiſchen Beobachtungen
und Verſuchen, welche Harvey gegeben hatte, führte im 16.
und 17. Jahrhundert zu einer großen Anzahl von Entdeckungen.
Dieſe faßte der Gelehrte Albrecht Haller um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts zum erſten Male zuſammen; in ſeinem
großen Werke „Elementa phyſiologiae“ begründete er den ſelb-
ſtändigen Werth dieſer Wiſſenſchaft und nicht nur in ihrer Be-
ziehung zur praktiſchen Medicin. Indem aber Haller für die
Nerven-Thätigkeit eine beſondere „Empfindungskraft oder Sen-
ſibilität“, und ebenſo für die Muskel-Bewegung eine beſondere
„Reizbarkeit oder Irritabilität“ als Urſache annahm, lieferte er
mächtige Stützen für die irrthümliche Lehre von einer eigen-
thümlichen „Lebenskraft“ (Viſ vitaliſ).
Lebenskraft (Vitaliſmuſ). Ueber ein volles Jahrhundert
hindurch, von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahr-
[51]III. Lebenskraft. Vitalismus.
hunderts, blieb in der Medicin, und ſpeciell in der Phyſiologie,
die alte Anſchauung herrſchend, daß zwar ein Theil der Lebens-
Erſcheinungen auf phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge zurück-
zuführen ſei, daß aber ein anderer Theil derſelben durch eine
beſondere, davon unabhängige Lebenskraft(Viſ vitaliſ) be-
wirkt werde. So verſchiedenartig auch die beſonderen Vor-
ſtellungen vom Weſen derſelben und beſonders von ihrem Zu-
ſammenhang mit der „Seele“ ſich ausbildeten, ſo ſtimmten doch
alle darin überein, daß die Lebenskraft von den phyſikaliſch-
chemiſchen Kräften der gewöhnlichen „Materie“ unabhängig und
weſentlich verſchieden ſei; als eine ſelbſtändige, der anorganiſchen
Natur fehlende „Urkraft“ (Archaeuſ) ſollte ſie die erſteren
in ihren Dienſt nehmen. Nicht allein die Seelenthätigkeit ſelbſt,
die Senſibilität der Nerven und die Irritabilität der Muskeln,
ſondern auch die Vorgänge der Sinnesthätigkeit, der Fort-
pflanzung und Entwickelung erſchienen allgemein ſo wunderbar
und in ihren Urſachen ſo räthſelhaft, daß es unmöglich ſei, ſie
auf einfache phyſikaliſche und chemiſche Naturproceſſe zurückzu-
führen. Da die freie Thätigkeit der Lebenskraft zweckmäßig und
bewußt wirkte, führte ſie in der Philoſophie zu einer voll-
kommenen Teleologie; beſonders erſchien dieſe unbeſtreitbar,
ſeitdem ſelbſt der „kritiſche“ Philoſoph Kant in ſeiner be-
rühmten Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft zugeſtanden hatte,
daß zwar die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mecha-
niſchen Erklärung aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei, daß aber
die Fähigkeit dazu bei den Erſcheinungen des organiſchen Lebens
aufhöre; hier müſſe man nothgedrungen zu einem „zweckmäßig
thätigen“, alſo übernatürlichen Princip ſeine Zuflucht nehmen.
Natürlich wurde der Gegenſatz dieſer vitalen Phänomene zu
den mechaniſchen Lebensthätigkeiten um ſo auffälliger, je
weiter man in der chemiſchen und phyſikaliſchen Erklärung der
letzteren gelangte. Der Blutkreislauf und ein Theil der anderen
4*
[52]Mechaniſche Phyſiologie. III.
Bewegungs-Erſcheinungen ließen ſich auf mechaniſche Vorgänge,
die Athmung und Verdauung auf chemiſche Proceſſe gleich den-
jenigen in der anorganiſchen Natur zurückführen; dagegen bei
den wunderbaren Leiſtungen der Nerven und Muskeln wie im
eigentlichen „Seelenleben“ ſchien das unmöglich; und auch das
einheitliche Zuſammenwirken aller dieſer verſchiedenen Kräfte im
Leben des Individuums erſchien damit unerklärbar. So ent-
wickelte ſich ein vollſtändiger phyſiologiſcher Dualismus —
ein principieller Gegenſatz zwiſchen anorganiſcher und organiſcher
Natur, zwiſchen mechaniſchen und vitalen Proceſſen, zwiſchen
materieller Kraft und Lebenskraft, zwiſchen Leib und Seele. Im
Beginne des 19. Jahrhunderts wurde dieſer Vitalismus beſonders
eingehend durch Louis Dumas in Frankreich begründet, durch
Reil in Deutſchland. Eine ſchöne poetiſche Darſtellung des-
ſelben hatte ſchon 1795 Alexander Humboldt in ſeiner
Erzählung vom Rhodiſchen Genius gegeben (— wiederholt mit
kritiſchen Anmerkungen in den „Anſichten der Natur“ —).
Der Mechanismus des Lebens (moniſtiſche Phyſiologie).
Schon in der erſten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte der
berühmte Philoſoph Descartes, fußend auf Harvey's
Entdeckung des Blutkreislaufs, den Gedanken ausgeſprochen, daß
der Körper des Menſchen ebenſo wie der Thiere eine komplizirte
Maſchine ſei, und daß ihre Bewegungen nach denſelben mecha-
niſchen Geſetzen erfolgen wie bei den künſtlichen, vom Menſchen
für einen beſtimmten Zweck gebauten Maſchinen. Allerdings nahm
Descartes trotzdem für den Menſchen allein eine vollkommene
Selbſtändigkeit der immateriellen Seele an und erklärte ſogar
deren ſubjektive Empfindung, das Denken, für das Einzige in
der Welt, von dem wir unmittelbar ganz ſichere Kenntniß be-
ſitzen („Cogito, ergo ſum!“). Allein dieſer Dualismus hinderte
ihn nicht, im Einzelnen die Erkenntniß der mechaniſchen Lebens-
thätigkeiten vielſeitig zu fördern. Im Anſchluß daran führte
[53]III. Vergleichende Phyſiologie.
Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein
phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius
die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche
Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro-
mechaniſche, letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein
dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen
Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine
Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des
18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo-
logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung
des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet,
als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver-
gleichende Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob.
Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom
Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner
Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte
Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon-
dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem
den Säugethieren. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge
der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie „vergleichend“.
Aber die eigentliche „vergleichende Phyſiologie“, welche das ganze
Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis
zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine
Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war
Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als
Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre
hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe
unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher
eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von
Haller und Cuvier zu vergleichen iſt. Faſt alle großen
Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutſchland lehrten
und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes
[54]Vergleichende Phyſiologie. III.
Müller. Urſprünglich ausgehend von der Anatomie und
Phyſiologie des Menſchen, zog derſelbe bald alle Hauptgruppen
der höheren und niederen Thiere in den Kreis ſeiner Vergleichung.
Indem er zugleich die Bildung der ausgeſtorbenen Thiere mit
den lebenden, den geſunden Organismus des Menſchen mit dem
kranken verglich, indem er wahrhaft philoſophiſch alle Erſchei-
nungen des organiſchen Lebens zuſammenzufaſſen ſtrebte, erhob
er ſich zu einer bis dahin unerreichten Höhe der biologiſchen
Erkenntniß.
Die werthvollſte Frucht dieſer umfaſſenden Studien von
Johannes Müller war ſein „Handbuch der Phyſiologie
des Menſchen“ (in zwei Bänden und acht Büchern; 1833, vierte
Auflage 1844). Dieſes klaſſiſche Werk gab viel mehr, als der
Titel beſagt; es iſt der Entwurf zu einer umfaſſenden „Ver-
gleichenden Biologie“. Noch heute ſteht dasſelbe in Bezug
auf Inhalt und Umfang des Forſchungsgebietes unübertroffen
da. Insbeſondere ſind darin die Methoden der Beobachtung
und des Experimentes ebenſo muſtergültig angewendet wie die
philoſophiſchen Methoden der Induktion und Deduktion. Aller-
dings war Müller urſprünglich, gleich allen Phyſiologen ſeiner
Zeit, Vitaliſt. Allein die herrſchende Lehre von der Lebenskraft
nahm bei ihm eine neue Form an und verwandelte ſich allmählich
in ihr principielles Gegentheil. Denn auf allen Gebieten der
Phyſiologie war Müller beſtrebt, die Lebenserſcheinungen
mechaniſch zu erklären; ſeine reformirte Lebenskraft ſteht nicht
über den phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen der übrigen
Natur, ſondern ſie iſt ſtreng an dieſelben gebunden; ſie iſt
ſchließlich weiter nichts als das „Leben“ ſelbſt, d. h. die Summe
aller Bewegungs-Erſcheinungen, die wir am lebendigen Organis-
mus wahrnehmen. Ueberall war er beſtrebt, dieſelben mechaniſch
zu erklären, in dem Sinnes- und Seelen-Leben wie in der
Thätigkeit der Muskeln, in den Vorgängen des Blutkreislaufs,
[55]III. Cellular-Phyſiologie.
der Athmung und Verdauung wie in den Erſcheinungen der
Fortpflanzung und Entwickelung. Die größten Fortſchritte führte
hier Müller dadurch herbei, daß er überall von den einfachſten
Lebens-Erſcheinungen der niederen Thiere ausging und Schritt
für Schritt ihre allmähliche Ausbildung zu den höheren, bis zum
höchſten, zum Menſchen, hinauf verfolgte. Hier bewährte ſich
ſeine Methode der kritiſchen Vergleichung ebenſo in der
Phyſiologie, wie in der Anatomie. Johannes Müller iſt
zugleich der einzige große Naturforſcher geblieben, der dieſe ver-
ſchiedenen Seiten der Forſchung gleichmäßig ausbildete und
gleich glänzend in ſich vereinigte. Gleich nach ſeinem Tode zer-
fiel ſein gewaltiges Lehrgebiet in vier verſchiedene Provinzen, die
jetzt faſt allgemein durch vier oder noch mehr ordentliche Lehr-
ſtühle vertreten werden: Menſchliche und vergleichende Anatomie,
pathologiſche Anatomie, Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte.
Man hat die Arbeitstheilung dieſes ungeheuren Wiſſensgebietes,
die jetzt (1858) plötzlich eintrat, mit dem Zerfall des Weltreiches
verglichen, welches einſt Alexander der Große vereinigt beherrſcht
hatte.
Cellular-Phyſiologie. Unter den zahlreichen Schülern
von Johannes Müller, welche theils ſchon bei ſeinen Leb-
zeiten, theils nach ſeinem Tode die verſchiedenen Zweige der
Biologie mächtig förderten, war einer der glücklichſten (wenn
auch nicht der bedeutendſte!) Theodor Schwann. Als 1838
der geniale Botaniker Schleiden in Jena die Zelle als das
gemeinſame Elementar-Organ der Pflanzen erkannt und alle
verſchiedenen Gewebe des Pflanzenkörpers als zuſammengeſetzt
aus Zellen nachgewieſen hatte, erkannte Johannes Müller
ſofort die außerordentliche Tragweite dieſer bedeutungsvollen
Entdeckung; er verſuchte ſelbſt, in verſchiedenen Geweben des
Thierkörpers, ſo z. B. in der Chorda dorſaliſ der Wirbelthiere,
die gleiche Zuſammenſetzung nachzuweiſen, und veranlaßte ſodann
[56]Cellular-Phyſiologie. III.
ſeinen Schüler Schwann, dieſen Nachweis auf alle thieriſchen
Gewebe auszudehnen. Dieſe ſchwierige Aufgabe löſte der Letztere
glücklich in ſeinen „Mikroſkopiſchen Unterſuchungen über die
Uebereinſtimmung in der Structur und dem Wachsthum der
Thiere und Pflanzen“ (1839). Damit war der Grundſtein für
die Zellen-Theorie gelegt, deren fundamentale Bedeutung
ebenſo für die Phyſiologie wie für die Anatomie ſeitdem von
Jahr zu Jahr zugenommen und ſich immer allgemeiner bewährt
hat. Daß auch die Lebensthätigkeit aller Organismen auf die-
jenige ihrer Gewebetheile, der mikroſkopiſchen Zellen, zurückgeführt
werden müſſe, führten namentlich zwei andere Schüler von
Johannes Müller aus, der ſcharfſinnige Phyſiologe Ernſt
Brücke in Wien und der berühmte Hiſtologe Albert Kölliker
in Würzburg. Der Erſtere bezeichnete die Zellen richtig als „Ele-
mentar-Organismen“ und zeigte, daß ſie ebenſo im Körper
des Menſchen wie aller anderen Thiere die einzigen actuellen,
ſelbſtändig thätigen Factoren des Lebens ſind. Kölliker
erwarb ſich beſondere Verdienſte nicht nur um die Ausbildung
der geſammten Gewebelehre, ſondern auch namentlich durch den
Nachweis, daß das Ei der Thiere, ſowie die daraus entſtehenden
„Furchungskugeln“ einfache Zellen ſind.
So allgemein aber auch die hohe Bedeutung der Zellen-
Theorie für alle biologiſchen Aufgaben erkannt wurde, ſo wurde
doch die darauf gegründete Cellular-Phyſiologie erſt in
neueſter Zeit ſelbſtändig ausgebaut. Hier hat namentlich Max
Verworn (in Jena) ſich ein doppeltes Verdienſt erworben.
In ſeinen „Pſycho-phyſiologiſchen Protiſten-Studien“ (1889)
hat derſelbe auf Grund ſinnreicher experimenteller Unterſuchungen
gezeigt, daß die von mir (1866) aufgeſtellte „Theorie der
Zellſeele“*) durch das genaue Studium der einzelligen
[57]III. Cellular-Pathologie.
Protozoen vollkommen gerechtfertigt wird, und daß „die pſy-
chiſchen Vorgänge im Protiſtenreiche die Brücke bilden, welche
die chemiſchen Proceſſe in der unorganiſchen Natur mit dem
Seelenleben der höchſten Thiere verbindet“. Weiter ausgeführt
und geſtützt auf die moderne Entwickelungslehre hat Verworn
dieſe Anſichten in ſeiner „Allgemeinen Phyſiologie“ (zweite
Auflage 1897). Dieſes ausgezeichnete Werk geht zum erſten
Male wieder auf den umfaſſenden Standpunkt von Johannes
Müller zurück, im Gegenſatze zu den einſeitigen und be-
ſchränkten Methoden jener modernen Phyſiologen, welche glauben,
ausſchließlich durch phyſikaliſche und chemiſche Experimente das
Weſen der Lebens-Erſcheinungen ergründen zu können. Ver-
worn zeigte, daß nur durch die vergleichende Methode
Müller's und durch das Vertiefen in die Phyſiologie der
Zelle jener höhere Standpunkt gewonnen werden kann, der uns
einen einheitlichen Ueberblick über das wundervolle Geſammt-Gebiet
der Lebens-Erſcheinungen gewährt; nur dadurch gelangen wir
zu der Ueberzeugung, daß auch die ſämmtlichen Lebensthätigkeiten
des Menſchen denſelben Geſetzen der Phyſik und Chemie unter-
liegen wie diejenigen aller anderen Thiere.
Cellular-Pathologie. Die fundamentale Bedeutung der
Zellen-Theorie für alle Zweige der Biologie bewährte ſich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in den groß-
artigen Fortſchritten der geſammten Morphologie und Phyſiologie,
ſondern auch beſonders in der totalen Reform derjenigen bio-
logiſchen Wiſſenſchaft, welche vermöge ihrer Beziehungen zur prak-
tiſchen Heilkunſt von jeher die größte Bedeutung in Anſpruch
nahm, der Pathologie oder Krankheitslehre. Daß die Krank-
heiten des Menſchen wie aller übrigen Lebeweſen Natur-
Erſcheinungen ſind und alſo gleich den übrigen Lebens-Funktionen
nur naturwiſſenſchaftlich erforſcht werden können, war ja ſchon
vielen älteren Aerzten zur feſten Ueberzeugung geworden. Auch
[58]Cellular-Pathologie. III.
hatten ſchon im 17. Jahrhundert einzelne mediciniſche Schulen,
die Jatrophyſiker und Jatrochemiker, den Verſuch ge-
macht, die Urſachen der Krankheiten auf beſtimmte phyſikaliſche
oder chemiſche Veränderungen zurückzuführen. Allein der damalige
niedere Zuſtand der Naturwiſſenſchaften verhinderte einen blei-
benden Erfolg dieſer berechtigten Beſtrebungen. Daher blieben
mehrere ältere Theorien, welche das Weſen der Krankheit in
übernatürlichen oder myſtiſchen Urſachen ſuchten, bis zur Mitte
des 19. Jahrhunderts in faſt allgemeiner Geltung 2.
Erſt um dieſe Zeit hatte Rudolf Virchow, ebenfalls
ein Schüler von Johannes Müller, den glücklichen Ge-
danken, die Zellen-Theorie vom geſunden auch auf den kranken
Organismus zu übertragen; er ſuchte in den feinen Verände-
rungen der kranken Zellen und der aus ihnen zuſammengeſetzten
Gewebe die wahre Urſache jener gröberen Veränderungen, welche
als beſtimmte „Krankheitsbilder“ den lebenden Organismus mit
Gefahr und Tod bedrohen. Beſonders während der ſieben Jahre
ſeiner Lehrthätigkeit in Würzburg (1849-1856) führte Virchow
dieſe große Aufgabe mit ſo glänzendem Erfolge durch, daß ſeine
(1858 veröffentlichte) Cellular-Pathologie mit einem
Schlage die ganze Pathologie und die von ihr geſtützte praktiſche
Medicin in neue, höchſt fruchtbare Bahnen lenkte. Für unſere
Aufgabe iſt dieſe Reform der Medicin deßhalb ſo bedeutungsvoll,
weil ſie uns zu einer moniſtiſchen, rein wiſſenſchaftlichen Be-
urtheilung der Krankheit führt. Auch der kranke Menſch, ebenſo
wie der geſunde, unterliegt denſelben „ewigen, ehernen Geſetzen“
der Phyſik und Chemie, wie die ganze übrige organiſche Welt.
Mammalien-Phyſiologie. Unter den zahlreichen (50-80)
Thierklaſſen, welche die neuere Zoologie unterſcheidet, nehmen
die Säugethiere(Mammalia) nicht allein in morphologiſcher,
ſondern auch in phyſiologiſcher Beziehung eine ganz beſondere
Stellung ein. Da nun auch der Menſch ſeinem ganzen Körperbau
[59]III. Phyſiologie der Säugethiere.
nach zur Klaſſe der Säugethiere gehört (S. 36), müſſen wir
von vornherein erwarten, daß er auch den beſonderen Charakter
ſeiner Lebensthätigkeiten mit den übrigen Mammalien theilen
wird. Und das iſt in der That der Fall. Der Blutkreislauf
und die Athmung vollziehen ſich beim Menſchen genau nach den-
ſelben Geſetzen und in derſelben eigenthümlichen Form, welche
auch allen anderen Säugethieren — und nur dieſen! — zu-
kommt; ſie iſt bedingt durch den beſonderen, feineren Bau ihres
Herzens und ihrer Lungen. Nur bei den Mammalien wird alles
Arterien-Blut aus der linken Herzkammer durch einen — und
zwar den linken! — Aorten-Bogen in den Körper geführt, wäh-
rend dies bei den Vögeln durch den rechten und bei den Reptilien
durch beide Aorten-Bögen bewirkt wird. Das Blut der Säuge-
thiere zeichnet ſich vor demjenigen aller anderen Wirbelthiere
dadurch aus, daß aus ihren rothen Blutzellen der Kern ver-
ſchwunden iſt (durch Rückbildung). Die Athem-Bewegungen
werden nur in dieſer Thierklaſſe vorzugsweiſe durch das Zwerch-
fell vermittelt, weil dasſelbe nur hier eine vollſtändige Scheide-
wand zwiſchen Bruſthöhle und Bauchhöhle bildet. Ganz beſonders
wichtig aber iſt für dieſe höchſt entwickelte Thierklaſſe die Pro-
duktion der Milch in den Bruſtdrüſen (Mammae) und die be-
ſondere Form der Brutpflege, welche die Ernährung des Jungen
durch die Milch der Mutter mit ſich bringt. Da dieſes Säuge-
Geſchäft auch andere Lebensthätigkeiten in der eingreifendſten
Weiſe beeinflußt, da die Mutterliebe der Säugethiere aus dieſer
innigen Form der Brutpflege ihren Urſprung genommen hat,
erinnert uns der Name der Klaſſe mit Recht an ihre hohe Be-
deutung. In Millionen von Bildern, zum großen Theil von
Künſtlern erſten Ranges, wird „die Madonna mit dem
Chriſtuskinde“ verherrlicht, als das reinſte und erhabenſte Urbild
der Mutterliebe; desſelben Inſtinktes, deſſen extremſte Form die
übertriebene Zärtlichkeit der Affenmutter darſtellt.
[60]Phyſiologie der Affen. III.
Phyſiologie der Affen. Da unter allen Säugethieren die
Affen im geſammten Körperbau dem Menſchen am nächſten ſtehen,
läßt ſich von vornherein erwarten, daß dasſelbe auch von ihren
Lebensthätigkeiten gilt; und das iſt in Wahrheit der Fall. Wie
ſehr die Lebensgewohnheiten, die Bewegungen, die Sinnes-
funktionen, das Seelenleben, die Brutpflege der Affen ſich den-
jenigen des Menſchen nähern, weiß Jedermann. Aber die wiſſen-
ſchaftliche Phyſiologie weiſt dieſelbe bedeutungsvolle Ueberein-
ſtimmung auch für andere weniger bekannte Erſcheinungen nach,
beſonders die Herzthätigkeit, die Drüſen-Abſonderung und das
Geſchlechtsleben. In letzterer Beziehung iſt beſonders merkwürdig,
daß die geſchlechtsreifen Weibchen bei vielen Affen-Arten einen
regelmäßigen Blutabgang aus dem Fruchtbehälter erleiden, ent-
ſprechend der Menſtruation (oder „Monats-Regel“) des menſch-
lichen Weibes. Auch die Milch-Abſonderung aus der Bruſtdrüſe
und das Säugegeſchäft geſchieht bei den weiblichen Affen genau
ebenſo wie bei den Frauen.
Beſonders intereſſant iſt endlich die Thatſache, daß die
Lautſprache der Affen, phyſiologiſch verglichen, als Vor-
ſtufe zu der artikulirten menſchlichen Sprache erſcheint. Unter
den heute noch lebenden Menſchenaffen giebt es eine indiſche
Art, welche muſikaliſch iſt: der Hylobateſ ſyndactyluſ ſingt
in vollkommen reinen und klangvollen, halben Tönen eine ganze
Oktave. Für den unbefangenen Sprachforſcher kann es heute
keinem Zweifel mehr unterliegen, daß unſere hochentwickelte
Begriffs-Sprache ſich langſam und ſtufenweiſe aus der un-
vollkommenen Lautſprache unſerer pliocänen Affen-Ahnen ent-
wickelt hat.
[[61]]
Viertes Kapitel.
Unſere Keimesgeſchichte.
Moniſtiſche Studien über menſchliche und vergleichende
Ontogenie. Uebereinſtimmung in der Keimbildung und
Entwickelung des Menſchen und der Wirbelthiere.
‘„Iſt der Menſch etwas Beſonderes? Entſteht
er in einer ganz anderen Weiſe als ein Hund,
Vogel, Froſch und Fiſch? Giebt er damit Denen
Recht, welche behaupten, er habe keine Stelle in
der Natur und keine wirkliche Verwandtſchaft mit
der niederen Welt thieriſchen Lebens? Oder ent-
ſteht er in einem ähnlichen Keim, und durchläuft
er dieſelben langſamen und allmählichen Modi-
ficationen? Die Antwort iſt nicht einen Augenblick
zweifelhaft und iſt für die letzten dreißig Jahre
nicht zweifelhaft geweſen. Ohne Zweifel iſt die
Entſtehungsweiſe und ſind die früheren Ent-
wickelungszuſtände des Menſchen identiſch mit
denen der unmittelbar unter ihm in der Stufen-
leiter ſtehenden Thiere: — ohne allen Zweifel ſteht
er in dieſen Beziehungen den Affen viel näher als
die Affen den Hunden.“
Thomas Huxley (1863).’ ()
[[62]]
Aeltere Keimesgeſchichte. Präformations-Lehre. Einſchachtelungs-Lehre.
Haller und Leibniz. Epigeneſis-Lehre. C. F. Wolff. Keimblätter-Lehre. Carl
Ernſt Baer. Entdeckung des menſchlichen Eies. Remak. Kölliker. Eizelle
und Keimzelle. Gaſträa-Theorie. Protozoen und Metazoen. Eizelle und
Samenzelle des Menſchen. Oscar Hertwig. Empfängniß oder Befruchtung.
Keimanlage des Menſchen. Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die Keim-
hüllen des Menſchen. Amnion, Serolemma und Allantois. Placenta-
Bildung und Nachgeburt. Siebhaut und Nabelſtrang. Die ſcheibenförmige
Placenta der Affen und des Menſchen.
Carl Ernſt Baer, Ueber Entwickelungsgeſchichte der Thiere. Beobachtung
und Reflexion. 2 Bände. Berlin 1828.
Albert Kölliker, Grundriß der Entwickelungsgeſchichte des Menſchen und der
höheren Thiere. (Für Studirende und Aerzte.) Zweite Auflage.
Leipzig 1884.
Ernſt Haeckel, Studien zur Gaſträa-Theorie. Jena 1873-1884.
Oscar Hertwig, Lehrbuch der Entwickelungsgeſchichte des Menſchen und
der Wirbelthiere. Fünfte Auflage. Jena 1896.
Julius Kollmann, Lehrbuch der Entwickelungsgeſchichte des Menſchen.
Jena 1898.
Hans Locher-Wild, Ueber Familien-Anlage und Erblichkeit. Eine wiſſen-
ſchaftliche Razzia. Zürich 1874.
Charles Darwin, Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zuſtande der
Domeſtication. 2 Bände. Stuttgart 1868. Dritte Auflage 1878.
Ernſt Haeckel, Anthropogenie. Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vor-
träge über Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. Erſter Theil: Keimes-
geſchichte oder Ontogenie. Leipzig 1874. Vierte Auflage 1891.
[[63]]
In noch höherem Maaße als die vergleichende Anatomie
und Phyſiologie iſt die vergleichende Ontogenie, die
Entwickelungsgeſchichte des Einzelthieres oder Indi-
viduums, ein Kind unſeres neunzehnten Jahrhunderts. Wie
entſteht der Menſch im Mutterleibe? Und wie entſtehen die
Thiere aus den Eiern? Wie entſteht die Pflanze aus dem
Samenkorn? Dieſe inhaltsſchwere Frage hat zwar auch ſchon
ſeit Jahrtauſenden den denkenden Menſchengeiſt beſchäftigt; aber
erſt ſehr ſpät, erſt vor 70 Jahren, zeigte uns der Embryologe
Baer die rechten Mittel und Wege, um tiefer in die Kennt-
niß der geheimnißvollen Thatſachen der Keimesgeſchichte ein-
zudringen; und noch viel ſpäter, vor 40 Jahren lieferte uns
Darwin durch ſeine Reform der Descendenz-Theorie den
Schlüſſel, mit deſſen Hülfe wir die verſchloſſene Pforte ihres
Verſtändniſſes öffnen und zur Erkenntniß ihrer Urſachen
gelangen können. Da ich dieſe hochintereſſanten, aber auch
ſchwierig zu verſtehenden Verhältniſſe in meiner Keimes-
geſchichte des Menſchen (— im erſten Theile der Anthro-
pogenie, vierte Auflage 1891 —) einer ausführlichen, populär-
wiſſenſchaftlichen Darſtellung unterzogen habe, beſchränke ich mich
hier auf eine kurze Zuſammenfaſſung und Deutung nur der
wichtigſten Erſcheinungen. Wir wollen dabei zunächſt einen
hiſtoriſchen Rückblick auf die ältere Ontogenie und die damit
verknüpfte Präformations-Theorie werfen.
[64]Keimesgeſchichte im Alterthum. IV.
Präformations-Lehre.Aeltere Keimesgeſchichte.
(Vergl. den II. Vortrag meiner Anthropogenie). Wie für die
vergleichende Anatomie, ſo ſind auch für die Entwickelungs-
geſchichte die klaſſiſchen Werke des Ariſtoteles, des viel-
ſeitigen „Vaters der Naturgeſchichte“, die älteſte uns bekannte
wiſſenſchaftliche Quelle (im 4. Jahrhundert v. Chr.). Nicht
allein in ſeiner großen Thiergeſchichte, ſondern auch in einer
beſonderen kleinen Schrift: „Fünf Bücher von der Zeugung und
Entwickelung der Thiere“, erzählt uns der große Philoſoph eine
Menge von intereſſanten Thatſachen und ſtellt Betrachtungen
über deren Bedeutung an; viele davon ſind erſt in unſerer
Zeit wieder zur Geltung gekommen und eigentlich erſt wieder
neu entdeckt worden. Natürlich ſind aber daneben auch viele
Fabeln und Irrthümer zu finden, und von der verborgenen Ent-
ſtehung des Menſchenkeimes war noch nichts Näheres bekannt.
Aber auch in dem langen, folgenden Zeitraume von zwei Jahr-
tauſenden machte die ſchlummernde Wiſſenſchaft keine weiteren
Fortſchritte. Erſt im Anfange des 17. Jahrhunderts fing man
wieder an ſich damit zu beſchäftigen; der italieniſche Anatom
Fabricius ab Aquapendente (in Padua) veröffentlichte
1600 die älteſten Abbildungen und Beſchreibungen von Embryonen
des Menſchen und einiger höherer Thiere; und der berühmte
Marcello Malpighi in Bologna, gleich bahnbrechend in
der Zoologie wie in der Botanik, gab 1687 die erſte zuſammen-
hängende Darſtellung von der Entſtehung des Hühnchens im
bebrüteten Ei.
Alle dieſe älteren Beobachter waren von der Vorſtellung
beherrſcht, daß im Ei der Thiere, ähnlich wie im Samen der
höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen ſeinen Theilen
bereits fertig vorhanden ſei, nur in einem ſo feinen und durch-
ſichtigen Zuſtande, daß man ſie nicht erkennen könne; die ganze
Entwickelung ſei demnach nichts weiter, als Wachsthum oder
[65]IV. Einſchachtelungs-Lehre.
„Auswickelung“ (Evolutio) der eingewickelten Theile (Parteſ
involutae). Dieſe falſche Lehre, die bis zum Anfang unſeres
Jahrhunderts faſt allgemein in Geltung blieb, nennen wir am
beſten die Vorbildungslehre oder Präformations-Theorie;
oft wird ſie auch „Evolutionſ-Theorie“ genannt; allein unter
dieſem Begriffe verſtehen viele neuere Autoren auch die ganz
verſchiedene Tranſformationſ-Theorie.
Einſchachtelungs-Lehre(Scatulationſ-Theorie). In
engem Zuſammenhange mit der Präformations-Lehre, und in
berechtigter Schlußfolge aus derſelben entſtand im vorigen Jahr-
hundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen
lebhaft beſchäftigte, die ſonderbare „Einſchachtelungslehre“. Da
man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Orga-
nismus mit allen ſeinen Theilen vorhanden ſei, mußte auch der
Eierſtock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Gene-
ration darin vorgebildet ſein, und in dieſen wiederum die Eier
der nächſtfolgenden u. ſ. w., in infinitum! Darauf hin be-
rechnete der berühmte Phyſiologe Haller, daß der liebe Gott
vor 6000 Jahren — am ſechſten Tage ſeines Schöpfungswerkes —
die Keime von 200000 Millionen Menſchen gleichzeitig er-
ſchaffen und ſie im Eierſtock der ehrwürdigen Urmutter Eva
kunſtgerecht eingeſchachtelt habe. Kein Geringerer, als der hoch-
angeſehene Philoſoph Leibniz ſchloß ſich dieſen Ausführungen
an und verwerthete ſie für ſeine Monadenlehre; und da dieſer
zufolge ſich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinſchaft
befinden, übertrug er ſie auch auf die Seele: — „die Seelen
der Menſchen haben in deren Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit
dem Anfang der Dinge (!!) immer in der Form organiſirter
Körper exiſtirt“.
Epigeneſis-Lehre. Im November 1759 vertheidigte in
Halle ein junger 26jähriger Mediciner, Caſpar Friedrich
Wolff (— der Sohn eines Berliner Schneiders —), ſeine
Haeckel, Welträthſel. 5
[66]Theorie der Epigeneſis. IV.
Doktor-Diſſertation unter dem Titel „Theoria generationiſ“.
Geſtützt auf eine Reihe der mühſamſten und ſorgfältigſten Be-
obachtungen, wies er nach, daß die ganze herrſchende Präfor-
mations- und Scatulations-Theorie falſch ſei. Im bebrüteten
Hühnerei iſt anfangs noch keine Spur vom ſpäteren Vogelkörper
und ſeinen Theilen vorhanden; vielmehr finden wir ſtatt deſſen
oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde,
weiße Scheibe. Dieſe dünne „Keimſcheibe“ wird länglich
rund und zerfällt dann in vier über einander liegende Schichten,
die Anlagen der vier wichtigſten Organ-Syſteme: zuerſt die
oberſte, das Nervenſyſtem, darunter die Fleiſchmaſſe (Muskel-
ſyſtem), dann das Gefäßſyſtem (mit dem Herzen) und zuletzt der
Darmkanal. Alſo, ſagt Wolff richtig, beſteht die Keimbildung
nicht in einer Auswickelung vorgebildeter Organe, ſondern in
einer Kette von Neubildungen, einer wahren „Epigeneſiſ“;
ein Theil entſteht nach dem andern, und alle erſcheinen in einer
einfachen Form, welche von der ſpäter ausgebildeten ganz ver-
ſchieden iſt; dieſe entſteht erſt durch eine Reihe der merkwürdigſten
Umbildungen. Obgleich nun dieſe große Entdeckung — eine der
wichtigſten des 18. Jahrhunderts! — ſich unmittelbar durch
Nachunterſuchung der beobachteten Thatſachen hätte beſtätigen
laſſen, und obgleich die darauf gegründete „Theorie der
Generation“ eigentlich gar keine Theorie, ſondern eine nackte
Thatſache war, fand ſie dennoch ein halbes Jahrhundert
hindurch nicht die mindeſte Anerkennung. Beſonders hinderlich
war die mächtige Autorität von Haller, der ſie hartnäckig be-
kämpfte, mit dem Dogma: „Es giebt kein Werden! Kein Theil
im Thierkörper iſt vor dem anderen gemacht worden, und Alle
ſind zugleich erſchaffen“. Wolff, der nach Petersburg gehen
mußte, war ſchon lange todt, als die vergeſſenen, von ihm
beobachteten Thatſachen von Lorenz Oken in Jena (1806)
auf's Neue entdeckt wurden.
[67]IV. Theorie der Keimblätter.
Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigeneſis-
Theorie von Wolff beſtätigt und durch Meckel (1812) deſſen
wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem
Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch-
land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge-
nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und
erfolgreichſte derſelben war Carl Ernſt Baer; ſein be-
rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „Entwickelungs-
geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion“. Nicht allein
ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und
vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku-
lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo-
bildung des Menſchen und der Wirbelthiere genau dar-
geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie
der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt-
förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren
Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach Baer zunächſt in
je zwei Blätter, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich
in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch-
ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte
Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe,
und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in
weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die
drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr
verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer
war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte
man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für
Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock
finden. Erſt Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in
dieſen Bläschen, den „Graaf'ſchen Follikeln“ eingeſchloſſen und
viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmeſſer, unter
günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu
5*
[68]Eizelle und Samenzelle. IV.
ſehen. Auch entdeckte er zuerſt, daß aus dieſer kleinen Eizelle
der Säugethiere ſich zunächſt eine charakteriſtiſche Keimblaſe ent-
wickelte, eine Hohlkugel mit flüſſigem Inhalt, deren Wand
die dünne Keimhaut bildet (Blaſtoderma).
Eizelle und Samenzelle. Zehn Jahre nachdem Baer
der Embryologie durch ſeine Keimblätter-Lehre eine feſte Grund-
lage gegeben, entſtand für dieſelbe eine neue wichtige Aufgabe
durch die Begründung der Zellen-Theorie (1838). Wie
verhalten ſich das Ei der Thiere und die daraus entſtehenden
Keimblätter zu den Geweben und Zellen, welche den entwickelten
Thierkörper zuſammenſetzen? Die richtige Beantwortung dieſer
inhaltſchweren Frage gelang um die Mitte unſeres Jahrhunderts
zwei hervorragenden Schülern von Johannes Müller:
Robert Remak in Berlin und Albert Kölliker in
Würzburg. Sie wieſen nach, daß das Ei urſprünglich nichts
Anderes als eine einfache Zelle iſt, und daß auch die zahl-
reichen Keimkörner oder „Furchungskugeln“, welche durch wieder-
holte Theilung daraus entſtehen, einfache Zellen ſind. Aus dieſen
„Furchungszellen“ bauen ſich zunächſt die Keimblätter auf, und
weiterhin durch Arbeitstheilung oder Differenzirung derſelben die
verſchiedenen Organe. Kölliker erwarb ſich dann fernerhin
das große Verdienſt, auch die ſchleimartige Samenflüſſigkeit der
männlichen Thiere als Anhäufung von mikroſkopiſchen kleinen
Zellen nachzuweiſen. Die beweglichen ſtecknadelförmigen „Samen-
thierchen“ in derſelben (Spermatozoa) ſind nichts Anderes, als
eigenthümliche „Geißelzellen“, wie ich (1866) zuerſt an den
Samenfäden der Schwämme nachgewieſen habe. Damit war
für beide wichtige Zeugungsſtoffe der Thiere, das männliche
Sperma und das weibliche Ei bewieſen, daß auch ſie der Zellen-
Theorie ſich fügen: eine Entdeckung, deren hohe philoſophiſche
Bedeutung erſt viel ſpäter, durch die genauere Erforſchung der
Befruchtungsvorgänge (1875), erkannt wurde.
[69]IV. Gaſträa-Theorie.
Gaſträa-Theorie. Alle älteren Unterſuchungen über Keim-
bildung betrafen den Menſchen und die höheren Wirbel-
thiere, vor Allem aber den Vogelkeim: denn das Hühner-Ei
iſt das größte und bequemſte Objekt dafür, und ſteht jederzeit
in beliebiger Menge zur Verfügung; man kann in der Brut-
maſchine ſehr bequem (— wie bei der natürlichen Bebrütung
durch die Henne —) das Ei ausbrüten und dabei ſtündlich
die ganze Reihe der Umbildungen, von der einfachen Eizelle bis
zum fertigen Vogelkörper, innerhalb drei Wochen beobachten.
Auch Baer hatte nur für die verſchiedenen Klaſſen der Wirbel-
thiere die Uebereinſtimmung in der charakteriſtiſchen Bildung der
Keimblätter und in der Entſtehung der einzelnen Organe aus
denſelben nachweiſen können. Dagegen in den zahlreichen Klaſſen
der Wirbelloſen — alſo der großen Mehrzahl der Thiere —
ſchien die Keimung in weſentlich verſchiedener Weiſe abzulaufen,
und den Meiſten ſchienen wirkliche Keimblätter ganz zu fehlen.
Erſt um die Mitte des Jahrhunderts wurden ſolche auch bei
einzelnen Wirbelloſen nachgewieſen, ſo von Huxley 1849 bei
den Meduſen, und von Kölliker 1844 bei den Cephalopoden.
Beſonders wichtig wurden ſodann die Entdeckung von Kowa-
lewsky (1866), daß das niederſte Wirbelthier, der Lanzelot
oder Amphioxuſ ſich genau in derſelben, und zwar in einer
ſehr urſprünglichen Weiſe entwickelt, wie ein wirbelloſes, an-
ſcheinend ganz entferntes Mantelthier, die Seeſcheide oder
Aſcidia. Auch bei verſchiedenen Würmern, Sternthieren und
Gliederthieren wies derſelbe Beobachter eine ähnliche Bildung
der Keimblätter nach. Ich ſelbſt war damals (ſeit 1866) mit
der Entwickelungsgeſchichte der Spongien, Korallen, Meduſen und
Siphonophoren beſchäftigt, und da ich auch bei dieſen niederſten
Klaſſen der vielzelligen Thiere überall dieſelbe Bildung von zwei
primären Keimblättern fand, gelangte ich zu der Ueberzeugung, daß
dieſer wichtige Keimungsvorgang im ganzen Thierreiche derſelbe iſt.
[70]Gaſträa-Theorie. IV.
Beſonders wichtig erſchien mir dabei der Umſtand, daß
bei den Schwammthieren und bei den niederen Neſſelthieren
(Polypen, Meduſen) der Körper lange Zeit hindurch oder ſelbſt
zeitlebens bloß aus zwei einfachen Zellenſchichten beſteht; bei
den Meduſen hatte dieſe ſchon Huxley (1849) mit den beiden
primären Keimblättern der Wirbelthiere verglichen. Geſtützt auf
dieſe Beobachtungen und Vergleichungen ſtellte ich dann 1872 in
meiner „Philoſophie der Kalkſchwämme“ die Gaſträa-Theorie“
auf, deren weſentlichſte Lehrſätze folgende ſind: I. Das ganze
Thierreich zerfällt in zwei weſentlich verſchiedene Hauptgruppen,
die einzelligen Urthiere(Protozoa) und die vielzelligen Ge-
webthiere(Metazoa); der ganze Organismus der Protozoen
(Rhizopoden und Infuſorien) bleibt zeitlebens eine einfache
Zelle (ſeltener ein lockerer Zellverein, ohne Gewebebildung, ein
Coenobium); dagegen der Organismus der Metazoen iſt nur
im erſten Beginn einzellig, ſpäter aus vielen Zellen zuſammen-
geſetzt, welche Gewebe bilden. II. Daher iſt auch die Fort-
pflanzung und Entwickelung in beiden Hauptgruppen der Thiere
weſentlich verſchieden; die Protozoen vermehren ſich gewöhnlich
nur ungeſchlechtlich, durch Theilung, Knoſpung oder
Sporenbildung; ſie beſitzen noch keine echten Eier und kein
Sperma. Die Metazoen dagegen ſind in männliches und weib-
liches Geſchlecht geſchieden und vermehren ſich vorwiegend
geſchlechtlich, mittelſt echter Eier, welche vom männlichen
Samen befruchtet werden. III. Daher entſtehen auch nur bei
den Metazoen wirkliche Keimblätter, und aus dieſen Ge-
webe, während ſolche den Protozoen noch ganz fehlen. IV. Bei
allen Metazoen entſtehen zunächſt nur zwei primäre Keimblätter,
und dieſe haben überall dieſelbe weſentliche Bedeutung: aus dem
äußeren Hautblatt entwickelt ſich die äußere Hautdecke und das
Nervenſyſtem; aus dem inneren Darmblatt hingegen der Darm-
kanal und alle übrigen Organe. V. Die Keimform, welche überall zu-
[71]IV. Gaſträa-Theorie.
nächſt aus dem befruchteten Ei hervorgeht, und welche allein aus
dieſen beiden primären Keimblättern beſteht, nannte ich Darm-
larve oder Becherkeim (Gaſtrula); ihr becherförmiger zwei-
ſchichtiger Körper umſchließt urſprünglich eine einfache ver-
dauende Höhle, den Urdarm (Progaſter oder Archenteron),
und deſſen einfache Oeffnung iſt der Urmund (Proſtoma oder
Blaſtoporuſ). Dies ſind die älteſten Organe des vielzelligen
Thierkörpers, und die beiden Zellenſchichten ſeiner Wand, einfache
Epithelien, ſind ſeine älteſten Gewebe; alle anderen Organe und
Gewebe ſind erſt ſpäter (ſekundär) daraus hervorgegangen.
VI. Aus dieſer Gleichartigkeit oder Homologie der Gaſtrula
in ſämmtlichen Stämmen und Klaſſen der Gewebthiere zog ich nach
dem biogenetiſchen Grundgeſetze (S. 93) den Schluß, daß alle
Metazoen urſprünglich von einer gemeinſamen
Stammform abſtammen, Gaſträa, und daß dieſe uralte
(laurentiſche), längſt ausgeſtorbene Stammform im Weſentlichen
die Körperform und Zuſammenſetzung der heutigen, durch Ver-
erbung erhaltenen Gaſtrula beſaß. VII. Dieſer phylo-
genetiſche Schluß aus der Vergleichung der ontogenetiſchen That-
ſachen wird auch dadurch gerechtfertigt, daß noch heute einzelne
Gaſträaden exiſtiren (Gaſtremarien, Cyemarien, Phyſe-
marien), ſowie älteſte Formen anderer Thierſtämme, deren Orga-
niſation ſich nur ſehr wenig über dieſe Letzteren erhebt (Olyn-
thuſ unter den Spongien, Hydra, der gemeine Süßwaſſer-
Polyp, unter den Neſſelthieren, Convoluta und andere Krypto-
coelen, als einfachſte Strudelwürmer, unter den Plattenthieren).
VIII. Bei der weiteren Entwickelung der verſchiedenen Geweb-
thiere aus der Gaſtrula ſind zwei verſchiedene Hauptgruppen
zu unterſcheiden: Die älteren Niederthiere (Coelenteria oder
Acoelomia) bilden noch keine Leibeshöhle und beſitzen weder
Blut noch After; das iſt der Fall bei den Gaſträaden, Spongien,
Neſſelthieren und Plattenthieren. Die jüngeren Oberthiere
[72]Eizelle und Samenzelle. IV.
(Coelomaria oder Bilateria) hingegen beſitzen eine echte Leibes-
höhle und meiſtens auch Blut und After; dahin gehören die
Wurmthiere(Vermalia) und die höheren, typiſchen Thierſtämme,
welche ſich ſpäter aus dieſen entwickelt haben, die Sternthiere,
Weichthiere, Gliederthiere, Mantelthiere und Wirbelthiere.
Das ſind die weſentlichſten Lehrſätze meiner Gaſträa-
Theorie, deren erſten Entwurf (1872) ich ſpäter weiter aus-
geführt und in einer Reihe von „Studien zur Gaſträa-Theorie“
(1873-1884) feſter zu begründen mich bemüht habe. Obgleich
dieſelbe Anfangs faſt allgemein abgelehnt und während eines
Decenniums von zahlreichen Autoritäten heftig bekämpft wurde,
iſt ſie doch gegenwärtig (ſeit etwa 15 Jahren) von allen ſach-
kundigen Fachgenoſſen angenommen. Sehen wir nun, welche
weitreichenden Schlüſſe ſich aus der Gaſträa-Theorie und der
Keimesgeſchichte überhaupt für unſere Hauptfrage, die „Stellung
des Menſchen in der Natur“ ergeben.
Eizelle und Samenzelle des Menſchen. Das Ei des
Menſchen iſt, wie das aller anderen Gewebthiere, eine einfache
Zelle, und dieſe kleine kugelige Eizelle (von nur 0,2 mm Durch-
meſſer) hat genau dieſelbe charakteriſtiſche Beſchaffenheit, wie
diejenige aller anderen, lebendig gebärenden Säugethiere. Die
kleine Plasmakugel iſt nämlich von einer dicken, durchſichtigen,
fein radial geſtreiften Eihülle umgeben (Zona pellucida); auch
das kleine, kugelige Keimbläschen (der Zellenkern), das vom
Plasma (dem Zellenleib) eingeſchloſſen iſt, zeigt dieſelbe Größe
und Beſchaffenheit, wie bei den übrigen Mammalien. Dasſelbe
gilt von den beweglichen Spermien oder Samenfäden des
Mannes, den winzig kleinen, fadenförmigen Geißelzellen, welche
ſich zu Millionen in jedem Tröpfchen des ſchleimartigen männ-
lichen Samens(Sperma) finden; ſie wurden früher wegen
ihrer lebhaften Bewegung für beſondere „Samenthierchen“
(Spermatozoa) gehalten. Auch die Entſtehung dieſer beiden
[73]IV. Empfängniß oder Befruchtung.
wichtigen Geſchlechts-Zellen in der Geſchlechts-Drüſe
(Gonade) iſt dieſelbe beim Menſchen und den übrigen Säuge-
thieren; ſowohl die Eier im Eierſtock des Weibes (Ovarium),
als die Samenfäden im Hoden oder Samenſtock des Mannes
(Spermarium) entſtehen überall auf dieſelbe Weiſe, aus Zellen,
welche urſprünglich vom Cölom-Epithel abſtammen, von der
Zellenſchicht, welche die Leibeshöhle auskleidet.
Empfängniß oder Befruchtung(Conception, Foecundation).
Der wichtigſte Augenblick im Leben jedes Menſchen, wie jedes
anderen Gewebthieres, iſt das Moment, in welchem ſeine individuelle
Exiſtenz beginnt; es iſt der Augenblick, in welchem die Geſchlechts-
zellen der beiden Eltern zuſammentreffen und zur Bildung einer
einzigen einfachen Zelle verſchmelzen. Dieſe neue Zelle, die „be-
fruchtete Eizelle“, iſt die individuelle Stammzelle(Cytula),
aus deren wiederholter Theilung die Zellen der Keimblätter und
die Gaſtrula hervorgehen. Erſt mit der Bildung dieſer Cytula,
alſo mit dem Vorgange der Befruchtung ſelbſt, beginnt die
Exiſtenz der Perſon, des ſelbſtändigen Einzelweſens. Dieſe
ontogenetiſche Thatſache iſt überaus wichtig, denn aus ihr
allein ſchon laſſen ſich die weitreichendſten Schlüſſe ableiten.
Zunächſt folgt daraus die klare Erkenntniß, daß der Menſch,
gleich allen anderen Gewebthieren, alle perſönlichen Eigenſchaften,
körperliche und geiſtige, von ſeinen beiden Eltern durch Ver-
erbung erhalten hat; und weiterhin die inhaltſchwere Ueber-
zeugung, daß die neue, ſo entſtandene Perſon unmöglich Anſpruch
haben kann, „unſterblich“ zu ſein.
Die feineren Vorgänge bei der Empfängniß und der
geſchlechtlichen Zeugung überhaupt ſind daher von allerhöchſter
Wichtigkeit; ſie ſind uns in ihren Einzelheiten erſt ſeit 1875
bekannt geworden, ſeit Oscar Hertwig, mein damaliger
Schüler und Reiſebegleiter, in Ajaccio auf Corſica ſeine bahn-
brechenden Unterſuchungen über die Befruchtung der Thier-Eier
[74]Keimanlage des Menſchen. IV.
an den Seeigeln begann. Die ſchöne Hauptſtadt der Rosmarin-
Inſel, in welcher der große Napoleon 1769 geboren wurde, war
auch der Ort, an welchem zuerſt die Geheimniſſe der thieriſchen
Empfängniß in den wichtigſten Einzelheiten genau beobachtet
wurden. Hertwig fand, daß das einzige weſentliche Ereigniß
bei der Befruchtung die Verſchmelzung der beiden Geſchlechts-
zellen und ihrer Kerne iſt. Von den Millionen männlicher
Geißelzellen, welche die weibliche Eizelle umſchwärmen, dringt
nur eine einzige in deren Plasmakörper ein. Die Kerne beider
Zellen, der Spermakern und der Eikern, werden durch eine
geheimnißvolle Kraft, die wir als eine chemiſche, dem Geruch
verwandte Sinnesthätigkeit deuten, zu einander hingezogen,
nähern ſich und verſchmelzen mit einander. So entſteht durch
die ſinnliche Empfindung der beiden Geſchlechts-Kerne, in Folge
von „erotiſchem Chemotropismus“, eine neue Zelle, welche
die erblichen Eigenſchaften beider Eltern in ſich vereinigt; der
Sperma-Kern überträgt die väterlichen, der Eikern die mütter-
lichen Charakter-Züge auf die Stammzelle, aus der ſich nun
das Kind entwickelt; das gilt ebenſo von den körperlichen, wie
von den ſogenannten geiſtigen Eigenſchaften.
Keimanlage des Menſchen. Die Bildung der Keim-
blätter durch wiederholte Theilung der Stammzelle, die Ent-
ſtehung der Gaſtrula und der weiterhin aus ihr hervorgehenden
Keimformen geſchieht beim Menſchen genau ſo wie bei den
übrigen höheren Säugethieren, unter denſelben eigenthümlichen
Beſonderheiten, welche dieſe Gruppe vor den niederen Wirbel-
thieren auszeichnen. In früheren Perioden der Keimesgeſchichte
ſind dieſe Special-Charaktere der Placentalien noch nicht aus-
geprägt. Die bedeutungsvolle Keimform der Chordula oder
„Chordalarve“, die zunächſt aus der Gaſtrula entſteht, zeigt bei
allen Vertebraten im Weſentlichen die gleiche Bildung: ein ein-
facher gerader Axenſtab, die Chorda, geht der Länge nach durch
[75]IV. Keimbildung der Wirbelthiere.
die Hauptaxe des länglichrunden, ſchildförmigen Körpers (des
„Keimſchildes“); oberhalb der Chorda entwickelt ſich aus dem
äußeren Keimblatt das Rückenmark, unterhalb das Darmrohr.
Dann erſt erſcheinen zu beiden Seiten, rechts und links vom
Axenſtab, die Ketten der „Urwirbel“, die Anlagen der Muskel-
platten, mit denen die Gliederung des Wirbelthier-Körpers
beginnt. Vorn am Darm treten beiderſeits die Kiemenſpalten
auf, die Oeffnungen des Schlundes, durch welche urſprünglich
bei unſern Fiſch-Ahnen das vom Munde aufgenommene Athem-
waſſer an den Seiten des Kopfes nach außen trat. In Folge
zäher Vererbung treten dieſe Kiemenſpalten, die nur bei
den fiſchartigen, im Waſſer lebenden Vorfahren von Bedeutung
waren, auch heute noch beim Menſchen wie bei allen übrigen
Vertebraten auf; ſie verſchwinden ſpäter. Selbſt nachdem ſchon
am Kopfe die fünf Hirnblaſen, ſeitlich die Anfänge der Augen
und Ohren, ſichtbar geworden, nachdem am Rumpfe die An-
lagen der beiden Beinpaare in Form rundlicher platter Knoſpen
aus dem fiſchartigen Menſchenkeim hervorgeſproßt ſind, iſt deſſen
Bildung derjenigen anderer Wirbelthiere noch ſo ähnlich, daß
man ſie nicht unterſcheiden kann.
Aehnlichkeit der Wirbelthier-Keime. Die weſentliche
Uebereinſtimmung in der äußeren Körperform und dem inneren
Bau, welche die Embryonen des Menſchen und der übrigen
Vertebraten in dieſer früheren Bildungs-Periode zeigen, iſt eine
embryologiſche Thatſache erſten Ranges; aus ihr
laſſen ſich nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze die wichtigſten
Schlüſſe ableiten. Denn es giebt dafür keine andere Erklärung,
als die Annahme einer Vererbung von einer gemeinſamen
Stammform. Wenn wir ſehen, daß in einem beſtimmten
Stadium die Keime des Menſchen und des Affen, des Hundes
und des Kaninchens, des Schweines und des Schafes zwar als
höhere Wirbelthiere erkennbar, aber ſonſt nicht zu unterſcheiden
[76]Keimbildung des Menſchen. IV.
ſind, ſo kann dieſe Thatſache eben nur durch gemeinſame Ab-
ſtammung erklärt werden. Und dieſe Erklärung erſcheint um
ſo ſicherer, wenn wir die ſpäter eintretende Sonderung oder
Divergenz jener Keimformen verfolgen. Je näher ſich zwei
Thierformen in der geſammten Körperbildung und alſo auch im
natürlichen Syſtem ſtehen, deſto länger bleiben ſich auch ihre
Embryonen ähnlich, und deſto enger hängen ſie auch im Stamm-
baum der betreffenden Gruppe zuſammen, deſto näher ſind ſie
„ſtammverwandt“. Daher erſcheinen die Embryonen des Menſchen
und der Menſchenaffen auch ſpäter noch höchſt ähnlich, auf einer
hoch entwickelten Bildungsſtufe, auf welcher ihre Unterſchiede von
den Embryonen anderer Säugethiere ſofort erkennbar ſind. Ich
habe dieſe bedeutungsvolle Thatſache ſowohl in der natürlichen
Schöpfungsgeſchichte (1898, Taf. 2 und 3) als in der Anthro-
pogenie (1891, Taf. 6-9) durch Zuſammenſtellung entſprechender
Bildungsſtufen von einer Anzahl verſchiedener Wirbelthiere
illuſtrirt.
Die Keimhüllen des Menſchen. Die hohe phylogenetiſche
Bedeutung der eben beſprochenen Aehnlichkeit tritt nicht nur bei
Vergleichung der Vertebraten-Embryonen ſelbſt hervor, ſondern
auch bei derjenigen ihrer Keimhüllen. Es zeichnen ſich nämlich
alle Wirbelthiere der drei höheren Klaſſen, Reptilien, Vögel und
Säugethiere, vor den niederen Claſſen durch die Bildung eigen-
thümlicher Embryonal-Hüllen aus, des Amnion (Waſſerhaut)
und des Serolemma (Seröſe Haut). In dieſen mit Waſſer ge-
füllten Säcken liegt der Embryo eingeſchloſſen und iſt dadurch
gegen Druck und Stoß geſchützt. Dieſe zweckmäßige Schutz-
einrichtung iſt wahrſcheinlich erſt während der permiſchen Periode
entſtanden, als die älteſten Reptilien (Proreptilien), die gemein-
ſamen Stammformen der Amnionthiere oder Amnioten,
vollſtändig an das Landleben ſich anpaßten. Bei ihren direkten
Vorfahren, den Amphibien, fehlt dieſe Hüllenbildung noch ebenſo
[77]IV. Keimhüllen des Menſchen.
wie bei den Fiſchen; ſie war bei dieſen Waſſerbewohnern über-
flüſſig. Mit der Erwerbung dieſer Schutzhüllen ſtehen bei allen
Amnioten noch zwei andere Veränderungen in engem Zuſammen-
hang, erſtens der gänzliche Verluſt der Kiemen (während die
Kiemenbogen und die Spalten dazwiſchen als „rudimentäre
Organe“ ſich forterben); und zweitens die Bildung der Allan-
tois. Dieſer blaſenförmige, mit Waſſer gefüllte Sack wächſt
bei dem Embryo aller Amnioten aus dem Enddarm hervor und
iſt nichts Anderes als die vergrößerte Harnblaſe der Amphibien-
Ahnen. Aus ihrem innerſten und unterſten Theile bildet ſich
ſpäter die bleibende Harnblaſe der Amnioten, während der
größere äußere Theil rückgebildet wird. Gewöhnlich ſpielt dieſer
eine Zeitlang eine wichtige Rolle als Athmungs-Organ des
Embryo, indem ſich mächtige Blutgefäße auf ſeiner Wand aus-
breiten. Sowohl die Entſtehung der Keimhüllen (Amnion und
Serolemma), als auch der Allantois, geſchieht beim Menſchen
genau ebenſo, wie bei allen anderen Amnioten, und durch
dieſelben verwickelten Proceſſe des Wachsthums; der Menſch
iſt ein echtes Amnionthier.
Die Placenta des Menſchen. Die Ernährung des menſch-
lichen Keimes im Mutterleibe geſchieht bekanntlich durch ein
eigenthümliches, äußerſt blutreiches Organ, die ſogenannte
Placenta, den Aderkuchen oder Blutgefäßkuchen. Dieſes
wichtige Ernährungs-Organ bildet eine ſchwammige kreisrunde
Scheibe von 16-20 cm Durchmeſſer, 3-4 cm Dicke und
1-2 Pfund Gewicht; ſie wird nach erfolgter Geburt des Kindes
abgelöſt und als ſogenannte „Nachgeburt“ ausgeſtoßen. Die
Placenta beſteht aus zwei weſentlich verſchiedenen Theilen, dem
Fruchtkuchen oder der kindlichen Placenta (P. foetaliſ) und
dem Mutterkuchen oder dem mütterlichen Gefäßkuchen
(P. uterina). Dieſer letztere enthält reichentwickelte Bluträume,
welche ihr Blut durch die Gefäße der Gebärmutter zugeführt
[78]Placenta der Zottenthiere. IV.
erhalten. Der Fruchtkuchen dagegen wird aus zahlreichen ver-
äſtelten Zotten gebildet, welche von der Außenfläche der kind-
lichen Allantoiſ hervorwachſen und ihr Blut von deren Nabel-
gefäßen beziehen. Dieſe hohlen blutgefüllten Zotten des Frucht-
kuchens wachſen in die Bluträume des Mutterkuchens hinein,
und die zarte Scheidewand zwiſchen beiden wird ſo ſehr ver-
dünnt, daß durch ſie hindurch ein unmittelbarer Stoff-Austauſch
der ernährenden Blutflüſſigkeit erfolgen kann (durch Osmoſe).
Bei den älteren und niederen Gruppen der Zottenthiere
(Placentalia) iſt die ganze Oberfläche der äußeren Fruchthülle
(Chorion) mit zahlreichen kurzen Zotten bedeckt; dieſe „Chorion-
zotten“ wachſen in grubenförmige Vertiefungen der Schleimhaut
der Gebärmutter hinein und löſen ſich bei der Geburt leicht von
dieſer ab. Das iſt der Fall bei den meiſten Hufthieren (z. B.
Schwein, Kameel, Pferd), bei den meiſten Walthieren und
Halbaffen; man hat dieſe Malloplacentalien als Indeciduata be-
zeichnet (mit diffuſer Zottenhaut, Malloplacenta). Auch bei
den übrigen Zottenthieren und beim Menſchen iſt dieſelbe Bildung
anfänglich vorhanden. Bald aber verändert ſie ſich, indem die
Zotten auf einem Theile des Chorion rückgebildet werden; auf
dem anderen Theile entwickeln ſie ſich dafür um ſo ſtärker und
verwachſen ſehr feſt mit der Schleimhaut des Uterus. In Folge
dieſer innigen Verwachſung löſt ſich bei der Geburt ein Theil
der letzteren ab und wird unter Blutverluſt entfernt. Dieſe
hinfällige Haut oder Siebhaut(Decidua) iſt eine charakteriſtiſche
Bildung der höheren Zottenthiere, die man deßhalb als Deci-
duata zuſammengefaßt hat; dahin gehören namentlich die Raub-
thiere, Nagethiere, Affen und Menſchen; bei den Raubthieren
und einzelnen Hufthieren (z. B. Elephanten) iſt die Placenta
gürtelförmig (Zonoplacentalia), dagegen bei den Nagethieren,
bei den Inſektenfreſſern (Maulwurf, Igel), bei den Affen und
Menſchen ſcheibenförmig (Diocoplacentalia).
[79]IV. Placenta des Menſchen und Affen.
Noch vor zehn Jahren glaubten die meiſten Embryologen,
daß ſich der Menſch durch gewiſſe Eigenthümlichkeiten in der
Bildung ſeiner Placenta auszeichne, namentlich durch den Beſitz
der ſogenannten Decidua reflexa, ſowie durch die beſondere
Bildung des Nabelſtranges, welcher dieſe mit dem Keime ver-
bindet; dieſe eigenthümlichen Embryonal-Organe ſollten den
übrigen Zottenthieren, und insbeſondere den Affen fehlen. Der
wichtige Nabelſtrang oder die Nabelſchnur(Funiculuſ um-
bilicaliſ) iſt ein cylindriſcher, weicher Strang von 40-60 cm
Länge und von der Dicke des kleinen Fingers (11-13 mm).
Er ſtellt die Verbindung zwiſchen dem Embryo und dem Mutter-
kuchen her, indem er die ernährenden Blutgefäße aus dem
Körper des Keimes in den Fruchtkuchen leitet; außerdem ent-
hält er auch den Stiel der Allantois und des Dotterſackes.
Während nun der Dotterſack bei menſchlichen Früchten aus der
dritten Woche der Schwangerſchaft noch die größere Hälfte der
Keimblaſe darſtellt, wird er ſpäter bald rückgebildet, ſo daß
man ihn früher bei reifen Früchten ganz vermißte; doch iſt er
als Rudiment noch immer vorhanden und auch nach der Geburt
noch als winziges Nabelbläschen(Veſicula umbilicaliſ)
nachzuweiſen. Auch die blaſenförmige Anlage der Allantois
ſelbſt wird beim Menſchen frühzeitig rückgebildet, was mit
einer etwas abweichenden Bildung des Amnion zuſammenhängt,
der Entſtehung des ſogenannten „Bauchſtiels“. Auf die
complicirten anatomiſchen und embryologiſchen Verhältniſſe dieſer
Bildungen, die ich in meiner Anthropogenie (im 23. Vor-
trage) geſchildert und illuſtrirt habe, können wir hier nicht eingehen.
Die Gegner der Entwicklungslehre wieſen noch vor zehn
Jahren auf dieſe „ganz beſonderen Eigenthümlichkeiten“ der
Fruchtbildung beim Menſchen hin, durch die er ſich von
allen anderen Säugethieren unterſcheiden ſollte. Da wies 1890
Emil Selenka nach, daß dieſelben Eigenthümlichkeiten ſich auch
[80]Keimesgeſchichte der Menſchenaffen. IV.
bei den Menſchenaffen finden, insbeſondere beim Orang
(Satyruſ), während ſie den niederen Affen fehlen. Alſo be-
ſtätigte ſich auch hier wieder der Pithecometra-Satz von
Huxley: „Die Unterſchiede zwiſchen den Menſchen und den
Menſchenaffen ſind geringer als diejenigen zwiſchen den letzteren
und den niederen Affen.“ Die angeblichen „Beweiſe gegen
die nahe Blutsverwandtſchaft des Menſchen und der Affen“ er-
gaben ſich bei genauer Unterſuchung der thatſächlichen Ver-
hältniſſe auch hier wieder umgekehrt als wichtige Gründe zu
Gunſten derſelben.
Jeder Naturforſcher, der mit offenen Augen in dieſe dunkeln,
aber höchſt intereſſanten Labyrinth-Gänge unſerer Keimes-
geſchichte tiefer eindringt, und der im Stande iſt, ſie kritiſch
mit derjenigen der übrigen Säugethiere zu vergleichen, wird in
denſelben die bedeutungsvollſten Lichtträger für das Verſtändniß
unſerer Stammesgeſchichte finden. Denn die verſchiedenen
Stufen der Keimbildung werfen als palingenetiſche Ver-
erbungs-Phänomene ein helles Licht auf die entſprechenden
Stufen unſerer Ahnen-Reihe, gemäß dem biogenetiſchen
Grundgeſetze. Aber auch die cenogenetiſchen Anpaſſungs-
Erſcheinungen, die Bildung der vergänglichen Embryonal-Organe —
der charakteriſtiſchen Keimhüllen, und vor allem der Placenta —
geben uns ganz beſtimmte Aufſchlüſſe über unſere nahe Stamm-
verwandtſchaft mit den Primaten.
[[81]]
Fünftes Kapitel.
Unſere Stammesgeſchichte.
Moniſtiſche Studien über Urſprung und Abſtammung des
Menſchen von den Wirbelthieren, zunächſt von den Herren-
thieren.
‘„Die allgemeinen Grundzüge des Primaten-
Stammbaums von den älteſten eocänen Halbaffen
bis zum Menſchen hinauf liegen innerhalb der
Tertiärzeit klar vor unſeren Augen; da giebt es
kein weſentliches ‚fehlendes Glied‘ mehr. — Die
Abſtammung des Menſchen von einer aus-
geſtorbenen tertiären Primaten-Kette iſt keine
vage Hypotheſe mehr, ſondern ſie iſt eine hiſto-
riſche Thatſache. — Die unermeßliche Bedeu-
tung, welche dieſe ſichere Erkenntniß vom Pri-
maten-Urſprung des Menſchen beſitzt, liegt klar vor
den Augen jedes unbefangenen und conſequenten
Denkers.“
Cambridge-Vortrag
über unſere gegenwä1.000,00 € 5.000,00 € 10.000,00 €
2.000,00 € 6.000,00 € 11.000,00 €
3.000,00 € 7.000,00 € 12.000,00 €
6.000,00 € 18.000,00 € 33.000,00 €
rtige Kenntniß vom
Urſprung des Menſchen (1898).’ ()
Haeckel, Welträthſel. 6
[[82]]
Urſprung des Menſchen. Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. Moſes und
Linné. Die Schöpfung der conſtanten Arten. Kataſtrophen-Lehre, Cuvier.
Tranſformatismus, Goethe (1790). Deſcendenz-Theorie, Lamarck (1809).
Selections-Theorie, Darwin (1859). Stammesgeſchichte (Phylogenie) (1866).
Stammbäume. Generelle Morphologie. Natürliche Schöpfungsgeſchichte.
Syſtematiſche Phylogenie. Biogenetiſches Grundgeſetz. Anthropogenie.
Abſtammung des Menſchen vom Affen. Pithecoiden-Theorie. Der foſſile
Pithecanthropus von Dubois (1894).
Charles Darwin, Die Abſtammung des Menſchen und die geſchlechtliche
Zuchtwahl. 2 Bände. Stuttgart 1871. Dritte Auflage 1875.
Thomas Huxley, Zeugniſſe für die Stellung des Menſchen in der Natur.
Braunſchweig 1863.
Ernſt Haeckel, Anthropogenie. Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge
über Entwickelungsgeſchichte des Menſchen. Zweiter Theil. Stammes-
geſchichte oder Phylogenie. Leipzig 1874. Vierte Auflage 1891.
Carl Gegenbaur, Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere, mit Berückſich-
tigung der Wirbelloſen. 2 Bände. Leipzig 1898.
Carl Zittel, Grundzüge der Paläontologie. München 1895.
Ernſt Haeckel, Syſtematiſche Stammesgeſchichte des Menſchen (7. Kapitel
der „Syſtematiſchen Phylogenie der Wirbelthiere“). Berlin 1895.
Ludwig Büchner, Der Menſch und ſeine Stellung in der Natur, in Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zweite Auflage. Leipzig 1872.
J. G. Vogt, Die Menſchwerdung. Die Entwickelung des Menſchen aus
der Hauptreihe der Primaten. Leipzig 1892.
Ernſt Haeckel, Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des
Menſchen (Vortrag in Cambridge). Bonn 1898. Siebente Auflage 1899.
[[83]]
Der jüngſte unter den großen Zweigen am lebendigen
Baume der Biologie iſt diejenige Naturwiſſenſchaft, welche wir
Stammesgeſchichte oder Phylogenie nennen. Sie hat
ſich noch weit ſpäter und unter viel größeren Schwierigkeiten
entwickelt, als ihre natürliche Schweſter, die Keimesgeſchichte oder
Ontogenie. Dieſe letztere hatte zur Aufgabe die Erkenntniß der
geheimnißvollen Vorgänge, durch welche ſich die organiſchen
Individuen, die Einzelweſen der Thiere und Pflanzen, aus
dem Ei entwickeln. Die Stammesgeſchichte hingegen hat die viel
dunklere und ſchwierigere Frage zu beantworten: „Wie ſind die
organiſchen Species entſtanden, die einzelnen Arten der Thiere
und Pflanzen?“
Die Ontogenie (ſowohl Embryologie als Metamorphik)
konnte zur Löſung ihrer nahe liegenden Aufgabe zunächſt un-
mittelbar den empiriſchen Weg der Beobachtung betreten; ſie
brauchte nur Tag für Tag und Stunde für Stunde die ſicht-
baren Umbildungen zu verfolgen, welche der organiſche Keim
innerhalb kurzer Zeit während der Entwickelung aus dem Ei
erfährt. Viel ſchwieriger war von vornherein die entfernt liegende
Aufgabe der Phylogenie; denn die langſamen Proceſſe der
allmählichen Umbildung, welche die Entſtehung der Thier- und
Pflanzen-Arten bewirken, vollziehen ſich unmerklich im Verlaufe
von Jahrtauſenden und Jahrmillionen; ihre unmittelbare Beob-
6 *
[84]Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. V.
achtung iſt nur in ſehr engen Grenzen möglich, und der weitaus
größte Theil dieſer hiſtoriſchen Vorgänge kann nur indirekt er-
ſchloſſen werden: durch kritiſche Reflexion, durch vergleichende
Benutzung von empiriſchen Urkunden, welche ſehr verſchiedenen
Gebieten angehören, der Paläontologie, Ontogenie und Morpho-
logie. Dazu kam noch das gewaltige Hinderniß, welches der
natürlichen Stammesgeſchichte allgemein durch die enge Ver-
knüpfung der „Schöpfungsgeſchichte“ mit übernatürlichen Mythen
und religiöſen Dogmen bereitet wurde; es iſt daher begreiflich,
daß erſt im Laufe der letzten vierzig Jahre die wiſſenſchaftliche
Exiſtenz der wahren Stammesgeſchichte unter ſchweren Kämpfen
errungen und geſichert werden mußte.
Mythiſche Schöpfungsgeſchichte. Alle ernſtlichen Verſuche,
welche bis zum Beginne unſers 19. Jahrhunderts zur Beant-
wortung des Problems von der Entſtehung der Organismen
unternommen wurden, blieben in dem mythologiſchen Laby-
rinthe der übernatürlichen Schöpfungsſagen ſtecken. Einzelne
Bemühungen hervorragender Denker, ſich von dieſen zu emanci-
piren und zu einer natürlichen Auffaſſung zu gelangen, blieben
erfolglos. Die mannichfaltigen Schöpfungs-Mythen entwickelten
ſich bei allen älteren Kultur-Völkern im Zuſammenhang mit der
Religion; und während des Mittelalters war es naturgemäß
das zur Herrſchaft gelangte Chriſtenthum, welches die Beant-
wortung der Schöpfungsfrage für ſich in Anſpruch nahm. Da
die Bibel als die unerſchütterliche Baſis des chriſtlichen Religions-
Gebäudes galt, wurde die ganze Schöpfungsgeſchichte dem erſten
Buche Moſes entnommen. Auf dieſes ſtützte ſich auch noch der
große ſchwediſche Naturforſcher Carl Linné, als er 1735
in ſeinem grundlegenden „Syſtema Naturae“ den erſten Ver-
ſuch zu einer ſyſtematiſchen Ordnung, Benennung und Klaſſifi-
kation der unzähligen verſchiedenen Naturkörper unternahm. Als
beſtes, praktiſches Hilfsmittel derſelben führte er die bekannte
[85]V. Schöpfung der Species.
doppelte Namengebung oder binäre Nomenklatur ein; jeder ein-
zelnen Art oder Species von Thieren und Pflanzen gab er einen
beſonderen Art-Namen und ſtellte dieſem einen allgemeinen
Gattungs-Namen voran. In einer Gattung(Genuſ) wurden
die nächſtverwandten Arten(Specieſ) zuſammengeſtellt; ſo z. B.
vereinigte Linné in dem Genuſ Hund (Caniſ) als verſchiedene
Species den Haushund (Caniſ familiariſ), den Schakal (Caniſ
aureuſ), den Wolf (Caniſ lupuſ), den Fuchs (Caniſ vulpeſ)
u. A. Dieſe binäre Nomenklatur erwies ſich bald ſo praktiſch,
daß ſie allgemein angenommen wurde und bis heute in der
zoologiſchen und botaniſchen Syſtematik allgemein gültig iſt.
Höchſt verhängnißvoll aber wurde für die Wiſſenſchaft das
theoretiſche Dogma, welches ſchon von Linné ſelbſt mit
ſeinem praktiſchen Species-Begriffe verknüpft wurde. Die erſte
Frage, welche ſich dem denkenden Syſtematiker aufdrängen mußte,
war natürlich die Frage nach dem eigentlichen Weſen des Species-
Begriffes, nach Inhalt und Umfang deſſelben. Und gerade
dieſe Fundamental-Frage beantwortete ſein Schöpfer in naivſter
Weiſe, in Anlehnung an den allgemein gültigen Moſaiſchen
Schöpfungs-Mythus: „Specieſ tot ſunt diverſae, quot di-
verſaſ formaſ ab initio creavit infinitum enſ.“ (— Es giebt
ſo viel verſchiedene Arten, als im Anfange vom unendlichen
Weſen verſchiedene Formen erſchaffen worden ſind. —) Mit dieſem
theoſophiſchen Dogma war jede natürliche Erklärung der Art-
Entſtehung abgeſchnitten. Linné kannte nur die gegenwärtig
exiſtirende Thier- und Pflanzen-Welt; er hatte keine Ahnung
von den viel zahlreicheren ausgeſtorbenen Arten, welche in den
früheren Perioden der Erdgeſchichte unſeren Erdball in wechſeln-
der Geſtaltung bevölkert hatten.
Erſt im Anfange unſers Jahrhunderts wurden dieſe foſſilen
Thiere durch Cuvier näher bekannt. Er gab in ſeinem berühmten
Werke über die foſſilen Knochen der vierfüßigen Wirbelthiere
[86]Kataſtrophen-Lehre von Cuvier. V.
(1812) die erſte genaue Beſchreibung und richtige Deutung zahl-
reicher Petrefakten. Zugleich wies er nach, daß in den ver-
ſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte eine Reihe von ganz ver-
ſchiedenen Thier-Bevölkerungen auf einander gefolgt war. Da
nun Cuvier hartnäckig an Linné's Lehre von der abſoluten
Beſtändigkeit der Species feſt hielt, glaubte er deren Entſtehung
nur durch die Annahme erklären zu können, daß eine Reihe von
großen Kataſtrophen und von wiederholten Neuſchöpfungen in
der Erdgeſchichte auf einander gefolgt ſei; im Beginne jeder
großen Erd-Revolution ſollten alle lebenden Geſchöpfe vernichtet
und am Ende derſelben eine neue Bevölkerung erſchaffen worden
ſein. Obgleich dieſe Kataſtrophen-Theorie von Cuvier zu den
abſurdeſten Folgerungen führte und auf den nackten Wunder-
Glauben hinauslief, gewann ſie doch bald allgemeine Geltung
und blieb bis auf Darwin (1859) herrſchend.
Transformismus.Goethe. Daß die herrſchenden Vor-
ſtellungen von der abſoluten Beſtändigkeit und übernatürlichen
Schöpfung der organiſchen Arten tiefer denkende Forſcher nicht
befriedigen konnten, iſt leicht einzuſehen. Daher finden wir denn
ſchon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts einzelne
hervorragende Geiſter mit Verſuchen beſchäftigt, zu einer natur-
gemäßen Löſung des großen „Schöpfungs-Problems“ zu gelangen.
Allen voran war unſer größter Dichter und Denker Wolfgang
Goethe durch ſeine vieljährigen und eifrigen morphologiſchen
Studien bereits vor mehr als hundert Jahren zu der klaren
Einſicht in den inneren Zuſammenhang aller organiſchen Formen
und zu der feſten Ueberzeugung eines gemeinſamen natürlichen
Urſprungs gelangt. In ſeiner berühmten „Metamorphoſe der
Pflanzen“ (1790) leitete er alle verſchiedenen Formen der Ge-
wächſe von einer Urpflanze ab, und alle verſchiedenen Organe
derſelben von einem Urorgane, dem Blatt. In ſeiner Wirbel-
theorie des Schädels verſuchte er zu zeigen, daß die Schädel
[87]V. Umbildungslehre von Goethe.
aller verſchiedenen Wirbelthiere — mit Inbegriff des Menſchen! —
in gleicher Weiſe aus beſtimmt geordneten Knochen-Gruppen
zuſammengeſetzt ſeien und daß dieſe letzteren nichts Anderes ſeien,
als umgebildete Wirbel. Grade ſeine eingehenden Studien über
vergleichende Oſteologie hatten Goethe zu der feſten Ueber-
zeugung von der Einheit der Organiſation geführt; er hatte
erkannt, daß das Knochengerüſte des Menſchen nach demſelben
Typus zuſammengeſetzt ſei, wie das aller übrigen Wirbelthiere —
„geformt nach einem Urbilde, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen
Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht und ſich noch
täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet“ —. Dieſe Um-
bildung oder Transformation läßt Goethe durch die beſtändige
Wechſelwirkung von zwei geſtaltenden Bildungskräften geſchehen,
einer inneren Centripetalkraft des Organismus, dem „Specifi-
cations-Trieb“, und einer äußeren Centrifugalkraft, dem Varia-
tions-Trieb oder der „Idee der Metamorphoſe“; erſtere entſpricht
dem, was wir heute Vererbung, letztere dem, was wir An-
paſſung nennen. Wie tief Goethe durch dieſe naturphilo-
ſophiſchen Studien über „Bildung und Umbildung organiſcher
Naturen“ in deren Weſen eingedrungen war, und inwiefern er
demnach als der bedeutendſte Vorläufer von Darwin und
Lamarck betrachtet werden kann *), iſt aus den intereſſanten
Stellen ſeiner Werke zu erſehen, welche ich im vierten Vortrage
meiner natürlichen Schöpfungsgeſchichte zuſammengeſtellt habe
(neunte Auflage S. 65-68). Indeſſen kamen doch dieſe natur-
gemäßen Entwickelungs-Ideen von Goethe, ebenſo wie ähnliche
(ebenda citirte) Vorſtellungen von Kant, Oken, Treviranus
und anderen Naturphiloſophen im Beginne unſeres Jahrhunderts
nicht über gewiſſe allgemeine Ueberzeugungen hinaus. Es fehlte
ihnen noch der große Hebel, deſſen die „natürliche Schöpfungs-“
[88]Abſtammungslehre von Lamarck. V.
„geſchichte“ zu ihrer Begründung durch die Kritik des Species-
Dogma bedurfte, und dieſe verdanken wir erſt Lamarck.
Deſcendenz-Theorie oder Abſtammungslehre.La-
marck (1809). Den erſten eingehenden Verſuch zu einer
wiſſenſchaftlichen Begründung des Transformismus unternahm
im Beginne unſers 19. Jahrhunderts der große franzöſiſche
Naturphiloſoph Jean Lamarck, der bedeutendſte Gegner ſeines
Kollegen Cuvier in Paris. Schon 1802 hatte derſelbe in
ſeinen „Betrachtungen über die lebenden Naturkörper“ die bahn-
brechenden Ideen über die Unbeſtändigkeit und Umbildung der
Arten ausgeſprochen, welche er dann 1809 in den zwei Bänden
ſeines tiefſinnigſten Werkes, der Philoſophie zoologique, ein-
gehend begründete. Hier führte Lamarck zum erſten Male —
gegenüber dem herrſchenden Species-Dogma — den richtigen
Gedanken aus, daß die organiſche „Art oder Species“ eine
künſtliche Abſtraktion ſei, ein Begriff von relativem
Werthe, ebenſo wie die übergeordneten Begriffe der Gattung,
Familie, Ordnung und Klaſſe. Er behauptete ferner, daß alle
Arten veränderlich und im Laufe ſehr langer Zeiträume aus
älteren Arten durch Umbildung entſtanden ſeien. Die gemeinſamen
Stammformen, von denen dieſelben abſtammen, waren urſprüng-
lich ganz einfache und niedere Organismen; die erſten und älteſten
entſtanden durch Urzeugung. Während durch Vererbung
innerhalb der Generations-Reihen der Typus ſich beſtändig er-
hält, werden anderſeits durch Anpaſſung, durch Gewohnheit
und Uebung der Organe die Arten allmählich umgebildet. Auch
unſer menſchlicher Organismus iſt auf dieſelbe natürliche Weiſe
durch Umbildung aus einer Reihe von affenartigen Säugethieren
entſtanden. Für alle dieſe Vorgänge, wie überhaupt für alle Er-
ſcheinungen in der Natur wie im Geiſtesleben, nimmt Lamarck
ausſchließlich mechaniſche, phyſikaliſche und chemiſche Vorgänge
als wahre, bewirkende Urſachen an. Seine geiſtvolle Philo-
[89]V. Begründung der Entwickelungslehre.
ſophie zoologique enthält die Elemente für ein rein moniſtiſches
Natur-Syſtem auf Grund der Entwickelungslehre. Ich habe dieſe
Verdienſte Lamarck's im vierten Vortrage meiner Anthropo-
genie (vierte Auflage S. 63) und im fünften Vortrage der
Natürlichen Schöpfung (neunte Auflage S. 89) eingehend erörtert.
Man hätte erwarten ſollen, daß dieſer großartige Verſuch,
die Abſtammungslehre oder Deſcendenz-Theorie wiſſenſchaftlich
zu begründen, alsbald den herrſchenden Mythus von der Species-
Schöpfung erſchüttert und einer natürlichen Entwickelungslehre
Bahn gebrochen hätte. Indeſſen vermochte Lamarck gegen-
über der konſervativen Autorität ſeines großen Gegners Cuvier
ebenſo wenig durchzudringen, wie zwanzig Jahre ſpäter ſein
College und Geſinnungsgenoſſe Géoffroy St. Hilaire. Die
berühmten Kämpfe, welche dieſer Naturphiloſoph 1830 im Schooße
der Pariſer Akademie mit Cuvier zu beſtehen hatte, endigten
mit einem vollſtändigen Siege des Letzteren. Ich habe dieſe
Kämpfe, an welchen Goethe ſo lebhaften Antheil nahm, ſchon
früher ausführlich beſprochen (N. S. S. 77-80). Die mächtige
Entfaltung, welche zu jener Zeit das empiriſche Studium der
Biologie fand, die Fülle von intereſſanten Entdeckungen auf den
Gebieten der vergleichenden Anatomie und Phyſiologie, die Be-
gründung der Zellentheorie und die Fortſchritte der Ontogenie
gaben den Zoologen und Botanikern einen ſolchen Ueberfluß von
dankbarem Arbeits-Material, daß darüber die ſchwierige und
dunkle Frage nach der Entſtehung der Arten ganz vergeſſen
wurde. Man beruhigte ſich bei dem althergebrachten Schöpfungs-
Dogma. Selbſt nachdem der große engliſche Naturforſcher
Charles Lyell 1830 in ſeinen Principien der Geologie die
abenteuerliche Kataſtrophen-Theorie von Cuvier widerlegt und
für die anorganiſche Natur unſers Planeten einen natürlichen
und kontinuirlichen Entwickelungsgang nachgewieſen hatte, fand
ſein einfaches Kontinuitäts-Princip auf die organiſche Natur
[90]Selektionslehre von Darwin. V.
keine Anwendung. Die Anfänge der natürlichen Phylogenie,
welche in Lamarck's Werke verborgen lagen, wurden ebenſo
vergeſſen, wie die Keime zu einer natürlichen Ontogenie, welche
50 Jahre früher (1759) Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner
Theorie der Generation gegeben hatte. Hier wie dort verfloß
ein volles halbes Jahrhundert, ehe die bedeutendſten Ideen über
natürliche Entwickelung die gebührende Anerkennung fanden. Erſt
nachdem Darwin 1859 die Löſung des Schöpfungs-Problems
von einer ganz anderen Seite angefaßt und den reichen, inzwiſchen
angeſammelten Schatz von empiriſchen Kenntniſſen glücklich dazu
verwerthet hatte, fing man an, ſich auf Lamarck, als ſeinen
bedeutendſten Vorgänger, wieder zu beſinnen.
Selektions-Theorie.Darwin (1859). Der beiſpielloſe
Erfolg von Charles Darwin iſt allbekannt; er läßt ihn
heute, am Schluſſe des Jahrhunderts, wenn nicht als den
größten, ſo doch als den wirkungsvollſten Naturforſcher deſſelben
erſcheinen. Denn kein anderer von den zahlreichen großen Geiſtes-
helden unſerer Zeit hat mit einem einzigen claſſiſchen Werke
einen ſo gewaltigen, ſo tiefgehenden und ſo umfaſſenden Erfolg
erzielt, wie Darwin 1859 mit ſeinem berühmten Hauptwerk:
„Ueber die Entſtehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich
durch natürliche Züchtung oder Erhaltung der vervollkommneten
Raſſen im Kampfe um's Daſein.“ Gewiß hat die Reform der
vergleichenden Anatomie und Phyſiologie durch Johannes
Müller der ganzen Biologie eine neue, fruchtbare Epoche
eröffnet, gewiß waren die Begründung der Zellen-Theorie durch
Schleiden und Schwann, die Reform der Ontogenie durch
Baer, die Begründung des Subſtanz-Geſetzes durch Robert
Mayer und Helmholtz wiſſenſchaftliche Großthaten erſten
Ranges; aber keine von ihnen hat nach Tiefe und Ausdehnung
eine ſo gewaltige, unſer ganzes menſchliches Wiſſen umgeſtaltende
Wirkung ausgeübt, wie Darwin's Theorie von der natürlichen
[91]V. Begründung des Darwinismus.
Entſtehung der Arten. Denn damit war ja das myſtiſche
„Schöpfungs-Problem“ gelöſt, und mit ihm die inhalts-
ſchwere „Frage aller Fragen“, das Problem vom wahren Weſen
und von der Entſtehung des Menſchen ſelbſt.
Vergleichen wir die beiden großen Begründer des Trans-
formismus, ſo finden wir bei Lamarck überwiegende Neigung
zur Deduktion und zum Entwurfe eines vollſtändigen mo-
niſtiſchen Naturbildes, bei Darwin hingegen vorherrſchende
Anwendung der Induktion und das vorſichtige Bemühen, die
einzelnen Theile der Deſcendenz-Theorie durch Beobachtung und
Experiment möglichſt ſicher zu begründen. Während der fran-
zöſiſche Naturphiloſoph den damaligen Kreis des empiriſchen
Wiſſens weit überſchritt und eigentlich das Programm der zu-
künftigen Forſchung entwarf, hatte der engliſche Experimentator
umgekehrt den großen Vortheil, das einigende Erklärungs-Princip
für eine Maſſe von empiriſchen Kenntniſſen zu begründen, die
bis dahin unverſtanden ſich angehäuft hatten. So erklärt es
ſich, daß der Erfolg von Darwin ebenſo überwältigend, wie
derjenige von Lamarck verſchwindend war. Darwin hatte
aber nicht allein das große Verdienſt, die allgemeinen Ergebniſſe
der verſchiedenen biologiſchen Forſchungskreiſe in dem gemein-
ſamen Brennpunkte des Deſcendenz-Princips zu ſammeln und
dadurch einheitlich zu erklären, ſondern er entdeckte auch in dem
Selektions-Princip jene direkte Urſache der Transforma-
tion, welche Lamarck noch gefehlt hatte. Indem Darwin
als praktiſcher Thierzüchter die Erfahrungen der künſtlichen Zucht-
wahl auf die Organismen im freien Naturzuſtande anwendete
und in dem „Kampf um's Daſein“ das ausleſende Princip
der natürlichen Zuchtwahl entdeckte, ſchuf er ſeine bedeutungs-
volle Selektionstheorie, den eigentlichen Darwinismus*).
[92]Begründung der Stammesgeſchichte. V.
Stammesgeſchichte (Phylogenie) (1866). Unter den zahl-
reichen und wichtigen Aufgaben, welche Darwin der modernen
Biologie ſtellte, erſchien als eine der nächſten die Reform des
zoologiſchen und botaniſchen Syſtems. Wenn die unzähligen
Thier- und Pflanzen-Arten nicht durch übernatürliche Wunder
„erſchaffen“, ſondern durch natürliche Umbildung „entwickelt“
waren, ſo ergab ſich das „natürliche Syſtem“ derſelben als
ihr Stammbaum. Den erſten Verſuch, das Syſtem in dieſem
Sinne umzugeſtalten, unternahm ich ſelbſt (1866) in meiner
„Generellen Morphologie der Organismen“. Der
erſte Band dieſes Werkes (Allgemeine Anatomie) behandelte die
„mechaniſche Wiſſenſchaft von den entwickelten Formen“, der
zweite Band (Allgemeine Entwickelungsgeſchichte) diejenige von
den „entſtehenden Formen“. Die ſyſtematiſche Einleitung in die
letztere bildete eine „Genealogiſche Ueberſicht des natürlichen
Syſtems der Organismen“. Bis dahin hatte man unter „Ent-
wickelungsgeſchichte“ ſowohl in der Zoologie als in der
Botanik ausſchließlich diejenige der organiſchen Individuen
verſtanden (Embryologie und Metamorphoſen-Lehre). Ich be-
gründete dagegen die Anſicht, daß dieſer Keimesgeſchichte
(Ontogenie) als zweiter, gleichberechtigter und eng verbundener
Zweig die Stammesgeſchichte(Phylogenie) gegenüberſtehe.
Beide Zweige der Entwickelungsgeſchichte ſtehen nach meiner
Auffaſſung im engſten kauſalen Zuſammenhang; dieſer beruht
auf der Wechſelwirkung der Vererbungs- und Anpaſſungs-Geſetze;
er fand ſeinen präciſen und umfaſſenden Ausdruck in meinem
„biogenetiſchen Grundgeſetze“.
Natürliche Schöpfungsgeſchichte (1868). Da die neuen,
in der „Generellen Morphologie“ niedergelegten Anſchauungen
trotz ihrer ſtreng wiſſenſchaftlichen Faſſung bei den ſachkundigen
Fachgenoſſen ſehr wenig Beachtung und noch weniger Beifall
fanden, verſuchte ich, den wichtigſten Theil derſelben in einem
[93]V. Natürliche Schöpfungsgeſchichte.
kleineren, mehr populär gehaltenen Werke einem größeren, ge-
bildeten Leſerkreiſe zugänglich zu machen. Dies geſchah 1868
in der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (Gemeinverſtändliche
wiſſenſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im All-
gemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im
Beſonderen). Wenn der gehoffte Erfolg der „Generellen Mor-
phologie“ weit unter meiner berechtigten Erwartung blieb, ſo
ging umgekehrt derjenige der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“
weit über dieſelbe hinaus. Es erſchienen im Laufe von 30 Jahren
neun umgearbeitete Auflagen und zwölf verſchiedene Ueberſetzungen
von derſelben. Trotz ſeiner großen Mängel hat dieſes Buch doch
viel dazu beigetragen, die Grundgedanken unſerer modernen
Entwickelungslehre in weiteren Kreiſen zu verbreiten. Allerdings
konnte ich meinen Hauptzweck, die phylogenetiſche Umbildung
des natürlichen Syſtems, dort nur in allgemeinen Umriſſen an-
deuten. Indeſſen habe ich die ausführliche, dort vermißte Be-
gründung des phylogenetiſchen Syſtems ſpäter in einem größeren
Werke nachgeholt, in der „Syſtematiſchen Phylogenie“
(Entwurf eines natürlichen Syſtems der Organismen auf Grund
ihrer Stammesgeſchichte). Der erſte Band derſelben (1894) be-
handelt die Protiſten und Pflanzen, der zweite (1896) die wirbel-
loſen Thiere, der dritte (1895) die Wirbelthiere. Die Stamm-
bäume der kleineren und größeren Gruppen ſind hier ſo weit
ausgeführt, als es mir meine Kenntniß der drei großen
„Stammesurkunden“ geſtattete, der Palaeontologie, Ontogenie
und Morphologie.
Biogenetiſches Grundgeſetz. Den engen, urſächlichen Zu-
ſammenhang, welcher nach meiner Ueberzeugung zwiſchen beiden
Zweigen der organiſchen Entwickelungsgeſchichte beſteht, hatte ich
ſchon in der Generellen Morphologie (am Schluſſe des fünften
Buches) als einen der wichtigſten Begriffe des Transformismus
hervorgehoben und einen präciſen Ausdruck dafür in mehreren
[94]Biogenetiſches Grundgeſetz. V.
„Theſen von dem Kauſal-Nexus der biontiſchen und der phyle-
tiſchen Entwickelung“ gegeben: „Die Ontogeneſis iſt eine
kurze und ſchnelle Rekapitulation der Phylo-
geneſis, bedingt durch die phyſiologiſchen Funktionen der Ver-
erbung (Fortpflanzung) und Anpaſſung (Ernährung)“. Schon
Darwin hatte (1859) die große Bedeutung ſeiner Theorie für
die Erklärung der Embryologie betont, und Fritz Müller
hatte dieſelbe (1864) an dem Beiſpiele einer einzelnen Thier-
klaſſe, den Kruſtaceen, nachzuweiſen verſucht, in der geiſtvollen
kleinen Schrift: „Für Darwin“ (1864). Ich ſelbſt habe
dann die allgemeine Geltung und die fundamentale Bedeutung
jenes biogenetiſchen Grundgeſetzes in einer Reihe von Arbeiten
nachzuweiſen verſucht, insbeſondere in der Biologie der Kalk-
ſchwämme (1872) und in den „Studien zur Gaſträa-Theorie“
(1873-1884). Die dort aufgeſtellte Lehre von der Homologie
der Keimblätter, ſowie von den Verhältniſſen der Palingenie
(Auszugsgeſchichte) und der Cenogenie (Störungs-
geſchichte) iſt ſeitdem durch zahlreiche Arbeiten anderer Zoo-
logen beſtätigt worden; durch ſie iſt es möglich geworden, die
natürlichen Geſetze der Einheit in der mannichfaltigen Keimes-
geſchichte der Thiere nachzuweiſen; für ihre Stammesgeſchichte
ergiebt ſich daraus die gemeinſame Ableitung von einer einfachſten
urſprünglichen Stammform.
Anthropogenie (1874). Der weitſchauende Begründer der
Abſtammungslehre, Lamarck, hatte ſchon 1809 richtig erkannt,
daß dieſelbe allgemeine Geltung beſitze und daß alſo auch der
Menſch, als das höchſt entwickelte Säugethier, von demſelben
Stamme abzuleiten ſei, wie alle anderen Mammalien, und dieſe
weiter hinauf von demſelben älteren Zweige des Stammbaums,
wie die übrigen Wirbelthiere. Er hatte auch ſchon auf die
Vorgänge hingewieſen, durch welche die Abſtammung des
Menſchen vom Affen, als dem nächſtverwandten Säuge-
[95]V. Begründung der Anthropogenie.
thiere, wiſſenſchaftlich erklärt werden könne. Darwin, der
naturgemäß zu derſelben Ueberzeugung gelangt war, ging in
ſeinem Hauptwerk (1859) über dieſe anſtößigſte Folgerung ſeiner
Lehre abſichtlich hinweg und hat dieſelbe erſt ſpäter (1871) in
einem zweibändigen Werke über „Die Abſtammung des Menſchen
und die geſchlechtliche Zuchtwahl“ geiſtreich ausgeführt. In-
zwiſchen hatte aber ſchon ſein Freund Huxley (1863) jenen
wichtigſten Folgeſchluß der Abſtammungslehre ſehr ſcharfſinnig
erörtert in ſeiner berühmten kleinen Schrift über die „Zeugniſſe
für die Stellung des Menſchen in der Natur“. An der Hand
der vergleichenden Anatomie und Ontogenie, und geſtützt auf die
Thatſachen der Paläontologie zeigte Huxley, daß die „Ab-
ſtammung des Menſchen vom Affen“ eine nothwendige Conſe-
quenz des Darwinismus ſei, und daß eine andere wiſſenſchaftliche
Erklärung von der Entſtehung des Menſchengeſchlechts überhaupt
nicht gegeben werden könne. Dieſe Ueberzeugung theilte auch
damals ſchon Carl Gegenbaur, der bedeutendſte Vertreter
der vergleichenden Anatomie, welcher dieſe wichtige Wiſſenſchaft
durch die conſequente und ſcharfſinnige Anwendung der Deſcen-
denz-Theorie auf eine höhere Stufe erhoben hat.
Als weitere Folgerung dieſer Pithecoiden-Theorie
(oder „Affen-Abſtammungslehre“ des Menſchen) ergab ſich die
ſchwierige Aufgabe, nicht nur die nächſtverwandten Säugethier-
Ahnen des Menſchen in der Tertiär-Zeit zu erforſchen,
ſondern auch die lange Reihe der älteren thieriſchen Vorfahren,
welche in früheren Zeiträumen der Erdgeſchichte gelebt und
während ungezählter Jahr-Millionen ſich entwickelt hatten. Die
hypothetiſche Löſung dieſer großen hiſtoriſchen Aufgabe hatte
ich ſchon 1866 in der Generellen Morphologie zu beginnen ver-
ſucht; weiter ausgeführt habe ich dieſelbe 1874 in meiner
Anthropogenie (I. Theil: Keimesgeſchichte, II. Theil:
Stammesgeſchichte). Die vierte umgearbeitete Auflage dieſes
[96]Begründung der Anthropogenie. V.
Buches (1891) enthält diejenige Darſtellung der Entwickelungs-
geſchichte des Menſchen, welche bei dem gegenwärtigen Zuſtande
unſerer Urkunden-Kenntniß ſich dem fernen Ziele der Wahrheit
nach meiner perſönlichen Auffaſſung am meiſten nähert; ich war
dabei ſtets bemüht, alle drei empiriſchen Urkunden, die Palä-
ontologie, Ontogenie und Morphologie (oder ver-
gleichende Anatomie), möglichſt gleichmäßig und im Zuſammen-
hange zu benutzen. Sicher werden die hier gegebenen Deſcendenz-
Hypotheſen im Einzelnen durch ſpätere phylogenetiſche Forſchungen
vielfach ergänzt und berichtigt werden; aber eben ſo ſicher ſteht
für mich die Ueberzeugung, daß der dort entworfene Stufengang
der menſchlichen Stammesgeſchichte im Großen und Ganzen der
Wahrheit entſpricht. Denn die hiſtoriſche Reihenfolge
der Wirbelthier-Verſteinerungen entſpricht vollſtändig
der morphologiſchen Entwickelungsreihe, welche uns die ver-
gleichende Anatomie und Ontogenie enthüllt: auf die ſiluriſchen
Fiſche folgen die devoniſchen Lurchfiſche, die carboniſchen Am-
phibien, die permiſchen Reptilien und die meſozoiſchen Säuge-
thiere; von dieſen erſcheinen wiederum zunächſt in der Trias die
niederſten Formen, die Gabelthiere (Monotremen), dann im Jura
die Beutelthiere (Marſupialien), und darauf in der Kreide die
älteſten Zottenthiere (Placentalien). Von dieſen letzteren treten
wieder zunächſt in der älteſten Tertiär-Zeit (Eocaen) die niederſten
Primaten-Ahnen auf, die Halbaffen, darauf (in der Miocän-Zeit)
die echten Affen, und zwar von den Catarrhinen zuerſt die
Hundsaffen (Cynopitheken), ſpäter die Menſchenaffen (Anthropo-
morphen); aus einem Zweige dieſer letzteren iſt erſt während
der Pliocän-Zeit der ſprachloſe Affenmenſch entſtanden (Pithe-
canthropuſ alaluſ), und aus dieſem endlich der ſprechende Menſch.
Viel ſchwieriger und unſicherer als dieſe Kette unſerer
Wirbelthier-Ahnen iſt diejenige der vorhergehenden wirbel-
[97]V. Affen-Abſtammung des Menſchen.
loſen Ahnen zu erforſchen; denn von ihren weichen, ſkelettloſen
Körpern kennen wir keine verſteinerten Ueberreſte; die Palä-
ontologie kann uns hier keinerlei Zeugniß liefern. Um ſo wich-
tiger werden hier die Urkunden der vergleichenden Anatomie
und Ontogenie. Da der menſchliche Keim denſelben Chordula-
Zuſtand durchläuft wie der Embryo aller anderen Wirbelthiere,
da er ſich ebenſo aus zwei Keimblättern einer Gaſtrula ent-
wickelt, ſchließen wir nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze auf
die frühere Exiſtenz entſprechender Ahnen-Formen (Vermalien,
Gaſtraeaden). Vor Allem wichtig aber iſt die fundamentale
Thatſache, daß auch der Keim des Menſchen, gleich demjenigen
aller anderen Thiere, ſich urſprünglich aus einer einfachen Zelle
entwickelt; denn dieſe Stammzelle(Cytula) — die „befruch-
tete Eizelle“ — weiſt zweifellos auf eine entſprechende einzellige
Stammform hin, ein uraltes (laurentiſches) Protozoon.
Für unſere moniſtiſche Philoſophie iſt es übrigens
zunächſt ziemlich gleichgültig, wie ſich im Einzelnen die Stufen-
reihe unſerer thieriſchen Vorfahren noch ſicherer feſtſtellen laſſen
wird. Für ſie bleibt als ſichere hiſtoriſche Thatſache
die folgenſchwere Erkenntniß beſtehen, daß der Menſch zu-
nächſt vom Affen abſtammt, weiterhin von einer langen
Reihe niederer Wirbelthiere. Die logiſche Begründung dieſes
Pithekometra-Satzes habe ich ſchon 1866 im ſiebenten Buche der
„Generellen Morphologie“ betont (S. 427): „Der Satz, daß der
Menſch ſich aus niederen Wirbelthieren, und zwar zunächſt aus
echten Affen, entwickelt hat, iſt ein ſpecieller Deduktions-Schluß,
welcher ſich aus dem generellen Induktions-Geſetze der Deſcendenz-
Theorie mit abſoluter Nothwendigkeit ergiebt.“
Von größter Bedeutung für die definitive Feſtſtellung und
Anerkennung dieſes fundamentalen Pithekometra-Satzes
ſind die paläontologiſchen Entdeckungen der letzten drei
Decennien geworden; insbeſondere haben uns die überraſchenden
Haeckel, Welträthſel. 7
[98]Unſere Abſtammung von Zottenthieren. V.
Funde von zahlreichen ausgeſtorbenen Säugethieren der Tertiär-
Zeit in den Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte dieſer wichtigſten
Thierklaſſe, von den niederſten, eierlegenden Monotremen bis zum
Menſchen hinauf, in ihren Grundzügen klarzulegen. Die vier
Hauptgruppen der Zottenthiere oder Placentalia, die formen-
reichen Legionen der Raubthiere, Nagethiere, Hufthiere und
Herrenthiere, erſcheinen durch tiefe Klüfte getrennt, wenn wir
nur die heute noch lebenden Epigonen als Vertreter derſelben
in's Auge faſſen. Dieſe Klüfte werden aber vollkommen ausgefüllt
und die ſcharfen Unterſchiede der vier Legionen gänzlich ver-
wiſcht, wenn wir ihre tertiären, ausgeſtorbenen Vorfahren ver-
gleichen, und wenn wir bis in die eocäne Geſchichts-Dämmerung
der älteſten Tertiär-Zeit hinabſteigen (mindeſtens drei Millionen
Jahre zurückliegend!). Da finden wir die große Unterklaſſe der
Zottenthiere, die heute mehr als 2500 Arten umfaßt, nur durch
eine geringe Zahl von kleinen und unbedeutenden „Urzotten-
thieren“ vertreten; und in dieſen Prochoriaten erſcheinen die
Charaktere jener vier divergenten Legionen ſo gemiſcht und ver-
wiſcht, daß wir ſie vernünftiger Weiſe nur als gemeinſame
Vorfahren derſelben deuten können. Die älteſten Raubthiere
(Ictopſaleſ), die älteſten Nagethiere (Eſthonychaleſ), die älteſten
Hufthiere (Condylarthraleſ) und die älteſten Herrenthiere (Le-
muravaleſ) beſitzen alle im Weſentlichen dieſelbe Bildung des
Knochen-Gerüſtes und daſſelbe typiſche Gebiß der urſprüng-
lichen Placentalien mit 44 Zähnen (in jeder Kieferhälfte drei
Schneidezähne, ein Eckzahn, vier Lückenzähne und drei Mahl-
zähne); ſie zeichnen ſich alle durch die geringe Größe und die
unvollkommene Bildung ihres Gehirns aus (beſonders des wich-
tigſten Theiles, der Großhirnrinde, die ſich erſt ſpäter bei den
miocänen und pliocänen Epigonen zum wahren „Denkorgane“
entwickelt hat!); ſie haben alle kurze Beine und fünfzehige Füße,
die mit der flachen Sohle auftreten (Plantigrada). Bei manchen
[99]V. Unſere Abſtammung von Herrenthieren.
dieſer älteſten Zottenthiere der Eocän-Zeit war es Anfangs
zweifelhaft, ob man ſie zu den Raubthieren oder Nagethieren, zu
den Hufthieren oder Herrenthieren ſtellen ſolle; ſo ſehr nähern
ſich hier unten dieſe vier großen, ſpäter ſo ſehr verſchiedenen
Legionen der Placentalien bis zur Berührung. Unzweifelhaft
folgt daraus ihr gemeinſamer Urſprung aus einer einzigen
Stammgruppe; dieſe Prochoriata lebten ſchon in der vorher-
gehenden Kreide-Periode (vor mehr als drei Jahr-Millionen!)
und ſind wahrſcheinlich in der Jura-Periode aus einer Gruppe
von inſektenfreſſenden Beutelthieren(Amphitheria) durch
Ausbildung einer primitiven Placenta diffuſa entſtanden, einer
Zottenhaut einfachſter Art.
Die wichtigſten aber von allen neueren paläontologiſchen
Entdeckungen, welche die Stammesgeſchichte der Zottenthiere
aufgeklärt haben, betreffen unſeren eigenen Stamm, die Legion
der Herrenthiere(Primateſ). Früher waren verſteinerte
Reſte derſelben äußerſt ſelten. Noch Cuvier, der große Gründer
der Paläontologie, behauptete bis zu ſeinem Tode (1832), daß
es keine Verſteinerungen von Primaten gäbe; zwar hatte er
ſelbſt ſchon den Schädel eines eocänen Halbaffen (Adapiſ) be-
ſchrieben, ihn aber irrthümlich für ein Hufthier gehalten. In
den letzten beiden Decennien ſind aber gut erhaltene, verſteinerte
Skelette von Halbaffen und Affen in ziemlicher Zahl entdeckt
worden; darunter befinden ſich alle die wichtigen Zwiſchenglieder,
welche eine zuſammenhängende Ahnen-Kette von den älteſten
Halbaffen bis zum Menſchen hinauf darſtellen.
Der berühmteſte und intereſſanteſte von dieſen foſſilen
Funden iſt der verſteinerte Affenmenſch von Java,
welchen der holländiſche Militär-Arzt Eugen Dubois 1894
entdeckt hat, der vielbeſprochene Pithecanthropuſ erectuſ. Er
iſt in der That das vielgeſuchte „Miſſing link“, das angeblich
„fehlende Glied“ in der Primaten-Kette, welche ſich ununter-
7*
[100]Der foſſile Affenmenſch. V.
brochen vom niederſten katarrhinen Affen bis zum höchſt ent-
wickelten Menſchen hinaufzieht. Ich habe die hohe Bedeutung,
welche dieſer merkwürdige Fund beſitzt, ausführlich erörtert in
dem Vortrage „Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Ur-
ſprung des Menſchen“, welchen ich am 26. Auguſt 1898 auf
dem vierten Internationalen Zoologen-Kongreß in Cambridge ge-
halten habe. Der Paläontologe, welcher die Bedingungen für
Bildung und Erhaltung von Verſteinerungen kennt, wird die
Entdeckung des Pithekanthropus als einen beſonders glücklichen
Zufall betrachten. Denn als Baumbewohner kommen die Affen
nach ihrem Tode (wenn ſie nicht zufällig ins Waſſer fallen) nur
ſelten unter Verhältniſſe, welche die Erhaltung und Verſteinerung
ihres Knochengerüſtes geſtatten. Durch den Fund dieſes foſſilen
Affenmenſchen von Java iſt alſo auch von Seiten der Palä-
ontologie die „Abſtammung des Menſchen vom Affen“ ebenſo
klar und ſicher bewieſen, wie es früher ſchon durch die Urkunden
der vergleichenden Anatomie und Ontogenie geſchehen
war; wir beſitzen jetzt alle Haupt-Urkunden unſerer Stammes-
geſchichte.
[[101]]
Sechſtes Kapitel.
Das Weſen der Seele.
Moniſtiſche Studien über den Begriff der Pſyche.
Aufgaben und Methoden der wiſſenſchaftlichen Pſychologie.
Pſychologiſche Metamorphoſen.
‘„Die pſychologiſchen Unterſchiede zwiſchen dem
Menſchen und den Menſchenaffen ſind geringer
als die entſprechenden Unterſchiede zwiſchen den
Menſchenaffen und den niedrigſten Affen. Und
dieſe phyſiologiſche Thatſache entſpricht genau dem
anatomiſchen Befunde, welchen uns die betreffen-
den Unterſchiede im Bau der Großhirnrinde,
des wichtigſten ‚Seelenorgans,‘ darbieten. —
Wenn nun trotzdem auch heute noch in den weiteſten
Kreiſen die Menſchen-Seele als ein beſonderes
‚Weſen‘ betrachtet und als wichtigſtes Zeugniß
gegen die verrufene ‚Abſtammung des Men-
ſchen vom Affen‘ in den Vordergrund geſtellt
wird, ſo erklärt ſich das einerſeits aus dem tiefen
Zuſtande der ſogenannten ‚Pſychologie‘, anderſeits
aus dem weit verbreiteten Aberglauben an die
Unſterblichkeit der Seele.“
Cambridge-Vortrag
über den Urſprung des Menſchen (1898).’ ()
[[102]]
Fundamentale Bedeutung der Pſychologie. Begriff und Methoden
derſelben. Gegenſätze der Anſichten darüber. Dualiſtiſche und moniſtiſche
Pſychologie. Verhältniß zum Subſtanz-Geſetz. Begriffs-Verwirrung.
Pſychologiſche Metamorphoſen: Kant, Virchow, Du Bois-Reymond. Er-
kenntnißwege der Seelenkunde. Introſpektive Methode (Selbſtbeobachtung).
Exakte Methode (Pſychophyſik). Vergleichende Methode (Thier-Pſychologie).
Pſychologiſcher Principien-Wechſel, Wundt. Völker-Pſychologie und Ethno-
graphie, Baſtian. Ontogenetiſche Pſychologie, Preyer. Phylogenetiſche
Pſychologie, Darwin, Romanes.
Julien Lamettrie, Naturgeſchichte der Seele. Haag 1745.
Herbert Spencer, Principien der Pſychologie. Stuttgart 1881.
Wilhelm Wundt, Grundriß der Pſychologie. Leipzig 1898.
Theodor Ziehen, Leitfaden der phyſiologiſchen Pſychologie. Jena 1891.
Zweite Auflage 1898.
Hugo Münſterberg, Ueber Aufgaben und Methoden der Pſychologie.
Leipzig 1891.
Leopold Beſſer, Was iſt Empfindung? Bonn 1881.
Albrecht Rau, Empfinden und Denken. Eine phyſiologiſche Unterſuchung
über die Natur des menſchlichen Verſtandes. Gießen 1896.
Paul Caruſ, The Soul of Man. An Inveſtigation of the factſ of
phyſiological and experimental Pſychology. Chicago 1891.
Auguſt Forel, Gehirn und Seele (Vortrag in Wien). Vierte Auflage.
Bonn 1894.
Adalbert Svoboda, Der Seelenwahn. Geſchichtliches und Philoſophiſches.
Leipzig 1886.
[[103]]
Die Erſcheinungen, welche man allgemein unter dem Begriffe
des Seelenlebens oder der pſychiſchen Thätigkeit zuſammen-
faßt, ſind unter allen uns bekannten Phänomenen einerſeits die
wichtigſten und intereſſanteſten, anderſeits die verwickeltſten und
räthſelhafteſten. Da die Natur-Erkenntniß ſelbſt, die Aufgabe
unſerer vorliegenden philoſophiſchen Studien, ein Theil des
Seelenlebens iſt, und da mithin auch die Anthropologie, ebenſo
wie die Kosmologie, eine richtige Erkenntniß der „Pſyche“ zur
Vorausſetzung hat, ſo kann man die Pſychologie, die wirklich
wiſſenſchaftliche Seelenlehre, auch als das Fundament und als
die Vorausſetzung aller anderen Wiſſenſchaften anſehen; von der
anderen Seite betrachtet, iſt ſie wieder ein Theil der Philoſophie
oder der Phyſiologie oder der Anthropologie.
Die große Schwierigkeit ihrer naturgemäßen Begründung
liegt nun aber darin, daß die Pſychologie wiederum die genaue
Kenntniß des menſchlichen Organismus vorausſetzt und vor
Allem des Gehirns, als des wichtigſten Organs des
Seelenlebens. Die große Mehrzahl der ſogenannten „Pſycho-
logen“ beſitzt jedoch von dieſen anatomiſchen Grundlagen der
Pſyche nur ſehr unvollſtändige oder gar keine Kenntniß, und ſo
erklärt ſich die bedauerliche Thatſache, daß in keiner anderen
Wiſſenſchaft ſo widerſprechende und unhaltbare Vorſtellungen über
ihren eigenen Begriff und ihre weſentliche Aufgabe herrſchen,
[104]Methoden der Pſychologie. VI.
wie in der Pſychologie. Dieſe Konfuſion iſt in den letzten drei
Decennien um ſo fühlbarer hervorgetreten, je mehr die groß-
artigen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie unſere Kennt-
niß vom Bau und von den Funktionen des wichtigſten Seelen-
Organs erweitert haben.
Methoden der Seelenforſchung. Nach meiner Ueber-
zeugung iſt das, was man die „Seele“ nennt, in Wahrheit
eine Natur-Erſcheinung; ich betrachte daher die Pſycho-
logie als einen Zweig der Naturwiſſenſchaft — und zwar der
Phyſiologie. Demzufolge muß ich von vornherein betonen,
daß wir für dieſelbe keine anderen Forſchungswege zulaſſen können
als in allen übrigen Naturwiſſenſchaften; d. h. in erſter Linie
die Beobachtung und das Experiment, in zweiter Linie
die Entwickelungsgeſchichte und in dritter Linie die meta-
phyſiſche Spekulation, welche durch induktive und deduktive
Schlüſſe möglichſt dem unbekannten „Weſen“ der Erſcheinung
ſich zu nähern ſucht. Mit Bezug auf die principielle Beurthei-
lung deſſelben aber müſſen wir zunächſt gerade hier den Gegen-
ſatz der dualiſtiſchen und der moniſtiſchen Auffaſſung ſcharf in's
Auge faſſen.
Dualiſtiſche Pſychologie. Die allgemein herrſchende Auf-
faſſung des Seelenlebens, welche wir bekämpfen, betrachtet Seele
und Leib als zwei verſchiedene „Weſen“. Dieſe beiden Weſen
können unabhängig von einander exiſtiren und ſind nicht noth-
wendig an einander gebunden. Der organiſche Leib iſt ein
ſterbliches, materielles Weſen, chemiſch zuſammengeſetzt aus
lebendigem Plasma und den von dieſem erzeugten Verbindungen
(Plasma-Produkten). Die Seele hingegen iſt ein unſterbliches,
immaterielles Weſen, ein ſpirituelles Agens, deſſen räthſel-
hafte Thätigkeit uns völlig unbekannt iſt. Dieſe triviale Auf-
faſſung iſt als ſolche ſpiritualiſtiſch und ihr principielles Gegentheil
in gewiſſem Sinne materialiſtiſch. Sie iſt zugleich transſcendent
[105]VI. Dualiſtiſche und moniſtiſche Pſychologie.
und ſupranaturaliſtiſch; denn ſie behauptet die Exiſtenz
von Kräften, welche ohne materielle Baſis exiſtiren und wirkſam
ſind; ſie fußt auf der Annahme, daß außer und über der Natur
noch eine „geiſtige Welt“ exiſtirt, eine immaterielle Welt, von
der wir durch Erfahrung nichts wiſſen und unſerer Natur nach
nichts wiſſen können.
Dieſe hypothetiſche „Geiſteswelt“, die von der mate-
riellen Körperwelt ganz unabhängig ſein ſoll, und auf deren
Annahme das ganze künſtliche Gebäude der dualiſtiſchen Welt-
anſchauung ruht, iſt lediglich ein Produkt der dichtenden Phan-
taſie; und daſſelbe gilt von dem myſtiſchen, eng mit ihr ver-
knüpften Glauben an die „Unſterblichkeit der Seele“, deſſen
wiſſenſchaftliche Unhaltbarkeit wir nachher noch beſonders darthun
müſſen (im 11. Kapitel). Wenn die in dieſem Sagenkreiſe herr-
ſchenden Glaubens-Vorſtellungen wirklich begründet wären, ſo
müßten die betreffenden Erſcheinungen nicht dem Subſtanz-
Geſetze unterworfen ſein; dieſe einzige Ausnahme von dem
höchſten kosmologiſchen Grundgeſetze müßte aber erſt ſehr ſpät im
Laufe der organiſchen Erdgeſchichte eingetreten ſein, da ſie nur
die „Seele“ des Menſchen und der höheren Thiere betrifft. Auch
das Dogma des „freien Willens“, ein anderes weſentliches Stück
der dualiſtiſchen Pſychologie, iſt mit dem univerſalen Subſtanz-
Geſetze ganz unvereinbar.
Moniſtiſche Pſychologie. Die natürliche Auffaſſung des
Seelenlebens, welche wir vertreten, erblickt dagegen in demſelben
eine Summe von Lebens-Erſcheinungen, welche gleich allen an-
deren an ein beſtimmtes materielles Subſtrat gebunden ſind. Wir
wollen dieſe materielle Baſis aller pſychiſchen Thätigkeit, ohne
welche dieſelbe nicht denkbar iſt, vorläufig als Pſychoplasma
bezeichnen, und zwar deßhalb, weil ſie durch die chemiſche
Analyſe überall als ein Körper nachgewieſen iſt, welcher zur
Gruppe der Plasma-Körper gehört, d. h. jener eiweißartigen
[106]Pſychologie und Subſtanzgeſetz. VI.
Kohlenſtoff-Verbindungen, welche ſämmtlichen Lebensvorgängen
zu Grunde liegen. Bei den höheren Thieren, welche ein Nerven-
Syſtem und Sinnes-Organe beſitzen, iſt aus dem Pſychoplasma
durch Differenzirung das Neuroplasma, die Nervenſubſtanz,
entſtanden. Unſere Auffaſſung iſt in dieſem Sinne mate-
rialiſtiſch. Sie iſt aber zugleich empiriſch und natura-
liſtiſch; denn unſere wiſſenſchaftliche Erfahrung hat uns noch
keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage
entbehren, und keine „geiſtige Welt“, welche außer der Natur
und über der Natur ſtünde.
Gleich allen anderen Natur-Erſcheinungen ſind auch die-
jenigen des Seelenlebens dem oberſten, Alles beherrſchenden
Subſtanzgeſetze unterworfen; es giebt auch in dieſem Ge-
biete keine einzige Ausnahme von dieſem höchſten kosmologiſchen
Grundgeſetze (vergl. Kap. 12). Die Vorgänge des niederen Seelen-
lebens bei den einzelligen Protiſten und bei den Pflanzen —
aber ebenſo auch bei den niederen Thieren —, ihre Reizbarkeit,
ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben
nach Selbſterhaltung, ſind unmittelbar bedingt durch phyſiologiſche
Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch phyſikaliſche und
chemiſche Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils
auf Anpaſſung zurückzuführen ſind. Aber ganz daſſelbe müſſen
wir auch für die höheren Seelenthätigkeiten der höheren Thiere
und des Menſchen behaupten, für die Bildung der Vorſtellungen
und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und
des Bewußtſeins; denn dieſe letzteren haben ſich phylogenetiſch
aus jenen erſteren entwickelt, und nur der höhere Grad der
Integration oder Centraliſation, der Aſſociation oder Vereinigung
der früher getrennten Funktionen erhebt ſie zu dieſer Höhe.
Begriffe der Pſychologie. In jeder Wiſſenſchaft gilt mit
Recht als erſte Aufgabe die klare Begriffs-Beſtimmung
des Gegenſtandes, den ſie zu erforſchen hat. In keiner Wiſſen-
[107]VI. Begriffe der Seelenlehre.
ſchaft aber iſt die Löſung dieſer erſten Aufgabe ſo ſchwierig als
in der Seelenlehre, und dieſe Thatſache iſt um ſo merkwürdiger,
als die Logik, die Lehre von der Begriffs-Bildung, ſelbſt nur
ein Theil der Pſychologie iſt. Wenn wir Alles vergleichen, was
über die Grundbegriffe der Seelenkunde von den angeſehenſten
Philoſophen und Naturforſchern aller Zeiten geſagt worden iſt,
ſo erſticken wir in einem Chaos der widerſprechendſten Anſichten.
Was iſt denn eigentlich die „Seele“? Wie verhält ſie ſich
zum „Geiſt“? Welche Bedeutung hat eigentlich das „Be-
wußtſein“? Wie unterſcheiden ſich „Empfindung“ und
„Gefühl“? Was iſt der „Inſtinkt“? Wie verhält ſich
der „freie Wille“? Was iſt „Vorſtellung“? Welcher
Unterſchied beſteht zwiſchen „Verſtand und Vernunft“?
Und was iſt eigentlich „Gemüth“? Welche Beziehung beſteht
zwiſchen allen dieſen „Seelen-Erſcheinungen und dem Körper“?
Die Antworten auf dieſe und viele andere, ſich daran anſchließende
Fragen lauten ſo verſchieden als möglich; nicht allein gehen die
Anſichten der angeſehenſten Autoritäten darüber weit aus einander,
ſondern auch eine und dieſelbe wiſſenſchaftliche Autorität
hat oft im Laufe ihrer eigenen pſychologiſchen Entwickelung ihre
Anſichten völlig verändert. Sicher hat dieſe „pſychologiſche
Metamorphoſe“ vieler Denker nicht wenig zu der koloſſalen
Konfuſion der Begriffe beigetragen, welche in der Seelen-
lehre mehr als in jedem anderen Gebiete der Erkenntniß herrſcht.
Pſychologiſche Metamorphoſen. Das intereſſanteſte Bei-
ſpiel ſolchen totalen Wechſels der objektiven und ſubjektiven
pſychologiſchen Anſchauungen liefert wohl der einflußreichſte
Führer der deutſchen Philoſophie, Immanuel Kant. Der
jugendliche, wirklich kritiſche Kant war zu der Ueberzeugung
gelangt, daß die drei Großmächte des Myſticismus —
„Gott, Freiheit und Unſterblichkeit“ — im Lichte der „reinen
Vernunft“ unhaltbar erſchienen; der gealterte, dogmatiſche
[108]Pſychologiſche Metamorphoſen. VI.
