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Wilhelm Meiſters
Lehrjahre
.
Ein Roman.
Dritter Band.
Frankfurt und Leipzig.
. 1795.
[[4]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre.

Fuͤnftes Buch.

A 2[[6]][[7]]

Erſtes Capitel.

So hatte Wilhelm zu ſeinen zwey kaum
geheilten Wunden abermals eine friſche drit¬
te, die ihm nicht wenig unbequem war. Au¬
relie wollte nicht zugeben, daß er ſich eines
Wundarztes bediente; ſie verband ihn ſelbſt
unter allerley wunderlichen Reden, Zeremo¬
nien und Sprüchen, und ſetzte ihn dadurch
in eine ſehr peinliche Lage. Doch nicht er
allein, ſondern alle Perſonen die ſich in ih¬
rer Nähe befanden, litten durch ihre Unru¬
he und Sonderbarkeit; niemand aber mehr
als der kleine Felix. Das lebhafte Kind
war unter einem ſolchen Druck höchſt unge¬
[8] duldig und zeigte ſich immer unartiger, je
mehr ſie es tadelte und zurecht wieß.


Der Knabe gefiel ſich in gewiſſen Eigen¬
heiten, die man auch Unarten zu nennen
pflegt, und die ſie ihm keineswegs nachzu¬
ſehn gedachte. Er trank, zum Beyſpiel, lie¬
ber aus der Flaſche als aus dem Glaſe, und
offenbar ſchmeckten ihm die Speiſen aus der
Schüſſel beſſer als von dem Teller. Eine
ſolche Unſchicklichkeit wurde nicht überſehen,
und wenn er nun gar die Thüre aufließ oder
zuſchlug, und, wenn ihm etwas befohlen
wurde, entweder nicht von der Stelle wich
oder ungeſtüm davon rannte: ſo mußte er
eine große Lection anhören, ohne daß er
darauf je einige Beſſerung hätte ſpüren laſ¬
ſen. Vielmehr ſchien die Neigung zu Aure¬
lien ſich täglich mehr zu verlieren; in ſeinem
Tone war nichts zärtliches wenn er ſie Mut¬
ter nannte, er hing vielmehr leidenſchaftlich
[9] an der alten Amme, die ihm denn freylich
allen Willen ließ.


Aber auch dieſe war ſeit einiger Zeit ſo
krank geworden, daß man ſie aus dem Hau¬
ſe in ein ſtilles Quartier bringen mußte, und
Felix hätte ſich ganz allein geſehen, wäre
nicht Mignon auch ihm als ein liebevoller
Schutzgeiſt erſchienen. Auf das artigſte un¬
terhielten ſich beide Kinder mit einander; ſie
lehrte ihn kleine Lieder und er, der ein ſehr
gutes Gedächtniß hatte, rezitirte ſie oft zur
Verwunderung der Zuhörer. Auch wollte ſie
ihm die Landkarten erklären, mit denen ſie
ſich noch immer ſehr abgab, wobey ſie je¬
doch nicht mit der beſten Methode verfuhr.
Denn eigentlich ſchien ſie bey den Ländern
kein anderes Intereſſe zu haben, als ob ſie
kalt oder warm ſeyen? Von den Weltpo¬
len, von dem ſchrecklichen Eiſe daſelbſt, und
von der zunehmenden Wärme, je mehr man
[10] man ſich von ihnen entfernte, wußte ſie ſehr
gut Rechenſchaft zu geben. Wenn jemand
reiſ’te, fragte ſie nur, ob er nach Norden
oder nach Süden gehe, und bemühte ſich die
Wege auf ihren kleinen Karten aufzufinden.
Beſonders wenn Wilhelm von Reiſen ſprach
war ſie ſehr aufmerkſam, und ſchien ſich im¬
mer zu betrüben ſo bald das Geſpräch auf
eine andere Materie überging. So wenig
man ſie bereden konnte, eine Rolle zu über¬
nehmen, oder auch nur wenn geſpielt wurde,
auf das Theater zu gehen; ſo gern und
fleißig lernte ſie Oden und Lieder auswen¬
dig und erregte, wenn ſie ein ſolches Ge¬
dicht, gewöhnlich von der ernſten und feyer¬
lichen Art, oft unvermuthet wie aus dem
Stegereif declamirte, bey jedermann Er¬
ſtaunen.


Serlo, der auf jede Spur eines aufkei¬
menden Talentes zu achten gewohnt war,
[11] ſuchte ſie aufzumuntern; am meiſten aber
empfahl ſie ſich ihm durch einen ſehr artigen,
manigfaltigen und manchmal ſelbſt muntern
Geſang, und auf eben dieſem Wege hatte
ſich der Harfenſpieler ſeine Gunſt erworben.


Serlo, ohne ſelbſt Genie zur Muſik zu
haben, oder irgend ein Inſtrument zu ſpie¬
len, wußte ihren hohen Werth zu ſchätzen;
er ſuchte ſich ſo oft als möglich dieſen Ge¬
nuß, der mit keinem andern verglichen wer¬
den kann, zu verſchaffen. Er hatte wöchent¬
lich einmal Concert, und nun hatte ſich ihm
durch Mignon, den Harfenſpieler und Laer¬
tes, der auf der Violine nicht ungeſchickt
war, eine wunderliche kleine Hauskapelle ge¬
bildet.


Er pflegte zu ſagen: der Menſch iſt ſo
geneigt ſich mit dem Gemeinſten abzugeben,
Geiſt und Sinne ſtumpfen ſich ſo leicht ge¬
gen die Eindrücke des Schönen und Voll¬
[12] kommnen ab, daß man die Fähigkeit es zu
empfinden, bey ſich auf alle Weiſe erhalten
ſollte. Denn einen ſolchen Genuß kann nie¬
mand ganz entbehren, und nur die Unge¬
wohntheit etwas Gutes zu genießen iſt Ur¬
ſache, daß viele Menſchen ſchon am Alber¬
nen und Abgeſchmackten, wenn es nur neu
iſt, Vergnügen finden. Man ſollte, ſagte er,
alle Tage wenigſtens ein kleines Lied hören,
ein gutes Gedicht leſen, ein treffliches Ge¬
mählde ſehen, und, wenn es möglich zu machen
wäre, einige vernünftige Worte ſprechen.


Bey dieſen Geſinnungen, die Serlo ge¬
wiſſermaßen natürlich waren, konnte es den
Perſonen, die ihn umgaben, nicht an ange¬
nehmer Unterhaltung fehlen. Mitten in die¬
ſem vergnüglichen Zuſtande brachte man
Wilhelmen eines Tags einen ſchwarzgeſiegel¬
ten Brief. Werners Petſchaft deutete auf
eine traurige Nachricht, und er erſchrack nicht
[13] wenig, als er den Tod ſeines Vaters nur
mit einigen Worten angezeigt fand. Nach
einer unerwarteten kurzen Krankheit war er
aus der Welt gegangen, und hatte ſeine
häuslichen Angelegenheiten in der beſten Ord¬
nung hinterlaſſen.


Dieſe unvermuthete Nachricht traf Wil¬
helm im Innerſten. Er fühlte tief, wie un¬
empfindlich man oft Freunde und Verwand¬
te, ſo lange ſie ſich mit uns des irdiſchen
Aufenthaltes erfreuen, vernachläſſigt, und
nur dann erſt die Verſäumniß bereut, wenn
das ſchöne Verhältniß wenigſtens für die߬
mal aufgehoben iſt. Auch konnte der Schmerz
über das zeitige Abſterben des braven Man¬
nes nur durch das Gefühl gelindert werden,
daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch
die Überzeugung, daß er wenig genoſſen habe.

Wilhelms Gedanken wandten ſich nun
bald auf ſeine eigenen Verhältniſſe, und er
[14] fühlte ſich nicht wenig beunruhigt. Der
Menſch kann in keine gefährlichere Lage
verſetzt werden, als wenn durch äußere Um¬
ſtände eine große Veränderung ſeines Zu¬
ſtandes bewirkt wird, ohne daß ſeine Art zu
empfinden und zu denken darauf vorbereitet
iſt. Es giebt alsdann eine Epoche ohne Epo¬
che, und es entſteht nur ein deſto größerer
Widerſpruch, je weniger der Menſch bemerkt,
daß er zu dem neuen Zuſtande noch nicht
ausgebildet ſey.


Wilhelm ſah ſich in einem Augenblicke
frey, in welchem er mit ſich ſelbſt noch nicht
einig werden konnte. Seine Geſinnungen
waren edel, ſeine Abſichten lauter und ſeine
Vorſätze ſchienen nicht verwerflich. Das al¬
les durfte er ſich mit einigem Zutrauen ſelbſt
bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug
gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfah¬
rung fehle, und er legte daher auf die Er¬
[15] fahrung anderer und auf die Reſultate, die
ſie daraus mit Überzeugung ableiteten, einen
übermäßigen Werth, und kam dadurch nur
immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte,
glaubte er am erſten zu erwerben, wenn er
alles Denkwürdige, was ihm in Büchern und
im Geſpräche vorkommen mochte, zu erhalten
und zu ſammlen unternähme. Er ſchrieb
daher fremde und eigene Meynungen und
Ideen, ja ganze Geſpräche die ihm intereſ¬
ſant waren, auf, und hielt leider auf dieſe
Weiſe das Falſche ſo gut als das Wahre
feſt, blieb viel zu lange an Einer Idee, ja
man möchte ſagen an Einer Sentenz hän¬
gen, und verlies dabei ſeine natürliche Denk-
und Handelsweiſe, indem er oft fremden
Lichtern als Leitſternen folgte. Aureliens
Bitterkeit und ſeines Freundes Laertes kalte
Verachtung der Menſchen beſtachen öfter als
billig war ſein Urtheil; niemand aber war
[16] ihm gefährlicher geweſen als Jarno, ein
Mann, deſſen heller Verſtand von gegenwär¬
tigen Dingen ein richtiges, ſtrenges Urtheil
fällte, dabey aber den Fehler hatte, daß er
dieſe einzelnen Urtheile mit einer Art von
Allgemeinheit ausſprach, da doch die Aus¬
ſprüche des Verſtandes eigentlich nur Ein¬
mal und zwar in dem beſtimmteſten Falle
gelten, und ſchon unrichtig werden, wenn
man ſie auf den nächſten anwendet.


So entfernte ſich Wilhelm, indem er mit
ſich ſelbſt einig zu werden ſtrebte, immer
mehr von der heilſamen Einheit, und bey
dieſer Verwirrung ward es ſeinen Leidenſchaf¬
ten um ſo leichter alle Zurüſtungen zu ihrem
Vortheil zu gebrauchen, und ihn über das was
er zu thun hatte nur noch mehr zu verwirren,

Serlo benutzte die Todespoſt zu ſeinem
Vortheil, und wirklich hatte er auch täglich
immer mehr Urſache an eine andre Einrich¬
tung[17] tung ſeines Schauſpiels zu denken. Er mu߬
te entweder ſeine alten Contracte erneuern,
wozu er keine große Luſt hatte, indem meh¬
rere Mitglieder, die ſich für unentbehrlich
hielten, täglich unleidlicher wurden; oder er
mußte, wohin auch ſein Wunſch ging, der
Geſellſchaft eine ganz neue Geſtalt geben.


Ohne ſelbſt in Wilhelmen zu dringen,
regte er Aurelien und Philinen auf, und die
übrigen Geſellen, die ſich nach Engagement
ſehnten, ließen unſerm Freunde gleichfalls
keine Ruhe, ſo daß er mit ziemlicher Verle¬
genheit an einem Scheidwege ſtand. Wer
hätte gedacht, daß ein Brief von Wernern,
der ganz im entgegen geſetzten Sinne ge¬
ſchrieben war, ihn endlich zu einer Ent¬
ſchließung hindrängen ſollte. Wir laſſen
nur den Eingang weg und geben übrigens
das Schreiben mit weniger Veränderung.


W. Meiſters Lehrj. 3. B[18]

Zweytes Capitel,

» — So war es und ſo muß es denn auch
wohl recht ſeyn, daß jeder bey jeder Gele¬
genheit ſeinem Gewerbe nachgeht und ſeine
Thätigkeit zeigt. Der gute Alte war kaum
verſchieden, als auch in der nächſten Viertel¬
ſtunde ſchon nichts mehr nach ſeinem Sinne
im Hauſe geſchah. Freunde, Bekannte und
Verwandte drängten ſich zu, beſonders aber
alle Menſchenarten, die bey ſolchen Gelegen¬
heiten etwas zu gewinnen haben. Man
brachte, man trug, man zahlte, ſchrieb und
rechnete; die einen hohlten Wein und Ku¬
chen, die andern tranken und aßen; nieman¬
den ſah ich aber ernſthafter beſchäftigt, als
die Weiber, indem ſie die Trauer ausſuchten.

Du wirſt mir alſo verzeihen, mein Lie¬
[19] ber, wenn ich bey dieſer Gelegenheit auch
an meinen Vortheil dachte, mich deiner
Schweſter ſo hülfreich und thätig als mög¬
lich zeigte und ihr, ſo bald es nur einiger¬
maßen ſchicklich war, begreiflich machte, daß
es nunmehr unſre Sache ſey, eine Verbin¬
dung zu beſchleunigen, die unſre Väter aus
allzugroßer Umſtändlichkeit bisher verzögert
hatten.


Nun mußt du aber ja nicht denken, daß
es uns eingefallen ſey, das große leere Haus
in Beſitz zu nehmen. Wir ſind beſcheidner
und vernünftiger; unſern Plan ſollſt du hö¬
ren. Deine Schweſter zieht nach der Hei¬
rath gleich in unſer Haus herüber, und ſo¬
gar auch deine Mutter mit.


Wie iſt das möglich? wirſt du ſagen,
ihr habt ja ſelbſt in dem Neſte kaum Platz.
Das iſt eben die Kunſt, mein Freund! Die
geſchickte Einrichtung macht alles möglich,
B 2[20] und du glaubſt nicht wieviel Platz man fin¬
det, wenn man wenig Raum braucht. Das
große Haus verkaufen wir, wozu ſich ſo¬
gleich eine gute Gelegenheit darbietet; das
daraus gelöſte Geld ſoll hundertfältige Zin¬
ſen tragen.


Ich hoffe du biſt damit einverſtanden,
und wünſche daß du nichts von den un¬
fruchtbaren Liebhabereyen deines Vaters und
Großvaters geerbt haben mögeſt. Dieſer
ſetzte ſeine höchſte Glückſeligkeit in eine An¬
zahl unſcheinbarer Kunſtwerke, die niemand,
ich darf wohl ſagen niemand mit ihm ge¬
nießen konnte: jener lebte in einer koſtbaren
Einrichtung, die er niemand mit ſich genie¬
ßen ließ. Wir wollen es anders machen,
und ich hoffe deine Beyſtimmung.


Es iſt wahr, ich ſelbſt behalte in unſerm
ganzen Hauſe keinen Platz als den an mei¬
nem Schreibepulte, und noch ſeh ich nicht
[21] ab, wo man künftig eine Wiege hinſetzen
will; aber dafür iſt der Raum außer dem
Hauſe deſto größer. Die Kaffeehäuſer und
Clubbs für den Mann, die Spatziergänge
und Spatzierfahrten für die Frau, und die
ſchönen Luſtörter auf dem Lande für beyde.
Dabey iſt der größte Vortheil, daß auch un¬
ſer runder Tiſch ganz beſetzt iſt und es dem
Vater unmöglich wird Freunde zu ſehen, die
ſich nur deſto leichtfertiger über ihn aufhal¬
ten, je mehr er ſich Mühe gegeben hat ſie
zu bewirthen.


Nur nichts überflüſſiges im Hauſe! nur
nicht zu viel Möbeln, Geräthſchaften, nur
keine Kutſche und Pferde! Nichts als Geld,
und dann auf eine vernünftige Weiſe jeden
Tag gethan was dir beliebt; nur keine Gar¬
derobe, immer das neuſte und beſte auf dem
Leibe; der Mann mag ſeinen Rock abtragen
und die Frau den ihrigen vertrödeln, ſo bald
[22] er nur einigermaßen aus der Mode kömmt.
Es iſt mir nichts unerträglicher, als ſo ein
alter Kram von Beſitzthum. Wenn man
mir den koſtbarſten Edelſtein ſchenken woll¬
te, mit der Bedingung ihn täglich am Fin¬
ger zu tragen, ich würde ihn nicht anneh¬
men; denn wie läßt ſich bei einem todten
Capital nur irgend eine Freude denken?
Das iſt alſo mein luſtiges Glaubensbekennt¬
niß: ſeine Geſchäfte verrichtet, Geld geſchaft,
ſich mit den Seinigen luſtig gemacht und
um die übrige Welt ſich nicht mehr beküm¬
mert, als in ſo fern man ſie nutzen kann.


Nun wirſt du aber ſagen: wie iſt denn
in eurem ſaubern Plane an mich gedacht?
Wo ſoll ich unterkommen, wenn ihr mir das
väterliche Haus verkauft, und in dem euri¬
gen nicht der mindeſte Raum übrig bleibt?


Das iſt freylich der Hauptpunkt, Brüder¬
chen, und auf den werde ich dir gleich die¬
[23] nen können, wenn ich dir vorher das gebüh¬
rende Lob über deine vortrefflich angewende¬
te Zeit werde entrichtet haben.


Sage nur, wie haſt du es angefangen,
in ſo wenigen Wochen ein Kenner aller nütz¬
lichen und intereſſanten Gegenſtände zu wer¬
den? So viel Fähigkeiten ich an dir kenne,
hätte ich dir doch ſolche Aufmerkſamkeit und
ſolchen Fleiß nicht zugetraut. Dein Tage¬
buch hat uns überzeugt, mit welchem Nutzen
du die Reiſe gemacht haſt; die Beſchreibung
der Eiſen- und Kupferhämmer iſt vortreff¬
lich und zeigt von vieler Einſicht in die
Sache. Ich habe ſie ehemals auch beſucht,
aber meine Relation, wenn ich ſie dagegen
halte, ſieht ſehr ſtümpermäßig aus. Der
ganze Brief über die Leinwandfabrication
iſt lehrreich und die Anmerkung über die
Concurrenz ſehr treffend. An einigen Orten
[24] haſt du Fehler in der Addition gemacht, die
jedoch ſehr verzeihlich ſind.


Was aber mich und meinen Vater am
meiſten und höchſten freut, ſind deine gründ¬
lichen Einſichten in die Bewirthſchaftung und
beſonders in die Verbeſſerung der Feldgüter.
Wir haben Hoffnung, ein großes Gut, das
in Sequeſtration liegt, in einer ſehr frucht¬
baren Gegend zu erkaufen. Wir wenden
das Geld, das wir aus dem väterlichen Hau¬
ſe löſen, dazu an; ein Theil wird geborgt,
und ein Theil kann ſtehen bleiben; und wir
rechnen auf dich, daß du dahin ziehſt, den
Verbeſſerungen vorſtehſt, und ſo kann, um
nicht zu viel zu ſagen, das Gut in einigen
Jahren um ein Drittel an Werth ſteigen;
man verkauft es wieder, ſucht ein größeres,
verbeſſert und handelt wieder, und dazu
biſt du der Mann. Unſre Federn ſollen in¬
deß zu Hauſe nicht müßig ſeyn, und wir
[25] wollen uns bald in einen beneidenswerthen
Zuſtand verſetzen.


Jetzt lebe wohl! Genieße das Leben auf
der Reiſe, und ziehe hin, wo du es vergnüg¬
lich und nützlich findeſt. Vor dem erſten
halben Jahre bedürfen wir deiner nicht; du
kannſt dich alſo nach Belieben in der Welt
umſehen, denn die beſte Bildung findet ein
geſcheuter Menſch auf Reiſen. Lebe wohl,
ich freue mich, ſo nahe mit dir verbunden,
auch nunmehr im Geiſt der Thätigkeit mit
dir vereint zu werden.»


So gut dieſer Brief geſchrieben war, und
ſo viel ökonomiſche Wahrheiten er enthalten
mochte, mißfiel er doch Wilhelmen auf mehr
als eine Weiſe. Das Lob, das er über [ſei¬]
ne fingirten ſtatiſtiſchen, technologiſchen und
ruraliſchen Kenntniſſe erhielt, war ihm ein
ſtiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm
ſein Schwager vom Glück des bürgerlichen
[26] Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs;
vielmehr ward er durch einen heimlichen
Geiſt des Widerſpruchs mit Heftigkeit auf
die entgegen geſetzte Seite getrieben. Er
überzeugte ſich, daß er nur auf dem Theater
die Bildung, die er ſich zu geben wünſchte,
vollenden könne, und ſchien in ſeinem Ent¬
ſchluſſe nur deſtomehr beſtärkt zu werden, je
lebhafter Werner, ohne es zu wiſſen, ſein
Gegner geworden war. Er faßte darauf
alle ſeine Argumente zuſammen und beſtä¬
tigte bey ſich ſeine Meynung nur um deſto¬
mehr, je mehr er Urſache zu haben glaubte
ſie dem klugen Werner in einem günſtigen
Lichte darzuſtellen, und auf dieſe Weiſe ent¬
ſtand eine Antwort, die wir gleichfalls ein¬
rücken.


[27]

Drittes Capitel.

Dein Brief iſt ſo wohl geſchrieben, und
ſo geſcheut und klug gedacht, daß ſich nichts
mehr dazu ſetzen läßt. Du wirſt mir aber
verzeihen, wenn ich ſage, daß man gerade
das Gegentheil davon meynen, behaupten
und thun und doch auch recht haben kann.
Deine Art zu ſeyn und zu denken geht auf
einen unbeſchränkten Beſitz und auf eine
leichte luſtige Art zu genießen hinaus, und
ich brauche dir kaum zu ſagen, daß ich dar¬
an nichts was mich reizte finden kann.


Zuerſt muß ich dir leider bekennen, daß
mein Tagebuch aus Noth, um meinem Va¬
ter gefällig zu ſeyn, mit Hülfe eines Freun¬
des aus mehreren Büchern zuſammen ge¬
ſchrieben iſt, und daß ich wohl die darin
enthaltenen Sachen und noch mehrere dieſer
[28] Art weiß, aber keineswegs verſtehe, noch
mich damit abgeben mag. Was hilft es mir,
gutes Eiſen zu fabriziren, wenn mein eige¬
nes Innere voller Schlacken iſt? und was,
ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn
ich mit mir ſelber immer uneins bin?


Daß ich dir’s mit Einem Worte ſage,
mich ſelbſt, ganz wie ich da bin, auszubil¬
den, das war dunkel von Jugend auf mein
Wunſch und meine Abſicht. Noch hege ich
eben dieſe Geſinnungen, nur daß mir die
Mittel, die mir es möglich machen werden,
etwas deutlicher ſind. Ich habe mehr Welt
geſehen, als du glaubſt, und ſie beſſer benutzt,
als du denkſt. Schenke deswegen dem, was
ich ſage, einige Aufmerkſamkeit, wenn es
gleich nicht ganz nach deinem Sinne ſeyn
ſollte.


Wäre ich ein Edelmann, ſo wäre unſer
Streit bald abgethan; da ich aber nur ein
[29] Bürger bin, ſo muß ich einen eigenen Weg
nehmen, und ich wünſche daß du mich ver¬
ſtehen mögeſt. Ich weiß nicht wie es in
fremden Ländern iſt, aber in Deutſchland
iſt nur dem Edelmann eine gewiſſe allgemei¬
ne, wenn ich ſagen darf perſonelle Ausbil¬
dung möglich. Ein Bürger kann ſich Ver¬
dienſt erwerben und zur höchſten Noth ſei¬
nen Geiſt ausbilden; ſeine Perſönlichkeit
geht aber verloren, er mag ſich ſtellen wie
er will. Indem es dem Edelmann, der
mit den Vornehmſten umgeht, zur Pflicht
wird, ſich ſelbſt einen vornehmen Anſtand zu
geben, indem dieſer Anſtand, da ihm weder
Thür noch Thor verſchloſſen iſt, zu einem
freyen Anſtand wird, da er mit ſeiner Figur,
mit ſeiner Perſon, es ſey bey Hofe oder bey
der Armee, bezahlen muß, ſo hat er Urſache
etwas auf ſie zu halten, und zu zeigen, daß
er etwas auf ſie hält. Eine gewiſſe feyerli¬
[30] che Grazie bey gewöhnlichen Dingen, eine
Art von leichtſinniger Zierlichkeit bey ernſt¬
haften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil
er ſehen läßt, daß er überall im Gleichge¬
wicht ſteht. Er iſt eine öffentliche Perſon,
und je ausgebildeter ſeine Bewegungen, je
ſonorer ſeine Stimme, je gehaltner und ge¬
meßner ſein ganzes Weſen iſt, deſto voll¬
kommener iſt er, und wenn er gegen hohe
und niedre, gegen Freunde und Verwandte
immer eben derſelbe bleibt, ſo iſt nichts an
ihm auszuſetzen, man darf ihn nicht anders
wünſchen. Er ſey kalt, aber verſtändig; ver¬
ſtellt, aber klug. Wenn er ſich äußerlich in
jedem Momente ſeines Lebens zu beherrſchen
weiß, ſo hat niemand eine weitere Forde¬
rung an ihn zu machen, und alles übrige
was er an und um ſich hat, Fähigkeit, Ta¬
lent, Reichthum, alles ſcheinen nur Zugaben
zu ſeyn.


[31]

Nun denke dir irgend einen Bürger, der
an jene Vorzüge nur einigen Anſpruch zu
machen gedachte; durchaus muß es ihm mi߬
lingen, und er müßte nur deſto unglücklicher
werden, je mehr ſein Naturell ihm zu jener
Art zu ſeyn Fähigkeit und Trieb gegeben
hätte.


Wenn der Edelmann im gemeinen Leben
gar keine Gränzen kennt, wenn man aus
ihm Könige oder königähnliche Figuren er¬
ſchaffen kann; ſo darf er überall mit einem
ſtillen Bewußtſeyn vor ſeines gleichen tre¬
ten; er darf überall vorwärts dringen, an¬
ſtatt daß dem Bürger nichts beſſer anſteht,
als das reine ſtille Gefühl der Gränzlinie
die ihm gezogen iſt. Er darf nicht fragen:
was biſt du? ſondern nur: was haſt du?
Welche Einſicht, welche Kenntniß, welche
Fähigkeit, wieviel Vermögen? Wenn der
Edelmann durch die Darſtellung ſeiner Per¬
[32] ſon alles giebt, ſo giebt der Bürger durch
ſeine Perſönlichkeit nichts und ſoll nichts ge¬
ben. Jener darf und ſoll ſcheinen; dieſer
ſoll nur ſeyn, und was er ſcheinen will iſt
lächerlich oder abgeſchmackt. Jener ſoll thun
und wirken, dieſer ſoll leiſten und ſchaffen;
er ſoll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um
brauchbar zu werden, und es wird ſchon
voraus geſetzt, daß in ſeinem Weſen keine
Harmonie ſey, noch ſeyn dürfe, weil er, um
ſich auf Eine Weiſe brauchbar zu machen,
alles übrige vernachläßigen muß.


An dieſem Unterſchiede iſt nicht etwa die
Anmaßung der Edelleute und die Nachgie¬
bigkeit der Bürger, ſondern die Verfaſſung
der Geſellſchaft ſelbſt Schuld; ob ſich daran
einmal was ändern wird und was ſich än¬
dern wird, bekümmert mich wenig; genug,
ich habe, wie die Sachen jetzt ſtehen, an
mich ſelbſt zu denken, und wie ich mich ſelbſt
und[33] und das was mir ein unerläßliches Bedürf¬
niß iſt, rette und erreiche.


Ich habe nun einmal gerade zu jener
harmoniſchen Ausbildung meiner Natur, die
mir meine Geburt verſagt, eine unwiderſteh¬
liche Neigung. Ich habe, ſeit ich dich
verlaſſen, durch Leibesübung viel gewon¬
nen; ich habe viel von meiner gewöhnlichen
Verlegenheit abgelegt und ſtelle mich ſo ziem¬
lich dar. Eben ſo habe ich meine Sprache
und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne
Eitelkeit ſagen, daß ich in Geſellſchaften
nicht mißfalle. Nun läugne ich dir nicht,
daß mein Trieb täglich unüberwindlicher
wird, eine öffentliche Perſon zu ſeyn, und in
einem weitern Kreiſe zu gefallen und zu wir¬
ken. Dazu kömmt meine Neigung zur Dicht¬
kunſt und zu allem, was mit ihr in Verbin¬
dung ſteht, und das Bedürfniß meinen Geiſt
und Geſchmack auszubilden, damit ich nach
W. Meiſters Lehrj. 3. C[34] und nach auch bey dem Genuß, den ich nicht
entbehren kann, nur das Gute wirklich für
gut und das Schöne für ſchön halte. Du
ſiehſt wohl, daß das alles für mich nur auf
dem Theater zu finden iſt, und daß ich mich
in dieſem einzigen Elemente nach Wunſch
rühren und ausbilden kann. Auf den Bret¬
tern erſcheint der gebildete Menſch ſo gut
perſönlich in ſeinem Glanz als in den obern
Klaſſen; Geiſt und Körper müſſen bey jeder
Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich
werde da ſo gut ſeyn und ſcheinen können,
als irgend anderswo. Suche ich daneben
noch Beſchäftigungen, ſo giebt es dort me¬
chaniſche Quälereyen genug, und ich kann
meiner Geduld tägliche Übung verſchaffen.


Diſputire mit mir nicht darüber; denn
eh’ du mir ſchreibſt, iſt der Schritt ſchon ge¬
ſchehen. Wegen der herrſchenden Vorurthei¬
le will ich meinen Nahmen verändern, weil
[35] ich mich ohnehin ſchäme als Meiſter aufzu¬
treten. Lebe wohl. Unſer Vermögen iſt in
ſo guter Hand, daß ich mich darum gar
nicht bekümmere; was ich brauche, verlange
ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel
ſeyn, denn ich hoffe daß mich meine Kunſt
auch nähren ſoll.»


Der Brief war kaum abgeſchickt, als
Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu
Serlo’s und der übrigen großen Verwunde¬
rung ſich auf einmal erklärte: daß er ſich
zum Schauſpieler widme und einen Contract
auf billige Bedingungen eingehen wolle.
Man war hierüber bald einig; denn Serlo
hatte ſchon früher ſich ſo erklärt, daß Wil¬
helm und die übrigen damit gar wohl zu¬
frieden ſeyn konnten. Die ganze verunglück¬
te Geſellſchaft, mit der wir uns ſo lange
unterhalten haben, ward auf einmal ange¬
nommen, ohne daß jedoch, außer etwa Laer¬
C 2[36] tes, ſich einer gegen Wilhelmen dankbar er¬
zeigt hätte. Wie ſie ohne Zutrauen gefor¬
dert hatten, ſo empfingen ſie ohne Dank.
Die meiſten wollten lieber ihre Anſtellung
dem Einfluſſe Philinens zuſchreiben, und
richteten ihre Dankſagungen an ſie. Indeſ¬
ſen wurden die ausgefertigten Contracte
unterſchrieben, und durch eine unerklärliche
Verknüpfung von Ideen entſtand vor Wil¬
helms Einbildungskraft, in dem Augenblicke
als er ſeinen fingirten Nahmen unterzeichne¬
te, das Bild jenes Waldplatzes, wo er ver¬
wundet in Philinens Schooß gelegen. Auf
einem Schimmel kam die liebenswürdige
Amazone aus den Büſchen, nahte ſich ihm
und ſtieg ab. Ihr menſchenfreundliches Be¬
mühen hieß ſie gehen und kommen; endlich
ſtand ſie vor ihm. Das Kleid fiel von ih¬
ren Schultern, ihr Geſicht, ihre Geſtalt fin¬
gen an zu glänzen und ſie verſchwand. So
[37] ſchrieb er ſeinen Nahmen nur mechaniſch
hin, ohne zu wiſſen was er that, und fühlte
erſt, nachdem er unterzeichnet hatte, daß
Mignon an ſeiner Seite ſtand, ihn am
Arm hielt [und] ihm die Hand leiſe wegzu¬
ziehen verſucht hatte.


[38]

Viertes Capitel.

Eine der Bedingungen, unter denen Wil¬
helm ſich aufs Theater begab, war von Ser¬
lo nicht ohne Einſchränkung zugeſtanden
worden. Jener verlangte, daß Hamlet ganz
und unzerſtückt aufgeführt werden ſollte,
und dieſer ließ ſich das wunderliche Begeh¬
ren in ſo fern gefallen, als es möglich ſeyn
würde. Nun hatten ſie hierüber bisher man¬
chen Streit gehabt; denn was möglich oder
nicht möglich ſey, und was man von dem
Stücke weglaſſen könne, ohne es zu zerſtück¬
ken, darüber waren beyde ſehr verſchiedener
Meynung.


Wilhelm befand ſich noch in den glückli¬
chen Zeiten, da man nicht begreifen kann,
daß an einem geliebten Mädchen, an einem
verehrten Schriftſteller irgend etwas man¬
[39] gelhaft ſeyn könne. Unſere Empfindung von
ihnen iſt ſo ganz, ſo mit ſich ſelbſt überein¬
ſtimmend, daß wir uns auch in ihnen eine
ſolche vollkommene Harmonie denken müſ¬
ſen. Serlo hingegen ſonderte gern und bey¬
nah zu viel; ſein ſcharfer Verſtand wollte in
einem Kunſtwerke gewöhnlich nur ein mehr
oder weniger unvollkommenes Ganze erken¬
nen. Er glaubte, ſo wie man die Stücke
finde, habe man wenig Urſache mit ihnen
ſo gar bedächtig umzugehen, und ſo mußte
auch Shakeſpear, ſo mußte beſonders Ham¬
let vieles leiden.


Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn
jener von der Abſonderung der Spreu von
dem Weizen ſprach. Es iſt nicht Spreu
und Weizen durcheinander, rief dieſer, es iſt
ein Stamm, Äſte, Zweige, Blätter, Knoſpen,
Blüthen und Früchte. Iſt nicht eins mit
dem andern und durch das andere? Jener
[40] behauptete, man bringe nicht den ganzen
Stamm auf den Tiſch, der Künſtler müſſe
goldne Äpfel in ſilbernen Schalen ſeinen Gä¬
ſten reichen. Sie erſchöpften ſich in Gleich¬
niſſen, und ihre Meynungen ſchienen ſich im¬
mer weiter von einander zu entfernen.


Gar verzweifeln wollte unſer Freund,
als Serlo ihm einſt nach langem Streit das
einfachſte Mittel anrieth, ſich kurz zu reſol¬
viren, die Feder zu ergreifen und in dem
Trauerſpiele, was eben nicht gehen wolle
noch könne, abzuſtreichen, mehrere Perſonen
in Eine zu drängen, und wenn er mit die¬
ſer Art noch nicht bekannt genug ſey, oder
noch nicht Herz genug dazu habe, ſo ſolle er
ihm die Arbeit überlaſſen, und er wolle bald
fertig ſeyn.


Das iſt nicht unſerer Abrede gemäß, ver¬
ſetzte Wilhelm. Wie können Sie bei ſo viel
Geſchmack ſo leichtſinnig ſeyn?


[41]

Mein Freund, rief Serlo aus, Sie wer¬
den es auch ſchon werden. Ich kenne das
Abſcheuliche dieſer Manier nur zu wohl, die
vielleicht noch auf keinem Theater in der
Welt ſtatt gefunden hat. Aber wo iſt auch
eins ſo verwahrloſt als das unſere? Zu
dieſer ekelhaften Verſtümmelung zwingen
uns die Autoren, und das Publikum erlaubt
ſie. Wie viel Stücke haben wir denn, die
nicht über das Maaß des Perſonals, der
Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit,
des Dialogs und der phyſiſchen Kräfte des
Acteurs hinausſchritten? und doch ſollen wir
ſpielen und immer ſpielen und immer neu
ſpielen. Sollen wir uns dabey nicht unſres
Vortheils bedienen, da wir mit zerſtückelten
Werken eben ſo viel ausrichten als mit gan¬
zen? Setzt uns das Publikum doch ſelbſt
in den Vortheil! Wenig Deutſche, und
vielleicht nur wenige Menſchen aller neuern
[42] Nationen, haben Gefühl für ein äſthetiſches
Ganze; ſie loben und tadeln nur ſtellen¬
weiſe; ſie entzücken ſich nur ſtellenweiſe: und
für wen iſt das ein größeres Glück als für
den Schauſpieler, da das Theater doch im¬
mer nur ein geſtoppeltes und geſtückeltes
Weſen bleibt.


Iſt! verſetzte Wilhelm; aber muß es
denn auch ſo bleiben, muß denn alles blei¬
ben was iſt? Überzeugen Sie mich ja nicht,
daß Sie recht haben; denn keine Macht in
der Welt würde mich bewegen können, einen
Contract zu halten, den ich nur im gröbſten
Irrthum geſchloſſen hätte.


Serlo gab der Sache eine luſtige Wen¬
dung und erſuchte Wilhelmen, ihre öftern
Geſpräche über Hamlet nochmals zu beden¬
ken, und ſelbſt die Mittel zu einer glückli¬
chen Bearbeitung zu erſinnen.


Nach einigen Tagen, die er in der Ein¬
[43] ſamkeit zugebracht hatte, kam Wilhelm mit
frohem Blicke zurück. Ich müßte mich ſehr
irren, rief er aus, wenn ich nicht gefunden
hätte, wie dem Ganzen zu helfen iſt; ja ich
bin überzeugt, daß Shakeſpear es ſelbſt ſo
würde gemacht haben, wenn ſein Genie nicht
auf die Hauptſache ſo ſehr gerichtet, und
nicht vielleicht durch die Novellen, nach de¬
nen er arbeitete, verführt worden wäre.


Laſſen Sie hören, ſagte Serlo, indem er
ſich gravitätiſch aufs Kanapee ſetzte, ich wer¬
de ruhig aufhorchen, aber auch deſto ſtren¬
ger richten.


Wilhelm verſetzte: Mir iſt nicht bange;
hören Sie nur. Ich unterſcheide, nach der
genauſten Unterſuchung, nach der reiflichſten
Überlegung, in der Compoſition dieſes Stücks,
zweyerley: das erſte ſind die großen innern
Verhältniſſe der Perſonen und der Begeben¬
heiten, die mächtigen Wirkungen, die aus
[44] den Characteren und Handlungen der Haupt¬
figuren entſtehen, und dieſe ſind einzeln für¬
trefflich, und die Folge, in der ſie aufgeſtellt
ſind, unverbeſſerlich. Sie können durch keine
Art von Behandlung zerſtöhrt, ja kaum
verunſtaltet werden. Dieſe ſinds, die jeder¬
mann zu ſehen verlangt, die niemand anzu¬
taſten wagt, die ſich tief in die Seele ein¬
drücken und die man, wie ich höre, beynahe
alle auf das deutſche Theater gebracht hat.
Nur hat man, wie ich glaube, darin ge¬
fehlt, daß man das zweyte, was bey dieſem
Stück zu bemerken iſt, ich meyne die äußern
Verhältniſſe der Perſonen, wodurch ſie von
einem Orte zum andern gebracht, oder auf
dieſe und jene Weiſe durch gewiſſe zufällige
Begebenheiten verbunden werden, für allzuun¬
bedeutend angeſehen, nur im vorbeygehn da¬
von geſprochen, oder ſie gar weggelaſſen hat.
Freilich ſind dieſe Fäden nur dünn und loſe.
[45] aber ſie gehen doch durchs ganze Stück, und
halten zuſammen, was ſonſt auseinander fie¬
le, auch wirklich auseinander fällt, wenn
man ſie wegſchneidet, und ein übriges ge¬
than zu haben glaubt, wenn man die En¬
den ſtehen läßt.


Zu dieſen äußern Verhältniſſen zähle ich
die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit
dem jungen Fortinbras, die Geſandtſchaft
an den alten Oheim, den geſchlichteten Zwiſt,
den Zug des jungen Fortinbras nach Polen
und ſeine Rückkehr am Ende. Ingleichen
die Rückkehr des Horatio von Wittenberg,
die Luſt Hamlets dahin zu gehen, die Reiſe
des Laertes nach Frankreich, ſeine Rückkunft,
die Verſchickung Hamlets nach England,
ſeine Gefangenſchaft beym Seeräuber, der
Tod der beyden Hofleute auf den Uriasbrief;
alles dieſes ſind Umſtände und Begebenhei¬
ten, die einen Roman weit und breit machen
[46] können, die aber der Einheit dieſes Stücks,
in dem beſonders der Held keinen Plan hat,
auf das äußerſte ſchaden und höchſt fehler¬
haft ſind.


So höre ich Sie einmal gerne! rief
Serlo.


Fallen Sie mir nicht ein, verſetzte Wil¬
helm, Sie möchten mich nicht immer loben.
Dieſe Fehler ſind wie flüchtige Stützen eines
Gebäudes, die man nicht wegnehmen darf,
ohne vorher eine feſte Mauer unterzuziehen,
Mein Vorſchlag iſt alſo, an jenen erſten groſ¬
ſen Situationen gar nicht zu rühren, ſon¬
dern ſie ſowohl im Ganzen als Einzelnen
möglichſt zu ſchonen, aber dieſe äußern, ein¬
zelnen, zerſtreuten und zerſtreuenden Motive
alle auf einmal weg zu werfen und ihnen
ein Einziges zu ſubſtituiren.


Und das wäre? fragte Serlo, indem er
ſich aus ſeiner ruhigen Stellung aufhob.


[47]

Es liegt auch ſchon im Stücke, erwieder¬
te Wilhelm, nur mache ich den rechten Ge¬
brauch davon. Es ſind die Unruhen in
Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan
zur Prüfung.


Nach dem Tode des alten Hamlet wer¬
den die erſteroberten Norweger unruhig.
Der dortige Statthalter ſchickt ſeinen Sohn
Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets,
der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit
allen andern vorgelaufen iſt, nach Dänne¬
mark, auf die Ausrüſtung der Flotte zu
dringen, welche unter dem neuen der Schwel¬
gerey ergebenen König nur ſaumſelig von
Statten geht. Horatio kennt den alten Kö¬
nig, denn er hat ſeinen letzten Schlachten
beygewohnt, hat bey ihm in Gunſten ge¬
ſtanden, und die erſte Geiſterſcene wird da¬
durch nicht verlieren. Der neue König giebt
ſodann dem Horatio Audienz und ſchickt
[48] den Laertes nach Norwegen mit der Nach¬
richt, daß die Flotte bald anlanden werde,
indeß Horatio den Auftrag erhält, die Rü¬
ſtung derſelben zu beſchleunigen; dagegen
will die Mutter nicht einwilligen, daß Ham¬
let, wie er wünſchte, mit Horatio zur See
gehe.


Gott ſey Dank! rief Serlo, ſo werden
wir auch Wittenberg und die hohe Schule
los, die mir immer ein leidiger Anſtoß war.
Ich finde Ihren Gedanken recht gut, denn
außer den zwey einzigen fernen Bildern,
Norwegen und der Flotte, braucht der Zu¬
ſchauer ſich nichts zu denken; das übrige
ſieht er alles, das übrige geht alles vor,
anſtatt daß ſonſt ſeine Einbildungskraft in
der ganzen Welt herum gejagt würde.


Sie ſehen leicht, verſetzte Wilhelm, wie
ich nunmehr auch das übrige zuſammen hal¬
ten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die
Miſſe¬[49] Miſſethat ſeines Stiefvaters entdeckt, ſo räth
ihm dieſer mit nach Norwegen zu gehen,
ſich der Armee zu verſichern und mit gewaff¬
neter Hand zurück zu kehren. Da Hamlet
dem König und der Königinn zu gefährlich
wird, haben ſie kein näheres Mittel ihn los
zu werden, als ihn nach der Flotte zu ſchik¬
ken und ihm Roſenkranz und Güldenſtern
zu Beobachtern mitzugeben; und da indeß
Laertes zurück kommt, ſoll dieſer bis zum
Meuchelmord erhitzte Jüngling ihm nachge¬
ſchickt werden. Die Flotte bleibt wegen
ungünſtigem Winde liegen; Hamlet kehrt
nochmals zurück; ſeine Wanderung über den
Kirchhof kann vielleicht glücklich motivirt
werden; ſein Zuſammentreffen mit Laertes
in Opheliens Grabe iſt ein großer unent¬
behrlicher Moment. Hierauf mag der Kö¬
nig bedenken, daß es beſſer ſey Hamlet auf
der Stelle los zu werden; das Feſt der Ab¬
W. Meiſters Lehrj. 3. D[50] reiſe, der ſcheinbaren Verſöhnung mit Laer¬
tes wird nun feyerlich begangen, wobey
man Ritterſpiele hält und auch Hamlet und
Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann
ich das Stück nicht ſchließen; es darf nie¬
mand übrig bleiben. Hamlet giebt, da nun
das Wahlrecht des Volks wieder eintritt,
ſeine Stimme ſterbend dem Horatio.


Nur geſchwind, verſetzte Serlo, ſetzen
Sie ſich hin und arbeiten das Stück aus;
die Idee hat völlig meinen Beyfall, nur
daß die Luſt nicht verraucht.


[51]

Fünftes Capitel.

Wilhelm hatte ſich ſchon lange mit einer
Überſetzung Hamlets abgegeben; er hatte
ſich dabei der geiſtvollen Wielandſchen Ar¬
beit bedient, durch die er überhaupt Sha¬
keſpearn zuerſt kennen lernte. Was in der¬
ſelben ausgelaſſen war, fügte er hinzu, und
ſo war er im Beſitz eines vollſtändigen
Exemplars in dem Augenblicke, da er mit
Serlo über die Behandlung ſo ziemlich einig
geworden war. Er fing nun an nach ſei¬
nem Plane auszuheben und einzuſchieben,
zu trennen und zu verbinden, zu verändern
und oft wieder herzuſtellen; denn ſo zufrie¬
den er auch mit ſeiner Idee war, ſo ſchien
ihm doch bey der Ausführung immer, daß
das Original nur verdorben werde.


Sobald er fertig war, las er es Serlo
D 2[52] und der übrigen Geſellſchaft vor. Sie be¬
zeugten ſich ſehr zufrieden damit, beſonders
machte Serlo manche günſtige Bemerkung.


Sie haben, ſagte er unter andern, ſehr
richtig empfunden, daß äußere Umſtände
dieſes Stück begleiten, aber einfacher ſeyn
müſſen, als ſie uns der große Dichter gege¬
ben hat. Was außer dem Theater vorgeht,
was der Zuſchauer nicht ſieht, was er ſich
vorſtellen muß, iſt wie ein Hintergrund, vor
dem die ſpielenden Figuren ſich bewegen.
Die große einfache Ausſicht auf die Flotte
und Norwegen wird dem Stück ſehr gut
thun; nähme man ſie ganz weg, ſo iſt es
nur eine Familienſcene, und der große Be¬
grif, daß hier ein ganzes königliches Haus
durch innere Verbrechen und Ungeſchicklich¬
keiten zu Grunde geht, wird nicht in ſeiner
ganzen Würde dargeſtellt. Bliebe aber je¬
ner Hintergrund ſelbſt mannichfaltig, beweg¬
[53] lich, confus; ſo thäte er dem Eindrucke der
Figuren Schaden.


