VOM
NIEDERRHEIN,
VON
BRABANT, FLANDERN, HOLLAND,
ENGLAND UND FRANKREICH,
IM APRIL, MAI UND JUNIUS 1790.
IN DER VOSSISCHEN BUCHHANDLUNG.
In des Wanderers Busen wirktest Du
seiner Empfindungen schöneres Gesetz.
Ihre Schöpfung sei Dir geweiht! Laſs
die Weihe den Werth erhöhen, damit
etwas an der Gabe dem Geber eigen
sei.
Ist der Priester nur kühn, der seinem
guten Genius vor allem Volk die Opfer¬
schale leert? oder wer ahndet in Ei¬
nem lohnenden Blick die groſse, reine,
stille Wonne seiner Vollendung?
[][[1]]
ANSICHTEN.
I.
Ich war eben im Begrif, unserer Philosophie
eine Lobrede zu halten, als mir einfiel, daſs
im Grunde wenig dazu gehört, sich in ein
Schicksal zu finden, welches Deinem Reisen¬
den noch Feder, Tinte und Papier gestattet.
Behaglicher wäre es allerdings gewesen, Dir
alles, was ich jetzt auf dem Herzen habe, aus
Koblenz und in der angenehmen Erwartung
einer süſsen Nachtruhe zu sagen; dafür aber
sind Abentheuer so interessant! Ein gewöhn¬
licher Reisender hätte das Ziel seiner Tage¬
I. Theil. A[2] fahrt erreicht: wir sind drei Stunden Weges
diesſeits desselben geblieben.
Es war einmal Verhängniſs, daſs es uns
heute anders gehen sollte, als wir erwartet
hatten. Statt des herrlichen gestrigen Son¬
nenscheins, mit dessen Fortdauer wir uns
schmeichelten, behielten wir einen grauen
Tag, dessen minder glänzende Eigenschaften
aber, genau wie man in Romanen und Er¬
ziehungsschriften lehrt, das Nützliche ersetz¬
te. Denn weil der Zauber einer schönen
Beleuchtung wegfiel und der bekannten Ge¬
gend keine Neuheit verleihen konnte, so blieb
uns manche Stunde zur Beschäftigung übrig.
Auf der Fahrt durch das Rheingau hab’ ich,
verzeih es mir der Nationalstolz meiner Lands¬
leute! eine Reise nach Borneo gelesen und
meine Phantasie an jenen glühenden Farben
und jenem gewaltigen Pflanzenwuchs des heis¬
sen Erdstrichs, wovon die winterliche Gegend
[3] hier nichts hatte, gewärmt und gelabt. Der
Weinbau giebt wegen der krüppelhaften Fi¬
gur der Reben einer jeden Landschaft etwas
Kleinliches; die dürren Stöcke, die jetzt von
Laub entblößt, und immer steif in Reih’ und
Glied geordnet sind, bilden eine stachlichte
Oberfläche, deren nüchterne Regelmäßigkeit
dem Auge nicht wohl thut. Hier und dort
sahen wir indeß doch ein Mandel- und ein
Pfirsichbäumchen und manchen Frühkirschen¬
stamm mit Blüthenschnee weiß oder röthlich
überschüttet; ja selbst in dem engeren Theile
des Rheinlaufs, zwischen den Bergklüften,
hing oft an den kahlen, durch die Reben¬
stöcke verunzierten Felswänden und Terras¬
sen ein solches Kind des Frühlings, das schöne
Hofnungen auf die Zukunft in uns weckte.
Nicht immer also träumten wir uns in
den ewigen Sommer der Palmenländer. Wir
saßen stundenlang auf dem Verdeck, und blick¬
A. 2[4] ten in die grüne, jetzt bei dem niedrigen
Wasser wirklich erquickend grüne, Welle des
Rheins; wir weideten uns an dem reichen
mit aneinander hangenden Städten besäeten
Rebengestade, an dem aus der Ferne her
einladenden Gebäude der Probstei Johannis¬
berg, an dem Anblick des romantischen Mäu¬
sethurms und der am Felsen ihm gegenüber
hangenden Warte. Die Berge des Nieder¬
walds warfen einen tiefen Schatten auf das
ebene, spiegelhelle Becken des Flusses, und in
diesem Schatten ragte, durch einen zufälli¬
gen Sonnenblick erleuchtet, Hatto’s Thurm
weiſs hervor, und die Klippen, an denen
der Strom hinunterrauscht, brachen ihn ma¬
lerisch schön. Die Noh, mit ihrer kühnen
Brücke und der Burg an ihrem Ufer, glitt
sanft an den Mauern von Bingen hinab, und
die mächtigeren Fluthen des Rheins stürzten
ihrer Umarmung entgegen.
[5]
Wunderbar hat sich der Rhein zwischen
den engen Thälern einen Weg gebahnt.
Kaum begreift man auf den ersten Blick,
warum er hier (bei Bingen) lieber zwischen
die Felswände von Schiefer sich drängte, als
sich in die flachere Gegend nach Kreuznach
hin ergoſs. Allein bald wird man bei genaue¬
rer Untersuchung inne, daſs in dieser Rich¬
tung die ganze Fläche allmälig steigt, und
wahrer Abhang eines Berges ist. Wenn es
demnach überhaupt dem Naturforscher ziemt,
aus dem vorhandenen Wirklichen auf das ver¬
gangene Mögliche zu schlieſsen; so scheint es
denkbar, daſs einst die Gewässer des Rheins
vor Bingen, durch die Gebirgswände gestaucht
und aufgehalten, erst hoch anschwellen, die
ganze flache Gegend überschwemmen, bis über
das niveau der Felsen des Bingerlochs anwach¬
sen und dann unaufhaltsam in der Richtung,
die der Fluſs noch jetzt nimmt, sich nord¬
A 3[6] wärts darüber hinstürzen muſsten. Allmälig
wühlte sich das Wasser tiefer in das Felsen¬
bett, und die flachere Gegend trat wieder aus
demselben hervor. Dies vorausgesetzt, war
vielleicht das Rheingau, ein Theil der Pfalz,
und der Bezirk um Mainz bis nach Oppen¬
heim und Darmstadt einst ein Landsee, bis
jener Damm des Binger Felsenthals über¬
wältigt ward und der Strom einen Abfluſs
hatte.
Der stärkere Wein, den das Rheingau
hervorbringt, wächst nicht mehr jenseits der
Enge von Bingen. Die Richtung des Flus¬
ses von Morgen gegen Abend durch das ganze
Rheingau giebt den dortigen Rebenhügeln die
beste Lage gegen den Stral der mittäglichen
Sonne, und die Gestalt des östlichen Gebir¬
ges, das auf seiner Oberfläche beinahe ganz
eben ist, trägt vieles zur vorzüglichen Wär¬
me dieses von der Natur begünstigten Thales
[7] bei. Der Nord- und der Ostwind stürzen
sich, wenn sie über jene erhabene Fläche
herstreichen und an den Rand derselben kom¬
men, nicht geradezu hinab, sondern äuſsern
ihre meiste Kraft erst auf der entgegenge¬
setzten Seite des Flusses; das Thal unmittel¬
bar unter dem Berge berühren sie kaum. Was
für Einfluſs die mineralischen Bestandtheile
des Erdreichs und die Verschiedenheit der
Gebirgslager auf die Eigenschaften des Weins
haben können, ist [noch] nicht entschieden.
Je weniger man über diesen Punkt weiſs
und bestimmt wissen kann, desto weiter
treibt die grübelnde Hypothesensucht ihr Spiel
damit. Hier darf sie sich keck auf ihre em¬
pirische Weisheit berufen; denn kann
sich vor Widerlegungen wenigstens so lange
sicher stellen, als man nicht Erfahrung ge¬
gen aufzuweisen hat. So viel ist
indessen immer an der Sache, daſs, wo alle
A 4[8] übrige Umstände völlig gleich sind, und nun
doch eine Verschiedenheit im Erzeugniſs be¬
merklich wird, die Ursache davon in der Be¬
schaffenheit des Bodens gesucht werden darf.
Bekanntlich entspringen auf jenem östlichen
Gebirge mehrere, zum Theil heiſse Quellen,
von denen einige Schwefel, andere Vitriol¬
säure und Eisen enthalten. Man hat mich
auch versichern wollen, daſs ein Kohlenflöz
sich unter dem Hügel von Hochheim erstrecke
und dem dort wachsenden vortreflichen Wei¬
ne der Domdechanei seinen berühmten ed¬
len Geschmack und sein Feuer gebe. Ich
erinnere mich hierbei, daſs der Schnee am
Gehänge dieses Rebenhügels gegen Mainz
eher, als vor dem entgegengesetzten Thore,
schmilzt. Der Unterschied war mir und An¬
dern oft in wenigen hundert Schritten so auf¬
fallend, daſs sogar die Lufttemperatur, un¬
ter völlig gleichen Umständen, dem Gefühle
[9] merklich verschieden vorkam. So wie man
das abendliche Thor von Hochheim verläſst,
um nach Mainz zu gehen, glaubt man in ei¬
nem milderen Klima zu seyn Ich würde
freilich diesen Unterschied dem Winde zu¬
schreiben, der auf der Ebene von dem Alt¬
könig her frei und ohne Widerstand hin¬
stürmen und die Kälte der oberen Luftre¬
gion herunterführen, oder besser, die zum
Gefrieren erforderliche schnelle Verdünstung
befördern kann. Allein Andere schreiben die
wärmere Temperatur des Weinberges den dar¬
unter liegenden Kohlen zu. Wahr ist es,
eine Kohle, wie überhaupt jeder Brennstoff,
fühlt sich unter einerlei Umständen viel wär¬
mer an, als ein Stück Kalkstein oder Schie¬
fer; und dieses Gefühl beweiset, daſs wirk¬
lich aus der Kohle in den berührenden Kör¬
per mehr Wärmetheilchen übergehen: nicht
minder gewiſs ist es auch, daſs die brennba¬
A 5[10] ren Mineralien bei einer gewissen Lufttempe¬
ratur unaufhörlich Wärme ausströmen. Wie,
wenn der Weinstock besonders vor andern
Gewächsen organisirt wäre, von dieser Aus¬
dünstung begünstigt zu werden? Das Beste
zur Vergeistigung des Traubensaftes thut zwar
die Sonne; ihr Licht, das von den schwam¬
migen Früchten eingesogen und in ihrer
Flüſsigkeit fixirt wird, würzt und versüſst
die Beere. Daher bleiben auch unsere Wei¬
ne gegen die griechischen, italienischen, spa¬
nischen, ja sogar gegen die ungarischen und
französischen so herbe, daſs sie bei den Aus¬
ländern und dem Frauenzimmer wenig Beifall
finden. —
Für die Nacktheit des verengten Rheinufers
unterhalb Bingen erhält der Landschaftkenner
keine Entschädigung. Die Hügel zu beiden
Seiten haben nicht jene stolze, imposante
Höhe, die den Beobachter mit Einem mäch¬
[11] tigen Eindruck verstummen heiſst; ihre Ein¬
förmigkeit ermüdet endlich, und wenn gleich
die Spuren von künstlichem Anbau an ihrem
jähen Gehänge zuweilen einen verwegenen
Fleiſs verrathen, so erwecken sie doch im¬
mer auch die Vorstellung von kindischer
Kleinfügigkeit. Das Gemäuer verfallener Rit¬
terfesten ist eine prachtvolle Verzierung die¬
ser Scene; allein es liegt im Geschmack ih¬
rer Bauart eine gewisse Aehnlichkeit mit den
verwitterten Felsspitzen, wobei man den so
unentbehrlichen Kontrast der Formen sehr
vermiſst. Nicht auf dem breiten Rücken
eines mit heiligen Eichen oder Buchen um¬
schatteten Berges, am jähen Sturz, der über
eine Tiefe voll wallender Saaten und fried¬
licher Dörfer den Blick bis in die blaue Fer¬
ne des hüglichten Horizonts hinweggleiten
läſst, — nein, im engen Felsthal, von hö¬
heren Bergrücken umschlossen, und, wie ein
[12] Schwalbennest, zwischen ein paar schroffen
Spitzen klebend, ängstlich, hängt hier so man¬
cher zertrümmerte, verlassene Wohnsitz der
adelichen Räuber, die einst das Schrecken des
Schiffenden waren. Einige Stellen sind wild
genug, um eine finstre Phantasie mit Orkus¬
bildern zu nähren, und selbst die Lage der
Städtchen, die eingeengt sind zwischen den
senkrechten Wanden des Schiefergebirges und
dem Bette des furchtbaren Flusses, — furcht¬
bar wird er, wenn er von geschmolzenem
Alpenschnee oder von anhaltenden Regen¬
güssen anschwillt — ist melancholisch und
schauderhaft.
In Bacharach und Kaub, wo wir ausstie¬
gen und auf einer bedeckten Galerie längs
der ganzen Stadtmauer hin an einer Reihe
ärmlicher, verfallener Wohnungen fortwan¬
derten, vermehrten die Unthätigkeit und die
Armuth der Einwohner das Widrige jenes
[13] Eindrucks. Wir lächelten, als zu Bacharach
ein Invalide sich an unsere Jacht rudern
lieſs, um auf diese Manier zu betteln; es
war aber entweder noch lächerlicher, oder,
wenn man eben in einer ernsthaften Stim¬
mung ist, empörender, daſs zu St. Goar ein
Armenvogt, noch ehe wir ausstiegen, mit
einer Sparbüchse an das Schif trat und sie
uns hinhielt, wobei er uns benachrichtigte:
das Straſsenbetteln sei zu Gunsten der Rei¬
senden von Obrigkeitswegen verboten. Selt¬
sam, daſs dieser privilegirte Bettler hier die
Vorüberschiffenden, die nicht einmal ausstei¬
gen wollen, belästigen darf, damit sie nicht
auf den möglichen Fall des Aussteigens be¬
unruhigt werden!
In diesem engeren, öderen Theile des
Rheinthals herrscht ein auffallender Mangel
an Industrie. Der Boden ist den Einwohnern
allerdings nicht günstig, da er sie auf den
[14] Anbau eines einzigen, noch dazu so unge¬
wissen Produktes, wie der Wein, einschränkt.
Aber auch in ergiebigeren Gegenden bleibt
der Weinbauer ein ärgerliches Beispiel von
Indolenz und daraus entspringender Verderbt¬
heit des moralischen Charakters. Der Wein¬
hau beschäftigt ihn nur wenige Tage im Jahr
auf eine anstrengende Art; bei dem Jäten,
dem Beschneiden der Reben u. s. w. gewöhnt
er sich an den Müßiggang, und innerhalb
seiner Wände treibt er selten ein Gewerbe,
welches ihm ein sicheres Brodt gewähren
könnte. Sechs Jahrs behilft er sich kümmer¬
lich, oder anticipirt den Kaufpreis der end¬
lich zu hoffenden glücklichen Weinlese, die
gewöhnlich doch alle sieben oder acht Jahre
einmal zu gerathen pflegt; und ist nun der
Wein endlich trinkbar und in Menge vorhan¬
den, so schwelgt er eine Zeitlang von dem
Gewinne, der ihm nach Abzug der erhaltenen
[15] Vorschüsse übrig bleibt, und ist im folgenden
Jahr ein Bettler, vorher. Ich weiſs, es giebt
einen Gesichtspunkt, in welchem man diese
Lebensart verhältnismäſsig glücklich nennen
kann. Wenn gleich der Weinbauer nichts
erübrigt, so lebt er doch sorglos, in Hof¬
nung auf das gute Jahr, welches ihm immer
wieder aufhilft. Allein, wenn man so rai¬
sonnirt, bringt man die Herabwürdigung der
Sittlichkeit dieses Bauers nicht in Rechnung,
die eine unausbleibliche Folge seiner unsichern
Subsistenz ist. Der Landeigenthümer zieht
freilich einen in die Augen fallenden Gewinn
vom Weinbau; denn weil er nicht aus Man¬
gel gezwungen ist, seine Weine frisch von
der Kelter zu veräuſsern, so hat er den
Vortheil, daſs sich auch das Erzeugniſs der
schlechtesten Jahre auf dem Fasse in die
Länge veredelt, und ihm seinen ansehnlichen
Gewinn herausbringen hilft. Man rechnet,
[16] daſs die guten Weinländer sich, ein Jahr
ins andre gerechnet, zu sieben bis acht Pro¬
cent verinteressiren, des Miſswachses unbe¬
schadet. Es wäre nun noch die Frage übrig,
ob dieser Gewinn der Gutsbesitzer den Staat
für die hingeopferte Moralität seiner Glieder
hinlänglich entschädigen kann?
Der ungewöhnlich niedrige Stand des
Rheinwassers war schuld, daſs unsere Jacht
nur langsam hinunterfuhr. Erst um acht Uhr
Abends erreichten wir Boppart beim Mond¬
licht, das den ganzen Gebirgskessel angenehm
erleuchtete. Wir eilten dem besten Wirths¬
hause zu; allein hier fanden wir alle Zim¬
mer besetzt. In einem zweiten sahen wir
alle Fenster eingeworfen; von dem dritten
schreckte uns die Schilderung der darin herr¬
schenden Unreinlichkeit zurück. Also muſsten
wir auf gut Glück im vierten einkehren und
uns an einer kalten Kammer und einem ge¬
mein¬[17] meinschaftlichen Lager genügen lassen. Hier
wärmen wir uns jetzt beym Schreiben mit
Deinem russischen Thee, und preisen die
gütige Vorsorge, die uns damit beschenkte.
Ohne ihn darbten wir in dieser Amazonen¬
stadt, wo noch vor wenigen Tagen drei¬
hundert Mann Exekutionstruppen den Muth
der Weiber dämpfen muſsten, die sich ge¬
gen eine miſsverstandene Verordnung aufge¬
lehnt und einigen Soldaten blutige Köpfe
geschlagen hatten. Die militairische Gewalt
hat jetzt die Oberhand über das schöne Ge¬
schlecht, das nach einem Paar Gestalten, die
an uns diesen Abend vorüberschwebten, zu
urtheilen, für ganz andere Kriege gebildet
zu seyn scheint.
Ein- für allemal bitte ich jetzt um Deine
Nachsicht, wenn ich künftig auf Abschwei¬
fungen gerathe, oder nicht so zierlich wie
ein Gelehrter, der auf seinem Studierzimmer
I. Theil. B[18] reiset, frisch nach der That, nur auch von
der Spannung des Beobachtens ermüdet,
erzähle. So dürftig und desultorisch aber
dieser erste Reisebericht ausgefallen ist,
verspreche ich mir gleichwohl einen Rück¬
blick auf das etwanige Verdienst, welches
ihm unsere unbequeme Lage geben kann.
Wir schreiben hier bei einem Lichte, wel¬
ches von Zeit zu Zeit Funken sprüht und
nach jeder solchen Anstrengung dermaſsen
erschöpft ist, daſs uns kaum Hellung genug
übrig bleibt, unsere Schriftzüge zu erkennen.
Kein lebhafteres Bild von unserem eige¬
nen Zustande, nach einer dreizehnstündigen
Wasserfahrt könnte ich Dir jetzt ersinnen.
Nach jedem Bemühen einen Gedanken zu
Papier zu bringen, verengt sich der Raum
zwischen unsern Augenliedern, und ein Ne¬
belflor umhüllt das ewige Lämpchen des
innern Sinnes.
[19]
II.
An einem milden Sommermorgen bei Son¬
nenaufgang müſste es köstlich seyn, sich mit¬
ten auf dem See zu befinden, den der Rhein
bei Boppart, weil er ringsum von hohen
Gebirgen eingeschlossen ist, zu bilden scheint;
denn ungeachtet der feuchten Kälte, womit
uns der Ostwind die aufsteigenden Nebel
entgegenwehte, konnten wir uns doch nicht
entschlieſsen, in unserer Kajüte zu bleiben.
Die schöngewölbten Berggipfel erheben sich
hier mit reichlicher Waldung, welche das
Malerische der Gegend, sobald sie mit fri¬
schem Laube geschmükt seyn wird, um
vieles erhöhen muſs.
Die Nähe von Koblenz rief uns bald
zum zweitenmal hervor. Hier öfnet sich
ein Reichthum der Natur und der Verzie¬
B 2[20] rung, den das Ufer des Rheins, seit der
Gegend, wo der Fluſs die Schweiz verläſst,
nirgends zeigt. Schöne Formen von Ge¬
birgsrücken, Baumgruppen und Gebäuden
wechseln hier mit einander ab; die Hügel
tragen eine dichte Krone von Wäldern; das
neue kuhrfürstliche Schloſs prangt am Ufer,
und der Ehrenbreitstein hängt herrlich und
erhaben auf dem jenseitigen Gebirge. Be¬
leuchtung wäre hier wieder ein willkommnes
Geschenk gewesen; allein auch heute ward
uns diese Spende versagt; unser Morgen¬
himmel war mit dünnem, grauem Gewölk
durchstreift, und uns dämmerte nur ein
halbes Licht.
Wir erstiegen den Ehrenbreitstein. Nicht
die unwichtige Kostbarkeit dieser Festung;
nicht der Vogel Greif, jene ungeheure Ka¬
none, die eine Kugel von hundert und
sechzig Pfunden bis nach Andernach schieſsen
[21] soll, aber doch wohl nie geschossen hat;
nicht alle Mörser, Haubitzen, Feldschlangen,
Zwölf- und Vierundzwanzigpfünder, lange
gezogene Röhre, Kartätschenbüchsen, Grau¬
pen, und was sonst im Zeughause oder auf
den Wällen zu bewundern ist; nicht die
weite Aussicht von dem höchsten Gipfel
des Berges, wo Koblenz mit dem Rhein
und der Mosel landkartenähnlich unter den
Füſsen liegt — nichts von dem allen konnte
mich für den abscheulichen Eindruck ent¬
schädigen, den die Gefangenen dort auf
mich machten, als sie mit ihren Ketten
rasselten und zu ihren räucherigen Gitter¬
fenstern hinaus einen Löffel steckten, um
dem Mitleiden der Vorübergehenden ein Al¬
mosen abzugewinnen. Wäre es nicht billig,
fiel mir dabei aufs Herz, daſs ein jeder, der
Menschen zum Gefängniſs verurtheilt, we¬
nigstens Einen Tag im Jahre mit eigenen
B 3[22]
Ohren ihr Gewinsel, ihre himmelstürmende
Klage vernehmen müſste, damit ihn nicht
der todte Buchstabe des Gesetzes, sondern
eigenes Gefühl und lebendiges Gewissen von
der Rechtmäſsigkeit seiner Urtheile über¬
zeugte? Wir bedauern den unsittlichen
Menschen, wenn die Natur ihn straft und
physisches Uebel über ihn verhängt; wir
suchen sein Leid zu mildern und ihn von
seinen Schmerzen zu befreien: warum darf
nicht Mitleid den Elenden erquicken, dessen
Unsittlichkeit den Arm der beleidigten Bür¬
gerordnung reizte? Ist der Verlust der Frei¬
heit kein hinreichendes Sühnopfer, und for¬
dert die strenge Gerechtigkeit noch die
Marter des Eingekerkerten? Mich dünkt,
die Abschaffung der Todesstrafen hat uns
nur noch grausamer gemacht. Ich will hier
nicht untersuchen, ob ein Mensch befugt
seyn könne, einem andern das Leben zu
[23] nehmen; aber wenn es Güter giebt, die
unantastbar und allen heilig seyn sollen, so
ist das Leben gewiſs nicht das einzige, wel¬
ches unter diese Rubrik gehört; auch die¬
jenigen Zwecke des Lebens gehören hieher,
ohne welche der Mensch seinen Rang auf
der Leiter der Wesen nicht behaupten kann,
ohne welche er Mensch zu seyn aufhören
muſs. Die Freiheit der Person ist unstreitig
ein solches, von der Bestimmung des Men¬
schen unzertrennliches und folglich unver¬
äuſserliches Gut. Wenn also der bürger¬
liche Vertrag ein so schreckliches Uebel,
wie die gewaltsame Beraubung eines unver¬
äuſserlichen Gutes, über einen Menschen
um der Sicherheit Aller willen verhängen
muſs, so bleibt zu entscheiden übrig, ob
es nicht zwecklose Grausamkeit sey, das
Leben durch ewige Gefängniſsstrafe in fort¬
währende Quaal zu verwandeln, wobei es
B 4[24] schlechterdings zu keiner andern Absicht,
als zum Leiden erhalten wird, anstatt es
durch ein Todesurtheil auf einmal zu en¬
den? Die fromme Täuschung, die man
sich zu machen pflegt, als ob ein Delin¬
quent während seiner lebenslänglichen Ge¬
fangenschaft Zeit gewönne, in sich zu ge¬
hen, eine sittliche Besserung anzufangen,
sich durch seine Reue mit Gott zu versöh¬
nen und für ein künftiges Leben zu bereiten,
würde schnell verschwinden, wenn man
sich die Mühe gäbe, die Erfahrung um
Rath zu fragen, ob dergleichen Bekehrungen
die gewöhnlichen Folgen der ewigen Marter
sind? Die finsteren, modernden Gewölbe
der Gefängnisse, und die Ruderbänke der
Galeeren würden, wie ich fürchte, hierüber
schauderhafte Wahrheiten verrathen, wenn
man auch nicht, durch richtiges Nachden¬
ken geleitet, schon im voraus überzeugt
[25] werden könnte, daſs die Bekehrung im
Kerker zwecklos; seyn müsse, weil sie un¬
fruchtbar bleibt, und daſs ein Augenblick
wahrer Reue so viel werth sei, als ein in
Thränen und Büſsungen hingeschmachtetes
halbes Jahrhundert. Allein die Furcht vor
dem Tode, die nur durch eine der Würde
des Menschen angemessene Erziehung ge¬
mildert und in Schranken gehalten wird,
lehrt den Richter, das Leben in immerwäh¬
render Gefangenschaft als eine Begnadigung
schenken, und den Verbrecher, es unter
dieser Bedingung dankbar hinnehmen. Auch
hier wirkt also die Furcht, wie sie sonst
immer zu wirken pflegt: sie macht grausam
und niederträchtig. Doch den Gesetzen will
ich hierin weniger Schuld beimessen, als
der allgemeinen Stimmung des Menschen¬
geschlechts. So lange es Menschen giebt,
die das Leben ohne Freiheit, an der Kette
B 5[26] und im Kerker, noch für ein Gut achten
können, so lange bedaure ich den Richter,
der vielleicht nicht weiſs, welch ein schreck¬
liches Geschenk er dem unglücklichen Ver¬
brecher mit der Verlängerung eines elenden
Lebens macht; aber verdenken kann ich es
ihm nicht, daſs er sich von dem Geiste
seines Zeitalters hinreiſsen läſst. —
Unter den Merkwürdigkeiten des Ehren¬
breitsteins zeigte man uns auch das unge¬
nähte Kleid des Heilands. Der ungezie¬
mende Scherz, den ein unvorsichtiger Zu¬
schauer sich darüber erlaubte, erregte bei
einem unserer Führer solchen Abscheu, daſs
er seine heftigen Aeuſserungen nicht ohne
ein krampfhaftes Zucken unterdrücken konn¬
te. War es ächte Frömmigkeit? war es
der verzeihliche Aberglaube des Pöbels, was
diese Wirkung hervorbrachte? Ich vermu¬
the, diesmal keines von beiden. Es giebt
[27] Menschen, deren Seele die Vorstellung eines
schuldigen Respekts so ganz erfüllt, daſs sie
bei einer Spötterei über den geschmacklo¬
sen Gallarock eines Ministers genau dieselbe
Angst empfinden würden.
In dem alten, leeren, geräumigen Dika¬
sterialgebäude zu Ehrenbreitstein hat der
Kaufmann Gerhardi eine neue Lederfabrik
angelegt, wozu ihm der Kuhrfürst von Trier
auf fünf oder sechs Jahre Befreiung von allen
Abgaben bewilligt hat. In einiger Entfer¬
nung von diesem Orte, zu Vallender, zieht
eine groſse Lederfabrik ihre Häute unmittel¬
bar aus Buenos Ayres in Südamerika. So
knüpfen der Handel und die Industrie das
Band zwischen den entferntesten Welttheilen!
Von Koblenz fuhren wir nach Neuwied,
und besahen dort das Brüderhaus der Herrn¬
huter, nebst den mancherlei Werkstätten die¬
ser fleiſsigen und geschickten Gesellschaft.
[28] Ihre Kirche ist ein einfaches, helles Gebäude,
das mir recht gut gefiel. An die Stelle
der Agapen oder Liebesmahle der ersten
Cüristen, ist hier ein gemeinschaftliches
Theetrinken in der Kirche eingeführt, wozu
sich die ganze Gemeine von Zeit zu Zeit
versammelt. Meine Vorliebe zum Thee ist
es nicht allein, die mich mit diesem Ge¬
brauche versöhnt. Wenn ich schon nicht
mitschwärmen mag, so ist mir doch eine
Schwärmerei ehrwürdig, sobald sie auf Ge¬
selligkeit und frohen Genuſs des Daseyns
führt. Diese Stimmung läſst sich, wie Du
leicht denken kannst, mit der herrnhutischen
Einrichtung, welche die unverheiratheten
Männer und Weiber mit klösterlicher Stren¬
ge von einander trennt, schon nicht so
leicht in eine Gleichung bringen. Ich glaube
in meiner Erfahrung hinlänglichen Grund
zu der Ueberzeugung zu finden, daſs man
[29] in der Welt nie stärker gegen das Böse
und seine Anfechtungen ist, als wenn man
ihm mit offener Stirne und edlem Trotz
entgegengeht: wer vor ihm flieht, ist über¬
wunden. Wer steht uns auch dafür, daſs,
wo der gebundene Wille mit der erkannten
Pflicht im Kampfe liegt, die Sünden der
Einbildungskraft nicht unheilbarer und zer¬
rüttender seyn können, als die etwanigen
Folgen eines gemischten und durch frei¬
willige Sittsamkeit gezügelten Umgangs! Giebt
es nicht wollüstige Ausschweifungen der
Seele, welche strafbarer als physische Wol¬
lüste sind, da sie den Menschen im wesent¬
lichsten Theile seines Daseyns entnerven ?
Die lehrreichen Schriften der berühmten
Guyon, die freilich wohl in einer ganz an¬
dern Absicht gedruckt worden sind, und
die Bekenntnisse des wackern Jamerai Düval
schildern die Krankheit der Entzückten durch
[30] alle ihre verschiedenen Stadien, als eine me¬
taphysiche Selbstschändung. Bei einem ein¬
geschränkten Erkenntniſsvermögen und einer
armen Einbildungskraft sind die Symptome
nicht gefährlich, und das Uebel bleibt in den
Schranken, die ihm die Unerheblichkeit des
Individuums anweist. Wenn hingegen diese
Seelenepidemie ein gebildetes, edles Wesen
ergreift, dann äuſsern sich Wirkungen, wel¬
che Völker vergiften, die bürgerlichen Ver¬
hältnisse stören und die Sicherheit des Staats
untergraben können. Die Täuschung, womit
man sich über den Gegenstand dieser Ent¬
zückungen hintergeht, ist so vollkommen,
daſs die tiefste Tiefe, wohin der menschliche
Geist sinken kann, dem Verblendeten die
höchste Stufe der Tugend, der Läuterung
und der Entwicklung zum seligen Genusse
scheint. Genau wie die Entartung des phy¬
sischen Triebes die Gesetze der Natur be¬
[31] leidigt, eben so muſs in einem noch un¬
gleich höheren Grade der Seelenraub strafbar
seyn, den man durch jene unnatürliche Ver¬
einigung mit einer Idee, am ganzen Men¬
schengeschlechte begeht. Geistesarmuth ist
der gewöhnliche, jedoch von allen gewiſs
der unzulässigste Vorwand, zu dieser Theo¬
pornie, die erst in der Einsamkeit und Heim¬
lichkeit angefangen, und dann ohne Scheu
öffentlich fortgesetzt wird. Zuerst ist es Träg¬
heit, hernach Egoismus, was den Einfältigen
über die natürlichsten Mittel, seinem Mangel
abzuhelfen, irre Ist hingegen eine Seele
reich und groſs? O dann suche sie ein We¬
sen ihrer Art, das Empfänglichkeit genug be¬
sitzt, sie ganz zu fassen, und ergieſse sich in
ihr! Selten oder nie wird es sich ereignen,
daſs ein Geist dieser endlichen Erde einzeln
und ohne Gleichen steht; — und bliebe nicht
diesem Erhabenen selbst, der kein Maaſs für
[32] seine Gröſse fände, der göttliche Genuſs noch
übrig, sich Mehreren theilweise hinzugeben
und Allen Alles zu werden? Die Weisheit
der Natur ist zum Glück noch mächtiger
und konsequenter, als die Thorheit der Men¬
schen, und ehe man es sich versieht, führt
sie auch den Schwärmer wieder in das Ge¬
biet des Wirklichen zurück. Bei den Herrn¬
hutern ist überdies dafür gesorgt, daſs man
sich nicht zu weit aus demselben verlieren
kann. Fleiſs und Arbeitsamkeit sind kräf¬
tige Verwahrungsmittel gegen das Überhand¬
nehmen der Seelenkrankheiten, die sie nur
dann begünstigen, wenn allzugroſse Anstren¬
gung, allzulanges Einsitzen, allzustrenge Diät
die Kräfte des Körpers untergraben. Ein
Kennzeichen, woran wir deutlich sahen,
daſs die Schwärmerei hier sehr erträglich
seyn müsse, und daſs die guten Leute auf
die Weisheit der Kinder dieser Welt nicht
ganz[33] ganz und gar Verzicht gethan hätten, war
der hohe Preis, den sie auf alle ihre Fabri¬
kate setzten. Ich weiß in der That nicht,
wie ich diesen mit ihrem unstreitig sehr
musterhaften Fleiße reimen, und wie ich
mir die Möglichkeit eines hinlänglichen De¬
bits dabei denken soll.
Andernach erreichten wir noch vor Son¬
nenuntergang. Ich bemerkte hier jetzt zum
zweitenmal eine Nüance im Menschenge¬
schlecht, welche gegen die Bewohner ober¬
halb dieses Orts merklich absticht; und da
meine Reisegefährten die Bemerkung ein¬
stimmig bestätigten, so ist es vielleicht min¬
der keck, daß ich sie Dir vorzulegen wage.
Unter dem gemeinen Volke nämlich trift
man hier und weiter hinabwärts am Rhein
etwas regelmäßigere, blondere Gesichter an,
wiewohl sich etwas Plumpes, Materielles in
die Züge mischt, das dem Niederrhein eigen
I. Theil. C[34] ist und dem Phlegma im Charakter voll¬
kommen entspricht. Ich will hier nur im
Vorbeigehen, und ohne eine bestimmte An¬
wendung zu machen, den Gedanken äuſsern,
daſs die Art der Beschäftigung, in der Länge
der Zeit, wenigstens mittelbaren Einfluſs auf
die Verschiedenheit der körperlichen Bildung
und folglich auch des Charakters hat. Ar¬
muth zum Beispiel ist unzertrennlich von
dem Landvolke, das den Weinstock zu seiner
einzigen Stütze wählte, und Armuth wirkt
nachtheilig zurück auf die Gestalt. Um
Andernach und weiter hinabwärts steht der
Weinbau in keinem bedeutenden Verhält¬
nisse zu den übrigen Erzeugnissen des Bo¬
dens. Wie aber, wenn, noch ehe Wein in
Deutschland gebauet ward, bereits in Sprache,
Farbe und Gestalt eine Abschattung zwi[¬]
schen den ober- und niederrheinischen Stäm¬
men bemerkbar gewesen wäre? Dann könnte
[35] sie durch die Länge der Zeit und die Ver¬
schiedenheit der Lebensart nur noch schnei¬
dender geworden seyn. Die weichere, plat¬
tere Mundart fällt indeſs erst auf, wenn
man sich der Gegend von Kölln zu nähern
anfängt.
C 2[36]
III.
Wohin sich das Gespräch der Edlen lenkt,
Du folgest gern, denn Dir wird’s leicht zu folgen.
Hier, wo der Rhein sich zwischen ebenen
Flächen schlängelt, blick’ ich wieder nach
den Gebirgen zurück, deren letzte Gipfel
Bonn gegenüber am Horizont sich noch in
schwachen Linien zeichnen.
Mit welchem ganz andern Interesse, als
der unwissenschaftliche Reisende daran neh¬
men kann, hält der Naturforscher die Schau
und Musterung über jene Unebenheiten un¬
serer Erde, denen er noch die Spur ehema¬
liger Umwandlungen und groſser entschei¬
dender Naturbegebenheiten ansieht! Auf
unserer kurzen Rheinfahrt haben wir oft
mit den Pflanzen und den Steinen am Ufer
[37] gesprochen, und ich versichere Dich, ihre
Sprache ist lehrreicher, als die dicken Bücher,
die man über sie geschrieben hat. Soll ich
Dir von unseren Unterhaltungen nicht et¬
was wieder erzählen?
Die Gebirgskette, die sich durch Thü¬
ringen, Fulda und die Wetterau bis an den
Rhein erstreckt, endigt sich oberhalb Bonn,
in dem sogenannten Siebengebirge, welches
prallig in mehreren hohen Spitzen und Gip¬
feln seine Granit- Gneus- und Porphyr¬
massen emporhebt, auf denen hier und dort
andere Kiesel- Thon- und Bittersalzerdige
Mischungen, wie Kieselschiefer, Hornschiefer
und Basalte, nebst den zwischen ihnen
durch verschiedene Verhältnisse der Bestand¬
theile verursachten Schattirungen von Gestein
liegen. Die südlichen Zweige des Hessischen
Gebirges setzen über den Rhein fort, und
gehen in die Voghesische Kette über. Von
C 3[38] Bingen bis Bonn enthalten sie Thon- und
Kieselschiefer von mancherlei Gefüge, Härte,
Farbe und Mischung, auf welchen man zu¬
weilen groſse Sandsteinschichten antrift. Im
Allgemeinen streichen die Schichten von
Abend nach Morgen, und gehen mit ei¬
nem Winkel von sechzig bis fünf und
sechzig Graden nach Süden in die Tiefe.
Ehe uns die Nacht in Andernach über¬
fiel, machten wir noch einen mineralogi¬
schen Gang nordwestlich von der Stadt.
An einem Hohlwege, gleich unter der Damm¬
erde, zeigte sich ein Bimssteinlager, welches
an einigen Stellen mit Schichten von Tras,
oder, wie ich es lieber nenne, von zerstör¬
ten, zu Staub zerfallenen und dann vermit¬
telst des Wassers wieder zusammengekütte¬
ten Bimssteinen, abwechselte. Die Bims¬
steine sind von weiſslicher Farbe, sehr leicht,
bröcklich, löchericht, rauh anzufühlen und
[39] gewöhnlich in ganz kleinen Stückchen von
der Gröſse einer Erbse und noch kleiner,
bis zu zwei Zollen im Durchmesser. In
diesen Stückchen finden sich zuweilen kleine
Fragmente von Kohlen eingebacken.
Die Erscheinung dieser unbezweifelten
Erzeugnisse des Feuers am friedlichen Rhein¬
ufer hat schon manchen Gebirgsforscher in
Erstaunen gesetzt, welches vielleicht vom
ruhigen Wege des Beobachtens abwärts führt.
In der Strecke von Andernach bis Bonn
glaubten Collini, Hamilton, de Lüc und an¬
dere Freunde der Feuertheorie die deutlich¬
sten Spuren ehemaliger feuerwerfenden Schlün¬
de zu sehen. Vulkane dampften und glühten;
geschmolzene Lavaströme flossen, kühlten
sich plötzlich in dem Meere, das damals alle
diese Länder bedeckte, und zerklüfteten sich
in säulenförmige Theile; ausgebrannte Steine,
und Asche und Kohlen flogen in die Luft,
C 4[40] und fielen in Schichten nieder, die man
jetzt angräbt und zum Wasserbau nach Am¬
sterdam versendet; kurz, ehe es Menschen
gab, die den Gefahren dieses furchtbaren
Wohnortes trotzten, und das plutonische
Gebiet mit Waizen oder mit Reben be¬
pflanzten, kreis’te hier die Natur, und die
Berge wanden sich in gewaltsamen Kräm¬
pfen. Ist das nicht prächtig — geträumt?
Es kommt ja nur auf uns an, ob wir den
Hekla und Ätna, den Vesuv und den
Tschimborasso an dem Gestade unseres va¬
terländischen Rheins erblicken wollen. Wenn
die Erscheinungen, die das hiesige Gebirge
uns zeigt, Vergleichungen dieser Art be¬
günstigen, wer dürfte uns verbieten, unse¬
rer Einbildungskraft die Ergänzung einer
Lücke in den Annalen der Erdumwandlung
aufzutragen? Ueber jene Erscheinungen aber
ist man bis jetzt noch nicht einig.
[41]
Der Bimsstein, ist zwar zuverlässig ein
Feuerprodukt; allein, daſs wir uns ja nicht
mit der Folgerung übereilen: es müsse des¬
halb bei Andernach einst ein Vulkan ge¬
lodert haben! Hier ist nirgends eine be¬
gleitende Spur von Vulkanen sichtbar; nichts
leitet auch nur von fernher auf die Ver¬
muthung, daſs diese Schichte, wo sie liegt,
im Feuer entstanden seyn könne. Ihre Lage
unmittelbar unter der Dammerde scheint
sie vielmehr für fremdartig zu erklären. Wer
kann nun bestimmen, durch welche Revo¬
lutionen und wie viele tausend Meilen weit
her, diese Bimssteine hier angeschwemmt
sind? welche Fluth sie von weit entlegenen
Gebirgen abwusch, um sie hier allmälig ab¬
zusetzen? Das Daseyn eines über alle hie¬
sigen Berggipfel gehenden Meeres muſs man
ja bei der Feuertheorie ebenfalls vorausset¬
zen, um die Möglichkeit der Entstehung
C 5[42] des Basalts, nach den Grundsätzen dieser
Theorie zu erweisen; folglich verlangte ich
hier nichts Neues. Allein, auch ohne die¬
ses Element zu Hülfe zu nehmen — soll
denn immer nur das Feuer eines Vulkans
im Stande gewesen seyn, hier ein Bimsstein¬
lager hervorzubringen? Konnte nicht etwa
ein Kohlenflöz in dieser Gegend in Brand
gerathen, ausbrennen und den Letten, der
ihm zum Dach und zur Sohle diente, zu
einer Bimssteinähnlichen Masse verändern?
Es ist in der That zwischen den Substan¬
zen, die man mit dem gemeinschaftlichen
Namen Bimsstein belegt, sehr oft ein weiter
Unterschied, über den man in der Mine¬
ralogie nicht so leichtsinnig, wie bisher, hin¬
wegsehen sollte. Im Grunde hat man den
Bimsstein wohl noch nicht anders definirt, als
daſs er ein sehr leichtes, bröckliches Feuer¬
produkt sei; denn die unzähligen Verschie¬
[43] denheiten der Farbe, der Textur und der
übrigen äuſserlichen Kennzeichen, die ich in
Kabinetten an den so genannten Bimssteinen
bemerkt habe, lieſsen keine andere allge¬
meine Form als diese übrig. Offenbar aber
sind darunter Steine von dem verschieden¬
sten Ursprunge begriffen, die nicht einmal
immer einerlei Umwandlungsprozeſs erlitten
haben. So viel ist gewiſs, daſs der Bimsstein
von Andernach nicht zu jener Art gehört,
welche die Mineralogen von der Zerstörung
des Asbests im Feuer herzuleiten pflegen,
und auch nicht, wie der Bimsstein von
Tanna, aus kleinen spitzigen Krystallen be¬
steht, sondern, wenn er seine jetzige Gestalt
im Feuer erhielt, wahrscheinlich aus Letten
verändert worden ist.
Als wir am folgenden Tage unsere Wasser¬
fahrt fortsetzten, kamen wir dem Flecken Un¬
kel gegenüber an die merkwürdigen Basaltgrup¬
[44] pen, über deren säulenförmige Bildung schon
Trembley erstaunte, ohne jedoch etwas von
dem Streite zu ahnden, den man zeither
über ihre Entstehung mit so vieler Wärme
geführt hat. Bei niedrigem Wasser ragen sie
aus diesem hervor, und sind, so weit es sie be
decken kann, mit einem kreideweiſsen Schlamm
überzogen, welcher auch die Thonschiefer¬
felsen bei Bingen bedeckt. Wahrscheinlich
macht dieser Schlamm den Rhein so trübe,
wenn er von Berggewässern hochangeschwollen
ist. Wir wanderten über die Gipfel oder
Enden der konvergirenden Säulen, und gin¬
gen in den Steinbruch, der jetzt einen Flin¬
tenschuſs weit vom Ufer hinaufwärts liegt,
ob er sich gleich ehemals bis dicht an das
Wasser erstreckte. Hier standen die sehr
unvollkommen und regellos gegliederten Säu¬
len von ziemlich unbestimmteckiger Form
und Mannsdicke, aufrecht auf einem Lager
[45] von braunem, thonartigem Gestein voll Höh¬
len, die zum Theil noch mit verwitterndem
Kalkspath angefüllt waren. Die Säulen sind
von ziemlich festem Korn, dichtem Bruch,
mattschwarz mit schwarzen Schörlpunkten
und lauchgrünen Olivinen reichlich angefüllt,
die sich zuweilen in faustgroſsen Massen
darin finden. Auſserdem enthalten diese
Basalte öfters Wasserkies in dünnen Streifen,
desgleichen einen gelbbraunen Tropfstein oder
Kalksinter, womit sie durchwachsen sind,
und endlich, nach Aussage der Arbeiter,
auch klares Wasser in ganz verschlossenen
Höhlungen, die zuweilen im Kern einer
Säule angetroffen werden.
Das Losbrechen der Säulen sieht gefähr¬
lich aus. Es geschieht vermittelst eines
spitzen Eisens, das an einem langen Stocke
befestigt ist, und das der Arbeiter zwischen
die Fugen bringt. Der Sturz ganzer Massen
[46] von Säulen hat etwas Fürchterliches, und
sobald man merkt, daſs sie stürzen wollen,
rettet sich ein jeder, um nicht beschädigt
zu werden. An vielen Säulen, welche auf
diese Art in unserer Gegenwart losgebrochen
wurden, bemerkte ich einen weiſsen, ver¬
muthlich kalkigen Beschlag oder Anflug,
dessen Ursprung sich so wenig, wie der
Ursprung des bereits erwähnten Sinters, er¬
klären läſst, wenn man anders nicht künftig
Kalkarten in der Nähe findet. Doch kön¬
nen auch die Wasser auf sehr langen Strek¬
ken Kalktheilchen aufgelöset enthalten und
weit mit sich führen, ehe sie dieselben
wieder absetzen.
Sowohl auf diesem westlichen, als auf
dem entgegengesetzten östlichen Ufer des
Rheins, bis in das Siebengebirge hinunter,
sind, diese Basaltbrüche häufig genug, um
für die ganze Gegend Bau- und Pflaster¬
[47] steine zu liefern. Das ehemalige Jesuiten¬
kollegium in Koblenz ist von auſsen mit
Basaltstücken bekleidet, und die Heerstraſsen
werden damit in gutem Stande erhalten.
Was suchen wir also weiter nach den Werk¬
stätten, wo die Natur den Bimsstein von
Andernach bereitete, wenn, wie es heutiges
Tages bei so manchem Naturforscher für
ausgemacht gilt, Basaltberge und erloschene
Vulkane völlig gleichlautende Benennungen
sind? Können wir noch die Spuren des
ehemaligen Brandes vermissen, wo der Ba¬
salt sogar, wie hier bei Unkel, auf einer
braunen, löcherichten Lava steht? Haben
die Basaltberge nicht die charakterische Ke¬
gelgestalt, und ist hier nicht ein Krater
vorhanden, den de Lüc zuerst entdeckt hat,
und dessen Oefnung er mit der Hand be¬
decken konnte?
Ich gebe Dir mein Wort, daſs der Muth¬
[48] wille des Reisenden, der den ganzen Tag
hindurch in frischer Luft und in muntrer
Gesellschaft schwelgte, keinen Antheil an
dieser Darstellung der vulkanistischen Logik
hat. Es ist wahr, daſs man unaufhörlich
von dem Punkt ausgeht, den man erst be¬
weisen sollte, und dann, wie gewisse Exe¬
geten, zurückbeweiset: Basaltberge sind er¬
loschene Vulkane; also ist der Basalt ein
vulkanisches Produkt! oder: Basalt steht
auf löcherichter Lava; also ist Basalt feste
Lava! oder: Vulkane sind kegelförmige Berge;
also sind kegelförmige Basaltkuppen Vulkane!
oder endlich: ein Schlund, aus welchem
der Rauch und die Flamme des Vulkans
emporsteigen und Bimssteine und Felsstücken
herausgeschleudert werden, ist ein Krater;
also ist ein Loch auf einem Basaltberge,
welches man mit der Hand bedecken kann,
ein Krater, und der Basaltberg ein Vulkan!
Ohne[49] Ohne das geringste von der Sache zu wissen,
sieht man ein, daſs diese sämmtlichen Schlüsse
nichts beweisen, da bald der Obersatz, bald
die Folgerung ungegründet ist. De Lüc’s
Krater lasse ich für sich selbst sprechen.
Die Kegelform der Vulkane, die natürlich
genug durch die Anhäufung der ausgewor¬
fenen Steine, Erde und Asche entsteht, be¬
weiset nichts für die Entstehung der festen
säulenförmig zerklüfteten Basaltkegel, zumal
da es auch kegelförmige Kalkberge genug
giebt, und wiederum Basaltmassen, die sich
in ganz verschiedenen Gestalten zeigen. Die
löcherichte Steinart bei Unkel ist darum
noch keine Lava, weil sie einigen Laven
ähnlich sieht; und nun möchte es um den
ersten willkührlich angenommenen Satz, daſs
Basaltberge Vulkane sind, etwas miſslich
stehen. Diejenigen, die sich auf die Ur¬
theile Anderer verlassen, und die Vulkanität
I. Theil. D[50] des Basalts auf Treu und Glauben anneh¬
men, sollten sich erinnern, daſs das nullius
in verba nirgends unentbehrlicher ist, als
im hypothetischen Theile der Naturgeschichte.
Bescheidene Forscher, die der vulkanistischen
Vorstellungsart gewogen sind, erkennen den¬
noch, daſs sie nur Hypothese bleibt und
vielleicht nie zur Evidenz einer ausgemach¬
ten Sache erhoben werden kann. Allein die
mineralogischen Ketzermacher, die auch in
den Erfahrungswissenschaften die Tyrannei
eines allgemein geltenden Symbols einführen
wollen, verdammen gern einen jeden, der
ihren Träumen nicht eben so viel Glauben
beimiſst, wie ihren Wahrnehmungen.
Ich bin weit davon entfernt, den Basalt
geradezu für eine im Wasser entstandene
Gebirgsart zu halten; allein ich gestehe zu¬
gleich, daſs mir keine von den bisher be¬
kannten Erklärungen Derer, die seinen Ur¬
[51] sprung vom Feuer herleiten, Genüge leistet,
ja, daſs mir insbesondere seine Entstehung
in den brennenden Schlünden, die wir Vul¬
kane nennen, völlig widersprechend und un¬
möglich scheint. Wäre der Basalt vulkani¬
schen Ursprungs, so müſste man die Ge¬
birgsart entdecken können, aus welcher er
in seine jetzige Form und Beschaffenheit
geschmolzen ward. Aber noch nie hat man
in irgend einem Naturalienkabinet oder auf
irgend einem Gebirge ein Stück Basalt ge¬
zeigt, an welchem sich hätte erkennen las¬
sen, ob es aus Granit, aus Gneus, aus
Porphyr, aus Thonschiefer, aus Kalkstein
u. s. w. zu Basalt geschmolzen worden sei.
Bei Jacci in Sicilien hat man Basaltsäulen
unter einem Lavalager gefunden. Daraus
folgt aber nicht, daſs beide von gleichem
Ursprunge sind. Der Basalt konnte, als ein
ursprüngliches Gebirgslager, längst vorhanden
D 2[52] seyn, ehe die Lava darüber hinfloſs. Hoch
hinauf am Ätna liegt ebenfalls Basalt. Nach
der vulkanistischen Hypothese wäre dies im
Wasser zu Prismen abgekühlte Lava; folg¬
lich ging bei seiner Entstehung das mittel¬
ländische Meer fast bis an den Gipfel des
Atna. Wohlan! eine solche Wasserhöhe zu¬
gegeben, erkläre man nun auch, warum
tief am Fuſse des Vesuv uralte Laven, un¬
weit von dem jetzigen Stande der Meeres¬
fläche, noch ungebildet geblieben sind, da
es nicht einen Augenblick bezweifelt wer¬
den kann, daſs, jenen hohen Stand der mit¬
telländischen See vorausgesetzt, auch diese
Laven von ihr hätten bedeckt werden und
folglich säulenförmig zerspringen müssen.
Viele wirklich geflossene Laven haben in
ihren Bestandtheilen, in ihrer Farbe, und
selbst in ihrem Gewebe eine auffallende,
unläugbare Ähnlichkeit mit Basalt. Unbe¬
[53] greiflich ist es mir daher, weshalb man
nicht eben so leicht hat annehmen wollen,
solche Laven wären aus Basalt entstanden,
welcher von dem vulkanischen Feuer er¬
griffen, verändert oder geschmolzen worden
sei; als man sich die entgegengesetzte Mei¬
nung, Lava verändere sich durch plötzliches
Erkalten in Basalt, annehmlich gedacht,
ob man gleich noch in keinem Basalt die
Steinart nachgewiesen hat, aus welcher die
ihm ähnliche Lava geschmolzen worden ist.
Mit dem nämlichen Rechte könnte man auch
behaupten: alle andere Steinarten, die einer
italienischen Lava ähnlich sehen, und deren
es so viele giebt, wären im Feuer der Vulka¬
ne entstanden. Allein mir kommt es einmal
natürlicher vor, daſs, je nachdem der Brand
in einem Berge einen Granit, einen Gneus,
einen Porphyr, einen Thonschiefer, einen Ba¬
salt, einen Marmor ergrif, und je nachdem er
D 3[54] diese ursprünglichen Steinarten mehr oder we¬
niger veränderte, heftiger oder gelinder, ein¬
zeln oder mit andern zugleich durchdrang, —
daſs, dem gemäſs, die Produkte gerade so
mannichfaltig verschieden ausfallen muſsten,
wie man sie wirklich unter die Hände be¬
kommt. Eine der schönsten und vollstän¬
digsten Sammlungen von vesuvischen Pro¬
dukten, welche ich je gesehen habe, die im
kuhrfürstlichen Naturalienkabinet von Bonn,
enthält meines Bedünkens unverwerfliche Be¬
lege für diese Behauptung, die noch über¬
dies durch den Umstand Bestätigung be¬
kommt, daſs die Laven aus verschiedenen
ächtvulkanischen Gegenden, wie zum Bei¬
spiel die isländischen und die santorinischen,
von den italienischen sichtbarlich verschieden
sind — augenscheinlich, weil die Mischung
der Gebirgsart, aus welcher sie entstanden,
verschieden war.
[55]
Nimmt man endlich noch hinzu, daſs
die Verwitterung sowohl an Laven, als an
ursprünglichen Gebirgsarten völlig ähnliche
Wirkungen hervorbringt; so wird es immer
unwahrscheinlicher, daſs sich etwas Positives
über die Frage behaupten lasse: ob die
Entstehung unserer Rheinländer dem Feuer
zuzuschreiben sei. Porphyr, Porphyrschiefer,
Mandelstein nebst den hieher gehörigen Ge¬
birgsarten werden durch die leicht zu be¬
wirkende Auflösung ihrer Feld- und Kalk¬
spathkörner zu leichten löcherichten Massen,
welche den schwammigen verwitterten Aus¬
würfen der Vulkane aus Island und aus Ita¬
lien ähnlich sehen. Aber eine ächte, glasige,
geflossene schlackige Lava, die vor allen die¬
sen Namen verdient, eine Lava, wie man sie
in Island, am Vesuv, am Ätna findet, wie
ich sie auf der Osterinsel, in Tanna, und
zuletzt auf der Ascensionsinsel selbst gesehen
D 4[56] habe, ist mir weder in den rheinländischen,
noch in den hessischen, hannöverischen, thü¬
ringischen, fuldischen, sächsischen, böhmi¬
schen und karpathischen Basaltbergen vorge¬
kommen.
Alles was ich hier von unsern vermeint¬
lichen Vulkanen am Rhein mit wenigen
Worten berühre, findet sich in den beiden
Quartanten des Dr. Nose und in den
zusammengedrängten Beobachtungen unseres
scharfsinnigen Freundes A. v. H. bestätigt.
Wenn nun aber der Basalt nicht Lava ist,
wie entstand er denn? Aufrichtig gesagt,
ich weiſs es nicht. Ich kenne weder den
Urstoff, noch die chemische Operation, wor¬
aus und wodurch die Natur die sämmtlichen
Gebirgsarten werden lieſs. Wird mir jemand
beweisen, daſs, ehe es noch Vulkane gab,
ein ganz anderer Brand, ein fürchterliches
allgemeines Feuer den Basalt in allen fünf
[57] Welttheilen erzeugte; wird er mir den Ur¬
stoff nennen können, aus welchem dieses
Feuer, wie noch keines war, und dem wir
folglich nach Willkühr Eigenschaften und
Wirkungen beimessen können, den Basalt
geschmolzen habe: so will ich das nicht nur
geschehen lassen, sondern sogar dieser Mei¬
nung beipflichten, sobald sie mehr als ein
bloſses Meisterwort, sobald sie gründliche
Beweise für sich hat. Bis jetzt wissen wir
indeſsen noch wenig oder nichts zuverläs¬
siges von der Bildung unserer Erdrinde;
denn wir haben von einer weit späteren
Bildung, von der Bildung der Pflanzen und
Thiere auf diesem Boden, nicht einmal einen
Begrif! Wo wir Schichten regelmäſsig über¬
einander liegen sehen, halten wir uns für
berechtigt, sie einem allmäligen Niederschlag
aus dem Wasser zuzuschreiben. Allein ob
alle Kalklager unsers Planeten aus Gehäusen
D 5[58] von Würmern entstanden, oder ob das
Meer, welches einst die ganze Kugel umfloſs,
ein von den jetzigen Meeren sehr verschie¬
denes chaotisches Flüssiges war, worin theils
Kalk, theils Thon und Bittersalzerde, un¬
ausgeschieden, vielleicht als mögliche Bestand¬
theile, schwammen — das ist und bleibt
unausgemacht. Wir wissen zwar, daſs der
uralte Granit, bei seiner seltsamen Mischung
von Quarz, Feldspath und Glimmer keine
Spur von einer geschichteten Entstehung
zeigt; aber darum ist noch nicht entschie¬
den, ob auch diese Gebirgsart ein Präcipitat
aus jenem elementarischen Meere, oder, wie
der groſse dichterische Büffon will, ein Werk
des Sonnenbrandes sei. Vielleicht ist er
keines von beiden. Ehe wir dahin gelan¬
gen, über die Ereignisse der Vorwelt etwas
mehr als schwankende, von allem Erweis
entblöſste Muthmaſsungen in der Naturge¬
[59] schichte vortragen zu können, müssen wir
zuvor in der unterirdischen Erdkunde un¬
gleich wichtigere Fortschritte machen als
bisher; wir müssen, wo nicht Maupertuis
berühmten Schacht bis zum Mittelpunkt der
Erde abteufen, doch wenigstens ein paar
Meilen tief unter die Oberfläche, die wir
bewohnen, senkrecht hinabsteigen, und von
dorther neue Gründe für eine Theorie der
Erdentstehung und Umwandlung entlehnen.
Bedenkt man aber, mit welchen Schwierig¬
keiten wir bisher nur wenige hundert Klaf¬
ter tief in das Innere der Gebirge gedrun¬
gen sind, so müssen wir über die Arbeit
erstaunen, die nicht uns, sondern den spä¬
ten Nachkommen des Menschengeschlechtes
aufgehoben bleibt, wenn sie vor lauter ewi¬
gem Frieden nicht wissen werden, was sie
mit ihrer Zeit und ihren Kräften anfangen
sollen. —
[60]
Ich kann dieses Blatt, das ohnehin so
viel Naturhistorisches enthält, nicht besser
ausfüllen, als mit ein paar Worten über das
schon vorhin erwähnte Naturalienkabinet in
Bonn. Von der herrlichen Lage des kuhr¬
fürstlichen Schlosses und seiner Aussicht auf
das Siebengebirge will ich nichts sagen, da
wir die kurze Stunde unseres Aufenthaltes
ganz der Ansicht des Naturalienkabinets wid¬
meten. Die dabei befindliche Bibliothek füllt
drei Zimmer. In den reichvergoldeten Schrän¬
ken steht eine Auswahl brauchbarer, theu¬
rer Werke, die eines solchen Behältnisses
wohl werth sind. Ich bemerkte darunter
die besten Schriftsteller unserer Nation in
jedem Fache der Litteratur, ganz ohne Vor¬
urtheil gesammelt. Aus der Bibliothek kommt
man in ein physikalisches Kabinet, worin
sich die Elektrisirmaschine, der groſse me¬
tallene Brennspiegel und der ansehnliche
[61] Magnet auszeichnen. Die Naturaliensamm¬
lung füllt eine Reihe von acht Zimmern.
Das gröſste enthält vierfüſsige Thiere, Vögel,
Amphibien und getrocknete Fische in keiner
systematischen Ordnung, theils in Glas¬
schränken, theils im Zimmer umhergestellt,
theils hangend an der Decke und mit Kunst¬
sachen vermischt, die nicht alle von glei¬
chem Werth, oder ihres Platzes würdig
sind. Die ausgestopften vierfüſsigen Thiere
sind meistentheils sehr miſsgestaltet; ein
Tadel, der mehr oder weniger alle Natu¬
raliensammlungen trift. Die Vögel sind
weniger verzerrt, und man sieht darunter
manche seltene Gattung nebst ihren Nes¬
tern und Eiern. Die Decke des Zimmers
ist mit verschiedenen Vögeln bemalt, die
der Sammlung fehlen. Das Konchylienka¬
binet hat nicht viele Seltenheiten, Kostbar¬
keiten und sogar nicht viele Gattungen; es
[62] enthält nur die gemeinsten Sorten und eine
Menge Dupletten. Desto reicher ist aber
die schöne Mineraliensammlung, die zwar
keine methodische Ordnung hat, und eben
so wenig eine vollständige Folge aufweisen
kann, aber gleichwohl, wenn man sie nicht
als ein Ganzes beurtheilen will, manches
Kostbare enthält, und dem Kenner willkom¬
mene und lehrreiche Bruchstücke darbietet,
besonders die unvergleichliche vesuvischvul¬
kanische Sammlung in einem draußenstehen¬
den Schranke, einen reichen Vorrath von
Goldstufen, sehr schönen weißen Bleispath,
vom Glücksrad am Harz, Eisenglaskopf von
den seltensten Configurationen, prächtiges
rothes Kupferglas, Flusſpathdrusen, Verstei¬
nerungen, u. dgl. m. Das Merkwürdigste
war mir ein Menschenschedel, der gleich¬
sam aus gelbbraunem Tuff von sehr dich¬
tem, festem Bruch, woran keine Lamellen
[63] kenntlich sind, besteht. An einigen Stellen
ist die Substanz desselben zolldick, ohne daſs
man auf dem Schnitte die geringste Spur
von Inkrustation erkennen kann. Der halbe
Oberkopf ist nämlich bis an die Augenbrau¬
en und hinten bis auf die Hälfte des Hin¬
terhaupts, wie ein Segment ausgeschnitten,
so daſs man es herausnehmen und inwen¬
dig alles besehen kann. Ein Umstand ist
dabei sehr auffallend: Die Substanz dieses
Schedels hat in ihrer Veränderung fast alle
feineren Hervorragungen so bedeckt, und
alle Vertiefungen so ausgefüllt, daſs man
sowohl auf der innern, als auf der äuſsern
Oberfläche nur kleine abgerundete Spuren
erblickt; gleichwohl sind die Gelenkflächen
des Kopfes und des Unterkiefers allein ver¬
schont und in ihrem natürlichen Zustande
geblieben. Dies allein beweiset schon, daſs
dieses seltene Stück nur zur Erläuterung der
[64] Lehre von den Krankheiten der Knochen
dienen kann, und keinesweges, wie man
vorgiebt, ein versteinerter Menschenschedel
ist. Solche Versteinerungen sind zwar von
andern Thierklassen nicht selten, hingegen
vom Menschen ist bis jetzt noch schlech¬
terdings kein einziges unbezweifeltes Petre¬
fakt gefunden worden. Die Krankheit, wel¬
che hier diese sonderbare Erscheinung an
einem Menschenschedel hervorgebracht hat,
ist eine der ungewöhnlichsten gewesen, näm¬
lich ein Überfluſs von wucherndem Knochen¬
saft, oder Knochenstoff, wodurch bei Leb¬
zeiten des unglücklichen Individuums die
Theile des Schedels zu einer unförmlichen
Gestalt angewachsen sind, und ihn allmälig
aller Sinnorgane beraubt haben müssen. Da¬
bei ist es vorzüglicher Aufmerksamkeit werth,
daſs die Nervenlöcher doch verhältniſsmäſsig
nur wenig verengt worden sind. Man hat
bereits[65] bereits in d’Argenville’s Oryktologie die Ab¬
bildung eines dem hiesigen vollkommen ähn¬
lichen Schedels, und unser Sömmerring be¬
sitzt einige, auf eben dieselbe Art unförm¬
lich angequollene Hünerknochen.