Kant dagegen fand, daß dieſe drei Haupt-Geſpenſter „Poſtulate
der praktiſchen Vernunft“ und als ſolche unentbehrlich ſind.
Je mehr neuerdings die angeſehene Schule der Neokantianer
den „Rückgang auf Kant“ als einzige Rettung aus dem ent-
ſetzlichen Wirrwarr der modernen Metaphyſik predigt, deſto
klarer offenbart ſich der unleugbare und unheilvolle Widerſpruch
zwiſchen den Grundanſchauungen des jungen und des alten
Kant; wir kommen ſpäter noch auf dieſen Dualismus zurück.
Ein intereſſantes Beiſpiel ähnlicher Wandelung bieten zwei
der berühmteſten Naturforſcher der Gegenwart, R. Virchow
und E. Du Bois-Reymond; die Metamorphoſe ihrer pſycho-
logiſchen Grundanſchauungen darf um ſo weniger überſehen
werden, als beide Berliner Biologen ſeit mehr als 40 Jahren
an der größten Univerſität Deutſchlands eine höchſt bedeutende
Rolle geſpielt und ſowohl direkt wie indirekt einen tiefgreifenden
Einfluß auf das moderne Geiſtesleben geübt haben. Rudolf
Virchow, der verdienſtvolle Begründer der Cellular-Pathologie,
war in der beſten Zeit ſeiner wiſſenſchaftlichen Thätigkeit, um
die Mitte unſeres Jahrhunderts (und beſonders während ſeines
Würzburger Aufenthalts, von 1849-1856), reiner Moniſt; er
galt damals als einer der hervorragendſten Vertreter jenes neu
erwachenden „Materialismus“, der im Jahre 1855 be-
ſonders durch zwei berühmte, faſt gleichzeitig erſchienene Werke
eingeführt wurde: Ludwig Büchner: Kraft und Stoff, und
Carl Vogt: Köhlerglaube und Wiſſenſchaft. Seine allgemeinen
biologiſchen Anſchauungen von den Lebensvorgängen im Men-
ſchen — ſämmtlich als mechaniſche Natur-Erſcheinungen auf-
gefaßt! — legte damals Virchow in einer Reihe ausgezeich-
neter Artikel in den erſten Bänden des von ihm herausgegebenen
Archivs für pathologiſche Anatomie nieder. Wohl die bedeu-
tendſte unter dieſen Abhandlungen und diejenige, in welcher er
ſeine damalige moniſtiſche Weltanſchauung am klarſten
[109]VI. Pſychologiſcher Monismus.
zuſammenfaßte, iſt diejenige über „Die Einheitsbeſtrebungen in
der wiſſenſchaftlichen Medicin“ (1849). Es geſchah gewiß mit
Bedacht und mit der Ueberzeugung ihres philoſophiſchen Werthes,
daß Virchow 1856 dieſes „mediciniſche Glaubens-Bekenntniß“
an die Spitze ſeiner „Geſammelten Abhandlungen zur wiſſen-
ſchaftlichen Medicin“ ſtellte. Er vertritt darin ebenſo klar als
beſtimmt die fundamentalen Principien unſeres heutigen Mo-
nismus, wie ich ſie hier mit Bezug auf die Löſung der
„Welträthſel“ darſtelle; er vertheidigt die alleinige Berechtigung
der Erfahrungs-Wiſſenſchaft, deren einzige zuverläſſige Quellen
Sinnesthätigkeit und Gehirn-Funktion ſind; er bekämpft ebenſo
entſchieden den anthropologiſchen Dualismus, jede ſogenannte
Offenbarung und jede „Transſcendenz“ mit ihren zwei Wegen:
„Glauben und Anthromorphismus“. Vor Allem betont er den
moniſtiſchen Charakter der Anthropologie, den untrennbaren Zu-
ſammenhang von Geiſt und Körper, von Kraft und Materie;
am Schluſſe ſeines Vorworts ſpricht er (S. 4) den Satz aus:
„Ich habe die Ueberzeugung, daß ich mich niemals in der Lage
befinden werde, den Satz von der Einheit des menſch-
lichen Weſens und ſeine Konſequenzen zu verleugnen.“ Leider
war dieſe „Ueberzeugung“ ein ſchwerer Irrthum; denn 28 Jahre
ſpäter vertrat Virchow ganz entgegengeſetzte principielle An-
ſchauungen; es geſchah dies in jener vielbeſprochenen Rede über
„Die Freiheit der Wiſſenſchaft im modernen Staate“, die er
1877 auf der Naturforſcher-Verſammlung in München hielt, und
deren Angriffe ich in meiner Schrift „Freie Wiſſenſchaft und
freie Lehre“ (1878) zurückgewieſen habe.
Aehnliche Widerſprüche in Bezug auf die wichtigſten philo-
ſophiſchen Grundſätze wie Virchow hat auch Emil Du
Bois-Reymond gezeigt und damit den lauten Beifall der
dualiſtiſchen Schulen und vor Allem der Eccleſia militanſ er-
rungen. Je mehr dieſer berühmte Rhetor der Berliner Akademie
[110]Methoden der ſubjektiven Pſychologie. VI.
im Allgemeinen die Grundſätze unſeres Monismus vertrat, je
mehr er ſelbſt zur Widerlegung des Vitalismus und der trans-
ſcendenten Lebens-Auffaſſung beigetragen hatte, deſto lauter war
das Triumph-Geſchrei der Gegner, als er 1872 in ſeiner wir-
kungsvollen Ignorabimus-Rede das „Bewußtſein“ als ein
unlösbares Welträthſel hingeſtellt und als eine übernatürliche
Erſcheinung den anderen Gehirn-Funktionen gegenüber geſtellt
hatte. Ich komme ſpäter (im 10. Kapitel) darauf zurück.
Objektive und ſubjektive Pſychologie. Die eigenthümliche
Natur vieler Seelen-Erſcheinungen, und vor Allem des Bewußt-
ſeins, bedingt gewiſſe Abänderungen und Modifikationen unſerer
naturwiſſenſchaftlichen Unterſuchungs-Methoden. Beſonders wichtig
iſt hier der Umſtand, daß zu der gewöhnlichen, objektiven,
äußeren Beobachtung noch die introſpektive Methode
treten muß, die ſubjektive, innere Beobachtung, welche die
Spiegelung unſers „Ich“ im Bewußtſein bedingt. Von dieſer
„unmittelbaren Gewißheit des Ich“ gingen die meiſten Pſycho-
logen aus: „Cogito, ergo ſum!“ „Ich denke, alſo bin
Ich.“ Wir werden daher zunächſt auf dieſen Erkenntniß-Weg,
und dann erſt auf die anderen, ihn ergänzenden Methoden einen
Blick werfen.
Introſpektive Pſychologie (Selbſtbeobachtung der Seele).
Der weitaus größte Theil aller derjenigen Kenntniſſe, welche ſeit
Jahrtauſenden in unzähligen Schriften über das menſchliche
Seelenleben niedergelegt ſind, beruht auf introſpektiver Seelen-
forſchung, d. h. auf Selbſtbeobachtung, und auf Schlüſſen,
welche wir aus der Aſſociation und Kritik dieſer ſubjektiven,
„inneren Erfahrungen“ ziehen. Für einen wichtigen Theil der
Seelenlehre iſt dieſer introſpektive Weg überhaupt der einzig
mögliche, vor Allem für die Erforſchung des Bewußtſeins;
dieſe Gehirn-Funktion nimmt daher eine ganz eigenthümliche
Stellung ein und iſt mehr als jede andere die Quelle unzähliger
[111]VI. Methoden der objektiven Pſychologie.
philoſophiſcher Irrthümer geworden (vergl. Kap. 10). Es iſt
aber ganz ungenügend und führt zu ganz unvollkommenen und
falſchen Vorſtellungen, wenn man dieſe Selbſtbeobachtung unſeres
Geiſtes als die wichtigſte oder überhaupt als die einzige Quelle
ſeiner Erkenntniß betrachtet, wie es von zahlreichen und an-
geſehenen Philoſophen geſchehen iſt. Denn ein großer Theil der
wichtigſten Erſcheinungen im Seelenleben, vor Allem die
Sinnes-Funktionen (Sehen, Hören, Riechen u. ſ. w.),
ferner die Sprache, kann nur auf demſelben Wege erforſcht
werden wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus, näm-
lich erſtens durch gründliche anatomiſche Unterſuchung ihrer
Organe, und zweitens durch exakte phyſiologiſche Analyſe der
davon abhängigen Funktionen. Um dieſe „äußere Beob-
achtung“ der Seelenthätigkeit auszuführen und dadurch die Er-
gebniſſe der „inneren Beobachtung“ zu ergänzen, bedarf es aber
gründlicher Kenntniſſe in Anatomie und Hiſtologie, Ontogenie
und Phyſiologie des Menſchen. Von dieſen unentbehrlichen
Grundlagen der Anthropologie haben nun die meiſten ſogenannten
„Pſychologen“ gar keine oder nur höchſt unvollkommene
Kenntniß; ſie ſind daher nicht im Stande, auch nur von ihrer
eigenen Seele eine genügende Vorſtellung zu erwerben. Dazu
kommt noch der ſchlimme Umſtand, daß die hochverehrte eigene
Seele dieſer Pſychologen gewöhnlich die einſeitig ausgebildete
(wenn auch in ihrem ſpekulativen Sport ſehr hoch entwickelte
Pſyche!) eines Kulturmenſchen höchſter Raſſe darſtellt, alſo
das letzte Endglied einer langen phyletiſchen Entwickelungs-
reihe, deren zahlreiche ältere und niedere Vorläufer für ihr
richtiges Verſtändniß unentbehrlich ſind. So erklärt es ſich, daß
der größte Theil der gewaltigen pſychologiſchen Literatur heute
werthloſe Makulatur iſt. Die introſpektive Methode iſt gewiß
höchſt werthvoll und unentbehrlich, ſie bedarf aber durchaus der
Mitwirkung und Ergänzung durch die übrigen Methoden 3.
[112]Methoden der exakten Pſychologie. VI.
Exakte Pſychologie. Je reicher im Laufe unſeres Jahr-
hunderts ſich die verſchiedenen Zweige des menſchlichen Er-
kenntniß-Baumes entwickelt, je mehr ſich die verſchiedenen Me-
thoden der einzelnen Wiſſenſchaften vervollkommnet haben, deſto
mehr iſt das Beſtreben gewachſen, dieſelben exakt zu geſtalten,
d. h. die Erſcheinungen möglichſt genau empiriſch zu unter-
ſuchen und die daraus abzuleitenden Geſetze thunlichſt ſcharf,
wo möglich mathematiſch zu formuliren. Letzteres iſt aber
nur bei einem kleinen Theile des menſchlichen Wiſſens erreichbar,
vorzüglich in jenen Wiſſenſchaften, bei denen es ſich in der
Hauptſache um meßbare Größen-Beſtimmungen handelt: in erſter
Linie der Mathematik, ſodann der Aſtronomie, der Mechanik,
überhaupt einem großen Theile der Phyſik und Chemie. Dieſe
Wiſſenſchaften werden daher auch als exakte Disciplinen
im engeren Sinne bezeichnet. Dagegen iſt es nicht richtig und
führt nur irre, wenn man oft alle Naturwiſſenſchaften als
„exakte“ betrachtet und anderen, namentlich den hiſtoriſchen und
den „Geiſteswiſſenſchaften“ gegenüberſtellt. Denn ebenſo wenig
als dieſe letzteren kann auch der größere Theil der Naturwiſſen-
ſchaft wirklich exakt behandelt werden; ganz beſonders gilt dies
von der Biologie und in dieſer wieder von der Pſychologie.
Da dieſe letztere nur ein Theil der Phyſiologie iſt, muß ſie im
Allgemeinen deren fundamentale Erkenntniß-Wege theilen. Sie
muß die thatſächlichen Erſcheinungen des Seelenlebens möglichſt
genau empiriſch begründen, durch Beobachtung und durch
Experiment; und ſie muß dann die Geſetze der Pſyche aus dieſen
durch induktive und deduktive Schlüſſe ableiten und möglichſt
ſcharf formuliren. Allein eine mathematiſche Formulirung
derſelben iſt aus leicht begreiflichen Gründen nur ſehr ſelten
möglich; ſie iſt mit großem Erfolge nur bei einem Theile der
Sinnes-Phyſiologie ausgeführt; dagegen für den weitaus größten
Theil der Gehirn-Phyſiologie iſt ſie nicht anwendbar.
[113]VI. Methoden der Pſychophyſik.
Pſychophyſik. Ein kleiner Theil der Pſychologie, welcher
der erſtrebten „exakten“ Unterſuchung zugänglich erſcheint, iſt ſeit
zwanzig Jahren mit großer Sorgfalt ſtudirt und zum Range
einer beſonderen Disciplin erhoben worden unter der Bezeichnung
Pſychophyſik. Die Begründer derſelben, die Phyſiologen
Theodor Fechner und Ernſt Heinrich Weber in Leipzig,
unterſuchten zunächſt genau die Abhängigkeit der Empfindungen
von den äußeren, auf die Sinnesorgane wirkenden Reizen und
beſonders das quantitative Verhältniß zwiſchen Reizſtärke und
Empfindungs-Intenſität. Sie fanden, daß zur Erregung einer
Empfindung eine beſtimmte minimale Reizſtärke erforderlich iſt
(die „Reizſchwelle“), und daß ein gegebener Reiz immer um
einen gewiſſen Betrag (die „Unterſchiedsſchwelle“) geändert werden
muß, ehe die Empfindung ſich merklich verändert. Für die wich-
tigſten Sinnes-Empfindungen (Geſicht, Gehör, Druckempfindung)
gilt das Geſetz, daß ihre Aenderung derjenigen der Reizſtärke
proportional iſt. Aus dieſem empiriſchen „Weber'ſchen Geſetz“
leitete Fechner durch mathematiſche Operationen ſein „pſycho-
phyſiſches Grundgeſetz“ ab, wonach die Empfindungs-Intenſitäten
in arithmetiſcher Progreſſion wachſen ſollen, hingegen die Reiz-
ſtärken in geometriſcher Progreſſion. Indeſſen iſt dieſes Fechner'ſche
Geſetz, ebenſo wie andere pſychophyſiſche „Geſetze“ mehrfach an-
gegriffen und als „nicht exakt“ bezweifelt worden. Jedenfalls
hat die moderne „Pſychophyſik“ die hohen Erwartungen, mit
denen ſie vor zwanzig Jahren begrüßt wurde, nicht entfernt
erfüllt; das Gebiet ihrer möglichen Anwendung iſt nur ſehr be-
ſchränkt. Indeſſen hat ſie principiell inſofern hohen Werth, als
dadurch die ſtrenge Geltung phyſikaliſcher Geſetze auf einem,
wenn auch nur ſehr kleinen Gebiete des ſogenannten „Geiſtes-
lebens“ dargethan wurde — eine Geltung, welche von der
materialiſtiſchen Pſychologie ſchon längſt für das ganze Gebiet
des Seelenlebens principiell in Anſpruch genommen war. Die
Haeckel, Welträthſel. 8
[114]Methoden der vergleichenden Pſychologie. VI.
„exakte Methode“ hat ſich auch hier, wie auf vielen anderen Ge-
bieten der Phyſiologie, als unzureichend und wenig fruchtbar
erwieſen; ſie iſt zwar überall im Princip zu erſtreben, aber leider
in den meiſten Fällen nicht anwendbar. Viel ergiebiger ſind die
vergleichende und die genetiſche Methode.
Vergleichende Pſychologie. Die auffällige Aehnlichkeit,
welche im Seelenleben des Menſchen und der höheren Thiere —
beſonders der nächſtverwandten Säugethiere — beſteht, iſt eine
altbekannte Thatſache. Die meiſten Naturvölker machen noch
heute zwiſchen beiden pſychiſchen Erſcheinungsreihen keinen weſent-
lichen Unterſchied, wie ſchon die allgemein verbreiteten Thier-
fabeln, die alten Sagen und die Vorſtellungen von der Seelen-
wanderung beweiſen. Auch die meiſten Philoſophen des klaſſiſchen
Alterthums waren davon überzeugt und entdeckten zwiſchen der
menſchlichen und thieriſchen Pſyche keine weſentlichen qualitativen,
ſondern nur quantitative Unterſchiede. Selbſt Plato, der
zuerſt den fundamentalen Unterſchied von Leib und Seele be-
hauptete, ließ in ſeiner Seelenwanderung eine und dieſelbe Seele
(oder „Idee“) durch verſchiedene Thier- und Menſchen-Leiber
hindurch wandern. Erſt das Chriſtenthum, welches den Unſterb-
lichkeitsglauben auf's Engſte mit dem Gottesglauben verknüpfte,
führte die principielle Scheidung zwiſchen der unſterblichen
Menſchen-Seele und der ſterblichen Thier-Seele durch. In der
dualiſtiſchen Philoſophie gelangte ſie vor Allem durch den Ein-
fluß von Descartes (1643) zur Geltung; er behauptete, daß
nur der Menſch eine wahre „Seele“ und ſomit Empfindung und
freien Willen beſitze, daß hingegen die Thiere Automaten, Ma-
ſchinen ohne Willen und Empfindung ſeien. Seitdem wurde
von den meiſten Pſychologen — namentlich auch von Kant —
das Seelenleben der Thiere ganz vernachläſſigt und das pſycho-
logiſche Studium auf den Menſchen beſchränkt; die menſchliche,
meiſtens rein introſpektive Pſychologie entbehrte der befruchtenden
[115]VI. Methoden der Thier-Pſychologie.
Vergleichung und blieb daher auf demſelben niederen Standpunkt
ſtehen, welchen die menſchliche Morphologie einnahm, ehe ſie
Cuvier durch die Begründung der vergleichenden Anatomie zur
Höhe einer „philoſophiſchen Naturwiſſenſchaft“ erhob.
Thier-Pſychologie. Das wiſſenſchaftliche Intereſſe für das
Seelenleben der Thiere wurde erſt in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts neu belebt, im Zuſammenhang mit den
Fortſchritten der ſyſtematiſchen Zoologie und Phyſiologie. Be-
ſonders anregend wirkte die Schrift von Reimarus: Allgemeine
Betrachtungen über die Triebe der Thiere (Hamburg 1760). In-
deſſen eine tiefere wiſſenſchaftliche Erforſchung wurde erſt möglich
durch die fundamentale Reform der Phyſiologie, welche wir dem
großen Berliner Naturforſcher Johannes Müller verdanken.
Dieſer geiſtvolle Biologe, das ganze Gebiet der organiſchen Natur,
Morphologie und Phyſiologie gleichmäßig umfaſſend, führte zuerſt
die exakten Methoden der Beobachtung und des Verſuchs
im geſammten Gebiete der Phyſiologie durch und verknüpfte ſie
zugleich in genialer Weiſe mit den vergleichenden Me-
thoden; er wendete dieſelben ebenſo auf das Seelenleben im
weiteſten Sinne an (auf Sprache, Sinne, Gehirnthätigkeit) wie
auf alle übrigen Lebens-Erſcheinungen. Das ſechſte Buch ſeines
„Handbuchs der Phyſiologie des Menſchen“ (1840) handelt
ſpeciell „Vom Seelenleben“ und enthält auf 80 Seiten eine
Fülle der wichtigſten pſychologiſchen Betrachtungen.
In den letzten vierzig Jahren iſt eine große Anzahl von
Schriften über vergleichende Pſychologie der Thiere erſchienen,
großentheils veranlaßt durch den mächtigen Anſtoß, welchen 1859
Charles Darwin durch ſein Werk über den Urſprung der
Arten gab, und durch die Einführung der Entwickelungs-
Theorie in das pſychologiſche Gebiet. Einige der wichtigſten
dieſer Schriften verdanken wir Romanes und J. Lubbock
in England, W. Wundt, L. Büchner, G. Schneider,
8*
[116]Menſchenſeele und Thierſeele. VI.
Fritz Schultze und Karl Groos in Deutſchland, Alfred
Eſpinas und E. Jourdan in Frankreich, Tito Vignoli
in Italien. (Ich habe die Titel von einigen der bedeutendſten
Werke auf der Rückſeite der Kapitel-Vorblätter angeführt.)
In Deutſchland gilt gegenwärtig als einer der bedeutendſten
Pſychologen Wilhelm Wundt in Leipzig; er beſitzt vor den
meiſten anderen Philoſophen den unſchätzbaren Vorzug einer
gründlichen zoologiſchen, anatomiſchen und phyſio-
logiſchen Bildung. Früher Aſſiſtent und Schüler von Helm-
holtz, hatte ſich Wundt frühzeitig daran gewöhnt, die Grund-
geſetze der Phyſik und Chemie im geſammten Gebiete der
Phyſiologie geltend zu machen, alſo auch im Sinne von
Johannes Müller in der Pſychologie, als einem Theilgebiete
der letzteren. Von dieſen Geſichtspunkten geleitet, veröffentlichte
Wundt 1863 ſeine werthvollen „Vorleſungen über die Menſchen-
und Thier-Seele“. Er liefert darin, wie er ſelbſt in der Vorrede
ſagt, den Nachweis, wie der Schauplatz der wichtigſten Seelen-
Vorgänge in der unbewußten Seele liegt, und er eröffnet uns
„einen Einblick in jenen Mechanismus, der im unbewußten
Hintergrund der Seele die Anregungen verarbeitet, die aus den
äußeren Eindrücken ſtammen“. Was mir aber beſonders wichtig
und werthvoll an Wundt's Werk erſcheint, iſt, daß er „hier
zum erſten Male das Geſetz der Erhaltung der Kraft
auf das pſychiſche Gebiet ausdehnt und dabei eine
Reihe von Thatſachen der Elektrophyſiologie zur Beweisführung
benutzt“ (l. c. p. VIII).
Dreißig Jahre ſpäter veröffentlichte Wundt (1892) eine
zweite, weſentlich verkürzte und gänzlich umgearbeitete Auflage
ſeiner „Vorleſungen über die Menſchen- und Thier-Seele“. Die
wichtigſten Principien der erſten Auflage ſind in dieſer zweiten
völlig aufgegeben, und der moniſtiſche Standpunkt der erſteren
iſt mit einem rein dualiſtiſchen vertauſcht. Wundt ſelbſt
[117]VI. Pſychophyſiſcher Parallelismus.
ſagt in der Vorrede zur zweiten Auflage, daß er ſich erſt all-
mählich von den fundamentalen Irrthümern der erſten befreit
habe, und daß er „dieſe Arbeit ſchon ſeit Jahren als eine
Jugendſünde betrachten lernte“; ſie „laſtete auf ihm als
eine Art Schuld, der er, ſo gut es gehen mochte, ledig zu
werden wünſchte“. In der That ſind die wichtigſten Grund-
anſchauungen der Seelenlehre in den beiden Auflagen von
Wundt's weit verbreiteten „Vorleſungen“ völlig entgegen-
geſetzte; in der erſten Auflage rein moniſtiſch und materialiſtiſch,
in der zweiten Auflage rein dualiſtiſch und ſpiritualiſtiſch. Dort
wird die Pſychologie als Naturwiſſenſchaft behandelt,
nach denſelben Grundſätzen wie die geſammte Phyſiologie, von
der ſie nur ein Theil iſt; dreißig Jahre ſpäter iſt für ihn die
Seelenlehre eine reine Geiſteswiſſenſchaft geworden, deren
Principien und Objekte von denjenigen der Naturwiſſenſchaft
völlig verſchieden ſind. Den ſchärfſten Ausdruck findet dieſe
Bekehrung in ſeinem Princip des pſychophyſiſchen Paral-
lelismus, wonach zwar „jedem pſychiſchen Geſchehen irgend
welche phyſiſche Vorgänge entſprechen“, beide aber völlig un-
abhängig von einander ſind und nicht in natürlichem
Kauſal-Zuſammenhang ſtehen. Dieſer vollkommene
Dualismus von Leib und Seele, von Natur und Geiſt hat
begreiflicher Weiſe den lebhaften Beifall der herrſchenden Schul-
Philoſophie gefunden und wird von ihr als ein bedeutungsvoller
Fortſchritt geprieſen, um ſo mehr, als er von einem angeſehenen
Naturforſcher bekannt wird, der früher die entgegengeſetzten An-
ſchauungen unſeres modernen Monismus vertrat. Da ich
ſelbſt auf dieſem letzteren, „beſchränkten“ Standpunkt ſeit mehr
als vierzig Jahren ſtehe und mich trotz aller beſtgemeinten An-
ſtrengungen nicht von ihm habe losmachen können, muß ich
natürlich die „Jugendſünden“ des jungen Phyſiologen Wundt
für die richtige Natur-Erkenntniß halten und ſie gegen die
[118]Pſychologiſche Metamorphoſen. VI.
entgegengeſetzten Grundanſchauungen des alten Philoſophen
Wundt energiſch vertheidigen.
Sehr intereſſant iſt der totale philoſophiſche Prin-
cipien-Wechſel, der uns hier wieder bei Wundt, wie
früher bei Kant, Virchow, Du Bois-Reymond, aber
auch bei Karl Ernſt Baer und bei Anderen begegnet. In
ihrer Jugend umfaſſen dieſe kühnen und talentvollen Natur-
forſcher das ganze Gebiet ihrer biologiſchen Forſchung mit weitem
Blick und ſtreben eifrig nach einem einheitlichen, natürlichen
Erkenntniß-Grunde; in ihrem Alter haben ſie eingeſehen, daß
dieſer nicht vollkommen erreichbar iſt, und deßhalb geben ſie
ihn lieber ganz auf. Zur Entſchuldigung dieſer pſychologiſchen
Metamorphoſe können ſie natürlich anführen, daß ſie in der
Jugend die Schwierigkeiten der großen Aufgabe überſehen und
die wahren Ziele verkannt hätten; erſt mit der reiferen Einſicht
des Alters und der Sammlung vieler Erfahrungen hätten ſie
ſich von ihren Irrthümern überzeugt und den wahren Weg zur
Quelle der Wahrheit gefunden. Man kann aber auch umgekehrt
behaupten, daß die großen Männer der Wiſſenſchaft in jüngeren
Jahren unbefangener und muthiger an ihre ſchwierige Aufgabe
herantreten, daß ihr Blick freier und ihre Urtheilskraft reiner
iſt; die Erfahrungen ſpäterer Jahre führen vielfach nicht nur
zur Bereicherung, ſondern auch zur Trübung der Einſicht, und
mit dem Greiſenalter tritt allmähliche Rückbildung ebenſo im
Gehirn wie in anderen Organen ein. Jedenfalls iſt dieſe er-
kenntniß-theoretiſche Metamorphoſe an ſich eine lehrreiche pſycho-
logiſche Thatſache; denn ſie beweiſt mit vielen anderen Formen
des „Geſinnungswechſels“, daß die höchſten Seelen-Funktionen
ebenſo weſentlichen individuellen Veränderungen im Laufe des
Lebens unterliegen wie alle anderen Lebens-Thätigkeiten.
Völker-Pſychologie. Für die fruchtbare Ausbildung der
vergleichenden Seelenlehre iſt es höchſt wichtig, die kritiſche Ver-
[119]VI. Völker-Pſychologie.
gleichung nicht auf Thier und Menſch im Allgemeinen zu be-
ſchränken, ſondern auch die mannigfaltigen Abſtufungen im
Seelenleben derſelben neben einander zu ſtellen. Erſt dadurch
gelangen wir zur klaren Erkenntniß der langen Stufenleiter
pſychiſcher Entwickelung, welche ununterbrochen von den niederſten,
einzelligen Lebensformen bis zu den Säugethieren und an deren
Spitze bis zum Menſchen hinauf führt. Aber innerhalb des
Menſchengeſchlechts ſelbſt ſind jene Abſtufungen ſehr beträchtlich
und die Verzweigungen des „Seelen-Stammbaums“ höchſt
mannigfaltig. Der pſychiſche Unterſchied zwiſchen dem roheſten
Naturmenſchen der niederſten Stufe und dem vollkommenſten
Kulturmenſchen der höchſten Stufe iſt koloſſal, viel größer, als
gemeinhin angenommen wird. In der richtigen Erkenntniß dieſer
Thatſache hat beſonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts die „Anthropologie der Naturvölker“ (Waitz)
einen lebhaften Aufſchwung genommen und die vergleichende
Ethnographie eine hohe Bedeutung für die Pſychologie ge-
wonnen. Leider iſt nur das maſſenhaft geſammelte Rohmaterial
dieſer Wiſſenſchaft noch nicht genügend kritiſch durchgearbeitet.
Welche unklaren und myſtiſchen Vorſtellungen hier noch herrſchen,
zeigt z. B. der ſogenannte „Völkergedanke“ des bekannten
Reiſenden Adolf Baſtian, der die größten Verdienſte als
Begründer des Berliner „Muſeums für Völkerkunde“ beſitzt, aber
als fruchtbarer Schriftſteller ein wahres Monſtrum von kritik-
loſer Kompilation und konfuſer Spekulation darſtellt 4.
Ontogenetiſche Pſychologie. Am meiſten vernachläſſigt
und am wenigſten angewendet unter allen Methoden der Seelen-
forſchung iſt bis auf den heutigen Tag die Entwickelungs-
geſchichte der Seele; und doch iſt gerade dieſer ſelten be-
tretene Pfad derjenige, der uns am kürzeſten und ſicherſten durch
den dunkeln Urwald der pſychologiſchen Vorurtheile, Dogmen
und Irrthümer zu der klaren Einſicht in viele der wichtigſten
[120]Methoden der ontogenetiſchen Pſychologie. VI.
„Seelenfragen“ führt. Wie in jedem anderen Gebiete der orga-
niſchen Entwickelungsgeſchichte, ſo ſtelle ich auch hier zunächſt
die beiden Hauptzweige derſelben gegenüber, die ich zuerſt 1866
unterſchieden habe: die Keimesgeſchichte (Ontogenie) und die
Stammesgeſchichte (Phylogenie). Die Keimesgeſchichte der
Seele, die individuelle oder biontiſche Pſychogenie, unterſucht
die allmähliche und ſtufenweiſe Entwickelung der Seele in der
einzelnen Perſon und ſtrebt nach Erkenntniß der Geſetze, welche
dieſelbe urſächlich bedingen. Für einen wichtigen Abſchnitt des
menſchlichen Seelenlebens iſt hier ſchon ſeit Jahrtauſenden ſehr
viel geſchehen; denn die rationelle Pädagogik mußte ſich ja
ſchon frühzeitig die Aufgabe ſtellen, theoretiſch die ſtufenweiſe
Entwickelung und Bildungsfähigkeit der kindlichen Seele kennen
zu lernen, deren harmoniſche Ausbildung und Leitung ſie prak-
tiſch durchzuführen hatte. Allein die meiſten Pädagogen waren
idealiſtiſche und dualiſtiſche Philoſophen und gingen daher an
ihre Aufgabe von vornherein mit den althergebrachten Vor-
urtheilen der ſpiritualiſtiſchen Pſychologie. Erſt ſeit wenigen
Decennien iſt dieſer dogmatiſchen Richtung gegenüber auch in
der Schule die naturwiſſenſchaftliche Methode zu größerer Geltung
gelangt; man bemüht ſich jetzt mehr, auch in der Beurtheilung
der Kindes-Seele die Grundſätze der Entwickelungslehre zur An-
wendung zu bringen. Das individuelle Rohmaterial der kind-
lichen Seele iſt ja bereits durch Vererbung von Eltern und
Voreltern qualitativ von vornherein gegeben; die Erziehung
hat die ſchöne Aufgabe, dasſelbe durch intellektuelle Belehrung
und moraliſche Erziehung, alſo durch Anpaſſung, zur reichen
Blüthe zu entwickeln. Für die Kenntniß unſerer früheſten pſy-
chiſchen Entwickelung hat erſt Wilhelm Preyer (1882) den
Grund gelegt in ſeiner intereſſanten Schrift „Die Seele des
Kindes, Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des Men-
ſchen in den erſten Lebensjahren“. Für die Erkenntniß der
[121]VI. Methoden der phylogenetiſchen Pſychologie.
ſpäteren Stufen und Metamorphoſen der individuellen Pſyche
bleibt noch ſehr viel zu thun; die richtige, kritiſche Anwendung
des biogenetiſchen Grundgeſetzes beginnt auch hier ſich als klarer
Leitſtern des wiſſenſchaftlichen Verſtändniſſes zu bewähren.
Phylogenetiſche Pſychologie. Eine neue, fruchtbare Periode
höherer Entwickelung begann für die Pſychologie, wie für alle
anderen biologiſchen Wiſſenſchaften, als vor vierzig Jahren
Charles Darwin die Grundſätze der Entwickelungslehre auf
ſie anwendete. Das ſiebente Kapitel ſeines epochemachenden
Werkes über die Entſtehung der Arten (1859) iſt dem Inſtinkt
gewidmet; es enthält den werthvollen Nachweis, daß die Inſtinkte
der Thiere, gleich allen anderen Lebensthätigkeiten, den allgemeinen
Geſetzen der hiſtoriſchen Entwickelung unterliegen. Die ſpeciellen
Inſtinkte der einzelnen Thier-Arten werden durch Anpaſſung
umgebildet, und dieſe „erworbenen Abänderungen“ werden durch
Vererbung auf die Nachkommen übertragen; bei ihrer Er-
haltung und Ausbildung ſpielt die natürliche Selektion durch
den „Kampf um's Daſein“ ebenſo eine züchtende Rolle wie bei
der Transformation jeder anderen phyſiologiſchen Thätigkeit.
Später hat Darwin in mehreren Werken dieſe fundamentale
Anſicht weiter ausgeführt und gezeigt, daß dieſelben Geſetze
„geiſtiger Entwickelung“ durch die ganze organiſche Welt hin-
durch walten, beim Menſchen ebenſo wie bei den Thieren und
bei dieſen ebenſo wie bei den Pflanzen. Die Einheit der
organiſchen Welt, die ſich aus ihrem gemeinſamen Urſprung
erklärt, gilt alſo auch für das geſammte Gebiet des Seelen-
lebens, vom einfachſten, einzelligen Organismus bis hinauf zum
Menſchen.
Die weitere Ausführung von Darwin's Pſychologie und
ihre beſondere Anwendung auf alle einzelnen Gebiete des Seelen-
lebens verdanken wir einem ausgezeichneten engliſchen Natur-
forſcher, George Romanes. Leider wurde er durch ſeinen
[122]Geiſtige Entwickelung im Thierreich. VI.
allzu frühen, kürzlich erfolgten Tod an der Vollendung des großen
Werkes gehindert, welches alle Theile der vergleichenden Seelen-
kunde gleichmäßig im Sinne der moniſtiſchen Entwickelungslehre
ausbauen ſollte. Die beiden Theile dieſes Werkes, welche er-
ſchienen ſind, gehören zu den werthvollſten Erzeugniſſen der ge-
ſammten pſychologiſchen Litteratur. Denn getreu den Principien
unſerer modernen moniſtiſchen Naturforſchung ſind darin erſtens
die wichtigſten Thatſachen zuſammengefaßt und geordnet,
welche ſeit Jahrtauſenden durch Beobachtung und Experiment
auf dem Gebiete der vergleichenden Seelenlehre empiriſch feſt-
geſtellt wurden; zweitens ſind dieſelben mit objektiver Kritik
geprüft und zweckmäßig gruppirt; und drittens ergeben ſich daraus
diejenigen Vernunft-Schlüſſe über die wichtigſten allgemeinen
Fragen der Pſychologie, welche allein mit den Grundſätzen unſerer
modernen moniſtiſchen Weltanſchauung vereinbar ſind. Der erſte
Band von Romanes' Werk (440 Seiten, Leipzig 1885) führt
den Titel: „Die geiſtige Entwickelung im Thierreich“ und ſtellt die
ganze lange Stufenreihe der pſychiſchen Entwickelung im Thier-
reiche von den einfachſten Empfindungen und Inſtinkten der
niederſten Thiere bis zu den vollkommenſten Erſcheinungen des
Bewußtſeins und der Vernunft bei den höchſtſtehenden Thieren
im natürlichen Zuſammenhang dar. Es ſind darin auch viele
Mittheilungen aus hinterlaſſenen Manuſkripten „über den In-
ſtinkt“ von Darwin mitgetheilt, und zugleich iſt eine „voll-
ſtändige Sammlung von Allem, was derſelbe auf dem Gebiete
der Pſychologie geſchrieben hat“, gegeben.
Der zweite und der wichtigſte Theil von Romanes' Werk
behandelt „die geiſtige Entwickelung beim Menſchen und den
Urſprung der menſchlichen Befähigung“ (430 Seiten, Leipzig
1893). Der ſcharfſinnige Pſychologe führt darin den über-
zeugenden Beweis, „daß die pſychologiſche Schranke
zwiſchen Thier und Menſch überwunden iſt“ (!); das
[123]VI. Menſchenſeele und Affenſeele.
begriffliche Denken und Abſtraktions-Vermögen des Menſchen hat
ſich allmählich aus den nicht begrifflichen Vorſtufen des Denkens
und Vorſtellens bei den nächſtverwandten Säugethieren entwickelt.
Die höchſten Geiſtesthätigkeiten des Menſchen, Vernunft,
Sprache und Bewußtſein, ſind aus den niederen Vor-
ſtufen derſelben in der Reihe der Primaten-Ahnen (Affen
und Halbaffen) hervorgegangen. Der Menſch beſitzt keine einzige
„Geiſtesthätigkeit“, welche ihm ausſchließlich eigenthümlich iſt;
ſein ganzes Seelenleben iſt von demjenigen der nächſtverwandten
Säugethiere nur dem Grade, nicht der Art nach, nur quanti-
tativ, nicht qualitativ verſchieden.
Den Leſer meines Buches, welcher ſich für dieſe hochwichtigen
„Seelen-Fragen“ intereſſirt, verweiſe ich auf das grundlegende
Werk von Romanes. Ich ſtimme faſt in allen Anſchauungen
und Ueberzeugungen vollſtändig mit ihm und mit Darwin
überein; wo ſich etwa ſcheinbare Unterſchiede zwiſchen dieſen
Autoren und zwiſchen meinen früheren Ausführungen finden, da
beruhen ſie entweder auf einer unvollkommenen Ausdrucks-Form
meinerſeits oder auf einem unbedeutenden Unterſchiede in der
Anwendung der Grundbegriffe. Uebrigens gehört es ja zu den
charakteriſtiſchen Merkmalen dieſer „Begriffs-Wiſſenſchaft“, daß
über ihre wichtigſten Grundbegriffe die angeſehenſten Philoſophen
ganz verſchiedene Anſichten haben.
[124]VI.
Stellung der Pſychologie
im Syſtem der biologiſchen Wiſſenſchaften.
[[125]]
Siebentes Kapitel.
Stufenleiter der Seele.
Moniſtiſche Studien über vergleichende Pſychologie.
Die pſychologiſche Skala. Pſychoplasma und Nervenſyſtem.
Inſtinkt und Vernunft.
‘„Die wundervollſte aller Natur-Erſcheinungen,
die wir herkömmlich mit dem einen Worte ‚Geiſt‘
oder ‚Seele‘ bezeichnen, iſt eine ganz allgemeine
Eigenſchaft des Lebendigen. In aller lebendigen
Materie, in allem Protoplasma müſſen wir die
erſten Elemente des Seelenlebens annehmen, die
einfache Empfindungsform der Luſt und Unluſt,
die einfache Bewegungsform der Anziehung und
Abſtoßung. Nur ſind die Stufen der Aus-
bildung und Zuſammenſetzung dieſer ‚Seele‘ in
den verſchiedenen lebendigen Geſchöpfen ver-
ſchieden; ſie führen uns von der ſtillen Zellſeele
durch eine lange Reihe aufſteigender Zwiſchen-
ſtufen allmählich bis zur bewußten und ver-
nünftigen Menſchenſeele hinauf.“
„Zellſeelen und Seelenzellen“ (1878).’ ()
[[126]]
Pſychologiſche Einheit der organiſchen Natur. Materielle Baſis der
Pſyche: Pſychoplasma. Skala der Empfindungen. Skala der Bewegungen.
Skala der Reflexe. Einfache und zuſammengeſetzte Reflexe. Reflexthat und
Bewußtſein. Skala der Vorſtellungen. Unbewußte und bewußte Vor-
ſtellungen. Skala des Gedächtniſſes. Unbewußtes und bewußtes Ge-
dächtniß. Aſſocion der Vorſtellungen. Inſtinkte. Primäre und ſekundäre
Inſtinkte. Skala der Vernunft. Sprache. Gemüthsbewegungen und
Leidenſchaften. Wille. Freiheit des Willens.
Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menſchen
und den Thieren. Stuttgart 1872.
Wilhelm Wundt, Vorleſungen über die Menſchen- und Thier-Seele. Leipzig
1863. (Zweite, ganz umgearbeitete Auflage 1892)
Fritz Schultze, Vergleichende Seelenkunde. Leipzig 1897.
Ludwig Büchner, Aus dem Geiſtesleben der Thiere, oder Staaten und
Thaten der Kleinen. Berlin 1877.
— Liebe und Liebesleben in der Thierwelt. Berlin 1879.
Alfred Eſpinas, Die thieriſchen Geſellſchaften. Eine vergleichend-pſcho-
logiſche Unterſuchung. Braunſchweig 1879.
Tito Bignoli, Ueber das Fundamental-Geſetz der Intelligenz im Thierreich.
Verſuch einer vergleichenden Pſychologie. Leipzig 1879.
C. Lloyd Morgan,Animal life and intelligence. London 1890.
Wilhelm Bölſche, Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwickelungs-
geſchichte der Liebe. Leipzig 1898.
John Romanes, Die geiſtige Entwickelung im Thierreich und beim Menſchen.
Leipzig 1885-1893.
[[127]]
Die großartigen Fortſchritte, welche die Pſychologie in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit Hilfe der Entwickelungs-
lehre gemacht hat, gipfeln in der Anerkennung der pſycho-
logiſchen Einheit der organiſchen Welt. Die ver-
gleichende Seelenlehre, im Vereine mit der Ontogenie und
Phylogenie der Pſyche, haben uns zu der Ueberzeugung geführt,
daß das organiſche Leben in allen Abſtufungen, vom einfachſten,
einzelligen Protiſten bis zum Menſchen hinauf, aus denſelben
elementaren Naturkräften ſich entwickelt, aus den phyſiologiſchen
Funktionen der Empfindung und Bewegung. Die Hauptaufgabe
der wiſſenſchaftlichen Pſychologie wird daher künftig nicht, wie
bisher, die ausſchließlich ſubjektive und introſpektive Zer-
gliederung der höchſtentwickelten Philoſophen-Seele ſein, ſondern
die objektive und vergleichende Unterſuchung der langen Stufen-
leiter, auf welcher ſich der menſchliche Geiſt allmählich aus einer
langen Reihe von niederen thieriſchen Zuſtänden entwickelt hat.
Die ſchöne Aufgabe, die einzelnen Stufen dieſer pſychologiſchen
Skala zu unterſcheiden und ihren ununterbrochenen phylogenetiſchen
Zuſammenhang nachzuweiſen, iſt erſt in den letzten Decennien
unſeres Jahrhunderts ernſtlich in Angriff genommen worden,
vor Allem in dem ausgezeichneten Werke von Romanes (vergl.
S. 122). Wir beſchränken uns hier auf die kurze Beſprechung
einiger der allgemeinſten Fragen, welche uns die Erkenntniß
jener Stufenleiter vorlegt.
[128]Pſychoplasma und Neuroplasma. VII.
Materielle Baſis der Pſyche. Alle Erſcheinungen des
Seelenlebens ohne Ausnahme ſind verknüpft mit materiellen
Vorgängen in der lebendigen Subſtanz des Körpers, im Plasma
oder Protoplasma. Wir haben jenen Theil des letzteren, der
als der unentbehrliche Träger der Pſyche erſcheint, als Pſycho-
plasma bezeichnet (als „Seelenſubſtanz“ im moniſtiſchen
Sinne); d. h. wir erblicken darin kein beſonderes „Weſen“, ſondern
wir betrachten die Pſyche als Kollektiv-Begriff für
die geſammten pſychiſchen Funktionen des Plasma.
„Seele“ iſt in dieſem Sinne ebenſo eine phyſiologiſche Ab-
ſtraktion wie der Begriff „Stoffwechſel“ oder „Zeugung“. Beim
Menſchen und den höheren Thieren iſt das Pſychoplasma, zufolge
der vorgeſchrittenen Arbeitstheilung der Organe und Gewebe,
ein differenzirter Beſtandtheil des Nervenſyſtems, das Neuro-
plasma der Ganglienzellen und ihrer leitenden Ausläufer, der
Nervenfaſern. Bei den niederen Thieren dagegen, die noch keine
geſonderten Nerven und Sinnesorgane beſitzen, iſt das Pſycho-
plasma noch nicht zur ſelbſtſtändigen Differenzirung gelangt,
ebenſo wie bei den Pflanzen. Bei den einzelligen Protiſten
endlich iſt das Pſychoplasma entweder identiſch mit dem ganzen
lebendigen Protoplasma der einfachen Zelle oder mit einem
Theile deſſelben. In allen Fällen, ebenſo auf dieſer niederſten
wie auf jener höchſten Stufe der pſychologiſchen Skala, iſt eine
gewiſſe chemiſche Zuſammenſetzung des Pſychoplasma und
eine gewiſſe phyſikaliſche Beſchaffenheit deſſelben unent-
behrlich, wenn die „Seele“ fungiren oder arbeiten ſoll. Das
gilt ebenſo von der elementaren Seelenthätigkeit der plasma-
tiſchen Empfindung und Bewegung bei den Protozoen wie von
den zuſammengeſetzten Funktionen der Sinnesorgane und des
Gehirns bei den höheren Thieren und an ihrer Spitze dem
Menſchen. Die Arbeit des Pſychoplasma, die wir „Seele“
nennen, iſt ſtets mit Stoffwechſel verknüpft.
[129]VII. Stufenleiter der Empfindungen.
Skala der Empfindungen. Alle lebendigen Organismen
ohne Ausnahme ſind empfindlich; ſie unterſcheiden die Zuſtände
der umgebenden Außenwelt und reagiren darauf durch gewiſſe
Veränderungen in ihrem Innern. Licht und Wärme, Schwer-
kraft und Elektricität, mechaniſche Proceſſe und chemiſche Vor-
gänge in der Umgebung wirken als „Reize“ auf das em-
pfindliche Pſychoplasma und rufen Veränderungen in ſeiner
molekularen Zuſammenſetzung hervor. Als Hauptſtufen ſeiner
Empfindlichkeit oder Senſibilität unterſcheiden wir folgende
fünf Grade:
I. Auf den unterſten Stufen der Organiſation iſt das ganze
Pſychoplasma als ſolches empfindlich und reagirt auf die
einwirkenden Reize, ſo bei den niederſten Protiſten, bei vielen
Pflanzen und einem Theile der unvollkommenſten Thiere. II. Auf
der zweiten Stufe beginnen ſich an der Oberfläche des Körpers
einfachſte indifferente Sinneswerkzeuge zu entwickeln, in
Form von Plasmahaaren und Pigmentflecken, als Vorläufer von
Taſtorganen und Augen; ſo bei einem Theile der höheren
Protiſten, aber auch bei vielen niederen Thieren und Pflanzen.
III. Auf der dritten Stufe haben ſich aus dieſen einfachen
Grundlagen durch Differenzirung ſpecifiſche Sinnes-
organe entwickelt, mit eigenthümlicher Anpaſſung: die chemiſchen
Werkzeuge des Geruchs und Geſchmacks, die phyſikaliſchen
Organe des Taſtſinnes und Wärmeſinnes, des Gehörs und
Geſichts. Die „ſpecifiſche Energie“ dieſer höheren Senſillen iſt
keine urſprüngliche Eigenſchaft derſelben, ſondern durch funktionelle
Anpaſſung und progreſſive Vererbung ſtufenweiſe erworben.
IV. Auf der vierten Stufe tritt die Centraliſation oder Inte-
gration des Nervenſyſtems und damit zugleich diejenige
der Empfindung ein; durch Aſſocion der früheren iſolirten oder
localiſirten Empfindungen entſtehen Vorſtellungen, die zunächſt
noch unbewußt bleiben, ſo bei vielen niederen und höheren
Haeckel, Welträthſel. 9
[130]Stufenleiter der Bewegungen. VII.
Thieren. V. Auf der fünften Stufe entwickelt ſich durch
Spiegelung der Empfindungen in einem Central-Theile des
Nervenſyſtems die höchſte pſychiſche Funktion, die bewußte
Empfindung; ſo beim Menſchen und den höheren Wirbel-
thieren, wahrſcheinlich auch bei einem Theile der höheren wirbel-
loſen Thiere, beſonders der Gliederthiere.
Skala der Bewegungen. Alle lebendigen Naturkörper
ohne Ausnahme ſind ſpontan beweglich, im Gegenſatze zu
den ſtarren und unbeweglichen Anorganen (Kryſtallen); d. h. es
finden im lebendigen Pſychoplasma Lage-Veränderungen der
Theilchen aus inneren Urſachen ſtatt, welche in deſſen chemiſcher
Konſtitution ſelbſt begründet ſind. Dieſe aktiven vitalen Be-
wegungen ſind zum Theil direkt durch Beobachtung wahr-
zunehmen, zum anderen Theil aber nur indirekt aus ihren
Wirkungen zu erſchließen. Wir unterſcheiden fünf Abſtufungen
derſelben.
I. Auf der unterſten Stufe des organiſchen Lebens, bei
Chromaceen, vielen Protophyten und niederen Metaphyten,
nehmen wir nur jene Wachsthums-Bewegungen wahr, welche
allen Organismen gemeinſam zukommen. Dieſelben geſchehen
gewöhnlich ſo langſam, daß man ſie nicht unmittelbar be-
obachten, ſondern nur indirekt aus ihrem Reſultate erſchließen
kann, aus der Veränderung in Größe und Geſtalt des wachſenden
Körpers. II. Viele Protiſten, namentlich einzellige Algen aus
den Gruppen der Diatomeen und Desmidiaceen, bewegen ſich
kriechend oder ſchwimmend durch Sekretion fort, durch ein-
ſeitige Ausſcheidung einer ſchleimigen Maſſe. III. Andere, im
Waſſer ſchwebende Organismen, z. B. viele Radiolarien, Sipho-
nophoren, Ktenophoren u. a., ſteigen auf und nieder, indem ſie
ihr ſpecifiſches Gewicht verändern, bald durch Osmoſe,
bald durch Abſonderung oder Ausſtoßung von Luft. IV. Viele
Pflanzen, beſonders die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimoſen)
und andere Papilionaceen, führen Bewegungen von Blättern oder
[131]VII. Stufenleiter der Reflexthaten.
anderen Theilen mittelſt Turgor-Wechſels aus; d. h. ſie
verändern die Spannung des Protoplasmas, und damit auch
deſſen Druck auf die umſchließende elaſtiſche Zellenwand. V. Die
wichtigſten von allen organiſchen Bewegungen ſind die Kon-
traktions-Erſcheinungen, d. h. Geſtalts-Veränderungen
der Körper-Oberfläche, welche mit gegenſeitigen Lage-Verſchiebungen
ihrer Theilchen verbunden ſind; ſie verlaufen ſtets mit zwei
verſchiedenen Zuſtänden oder Phaſen der Bewegung: der Kon-
traktions-Phaſe (Zuſammenziehung) und der Expanſions-
Phaſe (Ausdehnung). Als vier verſchiedene Formen der Plasma-
Kontraktion werden unterſchieden Va: die amöboiden Be-
wegungen (bei Rhizopoden, Blutzellen, Pigmentzellen u. ſ. w.);
Vb: die ähnlichen Plasmaſtrömungen im Innern von
eingeſchloſſenen Zellen; Vc: die Flimmerbewegung (Geißel-
bewegung und Wimperbewegung) bei Infuſorien, Spermien,
Flimmer-Epithel-Zellen, und endlich Vd: Die Muskelbewegung
(bei den meiſten Thieren).
Skala der Reflexe (reflektoriſche Erſcheinungen, Reflex-
Bewegungen u. ſ. w.). Die elementare Seelenthätigkeit, welche
durch die Verknüpfung von Empfindung und Bewegung ent-
ſteht, nennen wir (im weiteſten Sinne!) Reflex oder reflektive
Funktion (reflektoriſche Leiſtung), beſſer Reflexthat. Die
Bewegung — gleichviel welcher Art — erſcheint hier als die un-
mittelbare Folge des Reizes, welchen die Empfindung hervor-
gerufen hat; man hat ſie daher auch im einfachſten Falle (bei
Protiſten) kurz als „Reizbewegung“ bezeichnet. Alles lebende
Plasma beſitzt Reizbarkeit (Irritabilität). Jede phyſikaliſche
oder chemiſche Veränderung der umgebenden Außenwelt kann
unter Umſtänden auf das Pſychoplasma als Reiz wirken und
eine Bewegung hervorrufen oder „auslöſen“. Wir werden
ſpäter ſehen, wie der wichtige phyſikaliſche Begriff der Aus-
löſung die einfachſten organiſchen Reflexthaten unmittelbar
9*
[132]Stufenleiter der Reflexthaten. VII.
anſchließt an ähnliche mechaniſche Bewegungs-Vorgänge in der
anorganiſchen Natur (z. B. bei der Exploſion von Pulver durch
einen Funken, von Dynamit durch einen Stoß). Wir unter-
ſcheiden in der Skala der Reflexe folgende ſieben Stufen:
I. Auf der unterſten Stufe der Organiſation, bei den
niederſten Protiſten, löſen die Reize der Außenwelt (Licht, Wärme,
Elektricität u. ſ. w.) im indifferenten Protoplasma nur jene
unentbehrlichen inneren Bewegungen des Wachsthums und Stoff-
wechſels aus, welche allen Organismen gemeinſam und für ihre
Erhaltung unentbehrlich ſind. Dasſelbe gilt auch für die meiſten
Pflanzen.
II. Bei vielen frei beweglichen Protiſten (beſonders Amöben,
Heliozoen und überhaupt den Rhizopoden) rufen äußere Reize
an jeder Stelle der nackten Oberfläche des einzelligen Körpers
äußere Bewegungen desſelben hervor, die ſich in der Geſtalts-
veränderung, oft auch in der Ortsveränderung äußern (amöboide
Bewegung, Pſeudopodien-Bildung, Ausſtrecken und Einziehen
von Scheinfüßchen); dieſe unbeſtimmten, veränderlichen Fortſätze
des Plasma ſind noch keine beſtändigen Organe. In gleicher
Weiſe äußert ſich die allgemeine organiſche Reizbarkeit als in-
differenter Reflex auch bei den empfindlichen „Sinnpflanzen“
und den niederſten Metazoen; bei dieſen vielzelligen Organismen
können die Reize von einer Zelle zur anderen fortgeleitet werden,
da alle Zellen durch feine Ausläufer zuſammenhängen.
III. Viele Protiſten, namentlich höher entwickelte Protozoen,
ſondern an ihrem einzelligen Körper bereits zweierlei Orga-
nelle einfachſter Art: ſenſible Taſt-Organe und motoriſche Be-
wegungs-Organe; beide Werkzeuge ſind direkte äußere Fortſätze
des Protoplasma; der Reiz, welcher die erſteren trifft, wird un-
mittelbar durch das Pſychoplasma des einzelligen Körpers zu
den letzteren fortgeleitet und bewirkt deren Zuſammenziehung.
Beſonders klar iſt dieſe Erſcheinung zu beobachten und auch
[133]VII. Stufenleiter der Reflexthaten.
experimentell feſtzuſtellen, bei vielen feſtſitzenden Infuſorien (z. B.
Poteriodendron unter den Flagellaten, Vorticella unter den
Ciliaten). Der ſchwächſte Reiz, welcher die ſehr empfindlichen
Flimmerhaare (Geißeln oder Wimpern) am freien Ende der
Zelle trifft, bewirkt ſofort eine Kontraktion eines fadenförmigen
Stieles am anderen, feſtgehefteten Ende. Man bezeichnet dieſe
Erſcheinung als „einfachen Reflexbogen“ *).
IV. An dieſe Vorgänge im einzelligen Organismus der
Infuſorien ſchließt ſich unmittelbar der intereſſante Mechanismus
der Neuromuskel-Zellen an, welchen wir im vielzelligen
Körper vieler niederen Metazoen finden, beſonders bei Neſſel-
thieren (Polypen, Korallen). Jede einzelne „Neuromuskel-Zelle“
iſt ein „einzelliges Reflex-Organ“; ſie beſitzt an der
Oberfläche ihres Körpers einen empfindlichen Theil, an dem
entgegengeſetzten inneren Ende einen beweglichen Muskelfaden;
der letztere zieht ſich zuſammen, ſobald der erſtere gereizt wird.
V. Bei anderen Neſſelthieren, namentlich bei den frei
ſchwimmenden Meduſen — welche den feſtſitzenden Polypen
nächſt verwandt ſind —, zerfällt die einfache Neuromuskel-
Zelle in zwei verſchiedene, aber durch einen Faden noch zu-
ſammenhängende Zellen, eine äußere Sinneszelle (in der
Oberhaut) und eine innere Muskelzelle (unter der Haut);
in dieſem zweizelligen Reflex-Organ iſt die erſtere das
Elementar-Organ der Empfindung, die letztere dasjenige der
Bewegung; die Verbindungsbrücke des Pſychoplasma-Fadens
leitet den Reiz von der erſteren zur letzteren hinüber.
VI. Der wichtigſte Fortſchritt in der ſtufenweiſen Aus-
bildung des Reflex-Mechanismus iſt die Sonderung von drei
Zellen; an die Stelle der eben genannten einfachen Verbindungs-
brücke tritt eine ſelbſtändige dritte Zelle, die Seelenzelle
[134]Einfache und zuſammengeſetzte Reflexe. VII.
oder Ganglienzelle; damit erſcheint zugleich eine neue pſychiſche
Funktion, die unbewußte „Vorſtellung“, deren Sitz eben dieſe
centrale Zelle iſt. Der Reiz wird von der empfindlichen Sinnes-
zelle zunächſt auf dieſe vermittelnde Vorſtellungs-Zelle oder
Seelenzelle übertragen und erſt von dieſer als Befehl zur Be-
wegung an die motoriſche Muskelzelle abgegeben. Dieſe „drei-
zelligen Reflexorgane“ ſind überwiegend bei der großen
Mehrzahl der wirbelloſen Thiere entwickelt.
VII. An die Stelle dieſer Einrichtung tritt bei den meiſten
Wirbelthieren das vierzellige Reflexorgan, indem zwiſchen
die ſenſible Sinneszelle und die motoriſche Muskelzelle nicht
eine, ſondern zwei verſchiedene Seelenzellen eingeſchaltet werden.
Der äußere Reiz wird hier von der Sinneszelle zunächſt centri-
petal auf die Empfindungszelle übertragen (die ſenſible
Seelenzelle), von dieſer auf die Willenszelle (die motoriſche
Seelenzelle) und von dieſer letzteren erſt auf die kontraktile
Muskelzelle. Indem zahlreiche ſolche Reflex-Organe ſich verbinden
und neue Seelenzellen eingeſchaltet werden, entſteht der kom-
plizirte Reflex-Mechanismus des Menſchen und der höheren
Wirbelthiere.
Einfache und zuſammengeſetzte Reflexe. Der wichtige
Unterſchied, den wir in morphologiſcher und phyſiologiſcher
Hinſicht zwiſchen den einzelligen Organismen (Protiſten) und
den vielzelligen (Hiſtonen) machen, gilt auch für deren ele-
mentare Seelenthätigkeit, für die Reflexthat. Bei den ein-
zelligen Protiſten (ebenſo den plasmodomen Urpflanzen,
Protophyten, wie den plasmophagen Urthieren, Protozoen)
läuft der ganze phyſikaliſche Proceß des Reflexes innerhalb des
Protoplasma einer einzigen Zelle ab; die „Zellſeele“ derſelben
erſcheint noch als eine einheitliche Funktion des Pſychoplasma,
deren einzelne Phaſen ſich erſt mit der Differenzirung beſonderer
Organe zu ſondern beginnen. Schon bei den cönobionten
[135]VII. Reflexthat und Bewußtſein.
Protiſten, den Zellvereinen (z. B. Volvox, Carcheſium),
beginnt die zweite Stufe der Seelenthätigkeit, die zuſammen-
geſetzte Reflexthat. Die zahlreichen ſocialen Zellen, welche
dieſe Zellvereine oder Coenobien zuſammenſetzen, ſtehen immer
in mehr oder weniger enger Verbindung, oft direkt durch faden-
förmige Plasmabrücken. Ein Reiz, welcher eine oder mehrere
Zellen des Verbandes trifft, wird durch die Verbindungs-Brücken
den übrigen mitgetheilt und kann alle zu gemeinſamer Kon-
traktion veranlaſſen. Dieſer Zuſammenhang beſteht auch
in den Geweben der vielzelligen Pflanzen und Thiere.
Während man früher irrthümlich annahm, daß die Zellen der
Pflanzengewebe ganz iſolirt neben einander ſtehen, ſind jetzt
überall feine Plasmafäden nachgewieſen, welche die dicken Zell-
membranen durchſetzen und ihre lebendigen Plasmakörper in
materiellem und pſychologiſchem Zuſammenhang erhalten. So
erklärt es ſich, daß die Erſchütterung der empfindlichen Wurzel
von Mimoſa, welche der Tritt des Wanderers auf den Boden
verurſacht, ſofort den Reiz auf alle Zellen des Pflanzenſtockes
überträgt und ihre zarten Fliederblätter zum Zuſammenlegen,
die Blattſtiele zum Herabſinken veranlaßt.
Reflexthat und Bewußtſein. Ein wichtiger und all-
gemeiner Charakter aller Reflex-Erſcheinungen iſt der Mangel
des Bewußtſeins. Aus Gründen, die wir im zehnten
Kapitel auseinanderſetzen, nehmen wir ein wirkliches Bewußtſein
nur beim Menſchen und den höheren Thieren an, dagegen nicht
bei den Pflanzen, den niederen Thieren und den Protiſten;
demnach ſind bei dieſen letzteren alle Reiz-Bewegungen
als Reflexe aufzufaſſen, d. h. alſo überhaupt alle Bewegungen,
ſoweit ſie nicht ſpontan und durch innere Urſachen veranlaßt
ſind (impulſive und automatiſche Bewegungen) *). Anders verhält
[136]Primäre und ſekundäre Reflexe. VII.
es ſich bei den höheren Thieren, bei denen ein centraliſirtes
Nervenſyſtem und vollkommene Sinnesorgane entwickelt ſind.
Hier hat ſich aus der pſychiſchen Reflex-Thätigkeit allmählich
das Bewußtſein entwickelt, und nunmehr treten die bewußten
Willenshandlungen in Gegenſatz zu den daneben noch fort-
beſtehenden Reflex-Handlungen. Wir müſſen aber hier, ebenſo
wie bei den Inſtinkten, zwei weſentlich verſchiedene Erſcheinungen
trennen, die primären und die ſekundären Reflexe. Primäre
Reflexe ſind ſolche, die phyletiſch niemals bewußt geweſen
ſind, alſo die urſprüngliche Natur (durch Vererbung von niederen
Thier-Ahnen) beibehalten haben. Sekundäre Reflexe
dagegen ſind ſolche, die bei den Voreltern bewußte Willens-
handlungen waren, aber ſpäter durch Gewohnheit oder Ausfall
des Bewußtſeins zu unbewußten geworden ſind. Eine ſcharfe
Grenze iſt hier — wie überall — zwiſchen bewußten und un-
bewußten Seelenfunktionen nicht zu ziehen.
Skala der Vorſtellungen(Dokeſen). Aeltere Pſychologen
(z. B. Herbart) haben die „Vorſtellung“ als das ſeeliſche
Grundphänomen betrachtet, aus dem alle übrigen abzuleiten
ſeien. Die moderne vergleichende Pſychologie acceptirt dieſe
Anſchauung, ſoweit es ſich um den Begriff der unbewußten
Vorſtellung handelt; dagegen erblickt ſie in der bewußten
Vorſtellung eine ſekundäre Erſcheinung des Seelenlebens, welche
bei den Pflanzen und den niederen Thieren noch ganz fehlt und
nur bei den höheren Thieren zur Ausbildung gelangt. Unter
den zahlreichen widerſprechenden Definitionen, welche die
Pſychologen vom Begriffe der „Vorſtellung“ (Dokeſiſ) ge-
geben haben, halten wir diejenige für die zweckmäßigſte, welche
darin das innere Bild des äußeren Objektes erblickt, welches
durch die Empfindung uns übermittelt iſt („Idee“ in gewiſſem
Sinne). Wir unterſcheiden in der aufſteigenden Stufenleiter
der Vorſtellungs-Funktion die folgenden vier Hauptſtufen:
[137]VII. Stufenleiter der Vorſtellungen.
I.Cellulare Vorſtellung. Auf den niederſten Stufen
begegnet uns die Vorſtellung als eine allgemeine phyſiologiſche
Funktion des Pſychoplasma; ſchon bei den einfachſten einzelligen
Protiſten können Empfindungen bleibende Spuren im Pſycho-
plasma hinterlaſſen, und dieſe können vom Gedächtniß repro-
ducirt werden. Bei mehr als viertauſend Radiolarien-Arten,
welche ich beſchrieben habe, iſt jede einzelne Species durch eine
beſondere erbliche Skelettform ausgezeichnet. Die Produktion
dieſes ſpecifiſchen, oft höchſt verwickelt gebauten Skeletts durch
eine höchſt einfach geſtaltete (meiſt kugelige) Zelle iſt nur dann
erklärlich, wenn wir dem bauenden Plasma die Fähigkeit der
Vorſtellung zuſchreiben, und zwar der beſonderen Reproduktion
des „plaſtiſchen Diſtanz-Gefühls“, wie ich in meiner Pſychologie
der Radiolarien gezeigt habe *).
II.Hiſtonale Vorſtellung. Schon bei den Cöno-
bien oder Zellvereinen der geſelligen Protiſten, noch mehr aber
in den Geweben der Pflanzen und der niederen, nervenloſen
Thiere (Spongien, Polypen) begegnen wir der zweiten Stufe
der unbewußten Vorſtellung, welche auf dem gemeinſamen
Seelenleben zahlreicher, eng verbundener Zellen beruht. Wenn
einmalige Reize nicht bloß eine vorübergehende Reflexbewegung
eines Organes (z. B. eines Pflanzen-Blattes, eines Polypen-
Armes) auslöſen, ſondern einen bleibenden Eindruck hinterlaſſen,
der von dieſem ſpäter ſpontan reproducirt werden kann, ſo
müſſen wir zur Erklärung dieſer Erſcheinung eine Hiſtonal-
Vorſtellung annehmen, gebunden an das Pſychoplasma der
aſſociirten Gewebe-Zellen.
III.Unbewußte Vorſtellung der Ganglien-
Zellen. Dieſe dritte, höhere Stufe der Vorſtellung iſt die
[138]Stufenleiter des Bewußtſeins. VII.
häufigſte Form dieſer Seelenthätigkeit im Thierreich; ſie erſcheint
als eine Lokaliſation des Vorſtellens auf beſtimmte „Seelen-
zellen“. Im einfachſten Falle erſcheint ſie daher bei der Reflex-
that erſt auf der ſechſten Stufe der Entwickelung, wenn das
dreizellige Reflex-Organ gebildet iſt; der Sitz der Vorſtellung
iſt dann die mittlere Seelenzelle, welche zwiſchen die ſenſible
Sinneszelle und die motoriſche Muskelzelle eingeſchaltet iſt. Mit
der aufſteigenden Entwickelung des Centralnervenſyſtems im
Thierreich, ſeiner zunehmenden Differenzirung und Integration
erhebt ſich auch die Ausbildung dieſer unbewußten Vorſtellungen
zu immer höheren Stufen.
IV.Bewußte Vorſtellung der Gehirnzellen. Erſt
auf den höchſten Entwickelungsſtufen der thieriſchen Orga-
niſation entwickelt ſich das Bewußtſein als eine beſondere
Funktion eines beſtimmten Central-Organs des Nervenſyſtems.
Indem die Vorſtellungen bewußte werden, und indem beſondere
Gehirntheile ſich zur Aſſocion der bewußten Vorſtellungen
reich entfalten, wird der Organismus zu jenen höchſten pſychiſchen
Funktionen befähigt, welche wir als Denken und Ueberlegen,
als Verſtand und Vernunft bezeichnen. Obgleich die Ab-
ſteckung der phyletiſchen Grenze zwiſchen den älteren, unbewußten
und den jüngeren, bewußten Vorſtellungen höchſt ſchwierig iſt,
können wir doch mit Wahrſcheinlichkeit annehmen, daß die letzteren
aus den erſteren polyphyletiſch entſtanden ſind; denn wir
finden bewußtes und vernünftiges Denken nicht nur bei den
höchſten Formen des Wirbelthier-Stammes (Menſch, Säugethiere,
Vögel, ein Theil der niederen Vertebraten), ſondern auch bei
den höchſtentwickelten Vertretern anderer Thierſtämme (Ameiſen
und andere Inſekten, Spinnen und höhere Krebſe unter den
Gliederthieren, Cephalopoden unter den Weichthieren).
Skala des Gedächtniſſes. Eng verknüpft mit der Stufen-
leiter in der Entwickelung der Vorſtellungen iſt diejenige des
[139]VII. Stufenleiter des Gedächtniſſes.
Gedächtniſſes; dieſe höchſt wichtige Funktion des Pſychoplasma,
— die Bedingung aller fortſchreitenden Seelen-Entwickelung —
iſt ja im Weſentlichen Reproduktion von Vorſtellungen.
Die Eindrücke im Bioplasma, welche der Reiz als Empfindung
bewirkt hatte, und welche bleibend zu Vorſtellungen geworden
waren, werden durch das Gedächtniß neu belebt; ſie gehen aus
dem potentiellen in den aktuellen Zuſtand über. Die latente
„Spannkraft“ im Pſychoplasma verwandelt ſich in aktive
„lebendige Kraft“. Entſprechend den vier Stufen der Vor-
ſtellung können wir auch beim Gedächtniß vier Hauptſtufen der
aufſteigenden Entwickelung unterſcheiden.
I.Cellular-Gedächtniß. Schon vor dreißig Jahren hat
Ewald Hering in einer gedankenreichen Abhandlung „das
Gedächtniß als eine allgemeine Funktion der organiſirten Materie“
bezeichnet und die hohe Bedeutung dieſer Seelenthätigkeit hervor-
gehoben, „der wir faſt Alles verdanken, was wir ſind und
haben“ (1870). Ich habe ſpäter (1876) dieſen Gedanken weiter
ausgeführt und in ſeiner fruchtbaren Anwendung auf die Ent-
wickelungslehre zu begründen verſucht, in meiner Abhandlung
über „Die Perigeneſis der Plaſtidule oder die Wellenzeugung
der Lebenstheilchen; ein Verſuch zur mechaniſchen Erklärung der
elementaren Entwickelungs-Vorgänge“ *) Ich habe dort das „un-
bewußte Gedächtniß“ als eine allgemeine höchſt wichtige Funktion
aller Plaſtidule nachzuweiſen geſucht, d. h. jener hypothetiſchen
Molekeln oder Molekel-Gruppen, welche von Naegeli als
Micellen, von Anderen als Bioplaſten u. ſ. w. bezeichnet
worden ſind. Nur die lebendigen Plaſtidule, als die indi-
viduellen Molekeln des aktiven Plasma, ſind reproduktiv und
beſitzen ſomit Gedächtniß; das iſt der Hauptunterſchied der orga-
niſchen Natur von der anorganiſchen. Man kann ſagen: „Die
[140]Bewußtes und unbewußtes Gedächtniß. VII.
Erblichkeit iſt das Gedächtniß der Plaſtidule, hin-
gegen die Variabilität iſt die Faſſungskraft der Plaſtidule“ (a. a. O.
S. 72). Das elementare Gedächtniß der einzelligen Protiſten
ſetzt ſich zuſammen aus dem molekularen Gedächtniß der Plaſti-
dule oder Micellen, aus welchen ihr lebendiger Zellenleib ſich
aufbaut. Für die erſtaunlichen Leiſtungen des unbewußten Ge-
dächtniſſes bei dieſen einzelligen Protiſten iſt wohl keine That-
ſache lehrreicher als die unendlich mannigfaltige und regel-
mäßige Bildung ihrer komplizirten Schutzapparate, der Schalen
und Skelette; beſonders die Diatomeen und Coſmarieen unter
den Protophyten, die Radiolarien und Thalamophoren unter
den Protozoen liefern dafür eine Fülle von intereſſanten Bei-
ſpielen. In vielen tauſend Arten dieſer Protiſten vererbt ſich
die ſpecifiſche Skelettform relativ konſtant und bezeugt die
Treue ihres unbewußten cellularen Gedächtniſſes.
II.Hiſtonal-Gedächtniß. Ebenſo intereſſante Beweiſe
für die zweite Stufe der Erinnerung, für das unbewußte Ge-
dächtniß der Gewebe, liefert die Vererbung der einzelnen
Organe und Gewebe im Körper der Pflanzen und der niederen,
nervenloſen Thiere (Spongien u. ſ. w.). Dieſe zweite Stufe
erſcheint als Reproduktion der Hiſtonal-Vorſtellungen,
jener Aſſocion von Cellular-Vorſtellungen, die ſchon mit der
Bildung von Cönobien bei den ſocialen Protiſten beginnt.
III. Gleicher Weiſe iſt die dritte Stufe, das „unbe-
wußte Gedächtniß“ derjenigen Thiere, die bereits ein Nerven-
ſyſtem beſitzen, als Reproduktion der entſprechenden „unbewußten
Vorſtellungen“ zu betrachten, welche in gewiſſen Ganglien-Zellen
aufgeſpeichert ſind. Bei den meiſten niederen Thieren iſt wohl
alles Gedächtniß unbewußt. Aber auch beim Menſchen und
den höheren Thieren, denen wir Bewußtſein zuſchreiben müſſen,
ſind die täglichen Funktionen des unbewußten Gedächtniſſes un-
gleich häufiger und mannigfaltiger als diejenigen des bewußten;
[141]VII. Verkettung der Vorſtellungen.
davon überzeugt uns leicht eine unbefangene Prüfung von tauſend
unbewußten Thätigkeiten, die wir aus Gewohnheit, ohne daran
zu denken, beim Gehen, Sprechen, Schreiben, Eſſen u. ſ. w.
täglich vollziehen.
IV.Das bewußte Gedächtniß, welches durch be-
ſtimmte Gehirnzellen beim Menſchen und den höheren Thieren
vermittelt wird, erſcheint daher nur als eine ſpät entſtandene
„innere Spiegelung“, als die höchſte Blüthe derſelben
pſychiſchen Vorſtellungs-Reproduktionen, welche bei unſeren
niederen thieriſchen Vorfahren ſich als unbewußte Vorgänge in
den Ganglien-Zellen abſpielten.
Aſſocion der Vorſtellungen. Die Verkettung der
Vorſtellungen, welche man gewöhnlich als Aſſociation der Ideen
(oder kürzer Aſſocion) bezeichnet, durchläuft ebenfalls eine lange
Skala von den niederſten bis zu den höchſten Stufen. Auch ſie
iſt wieder urſprünglich und ganz überwiegend unbewußt
(„Inſtinkt“); nur bei den höheren Thierklaſſen wird ſie allmählich
bewußt („Vernunft“). Die pſychiſchen Erzeugniſſe dieſer
„Ideen-Aſſocion“ ſind äußerſt mannigfaltig; trotzdem aber führt
eine ſehr lange, ununterbrochene Stufenleiter allmählicher Ent-
wickelung von den einfachſten unbewußten Aſſocionen der niederſten
Protiſten bis zu den vollkommenſten bewußten Ideen-Verkettungen
des Kulturmenſchen hinauf. Auch die Einheit des Bewußt-
ſeins bei letzteren wird als das höchſte Ergebniß derſelben
erklärt (Hume, Condillac). Alles höhere Seelenleben
wird um ſo vollkommener, je mehr ſich die normale Aſſocion
unendlich zahlreicher Vorſtellungen ausdehnt, und je naturgemäßer
dieſelben durch die „Kritik der reinen Vernunft“ geordnet
werden. Im Traume, wo dieſe Kritik fehlt, erfolgt oft die
Aſſocion der reproducirten Vorſtellungen in der konfuſeſten Form.
Aber auch im Schaffen der dichteriſchen Phantaſie, welche
durch mannichfaltige Verkettung vorhandener Vorſtellungen ganz
[142]Inſtinkt und Vernunft. VII.
neue Gruppen derſelben producirt, ebenſo in den Hallucinationen
u. ſ. w. werden dieſelben oft ganz naturwidrig geordnet und
erſcheinen daher bei nüchterner Betrachtung vollkommen un-
vernünftig. Ganz beſonders gilt dies von den übernatürlichen
„Geſtalten des Glaubens“, dem Geiſterſpuk des Spiritismus
und den Phantaſiebildern der transſcendenten dualiſtiſchen Philo-
ſophie; aber gerade dieſe abnormen Aſſocionen des
„Glaubens“ und der angeblichen „Offenbarung“ werden vielfach
als die werthvollſten „Geiſtesgüter“ des Menſchen hochgeſchätzt *)
(vergl. Kapitel 16).
Inſtinkte. Die veraltete Pſychologie des Mittelalters,
die allerdings auch heute noch viele Anhänger beſitzt, betrachtete
das Seelenleben des Menſchen und der Thiere als gänzlich ver-
ſchiedene Erſcheinungen; ſie leitete das erſtere von der „Ver-
nunft“, das letztere von dem „Inſtinkt“ ab. Der tradi-
tionellen Schöpfungsgeſchichte entſprechend nahm man an, daß
jeder Thier-Art bei ihrer Schöpfung eine beſtimmte, unbewußte
Seelen-Qualität vom Schöpfer eingepflanzt ſei, und daß dieſer
„Naturtrieb“ (Inſtinctuſ) einer jeden Specieſ ebenſo un-
veränderlich ſei wie deren körperliche Organiſation. Nachdem
ſchon Lamarck (1809) bei Begründung ſeiner Deſcendenz-
Theorie dieſen Irrthum als unhaltbar erwieſen, wurde er durch
Darwin (1859) vollſtändig widerlegt; er bewies an der Hand
ſeiner Selektions-Theorie folgende wichtige Lehrſätze: I. Die
Inſtinkte der Species ſind individuell verſchieden und ebenſo der
Abänderung durch Anpaſſung unterworfen wie die morpho-
logiſchen Merkmale der Körperbildung. II. Dieſe Variationen
(großentheils durch veränderte Gewohnheiten entſtanden) werden
durch Vererbung theilweiſe auf die Nachkommen übertragen
und im Laufe der Generationen gehäuft und befeſtigt. III. Die
[143]VII. Primäre und ſekundäre Inſtinkte.
Selektion (ebenſo die künſtliche wie die natürliche) trifft unter
dieſen erblichen Abänderungen der Seelenthätigkeit eine Aus-
wahl, ſie erhält die zweckmäßigſten und entfernt die weniger
paſſenden Modifikationen. IV. Die dadurch bedingte Diver-
genz des pſychiſchen Charakters führt ſo im Laufe der Gene-
rations-Folgen ebenſo zur Entſtehung neuer Inſtinkte, wie die
Divergenz des morphologiſchen Charakters zur Entſtehung neuer
Species. Dieſe Inſtinkt-Theorie Darwin's iſt jetzt von den
meiſten Biologen angenommen; John Romanes hat dieſelbe
in ſeinem ausgezeichneten Werke über „Die geiſtige Entwickelung
im Thierreiche“ (1885) ſo eingehend behandelt und ſo weſentlich
erweitert, daß ich hier lediglich darauf verweiſen kann. Ich will
nur kurz bemerken, daß nach meiner Anſicht Inſtinkte bei
allen Organismen vorkommen, bei ſämmtlichen Protiſten und
Pflanzen ebenſo wie bei ſämmtlichen Thieren und Menſchen; ſie
treten aber bei letzteren um ſo mehr zurück, je mehr ſich auf
ihre Koſten die Vernunft entwickelt.
Als zwei Hauptklaſſen ſind unter den unzähligen Inſtinkt-
Formen die primären und ſekundären zu unterſcheiden; primäre
Inſtinkte ſind die allgemeinen niederen Triebe, welche dem
Pſychoplasma von Beginn des organiſchen Lebens inne-
wohnten und unbewußt waren, vor Allem die Triebe der Selbſt-
erhaltung (Schutz und Ernährung), und der Arterhaltung (Fort-
pflanzung und Brutpflege). Dieſe beiden Grundtriebe des
organiſchen Lebens, Hunger und Liebe, ſind urſprünglich
überall unbewußt, ohne Mitwirkung des Verſtandes oder der
Vernunft entſtanden; bei höheren Thieren ſind ſie ſpäter, wie
beim Menſchen, Gegenſtände des Bewußtſeins geworden. Um-
gekehrt verhält es ſich mit den ſekundären Inſtinkten;
dieſe ſind urſprünglich durch intelligente Anpaſſung entſtanden,
durch verſtändiges Nachdenken und Schließen, ſowie zweckmäßiges
bewußtes Handeln; allmählich ſind ſie ſo zur Gewohnheit ge-
[144]Stufenleiter der Vernunft. VII.
worden, daß dieſe „altera natura“ unbewußt wirkt und auch
bei der Vererbung auf die Nachkommen als „angeboren“ erſcheint.
Das urſprünglich mit dieſen beſonderen Inſtinkten der höheren
Thiere und des Menſchen verknüpfte Bewußtſein und Nachdenken
iſt im Laufe der Zeit den Plaſtidulen verloren gegangen (wie
bei der „abgekürzten Vererbung“). Die unbewußten zweck-
mäßigen Handlungen der höheren Thiere (z. B. die Kunſttriebe)
erſcheinen jetzt als angeborene Inſtinkte. So iſt auch die Ent-
ſtehung der angeborenen „Erkenntniſſe a priori“ beim Menſchen
zu erklären, welche urſprünglich bei ſeinen Voreltern
a poſteriori ſich empiriſch entwickelt hatten *).
Skala der Vernunft. In jenen oberflächlichen, mit dem
Seelenleben der Thiere unbekannten pſychologiſchen Betrachtungen,
welche nur im Menſchen eine „wahre Seele“ anerkennen, wird
auch ihm allein als höchſtes Gut die „Vernunft“ und das
Bewußtſein zugeſchrieben. Auch dieſer triviale Irrthum (der
übrigens noch heute in vielen Lehrbüchern ſpukt) iſt durch die
vergleichende Pſychologie der letzten vierzig Jahre gründlich
widerlegt. Die höheren Wirbelthiere (vor Allem die dem Menſchen
nächſtſtehenden Säugethiere) beſitzen ebenſo gut Vernunft wie
der Menſch ſelbſt, und innerhalb der Thierreihe iſt ebenſo eine
lange Stufenleiter in der allmählichen Entwickelung der Vernunft
zu verfolgen wie innerhalb der Menſchen-Reihe. Der Unter-
ſchied zwiſchen der Vernunft eines Goethe, Kant, Lamarck,
Darwin und derjenigen des niederſten Naturmenſchen, eines
Wedda, Akka, Auſtralnegers und Patagoniers, iſt viel größer
als die graduelle Differenz zwiſchen der Vernunft dieſer letzteren
und der „vernünftigſten“ Säugethiere, der Menſchenaffen
(Anthropomorpha) und ſelbſt der Papſtaffen Papiomorpha),
der Hunde und Elephanten. Auch dieſer wichtige Satz iſt durch
[145]VII. Verſtand und Vernunft.
gründliche kritiſche Vergleichung von Romanes u. A. überzeugend
bewieſen. Wir gehen daher auf denſelben hier nicht näher ein,
ebenſo wenig als auf den Unterſchied zwiſchen Vernunft
(Ratio) und Verſtand(Intellectuſ); über dieſe Begriffe und
ihre Grenzen, wie über viele andere Grundbegriffe der Pſycho-
logie, geben die angeſehenſten Philoſophen die widerſprechendſten
Definitionen. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die Fähig-
keit der Begriffsbildung, welche beiden Gehirn-Funktionen
gemeinſam iſt, beim Verſtande den engeren Kreis der konkreten,
näher liegenden Aſſocionen umfaßt, bei der Vernunft dagegen
den weiteren Kreis der abſtrakten, umfaſſenderen Aſſocions-Gruppen.
Auf der langen Stufenleiter, welche von den Reflexthaten und
Inſtinkten der niederen Thiere zu der Vernunft der höchſten
Thiere hinaufführt, geht der Verſtand der letzteren voraus.
Wichtig iſt für unſere allgemeine pſychologiſche Betrachtung vor
Allem die Thatſache, daß auch dieſe höchſtentwickelten Seelen-
thätigkeiten den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung unter-
liegen, ebenſo wie ihre Organe; als ſolche „Denkorgane“
ſind beim Menſchen und den höheren Säugethieren durch
Flechſig (1894) diejenigen Theile der Großhirnrinde nach-
gewieſen, welche zwiſchen den vier inneren Sinnesherden liegen
(vergl. Kapitel 10 und 11).
Sprache. Der höhere Grad von Entwickelung der Begriffe,
von Verſtand und Vernunft, welcher den Menſchen ſo hoch über
die Thiere erhebt, iſt eng verknüpft mit der Ausbildung ſeiner
Sprache. Aber auch hier, wie dort, iſt eine lange Stufenleiter
der Entwickelung nachweisbar, welche ununterbrochen von den
niederſten zu den höchſten Bildungsſtufen hinaufführt. Sprache
iſt ebenſo wenig als Vernunft ein ausſchließliches Eigenthum
des Menſchen. Vielmehr iſt Sprache im weiteren Sinne ein
gemeinſamer Vorzug aller höheren ſocialen Thiere, mindeſtens
aller Gliederthiere und Wirbelthiere, welche in Geſellſchaften
Haeckel, Welträthſel. 10
[146]Entwickelung der Sprache. VII.
und Heerden vereinigt leben; ſie iſt ihnen nothwendig zur Ver-
ſtändigung, zur Mittheilung ihrer Vorſtellungen. Dieſe kann nun
entweder durch Berührung oder durch Zeichengebung geſchehen,
oder durch Töne, welche beſtimmte Begriffe bezeichnen. Auch der
Geſang der Singvögel und der ſingenden Menſchenaffen (Hylo-
bateſ) gehört zur Lautſprache, ebenſo wie das Bellen der Hunde
und das Wiehern der Pferde; ferner das Zirpen der Grillen
und das Geſchrei der Cikaden. Aber nur beim Menſchen hat
ſich jene artikulirte Begriffsſprache entwickelt, welche
ſeine Vernunft zu ſo viel höheren Leiſtungen befähigt. Die
vergleichende Sprachforſchung, eine der intereſſanteſten
in unſerem Jahrhundert entſtandenen Wiſſenſchaften, hat gezeigt,
wie die zahlreichen hochentwickelten Sprachen der verſchiedenen
Völker ſich aus wenigen einfachen Urſprachen langſam und
allmählich entwickelt haben (Wilhelm Humboldt, Bopp,
Schleicher, Steinthal u. A.). Insbeſondere hat Auguſt
Schleicher*) in Jena gezeigt, daß die hiſtoriſche Entwickelung
der Sprachen nach denſelben phylogenetiſchen Geſetzen erfolgt,
wie diejenige anderer phyſiologiſcher Thätigkeiten und ihrer
Organe. Romanes hat (1893) dieſen Nachweis weiter aus-
geführt und überzeugend dargethan, daß auch die Sprache des
Menſchen nur dem Grade der Entwickelung nach, nicht dem
Weſen und der Art nach von derjenigen der höheren Thiere
verſchieden iſt.
Skala der Gemüthsbewegungen oder Affekte. Die wichtige
Gruppe von Seelenthätigkeiten, welche wir unter dem Begriffe
„Gemüth“ zuſammenfaſſen, ſpielt eine große Rolle ebenſo in
der theoretiſchen wie in der praktiſchen Vernunftlehre. Für
unſere Betrachtungsweiſe ſind ſie deßhalb beſonders wichtig, weil
[147]VII. Stufenleiter des Gemüthes.
hier der direkte Zuſammenhang der Gehirnfunktion mit anderen
phyſiologiſchen Funktionen (Herzſchlag, Sinnesthätigkeit, Muskel-
bewegung) unmittelbar einleuchtet; dadurch wird hier beſonders
das Widernatürliche und Unhaltbare jener Philoſophie klar,
welche die Pſychologie principiell von der Phyſiologie trennen
will. Alle die zahlreichen Aeußerungen des Gemüthslebens,
welche wir beim Menſchen finden, kommen auch bei den höheren
Thieren vor (beſonders bei den Menſchenaffen und Hunden);
ſo verſchiedenartig ſie auch entwickelt ſind, ſo laſſen ſich doch alle
wieder auf die beiden Elementar-Funktionen der Pſyche
zurückführen, auf Empfindung und Bewegung, und auf deren
Verbindung im Reflex und in der Vorſtellung. Zum Gebiete
der Empfindung im weiteren Sinne gehört das Gefühl von
Luſt und Unluſt, welches das Gemüth beſtimmt, und ebenſo
gehört auf der anderen Seite zum Gebiete der Bewegung die
entſprechende Zuneigung und Abneigung („Liebe und
Haß“), das Streben nach Erlangen der Luſt und nach Vermeiden
der Unluſt. „Anziehung und Abſtoßung“ erſcheinen hier zugleich
als die Urquelle des Willens, jenes hochwichtigen Seelen-
Elementes, welches den Charakter des Individuums beſtimmt.
Die Leidenſchaften, welche eine ſo große Rolle im höheren
Seelenleben des Menſchen ſpielen, ſind nur Steigerungen der
„Gemüthsbewegungen“ und Affekte. Daß auch dieſe den Menſchen
und Thieren gemeinſam ſind, hat Romanes neuerdings ein-
leuchtend gezeigt. Auf der tiefſten Stufe des organiſchen Lebens
ſchon finden wir bei allen Protiſten jene elementaren Gefühle
von Luſt und Unluſt, welche ſich in ihren ſogenannten Tro-
pismen äußeren, in dem Streben nach Licht oder Dunkel-
heit, nach Wärme oder Kälte, in dem verſchiedenen Verhalten
gegen poſitive und negative Elektricität. Auf der höchſten Stufe
des Seelenlebens dagegen treffen wir beim Kulturmenſchen jene
feinſten Gefühlstöne und Abſtufungen von Entzücken und Abſcheu,
10 *
[148]Stufenleiter des Willens. VII.
von Liebe und Haß, welche die Triebfedern der Kulturgeſchichte
und die unerſchöpfliche Fundgrube der Poeſie ſind. Und doch
verbindet eine zuſammenhängende Kette von allen denkbaren
Uebergangsſtufen jene primitivſten Urzuſtände des Gemüths im
Pſychoplasma der einzelligen Protiſten mit dieſen höchſten
Entwickelungsformen der Leidenſchaft beim Menſchen, welche ſich
in den Ganglienzellen der Großhirnrinde abſpielen. Daß auch
dieſe letzteren den phyſikaliſchen Geſetzen abſolut unterworfen
ſind, hat ſchon der große Spinoza in ſeiner berühmten
„Statik der Gemüthsbewegungen“ dargethan.
Skala des Willens. Der Begriff des Willens unter-
liegt gleich anderen pſychologiſchen Grundbegriffen (gleich den
Begriffen von Vorſtellung, Seele, Geiſt u. ſ. w.) den ver-
ſchiedenſten Deutungen und Definitionen. Bald wird der Wille
im weiteſten Sinne als kosmologiſches Attribut betrachtet:
„die Welt als Wille und Vorſtellung“ (Schopenhauer),
bald im engſten Sinne als ein anthropologiſches Attribut,
als eine ausſchließliche Eigenſchaft des Menſchen: letzteres
gilt z. B. für Descartes, für welchen die Thiere willenloſe
und empfindungsloſe Maſchinen ſind. Im gewöhnlichen Sprach-
gebrauch wird der Wille von der Erſcheinung der willkürlichen
Bewegung abgeleitet und ſomit als eine Seelenthätigkeit der
meiſten Thiere betrachtet. Wenn wir den Willen im Lichte der
vergleichenden Phyſiologie und Entwickelungsgeſchichte unter-
ſuchen, ſo kommen wir — ebenſo wie bei der Empfindung —
zur Ueberzeugung, daß er eine allgemeine Eigenſchaft des
lebenden Pſychoplasma iſt. Die automatiſchen Bewegungen
ſowohl als die Reflexbewegungen, die wir ſchon bei den
einzelligen Protiſten allgemein beobachten, erſcheinen uns als
die Folge von Strebungen, welche mit dem Begriffe des
Lebens ſelbſt untrennbar verknüpft ſind. Auch bei den Pflanzen
und den niederſten Thieren erſcheinen die Strebungen oder
[149]VII. Bewußter und unbewußter Wille.
Tropismen als das Geſammtreſultat der Strebungen aller
einzelnen vereinigten Zellen.
Erſt wenn das „dreizellige Reflexorgan“ ſich entwickelt
(S. 134), wenn zwiſchen die ſenſible Sinneszelle und die
motoriſche Muskelzelle die ſelbſtändige dritte Zelle einge-
ſchaltet wird, die „Seelenzelle oder Ganglienzelle“, können wir
dieſe als ein ſelbſtſtändiges Elementar-Organ des Willens
anerkennen. Der Wille bleibt aber hier, bei den niederen
Thieren, meiſtens noch unbewußt. Erſt wenn ſich bei den
höheren Thieren das Bewußtſein entwickelt, als ſubjektive
Spiegelung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma
der Seelenzellen, erreicht der Wille jene höchſte Stufe, welche
ihn qualitativ dem menſchlichen Willen gleichſtellt, und für den
man im gewöhnlichen Sprachgebrauch das Prädikat der
„Freiheit“ in Anſpruch nimmt. Seine freie Entfaltung und
Wirkung erſcheint um ſo impoſanter, je mehr ſich mit der freien
und ſchnellen Ortsbewegung das Muskelſyſtem und die Sinnes-
organe entwickeln und in Korrelation damit die Denkorgane
des Gehirns.
Willensfreiheit. Das Problem von der Freiheit des
menſchlichen Willens iſt unter allen Welträthſeln dasjenige,
welches den denkenden Menſchen von jeher am meiſten be-
ſchäftigt hat, und zwar deßhalb, weil ſich hier mit dem
hohen philoſophiſchen Intereſſe der Frage zugleich die wichtigſten
Folgerungen für die praktiſche Philoſophie verknüpfen, für die
Moral, die Erziehung, die Rechtspflege u. ſ. w. E. du Bois-
Reymond, welcher dasſelbe als das ſiebente und letzte unter
ſeinen „ſieben Welträthſeln“ behandelt, ſagt daher von dem
Problem der Willensfreiheit mit Recht: „Jeden berührend,
ſcheinbar Jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grund-
bedingungen der menſchlichen Geſellſchaft, auf das Tiefſte ein-
greifend in die religiöſen Ueberzeugungen, hat dieſe Frage in
[150]Problem der Willensfreiheit. VII.
der Geiſtes- und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicher
Wichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die
Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht
giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über
welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im
Staube der Bibliotheken modern.“ — Dieſe Wichtigkeit der
Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber-
zeugung von der „Willensfreiheit“ unmittelbar neben diejenige
von der „Unſterblichkeit der Seele“ und neben den „Glauben
an Gott“ ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als
die drei unentbehrlichen „Poſtulate der praktiſchen Ver-
nunft“, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die
Realität derſelben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu
beweiſen iſt!
Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver-
worrenen Streite über die Willensfreiheit iſt vielleicht die That-
ſache, daß dieſelbe theoretiſch nicht nur von höchſt kritiſchen
Philoſophen, ſondern auch von den extremſten Gegenſätzen ver-
neint und trotzdem von den meiſten Menſchen als ſelbſtverſtändlich
noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der chriſtlichen
Kirche, wie der Kirchenvater Auguſtin und der Reformator
Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenſo beſtimmt wie die
bekannteſten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach
im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die
chriſtlichen Theologen verneinen ſie, weil ſie mit ihrem feſten
Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädeſtination un-
vereinbar iſt; Gott, der Allmächtige und Allwiſſende, ſah und
wollte Alles von Ewigkeit voraus; alſo beſtimmte er auch das
Handeln der Menſchen. Wenn der Menſch nach freiem Willen
handelte, anders, als es Gott vorausbeſtimmt hatte, ſo wäre
Gott nicht allmächtig und allwiſſend geweſen. In demſelben
Sinne war auch Leibniz unbedingter Determiniſt. Die
[151]VII. Dogma der Willensfreiheit.
moniſtiſchen Naturforſcher des vorigen Jahrhunderts, Allen
voran Laplace, vertheidigten den Determinismus wieder auf
Grund ihrer einheitlichen mechaniſchen Weltanſchauung.
Der gewaltige Kampf zwiſchen den Determiniſten und
Indeterminiſten, zwiſchen den Gegnern und den Anhängern
der Willensfreiheit, iſt heute, nach mehr als zwei Jahrtauſenden,
endgültig zu Gunſten der erſteren entſchieden. Der menſchliche
Wille iſt ebenſo wenig frei als derjenige der höheren Thiere,
von welchem er ſich nur dem Grade, nicht der Art nach unter-
ſcheidet. Während noch im vorigen Jahrhundert das Dogma
von der Willensfreiheit weſentlich mit allgemeinen, philoſophiſchen
und kosmologiſchen Gründen beſtritten wurde, hat uns dagegen
unſer 19. Jahrhundert ganz andere Waffen zu deſſen definitiver
Widerlegung geſchenkt, die gewaltigen Waffen, welche wir dem
Arſenal der vergleichenden Phyſiologie und Ent-
wickelungsgeſchichte verdanken. Wir wiſſen jetzt, daß jeder
Willens-Akt ebenſo durch die Organiſation des wollenden Indi-
viduums beſtimmt und ebenſo von den jeweiligen Bedingungen
der umgebenden Außenwelt abhängig iſt wie jede andere Seelen-
thätigkeit. Der Charakter des Strebens iſt von vornherein
durch die Vererbung von Eltern und Voreltern bedingt; der
Entſchluß zum jedesmaligen Handeln wird durch die An-
paſſung an die momentanen Umſtände gegeben, wobei das
ſtärkſte Motiv den Ausſchlag giebt, entſprechend den Geſetzen,
welche die Statik der Gemüthsbewegungen beſtimmen. Die
Ontogenie lehrt uns die individuelle Entwickelung des
Willens beim Kinde verſtehen, die Phylogenie aber die hiſto-
riſche Ausbildung des Willens innerhalb der Reihe unſerer
Vertebraten-Ahnen.
[[152]]
Ueberſicht über die Hauptſtufen in der Entwickelung
des Seelenlebens.
[[153]]
Achtes Kapitel.
Keimesgeſchichte der Seele.
Moniſtiſche Studien über ontogenetiſche Pſychologie. Entwicke-
lung des Seelenlebens im individuellen Leben der Perſon.
‘„Die merkwürdigen Thatſachen der Befruch-
tung ſind von höchſtem Intereſſe für die Pſycho-
logie, insbeſondere für die Lehre von der Zell-
ſeele, als deren naturgemäßes Fundament. Denn
die wichtigen Vorgänge der Empfängniß (bei welchen
die männliche Spermazelle mit der weiblichen Eizelle
zur Bildung einer neuen Zelle verſchmilzt) können
nur dann verſtanden und erklärt werden, wenn
wir dieſen beiden Geſchlechtszellen eine Art niederer
Seelenthätigkeit zuſchreiben. Beide empfinden
gegenſeitig ihre Nähe, beide werden durch einen
ſinnlichen (wahrſcheinlich dem Geruch ver-
wandten) Trieb zu einander hingezogen: beide
bewegen ſich auf einander zu und ruhen nicht,
bis ſie mit einander verſchmelzen. — Die beſondere
Miſchung beider elterlicher Zellkerne bedingt in
jeden: Kinde deſſen individuellen, pſychiſchen
Charakter.“
Anthropogenie (1891).’ ()
[[154]]
Bedeutung der Ontogenie für die Pſychologie. Entwickelung der
Kindes-Seele. Beginn der Exiſtenz der individuellen Seele. Einſchachtelung
der Seele. Mythologie des Seelen-Urſprungs. Phyſiologie des Seelen-
Urſprungs. Elementare Vorgänge bei der Befruchtung. Kopulation der
weiblichen Eizelle und der männlichen Samenzelle. Zellenliebe. Vererbung
der Seele von Eltern und Voreltern. Ihre phyſiologiſche Natur als Mechanik
des Plasma. Seelenmiſchung (pſychiſche Amphigonie). Rückſchlag, pſycho-
logiſcher Atavismus. Das biogenetiſche Grundgeſetz in der Pſychologie.
Palingenetiſche Wiederholung und cenogenetiſche Abänderung. Embryonale
und poſtembryonale Pſychogenie.
John Romanes, Die geiſtige Entwickelung beim Menſchen. Urſprung der
menſchlichen Befähigung. Leipzig 1893.
Wilhelm Preyer, Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geiſtige
Entwickelung des Menſchen in den erſten Lebensjahren. Leipzig 1882.
Dritte Auflage 1890.
Ernſt Haeckel, Bildungsgeſchichte unſeres Nervenſyſtems. Anthropogenie.
Vierte Auflage. Leipzig 1891.
Julien Lamettrie, Der Menſch als Maſchine. Leyden 1748.
Theodor Ribot, Die Erblichkeit. Leipzig 1876. Das Gedächtniß und ſeine
Störungen. Leipzig 1882.
Auguſt Forel, Das Gedächtniß und ſeine Abnormitäten. Zürich 1885.
Wilhelm Preyer, Specielle Phyſiologie des Embryo. Unterſuchungen über
die Lebenserſcheinungen vor der Geburt. Leipzig 1884.
Ernſt Haeckel, Zellſeelen und Seelenzellen — Urſprung und Entwickelung
der Sinneswerkzeuge. (Geſammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete
der Entwickelungslehre. I. u. II. Heft.) Bonn 1878.
[[155]]
Unſere menſchliche Seele — gleichviel, wie man ihr „Weſen“
auffaßt — unterliegt im Laufe unſeres individuellen Lebens einer
ſtetigen Entwickelung. Dieſe ontogenetiſche Thatſache iſt
für unſere moniſtiſche Pſychologie von fundamentaler Bedeutung,
obwohl die meiſten „Pſychologen von Fach“ ihr theils nur ge-
ringe, theils gar keine Berückſichtigung ſchenken. Wie nun die
individuelle Entwickelungsgeſchichte nach Baer's Ausdruck —
und nach der jetzt allgemein herrſchenden Ueberzeugung der Bio-
logen — der „wahre Lichtträger für alle Unterſuchungen über
organiſche Körper iſt“, ſo wird dieſelbe auch über die wichtigſten
Geheimniſſe ihres Seelenlebens uns erſt das wahre Licht an-
zünden.
Obgleich nun dieſe „Keimesgeſchichte der Menſchen-Seele“
äußerſt wichtig und intereſſant iſt, hat ſie doch bisher nur in
ſehr beſchränktem Umfange die verdiente Berückſichtigung ge-
funden. Es waren bisher faſt ausſchließlich die Pädagogen,
welche ſich mit einem Theile derſelben beſchäftigten; durch ihren
praktiſchen Beruf darauf angewieſen, die Ausbildung der Seelen-
thätigkeit beim Kinde zu leiten und zu überwachen, mußten ſie
auch theoretiſches Intereſſe an den dabei beobachteten pſychogene-
tiſchen Thatſachen finden. Indeſſen ſtanden dieſe Pädagogen —
ſoweit ſie überhaupt darüber nachdachten! — in der Neuzeit wie
im Alterthum größtentheils im Banne der herrſchenden dualiſti-
ſchen Pſychologie; dagegen waren ſie mit den wichtigſten That-
[156]Entſtehung der Seele. VIII.
ſachen der vergleichenden Pſychologie, ſowie mit der Organiſation
und Funktion des Gehirns meiſtens nicht bekannt. Außerdem
aber betrafen ihre Beobachtungen größtentheils erſt die Kinder in
ſchulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden
Lebensjahren. Die merkwürdigen Erſcheinungen, welche die indi-
viduelle Pſychogenie des Kindes gerade in den erſten Lebens-
jahren darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig
bewundern, wurden faſt niemals Gegenſtand eingehender wiſſen-
ſchaftlicher Studien. Hier hat erſt Wilhelm Preyer (1881)
Bahn gebrochen, in ſeiner intereſſanten Schrift über „Die Seele
des Kindes; Beobachtungen über die geiſtige Entwickelung des
Menſchen in den erſten Lebensjahren“. Indeſſen müſſen wir, um
volle Klarheit zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die
erſte Entſtehung der Seele im befruchteten Ei.
Entſtehung der individuellen Seele. Der Urſprung und
die erſte Entſtehung des menſchlichen Individuums — ebenſo
unſers Körpers wie unſerer Seele — galt noch im Anfange des
19. Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings
hatte der große Caſpar Friedrich Wolff ſchon 1759 in ſeiner
Theoria generationiſ das wahre Weſen der embryonalen Entwicke-
lung aufgedeckt und an der ſicheren Hand kritiſcher Beobachtung
gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem einfachen
Ei eine wahre Epigeneſis, d. h. eine Reihe der merkwürdigſten
Neubildungs-Prozeſſe ſtattfinde *). Allein die damalige Phyſio-
logie, an ihrer Spitze der berühmte Albert Haller, lehnte
dieſe empiriſchen, unmittelbar mikroſkopiſch zu demonſtriren-
den Erkenntniſſe rundweg ab und hielt an dem hergebrachten
Dogma der embryonalen Präformation feſt. Nach dieſem
nahm man an, daß im menſchlichen Ei — ebenſo wie im Ei
aller Thiere — der Organismus mit allen ſeinen Theilen vor-
[157]VIII. Einſchachtelung der Seele.
gebildet oder präformirt ſei; die „Entwickelung“ des Keimes
beſtehe eigentlich nur in einer „Auswickelung“ (Evolutio) der
eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeſchluß dieſes Irr-
thums ergab ſich daraus weiterhin die oben erwähnte Einſchach-
telungs-Theorie (S. 65); da im weiblichen Embryo bereits der
Eierſtock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß in deſſen
Eiern wieder ſchon die Keime der nächſten Generation ein-
geſchachtelt vorhanden ſeien, und ſo weiter, in infinitum! Dieſem
Dogma der „Ovuliſten“-Schule ſtand gegenüber eine andere,
ebenſo irrthümliche Anſicht, die der „Animalkuliſten“; dieſe
glaubten, daß der eigentliche Keim nicht in der weiblichen Eizelle
der Mutter, ſondern in der männlichen Spermazelle des Vaters liege,
und daß in dieſem „Samenthierchen“ (Spermatozoon) die Ein-
ſchachtelung der Generations-Reihen zu ſuchen ſei.
Leibniz übertrug dieſe Einſchachtelungs-Lehre ganz folge-
richtig auch auf die menſchliche Seele; er leugnete für ſie eine
wahre Entwickelung (Epigeneſiſ) ebenſo wie für den Körper
und ſagte in ſeinen Theodicee: „So ſollte ich meinen, daß die
Seelen, welche eines Tages menſchliche Seelen ſein werden, im
Samen, wie jene von anderen Species, dageweſen ſind; daß ſie
in den Voreltern bis auf Adam, alſo ſeit dem Anfang der
Dinge, immer in der Form organiſirter Körper exiſtirt haben.“
Aehnliche Vorſtellungen erhielten ſich ſowohl in der Biologie wie
in der Philoſophie noch bis in das dritte Decennium unſeres
Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der Keimesgeſchichte durch
Baer den Todesſtoß verſetzte. Im Gebiete der Pſychologie
haben ſie aber ſelbſt bis auf den heutigen Tag noch vielfach
Geltung; ſie ſtellen nur eine Gruppe unter den vielen ſeltſamen,
myſtiſchen Vorſtellungen dar, welche die Ontogenie der Pſyche
auch heute noch aufweiſt.
Mythologie des Seelen-Urſprungs. Die näheren Auf-
ſchlüſſe, welche wir durch die vergleichende Ethnologie neuerdings
[158]Mythologie der Seele. VIII.
über die mannigfaltigen Mythen-Bildungen der älteren Kultur-
Völker ſowohl als der heutigen Natur-Völker gewonnen haben,
ſind auch für die Pſychogenie von großem Intereſſe; indeſſen
würde es hier viel zu weit führen, wenn wir darauf eingehen
wollten; wir verweiſen darüber auf das treffliche Werk von
Adalbert Svoboda: „Geſtalten des Glaubens“ (1897).
Betreffs ihres wiſſenſchaftlichen oder poetiſchen Gehaltes können
die betreffenden pſychogenetiſchen Mythen etwa folgender-
maßen in fünf Gruppen geordnet werden: I. Mythus der
Seelen-Wanderung; die Seele lebte früher im Körper eines
anderen Thieres und iſt erſt aus dieſem in den menſchlichen
Körper übergetreten; die ägyptiſchen Prieſter z. B. behaupteten,
daß die menſchliche Seele nach dem Tode des Leibes durch alle
Thier[-]Gattungen hindurchwandere, nach 3000 Jahren aber wieder
in einen Menſchenleib zurückkehre. II. Mythus der Seelen-
Einpflanzung; die Seele exiſtirte ſelbſtſtändig an einem an-
deren Orte, in einer pſychogenetiſchen Vorrathskammer (etwa in
einer Art von Keimſchlaf oder latentem Leben); ſie wird von
einem Vogel (bisweilen als Adler, gewöhnlich als „Klapper-
ſtorch“ gedacht) geholt und in den menſchlichen Körper eingeſetzt.
III. Mythus der Seelen-Schöpfung; der göttliche Schöpfer,
als perſönlicher „Gott-Vater“ gedacht, erſchafft die Seelen, hält
ſie vorräthig — bald in einem Seelenteich (als „Plankton“
lebend), bald an einem Seelenbaum (als Früchte einer phanero-
gamen Pflanze gedacht); der Schöpfer nimmt dieſelben heraus
und ſetzt ſie (während des Zeugungs-Aktes) dem menſchlichen
Keime ein. IV. Mythus der Seelen-Einſchachtelung
(von Leibniz, vorher erwähnt). V.Mythus der Seelen-
Theilung (von Rudolf Wagner, 1855, auch von anderen
Phyſiologen angenommen) *); im Zeugungs-Akte ſpaltet ſich ein
[159]VIII. Seele der Geſchlechtszellen.
Theil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper
der beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche Seelen-
keim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem beweglichen
Samenthierchen; indem dieſe beiden Keimzellen verſchmelzen,
wachſen auch die beiden ſie begleitenden Seelen zur Bildung
einer neuen immateriellen Seele zuſammen.
Phyſiologie des Seelen-Urſprungs. Obwohl die an-
geführten Dichtungen über die Entſtehung der einzelnen Menſchen-
Seele heute noch ſehr weite Verbreitung und Anerkennung beſitzen,
iſt dennoch ihr rein mythologiſcher Charakter jetzt ſicher nach-
gewieſen. Die hochintereſſanten und bewunderungswürdigen
Unterſuchungen, welche im Laufe der letzten 25 Jahre über die
feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies
ausgeführt worden ſind, haben ergeben, daß dieſe myſteriöſen
Erſcheinungen ſämmlich in das Gebiet der Zellen-Phyſio-
logie gehören (vergl. oben S. 55). Sowohl die weibliche
Keim-Anlage, das Ei, als der männliche Befruchtungs-Körper,
das Spermium oder Samen-Element, ſind einfache Zellen.
Dieſe lebendigen Zellen beſitzen eine Summe von phyſiologiſchen
Eigenſchaften, welche wir unter dem Begriff der Zellſeele
zuſammenfaſſen, ebenſo wie bei den permanent einzelligen Protiſten
(vgl. S. 56). Beiderlei Geſchlechts-Zellen beſitzen das Vermögen
der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche Eizelle oder
das „Ur-Ei“ bewegt ſich nach Art einer Amöbe; die ſehr kleinen
Samenkörperchen oder Spermien, von welchen Millionen in jedem
Tropfen des ſchleimartigen männlichen Samens (Sperma) ſich
finden, ſind Geißelzellen und bewegen ſich mittelſt ihrer ſchwingen-
den Geißel ebenſo lebhaft ſchwimmend im Sperma umher wie
gewöhnliche Geißel-Infuſorien(Flagellaten).
Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung
zuſammentreffen, oder wenn ſie durch künſtliche Befruchtung (z. B.
bei Fiſchen) in Berührung gebracht werden, ziehen ſie ſich gegen-
[160]Wahlverwandtſchaft der Geſchlechtszellen. VIII.
ſeitig an und legen ſich feſt an einander. Die Urſache dieſer
cellularen Attraktion iſt eine chemiſche, dem Geruche oder Ge-
ſchmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des Plasma, die wir als
„erotiſchen Chemotropismus“ bezeichnen; man kann ſie
auch geradezu (ſowohl im Sinne der Chemie als im Sinne
der Roman-Liebe) „Zellen-Wahlverwandtſchaft“ oder „ſexuelle
Zellenliebe nennen. Zahlreiche Geißelzellen des Sperma
ſchwimmen auf die ruhige Eizelle lebhaft hin und verſuchen in
deren Körper einzudringen. Wie Hertwig (1875) gezeigt hat,
gelingt es aber normaler Weiſe nur einem einzigen glücklichen
Bewerber, das erſehnte Ziel wirklich zu erreichen. Sobald ſich
dieſes bevorzugte „Samenthierchen“ mit ſeinem „Kopfe“ (d. h.
dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle eingebohrt hat, wird
von der Eizelle eine dünne Schleimſchicht abgeſondert, welche
das Eindringen anderer männlicher Zellen verhindert. Nur wenn
Hertwig durch niedere Temperatur die Eizelle in Kälte-Starre
verſetzte oder ſie durch narkotiſche Mittel (Chloroform, Mor-
phium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung dieſer Schutz-
hülle; dann trat „Ueberfruchtung“ oder Polyſpermie ein,
und zahlreiche Samenfäden bohrten ſich in den Leib der bewußt-
loſen Zelle ein (Anthropogenie S. 147). Dieſe merkwürdige
Thatſache bezeugte ebenſo einen niederen Grad von „cellu-
larem Inſtinkt“ (oder mindeſtens von ſpecifiſcher, ſinnlicher,
lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geſchlechts-Zellen wie
die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf ſich in ihrem Innern
abſpielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und
der männliche Spermakern, ziehen ſich gegenſeitig an, nähern
ſich und verſchmelzen bei der Berührung vollſtändig mit einander.
So iſt denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue Zelle
entſtanden, welche wir Stammzelle(Cytula) nennen, und
aus deren wiederholten Theilung der ganze vielzellige Organismus
hervorgeht.
[161]VIII. Exiſtenz-Beginn der Seele.
Die pſychologiſchen Erkenntniſſe, welche ſich aus dieſen
merkwürdigen, erſt in den letzten 25 Jahren ſicher beobachteten
Thatſachen der Befruchtung ergeben, ſind überaus wichtig und
bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung gewürdigt.
Wir faſſen die weſentlichſten Folgerungen in folgenden fünf
Sätzen zuſammen: I. Jedes menſchliche Individuum iſt, wie
jedes andere höhere Thier, im Beginne ſeiner Exiſtenz eine ein-
fache Zelle. II. Dieſe Stammzelle (Cytula) entſteht überall auf
dieſelbe Weiſe, durch Verſchmelzung oder Kopulation von zwei
getrennten Zellen verſchiedenen Urſprungs, der weiblichen Ei-
zelle (Ovulum) und der männlichen Spermazelle (Spermium).
III. Beide Geſchlechtszellen beſitzen eine verſchiedene „Zellſeele“,
d. h. beide ſind durch eine beſondere Form von Empfindung und
von Bewegung ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Be-
fruchtung oder Empfängniß verſchmelzen nicht nur die Plasma-
körper der beiden Geſchlechtszellen und ihre Kerne, ſondern auch
die „Seelen“ derſelben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden
enthalten und an die Materie des Plasma untrennbar gebunden
ſind, vereinigen ſich zur Bildung einer neuen Spannkraft, des
„Seelenkeimes“ der neugebildeten Stammzelle. V. Daher beſitzt
jede Perſon leibliche und geiſtige Eigenſchaften von beiden Eltern;
durch Vererbung überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der
mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der väter-
lichen Eigenſchaften.
Durch dieſe empiriſch erkannten Erſcheinungen der Konception
wird ferner die höchſt wichtige Thatſache feſtgeſtellt, daß jeder
Menſch wie jedes andere Thier einen Beginn der indivi-
duellen Exiſtenz hat; die völlige Kopulation der beiden
ſexuellen Zellkerne bezeichnet haarſcharf den Augenblick, in welchem
nicht nur der Körper der neuen Stammzelle entſteht, ſondern
auch ihre „Seele“. Durch dieſe Thatſache allein ſchon wird der
alte Mythus von der Unſterblichkeit der Seele widerlegt,
Haeckel, Welträthſel. 11
[162]Exiſtenz-Beginn der Seele. VIII.
auf den wir ſpäter zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch
ſehr verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Menſch ſeine
individuelle Exiſtenz der „Gnade des liebenden Gottes“ verdankt.
Die Urſache derſelben beruht vielmehr einzig und allein auf dem
„Eros“ ſeiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen viel-
zelligen Thieren und Pflanzen gemeinſamen Geſchlechtstriebe,
welcher zu deren Begattung führt. Das Weſentliche bei dieſem
phyſiologiſchen Proceſſe iſt aber nicht, wie man früher annahm,
die „Umarmung“ oder die damit verknüpften Liebesſpiele, ſon-
dern einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma
in die weiblichen Geſchlechts-Kanäle. Nur dadurch wird es bei
den landbewohnenden Thieren möglich, daß der befruchtende
Samen mit der abgelöſten Eizelle zuſammenkommt (was beim
Menſchen gewöhnlich innerhalb des Uterus geſchieht). Bei nie-
deren, waſſerbewohnenden Thieren (z. B. Fiſchen, Muſcheln,
Meduſen) werden beiderlei reife Geſchlechts-Produkte einfach in
das Waſſer entleert, und hier bleibt ihr Zuſammentreffen dem
Zufall überlaſſen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und
damit zugleich fallen jene zuſammengeſetzten pſychiſchen Funktionen
des „Liebeslebens“ hinweg, die bei höheren Thieren eine ſo große
Rolle ſpielen. Daher fehlen auch allen niederen, nicht kopuliren-
den Thieren jene intereſſanten Organe, die Darwin als
„ſekundäre Sexual-Charaktere“ bezeichnet hat, die Produkte der
geſchlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih
des Hirſches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvögel und
vieler Hühner-Vögel, ſowie viele andere Auszeichnungen der
Männchen, welche den Weibchen fehlen.
Vererbung der Seele. Unter den angeführten Folge-
ſchlüſſen der Konceptions-Phyſiologie iſt für die Pſycho-
logie ganz beſonders wichtig die Vererbung der Seelen-
Qualitäten von beiden Eltern. Daß jedes Kind beſon-
dere Eigenthümlichkeiten des Charakters, Temperament, Talent,
[163]VIII. Vererbung der Seele.
Sinnesſchärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, iſt
allgemein bekannt. Ebenſo bekannt iſt die Thatſache, daß oft
(oder eigentlich allgemein!) auch pſychiſche Eigenſchaften von
beiderlei Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja
häufig ſtimmt in einzelnen Beziehungen der Menſch mehr mit
den Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenſo
von geiſtigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten. Alle die
merkwürdigen Geſetze der Vererbung, welche ich zuerſt
(1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der
Natürlichen Schöpfungsgeſchichte populär behandelt habe, beſitzen
ebenſo allgemeine Gültigkeit für die beſonderen Erſcheinungen der
Seelenthätigkeit wie der Körperbildung; ja, ſie treten uns häufig
an der erſteren noch viel auffallender und klarer entgegen als
an der letzteren.
Nun iſt ja an ſich das große Gebiet der Vererbung, für
deſſen ungeheuere Bedeutung uns erſt Darwin (1859) das
wiſſenſchaftliche Verſtändniß eröffnet hat, reich an dunkeln
Räthſeln und phyſiologiſchen Schwierigkeiten; wir dürfen nicht
beanſpruchen, daß uns ſchon jetzt, nach 40 Jahren, alle Seiten
desſelben klar vor Augen liegen. Aber ſo viel haben wir doch
ſchon ſicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine
phyſiologiſche Funktion des Organismus betrachten, die
mit der Thätigkeit ſeiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft
iſt; und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müſſen wir auch
dieſe ſchließlich auf phyſikaliſche und chemiſche Proceſſe, auf
Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir aber
jetzt den Vorgang der Befruchtung ſelbſt genau; wir wiſſen, daß
dabei ebenſo der Spermakern die väterlichen, wie der Eikern die
mütterlichen Eigenſchaften auf die neugebildete Stammzelle über-
trägt. Die Vermiſchung beider Zellkerne iſt das eigentliche Haupt-
moment der Vererbung; durch ſie werden ebenſo die individuellen
Eigenſchaften der Seele wie des Leibes auf das neugebildete
11 *
[164]Vermiſchung der Seelen. VIII.
Individuum übertragen. Dieſen ontogenetiſchen Thatſachen ſteht
die dualiſtiſche und myſtiſche Pſychologie der noch heute herrſchen-
den Schulen rathlos gegenüber, während ſie ſich durch unſere
moniſtiſche Pſychogenie in einfachſter Weiſe erklären.
Seelenmiſchung (pſychiſche Amphigonie). Die phyſio-
logiſche Thatſache, auf welche es für die richtige Beurtheilung
der individuellen Pſychogenie vor Allem ankommt, iſt die Kon-
tinuität der Pſyche in der Generations-Reihe. Wenn im
Konceptions-Momente auch thatſächlich ein neues Individuum
entſteht, ſo iſt dasſelbe doch weder hinſichtlich ſeiner geiſtigen
noch leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, ſondern
lediglich das Produkt aus der Verſchmelzung der beiden elter-
lichen Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen
Spermazelle. Die Zellſeelen dieſer beiden Geſchlechtszellen ver-
ſchmelzen im Befruchtungs-Akte ebenſo vollſtändig zur Bildung
einer neuen Zellſeele, wie die beiden Zellkerne, welche die
materiellen Träger dieſer pſychiſchen Spannkräfte ſind, zu einem
neuen Zellkern ſich verbinden. Da wir nun ſehen, daß die
Individuen einer und derſelben Art — ja ſelbſt die Geſchwiſter,
die von einem gemeinſamen Eltern-Paare abſtammen — ſtets
gewiſſe, wenn auch geringfügige Unterſchiede zeigen, ſo müſſen
wir annehmen, daß ſolche auch ſchon in der chemiſchen Plasma-
Konſtitution der kopulirenden Keimzellen ſelbſt vorhanden ſind
(Geſetz der individuellen Variation, Natürl. Schöpfgsg. S. 215).
Aus dieſen Thatſachen allein ſchon läßt ſich die unendliche
Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erſchei-
nungen in der organiſchen Natur begreifen. In extremer, aber
einſeitiger Konſequenz ergiebt ſich daraus die Auffaſſung von
Weismann, welcher die Amphimixis, die Miſchung des
Keimplasma bei der geſchlechtlichen Zeugung, ſogar als die all-
gemeine und ausſchließliche Urſache der individuellen Variabilität
betrachtet. Dieſe exkluſive Auffaſſung, die mit ſeiner Theorie
[165]VIII. Atavismus der Seelen.
von der Kontinuität des Keimplasma zuſammenhängt, iſt nach
meiner Anſicht übertrieben; vielmehr halte ich an der Ueber-
zeugung feſt, daß die mächtigen Geſetze der progreſſiven
Vererbung und der damit verknüpften funktionellen
Anpaſſung ebenſo für die Seele wie für den Leib gelten.
Die neuen Eigenſchaften, welche das Individuum während ſeines
Lebens erworben hat, können theilweiſe auf die molekulare
Zuſammenſetzung des Keimplasma in der Eizelle und Samen-
zelle zurückwirken und können ſo durch Vererbung unter gewiſſen
Bedingungen (natürlich nur als latente Spannkräfte) auf die
nächſte Generation übertragen werden.
Pſychologiſcher Atavismus. Wenn bei der Seelen-
Miſchung im Augenblicke der Empfängniß zunächſt auch nur
die Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelſt Verſchmelzung
der beiden erotiſchen Zellkerne erblich übertragen werden, ſo kann
damit doch zugleich der erbliche pſychiſche Einfluß älterer, oft
weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden.
Denn auch die Geſetze der latenten Vererbung oder des
Atavismus gelten ebenſo für die Pſyche wie für die ana-
tomiſche Organiſation. Die merkwürdigen Erſcheinungen dieſes
„Rückſchlags“ begegnen uns in ſehr einfacher und lehr-
reicher Form beim „Generationswechſel“ der Polypen und Me-
duſen. Hier wechſeln regelmäßig zwei ſehr verſchiedene Gene-
rationen ſo mit einander ab, daß die erſte der dritten, fünften
u. ſ. w. gleich iſt, dagegen die zweite (von jenen ſehr verſchiedene)
der vierten, ſechſten u. ſ. w. (Natürl. Schöpfgsg. S. 185). Beim
Menſchen wie bei den höheren Thieren und Pflanzen, wo in
Folge kontinuirlicher Vererbung jede Generation der anderen
gleicht, fehlt jener reguläre Generationswechſel; aber trotzdem
fallen uns auch hier vielfach Erſcheinungen des Rückſchlags
oder Atavismus auf, welche auf dasſelbe Geſetz der latenten
Vererbung zurückzuführen ſind.
[166]Palingeneſe der Seele. VIII.
