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Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
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Briefe
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.




Dritte Sammlung.


Riga,: 1794.
bei Johann Friedrich Hartknoch.
[[4]]

27.


Sie fuͤrchten, daß man dem Wort Humani-
taͤt einen Fleck anhaͤngen werde *); koͤnnten
wir nicht das Wort aͤndern? Menſchheit,
Menſchlichkeit, Menſchenrechte,
Menſchenpflichten, Menſchenwuͤr-
de, Menſchenliebe?


Menſchen ſind wir alleſammt, und
tragen ſofern die Menſchheit an uns,
oder wir gehoͤren zur Menſchheit. Lei-
A 3
[6] der aber hat man in unſerer Sprache dem
Wort Menſch, und noch mehr dem barm-
herzigen Wort Menſchlichkeit ſo oft
eine Nebenbedeutung von Niedrigkeit,
Schwaͤche und falſchem Mitleid angehaͤngt,
daß man jenes nur mit einem Blick der
Verachtung, dies mit einem Achſelzucken zu
begleiten gewohnt iſt. „Der Menſch!“ *)
ſagen wir jammernd oder verachtend und
glauben einen guten Mann aufs lindeſte
mit dem Ausdruck zu entſchuldigen: „es
habe ihn die Menſchlichkeit uͤbereilet.“
Kein Vernuͤnftiger billigt es, daß man den
Charakter des Geſchlechts, zu dem wir ge-
hoͤren, ſo barbariſch hinabgeſetzt hat; man
hat hiemit unweiſer gehandelt, als wenn
[7] man den Namen ſeiner Stadt oder Lands-
mannſchaft zum Eckelnamen machte. Wir
alſo wollen uns huͤten, daß wir zu Befoͤr-
derung ſolcher Menſchlichkeit keine
Briefe ſchreiben.


Der Name Menſchenrechte kann
ohne Menſchenpflichten nicht genannt
werden; beide beziehen ſich auf einander,
und fuͤr beide ſuchen wir Ein Wort.


So auch Menſchenwuͤrde und Men-
ſchenliebe. Das Menſchengeſchlecht, wie
es jetzt iſt und wahrſcheinlich lange noch
ſeyn wird, hat ſeinem groͤßeſten Theil nach
keine Wuͤrde; man darf es eher bemitlei-
den, als verehren. Es ſoll aber zum
Charakter ſeines Geſchlechts, mit-
hin auch zu deſſen Werth und Wuͤrde
gebildet werden. Das ſchoͤne Wort Men-
ſchenliebe iſt ſo trivial worden, daß man
meiſtens die Menſchen liebt, um keinen
A 4
[8] unter den Menſchen wirkſam zu lieben.
Alle dieſe Worte enthalten Theilbegriffe
unſeres Zwecks, den wir gern mit Einem
Ausdruck bezeichnen moͤchten.


Alſo wollen wir bei dem Wort Hu-
manitaͤt bleiben, an welches unter Al-
ten und Neuern die beſten Schriftſteller
ſo wuͤrdige Begriffe geknuͤpft haben. Hu-
manitaͤt iſt der Charakter unſres Ge-
ſchlechts; er iſt uns aber nur in Anla-
gen angebohren, und muß uns eigentlich
angebildet werden. Wir bringen ihn nicht
fertig auf die Welt mit; auf der Welt
aber ſoll er das Ziel unſres Beſtrebens,
die Summe unſrer Uebungen, unſer Werth
ſeyn: denn eine Angelitaͤt im Menſchen
kennen wir nicht, und wenn der Daͤmon,
der uns regiert, kein humaner Daͤmon iſt,
werden wir Plagegeiſter der Menſchen.
Das Goͤttliche in unſerm Geſchlecht iſt
[9] alſo Bildung zur Humanitaͤt; alle
großen und guten Menſchen, Geſetzgeber,
Erfinder, Philoſophen, Dichter, Kuͤnſtler,
jeder edle Menſch in ſeinem Stande, bei
der Erziehung ſeiner Kinder, bei der Be-
obachtung ſeiner Pflichten, durch Beiſpiel,
Werk, Inſtitut und Lehre hat dazu mitge-
holfen. Humanitaͤt iſt der Schatz und die
Ausbeute aller menſchlichen Bemuͤhungen,
gleichſam die Kunſt unſres Geſchlech-
tes. Die Bildung zu ihr iſt ein Werk,
das unablaͤßig fortgeſetzt werden muß; oder
wir ſinken, hoͤhere und niedere Staͤnde,
zur rohen Thierheit, zur Brutalitaͤt
zuruͤck.


Sollte das Wort Humanitaͤt alſo un-
ſre Sprache verunzieren? Alle gebildete
Nationen haben es in ihre Mundart auf-
genommen; und wenn unſre Briefe einem
Fremden in die Hand kaͤmen, muͤßten ſie
A 5
[10] ihm wenigſtens unverfaͤnglich ſcheinen:
denn Briefe zu Befoͤrderung der
Brutalitaͤt
wird doch kein Ehrliebender
Menſch wollen geſchrieben haben.


[11]

28.


Gern nehme ich mit Ihnen das Wort
Humanitaͤt in unſre Sprache, wenig-
ſtens im Kreiſe unſrer Geſellſchaft auf;
der Begriff, den es ausdruͤckt, noch mehr
aber deſſen Geſchichte ſcheint ihm das
Buͤrgerrecht zu geben.


So lange der Menſch, dies wunderbare
Raͤthſel der Schoͤpfung, ſich ſeinem ſichtba-
ren Zuſtande nach betrachtete, und ſich da-
bei mit dem was in ihm lag, mit ſeinen
Anlagen und Willenskraͤften oder gar mit
aͤußern Gegenſtaͤnden der daurenden Na-
[12] tur verglich, ſo ward er auf das Gefuͤhl
der Hinfaͤlligkeit, der Schwaͤche und
Krankheit zuruͤckgeſtoßen; daher in meh-
reren morgenlaͤndiſchen Schriften dieſer
Begriff dem Namen unſres Geſchlechts
urſpruͤnglich beigeſellet iſt. Der Menſch
iſt von Erde, eine zerbrechliche, von
einem fluͤchtigen Othem durchhauchte Leim-
huͤtte; ſein Leben iſt ein Schatte, ſein
Loos iſt Muͤhe auf Erden.


Schon dieſer Begriff fuͤhrte zur
Menſchlichkeit, d. i. zum erbarmenden
Mitgefuͤhl des Leidens ſeiner Nebenmen-
ſchen, zur Theilnahme an den Unvollkom-
menheiten ihrer Natur, mit dem Beſtre-
ben, dieſen zuvorzukommen oder ihnen ab-
zuhelfen. Die Morgenlaͤnder ſind ſo reich
an Sittenſpruͤchen und Einkleidungen, die
dies Menſchengefuͤhl als Pflicht einſchaͤr-
fen oder als eine unſerm Geſchlecht unent-
[13] behrliche Tugend empfehlen, daß es ſehr
ungerecht waͤre, ihnen Humanitaͤt abzu-
ſprechen, weil ſie dies Wort nicht be-
ſaßen.


Die Griechen hatten fuͤr den Menſchen
einen edleren Namen: ανϑϱωπος ein Auf-
waͤrtsblickender, der ſein Antlitz und
Auge aufrecht empor traͤgt, oder wie Plato
es noch kuͤnſtlicher deutet, Einer, der, in-
dem er ſieht, auch uͤberzaͤhlt und rechnet.
Sie konnten indeſſen eben ſo wenig um-
hin, in dieſem aufrechtblickenden, Vernunft-
artigen Geſchlecht alle die Maͤngel zu be-
merken, die zum bedaurenden Mitgefuͤhl,
alſo zur Humanitaͤt und zur Geſellung
fuͤhren. In Homer und allen ihren Dich-
tern kommen die zaͤrtlichſten Klagen uͤber
das Loos der Menſchheit vor. Erinnern
Sie ſich der Worte Apolls, wenn er die
armen Sterblichen beſchreibt,


[14]
— Wie ſie, gleich den Blaͤttern des Baums,

jetzt gruͤnen und friſch ſind,

Von den Fruͤchten der Erde ſich naͤhrend; dann

aber in Kurzem

Welken und fallen entſeelet dahin —

Oder wenn Jupiter ſelbſt die unſterb-

lichen Roſſe Achills bedauret, die um ih-

ren Gebieter trauren:

— Er ſprach im Innern der Seele:

Arme, warum doch gaben wir euch dem Koͤnige

Peleus,

Einem Sterblichen, Euch, die niemals altern

und ſterben?

Wars, mit den ungluͤckſeligen Menſchen euch

leiden zu ſehen?

Denn elender iſt nirgend ein Weſen, als es

der Menſch iſt;

Keines von allen, die uͤber der Erde ſich regen

und athmen. —

In demſelben Ton ſingen ihre lyriſche
Dichter.


[15]

Naͤchſt der Selbſterhaltung ward es al-
ſo die erſte Pflicht der Menſchheit, den
Schwaͤchen unſerer Nebengeſchoͤpfe beizu-
ſpringen und ſie gegen die Uebel der Na-
tur oder die rohen Leidenſchaften ihres eig-
nen Geſchlechts in Schutz zu nehmen.
Dahin ging die Sorge ihrer Geſetzgeber
und Weiſen, daß ſie in Worten und Ge-
braͤuchen den Menſchen dieſe unentbehrli-
chen heiligen Pflichten gegen ihre Mitmen-
ſchen anempfahlen, und dadurch das aͤlteſte
Menſchen- und Voͤlkerrecht gruͤnde-
ten. Religion wars, vom Morde ſich zu
enthalten, dem Schwachen beizuſpringen,
dem Irrenden den rechten Weg zu zeigen,
des Verwundeten zu pflegen, den Todten
zu begraben. In Religion wurden die
Pflichten des Ehebundes, der Eltern gegen
die Kinder, der Kinder gegen die Eltern,
des Einheimiſchen gegen die Fremden ein-
[16] gehuͤllet, und allmaͤlig dies Erbarmen auch
auf Feinde verbreitet *). Was Poeſie, und
Geſetzgebende Weisheit begonnen hatten,
entwickelte die Philoſophie endlich; und
wir haben es inſonderheit der Sokratiſchen
Schule zu danken, daß in Form ſo man-
nichfaltiger Lehrgebaͤude die Kenntniß
der Natur des Menſchen
, ſeiner
weſentlichen Beziehungen und
Pflichten
das Studium der erleſenſten
Geiſter ward. Was Sokrates bei den
Griechen that, brachten bei andern Voͤl-
kern Andre zu Stande; Confucius z. B.
iſt der Sokrates der Sineſer, Menu der
Indier worden; denn uͤberhaupt ſind die
Geſetze der Menſchenpflicht keinem Volk
der
[17] der Erde unbekannt geblieben. In jeder
Staatsverfaſſung aber hat ſie nach Lage
und Zeit das ſogenannte Beduͤrfniß
des Staats
Theils befoͤrdert, Theils
aufgehalten und verderbet.


Unter den Roͤmern alſo, denen das
Wort Humanitaͤt eigentlich gehoͤrt, fand
der Begriff Anlaß gnug, ſich beſtimmter
auszubilden. Rom hatte harte Geſetze ge-
gen Knechte, Kinder, Fremde, Feinde; die
obern Staͤnde hatten Rechte gegen das
Volk, u. f. Wer dieſe Rechte mit groͤße-
ſter Strenge verfolgte, konnte gerecht
ſeyn, er war aber dabei nicht menſch-
lich. Der Edle, der von dieſen Rechten,
wo ſie unbillig waren, von ſelbſt nachließ,
der gegen Kinder, Sklaven, Niedre, Frem-
de, Feinde nicht als Roͤmiſcher Buͤrger oder
Patricier, ſondern als Menſch handelte, der
war humanus, humaniſſimus, nicht etwa in
Dritte Samml. B
[18] Geſpraͤchen nur und in der Geſellſchaft,
ſondern auch in Geſchaͤften, in haͤuslichen
Sitten, in der ganzen Handlungsweiſe.
Und da hiezu das Studium und die Liebe
der griechiſchen Weltweisheit viel that, daß
ſie den rauhen, ſtrengen Roͤmer nachgebend,
ſanft, gefaͤllig, billigdenkend machte, konnte
den bildenden Wiſſenſchaften ein ſchoͤnerer
Name gegeben werden, als daß man ſie
menſchliche Wiſſenſchaften nannte?
Gewiß war von ihnen die Philoſophie nicht
ausgeſchloſſen *); vielmehr war ſie dieſer
bildenden Wiſſenſchaften Erzieherinn und
Geſellinn, bald ihre Mutter, bald ihre
Tochter geweſen.


Da bei den Roͤmern alſo die Huma-
nitaͤt zuerſt als eine Bezaͤhmerinn harter
[19] buͤrgerlicher Geſetze und Rechte, als die ei-
gentliche Tochter der Philoſophie und bil-
denden Wiſſenſchaften einen Namen ge-
wonnen hat, der ſich mit dieſen nachher
weiter vererbte: ſo laſſen Sie uns ja Na-
men und Sache ehren. Auch in den aber-
glaͤubigſten, dunkelſten Zeiten erinnerte der
Name humaniora an den ernſten und ſchoͤ-
nen Zweck, den die Wiſſenſchaften befoͤr-
dern ſollten; dieſen wollen wir, da wir
menſchliche Wiſſenſchaften doch nicht
wohl ſagen koͤnnen, mit und ohne dem
Wort Humanitaͤt, nie vergeſſen, nie auf-
geben. Wir beduͤrfen deſſen eben ſo wohl
als die Roͤmer.


Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die
Geſchichte; es kam eine Zeit, da das Wort
Menſch (homo) einen ganz andern Sinn
bekam, es hieß ein Pflichttraͤger, ein
Unterthan, ein Vaſall, ein Die-
B 2
[20]ner*). Wer dies nicht war, der genoß
keines Rechts, der war ſeines Lebens nicht
ſicher; und die, denen jene dienende Men-
ſchen zugehoͤrten, waren Uebermen-
ſchen. Der Eid, den man ihnen ablegte,
hieß Menſchenpflicht(homagium) und
wer ein freier Mann ſeyn wollte, mußte
durch den Mann-Rechtsbrief bewei-
ſen, daß er kein homo, kein Menſch ſei.
Wundern Sie ſich nun, daß dem Wort
Menſch in unſrer Sprache ein ſo niedriger
Begriff anklebt? ſeiner Abſtammung ſelbſt
heißt es ja nichts anders als ein verachte-
ter Mann, Menniſk', ein Maͤnnlein **).
[21] Auch Leute, Leutlein wurden nur als
Anhaͤngſel des Landes betrachtet, das ſie
bebauen mußten, auf welchem ſie ſtarben.
Der Fuͤrſt, der Edle war Herr und Eigen-
thuͤmer uͤber Land und Leute; und ſeine
Seckeltraͤger, Canzliſten, Capellane, Vaſal-
len und Clienten waren homines,Men-
ſchen oder Menſchlein, mit mancher-
lei Nebenbeſtimmungen, die ihnen blos das
Verhaͤltniß gab, nach welchem ſie Ihm
angehoͤrten *). Laſſen Sie uns ja zum
**)
B 3
[22] Begriff der Humanitaͤt bei Griechen und
Roͤmern uͤbergehen: denn bei dieſem bar-
bariſchen Menſchenrecht wird uns angſt
und bange.



[23]

29.


Das Hauptgut wollen wir ja nicht ver-
geſſen, das uns die tiefere Betrachtung
der Menſchennatur fuͤr alle Zeiten erwor-
ben hat; es iſt die Erkenntniß unſrer
Kraͤfte und Anlagen
, unſres Be-
rufes und unſrer Pflicht. Eben in
dem, wodurch der Menſch von Thieren ſich
unterſcheidet, liegt ſein Charakter, ſein
Adel, ſeine Beſtimmung; er kann ſich da-
von ſo wenig als von der Menſchheit
ſelbſt losſagen. Dies iſt das wahre ſtudi-
um humanitatis,
in welchem uns Griechen
und Roͤmer vortreflich vorgegangen ſind;
Schande, wenn wir ihnen nachbleiben
wollten!


B 4
[24]

Der Menſch hat einen Willen, er iſt
des Geſetzes faͤhig: ſeine Vernunft iſt ihm
Geſetz. Ein heiliges, unverbruͤchliches Ge-
ſetz, dem er ſich nie entziehen darf, dem
er ſich nie entziehen ſoll. Er iſt nicht etwa
nur ein mechaniſches Glied der Naturkette;
ſondern der Geiſt, der die Natur beherrſcht,
iſt Theilweiſe in ihm. Jener ſoll er fol-
gen; die Dinge um ihn her, inſonderheit
ſeine eigne Handlungen ſoll er dem allge-
meinen Principium der Welt gemaͤß anord-
nen. Hierinn iſt er keinem Zwange unter-
worfen, ja er iſt keines Zwanges faͤhig.
Er conſtituiret ſich ſelbſt; er conſtituirt mit
andern ihm Gleichgeſinnten nach heiligen,
unverbruͤchlichen Geſetzen eine Geſellſchaft.
Nach ſolchen iſt er Freund, Buͤrger, Ehe-
mann, Vater; Mitbuͤrger endlich der gro-
ßen Stadt Gottes auf Erden, die nur
Ein Geſetz, Ein Daͤmon, der Geiſt einer
[25]allgemeinen Vernunft und Huma-
nitaͤt beherrſchet, ordnet, lenket.


Doch warum ſpreche ich? und laſſe nicht
lieber den menſchenfreundlichen Kaiſer ſpre-
chen, der in ſeinen Betrachtungen
uͤber ſich ſelbſt
mehr als in ſeiner Sta-
tue vor dem Capitol als Geſetzgeber der
Welt dem Menſchengeſchlecht ſanftmuͤthig-
groß gebietet.


Mark-Antonin uͤber ſich ſelbſt.