Ich will mir den Glauben nicht nehmen
lassen, daß diese wissenschaftlichen Ansich¬
ten, welche Dich gewiß sehr lebhaft be¬
schäftigen werden, eine Seite haben, an der
sie auch eine weniger vorbereitete Wißbe¬
gierde befriedigen können. Es kommt eines
Theils nur darauf an, diese allgemein interes¬
sirende Seite herauszukehren; und andern
Theils müßte der Zuhörer nur eine gewisse
Thätigkeit der eigenen Geisteskräfte und ei¬
nen richtigen Sinn besitzen, um überhaupt
alles Neue, sobald es nicht in Kunstwörtern
verborgen bleibt, unterhaltend, richtig und
anwendbar zu finden. Je reicher die Aus¬
bildung unseres Zeitalters, je größer die An¬
I. Theil. E[66] zahl unserer Begriffe, je erlesener ihre Aus¬
wahl ist, desto umfassender wird unser
Denk- und Wirkungskreis, desto vielfältiger
und anziehender werden die Verhältnisse
zwischen uns und allem was uns umgiebt.
Daſs wir uns auf diesem Punkte der Geistes¬
kultur befinden, das beweist der gegenwär¬
tige Zustand der Erziehungsanstalten, der
Universitäten, der belletristischen und ernsten
Litteratur, der politischen und statistischen
Verfassungen, der physischen und hyperphy¬
sischen Heilkunde, ja sogar der raisonnirten
Schwelgerei und raffinirten Sinnlichkeit, worin
alles auf einem encyklopädischen Inbegrif
und Zusammenhang aller möglichen Zweige
der Erkenntniſs beruhet. Dieser nunmehr
in allen Fächern aufgesuchten und mit so
vielem Glück verfolgten Verwebung und Ver¬
bindung der verschiedenartigsten Kenntnisse
sind wir es schuldig, daſs der Gang unserer
[67] Erziehung sich beflügelt und daſs unsere
sechszehnjährigen Jünglinge ein vollständige¬
res, zusammenhängenderes System von nütz¬
lichen, praktischen Begriffen inne haben,
als man sich zu Locke’s Zeiten mit dreiſsig
Jahren erwerben konnte. Die Spreu ist
besser von reinem Korn geschieden, und
wir genieſsen, wenigstens in gewisser Rück¬
sicht, die Frucht des Schweiſses von Jahr¬
tausenden. Unsere Frauenzimmer selbst fin¬
den es leicht und anmuthig, alle Gefilde
des Wissens zu durchstreifen, sie wie Gär¬
ten geschmückt zu sehen, und ihre Blumen
in einen Strauſs zusammenzubinden, den
man im bunten, gesellschaftlichen Kreise
nicht ohne Selbstgefallen jedem zur Erquik¬
kung darreichen kann. Wir wollen uns
über diese oberflächliche Weisheit nicht ent¬
rüsten; denn sie ist reeller, als man denkt,
und als es mürrische oder pedantische Sit¬
E 2[68] tenrichter zugeben mögen. Alles ist gewon¬
nen, wenn es zur Gewohnheit wird, die
Geisteskräfte zu beschäftigen und die Ver¬
nunft, die man dem gröſsten Theile des
Menschengeschlechts so lange und so gern
abgeläugnet oder auch wohl unmenschlich
entrissen hat, in ihrer Entwickelung überall
zu begünstigen. Nur der Geist, welcher
selbst denkt, und sein Verhältniſs zu dem
Mannichfaltigen um sich her erforscht, nur
der erreicht seine Bestimmung. Wie wir
anfingen, so endigen wir dann: durch die
Wirbel aller möglichen Zusammensetzun¬
gen hindurch, kehren wir, reich in uns
selbst und frei, zu der ursprünglichen Einfalt
zurück! —
Du weiſst, ich kenne auch die Rück¬
seite des schönen Gepräges, welches unsere
Einbildungskraft den Weltbegebenheiten auf¬
drückt; allein jede Ansicht hat nur Einen,
[69] ihr eigenen Gesichtspunkt, und wer ihn
verrückt, der hascht nach einem Schatten,
über welchen das Wesentliche selbst ihm
entgeht. Wenn wir uns am heitersten Früh¬
lingsmorgen des Lichtes freuen, dessen mil¬
der Strom den Himmel und die Erde ver¬
jüngt und Lebenswonne in der ganzen Schöp¬
fung anzündet — was kümmert uns der
Sonnenstich oder die Donnerwolke, die mög¬
lichen Folgen der Einwirkung jenes wohl¬
thätigen Elements in einen unvollkommenen,
ungleichartigen Planeten?
E 3[70]
IV.
Wir gingen in den Dom und blieben
darin, bis wir im tiefen Dunkel nichts mehr
unterscheiden konnten. So oft ich Kölln
besuche, geh ich immer wieder in diesen
herrlichen Tempel, um die Schauer des
Erhabenen zu fühlen. Vor der Kühnheit
der Meisterwerke stürzt der Geist voll Er¬
staunen und Bewunderung zur Erde; dann
hebt er sich wieder mit stolzem Flug über
das Vollbringen hinweg, das nur Eine Idee
eines verwandten Geistes war. Je riesen¬
mäſsiger die Wirkungen menschlicher Kräfte
uns erscheinen, desto höher schwingt sich
das Bewuſstseyn des wirkenden Wesens in
uns über sie hinaus. Wer ist der hohe
Fremdling in dieser Hülle, daſs er so in
mannichfaltigen Formen sich offenbaren, diese
[71] redenden Denkmäler von seiner Art die äuſse¬
ren Gegenstände zu ergreifen und sich an¬
zueignen, hinterlassen kann? Wir fühlen,
[Jahrhunderte] später, dem Künstler nach, und
ahnden die Bilder seiner Phantasie, indem
wir diesen Bau durchwandern.
Die Pracht des himmelan sich wölbenden
Chors hat eine majestätische Einfalt, die
alle Vorstellung übertrift. In ungeheurer
Länge stehen die Gruppen schlanker Säulen
da, wie die Bäume eines uralten Forstes:
nur am höchsten Gipfel sind sie in eine
Krone von Aesten gespalten, die sich mit
ihren Nachbaren in spitzen Bogen wölbt, und
dem Auge, das ihnen folgen will, fast uner¬
reichbar ist. Läſst sich auch schon das Un¬
ermeſsliche des Weltalls nicht im beschränk¬
ten Raume versinnlichen, so liegt gleichwohl
in diesem kühnen Emporstreben der Pfeiler
und Mauern das Unaufhaltsame, welches die
E 4[72] Einbildungskraft so leicht in das Gränzenlose
verlängert. Die griechische Baukunst ist un¬
streitig der Inbegrif des Vollendeten, Ueber¬
einstimmenden, Beziehungsvollen, Erlesenen,
mit einem Worte: des Schönen. Hier in¬
dessen an den gothischen Säulen, die, ein¬
zeln genommen, wie Rohrhalme schwanken
würden und nur in groſser Anzahl zu einem
Schafte vereinigt, Masse machen und ihren
geraden Wuchs behalten können, unter ihren
Bogen, die gleichsam auf nichts ruhen, luftig
schweben, wie die schattenreichen Wipfel¬
gewölbe des Waldes — hier schwelgt der Sinn
im Uebermuth des künstlerischen Beginnens.
Jene griechischen Gestalten scheinen sich
an alles anzuschlieſsen, was da ist, an alles,
was menschlich ist; diese stehen wie Er¬
scheinungen aus einer andern Welt, wie
Feenpalläste da, um Zeugniſs zu geben von
der schöpferischen Kraft im Menschen, die
[73] einen isolirten Gedanken bis auf das äuſserste
verfolgen und das Erhabene selbst auf einem
excentrischen Wege zu erreichen weiſs. Es
ist sehr zu bedauren, daſs ein so prächtiges
Gebäude unvollendet bleiben muſs. Wenn
schon der Entwurf, in Gedanken ergänzt,
so mächtig erschüttern kann, wie hätte nicht
die Wirklichkeit uns hingerissen!
Ich erzähle Dir nichts von den berüch¬
tigten heiligen Drei Königen und dem so¬
genannten Schatz in ihrer Kapelle; nichts
von den Hautelissetapeten und der Glasma¬
lerei auf den Fenstern im Chor; nichts
von der unsäglich reichen Ciste von Gold
und Silber, worin die Gebeine des heiligen
Engelberts ruhen, und ihrer wunderschönen
ciselirten Arbeit, die man heutiges Tages
schwerlich nachzuahmen im Stande wäre.
Meine Aufmerksamkeit hatte einen wichti¬
geren Gegenstand: einen Mann von der be¬
E 5[74] weglichsten Phantasie und vom zartesten
Sinne, der zum erstenmal in diesen Kreuz¬
gängen den Eindruck des Groſsen in der
gothischen Bauart empfand und bei dem
Anblick des mehr als hundert Fuſs hohen
Chors vor Entzücken wie versteinert war.
O, es war köstlich, in diesem klaren An¬
schauen die Gröſse des Tempels noch ein¬
mal, gleichsam im Widerschein, zu erblik¬
ken! Gegen das Ende unseres Aufenthalts
weckte die Dunkelheit in den leeren, ein¬
samen, von unseren Tritten wiederhallenden
Gewölben, zwischen den Gräbern der Kuhr¬
fürsten, Bischöfe und Ritter, die da in Stein
gehauen liegen, manches schaurige Bild der
Vorzeit in seiner Seele. In allem Ernste,
mit seiner Reizbarkeit und dem in neuen Bil¬
derschöpfungen rastlos thätigen Geiste möchte
ich die Nacht dort nicht einsam durch¬
wachen. Gewiſs entsetzest Du Dich schon
[75] vor dem bloſsen Gedanken, wie ihm selbst
davor graute.
Ich eilte mit ihm hinaus ins Freye, und
sobald wir unsern Gasthof erreicht hatten,
erwachte die beneidenswerthe Laune, womit
er, durchdrungen vom Genuſs der lieblichen
Natur, schon auf der ganzen Fahrt von
Koblenz her, die einförmigen Stunden uns
verkürzt hatte. Noch kann ich mir den
groſsen Zweifel nicht lösen, ob es befriedi¬
gender sei, Bilder des Wirklichen unmittel¬
telbar aus der umgebenden Weite zu schöp¬
fen, oder sie von zahllosen Anschauungen
bereits überallher gesammlet, erlesen, geord¬
net, zusammengesetzt, zu schönen Ganzen
vereinigt, aus einer reichen Menschenseele,
unserm Wesen schon mehr angeeignet, in
uns übergehen zu lassen? Beides hat seinen
eigenthümlichen Werth, und beides haben
wir seit unserer Abreise schon reichlich ge¬
[76] kostet. Lebendiger wirkt die unmittelbare
Gegenwart der beseelten Natur; tief und
scharf bestimmt und alle Verhältnisse er¬
schöpfend, graben sich die Bilder des Da¬
seyns, das unabhängig von dem Menschen,
ohne sein Zuthun ist und war und seyn
wird, ins Gedächtniſs ein. Dagegen gesellen
sich, von einer menschlichen Organisation
aufgefaſst, die mannichfaltigsten Formen aus
allen Welttheilen zugleich, aus der Vergan¬
genheit und — darf ich es sagen? — aus
der Zukunft, zum Gegenwärtigen, und ver¬
weben sich mit ihm zu einem die Wirklich¬
keit nachahmenden Drama. Wir selbst, ich
fühle es wenigstens, können nicht immer
so richtig, so ins Wesentliche eingreifend
empfangen, so die unterscheidenden Merk¬
male der Dinge uns selbst bewuſst werden
lassen, wie sie uns auffallen, wenn ein An¬
derer sie vom Auſserwesentlichen abgeschie¬
[77] den und in einen Brennpunkt vereinigt hat.
Zum Beweise brauchte ich nur an das
schwere Studium des so vielfältig und so
zart nüancirten Menschencharakters zu er¬
innern. Je feiner die Schattirungen sind,
wodurch sich so nahe verwandte Geschöpfe
unterscheiden, desto seltener ist sowohl die
Gabe der bestimmten Erkenntniſs, als die
Kunst der treuen Überlieferung ihres Un¬
terschiedes.
Der Genuſs eines jeden, durch die Em¬
pfindung eines Andern gegangenen und von
ihm wieder mitgetheilten Eindrucks setzt aber
eine frühere, wenn gleich unvollkommene
Bekanntschaft mit dem bezeichneten Gegen¬
stande in uns voraus. Ein Bild, wäre es
auch nur Umriſs, müssen wir haben, wor¬
in unsere Einbildungskraft die besonderen
Züge aus der neuen Darstellung übertragen
und ausmalen könne. Die bestimmte Ein¬
[78] pfänglichkeit des Künstlers für das Indivi¬
duelle erfordert daher, wenn sie recht ge¬
schätzt werden soll, einen kaum geringeren
Grad der allgemeinen Empfänglichkeit des
Kunstrichters: und die Seltenheit dieses Gra¬
des ist ohne Zweifel der Grund, weshalb
die höchste Stufe der Kunst, in allen ihren
Zweigen, so leicht verkannt werden, oder
auch beinahe gänzlich unerkannt bleiben
kann. Was der groſse Haufe an einem Ge¬
mälde, an einem Gedicht oder an dem Spiel
auf der Bühne bewundert, das ist es wahr¬
lich nicht, worauf die Künstler stolz seyn
dürfen; denn diesem Haufen genügt die
Täuschung, die ihm Erdichtetes für Wahres
unterschiebt; und wer weiſs nicht, wie viel
leichter sich Kinder als Erwachsene, gewöhn¬
liche Menschen als gebildete, täuschen las¬
sen? Darum kann auch nicht die Illusion,
als solche, sondern es muſs die ganze Voll¬
[79] kommenheit der Kunst der letzte Endzweck
des Künstlers seyn, wie sie allein der Ge¬
genstand der höchsten Bewunderung des
Kenners ist, der sich nicht mehr täuschen
läſst, auſser, wenn er mit dem feinen Epi¬
kurismus der Kultur eben gestimmt wäre,
im Beschauen eines Kunstwerks nur den
Sinn des Schönen zu befriedigen, und wenn
er auf das erhöhte, reflektirte Selbstgefühl,
welches aus der Erwägung der im Menschen
wohnenden Schöpferkraft entspringt, absicht¬
lich Verzicht thäte.
Was wäre aber die Kunst, was hätte
sie, hinweggesehen vom Sinnlichen, Erwek¬
kendes und Anziehendes für unsern den¬
kenden Geist, wenn es nicht diese, dem Na¬
turstoff, den sie bearbeitet, eingeprägte Spur
der lebendigwirkenden, umformenden Mensch¬
heit wäre? Das Siegel des Herrschers in
der Natur ist es eben, was wir an jedem
Kunstwerk, wie das Brustbild eines Fürsten
[80] auf seiner Münze, erblicken wollen; und
wo wir es vermissen, da ekelt die allzu¬
sklavisch nachgeahmte Natur uns an. Da¬
her hat jede Kunst ihre Regeln, ihre Me¬
thodik; eine wahrhafte Geistesschöpfung von
abgezogenen Begriffen liegt ihr zum Grunde,
nach welcher der Künstler im Materiellen
wirken, und der Richter ihn beurtheilen
muſs. Der metaphysische Reichthum, den
sich der Künstler aus unbefangenen An¬
schauungen der Natur erwarb, den er in
das System seiner Empfindungen und Ge¬
danken verwebte — den strömt er wieder
über alle seine Werke aus. So entstanden
der Apoll vom Belvedere, die mediceische
Venus, die Schule von Athen, die Aeneide,
der Mahomet; so bildeten sich Demosthe¬
nes und Cicero, und Molé und Garrick. Die
Ideale des Meiſsels und der Malerei, der
Dichtkunst und der Schauspielkunst finden
wir[81] wir sämmtlich auf dem Punkte, wo das
einzeln zerstreute Vortrefliche der Natur zu
einem Ganzen vereinigt, eine nach den Denk¬
formen unserer Vernunft mögliche, auch von
unserem Sinne zu fassende und sogar noch
sinnlich mittheilbare, aber in der lebendigen
Natur nirgends vorhandene Vollkommenheit
darstellt. Göttlichgroſs ist das Künstlergenie,
das den Eindrücken der Natur stets offen,
tief und innigunterscheidend empfindet, und
nach seiner innern Harmonie das Treffendste
vom Bezeichnenden, das Edelste vom Edlen,
das Schönste vom Schönen wählt, um die
Kinder seiner Phantasie aus diesen erlesenen
Bestandtheilen in Zauberformen zu gieſsen,
welche wahr in jedem einzelnen Punkt ihres
Wesens, und nur insofern der Mensch sie
vereinigte, liebliche Träume sind.
Nur das Gleichartige kann sich fassen.
Diesen Geist zu erkennen, der über die
I. Theil. F[82] Materie hinwegschwebt, ihr gebietet, sie zu¬
sammensetzt und schöner formt, bedarf es
eines ähnlichen prometheischen Funkens. Al¬
lein wie viele Stufen giebt es nicht zwischen
der Unwissenheit, die an einer Bildsäule nur
die Glätte des Marmors begaft, und dem
Genie, das mit unnennbarem Entzücken die
Phantasie Polyklets darin ahndet? Zwischen
jenem Landmanne, der sich scheute, die
Herren auf der Bühne zu behorchen, und
dem Hochbegabten, der in der Seele des
Schauspielers von einem Augenblick zum
andern den Ausdruck des Empfundenen von
der Urtheilskraft regieren sieht? Wenn
auch die allgemeine Bewunderung einem äch¬
ten Meisterwerke huldigt, so ist es darum
noch nicht ausgemacht, daſs gerade das Ei¬
genthümliche, was nur des Künstlers Gei¬
stesgröſse ihm geben konnte, den Sinn der
Menge hinreiſst. Wir ehren im unerreich¬
[83] baren Shakspeare den kühnsten Dichterflug
und den treffendsten Wahrheitssinn; was
dem Parterre und den Galerien in London
an seinen Schauspielen die höchste Befriedi¬
gung gewährt, dürfte leicht etwas anderes
seyn. Doch ich habe ja wohl eher sogar
den Kenner gesehn, der über Minervens
Helm Minerven selbst vergaſs! An einem
Gemälde Raphaels, wo seine hohe Ahndung
des Göttlichen aus den Gesichtszügen stralte,
sah ich einen groſsen Kunstlehrer Proportionen
bewundern! Befrage nur die wortgelehrten
Kommentatoren um die Schönheit römischer
und griechischer Dichter, wenn Du erstau¬
nen willst, daſs sie in der Wahl kurz- und
langsylbiger Wörter, in der Mischung der
Dialekte, in hundert Artigkeiten, wo Du sie
nie gesucht hättest, besteht! Laſs doch
Leute von Geschmack Dirs erklären, daſs
Göthens Iphigenia Dich entzückt, weil Eu¬
F 2[84]ripides zuerst eine schrieb! Und wenn
ein Hamlet, oder ein Lear, oder ein Mak¬
beth vor Dir auftritt, wie der Dichter selbst
sich nie träumen lieſs, daſs man sie dar¬
stellen könnte; so vernimm von einem Kunst¬
verständigen des Theaters den belohnenden
Ausruf seiner höchsten Zufriedenheit: er
hat sich treflich einstudirt.
Wahrlich! wäre fremde Anerkennung
des eigenhtümlichen Verdienstes der einzige
Lohn, um welchen der groſse Künstler ar¬
beiten möchte, ich zweifle ob wir dann je
ein Meisterwerk gesehen hätten. Ihn muſs
vielmehr, nach dem Beispiele der Gottheit,
der Selbstgenuſs ermuntern und befriedigen,
den er sich in seinen eigenen Werken be¬
reitet. Es muſs ihm genügen, daſs in Erz,
in Marmor, auf der Leinwand oder in
Buchstaben seine groſse Seele zur Schau
liegt. Hier fasse, wer sie fassen kann! Ist
[85] das Jahrhundert ihm zu klein; giebt es kei¬
nen unter den Zeitgenossen, der im Kunst¬
werke den Künstler, im Künstler den Men¬
schen, im Menschen den schöpferischen De¬
miurg erblickte, der eins im andern be¬
wunderte und liebte, und alles, den Gott
und den Menschen, den Künstler und sein
Bild, in den Tiefen seines eigenen verwand¬
ten Wesens hochahndend wiederfände: —
so führt doch der Strom der Zeiten endlich
das überbleibende Werk und die gleichge¬
stimmte Seele zusammen, die dieser groſse
Einklang füllt und in die lichte Sphäre der
Vollkommenheit entzückt!
Auf diesen Vortheil aber, möge er viel
oder wenig gelten, muſs derjenige Künstler
Verzicht thun, der weder im Materiellen
arbeitet, noch durch konventionelle Zeichen
sein Geisteswerk der Nachwelt überliefern
kann, weil er selbst sein eignes Kunstwerk
F 3[86] ist, weil in seiner persönlichen Gegenwart
die Aeuſserung alles dessen beschlossen liegt,
was er mit eigenthümlicher Sinneskraft In¬
dividuelles aus der Natur um ihn her auf¬
fassen, und mit dem lebendigmachenden Sie¬
gel seines Geistes stempeln konnte, weil end¬
lich mit ihm selbst seine Kunst und jede
bestimmte Bezeichnung ihres Werthes stirbt.
Der Natur den Menschen nachzubilden, nicht
bloſs seine körperlichen Verhältnisse, son¬
dern auch die zarteren Spuren des in seiner
Organisation herrschenden Geistes so hinzu¬
stellen, daſs sie in unserer Phantasie Ein¬
gang finden: dieses schöne Ziel der Kunst
erreicht sowohl der Dichter als der Bildner,
ein jeder auf seinem besondern Wege. Doch
den Bildern eignes Leben einzuhauchen, ih¬
nen gleichsam eine Seele zu leihen, die mit
der ganzen Kraft ihrer Verwandtschaft in uns
wirkt; dies vermag nur der Schauspieler, in¬
[87] dem er seine eigenen Züge, seinen Gang
und seine Stimme, seinen ganzen Körper mit
seiner Lebenskraft in das Wesen, das er
uns mittheilen will, hineinträgt, indem er
sich mit diesem Ideal, das er zuvor sich aus
der Natur abzog, identificirt, und vor unsern
Augen mit dem Charakter auch die Hand¬
lungsweise, die ganze Aeuſserungsart, ja
sogar die Gestalt eines Andern annimmt.
Wenn nun die Schöpfungen anderer Künst¬
ler nach Jahrtausenden noch bestehen und
eben das wirken, was sie neu aus der Hand
des Meisters wirkten; so ist hingegen die
Empfänglichkeit, die Sonderungsgabe, die
bildende Energie des groſsen Schauspielers,
die nicht langsam und allmälig an ihrem
Werke fortarbeitet, bessert, ändert, vervoll¬
kommnet, sondern im Augenblick des Em¬
pfangens schon vollendete Geburten in ihm
selbst offenbart, auf die bestimmteste Weise
F 4[88] nur für das Gegenwärtige berechnet. So
glänzend ist der Anblick dieses Reichthums
in Eines Menschen Seele, so hinreiſsend das
Talent ihn auszuspenden, daſs seine Ver¬
gänglichkeit kaum befremdet. Man erinnert
sich an jene prachtvollen Blumen, deren
Fülle und Zartheit alles übertrift, die in
einer Stunde der Nacht am Stängel der
Fackeldistel prangen und noch vor Sonnen¬
aufgang verwelken. Dem so zart hinge¬
hauchten Leben konnte die Natur keine
Dauer verleihen; und — sie warf es in un¬
fruchtbare Wildnisse hin, sich selbst genü¬
gend, unbemerkt zu verblühen, bis etwa ein
Mensch, wie ich das Wort verstehe, das
seltenste Wesen in der Schöpfung, es findet
und der flüchtigen Erscheinung genieſst!
Es reicht über den Kreis des Dilettan¬
ten hinaus, der Humanität des Künstlers
ein Denkmal zu errichten, wenn diese Be¬
[89] geisterung, wozu sein Anblick erwecken
konnte, nicht etwa die Stelle vertritt. Du
kennst ihn schon; es ist unser J. Du wirst
ihn sehen und ihm danken; das ist des
Kommens werth!
F 5[90]
V.
Das finstre, traurige Kölln haben wir recht
gern verlassen. Wie wenig stimmt das In¬
nere dieser weitläuftigen, aber halb entvöl¬
kerten Stadt mit dem vielversprechenden
Anblick von der Fluſsseite überein! Unter
allen Städten am Rhein liegt keine so üppig
hingegossen, so mit unzähligen Thürmen
prangend da. Man nennt sowohl dieser
Thürme, als überhaupt der Gotteshäuser
und Altäre, eine so ungeheure Zahl, daſs
sie meinen Glauben übersteigt. Gleichwohl
ist neben so vielen kein Plätzchen übrig, wo
die Christen, die den Pabst nicht anerken¬
nen, ihre Andacht frei verrichten dürften.
Der Magistrat, der den Protestanten bereits
die freie Religionsübung innerhalb der Ring¬
mauern bewilligt hatte, muſste seine Erlaub¬
niſs kürzlich wieder zurücknehmen, weil
[91] der Aberglaube des Pöbels mit Aufruhr,
Mord und Brand drohte. Dieser Pöbel, der
beinahe die Hälfte der Einwohner, also ei¬
nen Haufen von zwanzigtausend Menschen
ausmacht, hat eine Energie, die nur einer
bessern Lenkung bedürfte, um Kölln wieder
in einiges Ansehen zu bringen. Traurig
ist es freilich, wenn man auf einer Strecke
von beinahe dreiſsig deutschen Meilen so
manche zum Handel ungleich vortheilhafter
als Frankfurt gelegene Stadt erblickt, und
es sich nun nicht länger verbergen kann,
daſs mehr oder weniger eben dieselben Ur¬
sachen überall dem allgemeinen Wohlstande
kräftigst entgegen gewirkt haben, der sich
nur in Frankfurt entwickeln konnte.
In Kölln sollen viele reiche Familien
wohnen; allein das befriedigt mich nicht,
so lange ich auf allen Straſsen nur Schaaren
von zerlumpten Bettlern herumschleichen
[92] sehe. So oft ich hingegen nach Frankfurt
komme, weide ich mich mit herzlichem Ge¬
nuſs am Anblick des gemeinen Mannes, der
fast durchgehends geschäftig, reinlich, und
anständig gekleidet ist. Der Fleiſsige, der
seine Kräfte rechtschaffen anstrengt, um her¬
nach seines Erwerbes froh zu werden, ihn
mit den Seinigen zu theilen, regelmäſsig mit
ihnen einfache, gute Kost zu genieſsen, und
mit ganzem Rock zu erscheinen — dieser
Arbeitsame ist unstreitig sittlicher, gesunder
und glücklicher, als der Müſsiggänger; er
ist ein Mensch, wo dieser nur ein Thier,
und zwar mit menschlichen Anlagen ein
desto gefährlicheres Thier ist. Bekanntlich
geht die Unsittlichkeit der Bettler in Kölln
so weit, daſs sie den Müſsiggang systema¬
tisch treiben und ihre Plätze an den Kirch¬
thüren erblich hinterlassen oder zum Hei¬
rathsgut ihrer Töchter schlagen. In der
[93] Osterwoche ist es gebräuchlich, daſs die Ar¬
men, die sich schämen öffentlich zu betteln,
in schwarze Kittel vermummt und mit einem
Flor über dem Gesicht, auf die Straſse gehen,
niederknieen, den Rosenkranz beten und
die Vorübergehenden um Almosen anrufen.
Man nennt diese Leute hier mit einem eigenen
Namen Kappengecken, und ihr widerlicher
Aufzug ist so auffallend, daſs die halbnackten
Straſsenkinder ihre zerrissenen Hemdchen sich
über den Kopf schlagen, um ihnen diese
Mummerei nachzumachen.
Wer begreift nicht, daſs die zahlreiche
Bande von sitten- und gewissenlosen Bettlern,
die auf Kosten der arbeitenden Klasse leben,
hier den Ton angeben muſs? Allein da sie
träge, unwissend und abergläubisch ist, wird
sie ein Werkzeug in der Hand ihrer theils
kurzsichtigen, sinnlichen, theils ränkevollen
herrschbegierigen Führer. Die Geistlichen
[94] aller Orden, die hier auf allen Wegen wim¬
meln, und deren ungeheure Menge auf ei¬
nen Reisenden immer einen unangenehmen
Eindruck macht, könnten zur Moralität die¬
ser rohen, ungezügelten Menge auf das heil¬
samste wirken, könnten sie zum Fleiſs, zur
Ordnung anführen, und ihnen billige Ge¬
sinnungen gegen ihre anders denkenden Mit¬
bürger, ein Gefühl von Ehre und Schande,
von Eigenthum und Recht einimpfen. Dies
und noch weit mehr könnten, sollten sie
thun, da sich ihr Stand nur durch diese
Verwendung für das gemeine Beste zur Exi¬
stenz legitimiren kann. Allein sie thun es
nicht und — sind! Die Bettlerrotten sind
ihre Miliz, die sie am Seil des schwärzesten
Aberglaubens führen, durch kärglich gespen¬
dete Lebensmittel in Sold erhalten, und
gegen den Magistrat aufwiegeln, sobald er
ihren Absichten zuwider handelt. Es ist
[95] wohl niemand so unwissend, daſs er noch
fragen könnte, wer den Pöbel gereizt habe,
sich der Erbauung eines protestantischen
Gotteshauses zu widersetzen?
So eben sind auch von der Köllnischen
Klerisei an ihren Kuhrfürsten Vorstellungen
ergangen, worin er im Namen der ächten,
rechten Lehre aufgefordert wird, dem Pro¬
fessor der Philosophie in Bonn den Ge¬
brauch des Federschen Handbuchs bei sei¬
nen Vorlesungen zu untersagen. Unter an¬
dern Argumenten, heiſst es in ihrer Schrift,
daſs Feder von den Protestanten selbst für
heterodox gehalten werde; eine Behauptung,
die im protestantischen Deutschland uner¬
hört ist, da es schon im Wesen des Pro¬
testantismus liegt, daſs darin die verab¬
scheuungswürdigen Unterschiede von Ortho¬
doxie und Heterodoxie gar nicht statt fin¬
den können. Wie es scheint, erlaubt man
[96] sich also in Kölln den Grundsatz, daſs ge¬
gen den Feind alle Vortheile gelten; und
in einer Sache, wo es keinen haltbaren Grund
giebt, in der Sache geistlicher Verfolgungs¬
sucht, ist freilich das schlechteste Argument
so viel werth, wie jedes andere, sobald man
es nur geltend machen kann. Der Gewis¬
senhafte, der sich bemüht, der strengen
Wahrheit und der Vernunft treu zu bleiben,
kommt gegen einen Widersacher nicht auf,
welcher wissentlich zu täuschen und zu
übertäuben sucht, und zu seinem Zwecke
alle Mittel für erlaubt hält.
Die Zeiten, sagt man, sind vorbei, da
der Scholastiker fragen durfte, was Aristo¬
teles von diesem oder jenem Geheimnisse
der katholischen Lehre, zum Beispiel, von
der Jungfrauschaft der Mutter Gottes, ge¬
halten habe? Ich hingegen behaupte, daſs
diese Zeiten nie ganz aufhören können, so
lange[97] lange es kein Mittel giebt, den Menschen
Ehrfurcht gegen das Edelste, was ihrer Na¬
tur zum Grunde liegt, gegen ihre eigene
Vernunft, einzuflöſsen. Wo diese Ehrfurcht
fehlt, da wird man sich immerfort Unge¬
reimtheiten erlauben, da wird man, sobald
politische Verhältnisse es gestatten, intole¬
rant seyn, und die Gewissen mit Zwang
beherrschen wollen. Wenn nicht diese ver¬
kehrte Herrschbegierde die Triebfeder der
widersprechendsten Aeuſserungen wäre, so
müſste man sich ja wundern, wie es nur
möglich ist, daſs irgend einer Geistlichkeit
nicht alle philosophische Lehrbücher höchst
gleichgültig seyn sollten. Die Philosophie
muſs sich schlechterdings nur auf das Begreif¬
liche, auf das Erweisliche einschränken; da
hingegen die Theologie unbegreifliche Myste¬
rien lehrt, welche nicht demonstrirt, sondern
geglaubt werden müssen, vermittelst eines
I. Theil. G[98] Glaubens, der die unbedingte Gabe der Gott¬
heit ist. Soll man nun doch das Unbegreifliche
demonstriren, das heißt, begreiflich machen?
Einen platteren Widerspruch giebt es nicht.
Wie mag es aber wohl kommen, daß
man heutiges Tages zu solchen Widersprü¬
chen seine Zuflucht nimmt? So viel ich
sehe, liegt eben darin ein auffallender Be¬
weis der Schwäche, deren sich die Herren
bewußt seyn müssen. Wenn man versinken
will, hascht man begierig auch nach dem
Strohhalm, der doch niemanden retten kann.
Ehedem verfuhren sowohl die weltlichen als
die kirchlichen Despoten ganz anders. Sie
ließen es ihre geringste Sorge seyn, die
Vernunft mit ihren Aussprüchen in Har¬
monie zu bringen, brauchten Gewalt, wo
sie ihnen in die Hände fiel, und erstickten
dann die Keime des Denkens. Aber hier
und dort ist ihnen ein Samenkörnchen ent¬
[99] gangen und zu einem schönen Baume auf¬
gesproſst, unter dessen Schatten sich die
Völker schon sammeln. Mit Schrecken und
Abscheu bebt man bereits vor Jedem zu¬
rück, der unsere freie Willkühr, es sei
worin es wolle, beschränken möchte, und
am allermeisten vor Dem, der ein Interesse
hat, etwas Unbegreifliches als positive Wahr¬
heit anerkannt zu wissen. Ein Mensch kann
dem andern nicht gebieten, was er thun
soll, als in sofern dieser es für gut findet,
sich befehlen zu lassen; wie viel widerrecht¬
licher also, wenn jemand gebieten will,
was man glauben soll, und denen, die
das Gebotene nicht glauben können oder
nicht glauben wollen, die Rechte schmä¬
lert, die ein Mensch dem andern nicht
nehmen darf, die ein Bürger dem andern
garantirt! In dieser Lage der Sachen ist es
so befremdend nicht, daſs man itzt einen
G 2[100] letzten Versuch macht, ob man nicht noch
die angehenden Denker selbst durch ein
Gewebe von betrüglichen Schlüssen hinter¬
gehen und einfangen könne. Allein die Ver¬
nunft rächt sich an denen, die sie so lange
verachteten und verfolgten; und wenn je¬
mand mit der Demonstrationsmethode, die
im vorigen Jahrhundert noch gut genug war,
jetzt auftritt, so nimmt er sich ungefähr so
aus, wie ein Kind, das einen Erwachsenen
mit eben dem Popanz schrecken will, vor
welchem seine Spielkameraden liefen.
Das sicherste Zeichen eines zerrütteten,
schlecht eingerichteten, kranken Staats hat
man immer daran, wenn er eine groſse
Menge Müſsiggänger nährt. Der Fleiſsige,
der die Früchte seines Schweiſses mit diesen
Raubbienen theilen muſs, kann sich endlich
des Gedankens nicht erwehren, daſs man
die unbilligste Forderung an ihn thut, in¬
[101] dem man seiner Redlichkeit die Strafe auf¬
erlegt, die eigentlich strafwürdigen Faullen¬
zer zu füttern. Die natürliche, unvermeid¬
liche Folge dieser Reflexion ist, wenn man
sich zu schwach fühlt dem Übel abzuhelfen,
eine tödtliche Gleichgültigkeit gegen das ge¬
meine Beste, gegen die Verfassung selbst.
Welcher Staat kann public spirit von seinen
Bürgern erwarten, wenn er sie miſshandelt?
Es ist gleichviel, ob ein Despot oder eine
Horde von Bettlern die Freiheit des arbeit¬
samen, tugendhaften Bürgers vernichtet;
diese Ungerechtigkeit muſs der Staat allemal
büſsen. Aus gleichgültigen, kalten Mitglie¬
dern des Ganzen werden die Hintangesezten
und Gedrückten bald auch zu moralisch
schlechteren Menschen. Das Beispiel steckt
an, und gegen die Übermacht gewissenloser
Müſsiggänger scheinen Betrug und List und
Ränke ihnen bald die erlaubteste und si¬
G 3[102] cherste Gegenwehr. Was die Bettler auf
der einen Seite rauben, das müssen Betro¬
gene auf der anderen Seite wieder ersetzen.
Auf diese Art schleicht unvermerkt das Gift
der Sittenlosigkeit durch alle Stände, und
verderbt endlich die ganze Masse. Die
Vernunft wird entbehrlich, wo die Begriffe
von Recht und Billigkeit dem Eigennutze
weichen müssen; Alles versinkt in jene
sinnliche Abspannung, die das Laster un¬
vermeidlich macht und bei den nachfolgen¬
den Krämpfen des Gewissens dem lauern¬
den Aberglauben gewonnenes Spiel giebt.
Nirgends erscheint der Aberglaube in ei¬
ner schauderhafteren Gestalt als in Kölln.
Jemand, der aus unserm aufgeklärten Mainz
dahin kommt, hat in der That einen peini¬
genden Anblick an der mechanischen An¬
dacht, womit so viele tausend Menschen
den Müſsiggang zu heiligen glauben, und an
[103] der blinden Abgötterei, die der Pöbel hier
wirklich mit Reliquien treibt, welche den
ächten Religionsverehrern unter den Katho¬
liken selbst ein Ärgerniſs geben. Wenn die
Legende von den elftausend Jungfrauen auch
so wahr wäre, wie sie schwer zu glauben
ist, so bliebe doch der Anblick ihrer Kno¬
chen in der Ursulakirche darum nicht min¬
der scheuſslich und empörend. Allein, daſs
man die Stirne hat, dieses zusammengeraffte
Gemisch von Menschen- und Pferdeknochen,
welches vermuthlich einmal ein Schlachtfeld
deckte, für ein Heiligthum auszugeben, und
daſs die Köllner sich auf diese Heiligkeit todt¬
schlagen lassen, oder, was noch schlimmer
ist, den kühnen Zweifler selbst leicht ohne
Umstände todtschlagen könnten: das zeugt
von der dicken Finsterniſs, welche hier in
Religionssachen herrscht. Es wäre wohl
einer gründlichen Nachforschung werth, ob
G 4[104] es sich bestimmen lasse, welche Ursachen
in verschiedenen Ländern dieselbe Religion
so umbilden, daſs sie in ihren Wirkungen
auf den Charakter der Einwohner sich nicht
mehr gleich bleibt. Warum herrscht zum
Beispiel in Kölln ein schwarzgallichter Fa¬
naticismus in der Andacht, in Rom hingegen
Leichtsinn und heitere Freude? Sind es die
niederländischen Nebel und die lauen, ge¬
stirnten Nächte Italiens, welche diesen Un¬
terschied bemerkbar machen? oder steckt es
schon von undenklichen Zeiten her im ita¬
lienischen und im deutschen Blute, daſs jenes
den Zauber der erhöheten Sinnlichkeit über
alle Gegenstände verbreitet, dieses aber selbst
eine Religion, welche so lebhaft auf die
Sinne wirkt, finster und menschenfeindlich
machen kann? Ich gestehe, daſs ich viel
auf die Einwirkung eines milden Himmel¬
striches halte; und so auffallend der Unter¬
[105] schied zwischen dem niedrigen Bettler in
Kölln und dem edleren Lazarone in Neapel
ist, rechne ich ihn doch gröſstentheils auf
die klimatische Verschiedenheit ihres Aufent¬
halts. In Italien entwickelt schon allein das
Klima den gesunden Menschenverstand; wer
dort faullenzt, der ist, nach Mrs. Piozzi’s
Bemerkung, nur nicht hungrig. Sobald ihn
hungert, greift er zur Arbeit, weil sein Ver¬
stand ihn dieses Mittel als untrüglich ein¬
sehen läſst. Hingegen versuch’ es jemand,
dem Pöbel in Kölln von Arbeit zu sprechen!
Wir besahen in der St. Peterskirche zu Kölln
die berühmte Kreuzigung Petri von Rubens.
Wenn ich nichts Anderes von diesem Meister
gesehen hätte, so würde mich dieses Stück
nicht in Versuchung führen, allzuvortheil¬
haft von ihm zu urtheilen. Die ganze Figur
des Apostels ist sehr verzeichnet, und eine
richtige Zeichnung konnte doch bei einem
G 5[106] so ekelhaften, das Gefühl so sehr beleidi¬
genden Gegenstande, noch das einzige Ver¬
dienst bleiben. Der Heilige wird hier ans
Kreuz genagelt, und — nun denke Dir die
Abscheulichkeit! — damit seine Henker be¬
quemer zu den Füſsen kommen können, steht
das Kreuz mit dem Kopf zu unterst; die
Leiden des Gemarterten sind folglich um so
viel fürchterlicher. Hilf Himmel, welch ein
ästhetisches Gefühl hat so mancher geprie¬
sene Künstler gehabt! Sind das Gegenstände,
die eine Abbildung verdienen? Gegenstände,
die ich in der Natur nicht sehen möchte!
Doch wir sind jetzt in der Nähe der schönen
Galerie; morgen will ich Dich von der
Kunst unterhalten.
Welch ein himmelweiter Unterschied zwi¬
schen Kölln und diesem netten, reinlichen,
wohlhabenden Düsseldorf! Eine wohlgebaute
Stadt, schöne massive Häuser, gerade und
[107] helle Straſsen, thätige, wohl gekleidete Ein¬
wohner; wie erheitert das nicht dem Rei¬
senden das Herz! Vor zwei Jahren lieſs der
Kuhrfürst einen Theil der Festungswerke
demoliren, und erlaubte seinen Unterthanen
auf dem Platze zu bauen. Jetzt steht schon
eine ganze neue Stadt von mehreren langen,
nach der Schnur gezogenen Straſsen da;
man wetteifert mit einander, wer sein Haus
am schönsten, am bequemsten bauen soll;
die angelegten Kapitalien belaufen sich auf
sehr beträchtliche Summen, und in weni¬
gen Jahren wird Düsseldorf noch einmal so
groſs als es war, und um vieles prächtiger
seyn. Wer doch das Geheimniſs einer gu¬
ten Staatsverwaltung wüſste, damit er sagen
könnte, wie sich in den Herzogthümern Jü¬
lich und Berg so groſse Reichthümer häuf¬
ten, wie die Bevölkerung daselbst so stark,
und der Wohlstand der Einwohner gleich¬
[108] wohl so allgemein ward, daſs die kleinern
Städtchen nicht minder wohlhabend sind, als
die Hauptstadt; daſs der Anbau auf dem
platten Lande denselben Geist der guten
Wirthschaft. denselben Fleiſs zeigt, wie die
Fabriken; daſs man hier so leicht den Weg
zu einer glücklichen Existenz finden lernte,
der anderwärts so schwer zu treffen scheint? —
Ich fange an zu glauben, dieses Geheimniſs
sei einfacher als man denkt; es ist das Ei
des Kolumbus, und wenn man es weiſs,
kann man sich kaum bereden, daſs nicht
mehr dahinter war, ja, man ärgert sich
wohl, daſs man nicht von selbst darauf fiel.
Die ganze Kunst besteht darin, daſs der
Regent sich der verderblichen Spiegelfech¬
terei, die man gewöhnlich, obwohl mit Un¬
recht, regieren nennt, zu rechter Zeit zu
enthalten wisse, und sein Volk mit den ge¬
priesenen Regentenkünsten verschone, wor¬
[109] auf sich mancher so viel zu gute thut, und
womit er sich das Ansehen der einzigen
Seele in der groſsen Staatsmaschine giebt.
Es gehört ein entschiedenes Maaſs von gu¬
tem Willen und ein etwas seltener, selbst
bei guten Menschen, wenn sie Macht in
Händen haben, ungewöhnlicher Grad der
Selbstverläugnung dazu, um nicht zur Un¬
zeit wirken zu wollen, und sich lediglich
darauf einzuschränken, die Hindernisse aus
dem Wege zu räumen, welche der freien,
willkührlichen, unbedingten Thätigkeit eines
jeden Bürgers im Staate entgegen stehen.
Die Einsicht des Regenten sei noch so vor¬
treflich; sobald er es nach derselben ver¬
sucht, die Menschen auf einem Wege, den
sie selbst sich nicht wählten, vor sich hin
zu treiben: sobald erfährt er auch, daſs die
eigenen Lebenskräfte in seiner Staatsmaschine
stocken oder schlafen, und die Wirkung
[110] schlechterdings nicht hervorbringen, die er¬
folgt seyn würde, wenn er nicht den ver¬
wandten Geist in jedem seiner Brüder ver¬
kannt und zu einer ungeziemenden Knecht¬
schaft verurtheilt hätte. Es ist wahr, die
Summe des Guten, das in der Welt ge¬
schieht, ist immer unter unserer Erwartung,
aber sicherlich ist sie da die kleinste, wo
man sich vorsetzt, eine gröſsere zu erzwin¬
gen. Durch das Übermaaſs alles Positiven,
versündigen sich die Regierungsformen an
dem Menschengeschlechte. Durch die ins
Unendliche vervielfältigten Gesetze und lan¬
desherrlichen Verordnungen, so gut es oft
damit gemeint seyn mag, und durch jene,
von Schmeichlern und Parasiten so geprie¬
sene Kleingeisterei der Fürsten, die mit un¬
ermüdeter Sorgfalt in eines jeden Bürgers
Topf gucken, oder gar sich um seine Pri¬
vatmeinungen und Gedanken bekümmern,
[111] richten die Regenten allmälig, ohne es selbst
zu wollen, ihre Staaten zu Grunde, indem
sie die freie Betriebsamkeit des Bürgers hem¬
men, mit welcher zugleich die Entwickelung
aller Geistesfähigkeiten aufhört.
Eine Viertelstunde von hier besuchten
wir ein Mönchskloster. Es giebt nur wenig
ähnliche Klöster in der Welt; denn die
Mönche folgen der strengen Regel der in
Frankreich so berühmten Abtei la Trappe.
Zu unserer Verwunderung fing der erste,
den wir erblickten, sogleich an mit uns zu
sprechen, und erzählte uns, das Gelübde
des Stillschweigens sei gänzlich aufgehoben.
Dem guten Manne schien aber das Spre¬
chen, dessen er so lange entwohnt gewesen
war, nicht leicht zu werden. Ehedem hielt
man mit einer unglaublichen Strenge auf
dieses Verbot. Ein Officier, der einst einen
dieser Mönche nach dem Wege fragte, und
[112] keine Antwort auf wiederholtes Anfragen
erhielt, hätte den armen Büſser beinahe mit
Schlägen ums Leben gebracht, ohne einen
Laut aus ihm hervorzubringen. In Frank¬
reich brannte das ganze Kloster ab, und
keiner von den Brüdern brach das heilige
Stillschweigen. Die Aufhebung desselben ist
nur ein Vorläufer der gänzlichen Aufhebung
des Ordens selbst. Schon lange konnte er
keine Novizen mehr bekommen; man scheute
die allzustrenge Regel. Mit dem Aussterben
dieser Mönche wird indeſs dem Staate kein
groſser Gewinn zufallen, da sie so eben ihre
Kapitalien zur Erbauung einer neuen Kirche
und eines neuen Klostergebäudes verwendet
haben. Ungeachtet sie kein Fleisch essen,
werden sie doch bei ihrer stillen, unthätigen
Lebensweise, welche die Kräfte des Geistes
fast gänzlich schlummern läſst, recht alt, und
sind fast durchgehends wohlbeleibt. Unser
Füh¬[113] Führer war über achtzig Jahr alt, und sah
wenigstens zwanzig Jahr jünger aus. Auf
seinem übrigens sehr gutmüthigen Gesichte,
war die Leere des Gedächtnisses, die Ar¬
muth des Ideenvorraths, unverkennbar. Was
ist nun besser: einige Runzeln mehr und
einen durch Übung gebildeten, durch Erfah¬
rung und Thätigkeit bereicherten Geist zu
Grabe zu nehmen, oder sorglos, ohne Lei¬
denschaften, ohne Geistesgenuſs, in stiller
Andacht hinzubrüten und zuletzt ganz sanft
in seinem Fette zu ersticken? Wähle sich
ein jeder, was ihm frommt; ich weiſs, daſs
diese Existenz und dieses Ende keinen Reiz
für den haben, der schon das bessere Loos
der Menschen kannte:
VI.
Heute weideten wir uns drei Stunden lang
an der hiesigen vortreflichen Galerie. Gern
nahm ich der Gelegenheit wahr, sie zum
fünftenmal in meinem Leben zu sehen, die
Eindrücke von so manchem Denkmal des
Kunstgenies und des Kunstfleiſses aufzufri¬
schen, und vor allem an ein paar göttlichen
Werken einer seelenvollen Phantasie, ein
paar Lieblingsbildern, die stets gesehen, den¬
noch immer neu bleiben, und immer neuen
Genuſs gewähren, meine Augen und meinen
Sinn zu erquicken. Du erwartest von mir
weder eine Beschreibung noch ein Verzeich¬
niſs von diesem unschätzbaren Vorrath erle¬
sener Meisterwerke. Weder ein trockner
Katalog, eine mühsame Aufzählung aller ein¬
zelnen Stücke, mit den Namen der Meister,
noch selbst die treueste wörtliche Beschrei¬
[115] bung dieser Gegenstände, deren Werth
bloſs durch die Sinne empfunden werden
kann, würde mich von dem Vorwurf der
gemiſsbrauchten Geduld retten. Wo ist die
Gemäldesammlung, von der man nicht nur
vollständige, sondern sogar sogenannte raison¬
nirte Verzeichnisse hat, die mit Kunst¬
wörtern fleiſsig ausstaffiert, mit Lobeserhe¬
bungen und nachgebeteter Verehrung man¬
ches berühmten Künstlernamens angefüllt
sind?
Das Vergnügen, welches man bei dem
Anblick eines Kunstwerkes empfindet, wird
dadurch geschärft, daſs man die aus der
Geschichte und Mythologie entlehnten Sub¬
jekte schon kennt, und die Ausführung des
Künstlers, seine Wahl des rechten Gefühl¬
ergreifenden Augenblicks, sein Studium der
Natur in Zeichnung, Charakteristik, Stel¬
lung, Farbe, Beleuchtung und Kleidung der
H 2[116] dargestellten Personen dagegen halten kann.
Allein von allem, was während dieses An¬
schauens und Vergleichens in uns vorgeht,
läſst sich dem Abwesenden mit Worten we¬
nig mittheilen, was seiner Einbildungskraft
behülflich seyn könnte, sich ein ähnliches
Phantom des Kunstgebildes zu entwerfen.
Die reiche Phantasie hat hier den Vortheil
vor der ärmeren, daſs sie schon viele Bil¬
der in sich faſst, auf die man sich bezie¬
hen, mit denen man das Gesehene verglei¬
chen und solchergestalt sie in Stand setzen
kann, sich eine lebhafte bildliche Vorstel¬
lung eines nie erblickten Gegenstandes zu
vergegenwärtigen. Denn, was mein Auge
unmittelbar vom Gegenstande empfing, das
giebt keine Beschreibung dem Andern wie¬
der, der nichts hat, womit er mein Objekt
vergleichen kann. Der Botaniker beschreibe
Dir die Rose in den gemessensten Ausdrücken
[117] seiner Wissenschaft; er benenne alle ihre
kleinsten Theile, bestimme deren verhältniſs¬
mäſsige Gröſse, Gestalt, Zusammenfügung,
Substanz, Oberfläche, Farbenmischung; kurz,
er liefere Dir eine so pünktlich genaue Be¬
schreibung, daſs sie, mit dem Gegenstande
selbst zusammengehalten, nichts zu wünschen
übrig läſst: so wird es Dir, wenn Du noch
keine Rose sahst, doch unmöglich seyn, ein
Bild daraus zu schöpfen, das dem Urbild
entspräche; auch wirst Du keinen Künstler
finden, der es wagte, nach einer Beschrei¬
bung die nie gesehene Blume zu zeichnen.
Ein Blick hingegen, eine einzige Berührung
durch die Sinnesorgane; und das Bild ist
auf immer seiner Phantasie unauslöschlich
eingeprägt. Was ich hier sage, gilt in einem
noch höheren Grade von Dingen, die man
vergebens in Worte zu kleiden versucht. Das
Leben ist ein Proteus, der sich tausendfältig
H 3[118] verschieden in der Materie offenbart. Wer
beschreibt das unnenbare Etwas, wodurch
in demselben Auge, bald stärker, bald ge¬
dämpfter, das inwohnende geistige Wesen
hervorstralt? Gleichwohl fassen wir mit den
Sinnen diese zarten Schattirungen, und der
Künstler selbst vermag ihr Gleichniſs in sei¬
nen Werken darzustellen, sobald er sie scharf
ergriffen, in seine Phantasie getragen hat.
Ich möchte gern noch ein wenig länger
umherschweifen, um desto eher zum Ziele
zu kommen. Vergleichen, Aehnlichkeiten
und Unterschiede bemerken, ist das Geschäft
des Verstandes; schaffen kann nur die Ein¬
bildungskraft, und in dem Objektiven sich
selbst genieſsen nur jene reine, innere Em¬
pfänglichkeit des Herzens, die ich, in der
höheren, eigentlichen Bedeutung des Wortes,
den Sinn nenne. Wir geben uns das Maaſs
unserer Kraft nicht selbst, mehren und min¬
dern es nicht, bestimmen nicht einmal die
[119] Art ihrer Aeuſserung. Die Spontaneität un¬
seres Wesens, vermittelst deren wir empfin¬
den, ist die gemeinste; sie ist sogar eine
thierische Eigenschaft, und beide, die Phan¬
tasie sowohl als der Verstand, setzen den
Sinn voraus, ohne welchen sie leer und
unwirksam blieben. Auch die Einbildungs¬
kraft hat man, wie mich dünkt mit Recht,
den Thieren in gewissem Grade zuerkannt,
und daher der Urtheilskraft einen wesent¬
lichen Vorzug vor ihr eingeräumt. Auf
eine Rangstreitigkeit der Seelenkräfte wollen
wir uns hier nicht einlassen, wenn man nur
zugesteht, daſs oft mit vieler Einsicht äuſserst
wenig Phantasie verbunden ist, hingegen die
höchste, schöpferische Energie des Geistes,
der metaphysische Bildungstrieb, wenn ich
ihn so nennen darf, welcher neue Wesen
hervorbringt, ohne Phantasie sich nicht den¬
ken läſst.
H 4[120]
Auf Verstand und Phantasie wirkt man
aber weit öfter durch die Empfindung, als
umgekehrt. Wenn wir zum eigenen Her¬
vorbringen zu kraftlos, zum Urtheilen und
Vergleichen zu träge sind, dann genieſsen
wir noch durch die Berührung verschieden¬
artiger Gegenstände, die auch ohne unser
deutliches Bewuſstseyn ihre Grade der phy¬
sischen Uebereinstimmung oder des Miſsver¬
ständnisses mit uns haben, uns anziehen
oder abstoſsen, angenehm oder widrig auf uns
wirken. Mittelbar, durch die Sprache, kön¬
nen sogar diese Empfindungen von Herz zu
Herz sich fortpflanzen; dies beweiset insbe¬
sondere der Reiz, den Romane, Gedichte
und andere leichte, unterhaltende Schriften
für den gröſsten Theil der Lesewelt haben,
und die Erschütterung, welche die darin
geschilderten Empfindungen so allgemein ver¬
ursachen. Diese Vorausſetzungen scheinen
[121] mir auf die Kunst anwendbar; und meines
Erachtens erreicht man besser seinen End¬
zweck, indem man wieder erzählt, was man
bei einem Kunstwerke empfand und dachte,
also, wie und was es bewirkte, als wenn
man es ausführlich beschreibt. Bei einer
noch so umständlichen Beschreibung bedarf
man einer höchstgespannten Aufmerksamkeit,
um allmälig, wie man weiter hört oder
liest, die Phantasie in Thätigkeit zu ver¬
setzen, und ein Scheinbild formen zu las¬
sen, welches für den Sinn einiges Interesse
hat. Ungern läſst sich die Phantasie zu die¬
sem Frohndienst herab; denn sie ist ge¬
wohnt, von innen heraus, nicht fremdem
Machwerk nachzubilden. Asthetisches Ge¬
fühl ist die freie Triebfeder ihres Wirkens,
und gerade dieses wird gegeben, wenn man,
statt einer kalten Beschreibung eines Kunst¬
werks, die Schwingungen mitzutheilen und
H 5[122] fortzupflanzen versucht, die sein Anblick im
innern Sinn erregte. Durch diese Fortpflan¬
zung der Empfindungen ahnden wir dann, —
nicht wie das Kunstwerk wirklich gestaltet
war, — aber gleichwohl, wie reich oder
arm es seyn muſste, um diese oder jene
Kräfte zu äuſsern; und im Augenblicke des
Affekts dichten wir vielleicht eine Gestalt,
der wir jene Wirkungen zutrauen, und in
der wir nun die Schatten jener unmittel¬
baren Eindrücke nachempfinden. Hier wird
man mir doch nicht den Einwurf machen,
daſs ein solches aus der Empfindung allein
geschöpftes Bild dem Werke des Künstlers
sehr unähnlich ausfallen könne? Ich würde
diesen Mangel gern eingestehen, und mir
nur die Frage erlauben: ob die Unähnlich¬
keit bei einer bloſsen Beschreibung nicht
noch mehr zu befürchten sei? Die Gefahr
zu geschweigen, daſs in den meisten Fällen die
[123] Leser oder Zuhörer es wohl nicht der Mühe
werth finden möchten, ihrer Einbildungs¬
kraft diese Arbeit zuzumuthen, wo das Ge¬
fühl sie nicht dazu begeisterte. Allein, was
liegt denn auch daran, ob die Bilder, die
wir uns selbst aus der bloſsen Kraft unseres
Wesens schaffen müssen, einem Vorbilde
genau entsprechen? Je nachdem unser Gei¬
stesreichthum uns mit freigebiger oder mit
karger Hand von der Natur gespendet ward,
müssen auch seine Ausströmungen an Man¬
nichfaltigkeit, Harmonie, Schönheit, Gröſse
und Adel verschieden seyn; und so oft es
sich treffen mag, daſs sie hinter dem, was
groſse Künstler wirklich leisteten, weit zu¬
rückbleiben, sind doch auch die Fälle mög¬
lich, wo sie Meisterwerke überfliegen. Nicht
immer sind die genievollsten, phantasiereich¬
sten Menschen im Darstellen geübt; und
wer erinnert sich hier nicht an Lessings fei¬
[124] ne Bemerkung in seiner Emilie, daſs auf
dem langen Wege vom Sitze der Phantasie
bis zum Pinsel, oft so viel verloren geht?
Wenn je ein Schluſs a priori bindend ist,
so bleibt es dieser: wo wir Seelenkräfte von
seltener intensiver Stärke in einer göttlichen
Harmonie vereint erblicken, da dürfen wir
auf göttliche Ausgeburten sicher rechnen, sie
mögen sich nun in materiellen Hüllen ver¬
körpern, oder reingeistig, wie ihr Urquell,
von Auge zu Auge, von Seele zu Seele hin¬
überblitzen! Gewiſs, von diesen Geheimnis¬
sen der Geisteswelt sinnbilderte ich nicht so
gelehrt, wenn ich nicht auf den Stufen des
Tempels stände, wo jene Erscheinungen auch
dem Akoluthen schon sichtbar sind!
Flamändische Maler haben den gröſsten
Antheil an der Bildergalerie in Düsseldorf.
Ich hoffe auf meinem Fluge durch Brabant
und Flandern noch Denkmäler der Kunst
[125] anzutreffen, die mich mit ihnen aussöhnen
sollen. Was ich hier nun schon so oft
und mit einem so unbefangenen Sinn be¬
trachtete, was ich in Potsdam, Kassel, Dres¬
den, Wien und Manheim von Werken des
niederländischen Pinsels sah, war fast durch¬
gehends von der Art, daſs ich in dem vor¬
treflichen Handarbeiter den Dichter, in dem
Bildner des Körperlichen den Seelenschöpfer
vermiſste. Denkt man sich den edlen Zweck
der Kunst, die Ideen des Schönen, Erhabe¬
nen, Vollkommenen lebendig in uns her¬
vorzurufen, so geht man oft an den geprie¬
sensten Gemälden kalt und ungerührt vor¬
über, weil sie nichts von jener reinen, gei¬
stigen Phantasie verrathen, die das Gefühl
in Anspruch nimmt. Freilich ist dies nicht
die Stimmung, womit man eine Galerie von
Gemälden besuchen sollte. Hier sind ein¬
zelne Verdienste schon hinreichende Empfeh¬
[126] lungen, um einem Gemälde einen Platz zu
verschaffen. Farbengebung, Beleuchtung,
Gruppirung, kurz ein jeder Beweis von ei¬
ner gewissen Energie im Darstellen hat hier
Ansprüche auf Beifall, ja sogar auf Bewun¬
derung. Ist es indeſs eine Sünde wider die
Kunst, bei dieser Zerstückelung des Verdien¬
stes nichts zu empfinden, so will ich mich
nur schuldig bekennen. In meinen Augen
bleiben Götter, denen gerade das Göttliche,
Helden, denen Geistesgröſse, Grazien, denen
Anmuth fehlt, allemal verunglückte Werke
des Künstlers, er bezeichne sie noch so ge¬
lehrt durch Attribute, zeige dabei Studium
der Natur und Antike, und kolorire das
Fleisch nach dem Leben. — Irre ich hier,
so irre ich mit Horaz, wo er sagt:
Ich fordre von dem Kunstwerke, das mir
gefallen soll, warlich keine absolute Voll¬
kommenheit; allein wesentliche Mängel oder
Gebrechen darf es wenigstens nicht haben.
Laſs mich immer wieder auf meinen Lieb¬
lingsſatz zurückkommen, der sich mit mei¬
nem ganzen Wesen so ganz identificirt: der
Künstler, der nur für Bewunderung arbei¬
tete, ist kaum noch Bewunderung werth.
War hingegen seine Seele so reich, sein
Trieb zum Bilden so kräftig, daſs jener Be¬
weggrund gänzlich wegfiel, oder wenigstens
ihn nie in seiner Unbefangenheit störte, daſs
er nur im Gefühl seiner überschwänglichen
Schöpferkraft malte; so ist mir nicht bange,
daſs seine Werke nicht Abdrücke seiner
Selbst, mit allen Kennzeichen des Genius
begabt seyn sollten. Auch hier giebt es in¬
deſs noch Stufen und Schattirungen. Die
erste Organisation des Künstlers, seine Er¬
[128] ziehung und Ausbildung von der Wiege an,
sein Zeitalter, sein Wirkungskreis und sein
Wohnort, alles arbeitet mit vereinten Kräf¬
ten, eine eigenthümliche Stimmung in ihm
hervorzubringen, auf eine bestimmte und
beschränkte Art Ideenverbindungen in seine
Seele zu legen und in seiner Phantasie herr¬
schend zu machen, die in der Folge auf
den Zuschauer vielleicht eine ganz andere
als die gewünschte Wirkung thun. Der Ka¬
non des Schönen, den keine Vorschrift mit¬
theilt, könnte vielleicht einem kühnen Geiste
voll Künstlerfeuers fremd geblieben seyn.