Gerade in feineren Zügen des Seelenlebens, im Beſitze be-
ſtimmter künſtleriſcher Talente oder Neigungen, in der Energie
des Charakters, in der Leidenſchaft des Temperamentes gleichen
oft hervorragende Menſchen mehr ihren Großeltern als den
Eltern; nicht ſelten tritt auch ein auffälliger Charakterzug her-
vor, den weder dieſe noch jene beſaßen, der aber in einem älteren
Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit ſich offenbart hatte. Auch
in dieſen merkwürdigen Atavismen gelten dieſelben Vererbungs-
geſetze für die Pſyche wie für die Phyſiognomie, für die indi-
viduelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln, des Skeletts
und anderer Körperteile. Am auffälligſten können wir dieſelben
in regierenden Dynaſtien und in alten Adels-Geſchlechtern ver-
folgen, deren hervorragende Thätigkeit im Staatsleben zur ge-
naueren hiſtoriſchen Darſtellung der Individuen in der Generations-
Kette Veranlaſſung gegeben hat, ſo z. B. bei den Hohenzollern,
Hohenſtaufen, Oraniern, Bourbonen u. ſ. w., und nicht minder
bei den römiſchen Cäſaren.
Das biogenetiſche Grundgeſetz in der Pſychologie (1866).
Der Kauſal-Nexus der biontiſchen (individuellen) und
der phyletiſchen (hiſtoriſchen) Entwickelung, den ich ſchon in
der Generellen Morphologie als oberſtes Geſetz an die Spitze
aller biogenetiſchen Unterſuchungen geſtellt hatte, beſitzt ebenſo
allgemeine Geltung für die Pſychologie wie für die Mor-
phologie. Die beſondere Bedeutung, welche dasſelbe in beiden
Beziehungen für den Menſchen beanſprucht, habe ich (1874) im
erſten Vortrage meiner Anthropogenie ausgeführt: „Das Grund-
geſetz der organiſchen Entwickelung“. Wie bei allen anderen
Organismen, ſo iſt auch beim Menſchen „die Keimes-
geſchichte ein Auszug der Stammesgeſchichte“. Dieſe
gedrängte und abgekürzte Rekapitulation iſt um ſo vollſtändiger,
je mehr durch beſtändige Vererbung die urſprüngliche Auszugs-
entwickelung(Palingeneſiſ) beibehalten wird; hingegen wird
[167]VIII. Cenogeneſe der Seele.
ſie um ſo unvollſtändiger, je mehr durch wechſelnde Anpaſſung
die ſpätere Störungsentwickelung(Cenogeneſiſ) eingeführt
wird (Anthropogenie S. 11, 19).
Indem wir dieſes Grundgeſetz auf die Entwickelungsgeſchichte
der Seele anwenden, müſſen wir ganz beſonderen Nachdruck darauf
legen, daß ſtets beide Seiten desſelben kritiſch im Auge zu
behalten ſind. Denn beim Menſchen wie bei allen höheren
Thieren und Pflanzen haben im Laufe der phyletiſchen Jahr-
Millionen ſo beträchtliche Störungen oder Cenogeneſen ſich
ausgebildet, daß dadurch das urſprüngliche, reine Bild der
Palingeneſe oder des „Geſchichts-Auszuges“ ſtark getrübt
und verändert erſcheint. Während einerſeits durch die Geſetze
der gleichzeitlichen und gleichörtlichen Vererbung die palin-
genetiſche Rekapitulation erhalten bleibt, wird ſie andererſeits
durch die Geſetze der abgekürzten und vereinfachten Vererbung
weſentlich cenogenetiſch verändert (Nat. Schöpfgsg. S. 190).
Zunächſt iſt das deutlich erkennbar in der Keimesgeſchichte der
Seelen-Organe, des Nerven-Syſtems, der Muskeln und Sinnes-
Organe. In ganz gleicher Weiſe gilt dasſelbe aber auch von der
Seelen-Thätigkeit, die untrennbar an die normale Ausbildung
dieſer Organe gebunden iſt. Die Keimesgeſchichte derſelben iſt
beim Menſchen, wie bei allen anderen lebendig gebärenden Thieren,
ſchon deßhalb ſtark cenogenetiſch abgeändert, weil die volle Aus-
bildung des Keimes hier längere Zeit innerhalb des mütterlichen
Körpers ſtattfindet. Wir müſſen daher als zwei Hauptperioden
der individuellen Pſychogenie unterſcheiden: I. die embryonale
und II. die poſtembryonale Entwickelungsgeſchichte der Seele.
Embryonale Pſychogenie. Der menſchliche Keim oder
Embryo entwickelt ſich normaler Weiſe im Mutterleibe während
des Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während
dieſes Zeitraums iſt er vollkommen von der Außenwelt ab-
geſchloſſen und nicht allein durch die dicke Muskelwand des
[168]Verwandlung der Seele. VIII.
mütterlichen Fruchtbehälters (Uteruſ) geſchützt, ſondern auch
durch die beſonderen Fruchthüllen (Embryolemmen), welche allen
drei höheren Wirbelthier-Klaſſen gemeinſam zukommen, den Rep-
tilien, Vögeln und Säugethieren. Bei allen drei Amnioten-
Klaſſen entwickeln ſich dieſe Fruchthüllen (Amnion oder Waſſer-
haut und Serolemma oder ſeröſe Haut) genau in derſelben Weiſe.
Es ſind das Schutz-Einrichtungen, welche von den älteſten Rep-
tilien (Proreptilien), den gemeinſamen Stammformen aller Am-
nioten, erſt in der Perm-Periode (gegen Ende des paläozoiſchen
Zeitalters) erworben wurden, als dieſe höheren Wirbelthiere ſich
an das beſtändige Landleben und die Luftathmung gewöhnten.
Ihre vorhergehenden Ahnen, die Amphibien der Steinkohlen-
Periode, lebten und athmeten noch im Waſſer, wie ihre älteren
Vorfahren, die Fiſche.
Bei dieſen älteren und niederen waſſerbewohnenden Wirbel-
thieren beſaß die Keimesgeſchichte noch in viel höherem Grade
den palingenetiſchen Charakter, wie es auch noch bei den meiſten
Fiſchen und Amphibien der Gegenwart der Fall iſt. Die be-
kannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Fröſche,
bewahren noch heute in der erſten Zeit des freien Waſſerlebens
den Körperbau ihrer Fiſch-Ahnen; ſie gleichen ihnen auch in der
Lebensweiſe, in der Kiemenathmung, in der Funktion ihrer
Sinnes-Organe und ihrer anderen Seelen-Organe. Erſt wenn
die intereſſante Metamorphoſe der ſchwimmenden Kaulquappen
eintritt, und wenn ſie ſich an das Landleben gewöhnen, ver-
wandelt ſich ihr fiſchähnlicher Körper in das vierfüßige, kriechende
Amphibium; an die Stelle der Kiemen-Athmung im Waſſer tritt
die ausſchließliche Luftathmung durch Lungen, und mit der ver-
änderten Lebensweiſe erlangt auch der Seelen-Apparat, Nerven-
ſyſtem und Sinnes-Organe, einen höheren Grad der Ausbildung.
Wenn wir die Pſychogenie der Kaulquappen von Anfang bis zu
Ende vollſtändig verfolgen könnten, würden wir das biogenetiſche
[169]VIII. Keimſchlaf der Seele.
Grundgeſetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele anwenden
können. Denn ſie entwickeln ſich unmittelbar unter den wechſeln-
den Bedingungen der Außenwelt und müſſen dieſen frühzeitig
ihre Empfindung und Bewegung anpaſſen. Die ſchwimmende
Kaulquappe beſitzt nicht nur die Organiſation, ſondern auch die
Lebensweiſe des Fiſches und erlangt erſt durch ihre Verwandlung
diejenige des Froſches.
Beim Menſchen wie bei allen anderen Amnioten iſt das
nicht der Fall; ihr Embryo iſt ſchon durch den Einſchluß in die
ſchützenden Eihüllen dem direkten Einfluſſe der Außenwelt ganz
entzogen und jeder Wechſelwirkung mit derſelben entwöhnt.
Außerdem aber bietet die beſondere Brutpflege der Amnion-
thiere ihrem Keime viel günſtigere Bedingungen für cenogenetiſche
Abkürzung der palingenetiſchen Entwickelung. Vor Allem gehört
dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; ſie geſchieht bei
den Reptilien, Vögeln und Monotremen (den eierlegenden Säuge-
thieren) durch den großen gelben Nahrungsdotter, welcher dem
Ei beigegeben iſt, bei den übrigen Mammalien hingegen (Beutel-
thieren und Zottenthieren) durch das Blut der Mutter, welches
durch die Blutgefäße des Dotterſackes und der Allantois dem
Keime zugeführt wird. Bei den höchſtentwickelten Zotten-
thieren(Placentalia) hat dieſe zweckmäßige Ernährungsform
durch Ausbildung des Mutterkuchens (Placenta) den höchſten
Grad der Vollkommenheit erreicht; daher iſt der Embryo ſchon
vor der Geburt hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber
befindet ſich während dieſer ganzen Zeit im Zuſtande des Keim-
ſchlafes, einem Ruhezuſtande, welchen Preyer mit Recht dem
Winterſchlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange
dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzuſtande jener
Inſekten, welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen
(Schmetterlinge, Immen, Fliegen, Käfer u. ſ. w.). Hier iſt der
Puppenſchlaf, während deſſen die wichtigſten Umbildungen
[170]Lebens-Perioden der Seele. VIII.
der Organe und Gewebe vor ſich gehen, um ſo intereſſanter, als
der vorhergehende Zuſtand der frei lebenden Larve (Raupe,
Engerling oder Made) ein ſehr entwickeltes Seelenleben beſitzt,
und als dieſes bedeutend unter derjenigen Stufe ſteht, welche
ſpäter (nach dem Puppenſchlaf) das vollendete, geflügelte und
geſchlechtsreife Inſekt zeigt.
Poſtembryonale Pſychogenie. Die Seelenthätigkeit des
Menſchen durchläuft während ſeines individuellen Lebens, ebenſo
wie bei den meiſten höheren Thieren, eine Reihe von Entwicke-
lungs-Stufen; als die wichtigſten derſelben können wir wohl
folgende fünf Haupt-Abſchnitte unterſcheiden: 1. die Seele des
Neugeborenen bis zum Erwachen des Selbſtbewußtſeins und zum
Erlernen der Sprache, 2. die Seele des Knaben und des Mädchens
bis zur Pubertät (zum Erwachen des Geſchlechtstriebes), 3. die
Seele des Jünglings und der Jungfrau bis zum Eintritt der
ſexuellen Verbindung (die Periode der „Ideale“), 4. die Seele
des erwachſenen Mannes und der reifen Frau (Periode der vollen
Reife und der Familien-Gründung, beim Manne meiſtens bis
ungefähr zum ſechzigſten, beim Weibe bis zum fünfzigſten Lebens-
jahre, bis zum Eintritt der Involution), 5. die Seele des Greiſes
und der Greiſin (Periode der Rückbildung). Das Seelenleben
des Menſchen durchläuft alſo dieſelben Entwickelungsſtufen der
aufſteigenden Fortbildung, der vollen Reife und der abſteigenden
Rückbildung wie jede andere Lebensthätigkeit des Organismus.
[[171]]
Neuntes Kapitel.
Stammesgeſchichte der Seele.
Moniſtiſche Studien über phylogenetiſche Pſychologie.
Entwickelung des Seelenlebens in der thieriſchen Ahnen-Reihe
des Menſchen.
‘„Die phyſiologiſchen Funktionen des Orga-
nismus, welche wir unter dem Begriffe der Seelen-
thätigkeit — oder kurz der „Seele“ — zuſammen-
faſſen, werden beim Menſchen durch dieſelben
mechaniſchen (phyſikaliſchen und chemiſchen) Pro-
ceſſe vermittelt wie bei den übrigen Wirbel-
thieren. Auch die Organe dieſer pſychiſchen
Funktionen ſind hier und dort dieſelben: das
Gehirn und Rückenmark als Centralorgane, die
peripheren Nerven und die Sinnesorgane. Wie
dieſe Seelen-Organe ſich beim Menſchen
langſam und ſtufenweiſe aus den niederen Zu-
ſtänden ihrer Vertebraten-Ahnen entwickelt haben,
ſo gilt dasſelbe natürlich auch von ihren Funktio-
nen, von der Seele ſelbſt.“
Syſtematiſche Phylogenie der Wirbel-
thiere (1895).’ ()
[[172]]
Stufenweiſe hiſtoriſche Entwickelung der Menſchenſeele aus der Thier-
ſeele. Methoden der phylogenetiſchen Pſychologie. Vier Hauptſtufen in der
Stammesgeſchichte der Seele. I. Zellſeele (Cytopſyche) der Protiſten (Infu-
ſorien, Eizelle), Cellular-Pſychologie. II. Zellvereins-Seele oder Cönobial-
Pſyche (Cönopſyche). Pſychologie der Morula und Blaſtula. III. Gewebe-
Seele (Hiſtopſyche). Ihre Duplicität. Pflanzenſeele. Seele von nerven-
loſen niederen Thieren. Doppelſeele der Siphonophoren (Perſonal-Seele und
Normal-Seele). IV. Nervenſeele (Neuropſyche) bei höheren Thieren. Drei
Beſtandtheile ihres Seelen-Apparates: Sinnesorgane, Muskeln und Nerven.
Typiſche Bildung des Nervencentrums in den verſchiedenen Thierſtämmen.
Seelenorgan der Wirbelthiere: Markrohr oder Medullarrohr (Gehirn und
Rückenmark). Seelen-Geſchichte der Säugethiere.
John Romanes, Die geiſtige Entwickelung im Thierreich. Leipzig 1885.
C. Lloyd Morgan,The law of pſychogeneſiſ. London 1892.
G. H. Schneider, Der thieriſche Wille. Leipzig 1880. Der menſchliche
Wille. Berlin 1882.
Theodor Ribot,Pſychologie contemporaine. Paris 1870-1879. (Deutſche
Ueberſetzung. Braunſchweig 1881.)
Fritz Schultze, Stammbaum der Philoſophie. Tabellariſch-ſchematiſcher
Grundriß der Geſchichte der Philoſophie. Jena 1890. Zweite Auf-
lage 1899.
W. Wurm, Thier- und Menſchen-Seele. Frankfurt a. M. 1896.
F. Hanspaul, Die Seelentheorie und die Geſetze des natürlichen Egoismus
und der Anpaſſung. Berlin 1899.
John Lubbock, Die Entſtehung der Civiliſation und der Urzuſtand des
Menſchengeſchlechts. (Deutſch von A. Paſſow). Jena 1875.
Max Berworn, Pſychophyſiologiſche Protiſten-Studien (experimentelle
Unterſuchungen). Jena 1889.
Ernſt Haeckel, Syſtematiſche Phylogenie. Dritter Theil. Stammesgeſchichte
der Wirbelthiere (§ 449. Phylogenie der Menſchen-Seele). Berlin 1895.
[[173]]
Die Deſcendenz-Theorie in Verbindung mit der Anthro-
pologie hat uns überzeugt, daß unſer menſchlicher Organismus
aus einer langen Reihe thieriſcher Vorfahren durch allmähliche
Umbildung im Laufe vieler Jahr-Millionen langſam und ſtufen-
weiſe ſich entwickelt hat. Da wir nun das Seelenleben des
Menſchen von ſeinen übrigen Lebensthätigkeiten nicht trennen
können, vielmehr zu der Ueberzeugung von der einheitlichen Ent-
wickelung unſeres ganzen Körpers und Geiſtes gelangt ſind, ſo
ergiebt ſich auch für die moderne moniſtiſche Pſychologie
die Aufgabe, die hiſtoriſche Entwickelung der Menſchenſeele aus
der Thierſeele ſtufenweiſe zu verfolgen. Die Löſung dieſer Auf-
gabe verſucht unſere „Stammesgeſchichte der Seele“ oder die
Phylogenie der Pſyche; man kann ſie auch, als Zweig der
allgemeinen Seelenkunde, mit dem Namen der phylogene-
tiſchen Pſychologie oder — im Gegenſatze zur bion-
tiſchen (individuellen) — als phyletiſche Pſychogenie
bezeichnen. Obgleich dieſe neue Wiſſenſchaft noch kaum ernſtlich
in Angriff genommen iſt, obgleich ſelbſt ihre Exiſtenz-Berechtigung
von den meiſten Fach-Pſychologen beſtritten wird, müſſen wir
für ſie dennoch die allerhöchſte Wichtigkeit und das größte In-
tereſſe in Anſpruch nehmen. Denn nach unſerer feſten Ueber-
zeugung iſt ſie vor Allem berufen, uns das große „Welträthſel“
vom Weſen und der Entſtehung unſerer Seele zu löſen.
[174]Stammesgeſchichte der Seele. IX.
Methoden der phyletiſchen Pſychogenie. Die Mittel
und Wege, welche zu dem weit entfernten, im Nebel der Zukunft
für Viele noch kaum erkennbaren Ziele der phylogenetiſchen
Pſychologie hinführen ſollen, ſind von denjenigen anderer
ſtammesgeſchichtlicher Forſchungen nicht verſchieden. Vor Allem
iſt auch hier die vergleichende Anatomie, Phyſiologie und Onto-
genie von höchſtem Werthe. Aber auch die Paläontologie liefert
uns eine Anzahl von ſicheren Stützpunkten; denn die Reihenfolge,
in welcher die verſteinerten Ueberreſte der Vertebraten-Klaſſen
nach einander in den Perioden der organiſchen Erdgeſchichte auf-
treten, offenbart uns theilweiſe, zugleich mit deren phyletiſchem
Zuſammenhang, auch die ſtufenweiſe Ausbildung ihrer Seelen-
thätigkeit. Freilich ſind wir hier, wie überall bei phylogenetiſchen
Unterſuchungen, zur Bildung zahlreicher Hypotheſen gezwungen,
welche die empfindlichen Lücken der empiriſchen Stammesurkunden
ausfüllen; aber dennoch werfen die letzteren ein ſo helles und
bedeutungsvolles Licht auf die wichtigſten Abſtufungen der ge-
ſchichtlichen Entwickelung, daß wir eine befriedigende Einſicht
in deren allgemeinen Verlauf gewinnen können.
Hauptſtufen der phyletiſchen Pſychogenie. Die ver-
gleichende Pſychologie des Menſchen und der höheren Thiere
läßt uns zunächſt in den höchſten Gruppen der placentalen
Säugethiere, bei den Herrenthieren(Primateſ), die wichtigen
Fortſchritte erkennen, durch welche die Menſchen-Seele aus der
Pſyche der Menſchen-Affen (Anthropomorpha) hervorgegangen
iſt. Die Phylogenie der Säugethiere und weiterhin der
niederen Wirbelthiere zeigt uns die lange Reihe der älteren
Vorfahren der Primaten, welche innerhalb dieſes Stammes ſeit
der Silur-Zeit ſich entwickelt haben. Alle dieſe Vertebraten
ſtimmen überein in der Struktur und Entwickelung ihres charakte-
riſtiſchen Seelen-Organs, des Markrohrs. Daß dieſes „Me-
dullar-Rohr“ ſich aus einem dorſalen Akroganglion oder
[175]IX. Stammesgeſchichte der Seele.
Scheitelhirn wirbelloſer Vorfahren hervorgebildet hat, lehrt
uns die vergleichende Anatomie der Wurmthiere oder Verma-
lien. Weiter zurückgehend erfahren wir durch die vergleichende
Ontogenie, daß dieſes einfache Seelenorgan aus der Zellenſchicht
des äußeren Keimblattes, aus dem Ektoderm von Platodarien
entſtanden iſt; bei dieſen älteſten Plattenthieren, die noch kein
geſondertes Nerven-Syſtem beſaßen, wirkt die äußere Hautdecke
als univerſales Sinnes- und Seelen-Organ. Durch die ver-
gleichende Keimesgeſchichte überzeugen wir uns endlich, daß dieſe
einfachſten Metazoen durch Gaſtrulation aus Blaſtäaden ent-
ſtanden ſind, aus Hohlkugeln, deren Wand eine einfache
Zellenſchicht bildete, das Blaſtoderm; zugleich lernen wir durch
dieſelbe mit Hülfe des biogenetiſchen Grundgeſetzes verſtehen, wie
dieſe Protozoen-Cönobien urſprünglich aus einfachſten einzelligen
Urthieren hervorgegangen ſind.
Durch die kritiſche Deutung dieſer verſchiedenen Keim-
bildungen, deren Entſtehung aus einander wir unmittelbar durch
mikroſkopiſche Beobachtung verfolgen können, erhalten wir
mittelſt unſeres biogenetiſchen Grundgeſetzes die wichtigſten Auf-
ſchlüſſe über die Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte unſeres
Seelenlebens; wir können deren zunächſt acht unterſcheiden:
1. Einzellige Protozoen mit einfacher Zellſeele: Infuſo-
rien; 2. vielzellige Protozoen mit Cönobial-Seele: Ka-
kallakten; 3. älteſte Metazoen mit Epithelial-Seele:
Platodarien; 4. wirbelloſe Ahnen mit einfachem Scheitel-
hirn: Vermalien; 5. ſchädelloſe Wirbelthiere mit einfachem
Markrohr, ohne Gehirn: Akranier; 6. Schädelthiere mit
Gehirn (aus fünf Hirnblaſen entſtanden): Kranioten;
7. Säugethiere mit überwiegend entwickelter Großhirnrinde:
Placentalien; 8. höhere Menſchen-Affen und Menſchen, mit
Denkorganen (im Principalhirn): Anthropomorphen.
Unter dieſen acht Hauptſtufen in der Stammesgeſchichte der
[176]Zellſeele der Urthiere (Cytopſyche). IX.
menſchlichen Pſyche laſſen ſich weiterhin noch eine Anzahl von
untergeordneten Entwickelungsſtufen mit mehr oder weniger
Klarheit unterſcheiden. Selbſtverſtändlich ſind wir aber bei deren
Rekonſtruktion auf diejenigen lückenhaften Zeugniſſe der empiriſchen
Pſychologie angewieſen, welche uns die vergleichende Anatomie
und Phyſiologie der gegenwärtigen Fauna an die Hand giebt.
Da die Schädelthiere der ſechſten Stufe, und zwar echte Fiſche,
ſich ſchon im ſiluriſchen Syſtem verſteinert finden, ſind wir zu
der Annahme gezwungen, daß die fünf vorhergehenden (der Ver-
ſteinerung nicht fähigen!) Ahnen-Stufen ſich ſchon in früherer,
präſiluriſcher Zeit entwickelt haben.
I.Die Zellſeele (Cytopſyche);erſte Hauptſtufe der
phyletiſchen Pſychogeneſis. Die älteſten Vorfahren des
Menſchen, wie aller übrigen Thiere, waren einzeilige Urthiere
(Protozoa). Dieſe Fundamental-Hypotheſe der rationellen Phylo-
genie ergiebt ſich nach dem biogenetiſchen Grundgeſetze aus der
bekannten embryologiſchen Thatſache, daß jeder Menſch, wie
jedes andere Metazoon (jedes vielzellige „Gewebethier“), im
Beginne ſeiner individuellen Exiſtenz eine einfache Zelle iſt, die
„Stammzelle“ (Cytula) oder die „befruchtete Eizelle“ (vergl.
S. 73). Wie dieſe letztere ſchon von Anfang an „beſeelt“
war, ſo auch jene entſprechende einzellige Stammform,
welche in der älteſten Ahnen-Reihe des Menſchen durch eine
Kette von verſchiedenen Protozoen vertreten war.
Ueber die Seelenthätigkeit dieſer einzelligen Organismen
unterrichtet uns die vergleichende Phyſiologie der heute noch
lebenden Protiſten; ſowohl genaue Beobachtung als ſinnreiches
Experiment haben uns hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts ein neues Gebiet voll höchſt intereſſanter Erſcheinungen
eröffnet. Die beſte Darſtellung derſelben hat 1889 Max Ver-
worn gegeben, in ſeinen gedankenreichen, auf eigene originelle
[177]IX. Theorie der Zellſeele.
Verſuche geſtützten „Pſycho-phyſiologiſchen Protiſten-
Studien“. Auch die wenigen älteren Beobachtungen über
„das Seelenleben der Protiſten“ ſind darin zuſammengeſtellt.
Verworn gelangte zu der feſten Ueberzeugung, daß bei allen
Protiſten die pſychiſchen Vorgänge noch unbewußt ſind, daß
die Vorgänge der Empfindung und Bewegung hier noch mit den
molekularen Lebensproceſſen im Plasma ſelbſt zuſammenfallen,
und daß ihre letzten Urſachen in den Eigenſchaften der Plasma-
Moleküle (der Plaſtidule) zu ſuchen ſind. „Die pſychiſchen
Vorgänge im Protiſtenreich ſind daher die Brücke, welche die
chemiſchen Proceſſe in der unorganiſchen Natur mit dem Seelen-
leben der höchſten Thiere verbindet; ſie repräſentiren den Keim
der höchſten pſychiſchen Erſcheinungen bei den Metazoen und dem
Menſchen.“
Die ſorgfältigen Beobachtungen und zahlreichen Experimente
von Verworn, im Verein mit denjenigen von Wilhelm
Engelmann, Wilhelm Preyer, Richard Hertwig
und anderen neueren Protiſten-Forſchern, liefern die bündigen
Beweiſe für meine moniſtiſche „Theorie der Zellſeele“
(1866). Geſtützt auf eigene langjährige Unterſuchungen von
verſchiedenen Protiſten, beſonders von Rhizopoden und Infuſorien,
hatte ich ſchon vor 33 Jahren den Satz aufgeſtellt, daß jede
lebendige Zelle pſychiſche Eigenſchaften beſitzt, und daß alſo auch
das Seelenleben der vielzelligen Thiere und Pflanzen nichts
Anderes iſt als das Reſultat der pſychiſchen Funktionen der
ihren Leib zuſammenſetzenden Zellen. Bei den niederen Gruppen
(z. B. Algen und Spongien) ſind alle Zellen des Körpers
gleichmäßig (oder mit geringen Unterſchieden) daran betheiligt;
in den höheren Gruppen dagegen, entſprechend den Geſetzen der
Arbeitstheilung, nur ein auserleſener Theil derſelben, die
„Seelenzellen“. Die bedeutungsvollen Konſequenzen dieſer „Cel-
lular-Pſychologie“ hatte ich theils 1876 in meiner Schrift
Haeckel, Welträthſel. 12
[178]Verwandlung der Zellſeele. IX.
über die „Perigeneſis der Plaſtidule“ erörtert, theils 1877 in
meiner Münchener Rede „über die heutige Entwickelungslehre im
Verhältniß zur Geſammtwiſſenſchaft“. Eine mehr populäre Dar-
ſtellung derſelben enthalten meine beiden Wiener Vorträge (1878)
„über Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge“ und
„über Zellſeelen und Seelenzellen“ *)
Die einfache Zellſeele zeigt übrigens ſchon innerhalb des
Protiſtenreiches eine lange Reihe von Entwickelungsſtufen, von
ganz einfachen, primitiven bis zu ſehr vollkommenen und hohen
Seelen-Zuſtänden. Bei den älteſten und einfachſten Protiſten iſt
das Vermögen der Empfindung und Bewegung gleichmäßig auf
das ganze Plasma des homogenen Körperchens vertheilt; bei den
höheren Formen dagegen ſondern ſich als phyſiologiſche Organe
derſelben beſondere „Zellwerkzeuge“ oder Organelle. Der-
artige motoriſche Zelltheile ſind die Pſeudopodien der Rhizopoden,
die Flimmerhaare, Geißeln und Wimpern der Infuſorien. Als
ein inneres Central-Organ des Zellenlebens wird der Zellkern
betrachtet, welcher den älteſten und niederſten Protiſten noch
fehlt. In phyſiologiſch-chemiſcher Beziehung iſt beſonders hervor-
zuheben, daß die urſprünglichſten und älteſten Protiſten Plas-
modomen waren, mit pflanzlichem Stoffwechſel, alſo Proto-
phyten oder „Urpflanzen“; aus ihnen entſtanden erſt ſekundär,
durch Metaſitismus, die erſten Plasmophagen, mit thieriſchem
Stoffwechſel, alſo Protozoen oder „Urthiere“ **). Dieſer
Metaſitismus, die „Umkehrung des Stoffwechſels“, bedeutete
einen wichtigen pſychologiſchen Fortſchritt; denn damit begann
die Entwickelung jener charakteriſtiſchen Vorzüge der „Thierſeele“,
welche der „Pflanzenſeele“ noch fehlen.
Die höchſte Ausbildung der thieriſchen Zellſeele treffen wir
in der Klaſſe der Ciliaten oder Wimper-Infuſorien.
[179]IX. Zellvereins-Seele (Cönopſyche).
Wenn wir dieſelbe mit den entſprechenden Seelenthätigkeiten
höherer, vielzelliger Thiere vergleichen, ſo ſcheint kaum ein pſycho-
logiſcher Unterſchied zu beſtehen; die ſenſiblen und motoriſchen
Organelle jener Protozoen ſcheinen dasſelbe zu leiſten wie die
Sinnesorgane, Nerven und Muskeln dieſer Metazoen. Man hat
ſogar in dem großen Zellkern(Meganucleuſ) der Infuſorien
ein Central-Organ der Seelenthätigkeit erblickt, welches in ihrem
einzelligen Organismus eine ähnliche Rolle ſpiele wie das Gehirn
im Seelenleben höherer Thiere. Indeſſen iſt ſehr ſchwer zu
entſcheiden, wie weit dieſe Vergleiche berechtigt ſind; auch gehen
darüber die Anſichten der ſpeciellen Infuſorien-Kenner weit aus
einander. Die Einen faſſen alle ſpontanen Körper-Bewegungen
derſelben als automatiſche oder impulſive, alle Reiz-Bewegungen
als Reflexe auf; die Anderen erblicken darin theilweiſe willkür-
liche und abſichtliche Bewegungen. Während die Letzteren den
Infuſorien bereits ein gewiſſes Bewußtſein, eine einheitliche Ich-
Vorſtellung zuſchreiben, wird dieſe von den Erſteren geleugnet.
Gleichviel, wie man dieſe höchſt ſchwierige Frage entſcheiden will,
ſo ſteht doch ſo viel feſt, daß uns dieſe einzelligen Protozoen
eine hochentwickelte Zellſeele zeigen, welche für die richtige
Beurtheilung der Pſyche unſerer älteſten einzelligen Vorfahren
von höchſtem Intereſſe iſt.
II.Zellvereins-Seele oder Cönobial-Pſyche (Coenopſyche);
zweite Hauptſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis.
Die individuelle Entwickelung beginnt beim Menſchen wie bei allen
anderen vielzelligen Thieren mit der wiederholten Theilung einer
einfachen Zelle. Die Stammzelle(Cytula) oder die „befruchtete
Eizelle“ zerfällt durch den Vorgang der gewöhnlichen indirekten
Zelltheilung zunächſt in zwei Tochterzellen; indem dieſer Vorgang
ſich wiederholt, entſtehen (bei der „äqualen Eifurchung“) nach
einander 4, 8, 16, 32, 64 gleiche „Furchungszellen oder Blaſto-
meren“. Gewöhnlich (d. h. bei der Mehrzahl der Thiere) tritt
12*
[180]Zellvereins-Seele der Keimblaſe. IX.
an die Stelle dieſer urſprünglichen, gleichmäßigen Zelltheilung
früher oder ſpäter eine ungleichmäßige Vermehrung. Das Er-
gebniß iſt aber in allen Fällen dasſelbe: die Bildung eines (meiſt
kugelförmigen) Haufens oder Ballens von indifferenten (urſprüng-
lich gleichartigen) Zellen. Wir nennen dieſen Zuſtand den
Maulbeerkeim (Morula; vergl. Anthropogenie S. 159). Ge-
wöhnlich ſammelt ſich dann im Innern dieſes maulbeerförmigen
Zellen-Aggregates Flüſſigkeit an; es verwandelt ſich in Folge
deſſen in ein kugeliges Bläschen; alle Zellen treten an deſſen
Oberfläche und ordnen ſich in eine einfache Zellenſchicht, die
Keimhaut(Blaſtoderma). Die ſo entſtandene Hohlkugel
iſt der bedeutungsvolle Zuſtand der Keimblaſe (Blaſtula oder
Blaſtoſphaera, Anthropogenie S. 159).
Die pſychologiſchen Thatſachen, welche wir un-
mittelbar bei der Bildung der Blaſtula beobachten können, ſind
theils Bewegungen, theils Empfindungen dieſes Zellvereins. Die
Bewegungen zerfallen in zwei Gruppen: 1. die inneren Be-
wegungen, welche überall in weſentlich gleicher Weiſe beim
Vorgange der gewöhnlichen (indirekten) Zelltheilung ſich wieder-
holen (Bildung der Kernſpindel, Mitoſe, Karyokineſe u. ſ. w.);
2. die äußeren Bewegungen, welche in der geſetzmäßigen Lage-
Veränderung der geſelligen Zellen und ihrer Gruppirung bei
Bildung des Blaſtoderms zu Tage treten. Wir faſſen dieſe Be-
wegungen als heredive und unbewußte auf, weil ſie überall
in gleicher Weiſe durch Vererbung von den älteren Ahnen-Reihen
der Protiſten bedingt ſind. Die Empfindungen können
ebenfalls in zwei Gruppen unterſchieden werden: 1. die Em-
pfindungen der einzelnen Zellen, welche ſich in der Behauptung
ihrer individuellen Selbſtändigkeit und ihrem Verhalten gegen
die Nachbar-Zellen äußern (mit denen ſie in Kontakt und theil-
weiſe durch Plasma-Brücken in direkter Verbindung ſtehen); 2. die
einheitliche Empfindung des ganzen Zellvereins oder Cöno-
[181]IX. Gewebe-Seele (Hiſtopſyche).
biums, welche in der individuellen Geſtaltung der Blaſtula
als Hohlkugel zu Tage tritt (Anthropogenie S. 491).
Das kauſale Verſtändniß der Blaſtula-Bildung liefert uns
das biogenetiſche Grundgeſetz, indem es die unmittelbar
zu beobachtenden Erſcheinungen derſelben durch die Vererbung
erklärt und auf entſprechende hiſtoriſche Vorgänge zurückführt,
welche ſich urſprünglich bei der Entſtehung der älteſten Protiſten-
Cönobien, der Blaſtäaden, vollzogen haben (Syſt. Phyl. III,
§§ 22-26). Die phyſiologiſche und pſychologiſche Einſicht in
dieſe wichtigen Proceſſe der älteſten Zellen-Aſſocion ge-
winnen wir aber durch Beobachtung und Experiment an den
heute noch lebenden Cönobien. Solche beſtändige Zellvereine
oder Zellhorden (auch als Zellkolonien, Zellgemeinden oder Zell-
ſtöckchen bezeichnet) ſind noch heute ſehr verbreitet, ſowohl unter
den plasmodomen Urpflanzen (z. B. Paulotomeen, Diato-
meen, Volvocinen) als unter den plasmophagen Urthieren
(Infuſorien und Rhizopoden). In allen dieſen Cönobien können
wir bereits neben einander zwei verſchiedene Stufen der pſychiſchen
Thätigkeit unterſcheiden: I. die Zellſeele der einzelnen Zell-
Individuen (als „Elementar-Organismen“) und II. die Cöno-
bialſeele des ganzen Zellvereins.
III.Gewebe-Seele (Hiſtopſyche):dritte Hauptſtufe
der phyletiſchen Pſychogeneſis. Bei allen vielzelligen
und gewebebildenden Pflanzen (den Metaphyten oder Gewebe-
Pflanzen) und ebenſo bei den niederſten, nervenloſen Klaſſen der
Gewebethiere(Metazoen) haben wir zunächſt zwei verſchiedene
Formen der Seelenthätigkeit zu unterſcheiden, nämlich A. die Pſyche
der einzelnen Zellen, welche die Gewebe zuſammenſetzen, und
B. die Pſyche der Gewebe ſelbſt oder des „Zellenſtaates“, welcher
von dieſen gebildet wird. Dieſe Gewebe-Seele iſt überall die
höhere pſychologiſche Funktion, welche den zuſammengeſetzten viel-
zelligen Organismus als einheitliches Bion oder „phyſio-“
[182]Pflanzen-Seele (Phytopſyche). IX.
„logiſches Individuum“, als wirklichen „Zellenſtaat“ erſcheinen
läßt. Sie beherrſcht alle die einzelnen „Zellſeelen“ der ſocialen
Zellen, welche als abhängige „Staatsbürger“ den einheitlichen
Zellenſtaat konſtituiren. Dieſe fundamentale Duplicität der
Pſyche bei den Metaphyten und bei den niederen, nervenloſen
Metazoen iſt ſehr wichtig; ſie wird durch unbefangene Beobachtung
und paſſenden Verſuch unmittelbar bewieſen: erſtens beſitzt jede
einzelne Zelle ihre eigene Empfindung und Bewegung, und zweitens
zeigt jedes Gewebe und jedes Organ, das aus einer Zahl gleich-
artiger Zellen ſich zuſammenſetzt, ſeine beſondere Reizbarkeit und
pſychiſche Einheit (z. B. Pollen und Staubgefäße).
III. A.Die Pflanzen-Seele (Phytopſyche) iſt für uns
der Inbegriff der geſammten pſychiſchen Thätigkeit der gewebe-
bildenden, vielzelligen Pflanzen (Metaphyten, nach Aus-
ſchluß der einzelligen Protophyten); ſie iſt Gegenſtand der ver-
ſchiedenſten Beurtheilung bis auf den heutigen Tag geblieben.
Früher fand man gewöhnlich einen Hauptunterſchied zwiſchen
Pflanzen und Thieren darin, daß man den letzteren allgemein
eine „Seele“ zuſchrieb, den erſteren dagegen nicht. Indeſſen
führte unbefangene Vergleichung der Reizbarkeit und der Be-
wegungen bei verſchiedenen höheren Pflanzen und niederen Thieren
ſchon im Anfange des Jahrhunderts einzelne Forſcher zu der
Ueberzeugung, daß beide gleichmäßig beſeelt ſein müßten. Später
traten namentlich Fechner, Leitgeb u. A. lebhaft für die
Annahme einer „Pflanzen-Seele“ ein. Tieferes Verſtändniß
derſelben wurde erſt erworben, nachdem durch die Zellen-
theorie (1838) die gleiche Elementar-Struktur in Pflanzen
und Thieren nachgewieſen und beſonders ſeitdem durch die
Plasma-Theorie von Max Schultze (1859) das gleiche
Verhalten des aktiven, lebendigen Protoplasma in beiden er-
kannt worden war. Die neuere vergleichende Phyſiologie (ſeit
30 Jahren) zeigte ſodann, daß das phyſiologiſche Verhalten gegen
[183]IX. Seelenleben der Pflanzen.
verſchiedene Reize (Licht, Elektricität, Wärme, Schwere, Reibung,
chemiſche Einflüſſe u. ſ. w.) in den „empfindlichen“ Körper-
theilen vieler Pflanzen und Thiere ganz ähnlich iſt, und daß auch
die Reflex-Bewegungen, die jene Reize hervorrufen, ganz
ähnlichen Verlauf haben. Wenn man daher dieſe Thätigkeiten
bei niederen, nervenloſen Metazoen (Schwämmen, Polypen) einer
beſonderen „Seele“ zuſchrieb, ſo war man berechtigt, dieſelbe
auch bei vielen (oder eigentlich allen) Metaphyten anzunehmen,
mindeſtens bei den ſehr „empfindlichen“ Sinnpflanzen (Mimoſa),
den Fliegenfallen (Dionaea, Droſera) und den zahlreichen ran-
kenden Kletter- und Schlingpflanzen.
Allerdings hat nun die neuere Pflanzen-Phyſiologie viele
dieſer „Reizbewegungen“ oder Tropismen rein phyſikaliſch
erklärt, durch beſondere Verhältniſſe des Wachsthums, durch
Turgor-Schwankungen u. ſ. w. Allein dieſe mechaniſchen Ur-
ſachen ſind nicht mehr und nicht minder pſychophyſiſch
als die ähnlichen „Reflex-Bewegungen“ bei Spongien, Polypen
und anderen nervenloſen Metazoen, ſelbſt wenn der Mechanismus
derſelben hier weſentlich verſchieden iſt. Der Charakter der
Hiſtopſyche oder Gewebe-Seele zeigt ſich in beiden Fällen
gleichmäßig darin, daß die Zellen des Gewebes (des geſetzmäßig
geordneten Zellverbandes) die von einem Theile empfangenen
Reize fortleiten und dadurch Bewegungen anderer Theile oder
des ganzen Organs hervorrufen. Dieſe Reizleitung kann
hier ebenſo als „Seelenthätigkeit“ bezeichnet werden wie die
vollkommenere Form derſelben bei Nerventhieren; ſie erklärt ſich
anatomiſch dadurch, daß die ſocialen Zellen des Gewebes oder
Zellverbandes nicht (wie man früher glaubte) getrennt an einander
liegen, ſondern überall durch feine Plasmafäden oder Brücken zu-
ſammenhängen. Wenn die empfindlichen Sinnpflanzen (Mimoſen)
bei der Berührung oder Erſchütterung ihre ausgebreiteten Fieder-
blättchen ſchließen und die Blattſtiele herabſenken, wenn die reiz-
[184]Gewebe-Seele nervenloſer Thiere. IX.
bare Fliegenfalle (Dionaea) bei der Berührung ihrer Blätter
dieſe raſch zuſammenklappt und die Fliege fängt, ſo erſcheint die
Empfindung lebhafter, die Reizleitung ſchneller und die Bewegung
energiſcher als die Reflex-Reaktion des gereizten Badeſchwammes
und vieler anderer Spongien.
III. B.Die Seele nervenloſer Metazoen. Von ganz be-
ſonderem Intereſſe für die vergleichende Pſychologie im Allge-
meinen und für die Phylogenie der Thierſeele im Beſonderen
iſt die Seelenthätigkeit jener niederen Metazoen, welche
zwar Gewebe und oft bereits differenzirte Organe beſitzen, aber
weder Nerven noch ſpecifiſche Sinnesorgane. Dahin gehören
vier verſchiedene Gruppen von älteſten Cölenterien oder
Niederthieren, nämlich: 1. die Gaſträaden, 2. die Plato-
darien, 3. die Spongien und 4. die Hydropolypen,
die niederſten Formen der Neſſelthiere.
Die Gaſträaden oder Urdarmthiere bilden jene kleine
Gruppe von niederſten Cölenterien, welche als die gemeinſame
Stammgruppe aller Metazoen von höchſter Wichtigkeit iſt. Der
Körper dieſer kleinen, ſchwimmenden Thierchen erſcheint als ein
kleines (meiſt eiförmiges) Bläschen, welches eine einfache Höhle
mit einer Oeffnung enthält (Urdarm und Urmund). Die Wand
der verdauenden Höhle wird aus zwei einfachen Zellenſchichten
oder Epithelien gebildet, von denen die innere (Darmblatt) die
vegetalen Thätigkeiten der Ernährung und die äußere (Haut-
blatt) die animalen Funktionen der Bewegung und Empfindung
vermittelt. Die gleichartigen ſenſiblen Zellen dieſes Hautblattes
tragen zarte Geißeln, lange Flimmerhaare, deren Schwingungen
die willkürliche Schwimmbewegung bewirken. Die wenigen noch
lebenden Formen der Gaſträaden, die Gaſtremarien(Tricho-
placiden) und Cyemarien(Orthonectiden), ſind deßhalb ſo
intereſſant, weil ſie zeitlebens auf derſelben Bildungsſtufe ſtehen
bleiben, welche die Keime aller übrigen Metazoen (von den
[185]IX. Gewebe-Seele der Gaſtrula.
Spongien bis zum Menſchen hinauf) im Beginne ihrer Keimes-
Entwickelung durchlaufen. Wie ich in meiner Gaſträa-Theorie
(1872) gezeigt habe, entſteht bei ſämmtlichen Gewebethieren zu-
nächſt aus der vorher betrachteten Blaſtula (S. 180) eine
höchſt charakteriſtiſche Keimform, die Gaſtrula. Die Keimhaut
(Blaſtoderma), welche die Wand der Hohlkugel darſtellt, bildet
an einer Seite eine grubenförmige Vertiefung, und dieſe wird
bald zu einer ſo tiefen Einſtülpung, daß der innere Hohlraum
der Keimblaſe verſchwindet. Die eingeſtülpte (innere) Hälfte der
Keimhaut legt ſich an die äußere (nicht eingeſtülpte) Hälfte innen
an; letztere bildet das Hautblatt oder äußere Keimblatt
(Ektoderm, Epiblaſt), erſtere dagegen das Darmblatt oder
innere Keimblatt (Entoderm, Hypoblaſt). Der neu entſtandene
Hohlraum des becherförmigen Körpers iſt die verdauende Magen-
höhle, der Urdarm(Progaſter), ſeine Oeffnung der Urmund
(Proſtoma)*). Das Hautblatt oder Ektoderm iſt bei allen
Metazoen das urſprüngliche „Seelenorgan“; denn aus ihm
entwickeln ſich bei ſämmtlichen Nerventhieren nicht nur die äußere
Hautdecke und die Sinnesorgane, ſondern auch das Nervenſyſtem.
Bei den Gaſträaden, welche letzteres noch nicht beſitzen, ſind alle
Zellen, welche die einfache Epithelſchicht des Ektoderm zuſammen-
ſetzen, gleichmäßig Organe der Empfindung und Bewegung; die
Gewebe-Seele zeigt ſich hier in einfachſter Form.
Dieſelbe primitive Bildung ſcheinen auch noch die Plato-
darien zu beſitzen, die älteſten und einfachſten Formen der
Plattenthiere(Platodeſ). Einige von dieſen Kryptocölen
(Convoluta u. ſ. w.) haben noch kein geſondertes Nervenſyſtem,
während dasſelbe bei ihren nächſtverwandten Epigonen, den
Strudelwürmern(Turbellaria), bereits von der Hautdecke
ſich abgeſondert und ein einfaches Scheitelhirn entwickelt hat.
[186]Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX.
Die Spongien oder Schwammthiere ſtellen einen ſelbſt-
ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen
Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet;
die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem
Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme,
Olynthuſ, iſt eigentlich nichts weiter als eine Gaſtraea, deren
Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum
Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien
(auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen-
förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden
ſolcher Gaſträaden („Geißelkammern“) zuſammengeſetzt und von
einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung
und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge-
ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln
fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden,
unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als
„Gewächſe“ betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be-
ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der
Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Neſſelthiere (Cnidaria) iſt für die ver-
gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor-
ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der
Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent-
ſtehung der Nervenſeele aus der Gewebeſeele. Es ge-
hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt-
ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und
Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller
Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter Polyp
erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer-
Polypen (Hydra) im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun
beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver-
wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren
[187]IX. Generationswechſel der Seele.
Sinnesorgane, obgleich ſie ſehr empfindlich ſind. Dagegen die
frei ſchwimmenden Meduſen, welche ſich aus letzteren entwickeln
(und noch heute mit ihnen durch Generationswechſel verknüpft
ſind) beſitzen bereits ein ſelbſtſtändiges Nerven-Syſtem und ge-
ſonderte Sinnesorgane. Wir können alſo hier den hiſtoriſchen
Urſprung der Nervenſeele(Neuropſyche) aus der Gewebe-
ſeele (Hiſtopſyche) unmittelbar ontogenetiſch beobachten und
phylogenetiſch verſtehen lernen. Dieſe Erkenntniß iſt um ſo
intereſſanter, als jene bedeutungsvollen Vorgänge polyphyle-
tiſch ſind, d. h. ſich mehrmals (mindeſtens zweimal) unabhängig
von einander vollzogen haben. Wie ich nachgewieſen habe, ſind
die Hydromeduſen (oder Kraſpedoten) auf andere Weiſe aus
den Hydropolypen entſtanden als die Scyphomeduſen
(oder Akraſpeden) aus den Skyphopolypen; der Knoſpungs-
vorgang iſt bei den letzteren terminal, bei den erſteren lateral.
Auch zeigen beide Gruppen charakteriſtiſche erbliche Unterſchiede
im feineren Bau ihrer Seelen-Organe. Sehr intereſſant iſt für
die Pſychologie auch die Klaſſe der Staatsquallen(Siphono-
phorae). An dieſen prächtigen, frei ſchwimmenden Thierſtöcken,
welche von Hydromeduſen abſtammen, können wir eine Doppel-
ſeele beobachten: die Einzelſeele (Perſonal-Seele) der zahl-
reichen Perſonen, die ihn zuſammenſetzen, und die gemeinſame,
einheitlich thätige Pſyche des ganzen Stockes (Normal-Seele).
IV.Die Nerven-Seele (Neuropſyche);vierte Haupt-
ſtufe der phyletiſchen Pſychogeneſis. Das Seelenleben
aller höheren Thiere wird, ebenſo wie beim Menſchen, durch einen
mehr oder minder komplicirten „Seelen-Apparat“ vermittelt,
und dieſer beſteht immer aus drei Hauptbeſtandtheilen; die
Sinnes-Organe bewirken die verſchiedenen Empfindungen, die
Muskeln dagegen die Bewegungen; die Nerven ſtellen die
Verbindung zwiſchen erſteren und letzteren durch ein beſonderes
Central-Organ her, Gehirn oder Ganglion (Nervenknoten).
[188]Nerven-Seele (Neuropſyche) der Thiere. IX.
Die Einrichtung und Thätigkeit dieſes Seelen-Apparates pflegt
man mit einem elektriſchen Telegraphen-Syſtem zu vergleichen;
die Nerven ſind die Leitungsdrähte, das Gehirn die Central-
Station, die Muskeln und Senſillen die untergeordneten Lokal-
Stationen. Die motoriſchen Nervenfaſern leiten die Willens-
Befehle oder Impulſe centrifugal von dieſem Nervencentrum zu
den Muskeln und bewirken durch deren Kontraktion Bewegungen;
die ſenſiblen Nervenfaſern dagegen leiten die verſchiedenen Em-
pfindungen centripetal von den peripheren Sinnesorganen zum
Gehirn und ſtatten Bericht ab von den empfangenen Eindrücken
der Außenwelt. Die Ganglienzellen oder „Seelenzellen“, welche
das nervöſe Central-Organ zuſammenſetzen, ſind die vollkommenſten
von allen organiſchen Elementar-Theilen; denn ſie vermitteln
nicht nur den Verkehr zwiſchen den Muskeln und Sinnesorganen,
ſondern auch die höchſten von allen Leiſtungen der Thierſeele, die
Bildung von Vorſtellungen und Gedanken, an der Spitze von
Allem das Bewußtſein.
Die großen Fortſchritte der Anatomie und Phyſiologie, der
Hiſtologie und Ontogenie haben in der Neuzeit unſere tiefere
Kenntniß des Seelen-Apparates mit einer Fülle der intereſſanteſten
Entdeckungen bereichert. Wenn die ſpekulative Philoſophie auch
nur die wichtigſten von dieſen bedeutungsvollen Erwerbungen der
empiriſchen Biologie in ſich aufgenommen hätte, müßte ſie heute
ſchon eine ganz andere Phyſiognomie zeigen, als es leider der
Fall iſt. Da eine eingehende Beſprechung derſelben uns hier
zu weit führen würde, beſchränke ich mich darauf, nur die wich-
tigſten Thatſachen hervorzuheben.
Jeder der höheren Thierſtämme beſitzt ſein eigenthümliches
Seelen-Organ; in jedem iſt das Central-Nervenſyſtem durch eine
beſondere Geſtalt, Lage und Zuſammenſetzung ausgezeichnet.
Unter den ſtrahlig gebauten Neſſelthieren(Cnidaria) zeigen
[189]IX. Seelen-Organe der höheren Thiere.
die Meduſen einen Nervenring am Schirmrande, meiſtens mit
vier oder acht Ganglien ausgeſtattet. Bei den fünfſtrahligen
Sternthieren(Echinoderma) iſt der Mund von einem
Nervenring umgeben, von welchem fünf Nervenſtämme ausſtrahlen.
Die zweiſeitig-ſymmetriſchen Plattenthiere(Platodeſ) und
Wurmthiere(Vermalia) beſitzen ein Scheitelhirn oder Akro-
ganglion, zuſammengeſetzt aus ein paar dorſalen, oberhalb des
Mundes gelegenen Ganglien; von dieſen „oberen Schlundknoten“
gehen zwei ſeitliche Nerven-Stämme an die Haut und die Muskeln.
Bei einem Theile der Vermalien und bei den Weichthieren
(Molluſca) treten dazu noch ein paar ventrale „untere Schlund-
knoten“, welche ſich mit den erſteren durch einen den Schlund
umfaſſenden Ring verbinden. Dieſer „Schlundring“ kehrt auch
bei den Gliederthieren(Articulata) wieder, ſetzt ſich aber
hier auf der Bauchſeite des langgeſtreckten Körpers in ein
„Bauchmark“ fort, einen ſtrickleiterförmigen Doppelſtrang, welcher
in jedem Gliede zu einem Doppel-Ganglion anſchwillt. Ganz
entgegengeſetzte Bildung des Seelen-Organs zeigen die Wirbel-
thiere(Vertebrata); hier findet ſich allgemein auf der Rückenſeite
des innerlich gegliederten Körpers ein Rückenmark entwickelt;
aus einer Anſchwellung ſeines vorderen Theiles entſteht ſpäter
das charakteriſtiſche blaſenförmige Gehirn *).
Obgleich nun ſo die Seelen-Organe der höheren Thierſtämme
in Lage, Form und Zuſammenſetzung ſehr charakteriſtiſche Ver-
ſchiedenheiten zeigen, iſt doch die vergleichende Anatomie im
Stande geweſen, für die meiſten einen gemeinſamen Urſprung
nachzuweiſen, aus dem Scheitelhirn der Platoden und
Vermalien; und allen gemeinſam iſt die Entſtehung aus der
äußerſten Zellenſchicht des Keimes, aus dem „Hautſinnes-
blatt“ (Ektoderm). Ebenſo finden wir in allen Formen der
[190]Seelen-Organ der Wirbelthiere. IX.
nervöſen Centralorgane dieſelbe weſentliche Struktur wieder, die
Zuſammenſetzung aus Ganglien-Zellen oder „Seelenzellen“
(den eigentlichen aktiven Elementar-Organen der Pſyche) und
aus Nervenfaſern, welche den Zuſammenhang und die Lei-
tung der Aktion vermitteln.
Seelen-Organ der Wirbelthiere. Die erſte Thatſache,
welche uns in der vergleichenden Pſychologie der Vertebraten
entgegentritt, und welche der empiriſche Ausgangspunkt jeder
wiſſenſchaftlichen Seelenlehre des Menſchen ſein ſollte, iſt der
charakteriſtiſche Bau ihres Central-Nervenſyſtems. Wie dieſes
centrale Seelen-Organ in jedem der höheren Thierſtämme eine
beſondere, dieſem eigenthümliche Lage, Geſtalt und Zuſammen-
ſetzung zeigt, ſo iſt es auch bei den Wirbelthieren der Fall.
Ueberall finden wir hier ein Rückenmark vor, einen ſtarken
cylindriſchen Nervenſtrang, welcher in der Mittellinie des Rückens
verläuft, oberhalb der Wirbelſäule (oder der ſie vertretenden
Chorda). Ueberall gehen von dieſem Rückenmark zahlreiche Nerven-
ſtämme in regelmäßiger, ſegmentaler Vertheilung ab, je ein Paar
an jedem Segment oder Wirbelgliede. Ueberall entſteht dieſes
„Medullar-Rohr“ im Embryo auf gleiche Weiſe: in der Mittel-
linie der Rückenhaut bildet ſich eine feine Furche oder Rinne;
die beiden parallelen Ränder dieſer Markrinne oder Medullar-
Rinne erheben ſich, krümmen ſich gegen einander und verwachſen
in der Mittellinie zu einem Rohre.
Das lange dorſale, ſo entſtandene cylindriſche Nervenrohr
oder Medullar-Rohr iſt durchaus für die Wirbelthiere
charakteriſtiſch, in der frühen Embryonal-Anlage überall das-
ſelbe und die gemeinſame Grundlage aller der verſchiedenen
Formen des Seelen-Organs, die ſich ſpäter daraus entwickeln.
Nur eine einzige Gruppe von wirbelloſen Thieren zeigt eine
ähnliche Bildung; das ſind die ſeltſamen, meerbewohnenden
Mantelthiere(Tunicata), die Kopelaten, Ascidien und
[191]IX. Markrohr der Wirbelthiere.
Thalidien. Sie zeigen auch in anderen wichtigen Eigenthümlich-
keiten des Körperbaues (beſonders in der Bildung der Chorda
und des Kiemendarms) auffallende Unterſchiede von den übrigen
Wirbelloſen und Uebereinſtimmung mit den Wirbelthieren. Wir
nehmen daher jetzt an, daß beide Thierſtämme, Vertebraten
und Tunikaten, aus einer gemeinſamen älteren Stammgruppe
von Vermalien hervorgegangen ſind, aus den Prochordo-
niern*). Ein wichtiger Unterſchied beider Stämme beſteht
darin, daß der Körper der Mantelthiere ungegliedert bleibt und
eine ſehr einfache Organiſation behält (die meiſten ſitzen ſpäter
auf dem Meeresboden feſt und werden rückgebildet). Bei den
Wirbelthieren dagegen tritt frühzeitig eine charakteriſtiſche innere
Gliederung des Körpers ein, die „Urwirbelbildung“
(Vertebratio). Dieſe vermittelt die weit höhere morphologiſche
und phyſiologiſche Ausbildung ihres Organismus, welche zuletzt
im Menſchen die höchſte Stufe der Vollkommenheit erreicht. Sie
prägt ſich auch frühzeitig ſchon in der feineren Struktur ihres
Markrohres aus, in der Entwickelung zahlreicher ſegmentaler
Nervenpaare, die als Rückenmarks-Nerven oder „Spinal-Nerven“
an die einzelnen Körper-Segmente gehen.
Phyletiſche Bildungsſtufen des Medullar-Rohrs. Die
lange Stammesgeſchichte unſerer „Wirbelthier-Seele“ beginnt
mit der Bildung des einfachſten Medullar-Rohrs bei den älteſten
Schädelloſen; ſie führt uns durch einen Zeitraum von vielen
Millionen Jahren langſam und allmählich bis zu jenem kompli-
cirten Wunderbau des menſchlichen Gehirns hinauf, welcher dieſe
höchſtentwickelte Primaten-Form zu einer vollkommenen Ausnahme-
Stellung in der Natur zu berechtigen ſcheint. Da eine klare
Vorſtellung von dieſem langſamen und ſtetigen Gange unſerer
phyletiſchen Pſychogenie die erſte Vorbedingung einer wirklich
[192]Stammesgeſchichte des Markrohrs. IX.
naturgemäßen Pſychologie iſt, erſcheint es zweckmäßig,
jenen gewaltigen Zeitraum in eine Anzahl von Stufen oder
Haupt-Abſchnitten einzutheilen; in jedem derſelben hat ſich gleich-
mäßig mit der Struktur des Nervencentrums auch ſeine Funktion,
die „Pſyche“ vervollkommnet. Ich unterſcheide acht ſolche Pe-
rioden in der Phylogenie des Medullar-Rohrs,
charakteriſirt durch acht verſchiedene Hauptgruppen der Wirbel-
thiere; nämlich I. die Schädelloſen (Acrania), II. die Rund-
mäuler (Cycloſtoma), III. die Fiſche (Piſceſ), IV. die Lurche
(Amphibia), V. die implacentalen Säugethiere (Monotrema und
Marſupialia), VI. die älteren placentalen Säugethiere, beſonders
die Halbaffen (Proſimiae), VII. die jüngeren Herrenthiere, die
echten Affen (Simiae), VIII. die Menſchenaffen und der Menſch
(Anthropomorpha).
I. Erſte Stufe: Schädelloſe(Acrania), heute nur noch
vertreten durch den Lanzelot (Amphioxuſ); das Seelenorgan
bleibt auf der Stufe des einfachen Medullar-Rohrs ſtehen und
ſtellt ein gleichmäßig gegliedertes Rückenmark dar, ohne Gehirn.
II. Zweite Stufe: Rundmäuler(Cycloſtoma), die älteſte
Gruppe der Schädelthiere (Craniota), heute noch vertreten durch
die Pricken (Petromyzonteſ) und die Inger (Myxinoideſ); das
Vorderende des Markrohrs ſchwillt zu einer Blaſe an, welche
ſich in fünf hinter einander liegende Hirnblaſen ſondert (Groß-
hirn, Zwiſchenhirn, Mittelhirn, Kleinhirn, Nachhirn); dieſe fünf
Hirnblaſen bilden die gemeinſame Grundlage, aus welcher ſich
das Gehirn ſämmtlicher Schädelthiere entwickelt, von den Pricken
bis zum Menſchen hinauf. III. Dritte Stufe: Urfiſche
(Selachii), ähnlich den heutigen Haifiſchen; bei dieſen älteſten
Fiſchen, von denen alle Kiefermäuler (Gnathoſtoma) abſtammen,
beginnt die ſtärkere Sonderung der fünf gleichartigen Hirnblaſen.
IV. Vierte Stufe: Lurche(Amphibia). Mit dieſer älteſten
Klaſſe der landbewohnenden Wirbelthiere, die zuerſt in der Stein-
[193]IX. Stammesgeſchichte der Seele.
kohlen-Periode erſchienen, beginnt die charakteriſtiſche Körper-
bildung der Vierfüßer(Tetrapoda) und eine entſprechende
Umbildung des Fiſchgehirns; ſie ſchreitet weiter fort in ihren
permiſchen Epigonen, den Reptilien, deren älteſte Vertreter,
die Stammreptilien (Tocoſauria), die gemeinſamen Stammformen
aller Amnioten ſind (der Reptilien und Vögel einerſeits, der
Säugethiere andererſeits). V-VIII. Fünfte bis achte Stufe:
Säugethiere (Mammalia).
Die Bildungsgeſchichte unſeres Nervenſyſtems und die damit
verknüpfte Stammesgeſchichte unſerer Seele habe ich in meiner
„Anthropogenie“ ausführlich behandelt und durch zahlreiche
Abbildungen erläutert *). Ich muß daher hier darauf verweiſen,
ſowie auf die Anmerkungen, in denen ich einige der wichtigſten
Thatſachen beſonders hervorgehoben habe. Dagegen laſſe ich hier
noch einige Bemerkungen über den letzten und intereſſanteſten
Theil derſelben folgen, über die Entwickelung der Seele und
ihrer Organe innerhalb der Säugethier-Klaſſe; ich erinnere
dabei beſonders daran, daß der monophyletiſche Urſprung
dieſer Klaſſe, die Abſtammung aller Säugethiere von einer ge-
meinſamen Stammform (der Trias-Periode), jetzt feſtgeſtellt iſt.
Seelen-Geſchichte der Säugethiere. Der wichtigſte Folge-
ſchluß, welcher ſich aus dem monophyletiſchen Urſprung der
Säugethiere ergiebt, iſt die nothwendige Ableitung der Men-
ſchen-Seele aus einer langen Entwickelungs-Reihe von an-
deren Mammalien-Seelen. Eine gewaltige anatomiſche und
phyſiologiſche Kluft trennt den Gehirnbau und das davon ab-
hängige Seelenleben der höchſten und der niederſten Säugethiere,
und dennoch wird dieſe tiefe Kluft durch eine lange Reihe von
vermittelnden Zwiſchen-Stufen vollſtändig ausgefüllt. Der Zeit-
raum von mindeſtens vierzehn (nach anderen Berechnungen mehr
Haeckel, Welträthſel. 13
[194]Seelen-Geſchichte der Säugethiere. IX.
als hundert!) Millionen Jahren, welcher ſeit Beginn der Trias-
Periode verfloß, genügt aber vollſtändig, ſelbſt die größten pſycho-
logiſchen Fortſchritte zu ermöglichen. Die allgemeinſten Ergebniſſe
der wichtigen, neuerdings hier tief eingedrungenen Forſchungen
ſind folgende: I. Das Gehirn der Säugethiere unterſcheidet ſich
von demjenigen der übrigen Vertebraten durch gewiſſe Eigen-
thümlichkeiten, welche allen Gliedern der Klaſſe gemeinſam ſind,
vor Allem die überwiegende Ausbildung der erſten und vierten
Blaſe, des Großhirns und Kleinhirns, während die dritte Blaſe,
das Mittelhirn, ganz zurücktritt. II. Trotzdem ſchließt ſich die
Hirnbildung der niederſten und älteſten Mammalien (Monotremen,
Marſupialien, Prochoriaten) noch eng an diejenige ihrer paläo-
zoiſchen Vorfahren an, der karboniſchen Amphibien (Stego-
cephalen) und der permiſchen Reptilien (Tocoſaurier). III. Erſt
während der Tertiär-Zeit erfolgt die typiſche volle Ausbildung
des Großhirns, welche die jüngeren Säugethiere ſo auffallend
vor den älteren auszeichnet. IV. Die beſondere (quantitative
und qualitative) Ausbildung des Großhirns, welche den Menſchen
auszeichnet, und welche ihn zu ſeinen vorzüglichen pſychiſchen
Leiſtungen befähigt, findet ſich außerdem nur bei einem Theile
der höchſtentwickelten Säugethiere der jüngeren Tertiär-Zeit, vor
Allen bei den Menſchen-Affen (Anthropoiden). V. Die Unter-
ſchiede, welche im Gehirnbau und Seelenleben des Menſchen
und der Menſchen-Affen exiſtiren, ſind geringer als die entſprechen-
den Unterſchiede zwiſchen dieſen letzteren und den niederen Pri-
maten (den älteſten Affen und Halbaffen). VI. Demnach muß
die hiſtoriſche ſtufenweiſe Entwickelung der Menſchenſeele aus
einer langen Kette von höheren und niederen Mammalien-
Seelen — unter Anwendung der allgemein gültigen phyletiſchen
Geſetze der Deſcendenz-Theorie — als eine wiſſenſchaftlich be-
wieſene Thatſache gelten.
[[195]]
Zehntes Kapitel.
Bewußtſein der Seele.
Moniſtiſche Studien über bewußtes und unbewußtes Seelen-
leben. Entwickelungsgeſchichte und Theorie des Bewußtſeins.
‘„Erſt bei den höheren Thieren und beim
Menſchen erhebt ſich das Bewußtſein bis zu einer
Bedeutung, welche eine geſonderte Betrachtung
desſelben als eines beſonderen ſeeliſchen Vermögens
möglich macht. Aber dies geſchieht nicht auf ein-
mal, ſondern ſehr langſam und allmählich, auf
Grund verbeſſerter Organiſation des Gehirns und
Nervenſyſtems und zunehmenden Reichthums der
Eindrücke und der dadurch erweckten Vorſtellungen. —
Gerade das Bewußtſein zeigt ſich mehr als jede
andere geiſtige Qualität von materiellen Bedin-
gungen oder Zuſtänden abhängig. Es kommt, geht,
verſchwindet und kehrt wieder in ſtrengem Anſchluß
an eine ganze Anzahl materieller Einwirkungen auf
das Organ des Geiſtes.“
Ludwig Büchner (1898).’ ()
13*
[[196]]
Das Bewußtſein als Natur-Erſcheinung. Begriff desſelben. Schwierig-
keiten der Beurtheilung. Sein Verhältniß zum Seelenleben. Unſer menſch-
liches Bewußtſein. Verſchiedene Theorien: I. Anthropiſtiſche Theorie
(Descartes). II. Neurologiſche Theorie (Darwin). III. Animaliſche Theorie
(Schopenhauer). IV. Biologiſche Theorie (Fechner). V. Cellulare Theorie
(Fritz Schultze). VI. Atomiſtiſche Theorie. Moniſtiſche und dualiſtiſche
Theorie. Transſcendenz des Bewußtſeins. Ignorabimus (Du Bois-Rey-
mond). Phyſiologie des Bewußtſeins. Entdeckung der Denkorgane (Flechſig).
Pathologie. Doppeltes und intermittirendes Bewußtſein. Ontogenie des
Bewußtſeins: Veränderung in den verſchiedenen Lebensaltern. Phylogenie
des Bewußtſeins. Begriffs-Bildung.
Paul Flechſig, Gehirn und Seele. Leipzig 1894. — Die Lokaliſation der
geiſtigen Vorgänge, insbeſondere der Sinnesempfindungen des Menſchen.
Leipzig 1896.
A. Mayer (Mainz), Die Lehre von der Erkenntniß. Vom phyſiologiſchen
Standpunkte allgemein verſtändlich dargeſtellt. Leipzig 1875.
M. L. Stern, Philoſophiſcher und naturwiſſenſchaftlicher Monismus. Ein
Beitrag zur Seelenfrage. Leipzig 1885.
Eduard Hartmann, Philoſophie des Unbewußten. Berlin 1869. Zehnte
Auflage 1890.
Friedrich Lange, Geſchichte des Materialismus. 2 Bände. Iſerlohn 1875.
Vierte Auflage 1891.
B. Carneri, Gefühl, Bewußtſein, Wille. Eine pſychologiſche Studie.
Wien 1876.
J. C. Fiſcher (Wien), Das Bewußtſein. Materialiſtiſche Anſchauungen,
Leipzig 1874.
Ludwig Büchner, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Welt-
ordnung. 1855. Zwanzigſte Auflage. Leipzig 1898.
[[197]]
Unter allen Aeußerungen des Seelenlebens giebt es keine,
die ſo wunderbar erſcheint und ſo verſchieden beurtheilt wird
wie das Bewußtſein. Nicht allein über das eigentliche
Weſen dieſer Seelenthätigkeit und über ihr Verhältniß zum
Körper, ſondern auch über ihre Verbreitung in der organiſchen
Welt, über ihre Entſtehung und Entwickelung ſtehen ſich noch
heute, wie ſeit Jahrtauſenden, die widerſprechendſten Anſichten
gegenüber. Mehr als jede andere pſychiſche Funktion hat das
Bewußtſein zu der irrthümlichen Vorſtellung eines „immateriellen
Seelenweſens“ und im Anſchluß daran zu dem Aberglauben der
„perſönlichen Unſterblichkeit“ Veranlaſſung gegeben; viele der
ſchwerſten Irrthümer, die unſer modernes Kultur-Leben noch
heute beherrſchen, ſind darauf zurückzuführen. Ich habe daher
ſchon früher das Bewußtſein als das „pſychologiſche
Central-Myſterium“ bezeichnet; es iſt die feſte Citadelle
aller myſtiſchen und dualiſtiſchen Irrthümer, an deren gewaltigen
Wällen alle Angriffe der beſtgerüſteten Vernunft zu ſcheitern
drohen. Schon dieſe Thatſache allein rechtfertigt es, daß wir
hier dem Bewußtſein eine beſondere kritiſche Betrachtung von
unſerem moniſtiſchen Standpunkte aus widmen. Wir werden
ſehen, daß das Bewußtſein nicht mehr und nicht minder wie
jede andere Seelenthätigkeit eine Natur-Erſcheinung iſt,
und daß es gleich allen anderen Natur-Erſcheinungen dem
Subſtanz-Geſetz unterworfen iſt.
[198]Bewußtſein und Seelenleben. X.
Begriff des Bewußtſeins. Schon über den elementaren
Begriff dieſer Seelenthätigkeit, über ſeinen Inhalt und Umfang
gehen die Anſichten der angeſehenſten Philoſophen und Natur-
forſcher weit aus einander. Vielleicht am beſten bezeichnet man
den Inhalt des Bewußtſeins als innere Anſchauung und
vergleicht dieſe einer Spiegelung. Als zwei Hauptbezirke
desſelben unterſcheiden wir das objektive und ſubjektive Be-
wußtſein, das Weltbewußtſein und Selbſtbewußtſein. Bei
Weitem der größte Theil aller bewußten Seelenthätigkeit betrifft,
wie ſchon Schopenhauer richtig erkannte, das Bewußtſein
der Außenwelt, der „anderen Dinge“; dieſes Weltbewußt-
ſein umfaßt alle möglichen Erſcheinungen der Außenwelt, welche
überhaupt unſerer Erkenntniß zugänglich ſind. Viel beſchränkter
iſt unſer Selbſtbewußtſein, die innere Spiegelung unſerer
eigenen geſammten Seelenthätigkeit, aller Vorſtellungen, Em-
pfindungen und Strebungen oder Willensthätigkeiten.
Bewußtſein und Seelenleben. Viele und angeſehene
Denker, namentlich unter den Phyſiologen (z. B. Wundt und
Ziehen), halten die Begriffe des Bewußtſeins und der pſychiſchen
Funktionen für identiſch: „alle Seelenthätigkeit iſt
bewußte“; das Gebiet des pſychiſchen Lebens reicht nur ſo
weit als dasjenige des Bewußtſeins. Nach unſerer Anſicht er-
weitert dieſe Definition die Bedeutung des letzteren in un-
gebührlicher Weiſe und giebt Veranlaſſung zu zahlreichen Irr-
thümern und Mißverſtändniſſen. Wir theilen vielmehr die An-
ſicht anderer Philoſophen (z. B. Romanes, Fritz Schultze,
Paulſen), daß auch die unbewußten Vorſtellungen, Empfindungen
und Strebungen zum Seelenleben gehören; in der That iſt
ſogar das Gebiet dieſer unbewußten pſychiſchen Aktionen (der
Reflexthätigkeit u. ſ. w.) viel ausgedehnter als dasjenige der
bewußten. Beide Gebiete ſtehen übrigens im engſten Zuſammen-
hang und ſind durch keine ſcharfe Grenze getrennt; jeder Zeit
[199]X. Bewußtſein des Menſchen.
kann uns eine unbewußte Vorſtellung plötzlich bewußt werden;
wird unſere Aufmerkſamkeit darauf durch ein anderes Objekt
gefeſſelt, ſo kann ſie ebenſo raſch wieder unſerem Bewußtſein
völlig entſchwinden.
Bewußtſein des Menſchen. Die einzige Quelle unſerer
Erkenntniß des Bewußtſeins iſt dieſes ſelbſt, und hierin liegt in
erſter Linie die außerordentliche Schwierigkeit ſeiner wiſſenſchaft-
lichen Unterſuchung und Deutung. Subjekt und Objekt
fallen hier in Eins zuſammen; das erkennende Subjekt ſpiegelt
ſich in ſeinem eigenen inneren Weſen, welches Objekt der Er-
kenntniß ſein ſoll. Auf das Bewußtſein anderer Weſen können
wir alſo niemals mit voller objektiver Sicherheit ſchließen, ſondern
immer nur durch Vergleichung ſeiner Seelen-Zuſtände mit unſeren
eigenen. Soweit dieſe Vergleichung ſich nur auf normale
Menſchen erſtreckt, können wir allerdings auf deren Bewußtſein
gewiſſe Schlüſſe ziehen, deren Richtigkeit Niemand bezweifelt.
Aber ſchon bei abnormen Perſönlichkeiten (bei genialen und
excentriſchen, ſtumpfſinnigen und geiſteskranken Menſchen) ſind
dieſe Analogie-Schlüſſe entweder unſicher oder falſch. In noch
höherem Grade gilt das, wenn wir das Bewußtſein des Menſchen
mit demjenigen der Thiere (zunächſt der höheren, weiterhin
der niederen Thiere) in Vergleich ſtellen. Da ergeben ſich als-
bald ſo große thatſächliche Schwierigkeiten, daß die Anſichten
der hervorragendſten Phyſiologen und Philoſophen himmelweit
aus einander gehen. Wir wollen hier nur die wichtigſten
Anſchauungen darüber kurz einander gegenüberſtellen.
I.Anthropiſtiſche Theorie des Bewußtſeins:es iſt
dem Menſchen eigenthümlich. Die weitverbreitete An-
ſchauung, daß Bewußtſein und Denken ausſchließliches Eigen-
thum des Menſchen ſeien, und daß auch ihm allein eine „un-
ſterbliche Seele“ zukomme, iſt auf Descartes zurückzu-
führen (1643). Dieſer geiſtreiche franzöſiſche Philoſoph und
[200]Anthropiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
Mathematiker (erzogen in einem Jeſuiten-Kollegium!) be-
gründete eine vollkommene Scheidewand zwiſchen der Seelen-
thätigkeit des Menſchen und der Thiere. Die Seele des Menſchen
als denkendes, immaterielles Weſen, iſt nach ihm vom Körper,
als ausgedehntem, materiellen Weſen vollſtändig getrennt. Trotz-
dem ſoll ſie an einem Punkte des Gehirns (an der Zirbeldrüſe!)
mit dem Körper verbunden ſein, um hier Einwirkungen der
Außenwelt aufzunehmen und ihrerſeits auf den Körper aus-
zuüben. Die Thiere dagegen, als nicht denkende Weſen, ſollen
keine Seele beſitzen und reine Automaten ſein, kunſtvoll ge-
baute Maſchinen, deren Empfinden, Vorſtellen und Wollen rein
mechaniſch zu Stande kommt und nach phyſikaliſchen Geſetzen
verläuft. Für die Pſychologie des Menſchen vertrat demnach
Descartes den reinen Dualismus, für diejenige der
Thiere den reinen Monismus. Dieſer offenkundige Wider-
ſpruch bei einem ſo klaren und ſcharfſinnigen Denker muß höchſt
auffallend erſcheinen; zur Erklärung desſelben darf man wohl
mit Recht annehmen, daß er ſeine wahre Ueberzeugung ver-
ſchwieg und deren Erkenntniß den ſelbſtſtändigen Denkern über-
ließ. Als Zögling der Jeſuiten war Descartes ſchon früh-
zeitig dazu erzogen, wider beſſere Einſicht die Wahrheit zu ver-
leugnen; vielleicht fürchtete er auch die Macht der Kirche und
ihre Scheiterhaufen. Ohnehin hatte ihm ſeine ſkeptiſche Forderung,
daß jedes reine Erkenntnißſtreben vom Zweifel am überlieferten
Dogma ausgehen müſſe, fanatiſche Anklagen wegen Skepticismus
und Atheismus zugezogen. Die mächtige Wirkung, welche
Descartes auf die nachfolgende Philoſophie ausübte, war
ſehr merkwürdig und ſeiner „doppelten Buchführung“ ent-
ſprechend. Die Materialiſten des 17. und 18. Jahrhunderts
beriefen ſich für ihre moniſtiſche Pſychologie auf die carteſianiſche
Theorie von der Thierſeele und ihrer mechaniſchen Maſchinen-
thätigkeit. Die Spiritualiſten umgekehrt behaupteten, daß
[201]X. Neurologiſche Theorie des Bewußtſeins.
ihr Dogma von der Unſterblichkeit der Seele und ihrer Unab-
hängigkeit vom Körper durch die carteſianiſche Theorie der
Menſchenſeele unwiderleglich begründet ſei. Dieſe Anſicht iſt
auch heute noch im Lager der Theologen und der dualiſtiſchen
Metaphyſiker die herrſchende. Die naturwiſſenſchaftliche An-
ſchauung des 19. Jahrhunderts hat ſie mit Hilfe der empiriſchen
Fortſchritte im Gebiete der phyſiologiſchen und vergleichenden
Pſychologie völlig überwunden.
II.Neurologiſche Theorie des Bewußtſeins:es kommt
nur dem Menſchen und jenen höheren Thieren zu,
welche ein centraliſirtes Nerven-Syſtem und Sinnesorgane be-
ſitzen. Die Ueberzeugung, daß ein großer Theil der Thiere —
zum mindeſten die höheren Säugethiere — ebenſo eine denkende
Seele und alſo auch Bewußtſein beſitzt, wie der Menſch, be-
herrſcht die Kreiſe der modernen Zoologie, der exakten Phyſiologie
und der moniſtiſchen Pſychologie. Die großartigen Fortſchritte
der Neuzeit in mehreren Gebieten der Biologie haben uns über-
einſtimmend zu der Anerkennung dieſer bedeutungsvollen Er-
kenntniß geführt. Wir beſchränken uns bei ihrer Würdigung
zunächſt auf die höheren Wirbelthiere und vor Allem die
Säugethiere. Daß die intelligenteſten Vertreter dieſer höchſt
entwickelten Vertebraten — Allen voran die Affen und Hunde —
in ihrer geſammten Seelenthätigkeit ſich dem Menſchen höchſt
ähnlich verhalten, iſt ſeit Jahrtauſenden bekannt und bewundert.
Ihre Vorſtellungs- und Sinnes-Thätigkeit, ihr Empfinden und
Begehren iſt dem menſchlichen ſo ähnlich, daß wir keine Beweiſe
dafür anzuführen brauchen. Aber auch die höhere Aſſocions-
Thätigkeit ihres Gehirns, die Bildung von Urtheilen und deren
Verbindung zu Schlüſſen, das Denken und das Bewußtſein im
engeren Sinne, ſind bei ihnen ähnlich entwickelt wie beim
Menſchen — nur dem Grade, nicht der Art nach davon ver-
ſchieden. Ueberdies lehrt uns die vergleichende Anatomie und
[202]Neurologiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
Hiſtologie, daß die verwickelte Zuſammenſetzung des Gehirns
(ſowohl die feinere als die gröbere Struktur) bei dieſen höheren
Säugethieren im Weſentlichen dieſelbe wie beim Menſchen
iſt. Dasſelbe zeigt uns die vergleichende Ontogenie bezüglich
der Entſtehung dieſer Seelen-Organe. Die vergleichende Phyſiologie
lehrt, daß die verſchiedenen Zuſtände des Bewußtſeins ſich bei
dieſen höchſtentwickelten Placentalthieren ganz ähnlich wie beim
Menſchen verhalten, und das Experiment beweiſt, daß ſie auch
auf äußere Eingriffe ebenſo reagiren. Man kann höhere Thiere
durch Alkohol, Chloroform, Aether u. ſ. w. ebenſo betäuben,
durch geeignete Behandlung ebenſo hypnotiſiren u. ſ. w. wie
den Menſchen. Dagegen iſt es nicht möglich, die Grenze ſcharf
zu beſtimmen, wo auf den niederen Stufen des Thierlebens das
Bewußtſein zuerſt als ſolches erkennbar wird. Die einen
Zoologen ſetzen dieſelbe ſehr hoch oben an, die anderen ſehr
tief unten. Darwin, der die verſchiedenen Abſtufungen des
Bewußtſeins, der Intelligenz und des Gemüths bei den höheren
Thieren ſehr genau unterſcheidet und durch zunehmende Ent-
wickelung erklärt, weiſt zugleich darauf hin, wie ſchwer oder
eigentlich wie unmöglich es iſt, die erſten Anfänge dieſer höchſten
Seelenthätigkeiten bei den niederen Thieren zu beſtimmen. Nach
meiner perſönlichen Auffaſſung dünkt mir unter den verſchiedenen
widerſprechenden Theorien am wahrſcheinlichſten diejenige, daß
das Zuſtandekommen des Bewußtſeins an die Centraliſation
des Nervenſyſtems gebunden iſt, welche den niederen Thier-
klaſſen noch fehlt. Die Anweſenheit eines nervöſen Central-
organs, hoch entwickelte Sinnesorgane und eine weit ausgebildete
Aſſocion der Vorſtellungs-Gruppen ſcheinen mir erforderlich, um
das einheitliche Bewußtſein zu ermöglichen.
III.Animaliſche Theorie des Bewußtſeins:es findet
ſich bei allen Thieren und nur bei dieſen. Hiernach
würde ein ſcharfer Unterſchied im Seelenleben der Thiere und
[203]X. Animaliſche Theorie des Bewußtſeins.
Pflanzen beſtehen; ein ſolcher wurde ſchon von vielen alten
Autoren angenommen und von Linné ſcharf formulirt in ſeinem
grundlegenden „Syſtema naturae“ (1735); die beiden großen
Reiche der organiſchen Natur unterſcheiden ſich nach ihm dadurch,
daß die Thiere Empfindung und Bewußtſein haben, die Pflanzen
nicht. Später hat beſonders Schopenhauer dieſen Unterſchied
ſcharf betont: „Das Bewußtſein iſt uns ſchlechthin nur als
Eigenſchaft animaler Weſen bekannt. Auch nachdem es ſich,
durch die ganze Thierreihe, bis zum Menſchen und ſeiner Ver-
nunft geſteigert hat, bleibt die Bewußtloſigkeit der Pflanze, von
der es ausging, noch immer die Grundlage. Die unterſten
Thiere haben bloß eine Dämmerung desſelben.“ Die Unhalt-
barkeit dieſer Anſicht wurde ſchon um die Mitte unſeres Jahr-
hunderts klar, als man das Seelenleben der niederen Thierſtämme,
beſonders der Cölenteraten (Schwämme und Neſſelthiere),
näher kennen lernte: echte Thiere, die ebenſo wenig Spuren von
klarem Bewußtſein beſitzen wie die meiſten Pflanzen. Noch mehr
wurde der Unterſchied zwiſchen beiden Reichen verwiſcht, als man
die einzelligen Lebensformen derſelben genauer unterſuchte. Die
plasmophagen Urthiere(Protozoa) und die plasmodomen Ur-
pflanzen(Protophyta) zeigen keine pſychologiſchen Unter-
ſchiede, auch nicht in Beziehung auf ihr Bewußtſein. 5.
IV.Biologiſche Theorie des Bewußtſeins:es iſt allen
Organismen gemeinſam, es findet ſich bei allen Thieren
und Pflanzen, während es den anorganiſchen Naturkörpern
(Kryſtallen u. ſ. w.) fehlt. Dieſe Annahme wird gewöhnlich mit
der Anſicht verknüpft, daß alle Organismen (im Gegenſatze zu
den Anorganen) beſeelt ſind; die drei Begriffe: Leben, Seele
und Bewußtſein, fließen dann gewöhnlich zuſammen. Eine
andere Modifikation dieſer Anſchauung iſt, daß dieſe drei Grund-
erſcheinungen des organiſchen Lebens zwar untrennbar verknüpft
ſind, daß aber das Bewußtſein nur ein Theil der pſychiſchen
[204]Biologiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
Thätigkeit iſt, wie dieſe ſelbſt ein Theil der Lebensthätigkeit.
Daß die Pflanzen in demſelben Sinne wie die Thiere eine
„Seele“ beſitzen, hat namentlich Fechner ſich zu zeigen bemüht,
und Manche ſchreiben der Pflanzen-Seele ein Bewußtſein von
ähnlicher Art zu wie der Thier-Seele. In der That ſind ja
bei ſehr empfindlichen „Sinnpflanzen“ (Mimoſa, Droſera,
Dionaea) die auffallenden Reizbewegungen der Blätter, bei
manchen anderen (Klee und Sauerklee, beſonders aber Hedy-
ſarum) die autonomen Bewegungen, bei „ſchlafenden Pflanzen“
(auch vorzugsweiſe Papilionaceen) die Schlafbewegungen u. ſ. w.
auffallend ähnlich denjenigen niederer Thiere; wer den letzteren
Bewußtſein zuſchreibt, darf es auch den erſteren nicht abſprechen.
V.Cellulare Theorie des Bewußtſeins:es iſt eine
Lebens-Eigenſchaft jeder Zelle. Die Anwendung der
Zellen-Theorie auf alle Zweige der Biologie verlangt auch ihre
Verknüpfung mit der Pſychologie. Mit demſelben Rechte, mit
dem man in der Anatomie und Phyſiologie die lebendige Zelle
als den „Elementar-Organismus“ behandelt und das ganze Ver-
ſtändniß des höheren, vielzelligen Thier- und Pflanzen-Körpers
daraus ableitet, mit demſelben Rechte kann man auch die „Zell-
ſeele“ als das pſychologiſche Element betrachten und die zu-
ſammengeſetzte Seelenthätigkeit der höheren Organismen als das
Reſultat aus dem vereinigten Seelenleben der Zellen, die ſie zu-
ſammenſetzen. Ich habe die Grundzüge dieſer Cellular-
Pſychologie ſchon 1866 in meiner „Generellen Morphologie“
entworfen und ſie ſpäter weiter ausgeführt in meinem Aufſatz
über „Zellſeelen und Seelenzellen“ *). Zum tieferen Eindringen
in dieſe „Elementar-Pſychologie“ wurde ich durch meine lang-
jährige Beſchäftigung mit den einzelligen Lebensformen geführt.
Viele von dieſen kleinen (meiſt mikroſkopiſchen) Protiſten zeigen
[205]X. Cellulare Theorie des Bewußtſeins.
ähnliche Aeußerungen von Empfindung und Willen, ähnliche
Inſtinkte und Bewegungen wie höhere Thiere; beſonders gilt
das von den ſehr empfindlichen und lebhaft beweglichen In-
fuſorien. Sowohl in dem Verhalten dieſer reizbaren Zellinge
gegenüber der Außenwelt, wie in vielen anderen Lebensäußerungen
derſelben (z. B. in dem wunderbaren Gehäuſe-Bau der Rhizo-
poden, der Thalamophoren und Infuſorien) könnte man deut-
liche Spuren bewußter Seelenthätigkeit zu erkennen glauben.
Wenn man nun die biologiſche Theorie des Bewußtſeins acceptirt
(Nr. IV), und wenn man jede pſychiſche Funktion mit einem
Bewußtſeins-Antheil ausſtattet, dann wird man auch jeder
ſelbſtändigen Protiſten-Zelle Bewußtſein zuſchreiben müſſen. Die
materielle Grundlage desſelben wäre dann entweder das ganze
Plasma der Zelle oder deren Kern oder ein Theil desſelben.
In der Pſychaden-Theorie von Fritz Schultze verhält
ſich das Elementar-Bewußtſein der Pſychade zur einzelnen Zelle
ähnlich wie im höheren Thiere und im Menſchen das perſön-
liche Bewußtſein zum vielzelligen Organismus der Perſon. Defi-
nitiv widerlegen läßt ſich dieſe Annahme, die ich früher vertrat,
nicht. Ich muß aber jetzt Max Verworn zuſtimmen, welcher
in ſeinen ausgezeichneten „Pſychophyſiologiſchen Protiſten-Studien“
annimmt, daß wohl ſämmtlichen Protiſten ein entwickeltes
„Ichbewußtſein“ fehlt, und daß ihre Empfindungen und Be-
wegungen den Charakter des „Unbewußten“ tragen.
VI. Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins;es iſt eine
Elementar-Eigenſchaft aller Atome. Unter allen ver-
ſchiedenen Anſchauungen über die Verbreitung des Bewußtſeins
geht dieſe atomiſtiſche Hypotheſe am weiteſten. Sie iſt wohl
hauptſächlich der Schwierigkeit entſprungen, welche manche Philo-
ſophen und Biologen bei der Frage nach der erſten Entſtehung
des Bewußtſeins empfinden. Dieſe Erſcheinung trägt ja einen
ſo eigenartigen Charakter, daß ihre Ableitung aus anderen
[206]Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubte
daher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden,
daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an-
nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl-
verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar-
Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom
Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom
Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den
alten vier Elementen des Empedokles, deren Miſchung durch
„Lieben und Haſſen“ das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben
manche Philoſophen Bewußtſein zu.
Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des Atom-Bewußtſeins
niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier beſonders
hervorzuheben, weil E. du Bois-Reymond mir dieſe Anſicht
fälſchlich untergeſchoben hat. In der ſcharfen Polemik, welche
derſelbe (1880) in ſeiner Rede über „die ſieben Welträthſel“
gegen mich führt, bekämpft er meine „verderbliche falſche Natur-
Philoſophie“ auf das Heftigſte und behauptet, ich hätte in
meinem Aufſatz über die Perigeneſis der Plaſtidule die „Annahme,
daß die Atome einzeln Bewußtſein haben, als metaphyſiſches
Axiom hingeſtellt“. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß
ich mir die elementaren pſychiſchen Thätigkeiten der Empfindung
und des Willens, die man den Atomen zuſchreiben kann, un-
bewußt vorſtelle, ebenſo unbewußt wie das elementare Ge-
dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten
Phyſiologen Ewald Hering (1870) als „eine allgemeine
Funktion der organiſirten Materie“ (beſſer der „lebendigen Sub-
ſtanz“) betrachte. Du Bois-Reymond verwechſelt demnach
hier in auffälliger Weiſe „Seele“ und „Bewußtſein“; ich will dahin
geſtellt ſein laſſen, ob er dieſe Konfuſion nur aus Verſehen
begeht. Da er ſelbſt das Bewußtſein für eine transſcendente Er-
[207]X. Moniſtiſche Theorie des Bewußtſeins.
ſcheinung erklärt (wie wir gleich ſehen werden), einen Theil der
anderen Seelen-Funktionen (z. B. Sinnes-Thätigkeit) aber nicht,
muß ich annehmen, daß er beide Begriffe für verſchieden hält.
Aus anderen Stellen ſeiner eleganten Reden geht freilich das
Gegentheil hervor, wie denn überhaupt dieſer berühmte Rhetor
ſich gerade in Bezug auf wichtige Principien-Fragen oft auf-
fallend widerſpricht. Ich betone hier nochmals, daß für mich
das Bewußtſein nur einen Theil der Seelen-Erſcheinungen
bildet, die wir am Menſchen und den höheren Thieren beobachten,
während der weitaus größere Theil derſelben unbewußt abläuft.
Moniſtiſche und dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins.
Soweit auch die verſchiedenen Anſichten über die Natur und die
Entſtehung des Bewußtſeins aus einander gehen, ſo laſſen ſich
doch alle ſchließlich — bei klarer und konſequenter logiſcher Be-
handlung — auf zwei entgegengeſetzte Grund-Anſchauungen
zurückführen, auf die transſcendente (dualiſtiſche) und die
phyſiologiſche (moniſtiſche). Ich ſelbſt habe von jeher dieſe
letztere Auffaſſung, und zwar im Lichte der Entwickelungs-
lehre, vertreten, und ſie wird gegenwärtig von einer großen
Anzahl hervorragender Naturforſcher getheilt, wenn auch bei
Weitem nicht von allen. Die erſte Anſicht dagegen iſt die ältere
und die weitaus verbreitetere; ſie iſt in neuerer Zeit vor Allem
durch Emil Dubois-Reymond wieder zu hohem Anſehen
gelangt und durch ſeine berühmte „Ignorabimus-Rede“
zu einem der meiſtbeſprochenen Gegenſtände in den modernen
„Welträthſel-Diskuſſionen“ geworden. Bei der außerordentlichen
Bedeutung dieſer Grundfrage können wir nicht umhin, hier noch-
mals auf den Kern derſelben kurz einzugehen.
Transſcendenz des Bewußtſeins. In dem berühmtem
Vortrage „über die Grenzen des Naturerkennens“, welchen
E. du Bois-Reymond am 14. Auguſt 1872 auf der Natur-
forſcher-Verſammlung in Leipzig hielt, ſtellte derſelbe zwei ver-
[208]Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
ſchiedene „unbedingte Grenzen“ unſeres Naturerkennens
auf, welche der menſchliche Geiſt auch bei vorgeſchrittenſter
Natur-Erkenntniß niemals überſchreiten werde — niemals,
wie das oft citirte Schlußwort des Vortrags emphatiſch betont:
„Ignorabimus!“ Das eine abſolut unlösbare „Welträthſel“ iſt
„der Zuſammenhang von Materie und Kraft“ und das eigent-
liche Weſen dieſer fundamentalen Natur-Erſcheinungen; wir
werden dieſes „Subſtanz-Problem“ im zwölften Kapitel
eingehend behandeln. Das zweite unüberſteigliche Hinderniß der
Philoſophie ſoll das Problem des Bewußtſeins bilden, die
Frage: wie unſere Geiſtesthätigkeit aus materiellen Bedingungen,
bezüglich Bewegungen zu erklären iſt, wie die (der Materie und
Kraft zu Grunde liegende) „Subſtanz unter beſtimmten Be-
dingungen empfindet, begehrt und denkt“.
Der Kürze halber, und zugleich um das Weſen des Leipziger
Vortrages mit einem Schlagworte zu charakteriſiren, habe ich
dieſelbe als die „Ignorabimus-Rede“ bezeichnet; es iſt
dies um ſo mehr geſtattet, als E. Du Bois-Reymond ſelbſt
acht Jahre ſpäter (in der Rede über die ſieben Welträthſel, 1880)
den außerordentlichen Erfolg derſelben mit berechtigtem Stolze
rühmen und dabei ſagen konnte: „Die Kritik ſchlug alle Töne
vom freudig zuſtimmenden Lobe bis zum wegwerfendſten Tadel
an, und das Wort ‚Ignorabimus‘, in welchem meine
Unterſuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von natur-
philoſophiſchem Schiboleth.“ Thatſächlich erſchollen die lauten
„Töne des freudig zuſtimmenden Lobes“ aus den Hörſälen der
dualiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophie und beſonders
aus dem Heerlager der Eccleſia militanſ (der „ſchwarzen
Internationale“); aber auch alle Spiritiſten und alle gläubigen
Gemüther, welche durch das ‚Ignorabimus‘ die Unſterblich-
keit ihrer theuren „Seele“ gerettet wähnten, waren davon ent-
zückt. Den „wegwerfendſten Tadel“ erfuhr die glänzende Igno-
[209]X. Dualiſtiſche Theorie des Bewußtſeins.
rabimus-Rede dagegen anfänglich nur von Seiten weniger Natur-
forſcher und Philoſophen, von jenen Wenigen, die gleichzeitig
über hinreichende naturphiloſophiſche Kenntniſſe und über den
erforderlichen moraliſchen Muth verfügten, um den dogmatiſchen
Machtſprüchen des allgewaltigen Sekretärs und Diktators der
Berliner Akademie der Wiſſenſchaften entgegenzutreten.
Der merkwürdige Erfolg der Ignorabimus-Rede (den der
Redner ſelbſt ſpäter gelegentlich als unberechtigt und übertrieben
bezeichnet hat!) erklärt ſich aus zwei Gründen, einem äußeren
und einem inneren. Aeußerlich betrachtet war dieſelbe unzweifel-
haft „ein bedeutungsvolles rhetoriſches Kunſtwerk, eine ſchöne
Predigt von hoher Vollendung der Form und überraſchendem
Wechſel naturphiloſophiſcher Bilder. Bekanntlich beurtheilt aber
die Mehrheit — und beſonders das „ſchöne Geſchlecht“! —
eine ſchöne Predigt nicht nach dem wahren Ideen-Gehalte,
ſondern nach dem äſthetiſchen Unterhaltungswerthe“ (Monismus,
S. 44). Innerlich analyſirt dagegen enthält die Ignorabimus-
Rede das entſchiedene Programm des metaphyſiſchen
Dualismus; die Welt iſt „doppelt unbegreiflich“: einmal
die materielle Welt, in welcher „Materie und Kraft“ ihr Weſen
treiben, und gegenüber, ganz getrennt, die immaterielle Welt
des „Geiſtes“, in welcher „Denken und Bewußtſein nicht aus
materiellen Bedingungen erklärbar“ ſind, wie bei der erſteren.
Es war ganz naturgemäß, daß der herrſchende Dualismus und
Myſticismus dieſe Anerkennung der zwei verſchiedenen Welten
mit Begierde ergriff, um damit die Doppelnatur des Menſchen
und die Unſterblichkeit der Seele zu beweiſen. Der Jubel der
Spiritualiſten darüber war um ſo heller und berechtigter, als
E. Du Bois-Reymond bis dahin als ein bedeutender prin-
cipieller Vertreter des wiſſenſchaftlichen Materialismus gegolten
hatte; und das war und blieb er auch (trotz ſeiner „ſchönen“
Haeckel, Welträthſel. 14
[210]Bewußtſein und Subſtanz-Geſetz. X.
„Reden“!), ebenſo wie alle anderen ſachkundigen, klaren und
konſequent denkenden Naturforſcher der Gegenwart.
Allerdings hat der Verfaſſer der Ignorabimus-Rede am
Schluſſe derſelben kurz auf die Frage hingewieſen, ob nicht jene
beiden gegenüberſtehenden „Welträthſel“, das allgemeine Subſtanz-
Problem und das beſondere Bewußtſeins-Problem zuſammen-
fallen. Er ſagt: „Freilich iſt dieſe Vorſtellung die einfachſte
und der vorzuziehen, wonach die Welt doppelt unbegreiflich
erſcheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch
in dieſem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere
Reden darüber bleibt müßig.“ — Dieſer letzteren Anſicht bin
ich von Anfang an entſchieden entgegengetreten und habe mich
zu zeigen bemüht, daß jene beiden großen Fragen nicht zwei
verſchiedene Welträthſel ſind. „Das neurologiſche Problem
des Bewußtſeins iſt nur ein beſonderer Fall von
dem allumfaſſenden kosmologiſchen Problem, der
Subſtanz-Frage“. (Monismus, 1892, S. 23.)
Es iſt hier nicht der Ort, um nochmals auf die betreffende
Polemik und die ſehr umfangreiche, darüber entſtandene Literatur
einzugehen. Ich habe ſchon vor 25 Jahren, im Vorwort zur
erſten Auflage meiner Anthropogenie, gegen die Ignorabimus-
Rede, ihre dualiſtiſchen Principien und ihre metaphyſiſchen Trug-
ſchlüſſe entſchiedenen Proteſt erhoben;, und ich habe denſelben
ausführlich begründet in meiner Schrift über „Freie Wiſſenſchaft
und freie Lehre“ (Stuttgart 1878, S. 78, 82 ꝛc.). Auch im
„Monismus“ habe ich denſelben wieder berührt (S. 23, 44).
Du Bois-Reymond, welcher dadurch an ſeiner empfindlichſten
Stelle getroffen war, antwortete ſehr gereizt in verſchiedenen
Reden *); auch dieſe ſind, wie die meiſten ſeiner vielgeleſenen
Reden, blendend durch den eleganten franzöſiſchen Stil und
[211]X. Phyſiologie des Bewußtſeins.
feſſelnd durch den Bilderreichthum und die überraſchenden Rede-
wendungen. Aber eine weſentliche Förderung der Welterkenntniß
liefert ihre oberflächliche Betrachtungsweiſe nicht. Am wenigſten
gilt das vom Darwinismus, als deſſen Anhänger ſich der
Berliner Phyſiologe ſpäter bedingungsweiſe bekennt, obgleich er
nie das Geringſte zu ſeiner Förderung gethan hat; ſeine
abſprechenden Bemerkungen über das biogenetiſche Grundgeſetz,
ſeine Verwerfung der Stammesgeſchichte u. ſ. w. bekunden hin-
länglich, daß derſelbe weder mit den empiriſchen Thatſachen der
vergleichenden Morphologie und Entwickelungsgeſchichte hin-
reichend vertraut, noch zu der philoſophiſchen Würdigung ihrer
theoretiſchen Bedeutung befähigt war.
Phyſiologie des Bewußtſeins. Die eigenartige Natur-
Erſcheinung des Bewußtſeins iſt nicht, wie Du Bois-Reymond
und die dualiſtiſche Philoſophie behauptet, ein völlig und „durch-
aus transſcendentes Problem“; ſondern ſie iſt, wie ich ſchon ſeit
33 Jahren behauptet habe, ein phyſiologiſches Problem,
und als ſolches auf die Erſcheinungen im Gebiete der Phyſik
und Chemie zurückzuführen. Ich habe dasſelbe ſpäter noch be-
ſtimmter als ein neurologiſches Problem bezeichnet, weil
ich der Anſicht bin, daß wahres Bewußtſein (Denken und
Vernunft) nur bei jenen höheren Thieren zu finden iſt, welche
ein centraliſirtes Nerven-Syſtem und Sinnesorgane
von einer gewiſſen Höhe der Ausbildung beſitzen. Mit voller
Sicherheit läßt ſich das für die höheren Wirbelthiere behaupten,
und vor Allem für die placentalen Säugethiere, aus deren Stamm
das Menſchen-Geſchlecht ſelbſt entſproſſen iſt. Das Bewußtſein
der höchſtentwickelten Affen, Hunde, Elephanten u. ſ. w. iſt von
demjenigen des Menſchen nur dem Grade, nicht der Art nach
verſchieden, und die graduellen Unterſchiede im Bewußtſein dieſer
„vernünftigſten“ Zottenthiere und der niederſten Menſchen-Raſſen
(Weddas, Auſtralneger u. ſ. w.) ſind geringer als die ent-
14*
[212]Phyſiologie des Bewußtſeins. X.
ſprechenden Unterſchiede zwiſchen letzteren und den höchſt ent-
wickelten Vernunft-Menſchen (Spinoza, Goethe, Lamarck,
Darwin u. ſ. w.). Das Bewußtſein iſt mithin nur ein
Theil der höheren Seelenthätigkeit, und als ſolche
abhängig von der normalen Struktur des betreffenden Seelen-
Organs, des Gehirns.
Phyſiologiſche Beobachtung und Experiment haben ſeit
zwanzig Jahren den ſicheren Beweis geführt, daß derjenige
engere Bezirk des Säugethier-Gehirns, den man in dieſem
Sinne als „Sitz“ (beſſer als „Organ“) des Bewußtſeins be-
zeichnet, ein Theil des Großhirns iſt, und zwar jener ſpät
entſtandene „graue Mantel“ oder die „Großhirnrinde“, welche
aus dem konvexen Dorſal-Theil der primären erſten Hirnblaſe,
des Vorderhirns ſich entwickelt. Aber auch die morpho-
logiſche Begründung dieſer phyſiologiſchen Erkenntniß iſt den
bewunderungswürdigen Fortſchritten der mikroſkopiſchen
Gehirn-Anatomie gelungen, welche wir den vervollkommneten
Forſchungs-Methoden der neueſten Zeit verdanken (Kölliker,
Flechſig, Golgi, Edinger, Weigert u. ſ. w.).
Wohl die wichtigſte von dieſen Erkenntniſſen iſt die Ent-
deckung der Denkorgane durch Paul Flechſig in Leipzig;
er wies nach, daß in der grauen Rindenzone des Hirnmantels
vier Gebiete der centralen Sinnesorgane oder vier „innere
Empfindungsſphären“ liegen, die Körperfühlſphäre im Scheitel-
lappen, die Riechſphäre im Stirnlappen, die Sehſphäre im
Hinterhauptslappen, die Hörſphäre im Schläfenlappen. Zwiſchen
dieſen vier „Sinnesherden“ liegen die vier großen „Denk-
herde“ oder Aſſocions-Centren, die realen Organe des
Geiſteslebens; ſie ſind jene höchſten Werkzeuge der Seelen-
thätigkeit, welche das Denken und das Bewußtſein ver-
mitteln: vorn das Stirnhirn oder das frontale Aſſocions-Centrum,
hinten oben das Scheitelhirn oder parietale Aſſocions-Centrum,
[213]X. Pathologie des Bewußtſeins.
hinten unten das Principalhirn oder das „große occipito-temporale
Aſſocions-Centrum“ (das wichtigſte von allen!) und endlich tief
unten, im Innern verſteckt, das Inſelhirn oder „die Reilſche
Inſel“, das inſulare Aſſocions-Centrum. Dieſe vier Denkherde,
durch eigenthümliche und höchſt verwickelte Nervenſtruktur vor
den zwiſchenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, ſind die
wahren „Denkorgane“, die einzigen Organe unſeres Bewußt-
ſeins. In neueſter Zeit hat Flechſig nachgewieſen, daß in
einem Theile derſelben ſich beim Menſchen noch ganz beſonders
verwickelte Strukturen finden, welche den übrigen Säugethieren
fehlen, und welche die Ueberlegenheit des menſchlichen Bewußt-
ſeins erklären.
Pathologie des Bewußtſeins. Die bedeutungsvolle Er-
kenntniß der modernen Phyſiologie, daß das Großhirn beim
Menſchen und den höheren Säugethieren das Organ des Geiſtes-
lebens und des Bewußtſeins iſt, wird einleuchtend beſtätigt durch
die Pathologie, durch die Kenntniß ſeiner Erkrankungen.
Wenn die betreffenden Theile der Großhirnrinde durch Krankheit
zerſtört werden, erliſcht ihre Funktion, und zwar läßt ſich hier
die Lokaliſation der Gehirn-Funktionen ſogar partiell nach-
weiſen; wenn einzelne Stellen jenes Gebietes erkranken, ver-
ſchwindet auch der Theil des Denkens und Bewußtſeins, welcher
an die betreffende Stelle gebunden iſt. Dasſelbe Ergebniß liefert
das pathologiſche Experiment; Zerſtörung einer ſolchen bekannten
Stelle (z. B. im Sprach-Centrum) vernichtet deren Funktion
(die Sprache). Uebrigens genügt ja der Hinweis auf die be-
kannteſten alltäglichen Erſcheinungen im Gebiete des Bewußtſeins,
um die völlige Abhängigkeit desſelben von den chemiſchen
Veränderungen der Gehirn-Subſtanz zu beweiſen. Viele Genuß-
mittel (Kaffee, Thee) regen unſer Denkvermögen an, andere
(Wein, Bier) ſtimmen unſer Gemüth heiter; Moſchus und
Kampher als „Excitantia“ beleben das erlöſchende Bewußtſein;
[214]Alternirendes oder doppeltes Bewußtſein. X.
Aether und Chloroform betäuben dasſelbe u. ſ. w. Wie wäre
das Alles möglich, wenn das Bewußtſein ein immaterielles Weſen,
unabhängig von jenen anatomiſch nachgewieſenen Organen wäre?
Und worin beſteht das Bewußtſein der „unſterblichen Seele“,
wenn ſie nicht mehr jene Organe beſitzt?
Alle dieſe und andere bekannte Thatſachen beweiſen, daß
das Bewußtſein beim Menſchen — und genau ebenſo bei den
nächſtverwandten Säugethieren — veränderlich iſt, und daß
ſeine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere
Urſachen (Stoffwechſel, Blutkreislauf) und äußere Urſachen (Ver-
letzung des Gehirns, Reizung u. ſ. w.). Sehr lehrreich ſind auch
die merkwürdigen Zuſtände des alternirenden oder doppelten
Bewußtſeins, welche an einen „Generationswechſel der Vor-
ſtellungen“ erinnern; derſelbe Menſch zeigt an verſchiedenen
Tagen, unter veränderten Umſtänden ein ganz verſchiedenes
Bewußtſein; er weiß heute nicht mehr, was er geſtern gethan
hat; geſtern konnte er ſagen: Ich bin Ich; — heute muß er
ſagen: Ich bin ein Anderer. Solche Intermiſſionen des Be-
wußtſeins können nicht bloß Tage, ſondern Monate und Jahre
dauern; ſie können ſelbſt bleibend werden *).
Ontogenie des Bewußtſeins. Wie Jedermann weiß, iſt
das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtſein, und wie
Preyer gezeigt hat, entwickelt ſich dasſelbe erſt ſpät, nachdem
das kleine Kind zu ſprechen angefangen hat; es ſpricht von ſich
lange Zeit in der dritten Perſon. Erſt in dem bedeutungsvollen
Momente, in welchem es zum erſten Male „Ich“ ſagt, in welchem
das „Ichgefühl“ klar wird, beginnt ſein Selbſtbewußtſein zu
keimen und damit auch der Gegenſatz zur Außenwelt. Die
ſchnellen und tiefgreifenden Fortſchritte der Erkenntniß, welche
[215]X. Ontogenie des Bewußtſeins.
das Kind durch den Unterricht der Eltern und der Schule in
den erſten zehn Lebensjahren macht, und ſpäter langſamer im
zweiten Decennium bis zur vollendeten geiſtigen Reife, ſind eng
verknüpft mit unzähligen Fortſchritten im Wachsthum und in
der Entwickelung des Bewußtſeins und mit derjenigen ſeines
Organs, des Gehirns. Aber auch wenn der Schüler das
„Zeugniß der Reife“ erlangt hat, ſo iſt in Wahrheit ſein Be-
wußtſein noch lange nicht reif, und jetzt beginnt erſt recht, in
vielſeitiger Berührung mit der Außenwelt, das „Welt-
bewußtſein“ ſich zu entwickeln. Jetzt erſt reift im dritten
Decennium jene volle Ausbildung des vernünftigen Denkens und
damit des Bewußtſeins, welche dann bei normaler Entwickelung
in den folgenden drei Jahrzehnten ihre reifen Früchte trägt.
Gewöhnlich mit Beginn des ſiebenten Decenniums (bald früher,
bald ſpäter) beginnt dann jene langſame und allmähliche Rück-
bildung der höheren Geiſtesthätigkeit, welche das Greiſenalter
charakteriſirt. Gedächtniß, Receptions-Fähigkeit und Intereſſe
an ſpeciellen Objekten nehmen mehr und mehr ab; dagegen bleibt
die Produktionsfähigkeit, das gereifte Bewußtſein und das philo-
ſophiſche Intereſſe an allgemeinen Beziehungen oft noch lange
erhalten. Die individuelle Entwickelung des Bewußtſeins in
früher Jugend beweiſt die allgemeine Geltung des biogenetiſchen
Grundgeſetzes; aber auch in ſpäteren Jahren iſt dieſelbe
noch vielfach erkennbar. Jedenfalls überzeugt uns die Onto-
geneſe des Bewußtſeins aufs Klarſte von der Thatſache, daß
dasſelbe kein „immaterielles Weſen“, ſondern eine phyſiologiſche
Funktion des Gehirns iſt, und daß es alſo auch keine Ausnahme
vom Subſtanz-Geſetze bildet.
Phylogenie des Bewußtſeins. Die Thatſache, daß das
Bewußtſein, gleich allen anderen Seelenthätigkeiten, an die
normale Ausbildung beſtimmter Organe gebunden iſt, und daß
ſich dasſelbe beim Kinde, in Zuſammenhang mit dieſen Gehirn-
[216]Phylogenie des Bewußtſeins. X.
Organen, allmählich entwickelt, läßt ſchon von vornherein ſchließen,
daß dasſelbe auch innerhalb der Thierreihe ſich ſtufenweiſe
hiſtoriſch entwickelt hat. So ſicher wir aber auch eine ſolche
natürliche Stammesgeſchichte des Bewußtſeins im
Princip behaupten müſſen, ſo wenig ſind wir doch leider im
Stande, tiefer in dieſelbe einzudringen und ſpecielle Hypotheſen
darüber aufzuſtellen. Indeſſen liefert uns die Paläontologie
doch einige intereſſante Anhaltspunkte, die nicht ohne Bedeutung
ſind. Auffallend iſt z. B. die bedeutende, quantitative und
qualitative Entwickelung des Gehirns der placentalen Säuge-
thiere innerhalb der Tertiär-Zeit. An vielen foſſilen
Schädeln derſelben iſt die innere Schädelhöhle genau bekannt
und liefert uns ſichere Aufſchlüſſe über die Größe und theilweiſe
auch über den Bau des davon umſchloſſenen Gehirns. Da zeigt
ſich denn innerhalb einer und derſelben Legion (z. B. der Huf-
thiere, der Raubthiere, der Herrenthiere) ein gewaltiger Fort-
ſchritt von den älteren eocänen und oligocänen zu den jüngeren
miocänen und pliocänen Vertretern desſelben Stammes; bei den
letzteren iſt das Gehirn (im Verhältniß zur Körpergröße) 6-8 mal
ſo groß als bei den erſteren.
Auch jene höchſte Entwickelungsſtufe des Bewußtſeins, welche
nur der Kulturmenſch erreicht, hat ſich erſt allmählich und
ſtufenweiſe — eben durch den Fortſchritt der Kultur ſelbſt —
aus niederen Zuſtänden entwickelt, wie wir ſie noch heute bei
primitiven Naturvölkern antreffen. Das zeigt uns ſchon die
Vergleichung ihrer Sprachen, welche mit derjenigen der Be-
griffe eng verknüpft iſt. Je höher ſich beim denkenden Kultur-
Menſchen die Begriffs-Bildung entwickelt, je mehr er fähig
wird, aus zahlreichen verſchiedenen Einzelheiten die gemeinſamen
Merkmale zuſammenzufaſſen und unter allgemeine Begriffe zu
bringen, deſto klarer und tiefer wird damit ſein Bewußtſein.
[[217]]
Elftes Kapitel.
Unſterblichkeit der Seele.
Moniſtiſche Studien über Thanatismus und Athanismus.
Kosmiſche und perſönliche Unſterblichkeit. Aggregatszuſtand
der Seelen-Subſtanz.
‘„Eine der ſtehenden Anklagen der Kirche gegen
die Wiſſenſchaft lautet, daß letztere materialiſtiſch
ſei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf aufmerkſam
machen, daß die ganze kirchliche Vorſtellung vom
zukünftigen Leben von jeher und noch jetzt der
reinſte Materialismus war und iſt. Der materielle
Leib ſoll auferſtehen und in einem materiellen
Himmel wohnen.“
M. J. Savage.’ ()
[[218]]
Die Citadelle des Aberglaubens. Athanismus und Thanatismus.
Individueller Charakter des Todes. Unſterblichkeit der Einzelligen (Protiſten).
Kosmiſche und perſönliche Unſterblichkeit. Primärer Thanatismus (bei Natur-
völkern). Sekundärer Thanatismus (bei älteren und neueren Philoſophen).
Athanismus und Religion. Entſtehung des Unſterblichkeitsglaubens. Chriſt-
licher Athanismus. Das ewige Leben. Das jüngſte Gericht. Meta-
phyſiſcher Athanismus. Seelen-Subſtanz. Aether-Seele. Luft-Seele. Flüſſige
und feſte Seelen. Unſterblichkeit der Thierſeele. Beweiſe für und gegen den
Athanismus. Athaniſtiſche Illuſionen.
David Strauß, Geſammelte Schriften. Auswahl in ſechs Bänden (heraus-
gegeben von Eduard Zeller). Bonn 1890.
Ludwig Feuerbach, Gottheit, Freiheit und Unſterblichkeit, vom Standpunkt
der Anthropologie. 1866. (Zweite Auflage 1890.)
Ludwig Büchner, Das künftige Leben und die moderne Wiſſenſchaft. Zehn
Briefe an eine Freundin. Leipzig 1889.
Carl Vogt, Köhlerglauben und Wiſſenſchaft. Gießen 1855.
Guſtav Kühn, Naturphiloſophiſche Studien, frei von Myſticismus. Neuwied
1895.
Paul Carus und E. C. Hegeler,The Moniſt. A Quarterly Magazine.
Vol. I-IX. Chicago 1890-1899.
M. J. Savage, Die Unſterblichkeit. (Kap. XII in: „Die Religion im Lichte
der Darwin'ſchen Lehre.“ Leipzig 1886.
Adalbert Svoboda, Geſtalten des Glaubens. 2 Bände. Leipzig 1897.
[[219]]
Indem wir uns von der genetiſchen Betrachtung der Seele
zu der großen Frage ihrer „Unſterblichkeit“ wenden, betreten wir
jenes höchſte Gebiet des Aberglaubens, welches gewiſſermaßen
die unzerſtörbare Citadelle aller myſtiſchen und dualiſtiſchen Vor-
ſtellungs-Kreiſe bildet. Denn bei dieſer Kardinal-Frage knüpft
ſich an die rein philoſophiſchen Vorſtellungen mehr als bei jedem
anderen Problem das egoiſtiſche Intereſſe der menſchlichen Perſon,
welche um jeden Preis ihre individuelle Fortdauer über den Tod
hinaus garantirt haben will. Dieſes „höhere Gemüths-Bedürfniß“
iſt ſo mächtig, daß es alle logiſchen Schlüſſe der kritiſchen Ver-
nunft über den Haufen wirft. Bewußt oder unbewußt werden
bei den meiſten Menſchen alle übrigen allgemeinen Anſichten, alſo
auch die ganze Weltanſchauung, von dem Dogma der perſönlichen
Unſterblichkeit beeinflußt, und an dieſen theoretiſchen Irrthum
knüpfen ſich praktiſche Folgerungen von weitreichendſter Wirkung.
Es wird daher unſere Aufgabe ſein, alle Seiten dieſes wichtigen
Dogmas kritiſch zu prüfen und ſeine Unhaltbarkeit gegenüber den
empiriſchen Erkenntniſſen der modernen Biologie nachzuweiſen.
Athanismus und Thanatismus. Um einen kurzen und
bequemen Ausdruck für die beiden entgegengeſetzten Grund-
anſchauungen über die Unſterblichkeits-Frage zu haben, bezeichnen
wir den Glauben an die „perſönliche Unſterblichkeit des Menſchen“
als Athanismus (abgeleitet von Athaneſ oder Athanatoſ =
[220]Athanismus und Thanatismus. XI.
unſterblich). Dagegen nennen wir Thanatismus (abgeleitet
von Thanatoſ = Tod) die Ueberzeugung, daß mit dem Tode
des Menſchen nicht nur alle übrigen phyſiologiſchen Lebensthätig-
keiten erlöſchen, ſondern auch die „Seele“ verſchwindet, d. h. jene
Summe von Gehirn-Funktionen, welche der pſychiſche Dualismus
als ein eigenes „Weſen“, unabhängig von den übrigen Lebens-
Aeußerungen des lebendigen Körpers betrachtet.
Indem wir hier das phyſiologiſche Problem des Todes
berühren, betonen wir nochmals den individuellen Charakter
dieſer organiſchen Natur-Erſcheinung. Wir verſtehen unter Tod
ausſchließlich das definitive Aufhören der Lebensthätigkeit des
organiſchen Individuums, gleichviel welcher Kategorie oder
welcher Stufenfolge der Individualität das betreffende Einzelweſen
angehört. Der Menſch iſt todt, wenn ſeine Perſon ſtirbt, gleichviel
ob er gar keine Nachkommenſchaft hinterlaſſen hat, oder ob er
Kinder erzeugt hat, deren Nachkommen ſich durch viele Generationen
fruchtbar fortpflanzen. Man ſagt ja in gewiſſem Sinne, daß
der „Geiſt“ großer Männer (z. B. in einer Dynaſtie hervor-
ragender Herrſcher, in einer Familie talentvoller Künſtler) durch
Generationen fortlebt; und ebenſo ſagt man, daß die „Seele“
ausgezeichneter Frauen oft in den Kindern und Kindeskindern
ſich forterhält. Allein in dieſen Fällen handelt es ſich ſtets um
verwickelte Vorgänge der Vererbung, bei welchen eine ab-
gelöſte mikroſkopiſche Zelle (die Spermazelle des Vaters, die Ei-
zelle der Mutter) gewiſſe Eigenſchaften der Subſtanz auf die
Nachkommen überträgt. Die einzelnen Perſonen, welche jene
Geſchlechtszellen zu Tauſenden produciren, bleiben trotzdem ſterblich
und mit ihrem Tode erliſcht ihre individuelle Seelen-Thätigkeit
ebenſo wie jede andere phyſiologiſche Funktion.
Unſterblichkeit der Einzelligen. Neuerdings iſt von
mehreren namhaften Zoologen — am eingehendſten 1882 von
Weismann — die Anſicht vertheidigt worden, daß nur die
[221]XI. Unſterblichkeit der Einzelligen.
niederſten einzelligen Organismen, die Protiſten, unſterblich
ſeien, im Gegenſatze zu allen vielzelligen Thieren und Pflanzen,
deren Körper aus Geweben zuſammengeſetzt iſt. Beſonders wurde
dieſe ſeltſame Auffaſſung dadurch begründet, daß die meiſten
Protiſten ſich vorwiegend auf ungeſchlechtlichem Wege vermehren,
durch Theilung oder Sporenbildung. Dabei zerfällt der ganze
Körper des einzelligen Organismus in zwei oder mehr gleich-
werthige Stücke (Tochterzellen), und jedes dieſer Stücke ergänzt
ſich wieder durch Wachsthum, bis es der Mutterzelle an Größe
und Form gleich geworden iſt. Allein durch den Theilungs-
Proceß ſelbſt iſt ja bereits die Individualität des einzelligen
Organismus vernichtet, ebenſo die phyſiologiſche wie die morpho-
logiſche Einheit. Den Begriff des Individuums ſelbſt, des
„Untheilbaren“, widerlegt logiſch die Auffaſſung von Weis-
mann; denn es bedeutet ja eine Einheit, die man nicht
theilen kann, ohne ihr Weſen aufzuheben. In dieſem Sinne
ſind die einzelligen Urpflanzen (Protophyta) und die einzelligen
Urthiere (Protozoa) zeitlebens ebenſo Bionten oder phyſio-
logiſche Individuen, wie die vielzelligen, gewebebildenden
Pflanzen und Thiere. Auch bei den letzteren kommt ungeſchlecht-
liche Fortpflanzung durch einfache Theilung vor (z. B. bei manchen
Neſſelthieren, Korallen, Meduſen n. A.); das Mutterthier, aus
deſſen Theilung die beiden Tochterthiere hervorgehen, hat auch
hier mit deren Trennung aufgehört zu exiſtiren. Weismann
behauptet: „Es giebt keine Individuen und keine Generationen
bei den Protozoen im Sinne der Metazoen.“ Ich muß
dieſen Satz entſchieden beſtreiten. Da ich ſelbſt zuerſt (1872) den
Begriff der Metazoen aufgeſtellt und dieſe vielzelligen, gewebe-
bildenden Thiere den einzelligen Protozoen (Infuſorien, Rhizo-
poden u. ſ. w.) gegenübergeſtellt habe, da ich ſelbſt ferner zuerſt
den principiellen Unterſchied in der Entwickelung Beider (dort
aus Keimblättern, hier nicht) begründet habe, muß ich um ſo
[222]Begriff der Unſterblichkeit. XI.
mehr betonen, daß ich die Protozoen im phyſiologiſchen (alſo
auch im pſychologiſchen!) Sinne ebenſo für ſterblich halte wie
die Metazoen; unſterblich iſt in beiden Gruppen weder der
Leib noch die Seele. Die übrigen irrthümlichen Folgerungen
Weismann's ſind bereits (1884) durch Moebius widerlegt
worden, der mit Recht hervorhebt, daß „Alles in der Welt
periodiſch geſchieht“, und daß es „keine Quelle giebt, aus welcher
unſterbliche organiſche Individuen hätten entſpringen können“.