„Von Apollonius habe ich gelernt, frei
zu ſeyn, und ohne Wankelmuth unbeweglich;
auf nichts anders, auch mit dem kleinſten
Seitenblick hinzuſehen, als auf die Ver-
nunft; immer Derſelbe zu ſeyn, unter den
heftigſten Schmerzen, beym Verluſt eines
Kindes, in langwierigen Krankheiten. Wie
in einem lebendigen Muſter habe ich an
ihm deutlich erſehen, wie Derſelbe Mann
B 5
[26] ſehr ſtrenge und doch auch nachgebend ſeyn
koͤnne. Ich habe von ihm gelernt, wie
man von Freunden ſogenannte Gefaͤlligkei-
ten annehmen koͤnne, daß man ihnen we-
der verhaftet werde, noch ſolche Gefuͤhllos
zuruͤckweiſen duͤrfe.“


„Vom Sextus lernte ich Wohlwollen;
ich empfing das Muſter einer vaͤterlichen
Hausverwaltung, und den Sinn, nach der
Natur zu leben. Ich lernte, ernſt ſeyn
ohne Steifheit, mich in Freunde ſchicken
ohne Laune, Unwiſſende und vom Wahn Ge-
leitete dulden. An ihm ſah ich, was Ge-
faͤlligkeit gegen Jedermann ſey: denn ſein
Umgang war angenehmer als alle Schmei-
chelei, und doch blieb er zu eben der Zeit
bei allen in Achtung.“


„Von meinem Bruder Severus lernte
ich Verwandte, Recht und Wahrheit lie-
ben. Durch ihn lernte ich einen Thraſea,
[27]Helvidius, Cato, Dion und Bru-
tus kennen: ich empfing die Idee eines
Staats, der nach gleichen Geſetzen und
Rechten verwaltet wird, einer Regierung,
die der Freiheit ihrer Unterthanen die hoͤch-
ſte Achtung erweiſet. Von ihm lernte ich
ſtandhaft und ohne Scheu die Philoſophie
hochſchaͤtzen, gutthaͤtig ſeyn auf die beſte
reichſte Weiſe, jederzeit das Beſte hoffen,
und auf die Liebe der Freunde trauen; es
ihnen geſtehen, worinn man mit ihnen un-
zufrieden ſei; was man wolle oder nicht
wolle, ſie nicht errathen laſſen, ſondern es
ihnen klar ſagen.“


„Haben wir den Verſtand mit einan-
der gemein, ſo iſt uns auch die Vernunft
gemein, durch die wir vernuͤnftig ſind.
Iſt dieſes: ſo iſt uns auch die Vernunft
gemein, die vorſchreibt, was wir zu thun
und nicht zu thun haben. Iſt dies, ſo
[28] haben wir auch ein gemeinſchaftliches Ge-
ſetz. Iſt das, ſo ſind wir Buͤrger und
nehmen an Einem gemeinſchaftlichen Staate
Theil. Dieſer Staat iſt die Welt: denn
was fuͤr einen andern Staat koͤnnte je-
mand nennen, an dem das ganze Menſchen-
geſchlecht Theil nehme? Aus dieſem ge-
meinſchaftlichen Staat alſo haben wir alle
denſelben Verſtand, dieſelbe Vernunft, die-
ſelbe Geſetzgebende Vernunft: denn woher
haͤtten wir ſie ſonſt? Wie das Irrdiſche
an mir, das Feuchte, das Luftige, das
Feurige jedes aus der Quelle ſeines Ele-
ments kommt, und dahin gehoͤret: ſo muß
auch der Verſtand irgend woher ſeyn und
dazu gehoͤren.“


„Was Dir fuͤglich iſt, o Weltall, iſt
auch mir bequem. Nichts kommt mir zu
fruͤhe, nichts zu ſpaͤt, was dir recht iſt.
Alles iſt mir Frucht, o Natur, was Deine
[29]Horen mir bringen. Aus dir kommt alles,
in dir iſt alles, in dich kehrt alles zuruͤck.
Wenn jener ſagte: o du geliebte Ce-
crops-Stadt, ſollte ich nicht ſagen: o
du geliebte Gottes-Stadt!“


„Der Geiſt des Weltalls iſt ein Ge-
meinheit-Stifter. Das Schlechtere hat er
des Beſſern wegen hervorgebracht, das Beſ-
ſere harmoniſch zu einander geordnet. Du
ſieheſt, wie er unter-wie er zuſammenord-
nete, wie er jedem Dinge nach Wuͤrde das
ſeinige zutheilte, und die edelſten Weſen
zum einſtimmigen Wohlwollen, zum
Gleichſinn gegen einander verknuͤpft
hat.“


„Steheſt du des Morgens ungern auf,
ſo ermuntere dich mit dem Gedanken: ich
erwache zum Werk des Menſchen
!
Sollte ich mit Unwillen dran gehen, Das
zu thun, deßhalb ich gebohren, dazu ich in
[30] die Welt kommen bin? „Die Ruhe iſt aber
angenehm.“ Biſt du zum Genießen geboh-
ren? oder nicht vielmehr zum Thun, zum
Wirken? Sieheſt du nicht, wie Gewaͤchſe,
Voͤgel, Ameiſen, Spinnen, Bienen die Welt
auf ihrem Platze mitzieren? und du, ein
Menſch, wollteſt deinen Menſchenberuf nicht
erfuͤllen? Du eilſt nicht zu dem, was deine
Natur von dir fodert? Du liebſt dich alſo
nicht ſelbſt, da du deine Natur, und ihr Ge-
ſetz nicht liebeſt. Andre, die ihre Kunſt lie-
ben, zehren ſich in Ausuͤbung derſelben ab,
ſie vergeſſen Speiſe und Trank; du aber
ſchaͤtzeſt deine Menſchennatur geringer, als
der Drechsler die Drehekunſt, der Taͤnzer die
Tanzkunſt, der Geizige das Geld, der Ehr-
ſuͤchtige ein wenig Ehre. Scheinen Dir Ar-
beiten zum gemeinen Wohlſeyn zu ge-
ringe, als daß ſie gleichen Fleißes beduͤrf-
ten?“


[31]

„Siehe zu, daß du nicht verkaiſert
werdeſt: nimm die Tinctur nicht an. Denn
das geſchieht leicht! Erhalte dich einfach,
gut, unverfaͤlſcht, ernſthaft, Prachtlos,
Rechtliebend, Gottverehrend, ſanftmuͤthig,
liebend die Deinigen, tapfer zu jedem wohl-
anſtaͤndigen Werk. Kaͤmpfe, daß du Der
bleibeſt, zu dem dich die Philoſophie machen
wollte. Verehre die Goͤtter, erhalte die Men-
ſchen. Kurz iſt das Leben; und es giebt nur
Eine Frucht des irrdiſchen Lebens: ein heili-
ges Gemuͤth und zum Wohl der Geſellſchaft
dienende Werke.“


„Glaube nicht, daß wenn dir etwas
ſchwer duͤnkt, es dem Menſchen unmoͤg-
lich ſey; und was dem Menſchen je moͤglich
war, das halte auch dir moͤglich.“


„Gegen unvernuͤnftige Thiere, uͤberhaupt
auch bei allen vorkommenden Vernunftloſen
Dingen und Geſchaͤften betrage dich als ei-
[32] ner, der Vernunft hat, großmuͤthig und frei.
Gegen Menſchen aber, als gegen vernuͤnf-
tige Weſen, betrage dich mit gemeinſchaftli-
cher, geſelliger Vernunft.“


„Die Menſchen ſind um einander willen
da. Belehre ſie alſo, oder ertrage ſie.“


„Fange endlich einmal an ein Menſch zu
ſeyn; huͤte dich aber eben ſo wohl, den Men-
ſchen zu ſchmeicheln, als uͤber ſie zu zuͤrnen.
Beides iſt wider die Pflicht der Geſellſchaft;
beides iſt ſchaͤdlich.“


„Welche Macht und Wuͤrde hat der
Menſch! Nichts zu thun, als was die Gott-
heit ſelbſt billigen wuͤrde; und alles aufzu-
nehmen, was ihm Gott anweiſet.“


„Menſch! Du wareſt in dieſem großen
Staate Gottes ein Mitbuͤrger; was kuͤm-
mert es dich, daß du es nur fuͤnf Jahre lang
wareſt? Was nach Geſetzen geſchieht, thut
Niemandem unrecht. Was iſt denn Schreck-
liches
[33] liches darinn, daß dich nicht ein Tyrann,
noch ein ungerechter Richter ſondern die Na-
tur wegruft, die dich in dieſen Staat ein-
fuͤhrte? eben wie den Schauſpieler, den der
Praͤtor dung, der Praͤtor auch von der
Schaubuͤhne entlaͤßt. — „Aber die fuͤnf
Acte des Stuͤcks ſind von mir noch nicht
geendet; ſondern nur drei. „Wohl! Im
Leben ſind drei Acte auch ein Stuͤck. Was
ein Ganzes ſeyn ſoll, beſtimmet der, der einſt
Compoſiteur, jetzt Aufloͤſer des Spiels iſt.
Du biſt keins von beiden. Geh' alſo zufrie-
den fort; auch Er entlaͤßt dich zufrieden.“


— So ſpricht Mark-Antonin auf allen
Blaͤttern. Wir wollen nicht ſagen: „Hei-
liger bitte fuͤr uns; ſondern: menſchlicher
Kaiſer
, ſei uns ein Muſter.“




[34]

30.


Wer vermag die Wuͤrde von ſolchen Dingen,

dem Geiſte

Ihrer Erfindung gemaͤß, ein Lied zu dichten?

Und wer hat

Kraft im Buſen, und Worte der Zunge, zu

ſtroͤmen ein Loblied

Jenem vortreflichen Mann, der ſolche Schaͤtze

der Wahrheit,

Die ſich ſein Herz erworben, uns zum Ge-

ſchenke gelaßen?

Moͤcht' es auch einer wagen, von ſterblichem

Blute gebohren?

Wenn der Dinge Gewicht, die ſein hoher

Geiſt uns entdeckt hat,

Ihren vortreflichen Werth wir bedenken, ſo

war er ein Gott uns,

[35]
Ja ein Gott wars, ruhmvoller Memmius!

welcher zuerſt uns

Jenen erhabenen Weg des Lebens gezeiget,

den jetzt wir

Weisheit nennen; und der, durch ihre

Huͤlfe, das Leben

Aus dem Dunkel der Nacht, aus wogenden

Fluthen gerettet,

Und in den friedlichen Port, in klares Licht es

geſtellt hat.

Nimm die Erfindungen andrer, die man fuͤr

goͤttlich erkannt hat;

Ceres pflanzte die Aehren; es lehrte die Sterb-

lichen Bacchus

Den gekelterten Moſt aus der Rebe druͤcken;

da dennoch

Ohne Gebrauch von dieſen Dingen das Leben

beſtehn mag,

Wie mans an Voͤlkern erſieht, die jetzt noch

ihrer entbehren.

Iſt die Bruſt dir nicht rein, ſo ſuchſt du ver-

gebens ein Gluͤck dir,

C 2
[36]
Denkeſt umſonſt an Lebensgenuß. Drum

ſcheint er ein Gott uns,

Und mit mehrerem Recht als jene, von dem

in die Herzen

Aller Voͤlker ſo ſuͤßer Troſt fuͤr das Leben

gefloſſen.

Sollte dir aber duͤnken, es gingen des

Herkules Thaten

Dieſen weit noch voran, ſo wuͤrdeſt du groͤ-

ber dich irren:

Denn was hat des Nemaͤiſchen Loͤwen gefuͤrch-

teter Rachen

Schreckbares jetzt fuͤr uns? und der Zahn des

arkadiſchen Keilers?

Was aus Kreta der Stier? was des lernaͤi-

ſchen Sumpfes

Giftige Peſt, die Hydra, mit ziſchenden Nat-

tern umguͤrtet?

Was kann die Rieſenbruſt des dreifachen

Geryon, was die

Roſſe, die Flammen ſchnauben, die uͤber Thra-

ciens Felder

[37]
Auf die Biſtoniſchen Fluren und auf die Frucht-

reichen Saaten,

Wo ſich Ismarus hebt, Tod brachten und wil-

des Verderben?

Wodurch moͤchten der Stymphaliden gebogene

Krallen

Uns noch fuͤrchterlich werden? wodurch der

heſperiſche Drache,

Der um den Baum gewunden in ungeheuren

Kreiſen,

Tod aus den Augen blitzend, die goldenen Aep-

fel bewachet?

Was moͤcht' dieſer uns ſchaden an ſeiner at-

lantiſchen Kuͤſte,

An dem unwirthbaren Ufer, wo keiner von

uns den Fuß hin-

Setzet, das der Barbar ſelbſt zu betreten ſich

ſcheuet.

Alſo verhaͤlt es ſich auch mit den uͤbrigen

Abentheuern.

Haͤtte ſie keiner beſtanden, wer moͤchte ſie jetzt

noch beſtehen?

C 3
[38]
Niemand, wie ich glaube. Was ſollten ſie

Schaden uns bringen?

Noch iſt voll die Welt von Ungeheuern, es

herrſchet

Noch in den Thaͤlern, den Waͤldern, den tiefen

Kluͤften der Berge

Raubbegierige Wut; allein was gehet ſie uns

an?

Aber welche Gefahr, und welche toͤdtende

Zwietracht

Schleicht ſich in eine Bruſt, die von Leiden-

ſchaften nicht rein iſt!

Wie zerfleiſchen das Herz die aͤngſtlichen,

ſcharfen Begierden!

Wie zernaget die Sorge den Menſchen! wie

quaͤlet die Furcht ihn!

Welche Verwuͤſtungen richtet der Stolz nicht

an, und die Geilheit,

Und der Uebermuth, das Praſſen, die niedrige

Faulheit!

[39]
Alles dieſes hat Er, mit Waffen nicht,

aber mit Worten,

Tief aus dem Herzen hinweggeraͤumet und ſel-

ber gebaͤndigt;

Und ihm gebuͤhrete nicht der Dank, der Goͤt-

tern gebuͤhret?

Ihm, dem Manne, der ſelbſt mit Goͤtterzunge

von ihnen

Oft geſprochen und ganz der Dinge Natur

uns enthuͤllt hat.

Auf die Spuren von ſeinem Pfade tret'

ich —

So pries ein Roͤmiſcher Dichter, Lu-
krez, Einen ſeiner Lieblinge der Vorwelt,
und er hat mehrere derſelben als Genien
unſres Geſchlechts, als Goͤtter und Sterne
an den Himmel geſetzt, weil ſie Lebens-
weisheit und Humanitaͤt unter den
Menſchen gegruͤndet oder befoͤrdert haben.
Keiner ſeiner edeln Mitbuͤrger iſt ihm hie-
bei in Wort und That nachgeblieben.


C 4
[40]

Viele Oden des Horaz, noch mehr aber
ſeine Sermonen und ſogenannte Satyren ſind
feine Bearbeitungen der Menſch-
heit; ſie haben alle, wenigſtens mittelbar,
zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge-
bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und
Sitten jener Perſon, dieſer Staͤnde nach
dem Richtmaas des Wahren und Guten,
des Anſtaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen.
Perſius, Juvenal, Lucan und andre wir-
ken dahin, jeder nach ſeiner Weiſe; vor
allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann,
ſeine Geſaͤnge mit einem zarten Druck der
Menſchenliebe. Unmoͤglich iſts, daß ein
Mann oder Juͤngling, dem das Innere
dieſer Heiligthuͤmer aufgeſchloſſen wird,
ſein Inneres nicht durchdrungen und zu
einer Form gebildet fuͤhlte, die ihm vielleicht
wenige neuere Schriften gewaͤhren. Es iſt,
als ob jenen großen Autoren die Menſchheit
[41] reiner vorſtand, oder als ob ſie mehr Kraft
gehabt haͤtten, auch unter allen Unarten
der Zeit, ihre wahre Geſtalt lebhafter an-
zuerkennen, ſtaͤrker und reiner zu ſchildern;
wozu denn, nebſt vielem andern, auch ihre
Sprache und der Begriff beitrug, den ſie
ſich von Poeſie machten.


Doch nicht bei Poeſie allein blieb dieſe
Bildung ſtehen; Trotz alles Harten und
Druͤckenden zeigt ſie ſich auch in der Roͤ-
miſchen Geſchichte. Man leſe im Cor-
nelius des Atticus, in Salluſt Catili-
na's, in Tacitus Agrikola's Leben, vor
allen aber den letzten, den wegen ſeiner
dunkeln Haͤrte ſo beruͤchtigten Tacitus;
und man muͤßte ein entſchiedner Barbar
ſeyn, wenn man in ihnen die tiefen Zuͤge
aͤchter Humanitaͤt nicht bemerkte. Tacitus
beſchreibt die Graͤuelvollſten Zeiten, die
laſterhaftſten Charaktere; er deckt einen
C 5
[42] Abgrund von Sitten und einer Regierungs-
form auf, vor dem man ſchaudert; zeige
man in ihm aber ein einziges Gemaͤhlde
ſolcher Unthaten und verderbten Seelen,
das er nicht in das Licht geſtellt haͤtte,
dahin es gehoͤret! Livia, Tiber, Sejan,
Caligula, Claudius, und wie die Unmen-
ſchen weiter heiſſen; gegentheils jede unter-
druͤckte Sproſſe des Guten, die ſich auf
dieſem abſcheulichen Boden zeigte, alle ſind
von ihm, wenn auch nur mit Einem Wort,
in Einem Zuge, dem unpartheiiſchen Mit-
oder Gegengefuͤhl nahe gebracht; ſie ſtehen
auf ewig in der Claſſe menſchlicher,
halb- und unmenſchlicher Weſen,
wo ſie ſtehen ſollten. Wer uns keine Um-
ſchreibung, ſondern eine Ueberſetzung die-
ſes Geſchichtſchreibers ganz in ſeinen Um-
riſſen, in ſeiner Phyſiognomie gaͤbe, koͤnnte
nicht anders, als den Sinn der Menſch-
[43]heit auch fuͤr unſre Zeit tauſendfach er-
wecken und bilden.


Laſſen Sie uns alſo glauben, daß Jung
und Alt in beiden Geſchlechtern, wenn es
die Schriften der Alten in ihrem Geiſt lie-
ſet, nicht anders als zur Humanitaͤt bear-
beitet werden koͤnne. Die barbariſche Rin-
de des Herkommens, die uns von auſſen
angeſetzt iſt, muß einigermaaßen gebrochen
werden, wenn wir andre Menſchen zu ei-
ner andern aͤußerſt verderbten Zeit maͤnn-
licher denken, wuͤrdiger ſprechen hoͤren.
Wir werden, aus unſerm Todesſchlafe ge-
weckt, und lernen in ſtrengern Umriſſen
kennen:


Quid ſumus, aut quidnam victuri gignimur,

ordo

quis datus, aut metae quam mollis flexus,

et unde,

[44]
quis modus argento, quid fas optare, quid

aſper

utile nummus habet, patriae carisque pro-

pinquis

quantum elargiri deceat, quem te Deus eſſe

iuſſit et humana qua parte locatus es in re —

Diſcite, o miſeri, et cauſſas cognoſcite re-

rum.

[45]

31.


Die Griechen hatten das Wort Humani-
taͤt nicht; ſeit aber Orpheus ſie durch den
Klang ſeiner Leyer aus Thieren zu Men-
ſchen gemacht hatte, war der Begrif die-
ſes Worts die Kunſt ihrer Muſen.
Ich bin weit entfernt, die Griechiſchen
Sitten und Verfaſſungen zu jeder Zeit und
allenthalben als Muſter zu preiſen; das
kann indeſſen nicht gelaͤugnet werden, daß
das
emollit mores nec ſinit eſſe feros
mittelbar oder unmittelbar der Endzweck
geweſen, auf den ihre edelſten Dichter,
Geſetzgeber und Weiſe wirkten. Von Ho-
[46] mer bis auf Plutarch und Longin iſt ihren be-
ſten Schriften bei einer großen Beſtimmtheit
der Begriffe eine ſo reizende Cultur der
Seele
eingepraͤget, daß, wie ſich an ihnen
die Roͤmer bildeten, ſie auch uns kaum
ungebildet laſſen moͤgen.


Einzelne Blaͤtter, die mir uͤber die
Humanitaͤt einiger Griechiſchen
Dichter und Philoſophen
in die
Haͤnde gekommen ſind, ſollen Ihnen zu
einer andern Zeit zukommen; jetzt bemerke
ich nur, daß wenn in ſpaͤtern Zeiten bei
irgend einem Schriftſteller, er ſei Geſchaͤfts-
mann, Arzt, Theolog oder Rechtslehrer,
eine feinere, ich moͤchte ſagen, claſſiſche
Bildung ſich aͤußerte, dieſe meiſtens auch
auf claſſiſchem Boden, in der Schule der
Griechen und Roͤmer erworben, der Sproͤß-
ling ihres Geiſtes geweſen. Wie die Grie-
chiſche Kunſt unuͤbertroffen, und in Abſicht
[47] der Reinheit ihrer Umriſſe, des Großen,
Schoͤnen und Edlen ihrer Geſtalten, allen
Zeiten das Muſter geblieben: faſt alſo iſts
auch, Weniges ausgenommen, mit den
Vorſtellungsarten des menſchlichen Geiſtes.
Was wir kraus ſagen und verwickelt den-
ken, gaben ſie hell und rein an den Tag;
ein kleiner Satz, eine ſchlichtvorgetragene
Erfahrung enthaͤlt bei ihnen, wenn mans zu
finden weiß, oft mehr als unſre verworrenſte
Deductionen, die Probleme neuere Staats-
kunſt verwickelt vortraͤgt, ſind in der Grie-
chiſchen Geſchichte hell und klar auseinan-
dergeſetzt, und durch die Erfahrung laͤngſt
entſchieden. Die Kritik des Geſchmacks
endlich, ja die reinſte Philoſophie des Le-
bens, woher ſtammen ſie als von den Grie
chen? In den ſchoͤnſten Seelen dieſer Na-
tion bildeten ſie ſich; hie und da hat ſich
ihr Geiſt ſchweſterlichen Seelen mitgetheilet.
[48] So lange uns alſo die Griechen nicht ge-
raubt, und da ſie bisher dem Sturz der
Zeiten, der Vertilgung wilder Barbaren
und Schwaͤrmer entronnen ſind, wird wahre
Humanitaͤt nie von der Erde vertilgt
werden.


Immer wird mir wohl, wenn ich auch in
unſern Zeiten einen reinen Nachklang der
Weisheit Griechiſcher und Roͤmiſcher Mu-
ſen hoͤre. Eine Ausgabe, eine Ueberſetzung,
eine wahre Erlaͤuterung dieſes oder jenes
Dichters, Philoſophen und Geſchichtſchrei-
bers halte ich fuͤr ein Bruchſtuͤck des gro-
ßen Gebaͤudes der Bildung unſres Ge-
ſchlechts fuͤr unſre und die zukuͤnftige Zei-
ten. Eine verſtaͤndige Stimme, die uͤber
unſre jetzige Weltlage aus alter Erfahrung
ſpricht, iſt mir mehr, als ob ein Barde
weiſſagte.