Wilhelm nahm nun wieder die Parthie
Shakeſpears, und zeigte, daß er für Inſu¬
laner geſchrieben habe, für Engländer, die
ſelbſt im Hintergrunde nur Schiffe und See¬
reiſen, die Küſte von Frankreich und Caper
zu ſehen gewohnt ſind, und daß das, was
jenen etwas ganz gewöhnliches ſey, uns
ſchon zerſtreue und verwirre.


Serlo mußte nachgeben, und beyde ſtimm¬
ten darin überein, daß, da das Stück nun
einmal auf das deutſche Theater ſolle, dieſer
ernſtere einfachere Hintergrund für unſre
Vorſtellungsart am beſten paſſen werde.


Die Rollen hatte man ſchon früher aus¬
getheilt; den Polonius übernahm Serlo;
Aurelie, Ophelien; Laertes war durch ſeinen
Namen ſchon bezeichnet; ein junger, unter¬
ſetzter, muntrer, neuangekommener Jüngling
[54] erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen
des Königs und des Geiſtes war man in
einiger Verlegenheit. Für beyde Rollen war
nur der alte Polterer da. Serlo ſchlug den
Pedanten zum Könige vor; wogegen Wil¬
helm aber aufs äußerſte proteſtirte. Man
konnte ſich nicht entſchließen.


Ferner hatte Wilhelm in ſeinem Stücke
die beyden Rollen von Roſenkranz und Gül¬
denſtern ſtehen laſſen. Warum haben Sie
dieſe nicht in Eine verbunden? fragte Serlo,
dieſe Abbreviatur iſt doch ſo leicht gemacht.


Gott bewahre mich vor ſolchen Verkür¬
zungen, die zugleich Sinn und Wirkung
aufheben, verſetzte Wilhelm. Das was die¬
ſe beyden Menſchen ſind und thun, kann
nicht durch Einen vorgeſtellt werden. In
ſolchen Kleinigkeiten zeigt ſich Shakeſpears
Größe. Dieſes leiſe Auftreten, dieſes Schmie¬
gen und Biegen, dies Ja ſagen, Streicheln
[55] und Schmeicheln, dieſe Behendigkeit, dieſes
Schwenzeln, dieſe Allheit und Leerheit, dieſe
rechtliche Schurkerey, dieſe Unfähigkeit, wie
kann ſie durch Einen Menſchen ausgedruckt
werden? Es ſollten ihrer wenigſtens ein
Dutzend ſeyn, wenn man ſie haben könnte,
denn ſie ſind bloß etwas in Geſellſchaft; ſie
ſind die Geſellſchaft, und Shakeſpear war
ſehr beſcheiden und weiſe, daß er nur zwey
ſolche Repräſentanten auftreten ließ. Über¬
dies brauche ich ſie in meiner Bearbeitung
als ein Paar, das mit dem Einen, guten,
trefflichen Horatio contraſtirt.


Ich verſtehe Sie, ſagte Serlo, und wir
können uns helfen. Den einen geben wir
Elmiren (ſo nannte man die älteſte Tochter
des Polterers); es kann nicht ſchaden, wenn
ſie gut ausſehen, und ich will die Puppen
putzen und dreſſiren, daß es eine Luſt
ſeyn ſoll.


[56]

Philine freute ſich außerordentlich, daß
ſie die Herzoginn in der kleinen Comödie
ſpielen ſollte. Das will ich ſo natürlich ma¬
chen, rief ſie aus, wie man in der Geſchwin¬
digkeit einen zweyten heurathet, nachdem
man den erſten ganz außerordentlich geliebt
hat. Ich hoffe mir den größten Beyfall zu
erwerben, und jeder Mann ſoll wünſchen der
dritte zu werden.


Aurelie machte ein verdrießliches Geſicht
bey dieſen Äußerungen; ihr Widerwille ge¬
gen Philinen nahm mit jedem Tage zu.


Es iſt recht ſchade, ſagte Serlo, daß wir
kein Ballet haben, ſonſt ſollten Sie mir mit
Ihrem erſten und zweyten Manne ein Pas
de deux
tanzen, und der Alte ſollte nach dem
Takt einſchlafen, und Ihre Füßchen und
Wädchen würden ſich dort hinten auf dem
Kindertheater ganz allerliebſt ausnehmen.

Von meinen Wädchen wiſſen Sie ja
[57] wohl nicht vie[l,] verſetzte ſie ſchnippiſch, und
was meine Füßchen betrift, rief ſie indem ſie
ſchnell unter den Tiſch reichte, ihre Pantöf¬
felchen herauf holte und neben einander vor
Serlo hinſtellte, hier ſind die Stelzchen, und
ich gebe Ihnen auf niedlichere zu finden.


Es war Ernſt! ſagte er, als er die zier¬
lichen Halbſchuhe betrachtete. Gewiß, man
konnte nicht leicht was artigers ſehen!


Sie waren Pariſer Arbeit; Philine hatte
ſie von der Gräfin zum Geſchenk erhalten,
einer Dame, deren ſchöner Fuß berühmt war.


Ein reitzender Gegenſtand! rief Serlo,
das Herz hüpft mir wenn ich ſie anſehe.


Welche Verzuckungen! ſagte Philine.


Es geht nichts über ein paar Pantöffel¬
chen von ſo feiner ſchöner Arbeit, rief Ser¬
lo ; doch iſt ihr Klang noch reitzender, als
ihr Anblick. Er hub ſie auf und ließ ſie
[58] einigemal hinter einander wechſelsweiſe auf
den Tiſch fallen.


Was ſoll das heißen? Nur wieder her
damit! rief Philine.


Darf ich ſagen, verſetzte er mit verſtell¬
ter Beſcheidenheit und ſchalkhaftem Ernſt,
wir andern Junggeſellen, die wir Nachts
meiſt allein ſind, und uns doch wie andre
Menſchen fürchten, und im Dunkeln uns
nach Geſellſchaft ſehnen, beſonders in Wirths¬
häuſern und fremden Orten wo es nicht ganz
geheuer iſt, wir finden es gar tröſtlich, wenn
ein gutherziges Kind uns Geſellſchaft und
Beyſtand leiſten will. Es iſt Nacht, man
liegt im Bette, es raſchelt, man ſchaudert,
die Thüre thut ſich auf, man erkennt ein
liebes pisperndes Stimmchen, es ſchleicht
was herbey, die Vorhänge rauſchen, klipp!
klapp! die Pantoffeln fallen, und huſch! man
iſt nicht mehr allein. Ach der liebe, der ein¬
[59] zige Klang, wenn die Abſätzchen auf den
Boden aufſchlagen! Je zierlicher ſie ſind,
je feiner klingts. Man ſpreche mir von
Philomelen, von rauſchenden Bächen, vom
Säuſeln der Winde, und von allem was je
georgelt und gepfiffen worden iſt, ich halte
mich an das Klipp! Klapp! — Klipp! Klapp!
iſt das ſchönſte Thema zu einem Rondeau,
das man immer wieder von vorne zu hören
wünſcht.


Philine nahm ihm die Pantoffeln aus
den Händen und ſagte: wie ich ſie krumm
getreten habe! ſie ſind mir viel zu weit.
Dann ſpielte ſie damit und rieb die Sohlen
gegen einander. Was das heiß wird! rief
ſie aus, indem ſie die eine Sohle flach an
die Wange hielt, dann wieder rieb und ſie
gegen Serlo hinreichte. Er war gutmüthig
genug nach der Wärme zu fühlen, und
Klipp! Klapp! rief ſie, indem ſie ihm einen
[60] derben Schlag mit dem Abſatz verſetzte, daß
er ſchreyend die Hand zurück zog. Ich will
euch lehren bey meinen Pantoffeln was
anders denken, ſagte Philine lachend.


Und ich will dich lehren alte Leute wie
Kinder anführen! rief Serlo dagegen, ſprang
auf, faßte ſie mit Heftigkeit und raubte ihr
manchen Kuß, deren jeden ſie ſich mit ernſt¬
lichem Widerſtreben gar künſtlich abzwingen
ließ. Über dem Balgen fielen ihre langen
Haare herunter und wickelten ſich um die
Gruppe, der Stuhl ſchlug an den Boden,
und Aurelie, die von dieſem Unweſen inner¬
lich beleidigt war, ſtand mit Verdruß auf.


[61]

Sechſtes Capitel.

Obgleich bey der neuen Bearbeitung Ham¬
lets manche Perſonen weggefallen waren, ſo
blieb die Anzahl derſelben doch immer noch
groß genug, und faſt wollte die Geſellſchaft
nicht hinreichen.


Wenn das ſo fort geht, ſagte Serlo,
wird unſer Soufleur auch noch aus dem Lo¬
che hervorſteigen müſſen, unter uns wan¬
deln, und zur Perſon werden.


Schon oft habe ich ihn an ſeiner Stelle
bewundert, verſetzte Wilhelm.


Ich glaube nicht, daß es einen vollkom¬
menern Einhelfer giebt, ſagte Serlo. Kein
Zuſchauer wird ihn jemals hören; wir auf
dem Theater verſtehen jede Sylbe. Er hat
ſich gleichſam ein eigen Organ dazu gemacht,
und iſt wie ein Genius, der uns in der
[62] Noth vernehmlich zuliſpelt. Er fühlt wel¬
chen Theil ſeiner Rolle der Schauſpieler voll¬
kommen inne hat, und ahndet von weitem
wenn ihn das Gedächtniß verlaſſen will.
In einigen Fällen, da ich die Rolle kaum
überleſen konnte, da er ſie mir Wort vor
Wort vorſagte, ſpielte ich ſie mit Glück;
nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden an¬
dern unbrauchbar machen würden: er nimmt
ſo herzlichen Antheil an den Stücken, daß
er pathetiſche Stellen nicht eben declamirt,
aber doch affectvoll rezitirt. Mit dieſer Un¬
art hat er mich mehr als einmal irre
gemacht.


So wie er mich, ſagte Aurelie, mit einer
andern Sonderbarkeit einſt an einer ſehr ge¬
fährlichen Stelle ſtecken ließ.


Wie war das bei ſeiner Aufmerkſamkeit
möglich? fragte Wilhelm.


Er wird, verſetzte Aurelie, bey gewiſſen
[63] Stellen ſo gerührt, daß er heiße Thränen
weint, und einige Augenblicke ganz aus der
Faſſung kommt; und es ſind eigentlich nicht
die ſogenannten rührenden Stellen, die ihn
in dieſen Zuſtand verſetzen; es ſind, wenn
ich mich deutlich ausdrücke, die ſchönen
Stellen, aus welchen der reine Geiſt des
Dichters gleichſam aus hellen offenen Augen
hervorſieht, Stellen, bey denen wir andern
uns nur höchſtens freuen, und über die viele
Tauſend wegſehen.


Und warum erſcheint er mit dieſer zarten
Seele nicht auf dem Theater?


Ein heiſcheres Organ und ein ſteifes Be¬
tragen ſchließen ihn von der Bühne, und
ſeine hypochondriſche Natur von der Geſell¬
ſchaft aus, verſetzte Serlo. Wieviel Mühe
habe ich mir nicht gegeben, ihn an mich zu
gewöhnen? aber vergebens. Er ließt vor¬
trefflich, wie ich nicht wieder habe leſen hö¬
[64] ren; niemand hält wie er die zarte Gränz¬
linie zwiſchen Declamation und affectvoller
Recitation.


Gefunden! rief Wilhelm, gefunden!
Welch eine glückliche Entdeckung! Nun
haben wir den Schauſpieler, der uns die
Stelle vom rauhen Pyrrhus reziti¬
ren ſoll.


Man muß ſo viel Leidenſchaft haben
wie Sie, verſetzte Serlo, um alles zu ſeinem
Endzwecke zu nutzen.


Gewiß ich war in der größten Sorge,
rief Wilhelm, daß vielleicht dieſe Stelle weg¬
bleiben müßte, und das ganze Stück würde
dadurch gelähmt werden.


Das kann ich doch nicht einſehen, ver¬
ſetzte Aurelie.


Ich hoffe Sie werden bald meiner Mey¬
nung ſeyn, ſagte Wilhelm. Shakeſpear
führt die ankommenden Schauſpieler zu ei¬
nem[65] nem doppelten Entzweck herein. Erſt macht
der Mann, der den Tod des Priamus mit
ſo viel eigner Rührung declamirt, tiefen Ein¬
druck auf den Prinzen ſelbſt; er ſchärft
das Gewiſſen des jungen ſchwankenden Man¬
nes: und ſo wird dieſe Scene das Prälu¬
dium zu jener, in welcher das kleine Schau¬
ſpiel ſo große Wirkung auf den König
thut. Hamlet fühlt ſich durch den Schau¬
ſpieler beſchämt, der an fremden, an fingir¬
ten Leiden ſo großen Theil nimmt; und der
Gedanke auf eben die Weiſe einen Verſuch
auf das Gewiſſen ſeines Stiefvaters zu ma¬
chen, wird dadurch bey ihm ſogleich erregt.
Welch ein herrlicher Monolog iſts, der den
zweyten Act ſchließt! Wie freue ich mich
darauf, ihn zu rezitiren:


»O! welch ein Schurke, welch ein nie¬
driger Sklave bin ich! — Iſt es nicht un¬
geheuer, daß dieſer Schauſpieler hier, nur
W. Meiſters Lehrj. 3. E[66] durch Erdichtung, durch einen Traum von
Leidenſchaft, ſeine Seele ſo nach ſeinem Wil¬
len zwingt, daß ihre Wirkung ſein ganzes
Geſicht entfärbt: — Thränen im Auge! Ver¬
wirrung im Betragen! Gebrochne Stimme!
Sein ganzes Weſen von Einem Gefühl
durchdrungen! und das alles um nichts —
um Hekuba! — Was iſt Hekuba für ihn
oder er für Hekuba, daß er um ſie weinen
ſollte?


Wenn wir nur unſern Mann auf das
Theater bringen können, ſagte Aurelie.


Wir müſſen, verſetzte Serlo, ihn nach
und nach hinein führen. Bey den Proben
mag er die Stelle leſen, und wir ſagen daß
wir einen Schauſpieler, der ſie ſpielen ſoll,
erwarten, und ſo ſehen wir, wie wir ihm
näher kommen.


Nachdem ſie darüber einig waren, wen¬
dete ſich das Geſpräch auf den Geiſt. Wil¬
[67] helm konnte ſich nicht entſchließen, die Rolle
des lebenden Königs dem Pedanten zu über¬
laſſen, damit der Polterer den Geiſt ſpielen
könne, und glaubte eher, daß man noch ei¬
nige Zeit warten ſollte, indem ſich doch noch
einige Schauſpieler gemeldet hätten, und ſich
unter ihnen der rechte Mann finden könnte.


Man kann ſich daher denken wie ver¬
wundert Wilhelm war, als er, unter der
Addreſſe ſeines Theaternamens, Abends fol¬
gendes Billet mit wunderbaren Zügen ver¬
ſiegelt auf ſeinem Tiſche fand:


»Du biſt, o ſonderbarer Jüngling, wir
wiſſen es, in großer Verlegenheit. Du fin¬
deſt kaum Menſchen zu deinem Hamlet, ge¬
ſchweige Geiſter. Dein Eifer verdient ein
Wunder; Wunder können wir nicht thun,
aber etwas Wunderbares ſoll geſchehen. Haſt
du Vertrauen, ſo ſoll zur rechten Stunde
der Geiſt erſcheinen ! Habe Muth und bleibe
E 2[68] gefaßt! Es bedarf keiner Antwort, dein
Entſchluß wird uns bekannt werden.»


Mit dieſem ſeltſamen Blatte eilte er zu
Serlo zurück, der es las und wieder las,
und endlich mit bedenklicher Miene verſi¬
cherte: die Sache ſey von Wichtigkeit, man
müſſe wohl überlegen ob man es wagen
dürfe und könne. Sie ſprachen vieles hin
und wieder; Aurelie war ſtill und lächelte
von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Ta¬
gen wieder davon die Rede war, gab ſie
nicht undeutlich zu verſtehen, daß ſie es für
einen Scherz von Serlo halte. Sie bat
Wilhelmen völlig außer Sorge zu ſeyn, und
den Geiſt geduldig zu erwarten.


Überhaupt war Serlo von dem beſten
Humor; denn die abgehenden Schauſpieler
gaben ſich alle mögliche Mühe gut zu ſpie¬
len, damit man ſie ja recht vermiſſen ſollte,
und von der Neugierde auf die neue Geſell¬
[69] ſchaft konnte er auch die beſte Einnahme
erwarten.


Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf
ihn einigen Einfluß gehabt. Er fing an
mehr über Kunſt zu ſprechen, denn er war
am Ende doch ein Deutſcher, und dieſe Na¬
tion giebt ſich gern Rechenſchaft von dem
was ſie thut. Wilhelm ſchrieb ſich manche
ſolche Unterredung auf; und wir werden, da
die Erzählung hier nicht ſo oft unterbrochen
werden darf, denjenigen unſrer Leſer die ſich
dafür intereſſiren, ſolche dramaturgiſche Ver¬
ſuche bey einer andern Gelegenheit vor¬
legen.


Beſonders war Serlo eines Abends ſehr
luſtig, als er von der Rolle des Polonius
ſprach, wie er ſie zu faſſen gedachte. Ich
verſpreche, ſagte er, diesmal einen recht wür¬
digen Mann zum Beſten zu geben; ich wer¬
de die gehörige Ruhe und Sicherheit, Leer¬
[70] heit und Bedeutſamkeit, Annehmlichkeit und
geſchmackloſes Weſen, Freyheit und Aufpaſ¬
ſen, treuherzige Schalkheit und erlogene
Wahrheit, da wo ſie hin gehören, recht zier¬
lich aufſtellen. Ich will einen ſolchen grauen,
redlichen, ausdauernden, der Zeit dienenden
Halbſchelmen aufs allerhöflichſte vorſtellen
und vortragen, und dazu ſollen mir die et¬
was rohen und groben Pinſelſtriche unſers
Autors gute Dienſte leiſten. Ich will reden
wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet
habe, und wie ein Thor, wenn ich bey gu¬
ter Laune bin. Ich werde abgeſchmackt ſeyn
um jedem nach dem Maule zu reden, und
immer ſo fein, es nicht zu merken wenn mich
die Leute zum Beſten haben. Nicht leicht
habe ich eine Rolle mit ſolcher Luſt und
Schalkheit übernommen.


Wenn ich nur auch von der meinigen
ſo viel hoffen könnte, ſagte Aurelie. Ich
[71] habe weder Jugend noch Weichheit genug,
um mich in dieſen Charakter zu finden. Nur
eins weiß ich leider: daß Gefühl, das Ophe¬
lien den Kopf verrückt, wird mich nicht ver¬
laſſen.


Wir wollen es ja nicht ſo genau neh¬
men, ſagte Wilhelm: denn eigentlich hat mein
Wunſch den Hamlet zu ſpielen, mich bey al¬
lem Studium des Stücks, aufs Äußerſte irre
geführt. Je mehr ich mich in die Rolle ſtu¬
diere, deſto mehr ſehe ich, daß in meiner
ganzen Geſtalt kein Zug der Phyſiognomie
iſt, wie Shakeſpear ſeinen Hamlet aufſtellt.
Wenn ich es recht überlege, wie genau in
der Rolle alles zuſammen hängt, ſo getraue
ich mir kaum eine leidliche Wirkung hervor
zu bringen.


Sie treten mit großer Gewiſſenhaftig¬
keit in Ihre Laufbahn, verſetzte Serlo: der
Schauſpieler ſchickt ſich in die Rolle wie er
[72] kann, und die Rolle richtet ſich nach ihm
wie ſie muß. Wie hat aber Shakeſpear
ſeinen Hamlet vorgezeichnet? Iſt er Ihnen
denn ſo ganz unähnlich?


Zuförderſt iſt Hamlet blond, erwiederte
Wilhelm.


Das heiß ich weit geſucht, ſagte Aurelie.
Woher ſchließen Sie das?


Als Däne, als Nordländer, iſt er blond
von Hauſe aus, und hat blaue Augen.


»Sollte Shakeſpear daran gedacht ha¬
ben?»


Beſtimmt find’ ich es nicht ausgedruckt,
aber in Verbindung mit andern Stellen
ſcheint es mir unwiderſprechlich. Ihm wird
das Fechten ſauer, der Schweis läuft ihm
vom Geſichte, und die Königinn ſpricht: er
iſt fett, laßt ihn zu Athem kommen. Kann
man ſich ihn da anders als blond und wohl¬
behäglich vorſtellen, denn braune Leute ſind
[73] in ihrer Jugend ſelten in dieſem Falle. Paßt
nicht auch ſeine ſchwankende Melancholie,
ſeine weiche Trauer, ſeine thätige Unentſchloſ¬
ſenheit, beſſer zu einer ſolchen Geſtalt, als
wenn Sie ſich einen ſchlanken, braunlocki¬
gen Jüngling denken, von dem man mehr
Entſchloſſenheit und Behendigkeit erwartet?

Sie verderben mir die Imagination, rief
Aurelie, weg mit Ihrem fetten Hamlet! ſtel¬
len Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten
Prinzen vor! Geben Sie uns lieber irgend
ein Quiproquo, das uns reizt, das uns rührt.
Die Intention des Autors liegt uns nicht ſo
nahe als unſer Vergnügen, und wir verlan¬
gen einen Reiz, der uns homogen iſt.


[74]

Siebentes Capitel.

Einen Abend ſtritt die Geſellſchaft ob der
Roman oder das Drama den Vorzug ver¬
diene? Serlo verſicherte, es ſey ein vergeb¬
licher, mißverſtandner Streit; beyde könnten
in ihrer Art vortrefflich ſeyn, nur müßten
ſie ſich in den Gränzen ihrer Gattung
halten.


Ich bin ſelbſt noch nicht ganz im Klaren
darüber, verſetzte Wilhelm.


Wer iſt es auch? ſagte Serlo, und doch
wäre es der Mühe werth, daß man der Sa¬
che näher käme.


Sie ſprachen viel herüber und hinüber,
und endlich war folgendes ohngefähr das
Reſultat ihrer Unterhaltung:


Im Roman wie im Drama ſehen wir
menſchliche Natur und Handlung. Der Un¬
[75] terſchied beyder Dichtungsarten liegt nicht
bloß in der äußern Form, nicht darin, daß
die Perſonen in dem einen ſprechen, und daß
in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt
wird. Leider viele Dramas ſind nur dialo¬
girte Romane, und es wäre nicht unmöglich
ein Drama in Briefen zu ſchreiben.


Im Roman ſollen vorzüglich Geſinnun¬
gen und Begebenheiten vorgeſtellt wer¬
den; im Drama Charactere und Thaten.
Der Roman muß langſam gehen, und die
Geſinnungen der Hauptfigur müſſen, es ſey
auf welche Weiſe es wolle, des Vordringen
des Ganzen zur Entwickelung aufhalten.
Das Drama ſoll eilen, und der Charakter
der Hauptfigur muß ſich nach dem Ende
drängen, und nur aufgehalten werden. Der
Romanenheld muß leidend, wenigſtens nicht
im hohen Grade wirkend ſeyn; von dem
dramatiſchen verlangt man Wirkung und
[76] That. Grandiſon, Clariſſe, Pamela, der
Landprieſter von Wakefield, Tom Jones
ſelbſt ſind, wo nicht leidende, doch retardi¬
rende Perſonen, und alle Begebenheiten wer¬
den gewiſſermaßen nach ihren Geſinnungen
gemodelt. Im Drama modelt der Held
nichts nach ſich, alles widerſteht ihm, und
er räumt und rückt die Hinderniſſe aus dem
Wege, oder unterliegt ihnen.


So vereinigte man ſich auch darüber,
daß man dem Zufall im Roman gar wohl
ſein Spiel erlauben könne; daß er aber im¬
mer durch die Geſinnungen der Perſonen
gelenkt und geleitet werden müſſe; daß hin¬
gegen das Schickſal, das die Menſchen, ohne
ihr Zuthun, durch unzuſammenhängende äu¬
ßere Umſtände zu einer unvorgeſehenen Ca¬
taſtrophe hindrängt, nur im Drama ſtatt
habe; daß der Zufall wohl pathetiſche, nie¬
mals aber tragiſche, Situationen hervorbrin¬
[77] gen dürfe; das Schickſal hingegen müſſe im¬
mer fürchterlich ſeyn, und werde im höchſten
Sinne tragiſch, wenn es ſchuldige und un¬
ſchuldige von einander unabhängige Thaten
in eine unglückliche Verknüpfung bringt.


Dieſe Betrachtungen führten wieder auf
den wunderlichen Hamlet, und auf die Eigen¬
heiten dieſes Stücks. Der Held, ſagte man,
hat eigentlich auch nur Geſinnungen; es ſind
nur Begebenheiten die zu ihm ſtoßen, und
deswegen hat das Stück etwas von dem
gedehnten des Romans: weil aber das
Schickſal den Plan gezeichnet hat, weil das
Stück von einer fürchterlichen That ausgeht,
und der Held immer vorwärts zu einer
fürchterlichen That gedrängt wird, ſo iſt es
im höchſten Sinne tragiſch, und leidet keinen
andern als einen tragiſchen Ausgang.


Nun ſollte Leſeprobe gehalten werden,
welche Wilhelm eigentlich als ein Feſt an¬
[78] ſah. Er hatte die Rollen vorher collationirt,
daß alſo von dieſer Seite kein Anſtoß ſeyn
konnte. Die ſämmtlichen Schauſpieler wa¬
ren mit dem Stücke bekannt, und er ſuchte
ſie nur, ehe ſie anfingen, von der Wichtigkeit
einer Leſeprobe zu überzeugen. Wie man
von jedem Muſikus verlange, daß er, bis
auf einen gewiſſen Grad, vom Blatte ſpie¬
len könne, ſo ſolle auch jeder Schauſpieler,
ja jeder wohlerzogene Menſch, ſich üben vom
Blatte zu leſen, einem Drama, einem Ge¬
dicht, einer Erzählung ſogleich ihren Cha¬
rakter abzugewinnen, und ſie mit Fertigkeit
vorzutragen. Alles Memoriren helfe nichts,
wenn der Schauſpieler nicht vorher in den
Geiſt und Sinn des guten Schriftſtellers ein¬
gedrungen ſey, der Buchſtabe könne nichts
wirken.


Serlo verſicherte, daß er jeder andern
Probe, ja der Hauptprobe nachſehen wolle,
[79] ſobald der Leſeprobe ihr Recht wiederfahren
ſey: denn gewöhnlich, ſagte er, iſt nichts lu¬
ſtiger, als wenn Schauſpieler von Studieren
ſprechen; es kommt mir eben ſo vor, als
wenn die Freymäurer von Arbeiten reden.


Die Probe lief nach Wunſch ab, und
man kann ſagen, daß der Ruhm und die
gute Einnahme der Geſellſchaft ſich auf dieſe
wenigen wohlangewandten Stunden grün¬
dete.


Sie haben wohl gethan, mein Freund,
ſagte Serlo, nachdem ſie wieder allein wa¬
ren, daß Sie unſern Mitarbeitern ſo ernſt¬
lich zuſprachen, wenn ich gleich fürchte, daß
ſie Ihre Wünſche ſchwerlich erfüllen werden.

Wie ſo? verſetzte Wilhelm.

Ich habe gefunden, ſagte Serlo, daß ſo
leicht man der Menſchen Imagination in
Bewegung ſetzen kann, ſo gern ſie ſich
Mährchen erzählen laſſen, eben ſo ſelten iſt
[80] es, eine Art von productiver Imagination
bey ihnen zu finden. Bey den Schauſpie¬
lern iſt dieſes ſehr auffallend. Jeder iſt ſehr
wohl zufrieden eine ſchöne lobenswürdige
brillante Rolle zu übernehmen; ſelten aber
thut einer mehr, als ſich mit Selbſtgefällig¬
keit an die Stelle des Helden zu ſetzen, ohne
ſich im mindeſten zu bekümmern, ob ihn
auch jemand dafür halten werde. Aber mit
Lebhaftigkeit zu umfaſſen was ſich der Au¬
tor beym Stück gedacht hat, was man von
ſeiner Individualität hingeben müſſe um
einer Rolle genug zu thun, wie man durch
eigene Überzeugung, man ſey ein ganz ande¬
rer Menſch, den Zuſchauer gleichfalls zur
Überzeugung hinreiſſe; wie man, durch eine
innere Wahrheit der Darſtellungskraft, dieſe
Bretter in Tempel, dieſe Pappen in Wälder
verwandelt, iſt wenigen gegeben. Dieſe in¬
nere Stärke des Geiſtes, wodurch ganz al¬
lein[81] lein der Zuſchauer getäuſcht wird, dieſe erlo¬
gene Wahrheit, die ganz allein Wirkung
hervorbringt, wodurch ganz allein die Illuſion
erzielt wird, wer hat davon einen Begriff?

Laſſen Sie uns daher ja nicht zu ſehr
auf Geiſt und Empfindung dringen! Das
ſicherſte Mittel iſt, wenn wir unſern Freun¬
den mit Gelaſſenheit zuerſt den Sinn des
Buchſtabens erklären, und ihnen den Ver¬
ſtand eröffnen. Wer Anlage hat, eilt als¬
dann ſelbſt dem geiſtreichen und empfin¬
dungsvollen Ausdrucke entgegen; und wer
ſie nicht hat, wird wenigſtens niemals ganz
falſch ſpielen [und] rezitiren. Ich habe aber
bey Schauſpielern, ſo wie überhaupt, keine
ſchlimmere Anmaßung gefunden, als wenn
jemand Anſprüche an Geiſt macht, ſo lange
ihm der Buchſtabe noch nicht deutlich und
geläufig iſt.


W. Meiſters Lehrj. 3. F[82]

Achtes Capitel.

Wilhelm kam zur erſten Theaterprobe ſehr
zeitig und fand ſich auf den Brettern allein,
Das Lokal überraſchte ihn, und gab ihm die
wunderbarſten Erinnerungen. Die Wald-
und Dorfdekoration ſtand genau ſo, als auf
der Bühne ſeiner Vaterſtadt, auch bey einer
Probe, als ihm an jenem Morgen Mariane
lebhaft ihre Liebe bekannte, und ihm die er¬
ſte glückliche Nacht zuſagte. Die Bauern¬
häuſer glichen ſich auf dem Theater wie auf
dem Lande, die wahre Morgenſonne beſchien,
durch einen halb offenen Fenſterladen herein¬
fallend, einen Theil der Bank die neben der
Thüre ſchlecht befeſtigt war, nur leider ſchien
ſie nicht wie damals auf Marianens Schooß
und Buſen. Er ſetzte ſich nieder, dachte die¬
ſer wunderbaren Übereinſtimmung nach, und
[83] glaubte zu ahnden, daß er ſie vielleicht auf
dieſem Platze bald wieder ſehen werde. Ach,
und es war weiter nichts, als daß ein Nach¬
ſpiel, zu welchem dieſe Dekoration gehörte,
damals auf dem deutſchen Theater ſehr oft
gegeben wurde.


In dieſen Betrachtungen ſtörten ihn die
übrigen ankommenden Schauſpieler, mit de¬
nen zugleich zwey Theater- und Gardero¬
benfreunde herein traten, und Wilhelmen
mit Enthuſiasmus begrüßten. Der eine war
gewiſſermaßen an Madam Melina attachirt;
der andere aber ein ganz reiner Freund der
Schauſpielkunſt, und beyde von der Art,
wie ſich jede gute Geſellſchaft Freunde wün¬
ſchen ſollte. Man wußte nicht zu ſagen,
ob ſie das Theater mehr kannten oder lieb¬
ten? Sie liebten es zu ſehr um es recht zu
kennen, ſie kannten es genug um das Gute
zu ſchätzen und das Schlechte zu verbannen.
F 2[84] Aber bey ihrer Neigung war ihnen das Mit¬
telmäßige nicht unerträglich, und der herrli¬
che Genuß, mit dem ſie das Gute vor und
nach koſteten, war über allen Ausdruck. Das
Mechaniſche machte ihnen Freude, das Gei¬
ſtige entzückte ſie, und ihre Neigung war ſo
groß, daß auch eine zerſtückelte Probe ſie in
eine Art von Illuſion verſetzte. Die Män¬
gel ſchienen ihnen jederzeit in die Ferne zu
treten, das Gute berührte ſie wie ein naher
Gegenſtand. Kurz ſie waren Liebhaber, wie
ſie ſich der Künſtler in ſeinem Fache wünſcht.
Ihre liebſte Wanderung war von den Cou¬
liſſen ins Parterr, vom Parterr in die Cou¬
liſſen, ihr angenehmſter Aufenthalt in der
Garderobe, ihre emſigſte Beſchäftigung an
der Stellung, Kleidung, Recitation und De¬
clamation der Schauſpieler etwas zuzuſtutzen,
ihr lebhafteſtes Geſpräch über den Effekt,
den man hervorgebracht hatte, und ihre be¬
[85] ſtändigſte Bemühung, den Schauſpieler auf¬
merkſam, thätig und genau zu erhalten, ihm
etwas zu gute oder zu lieb zu thun, und,
ohne Verſchwendung, der Geſellſchaft man¬
chen Genuß zu verſchaffen. Sie hatten ſich
beyde das ausſchließliche Recht verſchaft, bey
Proben und Aufführungen auf dem Theater
zu erſcheinen. Sie waren, was die Auffüh¬
rung Hamlets betraf, mit Wilhelmen nicht
bey allen Stellen einig; hie und da gab er
nach, meiſtens aber behauptete er ſeine Mey¬
nung, und im Ganzen diente dieſe Unterhal¬
tung ſehr zur Bildung ſeines Geſchmacks.
Er ließ die beyden Freunde ſehen wie ſehr
er ſie ſchätze, und ſie dagegen weiſſagten
nichts weniger von dieſen vereinten Bemü¬
hungen, als eine neue Epoche fürs deutſche
Theater.


Die Gegenwart dieſer beyden Männer
war bey den Proben ſehr nützlich. Beſon¬
[86] ders überzeugten ſie unſre Schauſpieler, daß
man bey der Probe Stellung und Action,
wie man ſie bey der Aufführung zu zeigen
gedenke, immerfort mit der Rede verbinden
und alles zuſammen durch Gewohnheit me¬
chaniſch vereinigen müſſe. Beſonders mit
den Händen ſolle man ja bey der Probe ei¬
ner Tragödie keine gemeine Bewegung vor¬
nehmen; ein tragiſcher Schauſpieler, der in
der Probe Toback ſchnupft, mache ſie im¬
mer bange, denn höchſt wahrſcheinlich werde
er an einer ſolchen Stelle, bey der Auffüh¬
rung, die Priſe vermiſſen. Ja ſie hielten da¬
vor, daß niemand in Stiefeln probiren ſolle,
wenn die Rolle in Schuhen zu ſpielen ſey.
Nichts aber, verſicherten ſie, ſchmerze ſie
mehr, als wenn die Frauenzimmer in den
Proben ihre Hände in die Rockfalten ver¬
ſteckten.


Außerdem ward durch das Zureden die¬
[87] ſer Männer noch etwas ſehr gutes bewirkt,
daß nämlich alle Mannsperſonen exerciren
lernten. Da ſo viele Militärrollen vorkom¬
men, ſagten ſie, ſieht nichts betrübter aus
als Menſchen, die nicht die mindeſte Dreſſur
zeigen, in Hauptmanns- und Majors-Uniform
auf dem Theater herum ſchwanken zu ſehen.


Wilhelm und Laertes waren die erſten,
die ſich der Pädagogik eines Unterofficiers
unterwarfen, und ſetzten dabey ihre Fecht¬
übungen mit großer Anſtrengung fort.


So viel Mühe gaben ſich beyde Männer
mit der Ausbildung einer Geſellſchaft, die
ſich ſo glücklich zuſammen gefunden hatte.
Sie ſorgten für die künftige Zufriedenheit
des Publikums, indeß ſich dieſes über ihre
entſchiedene Liebhaberey gelegentlich aufhielt.
Man wußte nicht wieviel Urſache man hat¬
te ihnen dankbar zu ſeyn, beſonders da ſie
nicht verſäumten den Schauſpielern oft den
[88] Hauptpunkt einzuſchärfen, daß es nämlich
ihre Pflicht ſey laut und vernehmlich zu
ſprechen. Sie fanden hierbey mehr Wider¬
ſtand und Unwillen, als ſie anfangs gedacht
hatten. Die meiſten wollten ſo gehört ſeyn
wie ſie ſprachen, und wenige bemühten ſich
ſo zu ſprechen, daß man ſie hören könnte.
Einige ſchoben den Fehler aufs Gebäude,
andere ſagten, man könne doch nicht ſchreyen,
wenn man natürlich, heimlich oder zärtlich
zu ſprechen habe.


Unſre Theaterfreunde, die eine unſägliche
Geduld hatten, ſuchten auf alle Weiſe dieſe
Verwirrung zu löſen, dieſem Eigenſinne bey¬
zukommen. Sie ſparten weder Gründe noch
Schmeicheleyen, und erreichten zuletzt doch
ihren Endzweck, wobey ihnen das gute Bey¬
ſpiel Wilhelms beſonders zu ſtatten kam.
Er bat ſich aus, daß ſie ſich bey den Pro¬
ben in die entferntſten Ecken ſetzen, und ſo¬
[89] bald ſie ihn nicht vollkommen verſtünden
mit dem Schlüſſel auf die Bank pochen
möchten. Er artikulirte gut, ſprach gemäßigt
aus, ſteigerte den Ton ſtufenweiſe, und über¬
ſchrie ſich nicht in den heftigſten Stellen.
Die pochenden Schlüſſel hörte man bey je¬
der Probe weniger; nach und nach ließen
ſich die andern dieſelbe Operation gefallen,
und man konnte hoffen, daß das Stück end¬
lich in allen Winkeln des Hauſes von jeder¬
mann würde verſtanden werden.


Man ſieht aus dieſem Beyſpiel wie gern
die Menſchen ihren Zweck nur auf ihre ei¬
gene Weiſe erreichen möchten; wieviel Noth
man hat, ihnen begreiflich zu machen was
ſich eigentlich von ſelbſt verſteht, und wie
ſchwer es iſt, denjenigen, der etwas zu lei¬
ſten wünſcht, zur Erkenntniß der erſten Be¬
dingungen zu bringen, unter denen ſein Vor¬
haben allein möglich wird.


[90]

Neuntes Capitel.

Man fuhr nun fort, die nöthigen Anſtalten
zu Dekorationen und Kleidern und was
ſonſt erforderlich war zu machen. Über ei¬
nige Scenen und Stellen hatte Wilhelm
beſondere Grillen, denen Serlo nachgab,
theils in Rückſicht auf den Contract, theils
aus Überzeugung, und weil er hoffte, Wil¬
helmen durch dieſe Gefälligkeit zu gewinnen,
und in der Folge deſtomehr nach ſeinen Ab¬
ſichten zu lenken.


So ſollte zum Beyſpiel König und Kö¬
nigin bey der erſten Audienz auf dem Thro¬
ne ſitzend erſcheinen, die Hofleute an den
Seiten und Hamlet unbedeutend unter ih¬
nen ſtehen. Hamlet, ſagte er, muß ſich ru¬
hig verhalten, ſeine ſchwarze Kleidung un¬
terſcheidet ihn ſchon genug. Er muß ſich
[91] eher verbergen als zum Vorſchein kommen.
Nur dann, wenn die Audienz geendigt iſt,
wenn der König mit ihm als Sohn ſpricht,
dann mag er herbey treten und die Scene
ihren Gang gehen.


Noch eine Hauptſchwierigkeit machten die
beyden Gemählde, auf die ſich Hamlet in
der Scene mit ſeiner Mutter ſo heftig be¬
zieht. Mir ſollen, ſagte Wilhelm, in Le¬
bensgröße beyde im Grunde des Zimmers
neben der Hauptthüre ſichtbar ſeyn, und
zwar muß der alte König in völliger Rü¬
ſtung, wie der Geiſt, auf eben der Seite
hängen wo dieſer hervortritt. Ich wünſche
daß die Figur mit der rechten Hand eine
befehlende Stellung annehme, etwas ge¬
wandt ſey und gleichſam über die Schulter
ſehe, damit ſie dem Geiſte völlig gleiche, in
dem Augenblicke da dieſer zur Thüre hin¬
aus geht. Es wird eine ſehr große Wir¬
[92] kung thun, wenn in dieſem Augenblick Ham¬
let nach dem Geiſte und die Königin nach
dem Bilde ſieht. Der Stiefvater mag dann
im königlichen Ornat, doch unſcheinbarer
als jener vorgeſtellt werden.


So gab es noch verſchiedene Punkte,
von denen wir zu ſprechen vielleicht Gele¬
genheit haben.


Sind Sie auch unerbittlich, daß Hamlet
am Ende ſterben muß? fragte Serlo.


Wie kann ich ihn am Leben erhalten,
ſagte Wilhelm, da ihn das ganze Stück zu
Tode drückt? Wir haben ja ſchon ſo weit¬
läuftig darüber geſprochen.


Aber das Publikum wünſcht ihn le¬
bendig.


Ich will ihm gern jeden andern Gefallen
thun, nur diesmal iſts unmöglich. Wir
wünſchen auch, daß ein braver nützlicher
Mann, der an einer chroniſchen Krankheit
[93] ſtirbt, noch länger leben möge. Die Fami¬
lie weint und beſchwört den Arzt, der ihn
nicht halten kann: und ſo wenig als dieſer
einer Natur-Nothwendigkeit zu widerſtehen
vermag, ſo wenig können wir einer aner¬
kannten Kunſtnothwendigkeit gebieten. Es
iſt eine falſche Nachgiebigkeit gegen die
Menge, wenn man ihnen die Empfindungen
erregt, die ſie haben wollen, und nicht die
ſie haben ſollen.


»Wer das Geld bringt, kann die Waare
nach ſeinem Sinne verlangen.»


Gewiſſermaßen; aber ein großes Publi¬
kum verdient daß man es achte, daß man
es nicht wie Kinder, denen man das Geld
abnehmen will, behandle. Man bringe ihm
nach und nach durch das Gute — Gefühl
und Geſchmack für das Gute bey, und es
wird ſein Geld mit doppeltem Vergnügen
einlegen, weil ihm der Verſtand, ja die Ver¬
[94] nunft ſelbſt bey dieſer Ausgabe nichts vor¬
zuwerfen hat. Man kann ihm ſchmeicheln
wie einem geliebten Kinde, ſchmeicheln um
es zu beſſern, um es künftig aufzuklären;
nicht wie einem Vornehmen und Reichen,
um den Irrthum, den man nutzt, zu ver¬
ewigen.


So handelten ſie noch manches ab, das
ſich beſonders auf die Frage bezog: was
man noch etwa an dem Stücke verändern
dürfe, und was man unberührt laſſen müſſe?
Wir laſſen uns hierauf nicht weiter ein, ſon¬
dern legen vielleicht künftig die neue Bear¬
beitung Hamlets ſelbſt demjenigen Theile
unſrer Leſer vor, der ſich etwa dafür inte¬
reſſiren könnte.


[95]

Zehntes Capitel.

Die Hauptprobe war vorbey. Sie hatte
übermäßig lange gedauert. Serlo und Wil¬
helm fanden noch manches zu beſorgen;
denn ungeachtet der vielen Zeit, die man zur
Vorbereitung verwendet hatte, waren doch
ſehr nothwendige Anſtalten bis auf den letz¬
ten Augenblick verſchoben worden.


So waren, zum Beyſpiel, die Gemählde
der beyden Könige noch nicht fertig, und
die Scene zwiſchen Hamlet und ſeiner Mut¬
ter, von der man einen ſo großen Effekt
hoffte, ſah noch ſehr mager aus, indem we¬
der der Geiſt noch ſein gemahltes Ebenbild
dabey gegenwärtig war. Serlo ſcherzte bey
dieſer Gelegenheit und ſagte: wir wären
doch im Grunde recht übel angeführt, wenn
der Geiſt ausbliebe, die Wache wirklich
[96] mit der Luft fechten, und unſer Soufleur
aus der Couliſſe den Vortrag des Geiſtes
ſuppliren müßte.


Wir wollen den wunderbaren Freund
nicht durch unſern Unglauben verſcheuchen,
verſetzte Wilhelm; er kommt gewiß zur rech¬
ten Zeit, und wird uns ſo gut als die Zu¬
ſchauer überraſchen.


Gewiß, rief Serlo, ich werde froh ſeyn,
wenn das Stück morgen gegeben iſt, es
macht uns mehr Umſtände als ich geglaubt
habe.


Aber niemand in der Welt wird froher
ſeyn als ich, wenn das Stück morgen ge¬
ſpielt iſt, verſetzte Philine, ſo wenig mich
meine Rolle drückt. Denn immer und ewig
von Einer Sache reden zu hören, wobey
doch nichts weiter heraus kommt als eine
Repräſentation, die, wie ſo viele hundert
andere, vergeſſen werden wird, dazu will
meine[97] meine Geduld nicht hinreichen. Macht doch
in Gottesnahmen nicht ſo viel Umſtände!
Die Gäſte die vom Tiſche aufſtehen, haben
nachher an jedem Gerichte was auszuſetzen;
ja wenn man ſie zu Hauſe reden hört, ſo iſt
es ihnen kaum begreiflich, wie ſie eine ſolche
Noth haben ausſtehen können.


Laſſen Sie mich Ihr Gleichniß zu mei¬
nem Vortheile brauchen, ſchönes Kind, ver¬
ſetzte Wilhelm. Bedenken Sie was Natur
und Kunſt, was Handel, Gewerke und Ge¬
werbe zuſammen ſchaffen müſſen, bis ein
Gaſtmahl gegeben werden kann. Wie viel
Jahre muß der Hirſch im Walde, der Fiſch
im Fluß oder Meere zubringen, bis er unſre
Tafel zu beſetzen würdig iſt, und was hat
die Hausfrau, die Köchin nicht alles in der
Küche zu thun? Mit welcher Nachläſſigkeit
ſchlürft man die Sorge des entfernteſten
Winzers, des Schiffers, des Kellermeiſters,
W. Meiſters Lehrj. 3. G[98] beym Nachtiſche hinunter, als müſſe es nur
ſo ſeyn. Und ſollten deswegen alle dieſe
Menſchen nicht arbeiten, nicht ſchaffen und
bereiten, ſollte der Hausherr das alles nicht
ſorgfältig zuſammenbringen und zuſammen
halten, weil am Ende der Genuß nur vor¬
übergehend iſt? Aber kein Genuß iſt vor¬
übergehend; denn der Eindruck den er zurück¬
läßt iſt bleibend, und was man mit Fleiß
und Anſtrengung thut, theilt dem Zuſchauer
ſelbſt eine verborgene Kraft mit, von der
man nicht wiſſen kann wie weit ſie wirkt.