Kosmiſche und perſönliche Unſterblichkeit. Wenn man
den Begriff der Unſterblichkeit ganz allgemein auffaßt und auf
die Geſammtheit der erkennbaren Natur ausdehnt, ſo gewinnt er
wiſſenſchaftliche Bedeutung; er erſcheint dann der moniſtiſchen
Philoſophie nicht nur annehmbar, ſondern ſelbſtverſtändlich. Denn
die Theſe von der Unzerſtörbarkeit und ewigen Dauer alles
Seienden fällt dann zuſammen mit unſerm höchſten Natur-
Geſetze, dem Subſtanz-Geſetz (12. Kapitel). Da wir dieſe
kosmiſche Unſterblichkeit ſpäter, bei Begründung der Lehre von
der Erhaltung der Kraft und des Stoffes, ausführlich erörtern
werden, halten wir uns hier nicht weiter dabei auf. Vielmehr
wenden wir uns ſogleich zur Kritik jenes „Unſterblichkeits-
Glaubens“, der gewöhnlich allein unter dieſem Begriffe verſtanden
wird, der Immortalität der perſönlichen Seele. Wir unter-
ſuchen zunächſt die Verbreitung und Entſtehung dieſer myſtiſchen
und dualiſtiſchen Vorſtellung und betonen dabei beſonders die
weite Verbreitung ihres Gegentheils, des moniſtiſchen, em-
piriſch begründeten Thanatismus. Ich unterſcheide hier als
zwei weſentlich verſchiedene Erſcheinungen desſelben den pri-
mären und den ſekundären Thanatismus; bei erſterem iſt
der Mangel des Unſterblichkeits-Dogmas ein urſprünglicher (bei
primitiven Naturvölkern); der ſekundäre Thanatismus dagegen
iſt das ſpäte Erzeugniß vernunftgemäßer Natur-Erkenntniß bei
hoch entwickelten Kulturvölkern.
[223]XI. Primärer Thanatismus.
Primärer Thanatismus (urſprünglicher Mangel der
Unſterblichkeits-Idee). In vielen philoſophiſchen und beſonders
theologiſchen Schriften leſen wir noch heute die Behauptung,
daß der Glaube an die perſönliche Unſterblichkeit der menſchlichen
Seele allen Menſchen — oder doch allen „vernünftigen Menſchen“ —
urſprünglich gemeinſam ſei. Das iſt falſch. Dieſes Dogma iſt
weder eine urſprüngliche Vorſtellung der menſchlichen Vernunft,
noch hat es jemals allgemeine Verbreitung gehabt. In dieſer
Beziehung iſt vor Allem wichtig die ſichere, erſt neuerdings durch
die vergleichende Ethnologie feſtgeſtellte Thatſache, daß mehrere
Naturvölker der älteſten und primitivſten Stufe ebenſo wenig
von einer Unſterblichkeit als von einem Gotte irgend eine Vor-
ſtellung haben. Das gilt namentlich von den Weddas auf
Ceylon, jenen primitiven Pygmäen, die wir auf Grund der aus-
gezeichneten Forſchungen der Herren Saraſin für einen Ueber-
reſt der älteſten indiſchen „Urmenſchen“ halten *); ferner von
mehreren älteſten Stämmen der nächſtverwandten Dravidas, von
den indiſchen Seelongs und einigen Stämmen der Auſtral-
neger. Ebenſo kennen mehrere der primitivſten Urvölker der
amerikaniſchen Raſſe, im inneren Braſilien, am oberen Amazonen-
Strom u. ſ. w., weder Götter noch Unſterblichkeit. Dieſer
primäre Mangel des Unſterblichkeits- und Gottes-Glaubens
iſt eine höchſt wichtige Thatſache; er iſt ſelbſtverſtändlich wohl
zu unterſcheiden von dem ſekundären Mangel desſelben, wel-
chen erſt der höchſtentwickelte Kultur-Menſch auf Grund kritiſch-
philoſophiſcher Studien ſpät und mühſam gewonnen hat.
Sekundärer Thanatismus (erworbener Mangel der
Unſterblichkeits-Idee). Im Gegenſatze zu dem primären Tha-
natismus, der ſicher bei den älteſten Urmenſchen urſprünglich
beſtand und immer eine weite Verbreitung beſaß, iſt der ſekundäre
[224]Sekundärer Thanatismus. XI.
Mangel des Immortalitäts-Glaubens erſt ſpät entſtanden; er
iſt erſt die reife Frucht eingehenden Nachdenkens über „Leben
und Tod“, alſo ein Produkt echter und unabhängiger philo-
ſophiſcher Reflexion. Als ſolcher tritt er uns ſchon im ſechſten
Jahrhundert vor Chr. bei einem Theile der ioniſchen Natur-
philoſophen entgegen, ſpäter bei den Gründern der alten mate-
rialiſtiſchen Philoſophie, bei Demokritos und Empedokles,
aber auch bei Simonides und Epikur, bei Seneca und
Plinius, am meiſten durchgebildet bei Lucretius Carus.
Als dann nach dem Untergange des klaſſiſchen Alterthums das
Chriſtenthum ſich ausbreitete und mit ihm der Athanismus, als
einer ſeiner wichtigſten Glaubens-Artikel, die Weltherrſchaft ge-
wann, erlangte mit anderen Formen des Aberglaubens auch der-
jenige an die perſönliche Unſterblichkeit die höchſte Bedeutung.
Während der langen Geiſtesnacht des chriſtlichen Mittelalters
wagte begreiflicher Weiſe nur ſelten ein kühner Freidenker ſeine
abweichende Ueberzeugung zu äußern; die Beiſpiele von Galilei,
von Giordano Bruno und anderen unabhängigen Philo-
ſophen, welche von den „Nachfolgern Chriſti“ der Tortur und
dem Scheiterhaufen überliefert wurden, ſchreckten genügend jedes
freie Bekenntniß ab. Dieſes wurde erſt wieder möglich, nachdem
die Reformation und die Renaiſſance die Allmacht des Papismus
gebrochen hatten. Die Geſchichte der neueren Philoſophie zeigt
die mannigfaltigen Wege, auf denen die gereifte menſchliche
Vernunft dem Aberglauben der Unſterblichkeit zu entrinnen ver-
ſuchte. Immerhin verlieh demſelben trotzdem die enge Ver-
knüpfung mit dem chriſtlichen Dogma auch in den freieren
proteſtantiſchen Kreiſen ſolche Macht, daß ſelbſt die meiſten
überzeugten Freidenker ihre Meinung ſtill für ſich behielten. Nur
ſelten wagten einzelne hervorragende Männer ihre Ueberzeugung
von der Unmöglichkeit der Seelen-Fortdauer nach dem Tode frei
zu bekennen. Beſonders geſchah dies in der zweiten Hälfte des
[225]XI. Athanismus und Religion.
achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich von Voltaire, Danton,
Mirabeau u. A., ferner von den Hauptvertretern des damaligen
Materialismus, Holbach, Lamettrie u. A. Dieſelbe Ueber-
zeugung vertrat auch der geiſtreiche Freund der Letzteren, der
größte der Hohenzollern-Fürſten, der moniſtiſche „Philoſoph von
Sans-Souci“. Was würde Friedrich der Große, dieſer
„gekrönte Thanatiſt und Atheiſt“, ſagen, wenn er heute
ſeine moniſtiſchen Ueberzeugungen mit denjenigen ſeiner Nachfolger
vergleichen könnte!
Unter den denkenden Aerzten iſt die Ueberzeugung, daß
mit dem Tode des Menſchen auch die Exiſtenz ſeiner Seele auf-
höre, wohl ſeit Jahrhunderten ſehr verbreitet geweſen; aber auch
ſie hüteten ſich meiſtens wohl, dieſelbe auszuſprechen. Auch blieb
immerhin noch im vorigen Jahrhundert die empiriſche Kenntniß
des Gehirns ſo unvollkommen, daß die „Seele“ als ein räthſel-
hafter Bewohner desſelben ihre ſelbſtſtändige Exiſtenz fortfriſten
konnte. Endgültig beſeitigt wurde dieſelbe erſt durch die Rieſen-
fortſchritte der Biologie in unſerem Jahrhundert und beſonders
in deſſen zweiter Hälfte. Die Begründung der Deſcendenz-Theorie
und der Zellen-Theorie, die überraſchenden Entdeckungen der
Ontogenie und der Experimental-Phyſiologie, vor Allem aber die
bewunderungswürdigen Fortſchritte der mikroſkopiſchen Gehirn-
Anatomie entzogen dem Athanismus allmählich jeden Boden, ſo
daß jetzt nur ſelten ein ſachkundiger und ehrlicher Biologe noch
für die Unſterblichkeit der Seele eintritt. Die moniſtiſchen Philo-
ſophen des neunzehnten Jahrhunderts (Strauß, Feuerbach,
Büchner, Spencer u. ſ. w.) ſind ſämmtlich Thanatiſten.
Athanismus und Religion. Die weiteſte Verbreitung
und die höchſte Bedeutung hat das Dogma der perſönlichen Un-
ſterblichkeit erſt durch ſeine innige Verbindung mit den Glaubens-
lehren des Chriſtenthums gefunden; und dieſe hat auch zu
der irrthümlichen, heute noch ſehr verbreiteten Anſicht geführt,
Haeckel, Welträthſel. 15
[226]Urſprung des Athanismus. XI.
daß dasſelbe überhaupt einen weſentlichen Grundbeſtandtheil jeder
geläuterten Religion bilde. Das iſt durchaus nicht der Fall!
Der Glaube an die Unſterblichkeit der Seele fehlt vollſtändig
den meiſten höher entwickelten orientaliſchen Religionen; er fehlt
dem Buddhismus, der noch heute über 30 Procent der ge-
ſammten menſchlichen Bevölkerung der Erde beherrſcht; er fehlt
ebenſo der alten Volks-Religion der Chineſen wie der refor-
mirten, ſpäter an deren Stelle getretenen Religion des Con-
fucius; und, was das Wichtigſte iſt, er fehlt der älteren und
reineren jüdiſchen Religion; weder in den fünf Büchern Moſes
noch in jenen älteren Schriften des Alten Teſtamentes, welche
vor dem babyloniſchen Exil geſchrieben wurden, iſt die Lehre
von der individuellen Fortdauer nach dem Tode zu finden.
Entſtehung des Unſterblichkeits-Glaubens. Die myſtiſche
Vorſtellung, daß die Seele des Menſchen nach ſeinem Tode fort-
dauere und unſterblich weiterlebe, iſt ſicher polyphyletiſch
entſtanden; ſie fehlte dem älteſten, ſchon mit Sprache begabten
Urmenſchen (dem hypothetiſchen Homo primigeniuſ Aſiens)
gewiß ebenſo wie ſeinen Vorfahren, dem Pithecanthropuſ und
Prothylobateſ, und wie ſeinen modernen, wenigſt entwickelten
Nachkommen, den Weddas von Ceylon, den Seelongs von Indien
und anderen, weit entfernt wohnenden Natur-Völkern. Erſt bei
zunehmender Vernunft, bei eingehenderem Nachdenken über Leben
und Tod, über Schlaf und Traum entwickelten ſich bei ver-
ſchiedenen älteren Menſchen-Raſſen — unabhängig von einander —
myſtiſche Vorſtellungen über die dualiſtiſche Kompoſition unſeres
Organismus. Sehr verſchiedene Motive werden bei dieſem poly-
phyletiſchen Vorgange zuſammengewirkt haben: Ahnen-Kultus,
Verwandten-Liebe, Lebensluſt und Wunſch der Lebens-Verlänge-
rung, Hoffnung auf beſſere Lebens-Verhältniſſe im Jenſeits,
Hoffnung auf Belohnung der guten und Beſtrafung der ſchlechten
Thaten u. ſ. w. Die vergleichende Pſychologie hat uns neuer-
[227]XI. Chriſtlicher Athanismus.
dings eine große Anzahl von ſehr verſchiedenen derartigen
Glaubens-Dichtungen kennen gelehrt*); großentheils hängen
dieſelben eng zuſammen mit den älteſten Formen des Gottes-
glaubens und der Religion überhaupt. In den meiſten modernen
Religionen iſt der Athanismus eng verknüpft mit dem
Theismus, und die materialiſtiſche Vorſtellung, welche ſich die
meiſten Gläubigen von ihrem „perſönlichen Gott“ bilden, über-
tragen ſie auf ihre „unſterbliche Seele“. Das gilt vor Allem
von der herrſchenden Weltreligion der modernen Kulturvölker,
vom Chriſtenthum.
Chriſtlicher Unſterblichkeits-Glaube. Wie allgemein be-
kannt, hat das Dogma von der Unſterblichkeit der Seele in der
chriſtlichen Religion ſchon lange diejenige feſte Form angenommen,
welche ſich in dem Glaubens-Artikel ausſpricht: „Ich glaube an
die Auferſtehung des Fleiſches und ein ewiges Leben.“ Wie am
Oſterfeſt Chriſtus ſelbſt von den Todten auferſtanden iſt und
nun in Ewigkeit als „Gottes Sohn, ſitzend zur rechten Hand
Gottes“, gedacht wird, verſinnlichen uns unzählige Bilder und
Legenden. In gleicher Weiſe wird auch der Menſch „am jüngſten
Tage auferſtehen“ und ſeinen Lohn für die Führung ſeines
einſtigen Erdenlebens empfangen. Dieſer ganze chriſtliche Vor-
ſtellungskreis iſt durch und durch materialiſtiſch und anthro-
piſtiſch; er erhebt ſich nicht viel über die entſprechenden rohen
Vorſtellungen vieler niederer Naturvölker. Daß die „Auferſtehung
des Fleiſches“ unmöglich iſt, weiß eigentlich Jeder, der einige
Kenntniſſe in Anatomie und Phyſiologie beſitzt. Die Auferſtehung
Chriſti, welche von Millionen gläubiger Chriſten an jedem Oſter-
feſte gefeiert wird, iſt ebenſo ein reiner Mythus wie die „Auf-
erweckung von den Todten“, welche derſelbe mehrfach ausgeführt
haben ſoll. Für die reine Vernunft ſind dieſe myſtiſchen Glaubens-
15 *
[228]Chriſtlicher Materialismus. XI.
Artikel ebenſo unannehmbar wie die damit verknüpfte Hypotheſe
eines „ewigen Lebens“.
Das ewige Leben. Die phantaſtiſchen Vorſtellungen, welche
die chriſtliche Kirche über die ewige Fortdauer der unſterblichen
Seele nach dem Tode des Leibes lehrt, ſind ebenſo rein mate-
rialiſtiſch wie das damit verknüpfte Dogma von der „Auferſtehung
des Fleiſches“. Sehr richtig bemerkt in dieſer Beziehung Savage
in ſeinem intereſſanten Werke „Die Religion im Lichte der
Darwin'ſchen Lehre“ (1886): „Eine der ſtehenden Anklagen der
Kirche gegen die Wiſſenſchaft lautet, daß letztere materialiſtiſch
ſei. Ich möchte im Vorbeigehen darauf aufmerkſam machen, daß
die ganze kirchliche Vorſtellung vom zukünftigen
Leben von jeher und noch jetzt der reinſte Mate-
rialismus war und iſt. Der materielle Leib ſoll auferſtehen
und in einem materiellen Himmel wohnen.“ Um ſich hiervon
zu überzeugen, braucht man nur unbefangen eine der unzähligen
Predigten oder auch der phraſenreichen, neuerdings ſehr beliebten
Tiſchreden zu leſen, in denen die Herrlichkeit des ewigen Lebens
als höchſtes Gut des Chriſten und der Glaube daran als Grund-
lage der Sittenlehre geprieſen wird. Da erwarten den frommen
ſpiritualiſtiſchen Gläubigen im „Paradieſe“ alle Freuden des
hochentwickelten geſelligen Kultur-Lebens, während die gottloſen
Materialiſten vom „liebenden Vater“ durch ewige Höllenqualen
gemartert werden.
Metaphyſiſcher Unſterblichkeits-Glaube. Gegenüber dem
materialiſtiſchen Athanismus, welcher in der chriſtlichen und
mohammedaniſchen Kirche herrſchend iſt, vertritt ſcheinbar eine
reinere und höhere Glaubensform der metaphyſiſche Atha-
nismus, wie ihn die meiſten dualiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen
Philoſophen lehren. Als der bedeutendſte Begründer desſelben
iſt Plato zu betrachten; er lehrte ſchon im vierten Jahrhundert
vor Chriſtus jenen vollkommenen Dualismus zwiſchen Leib und
[229]XI. Myſtiſche Seelenwanderung.
Seele, welcher dann in der chriſtlichen Glaubenslehre zu einem
der theoretiſch wichtigſten und praktiſch wirkungsvollſten Artikel
wurde. Der Leib iſt ſterblich, materiell, phyſiſch; die Seele iſt
unſterblich, immateriell, metaphyſiſch. Beide ſind nur während
des individuellen Lebens vorübergehend verbunden. Da Plato
ein ewiges Leben der autonomen Seele ſowohl vor als nach dieſer
zeitweiligen Verbindung annimmt, iſt er auch Anhänger der
„Seelenwanderung“; die Seelen exiſtirten als ſolche, als
„ewige Ideen“, ſchon bevor ſie in den menſchlichen Körper ein-
traten. Nachdem ſie denſelben verlaſſen, ſuchen ſie ſich als Wohnort
einen anderen Körper aus, der ihrer Beſchaffenheit am meiſten
angemeſſen iſt; die Seelen von grauſamen Tyrannen ſchlüpfen
in den Körper von Wölfen und Geiern, diejenigen von tugend-
haften Arbeitern in den Leib von Bienen und Ameiſen u. ſ. w.
Die kindlichen und naiven Anſchauungen dieſer platoniſchen
Seelenlehre liegen auf der Hand; bei weiterem Eindringen er-
ſcheinen ſie völlig unvereinbar mit den ſicherſten pſychologiſchen
Erkenntniſſen, welche wir der modernen Anatomie und Phyſio-
logie, der fortgeſchrittenen Hiſtologie und Ontogenie verdanken;
wir erwähnen ſie hier nur, weil ſie trotz ihrer Abſurdität den
größten kulturhiſtoriſchen Einfluß erlangten. Denn einerſeits
knüpfte an die platoniſche Seelenlehre die Myſtik der Neu-
platoniker an, welche in das Chriſtenthum Eingang gewann;
andererſeits wurde ſie ſpäter zu einem Hauptpfeiler der ſpiri-
tualiſtiſchen und idealiſtiſchen Philoſophie. Die platoniſche
„Idee“ verwandelte ſich ſpäter in den Begriff der Seelen-
Subſtanz, die allerdings ebenſo unfaßbar und metaphyſiſch
iſt, aber doch oft einen phyſikaliſchen Anſchein gewann.
Seelen-Subſtanz. Die Auffaſſung der Seele als „Sub-
ſtanz“ iſt bei vielen Pſychologen ſehr unklar; bald wird dieſelbe
in abſtraktem und idealiſtiſchem Sinne als ein „immaterielles
Weſen“ von ganz eigenthümlicher Art betrachtet, bald in kon-
[230]Materielle Seelen-Subſtanz. XI.
kretem und realiſtiſchem Sinne, bald als ein unklares Mittelding
zwiſchen beiden. Halten wir an dem moniſtiſchen Subſtanz-
Begriffe feſt, wie wir ihn (im 12. Kapitel) als einfachſte Grund-
lage unſerer geſammten Weltanſchauung entwickeln, ſo iſt in
demſelben Energie und Materie untrennbar verbunden.
Dann müſſen wir an der „Seelen-Subſtanz“ die eigentliche, uns
allein bekannte pſychiſche Energie unterſcheiden (Empfinden,
Vorſtellen, Wollen) und die pſychiſche Materie, durch welche
allein dieſelbe zur Wirkung gelangen kann, alſo das lebendige
Plasma. Bei den höheren Thieren bildet dann der „Seelen-
ſtoff“ einen Theil des Nerven-Syſtems, bei den niederen, nerven-
loſen Thieren und den Pflanzen einen Theil ihres vielzelligen
Plasma-Körpers, bei den einzelligen Protiſten einen Theil ihres
plasmatiſchen Zellen-Körpers. Somit kommen wir wieder auf
die Seelen-Organe und gelangen zu der naturgemäßen Er-
kenntniß, daß dieſe materiellen Organe für die Seelenthätigkeit
unentbehrlich ſind; die Seele ſelbſt aber iſt aktuell, iſt die
Summe ihrer phyſiologiſchen Funktionen.
Ganz anders geſtaltet ſich der Begriff der ſpecifiſchen Seelen-
Subſtanz bei jenen dualiſtiſchen Philoſophen, welche eine ſolche
annehmen. Die unſterbliche „Seele“ ſoll dann zwar materiell
ſein, aber doch unſichtbar und ganz verſchieden von dem ſicht-
baren Körper, in welchem ſie wohnt. Die Unſichtbarkeit
der Seele wird dabei als ein ſehr weſentliches Attribut derſelben
betrachtet. Einige vergleichen dabei die Seele mit dem Aether
und betrachten ſie gleich dieſem als einen äußerſt feinen und
leichten, höchſt beweglichen Stoff oder ein imponderables Agens,
welches überall zwiſchen den wägbaren Theilchen des lebendigen
Organismus ſchwebt. Andere hingegen vergleichen die Seele mit
dem wehenden Winde und ſchreiben ihr alſo einen gasförmigen
Zuſtand zu; und dieſer Vergleich iſt ja auch derjenige, welcher
zuerſt bei den Naturvölkern zu der ſpäter ſo allgemein gewordenen
[231]XI. Aetheriſche und gasförmige Seelen.
dualiſtiſchen Auffaſſung führte. Wenn der Menſch ſtarb, blieb
der Körper als todte Leiche zurück; die unſterbliche Seele aber
„entfloh aus demſelben mit dem letzten Athemzuge“.
Aether-Seele. Die Vergleichung der menſchlichen Seele
mit dem phyſikaliſchen Aether als qualitativ ähnlichem Gebilde
hat in neuerer Zeit eine konkretere Geſtalt gewonnen durch die
großartigen Fortſchritte der Optik und der Elektricität (beſonders
im letzten Decennium); denn dieſe haben uns mit der Energie des
Aethers bekannt gemacht und damit zugleich gewiſſe Schlüſſe auf
die materielle Natur dieſes raumerfüllenden Weſens geſtattet.
Da ich dieſe wichtigen Verhältniſſe ſpäter (im 12. Kapitel) be-
ſprechen werde, will ich mich hier nicht weiter dabei aufhalten,
ſondern nur kurz darauf hinweiſen, daß dadurch die Annahme
einer Aether-Seele vollkommen unhaltbar geworden iſt. Eine
ſolche „ätheriſche Seele“, d. h. eine Seelen-Subſtanz, welche
dem phyſikaliſchen Aether ähnlich iſt und gleich ihm zwiſchen
den wägbaren Theilchen des lebendigen Plasma oder den Gehirn-
Molekeln ſchwebt, kann unmöglich individuelles Seelenleben her-
vorbringen. Weder die myſtiſchen Anſchauungen, welche darüber
um die Mitte unſeres Jahrhunderts lebhaft diskutirt wurden,
noch die Verſuche des modernen Neovitalismus, die myſtiſche
„Lebenskraft“ mit dem phyſikaliſchen Aether in Beziehung zu
ſetzen, ſind heute mehr der Widerlegung bedürftig.
Luft-Seele. Viel allgemeiner verbreitet und auch heute
noch in hohem Anſehen ſteht jene Anſchauung, welche der Seelen-
Subſtanz eine gasförmige Beſchaffenheit zuſchreibt. Uralt iſt
die Vergleichung des menſchlichen Athemzuges mit dem wehenden
Windhauche; beide wurden urſprünglich für identiſch gehalten
und mit demſelben Namen belegt. Anemos und Pſyche der
Griechen, Anima und Spiritus der Römer ſind urſprünglich
Bezeichnungen für den Lufthauch des Windes; ſie wurden von
dieſem auf den Athemhauch des Menſchen übertragen. Später
[232]Flüſſige und feſte Seelen. XI.
wurde dann dieſer „lebendige Odem“ mit der „Lebenskraft“
identificirt und zuletzt als das Weſen der Seele ſelbſt angeſehen
oder in engerem Sinne als deren höchſte Aeußerung, der „Geiſt“.
Davon leitete dann weiterhin wieder die Phantaſie die myſtiſche
Vorſtellung der individuellen Geiſter ab, der „Geſpenſter“
(„Spiritſ“); auch dieſe werden ja heute noch meiſtens als „luft-
förmige Weſen“ — aber begabt mit den phyſiologiſchen Funktionen
des Organismus! — vorgeſtellt; in manchen berühmten Spiri-
tiſten-Kreiſen werden dieſelben freilich trotzdem photographirt!
Flüſſige und feſte Seele. Der Experimental-Phyſik iſt
es in den letzten Decennien unſeres Jahrhunderts gelungen, alle
gasförmigen Körper in den tropfbar-flüſſigen — und die meiſten
auch in den feſten — Aggregat-Zuſtand überzuführen. Es bedarf
dazu weiter nichts als geeigneter Apparate, welche unter ſehr
hohem Druck und bei ſehr niederer Temperatur die Gaſe ſehr
ſtark komprimiren. Nicht allein die luftförmigen Elemente,
Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stickſtoff, ſondern auch zuſammengeſetzte
Gaſe (Kohlenſäure) und Gas-Gemenge (atmoſphäriſche Luft)
ſind ſo aus dem luftförmigen in den flüſſigen Zuſtand verſetzt
worden. Dadurch ſind aber jene unſichtbaren Körper für
Jedermann ſichtbar und in gewiſſem Sinne „handgreiflich“
geworden. Mit dieſer Aenderung der Dichtigkeit iſt der myſtiſche
Nimbus verſchwunden, welcher früher das Weſen der Gaſe in
der gemeinen Anſchauung verſchleierte, als unſichtbare Körper,
die doch ſichtbare Wirkungen ausüben. Wenn nun die Seelen-
Subſtanz wirklich, wie viele „Gebildete“ noch heute glauben,
gasförmig wäre, ſo müßte man auch im Stande ſein, ſie durch
Anwendung von hohem Druck und ſehr niederer Temperatur in
den flüſſigen Zuſtand überzuführen. Man könnte dann die Seele,
welche im Momente des Todes „ausgehaucht“ wird, auffangen,
unter ſehr hohem Druck bei niederer Temperatur kondenſiren
und in einer Glasflaſche als „unſterbliche Flüſſigkeit“
[233]XI. Unſterblichkeit der Thierſeele.
aufbewahren (Fluidum animae immortale). Durch weitere Ab-
kühlung und Kondenſation müßte es dann auch gelingen, die
flüſſige Seele in den feſten Zuſtand überzuführen („Seelen-Schnee“).
Bis jetzt iſt das Experiment noch nicht gelungen.
Unſterblichkeit der Thierſeele. Wenn der Athanismus
wahr wäre, wenn wirklich die „Seele“ des Menſchen in alle
Ewigkeit fortlebte, ſo müßte man ganz dasſelbe auch für die
Seele der höheren Thiere behaupten, mindeſtens für diejenige
der nächſtſtehenden Säugethiere (Affen, Hunde u. ſ. w.). Denn
der Menſch zeichnet ſich vor dieſen letzteren nicht durch eine be-
ſondere neue Art oder eine eigenthümliche, nur ihm zukommende
Funktion der Pſyche aus, ſondern lediglich durch einen höheren
Grad der pſychiſchen Thätigkeit, durch eine vollkommenere Stufe
ihrer Entwickelung. Beſonders iſt bei vielen Menſchen (aber
durchaus nicht bei allen!) das Bewußtſein höher entwickelt
als bei den meiſten Thieren, die Fähigkeit der Ideen-Aſſocion,
des Denkens und der Vernunft. Indeſſen iſt dieſer Unterſchied
bei Weitem nicht ſo groß, als man gewöhnlich annimmt; und
er iſt in jeder Beziehung viel geringer als der entſprechende
Unterſchied zwiſchen den höheren und niederen Thierſeelen oder
ſelbſt als der Unterſchied zwiſchen den höchſten und tiefſten
Stufen der Menſchenſeele. Wenn man alſo der letzteren „perſön-
liche Unſterblichkeit“ zuſchreibt, ſo muß man ſie auch den höheren
Thieren zugeſtehen.
Dieſe Ueberzeugung von der individuellen Unſterblichkeit der
Thiere iſt denn auch ganz naturgemäß bei vielen Völkern alter
und neuer Zeit zu finden; aber auch jetzt noch bei vielen denkenden
Menſchen, welche für ſich ſelbſt ein „ewiges Leben“ in Anſpruch
nehmen und gleichzeitig eine gründliche empiriſche Kenntniß des
Seelenlebens der Thiere beſitzen. Ich kannte einen alten Ober-
förſter, der, frühzeitig verwittwet und kinderlos, mehr als dreißig
Jahre einſam in einem herrlichen Walde von Oſtpreußen gelebt
[234]Unſterblichkeit der Thierſeele. XI.
hatte. Seinen einzigen Umgang bildeten einige Dienſtleute, mit
denen er nur die nöthigſten Worte wechſelte, und eine große
Meute der verſchiedenſten Hunde, mit denen er im innigſten
Seelen-Verkehr lebte. Durch vieljährige Erziehung und Dreſſur
derſelben hatte ſich dieſer feinſinnige Beobachter und Naturfreund
tief in die individuelle Pſyche ſeiner Hunde eingelebt, und er
war von deren perſönlicher Unſterblichkeit ebenſo feſt überzeugt
wie von ſeiner eigenen. Einzelne ſeiner intelligenteſten Hunde
ſtanden nach ſeinem objektiven Vergleiche auf einer höheren
pſychiſchen Stufe als ſeine alte, ſtumpfſinnige Magd und der
rohe, einfältige Knecht. Jeder unbefangene Beobachter, der Jahre
lang das bewußte und intelligente Seelenleben ausgezeichneter
Hunde ſtudirt, der aufmerkſam die phyſiologiſchen Vorgänge ihres
Denkens, Urtheilens, Schließens verfolgt hat, wird zugeben
müſſen, daß ſie mit gleichem Rechte die „Unſterblichkeit“ für ſich
in Anſpruch nehmen können wie der Menſch.
Beweiſe für den Athanismus. Die Gründe, welche man
ſeit zweitauſend Jahren für die Unſterblichkeit der Seele anführt,
und welche auch heute noch dafür geltend gemacht werden, ent-
ſpringen zum größten Theile nicht dem Streben nach Erkenntniß
der Wahrheit, ſondern vielmehr dem ſogenannten „Bedürfniß des
Gemüthes“, d. h. dem Phantaſieleben und der Dichtung. Um
mit Kant zu reden, iſt die Unſterblichkeit der Seele nicht ein
Erkenntniß-Objekt der reinen Vernunft, ſondern ein „Poſtulat
der praktiſchen Vernunft“. Dieſe letztere und die mit ihr
zuſammenhängenden „Bedürfniſſe des Gemüthes, der moraliſchen
Erziehung“ u. ſ. w. müſſen wir aber ganz aus dem Spiele
laſſen, wenn wir ehrlich und unbefangen zur reinen Erkenntniß
der Wahrheit gelangen wollen; denn dieſe iſt einzig und allein
durch empiriſch begründete und logiſch klare Schlüſſe der reinen
Vernunft möglich. Es gilt alſo hier vom Athanismus das-
ſelbe wie vom Theismus: beide ſind nur Gegenſtände der
[235]XI. Angebliche Beweiſe für die Unſterblichkeit.
myſtiſchen Dichtung, des transſcendenten „Glaubens“, nicht der
vernünftig ſchließenden Wiſſenſchaft.
Wollten wir alle die einzelnen Gründe analyſiren, welche
für den Unſterblichkeits-Glauben geltend gemacht worden ſind, ſo
würde ſich ergeben, daß nicht ein einziger derſelben wirklich
wiſſenſchaftlich iſt; kein einziger verträgt ſich mit den klaren
Erkenntniſſen, welche wir durch die phyſiologiſche Pſychologie und
die Entwickelungs-Theorie in den letzten Decennien gewonnen
haben. Der theologiſche Beweis, daß ein perſönlicher Schöpfer
dem Menſchen eine unſterbliche Seele (meiſtens als Theil ſeiner
eigenen Gottes-Seele betrachtet) eingehaucht habe, iſt reiner
Mythus. Der kosmologiſche Beweis, daß die „ſittliche Welt-
ordnung“ die ewige Fortdauer der menſchlichen Seele erfordere,
iſt unbegründetes Dogma. Der teleologiſche Beweis, daß
die „höhere Beſtimmung“ des Menſchen eine volle Ausbildung
ſeiner mangelhaften irdiſchen Seele im Jenſeits erfordere, beruht
auf einem falſchen Anthropismus. Der moraliſche Beweis,
daß die Mängel und die unbefriedigten Wünſche des irdiſchen
Daſeins durch eine „ausgleichende Gerechtigkeit“ im Jenſeits
befriedigt werden müſſen, iſt ein frommer Wunſch, weiter nichts.
Der ethnologiſche Beweis, daß der Glaube an die Unſterb-
lichkeit ebenſo wie an Gott eine angeborene, allen Menſchen
gemeinſame Wahrheit ſei, iſt thatſächlicher Irrthum. Der onto-
logiſche Beweis, daß die Seele als ein „einfaches, immaterielles
und untheilbares Weſen“ unmöglich mit dem Tode verſchwinden
könne, beruht auf einer ganz falſchen Auffaſſung der pſychiſchen
Erſcheinungen; ſie iſt ein ſpiritualiſtiſcher Irrthum. Alle dieſe
und andere ähnliche „Beweiſe für den Athanismus“ ſind hin-
fällig geworden; ſie ſind durch die wiſſenſchaftliche Kritik der
letzten Decennien definitiv widerlegt.
Beweiſe gegen den Athanismus. Gegenüber den an-
geführten, ſämmtlich unhaltbaren Gründen für die Unſterblichkeit
[236]Wirkliche Beweiſe gegen die Unſterblichkeit. XI.
der Seele iſt es bei der hohen Bedeutung dieſer Frage wohl
zweckmäßig, die wohlbegründeten, wiſſenſchaftlichen Beweiſe gegen
dieſelbe hier kurz zuſammenzufaſſen. Der phyſiologiſche
Beweis lehrt uns, daß die menſchliche Seele ebenſo wie die der
höheren Thiere kein ſelbſtändiges, immaterielles Weſen iſt, ſondern
der Kollektiv-Begriff für eine Summe von Gehirn-Funktionen;
dieſe ſind ebenſo wie alle anderen Lebensthätigkeiten durch phyſi-
kaliſche und chemiſche Proceſſe bedingt, alſo auch dem Subſtanz-
Geſetze unterworfen. Der hiſtologiſche Beweis gründet ſich
auf den höchſt verwickelten mikroſkopiſchen Bau des Gehirns und
lehrt uns in den Ganglien-Zellen desſelben die wahren „Ele-
mentar-Organe der Seele“ kennen. Der experimentelle
Beweis überzeugt uns, daß die einzelnen Seelenthätigkeiten an
einzelne Bezirke des Gehirns gebunden und ohne deren normale
Beſchaffenheit unmöglich ſind; werden dieſe Bezirke zerſtört, ſo
erliſcht damit auch deren Funktion; insbeſondere gilt dies von den
„Denkorganen“, den einzigen centralen Werkzeugen des „Geiſtes-
lebens“. Der pathologiſche Beweis ergänzt den phyſio-
logiſchen; wenn beſtimmte Gehirn-Bezirke (Sprach-Centrum, Seh-
ſphäre, Hörſphäre) durch Krankheit zerſtört werden, ſo verſchwindet
auch deren Arbeit (Sprechen, Sehen, Hören); die Natur ſelbſt
führt hier das entſcheidende phyſiologiſche Experiment aus. Der
ontogenetiſche Beweis führt uns unmittelbar die Thatſachen
der individuellen Entwickelung der Seele vor Augen; wir ſehen,
wie die Kindesſeele ihre einzelnen Fähigkeiten nach und nach
entwickelt; der Jüngling bildet ſie zur vollen Blüthe, der Mann
zur reifen Frucht aus; im Greiſen-Alter findet allmähliche Rück-
bildung der Seele ſtatt, entſprechend der ſenilen Degeneration
des Gehirns. Der phylogenetiſche Beweis ſtützt ſich auf
die Paläontologie, die vergleichende Anatomie und Phyſiologie
des Gehirns; in ihrer gegenſeitigen Ergänzung begründen dieſe
Wiſſenſchaften vereinigt die Gewißheit, daß das Gehirn des
[237]XI. Athaniſtiſche Illuſionen.
Menſchen (und alſo auch deſſen Funktion, die Seele) ſich ſtufen-
weiſe und allmählich aus demjenigen der Säugethiere und weiterhin
der niederen Wirbelthiere entwickelt hat.
Athaniſtiſche Illuſionen. Die vorhergehenden Unter-
ſuchungen, die durch viele andere Ergebniſſe der modernen
Wiſſenſchaft ergänzt werden könnten, haben das alte Dogma
von der „Unſterblichkeit der Seele“ als völlig unhaltbar nach-
gewieſen; dasſelbe kann im zwanzigſten Jahrhundert nicht mehr
Gegenſtand ernſter wiſſenſchaftlicher Forſchung, ſondern nur noch
des transſcendenten Glaubens ſein. Die „Kritik der reinen
Vernunft“ weiſt aber nach, daß dieſer hochgeſchätzte Glaube, bei
Licht betrachtet, der reine Aberglaube iſt, ebenſo wie der oft
damit verknüpfte Glaube an den „perſönlichen Gott“. Nun halten
aber noch heute Millionen von „Gläubigen“ — nicht nur aus
den niederen, ungebildeten Volksmaſſen, ſondern aus den höheren
und höchſten Bildungskreiſen — dieſen Aberglauben für ihr
theuerſtes Beſitzthum, für ihren „koſtbarſten Schatz“. Es wird
daher nöthig ſein, in den damit verknüpften Vorſtellungs-Kreis
noch etwas tiefer einzugehen und — ſeine Wahrheit voraus-
geſetzt — ſeinen wirklichen Werth einer kritiſchen Prüfung zu
unterziehen. Da ergiebt ſich denn für den objektiven Kritiker die
Einſicht, daß jener Werth zum größten Theile auf Einbildung
beruht, auf Mangel an klarem Urtheil und an folgerichtigem
Denken. Der definitive Verzicht auf dieſe „athaniſtiſchen
Illuſionen“ würde nach meiner feſten und ehrlichen Ueber-
zeugung für die Menſchheit nicht nur keinen ſchmerzlichen Ver-
luſt, ſondern einen unſchätzbaren poſitiven Gewinn bedeuten.
Das menſchliche „Gemüths-Bedürfniß“ hält den
Unſterblichkeits-Glauben beſonders aus zwei Gründen feſt, erſtens
in der Hoffnung auf ein beſſeres zukünftiges Leben im Jenſeits,
und zweitens in der Hoffnung auf Wiederſehen der theuren Lieben
und Freunde, welche uns der Tod hier entriſſen hat. Was
[238]Athaniſtiſche Illuſionen. XI.
zunächſt die erſte Hoffnung betrifft, ſo entſpringt ſie einem natür-
lichen Vergeltungs-Gefühl, das zwar ſubjektiv berechtigt, aber
objektiv ohne jeden Anhalt iſt. Wir erheben Anſprüche auf
Entſchädigung für die zahlloſen Mängel und traurigen Er-
fahrungen dieſes irdiſchen Daſeins, ohne irgend eine reale Aus-
ſicht oder Garantie dafür zu beſitzen. Wir verlangen eine un-
begrenzte Dauer eines ewigen Lebens, in welchem wir nur Luſt
und Freude, keine Unluſt und keinen Schmerz erfahren wollen.
Die Vorſtellungen der meiſten Menſchen über dieſes „ſelige
Leben im Jenſeits“ ſind höchſt ſeltſam und um ſo ſonderbarer,
als darin die „immaterielle Seele“ ſich an höchſt materiellen
Genüſſen erfreut. Die Phantaſie jeder gläubigen Perſon geſtaltet
ſich dieſe permanente Herrlichkeit entſprechend ihren perſönlichen
Wünſchen. Der amerikaniſche Indianer, deſſen Athanismus
Schiller in ſeiner nadoweſſiſchen Todtenklage ſo anſchaulich
ſchildert, hofft in ſeinem Paradieſe die herrlichſten Jagdgründe
zu finden, mit unermeßlich vielen Büffeln und Bären; der Eskimo
erwartet dort ſonnenbeſtrahlte Eisflächen mit einer unerſchöpflichen
Fülle von Eisbären, Robben und anderen Polarthieren; der ſanfte
Singhaleſe geſtaltet ſich ſein jenſeitiges Paradies entſprechend
dem wunderbaren Inſel-Paradieſe Ceylon mit ſeinen herrlichen
Gärten und Wäldern; nur ſetzt er voraus, daß jederzeit un-
begrenzte Mengen von Reis und Curry, von Kokosnüſſen und
anderen Früchten bereit ſtehen; der mohammedaniſche Araber iſt
überzeugt, daß in ſeinem Paradieſe blumenreiche, ſchattige Gärten
ſich ausdehnen, durchrauſcht von kühlen Quellen und bevölkert
mit den ſchönſten Mädchen; der katholiſche Fiſcher in Sicilien
erwartet dort täglich einen Ueberfluß der köſtlichſten Fiſche und
der feinſten Maccaroni, und ewigen Ablaß für alle Sünden, die
er auch im ewigen Leben noch täglich begehen kann; der evan-
geliſche Nordeuropäer hofft auf einen unermeßlichen gothiſchen
Dom, in welchem „ewige Lobgeſänge auf den Herrn der Heer-
[239]XI. Glück des ewigen Lebens.
ſchaaren“ ertönen. Kurz jeder Gläubige erwartet von ſeinem
ewigen Leben in Wahrheit eine direkte Fortſetzung ſeines indi-
viduellen Erden-Daſeins, nur in einer bedeutend „vermehrten
und verbeſſerten Auflage“.
Beſonders muß hier noch die durchaus materialiſtiſche
Grundanſchauung des chriſtlichen Athanismus betont
werden, die mit dem abſurden Dogma von der „Auferſtehung
des Fleiſches“ eng zuſammenhängt. Wie uns Tauſende von
Oelgemälden berühmter Meiſter verſinnlichen, gehen die „auf-
erſtandenen Leiber“ mit ihren „wiedergeborenen Seelen“ droben
im Himmel gerade ſo ſpazieren, wie hier im Jammerthal der
Erde; ſie ſchauen Gott mit ihren Augen, ſie hören ſeine Stimme
mit ihren Ohren, ſie ſingen Lieder zu ſeinen Ehren mit ihrem
Kehlkopf u. ſ. w. Kurz die modernen Bewohner des chriſtlichen
Paradieſes ſind ebenſo Doppelweſen von Leib und Seele, ebenſo
mit allen Organen des irdiſchen Leibes ausgeſtattet, wie unſere
Altvordern in Odin's Saal zu Walhalla, wie die „unſterblichen“
Türken und Araber in Mohammed's lieblichen Paradies-Gärten,
wie die altgriechiſchen Halbgötter und Helden an Zeus' Tafel
im Olymp, im Genuſſe von Nektar und Ambroſia.
Mag man ſich dieſes „ewige Leben“ im Paradieſe aber noch
ſo herrlich ausmalen, ſo muß dasſelbe auf die Dauer unendlich
langweilig werden. Und nun gar: „Ewig!“ Ohne Unter-
brechung dieſe ewige individuelle Exiſtenz fortführen! Der tief-
ſinnige Mythus vom „Ewigen Juden“, das vergebliche Ruhe-
ſuchen des unſeligen Ahasverus ſollte uns über den Werth eines
ſolchen „ewigen Lebens“ aufklären! Das Beſte, was wir uns nach
einem tüchtigen, nach unſerm beſten Gewiſſen gut angewandten
Leben wünſchen können, iſt der ewige Friede des Grabes;
„Herr, ſchenke ihnen die ewige Ruhe!“
Jeder vernünftige Gebildete, der die geologiſche Zeit-
rechnung kennt und der über die lange Reihe der Jahrmillionen
[240]Glück des ewigen Lebens. XI.
in der organiſchen Erdgeſchichte nachgedacht hat, muß bei un-
befangenem Urtheil zugeben, daß der banale Gedanke des „ewigen
Lebens“ auch für den beſten Menſchen kein herrlicher Troſt,
ſondern eine furchtbare Drohung iſt. Nur Mangel an klarem
Urtheil und folgerichtigem Denken kann dies beſtreiten.
Den beſten und den am meiſten berechtigten Grund für den
Athanismus giebt die Hoffnung, im „ewigen Leben“ die theuren
Angehörigen und Freunde wieder zu ſehen, von denen uns hier
auf Erden ein grauſames Schickſal früh getrennt hat. Aber auch
dieſes vermeintliche Glück erweiſt ſich bei näherer Betrachtung
als Illuſion; und jedenfalls würde es ſtark durch die Ausſicht
getrübt, dort auch allen den weniger angenehmen Bekannten und
den widerwärtigen Feinden zu begegnen, die hier unſer Daſein
getrübt haben. Selbſt die nächſten Familien-Verhältniſſe dürften
dann doch manche Schwierigkeiten bereiten! Viele Männer
würden gewiß gern auf alle Herrlichkeiten des Paradieſes ver-
zichten, wenn ſie die Gewißheit hätten, dort „ewig“ mit ihrer
„beſſeren Hälfte“ oder gar mit ihrer Schwiegermutter zuſammen
zu ſein. Auch iſt es fraglich, ob dort König Heinrich VIII. von
England mit ſeinen ſechs Frauen ſich dauernd wohl fühlte; oder
gar König Auguſt der Starke von Polen, der ſeine Liebe über
hundert Frauen ſchenkte und mit ihnen 352 Kinder zeugte! Da
derſelbe mit dem Papſte, als dem „Statthalter Gottes“, auf dem
beſten Fuße ſtand, müßte auch er das Paradies bewohnen, trotz
aller ſeiner Mängel und trotzdem ſeine thörichten Kriegs-Abenteuer
mehr als hunderttauſend Sachſen das Leben koſteten.
Unlösbare Schwierigkeiten bereitet auch den gläubigen
Athaniſten die Frage, in welchem Stadium ihrer indi-
viduellen Entwickelung die abgeſchiedene Seele ihr
„ewiges Leben“ fortführen ſoll? Sollen die Neugeborenen erſt
im Himmel ihre Seele entwickeln, unter demſelben harten „Kampf
um's Daſein“, der den Menſchen hier auf der Erde erzieht?
[241]XI. Unhaltbarkeit des Athanismus.
Soll der talentvolle Jüngling, der dem Maſſen-Morde des
Krieges zum Opfer fällt, erſt in Walhalla ſeine reichen, un-
genutzten Geiſtesgaben entwickeln? Soll der altersſchwache,
kindiſch gewordene Greis, der als reifer Mann die Welt mit
dem Ruhm ſeiner Thaten erfüllte, ewig als rückgebildeter Geiſt
fortleben? Oder ſoll er ſich gar in ein früheres Blüthe-Stadium
zurück entwickeln? Wenn aber die unſterblichen Seelen im
Olymp als vollkommene Weſen verjüngt fortleben ſollen,
dann iſt auch der Reiz und das Intereſſe der Perſönlichkeit
für ſie ganz verſchwunden.
Ebenſo unhaltbar erſcheint uns heute im Lichte der reinen
Vernunft der anthropiſtiſche Mythus vom „jüngſten Gericht“,
von der Scheidung aller Menſchen-Seelen in zwei große Haufen,
von denen der eine zu den ewigen Freuden des Paradieſes,
der andere zu den ewigen Qualen der Hölle beſtimmt iſt —
und das von einem perſönlichen Gotte, welcher „der Vater der
Liebe“ iſt! Hat doch dieſer liebende Allvater ſelbſt die Be-
dingungen der Vererbung und Anpaſſung „geſchaffen“, unter
denen ſich einerſeits die bevorzugten Glücklichen nothwendig
zu ſtrafloſen Seligen, andererſeits die unglücklichen Armen und
Elenden ebenſo nothwendig zu ſtrafwürdigen Verdammten
entwickeln mußten.
Eine kritiſche Vergleichung der unzähligen bunten Phantaſie-
Gebilde, welche der Unſterblichkeits-Glaube der verſchiedenen
Völker und Religionen ſeit Jahrtauſenden erzeugt hat, gewährt
das merkwürdigſte Bild; eine hochintereſſante, auf ausgedehnte
Quellen-Studien gegründete Darſtellung derſelben hat Adalbert
Svoboda gegeben in ſeinen ausgezeichneten Werken: „Seelen-
wahn“ (1886) und „Geſtalten des Glaubens“ (1897). Wie
abſurd uns auch die meiſten dieſer Mythen erſcheinen mögen,
wie unvereinbar ſie ſämmtlich mit der vorgeſchrittenen Natur-
Erkenntniß der Gegenwart ſind, ſo ſpielen ſie dennoch trotzdem
Haeckel, Welträthſel. 16
[242]Unhaltbarkeit des Athanismus. XI.
auch heute eine höchſt wichtige Rolle und üben als „Poſtulate
der praktiſchen Vernunft“ den größten Einfluß auf die Lebens-
anſchauungen der Individuen und die Geſchicke der Völker.
Die idealiſtiſche und ſpiritualiſtiſche Philoſophie der Gegen-
wart wird nun freilich zugeben, daß dieſe herrſchenden materia-
liſtiſchen Formen des Unſterblichkeits-Glaubens unhaltbar ſeien,
und ſie wird behaupten, daß an ihre Stelle die geläuterte Vor-
ſtellung von einem immateriellen Seelen-Weſen, von einer plato-
niſchen Idee oder einer transſcendenten Seelen-Subſtanz treten
müſſe. Allein mit dieſen unfaßbaren Vorſtellungen kann die
realiſtiſche Natur-Anſchauung der Gegenwart abſolut Nichts an-
fangen; ſie befriedigen weder das Kauſalitäts-Bedürfniß unſers
Verſtandes, noch die Wünſche unſers Gemüthes. Faſſen wir
Alles zuſammen, was vorgeſchrittene Anthropologie, Pſychologie
und Kosmologie der Gegenwart über den Athanismus ergründet
haben, ſo müſſen wir zu dem beſtimmten Schluſſe kommen: „Der
Glaube an die Unſterblichkeit der menſchlichen Seele iſt ein
Dogma, welches mit den ſicherſten Erfahrungs-Sätzen der modernen
Naturwiſſenſchaft in unlösbarem Widerſpruche ſteht.“
[[243]]
Zwölftes Kapitel.
Das Subſtanz-Geſetz.
Moniſtiſche Studien über das kosmologiſche Grundgeſetz.
Erhaltung der Materie und der Energie. Kinetiſcher und
pyknotiſcher Subſtanz-Begriff.
‘„Das Geſetz von der Erhaltung der Kraft
zeigt, daß die Energie des Weltalls eine konſtante
unveränderliche Größe darſtellt. Ebenſo beweiſt
das Geſetz von der Erhaltung des Stoffes, daß
die Materie des Kosmos eine konſtante unver-
änderliche Größe bildet. Beide große Geſetze, das
phyſikaliſche Grundgeſetz von der Erhaltung der
Energie und das chemiſche Grundgeſetz von der
Erhaltung der Materie, können wir zuſammen-
faſſen unter einen philoſophiſchen Begriff, als
Geſetz von der Erhaltung der Subſtanz;
denn nach unſerer moniſtiſchen Auffaſſung ſind
Kraft und Stoff untrennbar, nur verſchiedene
unveräußerliche Erſcheinungen eines einzigen Welt-
weſens, der Subſtanz.“
Der Monismus als Band zwiſchen Reli-
gion und Wiſſenſchaft (1892).’ ()
16*
[[244]]
Das chemiſche Grundgeſetz von der Erhaltung des Stoffes (Konſtanz
der Materie). Das phyſikaliſche Grundgeſetz von der Erhaltung der Kraft
(Konſtanz der Energie). Verbindung beider Grundgeſetze im Subſtanz-
Geſetz. Kinetiſcher, pyknotiſcher und dualiſtiſcher Subſtanz-Begriff.
Monismus der Materie. Maſſe oder Körperſtoff (Ponderable Materie.)
Atome und Elemente. Wahlverwandtſchaft der Elemente. Atom-Seele
(Fühlung und Strebung der Maſſe). Exiſtenz und Weſen des Aethers.
Aether und Maſſe. Kraft und Energie. Spannkraft und lebendige Kraft.
Einheit der Naturkräfte. Allmacht des Subſtanz-Geſetzes.
Baruch Spinoza,Ethica, Amſterdam 1677. Traetatuſ theologo-
politieuſ, Hamburg 1670.
Max Grunwald, Spinoza in Deutſchland. Berlin 1897. (Gekrönte Preis-
ſchrift.)
Antoine Lavoiſier, Grundriß der Chemie. 1789.
John Dalton, Ein neues Syſtem der chemiſchen Philoſophie. London
1808. (Deutſch 1812).
Guſtav Wendt, Die Entwickelung der Elemente. Entwurf zu einer bio-
genetiſchen Grundlage für Chemie und Phyſik. Berlin 1891.
Friedrich Mohr, Allgemeine Theorie der Bewegung und Kraft, als Grund-
lage der Phyſik und Chemie. Braunſchweig 1869 (Erſte Mittheilung
1837!).
Robert Mayer, Die Mechanik der Wärme (das Princip von der Erhaltung
der Kraft). Stuttgart 1842.
Hermann Helmholtz, Ueber die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847.
Heinrich Hertz, Ueber die Beziehungen zwiſchen Licht und Elektrizität.
Bonn 1889. Neunte Auflage 1895.
J. G. Vogt, Das Weſen der Elektrizität und des Magnetismus auf Grund
eines einheitlichen Subſtanz-Begriffes. Leipzig 1897.
[[245]]
Als das oberſte und allumfaſſende Naturgeſetz betrachte ich
das Subſtanz-Geſetz, das wahre und einzige kosmologiſche
Grundgeſetz; ſeine Entdeckung und Feſtſtellung iſt die größte
Geiſtesthat des 19. Jahrhunderts, inſofern alle anderen er-
kannten Naturgeſetze ſich ihm unterordnen. Unter dem Begriffe
„Subſtanz-Geſetz“ faſſen wir zwei hochſte allgemeine Ge-
ſetze verſchiedenen Urſprungs und Alters zuſammen, das ältere
chemiſche Geſetz von der „Erhaltung des Stoffes“ und das
jüngere phyſikaliſche Geſetz von der „Erhaltung der Kraft“.*)
Daß dieſe beiden Grundgeſetze der exakten Naturwiſſenſchaft im
Weſen unzertrennlich ſind, wird vielen Leſern wohl ſelbſtverſtändlich
erſcheinen, und iſt von den meiſten Naturforſchern der Gegen-
wart anerkannt. Indeſſen wird dieſe fundamentale Ueberzeugung
doch von anderer Seite noch heute vielfach beſtritten und muß
jedenfalls erſt bewieſen werden. Wir müſſen daher zunächſt einen
kurzen Blick auf beide Geſetze geſondert werfen.
Geſetz von der Erhaltung des Stoffes (oder der „Kon-
ſtanz der Materie“ Lavoiſier, 1789). Die Summe des
Stoffes, welche den unendlichen Weltraum erfüllt,
iſt unveränderlich. Wenn ein Körper zu verſchwinden
[246]Erhaltung der Stoffes. XII.
ſcheint, wechſelt er nur ſeine Form; wenn die Kohle verbrennt,
verwandelt ſie ſich durch Verbindung mit dem Sauerſtoff der
Luft in gasförmige Kohlenſäure; wenn ein Zuckerſtück ſich im
Waſſer löſt, geht ſeine feſte Form in die tropfbar flüſſige über.
Ebenſo wechſelt die Materie nur ihre Form, wenn ein neuer
Naturkörper zu entſtehen ſcheint; wenn es regnet, wird der
Waſſerdampf der Luft in Tropfenform niedergeſchlagen; wenn
das Eiſen roſtet, verbindet ſich die oberflächliche Schicht des
Metalles mit Waſſer und dem Sauerſtoff der Luft und bildet ſo
Roſt oder Eiſen-Oxyd-Hydrat. Nirgends in der Natur ſehen wir,
daß neue Materie entſteht oder „geſchaffen“ wird; nirgends
finden wir, daß vorhandene Materie verſchwindet oder in Nichts
zerfällt. Dieſer Erfahrungsſatz gilt heute als erſter und un-
erſchütterlicher Grundſatz der Chemie und kann jederzeit mittelſt
der Wage unmittelbar bewieſen werden. Es war aber das
unſterbliche Verdienſt des großen franzöſiſchen Chemikers
Lavoiſier, dieſen Beweis durch die Wage zuerſt geführt zu
haben. Heute ſind alle Naturforſcher, welche ſich Jahre lang mit
dem denkenden Studium der Natur-Erſcheinungen beſchäftigt
haben, ſo feſt von der abſoluten Konſtanz der Materie überzeugt,
daß ſie ſich das Gegentheil gar nicht mehr vorſtellen können.
Geſetz von der Erhaltung der Kraft (oder der „Konſtanz
der Energie“, Robert Mayer, 1842). Die Summe der
Kraft, welche in dem unendlichen Weltraum thätig
iſt und alle Erſcheinungen bewirkt, iſt unveränder-
lich. Wenn die Lokomotive den Eiſenbahn-Zug fortführt, ver-
wandelt ſich die Spannkraft des erhitzten Waſſerdampfes in die
lebendige Kraft der mechaniſchen Bewegung; wenn wir die
Pfeife der Lokomotive hören, werden die Schallſchwingungen der
bewegten Luft durch unſer Trommelfell und die Kette der Gehör-
knochen zum Labyrinth unſeres inneren Ohres fortgeleitet und
von da durch den Hörnerv zu den akuſtiſchen Ganglienzellen,
[247]XII. Erhaltung der Kraft.
welche die Hörſphäre im Schläfenlappen unſerer Großhirnrinde
bilden. Die ganze wunderbare Geſtaltenfülle, welche unſeren
Erdball belebt, iſt in letzter Inſtanz umgewandeltes Sonnenlicht.
Allbekannt iſt, wie gegenwärtig die bewunderungswürdigen Fort-
ſchritte der Technik dazu geführt haben, die verſchiedenen Natur-
kräfte in einander zu verwandeln: Wärme wird in Maſſen-
bewegung, dieſe wieder in Licht oder Schall, dieſe wiederum in
Elektricität übergeführt oder umgekehrt. Die genaue Meſſung
der Kraftmenge, welche bei dieſer Verwandlung thätig iſt, hat
ergeben, daß auch ſie konſtant bleibt. Kein Theilchen der be-
wegenden Kraft im Weltall geht je verloren; kein Theilchen
kommt neu hinzu. Der großen Entdeckung dieſer fundamentalen
Thatſache hatte ſich ſchon 1837 Friedrich Mohr in Bonn
ſehr genähert; ſie geſchah 1842 durch den geiſtreichen Schwäbiſchen
Arzt Robert Mayer in Heilbronn; unabhängig von ihm kam
faſt gleichzeitig der berühmte Phyſiologe Hermann Helm-
holtz auf die Erkenntniß desſelben Princips; er wies fünf
Jahre ſpäter ſeine allgemeine Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit
auf allen Gebieten der Phyſik nach. Wir würden heute ſagen
müſſen, daß es auch das geſammte Gebiet der Phyſiologie,
— d. h. der „organiſchen Phyſik!“ — beherrſche, wenn dagegen
nicht entſchiedener Widerſpruch von Seiten der vitaliſtiſchen
Biologen, ſowie der dualiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophen
erhoben würde. Dieſe erblicken in den eigenthümlichen „Geiſtes-
kräften“ des Menſchen eine Gruppe von „freien“, dem Energie-
Geſetz nicht unterworfenen Kraft-Erſcheinungen; beſonders geſtützt
wird dieſe dualiſtiſche Auffaſſung durch das Dogma von der
Willensfreiheit. Wir haben ſchon bei deren Beſprechung (S. 149)
geſehen, daß dieſelbe unhaltbar iſt. In neueſter Zeit hat die
Phyſik den Begriff der „Kraft“ und der „Energie“ getrennt;
für unſere vorliegende allgemeine Betrachtung iſt dieſe Unter-
ſcheidung gleichgültig.
[248]Monismus der Subſtanz. XII.
Einheit des Subſtanz-Geſetzes. Von größter Wichtigkeit
für unſere moniſtiſche Weltanſchauung iſt die feſte Ueberzeugung,
daß die beiden großen kosmologiſchen Grundlehren, das chemiſche
Grundgeſetz von der Erhaltung des Stoffes und das phyſikaliſche
Grundgeſetz von der Erhaltung der Kraft, untrennbar zuſammen-
gehören; beide Theorien ſind ebenſo innig verknüpft, wie ihre
beiden Objekte, Stoff und Kraft, oder Materie und Energie.
Vielen moniſtiſch denkenden Naturforſchern und Philoſophen
wird dieſe fundamentale Einheit beider Geſetze ſelbſt-
verſtändlich erſcheinen, da ja beide nur zwei verſchiedene Seiten
eines und desſelben Objektes, des „Kosmos“ betreffen; indeſſen
iſt dieſe naturgemäße Ueberzeugung weit entfernt, ſich allgemeiner
Anerkennung zu erfreuen. Sie wird vielmehr energiſch bekämpft
von der geſammten dualiſtiſchen Philoſophie, von der vitaliſtiſchen
Biologie, der paralleliſtiſchen Pſychologie; ja ſogar von vielen
(inkonſequenten!) Moniſten, welche im „Bewußtſein“ oder in der
höheren Geiſtesthätigkeit des Menſchen, oder auch in anderen
Erſcheinungen des „freien Geiſteslebens“ einen Gegenbeweis zu
finden glauben.
Ich betone daher ganz beſonders die fundamentale Be-
deutung des einheitlichen Subſtanz-Geſetzes als Ausdruck
des untrennbaren Zuſammenhanges jener beiden begrifflich ge-
trennten Geſetze. Daß dieſelben urſprünglich nicht zuſammen-
gefaßt und nicht in dieſer Einheit erkannt wurden, ergiebt ſich
ja ſchon aus der Thatſache ihrer verſchiedenen Entdeckungs-
Zeit. Das ältere und näher liegende chemiſche Grundgeſetz von
der „Konſtanz der Materie“ wurde von Lavoiſier ſchon 1789
erkannt und durch allgemeine Anwendung der Wage zur Baſis
der exakten Chemie erhoben. Hingegen wurde das jüngere und
viel verborgenere Grundgeſetz von der „Konſtanz der Energie“
erſt 1842 von Robert Mayer entdeckt und erſt von Helm-
holtz als Grundlage der exakten Phyſik hingeſtellt. Die Einheit
[249]XII. Moniſtiſcher Subſtanz-Begriff.
beider Grundgeſetze, welche noch heute vielfach beſtritten wird,
drücken viele überzeugte Naturforſcher in der Benennung aus:
„Geſetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes“. Um
einen kürzeren und bequemeren Ausdruck für dieſen fundamentalen,
aus neun Worten zuſammengeſetzten Begriff zu haben, habe ich
ſchon vor längerer Zeit vorgeſchlagen, dasſelbe das „Subſtanz-
Geſetz“ oder das „kosmologiſche Grundgeſetz“ zu nennen; man
könnte es auch das Univerſal-Geſetz oder Konſtanz-Geſetz
nennen, oder auch das „Axiom von der Konſtanz des
Univerſum“; im Grunde genommen folgt dasſelbe nothwendig
aus dem Princip der Kauſalität*).
Subſtanz-Begriff. Der erſte Denker, der den reinen
moniſtiſchen „Subſtanz-Begriff“ in die Wiſſenſchaft ein-
führte und ſeine fundamentale Bedeutung erkannte, war der große
Philoſoph Baruch Spinoza; ſein Hauptwerk erſchien kurz
nach ſeinem frühzeitigen Tode, 1677, gerade hundert Jahre
bevor Lavoiſier vermittelſt des chemiſchen Hauptinſtruments,
der Wage, die Konſtanz der Materie experimentell bewies. In
ſeiner großartigen pantheiſtiſchen Weltanſchauung fällt der Be-
griff der Welt (Univerſum, Kosmos) zuſammen mit dem all-
umfaſſenden Begriff Gott; ſie iſt gleichzeitig der reinſte und
vernünftigſte Monismus, und der geklärteſte und abſtrakteſte
Monotheismus. Dieſe Univerſal-Subſtanz oder
dieſes „göttliche Weltweſen“ zeigt uns zwei verſchiedene Seiten
ſeines wahren Weſens, zwei fundamentale Attribute: die
Materie (der unendliche ausgedehnte Subſtanz-Stoff) und
der Geiſt (die allumfaſſende denkende Subſtanz-Energie).
Alle Wandelungen, die ſpäter der Subſtanz-Begriff gemacht hat,
kommen bei konſequenter Analyſe auf dieſen höchſten Grund-
[250]Der kinetiſche Subſtanz-Begriff. XII.
begriff von Spinoza zurück, den ich mit Goethe für einen
der erhabenſten, tiefſten und wahrſten Gedanken aller Zeiten
halte. Alle einzelnen Objekte der Welt, die unſerer Er-
kenntniß zugänglich ſind, alle individuellen Formen des Daſeins,
ſind nur beſondere vergängliche Formen der Subſtanz, Acci-
denzien oder Moden. Dieſe Modi ſind körperliche Dinge,
materielle Körper, wenn wir ſie unter dem Attribut der Aus-
dehnung (der „Raumerfüllung“) betrachten, dagegen Kräfte
oder Ideen, wenn wir ſie unter dem Attribut des Denkens
(der „Energie“) betrachten. Auf dieſe Grundvorſtellung von
Spinoza kommt auch unſer gereinigter Monismus nach
200 Jahren zurück; auch für uns ſind Materie (der raum-
erfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft) nur zwei
untrennbare Attribute der einen Subſtanz.
Der kinetiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Schwin-
gung oder Vibration). Unter den verſchiedenen Modifikationen,
welche der fundamentale Subſtanz-Begriff in der neueren Phyſik,
in Verbindung mit der herrſchenden Atomiſtik angenommen hat,
mögen hier nur zwei extrem divergirende Theorien kurz be-
leuchtet werden, die kinetiſche und pyknotiſche. Beide Subſtanz-
Theorien ſtimmen darin überein, daß es gelungen iſt, alle ver-
ſchiedenen Naturkräfte auf eine gemeinſame Urkraft zurück-
zuführen; Schwere und Chemismus, Elektricität und Magnetis-
mus, Licht und Wärme u. ſ. w. ſind nur verſchiedene Aeußerungs-
weiſen, Kraftformen oder Dynamoden einer einzigen Urkraft
(Prodynamiſ). Dieſe gemeinſame, alleinige Urkraft wird meiſtens
als eine ſchwingende Bewegung der kleinſten Maſſentheilchen
gedacht, als eine Vibration der Atome. Die Atome ſelbſt
ſind dem gewöhnlichen „kinetiſchen Subſtanz-Begriff“ zufolge
todte diskrete Körpertheilchen, welche im leeren Raum ſchwingen
und in die Ferne wirken. Der eigentliche Begründer und an-
geſehenſte Vertreter dieſer kinetiſchen Subſtanz-Theorie iſt der
[251]XII. Schwingung der Subſtanz.
große Mathematiker Newton, der berühmte Entdecker des
Gravitations-Geſetzes. In ſeinem Hauptwerke: „Philo-
ſophiae naturaliſ principia mathematica“ (1687) wies er
nach, daß im ganzen Weltall ein und dasſelbe Grundgeſetz der
Maſſenanziehung, dieſelbe unveränderliche Gravitations-
Konſtante herrſcht; die Anziehung von je zwei Maſſentheilchen
ſteht im geraden Verhältniß ihrer Maſſen und im umgekehrten
Verhältniß des Quadrats ihrer Entfernungen. Dieſe allgemeine
„Schwerkraft“ bewirkt ebenſo die Bewegung des fallenden
Apfels und die Fluthwelle des Meeres, wie den Umlauf der
Planeten um die Sonne und die kosmiſchen Bewegungen aller
Weltkörper. Das unſterbliche Verdienſt von Newton war,
dieſes Gravitations-Geſetz endgültig feſtzuſtellen und dafür eine
unanfechtbare mathematiſche Formel zu finden. Aber dieſe
todte mathematiſche Formel, auf welche die meiſten
Naturforſcher hier, wie in vielen anderen Fällen, das größte
Gewicht legen, giebt uns bloß die quantitative Beweis-
führung für die Theorie, ſie gewährt uns nicht die mindeſte
Einſicht in das qualitative Weſen der Erſcheinungen. Die
unvermittelte Fernwirkung, welche Newton aus ſeinem
Gravitations-Geſetz ableitete und welche zu einem der wichtigſten
und gefährlichſten Dogmen der ſpäteren Phyſik wurde, giebt uns
nicht den mindeſten Aufſchluß über die eigentlichen Urſachen der
Maſſen-Anziehung; vielmehr verſperrt ſie uns den Weg zu deren
Erkenntniß. Ich vermuthe, daß die fortgeſetzten Spekulationen
über ſeine myſteriöſe Fernwirkung nicht wenig dazu beigetragen
haben, den ſcharfſinnigen engliſchen Mathematiker ſpäter in das
dunkle Labyrinth myſtiſcher Träumerei und theiſtiſchen Aber-
glaubens zu verführen, in dem er die letzten 34 Jahre ſeines
Lebens wandelte; er ſtellte zuletzt ſogar metaphyſiſche Hypotheſen
über die Wahrſagerei des Propheten Daniel auf und über die
widerſinnigen Phantaſtereien der Offenbarung Sankt Johannis!
[252]Der pyknotiſche Subſtanz-Begriff. XII.
Der pyknotiſche Subſtanz-Begriff (Urprincip der Ver-
dichtung oder Pyknoſe). Im principiellen Gegenſatze zu der
herrſchenden Vibrations-Lehre oder der kinetiſchen Subſtanz-
Theorie ſteht die moderne Denſations-Lehre oder die pykno-
tiſche Subſtanz-Theorie. Dieſelbe iſt am eingehendſten von
J. G. Vogt begründet, in ſeinem ideenreichen Werke über „Das
Weſen der Elektricität und des Magnetismus auf Grund eines
einheitlichen Subſtanz-Begriffes“ (1891). Vogt nimmt als die
gemeinſame Urkraft des Weltalls, als die univerſelle Prody-
namis, nicht die Schwingung oder Vibration der be-
wegten Maſſentheilchen im leeren Raume an, ſondern die indi-
viduelle Verdichtung oder Denſation einer einheitlichen Sub-
ſtanz, welche den ganzen unendlichen Weltraum kontinuirlich,
d. h. lückenlos und ununterbrochen erfüllt; die einzige derſelben
innewohnende mechaniſche Wirkungsform (Agens) beſteht darin,
daß durch das Verdichtungs- oder Kontraktions-Beſtreben un-
endlich kleine Verdichtungs-Centren entſtehen, die zwar ihren
Dichtegrad und damit ihr Volumen ändern können, aber an
und für ſich beſtändig ſind. Dieſe individuellen kleinſten Theilchen
der univerſalen Subſtanz, die Verdichtungs-Centren, die man
Pyknatome nennen könnte, entſprechen im Allgemeinen den
Uratomen oder letzten diskreten Maſſentheilchen des kinetiſchen
Subſtanz-Begriffes; ſie unterſcheiden ſich aber ſehr weſentlich
dadurch, daß ſie Empfindung und Streben (oder Willens-
bewegung einfachſter Art) beſitzen, alſo im gewiſſen Sinne
beſeelt ſind — ein Anklang an des alten Empedokles
Lehre vom „Lieben und Haſſen der Elemente“. Auch ſchweben
dieſe „beſeelten Atome“ nicht im leeren Raume, ſondern in der
kontinuirlichen, äußerſt dünnen Zwiſchenſubſtanz, welche den nicht
verdichteten Theil der Urſubſtanz darſtellt. Durch gewiſſe „Kon-
ſtellationen, Störungscentren oder Deformirungs-Syſteme“,
treten große Maſſen von Verdichtungscentren raſch in gewaltiger
[253]XII. Verdichtung der Subſtanz.
Ausdehnung zuſammen und erlangen ein Uebergewicht über die
umlagernden Maſſen. Dadurch ſcheidet oder differenzirt ſich die
Subſtanz, die im urſprünglichen Ruhezuſtand überall die gleiche
mittlere Dichte beſitzt, in zwei Hauptbeſtandtheile; die Störungs-
Centren, welche die mittlere Dichte durch Pyknoſe poſitiv
überſchreiten, bilden die wägbaren Maſſen der Weltkörper (die
ſogenannte „ponderable Materie“); die dünnere Zwiſchen-
ſubſtanz dagegen, welche zwiſchen ihnen den Raum erfüllt und
die mittlere Dichte negativ überſchreitet, bildet den Aether
(die „imponderable Materie“). Die Folge dieſer Scheidung
zwiſchen Maſſe und Aether iſt ein ununterbrochener Kampf dieſer
beiden antagoniſtiſchen Subſtanz-Theile, und dieſer Kampf iſt
die Urſache aller phyſikaliſchen Proceſſe. Die poſitive Maſſe,
der Träger des Luſtgefühls, ſtrebte immer mehr, den begonnenen
Verdichtungs-Proceß zu vollenden und ſammelt die höchſten
Werthe potentieller Energie; der negative Aether um-
gekehrt ſträubt ſich in gleichem Maße gegen jede weitere
Steigerung ſeiner Spannung und des damit verknüpften Unluſt-
gefühls; er ſammelt die höchſten Werthe aktueller Energie.
Es würde hier viel zu weit führen, wollte ich näher auf
die ſinnreiche Verdichtungs-Theorie von J. G. Vogt eingehen;
der Leſer, der ſich dafür intereſſirt, muß die Vorſtellungs-Gruppen,
deren Schwierigkeit im Gegenſtande ſelbſt liegt, in dem klar
geſchriebenen, populären Auszug aus dem zweiten Bande des
citirten Werkes zu erfaſſen ſuchen. Ich ſelbſt bin zu wenig mit
Phyſik und Mathematik vertraut, um die Licht- und Schatten-
ſeiten derſelben kritiſch ſondern zu können; ich glaube jedoch,
daß dieſer pyknotiſche Subſtanz-Begriff für jeden Biologen,
der von der Einheit der Natur überzeugt iſt, in mancher
Hinſicht annehmbarer erſcheint, als der gegenwärtig in der Phyſik
herrſchende kinetiſche Subſtanz-Begriff. Ein Mißverſtändniß
kann leicht dadurch entſtehen, daß Vogt ſeinen Weltproceß der
[254]Moniſtiſche Subſtanz-Theorie. XII.
Verdichtung in principiellen Gegenſatz ſtellt zu dem allgemeinen
Vorgang der Bewegung — er meint damit die Schwingung
im Sinne der modernen Phyſik. Auch ſeine hypothetiſche „Ver-
dichtung“ (Pyknoſis) iſt ebenſo durch Bewegung der Sub-
ſtanz bedingt, wie die hypothetiſche „Schwingung“ (Vibration);
nur iſt die Art der Bewegung und das Verhalten der bewegten
Subſtanz-Theilchen nach der erſteren Hypotheſe ganz anders als
nach der letzteren. Uebrigens wird durch die Verdichtungslehre
keineswegs die geſammte Schwingungslehre beſeitigt, ſondern
nur ein wichtiger Theil derſelben.
Die moderne Phyſik hält gegenwärtig zum größten Theile
noch zäh an der älteren Vibrations-Theorie feſt, an der Vor-
ſtellung der unvermittelten Fernwirkung und der ewigen Schwin-
gung todter Atome im leeren Raume; ſie verwirft daher die
Pyknoſe-Theorie. Wenn dieſe letztere nun auch keineswegs
vollendet ſein mag, und wenn Vogt's originelle Spekulationen
auch mehrfach irre gehen, ſo erblicke ich doch ein großes Ver-
dienſt dieſes Naturphiloſophen darin, daß er jene unhaltbaren
Principien der kinetiſchen Subſtanz-Theorie eliminirt. Für
meine eigene Vorſtellung, wie für diejenige vieler anderer den-
kender Naturforſcher, muß ich die folgenden, in Vogt's pykno-
tiſcher Subſtanz-Theorie enthaltenen Grundſätze als unentbehrlich
für eine wirklich moniſtiſche, das ganze organiſche und an-
organiſche Naturgebiet umfaſſende Subſtanz-Anſicht hinſtellen:
I. Die beiden Hauptbeſtandtheile der Subſtanz, Maſſe und
Aether, ſind nicht todt und nur durch äußere Kräfte beweglich,
ſondern ſie beſitzen Empfindung und Willen (natürlich niederſten
Grades!); ſie empfinden Luſt bei Verdichtung, Unluſt bei
Spannung; ſie ſtreben nach der erſteren und kämpfen gegen
letztere. II. Es giebt keinen leeren Raum; der Theil des un-
endlichen Raumes, welchen nicht die Maſſen-Atome einnehmen,
iſt vom Aether erfüllt. III. Es giebt keine unvermittelte Fern-
[255]XII. Dualiſtiſche Subſtanz-Theorie.
wirkung durch den leeren Raum; alle Wirkung der Körpermaſſen
auf einander iſt entweder durch unmittelbare Berührung, durch
Kontakt der Maſſen bedingt, oder ſie wird durch den Aether
vermittelt.
Der dualiſtiſche Subſtanz-Begriff. Die beiden Subſtanz-
Theorien, die wir vorſtehend einander gegenüber geſtellt haben,
ſind beide im Princip moniſtiſch, da der Gegenſatz zwiſchen
den beiden Hauptbeſtandtheilen der Subſtanz, Maſſe und Aether,
kein urſprünglicher iſt; auch muß eine beſtändige direkte Be-
rührung und Wechſelwirkung beider Subſtanzen auf einander
angenommen werden. Ganz anders verhält es ſich mit den
dualiſtiſchen Subſtanz-Theorien, welche noch heute in der
idealiſtiſchen und ſpiritualiſtiſchen Philoſophie herrſchend ſind;
dieſe werden auch von der einflußreichen Theologie geſtützt, ſoweit
ſich dieſelbe überhaupt auf ſolche metaphyſiſche Spekulationen
einläßt. Hiernach ſind zwei ganz verſchiedene Hauptbeſtandtheile
der Subſtanz zu unterſcheiden, materielle und immaterielle.
Die materielle Subſtanz bildet die „Körperwelt“, deren
Erforſchung Objekt der Phyſik und Chemie iſt; hier allein gilt
das Geſetz von der Erhaltung der Materie und der Energie
(ſoweit man nicht überhaupt an deren „Erſchaffung aus Nichts“
und an andere Wunder glaubt!). Die immaterielle Subſtanz
hingegen bildet die „Geiſteswelt“, in welcher jenes Geſetz
nicht gilt; hier gelten die Geſetze der Phyſik und Chemie ent-
weder gar nicht, oder ſie ſind der „Lebenskraft“ unterworfen,
oder dem „freien Willen“, oder der „göttlichen Allmacht“, oder
anderen ſolchen Geſpenſtern von denen die kritiſche Wiſſen-
ſchaft nichts weiß. Eigentlich bedürfen dieſe principiellen
Irrthümer heute keiner Widerlegung mehr; denn die Erfahrung
hat uns bis auf den heutigen Tag keine einzige immaterielle
Subſtanz kennen gelehrt, keine einzige Kraft, welche nicht an
den Stoff gebunden iſt, keine einzige Form der Energie, welche
[256]Maſſe (Ponderable Materie). XII.
nicht durch Bewegungen der Materie vermittelt wird, ſei es nur
der Maſſe oder des Aethers oder beider Beſtandtheile. Auch die
komplicirteſten und vollkommenſten Energie-Formen, welche wir
kennen, das Seelenleben der höheren Thiere, Denken und Ver-
nunft des Menſchen, beruhen auf materiellen Vorgängen, auf
Veränderungen im Neuroplasma der Ganglienzellen; ſie ſind
ohne dieſelben nicht denkbar. Daß die phyſiologiſche Hypotheſe
einer beſonderen immateriellen „Seelen-Subſtanz“ unhaltbar iſt,
habe ich ſchon früher nachgewieſen (im elften Kapitel).
Maſſe oder Körperſtoff (Ponderable Materie). Die
Erkenntniß dieſes wägbaren Theiles der Materie iſt in erſter
Linie Gegenſtand der Chemie. Allbekannt ſind die erſtaunlichen
theoretiſchen Fortſchritte, welche dieſe Wiſſenſchaft im Laufe des
neunzehnten Jahrhunderts gemacht hat, und der ungeheure Ein-
fluß, welchen ſie auf alle Seiten des praktiſchen Kultur-Lebens
gewonnen hat. Wir begnügen uns daher mit wenigen Be-
merkungen über die wichtigſten principiellen Fragen von der
Natur der Maſſe. Der analytiſchen Chemie iſt es bekanntlich
gelungen, alle die unzähligen verſchiedenen Naturkörper durch
Zerlegung auf eine geringe Zahl von Urſtoffen oder Elementen
zurückzuführen, d. h. auf einfache Körper, welche nicht weiter
zerlegt werden können. Die Zahl dieſer Elemente beträgt un-
gefähr ſiebenzig. Nur der kleinere Theil derſelben (eigentlich nur
vierzehn) iſt allgemein auf der Erde verbreitet und von hoher
Bedeutung; die größere Hälfte beſteht aus ſeltenen und weniger
wichtigen Elementen (meiſtens Metallen). Die gruppenweiſe
Verwandtſchaft dieſer Elemente und die merkwürdigen Be-
ziehungen ihrer Atomgewichte, welche Lothar Meyer und
Mendelejeff in ihrem „Periodiſchen Syſtem der Ele-
mente“ nachgewieſen haben, machen es ſehr wahrſcheinlich,
daß dieſelben keine abſoluten Species der Maſſe, keine
ewig unveränderlichen Größen ſind. Man hat nach jenem Syſtem
[257]XII. Urſprung der Elemente.
die 70 Elemente auf acht Hauptgruppen vertheilt und innerhalb
derſelben nach der Größe ihrer Atomgewichte geordnet, ſo daß
die chemiſch ähnlichen Elemente Familien-Reihen bilden. Die
gruppenweiſen Beziehungen im natürlichen Syſtem der Elemente
erinnern einerſeits an ähnliche Verhältniſſe der mannigfach zu-
ſammengeſetzten Kohlenſtoff-Verbindungen, andererſeits an die Be-
ziehungen paralleler Gruppen, wie ſie im natürlichen Syſtem
der Thier- und Pflanzen-Arten ſich zeigen. Wie nun in dieſen
letzteren Fällen die „Verwandtſchaft“ der ähnlichen Geſtalten
auf Abſtammung von gemeinſamen einfachen Stammformen beruht,
ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß auch dasſelbe für die Familien und
Ordnungen der Elemente gilt. Wir dürfen daher annehmen,
daß die jetzigen „empiriſchen Elemente“ keine wirklich einfachen
und unveränderlichen „Species der Maſſe“ ſind, ſondern
urſprünglich zuſammengeſetzt aus gleichartigen einfachen Ur-
atomen in verſchiedener Zahl und Lagerung. Neuerdings haben
die Spekulationen von Guſtav Wendt, Wilhelm Preyer,
W. Crookes u. A. gezeigt, in welcher Weiſe man ſich die
Sonderung der Elemente aus einem einzigen urſprünglichen Ur-
ſtoff, dem Prothyl, vorſtellen kann.
Atome und Elemente. Die moderne Atomlehre, wie
ſie heute der Chemie als unentbehrliches Hülfsmittel erſcheint,
iſt wohl zu unterſcheiden von dem alten philoſophiſchen Ato-
mismus, wie er ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren von
hervorragenden moniſtiſchen Philoſophen des Alterthums gelehrt
wurde, von Leukippos, Demokritos und Lucretius;
ſpäter fand derſelbe eine weitere und mannigfach verſchiedene
Ausbildung durch Descartes, Hobbes, Leibniz und
andere hervorragende Philoſophen. Eine beſtimmte annehmbare
Faſſung und empiriſche Begründung fand aber der
moderne Atomismus erſt 1808 durch den engliſchen
Chemiker Dalton, welcher das „Geſetz der einfachen und
Haeckel, Welträthſel. 17
[258]Wahlverwandtſchaft der Elemente. XII.
multiplen Proportionen“ bei der Bildung chemiſcher Ver-
bindungen aufſtellte. Er beſtimmte zuerſt die Atomgewichte
der einzelnen Elemente und ſchuf damit die unerſchütter-
liche, exakte Baſis, auf welcher die neueren chemiſchen
Theorien ruhen; dieſe ſind ſämmtlich atomiſtiſch, inſofern ſie
die Elemente aus gleichartigen, kleinſten, diskreten Theilchen zu-
ſammengeſetzt annehmen, die nicht weiter zerlegt werden können.
Dabei bleibt die Frage nach dem eigentlichen Weſen der
Atome, ihrer Geſtalt, Größe, Beſeelung u. ſ. w. ganz außer
Spiele; denn dieſe Qualitäten derſelben ſind hypothetiſch;
empiriſch dagegen iſt der Chemismus der Atome oder ihre
„chemiſche Affinität“, d. h. die konſtante Proportion, in der ſie
ſich mit den Atomen anderer Elemente verbinden *).
Wahlverwandtſchaft der Elemente. Das verſchiedene
Verhalten der einzelnen Elemente gegen einander, das die Chemie
als „Affinität oder Verwandtſchaft“ bezeichnet, iſt eine der wichtig-
ſten Eigenſchaften der Maſſe und äußert ſich in den verſchiedenen
Mengen-Verhältniſſen oder Proportionen, in denen ihre Ver-
bindung ſtattfindet, und in der Intenſität, mit der dieſelbe
erfolgt. Alle Grade der Zuneigung, von der vollkommenen
Gleichgültigkeit bis zur heftigſten Leidenſchaft, finden ſich in
dem chemiſchen Verhalten der verſchiedenen Elemente gegen
einander ebenſo wieder, wie ſie in der Pſychologie des Menſchen
und namentlich in der Zuneigung der beiden Geſchlechter die
größte Rolle ſpielen. Goethe hat bekanntlich in ſeinem
klaſſiſchen Roman „Die Wahlverwandtſchaften“ die Ver-
hältniſſe der Liebes-Paare in eine Reihe geſtellt mit der gleich-
namigen Erſcheinung bei Bildung chemiſcher Verbindungen. Die
unwiderſtehliche Leidenſchaft, welche Eduard zu der ſympathiſchen
Ottilie, Paris zu Helena hinzieht und alle Hinderniſſe der Ver-
[259]XII. Wahlverwandtſchaft der Elemente.
nunft und Moral überwindet, iſt dieſelbe mächtige „unbewußte“
Attraktions-Kraft, welche bei der Befruchtung der Thier- und
Pflanzen-Eier den lebendigen Samenfaden zum Eindringen in
die Eizelle (aber auch zur Aepfelſäure!) antreibt; dieſelbe heftige
Bewegung, durch welche zwei Atome Waſſerſtoff und ein Atom
Sauerſtoff ſich zur Bildung von einem Molekel Waſſer ver-
einigen. Dieſe principielle Einheit der Wahlverwandt-
ſchaft in der ganzen Natur, vom einfachſten chemiſchen
Proceß bis zu dem verwickeltſten Liebesroman hinauf, hat ſchon
der große griechiſche Naturphiloſoph Empedokles im fünften
Jahrhundert v. Chr. erkannt, in ſeiner Lehre vom „Lieben
und Haſſen der Elemente“. Sie findet ihre empiriſche
Beſtätigung durch die intereſſanten Fortſchritte der Cellular-
Pſychologie, deren hohe Bedeutung wir erſt in den letzten
dreißig Jahren gewürdigt haben. Wir gründen darauf unſere
Ueberzeugung, daß auch ſchon den Atomen die einfachſte Form
der Empfindung und des Willens innewohnt — oder beſſer
geſagt: der Fühlung(Aeſtheſiſ) und der Strebung (Tro-
peſiſ) —, alſo eine univerſale „Seele“ von primitivſter Art.
Dasſelbe gilt aber auch von den Molekeln oder Maſſentheilchen,
welche aus zwei oder mehreren Atomen ſich zuſammenſetzen. Aus
der weiteren Verbindung verſchiedener ſolcher Molekeln (oder
Moleküle) entſtehen dann die einfachen und weiterhin die zu-
ſammengeſetzten chemiſchen Verbindungen, in deren Aktion ſich
dasſelbe Spiel in verwickelterer Form wiederholt.
Aether (imponderable Materie). Die Erkenntniß
dieſes unwägbaren Theiles der Materie iſt in erſter Linie
Gegenſtand der Phyſik. Nachdem man ſchon lange die
Exiſtenz eines äußerſt feinen, den Raum außerhalb der Maſſe
erfüllenden Mediums angenommen und dieſen „Aether“ zur Er-
klärung verſchiedener Erſcheinungen (vor Allem des Lichtes)
verwendet hatte, iſt uns die nähere Bekanntſchaft mit dieſem
17*
[260]Exiſtenz des Aethers. XII.
wunderbaren Stoffe erſt in der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts gelungen, und zwar im Zuſammenhang mit den
erſtaunlichen empiriſchen Entdeckungen auf dem Gebiete der
Elektricität, mit ihrer experimentellen Erkenntniß, ihrem
theoretiſchen Verſtändniß und ihrer praktiſchen Verwerthung.
Vor Allem ſind hier bahnbrechend geworden die berühmten
Unterſuchungen von Heinrich Hertz in Bonn (1888); der
frühzeitige Tod dieſes genialen jungen Phyſikers, der das
Größte zu erreichen verſprach, iſt nicht genug zu beklagen; er
gehört ebenſo wie der allzu frühe Tod von Spinoza, von
Raffael, von Schubert und vielen anderen genialen Jünglingen
zu jenen brutalen Thatſachen der menſchlichen Geſchichte,
welche für ſich allein ſchon den unhaltbaren Mythus von einer
„weiſen Vorſehung“ und von einem „allliebenden Vater im
Himmel“ gründlich widerlegen.
Die Exiſtenz des Aethers oder „Weltäthers“ (Kosmo-
äthers) als realer Materie iſt heute (ſeit 12 Jahren) eine
poſitive Thatſache. Man kann allerdings auch heute noch
vielfach leſen, daß der Aether eine „bloße Hypotheſe“ ſei; dieſe
irrthümliche Behauptung wird nicht nur von unkundigen Philo-
ſophen und populären Schriftſtellern wiederholt, ſondern auch
von einzelnen „vorſichtigen exakten Phyſikern“. Mit demſelben
Rechte müßte man aber auch die Exiſtenz der ponderablen
Materie, der Maſſe leugnen. Freilich giebt es heute noch
Metaphyſiker, die auch dieſes Kunſtſtück zu Stande bringen,
und deren höchſte Weisheit darin beſteht, die Realität der
Außenwelt zu leugnen oder doch zu bezweifeln; nach ihnen
exiſtirt eigentlich nur ein einziges reales Weſen, nämlich ihre
eigene theure Perſon, oder vielmehr deren unſterbliche Seele.
Neuerdings haben ſogar einige hervorragende Phyſiologen dieſen
ultra-idealiſtiſchen Standpunkt acceptirt, der ſchon in der Meta-
phyſik von Descartes, Berkeley, Fichte u. A. ausgebildet
[261]XII. Weſen des Aethers.
war; ihr „Pſychomonismus“ behauptet: „Es exiſtirt nur
eins, und das iſt meine Pſyche.“ Uns ſcheint dieſe kühne
ſpiritualiſtiſche Behauptung auf einer irrthümlichen Schluß-
folgerung aus der richtigen kritiſchen Erkenntniß Kant's zu
beruhen, daß wir die umgebende Außenwelt nur in derjenigen
Erſcheinung erkennen können, welche uns durch unſere menſch-
lichen Erkenntniß-Organe zugänglich iſt, durch das Gehirn
und die Sinnesorgane. Wenn wir aber auch durch deren
Funktion nur eine unvollkommene und beſchränkte Kenntniß von
der Körperwelt erlangen können, ſo dürfen wir daraus nicht
das Recht entnehmen, ihre Exiſtenz zu leugnen. In meiner
Vorſtellung wenigſtens exiſtirt der Aether ebenſo ſicher wie
die Maſſe; ebenſo ſicher wie ich ſelbſt, wenn ich jetzt darüber
nachdenke und ſchreibe. Wie wir uns von der Realität der
ponderablen Materie durch Maß und Gewicht, durch chemiſche
und mechaniſche Experimente überzeugen, ſo von derjenigen des
imponderablen Aethers durch die optiſchen und elektriſchen
Erfahrungen und Verſuche.
Weſen des Aethers. Wenn nun auch heute von faſt
allen Phyſikern die reale Exiſtenz des Aethers als eine poſitive
Thatſache betrachtet wird, und wenn uns auch viele Wirkungen
dieſer wunderbaren Materie durch unzählige Erfahrungen, be-
ſonders optiſche und elektriſche Verſuche, genau bekannt ſind,
ſo iſt es doch bisher nicht gelungen, Klarheit und Sicherheit
über ihr eigentliches Weſen zu gewinnen. Vielmehr gehen
auch heute noch die Anſichten der hervorragendſten Phyſiker,
die ſie ſpeciell ſtudirt haben, ſehr weit aus einander; ja ſie
widerſprechen ſich ſogar in den wichtigſten Punkten. Es ſteht
daher Jedem frei, ſich bei der Wahl zwiſchen den wider-
ſprechenden Hypotheſen ſeine eigene Meinung zu bilden, ent-
ſprechend dem Grade ſeiner Sachkenntniß und Urtheilskraft (die
ja beide immer unvollkommen bleiben!). Die Meinung, die
[262]Eigenſchaften des Aethers. XII.
ich perſönlich (als bloßer Dilettant auf dieſem Gebiete!) mir
durch reifliches Nachdenken gebildet habe, faſſe ich in folgenden
acht Sätzen zuſammen:
I. Der Aether erfüllt als eine kontinuirliche Materie
den ganzen Weltraum, ſoweit dieſer nicht von der Maſſe (oder
der ponderablen Materie) eingenommen iſt; er füllt auch alle
Zwiſchenräume zwiſchen den Atomen der letzteren vollſtändig
aus. II. Der Aether beſitzt wahrſcheinlich noch keinen
Chemismus und iſt noch nicht aus Atomen zuſammengeſetzt,
wie die Maſſe; wenn man annimmt, derſelbe ſei aus äußerſt
kleinen, gleichartigen Atomen zuſammengeſetzt (z. B. untheilbaren
Aetherkugeln von gleicher Größe), ſo muß man weiterhin auch
annehmen, daß zwiſchen denſelben noch etwas Anderes exiſtirt,
entweder der „leere Raum“ oder ein drittes (ganz unbekanntes)
Medium, ein völlig hypothetiſcher „Interäther“; bei der
Frage nach deſſen Weſen würde ſich dann dieſelbe Schwierigkeit,
wie beim Aether erheben (in infinitum!). III. Da die An-
nahme des leeren Raumes und der unvermittelten Fernwirkung
beim jetzigen Stande unſeres Naturerkennens kaum mehr möglich
iſt (wenigſtens zu keiner klaren moniſtiſchen Vorſtellung führt),
ſo nehme ich eine eigenthümliche Struktur des Aethers
an, die nicht atomiſtiſch iſt, wie diejenige der ponderablen
Maſſe, und die man vorläufig (ohne weitere Beſtimmung) als
ätheriſche oder dynamiſche Struktur bezeichnen kann.
IV. Der Aggregat-Zuſtand des Aethers iſt, dieſer Hypo-
theſe zufolge, ebenfalls eigenthümlich und von demjenigen der
Maſſe verſchieden; er iſt weder gasförmig, wie einige, noch
feſt, wie andere Phyſiker annehmen; die beſte Vorſtellung
davon gewinnt man vielleicht durch den Vergleich mit einer
äußerſt feinen, elaſtiſchen und leichten Gallerte. V. Der Aether
iſt imponderable Materie in dem Sinne, daß wir kein
Mittel beſitzen, ſein Gewicht experimentell zu beſtimmen; wenn
[263]XII. Eigenſchaften des Aethers.
er wirklich Gewicht beſitzt, was ſehr wahrſcheinlich iſt, ſo iſt
dasſelbe äußerſt gering und für unſere feinſten Waagen unmeßbar;
einige Phyſiker haben verſucht, aus der Energie der Licht-
wellen das Gewicht des Aethers zu berechnen; ſie haben ge-
funden, daß es etwa 15 Trillionen mal geringer ſei als das
der athmoſphäriſchen Luft; immerhin ſoll eine Aether-Kugel vom
Volumen unſerer Erde mindeſtens 250 Pfund wiegen. (?)
VI. Der ätheriſche Aggregat-Zuſtand kann wahrſcheinlich (der
Pyknoſe-Theorie entſprechend) unter beſtimmten Bedingungen
durch fortſchreitende Verdichtung in den gasförmigen Zuſtand
der Maſſe übergehen, ebenſo wie dieſer letztere durch Abkühlung
in den flüſſigen und weiterhin in den feſten übergeht.
VII. Dieſe Aggregat-Zuſtände der Materie ordnen
ſich demnach (was für die moniſtiſche Kosmogenie ſehr
wichtig iſt) in eine genetiſche, kontinuirliche Reihe; wir unter-
ſcheiden fünf Stufen derſelben: 1. der ätheriſche, 2. der gas-
förmige, 3. der flüſſige, 4. der feſtflüſſige (im lebenden
Plasma), 5. der feſte Zuſtand. VIII. Der Aether iſt ebenſo
unendlich und unermeßlich wie der Raum, den er ausfüllt; er
befindet ſich ewig in ununterbrochener Bewegung; dieſer eigen-
thümliche Aether-Motus (gleichviel, ob als Schwingung,
Spannung, Verdichtung u. ſ. w. aufgefaßt), in Wechſelwirkung
mit den Maſſen-Bewegungen (Gravitation) iſt die letzte Urſache
aller Erſcheinungen.
Aether und Maſſe. „Die gewaltige Hauptfrage nach
dem Weſen des Aethers“, wie ſie Hertz mit Recht nennt,
ſchließt auch diejenige ſeiner Beziehungen zur Maſſe ein; denn
beide Hauptbeſtandtheile der Materie befinden ſich nicht nur
überall in innigſter äußerer Berührung, ſondern auch in ewiger
dynamiſcher Wechſelwirkung. Man kann die allgemeinſten
Natur-Erſcheinungen, welche die Phyſik als Naturkräfte oder
als „Funktionen der Materie“ unterſcheidet, in zwei Gruppen
[264]Aether und Maſſe. XII.
theilen, von denen die eine vorzugsweiſe (aber nicht aus-
ſchließlich) Funktion des Aethers, die andere ebenſo Funktion der
Maſſe iſt; etwa nach folgendem Schema, das ich (1892) im
„Monismus“ aufgeſtellt habe (S. 18, 42):
| I.Aether (=Imponderabile, geſpannte Subſtanz). | II.Maſſe (=Ponderabile, verdichtete Subſtanz). |
| 1. Aggregat-Zuſtand: nicht ätheriſch (ſondern gas- förmig, flüſſig oder feſt). | 1. Aggregat-Zuſtand: äthe- riſch (weder gasförmig, noch flüſſig, noch feſt). |
| 2. Struktur: nicht ato- miſtiſch, kontinuirlich, nicht aus diskreten Theilchen (Atomen) zuſammengeſetz. | 2. Struktur: atomiſtiſch, dis- kontinuirlich, aus kleinſten diskreten Theilchen (Atomen) zuſammengeſetzt. |
| 3. Hauptfunktionen: Licht, Strahlwärme, Elektricität, Magnetismus. | 3. Hauptfunktionen: Schwere, Trägheit, Maſſen- wärme, Chemismus. |
Die beiden Gruppen von Funktionen der Materie, welche
in dieſem Schema gegenübergeſtellt ſind, können gewiſſermaßen
als Folgen der erſten Arbeitstheilung des Stoffes betrachtet
werden, als primäre Ergonomie der Materie. Dieſe
Unterſcheidung bedeutet aber keine abſolute Trennung der beiden
entgegengeſetzten Gruppen; vielmehr bleiben beide trotzdem ver-
einigt, behalten ihren Zuſammenhang und ſtehen überall in
beſtändiger Wechſelwirkung. Wie bekannt, ſind optiſche und
elektriſche Vorgänge des Aethers eng verknüpft mit mechaniſchen
und chemiſchen Veränderungen der Maſſe; die ſtrahlende Wärme
des erſteren geht direkt über in die Maſſenwärme oder mecha-
niſche Wärme der letzteren; die Gravitation kann nicht wirken,
[265]XII. Kraft und Energie.
ohne daß der Aether die Maſſen-Anziehung der getrennten
Atome vermittelt, da wir keine Fernwirkung annehmen können.
Die Verwandlung einer Energie-Form in die andere, wie ſie
das Geſetz von der Erhaltung der Kraft nachweiſt, beſtätigt
zugleich die beſtändige Wechſelwirkung zwiſchen den beiden
Haupttheilen der Subſtanz, Aether und Maſſe.
Kraft und Energie. Das große Grundgeſetz der Natur,
welches wir als Subſtanz-Geſetz an die Spitze aller phyſika-
liſchen Betrachtungen ſtellen, wurde urſprünglich von Robert
Mayer, der es aufſtellte (1842), und von Helmholtz, der
es ausführte (1847), als das Geſetz von der Erhaltung der
Kraft bezeichnet. Schon 10 Jahre früher hatte ein anderer
deutſcher Naturforſcher, Friedrich Mohr in Bonn, die
weſentlichen Grundgedanken desſelben klar entwickelt (1837).
Später wurde der alte Begriff der Kraft durch die moderne
Phyſik von demjenigen der Energie getrennt, der urſprünglich
gleichbedeutend war. Demnach wird jetzt dasſelbe Geſetz ge-
wöhnlich als das „Geſetz von der Konſtanz der Energie“
bezeichnet. Für die allgemeine Betrachtung desſelben, mit der
ich mich hier begnügen muß, und für das große Princip von
der „Erhaltung der Subſtanz“ kommt dieſer feinere Unter-
ſchied nicht in Betracht. Der Leſer, der ſich dafür intereſſirt,
findet eine ſehr klare Auseinanderſetzung darüber z. B. in dem
ausgezeichneten Aufſatz des engliſchen Phyſikers Tyndall über
„das Grundgeſetz der Natur“*). Dort iſt auch eingehend die
univerſale Bedeutung dieſes kosmologiſchen Grundgeſetzes er-
läutert, ſowie ſeine Anwendung auf die wichtigſten Probleme
ſehr verſchiedener Gebiete. Wir begnügen uns hier mit der
wichtigen Thatſache, daß gegenwärtig das „Energie-Princip“
[266]Spannkraft und lebendige Kraft. XII.
und die damit verknüpfte Ueberzeugung von der Einheit der
Naturkräfte, von ihrem gemeinſamen Urſprung, durch alle
kompetenten Phyſiker anerkannt und als der wichtigſte Fort-
ſchritt der Phyſik im 19. Jahrhundert gewürdigt wird. Wir
wiſſen jetzt, daß Wärme ebenſo gut eine Form der Bewegung
iſt wie Schall, Elektricität ebenſo wie Licht, Chemismus
ebenſo wie Magnetismus. Wir können durch geeignete Vor-
richtungen eine dieſer Kräfte in die andere verwandeln und
überzeugen uns dabei durch genaueſte Meſſung, daß von ihrer
Geſammt-Summe niemals das kleinſte Theilchen verloren geht.
Spannkraft und lebendige Kraft (Potentielle und
aktuelle Energie). Die Geſammtſumme der Kraft oder
Energie im Weltall bleibt beſtändig, gleichviel, welche Ver-
änderungen uns erſcheinen; ſie iſt ewig und unendlich, wie die
Materie, an die ſie untrennbar gebunden iſt. Das ganze
Spiel der Natur beruht auf dem Wechſel von ſcheinbarer Ruhe
und Bewegung; die ruhenden Körper beſitzen aber ebenſo eine
unverlierbare Größe von Kraft, wie die bewegten. Bei der
Bewegung ſelbſt verwandelt ſich die Spannkraft der erſteren in
die lebendige Kraft der letzteren. „Indem das Princip der Er-
haltung der Kraft ſowohl die Abſtoßung als die Anziehung in
Betracht zieht, behauptet es, daß der mechaniſche Werth der
Spannkräfte und der lebendigen Kräfte in der materiellen Welt
eine konſtante Quantität iſt. Kurz geſagt zerfällt der Kraft-
beſitz des Univerſums in zwei Theile, die nach einem beſtimmten
Werthverhältniß in einander verwandelt werden können. Die
Verminderung des einen bringt die Vergrößerung des anderen
mit ſich; der Geſammtwerth ſeines Beſitzes bleibt jedoch unver-
ändert.“ Die Spannkraft oder die potentielle Energie
und die lebendige Kraft oder die aktuelle Energie werden
beſtändig in einander umgewandelt, ohne daß die unendliche
[267]XII. Einheit der Naturkräfte.
Geſammtſumme der Kraft im unendlichen Weltall jemals den
geringſten Verluſt erleidet.
Einheit der Naturkräfte. Nachdem die moderne Phyſik
das Subſtanz-Geſetz zunächſt für die einfacheren Beziehungen der
anorganiſchen Körper feſtgeſtellt hatte, wies die Phyſiologie
deſſen allgemeine Geltung auch im Geſammtbereiche der orga-
niſchen Natur nach. Sie zeigte, daß alle Lebensthätigkeiten
der Organismen — ohne Ausnahme! — ebenſo auf einem be-
ſtändigen „Kraftwechſel“ und einem damit verknüpften „Stoff-
wechſel“ beruhen wie die einfachſten Vorgänge in der ſogenannten
„lebloſen Natur“. Nicht nur das Wachsthum und die Ernährung
der Pflanzen und Thiere, ſondern auch die Funktionen ihrer Em-
pfindung und Bewegung, ihrer Sinnesthätigkeit und ihres
Seelenlebens beruhen auf der Verwandlung von Spannkraft in
lebendige Kraft und umgekehrt. Dieſes höchſte Geſetz beherrſcht
auch diejenigen vollkommenſten Leiſtungen des Nervenſyſtems,
welche man bei den höheren Thieren und beim Menſchen als
das „Geiſtesleben“ bezeichnet.
Allmacht des Subſtanz-Geſetzes. Unſere feſte moniſtiſche
Ueberzeugung, daß das kosmologiſche Grundgeſetz allgemeine
Geltung für die geſammte Natur beſitzt, nimmt die höchſte
Bedeutung in Anſpruch. Denn dadurch wird nicht nur poſitiv
die principielle Einheit des Kosmos und der kauſale Zuſammen-
hang aller uns erkennbaren Erſcheinungen bewieſen, ſondern es
wird dadurch zugleich negativ der höchſte intellektuelle Fort-
ſchritt erzielt, der definitive Sturz der drei Central-
Dogmen der Metaphyſik: „Gott, Freiheit und Unſterblich-
keit“. Indem das Subſtanz-Geſetz überall mechaniſche Urſachen
in den Erſcheinungen nachweiſt, verknüpft es ſich mit dem
„allgemeinen Kauſalgeſetz“.
[[268]]
Das Subſtanz-Geſetz oder Univerſal-Geſetz
im Lichte der dualiſtiſchen und der moniſtiſchen Philoſophie.
| Dualismus. (Teleologiſche Weltanſchauung.) 1. Die Welt (Kosmos) beſteht aus zwei getrennten Gebieten, dem Natur- Gebiete (der materiellen Körper- welt) und dem Geiſtes-Gebiete (der immateriellen Seelenwelt). 2. Demnach zerfällt das Reich der Wiſſenſchaft in zwei ganz ge- trennte Gebiete: Naturwiſſen- ſchaft (empiriſche Lehre von den mechaniſchen Vorgängen) und Geiſteswiſſenſchaft (tranſcen- dente Lehre von den pſychiſchen Vorgängen). 3. Die Erkenntniß der Natur-Er- ſcheinungen geſchieht auf empi- riſchem Wege, durch Beobachtung, Verſuch und Aſſocion der Vor- ſtellungen. Die Erkenntniß der Geiſtes-Erſcheinungen da- gegen iſt nur auf übernatürlichem Wege möglich, durch Offen- barung. 4. Das Subſtanz-Geſetzin ſeinen beiden Theilen (Erhaltung der Materie und der Energie) hat nur Geltung für das Gebiet der Natur; nur hier ſind Stoff und Kraft unzertrennlich an einander gebunden. — Im Gebiete des Geiſtes dagegen iſt die Thätig- keit der immateriellen Seele frei, nicht an phyſikaliſche und chemiſche Veränderungen in der Subſtanz ihrer Organe geknüpft. | Monismus. (Mechaniſche Weltanſchauung) 1. Die Welt (Kosmos) beſteht aus einem einzigen untrennbaren Ge- biete, dem einheitlichen Subſtanz- Reiche; ſeine beiden untrennbaren Attribute ſind die Materie (der ausgedehnte Stoff) und die Energie (die wirkende Kraft). 2. Demnach bildet das geſammte Reich der Wiſſenſchaft ein einziges, ein- heitliches Gebiet; die ſogenannten Geiſteswiſſenſchaften ſind nur beſondere Theile der allum- faſſenden Naturwiſſenſchaft: alle wahre Wiſſenſchaft beruht auf Empirie, nicht auf Tranſcendenz. 3. Erkenntniß aller Erſchei- nungen (ebenſo in der Natur wie im Geiſtes-Leben) geſchieht ausſchließlich auf empiriſchem Wege (durch die Arbeit unſerer Sinnesorgane und unſeres Ge- hirns). Alle ſogenannte Offen- barung oder Tranſcendenz beruht auf bewußter oder unbewußter Täuſchung. 4. Das Subſtanz-Geſetz hat ganz allgemeine Geltung, ebenſo im Gebiete der Natur wie des Geiſtes — ohne Ausnahme! — Auch bei den höchſten geiſtigen Funktionen (Vorſtellen und Denken) iſt die Arbeit der bewirkenden Nervenzellen ebenſo nothwendig mit materiellen Veränderungen ihrer Subſtanz (desNervenplasma) verknüpft, wie bei jedem anderen Natur-Prozeß Kraft und Stoff an einander gebunden ſind. |
[[269]]
Dreizehntes Kapitel.
Entwickelungs-Geſchichte der Welt.
Moniſtiſche Studien über die ewige Entwickelung des Uni-
verſum. Schöpfung, Anfang und Ende der Welt. Kreatiſtiſche
und genetiſche Kosmogenie.
‘„Das letzte Räthſel der Welt werden die freien
Geiſter (der kommenden moniſtiſchen Philoſophie)
freilich nicht löſen. Aber ſie werden ſich nicht
mehr gefallen laſſen, Schein für Wirklichkeit und
Täuſchung für Wahrheit zu nehmen. Das große
Geſetz der Entwickelung wird an die Stelle der
Schöpfungshypotheſe treten, das Beſtehen einer
natürlichen Weltordnung an die Stelle des Wun-
ders, die friſche, fröhliche Wirklichkeit an die Stelle
der Phraſe und Einbildung, der naturwahre Mo-
nismus an die Stelle des unwahren Dualismus,
das (praktiſche) poſitive Ideal an die Stelle des
(theoretiſchen) Wahn-Ideals.“
Ludwig Büchner (1898).’ ()
[[270]]
Begriff der Schöpfung (Kreation). Wunder. Schöpfung des Weltalls
und der Einzeldinge. Schöpfung der Subſtanz (kosmologiſcher Kreatismus).
Deismus: Ein Schöpfungstag. Schöpfung der Einzeldinge. Fünf Formen
des ontologiſchen Kreatismus. Begriff der Entwickelung (Geneſiſ, Evolutio).
I. Moniſtiſche Kosmogenie. Anfang und Ende der Welt. Unendlichkeit und
Ewigkeit des Univerſum. Raum und Zeit. Univerſum perpetuum mobile.
Entropie des Weltalls. II. Moniſtiſche Geogenie. Anorganiſche und organiſche
Erdgeſchichte. III. Moniſtiſche Biogenie. Transformismus und Deſcendenz-
Theorie. Lamarck und Darwin. IV. Moniſtiſche Anthropogenie. Abſtammung
des Menſchen.
Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeſchichte und Theorie des Himmels.
Königsberg 1755.
Alexander Humboldt, Kosmos. Entwurf einer phyſiſchen Weltbeſchreibung.
4 Bände. Stuttgart 1845-1854.
Wilhelm Bölſche, Entwickelungsgeſchichte der Natur. 2 Bände. Mit über
tauſend Abbildungen. Neudamm 1896.
Carus Sterne (Ernſt Krauſe), Werden und Vergehen. Eine Entwickelungs-
geſchichte des Naturganzen in gemeinverſtändlicher Faſſung. Vierte Auf-
lage. Mit vielen Abbildungen. Berlin 1899.
Hermann Wolff (Leipzig), Kosmos. Die Weltentwickelung nach moniſtiſch-
pſychologiſchen Principien auf Grundlage der exakten Naturforſchung
dargeſtellt. 2 Bände. Leipzig 1890.
Karl Auguſt Specht, Populäre Entwickelungsgeſchichte der Welt. 1876. Dritte
Auflage 1889.
L. Zehnder, Die Mechanik des Weltalls. Freiburg 1897.
Melchior Neumayr, Erdgeſchichte (zweite Auflage von Victor Uhlig).
Leipzig 1895.
Johannes Walther, Einleitung in die Geologie als hiſtoriſche Wiſſenſchaft.
2 Bände. Jena 1894.
C. Radenhauſen, Oſiris. Weltgeſetze in der Erdgeſchichte. 2 Bände.
Hamburg 1874.
Ludwig Noiré, Die Welt als Entwickelung des Geiſtes. Bauſteine zu einer
moniſtiſchen Weltanſchauung. Leipzig 1874.
[[271]]
Unter allen Welträthſeln das größte, umfaſſendſte und
ſchwerſte iſt dasjenige von der Entſtehung und Entwickelung der
Welt, kurz gewöhnlich die „Schöpfungsfrage“ genannt.
Auch zur Löſung dieſes ſchwierigſten Welträthſels hat unſer
neunzehntes Jahrhundert mehr beigetragen als alle früheren, ja
ſie iſt ihm ſogar bis zu einem gewiſſen Grade gelungen. Wenig-
ſtens ſind wir zu der klaren Einſicht gelangt, daß alle verſchiedenen
einzelnen Schöpfungsfragen untrennbar verknüpft ſind, daß ſie
alle nur ein einziges, allumfaſſendes „kosmiſches Univerſal-
Problem“ bilden; und den Schlüſſel zur Löſung dieſer „Welt-
frage“ giebt uns das eine Zauberwort: „Entwickelung“!
Die großen Fragen von der Schöpfung des Menſchen, von der
Schöpfung der Thiere und Pflanzen, von der Schöpfung der
Erde und der Sonne u. ſ. w., ſie alle ſind nur Theile jener
Univerſal-Frage: Wie iſt die ganze Welt entſtanden? Iſt ſie
auf übernatürlichem Wege „erſchaffen“, oder hat ſie ſich auf
natürlichem Wege „entwickelt“? Welcher Art ſind die Ur-
ſachen und die Wege dieſer Entwickelung? Gelingt es uns, eine
ſichere Antwort auf dieſe Fragen für eines jener Theil-
Probleme zu finden, ſo haben wir nach unſerer einheitlichen
Naturauffaſſung damit zugleich ein erhellendes Licht auf deren
Beantwortung für das ganze Weltproblem geworfen.
Schöpfung (Creatio). Die herrſchende Anſicht über die
Entſtehung der Welt war in früheren Jahrhunderten faſt überall,
[272]Schöpfung des Weltalls. XIII.
wo denkende Menſchen wohnten, der Glaube an die Schöpfung
derſelben. In Tauſenden von intereſſanten, mehr oder weniger
fabelhaften Sagen und Dichtungen, Kosmogonien und
Kreations-Mythen, hat dieſer Schöpfungs-Glaube ſeinen
mannigfaltigen Ausdruck gefunden. Frei davon blieben nur
wenige große Philoſophen und beſonders jene bewunderungs-
würdigen freien Denker des klaſſiſchen Alterthums, die zuerſt
den Gedanken der natürlichen Entwickelung erfaßten. Im
Gegenſatz zu dieſem letzteren trugen alle jene Schöpfungs-Mythen
den Charakter des Uebernatürlichen, Wunderbaren oder
Transſcendenten. Unfähig, das Weſen der Welt ſelbſt zu er-
kennen und ihre Entſtehung durch natürliche Urſachen zu erklären,
mußte die unentwickelte Vernunft ſelbſtverſtändlich zum Wunder
greifen. In den meiſten Schöpfungs-Sagen verknüpfte ſich mit
dem Wunder der Anthropismus. Wie der Menſch mit Ab-
ſicht und durch Kunſt ſeine Werke ſchaffte, ſo ſollte der bildende
„Gott“ planmäßig die Welt erſchaffen haben; die Vorſtellung
dieſes Schöpfers war meiſtens ganz anthropomorph, ein offen-
kundiger „anthropiſtiſcher Kreatismus“. Der „allmächtige
Schöpfer Himmels und der Erden“, wie er im erſten Buch Moſes
und in unſerem heute noch gültigen Katechismus ſchafft, iſt ebenſo
ganz menſchlich gedacht wie der moderne Schöpfer von Agaſſiz
und Reinke oder der intelligente „Maſchinen-Ingenieur“ von
anderen Biologen der Gegenwart.
Schöpfung des Weltalls und der Einzeldinge (Kreation
der Subſtanz und der Accidenzen). Bei tieferem Ein-
gehen in den Wunderbegriff der Kreation können wir als
zwei weſentlich verſchiedene Akte die totale Schöpfung des Welt-
alls und die partielle Schöpfung der einzelnen Dinge unterſcheiden,
entſprechend dem Begriffe Spinoza's von der Subſtanz
(dem Univerſum) und den Accidenzen (oder Modi, den ein-
zelnen „Erſcheinungsformen der Subſtanz“). Dieſe Unterſcheidung
[273]XIII. Schöpfung der Subſtanz.
iſt principiell wichtig; denn es hat viele und angeſehene Philo-
ſophen gegeben (und es giebt noch heute ſolche), welche die erſtere
annehmen, die letztere dagegen verwerfen.
Schöpfung der Subſtanz (kosmologiſcher Kreatis-
mus). Nach dieſer Schöpfungslehre hat „Gott die Welt aus
dem Nichts geſchaffen“. Man ſtellt ſich vor, daß der „ewige
Gott“ (als vernünftiges, aber immaterielles Weſen!) für ſich
allein von Ewigkeit her (im Raum) ohne Welt exiſtirte, bis er
dann einmal auf den Gedanken kam, „die Welt zu ſchaffen“.
Die einen Anhänger dieſes Glaubens beſchränken die Schöpfungs-
thätigkeit Gottes auf's Aeußerſte, auf einen einzigen Akt; ſie
nehmen an, daß der extramundane Gott (deſſen übrige Thätigkeit
räthſelhaft bleibt!) in einem Augenblick die Subſtanz erſchaffen,
ihr die Fähigkeit zur weiteſtgehenden Entwickelung beigelegt und
ſich dann nie weiter um ſie bekümmert habe. Dieſe weit verbreitete
Anſicht iſt namentlich im engliſchen Deismus vielfach aus-
gebildet worden; ſie nähert ſich unſerer moniſtiſchen Entwickelungs-
lehre bis zur Berührung und giebt ſie nur in dem einen Momente
(der Ewigkeit!) preis, in welchem Gott auf den Schöpfungs-
gedanken kam. Andere Anhänger des kosmologiſchen Kreatismus
nehmen dagegen an, daß „Gott der Herr“ die Subſtanz nicht
bloß einmal erſchaffen habe, ſondern als bewußter „Erhalter und
Regierer der Welt“ in deren Geſchichte fortwirke. Viele Varia-
tionen dieſes Glaubens nähern ſich bald dem Pantheismus,
bald dem konſequenten Theismus. Alle dieſe und ähnliche
Formen des Schöpfungsglaubens ſind unvereinbar mit dem Geſetz
von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes; dieſes kennt keinen
„Anfang der Welt“.
Beſonders intereſſant iſt, daß E. Du Bois-Reymond
in ſeiner letzten Rede (über Neovitalismus, 1894) ſich zu
dieſem kosmologiſchen Kreatismus (als Löſung des größten Welt-
räthſels!) bekannt hat; er ſagt: „Der göttlichen Allmacht
Haeckel, Welträthſel. 18
[274]Zahl der Schöpfungs-Akte. XIII.
würdig allein iſt, ſich zu denken, daß ſie vor undenklicher Zeit
durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie ſo geſchaffen
habe, daß nach den der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen
Geſetzen da, wo die Bedingungen für Entſtehen und Fortbeſtehen
von Lebeweſen vorhanden waren, beiſpielsweiſe hier auf Erden,
einfachſte Lebeweſen entſtanden, aus denen ohne weitere Nachhülfe
die heutige Natur von einer Urbacille bis zum Palmenwalde,
von einem Urmikrokokkus bis zu Suleima's holden Gebärden,
bis zu Newton's Gehirn ward. So kämen wir mit einem
Schöpfungstage (!) aus und ließen ohne alten und neuen
Vitalismus die organiſche Natur rein mechaniſch entſtehen.“ Hier
wie bei der Bewußtſeins-Frage in der Ignorabimus-Rede
(S. 208) offenbart Du Bois-Reymond in auffallender Weiſe
die geringe Tiefe und Folgerichtigkeit ſeines moniſtiſchen Denkens.
Schöpfung der Einzeldinge (ontologiſcher Krea-
tismus). Nach dieſer individuellen, noch jetzt herrſchenden
Schöpfungslehre hat Gott der Herr nicht nur die Welt im
Ganzen („aus Nichts“!) geſchaffen, ſondern auch alle einzelnen
Dinge in derſelben. In der chriſtlichen Kulturwelt beſitzt noch
heute die uralte ſemitiſche, aus dem erſten Buch Moſes herüber-
genommene Schöpfungsſage die weiteſte Geltung; ſelbſt unter
den modernen Naturforſchern findet ſie noch hie und da gläubige
Anhänger. Ich habe meine kritiſche Auffaſſung derſelben im
erſten Kapitel meiner „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ ein-
gehend dargelegt. Als intereſſanteſte Modifikationen dieſes onto-
logiſchen Kreatismus dürften folgende Theorien zu unterſcheiden
ſein: I.Dualiſtiſche Kreation: Gott hat ſich auf zwei
Schöpfungsakte beſchränkt; zuerſt ſchuf er die anorganiſche
Welt, die todte Subſtanz, für die allein das Geſetz der Energie
gilt, blind und ziellos wirkend im Mechanismus der Weltkörper
und der Gebirgsbildung; ſpäter erwarb Gott Intelligenz und
theilte dieſe den Dominanten mit, den zielſtrebigen, intelligenten
[275]XIII. Zahl der Schöpfungs-Akte.
Kräften, welche die Entwickelung der Organismen bewirken und
leiten (Reinke)*). II.Trialiſtiſche Kreation: Gott hat
die Welt in drei Hauptakten geſchaffen: A. Schöpfung des
Himmels (d. h. der außerirdiſchen Welt); B. Schöpfung der
Erde (als Mittelpunkt der Welt) und ihrer Organismen:
C. Schöpfung des Menſchen (als Ebenbild Gottes); dieſes
Dogma iſt noch heute weit verbreitet unter chriſtlichen Theologen
und anderen „Gebildeten“; es wird in vielen Schulen als Wahr-
heit gelehrt. III.Heptamerale Kreation: die Schöpfung
in ſieben Tagen (nach Moſes). Obgleich nur wenige Gebildete
heute noch wirklich an dieſen moſaiſchen Mythus glauben, wird
er dennoch unſeren Kindern ſchon in der früheſten Jugend mit
dem Bibel-Unterricht feſt eingeprägt. Die vielfachen, namentlich
in England gemachten Verſuche, denſelben mit der modernen
Entwickelungslehre in Einklang zu bringen, ſind völlig fehl-
geſchlagen. Für die Naturwiſſenſchaft gewann derſelbe dadurch
große Bedeutung, daß Linné bei Begründung ſeines Natur-
Syſtems (1735) ihn annahm und zur Begriffs-Beſtimmung der
organiſchen (von ihm für beſtändig gehaltenen) Species be-
nutzte: „Es giebt ſo viele verſchiedene Arten von Thieren und
Pflanzen, als im Anfang verſchiedene Formen von dem unend-
lichen Weſen erſchaffen worden ſind“**). Dieſes Dogma wurde
ziemlich allgemein bis auf Darwin (1859) feſtgehalten, obgleich
Lamarck ſchon 1809 ſeine Unhaltbarkeit dargelegt hatte.
IV.Periodiſche Kreation: im Anfang jeder Periode der
Erdgeſchichte wurde die ganze Thier- und Pflanzen-Bevölkerung
neu geſchaffen und am Ende derſelben durch eine allgemeine
Kataſtrophe vernichtet; es giebt ſo viele General-Schöpfungs-
Akte, als getrennte geologiſche Perioden auf einander folgten
(die Kataſtrophen-Theorie von Cuvier, 1818, und von Louis
18*
[276]Alte Schöpfungslehre. XIII.
Agaſſiz, 1858). Die Paläontologie, welche in ihren unvoll-
kommenen Anfängen (in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts)
dieſe Lehre von den wiederholten Neuſchöpfungen der organiſchen
Welt zu ſtützen ſchien, hat dieſelbe ſpäter vollſtändig widerlegt.