[49]

32.


Aus Ihren Briefen, meine Freunde, ziehe
ich mir folgendes:


1. Das weiche Mitgefuͤhl mit den
Schwaͤchen unſres Geſchlechts, das wir
gewoͤhnlicher Weiſe Menſchlichkeit nen-
nen, macht die ganze Humanitaͤt nicht aus.
Zu rechter Zeit, am rechten Ort ziert es
den Menſchen allerdings; da Sympathie
in reinem Verſtande, d. i. eine lebhafte,
ſchnelle Verſetzung in den Zuſtand des
Fehlenden, Irrenden, Leidenden, Gequaͤl-
ten, der zarteſte Kitt der Vereinigung aͤhn-
licher Geſchoͤpfe, und unter Menſchen das
lindeſte Band ihrer Verbindung iſt. Nichts
Dritte Samml. D
[50] ſtoͤßt mehr zuruͤck, als Gefuͤhlloſe, ſtolze
Haͤrte. Ein Betragen, als ob man hoͤhe-
ren Stammes und ganz andrer, oder gar
eigner Art ſei, erbittert Jeden, und ziehet
dem Uebermenſchen das unvermeidliche Ue-
bel zu, daß ſein Herz ungebrochen, leer,
und ungebildet bleibt, daß Jedermann zu-
letzt ihn haſſet oder verachtet.


So nothwendig indeſſen eine menſchli-
che Lindigkeit und Milde gegen die
Fehler und Leiden unſrer Nebengeſchoͤpfe
bleibt: ſo muß ſie doch, wenn ſie zu weich
und ausſchließend wird, den Charakter er-
ſchlaffen, und kann eben dadurch die haͤr-
teſte Grauſamkeit werden. Ohne Gerech-
tigkeit beſtehet Billigkeit nicht; eine Nach-
ſicht ohne Einſicht der Schwaͤchen und
Fehler iſt eine Verzaͤrtelung, die eiternde
Wunden mit Roſen bedeckt, und eben da-
durch Schmerzen und Gefahr mehrt.


[51]

2. Auch iſt Humanitaͤt Ihnen nicht
bloß jene leichte Geſelligkeit, ein ſanftes
Zuvorkommen im Umgange, ſo viel
Reize dies auch dem taͤglichen Leben ge-
waͤhret. Vielmehr iſt ſie, ſubjectiv be-
trachtet,


3. Ein Gefuͤhl der menſchlichen
Natur in ihrer Staͤrke und Schwaͤ
-
che, in Maͤngeln und Vollkommen-
heiten, nicht ohne Thaͤtigkeit, nicht
ohne Einſicht
. Was zum Charakter un-
ſres Geſchlechts gehoͤrt, jede moͤgliche Aus-
bildung und Vervollkommung deſſelben, dies
iſt das Objekt, das der humane Mann vor
ſich hat, wornach er ſtrebet, wozu er wir-
ket. Da unſer Geſchlecht ſelbſt aus ſich
machen muß, was aus ihm werden kann
und ſoll: ſo darf keiner, der zu ihm gehoͤrt,
dabei muͤſſig bleiben. Er muß am Wohl
und Weh des Ganzen Theil nehmen, und
D 2
[52] ſeinen Theil Vernunft, ſein Penſum Thaͤ-
tigkeit mit gutem Willen dem Genius ſei-
nes Geſchlechts opfern.


4. Zum Beſten der geſammten Menſch-
heit kann niemand beitragen, der nicht aus
ſich ſelbſt macht
, was aus ihm wer-
den kann und ſoll; jeder alſo muß den
Garten der Humanitaͤt zuerſt auf dem Beet,
wo er als Baum gruͤnet, oder als Blume
bluͤhet, pflegen und warten. Wir tragen
alle ein Ideal in und mit uns, was Wir
ſeyn ſollten, und nicht ſind; die Schlacken,
die wir ablegen, die Form, die wir erlan-
gen ſollen, kennen wir alle. Und da, was
wir werden ſollen, wir nicht anders als
durch uns und andre, von ihnen erlangend,
auf ſie wirkend, werden koͤnnen: ſo wird
nothwendig unſre Humanitaͤt mit der Hu-
manitaͤt andrer Eins, und unſer ganzes
Leben eine Schule, ein Uebungsplatz der-
[53] ſelben. Was wahrhaftig, was ehrbar,
was gerecht, was keuſch, was lieblich
iſt, was wohllautet, iſt etwa eine Tu-
gend, iſt etwa ein Lob, deſſen beflei-
ßigt euch, ſagt ſelbſt ein Apoſtel.


5. Alle Einrichtungen der Menſchen,
alle Wiſſenſchaften und Kuͤnſte koͤnnen,
wenn ſie rechter Art ſind, keinen andern
Zweck haben, als uns zu humaniſiren,
d. i. den Unmenſchen oder Halbmenſchen
zum Menſchen zu machen, und unſerm Ge-
ſchlecht zuerſt in kleinen Theilen die Form
zu geben, die die Vernunft billigt, die
Pflicht fodert, nach der unſer Beduͤrfniß
ſtrebet. Daß die Wiſſenſchaften, die man
humaniora nennt, zum leeren Zeitvertreib
oder zu eitelm Putz ausgeartet ſind, iſt ein
Mißbrauch, den ſchon ihr Name ſtrafet.
Urſpruͤnglich war dies nicht alſo. Vollends
D 3
[54] Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, die den ange-
bohrnen Stolz, die freche Anmaaßung, das
blinde Vorurtheil, die Unvernunft und Un-
ſittlichkeit ſtaͤrken, verſchleiern, ſchmuͤcken,
beſchoͤnen, ſollte man brutaliſirende
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften nennen, werth
von Sklaven getrieben zu werden, damit
auf ihnen die menſchliche Thierheit ruhe.


Es freuet mich, daß Sie den Dichter,
der den unmenſchlichen Achill beſang, aus
der Reihe humaniſirender Weiſen
nicht ausſchließen wollen; das Theater der
Alten und ihre Geſetzgebung wird davon
gewiß auch nicht ausgeſchloſſen ſeyn. Das
Gemuͤth laͤutert, hebet und ſtaͤrkt ſich durch
die Betrachtung: „wir ſind Menſchen.
Nichts mehr, aber auch nichts minderes,
als dieſer Name ſaget.“


[55]

Nachſchrift.


Fragment eines Geſpraͤches des Lords
Shaftesburi.


Theokles. Kann eine Freundſchaft ſo
heroiſch ſeyn, als die gegen das menſch-
liche Geſchlecht? Halten Sie die Liebe ge-
gen Freunde uͤberhaupt und gegen unſer
Vaterland fuͤr nichts? Oder glauben Sie,
daß die beſondre Freundſchaft ohne ſol-
che erweiterte Neigung und ohne das Ge-
D 4
[56] fuͤhl der Verbindlichkeit gegen die Geſell-
ſchaft beſtehen koͤnne?


Philokles. Daß man Verbindlich-
keiten gegen das menſchliche Geſchlecht
habe, wird niemand leugnen, der auf den
Namen eines Freundes Anſpruch macht.
Schwerlich wuͤrde ich dem nur den Na-
men Menſch zugeſtehen, der nie Jeman-
den Freund genannt oder nie ſelbſt Freund
geheißen hat. Aber wer ſich als ein wah-
rer Freund bewaͤhrt, der iſt Menſch ge-
nug und wird es der Geſellſchaft an ſich
nicht fehlen laſſen. Fuͤr meine Perſon ſehe
ich ſo wenig Großes und Liebenswuͤrdiges
an dem menſchlichen Geſchlecht, und habe
eine ſo gleichguͤltige Meinung von dem
großen Haufen der Geſellſchaft, daß ich
mir ſehr wenig Vergnuͤgen von der Liebe
zu beiden verſprechen kann.


[57]

Th. Rechnen Sie denn Guͤte und
Dankbarkeit unter die Handlungen der
Freundſchaft und des Wohlwollens?


Ph. Ohne Zweifel; ſie ſind ja die vor-
nehmſten.


Th. Geſetzt alſo der Verpflichtete ent-
deckte Fehler an ſeinem Wohlthaͤter, wuͤrde
dies jenen von ſeiner Dankbarkeit los-
ſprechen?


Ph. Nicht im geringſten.


Th. Oder macht es die Ausuͤbung der
Dankbarkeit weniger angenehm?


Ph. Mich duͤnkt vielmehr das Gegen-
theil. Denn wenn mirs an allen andern
Mitteln der Vergeltung fehlte, ſo wuͤrde
ich mich freuen, wenigſtens dadurch
meine Dankbarkeit gegen meinen Wohl-
thaͤter ſicher zeigen zu koͤnnen, daß ich
ſeine Fehler als ein Freund ertruͤge.


D 5
[58]

Th. Und was die Guͤte betrift, ſagen
Sie mir, mein Freund, ſollen wir denn
blos denen Gutes thun, die es verdienen?
Etwa bloß einem guten Nachbar oder
Verwandten, einem guten Vater, Kinde
oder Bruder? Oder lehrt Natur, Ver-
nunft und Menſchlichkeit uns nicht viel-
mehr, einem Vater bloß weil er Vater,
einem Kinde bloß weil es Kind iſt, Gutes
zu thun? Und ſo in jedem Verhaͤltniß des
menſchlichen Lebens.


Ph. Ich glaube, das letzte iſt das
richtigſte.


Th. O Philokles! Bedenken Sie alſo,
was Sie ſagten, da Sie die Liebe gegen
das menſchliche Geſchlecht der menſchlichen
Gebrechen wegen verwarfen, und den gro-
ßen Haufen ſeines elenden Zuſtandes we-
gen verachteten. Sehen Sie nun, ob dieſe
Geſinnung mit der Menſchlichkeit beſtehen
[59] kann, die Sie ſonſt ſo hoch ſchaͤtzen und
ausuͤben. Wo kann Edelmuth ſtatt finden,
wenn nicht hier? Wo koͤnnen wir je
Freundſchaft beweiſen, wenn nicht an die-
ſem Hauptgegenſtande derſelben? Gegen
wen werden wir treu und dankbar ſeyn,
wenn nicht gegen das menſchliche Geſchlecht
und gegen die Geſellſchaft, welcher wir ſo
ſtark verpflichtet ſind? Welche Gebrechen
oder Fehler koͤnnen eine ſolche Unterlaſſung
entſchuldigen, oder in einem dankbaren
Herzen je das Vergnuͤgen vermindern, wel-
ches aus liebevoller Erwiederung empfan-
gener Wohlthaten entſpringt? Koͤnnen
Sie, bloß aus guter Lebensart, aus ei-
nem natuͤrlichguten Temperament Vergnuͤ-
gen daran finden, Hoͤflichkeit, Gefaͤlligkeit,
Dienſtfertigkeit zu beweiſen, Gegenſtaͤnde
des Mitleidens ſelbſt aufſuchen und wo es
in Ihrer Macht ſteht, ſelbſt Unbekannten
[60] dienen; kann es auch in fremden Laͤndern
oder, wenns Auswaͤrtige betrifft, auch hier
Sie entzuͤcken, allen die es beduͤrfen, auf
die leutſeligſte, freundſchaftlichſte Art zu
helfen, zu rathen, beizuſtehen; und ſollte
Ihr Vaterland oder was noch mehr iſt,
Ihr ganzes Geſchlecht weniger Wohlwollen
von Ihnen fodern koͤnnen, weniger Ach-
tung von Ihnen verdienen, als Einer von
jenen Gegenſtaͤnden, die Ihnen von unge-
faͤhr in den Wurf kommen? —


Ph. Ich befuͤrchte, daß ich auf dieſe
Art nie ein Freund oder Liebhaber werde.
Eine Liebe gegen eine einzelne Perſon kann
ich ſo ziemlich faſſen; aber dieſe zuſammen-
geſetzte, allgemeine Art von Liebe, (ich ge-
ſtehe es, Theokles,) iſt mir zu hoch. Ich
kann das Individuum, aber nicht die ganze
Gattung, ich kann nichts lieben, wovon
ich nicht irgend ein ſinnliches Bild habe.


[61]

Th. Wie, Philokles? Sie koͤnnten
nie anders lieben, als auf dieſe Art?
War Palaͤmons Charakter Ihnen gleich-
guͤltig, da er Sie zu dem langen Brief-
wechſel vermochte, der Ihrer neuerlichen
perſoͤnlichen Bekanntſchaft voranging?


Ph. Ich kann dies nicht laͤugnen; und
jetzt, duͤnkt mich, verſtehe ich Ihr Geheim-
niß, und begreife wie ich mich dazu vor-
bereiten muß. Denn eben wie ich damals
als ich Palaͤmon zu lieben anfing, mich ge-
noͤthigt ſah, mir eine Art von materiellem
Gegenſtande zu bilden und immer ein ſol-
ches Bild im Kopf hatte, ſo oft ich an ihn
dachte: eben ſo muß ichs in dieſem Falle
zu machen ſuchen —


Th. Mich duͤnkt, Sie koͤnnten immer
ſo viel Gefaͤlligkeit gegen das menſchliche
Geſchlecht haben, als gegen die alten Roͤ-
mer, in welche Sie, aller ihrer Fehler un-
[62] geachtet, doch immer verliebt geweſen ſind,
beſonders unter der Vorſtellung eines
ſchoͤnen Juͤnglings, der Genius des
Volks
genannt.


Ph. Waͤre mirs moͤglich, meiner Seele
ein ſolches Bild einzudruͤcken, es moͤchte
nun das menſchliche Geſchlecht oder
die Natur bedeuten, ſo wuͤrde das ver-
muthlich auf mich wirken, und mich zum
Liebhaber nach Ihrer Art machen. Noch
beſſer aber, wenn Sie es ſo veranſtalten
koͤnnten, daß die Liebe zwiſchen uns wech-
ſelſeitig wuͤrde; wenn Sie mich uͤberreden
koͤnnten, zu glauben, dieſer Genius ſei
nicht gleichguͤltig gegen meine Liebe und
faͤhig ſie zu erwiedern —


Th. Gut! ich nehme die Bedingung
an. Morgen, wenn die oͤſtliche Sonne,
wie die Dichter ſagen, mit ihren erſten
Stralen den Gipfel jenes Huͤgels vergol-
[63] det, dann wollen wir, wenns Ihnen be-
liebt, mit Huͤlfe der Nymphen des Hains
dieſer unſrer Liebe nachſpuͤren, erſt den
Genius des Orts anrufen, und dann ver-
ſuchen, ob wir nicht wenigſtens eines
ſchwachen, fernen Anblicks des hoͤchſten
Genius
und der erſten Urſchoͤnheit
gewuͤrdigt werden. Sollte es Ihnen gluͤcken,
nur Einmal dieſe zu ſehen: ſo ſtehe ich da-
fuͤr, alle jene widrige Zuͤge und Haͤßlich-
keiten ſowohl der Natur als des menſchlichen
Geſchlechts werden Augenblicks verſchwin-
den. Ihr Herz wird ganz mit der Liebe
erfuͤllt werden, die ich Ihnen wuͤnſche.


So weit dies Geſpraͤch. Wie Theo-
kles ſeinen Zweck bewirkt habe, moͤgen Sie
in der vortreflichen Rhapſodie: die Mo-
[64]raliſten beim edeln Shaftesburi ſelbſt
leſen *).


[65]

33.


Mit Recht nennen Sie Shaftesburi
einen edeln Schriftſteller; ob ihn gleich hie
und da, ſein Stand, ich moͤchte ſagen,
ſeine Lordſchaft uͤbereilte. Sein zuwei-
len Zwangvoller Styl, manche Spaͤſſe, die
er ſich uͤber die Geiſtlichkeit erlaubte, ſein
Einfall, „Witz und Humor zum Pruͤfſtein
aller, auch der ernſteſten Wahrheit zu ma-
chen,“ haben Tadler und Widerleger gnug
gefunden; uͤber ſeinen Kunſt-Geſchmack
waͤre auch Manches zu ſagen. Die beſſere
philoſophiſche Seele aber, die in ihm
wohnte, ſein honeſtum und decorum in der
Moral, hundert feine Bemerkungen uͤber
Dritte Samml. E
[66] Grundſaͤtze, Sitten, Compoſition und Le-
bensweiſe ſind nach allem Tadel unwider-
legt geblieben. Ich kann mir nicht vor-
ſtellen, daß ein unbefangener honetter
Mann dieſen Schriftſteller ohne innige Ach-
tung aus der Hand legen ſollte; und fuͤr
Juͤnglinge wuͤnſchte ich in unſrer Sprache
zum uͤberſetzten Shaftesburi eine Zugabe,
wie Shaftesburi zu leſen und
was in ihm zu berichtigen ſeyn
moͤchte
.“ Wie Leibnitz, ſo hielten Di-
derot, Leßing, Mendelsſohn, von
dieſem Virtuoſo der Humanitaͤt viel; auf
die beſten Koͤpfe unſres Jahrhunderts, auf
Maͤnner, die ſich fuͤrs Wahre, Schoͤne und
Gute mit entſchiedner Redlichkeit bemuͤh-
ten, hat er auszeichnend gewirket.


Und doch, m. F. duͤnkt mir ſein Syſtem
der Moral unzureichend, ſofern es ſich bloß
auf das decorum et honeſtum als auf ein
[67]Gefuͤhl gruͤndet. Es kommen ſtarke Stel-
len daruͤber, auch als Pflicht, als Geſetz
betrachtet, in ihm vor; im Ganzen aber,
ſcheint mirs, hat er, um ſeine Moral lie-
benswuͤrdig zu machen, mit der menſchli-
chen Natur etwas zu ſehr getaͤndelt. Hier
muß man hinter allem doch endlich mit der
Stoiſchen Philoſophie zum alten Wort
Gottes
zuruͤckgehen: „Du ſollt! du
ſollt nicht
!“ ſofern uns dies nicht Con-
venienz, Geſchmack und Vergnuͤgen, ſon-
dern Pflicht und Vernunft vorhaͤlt.


Neulich kam mir ein Lehrgedicht zu
Handen, wo mir zuerſt folgende Stelle in
die Augen fiel:


Sei liebreich mit Vernunft; nur weiſe Huld

iſt aͤcht,

Giebt Jedem was ſie ſoll und kraͤnket keines

Recht.

E 2
[68]
Kein Schimmer aͤußrer Macht, kein Geld, das

Sklaven ruͤhret,

Haͤlt den Gerechten ab, zu thun was ihm

gebuͤhret.

Gleich feurig zu dem Schutz des Edlen als

des Knechts,

Iſt er der treue Freund des menſchlichen

Geſchlechts.

Unfaͤhig zu der Kunſt, die den Vertrag ver-

drehet,

Haͤlt er dem Fuͤrſten Wort, wie dem der

nackend gehet;

Bei ihm iſt was du haſt ſo ſicher als bei dir,

Das ihm geliehne Gut zieht er dem eignen fuͤr;

Im kleinſten Werk getreu, verſchwiegen bis zur

Baare,

Und zu des Freundes Dienſt bereit bis zum

Altare.

Hoͤrt, Buͤrger der Natur, den Inhalt aller

Pflicht:

Lernt die Gerechtigkeit! vergeßet

Gottes nicht!

[69]
Gereitzt durch dieſe Stelle, ſchlug ich wei-

ter zuruͤck und fand die Geſchichte der

Humanitaͤt ſo vorgetragen:

Vernunft, der Gottheit Stral, der rohen Voͤl-

kern ſchien,

Hieß aus des Waldes Nacht ſie in die Staͤdte

ziehn;

Gab Ordnung und Geſetz, ſchuf Menſchen

aus Barbaren,

Gebot den Wilden ſelbſt, Vertraͤge zu bewah-

ren.

Dies hob der Weiſen Ruhm in Griechenland

empor,

Und rief aus Scythien den Anacharſis vor.

So war der Menſchheit Recht der Leitſtern

alter Weiſen;

Doch keiner wagte ſich es andern anzuprei-

ſen — —

Die Welt verdankt Dirs nie, unſterblicher

Sokrat!

Dein Fuß betrat zuerſt den ungebahnten Pfad.

E 3
[70]
Der alte Philoſoph, vertieft in Zahl und

Sternen,

Erhielt von dir die Kunſt, ſich ſelbſt be-

ſchaun zu lernen.