Die rohere, gemeine Natur um ihn her
könnte ihn gehindert haben, seinen Blick
bis zum Ideal zu erheben. Aberglaube, Fa¬
natismus, Geschmack des Jahrhunderts könn¬
ten ihn in der Wahl seiner Gegenstände
miſsleitet haben, sogar ihn haben scheitern
lassen an der gefährlichsten Klippe für die
Kunst,[129] Kunst, an dem Wunsche nämlich, mit dem
Angenehmen das Nützliche als letzten Zweck
zu verbinden, dieser fälschlich so genann¬
ten Sittlichkeit der Kunst, welche die Wahr¬
heit der Natur verläugnet, und, indem sie
belehren will, hintergeht. Der herrlichste
Bilderreichthum kann, solchen Begriffen un¬
tergeordnet, in Erstaunen setzen und Be¬
wunderung vom Zuschauer erzwingen, wenn
eine hohe Darstellungsgabe damit verbunden
ist; aber den Künstler, der so sich äuſsert,
wird man in seinem Werke so wenig lieben
können, als jene morgenländischen National¬
götter, deren Offenbarung nur Grausen und
Entsetzen in den Gemüthern erweckte.
Ich will ihn ja bewundern, diesen groſsen
Rubens, den Mann von unerschöpflichem
Fleiſse, von riesenhafter Phantasie und Dar¬
stellungskraft, den Ajax unter den Malern,
dem man gegen viertausend bekannte Ge¬
I. Theil. I[130] mälde zuschreibt, dessen Genie den Himmel
und die Hölle, das letzte Gericht über die
unzähligen Myriaden des wiedererstandenen
Menschengeschlechts, die Seligkeit der From¬
men und die Pein der Verdammten in ein
ungeheures Bild zu fassen und dem Auge
sichtbar zu machen wagt! Groſs nenne ich
es allerdings, so etwas mit dem Pinsel in
der Hand zu unternehmen, diesem Chaos
von Gestalten, wie sie mannichfaltig ver¬
schlungen in der Phantasie des Künstlers
ruhten, Daseyn auf der Leinwand zu geben,
so umfassend in die heterogensten Gegen¬
stände die bindende Einheit zu bringen, und
das Weltall mit wenigen Zügen zu erschöp¬
fen. Dessen ungeachtet wende ich meine Au¬
gen mit Schauder und Ekel hinweg von einer
Darstellung, worin das Wahre, das der Na¬
tur so treulich Nachkopirte, nur dazu dient,
ein Meisterstück in der Gattung des Ab¬
[131] scheulichen zu vollenden. Unter allen Feh¬
lern, in die der Künstler verfallen kann,
ist keiner so groß, so durch kein Verdienst
abzukaufen, als der, wenn er die Gränzen
seiner Kunst verkennt. Was der Dichter
in Worten schildern, was er sogar mit den
stärksten Ausdrücken bezeichnen kann, das
darf der Maler nicht gleich auch in Umriſs
und Farbe fassen. Alle die Abstraktionen,
die dem Schriftsteller so sehr zu statten
kommen, sind für die bildende Kunst gänz¬
lich verloren. Mit einem Worte, mir einem
konventionellen Zeichen ziehen wir in un¬
seren Kreis hinab, was gänzlich auſserhalb
desselben lag; Allmacht, Ewigkeit, Unend¬
lichkeit, ja das Unbegreifliche selbst, wird
uns durch diese Bezeichnung zum Begrif.
Allein empört sich nicht unser ganzes Ge¬
fühl gegen eine willkührliche Versinnlichung
solcher Worte? Die Einbildungskraft des
I 2[132] hochberühmten Rubens hat sich indeſs viel¬
fältig auf diese Art beschäftigt. In der hie¬
sigen Galerie sind nicht weniger als fünf
Gemälde damit angefüllt. Vom jüngsten
Gericht ist sowohl eine kleine Skizze, als
ein Stück in den gröſsten Dimensionen vor¬
handen. Auch die Hölle sieht man zweimal
abgebildet, einmal nämlich den Sturz der
Dämonen auf einem gröſseren Blatt, und
sodann die Verstoſsung der Verdammten, in
einem kleineren Entwurf, erglühend von ver¬
zehrendem Feuer. Ein fünftes Stück stellt
uns die Schaaren der Seligen vor Augen.
Unter diesen Gemälden ist das groſse Bild
vom jüngsten Gericht das ruhigste, wenn
man die gröſsere Sorgfalt in der Anordnung
mit diesem Ausdruck bezeichnen darf. Ver¬
glichen mit den übrigen, möchte man es
kalt nennen; denn vermuthlich hatte sich
die Künstlerwuth in ihren ersten Ergieſsun¬
gen schon erschöpft.
[133]
Ich will es vergessen, daſs der Gegen¬
stand dieses Gemäldes offenbar auſserhalb
der Sphäre des Malers liegt. Die sinnliche
Vorstellung dessen, was allen Begrif über¬
steigt, kann nicht anders als verkleinerlich
ausfallen. Wie mag es also der Künstler mit
dem Zwecke seiner Kunst zusammen reimen,
daſs er Dinge abzubilden wagt, die in sei¬
nem Bilde nicht an Gröſse und Erhabenheit
gewinnen, sondern augenscheinlich verlieren?
Doch dieser Fehler ist bei modernen Künst¬
lern so gewöhnlich, und so tief gewurzelt
in der oft nicht von ihnen selbst abhangen¬
den Anwendung ihres Talents auf die Ge¬
heimnisse des Christenthums, daſs Rubens
darum nicht mehr zu tadeln scheint als
Michel Angelo. Ich will es ebenfalls nur
im Vorbeigehen berühren, daſs schon gesell¬
schaftliche Verhältnisse dem Maler verbieten
sollten, einen Gegenstand der allgemeinen
I 3[134] Ehrfurcht durch eine Schilderung verächt¬
lich zu machen. Zwar weiß ich wohl, daß
Tausende von Reisenden, denen dieses Bild
schon wegen seiner Höhe von achtzehn Fuß,
oder, wenn es hoch kommt, wegen der dar¬
auf vorgestellten erhabenen Wesen, Bewun¬
derung und Anbetung entlockt, sich nim¬
mermehr werden einfallen lassen, hier an
eine kompromittirte Würde der Religion zu
denken; so wenig, wie der Kapuziner in
Spanien, der sein schmutziges Kruzifix, wor¬
an die Ueberreste unfläthiger Berührungen
klebten, dem Reisenden zum Küssen darbot,
sich träumen ließ, daß in einem solchen
Zustande das Heiligste nur Ekel einflößen
könne *). Aber was gehen uns die grob¬
sinnlichen Vorstellungen an, womit der ge¬
ringe, oder auch der höhere Pöbel, seine
Glaubenslehren, noch mehr als durch ein
[135] unschickliches Bild geschehen kann, ernie¬
drigt und seine schreckliche Unwissenheit an
den Tag legt?
Doch hinweggesehen von allem, was diese
strenge Kritik fordern kann, steht dem Kunst¬
werke noch eine andere Prüfung bevor. Es
ist nicht genug, daſs wir das jüngste Gericht
in dem Gemälde wirklich wieder finden,
wenn der Galerie-Inspektor uns zuvor be¬
lehrt hat, diesen unbegreiflichen Augenblick
der Zukunft darin zu suchen. Der Künst¬
ler muſs vielmehl so klar und deutlich er¬
zählen, daſs wir auf den ersten Blick, was
er darstellen will, sei es Geschichte oder
Dichtung, in seinem Bilde wieder erkennen;
oder aber, wenn dieses nicht der Fall ist,
wenn er nur auf jene vorherbekannten Ge¬
genstände anspielen, ihre einzelnen Züge
hingegen aus seiner eigenen Phantasie neu
schöpfen will, so dürfen wir wenigstens
I 4[136] zum Ersatze von ihm fordern, daſs auch sein
Gedicht ein schönes, edles Ganzes sei, des¬
sen Theile sich harmonisch zusammenfügen
und sowohl im einzelnen als in der Ver¬
bindung mit einander diejenige Rührung im
Gemüthe des Zuschauers hervorbringen, oh¬
ne welche es Jammer wäre, daſs jemals Zeit
und Kraft an irgend eine bildende Kunst
verschwendet wurden. Ist dieses nun die
Wirkung von Rubens groſsem Meisterwerke?
Noch nie, ich gesteh’ es Dir frei heraus,
fand mein Auge darin einen Punkt, wo es
hätte ruhen können. Nein! es war keine
der Musen, die den Künstler zu solchen
Ausgeburten begeisterte. An der dithyram¬
bischen Wuth, die durch das Ganze strömt,
an diesen traubenähnlichen Gruppen von
Menschen, die als ekelhaftes Gewürm in ein¬
ander verschlungen, eine verworrene Masse
von Gliedern, und schaudernd schreib’
[137] ich, was ich sehe — einen kannibalischen
Fleischmarkt vorstellen, erkennt man die
wilde, bacchantische Mänas, die alle Be¬
scheidenheit der Natur verläugnet, und voll
ihres Gottes, den Harmonienschöpfer Or¬
pheus zerreiſst. —
Ganz zu oberst, am Rande des Bildes,
ragt ein Greis hervor, fast wie die Alten
den Neptun zu bilden pflegten, mit zerweh¬
tem Haar und straubigem Bart. In seiner
Linken hält er ein Kügelchen, nicht so
groſs wie sein Kopf; die Rechte ruht auf
einer groſsen hellen Wolke, die, von der
Brust an, seinen ganzen Körper verdeckt.
Man ist gewohnt, auf diese Art ein Wesen
darzustellen, welches eine jede Abbildung
von ihm selbst ganz unbedingt verboten hat,
und in der That, wenn man sich einen
Augenblick besinnt, auch schlechterdings
nicht abgebildet werden kann. Ohne die
I 5[138] Gewohnheit, die uns dergleichen Vorstellun¬
gen erträglich macht, würde es unmöglich
seyn, in dieser kümmerlichen Menschenge¬
stalt die erste Person des unsichtbaren Got¬
tes, der ein unendlicher Geist ist, zu erken¬
nen. Doch wir wollen es mit dieser Figur
so genau nicht nehmen; Rubens verräth seine
Verlegenheit hinlänglich, indem er sie im
Hintergrunde hält, in sich gekehrt, mit
halbgeschlossenen Augen, an dem was unten
vorgeht keinen Theil nehmen, und an allem
was Gröſse und Göttlichkeit bezeichnen könn¬
te, leer ausgehen läſst, vermuthlich, damit
die Hauptfigur so reich als möglich erschei¬
nen möge. Tiefer hinabwärts sitzt auf den
Wolken der Sohn Gottes. Über seinem
Haupte schwebt die göttliche Taube, oder,
wenn man darüber streiten wollte, wenig¬
stens gewiſs ein Vogel; und eben so schweben
auch, jedoch weder beseelt noch beflügelt,
[139] das Zepter und das flammende Schwert.
Wenn man die gröſste Anstrengung neuerer
Künstler betrachtet, ist es unmöglich sich
des Gedankens zu erwehren: wie arm und
hülflos in Absicht des Erhabenen und Idea¬
lischen sie da stehen würden, wenn sie nicht
die Griechen zu Vorgängern und Mustern
gehabt hätten. Dieser Weltrichter, den Ru¬
bens in den furchtbaren Ernst einer stra¬
fenden und belohnenden Gottheit kleiden
wollte, — was wäre der unter seinen Hän¬
den geworden, wenn uns keine Bildsäule
eines Jupiters oder eines bärtigen Bacchus
übrig geblieben wäre, deren Gesichtszüge
und Stellung sogar er hier kopiren muſste?
Das Erborgte dieser Hauptfigur ist so auf¬
fallend, daſs es mit der flammändischen Fei¬
stigkeit, die tiefer unten herrscht, einen
seltsamen Kontrast bildet; allein, was sie
noch widriger auszeichnet, ist der verfehlte
[140] Effekt in allen Details, wo der Künstler es
sich erlaubte, von der Antike abzuweichen,
um die Spur seiner Nachahmung zu ver¬
decken. Der theatralisch aufgehobene rechte
Arm stört die ganze Harmonie dieser Figur,
und raubt ihr alle Würde. Alles an ihr
ist aufgeregt, ob sie gleich sitzend vorge¬
stellt wird; die linke Hand macht eine von
sich stoſsende Bewegung, der linke Fuſs
schreitet vor, der rechte ist unterwärts zu¬
rückgezogen, der Kopf rechts hingewandt,
und das Kleid schwillt hoch auf vom Winde,
sowohl über der linken Schulter als hinter
dem Rücken. Diese leidenschaftliche Stel¬
lung giebt einen unauslöschlichen Ausdruck
von Schwäche; sie hat nichts von der er¬
habenen, gleichmüthigen Ruhe der Gerech¬
tigkeit und ein ehrbarer sterblicher Richter
auf einem irdischen Stuhle würde sich ihrer
schämen. Ich begreife wohl, daſs Rubens
[141] durch diese Bewegung Aufmerksamkeit er¬
regen, Handlung andeuten, Eindruck machen
wollte; allein eben darin liegt das Versehen,
daſs er dies alles durch Geberdenspiel er¬
zwingen wollte. Er verwechselt also Seelen¬
ausdruck mit Leidenschaft; anstatt uns beim
Gefühl zu fassen, deklamirt er uns vor.
Dieser Fehler ist der flammändischen Schule
eigen; das blos Physische fesselt sie zu sehr,
füllt so ganz ihre Einbildungskraft, daſs ihr
keine Hermeneutik der inneren Geisteskräfte
möglich ist; grobe Pathognomik sieht man
zwar bei diesen Künstlern; Leidenschaft,
oder auch sinnliches Gefühl können sie schil¬
dern: aber Seelengröſse, Erhabenheit, Ge¬
dankenfülle, gehaltene Kraft, Zartheit des
unterscheidenden Sinnes, kurz alles was den
Menschen adelt, ist bei ihnen das Werk
des Zufalls oder einer höchstseltenen Aus¬
nahme.
[142]
Auf demselben Wolkengewölbe mit dem
Erlöser, aber in einiger Entfernung hinter
ihm, stehen ihm zur Rechten Maria mit Pe¬
trus und Johannes, zur Linken Moses mit
den Stammeltern des Menschengeschlechts;
im Hintergrunde zu beiden Seiten verlieren
sich die Heiligen in groſser Anzahl, und über
ihren Häuptern kommen viele Engelsköpf¬
chen zwischen den Wolken hervor. Die
bittende Stellung Mariens verhindert nicht,
daſs mitten unter so vielen stehenden Fi¬
guren der sitzende Christus weniger als er
sollte in die Augen fällt. Auch die Grup¬
pen im Vordergrunde scheinen ihm etwas
von seiner Gröſse zu rauben, so richtig übri¬
gens die Perspektive beobachtet seyn mag.
Es ist sehr viel Talent und Geschicklichkeit
in der Anordnung jener oberen, wie der
unteren Gruppen; ihre Maſsen sind schön
und verrathen den geübten Künstler. Hier
[143] ist indeſs von Erfindung und von Dichtung
die Rede; ich vermisse den kühnen Schwung
der Phantasie, der diese müſsigen Figuren
mit Individualität begaben soll, daſs man sie
nicht bloſs an ihren Attributen, wie den
Petrus an seinen Schlüsseln, den Paulus am
Schwert, den Moses an den Hörnern und
den Gesetztafeln, erkenne. Mitleid und Neu¬
gierde malen sich jedoch in vielen Köpfen.
Petrus, Johannes und Moses scheinen über
den richterlichen Zorn zu verstummen, der
an einer weiblichen Figur im Hintergrunde
sogar den vollen Ausdruck des Schreckens,
mit zurückgezogenem Kopf und vorgespreiz¬
ter Hand, zuwege bringt.
Jetzt kommen wir dem eigentlichen Schau¬
platz, dessen Gewühl auch die Himmlischen
beschäftigt, etwas näher. Zwei sehr weit
von einander entfernte Zeitpunkte, der Auf¬
erstehung nämlich und des Gerichts, hat der
[144] Künstler hier vereinigt und in einen Augen¬
blick zusammengerückt. Aus dieser poeti¬
schen Freiheit, die ich übrigens nicht ta¬
deln will, sind bei ihm die wesentlichsten
Fehler seiner Composition entstanden. Ganz
unten auf dem Vordergrunde steigen meh¬
rere Figuren unter einem schweren, halb¬
aufgehobenen Grabstein hervor, und wie die
Gerippe ihren Ruheplatz verlassen, umhüllet
sie ein neuer Körper. Ein solches Gerippe
sieht man noch zwischen den umherliegen¬
den Erwachenden im Dunkel der Grabes¬
höhle. In einander geschlungen und gewun¬
den, reicht eine Gruppe dieser Auferstande¬
nen von der Erde bis zum Wolkengewölbe,
das den Thron des göttlichen Richters bil¬
det. Auf Wolken, die bis zur Erde her¬
absteigen, steht oder schleppt sich diese
schwere Masse, mit Hülfe einiger Engel, die
da und dort einem unter die Arme greifen,
zum[145] zum Himmel hinan. Links hingegen stürzt
eine eben so hoch aufgethürmte Menschen¬
masse, von Michaels Blitzen verfolgt und von
andern Engeln gewaltsam niedergedrückt, aus
dem Himmel in den Abgrund hinab, wo
ein gähnendes Ungeheuer mit offenem Rachen
ihrer wartet. Ägipanische Gestalten mischen
sich unter die Stürzenden, und ziehen, als
ständen sie im Bunde mit den Engeln, ihre
Beute mit sich hinunter, reiten auf den
Hofnungslosen, und umschlingen sie mit ge¬
waltigen Armen. Der Kontrast zwischen
beiden Gruppen ist unstreitig das Meister¬
hafteste in diesem ganzen Bilde. Die Seli¬
gen drängen sich in regellosem Streben dicht
zusammen, verschränken sich unter einander
und mit den Engeln, und bilden eine Py¬
ramide von Köpfen; nur die vordersten Fi¬
guren sieht man ganz bis auf die Zehen,
und die unterste, ein Weib, (wie man sagt
I. Theil. K[146]Rubens zweite Gattin,) sitzt noch halb be¬
täubt, mit auf der Brust gekreuzten Armen,
und blickt nach dem Grabe, aus dem sie
eben erst hervorgegangen ist. Die Verdamm¬
ten hingegen fallen in der schrecklichsten Ver¬
wirrung und Unordnung; viele strecken die
Beine hoch in die Luft, und ihre Glieder
durchkreuzen sich nach allen Richtungen.
Wer nie ein anderes Werk dieses Künstlers
gesehen hätte, würde ihm hier auf den ersten
Blick das Zeugniß geben müssen, daß er es
wohl verstand, den menschlichen Körper
unter allen Gesichtspunkten, in allen erdenk¬
lichen Stellungen und Biegungen, natürlich
angestrengt oder gewaltsam verzerrt, und
immer neu und unerschöpflich an Gestalten
darzustellen. Auch das ist viel geleistet,
wenn man bedenkt, wie es mit der Kunst
der Neuern überhaupt bestellt ist; die we¬
nigsten Maler haben es auch nur so weit
[147] gebracht. Allein was hätte nicht ein Künst¬
ler aus eben diesem Gegenstande geschaffen,
ein Künstler mit empfänglicher Seele, mit
dichterischer Phantasie und zartem Schön¬
heitssinne! Nicht zu gedenken, daſs die
herabstürzende Gruppe gegen alle Wahr¬
scheinlichkeit sündigt, indem sie früher im
Himmel angelangt seyn muſste, als selbst
die auserwählte Schaar, um schon verstoſsen
zu werden, ehe diese noch auf dem Wol¬
kengewölbe ausgestiegen ist; so bringt doch
die Vereinigung der Auferstehung und des
Gerichtes die Unbequemlichkeit mit sich,
daſs die Seligen eine zwar an sich sehr
schöne, hier aber ganz unnatürliche Pyrami¬
dalgruppe bilden müssen, welche schon darum
verwerflich ist, weil sie allen individuellen
Ausdruck schwächt und die schönen Epi¬
soden, die sich hier dem Künstler wie dem
Dichter darbieten, unmöglich macht. Durch
K 2[148] das Aneinanderhangen der Gestalten erhält
die ganze Masse eine so überwiegende Schwere,
daſs selbst das blödeste Auge sich mit der
Möglichkeit, diese Menschen je auf Wolken
wandeln zu sehen, nicht täuschen läſst.
Nimmt man hinzu, daſs Rubens hier, wie
in allen seinen Gemälden, die menschliche
Form so materiell und fleischigt als möglich
vorstellt, so steigt die Unwahrscheinlichkeit
bis auf den höchsten Punkt. Doch es sei
darum! den Auferstandenen ist es zu ver¬
zeihen, wenn sie in dem ersten schlaftrun¬
kenen Augenblicke des Erwachens gerade so
sich zusammendrängen, und sich selbst das
Emporsteigen erschweren; keinesweges aber
dem Künstler, der keinen besseren Augen¬
blick wählte, oder diesen sich nicht interes¬
santer dachte. In diesem ganzen Keil von
Menschen ist nur Eine Begierde, nur Ein
Drängen und Streben hinauf zu gelangen.
[149] Vergebens sucht man hier, was diese sonst
nur grausenvolle Scene des Gerichts dem
Herzen eines Menschen näher zu bringen
im Stande wäre; hier ist weder die Freude
des Wiedererkennens, noch der Ausdruck
der göttlichen Liebe, noch irgend eine rüh¬
rende Beziehung zu sehen, welche die Stei¬
genden und Fallenden anders, als durch die
Nebeneinanderstellung verbände; nichts, mit
Einem Worte, von allen jenen Meisterzügen,
womit Klopstock sein erhabenes Gemälde
von der Auferstehung im Messias schmückt.
Es kann warlich, einem jeden Zuschauer
gleichgültig seyn, ob die Figuren, die der
Maler hier aufsteigen läſst, wirklich in dem
Himmel ankommen oder nicht; es kann
sich niemand gereizt fühlen, ihnen nachzu¬
steigen, sich in ihre Haufen zu drängen,
und Seligkeiten, die solchen groben Geschöp¬
fen genieſsbar sind, mit ihnen zu theilen.
K 3[150] Unter ihnen giebt es keinen Verklärten, den
man liebgewinnen, an dem man mit Be¬
wunderung oder mit Zärtlichkeit hangen,
auf dessen Wiedersehen man sich freuen;
keinen Verdammten, dem man das Maaſs
seines Verbrechens und die Gerechtigkeit
des Urtheils an der Stirne lesen, und dessen
Fall man dennoch beweinen könnte! Ich
finde zwar, indem ich mühsam mich durch
das Gewimmel der Ringenden hindurch wüh¬
le, einen schönen Engelskopf; aber daſs er
nur schön, und daſs es nur Einer ist: ge¬
rade das erschöpft alle Strenge des Tadels.
Von dem ganz miſslungenen Michael mag
ich nichts sagen, und eben so wenig von
seinen Begleitern, die zur Unzeit in die Po¬
saune stoſsen, da eben der Richter des Welt¬
gerichts das Urtheil spricht. Mehr wuſste
also Rubens aus diesem groſsen Entwurfe,
den die Apokalypse selbst im erhabensten
[151] Styl der bilderreichen, orientalischen Dich¬
tung behandelt, nicht hervorzuzaubern? Nur
diese Vorstellungen weckte der Riesengang
der Phantasie Johannis in ihm? Höher trug
ihn der Fittig des Genius nicht, wenn er
das gröſste Schauspiel sich dachte, das Men¬
schen und Göttern je gegeben werden kann?
Den Augenblick, wo die ganze Schöpfung
sich zusammendrängt, sich neu organisirt,
sich verwandelt, wo das Reich des Mögli¬
chen seine Schätze aufthut und die Phantasie
in ihrem Überflusse schwelgen läſst, wo Jahr¬
tausende mit ihren Begebenheiten und ihrer
groſsen Verkettung von Ursachen und Wir¬
kungen sich neben einander stellen, wo das
Verborgene offenbar, das Verlarvte in seiner
Blöſse, das groſse Verkannte in göttlichem
Glanz erscheint, — den Augenblick bezeich¬
net ihm nichts, als diese zwey bedeutungs¬
leeren, an aller Individualität verarmten Men¬
K 4[152] schenhaufen? Sind die Schranken der Kunst
hier wirklich zu enge, oder zogen sie sich
nur für das Genie eines Rubens innerhalb
ihres möglichen Umfanges in einen so engen
Kreis zusammen?
Wenn ich vorhin die treue Nachfolge
der Natur, welche Rubens in den Stellun¬
gen beobachtet hat, mit einigem Lobe er¬
wähnte, so sollte sich dieser Beifall doch
nicht auf die Richtigkeit der Zeichnung er¬
strecken. In dem, was er malte, sieht das
Auge, welches der Zergliederer bemerken ge¬
lehrt hat, eine vernachläſsigte Kenntniſs der
bestimmteren Gestalt der Theile, und eine
unrichtige Manier sie anzudeuten. Das Feuer
des Bildners entschuldigt keinesweges diese
Unrichtigkeit; denn wahre Künstlergröſse fin¬
det man nur da, wo die wirkenden Kräfte
zusammengehalten, zweckmäſsig aufgespart,
nicht bloſs in flüchtigen Explosionen eines
[153] Augenblicks verschwendet wurden. Wie die
Natur mit immer gleicher, nie erschöpfter
Energie ohne Unterlaſs neue Bildungen von
sich ausströmen läſst und gleichwohl mit be¬
wundernswürdiger Geduld alles, bis auf die
kleinsten Theilchen, nach ihren ursprüngli¬
chen Modellen langsam und getreulich aus¬
arbeitet: so muſs ihr Nachahmer ebenfalls
dem wilden Drange, der ihn reizt die Ge¬
bilde seiner Phantasie im Materiellen darzu¬
stellen, einen starken Zügel anlegen können,
damit sein warmes Brüten nur edle, voll¬
kommene Früchte reifen möge. So wuſste
Raphael, der gröſste Mensch der je den
Pinsel führte, seinem Genius zu gebieten,
indem er es nicht für kleinfügig hielt, zu
jeder seiner Figuren eine Skizze zu entwer¬
fen, deren Verhältnisse er mit dem Zirkel
maſs. Daher kommt es denn auch, daſs
die Arroganz der jungen Zeichner, die auf
K 5[154] den ersten Blick an seinen Figuren nichts
besonders sehen, bei dem ersten Versuche
sie zu kopiren, zu Schanden wird. Diese
Umrisse des Flammändischen Pinsels hinge¬
gen mag man leicht in der Kopie verfeh¬
len, ohne befürchten zu müssen, daſs Miſs¬
gestalt die Unähnlichkeit verrathe.
Schönheit ist also nicht in Formen von
Rubens zu suchen; denn sie ist die Toch¬
ter des Ebenmaſses. Wären aber seine Fi¬
guren auch richtig gezeichnet, so würde doch
schon allein ihre flämische Feistigkeit den
Begrif des Schönen verscheuchen. Dies ist
bei ihm, wie es scheint, ein verderbter Ge¬
schmack, weil Italien ihn mit schöneren
Formen vertraut machen konnte. Ich habe
seine Fleischmassen als natürlich rühmen ge¬
hört; allein ich finde sie unaussprechlich
ekelhaft. Das hangende, erschlaffte, lappige
Fleisch, die Plumpheit aller Umrisse und
[155] Gliedmaſsen, der gänzliche Mange von al¬
lem, was auf Anmuth oder Reize nur An¬
spruch machen darf — ich kann nicht sa¬
gen, wie mich das unwillkührlich zwingt,
die Augen wegzuwenden, um einem widri¬
gen Eindrucke zu entgehen. Unter zehn
Bewunderern von Rubens, würden kaum
zwei oder drei den Anblick solcher Men¬
schen, wie er sie hier malte, in der Natur
ohne Widerwillen ertragen. Warum dulden
sie aber, oder bewundern wohl gar im Bilde,
was lebend sie anekeln würde? Weil der
Pinsel das allzuscheuſsliche verwischt; weil
den meisten Menschen nur an der Nachah¬
mung liegt, gleichviel was ihr Gegenstand
sei; endlich weil wir den Schönheitssinn
und den Geschmack zu den seltensten Göt¬
tergaben zählen müssen.
Wenn aber Rubens in den Umrissen und
in der Darstellung des Schönen fehlte, bleibt
[156] ihm nicht wenigstens die Magie seines Ko¬
lorits, die seit mehr als hundert Jahren so
oft gepriesen ward und noch in voller Kraft
besteht? «Dieses Fleisch, wird der Kenner
sagen, ist wahres blutreiches Fleisch; diese
zarte, sammetweiche Haut glaubt man an¬
fühlen zu müssen; diese Lippen glühen mit
lebendigem Purpur; überall sieht man deut¬
lich, daß die Wirkung der Farben und des
Ausſehens verschiedener Oberflächen dem
Gedächtnisse dieses großen Künstlers tief
eingeprägt worden ist, und daß er auch
die Kunst besessen hat, beides mit Wahr¬
heit darzustellen.» Ich wünsche immer,
wenn ich diese Lobsprüche mit anhören
muß, daß gleich ein gutes lebendiges Modell
zur Hand wäre, welches man entkleiden
und neben ein Bild von Rubens hinstellen
könnte. Man würde dann gar bald gewahr
werden, daß jener Zauber, der so mächtig
[157] wirkt, noch um vieles von der wahren
Farbe der Natur abweicht, und vielmehr in
einer eigenthümlichen Art der Behandlung,
als in einer getreuen Auffassung des Wirk¬
lichvorhandenen liegt. Ich tadle es indeſs
nicht, daſs Rubens so gern auch hier seine
Karnationen durch stark aufgelegten Zinno¬
ber erhöhet, und mit durchschimmerndem
Blau und mit gelben Wiederscheinen fast
zu verschwendrisch umgeht. An dem Platze,
für den er dieses Gemälde bestimmte, wür¬
de man vermuthlich diese Farben so her¬
vorspringend nicht gefunden haben, als hier,
wo sie dem Auge zu nahe gerückt sind.
Man müſste die Jesuiterkirche zu Neuburg,
wo dieses groſse Gemälde zuerst aufgestellt
wurde, zuvor gesehen haben um urtheilen
zu können, wiefern diese Rechtfertigung des
Künstlers statthaft sei oder nicht. Daſs in¬
deſs kein Flammänder je das Kolorit von Ru¬
[158] bens übertroffen habe, wenn es nicht zu¬
weilen seinem Schüler van Dyk geglükt ist,
bleibt seinem Ruhme unbenommen. Auch
die Kunst der Beleuchtungen war sein; Licht
und Schatten, zwar nicht der wesentlichste
Vorzug dieses Stücks, sind gleichwohl mit
groſser Geschicklichkeit darin ausgetheilt, und
thun die vortreflichste Wirkung.
Wenn Kunstverständige einen Maler prei¬
sen wollen, pflegen sie auch noch sein Mach¬
werk (faire) herauszustreichen; und in die¬
sem Betrachte hat Rubens in der That vor
vielen andern einen entschiedenen Vorzug.
Er wuſste seinen Pinsel leicht und kühn zu
führen, er kannte seine Palette und den
Effekt ihrer Farben, er vertrieb diese zart
und meisterhaft unter einander, gab ihnen
Haltung und besaſs eine groſse Übung im
Vertheilen und Abstufen der Lichtmassen
und des helleren oder tieferen Dunkels. Die¬
[159] ses Verdienst gehört in Eine Klasse mit der
Fertigkeit eines Tonkünstlers, die Noten frisch
und rein vom Blatte wegzuspielen, oder mit
dem eben so mechanischen und eben so be¬
wunderten Talent, auf einigen Instrumenten
die Schwierigkeiten der Ausführung zu über¬
winden und eine seltene Beweglichkeit der
Finger sehen zu lassen. Allein wenn ich
auch der Handarbeit unseres Rubens ihren
ganzen Werth zuerkenne, wenn ich ihn fer¬
ner in seiner Anordnung und Gruppirung,
im Reichthum seiner Gestalten, in der Far¬
bengebung, im Faltenwurf der Kleidungen,
in dem Feuer seines Geistes, womit er
durcheinander stürzende Figuren zur Einheit
zurückzuführen weiſs — wenn ich in diesem
allem ihn bewundern kann: wie hoch wird
denn sein Ruhm sich schätzen lassen, da
wir überall, wo es auf ein nicht zu berech¬
nendes Gefühl, auf innere Beweglichkeit und
[160] Empfänglichkeit, auf eine gebildete Sonde¬
rungs- und Umformungsgabe ankommt, wo
von Erfindung und Wahl des Gegenstandes,
dichterischer Ausführung aller einzelnen Be¬
standtheile des Gemäldes, und Idealisirung
der Gestalten die Rede ist, von seinen Ver¬
diensten schweigen oder seiner Arbeit unseren
Beifall versagen müssen?
Ein Meisterwerk gedachte der Künstler
hinzustellen, das seinem fürstlichen Freunde
die Dankbarkeit für ein gerettetes Leben
ausdrücken sollte, ein Meisterwerk, das die
Krone seiner Werke genannt zu werden ver¬
diente — und sein ernster Sinn wählte sich
das Weltgericht? Durch die Erhabenheit
des Gegenstandes wollte er gleich auf den
ersten Blick so den Trotz des tadelsüchtigen
Kenners niederwerfen, wie er die Flamme
des frommen Gefühls im groſsen Haufen
anzünden wollte — und er schilderte die
Gott¬[161] Gottheit in Gestalt eines abgelebten Greises,
den Richter des Weltalls schwach in seiner
Uebermacht, wie einen gemeinen Tyrannen?
Der Himmel und die Hölle sollten neben
einander stehen in seinem Bilde, zwischen
ihnen das Menschengeschlecht, schrecklich
verurtheilt zur Seligkeit oder Verdammniſs —
und ich sehe einen Raum, der höchstens
fünf oder sechs Menschenlängen übereinan¬
der fassen kann, mit einem an der Erde
hinschwebenden Nebel gefüllt, auf welchem
einige Figuren müſsig stehen, andere in ge¬
drängtem, schwerfälligem Phalanx hinauf¬
steigen, andere wildverschränkt mit stygi¬
schen Mächten zusammenstürzen über ein
scheuſsliches Drachenhaupt? Ordnung und
Einheit sollten unsere Blicke fesseln — und
es ist die Einheit, die Ordnung des Chaos?
Wen diese Erfordernisse unbefriedigt lieſsen,
der sollte noch der Schönheit huldigen; ein
I. Theil. L[162] Umriſs, der Natur wie mit List entwendet,
konnte den entzücken; ihn gewann ein Far¬
benzauber, der das zarte Gebilde des mensch¬
lichen Körpers vom Lebensgeist durchathmet,
bis zur Täuschung darzustellen vermag —
und sind nun diese flämischen Dirnen schön?
sind diese Umrisse richtig und gefällig? sind
diese Karnationen bei aller ihrer Frische nicht
Manier?
Doch es ist nicht das erstemal, daſs ge¬
rade dann, wenn groſse Künstler mit Vorsatz
alle ihre Kräfte aufboten, das erzwungene
Werk ihrem Geiste miſslang. Auch die Em¬
pfängnisse der Phantasie sind unbedingte Ga¬
ben eines göttlichen Augenblicks.
[163]
VII.
Ich hatte Dir gestern noch viel zu sagen
von diesen Schätzen der Kunst, die ich an¬
zuschauen nicht ermüde; aber die Bemer¬
kungen über das jüngste Gericht von Ru¬
bens versetzten mich allmälig in die Stim¬
mung, die er seinem Weltrichter gegeben
hat, und in diesem kritischen Humor möch¬
te ich Raphaeln selbst nicht für Tadel ste¬
hen. Heute ist der Morgen so heiter, die
Frühlingssonne scheint so allbelebend, die
Luft ist so rein bei ihrer Kühle, daß man
froh ist zu leben und dem verschiedenartig¬
sten Leben Daseyn und Genuß des Daseyns
gönnt. Friede sei mit allem, was da ist,
Friede mit jedem Geiste, sein Wirken und
Gebilde sei dem meinen so fremd wie es
wolle! Ich fühle mich verjüngt aus den
L 2[164] Armen des Schlafs erstanden; alles in der
Natur lacht mich an; alles ist unzertrenn¬
lich von allem; der blaue Bogen über mir,
die hellleuchtende Sonne, und Berg und Flur,
Fels und Wald, Pflanzen und Thiere, der
Mensch und seine Kunst, alles ist Theil
eines groſsen nicht zu umfassenden Ganzen!
Millionen Menschen empfingen den Fun¬
ken der Vernunft, und fachten ihn an zur
gröſseren oder kleineren Flamme; Millio¬
nen empfanden, dachten und wirkten, jeder
auf seine ihm eigene Weise; die Früchte
ihres Fleiſses, ihres Nachdenkens, ihres bil¬
denden Triebes erfüllen die Erde, und den¬
noch sind die Verhältnisse der Dinge unter
einander nicht erschöpft, und keine Macht
bestimmt ihnen Gränze oder Zahl. Wir
stehen da und schöpfen aus dem unermeſs¬
lichen Meere die mannichfaltigen Gestalten.
Je mehr wir aufnehmen können, desto schö¬
[165] ner und reicher ordnet sich in uns, wie im
Spiegel, das Bild des göttlichen All. Von
Einem Lichte wird alles umflossen, alles
schimmert meinem Aug’ entgegen, alles drängt
mir sein Daseyn auf; eine Welt von unend¬
lichen kleinen Stäubchen sogar, tanzt sicht¬
barlich in diesem Sonnenstral, der zwischen
den Vorhängen hindurch auf mein Papier
gleitet, und behauptet ihren Platz in mei¬
nen Sehenerven wie in meinem Gedächtnisse.
Willkommen, willkommen mir, heiliges Licht
der Sonne, das allem, was da ist, gleiches
Recht ertheilt! Wie ganz anders geordnet
sind die Empfindungen und Gedanken des
sonnenhellen Morgens, als die gestrigen beim
nächtlichen Lampenschein, der ein grelles
Licht auf eine Stelle warf und rings umher
die Finsterniſs herrschen lieſs!
Was von Eindrücken der Anblick der
hiesigen Gemäldegalerie in meinem Gemüthe
L 3[166] zurückgelassen hat, wollen wir jetzt in dieser
Klarheit beschauen; viel werden wir bewun¬
dern, manches tadeln und einiges lieben
müssen. Auch hier aber, wie im ganzen
Leben, können wir uns nicht alles aneignen;
es ist eine Oekonomie der Zeit und des
Gedächtnisses nöthig, um nur das Wesent¬
liche, uns Angemessene aufzufassen; glück¬
lich, wenn die Wahl so ausfällt, daſs die
Bilder, die wir in uns aufbewahren, Ab¬
drücke interessanter Geisteskräfte sind und
manche andere entbehrlich machen.
Rubens kann in seiner Darstellung des
jüngsten Gerichts vielfältig gefehlt haben,
ohne deshalb den Ruhm eines groſsen Künst¬
lers einzubüſsen. Seine Werke füllen hier
einen ganzen ihm allein gewidmeten Saal;
sie bestehen in mehr als vierzig groſsen und
kleinen Gemälden. Ein kleines Stück, wel¬
ches die Niederlage der Amazonen am Ther¬
[167] modon vorstellt, gab dem Kuhrfürsten Jo¬
hann Wilhelm die Veranlassung, seine groſse
Sammlung von Gemälden anzulegen. Rubens
ist hier in seinem Elemente. Die besiegten
Kämpferinnen stürzen samt ihren Rossen
von der Brücke in den Fluſs; in mancherlei
Stellungen hingeschleudert, schwimmend, fal¬
lend, sich sträubend, erblickt man den weib¬
lichen Körper von der wilden Phantasie des
Künstlers ergriffen. So unwahrscheinlich es
immer ist, daſs Weiberwuth zu diesem Grade
gestiegen sei; so schön ist doch der Stoff
für den Maler, der dieses Feuer in sich
fühlte, die Extreme der Leidenschaft und
die heftigste Handlung darzustellen. Von
den beiden darüber hangenden Skizzen, der
Bekehrung des Apostels Paulus und der
Vernichtung der Heerschaaren Sennacheribs,
möchte ich das nicht so unbedingt be¬
haupten.
L 4[168]
Bewundernswürdig war und bleibt Rubens
im Porträt! Er faſste so wahr und so glück¬
lich zugleich! Nur ist es mir räthselhaft,
daſs ein Künstler, der so tief in andere We¬
sen sich hineinschmiegen und ihr Innerstes
so zu sagen herausholen konnte, in seine
eigenen Schöpfungen nicht mehr hinübertrug.
Unter so vielen hundert Köpfen, die er in
seinem Leben nach der Natur gemalt haben
mag, hätten sich doch wohl die Urbilder
zu allen Charakteren seiner historischen Ge¬
mälde mit Hülfe einiger Idealisirung leicht
gefunden; und solche der Natur nachgebil¬
dete Formen hätten auf jeden Fall seine
unbestimmten, von Individualität entblöſsten
Gesichter weit übertroffen. Hier ist das
Bildniſs eines Mönchs; der graue Rock scheint
nur eine Verkleidung zu seyn, so wenig
paſst er zu dem gebildeten Geiste, der aus
diesen Zügen hervorstralt. So ein Gesicht,
[169] mit diesem Ausdruck des eingeärndteten Ideen¬
reichthums, mit dieser Milde, welche nur
Erfahrung und Weltkenntniß geben, mit die¬
ser Ruhe, die aus einer richtigen Schätzung
der Dinge und ihres unaufhaltsamen Laufs
entspringt — warlich, das würde man unter
tausend Mönchsgestalten ohne Mühe wieder
erkennen. Wie der hagere Mann einst den
Erdball in der Hand wägte, damit spielte,
und doch zuletzt wohl inne ward, der Ball
sei mehr als Spielzeug, wenn er’s nur er¬
gründen könne; so wägt er jetzt den Men¬
schenschedel, ihm und aller Menschenweis¬
heit nicht minder unbegreiflich! Es ist kein
Traum, den ich da träume; dieser Francis¬
kaner-General, so wie Rubens ihn malte,
war zu seiner Zeit im Kabinet allmächtig.
Maria von Medicis, bereits in guten Jahren,
ist hier noch schön, aber so stolz, so tief¬
verschlossen, so gewandt in allen Künsten
L 5[170] der Verwirrung! Ich weile jedoch lieber
bei dem eigenen Bildnisse des Malers und
seiner ersten Gattin. Es ist eine überströ¬
mende Geistesfülle in seinem Kopf, und sein
ganzes Wesen, sein Anstand, seine Kleidung
verrathen die höchste Eleganz. Wenn Rubens
so ausgesehen hat — und dieses Bild trägt
alle Kennzeichen an sich, daſs es treu dem
Leben nachgebildet worden ist, — so war
der Mensch an ihm bei weitem das Edelste,
Gröſste und Beste; keines seiner Werke
giebt einen halb so erhabenen Begrif von
ihm, als diese Nachahmung seiner eigenen
Züge. Der schöne, kraftvolle Mann sitzt da
in der Blüthe des männlichen Alters. Die
tiefliegenden Augen sprühen Feuer hervor
unter dem Schatten der dunklen Augen¬
brauen; auf seiner Stirne liest man den
Reichthum, und ich möchte fast sagen, auch
das Ungezähmte seiner Phantasie. Seine Seele
[171] ist auf einer Bilderjagd auſser dem Bezirke
des Gemäldes begriffen. Das hübsche Weib
ruht zu seinen Füſsen, ihre Rechte in seiner
Rechten, und diese Hände sind von vor¬
züglicher Schönheit. Wahr und treu ist
auch ihr Kopf; allein die ungebildete Frau
konnte den gröſseren Menschen nicht fassen,
der zugleich Künstler und Staatsmann war,
bald an Philipp’s des Dritten Hofe, bald als
sein Abgeordneter bei Karln dem Ersten von
England seine Rollen spielte; der Mann, der
nach den Mitteln seines Zeitalters vortref¬
lich erzogen war, die Feder beinahe so gut,
wie den Pinsel führte, um dessen Freund¬
schaft Fürsten warben, und den Wolfgang
Wilhelm, Herzog von Neuburg, in seinem
eigenen Wagen rettete, als man ihm in Ma¬
drid nach dem Leben stand.
Was mag er wohl ersinnen in dieser
traulichen Verschränkung, auf dem ländli¬
[172] chen Sitz am Gemäuer, wo sich das üppige
Geisblatt mit duftenden Blüthen empor¬
schlängelt und über seinem Haupte leichte
Schatten webt? Etwa jenes liebliche Ge¬
dicht, wo sieben Amoretten sich hineinflech¬
ten in einen Kranz von Blumen und Früch¬
ten? Mit welcher Fülle, mit welcher Kraft
sind diese Formen aus der Anschauung ge¬
griffen! Welches Leben regt sich in ihren
Gliedern! Wie gaukeln die gesunden Buben
so froh in vollem Treiben ihrer neuerprob¬
ten Muskelkraft! Des schönsten Genusses
Kinder, als Zeit und Sinne schwanden; Da¬
seyn ihre ganze Bestimmung, Zweck und
Mittel zugleich; und auch ihnen gelten
Zeit und Zukunft noch nichts! Hieher
den Blick, ihr Weisen, und sagt uns,
ob es eine andere Wonne gebe, als das
schöne Leben zu sehen, und zu fühlen:
es ist!
[173]
Die reine, treue Darstellung des Leben¬
digen und Natürlichen würde diese gefällige
Wirkung auf die Empfindung des Zuschauers
nie verfehlen, wenn es nicht in der Natur
selbst Gegenstände gäbe, deren erster und
mächtigster Eindruck unsern Selbsterhaltungs¬
trieb aufregt, und Abneigung, Widerwillen,
Abscheu oder Furcht und Schrecken zuwege
bringt. Der Anblick alles Miſsgestalteten,
Unzweckmäſsigen, Schädlichen in der Natur,
des Gewaltthätigen und Zerstörenden, des
körperlichen Schmerzes, heftiger Krämpfe,
ekelhafter Zerfleischungen, kranker oder auch
leidenschaftlicher Entstellung, dies alles er¬
schüttert zuerst unser Nervensystem mit dem
Gefühle der eigenen Verletzbarkeit, welches
zur Erhaltung eines endlichen Daseyns wir¬
ken muſs. Ist es daher nicht sonderdar,
daſs so viele Künstler, und unter diesen
manche der berühmtesten, gerade diese Ge¬
[174] genstände zur Nachahmung wählten, um
durch sie recht kräftig erschüttern zu kön¬
nen? Rubens selbst scheint sich in solchen
Darstellungen mehr als in allen andern zu
gefallen. Von jenen wilden Compositionen,
wo Teufel und verworfene Menschen sich
winden und kämpfen und knirschend den
Engeln unterliegen, soll hier nicht mehr
die Rede seyn. Es giebt noch andere Bilder
in diesem Saale, von einem ähnlichen Effekt.
Bald ist es ein trunkener Silen, umringt von
einer bacchantischen Gruppe, deren verschie¬
dene Grade der Trunkenheit sich allzuna¬
türlich in faunischer Wollust oder in einer
noch ekelhafteren Herabwürdigung äuſsern.
Eine gräuliche Faunin liegt im Vordergrunde
hingestürzt über ihren beiden bocksfüſsigen
Säuglingen, die zappelnd an den Brüsten,
ich hätte bald gesagt, den Eutern, ihrer im
Uebermaaſs der Völlerei entschlafenen Mutter
[175] hangen. Bald ist es ein sterbender Seneka,
blutend, alt und schwach, die Todtenblässe
im Gesicht und auf den Lippen. Hier eine
Latona in den Sümpfen Lyciens, noch in
bittender Stellung, indeſs ihr gegenüber die
störrigen, feindseligen Wilden, die ihr einen
Trunk Wassers versagten, im flämischen
Bauerncostum, aber mit Froschgesichtern schon
halbverwandelt da stehen, gräſsliche Carrica¬
turen! — Wie konnte nur ein Mann wie
Rubens das Bild des Ekelhaftesten in der
Natur, eines betrunknen Weibes, in seiner
Phantasie dulden, geschweige denn mit Wohl¬
gefallen darüber brüten, mit Kunst und
Kenntniſs der Natur es ausmalen und nichts
dabei fühlen, als nur die Stärke seiner Dar¬
stellungsgabe? Hätte nicht der Maler, der
es wuſste, was Schönheit ist, bei jenen
Froschmenschen vor einem Miſsbrauche sei¬
nes Talents zurückbeben sollen, wodurch
[176] er sich zur plattesten Farce erniedrigte? Der
Seneka wäre vielleicht am ersten zu ent¬
schuldigen, weil er genau die Stellung der
alten Statue hat, und alte Kunst sonst tadel¬
frei zu seyn pflegt. Allein nicht alle Werke
des römischen Meiſsels sind musterhaft, nicht
alle der Nachahmung werth; bei vielen ver¬
miſst man den reinen, keuschen Geschmack
der griechischen Kunst, und endlich ist das
Widrige im Marmor weit weniger als in
dem farbigen Gemälde widrig; der Pinsel
drückt eben die Todtenfarbe und die Er¬
schöpfung des Verblutens in ihrer ganzen
Abscheulichkeit aus. Allerdings gelingt es
auch den Künstlern, durch diese Schilderung
des Grobsinnlichen auf die gröberen Organe
des groſsen Haufens zu wirken, dessen lau¬
ten Beifall und gaffende Bewunderung davon
zu tragen; und nur, daſs dieser Beifall,
diese Bewunderung ihnen genügt, gerade
darin[177] darin liegt der ganze Jammer. Es ist leich¬
ter, gemeine Natur zu kopiren, als Seelen¬
kräfte in der Materie sichtbar zu machen;
leichter, durch groteske Züge dem Pöbel zu
gefallen, als nach dem musterhaften Dory¬
phorus den Kenner zu befriedigen; leichter
endlich, zu erschüttern und sogar zu rüh¬
ren, als den Forderungen des gebildeten
Geistes, dem die grobgezeichneten dramati¬
schen Larven anekeln, und der nach den
zarten Schattirungen und Verschmelzungen
der Charaktere des gesellschaftlichen Lebens
verlangt, völlig Genüge zu leisten. Unsere
Theaterdichter wissen dies so gut wie die
Künstler, und eben darum spielt man die
Stücke der höchsten dramatischen Kunst
vor leeren Häusern, indeſs die kläglichsten
Erzeugnisse des Plattsinnes, ein Waltron,
eine Lanassa und andere ihres Gelichters,
wenn sie nur das Alltägliche anschaulich
I. Theil. M[178] machen, den allgemeinsten Beifall nie ver¬
fehlen.
In der Himmelfahrt der Jungfrau, in der
Geburt Christi, in der Ausgieſsung des hei¬
ligen Geistes, in dem Märtyrerthum des hei¬
ligen Laurentius und selbst im Nymphen¬
raub der Zwillingsbrüder Kastor und Pollux,
lauter groſsen, kraftvollen Werken von Ru¬
bens Hand, die ich hier um mich her er¬
blicke, sind indessen so viele künstlerische
Verdienste vereinigt, daſs man sich willig
finden läſst, auch über den wesentlichen
Mangel einer feineren Vorstellungsart hin¬
auszugehen, und sich mit dem Künstler in
seinen niedrigeren Gesichtspunkt zu versetzen.
Unter allen diesen Werken scheint mir das¬
jenige, wo die Apostel, am Pfingsttage, mit
neuen Kräften erfüllt werden, in Absicht
auf die Schönheit der Köpfe, vorzüglich be¬
merkenswerth. Es ist zwar auch hier der
[179] gewöhnliche Fehler auffallend, daſs die Er¬
gieſsung des heiligen Geistes weit mehr durch
die von Licht umflossene Taube, die ein¬
zeln herabfallenden Flämmchen und das Er¬
staunen der Heiligen selbst über diese Er¬
scheinungen, als durch eine wirklich auf ih¬
ren Zügen sichtbare Begeisterung und Ver¬
stärkung des geistigen Kraftmaaſses angedeu¬
tet wird; allein diesen Verstoſs abgerechnet,
der vielleicht um so verzeihlicher ist, je
weniger man sich zu Rubens Zeit über Ge¬
genstände der Religion das Nachdenken er¬
laubte und je mehr der Künstler damals
an die krassen Vorstellungen der Priester je¬
nes finstern Zeitalters gebunden war; die¬
sen Verstoſs abgerechnet, bleibt dem Stücke
wenigstens das Interesse, welches man an
schöngebildeten Menschen nimmt. Wem es
genügt, an einem hübschen flämischen Wei¬
be statt der Madonna, an gesunden, paus¬
M 2[180] bäckigen Knaben an der Stelle der Engel,
der wird seine Forderungen durch den
schönen Körper des Märtyrers auf dem
Roste noch mehr befriedigt finden. Könnte
man nur die Gröſse der Gegenstände ver¬
gessen, oder noch besser, könnte man diese
Gegenstände nur mit Hintansetzung aller ei¬
genen Vorstellung davon, so fühlen, wie
Rubens sie in seiner Phantasie entstehen sah;
dann wirkten vielleicht seine Bilder beides
auf den Geschmack und auf das Herz, an¬
statt daſs sie mir jetzt bei einem andern
Maaſsstabe und edleren Formen, nur Tra¬
vestirungen des Heroischen und Göttlichen
scheinen.
Indeſs lieber diese gemeine, schwerfällige
Phantasie, als jene des Luca Giordano und
des Annibal Caracci, die sich in der Dar¬
stellung eines so gräſslichen Auftritts, wie
der bethlehemitische Kindermord, gefallen
[181] können; und wiederum lieber noch diesen
Kindermord vom Meister Annibal, als jenes
ungleich greulichere Gemetzel der Christen
in Persien unter dem König Sapor! Was
ist ein groſser Künstlername, wenn solch
ein buntscheckiges, steifes, elend gruppirtes,
ohne Perspektive, ohne Haltung, in harten
Umrissen mühsam hingedrechseltes Werk
nichts anders für sich hat, als Albrecht Dü¬
rers Ruhm? Empfindungsloser kann man
nicht malen; und wenn es wahr ist, daſs
die beiden schwarzgekleideten Figuren in der
Mitte des Gemäldes, die als müſsige Zu¬
schauer den verabscheuungswürdigsten Sce¬
nen der Menschenquaal ruhig zusehen, Por¬
traite des Künstlers und seines besten Freun¬
des sind, so möchte man auch hinzusetzen:
empfindungsloser kann man nicht seyn. Lieſse
sich doch nur die Aechtheit dieses unedlen
und zugleich so sehr miſsrathenen Kunst¬
M 3[182] werkes mit einiger Wahrscheinlichkeit be¬
zweifeln!
Unedel im höchsten Grade, aber auch
trotz aller Niedrigkeit des Gegenstandes, an
Wahrheit, Charakteristik und Ideenreichthum
zum Meisterwerk gediehen ist daneben der
berühmte Marktschreier von Gerard Douw.
Gewisse Seelen sind zum Auffassen gewisser
Gegenstände geschaffen oder organisirt: diese
spiegeln sie so rein und klar wieder von
sich, daſs man sieht, sie wurden gleich¬
sam Ein Wesen mit ihnen; da sie hin¬
gegen für Eindrücke aus einer andern Klasse
schlechterdings nicht empfänglich scheinen,
von andern Objekten gar nicht berührt wer
den können. Hogarth, der Meister in der
physiognomischen Bezeichnungskunst, der be¬
wunderte Karrikaturenschöpfer, konnte keine
schöne Figur entwerfen; Gerard Douw, der
hier die geringeren Volksklassen nach ihren
[183] verschiedenen Geschlechtern, Gewerben und
Leidenschaften ganz mit sich selbst identifi¬
cirt zu haben scheint, der unendlichen Scharf¬
blick beweiset, wo es auf die Sonderung
der Wirkungen desselben Gegenstandes auf
verschiedene Gemüther aus diesen Volksklas¬
sen ankommt, hätte für das Ideal einer grie¬
chischen Heldennatur keinen Sinn gehabt.
Diese geistigeren Wesen gehen durch die
grobe Seele hindurch und lassen keine Spur
von ihrer Berührung zurück. Zart und mit
vulkanischer Feuerkunst gewebt muſs das
Netz seyn, in welchem sich Mars und Venus
fangen und den versammelten Göttern zei¬
gen lassen. Sollen wir nun zürnen, daſs
nicht alle solche Tausendkünstler sind, oder
lieber jedem Geiste seine Art und Weise
zu wirken und zu schaffen gönnen, da es
nun einmal nicht möglich ist, daſs Raphael’s
und Tizian’s und Guido’s Seelen in den
M 4[184] belgischen Schlamm hinabsteigen können?
Zwar hätte Gerard Douw seinen Markt¬
schreier wohl eben so interessant machen
können, ohne jene Details anzubringen, wel¬
che die Thierheit des Menschen in ihrer
härtesten Abhängigkeit von den unreinsten
Bedürfnissen ins Gedächtniſs rufen; allein
wer trennt uns das von einander? wer mag
selbst dem pfiffigsten und kunstreichsten Teu¬
fel den unwiderstehlichen Hang benehmen,
unter die Säue zu fahren?
Der leichte, glatte, launige Teniers ist
eben so niedrigkomisch; doch gefällt er mir
besser. Es ist ungleich mehr Wahrheit und
Treue, die sich bis auf die feinsten Zä¬
serchen erstreckt, die kein Pünktchen un¬
bezeichnet läſst, es ist vollkommnere Täu¬
schung des Kolorits, es ist ein unermüde¬
ter Fleiſs in Gerard Douw’s Arbeit, die
bei ekelhaften Gegenständen desto widriger
[185] wirken muſs, je geduldiger und treffender
sie die Natur in ihrer ganzen Scheuſslichkeit
kopirt. Teniers flüchtiger Pinsel hascht nur
die wesentlichsten Züge, setzt Zeichen an
die Stelle des Wirklichen, bringt mit dem
wenigsten Aufwand von Zeit und von Far¬
be den Effekt heraus, und überläſst es dann
der Einbildungskraft des Zuschauers, die
Details sich selbst auszumalen. Wer also
nicht gerade an dem Schmutzigsten seiner
ganzen niedrigkomischen Compositionen be¬
sonderes Wohlgefallen hat, wird dieses über¬
gehen; da es hingegen in Douw's Gemälde
so in die Augen springt, daſs man ihm un¬
möglich entrinnen kann. Hat man indeſs
nur Eins von Teniers Baurengelagen gese¬
hen, so kennt man sie alle; sie sind nur
in dem geringeren oder vollkommneren Gra¬
de der Ausführung verschieden.
Dasselbe gilt auch von Schalkens berühm
M 5[186] tem Effekt des Lichts in den nächtlichen
Scenen. Die hier vorhandenen Stücke von
seiner Hand, ein Ecce Homo, die klugen
und die thörichten Jungfrauen, eine Magda¬
lene, und eine weibliche Figur mit einem
Lichte, welches ihr ein muthwilliger Junge
ausblasen will, sind alle nicht mit den Spie¬
lern zu vergleichen, die man in Kassel von
demselben Meister in der erlesenen Galerie
des Landgrafen bewundert. Die Jungfrauen
mit ihren Lampen hat er jedoch vorzüglich
gut behandelt, und man sieht, daſs Schalken
in dem engen Kreise, den er sich gewählt
hatte, in der That sehr gut zu Hause war,
daſs er mit dem Lichte und seiner Wir¬
kung spielen konnte, und durch fortgesetz¬
tes Studium einen Grad der Vollkommen¬
heit in dieser Gattung von Darstellungen
erlangt hatte. Nur muſs man auch auſser
diesem Einen Vorzuge sonst nichts bei ihm
suchen.
[187]
Soll ich mich jetzt von den niedrigsten
Stufen der menschenbildenden Kunst zu den
Thier- und Landschaftsmalern wenden? Ich
halte mich nicht gern bei ihnen auf, wo
höhere Gegenstände mich an sich reiſsen.
Freilich ist der Gasparo schön: es herrscht
eine dunkle, hohe, mächtige Phantasie durch
dieses wilde Thal und seine einfache Gröſse;
Schade nur, daſs man in dieser Einsamkeit,
wo der Blick [auf] den Trümmern alter Ge¬
bäude und Palläste am fernen Gebirge ruht,
durch eine schale, historische Gruppe un¬
terbrochen wird, und eben so Schade, daſs
das Bild schon so schwarz geworden ist!
Auch dieser ungeheure Eber von Snyers ist
wunderbar gerüstet mit zermalmender Kraft
und fürchterlichem Grimm; er verdiente der
Eber von Kalydon zu heiſsen. Eben so ge¬
waltig in ihrer Art, eben so rein der Na¬
tur nach gebildet, sind die muthig angreifen¬
[188] den und die von dem gräſslichen Zahn des
Ebers niedergemähten, zappelnden und heu
lenden Hunde. Die Figuren der Jäger, kühn
wie die Thiere, aber mit Zinnober unna¬
türlich kolorirt, sind von Rubens. Was
Fyt, de Voſs und Weenix von Thierstücken
malten, kommt diesem nicht bei, so viel
Verdienstliches auch ihre Arbeiten, und ins¬
besondere die des erstern haben.
Laſs mich hinwegeilen über die geleckten
gilderchen des Ritters van der Werff. Ihre
zarte geschliffene Vollendung, ihre kunst¬
reichgeworfenen Gewänder, können uns nicht
schadlos halten für ihre Kälte und Gleich¬
förmigkeit, für die manierirte unrichtige Zeich¬
nung und das dem Elfenbein ähnliche Fleisch.
Das beste unter ein und zwanzig kleinen
Stücken ist die Erscheinung Christi im Kna¬
benalter unter den im Tempel versammelten
Aeltesten. Der Knabe ist schön und geist¬
[189] reich, und diese Eigenschaften vereinigt, sind
mehr als hinreichend, ihn interessant zu
machen. Von der groſsen langbeinigen Mag¬
dalena des Herrn Ritters, läſst sich trotz
allen mühseligen Künsteleien so viel gutes
nicht sagen. Ehe ich meine Feder hinlege,
nur noch ein paar Worte von Crayer und
van Dyk. Crayer’s gröſstes Werk, doch will
ich eben nicht sagen sein Meisterwerk, ist
das Altarblatt aus der Augustinerkirche zu
Brüssel, welches der Kuhrfürst von den
Mönchen für dreiſsigtausend Gulden und
eine Kopie kaufte. Als Dichtung betrach¬
tet, hat es nicht den mindesten Werth. Es
ist ein Thron der Muttergottes, die zu oberst,
mit dem Jesuskinde auf dem Arm, da sitzt,
und von Heiligen umringt ist, die um Theil
neben ihr, zum Theil tief unten auf den
Stufen stehen oder knieen. Ganz zu unterst
im Vordergrunde kniet der Maler nebst sei¬
[190] nem Bruder, und, wie die Ueberlieferung
ferner lautet, seiner Schwester und seinem
Neffen. Er kehrt das breite, wohlgenährte,
selbstgefällige Gesicht nach dem Zuschauer
hin, anstatt recht andächtig zu beten, und
zeigt uns mit der Hand, daſs dies alles seine
Arbeit sei. Es ist wahr, die Heiligen selbst
geben ein böses Beispiel; sie stehen zum
Theil ganz müſsig da, oder sie plaudern mit
einander; die wenigsten bezeigen der Gott¬
heit oben ihre Andacht. Auch scheint es
nicht, als ob sie eigentlich zu irgend einem
andern Zweck versammelt sind, als weil etwa
der Maler oder die Augustinermönche zu
Brüssel sie gern einmal beisammen sehen
wollten; und bei dem gänzlichen Mangel
an Einheit und Zusammenhang ist es noch
die Frage, ob Crayer an etwas von der Art
gedacht hat. Damit man die Heiligen auch
kennen möge, hält jeder etwas in der Hand:
[191] Johannes das Sinnbild des Glaubens, den
Kelch mit der Schlange, Jacobus den Pilger¬
stab, die oben knieende Apollonia eine
Kneipzange, St. Stephan einen Stein, Lau¬
rentius seinen Rost, Andreas sein Kreuz,
u. s. f. Der heilige Augustin paradirt im
Vordergrunde im prächtigsten Bischofsornat,
mit dem Krummstab in der Hand. So weit
ist alles unter der Kritik. Allein einzeln
betrachtet sind die Köpfe und die Figuren
meisterhaft gearbeitet. In allem was von
Rubens in dieser Sammlung hängt, finde ich
nirgends eine so richtige Akademie als Crayer’s
bis zum Gürtel entkleideten Andreas. Dem
heiligen Lorenz hat er einen sehr schönen
jugendlichen Kopf zugetheilt; Augustin aber,
ich weiß nicht ob mit oder ohne Absicht
des Künstlers, ist ein ächter Pfaffe. Das
Kolorit sowohl als die Stellung und Organi¬
sirung der Gruppen, und die Behandlungsart
[192] sind eines Wetteiferers von Rubens voll¬
kommen würdig, so schwerfällig auch das
Ganze immer bleibt.