Mir iſt alles einerley, verſetzte Philine,
nur muß ich auch dießmal erfahren, daß
Männer immer im Widerſpruch mit ſich
ſelbſt ſind. Bey all eurer Gewiſſenhaftig¬
keit, den großen Autor nicht verſtümmeln
zu wollen, laßt ihr doch den ſchönſten Ge¬
danken aus dem Stücke.


Den ſchönſten? rief Wilhelm.


[99]

»Gewiß den ſchönſten, auf den ſich Ham¬
let ſelbſt was zu gute thut.»


Und der wäre? rief Serlo.


Wenn Sie eine Perücke auf hätten, ver¬
ſetzte Philine, würde ich ſie Ihnen ganz ſäu¬
berlich abnehmen; denn es ſcheint nöthig,
daß man Ihnen das Verſtändniß eröffne.


Die andern dachten nach, und die Unter¬
haltung ſtockte. Man war aufgeſtanden, es
war ſchon ſpät, man ſchien auseinander ge¬
hen zu wollen. Als man ſo unentſchloſſen da
ſtand, fing Philine ein Liedchen, auf eine ſehr
zierliche und gefällige Melodie, zu ſingen an.


Singet nicht in Trauertönen

Von der Einſamkeit der Nacht,

Nein, ſie iſt, o holde Schönen,

Zur Geſelligkeit gemacht.

Wie das Weib dem Mann gegeben

Als die ſchönſte Hälfte war,

Iſt die Nacht das halbe Leben,

Und die ſchönſte Hälfte zwar.
G 2[100]
Könnt ihr euch des Tages freuen

Der nur Freuden unterbricht?

Er iſt gut ſich zu zerſtreuen,

Zu was anderm taugt er nicht.

Aber wenn in nächt’ger Stunde

Süßer Lampe Dämmrung fließt,

Und vom Mund zum nahen Munde

Scherz und Liebe ſich ergießt;

Wenn der raſche loſe Knabe,

Der ſonſt wild und feurig eilt,

Oft, bey einer kleinen Gabe,

Unter leichten Spielen weilt;

Wenn die Nachtigall Verliebten

Liebevoll ein Liedchen ſingt,

Das Gefangnen und Betrübten

Nur wie Ach und Wehe klingt:

Mit wie leichtem Herzensregen

Horchet ihr der Glocke nicht,

Die mit zwölf bedächt’gen Schlägen

Ruh und Sicherheit verſpricht!
[101]
Darum an dem langen Tage

Merke dir es, liebe Bruſt:

Jeder Tag hat ſeine Plage

Und die Nacht hat ihre Luſt.

Sie machte eine leichte Verbeugung als
ſie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein
lautes Bravo zu. Sie ſprang zur Thür
hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man
hörte ſie die Treppe hinunter ſingen und mit
den Abſätzen klappern.


Serlo ging in das Seitenzimmer, und
Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine
gute Nacht wünſchte, noch einige Augenblicke
ſtehen und ſagte:


Wie ſie mir zuwider iſt! recht meinem
innern Weſen zuwider! bis auf die kleinſten
Zufälligkeiten. Die rechte braune Augen¬
wimper bey den blonden Haaren, die der
Bruder ſo reizend findet, mag ich gar nicht
anſehn, und die Schramme auf der Stirne
[102] hat mir ſo was widriges, ſo was niedriges,
daß ich immer zehen Schritte von ihr zurück
treten möchte. Sie erzählte neulich als ei¬
nen Scherz, ihr Vater habe ihr in ihrer
Kindheit einen Teller an den Kopf gewor¬
fen, davon ſie noch das Zeichen trage. Wohl
iſt ſie recht an Augen und Stirne gezeich¬
net, daß man ſich vor ihr hüten möge.


Wilhelm antwortete nichts, und Aurelie
ſchien mit mehr Unwillen fortzufahren:


Es iſt mir beynahe unmöglich ein freund¬
liches höfliches Wort mit ihr zu reden, ſo
ſehr haſſe ich ſie, und doch iſt ſie ſo an¬
ſchmiegend. Ich wollte wir wären ſie los.
Auch Sie, mein Freund, haben eine gewiſſe
Gefälligkeit gegen dieſes Geſchöpf, ein Be¬
tragen, das mich in der Seele kränkt, eine
Aufmerkſamkeit, die an Achtung gränzt, und
die ſie bey Gott nicht verdient!


Wie ſie iſt, bin ich ihr Dank ſchuldig,
[103] verſetzte Wilhelm; ihre Aufführung iſt zu ta¬

deln, ihrem Charakter muß ich Gerechtigkeit
wiederfahren laſſen.


Charakter! rief Aurelie: glauben Sie, daß
ſo eine Creatur einen Charakter hat? O ihr
Männer, daran erkenne ich euch! Solcher
Frauen ſeyd ihr werth!


Sollten Sie mich in Verdacht haben,
meine Freundin? verſetzte Wilhelm. Ich will
von jeder Minute Rechenſchaft geben, die
ich mit ihr zugebracht habe.


Nun, nun, ſagte Aurelie, es iſt ſpät, wir
wollen nicht ſtreiten. Alle wie einer, einer
wie alle! Gute Nacht mein Freund! gute
Nacht mein feiner Paradiesvogel!


Wilhelm fragte, wie er zu dieſem Ehren¬
titel komme?


Ein andermal, verſetzte Aurelie, ein an¬
dermal. Man ſagt, ſie hätten keine Füße,
ſie ſchwebten nur in der Luft, und nährten
[104] ſich vom Äther. Es iſt aber ein Mährchen,
fuhr ſie fort, eine poetiſche Fiction. Gute
Nacht, laßt euch was ſchönes träumen wenn
ihr Glück habt.


Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn al¬
lein ; er eilte auf das ſeinige.


Halb unwillig ging er auf und nieder.
Der ſcherzende aber entſchiedne Ton Aure¬
liens hatte ihn beleidigt; er fühlte tief wie
Unrecht ſie ihm that. Philinen konnte er
nicht widrig, nicht unhold begegnen; ſie hat¬
te nichts gegen ihn verbrochen, und dann
fühlte er ſich ſo fern von jeder Neigung zu
ihr, daß er recht ſtolz und ſtandhaft vor
ſich ſelbſt beſtehen konnte.


Eben war er im Begriffe ſich auszuzie¬
hen, nach ſeinem Lager zu gehen und die
Vorhänge aufzuſchlagen, als er zu ſeiner
größten Verwunderung ein Paar Frauen¬
pantoffeln vor dem Bett erblickte; der eine
[105] ſtand, der andere lag. — Es waren Phili¬
nens Pantoffeln, die er nur zu gut erkann¬
te; er glaubte auch eine Unordnung an den
Vorhängen zu ſehen, ja es ſchien als be¬
wegten ſie ſich; er ſtand und ſah mit unver¬
wandten Augen hin.


Eine neue Gemüthsbewegung, die er für
Verdruß hielt, verſetzte ihm den Athem; und
nach einer kurzen Pauſe, in der er ſich er¬
hohlt hatte, rief er gefaßt:


Stehen Sie auf, Philine! was ſoll das
heißen? Wo iſt Ihre Klugheit, Ihr gutes
Betragen? Sollen wir morgen das Mähr¬
chen des Hauſes werden?

Es rührte ſich nichts.

Ich ſcherze nicht, fuhr er fort, dieſe Nek¬
kereyen ſind bei mir übel angewandt.

Kein Laut! Keine Bewegung!

Entſchloſſen und unmuthig ging er end¬
lich auf das Bette zu, und riß die Vorhän¬
[106] ge von einander. Stehen Sie auf, ſagte er,
wenn ich Ihnen nicht das Zimmer dieſe
Nacht überlaſſen ſoll.


Mit großem Erſtaunen fand er ſein Bet¬
te leer, die Kiſſen und Decken in ſchönſter
Ruhe. Er ſah ſich um, ſuchte nach, ſuchte
alles durch, und fand keine Spur von dem
Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den
Schränken war nichts zu ſehen; er ſuchte
ämſiger und ämſiger; ja ein boshafter Zu¬
ſchauer hätte glauben mögen, er ſuche um
zu finden.


Kein Schlaf ſtellte ſich ein; er ſetzte die
Pantoffeln auf ſeinen Tiſch, ging auf und
nieder, blieb manchmal bey dem Tiſche ſte¬
hen, und ein ſchelmiſcher Genius, der ihn
belauſchte, will verſichern: er habe ſich einen
großen Theil der Nacht mit den allerlieb¬
ſten Stelzchen beſchäftigt; er habe ſie mit
einem gewiſſen Intereſſe angeſehen, behan¬
[107] delt, damit geſpielt, und ſich erſt gegen Mor¬
gen in ſeinen Kleidern aufs Bette geworfen,
wo er unter den ſeltſamſten Phantaſien
einſchlummerte.


Und wirklich ſchlief er noch, als Serlo
herein trat und rief: wo ſind Sie? Noch
im Bette? Unmöglich! Ich ſuchte Sie auf
dem Theater, wo noch ſo mancherley zu
thun iſt.


[108]

Eilftes Capitel.

Vor und Nachmittag verfloſſen eilig. Das
Haus war ſchon voll und Wilhelm eilte ſich
anzuziehen. Nicht mit der Behaglichkeit,
mit der er die Maske zum erſtenmal anpro¬
birte, konnte er ſie gegenwärtig anlegen; er
zog ſich an um fertig zu werden. Als er
zu den Frauen ins Verſammlungszimmer
kam, beriefen ſie ihn einſtimmig daß nichts
recht ſitze; der ſchöne Federbuſch ſey verſcho¬
ben, die Schnalle paſſe nicht; man fing wie¬
der an aufzutrennen, zu nähen, zuſammen
zu ſtecken. Die Symphonie ging an, Phili¬
ne hatte etwas gegen die Krauſe einzuwen¬
den, Aurelie viel an dem Mantel auszu¬
ſetzen. Laßt mich, ihr Kinder! rief er, dieſe
Nachläſſigkeit wird mich erſt recht zum Ham¬
let machen. Die Frauen ließen ihn nicht
[109] los und fuhren fort zu putzen. Die Sym¬
phonie hatte aufgehört und das Stück war
angegangen. Er beſah ſich im Spiegel,
drückte den Hut tiefer ins Geſicht und er¬
neuerte die Schminke.


In dieſem Augenblick ſtürzte jemand her¬
ein und rief: der Geiſt! der Geiſt!


Wilhelm hatte den ganzen Tag nicht
Zeit gehabt, an die Hauptſorge zu denken,
ob der Geiſt auch kommen würde? Nun
war ſie ganz weggenommen, und man hatte
die wunderlichſte Gaſtrolle zu erwarten. Der
Theatermeiſter kam und fragte über dieſes
und jenes; Wilhelm hatte nicht Zeit ſich
nach dem Geſpenſt umzuſehen, und eilte nur
ſich am Throne einzufinden, wo König und
Königinn ſchon von ihrem Hofe umgeben
in aller Herrlichkeit glänzten; er hörte nur
noch die letzten Worte des Horatio, der über
die Erſcheinung des Geiſtes ganz verwirrt
[110] ſprach, und faſt ſeine Rolle vergeſſen zu ha¬
ben ſchien.


Der Zwiſchenvorhang ging in die Höhe
und er ſah das volle Haus vor ſich. Nach¬
dem Horatio ſeine Rede gehalten und vom
Könige abgefertigt war, drängte er ſich an
Hamlet, und als ob er ſich ihm, dem Prin¬
zen präſentire, ſagte er: der Teufel ſteckt in
dem Harniſche! Er hat uns alle in Furcht
gejagt.


In der Zwiſchenzeit ſah man nur zwey
große Männer in weißen Mänteln und Ca¬
puzen in den Couliſſen ſtehen, und Wilhelm,
dem in der Zerſtreuung, Unruhe und Verle¬
genheit der erſte Monolog, wie er glaubte,
mißglückt war, trat, ob ihn gleich ein leb¬
hafter Beyfall beym Abgehen begleitete, in
der kalten Winternacht wirklich recht un¬
behaglich auf. Doch nahm er ſich zuſammen,
und ſprach die ſo zweckmäßig angebrachte
[111] Stelle, über das Schmauſen und Trinken der
Nordländer, mit der gehörigen Gleichgültig¬
keit, vergaß, ſo wie die Zuſchauer, darüber
des Geiſtes, und erſchrak wirklich, als Ho¬
ratio ausrief: ſeht her, es kommt! Er fuhr
mit Heftigkeit herum, und die edle große
Geſtalt, der leiſe, unhörbare Tritt, die leich¬
te Bewegung in der ſchwer ſcheinenden Rü¬
ſtung, machten einen ſo ſtarken Eindruck auf
ihn, daß er wie verſteinert da ſtand, und
nur mit halber Stimme: ihr Engel und
himmliſchen Geiſter beſchützt uns! ausrufen
konnte. Er ſtarrte ihn an, hohlte einigemal
Athem, und brachte die Anrede an den Geiſt
ſo verwirrt, zerſtückt und gezwungen vor,
daß die größte Kunſt ſie nicht ſo trefflich
hätte ausdrücken können.


Seine Überſetzung dieſer Stelle kam ihm
ſehr zu ſtatten. Er hatte ſich nahe an das
Original gehalten, deſſen Wortſtellung ihm
[112] die Verfaſſung eines überraſchten, erſchreck¬
ten, von Entſetzen ergriffenen Gemüths ein¬
zig auszudrücken ſchien.


»Sey du ein guter Geiſt, ſey ein ver¬
dammter Kobold, bringe Düfte des Himmels
mit dir oder Dämpfe der Hölle, ſey Gutes
oder Böſes dein Beginnen, du kommſt in
ſo einer würdigen Geſtalt, ja ich rede mit
dir, ich nenne dich Hamlet, König, Vater, o
antworte mir!» —


Man ſpürte im Publiko die größte Wir¬
kung. Der Geiſt winkte, der Prinz folgte
ihm unter dem lauteſten Beyfall.


Das Theater verwandelte ſich, und als
ſie auf den entfernten Platz kamen, hielt der
Geiſt unvermuthet inne und wandte ſich
um; dadurch kam ihm Hamlet etwas zu
nahe zu ſtehen. Mit Verlangen und Neu¬
gierde ſah Wilhelm ſogleich zwiſchen das
niedergelaſſene Viſir hinein, konnte aber nur
tief¬[113] tiefliegende Augen neben einer wohlgebilde¬
ten Naſe erblicken. Furchtſam ausſpähend
ſtand er vor ihm; allein als die erſten Töne
aus dem Helme hervordrangen, als eine wohl¬
klingende, nur ein wenig rauhe Stimme ſich
in den Worten hören ließ: ich bin der Geiſt
deines Vaters, trat Wilhelm einige Schritte
ſchaudernd zurück, und das ganze Publikum
ſchauderte. Die Stimme ſchien jedermann
bekannt, und Wilhelm glaubte eine Ähnlich¬
keit mit der Stimme ſeines Vaters zu be¬
merken. Dieſe wunderbaren Empfindungen
und Erinnerungen, die Neugierde den ſelt¬
ſamen Freund zu entdecken und die Sorge
ihn zu beleidigen, ſelbſt die Unſchicklichkeit
ihm als Schauſpieler in dieſer Situation zu
nahe zu treten, bewegten Wilhelmen nach
entgegengeſetzten Seiten. Er veränderte
während der langen Erzählung des Geiſtes
ſeine Stellung ſo oft, ſchien ſo unbeſtimmt
W. Meiſters Lehrj. 3. H[114] und verlegen, ſo aufmerkſam und ſo zer¬
ſtreut, daß ſein Spiel eine allgemeine Be¬
wunderung, ſo wie der Geiſt ein allgemeines
Entſetzen erregte. Dieſer ſprach mehr mit
einem tiefen Gefühl des Verdruſſes als des
Jammers, aber eines geiſtigen, langſamen
und unüberſehlichen Verdruſſes. Es war
der Mißmuth einer großen Seele, die von
allem Irdiſchen getrennt iſt, und doch unend¬
lichen Leiden unterliegt. Zuletzt verſank der
Geiſt, aber auf eine ſonderbare Art: denn
ein leichter, grauer, durchſichtiger Flor, der
wie ein Dampf aus der Verſenkung zu ſtei¬
gen ſchien, legte ſich über ihn weg und zog
ſich mit ihm hinunter.


Nun kamen Hamlets Freunde zurück und
ſchwuren auf das Schwerdt. Da war der
alte Maulwurf ſo geſchäftig unter der Erde,
daß er ihnen, wo ſie auch ſtehen moch¬
ten, immer unter den Füßen rief: ſchwört!
[115] und ſie, als ob der Boden unter ihnen
brennte, ſchnell von einem Ort zum andern
eilten. Auch erſchien da, wo ſie ſtanden, je¬
desmal eine kleine Flamme aus dem Boden,
vermehrte die Wirkung, und hinterließ bey
allen Zuſchauern den tiefſten Eindruck.


Nun ging das Stück unaufhaltſam ſei¬
nen Gang fort, nichts mißglückte, alles ge¬
rieth; das Publikum bezeigte ſeine Zufrie¬
denheit; die Luſt und der Muth der Schau¬
ſpieler ſchien mit jeder Scene zuzunehmen.


H 2[116]

Zwölftes Capitel.

Der Vorhang fiel und der lebhafteſte Bey¬
fall erſcholl aus allen Ecken und Enden.
Die vier fürſtlichen Leichen ſprangen behend
in die Höhe und umarmten ſich vor Freu¬
den. Polonius und Ophelia kamen auch
aus ihren Gräbern hervor und hörten noch
mit lebhaftem Vergnügen, wie Horatio, als
er zum Ankündigen heraustrat, auf das hef¬
tigſte beklatſcht wurde. Man wollte ihn zu
keiner Anzeige eines andern Stücks laſſen,
ſondern begehrte mit Ungeſtüm die Wieder¬
holung des heutigen.


Nun haben wir gewonnen, rief Serlo, aber
auch heute Abend kein vernünftig Wort mehr!
Alles kommt auf den erſten Eindruck an.
Man ſoll ja keinem Schauſpieler übel neh¬
[117] men, wenn er bei ſeinen Debüts vorſichtig
und eigenſinnig iſt.


Der Caſſier kam und überreichte ihm eine
ſchwere Caſſe. Wir haben gut debütirt,
rief er aus, und das Vorurtheil wird uns
zu ſtatten kommen. Wo iſt denn nun das
verſprochene Abendeſſen? Wir dürfen es
uns heute ſchmecken laſſen!


Sie hatten ausgemacht, daß ſie in ihren
Theaterkleidern beyſammen bleiben und ſich
ſelbſt ein Feſt feyern wollten. Wilhelm hat¬
te unternommen das Lokal, und Madam
Melina das Eſſen zu beſorgen.


Ein Zimmer, worin man ſonſt zu mah¬
len pflegte, war aufs beſte geſäubert, mit
allerley kleinen Dekorationen umſtellt und
ſo herausgeputzt worden, daß es halb einem
Garten, halb einem Säulengange ähnlich
ſah. Beym Hereintreten wurde die Geſell¬
ſchaft von dem Glanz vieler Lichter geblen¬
[118] det, die einen feyerlichen Schein durch den
Dampf des ſüßeſten Räucherwerks, das man
nicht geſpart hatte, über eine wohl geſchmück¬
te und beſtellte Tafel verbreiteten. Mit Aus¬
rufungen lobte man die Anſtalten und nahm
wirklich mit Anſtand Platz; es ſchien, als
wenn eine königliche Familie im Geiſterrei¬
che zuſammen käme. Wilhelm ſaß zwiſchen
Aurelien und Madam Melina; Serlo zwi¬
ſchen Philinen und Elmiren; niemand war
mit ſich ſelbſt noch mit ſeinem Platze unzu¬
frieden.


Die beyden Theaterfreunde, die ſich gleich¬
falls eingefunden hatten, vermehrten das
Glück der Geſellſchaft. Sie waren einige¬
mal während der Vorſtellung auf die Büh¬
ne gekommen, und konnten nicht genug von
ihrer eignen und von des Publikums Zu¬
friedenheit ſprechen; nunmehr ging’s aber
[119] ans Beſondere, jedes ward für ſeinen Theil
reichlich belohnt.


Mit einer unglaublichen Lebhaftigkeit
ward ein Verdienſt nach dem andern, eine
Stelle nach der andern herausgehoben. Dem
Soufleur, der beſcheiden am Ende der Tafel
ſaß, ward ein großes Lob über ſeinen rau¬
hen Pyrrhus; die Fechtübung Hamlets und
Laertes konnte man nicht genug erheben;
Opheliens Trauer war über allen Ausdruck
ſchön und erhaben; von Polonius Spiel
durfte man gar nicht ſprechen; jeder Gegen¬
wärtige hörte ſein Lob in dem andern und
durch ihn!


Aber auch der abweſende Geiſt nahm ſei¬
nen Theil Lob und Bewunderung hinweg.
Er hatte die Rolle mit einem ſehr glücklichen
Organ und in einem großen Sinne geſpro¬
chen, und man wunderte ſich am meiſten,
daß er von allem, was bey der Geſellſchaft
[120] vorgegangen war, unterrichtet ſchien. Er
glich völlig dem gemahlten Bilde als wenn
er dem Künſtler geſtanden hätte, und die
Theaterfreunde konnten nicht genug rühmen,
wie ſchauerlich es ausgeſehen habe, als er
unfern von dem Gemählde hervorgetreten
und vor ſeinem Ebenbilde vorbey geſchritten
ſey. Wahrheit und Irrthum habe ſich da¬
bey ſo ſonderbar vermiſcht, und man habe
wirklich ſich überzeugt, daß die Königinn
die eine Geſtalt nicht ſehe. Madam Meli¬
na ward bey dieſer Gelegenheit ſehr gelobt,
daß ſie bei dieſer Stelle in die Höhe nach
dem Bilde geſtarrt, indeß Hamlet nieder auf
den Geiſt gewieſen.


Man erkundigte ſich wie das Geſpenſt
habe hereinſchleichen können, und erfuhr
vom Theatermeiſter, daß zu einer hintern
Thüre, die ſonſt immer mit Dekorationen
verſtellt ſey, dieſen Abend aber, weil man
[121] den gothiſchen Saal gebraucht, frey gewor¬
den, zwey große Figuren in weißen Män¬
teln und Capuzen hereingekommen, die man
von einander nicht unterſcheiden können, und
ſo ſeyen ſie nach geendigtem dritten Act
wahrſcheinlich auch wieder hinausgegangen.


Serlo lobte beſonders an ihm, daß er
nicht ſo ſchneidermäßig gejammert und ſogar
am Ende eine Stelle, die einem ſo großen
Helden beſſer zieme ſeinen Sohn zu befeuern,
angebracht habe. Wilhelm hatte ſie im Ge¬
dächtniß behalten und verſprach ſie ins Ma¬
nuſcript nachzutragen.


Man hatte in der Freude des Gaſtmahls
nicht bemerkt, daß die Kinder und der Har¬
fenſpieler fehlten; bald aber machten ſie ei¬
ne ſehr angenehme Erſcheinung. Denn ſie
traten zuſammen herein, ſehr abentheuerlich
ausgeputzt; Felix ſchlug den Triangel, Mig¬
non das Tambourin und der Alte hatte die
[122] ſchwere Harfe umgehangen und ſpielte ſie,
indem er ſie vor ſich trug. Sie zogen um
den Tiſch und ſangen allerley Lieder. Man
gab ihnen zu eſſen und die Gäſte glaubten
den Kindern eine Wohlthat zu erzeigen,
wenn ſie ihnen ſo viel ſüßen Wein gäben,
als ſie nur trinken wollten. Denn die Ge¬
ſellſchaft ſelbſt hatte die köſtlichen Flaſchen
nicht geſchont, welche dieſen Abend, als ein
Geſchenk der Theaterfreunde, in einigen Kör¬
ben angekommen waren. Die Kinder ſpran¬
gen und ſangen fort und beſonders war
Mignon ausgelaſſen, wie man ſie niemals
geſehen. Sie ſchlug das Tambourin mit al¬
ler möglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit,
indem ſie bald mit druckendem Finger auf
dem Felle ſchnell hin und her ſchnurrte, bald
mit dem Rücken der Hand bald mit den
Knöcheln drauf pochte, ja mit abwechſelnden
Rhytmen das Pergament bald wider die
[123] Kniee bald wider den Kopf ſchlug, bald
ſchüttelnd die Schellen allein klingen ließ,
und ſo aus dem einfachſten Inſtrumente gar
verſchiedene Töne hervorlockte. Nachdem ſie
lange gelärmt hatten, ſetzten ſie ſich in einen
Lehnſeſſel, der gerade Wilhelmen gegenüber
am Tiſche leer geblieben war.


Bleibt von dem Seſſel weg! rief Serlo,
er ſteht vermuthlich für den Geiſt da; wenn
er kommt, kanns euch übel gehen.


Ich fürchte ihn nicht, rief Mignon;
kommt er, ſo ſtehen wir auf. Es iſt mein
Oheim, er thut mir nichts zu leide. Dieſe
Rede verſtand niemand, als wer wußte, daß
ſie ihren vermeintlichen Vater den großen
Teufel genannt hatte.


Die Geſellſchaft ſah einander an, und
ward noch mehr in dem Verdacht beſtärkt,
daß Serlo um die Erſcheinung des Geiſtes
wiſſe. Man ſchwatzte und trank und die
[124] Mädchen ſahen von Zeit zu Zeit furchtſam
nach der Thüre.


Die Kinder, die in dem großen Seſſel
ſitzend nur wie Pulcinellpuppen aus dem Ka¬
ſten über den Tiſch hervorragten, fingen an,
auf dieſe Weiſe ein Stück aufzuführen.
Mignon machte den ſchnarrenden Ton ſehr
artig nach, und ſie ſtießen zuletzt die Köpfe
dergeſtalt zuſammen und auf die Tiſchkante,
wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten
können. Mignon ward bis zur Wuth lu¬
ſtig, und die Geſellſchaft, ſo ſehr ſie Anfangs
über den Scherz gelacht hatte, mußte zuletzt
Einhalt thun. Aber wenig half das Zure¬
den, denn nun ſprang ſie auf und raſte,
die Schellentrommel in der Hand, um den
Tiſch herum. Ihre Haare flogen, und in¬
dem ſie den Kopf zurück und alle ihre Glie¬
der gleichſam in die Luft warf, ſchien ſie ei¬
ner Mänade ähnlich, deren wilde und bey¬
[125] nah unmögliche Stellungen uns auf alten
Monumenten noch oft in Erſtaunen ſetzen.


Durch das Talent der Kinder und ihren
Lärm aufgereizt, ſuchte jedermann zur Un¬
terhaltung der Geſellſchaft etwas beyzutra¬
gen. Die Frauenzimmer ſangen einige Ka¬
nons, Laertes ließ eine Nachtigall hören,
und der Pedant gab ein Concert pianiſſimo
auf der Maultrommel. Indeſſen ſpielten
die Nachbarn und Nachbarinnen allerley
Spiele, wobey ſich die Hände begegnen und
vermiſchen, und es fehlte manchem Paare
nicht am Ausdruck einer hoffnungsvollen
Zärtlichkeit. Madam Melina beſonders
ſchien eine lebhafte Neigung zu Wilhelmen
nicht zu verhehlen. Es war ſpät in der
Nacht, und Aurelie, die faſt allein noch
Herrſchaft über ſich behalten hatte, ermahn¬
te die übrigen, indem ſie aufſtand, auseinan¬
der zu gehen.


[126]

Serlo gab noch zum Abſchied ein Feuer¬
werk, indem er mit dem Munde, auf eine
faſt unbegreifliche Weiſe, den Ton der Ra¬
keten, Schwärmer und Feuerräder nachzuah¬
men wußte. Man durfte die Augen nur
zumachen, ſo war die Täuſchung vollkom¬
men. Indeſſen war jedermann aufgeſtanden,
und man reichte den Frauenzimmern den
Arm ſie nach Hauſe zu führen. Wilhelm
ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe
begegnete ihnen der Theatermeiſter, und ſag¬
te: hier iſt der Schleyer, worin der Geiſt
verſchwand. Er iſt an der Verſenkung hän¬
gen geblieben und wir haben ihn eben ge¬
funden. Eine wunderbare Reliquie! rief
Wilhelm, und nahm ihn ab.


In dem Augenblicke fühlte er ſich am
linken Arme ergriffen und zugleich einen
ſehr heftigen Schmerz. Mignon hatte ſich
verſteckt gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn
[127] in den Arm gebiſſen. Sie fuhr an ihm die
Treppe hinunter und verſchwand.


Als die Geſellſchaft in die freye Luft
kam, merkte faſt jedes, daß man für dieſen
Abend des Guten zu viel genoſſen hatte.
Ohne Abſchied zu nehmen verlor man ſich
auseinander.


Wilhelm hatte kaum ſeine Stube er¬
reicht, als er ſeine Kleider abwarf und nach
ausgelöſchtem Licht ins Bette eilte. Der
Schlaf wollte ſogleich ſich ſeiner bemeiſtern,
allein ein Geräuſch das in ſeiner Stube hin¬
ter dem Ofen zu entſtehen ſchien, machte
ihn aufmerkſam. Eben ſchwebte vor ſeiner
erhitzten Phantaſie das Bild des geharniſch¬
ten Königs; er richtete ſich auf, das Geſpenſt
anzureden, als er ſich von zarten Armen um¬
ſchlungen, ſeinen Mund mit lebhaften Küſſen
verſchloſſen, und eine Bruſt an der ſeinigen
fühlte, die er wegzuſtoßen nicht Muth hatte.


[128]

Dreizehntes Capitel.

Wilhelm fuhr des andern Morgens mit ei¬
ner unbehaglichen Empfindung in die Höhe,
und fand ſein Bette leer. Von dem nicht
völlig ausgeſchlafenen Rauſche war ihm der
Kopf düſter, und die Erinnerung an den un¬
bekannten nächtlichen Beſuch machte ihn un¬
ruhig. Sein erſter Verdacht fiel auf Phili¬
linen, und doch ſchien der liebliche Körper,
den er in ſeine Arme geſchloſſen hatte, nicht
der ihrige geweſen zu ſeyn. Unter lebhaften
Liebkoſungen war unſer Freund an der Sei¬
te dieſes ſeltſamen, ſtummen Beſuches einge¬
ſchlafen und nun war weiter keine Spur
mehr davon zu entdecken. Er ſprang auf,
und indem er ſich anzog fand er ſeine Thü¬
re, die er ſonſt zu verriegeln pflegte, nur
angelehnt, und wußte ſich nicht zu erin¬
nern,[129] nern, ob er ſie geſtern Abend zugeſchloſſen
hatte.


Am wunderbarſten aber erſchien ihm der
Schleyer des Geiſtes, den er auf ſeinem Bette
fand. Er hatte ihn mit herauf gebracht
und wahrſcheinlich ſelbſt dahin geworfen. Es
war ein grauer Flor, an deſſen Saum er
eine Schrift mit ſchwarzen Buchſtaben ge¬
ſtickt ſah. Er entfaltete ſie und las die
Worte: Zum erſten und letztenmal!
Flieh! Jüngling, flieh! Er war be¬
troffen und wußte nicht was er ſagen ſollte.

In eben dem Augenblick trat Mignon
herein und brachte ihm das Frühſtück. Wil¬
helm erſtaunte über den Anblick des Kindes,
ja man kann ſagen er erſchrack. Sie ſchien
dieſe Nacht größer geworden zu ſeyn; ſie
trat mit einem hohen edlen Anſtand vor ihn
hin und ſah ihm ſehr ernſthaft in die Au¬
gen, ſo daß er den Blick nicht ertragen
W. Meiſters Lehrj. 3. I[130] konnte. Sie rührte ihn nicht an wie ſonſt,
da ſie gewöhnlich ihm die Hand drückte, ſei¬
ne Wange, ſeinen Mund, ſeinen Arm, oder
ſeine Schulter küßte, ſondern ging, nachdem
ſie ſeine Sachen in Ordnung gebracht, ſtill¬
ſchweigend wieder fort.


Die Zeit einer angeſetzten Leſeprobe kam
nun herbey, man verſammelte ſich und alle
waren durch das geſtrige Feſt verſtimmt.
Wilhelm nahm ſich zuſammen ſo gut er
konnte, um nicht gleich anfangs gegen ſeine
ſo lebhaft gepredigten Grundſätze zu verſto¬
ßen. Seine große Übung half ihm durch;
denn Übung und Gewohnheit müſſen in je¬
der Kunſt die Lücken ausfüllen, welche Genie
und Laune ſo oft laſſen würden.


Eigentlich aber konnte man bey dieſer
Gelegenheit die Bemerkung recht wahr fin¬
den, daß man keinen Zuſtand, der länger
dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Le¬
[131] bensweiſe werden ſoll, mit einer Feyerlichkeit
anfangen dürfe. Man feyre nur was glück¬
lich vollendet iſt, alle Zeremonien zum An¬
fange erſchöpfen Luſt und Kräfte, die das
Streben hervor bringen und uns bey einer
fortgeſetzten Mühe beyſtehen ſollen. Unter
allen Feſten iſt das Hochzeitfeſt das unſchick¬
lichſte; keines ſollte mehr in Stille, Demuth
und Hoffnung begangen werden als dieſes.


So ſchlich der Tag nun weiter, und Wil¬
helmen war noch keiner jemals ſo alltäglich
vorgekommen. Statt der gewöhnlichen Un¬
terhaltung Abends fing man zu gähnen an;
das Intereſſe an Hamlet war erſchöpft und
man fand eher unbequem daß er des folgen¬
den Tages zum zweytenmal vorgeſtellt wer¬
den ſollte. Wilhelm zeigte den Schleyer des
Geiſtes vor, man mußte daraus ſchließen,
daß er nicht wieder kommen würde. Serlo
war beſonders dieſer Meynung; er ſchien
I 2[132] mit den Rathſchlägen der wunderbaren Ge¬
ſtalt ſehr vertraut zu ſeyn; dagegen ließen
ſich aber die Worte: Flieh Jüngling, flieh!
nicht erklären. Wie konnte Serlo mit je¬
manden einſtimmen, der den vorzüglichſten
Schauſpieler ſeiner Geſellſchaft zu entfernen
die Abſicht zu haben ſchien.


Nothwendig war es nunmehr, die Rolle
des Geiſtes dem Polterer und die Rolle des
Königs dem Pedanten zu geben. Beyde er¬
klärten, daß ſie ſchon einſtudirt ſeyen, und
es war kein Wunder, denn bey den vielen
Proben und der weitläuftigen Behandlung
dieſes Stücks waren alle ſo damit bekannt
geworden, daß ſie ſämmtlich gar leicht mit
den Rollen hätten wechſeln können. Doch
probirte man einiges in der Geſchwindigkeit
und als man ſpät genug auseinander ging,
flüſterte Philine beym Abſchiede Wilhelmen
leiſe zu: Ich muß meine Pantoffeln holen,
[133] du ſchiebſt doch den Riegel nicht vor? Dieſe
Worte ſetzten ihn als er auf ſeine Stube
kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die
Vermuthung, daß der Gaſt der vorigen
Nacht Philine geweſen, ward dadurch be¬
ſtärkt, und wir ſind auch genöthigt uns zu
dieſer Meynung zu ſchlagen, beſonders da
wir die Urſachen, welche ihn hierüber zwei¬
felhaft machten und ihm einen andern ſon¬
derbaren Argwohn einflößen mußten, nicht
entdecken können. Er ging unruhig einige¬
mal in ſeinem Zimmer auf und ab, und hatte
wirklich den Riegel noch nicht vorgeſchoben.

Auf einmal ſtürzte Mignon in das Zim¬
mer, faßte ihn an und rief: Meiſter! rette
das Haus! es brennt! Wilhelm ſprang vor
die Thüre und ein gewaltiger Rauch drängte
ſich die obere Treppe herunter ihm entgegen.
Auf der Gaſſe hörte man ſchon das Feuer¬
geſchrey, und der Harfenſpieler kam, ſein In¬
[134] ſtrument in der Hand, durch den Rauch
athemlos die Treppe herunter. Aurelie
ſtürzte aus ihrem Zimmer und warf den
kleinen Felix in Wilhelms Arme.


Retten Sie das Kind! rief ſie, wir wol¬
len nach dem übrigen greifen.


Wilhelm, der die Gefahr nicht für ſo
groß hielt, gedachte zuerſt nach dem Urſprun¬
ge des Brandes hinzudringen, um ihn viel¬
leicht noch im Anfange zu erſticken. Er gab dem
Alten das Kind, und befahl ihm die ſteinerne
Wendeltreppe hinunter, die durch ein klei¬
nes Gartengewölbe in den Garten führte,
zu eilen, und mit den Kindern im Freyen zu
bleiben. Mignon nahm ein Licht ihm zu
leuchten. Wilhelm bat darauf Aurelien ihre
Sachen auf eben dieſem Wege zu retten. Er
ſelbſt drang durch den Rauch hinauf; allein
vergebens ſetzte er ſich der Gefahr aus. Die
Flamme ſchien von dem benachbarten Hauſe
[135] herüber zu dringen und hatte ſchon das Holz¬
werk des Bodens und eine leichte Treppe ge¬
faßt; andre die zur Rettung herbey eilten,
litten wie er, von Qualm und Feuer. Doch
ſprach er ihnen Muth ein und rief nach
Waſſer; er beſchwor ſie, der Flamme nur
Schritt vor Schritt zu weichen, und verſprach
bey ihnen zu bleiben. In dieſem Augenblick
ſprang Mignon herauf und rief: Meiſter!
rette deinen Felix! der Alte iſt raſend! der
Alte bringt ihn um! Wilhelm ſprang ohne
ſich zu beſinnen die Treppe hinab und Mig¬
non folgte ihm an den Ferſen.


Auf den letzten Stufen die ins Gartenge¬
wölbe führten, blieb er mit Entſetzen ſtehen.
Große Bündel Stroh und Reisholz, die man
daſelbſt aufgehäuft hatte, brannten mit hel¬
ler Flamme; Felix lag am Boden und ſchrie;
der Alte ſtand mit niedergeſenktem Haupte
ſeitwärts an der Wand. Was machſt du
[136] Unglücklicher? rief Wilhelm. Der Alte
ſchwieg, Mignon hatte den Felix aufgeho¬
ben, und ſchleppte mit Mühe den Knaben in
den Garten, indeß Wilhelm das Feuer aus¬
einander zu zerren und zu dämpfen ſtrebte,
aber nur dadurch die Gewalt und Lebhaftig¬
keit der Flamme vermehrte. Endlich mußte
er mit verbrannten Augenwimpern und Haa¬
ren auch in den Garten fliehen, indem er
den Alten mit durch die Flamme riß, der
ihm mit verſengtem Barte unwillig folgte.


Wilhelm eilte ſogleich die Kinder im Gar¬
ten zu ſuchen. Auf der Schwelle eines ent¬
fernten Luſthäuschens fand er ſie, und Mig¬
non that ihr möglichſtes den Kleinen zu be¬
ruhigen. Wilhelm nahm ihn auf den Schoos,
fragte ihn, befühlte ihn und konnte nichts
zuſammenhängendes aus beyden Kindern her¬
ausbringen.


Indeſſen hatte das Feuer gewaltſam meh¬
[137] rere Häuſer ergriffen und erhellte die ganze
Gegend. Wilhelm beſah das Kind beym ro¬
then Schein der Flamme; er konnte keine
Wunde, kein Blut, ja keine Beule wahrneh¬
men. Er betaſtete es überall, es gab kein
Zeichen von Schmerz von ſich, es beruhigte
ſich vielmehr nach und nach und fing an ſich
über die Flamme zu verwundern, ja ſich über
die ſchönen, der Ordnung nach, wie eine Il¬
lumination, brennenden Sparren und Gebälke
zu erfreuen.


Wilhelm dachte nicht an die Kleider und
was er ſonſt verlohren haben konnte, er
fühlte ſtark wie werth ihm dieſe beyde menſch¬
liche Geſchöpfe ſeyen, die er einer ſo großen
Gefahr entronnen ſah. Er drückte den Klei¬
nen mit einer ganz neuen Empfindung an
ſein Herz, und wollte auch Mignon mit freu¬
diger Zärtlichkeit umarmen, die es aber ſanft
ablehnte, ihn bey der Hand nahm und ſie
feſt hielt.


[138]

Meiſter, ſagte ſie (noch niemals, als die¬
ſen Abend, hatte ſie ihm dieſen Nahmen ge¬
geben, denn Anfangs pflegte ſie ihn Herr,
und nachher Vater zu nennen.) Meiſter! wir
ſind einer großen Gefahr entronnen, dein Fe¬
lix war am Tode.


Durch viele Fragen erfuhr endlich Wil¬
helm, daß der Harfenſpieler, als ſie in das
Gewölbe gekommen, ihr das Licht aus der
Hand geriſſen und das Stroh ſogleich ange¬
zündet habe. Darauf habe er den Felix nie¬
dergeſetzt, mit wunderlichen Geberden die
Hände auf des Kindes Kopf gelegt und ein
Meſſer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle.
Sie ſey zugeſprungen und habe ihm das
Meſſer aus der Hand geriſſen; ſie habe ge¬
ſchrien, und einer vom Hauſe, der einige Sa¬
chen nach dem Garten zu gerettet, ſey
ihr zu Hülfe gekommen, der müſſe aber, in
der Verwirrung wieder weggegangen ſeyn,
[139] und den Alten und das Kind allein gelaſſen
haben.


Zwey bis drey Häuſer ſtanden in vollen
Flammen. In den Garten hatte ſich nie¬
mand retten können, wegen des Brandes im
Gartengewölbe. Wilhelm war verlegen we¬
gen ſeiner Freunde, weniger wegen ſeiner Sa¬
chen. Er getraute ſich nicht die Kinder zu
verlaſſen, und ſah das Unglück ſich immer
vergrößern.


Er brachte einige Stunden in einer bäng¬
lichen Lage zu. Felix war auf ſeinem Schoo¬
ße eingeſchlafen, Mignon lag neben ihm und
hielt ſeine Hand feſt. Endlich hatten die
getroffenen Anſtalten dem Feuer Einhalt ge¬
than. Die ausgebrannten Gebäude ſtürzten
zuſammen, der Morgen kam herbey, die Kin¬
der fingen an zu frieren und ihm ſelbſt ward
in ſeiner leichten Kleidung der fallende Thau
faſt unerträglich. Er führte ſie zu den Trüm¬
[140] mern des zuſammen geſtürzten Gebäudes,
und ſie fanden neben einen Kohlen- und
Aſchenhaufen eine ſehr behagliche Wärme.


Der anbrechende Tag brachte nun alle
Freunde und Bekannte nach und nach zu¬
ſammen. Jedermann hatte ſich gerettet, nie¬
mand hatte viel verloren.


Wilhelms Koffer fand ſich auch wieder
und Serlo trieb, als es gegen zehn Uhr ging,
zur Probe von Hamlet, wenigſtens einiger
Scenen, die mit neuen Schauſpielern beſetzt
waren. Er hatte darauf noch einige Debat¬
ten mit der Polizey. Die Geiſtlichkeit ver¬
langte: daß nach einem ſolchen Strafgerichte
Gottes das Schauſpielhaus geſchloſſen blei¬
ben ſollte, und Serlo behauptete: daß theils
zum Erſatz deſſen, was er dieſe Nacht ver¬
lohren, theils zur Aufheiterung der erſchreck¬
ten Gemüther, die Aufführung eines intereſ¬
ſanten Stückes mehr als jemals am Platz
[141] ſey. Dieſe letzte Meynung drang durch und
das Haus war gefüllt. Die Schauſpieler
ſpielten mit ſeltenem Feuer und mit mehr
leidenſchaftlicher Freyheit als das erſtemal.
Die Zuſchauer, deren Gefühl durch die ſchreck¬
liche nächtliche Scene erhöht, und durch die
Langeweile eines zerſtreuten und verdorbenen
Tages noch mehr auf eine intereſſante Un¬
terhaltung geſpannt war, hatten mehr Em¬
pfänglichkeit für das Außerordentliche. Der
größte Theil waren neue, durch den Ruf des
Stücks herbeygezogene Zuſchauer, die keine
Vergleichung mit dem erſten Abend anſtellen
konnten. Der Polterer ſpielte ganz im Sin¬
ne des unbekannten Geiſtes, und der Pedant
hatte ſeinem Vorgänger gleichfalls gut auf¬
gepaßt, darneben kam ihm ſeine Erbärmlich¬
keit ſehr zu ſtatten, daß ihm Hamlet wirk¬
lich nicht Unrecht that, wenn er ihn, trotz
ſeines Purpurmantels und Hermelinkragens,
[142] einen zuſammen geflickten Lumpen-König
ſchalt.


Sonderbarer als er war vielleicht niemand
zum Throne gelangt, und obgleich die Übri¬
gen, beſonders aber Philine, ſich über ſeine
neue Würde äußerſt luſtig machten, ſo ließ
er doch merken, daß der Graf, als ein gro¬
ßer Kenner, das und noch viel mehr von ihm
beym erſten Anblick voraus geſagt habe; da¬
gegen ermahnte ihn Philine zur Demuth und
verſicherte: ſie werde ihm gelegentlich die
Rockermel pudern, damit er ſich jener un¬
glücklichen Nacht im Schloſſe erinnern, und
die Krone mit Beſcheidenheit tragen möge.


[143]

Vierzehntes Capitel.

Man hatte ſich in der Geſchwindigkeit nach
Quartieren umgeſehen, und die Geſellſchaft
war dadurch ſehr zerſtreut worden. Wilhelm
hatte das Luſthaus in dem Garten, bey dem
er die Nacht zugebracht, liebgewonnen; er
erhielt leicht die Schlüſſel dazu und richtete
ſich daſelbſt ein; da aber Aurelie in ihrer
neuen Wohnung ſehr eng war, mußte er den
Felix bey ſich behalten und Mignon wollte
den Knaben nicht verlaſſen.


Die Kinder hatten ein artiges Zimmer in
dem erſten Stock eingenommen, Wilhelm hatte
ſich in dem untern Saale eingerichtet. Die
Kinder ſchliefen, aber er konnte keine Ruhe
finden.


Neben dem anmuthigen Garten, den der
eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuch¬
[144] tete, ſtanden die traurigen Ruinen, von de¬
nen hier und da noch Dampf aufſtieg, die
Luft war angenehm und die Nacht außeror¬
dentlich ſchön! Philine hatte, beym Heraus¬
gehen aus dem Theater, ihn mit dem Ellen¬
bogen angeſtrichen und ihm einige Worte zu¬
geliſpelt, die er aber nicht verſtanden hatte.
Er war verwirrt und verdrießlich, und wußte
nicht was er erwarten oder thun ſollte. Phi¬
line hatte ihn einige Tage gemieden und ihm
nur dieſen Abend wieder ein Zeichen gegeben.
Leider war nun die Thüre verbrannt, die er
nicht zuſchließen ſollte, und die Pantöffelchen
waren im Rauch aufgegangen. Wie die
Schöne in den Garten kommen wollte, wenn
es ihre Abſicht war, wußte er nicht. Er
wünſchte ſie nicht zu ſehen, und doch hätte
er ſich gar zu gern mit ihr erklären mögen.