Es ſah der Menſch das Licht, das laͤngſt in

ihm gebrannt,

Und das, vom Wahn umwoͤlkt, nur Traͤgheit

nicht erkannt.

Da fuͤhlte ſich Athen, und lernte Platons

Lehren,

Des Weiſen von Stagyr, des Epiktets vereh-

ren,

Da trateſt du auch auf, erhabner Epikur,

Der Tugend aͤchter Freund und Kenner der

Natur. —

Verehrungswuͤrdges Rom! groß durch er-

fochtne Kronen,

Noch groͤßer durch den Geiſt geprieſ'ner Cice-

ronen,

O Rom, Europa ſelbſt, von deiner Herrſchaft

Joch

Vorlaͤngſt entlediget, ehrt dein Geſetze noch.

[71]
Aus Quellen der Natur ſind deines Rechtes

Lehren

Urſpruͤnglich hergefuͤhrt; ſie muͤſſen ewig waͤh-

ren!

Die Nacht der Barbarei verfinſterte dies

Licht,

Die Welt verwilderte und ſah die Tugend

nicht.

Ein ſchwarzes Wunderthier, der Ketzereifer,

ſiegte,

Der Dummheit Tugend hieß und mit der

Wahrheit kriegte;

Bis ihr verſtaͤrkter Glanz der Welt mehr Ein-

ſicht gab;

Da fielen der Vernunft die ſchweren Feſſeln

ab.

Der Dichter nennt Baco, Grotius,
Puffendorf u. a. mit verdientem Ruhm:
er gehet die Pflichten durch, gegen Seele
und Leib, gegen Gott und andre. Ueber
Irrthum und Unwiſſenheit, Klugheit und
E 4
[72] Thorheit, uͤber die Verbindlichkeit zur Wiſ-
ſenſchaft und zu allgemeinen Begriffen,
uͤber Erfahrung, Vernunft, Geſchichte,
Fabel, Selbſterkenntniß, als Mittel zu
Beſſerung des Verſtandes und Willens,
enthaͤlt ſein Gedicht ſchoͤne Stellen. Deß-
gleichen uͤber einzelne Pflichten, die Maͤ-
ßigkeit, Sittſamkeit, Gnuͤgſamkeit, Ver-
bindlichkeit zur Arbeit, uͤber Pflichten in
Gluͤck und Ungluͤck, uͤber die Dankbarkeit
gegen Gott, das Vertrauen auf die Vor-
ſehung, uͤber geſellige Huͤlfe, Sanftmuth,
Großmuth, Wahrheitliebe, Freigebigkeit
u. f.; wobei ſowohl die entgegenſtehenden
Laſter, als die Grenzen der Tugend be-
merkt oder geſchildert werden. Es ſind
Lehren in ihm, die der Jugend Gedaͤcht-
nißſpruͤche werden ſollten, indem ſie die
Grundveſten aller moraliſchen Wahrheit
enthalten: z. B.


[73]
Es ward ein gleicher Trieb in aller Herz

gelegt,

Und allen Sterblichen die Regel eingepraͤgt:

Du ſollt das Gute thun, du ſollt das

Boͤſe laſſen;

In dieſen Goͤtterſpruch laͤßt das Geſetz ſich

faſſen,

Das die Natur uns ſchrieb. Er haͤlt ein

Recht in ſich:

Beginne, denke, flieh, begehre,

ſchweige, ſprich.

Nicht Erz, das Roſt verzehrt, nicht Blaͤt-

ter, die veralten,

Kein Stein hat dies Geſetz der Menſchen auf-

behalten!

Der Allmacht Tochter grub mit ewigheller

Schrift,

Es in die Seelen ein, die nie Verweſung trift.

Ein ewiges Gebot, darinn ich wandeln muͤßte,

Wenn, welches ferne ſei! ich auch von Gott

nichts wuͤßte! —

E 5
[74]

Zu wuͤnſchen waͤre es, daß der Verfaſſer
ſich durchaus auf dieſem ſtrengen Pfade
gehalten haͤtte. Da er aber das ſogenannte
Syſtem der Vollkommenheiten als
Grund der Moral annimmt: ſo wird ſein
Gebaͤude hie und da ſchwankend. Aller-
dings vervollkommt uns die Ausuͤbung
der Pflicht; nicht aber muͤſſen wir ſie thun,
um uͤber Gewinn an Vollkommenheiten zu
markten. Das Gebot heißt: Du ſollt!
nicht: Du wirſt! welches bloß eine hoͤfli-
che Bettelei waͤre.


Sie halten vielleicht dies ſchoͤne Lehr-
gedicht fuͤr ein Manuſcript; leider iſts ſeit
ſeiner Bekanntmachung im Jahr 1758.
fuͤr Viele ein Manuſcript geblieben. Es
heißt „Lichtwehrs Recht der Ver-
nunft,“ und ſcheint unſrer poetiſchen
Welt ſo veraltet, wie Hallers, Hage-
dorns, Kaͤſtners, Uz, Witthofs,
[75] ja uͤberhaupt die Lehrgedichte. Unſer
Publikum iſt jung; es liebt Taͤndeleien der
Jugend.


[76]

34.


Die Blaͤtter uͤber die Humanitaͤt Ho-
mers, die Sie zu ſehen wuͤnſchen, nehme
ich aus einer unvollendeten, groͤßern
Schrift, die ihr Verfaſſer Jonien ge-
nannt hat, deren weitern Inhalt ich aber
hier nicht zu verrathen habe.


Ueber die Humanitaͤt Homers in ſeiner
Iliade.


Wir kommen allmaͤlich wieder in die
Zeiten zuruͤck, da man von Homers Roh-
heit nicht gnug reden konnte. In Frank-
[77] reich warf man ihm vormals nur Mangel
an Geſchmack vor; in Deutſchland ſcheint
es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden, in
den Sitten ſeiner Helden, mithin wohl
gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung,
an moraliſchem Geſchmack zu finden
und dies unſterbliche Gedicht endlich nur
als die „hiſtoriſche Tradition wil-
der Zeiten“ zu behandeln, die, wie man
ſich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil-
dungskraft aufnahm und veſtſtellte. So
viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man-
chem Betracht zeigen mag, ſo zeigt er ge-
wiß nicht alles Wahre, und ſein Weniges
gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe. Dazu
gehoͤrt keine Kunſt, hie und da Ueberein-
ſtimmung der Zeiten, die er beſang, mit
Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt,
niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin-
den, dieſe gefundene Aehnlichkeit zu uͤber-
[78] treiben, und dabei das Auge vor allem
ſittlichen Gefuͤhl, inſonderheit aber vor der
Kunſt und Weisheit zuzuſchließen, die Ho-
mer unſtreitig auf die Compoſition ſeines
Gedichts gewandt hat.


Bei jeder Kunſtcompoſition fragt man:
wozu hat ſie der Kuͤnſtler componiret?
was war dabei ſeine Idee? und wie ſetzte
er die Theile ſeines Werks zuſammen?
Sind Homers Rhapſodieen die rohe Stim-
me eines griechiſchen Barden, der einem
rohen Volk Maͤhrchen aus roheren Zeiten
vorſingt, um dieſe mit ihren Unfoͤrmlichkei-
ten ja nicht untergehen zu laſſen; warum
wandte man Jahrtauſende hindurch auf
ihn ſo viele Muͤhe? Waren die Griechen,
die Roͤmer, und unter andern Nationen
die feinſten Denker, waren unter den Grie-
chen Geſetzgeber, Kuͤnſtler, Weiſe, Dichter
nicht aberglaͤubig und bloͤdſinnig, daß ſie
[79] aus einer Tradition vergangener Unmenſch-
lichkeiten ſo viel Weſens machten, und ei-
nen unreinen Schlam in ſo viel Baͤche
ableiteten? Das hieße ja die Unmenſch-
heit oder Halbmenſchheit um ſo gefaͤhrli-
cher veſthalten, weil ſie mit Homers Far-
ben geſchmuͤckt war.


Fragt man bei jeder Geſchichte, bei je-
dem Drama: „wer ſpricht dies? wenn?
„wozu ſpricht er's in welchem Charakter
„handelt er? wozu ſtellte ihn der Geſchicht-
„ſchreiber oder Dichter auf?“ wie? und
bei der groͤßeſten Compoſition der Welt
wollte man nicht alſo fragen?


Was beſingt Homer? nicht den Tro-
janiſchen Krieg, nicht eine Geſchichte alter
Zeiten als ſolche; auch nicht Achilles Ge-
ſchichte; ſondern

[80]
Den Zorn, des Peleiden Achilles

Schaͤdlichen Zorn, der tauſend Jammer den

Griechen gebracht hat,

Und viel tapfere Seelen der Helden zum Or-

kus hinabſtieß,

Ihre Leiber den Hunden und allem Gevoͤgel

zum Raube

Gab —

wahrlich, das heißt doch den Unmuth
Achills, er moͤge gerecht oder ungerecht
ſeyn, nicht unbedingt preiſen. Sogleich
bezeichnet ihn der Dichter, als eine ver-
derbliche Plage der Goͤtter, die um
ſo bedaurenswuͤrdiger war, weil ſie bloß
aus einem unſeligen Zwiſt entſtand,
den ſein Held mit dem Koͤnige Agamem-
non hatte —


Und wer iſt Schuld an dieſem Zwiſte?
Homer eroͤfnet ſein Gedicht mit einer Er-
zaͤhlung, die keinen Leſer oder Zuhoͤrer im
Zweifel laſſen kann. Ein Vater, ein Prieſter
Apolls,


[81]

Apolls, ein Schonenswuͤrdiger, unantaſtba-
rer Greis kommt unter dem Schutz ſeines
Gottes, um ſeine geraubte Tochter zu bit-
ten. Er ſpricht weder Mitleid noch Er-
barmen an; er will ſie nur, und zwar uͤber-
reichlich loskaufen. Seine kurze Bitte iſt
ſo geziemend, ſo artig; und welche harte,
ungeziemende Antwort giebt der Koͤnig
der Griechen
dem flehenden Alten.


Alter! Daß ich dich nie bei den holen Schif-

fen erblicke!

Treff' ich ferner dich an; es ſei, du weileſt noch

jetzo,

Oder du kehreſt ein andermal wieder: ſo moͤchte

der Goldſtab

Mit dem Kranze des Gotts dich nicht mehr

ſchuͤtzen. Die Tochter

Geb' ich nicht los, bis einſt in unſrer Woh-

nung in Argos

Dritte Samml. F
[82]
Sie, von ihrem Geburtsland fern, bei Spin-

del und Webſtuhl

Und mein Lager bedienend, veraltet. Du aber

entfliehe!

Reize mich nicht zum Zorn, wenn noch dein

Leben dir lieb iſt.

Nicht den Vater, den Fremden, den Bit-
tenden, den Greis beleidigt dieſe Antwort
allein; ſie beleidigt den Gott in ſeinem
Prieſter und iſt wirklich die Rede eines
uͤbermuͤthigen Atriden.


Nun ſteigt der Gott vom Olymp; die
Pfeile fliegen, die Menſchen ſterben, die
Holzſtoͤße flammen; Achill, den die Noth
des Heers jammert, ruft die Verſammlung
zuſammen, um die Urſache auszukunden,
warum ein Gott auf ſie alle jetzt alſo er-
grimmt ſei? Kann Achill edler auf den
Schauplatz gebracht werden, als alſo?
Der Hirte der Voͤlker war durch ſeinen
[83] Trotz ihr Verderben worden; ſein koͤnigli-
ches Herz machte ſich keinen Vorwurf, ob
Er vielleicht an ihrem Untergange Schuld
ſey, noch ſuchte er Mittel dagegen; den
großherzigen Achill allein kuͤmmert die Sa-
che des Ganzen.


Als ſolcher erſcheint er ſofort in ſeinen
Reden, unbefangen, wie es die Großher-
zigkeit iſt, und gerade. Da der weiſeſte
Seher ſich nicht erkuͤhnt zu ſprechen, weil
er ſich vor dem Unwillen des Maͤchtigſten,
deſſen Gemuͤthsart ihm bekannt iſt, fuͤrchtet,
nimmt ihn Achill fuͤr das gemeine Beſte in
Schutz; worauf denn der Uebermuth des
Koͤnigs zuerſt auf den Seher, ſogleich nach
einer ſehr billigen Rede des Achilles auf
dieſen herfaͤllt. Und da Achill nicht ge-
ſchaffen war, ſich vor der Verſammlung
oder ſonſt ſchmaͤhen, beleidigen, das Seine
ſich rauben zu laſſen, am wenigſten aber
F 2
[84] vom ſtolzen Duͤnkel eines uͤbermuͤthigen
Atriden; ſo entbrennet der Zwiſt, ſo folgt
die Erbitterung, bei der, (ich wage es zu
ſagen) Achill auch im wildeſten Feuer ge-
recht bleibet. Pallas erſcheint ihm zu rech-
ter Zeit, ihn bei der blonden Haarlocke zu
ergreifen; und als der unbeſonnene Fuͤrſt,
auch nachdem er Zeit zu beſſerer Ueberle-
gung gehabt hatte, ſein unbefugtes Macht-
wort vollfuͤhret, und ihm ſein Eigenthum,
ſeine geliebte Briſeis raubet, betraͤgt ſich
Achill gegen die Herolde mit einer hohen
Maͤßigung. Ungern wie Briſeis dahingeht,
ſehn wir ſie hingehn, und ſetzen uns mit
dem Gekraͤnkten weinend ans Ufer. Da
hoͤren wir ihn der Mutter klagen, und
theilen mit ihr den Jammer um einen ſo
herrlichen Sohn, den bei einem kurzen Le-
ben, ohne ſeine Schuld, dieſe oͤffentliche
Beleidigung, dieſer Gram, dieſer Unmuth
[85] treffen muͤßte. Mit Freuden ſehen wir den
Vater der Goͤtter den großen Wink thun,
und den Gekraͤnkten in Schutz nehmen.


Wenn nun, ganze Geſaͤnge der Iliade
hindurch, unſchuldige, tapfre, edle Maͤnner,
wenn liebe Soͤhne, junge Gatten, bluͤhende
Juͤnglinge fallen; wer iſt an ihrem Tode,
wer an der Trauer, den Thraͤnen, dem
Verluſt ihrer Eltern und Gatten und Braͤute
Schuld? Achilles nicht; er ſtreitet bloß
nicht mit, und kann und darf als ein oͤf-
fentlich und ungerecht Gekraͤnkter, nicht
mitſtreiten. Unmuthig ſitzt er in ſeinem
Zelt, und ſeine Myrmidonen murren zuletzt
um ihn her, daß er ſie nicht zum Streit
fuͤhre. Der uͤbermuͤthige Koͤnig allein iſts,
der dadurch die Voͤlker ſtuͤrzt, daß er nicht
nur jenen Helden beleidigte, ſondern ſogleich
auch, im Wahn ſeines Ruhms, zu zeigen,
F 3
[86] daß er Achills nicht beduͤrfe, ſeine geliebten
Voͤlker zur Schlachtbank hinfuͤhrt.


Unglaublich iſts, wenn man es nicht
ſaͤhe, mit welcher moraliſchen Zartheit Ho-
mer dies alles einleitet und beſchreibet.
Eben dieſelbe Mutter des Beleidigten, die
den hoͤchſten Gott anfleht, hatte dem Dich-
ter Raum gemacht, einen falſchen Traum
vom Himmel kommen zu laſſen, der dem
Koͤnige einbilde, Er koͤnne jetzt, dem Achill
zum Trotz, Troja im Hui erobern.


Dagegen erhebt ſich nun freilich der
alte Neſtor


— Und ſagte mit Weisheit:

Haͤtte den Traum von allen Achaͤern ein

andrer erzaͤhlet,

Wuͤrden wir ſagen: du luͤgſt! und ihn unwil-

lig verſchmaͤhen

Aber ihn ſah der Koͤnig —

[87]

Und ſogleich ſteht der Koͤnig von ſei-
nem Sitz auf, ſtuͤtzet ſich auf ſeinen uͤber
Alles geprieſenen Scepter, hat ſogar eine
herrliche Liſt erdacht, die Anhaͤnglichkeit
der Griechen an Ihn, an ſeinen Bruder
Menelaus, und deſſen Weib, Helena zu
pruͤfen, uͤberzeugt, daß ſie ſich ihm nicht
anders als zum Opfer geben wuͤrden. Die
koͤnigliche Perſvaſion mißraͤth; der kluge
Ulyſſes, mit dem noch unveralteten Scep-
ter Agamemnons in der Fauſt kann ſie
kaum wieder zu ihren verlaſſenen Sitzen
bringen; wo denn Therſites aufſteht, und
Er allein, auf die unſchicklichſte Art der
Sache Achills erwaͤhnet.


So Mancherlei uͤber dieſen haͤßlich-
laͤcherlichen Therſit geſchrieben worden; ſo
ſieht Jedermann das vor Augen, daß den
Edelſten der Schlechtſte, den Herrlichſten
der Haͤßlichſte allein und aufs Nie-
F 4
[88]drigſte vertheidigt. Jeder goͤnnet dieſem
die Schlaͤge des Ulyſſes; es iſt aber große
Weisheit des Homers, daß er ſie dem
Therſites zukommen laͤßt, indeß alle Fuͤr-
ſten des Heers, deren keiner Agamemnons
Betragen gegen Achill loben konnte, dazu
ſchwiegen. Allen bekommt dies Schwei-
gen, die ganze Iliade hindurch, ſehr un-
wohl; ihren Voͤlkern aber noch uͤbler.


Es wird in einem andern Kapitel da-
von die Rede ſeyn, wie Homer, der uͤber-
haupt keinen Groll gegen ein menſchliches
Geſchoͤpf, geſchweige gegen den Koͤnig ſei-
ner Griechen heget, den Agamemnon al-
lenthalben nicht nur geſchont, ſondern, wo
er irgend konnte, koͤniglich und feſtlich aus-
geſchmuͤckt habe. Zum Treffen laͤßt er ihn
ziehen:


[89]
Ganz an Augen und Haupt dem Donnerbe-

waffneten Zevs gleich,

Um den Guͤrtel dem Mars, an Bruſt und

Schultern dem Meergott;

Wie der fuͤhrende Stier ſich in der verſamm-

leten Heerde

Ausnimmt; unter den Rindern der Erſt' und

Groͤßte von Anſehn.

Er laͤßet ihn den tapferſten Kriegern, ei-
nem Diomedes ſogar, Verweiſe geben;
doch das Alles thut nichts zur Sache.
Nach vielen erlittenen Niederlagen muß der
alte Neſtor mit dem Bekaͤnntniß doch
heraus:


— Ich denke noch heute, ſo wie ich ſchon

vormals

Dachte, zur Zeit, o Koͤnig, als du die junge

Briſeis

Aus des erzuͤrnten Achilles Gezelten gewaltſam

entfuͤhrteſt,

F 5
[90]
Nicht nach unſerm Ermeſſen; ich rieth

es mit vielen und ſtarken

Gruͤnden dir ab; doch du, vom hohen Muthe

bemeiſtert,

Kraͤnkteſt die Ehre des Helden, der ſelbſt von

Goͤttern geehrt war,

Und noch haſt du bei dir den Siegslohn, den

du ihm raubteſt.

Er ſchlaͤgt zur Ausſoͤhnung Geſchenke
und ſchmeichelnde Worte vor; Achilles
ſchlaͤgt ſie aus und muß ſie ausſchlagen;
ja waͤre Agamemnon ſelbſt in ſein Zelt
gekommen, er haͤtte einen boͤſen Weg da-
raus gefunden. Nun hatte dieſer Raum
ſeine Wunder der Tapferkeit und Ober-
herrſchaft zu erweiſen, die aber alle dahin-
ausgingen, daß nach Niederlagen von al-
len Seiten, die Mauer der Griechen er-
ſtuͤrmt ward und Hektor, ans Schiff des
Proteſilaus greifend, ausrief: „bringt
[91] Feuer!“ — Hier war das Ziel. Nicht
Agamemnons Geſchenke, noch eines ſchlauen
Ulyſſes Reden; Achilles eigner Entſchluß,
mit welchem ſich ſeines Freundes Patro-
klus Thraͤnen verbanden, hemmte die aͤu-
ßerſte Gefahr des Heeres. Jetzt gab
Achill dem Patroklus ſeine Waffen, mit
dem gemeſſenen Befehl, wie weit er gehen
ſollte. Als Patroklus dieſen uͤberſchritten
hatte und den Feinden erlag, als Hektor
in die Waffen Achills zu ſeinem eignen
Verderben gekleidet daſtand, und die Nach-
richt vom Tode des Freundes, endlich auch
ſeine kaum noch erbeutete Leiche ins Lager
kam: da war aller Groll dahin; im Him-
mel und auf der Erde war Friede. In
neue Waffen gekleidet, erſcheint er in der
Verſammlung; und wie klein iſt gegen ihn
Agamemnon, ob er ſich gleich noch jetzt,
zur Entſchuldigung ſeines Fehlers, in einem
[92] Maͤhrchen von der Ate, dem Jupiter
gleichſtellt. Wie groß dagegen iſt Achilles
und wie zart! zart in den Klagen um ſei-
nen Freund, in den Klagen an ſeine Mut-
ter; groß in der Verſoͤhnung mit ſeinem
Feinde, in der Anordnung des Begraͤbniſ-
ſes ſeines Freundes,


Laßt Patroklus Gebein, des Menoͤtiaden, uns

ſammlen,

Mit ſorgfaͤltiger Wahl; es iſt nicht ſchwer zu

erkennen.