V.Individuelle Kreation: jeder einzelne Menſch — ebenſo
wie jedes einzelne Thier und jedes Pflanzen-Individuum — iſt
nicht durch einen natürlichen Fortpflanzungs-Akt entſtanden,
ſondern durch die Gnade Gottes geſchaffen („der alle Dinge
kennt und die Haare auf unſerem Haupte gezählt hat“). Man
lieſt dieſe chriſtliche Schöpfungs-Anſicht noch heute oft in den
Zeitungen, beſonders bei Geburts-Anzeigen („Geſtern ſchenkte
uns der gnädige Gott einen geſunden Knaben“ u. ſ. w.). Auch
die individuellen Talente und Vorzüge unſerer Kinder werden
oft als „beſondere Gaben Gottes“ dankbar anerkannt (die erblichen
Fehler gewöhnlich nicht!).
Entwickelung (Geneſiſ, Evolutio). Die Unhaltbarkeit der
Schöpfungs-Sagen und des damit verknüpften Wunderglaubens
mußte ſich ſchon frühzeitig denkenden Menſchen aufdrängen; wir
finden daher ſchon vor mehr als zweitauſend Jahren zahlreiche
Verſuche, dieſelben durch eine vernünftige Theorie zu erſetzen
und die Entſtehung der Welt mittelſt natürlicher Urſachen zu
erklären. Allen voran ſtehen hierin wieder die großen Denker
der ioniſchen Naturphiloſophie, ferner Demokritos, Heraklitos,
Empedokles, Ariſtoteles, Lukretius und andere Philoſophen des
Alterthums. Die erſten unvollkommenen Verſuche, welche ſie
unternahmen, überraſchen uns zum Theil durch ſtrahlende Licht-
blicke des Geiſtes, die als Vorläufer moderner Ideen erſcheinen.
Indeſſen fehlte dem klaſſiſchen Alterthum jener ſichere Boden
der naturphiloſophiſchen Spekulation, der erſt durch unzählige
Beobachtungen und Verſuche der Neuzeit gewonnen wurde. Wäh-
rend des Mittelalters — und beſonders während der Gewalt-
herrſchaft des Papismus — ruhte die wiſſenſchaftliche Forſchung
[277]XIII. Moderne Entwickelungslehre.
auf dieſem Gebiete ganz. Die Tortur und die Scheiterhaufen
der Inquiſition ſorgten dafür, daß der unbedingte Glaube an
die hebräiſche Mythologie des Moſes als definitive Antwort auf
alle Schöpfungsfragen galt. Selbſt diejenigen Erſcheinungen, die
unmittelbar zur Beobachtung der Entwickelungs-Thatſachen
aufforderten, die Keimesgeſchichte der Thiere und Pflanzen, die
Embryologie des Menſchen, blieben unbeachtet oder erregten nur
hier und da das Intereſſe einzelner wißbegieriger Beobachter:
aber ihre Entdeckungen wurden ignorirt und vergeſſen. Außerdem
wurde der wahren Erkenntniß der natürlichen Entwickelung ihr
Weg von vornherein durch die herrſchende Präformations-
Lehre verſperrt, durch das Dogma, daß die charakteriſtiſche Form
und Struktur jeder Thier- und Pflanzen-Art ſchon im Keime
vorgebildet ſei (vergl. S. 64).
Entwickelungslehre (Genetik, Evolutismus, Evo-
lutionismus). Die Wiſſenſchaft, die wir heute Entwickelungs-
lehre (im weiteſten Sinne) nennen, iſt ſowohl im Ganzen als
in ihren einzelnen Theilen ein Kind des 19. Jahrhunderts; ſie
gehört zu deſſen wichtigſten und glänzendſten Erzeugniſſen. That-
ſächlich iſt dieſer Begriff, der noch im vorigen Jahrhundert faſt
unbekannt war, heute bereits ein feſter Grundſtein unſerer ganzen
Weltanſchauung geworden. Ich habe die Grundzüge derſelben
in früheren Schriften ausführlich behandelt, am eingehendſten in
der „Generellen Morphologie“ (1866), ſodann mehr populär in
der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (1868, neunte Auflage
1898) und mit beſonderer Beziehung auf den Menſchen in der
„Anthropogenie“ (1874, vierte Auflage 1891). Ich beſchränke
mich daher hier auf eine kurze Ueberſicht der wichtigſten Fort-
ſchritte, welche die Entwickelungslehre im Laufe unſeres Jahr-
hunderts gemacht hat; ſie zerfällt nach ihren Objekten in vier
Haupttheile: ſie betrifft die natürliche Entſtehung 1. des Kosmos,
2. der Erde, 3. der irdiſchen Organismen und 4. des Menſchen.
[278]Kosmogoniſche Proceſſe. XIII.
I. Moniſtiſche Kosmogenie. Den erſten „Verſuch, die
Verfaſſung und den mechaniſchen Urſprung des ganzen Welt-
gebäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen“ — d. h. durch
mathematiſche und phyſikaliſche Geſetze — in einfachſter Weiſe
zu erklären, unternahm Immanuel Kant in ſeinem berühmten
Jugendwerke, der „Allgemeinen Naturgeſchichte und Theorie des
Himmels“ (1755). Leider blieb dieſes großartige und kühne
Werk 90 Jahre hindurch faſt unbekannt; es wurde erſt 1845
durch Alexander Humboldt wieder ausgegraben, im erſten
Bande ſeines „Kosmos“. Inzwiſchen war aber der große fran-
zöſiſche Mathematiker Pierre Laplace ſelbſtändig auf ähnliche
Theorien wie Kant gekommen und führte dieſelben mit mathe-
matiſcher Begründung weiter aus in ſeiner „Expoſition du
ſyſtème du monde“ (1796). Sein Hauptwerk „Mécanique
céleſte“ erſchien vor hundert Jahren. Die übereinſtimmenden
Grundzüge der Kosmogenie von Kant und Laplace beruhen
bekanntlich auf einer mechaniſchen Erklärung der Planeten-
Bewegungen und der daraus abgeleiteten Annahme, daß alle
Weltkörper urſprünglich aus rotirenden Nebelbällen durch Ver-
dichtung entſtanden ſind. Dieſe „Nebular-Hypotheſe“ oder
„kosmologiſche Gas-Theorie“ iſt zwar ſpäter vielfach
verbeſſert und ergänzt worden, ſie beſteht aber noch heute un-
erſchüttert als der beſte von allen Verſuchen, die Entſtehung des
Weltgebäudes einheitlich und mechaniſch zu erklären*). In
neueſter Zeit hat dieſelbe eine bedeutungsvolle Ergänzung und
zugleich Verſtärkung durch die Annahme gewonnen, daß dieſer
kosmogoniſche Proceß nicht nur einmal ſtattgefunden,
ſondern ſich periodiſch wiederholt hat. Während in gewiſſen
Theilen des unendlichen Weltraumes aus rotirenden Nebelbällen
neue Weltkörper entſtehen und ſich entwickeln, werden in anderen
[279]XIII. Anfang und Ende der Welt.
Theilen desſelben umgekehrt alte, erkaltete und abgeſtorbene
Weltkörper durch Zuſammenſtoß wieder zerſtäubt und in diffuſe
Nebelmaſſen aufgelöſt*).
Anfang und Ende der Welt. Faſt alle älteren und
neueren Kosmogenien und ſo auch die meiſten, die ſich an Kant
und Laplace anſchloſſen, gingen von der herrſchenden Anſicht
aus, daß die Welt einen Anfang gehabt habe. So hätte ſich
„im Anfang“ nach einer vielverbreiteten Form der „Nebular-
Hypotheſe“ urſprünglich ein ungeheurer Nebelball aus äußerſt
dünner und leichter Materie gebildet, und in einem beſtimmten
Zeitpunkte („vor unendlich langer Zeit“) habe in dieſem eine
Rotations-Bewegung angefangen. Iſt der „erſte Anfang“ dieſer
kosmogenen Bewegung erſt einmal gegeben, ſo laſſen ſich dann
nach jenen mechaniſchen Principien die weiteren Vorgänge in der
Bildung der Weltkörper, der Sonderung der Planeten-Syſteme
u. ſ. w. ſicher ableiten und mathematiſch begründen. Dieſer
erſte „Urſprung der Bewegung“ iſt das zweite „Welt-
räthſel“ von Du Bois-Reymond; er erklärt dasſelbe für
transcendent. Auch viele andere Naturforſcher und Philo-
ſophen kommen um dieſe Schwierigkeit nicht herum und reſigniren
mit dem Geſtändniß, daß man hier einen erſten „übernatürlichen
Anſtoß“, alſo ein „Wunder“ annehmen müſſe.
Nach unſerer Anſicht wird dieſes „zweite Welträthſel“ durch
die Annahme gelöſt, daß die Bewegung ebenſo eine immanente
und urſprüngliche Eigenſchaft der Subſtanz iſt wie die
Empfindung (S. 259). Die Berechtigung zu dieſer moniſtiſchen
Annahme finden wir erſtens im Subſtanz-Geſetz und zweitens
in den großen Fortſchritten, welche die Aſtronomie und Phyſik
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht haben.
Durch die Spektral-Analyſe von Bunſen und Kirch-
[280]Entwickelung der Stern-Syſteme. XIII.
hoff (1860) haben wir nicht nur erfahren, daß die Millionen
Weltkörper, welche den unendlichen Weltraum erfüllen, aus den-
ſelben Materien beſtehen wie unſere Sonne und Erde, ſondern
auch, daß ſie ſich in verſchiedenen Zuſtänden der Entwickelung
befinden; wir haben ſogar mit ihrer Hülfe Kenntniſſe über die
Bewegungen und Entfernungen der Fixſterne gewonnen, welche
durch das Fernrohr allein nicht erkannt werden konnten. Ferner
iſt das Teleſkop ſelbſt ſehr bedeutend verbeſſert worden und
hat uns mit Hülfe der Photographie eine Fülle von aſtro-
nomiſchen Entdeckungen geſchenkt, welche im Beginne unſeres
Jahrhunderts noch nicht geahnt werden konnten. Insbeſondere
hat die beſſere Kenntniß der Kometen und Sternſchnuppen, der
Sternhaufen und Nebelflecke uns die große Bedeutung der kleinen
Weltkörper kennen gelehrt, welche zu Milliarden zwiſchen den
größeren Sternen im Weltraum vertheilt ſind.
Wir wiſſen jetzt auch, daß die Bahnen der Millionen von
Weltkörpern veränderlich und zum Theil unregelmäßig ſind,
während man früher die Planeten-Syſteme als beſtändig be-
trachtete und die rotirenden Bälle in ewiger Gleichmäßigkeit ihre
Kreiſe beſchreiben ließ. Wichtige Aufſchlüſſe verdankt die Aſtro-
phyſik aber auch den gewaltigen Fortſchritten in anderen Gebieten
der Phyſik, vor Allem in der Optik und Elektrik, ſowie in der
dadurch geförderten Aether-Theorie. Endlich und vor Allem er-
weiſt ſich auch hier wieder als größter Fortſchritt unſerer Natur-
Erkenntniß das univerſale Subſtanz-Geſetz. Wir wiſſen
jetzt, daß dasſelbe ebenſo überall in den fernſten Welträumen
unbedingte Geltung hat wie in unſerem Planeten-Syſtem, ebenſo
in dem kleinſten Theilchen unſerer Erde wie in der kleinſten
Zelle unſeres menſchlichen Körpers. Wir ſind aber auch zu der
wichtigen Annahme berechtigt und logiſch gezwungen, daß die
Erhaltung der Materie und der Energie zu allen Zeiten ebenſo
allgemein beſtanden hat, wie ſie heute ohne Ausnahme beſteht.
[281]XIII. Entwickelung des Kosmos.
In alle Ewigkeit war, iſt und bleibt das unend-
liche Univerſum dem Subſtanz-Geſetz unterworfen.
Aus allen dieſen gewaltigen Fortſchritten der Aſtronomie
und Phyſik, die ſich gegenſeitig erläutern und ergänzen, ergiebt
ſich eine Reihe von überaus wichtigen Schlüſſen über die Zu-
ſammenſetzung und Entwickelung des Kosmos, über die Beharrung
und Umbildung der Subſtanz. Wir faſſen dieſelben kurz in
folgenden Theſen zuſammen: I. Der Weltraum iſt unendlich
groß und unbegrenzt; er iſt nirgends leer, ſondern allenthalben
mit Subſtanz erfüllt. II. Die Weltzeit iſt ebenfalls unendlich
und unbegrenzt; ſie hat keinen Anfang und kein Ende, ſie iſt
Ewigkeit. III. Die Subſtanz befindet ſich überall und jeder
Zeit in ununterbrochener Bewegung und Veränderung; nirgends
herrſcht vollkommene Ruhe und Starre; dabei bleibt aber die
unendliche Quantität der Materie ebenſo unverändert wie die-
jenige der ewig wechſelnden Energie. IV. Die Univerſal-
Bewegung der Subſtanz im Weltraum iſt ein ewiger Kreislauf
mit periodiſch ſich wiederholenden Entwickelungs-Zuſtänden.
V. Dieſe Phaſen beſtehen in einem periodiſchen Wechſel der
Aggregat-Zuſtände, wobei zunächſt die primäre Sonderung
von Maſſe und Aether eintritt (die Ergonomie von ponderabler
und imponderabler Materie). VI. Dieſe Sonderung beruht auf
einer fortſchreitenden Verdichtung der Materie, der Bil-
dung von unzähligen kleinſten Verdichtungs-Centren, wobei die
immanenten Ureigenſchaften der Subſtanz die bewirkenden Ur-
ſachen ſind: Fühlung und Strebung. VII. Während in einem
Theile des Weltraums durch dieſen pyknotiſchen Proceß zunächſt
kleine, weiterhin größere Weltkörper entſtehen und der Aether
zwiſchen ihnen in höhere Spannung tritt, erfolgt gleichzeitig in
dem anderen Theile der entgegengeſetzte Proceß, die Zerſtörung
von Weltkörpern, welche auf einander ſtoßen. VIII. Die un-
geheuren Wärme-Quantitäten, welche durch dieſe mechaniſchen
[282]Entwickelung des Kosmos. XIII.
Proceſſe bei den Zuſammenſtößen der rotirenden Weltkörper
erzeugt werden, ſtellen die neuen lebendigen Kräfte dar, welche
die Bewegung der dabei gebildeten kosmiſchen Staubmaſſen und
die Neubildung rotirender Bälle bewirken; das ewige Spiel
beginnt wieder von Neuem. Auch unſere Mutter Erde, die vor
Millionen von Jahrtauſenden aus einem Theile des rotirenden
Sonnen-Syſtems entſtanden iſt, wird nach Verfluß weiterer
Millionen erſtarren und, nachdem ihre Bahn immer kleiner
geworden, in die Sonne ſtürzen.
Beſonders wichtig für die klare Einſicht in den univerſalen
kosmiſchen Entwickelungs-Proceß ſcheinen mir dieſe modernen
Vorſtellungen über periodiſch wechſelnden Untergang und Neu-
bildung der Weltkörper, die wir den gewaltigen neueren Fort-
ſchritten der Phyſik und Aſtronomie verdanken, in Verbindung
mit dem Subſtanz-Geſetz. Unſere Mutter „Erde“ ſchrumpft
dabei auf den Werth eines winzigen „Sonnenſtäubchens“ zu-
ſammen, wie deren ungezählte Millionen im unendlichen Welten-
raum umherjagen. Unſer eigenes „Menſchenweſen“, welches
in ſeinem anthropiſtiſchen Größenwahn ſich als „Ebenbild Gottes“
verherrlicht, ſinkt zur Bedeutung eines placentalen Säugethiers
hinab, welches nicht mehr Werth für das ganze Univerſum beſitzt
als die Ameiſe und die Eintagsfliege, als das mikroſkopiſche
Infuſorium und der winzigſte Bacillus. Auch wir Menſchen ſind
nur vorübergehende Entwickelungs-Zuſtände der ewigen Subſtanz,
individuelle Erſcheinungsformen der Materie und Energie, deren
Nichtigkeit wir begreifen, wenn wir ſie dem unendlichen Raum
und der ewigen Zeit gegenüberſtellen.
Raum und Zeit. Seitdem Kant die Begriffe von Raum
und Zeit als bloße „Formen der Anſchauung“ erklärt hat —
den Raum als Form der äußeren, die Zeit als Form der inneren
Anſchauung —, hat ſich über dieſe wichtigen Probleme der
Erkenntniß ein gewaltiger Streit erhoben, der auch heute noch
[283]XIII. Raum und Zeit.
fortdauert. Bei einem großen Theile der modernen Metaphyſiker
hat ſich die Anſicht befeſtigt, daß dieſer „kritiſchen That“ als
Ausgangspunkt einer „rein idealiſtiſchen Erkenntniß-Theorie“ die
größte Bedeutung beizulegen ſei, und daß damit die natürliche
Anſicht des geſunden Menſchen-Verſtandes von der Realität
des Raumes und der Zeit widerlegt ſei. Dieſe einſeitige
und ultraidealiſtiſche Auffaſſung jener beiden Grundbegriffe iſt
die Quelle der größten Irrthümer geworden; ſie überſieht, daß
Kant mit jenem Satze nur die eine Seite des Problems, die
ſubjektive, ſtreifte, daneben aber die andere, die objektive,
als gleichberechtigt anerkannte; er ſagte: „Raum und Zeit haben
empiriſche Realität, aber transſcendentale Ideali-
tät.“ Mit dieſem Satze Kant's kann ſich unſer moderner
Monismus wohl einverſtanden erklären, nicht aber mit jener
einſeitigen Geltendmachung der ſubjektiven Seite des Problems;
denn dieſe führt in ihrer Konſequenz zu jenem abſurden Idealis-
mus, der in Berkeley's Satze gipfelt: „Körper ſind nur Vor-
ſtellungen, ihr Daſein beſteht im Wahrgenommenwerden.“ Dieſer
Satz ſollte heißen: „Körper ſind für mein perſönliches Bewußt-
ſein nur Vorſtellungen; ihr Daſein iſt ebenſo real wie dasjenige
meiner Denkorgane, nämlich der Ganglienzellen des Großhirns,
welche die Eindrücke der Körper auf meine Sinnesorgane auf-
nehmen und durch Aſſocion derſelben jene Vorſtellungen bilden.“
Ebenſo gut, wie ich die „Realität von Raum und Zeit“ bezweifle,
oder gar leugne, kann ich auch diejenige meines eigenen Bewußt-
ſeins leugnen; im Fieber-Delirium, in Hallucinationen, im Traum,
im Doppelbewußtſein halte ich Vorſtellungen für wahr, welche
nicht real, ſondern „Einbildungen“ ſind; ich halte ſogar meine
eigene Perſon für eine andere (S. 214); das berühmte „Cogito
ergo ſum“ gilt hier nicht mehr. Dagegen iſt die Realität
von Raum und Zeit jetzt endgültig bewieſen durch die Er-
weiterung unſerer Weltanſchauung, welche wir dem Subſtanz-
[284]Univerſum perpetuum mobile. XIII.
Geſetz und der moniſtiſchen Kosmogenie verdanken. Nachdem wir
die unhaltbare Vorſtellung vom „leeren Raum“ glücklich abge-
ſtreift haben, bleibt uns als das unendliche „raumerfüllende
Medium“ die Materie, und zwar in ihren beiden Formen:
Aether und Maſſe. Und ebenſo betrachten wir auf der
anderen Seite als das „zeiterfüllende Geſchehen“ die ewige
Bewegung oder genetiſche Energie, welche ſich in der ununter-
brochenen Entwickelung der Subſtanz äußert, in dem „Per-
petuum mobile“ des Univerſum.
Univerſum perpetuum mobile. Da jeder bewegte Körper
ſeine Bewegung ſo lange fortſetzt, als ihn nicht äußere Umſtände
daran hindern, kam der Menſch ſchon vor Jahrtauſenden auf den
Gedanken, Apparate zu bauen, die ſich, einmal in Bewegung
geſetzt, immerfort in derſelben Weiſe weiter bewegen. Man
überſah dabei, daß jede Bewegung auf äußere Hinderniſſe ſtößt
und allmählich aufhört, wenn nicht ein neuer Anſtoß von außen
erfolgt, wenn nicht eine neue Kraft zugeführt wird, die jene
Hinderniſſe überwindet. So würde z. B. ein ſchwingendes Pendel
in Ewigkeit mit derſelben Geſchwindigkeit ſich hin und her be-
wegen, wenn nicht der Widerſtand der Luft und die Reibung
im Aufhängungspunkte die mechaniſche lebendige Kraft ſeiner
Bewegung allmählich aufhöben und in Wärme verwandelten.
Wir müſſen ihm durch einen neuen Anſtoß (oder bei der Pendel-
uhr durch Aufziehen des Gewichtes) neue mechaniſche Kraft zu-
führen. Daher iſt die Konſtruktion einer Maſchine, welche ohne
äußere Hülfe einen Arbeitsüberſchuß erzeugt, durch den ſie ſich
ſelbſt immerfort im Gang erhält, unmöglich. Alle Verſuche, ein
ſolches Perpetuum mobile zu bauen, mußten fehlſchlagen; die
Erkenntniß des Subſtanz-Geſetzes bewies ſodann auch theoretiſch
die Unmöglichkeit desſelben.
Anders verhält es ſich aber, wenn wir den Kosmos als
Ganzes in's Auge faſſen, das unendliche Weltall, welches in
[285]XIII. Univerſum perpetuum mobile.
ewiger Bewegung begriffen iſt. Die unendliche Materie, welche
objektiv denſelben erfüllt, nennen wir in unſerer ſubjektiven Vor-
ſtellung „Raum“; die ewige Bewegung derſelben, die objektiv
eine periodiſche, in ſich ſelbſt zurückkehrende Entwickelung dar-
ſtellt, nennen wir ſubjektiv „Zeit“. Dieſe beiden „Formen der
Anſchauung“ überzeugen uns von der Unendlichkeit und Ewigkeit
des Weltalls. Damit iſt aber zugleich geſagt, daß das ganze
Univerſum ſelbſt ein allumfaſſendes Perpetuum mobile iſt.
Dieſe unendliche und ewige „Maſchine des Weltalls“ erhält ſich
ſelbſt in ewiger und ununterbrochener Bewegung, weil jedes
Hinderniß durch ein „Aequivalent der Energie“ ausgeglichen
wird, weil die unendlich große Summe der aktuellen und
potentiellen Energie ewig dieſelbe bleibt. Das Geſetz von der
Erhaltung der Kraft beweiſt alſo, daß die Vorſtellung des
Perpetuum mobile für den ganzen Kosmos ebenſo wahr und
fundamental bedeutend iſt, wie ſie für die iſolirte Aktion eines
Theiles desſelben unmöglich iſt. Dadurch wird auch die Lehre
von der Entropie widerlegt.
Entropie des Weltalls. Der ſcharfſinnige Begründer der
mechaniſchen Wärmetheorie (1850), Clauſius, faßte
den wichtigſten Inhalt dieſer bedeutungsvollen Lehre in zwei
Hauptſätzen zuſammen. Der erſte Hauptſatz lautet: „Die
Energie des Weltalls iſt konſtant“; er bildet die
eine Hälfte unſeres Subſtanz-Geſetzes, das „Energie-Princip“
(S. 265). Der zweite Hauptſatz behauptet: „Die Energie
des Weltalls ſtrebt einem Maximum zu“; dieſer
zweite Hauptſatz iſt nach unſerer Anſicht ebenſo irrig, wie der
erſte richtig iſt. Nach der Anſicht von Clauſius zerfällt die
Geſammt-Energie des Weltalls in zwei Theile, von denen der
eine (als Wärme von höherer Temperatur, als mechaniſche,
elektriſche, chemiſche Energie u. ſ. w.) noch theilweiſe in Arbeit
umſetzbar iſt, der andere dagegen nicht; dieſe letztere, die bereits
[286]Entropie des Weltalls. XIII.
in Wärme verwandelte und in kälteren Körpern angeſammelte
Energie iſt für weitere Arbeitsleiſtung unwiederbringlich verloren.
Dieſen unverbrauchten Energie-Theil, der nicht mehr in mecha-
niſche Arbeit umgeſetzt werden kann, nennt Clauſius Entropie
(d. h. die nach innen gewendete Kraft); er wächſt beſtändig auf
Koſten des erſten Theils. Da nun tagtäglich immer mehr mecha-
niſche Energie des Weltalls in Wärme übergeht und dieſe nicht
in die erſtere zurückverwandelt werden kann, muß die geſammte
(unendliche!) Quantität der Wärme und Energie immer mehr
zerſtreut und herabgeſetzt werden. Alle Temperatur-Unterſchiede
müßten zuletzt verſchwinden und die völlig gebundene Wärme
gleichmäßig in einem einzigen trägen Klumpen von ſtarrer Materie
verbreitet ſein; alles organiſche Leben und alle organiſche Be-
wegung würde aufgehört haben, wenn dieſes Maximum der
Entropie erreicht wäre; das wahre „Ende der Welt“ wäre da.
Wenn dieſe Lehre von der Entropie richtig wäre, ſo müßte
dem angenommenen „Ende der Welt“ auch ein urſprünglicher
„Anfang“ derſelben entſprechen, ein Minimum der En-
tropie, in welchem die Temperatur-Differenzen der geſonderten
Welttheile die größten waren. Beide Vorſtellungen ſind nach
unſerer moniſtiſchen und ſtreng konſequenten Auffaſſung des
ewigen kosmogenetiſchen Proceſſes gleich unhaltbar; beide wider-
ſprechen dem Subſtanz-Geſetz. Es giebt einen Anfang der Welt
ebenſo wenig als ein Ende derſelben. Wie das Univerſum un-
endlich iſt, ſo bleibt es auch ewig in Bewegung; ununterbrochen
findet eine Verwandlung der lebendigen Kraft in Spannkraft
ſtatt und umgekehrt; und die Summe dieſer aktuellen und poten-
tiellen Energie bleibt immer dieſelbe. Der zweite Hauptſatz der
mechaniſchen Wärme-Theorie widerſpricht dem erſten und muß
aufgegeben werden.
Die Vertheidiger der Entropie behaupten dieſelbe dagegen
mit Recht, ſobald ſie nur einzelne Proceſſe ins Auge faſſen,
[287]XIII. Entropie des Weltalls.
bei welchen unter gewiſſen Bedingungen die gebundene
Wärme nicht in Arbeit zurückverwandelt werden kann. So kann
z. B. bei der Dampfmaſchine die Wärme nur dann in mechaniſche
Arbeit umgewandelt werden, wenn ſie aus einem wärmeren
Körper (Dampf) in einen kälteren (Kühlwaſſer) übergeht, aber
nicht umgekehrt. Im großen Ganzen des Weltalls herrſchen
aber ganz andere Verhältniſſe; hier ſind Bedingungen gegeben,
in denen auch die umgekehrte Verwandlung der latenten Wärme
in mechaniſche Arbeit ſtattfinden kann. So werden z. B. beim
Zuſammenſtoße von zwei Weltkörpern, die mit ungeheurer Ge-
ſchwindigkeit auf einander treffen, koloſſale Wärme-Mengen frei,
während die zerſtäubten Maſſen in den Weltraum hinaus-
geſchleudert und zerſtreut werden. Das ewige Spiel der rotirenden
Maſſen mit Verdichtung der Theile, Ballung neuer kleiner Meteo-
riten, Vereinigung derſelben zu größeren u. ſ. w. beginnt dann
von Neuem *).
II. Moniſtiſche Geogenie. Die Entwickelungsgeſchichte der
Erde, auf die wir jetzt noch einen flüchtigen Blick werfen, bildet
nur einen winzig kleinen Theil von derjenigen des Kosmos. Sie
iſt zwar auch gleich dieſer ſeit mehreren Jahrtauſenden Gegen-
ſtand der philoſophiſchen Spekulation und noch mehr der mytho-
logiſchen Dichtung geweſen; aber ihre wirklich wiſſenſchaftliche
Erkenntniß iſt viel jünger und ſtammt zum weitaus größten
Theile aus unſerem 19. Jahrhundert. Im Princip war die
Natur der Erde, als eines Planeten der um die Sonne kreiſt,
ſchon durch das Weltſyſtem des Kopernikus (1543) beſtimmt;
durch Galilei, Keppler und andere große Aſtronomen war
ihr Abſtand von der Sonne, ihr Bewegungs-Geſetz u. ſ. w.
mathematiſch feſtgeſtellt. Auch war bereits durch die Kosmogenie
von Kant und Laplace der Weg gezeigt, auf welchem ſich
[288]Geſchichte der Erde. XIII.
die Erde aus der Mutter Sonne entwickelt hatte. Aber die
ſpätere Geſchichte unſeres Planeten, die Umbildung ſeiner Ober-
fläche, die Entſtehung der Kontinente und Meere, der Gebirge
und Wüſten war noch zu Ende des 18. und in den erſten beiden
Decennien des 19. Jahrhunderts nur wenig Gegenſtand ernſter
wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen geweſen; meiſtens begnügte man
ſich mit ziemlich unſicheren Vermuthungen oder mit der Annahme
der traditionellen Schöpfungsſagen; insbeſondere war es auch
hier wieder der Glaube an die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte,
welcher der ſelbſtändigen Forſchung von vornherein den Weg zur
wahren Erkenntniß verlegte.
Erſt im Jahre 1822 erſchien ein bedeutendes Werk, welches
zur wiſſenſchaftlichen Erforſchung der Erdgeſchichte diejenige
Methode einſchlug, die ſich bald als die weitaus fruchtbarſte
erwies, die ontologiſche Methode oder das Princip des
Aktualismus*). Sie beſteht darin, daß wir die Erſcheinungen
der Gegenwart genau ſtudiren und benutzen, um dadurch die
ähnlichen geſchichtlichen Vorgänge der Vergangenheit zu
erklären. Die Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu Göttingen hatte
daraufhin 1818 eine Preisaufgabe geſtellt für: „Die gründlichſte
und umfaſſendſte Unterſuchung über die Veränderungen der Erd-
oberfläche, welche in der Geſchichte ſich nachweiſen laſſen, und
die Anwendung, welche man von ihrer Kunde bei Erforſchung
der Erdrevolutionen, die außer dem Gebiete der Geſchichte liegen,
machen kann“. Die Löſung dieſer wichtigen Preisaufgabe ge-
lang Karl Hoff aus Gotha in ſeinem ausgezeichneten Werke:
„Geſchichte der durch Ueberlieferung nachgewieſenen natürlichen
Veränderungen der Erdoberfläche“ (in vier Bänden, 1822-1834).
In umfaſſendſter Weiſe und mit größtem Erfolge wurde dann
die von ihm begründete ontologiſche oder aktualiſtiſche
[289]XIII. Geſchichte der Erde.
Methode auf das geſammte Gebiet der Geologie von dem
großen engliſchen Geologen Charles Lyell angewendet; ſeine
Principien der Geologie (1830) legten den feſten Grund,
auf dem die folgende Geſchichte der Erde mit ſo glänzendem
Erfolge weiterbaute *). Die bedeutungsvollen geogenetiſchen
Forſchungen von Alexander Humboldt und Leopold
Buch, von Guſtav Biſchof und Eduard Süß, wie von
vielen anderen modernen Geologen ſtützen ſich ſämmtlich auf die
feſten empiriſchen Grundlagen und ſpekulativen Principien, welche
wir den bahnbrechenden Unterſuchungen von Karl Hoff und
Charles Lyell verdanken; ſie machten der reinen, vernünftigen
Wiſſenſchaft die Bahn frei auf dem Gebiete der Erdgeſchichte;
ſie entfernten die gewaltigen Hinderniſſe, welche auch hier die
mythologiſche Dichtung und die religiöſe Tradition aufgehäuft
hatten, vor Allem die Bibel und die darauf gegründete chriſtliche
Mythologie. Ich habe die großen Verdienſte von Charles
Lyell und deſſen Beziehungen zu ſeinem Freunde Charles
Darwin bereits im ſechſten und fünfzehnten Vortrage meiner
Natürlichen Schöpfungsgeſchichte beſprochen; für die weitere Kennt-
niß der Erdgeſchichte und der gewaltigen Fortſchritte, welche die
dynamiſche und hiſtoriſche Geologie in unſerem Jahrhundert ge-
macht haben, verweiſe ich auf die bekannten Werke von Süß,
Neumayr, Credner und Johannes Walther (S. 270).
Als zwei Hauptabſchnitte der Erdgeſchichte müſſen wir vor
Allem die anorganiſche und organiſche Geogenie unter-
ſcheiden; die letztere beginnt mit dem erſten Auftreten lebender
Weſen auf unſerem Erdball. Die anorganiſche Geſchichte
der Erde, der ältere Abſchnitt, verlief in derſelben Weiſe wie
diejenige der übrigen Planeten unſeres Sonnenſyſtems; ſie alle
löſten ſich vom Aequator des rotirenden Sonnen-Körpers als
Haeckel, Welträthſel. 19
[290]Geſchichte der Organismen. XIII.
Nebelringe ab, welche ſich allmählich zu ſelbſtändigen Weltkörpern
verdichteten. Aus dem gasförmigen Nebelball wurde durch Ab-
kühlung der gluthflüſſige Erdball, und weiterhin entſtand an
deſſen Oberfläche durch fortſchreitende Wärme-Ausſtrahlung die
dünne feſte Rinde, welche wir bewohnen. Erſt nachdem die
Temperatur an der Oberfläche bis zu einem gewiſſen Grade
geſunken war, konnte ſich aus der umgebenden Dampfhülle das
erſte tropfbar-flüſſige Waſſer niederſchlagen, und damit war die
wichtigſte Vorbedingung für die Entſtehung des organiſchen
Lebens gegeben. Viele Millionen Jahre — jedenfalls mehr als
hundert! — ſind verfloſſen, ſeitdem dieſer bedeutungsvolle Vor-
gang, der der Waſſerbildung, eintrat und damit die Einleitung
zum dritten Hauptabſchnitt der Kosmogenie, zur Biogenie.
III.Moniſtiſche Biogenie. Der dritte Hauptabſchnitt
der Weltentwickelung beginnt mit der erſten Entſtehung der
Organismen auf unſerem Erdball und dauert ſeitdem ununter-
brochen bis zur Gegenwart fort. Die großen Welträthſel, welche
dieſer intereſſanteſte Theil der Erdgeſchichte uns vorlegt, galten
noch im Anfange des 19. Jahrhunderts allgemein für unlösbar
oder doch für ſo ſchwierig, daß ihre Löſung in weiteſter Ferne
zu liegen ſchien; am Ende desſelben dürfen wir mit berechtigtem
Stolze ſagen, daß ſie durch die moderne Biologie und ihren
Transformismus im Princip gelöſt ſind; ja ſelbſt viele
einzelne Erſcheinungen dieſes wunderbaren „Lebensreiches“ ſind
heute ſo vollkommen phyſikaliſch erklärt wie irgend ein wohl-
bekanntes phyſikaliſches Phänomen in der anorganiſchen Natur.
Das Verdienſt, den erſten ausſichtsreichen Schritt auf dieſer
ſchwierigen Bahn gethan und den Weg zur moniſtiſchen Löſung
aller biologiſchen Probleme gezeigt zu haben, gebührt dem geiſt-
vollen franzöſiſchen Naturforſcher Jean Lamarck; er veröffent-
lichte 1809, im Geburtsjahre von Charles Darwin, ſeine
gedankenreiche „Philoſophie zoologique“. In dieſem originellen
[291]XIII. Geſchichte der Organismen.
Werke iſt nicht allein der großartige Verſuch gemacht, alle Er-
ſcheinungen des organiſchen Lebens von einem einheitlichen,
phyſikaliſchen Geſichtspunkte aus zu erklären, ſondern auch der
Weg eröffnet, auf dem allein das ſchwierigſte Räthſel dieſes
Gebietes gelöſt werden kann, das Problem von der natürlichen
Entſtehung der organiſchen Species-Formen. Lamarck, der
gleich ausgedehnte empiriſche Kenntniſſe in Zoologie und Botanik
beſaß, entwarf hier zum erſten Male die Grundzüge der Ab-
ſtammungslehre oder Deſcendenz-Theorie: er zeigte, wie
alle die unzähligen Formen des Thier- und Pflanzenreiches durch
allmähliche Umbildung aus gemeinſamen einfachſten Stamm-
formen hervorgegangen ſind, und wie die allmähliche Veränderung
der Geſtalten durch Anpaſſung, in Wechſelwirkung mit Ver-
erbung, dieſe langſame Transmutation bewirkt hat.
Im fünften Vortrage meiner „Natürlichen Schöpfungs-
geſchichte“ habe ich die Verdienſte von Lamarck nach Gebühr
gewürdigt, im ſechſten und ſiebenten Vortrage diejenigen ſeines
größten Nachfolgers, Charles Darwin (1859). Durch ihn
wurden fünfzig Jahre ſpäter nicht nur alle wichtigen Hauptſätze
der Deſcendenz-Theorie unwiderleglich begründet, ſondern auch
durch Einführung der Selektions-Theorie oder Züchtungs-
lehre die Lücke ausgefüllt, welche der Erſtere gelaſſen hatte. Der
Erfolg, welchen Lamarck trotz aller Verdienſte nicht hatte er-
langen können, wurde Darwin im reichſten Maße zu Theil;
ſein epochemachendes Werk „über den Urſprung der Arten durch
natürliche Züchtung“ hat im Laufe der letzten vierzig Jahre die
ganze moderne Biologie von Grund aus umgeſtaltet und ſie auf
eine Stufe der Entwickelung gehoben, welche derjenigen aller
übrigen Naturwiſſenſchaften nichts nachgiebt. Darwin iſt der
Kopernikus der organiſchen Welt geworden, wie
ich ſchon 1868 ausſprach und, wie E. Du Bois-Reymond
fünfzehn Jahre ſpäter wiederholte. (Vergl. „Monismus“, S. 39.)
19 *
[292]Abſtammung des Menſchen. XIII.
IV.Moniſtiſche Anthropogenie. Als vierter und letzter
Hauptabſchnitt der Weltentwickelung kann für uns Menſchen
derjenige jüngſte Zeitraum gelten, innerhalb deſſen ſich unſer
eigenes Geſchlecht entwickelt hat. Schon Lamarck (1809) hatte
klar erkannt, daß dieſe Entwickelung vernünftiger Weiſe nur auf
einem natürlichen Wege denkbar ſei, durch „Abſtammung
vom Affen“, als von dem nächſtverwandten Säugethiere.
Huxley zeigte ſodann (1863) in ſeiner berühmten Abhandlung
über „die Stellung des Menſchen in der Natur“, daß dieſe bedeu-
tungsvolle Annahme ein nothwendiger Folgeſchluß der Deſcendenz-
Theorie und durch anatomiſche, embryologiſche und paläonto-
logiſche Thatſachen wohlbegründet ſei; er erklärte dieſe „Frage
aller Fragen“ im Princip für gelöſt. Darwin behandelte
ſodann dieſelbe in geiſtreicher Weiſe von verſchiedenen Seiten in
ſeinem Werke über „die Abſtammung des Menſchen und die
natürliche Zuchtwahl“ (1871). Ich ſelbſt hatte ſchon in meiner
Generellen Morphologie (1866) dieſem wichtigſten Special-Problem
der Abſtammungslehre ein beſonderes Kapitel gewidmet. 1874
veröffentlichte ich meine Anthropogenie, in der zum erſten
Male der Verſuch durchgeführt iſt, die Abſtammung des Menſchen
durch ſeine ganze Ahnenreihe bis zur älteſten archigonen Moneren-
Form hinauf zu verfolgen; ich ſtützte mich dabei gleichmäßig auf
die drei großen Urkunden der Stammesgeſchichte, auf die ver-
gleichende Anatomie, Ontogenie und Paläontologie (vierte Auf-
lage 1891). Wie weit wir in den letzten Jahren durch zahlreiche
wichtige Fortſchritte der anthropogenetiſchen Forſchung gekommen
ſind, habe ich in dem Vortrage gezeigt, den ich 1898 auf dem
internationalen Zoologen-Kongreſſe in Cambridge „über unſere
gegenwärtige Kenntniß vom Urſprung des Menſchen“ gehalten
habe (Bonn, ſiebente Auflage 1899).
[[293]]
Vierzehntes Kapitel.
Einheit der Natur.
Moniſtiſche Studien über die materielle und energetiſche
Einheit des Kosmos. — Mechanismus und Vitalismus. —
Ziel, Zweck und Zufall.
‘„Alle uns bekannten Naturkörper, belebte und
lebloſe, ſtimmen überein in allen weſentlichen
Grundeigenſchaften. Die Unterſchiede, welche
zwiſchen dieſen beiden Hauptgruppen (den orga-
niſchen und anorganiſchen Körpern) hinſichtlich
ihrer Formen und Funktionen exiſtiren, ſind ledig-
lich die nothwendige Folge ihrer verſchiedenartigen
chemiſchen Zuſammenſetzung. Die eigenthümlichen
Bewegungs-Erſcheinungen und Formen des orga-
niſchen Lebens ſind nicht der Ausfluß einer be-
ſonderen ‚Lebenskraft‘, ſondern lediglich die
unmittelbaren oder mittelbaren Leiſtungen der
Eiweißkörper (Plasma-Verbindungen) und an-
derer komplicirter Verbindungen des Kohlen-
ſtoffs.“
Generelle Morphologie (1866).’ ()
[[294]]
Monismus des Kosmos. Principielle Einheit der organiſchen und
anorganiſchen Natur. Kohlenſtoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Hypotheſe
der Urzeugung (Archigonie). Mechaniſche und zweckthätige Urſachen. Mechanik
und Teleologie bei Kant. Der Zweck in der organiſchen und anorganiſchen
Natur. Vitalismus, Lebenskraft. Neovitalismus, Dominanten. Dysteleologie
(Lehre von den rudimentären Organen). Unzweckmäßigkeit und Unvollkommen-
heit der Natur. Zielſtrebigkeit in den organiſchen Körpern. Ihre Abweſen-
heit in der Ontogeneſe und in der Phytogeneſe. Platoniſche Ideen. Sittliche
Weltordnung, nicht nachzuweiſen in der organiſchen Erdgeſchichte, in der
Wirbelthier-Geſchichte, in der Völker-Geſchichte. Vorſehung. Ziel, Zweck
und Zufall.
Paul Holbach, Syſtem der Natur. Paris 1770. Deutſch Leipzig 1783.
Hermann Helmholtz, Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge. I.-III. Heft.
Braunſchweig 1865.
W. R. Grove, Die Verwandtſchaft der Naturkräfte. Braunſchweig 1871.
Philipp Spiller, Die Urkraft des Weltalls nach ihrem Weſen und Wirken
auf allen Naturgebieten. Berlin 1876.
Philipp Spiller, Die Entſtehung der Welt und die Einheit der Naturkräfte.
Populäre Kosmogenie. Berlin 1870.
Carl Nägeli, Mechaniſch-phyſiologiſche Theorie der Abſtammungslehre.
München 1884.
Ludwig Zehnder, Die Entſtehung des Lebens, aus mechaniſchen Grund-
lagen entwickelt. Freiburg i. B. 1899.
Ernſt Haeckel, Allgemeine Unterſuchungen über die Natur und erſte Ent-
ſtehung der Organismen, ihr Verhältniß zu den Anorganen und ihre
Eintheilung in Thiere und Pflanzen. (Zweites Buch der Generellen
Morphologie, Bd. I, S. 109-238.) Berlin 1866.
Kosmos, Zeitſchrift für einheitliche Weltanſchauung auf Grund der Ent-
wickelungslehre. Unter Mitwirkung von Charles Darwin und Ernſt
Haeckel herausgegeben von Ernſt Krauſe. Bd. I-XIX. Berlin 1877
bis 1886.
[[295]]
Durch das Subſtanz-Geſetz iſt zunächſt die fundamentale
Thatſache erwieſen, daß jede Naturkraft mittelbar oder unmittelbar
in jede andere umgewandelt werden kann. Mechaniſche und
chemiſche Energie, Schall und Wärme, Licht und Elektricität
können in einander übergeführt werden und erweiſen ſich nur
als verſchiedene Erſcheinungs-Formen einer und derſelben Ur-
kraft, der Energie. Daraus ergiebt ſich der bedeutungsvolle
Satz von der Einheit aller Naturkräfte oder, wie wir
auch ſagen können, dem „Monismus der Energie“. Im
geſammten Gebiete der Phyſik und Chemie iſt dieſer Fundamental-
Satz jetzt allgemein anerkannt, ſoweit er die anorganiſchen Natur-
körper betrifft.
Anders verhält ſich ſcheinbar die organiſche Welt, das
bunte und formenreiche Gebiet des Lebens. Zwar liegt es auch
hier auf der Hand, daß ein großer Theil der Lebens-
erſcheinungen unmittelbar auf mechaniſche und chemiſche Energie,
auf elektriſche und Licht-Wirkungen zurückzuführen iſt. Für einen
anderen Theil derſelben aber wird das auch heute noch beſtritten,
ſo vor Allem für das Welträthſel des Seelenlebens, ins-
beſondere des Bewußtſeins. Hier iſt es nun das hohe Verdienſt
der modernen Entwickelungslehre, die Brücke zwiſchen den
beiden, ſcheinbar getrennten Gebieten geſchlagen zu haben. Wir
ſind jetzt zu der klaren Ueberzeugung gelangt, daß auch alle Er-
[296]Monismus des Kosmos. XIV.
ſcheinungen des organiſchen Lebens ebenſo dem univerſalen
Subſtanz-Geſetz unterworfen ſind wie die anorganiſchen
Phänomene im unendlichen Kosmos.
Die Einheit der Natur, die hieraus folgt, die Ueberwin-
dung des früheren Dualismus, iſt ſicher eines der werthvollſten
Ergebniſſe unſerer modernen Genetik. Ich habe dieſen
„Monismus des Kosmos“, die principielle „Einheit der
organiſchen und anorganiſchen Natur“ ſchon vor 33 Jahren ſehr
eingehend zu begründen verſucht, indem ich die Uebereinſtimmung
der beiden großen Naturreiche in Beziehung auf Stoffe, Formen
und Kräfte einer eingehenden kritiſchen Prüfung und Vergleichung
unterzog *). Einen kurzen Auszug ihrer Ergebniſſe enthält der
fünfzehnte Vortrag meiner „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“.
Während die hier entwickelten Anſchauungen von der großen
Mehrzahl der Naturforſcher gegenwärtig angenommen ſind, iſt
doch neuerdings von mehreren Seiten der Verſuch gemacht
worden, dieſelben zu bekämpfen und den alten Gegenſatz
von zwei verſchiedenen Natur-Gebieten aufrecht zu erhalten. Den
konſequenteſten derartigen Verſuch enthält das kürzlich erſchienene
Werk des Botanikers Reinke: „Die Welt als That“ **). Das-
ſelbe vertritt in lobenswerther Klarheit und Konſequenz den
reinen kosmologiſchen Dualismus und beweiſt damit
ſelbſt, wie gänzlich unhaltbar die damit verknüpfte teleologiſche
Weltanſchauung iſt. In dem ganzen Gebiete der anorganiſchen
Natur ſollen danach nur phyſikaliſche und chemiſche Kräfte
wirken, in demjenigen der organiſchen Natur daneben noch
„intelligente Kräfte“, die Richtkräfte oder Dominanten. Nur
im erſteren Gebiete ſoll das Subſtanz-Geſetz Geltung haben, im
[297]XIV. Kohlenſtoff-Theorie.
letzteren nicht. In der Hauptſache handelt es ſich auch hier
wieder um den uralten Gegenſatz der mechaniſchen und
teleologiſchen Weltanſchauung. Bevor wir auf denſelben
eingehen, wollen wir kurz auf zwei andere Theorien hinweiſen,
welche nach meiner Ueberzeugung für die Entſcheidung dieſer
wichtigen Probleme ſehr werthvoll ſind, die Kohlenſtoff-Theorie
und die Urzeugungs-Lehre.
Kohlenſtoff-Theorie (Karbogen-Theorie). Die phyſio-
logiſche Chemie hat im Laufe der letzten vierzig Jahre durch
unzählige Analyſen folgende fünf Thatſachen feſtgeſtellt: I. In
den organiſchen Naturkörpern kommen keine anderen Elemente
vor als in den anorganiſchen; II. Diejenigen Verbindungen
der Elemente, welche den Organismen eigenthümlich ſind, und
welche ihre „Lebenserſcheinungen“ bewirken, ſind zuſammengeſetzte
Plasma-Körper, aus der Gruppe der Albuminate oder Eiweiß-
Verbindungen. III. Das organiſche Leben ſelbſt iſt ein chemiſch-
phyſikaliſcher Proceß, der auf dem Stoffwechſel dieſer plasmatiſchen
Albuminate beruht. IV. Dasjenige Element, welches allein im
Stande iſt, dieſe zuſammengeſetzten Eiweißkörper in Verbindung
mit anderen Elementen (Sauerſtoff, Waſſerſtoff, Stickſtoff,
Schwefel) aufzubauen, iſt der Kohlenſtoff. V. Dieſe plasmatiſchen
Kohlenſtoff-Verbindungen zeichnen ſich vor den meiſten andern
chemiſchen Verbindungen durch ihre ſehr komplicirte Molekular-
Struktur aus, durch ihre Unbeſtändigkeit und ihren gequollenen
Aggregat-Zuſtand. Auf Grund dieſer fünf fundamentalen That-
ſachen ſtellte ich vor 33 Jahren folgende Karbogen-Theorie
auf: „Lediglich die eigenthümlichen, chemiſch-phyſikaliſchen Eigen-
ſchaften des Kohlenſtoffs — und namentlich der feſtflüſſige
Aggregatzuſtand und die leichte Zerſetzbarkeit der höchſt zuſammen-
geſetzten eiweißartigen Kohlenſtoff-Verbindungen — ſind die mecha-
niſchen Urſachen jener eigenthümlichen Bewegungs-Erſcheinungen,
durch welche ſich die Organismen von den Anorganen unter-
[298]Urzeugung oder Archigonie. XIV.
ſcheiden, und die man im engeren Sinne das Leben nennt“
(Natürl. Schöpfungsgeſch. IX. Aufl., S. 357). Obwohl dieſe
„Kohlenſtoff-Theorie“ von mehreren Biologen heftig angegriffen
worden iſt, hat doch bisher Keiner eine beſſere moniſtiſche Theorie
an deren Stelle geſetzt. Heute, wo wir die phyſiologiſchen Ver-
hältniſſe des Zellenlebens, die Chemie und Phyſik des lebendigen
Plasma viel beſſer und gründlicher kennen als vor 33 Jahren,
läßt ſich die Karbogen-Theorie viel eingehender und ſicherer be-
gründen als es damals möglich war.
Archigonie oder Urzeugung. Der alte Begriff der Ur-
zeugung (Generatio ſpontanea oder aequivoca)
wird heute noch in ſehr verſchiedenem Sinne verwendet; gerade
die Unklarheit über dieſen Begriff und die widerſprechende
Anwendung desſelben auf ganz verſchiedene, alte und neue
Hypotheſen, ſind ſchuld daran, daß dieſes wichtige Problem zu
den beſtrittenſten und konfuſeſten Fragen der ganzen Naturwiſſen-
ſchaft bis auf den heutigen Tag gehört. Ich beſchränke den
Begriff der Urzeugung — als Archigonie oder Abio-
geneſis! — auf die erſte Entſtehung von lebendem Plasma
aus anorganiſchen Kohlenſtoff-Verbindungen und unterſcheide als
zwei Haupt-Perioden in dieſem „Beginn der Biogeneſis“:
I. die Autogonie, die Entſtehung von einfachſten Plasma-
Körpern in einer anorganiſchen Bildungsflüſſigkeit, und II. die
Plasmogonie, die Individualiſirung von primitivſten Or-
ganismen aus jenen Plasma-Verbindungen, in Form von
Moneren. Ich habe dieſe wichtigen, aber auch ſehr ſchwierigen
Probleme im 15. Kapitel meiner Natürlichen Schöpfungs-
geſchichte ſo eingehend behandelt, daß ich hier darauf verweiſen
kann. Eine ſehr ausführliche und ſtreng wiſſenſchaftliche Er-
örterung derſelben habe ich bereits 1866 in der Generellen
Morphologie gegeben (Bd. I, S. 167-190); ſpäter hat Naegeli
in ſeiner Mechaniſch-phyſiologiſchen Theorie der Abſtammungs-
[299]XIV. Teleologie und Mechanik.
lehre (1884) die Hypotheſe der Urzeugung ganz in demſelben
Sinne ſehr eingehend behandelt und als eine unentbehrliche
Annahme der natürlichen Entwickelungs-Theorie bezeichnet. Ich
ſtimme vollkommen ſeinem Satze bei: „Die Urzeugung leugnen
heißt das Wunder verkünden.“
Teleologie und Mechanik. Sowohl die Hypotheſe der
Urzeugung als die eng damit verknüpfte Kohlenſtoff-Theorie be-
ſitzen die größte Bedeutung für die Entſcheidung des alten
Kampfes zwiſchen der teleologiſchen (dualiſtiſchen) und
der mechaniſchen (moniſtiſchen) Beurtheilung der Er-
ſcheinungen. Seit Darwin uns vor vierzig Jahren durch ſeine
Selektions-Theorie den Schlüſſel zur moniſtiſchen Er-
klärung der Organiſation in die Hand gab, ſind wir in den
Stand geſetzt, die bunte Mannigfaltigkeit der zweckmäßigen Ein-
richtungen in der lebendigen Körperwelt ebenſo auf natürliche
mechaniſche Urſachen zurückzuführen, wie dies vorher nur in der
anorganiſchen Natur möglich war. Die übernatürlichen zweck-
thätigen Urſachen, zu welchen man früher ſeine Zuflucht hatte
nehmen müſſen, ſind dadurch überflüſſig geworden. Trotzdem
fährt die moderne Metaphyſik fort, die letzteren als unentbehrlich
und die erſteren als unzureichend zu bezeichnen.
Werkurſachen (Cauſae efficienteſ) und Endurſachen
(Cauſae finaleſ). Den tiefen Gegenſatz zwiſchen den be-
wirkenden Urſachen (oder Werkurſachen) und den zweckthätigen
Urſachen (oder Endurſachen) hat mit Bezug auf die Erklärung der
Geſammtnatur kein neuerer Philoſoph ſchärfer hervorgehoben
als Immanuel Kant. In ſeinem berühmten Jugendwerke,
der „Allgemeinen Naturgeſchichte und Theorie des Himmels“,
hatte er 1755 den kühnen Verſuch unternommen, „die Verfaſſung
und den mechaniſchen Urſprung des ganzen Weltgebäudes nach
Newton'ſchen Grundſätzen abzuhandeln“. Dieſe „kosmologiſche
Gastheorie“ ſtützte ſich ganz auf die mechaniſchen Bewegungs-
[300]Atheiſtiſche Naturwiſſenſchaften. XIV.
Erſcheinungen der Gravitation; ſie wurde ſpäter von dem großen
Aſtronomen und Mathematiker Laplace weiter ausgebildet und
mathematiſch begründet. Als dieſer von Napoleon I. gefragt
wurde, welche Stelle in ſeinem Syſtem Gott, der Schöpfer und
Erhalter des Weltalls, einnehme, antwortete er klar und ehrlich:
„Sire, ich bedarf dieſer Hypotheſe nicht.“ Damit war der
atheiſtiſche Charakter dieſer mechaniſchen Kosmo-
genie, den ſie mit allen anorganiſchen Wiſſenſchaften theilt,
offen anerkannt. Dies muß um ſo mehr hervorgehoben werden,
als die Kant-Laplace'ſche Theorie noch heute in faſt all-
gemeiner Geltung ſteht; alle Verſuche, ſie durch eine beſſere zu
erſetzen, ſind fehlgeſchlagen. Wenn man den Atheismus noch
heute in weiten Kreiſen als einen ſchweren Vorwurf betrachtet, ſo
trifft dieſer die geſammte moderne Naturwiſſenſchaft, inſofern
ſie die anorganiſche Welt unbedingt mechaniſch erklärt.
Der Mechanismus allein (im Sinne Kant's!) gibt
uns eine wirkliche Erklärung der Natur-Erſcheinungen, in-
dem er dieſelben auf reale Werkurſachen zurückführt, auf blinde
und bewußtlos wirkende Bewegungen, welche durch die materielle
Konſtitution der betreffenden Naturkörper ſelbſt bedingt ſind.
Kant ſelbſt betont, daß es „ohne dieſen Mechanismus der
Natur keine Naturwiſſenſchaft geben kann“, und daß die Be-
fugniß der menſchlichen Vernunft zur mechaniſchen Erklärung
aller Erſcheinungen unbeſchränkt ſei. Als er aber ſpäter in
ſeiner Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft die Erklärung der
verwickelten Erſcheinungen in der organiſchen Natur beſprach,
behauptete er, daß dafür jene mechaniſchen Urſachen nicht aus-
reichend ſeien; hier müſſe man zweckmäßig wirkende Endurſachen
zu Hülfe nehmen. Zwar ſei auch hier die Befugniß unſerer
Vernunft zur mechaniſchen Erklärung anzuerkennen, aber ihr
Vermögen ſei begrenzt. Allerdings geſtand er ihr theilweiſe
dieſes Vermögen zu, aber für den größten Theil der Lebens-
[301]XIV. Mechaniſtiſche Naturwiſſenſchaften.
erſcheinungen (und beſonders für die Seelenthätigkeit des Menſchen)
hielt er die Annahme von Endurſachen unentbehrlich. Der merk-
würdige § 79 der Kritik der Urtheilskraft trägt die charakteriſtiſche
Ueberſchrift: „Von der nothwendigen Unterordnung des Princips
des Mechanismus unter das teleologiſche in Erklärung eines
Dinges als Naturzweck.“ Die zweckmäßigen Einrichtungen im
Körperbau der organiſchen Weſen ſchienen Kant ohne Annahme
übernatürlichen Endurſachen (d. h. alſo einer planmäßig wirkenden
Schöpferkraft) ſo unerklärlich, daß er ſagte: „Es iſt ganz gewiß,
daß wir die organiſirten Weſen und deren innere Möglichkeit
nach bloß mechaniſchen Principien der Natur nicht einmal zu-
reichend kennen, viel weniger uns erklären können, und zwar ſo
gewiß, daß man dreiſt ſagen kann: Es iſt für Menſchen ungereimt,
auch nur einen ſolchen Anſchlag zu faſſen oder zu hoffen, daß
noch etwa dereinſt ein Newton aufſtehen könne, der auch nur
die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgeſetzen, die keine
Abſicht geordnet hat, begreiflich machen werde, ſondern man
muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen.“
Siebenzig Jahre ſpäter iſt dieſer unmögliche „Newton der
organiſchen Natur“ in Darwin wirklich erſchienen und hat die
große Aufgabe gelöſt, die Kant für unlösbar erklärt hatte.
Der Zweck in der anorganiſchen Natur (anorganiſche
Teleologie). Seitdem Newton (1682) das Gravitations-
Geſetz aufgeſtellt und ſeitdem Kant (1755) „die Verfaſſung und
den mechaniſchen Urſprung des ganzen Weltgebäudes nach
Newton'ſchen Grundſätzen“ feſtgeſtellt — ſeitdem endlich
Laplace (1796) dieſes Grundgeſetz des Weltmechanis-
mus mathematiſch begründet hatte, ſind die ſämmtlichen an-
organiſchen Naturwiſſenſchaften rein mechaniſch und damit
zugleich rein atheiſtiſch geworden. In der Aſtronomie und
Kosmogenie, in der Geologie und Meteorologie, in der an-
organiſchen Phyſik und Chemie gilt ſeitdem die abſolute Herr-
[302]Der anorganiſche Zweckbegriff. XIV.
ſchaft mechaniſcher Geſetze auf mathematiſcher Grundlage als
unbedingt feſtſtehend. Seitdem iſt aber auch der Zweckbegriff
aus dieſem ganzen großen Gebiete verſchwunden. Jetzt, am
Schluſſe unſeres neunzehnten Jahrhunderts, wo dieſe moniſtiſche
Betrachtung nach harten Kämpfen ſich zu allgemeiner Geltung
durchgerungen hat, fragt kein Naturforſcher mehr im Ernſte nach
dem Zweck irgend einer Erſcheinung in dieſem ganzen unermeß-
lichen Gebiete. Oder ſollte wirklich noch heute im Ernſte ein
Aſtronom nach dem Zwecke der Planeten-Bewegungen oder ein
Mineraloge nach dem Zwecke der einzelnen Kryſtall-Formen
fragen? Oder ſollte ein Phyſiker über den Zweck der elektriſchen
Kräfte oder ein Chemiker über den Zweck der Atom-Gewichte
grübeln? Wir dürfen getroſt antworten: Nein! Sicher nicht
in dem Sinne, daß der „liebe Gott“ oder eine zielſtrebige Natur-
kraft dieſe Grundgeſetze des Weltmechanismus einmal plötzlich
„aus Nichts“ zu einem beſtimmten Zweck erſchaffen hat, und daß
er ſie nach ſeinem vernünftigen Willen tagtäglich wirken läßt.
Dieſe anthopromorphe Vorſtellung von einem zweckthätigen
Weltbaumeiſter und Weltherrſcher iſt hier völlig überwunden; an
ſeine Stelle ſind die „ewigen, ehernen, großen Naturgeſetze“
getreten.
Der Zweck in der organiſchen Natur (biologiſche
Teleologie). Eine ganz andere Bedeutung und Geltung als
in der anorganiſchen beſitzt der Zweckbegriff noch heute in
der organiſchen Natur. Im Körperbau und in der Lebens-
thätigkeit aller Organismen tritt uns die Zweckthätigkeit unleugbar
entgegen. Jede Pflanze und jedes Thier erſcheinen in der Zu-
ſammenſetzung aus einzelnen Theilen ebenſo für einen beſtimmten
Lebenszweck eingerichtet wie die künſtlichen, vom Menſchen er-
fundenen und konſtruirten Maſchinen; und ſolange ihr Leben
fortdauert, iſt auch die Funktion der einzelnen Organe ebenſo
auf beſtimmte Zwecke gerichtet wie die Arbeit in den einzelnen
[303]XIV. Der biologiſche Zweckbegriff.
Theilen der Maſchinen. Es war daher ganz naturgemäß, daß
die ältere naive Naturbetrachtung für die Entſtehung und die
Lebensthätigkeit der organiſchen Weſen einen Schöpfer in An-
ſpruch nahm, der mit „Weisheit und Verſtand alle Dinge ge-
ordnet“ hatte, und der jedes Thier und jede Pflanze ihrem
beſonderen Lebenszwecke entſprechend organiſirt hatte. Gewöhnlich
wurde dieſer „allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden“
durchaus anthropomorph gedacht; er ſchuf „jegliches Weſen nach
ſeiner Art“. Solange dabei dem Menſchen der Schöpfer noch
in menſchlicher Geſtalt erſchien, denkend mit ſeinem Gehirn,
ſehend mit ſeinen Augen, formend mit ſeinen Händen, konnte
man ſich von dieſem „göttlichen Maſchinenbauer“ und von ſeiner
künſtleriſchen Arbeit in der großen Schöpfungs-Werkſtätte noch
eine anſchauliche Vorſtellung machen. Viel ſchwieriger wurde
dies, als ſich der Gottesbegriff läuterte und man in dem „un-
ſichtbaren Gott“ einen Schöpfer ohne Organe (— ein gasförmiges
Weſen —) erblickte. Noch unbegreiflicher endlich wurden dieſe
anthropiſtiſchen Vorſtellungen, als die Phyſiologie an die Stelle
des bewußt bauenden Gottes die unbewußt ſchaffende „Lebens-
kraft“ ſetzte — eine unbekannte, zweckmäßig thätige Naturkraft,
welche von den bekannten phyſikaliſchen und chemiſchen Kräften
verſchieden war und dieſe nur zeitweiſe — auf Lebenszeit — in
Dienſt nahm. Dieſer Vitalismus blieb noch bis um die
Mitte unſeres Jahrhunderts herrſchend; er fand ſeine thatſächliche
Widerlegung erſt durch den großen Phyſiologen Johannes
Müller in Berlin. Zwar war auch dieſer gewaltige Biologe
(gleich allen anderen in der erſten Hälfte des 19. Jahrhunderts)
im Glauben an die Lebenskraft aufgewachſen und hielt ſie für
die Erklärung der „letzten Lebensurſachen“ für unentbehrlich,
aber er führte zugleich in ſeinem klaſſiſchen, noch heute unüber-
troffenen Lehrbuch der Phyſiologie (1833) dem apogogiſchen
Beweis, daß eigentlich nichts mit ihr anzufangen iſt. Müller
[304]Zweckbegriff der Lebenskraft. XIV.
ſelbſt zeigte in einer langen Reihe von ausgezeichneten Be-
obachtungen und ſcharfſinnigen Experimenten, daß die meiſten
Lebensthätigkeiten im Organismus des Menſchen ebenſo wie der
übrigen Thiere nach phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen ge-
ſchehen, daß viele von ihnen ſogar mathematiſch beſtimmbar ſind.
Das gilt ebenſo wohl von den animalen Funktionen der Muskeln
und Nerven, der niederen und höheren Sinnesorgane, wie von
den vegetalen Vorgängen bei der Ernährung und dem Stoffwechſel,
der Verdauung und dem Blutkreislauf. Räthſelhaft und ohne
die Annahme einer Lebenskraft nicht erklärbar blieben eigentlich
nur zwei Gebiete, das der höheren Seelenthätigkeit (Geiſtesleben)
und das der Fortpflanzung (Zeugung). Aber auch auf dieſen
Gebieten wurden unmittelbar nach Müller's Tode ſolche ge-
waltige Entdeckungen und Fortſchritte gemacht, daß das unheim-
liche „Geſpenſt der Lebenskraft“ auch aus dieſen letzten Schlupf-
winkeln verſchwand. Es war gewiß ein merkwürdiger chrono-
logiſcher Zufall, daß Johannes Müller 1858 in demſelben
Jahre ſtarb, in welchem Charles Darwin die erſten Mit-
theilungen über ſeine epochemachende Theorie veröffentlichte.
Die Selektions-Theorie des Letzteren beantwortete das
große Räthſel, vor welchem der Erſtere ſtehen geblieben war: die
Frage von der Entſtehung zweckmäßiger Einrichtungen durch rein
mechaniſche Urſachen.
Der Zweck in der Selektions-Theorie (Darwin 1859).
Das unſterbliche philoſophiſche Verdienſt Darwin's bleibt, wie
wir ſchon oft betont haben, ein doppeltes: erſtens die Reform
der älteren, 1809 von Lamarck begründeten Deſcendenz-
Theorie, ihre Begründung durch das gewaltige, im Laufe
dieſes halben Jahrhunderts angeſammelte Thatſachen-Material —
und zweitens die Aufſtellung der Selektions-Theorie,
jener Zuchtwahllehre, welche uns erſt eigentlich die wahren be-
wirkenden Urſachen der allmählichen Art-Umbildung enthüllt.
[305]XIV. Zweckbegriff der Lebenskraft.
Darwin zeigte zuerſt, wie der gewaltige „Kampf um's Da-
ſein“ der unbewußt wirkende Regulator iſt, welcher die Wechſel-
wirkung der Vererbung und Anpaſſung bei der allmählichen
Transformation der Species leitet; er iſt der große „züchtende
Gott“, welcher ohne Abſicht neue Formen ebenſo durch „natür-
liche Ausleſe“ bewirkt, wie der züchtende Menſch neue Formen
mit Abſicht durch „künſtliche Ausleſe“ hervorbringt. Damit
wurde das große philoſophiſche Räthſel gelöſt: „Wie können
zweckmäßige Einrichtungen rein mechaniſch entſtehen, ohne zweck-
thätige Urſachen?“ Kant hat dieſes ſchwierige Welträthſel noch
für unlösbar erklärt, obwohl ſchon mehr als 2000 Jahre früher
der große Denker Empedokles auf den Weg ſeiner Löſung
hingewieſen hatte. Neuerdings hat ſich aus derſelben das Princip
der „teleologiſchen Mechanik“ zu immer größerer Geltung
entwickelt und hat auch die feinſten und verborgenſten Einrich-
tungen der organiſchen Weſen uns durch die „funktionelle Selbſt-
geſtaltung der zweckmäßigen Struktur“ mechaniſch erklärt. Damit
iſt aber der tranſcendente Zweckbegriff unſerer teleologiſchen
Schul-Philoſophie beſeitigt, das größte Hinderniß einer ver-
nünftigen und einheitlichen Natur-Auffaſſung.
Neovitalismus5. In neueſter Zeit iſt das alte Geſpenſt der
myſtiſchen Lebenskraft, das gründlich getödtet ſchien, wieder
aufgelebt; verſchiedene angeſehene Biologen haben verſucht, das-
ſelbe unter neuem Namen zur Geltung zu bringen. Die klarſte
und konſequenteſte Darſtellung desſelben hat kürzlich der Kieler
Botaniker J. Reinke gegeben *). Er vertheidigt den Wunder-
glauben und den Theismus, die Moſaiſche Schöpfungs-
geſchichte und die Konſtanz der Arten; er nennt die „Lebenskräfte“,
im Gegenſatze zu den phyſikaliſchen Kräften, Richtkräfte, Ober-
kräfte oder Dominanten. Andere nehmen ſtatt deſſen, in ganz
anthropiſtiſcher Auffaſſung, einen „Maſchinen-Ingenieur“
Haeckel, Welträthſel. 20
[306]Unzweckmäßige Einrichtungen. XIV.
an, welcher der organiſchen Subſtanz eine zweckmäßige, auf ein
beſtimmtes Ziel gerichtete Organiſation beigegeben habe. Dieſe
ſeltſamen teleologiſchen Hypotheſen bedürfen heute eben ſo wenig
mehr einer wiſſenſchaftlichen Widerlegung, als die naiven,
meiſtens damit verknüpften Einwürfe gegen den Darwinismus.
Unzweckmäßigkeitslehre (Dysteleologie). Unter dieſem
Begriffe habe ich ſchon vor 33 Jahren die Wiſſenſchaft von den-
jenigen, überaus intereſſanten und wichtigen biologiſchen That-
ſachen zuſammengeſtellt, welche in handgreiflichſter Weiſe die
hergebrachte teleologiſche Auffaſſung von der „zweckmäßigen
Einrichtung der lebendigen Naturkörper“ direkt widerlegen *).
Dieſe „Wiſſenſchaft von den rudimentären, abortiven, ver-
kümmerten, fehlgeſchlagenen, atrophiſchen oder kataplaſtiſchen
Individuen“ ſtützt ſich auf eine unermeßliche Fülle der merk-
würdigſten Erſcheinungen, welche zwar den Zoologen und Bo-
tanikern längſt bekannt waren, aber erſt durch Darwin
urſächlich erklärt und in ihrer hohen philoſophiſchen Bedeutung
gewürdigt worden ſind.
Alle höheren Thiere und Pflanzen, überhaupt alle diejenigen
Organismen, deren Körper nicht ganz einfach gebaut, ſondern aus
mehreren, zweckmäßig zuſammenwirkenden Organen zuſammen-
geſetzt iſt, laſſen bei aufmerkſamer Unterſuchung eine Anzahl von
nutzloſen oder unwirkſamen, ja zum Theil ſogar gefährlichen und
ſchädlichen Einrichtungen erkennen. In den Blüthen der meiſten
Pflanzen finden ſich neben den wirkſamen Geſchlechts-Blättern,
welche die Fortpflanzung vermitteln, einzelne nutzloſe Blatt-
Organe ohne Bedeutung (verkümmerte oder „fehlgeſchlagene“
Staubfäden, Fruchtblätter, Kronen-, Kelchblätter u. ſ. w.) In
den beiden großen und formenreichen Klaſſen der fliegenden
Thiere, Vögel und Inſekten, gibt es neben den gewöhnlichen,
[307]XIV. Rudimentäre Organe.
ihre Flügel täglich gebrauchenden Arten eine Anzahl von Formen,
deren Flügel verkümmert ſind, und die nicht fliegen können. Faſt
in allen Klaſſen der höheren Thiere, die ihre Augen zum Sehen
gebrauchen, exiſtiren einzelne Arten, welche im Dunkeln leben
und nicht ſehen; trotzdem beſitzen auch dieſe noch meiſtens Augen;
nur ſind ſie verkümmert, zum Sehen nicht mehr tauglich. An
unſerem eigenen menſchlichen Körper beſitzen wir ſolche nutzloſe
Rudimente in den Muskeln unſeres Ohres, in der Nickhaut
unſeres Auges, in der Bruſtwarze und Milchdrüſe des Mannes
und in anderen Körpertheilen; ja der gefürchtete Wurmfortſatz
unſeres Blinddarmes iſt nicht nur unnütz, ſondern ſogar ge-
fährlich, und alljährlich geht eine Anzahl Menſchen durch ſeine
Entzündung zu Grunde.
Die Erklärung dieſer und vieler anderen zweckloſen Ein-
richtungen im Körperbau der Thiere und Pflanzen vermag
weder der alte myſtiſche Vitalismus noch der neue, ebenſo
irrationelle Neovitalismus zu geben; dagegen finden
wir ſie ſehr einfach durch die Deſcendenz-Theorie. Sie
zeigt, daß dieſe rudimentären Organe verkümmert ſind, und
zwar durch Nichtgebrauch. Ebenſo, wie die Muskeln, die Nerven,
die Sinnesorgane durch Uebung und häufigeren Gebrauch geſtärkt
werden, ebenſo erleiden ſie umgekehrt durch Unthätigkeit und
unterlaſſenen Gebrauch mehr oder weniger Rückbildung. Aber
obgleich ſo durch Uebung und Anpaſſung die höhere Entwickelung
der Organe gefördert wird, ſo verſchwinden ſie doch keineswegs
ſofort ſpurlos durch Nichtübung; vielmehr werden ſie durch die
Macht der Vererbung noch während vieler Generationen erhalten
und verſchwinden erſt allmählich nach längerer Zeit. Der blinde
„Kampf ums Daſein zwiſchen den Organen“ bedingt ebenſo ihren
hiſtoriſchen Untergang, wie er urſprünglich ihre Entſtehung und
Ausbildung verurſachte. Ein immanenter „Zweck“ ſpielt dabei
gar keine Rolle.
20 *
[308]Unvollkommenheit der Organiſation. XIV.
Unvollkommenheit der Natur. Wie das Menſchen-Leben
ſo bleibt auch das Thier- und Pflanzen-Leben immer und überall
unvollkommen. Dieſe Thatſache ergibt ſich einfach aus der Er-
kenntniß, daß die Natur — ebenſo die organiſche wie die an-
organiſche — in einem beſtändigen Fluſſe der Entwickelung,
der Veränderung und Umbildung begriffen iſt. Dieſe Entwickelung
erſcheint uns im Großen und Ganzen — wenigſtens ſoweit wir
die Stammesgeſchichte der organiſchen Natur auf unſerem
Planeten überſehen können — als eine fortſchreitende Um-
bildung, als ein hiſtoriſcher Fortſchritt vom Einfachen zum
Zuſammengeſetzten, vom Niederen zum Höheren, vom Unvoll-
kommenen zum Vollkommenen. Ich habe ſchon in der Generellen
Morphologie (1866) den Nachweis geführt, daß dieſer hiſtoriſche
Fortſchritt (Progreſſuſ) — oder die allmähliche Ver-
vollkommnung (Teleoſiſ) — die nothwendige Wir-
kung der Selektion iſt, nicht aber die Folge eines vorbedachten
Zweckes. Das ergibt ſich auch daraus, daß kein Organismus
ganz vollkommen iſt; ſelbſt wenn er in einem gegebenen Augen-
blicke den Umſtänden vollkommen angepaßt wäre, würde dieſer
Zuſtand nicht lange dauern; denn die Exiſtenz-Bedingungen der
Außenwelt ſind ſelbſt einem beſtändigen Wechſel unterworfen und
bedingen damit eine ununterbrochene Anpaſſung der Organismen.
Zielſtrebigkeit in den organiſchen Körpern insbeſondere.
Unter dieſem Titel veröffentlichte der berühmte Embryologe
Karl Ernſt Baer 1876 einen Aufſatz, der im Zuſammen-
hang mit dem nachfolgenden Artikel über Darwin's Lehre
den Gegnern derſelben ſehr willkommen erſchien und auch heute
noch vielfach gegen die moderne Entwickelungstheorie verwerthet
wird. Zugleich erneuerte er die alte teleologiſche Naturbetrachtung
unter einem neuen Namen; dieſer muß hier einer kurzen Kritik
unterzogen werden. Vorauszuſchicken iſt dabei der Hinweis, daß
Baer zwar ein Naturphiloſoph im beſten Sinne war, daß aber
[309]XIV. Zielſtrebigkeit der Entwickelung.
ſeine urſprünglichen moniſtiſchen Anſchauungen mit zu-
nehmendem Alter immer mehr durch einen tiefen myſtiſchen Zug
beeinflußt und zuletzt rein dualiſtiſch wurden. In ſeinem
grundlegenden Hauptwerke „über Entwickelungsgeſchichte der
Thiere“ (1828), das er ſelbſt als „Beobachtung und Reflexion“
bezeichnet, ſind dieſe beiden Erkenntnißthätigkeiten gleichmäßig
verwerthet. Durch ſorgfältigſte Beobachtung aller einzelnen Vor-
gänge bei der Entwickelung des thieriſchen Eies gelangte Baer
zur erſten zuſammenhängenden Darſtellung aller der wunderbaren
Umbildungen, welche bei der Entſtehung des Wirbelthier-Körpers
aus der einfachen Eikugel ſich abſpielen. Durch umſichtige Ver-
gleichung und ſcharfſinnige Reflexion ſuchte er aber zugleich die
Urſachen jener Transformation zu erkennen und ſie auf all-
gemeine Bildungsgeſetze zurückzuführen. Als allgemeinſtes Reſultat
derſelben ſprach er den Satz aus: „Die Entwickelungsgeſchichte
des Individuums iſt die Geſchichte der wachſenden Individualität
in jeglicher Beziehung.“ Dabei betonte er, daß „der Eine
Grundgedanke, der alle einzelnen Verhältniſſe der thieriſchen
Entwickelung beherrſcht, derſelbe iſt, der im Weltraum die ver-
theilte Maſſe in Sphären ſammelte und dieſe zu Sonnenſyſtemen
verband. Dieſer Gedanke iſt aber nichts als das Leben ſelbſt,
und die Worte und Silben, in denen er ſich ausſpricht, ſind die
verſchiedenen Formen des Lebendigen.“
Zu einer tieferen Erkenntniß dieſes genetiſchen Grund-
gedankens und zur klaren Einſicht in die wahren bewirkenden
Urſachen der organiſchen Entwickelung vermochte Baer damals
nicht zu gelangen, weil ſein Studium ausſchließlich der einen
Hälfte der Entwickelungsgeſchichte gewidmet war, derjenigen der
Individuen, der Embryologie oder im weiteren Sinne
der Ontogenie. Die andere Hälfte derſelben, die Ent-
wickelungsgeſchichte der Stämme und Arten, unſere Stammes-
geſchichte oder Phylogenie, exiſtirte damals noch nicht, obwohl
[310]Zielſtrebigkeit der Entwickelung. XIV.
der weitſchauende Lamarck ſchon 1809 den Weg zu derſelben
gezeigt hatte. Ihre ſpätere Begründung durch Darwin (1859)
vermochte der gealterte Baer nicht mehr zu verſtehen; der nutz-
loſe Kampf, den er gegen deſſen Selektions-Theorie führte, zeigt
klar, daß er weder deren eigentlichen Sinn noch ihre philo-
ſophiſche Bedeutung erkannte. Teleologiſche und ſpäter damit
verknüpfte theoſophiſche Spekulationen hatten den alten Baer
unfähig gemacht, dieſe größte Reform der Biologie gerecht
zu würdigen; die teleologiſchen Betrachtungen, welche er gegen ſie
in ſeinen „Reden und Studien“ (1876) als 84jähriger Greis
ins Feld führte, ſind nur Wiederholungen von ähnlichen Irr-
thümern, wie ſie die Zweckmäßigkeits-Lehre der dualiſtiſchen
Philoſophie ſeit mehr als zweitauſend Jahren gegen die
mechaniſtiſche oder moniſtiſche Weltanſchauung aufgeſtellt hatte.
Der „zielſtrebige Gedanke“, welcher nach Baer's Vor-
ſtellung die ganze Entwickelung des Thierkörpers aus der Eizelle
bedingt, iſt nur ein anderer Ausdruck für die ewige „Idee“ von
Plato und für die, „Entelechie“ ſeines Schülers Ariſtoteles.
Unſere moderne Biogenie erklärt dagegen die embryologiſchen
Thatſachen rein phyſiologiſch, indem ſie als bewirkende mecha-
niſche Urſachen derſelben die Funktionen der Vererbung und
Anpaſſung erkennt. Das biogenetiſche Grundgeſetz, für
welches Baer kein Verſtändnis gewinnen konnte, eröffnet uns
den innigen kauſalen Zuſammenhang zwiſchen der Ontogeneſe
der Individuen und der Phylogeneſe ihrer Vorfahren;
die erſtere erſcheint uns jetzt als eine erbliche Rekapitulation
der letzteren. Nun können wir aber in der Stammesgeſchichte
der Thiere und Pflanzen nirgends eine Zielſtrebigkeit erkennen,
ſondern lediglich das nothwendige Reſultat des gewaltigen
Kampfes um's Daſein, der als blinder Regulator, nicht als vor-
ſehender Gott, die Umbildung der organiſchen Formen durch
Wechſelwirkung der Anpaſſungs- und Vererbungsgeſetze bewirkt.
[311]XIV. Sittliche Weltordnung.
Ebenſo wenig können wir aber auch „Zielſtrebigkeit“ in der
Keimesgeſchichte der Individuen annehmen, in der Embryologie
der einzelnen Pflanzen, Thiere und Menſchen. Denn dieſe
Ontogenie iſt ja nur ein kurzer Auszug aus jener Phylogenie,
eine abgekürzte und gedrängte Wiederholung derſelben durch die
phyſiologiſchen Geſetze der Vererbung.
Das Vorwort zu ſeiner klaſſiſchen „Entwickelungsgeſchichte
der Thiere“ ſchloß Baer 1828 mit den Worten: „Die Palme
wird der Glückliche erringen, dem es vorbehalten iſt, die bildenden
Kräfte des thieriſchen Körpers auf die allgemeinen Kräfte oder
Lebensrichtungen des Weltganzen zurückzuführen. Der Baum,
aus welchem ſeine Wiege gezimmert werden ſoll, hat noch nicht
gekeimt.“ — Auch darin irrte der große Embryologe. In demſelben
Jahre 1828 bezog der junge Charles Darwin die Univerſität
Cambridge, um Theologie (!) zu ſtudiren, — der gewaltige
„Glückliche“, der die Palme dreißig Jahre ſpäter durch ſeine
Selektions-Theorie wirklich errang.
Sittliche Weltordnung. In der Philoſophie der Ge-
ſchichte, in den allgemeinen Betrachtungen, welche die Geſchichts-
ſchreiber über die Schickſale der Völker und über den verſchlungenen
Gang der Staatenentwickelung anſtellen, herrſcht noch heute die
Annahme einer „ſittlichen Weltordnung“. Die Hiſtoriker ſuchen
in dem bunten Wechſel der Völker-Geſchichte einen leitenden
Zweck, eine ideale Abſicht, welche dieſe oder jene Raſſe, dieſen
oder jenen Staat zu beſonderem Gedeihen auserleſen und zur
Herrſchaft über die anderen beſtimmt hat. Dieſe teleologiſche
Geſchichtsbetrachtung iſt neuerdings um ſo ſchärfer in principiellen
Gegenſatz zu unſerer moniſtiſchen Weltanſchauung getreten, je
ſicherer ſich dieſe letztere im geſammten Gebiete der anorganiſchen
Natur als die allein berechtigte herausgeſtellt hat. In der ge-
ſammten Aſtronomie und Geologie, in dem weiten Gebiete der
Phyſik und Chemie ſpricht heute Niemand mehr von einer
[312]Sittliche Weltordnung. XIV.
ſittlichen Weltordnung, ebenſo wenig als von einem perſönlichen
Gotte, deſſen „Hand mit Weisheit und Verſtand alle Dinge ge-
ordnet hat“. Dasſelbe gilt aber auch von dem geſammten Gebiete
der Biologie, von der ganzen Verfaſſung und Geſchichte der
organiſchen Natur, zunächſt den Menſchen noch ausgenommen.
Darwin hat uns in ſeiner Selektions-Theorie nicht nur ge-
zeigt, wie die zweckmäßigen Einrichtungen im Leben und im
Körperbau der Thiere und Pflanzen ohne vorbedachten Zweck
mechaniſch entſtanden ſind, ſondern er hat uns auch in ſeinem
„Kampf um's Daſein“ die gewaltige Naturmacht erkennen
gelehrt, welche den ganzen Entwickelungsgang der organiſchen
Welt ſeit vielen Jahrmillionen ununterbrochen beherrſcht und
regelt. Man könnte freilich ſagen: Der „Kampf um's Daſein“
iſt das „Ueberleben des Paſſendſten“ oder der „Sieg des Beſten“;
das kann man aber nur, wenn man das Stärkere ſtets als das
Beſte (in moraliſchem Sinne!) betrachtet; und überdies zeigt
uns die ganze Geſchichte der organiſchen Welt, daß neben dem
überwiegenden Fortſchritt zum Vollkommenen jeder Zeit auch
einzelne Rückſchritte zu niederen Zuſtänden vorkommen. Selbſt
die „Zielſtrebigkeit“ im Sinne Baer's trägt durchaus keinen
moraliſchen Charakter!
Verhält es ſich nun in der Völkergeſchichte, die der Menſch
in ſeinem anthropocentriſchen Größenwahn die „Weltgeſchichte“ zu
nennen liebt, etwa anders? Iſt da überall und jeder Zeit ein
höchſtes moraliſches Princip oder ein weiſer Weltregent zu ent-
decken, der die Geſchicke der Völker leitet? Die unbefangene
Antwort kann heute, bei dem vorgeſchrittenen Zuſtande unſerer
Naturgeſchichte und Völkergeſchichte, nur lauten: Nein! Die
Geſchichte der Zweige des Menſchengeſchlechts, die als Raſſen
und Nationen ſeit Jahrtauſenden um ihre Exiſtenz und ihre
Fortbildung gerungen haben, unterliegt genau denſelben „ewigen,
[313]XIV. Sittliche Weltordnung.
ehernen, großen Geſetzen“ wie die Geſchichte der ganzen organiſchen
Welt, die ſeit vielen Jahrmillionen die Erde bevölkert.
Die Geologen unterſcheiden in der „organiſchen Erdgeſchichte“,
ſoweit ſie uns durch die Denkmäler der Verſteinerungskunde be-
kannt iſt, drei große Perioden: das primäre, ſekundäre und
tertiäre Zeitalter. Die Zeitdauer der erſteren ſoll nach einer
neueren Berechnung mindeſtens 34 Millionen, die der zweiten 11,
die der dritten 3 Millionen Jahre betragen haben. Die Geſchichte
des Wirbelthier-Stammes, aus dem unſer eigenes Geſchlecht ent-
ſproſſen iſt, liegt innerhalb dieſes langen Zeitraumes klar vor
unſeren Augen; drei verſchiedene Entwickelungsſtufen der Verte-
braten waren in jenen drei großen Perioden ſucceſſiv entwickelt;
in der primären (paläozoiſchen) Periode die Fiſche, in dem
ſekundären (meſozoiſchen) Zeitalter die Reptilien, in dem
tertiären (cänozoiſchen) die Säugethiere. Von dieſen
drei Hauptgruppen der Wirbelthiere nehmen die Fiſche den
niederſten, die Reptilien einen mittleren, die Säugethiere den
höchſten Rang der Vollkommenheit ein. Bei tieferem Eingehen
in die Geſchichte der drei Klaſſen finden wir, daß auch die ein-
zelnen Ordnungen und Familien derſelben innerhalb der drei
Zeiträume ſich fortſchreitend zu höherer Vollkommenheit ent-
wickelten. Kann man nun dieſen fortſchreitenden Entwickelungs-
gang als Ausfluß einer bewußten zweckmäßigen Zielſtrebigkeit
oder einer ſittlichen Weltordnung bezeichnen? Durchaus nicht!
Denn die Selektions-Theorie lehrt uns, ebenſo wie die organiſche
Differenzirung, daß der organiſche Fortſchritt eine noth-
wendige Folge des Kampfes um's Daſein iſt. Tauſende
von guten, ſchönen, bewunderungswürdigen Arten des Thier-
und Pflanzenreiches ſind im Laufe jener 48 Millionen Jahre zu
Grunde gegangen, weil ſie anderen, ſtärkeren Platz machen mußten;
und dieſe Sieger im Kampfe um's Daſein waren nicht immer die
edleren oder im moraliſchen Sinne vollkommneren Formen.
[314]Schickſal und Vorſehung. XIV.
Genau dasſelbe gilt von der Völkergeſchichte. Die
bewunderungswürdige Kultur des klaſſiſchen Alterthums iſt zu
Grunde gegangen, weil das Chriſtenthum dem ringenden
Menſchengeiſte damals durch den Glauben an einen liebenden
Gott und die Hoffnung auf ein beſſeres jenſeitiges Leben einen
gewaltigen neuen Aufſchwung verlieh. Der Papismus wurde
zwar bald zur ſchamloſen Karikatur des reinen Chriſtenthums
und zertrat ſchonungslos die Schätze der Erkenntniß, welche die
helleniſche Philoſophie ſchon erworben hatte; aber er gewann die
Weltherrſchaft durch die Unwiſſenheit der blind-gläubigen
Maſſen. Erſt die Reformation zerriß die Ketten dieſer Geiſtes-
Knechtſchaft und verhalf wieder den Anſprüchen der Vernunft zu
ihrem Rechte. Aber auch in dieſer neuen, wie in jenen früheren
Perioden der Kulturgeſchichte, wogt ewig der große Kampf um's
Daſein hin und her, ohne jede moraliſche Ordnung.
Vorſehung. So wenig bei unbefangener und kritiſcher
Betrachtung eine „moraliſche Weltordnung“ im Gange der
Völkergeſchichte nachzuweiſen iſt, ebenſo wenig können wir eine
„weiſe Vorſehung“ im Schickſal der einzelnen Menſchen an-
erkennen. Dieſes wie jener wird mit eiſerner Nothwendigkeit
durch die mechaniſche Kauſalität beſtimmt, welche jede Erſcheinung
aus einer oder mehreren vorhergehenden Urſachen ableitet.
Schon die alten Hellenen erkannten als höchſtes Weltprincip die
Ananke, die blinde Heimarmene, das Fatum, das
„Götter und Menſchen beherrſcht“. An ihre Stelle trat im
Chriſtenthum die bewußte Vorſehung, welche nicht blind, ſondern
ſehend iſt, und welche die Weltregierung als patriarchaliſcher
Herrſcher führt. Der anthropomorphe Charakter dieſer Vor-
ſtellung, die ſich gewöhnlich mit derjenigen des „perſönlichen
Gottes“ eng verknüpft, liegt auf der Hand. Der Glaube an
einen „liebenden Vater“, der die Geſchicke von 1500 Millionen
Menſchen auf unſerem Planeten unabläſſig lenkt und dabei die
[315]XIV. Schickſal und Vorſehung.
millionenfach ſich kreuzenden Gebete und „frommen Wünſche“
derſelben jederzeit berückſichtigt, iſt vollkommen unhaltbar; das
ergibt ſich ſofort, wenn die Vernunft beim Nachdenken darüber
die farbige Brille des „Glaubens“ ablegt.
Gewöhnlich pflegt bei dem modernen Kulturmenſchen — ge-
rade ſo wie beim ungebildeten Wilden — der Glauben an die
Vorſehung und die Zuverſicht zum liebenden Vater dann ſich
lebhaft einzuſtellen, wenn ihm irgend etwas Glückliches begegnet
iſt: Errettung aus Lebensgefahr, Heilung von ſchwerer Krank-
heit, Gewinn des großen Looſes in der Lotterie, Geburt eines
lang erſehnten Kindes u. ſ. w. Wenn dagegen irgend ein Un-
glück paſſirt oder ein heißer Wunſch nicht erfüllt wird, ſo iſt die
„Vorſehung“ vergeſſen; der weiſe Weltregent hat dann geſchlafen
oder ſeinen Segen verweigert.
Bei dem ungeheuren Aufſchwung des Verkehrs in unſerem
19. Jahrhundert hat nothwendig die Zahl der Verbrechen und
Unglücksfälle in einem früher nicht geahnten Maße zugenommen;
das erfahren wir tagtäglich durch die Zeitungen. In jedem
Jahre gehen Tauſende von Menſchen zu Grunde durch Schiff-
brüche, Tauſende durch Eiſenbahn-Unglücke, Tauſende durch
Bergwerks-Kataſtrophen u. ſ. w. Viele Tauſende tödten ſich alle
Jahre gegenſeitig im Kriege, und die Zurüſtung für dieſen
Maſſenmord nimmt bei den höchſtentwickelten, die chriſtliche Liebe
bekennenden Kultur-Nationen den weitaus größten Theil des
National-Vermögens in Anſpruch. Und unter jenen Hundert-
tauſenden, die alljährlich als Opfer der modernen Civiliſation
fallen, befinden ſich überwiegend tüchtige, thatkräftige, arbeitſame
Menſchen. Dabei redet man noch von ſittlicher Weltordnung!
Ziel, Zweck und Zufall. Wenn uns unbefangene Prüfung
der Weltentwickelung lehrt, daß dabei weder ein beſtimmtes Ziel
noch ein beſonderer Zweck (im Sinne der menſchlichen Vernunft!)
nachzuweiſen iſt, ſo ſcheint nichts übrig zu bleiben als Alles
[316]Ziel, Zweck und Zufall. XIV.
dem „blinden Zufall“ zu überlaſſen. Dieſer Vorwurf iſt in
der That ebenſo dem Transformismus von Lamarck und
Darwin wie früher der Kosmogenie von Kant und
Laplace entgegengehalten worden; viele dualiſtiſche Philoſophen
legen gerade hierauf beſonders Gewicht. Es verlohnt ſich daher
wohl der Mühe, hier noch einen flüchtigen Blick darauf zu werfen.
Die eine Gruppe der Philoſophen behauptet nach ihrer
teleologiſchen Auffaſſung: die ganze Welt iſt ein geordneter
Kosmos, in dem alle Erſcheinungen Ziel und Zweck haben; es
gibt keinen Zufall! die andere Gruppe dagegen meint ge-
mäß ihrer mechaniſtiſchen Auffaſſung: Die Entwickelung der
ganzen Welt iſt ein einheitlich mechaniſcher Proceß, in dem wir
nirgends Ziel und Zweck entdecken können; was wir im organiſchen
Leben ſo nennen, iſt eine beſondere Folge der biologiſchen Ver-
hältniſſe; weder in der Entwickelung der Weltkörper, noch der-
jenigen unſerer anorganiſchen Erdrinde iſt ein leitender Zweck
nachzuweiſen; hier iſt Alles Zufall! Beide Parteien haben
Recht, je nach der Definition des „Zufalls“. Das allgemeine
Kausal-Geſetz, in Verbindung mit dem Subſtanz-Geſetz,
überzeugt uns, daß jede Erſcheinung ihre mechaniſche Urſache
hat; in dieſem Sinne gibt es keinen Zufall. Wohl aber können
und müſſen wir dieſen unentbehrlichen Begriff beibehalten, um
damit das Zuſammentreffen von zwei Erſcheinungen zu bezeichnen,
die nicht unter ſich kauſal verknüpft ſind, von denen aber natürlich
jede ihre Urſache hat, unabhängig von der anderen. Wie Jeder-
mann weiß, ſpielt der Zufall in dieſem moniſtiſchen Sinne die
größte Rolle im Leben des Menſchen wie in demjenigen aller
anderen Naturkörper. Das hindert aber nicht, daß wir in jedem
einzelnen „Zufall“ wie in der Entwickelung desWeltganzen
die univerſale Herrſchaft des umfaſſendſten Naturgeſetzes aner-
kennen, des Subſtanz-Geſetzes.
[[317]]
Fünfzehntes Kapitel.
Gott und Welt.
Moniſtiſche Studien über Theismus und Pantheismus. Der
anthropiſtiſche Monotheismus der drei großen Mediterran-
Religionen. Extramundaner und intramundaner Gott.
‘„Was wär' ein Gott, der nur von außen ſtieße,
Im Kreis das All am Finger laufen ließe?
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
So daß, was in Ihm lebt und webt und iſt,
Nie ſeine Kraft, nie ſeinen Geiſt vermißt.“
Goethe.’ ()
[[318]]
Gottes-Vorſtellung im Allgemeinen. Gegenſatz von Gott und Welt,
von Uebernatürlichem und Natur. Theismus und Pantheismus. Hauptformen
des Theismus. Polytheismus. Triplotheismus (Dreigötterei). Amphitheis-
mus (Zweigötterei). Monotheismus (Eingötterei). Stabilität der Religionen.
Naturalistiſcher Monotheismus. Solarismus (Sonnenkultus). Anthropiſtiſcher
Monotheismus. Die drei großen Mittelmeer-Religionen. Moſaismus (Jehovah).
Chriſtenthum (Trinität). Madonnen-Kultus und Heilige. Papiſtiſcher Poly-
theismus. Islam. Mixotheismus (Miſchgötterei). Weſen des Theismus.
Extramundaner und anthropomorpher Gott. Gasförmiges Wirbelthier.
Pantheismus. Intramundaner Gott (Natur). Hylozoismus der ioniſchen
Moniſten (Anaximander). Konflikt des Pantheismus und des Chriſtentums.
Spinoza. Moderner Monismus. Atheismus.
Wolfgang Goethe, Gott und Welt. — Fauſt. — Prometheus.
Kuno Fiſcher, Geſchichte der neueren Philoſophie. Bd. I.Baruch
Spinoza. Zweite Auflage. Heidelberg 1865.
Hermann Brunnhofer, Giordano Bruno's Weltanſchauung und Verhäng-
niß. Leipzig 1882.
John Draper, Geſchichte der geiſtigen Entwickelung Europa's. Leipzig 1865.
Friedrich Kolb, Kulturgeſchichte der Menſchheit. Zweite Auflage. 2 Bände.
Leipzig 1873.
Thomas Huxley, Reden und Aufſätze. Ueberſetzt von Fritz Schultze.
Berlin 1877.
Wilhelm Strecker, Welt und Menſchheit, vom Standpunkte des Materialis-
mus. Leipzig 1892.
Carus Sterne (Ernſt Krauſe), Die allgemeine Weltanſchauung in ihrer
hiſtoriſchen Entwickelung. Charakterbilder aus der Geſchichte der Natur-
wiſſenſchaften. Stuttgart 1889.
[[319]]
Als letzten und höchſten Urgrund aller Erſcheinungen be-
trachtet die Menſchheit ſeit Jahrtauſenden eine bewirkende Urſache
unter dem Begriffe Gott (Deuſ, Theoſ). Wie alle anderen
allgemeinen Begriffe ſo iſt auch dieſer höchſte Grundbegriff im
Laufe der Vernunft-Entwickelung den bedeutendſten Umbildungen
und den mannigfaltigſten Abartungen unterworfen geweſen. Ja
man kann ſagen, daß kein anderer Begriff ſo ſehr umgeſtaltet
und abgeändert worden iſt; denn kein anderer berührt in gleich
hohem Maße ſowohl die höchſten Aufgaben des erkennenden Ver-
ſtandes und der vernünftigen Wiſſenſchaft als auch zugleich die
tiefſten Intereſſen des gläubigen Gemüthes und der dichtenden
Phantaſie.
Eine vergleichende Kritik der zahlreichen verſchiedenen Haupt-
formen der Gottes-Vorſtellung iſt zwar höchſt intereſſant und
lehrreich, würde uns hier aber viel zu weit führen; wir müſſen
uns damit begnügen, nur auf die wichtigſten Geſtaltungen der
Gottes-Idee und auf ihre Beziehung zu unſerer heutigen, durch
die reine Natur-Erkenntniß bedingten Weltanſchauung einen flüch-
tigen Blick zu werfen. Für alle weiteren Unterſuchungen über
dieſes intereſſante Gebiet verweiſen wir auf das ausgezeichnete
mehrfach citirte Werk von Adalbert Svoboda: „Geſtalten
des Glaubens“ (2 Bände. Leipzig 1897).
Wenn wir von allen feineren Abtönungen und bunten Ge-
wandungen des Gottes-Bildes abſehen, können wir füglich —
[320]Vielgötterei (Polytheismus). XV.
mit Beſchränkung auf den tiefſten Inhalt desſelben — alle ver-
ſchiedenen Vorſtellungen darüber in zwei entgegengeſetzte Haupt-
Gruppen ordnen, in die theiſtiſche und die pantheiſtiſche
Gruppe. Die letztere iſt eng verknüpft mit der moniſtiſchen
oder rationellen, die erſtere mit der dualiſtiſchen oder
myſtiſchen Weltanſchauung.
1. Theismus: Gott und Welt ſind zwei verſchiedene
Weſen. Gott ſteht der Welt gegenüber als deren Schöpfer,
Erhalter und Regierer. Dabei wird Gott ſtets mehr oder weniger
menſchenähnlich gedacht, als ein Organismus, welcher dem Men-
ſchen ähnlich (wenn auch in höchſt vollkommener Form) denkt
und handelt. Dieſer anthropomorphe Gott, offenbar
polyphyletiſch von den verſchiedenen Naturvölkern erdacht, unter-
liegt in deren Phantaſie bereits den mannigfaltigſten Abſtufungen,
vom Fetiſchismus aufwärts bis zu den geläuterten monotheistiſchen
Religionen der Gegenwart. Als wichtigste Unterarten der theiſti-
ſchen Begriffsbildung unterſcheiden wir Polytheismus, Triplo-
theismus, Amphitheismus und Monotheismus.
Polytheismus (Vielgötterei). Die Welt iſt von vielen
verſchiedenen Göttern bevölkert, welche mehr oder weniger ſelbſt-
ſtändig in deren Getriebe eingreifen. Der Fetiſchismus findet
dergleichen untergeordnete Götter in den verſchiedenſten lebloſen
Naturkörpern, in den Steinen, im Waſſer, in der Luft, in
menſchlichen Kunſtprodukten aller Art (Götterbildern, Statuen ꝛc.).
Der Dämonismus erblickt Götter in lebendigen Organismen
aller Art, in Bäumen, Thieren, Menſchen. Dieſe Vielgötterei
nimmt ſchon in den niederſten Religions-Formen der rohen
Naturvölker ſehr mannigfaltige Formen an. Sie erſcheint auf der
höchſten Stufe geläutert im helleniſchen Polytheismus,
in jenen herrlichen Götterſagen des alten Griechenlands, welche
noch heute unſerer modernen Kunſt die ſchönſten Vorbilder
für Poeſie und Bildnerei liefern. Auf viel tieferer Stufe ſteht
[321]XV. Dreigötterei (Triplotheismus)
der katholiſche Polytheismus, in dem zahlreiche „Heilige“
(oft von ſehr zweifelhaftem Rufe!) als untergeordnete Gottheiten
angebetet und um gütige Vermittelung beim oberſten Gott (oder
bei deſſen Freundin, der „Jungfrau Maria“) erſucht werden.
Triplotheismus (Dreigötterei, Trinitäts-Lehre). Die Lehre
von der „Dreieinigkeit Gottes“, welche heute noch im
Glaubensbekenntniß der chriſtlichen Kultur-Völker die grund-
legenden „drei Glaubens-Artikel“ bildet, gipfelt bekanntlich in
der Vorſtellung, daß der Eine Gott des Chriſtenthums eigent-
lich in Wahrheit aus drei Perſonen von verſchiedenem Weſen
ſich zuſammenſetzt: I.Gott der Vater iſt der „allmächtige
Schöpfer Himmels und der Erde“ (dieſer unhaltbare Mythus
iſt durch die wiſſenſchaftliche Kosmogenie, Aſtronomie und Geo-
logie längſt widerlegt). II.Jeſus Chriſtus iſt der „ein-
geborene Sohn Gottes des Vaters“ (und zugleich der dritten
Perſon, des „Heiligen Geiſtes“!!), erzeugt durch unbefleckte Em-
pfängniß der Jungfrau Maria (über dieſen Mythus vergl.
Kapitel 17). III.Der Heilige Geiſt, ein myſtiſches Weſen,
über deſſen unbegreifliches Verhältniß zum „Sohne“ und zum
„Vater“ ſich Millionen von chriſtlichen Theologen ſeit 1900 Jahren
den Kopf ganz umſonſt zerbrochen haben. Die Evangelien, die
doch die einzigen lauteren Quellen dieſes chriſtlichen Triplo-
theismus ſind, laſſen uns über die eigentlichen Beziehungen
dieſer drei Perſonen zu einander völlig im Dunkeln und geben
auf die Frage nach ihrer räthſelhaften Einheit keine irgend be-
friedigende Antwort. Dagegen müſſen wir beſonders darauf
hinweiſen, welche Verwirrung dieſe unklare und myſtiſche
Trinitäts-Lehre in den Köpfen unſerer Kinder ſchon beim erſten
Schulunterricht nothwendig anrichten muß. Montag Morgens
in der erſten Unterrichtsſtunde (Religion) lernen ſie: Dreimal
Eins iſt Eins! — und gleich darauf in der zweiten Stunde
(Rechnen): Dreimal Eins iſt Drei! Ich erinnere mich ſelbſt
Haeckel, Welträthſel. 21
[322]Zweigötterei (Amphitheismus). XV.
ſehr wohl noch der Bedenken, welche dieſer auffällige Widerſpruch
in mir ſelbſt beim erſten Unterricht erregte. — Uebrigens iſt die
„Dreieinigkeit“ im Chriſtenthum keineswegs originell, ſon-
dern gleich den meiſten anderen Lehren desſelben aus älteren
Religionen übernommen. Aus dem Sonnendienſte der chaldäiſchen
Magier entwickelt ſich die Trinität der Ilu, der geheimnißvollen
Urquelle der Welt; ihre drei Offenbarungen waren Anu, das
urſprüngliche Chaos, Bel, der Ordner der Welt, und Ao, das
himmliſche Licht, die Alles erleuchtende Weisheit. — In der
Brahmanen-Religion wird die Trimurti als „Gottes-Einheit“
ebenfalls aus drei Perſonen zuſammengeſetzt, aus Brahma
(dem Schöpfer), Wiſchnu (dem Erhalter) und Schiwa (dem
Zerſtörer). Es ſcheint, daß in dieſen wie in anderen Trinitäts-
Vorſtellungen die „heilige Dreizahl“ als ſolche — als
„ſymboliſche Zahl“ — eine Rolle geſpielt hat. Auch die
drei erſten Chriſtenpflichten: „Glaube, Liebe, Hoffnung“, bilden
eine ſolche Triade.
Amphitheismus (Zweigötterei). Die Welt wird von zwei
verſchiedenen Göttern regiert, einem guten und einem böſen
Weſen, Gott und Teufel. Beide Weltregenten befinden ſich
in einem beſtändigen Kampfe, wie Kaiſer und Gegenkaiſer, Papſt
und Gegenpapſt. Das Ergebniß dieſes Kampfes iſt jederzeit der
gegenwärtige Zuſtand der Welt. Der liebe Gott, als das gute
Weſen, iſt der Urquell des Guten und Schönen, der Luſt und
Freude. Die Welt würde vollkommen ſein, wenn ſein Wirken
nicht beſtändig durchkreuzt würde von dem böſen Weſen, dem
Teufel; dieſer ſchlimme Satanas iſt die Urſache alles Böſen
und Häßlichen, der Unluſt und des Schmerzes.
Dieſer Amphitheismus iſt unſtreitig unter allen ver-
ſchiedenen Formen des Götterglaubens der vernünftigſte, derjenige,
deſſen Theorie ſich am erſten mit einer wiſſenſchaftlichen Welt-
erklärung verträgt. Wir finden ihn daher ſchon mehrere Jahr-
[323]XV. Zweigötterei (Amphiteismus).
tauſende vor Chriſtus bei verſchiedenen Kulturvölkern des Alter-
thums ausgebildet. Im alten Indien kämpft Wiſchnu, der
Erhalter, mit Schiwa, dem Zerſtörer. Im alten Egypten ſteht
dem guten Oſiris der böſe Typhon gegenüber. Bei den
älteſten Hebräern beſteht ein ähnlicher Dualismus zwiſchen
Aſchera, der fruchtbar zeugenden Erdmutter (= Keturah),
und Eljou (= Moloch oder Sethoſ), dem ſtrengen Himmels-
vater. In der Zend-Religion der alten Perſer, von Zoroaſter
2000 Jahre vor Chriſtus gegründet, herrſcht beſtändiger Kampf
zwiſchen Ormudz, dem guten Gott des Lichtes, und Ahriman,
dem böſen Gott der Finſterniß.
Keine geringere Rolle ſpielt der Teufel als Gegner des
guten Gottes in der Mythologie des Chriſtenthums, als der
Verſucher und Verführer, der Fürſt der Hölle und Herr der
Finſterniß. Als perſönlicher Satanas war er auch noch im
Anfange unſeres Jahrhunderts ein weſentliches Element im
Glauben der meiſten Chriſten; erſt gegen die Mitte desſelben
wurde er mit zunehmender Aufklärung allmählich abgeſetzt, oder
er mußte ſich mit jener untergeordneten Rolle begnügen, welche
ihm Goethe in der größten aller dramatiſchen Dichtungen, im
„Fauſt“, als Mephiſtopheles zutheilt. Gegenwärtig gilt in
den beſſeren gebildeten Kreiſen der „Glaube an den perſönlichen
Teufel“ als ein überwundener Aberglaube des Mittelalters,
während gleichzeitig der „Glaube an Gott“ (d. h. den perſön-
lichen, guten und lieben Gott) als ein unentbehrlicher Beſtand-
theil der Religion feſtgehalten wird. Und doch iſt der erſtere
Glaube ebenſo voll berechtigt (und ebenſo haltlos!) wie der
letztere! Jedenfalls erklärt ſich die vielbeklagte „Unvollkommen-
heit des Erdenlebens“, der „Kampf um's Daſein“, und was dazu
gehört, viel einfacher und natürlicher durch dieſen Kampf des
guten und böſen Gottes als durch irgend welche andere Form
des Gottesglaubens.
21 *
[324]Eingötterei (Monotheismus). XV.
Monotheismus (Eingötterei). Die Lehre von der Einheit
Gottes kann in vieler Beziehung als die einfachste und natür-
lichſte Form der Gottes-Verehrung gelten; nach der herrſchenden
Meinung iſt ſie die weiteſtverbreitete Grundlage der Religion
und beherrſcht namentlich den Kirchenglauben der Kultur-Völker.
Thatſächlich iſt dies jedoch nicht der Fall; denn der angebliche
Monotheismus erweiſt ſich bei näherer Betrachtung meiſtens
als eine der vorher angeführten Formen des Theismus, indem
neben dem oberſten „Hauptgotte“ noch einer oder mehrere Neben-
götter angeführt werden. Auch ſind die meiſten Religionen, welche
einen rein monotheistiſchen Ausgangspunkt hatten, im Laufe der
Zeit mehr oder minder polytheiſtiſch geworden. Allerdings be-
hauptet die moderne Statiſtik, daß unter den 1500 Millionen
Menſchen, welche unſere Erde bevölkern, die große Mehrzahl
Monotheiſten ſeien; angeblich ſollen davon ungefähr
600 Millionen Brahma-Buddhiſten ſein, 500 Millionen (ſo-
genannte!) Chriſten, 200 Millionen Heiden (verſchiedenſter Sorte),
180 Millionen Mohammedaner, 10 Millionen Israeliten und
10 Millionen ganz religionslos. Allein die große Mehrzahl der
angeblichen Monotheiſten hat ganz unklare Gottes-Vorſtellungen
oder glaubt neben dem einen Hauptgott auch noch an viele
Nebengötter, als da ſind: Engel, Teufel, Dämonen u. ſ. w.
Die verſchiedenen Formen, in denen ſich der Monotheismus
polyphyletiſch entwickelt hat, können wir in zwei Haupt-
gruppen bringen: naturaliſtiſche und anthropiſtiſche Eingötterei.
Naturaliſtiſcher Monotheismus. Dieſe alte Form der
Religion erblickt die Verkörperung Gottes in einer erhabenen,
Alles beherrſchenden Natur-Erſcheinung. Als ſolche imponirte
ſchon vor vielen Jahrtauſenden den Menſchen vor Allem die
Sonne, die leuchtende und erwärmende Gottheit, von deren
Einfluß ſichtlich alles organiſche Leben unmittelbar abhängig iſt.
Der Sonnen-Kultus (Solarismus oder Hekiotheismus) er-
[325]XV. Naturaliſtiſcher Monotheismus.
ſcheint für den modernen Naturforſcher wohl unter allen theiſtiſchen
Glaubens-Formen als die würdigſte und als diejenige, welche
am leichteſten mit der moniſtiſchen Naturphiloſophie der Gegen-
wart ſich verſchmelzen läßt. Denn unſere moderne Aſtrophyſik
und Geogenie hat uns überzeugt, daß die Erde ein abgelöſter
Theil der Sonne iſt und ſpäter wieder in deren Schooß zurück-
kehren wird. Die moderne Phyſiologie lehrt uns, daß der erſte
Urquell des organiſchen Lebens auf der Erde die Plasma-Bildung
oder Plasmodomie, iſt und daß dieſe Syntheſe von einfachen
anorganiſchen Verbindungen, von Waſſer, Kohlenſäure und
Ammoniak (oder Salpeterſäure), nur unter dem Einfluſſe des
Sonnenlichtes erfolgt. Auf die primäre Entwickelung der
plasmodomen Pflanzen iſt erſt nachträglich, ſekundär, die-
jenige der plasmophagen Thiere gefolgt, die ſich direkt
oder indirekt von ihnen nähren; und die Entſtehung des Menſchen-
geſchlechtes ſelbſt iſt wiederum nur ein ſpäterer Vorgang in
der Stammesgeſchichte des Thierreichs. Auch unſer geſammtes
körperliches und geiſtiges Menſchen-Leben iſt ebenſo wie alles
andere organiſche Leben im letzten Grunde auf die ſtrahlende,
Licht und Wärme ſpendende Sonne zurückzuführen. Im Lichte
der reinen Vernunft betrachtet, erſcheint daher der Sonnen-
Kultus als naturaliſtiſcher Monotheismus weit beſſer
begründet als der anthropiſtiſche Gottesdienſt der Chriſten und
anderer Kulturvölker, welche Gott in Menſchengeſtalt ſich vor-
ſtellen. Thatſächlich haben auch ſchon vor Jahrtauſenden die
Sonnen-Anbeter ſich auf eine höhere intellektuelle und moraliſche
Bildungsſtufe erhoben als die meiſten anderen Theiſten. Als
ich im November 1881 in Bombay war, betrachtete ich mit der
größten Theilnahme die erhebenden Andachts-Uebungen der
frommen Parſi, welche beim Aufgang und Untergang der Sonne,
am Meeresſtrande ſtehend oder auf ausgebreitetem Teppich knieend,
dem kommenden und ſcheidenden Tagesgeſtirn ihre Verehrung
[326]Anthropiſtiſcher Monotheismus. XV.
bezeugten *). — Weniger bedeutend als dieſer Solarismus iſt
der Lunarismus oder Selenotheismus, der Mond-
Kultus; wenn auch einige Naturvölker den Mond allein als
Gottheit verehren, ſo werden doch meiſtens daneben noch die
Sterne und die Sonne angebetet.
Anthropiſtiſcher Monotheismus. Die Vermenſchlichung
Gottes, die Vorſtellung, daß das „höchſte Weſen“ dem Menſchen
gleich empfindet, denkt und handelt (wenn auch in erhabenſter
Form), ſpielt als anthropomorpher Monotheismus die
größte Rolle in der Kulturgeſchichte. Vor allen anderen treten
hier in den Vordergrund die drei großen Religionen der medi-
terranen Menſchenart, die ältere moſaiſche, die mittlere chriſtliche
und die jüngere mohammedaniſche. Dieſe drei großen
Mittelmeer-Religionen, alle drei an der geſegneten Oſt-
küſte des intereſſanteſten aller Meere entſtanden, alle drei in
ähnlicher Weiſe von einem phantaſiereichen Schwärmer ſemitiſcher
Raſſe geſtiftet, hängen nicht nur äußerlich durch dieſen gemein-
ſamen Urſprung innig zuſammen, ſondern auch durch zahlreiche
gemeinſame Züge ihrer inneren Glaubens-Vorſtellungen. Wie
das Chriſtenthum einen großen Theil ſeiner Mythologie aus
dem älteren Judenthum direkt übernommen hat, ſo hat der
jüngere Islam wiederum von dieſen beiden Religionen viele
Erbſchaften beibehalten. Alle drei Mediterran-Religionen waren
urſprünglich rein monotheiſtiſch; alle drei ſind ſpäterhin
den mannigfaltigſten polytheiſtiſchen Umbildungen unter-
legen, je weiter ſie ſich zunächſt an den vieltheiligen Küſten des
mannigfach bevölkerten Mittelmeers und ſodann in den übrigen
Erdtheilen ausbreiteten.
Der Moſaismus. Der jüdiſche Monotheismus, wie ihn
Moſes (1600 vor Chr.) begründete, gilt gewöhnlich als die-
[327]XV. Moſaiſcher Monotheismus.
jenige Glaubensform des Alterthums, welche die höchſte Be-
deutung für die weitere ethiſche und religiöſe Entwickelung der
Menſchheit beſitzt. Unzweifelhaft iſt ihr dieſer hohe hiſtoriſche
Werth ſchon deßhalb zuzugeſtehen, weil die beiden anderen welt-
beherrſchenden Mediterran-Religionen aus ihr hervorgegangen
ſind; Chriſtus ſteht ebenſo auf den Schultern von Moſes wie
ſpäter Mohammed auf den Schultern von Chriſtus. Ebenſo
ruht das Neue Teſtament, welches in der kurzen Zeitſpanne von
1900 Jahren das Glaubens-Fundament der höchſtentwickelten
Kultur-Völker gebildet hat, auf der ehrwürdigen Baſis des Alten
Teſtaments. Beide zuſammengenommen haben als Bibel einen
Einfluß und eine Verbreitung gewonnen wie kein anderes Buch
in der Welt. Thatſächlich iſt ja noch heute in gewiſſer Beziehung
die Bibel — trotz ihrer ſeltſamen Miſchung aus den beſten und
den ſchlechteſten Beſtandtheilen! — das „Buch der Bücher“.
Wenn wir aber dieſe merkwürdige Geſchichtsquelle unbefangen
und vorurtheilslos prüfen, ſo ſtellen ſich viele wichtige Be-
ziehungen ganz anders dar, als überall gelehrt wird. Auch hier
hat die tiefer eindringende moderne Kritik und Kultur-Geſchichte
wichtige Aufſchlüſſe geliefert, welche die geltende Tradition in
ihren Fundamenten erſchüttern.
Der Monotheismus, wie ihn Moſes im Jehova-Dienſte zu
begründen ſuchte, und wie ihn ſpäter mit großem Erfolge die
Propheten — die Philoſophen der Hebräer — ausbildeten,
hatte urſprünglich harte und lange Kämpfe mit dem herrſchenden
älteren Polytheismus zu beſtehen. Urſprünglich war Jehova
oder Japheh aus jenem Himmelsgotte abgeleitet, der als Moloch
oder Baal eine der meiſtverehrten orientaliſchen Gottheiten war
(Sethos oder Typhon der Egypter, Saturnus oder Kronos der
Griechen). Daneben aber blieben andere Götter vielfach in hohem
Anſehen, und der Kampf mit der „Abgötterei“ beſtand im jüdiſchen
Volke immer fort. Trotzdem blieb im Principe Jehova der
[328]Chriſtlicher Monotheismus. XV.
alleinige Gott, der im erſten der zehn Gebote Moſis ausdrücklich
ſagt: „Ich bin der Herr Dein Gott, Du ſollſt nicht andere
Götter haben neben mir.“
Das Chriſtenthum. Der chriſtliche Monotheismus theilte
das Schickſal ſeiner Mutter, des Moſaismus, und blieb wahre
Eingötterei meiſtens nur theoretiſch im Princip, während er
praktiſch in die mannigfaltigſten Formen des Polytheismus ſich
verwandelte. Eigentlich war ja ſchon in der Trinitätslehre ſelbſt,
die doch als ein unentbehrliches Fundament der chriſtlichen Religion
gilt, der Monotheismus logiſcher Weiſe aufgegeben. Die drei
Perſonen, die als Vater, Sohn und Heiliger Geiſt unter-
ſchieden werden, ſind und bleiben ebenſo drei verſchiedene In-
dividuen (und zwar anthropomorphe Perſonen!) wie die drei
indiſchen Gottheiten der Trimurti (Brahma, Wiſchnu, Schiwa)
oder wie die Trinität der alten Hebräer (Anu, Bel, Ao). Dazu
kommt noch, daß in den weiteſtverbreiteten Abarten des Chriſtia-
nismus als vierte Gottheit die Jungfrau Maria, als unbefleckte
Mutter Chriſti, eine große Rolle ſpielt; in weiten katholiſchen
Kreiſen gilt ſie ſogar als viel wichtiger und einflußreicher wie
die drei männlichen Perſonen der Himmels-Regierung. Der
Madonnen-Kultus hat hier thatſächlich eine ſolche
Bedeutung gewonnen, daß man ihn als einen weiblichen
Monotheismus der gewöhnlichen männlichen Form der Ein-
götterei gegenüber ſtellen kann. Die „hehre Himmelskönigin“
erſcheint hier ſo ſehr im Vordergrund aller Vorſtellungen (wie
es auch unzählige Madonnen-Bilder und Sagen bezeugen), daß
die drei männlichen Perſonen dagegen ganz zurücktreten.
Nun hat ſich aber außerdem ſchon frühzeitig in der Phantaſie
der gläubigen Chriſten eine zahlreiche Geſellſchaft von „Heiligen“
aller Art zu dieſer oberſten Himmels-Regierung geſellt, und muſi-
kaliſche Engel ſorgen dafür, daß es im „ewigen Leben“ an
Konzert-Genüſſen nicht fehlt. Die römiſchen Päpſte — die größten
[329]XV. Mohammedaniſcher Monotheismus.
Charlatans, die jemals eine Religion hervorgebracht hat! —
ſind beſtändig befliſſen, durch neue Heiligſprechungen die Zahl
dieſer anthropomorphen Himmels-Trabanten zu vermehren. Den
reichſten und intereſſanteſten Zuwachs hat aber dieſe ſeltſame
Paradies-Geſellſchaft am 13. Juli 1870 dadurch bekommen, daß
das vatikaniſche Koncil die Päpſte als Stellvertreter Chriſti für
unfehlbar erklärt und ſie damit ſelbſt zum Range von
Göttern erhoben hat. Nimmt man dazu noch den von ihnen
anerkannten „perſönlichen Teufel“ und die „böſen Engel“, welche
ſeinen Hofſtaat bilden, ſo gewährt uns der Papismus, die
heute noch meiſtverbreitete Form des modernen Chriſtenthums,
ein ſo buntes Bild des reichſten Polytheismus, daß der
helleniſche Olymp dagegen klein und dürftig erſcheint.
Der Islam (oder der mohammedaniſche Mono-
theismus) iſt die jüngſte und zugleich die reinſte Form der
Eingötterei. Als der junge Mohammed (geb. 570) frühzeitig
den polytheiſtiſchen Götzendienſt ſeiner arabiſchen Stammesgenoſſen
verachten und das Chriſtenthum der Neſtorianer kennen lernte,
eignete er ſich zwar deren Grundlehren im Allgemeinen an, er
konnte ſich aber nicht entſchließen, in Chriſtus etwas Anderes zu
erblicken als einen Propheten, gleich Moſes. Im Dogma der
Dreieinigkeit fand er nur das, was bei unbefangenem Nachdenken
jeder vorurtheilsfreie Menſch darin finden muß, einen wider-
ſinnigen Glaubensſatz, der weder mit den Grundſätzen unſerer
Vernunft vereinbar noch für unſere religiöſe Erhebung von
irgend welchem Werthe iſt. Die Anbetung der unbefleckten
Jungfrau Maria als der „Mutter Gottes“ betrachtete er mit
Recht ebenſo als eitle Götzendienerei wie die Verehrung von
Bildern und Bildſäulen. Je länger er darüber nachdachte, und
je mehr er nach einer reineren Gottes-Vorſtellung hinſtrebte, deſto
klarer wurde ihm die Gewißheit ſeines Hauptſatzes: „Gott iſt
der alleinige Gott“; es giebt keine anderen Götter neben ihm.
[330]Mohammedaniſcher Monotheismus. XV.
Allerdings konnte auch Mohammed ſich von dem Anthropo-
morphismus der Gottes-Vorſtellung nicht frei machen. Auch ſein
alleiniger Gott blieb ein idealiſirter, allmächtiger Menſch, ebenſo
wie der ſtrenge, ſtrafende Gott des Moſes, ebenſo wie der milde,
liebende Gott des Chriſtus. Aber trotzdem müſſen wir der
mohammedaniſchen Religion den Vorzug laſſen, daß ſie auch im
Verlaufe ihrer hiſtoriſchen Entwickelung und der unvermeidlichen
Abartung den Charakter des reinen Monotheismus viel
ſtrenger bewahrte als die moſaiſche und die chriſtliche Religion.