Was ihm aber noch ſchwerer auf dem
Herzen lag, war das Schickſal des Harfen¬
ſpielers,[145] ſpielers, den man nicht wieder geſehen hatte.
Wilhelm fürchtete, man würde ihm beym Auf¬
räumen todt unter dem Schutte finden. Wil¬
helm hatte gegen jedermann den Verdacht
verborgen den er hegte, daß der Alte Schuld
an dem Brande ſey. Denn er kam ihm zu¬
erſt von dem brennenden und rauchenden Bo¬
den entgegen, und die Verzweiflung im Gar¬
tengewölbe ſchien die Folge einer ſolchen un¬
glücklichen Ereigniß zu ſeyn. Doch ward es
bey der Unterſuchung, welche die Polizey ſo¬
gleich anſtellte, wahrſcheinlich geworden, daß
nicht in dem Hauſe wo ſie wohnten, ſondern
in dem dritten davon der Brand entſtanden
ſey, der ſich auch ſogleich unter den Dächern
weggeſchlichen hatte.


Wilhelm überlegte das alles in einer Laube
ſitzend, als er in einem nahen Gange jeman¬
den ſchleichen hörte. An dem traurigen Ge¬
ſange, der ſogleich angeſtimmt ward, erkannte
W. Meiſters Lehrj. 3. K[146] er den Harfenſpieler. Das Lied, das er ſehr
wohl verſtehen konnte, enthielt den Troſt ei¬
nes Unglücklichen, der ſich dem Wahnſinne
ganz nahe fühlt. Leider hat Wilhelm davon
nur die letzte Strophe behalten.


An die Thüren will ich ſchleichen,

Still und ſittſam will ich ſtehn,

Frommer Hand wird Nahrung reichen

Und ich werde weiter gehn.

Jeder wird ſich glücklich ſcheinen

Wenn mein Bild vor ihm erſcheint,

Eine Thräne wird er weinen,

Und ich weiß nicht was er weint.

Unter dieſen Worten war er an die Gar¬
tenthüre gekommen, die nach einer entlege¬
nen Straße ging; er wollte, da er ſie ver¬
ſchloſſen fand, an den Spaliren überſteigen;
allein Wilhelm hielt ihn zurück und redete
ihm freundlich an. Der Alte bat ihn auf¬
zuſchließen, weil er fliehen wolle und müſſe.
[147] Wilhelm ſtellte ihm vor: daß er wohl aus
dem Garten aber nicht aus der Stadt könne,
und zeigte ihm, wie ſehr er ſich durch einen
ſolchen Schritt verdächtig mache; allein ver¬
gebens! Der Alte beſtand auf ſeinem Sinne.
Wilhelm gab nicht nach und drängte ihn
endlich halb mit Gewalt ins Gartenhaus,
ſchloß ſich daſelbſt mit ihm ein und führte
ein wunderbares Geſpräch mit ihm, das wir
aber, um unſere Leſer nicht mit unzuſammen¬
hängenden Ideen und bänglichen Empfin¬
dungen zu quälen, lieber verſchweigen als
ausführlich mittheilen.


K 2[148]

[Funfzehntes]Capitel.

Aus der großen Verlegenheit, worin ſich Wil¬
helm befand, was er mit dem unglücklichen
Alten beginnen ſollte, der ſo deutliche Spu¬
ren des Wahnſinns zeigte, riß ihn Laertes
noch am ſelbigen Morgen. Dieſer, der nach
ſeiner alten Gewohnheit überall zu ſeyn
pflegte, hatte auf dem Kaffehaus einen Mann
geſehen, der vor einiger Zeit die heftigſten
Anfälle von Melancholie erduldete. Man
hatte ihn einem Landgeiſtlichen anvertraut,
der ſich ein beſonderes Geſchäft daraus machte
dergleichen Leute zu behandeln. Auch dies¬
mal war es ihm gelungen; noch war er in
der Stadt und die Familie des Wiederher¬
geſtellten erzeigte ihm große Ehre.


Wilhelm eilte ſogleich den Mann aufzu¬
ſuchen, vertraute ihm den Fall und ward
[149] mit ihm einig. Man wußte unter gewiſſen
Vorwänden ihm den Alten zu übergeben.
Die Scheidung ſchmerzte Wilhelmen tief, und
nur die Hoffnung, ihn wiederhergeſtellt zu
ſehen, konnte ſie ihm einigermaßen erträglich
machen, ſo ſehr war er gewohnt den Mann
um ſich zu ſehen und ſeine geiſtreichen und
herzlichen Töne zu vernehmen. Die Harfe
war mit verbrannt; man ſuchte eine andere,
die man ihm auf die Reiſe mitgab.


Auch hatte das Feuer die kleine Garde¬
robe Mignons verzehrt, und als man ihr
wieder etwas neues ſchaffen wollte, that Au¬
relie den Vorſchlag, daß man ſie doch end¬
lich als Mädchen kleiden ſollte.


Nun gar nicht! rief Mignon aus und
beſtand mit großer Lebhaftigkeit auf ihrer
alten Tracht, worin man ihr denn auch will¬
fahren mußte.


Die Geſellſchaft hatte nicht viel Zeit, ſich
[150] zu beſinnen; die Vorſtellungen gingen ih¬
ren Gang.


Wilhelm horchte oft ins Publikum, und
nur ſelten kam ihm eine Stimme entgegen,
wie er ſie zu hören wünſchte, ja öfters ver¬
nahm er was ihn betrübte oder verdroß.
So erzählte zum Beyſpiel, gleich nach der er¬
ſten Aufführung Hamlets, ein junger Menſch
mit großer Lebhaftigkeit, wie zufrieden er an
jenem Abend im Schauſpielhauſe geweſen.
Wilhelm lauſchte und hörte, zu ſeiner gro¬
ßen Beſchämung, daß der junge Mann zum
Verdruß ſeiner Hintermänner, den Huth auf¬
behalten und ihn hartnäckig das ganze Stück
hindurch nicht abgethan hatte, welcher Hel¬
denthat er ſich mit dem größten Vergnügen
erinnerte.


Ein anderer verſicherte: Wilhelm habe
die Rolle des Laertes ſehr gut geſpielt, hin¬
gegen mit dem Schauſpieler, der den Hamlet
[151] unternommen, könne man nicht eben ſo zu¬
frieden ſeyn. Dieſe Verwechslung war nicht
ganz unnatürlich, denn Wilhelm und Laer¬
tes glichen ſich, wiewohl in einem ſehr ent¬
fernten Sinne.


Ein dritter lobte ſein Spiel, beſonders in
der Scene mit der Mutter aufs lebhafteſte,
und bedauerte nur: daß eben in dieſem feu¬
rigen Augenblick ein weißes Band unter der
Weſte hervorgeſehen habe, wodurch die Illu¬
ſion äußerſt geſtöhrt worden ſey.


In dem Innern der Geſellſchaft gingen
indeſſen allerley Veränderungen vor. Phili¬
ne hatte ſeit jenem Abend nach dem Brande
Wilhelmen auch nicht das geringſte Zeichen
einer Annäherung gegeben. Sie hatte, wie
es ſchien vorſetzlich, ein entfernteres Quartier
gemiethet, vertrug ſich mit Elmiren und kam
ſeltener zu Serlo, womit Aurelie wohl zu¬
frieden war. Serlo, der ihr immer gewogen
[152] blieb, beſuchte ſie manchmal, beſonders da er
Elmiren bey ihr zu finden hoffte, und nahm
eines Abends Wilhelmen mit ſich. Beyde
waren im hereintreten ſehr verwundert, als
ſie Philinen in dem zweyten Zimmer, in den
Armen eines jungen Officiers ſahen, der eine
rothe Uniform und weiße Unterkleider an
hatte, deſſen abgewendetes Geſicht ſie aber
nicht ſehen konnten. Philine kam ihren be¬
ſuchenden Freunden in das Vorzimmer ent¬
gegen und verſchloß das andre. Sie über¬
raſchen mich bey einem wunderbaren Aben¬
theuer! rief ſie aus.


So wunderbar iſt es nicht, ſagte Serlo:
laſſen Sie uns den hübſchen, jungen, benei¬
denswerthen Freund ſehen; Sie haben uns
ohnedem ſchon ſo zugeſtutzt, daß wir nicht
eiferſüchtig ſeyn dürfen.


Ich muß Ihnen dieſen Verdacht noch ei¬
ne Zeitlang laſſen, ſagte Philine ſcherzend;
[153] doch kann ich Sie verſichern, daß es nur
eine gute Freundin iſt, die ſich einige Tage
unbekannt bey mir aufhalten will. Sie ſol¬
len ihre Schickſale künftig erfahren, ja viel¬
leicht das intereſſante Mädchen ſelbſt kennen
lernen, und ich werde wahrſcheinlich alsdann
Urſache haben, meine Beſcheidenheit und
Nachſicht zu üben, denn ich fürchte, die Her¬
ren werden über ihre neue Bekanntſchaft ihre
alte Freundin vergeſſen.


Wilhelm ſtand verſteinert da; denn gleich
beym erſten Anblick hatte ihn die rothe Uni¬
form an den ſo ſehr geliebten Rock Maria¬
nens erinnert; es war ihre Geſtalt, es wa¬
ren ihre blonden Haare, nur ſchien ihm der
gegenwärtige Officier etwas größer zu ſeyn.


Um des Himmels Willen! rief er aus,
laſſen Sie uns mehr von Ihrer Freundin
wiſſen, laſſen Sie uns das verkleidete Mäd¬
chen ſehen. Wir ſind nun einmal Theilneh¬
[154] mer des Geheimniſſes; wir wollen verſpre¬
chen, wir wollen ſchwören, aber laſſen Sie
uns das Mädchen ſehen!


O wie er in Feuer iſt! rief Philine, nur
gelaſſen, nur geduldig, heute wird einmal
nichts draus.


So laſſen Sie uns nur ihren Nahmen
wiſſen! rief Wilhelm.


Das wäre alsdann ein ſchönes Geheim¬
niß, verſetzte Philine.


Wenigſtens nur den Vornahmen.


Wenn Sie ihn rathen, meinetwegen.
Dreymal dürfen Sie rathen, aber nicht öf¬
ter; Sie könnten mich ſonſt durch den gan¬
zen Kalender durchführen.


Gut, ſagte Wilhelm: Cecilie alſo?


Nichts von Cecilien!


Henriette?


Keineswegs! Nehmen Sie ſich in Acht!
Ihre Neugierde wird ausſchlafen müſſen.


[155]

Wilhelm zauderte und zitterte; er wollte
ſeinen Mund aufthun, aber die Sprache
verſagte ihm. Mariane? ſtammelte er end¬
lich, Mariane!


Bravo! rief Philine, getroffen! indem
ſie ſich nach ihrer Gewohnheit auf dem Ab¬
ſatze herum drehte.


Wilhelm konnte kein Wort hervorbrin¬
gen, und Serlo, der ſeine Gemüthsbewe¬
gung nicht bemerkte, fuhr fort in Phili¬
nen zu dringen, daß ſie die Thüre öffnen
ſollte.


Wie verwundert waren daher beyde, als
Wilhelm auf einmal heftig ihre Neckerey un¬
terbrach, ſich Philinen zu Füßen warf und
ſie mit dem lebhafteſten Ausdrucke der Lei¬
denſchaft bat und beſchwor. Laſſen Sie mich
das Mädchen ſehen, rief er aus, ſie iſt mein,
es iſt meine Mariane! Sie, nach der ich
mich alle Tage meines Lebens geſehnt habe,
[156] ſie, die mir noch immer ſtatt aller andern
Weiber in der Welt iſt! Gehen Sie wenig¬
ſtens zu ihr hinein, ſagen Sie ihr daß ich
hier bin, daß der Menſch hier iſt, der ſeine
erſte Liebe und das ganze Glück ſeiner Ju¬
gend an ſie knüpfte. Er will ſich rechtferti¬
gen, daß er ſie unfreundlich verließ, er will
ſie um Verzeihung bitten, er will ihr verge¬
ben, was ſie auch gegen ihm gefehlt haben
mag, er will ſogar keine Anſprüche an ſie
mehr machen, wenn er ſie nur noch einmal
ſehen kann, wenn er nur ſehen kann daß ſie
lebt und glücklich iſt!


Philine ſchüttelte den Kopf und ſagte:
mein Freund, reden Sie leiſe! Betrügen
wir uns nicht! und iſt das Frauenzimmer
wirklich Ihre Freundin, ſo müſſen wir ſie
ſchonen, denn ſie vermuthet keinesweges Sie
hier zu ſehen. Ganz andere Angelegenhei¬
ten führen ſie hierher, und das wiſſen Sie
[157] doch, man mögte oft lieber ein Geſpenſt als
einen alten Liebhaber zur unrechten Zeit vor
Augen ſehen. Ich will ſie fragen, ich will
ſie vorbereiten und wir wollen überlegen,
was zu thun iſt. Ich ſchreibe Ihnen mor¬
gen ein Billet, zu welcher Stunde Sie kom¬
men ſollen, oder ob Sie kommen dürfen; ge¬
horchen Sie mir pünktlich, denn ich ſchwöre,
niemand ſoll gegen meinen und meiner Freun¬
din Willen dieſes liebenswürdige Geſchöpf
mit Augen ſehen. Meine Thüren werde ich
beſſer verſchloſſen halten, und mit Axt und
Beil werden Sie mich nicht beſuchen wollen.


Wilhelm beſchwor ſie, Serlo redete ihr
zu, vergebens! beyde Freunde mußten zu¬
letzt nachgeben, das Zimmer und das Haus
räumen.


Welche unruhige Nacht Wilhelm zubrachte,
wird ſich jedermann denken. Wie langſam
die Stunden des Tages dahinzogen, in de¬
[158] nen er Philinens Billet erwartete, läßt ſich
begreifen. Unglücklicherweiſe mußte er ſelbi¬
gen Abend ſpielen; er hatte niemals eine
größere Pein ausgeſtanden. Nach geendig¬
tem Stücke eilte er zu Philinen, ohne nur
zu fragen, ob er eingeladen worden. Er fand
ihre Thüre verſchloſſen und die Hausleute
ſagten: Mademoiſelle ſey heute früh mit ei¬
nem jungen Officier weggefahren; ſie habe
zwar geſagt, daß ſie in einigen Tagen wie¬
derkomme, man glaube es aber nicht, weil
ſie alles bezahlt und ihre Sachen mitgenom¬
men habe.


Wilhelm war außer ſich über dieſe Nach¬
richt. Er eilte zu Laertes, und ſchlug ihm
vor, ihr nachzuſetzen, und, es koſte was es
wolle, über ihren Begleiter Gewißheit zu er¬
langen. Laertes dagegen verwies ſeinem
Freunde ſeine Leidenſchaft und Leichtgläubig¬
keit. Ich will wetten, ſagte er, es iſt nie¬
[159] mand anders als Friedrich. Der Junge iſt
von gutem Hauſe, ich weiß es recht wohl; er
iſt unſinnig in das Mädchen verliebt, und
hat wahrſcheinlich ſeinen Verwandten ſo viel
Geld abgelockt, daß er wieder eine Zeitlang
mit ihr leben kann.


Durch dieſe Einwendungen ward Wilhelm
nicht überzeugt, doch zweifelhaft. Laertes
ſtellte ihm vor, wie unwahrſcheinlich das
Mährchen ſey, das Philine ihnen vorgeſpie¬
gelt hatte, wie Figur und Haar ſehr gut auf
Friedrichen paſſe, wie ſie bey zwölf Stunden
Vorſprung ſo leicht nicht einzuholen ſeyn
würden, und hauptſächlich wie Serlo keinen
von ihnen beyden beym Schauſpiele entbeh¬
ren könne.


Durch alle dieſe Gründe wurde Wilhelm
endlich nur ſo weit gebracht, daß er Verzicht
darauf that, ſelbſt nachzuſetzen. Laertes wu߬
te noch in ſelbiger Nacht einen tüchtigen
[160] Mann zu ſchaffen, dem man den Auftrag ge¬
ben konnte. Es war ein geſetzter Mann,
der mehreren Herrſchaften auf Reiſen als Ku¬
rier und Führer gedient hatte, und eben jetzt
ohne Beſchäftigung ſtille lag. Man gab ihm
Geld, man unterrichtete ihn von der ganzen
Sache, mit dem Auftrage, daß er die Flücht¬
linge aufſuchen und einhohlen, ſie alsdenn
nicht aus den Augen laſſen und die Freunde
ſogleich wo und wie er ſie fände benachrich¬
tigen ſolle. Er ſetzte ſich in derſelbigen Stunde
zu Pferde und ritt dem zweydeutigen Paare
nach, und Wilhelm war durch dieſe Anſtalt
wenigſtens [einigermaßen] beruhigt.


Sech¬[161]

Sechzehntes Capitel.

Die Entfernung Philinens machte keine auf¬
fallende Senſation weder auf dem Theater
noch im Publiko. Es war ihr mit allem we¬
nig Ernſt; die Frauen haßten ſie durchgän¬
gig, und die Männer hätten ſie lieber unter
vier Augen als auf dem Theater geſehen,
und ſo war ihr ſchönes, und für die Bühne
ſelbſt glückliches Talent verlohren. Die übri¬
gen Glieder der Geſellſchaft gaben ſich deſto
mehr Mühe; Madam Melina beſonders that
ſich durch Fleiß und Aufmerkſamkeit ſehr her¬
vor. Sie merkte, wie ſonſt, Wilhelmen ſeine
Grundſätze ab, richtete ſich nach ſeiner Theo¬
rie und ſeinem Beyſpiel, und hatte zeither
ein ich weiß nicht was in ihren Weſen, das
ſie intereſſanter machte. Sie erlangte bald
ein richtiges Spiel und gewann den natür¬
W. Meiſters Lehrj. 3. L[162] lichen Ton der Unterhaltung vollkommen,
und den der Empfindung bis auf einen gewiſ¬
ſen Grad. Sie wußte ſich in Serlos Launen
zu ſchicken und befliß ſich des Singens ihm
zu gefallen, worin ſie auch bald ſo weit kam,
als man deſſen zur geſelligen Unterhaltung
bedarf.


Durch einige neu angenommene Schau¬
ſpieler war die Geſellſchaft noch vollſtändi¬
ger, und indem Wilhelm und Serlo jeder in
ſeiner Art wirkte, jener bey jedem Stücke
auf den Sinn und Ton des Ganzen drang,
dieſer die einzelnen Theile gewiſſenhaft durch¬
arbeitete; belebte ein lobenswürdiger Eifer
auch die Schauſpieler, und das Publikum
nahm an ihnen einen lebhaften Antheil.


Wir ſind auf einem guten Wege, ſagte
Serlo einſt, und wenn wir ſo fortfahren,
wird das Publikum auch bald auf dem rech¬
ten ſeyn. Man kann die Menſchen ſehr
[163] leicht durch tolle und unſchickliche Darſtellun¬
gen irre machen; aber man lege ihnen das
Vernünftige und Schickliche auf eine intereſ¬
ſante Weiſe vor, ſo werden ſie gewiß dar¬
nach greifen.


Was unſerm Theater hauptſächlich fehlt,
und warum weder Schauſpieler noch Zu¬
ſchauer zur Beſinnung kommen, iſt, daß es
darauf im Ganzen zu bunt ausſieht, und
daß man nirgends eine Grenze hat, woran
man ſein Urtheil anlehnen könnte. Es ſcheint
mir kein Vortheil zu ſeyn, daß wir unſer
Theater gleichſam zu einem unendlichen Na¬
turſchauplatze ausgeweitet haben, doch kann
jetzt weder Direktor noch Schauſpieler ſich
in die Enge ziehen, bis vielleicht der Ge¬
ſchmack der Nation in der Folge den rechten
Kreis ſelbſt bezeichnet. Eine jede gute So¬
cietät exiſtirt nur unter gewiſſen Bedingun¬
gen, ſo auch ein gutes Theater. Gewiſſe
L 2[164] Manieren und Redensarten, gewiſſe Gegen¬
ſtände und Handelsweiſen müſſen ausge¬
ſchloſſen ſeyn. Man wird nicht ärmer, wenn
man ſein Hausweſen zuſammen zieht.


Sie waren hierüber mehr oder weniger
einig und uneinig. Wilhelm und die mei¬
ſten waren auf der Seite des engliſchen;
Serlo und einige auf der Seite des franzö¬
ſiſchen Theaters.


Man ward einig in leeren Stunden; de¬
ren ein Schauſpieler leider ſo viele hat, in
Geſellſchaft die berühmteſten Schauſpiele
beyder Theater durchzugehen, und das beſte
und nachahmenswerthe derſelben zu bemer¬
ken. Man machte auch wirklich einen An¬
fang mit einigen franzöſiſchen Stücken. Au¬
relie entfernte ſich jedesmal ſobald die Vor¬
leſung anging. Anfangs hielt man ſie für
krank, einſt aber fragte ſie Wilhelm darüber,
dem es aufgefallen war.


[165]

Ich werde bey keiner ſolchen Vorleſung
gegenwärtig ſeyn, ſagte ſie, denn wie ſoll
ich hören und urtheilen, wenn mir das Herz
zerriſſen iſt. Ich haſſe die franzöſiſche Spra¬
che von ganzer Seele.


Wie kann man einer Sprache feind ſeyn?
rief Wilhelm aus, der man den größten
Theil ſeiner Bildung ſchuldig iſt, und der
wir noch viel ſchuldig werden müſſen, ehe
unſer Weſen eine Geſtalt gewinnen kann.


Es iſt kein Vorurtheil! verſetzte Aurelie,
ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Er¬
innerung an meinen treuloſen Freund hat
mir die Luſt an dieſer ſchönen und ausgebil¬
deten Sprache geraubt. Wie ich ſie jetzt
von ganzem Herzen haſſe! Während der
Zeit unſerer freundſchaftlichen Verbindung
ſchrieb er deutſch, und welch ein herzliches,
wahres, kräftiges Deutſch! nun da er mich
los ſeyn wollte, fing er an franzöſiſch zu
[166] ſchreiben, das vorher manchmal nur im
Scherze geſchehen war. Ich fühlte, ich merkte
was es bedeuten ſollte. Was er in ſeiner
Mutterſprache zu ſagen erröthete, konnte er
nun mit gutem Gewiſſen hinſchreiben. Zu
Reſervationen, Halbheiten und Lügen iſt es
eine treffliche Sprache; ſie iſt eine perfide
Sprache! ich finde, Gott ſey Dank! kein
deutſches Wort, um perfid in ſeinem ganzen
Umfange auszudrücken. Unſer armſeliges
treulos iſt ein unſchuldiges Kind dagegen.
Perfid iſt treulos mit Genuß, mit Übermuth
und Schadenfreude. O, die Ausbildung ei¬
ner Nation iſt zu beneiden, die ſo feine
Schattirungen in Einem Worte auszudrü¬
cken weiß! Franzöſiſch iſt recht die Sprache
der Welt, werth die allgemeine Sprache zu
ſeyn, damit ſie ſich nur recht alle unter ein¬
ander betrügen und belügen können! Seine
franzöſiſchen Briefe ließen ſich noch immer
[167] gut genug leſen. Wenn man ſichs einbilden
wollte, klangen ſie warm und ſelbſt leiden¬
ſchaftlich; doch genau beſehen waren es
Phraſen, vermaledeyte Phraſen! Er hat mir
alle Freude an der ganzen Sprache, an der
franzöſiſchen Litteratur, ſelbſt an dem ſchö¬
nen und köſtlichen Ausdruck edler Seelen in
dieſer Mundart verdorben; mich ſchaudert
wenn ich ein franzöſiſches Wort höre!


Auf dieſe Weiſe konnte ſie ſtundenlang
fortfahren ihren Unmuth zu zeigen, und jede
andere Unterhaltung zu unterbrechen oder
zu verſtimmen. Serlo machte früher oder
ſpäter ihren launigen Äußerungen mit eini¬
ger Bitterkeit ein Ende; aber gewöhnlich
war für dieſen Abend das Geſpräch zerſtört.

Überhaupt iſt es leider der Fall, daß al¬
les was durch mehrere zuſammentreffende
Menſchen und Umſtände hervorgebracht wer¬
den ſoll, keine lange Zeit ſich vollkommen
[168] erhalten kann. Von einer Theatergeſellſchaft
ſo gut wie von einem Reiche, von einem
Zirkel Freunde ſo gut wie von einer Armee
läßt ſich gewöhnlich der Moment angeben,
wenn ſie auf der höchſten Stufe ihrer Voll¬
kommenheit, ihrer Übereinſtimmung, ihrer
Zufriedenheit und Thätigkeit ſtanden; oft
aber verändert ſich ſchnell das Perſonal, neue
Glieder treten hinzu, die Perſonen paſſen
nicht mehr zu den Umſtänden, die Umſtände
nicht mehr zu den Perſonen; es wird al¬
les anders, und was vorher verbunden
war, fällt nunmehr bald auseinander. So
konnte man ſagen, daß Serlos Geſellſchaft
eine Zeitlang ſo vollkommen war, als irgend
eine deutſche ſich hatte rühmen können. Die
meiſten Schauſpieler ſtanden an ihrem Platze;
alle hatten genug zu thun, und alle thaten
gern was zu thun war. Ihre perſönlichen
Verhältniſſe waren leidlich und jedes ſchien
[169] in ſeiner Kunſt viel zu verſprechen, weil je¬
des die erſten Schritte mit Feuer und Mun¬
terkeit that. Bald aber entdeckte ſich, daß
ein Theil doch nur Automaten waren, die
nur das erreichen konnten, wohin man ohne
Gefühl gelangen kann, und bald miſchten
ſich die Leidenſchaften darzwiſchen, die ge¬
wöhnlich jeder guten Einrichtung im Wege
ſtehen und alles ſo leicht auseinander zerren,
was vernünftige und wohldenkende Men¬
ſchen zuſammen zu halten wünſchen.


Philinens Abgang war nicht ſo unbedeu¬
tend als man Anfangs glaubte. Sie hatte
mit großer Geſchicklichkeit Serlo zu unter¬
halten, und die Übrigen mehr oder weniger
zu reizen gewußt. Sie ertrug Aureliens Hef¬
tigkeit mit großer Geduld, und ihr eigenſtes
Geſchäft war Wilhelmen zu ſchmeicheln. So
war ſie eine Art von Bindungsmittel fürs
Ganze, und ihr Verluſt mußte bald fühlbar
werden.


[170]

Serlo konnte ohne eine kleine Liebſchaft
nicht leben. Elmire, die in weniger Zeit
herangewachſen und man könnte beynahe
ſagen ſchön geworden war, hatte ſchon lange
ſeine Aufmerkſamkeit erregt, und Philine
war klug genug, dieſe Leidenſchaft, die ſie
merkte, zu begünſtigen. Man muß ſich,
pflegte ſie zu ſagen, bey Zeiten aufs Kuppeln
legen, es bleibt uns doch weiter nichts übrig
wenn wir alt werden. Dadurch hatten ſich
Serlo und Elmire dergeſtalt genähert, daß
ſie nach Philinens Abſchiede bald einig wur¬
den, und der kleine Roman intereſſirte ſie
beyde um ſo mehr, als ſie ihn vor dem Al¬
ten, der über eine ſolche Unregelmäßigkeit
keinen Scherz verſtanden hätte, geheim zu
halten alle Urſache hatten. Eimirens Schwe¬
ſter war mit im Verſtändniß, und Serlo
mußte beyden Mädchen daher vieles nachſe¬
hen. Eine ihrer größten Untugenden war
[171] eine unmäßige Näſcherey, ja wenn man will
eine unleidliche Gefräßigkeit, worin ſie Phi¬
linen keinesweges glichen, die dadurch einen
neuen Schein von Liebenswürdigkeit erhielt,
daß ſie gleichſam nur von der Luft lebte,
ſehr wenig aß und nur den Schaum eines
Champagnerglaſes mit der größten Zierlich¬
keit wegſchlurfte.


Nun aber mußte Serlo, wenn er ſeiner
Schönen gefallen wollte, das Frühſtück mit
dem Mittageſſen verbinden, und an dieſes
durch ein Vesperbrod das Abendeſſen an¬
knüpfen. Dabey hatte Serlo einen Plan,
deſſen Ausführung ihn beunruhigte. Er
glaubte eine gewiſſe Neigung zwiſchen Wil¬
helm und Aurelien zu entdecken, und wünſchte
ſehr, daß ſie ernſtlich werden möchte. Er
hofte den ganzen mechaniſchen Theil der
Theaterwirthſchaft Wilhelmen aufzubürden,
und an ihm, wie an ſeinem erſten Schwa¬
[172] ger, ein treues und fleißiges Werkzeug zu
finden. Schon hatte er ihm nach und nach
den größten Theil der Beſorgung unmerklich
übertragen, Aurelie führte die Caſſe, und
Serlo lebte wieder wie in früheren Zeiten
ganz nach ſeinem Sinne. Doch war etwas,
was ſowohl ihm als ſeine Schweſter heim¬
lich kränkte.


Das Publikum hat eine eigene Art, gegen
öffentliche Menſchen von anerkannten Ver¬
dienſte zu verfahren; es fängt nach und nach
an gleichgültig gegen ſie zu werden, und be¬
günſtigt viel geringere aber neu erſcheinende
Talente, es macht an jene übertriebene For¬
derungen, und läßt ſich von dieſen alles ge¬
fallen.


Serlo und Aurelie hatten Gelegenheit
genug hierüber Betrachtungen anzuſtellen.
Die neuen Ankömmlinge, beſonders die jun¬
gen und wohlgebildeten, hatten alle Auf¬
[173] merkſamkeit, allen Beyfall auf ſich gezogen,
und beyde Geſchwiſter mußten die meiſte
Zeit, nach ihren eifrigſten Bemühungen, oh¬
ne den willkommenen Klang der zuſammen¬
ſchlagenden Hände abtreten. Freylich kamen
dazu noch beſondere Urſachen. Aureliens
Stolz war auffallend, und von ihrer Verach¬
tung des Publikums waren viele unterrich¬
tet. Serlo ſchmeichelte zwar jedermann im
Einzelnen, aber ſeine ſpitzen Reden über das
Ganze waren doch auch öfters herumgetra¬
gen und wiederholt worden. Die neuen Glie¬
der hingegen waren theils fremd und unbe¬
kannt, theils jung, liebenswürdig und hülfs¬
bedürftig, und hatten alſo auch ſämmtlich
Gönner gefunden.


Nun gab es auch bald innerliche Unru¬
hen und manches Mißvergnügen; denn
kaum bemerkte man, daß Wilhelm die Be¬
ſchäftigung eines Regiſſeurs übernommen hat¬
[174] te, ſo fingen die meiſten Schauſpieler um
deſto mehr an unartig zu werden, als er
nach ſeiner Weiſe etwas mehr Ordnung und
Genauigkeit in das Ganze zu bringen wünſch¬
te, und beſonders darauf beſtand, daß alles
mechaniſche vor allen Dingen pünktlich und
ordentlich gehen ſolle.


In kurzer Zeit ward das ganze Verhält¬
niß, das wirklich eine Zeitlang beynahe ide¬
aliſch gehalten hatte, ſo gemein, als man es
nur irgend bey einem herumreiſenden Thea¬
ter finden mag. Und leider in dem Augen¬
blicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und
Anſtrengung ſich mit allen Erforderniſſen des
Metiers bekannt gemacht und ſeine Perſon
ſowohl als ſeine Geſchäftigkeit vollkommen
dazu gebildet hatte, ſchien es ihm endlich in
trüben Stunden, daß dieſes Handwerk weni¬
ger als irgend ein anders, den nöthigen Auf¬
wand von Zeit und Kräften verdiene. Das
[175] Geſchäft war läſtig und die Belohnung ge¬
ring. Er hätte jedes andere lieber übernom¬
men, bey dem man doch, wenn es vorbey
iſt, der Ruhe des Geiſtes genießen kann,
als dieſes, wo man nach überſtandenen me¬
chaniſchen Mühſeligkeiten noch durch die
höchſte Anſtrengung des Geiſtes und der Em¬
pfindung erſt das Ziel ſeiner Thätigkeit er¬
reichen ſoll. Er mußte die Klagen Aureliens
über die Verſchwendung des Bruders hören,
er mußte die Winke Serlos mißverſtehen,
wenn dieſer ihn zu einer Heyrath mit der
Schweſter von ferne zu leiten ſuchte. Er
hatte dabey ſeinen Kummer zu verbergen,
der ihn auf das tiefſte drückte, indem der
nach dem zweydeutigen Officier fortgeſchickte
Bote nicht zurück kam, auch nichts von ſich
hören ließ, und unſer Freund daher ſeine
Mariane zum zweytenmal verlohren zu ha¬
ben fürchten mußte.


[176]

Zu eben der Zeit fiel eine allgemeine
Trauer ein, wodurch man genöthigt ward,
das Theater auf einige Wochen zu ſchließen.
Er ergriff die Zwiſchenzeit, um jenen Geiſtli¬
chen zu beſuchen, bey welchem der Harfen¬
ſpieler in der Koſt war. Er fand ihn in ei¬
ner angenehmen Gegend, und das erſte was er
in dem Pfarrhofe erblickte war der Alte, der
einem Knaben auf ſeinem Inſtrument Lec¬
tion gab. Er bezeugte viel Freude Wilhelmen
wieder zu ſehen, ſtand auf und reichte ihm
die Hand und ſagte: Sie ſehen, daß ich in
der Welt doch noch zu etwas nütze bin; Sie
erlauben daß ich fortfahre, denn die Stun¬
den ſind eingetheilt.


Der Geiſtliche begrüßte Wilhelmen auf
das freundlichſte und erzählte ihm, daß der
Alte ſich ſchon recht gut anlaſſe und daß
man Hoffnung zu ſeiner völligen Geneſung
habe.


Ihr[177]

Ihr Geſpräch fiel natürlich auf die Me¬
thode, Wahnſinnige zu kuriren.


Außer dem Phyſiſchen, ſagte der Geiſtli¬
che, das uns oft unüberwindliche Schwierig¬
keiten in den Weg legt und worüber ich ei¬
nen denkenden Arzt zu Rathe ziehe, finde ich
die Mittel vom Wahnſinne zu heilen ſehr
einfach. Es ſind eben dieſelben, wodurch
man geſunde Menſchen hindert wahnſinnig
zu werden. Man errege ihre Selbſtthätig¬
keit, man gewöhne ſie an Ordnung, man
gebe ihnen einen Begriff, daß ſie ihr Seyn
und Schickſal mit ſo vielen gemein haben,
daß das außerordentliche Talent, das größte
Glück und das höchſte Unglück nur kleine
Abweichungen von dem gewöhnlichen ſind;
ſo wird ſich kein Wahnſinn einſchleichen, und
wenn er da iſt, nach und nach wieder ver¬
ſchwinden. Ich habe des alten Mannes
Stunden eingetheilt, er unterrichtet einige
W. Meiſters Lehrj. 3. M[178] Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten
arbeiten und iſt ſchon viel heiterer. Er
wünſcht von dem Kohle zu genießen, den er
pflanzt, und wünſcht meinen Sohn, dem er
die Harfe auf den Todesfall geſchenkt hat,
recht emſig zu unterrichten, damit ſie der
Knabe ja auch brauchen könne. Als Geiſt¬
licher ſuche ich ihm über ſeine wunderbaren
Scrupel nur wenig zu ſagen, aber ein thä¬
tiges Leben führt ſo viele Ereigniſſe herbey,
daß er bald fühlen muß: daß jede Art von
Zweifel nur durch Wirkſamkeit gehoben wer¬
den kann. Ich gehe ſachte zu Werke, wenn
ich ihm aber noch ſeinen Bart und ſeine
Kutte wegnehmen kann, ſo habe ich viel ge¬
wonnen, denn es bringt uns nichts näher dem
Wahnſinn, als wenn wir uns vor andern aus¬
zeichnen, und nichts erhält ſo ſehr den gemei¬
nen Verſtand, als im allgemeinen Sinne mit
vielen Menſchen zu leben, Wie vieles iſt lei¬
[179] der nicht in unſerer Erziehung und in unſern
bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns
und unſre Kinder zur Tollheit vorbereiten.


Wilhelm verweilte bey dieſem vernünfti¬
gen Manne einige Tage, und erfuhr die in¬
tereſſanteſten Geſchichten, nicht allein von
verrückten Menſchen, ſondern auch von ſol¬
chen, die man für klug, ja für weiſe zu hal¬
ten pflegt, und deren Eigenthümlichkeiten
nahe an den Wahnſinn grenzen.


Dreyfach belebt aber ward die Unterhal¬
tung, als der Medikus eintrat, der den Geiſt¬
lichen, ſeinen Freund, öfters zu beſuchen, und
ihm bey ſeinen menſchenfreundlichen Bemü¬
hungen beyzuſtehen pflegte. Es war ein ält¬
licher Mann, der bey einer ſchwächlichen Ge¬
ſundheit viele Jahre in Ausübung der edel¬
ſten Pflichten zugebracht hatte. Er war ein
großer Freund vom Landleben und konnte
faſt nicht anders als in freyer Luft ſeyn;
M 2[180] dabey war er äußerſt geſellig und thätig,
und hatte ſeit vielen Jahren eine beſondere
Neigung mit allen Landgeiſtlichen Freund¬
ſchaft zu ſtiften. Jedem, dem er eine nützli¬
che Beſchäftigung kannte, ſuchte er auf alle
Weiſe beyzuſtehen; andern, die noch unbe¬
ſtimmt waren, ſuchte er eine Liebhaberey
einzureden, und da er zugleich mit den Edel¬
leuten, Amtmännern und Gerichtshaltern in
Verbindung ſtand, ſo hatte er in Zeit von
zwanzig Jahren ſehr viel im Stillen zur
Kultur mancher Zweige der Landwirthſchaft
beygetragen, und alles was dem Felde, Thie¬
ren und Menſchen erſprieslich iſt, in Bewe¬
gung gebracht, und ſo die wahrſte Aufklä¬
rung befördert. Für den Menſchen, ſagte er,
ſey nur das eine ein Unglück, wenn ſich ir¬
gend eine Idee bey ihm feſtſetze, die keinen
Einfluß ins thätige Leben habe oder ihn
wohl gar vom thätigen Leben abziehe. Ich
[181] habe, ſagte er, gegenwärtig einen ſolchen Fall
an einem vornehmen und reichen Ehepaar,
wo mir bis jetzt noch alle Kunſt mißglückt
iſt; faſt gehört der Fall in Ihr Fach, lieber
Paſtor, und dieſer junge Mann wird ihn
nicht weiter erzählen.


In der Abweſenheit eines vornehmen
Mannes verkleidet man, mit einem nicht ganz
lobenswürdigen Scherze, einen jungen Men¬
ſchen in die Hauskleidung dieſes Herren.
Seine Gemahlin ſollte dadurch angeführt
werden, und ob man mir es gleich nur als
eine Poſſe erzählt hat, ſo fürchte ich doch
ſehr, man hatte die Abſicht, die edle, liebens¬
würdige Dame vom rechten Wege abzuleiten.
Der Gemahl kommt unvermuthet zurück, tritt
in ſein Zimmer, glaubt ſich ſelbſt zu ſehen,
und fällt von der Zeit an in eine Melancho¬
lie, in der er die Überzeugung nährt, daß
er bald ſterben werde.


[182]

Er überläßt ſich Perſonen, die ihm mit
religiöſen Ideen ſchmeicheln, und ich ſehe
nicht wie er abzuhalten iſt, mit ſeiner Ge¬
mahlin unter die Herrenhuter zu gehen, und
den größten Theil ſeines Vermögens, da er
keine Kinder hat, ſeinen Verwandten zu
entziehen.


Mit ſeiner Gemahlin? rief Wilhelm, den
dieſe Erzählung nicht wenig erſchreckt hatte,
ungeſtüm aus.


Und leider, verſetzte der Arzt, der in Wil¬
helms Ausrufung nur eine menſchenfreundli¬
che Theilnahme zu hören glaubte, iſt dieſe
Dame mit einem noch tiefern Kummer behaf¬
tet, der ihr eine Entfernung von der Welt
nicht widerlich macht. Eben dieſer junge
Menſch nimmt Abſchied von ihr, ſie iſt nicht
vorſichtig genug eine aufkeimende Neigung
zu verbergen; er wird kühn, ſchließt ſie in
ſeine Arme, und drückt ihr das große mit
[183] Brillianten beſetzte Portrait ihres Gemahls
gewaltſam wider die Bruſt. Sie empfindet
einen heftigen Schmerz, der nach und nach
vergeht, erſt eine kleine Röthe und dann
keine Spur zurück läßt. Ich bin als Menſch
überzeugt, daß ſie ſich nichts weiter vorzu¬
werfen hat, ich bin als Arzt gewiß, daß die¬
ſer Druck keine üblen Folgen haben werde,
aber ſie läßt ſich nicht ausreden, es ſey eine
Verhärtung da, und wenn man ihr durch
das Gefühl den Wahn benehmen will, ſo
behauptet ſie, nur in dieſem Augenblick ſey
nichts zu fühlen; ſie hat ſich feſt eingedruckt,
es werde dieſes Übel mit einem Krebsſchaden
ſich endigen, und ſo iſt ihre Jugend, ihre
Liebenswürdigkeit für ſie und andere völlig
verlohren.


Ich unglückſeliger! rief Wilhelm, indem
er ſich vor die Stirne ſchlug und aus der
Geſellſchaft ins Feld lief. Er hatte ſich noch
nie in einem ſolchen Zuſtande befunden.


[184]

Der Arzt und der Geiſtliche, über dieſe
ſeltſame Entdeckung höchlich erſtaunt, hatten
Abends genug mit ihm zu thun, als er zu¬
rückkam und bey dem umſtändlichern Be¬
kenntniß dieſer Begebenheit ſich aufs lebhaf¬
teſte anklagte. Beyde Männer nahmen den
größten Antheil an ihm, beſonders da er ih¬
nen ſeine übrige Lage nun auch mit ſchwar¬
zen Farben der augenblicklichen Stimmung
mahlte.


Den andern Tag ließ ſich der Arzt nicht
lange bitten mit ihm nach der Stadt zu ge¬
hen, um ihm Geſellſchaft zu leiſten, um Au¬
relien, die ihr Freund in bedenklichen Um¬
ſtänden zurückgelaſſen hatte, wo möglich
Hülfe zu verſchaffen.


Sie fanden ſie auch wirklich ſchlimmer,
als ſie vermutheten. Sie hatte eine Art von
überſpringendem Fieber, dem um ſo weniger
beyzukommen war, als ſie die Anfälle nach
[185] ihrer Art vorſetzlich unterhielt und verſtärkte.
Der Fremde ward nicht als Arzt eingeführt,
und betrug ſich ſehr gefällig und klug. Man
ſprach über den Zuſtand ihres Körpers und
ihres Geiſtes, und der neue Freund erzählte
manche Geſchichten, wie Perſonen, ohngeach¬
tet einer ſolchen Kränklichkeit, ein hohes Al¬
ter erreichen könnten, nichts aber ſey ſchäd¬
licher in ſolchen Fällen, als eine vorſetzliche
Erneuerung leidenſchaftlicher Empfindungen.
Beſonders verbarg er nicht, daß er diejenige
Perſon ſehr glücklich gefunden habe, die bey
einer nicht ganz herzuſtellenden kränklichen
Anlage wahrhaft religiöſe Geſinnungen bey
ſich zu nähren beſtimmt geweſen wären. Er
ſagte das auf eine ſehr beſcheidene Weiſe und
gleichſam hiſtoriſch, und verſprach dabey ſei¬
nen neuen Freunden eine ſehr intereſſante
Lektüre an einem Manuſcript zu verſchaffen,
das er aus den Händen einer nunmehr ab¬
[186] geſchiedenen vortrefflichen Freundin erhalten
habe. Es iſt mir unendlich werth, ſagte er,
und ich vertraue Ihnen das Original ſelbſt
an. Nur der Titel iſt von meiner Hand,
Bekenntniſſe einer ſchönen Seele.


Über diätetiſche und mediziniſche Behand¬
lung der unglücklichen aufgeſpannten Aurelie,
vertraute der Arzt Wilhelmen noch ſeinen be¬
ſten Rath, verſprach zu ſchreiben und wo
möglich ſelbſt wieder zu kommen.


Inzwiſchen hatte ſich in Wilhelms Abwe¬
ſenheit eine Veränderung vorbereitet, die er
nicht vermuthen konnte. [Wilhelm] hatte wäh¬
rend der Zeit ſeiner Regie das ganze Geſchäft
mit einer gewiſſen Freyheit und Liberalität
behandelt, vorzüglich auf die Sache geſehen,
und beſonders bey Kleidungen, Dekorationen
und Requiſiten alles reichlich und anſtändig
angeſchaft, auch um den guten Willen der
Leute zu erhalten ihrem Eigennutze geſchmei¬
[187] chelt, da er ihnen durch edlere Motive nicht
beykommen konnte, und er fand ſich hierzu
um ſo mehr berechtigt, als Serlo ſelbſt keine
Anſprüche machte, ein genauer Wirth zu
ſeyn, den Glanz ſeines Theaters gerne loben
hörte und zufrieden war, wenn Aurelie, wel¬
che die ganze Haushaltung führte, nach Ab¬
zug aller Koſten, verſicherte daß ſie keine
Schulden habe, und noch ſo viel hergab als
nöthig war die Schulden abzutragen, die
Serlo unterdeſſen durch außerordentliche Frey¬
gebigkeit gegen ſeine Schönen und ſonſt etwa
auf ſich geladen haben mochte.


Melina, der indeſſen die Garderobe be¬
ſorgte, hatte, kalt und heimtückiſch wie er
war, der Sache im ſtillen zugeſehen, und
wußte bey der Entfernung Wilhelms und
bey der zunehmenden Krankheit Aureliens
Serlo fühlbar zu machen, daß man eigent¬
lich mehr einnehmen, weniger ausgeben, und
[188] entweder etwas zurücklegen oder doch am
Ende nach Willkühr noch luſtiger leben könne.
Serlo hörte das gern und Melina wagte
ſich mit ſeinem Plane hervor.


Ich will, ſagte er, nicht behaupten, daß
einer von den Schauſpielern gegenwärtig zu
viel Gage hat; es ſind verdienſtvolle Leute
und ſie würden an jedem Orte willkommen
ſeyn; allein für die Einnahme, die ſie uns
verſchaffen, erhalten ſie doch zu viel. Mein
Vorſchlag wäre eine Oper einzurichten, und
was das Schauſpiel betrifft, ſo muß ich Ihnen
ſagen, Sie ſind der Mann allein ein ganzes
Schauſpiel auszumachen. Müſſen Sie jetzt
nicht ſelbſt erfahren, daß man Ihre Verdienſte
verkennt. Nicht, weil Ihre Mitſpieler vor¬
trefflich, ſondern weil ſie gut ſind, läßt man
Ihrem außerordentlichen Talente keine Ge¬
rechtigkeit mehr wiederfahren.