Van Dyks Arbeiten in dieser Galerie sind
zahlreich und von mancherlei Art. Seine
Porträte stehen mit denen seines Lehrers
Rubens ganz in gleichem Range; manche
sind unübertreflich und trotzen der Kunst
und dem Pinsel, selbst eines Venezianers.
Seine Phantasie erhebt zwar nicht so kühn
den Fittig, aber sie ist züchtiger und erle¬
sener als die seines Lehrers; seine Farben
sind bescheidener und besser verschmelzt,
und gränzen näher an italienische Wärme.
Susanne im Bade ist jedoch ein widriges
Gesicht, das nicht einmal dieses Verdienst
der Farbe aufzuweisen hat. Die berühmte
Grablegung ist zwar herrlich kolorirt, aber
in der Zeichnung verunglückt; zudem gehört
es zu den schwersten Aufgaben der Kunst,
gerade[193] gerade dieser Scene ein eigenthümliches, nicht
durch die Nebenidee der Religion hineinge¬
tragenes Interesse zu geben. Das kleine Bild,
wo Christus mit dem von ihm geheilten
Gichtbrüchigen spricht, hat eine fast tizia¬
nische Wahrheit, der man aber wegen des
äuſserst unedlen Christuskopfes nicht froh
werden kann. Eben so ärgerlich find’ ich
es, daſs der travestirte Jupiter, der als Satyr
die schlafende Antiope überrascht, so ganz
im Satyr verloren, so ganz gemeiner Satyr
ist, und nur, weil sein Adler sich blicken
läſst, als Donnergott anerkannt werden muſs.
Die Nymphe hat zwar eine Frische Farbe;
aber so wunderschön ist sie eben nicht, daſs
sie eine Jupitersverwandlung verdiente. Ei¬
ne Madonna mit dem Christkinde und dem
kleinen Johannes hat alle Vorzüge der Farbe
und des Fleisches, wiewohl dem Bilde noch
die letzte Hand des Künstlers zu fehlen
I. Theil. N[194] scheint; es umschwebt sie sogar etwas we¬
niges von der Anmuth, die auf diesem Bo¬
den nicht gewachsen, sondern jenseits der
Alpen her entlehnt ist. Allein das Schönste,
was ich hier von van Dyks Arbeit bemer¬
ke, ist sein lieblicher Sebastian, in dessen
Kopfe man eine idealisirte Aehnlichkeit mit
dem Künstler selbst nicht verkennen wird.
Der Augenblick dieser Composition ist gut
gewählt. Eben bindet man ihn fest an den
Baum, wo ihn die Pfeile seiner Widersacher
treffen sollen; mithin ist keine widrige Em¬
pfindung früher rege, die den Eindruck stö¬
ren könnte, welchen der schöne, blühende
Jüngling auf den Zuschauer macht. Die
Nebenfiguren sind ihm gehörig untergeord¬
net, und die weiſsere Farbe seines zarten
Leibes dient dazu, ihn noch mehr von ih¬
nen auszuzeichnen. Die Ausführung ist des
Entwurfes werth, und meines Erachtens hat
[195] die flammändische Schule hier nichts Voll¬
kommneres in Farbenmischung aufzuweisen.
Ein bescheidener Siegesgedanke scheint durch
die Gelassenheit, die auf dem Gesichte des
Märtyrers ruhet, hindurch zu stralen, und
dem Zuschauer bleibt nur der Wunsch noch
übrig, daſs der erste Pfeil gerade durch das
Herz treffe, damit keine langwierige Quaalen
ihn stören mögen in seinem vorempfinden¬
den Entzücken.
Der köstlichen Werke von italienischer
Kunst, die in groſser Anzahl diese reiche
Sammlung zieren, habe ich noch mit keiner
Silbe erwähnt; doch Du begreifst, daſs es
mir in diesem Augenblick nicht möglich ist.
N2[196]
VIII.
Die Rose, sagen wir, ist die schönste unter
den Blumen, und ein ziemlich allgemeines
Wohlgefallen an ihrer Gestalt scheint dieses
Urtheil zu bestätigen. Ich weiſs nicht, ob
der göttliche Apoll, oder wähle Dir welches
andere Ideal Du willst, ob dieses eben so
allgemein durch übereinstimmendes Gefühl
als Inbegrif der menschlichen Schönheit aner¬
kannt und angenommen wird; aber das weiſs
ich, daſs der Mensch, vor allen anderen
Gegenständen der Natur, einer wahrhaften
Idealisirung fähig ist, indem das Ideal, wel¬
ches der Künstler entwirft, zugleich mit
dem richtigen Verhältnisse des menschlichen
Körpers als einer besonderen Thiergattung,
auch die Sittlichkeit des Menschen, als mit¬
empfunden, darstellen muſs. Von keinem
[197] andern Wesen wissen wir die Bestimmung,
die relative Zweckmäſsigkeit und folglich die
subjektive Vollkommenheit so genau und
bestimmt in allen ihren Momenten anzuge¬
ben, wie von uns selbst; von keinem andern
Wesen wissen wir aus vielfältig gesammelter
Erfahrung den Begrif dieser Vollkommenheit
mit einer tief empfundenen Vollkommenheit
der Form zu paaren. Den physiognomischen
Sinn, so unmöglich es ist, ihm eine Metho¬
dik unterzulegen, können wir uns selbst
nicht abläugnen; aber es bedarf keines Er¬
innerns, daſs er vom Menschen zum Men¬
schen ungleich wirksamer ist, als in Bezie¬
hung auf die Qualitäten der Thiere und
Pflanzen und deren Signaturen (laſs mir das
mystische Wort nur hingehen) in der äuſse¬
ren Gestalt. Es scheint uns zwar oft gar
etwas verächtliches um die Bestimmung der
mancherlei Wesen, die zugleich mit uns die
N 3[198] Erde bewohnen; wir wähnen auch wohl
uns selbst als letzten Zweck des Daseyns
aller Dinge um uns her. Allein ein geringer
Grad von Naturkenntniſs kann uns aus die¬
sem Irrthum reiſsen. Ueberall stoſsen wir
auf Organisationen, die wir noch nicht ken¬
nen, die wir nicht zu brauchen wissen, deren
Verhältniſs zu den übrigen Erdenwesen uns
räthselhaft bleibt; und wollen wir die Augen
öffnen, so wird sich uns täglich und stünd¬
lich die Ueberzeugung aufdrängen, daſs wir
von der Art zu seyn, zu genieſsen, des Da¬
seyns froh zu werden, und seine Bestim¬
mung zu erreichen, eines jeden andern Din¬
ges, auſser dem Menschen selbst, auf dem
Wege der Empfindung nichts Vollständiges
erfahren können, indem die Natur alles Iden¬
tificiren mit fremden Gattungen unmöglich
macht. Ein Wesen aber, mit dessen Organen
wir nicht empfinden, in dessen Lage wir
[199] uns nicht hinein denken und hinein ahnden
können; von dessen innerer Vollkommenheit
können wir uns auch kein Ideal abstrahi¬
ren, und dieses eben so wenig mit dem
Gefühl, das wir von der Schönheit seiner
Gestalt haben, in eine Harmonie bringen,
oder mit einer bestimmten Form bezeichnen.
Den Menschen können wir idealisiren;
darum bleibt er allerdings der höchste Ge¬
genstand der bildenden Kunst *). Wie nun
aber das Ideal gestaltet seyn müſste, das die
gesammte Gattung vorstellen sollte, ist dar¬
um noch nicht ausgemacht. Wenn wir
darin übereinstimmen, daſs es über die in¬
dividuelle Natur hinausgehen und, was von
Vollkommenheiten in einzelnen Personen
durch das ganze Geschlecht zerstreuet ist,
N 4[200] zu einem harmonischen Ganzen vereinigt,
darstellen müsse, so wird uns bei der Aus¬
führung immer eines Jeden individueller
Schönheitssinn im Wege stehen, und jeder
Künstler, wie er selbst moralisch groſs oder
klein ist, wie er auffassen, theilnehmen und
mittheilen kann, auch, wie er Gelegenheit
hatte, das einzelne Vortrefliche zu sammlen
und zu vergleichen, wird uns das Ideal sei¬
ner Phantasie mit andern Zügen schildern.
Fürwahr also, eine höchstverwickelte Auf¬
gabe, da, wo sich alle zuletzt auf ein un¬
willkührliches Gefallen und Nichtgefallen be¬
rufen, einen Ausſpruch wagen, eine Wahl
treffen zu müssen, zumal da der Fall des
Kenners, des Kunstliebhabers und überhaupt
eines Jeden, der sich auf die Beurtheilung
eines Kunstwerkes einläſst, von dem Falle des
Künstlers in so fern nicht verschieden ist,
daſs jeder von ihnen zu dieser Beurthei¬
[201] lung andere Fähigkeiten und Fertigkeiten
mitbringt.
Auf etwas Gemeinschaftliches, auf eine
gewisse Uebereinstimmung des Gefühls grün¬
det sich indessen doch das Bestreben eines
jeden Künstlers, die tiefempfundene Schön¬
heit darzustellen. Es ist unstreitig, daſs die
Empfindung des Wohlgefallens bei den meisten
Menschen nach einer gewissen Analogie be¬
rechnet werden kann. Völker, deren Bil¬
dung, Erziehung, Sitten und Wohnsitze sich
ähnlich sind, werden im allgemeinen über
Gegenstände der Sinne ein übereinstimmendes
Urtheil fällen, und in ihren Empfindungen
von Gerüchen, Gestalten, Tönen und Ge¬
schmacksarten mit einander harmoniren. Die
eigentliche Schwierigkeit entsteht erst dann,
wenn Schönes mit Schönem verglichen, und
Grade des mehr oder minder Gefälligen an¬
gegeben werden sollen. Alsdann zeigt es
N 5[202] sich, daſs wir zur Bildung des Geschmacks,
als des ächten Kunst- und Schönheitssinnes,
eben so wohl Uebung bedürfen und den
Beistand unserer übrigen Gemüthskräfte hinzu
rufen müssen, wie es zur Vervollkomm¬
nung irgend eines andern Gebrauches dieser
Kräfte nöthig ist. Weil nun aber das We¬
sen des Ideals es mit sich bringt, daſs es
ein Abdruck der sittlichen Vollkommenheit
in sinnlich anschaulichen Formen sei; so
scheinen zur Hervorbringung eines solchen
höchstvollendeten Werkes der menschlichen
Kunst dreierlei Requisite in der Person des
Künstlers zusammentreffen zu müssen: erst¬
lich, eine reiche Ausstattung mit jenen über¬
legenen Seelenkräften, in deren Fülle und
Harmonie schon individuelle Gröſse und
subjektive Vollkommenheit gegeben ist; zwei¬
tens, Schauplatz und Gelegenheit zur zar¬
testen Entwickelung und Ausbildung dieser
[203] innern Energie, höchste sittliche Kultur;
drittens, hohe Darstellungsgabe und innerer
Trieb sowohl, als äuſsere Veranlassung, sie
in Wirksamkeit zu versetzen.
Der Geschmack, womit das Ideal der
Schönheit beurtheilt werden muſs, wenn
anders seine Aussprüche unpartheiisch seyn
sollen, setzt in demjenigen, der ihn besitzt,
das Vermögen voraus, zwischen dem Wohl¬
gefallen am Schönen, und einem jeden an¬
deren Interesse, welches der Verstand oder
auch die Begierde an einem schönen Ge¬
genstande nehmen können, zart und rein
zu unterscheiden. Die Empfindung, die das
Schöne in uns hervorbringt, ist vom Reize
unabhängig, und zugleich durch keine Ope¬
ration der Vernunft erklärbar. Vielleicht
ist dies der Grund, weshalb der höch¬
ste Schwung, den die bildende Kunst zur
Erreichung des Ideals sich je gegeben hat,
[204] in den mythologischen Statüen der Alten zu
suchen ist; theils weil ihr Gegenstand hin¬
ausragte über den gewöhnlichen Stand aller
menschlichen, wirklich existirenden Vollkom¬
menheit, theils weil die Bildhauerei — das
abgerechnet, daſs sie das Materielle dem Ge¬
fühl und dem Auge zugleich Preis giebt —
jene vollkommene Ruhe nothwendig macht,
welche die Betrachtung des Schönen begün¬
stigt, indem sie uns durch keinen patho¬
gnomischen Eindruck unterbricht. Es war
eine glückliche Uebereinstimmung der Kunst¬
ideen mit dem Religionssystem jener Völker,
daſs man diese Muster der übermenschlichen
Schönheit und Vollkommenheit zu Gegen¬
ständen der Anbetung erhob, und ihnen da¬
durch neben ihrem ästhetischen Werthe, der
nur von Wenigen rein empfunden werden
konnte, zugleich für das Volk ein näher
liegendes Interesse gab. Dies, verbunden
[205] mit so vielen andern Begünstigungen, womit
Verfassung, Klima, Lebensart und vor allem
angestammter Reichthum der Organisation,
dem Griechen zu statten kamen, wirkte
kräftig und ohne ein zweites, wetteiferndes
Beispiel in der Geschichte, zur Ausbildung
des Geschmacks, und zur Erzeugung jenes
allgemeinen zarten Kunst- und Schönheits¬
sinnes, für welchen namentlich der athe¬
niensische Demos so berühmt geworden ist.
Bei uns ist der reine Kunstgeschmack,
in Ermangelung alles dessen, was ihn bilden,
vervollkommnen und allgemein entwickeln
konnte, nur auf wenige einzelne Menschen
eingeschränkt. Der Anblick der bloſsen
Schönheit, ohne einiges Interesse, ermüdet
den groſsen Haufen der Künstler und Ken¬
ner, die nicht mehr das Knie vor ihr beu¬
gen, ihr huldigen und Schutz und Gaben
von ihr erflehen. Die idealisirten Götter
[206] und Göttinnen sind nicht mehr; Menschen
von bestimmtem, individuellem Charakter,
Menschen, durch herrschende Leidenschaften
und Gemüthsarten bezeichnet, sind an ihre
Stelle getreten. Die Kunst muſste also ih¬
rem ersten, wahren Endzweck, der Darstel¬
lung des Idealischschönen, ungetreu werden,
oder ihre gewohnte Wirkung verfehlen und
auf alle Herrschaft über die Gemüther Ver¬
zicht thun. Das Letzte wäre nur in dem
Einen Falle möglich gewesen, wenn der
Geist des Zeitalters nicht auf den Künstler
gewirkt hätte; wenn, von Zeit und Umstän¬
den unabhängig, der künstlerische Genius,
in abstrakter Vollkommenheit schwebend,
mitten unter Christen ein Grieche geblieben
wäre.
Aber Veränderung und Wechsel sind ja
die Devisen unseres so schief in seiner Bahn
kreiselnden Planeten! Der ewige Reihen¬
[207] tanz bringt immer neue Verhältnisse, neue
Verwicklungen, neuen Kampf unserer Kräfte
mit den Kräften des Weltalls hervor; und,
frei heraus bekannt, wäre nicht der Dienst
der schönen Ideale gestürzt, so hätten wir
noch keinen Raphael, keinen Tizian und
keinen Corregio, wir hätten in der Kunst
keine individuelle menschliche Schönheit,
keinen Farbenzauber und keine Anmuth.
Du wirst mich der Paradoxie beschuldigen;
aber ich will es hier in Gegenwart der
groſsen Namen, die ich eben nannte, gleich¬
sam unter ihrer Fahne betheuern, daſs, weil
einmal dem also ist, es auch für uns noch
allenfalls am besten sei. Was sollen uns
die alten Lappen, wären sie auch noch so
schön, auf dem neumodigen Kleide? Grie¬
chische Gestalten und griechische Götter
passen nicht mehr in die Form des Men¬
schengeschlechtes; sie sind uns so fremd,
[208] wie griechisch ausgesprochene Laute und Na¬
men in unserer Poësie. Es mag seine Rich¬
tigkeit haben mit der göttlichen Vollkom¬
menheit der beiden Meisterwerke des Phi¬
dias, seiner Minerva und seines Jupiters;
aber je majestätischer sie da säſsen oder
ständen, das hehre Haupt für unsern Blick
angränzend an den Himmel: desto furcht¬
barer unserer Phantasie; je vollkommnere
Ideale des Erhabenen: desto befremdlicher
unserer Schwachheit. Menschen, die für
sich allein stehen konnten, hatten keckes
Bewuſstseyn genug, um jenen Riesengott¬
heiten ins Auge zu sehen, sich verwandt
mit ihnen zu fühlen und sich um dieser
Verwandtschaft willen ihren Beistand im
Nothfall zu versprechen. Unsere Hülfsbe¬
dürftigkeit ändert die Sache. Wir darben
unaufhörlich und trotzen nie auf eigene
Kräfte. Einen Vertrauten zu finden, dem
wir[209] wir unsere Noth mit uns selbst klagen, dem
wir unser Herz mit allen seinen Widersprü¬
chen, Verirrungen und geheimen Anliegen
ausschütten, dem wir durch anhaltendes
Bitten und Thränenvergieſsen, wie wir selbst
geduldig und mitleidig sind, ohne ihn zu
ermüden, Beistand und Mitleid ablocken
können: dies ist das Hauptbedürfniſs unseres
Lebens, und dazu schaffen wir uns Götter
nach unserem Bilde. In dem nächsten Ka¬
pellchen kann ich die Ueberzeugung finden,
daſs die unbegreifliche Gottheit selbst, schwer¬
lich irgendwo mit dem herzlichen Vertrauen
angerufen wird, womit eifrige Christen hier
zu den Heiligen beten, die einst Menschen
waren, wie sie. Dies ist Stimme der Natur,
trotz allem, was die Philosophie, die nur in
Abstraktionen lebt, darüber dogmatisiren mag.
Gleichheit ist die unnachläſsliche Bedingung
der Liebe. Der Schwache kann das Voll¬
I. Theil. O[210] kommene nicht umfangen; er sucht ein We¬
sen seiner Art, von dem er verstanden und
geliebt werden, dem er sich mittheilen
kann.
Zu diesem Menschengeschlechte nun ge¬
hören unsere Künstler, und für dasselbe ar¬
beiten sie. Von Griechenlands Idealen ist
genau noch so viel übrig geblieben, daſs es
ihnen zu einem Fingerzeige dienen kann,
wohinaus vor diesem der Weg der Kunst
liegen mochte. Mit dem Sinne für das ho¬
he Schönheitsideal ist aber auch die Mög¬
lichkeit, es wieder zu erreichen, verschwun¬
den. Die Mannichfaltigkeit des Individuel¬
len ersetzt uns indeſs diesen kaum mehr
empfundenen Verlust. Einzelne aus der Na¬
tur gegriffene Charaktere mit Beibehaltung
ihrer Individualität zu idealisiren, oder mit
einem Abglanze des Schönen auszuschmücken,
welcher hinreicht, die Empfindung des Wohl¬
[211] gefallens zu erregen, dies ist das Ziel der
neueren Kunst. Also arbeitet sie auch nicht
mehr für den reinen ästhetischen Sinn; viel¬
mehr, um ihrer Wirkung gewisser zu seyn,
intriguirt sie durch Handlung den Verstand,
und besticht unser Begehrungsvermögen durch
den Reiz der Grazien. Wir sind es schon
so gewohnt, dem Künstler in dieser Rich¬
tung zu folgen, daſs oft die bloſse Nach¬
ahmung des Natürlichen, ohne den minde¬
sten Versuch zum Idealisiren, unsere For¬
derungen befriedigt, oft die Erdichtung der
Beziehungen, in denen man uns eine Hand¬
lung darstellt, völlig hinreicht, uns über
die gänzliche Abwesenheit alles Schönen zu
beruhigen. Eine unausbleibliche Folge die¬
ser Verrückung des eigentlichen Kunstziels
ist die Abzweigung der Kunst in so manche
ganz verschiedene Darstellungsarten, womit
es endlich dahin gekommen ist, daſs insbe¬
O 2[212] sondere der jetzigen Malerei kein Gegenstand
in der Natur, der nur mit Farben sich be¬
zeichnen läſst, auſserhalb ihrer Gränzen zu
liegen scheint.
Wenn aber hier und dort unter den
Künstlern eine groſse Seele hervorgeht, so
wird sie nach ihrem angeborenen inneren
Adel das Schöne dennoch ahnden, ihm nach¬
streben, und sich zuweilen, ungeachtet al¬
ler Hindernisse, dem vorgesteckten Ziele nä¬
hern. Die physische Natur und die Stufen
der sittlichen Ausbildung verschiedener Völ¬
ker müssen diesen Flug des Genius entwe¬
der begünstigen oder hemmen. Italien! rei¬
zendes Italien! noch sah ich dich nicht! —
— — Italien ist reich an den Trümmern
der altgriechischen Kunst, und seinen Be¬
wohnern hat der mildere Sonnenstral, zu¬
gleich mit einer gewissen Unabhängigkeit von
manchem klimatischen Bedürfnisse, auch ein
[213] reiches Maaſs von Spontaneität und Empfäng¬
lichkeit zugetheilt. Was ich von dorther
kommen sah, es sei nun Gemälde, Gedicht
oder Gesang, das hat einen Zauber, der
das Auge fesselt wie das Ohr, und den
Sinn auflöset in Entzücken. Wenn ich hier
in den Saal trete, wo die Werke italieni¬
scher Meister mit flammändischen untermischt,
meinem Blicke begegnen — mir ist zu Mu¬
the wie einem Europäer, der nach einem
langen Aufenthalt im Orient endlich einen
näher mit ihm verwandten Menschen erblickt;
er untersucht nicht erst, ob der Fremde ein
Deutscher, ein Franzose, ein Engländer, ein
Spanier, ob er ketzerisch oder rechtgläubig
sei: genug, es ist ein Franke, dessen Sinnes-
und Denkungsart den seinigen gemäſser sind,
der ihn, und den auch er besser versteht.
Es ist Zeit, daſs ichs bekenne: kaum
hatte ich diesen Morgen das Papier aus der
O 3[214] Hand geworfen, so eilte ich noch einmal in
die Galerie, um nur an transalpinischen Wer¬
ken mich satt zu sehen. Was ich jetzt seit
einer Stunde daher phantasire, ist nur die
Reaktion, die der Anblick dieser von allem
flammändischem Machwerk so abweichenden
Gestalten in meinem Kopfe veranlaſst hat.
Zuerst ging ich langsam durch die Säle,
sah wo die Italiener hingen, und merkte
mir in jedem Saale die Stücke, die ich nä¬
her betrachten wollte. Die Lüsternheit wird
übermüthig, wenn sie im Ueberflusse wäh¬
len kann. Unter der Menge dessen, was
Künstler und Kenner hier interessant finden
würden, zog mich nur wenig an, durch
Züge von inwohnender Schönheit, die von
einem Sinne des Malers für menschliche
Gröſse zeugten. Ich ging aus, mit dem Vor¬
satze, zu sehen, ob ich etwas finden wür¬
de, das ich um seiner Schöne willen lieben
[215] könnte, und du weiſst, diese Liebe gehorcht
keinem Zwange: sie ist das Kind der freien
Unbefangenheit; sie ist ein Kind, kein er¬
wachsener, gewitzigter Amor. Ich lasse die
Klugen da stehen und predigen vom Unter¬
schied und Charakter der verschiedenen ita¬
lienischen Schulen, ich lasse sie da eine
Gruppe bewundern, weil sie pyramidalisch
sich spitzt, dort eine Drapperie, die wahr
gefaltet oder auch groſs geworfen ist, hier
einen Ausdruck, der die Natur nachahmt,
hier wieder einen wie hingezauberten Effekt
des Lichtes. Das alles ist vortreflich, und
sogar verdienstlich, wenn du willst; doch
wenn von lieben die Rede ist, so muſs auch
von Gestalt allein die Rede seyn; ich kann
einen Haufen von Menschen, und stände
er noch so malerisch, nicht als bloſsen Hau¬
fen, ich kann keinen Rock, kein Geberden¬
spiel, keine Beleuchtung, keine Farbe lieben.
O 4[216] Findet sich dies alles mit einer edlen Zeich¬
nung und einer schönen Form zu einem
Ganzen vereinigt; alsdann ist das Kunstwerk
von einer hinreiſsenden Vollkommenheit;
aber auch abgesondert von allem Nebenwerk
ist ein bloſser Umriſs mit Raphael's Schön¬
heitssinn entworfen, mehr werth als das voll¬
endetste Gemälde, dem dieses wesentliche
Bedingniſs fehlt. Licht und Farbe, Bewe¬
gung, Ausdruck und Anzug kann die Ein¬
bildungskraft sich zu einer gegebenen schö¬
nen Gestalt leicht hinzudenken; hingegen
den feineren Genuſs stört unwiederbringlich
eine schlechte oder gemeine Natur, das
Gemälde sei übrigens noch so meisterhaft
ausgeführt.
Hast Du nicht die Susanna von Domi¬
nichino bewundern und rühmen gehört?
Die ist nun wirklich ein schön und richtig
gezeichnetes Weib, und dennoch gefällt sie
[217] nicht, weil ihr gemeines Gesicht an sich
nicht reizend ist und auf eine höchst wi¬
drige Art von dem häſslichen Schrei ent¬
stellt wird. Das Hauptinteresse des Stückes
geht also verloren; man muſs sich zur Schad¬
loshaltung an Nebensachen ergötzen. Doch
auch die Stellung ist ungraziös und sogar
unvortheilhaft, indem sie die ganze Figur
wie ein lateinisches Z zusammendrückt. Die
Farbengebung des Nackten ist für einen Do¬
minichino immer zu bewundern, jedoch zum
Theil verblichen. Die im Bade rothgewor¬
denen Füſse, die man dem Maler zum Ver¬
dienst anrechnet, weil er die Natur so gut
zu belauschen gewuſst, machen gleichwohl
für das Auge eine unangenehme Disparität.
So gefährlich ist es mannichmal, in der
Nachahmung des Natürlichen zu weit zu
gehen. Es fällt dem Zuschauer lange zuvor
auf, daſs die Susanna rothe Füſse hat, ehe
O 5[218] er sich bescheidet, sie könne auch wohl
schon aus dem Wasser gestiegen seyn. Die
Scene ist übrigens gar nicht poëtisch be¬
handelt. Ein jedes gemeines Weib, das
nicht von ausgelassenen Sitten ist, würde
sich so benehmen; hier aber sollte der
Künstler ein edles, tugendhaftes, groſses
Weib bezeichnen. Da er einmal mit einem
ungeheuren Badetuche so freigebig war und
die keusche Jüdin noch überdies zur Sicher¬
heit mit einer Balustrade umgab, so wäre
es ihm ein leichtes gewesen, sie voll An¬
muth und Würde, stehend, mit edlem Un¬
willen auf den Lippen, mit einem groſsen
Blick der Verachtung in den reizenden Au¬
gen hinzustellen; fest, entschieden und ent¬
schlossen, sich eher der Lästerung als den
Begierden ihrer Verfolger Preis zu geben.
Dann hätte meinetwegen sich auch ihr Mund
öfnen mögen, um Hülfe zu rufen; dieses
[219] Rufen hätte nicht, wie das Geheul des
Schreckens, ihr Antlitz entstellt. Ich ge¬
stehe gern, daſs die apokryphische Erzählung
selbst zu einer solchen Begeisterung keine
unmittelbare Veranlassung giebt. Wie ent¬
deckt sich Susannens Unschuld? Ein Kna¬
be verhört die Kläger, und weil einer das
schöne Weib in den Armen ihres Liebha¬
bers unter der Linde, der andere unter der
Eiche gesehen haben will, ist das Hauptfak¬
tum, worin beide übereinstimmen, nicht
wahr! Bei solchen Gelegenheiten erinnert
man sich auch eines Baumes! Allein die
Juden in Babylon glaubten an Keuschheit,
und Daniel bewährte seine Weisheit, indem
er diesen Glauben zu Gunsten der schönen
Susanna benutzte. Es scheint übrigens nicht,
daſs Dominichino auf diesen Theil der Ge¬
schichte Rücksicht genommen hat; denn
es stehen eine Menge von Bäumen verschie¬
[220] dener Art im Garten um das Bad herum.
Dachte er vielleicht, die Aeltesten hatten
wohl beide Recht? Die Susanna ist indeſs
ein Lieblingsſüjet der Malerei. Van Dyk’s
Behandlung dieses Gegenstandes habe ich
schon erwähnt; hier ist noch eine dritte
Susanna von Dominichino’s Meister, Annibal
Carracci, die ganz nackt, ganz ruhig und
sorglos da sitzt, und sich aus einem Spring¬
brunnen Wasser auf die Hände rinnen läſst.
Die Figur ist eine gute Akademie, ziemlich
warm kolorirt, und weiter nichts. Die al¬
ten Faunen beschleichen sie.
Von Raphael’s Händen sah ich hier nur
ein kleines Bild, eine heilige Familie, in
seiner ersten Manier, wo er Meister Peru¬
gino’s Fesseln noch nicht abgeworfen hatte.
Das ist eine steife Gruppe! Von Josephs
Kopf herab längs dem Rücken der Elisabeth
und der Schulter der Madonna ist es ein
[221] wahrhaftes Dreieck. Die Farben sind hart
und grell, und des trocknen Pinsels wegen
scheinen manche Umrisse eckig; von Licht
und Schatten ist kaum eine Spur. Das
nackte Christkind ist von Gesicht etwas
häſslich, und Elisabeth ein wenig gar zu alt.
Die Landschaft ist hell und bestimmt; so
trocken und hart wie die Figuren. Von
wenigen Bildern hier läſst sich so viel Nach¬
theiliges sagen, — aber auch von wenigen
so viel Gutes. Die Aengstlichkeit der Py¬
ramide abgerechnet, ist es die traulichste
Vereinigung, die sich in einer Familie den¬
ken läſst. Elisabeth und Maria sitzen beide
auf der Erde, und haben ihre Kinder zwi¬
schen sich. Johannes sitzt der Mutter im
Schooſs, und ist ein niedlicher Bube; der
kleine häſsliche Bambino reitet der Madonna
auf dem Knie, und ist auſser den Gesichts¬
zügen eben so richtig und schön gezeichnet.
[222] Die holde Mutter betrachtet ihr Kind mit
einem Blick voll himmlischer Anmuth und
Zärtlichkeit; ihr Kopf neigt sich sanft vor
über ihn, und auf ihrer Stirne thront jung¬
fräuliche Schönheit. Ich habe noch keinen
Maler gesehen, auſser Raphael und Leonar¬
do da Vinci, der die Jungfrau und die
Mutter so in Ein Wesen zu verschmelzen
gewuſst hätte. Alle Mysterien bei Seite, die¬
ser Charakter ist in der Natur; moralische
Jungfräulichkeit, reines Herz und reine Phan¬
tasie, mit Mutterliebe im schönsten Bunde!
Er gehört, das will ich gern zugeben, zu
den seltensten Erscheinungen; aber jene bei¬
den groſsen Menschen faſsten ihn, und ich
weiſs, er ist nicht ausgestorben mit den Ur¬
bildern, von denen sie ihn, wie einen Sieg,
davon trugen. Mehr Grazie, mehr unge¬
zwungene, natürliche Grazie — doch eine
andere giebt es ja nicht — mehr als diese
[223] Madonna, haben wenige Gebilde der Kunst.
Elisabeth blickt auf zum heiligen Joseph, der
an seinem Stabe gleichsam hangend, mit sei¬
nem gutmüthigen Gesichte gedankenvoll drein
lächelt. Die Köpfe sind schön, und bei al¬
ler, selbst idealischen, Schönheit, dennoch
mit Nationalzügen und mit lieblicher Indi¬
vidualität, rein und unmittelbar aus der le¬
bendigen Natur, verwebt. Dies ist es, was
sie so reich an Charakter, und in ihrer
geistigen Fülle so anziehend macht. Das
Costume ist einfach und schön, ohne die
allermindeste Anmaſsung und künstlerische
Coquetterie, vermuthlich geradezu von der
damaligen Volkstracht entlehnt. Nach allem,
was ich anderwärts von Raphael’s Werken
gesehen habe, und nach den Kupferstichen
von seinen gröſseren Gemälden im Vatikan
zu urtheilen, bleibt dieses kleine Stück von
einem verhältniſsmäſsig sehr geringen Werth,
[224] aber dennoch glimmte schon hier der Funke,
der bald Flamme werden und jedes andere
Licht verdunkeln sollte. Er verräth auch
hier bereits ein hohes Dichtergefühl von der
Würde seines Gegenstandes. Die geheim¬
niſsreiche Lehre seiner Kirche zeigte ihm die
erhabensten Wesen in der geringsten, unge¬
bildetsten Klasse eines ungebildeten Volkes.
Diesen schuf er in seiner Einbildungskraft
eine schöne Harmonie ihrer Geisteskräfte;
er bildete in ihren Zügen die sanfte, reine,
richtige Empfindung und jene Güte des Her¬
zens, wozu er in sich selbst das Urbild fand;
mit Einem Worte: er gab ihnen an inten¬
siver Vollkommenheit, was ihnen an exten¬
sivem Wissen fehlen muſste. Götter waren
es nicht, die er zu schildern hatte; allein
es blieb ihm unbenommen, sich wenigstens
göttliche Menschen zu denken, und die Be¬
dingnisse sich anschaulich zu machen, unter
denen[225] denen die einfachsten Hirten seines Volkes
sich bis zu dieser moralischen Vortreflichkeit
hinaufadeln lieſsen. Mit solchen Begriffen
schien er geschaffen, der Religion durch die
Kunst einen neuen Glanz und ästhetische
Wirksamkeit, die einzige, die ihr noch fehl¬
te, zu verleihen; und dieses Verdienst er¬
kannte Leo vielleicht, als er ihm den Pur¬
pur bestimmte. Allein wer vermochte ihm
nachzufliegen, den kühnen, erhabenen Flug?
Schon jetzt verehrt der groſse Haufe der
Kunstliebhaber in seinen Werken nicht so¬
wohl seinen Genius, als seinen Ruhm. Ver¬
schwiege man ihnen den Namen des Künst¬
lers, sie wüſsten es wahrlich nicht zu be¬
greifen, was man an seinen Bildern hat.
Was ist Zeichnung und Form für jeden,
der nur Augen hat für flämische Farben?
Noch eine Revolution, wie unser Geschlecht
deren so viele erlebt hat, eine, die uns
I. Theil. P[226] Italiens Schätze raubte, wie Griechenlands
Schätze einst verschwanden — und unsere
Nachkommen werden es nicht mehr glau¬
ben, daſs es je einen gröſseren Maler gab,
als Rubens.
Ich muſs auch dieser heiligen Familie
noch erwähnen, die sich neben Raphael’s
seiner so vortheilhaft ausnimmt; sie ist von
Andrea del Sarto, dem sein Lehrer Michel
Angelo das Zeugniſs gab, daſs er groſs, wie
Raphael, geworden wäre, wenn er nur die¬
selbe Gelegenheit sich zu bilden und sich
zu zeigen gehabt hätte. Etwas von diesem
Lobe geht wohl auf Rechnung der Eifer¬
sucht; aber die eigene Gröſse des Floren¬
tiners bürgt uns, daſs es nicht ganz unge¬
gründet war. Sein Schüler hat hier alles
geleistet, was das Süjet nur tragen konnte.
Die Madonna hat sanfte Weiblichkeit, und
ist wirklich schön, wenn gleich nicht von
[227] erhabener Schönheit. Elisabeth hat Spuren
von verblichenem italienischem Reize; der
kleine Johannes, mit seinem sprechenden
ausdrucksvollen Gesichte, ist mit einer glück¬
lich getroffenen Kinderschönheit begabt, und
nur der Engel hinter der Jungfrau hat einen
dummen Blick. Die Simplicität, die Natur
und Eleganz der Zeichnung sind im höchsten
Styl der Kunst; die Farben für einen Ma¬
ler aus der florentinischen Schule gut ge¬
wählt und schön verschmelzt; überhaupt ist
an der ganzen Ausführung keine Klage über
irgend etwas von demjenigen, was in Ra¬
phael’s eben erwähntem Bilde miſsfällt; viel¬
mehr ist alles sehr weich und mit groſser
Leichtigkeit gehalten. Man bedauret nur,
daſs das Bild durch Zufall und Ausbesserung
gleich viel gelitten hat. Es ist noch eine
zweite Madonna von Andrea del Sarto in
dieser Sammlung; sie sitzt auf einem Thron,
P 2[228] der ein paar Stufen erhöhet ist, und hält das
vor ihr stehende Christkind. Vorn sitzt links
St. Markus, und rechts knieet ein Engel.
Dem vorigen Bilde kann man dieses nicht
an die Seite stellen; zudem ist es auch un¬
vollendet, und folglich härter und trockner,
als es vermuthlich hätte werden sollen; doch
erkennt man darin den Meister. Warum
die schöne sitzende Figur St. Markus und
kein anderer Heiliger sei, wird sich so leicht
nicht überzeugend darthun lassen, weil sein
Gefährte, der Löwe, nicht dabei steht, und
es doch nicht so leicht ist, alle und jede
Heiligen, wie weiland die griechischen Göt¬
ter, an ihren Eigenthümlichkeiten, zu unter¬
scheiden. Paulus und Barnabas wurden zwar
von den Einwohnern von Lystra für den
Merkur und Jupiter angesehen; allein dem
Kunstsinne dieser ehrlichen Lykaonier, die
damals noch Erscheinungen von ihren Göt¬
[229] tern für möglich hielten, möchte wohl nicht
sehr zu trauen seyn.
Im Vorübergehen fällt ein Blick auf Pie¬
tro da Cortonas schöne Ehebrecherin; doch
was sage ich? Ehebrecherin? Das Bild
schreiet Rache über diese Verläumdung, oder
— wenn dieses Weib eine Ehebrecherin war,
so werfe, wer schuldloser ist, den ersten
Stein auf sie; denn dieses Weibes Sünde
war eine Tugend. Mit gebundenen Händen
steht sie da, den abgewandten Blick in
Thränen, den Blick, dem zu begegnen der
tückische Kläger nicht werth ist. Es ist die
Ruhe eines hohen Bewuſstseyns in ihren
Zügen, und in dem etwas zusammenge¬
drückten Munde Schmerz und Trotz des ge¬
kränkten Gefühls. Die Form des Gesichtes
ist sehr edel; man sieht, es ist Studium der
Antike, angewandt auf eine schöne Skizze
nach der italienischen Natur. Im ganzen
P 3[230] Kopf, in der Stellung, in der Draperie
herrscht eine Einfalt und Grazie, welche
diesem wackern Pietro eigen war. Der halb
entblöſste Hals und die treflich gezeichneten
Hände sind gut kolorirt, und das ganze
Bild gehört zu der kleinen Anzahl der hier
vorhandenen, vor denen man lange stehen
und bei denen man immer weiter in die
Seele des Künstlers hineinlesen kann.
Dies ist schon nicht der Fall bei Carlo
Dolce’s Christus mit der schönen Hand:
man sieht und bewundert die Hand, die
am Ende doch nur allzumühsamen Fleiſs
verräth; und wenn man einen alltäglichen
Christuskopf findet, geht man weiter. Seine
Madonna mit dem Kinde, in dem Vorsprung
am Fenster, ist das Idol der Menge derer,
die täglich die Galerie besuchen; ein bis
zum Ekel süſses, gelecktes, elfenbeinernes
und noch obendrein verzeichnetes Mach¬
[231] werk, bei dem der Ausdruck im Fleiſse
verschwindet.
Ueber diesem spiegelglatten, bunten Bild¬
chen hängt ein Johannes in der Wüste, in
Lebensgröſse. Die Zeit hat diesem göttlichen
Werke gegeben und genommen: gegeben —
eine Wahrheit des Kolorits, die es vielleicht
bei seiner Verfertigung nicht hatte; genom¬
men aber — an einigen wenigen Stellen den
bestimmten Umriſs, dessen dunkle Schatten
sich in den noch dunkleren Hintergrund
verlieren. Auf seinen linken Arm gestützt,
den linken Fuſs an sich hinaufgezogen in
eine Ruhe, die doch nicht unthätig ist, den
rechten vor sich hinausgestreckt, des Kör¬
pers andere Stütze, so sitzt Johannes ru¬
hend da in jugendlicher Kraft und Blüthe,
sein sinnendes Haupt der rechten Schulter
zugewandt. Unter seiner Linken liegt auf
dem Felsensitze das Kreuz, und in der
P 4[232] Rechten, deren Arm, links hingehalten, sei¬
nen Schooſs beschattet, hält er das andere
Emblem des Täufers: die, mit dem Quell,
der unter seinem Sitze hervorströmt, ange¬
füllte Schale. Diese Zeichen geben ihm für
den Christen ein eigenthümliches Interesse;
sie versetzen uns in den bestimmten Ge¬
sichtspunkt, aus welchem der Künstler be¬
urtheilt werden muſs, den nämlich, in des¬
sen ekstatischem Helldunkel er das Urbild
seiner Schöpfung erscheinen sah. Doch die¬
ser Künstler war nicht nur Christ, er war
zugleich ein Mensch; und, mit Menschen
menschlich zu reden, ersann er dieses un¬
übertrefliche Denkmal seiner Kunst und sei¬
nes leise ahndenden, in die Tiefen der Seele
göttlich herabsteigenden Geistes! Wenn im
Strome wechselbringender Jahrtausende die
jetzigen Einkleidungen des Wahren längst
verschwunden und vergessen sind, und es
[233] eben so unmöglich seyn wird, unsere Hie¬
roglyphen, als es uns jetzt ist, die ägypti¬
schen, zu entziffern; dann bliebe dieses Ge¬
mälde, falls ein glücklicher Zufall es bis
dahin erhielte, jener späten Nachwelt ein
Vereinigungspunkt mit der Blüthezeit unse¬
rer heutigen Kunst; ein Spiegel, in welchem
man die Bildungsstufe und den Geist des
vergangenen Geschlechts deutlich erkennen,
und ein lebendiges, so lang’ es Menschen
giebt, verständliches Wort, wodurch man
vernehmen würde, wie einst der Sterbliche
empfand und dachte, der dieses Zeugniſs
seiner Schöpferkraft hinterlieſs.
Kraft in Ruhe, nicht Abspannung, son¬
dern Gleichgewicht; dies ist das aufgelösete
Problem. Wir sehen einen Mann in Jüng¬
lingsschönheit sitzen; der Körper ruhet, doch
nur vermittelst wirkender Muskeln, und
der rechte Arm schwebt frei mit der ge¬
P 5[234] füllten Schale. Indem er sie zum Munde
führen will, verliert sich sein Geist in sei¬
ner inneren Gedankenwelt, und seine Hand
bleibt, ihm unbewuſst, schweben. Schön
und rein sind die Lippen von unentweihter
Reinheit. Mildelächelnd belohnen sie, wer
ihrer Stimme horcht; jetzt aber folgen sie
dem Zuge eines weicheren Gefühls. Ist es
vielleicht die stille Freude der Hofnung?
Wenigstens umschweben frohe Gedanken
den geschlossenen Mund, und scheinen
gleichsam zu buhlen um die Hülle des Lau¬
tes. Niedergesenkt ist der Blick; theilneh¬
mende Bewunderung einer geahndeten Gröſse
drückt die Augenlieder; unter ihrer groſsen
schwärmerischen Wölbung, die so himmlisch¬
rein hervortritt aus dem Schatten der Au¬
genbraun, steht ein Göttergesicht vor der in¬
neren Sehe, wogegen ihm die mit Reiz ge¬
schmückte Erde nur Staub ist. Ein Ocean
[235] von Begriffen liegt klar auf seiner Stirn ent¬
faltet. Wie heiter ist diese Stirn! Keine
Begierde, keine stürmische Leidenschaft stört
den heiligen Frieden dieser Seele, deren
Kräfte doch im gegenwärtigen Augenblick
so rege sind! Vom runden, festen Kinne
bis zur braungelockten Scheitel, wie wun¬
derschön ist jeder Zug! und wie versinkt
dennoch die Sinnenschönheit in hervorstra¬
lender, erhabener Seelenstärke!
Die Deutung dieser Umrisse, dieser Züge
bleibt durch alle künftige Äonen unverän¬
dert dieselbe; je zarter der Sinn, je reicher
der Verstand, je heiliger glühend die Phan¬
tasie: desto tiefer nur greifen sie in den un¬
ergründlichen Reichthum, den der Künstler
seinem Werke schuf. Uns indessen kann
es individueller in Anspruch nehmen; uns
erinnert es an Geschichte und an tausend¬
fache Beziehungen, deren ununterbrochene
[236] Kette uns selbst mit unseren Zeitgenossen
umschlingt und mit dem dargestellten Ge¬
genstande verbindet. Wir kennen diesen er¬
habenen Jüngling. Das Buch des Schicksals
einer verderbten Welt lag aus einander ge¬
rollt vor seinen Augen. Durch Enthalt¬
samkeit und Verläugnung geschärft und ge¬
läutert, ergründete sein reiner Sinn die
Zukunft. In einsamen Wüsteneien denkt
er dem groſsen Bedürfnisse des Zeitalters
nach. Zu edel, zu groſs für sein, gesunke¬
nes Volk, hatte er sich von ihm abgeson¬
dert, hatte es gestraft durch das Beispiel
seiner strengen Lebensordnung, und kühn
gezüchtigt mit brennenden Schmachreden.
Jetzt fühlt der ernste Sittenrichter tief, daſs
diese Mittel nichts fruchten; in die ekelhafte
Masse selbst muſs sich der edle Gährungs¬
stoff mischen, der ihre Auflösung und Schei¬
dung bewirken soll. Aufopferung, Lang¬
[237] muth, Liebe — und zwar in welchem, den
Geschlechtern der Erde, ja seiner rauhen
Tugend selbst noch unbegreiflichem Grade!
— fordert die allgemeine Zerrüttung des
sittlichen Gefühls. Hier wagt er es, diese
Eigenschaften vereinigt zu denken, im Geiste
das Ideal eines Menschen zu entwerfen, der
sie bis zur Vollkommenheit besitzt. Bald aber
dünkt es ihn, dieses Bild sei nicht ein bloſses
Werk der Phantasie, es verwebe sich mit
bekannteren Zügen, ja, er kenne den gött¬
tergleichen Jüngling, in dem die Rettung
der Erdebewohner beschlossen liegt! Dieses
Bewuſstseyns frohe Schauer sind es, die der
gesenkte Blick, im inneren Anschauen ver¬
loren, uns verkündet. Wer ahndet den
Feuerstrom der Rede, der sonst von diesen
Lippen floſs, allen Widerstand bändigte, und
die zagenden Herzen ergriff? Diese über¬
wundenen, gerührten Lippen sinken in die
[238] Ruhe der groſsen, freudigen Zuversicht.
Das ist der Täufer Johannes!
Und wenn er es nicht wäre? Wenn nur
die Kunst ihn so zu schildern, so zu dich¬
ten, so aus fernen Ätherbahnen, als einen
hellen Stern in vollem Glanze, uns näher
zu rücken vermöchte? Dankt’ es denn nicht
die Religion der Kunst, die sie verherrlicht?
Gewiſs, es kann nicht gleichgültig seyn, da
wir einmal den leibhaften Johannes nicht
zu sehen bekommen, ob man uns erhabene
oder kleinliche Vorstellungen bei diesem Na¬
men erweckt. Nie wäre man lau und gleich¬
gültig gegen das Heilige und Göttliche ge¬
worden, wenn die Lehrer der Menschen
dasjenige, was sie in liebreicher Absicht so
nannten, durch keine unedle Vorstellungsart
entweihet, wenn sie das Schöne und das
Gute rein empfunden und in neuer Klarheit
aus reinem Herzen mitgetheilt hätten. O du
[239] mit der Engelsseele, aus deren Abgrund du
diese entzückende Erscheinung heraufzauber¬
test, und sie zugleich als Bild des Edlen
dachtest, der sich noch nicht werth hielt,
seines höheren Freundes Füſse zu berüh¬
ren — wer bist du, daſs ich bei deinem
Namen dich nennen mag, nicht bloſs dich
denken muſs, als den ernsten Schöpfer die¬
ses Johannes? Doch, wer du auch seist,
hier lebt ein Abdruck deiner Kräfte, in dem
wir dich bewundern und lieben. Wie hei¬
lig ist der, in dessen Seele dieses vollendete
Wesen aufstieg! Keine Bulle — Gott und
die Natur kanonisirten ihn.
Ich begreife es nun, daſs selbst der
Apollo einem Menschen so viel nicht seyn
kann, als dieser Mensch Johannes. Die
Gleichartigkeit seines Wesens mit dem un¬
srigen zieht uns zu ihm hin: er ist in aller
seiner Vollkommenheit noch unser Bruder;
[240] in ihm fühlen wir uns ergänzt; von ihm
wollen wir lernen, weil wir ihn verstehen,
weil er durch Nebeneinanderstellung und
Vergleichung, durch Sonderung des Ver¬
schiedenen und Einigung des Uebereinstim¬
menden erkennt und denkt wie wir. Der
Apoll hingegen ist, was er seyn soll: ein
Gott. Von seiner Erkenntniſsart haben wir
keinen Begriff; sie ist ganz Intuition, ganz
reiner Sinn, wie wir es dunkel ahnden in
seiner Gestalt. Ihn fassen wir nicht; von
ihm können wir nichts lernen; er kann uns
nichts als erfreuliche Erscheinung seyn, aus¬
ser etwa in gewissen Augenblicken, wenn
auch wir über uns selbst hinaus exaltirt
und zu einer höheren Reizbarkeit gespannt,
ohne von der Vernunft gestört zu werden,
der Intuition des reinen Kindersinnes ge¬
nieſsen. Allein diese Augenblicke mit ihrem
Himmelreich sind unserem Schwachsinn alle¬
mal[241] mal gefährlich, und die Abspannung, die
darauf erfolgt, kann mehr als zu deutlich
lehren, wie wenig wir für Göttergenuſs und
den Umgang mit Göttern geschaffen sind.
Unsere Ungenügsamkeit ist Schwäche; die
Griechen blieben bei der Erscheinung ste¬
hen, und freuten sich des Anblicks ihrer
Schönheit.
Was ich aber nicht mehr begreife, das
ist, wie man es noch wagen kann, einen
Christus als Kunstwerk darzustellen. Malt
man ihn mit den Zügen eines Götterideals,
so hat er nur das Interesse der Schönheit;
allein er rührt nicht das Herz. Im Gegen¬
theil, schildert man einen Menschen; wie
will man das Göttliche dergestalt hineinver¬
schmelzen, daſs es dem Interesse des Her¬
zens nicht schadet? und läſst man dieses
ganz hinweg; wie ist es möglich, die Mensch¬
heit so hinaufzuadeln, daſs sie noch gröſser,
I. Theil. Q[242] als hier Johannes, erscheint? Auch habe
ich noch keinen Christuskopf gesehen, von
dem ich sagen könnte: er ist es! Vielleicht
ist das indeſs weniger die Schuld der Künst¬
ler, als der Theologen. Zu seinem Johan¬
nes durfte der Maler einige Ideen von dem
fälschlich sogenannten Antinous entlehnen:
diese schöne Natur, die von ächten Ken¬
nern als ein Werk der höchsten Griechi¬
schen Vollendung anerkannt wird, bot ihm
die Züge eines kühnen, trotzigen, starken
Jünglings dar, deren wilde Gröſse sich im
Johannes mit dem sanfteren Ernst des Den¬
kers so vereinbaren lieſs, daſs die sinnliche
Schönheit zwar untergeordnet, aber dennoch
die bedeutungsvolle Zierde seines Wesens
blieb. Man erkennt auf den ersten Blick
die Aehnlichkeit des Gemäldes mit dem
Marmorbilde; allein wie arm wäre der, dem
auſser dieser Aehnlichkeit nicht die eigene
[243] Schöpfung des Künstlers entgegenleuchtete!
Nach meiner Empfindung versündigte er sich
stärker an der Kunst, als wenn er im Virgil
nur den Nachahmer Homers erblicken wollte.
Jeder Zug dieses Johannes bürgt uns für
den Dichtergenius seines Urhebers, wenn
nicht schon die eigenthümliche Behandlungs¬
art sein Verdienst erwiese. Nie zeichnete
ein Florentiner richtiger und schöner; und
bei dieser Wahrheit des Farbenschmelzes
vermiſst man Tizian's magischen Pinsel nicht.
Raphael, dem man hier das Gemälde zu¬
schreibt, hat zu keiner Zeit diesen Grad der
Vollendung im Kolorit erreicht. Eine an¬
dere Hypothese nennt Andrea del Sarto
als den groſsen Künstler dieses braungelock¬
ten Jünglings; und wenn er wirklich sein
ist, dann hatte Michel Angelo doch wohl
recht? Ich trage einen unauslöschlichen
Abdruck dieses in seiner Art einzigen Mei¬
Q 2[244] sterwerks mit mir davon. Was Italien der¬
einst Schöneres und Vollkommneres mit zei¬
gen könne, muſs ich von der Zeit erwarten;
aber die Stunden gereuen mich nicht, die
ich den weichen, kurzen Locken, die so
schön das Haupt umgehen, den seelenvollen
Zügen, den unnachahmlichen Umrissen die¬
ses einfachen, in sich vollkommenen, bewun¬
dernswürdigen Ganzen zum letztenmal schenk¬
te. Jetzt nichts mehr von dieser bunten,
blendenden Sammlung! Meine Augen wer¬
den nicht müde, den schönen Johannes zu
sehen; allein sie erliegen der Menge. Einen
Abschiedsblick werf’ ich indeſs noch auf
Guido’s gen Himmel fahrende Madonna;
ihr danke ich einen viel zu schönen Genuſs,
als daſs ich ganz von ihr schweigen könnte.
In Dresden sah ich Raphael’s groſse Be¬
handlung dieses Gegenstandes. Dort ist es
die Königin des Himmels, die wieder zurück¬
[245] kehrt auf den Thron, der ihr Eigenthum
ist. Sie schwebt nicht, sie steht, mehr
sinnend als froh; die Göttliche verläſst eine
Welt, zu welcher sie nie gehörte. Die an¬
betenden Engel jauchzen nicht; die Himmel
feyern. — Und Guido’s Maria? Sie ist so
menschlich schön! Ein Weib, das jetzt von
den Leiden, den Fesseln der Erde befreiet,
den Himmel offen sieht. Ihr trunkner Blick,
ihr verklärtes Gesicht, ihre ausgebreiteten
Arme, verkünden ihre unaussprechliche Won¬
ne. Zwei Engel zu ihren Füſsen, bezau¬
bernd wie nur Guido’s Engel, tragen sie
empor, schmiegen sich an ihr Gewand,
freuen sich ihrer voll himmlischer Liebe —
nein! Menschen dürfen es nicht sprechen,
wenn Engel sich freuen!
Dies ist eine neue Welt! bloſs möglich,
lichtumflossen und in reinem Lichte beste¬
hend! Da ist nichts Irdisches, nichts Unge¬
Q 3[246] läutertes zu sehen. Selbst der groſse, blaue
Mantel der Verklärten ist reiner, verdichteter
Äther des Himmels, wenn wir ihn mit Klei¬
dern von irdischem Gewebe vergleichen; er
ist nicht schwer, er giebt nur Würde und
Glanz. Die Jungfrau, schlank und schwe¬
bend, und völlig bekleidet — in ihren Zügen
sind Spuren von der Erinnerung des Künst¬
lers an Niobe’s Töchter — scheint bereits
einer himmlischen, unzerstörbaren Lichtnatur
theilhaftig: man sieht sie an, und glaubt
an eine Auferstehung. Die Schönheit der
Engel und ihre Grazie spotten aller Beschrei¬
bung; ihr Ausdruck ist himmlische Unschuld
und seraphische Liebe. Sie bedürfen nicht
der Erkenntniſs des Guten und Bösen; die
Welt, die wir in ihnen ahnden, umfaſst
und erschöpft alle Formen des Lichtes und
der Wahrheit. Es giebt Ideale der Schön¬
heit, die verschieden von griechischen Göt¬
[247] tergestalten sind; in diesen Engeln erblick’
ich sie zum erstenmal. Ich hatte nicht ge¬
glaubt, daſs es möglich wäre, die Wunder
des Empyräums mit sinnlicher Form zu be¬
gaben, Engelreinheit gepaart mit dem milden
Feuer der seligen Geister, die einander
durchdringen, und mit dem ewigen Reize der
Heiterkeit, in göttlicher Jünglings- und Gra¬
ziengestalt hinzuzaubern. O Guido, süſser
Schwärmer, wie verführerisch wird durch
deine Phantasie die Schwärmerei! Alles in
diesem Gemälde ist Magie, und magisch
ergreift es das Gefühl; die zarte Richtig¬
keit der Zeichnung; die Stellung der Ma¬
donna; die Form der Gruppe; die holde
Anmuth des ganzen Gedichtes; die Pracht
und Zierlichkeit der ätherischen Gewänder,
und ich wage es zu behaupten, sogar die
blendende Gluth der Farben, die eine Licht¬
welt versinnlichen, nach welcher unser blö¬
Q 4[248] des Auge kaum hinaufzublicken wagt! Hier
sollten die Maler lernen, wie Engel fliegen
und wie Verklärte schweben.
Ich reiſse mich endlich los. Von Ti¬
zian’s und Corregio’s Werken enthält die
Galerie nichts, das dieser groſsen Namen
würdig wäre. Ein Porträt, unter jener Him¬
melfahrt, die Arbeit des ersteren von die¬
sen Meistern, ist wegen des Umstandes merk¬
würdig, daſs ein berühmter Physiognomiker
es für das vollkommenste Ideal eines Chri¬
stuskopfes, das ihm noch zu Gesicht gekom¬
men sei, erklärte; und dieses Ideal war —
der muthwillige Aretino! Ich denke darum
nicht schlechter von diesem physiognomi¬
schen Urtheil; denn es läſst sich auf eine
ähnliche Art vertheidigen, wie Sokrates das
Urtheil das Physiognomen über ihn selbst
rechtfertigte. Ein Christus mit der Dornen¬
krone, das einzige Stück, welches man hier
[249] von Corregio zeigt, mag wohl bewunderns¬
würdig seyn, wenn man nur auf einem Ge¬
sichte, das so tiefes Leiden ausdrückt, den
Blick könnte ruhen lassen. Einst war es
eine Philosophentugend, recht zu handeln,
und die schauderhaftesten Gegenstände, wie
die lieblichsten, mit Gleichmüthigkeit anzu¬
sehen. Seitdem man aber die Unempfind¬
lichkeit, die selten Recht thut, damit zu
verwechseln pflegt, ist nichts Verdienstliches
mehr an diesem Stoicismus, und die Philo¬
sophie hat ihn längst der Politik, die immer
nur repräsentirt, überlassen. Zu einer andern
Zeit, und an jedem andern Orte, auſser die¬
ser Sammlung, wäre die Flucht nach Ägyp¬
ten vom alten Paul Veronese, ein Stück,
das bemerkt zu werden verdiente; Guerci¬
no’s Dido und die Verkündigung Mariä von
Tintoretto, wären auch eines Blickes werth;
einen kleinen Alban, eine schlafende Venus
Q 5[250] von Carlo Maratti, ein paar Köpfe von
Guido, selbst Cagniacci’s Mutter der sieben
Schmerzen, und Spagnoletto’s Hirten, die im
Felde bei dem Lobgesange der Engel er¬
wachen, würde man noch mit einigem Ver¬
gnügen betrachten. Ich eile gesättigt vorüber.
Von der sehr reichen Sammlung von
Kupferstichen und Handzeichnungen, welche
die hiesige Akademie der Künste besitzt,
kann ich Dir nichts erzählen, was Du nicht
schon wüſstest. Ich erkundigte mich aber
nach den Formen, worin die herrlichen Ab¬
güsse von Antiken gegossen sind, die wir
zu Manheim sahen. Allein Du erräthst nim¬
mermehr — daſs man sie zerschlagen und
zum Straſsenbau verwendet hat. Nun sage
mir einer, ob wir nicht noch die alten Bar¬
baren sind!
[251]
IX.
Wir rissen uns aus den Umarmungen un¬
serer Freunde und reiseten von P. bei Mond¬
schein die ganze Nacht hindurch nach Jülich.
Die Gegend ist flach, aber vortrefliches Saat¬
land, und besonders wird sie jenseits Jülich
sehr schön durch Haine von hochstämmigen
Ulmen, Eschen und Hagebüchen; in diesen
ist fast jedes der naheliegenden Dörfer gleich¬
sam vergraben, oder ragt nur mit der Kirch¬
thurmspitze daraus hervor. Jülich ist eine
kleine Festung von der unbedeutenden Art,
die man Bicoque nennt. Gegen einen Feind,
der auf der Anhöhe, von welcher wir von
Düsseldorf hinabkamen, seine Batterien an¬
legte, könnte es sich keinen Augenblick
halten.
Die Dörfer und Flecken in dieser Ge¬
gend sind zum Theil von Steinen und Zie¬
[252] geln sehr dauerhaft erbauet, und bezeugen
den Wohlstand ihrer Bewohner. Dahin
kann es leicht mit dem Flor eines Landes
kommen, wenn man es nicht, unter dem
Vorwande der Landesväterlichen Sorgfalt,
aussaugt, dem Unterthan nicht durch ver¬
vielfältigte Verordnungen die Hände zu fest
bindet, und ihm nicht durch drückende
Steuern den Muth benimmt. Den Ständen
der Herzogthümer Jülich und Berg gebührt
das Lob dieser guten Administration. Sie
scheinen in der That den höheren Sinn
jenes tiefgedachten Spruchs, «daſs die Welt
sich am besten durch ein ganz kleines Fünk¬
chen Weisheit regieren lasse» (mundus re¬
gitur parva sapientia) zu Herzen genom¬
men und in Ausübung gebracht zu haben.
Beide Extreme des Egoismus, falsche Ruhm¬
begierde sowohl, als gefühllose Verachtung
der öffentlichen, guten Meinung, sind trau¬
[25 [253]] rige Eigenschaften eines Regenten oder Ad¬
ministrators; wer sich begnügen kann, recht
zu handeln ohne glänzen zu wollen, wird
zwar kein Aufsehen erregen, aber das Glück
genieſsen, zufriedene und wohlhabende Men¬
schen um sich her zu sehen. «Das Gute
was ich hier gethan habe, sagt die Regentin
im Egmont, sieht gerade in der Ferne wie
nichts aus, eben weil es gut ist.»
Die Menschen in dieser Gegend sprechen
eine weit plattere Sprache, als die oberhalb
Kölln; mir schien sie sogar platter zu wer¬
den, je weiter wir uns vom Rhein hieher¬
wärts entfernten. Alle Mannspersonen, die
uns begegneten, waren wohlgewachsen, und
von einer bestimmteren, ausdrucksvolleren
Gesichtsbildung. Die Weiber hatten nicht
die eckigen, hervorstehenden Backenknochen,
die in den oberen Rheingegenden und weiter
hinauf im Reiche so charakteristisch sind.