Das zeigt ſich auch heute noch äußerlich in den Gebets-Formen
und Predigt-Weiſen ihres Kultus, wie in der Architektur und
Ausſchmückung ihrer Gotteshäuſer. Als ich 1873 zum erſten
Male den Orient beſuchte und die herrlichen Moſcheen in Kairo
und Smyrna, in Bruſſa und Konſtantinopel bewunderte, erfüllten
mich mit wahrer Andacht die einfache und geſchmackvolle Deko-
ration des Innern, der erhabene und zugleich prächtige archi-
tektoniſche Schmuck des Aeußern. Wie edel und erhaben er-
ſcheinen dieſe Moſcheen im Vergleiche zu der Mehrzahl der
katholiſchen Kirchen, welche innen mit bunten Bildern und
goldenem Flitterkram überladen, außen durch übermäßige Fülle
von Menſchen- und Thier-Figuren verunſtaltet ſind! Nicht minder
erhaben erſcheinen die ſtillen Gebete und die einfachen Andachts-
Uebungen des Koran im Vergleiche mit dem lauten, unverſtandenen
Wortgeplapper der katholiſchen Meſſen und der lärmenden Muſik
ihrer theatraliſchen Proceſſionen.
Mixotheismus (Miſchgötterei). Unter dieſem Begriffe kann
man füglich alle diejenigen Formen des Götterglaubens zuſammen-
faſſen, welche Miſchungen von religiöſen Vorſtellungen ver-
ſchiedener und zum Theil direkt widerſprechender Art enthalten.
Theoretiſch iſt dieſe weiteſtverbreitete Religionsform bisher
nirgends anerkannt. Praktiſch aber iſt ſie die wichtigſte und
merkwürdigſte von allen. Denn die große Mehrzahl aller
[331]XV. Miſchgötterei (Mixotheismus).
Menſchen, die ſich überhaupt religiöſe Vorſtellungen bildeten,
waren von jeher und ſind noch heute Mixotheiſten: ihre
Gottes-Vorſtellung iſt bunt gemiſcht aus den frühzeitig in
der Kindheit eingeprägten Glaubensſätzen ihrer ſpeciellen Kon-
feſſion und aus vielen verſchiedenen Eindrücken, welche ſpäter
bei der Berührung mit anderen Glaubensformen empfangen
werden, und welche die erſteren modificiren. Bei vielen Gebildeten
kommen dazu noch der umgeſtaltende Einfluß philoſophiſcher Studien
im reiferen Alter und vor Allem die unbefangene Beſchäftigung
mit den Erſcheinungen der Natur, welche die Nichtigkeit der
theiſtiſchen Glaubensbilder darthun. Der Kampf dieſer wider-
ſprechenden Vorſtellungen, welcher für feiner empfindende Ge-
müther äußerſt ſchmerzlich iſt und oft das ganze Leben hindurch
unentſchieden bleibt, offenbart klar die ungeheure Macht der
Vererbung alter Glaubensſätze einerſeits und der frühzeitigen
Anpaſſung an irrthümliche Lehren andererſeits. Die beſondere
Konfeſſion, in welche das Kind von früheſter Jugend an durch
die Eltern eingezwängt wurde, bleibt meiſtens in der Hauptſache
maßgebend, falls nicht ſpäter durch den ſtärkeren Einfluß eines
anderen Glaubensbekenntniſſes eine Konverſion eintritt. Aber
auch bei dieſem Uebertritt von einer Glaubensform zur anderen
iſt oft der neue Name, ebenſo wie der alte aufgegebene, nur eine
äußere Etikette, unter welcher bei näherer Unterſuchung die aller-
verſchiedenſten Ueberzeugungen und Irrthümer bunt gemiſcht ſich
verſtecken. Die große Mehrzahl der ſogenannten Chriſten ſind
nicht Monotheiſten (wie ſie glauben), ſondern Amphitheiſten,
Triplotheiſten oder Polytheiſten. Dasſelbe gilt aber auch von
den Bekennern des Islam und des Moſaismus, wie von anderen
monotheiſtiſchen Religionen. Ueberall geſellen ſich zu der ur-
ſprünglichen Vorſtellung des „alleinigen oder dreieinigen Gottes“
ſpäter erworbene Glaubensbilder von untergeordneten Gottheiten:
Engeln, Teufeln, Heiligen und anderen Dämonen, eine bunte
Miſchung der verſchiedenſten theiſtiſchen Geſtalten.
[332]Anthropiſtiſcher Theismus. XV.
Weſen des Theismus. Alle hier angeführten Formen des
Theismus im eigentlichen Sinne — gleichviel, ob dieſer Gottes-
glaube eine naturaliſtiſche oder anthropiſtiſche Form annimmt —
haben gemeinſam die Vorſtellung Gottes als des Außerwelt-
lichen(Extramundanum) oder Uebernatürlichen(Supra-
naturale). Immer ſteht Gott als ſelbſtſtändiges Weſen der
Welt oder der Natur gegenüber, meiſtens als Schöpfer, Erhalter
und Regierer der Welt. In den allermeiſten Religionen kommt
dazu noch der Charakter des Perſönlichen und beſtimmter
noch die Vorſtellung, daß Gott als Perſon dem Menſchen ähnlich
iſt. „In ſeinen Göttern malet ſich der Menſch.“ Dieſer Anthropo-
morphismus Gottes oder die anthropiſtiſche Vorſtellung
eines Weſens, welches gleich dem Menſchen denkt, empfindet und
handelt, iſt bei der großen Mehrzahl der Gottesgläubigen maß-
gebend, bald in mehr roher und naiver, bald in mehr feiner
und abſtrakter Form. Allerdings wird die vorgeſchrittenſte Form
der Theoſophie behaupten, daß Gott als höchſtes Weſen von
abſoluter Vollkommenheit und daher gänzlich von dem unvoll-
kommenen Weſen des Menſchen verſchieden ſei. Allein bei genauerer
Unterſuchung bleibt immer das Gemeinſame Beider ihre Seelen-
oder Geiſtesthätigkeit. Gott empfindet, denkt und handelt wie
der Menſch, wenn auch in unendlich vollkommenerer Form.
Der perſönliche Anthropismus Gottes iſt bei der großen
Mehrzahl der Gläubigen zu einer ſo natürlichen Vorſtellung ge-
worden, daß ſie keinen Anſtoß an der menſchlichen Perſonifikation
Gottes in Bildern und Statuen nehmen, und an den mannig-
faltigen Dichtungen der Phantaſie, in welchen Gott menſchliche
Geſtalt annimmt, d. h. ſich in ein Wirbelthier verwandelt.
In vielen Mythen erſcheint die Perſon Gottes auch in Geſtalt
anderer Säugethiere (Affen, Löwen, Stiere u. ſ. w.), ſeltener in
Geſtalt von Vögeln (Adler, Tauben, Störche) oder in Form
von niederen Wirbelthieren (Schlangen, Krokodile, Drachen).
[333]XV. Naturaliſtiſcher Pantheismus.
In den höheren und abſtrakteren Religions-Formen wird dieſe
körperliche Erſcheinung aufgeben und Gott nur als „reiner
Geiſt“ ohne Körper verehrt: „Gott iſt ein Geiſt, und wer ihn
anbetet, ſoll ihn im Geiſt und in der Wahrheit anbeten.“ Trotz-
dem bleibt aber die Seelenthätigkeit dieſes reinen Geiſtes ganz
dieſelbe wie diejenige der anthropomorphen Gottes-Perſon. In
Wirklichkeit wird auch dieſer immaterielle Geiſt nicht unkörper-
lich, ſondern unſichtbar gedacht, gasförmig. Wir gelangen ſo
zu der paradoxen Vorſtellung Gottes als eines gasförmigen
Wirbelthieres. (Vergl. meine „Generelle Morphologie“ 1866.)
II.Pantheismus (All-Eins-Lehre): Gott und Welt
ſind ein einziges Weſen. Der Begriff Gottes fällt mit
demjenigen der Natur oder der Subſtanz zuſammen. Dieſe
pantheiſtiſche Weltanſchauung ſteht im Princip ſämmtlichen an-
geführten und allen ſonſt noch möglichen Formen des Theis-
mus ſchroff gegenüber, wenngleich man durch Entgegenkommen
von beiden Seiten die tiefe Kluft zwiſchen beiden zu überbrücken
ſich vielfach bemüht hat. Immer bleibt zwiſchen beiden der
fundamentale Gegenſatz beſtehen, daß im Theismus Gott als
extramundanes Weſen der Natur ſchaffend und erhaltend
gegenüberſteht und von außen auf ſie einwirkt, während im
Pantheismus Gott als intramundanes Weſen allent-
halben die Natur ſelbſt iſt und und im Innern der Sub-
ſtanz als „Kraft oder Energie“ thätig iſt. Dieſe letztere Anſicht
allein iſt vereinbar mit jenem höchſten Naturgeſetze, deſſen Er-
kenntniß einen der größten Triumphe des 19. Jahrhunderts
bildet, mit dem Subſtanz-Geſetze. Daher iſt nothwendiger
Weiſe der Pantheismus die Weltanſchauung un-
ſerer modernen Naturwiſſenſchaft. Freilich giebt es
auch heute noch nicht wenige Naturforſcher, welche dieſen Satz
beſtreiten und welche meinen, die alte theiſtiſche Beurtheilung
des Menſchen mit den pantheiſtiſchen Grundgedanken des Subſtanz-
[334]Pantheismus und Hylozoismus. XV.
Geſetzes vereinigen zu können. Indeſſen beruhen alle dieſe vergeb-
lichen Beſtrebungen auf Unklarheit oder Inkonſequenz des Denkens,
falls ſie überhaupt ehrlich und aufrichtig gemeint ſind.
Da der Pantheismus erſt aus der geläuterten Natur-
betrachtung des denkenden Kulturmenſchen hervorgehen konnte,
iſt er begreiflicher Weiſe viel jünger als der Theismus, deſſen
roheſte Formen ſicher ſchon vor mehr als zehntauſend Jahren
bei den primitiven Naturvölkern in mannigfaltigen Variationen
ausgebildet wurden. Wenn auch in den erſten Anfängen der
Philoſophie bei den älteſten Kultur-Völkern (in Indien und
Egypten, in China und Japan) ſchon mehrere Jahrtauſende vor
Chriſtus Keime des Pantheismus in verſchiedenen Religions-
Formen eingeſtreut ſich finden, ſo tritt doch eine beſtimmte philo-
ſophiſche Faſſung desſelben erſt in dem Hylozoismus der
ioniſchen Naturphiloſophen auf, in der erſten Hälfte des
ſechſten Jahrhunderts vor Chr. Alle großen Denker dieſer Blüthe-
Periode des helleniſchen Geiſtes überragt der gewaltige Anaxi-
mander von Milet, der die principielle Einheit des unend-
lichen Weltganzen(Apeiron) tiefer und klarer erfaßte als
ſein Lehrer Thales und ſein Schüler Anaximenes. Nicht
nur den großen Gedanken der urſprünglichen Einheit des
Kosmos, der Entwickelung aller Erſcheinungen aus der Alles
durchdringenden Urmaterie hatte Anaximander bereits aus-
geſprochen, ſondern auch die kühne Vorſtellung von zahlloſen, in
periodiſchem Wechſel entſtehenden und vergehenden Weltbildungen.
Auch viele von den folgenden großen Philoſophen des
klaſſiſchen Alterthums, vor Allen Demokritos, Heraklitos
und Empedokles, hatten in gleichem oder ähnlichem Sinne
tief eindringend bereits jene Einheit von Natur und Gott, von
Körper und Geiſt erfaßt, welche im Subſtanz-Geſetze unſeres
heutigen Monismus den beſtimmteſten Ausdruck gewonnen hat.
Der große römiſche Dichter und Naturphiloſoph Lucretius
[335]XV. Pantheismus und Monismus.
Carus hat ihn in ſeinem berühmten Lehrgedichte „De rerum
natura“ in hochpoetiſcher Form dargeſtellt. Allein dieſer natur-
wahre pantheiſtiſche Monismus wurde bald ganz zurückgedrängt
durch den myſtiſchen Dualismus von Plato und beſonders
durch den gewaltigen Einfluß, den ſeine idealiſtiſche Philoſophie
durch die Verſchmelzung mit den chriſtlichen Glaubenslehren
gewann. Als ſodann deren mächtigſter Anwalt, der römiſche
Papſt, die geiſtige Weltherrſchaft gewann, wurde der Pantheis-
mus gewaltſam unterdrückt; Giordano Bruno, ſein geiſt-
vollſter Vertreter, wurde am 17. Februar 1600 auf dem Campo
Fiori in Rom von dem „Stellvertreter Gottes“ lebendig verbrannt.
Erſt in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde
durch den großen Baruch Spinoza das Syſtem des Pan-
theismus in reinſter Form ausgebildet; er ſtellte für die Ge-
ſammtheit der Dinge den reinen Subſtanz-Begriff auf, in
welchem „Gott und Welt“ untrennbar vereinigt ſind. Wir müſſen
die Klarheit, Sicherheit und Folgerichtigkeit des moniſtiſchen
Syſtems von Spinoza heute um ſo mehr bewundern, als dieſem
gewaltigen Denker vor 250 Jahren noch alle die ſicheren em-
piriſchen Fundamente fehlten, die wir erſt in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts gewonnen haben. Das Verhältniß von
Spinoza zum ſpäteren Materialismus im 18. und zu
unſerem heutigen Monismus im 19. Jahrhundert haben wir
bereits im erſten Kapitel beſprochen. Zur weiteren Verbreitung
desſelben, beſonders im deutſchen Geiſtesleben, haben vor Allem
die unſterblichen Werke unſeres größten Dichters und Denkers
beigetragen, Wolfgang Goethe. Seine herrlichen Dichtungen
„Gott und Welt“, „Prometheus“, „Fauſt“ ꝛc. hüllen die Grund-
gedanken des Pantheismus in die vollkommenſte dichteriſche Form.
Atheismus („die entgötterte Weltanſchauung“). Es giebt
keinen Gott und keine Götter, falls man unter dieſem Begriff
perſönliche, außerhalb der Natur ſtehende Weſen verſteht. Dieſe
[336]Pantheismus und Atheismus. XV.
„gottloſe Weltanſchauung“ fällt im Weſentlichen mit dem
Monismus oder Pantheismus unſerer modernen Natur-
wiſſenſchaft zuſammen; ſie giebt nur einen anderen Ausdruck dafür,
indem ſie eine negative Seite derſelben hervorhebt, die Nicht-
Exiſtenz der extramundanen oder übernatürlichen Gottheit. In
dieſem Sinne ſagt Schopenhauer ganz richtig: „Pantheis-
mus iſt nur ein höflicher Atheismus. Die Wahrheit des Pan-
theismus beſteht in der Aufhebung des dualiſtiſchen Gegenſatzes
zwiſchen Gott und Welt, in der Erkenntniß, daß die Welt aus
ihrer inneren Kraft und durch ſich ſelbſt da iſt. Der Satz des
Pantheismus: ‚Gott und die Welt iſt Eins‘ iſt bloß eine höfliche
Wendung, dem Herrgott den Abſchied zu geben.“
Während des ganzen Mittelalters, unter der blutigen Ty-
rannei des Papismus, wurde der Atheismus als die entſetzlichſte
Form der Weltanſchauung mit Feuer und Schwert verfolgt. Da
der „Gottloſe“ im Evangelium mit dem „Böſen“ ſchlechtweg
identificirt und ihm im ewigen Leben — bloß wegen „Glaubens-
mangels“! — die Höllenſtrafe der ewigen Verdammniß angedroht
wird, iſt es begreiflich, daß jeder gute Chriſt ſelbſt den entfernten
Verdacht des Atheismus ängſtlich mied. Leider beſteht auch heute
noch dieſe Auffaſſung in weiten Kreiſen fort. Dem atheiſti-
ſchen Naturforſcher, der ſeine Kraft und ſein Leben der Er-
forſchung der Wahrheit widmet, traut man von vornherein
alles Böſe zu; der theiſtiſche Kirchgänger dagegen, der die
leeren Ceremonien des papiſtiſchen Kultus gedankenlos mitmacht,
gilt ſchon deßwegen als guter Staatsbürger, auch wenn er ſich
bei ſeinem Glauben gar nichts denkt und nebenher der ver-
werflichſten Moral huldigt. Dieſer Irrthum wird ſich erſt klären,
wenn im 20. Jahrhundert der herrſchende Aberglaube mehr der
vernünftigen Naturerkenntniß weicht und der moniſtiſchen Ueber-
zeugung der Einheit von Gott und Welt.
[[337]]
Sechzehntes Kapitel.
Wiſſen und Glauben.
Moniſtiſche Studien über Erkenntniß der Wahrheit. Sinnes-
thätigkeit und Vernunftthätigkeit. Glauben und Aberglauben.
Erfahrung und Offenbarung.
‘„Die wiſſenſchaftliche Forſchung kennt nur ein
Ziel: die Erkenntniß der Wirklichkeit. Kein Heilig-
thum darf ihr heiliger ſein als die Wahrheit.
In Alles muß ſie eindringen; vor keiner Prüfung
oder Zergliederung darf ſie zurückſchrecken, mag
das zu Prüfende dem Forſcher durch Ehrfurcht,
Liebe, Loyalitätsgefühle, Religion oder Partei-
ſtellung noch ſo ſehr an's Herz gewachſen ſein.
Und rückhaltlos hat ſie auszuſprechen, was die
Prüfung ergeben, ohne Rückſicht auf Vortheil oder
Nachtheil, ohne Gier nach Lob und ohne Furcht
vor Tadel.“
L. Brentano.’ ()
Haeckel, Welträthſel. 22
[[338]]
Erkenntniß der Wahrheit und ihre Quellen: Sinnesthätigkeit und
Aſſocion der Vorſtellungen. Sinnesorgane (Aeſtheten) und Denkorgane
(Phroneten). Sinnesorgane und ihre ſpecifiſche Energie. Entwickelung der-
ſelben. Philoſophie der Sinnlichkeit. Unſchätzbarer Werth der Sinne.
Grenzen der ſinnlichen Erkenntniß. Hypotheſe und Glaube. Theorie und
Glaube. Principieller Gegenſatz zwiſchen wiſſenſchaftlichem (natürlichem)
und religiöſem (übernatürlichem) Glauben. Aberglaube der Naturvölker und
Kulturvölker. Glaubens-Bekenntniſſe. Konfeſſionsloſe Schule. Der Glaube
unſerer Väter. Spiritismus. Offenbarung.
Adalbert Svoboda, Geſtalten des Glaubens. Kulturgeſchichtliches und
Philoſophiſches. Leipzig 1897.
David Strauß, Geſammelte Schriften. 12 Bände. Bonn 1877.
John William Draper, Geſchichte der Konflikte zwiſchen Religion und
Wiſſenſchaft (1863). Leipzig 1865.
Ludwig Büchner, Ueber religiöſe und wiſſenſchaftliche Weltanſchauung.
Leipzig 1887.
O. Möllinger, Die Gott-Idee der neuen Zeit und der nothwendige Ausbau
des Chriſtenthums. Zweite Auflage. Zürich 1870.
Albrecht Rau, Empfinden und Denken. Eine philoſophiſche Unterſuchung.
über die Natur des menſchlichen Verſtandes. Gießen 1896.
Friedrich Zöllner, Ueber die Natur der Kometen. Beiträge zur Geſchichte
und Theorie der Erkenntniß. Leipzig 1872.
Alfred Lehmann, Aberglaube und Zauberei von den älteſten Zeiten an bis
in die Gegenwart. (Deutſch von Peterſen.) Stuttgart 1899.
Francis Bacon,Novum Organon Scientiarum. London 1620. (Deutſch
von Kirchmann. Berlin 1870.)
[[339]]
Alle Arbeit wahrer Wiſſenſchaft geht auf Erkenntniß der
Wahrheit. Unſer echtes und werthvolles Wiſſen iſt realer
Natur und beſteht aus Vorſtellungen, welche wirklich exiſtirenden
Dingen entſprechen. Wir ſind zwar unfähig, das innerſte Weſen
dieſer realen Welt — „das Ding an ſich“ — zu erkennen, aber
unbefangene und kritiſche Beobachtung und Vergleichung über-
zeugt uns, daß bei normaler Beſchaffenheit des Gehirns und
der Sinnesorgane die Eindrücke der Außenwelt auf dieſe bei
allen vernünftigen Menſchen dieſelben ſind, und daß bei normaler
Funktion der Denkorgane beſtimmte, überall gleiche Vorſtellungen
gebildet werden; dieſe nennen wir wahr und ſind dabei über-
zeugt, daß ihr Inhalt dem erkennbaren Theile der Dinge ent-
ſpricht. Wir wiſſen, daß dieſe Thatſachen nicht eingebildet,
ſondern wirklich ſind.
Erkenntniß-Quellen. Alle Erkenntniß der Wahrheit beruht
auf zwei verſchiedenen, aber innig zuſammenhängenden Gruppen
von phyſiologiſchen Funktionen des Menſchen: erſtens auf der
Empfindung der Objekte mittelſt der Sinnesthätigkeit und
zweitens auf der Verbindung der ſo gewonnenen Eindrücke durch
Aſſocion zur Vorſtellung im Subjekt. Die Werkzeuge der Em-
pfindung ſind die Sinnesorgane (Senſillen oder Aeſtheten);
die Werkzeuge, welche die Vorſtellungen bilden und verknüpfen,
ſind die Denkorgane(Phroneten). Dieſe letzteren ſind Theile
22*
[340]Entſtehung der Sinnesorgane. XVI.
des centralen, die erſteren hingegen Theile des peripheren
Nervenſyſtems, jenes wichtigſten und höchſtentwickelten
Organ-Syſtems der höheren Thiere, welches einzig und allein
deren geſammte Seelenthätigkeit vermittelt.
Sinnesorgane (Senſilla oder Aeſtheteſ). Die Sinnes-
thätigkeit des Menſchen, welche der erſte Ausgangspunkt aller
Erkenntniß iſt, hat ſich langſam und allmählich aus derjenigen
der nächſtverwandten Säugethiere, der Primaten, entwickelt. Die
Organe derſelben ſind in dieſer höchſtentwickelten Thierklaſſe
überall von weſentlich gleichem Bau, und ihre Funktion erfolgt
überall nach denſelben phyſikaliſchen und chemiſchen Geſetzen.
Sie haben ſich allenthalben in derſelben Weiſe hiſtoriſch ent-
wickelt. Wie bei allen anderen Thieren ſo ſind auch bei den
Mammalien alle Senſillen urſprünglich Theile der Hautdecke,
und die empfindlichen Zellen der Oberhaut(Epidermiſ) ſind
die Ureltern aller der verſchiedenen Sinnesorgane, welche durch
Anpaſſung an verſchiedene Reize (Licht, Wärme, Schall, Chemo-
pathos) ihre ſpecifiſche Energie erlangt haben. Sowohl die
Stäbchenzellen der Retina in unſerem Auge und die Hörzellen
in der Schnecke unſeres Ohres, als auch die Riechzellen in der
Naſe und die Schmeckzellen auf unſerer Zunge ſtammen urſprüng-
lich von jenen einfachen indifferenten Zellen der Oberhaut ab,
welche die ganze Oberfläche unſeres Körpers überziehen. Dieſe
bedeutungsvolle Thatſache wird durch die unmittelbare Beobachtung
am Embryo des Menſchen ebenſo wie aller anderen Thiere direkt
bewieſen. Aus dieſer ontogenetiſchen Thatſache folgt aber nach
dem biogenetiſchen Grundgeſetze mit Sicherheit der folgenſchwere
phylogenetiſche Schluß, daß auch in der langen Stammesgeſchichte
unſerer Vorfahren die höheren Sinnesorgane mit ihren ſpeciellen
Energien urſprünglich aus der Oberhaut niederer Thiere ent-
ſtanden ſind, aus einer einfachen Zellenſchicht, die noch keine
ſolchen differenzirten Senſillen enthielt.
[341]XVI. Entwickelung der Sinnesorgane.
Specifiſche Energie der Senſillen. Von größter Bedeutung
für die menſchliche Erkenntniß iſt die Thatſache, daß verſchiedene
Nerven unſeres Körpers im Stande ſind, ganz verſchiedene Quali-
täten der Außenwelt und nur dieſe wahrzunehmen. Der Sehnerv
des Auges vermittelt nur Lichtempfindung, der Hörnerv des Ohres
nur Schallempfindung, der Riechnerv der Naſe nur Geruchs-
empfindung u. ſ. w. Gleichviel, welche Reize das einzelne Sinnes-
werkzeug treffen und erregen, ihre Reaktion dagegen behält dieſelbe
Qualität. Aus dieſer ſpecifiſchen Energie der Sinnes-
nerven, welche von dem großen Phyſiologen Johannes Müller
zuerſt in ihrer weitreichenden Bedeutung gewürdigt wurde, ſind
ſehr irrthümliche Schlüſſe gezogen worden, beſonders zu Gunſten
einer dualiſtiſchen und aprioriſchen Erkenntniß-Theorie. Man
behauptete, daß das Gehirn oder die Seele nur einen gewiſſen
Zuſtand des erregten Nerven wahrnehme, und daß daraus Nichts
auf die Exiſtenz und Beſchaffenheit der erregenden Außenwelt
geſchloſſen werden könne. Die ſkeptiſche Philoſophie zog daraus
den Schluß, daß dieſe letztere ſelbſt zweifelhaft ſei, und der
extreme Idealismus bezweifelte nicht nur dieſe Realität, ſondern
er negirte ſie einfach; er behauptete, daß die Welt nur in unſerer
Vorſtellung exiſtire.
Dieſen Irrthümern gegenüber müſſen wir daran erinnern,
daß die „ſpecifiſche Energie“ urſprünglich nicht eine anerſchaffene
beſondere Qualität einzelner Nerven, ſondern durch Anpaſſung
an die beſondere Thätigkeit der Oberhautzellen entſtanden iſt, in
welchen ſie enden. Nach den großen Geſetzen der Arbeitstheilung
nahmen die urſprünglich indifferenten „Hautſinneszellen“
verſchiedene Aufgaben in Angriff, indem die einen den Reiz der
Lichtſtrahlen, die anderen den Eindruck der Schallwellen, eine
dritte Gruppe die chemiſche Einwirkung riechender Subſtanzen
u. ſ. w. aufnahmen. Im Laufe langer Zeiträume bewirkten
dieſe äußeren Sinnesreize eine allmähliche Veränderung der
[342]Philoſophie der Sinnlichkeit. XVI.
phyſiologiſchen und weiterhin auch der morphologiſchen Eigen-
ſchaften dieſer Oberhautſtellen, und damit zugleich veränderten
ſich die ſenſiblen Nerven, welche die von ihnen aufgenommenen
Eindrücke zum Gehirn leiteten. Die Selektion verbeſſerte Schritt
für Schritt die beſonderen Umbildungen derſelben, welche ſich als
nützlich erwieſen, und ſchuf ſo zuletzt im Laufe vieler Jahr-
millionen jene bewunderungswürdigen Inſtrumente, welche als
Auge und Ohr unſere theuerſten Güter darſtellen; ihre Ein-
richtung iſt ſo wunderbar zweckmäßig, daß ſie uns zu der irrthüm-
lichen Annahme einer „Schöpfung nach vorbedachtem Bauplan“
führen könnten. Die beſondere Eigenthümlichkeit jedes Sinnes-
organes und ſeines ſpecifiſchen Nerven hat ſich alſo erſt durch
Gewohnheit und Uebung — d. h. durch Anpaſſung — all-
mählich entwickelt und iſt dann durch Vererbung von Gene-
ration zu Generation übertragen worden. Albrecht Rau hat
dieſe Auffaſſung ausführlich begründet in ſeinem vortrefflichen
Werke über „Empfinden und Denken; eine phyſiologiſche Unter-
ſuchung über die Natur des menſchlichen Verſtandes“ (1896).
Dort iſt ſowohl die richtige Deutung des Müller'ſchen Geſetzes
von den ſpecifiſchen Sinnes-Energien gegeben als auch ſcharf-
ſinnige Erörterungen über ihre Beziehungen zum Gehirn und
beſonders im letzten Kapitel eine ausgezeichnete, auf den Schultern
von Ludwig Feuerbach ſtehende „Philoſophie der
Sinnlichkeit“; ich ſchließe mich dieſen überzeugenden Aus-
führungen durchaus an.
Grenzen der Sinneswahrnehmung. Die kritiſche Ver-
gleichung der Sinnesthätigkeit beim Menſchen und bei den übrigen
Wirbelthieren ergiebt eine Anzahl überaus wichtiger Thatſachen,
welche wir erſt den eingehenden Forſchungen des 19. Jahrhunderts
und beſonders ſeiner zweiten Hälfte verdanken. Ganz beſonders
gilt dies von den beiden höchſtentwickelten, den „äſthetiſchen
Sinneswerkzeugen“, Auge und Ohr. Dieſelben zeigen im Stamme
[343]XVI. Grenzen der Sinnesthätigkeit.
der Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau als bei
den übrigen Thieren und entwickeln ſich auch im Embryo der-
ſelben auf eigenthümliche Weiſe. Dieſe typiſche Ontogeneſe und
Struktur der Senſillen bei ſämmtlichen Wirbelthieren erklärt ſich
durch Vererbung von einer gemeinſamen Stammform. Inner-
halb des Stammes aber zeigt ſich eine große Mannigfaltigkeit
der Ausbildung im Einzelnen, und dieſe iſt bedingt durch die
Anpaſſung an die Lebensweiſe der einzelnen Arten, durch den
geſteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile.
Der Menſch erſcheint nun in Bezug auf die Ausbildung
ſeiner Sinne keineswegs als das vollkommenſte und höchſtent-
wickelte Wirbelthier. Das Auge der Vögel iſt viel ſchärfer und
unterſcheidet kleine Gegenſtände auf weite Entfernung viel deut-
licher als das menſchliche Auge. Das Gehör vieler Säugethiere,
beſonders der in Wüſten lebenden Raubthiere, Hufthiere, Nage-
thiere u. ſ. w., iſt viel empfindlicher als das menſchliche und
nimmt leiſe Geräuſche auf viel weitere Entfernungen wahr;
darauf weiſt ſchon ihre große und ſehr bewegliche Ohrmuſchel
hin. Die Singvögel offenbaren ſelbſt in Bezug auf muſikaliſche
Begabung eine höhere Entwickelungsſtufe als viele Menſchen.
Der Geruchsſinn iſt bei den meiſten Säugethieren, namentlich
Raubthieren und Hufthieren, viel mehr ausgebildet als beim
Menſchen; wenn der Hund ſeine eigene feine Spürnaſe mit der-
jenigen des Menſchen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf
letztere herabſehen. Auch in Bezug auf die niederen Sinne, den
Geſchmacksſinn, den Geſchlechtsſinn, den Taſtſinn und den Tem-
peraturſinn, behauptet der Menſch keineswegs in jeder Beziehung
die höchſte Entwickelungsſtufe.
Wir ſelbſt können natürlich nur über diejenigen Sinnes-
empfindungen urtheilen, die wir ſelbſt beſitzen. Nun weiſt uns
aber die Anatomie im Körper vieler Thiere noch andere als
unſere bekannten Sinnesorgane nach. So beſitzen die Fiſche
[344]Grenzen der Sinnesthätigkeit. XVI.
und andere niedere, im Waſſer lebende Wirbelthiere eigenthüm-
liche Senſillen in der Haut, welche mit beſonderen Sinnesnerven
in Verbindung ſtehen. In den Seiten des Fiſchkörpers verläuft
rechts und links ein langer Kanal, der vorn am Kopfe in mehrere
verzweigte Kanäle übergeht. In dieſen „Schleimkanälen“ liegen
Nerven mit zahlreichen Aeſten, deren Enden mit eigenthümlichen
Nervenhügeln verbunden ſind. Wahrſcheinlich dient dieſes aus-
gedehnte „Hautſinnesorgan“ zur Wahrnehmung von Unterſchieden
im Waſſerdruck oder in anderen Eigenſchaften des Waſſers.
Einige Gruppen ſind noch durch den Beſitz anderer eigenthüm-
licher Senſillen ausgezeichnet, deren Bedeutung uns unbekannt iſt.
Schon aus dieſen Thatſachen ergiebt ſich, daß unſere
menſchliche Sinnesthätigkeit beſchränkt iſt, und zwar ſowohl in
quantitativer als in qualitativer Hinſicht. Wir können alſo mit
unſeren Sinnen, vor allem dem Auge und dem Taſtſinn, immer
nur einen Theil der Eigenſchaften erkennen, welche die Objekte
der Außenwelt beſitzen. Aber auch dieſe partielle Wahrnehmung
iſt unvollſtändig, inſofern unſere Sinneswerkzeuge unvollkommen
ſind und die Sinnesnerven als Dolmetſcher dem Gehirn nur die
Ueberſetzung der empfangenen Eindrücke mittheilen.
Dieſe anerkannte Unvollkommenheit unſerer Sinnesthätigkeit
darf uns aber nicht hindern, in deren Werkzeugen, und vor Allem
im Auge, die edelſten Organe zu erblicken; im Vereine mit den
Denkorganen des Gehirns ſind ſie das werthvollſte Geſchenk der
Natur für den Menſchen. In voller Wahrheit ſagt Albrecht
Rau (a. a. O.): „Alle Wiſſenſchaft iſt in letzter
Linie Sinneserkenntniß; die Data der Sinne werden
darin nicht negirt, ſondern interpretirt. Die Sinne ſind unſere
erſten und beſten Freunde; lange bevor ſich der Verſtand ent-
wickelt, ſagen die Sinne dem Menſchen, was er thun und laſſen
ſoll. Wer die Sinnlichkeit überhaupt verneint, um ihren
Gefahren zu entgehen, der handelt ebenſo unbeſonnen und
[345]XVI. Werth der Sinnlichkeit.
thöricht als der, welcher ſeine Augen ausreißt, weil ſie einmal
auch ſchändliche Dinge ſehen könnten; oder der, welcher ſeine
Hand abhaut, weil er fürchtet, ſie könnte einmal auch nach
fremdem Gute langen. Mit vollem Rechte nennt deßhalb
Feuerbach alle Philoſophien, alle Religionen, alle Inſtitute,
die dem Principe der Sinnlichkeit widerſprechen, nicht nur
irrthümliche, ſondern ſogar grundverderbliche. Ohne Sinne
keine Erkenntniß! „Nihil eſt in intellectu, quod non fuerit
in ſenſu!“ (Locke). Welches hohe Verdienſt ſich neuerdings der
Darwinismus um die tiefere Erkenntniß und richtige Würdigung
der Sinnesthätigkeit erworben hat, habe ich ſchon vor zwanzig
Jahren in meinem Vortrage „Ueber Urſprung und Entwickelung
der Sinneswerkzeuge“ zu zeigen verſucht*).
Hypotheſe und Glaube. Der Erkenntnißtrieb des hoch-
entwickelten Kulturmenſchen begnügt ſich nicht mit jener lücken-
haften Kenntniß der Außenwelt, welche er durch ſeine unvoll-
kommenen Sinnesorgane gewinnt. Er bemüht ſich vielmehr, die
ſinnlichen Eindrücke, welche er durch dieſelben gewonnen hat, in
Erkenntniß-Werthe umzuſetzen; er verwandelt ſie in den Sinnes-
herden der Großhirnrinde in ſpecifiſche Sinnes-Empfindungen
und verbindet dieſe durch Aſſocion in deren Denkherden zu
Vorſtellungen; durch weitere Verkettung der Vorſtellungs-Gruppen
gelangt er endlich zu zuſammenhängendem Wiſſen. Aber dieſes
Wiſſen bleibt immer lückenhaft und unbefriedigend, wenn nicht
die Phantaſie die ungenügende Kombinations-Kraft des er-
kennenden Verſtandes ergänzt und durch Aſſocion von Gedächtniß-
bildern entfernt liegende Erkenntniſſe zu einem zuſammenhängenden
Ganzen verknüpft. Dabei entſtehen neue allgemeine Vorſtellungs-
Gebilde, welche erſt die wahrgenommenen Thatſachen erklären und
das „Kauſalitäts-Bedürfniß der Vernunft befriedigen“.
[346]Hypotheſe und Glaube. XVI.
Die Vorſtellungen, welche die Lücken des Wiſſens ausfüllen
oder an deſſen Stelle treten, kann man im weiteren Sinne als
„Glauben“ bezeichnen. So geſchieht es fortwährend im all-
täglichen Leben. Wenn wir irgend eine Thatſache nicht ſicher
wiſſen, ſo ſagen wir: Ich glaube ſie. In dieſem Sinne ſind
wir auch in der Wiſſenſchaft ſelbſt zum Glauben gezwungen;
wir vermuthen oder nehmen an, daß ein beſtimmtes Verhältniß
zwiſchen zwei Erſcheinungen beſteht, obwohl wir dasſelbe nicht
ſicher kennen. Handelt es ſich dabei um die Erkenntniß von
Urſachen, ſo bilden wir uns eine Hypotheſe. Indeſſen
dürfen in der Wiſſenſchaft nur ſolche Hypotheſen zugelaſſen
werden, die innerhalb des menſchlichen Erkenntniß-Vermögens
liegen, und die nicht bekannten Thatſachen widerſprechen. Solche
Hypotheſen ſind z. B. in der Phyſik die Lehre von Vibrationen
des Aethers, in der Chemie die Annahme der Atome und deren
Wahlverwandtſchaft, in der Biologie die Lehre von der Mole-
kular-Struktur des lebendigen Plasma u. ſ. w.
Theorie und Glaube. Die Erklärung einer größeren
Reihe von zuſammenhängenden Erſcheinungen durch Annahme
einer gemeinſamen Urſache nennen wir Theorie. Auch bei der
Theorie, wie bei der Hypotheſe, iſt der Glaube (in wiſſen-
ſchaftlichem Sinne!) unentbehrlich; denn auch hier ergänzt die
dichtende Phantaſie die Lücke, welche der Verſtand in der Er-
kenntniß des Zuſammenhangs der Dinge offen läßt. Die Theorie
kann daher immer nur als eine Annäherung an die Wahrheit
betrachtet werden; es muß zugeſtanden werden, daß ſie ſpäter
durch eine andere, beſſer begründete Theorie verdrängt werden
kann. Trotz dieſer eingeſtandenen Unſicherheit bleibt die Theorie
für jede wahre Wiſſenſchaft unentbehrlich; denn ſie erklärt erſt
die Thatſachen durch Annahme von Urſachen. Wer auf die
Theorie ganz verzichten und reine Wiſſenſchaft bloß aus „ſicheren
Thatſachen“ aufbauen will (wie es oft von beſchränkten Köpfen
[347]XVI. Theorie und Glaube.
in der modernen ſogenannten „exakten Naturwiſſenſchaft“ geſchieht),
der verzichtet damit auf die Erkenntniß der Urſachen überhaupt
und ſomit auf die Befriedigung des Kauſalitäts-Bedürfniſſes der
Vernunft.
Die Gravitations-Theorie in der Aſtronomie (Newton),
die kosmologiſche Gas-Theorie in der Kosmogenie (Kant und
Laplace), das Energie-Princip in der Phyſik (Mayer und
Helmholtz), die Atom-Theorie in der Chemie (Dalton), die
Vibrations-Theorie in der Optik (Huyghens), die Zellen-Theorie
in der Gewebelehre (Schleiden und Schwann), die Deſcendenz-
Theorie in der Biologie (Lamarck und Darwin) ſind gewaltige
Theorien erſten Ranges; ſie erklären eine ganze Welt von großen
Natur-Erſcheinungen durch Annahme einer gemeinſamen
Urſache für alle einzelnen Thatſachen ihres Gebietes und durch
den Nachweis, daß alle Erſcheinungen in demſelben zuſammen-
hängen und durch feſte, von dieſer einen Urſache ausgehende
Geſetze geregelt werden. Dabei kann aber dieſe Urſache ſelbſt
ihrem Weſen nach unbekannt oder nur eine „proviſoriſche Hypo-
theſe“ ſein. Die „Schwerkraft“ in der Gravitations-Theorie
und in der Kosmogenie, die „Energie“ ſelbſt in ihrem Ver-
hältniß zur Materie, der „Aether“ in der Optik und Elektrik,
das „Atom“ in der Chemie, das lebendige „Plasma“ in der
Zellenlehre, die „Vererbung“ in der Abſtammungslehre —
dieſe und ähnliche Grundbegriffe in anderen großen Theorien
können von der ſkeptiſchen Philoſophie als „bloße Hypotheſen“,
als Erzeugniſſe des wiſſenſchaftlichen Glaubens betrachtet
werden, aber ſie bleiben uns als ſolche unentbehrlich, ſo
lange, bis ſie durch eine beſſere Hypotheſe erſetzt werden.
Glaube und Aberglaube. Ganz anderer Natur als dieſe
Formen des wiſſenſchaftlichen Glaubens ſind diejenigen Vor-
ſtellungen, welche in den verſchiedenen Religionen zur Er-
klärung der Erſcheinungen benutzt und ſchlechtweg als Glaube
[348]Aberglaube der Naturvölker. XVI.
im engeren Sinne (!) bezeichnet werden. Da aber dieſe beiden
Glaubens-Formen, der „natürliche Glaube“ der Wiſſenſchaft und
der „übernatürliche Glaube“ der Religion, nicht ſelten verwechſelt
werden und ſo Verwirrung entſteht, iſt es zweckmäßig, ja noth-
wendig, ihren principiellen Gegenſatz ſcharf zu betonen.
Der „religiöſe“ Glaube iſt ſtets Wunderglaube und ſteht
als ſolcher mit dem natürlichen Glauben der Vernunft in un-
verſöhnlichem Widerſpruch. Im Gegenſatz zu letzterem behauptet
er übernatürliche Vorgänge und kann ſomit als „Ueberglaube“
oder „Oberglaube“ bezeichnet werden, die urſprüngliche Form
des Wortes Aberglaube. Der weſentliche Unterſchied dieſes
Aberglaubens von dem „vernünftigen Glauben“ beſteht eben
darin, daß er übernatürliche Kräfte und Erſcheinungen annimmt,
welche die Wiſſenſchaft nicht kennt und nicht zuläßt, welche durch
irrthümliche Wahrnehmungen und falſche Phantaſie-Dichtungen
erzeugt ſind; der Aberglaube widerſpricht mithin den klar er-
kannten Naturgeſetzen und iſt als ſolcher unvernünftig.
Aberglaube der Naturvölker. Durch die großen Fort-
ſchritte der Ethnologie in unſerem 19. Jahrhundert iſt uns eine
erſtaunliche Fülle von mannigfaltigen Formen und Erzeugniſſen
des Aberglaubens bekannt geworden, wie ſie noch heute unter
den rohen Naturvölkern exiſtiren. Vergleicht man dieſelben unter
einander und mit den entſprechenden mythologiſchen Vorſtellungen
früherer Zeiten, ſo ergiebt ſich eine vielfache Analogie, oft ein
gemeinſamer Urſprung und zuletzt ſchließlich eine einfache Urquelle
für alle. Dieſe finden wir in dem natürlichen Kauſalitäts-
Bedürfniſſe der Vernunft, in dem Suchen noch Er-
klärung unbekannter Erſcheinungen durch Auffinden ihrer Urſachen.
Beſonders gilt das von ſolchen Bewegungs-Erſcheinungen, die
Gefahr drohen und Furcht erregen, wie Blitz und Donner, Erd-
beben, Mondfinſterniß u. ſ. w. Das Bedürfniß nach kauſaler
Erklärung ſolcher Natur-Erſcheinungen beſteht ſchon bei den
[349]XVI. Aberglaube der Kulturvölker.
Naturvölkern der niederſten Stufe und iſt bereits von ihren
Primaten-Ahnen durch Vererbung übertragen. Es beſteht ebenſo
bei vielen anderen Wirbelthieren. Wenn ein Hund den Vollmond
anbellt oder eine tönende Glocke, deren Klöppel er ſich bewegen
ſieht, oder eine Fahne, die im Winde weht, ſo äußert er dabei
nicht nur Furcht, ſondern auch den dunkeln Drang nach Erkenntniß
der Urſache dieſer unbekannten Erſcheinung. Die rohen Reli-
gions-Anfänge der primitiven Naturvölker haben ihre Wurzeln
theilweiſe in ſolchem erblichen Aberglauben ihrer Primaten-Ahnen,
theilweiſe im Ahnen-Kultus, in verſchiedenen Gemüths-Bedürf-
niſſen und in traditionell gewordenen Gewohnheiten.
Aberglaube der Kulturvölker. Die religiöſen Glaubens-
Vorſtellungen der modernen Kulturvölker, die ihnen als höchſter
geiſtiger Beſitz gelten, pflegen von ihnen hoch über den „rohen
Aberglauben“ der Naturvölker geſtellt zu werden; man preiſt den
großen Fortſchritt, welchen die fortſchreitende Kultur durch Be-
ſeitigung des letzteren herbeigeführt habe. Das iſt ein großer
Irrthum! Bei unbefangener kritiſcher Prüfung und Vergleichung
zeigt ſich, daß beide nur durch die beſondere „Geſtalt des
Glaubens“ und durch die äußere Hülle der Konfeſſion von
einander verſchieden ſind. Im klaren Lichte der Vernunft
erſcheint der deſtillirte Wunderglaube der freiſinnigſten Kirchen-
Religionen — inſofern er klar erkannten und feſten Naturgeſetzen
widerſpricht — genau ſo als unvernünftiger Aberglaube wie der
rohe Geſpenſterglaube der primitiven Fetiſch-Religionen, auf
welchen jene mit ſtolzer Verachtung herabſehen.
Werfen wir von dieſem unbefangenen Standpunkte einen
kritiſchen Blick auf die gegenwärtig noch herrſchenden Glaubens-
Vorſtellungen der heutigen Kulturvölker, ſo finden wir ſie allent-
halben von traditionellem Aberglauben durchdrungen. Der chriſt-
liche Glaube an die Schöpfung, die Dreieinigkeit Gottes, an
die unbefleckte Empfängniß Mariä, an die Erlöſung, die Auf-
[350]Glaube und Aberglaube. XVI.
erſtehung und Himmelfahrt Chriſti u. ſ. w. iſt ebenſo reine
Dichtung und kann ebenſo wenig mit der vernünftigen Natur-
Erkenntniß in Einklang gebracht werden als die verſchiedenen
Dogmen der mohammedaniſchen und moſaiſchen, der buddhiſtiſchen
und brahmaniſchen Religion. Jede von dieſen Religionen iſt
für den wahrhaft „Gläubigen“ eine zweifelloſe Wahrheit,
und jede von ihnen betrachtet jede andere Glaubenslehre als
Ketzerei und verderblichen Irrthum. Je mehr eine beſtimmte
Konfeſſion ſich für die „allein ſelig machende“ hält — für die
„katholiſche“ —, und je inniger dieſe Ueberzeugung als hei-
ligſte Herzensſache vertheidigt wird, deſto eifriger muß ſie natur-
gemäß alle anderen Konfeſſionen bekämpfen, und deſto fanatiſcher
geſtalten ſich die fürchterlichen Glaubenskriege, welche die traurigſten
Blätter im Buche der Kulturgeſchichte bilden. Und doch über-
zeugt uns die unparteiiſche „Kritik der reifen Vernunft“,
daß alle dieſe verſchiedenen Glaubensformen in gleichem Maße
unwahr und unvernünftig ſind, Produkte der dichtenden Phan-
taſie und der unkritiſchen Tradition. Die vernünftige Wiſſen-
ſchaft muß ſie ſammt und ſonders gleichmäßig verwerfen als
Erzeugniſſe des Aberglaubens.
Glaubens-Bekenntniß (Konfeſſion). Der unermeßliche
Schaden, welchen der unvernünftige Aberglaube ſeit Jahrtauſenden
in der gläubigen Menſchheit angerichtet hat, offenbart ſich wohl
nirgends auffälliger als in dem unaufhörlichen „Kampfe der
Glaubens-Bekenntniſſe“. Unter allen Kriegen, welche die Völker
mit Feuer und Schwert gegen einander geführt haben, ſind die
Religionskriege die blutigſten geweſen; unter allen Formen der
Zwietracht, welche das Glück der Familien und der einzelnen
Perſonen zerſtört haben, ſind die religiöſen, dem Glaubens-
Unterſchiede entſprungenen noch heute die gehäſſigſten. Man
denke nur an die vielen Millionen Menſchen, welche in den
Chriſten-Bekehrungen und -Verfolgungen, in den Glaubenskämpfen
[351]XVI. Glaube unſerer Väter.
des Islam und der Reformation, durch die Inquiſition und die
Hexen-Proceſſe ihr Leben verloren haben. Oder man denke an
die noch größere Zahl der Unglücklichen, welche wegen Glaubens-
Verſchiedenheiten in Familien-Zwiſt gerathen, ihr Anſehen bei
den gläubigen Mitbürgern und ihre Stellung im Staate ver-
loren oder aus dem Vaterlande haben auswandern müſſen. Die
verderblichſte Wirkung übt das officielle Glaubens-Bekenntniß
dann, wenn es mit den politiſchen Zwecken des Kultur-Staates
verknüpft und als „konfeſſioneller Religions-Unterricht“ in den
Schulen zwangsweiſe gelehrt wird. Die Vernunft der Kinder
wird dadurch ſchon frühzeitig von der Erkenntniß der Wahrheit
abgelenkt und dem Aberglauben zugeführt. Jeder Menſchenfreund
ſollte daher die konfeſſionsloſe Schule, als eine der werth-
vollſten Inſtitutionen des modernen Vernunft-Staates, mit allen
Mitteln zu fördern ſuchen.
Der Glaube unſerer Väter. Der hohe Werth, welcher
trotzdem noch heute in den weiteſten Kreiſen dem konfeſſionellen
Religions-Unterricht beigelegt wird, iſt nicht allein durch den
Konfeſſions-Zwang des rückſtändigen Kultur-Staates und deſſen
Abhängigkeit von klerikaler Herrſchaft bedingt, ſondern auch durch
das Gewicht von alten Traditionen und von „Gemüths-Bedürf-
niſſen“ verſchiedener Art. Unter dieſen iſt beſonders wirkungs-
voll die andächtige Verehrung, welche in weiteſten Kreiſen der
konfeſſionellen Tradition gezollt wird, dem „heiligen
Glauben unſerer Väter“. In Tauſenden von Erzählungen und
Gedichten wird das Feſthalten an demſelben als ein geiſtiger
Schatz und als eine heilige Pflicht geprieſen. Und doch genügt
unbefangenes Nachdenken über die Geſchichte des Glaubens,
um uns von der völligen Ungereimtheit jener einflußreichen Vor-
ſtellung zu überzeugen. Der herrſchende evangeliſche Kirchen-
glaube in der zweiten Hälfte des aufgeklärten 19. Jahrhunderts
iſt weſentlich verſchieden von demjenigen in der erſten Hälfte
[352]Glaube unſerer Väter. XVI.
desſelben, und dieſer wieder von demjenigen des 18. Jahrhunderts.
Der letztere weicht ſehr ab von dem „Glauben unſerer Väter“
im 17. und noch mehr im 16. Jahrhundert. Die Reformation,
welche die geknechtete Vernunft von der Tyrannei des Papismus
befreite, wird natürlich von dieſer als ärgſte Ketzerei verfolgt;
aber auch der Glaube des Papismus ſelbſt hatte ſich im Laufe
eines Jahrtauſends völlig verändert. Und wie verſchieden iſt der
Glaube der getauften Chriſten von demjenigen ihrer heidniſchen
Väter! Jeder ſelbſtſtändig denkende Menſch bildet ſich eben ſeinen
eigenen, mehr oder weniger „perſönlichen Glauben“, und immer iſt
dieſer verſchieden von demjenigen ſeiner Väter; denn er iſt ab-
hängig von dem geſammten Bildungs-Zuſtande ſeiner Zeit. Je
weiter wir in der Kultur-Geſchichte zurückgehen, deſto mehr muß
uns der geprieſene „Glaube unſerer Väter“ als unhaltbarer
Aberglaube erſcheinen, deſſen Formen ſich beſtändig umbilden.
Spiritismus. Eine der merkwürdigſten Formen des Aber-
glaubens iſt diejenige, welche noch heutzutage in unſerer modernen
Kulturwelt eine erſtaunliche Rolle ſpielt, der Spiritismus oder
der moderne Geiſterglaube. Es iſt eine ebenſo befremdende
wie betrübende Thatſache, daß noch heute Millionen gebildeter
Kulturmenſchen von dieſem finſteren Aberglauben völlig beherrſcht
ſind; ja ſogar einzelne berühmte Naturforſcher haben ſich von
demſelben nicht losmachen können. Zahlreiche ſpiritiſtiſche Zeit-
ſchriften verbreiten dieſen Geſpenſter-Glauben in weiteſten Kreiſen,
und unſere „feinſten Geſellſchafts-Kreiſe“ ſchämen ſich nicht,
„Geiſter“ erſcheinen zu laſſen, welche klopfen, ſchreiben, „Mit-
theilungen aus dem Jenſeits“ machen u. ſ. w. Man beruft
ſich in den Kreiſen der Spiritiſten oft darauf, daß ſelbſt an-
geſehene Naturforſcher dieſem Aberglauben huldigen. In Deutſch-
land werden dafür als Beiſpiele u. A. Zöllner und Fechner
in Leipzig angeführt, in England Wallace und Crookes in
London. Die bedauerliche Thatſache, daß ſelbſt ſo hervorragende
[353]XVI. Täuſchungen des Spiritismus.
Phyſiker und Biologen ſich dadurch haben irre führen laſſen,
erklärt ſich theils aus ihrem Uebermaß an Phantaſie und
Kritikmangel, theils aus dem mächtigen Einfluß ſtarrer Dogmen,
welche religiöſe Verziehung dem kindlichen Gehirn in früheſter
Jugend ſchon einprägt. Uebrigens iſt gerade bei den berühmten
ſpiritiſtiſchen Vorſtellungen in Leipzig, in welchen die Phyſiker
Zöllner, Fechner und Wilhelm Weber durch den ſchlauen
Taſchenſpieler Slade irre geführt wurden, der Schwindel des
letzteren nachträglich klar zu Tage gekommen; Slade ſelbſt
wurde als gemeiner Betrüger erkannt und entlarvt. Auch in
allen anderen Fällen, in welchen die angeblichen „Wunder des
Spiritismus“ gründlich unterſucht werden konnten, hat ſich als
Urſache derſelben eine gröbere oder feinere Täuſchung heraus-
geſtellt, und die ſogenannten „Medien“ (meiſt weiblichen Ge-
ſchlechts) ſind theils als ſchlaue Schwindler entlarvt, theils als
nervöſe Perſonen von ungewöhnlicher Reizbarkeit erkannt worden.
Ihre angebliche Telepathie (oder „Fernwirkung des Gedankens
ohne materielle Vermittelung“) exiſtirt ebenſo wenig als die
„Stimmen der Geiſter“, die „Seufzer der Geſpenſter“ u. ſ. w.
Die lebhaften Schilderungen, welche Carl du Prel in München
und andere Spiritiſten von ſolchen „Geiſter-Erſcheinungen“ geben,
ſind durch die Thätigkeit einer erregten Phantaſie, verbunden mit
Mangel an Kritik und an phyſiologiſchen Kenntniſſen, zu erklären.
Offenbarung (Nevelation). Die meiſten Religionen haben
trotz ihrer mannigfaltigen Verſchiedenheit einen gemeinſamen
Grundzug, der zugleich eine ihrer mächtigſten Stützen in weiten
Kreiſen bildet; ſie behaupten, die Räthſel des Daſeins, deren
Löſung auf natürlichem Wege durch die Vernunft nicht möglich
iſt, auf übernatürlichem Wege durch Offenbarung geben zu können;
zugleich leiten ſie daraus die Geltung der Dogmen oder Glaubens-
ſätze ab, welche als „göttliche Geſetze“ die Sittenlehre ordnen
und die Lebensführung beſtimmen ſollen. Derartige göttliche
Haeckel, Welträthſel. 23
[354]Täuſchungen der Offenbarung. XVI.
Inſpirationen bilden die Grundlage zahlreicher Mythen und
Legenden, deren anthropiſtiſcher Urſprung auf der Hand liegt.
Zwar erſcheint der Gott, der „ſich offenbart“, oft nicht direkt in
menſchlicher Geſtalt, ſondern im Donner und Blitz, im Sturm
und Erdbeben, im feurigen Buſch oder der drohenden Wolke.
Aber die Offenbarung ſelbſt, welche er dem gläubigen Menſchen-
kinde giebt, wird in allen Fällen anthropiſtiſch gedacht, als Mit-
theilung von Vorſtellungen oder Befehlen, welche genau ſo for-
mulirt und ausgeſprochen werden, wie es normaler Weiſe nur
durch die Großhirnrinde und durch den Kehlkopf des Menſchen
geſchieht. In den indiſchen und egyptiſchen Religionen, in der
helleniſchen und römiſchen Mythologie, im Talmud wie im
Koran, im Alten wie im Neuen Teſtament — denken, ſprechen
und handeln die Götter ganz wie die Menſchen, und die Offen-
barungen, in denen ſie uns die Geheimniſſe des Daſeins enthüllen,
die dunkeln Welträthſel löſen wollen, ſind Dichtungen der
menſchlichen Phantaſie. Die Wahrheit, welche der Gläubige
darin findet, iſt menſchliche Erfindung, und der „kindliche Glaube“
an dieſe unvernünftigen Offenbarungen iſt Aberglaube.
Die wahre Offenbarung, d. h. die wahre Quelle ver-
nünftiger Erkenntniß, iſt nur in der Natur zu finden. Der
reiche Schatz wahren Wiſſens, der den werthvollſten Theil der
menſchlichen Kultur darſtellt, iſt einzig und allein den Erfahrungen
entſprungen, welche der forſchende Verſtand durch Natur-
Erkenntniß gewonnen hat, und den Vernunft-Schlüſſen,
welche er durch richtige Aſſocion dieſer empiriſchen Vorſtellungen
gebildet hat. Jeder vernünftige Menſch mit normalem Gehirn
und normalen Sinnen ſchöpft bei unbefangener Betrachtung aus
der Natur dieſe wahre Offenbarung und befreit ſich damit von
dem Aberglauben, welchen ihm die Offenbarungen der Religion
aufgebürdet haben.
[[355]]
Siebzehntes Kapitel.
Wiſſenſchaft und Chriſtenthum.
Moniſtiſche Studien über den Kampf zwiſchen der wiſſenſchaft-
lichen Erfahrung und der chriſtlichen Offenbarung.
Die vier Perioden
in der hiſtoriſchen Metamorphoſe der chriſtlichen Religion.
Vernunft und Dogma.
‘„Die Grundprincipien des Chriſtenthums und
der modernen Bildung liegen in unverſöhnlichem
Widerſtreit, und dieſer Widerſtreit muß noth-
wendig entweder mit einer ſiegreichen Reaktion
des Chriſtenthums oder mit einer völligen Ueber-
windung des Chriſtenthums durch die moderne
Kultur enden; entweder mit der Knebelung aller
Völkerfreiheit durch den gewaltig anſtürmenden
Ultramontanismus oder mit dem Untergange
des Chriſtenthums, wenn auch nicht dem Namen,
ſo doch der That nach.“
Eduard Hartmann.’ ()
‘„Zu behaupten, daß das Chriſtenthum vorher
unbekannte ſittliche Wahrheiten in die Welt ge-
bracht habe, beweiſt entweder grobe Unwiſſenheit
oder gefliſſentlichen Betrug.“
Thomas Buckle.’ ()
23 *
[[356]]
Wachſender Gegenſatz zwiſchen moderner Naturerkenntniß und chriſt-
licher Weltanſchauung. Der alte und der neue Glaube. Vertheidigung der
vernünftigen Wiſſenſchaft gegen die Angriffe des chriſtlichen Aberglaubens,
vor Allem gegen den Papismus. Vier Perioden in der Entwickelungs-
geſchichte des Chriſtenthums. I. Das Urchriſtenthum (drei Jahrhunderte).
Die vier kanoniſchen Evangelien. Die Epiſteln Pauli. II. Der Papismus
(das ultramontane Chriſtenthum). Rückſchritt der Kultur im Mittelalter.
Ultramontane Geſchichtsfälſchung. Papismus und Wiſſenſchaft. Papismus
und Chriſtenthum. III. Die Reformation. Luther und Calvin. Das Jahr-
hundert der Aufklärung. IV. Das Scheinchriſtenthum des 19. Jahrhunderts.
Die Kriegserklärung des Papſtes gegen die Vernunft und Wiſſenſchaft:
I. Unfehlbarkeit. II. Encyklika. III. Unbefleckte Empfängniß
Saladin (Stewart Roß), Jehovas geſammelte Werke. Eine kritiſche
Unterſuchung des jüdiſch-chriſtlichen Religions-Gebäudes auf Grund der
Bibelforſchung. Zürich (Leipzig, Fleiſcher) 1896.
S. E. Berus, Vergleichende Ueberſicht (Vollſtändige Synopſis) der vier
Evangelien in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897.
David Strauß, Das Leben Jeſu für das deutſche Volk. 1864. 11. Auflage.
Bonn 1890.
Ludwig Feuerbach, Das Weſen des Chriſtenthums. 1841. Vierte Auflage
1883.
Paul de Regla (P. Desjardin), Jeſus von Nazareth vom wiſſenſchaft-
lichen, geſchichtlichen und geſellſchaftlichen Standpunkt aus dargeſtellt.
Leipzig 1894.
Thomas Buckle, Geſchichte der Civiliſation in England. 1857. Sechſte
deutſche Auflage. Leipzig 1881.
M. J. Savage, Die Religion im Lichte der Darwin'ſchen Lehre. Deutſch
von Schramm. Leipzig 1886.
Eduard Hartmann, Die Selbſtzerſetzung des Chriſtenthums. Berlin 1874.
[[357]]
Zu den hervorragenden Charakterzügen des ſcheidenden
19. Jahrhunderts gehört die wachſende Schärfe des Gegenſatzes
zwiſchen Wiſſenſchaft und Chriſtenthum. Das iſt ganz natürlich
und nothwendig: denn in demſelben Maße, in welchem die
ſiegreichen Fortſchritte der modernen Naturerkenntniß alle
wiſſenſchaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte überflügeln,
iſt zugleich die Unhaltbarkeit aller jener myſtiſchen Welt-
anſchauungen offenbar geworden, welche die Vernunft unter das
Joch der ſogenannten „Offenbarung“ beugen wollten; und
dazu gehört auch die chriſtliche Religion. Je ſicherer durch die
moderne Aſtronomie, Phyſik und Chemie die Alleinherrſchaft un-
beugſamer Naturgeſetze im Univerſum, durch die moderne
Botanik, Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derſelben
Geſetze im Geſammtbereiche der organiſchen Natur nachgewieſen
iſt, deſto heftiger ſträubt ſich die chriſtliche Religion, im Vereine
mit der dualiſtiſchen Metaphyſik, die Geltung dieſer Naturgeſetze
im Bereiche des ſogenannten „Geiſteslebens“ anzuerkennen, d. h.
in einem Theilgebiete der Gehirn-Phyſiologie.
Dieſen offenkundigen und unverſöhnlichen Gegenſatz zwiſchen
der modernen wiſſenſchaftlichen und der überlebten chriſtlichen
Weltanſchauung hat Niemand klarer, muthiger und unwider-
leglicher bewieſen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts,
David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntniß: „Der
[358]Wiſſenſchaft und Chriſtenthum. XVII.
alte und der neue Glaube“ (1872, neunte Auflage 1877)
iſt der allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung
aller derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unver-
meidlichen Konflikt zwiſchen den anerzogenen, herrſchenden
Glaubenslehren des Chriſtenthums und den einleuchtenden,
vernunftgemäßen Offenbarungen der modernen Naturwiſſenſchaft
einſehen; aller derjenigen, welche den Muth finden, das Recht
der Vernunft gegenüber den Anſprüchen des Aberglaubens
zu wahren, und welche das philoſophiſche Bedürfniß nach einer
einheitlichen Naturanſchauung empfinden. Strauß hat als
ehrlicher und muthiger Freidenker weit beſſer, als ich es vermag,
die wichtigſten Gegenſätze zwiſchen „altem und neuem Glauben“
klargelegt. Die volle Unverſöhnlichkeit zwiſchen beiden Gegen-
ſätzen, die Unvermeidlichkeit des Entſcheidungskampfes zwiſchen
beiden — „auf Tod und Leben“ — hat von philoſophiſcher Seite
namentlich Eduard Hartmann nachgewieſen, in ſeiner inter-
eſſanten Schrift über die Selbſtzerſetzung des Chriſtenthums (1874).
Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach,
ſowie die „Geſchichte der Konflikte zwiſchen Religion und Wiſſen-
ſchaft“ von John William Draper (1875) geleſen hat, ſo
könnte es überflüſſig erſcheinen, dieſem Gegenſtande hier ein be-
ſonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und
nothwendig ſein, hier einen kritiſchen Blick auf den hiſtoriſchen
Verlauf dieſes großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb,
weil die Angriffe der ſtreitenden Kirche auf die Wiſſenſchaft
im Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Beſonderen
in neueſter Zeit beſonders ſcharf und gefahrdrohend geworden
ſind. Auch iſt leider die geiſtige Erſchlaffung, welche ſich neuer-
dings geltend macht, ſowie die ſteigende Fluth der Reaktion auf
politiſchem, ſocialem und kirchlichem Gebiete nur zu ſehr ge-
eignet, jene Gefahren zu verſchärfen. Wollte Jemand daran
zweifeln, ſo braucht er nur die Verhandlungen der chriſtlichen
[359]XVII. Papismus und Ultramontanismus.
Synoden und des Deutſchen Reichstags in den letzten Jahren
zu leſen. Im Einklang damit ſtehen die Bemühungen vieler
weltlicher Regierungen, ſich mit dem geiſtlichen Regimente, ihrem
natürlichen Todfeinde, auf möglichſt guten Fuß zu ſetzen, d. h.
ſich deſſen Joche zu unterwerfen; als gemeinſames Ziel ſchwebt
dabei den beiden Verbündeten die Unterdrückung des freien Ge-
dankens und der freien wiſſenſchaftlichen Forſchung vor, mit dem
Zwecke, ſich auf dieſe Weiſe am leichteſten die abſolute
Herrſchaft zu ſichern.
Wir müſſen ausdrücklich betonen, daß es ſich hier um noth-
gedrungene Vertheidigung der Wiſſenſchaft und der Ver-
nunft gegen die ſcharfen Angriffe der chriſtlichen Kirche und
ihrer gewaltigen Heerſchaaren handelt, und nicht etwa um un-
berechtigte Angriffe der erſteren gegen die letzteren. In erſter
Linie muß dabei unſere Abwehr gegen den Papismus oder
Ultramontanismus gerichtet ſein; denn dieſe „alleinſelig
machende“ und „für Alle beſtimmte“ katholiſche Kirche iſt nicht
allein weit größer und weit mächtiger als die anderen chriſt-
lichen Konfeſſionen, ſondern ſie beſitzt vor Allem den Vorzug
einer großartigen, centraliſirten Organiſation und einer unüber-
troffenen politiſchen Schlauheit. Man hört allerdings oft von
Naturforſchern und von anderen Männern der Wiſſenſchaft die
Anſicht äußern, daß der katholiſche Aberglaube nicht ſchlimmer
ſei als die anderen Formen des übernatürlichen Glaubens, und
daß dieſe trügeriſchen „Geſtalten des Glaubens“ alle in gleichem
Maße die natürlichen Feinde der Vernunft und Wiſſenſchaft
ſeien. Im allgemeinen theoretiſchen Princip iſt dieſe Behauptung
richtig, aber in Bezug auf die praktiſchen Folgen irrthümlich;
denn die zielbewußten und rückſichtsloſen Angriffe der ultra-
montanen Kirche auf die Wiſſenſchaft, geſtützt auf die Trägheit
und Dummheit der Volksmaſſen, ſind vermöge ihrer mächtigen
[360]Quellen des Chriſtenthums. XVII.
Organiſation ungleich ſchwerer und gefährlicher, als diejenigen
aller anderen Religionen.
Entwickelung des Chriſtenthums. Um die ungeheure
Bedeutung des Chriſtenthums für die ganze Kulturgeſchichte,
beſonders aber ſeinen principiellen Gegenſatz gegen Vernunft
und Wiſſenſchaft richtig zu würdigen, müſſen wir einen flüchtigen
Blick auf die wichtigſten Abſchnitte ſeiner geſchichtlichen Ent-
wickelung werfen. Wir unterſcheiden in derſelben vier Haupt-
perioden: I. das Urchriſtenthum (die drei erſten Jahr-
hunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom
vierten bis fünfzehnten), III. die Reformation (drei Jahr-
hunderte, vom ſechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne
Scheinchriſtenthum (im neunzehnten Jahrhundert).
I.Das Urchriſtenthum umfaßt die erſten drei Jahr-
hunderte. Chriſtus ſelbſt, der edle, ganz von Menſchenliebe er-
füllte Prophet und Schwärmer, ſtand tief unter dem Niveau
der klaſſiſchen Kulturbildung; er kannte nur jüdiſche Tradition; er
hat ſelbſt keine einzige Zeile hinterlaſſen. Auch hatte er von dem
hohen Zuſtande der Welterkenntniß, zu dem griechiſche Philoſophie
und Naturforſchung ſchon ein halbes Jahrtauſend früher ſich
erhoben hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und
von ſeiner urſprünglichen Lehre wiſſen, ſchöpfen wir aus den
wichtigſten Schriften des Neuen Teſtamentes, erſtens aus den
vier Evangelien und zweitens aus den pauliniſchen Briefen.
Von den vier kanoniſchen Evangelien wiſſen wir jetzt,
daß ſie im Jahre 327 auf dem Koncil zu Ricäa durch 318 ver-
ſammelte Biſchöfe aus einem Haufen von widerſprechenden und
gefälſchten Handſchriften der drei erſten Jahrhunderte ausgeſucht
wurden. Auf die weitere Wahlliſte kamen vierzig, auf die
engere vier Evangelien. Da ſich die ſtreitenden, boshaft ſich
ſchmähenden Biſchöfe über die Auswahl nicht einigen konnten,
beſchloß man (nach dem Synodikon des Pappus) die Aus-
[361]XVII. Urſprung der Evangelien.
wahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu laſſen; man
legte alle Bücher zuſammen unter den Altar und betete, daß die
unechten, menſchlichen Urſprungs, darunter liegen bleiben
möchten, die echten, von Gott ſelbſt eingegebenen dagegen auf
den Tiſch des Herrn hinauf hüpfen möchten. Und das geſchah
wirklich! Die drei ſynoptiſchen Evangelien (Matthäus, Markus,
Lukas — alle drei nicht von ihnen, ſondern nach ihnen nieder-
geſchrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts —) und das
ganz verſchiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes,
in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle vier
hüpften auf den Tiſch und wurden nunmehr zu echten (tauſend-
fach ſich widerſprechenden!) Grundlagen der chriſtlichen Glaubens-
lehre. (Vergl. Saladin). Sollte ein moderner „Ungläubiger“ dieſes
„Bücherhüpfen“ unglaubwürdig finden, ſo erinnern wir ihn
daran, daß das ebenſo glaubhafte „Tiſchrücken“ und „Geiſter-
klopfen“ noch heute von Millionen „gebildeter“ Spiritiſten
feſt geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger
Chriſten ſind noch heute ebenſo feſt von ihrer eigenen Un-
ſterblichkeit, ihrer „Auferſtehung nach dem Tode“ und von der
„Dreieinigkeit Gottes“ überzeugt — Dogmen, welche der reinen
Vernunft nicht mehr und nicht weniger widerſprechen als jenes
wunderbare Springen der Evangelien-Handſchriften.12
Nächſt den Evangelien ſind bekanntlich die wichtigſten
Quellen die 14 verſchiedenen (größtentheils gefälſchten!) Epiſteln
des Apoſtels Paulus. Die echten pauliniſchen Briefe (der
neueren Kritik zufolge nur drei: an die Römer, Galater und
Korinther) ſind ſämmtlich früher niedergeſchrieben als die vier
kanoniſchen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche
Wunderſagen als die letzteren; auch ſuchen ſie mehr als dieſe
ſich mit einer vernünftigen Weltanſchauung zu vereinigen. Die
aufgeklärte Theologie der Neuzeit konſtruirt daher theilweiſe ihr
ideales Chriſtenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe
[362]Chriſtenthum und Paulinismus. XVII.
als der Evangelien, ſo daß man dasſelbe geradezu als Pauli-
nismus bezeichnet hat. Die bedeutende Perſönlichkeit des
Apoſtels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und
praktiſchen Sinn beſaß als Chriſtus, iſt für die anthro-
pologiſche Beurtheilung auch inſofern intereſſant, als der
Raſſen-Urſprung der beiden großen Religions-Stifter ſehr
ähnlich iſt.14 Auch von den beiden Eltern des Paulus war
(neueren hiſtoriſchen Forſchungen zufolge) der Vater griechiſcher,
die Mutter jüdiſcher Raſſe. Die Miſchlinge dieſer beiden
Raſſen, die urſprünglich ja ſehr verſchieden ſind (obgleich beide
Zweige derſelben Species: Homo mediterraneuſ!), zeichnen
ſich oft durch eine glückliche Miſchung der Talente und Charakter-
Eigenſchaften aus, wie auch viele Beiſpiele aus neuerer Zeit
und aus der Gegenwart beweiſen. Die plaſtiſche orientaliſche
Phantaſie der Semiten und die kritiſche occidentaliſche Ver-
nunft der Arier ergänzen ſich oft in vortheilhafter Weiſe. Das
zeigt ſich auch in der pauliniſchen Lehre, die bald größeren
Einfluß gewann als die älteſte urchriſtliche Anſchauung. Man
hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue
Erſcheinung bezeichnet, deren Vater die griechiſche Philoſophie,
deren Mutter die jüdiſche Religion war; eine ähnliche Miſchung
zeigte der Neuplatonismus.
Ueber die urſprünglichen Lehren und Ziele von Chriſtus
— ebenſo wie über viele wichtigen Seiten ſeines Lebens — ſind
die Anſichten der ſtreitenden Theologen um ſo mehr aus einander
gegangen, je mehr die hiſtoriſche Kritik (Strauß, Feuerbach,
Baur, Renan u. ſ. w.) die zugänglichen Thatſachen in ihr wahres
Licht geſtellt und unbefangene Schlüſſe daraus gezogen hat.
Sicher bleibt davon ſtehen das edelſte Princip der allgemeinen
Menſchenliebe und der daraus folgende höchſte Grundſatz der
Sittenlehre: die „goldene Regel“ — beide übrigens ſchon
Jahrhunderte vor Chriſtus bekannt und geübt (vergl. Kap. 19)!
[363]XVII. Papismus im Mittelalter.
Im Uebrigen waren die Urchriſten der erſten Jahrhunderte zum
größten Theil reine Kommuniſten, zum Theil Social-Demo-
kraten, die nach den heute in Deutſchland herrſchenden Grund-
ſätzen mit Feuer und Schwert hätten vertilgt werden müſſen.
II.Der Papismus. Das „lateiniſche Chriſten-
thum“ oder Papſtthum, die „römiſch-katholiſche Kirche“,
oft auch als Ultramontanismus, nach ihrer Reſidenz
Vatikanismus oder kurz als Papismus bezeichnet, iſt
unter allen Erſcheinungen der menſchlichen Kulturgeſchichte eine
der großartigſten und merkwürdigſten, eine „welthiſtoriſche Größe“
erſten Ranges; trotz aller Stürme der Zeit erfreut ſie ſich noch
heute des mächtigſten Einfluſſes. Von den 410 Millionen
Chriſten, welche die Erde gegenwärtig bewohnen, bekennt die
größere Hälfte, nämlich 225 Millionen, den römiſchen, nur
75 Millionen den griechiſchen Katholicismus, und 110 Millionen
ſind Proteſtanten. Während eines Zeitraumes von 1200 Jahren,
vom vierten bis zum ſechzehnten Jahrhundert, hat der Papismus
das geiſtige Leben Europa's faſt vollkommen beherrſcht und ver-
giftet; dagegen hat er den großen alten Religions-Syſtemen in
Aſien und Afrika nur ſehr wenig Boden abgewonnen. In Aſien
zählt der Buddhismus heute noch 503 Millionen, die
Brahma-Religion 138 Millionen, der Islam 120 Millionen
Anhänger. Die Weltherrſchaft des Papismus prägt vor Allem
dem Mittelalter ſeinen finſteren Charakter auf; ſie bedeutet
den Tod alles freien Geiſteslebens, den Rückgang aller wahren
Wiſſenſchaft, den Verfall aller reinen Sittlichkeit. Von der
glänzenden Blüthe, zu welcher ſich das menſchliche Geiſtesleben
im klaſſiſchen Alterthum erhoben hatte, im erſten Jahrtauſend
vor Chriſtus und in den erſten Jahrhunderten nach demſelben,
ſank dasſelbe unter der Herrſchaft des Papſtthums bald zu einem
Niveau herab, das mit Bezug auf die Erkenntniß der
Wahrheit nur als Barbarei bezeichnet werden kann. Man
[364]Papismus und Geiſteskultur. XVII.
rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des Geiſtes-
lebens darin zu reicher Entfaltung gekommen ſeien, Dichtkunſt
und bildende Kunſt, ſcholaſtiſche Gelehrſamkeit und patriſtiſche
Philoſophie. Aber dieſe Kulturthätigkeit befand ſich im Dienſte
der herrſchenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, ſondern
zur Unterdrückung der freien Geiſtesforſchung verwandt. Die
ausſchließliche Vorbereitung für ein unbekanntes „ewiges Leben
im Jenſeits“, die Verachtung der Natur, die Abwendung von
ihrem Studium, welche im Princip der chriſtlichen Religion
innewohnt, wurde von der römiſchen Hierarchie zur heiligen
Pflicht gemacht. Eine Wandlung zum Beſſeren geſchah erſt im
Beginn des 16. Jahrhunderts durch die Reformation.
Rückſchritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns
viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen Rückſchritte
ſchildern wollten, welche menſchliche Kultur und Geſittung während
zwölf Jahrhunderten unter der geiſtigen Gewaltherrſchaft des
Papismus erlitten. Am prägnanteſten ſind dieſelben wohl durch
einen einzigen Satz des größten und geiſtreichſten Hohen-
zollern-Fürſten illuſtrirt; Friedrich der Große faßte ſein
Urtheil in dem Satze zuſammen, man werde durch das Studium
der Geſchichte zu der Ueberzeugung geführt, daß von Kon-
ſtantin dem Großen bis auf die Zeit der Reformation die
ganze Welt wahnſinnig geweſen ſei. Eine vortreffliche
kurze Schilderung dieſer „Wahnſinns-Periode“ hat (1887)
L. Büchner gegeben, in ſeiner Schrift „Ueber religiöſe und
wiſſenſchaftliche Weltanſchauung“. Wer ſich näher darüber
unterrichten will, den verweiſen wir auf die Geſchichtswerke von
Ranke, Draper, Kolb, Svoboda u. ſ. w. Die wahrheits-
gemäße Darſtellung, welche dieſe und andere unbefangene Hiſto-
riker von den grauenhaften Zuſtänden des chriſtlichen
Mittelalters geben, wird beſtätigt durch alle ehrliche
Quellenforſchung und durch die kulturgeſchichtlichen Denkmäler,
[365]XVII. Papismus und Geſchichtsfälſchung.
welche dieſe traurigſte Periode der menſchlichen Geſchichte
überall hinterlaſſen hat. Gebildete Katholiken, welche ehrlich
die Wahrheit ſuchen, können nicht genug auf das eigene Studium
dieſer Quellen hingewieſen werden. Dies iſt um ſo mehr zu
betonen, als auch gegenwärtig noch die ultramontane Literatur
einen gewaltigen Einfluß beſitzt; das alte Kunſtſtück, durch dreiſte
Umkehrung der Thatſachen und Erfindung von Wundermärchen
das „gläubige Volk“ zu bethören, wird auch heute noch von ihr
mit größtem Erfolge angewendet; wir erinnern nur an Lourdes
und an den „Heiligen Rock“ von Trier (1890!). Wie weit
dieſe Entſtellung der Wahrheit ſelbſt in wiſſenſchaftlichen Werken
geht, davon liefert ein auffälliges Beiſpiel der ultramontane
Profeſſor der Geſchichte Johannes Janſſen in Frankfurt a. M.;
ſeine vielgeleſenen Werke (beſonders die „Geſchichte des deutſchen
Volkes ſeit dem Ausgang des Mittelalters“, in zahlreichen Auf-
lagen erſchienen) leiſten das Unglaublichſte an dreiſter
Geſchichtsfälſchung*). Die Verlogenheit dieſer jeſuitiſchen
Fälſchungen ſteht auf gleicher Stufe mit der Leichtgläubigkeit
und Kritikloſigkeit des einfältigen deutſchen Volkes, das ſie als
baare Münze annimmt.
Papismus und Wiſſenſchaft.16 Unter den hiſtoriſchen
Thatſachen, welche am einleuchtendſten die Verwerflichkeit der
ultramontanen Geiſtestyrannei beweiſen, intereſſirt uns vor Allem
ihre energiſche und konſequente Bekämpfung der wahren Wiſſen-
ſchaft als ſolcher. Dieſe war zwar ſchon von Anfang an
principiell im Chriſtenthum dadurch beſtimmt, daß dasſelbe den
Glauben über die Vernunft ſtellte und die blinde Unterwerfung
der letzteren unter den erſteren forderte; nicht minder dadurch,
daß es das ganze Erdenleben nur als eine Vorbereitung für das
erdichtete „Jenſeits“ betrachtete, alſo auch der wiſſenſchaftlichen
[366]Papismus und Wiſſenſchaft. XVII.
Forſchung an ſich jeden Werth abſprach. Allein die planmäßige
und erfolgreiche Bekämpfung der letzteren begann doch erſt im
Anfange des vierten Jahrhunderts, beſonders ſeit dem berüchtigten
Koncil von Nicäa (327), welchem Kaiſer Konſtantin prä-
ſidirte, — „der Große“ genannt, weil er das Chriſtenthum
zur Staatsreligion erhob und Konſtantinopel gründete, dabei
ein nichtswürdiger Charakter, ein falſcher Heuchler und viel-
facher Mörder. Wie erfolgreich der Papismus in ſeinem
Kampfe gegen jedes ſelbſtſtändige wiſſenſchaftliche Denken und
Forſchen war, beweiſt am beſten der jammervolle Zuſtand der
Naturerkenntniß und ihrer Litteratur im Mittelalter. Nicht nur
wurden die reichen Geiſtesſchätze, welche das klaſſiſche Alterthum
hinterlaſſen hatte, zum größten Theile vernichtet oder der Ver-
breitung entzogen, ſondern Folterknechte und Scheiterhaufen
ſorgten dafür, daß jeder „Ketzer“, d. h. jeder ſelbſtſtändige Denker,
ſeine vernünftigen Gedanken für ſich behielt. That er das nicht,
ſo mußte er ſich darauf gefaßt machen, lebendig verbrannt zu
werden, wie es dem großen moniſtiſchen Philoſophen Giordano
Bruno, dem Reformator Johann Huß und mehr als
hunderttauſend anderen „Zeugen der Wahrheit“ geſchah. Die
Geſchichte der Wiſſenſchaften im Mittelalter belehrt uns auf
jeder Seite, daß das ſelbſtſtändige Denken und die empiriſche
wiſſenſchaftliche Forſchung unter dem Drucke des allmächtigen
Papismus durch zwölf traurige Jahrhunderte wirklich völlig
begraben blieben.
Papismus und Chriſtenthum. Alles das, was wir am
wahren Chriſtenthum im Sinne ſeines Stifters und ſeiner
edelſten Nachfolger hochſchätzen, und was wir aus dem unaus-
bleiblichen Untergang dieſer „Weltreligion“ in unſere neue,
moniſtiſche Religion hinüber zu retten ſuchen müſſen, liegt auf
ſeiner ethiſchen und ſocialen Seite. Die Principien der
wahren Humanität, der goldenen Regel, der Toleranz, der
[367]XVII. Papismus und Chriſtenthum.
Menſchenliebe im beſten und höchſten Sinne des Wortes, alle
dieſe wahren Lichtſeiten des Chriſtenthums ſind zwar nicht von ihm
zuerſt erfunden und aufgeſtellt, aber doch erfolgreich in jener
kritiſchen Periode zur Geltung gebracht worden, in der das
klaſſiſche Alterthum ſeiner Auflöſung entgegenging. Der
Papismus aber hat es verſtanden, alle jene Tugenden in ihr
direktes Gegentheil zu verkehren und dabei doch die alte
Firma als Aushängeſchild zu bewahren. An die Stelle der
chriſtlichen Liebe trat der fanatiſche Haß gegen alle Anders-
gläubigen; mit Feuer und Schwert wurden nicht allein die
Heiden ausgerottet, ſondern auch jene chriſtlichen Sekten, welche
in beſſerer Erkenntniß Einwendungen gegen die aufgezwungenen
Lehrſätze des ultramontanen Aberglaubens zu erheben wagten.
Ueberall in Europa blühten die Ketzergerichte und forderten un-
zählige Opfer, deren Folterqualen ihren frommen, von „chriſtlicher
Bruderliebe“ erfüllten Peinigern beſonderes Vergnügen bereiteten.
Die Papſtmacht wüthete auf ihrer Höhe durch Jahrhunderte
erbarmungslos gegen Alles, was ihrer Herrſchaft im Wege ſtand.
Unter dem berüchtigten Groß-Inquiſitor Torquemada (1481 bis
1498) wurden allein in Spanien achttauſend Ketzer lebendig
verbrannt, neunzigtauſend mit Einziehung des Vermögens und
den empfindlichſten Kirchenbußen beſtraft, während in den Nieder-
landen unter der Herrſchaft Karl's des Fünften dem klerikalen
Blutdurſt mindeſtens fünfzigtauſend Menſchen zum Opfer fielen.
Und während das Geheul gemarterter Menſchen die Luft er-
füllte, ſtrömten in Rom, dem die ganze chriſtliche Welt tribut-
pflichtig war, die Reichthümer der halben Welt zuſammen, und
wälzten ſich die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und
ihre Helfershelfer (welche ſelbſt nicht ſelten dem weiteſtgehenden
Atheismus huldigten!) in Lüſten und Laſtern jeder Art. „Welche
Vortheile,“ ſagte der frivole und ſyphilitiſche Papſt LeoX.
ironiſch, „hat uns doch dieſe Fabel von Jeſus Chriſtus
[368]Segnungen des Papismus. XVII.
gebracht“! Dabei war der Zuſtand der europäiſchen Geſellſchaft
trotz Kirchenzucht und Gottesfurcht von der allerſchlimmſten
Art. Feudalismus, Leibeigenſchaft, Gottesgnadenthum und
Mönchthum beherrſchten das Land, und die armen Heloten waren
froh, wenn ſie ihre elenden Hütten im Machtbereiche der
Schlöſſer oder Klöſter ihrer geiſtlichen und weltlichen Unter-
drücker und Ausbeuter errichten durften. Heutzutage noch leiden
wir unter den Nachwehen und Ueberbleibſeln dieſer traurigen
Zuſtände und Zeiten, in welchen von Pflege der Wiſſenſchaft
und höherer Geiſtesbildung nur ausnahmsweiſe und im Ver-
borgenen die Rede ſein konnte. Unwiſſenheit, Armuth und
Aberglaube vereinigten ſich mit der entſittlichenden Wirkung
des im elften Jahrhundert eingeführten Cölibats, um die
abſolute Papſtmacht immer ſtärker werden zu laſſen“ (Büchner
a. a. O.). Man hat berechnet, daß während dieſer Glanz-
periode des Papismus über zehn Millionen Menſchen dem fana-
tiſchen Glaubenshaß der „chriſtlichen Liebe“ zum Opfer
fielen; und wie viel mehr Millionen betrugen die geheimen
Menſchenopfer, welche das Cölibat, die Ohrenbeichte und
der Gewiſſenszwang erforderten, die gemeinſchädlichſten und
fluchwürdigſten Inſtitutionen des päpſtlichen Abſolutismus! Die
„ungläubigen“ Philoſophen, welche Beweiſe gegen das Daſein
Gottes ſammelten, haben einen der ſtärkſten Beweiſe dagegen
überſehen, die Thatſache, daß die römiſchen „Statthalter
Chriſti“ zwölf Jahrhunderte hindurch ungeſtraft die greulichſten
Verbrechen und Schandthaten „im Namen Gotteſ“ ver-
üben durften!
III.Die Reformation. Die Geſchichte der Kulturvölker,
welche wir „die Weltgeſchichte“ zu nennen belieben, läßt deren
dritten Hauptabſchnitt, die „Neuzeit“, mit der Reformation der
chriſtlichen Kirche beginnen, ebenſo wie den zweiten, das Mittel-
alter, mit der Gründung des Chriſtenthums, und ſie thut recht
[369]XVII. Reformation und Wiſſenſchaft.
daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wieder-
geburt der gefeſſelten Vernunft, das Wiedererwachen
der Wiſſenſchaft, welche die eiſerne Fauſt des chriſtlichen Papis-
mus durch 1200 Jahre gewaltſam niedergehalten hatte. Aller-
dings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die
Buchdruckerkunſt ſchon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
begonnen, und gegen Ende desſelben traten mehrere große Er-
eigniſſe ein, welche im Verein mit der „Renaiſſance“ der
Kunſt auch diejenige der Wiſſenſchaft vorbereiteten, vor Allem
die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der erſten
Hälfte des ſechzehnten Jahrhunderts mehrere höchſt wichtige
Fortſchritte in der Erkenntniß der Natur gemacht, welche die
beſtehende Weltanſchauung in ihren Grundfeſten erſchütterten;
ſo die erſte Umſchiffung der Erde durch Magellan, welche den
empiriſchen Beweis für ihre Kugelgeſtalt lieferte (1522); die
Gründung des neuen Weltſyſtems durch Kopernikus (1543).
Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther
ſeine 95 Theſen an die hölzerne Thür der Schloßkirche zu
Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeſchichtlicher Tag;
denn damit wurde die eiſerne Thür des Kerkers geſprengt, in
dem der papiſtiſche Abſolutismus durch 1200 Jahre die ge-
feſſelte Vernunft eingeſchloſſen gehalten hatte. Man hat die
Verdienſte des großen Reformators, der auf der Wartburg die
Bibel überſetzte, theils übertrieben, theils unterſchätzt; man hat
auch mit Recht darauf hingewieſen, wie er gleich den anderen
Reformatoren noch vielfach im tiefſten Aberglauben befangen
blieb. So konnte ſich Luther zeitlebens nicht von dem ſtarren
Buchſtabenglauben der Bibel befreien; er vertheidigte eifrig die
Lehren von der Auferſtehung, der Erbſünde und Prädeſtination,
der Rechtfertigung durch den Glauben u. ſ. w. Die gewaltige
Geiſtesthat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in
der Bibel „Joſua die Sonne ſtillſtehen hieß und nicht das
Haeckel, Welträthſel. 24
[370]Reformation und Wiſſenſchaft. XVII.
Erdreich“. Für die großen politiſchen Umwälzungen ſeiner Zeit,
beſonders die großartige und vollberechtigte Bauernbewegung,
hatte er kein Verſtändniß. Schlimmer noch war der fanatiſche
Reformator Calvin in Genf, welcher (1553) den geiſtreichen
ſpaniſchen Arzt Serveto lebendig verbrennen ließ, weil er den
unſinnigen Glauben an die Dreieinigkeit bekämpfte. Ueberhaupt
traten die fanatiſchen „Rechtgläubigen“ der reformirten Kirche
leider nur zu oft in die blutbefleckten Fußſtapfen ihrer papiſtiſchen
Todfeinde, wie ſie es auch heute noch thun. Leider folgten auch
ungeheure Greuelthaten der Reformation auf dem Fuße: die
Bartholomäus-Nacht und die Hugenotten-Verfolgung in Frank-
reich, blutige Ketzer-Jagden in Italien, lange Bürgerkriege in
England, der Dreißigjährige Krieg in Deutſchland. Aber trotz
alledem bleibt dem ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert
der Ruhm, dem denkenden Menſchengeiſte zuerſt wieder freie
Bahn geſchaffen und die Vernunft von dem erſtickenden Drucke
der papiſtiſchen Herrſchaft befreit zu haben. Erſt dadurch wurde
die mächtige Entfaltung verſchiedener Richtungen der kritiſchen
Philoſophie und neuer Bahnen der Naturforſchung möglich,
welche dann dem folgenden achtzehnten Jahrhundert den Ehren-
titel des „Jahrhunderts der Aufklärung“ erwarb.
IV.Das Scheinchriſtenthum des neunzehnten Jahr-
hunderts. Als vierten und letzten Hauptabſchnitt in der Ge-
ſchichte des Chriſtenthums ſtellen wir unſer 19. Jahrhundert
ſeinen Vorgängern gegenüber. Wenn in dieſen letzteren bereits
die „Aufklärung“ nach allen Richtungen hin die kritiſche
Philoſophie gefördert und wenn das Aufblühen der Natur-
wiſſenſchaften derſelben die ſtärkſten empiriſchen Waffen in die
Hände gegeben hatte, ſo erſcheint uns doch der Fortſchritt nach
beiden Richtungen hin in unſerem 19. Jahrhundert ganz ge-
waltig; es beginnt damit wiederum eine ganz neue Periode in
der Geſchichte des Menſchengeiſtes, charakteriſirt durch die Ent-
[371]XVII. Das moderne Scheinchriſtenthum.
wickelung der moniſtiſchen Naturphiloſophie. Schon
im Beginne desſelben wurde der Grund zu einer neuen Anthro-
pologie gelegt (durch die vergleichende Anatomie von Cuvier)
und zu einer neuen Biologie (durch die Philoſophie zoolo-
gique von Lamarck). Bald folgten dieſen beiden großen
Franzoſen zwei ebenbürtige Deutſche, Baer als Begründer der
Entwickelungsgeſchichte (1828) und Johannes Müller (1834)
als der der vergleichenden Morphologie und Phyſiologie. Ein Schüler
des Letzteren, Theodor Schwann, ſchuf 1838, im Verein mit
M. Schleiden, die grundlegende Zellentheorie. Schon vorher
hatte Lyell (1830) die Entwickelungsgeſchichte der Erde auf
natürliche Urſachen zurückgeführt und damit auch für unſeren
Planeten die Geltung der mechaniſchen Kosmogenie beſtätigt,
welche Kant bereits 1755 mit kühner Hand entworfen hatte.
Endlich wurde durch Robert Mayer und Helmholtz (1842)
das Energie-Princip feſtgeſtellt und damit die zweite, ergänzende
Hälfte des großen Subſtanz-Geſetzes gegeben, deſſen erſte Hälfte,
die Konſtanz der Materie, ſchon Lavoiſier entdeckt hatte. Allen
dieſen tiefen Einblicken in das innere Weſen der Natur ſetzte
dann vor vierzig Jahren Charles Darwin die Krone auf
durch ſeine neue Entwickelungslehre, das größte naturphiloſophiſche
Ereigniß unſeres Jahrhunderts (1859).
Wie verhält ſich nun zu dieſen gewaltigen, alles Frühere
weit überbietenden Fortſchritten der Naturerkenntniß das moderne
Chriſtenthum? Zunächſt wurde naturgemäß die tiefe Kluft
zwiſchen den beiden Hauptrichtungen desſelben immer größer,
zwiſchen dem konſervativen Papismus und dem progreſſiven
Proteſtantismus. Der ultramontane Klerus (— und im Verein
mit ihm die orthodoxe „Evangeliſche Allianz“ —) mußten natur-
gemäß jenen mächtigen Eroberungen des freien Geiſtes den
heftigſten Widerſtand entgegenſetzen; ſie verharrten unbeirrt auf
ihrem ſtrengen Buchſtabenglauben und verlangten die unbedingte
24 *
[372]Das moderne Scheinchriſtenthum. XVII.
Unterwerfung der Vernunft unter das Dogma. Der liberale
Proteſtantismus hingegen verflüchtigte ſich immer mehr zu
einem moniſtiſchen Pantheismus und ſtrebte nach Verſöhnung
der beiden entgegengeſetzten Principien; er ſuchte die unver-
meidliche Anerkennung der empiriſch bewieſenen Naturgeſetze und
der daraus gefolgerten philoſophiſchen Schlüſſe mit einer ge-
läuterten Religionsform zu verbinden, in der freilich von der
eigentlichen Glaubenslehre faſt nichts mehr übrig blieb. Zwiſchen
beiden Extremen bewegten ſich zahlreiche Kompromiß-Verſuche;
darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreiſe die
Ueberzeugung, daß das dogmatiſche Chriſtenthum überhaupt
jeden Boden verloren habe, und daß man nur ſeinen werth-
vollen ethiſchen Inhalt in die neue, moniſtiſche Religion des
20. Jahrhunderts hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig
die gegebenen äußeren Formen der herrſchenden chriſtlichen
Religion fortbeſtanden, da ſie ſogar trotz der fortgeſchrittenen
politiſchen Entwickelung mit den praktiſchen Bedürfniſſen des
Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte ſich jene weit-
verbreitete religiöſe Weltanſchauung der gebildeten Kreiſe, die
wir nur als Scheinchriſtenthum bezeichnen können — im
Grunde eine „religiöſe Lüge“ bedenklichſter Art. Die großen
Gefahren, welche dieſer tiefe Konflikt zwiſchen der wahren Ueber-
zeugung und dem falſchen Bekenntniß der modernen Schein-
chriſten mit ſich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau ge-
ſchildert in ſeinem intereſſanten Werke: „Die Konventionellen
Lügen der Kulturmenſchheit“ (1883; XII. Auflage 1886).
Inmitten dieſer offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herr-
ſchenden Scheinchriſtenthums iſt es für den Fortſchritt der
vernunftgemäßen Naturerkenntniß ſehr werthvoll, daß deſſen
mächtigſter und entſchiedenſter Gegner, der Papismus, um
die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske angeblicher
höherer Geiſtesbildung abgeworfen und der ſelbſtändigen
[373]XVII. Unfehlbarkeit des Papſtes.
Wiſſenſchaft als ſolcher den entſcheidenden „Kampf auf Tod
und Leben“ angekündigt hat. Es geſchah dies in drei bedeutungs-
vollen Kriegserklärungen gegen die Vernunft, für deren Un-
zweideutigkeit und Entſchiedenheit die moderne Wiſſenſchaft und
Kultur dem römiſchen „Statthalter Chriſti“ nur dankbar ſein
kann: I. Im Dezember 1854 verkündete der Papſt das Dogma
von der unbefleckten Empfängniß Mariä. II. Zehn
Jahre ſpäter, im Dezember 1864, ſprach der „heilige Vater“ in
der berüchtigten Encyklika das abſolute Verdammungs-
Urtheil über die ganze moderne Civiliſation und
Geiſtesbildung aus; in dem begleitenden Syllabus gab
er eine Aufzählung und Verfluchung aller einzelnen Vernunft-
ſätze und philoſophiſchen Principien, welche von unſerer
modernen Wiſſenſchaft als ſonnenklare Wahrheit anerkannt
ſind. 16III. Endlich ſetzte ſechs Jahre ſpäter, am 13. Juli 1870,
der ſtreitbare Kirchenfürſt im Vatikan ſeinem Aberwitz die Krone
auf, indem er für ſich und alle ſeine Vorgänger in der Papſt-
würde die Unfehlbarkeit in Anſpruch nahm. Dieſer Triumph
der römiſchen Kurie wurde der erſtaunten Welt fünf Tage
ſpäter verkündet, am 18. Juli 1870, an demſelben denkwürdigen
Tage, an welchem Frankreich den Krieg an Preußen erklärte!
Zwei Monate ſpäter wurde die weltliche Herrſchaft des Papſtes
in Folge dieſes Krieges aufgehoben.
Unfehlbarkeit des Papſtes. Dieſe drei wichtigſten Akte
des Papismus im 19. Jahrhundert waren ſo offenkundige Fauſt-
ſchläge in das Antlitz der Vernunft, daß ſie ſelbſt innerhalb der
orthodoxen katholiſchen Kreiſe von Anfang an das höchſte Be-
denken erregten. Als man im vatikaniſchen Koncil am 13. Juli
1870 zur Abſtimmung über das Dogma von der Unfehlbar-
keit ſchritt, erklärten ſich nur drei Viertel der Kirchenfürſten zu
Gunſten desſelben, nämlich 451 von 601 Abſtimmenden; dazu
fehlten noch zahlreiche andere Biſchöfe, welche ſich der gefährlichen
[374]Unfehlbarkeit des Papſtes. XVII.
Abſtimmung enthalten wollten. Indeſſen zeigte ſich bald, daß
der kluge und menſchenkundige Papſt richtiger gerechnet hatte
als die zaghaften „beſonnenen Katholiken“; denn in den leicht-
gläubigen und ungebildeten Maſſen fand auch dieſes unge-
heuerliche Dogma blinde Annahme.
Die ganze Geſchichte des Papſtthums, wie ſie durch
Tauſende von zuverläſſigen Quellen und von handgreiflichen
hiſtoriſchen Dokumenten unwiderleglich feſtgenagelt iſt, erſcheint
für den unbefangenen Kenner als ein gewiſſenloſes Gewebe von
Lug und Trug, als ein rückſichtsloſes Streben nach abſoluter
geiſtlicher Herrſchaft und weltlicher Macht, als eine frivole
Verleugnung aller der hohen ſittlichen Gebote, welche das wahre
Chriſtenthum predigt: Menſchenliebe und Duldung, Wahrheit
und Keuſchheit, Armuth und Entſagung. Wenn man die lange
Reihe der Päpſte und der römiſchen Kirchenfürſten, aus denen
ſie gewählt wurden, nach dem Maßſtabe der reinen chriſtlichen
Moral muſtert, ergiebt ſich klar, daß die große Mehrzahl derſelben
ſchamloſe Gaukler und Betrüger waren, viele von ihnen nichts-
würdige Verbrecher. Dieſe allbekannten hiſtoriſchen That-
ſachen hindern aber nicht, daß noch heute Millionen von
„gebildeten“ gläubigen Katholiken an die „Unfehlbarkeit“ dieſes
„heiligen Vaters“ glauben, die er ſich ſelbſt zugeſprochen hat;
ſie hindern nicht, daß noch heute proteſtantiſche Fürſten nach
Rom fahren und dem „heiligen Vater“ (ihrem gefährlichſten
Feinde!) ihre Verehrung bezeugen; ſie hindern nicht, daß noch
heute im Deutſchen Reichstage die Knechte und Helfershelfer
dieſes „heiligen Gauklers“ die Geſchicke des Deutſchen Volkes
beſtimmen — dank ſeiner unglaublichen politiſchen Unfähigkeit
und kritikloſen Gläubigkeit!
Encyklika und Syllabus. Unter den angeführten drei
großen Gewaltthaten, durch welche der moderne Papismus in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ſeine abſolute Herr-
[375]XVII. Encyklika und Syllabus.
ſchaft zu retten und zu befeſtigen ſuchte, iſt für uns am
intereſſanteſten die Verkündigung der Encyklika und des
Syllabus im Dezember 1864; denn in dieſen denkwürdigen
Aktenſtücken wird der Vernunft und Wiſſenſchaft überhaupt jede
ſelbſtändige Thätigkeit abgeſprochen und ihre abſolute Unter-
werfung unter den „alleinſeligmachenden Glauben“, d. h. unter
die Dekrete des „unfehlbaren Papſtes“, gefordert. Die unge-
heure Erregung, welche dieſe maßloſe Frechheit in allen ge-
bildeten und unabhängig denkenden Kreiſen hervorrief, entſprach
dem ungeheuerlichen Inhalte der Encyklika; eine vortreffliche
Erörterung ihrer kulturellen und politiſchen Bedeutung hat u. A.
Draper in ſeiner Geſchichte der Konflikte zwiſchen Religion
und Wiſſenſchaft gegeben (1875). 16
Unbefleckte Empfängniß der Jungfrau Maria. Weniger
einſchneidend und bedeutungsvoll als die Encyklika und als das
Dogma der Infallibilität des Papſtes erſcheint vielleicht das
Dogma von der unbefleckten Empfängniß. Indeſſen legt nicht
nur die römiſche Hierarchie auf dieſen Glaubensſatz das höchſte
Gewicht, ſondern auch ein Theil der orthodoxen Proteſtanten (z. B.
die Evangeliſche Allianz). Der ſogenannte „Immakulat-Eid“,
d. h. die eidliche Verſicherung des Glaubens an die unbefleckte
Empfängniß Mariä, gilt noch heute Millionen von Chriſten als
heilige Pflicht. Viele Gläubige verbinden damit einen doppelten
Begriff; ſie behaupten, daß die Mutter der Jungfrau Maria
ebenſo durch den „Heiligen Geiſt“ befruchtet worden ſei wie
dieſe ſelbſt. Demnach würde dieſer ſeltſame Gott ſowohl zur
Mutter als zur Tochter in den intimſten Beziehungen geſtanden
haben; er müßte mithin ſein eigener Schwiegervater ſein (Saladin).
Die vergleichende und kritiſche Theologie hat neuerdings nach-
gewieſen, daß auch dieſer Mythus, gleich den meiſten anderen
Legenden der chriſtlichen Mythologie, keineswegs originell, ſondern
aus älteren Religionen, beſonders dem Buddhismus, über-
[376]Empfängniß der Jungfrau Maria. XVII.
nommen iſt. 13 Aehnliche Sagen hatten ſchon mehrere Jahr-
hunderte vor Chriſti Geburt eine weite Verbreitung in Indien,
Perſien, Klein-Aſien und Griechenland. Wenn Königstöchter
oder andere Jungfrauen aus höheren Ständen, ohne legitim
verheirathet zu ſein, durch die Geburt eines Kindes erfreut
wurden, ſo wurde als der Vater dieſes illegitimen Sprößlings
meiſtens ein „Gott“ oder „Halbgott“ ausgegeben, in dieſem
Falle der myſteriöſe „Heilige Geiſt“.
Die beſonderen Gaben des Geiſtes und Körpers, durch welche
ſolche „Kinder der Liebe“ oft vor gewöhnlichen Menſchenkindern
ſich auszeichneten, wurden damit zugleich theilweiſe durch Ver-
erbung erklärt. Solche hervorragende „Götterſöhne“ ſtanden
ſowohl im Alterthum als im Mittelalter in hohem Anſehen,
während der Moral-Kodex der modernen Civiliſation ihnen den
Mangel der „legitimen“ Eltern als Makel anrechnet. In noch
höherem Maße gilt dies von den „Göttertöchtern“, obwohl
dieſe armen Mädchen an dem fehlenden Titel ihres Vaters
ebenſo unſchuldig ſind. Uebrigens weiß Jeder, der ſich an der
ſchönheitsvollen Mythologie des klaſſiſchen Alterthums erfreut
hat, wie gerade die angeblichen Söhne und Töchter der griechiſchen
und römiſchen „Götter“ ſich oft den höchſten Idealen des
reinen Menſchen-Typus am meiſten genähert haben; man denke
nur an die große legitime und die noch viel größere illegitime
Familie des Göttervaters Zeus u. ſ. w. (Vergl. Shakeſpeare.)
Was nun ſpeciell die Befruchtung der Jungfrau Maria
durch den Heiligen Geiſt betrifft, ſo werden wir durch das Zeug-
niß der Evangelien ſelbſt darüber aufgeklärt. Die beiden Evan-
geliſten, welche allein darüber Bericht erſtatten, Matthäus
und Lukas, erzählen übereinſtimmend, daß die jüdiſche Jung-
frau Maria mit dem Zimmermann Joſeph verlobt war, aber
ohne deſſen Mitwirkung ſchwanger wurde, und zwar durch den
„Heiligen Geiſt“. Matthäus ſagt ausdrücklich (Kap. 1, Vers 19):
[377]XVII. Verkündigung der Jungfrau Maria.
„Joſeph aber, ihr Mann, war fromm und wollte ſie nicht in
Schande bringen, gedachte aber ſie heimlich zu verlaſſen“; er
wurde erſt beſchwichtigt, als ihm der „Engel des Herrn“ mit-
theilte: „Was in ihr geboren iſt, das iſt von dem heiligen Geiſt.“
Ausführlicher erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die „Ver-
kündigung Mariä“ durch den Erzengel Gabriel mit den Worten:
„Der heilige Geiſt wird über dich kommen, und die Kraft des
höchſten wird dich überſchatten“ — worauf Maria antwortet:
„Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geſchehe, wie du geſagt
haſt.“ Bekanntlich iſt dieſer Beſuch des Engels Gabriel und
ſeine Verkündigung von vielen berühmten Malern zum Vorwurf
intereſſanter Gemälde gewählt worden. Svoboda ſagt dar-
über: „Der Erzengel ſpricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche
die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt ſich
auch in dieſem Falle die Veredelung eines proſaiſchen Bibel-
ſtoffes durch die bildende Kunſt. Allerdings gab es auch Maler,
welche für die embryologiſchen Betrachtungen des Erzengels
Gabriel in ihren Darſtellungen volles Verſtändniß bekundeten.“
Wie ſchon vorher angeführt wurde, ſind die vier kanoniſchen
Evangelien, welche von der chriſtlichen Kirche allein als die
echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hoch-
gehalten werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel größeren
Zahl von Evangelien, deren thatſächliche Angaben ſich oft unter
ſich nicht weniger widerſprechen als die Sagen der erſteren.
Die Kirchenväter ſelbſt zählen nicht weniger als 40-50 ſolcher
unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige davon ſind
ſowohl in griechiſcher als in lateiniſcher Sprache vorhanden, ſo
z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A.
Die Angaben, welche dieſe aprokryphen Evangelien über das
Leben Jeſu machen, beſonders über ſeine Geburt und Kindheit,
können ebenſo gut (oder vielmehr größtentheils ebenſo wenig!)
Anſpruch auf hiſtoriſche Glaubwürdigkeit erheben als die vier
[378]Der wahre Vater Chriſti. XVII.
kanoniſchen, die ſogenannten „echten“ Evangelien. Nun findet
ſich aber in einem jener apokryphen Evangelien eine hiſtoriſche
Angabe, die auch durch den „Sepher Toldoth Jeſchua“
beſtätigt wird, und die wahrſcheinlich das „Welträthſel“ von
der übernatürlichen Empfängniß und Geburt Chriſti ganz einfach
und natürlich löſt. Jener Geſchichtſchreiber erzählt mit trockenen
Worten in einem Satze die merkwürdige Novelle, welche dieſe
Löſung enthält: „Joſephus Pandera, der römiſche Haupt-
mann einer kalabreſiſchen Legion, welche in Judäa ſtand, ver-
führte Mirjam von Bethlehem, ein hebräiſches Mädchen, und
wurde der Vater von Jeſus.“ Auch andere Angaben
desſelben über Mirjam (hebräiſcher Name für Maria) lauten
für die „reine Himmelskönigin“ recht bedenklich!
Natürlich werden dieſe hiſtoriſchen Angaben von den offi-
ciellen Theologen ſorgfältig verſchwiegen, da ſie ſchlecht zu dem
traditionellen Mythus paſſen und den Schleier von deſſen Ge-
heimniß in ſehr einfacher und natürlicher Weiſe lüften. Um ſo
mehr iſt es gutes Recht der objektiven Wahrheitsforſchung
und heilige Pflicht der reinen Vernunft, dieſe wichtigen
Angaben kritiſch zu prüfen. Da ergiebt ſich denn, daß dieſelben
ſicher weit mehr Anrecht auf Glaubwürdigkeit haben als alle
anderen Behauptungen über den Urſprung Chriſti. Da wir die
übernatürliche Erzeugung durch „Ueberſchattung des Höchſten“
aus den bekannten wiſſenſchaftlichen Principien überhaupt als
reinen Mythus ablehnen müſſen, bleibt nur noch die weit-
verbreitete Behauptung der modernen „rationellen Theologie“
übrig, daß der jüdiſche Zimmermann Joſeph der wahre Vater
von Chriſtus geweſen ſei. Dieſe Annahme wird aber durch ver-
ſchiedene Sätze des Evangeliums ausdrücklich widerlegt; Chriſtus
ſelbſt war überzeugt, „Gottes Sohn“ zu ſein, und hat nie-
mals ſeinen Stiefvater Joſeph als ſeinen Erzeuger anerkannt.
Joſeph aber wollte ſeine Braut Maria verlaſſen, als er entdeckte,
[379]XVII. Uneheliche Geburt Chriſti.
daß ſie ohne ſein Zuthun ſchwanger geworden war. Er gab
dieſe Abſicht erſt auf, nachdem ihm im Traum ein „Engel des
Herrn“ erſchienen war und ihn beſchwichtigt hatte. Wie im
erſten Kapitel des Evangeliums Matthäi (Vers 24, 25) aus-
drücklich hervorgehoben wird, fand die ſexuelle Verbindung von
Joſeph und Maria zum erſten Male ſtatt, nachdem Jeſus
geboren war. 14
Die Angabe der apokryphen Evangelien, daß der römiſche
Hauptmann Pandera der wahre Vater von Chriſtus geweſen,
erſcheint um ſo glaubhafter, wenn man von ſtreng anthro-
pologiſchen Geſichtspunkten aus die Perſon Chriſti kritiſch
prüft. Gewöhnlich wird derſelbe als reiner Jude betrachtet.
Allein gerade die Charakter-Züge, die ſeine hohe und edle Per-
ſönlichkeit beſonders auszeichnen und welche ſeiner „Religion
der Liebe“ den Stempel aufdrücken, ſind entſchieden nicht
ſemitiſch; vielmehr erſcheinen ſie als Grundzüge der höheren
ariſchen Raſſe und vor Allem ihres edelſten Zweiges, der
Hellenen. Nun deutet aber der Name von Chriſtus' wahrem
Vater: „Pandera“, unzweifelhaft auf helleniſchen Urſprung;
in einer Handſchrift wird er ſogar „Pandora“ geſchrieben.
Pandora war aber bekanntlich nach der griechiſchen Sage
die erſte, von Vulkan aus Erde gebildete und von den
Göttern mit allen Liebreizen ausgeſtattete Frau, welche Epimetheus
heirathete, und welche der Götter-Vater mit der ſchrecklichen, alle
Uebel enthaltenden „Pandora-Büchſe“ zu den Menſchen ſchickte,
zur Strafe dafür, daß der Lichtbringer Prometheus das
göttliche Feuer (der „Vernunft“!) vom Himmel entwendet hatte.
Intereſſant iſt übrigens die verſchiedene Auffaſſung und
Beurtheilung, welche der Liebesroman der Mirjam von Seiten
der vier großen chriſtlichen Kultur-Nationen Europa's erfahren
hat. Nach den ſtrengeren Moral-Begriffen der germaniſchen
Raſſen wird derſelbe ſchlechtweg verworfen; lieber glaubt der
[380]Uneheliche Geburt Chriſti. XVII.
ehrliche Deutſche und der prüde Brite blind an die unmögliche
Sage von der Erzeugung durch den „Heiligen Geiſt“. Wie
bekannt, entſpricht dieſe ſtrenge, ſorgfältig zur Schau getragene
Prüderie der feineren Geſellſchaft (beſonders in England!) keines-
wegs dem wahren Zuſtande der ſexuellen Sittlichkeit in dem
dortigen „High life“. Die Enthüllungen, z. B., welche darüber
vor einem Dutzend Jahren die „Pall Mall Gazette“ brachte,
erinnerten ſehr an die Zuſtände von Babylon.
Die romaniſchen Raſſen, welche dieſe Prüderie verlachen
und die ſexuellen Verhältniſſe leichtfertiger beurtheilen, finden
jenen „Roman der Maria“ recht anziehend, und der beſondere
Kultus, deſſen gerade in Frankreich und Italien „Unſere liebe
Frau“ ſich erfreut, iſt oft in merkwürdiger Naivetät mit jener
Liebesgeſchichte verknüpft. So findet z. B. Paul de Regla
(Dr.Desjardin), welcher (1894) „Jeſus von Nazareth vom
wiſſenſchaftlichen, geſchichtlichen und geſellſchaftlichen Standpunkt
aus dargeſtellt“ hat, gerade in der unehelichen Geburt
Chriſti ein beſonderes „Anrecht auf den Heiligenſchein,
der ſeine herrliche Geſtalt umſtrahlt“!
Es erſchien mir nothwendig, dieſe wichtigen Fragen der
Chriſtus-Forſchung hier offen im Sinne der objectiven
Geſchichts-Wiſſenſchaft zu beleuchten, weil die ſtreitende
Kirche ſelbſt darauf das größte Gewicht legt, und weil ſie den
darauf gegründeten Wunderglauben als ſtärkſte Waffe gegen die
moderne Weltanſchauung verwendet. Der hohe ethiſche Werth
des urſprünglichen reinen Chriſtenthums, der veredelnde Einfluß
dieſer „Religion der Liebe“ auf die Kulturgeſchichte, iſt unab-
hängig von jenen mythologiſchen Dogmen; die angeblichen
„Offenbarungen“, auf welche ſich dieſe Mythen ſtützen, ſind
unvereinbar mit den ſicherſten Ergebniſſen unſerer modernen
Naturerkenntniß.
[[381]]
Achtzehntes Kapitel.
Unſere moniſtiſche Religion.
Moniſtiſche Studien über die Religion der Vernunft und ihre
Harmonie mit der Wiſſenſchaft. Die drei Kultus-Ideale des
Wahren, Guten und Schönen.
‘„Wer Wiſſenſchaft und Kunſt beſitzt,
Der hat auch Religion!
Wer dieſe beiden nicht beſitzt,
Der habe Religion.“
Goethe.’ ()
‘„Welche Religion ich bekenne? Keine von allen!
Und warum keine? — Aus Religion!“
Schiller.’ ()
‘„Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl
von Jahren ſteht, ſo wird die Univerſal-
Religion geläuterter Spinozismus ſein.
Sich ſelbſt überlaſſene Vernunft führt auf nichts
Anderes hinaus, und es iſt unmöglich, daß ſie auf
etwas Anderes hinausführe.“
Lichtenberg.’ ()
[[382]]
Der Monismus als Band zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft. Der
Kulturkampf. Verhältniſſe von Staat und Kirche. Principien der moniſtiſchen
Religion. Ihre drei Kultus-Ideale: das Wahre, Gute und Schöne. Gegen-
ſatz der natürlichen und chriſtlichen Wahrheit. Harmonie der moniſtiſchen
und chriſtlichen Tugend-Begriffe. Gegenſatz der moniſtiſchen und chriſtlichen
Kunſt. Moderne Erweiterung und Bereicherung des Weltbildes. Landſchafts-
Malerei und moderner Naturgenuß. Schönheiten der Natur. Diesſeits
und Jenſeits. Moniſtiſche Kirchen.
David Strauß, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß. 1872.
Vierzehnte Auflage Bonn 1892.
C. Radenhauſen, Zum neuen Glauben. Einleitung und Ueberſicht zum
„Oſiris“. Hamburg 1877.
Eduard Hartmann, Die Selbſtzerſetzung des Chriſtenthums und die Religion
der Zukunft. Berlin 1874.
John Toland, Pantheiſtikon. Kosmopolis 1720.
Paul Caruſ and E. C. Hegeler, The Open Court, A Monthly
Magazine. Chicago. Voll. I-XIII. 1886-1899.
— The Moniſt. A quarterly Magazine devoted to the philoſophy
of ſcience. Chicago. Voll. I-IX. 1890-1899.
J. C. Moriſon, Menſchheitsdienſt. Verſuch einer Zukunfts-Religion.
Leipzig 1890.
M. J. Savage, Die Religion im Lichte der Darwin'ſchen Lehre. (Deutſch
von R. Schramm.) Leipzig 1886.
Leopold Beſſer, Die Religion der Naturwiſſenſchaft. Bonn 1890.
Benjamin Better, Die moderne Weltanſchauung und der Menſch. Sechs
öffentliche Vorträge. Zweite Auflage. Jena 1896.
Ernſt Haeckel, Der Monismus als Band zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft.
Glaubens-Bekenntniß eines Naturforſchers. 1892. Achte Auflage 1899.
[[383]]
Viele und ſehr angeſehene Naturforſcher und Philoſophen
der Gegenwart, welche unſere moniſtiſchen Ueberzeugungen theilen,
halten die Religion überhaupt für eine abgethane Sache. Sie
meinen, daß die klare Einſicht in die Weltentwickelung, die wir
den gewaltigen Erkenntnißfortſchritten des 19. Jahrhunderts ver-
danken, nicht bloß das Kauſalitäts-Bedürfniß unſerer Vernunft
vollkommen befriedige, ſondern auch die höchſten Gefühls-
Bedürfniſſe unſeres Gemüthes. Dieſe Anſicht iſt in gewiſſem
Sinne richtig, inſofern bei einer vollkommen klaren und folge-
richtigen Auffaſſung des Monismus thatſächlich die beiden Begriffe
von Religion und Wiſſenſchaft zu Einem mit einander ver-
ſchmelzen. Indeſſen nur wenige entſchloſſene Denker ringen ſich
zu dieſer höchſten und reinſten Auffaſſung von Spinoza und
Goethe empor; vielmehr verharren die meiſten Gebildeten
unſerer Zeit (ganz abgeſehen von den ungebildeten Volksmaſſen)
bei der Ueberzeugung, daß die Religion ein ſelbſtändiges, von
der Wiſſenſchaft unabhängiges Gebiet unſeres Geiſteslebens dar-
ſtelle, nicht minder werthvoll und unentbehrlich als die letztere.
Wenn wir dieſen Standpunkt einnehmen, können wir eine
Verſöhnung zwiſchen jenen beiden großen, anſcheinend getrennten
Gebieten in der Auffaſſung finden, welche ich 1892 in meinem
[384]Unſere moniſtiſche Religion. XVIII.
Altenburger Vortrage niedergelegt habe: „Der Monismus als
Band zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft“. In dem Vorwort
zu dieſem „Glaubensbekenntniß eines Naturforſchers“ habe ich
mich über deſſen doppelten Zweck mit folgenden Worten ge-
äußert: „Erſtens möchte ich damit derjenigen vernünftigen
Weltanſchauung Ausdruck geben, welche uns durch die
neueren Fortſchritte der einheitlichen Naturerkenntniß mit logiſcher
Nothwendigkeit aufgedrungen wird; ſie wohnt im Innerſten von
faſt allen unbefangenen und denkenden Naturforſchern, wenn auch
nur Wenige den Muth oder das Bedürfniß haben, ſie offen zu
bekennen. Zweitens möchte ich dadurch ein Band zwiſchen
Religion und Wiſſenſchaft knüpfen und ſomit zur Aus-
gleichung des Gegenſatzes beitragen, welcher zwiſchen dieſen
beiden Gebieten der höchſten menſchlichen Geiſtesthätigkeit un-
nöthiger Weiſe aufrecht erhalten wird; das ethiſche Bedürfniß
unſeres Gemüthes wird durch den Monismus ebenſo be-
friedigt wie das logiſche Kauſalitäts-Bedürfniß unſeres Ver-
ſtandes.“
Die ſtarke Wirkung, welche dieſer Altenburger Vortrag
hatte, beweiſt, daß ich mit dieſem moniſtiſchen Glaubensbekenntniß
nicht nur dasjenige vieler Naturforſcher, ſondern auch zahlreicher
gebildeter Männer und Frauen aus verſchiedenen Berufskreiſen
ausgeſprochen hatte. Nicht nur wurde ich durch Hunderte von
zuſtimmenden Briefen belohnt, ſondern auch durch die weite Ver-
breitung des Vortrags, von welchem innerhalb ſechs Monaten
ſechs Auflagen erſchienen. Ich darf dieſen unerwarteten Erfolg
um ſo höher anſchlagen, als jenes Glaubensbekenntniß ur-
ſprünglich eine freie Gelegenheitsrede war, die unvorbereitet am
9. Oktober 1892 in Altenburg während des Jubiläums der
Naturforſchenden Geſellſchaft des Oſterlandes entſtand. Natürlich
erfolgte auch bald die nothwendige Gegenwirkung nach der
anderen Seite; ich wurde nicht nur von der ultramontanen
[385]XVIII. Wiſſenſchaft und Religion.
Preſſe des Papismus auf das Heftigſte angegriffen, von den
geſchworenen Vertheidigern des Aberglaubens, ſondern auch von
„liberalen“ Kriegsmännern des evangeliſchen Chriſtenthums,
welche ſowohl die wiſſenſchaftliche Wahrheit als auch den auf-
geklärten Glauben zu vertreten behaupten. Nun hat ſich aber
in den ſieben ſeitdem verfloſſenen Jahren der große Kampf
zwiſchen der modernen Naturwiſſenſchaft und dem orthodoxen
Chriſtenthum immer drohender geſtaltet; er iſt für die erſtere um
ſo gefährlicher geworden, je mächtigere Unterſtützung das letztere
durch die wachſende geiſtige und politiſche Reaktion gefunden
hat. Iſt doch die letztere in manchen Ländern ſchon ſo weit
vorgeſchritten, daß die geſetzlich garantirte Denk- und Gewiſſens-
Freiheit praktiſch ſchwer gefährdet wird (ſo z. B. jetzt in Bayern).
In der That hat der große weltgeſchichtliche Geiſteskampf, welchen
John Draper in ſeiner „Geſchichte der Konflikte zwiſchen
Religion und Wiſſenſchaft“ ſo vortrefflich ſchildert, heute eine
Schärfe und Bedeutung erlangt wie nie zuvor; man bezeichnet ihn
deshalb ſeit 27 Jahren mit Recht als „Kulturkampf“.
Der Kulturkampf. Die berühmte Encyklika nebſt
Syllabus, welche der ſtreitbare Papſt Pius IX. 1864 in
alle Welt geſandt hatte, erklärte in der Hauptſache der ganzen
modernen Wiſſenſchaft den Krieg ſie forderte blinde Unterwerfung
der Vernunft unter die Dogmen des „unfehlbaren Statthalters
Chriſti“. Das Ungeheuerliche und Unerhörte dieſes brutalen
Attentates gegen die höchſten Güter der Kultur-Menſchheit
rüttelte ſelbſt viele träge und indolente Gemüther aus ihrem
gewohnten Glaubens-Schlafe. Im Vereine mit der nachfolgenden
Verkündung der päpſtlichen Infallibilität (1870) rief
die Encyklika eine weitgehende Erregung hervor und eine
energiſche Abwehr, welche zu den beſten Hoffnungen berechtigte.