Dieſes legen wir bei in goldner Urne, bis ich

auch

Sinke zum Hauſe des Pluto — —

Dann erhoͤhn wir den Huͤgel zum Grabmahl;

aber ich wuͤnſch' ihn

Nicht von ſtolzer Groͤße, nur maͤßig. Breiter

und hoͤher

Moͤget ihr, Freund', ihn kuͤnftig erbaun, ſo

viele von euch mich

Ueberleben — —

[93]

Groß endlich in den Kampfſpielen, in der
Ueberwindung ſein ſelbſt, da er den Leich-
nam Hektors zuruͤckgiebt, in der Behand-
lung Priamus dabei, groß von Anfange
des Gedichts bis zu Ende. Scherzend
ſpricht er zu Priamus:


Greis, wie ſchlaͤfſt du ſo unbekuͤmmert, kein

Uebel befuͤrchtend,

Wenn dich allhier Agamemnon entdeckt und

die andern Achaͤer! —

Dies iſt das letztemal, da Agamemnons in
der Ilias gedacht wird; wie tief ſteht er
unter Achill, in deſſen Zelte ſein Feind ru-
hig ſchlaͤft.


Ich weiß wohl, daß man die gedrohete
Mißhandlung am Leichnam Hektors dem
Achilles hoch aufnimmt; aber preiſet ſie
Homer? und verhindern ſie die Goͤtter
nicht ſelbſt, denen Achilles ſogleich wie ein
[94] Kind gehorchet? Und was hatte Hektor
mit Patroklus Leiche im Sinn, uͤber die
ein ſo hitziger Kampf war? —


Man iſt gewohnt, Achill und Hektor
zum Nachtheil des Erſten zu vergleichen;
nach welchem Maasſtabe? Nicht nur
waren es verſchiedene Charaktere, und zu
Achills Charakter gehoͤrte, was er war,
untrennbar; ſondern Hektor war auch ein
Trojaner. Daß in Troja, dem alten aſia-
tiſchen Koͤnigsſitze, ein groͤßerer Reichthum,
eine weichere Lebensart herrſchte, als in
den meiſten griechiſchen Staaten ſeyn konn-
te, zeigt ſich in mehreren Stellen der Iliade;
der Charakter des erſten Trojaners mußte
dieſem Zuſtande gemaͤß ſeyn. Der Spie-
gel Homers, in welchem ſich alle Dinge
der Welt gleich klar und rein darſtellen,
zeigt alle Geſtalten gleich menſchlich und
milde. Bei voͤlligen Gegenſaͤtzen ſcheint
[95] eine Vergleichung kaum moͤglich; und doch
wirft Homer auf alle, wo irgend er kann,
den milden Stral der Menſchheit.


Sein Gedicht endet, ehe Troja erobert
wird, ehe wir alſo die Graͤuelthaten der
Griechen in dieſer eroberten Stadt gewahr
werden. Selbſt ſein Held hatte das gute
Schickſal, die ſchreckliche Folge ſeiner Tap-
ferkeit nicht zu erleben; er fiel, wie wir
aus andern wiſſen, im Thore von Troja.
Und bei Homer, ſobald Achill mit ſeinen
neuen Waffen dahergeht, geht er zum
Tode. Dies weiſſagt ihm ſeine Mutter,
ſeine weinenden Roſſe, der ſterbende Hektor,
und er ſelbſt weiß es. Sein Leben iſt an
Patroklus Leben geknuͤpft; Ein Huͤgel ſoll
ſie decken, und eine goldne Urne beider
Aſche am Troiſchen Strande vereinen.


Was uͤberhaupt der Glaube an ein
Schickſal, was die Thaten der Goͤtter, ihre
[96] Huͤlfe und Feindſchaft gegen Voͤlker und
Menſchen, in die Compoſition Homers an
Ruhe, Milde und hohe Ergebenheit brin-
gen, iſt unſaͤglich. Man nehme dieſe
goͤttliche Farce, wie manche ſie genannt
haben, (μωϱον) aus ſeiner Iliade; und das
Ganze wird widrig oder platt, wie faſt alle
politiſche Geſchichte. Und doch iſt alles
Zuwirken der Goͤtter bei ihm ſo menſch-
lich, ſo natuͤrlich! Nirgend ein zerſtoͤren-
des Wunder; allenthalben nur der Gang
des Menſchengemuͤths, der Menſchenkraͤfte,
ſofern er ans Zufaͤllige, ans Unvorgeſehene,
ans Unendliche reichet. Was zumal die
Goͤtter uͤber die Sterblichen, und uͤber
Achills Roſſe ſprechen, die einem Sterbli-
chen dienen, iſt Seelezerſchneidend.


Menſchlicher Homer, wie liebe ich dich
in allen deinen Formen und Geſtalten!
Auch Paris, auch die Suͤnderin Helena
haſt
[97] haſt du nicht verſchmaͤhet, und beide in das
ſchoͤnſte Licht geſtellt, in welchem ſie ſtehen
konnten. Nicht vergeſſen ſind ihre Bruͤder
Caſtor und Pollux; ihr Menelaus, ſamt
Ulyß, ſind mit allen Wuͤrden geſchmuͤckt,
deren ſie auf der Ebne vor Troja faͤhig
waren. So Ajax, Diomed, Idomeneus,
Neſtor; jeder erſcheint an ſeinem Orte, zu
ſeiner Zeit in der Rennbahn des Ruhmes.
Kurz oder lange leuchtet ſein Schein; aber
er geht nach Verdienſt auf und nieder.


Drei Lehren druͤckſt du ſchweigend vor
allen uns ins Herz:


1. Diſcite juſtitiam, miſeri, et non tem-

nere divos,

welches ich hier ſo uͤberſetzen moͤchte:

Lernt, ihr Fuͤrſten, gerecht ſeyn und treffliche

Maͤnner verehren.

Dritte Samml. G
[98]

Dies lehrt uns mit ſeinem Uebermuth der
praͤchtige Agamemnon in der ganzen Iliade.
Er graͤnzt an alle Ausſchweifungen, die
Ariſtoteles Ethik kannte, an die Hab-
begierde (Akolaſie) den Neid, die
Schaamloſigkeit und Beifallge-
bung, die Pralſucht; doch graͤnzt er
nur daran, denn der weiſe Homer hat ihn
vor jedem Zuge des Veraͤchtlichen bewah-
ret. Er iſt und bleibt bei ihm ein un-
ſtraͤflicher Koͤnig. Achilles dagegen be-
ſitzt den Kern deſſen, was die Griechen
Tugend nannten, Großherzigkeit
(μεγαλοψυχια) und edlen Stolz, ho-
hes Selbſtgefuͤhl und die aͤußerſte
Wahrheitliebe
. Er iſt freigebig
und auf eine anſtaͤndige Art praͤchtig,
hoͤflich in ſeinem Zelt und bis zur Schaam
beſcheiden; dabei gebildeter als alle
Griechen: denn er war Chirons Zoͤgling
[99] und ergoͤtzte mitten im Unmuth ſein ſchwer-
beladnes Herz durch Toͤne. Der waͤrmſte
Freund ſeines Freundes, an Staͤrke,
Tapferkeit, Schoͤnheit und Ruhmliebe uͤber
alle Griechen erhaben. Und an dieſem
Gottgeliebten Sohn einer Goͤttinn und ei-
nes Helden zeigt uns Homer μηνιν


2. die erſchreckliche Plage des har-
ten, obwohl gerechten Unmuths. Achill
konnte ihm nicht entweichen: denn der
Vorfall, der ihn dazu reizte, drang auf ihn,
ohne daß er ihn ſuchte. Er kann, die
ganze Iliade hindurch, als Achill nicht an-
ders handeln, als er handelt. Das Unan-
genehme aber dieſes Unmuths fuͤr ihn und
fuͤr andre entwickelt der Saͤnger durch
Worte aus des guten Phoͤnix, ja aus
Achills eignem Munde und durch Erfolge
in lauter lebendigen Situationen. Sogar
das herbeieilende letzte Schickſal des Edel-
G 2
[100] zuͤrnenden ſehen wir in dieſe Reihe der
Dinge verflochten, in dieſen ihm unver-
meidlichen Unfall. Konnte ein zarterer
Punct des menſchlichen Herzens und Le-
bens zarter behandelt werden, als es der
Dichter gethan hat? Gemeine Seelen
wiſſen nichts vom edeln, goͤttlichen Unmuth;
wie manchem groͤßeren Gemuͤth aber iſt er
die Klippe des Gluͤcks, ſeiner Brauchbar-
keit fuͤrs gemeine Weſen, des haͤuslichen
und taͤglichen Wohlſeyns, ja endlich des
Lebens ſelbſt worden! Mehr als Ein Ge-
kraͤnkter hat die Klagen angeſtimmt, die
Achill am Ufer des Meers ſeiner Mutter
zuſeufzte; er konnte aber keinen andern
Troſt hoͤren, als jenem die Goͤttin ſelbſt zu
geben vermochte.


3. Endlich, welch eine boͤſe Sache iſt
der Krieg! Und wie mißlich iſt jede Re-
gierungsart unter den Menſchen, ſo un-
[101] umgaͤnglich ſie iſt im Kriege und Frieden!
Beides hat uns Homer ſo vorzuͤglich und
hell dargelegt, daß wir auch hier den Mei-
ſter ſehen, der in die roheſten Dinge Weis-
heit und Menſchlichkeit brachte.



[102]

35.


Sohn! Dir werden die ſiegende Staͤrke,

nach ihrem Gefallen,

Pallas und Juno verleihn; du aber bezaͤhme

des Herzens

Stolzaufwallenden Muth: denn guͤtige Triebe

ſind edler.

Dieſe Lehre laͤßt Homer den alten Pe-
leus ſeinem Achilles auf den Zug vor Troja
mitgeben und die ganze Iliade iſt eigent-
lich ein Lob der Philophroſyne d. i.
gefaͤlliger, Menſchenfreundlicher Geſinnung:
Unmuth iſt dem Homer eine Plage des Le-
bens, ſelbſt wenn es ein gerechter, [goͤtt-]
[103] licher Unmuth (μηνις) waͤre. Er frißt am
Herzen, und naget ab die Bluͤthe des Le-
bens; bei den menſchlichſten Geſinnungen
wird der Gekraͤnkte wider ſeinen Willen
ein Unmenſch. Die aͤlteſte griechiſche Phi-
loſophie ging dahinaus, das Gemuͤth der
Menſchen vor jedem Aeußerſten zu bewah-
ren; die aͤlteſte Philoſophie der Griechen
aber war bei den Dichtern. Mit Recht-
ſchaffenheit, Ruhm und Geſundheit ein
heiteres, frohes Leben fuͤhren zu koͤnnen,
ſtelleten ſie als den hoͤchſten Wunſch der
Sterblichen dar, und warnten vor jedem
Uebermaaße, vor jeder zu hart angeſeſſenen
Neigung. Wie klar muß es in der Seele
Homers geweſen ſeyn, da er, ſein ganzes
Gedicht hindurch, gleichſam die Waage
Jupiters in der Hand haltend, die Nei-
gungen und Charaktere der Menſchen gegen
einander im Streit und in Folgen abwog!


G 4
[104]

Der Schild Achilles zeigt bei ihm, wie er
ſich die Welt dachte; unbefangen ſah er
ihre mancherlei, einander oft nahe entge-
gengeſetzten Scenen; froͤhliche und traurige,
ruhige und ſtuͤrmiſche Scenen, und ſchil-
dert ſie, wie dort Vulkan ſie hammerte,
glaͤnzend und unvergaͤnglich. Wem Homers
Muſe den Nebel vom Auge nimmt, ge-
winnet uͤber die Dinge der Welt gewiß
eine große, weiſe und am Ende froͤliche
Ausſicht.


Wie Achill mit ſeiner Leyer den Un-
muth ſich zu zerſtreuen ſuchte: ſo war es
das Amt der lyriſchen Dichter der
Menſchen Herz zur Maͤßigung in Gluͤck
und Ungluͤck zu ſtimmen und es zur Freu-
de, Freundſchaft und Heiterkeit zu ermun-
tern. Leider ſind die meiſten derſelben un-
tergegangen; die uͤbriggebliebenen Reſte
aber zeigen dieſe Beſtimmung. Pindar
[105] ſelbſt, ob er gleich laute Siege beſingt, hat
ſo manchen Spruch in ſeinen Geſaͤngen,
der zur Maͤßigung im Gluͤck, zum behut-
ſamen Gebrauch des Lebens einladet; ſo
manchen, der dem Unmuthe zuvorzukom-
men ſucht, oder nach Erfahrungen deſ-
ſelben die Seele des Kaͤmpfers edel
erquicket.


Das feine Echo der Griechen, (wie
Einer unſerer Freunde ihn nannte) Horaz
thut ein Gleiches. Es waͤre zu wuͤnſchen,
daß er in ſeiner wohlgefaͤlligen, einſchmei-
chelnden Art auch uns eigen werden koͤnn-
te; vielleicht iſt dies aber unmoͤglich: denn
die Meiſten ſeiner Oden ſind zu kuͤnſtlich
eingelegte Muſiviſche Arbeit.


Mehrere derſelben, wiſſen Sie, ſind nach
dem Lateiniſchen in Muſik geſetzt; ich woll-
te, daß auch aus den fuͤr uns nicht ganz
brauchbaren Oden alle rein-menſchliche
G 5
[106] Strophen, alle beruhigende, troͤſtende, auf-
heiternde Spruͤche und Empfindungen la-
tein componirt wuͤrden. Stellen aus Vir-
gil deßgleichen. Ich erinnere mich aus
Luther, daß ihm einige Worte der ſterben-
den Dido in der Muſik einen unvergeßba-
ren Eindruck gemacht hatten; wem wuͤr-
den nicht jene ewigen Spruͤche der Alten,
mit welchen ſie im einfachſten, kraͤftigſten
Ausdruck das Menſchengemuͤth ſtaͤrken, ei-
nen nach- und wiedertoͤnenden Eindruck
geben? Durch Muſik iſt unſer Geſchlecht
humaniſirt worden; durch Muſik wird es
noch humaniſiret. Was dem Unmuthigen,
dem Lichtlos-Verſtockten die Rede nicht
ſagen darf: ſagen ihm vielleicht Worte auf
Schwingen lieblicher Toͤne.


Wenn dies von Geſaͤngen der Alten gilt,
ſollte es nicht vielmehr von Sprachen gel-
ten, deren Genius uns vertraulicher und
[107] naͤher Laute des Troſtes und der Weisheit
zuliſpelt? Kein Zweifel. In den Dichtern
der Italiener, Spanier, Gallier ſchlummern
Toͤne, die, wenn ſie durch Muſik und Anwen-
dung zur Weisheit des Lebens wuͤrden, Voͤl-
ker und Staͤnde menſchlich machen muͤßten.


Auch in unſern lyriſchen Dichtern ſind
Strophen, die der Sokratiſchen Schule
wuͤrdig ſind; warum leben ſie ſo wenig
im Ohr der Nation? warum ſchlafen ſie
mit ihren Erfindern vergeſſen im Staube?
Die Urſache iſt leicht zu finden: „weil nur
ein ſo kleiner Theil unſrer Nation cultivirt
iſt, und bei einem andern die ſcheinbare
Cultur zu einem falſchen Schmuck frem-
der Ueppigkeit geworden iſt.“ Wir wollen
es uns nicht bergen; man ſpricht viel von
Cultur und Aufklaͤrung; man affectirt und
fuͤrchtet ſie ſo gar, vielleicht weil man an
ſich ſelbſt weiß, daß ſie nicht tief gehet,
[108] daß ſie ſelten von rechter Art iſt. Denn
wirklich gebildete Gemuͤther, (in dem
Verſtande, wie Griechen und Roͤmer dies
Wort uns zugebracht haben,) koͤnnen am
Nutzen der aͤchten Bildung nicht zweifeln.


Doch wo gerathe ich hin? Laſſen Sie uns
ſchnell zu unſrer Materie, zu dem unver-
faͤnglichen Wunſch nach Compoſitionen
ſchoͤner Stellen aus lateiniſchen
Dichtern
zuruͤckkehren. Oft, gar oft
wenn ich geiſtliche Muſiken uͤber lateiniſche
Moͤnchsworte hoͤrte, regte ſich das Ver-
langen in mir, auch altroͤmiſche Stellen
mit ſolcher Muſik begleitet zu hoͤren; und
als in Reichardts Todtenfeier auf Frie-
derich nach Luccheſini's Worten alt Roͤ-
miſche Tugenden, Eine nach der Andern,
auf des Unſterblichen Grab auch in Toͤnen
ſich zudraͤngten, ward der Wunſch aufs
neue in mir lebendig. Strophen aus
[109] Horaz, (z. B. B. 1. Ode 7. V. 21-32.
B. 2. Ode 10. V. 13-24.) oder ganze
Stuͤcke mit Zweckmaͤßiger Abwechſelung,
(wie vielleicht B. 1. Ode 9. 24. 26. B. 2.
Ode 3. 11. 14. 16. 19. 20. B. 3. Ode 2.
9. 21. B. 4. Ode 7. Epode 7.) wuͤrden
der Muſik nothwendig den eigenthuͤmlichen
Schwung geben, der ihr bei unſern ver-
brauchten Sylbenmaaßen zu finden oft
ſchwer wird. Der Hoͤrer wuͤrde dadurch
gewiſſermaaßen in die Roͤmiſche Welt, oder
wenigſtens in Zeiten ſeiner Jugend ver-
ſetzt, in welchen er Horaz zuerſt lieben
lernte.


Wie gluͤcklich war uͤberhaupt dieſer
Dichter! Nicht nur im Leben, ſondern
auch in der Reihe von Wirkungen, die
ihm nach ſeinem Tode das Schickſal an-
wies. Die lyriſchen Dichter der Griechen
ſind untergegangen; Er faſt allein hat uns
[110] mehrere Formen ihrer Gedanken, ihrer Em-
pfindungen, ihres Ausdrucks, ihrer Syl-
benmaaße in ſeinen Nachbildungen geret-
tet; und was damit fuͤr ein Schatz geret-
tet ſei, hat die Zeitfolge erwieſen. Die
Pindariſche Form, die Form der griechi-
ſchen Scholien und Choͤre war und blieb
den Sprachen Europa's unanwendbar; in
der Horaziſchen Form erhob ſich die Ode,
ſelbſt zu einer Zeit, da die Nationalſpra-
chen der Europaͤiſchen Voͤlker ungebildet
dalagen. In allen Laͤndern ſchloſſen ſich
die Geiſter des Geſanges dem Venuſini-
ſchen Schwan an, und druͤckten zuerſt in
der geliehenen lateiniſchen Sprache Geſin-
nungen aus, die ſie in ihrer Landesſprache
noch nicht auszudruͤcken vermochten. Wie
niedrig iſts, was Balde u. a. Deutſch ſan-
gen; wie edler, wo ſie das von Horaz
geheiligte Werkzeug der Sprache anwen-
den konnten! Ohne ihn haͤtten wir keinen
[111]Sarbievius, deſſen Oden, von Goͤtz u. a.
wiederum in unſre Sprache uͤbertragen,
immer noch den Roͤmiſch-Griechiſchen Geiſt
athmen. Gehen Sie in dieſem Geſichts-
punkt die Sammlungen durch, die Gru-
ter u. a. von den lateiniſchen Dichtern
der Italiaͤner, Gallier, Belgen,
Deutſchen, Daͤnen, Schotten, Eng-
laͤnder u. f. gegeben haben; unter vielem
Wortgeklingel werden Sie unſtreitig wahre
delicias finden. Jeder edlere Dichter ver-
gaß gleichſam den Lauf der Dinge um ihn
her; uͤber die Vorurtheile ſeines Landes,
ſeiner Secte, ſeines Ordens hinausgeſetzt,
mußte er gleichſam mit dem Roͤmiſchen
Dichter auch Roͤmiſch denken. Was ſpaͤ-
terhin in unſrer Sprache eben auch durch
die Horaziſche Form geweckt und in ihr
vorgetragen ſei, darf ich Ihnen aus Klop-
ſtock, Goͤtz, Uz, Ramler u. a. nicht
[112] anfuͤhren. Horaz iſt Saͤnger der Hu-
manitaͤt gleichſam Vorzugsweiſe, die
Form ſeiner Gedanken iſt das erwaͤhlte
Lieblingsmaaß der lyriſchen Muſe worden.
O daß wir alſo ſchon Stellen, wie ſolche:
Vitae ſumma breuis — nil deſperandum —
Tu ne quaeſieris — felices ter et amplius —
quod ſi Threicio — linquenda tellus — ae-
quam memento — rebus anguſtis — eheu
fugaces — tecum vivere amem, tecum obeam
libens
— in lateiniſcher Sprache componirt
hoͤrten!