[254] Manche, die wir sahen, hätten einem flam¬
mändischen Maler zu Nymphen und Göt¬
tinnen sitzen können. Arbeitsamkeit erhält
diese Menschen nüchtern, und macht sie
verhältniſsmäſsig gegen die Oberländer wohl¬
habend. Das feuchte Klima, die stete An¬
strengung beim Ackerbau, vielleicht auch
das ursprüngliche Temperament des blonden
niederdeutschen Blutes, macht sie phlegma¬
tisch, gleichgültig, ungesellig, störrig; und
die Religion, wenigstens so, wie man sie
ihnen nach hierarchischen Grundsätzen bei¬
bringt, trägt eben nicht viel dazu bei, sie
geistreich und aufgeweckt zu machen. Ihr
Wohlstand giebt ihnen Unabhängigkeit, und
dieses glückliche Verhältniſs gegen den Ne¬
benmenschen trägt vielleicht auch das sei¬
nige dazu bei, die Gleichgültigkeit gegen dea
Fremden bis zur rohen, unwirthbaren Un¬
gezogenheit zu treiben. Selbst bei denen,
[255] die noch Höflichkeit zu bezeigen geruheten,
hatte sie einen so kecken Anstrich, daſs
ich mich ihrer im Namen der Menschheit
freuete, so wenig sie für mich, als Einzel¬
nen betrachtet, Einladendes und Schmeichel¬
haftes haben konnte. Die Einförmigkeit der
Beschäftigungen des Ackerbaues, und die
strenge Ordnung, in welcher sie auf einan¬
der folgen, giebt demjenigen, der sich bloſs
davon nährt, eine Einseitigkeit, welche in,
vielen Fällen bis zum hartnäckigsten Eigen¬
sinne geht, zumal wenn es auf die Einfüh¬
rung einer verbesserten Kultur ankommt;
auch trägt sie vieles dazu bei, eine habi¬
tuelle Langsamkeit hervorzubringen, welche
man jedoch sorgfältig von Faulheit und
Müſsiggang unterscheiden muſs. Der Müſsig¬
gänger, wenn er Munterkeit und einigen
Ideenvorrath besitzt, kann ungleich unterhal¬
tender seyn, als dieser kalte Alltags- und
[256] Gewohnheitsmensch; allein seine Abhängig¬
keit macht ihn verächtlich, und untergräbt
seine Sittlichkeit. Der langsame, gleichgül¬
tige, in seinem Kreise sich fortwälzende
Dummkopf, wenn er sich und die Seinigen
redlich ernährt, ist dem Staate wichtiger,
als Mensch glücklicher, und moralich besser,
ob er gleich auf der Leiter der Erdenwesen,
nach ihren Fähigkeiten geordnet, tiefer steht.
In den Städten der hiesigen Gegend, wo
sich auf das angeborne Phlegma und den
damit verbundenen Stumpfsinn, die Faulheit,
die Unsittlichkeit und der Aberglaube pfrop¬
fen, findet man allerdings die menschliche
Natur in ihrer empörendsten Entartung. —
Aachen liegt sehr anmuthig. Die Hügel
rund umher sind schön geformt, und reich
an Waldung, Aeckern und Gebäuden; da¬
her gewähren sie unter jedem Gesichtspunkt
einen verschiedenen, das Auge erquickenden
Effekt.[257] Effekt. Um die Stadtmauern ziehen sich
schöne Gänge von hohen schattenreichen
Bäumen. Gewisse Theile der Stadt sind
ziemlich gut gebauet; ihr ganzer Umfang ist
sehr beträchtlich, denn ehedem faſste sie
mehr als hunderttausend Einwohner, deren
jetzt aber nur dreiſsigtausend vorhanden sind.
«Was ist die Ursache dieser auffallenden Ent¬
völkerung?» wirst Du fragen; denn ich fragte
eben so, und ich glaube, jedem, der davon
zum erstenmal hört, muſs dieselbe Frage
auf der Zunge schweben. Die Antwort, die
ich darauf erhielt, ist einleuchtend, ob sie
gleich nicht befriedigt. Es wäre bald von
der Sache zu kommen, wenn man alles ei¬
ner fehlerhaften Constitution zur Last legen
wollte, deren Mängel und Gebrechen jetzt
so klar am Tage liegen; allein geübtere Au¬
gen erkennen, daſs eine Complication von
Ursachen eintreten muſste, um den Verfall
I. Theil. R[258] dieser vor Alters so blühenden Stadt allmälig
zu bewirken: und Complicationen dieser Art
nachzuspüren, ist keine so leichte Sache,
daſs ein jeder in wenigen Worten den
Knoten lösen könnte. Karls des Groſsen
Residenz, der Krönungsort so vieler Kaiser,
war lange der Sitz nützlicher Künste und
Gewerbe, ein wichtiges Handelsemporium,
ein Mittelpunkt, wo vielfältiges Interesse
Menschen aus allen Klassen und aus den
entferntesten Gegenden des Reiches zusam¬
menführte, wo dieser Zusammenfluſs einen
schnelleren Umlauf des Geldes, einen ra¬
scheren Tausch der Waaren, einen wenig¬
stens für jene Zeiten wichtigen Grad des
Aufwandes verursachte, und zwar dies alles
schon, als in der umliegenden Gegend noch
keine Nebenbuhlerin sich organisirt hatte
und zur Vollkommenheit gediehen war.
Jetzt verhält sich alles anders. Aachen
[259] ist nicht einmal mit der Gegenwart eines
Kaisers für den Moment der Krönung be¬
glückt, und noch viel weniger dessen be¬
ständiger Aufenthalt; der Glanz, den diese
Gegenwart ihr geben konnte, ist von ihr
gewichen. Um sie her, auf allen Seiten,
sind nach und nach ansehnliche Staaten ent¬
standen; der Fleiſs, die Freiheit und das
Glück haben im Wetteifer mit einander vie¬
len neuen Städten einen Grad von blühen¬
dem Wohlstand geschenkt, den Handel in
andere Kanäle geleitet, den Geist der Men¬
schen entwickelt und gebildet, wie er an
einem vereinzelten Orte, und bei hartnäcki¬
ger, blinder Anhänglichkeit an altes Her¬
kommen, nicht mit fortrücken konnte. So¬
dann aber haben die Tyrannei des Aberglau¬
bens, die noch immer gegen andersgesinnte
Religionsparteien wüthet und die Nicht¬
katholiken von manchen Vorrechten des Bür¬
R 2[260] gers ausſchlieſst, die Wuth der Parteien, die
unaufhörlich um die Alleinherrschaft einer
nur dem Namen nach freien Reichsstadt
kämpften, und endlich der finstere Despo¬
tismus der Zünfte, zur Sittenverderbniſs, zur
Verblendung über das wahre Beste des ge¬
meinen Wesens und des einzelnen Bürgers,
zum Müſsiggang, zur Bettelei und zur Ent¬
völkerung kräftig mitgewirkt. Wo ist der
Wohlstand, der so vielen ihn untergraben¬
den Feinden widerstehen könnte? Was
ächte Bürgertugend allein wider die übrigen
ungünstigen Umstände vermocht hätte, ste¬
het dahin; mit ihr hat man die Probe nicht
gemacht, und ohne sie verblühen die Staa¬
ten, selbst im Schooſse des Glücks!
Die Unordnungen, welche aus der feh¬
lerhaften Constitution von Aachen entspran¬
gen, hatten bereits vor drei Jahren ihren
höchsten Punkt erreicht; denn so lange ist
[261] es her, daſs die streitenden Parteien in of¬
fenbare Gewaltthätigkeit gegen einander aus¬
brachen, daſs eine kaiserliche Kommission
zur Untersuchung und Abstellung der Miſs¬
bräuche niedergesetzt ward, und daſs fünf¬
hundert Mann Pfälzer die Ruhe in der Stadt
erzwingen und den Verordnungen der Kom¬
missarien Nachdruck geben muſsten. Die
Kommission versammelt sich in eben dem
Saale, wo im Jahre 1748 der Aachner Frie¬
de geschlossen ward. Sie wird den Zweck
ihrer Sendung wahrscheinlich bald erreicht
haben; denn endlich sind die Aachner ihrer
eigenen Thorheiten müde, und je näher ih¬
nen der Zeitpunkt entgegen rückt, wo sie
die nachtheiligen Folgen der unter ihnen
herrschenden Verbitterung in ihrem ganzen
Umfange fühlen werden, desto geneigter las¬
sen sie sich finden, die vorgeschlagenen
Mittel zu einem dauernden Vergleich anzu¬
R 3[262] nehmen. Man sollte denken, die ungeheu¬
ren Kosten der Einquartierung und des Pro¬
zesses, müſsten die hiesige Bürgerschaft schon
längst zur Besonnenheit gebracht haben; al¬
lein diese Summen, die sich in die Hun¬
derttausende belaufen, scheinen um deswillen
auf den ergrimmten Parteigeist weniger ge¬
wirkt zu haben, weil man sie durch Anlei¬
hen bestreitet, die erst der künftigen Gene¬
ration zur Last fallen werden. Hätte man
den redlichgemeinten Vorschlag, sie durch
eine Steuer zu tilgen, genehmigt, so würde
man sich eher gehütet haben, sie zu hoch
heranwachsen zu lassen. Was indeſs kräf¬
tiger auf die Gemüther wirkt, als selbst der
Eigennutz, das ist in diesem Augenblicke
die Macht der Wahrheit. In einer Ange¬
legenheit, wo es so leicht möglich ist, sich
für die eine oder die andere Partei einneh¬
men zu lassen, hat die strenge Unparteilich¬
[263] keit des Herrn von Dohm das völlige Ver¬
trauen beider gewonnen, und sein neuer
Plan zur Verbesserung ihrer Constitution,
der bis auf den letzten Bogen abgedruckt
ist, wird vermuthlich bei ihrem bevorste¬
henden Vergleiche nicht bloſs zum Grunde
gelegt, sondern in allen wesentlichen Stücken
wirklich angenommen werden. Alle Schwie¬
rigkeiten zu heben, allen Mängeln abzuhel¬
fen, ist vielleicht eine Aufgabe, welche die
Kräfte eines jeden politischen Reformators
übersteigt. Wenn es auch anginge, die Bande
der Gesellschaft auf einen Augenblick gänz¬
lich aufzuheben, und so zu Werke zu ge¬
hen, als ob noch keine Verfassung existirt
hätte; so sind doch die Verhältnisse der
Menschen unter einander zu mannichfaltig
verwickelt, und ihre Gemüther zu vielen
Lokaleindrücken unterworfen, um nicht aus
dem Besten, was man ihnen in abstracto
R 4[264] zur Richtschnur vorschlagen könnte, etwas
sehr Mangelhaftes und sogar Nachtheiliges in
concreto zu machen. Mehrentheils aber läſst
sich eine gewaltsame Auflösung der Verfas¬
sungen gar nicht einmal denken, und man
sieht sich genöthigt, alle Bemühungen ledig¬
lich auf die Abstellung einzelner Miſsbräuche,
auf die Verbesserung einzelner, ins Groſse
wirkenden und alles zerrüttenden Fehler zu
richten. Vielleicht ist es in den meisten
Fällen wirklich rathsamer, eine alte fehler¬
hafte Constitution zu bessern, als eine ganz
neue zu organisiren, und sich der Gefahr
auszusetzen, daſs durch die Gährung, die
bei der Einführung alles Neuen unvermeid¬
lich ist, das Ganze eine andere, als die ge¬
hoffte Form gewinne, oder daſs nun Lücken
und Gebrechen sich offenbaren, welche viel¬
leicht gröſseres Unheil stiften, als jenes, dem
man abhelfen wollte.
[265]
Mäſsigung ist die Tugend, welche unserm
Zeitalter vor allen andern am meisten zu
fehlen scheint. Vielleicht hat es so seyn
müssen, daſs gerade jetzt gewaltsame Bewe¬
gungen von einem Extrem zum andern eine
gefährliche Stockung in dem groſsen Gange
der Menschheit verhüten; allein was der
Philosoph als unausbleiblich und nothwendig
anerkennt, ist darum in seinen Wirkungen
nicht weniger traurig; und allein von der
ruhigen, bescheidenen, ohne alle äuſsere
Gewalt, bloſs durch Gründe sanft überre¬
denden Vernunft ist Rettung zu erwarten.
Ueberall sind die Leidenschaften aufgeregt,
und wo sie immer Gesetze geben, da ist
jederzeit Gefahr, daſs Ungerechtigkeiten eine
Sanktion erhalten, sie mögen gerichtet seyn
gegen welchen Theil der bürgerlichen Ge¬
sellschaft sie wollen. Das Volk ist selten
zurückhaltender oder billiger als der Despot;
R 5[266] denn moralische Vollkommenheit konnte ihm
ja der Despotismus nicht geben, und mit
welchem Rechte will man Mäſsigung von
ihm erwarten, wenn man es geiſselt, bis es
in Wuth geräth und seinen unbarmherzigen
Treiber nun zu zertreten drohet? Unter
solchen Umständen ist allerdings die Dazwi¬
schenkunft eines unparteiischen, billigen
Dritten die wesentlichste Wohlthat, die
einem zerrütteten Staate widerfahren kann.
Weises Nachgeben von beiden Seiten, wozu
er sie auffordern muſs, kann alsdann eine
dauerhafte Wiederherstellung bewirken. Al¬
lein die schwerste Aufgabe von allen besteht
wohl darin, wie die Stimme der Mäſsigung
sich in leidenschaftlichen, aufgebrachten Ge¬
müthern Eingang verschaffen könne? Dies
gehört unstreitig zu den vielen Dingen in
der Oekonomie des Menschengeschlechtes,
welche sich durch keine Vorschrift bestim¬
[267] men und mittheilen lassen, weil sie ihren
besonders dazu gebildeten Mann erfordern.
Von dieser Seite werden die Schicksale der
Erdbewohner von menschlicher Klugheit im¬
mer unabhängig, und einer höheren Will¬
kühr, oder der Nothwendigkeit und ihrer
Ordnung unterworfen bleiben. Welch eine
Verkettung nicht vorher zu berechnender
Begebenheiten ist es, die gerade den an¬
spruchlosen, tugendhaften Mann, dessen
höchstes Ziel die Beförderung des gemein¬
schaftlichen Besten Aller ist, den gründli¬
chen, durch Erfahrung gebildeten, von allen
Theorien zurückgekommenen Denker in Eine
Person mit dem politischen Organ der Kö¬
nige vereinigt, und ihn jene Gewalt, die wo
sie sich ins Spiel mischt, nur Zwang ge¬
biert, nur die Symptome ändern nicht aber
die Krankheit heben kann, mit einer Gröſse,
deren nur die Weisheit fähig ist, zurück¬
[268] halten läſst, um die Würde seiner Mitge¬
schöpfe zu schonen!
Nicht nach Idealen, die man sich aus
philosophischen Compendien abstrahiren kann,
sondern nach dem Bedürfnisse der Zeit und
der Umstände, wird der Werth der vorge¬
schlagenen neuverbesserten Verfassung von
Aachen geschätzt werden müssen. Die Ideale
aller Art sind, was schon ihr Name anzu¬
deuten scheint, Schöpfungen des Verstandes,
und viel zu zart gewebt, um für die Wirk¬
lichkeit sich zu schicken. Das praktisch
Anwendbare muſs aus gröberem Stoffe ge¬
bildet, materieller wenn man will, aber eben
darum natürlicher und menschlicher seyn.
Daſs ich dabei den Nutzen des Idealisch¬
vollkommenen, in sittlicher Rücksicht, nicht
verkenne, verbürgt Dir mein Enthusiasmus
für dasselbe in Beziehung auf Sinnlichkeit
und Kunst. Ahnden müssen wir wenigstens
[269] die Vollkommenheit, die wir nicht erreichen;
sonst versinken wir bald in einen Grad der
inneren Unempfänglichkeit, welche unserer
höchsten Bestimmung entgegenläuft. Frei¬
heit und Gesetz sind beide die Heiligthü¬
mer der Menschheit; und dennoch wäre es
kurzsichtig geträumt, dort, wo die Natur
Ungleichheit setzte, gleiche Rechte fordern,
oder, auf der andern Seite, aus Gerechtig¬
keitsliebe das fehlende Geschlecht sogleich
vertilgen zu wollen. Wie tief muſsten Men¬
schen nicht sinken, wie unfähig, sich an
die Stelle anderer zu versetzen, und die
Würde eines freien denkenden Wesens zu
empfinden, muſsten sie nicht geworden seyn,
ehe sie das fürchterliche: fiat justitia et
pereat mundus! (Gerechtigkeit! und ginge
die Welt darüber zu Grunde! nur ohne
Schauder aussprechen lernten! Und wenn
nun vollends Menschen das, was ihnen Ge¬
[270] rechtigkeit dünkt, nach diesem Wahlspruch
handhaben wollen, dann — guter Himmel! —
wäre freilich wohl jener Zustand des un¬
gebundenen Wilden noch vorzuziehen, der
sich nie von solchen Träumern, was gerecht
sei, vordemonstriren lieſs, und gleichwohl
das Unrecht so lebhaft empfindet, und es
so muthig aus allen Kräften zurückstöſst!
Auch das Ideal der Levellers, wenn es zur
Ausführung käme, entrisse uns alle Vor¬
theile der sittlichen Kultur, wiewohl es sei¬
nes Ursprunges wegen immer noch verzeih¬
licher bleibt; denn es entstand aus einer
allzuvortheilhaften, hingegen das Ideal der
Rechtsgelehrten aus einer allzuschlechten Mei¬
nung von unserer Natur. Zwischen den Ge¬
dankenbildern dieser entgegengesetzten Phan¬
tasien liegt ein Mittelweg, der um so we¬
niger trügt, je sorgfältiger derjenige, der
ihn wandelt, bei jedem Schritte auf diese
[271] hinblickt, und, was sie Gutes haben, be¬
nutzt.
Die vierzehn Zünfte von Aachen muſsten
also beibehalten werden, wenn man sich
nicht aus dem einmal angenommen Zu¬
schnitt einer deutschen Reichsstadt hinaus¬
träumen wollte, so verderblich an sich, so
nachtheilig allem Flor und aller Vervoll¬
kommnung der Fabriken und Handwerker
auch das Zunftwesen bleibt. Was man
thun konnte, bestand lediglich darin, die
Zünfte selbst unter einander so zu organi¬
siren, daſs eine gleichförmigere Repräsen¬
tation durch sie bewirkt werden konnte.
Seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
wählen die Bürger von Aachen, die in den
Zünften eingeschrieben sind, ihren Magistrat.
Vor diesem Zeitpunkte tyrannisirte ein so
genannter Erbrath von lebenslänglichen Bür¬
germeistern und andere Beamten die Stadt.
[272] Allein bald fand man wieder Mittel, die
alljährliche Wahl zu lenken, wohin man
wollte, und selbst das Gesetz, daſs niemand
zwei Jahre lang hinter einander Bürger¬
meister seyn darf, wuſste man so geschickt
zu umgehen, daſs derselbe Mann oft zwan¬
zig bis dreiſsig Jahre lang regierte, indem
er sich ein Jahr ums andere wählen lieſs,
und in den Zwischenräumen zwar einem
Andern den Namen, jedoch nicht auch zu¬
gleich die Macht dieser wichtigen, beinahe
uneingeschränkten Magistratur überlieſs. Wie
dieser Miſsbrauch sich einschleichen konnte,
begreift man nur, wenn man die bisherige
Beschaffenheit der Zünfte näher untersucht.
Da jede Zunft vier Rathspersonen wählt, so
hat die Intrigue gewonnenes Spiel bei einer
so auffallenden Ungleichheit in der Zahl der
Wählenden, wie sie hier in verschiedenen
Zünften statt findet. Die Krämerzunft z. B.
besteht[273] besteht aus zwölfhundert Köpfen, und die
Kupfermeisterzunft nur aus zwölfen. Wie
leicht konnte man also nicht in solchen
kleinen Zünften eine Mehrheit der Stimmen
erkaufen, und mit derselben der Mehrheit
der Bürgerschaft spotten? Ein nicht minder
auffallendes Gebrechen der Verfassung besteht
darin, daſs ein groſser Theil der Bürger¬
schaft auch nicht einmal zum Scheine im
Rathe vorgestellt wird, und von allem An¬
theil an der gesetzgebenden Macht gänzlich
ausgeschlossen ist. So verhält es sich mit
der zahlreichen Weberzunft, die wirklich
keine Repräsentanten wählt, und in jener
oben angeführten Zahl von vierzehn Bür¬
gerkorporationen nicht mitbegriffen ist. Da¬
gegen entschädigt sie sich aber bis jetzt
durch einen Handwerksdespotismus, welcher
zum Verfall der Tuchfabriken in Aachen
die nächste Veranlassung giebt. Das Werk¬
I. Theil. S[274] meistergericht, welches zum Theil aus dieser
Zunft besteht, zwingt unter andern jeden
Webermeister, sich auf vier Weberstühle
und eben so viele Gesellen einzuschränken.
Bei dieser Einrichtung wird es dem Fabri¬
kanten unmöglich, nur den redlichen, fleiſsi¬
gen und geschickten Arbeiter zu beschäfti¬
gen; er sieht sich gezwungen, da er auſser
den Ringmauern der Stadt nicht weben las¬
sen darf, auch unter die Nachlässigen, Un¬
wissenden und Gewissenlosen Wolle zu
vertheilen, und da diese zugleich bei weitem
die zahlreichsten sind, gröſstentheils nur
schlechte Waare zu liefern. Eben diesem
Zunftzwange, welcher auch das Weber-
und Schererhandwerk trennt, und den Pro¬
testanten, die doch den gröſsten Theil der
Tuchfabrikanten ausmachen, dabei weniger
Nachsicht als den Katholiken gestattet, ist
die Enstehung der sogenannten Kauftücher,
[275] die aus gestohlner Wolle fabricirt werden,
zuzuschreiben. Unter dem Vorwande, ihre
eigene Wolle wiederzukaufen, treiben manche
Fabrikanten einen öffentlichen Handel mit
dieser Waare, die ihnen von den Arbeitern
geliefert wird. Was die Strenge des Zunft¬
geistes auf einer Seite schon verdarb, das
richtet die Gelindigkeit der Polizei und des
Rathes nun völlig zu Grunde. Die gegen
den Unterschleif mit gestohlener Wolle vor¬
handenen Gesetze sind gänzlich auſser Ob¬
servanz; die Stadt hält über die Eigenschaft
der in ihren Mauern verfertigten Waaren
keine Aufsicht; sie gestattet in Fallitsachen,
statt des Concurses ein Präferenzrecht, wel¬
ches allen Credit untergräbt, und durch
Vervielfältigung der Bankerotte bis ins Un¬
endliche, die Schande des Betrugs hinweg¬
nimmt; sie duldete noch vor kurzem die
Hasardspiele; sie privilegirt das Lotto und
S 2[276] schützt die Wucherer. Kaum wird man
glauben, daſs ein kleiner Staat, der, auſser
der Abhängigkeit von der Reichsverfassung,
keine andere Einschränkung erkennt, so
muthwillig auf dem geraden Wege zu seinem
Verderben fortschreiten konnte. Allein, wo
es an einem gesunden und umfassenden
Überblick fehlt, da lassen sich auch die
Bessergesinnten durch Schein von Betrieb¬
samkeit täuschen, an einen vermeintlichen
Flor des Staates zu glauben, der zuletzt wie
eine Traumgestalt plötzlich verschwindet,
wenn eine heftige Erschütterung, wie die
im Jahre 1786, ihnen die Augen nun öfnet.
Weil noch jährlich neue Fabrikanten in Aa¬
chen sich niederlieſsen, so schmeichelte man
sich, daſs die Vortheile, welche sich ihnen
hier darböten, nirgends überwogen werden
könnten, und bedachte nicht, daſs die ein¬
zige Aufmunterung zur Errichtung einer Ma¬
[277] nufaktur in Aachen lediglich in der Menge
von bequemen Häusern besteht, die man
um billige Preise miethen kann. Weil noch
alljährlich eine nicht geringe Anzahl von
Kur- und Badegästen die Stadt besucht,
um die reelle oder eingebildete Wohlthat
ihrer mineralischen Quellen zu genieſsen, so
lieſs man sich von dem Schimmer des be¬
schleunigten Geldumlaufs und Waarenab¬
satzes, den diese Besuche hervorbringen,
durch die Bewegung, welche die Gegenwart
der Fremden auch den Einwohnern mit¬
theilt, durch die Lustbarkeiten, womit sie
sich die Zeit verkürzen, durch das Spiel,
welches noch täuschendere Scheingestalten
von Reichthum und Ueberfluſs herbeizaubert,
zum Glauben an ihr wirkliches Daseyn hin¬
reiſsen.
Nicht daran zu denken, wie wenig We¬
sentliches diesen angeblichen Vortheilen bei
S 3[278] einer näheren Beleuchtung übrig bleibt, so
konnte wohl nichts unbesonnener seyn, als
die Hofnung, immerdar auf ihren ausschlie¬
ſsenden Besitz rechnen zn dürfen. Schon
jetzt, dicht vor den Thoren von Aachen,
in dem Flecken Burscheid, werden die
heiſsen Quellen denen in der Stadt von Vie¬
len vorgezogen. Die Landluft, die schöne
Gegend, die Verbannung alles Zwanges aus
den Sitten ziehen die Fremden haufenweise
dorthin, indem die Nähe von Aachen ihnen
alle Annehmlichkeiten eines städtischen Auf¬
enthalts, ohne das Ungemach desselben ge¬
währt. Doch diese Rivalität wäre in der
That unbedeutend, wenn sich nicht eine
zweite, im Punkt der Fabriken, hinzugesellte.
Rechtschaffene, unternehmende Männer, die
dem Unsinn des Zunftwesens nicht länger
fröhnen und durch Verfertigung schlechter
Tücher ihren Credit nicht länger aufs Spiel
[279] setzen wollten, zogen sich allmälig von
Aachen zurück, und ließen sich, in der
umliegenden Gegend, auf holländischem oder
kaiserlichem Boden nieder; wo es ihnen frei
stand, ihre Fabriken vollständig einzurichten,
und wo sie keine andere Einschränkung als
das Maaß ihrer Kräfte und den Umfang
ihres Vermögens kannten. Zu Burscheid,
Vaals, Eupen, Monjoie, Verviers, und über¬
haupt in ganz Limburg entstanden unzählige
Tuchfabriken, wovon einige jährlich ein
Vermögen von einer halben Million in den
schnellsten Umlauf bringen, und ihre Comp¬
toire theils in Cadix, theils in Constantino¬
pel und Smyrna errichtet haben, dort die
spanische Wolle ausführen, hier die reichen
Tücher wieder absetzen.
Die Folgen einer in allen Stücken so
gänzlich verfehlten Administration sind auch
dem blödesten Auge sichtbar. Die Straßen
S 4[280] von Aachen wimmeln von Bettlern, und das
Sittenverderbniſs ist, in der geringeren Volks¬
klasse zumal, so allgemein, daſs man die
Klagen darüber zu allen Zeiten und in allen
Gesellschaften hört. Wie konnte sich auch
bei dem gemeinen Manne die Spur von
Rechtschaffenheit und von Grundsätzen er¬
halten, wenn er das Beispiel der schändlich¬
sten Verwaltung öffentlicher Gelder ungeahn¬
det vor Augen behielt? Seine Kinder wur¬
den Wolldiebe, Müſsiggänger und Lottospie¬
ler, folglich bald auch die verderbteste Gat¬
tung von Bettlern. Unter diesen Umständen
muſste der Gesetzgeber ein ungleich schwe¬
reres Problem zu lösen suchen, als seine
Vorgänger in alten Zeiten; denn rohe Men¬
schen zur Tugend anführen, ist ein ganz
anderes, und meines Bedünkens ungleich
leichteres Geschäft, als gefallenen, zur Ge¬
wohnheit des Lasters herabgewürdigten die
[281] Tugend wiederzugeben. Daſs eine weise Ver¬
fassung in einem hohen Grade auf diesen
Zweck hinwirken könne, ist unleugbar, wenn
man nicht allen Unterschied zwischen guten
und schlechten Verfassungen wegdisputiren
will; allein ich mag nicht berechnen, wie
viel der Druck ungünstiger Umstände, die
eine Reform von grundaus nicht gestatten,
an dem gewünschten Erfolge schmälern
könne. Die Folge der Zeiten entscheide
und rechtfertige den Redlichen, der, wo er
das Beste nicht anwenden durfte, noch den
Muth behielt, unter dem minder Guten das
Bessere zu empfehlen.
Genehmigt die Stadt Aachen den ihr
vorgeschlagenen Constitutionsplan, so wird
sie in dem darin bestimmten Bürgerausschuſs
das Bollwerk ihrer bürgerlichen Freiheit fin¬
den. Zwischen das Volk und die vollzie¬
hende Gewalt diese Mittelspersonen hinzu¬
S 5[282] stellen, die das Interesse der ersteren gegen
alle Bedrückung sichern und zugleich den
unzeitigen Ausbrüchen des Freiheitseifers,
der so selten seine Schranken anerkennt,
durch ihr Alter und das Ansehen ihrer
Tugend wehren sollen; dies konnte, so
einleuchtend und allbefriedigend es auch ist,
dennoch hier nur von dem Geiste der Mäſsi¬
gung herstammen, dessen Rathschläge sich
auf tiefe Menschenkenntniſs und auf den
groſsen Erfahrungssatz gründen, daſs keine
moralische Freiheit je so vollkommen gedacht
werden könne, um die Zulassung einer ab¬
soluten bürgerlichen zu rechtfertigen. Von
der Masse des Menschengeschlechts nach
ihrer jetzigen Sittlichkeit zu schlieſsen, ist
nur unausbleiblicher Miſsbrauch der reinen,
absoluten Freiheit, sobald sie ihr verliehen
würde, zu erwarten. Nur der Tugendhafte,
im erhabensten Sinne, verdient diese Frei¬
heit; allein kann sie, kann die völlige Ge¬
[283] setzlosigkeit ihm wohl mehr geben, als was
er in der Unabhängigkeit seines Geistes von
allem Bösen, schon besitzt? Wenn es ein
Ideal dieser Art, oder auch nur daran grän¬
zende Menschen giebt, so ist doch ihre An¬
zahl viel zu unbedeutend, um bei dem Ent¬
wurfe gesellschaftlicher Verträge in Anschlag
gebracht zu werden. Alle solche Verträge
sind Nothbehelfe unserer Unvollkommeheit,
und können ihrer Natur nach nichts anders
als einen relativen, erreichbaren, ich möchte
sagen, mittleren Grad der bürgerlichen so¬
wohl als der moralischen Freiheit, durch
eine zweckmäſsige Vertheilung der Kräfte
und das dadurch entstehende künstliche Ge¬
gengewicht der Theile des Staats unterein¬
ander, bewirken. Wie sanft muſs das Haupt
dessen ruhen, der einem zerrütteten, seiner
Auflösung nahen Staate zur Wiedererlangung
dieser Freiheit neue Kräfte und Organe schuf!
[284]
X.
Burscheid liegt an der Ostseite der Stadt,
und man hat dorthinaus einen angenehmen
Spatziergang. Die Abtei ist schön gelegen
und mit allem geistlichen Prunke aufgeführt.
Gleich daneben zieht ein Wäldchen sich an
einem groſsen Teiche hin; und indem man
unvermerkt weiter kommt, geräth man end¬
lich in ein enges von waldigen Hügeln um¬
schlossenes Thal, wo sich nicht nur meh¬
rere heiſse Quellen durch ihren aufsteigen¬
den Brodem verrathen, sondern sogar ein
ganzer Teich mit heiſsem Wasser angefüllt
ist. Indem man an einer Reihe von schön¬
beschatteten Wasserbehältern fortwandert,
erblickt man die romantischen Ruinen des
alten Schlosses Frankenberg, innerhalb des¬
sen Mauern ein Gastwirth den guten Ein¬
[285] fall gehabt hat, sich eine Wohnung ein¬
zurichten, welche manchem verirrten Ba¬
degaste sehr zu statten kommt, da man
hier allerlei Erfrischungen und zugleich eine
reizende Ausſicht genieſsen kann. Was in¬
dessen das Vergnügen dieses Aufenthalts
stört, ist die Nachricht, womit der Fremde
bald bekannt gemacht wird: daſs sich hier
seit acht Jahren bereits zehn Menschen in
einem Anfall von Melancholie ersäuft haben.
Ich suchte vergebens die Veranlassung zu
dieser düstern Stimmung in der hiesigen
Gegend, die so viel Abwechselung hat, so
schön bewachsen und so vielfältig dekorirt
ist. Was hier zur Trauer und zur Verzweif¬
lung führt, ist vermuthlich das Hasardspiel,
welches, seitdem es in der Stadt verboten
ist, in Burscheid desto stärker getrieben wird.
Die Teiche in diesem Thale werden
sorgfältig unterhalten, indem sie den in Bur¬
[286] scheid befindlichen Nähnadelfabriken sehr zu
statten kommen. Wir besahen nur das
Merkwürdigste, nehmlich die Polirmühle,
welche vermittelst eines am Wasserrade an¬
gebrachten Getriebes die erforderlichen Vor¬
richtungen in Bewegung setzt. Von dem
Krummzapfen, steigt ein senkrechtes Gestänge
in die Höhe, welches vermittelst eines Dau¬
mens mit einer Horizontalwelle im zweiten
Stockwerke des Gebäudes in Verbindung
steht, und sie hin und herschwankend be¬
wegt. Die Nadeln liegen in Rollen von
dickem hänfenem Zwillich eingewickelt, zwi¬
schen Schichten von scharfen Kieseln, von
der Gröſse einer Linse, welche man aber
zuletzt mit Sägespähnen vertauscht. Indem
sich nun die Walze bewegt, zieht sie ein
in Haken hangendes wagerechtes Gatter hin
und her, wodurch die darunter liegenden
Bollen bewegt und die darin befindlichen
[287] Nadeln polirt werden. Unter jedem Polir¬
gatter liegen zwei Rollen, und jede Rolle
enthält dreimal hunderttausend Nadeln. Ich
freute mich, hier wieder zu bemerken, wie
viel man durch mechanische Uebung an
Geschicklichkeit gewinnt. Einen Haufen
verwirrt durch einander liegender Nadeln
bringt der gemeinste Arbeiter durch Schüt¬
teln und Schwingen eines Kastens in wenigen
Augenblicken vollkommen in Ordnung.
Burscheid beschäftigt nach Verhältniſs
mehrere Tucharbeiter, als die Stadt Aachen.
Die ansehnlichste Fabrik, die des Herrn
von Lowenich, besteht aus sehr weitläufti¬
gen, gut angelegten Gebäuden, und ihre
Tücher werden vorzüglich geschätzt. Hier
sowohl, als in Vaals und in Aachen selbst,
verfertigt man bloſs einfarbige Tücher, die
im Stück gefärbt werden, da hingegen Ver¬
viers und die dortige Gegend bloſs melirte
[288] Tücher, die schon im Garn gefärbt sind, lie¬
fern. Vigogne- oder Vikuñtücher werden
insbesondere zu Monjoie fabricirt. Der Han¬
del mit einfarbigen Tüchern scheint indessen
ungleich sicherer zu seyn, indem diese Fa¬
brikate nicht, wie jene andern, dem Eigen¬
sinne der Mode unterworfen, sondern auf
ein dauerndes Bedürfniſs berechnet sind.
Wenn man in Aachen auf wirklich vor¬
handene Verordnungen hielte, so dürften
daselbst keine andere Tücher, als bloſs von
spanischer Wolle gewebt werden. In Vaals
bestehen wirklich Kette und Einschlag aus
spanischer Wolle, nicht bloſs der Einschlag,
wie in andern deutschen Fabriken.
Diesen ersten Stoff also bezieht der hie¬
sige Tuchfabrikant unmittelbar aus Spanien.
Die feinste Wolle erhält man aus Bilbao
wegen der Nähe der vortreflichen Weiden
von Asturien und Leon; die gröbere kommt
von[289] von Cadix. Nachdem sie in Ostende gelan¬
det worden, geht sie wieder auf Kanälen
bis Herzogenbusch, und dann zur Achse
nach Aachen. Hier wird sie zuerst in aus¬
gemauerten Vertiefungen gespült, aus denen
man das unreine Wasser nach Gefallen ab¬
leiten kann. Um allen Betrug der Arbeits¬
leute zu verhüten, hat man diese Wollwä¬
schen an freien, frequentirten Örtern ange¬
legt. Wo diese Vorsicht nicht gebraucht wird,
(welches in der Stadt der Fall ist, wo man
zuweilen auch das Waschen bei Nacht ge¬
stattet) da kann man oft durch die strengste
Aufsicht der Entwendung eines ansehnlichen
Theils der zugewogenen Wolle nicht vor¬
beugen. Je nachdem der Arbeiter sie mehr
oder weniger mit Wasser angefüllt zurück¬
liefert, steht es bei ihm, den Fabrikan¬
ten unvermerkt um sein Eigenthum zu be¬
trügen.
I. Theil. T[290]
Die reine Wolle wird den Landleuten
zum Spinnen ausgetheilt. Für Aachen und
die umliegenden Fabrikorte spinnen haupt¬
sächlich die Limburger und die Flamänder.
Im Herzogthum Jülich, wo der Ackerbau
sehr stark getrieben wird, hat der Landmann
viel zu harte Hände, um einen feinen Faden
zu spinnen. Bei der Viehzucht auf den fet¬
ten Weiden von Limburg, wo die Haupt¬
beschäftigung des Bauers in Butter- und Kä¬
semachen besteht, erhalten sich die Finger
geschmeidiger, und überall spinnen Kinder
und Weiber den feinsten Faden. Solche
Beziehungen, welche die verschiedenen Wohn¬
orte der Menschen, und die denselben je¬
desmal angemessenen Modifikationen des Er¬
werbes und der Lebensart mit sich bringen,
interessiren um so mehr, wenn man sie er¬
fährt, weil man nur durch die besondern
Bedürfnisse einer groſsen Fabrikanstalt, und
[291] durch das ernste Nachdenken über die Mittel,
ihr Vollkommenheit zu geben, zur Wahrneh¬
mung derselben geleitet wird. Aehnliche Be¬
dürfnisse haben den spekulirenden Geist in
Berlin auf die Bemerkung geführt, daſs der
Soldat zum Spinnen ungleich geschickter ist,
als der pommerische Bauer. Wollte man
diese Spekulation noch weiter fortsetzen, so
müſste man von dem Satze ausgehen, daſs
eine jede Kunst desto vollkommener getrie¬
ben wird, je mehr sich die Kräfte des Men¬
schen darauf concentriren. Unstreitig also
würde man es im Spinnen weiter bringen,
wenn es durch fabrikenmäſsige Anstalten,
wo die Spinner einerlei Licht, Wärme und
Obdach genössen, so vortheilhaft eingerich¬
tet würde, daſs eine eigene, arbeitsame Klasse
von Menschen sich bloſs diesem Gewerbe
ergeben und davon allein subsistiren könnte.
Menschen, die vom siebenten Jahr an sich
T 2[292] nur dieser Beschäftigung widmeten, müſsten
in kurzem die Fertigkeit erlangen, besser
und schneller als alle andern, die das Spinnen
nur als Nebenwerk treiben, mit der Wolle
umzugehen; und indem sie beides, feinere
Fäden und in gröſserer Menge, lieferten,
würde ihre Arbeit wohlfeiler werden, ohne
ihnen selbst Nachtheil zu bringen. Wie
aber eine solche Anstalt mit den jetzt ge¬
bräuchlichen Erwerbarten des Landmannes
in eine Gleichung zu bringen wäre, so daſs
der Bauer, der schon nicht der glücklichste
ist, durch den Verlust des Nebenverdienstes,
den er vom Wollspinnen zieht, nicht zu
Grunde gerichtet würde, verdiente noch eine
sorgfältige Untersuchung, wobei man immer
wieder auf die längst gemachte Erfahrung
zurückkommen müſste, daſs der ungeheure
Druck, unter welchem der Landmann seufzt,
das erste und unüberwindlichste Hinderniſs
[293] bleibt, welches sich der Vervollkommnung
aller Zweige der Industrie entgegensetzt.
Man wundert sich, daſs das Uebel nicht
von Grund aus gehoben wird, und bedient
sich doch keiner andern, als der Palliativkur.
Daher ist auch die ganze neuere Staatswirth¬
schaft und die gepriesene Verschmitztheit
der Finanzbeamten nichts als die verächt¬
lichste Charlatanerie, oder, was noch ärger
ist, ein verabscheuungswürdiges System von
Kunstgriffen, wodurch der Unterthan, genau
wie der Negersklav in den Zuckerinseln,
nur nicht unter derselben Benennung, zum
Lastthier herabgewürdigt wird, dessen Unter¬
halt jährlich einen bestimmten Ueberschuſs
abwirft. Stört man durch eine neue, für
die Vervollkommnung des Kunstfleiſses vor¬
theilhafte Einrichtung das allergeringste an
diesem zerbrechlichen, aufs äuſserste gespann¬
ten Mechanismus, so treffen die Rechnungen
T 3[294] nicht mehr zu, und der Plusmacher, der
nur rechnen kann, sucht den Fehler seines
leeren Kopfes und Herzens in der vorge¬
schlagenen Neuerung. Ueberall, wo Fabriken
nicht das Werk der freien Betriebsamkeit
des Bürgers, sondern lediglich Finanzspeku¬
lationen der Regierung sind, wird daher auf
die Vortreflichkeit der Fabrikate weit weni¬
ger gerechnet, als auf den Absatz, den man
durch Verbote erzwingen kann, und es liegt
also in den ersten Grundsätzen, nach wel¬
chen man eine solche Anstalt werden läſst,
die Unmöglichkeit, sie zu der Vollkommen¬
heit, deren sie fähig ist, fortzuführen. Oft
fängt man da mit Vorkehrungen an, wo
man eigentlich aufhören sollte, wie es z. B.
bei den Baumwollenmanufakturen in einigen
Ländern der Fall ist, wo man zwar Farben,
Pressen u. dgl. angeschafft, aber auf gute
Gespinnste nicht gedacht hat. Diese Fehler,
[295] wodurch sich nur die Unwissenheit der Ad¬
ministrationen verräth, sind indeſs noch ver¬
zeihlicher, als wenn in Staaten, deren Be¬
völkerung verhältniſsmäſsig geringe ist, die
Erfindung und Anlegung solcher Maschinen,
welche die Arbeit vieler Hände entbehrlich
machen, laute Klagen veranlaſst. Diese Kla¬
gen, die in freien Ländern, wo der Fleiſs
jede Richtung nehmen darf, unerhört sind,
gereichen dem Despotismus zur Schande,
indem es seiner Willkühr leicht werden
muſs, die auſser Brodt gesetzten Hände an¬
ders zu beschäftigen. Allein das schöne
Schauspiel der Arbeitsamkeit bleibt das aus¬
schlieſsende Eigenthum freier Völker.
Geistlicher und oligarchischer Zwang hat
den Fleiſs aus den Mauern von Aachen ver¬
trieben. Die Protestanten, die von manchen
Bürgervorrechten ausgeschlossen, und des
Zunftwesens müde waren, fanden eine Stunde
T4[296] Weges von der Stadt, auf Holländischem
Gebiete, nebst der freien Religionsübung,
auch die Freiheit, mit ihrem Vermögen und
ihren eigenen Kräften nach ihrer Willkühr
hauszuhalten. In Vaals halten jetzt fünf Ge¬
meinen (Katholiken, Lutheraner, Reformirte,
Juden und Mennoniten) ruhig ihren Gottes¬
dienst neben einander, und jeder Einwohner
hat auſser einem festgesetzten Grundzins,
nach ächtphysiokratischen Grundsätzen, keine
andere Abgabe, unter welchem Namen es
auch sei, zu erlegen. Diese Einrichtung,
welche die Republik in allen Generalitäts¬
landen eingeführt hat, verwandelte in kur¬
zem das kleine Dorf in eine Scene des
zwanglosesten Fleiſses. Die Anlagen des
Herrn von Clermont zeichnen sich hier be¬
sonders wegen ihres Umfanges und ihrer
Zweckmäſsigkeit aus, und seine Fabrik be¬
schäftigt in Vaals, Aachen und Burscheid
[297] gegen hundert und sechzig Weber. Dreiſsig
Jahre sind hinreichend gewesen, die Volks¬
menge und den Wohlstand eines unbedeu¬
tenden Dörfchens so unbeschreiblich zu ver¬
gröſsern, daſs jene fünf Gemeinen sich da¬
selbst organisiren konnten. Wohin man
sieht, erblickt man jetzt groſse Fabrikgebäu¬
de. Auſser den eben erwähnten, die dem
Wahlspruche: spero invidiam, (ich hoffe
beneidet zu werden) über der Thüre des
Wohnhauses ganz entsprechen und zu er¬
kennen geben, was der Fleiſs vereinigt mit
Wissenschaft, Beurtheilungsgabe, Erfahrung
und Rechtschaffenheit, billig erwarten darf,
giebt es hier noch andere Tuchmanufaktu¬
ren, eine Nähnadelfabrik, u. s. w. Die hie¬
sigen Tücher gehen mehrentheils nach der
Levante; sie müssen zu dieser Absicht weiſse
Leisten haben, und sehr leicht, von feinem,
lockerem Gewebe seyn. Wir sahen hier
T 5[298] Tücher, die einem Grosdetours nicht un¬
ähnlich waren, von einer bewundernswürdi¬
gen Präcision des Gewebes. Die breitesten
halten sechzehn Viertelellen, und haben in
dieser Breite achttausend vierhundert Fäden.
So fein ist das Gespinnst, so gleichförmig
das Gewebe, so schön die Farbe, so vor¬
sichtig die Bereitung dieser Tücher, daſs
man bei den soliden Grundsätzen, nach wel¬
chen hier verfahren wird, dieser Fabrik ei¬
nen langen Flor voraus verkündigen kann.
Ich habe die hiesigen Anlagen alle mit
einem unbeschreiblichen Genusse in Augen¬
schein genommen. Es beschäftigt die Phan¬
tasie auf eine äuſserst überraschende Art,
hier auf einem Punkte so mancherlei Pro¬
dukte fremder, zum Theil der entferntesten
Erdgegenden ankommen, zur Verfertigung
und Bereitung eines neuen Fabrikats ange¬
wandt, und dieses wieder in eben so entle¬
[299] gene Länder versendet zu sehen. Mir we¬
nigstens ist es immer ein fruchtbarer Ge¬
danke, daſs hier Tausende von Menschen
arbeiten, damit man sich am Euphrat, am
Tigris, in Polen und Ruſsland, in Spanien
und Amerika prächtiger oder bequemer klei¬
den könne; und umgekehrt, daſs man in
allen jenen Ländern Tücher trägt, um den
Tausenden hier Nahrung und Lebensbedürf¬
nisse aller Art zu verschaffen. Das Phäno¬
men des fortwährenden Austausches verschie¬
dener Produkte der Natur und der Kunst
gegen einander ist aber unstreitig desto wich¬
tiger, weil die Ausbildung des Geistes so
innig damit verbunden ist. Der Handel
bleibt die Hauptursache von dem jetzigen
Zustande unserer wissenschaftlichen und po¬
litischen Verfassungen; ohne ihn hätten
wir Afrika noch nicht umschifft, Amerika
noch nicht entdeckt, und überhaupt nichts
[300] von allem, was uns über die anderen Thiere
erhebt, unternommen und ausgeführt. Das
Bedürfniſs, mehr zu umfassen, als der jedes¬
malige Erdpunkt auf dem wir wurden, uns
gewähren kann, sei aus unserer Natur hin¬
weg gedacht, und wir kamen nicht weiter
als die Affen, die so gut wie wir ein ge¬
selliges Leben führen und sich zu gegensei¬
tigem Schutze vereinigen. Nur dieses innere
Streben, das Maaſs in unserm Kopfe allen
Dingen anzupassen, macht uns zu Menschen;
und je kräftiger es sich in uns regt, desto
tiefer lassen wir die bloſse Thierheit unter
uns zurück. Durch dieses Streben ist der
Russe in Kamtschatka dem Bewohner der
Aleyutischen Inseln und dem Wilden in
Amerika an Vernunft und Ideenreichthum
überlegen, wie animalisch er übrigens in
seinem häuslichen Leben noch seyn mag.
Nur die Sorge für unmittelbare Erhaltung
[301] kann dem Bemühen nach einem gröſseren
Wirkungskreise Abbruch thun, und auch
dies nur so lange, bis die Erfahrung ge¬
macht ist, daſs im letzteren das erste¬
re zu finden sei. Es scheint indeſs doch,
daſs allzugroſser Reichthum der Natur den
Handel beinahe eben so wenig begünstigt,
wie ihre allzugroſse Kargheit. Wenn der
Wilde in träger Gleichgültigkeit nach seiner
Jagd oder von seinem Fischfang ausruht, so
ist es nicht zu läugnen, diese Beschäftigun¬
gen hatten ihn in dem Grade angestrengt,
daſs er den Reiz für fremde Gegenstände
kaum mehr empfand. Hingegen die Indier,
die Chineser, die Ägyptier und alle jene
Völker, denen ihr gesegnetes Land eine
ungeheure Verschiedenheit von Produkten
im gröſsten Überflüsse darbot, bildeten sich
schnell in ihrer eigenen Mitte, bis auf einen
gewissen Punkt, wo die patriarchalische Au¬
[302] torität üppig ward und in einen Geist und
Herz tödtenden Despotismus ausartete, der
alle Kräfte des groſsen Haufens verschlang
und ihnen ausſchlieſsender Weise nur zu
seinem Nutzen eine Richtung gab. Bald
entstand alsdann eine arbeitende und eine
bloſs genieſsende Klasse, und jede von die¬
sen theilte sich wieder, je nachdem die be¬
sondere Veranlassung dazu aus den übrigen
Verhältnissen der verschiedenen Nationen
entsprang. Das Interesse des Herrschers ver¬
trug sich nicht länger mit allem, was die
Einsichten der arbeitenden Menge erwei¬
tern konnte; ihr blieb daher der auswärtige
Handel untersagt. Damit aber der Despot
sich selbst die Quellen eines vervielfältigten
Genusses nicht abschnitte, gestattete er frem¬
den Kaufleuten den Verkehr in seinem Lan¬
de. Diese Einrichtungen erhalten sich in
Indien und China bis auf den heutigen Tag:
[303] denn die politische Ohnmacht, die sie zur
Folge hatten, reizte zwar oft die Begierde
des Eroberers; aber jeder, dem die Erobe¬
rung glückte, fand das System der Unter¬
drückung so unverbesserlich, daſs er sich
wohl hütete, daran zu künsteln.
Lage und Zusammenfluſs von günstigen
Umständen entwickelten den Handlungstrieb
bei den Phöniziern und Griechen, späterhin
bei den Karthaginensern, dann bei den Vene¬
zianern und Genuesern, zuletzt bei den Hol¬
ländern, den Engländern und andern euro¬
päischen Völkern. Überall war jedoch diese
Entwickelung von bürgerlicher Freiheit un¬
zertrennlich, und dauerte nur mit ihr. In
Portugall konnte sie nur begleitendes Phä¬
nomen des Eroberungsgeistes seyn, und muſs¬
te, wie etwas Erzwungenes und Unnatür¬
liches, in der Finsterniſs des geistlichen De¬
spotismus und der politischen Zwietracht
[304] verschwinden. In der deutschen Oligarchie
hat sie wunderbar angekämpft gegen die
furchtbaren Hindernisse des barbarischen Feu¬
dalsystems, und scheitert nur an der mit¬
telländischen Umgränzung des Landes, die
jede kaufmännische Operation zehnfach er¬
schwert. Wie viel indeſs, trotz dieser un¬
günstigen geographischen Lage, die Freiheit
für den vaterländischen Handel zu leisten
vermag, davon zeugt der Flor von Hamburg
und Frankfurt, wie der Verfall von Nürn¬
berg, Aachen und Kölln.
Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, ist
also der groſse Kaufmann, dessen Spekula¬
tionen das ganze Rund der Erde umfassen
und Kontinente an einander knüpfen, in
seiner Thätigkeit des Geistes und in seinem
Einfluſs auf das allgemeine Regen der Mensch¬
heit nicht nur einer der glücklichsten, son¬
dern durch die Masse von praktischen Er¬
fah¬[305] fahrungen, welche jenes Verkehr bei ihm
täglich vergröſsert, und durch die Ordnung
und Abstraction der Begriffe, die man bei
einem umfassenden Geiste vorausſetzen darf,
zugleich einer der aufgeklärtesten Menschen;
mithin vor vielen andern derjenige, der die
höhere Bestimmung unsers Wesens (zu wir¬
ken, zu denken, und vermittelst klarer Be¬
griffe die objektive Welt in sich selbst zu
concentriren) auf eine sehr vollständige Art
erreicht. Beneidenswerth ist das Schicksal
eines Mannes, dessen Unternehmungsgeist
vielen Tausenden zur Quelle des Wohlstan¬
des und des häuslichen Glückes wird; desto
beneidenswerther, weil er diese wohlthätigen
Zwecke ohne die mindeste Beeinträchtigung
ihrer Freiheit erreicht, und gleichsam un¬
sichtbarer Weise die Triebfeder von Wir¬
kungen ist, die jeder seiner eignen Will¬
kühr zuschreibt. Der Staat ist glücklich,
I. Theil. U[306] wenn er solche Bürger in sich faſst, deren
groſse Unternehmungen nicht nur mit der
höheren Ausbildung der Gemüthskräfte seiner
geringeren Mitbürger bestehen können, son¬
dern vielmehr durch dieselbe neue Stätig¬
keit erhalten. Wo die äuſserste Armuth
den Handarbeiter drückt, wo er mit aller
Anstrengung, deren er fähig ist, nie mehr
als nothdürftige Befriedigung der unentbehr¬
lichsten Lebensbedürfnisse erwerben kann;
da ist Unwissenheit sein Loos mitten in
einem Lande, wo die Wissenschaft die hö¬
heren Volksklassen mit ihrem hellsten Stral
erleuchtet; da also verfehlt er die edelste
Bestimmung seines Wesens, selbst indem
er als Werkzeug die Mittel zum Verkehr
der Nationen befördert. Ganz anders aber
verhält es sich, wo Geschicklichkeit und
Fleiſs, ihres Lohnes sicher, dem, der sie
besitzt und anwendet, einen gewissen Grad
[307] des Wohlstandes verschaffen, der ihm die
Erlangung wenigstens theoretischer Kennt¬
nisse, vermittelst eines zweckmäßigen Unter¬
richts und einer guten Erziehung, möglich
macht. Wie klein und nichtswürdig er¬
scheint nicht ein jeder Despot, der vor der
Aufklärung seiner Unterthanen zittert, ver¬
glichen mit dem Privatmanne, dem Fabri¬
kanten eines freien Staats, der seinen Wohl¬
stand auf den Wohlstand seiner Mitbürger
und auf ihre vollkommnere Einsicht gründet!
Von den Walkmühlen, wo die Tücher
eine nasse Bereitung erhalten, welche theils
wegen der schweren Arbeit, theils wegen
der ekelhaften Beschaffenheit der zum Rei¬
nigen gebrauchten Stoffe, theils auch wegen
der beständigen Nässe des Aufenthalts, die
Arbeiter mehr als jede andere angreifen muß,
führte man uns in die neue Färberei, die
in ihrer Art beinahe einzig ist, und wovon
U 2[308] man nur noch zu Sedan in Frankreich et¬
was ähnliches sieht. Ihre Anlage hat si¬
cherlich mehr als zehntausend Thaler ge¬
kostet, und vereinigt die drei wichtigsten
Vortheile: daſs sie geräumig ist, Holz er¬
spart, und Sicherheit vor Feuersgefahr hat.
Sie ist von den übrigen Fabrikgebäuden ein
wenig abgelegen und bildet einen einzigen
groſsen Saal, der durch viele groſse Fenster
erleuchtet wird, die zugleich zur Erhaltung
des so nöthigen Luftzuges dienen. Genau
in der Mitte desselben ist ein groſser Thurm
mit Mauern von ungeheurer Dicke angelegt,
welcher sich in den Rauchfang endigt. Die
Benennung Thurm ist wirklich die passendste
für dieses Gebäude, um welches rings um¬
her die Küpen oder Farbekessel in einem
Kreise stehen. Die Feuerung geschieht von
innen im Thurm. Das Holz liegt auf einem
Roste, dessen einzelne Stäbe drei Zoll im
[309] Durchmesser haben, und dennoch von der
Hitze schmelzen. Die Flamme spielt im
Kreise um den gefütterten Kessel, und der
Rauch kommt durch eine über dem Schür¬
loche angebrachte Oeffnung, und steigt in
der Mitte des Thurms heraus. Zwischen
beiden Oeffnungen ist ein Schieber ange¬
bracht, der, wenn man ihn mit einer Hand
zudrückt, das fürchterlichste Feuer im Ofen
augenblicklich ersticken kann.
Die zur Fabrik gehörigen Wasserleitun¬
gen sind eben so vortheilhaft eingerichtet,
und jedes Zimmer wird dadurch hinlänglich
mit Wasser versorgt. In der Färberei füllt
man die Küpen vermittelst geöffneter Hähne
in wenigen Augenblicken, und leert sie eben
so schnell durch groſse Heber. Das unreine
Wasser hat seinen Abfluſs durch Röhren
unter dem Fuſsboden. Was den Überfluſs
des Wassers noch im Werth erhöhet, ist
U 3[310] die Reinheit und Weichheit desselben, wel¬
ches zum Nutzen der Fabrik sehr wichtige
Eigenschaften sind. Im Winter bedient man
sich lieber geschmolzenen Eises als Schnees,
wegen der vorzüglichen Reinheit des erste¬
ren. Roth und Grün wird hier vorzüglich
schön gefärbt. Es giebt Scharlachtücher,
welche der Fabrik selbst im Färben auf an¬
derthalb Thaler die Elle zu stehen kommen.
Dabei wird man freilich einen Aufwand von
Cochenille gewahr, den man in andern Fa¬
briken zum Schaden der Käufer gar wohl
vermittelst des wohlfeileren Fernambukholzes
zu ersparen weiſs.
In mehreren groſsen Zimmern sitzen die
Scherer und Tuchbereiter. Die Korden, de¬
ren man sich hier bedient, werden in der
Gegend von Aachen gezogen. Die Scheren
kommen von Ramscheid, und die Preſsſpäne,
oder eigentlich dazu bereitete Pappendeckel,
[311] welche bei dem Pressen zwischen die Tücher
gelegt werden, von Malmedi, seitdem die
Engländer die Ausfuhr der ihrigen verboten
haben. Die in Königsberg von Kanter an¬
gelegte Preſsſpanfabrik ist hier nicht bekannt;
es scheint indeſs nicht, als wenn die hiesi¬
gen Tücher dadurch noch etwas an Voll¬
kommenheit gewinnen könnten. Die Preſs¬
späne von Malmedi sind weiſs und dick,
und haben nur wenig Firniſs, weshalb sie
auch gegen zwanzig Jahre dauern und dann
noch zu anderweitigem Gebrauche dienen
können. Ein Vorzug der hiesigen Tücher,
den vermuthlich die Orientaler besonders zu
schätzen wissen, besteht darin, daſs man sie
im Rahmen fast gar nicht reckt, und daſs
sie daher auch nicht, einlaufen, wenn man
sie ins Wasser legt.
Eine in Spanien seit einigen Jahren her¬
ausgekommene Verordnung hat nicht nur die
U 4[312] Ausfuhr fremder Tücher nach Amerika, son¬
dern auch den Verkauf derselben in Spa¬
nien selbst verboten. Wären die Tuchfabri¬
ken von Segovia und Guadalaxara so be¬
trächtlich, daſs sie beide Länder mit ihren
Fabrikaten versorgen könnten, so möchte
wohl dieser Absatz für die deutschen Ma¬
nufakturen gänzlich verloren seyn; allein so
groſs auch die Aktivität ist, welche man
sich bemüht, den inländischen Fabriken
dort zu geben, so reicht doch die Menge
ihrer Tücher noch nicht hin, und es läſst
sich schon berechnen, daſs das Verbot nicht
von langer Dauer seyn kann. Die erstaun¬
liche Solidität und der Umfang der hiesigen
Anlagen setzen die Eigenthümer in den
Stand, einen solchen Zeitpunkt ruhig abzu¬
warten, und selbst dem gänzlichen Verlust
ihres Debits in einem groſsen Welttheile,
falls es wider Vermuthen bei dem spani¬
[313] schen Verbote bleiben sollte, gleichgültig
zuzusehen. Eine wichtigere Revolution für
ganz Europa würde aber alsdann wirklich
eintreten, wenn dereinst Spanien aus seiner
Lethargie erwachen, alle seine Wolle selbst
verarbeiten und die Ausfuhr dieses ersten
unentbehrlichen Stoffes schlechterdings ver¬
bieten sollte. Da es vortreflich gelegen ist,
um den ganzen levantischen Handel an sich
zu reiſsen, und da es den amerikanischen, we¬
nigstens so weit seine eigenen unermeſslichen
Kolonien gehen, schon in Besitz hat, so
würde es im Osten und Westen seine herr¬
lichen Naturprodukte, mit eigenem Kunst¬
fleiſse verarbeitet, wohlfeiler, als bisher alle
andere Nationen, absetzen und doch mehr
als sie alle dabei gewinnen. England, Hol¬
land, Frankreich und Deutschland, die sich
jetzt von der Verarbeitung der rohen Pro¬
dukte Spaniens bereichern, würden, wenn
U 5[314] sie von diesen ausgeschlossen wären, ihre
Fabriken zu Grunde gehen sehen, und nach
Maaſsgabe des Vortheils, den sie ehedem
daraus zogen, auch an ihrer politischen
Wichtigkeit verlieren. Doch ehe es zu die¬
ser furchtbaren Veränderung kommt, bedarf
es zuvor einer Kleinigkeit: die Alleingewalt
des Königs muſs eingeschränkt, die Stände
müssen wieder hergestellt, die Inquisition
muſs abgeschafft, die Freiheit des Gewissens
und der Presse unwiderruflich zuerkannt,
und die Sicherheit des Eigenthums nebst der
persönlichen Unabhängigkeit aller Bürger von
willkührlichen Eingriffen in die Macht des
Gesetzes fest begründet werden. Der erste
Schritt zu dieser groſsen Wiedergeburt der
spanischen Monarchie ist — das Verbot aller
fremden Zeitungen, und die gewaltthätige
Eröfnung aller Briefe! Was gilt die Wette?
Die Limburger spinnen noch in hundert Jah¬
ren spanische Wolle!
[315]
Der immer steigende Mangel an den zur
Feuerung unentbehrlichen Brennmaterialien
drohet den hiesigen Fabrikanstalten, wie so
vielen andern, mit einer Erhöhung ihrer
Kosten, welche den zu erwartenden Gewinn
beträchtlich schmälern kann. Seit langer
Zeit sind die Wälder in diesen Gegenden
und in den Niederlanden überhaupt, durch
den starken Anbau und die zunehmende
Volksmenge verschwunden. Die Natur hat
indeſs für das Bedürfniſs der Einwohner
durch unterirdische Wälder, ich will sagen:
durch ansehnliche Steinkohlenflötze, reichlich
gesorgt. Ueberall sieht man schon in hie¬
siger Gegend Kamine und Steinkohlenöfen,
und niemand heizt noch mit Holz. Wie
aber, wenn auch die Gruben endlich sich
erschöpfen lassen und kein neues Substitut
erfunden wird, zu dessen Wärme wir im
Winter unsere Zuflucht nehmen, und wo¬
[316] bei wir unsere Speisen bereiten können?
Was unserer mit Physik verbundenen Che¬
mie noch möglich sei oder nicht, wage ich
zwar keinesweges zu bestimmen: sie erfindet
vielleicht ein Netz, in welchem sich das
zarte Element des Feuers fangen und ver¬
dichten Iäſst, so daſs es uns wieder Wärme
geben kann, indem wir es befreien; aber
das ist auf allen Fall eine höchst unsichere
Ausſicht. Wahrscheinlich kommt es mir
vor, daſs der Mensch zuletzt die Eis- und
Nebelländer und die von Waldung ganz
entblöſsten Gegenden des so genannten ge¬
mäſsigten Erdstriches, als unbewohnbar wird
verlassen müssen. Wir fragen immer, wann
doch endlich die Türkei, sowohl in Europa
als in Asien, im schönen Lichte der sittli¬
chen Kultur wieder aufblühen, wann ge¬
bildete Völker Afrika bewohnen werden?