In dem neuen Deutſchen Reiche, welches in den Kämpfen von
1866 und 1871 unter ſchweren Opfern ſeine unentbehrliche
Haeckel, Welträthſel. 25
[386]Der deutſche Kulturkampf. XVIII.
nationale Einheit errungen hatte, wurden die frechen Attentate
des Papismus beſonders ſchwer empfunden; denn einerſeits iſt
Deutſchland die Geburtsſtätte der Reformation und der modernen
Geiſtesbefreiung, andererſeits aber beſitzt es leider in ſeinen
18 Millionen Katholiken ein mächtiges Heer von ſtreitbaren
Gläubigen, welches an blindem Gehorſam gegen die Befehle
ſeines Oberhirten von keinem anderen Kultur-Volke übertroffen
wird *). Die hieraus entſpringenden Gefahren erkannte mit
klarem Blick der gewaltige Staatsmann, der das „politiſche
Welträthſel“ der deutſchen National-Zerriſſenheit gelöſt und uns
durch bewunderungswürdige Staatskunſt zu dem erſehnten Ziele
nationaler Einheit und Macht geführt hatte. Fürſt Bismarck
begann 1872 jenen denkwürdigen, vom Vatikan aufgedrungenen
Kulturkampf, der von dem ausgezeichneten Kultusminiſter
Falk durch die „Maigeſetzgebung“ (1873) ebenſo klug als
energiſch geführt wurde. Leider mußte derſelbe ſchon ſechs Jahre
ſpäter aufgegeben werden. Obwohl unſer größter Staatsmann ein
ausgezeichneter Menſchenkenner und kluger Realpolitiker war,
hatte er doch die Macht von drei gewaltigen Hinderniſſen unter-
ſchätzt: erſtens die unübertroffene Schlauheit und gewiſſenloſe
Perfidie der römiſchen Kurie, zweitens die entſprechende
Gedankenloſigkeit und Leichtgläubigkeit der ungebildeten katho-
liſchen Maſſen, auf welche ſich die erſtere ſtützte, und drittens
die Macht der Trägheit, des Fortbeſtehens des Unvernünftigen,
bloß weil es da iſt. So mußte denn ſchon 1878, nachdem der
klügere Papſt Leo XIII. ſeine Regierung angetreten hatte, der
ſchwere „Gang nach Canoſſa“ wiederholt werden. Die neu ge-
ſtärkte Macht des Vatikans nahm ſeitdem wieder mächtig zu,
einerſeits durch die gewiſſenloſen Ränke und Schlangen-Windungen
[387]XVIII. Der deutſche Kulturkampf.
ſeiner aalglatten Jeſuiten-Politik, andererſeits durch die falſche
Kirchenpolitik der deutſchen Reichsregierung und die merkwürdige
politiſche Unfähigkeit des deutſchen Volkes. So müſſen wir
denn jetzt am Schluſſe des 19. Jahrhunderts das beſchämende
Schauſpiel erleben, daß das ſogenannte „Centrum im Deutſchen
Reichstage Trumpf“ iſt, und daß die Geſchicke unſeres ge-
demüthigten Vaterlandes von einer papiſtiſchen Partei geleitet
werden, deren Kopfzahl noch nicht den dritten Theil der ganzen
Bevölkerung beträgt.
Als der deutſche Kulturkampf 1872 begann, wurde er mit
vollem Rechte von allen frei denkenden Männern als eine
politiſche Erneuerung der Reformation begrüßt, als ein energiſcher
Verſuch, die moderne Kultur von dem Joche der papiſtiſchen
Geiſtes-Tyrannei zu befreien; die geſammte liberale Preſſe feierte
Fürſt Bismarck als „politiſchen Luther“, als den gewaltigen
Helden, der nicht nur die nationale Einigung, ſondern auch die
geiſtige Befreiung Deutſchlands erringe. Zehn Jahre ſpäter,
nachdem der Papismus geſiegt hatte, behauptete dieſelbe „liberale
Preſſe“ das Gegentheil und erklärte den Kulturkampf für einen
großen Fehler; und dasſelbe thut ſie noch heute. Dieſe That-
ſache beweiſt nur, wie kurz das Gedächtniß unſerer Zeitungs-
ſchreiber, wie mangelhaft ihre Kenntniß der Geſchichte und wie
unvollkommen ihre philoſophiſche Bildung iſt. Der ſogenannte
„Friedensſchluß zwiſchen Staat und Kirche“ iſt immer nur ein
Waffenſtillſtand. Der moderne Papismus, getreu den ab-
ſolutiſtiſchen, ſeit 1600 Jahren befolgten Principien, will und muß
die Alleinherrſchaft über die leichtgläubigen Seelen be-
haupten; er muß die abſolute Unterwerfung des Kulturſtaates
fordern, der als ſolcher die Rechte der Vernunft und Wiſſen-
ſchaft vertritt. Wirklicher Friede kann erſt eintreten, wenn einer
der beiden ringenden Kämpfer bewältigt am Boden liegt. Ent-
weder ſiegt die „alleinſeligmachende Kirche“, und dann hört
25*
[388]Religion der Vernunft. XVIII.
„freie Wiſſenſchaft und freie Lehre“ überhaupt auf; dann werden
ſich unſere Univerſitäten in Konvikte, unſere Gymnaſien in
Kloſterſchulen verwandeln. Oder es ſiegt der moderne Vernunft-
Staat, und dann wird ſich im 20. Jahrhundert die menſchliche
Bildung, Freiheit und Wohlſtand in noch weit höherem Maaße
fortſchreitend entwickeln, als es im 19. erfreulicher Weiſe der Fall
geweſen iſt. (Vergl. oben S. 355, 356, Eduard Hartmann).
Gerade zur Förderung dieſer hohen Ziele erſcheint es höchſt
wichtig, daß die moderne Naturwiſſenſchaft nicht bloß die Wahn-
gebäude des Aberglaubens zertrümmert und deren wüſten Schutt
aus dem Wege räumt, ſondern daß ſie auch auf dem frei ge-
wordenen Bauplatze ein neues wohnliches Gebäude für das
menſchliche Gemüth herrichtet; einen Palaſt der Vernunft,
in welchem wir mittels unſerer neu gewonnenen moniſtiſchen
Weltanſchauung die wahre „Dreieinigkeit“ des 19. Jahr-
hunderts andächtig verehren, die Trinität des Wahren,
Guten und Schönen. Um den Kultus dieſer göttlichen
Ideale greifbar zu geſtalten, erſcheint es vor Allem nothwendig,
uns mit den herrſchenden Religionsformen des Chriſtenthums
aus einander zu ſetzen und die Veränderungen in's Auge zu
faſſen, welche bei der Erſetzung der letzteren durch die erſtere zu
erſtreben ſind. Denn die chriſtliche Religion beſitzt (in ihrer
urſprünglichen, reinen Form!) trotz aller Irrthümer und
Mängel einen ſo hohen ſittlichen Werth, ſie iſt vor Allem ſeit
anderthalb Jahrtauſenden ſo eng mit den wichtigſten ſocialen und
politiſchen Einrichtungen unſeres Kulturlebens verwachſen, daß
wir uns bei Begründung unſerer moniſtiſchen Religion möglichſt an
die beſtehenden Inſtitutionen anlehnen müſſen. Wir wollen keine
gewaltſame Revolution, ſondern eine vernünftige Refor-
mation unſeres religiöſen Geiſteslebens. In ähnlicher Weiſe
nun, wie vor 2000 Jahren die klaſſiſche Poeſie der alten
Hellenen ihre Tugend-Ideale in Götter-Geſtalten verkörperte,
[389]XVIII. Religion der Wahrheit.
können wir auch unſeren drei Vernunft-Idealen die Geſtalt hehrer
Göttinen verleihen; wir wollen unterſuchen, wie die drei Göt-
tinen der Wahrheit, der Schönheit und der Tugend nach
unſerem Monismus ſich geſtalten; und wir wollen ferner ihr
Verhältniß zu den entſprechenden Göttern des Chriſtenthums
unterſuchen, die ſie erſetzen ſollen.
I. Das Ideal der Wahrheit. Wir haben uns durch die
vorhergehenden Betrachtungen (beſonders im erſten und dritten
Abſchnitt) überzeugt, daß die reine Wahrheit nur in dem Tempel
der Natur-Erkenntniß zu finden iſt, und daß die einzigen
brauchbaren Wege zu demſelben die kritiſche „Beobachtung und
Reflexion“ ſind, die empiriſche Erforſchung der Thatſachen und
die vernunftgemäße Erkenntniß ihrer bewirkenden Urſachen. So
gelangen wir mittels der reinen Vernunft zur wahren
Wiſſenſchaft, dem koſtbarſten Schatze der Kultur-Menſchheit.
Dagegen müſſen wir aus den gewichtigen, im 16. Kapitel er-
örterten Urſachen jede ſogenannte „Offenbarung“ ablehnen,
jede Glaubens-Dichtung, welche behauptet, auf übernatürlichem
Wege Wahrheiten zu erkennen, zu deren Entdeckung unſere Ver-
nunft nicht ausreicht. Da nun das ganze Glaubens-Gebäude
der jüdiſch-chriſtlichen Religion, ebenſo wie das islamitiſche und
buddhiſtiſche, auf ſolchen angeblichen Offenbarungen beruht, da
ferner dieſe myſtiſchen Phantaſie-Produkte direkt der klaren empi-
riſchen Natur-Erkenntniß widerſprechen, ſo iſt es ſicher, daß wir
die Wahrheit nur mittels der Vernunft-Thätigkeit der echten
Wiſſenſchaft finden können, nicht mittels der Phantaſie-
Dichtung des myſtiſchen Glaubens. In dieſer Beziehung iſt es
ganz ſicher, daß die chriſtliche Weltanſchauung durch die
moniſtiſche Philoſophie zu erſetzen iſt. Die Göttin der
Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf
dem blauen Meere, auf den ſchneebedeckten Gebirgshöhen; —
aber nicht in den dumpfen Hallen der Klöſter, in den engen
[390]Religion der Tugend. XVIII.
Kerkern der Konvikt-Schulen und nicht in den weihrauchduftenden
chriſtlichen Kirchen. Die Wege, auf denen wir uns dieſer herr-
lichen Göttin der Wahrheit und Erkenntniß nähern, ſind die
liebevolle Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, die Be-
obachtung der unendlich großen Sternenwelt mittels des Teleſkops,
der unendlich kleinen Zellenwelt mittels des Mikroſkops; — aber
nicht ſinnloſe Andachts-Uebungen und gedankenloſe Gebete, nicht
die Opfergaben des Ablaſſes und der Peterspfennige. Die koſt-
baren Gaben, mit denen uns die Göttin der Wahrheit beſchenkt,
ſind die herrlichen Früchte vom Baume der Erkenntniß und der
unſchätzbare Gewinn einer klaren, einheitlichen Weltanſchauung, —
aber nicht der Glaube an übernatürliche „Wunder“ und das
Wahngebilde eines „ewigen Lebens“.
II. Das Ideal der Tugend. Anders als mit dem ewig
Wahren verhält es ſich mit dem Gottes-Ideal des ewig Guten.
Während bei der Erkenntniß der Wahrheit die Offenbarung der
Kirche völlig auszuſchließen und allein die Erforſchung der Natur
zu befragen iſt, fällt dagegen der Inbegriff des Guten, den
wir Tugend nennen, in unſerer moniſtiſchen Religion größten-
theils mit der chriſtlichen Tugend zuſammen; natürlich gilt das
nur von dem urſprünglichen, reinen Chriſtenthum der drei erſten
Jahrhunderte, wie deſſen Tugendlehren in den Evangelien und in
den pauliniſchen Briefen niedergelegt ſind; — es gilt aber nicht
von der vatikaniſchen Karikatur jener reinen Lehre, welche die
europäiſche Kultur zu ihrem unendlichen Schaden durch zwölf
Jahrhunderte beherrſcht hat. Den beſten Theil der chriſtlichen
Moral, an dem wir feſthalten, bilden die Humanitäts-Gebote
der Liebe und Duldung, des Mitleids und der Hilfe. Nur ſind
dieſe edlen Pflichtgebote, die man als „chriſtliche Moral“ (im
beſten Sinne!) zuſammenfaßt, keine neuen Erfindungen des
Chriſtenthums, ſondern ſie ſind von dieſem aus älteren Religions-
formen herübergenommen. In der That iſt ja die „Goldene
[391]XVIII. Religion der Schönheit.
Regel“, welche dieſe Gebote in einem Satze zuſammenfaßt,
Jahrhunderte älter als das Chriſtenthum. In der Praxis des
Lebens aber wurde dieſes natürliche Sittengeſetz ebenſo oft von
Atheiſten und Nichtchriſten ſorgſam befolgt als von frommen,
gläubigen Chriſten außer Acht gelaſſen. Uebrigens beging die
chriſtliche Tugendlehre einen großen Fehler, indem ſie einſeitig
den Altruismus zum Gebote erhob, den Egoismus dagegen
verwarf. Unſere moniſtiſche Ethik legt beiden gleichen
Werth bei und findet die vollkommene Tugend in dem richtigen
Gleichgewicht von Nächſtenliebe und Eigenliebe. (Vergl. Ka-
pitel 19: Das ethiſche Grundgeſetz, S. 404-407.)
III. Das Ideal der Schönheit. In größten Gegenſatz
zum Chriſtenthum tritt unſer Monismus auf dem Gebiete der
Schönheit. Das urſprüngliche, reine Chriſtenthum predigte die
Werthloſigkeit des irdiſchen Lebens und betrachtete dasſelbe bloß
als eine Vorbereitung für das ewige Leben im „Jenſeits“.
Daraus folgt unmittelbar, daß Alles, was das menſchliche Leben
im „Diesſeits“ darbietet, alles Schöne in Kunſt und Wiſſen-
ſchaft, im öffentlichen und privaten Leben, keinen Werth beſitzt.
Der wahre Chriſt muß ſich von ihm abwenden und nur daran
denken, ſich für das Jenſeits würdig vorzubereiten. Die Ver-
achtung der Natur, die Abwendung von allen ihren unerſchöpf-
lichen Reizen, die Verwerfung jeder Art von ſchöner Kunſt
ſind echte Chriſten-Pflichten; dieſe würden am vollkommenſten
erfüllt, wenn der Menſch ſich von ſeinen Mitmenſchen abſonderte,
ſich kaſteite und in Klöſtern oder Einſiedeleien ausſchließlich mit
der „Anbetung Gottes“ beſchäftigte.
Nun lehrt uns freilich die Kulturgeſchichte, daß dieſe asketiſche
Chriſten-Moral, die aller Natur Hohn ſprach, als natürliche
Folge das Gegentheil bewirkte. Die Klöſter, die Aſyle der
Keuſchheit und Zucht, wurden bald die Brutſtätten der tollſten
Orgien; der ſexuelle Verkehr der Mönche und Nonnen erzeugte
[392]Chriſtliche Kunſt. XVIII.
maſſenhaft Novellen, wie ſie die Literatur der Renaiſſance ſehr
naturwahr geſchildert hat. Der Kultus der „Schönheit“, der
hier getrieben wurde, ſtand mit der gepredigten „Weltentſagung“
in ſchneidendem Widerſpruch, und dasſelbe gilt von dem Luxus
und der Pracht, welche ſich bald in dem ſittenloſen Privatleben
des höheren katholiſchen Klerus und in der künſtleriſchen Aus-
ſchmückung der chriſtlichen Kirchen und Klöſter entwickelten.
Chriſtliche Kunſt. Man wird hier einwenden, daß unſere
Anſicht durch die Schönheitsfülle der chriſtlichen Kunſt widerlegt
werde, welche beſonders in der Blüthezeit des Mittelalters ſo
unvergängliche Werke ſchuf. Die prachtvollen gothiſchen Dome
und byzantiniſchen Baſiliken, die Hunderte von prächtigen Ka-
pellen, die Tauſende von Marmor-Statuen chriſtlicher Heiligen
und Märtyrer, die Millionen von ſchönen Heiligenbildern, von
tiefempfundenen Darſtellungen von Chriſtus und der Madonna —
ſie zeugen alle von einer Entwickelung der ſchönen Künſte im
Mittelalter, die in ihrer Art einzig iſt. Alle dieſe herrlichen
Denkmäler der bildenden Kunſt, ebenſo wie die der Dichtkunſt,
behalten ihren hohen äſthetiſchen Werth, gleichviel, wie wir die
darin enthaltene Miſchung von „Wahrheit und Dichtung“ be-
urtheilen. Aber was hat das Alles mit der reinen Chriſtenlehre
zu thun? Mit jener Religion der Entſagung, welche von allem
irdiſchen Prunk und Glanz, von aller materiellen Schönheit und
Kunſt ſich abwendete, welche das Familienleben und die Frauen-
liebe gering ſchätzte, welche allein die Sorge um die immateriellen
Güter des „ewigen Lebens“ predigte? Der Begriff der „chriſt-
lichen Kunſt“ iſt eigentlich ein Widerſpruch in ſich, ein „Con-
tradictio in adjecto“. Die reichen Kirchenfürſten freilich,
welche dieſelben pflegten, verfolgten damit ganz andere Zwecke,
und ſie erreichten ſie auch vollſtändig. Indem ſie das ganze
Intereſſe und Streben des menſchlichen Geiſtes im Mittelalter
auf die chriſtliche Kirche und deren eigenthümliche Kunſt
[393]XVIII. Moniſtiſche Kunſt.
lenkten, wendeten ſie dasſelbe von der Natur ab und von der
Erkenntniß der hier verborgenen Schätze, die zu ſelbſtändiger
Wiſſenſchaft geführt hätten. Außerdem aber erinnerte der
tägliche Anblick der überall maſſenhaft ausgeſtellten Heiligen-
bilder, der Darſtellungen aus der „heiligen Geſchichte“, den
gläubigen Chriſten jederzeit an den reichen Sagenſchatz, den die
Phantaſie der Kirche angeſammelt hatte. Die Legenden derſelben
wurden für wahre Erzählungen, die Wundergeſchichten für wirk-
liche Ereigniſſe ausgegeben und geglaubt. Unzweifelhaft hat in
dieſer Beziehung die chriſtliche Kunſt einen ungeheuren Einfluß
auf die allgemeine Bildung und ganz beſonders auf die Feſtigung
des Glaubens geübt, einen Einfluß, der ſich in der ganzen
Kulturwelt bis auf den heutigen Tag geltend macht.
Moniſtiſche Kunſt. Das diametrale Gegenſtück dieſer
herrſchenden chriſtlichen Kunſt iſt diejenige neue Form der bil-
denden Kunſt, die ſich erſt in unſerem Jahrhundert, im Zu-
ſammenhang mit der Naturwiſſenſchaft entwickelt hat. Die
überraſchende Erweiterung unſerer Weltkenntniß, die Entdeckung
von unzähligen ſchönen Lebens-Formen, die wir der letzteren
verdanken, hat in unſerer Zeit einen ganz anderen äſthetiſchen
Sinn geweckt und damit auch der bildenden Kunſt eine neue
Richtung gegeben. Zahlreiche wiſſenſchaftliche Reiſen und große
Expeditionen zur Erforſchung unbekannter Länder und Meere
förderten ſchon im vorigen, noch viel mehr aber in unſerem
Jahrhundert eine ungeahnte Fülle von unbekannten organiſchen
Formen zu Tage. Die Zahl der neuen Thier- und Pflanzen-
Arten wuchs bald in's Unermeßliche, und unter dieſen (beſonders
unter den früher vernachläſſigten niederen Gruppen) fanden ſich
Tauſende ſchöner und intereſſanter Geſtalten, ganz neue Motive
für Malerei und Bildhauerei, für Architektur und Kunſtgewerbe.
Eine neue Welt erſchloß in dieſer Beziehung beſonders die aus-
gedehntere mikroſkopiſche Forſchung in der zweiten Hälfte
[394]Schönheiten der Natur. XVIII.
des Jahrhunderts und namentlich die Entdeckung der fabelhaften
Tiefſee-Bewohner, die erſt durch die berühmte Challenger-
Expedition (1872-1876) an's Licht gezogen wurden *). Tauſende
von zierlichen Radiolarien und Thalamophoren, von prächtigen
Meduſen und Korallen, von abenteuerlichen Mollusken und
Krebſen eröffneten uns da mit einem Male eine ungeahnte Fülle
von verborgenen Formen, deren eigenartige Schönheit und Mannig-
faltigkeit alle von der menſchlichen Phantaſie geſchaffenen Kunſt-
produkte weitaus übertrifft. Allein ſchon in den 50 großen
Bänden des Challenger-Werkes iſt auf 3000 Tafeln eine Maſſe
ſolcher ſchönen Geſtalten abgebildet; aber auch in vielen anderen
großen Prachtwerken, welche die mächtig wachſende zoologiſche
und botaniſche Literatur der letzten Decennien enthält, ſind
Millionen reizender Formen dargeſtellt. Ich habe kürzlich den
Verſuch begonnen, in meinen „Kunſtformen der Natur“ (1899)
eine Auswahl von ſolchen ſchönen und reizvollen Geſtalten weiteren
Kreiſen zugänglich zu machen.
Indeſſen bedarf es nicht weiter Reiſen und koſtſpieliger
Werke, um jedem Menſchen die Herrlichkeiten dieſer Welt zu
erſchließen. Vielmehr müſſen dafür nur ſeine Augen geöffnet
und ſein Sinn geübt werden. Ueberall bietet die umgebende
Natur eine überreiche Fülle von ſchönen und intereſſanten Ob-
jekten aller Art. In jedem Mooſe und Grashalme, in jedem
Käfer und Schmetterling finden wir bei genauer Unterſuchung
Schönheiten, an denen der Menſch gewöhnlich achtlos vorüber-
geht. Vollends wenn wir dieſelben mit einer Lupe bei ſchwacher
Vergrößerung betrachten, oder noch mehr, wenn wir die ſtärkere
Vergrößerung eines guten Mikroſkopes anwenden, entdecken wir
überall in der organiſchen Natur eine neue Welt voll un-
erſchöpflicher Reize.
[395]XVIII. Schönheiten der Natur.
Aber nicht nur für dieſe äſthetiſche Betrachtung des Kleinen
und Kleinſten, ſondern auch für diejenige des Großen und
Größten in der Natur hat uns erſt unſer 19. Jahrhundert die
Augen geöffnet. Noch im Beginne desſelben war die Anſicht
herrſchend, daß die Hochgebirgs-Natur zwar großartig, aber ab-
ſchreckend, das Meer zwar gewaltig, aber furchtbar ſei. Jetzt, am
Ende desſelben ſind die meiſten Gebildeten — und beſonders die
Bewohner der Großſtädte — glücklich, wenn ſie jährlich auf ein paar
Wochen die Herrlichkeit der Alpen und die Kryſtallpracht der
Gletſcherwelt genießen können, oder wenn ſie ſich an der Majeſtät des
blauen Meeres, an den reizenden Landſchaftsbildern ſeiner Küſten
erfreuen können. Alle dieſe Quellen des edelſten Naturgenuſſes
ſind uns erſt neuerdings in ihrer ganzen Herrlichkeit offenbar
und verſtändlich geworden, und die erſtaunlich geſteigerte Leichtig-
keit und Schnelligkeit des Verkehrs hat ſelbſt den Unbemittelteren
die Gelegenheit zu ihrer Kenntniß verſchafft. Alle dieſe Fort-
ſchritte im äſthetiſchen Naturgenuſſe — und damit zugleich im
wiſſenſchaftlichen Naturverſtändniß — bedeuten ebenſo viele Fort-
ſchritte in der höheren menſchlichen Geiſtesbildung und damit
zugleich in unſerer moniſtiſchen Religion.
Landſchaftsmalerei und Illuſtrations-Werke. Der
Gegenſatz, in welchem unſer naturaliſtiſches Jahrhundert zu
den vorhergehenden anthropiſtiſchen ſteht, prägt ſich be-
ſonders in der verſchiedenen Werthſchätzung und Verbreitung von
Illuſtrationen der mannigfaltigſten Natur-Objekte aus. Es hat
ſich in unſerer Zeit ein lebhaftes Intereſſe für bildliche Dar-
ſtellung derſelben entwickelt, das früheren Zeiten unbekannt war;
dasſelbe wird unterſtützt durch die erſtaunlichen Fortſchritte der
Technik und des Verkehrs, welche eine allgemeine Verbreitung
derſelben in weiteſten Kreiſen geſtatten. Zahlreiche illuſtrirte
Zeitſchriften verbreiten mit der allgemeinen Bildung zugleich den
Sinn für die unendliche Schönheit der Natur in allen Gebieten.
[396]Moderner Naturgenuß. XVIII.
Beſonders iſt es aber die Landſchaftsmalerei, die hier eine
früher nicht geahnte Bedeutung gewonnen hat. Schon in der
erſten Hälfte des Jahrhunderts hatte einer unſerer größten und
vielſeitigſten Naturforſcher, Alexander Humboldt, darauf
hingewieſen, wie die Entwickelung der modernen Landſchafts-
malerei nicht nur als „Anregungs-Mittel zum Naturſtudium“
und als geographiſches Anſchauungs-Mittel von hoher Bedeutung
ſei, ſondern wie ſie auch in anderer Beziehung als ein edles
Bildungsmittel hochzuſchätzen ſei. Seitdem iſt der Sinn dafür
noch bedeutend weiter entwickelt. Es ſollte Aufgabe jeder Schule
ſein, die Kinder frühzeitig zum Genuſſe der Landſchaft anzu-
leiten und zu der höchſt dankbaren Kunſt, ſie durch Zeichnen
und Aquarell-Malen ihrem Gedächtniß einzuprägen.
Moderner Naturgenuß. Der unendliche Reichthum der
Natur an Schönem und Erhabenem bietet jedem Menſchen, der
offene Augen und äſthetiſchen Sinn beſitzt, eine unerſchöpfliche
Fülle der herrlichſten Gaben. So werthvoll und beglückend aber
auch der unmittelbare Genuß jeder einzelnen Gabe iſt, ſo wird
deren Werth doch noch hoch geſteigert durch die Erkenntniß ihrer
Bedeutung und ihres Zuſammenhanges mit der übrigen
Natur. Als Alexander Humboldt vor fünfzig Jahren in
ſeinem großartigen „Kosmos“ den „Entwurf einer phyſiſchen
Weltbeſchreibung“ gab, als er in ſeinen muſtergültigen „Anſichten
der Natur“ wiſſenſchaftliche und äſthetiſche Betrachtung in glück-
lichſter Weiſe verband, da hat er mit Recht hervorgehoben, wie
eng der veredelte Naturgenuß mit der „wiſſenſchaftlichen Er-
gründung der Weltgeſetze“ verknüpft iſt, und wie beide vereinigt
dazu dienen, das Menſchenweſen auf eine höhere Stufe der Voll-
endung zu erheben. Die ſtaunende Bewunderung, mit der wir
den geſtirnten Himmel und das mikroſkopiſche Leben in einem
Waſſertropfen betrachten, die Ehrfurcht, mit der wir das wunder-
bare Wirken der Energie in der bewegten Materie unterſuchen,
[397]XVIII. Diesſeits und Jenſeits.
die Andacht, mit welcher wir die Geltung des allumfaſſenden
Subſtanz-Geſetzes im Univerſum verehren, — ſie alle ſind Beſtand-
theile unſeres Gemüths-Lebens, die unter den Begriff der
„natürlichen Religion“ fallen.
Diesſeits und Jenſeits. Die angedeuteten Fortſchritte der
Neuzeit in der Erkenntniß des Wahren und im Genuſſe des
Schönen bilden ebenſo einerſeits einen werthvollen Inhalt unſerer
moniſtiſchen Religion, als ſie andererſeits in feindlichem Gegenſatze
zum Chriſtenthum ſtehen. Denn der menſchliche Geiſt lebt dort
in dem bekannten „Diesſeits“, hier in einem unbekannten
„Jenſeits“. Unſer Monismus lehrt, daß wir ſterbliche Kinder
der Erde ſind, die ein oder zwei, höchſtens drei „Menſchenalter“
hindurch das Glück haben, im Diesſeits die Herrlichkeiten dieſes
Planeten zu genießen, die unerſchöpfliche Fülle ſeiner Schönheit
zu ſchauen und die wunderbaren Spiele ſeiner Naturkräfte zu
erkennen. Das Chriſtenthum dagegen lehrt, daß die Erde ein
elendes Jammerthal iſt, auf welchem wir bloß eine kurze Zeit
lang uns zu kaſteien und abzuquälen brauchen, um ſodann im
„Jenſeits“ ein ewiges Leben voller Wonne zn genießen. Wo
dieſes „Jenſeits“ liegt, und wie dieſe Herrlichkeit des ewigen
Lebens eigentlich beſchaffen ſein ſoll, das hat uns noch keine
„Offenbarung“ geſagt. Solange der „Himmel“ für den Menſchen
ein blaues Zelt war, ausgeſpannt über der ſcheibenförmigen Erde
und erleuchtet durch das blinkende Lampenlicht einiger tauſend
Sterne, konnte ſich die menſchliche Phantaſie oben in dieſem
Himmelsſaal allenfalls das ambroſiſche Gaſtmahl der olympiſchen
Götter oder die Tafel-Freuden der Walhalla-Bewohner vorſtellen.
Nun iſt aber neuerdings für alle dieſe Gottheiten und für die
mit ihnen tafelnden „unſterblichen Seelen“ die offenkundige, von
David Strauß geſchilderte Wohnungsnoth eingetreten;
denn wir wiſſen jetzt durch die Aſtrophyſik, daß der unendliche
Raum mit ungenießbarem Aether erfüllt iſt, und daß Millionen
[398]Moniſtiſche Kirchen. XVIII.
von Weltkörpern, nach ewigen ehernen „Geſetzen“ bewegt, ſich
raſtlos in demſelben umhertreiben, alle im ewigen großen „Werden
und Vergehen“ begriffen.
Moniſtiſche Kirchen. Die Stätten der Andacht, in denen
der Menſch ſein religiöſes Gemüths-Bedürfniß befriedigt und die
Gegenſtände ſeiner Anbetung verehrt, betrachtet er als ſeine ge-
heiligten „Kirchen“. Die Pagoden im buddhiſtiſchen Aſien, die
griechiſchen Tempel im klaſſiſchen Alterthum, die Synagogen in
Paläſtina, die Moſcheen in Egypten, die katholiſchen Dome im
ſüdlichen und die evangeliſchen Kathedralen im nördlichen
Europa — alle dieſe „Gotteshäuſer“ ſollen dazu dienen, den
Menſchen über die Miſere und Proſa des realen Alltagslebens
zu erheben; ſie ſollen ihn in die Weihe und Poeſie einer höheren,
idealen Welt verſetzen. Sie erfüllen dieſen Zweck in vielen
tauſend verſchiedenen Formen, entſprechend den verſchiedenen
Kulturformen und Zeitverhältniſſen. Der moderne Menſch,
welcher „Wiſſenſchaft und Kunſt beſitzt“ — und damit zugleich
auch „Religion“ —, bedarf keiner beſonderen Kirche, keines engen,
eingeſchloſſenen Raumes. Denn überall in der freien Natur, wo
er ſeine Blicke auf das unendliche Univerſum oder auf einen
Theil desſelben richtet, überall findet er zwar den harten „Kampf
um's Daſein“, aber daneben auch das „Wahre, Schöne
und Gute“; überall findet er ſeine „Kirche“ in der herrlichen
Natur ſelbſt. Indeſſen wird es doch den beſonderen Bedürf-
niſſen vieler Menſchen entſprechen, auch außerdem in ſchön ge-
ſchmückten Tempeln oder Kirchen geſchloſſene Andachtshäuſer zu
beſitzen, in die ſie ſich zurückziehen können. Ebenſo, wie ſeit dem
16. Jahrhundert der Papismus zahlreiche Kirchen an die Refor-
mation abtreten mußte, wird im 20. Jahrhundert ein großer
Theil an die „freien Gemeinden“ des Monismus übergehen.
[[399]]
Neunzehntes Kapitel.
Unſere moniſtiſche Sittenlehre.
Moniſtiſche Studien über das ethiſche Grundgeſetz. Gleich-
gewicht zwiſchen Selbſtliebe und Nächſtenliebe. Gleichberech-
tigung des Egoismus und Altruismus. Fehler der chriſtlichen
Moral. Staat, Schule und Kirche.
‘„Kein Baum wird mit einem Hieb gefällt.
Iſt aber auch der Hieb, den ich hier gegen eine
uralte Denkgewohnheit führe, durchaus nicht der
erſte: nie könnt' es mir in den Sinn kommen,
ihn für den letzten zu halten und zu meinen, daß
ich dieſen Baum werde fallen ſehen. Sollte es
mir gelingen, andere und mächtigere Aexte nach
derſelben Richtung in Bewegung zu ſetzen: meine
kühnſten Wünſche gingen in Erfüllung. Daß eines
Tages dieſer Baum fallen und die Sittlichkeit
an der Einheitlichkeit des Menſchen einen
zweckentſprechenderen Hort finden wird, als den
die Vorſtellung einer Doppelnatur bislang ihr
geboten hat, bezweifle ich keinen Augenblick.“
Carneri (1891).’ ()
[[400]]
Moniſtiſche und dualiſtiſche Ethik. Widerſpruch der reinen und prak-
tiſchen Vernunft bei Kant. Sein kategoriſcher Imperativ. Die Neokantianer.
Herbert Spencer. Egoismus und Altruismus (Selbſtliebe und Nächſtenliebe).
Aequivalenz beider Naturtriebe. Das ethiſche Grundgeſetz: Die Goldene
Regel. Alter desſelben. Chriſtliche Sittenlehre. Verachtung des Indivi-
duums, des Leibes, der Natur, der Kultur, der Familie, der Frau. Papiſtiſche
Moral. Unſittliche Folgen des Cölibats. Nothwendigkeit der Abſchaffung
von Cölibat, Ohrenbeichte und Ablaßkram. Staat und Kirche. Religion
iſt Privatſache. Kirche und Schule. Staat und Schule. Nothwendigkeit
der Schul-Reform.
Herbert Spencer, Principien der Sociologie und der Ethik. Stuttgart
1889
Leſter F. Ward,Dynamic Sociology, or applied ſocial ſcience, 2 Vol.
New York 1883.
Bartholomäus Carneri, Der moderne Menſch. Verſuche einer Lebensführung.
Bonn 1891. — Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik.
Wien 1871. — Grundlegung der Ethik. Wien 1881. — Entwickelung
und Glückſeligkeit. Stuttgart 1886.
Benjamin Vetter, Die moderne Weltanſchauung und der Menſch. (Sechs
Vorträge.) Zweite Auflage. Jena 1896.
Heinrich Ernſt Ziegler, Die Naturwiſſenſchaft und die ſocialdemokratiſche
Theorie. Stuttgart 1894.
Otto Ammon, Die Geſellſchafts-Ordnung und ihre natürlichen Grundlagen.
Entwurf einer Social-Anthropologie. Jena 1895.
Paul Lilienfeld, Socialwiſſenſchaft der Zukunft. 5 Theile. Mitau 1873.
Ernſt Groſſe, Die Formen der Familie und die Formen der Wirthſchaft.
Leipzig 1896.
F. Hauspaul, Die Seelentheorie und die Geſetze des natürlichen Egoismus
und der Anpaſſung. 1899.
Max Nordau, Die Konventionellen Lügen der Kultur-Menſchheit. Leipzig
1883. Zwölfte Auflage 1886.
[[401]]
Das praktiſche Leben ſtellt an den Menſchen eine Reihe
von ganz beſtimmten ſittlichen Anforderungen, die nur dann
richtig und naturgemäß erfüllt werden können, wenn ſie in
reinem Einklang mit ſeiner vernünftigen Weltanſchauung ſtehen.
Dieſem Grundſatze unſerer moniſtiſchen Philoſophie zu Folge
muß unſere geſammte Sittenlehre oder Ethik in vernünftigem
Zuſammenhang mit der einheitlichen Auffaſſung des „Kosmos“
ſtehen, welche wir durch unſere fortgeſchrittene Erkenntniß der
Natur-Geſetze gewonnen haben. Wie das ganze unendliche Uni-
verſum im Lichte unſeres Monismus ein einziges großes Ganzes
darſtellt, ſo bildet auch das geiſtige und ſittliche Leben des
Menſchen nur einen Theil dieſes „Kosmos“, und ſo kann auch
unſere naturgemäße Ordnung desſelben nur eine einheitliche ſein.
Es giebt nicht zwei verſchiedene, getrennte Welten:
eine phyſiſche, materielle und eine moraliſche, imma-
terielle Welt.
Ganz entgegengeſetzter Anſicht iſt die große Mehrzahl der
Philoſophen und Theologen noch heute; ſie behaupten mit
Immanuel Kant, daß die ſittliche Welt von der phyſiſchen
ganz unabhängig ſei und ganz anderen Geſetzen gehorche; alſo
müſſe auch das ſittliche Bewußtſein des Menſchen, als
die Baſis des moraliſchen Lebens, ganz unabhängig von der
wiſſenſchaftlichen Welterkenntniß ſein und ſich viel-
Haeckel, Welträthſel. 26
[402]Der kategoriſche Imperativ. XIX.
mehr auf den religiöſen Glauben ſtützen. Die Erkenntniß der
ſittlichen Welt ſoll danach durch die gläubige praktiſche
Vernunft geſchehen, hingegen diejenige der Natur oder der
phyſiſchen Welt durch die reine theoretiſche Vernunft.
Dieſer unzweifelhafte und bewußte Dualismus in Kant's
Philoſophie war ihr größter und ſchwerſter Fehler; er hat
unendliches Unheil angerichtet und wirkt noch heute fort11. Zuerſt
hatte der kritiſche Kant den großartigen und bewunderungs-
würdigen Palaſt der reinen Vernunft ausgebaut und einleuchtend
gezeigt, daß die drei großen Central-Dogmen der Meta-
phyſik: der perſönliche Gott, der freie Wille und die unſterb-
liche Seele, darin nirgends untergebracht werden können, ja daß
vernünftige Beweiſe für deren Realität gar nicht zu finden ſind.
Später aber baute der dogmatiſche Kant an dieſen realen
Kryſtall-Palaſt der reinen Vernunft das ſchimmernde ideale Luft-
ſchloß der praktiſchen Vernunft an, in welchem drei impoſante
Kirchenſchiffe zur Wohnſtätte jener drei gewaltigen myſtiſchen
Gottheiten hergerichtet wurden. Nachdem ſie durch die Vorder-
thür mittels des vernünftigen Wiſſens hinausgeſchafft waren,
kehrten ſie nun durch die Hinterthür mittels des unvernünftigen
Glaubens wieder zurück.
Die Kuppel ſeines großen Glaubens-Domes krönte Kant
mit einem ſeltſamen Idol, dem berühmten kategoriſchen
Imperativ; danach iſt die Forderung des allgemeinen Sitten-
geſetzes ganz unbedingt, unabhängig von jeder Rückſicht auf
Wirklichkeit und Möglichkeit; ſie lautet: „Handle jederzeit ſo,
daß die Maxime (oder der ſubjektive Grundſatz deines Willens)
zugleich als Princip einer allgemeinen Geſetzgebung gelten könne.“
Jeder normale Menſch ſollte demnach dasſelbe Pflichtgefühl haben
wie jeder Andere. Die moderne Anthropologie hat dieſen ſchönen
Traum grauſam zerſtört; ſie hat gezeigt, daß unter den Natur-
Völkern die Pflichten noch weit verſchiedener ſind als unter den
[403]XIX. Reine und praktiſche Vernunft.
Kultur-Nationen. Alle Sitten und Gebräuche, die wir als ver-
werfliche Sünden oder abſcheuliche Laſter anſehen (Diebſtahl,
Betrug, Mord, Ehebruch u. ſ. w.), gelten bei anderen Völkern
unter Umſtänden als Tugenden oder ſelbſt als Pflichtgebote.
Obgleich nun der offenkundige Gegenſatz der beiden Ver-
nünfte von Kant, der principielle Antagonismus der reinen
und der praktiſchen Vernunft, ſchon im Anfange des Jahr-
hunderts erkannt und widerlegt wurde, blieb er doch bis heute
in weiten Kreiſen herrſchend. Die moderne Schule der Neo-
kantianer predigt noch heute den „Rückgang auf Kant“ ſo
eindringlich gerade wegen dieſes willkommenen Dualismus,
und die ſtreitende Kirche unterſtützt ſie dabei auf's Wärmſte, weil
ihr eigener myſtiſcher Glaube dazu vortrefflich paßt. Eine wirk-
ſame Niederlage bereitete demſelben erſt die moderne Naturwiſſen-
ſchaft in der zweiten Hälfte unſeres Jahrhunderts; die Voraus-
ſetzungen der praktiſchen Vernunftlehre wurden dadurch hinfällig.
Die moniſtiſche Kosmologie bewies auf Grund des Subſtanz-
Geſetzes, daß es keinen „perſönlichen Gott“ giebt; die vergleichende
und genetiſche Pſychologie zeigte, daß eine „unſterbliche Seele“
nicht exiſtiren kann, und die moniſtiſche Phyſiologie wies nach,
daß die Annahme des „freien Willens“ auf Täuſchung beruht.
Die Entwickelungslehre endlich machte klar, daß die „ewigen,
ehernen Naturgeſetze“ der anorganiſchen Welt auch in der
organiſchen und moraliſchen Welt Geltung haben.
Unſere moderne Naturerkenntniß wirkt aber für die praktiſche
Philoſophie und Ethik nicht nur negativ, indem ſie den
kantiſchen Dualismus zertrümmert, ſondern auch poſitiv,
indem ſie an deſſen Stelle das neue Gebäude des ethiſchen
Monismus ſetzt. Sie zeigt, daß das Pflichtgefühl des
Menſchen nicht auf einem illuſoriſchen „kategoriſchen Im-
perativ“ beruht, ſondern auf dem realen Boden der
ſocialen Inſtinkte, die wir bei allen geſellig lebenden
26*
[404]Egoismus und Altruismus. XIX.
höheren Thieren finden. Sie erkennt als höchſtes Ziel der Moral
die Herſtellung einer geſunden Harmonie zwiſchen Egoismus
und Altruismus, zwiſchen Selbſtliebe und Nächſtenliebe. Vor
allen Anderen war es der große engliſche Philoſoph Herbert
Spencer, dem wir die Begründung dieſer moniſtiſchen Ethik
durch die Entwickelungslehre verdanken.
Egoismus und Altruismus. Der Menſch gehört zu den
ſocialen Wirbelthieren und hat daher, wie alle ſocialen
Thiere, zweierlei verſchiedene Pflichten, erſtens gegen ſich ſelbſt
und zweitens gegen die Geſellſchaft, der er angehört. Erſtere
ſind Gebote der Selbſtliebe (Egoismus), letztere Gebote der
Nächſtenliebe (Altruismus). Beide natürliche Gebote ſind
gleich berechtigt, gleich natürlich und gleich unentbehrlich. Will
der Menſch in geordneter Geſellſchaft exiſtiren und ſich wohl
befinden, ſo muß er nicht nur ſein eigenes Glück anſtreben,
ſondern auch dasjenige der Gemeinſchaft, der er angehört, und
der „Nächſten“, welche dieſen ſocialen Verein bilden. Er muß
erkennen, daß ihr Gedeihen ſein Gedeihen iſt und ihr Leiden
ſein Leiden. Dieſes ſociale Grundgeſetz iſt ſo einfach und ſo
naturnothwendig, daß man ſchwer begreift, wie demſelben theo-
retiſch und praktiſch widerſprochen werden kann; und doch geſchieht
das noch heute, wie es ſeit Jahrtauſenden geſchehen iſt19.
Aequivalenz des Egoismus und Altruismus. Die gleiche
Berechtigung dieſer beiden Naturtriebe, die moraliſche Gleich-
werthigkeit der Selbſtliebe und der Nächſtenliebe iſt das wichtigſte
Fundamental-Princip unſerer Moral. Das höchſte
Ziel aller vernünftigen Sittenlehre iſt demnach ſehr einfach, die
Herſtellung des „naturgemäßen Gleichgewichts zwiſchen
Egoismus und Altruismus, zwiſchen Eigenliebe und
Nächſtenliebe“. Das Goldene Sittengeſetz ſagt: „Was du willſt,
daß dir die Leute thun ſollen, das thue du ihnen auch.“ Aus
dieſem höchſten Gebot des Chriſtenthums folgt von ſelbſt, daß wir
[405]XIX. Das goldene Sittengeſetz.
ebenſo heilige Pflichten gegen uns ſelbſt wie gegen unſere Mit-
menſchen haben. Ich habe meine Auffaſſung dieſes Grundprincips
bereits 1892 in meinem „Monismus“ auseinandergeſetzt
(S. 29, 45) und dabei beſonders drei wichtige Sätze betont:
I. Beide konkurrirende Triebe ſind Naturgeſetze, die zum
Beſtehen der Familie und der Geſellſchaft gleich wichtig und
gleich nothwendig ſind; der Egoismus ermöglicht die Selbſt-
erhaltung des Individuums, der Altruismus diejenige der
Gattung und Species, die ſich aus der Kette der vergänglichen
Individuen zuſammenſetzt. II. Die ſocialen Pflichten,
welche die Geſellſchaftsbildung den aſſociirten Menſchen auf-
erlegt, und durch welche ſich dieſelbe erhält, ſind nur höhere
Entwickelungsformen der ſocialen Inſtinkte, welche wir bei
allen höheren, geſellig lebenden Thieren finden (als „erblich ge-
wordene Gewohnheiten“). III. Beim Kulturmenſchen ſteht alle
Ethik, ſowohl die theoretiſche als die praktiſche Sittenlehre,
als „Normwiſſenſchaft“ in Zuſammenhang mit der Welt-
anſchauung und demnach auch mit der Religion.
Das ethiſche Grundgeſetz. (Das Goldene Sitten-
geſetz.) Aus der Anerkennung unſeres Fundamental-Princips
der Moral ergiebt ſich unmittelbar das höchſte Gebot derſelben,
jenes Pflichtgebot, das man jetzt oft als das Goldene Sitten-
geſetz oder kurz als die „Goldene Regel“ bezeichnet. Chriſtus
ſprach dasſelbe wiederholt in dem einfachen Satze aus: „Du
ſollſt deinen Nächſten lieben wie dich ſelbſt“
(Matthäus 19, 19; 22, 39, 40; Römer 13, 9 u. ſ. w.); der
Evangeliſt Markus (12, 31) fügte ganz richtig hinzu: „Es iſt
kein größeres Gebot als dieſes“; und Matthäus ſagte: „In
dieſen zwei Geboten hänget das ganze Geſetz und die Propheten.“
In dieſem wichtigſten und höchſten Gebote ſtimmt unſere mo-
niſtiſche Ethik vollkommen mit der chriſtlichen überein.
Nur müſſen wir gleich die hiſtoriſche Thatſache hinzufügen, daß
[406]Das goldene Sittengeſetz. XIX.
die Aufſtellung dieſes oberſten Grundgeſetzes nicht ein Verdienſt
Chriſti iſt, wie die meiſten chriſtlichen Theologen behaupten und
ihre unkritiſchen Gläubigen unbeſehen annehmen. Vielmehr iſt
dieſe Goldene Regel mehr als fünfhundert Jahre älter als
Chriſtus und von vielen verſchiedenen Weiſen Griechenlands und
des Orients als wichtigſtes Sittengeſetz anerkannt. Pittakos
von Mytilene, einer der ſieben Weiſen Griechenlands, ſagte
620 Jahre vor Chriſtus: „Thue deinem Nächſten nicht, was
du ihm verübeln würdeſt.“ — Konfutſe, der große chineſiſche
Philoſoph und Religionsſtifter (der die Unſterblichkeit der Seele
und den perſönlichen Gott leugnete), ſagte 500 Jahre vor Chr.:
„Thue jedem Anderen, was du willſt, daß er dir thun ſoll;
und thue keinem Anderen, was du willſt, daß er dir nicht
thun ſoll. Du brauchſt nur dieſes Gebot allein; es iſt die
Grundlage aller anderen Gebote.“ — Ariſtoteles
lehrte um die Mitte des vierten Jahrhunderts vor Chr.: „Wir
ſollen uns gegen Andere ſo benehmen, als wir wünſchen, daß
Andere gegen uns handeln ſollen.“ In gleichem Sinne und zum
Theil mit denſelben Worten wird auch die Goldene Regel von
Thales, Iſokrates, Ariſtippus, dem Pythagoräer
Sextus und anderen Philoſophen des klaſſiſchen Alterthums —
mehrere Jahrhunderte vor Chriſtus! — ausgeſprochen.
Vergleiche darüber das ausgezeichnete Werk von Saladin:
„Jehovah's Geſammelte Werke“, deſſen Studium überhaupt jedem
ehrlichen, nach Wahrheit ſtrebenden Theologen nicht genug
empfohlen werden kann. Aus dieſer Zuſammenſtellung geht
hervor, daß das Goldene Grundgeſetz polyphyletiſch ent-
ſtanden, d. h. zu verſchiedenen Zeiten und an verſchiedenen Orten
von mehreren Philoſophen — unabhängig von einander — auf-
geſtellt worden iſt. Anderenfalls müßte man annehmen, daß
Jeſus dasſelbe aus anderen orientaliſchen Quellen (aus älteren
ſemitiſchen, indiſchen, chineſiſchen Traditionen, beſonders bud-
[407]XIX. Das chriſtliche Sittengeſetz.
dhiſtiſchen Lehren) übernommen habe, wie es jetzt für die meiſten
anderen chriſtlichen Glaubenslehren nachgewieſen iſt. Saladin
faßt die bezüglichen Ergebniſſe der modernen kritiſchen Theologie
in dem Satze zuſammen: „Es giebt keinen vernünftigen und
praktiſchen, von Jeſus gelehrten Moralgrundſatz, der nicht
vor ihm auch ſchon von Anderen gelehrt worden wäre“
(Thales, Solon, Sokrates, Plato, Konfutſe u. ſ. w.).
Chriſtliche Sittenlehre. Da das ethiſche Grundgeſetz
demnach bereits ſeit 2500 Jahren beſteht, und da das Chriſten-
thum dasſelbe ausdrücklich als höchſtes, alle anderen umfaſſendes
Gebot an die Spitze ſeiner Sittenlehre ſtellt, würde unſere
moniſtiſche Ethik in dieſem wichtigſten Punkte nicht nur
mit jenen älteren heidniſchen Sittenlehren, ſondern auch mit
den chriſtlichen in vollkommenem Einklang ſein. Leider wird
aber dieſe erfreuliche Harmonie dadurch geſtört, daß die Evan-
gelien und die pauliniſchen Epiſteln viele andere Sittenlehren
enthalten, die jenem erſten und oberſten Gebote geradezu wider-
ſprechen. Die chriſtlichen Theologen haben ſich vergebens bemüht,
dieſe auffälligen und ſchmerzlich empfundenen Widerſprüche durch
künſtliche Deutungen auszugleichen*). Wir brauchen daher hier
nicht darauf einzugehen, müſſen aber wohl kurz auf jene bedauer-
lichen Seiten der chriſtlichen Lehre hinweiſen, welche mit der
beſſeren Weltanſchauung der Neuzeit unverträglich und bezüglich
ihrer praktiſchen Konſequenzen geradezu ſchädlich ſind. Dahin
gehört die Verachtung der chriſtlichen Moral gegen das eigene
Individuum, gegen den Leib, die Natur, die Kultur, die Familie
und die Frau.
I.Die Selbſt-Verachtung des Chriſtenthums.
Als oberſten und wichtigſten Mißgriff der chriſtlichen Ethik, welcher
[408]Selbſt-Verachtung des Chriſtenthums. XIX.
die Goldene Regel geradezu aufhebt, müſſen wir die Ueber-
treibung der Nächſtenliebe auf Koſten der Selbſtliebe betrachten.
Das Chriſtenthum bekämpft und verwirft den Egoismus im
Princip, und doch iſt dieſer Naturtrieb zur Selbſterhaltung abſolut
unentbehrlich; ja, man kann ſagen, daß auch der Altruismus,
ſein ſcheinbares Gegentheil, im Grunde ein verfeinerter Egoismus
iſt. Nichts Großes, nichts Erhabenes iſt jemals ohne Egoismus
geſchehen und ohne die Leidenſchaft, welche uns zu großen
Opfern befähigt. Nur die Ausſchreitungen dieſer Triebe
ſind verwerflich. Zu denjenigen chriſtlichen Geboten, welche uns
in früheſter Jugend als wichtigſte eingeprägt und welche in
Millionen von Predigten verherrlicht werden, gehört der Satz
(Matthäus 5, 44): „Liebet eure Feinde, ſegnet, die euch fluchen,
thut wohl Denen, die euch haſſen, bittet für die, ſo euch be-
leidigen und verfolgen.“ Dieſes Gebot iſt ſehr ideal, aber
ebenſo naturwidrig als praktiſch werthlos. Saladin (a. a. O.
S. 205) ſagt zutreffend: „Dies zu thun, wäre unrecht, wenn es
überhaupt möglich wäre; und es wäre überhaupt unmöglich, ſelbſt
wenn es recht wäre.“ Ebenſo verhält es ſich mit der Anweiſung:
„Wenn dir Jemand den Rock nimmt, dem gieb auch den
Mantel“; d. h. in das moderne Leben überſetzt: „Wenn dich
ein gewiſſenloſer Schuft um die eine Hälfte deines Vermögens
betrügt, dann ſchenke ihm auch noch die andere Hälfte“ — oder
in die politiſche Praxis übertragen: „Wenn euch einfältigen
Deutſchen die frommen Engländer in Afrika eine eurer neuen
werthvollen Kolonien nach der anderen wegnehmen, dann ſchenkt
ihnen auch noch eure übrigen Kolonien — oder am beſten: gebt
ihnen Deutſchland noch dazu!“ Da wir hier gerade die viel-
bewunderte Weltmachts-Politik des modernen England berühren,
wollen wir im Vorbeigehen darauf hinweiſen, in welchem
ſchneidenden Widerſpruch dieſelbe zu allen Grundlehren
der chriſtlichen Liebe ſteht, welche von dieſer großen Nation
[409]XIX. Leibes-Verachtung des Chriſtenthums.
mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Uebrigens
iſt ja der offenkundige Widerſpruch zwiſchen der empfohlenen
idealen, altruiſtiſchen Moral des einzelnen Menſchen und
der realen, rein egoiſtiſchen Moral der menſchlichen Ge-
meinden, und beſonders der chriſtlichen Kultur-Staaten, eine
allbekannte Thatſache. Es wäre intereſſant, mathematiſch feſt-
zuſtellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menſchen das
altruiſtiſche Sitten-Ideal der einzelnen Perſon ſich in ſein
Gegentheil verwandelt, in die rein egoiſtiſche „Real-Politik“
der Staaten und Nationen?
II.Die Leibes-Verachtung des Chriſtenthums.
Da der chriſtliche Glaube den Organismus des Menſchen ganz
dualiſtiſch beurtheilt und der unſterblichen Seele nur einen vor-
übergehenden Aufenthalt im ſterblichen Leibe anweiſt, iſt es ganz
natürlich, daß der erſteren ein viel höherer Werth beigemeſſen
wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachläſſigung
der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit,
welche das Kulturleben des chriſtlichen Mittelalters ſehr unvortheil-
haft vor demjenigen des heidniſchen klaſſiſchen Alterthums aus-
zeichnet. In der chriſtlichen Sittenlehre fehlen jene ſtrengen
Gebote der täglichen Waſchungen und der ſorgfältigen Körper-
pflege, die wir in der mohammedaniſchen, indiſchen und anderen
Religionen nicht nur theoretiſch feſtgeſetzt, ſondern auch praktiſch
ausgeführt ſehen. Das Ideal des frommen Chriſten iſt in vielen
Klöſtern der Menſch, der ſich niemals ordentlich wäſcht und kleidet,
der ſeine übel riechende Kutte niemals wechſelt, und der ſtatt
ordentlicher Arbeit ſein faules Leben mit gedankenloſen Bet-
übungen, ſinnloſem Faſten u. ſ. w. zubringt. Als Auswüchſe
dieſer Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Buß-
übungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden.
III.Die Natur-Verachtung des Chriſtenthums.
Eine Quelle von unzähligen theoretiſchen Irrthümern und prak-
[410]Natur-Verachtung des Chriſtenthums. XIX.
tiſchen Fehlern, von geduldeten Rohheiten und bedauerlichen
Entbehrungen liegt in dem falſchen Anthropismus des
Chriſtenthums, in der exkluſiven Stellung, welche dasſelbe
dem Menſchen als „Ebenbild Gottes“ anweiſt, im Gegenſatze zu
der übrigen Natur. Dadurch hat dasſelbe nicht allein zu einer
höchſt ſchädlichen Entfremdung von unſerer herrlichen Mutter
„Natur“ beigetragen, ſondern auch zu einer bedauernswerthen
Verachtung der übrigen Organismen. Das Chriſtenthum kennt
nicht jene rühmliche Liebe zu den Thieren, jenes Mitleid
mit den nächſtſtehenden, uns befreundeten Säugethieren (Hunden,
Pferden, Rindern u. ſ. w.), welche zu den Sittengeſetzen vieler
anderer älterer Religionen gehören, vor Allem der weitverbrei-
tetſten, des Buddhismus. Wer längere Zeit im katholiſchen
Süd-Europa gelebt hat, iſt oftmals Zeuge jener abſcheulichen
Thierquälereien geweſen, die uns Thierfreunden ſowohl das tiefſte
Mitleid als den höchſten Zorn erregen; und wenn er dann jenen
rohen „Chriſten“ Vorwürfe über ihre Grauſamkeit macht, erhält
er zur lachenden Antwort: „Ja, die Thiere ſind doch keine
Chriſten!“ Leider wurde dieſer Irrthum auch durch Descartes
befeſtigt, der nur dem Menſchen eine fühlende Seele zuſchrieb, nicht
aber den Thieren. Wie erhaben ſteht in dieſer Beziehung unſere
moniſtiſche Ethik über der chriſtlichen! Der Darwinismus
lehrt uns, daß wir zunächſt von Primaten und weiterhin von
einer Reihe älterer Säugethiere abſtammen, und daß dieſe
„unſere Brüder“ ſind; die Phyſiologie beweiſt uns, daß
dieſe Thiere dieſelben Nerven und Sinnesorgane haben wie wir;
daß ſie ebenſo Luſt und Schmerz empfinden wie wir. Kein mit-
fühlender moniſtiſcher Naturforſcher wird ſich jemals jener rohen
Mißhandlung der Thiere ſchuldig machen, die der gläubige Chriſt
in ſeinem anthropiſtiſchen Größenwahn — als „Kind des Gottes
der Liebe“! — gedankenlos begeht. — Außerdem aber entzieht
die principielle Natur-Verachtung des Chriſtenthums dem Menſchen
[411]XIX. Kultur-Verachtung des Chriſtenthums.
eine Fülle der edelſten irdiſchen Freuden, vor Allem den herrlichen
wahrhaft erhebenden Naturgenuß.
IV.Die Kultur-Verachtung des Chriſtenthums.
Da nach Chriſti Lehre unſere Erde ein Jammerthal iſt, unſer
irdiſches Leben werthlos und nur eine Vorbereitung auf das
„ewige Leben“ im beſſeren Jenſeits, ſo verlangt ſie folgerichtig,
daß demgemäß der Menſch auf alles Glück im Diesſeits zu ver-
zichten und alle dazu erforderlichen irdiſchen Güter gering
zu achten hat. Zu dieſen „irdiſchen Gütern“ gehören aber für
den modernen Kulturmenſchen die unzähligen kleinen und großen
Hilfsmittel der Technik, der Hygieine, des Verkehrs, welche unſer
heutiges Kulturleben angenehm und gemüthlich geſtalten; — zu
dieſen „irdiſchen Gütern“ gehören alle die hohen Genüſſe der
bildenden Kunſt, der Tonkunſt, der Poeſie, welche ſchon während
des chriſtlichen Mittelalters (und trotz ſeiner Principien!) ſich
zu hoher Blüthe entwickelten, und welche wir als „ideale Güter“
hochſchätzen; — zu dieſen „irdiſchen Gütern“ gehören alle jene
unſchätzbaren Fortſchritte der Wiſſenſchaft und vor Allem der
Naturerkenntniß, auf deren ungeahnte Entwickelung unſer 19. Jahr-
hundert in der That ſtolz ſein kann. Alle dieſe „irdiſchen Güter“
der verfeinerten Kultur, welche nach unſerer moniſtiſchen Welt-
anſchauung den höchſten Werth beſitzen, ſind nach der chriſtlichen
Lehre werthlos, ja großentheils verwerflich, und die ſtrenge chriſt-
liche Moral muß das Streben nach dieſen Gütern ebenſo miß-
billigen, wie unſere humaniſtiſche Ethik dasſelbe billigt und
empfiehlt. Das Chriſtenthum zeigt ſich alſo auch auf dieſem
praktiſchen Gebiete kulturfeindlich, und der Kampf, welchen die
moderne Bildung und Wiſſenſchaft dagegen zu führen gezwungen
ſind, iſt auch in dieſem Sinne „Kulturkampf“.
V.Die Familien-Verachtung des Chriſtenthums.
Zu den bedauerlichſten Seiten der chriſtlichen Moral gehört die
Geringſchätzung, welche dasſelbe gegen das Familien-Leben
[412]Familien-Verachtung des Chriſtenthums. XIX.
beſitzt, d. h. gegen jenes naturgemäße Zuſammenleben mit den
nächſten Blutsverwandten, welches für den normalen Menſchen
ebenſo unentbehrlich iſt wie für alle höheren ſocialen Thiere.
Die „Familie“ gilt uns ja mit Recht als die „Grundlage der
Geſellſchaft“ und das geſunde Familien-Leben als Vorbedingung
für ein blühendes Staatsleben. Ganz anderer Anſicht war
Chriſtus, deſſen nach dem „Jenſeits“ gerichteter Blick die Frau
und die Familie ebenſo gering ſchätzte wie alle anderen Güter
des „Diesſeits“. Von den ſeltenen Berührungen mit ſeinen
Eltern und Geſchwiſtern wiſſen die Evangelien nur ſehr wenig
zu erzählen; das Verhältniß zu ſeiner Mutter Maria war danach
keineswegs ſo zart und innig, wie es uns Tauſende von ſchönen
Bildern in poetiſcher Verklärung vorführen; er ſelbſt war
nicht verheirathet. Die Geſchlechts-Liebe, die doch die erſte
Grundlage der Familien-Bildung iſt, erſchien Jeſus eher wie
ein nothwendiges Uebel. Noch weiter ging darin ſein eifrigſter
Apoſtel, Paulus, der es für beſſer erklärte, nicht zu heirathen
als zu heirathen. „Es iſt dem Menſchen gut, daß er kein Weib
berühre“ (I. Korinther 7, 1, 28-38). Wenn die Menſchheit dieſen
guten Rath befolgte, würde ſie damit allerdings bald alles irdiſche
Leid und Elend loswerden; ſie würde durch dieſe Radikal-Kur
innerhalb eines Jahrhunderts ausſterben 15.
VI.Die Frauen-Verachtung des Chriſtenthums.
Da Chriſtus ſelbſt die Frauenliebe nicht kannte, blieb ihm per-
ſönlich jene feine Veredelung des wahren Menſchenweſens fremd,
welche erſt aus dem innigen Zuſammenleben des Mannes mit
dem Weibe entſpringt. Der intime ſexuelle Verkehr, auf welchem
allein die Erhaltung des Menſchengeſchlechts beruht, iſt dafür
ebenſo wichtig wie die geiſtige Durchdringung beider Geſchlechter
und die gegenſeitige Ergänzung, die ſich Beide gleicher Weiſe in
den praktiſchen Bedürfniſſen des täglichen Lebens wie in den
höchſten idealen Funktionen der Seelenthätigkeit gewähren. Denn
[413]XIX. Frauen-Verachtung des Chriſtenthums.
Mann und Weib ſind zwei verſchiedene, aber gleichwerthige
Organismen, jeder mit ſeinen eigenthümlichen Vorzügen und
Mängeln. Je höher ſich die Kultur entwickelte, deſto mehr wurde
dieſer ideale Werth der ſexuellen Liebe erkannt, und deſto höher
ſtieg die Achtung der Frau, beſonders in der germaniſchen Raſſe;
iſt ſie doch die Quelle, aus welcher die herrlichſten Blüthen der
Poeſie und der Kunſt entſproſſen ſind. Chriſtus dagegen lag
dieſe Anſchauung ebenſo fern wie faſt dem ganzen Alterthum;
er theilte die allgemein herrſchende Anſchauung des Orients,
daß das Weib dem Manne untergeordnet und der Verkehr mit
ihm „unrein“ ſei. Die beleidigte Natur hat ſich für dieſe Miß-
achtung furchtbar gerächt, und die traurigen Folgen derſelben
ſind namentlich in der Kulturgeſchichte des papiſtiſchen Mittel-
alters mit blutiger Schrift verzeichnet.
Papiſtiſche Moral. Die bewunderungswürdige Hierarchie
des römiſchen Papismus, die kein Mittel zur abſoluten Be-
herrſchung der Geiſter verſchmähte, fand ein ausgezeichnetes In-
ſtrument in der Fortbildung jener „unreinen“ Anſchauung und
in der Pflege der asketiſchen Vorſtellung, daß die Enthaltung
vom Frauen-Verkehr an ſich eine Tugend ſei. Schon in den
erſten Jahrhunderten nach Chriſtus enthielten ſich viele Prieſter
freiwillig der Ehe, und bald ſtieg der vermeintliche Werth dieſes
Cölibats ſo hoch, daß dasſelbe für obligatoriſch erklärt wurde.
Die Sittenloſigkeit, die in Folge deſſen einriß, iſt durch die
Forſchungen der neueren Kulturgeſchichte allbekannt geworden *).
Schon im Mittelalter wurde die Verführung ehrbarer Frauen
und Töchter durch katholiſche Geiſtliche (wobei der Beichtſtuhl
eine wichtige Rolle ſpielte!) ein öffentliches Aergerniß; viele
Gemeinden drangen darauf, daß zur Verhütung derſelben den
„keuſchen“ Prieſtern das Konkubinat geſtattet werde! Das
[414]Moral des Cölibats. XIX.
geſchah denn auch in verſchiedenen, oft recht romantiſchen Formen.
So wurde z. B. das kanoniſche Geſetz, daß die Pfarrersköchin
nicht jünger als vierzig Jahre alt ſein dürfe, ſehr ſinnreich
dadurch „ausgelegt“, daß ſich der Herr Kaplan zwei „Köchinnen“
hielt, eine im Pfarrhauſe, die andere draußen; wenn jene 24
und dieſe 18 Jahr alt war, machte das zuſammen 42 — alſo
noch 2 Jahre mehr, als nöthig war. Auf den chriſtlichen Kon-
cilien, auf welchen ungläubige Ketzer lebendig verbrannt wurden,
tafelten die verſammelten Kardinäle und Biſchöfe mit ganzen
Schaaren von Freudenmädchen. Die geheimen und öffentlichen
Ausſchweifungen des katholiſchen Klerus wurden ſo ſchamlos
und gemeingefährlich, daß ſchon vor Luther die Empörung
darüber allgemein und der Ruf nach einer „Reformation der
Kirche an Haupt und Gliedern“ überall laut wurde. Daß trotz-
dem dieſe unſittlichen Verhältniſſe in katholiſchen Ländern noch
heute fortbeſtehen (wenn auch mehr im Geheimen), iſt bekannt.
Früher wiederholten ſich noch immer von Zeit zu Zeit die Anträge
auf definitive Aufhebung des Cölibats, ſo in den Kammern von
Baden, Bayern, Heſſen, Sachſen und anderen Ländern. Leider
bisher vergebens! Im Deutſchen Reichstage, in welchem das
ultramontane Centrum gegenwärtig die lächerlichſten Mittel zur
Vermeidung der ſexuellen Unſittlichkeit vorſchlägt, denkt noch
heute keine Partei daran, die Abſchaffung des Cölibats im In-
tereſſe der öffentlichen Moral zu beantragen. Der ſogenannte
„Freiſinn“ und die utopiſtiſche Social-Demokratie
buhlen um die Gunſt jenes Centrums!
Der moderne Kulturſtaat, der nicht bloß das praktiſche,
ſondern auch das moraliſche Volksleben auf eine höhere Stufe
heben ſoll, hat das Recht und die Pflicht, ſolche unwürdige und
gemeinſchädliche Zuſtände aufzuheben. Das obligatoriſche
Cölibat der katholiſchen Geiſtlichen iſt ebenſo verderblich und
unſittlich wie die Ohrenbeichte und der Ablaßkram; alle
[415]XIX. Moral des Papismus.
drei Einrichtungen haben mit dem urſprünglichen Chriſten-
thum Nichts zu thun; alle drei ſchlagen der reinen Chriſten-
Moral in's Geſicht; alle drei ſind nichtswürdige Erfindungen
des Papismus, darauf berechnet, die abſolute Herrſchaft über
die leichtgläubigen Volksmaſſen aufrecht zu erhalten und ſie nach
Kräften materiell auszubeuten.
Die Nemeſis der Geſchichte wird früher oder ſpäter über
den römiſchen Papismus ein furchtbares Strafgericht halten,
und die Millionen Menſchen, die durch dieſe entartete Religion
um ihr Lebensglück gebracht wurden, werden dazu dienen, ihr im
kommenden 20. Jahrhundert den Todesſtoß zu verſetzen —
wenigſtens in den wahren „Kulturſtaaten“. Man hat neuer-
dings berechnet, daß die Zahl der Menſchen, welche durch die
papiſtiſchen Ketzer-Verfolgungen, die Inquiſition, die chriſtlichen
Glaubenskriege u. ſ. w. um's Leben kamen, weit über zehn
Millionen beträgt. Aber was bedeutet dieſe Zahl gegen die
zehnfach größere Zahl der Unglücklichen, welche den Satzungen
und der Prieſterherrſchaft der entarteten chriſtlichen Kirche mo-
raliſch zum Opfer fielen? — gegen die Unzahl Derjenigen,
deren höheres Geiſtesleben durch ſie getödtet, deren naives Ge-
wiſſen gequält, deren Familien-Leben vernichtet wurde? Wahrlich,
es gilt das wahre Wort Goethe's in ſeinem herrlichen Gedichte
„Die Braut von Korinth“:
Staat und Kirche. In dem großen „Kulturkampfe“,
der in Folge dieſer traurigen Verhältniſſe noch immer geführt
werden muß, ſollte das erſte Ziel die vollſtändige Trennung
von Staat und Kirche ſein. Die „freie Kirche ſoll im
freien Staate“ beſtehen, d. h. jede Kirche ſoll frei ſein in voller
Ausübung ihres Kultus und ihrer Ceremonien, auch im Ausbau
ihrer phantaſtiſchen Dichtungen und abergläubiſchen Dogmen —
[416]Staat und Kirche. XIX.
jedoch unter der Vorausſetzung, daß ſie dadurch nicht die
öffentliche Ordnung und Sittlichkeit gefährdet. Und dann ſoll
gleiches Recht für Alle gelten! Die freien Gemeinden und die
moniſtiſchen Religions-Geſellſchaften ſollen ebenſo geduldet und
ebenſo frei in ihren Bewegungen ſein wie die liberalen Pro-
teſtanten-Vereine und die orthodoxen ultramontanen Gemeinden.
Aber für alle dieſe „Gläubigen“ der verſchiedenſten Konfeſſionen
ſoll die Religion Privatſache bleiben; der Staat ſoll ſie
nur beaufſichtigen und ihre Ausſchreitungen verhüten, ſie aber
weder unterdrücken noch unterſtützen. Vor Allem ſollen jedoch
die Steuerzahler nicht mehr gehalten werden, ihr Geld für die
Aufrechterhaltung und Förderung eines fremden „Glaubens“
herzugeben, der nach ihrer ehrlichen Ueberzeugung ein ſchädlicher
Aberglaube iſt. In den Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika iſt in dieſem Sinne die vollſtändige „Trennung von
Staat und Kirche“ längſt durchgeführt, und zwar zur Zufrieden-
heit aller Betheiligten. Damit iſt dort zugleich die ebenſo
wichtige Trennung der Kirche von der Schule beſtimmt, un-
zweifelhaft ein wichtiger Grund für den gewaltigen Aufſchwung,
welchen die Wiſſenſchaft und das höhere Geiſtesleben überhaupt
neuerdings in Nord-Amerika genommen hat.
Kirche und Schule. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Ent-
fernung der Kirche aus der Schule ſich bloß auf die Konfeſſion
bezieht, auf die beſondere Glaubens-Form, welche der Sagenkreis
jeder einzelnen Kirche im Laufe der Zeit entwickelt hat. Dieſer
„konfeſſionelle Unterricht“ iſt reine Privatſache und Aufgabe der
Eltern und Vormünder, oder derjenigen Prieſter oder Lehrer,
denen dieſe ihr perſönliches Vertrauen ſchenken. Dagegen treten
an Stelle der eliminirten „Konfeſſion“ in der Schule zwei ver-
ſchiedene wichtige Unterrichts-Gegenſtände: erſtens die moniſtiſche
Sittenlehre und zweitens die vergleichende Religions-Geſchichte.
Ueber die neue moniſtiſche Ethik, welche ſich auf der feſten
[417]XIX. Schule und Kirche.
Baſis der modernen Naturerkenntniß — vor Allem der Ent-
wickelungslehre — erhebt, iſt im Laufe der letzten dreißig
Jahre eine umfangreiche Literatur erſchienen*). Unſere neue ver-
gleichende Religionsgeſchichte knüpft naturgemäß an
den beſtehenden Elementar-Unterricht in „bibliſcher Geſchichte“
und in der Sagenwelt des griechiſchen und römiſchen Alterthums
an. Beide bleiben wie bisher weſentliche Bildungs-Elemente.
Das iſt ſchon deßhalb ſelbſtverſtändlich, weil unſere ganze
bildende Kunſt, das Hauptgebiet unſerer moniſtiſchen
Aeſthetik, auf das Innigſte mit der chriſtlichen, helleniſchen
und römiſchen Mythologie verwachſen iſt. Ein weſentlicher Unter-
ſchied im Unterricht wird nur darin eintreten, daß die chriſtlichen
Sagen und Legenden nicht als „Wahrheiten“ gelehrt werden,
ſondern gleich den griechiſchen und römiſchen als Dichtungen,
der hohe Werth des ethiſchen und äſthetiſchen Stoffes, den ſie
enthalten, wird dadurch nicht vermindert, ſondern erhöht. —
Was die Bibel betrifft, ſo ſollte dieſes „Buch der Bücher“ den
Kindern nur in ſorgfältig gewähltem Auszuge in die Hand ge-
geben werden (als „Schulbibel“); dadurch würde die Befleckung
der kindlichen Phantaſie mit den zahlreichen unſauberen Ge-
ſchichten und unmoraliſchen Erzählungen verhütet werden, an
denen namentlich das Alte Teſtament ſo reich iſt.
Staat und Schule. Nachdem unſer moderner Kulturſtaat
ſich und die Schule von den Sklaven-Feſſeln der Kirche befreit
hat, wird er um ſo mehr ſeine Kraft und Fürſorge der Pflege
der Schule widmen können. Der unſchätzbare Werth eines
guten Schul-Unterrichts iſt uns um ſo mehr zum Bewußtſein
gekommen, je reicher und großartiger ſich im Laufe des 19. Jahr-
hunderts alle Zweige des modernen Kultur-Lebens entfaltet haben.
Haeckel, Welträthſel. 27
[418]Staat und Schule. XIX.
Aber die Entwickelung der Unterrichts-Methoden hat damit keines-
wegs gleichen Schritt gehalten. Die Nothwendigkeit einer um-
faſſenden Schul-Reform drängt ſich uns immer entſchiedener
auf. Auch über dieſe große Frage ſind im Laufe der letzten
vierzig Jahre ſehr zahlreiche und werthvolle Schriften erſchienen.
Wir beſchränken uns daher auf Hervorhebung einiger allgemeiner
Geſichtspunkte, die uns beſonders wichtig erſcheinen: 1. Im
bisherigen Unterricht ſpielte allgemein der Menſch die Haupt-
rolle und beſonders das grammatiſche Studium ſeiner Sprache;
die Naturkunde wurde darüber ganz vernachläſſigt. 2. In der
neuen Schule muß die Natur das Hauptobjekt werden; der
Menſch ſoll eine richtige Vorſtellung von der Welt gewinnen, in
der er lebt; er ſoll nicht außerhalb der Natur ſtehen oder gar
im Gegenſatz zu ihr, ſondern ſoll als ihr höchſtes und edelſtes
Erzeugniß erſcheinen. 3. Das Studium der klaſſiſchen
Sprachen (Lateiniſch und Griechiſch), das bisher den größten
Theil der Zeit und Arbeit in Anſpruch nahm, bleibt zwar ſehr
werthvoll, muß aber ſtark beſchränkt und auf die Elemente
reducirt werden (das Griechiſche nur fakultativ, das Lateiniſche
obligatoriſch). 4. Dafür müſſen die modernen Kultur-
Sprachen auf allen höheren Schulen um ſo mehr gepflegt
werden (Engliſch und Franzöſiſch obligatoriſch, daneben Italieniſch
fakultativ). 5. Der Unterricht in der Geſchichte muß mehr das
innere Geiſtesleben, die Kultur-Geſchichte berückſichtigen, weniger
die äußerliche Völkergeſchichte (die Schickſale der Dynaſtien,
Kriege u. ſ. w.). 6. Die Grundzüge der Entwickelungslehre
ſind im Zuſammenhange mit denjenigen der Kosmologie zu
lehren, Geologie im Anſchluß an die Geographie, Anthropologie
im Anſchluß an die Biologie. 7. Die Grundzüge der Biologie
müſſen Gemeingut jedes gebildeten Menſchen werden; der moderne
„Anſchauungs-Unterricht“ fördert die anziehende Einführung in
die biologiſchen Wiſſenſchaften (Anthropologie, Zoologie, Botanik).
[419]XIX. Reform der Schule.
Im Beginne iſt von der beſchreibenden Syſtematik auszugehen (im
Zuſammenhang mit Oekologie oder Bionomie); ſpäter ſind die
Elemente der Anatomie und Phyſiologie anzuſchließen. 8. Ebenſo
muß von Phyſik und Chemie jeder Gebildete die Grundzüge
kennen lernen, ſowie deren exakte Begründung durch die Mathe-
matik. 9. Jeder Schüler muß gut zeichnen lernen, und zwar
nach der Natur; womöglich auch aquarelliren. Das Entwerfen
von Zeichnungen und Aquarell-Skizzen nach der Natur (von
Blumen, Thieren, Landſchaften, Wolken u. ſ. w.) weckt nicht nur
das Intereſſe an der Natur und erhält die Erinnerung an ihren
Genuß, ſondern die Schüler lernen dadurch überhaupt erſt richtig
ſehen und das Geſehene verſtehen. 10. Viel mehr Sorg-
falt und Zeit als bisher iſt auf die körperliche Aus-
bildung zu verwenden, auf Turnen und Schwimmen; vorzüglich
aber ſind wöchentlich gemeinſame Spaziergänge und jährlich
in den Ferien mehrere Fußreiſen zu unternehmen; der hier
gebotene Anſchauungs-Unterricht iſt von höchſtem Werth.
Das Hauptziel der höheren Schulbildung blieb bisher in
den meiſten Kulturſtaaten die Vorbildung für den ſpäteren Beruf,
Erwerbung eines gewiſſen Maßes von Kenntniſſen und Abrichtung
für die Pflichten des Staatsbürgers. Die Schule des zwanzigſten
Jahrhunderts wird dagegen als Hauptziel die Ausbildung des
ſelbſtändigen Denkens verfolgen, das klare Verſtändniß der
erworbenen Kenntniſſe und die Einſicht in den natürlichen
Zuſammenhang der Erſcheinungen. Wenn der moderne Kultur-
ſtaat jedem Bürger das allgemeine gleiche Wahlrecht zugeſteht,
muß er ihm auch die Mittel gewähren, durch gute Schulbildung
ſeinen Verſtand zu entwickeln, um davon zum allgemeinen Beſten
eine vernünftige Anwendung zu machen.
27*
[420]XIX.
Gegenſatz der fundamentalen Principien
im Gebiete der moniſtiſchen und der dualiſtiſchen Philoſophie.
| 1. Monismus (einheitliche Weltanſchauung): Materielle Körperwelt und immaterielle Geiſteswelt bilden ein einziges, untrennbares und allumfaſſendes Univerſum. 2. Pantheismus (und Atheis- mus), Deuſ intramundanuſ: Welt und Gott bilden eine einzige Subſtanz (Materie und Energie ſind untrennbare Attribute). 3. Genetismus (= Evolutis- mus), Entwickelungslehre: Der Kosmos (= Univerſum) iſt ewig und unendlich, iſt niemals erſchaffen und entwickelt ſich nach ewigen Naturgeſetzen. 4. Naturalismus (und Rationis- mus): Das Subſtanz-Geſetz (Erhaltung der Materie und der Energie) beherrſcht alle Erſchei- nungen ohne Ausnahme; Alles geht mit natürlichen Dingen zu. 5. Mechanismus (und Hylozois- mus): Eſ giebt keine beſon- dere Lebenskraft, welche den phyſikaliſchen und chemiſchen Kräften unabhängig und ſelbſt- ſtändig gegenüberſteht. 6. Thanatismus (Sterblichkeits- Glaube): Die Seele des Men- ſchen iſt kein ſelbſtſtändiges, un- ſterbliches Weſen, ſondern auf natürlichem Wege aus der Thier- ſeele entſtanden, ein Komplex von Gehirn-Funktionen. | b/\>1. Dualismus (zweiheitliche Weltanſchauung): Materielle Körperwelt und immaterielle Geiſteswelt ſind zwei völlig ge- trennte Gebiete (von einander ganz unabhängig). 2. Theismus (und Deismus), Deuſ extramundanus: Welt und Gott ſind zwei verſchiedene Subſtanzen (Materie und Energie ſind nur theilweiſe verknüpft). 3. Kreatismus (= Demiurgik), Schöpfungslehre: Der Kos- mos (= Univerſum) iſt weder ewig noch unendlich, ſondern einmal (oder mehrmal) von Gott aus Nichts erſchaffen. 4. Supranaturalismus (und My- ſticismus): Das Subſtanz- Geſetz beherrſcht nur einen Theil der Natur: die Erſcheinungen des Geiſteslebens ſind davon unab- hängig und übernatürlich. 5. Vitalismus (und Teleologie): Die Lebenskraft(Viſ vita- liſ) wirkt in der organiſchen Na- tur zweckmäßig, unabhängig von den phyſikaliſchen und chemiſchen Kräften. 6. Athanismus (Unſterblich- keits-Glaube): Die Seele des Menſchen iſt ein ſelbſt- ſtändiges, unſterbliches Weſen, übernatürlich erſchaffen, theil- weiſe oder ganz unabhängig von den Gehirn-Funktionen. |
[[421]]
Zwanzigſtes Kapitel.
Löſung der Welträthſel.
Rückblick auf die Fortſchritte der wiſſenſchaftlichen Welt-
erkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Beantwortung der
Welträthſel durch die moniſtiſche Naturphiloſophie.
‘„Weite Welt und breites Leben,
Langer Jahre redlich Streben,
Stets geforſcht und ſtets gegründet,
Nie geſchloſſen, oft geründet.
Aelteſtes bewahrt mit Treue,
Freundlich aufgefaßtes Neue,
Heitern Sinn und reine Zwecke,
Nun! Man kommt wohl eine Strecke.“
Goethe.’ ()
[[422]]
Rückblick auf die Fortſchritte des 19. Jahrhunderts in der Löſung der
Welträthſel. I. Fortſchritte der Aſtronomie und Kosmologie: Phyſikaliſche
und chemiſche Einheit des Univerſum. Metamorphoſe des Kosmos. Ent-
wickelung der Planeten-Syſteme. Analogie der phylogenetiſchen Proceſſe
auf der Erde und auf anderen Planeten. Organiſche Bewohner anderer
Weltkörper. Periodiſcher Wechſel der Weltenbildung. II. Fortſchritte der
Geologie und Paläontologie. Neptunismus und Vulkanismus. Kontinuitäts-
Lehre. III. Fortſchritte der Phyſik und Chemie. IV. Fortſchritte der
Biologie. Zellen-Theorie und Deſcendenz-Theorie. V. Anthropologie.
Urſprung des Menſchen. Allgemeine Schlußbetrachtung.
Wolfgang Goethe, Fauſt. — Gott und Welt. — Prometheus. — Zur
Naturwiſſenſchaft im Allgemeinen. Stuttgart 1780-1830.
Alexander Humboldt, Kosmos. Entwurf einer phyſiſchen Weltbeſchreibung.
4 Bände. Stuttgart 1845-1854.
Carus Sterne (Ernſt Krauſe), Werden und Vergehen. Eine Entwickelungs-
geſchichte des Naturganzen in gemeinverſtändlicher Faſſung. Vierte Auf-
lage. Berlin 1899.
Wilhelm Bölſche, Entwickelungsgeſchichte der Natur. 2 Bände. (Mit über
tauſend Abbildungen.) Neudamm 1896.
Julius Hart, Der neue Gott. Ein Ausblick auf das neue Jahrhundert.
Leipzig 1899.
J. G. Vogt, Entſtehen und Vergehen der Welt auf Grund eines einheit-
lichen Subſtanz-Begriffes. Zweite Auflage. Leipzig 1897.
Gideon Spicker, Der Kampf zweier Weltanſchauungen. Eine Kritik der
alten und neueſten Philoſophie, mit Einſchluß der chriſtlichen Offenbarung.
Stuttgart 1898.
Ludwig Büchner, Am Sterbelager des Jahrhunderts. Blicke eines freien
Denkers aus der Zeit in die Zeit. Gießen 1898.
Ernſt Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Gemeinverſtändliche wiſſen-
ſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre. 2 Theile. 1868.
Neunte Auflage. Mit 30 Tafeln. Berlin 1898.
[[423]]
Am Ende unſerer philoſophiſchen Studien über die Welt-
räthſel angelangt, dürfen wir getroſt zur Beantwortung der
ſchwerwiegenden Frage ſchreiten: Wie weit iſt uns deren Löſung
gelungen? Welchen Werth beſitzen die ungeheuren Fortſchritte,
welche das ſcheidende 19. Jahrhundert in der wahren Natur-
Erkenntniß gemacht hat? Und welche Ausſicht eröffnen ſie uns
für die Zukunft, für die weitere Entwickelung unſerer Welt-
anſchauung im 20. Jahrhundert, an deſſen Schwelle wir ſtehen?
Jeder unbefangene Denker, der die thatſächlichen Fortſchritte
unſerer empiriſchen Kenntniſſe und die einheitliche Klärung
unſeres philoſophiſchen Verſtändniſſes derſelben einigermaßen
überſehen kann, wird unſere Anſicht theilen: das neunzehnte
Jahrhundert hat größere Fortſchritte in der Kenntniß der Natur
und im Verſtändniß ihres Weſens herbeigeführt als alle früheren
Jahrhunderte; es hat viele große „Welträthſel“ gelöſt, die an
ſeinem Beginne für unlösbar galten; es hat uns neue Gebiete
des Wiſſens und Erkennens entdeckt, von deren Exiſtenz der
Menſch vor hundert Jahren noch keine Ahnung hatte. Vor Allem
aber hat es uns das erhabene Ziel der moniſtiſchen Kosmo-
logie klar vor Augen geſtellt und den Weg gezeigt, auf
welchem allein wir uns demſelben nähern können, den Weg der
exakten empiriſchen Erforſchung der Thatſachen und der
kritiſchen genetiſchen Erkenntniß ihrer Urſachen. Das abſtrakte
[424]Fortſchritte der Aſtronomie. XX.
große Geſetz der mechaniſchen Kauſalität, für welches
unſer kosmologiſches Grundgeſetz, das Subſtanz-
Geſetz, nur ein anderer konkreter Ausdruck iſt, beherrſcht jetzt
das Univerſum ebenſo wie den Menſchengeiſt; es iſt der ſichere,
unverrückbare Leitſtern geworden, deſſen klares Licht uns durch
das dunkle Labyrinth der unzähligen einzelnen Erſcheinungen den
Pfad zeigt. Um uns davon zu überzeugen, wollen wir einen
flüchtigen Rückblick auf die erſtaunlichen Fortſchritte werfen,
welche die Hauptzweige der Naturwiſſenſchaft in dieſem denk-
würdigen Zeitraum gemacht haben.
I.Fortſchritte der Aſtronomie. Die Himmelskunde iſt
die älteſte, ebenſo wie die Menſchenkunde die jüngſte Natur-
wiſſenſchaft. Ueber ſich ſelbſt und ſein eigenes Weſen kam der
Menſch erſt in der zweiten Hälfte unſeres Jahrhunderts zu voller
Klarheit, während er in der Kenntniß des geſtirnten Himmels,
der Planeten-Bewegungen u. ſ. w. ſchon vor 4500 Jahren er-
ſtaunliche Kenntniſſe beſaß. Die alten Chineſen, Inder, Egypter
und Chaldäer kannten im fernen Morgenlande ſchon damals die
ſphäriſche Aſtronomie genauer als die meiſten „gebildeten“
Chriſten des Abendlandes viertauſend Jahre ſpäter. Schon im
Jahre 2697 vor Chr. wurde in China eine Sonnenfinſterniß
aſtronomiſch beobachtet und 1100 Jahre vor Chr. mittels eines
Gnomons die Schiefe der Ekliptik beſtimmt, während Chriſtus
ſelbſt (der „Sohn Gottes!“) bekanntlich gar keine aſtro-
nomiſchen Kenntniſſe beſaß, vielmehr Himmel und Erde, Natur
und Menſch von dem beſchränkteſten geocentriſchen und anthropo-
centriſchen Standpunkte aus beurtheilte. Als größter Fortſchritt
der Aſtronomie wird allgemein und mit Recht das heliocentriſche
Weltſyſtem des Kopernikus betrachtet, deſſen großartiges
Werk: „De revolutionibuſ orbium coeleſtium“
ſelbſt die größte Revolution in den Köpfen der denkenden
Menſchen hervorrief. Indem er das herrſchende geocentriſche
[425]XX. Fortſchritte der Kosmologie.
Weltſyſtem des Ptolemäus ſtürzte, entzog er zugleich der
reinen chriſtlichen Weltanſchauung den Boden, welche die Erde
als Mittelpunkt der Welt und den Menſchen als gottgleichen
Beherrſcher der Erde betrachtete. Es war daher nur folgerichtig,
daß der chriſtliche Klerus, an ſeiner Spitze der römiſche Papſt,
die neue unſchätzbare Entdeckung des Kopernikus auf's Heftigſte
bekämpfte. Trotzdem brach ſie ſich bald vollſtändig Bahn, nach-
dem Kepler und Galilei darauf die wahre „Mechanik des
Himmels“ gegründet und Newton ihr durch ſeine Gravitations-
Theorie die unerſchütterliche mathematiſche Baſis gegeben hatte
(1686).
Ein weiterer gewaltiger und das ganze Univerſum um-
faſſender Fortſchritt war die Einführung der Entwickelungs-
Idee in die Himmelskunde; er geſchah 1755 durch den
jugendlichen Kant, der in ſeiner kühnen Allgemeinen Natur-
geſchichte und Theorie des Himmels nicht nur die „Ver-
faſſung“, ſondern auch den „mechaniſchen Urſprung“
des ganzen Weltgebäudes nach Newton's Grundſätzen“ abzu-
handeln unternahm. Durch das großartige „Syſtème du
monde“ von Laplace, der unabhängig von Kant auf die-
ſelben Vorſtellungen von der Weltbildung gekommen war, wurde
dann 1796 dieſe neue „Mécanique céleſte“ ſo feſt be-
gründet, daß es ſcheinen konnte, unſerem 19. Jahrhundert ſei
auf dieſem größten Erkenntniß-Gebiete nichts weſentlich Neues von
gleicher Bedeutung mehr vorbehalten. Und doch bleibt ihm der
Ruhm, auch hier ganz neue Bahnen eröffnet und unſeren Blick
in's Univerſum unendlich erweitert zu haben. Durch die Er-
findung der Photographie und Photometrie, vor Allem aber der
Spektral-Analyſe (durch Bunſen und Kirchhoff, 1860)
wurden die Phyſik und Chemie in die Aſtronomie eingeführt und
dadurch kosmologiſche Aufſchlüſſe von größter Tragweite ge-
wonnen. Es ergab ſich nun mit Sicherheit, daß die Materie
[426]Metamorphoſe des Kosmos. XX.
im ganzen Weltall dieſelbe iſt, und daß deren phyſikaliſche und
chemiſche Eigenſchaften auf den fernſten Fixſternen nicht verſchieden
ſind von denjenigen unſerer Erde.
Die moniſtiſche Ueberzeugung von der phyſikaliſchen
und chemiſchen Einheit des unendlichen Kosmos, die
wir dadurch gewonnen haben, gehört ſicherlich zu den werth-
vollſten allgemeinen Erkenntniſſen, welche wir der Aſtrophyſik
verdanken, jenem neuen Zweige der Aſtronomie, um dem ſich
namentlich Friedrich Zöllner*) große Verdienſte erwarb.
Nicht minder wichtig iſt die klare, mit Hilfe jener gewonnene
Erkenntniß, daß auch dieſelben Geſetze der mechaniſchen Entwickelung
im unendlichen Univerſum ebenſo überall herrſchen, wie auf
unſerer Erde; eine gewaltige, allumfaſſende Metamorphoſe
des Kosmos vollzieht ſich ebenſo ununterbrochen in allen
Theilen des unendlichen Univerſum wie in der geologiſchen Ge-
ſchichte unſerer Erde; ebenſo in der Stammesgeſchichte ihrer
Bewohner wie in der Völkergeſchichte und im Leben jedes
einzelnen Menſchen. In einem Theile des Kosmos erblicken wir
mit unſeren vervollkommneten Fernröhren gewaltige Nebelflecke,
die aus glühenden, äußerſt dünnen Gasmaſſen beſtehen; wir
deuten dieſelben als Keime von Weltkörpern, die Milliarden von
Meilen entfernt und im erſten Stadium der Entwickelung be-
griffen ſind. Bei einem Theile dieſer „Sternkeime“ ſind wahrſcheinlich
die chemiſchen Elemente noch nicht getrennt, ſondern bei ungeheuer
hoher Temperatur (nach vielen Millionen von Graden berechnet!) im
Urelement (Prothyl) vereinigt; ja vielleicht iſt hier zum Theil
die urſprüngliche „Subſtanz“ (S. 264) noch nicht in „Maſſe
und Aether“ geſondert. In anderen Theilen des Univerſums
begegnen wir Sternen, die bereits durch Abkühlung gluthflüſſig
[427]XX. Leben auf anderen Weltkörpern.
geworden, anderen, die ſchon erſtarrt ſind; wir können ihre Ent-
wickelungſtufe annähernd aus ihrer verſchiedenen Farbe beſtimmen.
Dann wieder ſehen wir Sterne, die von Ringen und Monden
umgeben ſind wie unſer Saturn; wir erkennen in dem leuch-
tenden Nebelring den Keim eines neuen Mondes, der ſich vom
Mutter-Planeten ebenſo abgelöſt hat wie dieſer letztere von
der Sonne.
Von vielen „Fixſternen“, deren Licht Jahrtauſende braucht,
um zu uns zu gelangen, dürfen wir mit Sicherheit annehmen,
daß ſie Sonnen ſind, ähnlich unſerer Mutter Sonne, und daß
ſie von Planeten und Monden umkreiſt werden, ähnlich den-
jenigen unſeres eigenen Sonnenſyſtems. Wir dürfen auch weiter-
hin vermuthen, daß ſich Tauſende von dieſen Planeten auf einer
ähnlichen Entwickelungsſtufe wie unſere Erde befinden, d. h. in
einem Lebensalter, in welchem die Temperatur der Oberfläche
zwiſchen dem Gefrier- und Siedepunkt des Waſſers liegt, alſo
die Exiſtenz tropfbaren flüſſigen Waſſers geſtattet. Damit iſt
die Möglichkeit gegeben, daß der Kohlenſtoff auch hier, wie
auf der Erde, mit anderen Elementen ſehr verwickelte Ver-
bindungen eingeht, und daß aus ſeinen ſtickſtoffhaltigen Ver-
bindungen ſich Plasma entwickelt hat, jene wunderbare
„lebendige Subſtanz“, die wir als alleinigen Eigenthümer
des organiſchen Lebens kennen. Die Moneren (z. B. Chro-
maceen und Bakterien), die nur aus ſolchem primitiven
Protoplasma beſtehen, und die durch Urzeugung (Archi-
gonie) aus jenen anorganiſchen Nitrokarbonaten entſtanden,
können nun denſelben Entwickelungsgang auf vielen anderen,
wie auf unſerem eigenen Planeten, eingeſchlagen haben; zu-
nächſt bildeten ſich aus ihrem homogenen Plasmakörper durch
Sonderung eines inneren Kerns (Karyon) vom äußeren
Zellkörper (Cytoſoma) einfachſte lebendige Zellen. Die
Analogie im Leben aller Zellen aber — ebenſowohl der plas-
[428]Bewohner anderer Weltkörper. XX.
modomen Pflanzenzellen wie der plasmophagen Thier-
zellen — berechtigt uns zu dem Schluſſe, daß auch die weitere
Stammesgeſchichte ſich auf vielen Sternen ähnlich wie auf
unſerer Erde abſpielt — immer natürlich die gleichen engen
Grenzen der Temperatur vorausgeſetzt, in denen das Waſſer
tropfbar-flüſſig bleibt; für glühend-flüſſige Weltkörper, auf denen
das Waſſer nur in Dampfform, und für erſtarrte, auf denen es
nur in Eisform beſteht, iſt organiſches Leben in gleicher Weiſe ganz
unmöglich.
Die Aehnlichkeit der Phylogenie, die Analogie der
ſtammesgeſchichtlichen Entwickelung, die wir demnach bei vielen
Sternen auf gleicher biogenetiſcher Entwickelungs-Stufe an-
nehmen dürfen, bietet natürlich der konſtruktiven Phantaſie ein
weites Feld für farbenreiche Spekulationen. Ein Lieblings-
Gegenſtand derſelben iſt ſeit alter Zeit die Frage, ob auch
Menſchen oder uns ähnliche, vielleicht höher entwickelte
Organismen auf anderen Sternen wohnen? Unter vielen
Schriften, welche dieſe offene Frage zu beantworten ſuchen, haben
neuerdings namentlich diejenigen des Pariſer Aſtronomen
Camille Flammarion eine weite Verbreitung erlangt; ſie
zeichnen ſich ebenſo durch reiche Phantaſie und lebendige Dar-
ſtellung aus, wie durch bedauerlichen Mangel an Kritik und an
biologiſchen Kenntniſſen. Soweit wir gegenwärtig zur Be-
antwortung dieſer Frage befähigt erſcheinen, können wir uns
etwa Folgendes vorſtellen: I. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß auf
einigen Planeten unſeres Syſtems (Mars und Venus) und vielen
Planeten anderer Sonnen-Syſteme der biogenetiſche Proceß ſich
ähnlich wie auf unſerer Erde abſpielt; zuerſt entſtanden durch
Archigonie einfache Moneren und aus dieſen einzellige Protiſten
(zunächſt plasmodome Urpflanzen, ſpäter plasmophage Ur-
thiere). II. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß aus dieſen einzelligen
Protiſten ſich im weiteren Verlauf der Entwickelung zunächſt
[429]XX. Bewohner anderer Weltkörper.
ſociale Zellvereine bildeten (Cönobien), ſpäter gewebebildende
Pflanzen und Thiere (Metaphyten und Metazoen). III. Es iſt auch
fernerhin wahrſcheinlich, daß im Pflanzenreiche zunächſt Thallo-
phyten entſtanden (Algen und Pilze), ſpäter Diaphyten (Mooſe
und Farne), zuletzt Anthophyten (gymnoſperme und angioſperme
Blumenpflanzen). IV. Es iſt ebenſo wahrſcheinlich, daß auch im
Thierreiche der biogenetiſche Proceß einen ähnlichen Verlauf
nahm, daß aus Blaſtäaden (Katallakten) ſich zunächſt Gaſträaden
entwickelten, und aus dieſen Niederthieren (Cölenterien) ſpäter
Oberthiere (Cölomarien). V. Dagegen iſt es ſehr fraglich, ob
die einzelnen Stämme dieſer höheren Thiere (und ebenſo der
höheren Pflanzen) einen ähnlichen Entwickelungsgang auf anderen
Planeten durchlaufen, wie auf unſerer Erde. VI. Insbeſondere
iſt es ganz unſicher, ob Wirbelthiere auch außerhalb der Erde
exiſtiren, und ob aus deren phyletiſcher Metamorphoſe ſich im
Laufe vieler Millionen Jahre ebenſo Säugethiere und an deren
Spitze der Menſch entwickelt haben wie auf unſerer Erde; es
müßten dann Millionen von Transformationen ſich dort ganz
ebenſo wie hier wiederholt haben. VII. Dagegen iſt es viel
wahrſcheinlicher, daß auf anderen Planeten ſich andere Typen
von höheren Pflanzen und Thieren entwickelt haben, die unſerer
Erde fremd ſind, vielleicht auch aus einem höheren Thierſtamme,
der den Wirbelthieren an Bildungsfähigkeit überlegen iſt, höhere
Weſen, die uns irdiſche Menſchen an Intelligenz und Denk-
vermögen weit übertreffen. VIII. Die Möglichkeit, daß wir
Menſchen mit ſolchen Bewohnern anderer Planeten jemals in
direkten Verkehr treten könnten, erſcheint ausgeſchloſſen durch die
weite Entfernung unſerer Erde von anderen Weltkörpern und
die Abweſenheit der unentbehrlichen atmoſphäriſchen Luft in dem
weiten, nur von Aether erfüllten Zwiſchenraum.
Während nun viele Sterne ſich wahrſcheinlich in einem ähn-
lichen biogenetiſchen Entwickelungs-Stadium befinden wie unſere
[430]Zukunft unſerer Erde. XX.
Erde (ſeit mindeſtens hundert Millionen Jahren!), ſind andere
ſchon weiter vorgeſchritten und gehen im „planetariſchen Greiſen-
alter“ ihrem Ende entgegen, demſelben Ende, das auch unſerer
Erde ſicher bevorſteht. Durch Ausſtrahlung der Wärme in den
kalten Weltraum wird die Temperatur allmählich ſo herabgeſetzt,
das alles tropfbar flüſſige Waſſer zu Eis erſtarrt; damit hört
die Möglichkeit organiſchen Lebens auf. Zugleich zieht ſich die
Maſſe der rotirenden Weltkörper immer ſtärker zuſammen; ihre
Umlaufsgeſchwindigkeit ändert ſich langſam. Die Bahnen der
kreiſenden Planeten werden immer enger, ebenſo diejenigen der
ſie umgebenden Monde. Zuletzt ſtürzen die Monde in die Pla-
neten und dieſe in die Sonnen, aus denen ſie geboren ſind. Durch
dieſen Zuſammenſtoß werden wieder ungeheure Wärme-Mengen
erzeugt. Die zerſtäubte Maſſe der zerſtoßenen kollidirten Welt-
körper vertheilt ſich frei im unendlichen Weltraum, und das
ewige Spiel der Sonnenbildung beginnt von Neuem.
Das großartige Bild, welches ſo vor unſeren geiſtigen Augen
die moderne Aſtrophyſik aufrollt, offenbart uns ein ewiges Ent-
ſtehen und Vergehen der unzähligen Weltkörper, einen periodiſchen
Wechſel der verſchiedenen kosmogenetiſchen Zuſtände, welche wir im
Univerſum neben einander beobachten. Während an einem Orte des
unendlichen Weltraums aus einem diffuſen Nebelfleck ein neuer
Weltkeim ſich entwickelt, hat ein anderer an einem weit entfernten
Orte ſich bereits zu einem rotirenden Balle von gluthflüſſiger
Materie verdichtet; ein dritter hat bereits an ſeinem Aequator
Ringe abgeſchleudert, die ſich zu Planeten ballen; ein vierter iſt
ſchon zur mächtigen Sonne geworden, deren Planeten ſich mit
ſekundären Trabanten umgeben haben, den Monden, u. ſ. w.
u. ſ. w. Und dazwiſchen treiben ſich im Weltraum Milliarden
von kleineren Weltkörpern umher, von Meteoriten und Stern-
ſchnuppen, die als ſcheinbar geſetzloſe Vagabunden die Bahn der
größeren kreuzen, und von denen täglich ein großer Theil in die
[431]XX. Fortſchritte der Geologie.
letzteren hineinſtürzt. Dabei ändern ſich beſtändig langſam die
Umlaufs-Zeiten und die Bahnen der jagenden Weltkörper. Die
erkalteten Monde ſtürzen in ihre Planeten wie dieſe in ihre
Sonnen. Zwei entfernte Sonnen, vielleicht ſchon erſtarrt, ſtoßen
mit ungeheurer Kraft auf einander und zerſtäuben im nebelartige
Maſſen. Dabei entwickeln ſie ſo koloſſale Wärmemengen, daß der
Nebelfleck wieder glühend wird, und nun wiederholt ſich das alte
Spiel von Neuem. In dieſem Perpetuum mobile bleibt aber die
unendliche Subſtanz des Univerſum, die Summe ihrer Materie
und Energie ewig unverändert, und ewig wiederholt ſich in der
unendlichen Zeit der periodiſche Wechſel der Welt-
bildung, die in ſich ſelbſt zurücklaufende Metamorphoſe
des Kosmos. Allgewaltig herrſcht das Subſtanz-Geſetz.
II.Fortſchritte der Geologie. Viel ſpäter als der
Himmel wurde die Erde und ihre Entſtehung Gegenſtand wiſſen-
ſchaftlicher Forſchung. Die zahlreichen Kosmogenien alter und
neuer Zeit wollten zwar über die Entſtehung der Erde ebenſo
gut Auskunft geben wie über diejenige des Himmels; allein das
mythologiſche Gewand, in welches ſie ſich ſämmtlich hüllten, ver-
rieth ſofort ihren Urſprung aus der dichtenden Phantaſie. Unter
all den zahlreichen Schöpfungsſagen, von denen uns die
Religions- und Kultur-Geſchichte Kunde giebt, gewann eine
einzige bald allen übrigen den Rang ab, die Schöpfungsgeſchichte
des Moſes, wie ſie im erſten Buche des Pentateuch (Geneſiſ)
erzählt wird. Sie entſtand in der bekannten Faſſung erſt
lange nach dem Tode des Moſes (wahrſcheinlich erſt 800 Jahre
ſpäter); ihre Quellen ſind aber größtentheils viel älter und auf
aſſyriſche, babyloniſche und indiſche Sagen zurückzuführen. Den
größten Einfluß gewann dieſe jüdiſche Schöpfungsſage dadurch,
daß ſie in das chriſtliche Glaubensbekenntniß hinübergenommen
und als „Wort Gottes“ geheiligt wurde. Zwar hatten ſchon
500 Jahre vor Chriſtus die griechiſchen Naturphiloſophen die
[432]Fortſchritte der Geologie. XX.
natürliche Entſtehung der Erde auf dieſelbe Weiſe wie die der
anderen Weltkörper erklärt. Auch hatte ſchon damals Xeno-
phanes von Kolophon die Verſteinerungen, die ſpäter ſo
große Bedeutung erlangten, in ihrer wahren Natur erkannt; der
große Maler Leonardo da Vinci hatte im 15. Jahrhundert
ebenfalls dieſe Petrefakten für die foſſilen Ueberreſte von Thieren
erklärt, die in früheren Zeiten der Erdgeſchichte gelebt hatten.
Allein die Autorität der Bibel, insbeſondere der Mythus von
der Sündfluth, verhinderte jeden weiteren Fortſchritt der wahren
Erkenntniß und ſorgte dafür, daß die moſaiſchen Schöpfungs-
ſagen noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Geltung
blieben. In den Kreiſen der orthodoxen Theologen beſitzen ſie
dieſelbe noch bis auf den heutigen Tag. Erſt in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen unabhängig davon wiſſen-
ſchaftliche Forſchungen über den Bau der Erdrinde, und wurden
daraus Schlüſſe auf ihre Entſtehung abgeleitet. Der Begründer
der Geognoſie, Werner in Freiberg, ließ alle Geſteine aus dem
Waſſer entſtehen, während Voigt und Hutton (1788) richtig
erkannten, daß nur die ſedimentären, Petrefakten führenden Ge-
ſteine dieſen Urſprung haben, die vulkaniſchen und plutoniſchen
Gebirgsmaſſen dagegen durch Erſtarrung feurig-flüſſiger Maſſen
entſtanden ſind.
Der heftige Kampf, welcher zwiſchen jener neptuniſtiſchen
und dieſer plutoniſtiſchen Schule entſtand, dauerte noch
während der erſten drei Decennien unſeres Jahrhunderts fort;
er wurde erſt geſchlichtet, nachdem Karl Hoff (1822) das
Princip des Aktualismus begründet und Charles Lyell das-
ſelbe mit größtem Erfolge für die ganze natürliche Entwickelung
der Erde durchgeführt hatte. (Vergl. S. 289.) Durch ſeine
„Principien der Geologie“ (1830) wurde die überaus wichtige
Lehre von der Kontinuität der Erdumbildung endgültig zur
Anerkennung gebracht, gegenüber der Kataſtrophen-Theorie von
[433]XX. Fortſchritte der Geologie.
Cuvier*). Die Paläontologie, welche der Letztere durch
ſein Werk über die foſſilen Knochen (1812) begründet hatte,
wurde nun bald zur wichtigſten Hilfswiſſenſchaft der Geologie,
und ſchon um die Mitte unſeres Jahrhunderts hatte ſich dieſelbe
ſo weit entwickelt, daß die Haupt-Perioden in der Geſchichte der
Erde und ihrer Bewohner feſtgelegt waren. Die dünne Rinden-
ſchicht der Erde war nun mit Sicherheit als die Erſtarrungs-
Kruſte des feurig-flüſſigen Planeten erkannt, deſſen langſame
Abkühlung und Zuſammenziehung ſich ununterbrochen fortſetzt.
Die Faltung der erſtarrenden Rinde, die „Reaktion des feurig-
flüſſigen Erdinnern gegen die erkaltete Oberfläche“, und vor
Allem die ununterbrochene geologiſche Thätigkeit des Waſſers
ſind die natürlichen wirkenden Urſachen, welche tagtäglich an der
langſamen Umbildung der Erdrinde und ihrer Gebirge arbeiten.
Drei überaus wichtige Ergebniſſe von allgemeiner Bedeutung
verdanken wir den glänzenden Fortſchritten der neueren Geologie.
Erſtens wurden damit aus der Erdgeſchichte alle Wunder aus-
geſchloſſen, alle übernatürlichen Urſachen beim Aufbau der Ge-
birge und der Umbildung der Kontinente. Zweitens wurde
unſer Begriff von der Länge der ungeheuren Zeiträume,
die ſeit deren Bildung verfloſſen ſind, erſtaunlich erweitert. Wir
wiſſen jetzt, daß die ungeheuren Gebirgsmaſſen der paläozoiſchen,
meſozoiſchen und cänozoiſchen Formationen nicht viele Jahr-
tauſende, ſondern viele Jahrmillionen (weit über hundert!) zu
ihrem Aufbau brauchten. Drittens wiſſen wir jetzt, daß alle
die zahlreichen, in dieſen Formationen eingeſchloſſenen Ver-
ſteinerungen nicht wunderbare „Naturſpiele“ ſind, wie man
noch vor 150 Jahren glaubte, ſondern die verſteinerten Ueberreſte
Haeckel, Welträthſel. 28
[434]Fortſchritte der Phyſik und Chemie. XX.
von Organismen, welche in früheren Perioden der Erdgeſchichte
wirklich lebten, und welche durch langſame Umbildung aus
vorhergegangenen Ahnenreihen entſtanden ſind.
III.Fortſchritte der Phyſik und Chemie. Die zahlloſen
wichtigen Entdeckungen, welche dieſe fundamentalen Wiſſenſchaften
im 19. Jahrhundert gemacht haben, ſind ſo allbekannt, und ihre prak-
tiſche Anwendung in allen Zweigen des menſchlichen Kulturlebens
liegt ſo klar vor Aller Augen, daß wir hier nicht Einzelnes hervorzu-
heben brauchen. Allen voran hat die Anwendung der Dampfkraft und
Elektricität unſerem Jahrhundert den charakteriſtiſchen „Maſchinen-
Stempel“ aufgedrückt. Aber nicht minder werthvoll ſind die
koloſſalen Fortſchritte der anorganiſchen und organiſchen Chemie.
Alle Gebiete unſerer modernen Kultur, Medicin und Technologie,
Induſtrie und Landwirthſchaft, Bergbau und Forſtwirthſchaft,
Landtransport und Waſſerverkehr, ſind bekanntlich im Laufe des
19. Jahrhunderts — und beſonders in deſſen zweiter Hälfte —
dadurch ſo gefördert worden, daß unſere Großväter aus dem
18. Jahrhundert ſich in dieſer fremden Welt nicht auskennen
würden. Aber werthvoller und tiefgreifender noch iſt die un-
geheure theoretiſche Erweiterung unſerer Natur-Erkenntniß, welche
wir der Begründung des Subſtanz-Geſetzes verdanken.
Nachdem Lavoiſier (1789) das Geſetz von der Erhaltung der
Materie aufgeſtellt und Dalton (1808) mittels desſelben die
Atom-Theorie neu begründet hatte, war der modernen Chemie
die Bahn eröffnet, auf der ſie in rapidem Siegeslauf eine früher
nicht geahnte Bedeutung gewann. Dasſelbe gilt für die Phyſik
betreffend das Geſetz von der Erhaltung der Energie. Die Ent-
deckung desſelben durch Robert Mayer (1842) und Hermann
Helmholtz (1847) bedeutet auch für dieſe Wiſſenſchaft eine
neue Periode fruchtbarſter Entwickelung; denn nun erſt war die
Phyſik im Stande, die univerſale Einheit der Natur-
kräfte zu begreifen und das ewige Spiel der unzähligen
[435]XX. Fortſchritte der Biologie.
Naturproceſſe, bei welchen in jedem Augenblick eine Kraft in die
andere umgeſetzt werden kann.
IV.Fortſchritte der Biologie. Die großartigen und für
unſere ganze Weltanſchauung bedeutſamen Entdeckungen, welche
die Aſtronomie und Geologie in unſerem 19. Jahrhundert
gemacht haben, werden noch weit übertroffen von denjenigen der
Biologie; ja, wir dürfen ſagen, daß von den zahlreichen
Zweigen, in welchen dieſe umfaſſende Wiſſenſchaft vom organiſchen
Leben ſich neuerdings entfaltet hat, der größere Theil überhaupt
erſt im Laufe unſeres Jahrhunderts entſtanden iſt. Wie wir im
erſten Abſchnitte geſehen haben, ſind innerhalb desſelben alle
Zweige der Anatomie und Phyſiologie, der Botanik und Zoologie,
der Ontogenie und Phylogenie, durch unzählige Entdeckungen und
Erfindungen ſo ſehr bereichert worden, daß der heutige Zuſtand
unſeres biologiſchen Wiſſens denjenigen vor hundert Jahren um
das Vielfache übertrifft. Das gilt zunächſt quantitativ von
dem koloſſalen Wachsthum unſeres poſitiven Wiſſens auf allen
jenen Gebieten und ihren einzelnen Theilen. Es gilt aber ebenſo
und noch mehr qualitativ von der Vertiefung unſeres Ver-
ſtändniſſes der biologiſchen Erſcheinungen, von unſerer Erkenntniß
ihrer bewirkenden Urſachen. Hier hat vor allen Anderen
Charles Darwin (1859) die Palme des Sieges errungen;
er hat durch ſeine Selektions-Theorie das große Welträthſel von
der „organiſchen Schöpfung“ gelöſt, von der natürlichen Ent-
ſtehung der unzähligen Lebensformen durch allmähliche Umbildung.
Zwar hatte ſchon fünfzig Jahre früher der große Lamarck
(1809) erkannt, daß der Weg dieſer Transformation auf der
Wechſelwirkung von Vererbung und Anpaſſung beruhe; allein es
fehlte ihm damals noch das Selektions-Princip, und es fehlte
ihm vor Allem die tiefere Einſicht in das wahre Weſen der
Organiſation, welche erſt ſpäter durch die Begründung der
Entwickelungsgeſchichte und der Zellentheorie gewonnen wurde.
28*
[436]Fortſchritte der Anthropologie. XX.
Indem wir allgemein die Ergebniſſe dieſer und anderer Dis-
ciplinen zuſammenfaßten und in der Stammesgeſchichte der
Organismen den Schlüſſel zu ihrem einheitlichen Verſtändniß
fanden, gelangten wir zur Begründung jener moniſtiſchen
Biologie, deren Principien ich (1866) in meiner „Generellen
Morphologie“ feſtzulegen verſucht habe.
V.Fortſchritte der Anthropologie. Allen anderen Wiſſen-
ſchaften voran ſteht in gewiſſem Sinne die wahre Menſchen-
kunde, die wirklich vernünftige Anthropologie. Das Wort des
alten Weiſen: „Menſch, erkenne dich ſelbſt“ (Homo, noſce
te ipſum) und das andere berühmte Wort: „Der Menſch iſt
das Maß aller Dinge“ ſind ja von Alters her anerkannt und
angewendet. Und dennoch hat dieſe Wiſſenſchaft — im weiteſten
Sinne genommen — länger als alle anderen in den Ketten der
Tradition und des Aberglaubens geſchmachtet. Wir haben im
erſten Abſchnitt geſehen, wie langſam und ſpät ſich erſt die
Kenntniß vom menſchlichen Organismus entwickelt hat. Einer
ihrer wichtigſten Zweige, die Keimesgeſchichte, wurde erſt 1828
(durch Baer) und ein anderer, nicht minder wichtiger, die
Zellenlehre, erſt 1838 (durch Schwann) ſicher begründet. Noch
ſpäter aber wurde die „Frage aller Fragen“ gelöſt, das gewaltige
Räthſel vom „Urſprung des Menſchen“. Obgleich
Lamarck ſchon (1809) den einzigen Weg zur richtigen Löſung
desſelben gezeigt und „die Abſtammung des Menſchen vom Affen“
behauptet hatte, gelang es doch Darwin erſt fünfzig Jahre
ſpäter, dieſe Behauptung ſicher zu begründen, und erſt 1863
ſtellte Huxley in ſeinen „Zeugniſſen für die Stellung des
Menſchen in der Natur“ die gewichtigſten Beweiſe dafür zuſammen.
Ich ſelbſt habe ſodann in meiner Anthropogenie (1874) den erſten
Verſuch gemacht, die ganze Reihe der Ahnen, durch welche ſich
unſer Geſchlecht im Laufe vieler Jahrmillionen aus dem Thierreich
langſam entwickelt hat, im hiſtoriſchen Zuſammenhang darzuſtellen.
[437]XX. Schlußbetrachtung.
Schlußbetrachtung.
Die Zahl der Welträthſel hat ſich durch die angeführten
Fortſchritte der wahren Natur-Erkenntniß im Laufe des neun-
zehnten Jahrhunderts ſtetig vermindert; ſie iſt ſchließlich auf
ein einziges allumfaſſendes Univerſal-Räthſel zurückgeführt, auf
das Subſtanz-Problem. Was iſt denn nun eigentlich im
tiefſten Grunde dieſes allgewaltige Weltwunder, welches der
realiſtiſche Naturforſcher als Natur oder Univerſum verherrlicht,
der idealiſtiſche Philoſoph als Subſtanz oder Kosmos, der
fromme Gläubige als Schöpfer oder Gott? Können wir heute
behaupten, daß die wunderbaren Fortſchritte unſerer modernen
Kosmologie dieſes „Subſtanz-Räthſel“ gelöſt oder auch nur, daß
ſie uns deſſen Löſung ſehr viel näher gebracht haben?
Die Antwort auf dieſe Schlußfrage fällt natürlich ſehr
verſchieden aus, entſprechend dem Standpunkte des fragenden
Philoſophen und ſeiner empiriſchen Kenntniß der wirklichen Welt.
Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innerſten Weſen der
Natur heute vielleicht noch ebenſo fremd und verſtändnißlos
gegenüberſtehen, wie Anaximander und Empedokles vor
2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren,
wie Kant und Goethe vor 100 Jahren. Ja wir müſſen
ſogar eingeſtehen, daß uns dieſes eigentliche Weſen der Subſtanz
immer wunderbarer und räthſelhafter wird, je tiefer wir in die
Erkenntniß ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen,
je gründlicher wir ihre unzähligen Erſcheinungsformen und deren
Entwickelung kennen lernen. Was als „Ding an ſich“ hinter
den erkennbaren Erſcheinungen ſteckt, das wiſſen wir auch heute
noch nicht. Aber was geht uns dieſes myſtiſche „Ding an ſich“
überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu ſeiner Erforſchung be-
ſitzen, wenn wir nicht einmal klar wiſſen, ob es exiſtirt oder
nicht? Ueberlaſſen wir daher das unfruchtbare Grübeln über
[438]Schlußbetrachtung. XX.
dieſes ideale Geſpenſt den „reinen Metaphyſikern“ und erfreuen
wir uns ſtatt deſſen als „echte Phyſiker“ an den gewaltigen
realen Fortſchritten, welche unſere moniſtiſche Natur-Philoſophie
thatſächlich errungen hat.
Da überragt denn alle andern Fortſchritte und Entdeckungen
unſers „großen Jahrhunderts“ das gewaltige, allumfaſſende
Subſtanz-Geſetz, das „Grundgeſetz von der Erhaltung der
Kraft und des Stoffes“. Die Thatſache, daß die Subſtanz
überall einer ewigen Bewegung und Umbildung unterworfen iſt,
ſtempelt dasſelbe zugleich zum univerſalen Entwickelungs-
Geſetz. Indem dieſes höchſte Naturgeſetz feſtgeſtellt und alle
anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zur Ueber-
zeugung der univerſalen Einheit der Natur und der ewigen
Geltung der Naturgeſetze. Aus dem dunkeln Subſtanz-Problem
entwickelte ſich das klare Subſtanz-Geſetz. Der „Monismus
des Kosmos“, den wir darauf begründen, lehrt uns die aus-
nahmsloſe Geltung der „ewigen, ehernen, großen Geſetze“ im
ganzen Univerſum. Damit zertrümmert derſelbe aber zugleich
die drei großen Central-Dogmen der bisherigen dualiſtiſchen
Philoſophie, den perſönlichen Gott, die Unſterblichkeit der Seele
und die Freiheit des Willens.
Viele von uns ſehen gewiß mit lebhaftem Bedauern oder
ſelbſt mit tiefem Schmerze dem Untergange der Götter zu, welche
unſern theuern Eltern und Voreltern als höchſte geiſtige Güter
galten. Wir tröſten uns aber mit dem Worte des Dichters:
Die alte Weltanſchauung des Ideal-Dualismus mit
ihren myſtiſchen und anthropiſtiſchen Dogmen verſinkt in Trümmer;
aber über dieſem gewaltigen Trümmerfelde ſteigt hehr und herrlich
die neue Sonne unſers Real-Monismus auf, welche uns
den wundervollen Tempel der Natur voll erſchließt. In dem
[439]XX. Schlußbetrachtung.
reinen Kultus des „Wahren, Guten und Schönen“, welcher den
Kern unſerer neuen moniſtiſchen Religion bildet, finden
wir reichen Erſatz für die verlorenen anthropiſtiſchen Ideale von
„Gott, Freiheit und Unſterblichkeit“.
In der vorliegenden Behandlung der Welträthſel habe ich
meinen konſequenten moniſtiſchen Standpunkt ſcharf betont und
den Gegenſatz zu der dualiſtiſchen, heute noch herrſchenden Welt-
anſchauung klar hervorgehoben. Ich ſtütze mich dabei auf die
Zuſtimmung faſt aller modernen Naturforſcher, welche überhaupt
Neigung und Muth zum Bekenntniß einer abgerundeten philo-
ſophiſchen Ueberzeugung beſitzen. Ich möchte aber von meinen
Leſern nicht Abſchied nehmen, ohne verſöhnlich darauf hinzu-
weiſen, daß dieſer ſchroffe Gegenſatz bei konſequentem und klarem
Denken ſich bis zu einem gewiſſen Grade mildert, ja ſelbſt bis
zu einer erfreulichen Harmonie gelöſt werden kann. Bei völlig
folgerichtigem Denken, bei gleichmäßiger Anwendung der höchſten
Principien auf das Geſammtgebiet des Kosmos — der
organiſchen und anorganiſchen Natur —, nähern ſich die Gegen-
ſätze des Theismus und Pantheismus, des Vitalismus und
Mechanismus bis zur Berührung. Aber freilich, konſequentes
Denken bleibt eine ſeltene Natur-Erſcheinung! Die große Mehr-
zahl aller Philoſophen möchte mit der rechten Hand das reine,
auf Erfahrung begründete Wiſſen ergreifen, kann aber gleich-
zeitig nicht den myſtiſchen, auf Offenbarung geſtützten Glauben
entbehren, den ſie mit der linken Hand feſthält. Charakteriſtiſch
für dieſen widerſpruchsvollen Dualismus bleibt der Konflikt
zwiſchen der reinen und der praktiſchen Vernunft in der kritiſchen
Philoſophie des höchſtgeſtellten neueren Denkers, des großen
Immanuel Kant.
Dagegen iſt immer die Zahl derjenigen Denker klein geweſen,
welche dieſen Dualismus tapfer überwanden und ſich dem reinen
Monismus zuwendeten. Das gilt ebenſowohl für die konſequenten
[440]Schlußbetrachtung. XX.