Stellen Sie ſich, wie wohl ſonſt geſche¬
[189] hen iſt, nur allein hin, ſuchen Sie mittelmä¬
ßige, ja ich darf ſagen ſchlechte Leute für ge¬
ringe Gage an ſich zu ziehen, ſtutzen Sie
das Volk, wie Sie es ſo ſehr verſtehen, im
Mechaniſchen zu, wenden Sie das übrige an
die Oper und Sie werden ſehen, daß Sie
mit derſelben Mühe und mit denſelben Ko¬
ſten mehr Zufriedenheit erregen, und ungleich
mehr Geld als bisher gewinnen werden.


Serlo war zu ſehr geſchmeichelt, als daß
ſeine Einwendungen einige Stärke hätten
haben ſollen. Er geſtand Melina gern zu,
daß er bey ſeiner Liebhaberey zur Muſik
längſt ſo etwas gewünſcht habe, doch ſehe
er freylich ein, daß die Neigung des Publi¬
kums dadurch noch mehr auf Abwege gelei¬
tet und daß bey ſo einer Vermiſchung eines
Theaters, das nicht recht Oper nicht recht
Schauſpiel ſey, nothwendig der Überreſt von
Geſchmack, an einen beſtimmten und aus¬
[190] führlichen Kunſtwerke ſich völlig verlieren
müſſe.


Melina ſcherzte nicht ganz fein über Wil¬
helms pedantiſche Ideale dieſer Art, über die
Anmaßung das Publikum zu bilden, ſtatt
ſich von ihm bilden zu laſſen, und beyde ver¬
einigten ſich mit großer Überzeugung, daß
man nur Geld einnehmen, reich werden oder
ſich luſtig machen ſolle und verbargen ſich
kaum, daß ſie nur jener Perſonen los zu
ſeyn wünſchten, die ihren Plane im Wege
ſtanden. Melina bedauerte, daß die ſchwäch¬
liche Geſundheit Aureliens ihr kein langes
Leben verſpreche, dachte aber gerade das Ge¬
gentheil. Serlo ſchien zu beklagen, daß
Wilhelm nicht Sänger ſey und gab dadurch
zu verſtehen, daß er ihn für bald entbehrlich
halte. Melina trat mit einem ganzen Re¬
giſter von Erſparniſſen, die zu machen ſeyen,
hervor, und Serlo ſah in ihm ſeinen erſten
[191] Schwager dreyfach erſetzt. Sie fühlten wohl,
daß ſie ſich über dieſe Unterredung das Ge¬
heimniß zuzuſagen hatten, wurden dadurch
nur noch mehr an einander geknüpft und
nahmen Gelegenheit insgeheim über alles
was vorkam, ſich zu beſprechen, was Aure¬
lie und Wilhelm unternahmen zu tadeln und
ihr neues Projeckt in Gedanken immer mehr
auszuarbeiten.


So verſchwiegen auch beyde über ihren
Plan ſeyn mochten, und ſo wenig ſie durch
Worte ſich verriethen, ſo waren ſie doch nicht
politiſch genug, ihre Geſinnungen in der
Handelsweiſe zu verbergen. Melina wider¬
ſetzte ſich Wilhelmen in manchen Fällen, die
in ſeinem Kreiſe lagen, und Serlo, der nie¬
mals glimpflich mit ſeiner Schweſter umge¬
gangen war, ward nur bitterer, jemehr ihre
Kränklichkeit zunahm, und jemehr ſie bey
ihren ungleichen, leidenſchaftlichen Launen
Schonung verdient hätte.


[192]

Zu eben dieſer Zeit nahm man Emilie
Galotti vor. Dieſes Stück war ſehr glück¬
lich beſetzt, und alle konnten in dem beſchränk¬
ten Kreiſe dieſes Trauerſpiels die ganze Ma¬
nigfaltigkeit ihres Spieles zeigen. Serlo
war als Marinelli an ſeinem Platze, Odo¬
ardo ward ſehr gut vorgetragen, Madam
Melina ſpielte die Mutter mit vieler Ein¬
ſicht, Elmire zeichnete ſich in der Rolle Emi¬
liens zu ihrem Vortheil aus, Laertes trat
als Appiani mit vielen Anſtand auf, und
Wilhelm hatte ein Studium von mehreren
Monaten auf die Rolle des Prinzen verwen¬
det. Bey dieſer Gelegenheit hatte er ſowohl
mit ſich ſelbſt als mit Serlo und Aurelien
die Frage oft abgehandelt: welch ein Unter¬
ſchied ſich zwiſchen einem edlen und vorneh¬
men Betragen zeige, und in wiefern jenes
in dieſem, dieſes aber nicht in jenem enthal¬
ten zu ſeyn brauche.


Serlo[193]

Serlo der ſelbſt als Marinelli den Hof¬
mann rein, ohne Karrikatur vorſtellte, äußerte
über dieſen Punkt manchen guten Gedanken.
Der vornehme Anſtand, ſagte er, iſt ſchwer
nachzuahmen, weil er eigentlich negativ iſt,
und eine lange anhaltende Übung voraus¬
ſetzt. Denn man ſoll nicht etwa in ſeinem
Benehmen etwas darſtellen, das Würde an¬
zeigt, denn leicht fällt man dadurch in ein
förmliches ſtolzes Weſen, man ſoll vielmehr
nur alles vermeiden, was Unwürdig was Ge¬
mein iſt, man ſoll ſich nie vergeſſen, immer
auf ſich und andere acht haben, ſich nichts
vergeben, andern nicht zu viel, nicht zu we¬
nig thun, durch nichts gerührt ſcheinen, durch
nichts bewegt werden, ſich niemals übereilen,
ſich in jedem Momente zu faſſen wiſſen, und
ſo ein äußeres Gleichgewicht erhalten, inner¬
lich mag es ſtürmen wie es will. Der edle
Menſch kann ſich in Momenten vernachläſ¬
W. Meiſters Lehrj. 3. N[194] ſigen, der vornehme nie. Dieſer iſt wie ein
ſehr wohlgekleideter Mann, er wird ſich nir¬
gends anlehnen, und jedermann wird ſich hü¬
ten an ihn zu ſtreichen; er unterſcheidet ſich
vor andern, und doch darf er nicht allein
ſtehen bleiben; denn wie in jeder Kunſt alſo
auch in dieſer, ſoll zuletzt das ſchwerſte mit
Leichtigkeit ausgeführt werden, ſo ſoll der
Vornehme, ohngeachtet aller Abſonderung,
immer mit andern verbunden ſcheinen, nir¬
gends ſteif, überall gewandt ſeyn, immer als
der erſte erſcheinen und ſich nie als ein ſol¬
cher aufdringen.


Man ſieht alſo, daß man, um vornehm
zu ſcheinen, wirklich vornehm ſeyn müſſe;
man ſieht warum Frauen im Durchſchnitt
ſich eher dieſes Anſehen geben können als
Männer, warum Hofleute und Soldaten am
ſchnellſten zu dieſem Anſtande gelangen.


Wilhelm verzweifelte nun faſt an ſeiner
[195] Rolle, allein Serlo half ihm wieder auf, in¬
dem er ihm über das Einzelne die feinſten
Bemerkungen mittheilte, und ihn dergeſtalt
ausſtattete, daß er bey der Aufführung, we¬
nigſtens in den Augen der Menge, einen
recht feinen Prinzen darſtellte.


Serlo hatte verſprochen ihm nach der
Vorſtellung die Bemerkungen mitzutheilen,
die er noch allenfalls über ihn machen wür¬
de; allein ein unangenehmer Streit zwiſchen
Bruder und Schweſter hinderte jede critiſche
Unterhaltung. Aurelie hatte die Rolle der
Orſina auf eine Weiſe geſpielt, wie man ſie
wohl niemals wieder ſehen wird. Sie war
mit der Rolle überhaupt ſehr bekannt, und
hatte ſie in den Proben gleichgültig behan¬
delt; bey der Aufführung ſelbſt aber zog ſie,
möchte man ſagen, alle Schleuſen ihres in¬
dividuellen Kummers auf, und es ward da¬
durch eine Darſtellung, wie ſie ſich kein Dich¬
N 2[196] ter in dem erſten Feuer der Empfindung
hätte denken können. Ein unmäßiger Bey¬
fall des Publikums belohnte ihre ſchmerzlichen
Bemühungen, aber ſie lag auch halb ohn¬
mächtig in einem Seſſel als man ſie nach
der Aufführung aufſuchte.


Serlo hatte ſchon über ihr übertriebenes
Spiel, wie er es nannte, und über die Ent¬
blößung ihres innerſten Herzens vor dem
Publikum, das doch mehr oder weniger mit
jener fatalen Geſchichte bekannt war, ſeinen
Unwillen zu erkennen gegeben, und, wie er
es im Zorn zu thun pflegte, mit den Zähnen
geknirſcht und mit den Füßen geſtampft.
Laßt ſie, ſagte er, als er ſie von den Übri¬
gen umgeben in dem Seſſel fand, ſie wird
noch eh’ſtens ganz nackt auf das Theater
treten, und dann wird erſt der Beyfall recht
willkommen ſeyn.


Undankbarer! rief ſie aus, Unmenſchli¬
[197] cher! man wird mich bald nackt dahin tra¬
gen, wo kein Beyfall mehr zu unſern Ohren
kommt! Mit dieſen Worten ſprang ſie auf
und eilte nach der Thüre. Die Magd hatte
verſäumt ihr den Mantel zu bringen, die
Portechaiſe war nicht da; es hatte geregnet
und ein ſehr rauher Wind zog durch die
Straßen. Man redete ihr vergebens zu,
denn ſie war übermäßig erhitzt; ſie ging vor¬
ſetzlich langſam und lobte die Kühlung, die
ſie recht begierig einzuſaugen ſchien. Kaum
war ſie zu Hauſe, als ſie vor Heiſerkeit kaum
ein Wort mehr ſprechen konnte; ſie geſtand
aber nicht, daß ſie im Nacken und den Rü¬
cken hinab eine völlige Steifigkeit fühlte.
Nicht lange ſo überfiel ſie eine Art von Läh¬
mung der Zunge, ſo daß ſie ein Wort fürs
andere ſprach; man brachte ſie zu Bette,
durch häufig angewandte Mittel legte ſich
ein Übel, indem ſich das andere zeigte. Das
[198] Fieber ward ſtark und ihr Zuſtand gefähr¬
lich.


Den andern Morgen hatte ſie eine ru¬
hige Stunde. Sie ließ Wilhelm rufen und
übergab ihm einen Brief. Dieſes Blatt,
ſagte ſie, wartet ſchon lange auf dieſen Au¬
genblick. Ich fühle daß das Ende meines
Lebens bald heran naht; verſprechen Sie mir,
daß Sie es ſelbſt abgeben und daß Sie
durch wenige Worte meine Leiden an dem
Ungetreuen rächen wollen. Er iſt nicht fühl¬
los und wenigſtens ſoll ihn mein Tod einen
Augenblick ſchmerzen.


Wilhelm übernahm den Brief, indem er
ſie jedoch tröſtete und den Gedanken des To¬
des von ihr entfernen wollte.


Nein, verſetzte ſie, benehmen Sie mir
nicht meine nächſte Hoffnung. Ich habe ihn
lange erwartet und will ihn freudig in die
Arme ſchließen.


[199]

Kurz darauf kam das vom Arzt verſprochene
Manuſcript an. Sie erſuchte Wilhelmen ihr
daraus vorzuleſen, und die Wirkung die es
that wird der Leſer am beſten beurtheilen
können, wenn er ſich mit dem folgenden Bu¬
che bekannt gemacht hat. Das heftige und
trotzige Weſen unſrer armen Freundin ward
auf einmal gelinder. Sie nahm den Brief
zurück und ſchrieb einen andern, wie es ſchien
in ſehr ſanfter Stimmung, auch forderte ſie
Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er ir¬
gend durch die Nachricht ihres Todes betrübt
werden ſollte, zu tröſten, ihm zu verſichern,
daß ſie ihm verziehen habe, und daß ſie ihm
alles Glück wünſche.


Von dieſer Zeit an war ſie ſehr ſtill und
ſchien ſich nur mit wenigen Ideen zu beſchäf¬
tigen, die ſie ſich aus dem Manuſcript eigen
zu machen ſuchte, woraus ihr Wilhelm von
Zeit zu Zeit vorleſen mußte. Die Abnahme
[200] ihrer Kräfte war nicht ſichtbar und unver¬
muthet fand ſie Wilhelm eines Morgens
todt, als er ſie beſuchen wollte.


Bey der Achtung, die er für ſie gehabt,
und bey der Gewohnheit, mit ihr zu leben,
war ihm ihr Verluſt ſehr ſchmerzlich. Sie
war die einzige Perſon, die es eigentlich gut
mit ihm meynte, und die Kälte Serlos in
der letzten Zeit hatte er nur allzuſehr gefühlt.
Er eilte daher die aufgetragene Botſchaft
auszurichten und wünſchte ſich auf einige
Zeit zu entfernen. Von der andern Seite
war für Melina dieſe Abreiſe ſehr erwünſcht,
denn dieſer hatte ſich bey der weitläuftigen
Correſpondenz, die er unterhielt, gleich mit
einem Sänger und einer Sängerin eingelaſ¬
ſen, die das Publikum einſtweilen durch Zwi¬
ſchenſpiele zur künftigen Oper vorbereiten
ſollten. Der Verluſt Aureliens und Wilhelms
Entfernung ſollten auf dieſe Weiſe in der
[201] erſten Zeit übertragen werden, und unſer
Freund war mit allem zufrieden was ihm
ſeinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.


Er hatte ſich eine ſonderbar wichtige Idee
von ſeinem Auftrage gemacht. Der Tod ſei¬
ner Freundin hatte ihn tief gerührt und da
er ſie ſo frühzeitig von dem Schauplatze ab¬
treten ſah, mußte er nothwendig gegen den,
der ihr Leben verkürzt, und dieſes kurze Le¬
ben ihr ſo qualvoll gemacht, feindſelig ge¬
ſinnt ſeyn.


Ohngeachtet der letzten gelinden Worte
der Sterbenden, nahm er ſich doch vor bey
Überreichung des Briefs ein ſtrenges Gericht
über den ungetreuen Freund ergehen zu laſ¬
ſen, und da er ſich nicht einer zufälligen
Stimmung vertrauen wollte, dachte er an ei¬
ne Rede, die in der Ausarbeitung pathetiſcher
als billig ward. Nachdem er ſich völlig von
der guten Compoſition ſeines Aufſatzes über¬
[202] zeugt hatte, machte er, indem er ihn auswen¬
dig lernte, Anſtalt zu ſeiner Abreiſe. Mig¬
non war beym Einpacken gegenwärtig und
fragte ihn, ob er nach Süden oder nach
Norden reiſe? und als ſie das letzte von
ihm erfuhr, ſagte ſie: ſo will ich Dich hier
wieder erwarten. Sie bat ihn um die Per¬
lenſchnur Marianens, die er dem lieben Ge¬
ſchöpf nicht verſagen konnte; das Halstuch
hatte ſie ſchon. Dagegen ſteckte ſie ihm den
Schleyer des Geiſtes in den Mantelſack, ob
er ihr gleich ſagte, daß ihm dieſer Flor zu
keinem Gebrauch ſey.


Melina übernahm die Regie, und ſeine
Frau verſprach auf die Kinder ein mütterli¬
ches Auge zu haben, von denen ſich Wilhelm
ungern losriß. Felix war ſehr luſtig beym
Abſchied und als man ihn fragte: was er
wolle mitgebracht haben, ſagte er: Höre!
bringe mir einen Vater mit. Mignon nahm
[203] den Scheidenden bey der Hand, und indem
ſie ihm, auf die Zehen gehoben, einen treu¬
herzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärt¬
lichkeit, auf die Lippen drückte, ſagte ſie:
Meiſter! vergiß uns nicht und komm bald
wieder.


Und ſo laſſen wir unſern Freund unter
tauſend Gedanken und Empfindungen ſeine
Reiſe antreten, und zeichnen hier noch zum
Schluſſe ein Gedicht auf, das Mignon mit
großem Ausdruck einigemal rezitirt hatte,
und das wir früher mitzutheilen durch den
Drang ſo mancher ſonderbaren Ereigniſſe
verhindert worden.


Heiß mich nicht reden, heiß mich ſchweigen

Denn mein Geheimniß iſt mir Pflicht;

Ich mögte dir mein ganzes Innre zeigen,

Allein das Schickſal will es nicht.
Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf

Die finſtre Nacht, und ſie muß ſich erhellen,
[204]
Der harte Fels ſchließt ſeinen Buſen auf

Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.
Ein jeder ſucht im Arm des Freundes Ruh,

Dort kann die Bruſt in Klagen ſich ergießen;

Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu

Und nur ein Gott vermag ſie aufzuſchließen.
[[205]]

Wilhelm Meiſters
Lehrjahre
.

Sechſtes Buch.

[[206]][[207]]

Bekenntniſſe
einer ſchönen Seele
.

Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz
geſundes Kind, weiß mich aber von dieſer
Zeit ſo wenig zu erinnern, als von dem Ta¬
ge meiner Geburt. Mit dem Anfange des
achten Jahres bekam ich einen Blutſturz und
in dem Augenblick war meine Seele ganz
Empfindung und Gedächtniß. Die kleinſten
Umſtände dieſes Zufalls ſtehn mir noch vor
Augen als hätte er ſich geſtern ereignet.


Während des neun monatlichen Kranken¬
lagers, das ich mit Gedult aushielt, ward,
[208] ſo wie mich dünkt, der Grund zu meiner
ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiſte
die erſten Hülfsmittel gereicht wurden, ſich
nach ſeiner eigenen Art zu entwickeln.


Ich litt und liebte, das war die eigentli¬
che Geſtalt meines Herzens. In dem heftig¬
ſten Huſten und abmattenden Fieber war ich
ſtille wie eine Schnecke, die ſich in ihr Haus
zieht; ſo bald ich ein wenig Luft hatte,
wollte ich etwas Angenehmes fühlen, und da
mir aller übrige Genuß verſagt war, ſuchte
ich mich durch Augen und Ohren ſchadlos zu
halten. Man brachte mir Puppenwerk und
Bilderbücher und wer Sitz an meinem Bette
haben wollte, mußte mir etwas erzählen.


Von meiner Mutter hörte ich die bibli¬
ſchen Geſchichten gern an; der Vater unter¬
hielt mich mit Gegenſtänden der Natur. Er
beſaß ein artiges Kabinet. Davon brachte er
gelegentlich eine Schublade nach der andern
her¬[209] herunter, zeigte mir die Dinge und erklärte
ſie mir nach der Wahrheit. Getrocknete
Pflanzen und Inſekten und manche Arten
von anatomiſchen Präparaten. Menſchenhaut,
Knochen, Mumien und dergleichen kamen
auf das Krankenbette der Kleinen; Vögel
und Thiere, die er auf der Jagd erlegte, wur¬
den mir vorgezeigt, ehe ſie nach der Küche
gingen, und damit doch auch der Fürſt der
Welt eine Stimme in dieſer Verſammlung
behielte, erzählte mir die Tante Liebesge¬
ſchichten und Feenmärchen. Alles ward an¬
genommen und alles faßte Wurzel. Ich
hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit
dem unſichtbaren Weſen unterhielte, ich weiß
noch einige Verſe, die ich der Mutter damals
in die Feder dictirte.


Oft erzählte ich dem Vater wieder, was
ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht
leicht eine Arzeney, ohne zu fragen, wo wach¬
W. Meiſters Lehrj. 3. O[210] ſen die Dinge, aus denen ſie gemacht iſt?
Wie ſehen ſie aus? Wie heißen ſie? Aber
die Erzählungen meiner Tante waren auch
nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte
mich in ſchöne Kleider und begegnete den al¬
lerliebſten Prinzen, die nicht ruhen noch ra¬
ſten konnten, bis ſie wußten, wer die unbe¬
kannte Schöne war. Ein ähnliches Aben¬
theuer mit einem reizenden kleinen Engel,
der im weißen Gewand und goldnen Flü¬
geln ſich ſehr um mich bemühte, ſetzte ich ſo
lange fort, daß meine Einbildungskraft ſein
Bild faſt bis zur Erſcheinung erhöhte.


Nach Jahresfriſt war ich ziemlich wieder
hergeſtellt; aber es war mir aus der Kind¬
heit nichts Wildes übrig geblieben. Ich
konnte nicht einmal mit Puppen ſpielen, ich
verlangte nach Weſen, die meine Liebe erwie¬
derten. Hunde, Katzen und Vögel, derglei¬
chen mein Vater von allen Arten ernährte,
[211] vergnügten mich ſehr; aber was hätte ich
nicht gegeben, ein Geſchöpf zu beſitzen, das
in einem der Märchen meiner Tante eine
ſehr wichtige Rolle ſpielte. Es war ein
Schäfchen, das von einem Bauermädchen in
dem Walde aufgefangen und ernährt wor¬
den war, aber in dieſem artigen Thiere ſtack
ein verwünſchter Prinz, der ſich endlich wie¬
der als ſchöner Jüngling zeigte und ſeine
Wohlthäterin durch ſeine Hand belohnte.
So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne
beſeſſen!


Nun wollte ſich aber keines finden, und
da alles neben mir ſo ganz natürlich zuging,
mußte mir nach und nach die Hoffnung auf
einen ſo köſtlichen Beſitz faſt vergehen. Un¬
terdeſſen tröſtete ich mich, indem ich ſolche
Bücher las, in denen wunderbare Begeben¬
heiten beſchrieben wurden. Unter allen war
mir der chriſtliche deutſche Herkules der lieb¬
O 2[212] ſte; die andächtige Liebesgeſchichte war ganz
nach meinem Sinne. Begegnete ſeiner Va¬
liska irgend etwas, und es begegneten ihr
grauſame Dinge, ſo betete er erſt, eh er ihr
zu Hülfe eilte, und die Gebete ſtanden aus¬
führlich im Buche. Wie wohl gefiel mir
das! Mein Hang zu dem Unſichtbaren, den
ich immer auf eine dunkle Weiſe fühle,
ward dadurch nur vermehrt; denn ein für
allemal ſollte Gott auch mein Vertrauter
ſeyn.


Als ich weiter heran wuchs, las ich, der
Himmel weiß was alles durch einander; aber
die römiſche Octavia behielt vor allen den
Preis. Die Verfolgungen der erſten Chriſten
in einen Roman gekleidet, erregten bey mir
das lebhafteſte Intereſſe.


Nun fing die Mutter an über das ſtete
Leſen zu ſchmälen; der Vater nahm ihr zu
Liebe mir einen Tag die Bücher aus der
[213] Hand und gab ſie mir den andern wieder.
Sie war klug genug zu bemerken, daß hier
nichts auszurichten war, und drang nur dar¬
auf, daß auch die Bibel eben ſo fleißig ge¬
leſen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht
treiben, und ich las die heiligen Bücher mit
vielem Antheil. Dabey war meine Mutter
immer ſorgfältig, daß keine verführeriſchen
Bücher in meine Hände kämen, und ich ſelbſt
würde jede ſchändliche Schrift aus der Hand
geworfen haben, denn meine Prinzen und
Prinzeſſinnen waren alle äußerſt tugendhaft,
und ich wußte übrigens von der natürlichen
Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts mehr
als ich merken ließ, und hatte es meiſtens
aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen
hielt ich mit Worten und Dingen die mir
vor Augen kamen zuſammen, und brachte bey
meiner Wißbegierde und Combinationsgabe
die Wahrheit glücklich heraus. Hätte ich
[214] von Hexen gehört, ſo hätte ich auch mit der
Hexerey bekannt werden müſſen.


Meiner Mutter und dieſer Wißbegierde
hatte ich es zu danken, daß ich bey dem hef¬
tigen Hang zu Büchern doch kochen lernte;
aber dabey war etwas zu ſehen. Ein Huhn,
ein Ferkel aufzuſchneiden, war für mich ein
Feſt. Den Vater brachte ich die Eingeweide
und er redete mit mir darüber wie mit ei¬
nem jungen Studenten, und pflegte mich oft
mit inniger Freude ſeinen mißrathenen Sohn
zu nennen.


Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt.
Ich lernte franzöſiſch, tanzen und zeichnen,
und erhielt den gewöhnlichen Religionsunter¬
richt. Bey dem letzten wurden manche Em¬
pfindungen und Gedanken rege, aber nichts
was ſich auf meinen Zuſtand bezogen hätte.
Ich hörte gern von Gott reden, ich war ſtolz
darauf beſſer als meinesgleichen von ihm re¬
[215] den zu können; ich las nun mit Eifer man¬
che Bücher, die mich in den Stand ſetzten von
Religion zu ſchwatzen, aber nie fiel es mir
ein zu denken, wie es denn mit mir ſtehe,
ob meine Seele auch ſo geſtaltet ſey, ob ſie
einem Spiegel gleiche, von dem die ewige
Sonne wieder glänzen könnte, das hatte ich
ein vor allemal ſchon vorausgeſetzt.


Franzöſiſch lernte ich mit vieler Begierde.
Mein Sprachmeiſter war ein wackrer Mann.
Er war nicht ein leichtſinniger Empiriker,
nicht ein trockner Grammatiker; er hatte
Wiſſenſchaften, er hatte die Welt geſehen.
Zugleich mit dem Sprachunterrichte ſättigte
er meine Wißbegierde auf mancherley Weiſe.
Ich liebte ihn ſo ſehr, daß ich ſeine Ankunft
immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeich¬
nen fiel mir nicht ſchwer, und ich würde es
weiter gebracht haben, wenn mein Meiſt[er]
Kopf und Kenntniſſe gehabt hätte; er hatte
aber nur Hände und Übung.


[216]

Tanzen war Anfangs nur meine geringſte
Freude; mein Körper war zu empfindlich und
ich lernte nur in der Geſellſchaft meiner
Schweſter. Durch den Einfall unſers Tanz¬
meiſters allen ſeinen Schülern und Schüle¬
rinnen einen Ball zu geben, ward aber die
Luſt zu dieſer Übung ganz anders belebt.


Unter vielen Knaben und Mädchen zeich¬
neten ſich zwey Söhne des Hofmarſchalls
aus; der jüngſte ſo alt wie ich, der andere
zwey Jahr älter; Kinder von einer ſolchen
Schönheit, daß ſie nach dem allgemeinen Ge¬
ſtändniß alles übertrafen, was man je von
ſchönen Kindern geſehen hatte. Auch ich hatte
ſie kaum erblickt, ſo ſah ich niemand mehr
vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke
tanzte ich mit Aufmerkſamkeit und wünſchte
ſchön zu tanzen. Wie es kam, daß auch dieſe
Knaben unter allen andern mich vorzüglich
bemerkten? — Genug in der erſten Stunde
[217] waren wir die beſten Freunde, und die kleine
Luſtbarkeit ging noch nicht zu Ende, ſo hat¬
ten wir ſchon ausgemacht, wo wir uns näch¬
ſtens wieder ſehen wollten. Eine große Freu¬
de für mich! aber ganz entzückt war ich,
als beyde den andern Morgen jeder in einem
gallanten Billet, das mit einem Blumen¬
ſtrauß begleitet war, ſich nach meinem Be¬
finden erkundigten. So fühlte ich nie mehr,
wie ich da fühlte! Artigkeiten wurden mit
Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwiedert.
Kirche und Promenaden wurden von nun an
zu Rendesvous; unſre jungen Bekannten lu¬
den uns ſchon jederzeit zuſammen ein, wir
aber waren ſchlau genug, die Sache derge¬
ſtalt zu verdecken, daß die Eltern nicht mehr
davon einſahen, als wir für gut hielten.


Nun hatte ich auf einmal zwey Liebhaber
bekommen. Ich war für keinen entſchieden;
ſie gefielen mir beyde, und wir ſtanden aufs
[218] beſte zuſammen. Auf einmal ward der Äl¬
teſte ſehr krank, ich war ſelbſt ſchon oft ſehr
krank geweſen und wußte dem Leidenden
durch Überſendung mancher Artigkeiten und
für einen Kranken ſchicklicher Leckerbiſſen zu
erfreuen, daß ſeine Eltern die Aufmerkſam¬
keit dankbar erkannten, der Bitte des lieben
Sohns Gehör gaben und mich ſammt mei¬
nen Schweſtern, ſo bald er nur das Bette
verlaſſen hatte, zu ihm einluden. Die Zärt¬
lichkeit, womit er mich empfing, war nicht kin¬
diſch, und von dem Tage an war ich für ihn
entſchieden. Er warnte mich gleich, vor ſei¬
nem Bruder geheim zu ſeyn; allein das Feuer
war nicht mehr zu verbergen, und die Ei¬
ferſucht des Jüngſten machte den Roman
vollkommen. Er ſpielte uns tauſend Strei¬
che, mit Luſt vernichtete er unſre Freude,
und vermehrte dadurch die Leidenſchaft, die
er zu zerſtören ſuchte.


[219]

Nun hatte ich denn wirklich das gewünſchte
Schäfchen gefunden, und dieſe Leidenſchaft
hatte wie ſonſt eine Krankheit die Wirkung
auf mich, daß ſie mich ſtill machte und mich
von der ſchwärmenden Freude zurück zog.
Ich war einſam und gerührt und Gott fiel
mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter,
und ich weiß wohl, mit welchen Thränen ich
für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten
anhielt.


So viel kindiſches in dem Vorgang war,
ſo viel trug er zur Bildung meines Herzens
bey. Unſerm franzöſiſchen Sprachmeiſter mu߬
ten wir täglich, ſtatt der ſonſt gewöhnlichen
Überſetzung, Briefe von unſrer eignen Erfin¬
dung ſchreiben. Ich brachte meine Liebesge¬
ſchichte unter dem Namen Phyllis und Da¬
mon zu Markte. Der Alte ſah bald durch,
und, um mich treuherzig zu machen, lobte er
meine Arbeit gar ſehr. Ich wurde immer
[220] kühner, ging offenherzig heraus und war bis
ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiß
nicht mehr, bey welcher Stelle er einſt Gele¬
genheit nahm, zu ſagen: wie das artig, wie
das natürlich iſt! Aber die gute Phillis mag
ſich in Acht nehmen, es kann bald ernſthaft
werden.


Mich verdroß, daß er die Sache nicht
ſchon für ernſthaft hielt, und fragte ihn pi¬
quirt, was er unter ernſthaft verſtehe? Er
ließ ſich nicht zweymal fragen, und erklärte
ſich ſo deutlich, daß ich meinen Schrecken
kaum verbergen konnte. Doch da ſich gleich
darauf bey mir der Verdruß einſtellte, und
ich ihm übel nahm, daß er ſolche Gedanken
hegen könne, faßte ich mich, wollte meine
Schöne rechtfertigen und ſagte mit feuerro¬
then Wangen: aber mein Herr, Phyllis iſt
ein ehrbares Mädchen.


Nun war er boshaft genug, mich mit
[221] meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen, und, in¬
dem wir franzöſiſch ſprachen, mit dem »hone¬
te»
zu ſpielen, um die Ehrbarkeit der Phyl¬
lis durch alle Bedeutungen durchzuführen.
Ich fühlte das Lächerliche und war äußerſt
verwirrt. Er, der mich nicht furchtſam ma¬
chen wolte, brach ab, brachte aber das Ge¬
ſpräch bey andern Gelegenheiten wieder auf
die Bahn. Schauſpiele und kleine Geſchich¬
ten, die ich bey ihm las und überſetzte, ga¬
ben ihm oft Anlaß zu zeigen, was für ein
ſchwacher Schutz die ſogenannte Tugend ge¬
gen die Aufforderungen eines Affeckts ſey.
Ich widerſprach nicht mehr, ärgerte mich aber
immer heimlich, und ſeine Anmerkungen wur¬
den mir zur Laſt.


Mit meinem guten Damon kam ich nach
und nach aus aller Verbindung. Die Chi¬
kanen des jüngſten hatten unſern Umgang
zerriſſen. Nicht lange Zeit darauf ſtarben
[222] beyde blühende Jünglinge. Es that mir
weh, aber bald waren ſie vergeſſen.


Phyllis wuchs nun ſchnell heran, war
ganz geſund und fing an die Welt zu ſehen.
Der Erbprinz vermählte ſich und trat bald
darauf nach dem Tode ſeines Vaters die Re¬
gierung an. Hof und Stadt waren in leb¬
hafter Bewegung. Nun hatte meine Neu¬
gierde mancherley Nahrung. Nun gab es
Comödien, Bälle und was ſich daran an¬
ſchließt, und ob uns gleich die Eltern ſo viel
als möglich zurück hielten, ſo mußte man
doch bey Hof, wo ich eingeführt war, erſchei¬
nen. Die Fremden ſtrömten herbey, in allen
Häuſern war große Welt, an uns ſelbſt wa¬
ren einige Cavaliere empfohlen und andre
introduzirt, und bey meinem Oheim waren
alle Nationen anzutreffen.


Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich
auf eine beſcheidene und doch treffende Weiſe
[223] zu warnen, und ich nahm es ihm immer
heimlich übel. Ich war keinesweges von der
Wahrheit ſeiner Behauptung überzeugt, und
vielleicht hatte ich auch damals Recht, viel¬
leicht hatte er Unrecht, die Frauen unter al¬
len Umſtänden für ſo ſchwach zu halten;
aber er redete zugleich ſo zudringlich, daß
mir einſt bange wurde, er möchte Recht ha¬
ben, da ich denn ſehr lebhaft zu ihm ſagte:
weil die Gefahr ſo groß und das menſchliche
Herz ſo ſchwach iſt, ſo will ich Gott bitten,
daß er mich bewahre.


Die naive Antwort ſchien ihn zu freuen;
er lobte meinen Vorſatz; aber es war bey
mir nichts weniger als ernſtlich gemeynt;
diesmal war es nur ein leeres Wort; denn
die Empfindungen für den Unſichtbaren wa¬
ren bey mir faſt ganz verloſchen. Der große
Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerſtreute
mich und riß mich wie ein ſtarker Strom mit
[224] fort. Es waren die leerſten Jahre meines
Lebens. Tagelang von nichts zu reden, kei¬
nen geſunden Gedanken zu haben, und nur
zu ſchwärmen, das war meine Sache. Nicht
einmal der geliebten Bücher wurde gedacht.
Die Leute, mit denen ich umgeben war, hat¬
ten keine Ahndung von Wiſſenſchaften; es
waren deutſche Hofleute und dieſe Klaſſe
hatte damals nicht die mindeſte Kultur.


Ein ſolcher Umgang, ſollte man denken,
hätte mich an den Rand des Verderbens
führen müſſen. Ich lebte in ſinnlicher Mun¬
terkeit nur ſo hin, ich ſammlete mich nicht,
ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch
an Gott; aber ich ſeh es als eine Führung
an, daß mir keiner von den vielen ſchönen,
reichen und wohlgekleideten Männern gefiel.
Sie waren liederlich und verſteckten es nicht,
das ſchreckte mich zurück; ihr Geſpräch zier¬
ten ſie mit Zweydeutigkeiten, das beleidigte
mich[225] mich und ich hielt mich kalt gegen ſie; ihre
Unart überſtieg manchmal allen Glauben,
und ich erlaubte mir, grob zu ſeyn.


Überdieß hatte mir mein Alter einmal
vertraulich eröffnet, daß mit den meiſten die¬
ſer leidigen Burſche nicht allein die Tugend
ſondern auch die Geſundheit eines Mädchens
in Gefahr ſey. Nun graute mir erſt vor
ihnen, und ich war ſchon beſorgt, wenn mir
einer auf irgend eine Weiſe zu nahe kam.
Ich hüthete mich vor Gläſern und Taſſen
wie vor dem Stuhle, von dem einer aufge¬
ſtanden war. Auf dieſe Weiſe war ich mo¬
raliſch und phyſiſch ſehr iſolirt, und alle die
Artigkeiten, die ſie mir ſagten, nahm ich ſtolz
für ſchuldigen Weyrauch auf.


Unter den Fremden, die ſich damals bey
uns aufhielten, zeichnete ſich ein junger Mann
beſonders aus, den wir im Scherz Narciß
nannten. Er hatte ſich in der diplomati¬
W. Meiſters Lehrj. 3. P[226] ſchen Laufbahn guten Ruf erworben, und
hoffte bey den verſchiedenen Veränderungen,
die an unſern neuen Hofe vorgingen, vor¬
theilhaft placirt zu werden. Er ward mit
meinem Vater bald bekannt, und ſeine Kennt¬
niſſe und ſein Betragen öffneten ihm den
Weg in eine geſchloſſene Geſellſchaft der wür¬
digſten Männer. Mein Vater ſprach viel
zu ſeinem Lobe, und ſeine ſchöne Geſtalt hät¬
te noch mehr Eindruck gemacht, wenn ſein
ganzes Weſen nicht eine Art von Selbſtge¬
fälligkeit gezeigt hätte. Ich hatte ihn geſe¬
hen, dachte gut von ihm, aber wir hatten
uns nie geſprochen.


Auf einem großen Balle, auf dem er ſich
auch befand, tanzten wir eine Menuet zu¬
ſammen; auch das ging ohne nähere Be¬
kanntſchaft ab. Als die heftigen Tänze an¬
gingen, die ich meinem Vater zu liebe, der
für meine Geſundheit beſorgt war, zu ver¬
[227] meiden pflegte, begab ich mich in ein Neben¬
zimmer, und unterhielt mich mit ältern Freun¬
dinnen, die ſich zum Spiele geſetzt hatten.


Narciß, der eine Weile mit herumgeſprun¬
gen war, kam auch einmal in das Zimmer,
in dem ich mich befand, und fing, nachdem
er ſich von einem Naſenbluten, das ihn beym
Tanzen überfiel, erhohlt hatte, mit mir über
mancherley zu ſprechen an. Binnen einer
halben Stunde war der Discours ſo inte¬
reſſant, ob ſich gleich keine Spur von Zärt¬
lichkeit drein miſchte, daß wir nun beyde das
Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir
wurden bald von den andern darüber ge¬
neckt, ohne daß wir uns dadurch irre machen
ließen. Den andern Abend konnten wir un¬
ſer Geſpräch wieder anknüpfen und ſchonten
unſre Geſundheit ſehr.


Nun war die Bekanntſchaft gemacht.
Narciß wartete mir und meinen Schweſtern
P 2[228] auf, und nun fing ich erſt wiede ran gewahr
zu werden, was ich alles wußte, worüber ich
gedacht, was ich empfunden hatte, und wor¬
über ich mich im Geſpräche auszudrücken
verſtand. Mein neuer Freund, der von je¬
her in der beſten Geſellſchaft geweſen war,
hatte außer dem hiſtoriſchen und politiſchen
Fache, das er ganz überſah, ſehr ausgebreite¬
te literariſche Kenntniſſe, und ihm blieb
nichts Neues, beſonders was in Frankreich
herauskam, unbekannt. Er brachte und ſen¬
dete mir manch angenehmes und nützliches
Buch, doch das mußte geheimer als ein ver¬
botenes Liebesverſtändniß gehalten werden.
Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich
gemacht, und man wollte auch die unterrich¬
teten nicht leiden, wahrſcheinlich, weil man
für unhöflich hielt, ſo viel unwiſſende Män¬
ner beſchämen zu laſſen. Selbſt mein Vater,
den dieſe neue Gelegenheit, meinen Geiſt aus¬
[229] zubilden, ſehr erwünſcht war, verlangte aus¬
drücklich, daß dieſes literariſche Commerz ein
Geheimniß bleiben ſollte.


So währte unſer Umgang beynahe Jahr
und Tag, und ich konnte nicht ſagen, daß
Narciß auf irgend eine Weiſe Liebe oder
Zärtlichkeit gegen mich geäußert hätte. Er
blieb artig und verbindlich, aber zeigte kei¬
nen Affekt, vielmehr ſchien der Reiz meiner
jüngſten Schweſter, die damals außerordent¬
lich ſchön war, ihn nicht gleichgültig zu laſ¬
ſen. Er gab ihr im Scherze allerley freund¬
liche Namen aus fremden Sprachen, deren
mehrere er ſehr gut ſprach, und deren eigen¬
thümliche Redensarten er gern ins deutſche
Geſpräch miſchte. Sie erwiederte ſeine Ar¬
tigkeiten nicht ſonderlich; ſie war von einem
andern Fädchen gebunden, und da ſie über¬
haupt ſehr raſch und er empfindlich war, ſo
wurden ſie nicht ſelten über Kleinigkeiten
[230] uneins. Mit der Mutter und den Tanten
wußte er ſich gut zu halten, und ſo war er
nach und nach ein Glied der Familie ge¬
worden.


Wer weiß wie lange wir noch auf dieſe
Weiſe fortgelebt hätten, hätte nicht ein ſon¬
derbarer Zufall unſere Verhältniſſe auf ein¬
mal verändert. Ich ward mit meinen Schwe¬
ſtern in ein gewiſſes Haus gebeten, wohin
ich nicht gerne ging. Die Geſellſchaft war
zu gemiſcht, und es fanden ſich dort oft
Menſchen, wo nicht vom rohſten doch vom
plattſten Schlage mit ein; dießmal war
Narciß auch mit geladen, und um ſeinet¬
willen war ich geneigt hin zu gehen; denn
ich war doch gewiß jemanden zu finden, mit
dem ich mich auf meine Weiſe unterhalten
konnte. Schon bey Tafel hatten wir man¬
ches auszuſtehen, denn einige Männer hat¬
ten ſtark getrunken; nach Tiſche ſollten und
[231] mußten Pfänder geſpielt werden. Es ging
dabey ſehr rauſchend und lebhaft zu. Nar¬
ciß hatte ein Pfand zu löſen; man gab ihm
auf, der ganzen Geſellſchaft etwas ins Ohr
zu ſagen, das jedermann angenehm wäre.
Er mochte ſich bey meiner Nachbarin, der
Frau eines Hauptmanns, zu lange verwei¬
len. Auf einmal gab ihm dieſer eine Ohr¬
feige, daß mir, die ich gleich daran ſaß, der
Puder in die Augen flog. Als ich die Au¬
gen ausgewiſcht und mich vom Schrecken ei¬
nigermaßen erholt hatte, ſah ich beyde Män¬
ner mit bloßen Degen. Narciß blutete, und
der andere, außer ſich von Wein, Zorn und
Eiferſucht, konnte kaum von der ganzen
übrigen Geſellſchaft zurück gehalten werden.
Ich nahm Narciſſen beym Arm und führte
ihn zur Thüre hinaus eine Treppe hinauf
in ein ander Zimmer, und weil ich meinen
[232] Freund vor ſeinem tollen Gegner nicht ſicher
glaubte, riegelte ich die Thüre ſogleich zu.


Wir hielten beyde die Wunde nicht für
ernſthaft, denn wir ſahen nur einen leichten
Hieb über die Hand; bald aber wurden wir
einen Strom von Blut, der den Rücken hin¬
unterfloß, gewahr, und es zeigte ſich eine
große Wunde auf dem Kopfe. Nun ward
mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz um
nach Hülfe zu ſchicken, konnte aber niemand
anſichtig werden, denn alles war unten ge¬
blieben, den raſenden Menſchen zu bändigen.
Endlich kam eine Tochter des Hauſes her¬
auf geſprungen und ihre Munterkeit ängſtig¬
te mich nicht wenig, da ſie ſich über den tol¬
len Spectakel und über die verfluchte Co¬
mödie faſt zu Tode lachen wollte. Ich bat
ſie dringend mir einen Wundarzt zu ſchaffen,
und ſie, nach ihrer wilden Art, ſprang gleich
die Treppe hinunter, ſelbſt einen zu hohlen.


[233]

Ich ging wieder zu meinem Verwunde¬
ten, band ihm mein Schnupftuch um die
Hand und ein Handtuch das an der Thüre
hing, um den Kopf. Er blutete noch immer
heftig, kein Wundarzt kam, der Verwunde¬
te erblaßte und ſchien in Ohnmacht zu ſin¬
ken. Niemand war in der Nähe, der mir
hätte beyſtehen können; ich nahm ihn ſehr
ungezwungen in den Arm und ſuchte ihn
durch Streicheln und Schmeicheln aufzumun¬
tern. Es ſchien die Wirkung eines geiſtigen
Lebensmittels zu thun; er blieb bey ſich,
aber ſaß todtenbleich da.


Nun kam endlich die thätige Hausfrau
und wie erſchrak ſie nicht, als ſie den Freund
in dieſer Geſtalt in meinen Armen liegen
und uns alle beyde mit Blut überſtrömt
ſahe, denn niemand hatte ſich vorgeſtellt,
daß Narciß verwundet ſey, alle meynten, ich
habe ihn glücklich hinaus gebracht.


[134[234]]

Nun war Wein, wohlriechendes Waſſer
und was nur erquicken und [erfriſchen] konn¬
te, im Überfluß da, nun kam auch der Wund¬
arzt und ich hätte wohl abtreten können;
allein Narciß hielt mich feſt bey der Hand,
und ich wäre ohne gehalten zu werden ſte¬
hen geblieben. Ich fuhr während des Ver¬
bandes fort, ihn mit Wein anzuſtreichen und
achtete es wenig, daß die ganze Geſellſchaft
nunmehr umher ſtand. Der Wundarzt hat¬
te geendigt, der Verwundete nahm einen
ſtummen verbindlichen Abſchied von mir und
wurde nach Hauſe getragen.


Nun führte mich die Hausfrau in ihr
Schlafzimmer; ſie mußte mich ganz ausklei¬
den und ich darf nicht verſchweigen, daß ich,
da man ſein Blut von meinem Körper ab¬
wuſch, zum erſtenmal zufällig im Spiegel
gewahr wurde, daß ich mich auch ohne Hül¬
le für ſchön halten durfte. Ich konnte kei¬
[235] nes meiner Kleidungsſtücke wieder anziehn,
und da die Perſonen im Hauſe alle kleiner
oder ſtärker waren als ich, ſo kam ich in ei¬
ner ſeltſamen Verkleidung zum größten Er¬
ſtaunen meiner Eltern nach Hauſe. Sie wa¬
ren über mein Schrecken, über die Wunden
des Freundes, über den Unſinn des Haupt¬
manns, über den ganzen Vorfall äußerſt
verdrießlich. Wenig fehlte, ſo hätte mein Va¬
ter ſelbſt, ſeinen Freund auf der Stelle zu
rächen, den Hauptmann heraus gefordert.
Er ſchalt die anweſenden Herren, daß ſie
ein ſolches meuchelmörderiſches Beginnen nicht
auf der Stelle geahndet; denn es war nur
zu offenbar, daß der Hauptmann ſogleich,
nachdem er geſchlagen, den Degen gezogen
und Narciſſen von hinten verwundet habe;
der Hieb über die Hand war erſt geführt
worden, als Narciß ſelbſt zum Degen griff.
Ich war unbeſchreiblich alterirt und afficirt,
[236] oder wie ſoll ich es ausdrücken; der Affekt,
der im tiefſten Grunde des Herzens ruhte,
war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬
me die Luft bekömmt. Und wenn Luſt und
Freude ſehr geſchickt ſind, die Liebe zuerſt zu
erzeugen und im Stillen zu nähren; ſo wird
ſie, die von Natur herzhaft iſt, durch den
Schrecken am leichteſten angetrieben, ſich zu
entſcheiden und zu erklären. Man gab dem
Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬
te. Mit dem frühſten Morgen eilte mein
Vater zu dem verwundeten Freund, der an
einem ſtarken Wundfieber recht krank dar¬
nieder lag.