Hier Eine von Sarbievs unſchaͤtzba-
ren Oden auch in der Form des Roͤmers:



An die Weisheit.
Die du, hoͤchſte Vernunft, weiſe die Schik-

kung lenkſt!

Wie zuweilen der Ernſt deiner Verfuͤ-

gungen

Uns ergetzet, ergetzen

So die menſchliche Spiele Dich?

Mit
[113]
Mit freigebiger Hand ſtreueſt du Guͤter

aus.

Und wir raffen ſie auf, wenn ſie ge-

fallen ſind,

Wie die Jugend die Nuͤſſe

Mit kurzweiligem Zanke rafft.

Wer jetzt Kronen erhaſcht, bricht ſie; wer

Zepter kriegt,

Sieht ſie wieder entfuͤhrt, eh er ſie

tragen kann.

Welt! ſo ſchwankſt du, zerriſſen

Von den Haͤnden der Maͤchtigen.

Was das geizige Gluͤck unter die Voͤlker

theilt,

Iſt ein Puͤnktchen. O laß, Weisheit,

ich flehe Dir!

Mich, indeß ſie ſo zanken,

Mit dir lachen und froͤhlich ſeyn.


[114]

36.


Ein zweites Fragment aus der Handſchrift
Ionien handelt
Von der Humanitaͤt Homers
in Anſehung des Krieges und der
Kriegfuͤhrenden ſeiner Iliade
.
Laſſen Sie es jetzt ſtatt meines Briefes
gelten.


Selbſt in dem Heldengedicht, das groͤß-
tentheils Thaten der Krieger beſingt, dachte
Homer uͤber Krieg und Frieden menſch-
lich. Nicht nur, daß er jenen ſo oft den
Thraͤnenreichen, Maͤnnerfreſſen-
[115]den, verderblichen, harten, boͤſen
Krieg nennet; er laͤßt keine Gelegenheit
vorbei, ihn ſeiner Natur nach, mit allen
begleitenden Uebeln, durch Thatſachen zu
ſchildern.


I. Die Iliade beginnt mit einem Greiſe,
der um ſeine geraubte, liebe Tochter
vergebens flehet; und bald wird es nicht
verſchwiegen, daß die Griechen alle benach-
barte Kuͤſten und Inſeln gepluͤndert, daß
ſie die neun Jahre her großentheils vom
Raube gelebt haben. Schon faulet das
Holz an ihren Schiffen, die Seile vermo-
dern;


Ihre Weiber daheim und unerzogene Kinder
Schmachten, ſie wiederzuſehn —
daher denn, als Agamemnon ihnen den
Vorſchlag that, nach neun Jahren vergeb-
licher Arbeit wieder die Schiffe zu beſtei-
gen und
H 2
[116] — zu fliehn zum werthen Geburtsland;
ſo hatte er kaum das Wort geſprochen,
als die Verſammlung es in freudigem
Ernſt befolgte:


— Der Staub ſtieg unter den Fuͤßen der

Maͤnner

Wallend empor, und einer ermahnte den an-

dern zur Eile,

Daß ſie die Schiff' erreichten und bald ins

Waſſer ſie zoͤgen.

Nur durch vieles Zureden und durch den
gebietenden Stab des Koͤnigs konnte die
Kriegsſatte Schaar wieder in die Verſamm-
lung, durch neue dringende Vorſtellungen
von Schande, Ruhm und Hoffnung wie-
der ins Feld gebracht werden.


2. Denn es hatte ſich zur Laſt des Krie-
ges auch die Plage der Peſt gefunden;
eben ſie unterlaͤßt Homer nicht im Anfange
der Iliade ſchreckhaft zu zeichnen.


[117]
— Die Voͤlker aus Argos

Fielen bei Haufen dahin; die ſcharfen Pfeile

des Gottes

Flogen toͤdtend umher im ganzen achaͤiſchen

Kriegsheer,

Daß man taͤglich die Leichen, gethuͤrmt in

Haufen verbrannte.

Denn wem iſt unbekannt, daß anſtecken-
de Krankheiten, das gewoͤhnliche Gefolge
aller Kriegsheere ſind, und elender metzeln,
als das Schwert des Feindes?


3. Als die Goͤttinn endlich im Buſen der
Griechen die Streitluſt wieder erweckt,
Daß ſie nach unablaͤſſigem Kampf und Schlach-
ten ſich ſehnen,
und ihnen der Krieg wiederum viel ſuͤßer
duͤnkt,


— als vormals
Ihnen die Ruͤckfahrt ſchien zum werthen
Lande der Heimath,
H 3
[118] will der Dichter dem blutigen Gefechte noch
durch eine billige Auskunft zuvor-
kommen. Menelaus und Paris, de-
ren Sache es eigentlich allein iſt, um de-
ren willen Menſchen hingeopfert werden,
ſollen durch einen Zweikampf den Zwiſt
entſcheiden.


— Ihn hoͤrten mit Freude die Griechen und

Trojer

Hoffend, das Ende zu ſehn des Elendbringen-

den Krieges.

4. Da dies Mittel aber nicht gelang,
und die Heere gegen einander ziehen muͤſ-
ſen, von wem laͤßt ſie der Dichter empoͤ-
ren? Die Trojer von Mars, den ſein
Vater, Jupiter, ſelbſt ſpaͤterhin alſo an-
redet:


[119]
Wiſſe, dich haß' ich am meiſten von allen Be-

wohnern des Himmels:

Denn du findeſt nur Luſt an Zank und Krie-

gen und Schlachten.

Aehnlich biſt du der Mutter am unertraͤgli-

chen Starrſinn,

Der nie weichet und kaum von mir durch

Worte gezaͤhmt wird.

Die Griechen regt Pallas auf, und mit
beiden Aufregern ſind


— Das Schrecken, die Furcht, die

raſtloswuͤtende Zwietracht,

Schweſter des Menſchenverderbenden Mars

und ſeine Gehuͤlfinn,

Die erſt klein ſich immer erhebt, bis endlich

ihr Haupt ſich

Hoch in Wolken verbirgt, indem ſie die Erde

bewandelt;

H 4
[120]
Dieſe durcheilte die Heer' und ſaͤ'te zu beider

Verderben

Streitgier unter ſie aus, und mehrte der Krie-

ger Getuͤmmel.

Sind dieſe Namen hier allegoriſche Kunſt-
werke? Geſpenſter ſinds, die Homer
eben deßwegen ſchreckhaft einfuͤhret, weil
durch Perſonen, die in beſtimmten Umriſ-
ſen erſcheinen, die Wirkung nicht hervor-
zubringen war, die er hervorbringen wollte.
So ſcheint er zu andrer Zeit den Zorn,
die Schadenfreude, das ſchrecklicher-
greifende Todesverhaͤngniß zu perſo-
nificiren; zu gleichem Endzweck, unſere
Begriffe naͤmlich zu verwirren durch dieſe
unumſchriebene Wortlarven. Der Zorn
iſt ihm wie ein Rauch, und die Zwie-
tracht erhebt ſich gleicher Geſtalt zwiſchen
Himmel und Erde. — Von allen Kuͤnſt-
ler-Ideen weggeſehen, wie wahr und wie
[121] graͤßlich! Aus einem Nichts entſpringet
die Zwietracht und wird in kurzem uner-
meßlich. Nie umſchrieben in ihrem Weſen
kommt ſie vielleicht aus Einer Kammer
hervor und durcheilt Staaten, durcheilt
Heere, ſaͤet Verderben und Streitgier um-
her, immer das Haupt in hohen, unabſeh-
lichen Wolken verborgen. Selten wiſſen
die Menſchen, weßhalb ſie ſtreiten; je laͤn-
ger aber, deſto hartnaͤckiger hadern ſie:
denn von Schritt zu Schritt waͤchſt die
unerſaͤttliche Eris.


5. Jetzo trafen ſie nah' auf Einem Raume

zuſammen,

Schild und Lanzen begegneten ſich und Kraͤfte

der ſtarken

Eiſengepanzerten Maͤnner. Es ſtieſſen die

baͤuchigen Schilde

Wechſelnd gegen einander, und ward ein ſchreck-

lich Getoͤſe.

H 5
[122]
Laut ertoͤnte zugleich das Jammern und Jauch-

zen der Krieger,

Schlagender und Erſchlagner; es ſtroͤmte von

Blute die Erde.

Da ſich Homers Iliade einem großen
Theil nach mit dieſem Gemetzel beſchaͤf-
tigt: ſo wird das Menſchengemuͤth des
Dichters hier vorzuͤglich fuͤhlbar. Seine
Todte laͤßt er nie als Thiere fallen; er be-
zeichnet, ſo viel er kann, in einigen Ver-
ſen als Menſchenfreund ihr trauriges
Schickſal. Dieſer wird nie mehr zu ſei-
nen geliebten Eltern, zu ſeinen Bruͤdern,
ſeiner Gattinn, ſeinen Kindern wiederkeh-
ren; jener hat Reichthum, Wohlſtand,
eine gluͤckliche Ruhe verlaſſen, die er nie
mehr genießen wird. Einen andern
zeichnet er als Kuͤnſtler, als einen geſchick-
ten, ſchoͤnen, Gottbegabten Mann; ſeine
Kunſt iſt dahin, ſeine Schoͤnheit verwelket,
[123] der Goͤtter Gaben werden mit der Aſche
begraben. Jenen hat falſche Hoffnung,
eine truͤgliche Weiſſagung ins Feld gelockt;
der Tod ergreift ihn, ſchwarze Nacht um-
huͤllet ſein Auge. Und ferner. Mehrere
dieſer Erinnerungen ſind ſo zart, daß ſie
Inſchriften zu den Grabmaͤlern
der Erſchlagenen
ſeyn koͤnnten, wenn
arme Kriegserſchlagene Grabmal und Urne
erhielten.


6. Merkwuͤrdig iſt hiebei, daß Homer
dieſes zaͤrtliche Andenken am meiſten den
Trojanern
ſchenket. Er ein Grieche, der
den Ruhm griechiſcher Helden verewigen
wollte, war zugleich ein Aſiat, ein Jonier,
ein Menſch, und ich moͤchte ſagen ein Be-
daurer des Trojaniſchen Schickſals. Weit
entfernt von der barbariſchen Kleinmuth,
ſeine Feinde verunglimpfend zu beluͤgen,
zeichnet er ihr zarteres Gemuͤth, die groͤ-
[124] ßere Weichlichkeit ihres Klima, ihre Fami-
lienneigungen, ihre Kuͤnſte, ihr Wohlbeha-
gen zu Friedenszeiten, in Zuͤgen, an denen
ſich offenbar das Auge des Dichters ſelbſt
ergoͤtzte. Die armen Trojaner ſind ihm
eine Heerde Schaafe, die von Woͤlfen an-
gefallen wird; unter ihnen ſind viele frem-
de Bundsgenoſſen, die am Schickſal der
bedraͤngten Koͤnigsſtadt nur aus nachbar-
lichem Mitleid Theil nehmen. Uns den
inneren Wohlſtand Troja's zu zeigen, un-
ſer Herz fuͤr die Bedraͤngten mitfuͤhlend zu
machen, fuͤhrt er ſeinen edlen Hektor im
Anfange des Treffens in die Stadt zuruͤck.
Er zeigt uns Priamus und ſeiner Soͤhne
Wohnungen, zeigt uns die Helena ſelbſt in
einer zwar erniedrigten, aber nicht unwuͤr-
digen Geſtalt; ſo die Aelteſten der Stadt,
ſo endlich Andromache und ihr Kind. Ruͤh-
render iſt wohl kein Abſchied geſchildert
[125] worden, als den Hektor von ihnen beiden
nahm; und es iſt eine Ueberkritik der
Grammatiker, daß in der Andromache
Rede einige Verſe zu allgemein und zu
viel ſeyn ſollen. Bei dem Dichter ſpricht
ſie im Namen aller Trojaniſchen Frauen,
fuͤr ſie und ihre verwaiſeten, gefangenen
Kinder. Auch hat ſich Homer wohl gehuͤ-
tet, uns die Unthaten ſelbſt zu erzaͤhlen,
die dieſer traurige Abſchied nur vorahnet,
ob ſich gleich der Grund ſeiner ganzen
Odyſſee, die ungluͤckliche Ruͤckfahrt der
Griechen, großen Theils auf ſie bezog.
Weder mit der Graͤuelthat des Ajax vor
dem Bilde der Pallas, noch mit des Pria-
mus, der Polyxena und Andrer unwuͤrdi-
gem Morde hat ſeine Muſe ſich befleckt;
die Kuͤnſtler und tragiſchen Dichter nah-
men ihre Vorſtellung dieſer Scenen aus
andern ſogenannten cykliſchen Dichtern.
[126] Hektors letzter Gang nach Troja iſt bei
Homer in jedem Schritte groß und heilig.
Der Edle will die zornige Goͤttinn verſoͤh-
nen und ſeine geliebte Vaterſtadt entſuͤn-
digen; daher er auch den Miſſethaͤter Pa-
ris ins Feld fodert, bis am Skaͤiſchen
Thore endlich, an dieſem Ungluͤcksorte, der
traurige Abſchied die Scene endet — —


Homer war keiner von denen, die ih-
rem Lieblingshelden die ganze Welt auf-
opfern. Seinen Achilles kleidet er in
Gottaͤhnliche Groͤße; Hektor dagegen in
alle Wuͤrde und Zierde des Vertheidigers
ſeiner Geburtsſtadt. Beide Helden konn-
ten in dem Menſchenverderblichen Kriege
nicht auf Einmal glaͤnzen; indeß Jener
alſo einige Tage ruhet, laͤßet er dieſen
ſein Gluͤck aufs hoͤchſte treiben; bis er
durch Anlegung der Waffen Achills die
Nemeſis reizet, und dem Tode ein Opfer
[127] daſteht. So uͤbertrieb Patroklus ſeine Be-
ſtimmung und ſank; nicht von Hektor,
ſondern zuerſt von Apollo ſelbſt Ruͤckwaͤrts
getroffen, daß Achills Waffen von ihm
fielen. So ſollte, hinter Homers Iliade,
Achilles, da ſein Ziel erreicht war, auch
ſinken. Das Schickſal aller Dreien, der
edelſten Maͤnner, iſt in einander verwebt,
und der Tod Eines ein Verkuͤndiger vom
Tode des Andern. Im Leben und Tode
ehrt Jupiter den Hektor. Da er vom
Zorn der Juno ihn nicht erretten kann,
opfert er ſeinen eignen geliebten Sohn
Sarpedon mit ihm zugleich auf, und ſei-
nen Leichnam entzieht er der Rache Achills
auf die edelſte Weiſe.


Und wie den Hektor, ſo hat Homer
den alten Priamus und alle ſeine Kin-
der geehret. Deiphobus iſt vom Apoll
begeiſtert, wie keiner im griechiſchen Heere;
[128] ſelbſt Paris Vorzuͤge werden bei al-
lem Tadel, der ihm gebuͤhrt, nicht ver-
ſchwiegen.


7. Warum unterſagt Priamus bei dem
Begraͤbniß der Erſchlagenen ſeinem Heer
die weinende Trauerklage? Offenbar lag
dies Verbot in der Situation der Troja-
ner. Sie, eine Verſammlung Aſiatiſcher,
weicherer Voͤlker, an die laut-weinende
Trauerklage mehr noch als die Griechen
gewoͤhnet, ſie, die in der Naͤhe ihrer Ver-
wandten, Kinder und Weiber, vor Troja's
Mauern ihre naͤchſten Freunde und Lands-
leute beſtatten, und in ihrem Tode ihr eignes
Schickſal vorausſahen, ſie hatten ein ſolches
Verbot noͤthiger als die haͤrteren Griechen,
die der angreifende Theil waren, und fern
von den Ihrigen nur ihre Mitſtreiter be-
gruben. Um Patroklus Leiche weinen die
Griechen, inſonderheit die Myrmidonen,
am
[129] am heftigſten Achilles; auch Briſeis weint
und die uͤbrigen Weiber, letztere aber
Um Patroklus zum Schein, im Grund' um
eigenes Elend.


8. Noch mehr zeigt die Menſchlichkeit
Homers ſich in der Weisheit, mit der er
uͤber das Schickſal des Krieges
dachte. Alles Kriegsungluͤck laͤßt er durch
Fehler entſtehen, durch Fehler und Lei-
denſchaften der Goͤtter und Menſchen. Das
alte Troja wird vom Jupiter dem Eigen-
ſinn eines unverſoͤhnlichen Weibes aufge-
opfert, die eine Reihe ihrer Lieblingsſtaͤdte
hingeben will, wenn Jupiter hier nur ih-
ren Willen erfuͤllet. Die keuſcheſte, ſtolzeſte
Goͤttinn erroͤthet nicht, ihre Umarmung zum
Netz des Betruges zu machen, aus tiefem
Groll lieblos Liebe zu heucheln, mit ge-
borgtem Schmuck an offnem Tage aus der
Dritte Samml. I
[130] Gattin eine beruͤckende Buhlerin zu wer-
den, nur damit Einige Trojaner mehr blu-
ten, indeß ihr beſtochener Kaͤmmerling, der
Schlaf, dem Schickſalwaͤgenden Gott die
Augen zuſchließt. Das Aeußerſte der Rache
eines Weibes! Gegen Troja ſtehen zwo
Weiber, fuͤr Troja zwei Maͤnner; wer zwei-
felt, wenn es auf Haß ankommt, welche Par-
thei zum Ziel gelangen werde? Ging es in den
hartnaͤckigſten Kriegen der Erde je anders?


In der menſchlichen Scene hangen, wie
vorher gezeigt worden, der Griechen Unfaͤlle
bei Homer lediglich vom Stolz und Wahn
des Koͤniges ab, dem keiner der Rathge-
benden Fuͤrſten ſich zu widerſetzen ge-
traute. Ein falſcher Traum iſt ſeine be-
lehrende Gottheit; ſonſt erſcheinet ihm
keine, (deren mehrere doch andern erſchei-
nen) waͤhrend der ganzen Iliade. Dieſer
falſche Traum heißt Duͤnkel, dem Aga-
[131] memnon, ſchon ſeinem Namen nach ein
Jupiter auf Erden, zum Verderben ſeines
Volkes gehorchet. Den aͤlteſten Rathge-
ber beſticht er damit, daß der Traum in
ſeiner Geſtalt erſchienen ſei; andre Fuͤrſten
ſchweigen, oder wetteifern thoͤricht mit
Achilles Ruhme. So kommt durch Einen,
durch Wenige das ganze Heer an den Rand
des Abgrundes. Zu ſpaͤt wird geſprochen,
zu ſpaͤt geweinet; und unter dieſem allen
iſt und bleibt Agamemnon der ſorgſamſte
Hirte der Voͤlker. O Homer, ſo oft ich
von neuem Deine Iliade leſe, finde ich in
ihr neue Zuͤge der ordnenden Weisheit,
Klugheit und Menſchenliebe, mit der
du wilde Verhaͤltniſſe eines rohen Zeit-
alters erzaͤhleſt. Und keine Lehre, keine
Warnung entfließt deinen Lippen, als ob ſie
die deinige waͤre; jedes Laſter, jede Thorheit,
jede Leidenſchaft ſelbſt lehret und warnet.