Mich dünkt, die Antwort könnte man sich
[317] leicht erträumen: Hunger und Kälte werden
dereinst gewaltiger und unaufhaltsamer, als
vor Zeiten der Fanatismus und der Ehrgeiz,
wirken, um die Völker von Europa in hellen
Haufen über jene barbarischen Welttheile
hinzuströmen. Wir werden uns in die
Wälder des Hämus, des Taurus und Ama¬
nus, ja wohl gar des Kaukasus und Emaus
stürzen, die dortigen Barbaren bezwingen
oder verdrängen, und die Fackel der Wis¬
senschaft wieder in jenen Kreis zurücktra¬
gen, in welchem sie zuerst dem Menschen
in die Hand gegeben ward. Dünkt es Dich
ein Frevel, daſs ich mich so in die Zukunft
hineinträume? Was kann ich dafür, daſs
meine Phantasie mir Wahrscheinlichkeiten
vorrechnet und sich ein mögliches Bild dar¬
aus formt? Zwar besteht alles nun schon
so lange in unserm Norden; so schöne Blü¬
then und in solcher Menge sind bei uns
[318] aufgegangen; so manche herrliche Frucht
des Geistes ist gereift; das Menschenge¬
schlecht hat hier eine Bildung gewonnen,
die es, wenn wir eins ins andre rechnen,
noch nirgends hatte; wir schreiten vorwärts
auf einem so schönen Wege; alles scheint
unserer jetzigen Form des Wissens, und
unseren politischen Verhältnissen Dauer zu
verheiſsen! Ich gestehe Dir, dieses Raison¬
nement kommt mir nicht viel besser vor,
als die Hoffnung eines langen Lebens, wo¬
mit alte Leute sich schmeicheln, die immer
desto stärker an dem Leben hangen, je nä¬
her sie seinem Ziele rücken. Mir bürgt
die Vergänglichkeit der Dinge dafür, daſs,
je älter eine menschliche Verfassung wird,
ihr Ende um so näher sei. Wir können
das Menschengeschlecht nur mit sich selbst
vergleichen; und obschon der Theil seiner
Geschichte, den wir kennen, gleichsam nur
[319] von gestern ist, so enthält er doch schon
Begebenheiten genug, die uns lehren können,
unter ähnlichen Umständen einen ähnlichen
Ausgang zu erwarten. Die allgemeine Bil¬
dung und Entwickelung unserer Kräfte läſst
sich fast nicht höher treiben. Können wir
den Bogen stärker spannen, ohne daſs er
bricht? Kann unsere Vernunft noch scharf¬
sinniger geprüft, können unsere gröſseren
und kleineren, öffentlichen und häuslichen
Verhältnisse noch genauer berechnet wer¬
den? Sind wir dem höchsten Gipfel der
Verfeinerung nicht nahe? — Wenn man
aber den Berg erstiegen hat, so bleibt in
dieser Ixionswelt nichts übrig, als wieder
Kopf über, Kopf unter, das Rad in die
Tiefe zu rollen, und von unten auf sich
über ein neues Gebirge zu schleppen. Thö¬
richt wäre es allerdings, eine allgemeine Re¬
volution in Europa, die den Zusammensturz
[320] politischer, sittlicher und wissenschaftlicher
Formen mit sich brächte, im Ernste nur
vom Holzmangel herzuleiten, der mich hier
darauf geleitet hat. Aber als mitwirkende
Ursache kann er immer bestehen, wenn
schon das unübersehbare System unserer
Kenntnisse, die Auflösung der Sitten, das
Miſsverhältniſs der Religionsbegriffe und der
Regierungsformen zu dem jetzigen Zeitalter,
der Verfall der Hierarchie, das zerstörte
Gleichgewicht der Mächte, die Treulosigkeit
der Politik, die Veränderungen des Handels¬
systems, die herannahende Blüthezeit des
Amerikanischen Freistaates und solche wich¬
tige Ursachen mehr, noch ungleich schnel¬
ler und kräftiger zu jenem Ziele wirken.
Übrigens — zum Trost aller armen Sünder
auf und unter dem Throne — sind vielleicht
tausend Jahre zu einer solchen Revolution
die kürzeste Frist.
Über[321]
Über die Unbeständigkeit der Verfassun¬
gen nachzudenken, ist wohl nirgends natür¬
licher, als in Aachen, wo die Reichsinsignien
den Fremden an die tausendjährige Dauer
des deutschen Reiches, das jedoch in die¬
sem Zeitraum so wesentliche Veränderun¬
gen erlitten hat, recht lebhaft erinnern. Ich
habe die Kathedralkirche besucht. Sie ist
mit kleinlichen Zierrathen überladen, mit
denen die Säulen von Marmor, Granit und
Porphyr sonderbar genug kontrastiren. Der
Stuhl, worauf seit Karls des Groſsen Zeit
so mancher deutsche Kaiser gekrönt worden
ist, besteht aus schlechtem weiſsem Marmor,
und hat eine so unzierliche Gestalt, daſs
man ihn für eine Satire auf alle Throne
der Welt halten möchte. So sehr uns der
Vorzeiger bat, uns darauf zu setzen, spürte
ich doch nicht die geringste Versuchung
dazu, und wünschte nur manchem deutschen
I. Theil. X[322] Fürsten das Gefühl, womit ich da vor dem
Stuhle stand. Die Geschichte der letzten
Jahrhunderte war so eben vor meinem Ge¬
dächtnisse vorübergegangen. Was man in
Wien, in Regenspurg und in Wetzlar für
ganz verschiedene Vorstellungen von den
wesentlichen Bestandtheilen der Reichsver¬
fassung hegt; wie allmälig die Kaiserwürde
durch alle Metamorphosen, bis zu ihrer
jetzigen Form, wo ihr nur der Schatten
ehemaliger Herrschermacht geblieben ist, sich
hat einschränken lassen; wie die zahlreichen,
freien Stände, jetzt unter der unwidersteh¬
lichen Uebermacht von wenigen Allesver¬
mögenden aus ihrer Mitte, nur noch am
Namen der Freiheit sich begnügen, und den
gesetzgebenden Willen dieser Wenigen gut¬
heiſsen müssen: dies Alles erfüllte mich mit
der niederschlagenden Ueberzeugung, wie
wenig Willkührliches in den Schicksalen
[323] der Völker, wie wenig der Würde den¬
kender Wesen Angemessenes, sich im groſsen
Gange der Weltbegebenheiten zeigt, und
wie das Glück und die Wohlfahrt der
Millionen, die auf dem Erdenrund umher¬
kriechen, von todten Buchstaben, von eigen¬
sinnigem Bekleiben an bedeutungsleer gewor¬
denen Ceremonien, von Nichtswürdigkeiten
welche leeren Köpfen Importanz geben, stets
abhängig bleibt, und keinesweges in ihrer
eigenen Kraft und That besteht!
Die Thore von Erz an der Kollegiat¬
kirche sind zersprungen; allein diesen Spalt
zeigt man hier als ein Siegeszeichen, zum
Gedächtniſs der Ueberlegenheit der pfäffi¬
schen Verschmitztheit über die teuflische.
Die Bürger von Aachen, erzählt uns die
Legende, hatten, weil es ihnen an Mitteln
zur Beendigung des Baues dieser Kirche
fehlte, vom Teufel Geld geborgt, und ihm
X 2[324] dafür die erste Seele, die zur Kirchthüre
hineingehen würde, zum Eigenthum über¬
lassen. Als nun der Bau vollendet war,
fand sich kein Mensch, der das Opfer die¬
ses frevelhaften Vertrages werden wollte;
die Furcht vor Satans Krallen wirkte so
mächtig in dieser gläubigen Stadt, daſs die
Kirche wahrscheinlicher Weise bis auf den
heutigen Tag hätte leer stehen müssen, wenn
nicht ein Priester auf den klugen Einfall
gekommen wäre, einen Wolf, den man zu
gutem Glück lebendig gefangen hatte, durch
die Kirche zu jagen. Der Teufel schlug
aus Verdruſs, sich überlistet zu sehen, die
Thore von Erz hinter sich zu, daſs sie zer¬
sprangen. Den Unglauben zu beschämen,
der etwa sich erdreisten möchte, den Spalt
im Erz durch einen Windstoſs, der die
Flügel zuwarf, natürlich zu erklären, stehen
drauſsen vor demselben Thore zwei in Erz
[325] gegossene Denkmäler, wovon das eine den
Wolf, das andere aber seine verdammte
Wolfsseele, in Gestalt eines ungeheuren
Tannzapfens, vorstellt. Um übrigens von
der Wirkung auf die Ursache zu schlieſsen,
müſste man nur wie ich, heute die Char¬
freitags-Prozession gesehen haben. — Bei
einem schneidenden Nordwinde gingen die
frommen Büſsenden, mehr als dreihundert
an der Zahl, und schleppten baarfuſs und
unter ihren dünnen Kitteln fast nackend,
hölzerne Kreuze von gewaltigem Gewichte
den Laufsberg hinan. Ihr werdet freilich
schreien: besser, etwas weniger Büſsung, und
keine Wolle gestohlen! Allein, es ist doch
immer ein bewundernswürdiges Schauspiel,
wie viel die Religion über unsere phlegma¬
tische Natur vermag. Weise und tugend¬
hafte Lehrer hätten ein solches Volk eben
so leicht ehrlich als andächtig gemacht.
X 3[326]
XI.
Es kommt mir vor, als wären wir durch
den Schlag einer Zauberruthe in ein anderes
Land versetzt; so unendlich verschieden ist
alles, was ich hier um mich sehe, von dem¬
jenigen, was ich noch vor wenigen Stunden
in Aachen verlieſs. Schon der erste Anblick
der Stadt war überraschend. Man wird sie
aus der Ferne nicht gewahr; denn sie liegt
in einem tiefen Thal an der Maas, die
in mehrere kleinere Arme zerspringt. Es
giebt wenig schönere Aussichten auf eine
gleichsam unter den Füſsen liegende Stadt,
als diese, die ich von der Karthause hin¬
unter, indem wir hineinfuhren, genoſs. Ich
weiſs nicht wie es kam, aber ich hatte mich
auf ein kleines Städtchen gefaſst gemacht;
und wie erstaunte ich nun, als ich eine groſse
Stadt erblickte, die hunderttausend Einwoh¬
[327] ner enthalten kann und wirklich enthält.
Wunderschön schlängelt sich die Maas, die
hier noch von mittlerer Breite ist, hindurch,
und nähert sich bald auf der einen, bald
auf der andern Seite dem Abhange der Ber¬
ge, zwischen denen sich das Thal als eine
ebene, so weit das Auge trägt, mehrentheils
mit Hopfen bepflanzte, und mit einigem
Wiesewachs vermannichfaltigte Fläche zieht.
Nach allen Richtungen ist die Stadt mit
Steinkohlengruben umgeben, ja, sie steht
zum Theil auf den bereits abgebauten, ausge¬
höhlten Kohlenbergwerken. Zu beiden Sei¬
ten des Flusses, jedoch so, daſs auf die
Exposition nach Süden Rücksicht genommen
wird, an den in einiger Entfernung sich er¬
hebenden Gehängen des Thals, erstrecken
sich weitläuftige Weinberge, die also wieder,
wie die bei Hochheim, auf Steinkohlen lie¬
gen. Die Flötze sind sehr beträchtlich, und
X 4[328] an manchen Stellen tief unter dem Bette
der Maas bereits ausgeleert. Die entfernte¬
ren Hügel sind mit Ulmen, Pappeln und
andern Bäumen bewachsen und mit Land¬
häusern, Schlössern, u. s. f. reichlich ver¬
ziert. Am Ufer des Flusses erstreckt sich
ein quai, der sich in eine schöne hochstäm¬
mige Allee endigt.
Die Straſsen von Lüttich sind enge,
winklicht, krumm und nicht sehr reinlich;
es giebt indeſs doch mehrere schöne Ge¬
bäude: an dem quai, an den offenen Plätzen
und auf der so genannten Insel hinter der
St. Jakobskirche bemerkte ich eine Menge
guter, neuer Häuser. Der bischöfliche Pal¬
last ist ein Viereck, dessen inwendiger Hof
rundum einen Säulengang hat, wenn man
anders die abscheulichen, kurzen, bauchigen
Dinge, mit Kapitälern und Fuſsgestellen, so
nennen will. Die äuſsere Facciate hingegen,
[329] nach der Kathedralkirche zu, ist desto schö¬
ner, in einem guten Geschmack, mit rein
jonischen Pilastern. Die Dominikanerkirche
mit einer schönen, runden, einfachen Ku¬
pole, die nach einer in Rom kopirt ist,
zeichnet sich ebenfalls vortheilhaft aus. Die
alte gothische Kathedralkirche bot uns dafür
desto weniger Bemerkenswerthes dar.
Der beständig fortdauernde Lärm und
das Gewühl in den Straſsen zeugt von ei¬
ner auſserordentlichen Betriebsamkeit. Dieses
Schauspiel von durcheinander laufenden ge¬
schäftigen Menschen, so schmutzig auch die
meisten ausſehen, gewährt mir einen auſser¬
ordentlichen, sehr lange entbehrten Genuſs.
Die Köhler, die Messer- und Waffenschmie¬
de und die Spiegelmacher sind ein rohes,
aber rüstiges, lebhaftes, heftiges Volk, deren
Thätigkeit mit dem Phlegma der Aachner
schneidend kontrastirt. Die Volksphysio¬
X 5[330] gnomien haben hohe, gerade in die Höhe
gehende, an den Seiten zusammengedrückte
Stirnen, breite Jochbeine, schwarze nicht
gar groſse Augen, wohlgebildete, zuweilen
ein wenig aufgeworfene Nasen, und dicke
Lippen, bei einem nicht gar reinen Teint.
Sie nähern sich also den französischen, und
unterscheiden sich auffallend von den jüli¬
chischen, die gewöhnlich, bei einer sehr
weiſsen Hautfarbe und blondem Haar, durch
die länglichtfleischige Form des Gesichts und
die weicheren Züge eine gewisse Verwandt¬
schaft mit den Niederländern verrathen.
Die Lütticher können ihr französisches Blut
nicht verläugnen; sie sind eben so leicht¬
sinnig-fröhlich, eben so gutmüthig, eben so
mit einer, ich möchte sagen, angebornen
Höflichkeit begabt, und sprechen auch einer¬
lei Sprache, wiewohl so durchaus mit Pro¬
vinzialismen verdorben, daſs ein Mitglied der
[331] Pariser Akademie sie schwerlich für Brüder
erkennen würde. Auſserdem spricht das ge¬
meine Volk eine Art Kauderwelsch, welches
man unter dem Namen der wallonischen
Mundart kennt. Dieses ist den Fremden
völlig unverständlich, indem die ursprüng¬
lich altfranzösischen Wörter ganz verunstal¬
tet, bald abgekürzt, bald mit anderen En
dungen, und in einer ganz besondern Con¬
struktion erscheinen. So zum Beispiel heiſst:
lei po wei, laſst mich sehen; statt des fran¬
zösischen: laissès moi voir; und wieder:
ſerre I’hon, mach die Thüre zu, statt: ferme
la porte. In dem letztern Ausdruck ist hon
das altfranzösische huis, wovon noch á huis
clos und huissier übrig sind. Französische
Eleganz habe ich in den Kleidertrachten,
zumal der geringeren Klasse, freilich nicht
bemerkt; doch diese würde man auch in
Frankreich selbst bei dieser Klasse verge¬
[332] bens suchen. Die Lütticher Weiber tragen
kurze gestreifte Röcke; Leibchen oder auch
eine Art weiter Jacken von Kattun mit Er¬
meln, die mit demselben Zeuge frisirt sind,
und Kattunmäntel, die aber nur bis an die
Taille reichen. Wenn sie ausgehen, bin¬
den sie ein roth und gelbgeflecktes Baum¬
wollentuch über die Haube um den Kopf;
doch gehört dieser Putz vermutlich nur zu
den Verwahrungen, die der noch immer
fortdauernde, scharfe Nordwind nothwendig
macht.
Unsere Fahrt von Aachen hieher, auf der
Diligence, zeichnete sich wenig aus. Wir
hatten die ersten Plätze; allein beim Ein¬
steigen fanden wir drei Frauenzimmer dar¬
auf; folglich schwiegen wir von unseren
Ansprüchen, und setzten uns, wo wir zu¬
kommen konnten. Einmal saſsen elf Perso¬
nen in diesem ungeheuren Wagen, weil un¬
[333] terweges einige Passagiere abstiegen und meh¬
rere hinzukamen. Die Gespräche über po¬
litische Gegenstände nahmen kein Ende. Es
freute mich indeſs, die erstaunliche Menge
neuer Ideen in Umlauf anzutreffen, da sie
vor zehn Jahren zuverlässig allgemeines Auf¬
sehen, oder gar die Indignation der Majori¬
tät auf den Postwägen in Deutschland und
Brabant erregt hätten.
Nachdem wir durch einen schweren
Sandweg in einer tiefen Schlucht die Höhe
des Berges, der das Gebiet der Stadt Aachen
von der Provinz Limburg scheidet, erreicht
hatten, lag dieses herrliche Land wie ein
Garten vor uns; und je weiter wir hinein¬
kamen, desto reizender ward die Aussicht
auf die kleinen umzäunten Wiesen und
Viehweiden, welche die sanften, wellenför¬
migen Hügel bedecken. Ueberall ist diese
Gegend mit einzelnen, oder höchstens zu
[334] drei und vier beisammengestellten Hütten
gleichsam besäet, die zum Theil massiv
oder von Backsteinen, zum Theil von Fach¬
werk gebauet, ein wohlhabendes Völkchen
andeuten, das hier von der Viehzucht und
vom Wollspinnen lebt. Auf viele Meilen
weit sieht man die wogichen Hügel überall
mit lebendigen Heerden, und hier und dort
auch mit hochstämmigen Bäumen geziert;
auf Meilen weit liegen, ein paar gute Büch¬
senschüsse von einander, die einzelnen Bauer¬
hütten. Es ist unmöglich, sich hier etwas
anderes, als Einfalt und Gleichheit der
Einwohner, zu denken; man irrt in Gedan¬
ken von Haus zu Haus, und erblickt über¬
all fleiſsige Spinner, frohe Hirten und rein¬
liche Käsemacher. Die Ufer der Maas be¬
gränzen endlich diese Ausſicht, indem sie
unweit Mastricht in der Ferne den jähen
weissen Absturz dem Auge darbieten, der
[335] mit seinen häufigen Petrefakten den Natur¬
forschern unter dem Namen des Petersberges
bekannt ist. Clermont, ein artiges Dörfchen,
liegt am Wege, und in dieser Gegend schien
uns die Limburgische Landschaft vorzüglich
reich und schön. Auf den ersten Blick
hat es etwas einladendes, wenn man so die
zerstreuten Wohnungen sieht, wo jeder um
seine Hütte her sein Fleckchen Landes be¬
sitzt, sein Vieh darauf weiden läſst oder
auch, wie es weiter hin nach Lüttich zu
der Fall ist, seinen Weizen säet. Man
denkt sich dabei eine natürliche Bestimmung
des Menschen, die Erde zu bauen und zu
besitzen. Allein diese Vereinzelung kann
ihn nicht bilden, und der zehnte Theil aller
in ihn gelegten Kräfte wäre für den Hirten
hinreichend gewesen. Sollte der Mensch
inne werden, was es sei, das sich in ihm
regt, so muſste sich in verschiedenen Ein¬
[336] zelnen bald diese, bald jene Fähigkeit ent¬
wickeln, auf Kosten jener allzueinfachen
Bestimmung, welche die Wohlthaten des
geselligen Lebens nicht kennt, weil seine
Bedürfnisse ihm fremd sind. Ich habe die
guten Limburger nicht in der Nähe beob¬
achten können; allein ihre Vereinzelung
giebt mir Ursache zu vermuthen, daſs ihr
Ideenkreis äuſserst eingeschränkt seyn müsse.
In den Städten mag es indeſs schon
anders beschaffen seyn. Hier sahen wir
zum erstenmal die brabantische Kokarde,
dieses furchtbare, nun aber so oft ohne
ächten Freiheitssinn nachgeahmte Freiheits¬
zeichen; auch begegneten uns einige bra¬
bantische Truppen, deren Anblick indeſs
keine Ehrfurcht einflöſste. Sie schienen völ¬
lig undisciplinirt, wuſsten ihr Gewehr nicht
zu regieren, und sollen auch von der im
Dienste unentbehrlichen Subordination gar
keine[337] keine Begriffe haben. Ihre Kleidung ist ein
bloſser Ueberrock, der schlechterdings kein
militairisches Ansehen hat. Auſser diesem
einzigen Stücke, welches ihnen eine gewisse
Uniformität giebt, sieht ihr übriger Anzug
buntscheckig und oft zerrissen aus. Die
meisten, die uns zu Gesichte kamen, waren
junge Leute, und einige konnte man bei¬
nahe noch Kinder nennen. Ihre Erschei¬
nung in der Provinz mag indeſs die Staaten
von Limburg über ihre eigene Sicherheit ein
wenig beruhigt haben; denn, weil sie sich
gewisse Rechte anmaſsten, die das Volk
ihnen nicht zugestehen will, zogen sie bis¬
her von einem Orte zum andern, von Herve
nach Battice, und von da noch näher an
Aachen, in das Dorf Henri-chapelle, wo
sie in einer elenden Schenke ihre Versamm¬
lungen halten.
Der Abstich von jenen erbärmlichen Rot
l. Theil. Y[338] ten des brabantischen Pfaffendespotismus zu
diesen rüstigen Lüttichern gehörte mit zu
den Dingen, die uns gleich bei dem Ein¬
tritt in die Stadt in Erstaunen setzten. So¬
wohl die eigentlichen besoldeten Stadttrup¬
pen, als die Freiwilligen, sind gut und zum
Theil recht schön gekleidet. Es ist ein all¬
gemeines Regen und Gähren unter ihnen
und im Volke, wegen des bevorstehenden
Abmarsches der Preuſsen. Vielleicht hat
auch die Gegenwart und das Beispiel dieser
musterhaften Truppen dazu beigetragen, ihnen
die Begriffe von Disciplin, Subordination und
Taktik näher zu bringen, als sonst geschehen
wäre; vielleicht haben sie ihnen das Exer¬
ciren abgesehen, und sich geschämt, im Bei¬
seyn ihrer Meister schlecht zu bestehen;
vielleicht kann man endlich auch vermuthen,
daſs Menschen, deren Gewerbe in der Fa¬
brikation von Gewehren und in den anstren¬
[339] genden Köhlerarbeiten besteht, eines Theils
mit den Waffen selbst vertrauter, andern
Theils aber beherzter und gleichgültiger gegen
die Gefahr seyn müssen, als die brabanti¬
schen Bauern und die limburgischen Hirten.
Wirklich scheint es, wenn Muth den Man¬
gel an Disciplin ersetzen kann, daſs sie nur
eines geschickten Anführers bedürfen, um
für die Verfassung, die sie sich selbst gege¬
ben haben, mit Nachdruck zu streiten.
Wir wanderten durch die Straſsen und
suchten uns so viel als möglich mit dem
Volk in Unterredung einzulassen, um uns
durch eigene Erfahrung von der herrschen¬
den Stimmung zu überzeugen. Es bedurfte
keiner Künste, um die Leute zur Sprache
zu bringen. Sie waren durchgehends von
ihren politischen Verhältnissen bis zum Über¬
strömen voll, hingen daran mit unglaubli¬
chem Eifer, und schienen sich im gegenwär¬
Y 2[340] tigen Zeitpunkte, wie alle freie Völker, mit
den öffentlichen Angelegenheiten beinahe
mehr, als mit ihren Privatbedürfnissen zu
beschäftigen. Die Namen des Königs von
Preuſsen, des Grafen v. Herzberg, des Gene¬
rals von Schlieffen und des Herrn v. Dohm
wurden nicht anders als mit einem Ausdruck
der Verehrung und Liebe, mit einer Art
von Enthusiasmus genannt. Man hatte uns
schon in Aachen erzählt, und hier bestätigte
es sich, daſs der letztere den Umarmun¬
gen der Köhlerweiber, welche hier die Pa¬
riser Poissarden vorstellen können, mit Noth
entgangen sei. Zum Lobe der preuſsischen
Truppen und ihrer vortreflichen Mannszucht
vereinigten sich alle Stimmen. Ils sont
doux, comme des agneaux, sagten sie, und
hinterdrein erscholl die wahre französische
Ruhmredigkeit, mit der Betheurung, daſs,
wenn sie es nicht wären, on leur feroit
[341] voir du païs; denn die Zuversicht, womit
sie auf ihre eigenen Kräfte trotzen, geht ins
Hyperbolische, und reiſst sie zu Aeuſserun¬
gen hin, die in ihrem Munde nichts be¬
deuten, aber doch wie Beleidigungen klin¬
gen. Bei dem natürlichen Hange der Men¬
schen, das Langgewohnte für etwas Noth¬
wendiges und Gutes zu halten, folglich ihre
Vorgesetzten, bloſs weil es die ihrigen sind,
und man es ihnen so gelehrt hat, zu ehren
und zu lieben, muſs in der That eine
schrecklich empörende Miſshandlung des
Volks hier vorhergegangen seyn, um dieses
Band zu zerreiſsen und den hohen Grad
von Erbitterung, der sich durchgängig äuſsert,
gegen den Bischof zu erwecken. Die Wuth —
man kann es kaum anders nennen, was sie
bei dem Nennen seines Namens augenblick¬
lich entflammt — die Wuth ging so weit,
daſs sie sich gegen ihn der härtesten Aus¬
Y 3[342] drücke bedienten und ohne alle Zurückhal¬
tung von ihm als von einem verworfenen,
des Fürstenstuhls unwürdigen Menschen spra¬
chen. Eben so kühn und trotzig wütheten
sie gegen das wetzlarische Kammergericht
und die deutschen Fürsten, die ihre ver¬
meinte Nothwehr gegen die Tyrannei, wie
einen Aufruhr behandeln; diese wurden
nicht ohne Verwünschungen genannt, und
wir sahen die eifrigen Patrioten auffahren
bei dem Gedanken, daſs ihnen eine unwill¬
kommene Coadjutorschaft bevorgestanden ha¬
be. Mit dem Fürstenhasse verbindet sich
zugleich ein allgemeines Miſsfallen an dem
ganzen Priesterstande, das beinahe in Ver¬
achtung und Indignation gegen diese Klasse,
und, weil der rohe Haufe weder unter¬
scheidet noch prüft, bei vielen auch gegen
die Religion selbst übergeht. Wie das Volk
seine Religionsbegriffe bloſs auf Treu’ und
[343] Glauben, nicht nach vernünftiger und frei¬
williger Prüfung angenommen hat, so muſs
seine Anhänglichkeit an dieselben endlich
geschwächt werden, wenn das Vertrauen
auf seine Lehrer verschwindet. Der état
primaire, worunter das Domkapitel verstan¬
den wird, hat sich, durch den Vorschlag
einer Kopfsteuer, welche auf die ärmeren
Volksklassen zurückfallen würde, statt des
von ihm erwarteten Darlehns, bei den Ein¬
wohnern nicht zum besten empfohlen.
In den Wirthshäusern und Kaffeehäu¬
sern sahen wir fleiſsige Zeitungsleser, und
selbst der gemeine Mann politisirte bei sei¬
ner Flasche Bier von den Rechten der
Menschheit, und allen den neuen Gegen¬
ständen des Nachdenkens, die seit einem
Zeitabschnitte von ein paar Jahren endlich
auch auf dem festen Lande in Umlauf ge¬
kommen sind. In den müſsigen Zwischen¬
Y 4[344] räumen, welche die Sorge für die Befriedigung
des physischen Bedürfnisses übrig läſst, for¬
dert der Geist Beschäftigung. Entweder muſs
er seine Phantasie mit hyperphysischen Träu¬
men wiegen, die er nicht zergliedern und
nach dem Gesetze des Widerspruchs beur¬
theilen kann; oder ein Wort — zum Bei¬
spiel: Freiheit — das ohne Metaphysik un¬
verständlich ist, muſs sich seiner bemächti¬
gen und ihn im Kreise umherwirbeln, das
Spiel einer fortwährenden petitionis principii.
Indeſs, so unfähig die Lütticher auch sind,
einen Streit über die Grundsätze des geselli¬
gen Lebens, den die Philosophen selbst noch
nicht ins Reine brachten, abzuurtheilen; so
genau sind sie doch von den Thatsachen
unterrichtet, welche ihre gegenwärtigen An¬
gelegenheiten betreffen, und hier, wie über¬
all, entscheidet das Gefühl augenblicklich,
ehe noch die Vernunft, die das Vergangene
[345] und das Zukünftige bis an die äuſsersten
Gränzen der Zeit, mit in ihre Entscheidungs¬
gründe einschlieſst, sich aus dem Chaos ent¬
gegengesetzter Verhältnisse herauswirren kann.
Die wichtigen Fragen, worüber wir hier
deraisonniren hörten, kann zwar ein Köhler
oder ein Schwerdtfeger nicht entscheiden;
allein unter allen Menschen, denen diese
Fragen zu Ohren gekommen sind — wie
viele giebt es, deren Vernunft für kompe¬
tent zur Entscheidung gelten kann? Und
werden diese kompetenten Richter unter sich
einig seyn? Wahrhaftig! wenn niemand
sich unterstehen dürfte, über Dinge zu spre¬
chen, oder vielmehr seine Verstandeskräfte
an Dingen zu üben, die er nicht rein bis
auf die letzten Gründe sich entwickeln kann;
so gehörte die groſse Masse der fürstlichen
Automaten, des ungebildeten und ausgear¬
teten Adels, der juristischen Tröpfe, der
Y 5[346] Theologen, die ihre Dogmatik nur auswen¬
dig wissen, zu den ersten, denen man Still¬
schweigen gebieten müſste, indeſs nur wahre
Weise sprechen, und — was mehr ist —
regieren dürften. Neben so vielen Rechten,
welche die Menschen veräuſsern und über¬
tragen konnten, um den Vortheil der Ver¬
einigung zu einem Staate zu genieſsen, giebt
es auch andere, welche ihrer Natur nach
unveräuſserlich sind; und unter diesen ste¬
het das Recht, ihre Geistesfähigkeiten durch
Entwicklung, Übung und Ausbildung zu
vervollkommnen, oben an. Wenn ein Ver¬
trag die Sklaverei gut heiſsen, und den un¬
umschränkten Willen eines Tyrannen für
rechtmäſsig erklären könnte, so darf doch
selbst das Leibeigenthum, welches jemand
besitzt, ihm nicht zum Vorwande dienen,
seine Sklaven an der Erreichung ihrer Be¬
stimmung als Menschen zu verhindern. Oder
[347] geht die Anmaßung der Tyrannei so weit,
daß sie ihren Opfern auch diese Bestim¬
mung abspricht? darf sie im Ernste der
Natur so schrecklich spotten, und ohne
Hehl den Sklaven zum Thier herabwürdigen
wollen? Darf sie sich das Recht zuspre¬
chen, einem Menschen Vernunft und Mensch¬
heit auszuziehen? Dann rege sich Alles, was
noch Menschheit im Busen fühlt, gegen das
Ungeheuer, das seine Größe nur auf Zer¬
störung bauet!
Wenn wir nicht auf Inkonsequenzen ver¬
fallen wollen, die alle Bestimmung unmög¬
lich machen und den Grund aller Verträge
und aller Rechte untergraben; so muß selbst
die despotische Regierungsform eben den
Zweck haben, den die Natur mit einem
jeden einzelnen Daseyn eines vernünftigen
Wesens erreicht wissen wollte, den Zweck,
den unsere Vernunft uns unaufhörlich vor
[348] Augen hält: den höchstmöglichen Grad sitt¬
licher Vollkommenheit, durch die Entwicke¬
lung aller in uns gelegten Anlagen, zu er¬
reichen. Dem Bande der Gesellschaft, durch
welches diese Entwickelung auf eine voll¬
kommnere Art, als im gesetzlosen Zustande,
erreicht werden kann, opfern wir gewisse
Mittel zur Ausbildung freiwillig auf; wir lei¬
den gewisse Einschränkungen unserer äuſser¬
lichen Freiheit, unserer Handlungen; wir
thun Verzicht auf die vollkommene Gleich¬
heit unserer Rechte, um im Staate verei¬
nigt, mit desto gröſserer Sicherheit auf dem
Wege der moralischen Vervollkommnung
ungehindert fortzuschreiten. Die Erbärm¬
lichkeit, womit unzählige Menschen, durch
falsche Vorstellungen geleitet, an der bloſsen
Existenz, als an dem höchsten Gute hangen,
mag vielleicht dazu mitgewirkt haben, bei
den unumschränkten Herrschern den hohen
[349] Grad von Verachtung gegen ihre Untertha¬
nen zu erregen, vermöge dessen sie ihnen
unendlich viel Gnade zu erzeigen glauben,
wenn sie ihnen nur das Leben und die
Mittel zu seiner kümmerlichen Erhaltung
schenken. Allein, wie gesagt, hier ist nicht
die Rede von den Irrwegen, auf welche
der menschliche Geist gerathen kann, wenn
er sich selbst als alleinigen Zweck, und alles
andere, die Menschen sogar nicht ausge¬
schlossen, als um seinetwillen geschaffen
wähnt; sondern wir suchen hier den ein¬
zig möglichen Grund, auf welchem die
schon bestehenden Verträge zwischen den
Gliedern der Gesellschaft beruhen, und auf
welchen die Herrscher im Staate vor dem
Richterstuhle der Vernunft ihr Recht bezie¬
hen können. Ein Vertrag ist nichtig, der
die Sittlichkeit verletzt, und eine Staatsver¬
fassung hat keinen Augenblick eine recht¬
[350] mäſsige Existenz, wenn sie sogar ihren Glie¬
dern die Möglichkeit einer sittlichen Ver¬
vollkommnung raubt. Diese Vervollkomm¬
nung aber setzt den uneingeschränkten Ge¬
brauch der Vernunft und des gesammten
Erkenntniſsvermögens voraus; sie heischt so¬
gar Freiheit des Willens, worauf nur da
Verzicht gethan werden darf, wo gewisse
Handlungen der fremden Willkühr zum ge¬
meinschaftlichen Besten Aller, das heiſst,
zur Beförderung der allgemeinen Vollkom¬
menheit, unterworfen werden müssen. Jede
Einschränkung des Willens, die nicht zur
Erhaltung des Staats unentbehrlich ist, wird
der Sittlichkeit seiner Glieder gefährlich,
und die Gefahr einer solchen Verwahrlosung
der eigentlichen Herrscherpflicht ist groſs ge¬
nug, um weisen Despoten ihren Weg vor¬
zuzeichnen, und sie aufzufordern, ihren Un¬
terthanen die uneingeschränkte Religions¬
[351] Gewissens- Unterredungs- und Preſsfreiheit
zuzugestehen, ja sogar über die Verhältnisse
des Staats, über seine Mängel und die Mit¬
tel ihnen abzuhelfen, keines Menschen Nach¬
denken und Bemühung sich und Andere zu
unterrichten, ein Ziel zu stecken. Friedrich
der Einzige war auch in diesem Stücke kon¬
sequent und allen künftigen Alleinherrschern
ein Muster.
Immerhin mögen die Vertheidiger des
Despotismus über die gehoffte Vervollkomm¬
nung des Menschengeschlechts lachen! Ich
lache gern mit ihnen, wenn von der Reali¬
sirung eines Ideals der sittlichen Vollkom¬
menheit die Rede ist. Wie das Ideal des
sinnlichen Vollkommenen, kann es nur in
der Phantasie des Philosophen existiren, und
hat nicht einmal den Grad von Realität,
dem der Künstler im Bilde dem Idealisch¬
schönen geben kann. Allein es heiſst zu
[352] früh gelacht, wenn nicht der höchste denk¬
bare Punkt der Vollkommenheit als wirklich
erreichbar angenommen, sondern nur die
Freiheit, in der Entwicklung jedes Einzel¬
nen, so weit zu kommen, als Organisation,
inneres Kraftmaaſs und natürliche Beziehun¬
gen es jedesmal gestatten, von dem Staate und
seinen Herrschern gefordert wird. Erfah¬
rung und Geschichte lehren unwidersprech¬
lich, daſs die Menschen zu allen Zeiten von
den Vorschriften, die sich, aus dem Wesen
der menschlichen Vernunft ableiten lassen,
abgewichen sind, um einem willenlosen Be¬
gehrungsvermögen zu gehorchen; überall se¬
hen wir die Vernunft im Streite mit bloſs
thierischen Kräften, und in unzähligen Fäl¬
len bemerken, wir den Sieg der gesetzlosen
Sinnlichkeit. Aber im innersten Grunde un¬
seres Wesens liegt der Maaſsstab, womit
wir Alles messen und würdigen können,
das[353] das eigenthümliche moralische Gefühl, wel¬
ches keinem einzigen Vernünftigen fehlt,
und in welchem die Unterschiede des Gu¬
ten und Bösen, wie die Unterschiede des
Schönen und Häſslichen im Sinnengefühl,
ursprünglich gegründet sind. Auf ein sol¬
ches, Allen gemeinschaftliches Gefühl, wel¬
ches den Operationen der Vernunft eine
unabänderliche Norm ertheilt, nicht auf ein¬
zelne Erscheinungen aus der wirklichen Welt,
lassen sich die unbedingten, allgemeinbinden¬
den Bestimmungen gründen, ohne welche
die physische Gewalt nicht bloſs ein un¬
tergeordnetes Mittel wäre, rechtmäſsige An¬
sprüche geltend zu machen, sondern selbst
zum höchsten Gesetz und zur alleinigen
Quelle des Rechts erhoben werden müſste.
Wie furchtbar aber wäre dieses Recht des
Stärkeren allen Staatsverfassungen, die nicht
auf eine gleichförmige Vertheilung der Kräfte
I. Theil. Z[354] gegründet sind, sondern in denen wenige,
schwache Einzelne ihr Herrscheramt von der
unsicheren Trägheit oder Convenienz der
Menge abhangen lassen, und dem Volke,
beim ersten Erwachen des Bewuſstseyns sei¬
ner Übermacht, weichen müſsten?
Es schmälert nichts an der Vollkommen¬
heit und Allgemeinheit der Regel, daſs sie
unaufhörlich übertreten wird. Willkührliche
Gewalt mischt sich in die meisten Hand¬
lungen der Völker und der ungleichartigen
Bestandteile eines Staats gegen einander.
Auch kann nichts anders erwartet werden,
so lange es keine vollkommen vernünftige
Menschen giebt, die aller Vorsicht ohnehin
entübrigt seyn könnten. Wir haben inzwi¬
schen doch den groſsen Fortschritt gewon¬
nen, von der rohen Thierheit zur Aner¬
kennung der Majestätsrechte der Vernunft.
Alles erweiset der Vernunft die höchste
[355] Ehre; keiner will sich der Gewalt bedient
haben, bloſs weil er sich stärker fühlte,
sondern weil er besser, richtiger, weiser
dachte, und es dem anerkannten Rechte
schuldig zu seyn glaubte, dem blinden Geg¬
ner mit derben Faustschlägen die Augen und
das Verständniſs zu öffnen. Mit diesem
feinen Unterschiede ist es aber im Grunde
noch nicht weit her; denn weil die allge¬
meingültige Vernunft nirgends geltend ge¬
macht ist, so trift das Compliment jedes¬
mal nur die eigene Vernunft des einzelnen
Menschen; ihr huldigt er, denn sie ist das
Höchste was er hat, so unvollkommen sie
auch seyn mag. Von den Prämissen, die
sie ihm darbietet, muſs er ausgehen; denn
sie sind ihm in Ermangelung des Besseren
unfehlbar, und was er daraus fortschlieſst,
das sind ihm eben so unfehlbare Schlüsse.
Wie entscheidet man nun aber zwischen
Z 2[356] zwei streitenden Parteien, die sich beide
auf ihr, in Vernunft gegründetes Recht be¬
rufen? Wo man nicht überreden kann,
braucht man Gewalt; und siehe da! —
der Stärkere behält Recht. Ist die Vernunft
also wohl mehr als ein bloſser Vorwand?
sie nämlich, die sich im einzelnen Menschen,
nach dem Maaſse von Empfindungskräften,
welche Natur und Zeit und Umstände ihm
verliehen, so leicht von seinen Leidenschaf¬
ten bestechen oder wenigstens besiegen läſst?
Vielleicht dürfte man aber auch eben des¬
wegen mit gutem Fug behaupten, daſs in
der natürlichen Ungleichheit der Menschen,
in Absicht auf Organisation, physisches Kraft¬
maaſs und Seelenvermögen, und in ihrer,
von keines Menschen Willen gänzlich ab¬
hängigen, Verschiedenheit der Ausbildung,
welche ganz verschiedene Grade von Lei¬
denschaft und alle die unendlich nüancirten
[357] Charaktere des wirklichen Lebens hervor¬
bringen, der groſse Kunstgriff liegt, vermöge
dessen die Natur den Menschen einzig und
allein vor dem Herabsinken in einen todten
Mechanismus von Formeln und Schlüssen
bewahren konnte. Ein jeder soll nur Kräfte
zur Vollkommenheit ausbilden; darum wird
er mit bloſsen Anlagen, ohne alle Entwick¬
lung geboren. Leuchtete Allen schon die¬
selbe moralische Sonne im Busen; erfüllte
und wärmte sie Alles mit ihrer unüberwind¬
lichen Wahrheit: dann glichen wahrschein¬
lich auch unsere Handlungen dem Sternen¬
tanze, der nach «groſsen, ewigen, ehernen
Gesetzen» abgemessen, nicht die kleinste
Spur von Freiheit und eigener Kraft des
Willens zeigt, sondern auf ewige Zeiten
hin vorausberechnet werden kann. Ach!
daſs uns ja das edle Vorrecht bleibe, in¬
konsequent und inkalkulabel zu seyn!
Z3[358]
Die politische Lage von Lüttich veran¬
laſste diese Streiferei in das philosophische
Gebiet, und mag sie nun auch entschuldi¬
gen. Du weiſst, daſs der General von Schlief¬
fen mit sechstausend Mann Preuſsen seit
ungefähr vier Monaten die Stadt Lüttich
und ihre Citadelle besetzt; jetzt muſs ich
Dir erzählen, warum das geschehen sei und
Du wirst Dich wundern, daſs die Sache,
von der man so viel Aufhebens macht, so
einfach ist. Der im Jahr 1316 zwischen
allen Ständen und Klassen des Lütticher
Volks abgeschlossene Vertrag oder Friede
(paix) von Fexhe enthält die Grundverfas¬
sung dieses Hochstifts. Wie zu jenen dunk¬
len Zeiten ein Vertrag zu Stande gekommen
seyn mag, dessen Vortreflichkeit man sogar
mit der brittischen Constitution zu verglei¬
chen wagt, will ich unerörtert lassen; genug,
er ward mit Gewalt errungen und mit ver¬
[359] gossenem Bürgerblute besiegelt, und war
nicht das Werk einer allgemeinen, freien,
zwanglosen Ueberzeugung. Ein mächtiger
Bischof, der zugleich Kuhrfürst von Kölln
und Bischof von Hildesheim war, that im
Jahr 1684 einen gewaltsamen Eingrif in diese
Verfassung, indem er den dritten Stand gänz¬
lich von sich abhängig machte und in po¬
litischer Rücksicht gleichsam vernichtete, das
Recht die Magistratspersonen in den Städten
zu ernennen, dem Volk entriſs und an sich
zog, also zugleich den anderen höheren
Ständen furchtbar ward. Indeſs besaſs die
Geistlichkeit zwei Drittheile des Bodens im
ganzen Hochstift, und war von Abgaben
frei; ein Umstand, welcher mit der behaup¬
teten Ähnlichkeit zwischen der hiesigen Ver¬
fassung und der englischen lächerlich kon¬
trastirt. Die Geistlichkeit sah also bei ihrem
sichren Genusse gleichgültig zu, daſs die Lasten
Z 4[360] des Volks sich täglich vermehrten. Allein der
Zeitpunkt rückte heran, wo zur Erleichte¬
rung desselben geschritten werden muſste.
Der jetzige Fürstbischof sah sich genöthigt,
im vorigen Jahr (1789) eine Versammlung
der Stände zusammenzuberufen und zugleich
der Geistlichkeit für die Zukunft die Über¬
nahme ihres Theils an den Abgaben anzu¬
muthen. Wiederholte Äuſserungen der im¬
mer mehr um sich greifenden Eigenmacht
des Bischofs, hatten während der Zeit den
Bruch zwischen ihm und den Ständen so
sehr erweitert, daſs das Beispiel von Frank¬
reich und Brabant kaum nöthig war, um
eine von jenen gewaltsamen Krisen zu be¬
wirken, welche allenthalben, wo es dem
Despotismus noch nicht gelungen ist, die
unterjochten Völker um alle Besonnenheit
zu bringen und unter die Thierheit hinab
zu stoſsen, früher oder später die unausbleib¬
[361] liche Folge des zu weit getriebenen Druk¬
kes ist.
Das Domkapitel sah wohl ein, daſs dies
nicht der Zeitpunkt wäre, wo es sich wei¬
gern dürfte, zur Tilgung der auf ungeheure
Summen angehäuften Staatsſchuld beizutra¬
gen, und beschloſs auf den ersten Wink
des Fürsten, seinen bisherigen Exemptionen
zu entsagen. Das Volk von Lüttich aber
drang bei dieser Veranlassung der Quelle
der Malversationen näher; und um das
Übel mit der Wurzel auszurotten, forderte
es die Abschaffung des Edikts von 1684,
zwang den bisherigen Stadtmagistrat, seine
Ämter niederzulegen und ernannte, seit mehr
als hundert Jahren zum erstenmal, wieder
neue Magistratspersonen.
Eine Veränderung von dieser Wichtig¬
keit, so heftig auch die Bewegung war, die
sie in den Gemüthern vorausſetzt, konnte
Z 5[362] dennoch ohne irgend eine, das Gefühl em¬
pörende That vollbracht werden, sobald das
Volk Einigkeit mit sich selbst hatte, und
niemand es wagte, ihm Widerstand zu leisten.
Dies war hier wirklich der glückliche Fall.
In der Nacht vom siebzehnten auf den
achtzehnten August schrieb der Fürstbischof
ein Billet, worin er zu Allem, was man
vornehmen möchte, vorläufig seine Einwilli¬
gung gab; und noch an dem Tage der
neuen Wahl begab er sich, auf die Einla¬
dung einer Deputation aus dem Magistrat,
von seinem Lustschlosse Seraing nach dem
Rathhause, wohin das Volk seinen Wa¬
gen zog.
Diese Freude und der Taumel, den sie
verursachte, waren jedoch von kurzer Dauer;
denn bereits am sieben und zwanzigsten
August entwich der Bischof heimlich aus
seinem Lustschlosse Seraing nach der bei
[363] Trier gelegenen Abtei St Maximin. Hatte
er also auch zehn Tage lang die [Maaſsregeln]
seines Volkes gebilligt, die Wahl der neuen
Bürgermeister als rechtmäſsig anerkannt, diese
an seine Tafel eingeladen, sie in seinem
Wagen fahren lassen, mit ihnen Rath ge¬
pflogen, und den Ständen schriftlich be¬
zeugt, daſs er um seiner Gesundheit willen
verreisen müsse, aber im Angesicht der
ganzen Welt alle Klagen, die vielleicht in
seinem Namen angebracht werden könnten,
für null und nichtig erkläre: so bleibt es
doch immer möglich und wahrscheinlich,
daſs er zu allen diesen Schritten durch
Furcht vor unangenehmen Folgen gezwun¬
gen zu seyn glaubte. Das Reichskammer¬
gericht in Wetzlar mochte wohl den Vor¬
gang in Lüttich aus diesem Gesichtspunkte
angesehen haben, indem es bereits am Tage
der Entweichung des Bischofs, aus eigener
[364] Bewegung und ohne daſs ein Kläger aufge¬
treten wäre, gegen die Lütticher, als Em¬
pörer, Exekution erkannte. Da auch der
Bischof nicht säumte, die kreisausſchrei¬
benden Fürsten um die unbedingteste Voll¬
streckung dieses Urtheils zu ersuchen, so
leidet es weiter keinen Zweifel, daſs er auf¬
hörte, die Rechtmäſsigkeit des Verfahrens
seiner Untergebenen anzuerkennen, sobald
er sich vor ihrer Ahndung sicher glaubte.
Gewalt also, nicht der sanft überreden¬
den Vernunft, sondern der physischen Über¬
legenheit, brachte in diesem kleinen Staate,
wie in jedem andern, alle Veränderungen
hervor, so weit sie sich hinaufwärts in das
dunkle Mittelalter verfolgen lassen, und wie
sie noch vor unseren Augen entstehen. Ge¬
walt begründete den Frieden von 1316, den
Despotismus von 1684 und die wiedererrun¬
gene Volksfreiheit von 1789; Gewalt soll
[365] den Richterspruch von Wetzlar unterstützen;
und sie ist es eben, nicht die Vortreflich¬
keit und innere Gerechtigkeit der Sache, die
vielleicht den Lüttichern ihre Verfassung
zusichern wird. Das ist der Lauf der Welt¬
begebenheiten, wobei sich nichts so zuträgt,
wie es sich nach der a priori entworfenen
Vernunftregel zutragen sollte. Gesellschaften
und Staaten bildeten sich schon zu der
Zeit, da die Vernunft im Menschen noch
unentwickelt lag, da sie seinen thierischen
Kräften unterworfen war. Kampf ging den
Verträgen zuvor. Siegte auch die billigste
Partei, so ward dennoch den Anmaaſsungen
der Besiegten Zwang angethan. Waren
Herrschbegierige die Sieger, so entstanden
tyrannische Unterschiede im Volk, und die
feudalische Abhängigkeit verwandelte sich
nur langsam in eine hartgemischte Verfas¬
sung von mehreren Ständen, die immer
[366] nicht in gleichem Maaſse die Last des ge¬
meinschaftlichen Bundes trugen. Selbst in
England, bei einer Verfassung, zu welcher
die Völker Europens mit Neid und Begierde
hinaufsehen, wird das Volk nicht vollkom¬
men repräsentirt, und seine beinahe unein¬
geschränkte bürgerliche Freiheit ist bei den
Gebrechen der politischen immer noch in
Gefahr. Allerdings hing es nicht von der
Willkühr des Volkes ab, sich eine voll¬
kommnere Verfassung zu geben; alles ent¬
stand nach und nach, unter mehr oder
minder günstigen Umständen; da es die
Macht in Händen hatte, mangelte es ihm
an Einsicht, und als es Einsicht erlangte,
war die Gelegenheit ihm entschlüpft.
Wohin führen uns diese Erfahrungssätze?
Etwa zur Festsetzung des Begriffes von Recht?
Nein; dieser ist bestimmt, und unerschütter¬
lich auf die uns bewuſsten Formen der Sitt¬
[367] lichkeit gegründet, nach welchen wir Befugniſs
zu allen Handlungen haben, die zu unserer
sittlichen Vollkommenheit unentbehrlich sind,
ohne der Vervollkommnung Anderer im We¬
ge zu stehen. Aber das können, und sollen
hier jene aus der Erfahrung entlehnten That¬
sachen beweisen, daſs der Zwang, wodurch
ein Recht behauptet werden muſs, von will¬
kührlicher Gewalt nicht unterschieden wer¬
den kann, sobald das Recht nicht auſser
allem Zweifel anerkannt ist. Wenn aber die
Parteien, die zusammen einen Vertrag ge¬
schlossen haben, über ihre Rechte in Streit
gerathen — wer soll dann oberster Schieds¬
richter seyn? wessen Vernunft sollen beide
für weiser und vollkommner als die ihrige
erkennen? wessen Ansprüche sollen sie als
wahr und der Natur der Dinge gemäſs be¬
folgen? Wie, wenn die Eine Partei durch
die Gründe des Schiedsrichters nicht zu über¬
[368] zeugen ist, wenn sie ihn für ungerecht, be¬
stochen, oder nicht für aufrichtig und mit
sich selbst einig hält? Wird sie, wenn er
der andern Partei das Zwangsrecht zugesteht,
jedes Bestreben, sie zu zwingen, nicht für
unerlaubte Gewaltthätigkeit halten? Wo
bleibt alsdann die Entscheidung? Ist es
alsdann genug, daſs die eine Partei zahlrei¬
cher und stärker ist, um alle Wahrschein¬
lichkeit für sich zu haben, daſs das Recht
auf ihrer Seite sei? Ist es, zum Beispiel,
hinreichend, daſs in dem Falle von Lüttich,
die ganze Nation gegen Einen Menschen
streitet, um zu beweisen, daſs er wirklich
Unrecht habe? Oder tritt der Fall nicht
mehrmals ein, wo der Philosoph und der
Geschichtschreiber mit dem Dichter ausru¬
fen müssen:
Die vom Schicksal begünstigte Partei hatte
den Rechtschaffenen zum Feinde? Giebt es
überhaupt ein anderes untrügliches Kenn¬
zeichen eines gegründeten Rechts, als die
freiwillige Anerkennung desselben, von dem¬
jenigen selbst, gegen den man es behaup¬
tet? Dies ist der groſse, himmelweite Un¬
terschied zwischen den unbedingten Sätzen
einer theoretischen Wissenschaft, und ihrer
Anwendung auf das praktische Leben; so
schwer, so unmöglich ist es, in bestimmten
Fällen apodiktisch über Recht und Unrecht
zu entscheiden!
Welcher Mensch, dem ein Unrecht ge¬
schehen ist, oder — was hier gleich gilt —
der fest überzeugt ist, daſs man ihm Un¬
recht gethan habe, wird warten, bis er
seinem Widersacher dieses Unrecht begreif¬
lich machen kann, wird sich auf Überre¬
dung einschränken, wenn sich ihm andere,
I. Theil. A a[370] kräftigere Mittel darbieten, sein Recht zu
behaupten? Ist das Unrecht von der Be¬
schaffenheit, daſs es ihm mit Verlust des
Lebens, oder mit Verstümmelung, oder mit
Beraubung der Zwecke des Lebens, mit der
Unmöglichkeit seine wahre sittliche Bestim¬
mung zu erreichen drohet, so verstehet es
sich von selbst, daſs er es nicht darauf an¬
kommen läſst, ob die Drohung in Erfüllung
gehe, wenn er es anders noch verhindern
kann. Es muſs also von einem Augenblick
zum andern im menschlichen Leben geur¬
theilt und gerichtet seyn, ohne daſs man
abwarten kann, ob das Gericht und Urtheil
von allen Menschen gebilligt, und als über¬
einstimmend mit der allgemeingültigen Ver¬
nunft anerkannt werde.
Auf dieser Notwendigkeit beruhen ja
wirklich alle Gesetzgebungen und politische
Verträge. Freiwillig, oder aus Noth, zu
[371] Vermeidung eines gröſseren Übels, erkannte
man eine weisere Einsicht, als die eigene,
die jeder selbst besaſs; man wollte nun
nicht länger in der Ungewiſsheit leben,
nicht länger Recht gegen Recht aufstellen,
und sich in endlosen Zwist verwickeln;
Eines Mannes Vernunft sollte nun einmal
Allen für untrüglich gelten; oder man schuf
sich auf die möglichen Rechtsfälle, die zur
Entscheidung vorkommen möchten, eine wört¬
lich bestimmte Vorschrift, und setzte die
Verhältnisse aller Glieder im Staate unter¬
einander fest. Man bevollmächtigte sogar
denjenigen, dessen Einsicht man sich anver¬
traute: jedem, der sich etwa weigere diesem
Vertrage gemäſs zu handeln und den Ge¬
setzen Folge zu leisten, mit Gewalt dazu
zu nöthigen und durch Strafen jede Über¬
tretung zu ahnden. Wenn indeſs ewiges
Beharren in einem und demselben Geleise
A a 2[372] die Absicht dieser Verabredungen war, so
beweiset nicht nur der Erfolg die Vergeb¬
lichkeit eines solchen Bemühens, sondern
es läſst sich schon aus dem unsteten Grun¬
de, worauf wir hier die Verfassungen und
Gesetzgebungen ruhen sehen, ihre Vergäng¬
lichkeit voraus verkündigen. Nicht einmal
eine Verfassung, welche auf vollkommene
Sittlichkeit wirklich abzweckte, würde ihrer
Dauer sicher seyn, sobald sie mächtige Nach¬
baren hätte, die nicht auf diesen Zweck
hinarbeiteten; wie viel weniger kann man
solchen Verfassungen Dauer versprechen, die
auf die sittliche Vollkommenheit des Men¬
schen nicht ihr vorzüglichstes Augenmerk
richten! Je weiter sie sich davon entfernen,
desto unsicherer ist ihre Existenz; denn die
Zeitfolge entwickelt Begebenheiten, verän¬
dert innere und äuſsere Verhältnisse, bringt
Krisen hervor, welche dem unvollkommen
[373] organisirten Staate allemal, gefährlicher sind
und früher auf ihn eine nachtheilige Wir¬
kung äuſsern, als auf einen solchen, dessen
Bürger, da ein gemeinschaftlicher Zweck sie
fest verbindet, mit einander im Gleichge¬
wichte stehen.
Was aus Noth oder Überdruſs am Streite
und mit Aufopferung der eigenen Einsicht
sowohl, als der eigenen Rechte entstand,
das liegt als unverbrüchliches Gesetz, als
heilig zu bewahrende Form, unter dem Sie¬
gel des Vertrages, und drückt auf diejenige
Hälfte der Bürger im Staate, die von ihren
Rechten das meiste fahren lieſs. Waren
nun unter den Punkten, die sie aus Kurz¬
sichtigkeit versprachen, auch unveräuſserli¬
che Rechte, solche nämlich, deren Aufop¬
ferung schlechterdings der Erreichung ihrer
sittlichen Bestimmung widerstreitet; so ist
die Verfassung schon ihrer Natur nach vor
A a 3[374] dem Richterstuhle der Vernunft null und
nichtig, und kann sich nur durch verübte
Gewalt, ohne alles Recht, gegen die bessere
Einsicht behaupten, die der unterdrückte
Bürger schon mit schmerzlicher Erfahrung
erkaufen wird. Hier tritt also der Fall ein,
wo das buchstäbliche, verabredete, positive
Recht dem wahren, in den ursprünglichen
Denkformen des Verstandes festgegründeten,
natürlichen Rechte widerspricht, wo also
der Zwang, der zur Behauptung des ersteren
verübt werden darf, die Gestalt der Gewalt¬
thätigkeit annimmt, und, insofern ein jeder
auf seinem Rechte besteht, nicht von dem¬
selben unterschieden werden kann. Viel
muſs man zwar gutwillig erdulden, um
nicht durch voreilige Widersetzlichkeit, in¬
dem man dem kleineren Übel abhelfen will,
das gröſsere, den Umsturz des Staats und
die gänzliche Auflösung der Bande der Ge¬
[375] sellschaft, zu bewirken. Die Erfahrung lehrt
auch, daſs aus Unwissenheit, aus Liebe zum
Frieden, aus Trägheit und Gewohnheit, aus
Scheu vor den Folgen, aus religiosem Vor¬
urtheil, unendlich viel geduldet wird. Die
Erfahrung lehrt wohl noch mehr. Durch
sie werden wir inne, daſs, so lange die Ge¬
brechen des Staats noch nicht zu einer un¬
heilbaren und dem blödesten Auge sichtli¬
chen Krankheit herangewachsen sind, es un¬
gleich leichter ist, den einmal vorhandenen
Umschwung der Staatsmaschine zu erhalten,
als ihn gänzlich zu hemmen und eine an¬
dere Bewegung an seiner Stelle hervorzu¬
bringen. Das Geheimniſs aller anmaſsenden
Regenten, auf dessen Untrüglichkeit sie ge¬
trost fortsündigen, liegt in dem Erfahrungs¬
satze: daſs der Mensch, der einmal ein un¬
veräuſserliches Recht aus den Händen ge¬
geben hat, sich unglaublich viel bieten läſst,
A a 4[376] was er als Freier nimmermehr geduldet
hätte. Er fühlt sich ohnmächtig gegen die
herrschende Gewalt; wo er hinblickt, sieht
er seine Brüder erniedrigt wie sich selbst,
durch Vorurtheil und Sklavenfurcht und
Anhänglichkeit an das Leben vielleicht schon
auſser Stande, zu ihrer Befreiung zu wirken;
endlich sinkt er selbst in seiner eigenen
Achtung durch die Verläugnung seines Ver¬
standes, oder er zweifelt, daſs eigene Em¬
pfindung und Einsicht ihn richtig leiten,
wenn er einsam da steht, und niemand auf
seinem Wege erblickt, der ihn verstände.
Die strengsten Herrscher hüten sich in¬
deſs, wenn sie nur ihr Interesse kennen, daſs
sie das göttliche Fünkchen Vernunft, wel¬
ches den Menschen vor allen leblosen Werk¬
zeugen und vor allen Lastthieren den ent¬
schiedensten Vorzug giebt, nicht ganz und
gar ersticken. Unter allen Nationen in Eu¬
[377] ropa haben die Polen allein die Unwissen¬
heit und Barbarei so weit getrieben, in ih¬
ren Leibeigenen beinahe die letzte Spur der
Denkkraft zu vertilgen; dafür aber tragen
sie selbst die härteste Strafe, theils indem
der viehische Unterthan ihnen kaum den
zehnten Theil der Einkünfte liefert, den
der freiere, glücklichere, vernünftige Bauer
ihnen eintragen würde, theils weil sie selbst
ohne alle Unterstützung und Beihülfe von
der unterjochten Volksklasse, durch ihre
Ohnmacht der Spott und das Spiel aller
ihrer Nachbarn geworden sind. Die weit¬
ausſehende Verschmitztheit der gewöhnlichen
Despoten läuft also darauf hinaus, der Ver¬
nunft des Volks gerade nur so viel Spiel¬
raum zu lassen, als zur Beförderung ihres
selbstsüchtigen Genusses nöthig scheint, übri¬
gens aber sie mit Nebel zu umhüllen, durch
furchtbare Drohungen ihr Schranken zu
A a 5[378] setzen, durch Zeitvertreib sie zu zerstreuen
und durch allerlei Gespenster sie in Schrek¬
ken zu jagen.
Diese armselige Politik treibt ihr inkon¬
sequentes Spiel, so lange es gehen will;
glücklich, wenn sie das Wesentliche von
dem Unbedeutenden abzusondern versteht,
und das Volk nicht bloſs zu amüsiren, son¬
dern auch zu füttern weiſs. Im entgegen¬
gesetzten Falle wird doch zuletzt der Druck
unerträglich: er bringt den Grad von schmerz¬
hafter Empfindung hervor, welcher selbst
das Leben wagen lehrt, um nur des Schmer¬
zes los zu werden; und wenn dann alle
Gemüther reif und reizbar sind, so bedarf
es nur jenes Menschen, der im Palais Royal
zu Paris auf einen Schemel stieg und dem
Volke zurief: „Ihr Herren, ich weiſs, man
hängt mich auf; aber ich wage meinen
Hals, und sage Euch: greift zu den Waffen!”
[379]
Büffon erklärte sich die abstoſsenden
Kräfte in der Physik, indem er vorausſetzte,
sie würden nur alsdann wirksam, wenn die
Theilchen der Materie, die einander anzie¬
hen, so lange sie in gewisser Entfernung
von einander bleiben, plötzlich allzunahe,
innerhalb des Kreises der Anziehung, an
einander geriethen; alsdann, meinte er, stieſsen
sie sich mit eben der Gewalt zurück, wo¬
mit sie sonst zusammenhielten. Dies kann
wenigstens als Bild auch für die Erschei¬
nungen der Sittlichkeit gelten. Es giebt ei¬
nen Kreis, innerhalb dessen die Macht des
Herrschers nie muſs fühlbar werden, bei
Strafe ihren Namen zu verändern, und ne¬
gativ zu heiſsen, so positiv sie vorher war.
Der Funke, der auf einer gleichartigen Sub¬
stanz erlischt, kann einen Brand erregen,
wenn er brennliche Stoffe schon entwickelt
findet; und heterogene Materien können sich
[380] unter Umständen sogar von selbst entzün¬
den. Ich erinnere mich hierbei einer Stelle
im Kardinal Retz, wo er sagt: zur Entste¬
hung einer Revolution sei es oft hinrei¬
chend, daſs man sie sich als etwas Leichtes
denke *). In der That, welche Auflösung,
welche Gährung setzt diese Stimmung der
Gemüther nicht voraus? Über wie viele,
sonst abschreckende Ideenverbindungen muſs
ein Volk sich nicht hinausgesetzt haben,
[381]
ehe es in seiner Verzweiflung diesen Ge¬
danken faſst? Alle jene Übel, welche vor
Alters zur Vereinigung in einem Staat, zur
Unterwerfung unter die Gesetze, vielleicht
unter den Willen Eines Herrschers, so un¬
aufhaltsam antrieben, werden vergessen; das
gegenwärtige Übel verschlingt diese Erinne¬
rung; jede Partei reklamirt ihre Rechte mit
Gewalt, und der Kampf geht wieder von
vorn an.