Idealiſten und Theiſten, wie für die folgerichtig denkenden Rea-
liſten und Pantheiſten. Die Verſchmelzung der anſcheinenden
Gegenſätze, und damit der Fortſchritt zur Löſung des fundamen-
talen Welträthſels, wird uns aber durch das ſtetig zunehmende
Wachsthum der Natur-Erkenntniß mit jedem Jahre näher gelegt.
So dürfen wir uns denn der frohen Hoffnung hingeben, daß
das anbrechende zwanzigſte Jahrhundert immer mehr jene
Gegenſätze ausgleichen und durch Ausbildung des reinen Mo-
nismus die erſehnte Einheit der Weltanſchauung in weiten
Kreiſen verbreiten wird 20. Unſer größter Dichter und Denker,
deſſen 150. Geburtstag wir demnächſt begehen, Wolfgang
Goethe, hat dieſer Einheits-Philoſophie ſchon im Anfange des
neunzehnten Jahrhunderts den vollendetſten poetiſchen Ausdruck
gegeben in ſeinen unſterblichen Dichtungen: Fauſt, Prometheus,
[[441]]
[[465]]
Regiſter.
- Abänderung (Umbildung) 16, 87.
- Aberglaube 348.
- Abiogeneſis 298.
- Ablaß-Kram 414.
- Abortive Organe 306.
- Abſtammung Chriſti 378, 458.
- Abſtammung des Menſchen 97.
- Abſtammungslehre 88.
- Accidenzien 250.
- Aderkuchen 77.
- Aeſthematik 124.
- Aeſtheſis (Fühlung) 259.
- Aether 259, 262.
- Aether-Seelen 231.
- Affen 39, 194, 453.
- Affen-Abſtammung 97.
- Affen-Seele 453.
- Aggregat-Zuſtände 264.
- Ahnen des Menſchen 95.
- Aktualismus 288.
- Aktuelle Energie 266.
- All-Eins-Lehre 333.
- Allmacht des Subſtanz-Geſetzes 267.
- Altruismus 404, 463.
- Amphimyxis 164.
- Amphitheismus 322.
- Anangke (Fatum) 314.
- Anatomie 27, 124.
- Anaximander 334, 437.
- Anfang der Welt 279, 286.
- Animaliſches Bewußtſein 202.
- Anthropismus 13.
- Anthropiſtiſches Bewußtſein 199.
- Anthropiſtiſcher Größenwahn 17.
- Anthropiſtiſche Weltanſchauung 15.
- Anthropocentriſches Dogma 14.
- Anthropogenie 94.
- Anthropolatriſches Dogma 14.
- Anthropomorpha 41.
- Anthropomorphiſches Dogma 14.
- Anthropozoiſche Periode 442.
- Aquarell-Malen 419.
- Arbeitstheilung des Stoffes 264.
- Archäus 51.
- Archigonie 298.
- Archozoiſche Periode 442.
- Ariſtoteles 28, 310.
- Art-Begriff 85.
- Aſſociation der Ideen 141.
- Aſſocion der Vorſtellungen 141.
- Aſſocions-Centren 212.
- Aſtronomie (Fortſchritte) 424.
- Aſtrophyſik 426.
- Athanismus 219, 420.
- Athaniſtiſche Illuſionen 237.
- Atheismus 335, 420.
- Atheiſtiſche Wiſſenſchaften 301.
- Atome 257.
- Atomismus (Dalton) 257.
- Atomiſtiſches Bewußtſein 205.
- Attribute des Aethers 262.
- Attribute der Subſtanz 249.
- Auguſtinus 150.
- Auswickelung 65.
- Auszugsgeſchichte 94.
- Autogonie 298.
Haeckel, Welträthſel. 30
[466]Regiſter.
- Bahnen der Weltkörper 280.
- Bakterien 443.
- Bär (Karl Ernſt) 67.
- Baſtian (Adolf) 119, 144.
- Bauchſtiel 79.
- Befruchtung 73.
- Beutelthiere 37, 99.
- Bewußtes Gedächtniß 141.
- Bewußtſein 197.
- Bibel (Buch der Bücher) 327, 417.
- Biogeneſis (Beginn) 298.
- Biogenetiſches Grundgeſetz 93, 166.
- Biogenie 124.
- Biologie 124, 455.
- Biologiſches Bewußtſein 203.
- Bismarck 386.
- Blaſtoderm 175, 180.
- Blaſtoſphära 180.
- Blaſtula 180.
- Bücherhüpfen 361.
- Büchner (Ludwig) 108, 368.
- Buddhismus 375, 410, 457.
- Bruno (Giordano) 366.
- Calvin 150.
- Cänozoiſche Periode 440.
- Carneri 400.
- Catarrhinen 40.
- Cellulares Bewußtſein 204.
- Cellular-Gedächtniß 139.
- Cellular-Pathologie 57.
- Cellular-Phyſiologie 56.
- Cellular-Pſychologie 177, 204.
- Cenogeneſe der Pſyche 167.
- Cenogenie 94.
- Central-Dogmen der Metaphyſik 402.
- Chemotropismus 74, 160.
- Chordula 74.
- Chorion 78.
- Chriſtenthum 328, 355.
- Chriſti Vater (Pandera) 378.
- Chriſtliche Familien-Verachtung 411.
- Chriſtliche Frauen-Verachtung 412.
- Chriſtliche Kunſt 392.
- Chriſtliche Kultur-Verachtung 411.
- Chriſtliche Leibes-Verachtung 409.
- Chriſtliche Natur-Verachtung 409.
- Chriſtliche Selbſt-Verachtung 407.
- Chriſtliche Sittenlehre 407.
- Chriſtliche Thier-Verachtung 410.
- Chriſtus und Buddha 355.
- Chronometriſche Reduktion 442.
- Cnidarien 186.
- Cölibat 413.
- Cönobial-Seele 179, 449.
- Conception 73.
- Credner (Hermann) 289.
- Cuvier's Kataſtrophen-Lehre 86.
- Cynopitheka 41.
- Cytologie 31.
- Cytopſyche 176.
- Cytula 73, 160, 176.
- Dämonismus 320.
- Darmblatt 185.
- Darwin (Charles) 90, 121, 435 u. ſ. w.
- Decidua 78.
- Deduction 19.
- Deismus 420.
- Demiurgik 420.
- Denkorgane (Phroneten) 339.
- Denkorgane (im Großhirn) 145, 212.
- Descartes 114, 410 u. ſ. w.
- Deſcendenz-Theorie 88.
- Determiniſten 151.
- Diaphragma 36.
- Dominanten 305.
- Draper (John) 358, 385.
- Dreieinigkeit Gottes 321.
- Dreigötterei 321.
- Dualismus (Teleologie) 22, 268, 420.
- Dualiſtiſches Bewußtſein 207.
- Dualiſtiſche Kreation 274, 420.
- Dualiſtiſcher Subſtanz-Begriff 255.
- Du Bois-Reymond 18, 206, 273.
- Du Prel (Carl) 353.
- Dynamoden (Kraftformen) 250.
- Dysteleologie 306.
[467]Regiſter.
- Egoismus 404,463.
- Eierſtock 73.
- Eingötterei 324.
- Einheit der Naturkräfte 267.
- Einheit der Subſtanz 248.
- Einſchachtelungs-Lehre 65.
- Einzel-Seele 187.
- Ektoderm 185.
- Elemente (der Chemie) 256.
- Embryologie 64.
- Embryonale Pſychogenie 167.
- Empedokles 27, 259, 454 u. ſ. w.
- Empfängniß 73.
- Empirie (Erfahrung) 21.
- Encyklika 373.
- Ende der Welt 279, 286.
- Endurſachen 23, 299.
- Energetik 23.
- Energie-Princip 265.
- Entelechie (Ariſtoteles) 310.
- Entoderm 185.
- Entropie des Weltalls 285.
- Entſtehung der Nervenſeele 187.
- Entwickelung des Bewußtſeins 214.
- Entwickelungslehre 275, 420.
- Epigeneſis 65, 156.
- Ergonomie der Materie 264.
- Erhaltung der Kraft 246, 265.
- Erhaltung des Stoffes 245.
- Erkenntniß-Quellen 339.
- Ethiſches Grundgeſetz 405.
- Evangelien 360, -Kritik 455.
- Evolutions-Lehre 65, 277.
- Evolutismus (Evolutionismus) 420.
- Ewigkeit der Zeit 281.
- Extramundaner Gott 332, 420.
- Fatum (Anangke) 314.
- Fechner 113.
- Fernwirkung 251.
- Feſte Seelen 232.
- Fetiſchismus 320.
- Feuerbach (Ludwig) 342, 356.
- Flechſig (Paul) 212.
- Flüſſige Seelen 232.
- Föcundation 73.
- Fortſchritt der Entwickelung 308.
- Frauenliebe 412.
- Friedrich der Große 225, 364.
- Fühlung (Aeſtheſis) 259.
- Funktionen der Subſtanz 264.
- Fußreiſen 419.
- Gabelthiere 37.
- Galenus 28, 48.
- Gasförmige Seelen 230.
- Gasförmige Wirbelthiere 333.
- Gaſträa 185.
- Gaſträaden 184.
- Gaſträa-Theorie 69.
- Gaſtrula 71, 185.
- Gattung 85.
- Gegenbaur 30, 35 u. ſ. w.
- Geiſterglaube 352.
- Geiſterklopfen 361.
- Geiſteswelt 255.
- Gemüth 20, 384.
- Generations-Theorie 66.
- Genetik (Entwickelungslehre) 275.
- Genetismus (Evolutismus) 420.
- Genus 85.
- Geologie (Fortſchritte) 431.
- Geologiſche Zeiträume 442.
- Geſchlechtsdrüſe 73.
- Geſchlechtsliebe 412.
- Gewebelehre 31.
- Gewebepflanzen 181.
- Gewebeſeele 181.
- Gewebethiere 181.
- Giordano Bruno 335.
- Glaubens-Bekenntniß 350.
- Glaube unſerer Väter 351.
- Gliederthier-Seele 189.
- Goethe 23, 86, 415, 440 u. ſ. w.
- Goethe's Monismus 383.
- Goldene Regel 405.
- Goldenes Sittengeſetz 405.
- Gonade (Geſchlechtsdrüſe) 73.
30*
[468]Regiſter.
- Gonimatik 124.
- Gottes-Begriff 319.
- Gottes Sohn 321, 378.
- Gott-Vater 321.
- Gravitations-Theorie 251.
- Grenzen des Natur-Erkennens 208.
- Grundgedanke der Entwickelung 309.
- Grundtriebe des Lebens 143.
- Halbaffen 39.
- Haller 50.
- Hartmann (Eduard) 196, 358.
- Harvey 50.
- Hautblatt 185.
- Hautſinneszellen 341.
- Heilige 328.
- Heilige Geiſt 321, [3]75.
- Helmholtz (Hermann) 247, 265.
- Heptamerale Kreation 275.
- Herrenthiere 39, 99.
- Hertz (Heinrich) 260.
- Hippokrates 28.
- Hiſtologie 31, 124.
- Hiſtonal-Gedächtniß 140.
- Hiſtopſyche 181.
- Hoff (Karl) 288.
- Holbach (Paul) 225, 294.
- Humboldt (Alexander) 279, 396.
- Hundsaffen 41.
- Hydra (Seele) 186, 450.
- Hylozoismus 334, 420.
- Hypotheſe 345.
- Janſſen (Johannes) 365.
- Jatrochemiker 53.
- Jatromechaniker 53.
- Ideal der Schönheit 391.
- Ideal der Tugend 390.
- Ideal der Wahrheit 389.
- Ideenlehre (Plato) 310.
- Jehova 327, 356, 406.
- Ignorabimus 208, 454.
- Immakulat 375.
- Immaterielle Subſtanz 255.
- Imponderable Materie 259.
- Indeterminiſten 151.
- Individuelle Kreation 276.
- Induction 19.
- Inſtinkt 121, 142.
- Intellekt 145.
- Intramundaner Gott 333, 420.
- Introſpective Pſychologie 110.
- Islam 329.
- Jüngſtes Gericht 241.
- Kampf um's Daſein 312.
- Kanoniſche Evangelien 360.
- Kant (Immanuel) 299, 439, 452 u. ſ. w.
- Kant's Metamorphoſe 108.
- Karbogen-Theorie 297.
- Kategoriſcher Imperativ 402.
- Keim des Menſchen 74.
- Keimblaſe 180.
- Keimesgeſchichte 63.
- Keimhüllen 76.
- Keimſcheibe 66.
- Keimſchlaf 169.
- Kiemenſpalten 75.
- Kinetiſcher Subſtanz-Begriff 250.
- Kirche und Staat 415.
- Kirche und Schule 416.
- Kohlenſtoff-Theorie 297, 427.
- Kohlenſtoff als Schöpfer 297.
- Kölliker 31, 56 u. ſ. w.
- Konfeſſion 350, 416.
- Konkubinat der Prieſter 413.
- Konſtantin (der Große) 366.
- Konſtanz der Energie 246, 265.
- Konſtanz der Materie 245.
- Konſtellationen der Subſtanz 252.
- Konventionelle Lügen 371.
- Kopernikus 28, 369, 424.
- Kormal-Seele 187.
- Körperwelt 255.
- Kosmiſche Unſterblichkeit 222.
- Kosmogonien 272.
- Kosmologiſcher Dualismus 296.
- Kosmologiſches Grundgeſetz 245.
[469]Regiſter.
- Kosmologiſcher Kreatismus 273.
- Kosmologiſche Perſpective 15, 441.
- Kosmos (= Welt) 264, 268.
- Kraftwechſel 267.
- Kreations-Mythen 272, 420.
- Kritik der Evangelien 360.
- Kulturkampf 385.
- Lamettrie 154, 225.
- Landſchafts-Malerei 395.
- Lavoiſier 245.
- Leben anderer Planeten 419.
- Lebendige Kraft 266.
- Lebens-Begriff 47.
- Lebensgeiſt (Pneuma) 48.
- Lebenskraft 50, 303, 444.
- Leidenſchaft 408.
- Leydig 32.
- Liebe zu Thieren 410.
- Luft-Seelen 231.
- Lukretius Carus 335.
- Lunarismus 326.
- Lurche 192.
- Luther (Martin) 369.
- Lyell (Charles) 89, 289.
- Madonnen-Kultus 328, 380.
- Malpighi 64.
- Mammalia 36.
- Mammalien-Seele 193.
- Mantelthiere 190.
- Markrohr 190.
- Marſupialia 37.
- Maſſe (ponderabler Stoff) 256.
- Maſſen-Anziehung 251.
- Materialismus 23.
- Materielle Subſtanz 255.
- Maximum der Entropie 286.
- Mayer (Robert) 247, 434 u. ſ. w.
- Mechanik 299.
- Mechaniſche Cauſalität 424.
- Mechaniſtiſche Erklärung 300.
- Mechanismus 268, 420.
- Mechaniſche Wärme-Theorie 285.
- Medullarrohr 190.
- Meduſen-Seele 449.
- Menſchenaffen 41.
- Mephiſtopheles 323.
- Meſozoiſche Periode 440.
- Metamorphoſe des Kosmos 426.
- Metamorphoſen von Philoſophen 107.
- Metaphyten 181.
- Metaſitismus 178, 445.
- Metazoen 70, 181.
- Milchdrüſen 36.
- Minimum der Entropie 286.
- Miſchgötterei 330.
- Mittelalter 363, 413.
- Mittelmeer-Religionen 326.
- Mixotheismus 330.
- Moderner Naturgenuß 396.
- Mohammedaniſche Religion 329.
- Mohr (Friedrich) 247.
- Mondkultus 326.
- Moneren 298, 427.
- Monismus 22, 420 u. ſ. w.
- Monismus (Mechanismus) 268.
- Monismus der Energie 295.
- Monismus des Kosmos 296.
- Moniſtiſche Anthropogenie 292.
- Moniſtiſches Bewußtſein 207.
- Moniſtiſche Biogenie 290.
- Moniſtiſche Geogenie 287.
- Moniſtiſche Kirchen 398, 462.
- Moniſtiſche Kosmologie 423.
- Moniſtiſche Kunſt 393.
- Moniſtiſche Sittenlehre 399.
- Monotheismus 324.
- Monotrema 37.
- Morula 180.
- Moſaismus 326.
- Müller (Johannes) 30, 53, 303 u. ſ. w.
- Mutterkuchen 37, 77.
- Mythologie der Seele 157.
- Nabelſchnur 79.
- Nächſtenliebe 404.
- Natürliche Religion 397.
Appendix A Regiſter.
- Neokantianer 403, 454.
- Neovitalismus 305, 444.
- Neptuniſtiſche Geologie 432.
- Neſſelthiere 186 (= Seele 450).
- Neurologiſches Bewußtſein 201.
- Neuromuskel-Zelle 133.
- Neuroplasma 106, 128.
- Neuropſyche 187.
- Nomokratie 11.
- Normwiſſenſchaft 405.
- Oberglaube (Aberglaube) 348.
- Oberkräfte 305.
- Offenbarung 353.
- Ohrenbeichte 368, 414.
- Oken (Lorenz) 87.
- Ontogenie des Bewußtſeins 214.
- Ontogenetiſche Pſychologie 119.
- Ontologiſcher Kreatismus 274.
- Ontologiſche Methode 288.
- Ovarium 73.
- Palingeneſe der Pſyche 167.
- Palingenie 94.
- Pandera (Vater Chriſti) 378.
- Pantheismus 333, 420.
- Papiomorpha 42.
- Papismus (Papſtthum) 363.
- Papiſtiſche Moral 413.
- Papſtaffen 42.
- Pathologie des Bewußtſeins 213.
- Pauliniſche Briefe 361.
- Paulinismus 362.
- Paulus (Apoſtel) 362, 412.
- Pentadaktylie 36.
- Perioden der Erdgeſchichte 313, 440.
- Periodiſche Kreation 275.
- Perpetuum mobile 284, 431.
- Perſonal-Seele 187.
- Perſönliche Unſterblichkeit 222.
- Phoronomie 124.
- Phroneten (Denkorgane) 339.
- Phyletiſche Pſychogenie 174.
- Phylogenie 83, 92.
- Phylogenie der Affen 60.
- Phylogenie des Bewußtſeins 215.
- Phylogenetiſche Pſychologie 121.
- Phyſiologie 47, 124.
- Phyſiologiſches Bewußtſein 207.
- Phytopſyche 182.
- Pithecanthropus 99.
- Pithekoiden-Theorie 95.
- Pithekometra-Satz 80, 97.
- Placenta 37, 77.
- Placentalia 37, 98.
- Plasma 105.
- Plasmodomen 178, 441.
- Plasmogonie 298.
- Plasmophagen 178, 441.
- Plato 114, 229 u. ſ. w.
- Platodarien 185.
- Plattenthiere 185.
- Plattnaſen 40.
- Platyrrhinen 40.
- Plutoniſtiſche Geologie 432.
- Pneuma 48.
- Polypen-Seele 448.
- Polytheismus 320.
- Ponderable Materie 256.
- Poſtembryonale Pſychogenie 170.
- Potentielle Energie 266.
- Pflanzenſeele 182.
- Pflichtgefühl 403.
- Präformations-Lehre 64.
- Primärer Thanatismus 223.
- Primarier 43.
- Primaten 39, 99.
- Prodynamis (Urkraft) 250.
- Progaſter 185.
- Proſimien 39.
- Proſtoma 185.
- Protozoen 70.
- Prothyl (Urſtoff) 257.
- Pſychaden-Theorie 205.
- Pſyche 103.
- Pſychiſche Amphigonie 164.
- Pſychogenie 157.
- Pſychologie 103, 450.
[471]Regiſter.
- Pſychologiſcher Atavismus 165.
- Pſychomonismus 261.
- Pſychophyſik 113.
- Pſychoplasma 105, 128.
- Puppenſchlaf 169.
- Pyknoſe (Verdichtung) 252.
- Pyknotiſcher Subſtanz-Begriff 252.
- Raum und Zeit 282.
- Realität des Raumes 283.
- Realität der Zeit 283.
- Reflex-Bewegungen 131.
- Reflex-Bogen 133.
- Reflex-Thaten 131, 135.
- Reformation 368.
- Reinke (Dualismus) 296, 444.
- Reizbewegung 131, 135.
- Reizleitung 183.
- Religion Privatſache 416.
- Remak 68.
- Revelation 353.
- Rhizopoden 445.
- Richtkräfte 305.
- Roman der Jungfrau Maria 380.
- Romanes (George) 121.
- Rückſchlag 165.
- Rudimentäre Organe 306.
- Rundmäuler 192.
- Saladin 356, 406.
- Samenſtock 73.
- Samenthierchen 68.
- Säugethiere 36.
- Scatulations-Theorie 65.
- Schädelloſe 192.
- Scheinchriſtenthum 370.
- Scheitelhirn 189.
- Schleiden 31, 55.
- Schmalnaſen 40.
- Schöpfung der Einzeldinge 274.
- Schöpfung der Subſtanz 273.
- Schöpfung des Weltalls 272.
- Schöpfungsgeſchichte 84, 92.
- Schul-Reform 418.
- Schule und Kirche 416.
- Schule und Staat 417.
- Schwammthier-Seele 186.
- Schwann 31, 55.
- Seele 107.
- Seelen-Apparat 187.
- Seelen-Einpflanzung 158.
- Seelen-Einſchachtelung 158.
- Seelen-Geſchichte 193.
- Seelen-Leben 103.
- Seelen-Miſchung 164.
- Seelen-Schöpfung 158.
- Seelen-Subſtanz 229.
- Seelen-Theilung 158.
- Seelen-Urſprung 159.
- Seelen-Wanderung 158.
- Seelen-Weſen 104.
- Sekundärer Thanatismus 223.
- Selbſtbewußtſein 198.
- Selbſtliebe 404.
- Selektions-Theorie 90.
- Siebhaut 78.
- Siebold 32.
- Simien 39.
- Sinneserkenntniß 344.
- Sinnesorgane (Aeſtheten) 340.
- Sinnlichkeit (Philoſophie der) 342.
- Sittliche Weltordnung 311.
- Skala der Affekte 146.
- Skala der Bewegungen 130.
- Skala der Dokeſen 136.
- Skala des Gedächtniſſes 138.
- Skala der Gemüths-Bewegungen 146.
- Skala der Reflexe 131.
- Skala der Vernunft 144.
- Skala der Vorſtellungen 196.
- Skala des Willens 148.
- Sociale Inſtinkte 403.
- Sociale Pflichten 405.
- Solarismus 324.
- Sonnen-Kultus 324.
- Sonnen-Syſteme 278, 427.
- Spannkraft 266.
- Spaziergänge 419.
[472]Regiſter.
- Species 85.
- Specifiſche Energie 341.
- Spektral-Analyſe 279.
- Spekulation (Denken) 21.
- Spermarium 73.
- Spermatozoen 68.
- Spinoza (Baruch) 23, 249, 335 u. ſ. w.
- Spinoza's Monismus 383.
- Spiritismus 352.
- Spiritualismus 23.
- Spongien-Seele 186.
- Sprache 145.
- Sprach-Unterricht 418.
- Staat und Kirche 415.
- Staat und Schule 417.
- Stammesgeſchichte 83, 92.
- Stammzelle 73, 160, 176.
- Statthalter Chriſti 368.
- Sternthier-Seele 189.
- Stock-Seele 187.
- Stoffwechſel 267.
- Störungsgeſchichte 94.
- Strauß (David) 357, 362 u. ſ. w.
- Strebung (Tropeſis) 259.
- Strudelwürmer 185.
- Struktur der Subſtanz 264.
- Subſtanz-Begriff 249.
- Subſtanz-Geſetz 243, 424 u. ſ. w.
- Süß (Eduard), Geologe 289.
- Süßwaſſer-Polyp 186.
- Syllabus 374.
- Synodikon (des Pappus) 360.
- Syſtematiſche Phylogenie 93.
- Syſtem der Elemente 256.
- Teleologie 299, von Kant 453.
- Teleologiſche Erklärung 301.
- Telepathie 353.
- Tetrapoden 34.
- Teufels-Glaube 322.
- Thanatismus 220.
- Theismus 320, 420.
- Theokratie 11.
- Theorie 346.
- Tiſchrücken 361.
- Tranſcendentes Bewußtſein 207.
- Transformismus 86.
- Triaden 322.
- Trialiſtiſche Kreation 275.
- Trimurti 322.
- Trinität des Monismus 388.
- Trinitätslehre 321.
- Triplotheismus 321.
- Tropeſis (Strebung) 259.
- Trophonomie 124.
- Tropismen 147.
- Tunikaten 190.
- Ueberglaube (Aberglaube) 348.
- Ultramontanismus 359.
- Umbildung (Abänderung) 16, 87.
- Unbefleckte Empfängniß 375.
- Unbewußtes Gedächtniß 140.
- Unendlichkeit des Raumes 281.
- Unfehlbarkeit des Papſtes 373.
- Univerſum perpetuum mobile 284.
- Unſterblichkeit der Einzelligen 220.
- Unſterblichkeit der Perſon 242.
- Unſterblichkeit der Thiere 233.
- Unvollkommenheit der Natur 308.
- Unzweckmäßigkeitslehre 306.
- Urchriſtenthum 360.
- Urdarm 71, 185.
- Urdarmthiere 184.
- Urfiſche 192.
- Urkraft (Prodynamis) 51, 250.
- Urmund 71, 185.
- Urſprung der Bewegung 18, 279.
- Urſprung der Empfindung 18, 279.
- Urſtoff (Prothyl) 257.
- Urwirbelbildung 191.
- Urzeugung 298, 427.
- Urzottenthiere 39, 98.
- Uterus 40.
- Vaticanismus 363.
- Vererbung der Seele 162.
- Verfluchung der Wiſſenſchaft 358.
[473]Regiſter.
- Vergleichende Anatomie 29.
- Vernunft 19, 145.
- Verſtand 145.
- Vertebrata 32.
- Vervollkommnung der Natur 308.
- Verworn (Max) 56, 135, 176 u. ſ. w.
- Veſalius 29.
- Vibrations-Theorie 250.
- Vielgötterei 320.
- Vierfüßer 34, 193.
- Virchow 31, 58 u. ſ. w.
- Virchow's Metamorphoſe 108.
- Vitalismus 50, 303, 420.
- Viviſektionen 49.
- Vogt (J. G.) 244, 252, 422.
- Vogt (Carl) 108.
- Völkergedanke 119, 444.
- Völkergeſchichte 314.
- Völker-Pſychologie 118.
- Vorſehung 314.
- Wachſthum der Individualität 309.
- Wahlverwandtſchaften 258.
- Walther (Johannes) 289.
- Wechſel der Aggregat-Zuſtände 281.
- Weichthier-Seele 189.
- Weismann 220.
- Welt als That 296.
- Weltbewußtſein 198.
- Werkurſachen 299.
- Weſen der Krankheit 443.
- Willensfreiheit 149.
- Wirbelthiere 32.
- Wirbelthier-Seele 189.
- Wohnungsnoth der Götter 397.
- Wolff (Caspar Friedrich) 65.
- Wundt (Wilhelm) 116, 198 u. ſ. w.
- Wurmthier-Seele 189.
- Zahl der Welträthſel 17.
- Zeichen-Unterricht 419.
- Zellenliebe 160.
- Zellenſtaat 181.
- Zellentheorie 31.
- Zellſeele 176, 445.
- Zellvereins-Seele 179.
- Zerſtörung von Weltkörpern 281.
- Ziel (Vorſehung) 315.
- Zielſtrebigkeit der Organismen 308.
- Zoologie und Theologie 461.
- Zottenthiere 37, 98.
- Zufall (blind) 316.
- Zwanzigſtes Jahrhundert 460.
- Zweck in der Selektion 304.
- Zweckbegriff in der Natur 302.
- Zweigötterei 322.
- Zweiheitliche Weltanſchauung 420.
[[474]]
Appendix B
Pierer'ſche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
[[475]]
Appendix C Verlag von Emil Strauß in Bonn.
Beſſer, Dr. Leopold, Der Menſch und ſeine Ideale.
Betrachtungen theoretiſcher und praktiſcher Art. Octav. 1878. Preis 6 Mark.
— Was iſt Empfindung? Vortrag ꝛc. 1881. Preis 1 Mark.
— Die Religion der Naturwiſſenſchaft. Octav. 1890. Preis 2 Mark.
— Das der Menſchheit Gemeinſame. Auch eine chriſtlich-ſociale Studie. Mit dem
Anhang „Iſt die Welt Schein oder Wirklichkeit?“ Octav. 1895. Preis 2 Mark.
Bethe, Albrecht, Dürfen wir den Ameiſen und Bienen
phyſiſche Qualitäten zuſchreiben? Mit 2 Tafeln und 5 Textfiguren. Sonder-
abdruck aus dem Archiv f. d. geſ. Phyſiologie. Band 70. Octav. 1898. Preis 3 Mark.
Carneri, B., Der moderne Menſch. Verſuche über Lebensführung. Dritte
Aufl. Klein-Octav. 1893. Gebunden.
Preis 3 Mark 60 Pf.
— Empfindung und Bewußtſein. Octav. 1893. Preis 1 Mark.
Ewald, Prof. J. Rich., Eine neue Hörtheorie. Octav. 1899.
Preis 1 Mark 60 Pf.
Forel, Auguſt,Prof. a. d. Uni- Gehirn und Seele. Vortrag, gehalten
verſität Zürich,
bei der 63. Verſammlung deutſcher Naturforſcher und Aerzte in Wien. Octav. 5. Aufl. 1899. 1 M.
Goltz, Friedrich,Prof. a. d. Uni- Ueber die Verrichtungen des
verſ. Straßburg,
Geſammelte Abhandlungen. Mit 3 Tafeln in Farbendruck. Octav. Kart. 1881.
Großhirns. Preis 8 Mark 80 Pf.
Griesbach, Prof. Dr. med. u. phil. H., Vergleichende
Unterſuchungen über die Sinnesſchärfe Blinder und Sehender.
Sonderabdruck a. d. Archiv für die geſ. Phyſiologie. Band 74 u. 75. Octav. 1899. Preis 4 Mark.
Haeckel, Dr. Ernſt,Prof. a. d. Uni- Ueber unſere gegenwärtige
verſität Jena,
Kenntniß vom Urſprung des Menſchen. Vortrag, gehalten in Cambridge.
4.-7. Auflage. Octav. 1899. Preis 1 Mark 60 Pf.
— Geſammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Ent-
wickelungslehre. Mit Tafeln und Abbildungen. 8°. 1878-79. (Vergriffen.)
— Der Monismus als Band zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft.
Glaubensbekenntniß eines Naturforſchers. Vortrag ꝛc. Octav. 8. verbeſſerte Auflage. 1899.
Hermann, Prof. E., Wie eine poſitive Religion entſteht.
Dargethan an der Urgeſchichte des Islam. Octav. 1877. Preis 1 Mark 50 Pf.
— Woher und Wohin? Schopenhauer's Antwort auf die letzten Lebensfragen, zuſammen-
gefaßt und ergänzt. Octav. 1877. (Vergriffen.)
Hertz, Heinr.,† Prof. der Phyſik Ueber die Beziehungen zwiſchen
a. d. Univ. Bonn,
Licht und Elektricität. Vortrag, gehalten auf der 62. Naturforſcher-Verſammlung in
Heidelberg. 9. Auflage. Octav. 1895. Preis 1 Mark.
Leichtenſtern, Prof. Dr.,Oberarzt des Auguſta- und Ueber „infectiöſe“
Bürgerhoſpitals in Köln,
Lungenentzündungen und den heutigen Stand der Pſittacoſis-
frage. Auf Grund eigener und der in der Literatur niedergelegten Beobachtungen. Octav. 1899.
Preis 2 Mark.
[[476]]
Verlag von Emil Strauß in Bonn.
Leydig, Dr. Franz,Prof. a. d. Uni- Zelle und Gewebe. Neue Bei-
verſität Bonn, träge zur
Hiſtologie des Thierkörpers. Mit 6 Tafeln in Farbendruck. Octav. 1885. Preis 20 Mark.
Pelman, Dr. C.,Prof. a. d. Univerſität und Director Raſſenverbeſſerung
der Provinzial-Irrenanſtalt zu Bonn,
und natürliche Ausleſe. Octav. 1896. Preis 60 Pf.
Pflüger, Dr. E. F. W.,Prof. a. d. Uni- Die allgemeinen Lebens-
verſität Bonn,
erſcheinungen. Rede zum Antritt des Rektorates. Octav. 1889. Preis 1 Mark.
— Weſen und Aufgaben der Phyſiologie. Octav. 1878. Geheftet. 16 Seiten.
Preis 50 Pf.
— Ueber die Kunſt der Verlängerung des menſchlichen Lebens.
Groß-Octav. 1890. 32 Seiten. Preis 1 Mark.
Reuſchle, Dr. E. G.,† Prof., Philoſophie und Naturwiſſen-
ſchaft, zur Erinnerung an David Friedrich Strauß. Octav. 1874. (Vergriffen.)
Schmidt, Dr. Osk.,† Prof. a. d. Uni- Darwinismus und Social-
verſ. Straßburg,
demokratie. Vortrag, gehalten bei der 51. Naturforſcher-Verſammlung in Caſſel. Octav. 1878.
(Vergriffen.)
Strauß, David Friedrich, Geſammelte Schriften.
Nach des Verfaſſers letztwilligen Beſtimmungen zuſammengeſtellt. Eingeleitet und mit erklärenden Nach-
weiſungen verſehen von Eduard Zeller. Mit 2 Porträts des Verfaſſers in Stahlſtich. 12 Bände.
Octav. 1876-1878. Preis 60 Mark. In 12 Halbfranzbände gebunden 75 Mark.
— Auswahl in 6 Bänden. Hrsg. von Ed. Zeller. In 3 eleg. Liebhaberbände geb. Octav. Preis 20 M.
Inhalt der ſechs Bände: 1) Kleine Schriften. 3. Aufl. Einzelpreis geb. 4 M. 50 Pf.
2, 3) Das Leben Jeſu. 9.-11. Aufl. Einzelpreis geb. 6 M. — 4) Der alte und der neue Glaube.
12.-14. Aufl. Einzelpreis geb. 4 M. 50 Pf. — 5) Ulrich von Hutten. Eine Biographie. 6.-8. Aufl.
Einzelpreis geb. 4 M. 50 Pf. — 6) Voltaire. Sechs Vorträge. 6.-8. Aufl. Einzelpreis geb. 4 M. 50 Pf.
— Ausgewählte Briefe. Herausgegeben und erläutert von Eduard Zeller. Mit 1 Porträt in Licht-
druck. Octav. 1895. Preis 8 Mark, gebunden 10 Mark.
Taine, Hippolit,Mitglied der Aca- Der Verſtand. In's Deutſche über-
démie Fran[ç]aiſe. ſetzt mit Autoriſation
des Verfaſſers von Dr. L. Siegfried. 2 Bände. Octav. 1880. Preis 16 Mark.
Zeller, Eduard,Prof. a. d. Uni-David Friedrich Straußin ſeinem
verſität Berlin, Leben und
ſeinen Schriften. 2. Auflage. Octav. 1874. Preis 3 Mark.
Ziegler, Dr. Theob.,Prof. an der Uni- Geſchichte der Ethik.
verſität Straßburg.
I. Abtheilung: Ethik der Griechen und Römer. Octav. 1882. Preis 8 Mark
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Huber in München. 2. Auflage. Octav. 1874. (Vergriffen.) Preis 1 Mark 20 Pf.
Archiv für die geſammte Phyſiologie des Menſchen und der Thiere.
Herausgeg. von Dr. E. F. W. Pflüger, o. ö. Profeſſor der Phyſtologie a. d. Univerſität und Director
des phyſiolog. Inſtituts zu Bonn. Erſcheint in zwangloſer Folge, jährlich ca. 3-4 Bände à 12 Hefte.
Preis pro Band 26 Mark.
Erſchienen ſind in obigem Verlage Band 17-76. Preis mit Suppl. und Regiſter: 1356 Mark 60 Pf.
Centralblatt für allgemeine Geſundheitspflege. Herausgegeben von
Dr. [L]ent, Geh.
Sanitätsrath in Köln, Stübben, Geh. Baurath in Köln, Dr. Kruſe, a. a. Prof. der Hygiene in
Bonn, XVIII. Jahrg. Monatlich erſcheint ein Heft. Preis pro Jahrgang 10 Mark.
Jahresbericht über die Fortſchritte der Phyſiologie. In Ver-
bindung
mit Fachgenoſſen herausgegeben von Dr. [L]. Hermann, Prof. der Phyſiologie a. d. Univerſität und
Director des Phyſiol. Inſtituts zu Königsberg i. Pr. Band I-VI. Berichte über die Jahre 1892-97.
Preis pro Band 15 Mark.
und Lamarck. (Vortrag in Eiſenach.) Jena 1882.
bis 650: „Anthropogenie und Anthropismus“. (Anthropolatrie bedeutet:
„Göttliche Verehrung des menſchlichen Weſens“.)
Vortrag: Ueber unſere gegenwärtige Kenntniß vom Urſprunge des Menſchen.
Bonn 1898. VII. Aufl., S. 51.
geſchichte, neunte Auflage 1898, S. 76, 796.
der Uebergang aus dem philoſophiſchen in das naturwiſſenſchaftliche Zeit-
alter. Berlin 1893.
1866: Kritik der naturwiſſenſchaftlichen Methoden.
Materialismus. 1895.
Vorträge. I. Heft. 1878.
Lamarck. Vortrag in Eiſenach 1882.
Lamarck und Darwin. Jena 1889.
(1897.)
S. 135. 140.
S. 121.
S. 29, 777.
wiſſenſchaft (Weimar 1863); Über die Bedeutung der Sprache für die
Naturgeſchichte des Menſchen (Weimar 1865).
Entwickelungslehre. Bonn 1878.
1898, Tafel 18 und 19, S. 512.
„Körperbau und Keimesgeſchichte des Amphioxus und der Ascidie.“
ſieben Welträthſel 1880.
S. 334 und folgende; Phyſiologiſche Bilder, Zweiter Band, S. 179 und
folgende.
1898, S. 15, 45.
Braunſchweig 1898.
I. Bd. 1894.
Wiſſenſchaft. Jena 1893. S. XIV.
Zweites Buch, Fünftes Kapitel, S. 108-191.
naturwiſſenſchaftlichen Grundlagen. Berlin 1899. (484 Seiten).
Vergl. auch meine Natürl. Schöpf. IX. Auflage 1898, S. 14, 18, 288, 792.
folger auf dem Stuhle Petri haben das „Weiden“ in „Scheeren“
überſetzt.
Februar 1896. — (XXII. Jahrg., Heft 5, S. 232.)
6 Bänden. Bonn 1878. — Saladin, Jehovah's Geſammelte Werke. 1887.
Carneri, Vetter, Ziegler, Ammon, Nordau u. ſ. w.
Geſchichte und Theorie der Erkenntniß. 1871.
lage 1898; den 3., 6., 15. und 16. Vortrag.
II. Theil (1887), S. 113-122.
welchen unſer menſchliches Vorſtellungs-Vermögen uns bei Beurtheilung
großer Dimenſionen in Raum und Zeit geſtattet, iſt ebenſo eine reiche
Fehlerquelle von anthropiſtiſchen Illuſionen wie ein mächtiges Hinderniß
der geläuterten moniſtiſchen Weltanſchauung. Um ſich der unendlichen Aus-
dehnung des Raumes bewußt zu werden, muß man einerſeits bedenken,
daß die kleinſten ſichtbaren Organismen (Bakterien) rieſengroß ſind gegen-
über den unſichtbaren Atomen und Molekeln, welche weit jenſeits der Sicht-
barkeit auch bei Anwendung der ſtärkſten Mikroſkope liegen; andererſeits muß
man die unbegrenzten Dimenſionen des Weltraumes erwägen, in welchem
unſer Sonnen-Syſtem nur den Werth eines einzelnen Fixſternes hat und
unſere Erde nur einen winzigen Planeten der mächtigen Sonne darſtellt. —
In entſprechender Weiſe werden wir uns der unendlichen Ausdehnung der
Zeit bewußt, wenn wir uns einerſeits an die phyſikaliſchen und phyſio-
logiſchen Bewegungen erinnern, die innerhalb einer Sekunde ſich abſpielen,
und andererſeits an die ungeheure Länge der Zeiträume, welche die Ent-
wickelung der Weltkörper in Anſpruch nimmt. Selbſt der verhältnißmäßig
kurze Zeitraum der „organiſchen Erdgeſchichte“ (innerhalb deren das
organiſche Leben auf unſerem Erdball ſich entwickelt hat) umfaßt nach
neueren Berechnungen weit über hundert Millionen Jahre, d. h. mehr als
100000 Jahrtauſende!
Allerdings laſſen die geologiſchen und paläontologiſchen Thatſachen,
auf welche ſich dieſe Berechnungen gründen, nur ſehr unſichere und ſchwankende
Zahlen-Angaben zu. Während wohl die meiſten ſachkundigen Autoritäten
gegenwärtig für die Länge der organiſchen Erdgeſchichte 100-200 Millionen
Jahre als wahrſcheinlichſte Mittelzahl annehmen, beläuft ſich dieſelbe nach
anderen Schätzungen nur auf 25-50 Millionen; nach einer genauen geo-
logiſchen Berechnung der neueſten Zeit auf mindeſtens vierzehnhundert
Jahrmillionen. (Vergl. meinen Cambridge-Vortrag über den Urſprung
des Menſchen, 1898, S. 51: „Wenn wir aber auch ganz außer Stande ſind,
[442]Anmerkungen und Erläuterungen.
die abſolute Länge der phylogenetiſchen Zeiträume annähernd ſicher zu
beſtimmen, ſo beſitzen wir dagegen andererſeits ſehr wohl die Mittel, die
relative Länge derſelben ungefähr abzuſchätzen. Nehmen wir hundert
Millionen Jahre als Minimal-Zahlen, ſo würden ſich dieſelben auf die fünf
Hauptperioden der organiſchen Erdgeſchichte etwa folgendermaßen vertheilen:
- I.Archozoiſche Periode (Primordial-Zeit), vom
Beginn des organiſchen Lebens bis zum Ende der
kambriſchen Schichtenbildung; Zeitalter der Schädel-
loſen 52 Millionen, - II.Paläozoiſche Periode (Primär-Zeit), vom Beginn
der ſiluriſchen bis zum Ende der permiſchen Schichten-
bildung; Zeitalter der Fiſche 34 Millionen, - III.Meſozoiſche Periode (Sekundär-Zeit), vom Be-
ginn der Trias-Periode bis zum Ende der Kreide-
Periode; Zeitalter der Reptilien 11 Millionen, - IV.Cänozoiſche Periode (Tertiär-Zeit), vom Beginn
der eocänen bis zum Ende der pliocänen Periode;
Zeitalter der Säugethiere 3 Millionen, - V.Anthropozoiſche Periode (Quartär-Zeit), vom
Beginn der Diluvial-Zeit (in welchen wahrſcheinlich
die Entwickelung der menſchlichen Sprache fällt) bis
zur Gegenwart; Zeitalter des Menſchen, mindeſtens
100000 Jahre = 0,1 Million.
Um die ungeheure Länge dieſer phylogenetiſchen Zeiträume dem
menſchlichen Auffaſſungs-Vermögen näher zu bringen und namentlich die
relative Kürze der ſogenannten „Weltgeſchichte“ (d. h. der Geſchichte der
Kulturvölker!) zum Bewußtſein zu bringen, hat kürzlich einer meiner
Schüler, Heinrich Schmidt (Jena), die angenommene Minimal-Zahl von
hundert Jahr-Millionen durch chronometriſche Reduktion auf einen
Tag projicirt. Durch dieſe „verjüngende Projektion“ vertheilen ſich die
24 Stunden des „Schöpfungs-Tages“ folgendermaßen auf die fünf an-
geführten phylogenetiſchen Perioden:
- I.Archozoiſche Periode (52 Jahrmillionen) = 12 St. 30 Min.
(= von Mitternacht bis ½1 Uhr Mittags). - II.Paläozoiſche Periode (34 Jahrmillionen) = 8 St. 5 Min.
(= von ½1 Uhr Mittags bis ½9 Uhr Abends). - III.Meſozoiſche Periode (11 Jahr-Millionen) = 2 St. 38 Min.
(= von ½9 Uhr bis ¼12 Uhr Abends). - IV.Cänozoiſche Periode (3 Jahrmillionen) = 43 Min.
(= von ¼12 Uhr Abends bis 2 Min. vor
Mitternacht). - V.Anthropozoiſche Periode (0,1-0,2 Jahr-
millionen) = 2 Min. - VI.Kultur-Periode, ſogen. „Weltgeſchichte“
(6000 Jahre) = 5 Sek.
[443]Anmerkungen und Erläuterungen.
Wenn man alſo nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht
die Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organiſchen Entwickelung
auf unſerem Erdball annimmt und dieſe auf 24 Stunden projicirt, ſo be-
trägt davon die ſogenannte „Weltgeſchichte“ nur fünf Sekunden
(Prometheus, Jahrg. X, 1899, Nr. 24 [Nr. 492, S. 381]).
lehre iſt erſt in unſerem 19. Jahrhundert zu einer wirklichen Wiſſenſchaft
geworden, ſeitdem die Grundlehren der Phyſiologie (und beſonders der
Zellentheorie) ebenſo auf den kranken wie auf den geſunden Organismus
des Menſchen angewendet wurden. Seitdem gilt die Krankheit nicht mehr
als ein beſonderes „Weſen“, ſondern als ein „Leben unter abnormen,
ſchädlichen und gefahrdrohenden Bedingungen“. Seitdem ſucht auch jeder
gebildete Arzt die Urſachen der Krankheiten nicht mehr in myſtiſchen Ein-
flüſſen übernatürlicher Art, ſondern in den phyſikaliſchen und chemiſchen
Bedingungen der Außenwelt und ihren Beziehungen zum Organismus.
Eine große Rolle ſpielen dabei die kleinen Bakterien. Trotzdem wird
auch heute noch in weiten Kreiſen (ſelbſt unter „Gebildeten“!) die alte, aber-
gläubiſche Anſicht feſtgehalten, daß die Krankheiten durch „böſe Geiſter“ hervor-
gerufen werden, oder daß ſie „Strafen der Gottheit für die Sünden der
Menſchen“ ſind. Letztere Anſicht vertrat z. B. noch um die Mitte des
Jahrhunderts der angeſehene Pathologe Geheimrath Ringseis in München.
überzeugen, daß die althergebrachte metaphyſiſche Seelenlehre ganz außer
Stande iſt, die großen Aufgaben dieſer Wiſſenſchaft durch bloße Analyſe
der eigenen Denkthätigkeit zu löſen, braucht man nur einen Blick in die
gangbarſten Lehrbücher der modernen Pſychologie zu thun, wie ſie den
meiſten akademiſchen Vorleſungen darüber als Leitfaden dienen. Da iſt
weder von der anatomiſchen Struktur der Seelen-Organe noch von den
phyſiologiſchen Verhältniſſen ihrer Funktionen die Rede, weder von der
Ontogenie noch von der Phylogenie der Pſyche. Statt deſſen phantaſiren
dieſe „reinen Pſychologen“ über das immaterielle „Weſen der Seele“,
von dem Niemand etwas weiß, und ſchreiben dieſem unſterblichen Phantom
alle möglichen Wunderthaten zu. Nebenbei ſchimpfen ſie weidlich über die
böſen materialiſtiſchen Naturforſcher, die ſich erlauben, an der Hand der
Erfahrung, der Beobachtung, des Experimentes die Nichtigkeit ihrer
metaphyſiſchen Hirngeſpinnſte nachzuweiſen. Ein ergötzliches Beiſpiel ſolcher
ordinären Schimpferei lieferte neuerdings Dr.Adolf Wagner in ſeiner
Schrift: „Grundprobleme der Naturwiſſenſchaft. Briefe eines unmodernen
Naturforſchers.“ Berlin 1897. Der kürzlich verſtorbene Führer des modernen
Materialismus, Prof. Ludwig Büchner, der auf's Schärfſte angegriffen
war, hat darauf die gebührende Antwort gegeben (Berliner „Gegenwart“,
1897, Nr. 40, S. 218 und Münchener „Allgemeine Zeitung“, Beilage,
20. März 1899, Nr.58). — Ein Geſinnungsgenoſſe von Dr.Adolf Wagner,
[444]Anmerkungen und Erläuterungen.
Herr Dr.Adolf Brodbeck in Hannover, hat mir kürzlich die Ehre er-
wieſen, einen ähnlichen, wenn auch anſtändiger gehaltenen Angriff gegen
meinen „Monismus“ zu richten: „Kraft und Geiſt! Eine Streitſchrift
gegen den unhaltbaren Schein-Monismus Profeſſor Haeckel's und Genoſſen“
(Leipzig, Strauch 1899). Herr Brodbeck ſchließt ſein Vorwort mit dem
Satze: „Ich bin begierig, was die Materialiſten mir zu erwidern haben
werden.“ — Die Antwort darauf iſt ſehr einfach: „Erwerben Sie ſich durch
fünfjähriges fleißiges Studium der Naturwiſſenſchaft und beſonders
der Anthropologie (ſpeciell der Anatomie und Phyſiologie des Gehirns!)
diejenigen unentbehrlichen empiriſchen Vorkenntniſſe der fundamen-
talen Thatſachen, die Ihnen noch gänzlich fehlen.“
von Adolf Baſtian nicht nur in der Ethnographie, ſondern auch in
der Pſychologie vielfach bewundert und angeſtaunt wird, da er auch von
ſeinem Erfinder ſelbſt als die bedeutendſte theoretiſche Frucht ſeines un-
ermüdlichen Fleißes angeſehen wird, müſſen wir darauf hinweiſen, daß eine
klare wiſſenſchaftliche Definition dieſes myſtiſchen Phantoms in keinem der
zahlreichen und umfangreichen Werke von Baſtian zu finden iſt. Leider
fehlt es dieſem verdienſtvollen Reiſenden und Sammler an jedem Verſtändniß
für die moderne Entwickelungs-Lehre; die vielfachen Angriffe, welche derſelbe
gegen den Darwinismus und Transformismus gerichtet hat, gehören zu den
ſeltſamſten und theilweiſe zu den erheiterndſten Erzeugniſſen der ganzen
betreffenden umfangreichen Literatur.
Neovitalismus (S. 52). Nachdem die myſtiſche Lehre von der
übernatürlichen „Lebenskraft“ durch den Darwinismus ihren Todesſtoß
erhalten hatte und bereits vor zwanzig Jahren glücklich überwunden ſchien,
iſt dieſelbe neuerdings wieder aufgelebt und hat ſogar im letzten Decennium
zahlreiche Anhänger wieder gewonnen. Der Phyſiologe Bunge, der Patho-
loge Rindfleiſch, der Botaniker Reinke u. A. haben den wiedererſtan-
denen Wunderglauben an die immaterielle und intellektuelle Lebenskraft mit
großem Erfolg vertheidigt. Den größten Eifer haben dabei einige meiner
früheren Schüler bewieſen. Dieſe „modernſten“ Naturforſcher ſind zu der
Ueberzeugung gelangt, daß die Entwickelungslehre und insbeſondere der
Darwinismus eine haltloſe Irrlehre iſt, und daß „Geſchichte überhaupt
keine Wiſſenſchaft“ iſt. Einer derſelben hat ſogar die Diagnoſe geſtellt,
daß „alle Darwiniſten an Gehirn-Erweichung leiden“. Da nun
trotz des Neovitalismus die große Mehrzahl der modernen Naturforſcher
(wohl mehr als neun Zehntel!) in der Entwickelungslehre den größten Fort-
ſchritt der Biologie in unſerem Jahrhundert erblickt, wird man wohl dieſe be-
dauerliche Thatſache durch eine furchtbare cerebrale Epidemie erklären müſſen.
Alle dieſe albernen Verdammungsurtheile von Seiten unklarer und einſeitig
gebildeter Specialiſten ſchaden unſerer modernen Entwickelungslehre und Ge-
ſchichtswiſſenſchaft ebenſo wenig, wie die Bannflüche des Papſtes (S. 456).
[445]Anmerkungen und Erläuterungen.
Der Neovitalismus wird in ſeiner ganzen Dürftigkeit und Haltloſig-
keit klar, wenn man ihn den Thatſachen der Geſchichte in der ganzen
organiſchen Welt gegenüberſtellt. Dieſe hiſtoriſchen Thatſachen der „Ent-
wickelungsgeſchichte“ im weiteſten Sinne, die Fundamente der Geologie, der
Paläontologie, der Ontogenie u. ſ. w. ſind in ihrem natürlichen Zu-
ſammenhang nur durch unſere moniſtiſche Entwickelungslehre er-
klärbar, und dieſe verträgt ſich weder mit dem alten noch mit dem neuen
Vitalismus. Daß gerade jetzt der letztere an Ausdehnung gewinnt, erklärt
ſich zum Theil auch aus der bedauerlichen Thatſache der allgemeinen
Reaktion im geiſtigen und politiſchen Leben, welche das letzte Decennium
des neunzehnten Jahrhunderts vor demjenigen des achtzehnten in höchſt
unvortheilhafter Weiſe auszeichnet. In Deutſchland insbeſondere hat der
ſogenannte „neue Kurs“ höchſt depravirende byzantiniſche Zuſtände nicht
nur im politiſchen und kirchlichen Leben, ſondern auch in Kunſt und Wiſſen-
ſchaft hervorgerufen. Indeſſen bedeutet dieſe moderne Reaktion im Großen
und Ganzen doch nur eine vorübergehende Epiſode.
der Protiſten oder einzelligen Lebeweſen in die beiden Gruppen der
Plasmoden und Plasmophagen iſt die einzige Klaſſifikation derſelben, welche
ihre Einreihung in die beiden großen Reiche der organiſchen Natur: Thier-
und Pflanzen-Reich, geſtattet. Die Plasmabauer (Plaſmodoma — wozu
die ſogenannten „einzelligen Algen“ gehören) haben den charakteriſtiſchen
Stoffwechſel der echten Pflanzen; das aufbauende Plasma ihres Zellen-
leibes beſitzt die chemiſch-phyſiologiſche Eigenſchaft, aus anorganiſchen
Verbindungen (Waſſer, Kohlenſäure, Ammoniak, Salpeterſäure) durch Syn-
theſe und Reduktion (Kohlenſtoff-Aſſimilation) neues lebendiges Plasma
bilden zu können. Die Plasmafreſſer hingegen (Plaſmophaga — In-
fuſorien und Rhizopoden) haben den Stoffwechſel der echten Thiere; das
analytiſche Plasma ihres Zellenleibes beſitzt jene ſynthetiſche Fähigkeit
nicht; ſie müſſen ihre nothwendige Plasma-Nahrung direkt oder indirekt
aus dem Pflanzenreich aufnehmen. Urſprünglich ſind jedenfalls (im Beginne
des organiſchen Lebens auf der Erde) zunächſt durch Urzeugung oder Archi-
gonie nur plasmodome Urpflänzchen einfachſter Art entſtanden (Phyto-
moneren, Probionten, Chromaceen); aus dieſen ſind erſt ſpäter plasmophage
Urthierchen durch Metaſitismus hervorgegangen (Zoomoneren, Bakterien,
Amöben). Die wichtige Erſcheinung dieſes Metaſitismus oder „Ernährungs-
wechſels“ habe ich in der letzten Auflage meiner „Natürl. Schöpfungsgeſchichte“
erläutert (1898, S. 426, 439). Ausführlich erörtert habe ich dieſelbe im
erſten Bande meiner „Syſtematiſchen Phylogenie“ (1894, S. 44-55).
ſtufen in der Pſychogenie der Protiſten habe ich unterſchieden: 1. die
Zellſeele der Archephyten, 2. der Archezoen, 3. der Rhizopoden und 4. der
Infuſorien.
[446]Anmerkungen und Erläuterungen.
I A.Zellſeele der Archephyten oder Phytomoneren, der ein-
fachſten Urpflanzen oder Protophyten. Von dieſen primitivſten Formen des
organiſchen Lebens kennen wir genau die Klaſſe der Chromaceen oder
Cyanophyceen, mit den drei Familien der Chrookokken, Oscillarien
und Noſtokaceen (Syſtem. Phylog. I, § 80). Der Körper iſt im einfachſten
Falle (Procytella, Chroococcus, Glöotheca und andere Coccochro-
malen) ein kleines kugeliges Plasmakorn von blaugrüner oder braun-
grüner Farbe, ohne Zellkern, ohne erkennbare Struktur, gleichwerthig einem
„Chlorophyll-Korn“ in den Zellen höherer Pflanzen. Die homogene
Subſtanz iſt lichtempfindlich und bildet Plasma durch Syntheſe von Waſſer,
Kohlenſäure und Ammoniak. Die inneren Molekular-Bewegungen, welche
dieſen vegetalen Stoffwechſel vermitteln, ſind äußerlich nicht ſichtbar. Die
Fortpflanzung geſchieht in einfachſter Weiſe durch Theilung. Bei vielen
Chromaceen legen ſich die Theilprodukte in beſtimmter Anordnung an ein-
ander; oft bilden ſie fadenförmige Ketten, und bei den Oscillarien führen
dieſe eigenthümlich ſchwankende Bewegungen aus, deren Urſache und Be-
deutung unbekannt iſt. Für die phyletiſche Pſychogenie ſind dieſe Chromaceen
deßhalb beſonders wichtig, weil die älteſten derſelben (Probionten) durch
Urzeugung oder Archigonie aus anorganiſchen Verbindungen entſtanden
waren; mit dem organiſchen Leben ſelbſt nahm auch die einfachſte Seelen-
thätigkeit urſprünglich hier ihren Anfang (Syſtem. Phylog. I, §§ 31-34,
78-80). Das Leben beſtand hier bloß in vegetalem Stoffwechſel und in
Vermehrung durch Theilung (als Folge des Wachsthums); die Seelenthätig-
keit beſchränkte ſich auf Lichtempfindung und chemiſche Umſetzung, wie bei
einer „empfindlichen“ photographiſchen Platte.
I B.Zellſeele der Archezoen oder Zoomoneren, der einfachſten
Urthiere oder Protozoen. Der kleine Körper iſt ebenſo ein homogenes, ſtruktur-
loſes und kernloſes Plasma-Korn wie bei den Archephyten, aber der Stoff-
wechſel iſt entgegengeſetzt. Da das animale Plasma-Korn die plasmodome
Fähigkeit der Syntheſe verloren hat, muß es Nahrung von anderen Orga-
nismen aufnehmen: es ſpaltet Plasma durch Analyſe, unter Oxydation von
Albuminaten und Kohle-Hydraten. Urſprünglich ſind dieſe plasmophagen
Zoomoneren durch Metaſitismus oder Umkehrung des Stoffwechſels
aus plasmodomen Phytomoneren entſtanden*). Wir kennen zwei Klaſſen
von ſolchen Archezoen, die Bakterien und die Rhizomoneren. Die
kleinen Bakterien (meiſtens irrthümlich zu den Pilzen geſtellt und als
Spaltpilze, Schizomyceteſ, bezeichnet) ſind „kernloſe Zellen“ und behalten
eine beſtändige Form: kugelig bei den Sphärobakterien (Micrococcuſ,
Streptococcuſ), ſtäbchenförmig bei den Rhabdobakterien (Bacilluſ, Eu-
bacterium), ſchraubenförmig bei den Spirobakterien (Spirillum, Vibrio).
Bekanntlich haben dieſe Bakterien neuerdings ein außerordentliches biono-
miſches Intereſſe gewonnen, indem ſie trotz ihres höchſt einfachen Körper-
[447]Anmerkungen und Erläuterungen.
baues die wichtigſten Veränderungen in anderen Organismen hervorbringen:
die zymogenen Bakterien erregen Gärung, Verweſung und Fäulniß;
die pathogenen Bakterien ſind die Urſachen der verderblichſten Infektions-
Krankheiten (Tuberkuloſe, Typhus, Cholera, Lepra u. ſ. w.); paraſitiſche
Bakterien leben in den Geweben vieler Pflanzen und Thiere, ohne ihnen
weſentlichen Schaden oder Nutzen beizufügen; ſymbiotiſche Bakterien
befördern in nützlichſter Weiſe die Ernährung und das Wachsthum der
Pflanzen (z. B. Waldbäume) und Thiere, auf denen ſie als gutartige Mutua-
liſten leben. Dabei offenbaren dieſe kleinen Archezoen einen hohen Grad
von Empfindlichkeit; ſie nehmen feine chemiſche und phyſikaliſche Unterſchiede
wahr; viele beſitzen auch zeitweiſe Ortsbewegung (durch ſchwingende Geißeln).
Das hohe pſychologiſche Intereſſe der Bakterien liegt nun be-
ſonders darin, daß dieſe differenten Funktionen der Empfindung und Be-
wegung hier in einfachſter Form als chemiſche und phyſikaliſche Proceſſe
erſcheinen, die durch die homogene Subſtanz des ſtrukturloſen und kernloſen
Plasma-Körpers vermittelt werden. Die Plasma-Seele, als mechaniſcher
Naturproceß, offenbart ſich hier als älteſter Ausgangspunkt des thieriſchen
Seelenlebens. Dasſelbe gilt auch von den älteren Rhizomoneren (Proto-
monaſ, Protomyxa, Vampyrella u. ſ. w.); ſie unterſcheiden ſich von den
kleinen Bakterien durch die Veränderlichkeit ihrer Körperform; ſie bilden
lappenförmige (Protomoeba) oder fadenförmige (Protomyxa) Fortſätze; dieſe
Pſeudopodien werden bereits zu verſchiedenen animalen Funktionen ver-
wendet, als Organe des Taſtſinns, der Ortsbewegung, der Nahrungs-
aufnahme; und doch ſind ſie keine beſtändigen Organellen, ſondern ver-
änderliche Fortſätze der halbflüſſigen homogenen Körpermaſſe, welche an
jedem Punkte ihrer Oberfläche entſtehen und vergehen können, ebenſo wie
bei den echten Rhizopoden.
I C.Zellſeele der Rhizopoden. Die große Hauptklaſſe der
Rhizopoden oder Wurzelfüßer iſt für die phyletiſche Pſychogenie in mehr-
facher Beziehung von hohem Intereſſe. Wir kennen von dieſer formen-
reichſten Gruppe der Protozoen bereits mehrere tauſend (größtentheils im
Meere lebende Arten) und unterſcheiden dieſe hauptſächlich durch die charakte-
riſtiſche Form des feſten Skelettes oder Gehäuſes, welches der einzellige
Körper zu ſeinem Schutze und ſeiner Stütze ausſcheidet. Dieſe Zellhülle
(Cythecium) iſt ſowohl bei den kalkſchaligen Thalamophoren als bei den
kieſelſchaligen Radiolarien von höchſt mannigfaltiger, meiſtens von ſehr
zierlicher und regelmäßiger Geſtalt; bei vielen größeren Formen (Nummu-
liten, Phäodarien) zeigt ſie eine erſtaunlich verwickelte Zuſammenſetzung:
ſie vererbt ſich innerhalb der einzelnen Arten ebenſo „relativ konſtant“ wie
die typiſche Species-Form der höheren Thiere; — und dennoch wiſſen wir,
daß dieſe wunderbaren „Kunſtformen der Natur“ die Ausſcheidungs-Produkte
eines formloſen feſtflüſſigen Plasma ſind, welches dieſelben veränderlichen
Pſeudopodien ausſtrahlt wie bei den vorher genannten Rhizomoneren. Wir
müſſen, um dieſe Thatſache zu erklären, dem ſtrukturloſen Plasma des ein-
[448]Anmerkungen und Erläuterungen.
zelligen Rhizopoden-Körpers ein eigenthümliches „plaſtiſches Diſtanz-Gefühl“
und ein „hydroſtatiſches Gleichgewichts-Gefühl“ zuſchreiben *).
Daneben ſehen wir ferner, daß dieſelbe homogene Subſtanz empfindlich
iſt gegen die Reize des Lichtes, der Wärme, der Elektricität, des Druckes
und chemiſcher Reagentien. Gleichzeitig überzeugt uns die ſorgfältigſte
mikroſkopiſche Beobachtung, daß dieſe ſchleimige, feſtflüſſige Eiweißmaſſe
keine wahrnehmbare anatomiſche Struktur beſitzt, wenngleich wir eine ſehr
verwickelte, für uns unſichtbare, erbliche Molekular-Struktur hypothetiſch
annehmen müſſen. Wir ſehen, daß die Zahl und Geſtalt der Maſchen
in dem Schleimnetze, welches die vielen tauſend ausſtrahlenden Pſeudopodien
bei ihrem zufälligen Zuſammentreffen durch Verſchmelzung bilden, ſich be-
ſtändig verändert; und wenn wir dieſelben ſtark reizen, fließen ſie alle in
die gemeinſame Plasma-Maſſe des kugeligen Zellenkörpers zurück. In
großem Maßſtabe ſehen wir dasſelbe an den Pilzthieren (Mycetozoen
oder Myxomyceten), z. B. an dem bekannten Aethalium ſepticum, welches
als rieſiges gelbes Schleimnetz („Lohblüthe“) die Lohbeete der Gerber durch-
zieht. In kleinerem Maßſtabe und in einfacherer Form beobachten wir
dieſelbe „Rhizopoden-Seele“ an den gemeinen Amöben. Dieſe „lappen-
bildenden nackten Zellen“ ſind aber deßhalb beſonders intereſſant, weil ihre
primitive Bildung ſich überall in den Geweben höherer einzelliger Thiere
wiederholt. Die jugendliche Eizelle, aus der der Menſch entſteht, die Mil-
lionen von Leukocyten oder „weißen Blutzellen“, die in unſerem Blute
kreiſen, viele „Schleimzellen“ u. ſ. w. ſind „amöboide Zellen“. Wenn dieſe
Zellen wandern (Planocyten) oder freſſen (Phagocyten), zeigen ſie ganz
dieſelben animalen Lebens-Erſcheinungen der Bewegung und Empfindung
wie die ſelbſtſtändigen Amöben. Neuerdings hat Rhumbler in einer aus-
gezeichneten Abhandlung gezeigt, daß viele dieſer amöboiden Bewegungen
zwar den Eindruck pſychiſcher Lebens-Thätigkeit machen, aber ganz in der-
ſelben Form auch in anorganiſchen Körpern experimentell erzeugt werden.
I D.Zellſeele der Infuſorien. Bei den echten „Infuſions-
thieren“, ſowohl Geißel-Infuſorien (Flagellaten) als Wimper-Infuſorien
(Ciliaten) und auch Saug-Infuſorien (Acineten), erreicht die Ausbildung
der animalen Seelenthätigkeit unter den einzelligen Organismen ihre höchſte
Stufe. Dieſe kleinen, zarten Thierchen, deren weicher Zellenleib gewöhnlich
eine ſehr einfache, länglich-runde Geſtalt beſitzt, bewegen ſich meiſtens lebhaft
im Waſſer umher, ſchwimmend, laufend, kletternd; ſie benutzen dabei als
Bewegungs-Organe die feinen Härchen (lange Geißeln oder kurze Wimpern),
welche aus der zarten Hautdecke (Pellicula) vortreten. Motoriſche Organelle
anderer Art ſind die kontraktilen Muskelfäden (Myophaene), welche unter
der Pellikula liegen und bei ihrer Zuſammenſetzung die Körperform ver-
ändern. An einzelnen Stellen des Körpers entwickeln ſich dieſe Myophäne
zu beſonderen Bewegungs-Werkzeugen; die Vorticellen zeichnen ſich durch
[449]Anmerkungen und Erläuterungen.
einen kontraktilen „Stielmuskel“ aus, viele Hypotrichen durch einen „Schließ-
muskel des Zellenmundes“ u. ſ. w. Auch beſondere Empfindungs-Organelle
haben ſich hier entwickelt: feine Taſtborſten über der Hautdecke, Trichocyſten
unter derſelben; beſonders differenzirte Flimmerhaare ſind zu Tentacillen,
zu Geruchs- und Geſchmacks-Organen umgebildet. Bei denjenigen Infuſorien,
welche ſich durch Kopulation von zwei ſchwärmenden Zellen fortpflanzen, iſt
eine chemiſche Sinnesthätigkeit anzunehmen, welche dem Geruche höherer
Thiere ähnlich iſt; und wenn die beiden kopulirenden Zellen bereits ſexuelle
Differenzirung zeigen, gewinnt jener Chemotropismus einen erotiſchen Cha-
rakter. Man kann dann an der größeren, weiblichen Zelle oft einen beſonderen
„Empfängnißfleck“ unterſcheiden und an der kleineren, männlichen Zelle
einen „Befruchtungskegel“.
der Zellvereine, die ſehr wichtig ſind als Uebergangsſtufen von den
Protozoen zu den Metazoen, haben bisher nicht die verdiente pſycho-
logiſche Würdigung erfahren. Cönobien von Protophyten bilden viele
Chromaceen, Paulotomeen, Diatomeen, Desmidiaceen, Maſti-
goten und Melethallien; Zellvereine von Protozoen finden ſich in
mehreren Gruppen der Rhizopoden(Polycyttaria) und der Infuſorien
(ſowohl Flagellaten als Ciliaten; vergl. Syſtem. Phylog. I, S. 58).
Alle dieſe Cönobien entſtehen durch wiederholte Spaltung (meiſtens Thei-
lung, ſeltener Knospung) aus einer einfachen Mutterzelle. Je nach
der beſonderen Form dieſer Spaltung und nach der beſonderen Anordnung
der ſocialen, dadurch entſtandenen Zellen-Generationen kann man vier
Hauptformen der Cönobien unterſcheiden: 1. Maſſige Zellvereine
(Gregal-Cönobien); Gallertmaſſen von kugeliger, cylindriſcher, platten-
förmiger oder unbeſtimmt maſſiger Geſtalt, in denen viele gleichartige Zellen
(meiſt ohne beſtimmte Ordnung) überall vertheilt ſind (die ſtrukturloſe Gallert-
Maſſe, die ſie vereinigt, wird von den Zellen ſelbſt ausgeſchieden). Zu dieſer
Gruppe gehört die Morula. 2. Kugelige Zellvereine (Sphäral-
Cönobien); Gallertkugeln, an deren Oberfläche die ſocialen Zellen in einer
einfachen Schicht neben einander liegen; die Kugel-Kolonien der Volvocinen
und Haloſphären, der Katallakten und Polycyttarien. Dieſe Form iſt be-
ſonders intereſſant, weil ihre Zuſammenſetzung dieſelbe iſt wie bei der
Blaſtula der Metazoen. Wie in dem Blaſtoderm dieſer letzteren liegen oft
die zahlreichen Zellen der Kugel-Cönobien dicht neben einander und bilden
ein ganz einfaches Epithelium (die älteſte Form des Gewebes!), ſo bei
Magoſphären und Haloſphären. In anderen Fällen dagegen ſind die
ſocialen Zellen durch Zwiſchenräume getrennt und hängen nur durch Plasma-
Brücken zuſammen, als ob ſie ſich „die Hand gäben“ — ſo bei Volvocinen
und Polycyttarien (Sphärozoen, Colloſphären u. ſ. w.). 3. Baum-
förmige Zellvereine (Arboral-Cönobien); das ganze Zellenſtöckchen
iſt veräſtelt und gleicht einem Blumenſtöckchen; wie die Blumen und Blätter
an den Zweigen des letzteren, ſo ſitzen hier die ſocialen Zellen an den
Haeckel, Welträthſel. 29
[450]Anmerkungen und Erläuterungen.
Zweigen eines veräſtelten Gallertſtieles, oder die Zellen ordnen ſich ſchon
während ihrer Vermehrung ſo, daß die ganze Kolonie ſtrauchförmig, einem
Polypenſtöckchen ähnlich wird (ſo bei vielen Diatomeen und Maſtigoten,
Flagellaten und Rhizopoden). 4. Kettenförmige Zellvereine (Ka-
tenal-Cönobien). Indem die Zellen ſich wiederholt in gleicher Richtung
(der Quere nach) theilen und die Theil-Produkte an einander gereiht bleiben,
entſtehen „Gliederfäden“ oder „Zellketten“. Unter den Protophyten ſind
dieſelben ſehr verbreitet bei den Chromaceen, Desmidiaceen, Diatomeen,
unter den Protozoen bei den Bakterien und Rhizopoden, ſeltener bei
Infuſorien. In allen dieſen verſchiedenen Formen der Cönobien treten
zwei verſchiedene Stufen der Individualität und ſomit auch der Seelen-
thätigkeit vereinigt auf: I. die Zellſeele der einzelnen Zell-Individuen
und II. die Cönobialſeele des ganzen Zell-Vereins.
Süßwaſſer-Polyp, beſitzt einen eiförmigen Körper von ſehr einfachem, zwei-
ſchichtigem Bau, ähnlich einer Gaſtrula, welche ſich feſtgeſetzt hat; um den
Mund herum iſt ein Kranz von Tentakeln oder Fangfäden entwickelt. Die
beiden Zellenſchichten, welche die Körperwand bilden (und ebenſo die Ten-
takelwand), ſind dieſelben wie bei den nächſten Vorfahren der Polypen, den
Gaſträaden. Ein Unterſchied hat ſich jedoch dadurch entwickelt, daß im
Ektoderm, dem äußeren Hautblatte, Arbeitstheilung der Zellen eingetreten
iſt; zwiſchen den gewöhnlichen indifferenten Deckzellen finden ſich Neſſelzellen
zerſtreut, ferner Geſchlechtszellen und Neuromuskelzellen. Dieſe letzteren
ſind beſonders intereſſant; von dem Zellenkörper geht nach innen ein langer
fadenförmiger Fortſatz aus, der in hohem Grade kontraktil iſt und die leb-
haften Zuſammenziehungen des Körpers vermittelt; man betrachtet ihn als
Beginn der Muskelbildung und nennt ihn deßhalb Myophän oder Myonem.
Da der äußere Theil derſelben Zellen empfindlich iſt, nennt man ſie Neuro-
muskel-Zellen (auch Epithel-Muskelzellen). Da die benachbarten Zellen durch
feine Ausläufer verbunden ſind, vielleicht auch durch Ausläufer von zer-
ſtreuten Ganglienzellen zu einem nervöſen Plexus verbunden werden, können
ſich alle Muskelfäden gleichzeitig zuſammenziehen, aber ein nervöſes Central-
Organ, ein wirkliches Ganglion, exiſtirt noch nicht, ebenſo wenig als diffe-
renzirte Sinnesorgane. Denſelben einfachen „Epithelial-Bau“ wie
Hydra beſitzen auch die zahlreichen Formen der marinen Hydropolypen
(Tubularien, Campanarien u. ſ. w.). Die meiſten Arten treiben Knoſpen
und bilden Stöcke; die zahlreichen Perſonen, welche dieſe Stöcke zuſammen-
ſetzen, ſtehen unter einander in direktem Zuſammenhang; ein ſtarker Reiz,
welcher einen Theil der Geſellſchaft trifft, kann ſich auf den ganzen Stock
fortpflanzen und die Zuſammenziehung vieler oder aller Perſonen veranlaſſen.
Schwächere Reize bewirken bloß die Zuſammenziehung der einzelnen be-
troffenen Perſon. Wir können daher bei dieſen Polypen-Stöcken bereits eine
doppelte Gewebe-Seele unterſcheiden: die Perſonal-Seele der einzelnen
Polypen und die gemeinſame Kormal-Seele des ganzen Stockes.
[451]Anmerkungen und Erläuterungen.
Meduſen-Seele. Viel höher organiſirt als die feſtſitzenden kleinen
Polypen erſcheinen die nahe verwandten, frei ſchwimmenden Meduſen,
beſonders die großen, ſchönen Scheibenquallen, Diskomeduſen. Ihr zarter,
gallertiger Körper gleicht einem aufgeſpannten Regenſchirm, der durch 4
oder 8 radiale Stäbe geſtützt wird; dem Stiele des Schirmes (Umbrella)
entſpricht das Magenrohr, das unten in der Mitte herabhängt. An ſeinem
unteren Ende ſitzt der vierlappige, ſehr empfindliche und bewegliche Mund.
An der unteren Fläche des Gallertſchirmes befindet ſich eine Schicht von
Ringmuskeln, durch deren regelmäßige Zuſammenziehung der Schirm ſtärker
gewölbt und das Seewaſſer aus der Schirmhöhle unten ausgeſtoßen wird.
Am freien kreisrunden Rande des Schirmes ſitzen, gewöhnlich in gleichen
Abſtänden regelmäßig vertheilt, 4 oder 8 Sinnesorgane und ebenſo viele
lange, ſehr bewegliche und empfindliche Fangfäden oder Tentakeln. Die
Sinneswerkzeuge (Senſilla) ſind bald einfache Augen oder Hörbläschen, bald
zuſammengeſetzte Sinneskolben (Rhopalia), deren jeder ein Auge, ein Hör-
bläschen und ein Geruchs-Organ enthält. Längs des Schirmrandes verläuft
ein Nervenring, der die kleinen, an der Baſis der Tentakeln befindlichen
Nervenknoten in Verbindung ſetzt; dieſe ſenden ſenſible Nerven an die
Sinnes-Organe und motoriſche Nerven an die Muskeln. Entſprechend dieſem
differenzirten Bau des Seelen-Apparates treffen wir bei dieſen Meduſen
bereits eine vollkommen entwickelte, lebhafte Seelenthätigkeit an; ſie bewegen
ihre einzelnen Körpertheile willkürlich, ſie reagiren gegen Licht, Wärme,
Elektricität, chemiſche Reize u. ſ. w. ähnlich wie höhere Thiere. Der Nerven-
ring am Schirmrande mit ſeinen 4 oder 8 Ganglien (radialen Gehirnknoten)
bildet ein Central-Organ (Strahlgehirn), und dieſes vermittelt den Verkehr
zwiſchen den verſchiedenen ſenſiblen und motoriſchen Organen. Aber auch
jedes der 4 oder 8 radialen Stücke, welches einen Nervenknoten enthält, iſt
für ſich „beſeelt“ und kann abgetrennt von den anderen Empfindung und
Bewegung zeigen. Die Seele der Meduſen trägt alſo bereits den Charakter
der echten „Nerven-Seele“; ſie liefert aber auch zugleich ein ſehr inter-
eſſantes Beiſpiel für die Thatſache, daß dieſe Seele in mehrere gleich-
werthige Theile zerlegt werden kann.
Generations-Wechſel der Seele. Die kleinen, feſtſitzenden Po-
lypen und die großen, freiſchwimmenden Meduſen erſcheinen in jeder Be-
ziehung als ſo verſchiedene Thiere, daß man ſie früher allgemein zu zwei
ganz verſchiedenen Klaſſen ſtellte. Der einfach gebaute Polyp hat weder
Nerven noch Muskeln noch differenzirte Sinnesorgane; ſeine „Gewebe-Seele“
wird durch die Zellenſchicht des Ektoderms oder Hautblattes in Aktion ver-
ſetzt. Die verwickelt gebaute Meduſe hingegen erfreut ſich des Beſitzes von
ſelbſtſtändigen Nerven und Muskeln, von Ganglien und differenzirten Sinnes-
werkzeugen. Ihre „Nerven-Seele“ bedarf zur Thätigkeit bereits dieſes zu-
ſammengeſetzten Apparates. Während das Ernährungs-Organ des Polypen
ſich auf die einfache Magenhöhle oder den Urdarm der Gaſträaden-Ahnen
beſchränkt, tritt an deſſen Stelle bei den Meduſen ein differenzirtes, oft
ſehr verwickeltes „Gaſtrokanal-Syſtem“ mit beſtimmt geordneten radialen
29*
[452]Anmerkungen und Erläuterungen.
Taſchen oder Ernährungs-Kanälen, die vom Central-Magen (dem Urdarm)
abgehen. In der Wand desſelben etwickeln ſich 4 oder 8 ſelbſtſtändige Ge-
ſchlechtsdrüſen oder Gonaden, während ſolche den Polypen noch fehlen; hier
entſtehen in einfachſter Weiſe einzelne Geſchlechtszellen zwiſchen den gewöhn-
lichen indifferenten Zellen der permanenten Keimblätter. Der Unterſchied
im Körperbau und im Seelenleben dieſer beiden Thierklaſſen iſt demnach
ſehr bedeutend, wohl größer als der entſprechende Unterſchied zwiſchen einem
Menſchen und einem Fiſch oder zwiſchen einer Ameiſe und einem Regen-
wurm. Groß war daher die Ueberraſchung der Zoologen, als 1841 der
ausgezeichnete norwegiſche Naturforſcher Sars (urſprünglich proteſtantiſcher
Landpfarrer, ſpäter moniſtiſcher Zoologe) die Entdeckung machte, daß beide
Thierformen einem und demſelben Zeugungskreiſe angehören. Aus den
befruchteten Eiern der Meduſen entſtehen einfache Polypen, und dieſe
erzeugen wieder Meduſen durch Knoſpung auf ungeſchlechtlichem Wege.
Steenſtrup in Kopenhagen hatte ähnliche Beobachtungen früher ſchon an
Eingeweide-Würmern gemacht und vereinigte nun 1842 alle dieſe Erſchei-
nungen unter dem Begriffe des Generations-Wechſels(Metageneſiſ).
Später fand man, daß dieſelbe merkwürdige Erſcheinung ſowohl bei niederen
Thieren als Pflanzen (Mooſen, Farnen) ſehr verbreitet iſt. Gewöhnlich
wechſeln zwei ſehr verſchiedene Generationen in der Weiſe mit einander ab,
daß die eine geſchlechtsreif wird, Eier und Spermen bildet, während die
andere ungeſchlechtlich bleibt und ſich durch Sproſſung oder Knoſpenbildung
vermehrt.
Für die phylogenetiſche Pſychologie iſt nun gerade dieſer
Generationswechſel der Polypen und Meduſen von hervorragen-
dem Intereſſe, weil hier die beiden regelmäßig alternirenden Vertreter einer
und derſelben Thier-Art nicht allein in der Körperbildung, ſondern auch
in der Seelenthätigkeit ſo weit von einander entfernt erſcheinen. Wir können
hier die Entſtehung der höheren Nerven-Seele aus der niederen Gewebe-Seele
durch unmittelbare Beobachtung — gewiſſermaßen „in ſtatu naſcendi“ —
verfolgen; und, was beſonders wichtig iſt, wir können ſie durch Nachweis
ihrer bewirkenden Urſachen erklären.
Urſprung der Nervenſeele. Die erſte Entſtehung des Nerven-
ſyſtems, der Muskeln und Sinnesorgane, ihr Urſprung aus der einfachen
Zellenſchicht der Hautdecke (aus dem Ektoderm-Epitel) läßt ſich zwar auch
beim Menſchen und den höheren Thieren ontogenetiſch unmittelbar
beobachten; aber die phylogenetiſche Erklärung dieſer merkwürdigen
Thatſachen läßt ſich hier nur indirekt erſchließen. Dagegen finden wir die
direkte Erklärung derſelben in dem eben beſprochenen „Generationswechſel“
der Polypen und Meduſen. Die bewirkende Urſache dieſer Metageneſis
liegt in der ganz verſchiedenen Lebensweiſe beider Thierformen.
Die älteren, auf dem Boden des Meeres gleich Pflanzen feſtſitzenden
Polypen bedurften für ihre einfachen Anſprüche an's Leben weder höherer
Sinnesorgane noch geſonderter Muskeln und Nerven; für die Ernährung
ihres kleinen bläschenförmigen Körpers genügte die einfache Zellenſchicht des
[453]Anmerkungen und Erläuterungen.
inneren Keimblattes (Ektoderm); ebenſo wie das einfache Epithel des äußeren
Keimblattes, mit ſeinen unbedeutenden Anfängen hiſtologiſcher Differenzirung,
hinreichte, um ihre einförmigen Empfindungen und Reizbewegungen aus-
zuführen. Ganz anders bei den großen, freiſchwimmenden Meduſen; wie
ich in meiner Monographie dieſer ſchönen und hochintereſſanten Thiere
(1864-1882) gezeigt habe, ſind durch ihre Anpaſſung an die eigenthümlichen
pelagiſchen Exiſtenz-Bedingungen ihre Sinnesorgane, Muskeln und Nerven
nicht weniger vollkommen ausgebildet und geſondert als bei vielen höheren
Thieren; und zur Ernährung derſelben hat ſich ein komplizirtes Gaſtro-
kanal-Syſtem entwickelt. Der feinere Bau ihrer Seelen-Organe, den uns
zuerſt Richard Hertwig 1882 näher kennen lehrte, entſpricht den ge-
ſteigerten Anſprüchen, welche die frei ſchwimmende Lebensweiſe an dieſe
Raubthiere ſtellt: Augen, Hörbläschen (— zugleich Organe des Gleichgewichts-
Gefühls —), chemiſche (Geruchs- und Geſchmacks-) Werkzeuge ſind durch
die Unterſcheidung und Wahrnehmung der verſchiedenen Reize entſtanden;
die willkürlichen Bewegungen beim Schwimmen, beim Fangen der Beute,
bei der Nahrungsaufnahme, beim Kampfe mit Feinden u. ſ. w. haben zur
Sonderung von Muskelgruppen geführt; die geregelte Verknüpfung endlich
von dieſen motoriſchen und jenen ſenſiblen Organen hat die Entwickelung
der 4-8 Strahlgehirne am Schirmrand und des ſie verbindenden Nerven-
ringes bewirkt. Wenn nun aber aus den befruchteten Eiern dieſer Meduſen
ſich wieder einfache Polypen entwickeln, erklärt ſich dieſer Rückſchlag durch
die Geſetze der latenten Vererbung.
Menſchen-Affen, nicht nur im Körperbau und der Entwickelungsweiſe den
Menſchen am nächſten ſtehen, ſondern auch in allen Beziehungen des
Seelenlebens, kann das vergleichende Studium der Affenſeele
unſeren ſogenannten „Pſychologen vom Fach“ nicht dringend genug em-
pfohlen werden. Ebenſo belehrend als unterhaltend iſt dafür namentlich
der Beſuch der zoologiſchen Gärten, der Affen-Theater u. ſ. w. Aber auch
der Beſuch des Zirkus und des Hunde-Theaters iſt nicht minder lehrreich.
Die erſtaunlichen Reſultate, welche die moderne Thierdreſſur nicht nur
in der Ausbildung von Hunden, Pferden und Elephanten, ſondern auch in
der Erziehung von wilden Raubthieren, Hufthieren, Nagethieren und anderen
niederen Säugethieren erzielt hat, müſſen für jeden unbefangenen Pſycho-
logen bei eingehendem Studium einer Quelle der wichtigſten moniſtiſchen
Seelen-Erkenntniß werden. Abgeſehen hiervon iſt der Beſuch ſolcher Vor-
ſtellungen viel unterhaltender und erweitert viel mehr den anthropologiſchen
Blick als das langweilige und theilweiſe geradezu verdummende Studium
der metaphyſiſchen Hirngeſpinnſte, welche die ſogenannte „reine introſpektive
Pſychologie“ in Tauſenden von Büchern und Abhandlungen nieder-
gelegt hat.
der modernen Biologie iſt die teleologiſche Natur-Erklärung von
[454]Anmerkungen und Erläuterungen.
Kant vollkommen widerlegt worden. Die Phyſiologie hat inzwiſchen den
Beweis geführt, daß alle Lebenserſcheinungen auf chemiſche und phyſikaliſche
Proceſſe zurückzuführen ſind, und daß es zu ihrer Erklärung weder eines
perſönlichen Schöpfers als Werkmeiſter noch einer räthſelhaften, zweck-
mäßig bauenden Lebenskraft bedarf. Die Zellentheorie hat uns gezeigt,
daß alle verwickelten Lebensthätigkeiten der höheren Thiere und Pflanzen
von den einfachen phyſikaliſch-chemiſchen Vorgängen im Elementar-Orga-
nismus der mikroſkopiſchen Zellen abzuleiten ſind, und daß die mate-
rielle Grundlage derſelben das Plasma des Zellenleibes iſt. Das gilt
ebenſo von den Erſcheinungen des Wachsthums und der Ernährung wie
von denjenigen der Fortpflanzung, Empfindung und Bewegung. Das
biogenetiſche Grundgeſetz lehrt uns, daß die räthſelhaften Erſcheinungen
der Keimesgeſchichte (die Entwickelung der Embryonen wie die Verwandelung
der Jugendformen) auf Vererbung von entſprechenden Vorgängen in der
Stammesgeſchichte der Ahnen beruhen. Die Deſcendenz-Theorie aber hat
das Räthſel gelöſt, wie die Vorgänge in dieſer Stammesgeſchichte, die
phyſiologiſchen Thätigkeiten der Veererbung und Anpaſſung, im Laufe langer
Zeiträume einen beſtändigen Wechſel der Artformen, eine langſame Trans-
formation der Species bedingen. Die Selektions-Theorie endlich
führt den klaren Nachweis, wie bei dieſen phylogenetiſchen Vorgängen die
zweckmäßigſten Einrichtungen rein mechaniſch, durch Ausleſe des Nützlichſten
entſtehen. Darwin hat damit ein mechaniſches Erklärungs-Princip der
organiſchen Zweckmäßigkeit zur Geltung gebracht, welches ſchon vor mehr
als 2000 Jahren Empedokles geahnt hatte; er iſt damit der „Newton
der organiſchen Natur“ geworden, deſſen Möglichkeit Kant entſchieden
beſtritten hatte.
Dieſe hiſtoriſchen Verhältniſſe, die ich ſchon vor 30 Jahren (im fünften
Kapitel der Natürlichen Schöpfungsgeſchichte) hervorgehoben hatte, ſind ſo
intereſſant und wichtig, daß ich ſie hier nochmals betonen wollte. Es er-
ſcheint dies nicht nur deshalb angemeſſen, weil die moderne Philoſophie
mit beſonderem Nachdruck den „Rückgang auf Kant“ verlangt; ſondern
auch weil daraus hervorgeht, daß ſelbſt die größten Metaphyſiker blind in
ſchwere Irrthümer bei Beurtheilung der wichtigſten Fragen verfallen
können. Kant, der nüchterne und klare Begründer der „kritiſchen Philo-
ſophie“, erklärt mit größter Beſtimmtheit die Hoffnung auf eine Entdeckung
für „ungereimt“, welche ſchon 70 Jahre ſpäter von Darwin thatſächlich
gemacht wurde, und er ſpricht dem Menſchengeiſte für alle Zeit eine be-
deutungsvolle Einſicht ab, welche derſelbe durch die Selektions-Theorie des
Letzteren thatſächlich erlangte. Man ſieht, wie gefährlich das kategoriſche
„Ignorabimus“ iſt!
Angeſichts der übertriebenen Verehrung, welche Kant in der neueren
Deutſchen Philoſophie gezollt wird, und welche bei vielen „Neukantianern“
in eine unbedingte, abgöttiſche Anbetung übergeht, wird es uns geſtattet
ſein, hier die menſchlichen Unvollkommenheiten des großen Königsberger
Philoſophen zu beleuchten und die verhängnißvollen Schwächen ſeiner
[455]Anmerkungen und Erläuterungen.
„kritiſchen“ Weltweisheit. Seine dualiſtiſche, mit den Jahren immer zu-
nehmende Richtung zur tranſcendentalen Metaphyſik war bei
Kant ſchon durch die mangelhafte und einſeitige Vorbildung auf der Schule
und der Univerſität bedingt. Seine dort erlangte akademiſche Bildung war
überwiegend philologiſch, theologiſch und mathematiſch; von den
Naturwiſſenſchaften lernte er nur Aſtronomie und Phyſik gründlich kennen,
zum Theil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite
Gebiet der Biologie, ſelbſt in dem beſcheidenen Umfange der damaligen
Zeit, größtentheils unbekannt. Von den organiſchen Naturwiſſen-
ſchaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Phyſio-
logie ſtudirt; daher blieb auch ſeine Anthropologie, mit der er ſich lange
Zeit beſchäftigte, höchſt unvollkommen. Hätte Kant ſtatt Philologie und
Theologie mehrere Jahre Medizin ſtudirt, hätte er ſich in den Vor-
leſungen über Anatomie und Phyſiologie eine gründliche Kenntniß des
menſchlichen Organismus, in dem Beſuche der Kliniken eine lebendige
Anſchauung von deſſen pathologiſchen Veränderungen angeeignet, ſo würde
nicht nur die Anthropologie, ſondern die geſammte Weltanſchauung
des „kritiſchen“ Philoſophen eine ganz andere Form gewonnen haben.
Kant würde ſich dann nicht ſo leichten Herzens über die wichtigſten, ſchon
damals bekannten biologiſchen Thatſachen hinweggeſetzt haben, wie es in
ſeinen ſpäteren Schriften (ſeit 1769) geſchah.
Nach Vollendung ſeiner Univerſitäts-Studien mußte Kant ſich neun
Jahre hindurch ſein Brod als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebens-
jahre, alſo gerade in jener wichtigſten Periode des Jünglings-Lebens, in
welcher nach aufgenommener akademiſcher Bildung die ſelbſtſtändige Ent-
wickelung des perſönlichen und wiſſenſchaftlichen Charakters für das ganze
folgende Leben ſich entſcheidet. Hätte Kant, der den größten Theil ſeines
Lebens in Königsberg feſt ſaß und niemals die Grenzen der Provinz
Preußen überſchritt, damals größere Reiſen ausgeführt, hätte er ſeinem
lebhaften geographiſchen und anthropologiſchen Intereſſe durch reale An-
ſchauungen lebendige Nahrung zugeführt, ſo würde dieſe Erweiterung
ſeines Geſichtskreiſes auf die Geſtaltung ſeiner idealen Weltanſchauung
ſicher in höchſt wohlthätiger Weiſe realiſtiſch eingewirkt haben. Auch der
Umſtand, daß Kant niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei
anderen philoſophirenden Junggeſellen als Entſchuldigung für mangelhafte
und einſeitige Bildung angeſehen werden. Denn der weibliche und der
männliche Menſch ſind zwei weſentlich verſchiedene Organismen, die erſt in
ihrer gegenſeitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-
Begriffs „Menſch“ ausgeſtalten.
gleichende Ueberſicht (Vollſtändige Synopſis) der vier Evan-
gelien in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlußwort: „Jede
Schrift muß aus dem Geiſt ihrer Zeit verſtanden und beurtheilt werden.
Die „Evangelien“-Dichtungen entſtammen einer ganz unwiſſen-
[456]Anmerkungen und Erläuterungen
ſchaftlichen Zeit und Kreiſen voll rohen Aberglaubens; ſie ſind
für ihre Zeit, nicht für die gegenwärtige oder gar für „alle Zeiten“ ge-
ſchrieben worden, aber auch nicht als Geſchichtsbücher, ſondern als Er-
bauungsſchriften, zum Theil als kirchliche Streitſchriften. Nur das Inter-
eſſe der Kirche, ihrer Prieſterſchaft und der mit ihnen verbundenen geſellſchaft-
lichen Einrichtungen verlangte es, den Urſprung jener Schriften auf
„Apoſtel“ (Matthäus, Johannes) oder „Apoſtelſchüler“ (Markus, Lukas)
zurückzuführen, und reicht allein ſchon hin, auf ganz einfache natürliche
Weiſe ihr Jahrhunderte lang fortbeſtehendes Anſehen zu erklären, das man
gern auf übernatürliche Einflüſſe zurückzuführen pflegt.
„Die urſprüngliche Form dieſer Dichtungen hat in den erſten Jahr-
hunderten mannigfache Veränderungen erlitten und iſt gegenwärtig nicht
mehr feſtzuſtellen. Die Sammlung der Schriften des Neuen Teſtaments
hat ſich nur ſehr langſam gebildet, und über ihre Anerkennung iſt zum
Theil erſt nach Jahrhunderten ein Einverſtändniß erzielt worden. Alles,
was an Glaubensſatzungen aus den Schriften jener kritikloſen Zeit her-
geleitet wird, beruht auf Willkür, Irrthum, wenn nicht bewußter Fälſchung.
„Zu jeder Zeit großen Druckes haben die Juden auf einen Retter
(Meſſias) gehofft. So begrüßt Jeſaias 45 I, nach Ablauf der babylo-
niſchen Gefangenſchaft (597-538), den Perſerkönig Cyrus (einen Nicht-
juden), der dem Volke die Freiheit ſchenkte, als Meſſias. Ein Hoherprieſter
Joſua führte die Juden in die Heimath zurück, und die Sage ſchuf einen
älteren Joſua, der als „Moſes“ Nachfolger ſein Volk nach Kanaan gebracht
hätte. Nach der Zerſtörung Jeruſalems (70 u. Z.) erklärte der gelehrte
Jude Joſephus, der Menſchheit bleibe nunmehr ein größerer Tempel, der
nicht von Menſchenhänden gebaut ſei, und ſah in Kaiſer Veſpaſian einen
Meſſias, der der ganzen Welt die wahre Freiheit bringe. Aber auch im
weiten Römerreich träumte mancher Dichter und Denker von einem „Welt-
heiland“, und in wenigen Jahrzehnten traten eine ganze Reihe von
„Meſſiaſſen“ auf. Zu jenen beiden Joſuas ſchuf das poetiſch thätige Volks-
gemüth einen dritten Joſua (griechiſch Jeſus).
„Das Leben eines ſolchen, beſonders eines ſchwärmeriſch angelegten
Armenfreundes, Wunderthäters und Weltheilandes war nicht eben allzu
ſchwer zu ſchreiben: Erlebniſſe, Thaten, Reden lieferten (von den damals
im Morgenlande ſeit Jahrhunderten allgemein verbreiteten Kriſchna- und
Buddha-Sagen ganz abgeſehen) Vorbilder des Alten Teſtaments: ein Moſes,
ein Elias, ein Eliſa, hinter denen er natürlich nicht zurückbleiben durfte,
Worte der Pſalmen und der Propheten. Vielfach nahmen dabei die Ver-
faſſer bildlich Gemeintes buchſtäblich. Die Kirchenväter hielten noch manche
Wundererzählung für ein Gleichniß, während die Kirche jetzt ſo ziemlich
alles, auch das Wunderlichſte, buchſtäblich genommen haben will.
„Das Bild des Meſſias geſtaltete ſich ganz allmählich aus. In den
nachweislich vor den „Evangelien“-Dichtungen entſtandenen „Paulus“-
Briefen findet ſich von ihm nichts als Tod und Auferſtehung. Aus
wörtlich aufgefaßten Prophetenſtellen dichtete man dann Lehre und Heil-
[457]Anmerkungen und Erläuterungen.
thätigkeit hinzu. Zuletzt erſt fragte man ſich: wo, wie, von wem iſt er
geboren? wie lange hat er gelebt? u. a. Sobald einmal das Beiſpiel
einer ſolchen Dichtung (wie die ſpäter „Nach Markus“, dann „Evangelium
nach Markus“ genannte) gegeben war, ergoß ſich eine Flut ähnlicher
Dichtungen, zum Theil geſchmackloſer Zerrbilder, zum Theil in den Grenzen
einer Art Möglichkeit gehaltener Lebensbilder. Jede Gegend, ja jede be-
deutendere Gemeinde hatte ihr Evangelium, und oft nannte ſich dieſes nach
einem bekannt gewordenen Namen: unter ſolchem fremden Namen zu
ſchreiben, galt für durchaus erlaubt.
„Dieſe „Evangelien“-Dichtungen verſetzen ihren Helden in die erſte
Hälfte des erſten Jahrhunderts unſerer Zeitrechnung. Aber weder jüdiſche
Schriftſteller (wie Philo und Joſephus) noch römiſche und griechiſche (wie
Tacitus, Sueton, Plinius, Dio Caſſius) dieſer und der nächſtfolgenden
Zeit kennen einen ſolchen „Jeſus von Nazaret“ oder die aus ſeinem
Leben erzählten Vorfälle; ja nicht einmal eine Stadt Nazaret iſt bekannt.“
S. E. Verus: „Vergleichende Ueberſicht der vier Evangelien“ (Einzig vor-
handene Quelle für ein Leben Jeſu, Leipzig 1897) entnehme ich folgende
Mittheilung: „Profeſſor Rudolf Seydel hat in mehreren fleißigen Ar-
beiten, die auch von namhaften theologiſchen Gelehrten, wie Profeſſor
Pfleiderer, anerkannt werden, die „Evangelien-Dichtungen“ mit
den verſchiedenen, nachweislich vor unſerer Zeitrechnung entſtandenen,
indiſchen und chineſiſchen Lebensbeſchreibungen Buddhas verglichen und
Folgendes als zweifellos feſtgeſtellt: Die Grundlage des Lebens der
beiden „Religionsſtifter“ bildet ein belehrendes und heilendes Wander-
leben, meiſt in Begleitung von Schülern, bisweilen unterbrochen von Ruhe-
pauſen (Gaſtmäler, Wüſteneinſamkeit); daneben Predigten auf Bergen und
Aufenthalt in der Hauptſtadt nach feierlichem Einzuge. Aber auch in
vielen Einzelheiten und ihrer Reihenfolge zeigt ſich eine überraſchende Ueber-
einſtimmung.
„Buddha iſt ein fleiſchgewordener Gott, als Menſch königlicher Ab-
kunft. Er wird auf übernatürliche Weiſe gezeugt und geboren, ſeine Geburt
auf wunderbare Weiſe vorher verkündet. Götter und Könige huldigen dem
Neugeborenen und bringen ihm Geſchenke dar. Ein alter Brahmane er-
kennt in ihm ſofort den Erlöſer von allen Uebeln. Friede und Freude zieht
auf Erden ein. Der junge Buddha wird verfolgt und wunderbar gerettet,
feierlich im Tempel dargeſtellt, als zwölfjähriger Knabe von den Eltern
mit Sorgen geſucht und mitten unter Prieſtern wiedergefunden. Er iſt
frühreif, übertrifft ſeine Lehrer und nimmt zu an Alter und Weisheit. Er
faſtet und wird verſucht. Er nimmt ein Weihebad im heiligen Fluſſe.
Einzelne Schüler eines weiſen Brahmanen gehen zu ihm über. Berufungs-
wort iſt „Folge mir“. Einen Schüler weiht er nach indiſchem Brauch
unter einem Feigenbaum. Unter den Zwölfen ſind drei Muſterſchüler und
einer ein ungerathener. Die früheren Namen der Schüler werden ge-
[458]Anmerkungen und Erläuterungen.
ändert. Daneben findet ſich ein weiterer Kreis von achtzig Schülern.
Buddha ſendet ſeine Schüler, mit Unterweiſungen verſehen, zwei und zwei
aus. Ein Mädchen aus dem Volke preiſt ſeine Mutter ſelig. Ein reicher
Brahmane möchte ihm folgen, kann ſich aber nicht von ſeinen Gütern
trennen; ein anderer beſucht ihn Nachts. Seiner Familie gilt er nichts;
er findet aber bei Vornehmen und bei Frauen Anhang.
„Buddha tritt als Lehrer mit Seligpreiſungen auf; beſonders gern
ſpricht er in Gleichniſſen. Seine Lehren zeigen (oft ſogar in der Wahl der
Worte) überraſchende Aehnlichkeit: er lehnt Wunder ab, verachtet irdiſche
Güter, empfiehlt Demut, Friedfertigkeit, Feindesliebe, Selbſterniedrigung
und Selbſtüberwindung, ja Enthaltung von geſchlechtlichem Verkehr. Er
lehrt auch ſein Vordaſein. In ſeinen Todesahnungen betont er, daß er
heim, in den Himmel gehe, und in den Abſchiedsreden ermahnt er die
Schüler, verheißt ihnen einen Fürſprech („Tröſter“) und weiſt auf eine all-
gemeine Weltzerſtörung hin. Heimatlos und arm zieht er umher, als Arzt,
Heiland, Erlöſer. Die Gegner werfen ihm vor, daß er die Geſellſchaft der
„Sünder“ bevorzuge. Noch kurze Zeit vor ſeinem Tode iſt er bei einer
„Sünderin“ zu Gaſt geladen. Ein Schüler bekehrt ein Mädchen aus ver-
achteter Klaſſe an einem Brunnen. Zahlreiche Wunder beſtätigen ſeine
Gottheit (er wandelt auf dem Waſſer u.a.). Feierlich zieht er in die
Reſidenz ein und ſtirbt unter Wunderzeichen: die Erde bebt, die Enden
der Welt ſtehen in Flammen, die Sonne erliſcht, ein Meteor fällt vom
Himmel. Auch Buddha fährt zur Hölle und zum Himmel.“
ſeiner intereſſanten Schrift (1894): „Glücklicher Weiſe beſitzt dieſer Sohn
Marias, der im Sinne unſerer heutigen Rechtsſprache ein natürlicher Sohn
war, andere Ruhmestitel als den ſeiner dunklen Herkunft. Mag er der Sohn
einer heimlichen Liebe geweſen ſein oder die Folge einer That, die von
unſerer heutigen Geſellſchaft als Verbrechen erklärt wird, welche Be-
deutung könnte es haben für ſein ruhmreiches Daſein? Giebt die Un-
würdigkeit ſeines Urſprungs nicht ein Anrecht auf den Heiligenſchein,
der ſeine herrliche Geſtalt umſtrahlt?“ — Im ſüdlichen Italien und
Spanien, wo vielfach ſehr lockere Begriffe über die Heiligkeit der Ehe
herrſchen, hat ſogar der katholiſche Klerus ſich dieſen landesüblichen An-
ſchauungen angepaßt; die unehelichen Kinder, welche dort alljährlich maſſen-
haft von katholiſchen Prieſtern und Kaplanen erzeugt werden (eine natür-
liche Folge des „geheiligten“ Cölibats!), gelten vielfach als Produkte
„unbefleckter Empfängniß“ und erfreuen ſich beſonderen Anſehens.
Dagegen wird der Taufname Joſeph („Beppo“), als Erinnerung an
den gutmüthigen, betrogenen Zimmermann von Galiläa, vielfach nicht
gern geſehen. Als ich 1859 in Meſſina Augenzeuge eines heftigen Streites
zwiſchen meinem Fiſcher Vincenzo und ſeinem Kollegen Giuſeppe war, rief
der Erſtere plötzlich, indem er die Pantomime des Hörnertragens machte,
dem Letzteren das eine Wort „Beppo!“ zu, was dieſen in große Wuth
[459]Anmerkungen und Erläuterungen.
verſetzte. Auf meine Frage, was das bedeute, antwortete Vincenzo lachend:
„Eh! Er heißt Giuſeppe und ſeine Frau Maria, und wie bei unſerer
heiligen Madonna iſt das erſte Kind nicht von ihm, ſondern von einem
Prieſter.“(!) — Sehr charakteriſtiſch!
Die vatikaniſche Glaubenslehre, der ſolche phyſiologiſche Erörterungen
höchſt unangenehm ſind, ſucht natürlich über die bedenkliche Empfängniß
und die uneheliche Geburt Chriſti möglichſt glatt hinwegzuſehen, und doch
kann ſie es nicht unterlaſſen, dieſe wie andere wichtige Ereigniſſe ſeines
menſchlichen Lebens in Bild und Dichtung mannigfach zu verherrlichen,
bisweilen ſogar merkwürdig materialiſtiſch!
Bei dem außerordentlichen Einfluſſe, den die bildlichen Darſtellungen
der „Heiligen Geſchichte“ auf die Phantaſie des gläubigen Volkes aus-
geübt haben, und der noch heute zu den ſtärkſten Stützen der Eccleſia
militanſ gehört, iſt es intereſſant, zu ſehen, wie ſehr die Kirche auf der
unveränderten Erhaltung der feſten, ſeit mehr als tauſend Jahren ein-
gewöhnten Schablone beſteht. Jeder Gebildete weiß, daß die überall ver-
breiteten Millionen Bilder aus der „Heiligen Geſchichte“ die Scenen und
Perſonen derſelben nicht naturwahr im Gewande ihrer Zeit darſtellen (wie
die ungebildete Maſſe ſie annimmt), ſondern in einer idealiſirten Auf-
faſſung, welche dem Geſchmack ſpäterer Künſtler entſpricht. Ueberwiegenden
Einfluß haben hier die italieniſchen Maler-Schulen ausgeübt, entſprechend
dem Umſtande, daß im Mittelalter Italien nicht nur der Sitz des welt-
beherrſchenden Papismus war, ſondern auch die größten Maler, Bildhauer
und Architekten hervorbrachte, die ſich in deſſen Dienſt ſtellten,
Vor einigen Decennien erregte ein Cyklus von Bildern aus der
Heiligen Geſchichte großes Aufſehen, welchen der geniale ruſſiſche Maler
Wereſchtſchagin ausgeſtellt hatte; ſie ſtellten hervorragende Scenen aus
dem Leben Chriſti in origineller, naturaliſtiſch-ethnographiſcher
Auffaſſung dar: die heilige Familie, Jeſus bei Johannes am Jordan,
Jeſus in der Wüſte, Jeſus auf dem See Tiberias, die Weisſagung u. ſ. w.
Der Maler hatte auf ſeiner Reiſe nach Paläſtina (1884) ſowohl die ganze
Scenerie des Heiligen Landes als auch deſſen Bevölkerung, Koſtüme
Wohnungen ꝛc. ſorgfältig ſtudirt und höchſt naturgetreu wiedergegeben.
Da wir wiſſen, daß ſowohl die Landſchaft als die Staffage von Paläſtina
ſich ſeit 2000 Jahren ſehr wenig verändert hat, ſtellten dieſe Bilder von
Wereſchtſchagin dieſelben jedenfalls viel wahrer und natürlicher dar
als alle die Millionen von Bildern, welche die Heilige Geſchichte nach der
hergebrachten italieniſchen Schablone behandeln. Aber gerade dieſer
realiſtiſche Charakter der Bilder war dem katholiſchen Klerus höchſt an-
ſtößig, und er ruhte nicht eher, bis die Ausſtellung der Bilder (z. B. in
Oeſterreich!) polizeilich verboten wurde.
Haltung, welche das urſprüngliche Chriſtenthum von Anfang an gegen das
[460]Anmerkungen und Erläuterungen.
einnahm, wird ſowohl durch die Evangelien als durch die Paulus-Briefe
unleugbar dargethan. Als Maria um Chriſtus beſorgt war, wies er ſie
mit den unkindlichen Worten zurück: „Weib, was habe ich mit dir zu
ſchaffen?“ Als ſeine Mutter und ſeine Brüder mit ihm reden wollten, ant-
wortete er: „Wer iſt meine Mutter und wer ſind meine Brüder?“ Und
dann wies er auf ſeine umſitzenden Jünger und ſagte: „Siehe da, das ſind
meine Mutter und meine Brüder“ u. ſ. w. (Matthäus 12, 46-50; Markus 3,
31-35; Lukas 8, 19-21). Ja, ſogar die vollſtändige Verleugnung der
eigenen Familie und den Haß gegen dieſelbe machte der „Meſſias der
Liebe“ zur Bedingung der Tugend: „So Jemand zu mir kommt und
haſſet nicht ſeinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schweſtern, auch
dazu ſein eigenes Leben, der kann nicht mein Jünger ſein“ (Lukas 14, 26).
dem ſchweren Kampfe, welchen die moderne Wiſſenſchaft mit dem herr-
ſchenden Aberglauben der chriſtlichen Kirche zu führen hat, iſt die offene
Kriegs-Erklärung ſehr wichtig, welche der mächtigſte Vertreter der
letzteren, der römiſche Papſt, gegen die erſtere 1870 erlaſſen hat. Unter
den kanoniſchen Sätzen, welche das ökumeniſche Konzil von Rom
1870 als göttliche Gebote verkündete, befinden ſich folgende „Ver-
fluchungen“: „Verflucht ſoll ſein: Wer den einigen wahren Gott,
den Schöpfer und Herrn aller Dinge, der ſichtbaren und unſichtbaren, ver-
leugnet. — Wer ſich nicht ſcheut, zu behaupten, daß neben der Materie
nichts Anderes vorhanden iſt. — Wer da ſagt, das Weſen Gottes und
aller Dinge ſei ein und dasſelbe. — Wer da ſagt, daß die endlichen Dinge,
körperliche ſowohl wie geiſtige, oder doch wenigſtens die geiſtigen, Ema-
nationen der göttlichen Subſtanz ſind, oder daß das göttliche Weſen durch
Manifeſtation oder Selbſtentäußerung alle Dinge producirt. — Wer nicht
anerkennt, daß die Welt und alle darin enthaltenen Dinge durch Gott aus
Nichts erſchaffen worden ſind. — Wer da ſagt, durch eigenes Mühen und
vermöge des andauernden Fortſchreitens könne, ja müſſe der Menſch zuletzt
dahin gelangen, daß er im Beſitze aller Wahrheit und Güte iſt. — Wer
nicht für heilig und kanoniſch anerkennen will die Bücher der Heiligen
Schrift in ihrer Geſammtheit und in allen ihren Teilen, wie ſie durch das
heilige Konzil von Trient verzeichnet worden ſind, oder wer ihre göttliche
Inſpiration in Abrede ſtellt. — Wer da ſagt, die menſchliche Vernunft
beſitze eine derartige Unabhängigkeit, daß Gott nicht das Glauben von ihr
verlangen könne. — Wer behauptet, die göttliche Offenbarung könne durch
äußerliche Beweismittel nicht an Glaubwürdigkeit gewinnen. — Wer be-
hauptet, es gebe keine Wunder, oder dieſelben ſeien niemals mit Sicherheit
zu erkennen, oder der göttliche Urſprung des Chriſtenthums könne nicht
durch die Wunder dargethan werden. — Wer behauptet, daß zur göttlichen
Offenbarung keine Myſterien gehören, und daß alle Glaubensſätze der
gehörig entwickelten Vernunft verſtändlich und erwieſen ſein müſſen. —
Wer behauptet, die menſchlichen Wiſſenſchaften müßten in ſo freiſinniger
[461]Anmerkungen und Erläuterungen.
Weiſe betrieben werden, daß man ihre Sätze für in Wahrheit begründet
erachten dürfe, auch wenn ſie der Offenbarungslehre widerſprechen. Wer
behauptet, beim Fortſchreiten der Wiſſenſchaft könne es einmal dahin
kommen, daß jene durch die Kirche aufgeſtellten Lehren in anderem Sinne
aufgefaßt werden müſſen, als die Kirche ſie bisher immer aufgefaßt hat
und noch auffaßt.“
Die orthodoxe evangeliſche Kirche giebt übrigens der katho-
liſchen in der Verdammung der Wiſſenſchaft als ſolcher bisweilen
nichts nach. In dem Mecklenburgiſchen Schulblatte war kürzlich
folgende Warnung zu leſen: „Hüte dich vor dem erſten Schritte! Noch
ſtehſt du da unberührt von dem falſchen Götzen der Wiſſenſchaft.
Haſt du dieſem Satan erſt den kleinen Finger gegeben, ſo erfaßt er nach
und nach die ganze Hand, du biſt ihm rettungslos verfallen, mit geheimniß-
voller Zauberkraft umgarnt er dich und führt dich hin an den Baum
der Erkenntniß; und haſt du einmal davon gekoſtet, ſo zieht es dich
immer wieder mit magiſcher Gewalt zu dem Baume zurück, ganz zu er-
kennen, was wahr und was falſch, was gut und was böſe ſei. Wahre
dir das Paradies deiner wiſſenſchaftlichen Unſchuld!“
welcher bei den meiſten Menſchen die philoſophiſche Weltanſchauung mit
der religiöſen Ueberzeugung ſteht, hat mich hier genöthigt, auf die herrſchenden
Glaubenslehren des Chriſtenthums näher einzugehen, und ihren fundamen-
talen Widerſpruch zu den Grundlehren unſerer moniſtiſchen Philoſophie
offen zu beſprechen. Nun iſt mir aber ſchon früher von meinen chriſtlichen
Gegnern oft der Vorwurf gemacht worden, daß ich die chriſtliche Religion
überhaupt nicht kenne. Noch vor Kurzem gab der fromme Dr. Dannert
(bei Empfehlung einer thierpſychologiſchen Arbeit des ausgezeichneten Jeſuiten
und Zoologen Erich Wasmann) dieſer Anſicht den höflichen Ausdruck:
„Ernſt Haeckel verſteht bekanntlich vom Chriſtenthum ſo viel, wie der
Eſel von den Logarithmen“ (Konſervative Monatsſchrift, Juli 1898,
S. 774).
Dieſe oft geäußerte Anſicht iſt ein thatſächlicher Irrthum. Nicht
nur zeichnete ich mich auf der Schule — in Folge meiner frommen Er-
ziehung — durch beſonderen Eifer und Fleiß im Religions-Unterricht aus,
ſondern ich habe noch in meinem 21. Lebensjahre die chriſtlichen Glaubens-
lehren in lebhaften Diskuſſionen gegen meine freidenkenden Kommilitonen
auf das Wärmſte vertheidigt, obgleich das Studium der menſchlichen Ana-
tomie und Phyſiologie, ihre Vergleichung mit derjenigen der anderen
Wirbelthiere, meinen Glauben ſchon tief erſchüttert hatte. Zur völligen
Aufgabe desſelben — unter den bitterſten Seelenkämpfen! — ge-
langte ich erſt durch das vollendete Studium der Medicin und durch die
Thätigkeit als praktiſcher Arzt. Da lernte ich das Wort von Fauſt ver-
ſtehen: „Der Menſchheit ganzer Jammer packt mich an!“ Da fand ich die
„Allgüte des liebenden Vaters“ ebenſo wenig in der harten Schule des
[462]Anmerkungen und Erläuterungen.
Lebens, als ich die „weiſe Vorſehung“ im Kampf um's Daſein zu entdecken
vermochte. Als ich dann ſpäter auf zahlreichen wiſſenſchaftlichen Reiſen alle
Länder und Völker Europa's kennen lernte, als ich bei wiederholten Beſuchen
von Aſien und Afrika einerſeits die ehrwürdigen Religionen der älteſten
Kulturvölker, andererſeits die niederſten Religions-Anfänge der tiefſtehenden
Naturvölker beobachten konnte, reifte in mir durch vergleichende Reli-
gions-Kritik jene Auffaſſung des Chriſtenthums, welcher ich im 17. Kapitel
Ausdruck gegeben habe.
Daß ich als Zoologe berechtigt bin, auch die entgegengeſetzte Welt-
anſchauung der Theologen in den Bereich meiner philoſophiſchen Kritik
zu ziehen, ergiebt ſich ſchon daraus, daß ich die ganze Anthropologie als
Theil der Zoologie betrachte und dabei die Pſychologie nicht ausſchließen kann.
Gemüths-Lebens und der Staatsordnung wird früher oder ſpäter dazu
führen, unſerer moniſtiſchen Religion ebenſo eine beſtimmte Kultus-Form
zu geben, wie dies bei allen anderen Religionen der Kulturvölker der Fall
geweſen iſt. Es wird eine ſchöne Aufgabe der ehrlichen Theologen
des 20. Jahrhunderts ſein, dieſen moniſtiſchen Kultus auszubauen und den
mannigfaltigen Bedürfniſſen der einzelnen Kultur-Völker anzupaſſen. Da
wir auch auf dieſem wichtigen Gebiete keine gewaltſame Revolution,
ſondern eine vernünftige Reform wünſchen, ſcheint es uns das Richtigſte,
an die beſtehenden Einrichtungen der herrſchenden chriſtlichen Kirche anzu-
knüpfen, um ſo mehr, als dieſe ja auch mit den politiſchen und ſocialen
Inſtitutionen vielfach auf das Innigſte verwachſen ſind.
In gleicher Weiſe, wie die chriſtliche Kirche ihre großen Jahresfeſte
auf die uralten heidniſchen Feſttage des Jahres verlegt hat, ſo wird die
moniſtiſche Kirche dieſelben ihrer urſprünglichen, dem Natur-Kultus ent-
ſprungenen Beſtimmung zurückgeben. Weihnachten wird wieder das Sonnen-
wendfeſt des Winters werden, Johannisfeier dasjenige des Sommers. Zu
Oſtern werden wir nicht die übernatürliche und unmögliche Auferſtehung
eines myſtiſchen Gekreuzigten feiern, ſondern die herrliche Wiedergeburt der
organiſchen Welt, die Auferſtehung der Frühlings-Natur aus dem langen
Winterſchlafe. In dem Herbſtfeſte zu Michaelis werden wir den Abſchluß
der frohen Sommerszeit feſtlich begeben und den Eintritt in die ernſte
Arbeitszeit des Winters. In ähnlicher Weiſe können auch andere Inſtitu-
tionen der herrſchenden chriſtlichen Kirche und ſogar beſondere Ceremonien
derſelben zur Errichtung des moniſtiſchen Kultus werden.
Der Gottesdienſt des Sonntags, der nach wie vor als der uralte
Tag der Ruhe, der Erbauung und Erholung auf die ſechs Werktage der
Arbeitswoche folgt, wird in der moniſtiſchen Kirche eine weſentliche Ver-
beſſerung erfahren. An die Stelle des myſtiſchen Glaubens an über-
natürliche Wunder wird das klare Wiſſen von den wahren Wundern der
Natur treten. Die Gotteshäuſer als Andachtsſtätten werden nicht mit
Heiligenbildern und Krucifixen geſchmückt werden, ſondern mit kunſtreichen
[463]Anmerkungen und Erläuterungen.
Darſtellungen aus dem unerſchöpflichen Schönheits-Reiche in Natur- und
Menſchenleben. Zwiſchen den hohen Säulen der gothiſchen Dome, welche
von Lianen umſchlungen ſind, werden ſchlanke Palmen und Baumfarne,
zierliche Bananen und Bambuſen an die Schöpfungskraft der Tropen erinnern.
In großen Aquarien, unterhalb der Kirchenfenſter, werden reizende Meduſen
und Siphonophoren, buntfarbige Korallen und Sternthiere die „Kunſt-
formen“ des Meereslebens erläutern. An die Stelle des Hochaltars wird
eine „Urania“ treten, welche an den Bewegungen der Weltkörper die
Allmacht des Subſtanz-Geſetzes darlegt. Thatſächlich finden jetzt
ſchon zahlreiche Gebildete ihre wahre Erbauung nicht in dem Anhören phraſen-
reicher und gedankenarmer Predigten, ſondern in dem Beſuche öffentlicher
Vorträge über Wiſſenſchaft und Kunſt, in dem Genuſſe der unendlichen
Schönheiten, welche aus dem Schooße unſerer Mutter Natur in unverſieg-
lichem Strome fließen.
der geſunden Moral und Sociologie bilden Egoismus (Selbſtliebe) und
Altruismus (Nächſtenliebe) im richtigen Gleichgewicht; das gilt für
den Menſchen ebenſo wie für alle anderen ſocialen Thiere. Ebenſo
wie einerſeits das Gedeihen der Geſellſchaft an dasjenige der Perſonen ge-
knüpft iſt, die ſie zuſammenſetzen, ſo iſt andererſeits die volle Entwickelung
des individuellen Menſchenweſens nur möglich im Zuſammenleben mit
Seinesgleichen. Die Chriſten-Moral predigt die ausſchließliche Geltung
des Altruismus und will dem Egoismus keinerlei Rechte zugeſtehen. Ge-
rade umgekehrt verfährt die moderne Herren-Moral (von Max Stirner,
Friedrich Nietzſche u. A.) Beide Extreme ſind gleich falſch und wider-
ſprechen in gleicher Weiſe den geſunden Forderungen der ſocialen Natur.
Vergleiche Hermann Türck, Friedrich Nietzſche und ſeine philoſophiſchen
Irrwege (Jena 1891). — L. Büchner, Die Philoſophie des Egoismus.
Internationale Literatur-Berichte. IV, 1 (7 Januar 1897).
Ueberzeugung von der Wahrheit der moniſtiſchen Philoſophie,
welche mein Buch über die „Welträthſel“ von Anfang bis zu Ende durch-
zieht, gründet ſich in erſter Linie auf die wunderbaren Fortſchritte der
Natur-Erkenntniß im neunzehnten Jahrhundert. Sie fordert uns aber am
Schluſſe desſelben auf, auch noch einen hoffnungsvollen Ausblick in das
anbrechende zwanzigſte Jahrhundert zu thun und die Frage aufzuwerfen:
„Fühlen wir uns vom Morgenhauch eines neuen Geiſtes berührt, und tragen
wir in uns das ſichere Ahnen und Empfinden eines Höheren
und Beſſeren?“ Julius Hart, deſſen Geſchichte der Weltliteratur
(2 Bände, Berlin 1894) viele Beiträge zur allſeitigen Beleuchtung dieſer
großen Frage liefert, hat dieſelbe vor Kurzem geiſtreich erörtert in einem
neuen Werke: „Zukunftsland. Im Kampf um eine Weltanſchauung.
I. Band: Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahr-
[464]Anmerkungen und Erläuterungen.
hundert.“ — Ich meinerſeits bejahe jene Frage unbedingt, weil ich die feſte
Begründung des Subſtanz-Geſetzes und der mit ihm untrennbar verknüpften
Entwickelungslehre als den größten Fortſchritt zur endgültigen „Löſung
der Welträthſel“ betrachte. Ich verkenne keineswegs das ſchwere Ge-
wicht der ſchmerzlichen Verluſte, welche die moderne Menſchheit durch den
Untergang der herrſchenden Glaubenslehren und der damit verknüpften
Zukunfts-Hoffnungen erleidet. Ich finde aber reichen Erſatz dafür in dem
unerſchöpflichen Schatze der neuen einheitlichen Weltanſchauung,
welchen uns die moderne Natur-Erkenntniß erſchloſſen hat. Ich bin feſt
überzeugt, daß das zwanzigſte Jahrhundert uns erſt zum vollen Genuſſe
dieſer Geiſtesſchätze führen wird und damit zu der von Goethe ſo herrlich
erfaßten Religion des Wahren, Guten und Schönen.
- Lizenz
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CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Haeckel, Ernst. Die Welträthsel. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjnj.0