I 2
[132]

Diderot uͤber die Einfalt in
Homer.


„Die Natur hat mir Geſchmack an der
Einfalt gegeben und ich bemuͤhe mich, die-
ſen Geſchmack durch das Leſen der Alten
vollkommner zu machen.


O mein Freund, wie ſchoͤn iſt die Ein-
falt! Wie uͤbel haben wir gethan, uns
davon zu entfernen!


Wollen Sie hoͤren, was der Schmerz
einem Vater eingiebt, der jetzt ſeinen
Sohn verlohren hat? Hoͤren Sie den
Priamus. Wollen Sie wiſſen, wie ſich ein
Vater ausdruͤckt, der dem Moͤrder ſeines
Sohns fußfaͤllig flehet? Hoͤren Sie eben
den Priamus zu den Fuͤßen des Achilles.


Was iſt in dieſen Reden? Kein Witz,
aber ſo viel Wahrheit, daß man faſt glau-
ben ſollte, man wuͤrde eben ſo wohl als
[133] Homer darauf gefallen ſeyn. Wir aber,
die wir die Schwierigkeit und das Ver-
dienſt, ſo einfaͤltig zu ſeyn, ein wenig ken-
nen, moͤgen dieſe Stellen nur leſen, moͤgen
ſie mit Bedacht leſen, und hernach alle
unſre Schreibereien nehmen und ins Feuer
werfen. Das Genie laͤßt ſich fuͤhlen, aber
nicht nachahmen.“ —


Was Diderot hier von Homers Ein-
falt ſagt, moͤchte ich von ſeiner Humani-
taͤt ſagen. Man leſe ſeine Beſchreibun-
gen des Todes der Erſchlagnen, man leſe
Hektors Abſchied von ſeinem Weibe und
Kinde, man bemerke jeden Zug, mit dem
der Dichter des Achills erwaͤhnet, inſon-
derheit wenn er ihn ſelbſt redend einfuͤh-
ret, auch was er hie und da uͤber das
Gluͤck und Ungluͤck des menſchli-
chen Lebens, uͤber Reichthum, Ehre,
Adel der Seele und des Geſchlechts,
I 3
[134] uͤber Gerechtigkeit, Tapferkeit, Ge-
duld, Weisheit, Maͤßigung, Sanft-
muth, Gaſtfreundſchaft, Verſchwie-
genheit, Treue, Wahrheit, uͤber die
Verehrung der Goͤtter
, die Erge-
bung in den Willen des Schickſals,
und die ihnen entgegengeſetzten Thorheiten
und Laſter einſtreuet; welch eine Schule
der Humanitaͤt iſt in ihm!


[135]

37.


Leßings Emilia Galotti hat mich wie-
der einmal ins Theater gelockt; wie zufrie-
den ja geſaͤttigt bin ich hinausgegangen!
Ein Theaterſtuͤck muß geſehen, nicht gele-
ſen werden: denn wenn es iſt, was es
ſeyn ſoll, ſo iſt ja eben auf die Vorſtel-
lung alles berechnet. Ich kann mir nicht
einbilden, daß wenn Stuͤcke dieſer Art,
(aber auch keine andre als ſolche) woͤchent-
lich nur Einmal, auf die leidlich-vollkom-
menſte Weiſe gegeben wuͤrden, und dieſe
Stuͤcke lauter Staͤnde und Situationen un-
ſrer Welt, wie dieſes, enthielten, das Publi-
cum ungebildet, unerleuchtet bleiben koͤnnte.


I 4
[136]

Bei der zweiten Ausgabe des Dide-
rotſchen Theaters bezeugte Leßing dieſem
Schriftſteller oͤffentlich ſeine Dankbarkeit
als dem Manne, der an der Bildung ſei-
nes Geſchmacks großen Antheil habe.
Denn, faͤhrt er fort, es mag mit dieſem
auch beſchaffen ſeyn, wie es will: ſo bin
ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne
Diderots Muſter und Lehren eine ganz
andre Richtung wuͤrde bekommen haben.
Vielleicht eine eignere; aber doch ſchwer-
lich eine, mit der am Ende mein Verſtand
zufriedener geweſen waͤre.“ Und ſetzt ſo-
dann weiter den Einfluß ins Licht, den Di-
derots Stuͤcke, inſonderheit ſein Haus-
vater auf das Deutſche Theater gehabt habe.


Sie wiſſen, wieviel Diderot darauf
hielt, daß Staͤnde aufs Theater gebracht
werden ſollten, und was Leßing in ſeiner
Dramaturgie dabei zu erinnern fand. Na-
[137] tuͤrlich koͤnnen Staͤnde ohne beſtimmte Cha-
raktere auf dem Theater keine Wirkung
thun; aber bilden ſich die Charaktere der
Menſchen nicht in und nach Staͤnden? und
welcher Stand haͤtte auf den Charakter mehr
Einfluß, als der Stand eines Prinzen? Hier
hatte alſo Leßing ein weites Feld, das phi-
loſophiſche Allgemeine, dadurch
Ariſtoteles die Poeſie von der nackten Ge-
ſchichte unterſcheidet, als Philoſoph und
Dichter zu bearbeiten. Er zeigt den Cha-
rakter des Prinzen in ſeinem Stande, den
Stand in ſeinem Charakter, beide von
mehreren Seiten, in mehreren Situationen.
Nicht nur bringt er den Prinzen in ſeiner
gegenwaͤrtigen Gemuͤthsſtimmung mit den
verſchiedenſten Perſonen, Maͤnnern und
Weibern, mit Kuͤnſtler und Canzler, Kam-
merherr und Kammerdiener, mit einer
Geliebten, die er jetzt nicht geliebt haben,
I 5
[138] und einer andern, die jetzt von ihm eben
nicht geliebt ſeyn will, mit dem Vater, der
Mutter, dem Braͤutigam derſelben, ja mit
ſich ſelbſt in Geſpraͤch und Handlung; er
unterlaͤßt auch keine Gelegenheit, in jeder
dieſer Situationen eigentlich nach dem
Ringe zu rennen, und wenn mir der Aus-
druck erlaubt iſt, das Prinzliche dabei
zu charakteriſiren. Niemand wird unver-
ſchaͤmt gnug ſeyn, deßhalb das Stuͤck eine
Satyre auf die Prinzen zu nennen: denn
nur dieſer Prinz, ein Italiaͤniſcher, jun-
ger, eben zu vermaͤhlender Prinz iſts, der
ſich dieſe Spaͤße giebt und bei Marinelli
andre zulaͤßt. Auch iſt ſein Stand, ſeine
Wuͤrde, ſelbſt ſein perſoͤnlicher Charakter
in Allem zart gehalten, und mit wahrer
Freundlichkeit geſchonet. Am Ende des
Stuͤcks aber, wenn der Prinz ſein veraͤcht-
liches Werkzeug ſelbſt verachtend von ſich
[139] weiſet, und dabei ausruft: „Gott! Gott!
iſt es zum Ungluͤcke ſo mancher nicht genug,
daß Fuͤrſten Menſchen ſind; muͤſſen ſich
auch noch Teufel in ihren Freund ver-
ſtellen?“ und die unſchuldige Braut dabei
im Blut liegt, der Vater, ihr Moͤrder, ſich
eben vor dieſen Fuͤrſten, als vor ſeinen
Richter ſtellt, Marinelli, der Unterhaͤndler
dieſes Gewerbes, ſich noch bedenkt, den
Dolch aufzuheben; wer iſt, dem, wenn in
ſolcher Situation der Vorhang ſinkt, nicht
noch andre Gedanken, außer dem, den der
Prinz ſagt, in die Seele ſtroͤmen? Noth-
wendig fragt man ſich, wie wird das Ge-
richt uͤber den alten Odoardo ablaufen?
wie lange wird Marinelli entfernt ſeyn?
d. i. wie bald wird er, wenn ſein Dienſt
abermals brauchbar iſt, wiederkehren?
u. f.


[140]

Es iſt vielleicht das hoͤchſte Verdienſt
der Poeſie, inſonderheit des Drama, Staͤnde
und Charaktere aller Art (wenn mir das
niedrige Gleichniß erlaubt iſt) an dem fein-
ſten Spieß, aufs langſamſte am Feuer eig-
ner Thorheiten, Neigungen und Leiden-
ſchaften umzuwenden. In der Seele des
Zuſchauers werden dieſe Staͤnde und Cha-
raktere dadurch gahr, oder, mit einem
edleren Ausdruck, geruͤndet. Man ſie-
het, was an der Figur Ernſt oder Scherz,
Wort oder That iſt; man blickt auf den
Grund hinunter, und greift das Beſtaͤn-
dige oder Unſtatthafte ihres Charakters,
ihre Verſatilitaͤt und innere Ehrlichkeit
gleichſam mit Haͤnden.


Die alte Tragoͤdie ging darauf hinaus,
durch Darſtellung unerwartet-ſchrecklicher
Koͤnigsunfaͤlle und Kataſtrophen die Ur-
theile der Menſchen zu berichtigen, ihre
[141] Grundſaͤtze zu ſichern, und das poco piu
und poco meno der Leidenſchaften, der
Furcht und des Mitleids, dem Zuſchauer
auf aͤchter Waage vorzuwaͤgen. Die neuere
Tragoͤdie, wenn ſie gleich ihren Bogen
nicht ſo ſcharf ſpannen und ihre Kaͤule ſo
raſch ſchwingen kann, als die alte, hat
dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie
ſpricht zum innerſten Gefuͤhl, zur treueſten
Ehrlichkeit des Menſchen; die Uebelthat
kann ſie auch jenſeit der Geſetze verfolgen,
ſo wie das Luſtſpiel die Thorheit auch jen-
ſeit der Geſetze ſtraft. Beide ſind Spre-
cherinnen vor dem erhabenſten Richterſtuhl
unſres Geſchlechts, vor der Humanitaͤt
ſelbſt, und ventiliren, beſcheinigen und ge-
genbeſcheinigen vor ihr auf die ſchaͤrfſte,
freieſte Weiſe.


Leßing kannte dieſen Proceß uͤber die
innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs
[142] genaueſte; ſein Tellheim iſt ein von al-
len Seiten gepruͤfter, militairiſcher Cha-
rakter; alles, was um ihn ſteht, was ihm
begegnet, ſichtet ihn das ganze Stuͤck hin-
durch moraliſch. Wen ſolche Komoͤdien
und Trauerſpiele nicht bearbeiten koͤnnen,
der moͤchte durch Worte ſchwerlich zu be-
arbeiten ſeyn.


Man ruͤckt Leßingen vor, daß er die
zarteſte Weiblichkeit, das uͤber allen Aus-
druck Reizende je ne [ſais] quoi des ſchoͤnen
Geſchlechts nicht gekannt, und ſolches eben
ſo wohl in der Emilie, als der Minna,
der Recha als der Orſina verfehlt habe.
Sie ſind, ſagt man, bei ihm Kinder oder
Maͤnner, Helden oder ſchwache Geſchoͤpfe.
— — Ich kann uͤber dieſen Punkt nicht
entſcheiden. Sollte es aber keinen Unter-
ſchied geben, wie ein weiblicher Charakter
im Roman und auf der Buͤhne erſcheinen
[143] darf? Das neuere Theater iſt bei allen
Voͤlkern Europa's, vorzuͤglich Spaniern
und Franzoſen, aus romanhaften Erzaͤh-
lungen und Sitten entſtanden; ſollte es
dieſe nicht ablegen duͤrfen? ja ſollte es ſie
endlich nicht ablegen muͤſſen, da dieſe
fremde Schminke aus der wirklichen Welt
Theils ſchon verbannet iſt, Theils in Man-
chem offenbar ihrer Verbannung zueilet?
Das Theater der Alten kannte dieſe ro-
mantiſche Schminke nicht, und doch waren
ihre Weiber Weiber.


Wie dem auch ſei, in dieſem Stuͤck
getraute ich mir den Charakter der Emilie,
Orſina, geſchweige der Claudia voͤllig ver-
theidigen zu koͤnnen; ja es bedarf dieſer
Vertheidigung nicht, da ſich hier Alles in
der Sphaͤre eines Prinzen, um ſeine Per-
ſon, um ſeine Liebe, Treue und Affection
drehet. Wer kennt die Uebermacht dieſes
[144] Standes beim ſchoͤnen Geſchlechte nicht?
und wer darf es der Emilie in dieſen
Augenblicken einer ſolchen Situation ver-
argen, wenn ſie den Dolch ihres Vaters
einer kuͤnftigen Gefahr vorziehet? Das
flatternde Voͤgelchen, (verzeihen Sie das
Naturhiſtoriſche Gleichniß) fuͤrchtet nicht
etwa nur den anziehenden Hauch der na-
hen großen glaͤnzenden Schlange; es fuͤh-
let denſelben ſchon, ſieht ihren auf ſie ge-
richteten Blick — oder ohne Gleichniß, ſie
glaubt ſich ſchon umſchlungen von tauſend
feinen Netzen liebenswuͤrdiger Eigenſchaf-
ten, weiß, wie der Prinz ihre Empfindun-
gen der Religion ſelbſt vorm Altar ſtoͤrte,
und wagt wie eine Heilige den Sprung
in die Fluth. Wie Verſtandvoll hat Le-
ßing das Herz der Emilie mit Religion
verwebet, um auch hier die Staͤrke und
Schwaͤche einer ſolchen Stuͤtze zu zeigen!
Wie
[145] Wie uͤberlegt laͤßt er den Prinzen ſie am
heiligen Ort aufſuchen, ſie in der Kapelle
vor aller Welt anreden, und ſtellt die
ſchwache Mutter, den ſtrengen, grollhaften
Fuͤrſtenfeind, Odoardo neben ſie. Ihr Tod
iſt lehrreich-ſchrecklich, ohne aber daß da-
durch die Handlung des Vaters zum ab-
ſoluten Muſter der Beſonnenheit werde.
Nichts weniger! Der Alte hat eben ſo
wohl, als das erſchrockene Maͤdchen in
der betaͤubenden Hofluft den Kopf verloh-
ren; und eben dieſe Verwirrung, die Ge-
fahr ſolcher Charaktere in ſolcher Naͤhe
wollte der Dichter ſchildern.


So erlaube ich auch der Orſina, (die
nothwendig mit Maͤßigung geſpielt werden
muß) ihre Verhoͤnung des Marinelli, ſelbſt
ihre hoͤlliſche Phantaſie im ſiebenden Auf-
tritte des vierten Acts. Wenn ſie nicht
den Mund oͤfnet, wer ſoll ihn oͤffnen? Und
Dritte Samml. K
[146]ſie darfs, die geweſene Gebieterin eines
Prinzen, die in ſeiner Sphaͤre an Willkuͤhr
gewoͤhnt iſt. Als eine Beleidigte, Verach-
tete muß ſie anjetzt uͤbertreiben, und bleibt
in der groͤßeſten Tollheit die redende Ver-
nunft ſelbſt, ein Meiſterwerk der Erfindung.


So auch das Uebereilen des Plans,
das Hineintappen des Prinzen, und vor
Allem, ſeine unbeſcholtene Rechtfertig-
keit, Alles veranlaßt, gebilligt, und am
Ende doch, nachdem der Plan verungluͤckt,
nichts befohlen, nichts gethan zu haben.
In wenigen Tagen, fuͤrchte ich, hat er ſich
ſelbſt ganz rein gefunden, und in der Beichte
ward er gewiß abſolviret. Bei der Ver-
maͤhlung mit der Fuͤrſtin von Maſſa war
Marinelli zugegen, vertrat als Kammer-
herr vielleicht gar des Prinzen Stelle, ſie
abzuholen. Appiani dagegen iſt todt;
Odoardo hat ſich in ſeiner Emilie ſieben-
[147] fach das Herz durchboret, ſo daß es kei-
nes Bluturtheiles weiter bedarf. Schreck-
lich! —


Als ich voll dieſes Eindrucks nach
Hauſe kam, fiel Diderot mir in die
Hand, und zwar folgende Stelle:


„Der Schauplatz iſt der einzige Ort,
wo ſich die Thraͤnen des Tugendhaften und
des Boͤſen vermiſchen. Hier laͤßt ſich der
Boͤſe wider Ungerechtigkeiten aufbringen,
die er ſelbſt begangen haͤtte; hier hat er
bei Ungluͤcksfaͤllen Mitleiden, die er ſelbſt
veranlaßt haͤtte; hier ergrimmt er gegen
Perſonen von ſeinem eigenen Charakter.
Aber der Eindruck iſt geſchehen, und er
bleibt, auch wider unſern Willen; der Boͤſe
gehet alſo aus dem Schauplatze, weit we-
niger geneigt uͤbels zu thun, als wenn ihm
ein ernſter und ſtrenger Redner eine Straf-
predigt gehalten haͤtte.


K 2
[148]

„Der Dichter, der Romanſchreiber, der
Schauſpieler dringen verſtohlner Weiſe ans
Herz, und treffen es um ſo gewiſſer und
ſtaͤrker, je weniger es den Streich ver-
muthet, je mehr Bloͤße es folglich giebt.
Die Ungluͤcksfaͤlle, durch die man mich
ruͤhrt, ſind erdichtet: was thut das? Sie
ruͤhren mich doch. Jede Zeile in dem
Ehrlichen Manne, der ſich der
Welt entzogen
, im Dechant von
Killerine
, im Cleveland erregt in
mir ein zaͤrtliches Theilnehmen an den Un-
gluͤcksfaͤllen der Tugend, und koſtet mich
Thraͤnen. — Koͤnnte es eine unſeligere
Kunſt geben, als die, die mich zum Mit-
ſchuldigen des Laſterhaften machte? Aber
wo iſt auch eine ſchaͤtzbarere Kunſt als die,
die mich unvermerkt fuͤr das Schickſal des
rechtſchaffenen Mannes einnimmt, die mich
aus der ruhigen und ſuͤßen Faſſung, in
[149] der ich mich befand, reißet, um mich mit
ihm umherzutreiben, mich in die Hoͤlen zu
verſetzen, in die er fluͤchten muß, mich zum
Mitgenoſſen der Unfaͤlle zu machen, durch
die es dem Dichter beliebt, ſeine Beſtaͤn-
digkeit auf die Probe zu ſtellen.


Wie ſehr erſprießlich wuͤrde es fuͤr die
Menſchen ſeyn, wenn ſich alle Kuͤnſte der
Nachahmung einen gemeinſchaftlichen Ge-
genſtand waͤhlten und ſich einmal mit den
Geſetzen dahin verbaͤnden, uns die Tugend
liebenswuͤrdig und das Laſter verhaßt zu
machen! Des Philoſophen Pflicht iſt es,
ſie dazu einzuladen; er muß ſich an den
Dichter, an den Mahler, an den Tonkuͤnſt-
ler wenden und ihnen auf das nachdruͤck-
lichſte zurufen: „o ihr von hoͤheren Faͤhig-
keiten, warum hat euch der Himmel be-
gabt?“ — Wird er gehoͤrt, ſo werden
gar bald die Mauern unſrer Pallaͤſte nicht
K 3
[150] mehr von Gemaͤhlden der ſchaͤndlichſten
Wohlluſt bedeckt ſeyn; unſre Stimmen wer-
den nicht laͤnger die Verkuͤndigerinnen des
Laſters ſeyn; und Geſchmack und Tugend
werden dabei gewinnen.


„Ich habe manchmal gedacht, daß man
gar wohl die wichtigſten Stuͤcke der Moral
auf dem Theater abhandeln koͤnnte, ohne
dadurch dem feurigen und reiſſenden Fort-
gange der dramatiſchen Handlung zu
ſchaden.


„Nicht Worte, ſondern Eindruͤcke will
ich aus dem Schauplatze mitnehmen. Das
vortreflichſte Gedicht iſt dasjenige, deſſen
Wirkung am laͤngſten in mir dauert.