Die Gebrechen einer Staatsverfassung kön¬
nen indeſs eben so wohl auch ohne eine
heftige Erschütterung gehoben werden, wenn
man sich in Zeiten guter Vorbauungsmittel
bedient und unvermerkt dem ganzen Staate
die rechte Richtung nach seinem wahren
Ziele sittlicher Vervollkommnung giebt. In
Despotien haben wir das Beispiel, daſs weise
Regenten es ihre vorzügliche Sorge seyn
lieſsen, die bürgerliche Gesetzgebung zu ver¬
[382] vollkommnen, und sich dann selbst den
neuen Codex zum unverbrüchlichen Gesetze
machten, damit auch einst, wenn einge¬
schränktere Einsichten den Staat regieren
sollten, eine Richtschnur vorhanden seyn
möchte, um ihnen ihren Weg vorzuzeich¬
nen, und das Gefühl von Recht und Un¬
recht bei dem Volke zu schärfen. Allmälig
bilden sich in solchen mit Weisheit be¬
herrschten Staaten neue, von der obersten
Gewalt immer unabhängigere Kräfte; die
verschiedenen Volksklassen dürfen die ihnen
im Gesetze zugestandenen Vorrechte behaup¬
ten; der Wohlstand, der eine Folge milder
und zweckmäſsiger Politik ist, giebt ihnen
Muth und Kräfte, jedem eigenmächtigen Ein¬
griffe Widerstand zu leisten; Stände und
Municipalitäten erhalten einen Wirkungskreis,
und es geht zwar langsam, aber desto si¬
cherer, eine allgemeine und allen Gliedern
[383] des Staats gleich vortheilhafte Veränderung
der Verfassung vor sich. Offenbar zwecken
viele Einrichtungen, sowohl des verstorbenen
Königs als seines Nachfolgers in den preuſsi¬
schen Staaten dahin ab; und dies ist der
Grund, weshalb in jenen Staaten auch nicht
die entfernteste Besorgniſs einer Gährung im
Volke vorhanden ist.
Ich habe mir es nicht versagen können,
Dir wenigstens etwas von den Ideen mit¬
zutheilen, die mir zuströmen, seitdem ich
über die jetzige Lage von Lüttich nachdenke.
Von allen jenen Vordersätzen wage ich es
indeſs nicht, die Anwendung auf diesen in¬
dividuellen Fall zu machen, und die eine
oder die andere Partei zu verdammen. Um
das zu können, müſste man in die Geheim¬
nisse der Kabinette eingeweihet und bis zur
Epopsie darin gekommen seyn; ein Punkt,
wo, nach dem Ausſpruche der Geweiheten,
[384] die Entscheidungsgründe, womit wir Layen
uns so gern befassen, in tiefes Stillschwei¬
gen begraben, die Urtheile hingegen, mit
der unfehlbaren Autorität von Orakelsprü¬
chen, der profanen Welt verkündigt werden.
Demüthiger als ich bin, will ich mich
gleichwohl nicht stellen; Du weiſst, ich
halte nichts von Tugenden, die sich mit
Gepränge anmelden; und, Scherz beiseite,
wenn ich alles erwäge, was ich so eben
hingeschrieben habe, kommt es mir mehr
als problematisch vor, daſs diese Sache so
von der Hand sich aburtheilen lasse, wofern
man nicht gewohnt ist mit Machtsprüchen
um sich zu werfen, oder auf morsche Grund¬
lagen zu bauen. Der wüthigste Demokrat
und der eigenmächtigste Despot führen heu¬
tiges Tages nur Eine Sprache; Beide spre¬
chen von der Erhaltung und Rettung des
Staats, von Recht und Gesetz; Beide be¬
rufen[385] rufen sich auf heilige, unverletzbare Verträge,
Beide glauben eher alles wagen, Gut und
Blut daran setzen zu müssen, ehe sie zu¬
geben, daſs ihnen das Geringste von ihren
Rechten geschmälert werde. Mich dünkt,
etwas Wahres und etwas Falsches liegt auf
beiden Seiten zum Grunde; Beide haben
Recht und Unrecht zugleich. Ein Staat
kann nicht bestehen, wenn jeder sich Recht
schaffen will. Ganz richtig; aber nicht
minder richtig ist auch der Gegensatz der
demokratischen Partei: ein Staat kann nicht
bestehen, wenn kein Geringer Recht be¬
kommt. Gegen den Landesherrn sich auf¬
lehnen, ist Empörung; die Herrschermacht
miſsbrauchen, ist unter allen Verbrechen
das schwärzeste, da es in seinen Folgen
dem Staate tödtlich und gleichwohl selten
ausdrücklich verpönt ist, sondern, weil man
auf die sittliche Vortreflichkeit des Regenten
I. Theil. B b[356 [386]] volles Vertrauen sestzte, seinem zarten Gefühl
von Pflicht anheimgestellt blieb. Jeder unruhi¬
ge Kopf kann die verletzten Rechte des Bür¬
gers zum Vorwande nehmen, um einen Auf¬
stand zu erregen und seine ehrgeizigen Ab¬
sichten durchzusetzen; jeder Despot kann aber
auch, unter der Larve der Wachsamkeit für
die Erhaltung des Staats, die gegründeten Be¬
schwerden des Volks von sich abweisen, und
dessen gerechtestes Bestreben seine Vorrechte
zu erhalten oder wieder zu erlangen, als
einen Hochverrath oder einen Aufruhr ahn¬
den. In erblichen Monarchien kann der
Fürst, wenn seine Unterthanen ihm den Ge¬
horsam aufkündigen, vor Gott und Men¬
schen gerechtfertigt, sein Erbrecht behaupten
und die Rebellen als Bundbrüchige zur
Rückkehr unter seine Botmäſsigkeit zwingen;
allein die Insurgenten werden ihn erinnern,
daſs der Erbvertrag die Bedingung voraus¬
[387] setzt: der Herrscher solle der weiseste und
beste Mann im Staate seyn; wenn es sich
nun aber fände, daſs der Wechsel der Zei¬
ten und Generationen die Beherrschten wei¬
ser und besser gemacht, den Regenten hin¬
gegen hätte an Herz und Verstand verar¬
men lassen; wenn sie sich nicht so schwach
an Geiste fühlten, als ihre blödsinnigen
Voreltern, so frage es sich: müsse sie da
der Vertrag noch binden, oder müsse nicht
vielmehr der Fürst mit ihnen seine Rolle
vertauschen? — Du siehst, die Politik hat
ihre Antinomien wie eine jede menschliche
Wissenschaft, und es giebt in der Welt
nichts Absolutes, nichts Positives, nichts
Unbedingtes, als das für sich Bestehende,
welches wir aber nicht kennen. Nur Be¬
dingnisse des Wesentlichen können wir wahr¬
nehmen; und auch diese modificiren sich
nach Ort und Zeit. Die Philosophie darf
B b 2[388] daher jene Einfalt belächeln, womit mancher
die einseitigsten Beziehungen für unabänder¬
liche Normen hält, da ihn doch ein Blick
auf das, was von jeher geschah und täglich
noch geschieht, so leicht von dem bloſs re¬
lativen Werthe der Dinge überzeugen kann.
Kein Mensch verstände den andern, wenn
nicht in der Natur aller Menschen etwas
Gemeinschaftliches zum Grunde läge, wenn
nicht die Eindrücke, die wir durch die
Sinne erhalten, eine gewisse Ähnlichkeit bei
allen einzelnen Menschen beibehielten, und
wenn nicht wenigstens unabhängig von allem
objektivem Daseyn, die Bezeichnung der Ein¬
drücke, nach welcher wir gut und böse,
recht und unrecht, widrig und angenehm,
schön und häſslich unterscheiden, in uns
selbst als Form aller Veränderungen, die in
uns vorgehen können, schon bereit läge.
Welche bestimmte Eindrücke nun aber diese
[389] oder die entgegensetzte Empfindung in uns
hervorbringen sollen, das hängt von Organi¬
sation und zum Theil auch von Erziehung
oder Gewöhnung ab, und man begreift wohl,
wie am Ende die Verschiedenheit der Ge¬
fühle und folglich der Gesinnungen bei man¬
chen Einzelnen schlechterdings nicht zu he¬
ben oder auf einen Vereinigungspunkt zu¬
rückzuführen ist. Aus einem gewissen Stand¬
orte betrachtet, kann es allerdings nicht
gleichgültig scheinen, ob dergleichen unüber¬
windliche Unterschiede fortexistiren sollen
oder nicht; es kann sogar einen Anstrich
von höherer Vollkommenheit für sich haben,
wenn alle Meinungen sich nach einer ge¬
meinschaftlichen Vorschrift bequemten, und
dann durch das ganze Menschengeschlecht
nur Ein Wille herrschen und nur Ein Puls¬
ſchlag in der groſsen sittlichen Welt, wie
in der kleinen physischen des einzelnen Men¬
B b 3[390] schen, regelmäſsig Alles in Umtrieb erhalten
dürfte.
Den kürzesten Weg zur Hervorbringung
dieser Gleichförmigkeit hatten unstreitig die¬
jenigen erfunden, die den groſsen Entwurf
einer Universalmonarchie mit dem kräftigen
Glauben an eine geistliche Unfehlbarkeit des
höchsten Alleinherrschers und an sein über¬
irdisches Daseyn, als eines sichtbaren Stell¬
vertreters der Gottheit, zu einem der Zeit
und der unruhigen Vernunft Trotz bieten¬
den Ganzen verschmolzen zu haben wähnten.
Ein Wille, Eine Weisheit, Eine moralische
Gröſse über alles, deren Macht zu wider¬
streben Thorheit, deren Recht zu läugnen
Unvernunft, deren Heiligkeit zu bezweifeln
Gotteslästerung gewesen wäre, konnten, wenn
es überhaupt möglich ist, bis auf den Punkt
sich aller Gemüther zu bemeistern, zuerst
das Ziel erreichen, welches auch die aus¬
[391] schweifendste, von dem Schicksal auf Einen
kleinen Planeten gebannte Herrschgier sich
stecken muſste; das Ziel eines, über alle
die Tausende von Millionen vernünftiger
Wesen, über alles was sich regt, was her¬
vorsproſst und was ruht auf dieser runden
Erde, unumschränkt gebietenden Zepters!
Planlos war diese Macht herangewachsen;
ohne tief in die Zukunft zu blicken, hatten
die stolzen Halbgötter die Gegenwart genos¬
sen. Zu spät ging endlich das vollendete
System hervor; denn die Kraft des Glau¬
bens war von ihm gewichen, dieser zarte,
flüchtige Hauch, der sich in dem schwachen
und immer schwächeren Gefäſse der mensch¬
lichen Natur nicht länger aufbewahren lieſs.
Die neue Theokratie scheiterte endlich an
der Verfassung von Europa. Ihre Vasallen
waren Könige; ein anderes Mittel zu herr¬
schen vergönnten ihr die Zeitläufte nicht;
B b 4[392] allein die mächtigen Satrapen spotteten zu¬
letzt der geistlichen Zwangsmittel, wodurch
sie ehedem alimächtig war.
Seitdem die Unfehlbarkeit, und mit ihr
die Möglichkeit einer Universalmonarchie,
verschwunden ist, bliebe der Versuch noch
übrig, ob ein entgegengesetztes System von
republikanischen Grundsätzen etwa leichter
eine allgemeine Verbrüderung des Menschen¬
geschlechts zu einem allumfassenden Staaten¬
bunde bewirken könnte, und ob sich end¬
lich alle Menschen bequemen möchten, den
allgemeingültigen Grundsätzen, die eine sol¬
che Verbindung vorausſetzt, ohne Widerre¬
de zu huldigen? Die Folgen dieser, wenn
sie möglich wäre, höchst wichtigen Zusam¬
menstimmung, hat wohl schwerlich jemand
in ihrem ganzen Umfang und Zusammen¬
hang überdacht. Bei der vollkommenen
Gleichförmigkeit in der praktischen Anwen¬
[393] dung jener Grundsätze, scheint mir diejenige
Einseitigkeit und Beschränktheit der Begriffe
unvermeidlich, welche wir schon jetzt an
Menschen wahrnehmen, die unter sich über
gewisse Regeln einverstanden oder an eine
besondere Lebensweise gebunden sind. Ein
politischer Mechanismus, der durch alle In¬
dividuen des Menschengeschlechts ginge,
würde den Bewegungen aller eine Bestimmt¬
heit und Regelmäſsigkeit vorschreiben, wel¬
che sich mit der Art und Weise, wie un¬
sere Kräfte sich entwickeln, nicht wohl zu¬
sammen denken läſst. Je auffallendere und
mannichfaltigere Abweichungen wir in der
Denkungsart der Menschen bemerken, um
so viel reicher sind wir an Ideen und ih¬
ren Verknüpfungen; ein groſser Theil dieses
Reichthums aber ginge unwiederbringlich für
ein Zeitalter verloren, welches mehr Ein¬
stimmiges in unseren Gedankengang bräch¬
B b 5[394] te. Wie viele Kräfte unseres Geistes for¬
dern nicht zu ihrer Entwicklung auſseror¬
dentliche Veranlassungen? Dort, wo alles
einen gemeſsneren Schritt als bisher halten
müſste, dort würden diese Kräfte schlum¬
mern oder doch nie zu ihrer Reiſe gelan¬
gen; Geister, wie die eines Perikles, eines
Alexander, eines Cäsar, eines Friederich,
hätten keinen Schauplatz mehr. Wo die
Spontaneität der Handlungen wegfällt, ver¬
liert man auch die Übung der Verstandes¬
kräfte; nur im Streit entgegengesetzter Be¬
gierden und Vorstellungsarten offenbart sich
die Vernunft in ihrer erhabenen Gröſse;
durch ihn bewährt sich die Vollkommen¬
heit des sittlichen Gefühls als die rührend¬
schöne Blüthe der Menschheit. Nehmen
wir die Kontraste des menschlichen Cha¬
rakters hinweg, geben wir allen Einzelnen
mehrere Vereinigungspunkte und einerlei Be¬
[395] stimmung: wo bleibt dann die Spur jener
Götterweide, die Laktanz darin setzte, ei¬
nen groſsen Mann gegen ein feindseliges Ge¬
schick ankämpfen zu sehen? Wo wir auf¬
hören zu unterscheiden, da sind die Grän¬
zen unserer Erkenntniſs: wo nichts Hervor¬
stechendes ist, kann die Einbildungskraft keine
Kennzeichen sammlen, um ihren Zusammen¬
setzungen Gröſse, Erhabenheit und Mannich¬
faltigkeit zu geben. Excentricität ist daher
eine Bedingung, ohne welche sich der höch¬
ste Punkt der Ausbildung gewisser Anlagen
nicht erreichen läſst; ein allgemein vertheil¬
tes Gleichgewicht der Kräfte hingegen bleibt
überall in den Schranken der Mittelmäſsigkeit.
Eine Verfassung des gesammten Menschenge¬
schlechts also, die uns von dem Joche der
Leidenschaften und mit demselben von der
Willkühr des Stärkeren auf immer befreite,
indem sie Allen dasselbe Vernunftgesetz zur
[396] höchsten Richtschnur machte, würde wahr¬
scheinlich den Zweck der allgemeinen sitt¬
lichen Vervollkommnung dennoch eben so
weit verfehlen, wie eine Universalmonarchie.
Was hülfe es uns, daſs wir Freiheit hät¬
ten, unsere Geistesfähigkeiten zu entwickeln,
wenn uns plötzlich der Antrieb zu dieser
Entwickelung fehlte?
Doch dieser Antrieb wird uns nimmer¬
mehr entrissen werden, wenigstens nicht in
dieser einzigen, uns denkbaren Welt, wenig¬
stens nicht, so lange sich alle dreiſsig Jahre
das Menschengeschlecht verjüngt, und wie¬
der emporwächst von den bloſs vegetirenden
Keimen zu der thierischen Sinnlichkeit, und
von dieser zu der gemischten physisch-sitt¬
lichen Bildung. Buchstaben, Formeln und
Schlüsse werden nie im jungen Spröſsling
den mächtigen, dunkeln Trieb überwiegen,
durch eigenes Handeln die Eigenschaften der
[397] Dinge zu erforschen und durch Erfahrung
zur Weisheit des Lebens hinanzusteigen. In
seinen Adern wird sich, ihm unbewuſst, ein
Feuerstrom der Macht und des Begehrens
regen, den nichts als Befriedigung bändigen
und kühlen, den der Widerstand fremder
Selbstheit nur reizen und erzürnen, dem
ihre Gewalt allein Schranken setzen und
durch diese das Bewuſstseyn wechselseitiger
Befugniſs wecken kann. Die erwachsene
Vernunft mag ringen mit diesem Sporn zur
Wirksamkeit: Auflösung folgt ihrem Siege,
und in jedem neuen Organ fesseln sie des fri¬
schen Lebens stärkere Bande. Ewig schwankt
daher das Menschengeschlecht zwischen Will¬
kühr und Regel; und wenn gleich in weni¬
gen groſsen Seelen beide vereinigt liegen und
aus ihnen beide vereinigt in angeborner,
stiller Harmonie hervorgehen; so werden
sie dennoch, nur vereinzelt, die Götzen der
[398] halbempfänglichen Menge. Auch Schwung
und Anziehung stellte die Natur einander
so entgegen; ewig ringen auch diese Ur¬
kräfte des Weltalls. Darf diese hier, und
jene dort der andern etwas abgewinnen;
dürfen sie in gleichen Schalen gewogen, die
wunderähnliche Harmonie der Sphärenbahnen
erzeugen; sind die Phänomene der Auflösung
und der in neuen Bildungen sich wieder
verjüngenden Natur die Folgen ihres un¬
aufhörlichen Kampfes: so darf ja dieser
Kampf nicht enden, wenn nicht das Welt¬
all stocken und erstarren soll!
Schön ist das Schauspiel ringender Kräfte;
schön und erhaben selbst in ihrer zerstörend¬
sten Wirkung. Im Ausbruch des Vesuv, im
Gewittersturm bewundern wir die göttliche
Unabhängigkeit der Natur. Wir können
nichts dazu, daſs die Gewittermaterie sich in
der Atmosphäre häuft, bis die gefüllten Wol¬
[399] kenschläuche der Erde Vernichtung drohen;
daſs in den Eingeweiden der Berge die ela¬
stischen Dämpfe sich entwickeln, die der
geschmolzenen Lava den Ausweg bahnen.
Das Zusehen haben wir überall; glücklich,
daſs Zeit und Erfahrung uns doch endlich
von dem Wahne heilten, der diese groſsen
Erscheinungen nur für Werkzeuge der gött¬
lichen Strafgerechtigkeit hielt. Wir wissen,
daſs Kalabrien ruht, indeſs der Mongibello
wüthet; wir wünschen unseren Pflanzungen
Gewitterregen, wenn gleich zuweilen durch
den Blitz ein Dorf zum Raube der Flam¬
men wird, ein Menschenleben früher welkt,
oder ein Hagel die Saaten niederstreckt.
Mit den Stürmen in der moralischen
Welt hat es genau dieselbe Bewandniſs,
nur daſs Vernunft und Leidenschaft noch
elastischer sind, als Schieſspulver oder elek¬
trische Materie. Die leidenschaftlichen Aus¬
[400] brüche des Krieges haben ihren Nutzen wie
die physischen Ungewitter; sie reinigen und
kühlen die politische Luft, und erquicken
das Erdreich. Wenn die Selbstentzündungen
der Vernunft in einem ganzen Volke nichts
als den erstickenden Dampf zurücklassen,
so wäre es zwar allerdings erfreulicher, den
Witz nur zu rechter Zeit als ein unschul¬
diges Freudenfeuer auflodern oder in schö¬
nen Schwärmern steigen zu sehen; doch wer
weiſs, was auch in solchen Fällen noch
Gutes in dem Caput mortuum übrig bleibt?
Auch hier ist es daher verzeihlich, Bege¬
benheiten, an denen man nichts ändern
kann, als Schauspiele zu betrachten. Belei¬
digte etwa diese anscheinende Gleichgültig¬
keit eine weichgeschaffene Seele? Im Ernst,
sie sollte es nicht; denn ob Heraklit über
alles weint, oder der abderitische Weise
über alles lacht, ist im Grunde gleichgültig,
weil[401] weil es nur auf eine gewisse maschinenmä¬
ſsig angewöhnte Ideenverbindung ankommt.
Warum rührt uns die Schilderung eines Un¬
glücks, das irgend ein Dichter seinen Hel¬
den erleben lieſs, und warum weinen wir
nicht, wenn wir lesen, so viele blieben
dort in der Schlacht, so viele flogen mit
ihrem Schiff in die Luft, so viele hauchten
ihr elendes Leben aus in Feldhospitälern,
alles um den Geier Ehrgeiz zu mästen?
Allerdings wird es uns leichter, uns mit
Einem als mit Vielen zu identificiren. Ge¬
wöhnten wir uns aber, die Idee des mensch¬
lichen Elends immer gegenwärtig zu haben,
so würden uns nicht nur diese Begeben¬
heiten Thränen entlocken, sondern wir
würden beinahe allem, was wir sehen und
hören, eine traurige Seite abgewinnen, und
einen jammervollen Roman aus den alltäg¬
lichsten Ereignissen des Lebens machen.
I. Theil. C c[402]
Es ist nun Zeit, noch einen Blick auf
Lüttich zu werfen. Am letzten Tage un¬
seres Aufenthalts genossen wir die Ausſicht
von der Citadelle. Das westliche Ufer
springt hier in einem Winkel vor, und
zwischen dieser Höhe und dem Flusse liegt
die Stadt. Die Espen am Wege, wo wir
hinauffuhren, blüheten so dicht und grün,
daſs man sie für belaubt halten konnte.
Der Umfang der Citadelle ist nicht beträcht¬
lich; ihrer Lage hingegen fehlt es nicht an
Festigkeit, der man mit trocknen Gräben
noch zu Hülfe gekommen ist. Die preuſsi¬
schen Truppen halten jetzt diese Festung,
so wie die äuſseren Barrieren der Stadt, be¬
setzt; in der Stadt selbst aber und an den
Thoren stehen die Lütticher Nationaltruppen.
Von der Spitze eines Bastions genossen wir
den Anblick der kleinen Welt von Woh¬
nungen unter unseren Füſsen, und der um¬
[403] liegenden Gegend. Die Maas schlängelte sich
durch das Thal, wirklich romantischschön,
hier hellgrün, wo die Sonne sich darin
spiegelte, und dunkelblau in der Ferne ge¬
gen Norden, wo sie sich in vielen Krüm¬
mungen verliert und immer wieder zum
Vorschein kommt. An ihren Ufern sahen
wir, so weit das Auge reichte, die Hopfen¬
stangen in pyramidalische Haufen zusammen¬
gestellt. Der Hopfenbau giebt den Lüttichern
Anlaſs ihr gutes Bier sehr stark mit dieser
Pflanze zu würzen; bekanntlich gehört auch
dieses Bier zu den berühmtesten hiesigen
Ausfuhrartikeln. Die Weinberge um die
Stadt sind zwar auswärtig nicht bekannt;
denn wer hätte je den Wein von Lüttich
nennen gehört? Allein man kauft den Bur¬
gunder und den Champagner hier sehr
wohlfeil; und der böse Leumund sagt:
nicht die Schiffahrt auf der Maas sei die
Cc 2[404] Ursache dieses billigen Preises, sondern die
Lütticher wüſsten aus dem Safte ihrer Trau¬
ben jene französischen Sorten zu brauen.
Dies ist indeſs nicht die einzige Art, wie
man sich hier die Nähe von Frankreich zu
Nutze macht. Der hiesige Buchhandel wird
ebenfalls mit lauter Produkten des französi¬
schen Geistes getrieben, den die Nachdruk¬
kerpresse viel ächter als die Kelter darzu¬
stellen vermag. Die besten Pariser Werke
werden hier gleich nach ihrer Erscheinung
neu aufgelegt und in Holland, in den öst¬
reichischen Niederlanden und zum Theil
auch in Deutschland, statt der Originalaus¬
gaben, verkauft. Dieser Zweig der hiesigen
Betriebsamkeit beschäftigt eine groſse Anzahl
von Handwerkern, und einige Künstler, die
ihre reichliche Nahrung bei den Verlegern
finden. Was er zur Aufklärung sowohl des
Lütticher Staats, als seiner Nachbarn ge¬
[405] wirkt hat, liegt am Tage, und war auch
wohl vorauszusehen. Doch mit den eigenen
Produkten des Geistes, die hier fabrizirt
werden, dürfte es wohl etwas schlechter
stehen, wenigstens, wenn man den zum
Sprichwort gewordenen hiesigen Almanach
zum Maaſsstab nehmen darf.
Wir muſsten endlich wieder hinunterstei¬
gen in die engen schmutzigen Gassen. Un¬
ser Weg führte uns bei einem Hause von
gutem Ausſehen vorbei, welches das Eigen¬
thum einer sehr zahlreichen Lesegesellschaft
ist; und man wollte uns zu verstehen ge¬
ben, daſs hier die bedenkliche Lage der öf¬
fentlichen Angelegenheiten des Hochstifts
zuerst ventilirt worden sei. Wie es sich
aber auch damit verhalten mag, so ist wohl
nicht zu zweifeln, daſs Privatleidenschaften
einzelner Menschen hier so gut, wie bei ei¬
ner jeden Revolution, im Spiele gewesen
C c 3[406] sind. Das Wenige, was wir aus der alten
Geschichte wissen, läſst uns die kleinen
Triebfedern so mancher groſsen Verände¬
rung in Athen und in Rom noch jetzt er¬
kennen, und lehrt uns, zwischen diesen
und der allgemeinen Neigung sowohl, als
dem allgemeinen Bedürfnisse zu einer Re¬
volution, ohne welche sie nicht wirken kön¬
nen, genau zu unterscheiden. Die äuſserst
kritische Lage der Lütticher wäre in diesem
Augenblicke noch ungleich bedenklicher,
wenn ein solches Bedürfniſs und ein leb¬
haftes Gefühl von unerträglichen Lasten sie
nicht wirklich zu einem gemeinschaftlichen
Zwecke verbände, wenn nur Parteigeist und
Privathaſs das Volk ohne hinreichende Ur¬
sach in der Bewegung zu erhalten suchten,
die es sich einmal gegeben hat. Das Schick¬
sal von Lüttich hängt zu fest an dem Schick¬
sal Deutschlands, um sich davon absondern
[407] zu lassen, und das Interesse der Nachbarn
wird es nicht leiden, daſs die Lütticher ihre
Sache allein ausfechten dürfen. Unser bis¬
heriger Standpunkt war überhaupt für die
Politik des Tages viel zu hoch; wir über¬
sahen dort zu viel, unser Horizont hatte
sich zu sehr erweitert und die kleineren,
näheren Gegenstände entzogen sich unseren
Blicken. Hier unten ist von allem, was uns
dort so klar, so hellglänzend vor Augen
schwebte, von den Rechten der Menschheit,
der Entwicklung der Geisteskräfte, der sitt¬
lichen Vollendung, vor lauter Gewühl der
Menschen und ihrer kleinen, eigennützigen
Betriebsamkeit wenig oder gar nichts mehr
zu sehen. «Wie? erinnert nicht der An¬
blick fremder Kriegsvölker» — — woran?
Doch nicht an den Schutz, den die Groſs¬
muth des Mächtigen dem Schwachen ange¬
deihen läſst? an die seltene Freiheitsliebe
Cc 4[408] eines unumschränkten Herrschers, der die
gerechte Sache des Volks gegen die An¬
maſsungen des Despotismus vertheidigt? an
den Patriotismus eines Reichsstands, womit
er der Verzweiflung wehrt, daſs sie, durch
ein strenges Verdammungsurtheil gereizt, sich
vom deutschen Staatssystem nicht losreiſse,
sich der benachbarten Empörung nicht in
die Arme werfe? — Oder erinnert uns et¬
wa nichts an die Klugheitsregeln einer in
die Zukunft schauenden und die Zukunft
selbst bereitenden Politik? an Verkettungen
von Begebenheiten in allen Enden von Eu¬
ropa, die es bald erheischen können, dem
nahen Brabant zu Hülfe zu eilen, seine Un¬
abhängigkeit zu befestigen, sie durch die
Vereinigung mit Lüttich zu stärken und da¬
gegen Handelsvortheile und Arrondissemens
zu ärndten? Fast möchte man glauben,
diese letzteren Antriebe lägen näher, wären
[409] dem gebieterischen Bedürfnisse des Augen¬
blicks angemessener und, wenigstens in der
Sprache des Staatsmannes, dem Scharfblicke
der Kabinette rühmlicher, als die Schwär¬
merei für demokratische Freiheit.
Wie aber das individuelle Interesse eines
Hofes sich vollkommen mit der Begünsti¬
gung der Volkspartei reimen läſst, so zeich¬
net die Selbsterhaltung andern einen entge¬
gengesetzten Gang der Affairen vor. Mit
jedem Eingriff in die Rechte eines geistli¬
chen Fürsten, mit jedem Vortheil, den sich
der dritte Stand erringt, mit jedem Schrit¬
te, wodurch er sich dem Kapitel und dem
Adel an die Seite zu stellen und neben ih¬
nen geltend zu machen sucht, wird die
Verfassung geistlicher Wahlstaaten in ihren
Grundfesten erschüttert und mit einem na¬
hen Umsturz bedrohet. Gesetzt also, das
Volk von Lüttich hätte wirklich nur in der
C c 5[410] Form gefehlt, indem es aus eigener Macht
und Gewalt die Usurpation des Edikts von
1684 aufhob, und nicht durch regelmäſsige
Wahl, sondern im Enthusiasmus des Augen¬
blicks durch eine allgemeine Akklamation
sich selbst neue Magistratspersonen schuf;
so wird doch, wo so viel, ja wo alles von
Heiligung der Form abhängt, die Unregel¬
mäſsigkeit der Procedur ihre Aufhebung und
Annullirung bewirken müssen. Das preuſsi¬
sche Kabinet scheint diese Nothwendigkeit
endlich einzusehen; und weil es weder mit
dem deutschen Fürstenbunde brechen, noch
auch plötzlich gegen die Lütticher, die es
bisher beschützte, Zwangsmittel brauchen
mag, zieht es endlich seine Truppen in we¬
nigen Tagen zurück und überläſst den an¬
dern niederrheinischen Fürsten die Ausfüh¬
rung des Wetzlarischen Exekutionsdekrets.
Die Kosten einer Exekution, die ein so
[411] starkes Corps von Truppen erforderte, häu¬
fen sich zu sehr beträchtlichen Summen an,
deren Abbezahlung das Hochstift mit neuen
Schulden belasten wird, wiewohl der Kö¬
nig, wie es heiſst, die eigentlich so genann¬
ten Exekutionsgelder, die sich täglich auf
dreizehnhundert Thaler belaufen, und worin
der Unterhalt der Truppen nicht mit be¬
griffen ist, dem armen Lande groſsmüthig
erlassen hat.
Bald dürfte man nunmehr ernsthafteren
Auftritten, als den bisherigen, entgegen se¬
hen. Das Gefühl mag tief erseufzen über
die bevorstehende Verheerung dieses blühen¬
den Landes und die schrecklichen Unge¬
rechtigkeiten, welche von jedem feindlichen
Überzug unzertrennlich sind; Übel, deren
Wirkung unendlich schmerzhafter ist, als
das Unrecht, dem man steuern will, auf
wessen Seite das auch immer sei; der ge¬
[412] sunde Menschensinn mag einsehen, daſs wer
auch Recht behält, die Entscheidung auf
alles was zur wesentlichen Zufriedenheit
und Perfektibilität eines jeden Lüttichers
vom Bischof bis zum Köhler gehört, keinen
sichtbaren Einfluſs haben werde; die Phi¬
losophie mag betheuern, daſs auf ihrer Wage
gewogen, ein Menschenleben mehr werth
sei, heiliger geachtet zu werden verdiene,
als die ganze Rechtsfrage, worüber man
streitet; das zarte Gewissen frommer Reli¬
gionsbekenner mag endlich erbeben vor der
schrecklichen Verantwortung über das bei
einer so frivolen Veranlassung vergossene
Menschenblut: so wird doch die Politik,
von den Furien des Ehrgeizes und der Selbst¬
sucht gegeiſselt, beide Parteien mit Wuth
gegen einander erfüllen, und keine zur
Nachgiebigkeit stimmen lassen, bis nicht
Bürgerblut geflossen ist. Armes Menschen¬
[413] geschlecht! so spottet man deiner, indem
man Gefühl und Vernunft, Philosophie und
Religion im Munde führt, und deine hei¬
ligsten Güter, Leben und Endzweck des
Lebens, für nichts achtet, sobald es auf
elendes Rechthaben ankommt!
Das Lütticher Volk sehen wir jetzt sich
mit Eifer zur Gegenwehr rüsten. Alles
trägt das Freiheitszeichen, eine aus Schwarz,
Grün, Weiſs und Roth zusammengesetzte
Kokarde; man spricht einander Muth und
Vertrauen ein, indem man sich schmeichelt,
der König von Preuſsen werde mit seinen
Truppen dem Volke nicht zugleich auch
seine Gunst und seine Fürsprache im Noth¬
fall entziehen. Der Bürgermeister von Fa¬
bry ein siebenzigjähriger Greis, für dessen
Rechtschaffenheit und Einsicht das allgemeine
Zutrauen seiner Mitbürger spricht, arbeitet
bei diesen bedenklichen Umständen mit un¬
[414] ermüdeter Thätigkeit, um das Beste seiner
Mitbürger zu bewirken. Dies ist keine
leichte Sache, wenn man den erhitzten ge¬
waltsamen Zustand der Gemüther und die
dunkle Ausſicht in die Zukunft erwägt.
Die Ausſchweifungen des Pöbels lassen sich
nicht berechnen, sobald er einmal aufgeregt
ist, und das mit Zügellosigkeit so leicht von
ihm zu verwechselnde Wort: Freiheit! zu
seinem Wahlspruch genommen hat. Der
Auflauf vom siebenten Oktober, welcher ei¬
nem jungen Freiwilligen das Leben kostete,
und wobei der Pöbel vom Kirchspiel St.
Christoph den Magistrat nöthigte, eine mil¬
de Stiftung, deren Interessen sonst jährlich
vertheilt wurden, auf einmal unter die jetzt¬
lebenden Armen auszuspenden, beweiset,
was man von dem lebendigen Werkzeuge
befürchten müsse, dem man das Bewuſst¬
seyn seiner Kräfte leichter beibringen kann,
[415] als den Begriff von gesetzmäſsigem Be¬
tragen.
Auſser jenem Todesfalle, scheint bis jetzt
der härteste Schlag, den das Schicksal hier
austheilte, den vortreflichen Anführer des
preuſsischen Heeres getroffen zu haben. Auf
dem Marsch von Lüttich nach Mastricht
glitt sein Pferd an einer abschüssigen Stelle,
wo unter dem aufgethauten Schnee noch
eine Eisrinde lag, so daſs es zweimal über¬
schlug und seinem Reiter das Bein zerschell¬
te. Dieser Vorfall, der nur schmerzhaft
und unangenehm, wegen der gehemmten
Thätigkeit war, hätte dem General leicht
tödtlich werden können, da er seine Ar¬
beiten in Mastricht mit unablässigem Eifer
betrieb, und sich dadurch eine schwere
Krankheit zuzog, die indeſs über seinen
heiteren philosophischen Sinn nichts ver¬
mochte, und endlich seinem guten Naturell
[416] weichen muſste. Ich habe ihn hier wieder
gesehen. — — Unter den Empfindungen,
welche Menschengröſse weckt und Worte
nicht entheiligen dürfen, giebt es eine so
zarte, daſs sie selbst die Dankbarkeit ver¬
stummen heiſst.
XII.[417]
XII.
Sobald man von Lüttich aus die steile Hö¬
he erreicht hat, die sich längs dem linken
Ufer der Maas erstreckt, findet man oben
eine Ebene, welche nur in geringen wellen¬
förmigen Wölbungen sich hier und da er¬
hebt und ein reiches, fruchtbares Saatland
bildet, das an einigen Orten eine ziemlich
weite Aussicht gewährt. Verschwunden sind
nun hier die lebendigen Hecken, welche
jenseits Lüttich die Äcker, und im Lim¬
burgischen die Wiesen und Weiden um¬
zäunten. Oft sieht man auf sehr weiten
Strecken nicht einen Baum; oft aber zeigen
sich Dörfer in Espen- und Ulmenhainen
halb versteckt. Der Frühling kämpfte rit¬
terlich mit dem verzehrenden Ostwinde;
denn die Blüthen von Birnen, Äpfeln, Kir¬
I. Theil. Dd[418] schen, Schwarzdorn, Ulmen und Espen dran¬
gen trotz der Kälte hervor; die von den
Obstsorten indeſs nur an warmen und ge¬
schützten Wänden.
Durch das kleine Städtchen St. Trond
im Lütticher Gebiet, kamen wir nach Thie¬
nen oder Tirlemont, wo wir zu Mittag
aſsen. Auf dem Wege dahin nahmen wir
eine Wirthin aus einer Dorfschenke in den
Postwagen. Sie fing sogleich ungebeten an,
indeſs die übrige Gesellschaft schlief, mir
von einer berühmten Ostertagsprozession zu
erzählen, von welcher wir die Leute so eben
zurückkommen sahen. Mehr als tausend
Pilger zu Fuſs, und mehrere Hunderte zu
Pferde ziehen über einen Acker, und zertre¬
ten die darauf stehende grüne Saat. Allein
jedesmal wird der Glaube des Eigenthümers
reichlich belohnt, indem sein Acker dieses
Jahr ungewöhnlich reichliche Früchte trägt.
[419] Ein Bauer, der nicht glauben wollte, und
sich die Prozession verbat, ward von Gottes
Hand gestraft und sein Acker blieb unfrucht¬
bar. Ich begreife, sagte ich, daſs das Nie¬
dertreten des jungen Korns ihm nichts scha¬
det. Sie sah mich mit groſsen Augen an;
oui, rief sie endlich in einem bedeutungs¬
vollen Tone, la puissance de Dieu est gran¬
de! Ich verstand und schwieg.
Die Dörfer in dieser Gegend sind schön.
Man bemerkt zwar noch manche leimerne
Hütten, doch auch diese sind geräumig und
in ihrem Innern reinlich; aber fast noch
öfter sieht man Bauerhöfe ganz von Back¬
steinen erbauet. Die Einwohner haben in
dieser Gegend etwas Edles und Schönes in
der Physiognomie; der gemeine Mann hat
ein schönes Auge, eine groſse gebogene Nase,
einen scharfgeschnittenen Mund und ein run¬
des männliches Kinn. Wir glaubten die
Dd 2[420] Originale zu den edleren Bildungen der flam¬
mändischen Schule zu sehen. Die Frauen¬
zimmer zeichnen sich bei weitem nicht so
vortheilhaft aus; ich habe hier noch kein
schönes angetroffen, doch wäre dies auf ei¬
nem so schnell vorübereilenden Zuge wirk¬
lich auch zu viel verlangt. Munterkeit, Thä¬
tigkeit, mit einem Behagen an sinnlichen
Empfindungen und einer gewissen Unge¬
zwungenheit vergesellschaftet, schienen mir
an diesen Menschen hervorstechende Cha¬
rakterzüge. Ich spreche nur vom Volk;
aber das Schicksal der zahlreichsten Klasse
hat auch den ersten Anspruch auf den Be¬
obachter, und wenn ich mich in meiner
Prognosis nicht geirrt habe, so deuten jene
Züge zusammengenommen auf einen ziem¬
lich glücklichen Zustand des Landvolks.
Tirlemont ist eine reinliche, gutgebaute,
kleine Stadt, mit vielen massiven Gebäuden,
[421] die ihren ehemaligen Wohlstand noch bezeu¬
gen. Jetzt scheint sie von ihrer Nahrung
viel verloren zu haben; doch werden hier
noch wollene Waaren, Flannelle nämlich
und Strümpfe, verfertigt. Der starke An¬
bau des Ölrettigs, den man auf französisch
Colsat oder Colza nennt, welches offenbar
aus unserm Kohlsaat entstanden ist, beschäf¬
tigt hier ein Dutzend Ölmühlen. Auf die
vortreflichen Wege, die wir überall seit un¬
serm Eintritt in die östreichischen Nieder¬
lande gefunden hatten, folgte itzt eine
Chaussee, welche bis nach Löwen in gera¬
der Linie fortläuft und unzerstörbar zu seyn
scheint. Espen, Ulmen und Linden, oft in
mehreren Reihen neben einander, beschatten
diesen Weg und begleiten auch an manchen
Stellen jeden Acker. Die häufigen Land¬
häuser und Dörfer, bald am Wege, bald
in einiger Entfernung, zeugen von der star¬
D d 3[422] ken Bevölkerung dieses fruchtbaren, schönen
Landes, welches sich jedoch hier immer
mehr bis zur vollkommnen Ebene verflächt.
An einigen Stellen sahen wir die Äcker und
Wiesen mit Gräben umzogen; Saatland und
Kleeäcker und Ölsaamen wechselten mit den
bereits zur Sommersaat gepflügten Feldern
ab. Alles, was romantisch ist, mangelt die¬
ser Gegend; dafür zeigen sich aber Über¬
fluſs und Kultur eines leichten, fruchtbaren,
mit Sand gemischten Bodens.
Um der Sicherheit willen versahen wir
uns hier mit der Kokarde von Brabant, die
wir vielleicht noch länger hätten entbehren
können; denn so kindisch froh noch alles
in Brabant mit der neuen Puppe der Unab¬
hängigkeit spielt, so ist gleichwohl die erste
Wuth des Aufruhrs verraucht, und man
dürfte es leicht dem durchreisenden Frem¬
den verzeihen, daſs er nicht das patriotische
[423] Abzeichen aufsteckt. Allein, um der Ge¬
fahr einer Miſshandlung von einzelnen, un¬
bändigen Menschen nicht ausgesetzt zu seyn,
ist es immer rathsamer, sich lieber nach
Landesart zu bequemen. Wir hatten über¬
dies noch einen muthwilligeren Antrieb, den
die abentheuerliche Erscheinung eines unse¬
rer Reisegefährten veranlaſste. Die Gesell¬
schaft bestand in einem alten französischen
Chevalier de St. Louis, seiner Gouvernante,
und einem saarbrückischen Spiegelarbeiter,
der wie ein ehrlicher Bauer aussah. Unter¬
wegs gesellten sich noch ein französischer
Kupferdrucker aus Lüttich und seine nie¬
derländische Frau dazu.
Der alte Ritter hatte wenigstens seine
sechzig Jahre auf dem Rücken, und war
ein kleines, vertrocknetes Gerippe, mit ei¬
nem sauren Affengesicht und einer Stimme,
die etwas zwischen Bär und Bratenwender
Dd 4[424] schnarchte und knarrte. In seinen Zügen
lag alles Eckige, Mürrische und Schneidende
von Voltaire’s Karrikaturgesicht, ohne dessen
Satire, Risibilität und Sinnlichkeit. Den
ganzen Tag kam der Alte nicht aus seinem
verdrieſslichen, kurz abgebrochenen, trocknen
Ton; nicht ein einzigesmal schmiegten sich
seine verschrumpften Wangen zu einem wohl¬
gefälligen Lächeln. Eine entschiedene Anti¬
pathie wider alles, was nicht auf seinem vater¬
ländischen Boden gewachsen war, ein aristo¬
kratisches Miſsfallen an der unerhörten Neue¬
rung, daſs nun auch der Pöbel, la canaille,
wie er sich energisch ausdrückte, Rechte
der Menschheit reklamirte, und ein ungeber¬
diges Bewuſstseyn seiner Herkunft und Wür¬
de, welches sich bei allen kleinen Unan¬
nehmlichkeiten der Reise äuſserte, schienen
den Grund zu seiner üblen Laune auszu¬
machen, die dadurch noch sichtbarer und
[425] lächerlicher ward, daſs er offenbar in sich
selbst einen innern Kampf zwischen der
Lust zu sprechen, und der Abneigung sich
der Gesellschaft mitzutheilen fühlte. Er
saſs da in einem kurzen, ganz zugeknöpften
Rock vom allergröbsten Tuch, das einst
weiſs gewesen war, und das unsere Bauer¬
kerle nicht gröber tragen; im Knopfloch das
rothe Bändchen, auf dem Kopf eine runde,
weiſsgepuderte Perücke und einen abgetra¬
genen, runden Hut mit flachem Kopf und
schmalem Rande, der ihm folglich nur auf
der Spitze des Scheitels saſs, so oft er ihn
auch ins Gesicht drückte. Die Gouvernante
war eine ziemlich wohlgenährte französische
Dirne, mit einem wirklich nicht unebenen
Gesichte, das eher feine Züge hatte, und
mit einer Taille, worüber nur die Verläum¬
dung dem erstorbenen Ritter einen Vorwurf
machen konnte. Sie schien ohne alle Aus¬
D d 5[426] bildung, bloſs durch Nachgiebigkeit, und
indem sie sich in die Launen ihres Gebie¬
ters schickte, ihn doch packen zu können,
wo er zu packen war. Den ganzen Weg
hindurch disputirte er mit ihr, verwies ihr
Dummheit und Unwissenheit, belehrte sie
mit unerträglicher Rechthaberei, und behielt
am Ende immer Unrecht. Er affektirte von
seinen Renten zu sprechen, und zankte mit
jedem Gastwirth um seine Forderungen.
Diese vornehme Filzigkeit brachte ihn mit
den Zollbeamten in eine verdrieſsliche Lage.
Ein halber Gulden hatte unsere Koffer vor
ihrer Zudringlichkeit gesichert; allein ob sie
ihn schon kannten, oder hier ihre berüch¬
tigten physiognomischen Kenntnisse an den
Mann brachten: genug, als hätten sie geahn¬
det, er werde nichts geben, packten sie
seine Habseligkeiten bis auf das letzte Stück
Wäsche aus, und lieſsen ihm den Verdruſs,
[427] sie unsern Augen preis gegeben zu haben,
und wieder einzupacken, wofür er denn,
sobald sie ihn nicht mehr hören konnten,
eine halbe Stunde lang über sie fluchte.
Durch eine ziemlich leichte Ideenverbindung
kam er auf den Finanzminister Necker, und
ergoſs den noch unverminderten Strom sei¬
ner Galle über ihn: «der Mann, sagte er,
«empfängt immer, und zahlt niemals; lebte
«ich nicht von meinen Renten, ich müſste
«zu Grunde gehen, denn meine Pension
«bleibt aus.» Zu St. Trond fingen wir an,
von Kokarden zu sprechen; dies setzte ihn,
der den Beutel so ungern zog, in Angst
und Verlegenheit, zumal, da wir äuſserten,
daſs man sich leicht eine Miſshandlung zu¬
ziehen könne, wofern man ohne dieses Schi¬
boleth der Freiheit sich auf den Straſsen
sehen lasse. Da wir es indeſs doch für
gut fanden, ohne Kokarde bis Tirlemont zu
[428] fahren, beruhigte er sich wieder. Hier aber
steckten wir nach Tische die patriotischen
drei Farben, schwarz, gelb und roth, an un¬
sern Hut, und versicherten mit bedeutender
Mine: jetzt sei nicht länger mit den wü¬
thenden Brabantern zu scherzen. Zwischen
Furcht und Knauserei gerieth unser Ritter
in neue Bedrängniſs; mit der Gouvernante
ward förmlich Rath gepflogen; sie stimmte
für den Ankauf, und schon war er im Be¬
griff das Geld hinzuzählen, als die Liebe
zu den vierzehn Stübern siegte und er sich,
freilich mit etwas banger Erwartung, ohne
Abzeichen in den Wagen setzte. Die Menge
der Kokardenträger, die uns Nachmittags
begegneten, beunruhigte ihn aber so sehr,
daſs er, wiewohl wir schon in der Dämme¬
rung zu Löwen eintrafen, noch beim Abend¬
essen mit einem vierfärbig gestreiften Bänd¬
chen um seinen schäbigen Hut, wie ein
[429] alter Geck, der auf dem Theater eine Schä¬
ferrolle spielt, zum Vorschein kam, und
nach hiesiger Landesart, ob wir gleich un¬
bedeckt waren, und in Gesellschaft einer
von Antwerpen angekommenen Französin da
saſsen, ihn bei Tische auf dem Kopfe behielt.
Die Gouvernante, die im Wagen neben ihm
saſs, hatte doch nicht die Ehre, mit ihrem
Herrn aus einer Schüssel zu essen, sondern
muſste in der Küche mit des Kutschers Ge¬
sellschaft vorlieb nehmen; ein Zug, der sei¬
nen Stolz desto mehr charakterisirte, weil
sonst der Kutscher schon oft der Gegen¬
stand seines Zorns gewesen war: er fuhr
ihm zu langsam, er hielt zu oft an, er war
ein viel zu hübscher Kerl, und schäkerte
zu viel mit den Mädchen in den Schenken.
Unser Kupferdrucker war ein Original
von einer ganz andern Art. Was im Ge¬
sichte des alten Ritters fehlte, war das ein¬
[430] zige herrschende Wahrzeichen des seinigen:
ein tiefer Einschnitt auf beiden Wangen,
um den Mund, welcher die Gewohnheit,
denselben in die Falte der Freundlichkeit
zu legen, andeutete. Sein, übrigens auch
hageres Gesicht, hatte einen Ausdruck von
Geschmeidigkeit ohne Falschheit, von der
Weichheit und sanften Gefälligkeit, die aus
einem dunklen Gefühl von Schwäche und
Furcht entspringt, versetzt mit einer wahr¬
haft parisischen Reizbarkeit für den leicht¬
sinnigsten Genuſs der Minute, einer feinen
Scherzlustigkeit und einem Sinn für das
Groteskkomische. Er hatte sich noch nicht
zurecht gesetzt, so kündigte er sich schon
an, und lieſs uns nicht länger in Ungewiſs¬
heit über seine Schicksale, sein Gewerbe,
seine Vermögensumstände, seine Verwandt¬
schaft, seine Ausſichten und seine Gebre¬
chen. Einen Topf, in ein Tuch gebunden,
[431] behielt er sehr sorgfältig in der Hand.
«Dieser Topf, sagte er, sei mit einem vor¬
treflichen Ölfirniſs angefüllt, den er berei¬
ten könne, und der zum Kupferdrucken
unverbesserlich sei.» Daher war auch der
Schluſsreim seiner Erzählungen immer: «ich
weiſs zuverlässig, man wird mich in Lüttich
sehr vermissen.» Sein Handwerk nannte er
ein talent, und versicherte sogar, daſs er drei
talens besäſse, nämlich das Kupferabdrucken,
das Buchdrucken und das Formschneiden
in Holz. Weiter als St. Trond wollte er
nicht gehen; «dort sei er gesonnen zu blei¬
ben, bis es da nichts mehr zu thun gebe.
Einen Theekessel führe er überall mit sich;
es sei das einzige unentbehrliche Geschirr,
weil er seinen Kaffee selbst koche.» In
Deutschland rühmte er sich einer guten
Aufnahme; er war bis Andernach gekommen,
wo man ihn nach Vermögen in einer klei¬
[432] nen Schenke bewirthet, und ihm sogar über
die Streu ein Leintuch gedeckt hatte; dafür
habe er auch der Magd, comme un géné¬
reux François, beim Weggehen etliche Kreu¬
zer geschenkt. Sein Vater war Zolleinneh¬
mer gewesen; er nannte ihn einen petit
Monsieur, qui a mangé soixante mille francs.
Hätte der kleine Herr nicht beträchtliche
Schulden hinterlassen, die seine Wittwe
und Kinder bezahlen muſsten, so hätte sein
Sohn studirt und wäre wieder ein Régisseur
geworden; allein wenigstens seine Schwestern
lebten dans le grand monde. Seine Frau
konnte fast gar kein Französisch und war so
häſslich, daſs sogar unser alter Erbsenkönig,
als sie in den Wagen stieg, ein ah Dieu!
qu’elle est laide! zwischen den Zähnen
murmelte, ohne an seine eignen Vorzüge
zu denken. Um uns das Räthsel zu lösen,
wie man zu einer unfranzösischen Frau kom¬
men[433] men könne, eröffnete uns der Kupferdrucker,
daſs sie zwölftausend Gulden erben würde,
und daſs er im Begriff stehe, diese Erbschaft
zu heben. «Mit dem Gelde, fuhr er fort,
bin ich ein reicher Mann, kaufe mir ein
Pferd und einen brancard dazu, führe mein
Weib nach Paris, zeige ihr alle Herrlich¬
keit der Welt und etablire mich dann in
der Provinz.» Nun fing er an uns alle Se¬
henswürdigkeiten der unvergleichlichen, ein¬
zigen Hauptstadt zu beschreiben. Zuerst
nannte er die Tuillerien, weil der König
jetzt darin wohnt; sodann die Sternwarte:
«hier, sagte er, steigt man dreihundert Stu¬
«fen tief hinab in einen Keller, und gukt
«dann durch drei Meilenlange Röhre am
«hellen Mittage nach dem Mond und den
«Sternen. Aber lassen Sie sich nichts weiſs
«machen, wenn Sie hinkommen; es sind
«keine wahre Gestirne, die man dort zu
I. Theil. E e[434] «sehen bekommt; sie sind von Pappe aus¬
«geschnitten und werden vor die Sehröhre
«geschoben.» Eben so klare Begriffe hatte
er vom königlichen Naturalienkabinet, «wo
man in einem Zimmer alle Thiere und Vö¬
gel, im andern alle Pflanzen der Erde bei¬
sammen sieht.» Besonders aber pries er die
Wunder des Invalidenhauses, und das Merk¬
würdigste von allem, nämlich die Küche.
«Hier steht eine marmite von ungeheurer
Gröſse, und hundert Bratspieſse, et sur cha¬
cune vingt gigots de mouton.” Hätten wir
einen Engländer bei uns gehabt, er würde
den Zug charakteristisch gefunden haben,
da man in England immer über das Hun¬
gerleiden der Franzosen spottet. — Während
der Mann von Paris plauderte, hatte sein
ganzes Angesicht sich zur Mine des höchsten
Entzückens verklärt, und er beschloſs mit
der Betheurung, daſs er die Stadt vor sei¬
[435] nem Ende wiedersehen und sich seiner gu¬
ten Tage dort erinnern müsse. Dann pries
er uns seine glückliche Ehe; und als einer
bemerkte, daſs der Ehesegen ausgeblieben
sei, wäre er mit der ernsthaften Versiche¬
rung, dies sei auch der einzige Streitpunkt
zwischen ihm und seiner Frau, gut durch¬
gekommen, wenn sie nicht zur Unzeit von
vier Jungen, so groſs wie er selbst, aus
ihrer ersten Ehe gesprochen hätte. Jetzt
muſste er sich aus der Sache ziehen so gut
er konnte; er that es indeſs mit der besten
Art von der Welt, und mit der feinsten
französischen Galanterie gegen seine wirklich
ausgezeichnet häſsliche Hälfte. Endlich lenkte
er das Gespräch auf seine Armuth, spottete
über den Inhalt seines Koffers, und wieder¬
holte aus Annette und Lubin: tu n’as rien,
je n’ai rien non plus; tiens, nous mettrons
ces deux riens là ensemble et nous en ſerons
E e 2[436]quelque chose; und da ihm dies die Sache
nahe legte, müſste er weniger leichtes Blut
gehabt haben, als ein Franzose wirklich hat,
um nicht von diesem Dialog den Übergang
zum Singen zu machen und sehr zärtlich
zu quäken. Im ersten Wirthshause, wo wir
abstiegen, produzirte er uns aus einem Päck¬
chen etwas von seiner Arbeit. Es waren
einige Kupferabdrücke, die er zu einem
Lütticher Nachdruck von le Vaillants Rei¬
sen gemacht hatte. Bei dieser Gelegenheit
kam auch der Nachdruck der Encyklopädie
in Erwähnung, die er kaum nennen hörte,
als er schon ausrief: ah! l'exellent ouvrage,
que l’Encyclopédie! «Aber schade, setzte
er hinzu, daſs ich es nicht bei mir habe,
das schöne Blatt, welches ich auch noch
in Lüttich druckte: le Capsignon panni ses
disciples!» Hätte ich den Anacharsis nicht
kürzlich in Händen gehabt, so wäre es mir
[437] nicht eingefallen, daſs dies die Ausſicht vom
Minerventempel auf dem Vorgebirge Sunium
seyn sollte, wo Plato mit seinen Schülern
steht.
Das Glück, sich mit einer Landsmännin
von Stande in Gesellschaft zu sehen, hatte
sichtbaren Einfluſs auf unsern Ritter; er
nahm ein Air von Würde an, das in der
That ins hohe Komische gehörte. Die Da¬
me aus Antwerpen war indeſs in ihrer Art
wenigstens eine eben so auffallende Karrika¬
tur wie er selbst. Sie reisete ohne alle Be¬
dienung mit einer achtjährigen Tochter, und
mochte wirklich von Stande seyn, wofür sie
der Ritter hielt; denn sie war für eine
Modehändlerin zu gelehrt, und für eine
französische Komödiantin nicht ungezwungen
genug in ihrer Coquetterie. Ihr langes,
bleiches Gesicht machte noch Ansprüche auf
Schönheit, die aber ihre lange, hagere Figur
E e 3[438] schlecht unterstützte; im Grimassiren, Gesti¬
kuliren und Moduliren des Tons war sie
Meister, so daß sie alle Beschreibung zu
Schanden macht. Sie politisirte über alle An¬
gelegenheiten von Europa mit einer Dreistig¬
keit und einer Fülle von Kunstwörtern, die
mancher für Sachkenntniß genommen hätte.
Auf ihrer Reise in Holland hatte Rotterdam
ihr gefallen; vom Haag hingegen behauptete
sie, daß es den Vergleich mit Versailles nicht
aushielte. Doch rühmte sie den Diamanten¬
schmuck der Erbstatthalterin. Alles war ent¬
weder ganz vortreflich oder ganz abscheu¬
lich, und ihre Superlativen bestanden immer
in einer dreifachen Wiederholung des Worts,
welches sie das erstemal langsam, die beiden
folgendenmale aber äußerst schnell ausſprach,
Als der alte Chevalier seine Magd aus dem
[439] Zimmer zum Essen schickte, riſs die Don¬
na die Augen weit auf, und blickte starr
hinter ihr her, bis sie schon längst zur
Thür hinaus war; dabei schraubten sich
Mund und Nase zu einem unbeschreiblichen
Ausdruck der hochmüthigsten Verachtung.
Sprach ein Bedienter sie bei Tische an, so
antwortete sie ihm mitten in der heftigsten
Deklamation, wobei sie gemeiniglich um
Eindruck zu machen im Tenor blieb, mit
einer sanften, unschuldigen Diskantstimme
und einem Ton der unerträglichsten Gleich¬
gültigkeit. Mit eben dieser zarten Stimme
und einem affektirten, ganz gefühllosen Zärt¬
lichthun addressirte sie auch von Zeit zu
Zeit an ihr Hündchen unter dem Tisch ei¬
nige süſse Worte. Kurz, es wäre verlorne
Mühe gewesen, an diesem Geschöpfe nur
noch eine Faser Natur zu suchen.
Unter solchen Menschen leben wir, la¬
E e 4[440] chen wo wir können, und wälzen uns
durch eine Welt, die uns fremd bleibt, bis
der Zufall hier oder dort ein Wesen er¬
scheinen läſst, an dessen innerem Gehalt
der lechzende Wanderer sich erlaben kann.
Daſs solche Erscheinungen fast überall mög¬
lich sind, wird man ohne die auffallendste
Einseitigkeit nicht läugnen wollen; daſs aber
mehr als Glück dazu gehört, sie gleichsam im
Fluge zu treffen, indem wir schnell vorüber
eilen, das, dünkt mich, versteht sich von
selbst. Trift man sie aber nicht an, so sind
dergleichen Verzerrungen, wie ich sie hier
geschildert habe, willkommner als die ganz
alltäglichen, platten Geschöpfe, die keine
Prise geben, weil ihnen sogar alles fehlte,
was des Verschraubens fähig war. In Löwen
machten wir keine Bekanntschaft; ich muſs
mich daher bei meinen Bemerkungen ziemlich
auf das Auſsere und Leblose einschränken.
[441]
Eine alte Mauer von Backsteinen umringt
diese Stadt, und in Büchsenschuſsweite von
einander sieht man noch alte runde, massive
Thürme, die, so wie die Mauer selbst, ver¬
fallen sind. Die hiesige Kollegiatkirche zu
St. Peter ist ein schönes, gothisches Gebäude;
die Höhe der Bogen, die weiſse Farbe, und
die Einfalt des ganzen Inneren, machen einen
herrlichen Effekt. Es war. schon zu finster,
um das Altarblatt und überhaupt irgend etwas
von den vielen Gemälden in den hiesigen
Kirchen und Klöstern zu sehen. Crayers be¬
ste Stücke trift man hier in der St. Quintins-,
der St. Jacobs- und der Karmeliterkirche an.
Allein auſser diesen und einigen älteren Blät¬
tern von Matsys, Coxis und Otto Venius
findet man hier bei weitem nicht das Vorzüg¬
lichste aus der flammändischen Schule.
In dem sehr groſsen und geräumigen
Universitätsgebäude wurden wir bei Licht
E e 5[442] herumgeführt. Die Hörsäle sind von er¬
staunlicher Höhe und Gröſse; an den Wän¬
den stehen die Sitze stufenweis übereinan¬
der, und die Katheder sind mit kostba¬
rem Schnitzwerk reichlich verziert; allein
im Winter muſs man hier entsetzlich frie¬
ren, da es kein Mittel giebt, diese weitläuf¬
tigen Säle zu erwärmen. Im Conciliensale
und im medicinischen Hörsal hangen eine
Menge Schildereien; in einem andern Sale
sieht man einen prächtigen Kamin von Mar¬
mor, von ungeheurer Gröſse. Der Biblio¬
theksal schien mir nur auf eine kleine
Sammlung eingerichtet. Die Bücher, die
seit zwei Jahren in Brüssel waren, sahen
wir nur zum Theil wieder hier; allein sie
standen noch in Verschlägen unausgepackt.
Die Professoren sind gröſstentheils noch ab¬
wesend; denn viele halten die kaiserliche
Partei, und haben sich daher seit den Un¬
[443] ruhen auſser Landes begeben. Dahin gehört
vorzüglich der Rektor der Universität, van
Lempoel, ein geschickter Arzt, und ein
Mann von reifer Einsicht, den Joseph der
Zweite fähig erfunden hatte, seine wohlge¬
meinte Verbesserung des hiesigen akademi¬
schen Unwesens durchzusetzen. Die Miſs¬
bräuche, die hier aufs höchste gestiegen
waren, machten eine neue Einrichtung un¬
umgänglich nothwendig; allein diese griff
natürlicherweise in die Vorrechte ein, welche
man in dunklen und barbarischen Zeiten
der schlauen Geistlichkeit zugestanden hatte,
und der erste Schritt der jetzigen Regierung
war daher die völlige Wiederherstellung der
uralten, wohlthätigen Finsterniſs, bei der
man sich bisher so wohl befunden hatte.
Ein Geistlicher, Namens Jaen, ist gegen¬
wärtig zum Rektor ernannt, und alles ist
wieder auf den alten Fuſs gesetzt. Die
[444] Doktorpromotionen kosten, mit Inbegrif der
institutionsmaſsigen Schmäuse, acht bis zehn¬
tausend Gulden, und die gesunde Vernunft
hat in allen Fallen genau so wenig zu sa¬
gen, wie in diesem. Es war lächerlich, wie
man unsere Vorstellungen von der Anzahl
der hier Studirenden umwandelte. In Lüt¬
tich hatte man uns gesagt, wir würden
deren bei dreitausend finden; hier in der
Stadt hörten wir, es wären kaum dreihun¬
dert, und der Pedell bewies uns endlich
aus seinen Verzeichnissen, daſs ihrer noch
nicht funfzig wären. In der That hatten
sich beim Ausbruch der Empörung eine
sehr groſse Anzahl der damals in Brüssel
befindlichen Akademiker für ihren Wohlthä¬
ter, den Kaiser, erklärt, und sogar für ihn
die Waffen ergriffen. Bei der bald darauf
erfolgten gänzlichen Vertreibung der kaiser¬
lichen Truppen aber, muſsten diese jungen
[445] Krieger, die freilich besser daran gethan hät¬
ten, den friedlichen Musen ununterbrochen zu
opfern, ihre Rettung in der Flucht suchen.