Mein Vater ſagte mir wenig von dem,
was er mit ihm geredet hatte, und ſuchte
mich wegen der Folgen, die dieſer Vorfall
haben könnte, zu beruhigen. Es war die
Rede, ob man ſich mit einer Abbitte begnü¬
gen könne, ob die Sache gerichtlich werden
[237] müſſe und was dergleichen mehr war. Ich
kannte meinen Vater zu wohl, als daß ich
ihm geglaubt hätte, daß er dieſe Sache ohne
Zweykampf geendigt zu ſehen wünſchte; al¬
lein ich blieb ſtill, denn ich hatte von mei¬
nem Vater früh gelernt, daß Weiber in ſol¬
che Händel ſich nicht zu miſchen hätten.
Übrigens ſchien es nicht, als wenn zwiſchen
den beyden Freunden etwas vorgefallen wä¬
re, das mich betroffen hätte; doch bald ver¬
traute mein Vater den Inhalt ſeiner wei¬
tern Unterredung meiner Mutter. Narciß,
ſagte er, ſey äußerſt gerührt von meinem ge¬
leiſteten Beyſtand, habe ihn umarmt, ſich
für meinen ewigen Schuldner erklärt, be¬
zeigt, er verlange kein Glück, wenn er es
nicht mit mir theilen ſollte, er habe ſich die
Erlaubniß ausgebeten, ihn als Vater anſehn
zu dürfen. Mama ſagte mir das alles treu¬
lich wieder, hängte aber die wohlmeynende
[238] Erinnerung daran, auf ſo etwas, das in der
erſten Bewegung geſagt worden, dürfe man
ſo ſehr nicht achten. Ja freylich, antworte¬
te ich mit angenommener Kälte, und fühlte
der Himmel weiß was und wieviel dabey.


Narciß blieb zwey Monate krank, konn¬
te wegen der Wunde an der rechten Hand
nicht einmal ſchreiben, bezeigte mir aber in¬
zwiſchen ſein Andenken durch die verbindlich¬
ſte Aufmerkſamkeit. Alle dieſe mehr als ge¬
wöhnliche Höflichkeiten hielt ich mit dem,
was ich von der Mutter erfahren hatte, zu¬
ſammen, und beſtändig war mein Kopf vol¬
ler Grillen. Die ganze Stadt unterhielt
ſich von der Begebenheit. Man ſprach mit
mir davon in einem beſondern Tone, man
zog Folgerungen daraus, die, ſo ſehr ich ſie
abzulehnen ſuchte, mir immer ſehr nahe gin¬
gen. Was vorher Tändeley und Gewohn¬
heit geweſen war, ward nun Ernſt und Nei¬
[239] gung. Die Unruhe in der ich lebte, war
um ſo heftiger, je ſorgfältiger ich ſie vor al¬
len Menſchen zu verbergen ſuchte. Der Ge¬
danke ihn zu verlieren, erſchreckte mich und
die Möglichkeit einer nähern Verbindung
machte mich zittern. Der Gedanke des Ehe¬
ſtandes hat für ein halbkluges Mädchen ge¬
wiß etwas Schreckhaftes.


Durch dieſe heftigen Erſchütterungen ward
ich wieder an mich ſelbſt erinnert. Die bun¬
ten Bilder eines zerſtreuten Lebens, die mir
ſonſt Tag und Nacht vor den Augen ſchweb¬
ten, waren auf einmal weggeblaſen. Meine
Seele fing wieder an ſich zu regen; allein
die ſehr unterbrochene Bekanntſchaft mit dem
unſichtbaren Freunde war ſo leicht nicht wie¬
der hergeſtellt. Wir blieben noch immer in
ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas,
aber gegen ſonſt ein großer Unterſchied.


Ein Zweykampf, worin der Hauptmann
[240] ſtark verwundet wurde, war vorüber, ohne
daß ich etwas davon erfahren hatte, und
die öffentliche Meynung war in jedem Sin¬
ne auf der Seite meines Geliebten, der end¬
lich wieder auf dem Schauplatze erſchien.
Vor allen Dingen ließ er ſich mit verbund¬
nem Haupt und eingewickelter Hand in un¬
ſer Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz
bey dieſem Beſuche! Die ganze Familie
war gegenwärtig; es blieb auf beyden Sei¬
ten nur bey allgemeinen Dankſagungen und
Höflichkeiten, doch fand er Gelegenheit mir
einige geheime Zeichen ſeiner Zärtlichkeit zu
geben, wodurch meine Unruhe nur zu ſehr
vermehrt ward. Nachdem er ſich völlig wie¬
der erhohlt, beſuchte er uns den ganzen Win¬
ter auf eben dem Fuß wie ehemals, und bey
allen leiſen Zeichen von Empfindung und
Liebe, die er mir gab, blieb alles unerörtert.

Auf dieſe Weiſe ward ich in ſteter Übung
gehal¬[241] gehalten. Ich konnte mich keinem Menſchen
vertrauen und von Gott war ich zu weit
entfernt. Ich hatte dieſen während vier wil¬
der Jahre ganz vergeſſen, nun dachte ich
dann und wann wieder an ihn, aber die
Bekanntſchaft war erkaltet; es waren nur
Cerimonienviſiten, die ich ihm machte, und
da ich überdies, wenn ich vor ihm erſchien,
immer ſchöne Kleider anlegte, meine Tugend,
Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern
zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit
vorwies; ſo ſchien er mich in dem Schmucke
gar nicht zu bemerken.


Ein Höfling würde, wenn ſein Fürſt, von
dem er ſein Glück erwartet, ſich ſo gegen ihn
betrüge, ſehr beunruhigt werden; mir aber
war nicht übel dabey zu Muthe, ich hatte
was ich brauchte, Geſundheit und Bequem¬
lichkeit, wollte ſich Gott mein Andenken ge¬
fallen laſſen, ſo war es gut, wo nicht, ſo
W. Meiſters Lehrj. 3. Q[242] glaubte ich doch meine Schuldigkeit gethan
zu haben.


So dachte ich freylich damals nicht von
mir; aber es war doch die wahrhafte Geſtalt
meiner Seele. Meine Geſinnungen zu än¬
dern und zu reinigen waren aber auch
ſchon Anſtalten gemacht.


Der Frühling kam heran, und Narciß be¬
ſuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da
ich ganz allein zu Hauſe war. Nun erſchien
er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm
mein Herz, und wenn er eine ehrenvolle,
wohlbeſoldete Stelle erhielte, auch dereinſt
meine Hand ſchenken wollte?


Man hatte ihn zwar in unſre Dienſte
genommen; allein zum Anfange hielt man
ihn, weil man ſich vor ſeinem Ehrgeiz fürch¬
tete, mehr zurück, als daß man ihn ſchnell em¬
por gehoben hätte und ließ ihn, weil er eignes
Vermögen hatte, bey einer kleinen Beſoldung.


[243]

Bey aller meiner Neigung zu ihm wußte
ich, daß er der Mann nicht war, mit dem
man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm
mich daher zuſammen und verwies ihn an
meinen Vater, an deſſen Einwilligung er
nicht zu zweifeln ſchien, und mit mir erſt auf
der Stelle einig ſeyn wollte. Endlich ſagte
ich Ja, indem ich die Beyſtimmung meiner
Eltern zur nothwendigen Bedingung machte.
Er ſprach alsdann mit beyden förmlich; ſie
zeigten ihre Zufriedenheit, man gab ſich das
Wort auf den bald zu hoffenden Fall, daß
man ihn weiter avanciren werde. Schwe¬
ſtern und Tanten wurden davon benachrich¬
tigt, und ihnen das Geheimnis auf das
ſtrengſte anbefohlen.


Nun war aus einem Liebhaber ein Bräu¬
tigam geworden. Die Verſchiedenheit zwi¬
ſchen beyden zeigte ſich ſehr groß. Könnte
jemand die Liebhaber aller wohldenkenden
Q 2[244] Mädchen in Bräutigame verwandeln, ſo
wäre es eine große Wohlthat für unſer Ge¬
ſchlecht, ſelbſt wenn auf dieſes Verhältniß
keine Ehe erfolgen ſollte. Die Liebe zwiſchen
beyden Perſonen nimmt dadurch nicht ab,
aber ſie wird vernünftiger. Unzählige kleine
Thorheiten, alle Koketterien und Launen fal¬
len gleich hinweg. Äußert uns der Bräuti¬
gam, daß wir ihm in einer Morgenhaube
beſſer als in dem ſchönſten Aufſatze gefallen,
dann wird einem wohldenkenden Mädchen
gewiß die Friſur gleichgültig, und es iſt
nichts natürlicher, als daß er auch ſolid denkt
und lieber ſich eine Hausfrau als der Welt
eine Putzdocke zu bilden wünſcht. Und ſo
geht es durch alle Fächer durch.


Hat ein ſolches Mädchen dabey das
Glück, daß ihr Bräutigam Verſtand und
Kenntniſſe beſitzt, ſo lernt ſie mehr als hohe
Schulen und fremde Länder geben können.
[245] Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an,
die er ihr giebt, ſondern ſie ſucht ſich auch auf
dieſem Wege ſo immer weiter zu bringen. Die
Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und
endlich geht die dem weiblichen Geſchlecht ſo
nöthige und anſtändige Unterwerfung ſogleich
an; der Bräutigam herrſcht nicht wie der
Ehemann; er bittet nur, und ſeine Geliebte
ſucht ihm abzumerken, was er wünſcht, um
es noch eher zu vollbringen als er bittet.


So hat mich die Erfahrung gelehrt, was
ich nicht um vieles miſſen möchte. Ich war
glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in
der Welt ſeyn kann, daß heißt, auf kurze
Zeit.


Ein Sommer ging unter dieſen ſtillen
Freuden hin. Narciß gab mir nicht die min¬
deſte Gelegenheit zu Beſchwerden; er ward
mir immer lieber, meine ganze Seele hing
an ihm, das wußte er wohl und wußte es
[246] zu ſchätzen. Inzwiſchen entſpann ſich aus
anſcheinenden Kleinigkeiten etwas, das un¬
ſerm Verhältniſſe nach und nach ſchädlich
wurde


Narciß ging als Bräutigam mit mir um,
und nie wagte er es, das von mir zu begeh¬
ren, was uns noch verboten war. Allein
über die Grenzen der Tugend und Sittſam¬
keit waren wir ſehr verſchiedener Meynung.
Ich wollte ſicher gehen und erlaubte durch¬
aus keine Freyheit, als welche allenfalls die
ganze Welt hätte wiſſen dürfen. Er, an
Näſchereyen gewöhnt, fand dieſe Diät ſehr
ſtreng; hier ſetzte es nun beſtändigen Wider¬
ſpruch; er lobte mein Verhalten und ſuchte
meinen Entſchluß zu untergraben.


Mir fiel das ernſthaft meines alten
Sprachmeiſters wieder ein, und zugleich das
Hülfsmittel, das ich damals dagegen ange¬
geben hatte.


[247]

Mit Gott war ich wieder ein wenig be¬
kannter geworden. Er hatte mir ſo einen
lieben Bräutigam gegeben und dafür wußte
ich ihm Dank. Die irdiſche Liebe ſelbſt con¬
centrirte meinen Geiſt und ſetzte ihn in Be¬
wegung, und meine Beſchäftigung mit Gott
widerſprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte
ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte
nicht, daß ich ſelbſt das, was mich bange mach¬
te, wünſchte und begehrte. Ich kam mir ſehr
ſtark vor und betete nicht etwa: bewahre
mich vor Verſuchung, über die Verſuchung
war ich meinen Gedanken nach weit hinaus.
In dieſem loſen Flitterſchmuck eigner Tugend
erſchien ich dreiſt vor Gott; er ſtieß mich
nicht weg, auf die geringſte Bewegung zu
ihm hinterließ er einen ſanften Eindruck in
meiner Seele, und dieſer Eindruck bewegte
mich ihn immer wieder aufzuſuchen.


Die ganze Welt war mir auſſer Narciſ¬
[248] ſen todt, nichts hatte außer ihm einen Reiz
für mich. Selbſt meine Liebe zum Putz hatte
nur den Zweck, ihm zu gefallen; wußte ich,
daß er mich nicht ſah, ſo konnte ich keine
Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern,
wenn er aber nicht dabey war, ſo ſchien mir,
als wenn ich die Bewegung nicht vertragen
könnte. Auf ein brillantes Feſt, bey dem er
nicht zugegen war, konnte ich mir weder etwas
neues anſchaffen, noch das alte der Mode
gemäß aufſtutzen. Einer war mir ſo lieb
als der andere, doch möchte ich lieber ſagen,
einer ſo läſtig als der andere. Ich glaubte
meinen Abend recht gut zugebracht zu haben,
wenn ich mir mit ältern Perſonen ein Spiel
ausmachen konnte, wozu ich ſonſt nicht die
mindeſte Luſt hatte, und wenn ein alter gu¬
ter Freund mich etwa ſcherzhaft darüber
aufzog, lächelte ich vielleicht das erſtemal
den ganzen Abend. So ging es mit Pro¬
[249] menaden und allen geſellſchaftlichen Vergnü¬
gungen, die ſich nur denken laſſen:


Ich hatt’ ihn einzig mir erkohren;

Ich ſchien mir nur für ihn gebohren,

Begehrte nichts als ſeine Gunſt.

So war ich oft in der Geſellſchaft ein¬
ſam, und die völlige Einſamkeit war mir
meiſtens lieber. Allein mein geſchäftiger Geiſt
konnte weder ſchlafen noch träumen; ich
fühlte und dachte und erlangte nach und
nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindun¬
gen und Gedanken mit Gott zu reden. Da
entwickelten ſich Empfindungen anderer Art
in meiner Seele, die jenen nicht widerſpra¬
chen. Denn meine Liebe zu Narciß war dem
ganzen Schöpfungsplane gemäß und ſtieß
nirgend gegen meine Pflichten an. Sie wi¬
derſprachen ſich nicht und waren doch unend¬
lich verſchieden. Narciß war das einzige
[250] Bild, das mir vorſchwebte, auf das ſich meine
ganze Liebe bezog; aber das andere Gefühl
bezog ſich auf kein Bild und war unaus¬
ſprechlich angenehm. Ich habe es nicht
mehr und kann es mir nicht mehr geben.


Mein Geliebter, der ſonſt alle meine Ge¬
heimniſſe wußte, erfuhr nichts hiervon. Ich
merkte bald daß er anders dachte; er gab
mir öfters Schriften, die alles, was man Zu¬
ſammenhang mit dem Unſichtbaren heißen
kann, mit leichten und ſchweren Waffen be¬
ſtritten. Ich las die Bücher, weil ſie von
ihm kamen, und wußte am Ende kein Wort
von allem dem, was darin geſtanden hatte.


Über Wiſſenſchaften und Kenntniſſe ging
es auch nicht ohne Widerſpruch ab; er machte
es wie alle Männer, ſpottete über gelehrte
Frauen und bildete unaufhörlich an mir.
Über alle Gegenſtände, die Rechtsgelehrſam¬
keit ausgenommen, pflegte er mit mir zu
[251] ſprechen, und indem er mir Schriften aller¬
ley Art beſtändig zubrachte, wiederholte er
oft die bedenkliche Lehre: daß ein Frauen¬
zimmer ſein Wiſſen heimlicher halten müßte,
als der Calviniſt ſeinen Glauben im katho¬
liſchen Lande, und indem ich wirklich auf
eine ganz natürliche Weiſe vor der Welt
mich nicht klüger und unterrichteter als ſonſt
zu zeigen pflegte, war er der erſte, der gele¬
gentlich der Eitelkeit nicht widerſtehen konnte,
von meinen Vorzügen zu ſprechen.


Ein berühmter und damals wegen ſeines
Einfluſſes, ſeiner Talente und ſeines Geiſtes
ſehr geſchätzter Weltmann, fand an unſerm
Hofe großen Beyfall. Er zeichnete Narciſ¬
ſen beſonders aus und hatte ihn beſtändig
um ſich. Sie ſtritten auch über die Tugend
der Frauen. Narciß vertraute mir weitläuf¬
tig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen
Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund
[252] verlangte von mir einen ſchriftlichen Aufſatz.
Ich ſchrieb ziemlich geläufig franzöſiſch; ich
hatte bey meinem Alten einen guten Grund
gelegt. Die Correſpondenz mit meinem
Freunde war in dieſer Sprache geführt, und
eine feinere Bildung konnte man überhaupt
damals nur aus franzöſiſchen Büchern neh¬
men. Mein Aufſatz hatte dem Grafen ge¬
fallen; ich mußte einige kleine Lieder herge¬
ben, die ich vor kurzen gedichtet hatte. Ge¬
nug, Narciß ſchien ſich auf ſeine Geliebte
ohne Rückhalt etwas zu gute zu thun, und
die Geſchichte endigte zu ſeiner großen Zu¬
friedenheit mit einer geiſtreichen Epiſtel in
franzöſiſchen Verſen, die ihm der Graf bey
ſeiner Abreiſe zuſandte, worin ihres freund¬
ſchaftlichen Streites gedacht war, und mein
Freund am Ende glücklich geprieſen wurde,
daß er nach ſo manchen Zweifeln und Irr¬
thümern in den Armen einer reizenden und
[253] tugendhaften Gattin, was Tugend ſey, am
ſicherſten erfahren würde.


Dieſes Gedicht ward mir vor allen und
dann aber auch faſt jederman gezeigt, und
jeder dachte dabey was er wollte. So ging
es in mehreren Fällen und ſo mußten alle
Fremden, die er ſchätzte, in unſerm Hauſe be¬
kannt werden.


Eine gräfliche Familie hielt ſich wegen
unſres geſchickten Arztes eine Zeitlang hier
auf. Auch in dieſem Hauſe war Narciß
wie ein Sohn gehalten; er führte mich da¬
ſelbſt ein, man fand bey dieſen würdigen
Perſonen eine angenehme Unterhaltung für
Geiſt und Herz, und ſelbſt die gewöhnlichen
Zeitvertreibe der Geſellſchaft ſchienen in die¬
ſem Hauſe nicht ſo leer wie anderwärts.
Jedermann wußte wie wir zuſammen ſtan¬
den, man behandelte uns, wie es die Um¬
ſtände mit ſich brachten, und ließ das Haupt¬
[254] verhältniß unberührt. Ich erwähne dieſer
einen Bekanntſchaft, weil ſie in der Folge
meines Lebens manchen Einfluß auf mich
hatte.


Nun war faſt ein Jahr unſerer Verbin¬
dung verſtrichen, und mit ihm war auch
unſer Frühling dahin. Der Sommer kam,
und alles wurde ernſthafter und heißer.


Durch einige unerwartete Todesfälle wa¬
ren Ämter erledigt, auf die Narciß Anſpruch
machen konnte. Der Augenblick war nahe,
in dem ſich mein ganzes Schickſal entſchei¬
den ſollte, und indeß Narciß und alle Freun¬
de ſich bey Hofe die möglichſte Mühe ga¬
ben, gewiſſe Eindrücke, die ihm ungünſtig
waren, zu vertilgen, und ihm den erwünſch¬
ten Platz zu verſchaffen, wendete ich mich
mit meinem Anliegen zu dem unſichtbaren
Freunde. Ich war ſo freundlich aufgenom¬
men, daß ich gern wiederkam. Ganz frey
[255] geſtand ich meinen Wunſch, Narciß möchte
zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte
war nicht ungeſtüm, und ich forderte nicht,
daß es um meines Gebets willen geſchehen
ſollte.


Die Stelle ward durch einen viel gerin¬
geren Concurrenten beſetzt. Ich erſchrak hef¬
tig über die Zeitung, und eilte in mein
Zimmer, das ich feſt hinter mir zumachte.
Der erſte Schmerz löſte ſich in Thränen auf,
der nächſte Gedanke war: es iſt aber doch
nicht von ohngefähr geſchehen, und ſogleich
folgte die Entſchließung, es mir recht wohl
gefallen zu laſſen, weil auch dieſes anſchei¬
nende Übel zu meinem wahren Beſten gerei¬
chen würde. Nun drangen die ſanfteſten
Empfindungen, die alle Wolken des Kum¬
mers zertheilten, herbey; ich fühlte, daß ſich
mit dieſer Hülfe alles ausſtehn ließ. Ich
ging heiter zu Tiſche zum größten Erſtaunen
meiner Hausgenoſſen.


[256]

Narciß hatte weniger Kraft als ich, und
ich mußte ihn tröſten. Auch in ſeiner Fa¬
milie begegneten ihm Widerwärtigkeiten, die
ihn ſehr drückten, und bey dem wahren
Vertrauen, das unter uns Statt hatte, ver¬
traute er mir alles. Seine Negotiationen
in fremde Dienſte zu gehen, waren auch nicht
glücklicher, alles fühlte ich tief um ſeinet-
und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt
an den Ort, wo mein Anliegen ſo wohl auf¬
genommen wurde.


Je ſanfter dieſe Erfahrungen waren, deſto
öfter ſuchte ich ſie zu erneuern, und ich ſuch¬
te immer da den Troſt, wo ich ihn ſo oft
gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht
immer, es war mir wie einem, der ſich an
der Sonne wärmen will, und dem etwas im
Wege ſteht, das Schatten macht. Was iſt
das? fragte ich mich ſelbſt. Ich ſpürte der
Sache eifrig nach, und bemerkte deutlich,
daß[257] daß alles von der Beſchaffenheit meiner
Seele abhing; wenn die nicht ganz in der
geradeſten Richtung zu Gott gekehrt war,
ſo blieb ich kalt; ich fühlte ſeine Rückwir¬
kung nicht, und konnte ſeine Antwort nicht
vernehmen. Nun war die zweyte Frage:
was verhindert dieſe Richtung? Hier war
ich in einem weiten Felde, und verwickelte
mich in eine Unterſuchung, die beynah das
ganze zweyte Jahr meiner Liebesgeſchichte
fortdauerte. Ich hätte ſie früher endigen
können, denn ich kam bald auf die Spur,
aber ich wollte es nicht geſtehen, und ſuchte
tauſend Ausflüchte.


Ich fand ſehr bald, daß die gerade Rich¬
tung meiner Seele durch thörichte Zerſtreuung
und Beſchäftigung mit unwürdigen Sachen
geſtöhrt werde; das Wie und Wo war mir
bald klar genug. Nun aber wie heraus¬
kommen? in einer Welt wo alles gleichgül¬
W. Meiſters Lehrj. 3. R[258] tig oder toll iſt. Gern hätte ich die Sache
an ihren Ort geſtellt ſeyn laſſen, und hätte
auf geradewohl hingelebt wie andere Leute
auch, die ich ganz wohlauf ſah; allein ich
durfte nicht, mein Innres widerſprach mir
zu oft. Wollte ich mich der Geſellſchaft ent¬
ziehen und meine Verhältniſſe verändern, ſo
konnte ich nicht. Ich war nun einmal in
einen Kreis hinein geſperrt; gewiſſe Verbin¬
dungen konnte ich nicht los werden, und in
der mir ſo angelegenen Sache drängten und
häuften ſich die Fatalitäten. Ich legte mich
oft mit Thränen zu Bette, und ſtand nach
einer ſchlafloſen Nacht auch wieder ſo auf;
ich bedurfte einer kräftigen Unterſtützung,
und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich
mit der Schellenkappe herum lief.


Nun ging es an ein Abwiegen aller und
jeder Handlungen; Tanzen und Spielen
wurden am erſten in Unterſuchung genom¬
[259] men. Nie iſt etwas vor oder gegen dieſe
Dinge geredet, gedacht, [o]der geſchrieben wor¬
den, das ich nicht aufſuchte, beſprach, las,
erwog, vermehrte, verwarf, und mich uner¬
hört herumplagte. Unterließ ich dieſe Dinge,
ſo war ich gewiß, Narciſſen zu beleidigen.
Denn er fürchtete ſich äußerſt vor dem Lä¬
cherlichen, das uns der Anſchein ängſtlicher
Gewiſſenhaftigkeit vor der Welt giebt. Weil
ich nun das, was ich für Thorheit, für
ſchädliche Thorheit hielt, nicht einmal aus
Geſchmack, ſondern blos um ſeinetwillen that,
ſo wurde mir alles entſetzlich ſchwer.


Ohne unangenehme Weitläuftigkeiten und
Wiederholungen würde ich die Bemühungen
nicht darſtellen können, welche ich anwende¬
te, um jene Handlungen, die mich nun ein¬
mal zerſtreuten und meinen innern Frieden
ſtöhrten, ſo zu verrichten, daß dabey mein
Herz für die Einwirkungen des unſichtbaren
R 2[260] Weſens offen bliebe, und wie ſchmerzlich ich
empfinden mußte, daß der Streit auf dieſe
Weiſe nicht beygelegt werden könne. Denn
ſobald ich mich in das Gewand der Thor¬
heit kleidete, blieb es nicht bloß bey der
Maske, ſondern die Narrheit durchdrang
mich ſogleich durch und durch.


Darf ich hier das Geſetz einer blos hi¬
ſtoriſchen Darſtellung überſchreiten, und eini¬
ge Betrachtungen über dasjenige machen,
was in mir vorging? Was konnte das ſeyn,
das meinen Geſchmack und meine Sinnes¬
art ſo änderte, daß ich im zwey und zwan¬
zigſten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an
Dingen fand, die Leute von dieſem Alter
unſchuldig beluſtigen können? Warum wa¬
ren ſie mir nicht unſchuldig? Ich darf wohl
antworten: eben weil ſie mir nicht unſchul¬
dig waren, weil ich nicht wie andre meines
gleichen unbekannt mit meiner Seele war.


[261]

Nein, ich wußte aus Erfahrungen, die ich
ungeſucht erlangt hatte, daß es höhere Em¬
pfindungen gebe, die uns ein Vergnügen
wahrhaftig gewährten, das man vergebens
bey Luſtbarkeiten ſucht, und daß in dieſen
höhern Freuden zugleich ein geheimer Schatz
zur Stärkung im Unglück aufbewahrt ſey.


Aber die geſelligen Vergnügungen und
Zerſtreuungen der Jugend mußten doch noth¬
wendig einen ſtarken Reiz für mich haben,
weil es mir nicht möglich war, ſie zu thun,
als thäte ich ſie nicht. Wie manches könnte
ich jetzt mit großer Kälte thun, wenn ich
nur wollte, was mich damals irre machte,
ja Meiſter über mich zu werden drohete.
Hier konnte kein Mittelweg gehalten wer¬
den, ich mußte entweder die reizenden Ver¬
gnügungen oder die erquickenden innerlichen
Empfindungen entbehren.


Aber ſchon war der Streit in meiner
[262] Seele ohne mein eigentliches Bewußtſeyn
entſchieden. Wenn auch etwas in mir war,
das ſich nach den ſinnlichen Freuden hin¬
ſehnte, ſo konnte ich ſie doch nicht mehr ge¬
nießen. Wer den Wein noch ſo ſehr liebt,
dem wird alle Luſt zum Trinken vergehen,
wenn er ſich bey vollen Fäſſern in einem
Keller befände, in welchem die verdorbene
Luft ihn zu erſticken drohete. Reine Luft iſt
mehr als Wein, das fühlte ich nur zu leb¬
haft, und es hätte gleich von Anfang an
wenig Überlegung bey mir gekoſtet, das
Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich
die Furcht, Narciſſens Gunſt zu verlieren,
nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich
nach tauſendfältigem Streit, nach immer
wiederholter Betrachtung, auch ſcharfe Blicke
auf das Band warf, das mich an ihn feſt
hielt, entdeckte ich, daß es nur ſchwach war,
daß es ſich zerreiſſen laſſe. Ich erkannte
[265[263]] auf einmal, daß es nur eine Glasglocke ſey,
die mich in den luftleeren Raum ſperrte;
nur noch ſo viel Kraft ſie entzwey zu ſchla¬
gen, und du biſt gerettet.


Gedacht gewagt. Ich zog die Maske
ab und handelte jedesmal wie mirs ums
Herz war. Narciſſen hatte ich immer zärt¬
lich lieb; aber das Thermometer, das vorher
im heißen Waſſer geſtanden, hing nun an
der natürlichen Luft; es konnte nicht höher
ſteigen, als die Atmoſphäre warm war.


Unglücklicherweiſe erkältete ſie ſich ſehr.
Narciß fing an ſich zurück zu ziehen und
fremd zu thun, das ſtand ihm frey; aber
mein Thermometer fiel, ſo wie er ſich zurück
zog. Meine Familie bemerkte es, man be¬
fragte mich, man wollte ſich verwundern.
Ich erklärte mit männlichem Trotz, daß ich
mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich
bereit ſey, noch ferner und bis ans Ende
[266[264]] meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit
ihm zu theilen, daß ich aber für meine Hand¬
lungen völlige Freyheit verlange, daß mein
Thun und Laſſen von meiner Überzeugung
abhängen müſſe; daß ich zwar niemals ei¬
genſinnig auf meiner Meynung beharren,
vielmehr jede Gründe gerne anhören wollte,
aber da es mein eigenes Glück betreffe, müſ¬
ſe die Entſcheidung von mir abhängen, und
keine Art von Zwang würde ich dulden.
So wenig das Raiſonnement des größten
Arztes mich bewegen würde, eine ſonſt viel¬
leicht ganz geſunde und von vielen ſehr ge¬
liebte Speiſe zu mir zu nehmen, ſo bald mir
meine Erfahrung bewieſe, daß ſie mir jeder¬
zeit ſchädlich ſey, wie ich den Gebrauch des
Kaffees zum Beyſpiel anführen könnte, ſo
wenig und noch viel weniger würde ich mir
irgend eine Handlung, die mich verwirrte,
als für mich moraliſch zuträglich aufdemon¬
ſtriren laſſen.


[267[265]]

Da ich mich ſo lange im Stillen vorbe¬
reitet hatte, ſo waren mir die Debatten hier¬
über eher angenehm als verdrießlich. Ich
machte meinem Herzen Luft, und fühlte den
ganzen Werth meines Entſchluſſes. Ich wich
nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kind¬
lichen Reſpect ſchuldig war, der wurde derb
abgefertigt. In meinem Hauſe ſiegte ich
bald. Meine Mutter hatte von Jugend
auf ähnliche Geſinnungen, nur waren ſie bey
ihr nicht zur Reife gediehen; keine Noth
hatte ſie gedrängt, und den Muth ihre Über¬
zeugung durchzuſetzen erhöht. Sie freute
ſich durch mich ihre ſtillen Wünſche erfüllt
zu ſehen. Die jüngere Schweſter ſchien ſich
an mich anzuſchließen; die zweyte war auf¬
merkſam und ſtill. Die Tante hatte am
meiſten einzuwenden. Die Gründe, die ſie
vorbrachte, ſchienen ihr unwiderleglich, und
waren es auch, weil ſie ganz gemein waren.
[268[266]] Ich war endlich genöthigt, ihr zu zeigen, daß
ſie in keinem Sinne eine Stimme in dieſer
Sache habe, und ſie ließ nur ſelten merken,
daß ſie auf ihrem Sinne verharre. Auch
war ſie die einzige, die dieſe Begebenheit
von nahen anſah und ganz ohne Empfin¬
dung blieb. Ich thue ihr nicht zu viel,
wenn ich ſage, daß ſie kein Gemüth und die
eingeſchränkteſten Begriffe hatte.


Der Vater benahm ſich ganz ſeiner Denk¬
art gemäß. Er ſprach wenig, aber öfter mit
mir über die Sache, und ſeine Gründe wa¬
ren verſtändig, und als ſeine Gründe un¬
widerleglich; nur das tiefe Gefühl meines
Rechts gab mir Stärke, gegen ihn zu diſpu¬
tiren. Aber bald veränderten ſich dieſe Sce¬
nen; ich mußte an ſein Herz Anſpruch ma¬
chen. Gedrängt von ſeinem Verſtande brach
ich in die affektvollſten Vorſtellungen aus.
Ich ließ meiner Zunge und meinen Thränen
[269[267]] freyen Lauf. Ich zeigte ihm, wie ſehr ich
Narciſſen liebte, und welchen Zwang ich mir
ſeit zwey Jahren angethan hatte, wie ge¬
wiß ich ſey, daß ich recht handle, daß ich
bereit ſey dieſe Gewißheit mit dem Verluſt
des geliebten Bräutigams und anſcheinenden
Glücks, ja wenn es nöthig wäre, mit Haab
und Gut zu verſiegeln; daß ich lieber mein
Vaterland, Eltern und Freunde verlaſſen,
und mein Brod in der Fremde verdienen,
als gegen meine Einſichten handeln wollte.
Er verbarg ſeine Rührung, ſchwieg einige
Zeit ſtille und erklärte ſich endlich öffentlich
für mich.


Narciß vermied ſeit jener Zeit unſer Haus,
und nun gab mein Vater die wöchentliche
Geſellſchaft auf, in der ſich dieſer befand.
Die Sache machte Aufſehn bey Hofe und in
der Stadt. Man ſprach darüber wie ge¬
wöhnlich in ſolchen Fällen, an denen das
[270[268]] Publikum heftigen Theil zu nehmen pflegt,
weil es verwöhnt iſt, auf die Entſchließun¬
gen ſchwacher Gemüther einigen Einfluß zu
haben. Ich kannte die Welt genug, und
wußte, daß man oft von eben den Perſonen
über das getadelt wird, wozu man ſich durch
ſie hat bereden laſſen, und auch ohne das
würden mir bey meiner innern Verfaſſung
alle ſolche vorübergehende Meynungen we¬
niger als nichts geweſen ſeyn.


Dagegen verſagte ich mir nicht, meiner
Neigung zu Narciſſen nachzuhängen. Er
war mir unſichtbar geworden, und mein
Herz hatte ſich nicht gegen ihn geändert.
Ich liebte ihn zärtlich, gleichſam auf das
neue und viel geſetzter als vorher. Wollte
er meine Überzeugung nicht ſtöhren, ſo war
ich die Seine, ohne dieſe Bedingung hätte
ich ein Königreich mit ihm ausgeſchlagen.
Mehrere Monate lang trug ich dieſe Em¬
[269] pfindungen und Gedanken mit mir herum,
und da ich mich endlich ſtill und ſtark ge¬
nug fühlte, um ruhig und geſetzt zu Werke
zu gehen, ſo ſchrieb ich ihm ein höfliches,
nicht zärtliches, Billet, und fragte ihn, war¬
um er nicht mehr zu mir komme?


Da ich ſeine Art kannte, ſich ſelbſt in
geringern Dingen nicht gern zu erklären,
ſondern ſtillſchweigend zu thun, was ihm gut
däuchte; ſo drang ich gegenwärtig mit Vor¬
ſatz in ihn. Ich erhielt eine lange und wie
mir ſchien abgeſchmackte Antwort, in einem
weitläuftigen Styl und unbedeutenden Phra¬
ſen: daß er ohne beſſere Stellen ſich nicht
einrichten, und mir ſeine Hand anbieten kön¬
ne, daß ich am beſten wiſſe, wie hinderlich
es ihm bisher gegangen, daß er glaube, ein
ſo lang fortgeſetzter fruchtloſer Umgang kön¬
ne meiner Renommée ſchaden, ich würde ihm
erlauben, ſich in der bisherigen Entfernung
[270] zu halten; ſo bald er im Stande wäre, mich
glücklich zu machen, würde ihm das Wort,
das er mir gegeben, heilig ſeyn.


Ich antwortete ihm auf der Stelle: da
die Sache aller Welt bekannt ſey, möge es
zu ſpät ſeyn, meine Renommée zu menagiren,
und für dieſe wären mir mein Gewiſſen und
meine Unſchuld die ſicherſten Bürgen; Ihm
aber gäbe ich hiermit ſein Wort ohne Be¬
denken zurück, und wünſchte, daß er dabey
ſein Glück finden möchte. In eben der
Stunde erhielt ich eine kurze Antwort, die
im Weſentlichen mit der erſten völlig gleich¬
lautend war. Er blieb dabey, daß er nach
erhaltener Stelle bey mir anfragen würde,
ob ich ſein Glück mit ihm theilen wollte.


Mir hieß das nun ſo viel als nichts ge¬
ſagt. Ich erklärte meinen Verwandten und
Bekannten, die Sache ſey abgethan und ſie
war es auch wirklich. Denn als er neun
[271] Monate hernach auf das erwünſchteſte beför¬
dert wurde, ließ er mir ſeine Hand nochmals
antragen, freylich mit der Bedingung, daß
ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus
machen müßte, meine Geſinnungen würde zu
ändern haben. Ich dankte höflich, und eilte
mit Herz und Sinn von dieſer Geſchichte
weg, wie man ſich aus dem Schauſpielhauſe
heraus ſehnt, wenn der Vorhang gefallen
iſt. Und da er kurze Zeit darauf, wie es
ihm nun ſehr leicht war, eine reiche und an¬
ſehnliche Partie gefunden hatte, und ich ihn
nach ſeiner Art glücklich wußte, ſo war meine
Beruhigung ganz vollkommen.


Ich darf nicht mit Stillſchweigen überge¬
hen, daß einigemal, noch eh er eine Bedie¬
nung erhielt, auch nachher anſehnliche Hei¬
rathsanträge an mich gethan wurden, die ich
aber ganz ohne Bedenken ausſchlug, ſo ſehr
Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von
meiner Seite gewünſcht hätten.


[272]

Nun ſchien mir nach einem ſtürmiſchen
März und April das ſchönſte Maywetter
beſchert zu ſeyn. Ich genoß bey einer guten
Geſundheit eine unbeſchreibliche Gemüths¬
ruhe; ich mochte mich umſehen, wie ich wollte,
ſo hatte ich bey meinem Verluſte noch ge¬
wonnen. Jung und voll Empfindung wie
ich war, däuchte mir die Schöpfung tauſend¬
mal ſchöner als vorher, da ich Geſellſchaften
und Spiele haben mußte, damit mir die
Weile in dem ſchönen Garten nicht zu lang
wurde. Da ich mich einmal meiner Fröm¬
migkeit nicht ſchämte, ſo hatte ich Herz meine
Liebe zu Künſten und Wiſſenſchaften nicht
zu verbergen. Ich zeichnete, mahlte, las
und fand Menſchen genug, die mich unter¬
ſtützten; ſtatt der großen Welt, die ich ver¬
laſſen hatte, oder vielmehr, die mich verließ,
bildete ſich eine kleinere um mich her, die
weit reicher und unterhaltender war. Ich
hatte[273] hatte eine Neigung zum geſellſchaftlichen Le¬
ben, und ich läugne nicht, daß mir, als ich
meine ältern Bekanntſchaften aufgab, vor
der Einſamkeit grauete. Nun fand ich mich
hinlänglich, ja vielleicht zu ſehr entſchädigt.
Meine Bekanntſchaften wurden erſt recht
weitläuftig, nicht nur mit Einheimiſchen, de¬
ren Geſinnungen mit den meinigen überein¬
ſtimmten, ſondern auch mit Fremden. Meine
Geſchichte war ruchtbar geworden, und es
waren viele Menſchen neugierig, das Mäd¬
chen zu ſehen, die Gott mehr ſchätzte als ih¬
ren Bräutigam. Es war damals überhaupt
eine gewiſſe religiöſe Stimmung in Deutſch¬
land bemerkbar. In mehreren fürſtlichen und
gräflichen Häuſern war eine Sorge für das
Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an
Edelleuten die gleiche Aufmerkſamkeit heg¬
ten, und in den geringern Ständen war
durchaus dieſe Geſinnung verbreitet.


W. Meiſters Lehrj. 3. S[274]

Die gräfliche Familie, deren ich oben er¬
wähnt, zog mich nun näher an ſich. Sie
hatte ſich indeſſen verſtärkt, indem ſich einige
Verwandte in die Stadt gewendet hatten.
Dieſe ſchätzbaren Perſonen ſuchten meinen
Umgang, wie ich den ihrigen. Sie hatten
große Verwandtſchaft, und ich lernte in die¬
ſem Hauſe einen großen Theil der Fürſten,
Grafen und Herrn des Reichs kennen. Meine
Geſinnungen waren niemanden ein Geheim¬
niß, und man mochte ſie ehren oder auch nur
ſchonen, ſo erlangte ich doch meinen Zweck
und blieb ohne Anfechtung.


Noch auf eine andere Weiſe ſollte ich
wieder in die Welt geführt werden. Zu eben
der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines
Vaters, der uns ſonſt nur im Vorbeygehn
beſucht hatte, länger bey uns. Er hatte die
Dienſte ſeines Hofes, wo er geehrt und von
Einfluß war, nur deswegen verlaſſen, weil
[275] nicht alles nach ſeinem Sinne ging. Sein
Verſtand war richtig und ſein Charakter
ſtreng, und er war darin meinem Vater ſehr
ähnlich; nur hatte dieſer dabey einen gewiſ¬
ſen Grad von Weichheit, wodurch ihm leich¬
ter ward in Geſchäften nachzugeben und et¬
was gegen ſeine Überzeugung nicht zu thun,
aber geſchehen zu laſſen, und den Unwillen
darüber alsdann entweder in der Stille für
ſich oder vertraulich mit ſeiner Familie zu
verkochen. Mein Oheim war um vieles jün¬
ger, und ſeine Selbſtſtändigkeit ward durch
ſeine äußern Umſtände nicht wenig beſtätigt.
Er hatte eine ſehr reiche Mutter gehabt,
und hatte von ihren nahen und fernen Ver¬
wandten noch ein großes Vermögen zu hof¬
fen; er bedurfte keines fremden Zuſchuſſes,
anſtatt daß mein Vater bey ſeinem mäßigen
Vermögen durch Beſoldung an den Dienſt
feſt geknüpft war.


S 2[276]

Noch unbiegſamer war mein Oheim durch
häusliches Unglück geworden. Er hatte
eine liebenswürdige Frau und einen hoff¬
nungsvollen Sohn früh verloren, und
er ſchien von der Zeit an alles von ſich
entfernen zu wollen, was nicht von ſeinem
Willen abhing.


In der Familie ſagte man ſich gelegent¬
lich mit einiger Selbſtgefälligkeit in die Oh¬
ren, daß er wahrſcheinlich nicht wieder heira¬
then werde, und daß wir Kinder uns ſchon
als Erben ſeines großen Vermögens anſehen
könnten. Ich achtete nicht weiter darauf;
allein das Betragen der übrigen ward nach
dieſen Hoffnungen nicht wenig geſtimmt Bey
der Feſtigkeit ſeines Charakters hatte er ſich
gewöhnt, in der Unterredung niemand zu wi¬
derſprechen, vielmehr die Meynung eines je¬
den freundlich anzuhören, und die Art wie
ſich jeder eine Sache dachte noch ſelbſt durch
[277] Argumente und Beyſpiele zu erheben. Wer
[ihn] nicht kannte glaubte ſtets mit ihm einer¬
ley Meynung zu ſeyn, denn er hatte einen
überwiegenden Verſtand und konnte ſich in
alle Vorſtellungsarten verſetzen. Mit mir
ging es ihm nicht ſo glücklich, denn hier
war von Empfindungen die Rede, von
denen er gar keine Ahndung hatte, und
ſo ſchonend, theilnehmend und verſtändig
er mit mir über meine Geſinnungen ſprach,
ſo war es mir doch auffallend, daß er
von dem, worin der Grund aller meiner
Handlungen lag, offenbar keinen Begriff
hatte.


So geheim er übrigens war, entdeckte ſich
doch der Entzweck ſeines ungewöhnlichen
Auffenthalts bey uns nach einiger Zeit. Er
hatte, wie man endlich bemerken konnte, ſich
unter uns die jüngſte Schweſter auserſehen,
um ſie nach ſeinem Sinne zu verheirathen
[278] und glücklich zu machen; und gewiß ſie konnte
nach ihren körperlichen und geiſtigen Gaben,
beſonders wenn ſich ein anſehnliches Vermö¬
gen noch mit auf die Schaale legte, auf die
erſten Partien Anſpruch machen. Seine Ge¬
ſinnungen gegen mich gab er gleichfalls pan¬
tomimiſch zu erkennen, indem er mir den
Platz einer Stiftsdame verſchafte, wovon ich
ſehr bald auch die Einkünfte zog.


Meine Schweſter war mit ſeiner Für¬
ſorge nicht ſo zufrieden und nicht ſo dankbar
wie ich. Sie entdeckte mir eine Herzensan¬
gelegenheit, die ſie bisher ſehr weislich ver¬
borgen hatte, denn ſie fürchtete wohl, was
auch wirklich geſchah, daß ich ihr auf alle
mögliche Weiſe die Verbindung mit einem
Manne, der ihr nicht hätte gefallen ſollen,
widerrathen würde. Ich that mein möglich¬
ſtes, und es gelang mir. Die Abſichten des
Oheims waren zu ernſthaft und zu deutlich,
[279] und die Ausſicht für meine Schweſter, bey
ihrem Weltſinne, ſo reizend, als daß ſie
nicht eine Neigung, die ihr Verſtand ſelbſt
mißbilligte, aufzugeben Kraft hätte haben
ſollen.


Da ſie nun den ſanften Leitungen des
Oheims nicht mehr wie bisher auswich, ſo
war der Grund zu ſeinem Plane bald ge¬
legt. Sie ward Hofdame an einem benach¬
barten Hofe, wo er ſie einer Freundin, die
als [Oberhofmeiſterin] in großem Anſehn ſtand,
zur Aufſicht und Ausbildung übergeben konn¬
te. Ich begleitete ſie zu dem Ort ihres neuen
Aufenthaltes. Wir konnten beyde mit der
Aufnahme, die wir erfuhren, ſehr zufrieden
ſeyn, und manchmal mußte ich über die Per¬
ſon, die ich nun als Stiftsdame, als junge
und fromme Stiftsdame, in der Welt ſpielte,
heimlich lächeln.


In frühern Zeiten würde ein ſolches Ver¬
[280] hältniß mich ſehr verwirrt, ja mir vielleicht
den Kopf verrückt haben; nun aber war ich
bey allem, was mich umgab, ſehr gelaſſen.
Ich ließ mich in großer Stille ein paar
Stunden friſiren, putzte mich und dachte
nichts dabey, als daß ich in meinem Ver¬
hältniſſe dieſe Gallalivrée anzuziehen ſchuldig
ſey. In den angefüllten Sälen ſprach ich
mit allen und jeden, ohne daß mir irgend
eine Geſtalt oder ein Weſen einen ſtarken
Eindruck zurück gelaſſen hätte. Wenn ich
wieder nach Hauſe kam, waren müde Beine
meiſt alles Gefühl, was ich mit zurück brachte.
Meinem Verſtande nützten die vielen Men¬
ſchen, die ich ſah, und als Muſter aller
menſchlichen Tugenden eines guten und edlen
Betragens lernte ich einige Frauen, beſon¬
ders die Oberhofmeiſterin, kennen, unter der
meine Schweſter ſich zu bilden das Glück
hatte.