„O dramatiſche Dichter! Der wahre
Beifall, nach dem ihr ſtreben muͤßt, iſt
nicht das Klatſchen der Haͤnde, das ſich
ploͤtzlich nach einer ſchimmernden Zeile hoͤ-
ren laͤßt, ſondern der tiefe Seufzer, der
[151] nach dem Zwange eines langen Stillſchwei-
gens aus der Seele dringt und ſie erleich-
tert. Ja es giebt einen noch heftigern
Eindruck, den ſich aber nur die vorſtellen
koͤnnen, die fuͤr ihre Kunſt gebohren ſind,
und es vorauswiſſen, wie weit ihre Zaube-
rei gehen kann: dieſen naͤmlich, das Volk
in einen Stand der Unbehaͤglichkeit zu
ſetzen; ſo daß Ungewißheit, Bekuͤmmerniß,
Verwirrung in allen Gemuͤthern herrſchen,
und eure Zuſchauer den Ungluͤcklichen glei-
chen, die in einem Erdbeben die Mauern
ihrer Haͤuſer wanken ſehen, und die Erde
ihnen einen veſten Tritt verweigern fuͤh-
len.“ — —



[152]

38.


Als Swift uͤber Gullivers Reiſen bruͤ-
tete, ſchrieb er an Pope: ”ich habe ganze
Nationen, ganze Profeſſionen und Zuͤnfte
immer gehaſſet; meine Liebe gehet nur auf
einzelne Perſonen. Z. B. ich haſſe die Zunft
der Rechtsgelehrten, aber ich liebe den
Rath N. den Richter N N. So habe ichs,
(von meiner eignen Profeſſion nichts zu
ſagen) mit den Aerzten, mit den Solda-
ten, den Englaͤndern, Schotten, Franzoſen
u. f. Vornehmlich aber haſſe und verab-
ſcheue ich das Geſchoͤpf, der Menſch ge-
nannt, obſchon ich den Johann, den Pe-
ter, Thomas u. f. von Herzen liebe. An
[153] dieſes Syſtem habe ich mich (unter uns
geſagt) nun viele Jahre her gehalten, und
werde mich immer daran halten. Ich habe
Materialien zu einer Abhandlung geſamm-
let, welche zeigen ſoll, daß man den Men-
ſchen unrecht durch ein vernuͤnftiges
Thier definirt, und daß man bloß ein
Vernunftfaͤhiges Thier ſetzen ſollte.
Auf dies ſtarke und feſte Fundament der
Miſanthropie, (wie wohl nicht nach Ti-
mons Manier) gruͤndet ſich das ganze
Gebaͤude meiner Reiſen; und ich werde
nimmer ruhig ſeyn, bis alle ehrliche Leute
hieruͤber meiner Meinung ſind. Die Sache
iſt ſo klar, daß ſie keinen Widerſpruch lei-
det; ja ich will Hundert gegen Eins ſetzen,
daß Sie und ich in dem Puncte uͤberein-
ſtimmen.“


Dieſe Uebereinſtimmung war ein freund-
ſchaftlicher Wahn, oder ein Compliment,
K 5
[154] das der von ſeiner Meinung durchdrun-
gene Swift ſich ſelbſt machte. Pope
ſchien ihm Recht zu geben, aͤußerte aber
zugleich, daß er Maximen ſchreiben wollte,
die Rochefoucaults Grundſaͤtzen ins-
geſammt entgegengeſetzt waͤren; wogegen
Swift in noch haͤrteren Ausdruͤcken den
Rochefoucault, als ſeinen Liebling, in
welchem er ſeinen ganzen Character gefun-
den, heftig in Schutz nimmt.


Bei Swift naͤmlich war dieſe Men-
ſchenfeindſchaft nicht witzige Laune, ſon-
dern ein bittrer Ernſt, wie ſeine Schrif-
ten, wie ſein Leben es zeiget. Er hatte
einen ſo tiefen Groll gegen die menſchliche
Geſellſchaft gefaßt, daß ſelbſt ſeine Men-
ſchenfreundſchaft, ſeine ſtrenge Sorge fuͤr
die von der Natur und dem Staat ver-
wahrloſeten Ungluͤcklichen ſich in dies rauhe
Gewand kleidete; er ſchien ein Zuchtmei-
[155] ſter, auch wenn er ein wohlwollender Freund
war.


Es hieße, Worte verſchwenden, wenn
man uͤber das von Swift aufgeſtellte
Paradoxon in der Form diſputiren wollte;
jedermann ſiehet, was in ihm wahr oder
uͤbertrieben ſei.


Eine andre oft aufgeworfene Frage:
ob es beſſer ſei, von den Menſchen zu gut
oder zu ſchlimm zu denken? d. i. den Men-
ſchen zu ſchmeicheln, oder ſie mit Schaͤrfe
zu behandeln? fuͤhrt, wie mich duͤnkt, ihre
Aufloͤſung auch mit ſich. Man muß keins
von Beiden, und eben hierinn beſtehet die
Philoſophie und Kunſt des Lebens. Alle
Uebertreibungen ſind eben ſo unwahr, als
ſchaͤdlich; meiſtens fallen ſie auch zuſam-
men und loͤſen einander auf. Young
z. B. der in ſeiner Schrift uͤber die Ori-
ginalwerke den armen Swift heftig und
[156] in der Geſtalt des Menſchenfreundes ſelbſt
Menſchenfeindlich angriff, hat ſich gegen
das von ihm verehrte Geſchlecht eben
ſo verſuͤndigt, da er ihm in ſeinem jetzi-
gen Zuſtande die Wuͤrde des Seraphs an-
ſchmeicheln, als Swift, da er es zum
Yahoc erniedrigen wollte. Jener, um ſein
Syſtem zu verfolgen, ward gezwungen, den
Lorenzo zu einem Teufel zu machen, damit
der erdichtete Engel in ſein Licht traͤte;
dieſer muſte ſeine vernuͤnftigen Pferde mit
allen Vollkommenheiten ſchmuͤcken, die er
doch nur im Menſchengeſchlecht kannte.
Dem guten Rouſſeau iſt es in ſeinen
Uebertreibungen nicht anders gegangen;
in der Phantaſie ein Idealiſt fuͤrs Gute
mußte er in einzelnen Urtheilen und im
Betragen des Lebens ein leidendes Kind
werden.


[157]

Zwiſchen zwei Aeußerſten giebt es kei-
nen andern Weg der Vernunft und Recht-
ſchaffenheit, als die Mittelſtraße. Man
ſage ſo viel Gutes, man ſchreibe ſo viel
Boͤſes vom Menſchen, als man wolle;
lediglich kommts auf den Gebrauch an,
den man von beiderlei Urtheilen macht; wie
man ſie durch thaͤtige Guͤte, und Weisheit
zuſammen vereinet.


Das edlere Schauſpiel der Griechen
hatte zum Zweck, zwiſchen beiden Extre-
men eine weiſe und tugendhafte Mitte im
Menſchen zu beveſtigen; o haͤtten wir Me-
nanders und Philemons Schauſpiele! Die
uͤbriggebliebenen wenigen Stellen und
Spruͤche zeigen, daß in ihnen der Menſch
von allen Seiten betrachtet und zur Lehre
aufgeſtellet worden, wie es denn auch Te-
renz, der halbirte Menander klar an
den Tag leget:


Dritte Samml. L
[158]

Spruͤche aus Philemon.


Beſchwerlich iſt ein unverſtaͤndiger

Zuhoͤrer; vor dir ſitzend, tadelt er

Aus Thorheit nie ſich ſelbſt. —

Viel leichter, eine Krankheit, als den Gram

ertragen. —

Der Seele Kummer wird durch Rede leicht.

Wer unter uns dort außerhalb der Stadt

Der Menſchen Graͤber ſieht, der ſage ſich:

Auch Jeder dieſer ſprach einſt zu ſich ſelbſt:

„Ich werde, wenn die Zeit kommt, ſchiffen,

pflanzen,

„Die Mauer brechen und beſitzen.“ Jetzt

Beſitzen ſie ein Grab.

[159]
Ihr Goͤtter, welch ein wohlgeartet Thier

Iſt eine Schnecke. Kommt auf ihrem Gange

Sie einem boͤſen Nachbar nah; ſie hebt

Ihr Haus und wandert weiter. Darum wohnt

Sie Sorgenlos, weil ſie die Boͤſen immer flieht.

Er iſt ein Knecht; hat aber Fleiſch und Blut

Wie Du: denn keiner ward durch die Geburt

ein Knecht;

Ungluͤcklich Schickſal macht zum Sklaven nur.

Ein boͤſer Diener wird der Strafe nicht entgehn;

Du aber ſei der Strafe Buͤttel nicht.

Dein Wort, o Freund, hat deine ſchoͤne That

Geſchmaͤht; des Reichen That hat Bettlers

Wort vernichtet.

Ruͤhmſt du die Gabe ſelbſt, die du dem Freun-

de gabſt,

L 2
[160]
So warſt in Thaten du ein Feldherr, und im

Wort

Ein Moͤrder. —

Sprich nicht: „das will ich geben.“ Denn

wer ſpricht,

Der giebt noch nicht und hindert andrer Ga-

ben.

Mit rechter Unterſcheidung gib und nimm.

Das kleineſte Geſchenk, es wird das Groͤßeſte,

Wenn du's wohlmeinend giebſt.

Den Armen haß' ich, der dem Reichen ſchenkt;

Er ſchilt das Gluͤck, die Unerſaͤttliche! —

Sei einem Alten, der da fehlt, nicht hart;

Ein alter Baum iſt zu verpflanzen ſchwer.

[161]
Im Alter kommt der Reichthum uns zu gut,

Er fuͤhrt den Alten gluͤcklich an der Hand.

Was graͤmeſt du dich, Freund? du weißt es

ja,

Daß eben wenn das Gluͤck den Menſchen

lacht,

Zu jedem Ungluͤck es die Pforte finde.

Auch uͤber Keines Ungluͤck freue dich:

Denn alles miſcht und kehrt das Schickſal

um.

Nie ſchilt das Gluͤck. Du weißt, zu boͤſer

Zeit

Gehn auch der Goͤtter Sachen ſelbſt nicht

wohl.

Geſundheit iſt mein erſter Wunſch; der

zweite

L 3
[162]
Gluͤck im Geſchaͤft; der dritte Freude; dann

Noch Einer: „keinem je verpflichtet ſeyn! —“

Erſt ſieht, bewundert, dann betrachtet man

Und faͤllt in Hoffnung, und zuletzt in Liebe.

„Sag' an, wie ſoll ich Gott gedenken mir?“

Daß Er, der alles ſieht, unſichtbar ſei.

„Was machſt du, Syra? Wie befindſt du

dich?“

Kannſt du noch alſo fragen einen Greis?

Ein Greis iſt nimmer wohl. Man ſagt mit

Recht,

Und kann es ſagen: „auch der Tod iſt gut.“

„Was iſt es denn? warum will er mich

ſehn?“

Iſts, wie die Kranken, wenn der Schmerz ſie

quaͤlt,

[163]
Und ſie den Arzt erblicken, beſſer ſind?

So der Betruͤbte; ſiehet er den Freund,

Nur neben ſich; gleich lindert ſich ſein Gram.

Auf Erden lebt kein Menſch, nicht Einer

lebt,

Der Boͤſes nicht erfuhr, wie? oder noch

Erfahren wird. Nur wer, was ihm begegnet,

Aufs leichtſte nimmt, nur der iſt weiſ' und

gluͤcklich.

Erkenne was der Menſch iſt, und du wirſt

Doch gluͤcklich ſeyn. Hier hoͤrſt du Einen todt;

Dort iſt ein anderer gebohren; dieſe

Gebar nicht, jenem ging es uͤbel; der

Hat Huſten; jener weint. Das alles bringt

Die Menſchheit mit ſich; fliehe nur den Gram.

Viel Ungluͤck iſt in vielen Haͤuſern, das,

Wenn man es gut ertraͤgt, uns Gutes bringt.

L 4
[164]
Der Menſchen Viele machen ſich das Uebel

Noch groͤßer, als es iſt. Dem ſtarb ein Sohn;

Dem eine Mutter; dem, beim Jupiter!

Gar ein Verwandter. Naͤhm' ers, wie es iſt,

So ſtarb ein Menſch. Das iſt an ſich das

Uebel.

Nun aber ruft er aus: „das Leben iſt fuͤr

mich

Kein Leben mehr! Er iſt dahin! Ich werd'

ihn

Nie wieder ſehn!“ Er ſieht den Ungluͤcksfall

Allein in ſich und haͤuft auf Uebel Uebel.

Wer alles mit Vernunft betrachtet, wie

Es an ſich ſelbſt, und nicht fuͤr ihn nur ſei,

Empfaͤngt das Gluͤck und haͤlt das Ungluͤck

fern.

In Traurigkeit ſein ſelbſt noch Meiſter

ſeyn;

Dies iſts, was mich erhaͤlt und was den Men-

ſchen macht.

[165]
Wir armen Menſchen! Unſer Daſeyn iſt

Ein Leben ohne Leben. Meinungen

Beherrſchen uns, ſeit wir Geſetze fanden,

Der Vor- und Nachwelt Meinungen. Wir

ſuchen

Dem Uebel zu entgehn und finden uns

Zum Uebel Vorwand.

Wer was er ſagen ſoll, nicht ſaget, der

Iſt immer lang und ſpraͤch' er nur zwei

Sylben.

Wer gut ſagt, was er ſaget; ob er viel

Und lang' auch ſpraͤche, der ſpricht nie zu

lang.

Sieh den Homer. Er ſchrieb viel tauſend

Worte,

Und wem ſchrieb er zu viel?

L 5
[166]
Wenn was wir haben, wir nicht brauchen,

und

Was wir nicht haben, ſuchen; ach ſo raubt

Das Gluͤck uns Jenes, Dieſes wir uns ſelbſt.

Gerecht iſt nicht, der niemand Unrecht thut;

Der iſts, der Unrecht thun kann und nicht will.

Nicht der, der kleinen Raubes ſich enthaͤlt;

Der iſts, der großen Raub mit Muth ver-

ſchmaͤht,

Wenn er ihn haben und behalten kann.

Nicht der iſts, der dies alles nur befolgt,

Der iſts, der ungeſchminkten, reinen Sinns,

Seyn ein Gerechter und nicht ſcheinen will.

So viele Kuͤnſte es, o Laches gab;

Kein Lehrer, alle lehrte ſie die Zeit.

Nicht Koͤrper nur; es wachſen mit der Zeit

Auch Dinge! —

[167]

Endlich den Hauptſpruch:


Ανϑϱωπος ων, τȣτ´ ισϑι, ϰαι μεμνησ´ αει.

Du biſt ein Menſch; das wiß' und denke ſtets

daran.

[168]

39.


Neben den Griechen iſt ſchwer zu ſtehen,
und doch haben auch Wir Stuͤcke, die ne-
ben ihnen ſtehen koͤnnen und duͤrfen.


Menſchentugend.


Die Ohren und die Herzen willig her,

Ihr Menſchen! Euer Gott hat mich gelehrt,

Was Tugend ſei; ich lehr' es, Menſchen, Euch!

Dem Nackenden von zweien Linnen Eins

Um ſeine Bloͤße ſelbſt ihm ſchmiegen, und

Von zweien Broten Eins dem Hungrigen

Darreichen, und aus ſeinem Quell dem Mann,

Der friſches Waſſer bittet, einen Trunk

Selbſt ſchoͤpfen, floͤß' er noch ſo tief im Thal.

Ihr meine liebe Menſchen, Tugend iſt:

Dem Huͤlfeduͤrftigen zuvor mit Gold

Und Weisheit kommen; ſeine Seele ſehn,

[169]
Und ſeinen Kummer meſſen; und ſich freun,

Daß etwa Gold und etwa Weisheit ihn

Der Freude wiederbringen; ihn auch nicht,

Wer ſeines Kummers Ueberwinder war,

Erfahren laſſen —

Menſchen, Tugend iſt:

Und wenn die Boͤſen alle gegen euch

In ihrer Bosheit wuͤteten, und ſich

Verſchworen haͤtten alle gegen euch,

Von Menſchenliebe nicht zu Menſchenhaß

Hinuͤbergehen; immer, immer gut

Den Boͤſen ſeyn; dem undankbaren Mann

Exempel werden edler Dankbarkeit.

Ihr meine lieben Menſchen, Tugend iſt:

Dem Gotterſchaffenen Erhalter ſeyn,

Lebendigen das Leben friſten, rohen Stoff

Umwenden, ſo daß er durch euren Fleiß

Einſt Leben zu dem Leben bringen muß.

Ihr meine lieben Menſchen, Tugend iſt:

Die Summe jedes Guten, welches Gott

In ſeine Welt gelegt, an ſeinem Theil

[170]
Vermehren; wenn und wo und wie ſie nur

Vermehret werden kann. Vermehreſt Du

Die Summe dieſes Guten, dann, o dann

Sei Koͤnig oder Bettler, Du gefaͤllſt

Dem Schoͤpfer alles Guten, deinem Gott.

Du willſt ihm nicht gefallen? wie? du

willſt

Des Guten Summe nicht vermehren? willſt

Des Boͤſen, welches Gott in ſeiner Welt

Zum Guten lenkt, Vermehrer ſeyn? Sei es!

Du wirſt dich ſchaͤmen einſt und es bereun.

So unſer Gleim in ſeinem Halla-

dat, oder rothen Buche, dem wir jetzt

lieber einen andern Namen geben wollen;

es enthaͤlt Blaͤtter zum aͤchten Koran

der Menſchenguͤte. Und dieſer Lehrer

ſpricht nicht nur, er thut auch alſo.
[]

Appendix A Inhalt
der dritten Sammlung
.


Appendix B

  • Br. 27. Ueber das Wort und den Begriff
    der Humanitaͤt. S. 5
  • — 28. Fortſetzung. S. 11
  • — 29. Fortſetzung. Einige Ausſpruͤche des
    humanſten Kaiſers. S. 23
  • — 30. Lucrez von einem Genius der
    Menſchheit. Humanitaͤt der Roͤmi-
    ſchen Dichtkunſt und Geſchichte. S. 34
  • — 31. Humanitaͤt der Griechen. S. 45
  • — 32. Reſultate. Fragment eines Geſpraͤches
    von Shaftesburi. S. 49
  • — 33. Ueber Shaftesburi. Ein Lehrgedicht
    vom Rechte der Vernunft. S. 65
  • Br. 34. Ueber die Humanitaͤt Homers in
    der Iliade. S. 76
  • — 35. Vom Unmuth. Von Compoſitionen.
    Muſik nach Roͤmiſchen Dichtern. S. 102
  • — 36. Fortſetzung des Fragments uͤber die
    Humanitaͤt Homers in der Iliade.
    Diderot uͤber die Einfalt in Ho-
    mer. S. 114
  • — 37. Von Leßings Emilia Galotti. Di-
    derot uͤber die Moralitaͤt der
    Schaubuͤhne. S. 135
  • — 38. Swift uͤber die Humanitaͤt. Spruͤ-
    che aus Philemon. S. 158
  • — 39. Menſchentugend, von Gleim. S. 168
Notes
*)
S. das Ende des vorigen Briefes.
A. d. H.
*)
Adelung hat ſogar dem verbannenswuͤrdi-
gen Ausdruck „das Menſch“ einen langen
Artikel einraͤumen muͤſſen. A. d. H.
*)
Heyne hat dieſen Zweck alter griechiſcher
Inſtitute in mehreren ſeiner opuſcul. aca-
demic.
vortreflich gezeiget. A. d. H.
*)
Erneſti Rede de humanitatis diſciplina iſt hieruͤber bekannt. A. d. H.
*)
Daher noch der Ausdruck: er iſt ein homo!
Du homo! „u. f.“ A. d. H.
**)
Weder Wachter noch Adelung haben
dieſen Urſprung der Endung im Wort Men-
niſk
bemerkt; er ſcheint aber der wahre:
denn wenn man das Wort Menſch nach
*)
S. hieruͤber Du Fresne Gloſſar. artic.
Homo: Homines denariales, chartularii,
fiſcales, eccleſiaſtici, de corpore, pertinen-
tes, commendati, caſati, feudales, exerci-
tales, ligii, de manu mortua, de ſuis ma-
nibus, de manupaſtu etc.
**)
Niederſaͤchſiſcher, d. i. der alten und aͤchten
Art ausſpricht, ſo heißt es Menſ-ch (Mensk)
d. i. ein elender unbewehrter Mann, ein
Maͤnnlein. A. d. H.
*)
Meiner Geſinnung nach iſt es Eines der
ſchoͤnſten Verdienſte Spaldings, daß Er,
zu jener Zeit 1745. in ſeiner Lage uns
Shaftesburi's Moraliſten bekannt
machte. Mehr als dreißig Jahre nachher iſt
zuerſt die Ueberſetzung des ganzen Shaftes-
buri gefolget. Shaftesburi philoſo-
phiſche Werke, Leipzig. 1776-79.
A. d. H.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjjp.0