Mit allen ihren Fehlern und Gebrechen,
hatte die Universität Löwen doch immer
einen groſsen Namen, und ward von Ein¬
heimischen und Fremden fleiſsig besucht.
Da man, ohne in Löwen promovirt zu ha¬
ben, schlechterdings kein öffentliches Amt in
den östreichischen Niederlanden bekleiden, ja
nicht einmal in den Gerichtshöfen advociren
kann, so ist es am Tage, weswegen man
sich ohne Widerrede den ungeheuren Ko¬
sten der Promotion unterwarf, und zugleich
wie man durch diesen Aufwand einem stren¬
gen Examen entging. Zum Scheine war
dieses Examen allerdings abschreckend genug;
man muſste auf eine ungeheure Anzahl
Fragen in allen Disciplinen antworten. Allein
es gab auch Mittel und Wege, die schon
[446] vorher bestimmten Antworten auf diese Fra¬
gen (die einzigen Antworten, welche die
Professoren gelten lieſsen, weil sie selbst oft
keine andere auswendig gelernt hatten) sich
vor dem Examen zuflistern zu lassen; man
lernte sie auswendig, antwortete dreist und
prompt, und ward Doktor. An diesem Bei¬
spiele läſst sich abnehmen, wie leicht die
besten Vorkehrungen gemiſsbraucht, und der
Vortheil des Staats, den man zur Absicht
dabei hatte, durch den Eigennutz einzelner
Gesammtheiten in demselben, vernachlässigt
werden kann. Wer hätte nicht geglaubt,
daſs es ein vortrefliches Mittel sei, lauter
geschickte und gelehrte Beamten zu erhalten,
wenn man es ihnen zur Bedingung der Be¬
förderung machte, daſs sie in Löwen gra¬
duirt seyn müſsten? Allein die schlaue
Klasse von Menschen, denen mit der Aus¬
bildung weiser Staatsdiener kein Gefallen
[447] geschieht, die Klasse, die immer nur im
Trüben fischen will, und nur durch die Un¬
wissenheit ihrer Mitbürger ihre Existenz zu
verlängern hoffen kann, wuſste schon jene
so gut ausgedachte Anstalt zu vereiteln, und
ihre eigenen Einkünfte zugleich zu vermeh¬
ren. Der ganze Zuschnitt der Universität
war theologisch. Alle, selbst die weltlichen
Professoren, waren zur Tonsur und zum
Cölibat verbunden; denn nur unter dieser
Bedingung konnten sie gewisse Präbenden,
statt der Salarien, erhalten. Die Bibliothek
ward allein von den Beiträgen der Studi¬
renden vermehrt; kein Wunder also, wenn
sie unbedeutend geblieben ist. Eben so
entstand aus dem jährlichen Beitrage von
acht Kronthalern, den jeder Studirende er¬
legen muſste, eine Kasse, in welche sich
die Professoren theilten, und wobei sie sich
allerdings sehr gut stehen konnten, wenn
[448] die Anzahl der Akademiker sich auf meh¬
rere Tausende belief. Viele Fremde, insbe¬
sondere die Katholiken aus den vereinigten
Niederlanden, haben diese Universität immer
fleiſsig besucht und auf ihr beträchtliche Sum¬
men verzehrt. Van Lempoel selbst war,
wenn ich nicht irre, aus den Generalitäts¬
landen gebürtig.
Joseph erkannte bald, daſs ohne eine
bessere Form der öffentlichen Erziehungsan¬
stalten, sich an keine gründliche Aufklärung
in seinen belgischen Provinzen denken lasse;
er erkannte zugleich, daſs vermehrte Ein¬
sicht der einzige Grundstein wäre, auf wel¬
chem seine Reformen in dem Staate sicher
ruhen könnten. Daher verlegte er die welt¬
lichen Fakultäten der Universität nach Brüs¬
sel, um sie dem Einflusse des theologischen
Nebels zu entziehen und der Aufsicht sei¬
nes Gouvernements näher zu rücken. Diese
eines[449] eines groſsen Regenten würdige Einrichtung,
welche schon allein beweiset, wie tief der
Kaiser in das Wesen der Dinge schaute,
und wie sehr er den rechten Punkt, worauf
es ankam, zu treffen wuſste, würde vielleicht
noch durchgegangen seyn, wenn es ihm nicht
auch am Herzen gelegen hätte, die Finster¬
niſs, in welche die niederländische Geist¬
lichkeit sich selbst und ihre sämmtlichen
Mitbürger absichtlich hüllte, durch kräftig
hineingeworfene Lichtstralen zu zerstreuen.
Unglücklicherweise waren es nur Blitze, de¬
ren grelles Leuchten bloſs dazu diente, die
Schrecken der Nacht recht fühlbar zu ma¬
chen; hier und da sengten sie mit ihrem
kalten Stral, zündeten und zerstörten, und
lieſsen dann alles so wüst und unfruchtbar
wie zuvor. Der groſse Grundsatz, daſs alles
Gute langsam und allmälig geschieht, daſs
nicht ein verzehrendes Feuer, sondern eine
I. Theil. F f[450] milderwärmende Sonne wohlthätig leuchtet,
die Dünste zertheilt und das schöne Wachs¬
thum der organischen Wesen befördert,
scheint Joseph’s Kopf und Herzen gleich
fremd gewesen zu seyn; und dieser Mangel
Eines wesentlichen Grundbegriffs zertrüm¬
merte alle seine groſsen und königlich er¬
dachten Plane.
Von dem Augenblick an, da der Kaiser
die Privilegien der Geistlichkeit in seinen
Niederlanden antastete, von dem Augenblick
an, da er den theologischen Unterricht von
seinen gröbsten Schlacken reinigen, und den
Sauerteig der Bollandisten ausfegen wollte,
war ihm und allen seinen Maaſsregeln Ver¬
derben geschworen. Zu einer Zeit, wo das
ganze katholische Europa, Rom selbst nicht
ausgeschlossen, sich der auſserwesentlichen
Zusätze schämte, die das Heiligthum der
Religion entehren und nur so lange gelten,
[451] als man noch durch die Macht des Aber¬
glaubens herrschen kann — am Schlusse
des achtzehnten Jahrhunderts, wagte es die
belgische Klerisei, die krassesten Begriffe
von hierarchischer Unfehlbarkeit zu verthei¬
digen und im Angesicht ihrer hellsehenden
Zeitgenosssen selige Unwisssenheit und blin¬
den Gehorsam zu predigen. Mit dem Be¬
wuſstseyn, daſs ihr Wirken in allen Gemü¬
thern die Vernunft entweder ganz oder
halb erstickt habe, und daſs sie auf Erge¬
benheit der zahlreichsten Volksklasse, des
gemeinen Mannes, sicher rechnen dürfe,
trotzte sie auf ihre unverletzbaren Rechte.
So kehrte man schlau die Waffen der Auf¬
klärung gegen sie selbst; denn war es nicht
unser Jahrhundert, das die Heiligkeit der
Rechte in das hellste Licht gesetzt hat?
Recht ist ein so furchtbares Wort, daſs es
den gewissenhaften Richter erzittern macht,
F f 2[452] selbst wenn Irrthum und Betrug es gegen
Wahrheit und Redlichkeit reklamiren. Jo¬
seph's Grundsatz, nach welchem er sich ver¬
pflichtet glaubte, seine Wahrheit zum Glück
der Völker mit Gewalt anzuwenden, verlei¬
tete ihn zu einem Despotismus, den unser
Zeitalter nicht mehr erduldete; dies wuſste
der belgische Klerus, und laut und muthig
ertönte seine Stimme. Gleichwohl klebte
dem Kaiser dieser Grundsatz wahrscheinlich
noch aus seiner Erziehung an, und hatte
sich in gerader Linie von eben jener Hie¬
rarchie, die ihn zuerst ersann und ausübte,
auf ihn verpflanzt. Joseph hatte Unrecht;
aber die Vorsehung übte durch ihn das
Wiedervergeltungsrecht! Wären nur auch
die Staaten von Brabant und der ganze bel¬
gische Congreſs durch diese Beispiele tole¬
ranter geworden! Allein es ist zu süſs zu
herrschen, zumal selbst im Verstande der
[453] Menschen zu herrschen; und Löwen, das
durch Joseph’s Generalseminarium im Grunde
an wahrer Aufklärung wenig oder nichts ge¬
wann, soll jetzt wieder lehren, was es
schon bei der Stiftung der Universität im
Jahr 1431 lehrte.
Das Rathhaus in Löwen, eins der präch¬
tigsten gothischen Gebäude, die noch jetzt
existiren, ist um und um mit kleinen Thür¬
men verziert, ja ich möchte sagen, aus lau¬
ter solchen Thürmen zusammengewachsen;
aber das unermeſslich Mühsame dieser Bauart
macht am Ende, wenn es in solchen groſsen
Gebäudemassen dasteht, doch einen starken
Effekt. Wir hatten kaum Licht genug, um
die Umrisse dieses Rathhauses noch ins Auge
zu fassen, und muſsten auf die Besichti¬
gung des Innern Verzicht thun. Im Vor¬
beigehen bemerkten wir noch an dem so
genannten Collegium Falconis ein sehr schö¬
F f 3[454] nes, edles einfaches Portal von griechischer
Bauart.
Das Flämische, welches hier gesprochen
wird, kommt dem Holländischen sehr nahe,
und sowohl in den Sitten als im Ameuble¬
ment der Häuser nähern sich auch die Ein¬
wohner sehr merklich ihren Nachbaren, den
Holländern. Ich bemerkte als einen aus¬
zeichnenden Zug sehr viel Dienstfertigkeit
und Höflichkeit unter den gemeinen Leuten.
Die Lebensart, zumal was die Küche betrift,
ist indeſs noch nicht holländisch; man be¬
reitet die Speisen mehr nach französischer
Art, trinkt aber schon mehr Bier als Wein.
Das Bier in Löwen wird bis nach Holland
verführt, und hat einen Ruhm, den es mei¬
nes Erachtens nicht ganz verdient. Wenn
indeſs, wie billig, der Debit hier den
rechten Maaſsstab angiebt, so muſs es vor¬
treflich seyn; denn man erzählte uns von
[455] mehr als vierzig Bierbrauereien und von ei¬
ner jährlichen Ausfuhr von hundert und
funfzigtausend Tonnen, ohne was in der
Stadt selbst getrunken wird. Daher bezah¬
len auch die Brauer allein vierzigtausend Gul¬
den zu den Einkünften der Stadt, die sich
auf hunderttausend Gulden belaufen sollen.
Dieses Gewerbe und einige Wollenfabriken
nebst einem ziemlichen Speditionshandel, ge¬
ben ihr noch einigen Schein von ihrer ehe¬
maligen groſsen Aktivität und ihrem hohen
Wohlstande; allein was sind dreiſsig oder
fünf und dreiſsigtausend Einwohner gegen
die Volksmenge vor der Auswanderung der
Tuchmacher nach England im Jahr 1382?
Damals hatte Löwen viertausend Tuchfabri¬
ken, in welchen hundert und funfzigtausend
Menschen ihre Nahrung fanden, und des
Abends, wenn die Arbeiter nach Hause
gingen, ward mit einer groſsen Glocke ge¬
F f 4[456] läutet, damit die Mütter ihre Kinder von
den Gassen holten, weil sie in dem Ge¬
dränge hätten ums Leben kommen können.
Die Errichtung der Universität hat der Stadt
den Verlust dieser Manufakturen und ihrer
ungeheuren Bevölkerung nicht ersetzt; und
was Lipsius nicht vermochte, werden schwer¬
lich seine Nachfolger bewirken.
[457]
XIII.
Eine sehr bequeme Barke geht täglich um
sieben Uhr Morgens von Löwen nach Me¬
cheln ab. Wir bedienten uns dieser ange¬
nehmen Art zu reisen, schifften uns ein,
und beschäftigten uns wechselweise mit
Schreiben und Umherschauen. Der Kanal
ist schön, und seine Ufer sind überall mit
Bäumen bepflanzt. Die ganze Gegend ist
eine mit Bäumen reichlich beschattete Ebene,
wo man folglich nirgends eine Ausſicht in
die Ferne genieſst, aber gleichwohl bestän¬
dig in einem Lustwäldchen zu fahren glaubt.
Die Barke hat hinten, nach dem Steuerru¬
der zu, ein Zimmer; in der Mitte ein zwei¬
tes Gemach, wo eine kleine Küche nebst
andern Bequemlichkeiten vorhanden ist, und
vorn eine Stube mit einem sehr guten Ka¬
F f 5[458] min, worin man ein schönes Steinkohlen¬
feuer unterhielt. Die Kosten dieser Fahrt
sind so mäſsig, daſs uns der ganze Trans¬
port von Löwen nach Mecheln, die Bagage
mit einbegriffen, auf wenig mehr als einen
halben Kronthaler zu stehen kam. Thee,
Kaffee, Butter und Käse kann man auf die¬
sen Barken jederzeit haben. Auf dem hal¬
ben Wege kommt eine Barke von Mecheln
dieser entgegen; die Passagiere nebst ihren
Sachen wandern aus der einen in die an¬
dere, und setzen hierauf ihre Reise nach
ihrem jedesmaligen Bestimmungsorte fort.
Es reiseten eine Anzahl Mönche mit uns.
Einer, ein junger Mann von einer vortheil¬
haften Gesichtsbildung, ward aufmerksam,
als er uns Englisch sprechen hörte, und
fand sich bewogen, unsere Bekanntschaft zu
suchen. Seine Sanftmuth und Bescheiden¬
heit war mit vielen Kenntnissen gepaart. In
[459] Irland, seinem Vaterlande, waren ihm Cook’s
Reisen und die Namen seiner Gefährten
nicht unbekannt geblieben. In seinen Zügen
las man klösterliche Tugenden, unvermischt
mit dem Zurückstoſsenden der Mönchsnatur.
Er war bestimmt, als katholischer Priester
nach Irland zurückzukehren.
In fünftehalb Stunden erreichten wir
Mecheln. Diese nicht gar groſse Stadt
würde mit ihren geräumigen Straſsen und
ihren weiſsgetünchten Häusern einen weit
besseren Eindruck auf den Fremden machen,
wenn sie nicht so öde wäre und beinah eine
Todtenstille darin herrschte. Ich will gern
glauben, daſs die sitzende Lebensart der
Einwohner, die in den ansehnlichen Hut¬
manufakturen Beschäftigung finden, mit dazu
beiträgt, das Phänomen der Stille hervorzu¬
bringen; allein es war wirklich zu auffal¬
lend, um nicht noch tieferliegende Ursachen
[460] zu haben. Schauerlich ist es, lange Straſsen
zu durchwandern, und weder einer mensch¬
lichen Seele noch einem Thiere zu begegnen,
ja nicht einmal das mindeste Geräusch in
den Häusern zu hören. Man glaubt sich in
irgend eine bezauberte Stadt aus den mor¬
genländischen Erzählungen versetzt, deren
Einwohner alle ausgestorben oder verschwun¬
den sind. Die hiesige Bauart ist die alte,
wo die Giebel der Häuser gegen die Straſse
zugekehrt stehen und spitz in die Höhe
laufen. Fast durchgehends ist alles von
auſsen weiſs angestrichen, welches im Som¬
mer bei hellem Sonnenschein den Augen
sehr nachtheilig seyn muſs.
Die groſse Kathedralkirche zu St. Ro¬
muald (Rombaut) hat einen Thurm von
auſserordentlicher Höhe, und inwendig ist
sie eins der reichsten gothischen Gebäude.
Im Schiff stehet an jeder Seite die Bild¬
[461]
säule eines Apostels und über derselben
eine Reihe Termen, welche die Religion,
den Glauben, die Liebe und mehrere alle¬
gorische Wesen vorstellen. An den Wänden
und im Chor sieht man Gemälde von P. de
Nery, Crokaert und Andern, die aber keiner
Aufzeichnung werth sind. Hier standen wir,
als der Kardinal Erzbischof von Mecheln
hereintrat, und uns die Benediktion ertheilte.
Er war in einen langen Scharlachrock und
Mantel gekleidet, mit einem rothen Käpp¬
chen auf der Perücke; ein Mann von ziem¬
lich ansehnlicher Statur und schon bei
Jahren, mit einem weichen, schlaffen, sinn¬
lichen Gesicht. Er kniete hinter dem groſsen
Altar und betete, besah aber dabei seine
Ringe, zupfte seine Manschetten hervor, und
schielte von Zeit zu Zeit nach uns, die
wir, in groſse Mäntel gehüllt, vielleicht ein
verdächtiges Ansehen hatten.
[462]
In der Johanneskirche fanden wir am
Hochaltar einige Stücke, angeblich von Ru¬
bens: einen Johannes, den Evangelisten, der
sein Buch schreibt und auf die Eingebun¬
gen seines Adlers zu horchen scheint; auf
der Rückseite dieser Füllung, den Märty¬
rertod dieses Apostels in siedendem Öl, nach
der Legende; gegenüber, die Enthauptung
Johannis des Täufers und die Taufe Christi;
in der Mitte endlich die Anbetung der
Weisen, eine groſse, verwirrte, uninteressante
Composition. Diese fünf Blätter nebst drei
kleinen Skizzen, welche am Altar angebracht
sind, gehören nicht zu den auszeichnenden
Werken von Rubens, und sind auch schon
sehr verblichen. Sie miſsfallen überdies
noch durch etwas Unvollendetes in den Um¬
rissen, welches nicht ganz die Schuld der
veränderten Farbe zu seyn scheint.
In der ehemaligen Jesuitenkirche, deren
[463] Portal mit vieler Ostentation, aber desto we¬
niger Geschmack, am groſsen Markte prangt,
hangen eine Anzahl Gemälde, welche auf
die Geschichte der jesuitischen Ordensheili¬
gen Beziehung haben, von denen aber keines
uns in Anspruch nahm. In der Kirche un¬
srer lieben Frauen von Hanswyk bewunder¬
ten wir die aus einem ungeheuren Baum
geschnitzte Kanzel, die den Fall der ersten
Eltern im Paradiese vorstellt und in der
That, wenn man alles erwägt, ein Werk
von erstaunlicher Anstrengung ist. Die Fi¬
guren sind zwar plump, aber sehr brav gear¬
beitet, und das Ganze hat sehr viel Effekt.
In den unzähligen Kirchen und Klöstern
von Mecheln befindet sich noch eine groſse
Menge von berühmten Gemälden, worunter
einige auch wohl Verdienst haben mögen;
allein was wir gesehen hatten, reizte uns
nicht, unsern Aufenthalt zu verlängern, um
[464] auf Gerathewohl nach Kunstabentheuern um¬
herzuwandern. Die Einbildungskraft der
Künstler hat sich in diesem so tief in Aber¬
glauben versunkenen Lande mehrentheils mit
Gegenständen aus der Legende beschäftigt,
die selten an sich reich und anziehend ge¬
nug sind, um die Mühe des Erzählens und
Darstellens zu verdienen. Es herrscht durch
alle diese Mythologien eine klägliche Dürf¬
tigkeit der Geisteskräfte, die wunderbar ge¬
gen den Ideenreichthum und die Eleganz der
griechischen Dichterphantasie absticht. Ein
Maler, der höhern Sinn für den Werth sei¬
ner Kunst hätte, müſste sich schämen, wenn
man ihm auftrüge, den heiligen Bernhard
zu malen, der sich die Milch der Mutter¬
gottes aus ihren Brüsten in den offenen
Mund regnen läſst; gleichwohl hat van
Thulden dieses Süjet für die hiesigen Bern¬
hardinernonnen ausgeführt, und vielleicht
wäre[465] wäre es gefährlich gewesen, dem Pfaffen,
der es angab, über die Unschicklichkeit et¬
was merken zu lassen. Ist es aber zu ver¬
wundern, wenn ein solcher Gegenstand die
ohnehin schwerfälligen Niederländer nicht
begeistern konnte, wenn sie nichts anders,
als ein gemeines Weib in einer unanstän¬
digen Handlung begriffen, und einen eben
so gemeinen Mönch darstellen konnten,
ohne auch nur zu versuchen, ob in diese
Figuren, die in einem so ekelhaften Verhält¬
nisse gegen einander stehen, ein anderes In¬
teresse zu bringen sei? Das weit edlere
Süjet von Cimon und seiner Tochter ist
schon auſserhalb der Gränzen der Malerei,
wenigstens was den Zeitpunkt betrift, wo
sie dem alten Vater ihre Brust zu trinken
giebt. Zu geschweigen, daſs die Handlung,
so edel sie in sich wirklich ist, ihren gan¬
zen Werth verliert, sobald man sie sich of¬
I. Theil. G g[466] fenbar vor aller Augen denkt, und daſs es
zum Beispiel empörend wäre, sie auf dem
Theater wirklich vorgestellt zu sehen; so
ist es doch unmöglich, der Figur des Vaters
dabei das mindeste Interesse zu geben. Ein
alter Mann, der eine Weiberbrust ausſaugt,
bleibt ein ekelhafter Anblick, und die ganze
Stellung sowohl, als die Disposition der
Gesichtsmuskeln zum Saugen, raubt ihm je¬
den andern als den bloſs thierischen, ernie¬
drigenden Ausdruck. Bei einem Gemälde,
welches diesen Gegenstand vorstellte, könnte
gleichwohl noch ein rührendes Interesse für
die Tochter empfunden werden; man würde
nicht umhin können, die kindliche Liebe
zu bewundern, die einem alten, durch Hun¬
ger entkräfteten Manne das Leben rettet.
Von dem allen aber kann schlechterdings in
einer Vorstellung des eben erwähnten Zu¬
ges aus St. Bernhards Legende nichts ausge¬
[467] drückt werden, weil die Erfindung gar zu
abgeschmackt ist. Sobald man die weibliche
Figur ins Auge faſst, verliert sie bei jedem
Manne von Gefühl ihre Ansprüche auf
Jungfräulichkeit und Weiblichkeit. So lä¬
cherlich es auch ist, wenn van Dyk in
seinem Gemälde vom heiligen Antonius bei
den hiesigen Barfüſsermönchen, einen Esel
vor der Hostie knieen läſst, so ist es doch
immer noch erträglicher; man wird nicht
indignirt, man lächelt nur, weil alles was
zur innern Vortreflichkeit des Menschen ge¬
hört, unabänderlich bleibt, hingegen konven¬
tionelle Begriffe, die man mit gewissen Din¬
gen verbindet, der Veränderung unterworfen
sind. Wem indeſs das gröſste Kompliment
dabei gebührt, den Erfindern dieses plumpen
Scherzes, oder dem Volke, das sich daran
erbaut, ist nicht leicht ausgemacht. Unserer
Logik klingt es absurd, wenn jemand be¬
G g 2[468] haupten will, der Gegenstand, vor welchem
ein unvernünftiger Esel knieet, verdiene die
Anbetung des vernünftigen Menschen; aber
es hat einmal einen Grad von Einsicht ge¬
geben und in Brabant existirt er noch, dem
dieser Schluſs die stärkste Beweiskraft zu
haben scheint. Bündigere und anständigere
Beweisarten für die Heiligkeit des Altarsa¬
kraments können für einen höheren Grad
der Vernunft berechnet seyn; wiewohl keine
Vernunft das Übernatürliche richten darf,
und es folglich ein überflüſsiges und wider¬
sinniges Bemühen ist, Dinge bei ihr recht¬
fertigen zu wollen, welche nur durch die
Gabe des Glaubens erkannt werden können.
Die ganze Volksmenge von Mecheln gab
man uns auf zwanzigtausend Menschen an,
und dieses auffallende Miſsverhältniſs der
Bevölkerung zum Umfange der Stadt er¬
klärte besser als alles andere, die ausgestor¬
[469] bene Leere, die wir überall bemerkten; denn
nimmt man an, daſs die Welt- und Ordens¬
geistlichen, die Nonnen und Beguinen, nach
einer sehr gemäſsigten Berechnung, zusam¬
men den fünften Theil dieser Anzahl aus¬
machen, so begreift man leicht, wie nur so
wenig Menschen übrig bleiben, die ihre Ge¬
schäfte zwingen, sich auf den Straſsen se¬
hen zu lassen. Wollte man fragen, wie es
möglich ist, daſs das berühmte, mächtige
Mecheln so tief herabgesunken seyn könne;
so würde ich auf eben diese ungeheure An¬
zahl von Geistlichen verweisen, die allmälig
alle Bewegung gehemmt haben, und, indem
sie sich auf Kosten der Einwohner erhiel¬
ten, fast allein übrig geblieben sind. Auſser
den sechs Pfarrkirchen giebt es sechs Manns¬
klöster, zwölf Nonnenklöster und zwei Be¬
guinenhöfe, in welchen letzteren allein nah
an tausend Beguinen wohnen. Die Ein¬
G g 3[470] künfte dieser Geistlichkeit belaufen sich auf
ungeheure Summen; die des Erzbischofs
schlägt man auf hunderttausend Gulden an.
Mich wunderte es daher nicht, daſs auf un¬
ser wiederholtes Anfragen nach den Sehens¬
würdigkeiten von Mecheln, ein jeder uns
an die Kirchen und Klöster verwies, und
wir zuletzt bei dieser allgemeinen Armuth
an Gegenständen, welche die Aufmerksam¬
keit des Reisenden verdienen, in eine Säge¬
mühle an der Dyle geführt wurden. Nun¬
mehr war es wirklich Zeit, unsern Schau¬
platz zu verändern. Wir eilten also in un¬
ser Quartier zurück, und nachdem wir noch
zuvor in einigen Buchläden die fliegenden
Blätter des Tages, deren jetzt eine ungeheure
Menge ununterbrochen herauskommen, ge¬
kauft hatten, stiegen wir in einen Wagen
und fuhren in starkem Trab auf dem schön¬
sten Steindamm, durch Alleen von hohen
[471] Bäumen, die hier jedes Feld und jeden
Rain begränzen, nach Brüssel.
Von Vilvoorden, einem kleinen, an dem
Kanal zwischen Antwerpen und Brüssel ge¬
legenen Städtchen, fuhren wir längs diesem
Kanal in gerader Linie nach der Residenz¬
stadt fort. Zu beiden Seiten erblickt man
Landsitze mit prachtvollen Gebäuden, Gärten
und dazu gehörigen Tempeln und Lusthäu¬
sern. Alles verkündigt die Annäherung zu
einem reichen, groſsen Orte, dem Wohn¬
sitze eines zahlreichen, begüterten Adels und
eines für den Genuſs des Lebens empfäng¬
lichen Volks. Kurz vor der Stadt geht der
Weg über den Kanal, durch eine Pflanzung
von hohen Bäumen, die zugleich als öffent¬
liche Promenade dienen kann. Die Gegend
um Brüssel fängt wieder an, sich in klei¬
nen Anhöhen angenehm zu erheben, deren
einige sich den Mauern so sehr nähern,
G g 4[472] daſs die zur Befestigung der Stadt nöthigen
Auſsenwerke zum Theil darauf angelegt
sind. Wir hätten gern gewünscht, diese
Gegend in ihrem Sommerschmuck zu se¬
hen, wo sie wahrscheinlich für den Freund
des Schattens höchst anmuthig seyn muſs.
Um die Wälle läuft ein herrlicher Gang mit
hohen Espen beschattet, und innerhalb der
Thore öfnet sich dem Anblick eine Stadt,
die den groſsen Residenzen Deutschlands,
was Umfang, Volksmenge und, im Durch¬
schnitt gerechnet, auch Pracht und Schön¬
heit der Architektur betrift, vollkommen an
die Seite gesetzt zu werden verdient. Wir
fuhren lange durch breite und enge, reine
und schmutzige Straſsen, über groſse und klei¬
ne Plätze, bei stattlichen, öffentlichen Gebäu¬
den und schönen Privathäusern vorbei, und
kamen endlich über den groſsen Markt, wo
das Rathhaus, eins der bewundernswürdig¬
[473] sten gothischen Gebäude steht, vor welchem
wir die Freiwilligen von Brüssel und die
neuerrichteten Dragoner sich eben versamm¬
len sahen. Die brabantische Kokarde, die
jedermann bis hinab auf die gemeinsten Ta¬
gelöhner aufgesteckt hatte, und dieses Mi¬
litair, welches sich link genug bei seinen
Waffenübungen benahm, nebst der Menge
von Zuschauern, die uns zu erkennen gaben,
daſs dieses Schauspiel ihnen noch neu seyn
müſste, waren die einzigen Kennzeichen, an
denen, sich die Revolution allenfalls errathen
lieſs.
Unser Gasthof war voll von Engländern;
auch ging ziemlich allgemein die Sage, daſs
man im Begrif sei ein englisches Hülfs¬
korps zu errichten, womit es jedoch wohl
zu keiner Zeit Ernst gewesen seyn mag.
Die Anwesenheit des Herzogs und der Her¬
zogin von Devonſhire schien auf die poli¬
G g 5[474] tische Lage von Brabant keine Beziehung zu
haben. Wir hörten hie und dort, daſs dies
eine gewöhnliche englische Reise aufs feste
Land sei, wodurch man Zeit zu ökonomi¬
siren gewinnt; denn allzugroſser Aufwand
erschöpft zuletzt auch die ungeheuersten
Einkünfte. Allein schwerlich konnte dieser
Fall hier eintreten, weil der Herzog bei ei¬
ner solchen Reise eben nicht spart. Diesen
Zoll müssen indeſs die Groſsen jederzeit von
ihren disproportionirten Reichthümern und
Besitzungen an das Publikum zahlen; ich
meine, daſs man, wegen der Höhe, die sie
bestiegen haben, und von welcher sie auf
das übrige Menschengeschlecht herabsehen,
die Augen unaufhörlich auf sie gerichtet
hält, ihre Bewegungen, eben weil sie sich
nicht verbergen lassen, stets bewacht und
ihnen allerlei Motive andichtet, von denen
sie selbst sich oft nichts träumen lieſsen.
[475] Ein jeder allzureicher Privatmann, wird
schon durch die Mittel zu wirken, die er
in Händen hat, ein wichtiger Mensch im
Staate, und in so fern muſs er sich billig
dem Urtheile seiner Mitbürger in dem Gra¬
de, wie die in öffentlichen Ämtern stehen¬
den Personen, stellen und unterziehen. Die
Natur verübt auch hierin die ihr eigene
Gerechtigkeit. Das wahre, ächte, einzige
Eigenthum ist in unserm Herzen und Ver¬
stande. Auf alle anderen erworbenen äuſser¬
lichen Güter behält der Nebenmensch im¬
merfort einen natürlichen Anspruch, der,
wenn man sich auch vermittelst des bürger¬
lichen Vertrags dessen begiebt, sich dennoch
in der Freiheit und Unausbleiblichkeit des
Urtheils über seine Anwendung immer wie¬
der äuſsert. Je überwiegender der Ein¬
fluſs ist, den ein Wesen in die Schicksale
der Menschen hat, desto allgemeiner wird
[476] dieses Wesen für Alle ein Gegenstand des
Nachdenkens, des Lobes und des Tadels.
Daher giebt es nichts in der Welt, worü¬
ber täglich und stündlich so viele, und zu¬
gleich so schiefe Urtheile gefällt werden, als
über die Sonne, die Natur und Gott.
[477]
XIV.
Wir sind einige Tage nach einander ausge¬
wesen, um die Stadt zu besehen. Sie ist
sehr unregelmäſsig gebauet: die Straſsen lau¬
fen krumm, kreuz und queer durcheinander;
viele sind indeſs ziemlich breit, und fast
durchgehends sieht man schöne oder wenig¬
stens solide Häuser, die ein gutes Ansehen
haben. Die meisten Privathäuser sind nach
der Straſse hin sehr schmal, und mit Gie¬
beln, welche sich stufenweise zuspitzen, ver¬
sehen. Fast alles, die groſsen, massiven Ge¬
bäude ausgenommen, ist wie in den übrigen
Brabantischen Städten, mit weiſser Tünche
überzogen. Die Gegend um den Park ist
eine der schönsten, und würde in jeder
groſsen Stadt dafür gelten. Massive, groſse
Gebäude, von einfacher aber geschmackvoller
[478] Bauart zieren sie. Der Königsplatz, wo eine
kolossalische Bildsäule des Prinzen Karl von
Lothringen in Erz, vor der St. Jakobskirche,
in einer Linie mit dem kühnen, leichten
Spitzthurm des Rathhauses steht, ist mit
eben solchen Gebäuden umringt. Der Ge¬
richtshof von Brabant, oder das sogenannte
Conseil, hält in einem neuen, von den Stän¬
den errichteten Pallast, der nach dem Park
hinsieht, seine Sitzungen. Die Hotels des
Herzogs von Aremberg, des Vicomte von
Walkiers, des englischen Gesandten, imglei¬
chen das Wappenhaus u. a. m. stehen sämmt¬
lich in dieser Gegend.
Seit sechzehn oder achtzehn Jahren hat
Brüssel, zumal um den Park herum, eine
neue Gestalt gewonnen. Die alten Gebäude,
die man hier noch sieht, wie zum Beispiel
die Reitbahn, stehen beinah unter der Erde;
die neuen hingegen haben zwei oft drei
[479] Keller oder Souterrains über einander, in¬
dem man das Erdreich bis zu einer Höhe
von dreiſsig Fuſs und drüber aufgeschüttet
hat, um die ehedem vorhandenen Uneben¬
heiten auszufüllen. Der Park ist daher
jetzt schon vollkommen geebnet, bis auf
zwei Vertiefungen, welche noch vor kurzem
Sümpfe waren, jetzt aber mit schönem,
hohem Gebüsch bekleidet und mit festen
Sandgängen ausgelegt sind. In einem dieser
Gründe sahen wir eine Grotte mit einem
Springbrunnen, der aber jetzt nicht floſs.
Das viereckte Becken von Stein unter der
Nische, (worin eine lesende weibliche Figur
von Marmor liegt) hat auf seinem Rande
folgende merkwürdige Inschrift: Petrus Alexio¬
witz Czar Moscoviae Magnus Dux margini
huius fontis insidens illius aquam nobili¬
tavit libato vino hora post meridiem ter¬
tia die XVI. Aprilis anni 1717. Der groſse
[480] Stifter des russischen Kaiserthums hatte näm¬
lich bei einem Gastmal, welches man ihm
zu Ehren gab, ein wenig zu tief ins Glas
gesehen. Indem er nun hieher spatzierte,
um in der frischen Luft die Dünste des
Weins verrauchen zu lassen, fiel er in das
Wasserbecken, und es geschah, was die In¬
schrift sehr zierlich und fein mit dem libato
vino ausdrückt.
Der sogenannte große Markt ist wirklich
nicht so groß, wie man ihn sich nach die¬
sem Beinamen vorstellen möchte; allein das
Rathhaus mit seinem hohen gothischen Thur¬
me ziert diesen Platz und giebt ihm Anse¬
hen. Das Einfache pflegt selten die stärkste
Seite der gothischen Bauart auszumachen;
bei diesem Thurme halten jedoch die vielen
kleinen Spitzen und einzelnen Theile den
Beobachter nicht ab, Einen großen Eindruck
von kühn und leicht emporstrebender Höhe
zu[481] zu empfangen. Es wird immer den Gebäu¬
den in diesem Geschmack zum Vorwurf ge¬
reichen, daſs ihre Gestalten stachlicht und
gleichsam zersplittert scheinen, zu scharfe,
eckige, in die Länge gezerrte Verhältnisse
und Formen darbieten und dem Auge keine
Ruhe lassen. St. Michael steht nicht übel
auf der Spitze dieses Thurms in kolossali¬
scher Gröſse, die jedoch von unten immer
noch klein genug erscheint, und mit dem
besiegten Feinde zu seinen Füſsen. Auf
dem benachbarten Giebel des Brauerhauses
steht des Prinzen Karl von Lothringen ver¬
goldete Bildsäule zu Pferde lange nicht so
schön, und gewiſs nicht an ihrem Orte;
allein die Brüsseler scheinen diesen Fürsten
so lieb gehabt zu haben, daſs sie ihn gern
über ihren Köpfen reiten lieſsen.
Zu den Veränderungen in Brüssel muſs
man noch die seit der Aufhebung der Klö¬
I. Theil. H h[482] ster angebauten Plätze rechnen, auf denen
jetzt schon eine groſse Anzahl neuer Häuser
stehen. Eins von diesen Klöstern, welches
innerhalb der Stadt ansehnliche Gärten be¬
saſs, brachte durch seine Aufhebung zum
erstenmal den Einwohnern und ihrem Han¬
del einen wichtigen Vortheil, indem der Kai¬
ser daselbst einen schönen, geräumigen Platz
zum Kornmarkte einrichten lieſs, auf wel¬
chem jeder Gattung von Getreide ihr be¬
sonderer Ort angewiesen ist; es stehen Pfähle
errichtet, mit Brettern daran, worauf man
«Bohnen, Buchweizen, Weizen, Roggen, Ha¬
fer, Gerste,» u. s. w. liest. In einer andern
Gegend baute man nur noch im vorigen
Jahre mehr als zwanzig neue Häuser auf
den Schutthaufen eines Klosters. Diese Ver¬
änderungen und Verschönerungen einer Stadt,
die, wenn man einzelne Gebäude ausnimmt,
im Ganzen bereits an Schönheit mit Berlin
[483] verglichen werden darf, werden jetzt eine
Zeitlang ins Stecken gerathen; wenigstens
werden die noch übrigen Klöster vor der
Hand wohl mit dem Schicksal, das Joseph
der Zweite ihnen drohete, verschont blei¬
ben. Das fromme, katholische Volk von
Brabant hängt mit ganzer Seele an seinem
Herkommen in der Religion wie in der Po¬
litik, und wenn man es aufmerksam beobach¬
tet, so begreift man nicht, wie es möglich
und wirklich geworden ist, daſs dieses Volk
mit der Anstrengung eines Augenblicks sei¬
nen Oberherrn vertrieben hat.
Die groſse Masse des Volks in Brüssel
ist, so viel ich nach dem Haufen urtheilen
kann, der sich in den Straſsen sehen läſst,
nichts weniger als eine schöne Race. Sei
es verderbte Lebensart, Eigenheit des hie¬
sigen Bodens, oder Einwirkung der Ver¬
fassung und anderer zu wenig bekannter
H h 2[484] Umstände; aber gewiſs ist es, daſs das ge¬
meine Volk eher unter, als über der mitt¬
leren Statur gerechnet werden muſs. Be¬
sonders ist dies an dem andern Geschlechte
auffallend sichtbar, das überdies noch im
Verhältniſs des Körpers kurze Arme und
Beine hat. Ihre Gesichtszüge kann man
nicht eigentlich häſslich nennen; allein bei
einer ziemlich regelmäſsigen Bildung ist et¬
was Schlaffes und Grobfleischiges zugleich
bemerklich, welches das physiognostische
Urtheil von gutmüthiger Schwäche und un¬
interessanter Leere nach sich zieht. Jene
schönen vollwangigen Gesichter mit hoher
Stirne und schöngebogener Nase, mit Feuer
im groſsen Auge, starken Augenbraun und
scharfgeschnittenem weitem Munde, die uns
im Limburgischen und selbst noch in dem
an Lüttich gränzenden Tirlemont gefielen,
sahen wir hier nicht wieder. Es scheint,
[485] als hätte auf dem niederländischen Grunde
der französische Firniſs die Züge nur mehr
verwischt, nicht charakteristischer gemacht.
Dies kann vielleicht paradox, vielleicht gar
unrichtig klingen; allein ich bin für mein
Theil überzeugt, daſs auch ohne wirkliche
Vermischung der Racen, bloſs durch das
Allgemeinwerden einer andern als der Lan¬
desſprache, durch die vermittelst derselben
in Umlauf gekommenen Vorstellungsarten
und Ideenverbindungen, endlich durch den
Einfluſs, den diese auf die Handlungen und
auf die ganze Wirksamkeit der Menschen
äuſsern, eine Modifikation der Organe be¬
wirkt werden kann. Rechnen wir hinzu,
daſs von alten Zeiten her Ausländer über
Brabant herrschten; daſs Brüssel lange der
Sitz einer groſsen, glänzenden Hofstatt war;
daſs auch mancher ausländische Blutstropfe
sich in die Volksmasse mischte; daſs der
H h 3[486] Luxus und die Ausſchweifungen, die von
demselben unzertrennlich sind, hier in einem
hohen Grade, unter einem reichen, üppigen
und müſsigen Volke seit mehreren Jahrhun¬
derten im Schwange gingen: so kann die
besondere Abspannung, die wir hier bemer¬
ken, sich gar wohl aus natürlichen Ursachen
erklären lassen. Es ist indeſs nicht der nie¬
drige Pöbel allein, dessen Gestalt zu jener
Skizze paſst; das ganze Corps der freiwilligen
Bürger, das wir täglich auf dem Markte
sehen, und dessen Glieder wenigstens be¬
mittelt genug sind, um auf eigene Kosten
alles, was zu ihrer Equipirung gehört, sich
anzuschaffen, ja, unter denen viele ein
reichliches Einkommen haben; dieses Corps,
sage ich, so schön es gekleidet ist, so eine
kriegerische Mine es macht, und so viel
Standhaftigkeit und Edelmuth es wirklich
beseelen mag, besteht gleichwohl durchgän¬
[487] gig aus kleinen, schmächtigen Menschen, auf
deren Wange selten einmal etwas von einer
martialischen Farbe glüht.
Die Hauptkirche zu St. Gudula ist ein
ungeheures, altes Gebäude von ehrwürdigem
Ansehen, inwendig mit einer sehr groſsen
Anzahl von Kapellen ausgeschmückt. Die
vornehmste, des wunderthätigen Sakraments,
bot uns den schönsten Rubens dar, den wir
bis jetzt gesehen hatten, den schönsten, ich
sage es dreist heraus, den ich von seiner
Hand nicht übertroffen zu sehen erwarte.
Das Süjet, welches er sich gewählt hat, ist
Christus, indem er Petro die Himmels¬
schlüssel übergiebt. Es herrscht eine erha¬
bene, göttliche Ruhe in dieser schönen
Gruppe von Köpfen, deren Kraft und Glanz
so frisch ist, als wären sie gestern gemalt.
Die Farben haben einige Härte, die man
aber über den Eindruck des Ganzen nicht
H h 4[488] merkt. Der Christuskopf ist schön und
sanft, nur diesmal gar zu still und unbe¬
seelt. Die Künstler scheinen mannichmal
zu wähnen, daſs die Sanftmuth des Dulders
sich nicht zu innerem Feuer gesellen dürfe,
durch welches sie doch erst ihren gröſsten
Werth erhalten muſs; denn sanft sind ja
auch die frommen Thiere, die einen hier,
am unrechten Orte angebracht, um das al¬
legorische: weide meine Schafe! anzudeuten,
wirklich ärgern. Die linke Hand des Hei¬
lands ist von groſser Schönheit, wie jene
berühmte Hand von Carlo Dolce in Düs¬
seldorf. Petrus, der sich über die rechte
Hand seines Herrn beugt, ist ein Kopf voll
Hingebung, Vertrauen, Glauben und Festig¬
keit. Jakobus ist alt und ehrwürdig; die
andern beiden Köpfe, von weniger Bedeu¬
tung, dienen jedoch zur Verschönerung der
so groſs gedachten Gruppe. Das Bild ist
[489] nur ein Kniestück. Von den vielen Gemäl¬
den von Crayer, Coxis, van Cleef, Cham¬
pagne, Otto Venius und Andern, welche
die zahlreichen Kapellen dieser Kirche zie¬
ren; von den Statuen der Heiligen, den
kostbaren Altären, den gemalten Fenstern,
und den Mausoleen kann ich nach dem
Anblick eines solchen ächten Kunstwerks
nicht sprechen. Das wahrhaft Vollendete
der Kunst füllt die Seele so vollkommen,
daſs es für geringere Gegenstände keinen
Platz darin läſst.
In der zum groſsen Beguinenhofe gehö¬
rigen Kirche sahen wir an dem Altar zur
Rechten ein schönes Gemälde von Crayer;
es war eine Kreuzigung Christi. Der Kopf
des Erlösers war edel und sogar erhaben;
Johannes nicht schön, aber von bewunderns¬
würdigem Ausdruck. Den Blick auf den
Gekreuzigten gerichtet, scheint er fast noch
Hh 5[490] mehr als dieser zu leiden. Die Muttergottes
ist nicht so glücklich gefaſst, aber dennoch
von vorzüglicher Kraft, und schön drappirt,
zumal um den Kopf. Die Magdalene zu
den Füſsen des Kreuzes ist ebenfalls ihres
Platzes in diesem Stücke würdig, wiewohl
sie mit dem Johannes nicht verglichen wer¬
den kann. Die Farbe des Stücks ist wahr,
und der Ton in schöner Harmonie. Die
Gruppe ist einfach und natürlich; kurz, so
wenig es mir gegeben ist, mit Enthusiasmus
und Liebe an einer der Kunst so heteroge¬
nen Wahl zu hangen, so unverkennbar ist
Crayers Verdienst in der Behandlung. Un¬
möglich konnte man einen Gegenstand, der
an sich das Gefühl so fürchterlich verletzt,
wie die Marter des menschlichen Körpers,
auf eine interessantere Weise darstellen, so
daſs man über den Geist und den Adel
der Charaktere beinahe die Gräſslichkeit des
[491] körperlichen Leidens und der vom Henker
verzerrten Gestalt vergiſst.
Die St. Jakobskirche am Königsplatz, sonst
auch die Kirche vom Kaudenberg genannt,
überraschte uns nach so vielen theils go¬
thischen, theils in einem barbarischen Ge¬
schmack mit Kleinigkeiten und Spielereien
überladenen Kirchen, auf eine sehr ange¬
nehme Art. Ihre äuſsere Facciate ist edel
und groſs, und hat nur den Fehler, daſs
sie zu beiden Seiten zwischen Häusern steckt,
die zwar nicht übel gebaut, aber doch keines¬
weges an ihrem Platze sind, und den übrigen
Bau der Kirche verstecken. Die Basreliefs
im Fronton und über der Thüre sind un¬
bedeutend; aber in der schönen korinthi¬
schen Architektur ist Reichthum mit Sim¬
plicität auf die glücklichste Art verbunden.
Noch mehr gefiel mir der Anblick des Inne¬
ren von diesem höchst regelmäſsigen Tempel.
[492] Die Proportionen der korinthischen Säulen
sind untadelhaft, ihre Kapitäler schön ge¬
schnitzt, und die Dekorationen der Kuppel,
der Bogen und der Soffiten von ausgesuchter
Schönheit und Eleganz. Die ganze Form
des Schiffs, und die Verhältnisse des Kreu¬
zes entzücken das Auge, und diese durch
keine kleinliche, unnütze Zierrathen verun¬
staltete, durch nichts Heterogenes gestörte
Harmonie wird durch die weiſse Farbe, wo¬
mit die ganze Kirche überzogen ist, noch
erhöhet. Hier ruhet das Auge und der Geist;
hier fühlt man sich wie zu Hause, und
glaubt an die Verwandtschaft des Bewohners
mit unserm Geiste; hier ist nichts Finstereres,
nichts Schauerlicherhabenes. Gröſse ist es,
mit gefälliger Grazie, mit Schönheit und
Liebe umflossen. Die Verschwendung der
köstlichsten Marmorarten in den hiesigen
Kirchen beklagten wir erst recht lebhaft,
[493] nachdem wir dieses schöne Gebäude betrach¬
tet, und uns vorgestellt hatten, welch einen
herrlichen Effekt es machen würde, wenn
man sie hier angewendet und die Vollkom¬
menheit der Form durch die Pracht und
Vortreflichkeit des Stoffs erhöhet hätte.
Aber, daſs sich nur niemand in Zukunft auf
den Geschmack der vermeinten Kunstkenner
verlasse! Diese Kirche und Crayers Ge¬
mälde bei den Beguinen hatte man uns
mit Achselzucken genannt. Dafür loben sie
uns das Portal der Augustinerkirche und
Landschaften von Breughel!
Der Abbé Mann, ein alter Engländer,
verschaffte uns Gelegenheit, das Gemälde¬
kabinet des hiesigen Banquiers, Herrn Dan¬
hot, zu sehen, und ich kann nicht zu früh
von dieser vortreflichen Sammlung sprechen,
die mich mitten in Brüssel so angenehm
an italienische Kunst und ihre Vollkom¬
[494] menheit erinnerte. Ich sage Dir nichts von
dem schönen Lukas van Leyden, dessen
Verdienst in seinem Alterthum besteht; von
den kleinen Stücken, worunter ein Miris
befindlich ist, der dem Eigenthümer viertau¬
send Gulden gekostet hat; von den meister¬
haften Landschaften des wackern van Goyen;
von dem Salvator Rosa, dem Bassano, den
Teniers groſs und klein, fünf an der Zahl,
so schön ich sie je gesehen habe; von dem
S. Franziskus von Guido, und einer Jung¬
frau, angeblich von demselben Meister, die
ich aber beide für Kopien halte; von den
zwei Obst naschenden Knaben des Murillo,
die, wie alles von diesem Künstler, aus der
Natur leibhaft ergriffen sind; ich mag nicht
von van Dyk’s schönen Skizzen sprechen,
worunter besonders die Abnehmung vom
Kreuze so lieblich gedacht ist, daſs man
den Tod des Adonis zu sehen glaubte, wenn
[495] nicht ein Priester im Meſsgewande vorn die
Illusion zerstörte; nicht von Rembrandts
zwey unnachahmlichen Porträten, dem Ma¬
ler und dem Philosophen; nicht von dem
vermeintlichen Raphael, der diesen Namen
nicht verdient; nicht von Rubens Sabiner¬
raub, von seiner Bürgerschaft von Antwer¬
pen vor Karln dem Fünften; nicht einmal
von seiner Rückkehr aus Ägypten, mit Fi¬
guren in Lebensgröſse, wo Gott der Vater
sehr gemächlich in den Wolken sitzt, der
Christusknabe hingegen mit einem lieblichen
Kopf, eine vorzügliche Leichtigkeit im Gange
hat. Was konnte ich von diesem Reich¬
thum noch sehen, nachdem ich eine Danaë
von Tizian, und ein Porträt der Frau des
Malers Joconde, von Leonardo da Vinci’s
Hand gesehen und verschlungen hatte? Die
Danaë ist eine köstliche Figur; sie liegt da
und lebt. Mehr wird kein Mensch zu ih¬
[496] rem Lobe sagen können. Farbe, Gestalt der
Muskeln, Frische und Sammetweiche der
Haut, sind wahr bis zum Angreifen, und
in der Fülle der Reize. Es ist nur Schade,
daſs der groſse Meister diesem schönen
Körper keine Seele schuf; der leere Kopf
mit den geschlossenen Augen ist auszeich¬
nend häſslich; man möchte ihn aus dem
Bilde herausſchneiden, damit er dessen Har¬
monie nicht störte. Frau Joconde erinnerte
mich augenblicklich an mein Lieblingsbild
in der Landgräflichen Galerie zu Cassel,
wo dem Künstler genau dasselbe Gesicht zu
einer himmlischen Madonna gedient haben
muſs. Das Kolorit des hiesigen Stücks hat
indeſs vor jenem einen entschiedenen Vor¬
zug. Sie hält die eine Hand mit einer
Aglaienblume ein wenig steif nach Art der
älteren Maler empor; in der andern hat sie
blühenden Jasmin, und im Schooſse liegen
noch[497] noch einige Blumen. Ein wenig Härte und
Trockenheit mag immer der Pinsel beibe
halten haben; es ist doch unmöglich eher
daran zu denken, als bis man an den Wun¬
dern der Zeichnung geschwelgt hat, und ei¬
nen Vorwand sucht, um endlich sich Ios¬
zureiſsen. Umsonst! diese kleinen Unvoll¬
kommenheiten, die so innig mit der Schön¬
heit und dem Seelenadel des Weibes ver¬
webt sind, werden bei ihr zu neuen Fesseln
für unser Auge und für das Herz. Man
überredet sich gern, daſs etwas so Vortref¬
liches nicht anders, als wie es ist, vortref¬
lich seyn könne, und liebt den Flecken um
des Platzes willen, den man ihm beneidet.
Die Natur hat die Talente nicht vereinigen
können, nicht Tizian’s Sinn für den zarten
Hauch des Lebens, mit unseres Leonardo’s
leiser Ahndung des Seelenausdrucks! Sie
gehen also wohl nicht beisammen, und wir
I. Theil. I i[498] begnügen uns, — begnügen? so vermessen
dürften wir vom Genusse der edelsten Schöp¬
fungen des Genius sprechen? — wir sind
überglücklich, uns in den Gesichtspunkt ei¬
nes jeden einzeln zu versetzen, und ihre
Seele in einer Sprache von unausſprechlichen
Ausdrücken mit der unsrigen in Gemein¬
schaft treten zu lassen. Ein jeder wähle,
was ihm frommt! ich halte mich hier an
den Zauberer, der Geister vor mir erschei¬
nen läſst; wohlthätige Erscheinungen, die,
einmal gesehen, ewig unvertilgbare Spuren
ihres Daseyns im Innern des Schauenden
hinterlassen. Ist das eines Malers Frau?
dann werft eure Palletten weg, ihr anderen
Maler, wenn ihr Madonnen und Engel, die
seligen Bewohner des reinen Äthers, malen
sollt. Sie hat in sich die Fülle alles dessen,
was Andern Regel und Muster ist; ihr
selbst unbewuſst, denn sie kennt weder Re¬
[499] gel noch Muster. Ihr Sinn ist Jungfräulich¬
keit, ihr Thun lauter, wie das Element, in
dem eure Götter athmen; Sanftmuth und
die äuſserste Feinheit umschweben ihren
wahren, zarten Mund; unbeschreiblich leise
sinnt es nach in ihr, im Eindruck des
Kopfs um die Gegend der Schläfe; heilig
und rein ist das groſse niedergeschlagene
Augenpaar, das die Welt in sich aufnimmt,
und sie schöner wiedergiebt. Wer möchte
nicht unsichtbar sie umschweben, in ihrer
dunklen Grotte, deren Grund fast nicht zu
erkennen ist, wo sie einsam und in stiller
Ruhe die Natur der Blüthen ergründet, sie
selbst die zarteste und schönste der Blüthen!
Die Mauerraute wuchert in den Ritzen der
feuchten Felsenwand, und die Ranken des
Zimbelkrauts hangen üppig daran herunter
und wollen gedrückt seyn von Ihr! Alles
ist vollendet, und bis auf die zartesten
I i 2[500]
Merkzeichen ausgemalt, alles in seinen un¬
bedeutendsten Umrissen wahr und bestimmt.
O Carlo Dolce! wehe dem, der von einem
solchen Meister wie Leonardo da Vinci
nicht lernte, die Sorgfalt der Natur von der
ekelhaften Pinselei der Manier unterscheiden!
Ende des ersten Bandes.
Appendix A
Gedruckt bei Johann Friedrich Unger.
[501]
Appendix B Inhalt des ersten Bandes.
Appendix B.1 I.
Boppart.
- Rheinfahrt. Frühlingsblüthen. Bildung des Rhein¬
bettes. Weinbau im Rheingau und Armuth der
Rheinländer. Abentheuer. S. 1
Appendix B.2 II.
Andernach.
- Koblenz und Ehrenbreitstein. Gefangene daselbst.
Ungenähtes Hemde Christi. Lederfabriken. Neu¬
wied; Herrnhuter. Seelenunzucht. Menschenrace
des Niederrheins. S. 16
Appendix B.3 III.
Kölln.
- Gebirge zwischen Bingen und Bonn. Bimssteinlager
bei Andernach. Vulkanistische Hypothesen. Ba¬
saltberge, insbesondere der Basaltbruch bei Unkel.
Naturalienkabinet des Kuhrfürsten von Kölln in
Bonn. Fälschlich so genannter fossiler Menschen¬
schedel. Charakteristik unseres Zeitalters. S. 36
Appendix B.4 IV.
Kölln.
- Der Dom, oder die Kathedralkirche. Versuch über
die Humanität des Künstlers. S. 70
I i 3[502]
Appendix B.5 V.
Düsseldorf.
- Anblick von Kölln. Pöbel und Geistlichkeit. Bette¬
lei und Intoleranz. Pferdeknochen unter den Ge¬
beinen in der Ursulakirche. Klimatischer Unter¬
schied in der Religion. Kreuzigung Petri von
Rubens. Neuangelegte Stadt bei Düsseldorf. Über
die Regierungskunst und über Regentenkünste.
Kloster la Trappe. S. 90
Appendix B.6 VI.
Düsseldorf.
- Über die Mittheilung der Eindrücke des Gesehenen. —
Wie bildet sich der Künstler? Erste Ansicht der
Bildergallerie. Rubens jüngstes Gericht. S.114
Appendix B.7 VII.
Düsseldorf.
- Fernere Erinnerungen aus der Galerie. Rubens. Al¬
brecht Dürer. Gerard Douw. Teniers. Schal¬
ken. Gasparo (Dughet). Snyers. Van der Werff.
Crayer. Van Dyk. S. 163
Appendix B.8 VIII.
Düsseldorf.
- Vom Ideal. Italienische Malerei. Susanna von Do¬
menico Zampieri (Dominichino,) und von Annibal
Caracci. Heilige Familien von Raphael und von
Andrea del Sarto. Pietro da Cortonas Ehebreche¬
rin. Carlo Dolce. Johannes in der Wüste von
[503] einem Ungenannten. Guido Reni’s Himmelfahrt
der Jungfrau. Aretin von Tizian. Christus mit
der Dornenkrone von Corregio. Barbarei. S. 196
Appendix B.9 IX.
Aachen.
- Lage von Jülich. Verminderte Volksmenge von Aa¬
chen, und deren Ursachen. Kaiserliche Kommis¬
sion seit 1786. Neuer Konstitutionsplan des Herrn
von Dohm. Das Zunftwesen mit seinen Folgen.
Verfall der Tuchmanufaktur. Flor der benachbar¬
ten Fabriken. Armuth und Bettelstand in Aachen.
Mögliche politische und sittliche Freiheit. S. 251
Appendix B.10 X.
Aachen.
- Lage von Burscheid. Nadelfabrik und Tuchfabrik da¬
selbst. Tuchfabriken in Vaals. Färberei. Tuch¬
handel. Ideen über den künftigen Zustand von
Europa. Krönungsstuhl von Marmor in der Ka¬
thedralkirche. Zerspaltene Thore von Erz, nebst
der dazu gehörigen Legende. Charfreitagspro¬
zession. S. 284
Appendix B.11 XI.
Lüttich.
- Ausſicht der Stadt. Französische Nationalzüge in Bil¬
dung und Charakter der Lütticher. Wallonische
Sprache. von Aachen nach Lüttich. An¬
sicht des Limburgischen. Brabantische Miliz,
Abstich der Lütticher Nationaltruppen dagegen.
[504] Stimmung des Volks. Freiheitssinn. Apologie
der uneingeschränkten Denk- und Sprechfreiheit.
Definition der Bestimmung des Menschen. Ab¬
weichung des wirklich Existirenden vom hypothe¬
tischen Unbedingten. Politische Verfassung von
Lüttich seit 1316 bis 1789. Miſsbrauch der Ge¬
walt. Von willkührlicher Gewalt nicht zu un¬
terscheidender rechtmäſsiger Zwang. Grund der
wirklich bestehenden Verfassungen. Unveräuſser¬
liche Rechte des Menschen. Ursachen von dem
Unbestande der Verfassungen. Antinomien der
Politik. Gleich unausführbare Entwürfe zur Uni¬
versalmonarchie und zum allgemeinen Staatenbun¬
de. Ringende Kräfte im Menschen und in der
ganzen Natur. Blick über Lüttich von der Cita¬
delle. Politik der Nachbaren. Vertheidigungsan¬
stalten. Unfall, der den preuſsischen General be¬
troffen hat. S. 326
Appendix B.12 XII.
Löwen.
- Ansicht der Gegend von Lüttich bis Löwen. La
puissance de Dieu est grande! Schöne
Dörfer und Menschen. Tirlemont. Anbau.
Reisegesellschaft. Universitätsgebäude in Löwen.
Unausgepackte Bibliothek. Doktorpromotionen.
Methodische Ignoranz. Josephs des Zweiten Re¬
form. Neue Barbarei. Das Rathhaus. Collegium
Faiconis. Flämische Sprache. Löwener Bier.
Volksmenge. S. 417
[505]
Appendix B.13 XIII.
Brüssel.
- Fahrt von Löwen auf der Barke nach Mecheln. Ir¬
ländischer Mönch. Todtenstille in Mecheln. Ka¬
thedralkirche zu St. Romuald. Kardinal- Erzbischof
von Mecheln. Gemälde von Rubens in der Johan¬
niskirche. Prunkendes Portal der Jesuitenkirche.
Geschnitzte Kanzel zu U. L. F. von Hanswyk.
St. Bernhard und die Muttergottes. Vor der Ho¬
stie knieender Esel. Schwarm von Ordensgeistli¬
chen. Ansicht der Gegend zwischen Mecheln und
Brüssel. Recht der Geringen über die Groſsen zu
urtheilen. S. 457
Appendix B.14 [XIV.]
Brüssel.
- Ansicht von Brüssel. Pracht der Gebäude. Anekdo¬
te von Peter dem Groſsen. Veränderter Zustand
der Stadt seit achtzehn Jahren. Kühner Spitzthurm
des Rathhauses. Prinz Karls Statue zu Pferde auf
dem Giebel des Brauerhauses. Neue Häuser an der
Stelle aufgehobener Klöster. Kornmarkt. Phy¬
siognomische Anzeichnungen über den Pöbel von
Brüssel. St. Gudulakirche. Vortrefliches Gemäl¬
de von Rubens. Kreuzigung Christi von Crayer
in der Kirche des groſsen Beguinenhofs. St. Ja¬
kobskirche zum Kaudenberg. Herrn Danhots Ge¬
mäldesammlung. Danae von Tizian. Porträt ei¬
nes Frauenzimmers von Leonardo da Vinci. S. 477
Appendix C Druckfehler.
- Seite 6. Zeile 5. nach Rheingau ein Comma.
- — 28. — 4. Cüristen lies: Christen.
- — 47. — 15. charakterischie l. charakteristische.
- — 81. — 17. ies l. sie.
- — 121. — 16. Asthetisches l. Ästhetisches.
- — 165. — 6. unendlichen l. unendlich.
- — 171. — 11. der Mann l. den Mann.
- — 187. — letzte Z. nach gebildet l. nachgebildet.
- — 244. — 6. umgehen l. umgeben.
- — 310. — 16. Korden l. Karden.
- — 336. — 10. Wahrscheinlich l. Wahrschein¬
licher. - — 331. — 13.
- — — — 14.
- — 334. — 7. wogichen l. wogichten.
- 351. — 19. dem der Künstler l. den der
Künstler. - — 367 — 4. Ansprüche l. Ausſprüche.
- — 386 — 1. sestzte l. setzte.
S. meinen Aufsatz: die Kunst und das Zeitalter, in
dem neunten Heft der Thalia.
Die ganze Stelle ist so schön, daſs ich sie wieder
nachgeschlagen habe, und hier einrücke: «Ce qui cau-
se l'assoupissement dans les états qui souffrent, est la
durée du mal, qui saisit l'imagination des hommes et
qui leur fait croire qu'il ne finira jamais. Aussitôt
qu'ils trouvent jour à en sortir, ce qui ne manque
jamais lorsqu'il est venu à un certain point, ils sont
si surpris, si aises et si emportés, qu'ils passent tout
d'un coup à l'autre extrémité et que bien loin de con-
siderer les revolutions comme impossibles, ils le croient
faciles, et cette disposition toute seule est
quelquefois capable de les faire.»
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- TextGrid Repository (2025). Forster, Georg. Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bjjb.0