[281]

Doch fühlte ich bey meiner Rückkunft
nicht ſo glückliche körperliche Folgen von
dieſer Reiſe. Bey der größten Enthaltſam¬
keit und der genauſten Diät war ich doch
nicht wie ſonſt Herr von meiner Zeit und
meinen Kräften. Nahrung, Bewegung, Auf¬
ſtehn und Schlafengehn, Ankleiden und Aus¬
fahren hing nicht wie zu Hauſe von meinem
Willen und meinem Empfinden ab. Im
Laufe des geſelligen Kreiſes darf man nicht
ſtocken, ohne unhöflich zu ſeyn, und alles
was nöthig war, leiſtete ich gern, weil ich es
für Pflicht hielt, weil ich wußte, daß es bald
vorüber gehen würde, und weil ich mich ge¬
ſunder als jemals fühlte. Demohngeachtet
mußte dieſes fremde unruhige Leben auf mich
ſtärker als ich fühlte gewirkt haben. Denn
kaum war ich zu Hauſe angekommen und
hatte meine Eltern mit einer befriedigenden
Erzählung erfreut, ſo überfiel mich ein Blut¬
[282] ſturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war
und ſchnell vorüber ging, doch lange Zeit
eine merkliche Schwachheit hinterließ.


Hier hatte ich nun wieder eine neue Lek¬
tion aufzuſagen. Ich that es freudig; nichts
feſſelte mich an die Welt, und ich war über¬
zeugt, daß ich hier das Rechte niemals fin¬
den würde, und ſo war ich in dem heiterſten
und ruhigſten Zuſtande, und ward, indem ich
Verzicht aufs Leben gethan hatte, beym Le¬
ben erhalten.


Eine neue Prüfung hatte ich auszuſtehen,
da meine Mutter mit einer drückenden Be¬
ſchwerde überfallen wurde, die ſie noch fünf
Jahre trug, ehe ſie die Schuld der Natur
bezahlte. In dieſer Zeit gab es manche
Übung. Oft wenn ihr die Bangigkeit zu ſtark
wurde, ließ ſie uns des Nachts alle vor ihr
Bette rufen, um wenigſtens durch unſre Ge¬
genwart zerſtreut, wo nicht gebeſſert zu wer¬
[283] den. Schwerer, ja kaum zu tragen, war der
Druck, als mein Vater auch elend zu werden
anfing. Von Jugend auf hatte er öfters
heftige Kopfſchmerzen, die aber aufs längſte
nur ſechs und dreißig Stunden anhielten.
Nun aber wurden ſie bleibend und wenn ſie
auf einen hohen Grad ſtiegen, ſo zerriß der
Jammer mir das Herz. Bey dieſen Stür¬
men fühlte ich meine körperliche Schwäche
am meiſten, weil ſie mich hinderte, meine hei¬
ligſten liebſten Pflichten zu erfüllen, oder mir
doch ihre Ausübung äußerſt beſchwerlich
machte.


Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem
Wege, den ich eingeſchlagen, Wahrheit oder
Phantaſie ſey, ob ich vielleicht nur nach an¬
dern gedacht, oder ob der Gegenſtand mei¬
nes Glaubens eine Realität habe, und zu
meiner größten Unterſtützung fand ich immer
das letzte. Die gerade Richtung meines
[284] Herzens zu Gott, der Umgang mit den belo¬
ved ones
hatte ich geſucht und gefunden und
das war was mir alles erleichterte. Wie
der Wanderer in den Schatten, ſo eilte
meine Seele nach dieſem Schutzort. Wenn
mich alles von außen drückte und kam nie¬
mals leer zurück.


In der neuern Zeit haben einige Verfech¬
ter der Religion, die mehr Eifer als Gefühl
für dieſelbe zu haben ſcheinen, ihre Mitgläu¬
bigen aufgefordert, Beyſpiele von wirklichen
Gebetserhörungen bekannt zu machen, wahr¬
ſcheinlich, weil ſie ſich Brief und Siegel
wünſchten, um ihren Gegnern recht diploma¬
tiſch und juriſtiſch zu Leibe zu gehen. Wie
unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl
ſeyn, und wie wenig ächte Erfahrungen mö¬
gen ſie ſelbſt gemacht haben.


Ich darf ſagen, ich kam nie leer zurück,
wenn ich unter Druck und Noth Gott ge¬
[285] ſucht hatte. Es iſt unendlich viel geſagt,
und doch kann und darf ich nicht mehr ſa¬
gen. So wichtig jede Erfahrung in dem
kritiſchen Augenblicke für mich war, ſo matt,
ſo unbedeutend, unwahrſcheinlich würde die
Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle
anführen wollte. Wie glücklich war ich, daß
tauſend kleine Vorgänge zuſammen, ſo ge¬
wiß als das Athemholen Zeichen meines Le¬
bens iſt, mir bewieſen: daß ich nicht ohne
Gott auf der Welt ſey. Er war mir nahe,
ich war vor ihm. Das iſts, was ich mit ge¬
fliſſentlicher Vermeidung aller theologiſchen
Syſtemſprache mit größter Wahrheit ſagen
kann.


Wie ſehr wünſchte ich, daß ich mich auch
damals ganz ohne Syſtem befunden hätte;
aber wer kommt früh zu dem Glücke, ſich
ſeines eigenen Selbſts, ohne fremde Formen
in reinen Zuſammenhang bewußt zu ſeyn.
[286] Mir war es Ernſt mit meiner Seligkeit. Ich
vertraute beſcheiden fremdem Anſehn; ich er¬
gab mich völlig dem halliſchen Bekehrungs¬
ſyſtem, und mein ganzes Weſen wollte auf
keine Wege hineinpaſſen.


Nach dieſem Lehrplan muß die Verände¬
rung des Herzens mit einem tiefen Schrecken
über die Sünde anfangen; das Herz muß
in dieſer Noth bald mehr bald weniger die
verſchuldete Strafe erkennen und den Vor¬
ſchmack der Hölle koſten, der die Luſt der
Sünde verbittert. Endlich muß man eine
ſehr merkliche Verſicherung der Gnade füh¬
len, die aber im Fortgange ſich oft verſteckt
und mit Ernſt wieder geſucht werden muß.


Das alles traf bey mir weder nahe noch
ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig ſuchte,
ſo ließ er ſich finden, und hielt mir von ver¬
gangenen Dingen nichts vor. Ich ſah hin¬
ten nach wohl ein, wo ich unwürdig geweſen
[287] und wußte auch, wo ich es noch war; aber
die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne
alle Angſt. Nicht einen Augenblick iſt mir
eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja
die Idee eines böſen Geiſtes und eines Straf-
und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬
nesweges in dem Kreiſe meiner Ideen Platz
finden. Ich fand die Menſchen, die ohne
Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und
der Liebe gegen den Unſichtbaren zugeſchloſſen
war, ſchon ſo unglücklich, daß eine Hölle und
äußere Strafen mir eher für ſie eine Linde¬
rung zu verſprechen, als eine Schärfung der
Strafe zu drohen ſchienen. Ich durfte nur
Menſchen auf dieſer Welt anſehen, die ge¬
häſſigen Gefühlen in ihrem Buſen Raum
geben, die ſich gegen das Gute von irgend
einer Art verſtocken und ſich und andern das
Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey
Tage die Augen zuſchließen, um nur behaup¬
[288] ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein
von ſich; wie über allen Ausdruck ſchienen
mir dieſe Menſchen elend! Wer hätte eine
Hölle ſchaffen können, um ihren Zuſtand zu
verſchlimmern.


Dieſe Gemüthsbeſchaffenheit blieb mir ei¬
nen Tag wie den andern zehn Jahre lang.
Sie erhielt ſich durch viele Proben, auch am
ſchmerzhaften Sterbebette meiner geliebten
Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬
ſer Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬
faſſung frommen aber ganz ſchulgerechten
Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte
darüber manchen freundſchaftlichen Verweis
erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬
ten Zeit vorzuſtellen, welchen Ernſt man an¬
zuwenden hätte, um in geſunden Tagen ei¬
nen guten Grund zu legen.


An Ernſt wollte ich es auch nicht fehlen
laſſen. Ich ließ mich für den Augenblick
über¬[298[289]] überzeugen und wäre um mein Leben gern
traurig und voll Schrecken geweſen. Wie
verwundert war ich aber, da es ein für alle¬
mal nicht möglich war. Wenn ich an Gott
dachte, war ich heiter und vergnügt, auch
bey meiner lieben Mutter ſchmerzensvollen
Ende graute mich vor dem Tode nicht. Doch
lernte ich vieles und ganz andre Sachen, als
meine unberufenen Lehrmeiſter glaubten, in
dieſen großen Stunden.


Nach und nach ward ich an den Einſich¬
ten ſo mancher hochberühmten Leute zweifel¬
haft [und] bewahrte meine Geſinnungen in
der Stille. Eine gewiſſe Freundin, der ich
erſt zu viel eingeräumt hatte, wollte ſich im¬
mer in meine Angelegenheiten mengen; auch
von dieſer war ich genöthigt mich los zu ma¬
chen, und einſt ſagte ich ihr ganz entſchieden:
ſie ſollte ohne Mühe bleiben, ich brauchte
ihren Rath nicht; ich kannte meinen Gott
W. Meiſters Lehrj. 3. T[290] und wollte ihn ganz allein zum Führer ha¬
ben. Sie fand ſich ſehr beleidigt und ich
glaube, ſie hat mirs nie ganz verziehen.


Dieſer Entſchluß, mich dem Rathe und
der Einwirkung meiner Freunde in geiſtlichen
Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daß
ich auch in äußerlichen Verhältniſſen meinen
eigenen Weg zu gehen Muth gewann. Ohne
den Beyſtand meines treuen unſichtbaren
Führers hätte es mir übel gerathen können,
und noch muß ich über die weiſe und glück¬
liche Leitung erſtaunen. Niemand wußte ei¬
gentlich worauf es bey mir ankam, und ich
wußte es ſelbſt nicht.


Das Ding, das noch nie erklärte böſe
Ding, das uns von dem Weſen trennt, von
dem wir das Leben empfangen haben und
aus dem alles, was Leben genannt werden
ſoll, ſich unterhalten muß, das Ding das man
Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.


[291]

In dem Umgange mit dem unſichtbaren
Freunde fühlte ich den ſüßeſten Genuß aller
meiner Lebenskräfte. Das Verlangen, dieſes
Glück immer zu genießen, war ſo groß, daß
ich gern unterließ, was dieſen Umgang ſtörte,
und hierin war die Erfahrung mein beſter
Lehrmeiſter. Allein es ging mir wie den
Kranken die keine Arzney haben und ſich
mit der Diät zu helfen ſuchen. Es thut et¬
was, aber lange nicht genug.


In der Einſamkeit konnte ich nicht immer
bleiben, ob ich gleich in ihr das beſte Mit¬
tel gegen die mir ſo eigene Zerſtreuung der
Gedanken fand. Kam ich nachher in Ge¬
tümmel, ſo machte es einen deſto größern
Eindruck auf mich. Mein eigentlichſter Vor¬
theil beſtand darin, daß die Liebe zur Stille
herrſchend war, und ich mich am Ende im¬
mer dahin wieder zurück zog. Ich erkannte
wie in einer Art von Dämmerung, mein
T 2[292] Elend und meine Schwäche, und ich ſuchte
mir dadurch zu helfen, daß ich mich ſchonte,
daß ich mich nicht ausſetzte.


Sieben Jahre lang hatte ich meine diä¬
tetiſche Vorſicht ausgeübt. Ich hielt mich
nicht für ſchlimm und fand meinen Zuſtand
wünſchenswerth. Ohne ſonderbare Umſtände
und Verhältniſſe wäre ich auf dieſer Stufe
ſtehen geblieben, und ich kam nur auf einem
ſonderbaren Wege weiter; gegen den Rath
aller meiner Freunde knüpfte ich ein neues
Verhältniß an. Ihre Einwendungen mach¬
ten mich anfangs ſtutzig. Sogleich wandte
ich mich an meinen unſichtbaren Führer, und
da dieſer es mir vergönnte, ging ich ohne
Bedenken auf meinem Wege fort.


Ein Mann von Geiſt, Herz und Talen¬
ten hatte ſich in der Nachbarſchaft angekauft.
Unter den Fremden, die ich kennen lernte, war
auch er und ſeine Familie. Wir ſtimmten in
[293] unſern Sitten, Hausverfaſſungen und Ge¬
wohnheiten ſehr überein, und konnten uns
daher bald an einander anſchließen.


Philo, ſo will ich ihn nennen, war ſchon
in gewiſſen Jahren, und meinem Vater, deſ¬
ſen Kräfte abzunehmen anfingen, in gewiſ¬
ſen Geſchäften von der größten Beyhülfe.
Er ward bald der innige Freund unſeres
Hauſes, und da er, wie er ſagte, an mir eine
Perſon fand, die nicht das Ausſchweifende
und Leere der großen Welt, und nicht das
Trockne und Ängſtliche der Stillen im Lande
habe; ſo waren wir bald vertraute Freunde.
Er war mir ſehr angenehm und ſehr brauchbar.


Ob ich gleich nicht die mindeſte Anlage
noch Neigung hatte, mich in weltliche Ge¬
ſchäfte zu miſchen und irgend einen Einfluß
zu ſuchen; ſo hörte ich doch gerne davon,
und wußte gern, was in der Nähe und Ferne
vorging. Von weltlichen Dingen liebte ich,
[294] mir eine gefühlloſe Deutlichkeit zu verſchaf¬
fen. Emfindung, Innigkeit, Neigung be¬
wahrte ich für meinen Gott, für die meini¬
gen und für meine Freunde.


Dieſe letzten waren, wenn ich ſo ſagen
darf, auf meine neue Verbindung mit Philo
eiferſüchtig, und hatten dabey von mehr als
einer Seite Recht, wenn ſie mich hierüber
warnten. Ich litt viel in der Stille, denn
ich konnte ſelbſt ihre Einwendungen nicht
ganz für leer oder eigennützig halten. Ich
war von jeher gewohnt, meine Einſichten
unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine
Überzeugung nicht nach. Ich flehte zu mei¬
nem Gott, auch hier mich zu warnen, zu
hindern, zu leiten, und da mich hierauf mein
Herz nicht abmahnte, ſo ging ich meinen
Pfad getroſt fort.


Philo hatte im Ganzen eine entfernte
Ähnlichkeit mit Narciſſen, nur hatte eine
[295] fromme Erziehung ſein Gefühl mehr zuſam¬
men gehalten und belebt. Er hatte weniger
Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in
weltlichen Geſchäften fein, genau, anhaltend
und unermüdlich war, ſo war dieſer klar,
ſcharf, ſchnell, und arbeitete mit einer unglaub¬
lichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die
innerſten Verhältniſſe faſt aller der vorneh¬
men Perſonen, deren Äußeres ich in der Ge¬
ſellſchaft hatte kennen lernen und ich war
froh von meiner Warte dem Getümmel von
weiten zuzuſehen. Philo konnte mir nichts
mehr verhehlen; er vertraute mir nach und
nach ſeine äußern und innern Verbindungen.
Ich fürchtete für ihn, denn ich ſah gewiſſe
Umſtände und Verwickelungen voraus, und
das Übel kam ſchneller als ich vermuthet hatte.
Denn er hatte mit gewiſſen Bekenntniſſen
immer zurückgehalten und auch zuletzt ent¬
deckte er mir nur ſo viel, daß ich das
Schlimmſte vermuthen konnte.


[296]

Welche Wirkung hatte das auf mein
Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die
mir ganz neu waren. Ich ſah mit unbe¬
ſchreiblicher Wehmuth einen Agathon, der
in den Hainen von Delphos erzogen, das
Lehrgeld noch ſchuldig war, und es nun mit
ſchweren rückſtändigen Zinſen abzahlte, und
dieſer Agathon war mein genau verbunde¬
ner Freund. Meine Theilnahme war leb¬
haft und vollkommen; ich litt mit ihm, und
wir befanden uns beyde in dem ſonderbar¬
ſten Zuſtande.


Nachdem ich mich lange mit ſeiner Ge¬
müthsverfaſſung beſchäftigt hatte, wendete
ſich meine Betrachtung auf mich ſelbſt. Der
Gedanke, du biſt nicht beſſer als er, ſtieg
wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete
ſich nach und nach aus, und verfinſterte mei¬
ne ganze Seele.


Nun dachte ich nicht mehr bloß, du biſt
[297] nicht beſſer als er; ich fühlte es, und fühlte
es ſo, daß ich es nicht noch einmal fühlen
möchte: Und es war kein ſchneller Übergang.
Mehr als ein Jahr mußte ich empfinden,
daß wenn mich eine unſichtbare Hand nicht
umſchränkt hätte, ich ein Girard, ein Car¬
touche, ein Damiens und welches Ungeheuer
man nennen will, hätte werden können: die
Anlage dazu fühlte ich deutlich in meinem
Herzen. Gott welche Entdeckung!


Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der
Sünde in mir durch die Erfahrung nicht
einmal auf das leiſeſte gewahr werden kön¬
nen; ſo war mir jetzt die Möglichkeit der¬
ſelben in der Ahndung aufs ſchrecklichſte
deutlich geworden, und doch kannte ich das
Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte,
daß ich ſchuldig ſeyn könnte, und hatte mich
nicht anzuklagen.


So tief ich überzeugt war, daß eine ſol¬
[298] che Geiſtesbeſchaffenheit, wofür ich die mei¬
nige anerkennen mußte, ſich nicht zu einer
Vereinigung mit dem höchſten Weſen, die
ich nach dem Tode hofte, ſchicken können; ſo
wenig fürchtete ich, in eine ſolche Trennung
zu gerathen. Bey allem Böſen, das ich in
mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte
was ich fühlte, ja ich wünſchte es noch ernſt¬
licher zu haſſen, und mein ganzer Wunſch
war, von dieſer Krankheit, und dieſer Anla¬
ge zur Krankheit erlöst zu werden, und ich
war gewiß, daß mir der große Arzt ſeine
Hülfe nicht verſagen würde.


Die einzige Frage war: was heilt dieſen
Schaden? Tugendübungen? An die konnte
ich nicht einmal denken. Denn zehn Jahre
hatte ich ſchon mehr als nur bloße Tugend
geübt, und die nun erkannten Greuel hat¬
ten dabey tief in meiner Seele verborgen
gelegen; hätten ſie nicht auch wie bey Da¬
[299] vid losbrechen können, als er Bathſeba er¬
blickte, und war er nicht auch ein Freund
Gottes, und war ich nicht im Innerſten
überzeugt, daß Gott mein Freund ſey?


Sollte es alſo wohl eine unvermeidliche
Schwäche der Menſchheit ſeyn? müſſen wir
uns nun gefallen laſſen, daß wir irgend ein¬
mal die Herrſchaft unſrer Neigung empfin¬
den, und bleibt uns bey dem beſten Willen
nichts anders übrig als den Fall, den wir
gethan, zu verabſcheuen, und bey einer ähn¬
lichen Gelegenheit wieder zu fallen?


Aus der Sittenlehre konnte ich keinen
Troſt ſchöpfen. Weder ihre Strenge, wo¬
durch ſie unſre Neigung bemeiſtern will, noch
ihre Gefälligkeit, mit der ſie unſre Neigun¬
gen zu Tugenden machen möchte, konnte mir
genügen. Die Grundbegriffe die mir der Um¬
gang mit dem unſichtbaren Freunde einge¬
flößt hatte, hatten für mich ſchon einen viel
entſchiedenern Werth.


[300]

Indem ich einſt die Lieder ſtudierte, wel¬
che David nach jener häßlichen Kataſtrophe
gedichtet hatte, war mir ſehr auffallend, daß
er das in ihm wohnende Böſe ſchon in dem
Stoff, woraus er geworden war, erblickte;
daß er aber entſündigt ſeyn wollte, und daß
er auf das dringendſte um ein reines Herz
flehte.


Wie nun aber dazu zu gelangen? Die
Antwort aus den ſymboliſchen Büchern wu߬
te ich wohl; es war mir auch eine Bibel¬
wahrheit, daß das Blut Jeſu Chriſti uns
von allen Sünden reinige. Nun aber be¬
merkte ich erſt, daß ich dieſen ſo oft wieder¬
holten Spruch noch nie verſtanden hatte.
Die Fragen: was heißt das? Wie ſoll das
zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir
ſich durch. Endlich glaubte ich bey einem
Schimmer zu ſehen, daß das, was ich ſuchte,
in der Menſchwerdung des ewigen Worts,
[301] durch das alles und auch wir erſchaffen ſind,
zu ſuchen ſey. Daß der Uranfängliche ſich
in die Tiefen, in denen wir ſtecken, die er
durchſchaut und umfaßt, einſtmal als Be¬
wohner begeben habe, durch unſer Verhält¬
niß von Stufe zu Stufe von der Empfäng¬
nis und Geburt bis zu dem Grabe durch¬
gegangen ſey, daß er durch dieſen ſonderba¬
ren Umweg wieder zu den lichten Höhen
aufgeſtiegen, wo wir auch wohnen ſollten,
um glücklich zu ſeyn: das ward mir, wie in
einer dämmernden Ferne, offenbart.


O warum müſſen wir, um von ſolchen
Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur
äußere Zuſtände anzeigen? Wo iſt vor ihm
etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles
oder Helles; wir nur haben ein Oben und
Unten, einen Tag und eine Nacht. Und
eben darum iſt er uns ähnlich geworden,
weil wir ſonſt keinen Theil an ihm haben
könnten.


[302]

Wie können wir aber an dieſer unſchätz¬
baren Wohlthat Theil nehmen? Durch den
Glauben, antwortet uns die Schrift. Was
iſt denn Glauben? Die Erzählung einer
Begebenheit für wahr zu halten, was kann
mir das helfen? ich muß mir ihre Wirkun¬
gen, ihre Folgen zueignen können. Dieſer
zueignende Glaube muß ein eigener, dem
natürlichen Menſchen ungewöhnlicher Zu¬
ſtand des Gemüths ſeyn.


Nun, Allmächtiger! ſo ſchenke mir Glau¬
ben, flehte ich einſt in dem größten Druck
des Herzens. Ich lehnte mich auf einen
kleinen Tiſch, an dem ich ſaß, und verbarg
mein bethräntes Geſicht in meinen Händen.
Hier war ich in der Lage, in der man ſeyn
muß, wenn Gott auf unſer Gebet achten
ſoll, und in der man ſelten iſt.


Ja wer nun ſchildern könnte, was ich
da fühlte. Ein Zug brachte meine Seele
[303] nach dem Kreuze hin, an dem Jeſus einſt
erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht
anders nennen; demjenigen völlig gleich,
wodurch unſre Seele zu einem abweſenden
Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das
vermuthlich viel weſentlicher und wahrhafter
iſt, als wir nicht vermuthen. So nahte
meine Seele dem Menſchgewordnen und
am Kreuz geſtorbenen, und in dem Augen¬
blicke wußte ich, was Glauben war.


Das iſt Glauben, ſagte ich, und ſprang
wie halb erſchreckt in die Höhe. Ich ſuchte
nun meiner Empfindung, meines Anſchauens
gewiß zu werden, und im Kurzen war ich
überzeugt, daß mein Geiſt eine Fähigkeit
ſich aufzuſchwingen erhalten habe, die ihm
ganz neu war.


Bey dieſen Empfindungen verlaſſen uns
die Worte. Ich konnte ſie ganz deutlich
von aller Phantaſie unterſcheiden; ſie waren
[304] ganz ohne Phantaſie, ohne Bild, und ga¬
ben doch eben die Gewißheit eines Gegen¬
ſtandes, auf den ſie ſich bezogen, als die Ein¬
bildungskraft, indem ſie uns die Züge eines
abweſenden Geliebten vormahlt.


Als das erſte Entzücken vorüber war,
bemerkte ich, daß mir dieſer Zuſtand der
Seele ſchon vorher bekannt geweſen; allein
ich hatte ihn nie in dieſer Stärke empfun¬
den. Ich hatte ihn niemals feſt halten, nie
zu eigen behalten können. Ich glaube über¬
haupt, daß jede Menſchenſeele ein und das
anderemal davon etwas empfunden hat.
Ohne Zweifel iſt Er das, was einem jeden
lehrt, daß ein Gott iſt.


Mit dieſer mich ehemals von Zeit zu
Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher
ſehr zufrieden geweſen, und wäre mir nicht
durch ſonderbare Schickung ſeit Jahr und
Tag die unerwartete Plage wiederfahren,
wäre[305] wäre nicht dabey mein Können und Vermö¬
gen bey mir ſelbſt außer allen Credit ge¬
kommen, ſo wäre ich vielleicht mit jenem Zu¬
ſtande immer zufrieden geblieben.


Nun hatte ich aber ſeit jenem großen
Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte
mich über das was mich vorher bedrohete
aufſchwingen, wie ein Vogel ſingend über
den ſchnellſten Strom ohne Mühe fliegt,
vor welchem das Hündchen ängſtlich bellend
ſtehen bleibt.


Meine Freude war unbeſchreiblich, und
ob ich gleich niemand etwas davon entdeck¬
te, ſo merkten doch die meinigen eine unge¬
wöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen
zu können, was die Urſache meines Vergnü¬
gens wäre. Hätte ich doch immer geſchwie¬
gen, und die reine Stimmung in meiner
Seele zu erhalten geſucht! Hätte ich mich
doch nicht durch Umſtände verleiten laſſen,
W. Meiſters Lehrj. 3. U[306] mit meinem Geheimniſſe hervor zu treten;
ſo hätte ich mir abermals einen großen Um¬
weg erſparen können.


Da in meinem vorhergehenden zehnjähri¬
gen Chriſtenlauf dieſe nothwendige Kraft
nicht in meiner Seele war, ſo hatte ich mich
in dem Fall anderer redlichen Leute auch be¬
funden ; ich hatte mir dadurch geholfen, daß
ich die Phantaſie immer mit Bildern erfüll¬
te, die einen Bezug auf Gott hatten, und
auch dieſes iſt ſchon wahrhaft nützlich; denn
ſchädliche Bilder und ihre böſen Folgen wer¬
den dadurch abgehalten. Sodann ergreift
unſre Seele oft ein und das andere von den
geiſtigen Bildern, und ſchwingt ſich ein we¬
nig damit in die Höhe, wie ein junger Vo¬
gel von einem Zweige auf den andern flat¬
tert. So lange man nichts beſſeres hat, iſt
doch dieſe Übung nicht ganz zu verwerfen.


Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke
[307] verſchaffen uns kirchliche Anſtalten, Glocken,
Orgeln und Geſänge, und beſonders die Vor¬
träge unſerer Lehrer. Auf ſie war ich ganz
unſäglich begierig; keine Witterung, keine
körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kir¬
chen zu beſuchen, und nur das ſonntägige
Geläute konnte mir auf meinem Kranken¬
bette einige Ungeduld verurſachen. Unſern
Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann
war, hörte ich mit großer Neigung, auch
ſeine Collegen waren mir werth, und ich
wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wor¬
tes auch aus irdenen Schalen unter gemei¬
nem Obſte heraus zu finden. Den öffentli¬
chen Übungen wurden alle mögliche Privat¬
erbauungen, wie man ſie nennt, hinzugefügt
und auch dadurch nur Phantaſie und feine¬
re Sinnlichkeit genährt. Ich war ſo an die¬
ſen Gang gewöhnt, ich reſpectirte ihn ſo
ſehr, daß mir auch jetzt nichts höheres ein¬
U 2[308] fiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhör[¬]
ner und keine Augen; ſie taſtet nur und
ſieht nicht; ach! daß ſie Augen bekäme und
ſchauen dürfte!


Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die
Predigten; aber ach! wie geſchahe mir. Ich
fand das nicht mehr was ich ſonſt gefunden.
Dieſe Prediger ſtumpften ſich die Zähne an
den Schalen ab, indeſſen ich den Kern ge¬
noß. Ich mußte ihrer nun bald müde wer¬
den; aber mich an den allein zu halten, den
ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu
verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere
Eindrücke bedurfte ich, und glaubte ein rei¬
nes geiſtiges Bedürfniß zu fühlen.


Philos Eltern hatten mit der Herrnhu¬
thiſchen Gemeinde in Verbindung geſtanden;
in ſeiner Bibliothek fanden ſich noch viele
Schriften des Grafen. Er hatte mir einige¬
mal ſehr klar und billig darüber geſprochen,
[309] und mich erſucht, einige dieſer Schriften
durchzublättern, und wäre es auch nur, um
ein pſychologiſches Phänomen kennen zu ler¬
nen. Ich hielt den Grafen für einen gar
zu argen Ketzer; ſo ließ ich auch das Ebers¬
dorfer Geſangbuch bey mir liegen, das mir
der Freund in ähnlicher Abſicht gleichſam
aufgedrungen hatte.


In dem völligen Mangel aller äußeren
Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ohn¬
gefähr das gedachte Geſangbuch, und fand
zu meinem Erſtaunen wirklich Lieder darin,
die, freylich unter ſehr ſeltſamen Formen,
auf dasjenige zu deuten ſchienen, was ich
fühlte; die Originalität und Naivität der
Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindun¬
gen ſchienen auf eine eigene Weiſe ausge¬
druckt; keine Schulterminologie erinnerte an
etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward
überzeugt, die Leute fühlten was ich fühlte,
[310] und ich fand mich nun ſehr glücklich, ein
ſolches Verschen ins Gedächtniß zu faſſen
und mich einige Tage damit zu tragen.


Seit jenem Augenblick, in welchem mir
das Wahre geſchenkt worden war, verfloſſen
auf dieſe Weiſe ohngefähr drey Monate.
Endlich faßte ich den Entſchluß, meinem
Freunde Philo alles zu entdecken, und ihn
um die Mittheilung jener Schriften zu bit¬
ten, auf die ich nun über die Maßen neu¬
gierig geworden war. Ich that es auch
wirklich, ohnerachtet mir ein Etwas im Her¬
zen ernſtlich davon abrieth.


Ich erzählte Philo die ganze Geſchichte
umſtändlich, und da er ſelbſt darin eine
Hauptperſon war, da meine Erzählung auch
für ihn die ſtrengſte Bußpredigt enthielt,
war er äußerſt betroffen und gerührt. Er
zerfloß in Thränen. Ich freute mich, und
glaubte, auch bey ihm ſey eine völlige Sin¬
nesänderung bewirkt worden.


[311]

Er verſorgte mich mit allen Schriften,
die ich nur verlangte, und nun hatte ich
überflüßige Nahrung für meine Einbildungs¬
kraft. Ich machte große Fortſchritte in der
Zinzendorfiſchen Art zu denken und zu ſpre¬
chen. Man glaube nicht, daß ich die Art
und Weiſe des Grafen nicht auch gegenwär¬
tig zu ſchätzen wiſſe, ich laſſe ihm gern Ge¬
rechtigkeit wiederfahren; er iſt kein leerer
Phantaſt; er ſpricht von großen Wahrhei¬
ten meiſt mit einem kühnen Fluge der Ein¬
bildungskraft, und die ihn geſchmäht haben,
wußten ſeine Eigenſchaften weder zu ſchät¬
zen, noch zu unterſcheiden.


Ich gewann ihn unbeſchreiblich lieb.
Wäre ich mein eigner Herr geweſen, ſo hätte
ich gewiß Vaterland und Freunde verlaſſen,
wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten
wir uns verſtanden und ſchwerlich hätten
wir uns lange vertragen.


[312]

Dank ſey meinem Genius, der mich da¬
mals in meiner häuslichen Verfaſſung ſo ein¬
geſchränkt hielt! Es war ſchon eine große
Reiſe, wenn ich nur in den Hausgarten ge¬
hen konnte. Die Pflege meines alten und
ſchwächlichen Vaters machte mir Arbeit ge¬
nug, und in den Ergötzungsſtunden war die
edle Phantaſie mein Zeitvertreib. Der ein¬
zige Menſch, den ich ſah, war Philo, den
mein Vater ſehr liebte, deſſen offnes Verhält¬
niß zu mir aber durch die letzte Erklärung
einigermaßen gelitten hatte. Bey ihm war
die Rührung nicht tief gedrungen, und da
ihm einige Verſuche, in meiner Sprache zu
reden, nicht gelungen waren, ſo vermied er
dieſe Materie um ſo leichter, als er durch
ſeine ausgebreiteten Kenntniſſe immer neue
Gegenſtände des Geſprächs herbey zu führen
wußte.

Ich war alſo eine herrnhuthiſche Schwe¬
[313] ſter auf meine eigene Hand, und hatte dieſe
neue Wendung meines Gemüths und meiner
Neigungen beſonders vor dem Oberhofpredi¬
ger zu verbergen, den ich als meinen Beicht¬
vater zu ſchätzen ſehr Urſache hatte, und deſ¬
ſen große Verdienſte auch gegenwärtig durch
ſeine äußerſte Abneigung gegen die herrnhu¬
thiſche Gemeinde in meinen Augen nicht ge¬
ſchmälert wurden. Leider ſollte dieſer wür¬
dige Mann an mir und andern viele Be¬
trübniß erleben!


Er hatte vor mehreren Jahren auswärts
einen Cavalier als einen redlichen frommen
Mann kennen lernen, und war mit ihm, als
einem der Gott ernſtlich ſuchte, in einem un¬
unterbrochenen Briefwechſel geblieben. Wie
ſchmerzhaft war es daher für ſeinen geiſtli¬
chen Führer, als dieſer Cavalier ſich in der
Folge mit der herrnhuthiſchen Gemeinde ein¬
ließ, und ſich lange unter den Brüdern auf¬
[314] hielt; daher jener eifrige Mann, als ſein
Freund ſich mit den Brüdern wieder entzwey¬
te, in ſeiner Nähe zu wohnen ſich entſchloß,
und ſich ſeiner Leitung aufs neue völlig zu
überlaſſen ſchien.


Nun wurde der Neuangekommene gleich¬
ſam im Triumph allen beſonders geliebten
Schäfchen des Oberhirten vorgeſtellt. Nur
in unſer Haus ward er nicht eingeführt, weil
mein Vater niemand mehr zu ſehen pflegte.
Der Cavalier fand große Approbation; er
hatte das Geſittete des Hofs und das Ein¬
nehmende der Gemeinde, dabey viel ſchöne
natürliche Eigenſchaften, und ward bald der
große Heilige für alle, die ihn kennen lern¬
ten, worüber ſich ſein geiſtlicher Gönner äuſ¬
ſerſt freute. Leider war jener nur über äuſ¬
ſere Umſtände mit der Gemeine brouillirt,
und im Herzen noch ganz Herrnhuther. Er
hing wirklich an der Realität der Sache, al¬
[315] lein auch ihm war das Tändelwerk, das der
Graf darum gehängt hatte, höchſt angemeſ¬
ſen. Er war an jene Vorſtellungs- und
Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn
er ſich nunmehr vor ſeinem alten Freunde
ſorgfältig verbergen mußte, ſo war es ihm
deſto nothwendiger, ſo bald er ein Häufchen
vertrauter Perſonen um ſich erblickte, mit
ſeinen Verschen, Litaneyen und Bilderchen
hervor zu rücken, und er fand, wie man
denken kann, großen Beyfall.


Ich wußte von der ganzen Sache nichts,
und tändelte auf meine eigene Art fort.
Lange Zeit blieben wir uns unbekannt.


Einſt beſuchte ich, in einer freyen Stun¬
de, eine kranke Freundin. Ich traf mehrere
Bekannte dort an, und merkte bald, daß ich
ſie in einer Unterredung geſtöhrt hatte. Ich
ließ mir nichts merken; erblickte aber, zu
meiner großen Verwunderung, an der Wand
[316] einige herrnhuthiſche Bilder, in zierlichen
Rahmen. Ich faßte geſchwinde, was in der
Zeit, da ich nicht im Hauſe geweſen, vorge¬
gangen ſeyn mochte, und bewillkommte dieſe
neue Erſcheinung mit einigen angemeſſenen
Verſen.


Man denke ſich das Erſtaunen meiner
Freundinnen. Wir erklärten uns, und wa¬
ren auf der Stelle einig und vertraut.


Ich ſuchte nun öfter Gelegenheit auszu¬
gehn. Leider fand ich ſie nur alle drey bis
vier Wochen, ward mit dem adelichen Apo¬
ſtel und nach und nach mit der ganzen heim¬
lichen Gemeinde bekannt. Ich beſuchte, wenn
ich konnte, ihre Verſammlungen, und bey
meinem geſelligen Sinn war es mir unend¬
lich angenehm, das von andern zu verneh¬
men und andern mitzutheilen, was ich nur
bisher in und mit mir ſelbſt ausgearbeitet
hatte.


[317]

Ich war nicht ſo eingenommen, daß ich
nicht bemerkt hätte, wie nur wenige den
Sinn der zarten Worte und Ausdrücke fühl¬
ten, und wie ſie dadurch auch nicht mehr,
als ehemals durch die kirchlich ſymboliſche
Sprache, gefördert waren. Demohngeachtet
ging ich mit ihnen fort, und ließ mich nicht
irre machen. Ich dachte, daß ich nicht zur
Unterſuchung und Herzensprüfung berufen
ſey. War ich doch auch durch manche un¬
ſchuldige Übung zum Beſſeren vorbereitet
worden. Ich nahm meinen Theil hinweg,
drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn,
der bey ſo zarten Gegenſtänden eher durch
Worte verſteckt als angedeutet wird, und
ließ übrigens mit ſtiller Verträglichkeit einen
jeden nach ſeiner Art gewähren.


Auf dieſe ruhigen Zeiten des heimlichen
geſellſchaftlichen Genuſſes, folgten bald die
Stürme öffentlicher Streitigkeiten und Wi¬
[318] derwärtigkeiten, die am Hofe und in der
Stadt große Bewegungen erregten, und ich
möchte beynahe ſagen, manches Skandal
verurſachten. Der Zeitpunct war gekommen,
in welchem unſer Oberhofprediger, dieſer
große Widerſacher der herrnhuthiſchen Ge¬
meinde, zu ſeiner geſegneten Demüthigung
entdecken ſollte, daß ſeine beſten und ſonſt
anhänglichſten Zuhörer ſich ſämmtlich auf
die Seite der Gemeinde neigten. Er war
äußerſt gekränkt, vergaß im erſten Augen¬
blicke alle Mäßigung und konnte in der
Folge ſich nicht, ſelbſt wenn er gewollt hät¬
te, zurück ziehn. Es gab heftige Debatten,
bey denen ich glücklicher weiſe nicht genannt
wurde, da ich nur ein zufälliges Mitglied
der ſo ſehr verhaßten Zuſammenkünfte war,
und unſer eifriger Führer meinen Vater und
meinen Freund in bürgerlichen Angelegenhei¬
ten nicht entbehren konnte. Ich erhielt mei¬
[319] ne Neutralität mit ſtiller Zufriedenheit; denn
von ſolchen Empfindungen und Gegenſtän¬
den mich ſelbſt mit wohlwollenden Menſchen
zu unterhalten, war mir ſchon verdrießlich,
wenn ſie den tiefſten Sinn nicht faſſen konn¬
ten, und nur auf der Oberfläche verweilten.
Nun aber gar über das mit Widerſachern
zu ſtreiten, worüber man ſich kaum mit
Freunden verſtund, ſchien mir unnütz, ja
verderblich. Denn bald konnte ich bemer¬
ken, daß liebevolle edle Menſchen, die in
dieſem Falle ihr Herz von Widerwillen und
Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur
Ungerechtigkeit übergingen, und, um eine
äußere Form zu vertheidigen, ihr beſtes In¬
nerſtes beynah zerſtöhrten.


So ſehr auch der würdige Mann in die¬
ſem Falle Unrecht haben mochte, und ſo ſehr
man mich auch gegen ihn aufzubringen ſuch¬
te; konnte ich ihm doch niemals eine herzli¬
[320] che Achtung verſagen. Ich kannte ihn ge¬
nau; ich konnte mich in ſeine Art, dieſe Sa¬
chen anzuſehen, mit Billigkeit verſetzen. Ich
hatte niemals einen Menſchen ohne Schwä¬
che geſehen, nur iſt ſie auffallender bey vor¬
züglichen Menſchen. Wir wünſchen und
wollen nun ein für alle mal, daß die, die ſo
ſehr privilegirt ſind, auch gar keinen Tribut,
keine Abgaben zahlen ſollen. Ich ehrte ihn
als einen vorzüglichen Mann, und hoffte
den Einfluß meiner ſtillen Neutralität, wo
nicht zu einem Frieden, doch zu einem Waf¬
fenſtillſtande zu nutzen. Ich weiß nicht, was
ich bewirkt hätte; Gott faßte die Sache
kürzer, und nahm ihn zu ſich. Bey ſeiner
Bahre weinten alle, die noch kurz vorher
um Worte mit ihm geſtritten hatten. Seine
Rechtſchaffenheit, ſeine Gottesfurcht hatte
niemals jemand bezweifelt.


Auch ich mußte um dieſe Zeit das Pup¬
pen¬[321] penwerk aus den Händen legen, das mir
durch dieſe Streitigkeiten gewiſſermaßen in
einem andern Lichte erſchienen war. Der
Oheim hatte ſeine Plane auf meine Schwe¬
ſter in der Stille durchgeführt. Er ſtellte
ihr einen jungen Mann von Stande und
Vermögen als ihren Bräutigam vor, und
zeigte ſich in einer reichlichen Ausſteuer, wie
man es von ihm erwarten konnte. Mein
Vater willigte mit Freuden ein, die Schwe¬
ſter war frey und vorbereitet, und veränder¬
te gerne ihren Stand. Die Hochzeit wurde
auf des Oheims Schloß ausgerichtet, Fami¬
lie und Freunde waren eingeladen, und wir
kamen alle mit heiterm Geiſte.


Zum erſtenmal in meinem Leben erregte
mir der Eintritt in ein Haus Bewunderung.
Ich hatte wohl oft von des Oheims Ge¬
ſchmack, von ſeinem italiäniſchen Baumeiſter,
von ſeinen Sammlungen und ſeiner Biblio¬
W. Meiſters Lehrj 3. X[322] thek reden hören; ich verglich aber das alles
mit dem, was ich ſchon geſehen hatte, und
machte mir ein ſehr buntes Bild davon in
Gedanken. Wie verwundert war ich daher
über den ernſten und harmoniſchen Eindruck,
den ich beym Eintritt in das Haus empfand,
und der ſich in jedem Saal und Zimmer
verſtärkte. Hatte Pracht und Zierrath mich
ſonſt nur zerſtreut; ſo fühlte ich mich hier
geſammlet und auf mich ſelbſt zurück geführt.
Auch in allen Anſtalten zu Feierlichkeiten
und Feſten erregten Pracht und Würde ein
ſtilles Gefallen, und es war mir eben ſo
unbegreiflich, daß Ein Menſch das alles hät¬
te erfinden und anordnen können, als daß
mehrere ſich vereinigen könnten, um in einem
ſo großen Sinne zuſammen zu wirken. Und
bey dem allen ſchienen der Wirth und die
Seinigen ſo natürlich; es war keine Spur
von Steifheit noch von leerem Ceremoniel
zu bemerken.


[323]

Die Trauung ſelbſt ward unvermuthet
auf eine herzliche Art eingeleitet, eine vor¬
trefliche Vocalmuſik überraſchte uns, und
der Geiſtliche wußte dieſer Ceremonie alle
Feierlichkeit der Wahrheit zu geben. Ich
ſtand neben Philo, und ſtatt mir Glück zu
wünſchen, ſagte er mit einem tiefen Seufzer:
als ich die Schweſter ſah die Hand hinge¬
ben, war mir’s, als ob man mich mit ſied¬
heißen Waſſer begoſſen hätte. Warum?
fragte ich. Es iſt mir allezeit ſo, wenn ich
eine Copulation anſehe, verſetzte er. Ich
lachte über ihn, und habe nachher oft genug
an ſeine Worte zu denken gehabt.


Die Heiterkeit der Geſellſchaft, worunter
viel junge Leute waren, ſchien noch einmal
ſo glänzend, indem alles, was uns umgab,
würdig und ernſthaft war. Aller Hausrath,
Tafelzeug, Service und Tiſchaufſätze ſtimm¬
ten zu dem Ganzen, und wenn mir ſonſt
X 2[324] die Baumeiſter mit den Conditorn aus einer
Schule entſprungen zu ſeyn ſchienen; ſo war
hier Conditor [und] Tafeldecker bey dem Ar¬
chitekten in die Schule gegangen.


Da man mehrere Tage zuſammen blieb,
hatte der geiſtreiche und verſtändige Wirth
für die Unterhaltung der Geſellſchaft auf das
mannigfaltigſte geſorgt. Ich wiederholte
hier nicht die traurige Erfahrung, die ich ſo
oft in meinem Leben gehabt hatte, wie übel
eine große gemiſchte Geſellſchaft ſich befinde,
die ſich ſelbſt überlaſſen zu den allgemeinſten
und ſchalſten Zeitvertreiben greifen muß, da¬
mit ja eher die guten als die ſchlechten Sub¬
jecte Mangel der Unterhaltung fühlen.


Ganz anders hatte es der Oheim veran¬
ſtaltet. Er hatte zwey bis drey Marſchälle,
wenn ich ſie ſo nennen darf, beſtellt; der ei¬
ne hatte für die Freuden der jungen Welt
zu ſorgen. Tänze, Spazierfahrten, kleine
[325] Spiele waren von ſeiner Erfindung, und
ſtanden unter ſeiner Direction, und da junge
Leute gern im Freyen leben, und die Ein¬
flüſſe der Luft nicht ſcheuen; ſo war ihnen
der Garten und der große Gartenſaal über¬
geben, an den zu dieſem Endzwecke noch ei¬
nige Galerien und Pavillons angebauet wa¬
ren, zwar nur von Brettern und Leinwand
aber in ſo edlen Verhältniſſen, daß man nur
an Stein und Marmor dabey erinnert
ward.


Wie ſelten iſt eine Fete, wobey derjenige,
der die Gäſte zuſammen beruft, auch die
Schuldigkeit empfindet, für ihre Bedürfniſſe
und Bequemlichkeiten auf alle Weiſe zu
ſorgen.


Jagd und Spielparthien, kurze Promena¬
den, Gelegenheiten zu vertraulichen einſamen
Geſprächen waren für die ältern Perſonen
bereitet, und derjenige, der am frühſten zu
[326] Bette ging, war auch gewiß am weiteſten
von allem Lärm einquartirt.


Durch dieſe gute Ordnung ſchien der
Raum, in dem wir uns befanden, eine kleine
Welt zu ſeyn, und doch, wenn man es bey
nahem betrachtete, war das Schloß nicht
groß, und man würde ohne genaue Kennt¬
niß deſſelben und ohne den Geiſt des Wir¬
thes wohl ſchwerlich ſo viele Leute darin be¬
herbergt, und jeden nach ſeiner Art bewir¬
thet haben.


So angenehm uns der Anblick eines wohl¬
geſtalteten Menſchen iſt, ſo angenehm iſt
uns eine ganze Einrichtung, aus der uns
die Gegenwart eines verſtändigen, vernünf¬
tigen Weſens fühlbar wird. Schon in ein
reinliches Haus zu kommen, iſt eine Freude,
wenn es auch ſonſt geſchmacklos gebauet und
verziert iſt; denn es zeigt uns die Gegen¬
wart wenigſtens von Einer Seite gebildeter
[327] Menſchen. Wie doppelt angenehm iſt es
uns alſo, wenn aus einer menſchlichen Woh¬
nung uns der Geiſt einer höhern, obgleich
auch nur ſinnlichen, Kultur entgegen ſpricht!

Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieſes
auf dem Schloſſe meines Oheims anſchau¬
lich. Ich hatte vieles von Kunſt gehört und
geleſen, Philo ſelbſt war ein großer Liebha¬
ber von Gemälden, und hatte eine ſchöne
Sammlung; auch ich ſelbſt hatte viel ge¬
zeichnet; aber theils war ich zu ſehr mit
meinen Empfindungen beſchäftigt, und trach¬
tete nur das eine, was Noth iſt, erſt recht
ins Reine zu bringen, theils ſchienen doch
alle die Sachen, die ich geſehen hatte, mich
wie die übrigen weltlichen Dinge zu zer¬
ſtreuen. Nun war ich zum erſtenmal durch
etwas Äußerliches auf mich ſelbſt zurück ge¬
führt, und ich lernte den Unterſchied zwiſchen
dem natürlichen vortreflichen Geſang der
[328] Nachtigall und einem vierſtimmigen Halle¬
lujah aus gefühlvollen Menſchenkehlen zu
meiner größten Verwunderung erſt kennen.


Ich verbarg meine Freude über dieſe
neue Anſchauung meinem Oheim nicht, der,
wenn alles andere in ſein Theil gegangen
war, ſich mit mir beſonders zu unterhalten
pflegte. Er ſprach mit großer Beſcheidenheit
von dem, was er beſaß und hervorgebracht
hatte, mit großer Sicherheit von dem Sin¬
ne, in dem es geſammlet und aufgeſtellt wor¬
den war, und ich konnte wohl merken, daß
er mit Schonung für mich redete, indem er
nach ſeiner alten Art das Gute, wovon er
Herr und Meiſter zu ſeyn glaubte, demjeni¬
gen unterzuordnen ſchien, was nach meiner
Überzeugung das rechte und beſte war.


Wenn wir uns, ſagte er einmal, als
möglich denken können, daß der Schöpfer
der Welt ſelbſt die Geſtalt ſeiner Creatur
[329] angenommen, und auf ihre Art und Weiſe
ſich eine Zeitlang auf der Welt befunden
habe; ſo muß uns dieſes Geſchöpf ſchon un¬
endlich vollkommen erſcheinen, weil ſich der
Schöpfer ſo innig damit vereinigen konnte.
Es muß alſo in dem Begriff des Menſchen
kein Widerſpruch mit dem Begriff der Gott¬
heit liegen, und wenn wir auch oft eine ge¬
wiſſe Unähnlichkeit und Entfernung von ihr
empfinden, ſo iſt es doch um deſto mehr un¬
ſere Schuldigkeit, nicht immer wie der Ad¬
vokat des böſen Geiſtes nur auf die Blößen
und Schwächen unſerer Natur zu ſehen,
ſondern eher alle Vollkommenheiten aufzuſu¬
chen, wodurch wir die Anſprüche unſrer Gott¬
ähnlichkeit beſtätigen können.


Ich lächelte und verſetzte: beſchämen Sie
mich nicht zu ſehr, lieber Oheim, durch die
Gefälligkeit in meiner Sprache zu reden!
Das was Sie mir zu ſagen haben, iſt für
[330] mich von ſo großer Wichtigkeit, daß ich es
in Ihrer eigenſten Sprache zu hören wünſch¬
te, und ich will alsdann, was ich mir davon
nicht ganz zueignen kann, ſchon zu überſe¬
tzen ſuchen.


Ich werde, ſagte er darauf, auch auf
meine eigenſte Weiſe, ohne Veränderung des
Tons fortfahren können. Des Menſchen
größtes Verdienſt bleibt wohl, wenn er die
Umſtände ſo viel als möglich beſtimmt und
ſich ſo wenig als möglich von ihnen beſtim¬
men läßt. Das ganze Weltweſen liegt vor
uns, wie ein großer Steinbruch vor dem
Baumeiſter, der nur dann den Nahmen ver¬
dient, wenn er aus dieſen zufälligen Natur¬
maſſen, ein in ſeinem Geiſte entſprungenes
Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmä¬
ßigkeit und Feſtigkeit zuſammen ſtellt. Alles
außer uns iſt nur Element, ja ich darf wohl
ſagen, auch alles an uns; aber tief in uns
[331] liegt dieſe ſchöpferiſche Kraft, die das zu er¬
ſchaffen vermag, was ſeyn ſoll, und uns
nicht ruhen und raſten läßt, bis wir es au¬
ßer uns oder an uns auf eine oder die an¬
dere Weiſe dargeſtellt haben. Sie, liebe
Nichte, haben vielleicht das beſte Theil er¬
wählt; Sie haben Ihr ſittliches Weſen, Ihre
tiefe liebevolle Natur mit ſich ſelbſt und mit
dem höchſten Weſen übereinſtimmend zu
machen geſucht, indeß wir andere wohl auch
nicht zu tadeln ſind, wenn wir den ſinnlichen
Menſchen in ſeinem Umfange zu kennen und
thätig in Einheit zu bringen ſuchen.


Durch ſolche Geſpräche wurden wir nach
und nach vertrauter, und ich erlangte von
ihm, daß er mit mir, ohne Condescendenz,
wie mit ſich ſelbſt ſprach. Glauben Sie
nicht, ſagte der Oheim zu mir, daß ich Ih¬
nen ſchmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken
und zu handeln lobe. Ich verehre den Men¬
[332] ſchen, der deutlich weiß, was er will, unab¬
läſſig vorſchreitet, die Mittel zu ſeinem Zwecke
kennt und ſie zu ergreifen und zu brauchen
weiß; in wie fern ſein Zweck groß oder klein
ſey, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bey
mir erſt nachher in Betrachtung. Glauben
Sie mir, meine Liebe, der größte Theil des
Unheils und deſſen was man bös in der
Welt nennt, entſteht bloß, weil die Men¬
ſchen zu nachläſſig ſind ihre Zwecke recht
kennen zu lernen, und wenn ſie ſolche ken¬
nen, ernſthaft darauf los zu arbeiten. Sie
kommen mir vor wie Leute, die den Begriff
haben, es könne und müſſe ein Thurm ge¬
bauet werden, und die doch an den Grund
nicht mehr Steine und Arbeit verwenden,
als man allenfalls einer Hütte unterſchlüge.
Hätten Sie meine Freundin, deren höchſtes
Bedürfniß war, mit Ihrer innern ſittlichen
Natur ins reine zu kommen, anſtatt der
[333] großen und kühnen Aufopferungen, ſich zwi¬
ſchen Ihrer Familie, einem Bräutigam, viel¬
leicht einem Gemahl nur ſo hin beholfen,
Sie würden, in einem ewigen Widerſpruch
mit ſich ſelbſt, niemals einen zufriedenen Au¬
genblick genoſſen haben.


Sie brauchen, verſetzt ich hier, das Wort
Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht,
wie wir einer höhern Abſicht, gleichſam wie
einer Gottheit, das geringere zum Opfer
darbringen, ob es uns ſchon am Herzen liegt,
wie man ein geliebtes Schaf für die Geſund¬
heit eines verehrten Vaters gern und willig
zum Altar führte.


Was es auch ſey, verſetzte er, der Ver¬
ſtand oder die Empfindung, das uns eins
für das andere hingeben, eins vor dem an¬
dern wählen heißt, ſo iſt Entſchiedenheit und
Folge, nach meiner Meynung, das vereh¬
rungswürdigſte am Menſchen. Man kann
[334] die Waare und das Geld nicht zugleich ha¬
ben! und der iſt eben ſo übel daran, dem
es immer nach der Waare gelüſtet, ohne daß
er das Herz hat das Geld hinzugeben, als
der, den der Kauf reut, wenn er die Waare
in Händen hat. Aber ich bin weit entfernt,
die Menſchen deshalb zu tadeln, denn ſie
ſind eigentlich nicht Schuld, ſondern die ver¬
wickelte Lage, in der ſie ſich befinden, und
in der ſie ſich nicht zu regieren wiſſen. So
werden Sie, zum Beyſpiel, im Durchſchnitt,
weniger üble Wirthe auf dem Lande als in
den Städten finden, und wieder in kleinen
Städten weniger als in großen, und warum?
Der Menſch iſt zu einer beſchränkten Lage
gebohren, einfache, nahe, beſtimmte Zwecke,
vermag er einzuſehen, und er gewöhnt ſich
die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur
Hand ſind; ſobald er aber ins weite kommt,
weiß er weder was er will, noch was er ſoll,
[335] und es iſt ganz einerley, ob er durch die
Menge der Gegenſtände zerſtreut, oder ob
er durch die Höhe und Würde derſelben au¬
ßer ſich geſetzt werde. Es iſt immer ſein Un¬
glück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas
zu ſtreben, mit dem er ſich durch eine regel¬
mäßige Selbſtthätigkeit nicht verbinden kann.

Fürwahr, fuhr er fort, ohne Ernſt iſt in
der Welt nichts möglich, und unter denen,
die wir gebildete Menſchen nennen, iſt eigent¬
lich wenig Ernſt zu finden, ſie gehen, ich
möchte ſagen, gegen Arbeiten und Geſchäfte,
gegen Künſte, ja gegen Vergnügungen nur
mit einer Art von Selbſtvertheidigung zu
Werke, man lebt wie man ein Pack Zeitun¬
gen lieſt, nur damit man ſie los werde, und
es fällt mir dabey jener junge Engländer in
Rom ein, der Abends, in einer Geſellſchaft,
ſehr zufrieden erzählte: daß er doch heute
ſechs Kirchen und zwey Gallerien bey Seite
[336] gebracht habe. Man will mancherley wiſſen
und kennen, und gerade das was einen am
wenigſten angeht, und man bemerkt nicht,
daß kein Hunger dadurch geſtillt wird, wenn
man nach der Luft ſchnappt. Wenn ich ei¬
nen Menſchen kennen lerne, frage ich ſogleich,
womit beſchäfftigt er ſich? und wie und in
welcher Folge? und mit der Beantwortung
der Frage iſt auch mein Intereſſe an ihm
auf Zeitlebens entſchieden.


Sie ſind, lieber Oheim, verſetzte ich dar¬
auf, vielleicht zu ſtrenge und entziehen man¬
chem guten Menſchen, dem Sie nützlich ſeyn
könnten, Ihre hülfreiche Hand.


Iſt es dem zu verdenken, antwortete er,
der ſo lange vergebens an ihnen und um
ſie gearbeitet hat. Wie ſehr leidet man
nicht in der Jugend von Menſchen die uns
zu einer angenehmen Luſtparthie einzuladen
glauben, wenn ſie uns in der Geſellſchaft
der[337] der Danaiden, oder des Syſiphus zu bringen
verſprechen. Gott ſey Dank, ich habe mich
von ihnen los gemacht, und wenn einer un¬
glücklicher Weiſe in meinen Kreis kommt,
ſuche ich ihn auf die höflichſte Art hinaus
zu komplimentiren; denn grade von dieſen
Leuten hört man die bitterſten Klagen über
den verworrenen Lauf der Welthändel, über
die Seichtigkeit der Wiſſenſchaften, über den
Leichtſinn der Künſtler, über die Leerheit der
Dichter und was alles noch mehr iſt. Sie
bedenken am wenigſten, daß eben ſie ſelbſt
und die Menge, die ihnen gleich iſt, grade
das Buch nicht leſen würden, das geſchrieben
wäre wie ſie es fordern, daß ihnen die ächte
Dichtung fremd ſey, und daß ſelbſt ein gutes
Kunſtwerk nur durch Vorurtheil ihren Bey¬
fall erlangen könne. Doch laſſen Sie uns
abbrechen, es iſt hier keine Zeit zu ſchelten
noch zu klagen.


W. Meiſters Lehrj. 3. Y[338]

Er leitete meine Aufmerkſamkeit auf die
verſchiedenen Gemählde, die an der Wand
aufgehängt waren, mein Auge hielt ſich an
die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬
ſtand bedeutend war; er ließ es eine Weile
geſchehen, dann ſagte er: gönnen Sie nun
auch dem Genius, der dieſe Werke hervorge¬
bracht hat, einige Aufmerkſamkeit. Gute Ge¬
müther ſehen ſo gerne den Finger Gottes in
der Natur, warum ſollte man nicht auch der
Hand ſeines Nachahmers einige Betrachtung
ſchenken? Er machte mich ſodann auf un¬
ſcheinbare Bilder aufmerkſam, und ſuchte mir
begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬
ſchichte der Kunſt uns bloß den Begriff von
dem Werth und der Würde eines Kunſtwerks
geben könne, daß man erſt die beſchwerlichen
Stufen des Mechanismus und des Hand¬
werks, an denen der fähige Menſch ſich Jahr¬
hunderte lang hinauf arbeitet, kennen müſſe
[339] um zu begreifen wie es möglich ſey, daß
das Genie auf dem Gipfel, bey deſſen blo¬
ßen Anblick uns ſchwindelt, ſich frey und
fröhlich bewege.


Er hatte in dieſem Sinne eine ſchöne
Reihe zuſammen gebracht, und ich konnte
mich nicht enthalten als er mir ſie auslegte,
die moraliſche Bildung hier wie im Gleich¬
niſſe vor mir zu ſehen. Als ich ihm meine
Gedanken äußerte, verſetzte er: Sie haben
vollkommen Recht, und wir ſehen daraus:
daß man nicht wohl thut, der ſittlichen Bil¬
dung, einſam, in ſich ſelbſt verſchloſſen, nach¬
zuhängen; vielmehr wird man finden daß
derjenige, deſſen Geiſt nach einer moraliſchen
Cultur ſtrebt, alle Urſache hat, ſeine feinere
Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit
er nicht in Gefahr komme, von ſeiner mora¬
liſchen Höhe herab zu gleiten, indem er ſich
den Lockungen einer regelloſen Phantaſie
Y 2[340] übergiebt, und ſich in Gefahr ſetzt, ſeine edlere
Natur durch Vergnügen an geſchmackloſen
Tändeleyen, wo nicht an was ſchlimmerem
herab zu würdigen.


Ich hatte ihn nicht in Verdacht, daß er
auf mich ziele, aber ich fühlte mich getroffen,
wenn ich zurück dachte, daß unter den Lie¬
dern, die mich erbauet hatten, manches abge¬
ſchmackte mochte geweſen ſeyn, und daß die
Bildchen, die ſich an meine geiſtlichen Ideen
anſchloſſen, wohl ſchwerlich vor den Augen
des Oheims würden Gnade gefunden haben.


Philo hatte ſich indeſſen öfters in der Bi¬
bliothek aufgehalten, und führte mich nun¬
mehr auch in ſelbiger ein. Wir bewunderten
die Auswahl und dabey die Menge der Bü¬
cher. Sie waren in jedem Sinne geſammlet;
denn es waren beynahe auch nur ſolche darin
zu finden, die uns zur deutlichen Erkenntniß
führen, oder uns zur rechten Ordnung an¬
[341] weiſen; die uns entweder rechte Materialien
geben, oder uns von der Einheit unſres Gei¬
ſtes überzeugen.


Ich hatte in meinen Leben unſäglich ge¬
leſen und in gewiſſen Fächern war mir faſt
kein Buch unbekannt, um deſto angenehmer
war mirs hier von der Überſicht des Gan¬
zen zu ſprechen, und Lücken zu bemerken, wo
ich ſonſt nur eine beſchränkte Verwirrung
oder eine unendliche Ausdehnung geſehen
hatte.


Zugleich machten wir die Bekanntſchaft
eines ſehr intereſſanten ſtillen Mannes. Er
war Arzt und Naturforſcher, und ſchien mehr
zu den Penaten als zu den Bewohnern des
Hauſes zu gehören. Er zeigte uns das
Naturalienkabinet, das, wie die Bibliothek,
in verſchloſſenen Glasſchränken, zugleich die
Wände der Zimmer verzierte und den Raum
veredelte ohne ihn zu verengern. Hier erin¬
[342] nerte ich mich mit Freuden meiner Jugend,
und zeigte meinem Vater mehrere Gegen¬
ſtände, die er ehemals auf das Krankenbette
ſeines, kaum in die Welt blickenden Kindes
gebracht hatte. Dabey verhehlte der Arzt
ſo wenig als bey folgenden Unterredungen,
daß er ſich mir, in Abſicht auf religiöſe Ge¬
ſinnungen nähere, lobte dabey den Oheim
außerordentlich wegen ſeiner Toleranz und
Schätzung von allem, was den Werth und
die Einheit der menſchlichen Natur anzeige
und befördere, nur verlange er freylich von
allen andern Menſchen ein gleiches und pflege
nichts ſo ſehr, als individuellen Dünkel und
ausſchließende Beſchränktheit, zu verdammen
oder zu fliehen.


Seit der Trauung meiner Schweſter ſah’
dem Oheim die Freude aus den Augen, und
er ſprach verſchiedene mal mit mir über das,
was er für ſie und ihre Kinder zu thun
[343] denke. Er hatte ſchöne Güter, die er ſelbſt
bewirthſchaftete, und die er, in dem beſten
Zuſtande, ſeinen Neffen zu übergeben hoffte.
Wegen des kleinen Guthes, auf dem wir
uns befanden, ſchien er beſondere Gedanken
zu hegen: ich werde es, ſagte er, nur einer
Perſon überlaſſen, die zu kennen, zu ſchätzen
und zu genießen weiß was es enthält, und
die einſieht, wie ſehr ein Reicher und Vor¬
nehmer, beſonders in Deutſchland, Urſache
habe etwas muſtermäßiges aufzuſtellen.


Schon war der größte Theil der Gäſte
nach und nach verflogen, wir bereiteten uns
zum Abſchied und glaubten die letzte Scene
der Feyerlichkeit erlebt zu haben, als wir
aufs neue durch ſeine Aufmerkſamkeit, uns
ein würdiges Vergnügen zu machen, über¬
raſcht wurden. Wir hatten ihm das Ent¬
zücken nicht verbergen können, das wir fühl¬
ten, als bey meiner Schweſter Trauung ein
[344] Chor Menſchenſtimmen ſich, ohne alle Be¬
gleitung irgend eines Inſtruments, hören
ließ. Wir legten es ihm nahe genug, uns
das Vergnügen noch einmal zu verſchaffen;
er ſchien nicht darauf zu merken. Wie über¬
raſcht waren wir daher, als er eines Abends
zu uns ſagte: die Tanzmuſik hat ſich ent¬
fernt; die jungen, flüchtigen Freunde haben
uns verlaſſen; das Ehepaar ſelbſt ſieht ſchon
ernſthafter aus als vor einigen Tagen, und
in einer ſolchen Epoche von einander zu ſchei¬
den, da wir uns vielleicht nie, wenigſtens
anders wiederſehen, regt uns zu einer feyer¬
lichen Stimmung, die ich nicht edler nähren
kann, als durch eine Muſik, deren Wieder¬
hohlung Sie ſchon früher zu wünſchen
ſchienen.


Er ließ durch das indeß verſtärkte und
im Stillen noch mehr geübte Chor, uns vier
und achtſtimmige Geſänge vortragen, die
[345] uns, ich darf wohl ſagen, wirklich einen Vor¬
ſchmack der Seeligkeit gaben. Ich hatte
bisher nur den frommen Geſang gekannt, in
welchem gute Seelen oft mit heiſerer Kehle,
wie die Waldvögelein, Gott zu loben glau¬
ben, weil ſie ſich ſelbſt eine angenehme Em¬
pfindung machen; dann die eitle Muſik der
Concerte, in denen man allenfalls zur Be¬
wunderung eines Talents, ſelten aber, auch
nur zu einem vorübergehenden Vergnügen
hingeriſſen wird. Nun vernahm ich eine
Muſik aus dem tiefſten Sinne der trefflich
ſten menſchlichen Naturen entſprungen, die,
durch beſtimmte und geübte Organe in har¬
moniſcher Einheit wieder zum tiefſten beſten
Sinne des Menſchen ſprach und ihn wirk¬
lich in dieſem Augenblicke ſeine Gottähnlich¬
keit lebhaft empfinden ließ. Alles waren
lateiniſche, geiſtliche Geſänge, die ſich, wie
Juwelen, in dem goldnen Ringe einer geſit¬
[346] teten weltlichen Geſellſchaft ausnahmen, und
mich, ohne Anforderung einer ſo genannten
Erbauung, auf das geiſtigſte erhoben und
glücklich machten.


Bey unſerer Abreiſe wurden wir alle auf
das edelſte beſchenkt. Mir überreichte er das
Ordenskreuz meines Stiftes, kunſtmäßiger
und ſchöner gearbeitet und emaillirt, als man
es ſonſt zu ſehen gewohnt war. Es hing
an einem großen Brillanten, wodurch es zu¬
gleich an das Band befeſtigt wurde, und den
er als den edelſten Stein einer Naturalien¬
ſammlung anzuſehen bat.


Meine Schweſter zog nun mit ihrem Ge¬
mahl auf ſeine Güter; wir andern kehrten
alle nach unſern Wohnungen zurück und
ſchienen uns, was unſere äußre Umſtände
anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zurück
gekehrt zu ſeyn. Wir waren, wie aus einem
Feenſchloß, auf die platte Erde geſetzt, und
[347] mußten uns nach unſrer Weiſe wieder beneh¬
men und behelfen.


Die ſonderbaren Erfahrungen die ich in
jenem neuen Kreiſe gemacht hatte, ließen ei¬
nen ſchönen Eindruck bey mir zurück, doch
blieb er nicht lange in ſeiner ganzen Lebhaf¬
tigkeit, obgleich der Oheim ihn zu unterhal¬
ten und zu erneuern ſuchte, indem er mir,
von Zeit zu Zeit, von ſeinen beſten und ge¬
fälligſten Kunſtwerken zuſandte, und wenn
ich ſie lange genug genoſſen hatte, wieder
mit andern vertauſchte.


Ich war zu ſehr gewohnt, mich mit mir
ſelbſt zu beſchäftigen, die Angelegenheiten
meines Herzens und meines Gemüthes in
Ordnung zu bringen, und mich davon mit
ähnlich geſinnten Perſonen zu unterhalten,
als daß ich mit Aufmerkſamkeit ein Kunſt¬
werk hätte betrachten ſollen, ohne bald auf
mich ſelbſt zurück zu kehren. Ich war ge¬
[348] wohnt, ein Gemählde und einen Kupferſtich
nur anzuſehen, wie die Buchſtaben eines
Buchs. Ein ſchöner Druck gefällt wohl, aber
wer wird ein Buch des Druckes wegen in
die Hand nehmen? So ſollte mir auch eine
bildliche Darſtellung etwas ſagen, ſie ſollte
mich belehren, rühren, beſſern, und der Oheim
mochte in ſeinen Briefen, mit denen er ſeine
Kunſtwerke erläuterte, reden was er wollte,
ſo blieb es mit mir doch immer beym Alten.


Doch mehr als meine eigene Natur zo¬
gen mich äußere Begebenheiten, die Verän¬
derungen in meiner Familie von ſolchen Be¬
trachtungen, ja eine Weile von mir ſelbſt ab;
ich mußte dulden und würken, mehr, als
meine ſchwachen Kräfte zu ertragen ſchienen.


Meine ledige Schweſter war bisher mein
rechter Arm geweſen; geſund, ſtark und un¬
beſchreiblich gütig hatte ſie die Beſorgung
der Haushaltung über ſich genommen, wie
[349] mich die perſönliche Pflege des alten Vaters
beſchäftigte. Es überfällt ſie ein Kathar,
woraus eine Bruſtkrankheit wird, und in
drey Wochen liegt ſie auf der Bahre; ihr
Tod ſchlug mir Wunden, deren Narben ich
jetzt noch nicht gerne anſehe.


Ich lag krank zu Bette, ehe ſie noch be¬
erdiget war; der alte Schaden auf meiner
Bruſt ſchien aufzuwachen, ich huſtete heftig,
und war ſo heiſer daß ich keinen lauten
Ton hervorbringen konnte.


Die verheirathete Schweſter kam vor
Schrecken und Betrübniß zu früh in die
Wochen. Mein alter Vater fürchtete, ſeine
Kinder und die Hoffnung ſeiner Nachkom¬
menſchaft auf einmal zu verliehren, ſeine
gerechte Thränen vermehrten meinen Jam¬
mer; ich flehte zu Gott um Herſtellung einer
leidlichen Geſundheit, und bat ihn nur mein
Leben bis nach dem Tode des Vaters zu
[350] friſten. Ich genaß, und war nach meiner
Art wohl, konnte wieder meine Pflichten,
obgleich nur auf eine kümmerliche Weiſe, er¬
füllen.


Meine Schweſter ward wieder guter
Hoffnung. Mancherley Sorgen, die in ſol¬
chen Fällen der Mutter anvertraut werden,
wurden mir mitgetheilt; ſie lebte nicht ganz
glücklich mit ihrem Manne, das ſollte dem
Vater verborgen bleiben, ich mußte Schieds¬
richter ſeyn, und konnte es um ſo eher, da
mein Schwager Zutrauen zu mir hatte, und
beyde wirklich gute Menſchen waren, nur
daß beyde, anſtatt einander nachzuſehen, mit
einander rechteten, und aus Begierde, völlig
mit einander überein zu leben, niemals einig
werden konnten. Nun lernte ich auch die
weltlichen Dinge mit Ernſt angreifen, und
das ausüben, was ich ſonſt nur geſungen
hatte.


[351]

Meine Schweſter gebahr einen Sohn,
die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte
ihn nicht, zu ihr zu reiſen. Beym Anblick
des Kindes war er unglaublich heiter und
froh, und bey der Taufe erſchien er mir ge¬
gen ſeine Art wie begeiſtert, ja ich möchte
ſagen, als ein Genius mit zwey Geſichtern.
Mit dem einen blickte er freudig vorwärts
in jene Regionen, in die er bald einzugehen
hoffte; mit dem andern auf das neue, hoff¬
nungsvolle irdiſche Leben, das in dem Kna¬
ben entſprungen war, der von ihm abſtamm¬
te. Er ward nicht müde auf dem Rückwege
mich von dem Kinde zu unterhalten, von
ſeiner Geſtalt, ſeiner Geſundheit, und dem
Wunſche, daß die Anlagen dieſes neuen Welt¬
bürgers glücklich ausgebildet werden möch¬
ten. Seine Betrachtungen hierüber dauer¬
ten fort, als wir zu Hauſe anlangten, und
erſt nach einigen Tagen bemerkte man eine
[352] Art Fieber, das ſich nach Tiſch ohne Froſt
und durch eine etwas ermattende Hitze äuſ¬
ſerte. Er legte ſich jedoch nicht nieder, fuhr
des morgens aus und verſah treulich ſeine
Amtsgeſchäfte, bis ihn endlich anhaltende,
ernſthafte Symptome davon abhielten.


Nie werde ich die Ruhe des Geiſtes, die
Klarheit und Deutlichkeit vergeſſen, womit
er die Angelegenheiten ſeines Hauſes, die
Beſorgung ſeines Begräbniſſes, als wie das
Geſchäft eines andern, mit der größten Ord¬
nung vornahm.


Mit einer Heiterkeit, die ihm ſonſt nicht
eigen war, und die bis zu einer lebhaften
Freude ſtieg, ſagte er zu mir: wo iſt die
Todesfurcht hingekommen, die ich ſonſt noch
wohl empfand? ſollt ich zu ſterben ſcheuen?
ich habe einen gnädigen Gott, das Grab er¬
weckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges
Leben.


Mir[353]

Mir die Umſtände ſeines Todes zurück zu
rufen, der bald darauf erfolgte, iſt in mei¬
ner Einſamkeit eine meiner angenehmſten
Unterhaltungen, und die ſichtbaren Wirkun¬
gen einer höhern Kraft dabey wird mir nie¬
mand wegräſonniren.


Der Tod meines lieben Vaters veränder¬
te meine bisherige Lebensart. Aus dem
ſtrengſten Gehorſam, aus der größten Ein¬
ſchränkung kam ich in die größte Freiheit,
und ich genoß ihrer wie einer Speiſe die
man lange entbehrt hat. Sonſt war ich ſel¬
ten zwey Stunden außer dem Hauſe, nun
verlebte ich kaum Einen Tag in meinem
Zimmer. Meine Freunde, bey denen ich
ſonſt nur abgeriſſene Beſuche machen konnte,
wollten ſich meines anhaltenden Umgangs,
ſo wie ich mich des ihrigen, erfreuen, öfters
wurde ich zu Tiſche geladen, Spazierfahrten
und kleine Luſtreiſen kamen hinzu, und ich
W. Meiſters Lehrj. 3. Z[354] blieb nirgends zurück. Als aber der Zirkel
durchlaufen war, ſo ſahe ich, daß das un¬
ſchätzbare Glück der Freiheit nicht darin
beſteht, daß man alles thut, was man thun
mag, und wozu uns die Umſtände einladen
ſondern, daß man das ohne Hinderniß und
Rückhalt, auf dem graden Wege, thun kann,
was man für recht und ſchicklich hält, und
ich war alt genug, in dieſem Falle, ohne
Lehrgeld zu der ſchönen Überzeugung zu ge¬
langen.


Was ich mir nicht verſagen konnte, war,
ſobald als nur möglich, den Umgang mit
den Gliedern der Herrnhuthiſchen Gemeine
fortzuſetzen, und feſter zu knüpfen, und ich
eilte eine ihrer nächſten Einrichtungen zu be¬
ſuchen: aber auch da fand ich keinesweges,
was ich mir vorgeſtellt hatte. Ich war ehr¬
lich genug meine Meinung merken zu laſſen,
und man ſuchte mir hinwieder beyzubringen:
[355] dieſe Verfaſſung ſey gar nichts gegen eine
ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konn¬
te mir das gefallen laſſen, doch hätte nach
meiner Überzeugung der wahre Geiſt, aus
einer kleinen ſo gut, als aus einer großen
Anſtalt, hervorblicken ſollen.


Einer ihrer Biſchöfe, der gegenwärtig
war, ein unmittelbarer Schüler des Grafen,
beſchäftigte ſich viel mit mir; er ſprach voll¬
kommen Engliſch; und weil ich es ein we¬
nig verſtand, meinte er, es ſey ein Wink,
daß wir zuſammen gehörten; ich meinte es
aber ganz und gar nicht, ſein Umgang konn¬
te mir nicht im geringſten gefallen. Er war
ein Meſſerſchmidt, ein gebohrner Mähre,
ſeine Art zu denken konnte das handwerks¬
mäßige nicht verleugnen. Beſſer verſtand
ich mich mit dem Herrn von L*, der Ma¬
jor in franzöſiſchen Dienſten geweſen war;
aber zu der Unterthänigkeit, die er gegen
Z 2[356] ſeinen Vorgeſetzten bezeigte, fühlte ich mich
niemals fähig; ja es war mir als wenn man
mir eine Ohrfeige gäbe, wenn ich die Ma¬
jorin und andere, mehr oder weniger ange¬
ſehene, Frauen dem Biſchof die Hand küſſen
ſah. Indeſſen wurde doch eine Reiſe nach
Holland verabredet, die aber, und gewiß zu
meinem Beſten, niemals zu Stande kam.


Meine Schweſter war mit einer Tochter
niedergekommen, und nun war die Reihe an
uns Frauen zufrieden zu ſeyn, und zu den¬
ken, wie ſie dereinſt, uns ähnlich, erzogen
werden ſollte. Mein Schwager war dage¬
gen ſehr unzufrieden, als in dem Jahre dar¬
auf abermals eine Tochter erfolgte; er
wünſchte bey ſeinen großen Gütern Kna¬
ben um ſich zu ſehen, die ihm einſt in der
Verwaltung beyſtehen könnten.


Ich hielt mich bey meiner ſchwachen Ge¬
ſundheit ſtill, und bey einer ruhigen Lebens¬
[357] art ziemlich im Gleichgewicht, ich fürchtete
den Tod nicht, ja ich wünſchte zu ſterben, aber
ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit
gebe, meine Seele zu unterſuchen und ihm
immer näher zu kommen. In den vielen
ſchlafloſen Nächten habe ich beſonders etwas
empfunden, das ich eben nicht deutlich be¬
ſchreiben kann.


Es war als wenn meine Seele ohne Ge¬
ſellſchaft des Körpers dächte, ſie ſah den
Körper ſelbſt als ein, ihr fremdes, Weſen
an, wie man etwa ein Kleid anſieht. Sie
ſtellte ſich mit einer außerordentlichen Leb¬
haftigkeit die vergangenen Zeiten und Bege¬
benheiten vor, und fühlte daraus, was fol¬
gen werde. Alle dieſe Zeiten ſind dahin,
was folgt wird auch dahin gehen; der Kör¬
per wird wie ein Kleid zerreißen, aber Ich,
das wohlbekannte Ich, Ich bin.


Dieſem großen, erhabenen und tröſtlichen
[358] Gefühle ſo wenig als nur möglich nachzu¬
hängen, lehrte mich ein edler Freund, der
ſich mir immer näher verband; es war der
Arzt, den ich in dem Hauſe meines Oheims
hatte kennen lernen, und der ſich von der
Verfaſſung meines Körpers und meines Gei¬
ſtes ſehr gut unterrichtet hatte; er zeigte
mir wie ſehr dieſe Empfindungen, wenn wir
ſie, unabhängig von äußern Gegenſtänden,
in uns nähren, uns gewiſſermaßen aushöh¬
len und den Grund unſeres Daſeyns unter¬
graben. Thätig zu ſeyn, ſagte er, iſt des
Menſchen erſte Beſtimmung, und alle Zwi¬
ſchenzeiten, in denen er auszuruhen genöthi¬
get iſt, ſollte er anwenden eine deutliche Er¬
kenntniß der äuſſerlichen Dinge zu erlangen,
die ihm in der Folge abermals ſeine Thä¬
tigkeit erleichtert.


Da der Freund meine Gewohnheit kann¬
te, meinen eigenen Körper als einen äußern
[359] Gegenſtand anzuſehn, und da er wußte, daß
ich meine Conſtitution, mein Übel, und die
mediciniſchen Hülfsmittel ziemlich kannte,
und ich wirklich durch anhaltende eigene und
fremde Leiden ein halber Arzt geworden war,
ſo leitete er meine Aufmerkſamkeit von der
Kenntniß des menſchlichen Körpers und der
Specereyen, auf die übrigen nachbarlichen
Gegenſtände der Schöpfung, und führte mich
wie im Paradieſe umher, und nur zuletzt,
wenn ich mein Gleichniß fortſetzen darf, ließ
er mich den in der Abendkühle im Garten
wandelnden Schöpfer aus der Entfernung
ahnden.


Wie gerne ſah ich nunmehr Gott in der
Natur, da ich ihn mit ſolcher Gewißheit im
Herzen trug, wie intereſſant war mir das
Werk ſeiner Hände, und wie dankbar war
ich, daß er mich mit dem Athem ſeines Mun¬
des hatte beleben wollen.


[360]

Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬
ſter, auf einen Knaben, dem mein Schwager
ſo ſehnlich entgegen ſah, und deſſen Geburt
er leider nicht erlebte. Der wackere Mann
ſtarb an den Folgen eines unglücklichen
Sturzes vom Pferde, und meine Schweſter
folgte ihm, nachdem ſie der Welt einen ſchö¬
nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬
terlaſſenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬
muth anſehn. So manche geſunde Perſon
war vor mir, der Kranken, hingegangen, ſoll¬
te ich nicht vielleicht von dieſen hoffnungs¬
vollen Blüthen manche abfallen ſehen? Ich
kannte die Welt genug, um zu wiſſen, un¬
ter wie vielen Gefahren ein Kind, beſonders
in dem höheren Stande, herauf wächſt, und
es ſchien mir, als wenn ſie ſeit der Zeit mei¬
ner Jugend ſich für die gegenwärtige Welt
noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich,
bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für
[361] die Kinder zu thun im Stande ſey, um
deſto erwünſchter war mir des Oheims Ent¬
ſchluß, der natürlich aus ſeiner Denkungsart
entſprang, ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf
die Erziehung dieſer liebenswürdigen Ge¬
ſchöpfe zu verwenden. Und gewiß, ſie ver¬
dienten es in jedem Sinne, ſie waren wohl¬
gebildet, und verſprachen, bey ihrer großen
Verſchiedenheit, ſämmtlich gutartige und ver¬
ſtändige Menſchen zu werden.


Seitdem mein guter Arzt mich aufmerk¬
ſam gemacht hatte, betrachtete ich gern die
Familienähnlichkeit in Kindern und Ver¬
wandten. Mein Vater hatte ſorgfältig die
Bilder ſeiner Vorfahren aufbewahrt, ſich
ſelbſt und ſeine Kinder von leidlichen Mei¬
ſtern mahlen laſſen, auch war meine Mut¬
ter und ihre Verwandten nicht vergeſſen
worden. Wir kannten die Charactere der
ganzen Familie genau, und da wir ſie oft
[362] unter einander verglichen hatten, ſo ſuchten
wir nun bey den Kindern die Ähnlichkeiten
des äuſſern und innern wieder auf. Der
älteſte Sohn meiner Schweſter ſchien ſeinem
Großvater, väterlicher Seite, zu gleichen,
von dem ein jugendliches Bild ſehr gut ge¬
mahlt in der Sammlung unſeres Oheims
aufgeſtellt war, auch liebte er wie jener, der
ſich immer als ein braver Officier gezeigt
hatte, nichts ſo ſehr als das Gewehr, wo¬
mit er ſich immer, ſo oft er mich beſuchte,
beſchäftigte. Denn mein Vater hatte einen
ſehr ſchönen Gewehrſchrank hinterlaſſen, und
der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich
ihm ein Paar Piſtolen und eine Jagdflinte
ſchenkte, und bis er heraus gebracht hatte,
wie ein deutſches Schloß aufzuziehen ſey.
Übrigens war er in ſeinen Handlungen und
ſeinem ganzen Weſen nichts weniger als
rauh, ſondern vielmehr ſanft und verſtändig.


[363]

Die älteſte Tochter hatte meine ganze
Neigung gefeſſelt, und es mochte wohl da¬
her kommen, weil ſie mir ähnlich ſah, und
weil ſie ſich von allen vieren am meiſten zu
mir hielt. Aber ich kann wohl ſagen, je
genauer ich ſie beobachtete, da ſie heran
wuchs, deſto mehr beſchämte ſie mich, und
ich konnte das Kind nicht ohne Bewunde¬
rung, ja ich darf beynahe ſagen, nicht ohne
Verehrung anſehn. Man ſah nicht leicht
eine edlere Geſtalt, ein ruhiger Gemüth und
eine immer gleiche, auf keinen Gegenſtand
eingeſchränkte, Thätigkeit. Sie war keinen
Augenblick ihres Lebens unbeſchäftigt, und
jedes Geſchäft ward unter ihren Händen zur
würdigen Handlung. Alles ſchien ihr gleich,
wenn ſie nur das verrichten konnte, was in
der Zeit und am Platz war, und eben ſo
konnte ſie ruhig, ohne Ungeduld, bleiben,
wenn ſich nichts zu thun fand. Dieſe Thä¬
[364] tigkeit ohne Bedürfniß einer Beſchäftigung
habe ich in meinem Leben nicht wieder geſe¬
hen. Unnachahmlich war von Jugend auf
ihr Betragen gegen Nothleidende und Hülfs¬
bedürftige. Ich geſtehe gern, daß ich nie¬
mals das Talent hatte, mir aus der Wohl¬
thätigkeit ein Geſchäft zu machen; ich war
nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in
meinem Verhältniſſe zu viel dahin, aber ge¬
wiſſermaßen kaufte ich mich nur los, und es
mußte mir jemand angebohren ſeyn, wenn
er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte.
Grade das Gegentheil lobe ich an meiner
Nichte. Ich habe ſie niemals einem Armen
Geld geben ſehen, und was ſie von mir zu
dieſem Endzweck erhielt, verwandelte ſie im¬
mer erſt in das nächſte Bedürfniß. Nie¬
mals erſchien ſie mir liebenswürdiger, als
wenn ſie meine Kleider- und Wäſchſchränke
plünderte; immer fand ſie etwas, das ich
[365] nicht trug und nicht brauchte, und dieſe al¬
ten Sachen zuſammen zu ſchneiden und ſie
irgend einem zerlumpten Kinde anzupaſſen,
war ihre größte Glückſeligkeit.


Die Geſinnungen ihrer Schweſter zeigten
ſich ſchon anders, ſie hatte vieles von der
Mutter, verſprach ſchon frühe ſehr zierlich
und reizend zu werden und ſcheint ihr Ver¬
ſprechen halten zu wollen, ſie iſt ſehr mit ih¬
rem Äußern beſchäfftigt und wußte ſich, von
früher Zeit an, auf eine in die Augen fallende
Weiſe zu putzen und zu tragen. Ich erin¬
nere mich noch immer, mit welchem Entzük¬
ken ſie ſich als ein kleines Kind im Spiegel
beſah, als ich ihr die ſchönen Perlen, die
mir meine Mutter hinterlaſſen hatte, und
die ſie von ungefähr bey mir fand, umbin¬
den mußte.


Wenn ich dieſe verſchiedenen Neigungen
betrachtete, war es mir angenehm zu den¬
[366] ken, wie meine Beſitzungen, nach meinem
Tode, unter ſie zerfallen und durch ſie wieder
lebendig werden würden. Ich ſah die Jagd¬
flinten meines Vaters ſchon wieder auf dem
Rücken des Neffen im Felde herumwandeln,
und aus ſeiner Jagdtaſche ſchon wieder Hüh¬
ner heraus fallen; ich ſah meine ſämmtliche
Garderobe bey der Oſterconfirmation, lauter
kleinen Mädchen angepaßt, aus der Kirche
herauskommen und mit meinen beſten Stof¬
fen ein ſittſames Bürgermädchen an ihrem
Brauttage geſchmückt; denn zu Ausſtattung
ſolcher Kinder und ehrbarer armer Mädchen
hatte Natalie eine beſondere Neigung, ob
ſie gleich, wie ich hier bemerken muß, ſelbſt
keine Art von Liebe, und wenn ich ſo ſagen
darf, kein Bedürfniß einer Anhänglichkeit an
ein ſichtbares oder unſichtbares Weſen, wie
es ſich bey mir in meiner Jugend ſo lebhaft
gezeigt hatte, auf irgend eine Weiſe mer¬
ken ließ.


[367]

Wenn ich nun dachte, daß die Jüngſte
an eben demſelben Tage meine Perlen und
Juwelen nach Hofe tragen werde, ſo ſah ich
mit Ruhe meine Beſitzungen, wie meinem
Körper, den Elementen wiedergegeben.


Die Kinder wuchſen heran, und ſind zu
meiner Zufriedenheit geſunde, ſchöne und
wackre Geſchöpfe. Ich ertrage es mit Geduld,
daß der Oheim ſie von mir entfernt hält, und
ſehe ſie, wenn ſie in der Nähe oder auch
wohl gar in der Stadt ſind, ſelten.


Ein wunderbarer Mann, den man für
einen franzöſiſchen Geiſtlichen hält, ohne daß
man recht von ſeiner Herkunft unterrichtet
iſt, hat die Aufſicht über die ſämmtlichen
Kinder, welche an verſchiedenen Orten erzo¬
gen werden und bald hier bald da in der
Koſt ſind.


Ich konnte anfangs keinen Plan in dieſer
Erziehung ſehn, bis mir mein Arzt zuletzt
[368] eröffnete: der Oheim habe ſich durch den Ab¬
bé überzeugen laſſen, daß, wenn man an der
Erziehung des Menſchen etwas thun wolle,
müſſe man ſehen, wohin ſeine Neigungen
und ſeine Wünſche gehen? ſodann müſſe
man ihn in die Lage verſetzen, jene, ſobald
als möglich zu befriedigen, dieſe, ſobald als
möglich zu erreichen, damit der Menſch,
wenn er ſich geirrt habe, früh genug ſeinen
Irrthum gewahr werde, und wenn er das
getroffen hat, was für ihn paßt, deſto eifri¬
ger daran halte und ſich deſto emſiger fort¬
bilde. Ich wünſche daß dieſer ſonderbare
Verſuch gelingen möge, bey ſo guten Natu¬
ren iſt es vielleicht möglich.


Aber das, was ich nicht an dieſen Erzie¬
hern billigen kann, iſt, daß ſie alles von den
Kindern zu entfernen ſuchen, was ſie zu dem
Umgange mit ſich ſelbſt und mit dem unſicht¬
baren, einzigen treuen Freund führen könne.


Ja[369]

Ja es verdrießt mich oft von dem Oheim,
daß er mich deßhalb für die Kinder für ge¬
fährlich hält. Im praktiſchen iſt doch kein
Menſch tolerant! denn wer auch verſichert,
daß er jedem ſeine Art und Weſen gerne
laſſen wolle, ſucht doch immer diejenigen von
der Thätigkeit auszuſchließen, die nicht ſo
denken wie er.


Dieſe Art, die Kinder von mir zu entfer¬
nen, betrübt mich deſto mehr, je mehr ich
von der Realität meines Glaubens überzeugt
ſeyn kann. Warum ſollte er nicht einen
göttlichen Urſprung, nicht einen wirklichen
Gegenſtand haben, da er ſich im praktiſchen
ſo wirkſam erweiſet. Werden wir durchs
praktiſche doch unſeres eigenen Daſeyns ſelbſt
erſt recht gewiß, warum ſollten wir uns nicht
auch auf eben dem Wege von jenem Weſen
überzeugen können, das uns zu allem Guten
die Hand reicht?


W. Meiſters Lehrj. 3. A a[370]

Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts
gehe, daß meine Handlungen immer mehr
der Idee ähnlich werden, die ich mir von der
Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täg¬
lich mehr Leichtigkeit fühle das zu thun, was
ich für Recht halte, ſelbſt bey der Schwäche
meines Körpers, der mir ſo manchen Dienſt
verſagt; läßt ſich das alles aus der menſch¬
lichen Natur, deren Verderben ich ſo tief
eingeſehen habe, erklären? Für mich nun
einmal nicht.


Ich erinnere mich kaum eines Gebotes,
nichts erſcheint mir in Geſtalt eines Geſetzes,
es iſt ein Trieb der mich leitet und mich im¬
mer recht führet; ich folge mit Freiheit mei¬
nen Geſinnungen, und weiß ſo wenig von
Einſchränkung, als von Reue. Gott ſey
Dank, daß ich erkenne wem ich dieſes Glück
ſchuldig bin und daß ich an dieſe Vorzüge
nur mit Demuth denken darf. Denn niemals
[371] werde ich in Gefahr kommen, auf mein eig¬
nes Können und Vermögen ſtolz zu werden,
da ich ſo deutlich erkannt habe, welch Unge¬
heuer in jedem menſchlichen Buſen, wenn
eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, ſich [er¬
zeugen]
und nähren könne.

[][][][]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Goethe, Johann Wolfgang von. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjk4.0